Skip to main content

Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

See other formats


ifv'T: . . 


■  •  '. .' V  ••■;>;  1  ■>;  ;>,H/a:.’5v’iS'5t;v’‘ ',*.-  ■  ,  ;;.,».;C  f":“;vy.'’'  ;  -•  -  v  .. 


Ä  .-  ■  '•':'l.  ;  '■  ■  ; 

•  ■  ■ 


f ''  ii’i  '  '^  !*■’!  '/'  ^  “  jV- 

gdii  ■'■vV«-V  f/r-.:,  r  •  »■  ’  ,  i 

##fJliv,\4  n'ft  >>(,  ‘  i -i«  »MVf.  'l/P 

Nw;-f,  -.;.  Y  ;.,;v . 


ZEITSCHRIFT 

FÜR 

BILDENDE  KUNST 

Heraus  cresreben 

o  o 

von 

PROF.  DR.  CARL  VON  LÜTZOW 

Bibliothekar  der  K.  K.  Akademie  der  Künste  zu  Wien. 


MIT  DEM  BEIBLATT  KUNSTCHRONIK 


NEUE  FOLGE 


Achter  Jahrgang 


LEIPZIG 

Verlag  von  Seemann  &  Co. 
1897. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi32unse 


Inhalt  des  achten  Jahrgangs. 


All  gemeines. 

Der  kiinstliistorisclie  Kongress  180G  in  Hiidajiesti.  Von 

C.  V.  Lütxow . 

Carl  von  Lützow  f . 


Seite 


1Ü7 

233 


Architektur. 

Korrespondenz  aus  Griechenland . 43 

Der  Heiligenherg  von  Varallo  und  (hiudenzio  Kerrari. 

Von  G.  Pauli . 238 

Die  Baukunst  Frankreichs.  Von  M.  Scliu/id  ....  298 


Plastik. 

Olherg  und  Osterspiel  iiu  südwestlichen  Deutschland. 

Von  F.  Bauii/gaiien .  1 

Das  Kaiser  Wilhelm-Denkmal  in  Breslau.  Von  C.  Buch¬ 
wald  . 25 

Altarwerke  in  Dänemark  aus  dem  späteren  Mittelalter. 

Von  Th.  Bauipe . 55 

Die  Ausstellung  der  Secession  in  München.  Von  C.  0. 

IjÜIxow . 101 

Keinliold  Begas.  Von  0.  Baisch  und  A.  Pasenhertj  .  129 

Hans  Gudewerdt.  V^on  G.  Brandt . 217 

Der  Ileiligenl>erg  von  Varallo  und  Gaudenzio  Ferrari. 

Von  G.  Pauli  .  .  : .  238.  262 

Dannecker’s  Ariadne.  V^on  Prof.  Dr.  G.  Bcijcr  .  .  .  244 
Die  Kaiser  Wilhelin-Denkmals-Konkurrenz  in  Aachen. 

Von  M.  Schmid . 275 

Die  Elfenheinplastik  auf  der  Brüsseler  Weltausstellung 

von  1897.  Von  Prof.  Dr.  P.  Joncph . 281 

Wie  man  Skulpturen  aufnehnien  soll.  11.  Yon  il.  JVölffiiu  294 

Malerei. 

Der  Meister  des  Hausliuches  als  Maler.  Y  owE.  Flcch.'iiy  8.  66 

Ferdinand  von  Keller.  Von  P.  SchulUe-Nauuihun/  .  17 

Die  Bildnisse  des  Kardinals  Hippolyt  von  Medici  in 

Florenz.  Von  C.  Justi . 34 

Die  Ausstellung  der  Secession  in  München.  Von  P. 
Hchultxc-Nau))ihur(j . 49 


Seite 


Altarwerke  in  Dänemark  aus  dem  späteren  klittelalter. 

Von  Th.  Ilaiiipe . ,55 

Ein  wiedererkanntes  Bild  von  Hubens.  Von  C.  v.  Lülxow  74 

Walter  Crane.  Von  11'.  Schölcnnaiin . 81 

Karl  Helfucr.  Von  Jd.  Poseuberej . 105 

Das  Berliner  Bildnis  Johann  Sel)astian  Bach’s.  Von 

G.  Wusiiuami . 120 

Die  neue  staatliche  National-Porträt-Galerie  in  London. 

Von  0.  V.  Schlciiiit\. . 142 

Altes  und  Neues  von  Max  Klinger.  Von  J.  Yocjel  .  .  153 

Domenico  Thcotocopuli  von  Kreta.  V'on  C.  Justi.  177.  257 

Sandro  Botticelli.  Von  Ad.  Philippi . 185 

Ludwig  Dill.  V'on  P.  Srhultxe-Aauiuburij . 209 

Die  IMuseen  Italiens  und  ihre  neuen  Errungenschaften. 

Von  G.  Friwoni .  233.  248 

Der  Heiligenberg  von  Varallo  und  Gaudenzio  Ferrari. 

Von  G.  Pauli .  238.  262.  289 

Graphiselic  Künste. 

Handzeichnungen  alter  Meister.  Von  C.  v.  Lütxoiv  .  41 

Neue  photograiihische  Aufnahmen  aus  Italien.  Von 

G.  Friwoni . 93 

Charles  Dana  Gibson’s  Zeichnungen.  Von  IP.  Stduilcr- 

iiiauii . 113 

Neues  vom  Berliner  und  Karlsruher  Radirverein  .  .  .  254 

Rembrandt’s  Christus  predigend.  Von  S.  P.  Köhler  .  273 


Büeherschau. 


Flin  patriotisches  Künstlerbuch . .76 

Flin  deutsches  Künstlerlei )en . 122 

Der  moderne  Maler.  Von  IF.  v.  Octtiiujea . 125 

X.  Kraus’  Geschichte  der  christlichen  Kunst  ....  148 

Weicluirdt:  Pompeji  vor  der  Zerstörung.  V'on  M.  Schmid  197 

Jacopo  della  t^uercia.  A'’on  J.  Strxpyoicski . 278 

Flinc  Topographie  des  alten  Rom . 303 


NB.  Uio  kleinen  Mitteilungen  sind  in  das  Register  der  „Kunst- 
chronik“  aufgenominen. 


IV 


INHALTSVEIIZEICHNIS. 


Verzeichnis  der  Illustrationen. 

(Die  mit  t  bezeicbueten  sind  Einzelblätter.  Die  Abbildungen  der  auf  mehrere  Hefte  verteilten  Aufsätze  folgen  hintereinander.) 


tDur  Üllierg'  in  Ott'enlnirg 
Der  Olberg  in  Neutlen  . 
Der  Ollierg  in  .StraUburg 
Vom  Straßburger  Ölberg 
Der  (llbero-  in  Straliburir. 


Zu 


(i 


I  iesanita.nsiclit 
liiiliue  des  fl.sterspiels  in  Douaueseliingeti 

Der  Ollierg  zu  Speyer . ‘2l 

Judasgrupjie  vom  Olberg  zu  Straßburg . 

Verkündigung.  Vom  ]\Ieister  des  Hausbuclies.  Darm 

Stadt,  IMuseum . 

Petrus  und  Paulus.  Von  dems.;  ebenda . 

Liebespaar,  ^'on  dems.;  (lotba,  Museum  .... 
lleimsuebuug.  Von  dems.  Mainz,  städtische  (lalerie 

(ieburt  Cliristi.  Von  dems.  Klieiida . 

Perdimind  von  Keller.  Porträtskizze  von  Frau  Ernesfiue 

Schult e-Nauml  uirg . 

Markgrad'  Ludwig  liesiegt  die  Türken  in  der  Schla.elit 
am  Salamkemen.  Von  Fcnl/uuiul  nui  Keller.  Karls¬ 
ruher  Oahnie . 

Knlwuit'zum  Vorhang  im  Dresdener  lloilheater.  Von 

dems . 

Drücke  in  IMadrid  (Skizze).  \"ou  dems . 

Damenporträt  (Pastell).  Von  dems . 

Ccntauremiaar  (Skizze).  Von  dems . 

,  t„l’an.“  Heliogra.vüre  mich  dem  flemälde  von  Ei/rujuc 

Serra . Zu 

■,  t,,Am  Ufer.“  ( Iriginalradiruug  von  Clemens  Crncie.  Zu 
Das  Kaiser  Wilhelm-Deidiinal  in  Breshiu  von  Chr.  Behrens 
llipliolyt  von  Medici,  in  Kardinalstracht  . 

Derselbe,  von  'l'r.idu . 

Ouidobaldo  II.  von  Medici,  von  Bron\ino 
Medaille  (iuidobaldo’s  II.  von  B.  Cnmpi 

"Löwenstudie,  von  Reinhrujull . 

diandzeichnungen  von  Kubcus  und  Dürer 
;y'*tUorträtstudie  von  Luats  Crunaeh  .  . 

C  .Vus  dem  Werke:  ,,lIamlzeiclmuDgeii  alter  Meister  aus 
der  Albertina  etc.“,  Verlag  von  Gerlach  &  Schenk,  Wien.) 
\^on  der  Si.xtinischen  Madonna,  in  Dresden.  Phot,  von 

Brunn  . 

Von  der  Dadrutt’schen  Ko[iie  in  St.  Moritz . 

fJunge  Koptin,  von  Lcopuld  Müller,  radirt  von  Alfred 

Cossmanu . J'n 

fFlügelbilder  des  Triptychons  vom  Süudenfall,  von  Lud- 
n-hj  Jlclhnnnn,  radirt  von  Er.  Kruslcwil:'.,  .  .  Zu 

E.  Sehnll'.c-XaKinbury:  Am  Klavier . 

/'.  IF.  Kcller-h’eutlhifjcn:  Bei  Bruck . 

Hiov.  Scfjanllni:  Liebespaar . 

r.  Valhjren-.  Aschenurne . 

.M  itteltafel  des  Odenser  Alta.rs . 

Plinzelheiten  vom  Odenser  Altar . ÜO. 

Der  Fmgel  Gabriel  und  8t.  Antonius.  Vom  Altar  zu 

Aarhus . 

Sip[)endarstellungen  am  Altar  in  der  Kirche  zu  Nörre- 

Broby  auf  Fünen  . 

Christi  Kreuzesgang  vom  Altar  in  der  Söndresogii-Kirche 

zu  Viborg . 

*Fiine  deutsche  Madonna.  Von  Otto  Seitz . 

"Dorfschulze.  Von  L.  Knniis . 

'•■^Burgruine  Ober-Cilli.  Vignette  von  0.  Ubbelohde  .  . 


Seite 

1- 

3 

4 
7 

25 

211 

j-:;i 


11 

12 

KU 

117' 

117. 

18 


K) 


20" 

21' 


Zu 


24 

2ti  ■ 

34 

35 

37 

38 

41  ■ 

42 
40 


47 
47\ 

48  • 


48. 
40  ■ 
r.o 


ö.d 

54' 

57 

61 


64 

65 

76 

77 

78 


Seite 


]*Eraiu^  SInch:  Weiblicher  Studienkopf  ....  Zu  76  t 
(■*■  Aus  dem  Werke:  Den  Deutschen  Österreichs!  Verlag 
von  J.  E.  Lehmann  in  München.) 

:  f/’.  /’.  Hubens:  Allegorische  Darstellung  aus  der  Ge¬ 
schichte  Heinrichs  IV.  (Galerie  Miethke,  Wien.)  Zu  74  ■' 

Der  Olberg  zu  Ulm  (Idmer  Münsterblätter)  ....  80 

Phillis  on  the  new  made  luty.  Von  115  (Kaie  ...  81 

The  lloiise  that  Jack  built.  Kinderstubentajiete.  Von 

demselben . 83 . 

,,Wood-notes“,  Wall-Paper  aus  „The  Studio“.  Von  dems.  84 
Ta.nz  der  Nymjihen  und  Schnitter  aus:  The  tempest  von 

Shakespeare.  Illustrirt  von  dems . 86  - 

Die  Nacht.  Sepiazeichnung.  Von  dems . 88  - 

Der  Mittag.  Sepiazeiclinung.  Von  dems . 80 

Auemones  a,us:  Flora’s  Feast.  Von  dems.  (Verlag  von 

Cassell  &  Comp.,  London) . 90  ,  ,,• 

Bitter  aus:  Queen  Summer.  Von  dems.  ( Verla, g  von 

Cuissell  &  Comp.,  London)  ...  . 01 

Bildnis  Walter  Cra,ne’s . 92  r' 

Paris  Burdonc:  Der  heilige  Georg.  Kom.  Quirinal. 

Holzschnitt  von  P.  Berthuld  in  Leipzig . 95  l' 

Allegorie  von  Girulamo  Mawula  in  der  K.  (.lalerie  zu 

Neapel.  (Nach  einer  Photographie  von  Brogi)  .  .  97  \j 

,,La  Frimavera“  von  Cosimo  Tu.ra  in  der  Sammlung  i 

Layard  in  Venedig.  (Nach  einer  Photographie  von  1 

xAlinari) . 90  v 

Heil.  Hieronymus  von  Ercolc  de  iloberti  bei  Herrn  Aldo 

Noseda  in  Mailand.  (Nach  einer  Photographie  von  , 

Dubray) . 100  ^ 

tBüste  Da,lou’s.  Von  .1.  Ilmll/i.  Heliogravüre  von  11. 

(I.  Brinckmann  in  Leipzig . Zu  101  V 

‘fln  der  Schusterwerkstatt.  C)riginalradirung  von  Josef 

Kriircr . Zu  104 

.^Landschaft.  Ölgemälde  von  K.  Rcffncr.  Heliogravüre 

von  U.  G.  Brinelnnetnn  in  Leipzig . 105  * 

Karl  Hetfner . 105 

Morgen,Themseuferl)eiDa,tchol  Ölgemälde  von  K.  Ileffncr  106 

Schloss  Windsor.  Ölgemälde  von  K.  Heffner  ....  108 

Re((uiescant  in  pace.  Ölgemälde  von  K.  Heffner  .  .  109 

Fnglische  Landschaft.  Ölgemälde  von  K.  Heffner  .  .  111 

Mondaufga,7ig.  (Straße  nach  Ostia.)  (Jlgemäldc  von 

K.  Ueff)ter . 112 

Titelbild  zu  ,,Drawings“  von  Ch.  D.  Gibson  .  .  .  .  113  * 

The  Hopewell  Bonds.  Zeichnung  von  Ch.  1).  Gibson.  116  ^ 

Her  Punishment.  Zeichnung  von  Ch.  D.  Gibson  .  .  117  * 

Love  will  die.  Zeichnung  von  Gh.  D,  Gibson  .  .  .  118  u 

ifJohann  Sebastian  Bach.  (Ölgemälde  von  C-  F.  P.  Li- 

sicieskji.  Lichtdruck  von  vl.  Frisch  ....  Zu  120  * 

^Weibliches  Porträt.  Von  Er.  nJtsniann . 123  V 

‘''Der  Mäher.  Studie  von  Er.  Wasmann . 124  / 


(*  Aus  dem  Werke:  Friedrich  Wasmami.  Ein  deutsches 
Küustlerlebeii,  von  ihm  selbst  geschildert.  Herausgegebeu 


von  liernt  Grönwold.  München,  F.  Bruckmann,  1896.) 

•fBlick  vom  Wörthelstadeu  nach  der  Thomaskirche  in 

Straßburg  i.  F.  Originalradirung  von  ^1. .  Zu  128  V 
fBittere  Medizin;  nach  dem  Bilde  von  Adriaen  Broutver, 

gestochen  von  0.  Keim . Zu  152  / 

Das  Kaiser  Wilhelm-Denkmal  in  Berlin.  Entwurf  von 
R.  Beyas  (nach  dem  Gipsmodell) . 120  F 


VI 


INHALTSVERZEICHNIS. 


Seite 


Seite 


Birken  im  Moos.  Ölo-emiUde  von  Jj.  Dill . 

Ski///.en  von  L.  Dill . 210.  218. 

Ludwig  Dill.  Nach  einer  Porträtstudie  von  Enirsfine 

»S'c//?/7tee-Nauiuhurg . 

iSchilt'hütt.e  in  der  Lagune.  Tuschzeichnung  von  L.  DiH 
Fischerhoote  hei  Goinacchio.  Ölgemälde  von  L.  Dill  . 

Dacliau.  Skizze  von  L.  Dill . 

Skizze  zur  Wartburg  von  L.  Dill . 

fllans  Gudewerdt.’s  Altar  in  der  Kirclie  zu  Kappeln. 
Nach  einer  photogra[>hischen  Aufnahme  von  L.  Hansen 
in  Kajipeln.  Lichtdruck  von  Sinsel  &  Co.  .  .  Zu 

Bekrönunng  des  Kappeiner  Altars . 

Das  Abendmahl;  ursprünglich  in  der  Mittel])artie  des 

Kappeiner  Altars . 

Anbetung  der  Hirten  aus  dem  Kappclner  Altar.  Holz¬ 
schnitt  von  Käseben/  d'  Oertel . 

Adam  und  Eva  aus  dem  Kappeiner  Altar . 

Altargemillde  von  Francescu  (’ossa-,  znsanimengestellt 
nach  (1.  Frizzoni  (s.  S.  227).  Zeichnung  des  Rahmens 

von  Prof.  Dogliayhi . 

Predella  von  Vrancesen  Cassa  im  Vatikanischen  Museum 

in  Rom . 

Bildnis  des  Alexander  Farnese  von  Anlonis  dr  Moor 

in  der  Kgl.  Galerie  zu  Parma . 

Bikinis  des  Herzogs  Franz  1.  von  lliego  ]'chr,qnex  in 

der  Kgl.  Galerie  zu  Modena . 

Tempelgang  der  Maria  von  Thiaii  in  der  Kgl.  Galerie 

zu  Venedig . 

Die  sechste  Anbetung  der  Könige  von  Sandro  Bolticelli 
in  den  Uflizien  zn  Florenz.  Photographie  Alinari.  . 
Die  Heimsuchung;  angeblich  von  Fra.  Carnevale  im 
Palazzo  Barberini  zu  Rom.  Photographie  Anderson. 
fTiger.  Originalradirung  von  D.  Friese.  (Ans  dem 

Hefte  des  Berliner  Radirvereins) . Zu 

Carl  von  Lützow  f.  Nach  einer  Photographie.  Holz¬ 
schnitt  von  Küseberg  <&  Ocriel . 

Plan  des  Sacro  Monte  bei  Varallo . 

Piazza  dei  Tribunali  auf  dem  Sacro  Monte  zu  Varallo. 
Cajiella  d’Anna  (1),  Palazzo  di  Pilato  (2),  Capella  di 

Erode  (3),  Capella  di  Caifas  (4) . 

Prima  Capella  di  Adamo  et  Eva  auf  dem  Sacro  Monte 

zu  Varallo . 

Qanden'.io  Ferrari:  Verkündigung  Mariä.  (Varallo;  Sta. 

Maria  Delle  Grazie) . 

Gaadenxio  Ferrari:  Anbetung  des  Christkindes.  (Varallo; 

Sta.  Maria  Delle  Grazie) . 

Gaaden'.io  Ferrari:  Christus  vor  Pilatus.  (Varallo;  Sta. 

Maria  Delle  Grazie) . 

Gaadenzio  Ferrari:  Geißelung  Christi.  (Varallo;  Sta. 

Maria  Delle  Grazie) . 

Gandenzio  Ferrari:  Johannes  und  die  Marien,  Kriegs¬ 
volk  und  Zuschauer  bei  der  Kreuzigung  Christi. 

(Varallo;  Sacro  Monte) .  .  . 

Gaudenzio  Ferrari:  Zwei  Zuschauer  bei  der  Kreuzigung 
Christi.  (Varallo;  Sacro  Monte,  Capella  del  Crocitisso) 


209 

21(5 

210. 

211 

212 

214 

215 


217  ■ 

218 

220 

221 

222 


224 

225 
228 
229 

249 

250  '. 
252 
2.54  - 


233 

240 


241 

242 

204 

205 

207 

208 

209 

271 


Kopf  der  heiligen  Veronika  aus  der  Kreuztragung  von 
Giovanni  TabacheUi  (Vara.llo;  Sacro  monte)  .  .  . 

Kopf  eines  der  würfelnden  Tjandsknechte  aus  der  Kreu¬ 
zigung  von  Gandor.io  Ferrari  (Varallo;  Sacro  monte 
Ariadne;  Marmorstatue  von  Dannecker.  Seitenansicht 

Holzschnitt  von  II.  Berthold . 

Ariadne;  Marmorstatue  von  Dannecker.  Vorderansicht 

Holzschnitt  von  B.  Berthold . 

Ariadne;  Marmorstatue  von  Dannecker.  Rückansicht 

Holzschnitt  von  11.  Berthold . 

fEin  Paar  Blumen;  Originalradirung  von  B.  Weiß 
(Aus  dem  4.  Hefte  des  Karlsruher  Radirvereins.)  .  Zu 
Christus  predigend  (Le  petit  bi  Tombe);  R.adirung  von 

Bembrandt  (B.  07) . 

fl’i'edigt  Johannes  des  Täufers;  Fresko  von  Ghirlandajo 

*  in  Sta.  Maria  Novella  in  Florenz . Zu 

Kaiser  Wilhelm  -  Denkmal  in  Aachen ;  Entwurf  von 

II.  Maison  in  München . 

ifReiterstandbild  vom  KaiserWilhelm-Denkmal  in  Aachen; 

Entwurf  von  II.  Maison  in  München  ....  Zu 
*Das  0]ifer  Abrahams  am  Hauptportale  der  Kirche  S. 

Petronin  in  Bologna.  Von  Jacopo  delUi  Qnercia 
*Ma,donna  mit  dem  Kinde  am  Han])tportalo  der  Kirche 
S.  I’etronio  in  Bologna.  Von  .Jncoj>o  della  Qnercia 
{*  Aus  dem  Werke:  .laeopo  della  Qnercia.  Von  C.  C.ornelins. 
Halle,  W.  Knai)ii,  189(1.) 

^  fDer  Stempelschneider  von  Damaskus;  Ölgemälde  von 
M.  Babes\  Radirung  von  F.  Krosteivitx,  .  .  .  Zu 

fSie  schieden  aus  dem  Land  der  Leiden;  Ölgemälde 
von  IF.  Mällor-Schoencfcld;  radirt  von  F.  Krosfeiriiz, 
Die  Furie;  Elfenbeinarbeit  von  J.  Gclegir,  Holzschnitt 

von  Kdseberg  d'  Oertel . 

Der  Venusberg.  Elfenlieingruppe  von  Fd.  Boinlxntx  . 
ln  hoc  signo  vinces;  Elfenbeingruppe  von  Charles  ran 

der  Stoppen . 

Die  geheimnisvolle  Spliinx;  Elfenbeingruppe  vonCharles 

ran  der  Slappen . 

Apollo  von  Belvedere ;  Photographie  Alinari  (unrichtige 

Aufnahme) . 

Aiiollo  von  Belvedere;  nach  dem  Stich  von  Marc  Anton 

Raimondi . 

Kajdtolinische  Venus;  Photographie  Alinari  .  .  .  . 

Mediceische  Venus;  Photographie  Brogi . 

Venus  Kallipygos;  Photograpliie  Brogi  (unrichtige  Anf- 

nahme) . 

*Südlicher  Turm  der  Kathedrale  St.  Gatien  in  Tours. 

Holzschnitt  von  Kdseberg  d-  Oertel . 

*H6tel  Gonin  in  Tours . 

*Haus  in  Tours . 

*Kirche  Notre  Dames-des-Doms  in  Avignon  .  .  .  . 
(*  Nach  dem  Werke  von  C.  Gurlitt:  Die  Baukunst  Frank¬ 
reichs;  2(10  Tafeln.  Dresden,  189fi.  Gilbers.) 

**Säule  und  Gebälk  aus  den  Thermen  der  Agrijipa 
(**  Aus  dem  Werke  von  A.  Schneider:  Das  alte  Rom. 

Leiiizig,  189(!.  B.  G.  Teuhner.) 

IfEntdecktes  Geheimnis;  Originalradirung  von  F. 
Schmutzer . Zu 


292 

293 

244 

245 
247 
254 

274 

275 
277 

277 

278  ■ 

279  y 

V" 

28U 

304 

284 

285 

286 
287  i 
295 


295 
290 

296 


296 


299 

300 
.301 
302 


303 


304 


INHALTSVERZEICHNIS. 


V 


Roinholfl  Begiis;  nach  einer  Photographie . 

.■Sarkophag  Kaiser  Friednehs  iiii  j\Iausoleum  hei  der 
Friedenskirche  zu  Potsdam  von  I!.  ISiyris  .... 
Merkur  und  Psyche.  i\rarmorgruppe  von  i/.  Bcf/a.t  .  . 

.\dolf  Menzel.  Marmoihüste  von  L‘.  Begas . 

Grundriss  des  Kaiser  M^ilhelm-Denkmais  in  Berlin  . 
Das  Kaiser  Wilhelm-Denkmal  in  Berlin  (Mittelgruiipe) 

von  U.  Brqas  (nach  dem  Gipsmodell) . 

Sir  George  Scharrt';  gemalt  von  11 .  Oiilcss . 

'l'homas  Carlyle;  Büste  von  B.  BUhm . 

Charles  Darwin;  gemalt  von  Jahn  ('ol/irr . 

eil.  .1.  Fo.x;  gemalt  von  K.  .1.  Ihcke! . 

(leorgina  S'pencer,  Herzogin  von  Devonshiie,  genitilt 

von  RrgnoJds . 

Barhara  Villiers,  Herzogin  von  Cleveland;  gemalt  von 

I.rlg . 

.lohn  tUiurchill,  Herzog  von  Marlborough,  gemalt  von 

C.  . . 

G.  Bomney,  Selhstporträt . 

Sarkophag  aus  Perugia . 

oS.  Agnese  Fnori  Ic  Älura . 

■■Der  Felsendom  in  Jerusalem.  . 

{*  .‘\ns  dem  Werke:  F.  X.  Kraus,  Geschichte  der  elirist- 
liclien  Kunst,  Baud  I.  Freihurg,  Herder,  ISPfi.) 
tAus  Alt-Straßhurg:  Langstraße  ruit  Alt-8t.  Peter. 

Originalradirung  von  .1.  Kiirttge . 7ai 

tKassandra.  Marmorfigur  von  Max  kUuger.  Farhen- 
lichtdruck  von  Sinscl  &  Co.  in  Leipzig  ...  Zu 

Kopfleiste,  gezeichnet  von  Max  Klmgcr . 

Max  Klinger  bei  der  Arbeit;  Ölgemälde  von  K.  Sfocring-, 

Holzschnitt  von  Käsrherg  <('•  Ocrid . 

Studien  zur  Salome  von  Max  Khngrr.  Pastellbild  im 
Besitze  des  Herrn  Dr.  J.  Vogel  in  Leiiizig  .... 
Bildnis  eines  Knaben;  getuschte  Federzeichnung  von 

Max  KUuger . 

Der  'i’od  am  Grabe;  Federzeichnung  von  .l/«.i-  KUuger 
■lohannes  predigt  in  derWüste;  getuschte  Federzeichnung 

von  Max  Kliugrr  . . 

Das  Ende;  getuschte  Federzeichnung  von  Max  KUuger 
Ein  altes  liied;  Federzeichnung  von  Max  KUuger  .  . 

Sdireibendes  Miidchen;  getuschte  Feilerzeichnung  von 

Ma.c  KUuger . 

„Zum  weißen  Schwan“,  Straße  in  Grötzingen;  Feder¬ 
zeichnung  von  Max  KUuger . 

Kreuzabnahme;  getuschte  Federzeichnung  von  Max 

Kl  ingcr . 

Eine  Vision;  getuschte  Federzeichnung  von  Max  KUuger 
Alädehen  am  Strande;  Federzeichnung  von  Max  KUuger 
Hamlet  uml  der  Geist;  getuschte  Federzeichnung  von 

Max  KUuger . 

Das  Ur-Nichts;  Federzeichnung  von  Max  KUuger  .  . 

Eingangsthor  zar  historischen  Abteilung  der  Millenniums¬ 
ausstellung  in  Budapest;  Architekt  Alpär  .  .  . 

Nachbildung  der  Stiftskirche  zu  Jak  in  der  historischen 
Abteilung  der  Millonniumsaussf ellung  in  Budapest; 

Architekt  ■/.  Alpär . 

Barockbau  in  der  historischen  Abteilung  derMillenniums- 
ausstellung  in  Budapest;  Architekt  J.  Alpär .  .  .  . 

Calvaiienberg  des  Königs  Matthias  Gorvinus  .  .  .  . 

Galvarienberg  des  Königs  Matthias  Gorvinus  (oberer  Teil) 
Galvarienberg  des  Königs  Matthias  Gorvinus  (Basis)  . 
tGluistus  vor  den  Hohenpriestern.  Tuschzeichnung  von 
Ma.c  KUuger-,  Lichtdruck  von  Sinsel  &  Go.  in  Leipzig. 

Zu 


.‘Seite 

129 

132 

13ß 

137 

140 

141 
143 

143 

144 

144 

145 

145 

146 

147 

149 

150 

151 


152 

153 

153 

154 

1.55 

1.56 

157 

158 

159 

160 

160 

161 

162 

163 

104 

105 
100 

168 


109 

170 

172 

173 
175 


100 


Seite 


fDie  Tempelreinigung.  Ölgemälde  von  Domenico  Tlieofo- 
eojuili  in  der  Galerie  des  Earl  of  Yarborough  in  Lon¬ 
don.  Heliogravüre  von  II.  < !.  Briuchuaun  in  Leipzig.  Zu  177 
Bildnis  des  Giulio  Glovio.  Ölgeml'ilde  von  Douicnien 
TheoiocopuU  im  Museum  zu  Neapel.  Holzschnitt  von 

R.  Bcrtliold . 177 

Die  Heilung  des  Blinden.  Ölgemälde  von  Douicnico 

Thcotocopuli  in  der  Galerie  zu  Parma . 180 

Die  Heilung  des  Blinden.  Ölgemälde  von  Domenieo 

TheoiocopuU  in  der  Dresdener  Galerie . 181 

Die  vier  Künstler;  Ausschnitt  aus  der  Tempelreinigung. 
Ölgemälde  von  Douicnico  TheoiocopuU  in  der  Galerie 

des  Earl  of  Yarborough  in  London . 183 

Die  Puerta  del  Sol  in  Toledo . 257 

Die  Kirche  San  Giorgio  dei  Greci  in  Venedig.  .  .  .  260 

Toledo  von  der  Alcäntara- Brücke  gesehen . 261 

Engelskopf  aus  der  Krönung  der  Jungfrau  von  Filippo 

l/ippi  in  der  Akademie  zu  Florenz . 185 

Engelsköpfe  aus  der  Krönung  Mariä  (dem  sog.  Magni- 
ficat)  von  S.  BotUcelli  in  den  Uffizien  zu  Florenz  .  186 

Engelsköpfe  aus  der  Taufe  Christi  von  Vcrrocchio  .  .  186 

Kopf  der  Madonna  aus  der  Madonna  mit  dem  Jesus- 
knahen  von  Filippo  Lippi  im  Palaste  Pitti  zu  Florenz  187 


Kopf  der  Madonna  aus  der  Krönung  Mariä  (dem  sog. 

Magnificat)  von  S.  Bolticclli  in  den  Uffizien  zu  Florenz  187 
Dienerin  aus  der  Madonna  mit  dem  Jesusknaben  von 


Filippi  Lippi  im  Palaste  Pitti  zu  Florenz  ....  187 

Die  Verläumdung  des  Apelles  von  U.  Botticelli  in  den 

Uffizien  zu  Florenz .  .  188 

Der  Frühling  von  S.  Botticelli  in  der  Akademie  zu  Florenz  189 
Ausschnitt  aus  der  Anbetung  der  Magier  von  8.  BoUieelU 

in  den  Uffizien  zu  Florenz . 190 

Die  Krönung  Mariä  (das  sog.  Magnificat)  von  S.  Botticelli 

in  den  Uffizien  zu  Florenz . 191 

Die  Verkündigung  von  Picro  Pollajuolo  im  Kgl.  Museum 

zu  Berlin . 192 

Drei  Heilige  von  Auloiiio  uml  Picro  Pollajuolo  in  den 

Uffizien  zu  Florenz . 193 

Der  junge  Tobias  mit  Engeln  von  8.  Bottieelli  in  der 

Akademie  zu  Florenz . 194 

Die  Botte  Korah.  Freskogemäldo  von  8.  Botticelli  in 
der  Sixtinischen  Kapelle  des  Vatikans  zu  Born  .  .  195 

*Der  griecliische  Tempel  auf  dem  Forum  tria,ngula,re  in 

Pompeji . 199 

■■■‘Buine  des  Jupitertempels  in  l’ompeji . 200 

*Bekonstruktion  des  Jupitertempels,  der  Triumphbögen 

und  der  Forumshallen  in  Pompeji . 201 

’^lviiine  des  Nerobogens  in  Pompeji  (Nordseite)  .  .  .  202 

‘Mlekonstruktion  des  Nerobogens  in  Pompeji  ....  203 

*Bekonstruktion  des  Nerobogens  in  Pompeji  ....  203 

*Buine  iles  Tempels  der  Fortuna  Augusta  in  Pompeji  (vgl. 

die  Lichtdrucktafel) . 204 

^f*'l'empel  der  Fortuna  Augusta.  Rekonstruktion;  ver¬ 
kleinerter  Lichtdruck . Zu  204 


(*■  Aus  dem  Werke:  Poiniiei  vor  der  Zerstörung.  Eekon- 
striiktionen  der  Tempel  und  Ihrer  Umgebung.  Von  C. 
Weichardt,  Architekt.  Leipzig,  Kommissionsverlag  von 
K.  F.  Köhler,  1897.) 

**Fran^'ois  de  Theas  Gomte  de  Thoranc.  Holzschnitt 

von  Kaseherg  K  Oertcl . 207 

**Landschaft  von  Schütz  d.  ü . 208 

(**  Aus  dem  Wei'ke  von  M.  Schubart:  Goethes  Königs- 
,  lieutenant.  München,  1896.  F.  Bruckmann  ) 

(fViceuza.  l.llgemälde  von  L.  Dill.  Heliogravüre  von 
'  Dr.  E.  Albert  d-  Co.  in  München . Zu 


209 


Der  Dlbei’g  zu  Offeiiljurg-, 


r.  r- 


ÖLBERG  UND  OSTERSPIEL 
IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 

VON  J5’.  BAU  MO  ARTEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


EITVERBIvülTET  war  im  1 5.  und  1 6.  Jahr¬ 
hundert  der  fromme  Ilranch,  die  Erinne- 
rnng  an  Christi  Seelenkamjif  zu  Geth¬ 
semane  am  Abend  des  Gründonnerstags 
auf  dem  Gottesacker  außerhalb  der  Kirche 
mit  Büßpredigt,  Gesang  und  Gehet  zu 
begehen. ')  Was  lag  da  näher,  als  für  diesen  Gottes¬ 
dienst  im  Freien  nun  auch  einen  Mittelpunkt  zu  schaffen, 
indem  man  inmitten  der  Gräber  eine  plastische  Dar¬ 
stellung  jenes  ergreifenden  Vorgangs  sich  eidieben  ließ? 
So  entstanden  damals  allerorten  vor  den  Kirchen  die 
sogenannten  „Olberge“;  ein  solcher  gehörte  um  1.500 
gewissermaßen  zum  Inventar  einer  jeden  Pfarrkirche.-) 
In  späterer  Zeit  verlor  sich  jene  schöne  Sitte.  Die 
Friedhöfe  wurden  in  der  Regel  vor  die  Stadtmauer  ver¬ 
wiesen,  die  Ölberge  aber  mussten  in  der  jetzt  profa- 
nirten  Umgebung  entschieden  deplacirt  erscheinen,  sie 
hemmten  wohl  gar  den  V^erkehr  auf  dem  Kirchplatz, 
kurz,  man  brach  sie  an  den  meisten  Orten  ab  und  ver¬ 
wies  sie  in  eine  Krypta  oder  Seitenkapelle  der  Kirche, 
wo  nicht  gar  in  die  Magazine.  So  gehören  im  Freien 
stehende,  in  ihrer  ursprünglichen  Aufstellung  erhaltene 
Ölberge  heutzutage  zu  den  Seltenheiten. 

Einzig  in  seiner  Art,  was  gute  Konservirung  be¬ 
trifft,  ist  der  Ölberg  im  badischen  Anitsstädtchen  Offen- 
hiirg  an  der  Kinzig.  Er  ist  wenig  bekannt  —  wer 
sucht  auch  in  dieser  an  Kunst  und- eigener  Geschichte 
sonst  so  armen  Stadt  ein  so  hervorragendes  Monument? 
—  und  doch  ist  von  ihm  auszugehen,  wenn  man  sich 
von  der  künstlerischen  und  gemüterhebenden  Wirkung 
dieser  Denkmälergattung  eine  Anschauung  verschaffen  will. 
Noch  an  seiner  ursprünglichen  Stelle  auf  dem  alten 
Friedhof  hinter  der  Pfarrkirche  erhebt  es  sich;  grünende 
Büsche  und  einige  Grabsteine  aus  dem  letzten  Jahr- 


1 )  Mehrftich  "wird  eine  Kanzel  neben  dem  (Jlberg  im 
Freien  ei-wähnt.  Das  15.  Jahrhundert  kannte  eigene  „Ölberg¬ 
lieder“. 

2)  Vgl.  die  noch  lange  nicht  vollständige  Aufzählung 

derselben  bei  „Der  Ölberg  zu  Speyer“,  S.  Gtf. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  1. 


hundert  bilden  seine  Umgebung,  der  Ijärm  des  Tages 
bleibt  der  Stätte  fern.  So  ist  dieser  Ölberg  noch  heute 
wohl  im  Stande,  auf  empfängliche  Beschauer  einen  er¬ 
greifenden  Eindruck  zu  machen. 

Er  steht  in  einer  Art  von  gotischer  Kapelle,  deren 
bunt  bemaltes  Netzgewölbe  sich  in  hohem  Rundbogen 
gegen  den  Ilaupteiugang  der  Kirche  öffnet.  Im  Eck¬ 
pfeiler  rechter  Hand  ist  eine  Laterne  ausgehöhlt,  mit 
einem  Thürchen  nach  außen  und  einer  EViisterrahmung 
nach  dem  Bildwerk  zu.  Die  ewige  Lampe,  die  hier  wohl 
brannte,  warf  des  Abends  ihren  Schein  gerade  auf  die 
Hauptfigur,  den  knieenden  Heiland. 

Das  Prinzip,  nach  welchem  die  Gestalten  des  1)1- 
bergs  an  geordnet  sind,  erinnert  einigermaßen  an  unsere 
modernen  Panoramen:  zuvorderst  Rundfiguren,  die  nach 
rückwärts  unmerklich  in  Hochreliefs  und  schließlich  in 
Malerei  übergehen. 

Den  vorderen  Abschluss  der  in  Terrassen  anstei¬ 
genden  Scene  —  denn  an  eine  solche  fühlt  man  sich 
lebhaft  erinnert  —  bildet  fasch inenartiges  ETechtwtrk; 
es  soll  die  Erde  des  Vordergrundes  halten  und  ist  zu¬ 
gleich  eines  der  Mittel,  wodurch  die  Scenerie  als  Garten 
gekennzeichnet  wird.  Allerhand  Blumen  und  Kräuter 
von  Stein  sprießen  zwischen  den  Faschinen.  Ein  zier¬ 
lich  geformtes  Täfelchen,  das  an  dem  Flechtwerk  Ije- 
festigt  ist,  trägt  ein  später  zu  besprechendes  Künstler¬ 
monogramm  und  die  Jahreszahl  1524,  während  ein 
zweites  Täfelchen  von  gleicher  Form  uns  meldet,  dass 
1820  das  Denkmal  renovirt  w’urde. 

Auf  dieser  vordersten  und  zugleich  tiefsten  Terrasse 
nun,  die  von  den  Faschinen  gehalten  wird,  sind  die  drei 
Jünger  des  Herrn  symmetrisch  verteilt.  Linker  Hand 
sehen  wir  im  tiefsten  Schlafe  hingestreckt  Jakobus; 
seine  Rechte  hält  noch  das  Buch,  wajrin  er  zuletzt  ge¬ 
lesen.  Johannes  nimmt  die  Mitte  ein;  ersitztaufeinem 
aus  unregelmäßigen  Steinen  aufgeschichteten  Sitze.  Das 
])artlose,  von  Locken  umrahmte  Haupt  hat  er  in  die 
Linke  gestützt,  die  Augen  sind  im  Halbschlummer  ge¬ 
schlossen,  doch  die  Rechte  blättert  noch  mechanisch  in 
einem  Buche,  das  auf  seinem  linken  Knie  liegt.  Rechts 

1 


OLBERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


2 

in  clor  Ecke,  dein  Jakobiis  linker  Hand  entsiirecliend, 
kauert  Petrus.  Er  hat  sich  soeben  von  der  Erdi'  anf- 
o-erichtid.  offenbar  durch  den  Waffenlänn  der  ini  Ilinter- 
g-rund  aul'tauclienden  Häscher  geweckt.  Nur  mühsam 
bringt  er  die  von  Schlafeucht  schweren  Lider  ausein¬ 
ander  und,  die  seinem  Meister  drohende  Gefahr  er¬ 
kennend,  tastet  er  nach  seinem  Scliwert,  das  samt  Welir- 
gehäng  vor  ihm  an  der  Erde  liegt.  Das  clioh'.rische 
Temiierament  des  Aiiostels  kommt  ebenso  in  den  ener¬ 
gischen  (lesichtszügen  wie  im  Faltenwurf  seiner  Ge¬ 
wandung  zum  Ausdruck:  es  ist.  wie  wenn  der  Sturm 
in  dem  weiten  Mantid  wühlte,  der  ihm  zu  hlä.upten 
flattert. 

Hinter  den  drei  Apostelgestalten  erhebt  sich  das 
Gelände  zu  einer  zweiten  Terrasse.  Diesmal  nicht  durch 
Faschinen,  sondern  durch  eine  Art  von  Weinbergmauer 
gestützt.  -Auch  an  ihr  wachsen  allerhand  Blumen  und 
Ranken  hinauf,  deutlich  lassen  sich  Farrenkräuter  und 
Disteln,  auch  Wegerich-  und  Erdbeerstauden  unter¬ 
scheiden,  echt  deutsclie  Pflänzchen,  die  in  der  Flora 
Paläs  tina’s  kaum  Vorkommen  dürften.  In  den  Lücken 
und  Ritzen  der  mit  Absicht  unregelmäßig  geschichteten 
Mauer  brachte  der  Künstler  allerhand  kleines  Getier  an, 
vor  allem  fette  Weinbergschnecken,  doch  auch  eine  Kröte, 
der  eine  Schlange  naclistellt,  eine  zierliche  Eidechse  und 
ein  allerliebstes  Mäuschen.  Man  könnte  versucht  sein, 
im  Sinne  der  mittelalterlichen  Bilder.sprache  diese  Tiere 
symbolisch  zu  verstehen,  also  die  Schnecke  etwa  auf 
die  Trägheit,  die  Kröte  auf  .Tudas,  die  Eidechse  auf  die 
Pharisäer  zu  deuten.  Aber  was  fangen  wir  dann  mit 
dem  Mäuschen  an?  Diese  liebenswürdigen  Zuthaten  von 
Getier  und  Blumen,  erinnern  sie  nicht  an  die  Treue  im 
Kleinsten,  wie  sie  unsere  alten  Maler  auch  übten,  wie 
sie  einen  Schongauer  und  Zeitblom,  einen  Hans  Baidung 
uns  so  rührend  macht,  wie  sie  allerneustens  wieder  in 
den  Zeichnungen  Max  Klinger’s  vielfach  uns  entgegen  tritt? 

Die  Terrasse  nun,  welche  diese  naturalistisch  mit 
Flora  und  Fauna  ausgestattete  Mauer  stützt,  steigt  von 
links  nach  rechts  ein  wenig  an  und  trägt,  als  einzige 
Gestalt,  den  Heiland.  Im  Pi'ofil  nach  rechts  gewandt 
kniet  er  mitten  im  Raum,  also  gerade  über  dem  Johannes 
der  untern  Terrasse,  Die  zum  Gebet  gefalteten  Hände 
sind  meisterhaft  geformt;  man  sieht  alle  Adei'n  und 
selbst  die  feinsten  Fältchen  an  den  Gelenken.  Das 
lockige  Haupt  —  es  könnte  modern  sein,  so  vollendet 
ist  die  Haarbehandlung  —  erhellt  Christus  etwas  nach 
oben,  einem  kleinen  Engelbihle  zu,  das  mit  Kelch  und 
Kreuz  von  der  Höhe  eines  Steinwürfels ')  hernieder- 

1)  Mit  diesem  SteinwürM  hat  es  noch  eine  besondere 
Bewandtnis.  Er  ist  nändieli  hold  und  die  Steinplatte,  welche 
den  Engel  trägt,  verschließt  zugleich  einen  geheimen,  unter¬ 
irdischen  Gang,  der  einst  von  hier  bis  vor  die  Stadtmauer 
lülirte.  Besser  konnte  man  diesen  Eluchtweg  wohl  nicht 
maskiren,  als  indem  man  seinen  Eingang  mitten  in  das 
fromme  Bildwerk  verlegte 


schwebt.  Dieser  Sfeiuwürfel  zeigt  dieselbe  unregel¬ 
mäßige  Struktur,  wie  die  vorhin  beschriebeue  Stütz¬ 
mauer,  als  deren  erhöhte  Fortsetzung  er  sich  darstellt. 
Die  unregelmäßigen  Bruchsteine  und  Platten  überspinnt 
sorgfältig  ausgemeißelter  Epheu;  auch  die  Schnecke  fehlt 
nicht,  die  aus  einem  Spalt  hervorlugt. 

Hinter  Jesus,  parallel  mit  der  Gartenmauer,  zieht 
sich  eine  meterhohe  Bretterwand  durch  den  Raum. 
Sorgfältig  ist  die  Struktur  des  Holzes,  die  Nagelung 
der  einzelnen  Bohlen  im  Steine  wiedergegeben.  Farren¬ 
kräuter  und  Epheu  und  eine  ganz  besonders  schöne, 
großblätterige  Staude  waclisen  an  ihm  empor.  Am  linken 
Ende  öffnet  sie  sich  in  einer  stattlichen  Gartenpforte, 
deren  Pfosten  eine  kleine  Überdachung  tragen,  die  in 
Höhe  und  Breite  ein  gutes  Pendant  zu  dem  Steinwürfel 
rechter  Hand  bildet.  Hinter  der  Bretterwand,  bis  in 
Brusthöhe  von  ihr  verdeckt,  werden  die  jüdischen  Häscher 
sichtbar.  Sie  ziehen  von  rechts  heran  —  wieder  hat  man 
ganz  den  Eindruck  der  Bühne  —  und  haben  beim  Anblick 
des  Heilands  zum  Teil  Halt  gemacht,  um  ihre  Waffen 
in  Bereitschaft  zu  setzen  und  mit  fragender  Geberde 
teils  einander,  teils  ihr  Opfer  anzuschauen.  Offenbar  ist 
es  ihnen  wenig  wohl  zu  Mut  dem  frommen  Beter  gegen¬ 
über,  der  in  seiner  inbrünstigen  Andacht  sie  gar  nicht 
bemerkt;  vortrefflich  hat  der  Künstler  durch  diesen  Zug 
die  feige  Heimtücke  des  ganzen  Überfalls  zum  Ausdruck 
gebracht.  Durch  die  weit  aufgestoßene  Gartenpforte, 
deren  altertümliches  Schloss-  und  Riegelwerk  bis  ins 
Kleinste  getreu  wiedergegeben  ist,  drängen  bereits  die 
Schergen  ein:  noch  einen  Augenblick,  und  die  ver¬ 
räterische  That  vollzieht  sich.  Allen  voran  schleicht 
Judas  in  den  Garten;  mit  der  Rechten  hält  er  den  un¬ 
vermeidlichen  Geldbeutel,  die  linke  Hand  zieht  das  lange 
Gewand  etwas  hoch,  so  dass  die  zierlich  wie  zum  Tanz 
gesetzten  Füße  sichtbar  werden.  Das  leise  Heran¬ 
schleichen  des  Verräters  wird  dadurch,  freilich  ein  wenig 
unbeholfen,  angedeutet.  Judas  ist,  und  gewiss  nicht 
ohne  Alisicht,  auffallend  klein  und  unansehnlich  gebildet; 
gleichwohl  hebt  er  sich  von  den  nachfolgenden  Schergen 
als  ein  AVesen  höherer  Gattung  ab.  Denn  während  sich 
uns  jene  nach  Antlitz  und  Gewandung  als  echte  Kinder 
des  IG.  Jahrhunderts  darstellen,  bemerken  wir  an  .ludas 
und  in  noch  höherem  Maße  an  Jesus  und  den  drei 
Aposteln  eine  ideale  Gesichtsbihlung  und  eine  Art  von 
klassischem  Kostüm.  Weit  und  faltig,  wie  ein  Talar, 
fließt  der  lange  Mantel  um  die  Leiber  der  Heiligen,  die 
Gesichter  aber  zeigen  über  die  Natur  geformte  Züge 
und  ein  überreichliches,  stilisirtes  Lockenhaar.  Ganz 
anders  die  Schergen.  AVie  die  Juden  zu  Jesu  Zeiten 
liekleidet  und  bewaffnet  waren,  das  wusste  im  16.  Jahr¬ 
hundert  in  Deutschland  niemand;  ohne  Skrupel  kostü- 
mirte  man  sie  wie  die  eigenen  Zeitgenossen.  Dieser 
Anachronismus,  vor  dem  bekanntlich  selbst  ein  Dürer 
nicht  zurückschreckte,  hatte  auch  für  unsern  Meister 
nichts  Bedenkliches.  Und  so  entfaltete  er  in  seinen 


OLBEIIG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


3 


Häscliergestalteu  ein  detailirtes  Kostünibild  seiner  Zeit. 
Da  selien  wir  neben  Platten-  und  Kettenpanzern  ge¬ 
steppte  Lederwäinse  und  offene  Leibröcke,  neben  Helmen 
mit  und  ohne  Visier  eine  bunte  Mannigfaltigkeit  von 
Hüten  und  Mützen.  Ebenso  unerliört  für  Zeitgenossen 
Jesu  sind  zu  einem  guten  Teil  die  Waffen  und  Geräte, 
welche  die  Häscher  mit  sich  führen.  Gegen  den  Strick, 
welclien  der  tölpelhafte  Mann  neben  Judas  (Malchus?) 


Handlaterne,  die  ein  würdiger  Mann  in  Beamtentracht 
über  den  Gartenzaun  hält,  zeigt  eine  Form,  wie  sie  noch 
heute  in  deutschen  Haushaltungen  vorkommt,  und  ebenso 
ist  der  liohe  Pechkranzbehälter  in  der  Hand  eines  anderen 
Mannes  uns  aus  Sainmluugen  mittelalterlicher  Geräte 
geläufig. 

Doch  nicht  nur  für  die  Kleider  und  Waffen,  auch 
für  die  Physiognomieen  der  Häscher  sind  allem  Anschein 


3.  Der  Ölberg  in  Neuft'eu. 


zur  Fesselung  bereit  hält,  ist  nichts  einzuwenden.  Des¬ 
gleichen  hat  die  Feldflasche,  aus  der  sich  der  hinterste 
Mann  für  das  Abenteuer  guten  ]\Iut  trinkt,  streng  ge¬ 
nommen  auch  für  einen  Stadtpolizisten  aus  Jerusalem 
nichts  Auffallendes,  so  specifisch  deutsch  sie  uns  auf 
den  ersten  Blick  anmutet.  Aber  drollig  macht  es  sich, 
wenn  einer  der  Häscher  die  Kurbel  einer  Armbrust 
dreht,  ein  anderer  einen  eisernen  Streithammer  fühi-t  und 
einer  der  vordersten  gar  mit  einer  richtigen  Muskete 
zum  Gartenpförtchen  hereinstiirmt.  Auch  die  geöffnete 


nach  unserm  Künstler  seine  eigenen  Zeitgenossen  Modell 
gestanden.  Daher  der  geradezu  packende  Realismus  in 
diesen  Gesichtern;  ist  es  uns  doch,  als  wären  wir  den 
meisten,  nur  freilich  anders  kostümirt,  soeben  erst  im 
Städtchen  begegnet. 

Hinter  dieser  laugen  Linie  von  Offenburgern  des 
16.  Jahrhunderts  beginnt  nun  der  flache  Relief hintcr- 
gruiid.  Er  zeigt  rundliche  Hügel  gleich  denen,  welche 
die  unmittelbare  Umgegend  Offenbui'gs  bilden.  Auf  den 
Hügeln  stehen  vereinzelte  Bäume,  ungeschickt  und  steif 

1* 


4 


(■;L3ERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


v.i;;  ,uis  .ivi'  Nüi'iiiK'iaer  Taadschachtel.  Iin  Schatten 
dev  jjann.v  .;iu,l  massive  Sitzhänke  angebracht,  ans 
r.:;iid.  n,  vicn  cknrt'ii  Steiubalken  bestehend.  Auch  zu 
di^  .sen  itinkeu  wird  der  Künstler  die  Vorbilder  in  der 
thiViii.urger  Gegv-ud  gefunden  haben,  wo  noch  heute 
~  .,i;isc;!ve  .Subsellien  mehrfach  in  Gebrauch  sind. 

Im  S'.igisns.s  zwischen  zweien  der  Hügel  —  wieder  ganz 
wi,;  auf  einer  Ilühne  —  werden  die  Köpfe  und  Helle- 
tcivden  von  einigen  weiteren  Häschern  sichtbar,  die  sich 
vm-spätet  haben.  Sie  kommen  aus  einem  Thore 
Jerusalems,  dessen  mittelalterlich  geformte  Giebeldächer, 
d'horuirme  und  Mauerzinnen  die  Hügel  überragen.  Auch 


Sehr  geschickt  und  fast  umnerklich  vollzieht  sich 
endlich  der  Übergang  von  diesem  Flachrelief  zum  bloß 
gemalten  Hintergrund.  Man  sieht  ein  Briiekenthor  und 
eine  steinerne,  vierbogige  Brücke,  auf  den  Welleri  des 
Flusses  einige  Kähne,  am  Ufer  aber  drei  Landsknechte 
mit  Hellebarden  und  Morgensternen,  die  sich  eben  an¬ 
schicken,  ihren  Kameraden  zuin  Garten  uachzueilen.  Der 
fernere  Hintergrund  zeigt  eine  hügelige  Landschaft  am 
Flusse;  eine  der  Hohen  ist  durch  zwei  Kreuze  als 
Golgatha  gekennzeichnet.  Leider  musste  dieser  Teil 
des  Gemäldes,  der  sehr  verwittert  war,  bei  der  Renovation 
vollständig  neu  gemacht  werden;  der  Baumschlag  sowie 


4.  Der  Ölberg  zu  .Straßburg. 


für  diesen  Teil  des  Bildes  könnte  Offenburg  selbst  dem 
Künstler  manches  Motiv  geliefert  haben.  Freilich  nicht 
die  offene  Stadt  von  heute,  die  nur  von  ihren  zwei 
Kirchtürmen  und  einigen  Schornsteinen  überragt  wird, 
sondern  jene  alte  Reichsstadt  Offenburg,  wie  sie  unserm 
Meister  sich  darstellte,  eingefasst  von  einer  wehrhaften, 
zinnenbekrönten  Mauer  und  einem  reichen  Kranz  statt¬ 
licher  Thortürme.  Vielleicht  ist  es  doch  mehr  als  ein 
bloßer  Zufall,  dass  zwischen  dem  größten  der  Jerusalemer 
Thore  und  dem  Offenburger  Stadtwappen ')  eine  frappante 
Ähnlichkeit  besteht. 

1)  Es  ist  dies  ein  „redendes“  Wappen  und  stellt  ein 
offenes  Burgthor  dar.  —  Ich  will  übrigens  nicht  verhehlen, 


das  Rokoko-Tempelchen  in  der  Ferne  verrät  nur  zu 
deutlich  den  modernen  Malermeister.  Die  Farben  sind 

dass  der  oben  angestellte  Versuch,  zwischen  den  ini  Bild¬ 
werk  angedeuteten  Gebäuden  .lerusalems  und  denen  Alt- 
Off'enburgs  eine  Beziehung  aufzuffuden,  mancherlei  gegen 
sich  hat.  Ebensowenig  wie  auf  den  Wandgemälden  der 
l’ompejaner  auch  nur  ein  einziges  Mal  die  grandiosen  Linien 
von  Capri  oder  vom  Monte  S.  Angelo  in  erkennbarer  Wieder¬ 
gabe  erscheinen,  ebensowenig  war  es  allem  Anschein 
nach  bei  deutschen  Künstlern  dieser  Zeit  Sitte ,  in  ihren 
Hintergründen  die  heimatliche  Gegend  und  die  Gebäude  der 
eigenen  Stadt  erkennbar  zu  schildern.  Die  künstlerische 
Phantasie  mied  es,  sich  dergestalt  Schranken  zu  setzen. 
Dürer  z.  B.  ist  in  seinen  berühmten  Hintergriuiden  durchaus 
frei  schaffend  verfahren.  Es  kommt  da  wohl  der  eine  oder 


ÜLBERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


5 


ihm  leider  nicht  besonders  geglückt,  der  Hintergrund 
ist  offenbar  zu  bunt  geraten  im  Vergleich  zu  der 
schlichten  Farbengebung  an  den  Figuren  und  Reliefteilen. 
Denn  das  ganze  Werk  war,  um  das  hier  nachzutragen, 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  polychrom.  Am  wenigsten 
noch  die  Figuren,  bei  denen  man  sich  im  Großen  und 
Ganzen  an  dem  schönen,  natürlichen  Rot  des  Sandsteins 
genügen  ließ,  nur  dass  die  Augensterne,  wenn  man  dem 
Renovator  trauen  darf,')  dunkel  gemalt  waren.  Auch 
die  Gewänder,  Waffen,  Geräte  blieben  farblos,  mit  Aus¬ 
nahme  der  Eisenteile,  die  schwarz  gefärbt  wurden. 
Hemalt  war  der  ganze  Reliefgrund,  bemalt  durchgehends 
die  Pflanzen,  die  sich  durch  hellgrüne  Färbung  vom 
Rot  der  Mauersteine  abhoben. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  Künstler  des  Offen¬ 
burger  Ölbergs.  Das  schon  erwähnte  Monogramm  zeigt 
zwei  verschlungene  Duclistaben,  die  am  ehesten  noch 
als  A  und  V  oder  U  sicli  deuten  lassen.  Dasselbe 
Monogramm  tindet  sich  an  einem  vielliewunderten  Kru¬ 
zifix,  das  nicht  weit  davon  auf  demselben  Oft’euburger 
Friedhof  steht.  Man  hat  einen  Andreas  üraceusis  (d.  i.  von 
Urach)  daraus  lierauslesen  wollen  —  mit  anfechtbarem 
Recht.  In  etwas  späterer  Zeit  ist  allerdings  ein  Ui’acher 
Meister  Christoph  wie  an  andern  badischen  Plätzen  so 
auch  in  Offenburg  thätig  gewesen  und  schuf  dort  ein 
hervorragend  schönes  Grabmal  für  einen  gewissen  Ritter 
von  Hach.  2)  Aber  das  giebt  uns  natürlich  nocli  lange 
kein  Recht  dazu,  aus  A  und  V  einen  Meister  Andreas 


von  Urach  zu  konstruiren. 


Auch  das  Steinmetzzeichen 


im  Schlussstein  der  Nische  führt  uns  nicht  w’eiter.'*) 
Wohl  erinnert  es  an  das  des  Meisters  Josef  Sclimid 


von  Urach 


doch  erinnert  es  auch  nur  daian.  Sieht 


man  sich  aber  in  der  Uracher  Gegend  um,  wie  dort  die 
gleichzeitigen  Ölberge  komponirt  wurden,  so  giebt  uns 
auch  diese  Vergleichung  kein  Recht,  dem  Meister  des 
Offenburger  Werkes  mit  einiger  Bestimmtheit  Urach 
zur  Heimat  anzuweisen  —  im  Gegenteil. 


andere  Turm  vor,  der  an  Nürnberger  Bauweise  erinnert;  aber 
soviel  ich  zu  sehen  vermag,  ist  nirgends  Nürnberg  direkt 
abkonterfeit.  In  der  Heimat  und  in  der  Fremde  Geschautes 
ist  vielmehr  phantastisch  kombinirt.  Mit  Vorliebe  gruppirt 
Dürer  seine  Landschaft  an  den  Ufern  eines  Sees,  wofür  ja 
otienbar  Nürnberg  nicht  vorbildlich  war;  eher  könnten 
Reiseeindrücke  von  den  oberitalischen  Seeen  hierfür  mad- 
gebend  gewesen  sein. 

1)  Vgl.  auch  die  Augensterne  des  gleich  zu  besprechen¬ 
den  Straßburger  Ölbergs. 

2)  Es  ist  außen  am  Chor  der  Pfarrkirche  in  die  Mauer 
gefügt,  leider  bisher,  soviel  ich  weiß,  nirgends  pulilizirt. 

3)  Es  kommt,  wie  Herr  Dekan  Klemm  in  Backnang  mir 
mitteilt,  ebenso  im  Netzgewölbe  des  Chors  von  Röthenberg 
bei  Oberndorf  in  Württemberg  vor. 

4)  Vgl.  Alfred  Klemm,  Württembergische  Baumeister 
und  Bildhauer,  S.  145. 


Zwei  Ölberge  aus  der  Uracher  Gegend  habe  ich 
verglichen,  den  in  Neuffen  von  1.504  und  einen  zweiten, 
leider  sehr  zerstörten,  in  dem  unfern  Neuffen  gelegenen 
Beuren.  Beide  sind  erheblich  kleiner  als  der  Offenburger, 
stehen  auch  nicht  selbständig,  sondern  nur  in  einer 
Nische  der  Kirchen  wand  selbst.  Im  übrigen  ist  ja 
freilich  allerhand  Übereinstimmung  mit  Off'enburg  zu 
konstatiren.  Auch  auf  diesen  schwä])ischen  Ölbergen 
wird  der  Garten  durch  Faschinen  angedeutet,  desgleichen 
die  Vegetation  durcli  allerhand  Grasbüschel,  die  hie  und 
da  in  den  Felsritzen  wachsen.  Reichlicher  noch  als  in 
Offenl)urg  ist  die  Tierwelt  vertreten:  zu  Schnecken  und 
Schlangen  kommen  in  Neuffen  noch  Frösche  und  selbst 
ein  Vögelchen  hinzu.  Aber  was  wollen  diese  (iberein- 
stimniungen  besagen  gegenüber  der  großen  Verschieden¬ 
heit,  die  in  einigen  Hauptpunkten  obwaltet?  Erstens 
fehlt  in  Neuffen  und  Beuren  der  ganze  landschaftliche 
Hintergrund.  Sodann  ist  die  Gartenpforte  in  die  Mitte 
gerückt,  woraus  dann  die  Notwendigkeit  erwuchs,  den 
betenden  Christus  mehr  an  den  linken  Hand  zu  schielieu. 
Die  Figuren  endlich  sind  samt  und  sonders  viel  zier¬ 
licher  und  schlanker  als  am  Offenburger  Ölberg,  sie 
gehören  zu  einer  ganz  anderen,  viel  zahmeren  Rasse.  Die 
Häscher  zeigen  zwar  auch  in  Neuffen  recht  individuelle 
Gesichter  und  unzweideutig  die  Tracht  des  16.  Jahr¬ 
hunderts.  Aber  es  fehlt  der  packende  Realismus,  der 
drastische  Humor,  es  fehleii  Zuthaten,  wie  die  Muskete 
und  Feldflasche,  die  in  Offenburg  so  erheiternd  wirken. 
Alles  in  allem  spricht  offenbar  mehr  dafür,  verschiedene 
als  gleiche  oder  auch  nur  schul  verwandte  Meister  für 
das  Offenburger  und  die  schwälnschen  Bildwerke  an¬ 
zunehmen. 

Ungleich  größer  ist  die  Verwandtschaft  des  Offen¬ 
burger  Ölbergs  mit  dem  zu  Straßhurg. ')  Derselbe 
stand  dort  seit  1498  auf  dem  neu  angelegten  Friedliof 
der  Thomaskirche  und  war  aus  der  Stiftung  eines  reichen 
Patriziers,  Nikolaus  Röder  von  Tiersburg,  errichtet. 
Nach  mancherlei  Schicksalen  kamen  die  stark  beschä¬ 
digten  Reste  dieses  bedeutenden  Kunstwerkes  ins  Mün¬ 
ster,  wo  sie  jetzt  in  der  schmucklosen,  für  gewöhnlich 
verschlossenen  Martinskapelle  einen  sehr  ungünstigen, 
ihrem  Wert  durchaus  nicht  entsprechenden  Unterschlupf 
gefunden  haben.  Nur  wenige  Straßburger  wussten  bis¬ 
her  von  der  Existenz  dieser  eigenartigen  Skulpturen. 
Endlich  im  letzten  Sommer  hatte  man  sie  aus  Anlass  der 
elsass-lothringischen  Kunst-  und  Altertumsausstellung 
aus  ihrer  Verborgenheit  ans  Licht  gezogen.  Sie  machten 
auf  dieser  Ausstellung  erhebliches  Aufsehen,  trotzdem 
ihre  Aufstellung  eine  nichts  weniger  als  glückliche  war. 
Herr  Dr.  S.  Hausmann,  der  Herausgeber  des  zur  Zeit 


1)  Vgl.  E.  Meyer- Altona,  die  Skulpturen  des  Straßburger 
Münsters.  I.  S.  77  ff.  Der  Güte  dieses  Gelehrten  sowie  des 
Herrn  Münsterl)anineisters  Schmitz  verdanke  ich  die  Ab¬ 
bildungen  4 — G. 


üLBERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


erschi-iiiendeu  Praditwerkes  ..EUässisclie  und  Lotli- 
ringiscbt'  KuiisidHiikmälei'  -  (Straßburg  bei  W.  Heinrich) 
liat  denn  auch  niclit  verfehlt,  den  Ülbei'g  bei  dieser 
(Gelegenheit  für  seine  Publikation  neu  aufzunehinen;  die 
ihn  betreftendeu  Bliltter  dürften  AV(dil  die  interessan¬ 
testen  des  ganzen  Werkes  sein. ') 

An  Größe  des  dargestellten  Geländes  und  an  Zahl 
der  Figuren  (22)  Übertritt  das  Straßburger  Werk  das 
( )ffenburgische  erheblich;  doch  in  der  Anordnung  herrschte, 
von  Kleinigkeiten  abgesehen,  eine  ganz  überraschende 
I  hereinstimmung.  Ich  rede  nicht  von  den  Faschinen  ini 
Vordergrund ,  von  den 
Pluinen  und  dem  Getier, 
die  ülier  das  Gartenland 
zerstreut  sind,  auch  nicht 
von  der  ideal  isir enden 
Bildung  bei  den  Heiligen, 
der  realistischen  bei  den 
Häschern,  denn  alles  das 
fanden  wir  auch  in  Neuf¬ 
fen  und  Beuren.  Es 
sind  noch  weitergehende 
l  bereinstiinmungen  zwi¬ 
schen  Straßburg  uinl 
Offenburg  vorhanden.  An 
beiden  Orten  steht  das 
Garten[iförtchen  an  der 
Seite,  nicht  in  der  Mitte, 
hier  wie  dort  füllen  die 
Häuser  und  Türme  von 
Jerusalem  als  Flach¬ 
relief  die  Hintergrunds¬ 
kulisse,  hier  wie  dort 
werden  über  einem  Hü¬ 
gel  in  fast  etwas  komi¬ 
scher  Weise  die  Kö[)fe 
und  Hellebarden  einiger 
Nachzügler  sichtbar,  hier 
wie  dort  herrscht  eine 
gewisse  Poljchromie.’^) 

Aber  trotz  dieser  weit¬ 
gehenden  Übereinstim¬ 
mung  im  Großen  wie  im 
Kleinen  wäre  es  doch 
verkehrt,  für  beide  Werke  denselben  Meister  anzu- 


1 )  Sie  kamen  mir  leider  erst  während  des  Drncke.s  zu, 
als  die  Tafeln  4— b  schon  nach  den  früheren  Aufnahmen 
des  Herrn  E.  Meyer -Altona  hcrgestellt  waren.  Doch  wird 
der  Schlussteil  unseres  Aufsatzes  in  Heft  2  dieses  Jahrgangs 
noch  zwei  Abbildungen  nach  den  l’hotograpliieen  Dr.  Hans- 
mann’s  bringen,  die  HeiT  A^erlagsbuchhändler  W,  Heinrich 
die  (liite  hatte,  zur  A'^erfügung  zu  stellen. 

2)  Deutlich  gefärbt  sind,  soweit  ich  zuletzt  sah,  nur  die 
Pupillen. 


nehmen.  Je  genauer  man  die  Denkmäler  der  niittel- 
altei'lichen  Kunst  vergleichend  kennen  lernt,  um  so 
mehr  überzeugt  man  sich  von  der  geradezu  bannen¬ 
den  Gewalt,  welche  einmal  glücklich  geschaffene  Ty])en 
auf  alle  nachfolgenden  Künstler  und  ihre  Darstellun¬ 
gen  hatten.  Ich  erinnere  nur  au  die  Füllung  der  Tym- 
panen  au  den  Hauptportalen  gotischer  Kirchen.  Man 
hat  da  entschieden  den  Eindruck,  dass  es  etwas  wie 
Musterbücher  vorbildlicher  ATsirungen  gegel)en  haben 
muss,  wonach  die  Künstler  gut  thaten  sich  zu  richten, 
wenn  sie  mit  ihrer  Darstellung  biblischer  A’^orgänge 

den  Beifall  der  Gläu¬ 
bigen  erlangen  woll¬ 
ten. ')  Ihr  Individualis¬ 
mus  war  dadurch  stark 
beschnitten;  aber  dei- 
geniale  Meister  verstand 
es  trotzdem  seine  Eigen¬ 
art  zur  Geltung  zu  Inin- 
gen.  Durfte  er  in  den 
Hauptgestalten  und  Trä¬ 
gern  der  heiligen  Hand¬ 
lung  nichts  eigenwillig 
ä)Klern,  so  war  dies  doch 
zulässig  bei  den  Neben- 
ffguren.  ln  der  Dar¬ 
stellung  von  Gethsemane 
bot  sich  in  den  Gestalten 
der  Häscher  eine  treff¬ 
liche  Gelegenheit,  wo  ein 
selbständiger  Meister, 
ohne  gegen  die  Heilig¬ 
keit  seines  Bildwerks  zu 
verstoßen ,  seine  eigen¬ 
sten,  persönlichsten  Ge¬ 
danken  freimütig  aus¬ 
münzen  konnte.  Alles 
andere  war  fest  gegeben, 
für  diesen  Teil  des  Bil¬ 
des  herrschte  Freiheit; 
und  wenn  nun  gerade  in 
diesen  Gestalten  der 
Häscher  die  Straßburger 
Gi’uppe  von  der  Offenbur¬ 
ger  nicht  unerheblich  abweicht,  so  beweist  das  alles  gegen 
die  Herkunft  von  demselben  Meister.  Der  Straßburger 
Bildner  besitzt  in  der  Tliat  ein  ganz  anderes  Können  als 
der  Offenburger.  Das  zeigt  sich  schon  in  der  gewandteren 
Art,  wie  er  den  Baumschlag  wiedergiebt,  in  der  reicheren, 
wenn  auch  nicht  eben  wirkungsvolleren  Architektur.-) 


1)  Wie  abhängig  ist  selbst  noch  Dürer  in  seinen  Passionen 
von  dieser  seit- Jahrhunderten  feststehenden  Formeus2irache! 

2)  Diese  Architektur  ist  um  ebensoviel  reicher  als  die 
am  Offenburger  Ölberg,  als  der  städtische  Zuschnitt  Stiaß- 


ÖLBEIIG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


7 


mit  der  er  den  Hintergrund  der  Scene  ausstattet,  es 
zeigt  sich,  wie  gesagt,  vor  allem  in  der  Darstellung  der 
Häscher.  Auf  dem  Offenhurger  Denkmal  marschiren  diese 
so  recht  con  amore  hinter  dem  Bretterzaun  einher,  als 
könnte  es  gar  nicht  anders  sein;  auf  dem  Straßl)urger 
ist  es  ein  böses  Gedränge  im  engsten  Raum,  was 
drastiscli  genug  zum  Ausdruck  kommt.  Die  wackern 
Helden  werden  mehr  geschoben,  als  dass  sie  wandelten. 
Sie  drängen  neugierig  nach  der  Gartenpforte  und  drängen 
doch  auch  wieder  davon  weg:  „Dabei  möchten  sie  alle  sein, 
aber  ja  nicht  in  der  ersten  Reihe“. ‘•^)  Und  welch’ kö.stlicher 
Kontrast  zwischen  dem  kriegerisclien  Apparat  von  Helmen 
und  Panzern,  von  Schwertern  und  Hellebarden,  und  der 
unverkennbaren  Gutmütigkeit  und  Bornirtheit,  die  sich 
auf  den  Gesichtern  dieser  Spießbürger  breit  machen! 
Meist  sind  es  zahnlose  Alte,  womöglicli  mit  Warzen  auf 
den  Wangen,  verliockte  Gesellen  mit  rundlichem  Rücken, 


burgs  den  des  kleinen  Offenbnrg  fil)ei'ragt.  Der  großstädtische 
Charakter  des  Straßl)urger  Hintergrunds  mit  seinem  Gedränge 
von  Thoren  und  Türmen,  von  ragenden  Dächern  und  feiu- 
durcbbroclienen  Galerieen,  mit  seinem  Wechsel  von  echt 
gotischen  und  schon  an  die  Renaissance  anklingenden  Formen 
erinnert  lebhaft  an  Dürer’sche  Hintergrundsarchitekturen. 
Auch  Dürer  liebte  es,  allerliand  Renaissauce-Gelhlde,  wie  er 
sie  in  Italien  gesehen  (vgl.  z.  B.  das  Blatt  der  Apokalyjise, 
B.  61,  wo  auch  eine  Nachbildung  der  einen  Säule  von 
der  Piazzetta  in  Venedig  fremdartig  auffällt),  zwischen  die 
biedern  deutschen  Bauten  einzuschalten:  dasLandschaftslhld 
bekam  dadurch  etwas  Fremdländisches  und  ließ  sieh  in  Folge 
dessen  eher  als  Gegend  des  heiligen  Landes  ausgeben. 

2)  Ich  entnehme  diesen  Satz  der  schon  erwähnten  Schrift 
von  Meyer-Altona,  einer  Schrift,  der  ich  auch  die  Anregung 
zu  dem  im  Folgenden  unternommenen  Vergleich  von  Ölberg 
und  Osterspiel  verdanke. 


Gevatter  Schneider  und  Handschuhmacher,  die  hier  bis 
zu  den  Zähnen  bewaffnet  ins  Feld  rücken.  Viele  aus 
diesem  Krähwinkler  Landsturm  haben  geradezu  etwas 
Altweiberhaftes.  Zum  Fürchten  ist  keiner  dieser  Rüpel 
trotz  der  Waffen,  trotz  der  drollig  gewichtigen  Mienen, 
keiner  —  außer  jenem  einen,  der  unmittelbar  hinter 
Judas  zur  Pforte  drängt.  Er  ist  auch  der  einzige,  der 
nicht  germanischen,  sondern  ausgesprochen  jüdischen 
Typus  aufweist,  speciell  in  der  Bildung  der  Nase.  Wie 
er  sich  so  mit  seinem  verschmitzten,  konfiszirten  Gesicht 
zu  Judas’  Ohr  herunter  beugt,  ihn  anstachelnd  mit  ver¬ 
führerischen  Worten  und  Gebärden,  —  eiinnert  er  nicht 
ganz  an  Mephisto?  Wie  wenn  er  es  wäre?  Wenn  wir 
hier  den  Verführer  selbst  neben  dem  verführten  Judas 
zu  erkennen  hätten?  Soll  wohl  das  Sclilangenschuppen- 
muster  an  seiner  Kopfbedeckung  und  an  den  Handschuhen 
diese  Deutung  erleichtern? 

Die  Komik,  die  in  allen  diesen  Figuren  liegt,  ist 
offenbar  keine  zufällige,  sondern  eine  bewusste  und  vom 
Künstler  mit  allen  Mitteln  geföi  derte.  Wie  kommt  dies 
komische  Element  in  diesen  ernsten  Vorgang?  Ja,  wie 
kommt  überhaupt  die  Komik  in  die  Kirche  und  auf  den 
Friedhof,  die  übermütige  Laune  in  die  Reliefs  und  Fres¬ 
ken  an  so  vielen  Kirchen  wänden?  Das  Gemüt  hat  nun 
einmal  gerade  unter  der  lastenden  Wucht  des  Tragischen 
und  Feierlichen  das  entschiedene  Bedürfnis,  nach  irgend 
einer  Seite  sich  in  Scherz  und  Lustigkeit  Luft  zu 
machen.  Zur  antiken  Tragödie  gehört  das  Satyrspiel; 
Shakespeare  mildert  den  erschütternden  Ernst  seiner 
Dramen  durch  das  geistreiche  Scherzgerede  seiner  Narren; 
und  so  haben  denn  auch  die  mittelalterlichen  Passions¬ 
spiele  hie  und  da  den  Schalk  durchspüren  lassen,  oft 
mitten  in  den  tragischsten  Scenen.  (Schluss  folgt.) 


B.  Vom  Straßburger  Öllierg. 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 

VON  ED.  FLECHSIG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


OCH  vor  drei  Jahren  war  der  Stecher, 
den  man  den  Meister  des  Amsterdamer 
Kaldnetts  oder  besser  den  Meister  des 
Hausbuches  nennt,  den  meisten  Forschern 
und  Freunden  alter  Kunst  fast  nur  dem 
Namen  nach  bekannt.  Hei  der  Seltenlieit 
seiner  Stiche  war  das  nur  natürlich:  ist  doch  von  den 
89,  die  sich  von  ihm  erhalten  haben,  die  Mehrzahl  nur 
in  einem  einzigen  Abdrucke  vorhanden.  Da  nun  das 
Kupferstichkabinett  in  Amsterdam  allein  80  Stiche  des 
Meisters  besitzt,  so  musste  jeder,  der  ihn  genauer  kennen 
lernen  wollte,  seine  Schritte  dorthin  lenken.  Jetzt  ist 
das  alles  anders  geworden.  Hekanntlich  hat  die  Inter¬ 
nationale  chalkographische  Gesellschaft  als  Veröffent¬ 
lichung  für  die  Jahre  1893  und  1894  das  gesamte  Werk 
des  Meisters  in  mustergiltigen  Nachbildungen  mit  einer 
Einleitung  und  einem  kritischen  Verzeichnis  sämtlicher 
Stiche  von  Max  LeJir.s  herausgegeben  und  sich  dadurch 
eines  der  größten  Verdienste  um  die  Kenntnis  und 
wissenschaftliche  Erforschung  der  älteren  deutschen  Kunst 
erworben.  Wir  linden  also  den  Meister  des  Hausbuches 
jetzt  in  jedem  größeren  Kupferstiehkabinett.  Und  nun, 
da  er  uns  auf  diese  Weise  so  nahe  gebracht  worden  ist, 
dass  wir  uns  mit  ihm  vertraut  machen  können,  wie  mit 
Schongauer  und  Dürer,  da  wird  der  rätselhafte  Unbe¬ 
kannte  vor  unserem  Auge  von  Tag  zu  Tag  größer,  da 
wächst  er  immer  mehr  heraus  aus  seiner  Zeit,  seiner 
Umgehung  und  erscheint  uns  als  einer  der  besten  Meister 
nicht  bloß  seiner  Zeit,  sondern  seines  Volkes  überhaupt. 
Ist  doch,  wenn  man  ihn  mit  den  deutschen  und  nieder¬ 
ländischen  Kupferstechern  im  letzten  Viertel  des  15.  Jahrh. 
vergleicht,  keiner,  Schongauer  nicht  ausgenommen,  selb¬ 
ständiger,  eigenartiger,  geistreicher  als  er.  Fast  scheint 
es,  als  habe  es  für  ihn  keine  Tradition  gegeben,  als 
habe  er  seine  Kunst  nur  sich  allein  zu  verdanken  ge¬ 
habt.  Denn  noch  niemand  hat  in  seinen  Stichen  eine 
deutlicher  in  die  Augen  fallende  Anlehnung  an  einen 
der  großen  Meister,  die  vor  und  neben  ihm  thätig  waren, 
an  den  Meister  E.  S.  oder  Schongauer,  nachweisen 
können.  Alles  sieht  er  mit  eigenen  Augen,  empfindet 


er  auf  seine  Weise,  und  gerade  so,  wie  er  es  gesehen 
und  einjitünden  hat,  giebt  er  es  wieder.  Mit  fröhlichen 
Augen  Idickt  er  in  die  Welt,  ein  sprudelnder  Humor 
kommt  ihm  von  den  Lippen.  Doch  ist  er  auch  ernster, 
tiefsinniger  Versenkung  fähig.  Am  wohlsten  freilich 
fühlt  er  sich  immer,  wenn  er  Gegenstände  und  Ereig¬ 
nisse  des  täglichen  Lebens  darstellen  kann,  da  ist  er 
ganz  in  seinem  Elemente.  Seine  Gestalten  sind  nicht 
gerade  schön,  namentlich  seine  Madonnen  und  Christ¬ 
kinder  oft  geradezu  hässlich,  aber  immer  sind  sie  lebens¬ 
wahr  und  mit  einer  Fülle  von  gemütvollen  Zügen  aus¬ 
gestattet,  die  uns  für  den  Mangel  an  idealer  Schönheit 
entschädigen.  Kommt  es  ihm  aber  einmal  darauf  an, 
den  Zauber  holder  Jugend  und  süßes  Minnespiel  zu 
schildern,  so  thut  es  ihm  an  Anmut  und  feinem  Schön¬ 
heitsgefühl  keiner  seiner  Zeitgenossen  gleich.  Auch  in 
der  Technik  geht  er  seine  eigenen  AVege.  AV ährend  alle 
übrigen  mit  dem  Grabstichel  arbeiten  und  so  ihre  Her¬ 
kunft  aus  der  Werkstatt  des  Goldschmieds  nicht  ver¬ 
leugnen,  bedient  er  sich  der  kalten  Nadel,  mit  der  er 
oft  mehr  kritzelt  als  zeichnet,  so  dass  viele  seiner  Blätter 
geradezu  den  Eindruck  von  Eadirungen  machen.  Das 
ist  keine  Goldschmiedstechnik  mehr,  so  wenig  wie  die 
Eembrandts  eine  ist,  das  ist  auch  nicht  die  Formen¬ 
sprache,  nicht  die  Phantasie  eines  Goldschmieds,  die  sich 
uns  in  diesen  lebensprühenden  Blättern  offenbart.  Nein, 
so  schafft  und  spricht  sich  nur  ein  Ilaler  aus. 

Und  wenn  er  ein  Maler  ist,  wo  sind  dann  seine 
Bilder?  Ist  denn  kein  einziges  auf  uns  gekommen,  ist 
die  Zeit  ebenso  unbarmherzig  mit  ihnen  umgegangen, 
wie  mit  seinen  Stichen?  AVenn  aber  wirklich  noch 
welche  erhalten  sind,  wo  müssen  wir  suchen,  um  sie  zu 
finden? 

Ich  muss  gestehen,  diese  Fragen  habe  ich  mir  weder 
vorgelegt,  noch  habe  ich  den  Drang  gehabt,  sie  selbst 
zu  beantworten  oder  zu  ihrer  Lösung  wenigstens  bei¬ 
zutragen.  AVenn  ich  jetzt  im  stände  bin,  den  Schleier 
zu  lüften,  der  die  Person  unseres  Meisters  noch  immer 
verhüllte,  wenn  ich  Bilder  nachweisen  kann,  die  sicher 
von  seiner  Hand  sind,  so  hat  der  Zufall  die  größte  Eolle 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


9 


dabei  gespielt.  Es  ist  mir  beiiialie  ergangen  wie  Sani, 
dem  Sol)ne  Kis,  der  auszog,  seines  Vaters  Eselinnen  zu 
suchen,  und  ein  Königreich  fand. 

Seit  mehr  als  drei  Jahren  bin  ich  mit  einer  größeren 
kritischen  Arbeit  über  Cranach  und  seine  Schule  be- 
scliäftigt.  Um  einen  Teil  zum  Abschluss  zu  bringen, 
musste  ich  noch  einmal  die  wichtigeren  mittel-  und 
süddeutschen  Galerieen  besuclien.  IMein  Weg  ging  durcli 
Tliüringen  und  Unterfranken  nach  dem  Mittelrhein,  dann 
stromaufwärts  und  schließlich  nach  Bayern.  In  Golha  fes¬ 
selte  nächst  den  vielen  treftlichen  Cranachischen  Bildern 
eins  vor  allem  meine  Aufmerksamkeit,  das  mit  der 
sächsischen  Schule  nicht  das  Geringste  zu  thim  hatte: 
die  Darstellung  eines  Liebespaares  in  Halbtiguren, 
meinem  Empfinden  nach  eins  der  schönsten  altdeutschen 
Bilder.  Schon  ein  Jahr  vorher  hatte  es  mich  eigenartig 
berührt,  es  war  mir  so  bekannt  und  doch  auch  wieder 
nicht  bekannt  vorgekommen.  Ich  hatte  mir  einige  No¬ 
tizen  darüber  gemacht  und  es  seitdem  nicht  mehr  aus 
dem  Gedächtnis  verloren.  Schon  damals  dämmerte  der 
Gedanke  leise  in  mir  auf,  es  könne  mit  jenem  Meister 
in  Verbindung  stehen,  mit  dessen  Stichen  ich  mich  einige 
Zeit  recht  eingehend  beschäftigt  hatte.  Jetzt  also,  nach 
einem  Jahre,  trat  ich  wieder  vor  das  Bild,  diesmal  mit 
einer  gewissen  Spannung,  denn  ich  wollte  es  nach  dem 
Namen  seines  Schöpfers  fragen  und  hoft'te,  es  würde 
mir  Antwort  geben.  Wolgemut?  Eine  ganz  geringe 
Ähnlichkeit  mit  ihm.  Doch  unmöglich  ist  der  brave 
Nürnberger  solcher  Anmut  fähig,  wie  sie  dies  Bild 
aushaucht.  Schüchlin,  an  den  Scheibler  gedacht  hat? 
Vielleicht.  Doch  wir  keimen  zu  wenig  von  ihm,  und 
das  Wenige  sieht  doch  anders  aus.  Nein,  das  kann 
kein  anderer  gemalt  haben,  als  der  „große  Unbe¬ 
kannte“,  der  Meister  des  Hausbuches!  Das  ist  ja  einer 
seiner  feinen  modischen  Jünglinge,  das  eine  seiner  an¬ 
mutvollen  verschämten  Jungfrauen,  das  sind  die  Spruch¬ 
bänder,  wie  er  sie  so  oft  anbringt. 

Als  ich  nach  Aschaff’enhurg  kam,  erging  es  mir 
ähnlich.  In  der  Schlossgalerie  befindet  sich  ein  jetzt 
in  seine  einzelnen  Teile  zerlegtes  Altarwerk.  So  vieles 
im  Kolorit  erinnerte  mich  an  das  Gothaer  Bild,  und  in 
der  Formensprache  glaubte  ich  verschiedene  Anklänge 
an  Stiche  des  Hausbuchmeisters  zu  bemerken.  In  der 
JJarmstüdtcr  Galerie  aber  trat  er  mir  wieder  ganz 
deiitlich  erkennbar  entgegen  in  einem  Bilde  der  Ver¬ 
kündigung,  das  mit  noch  fünf  anderen  zu  einem  ehe¬ 
maligen  Altarwerke  gehörte.  Der  Engel  Gabriel  war 
dem  Jünglinge  in  Gotha  so  ähnlich,  wie  ein  Zwillings¬ 
bruder  dem  andern.  Außerdem  wurde  ich  aufmerksam 
auf  ein  noch  in  seinem  ursprünglichen  Zustande  er¬ 
haltenes  Altarwerk.  Obgleich  es  ein  bis  zwei  Jahr¬ 
zehnte  älter  schien  als  das  erste,  zeigte  sich  doch  in 
der  Auffassung,  in  den  Typen,  namentlich  aber  in  der 
Farbengebung  schon  dieselbe  Eigenart  wie  bei  diesem. 
Bald  darauf  kam  ich  nach  Mainz.  Als  ich  in  der 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  II  l. 


städtischen  Galerie  eine  Reihe  von  Darstellungen  aus  dem 
Marienleben  sah,  wurde  die  Erinnerung  an  die  Darm- 
städter  Bilder  sofort  wieder  lebendig,  kein  Zweifel,  sie 
alle  waren  von  derselben  Hand  gemalt.  Nun  verlor 
ich  unsern  Meister  längere  Zeit  aus  den  Augen,  und 
erst  in  Scl/leißlteiin  tauchte  er  wieder  vor  mir  auf.  Es 
war  eine  Geburt  Christi,  ganz  in  der  Art  des  Mainzei’ 
Jlarienlebens  gemalt. 

Da  die  Bilder,  die  ich  als  Arbeiten  des  Hausbuch- 
ineisters  erkannt  hatte,  nicht  im  Bereich  meiner  be¬ 
sonderen  Studien  lagen,  hatte  ich  mir  über  sie  immei’ 
nur  kurze  Bemerkungen  in  mein  Taschenbuch  gemacht. 
Ich  beabsichtigte  ursprünglich  nicht,  die  Angelegenheit 
weiter  zu  verfolgen  und  hätte  auch  nicht  daran  ge¬ 
dacht,  meine  Wahrnehmungen  zu  veröffentlichen,  wenn 
ich  nicht  von  neuem  durch  Zufall  auf  den  Meister  hin¬ 
gelenkt  worden  wäre.  Beim  Durchblättern  des  OUlen- 
hiirgcr  Galcriewerkes  von  Bode  traf  ich  auf  eine  Dar¬ 
stellung  der  y\nna  selbdritt,  die  in  wichtigen  Einzel¬ 
heiten  so  genau  mit  dem  Mainzer  Marienleben  über¬ 
einstimmt,  dass  ich  anfangs  glaubte,  sie  habe  ursprünglich 
zu  dieser  Folge  gehört.  Bald  darauf  lernte  ich  gleichfalls 
durch  Zufall  noch  einige  andere  Wei'ke  des  Ilausbueh- 
meisters  in  Abbildungen  kennen.  Wegen  der  Wichtig¬ 
keit  aller  dieser  Funde  entschloss  ich  mich  nun,  trotz 
meiner  mangelhaften  Reiseaufzeichnungen  den  Fach¬ 
genossen  Mitteilung  davon  zu  machen.  Mein  Erstes  war, 
mir  von  den  Bildern,  die  ich  gesehen  hatte,  Photo- 
graphieen  zu  verschaffen.  Ich  wandte  mich  deshalb  an 
Herrn  Realgymnasiallehrer  Neeb  in  Mainz,  einen  äußerst 
geschickten  und  intelligenten  Liebhaber-Photographen, 
und  nur  der  Liebenswürdigkeit  und  Opferwilligkeit 
dieses  Herrn,  der  für  mich  in  Darinstadt  und  x4schaffen- 
burg  die  nötigen  Aufnflimen  machte,  verdanke  ich  es, 
dass  ich  bei  der  nachfolgenden  Untersuchung  meine 
persönliche  Meinung  fast  ganz  unterdrücken  und  an  ihre 
Stelle  eine  objektive  Beweisführung  treten  lassen  kann. 
Leider  kann  ich  auf  die  Farbe  nur  in  wenigen  Fällen 
Rücksicht  nehmen,  da  mich  meine  Aufzeichnungen  nach 
dieser  Seite  so  ziemlich  im  Stiche  lassen. 

Ich  bespreche  im  folgenden  die  Bilder  des  Haus¬ 
buchmeisters  nicht  in  der  Reihenfolge,  wie  ich  sie 
gesehen  habe,  sondern  so,  wie  sie  mutmaßlich  nach¬ 
einander  entstanden  sind. 

Den  x\nfang  macht  ein  aus  Wolfskehle n ,  einem 
hessischen  Dorfe,  stammendes  Altarwerk,  das  sich  jetzt 
im  Museum  zu  Darmstadt  befindet  (Kat.  Nr.  216).  Es 
besteht  aus  einer  gemalten  Predella,  einem  Mittel¬ 
schrein  mit  geschnitzten  Figuren  und  zwei  beiderseitig 
bemalten  Flügeln.  J)  Die  Predella  zeigt  Christus 

1)  Die  Bilder  sind  i>hotograpbiit  von  Realgymnasiallehrer 
Ernst  Neeb  in  Mainz,  Gonsenheimerholil  14.  Lichtdruck  des 
Altarwerks  in  geöffnetem  Zustande  bei  Münzenberger,  zur 
Kenntnis  und  Würdigung  der  mittelalterlichen  Altäre  Deutsch¬ 
lands.  1.  Bd.  Frankfurt  a.  M.  1885  —  90,  Tafel  56.  —  Vergl. 


III 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


iritil  dir  Aj.ostrl  iii  Halbliguren.  Clirisüis,  ganz  in 
\'ordersicht  nnci  größer  als  die  Apostel,  halt  in  der 
Linken  die  'Weltkugel,  die  Rechte  hat  er  segnend  er¬ 
hoben.  ■^’on  den  Aposteln  hat  jeder  sein  Attribut.  —  Der 
Schrein  schließt  oben  mit  einem  abgetreppten  Giebel. 
Dem  entsprechend  ist  auch  die  Foimi  der  Flügel.  Inner¬ 
halb  des  Schreins  sehen  wir  in  der  Mitte  auf  einem 
Sockel  Maria  mit  dem  Kinde.  Hinter  ihr  ist  (dn  rotej- 
Teppich  gemalt,  der  von  zwei  Engeln  gehalten  wird. 
Links  von  ihr  ein  h.  Papst,  dem  das  Attribut  jetzt 
fehlt,  rechts  eine  Heilige  mit  einem  Löwen  zu  Füßen 
und  einem  Stiei'  auf  dem  rechten  Arm.  —  Auf  den  Innen¬ 
seiten  der  Flügel  ist  links  die  Geburt  Christi,  rechts 
die  Krönung  Mariens,  auf  den  Außenseiten  die  Ver¬ 
kündigung  dargestellt. 

(irhnrl  Cl/risli.  Maria  kniet  betend  nach  rechts 
gewandt  vor  dem  Kinde,  das  nackt  auf  einer  'Windel 
liegt  und  mit  der  rechten  Hand  die  Gebärde  des 
Segnens  macht.  Links  hinter  ihr  steht  Joseph  mit  der 
Laterne,  rechts  im  Mittelgründe  Dchs  und  Esel.  Durch 
die  offenen  spitzbogigen  Arkaden  des  Gebäudes,  in  dem 
sich  der  Voi'gang  absidelt,  sieht  man  im  Hintergründe 
eine  Ijaiidschaft  mit  einer  Schafherde  und  einem  Hirten, 
iler  soeben  die  Botschaft  des  Engels  empfängt.  Anstatt 
der  Luft  Goldgrund. 

Krümoiy  Mariens.  Maria  kniet  in  der  Mitte, 
ganz  von  voi'ii  gesehen.  Hinter  ihr,  um  eine  Stufe 
über  den  Erdboden  erhöht,  sitzen  auf  einem  Throne, 
einander  zugekehrt,  links  Chilstus,  rechts  Gottvater, 
beide  gekrönt  und  mit  kostbaren  Brokatmänteln  be¬ 
kleidet,  die  mit  Perlen  und  Edelsteinen  l)esetzt  sind. 
Jeder  hält  mit  der  Linken  im  Schoße  den  Reichsapfel, 
Gottvater  außerdem  noch  das  Scepter,  mit  der  Rechten 
halten  sie  diclit  über  Mariens  Kopf  die  Krone,  auf  die 
die.  Taube  raul »vogelähnlich  niederstößt.  Im  Hinter- 
gi’unde  zu  beiden  Seiten  des  Thrones  Engel  mit  Pfauen- 
fittigen.  In  der  rediten  unteren  Ecke  des  Bildes  das 
Whappen  derer  von  Fiersheim. 

Die  Vcrlci'mdiyunrj  besteht  aus  zwei  Tafeln,  die 
ein  Ganzes  bilden.  Rechts  kniet  Maria  in  ihrem  'Wohn- 
gemach,  das  mit  einem  hölzernen  Tonnengewölbe  über¬ 
deckt  ist,  am  Betpulte.  Die  Hinterwand  ist  von  zwei 
Fenstern  durchbrochen,  außerdem  kommt  noch  Licht 
von  rechts  aus  einem  kleinen  Nebenraum.  Maria  ist 
ganz  von  vorn  gesehen,  hat  das  mit  einer  niedrigen 
Krone  geschmückte  Haupt  nach  der  recliten  Schulter 
geneigt  und  die  Hände  über  der  Brust  gekreuzt.  Die 
Taube  fliegt  auf  sie  zu.  Gabriel,  von  links  herange- 
komraen,  hat  sich  auf  ein  Knie  niedergelassen  und  hält 
in  der  Linken  den  Stab,  während  er  die  Rechte  zum 
Gruß  erhoben  hat.  In  den  beiden  äußeren  Ecken 


Archiv  für  hessische  Geschichte  und  Altertumskunde,  11.  Bd., 
S.  G7— 72  I  W.  Franck,  Kunstgescbichtl.  Miscellen  und  An¬ 
regungen,  IX). 


knieen  die  Stifter  des  W^erkes.  Nach  den  Wappen  ist 
es  der  Junker  Ifliilipp  von  WMlfskehlen  und  seine 
Hausfrau  Barbara  von  \A''aldeck,  genannt  von  Yben. 
Die  beiden  heirateten  1457,  Barbara  starb  am  15,  Api  il 
1494.  ’)  Ihr  früher  in  der  Katharinenkirche  zu  Oppen¬ 
heim  befindlicher  Grabstein  ist  nach  Fj’.  Sclmeider’s 
xAnnahme  dort  nicht  mehr  vorhanden.  Die  Grabschrift 

flndet  sich  aber  in  einer  größeren,  1611  von  Georg 

Helwich  begonnenen  Sammlung,  deren  Urschrift  die 
Seminarbibliothek  in  Mainz  besitzt.  In  dieser  steht 
deutlich  1494  als  Todesjahr  der  Barbara  von  Wolfs¬ 
kehlen.'-)  Dagegen  nennt  eine  Handschrift  aus  dem 

Jahre  1681,  die  wahrscheinlich  von  dem  pfälzischen 
Kirchenschaffner  Krauße  in  Oppenlieim  herrührt,  dafür 
das  Jahr  1483.^)  Welche  von  beiden  Angaben  die 
i'ichtige  ist,  läßt  sich  bei  dem  Mangel  an  weiterem 
Quellenmaterial  nicht  entscheiden.  Nur  soviel  steht 
fest,  dass  das  Altarwerk  noch  vor  1494  entstanden 

sein  muss.  Ül»er  das  Todesjahr  Philipp’s  von  Wolfs¬ 
kehlen  ist  urkundlich  nichts  bekannt. 

Wie  schon  erwähnt,  beflndet  sich  auf  der  Innen¬ 
seite  des  rechten  Flügels  das  AVappen  derer  von  Fiers¬ 
heim.  Es  bezieht  sich  jedenfalls  auf  einen  Mitstifter 
des  Werkes,  der,  wie  man  vermuten  kann,  ein  Yer- 
wandter  der  AVolfskehlen  war.  Nun  hatte  Philipp  von 
Wolfskehlen  eine  Stiefschwester,  Margaretha  von  Ran¬ 
deck  (seine  Mutter  war  in  erster  Ehe  mit  Ruprecht 
von  Randeck  vermählt  gewesen).  Aus  deren  Ehe  mit 
Friedrich  von  Fiersheim  ging  auch  ein  Sohn  Ruprecht 
hervor.^)  Philipp  von  Wolfskehlen  war  also  dessen 
Stiefoheim.  'Von  diesem  Ruprecht  meldet  die  Flers- 
heimer  Chronik  S.  32:  „Ruei»recht  ist  auch  geistlich 
und  dhombherr  und  capitular  zu  Trier  worden.  Hat 
die  pastorey  zu  Wolffskhelen  gehabt,  so  im  seine  vettern 
von  'Wolffskhelen  geliehen;  ist  zu  Lauthern  gestorben, 
da  er  auch  begraben  ligt.“  Sein  Todesjahr  ist  un¬ 
bekannt,  er  wai'  1506  noch  am  Leben.’’)  WTissten  wir, 
wann  er  Pastor  zu  Fiersheim  geworden,  so  wären  wir 
in  der  Lage,  die  Entstehungszeit  des  Altarwerks  noch 
genauer  zu  begrenzen. 


1)  Joh.  Max.  Humbracht,  Die  höchste  Zierde  Teutsch- 
Landes  (Fra.nkfurt  a.  M.  1707)  Tafel  200  (Wolfskehl)  und  222 
(Waldeck). 

2)  Herr  Archivrat  Dr.  Wyss  in  Darmstadt  wies  mich  auf 
diese  Handschrift  hin,  die  jedenfalls  auch  Humbracht  be¬ 
nützt  hat,  und  Herr  Prälat  Dr.  Friedr.  Schneider  in  Mainz 
hatte  die  Güte,  sie  für  mich  einzusehen.  Der  Titel  lautet: 
Syntagma  monumentorum  et  epitaphiorum  .  .  .  quae  tum  in 
dioecesi  Moguntina,  tum  extra  dioecesis  in  urbibus,  oppidis  . . . 
splendide  honoriticeque  erecta  conspiciuntur. 

.8)  "Vergl.  Archiv  für  hessische  Geschichte  und  Altertums¬ 
kunde,  8.  Bd.,  S.  353. 

4)  Flersheimer  Chronik,  herausgegeben  von  0.  Waltz, 
Leipzig  1874,  S.  7  u.  32.  Vergl.  auch  Humbracht,  Tafel  1, 
Fiersheim. 

5)  Würdtwein,  Dioeces.  Mogunt.  1,  508. 


DEH  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


Yei'küiidig'iiug.  Vom  Meister  des  Ilausliuelies.  Darmstadt,  Museum. 


(Inrcli  einen  Franken tlialer  Maler  Xainens  Schmidt 
restauiiren  und  dann  an  seinem  jetzigen  Standorte  anf- 
stellen  ließ.  Herman  Riegel  spriclit  sich  darüher  in 
seinen  deutschen  Kunststadien  (Hannover  1868)  S.  244 
his  246  aus.  Bei  dieser  sogenannten  Restaui'atioii 
wurde  das  schöne  Werk  gründlich  verdorben.  Auch 
an  den  Photograidiieen  ist  dies  deutlich  wahrnehmbar, 
die  Gesicliter  halten  entschieden  einen  modernen  Zug 
bekommen. 

Der  Altar  ist  nicht  in  seiner  urs|)rüngliclien  Zu¬ 
sammensetzung  erlialten.  Man  kann  wohl  mit  Siclier- 


die  auch  heutzutage  noch  niclits  Seltenes  ist.  Die 
Flügel  waren  auf  beiden  Seiten  bemalt  und  zeigten  auf 
den  Innenseiten  links  die  Geburt  Christi,  rechts  die 
Anbetung  der  Könige,  auf  den  Außenseiten  die  Ver¬ 
kündigung.  Jetzt  sind  die)  beiden  Tafeln ,  aus  denen 
die  Verkündigung  besteht,  abgesägt  und  zu  einer  Tafel 
vereinigt  und  Itilden  nun  das  Mittelstück  des  Altai's, 
während  die  beiden  übrigen  Tafeln  in  ihrer  ui'sprüng- 
lichen  Stellung  geblieben  sind. 

(Jehurt  Christi.  Im  Vordergi'unde  liegt  auf  einem 
dicken  lleupolster ,  ülier  das  eine  Windel  gebreitet 


Unmittelbar  an  dies  Altarvvei'k  schließt  sich  ein 
gemalter  Flügelaltar  an,  der  sich  jetzt  in  der  Katha¬ 
rinenkapelle  des  Sjirycrer  Doms  betindet.  Ich  habe  ihn  vor 
langen  Jahren  gesehen  und  kann  mich  deshalb  seiner  Ein¬ 
zelheiten  kaum  mehr  entsinnen.  Mein  Urteil  gründet 
sicli  auf  drei  kleine  Photographieen  von  Neeb.  Der 
Altar  befand  sich  vor  1866  in  der  Kirche  zu  JJoßireiler 
bei  Grünstadt  in  der  bayerischen  Pfalz  (Bezirksamt 
Frankenthal),  wurde  dort  von  dem  Speyerer  Domherrn 
Dr.  Wilhelm  Molitor  entdeckt  und  erworben,  der  ihn 


heit  annehmen,  dass  der  Mittelschrein,  der  wie  die  Pre¬ 
della  verloren  gegangen  zu  sein  scheint,  geschnitzte 
Figuren  enthielt  und  in  derselben  Weise  wie  der 
Schrein  des  Wolfskehlener  Altai'werks  ölten  mit  einem 
abgetreppten  Giebel  abschloss.  Der  jetzige  Zustand, 
naanentlich  des  linken  Flügels,  auf  dem  der  Engel  links 
oben  in  der  Ecke  ohne  Kopf  ist,  beweist  dies  deutlich. 
Außerdem  wusste  Herr  Neeb  vom  Hörensagen,  der 
obere  Teil  der  Bilder  sei  abgesägt  worden,  um  sie  für 
den  Kapellenraum  passend  zu  machen.  Eine  Baiharei. 


\>m  MElsTElv  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALEIL 


ixr.  (l:i^  na.-kir  Kiml.  Es  slHit  zur  Mnttor  empor, 
iiiiiier  ilini  iuiiot  uiul  es  mi-;.  evliobeuen  lliimlen 
i.iiiks  leuchtet  Joseph,  die  Kiiiee  beugend,  mit 
eiui  v  I.atel'ue.  /jv,’i;-.ehen  den  Köjiteii  des  Paares  be- 
ii—rkf  man  '.veiti  i'  zui  iiidv  ( )(dis  und  Esel.  Rechts  im 
Miitrlsruiiih-  drei  Hiri'Ui.  l'eii  Hintergrund  bilden  die 
Ruinen  i'ines  Kii'(  hengebilinles ,  durch  die  man  aut  eine 


einer  Krone  aut  dem  Haupte  der  jüngere  König,  einen 
Pokal  haltend,  hinter  ihm  steht  der  Mohr  mit  seinem 
Geschenke  und  hinter  diesem  drängt  das  Gefolge  herein. 
Links  im  Mittelgründe  Ochs  und  Esel.  Joseph  fehlt. 
Im  Hintergründe  Ruinen.  Oben  im  Goldgründe,  gerade 
über  Maria,  ein  großer  Steim. 

Verkünd if/u II fj.  Zwei  Tafeln ,  die  von  einander 


Petrus  unil  Paulus.  Vom  Meister  des  Hausbuches.  Darmstadt,  Museum. 


hügelige  Landschaft  sieht,  in  der  ein  Schafhirte  durch 
einen  Engel  die  Botschaft  von  der  Geburt  des  Kindes 
mniifängt.  Anstatt  der  Luft  Goldgrund. 

Anijctnnij  der  Kdndge.  Links  sitzt  auf  einem 
Schemel  Maria  mit  dem  nackten  Kinde  auf  dem  Schoße. 
Es  wendet  .sich  dem  ältesten  Könige  zu,  der  mit  einem 
kostbaren  großgemusterten  Brokatmantel  bekleidet  bar- 
Imuntig  vor  ihm  kniet;  rechts  ihm  zur  Seite  kniet  mit 


durch  eine  schmale  Leiste  getrennt  sind,  aber  eine 
Komposition  bilden.  Wir  blicken  in  einen  gotischen, 
kapellenähnlichen  Raum,  dessen  Gewölbe  von  schlanken 
Säulen  getragen  wird.  Ganz  am  Ende  steht  ein  kleiner 
Flügelaltar.  Auf  der  rechten  Tafel  kniet  Maria  ganz 
in  Vordersicht  vor  ihrem  Bett  neben  dem  Betpult,  die 
Hände  vor  der  Brust  aneinander  gelegt.  Ihr  Mantel 
breitet  sich  weit  auf  dem  Boden  aus  und  bedeckt  den 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


13 


größten  Teil  des  Vordergrundes  auch  der  linken  Tafel. 
Auf  ihrem  Haupte,  das  sie  etwas  nach  der  rechten 
Schulter  geneigt  hat,  steht  die  Taube  und  berührt  mit 
dem  Schnabel  die  niedrige  Krone.  Links  kniet  Gabriel 
in  reich  besticktem  Brokatmantel  und  hält  in  der 
Linken  den  Stab,  während  er  die  Rechte  zum  Gruße 
erhoben  hat.  Ein  architektonischer  Rahmen  schließt, 
einer  Kirchenthiir  ähnlich,  das  ganze  Bild  nach  außen 
ab.  Aus  dem  Knaufe  von  je  zwei  Säulchen  steigen 
Aste  empor,  die  sich  oben  nach  der  Mitte  zu  biegen. 
Von  diesen  Asten  geht  prächtiges,  naturalistisch  gebil¬ 
detes  Blatt-  und  Rankenwerk  aus,  das  sich  um  sie  herum 
schlingt  und  die  Zwickel  ausfüllt. 

Beide  Altarwerke,  das  aus  Boßweiler  wie  das  aus 
Wolfskehlen,  sind  von  einer  Hand  gemalt.  Sie  stimmen 
in  so  vielen  Punkten  miteinander  überein,  dass  ein 
Zweifel  kaum  möglich  ist.  Ich  will  nur  auf  das  Wich¬ 
tigste  aufmerksam  machen.  Vergleidien  wir  z.  B.  die 
beiden  Verkündigungen.  Wie  Maria  kniet,  die  Augen 
niederschlägt,  das  Haupt  nach  der  Schulter  neigt,  wie 
ihr  Haar  in  schlichten  Strähnen  auf  die  Schultern 
herab  fällt,  wie  sich  einzelne  Haare  an  der  Stirn  los¬ 
gelöst  haben  und  ins  Gesicht  hängen,  wie  die  etwas 
zu  weite  Krone  auf  dem  Kopf  sitzt:  das  kommt  hier 
wie  dort  genau  so  vor.  Gabriel  hat  beidemal  in  der¬ 
selben  Weise  die  rechte  Hand  mit  eingeknicktem  vier¬ 
ten  und  fünften  Finger  zum  Gruß  erhoben,  seine 
Pfauenflügel  haben  dieselbe  Form  und  dieselbe  Stellung 
zu  einander.  Der  Fußbodenbelag  zeigt  fast  das  gleiche 
Muster;  es  tritt  iii  ähnlicher  Weise  auch  in  den  spä¬ 
testen  Bildern  auf  und  zwar  sehr  regelmäßig  und  per¬ 
spektivisch  richtig  verkürzt,  während  es  hier  ungenau 
gezeichnet  ist  und  ziemlich  unruhig  wirkt.  Besonders 
aber  zu  beachten  ist  die  Form  der  schlanken  Säule  mit 
einem  Kapital,  das  wie  eine  umgestülpte  attische  Basis 
aussieht.  Es  ist  dabei  bemerkenswert,  dass  Bogen  und 
Gewölberippen  unmittelbar  auf  dem  runden  Pfülile  auf- 
sitzen,  dass  also  die  Verbindung  nicht  durch  eine  vier¬ 
eckige  oder  polygonale  Deckplatte  hergestellt  wird. 
Soviel  ich  weiß,  findet  sich  diese  Form  in  Wirklichkeit 
nur  selten,  unser  Meister  aber  wendet  sie  sowohl  in 
seinen  Stichen  als  in  seinen  Gemälden  häufig  an. ')  Sie 
bildet  also  ein  wichtiges  Kennzeichen  für  die  Stilkritik. 
Ferner  liebt  er  es,  die  Kanten  der  Thür-  und  Fenster¬ 
gewände  sowie  die  Bogenlaibungen  auszukehlen.  — 
Vergleichen  wir  noch  die  übrigen  Darstellungen  mit¬ 
einander,  so  entsprechen  z.  B.  Ochs  und  Esel  auf  der 
Geburt  Christi  in  Darmstadt  denen  auf  der  Anbetung  der 
Könige  in  Speyer.  In  der  Art,  wie  Maria  bei  der  Gebui  t 
das  Kopftuch  geschlungen  hat,  wie  es  mitten  über  der 

1)  Doch  kommt  sie  auch  bei  anderen  Stechern  des 
15.  Jahrli.  bisweilen  vor,  z.  B.  bei  Schongauer  (B.  12  Beiße- 
lung),  beim  Monogrammisten  A.  B.  (B.  3  Abendmahl  und  B.  7 
Beißelueg),  bei  Israel  von  Meckenheim  (B.  178  Lautens|iieler 
und  Harfenspielerin). 


Stirne  in  eine  kleine  Falte  gelegt  ist,  ist  kein  Unter¬ 
schied  vorhanden.  Die  drei  Hirten  in  Speyer  finden 
wir  unter  den  Aposteln  der  Predella  in  Darmstadt 
wieder. 

Es  dürfte  damit  bewiesen  sein,  dass  die  Ijeiden 
Flügelaltäre  das  Werk  c/nes  Meisters  sind.  Sie  werden 
ungefähr  um  dieselbe  Zeit  entstanden  sein;  vielleicht 
auch  ist  der  Wolfskehlener  Altar  wenige  Jahre  älter. 

Nicht  ohne  weiteres  wird  es  jedoch  einleuchten, 
dass  der  Schöpfer  dieser  Bilder  der  Meister  des  Haus¬ 
buches  sein  soll.  Prüfen  wir  einmal  ihre  Formen¬ 
sprache,  namentlich  bei  den  weiblichen  Gestalten.  Sie 
ist  im  allgemeinen  nicht  schön.  Ein  langes  hagei'es  Ge¬ 
sicht  mit  stark  hervortretenden  Backenknochen,  die 
Augenbrauen  nur  wenig  geschwungen,  schwere  Lider 
und  scharfe  Fältchen  um  die  Augen,  eine  lange  gei'ade 
Nase,  ein  kleiner  Mund  mit  hervorspringender  voller 
Unterlippe,  ein  kleines,  scharf  abgesetztes  Kinn  mit 
Grübchen,  die  Kehle  und  der  obere  Teil  des  langen 
Halses  in  Falten  gelegt.  Die  Finger  sind  lang,  knochig 
und  hager.  Eigentlich  deutsch  ist  diese  Formensprache 
nicht,  es  ist  die  der  Schule  Roger’s,  sie  erinnert  nament¬ 
lich  an  Memling,  nur  dass  dieser  weicher,  milder,  nicht 
so  herb  wie  unser  Meister  ist.  Verschiedene  seiner 
männlichen  Gestalten,  namentlich  unter  den  Aposteln, 
weisen  unmittelbar  auf  Memling’s  jüngstes  Gericht  in 
Danzig  hin,  und  auch  die  Engel  sind  denen  des  fland¬ 
rischen  Meisters  blutsverwandt.  Derartige  Anklänge  au 
die  niederländische  Kunst  können  zu  einer  Zeit,  wo  die 
ganze  Malerei  am  Mittel-  und  Niederrhein  unter  nieder¬ 
ländischem  Einfluss  Stand,  nicht  befremden  und  sprechen 
durchaus  nicht  gegen  den  Meister  des  Hausbuches  als 
Verfertiger  dieser  Bilder,  die  in  den  .Tahren  1470 — 80 
entstanden  sein  mögen.  Wenn  wir  nun  erwägen,  dass 
der  Meister  kaum  vor  1475,  vielleicht  erst  um  1480 
angefangen  hat  zu  stechen,  so  findet  der  Umstand,  dass  die 
beiden  Altarwerke  nur  ganz  geringe  Ubereinstimmungen 
mit  den  Stichen  zeigen,  dadurch  seine  genügende  Er¬ 
klärung.  Ausschlaggebend  ist,  dass  diese  fiaiheren 
Bilder  mit  späteren  in  Verbindung  stehen,  die  ihm  auf 
Grund  der  Stiche  zugeschrieben  werden  müssen. 

Der  Stil  der  eben  besprochenen  Altarwerke  prägt 
sich  leicht  ins  Gedächtnis  ein.  Wir  dürfen  daher  wohl 
einem  tüchtigen  Kenner  der  Kunst  seines  Heimatlandes, 
W.  Franck,  Glauben  schenken,  wenn  er  sagt,  in  Lee- 
heini  bei  Wolfskehlen  befinde  sich  noch  ein  kleineres 
Werk  vom  Meister  des  Wolfskehlener  Altars.') 

Von  den  mir  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Werken 
unseres  Meisters  folgt  nun,  von  den  früheren  zeitlich 
durch  einen  großen  Zwischenraum  getrennt,  der  Flügel¬ 
altar  in  der  Kirche  zu  Waclienheim  au  der  Pfilmm 
vom  Jahre  1489.  Gesehen  habe  ich  ihn  nicht,  mein 


1)  Archiv  für  hess.  Beschiebte  und  Altertumskunde, 
11.  Bd.,  S.  71. 


14 


DER  MEISTER  DES  IIAUSBUCHES  ALS  MALER’ 


iteil  in-üiulet  sicli  nur  auf  einen  sehr  nncleutliclien 
.4t  !ii4riK-k  :in  cltui  Kunstdenkmilleru  des  Großherzog- 
nims  Hussen,  Kreis  'Wuiaus ,  N.  128!,  der  mir  die  Pre¬ 
della  nml  die  Innenseiren  des  Altars  wiederg'iebt.  Auf 
der  Prudtdla  erblicken  wir  gemalt  das  Schweißtneli 
Clirisii,  von  zwei  Engeln  gehalten,  im  Mittelschrein  auf 
einem  S(:ckeL  der  die  Jahreszahl  1480  trägt,  die  ge- 
scdinitzie  Figur  der  jilaria  mit  dem  Kinde.  Auf  den 
beiden  inneren  Seitenwänden  und  der  Rückwand  des 
Si  hreins  ist  ein  Teiiidrh  gemalt,  darüber  vier  bis  zur 
lii-ust  siiditl-are  Engel.  Auf  den  Innenseiten  der  Flügel 
ist  links  die  heilige  Elisabeth  dargestellt,  ihr  zu  Füßen 
(du  geistlicher  Stifter,  vor  ihm  sein  M'ajiiien,  über  ihm 
ein  Njivuchbaiid  mit  den  Worten:  „o  mater  dei  miserere 
mei"  in  gotisehen  Minuskeln:  rechts  die  heilige  Katha¬ 
rina,  zu  ihren  Füßen  ein  zweiter  Stifter,  der  nach 
'einem  'Waiijieii  dem  Gesehledite  der  Landschaden 
Voll  Sieinacli  angehört.  Auf  den  Außenseiten  ist 
di(>  W'i'küiidigung  gemalt  Diese  wird  jedenfalls  bei 
der  Stilkritik  iioidi  eine,  wichtige  Rolle  spielen,  denn 
Kigentiimliidikeiten  und  Wandlungen  des  Stils  lassen 
siidi  ja  nirgends  beiiuemer  und  deutlicher  uachweisen,  als 
an  Darstellungen  desselben  Ge.genstandes.  Unter  den 
lÜldern,  die  ich  dem  Ilausbuchmeister  zuschreibe,  be- 
limlet  sicli  aber  viermal  die  \A.rküudignng. 

Hoffentlich  wird  uns  bald  Gelegenheit  gegeben,  an 
der  Hand  guter  Photograiihieeu  des  ganzen  AVerkes  eine 
genauere  kritische.  Prüfung  vorzunehmen.  Doch  lässt 
sich  schon  nach  dem  mangelhaften  Lichtdrucke  mit 
ziemlicher  Sicherheit  liehaupten,  dass  die  Gemälde  des 
Altars  von  unserem  Meister  sind.  Die  A^erbindung  mit 
den  früheren  AVerken  wird  durch  die  Engel  hergestellt, 
liesonders  die  vier  im  Innern  des  Schreins.  Sie  ent¬ 
sprechen  denen  an  gleicher  Stelle  beim  AVolfskehlener 
Altarwei'k.  Doch,  was  das  AAG.chtigste  ist,  sie.  ei'innern 
sofort,  und  dies  gilt  vor  allem  von  denen  der  Predella, 
an  die  Engel  auf  Stichen  des  Hausbuchmeisters.  Ich 
nenne  hier  den  Tjeichuam  Gliristi  (L.  20),  <lie  säugende 
Madonna  (L.  2.5),  besonders  aber  Magdalena’s  Himmel¬ 
fahrt  (L.  49  und  50).  Für  den  Christuslcopf  auf  dem 
Schweißtuche  vergleiclie  man  die  Stiche  L.  L3  (Kreuz- 
tr.agung),  L.  10  (Christus  als  guter  Hirte)  und  L.  22 
(das  Passionswappen).  Den  'kypus  der  heiligen  Elisa¬ 
beth  finden  wir  auf  folgenden  Sticlien  wieder:  der 
Kreuztragung  (I;.  13),  Christus  am  Kreuz  (L.  15),  dem 
Passionswappeu  (L.  22),  der  heiligen  Familie  (L.  20), 
Anna  selbdidtt  (L.  30)  und  den  beiden  Nonnen  (L.  69). 

Eine  weitere  Entwickelungstufe  des  Ilausbuch- 
meisters  vertreten  sechs  Tafeln  der  DarmstüdUr  Galerie 
i'Nr.  211 — 215),  die  ehemals  die  Flügel  eines  Altar¬ 
werks  gebildet  haben  und  der  Überlieferung  nach  aus 
dem  Kloster  Scl/gen.sfnrH  stammen. ')  Predella  und 
Mittelsclu'cin  fehlen.  Die  Anonbiung  war  folgender- 

1)  Photogiaphirt  von  E.  Neeb. 


maßen:  auf  den  Innenseiten  links  die  Verkündigung 
fNr.  212),  darunter  die  Geburt  Christi  (Nr.  213),  rechts 
die  Anbetung  der  Könige  (Nr.  214),  darunter  die  Be- 
sdineiduug  (Nr.  215),  auf  den  Außenseiten  die  Heiligen 
Petrus  und  Paulus  (zusammen  Nr.  211). 

Verkündig un ff  (Nr.  212,  vergl.  die  Abbildung). 
Maria  kniet  in  ihrem  Schlafgemach  rechts  vor  dem 
Betpult.  Sie  hat  die.  Rechte  wie  in  plötzlicher  Über¬ 
raschung  erhoben  und  wendet  das  Gesicht  ohne  die 
Augen  aufzuschlagen  dem  Engel  zu,  einem  schönen 
Jünglinge  mit  Pfauenflügeln,  der  von  links  heran¬ 
gekommen  ist.  Vor  ihm  Hattei't  in  der  Luft  ein  Spruch¬ 
band  mit  ,.Ave  nia]'ia  graci“  .  .  in  gotischen  Schriftzügen, 
auf  das  er  mit  ausgestrecktem  Zeigefinger  der  Rechten 
hinweist.  Die  Taube  kommt  auf  Maria  zugefiogen. 
Der  Fußboden  ist  mit  gemusterten  Steinrtiesen  bedeckt. 

Gclnirt  Gln'isii  (Nr.  213).  .In  einem  engen,  ver¬ 
fallenen  Raume,  dessen  Gemäuer  mit  Gras  und  Blatt¬ 
pflanzen  bewmchsen  ist,  liegt  auf  einem  dicken  Heu- 
polster,  ültei'  das  eine  AVindel  gebie.itet  ist,  das  nackte, 
ziemlich  hässliche.  Kind.  Rechts  vor  ilnn  kniet  Maria, 
links  neben  ihr,  ganz  von  voim  gesehen,  Joseph,  die 
Hände  betend  vor  der  Brust  gefaltet.  Hinter  ihm  der 
Esel,  der  das  Heu  l.)eschnuppert,  w'ährend  der  Ochs, 
links  von  außen  seinen  Kopf  hei'einsteckt.  Durch  ein 
Fenster  rechts  sehen  drei  Hirten  herein,  dui-ch  ein 
anderes  in  der  Hinterwand  erblickt  man  einen  Hirten 
bei  seiner  Hei'de. 

Änhctirng  der  Könige  (Nr.  214).  In  einem  Raum, 
dessen  Mauern  wie  gewaltsam  von  einander  gebrochen 
erscheinen,  sitzt  Maida  nach  rechts  gewandt.  Hinter 
ihr  die  Köpfe  von  Ochs  und  Esel.  Sie  hat  das 
nackte  Kind  auf  dem  Schoße.  AMr  ihm  kniet  der 
älteste  König  mit  einem  Kästchen  voll  Goldmünzen,  in 
welches  das  Kind  greift,  während  es  zu  ihm  aufsieht. 
Rechts  hinter  dem  Knieenden  steht  der  mittlere  König 
mit  liiu'zem  Volll»art  und  reichem,  langem,  gelocktem 
Haar.  Er  hält  dem  Kinde,  mit  der  Rechten  eine  go¬ 
tische  Monstranz  hin.  Der  Mohr,  der  eben  von  rechts 
her  die  Thür  durchschidtten  hat,  bringt  einen  Pokal. 
AVedei'  .Toseidi  noch  das  Gefolge  der  Könige  ist  sicht- 
Irar.  Anstatt  der  Luft  Goldgrund. 

Bcschncidung  (Nr.  215).  Auf  einem  Stuhle  sitzt, 
halb  nach  links  gewandt,  ein  bärtiger  Alann,  auf  seinen 
Knieen  hat  er  ein  großes  flaches  Metallbecken,  das  von 
einem  Manne  links  neben  ihm  gehalten  w'ird.  Darauf 
sitzt  das  nackte  Kind,  vor  dem  derjenige  kniet,  der  die 
Handlung  vornimmt.  Hinter  dieser  Gruppe  steht  ein 
alter  Mann  und  eine  alte  Frau  (Simeon  und  Hanna?), 
beide  gedankenvoll  vor  sich  hin  sehend.  Links  schreiten 
.Toseidi  und  Maria,  die  hier  älter  als  auf  den  übrigen 
Bildern  erscheint,  zur  Thür  herein.  Im  Hintergründe 
rechts  ein  mit  einem  weißen  Tuche  bedeckter  Tisch, 
auf  dem  zwei  brennende  IJchter  stehen.  Der  Fußboden 
zeigt  ein  ähnliches  Fliesenmuster  wie  Nr.  212. 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  Al.S  MALER. 


15 


Petrus  und  Paulus  auf  zwei  Tafeln,  die  aber  als 
ein  Bild  gedacht  sind  (Nr.  211,  vergl.  die  Abbildung). 
Die  beiden  Apostelfürsten  sitzen  einander  zugekelirt, 
Petrus  links,  Paulus  rechts,  auf  einer  Bank  mit  hoher 
Lehne  innerhalb  eines  kleinen,  nischenartigen  Baumes. 
Petrus  mit  kurzem,  leicht  gelocktem  Vollbart  hält  in 
beiden  Händen  die  Schlüssel  und  sieht  vor  sich  hin. 
Auf  dem  Haupte  hat  er  die  Paiistkrone,  an  seiner 
linken  Schulter  lehnt  das  Doppelkreuz.  Der  breite 
Saum  seines  Mantels  ist  reich  verziert,  —  Paulus,  bar¬ 
fuß  und  barhäuptig,  mit  großer  Glatze  und  langem 
weichem  Haupt-  und  Barthaar,  hält  in  der  Rechten  das 
nach  oben  gekehrte  Schwert.  Die  Linke  hat  er  auf 
den  rechten  Unterarm  gelegt.  Sein  Blick  ist  geradeaus 
gerichtet.  Er  ist  in  ein  einfaches,  langes,  von  einem 
Gürtel  zusammengehaltenes  Gewand  gekleidet,  das  von 
einem  schlichten  Mantel  bedeckt  wird.  Das  ganze  Bild 
wird  oben  durch  piächtiges  Ast-  und  Eankenwerk  ab¬ 
geschlossen,  das  aus  den  Knäufen  zweier  schlanker 
Säulen  emporsteigt,  die  es  an  den  Seiten  begrenzen.  Vor 
diesen  steht  auf  Jeder  Seite  am  äußersten  Rande  noch 
eine  solche  Säule,  die  eine  kleine  männliche  Statue  trägt. 

Die  Forniensprache  hat  sich  im  \’ergleich  zu  den 
früheren  Werken  bedeutend  verändert.  Wir  haben  nicht 
mehr  die  schlanken  Gestalten  mit  den  knochigen  Gesichtern 
und  den  scharfen  Zügen  vor  uns,  alles  ist  voller,  rundlicher 
geworden.  Es  hat  eine  Weiterentwicklung  vom  Strengen 
und  Herben  nach  dem  Weichen  und  Anmutigen,  vom 
Kirchlich-Feierlichen  nach  dem  Weltlichen,  Natürlichen 
zu  stattgefunden.  Mit  einem  Worte,  die  Gestalten  sind 
alle  deutscher  geworden,  der  Meister  hat  die  flandrischen 
Angewohnheiten  abgelegt,  er  spricht  nun  ganz  seine  eigene 
Sprache.  Man  kann  freilich  nicht  leugnen,  dass  seine 
Menschen,  namentlich  die  Männer  (Joseph,  die  Hirten) 
im  Allgemeinen  hässlicher  sind  als  früher,  es  sind  meist 
derbe  bäuerische  Gestatten,  aber  sie  fesseln  durch  ihr 
ungeschminktes,  treuherziges  Wesen.  Auffällig  ist,  dass 
sie  alle  etwas  Neigung  zum  Schielen  haben  und  dass  ihr 
Haar  meist  wie  eine  Perücke  auf  dem  Kopfe  sitzt.  Ein 
besonderer  Gesichtstypus  ist  nicht  mehr  streng  durch¬ 
gebildet,  es  ist  alles  individuell,  charakteristisch  ge¬ 
worden.  Maria  ist  z.  B.  jedesmal  etwas  anders  aufge¬ 
fasst.  Indessen  lässt  sich  doch  ein  mittlerer  weib¬ 
licher  Normaltypus  feststellen,  wie  er  sich  auf  dem 
A’erkündigungsbilde  lindet.  Bemerkenswert  daran  ist 
folgendes:  die  Augenbrauen  sind  nur  wenig  geschwungen 
und  gehen  unmittelbar  in  die  beiden  äußeren  den  breiten 
Nasenrücken  begrenzenden  Linien  über.  Die  Nase  ist 
ziemlich  lang  und  an  der  Wurzel  nicht  oder  nui'  wenig 
eingesattelt,  d.  h.  sie  verläuft  meist  mit  der  Stirn  in 
einer  Flucht.  In  der  Mitte  zwischen  Nase  und  Dberlippe 
ein  längliches  Grübchen.  Dann  ein  nicht  zu  großer 
Mund  mit  vollen  üppigen  Lippen,  der  nach  den  Winkeln 
zu  in  feine  Linien  ausläuft  und  mit  einem  Grülmhen 
endigt,  als  wäre  da  mit  einem  feinen  Bohrer  ein  Loch 


gemacht  worden.  Die  Unterlippe  ist  vorgewöllit.  wo¬ 
durch  unter  ihr  eine  kleine  Falte  entsteht.  Das  kleine 
fleischige  Kinn  ist  deutlich  von  den  Wangen  abgegrenzt, 
dann  folgt  eine  starke  Untei'kehle,  an  die  sich  der  in 
Falten  gelegte  Hals  anschließt.  Technisch  bemerkens¬ 
wert  ist  bei  diesen  Bildern ,  dass  die  Schatten  in  den 
Gewändern  nicht  durch  eigentlich  malerische  Mittel, 
sondern  zeichnerisch  durch  Strichelung  in  schrägen  Lagen 
wiedergegeben  sind.  Dies  ist  auch  der  Fall  bei  den 
sorgfältig  behauenen  Werkstücken.  Auffällig  sind  auch 
die  ziemlich  scharfen  Umilsslinien,  namentlich  beim 
n  ac k teil  Christkinde. 

Suchen  wir  nach  Übereinstiinmungen  mit  früheren 
Bildern,  so  bieten  sich  nicht  eben  viele  dar.  Nur  einige 
an  sich'  unliedeutende  Einzelheiten  fallen  wieder  stark 
ins  Gewicht.  So  die  Pfauenflügel  des  Engels  Gabriel. 
Dann  das  Fliesen  muster  des  Fußliodens  auf  Nr.  212  und 
215,  das  ganz  ähnlich  wie  das  auf  den  beiden  frühesten 
Altarwerken  zusammengesetzt  ist.  Schließlich  als  wich¬ 
tigstes  Merkmal  die  schlanke  Säule  mit  dem  an  eine 
umgekehrte  attische  Basis  erinnernden  Kapitäl  auf  der 
Geburt  Christi  und  der  Darstellung  der  beiden  Apostel¬ 
fürsten.  Wir  haben  sie  genau  so  schon  bei  den  frühe¬ 
ren  Bildern  kennen  gelernt.  Die  architektonische  Um¬ 
rahmung  mit  dem  Ast-  und  Rankenwerk  auf  Nr.  211 
entspricht  im  Geiste  ganz  der  der  Verkündigung  in 
Speyer,  wenn  auch  ihre  Ausführung  anders  ist.  Das 
stärkste  Band  aber  zwischen  den  bisher  besprochenen 
Werken  bildet  die  ganz  einheitliche  Farbengebung.  An 
ihr  wird  man  den  Meister  sofort  erkennen,  denn  sie 
ändert  sich  im  Laufe  der  Zeit  nicht  so  leicht,  wie  die 
Formensprache.  Sie  verrät  keine  besonders  hohe  kolo¬ 
ristische  Begabung,  es  sind  immer  dieselben  ruhigen 
matten  Farben,  die  bisweilen  ziemlich  stumpf  wirken. 
Das  mag  vielleicht  auch  an  der  recht  schlechten  Er¬ 
haltung  der  Darmstädter  Bilder  mit  liegen,  die  einer 
sorgfältigen  und  sachverständigen  Restauration  dringend 
bedürftig  wären. 

Übereinstimmungen  mit  Stichen  Anden  sich  bei 
diesen  Bildern  so  gut  wie  keine.  Und  trotzdem  sind  sie 
ganz  sichere  AVerke  des  Hausbuchmeisters. 

Den  unumstößlichen  Beweis  dafür  bringt  erst  das 
Bild  Nr.  308  des  Gothaer  Museums  (vergl.  die  Abbil¬ 
dung).  Es  stellt  ein  Liehcspaar  in  Halbfiguren  hinter 
einer  Steinbrüstung  dar.  Der  Jüngling  links  mit  brau¬ 
nen  Augen  und  langem  blondem  gelocktem  Haar,  auf 
dem  ein  Kranz  wilder  Rosen  ruht,  hat  mit  der  Linken 
die  Hüfte  des  Mädchens  umfasst  und  sieht  es  dabei  an. 
Er  trägt  über  dem  mit  Gold  und  Perlen  gesäumten 
Hemd  ein  dunkelrotes,  tief  ausgeschnittenes  Wams  mit 
kurzen  Ärmeln,  das  über  der  halbnackten  Brust  durch 
ein  paar  Schnüre  zusammengehalten  wird,  llber  die 
linke  Schulter  hängt  ihm  eine  dicke  Doppelschnur  mit 
zwei  Quasten,  von  denen  die  eine  von  einem  kostbaren 
Armband  umschlossen  ist;  die  andere  fasst  er  mit  der 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


1  eil  liai  ilii-  Haar  unter  einer  hohen, 
l  ii'iuii  *  ii'hliietz  ühersponnenen  Haube 
ist  iimh  ein  Schleier  gezogen,  der 
:  .^Hgi  i.st  und  dessen  Rand  iilier  die 


der  Schulter  herabhängt  und  auf  das  ihr  Blick  gerichtet 
ist.  Die  beideji  Siiruchbänder  über  ihnen  geben  den  In¬ 
halt  des  Gesprächs  an,  das  sie  soeben  miteinander  ge¬ 
habt  haben.  Auf  dem  rechts,  das  die  Worte  des  Mäd- 


Liebespaav.  Vom  Meister  des  Hausbuches.  Gotha,  Museum. 


Stirn  fällt.  Sie  trägt  ein  dunkelgrünes  ausgeschnittenes 
Isleid  mit  langen  weiten  Ärmeln  über  einem  mit  Perlen 
besetzten,  von  Goldlitzen  geschmückten  Hemd.  Tn  der  Lin¬ 
ken  hält  sie  eine  wilde  Rose,  während  sie  mit  der  Rech¬ 
ten  das  Armband  ergriffen  hat,  das  dem  Jüngling  von 


chens  enthält,  steht:  „Sye .  hat .  vch  .  nyU  gantz .  veracht . 
]  )ye .  vch  .  dafz  .  schnürlin  .  hat .  gemacht“.  Auf  dem  andern 
des  Jünglings  Antwort:  „vn .  byllich .  het .  Sye .  efz  .  gedan  . 
want .  ich .  han  .  efz .  sye .  genisse  .  lan“.  Ganz  oben  in  der 
Mitte  sehen  wir  ein  Wap[)en  mit  drei  roten  Sparren  in 


FERDINANT)  VON  KELLER. 


17 


goldenem  Felde.  Es  ist  das  der  Graten  von  Hanau. 
Das  Bild  ist  auf  Lindenholz  gemalt. 

Vergleiclien  wir  dies  Bild  zunächst  mit  den  zuletzt 
besprochenen  Darmstädter  Bildern!  Der  Jüngling  sieht 
aus  wie  ein  Zwillingsbruder  des  Engels  Gabriel,  nur 
dass  dieser  weichere,  mehr  weibliche  Züge  hat  und  ihm 
als  Himmelsbewohner  eine  idealere  Schönheit  eigen  ist. 
Aber  auch  wenn  die  Ähnlichkeit  im  Gesicht  nicht  so 
außerordentlich  groß  wäre,  würde  schon  die  gleiche  Haar¬ 
behandlung  (die  sich  übrigens  auch  beim  mittelsten  der 
h.  drei  Könige  genau  so  findet)  beweisen,  dass  hier  der 
Pinsel  eines  und  desselben  Meisters  gearbeitet  hat.  Man 
vergleiche  ferner  das  Gesicht  des  Mädchens  mit  dem 
der  Maria  auf  der  Geburt  Christi  und  der  Anl)etung  der 
Könige:  dieselbe  Neigung  des  Kopfes,  dieselbe  charak¬ 
teristische  Umrisslinie,  dieselben  Eigentümlichkeiten  in 
der  Bildung  der  einzelnen  Gesichtsteile. 

Das  Berliner  Kabinett  besitzt  eine  Handzeichnung 
vom  Hausbuchmeister,  die  einzige,  die  ihm  bis  jetzt  mit 
Sicherheit  außer  den  im  Hausbuche  enthaltenen  zuge¬ 
schrieben  ist.  J)  Dargestellt  ist  ein  Liebespaar  in  ganzen 

1)  In  Lichtdruck  veröffentlicht  von  Lippmann  in  den 
Zeichnungen  alter  Meister  im  Kupferstichkabinett  der  Königl. 
Museen  zu  Berlin,  3.  Lief.,  Nr.  51. 


Figuren.  Es  bedarf  wohl  keines  Beweises,  dass  diese 
Zeichnung  und  das  Liebespaar  in  Gotha  von  derselben 
Hand  sind.  Auch  ein  ganz  ungeübtes  Auge  würde  dies 
sofort  erkennen. 

Und  nun  nehmen  wir  zum  Vergleich  mit  dem  Bilde 
die  Stiche  des  Meisters  zur  Hand,  zunächst  einmal  das 
wundervolle  Blatt  mit  dem  Liebespaar  (L.  75),  dann  den 
Jüngling  mit  den  beiden  Mädchen  (L.  66),  die  Karten¬ 
spieler  (L.  73),  die  beiden  Gegenstücke:  das  Mädchen 
und  der  Greis  (L.  55)  und  der  Jüngling  und  die  Alte 
(L.  56).  Vergleichen  wir  ferner  mit  dem  Jüngling  des 
Bildes  den  auf  den  Stichen  L.  58  (Jüngling  und  Tod) 
und  L.  70  (der  Falkenier  und  sein  Begleiter),  mit  dem 
Mädchen  die  auf  Aristoteles  reitende  Phyllis  (L.  54) 
und  die  Dame  mit  Helm  und  Wappenschild  (L.  86),  end¬ 
lich  wegen  der  Schiiftbänder  außer  den  schon  genannten 
Stichen  L.  55,  56  und  86  noch  L.  19,  68  und  69,  so  fin¬ 
den  wir  im  Allgemeinen  wie  im  Besonderen,  namentlich 
in  der  Tracht,  den  Gesichtstypen,  eine  so  überraschende 
Übereinstimmung,  dass  jeder  Zweifel  verstummen  muss: 
der  Meister  des  Hausbuches  ist  thatsächlich  der  Maler 
des  Liebespaares  in  Gotha  und  somit  auch  der  früher 
genannten  Bilder. 

(Scblixss  folgt.) 


FERDINAND  VON  KELLER. 

VON  PAUL  SGHULTZE- NAUMBURG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


S  hat  zu  allen  Zeiten  zwei  Arten  von 
Künstlern  gegeben:  solche,  die  als  Pio¬ 
niere  neue  Pfade  suchten  und  solche, 
welche  die  gebahnten  Wege  beschritten, 
sie  ebneten  und  kultivirteu.  Die  Wert¬ 
schätzung  beider  schwankt  mit  dem 
Wechsel  der  Zeitideen,  beide  aber  eiTüllen  eine  gleich 
wichtige  Mission,  —  nur  die  Breittreter  sind  für  die 
Kunst  überflüssig,  die  fegt  die  Zeit  beiseite,  dahin 
wo  sie  hingehören:  in  die  Vergessenheit.  Da  aber 
augenblicklich  eine  Epoche  des  Aufsteigens  für  die  erste 
Gruppe  ist,  geschieht  es  oft,  dass  zu  summarisch  ver¬ 
fahren  und  die  zweiten  mit  den  dritten  zusammengenannt 
werden. 

Das  ABC  der  objektiven  Wertschätzung  ist  jedoch, 
einfach  nach  der  künstlerischen  Kraft  zu  fragen,  die  den 
Werken  innewohnt;  nie  zu  vergessen,  dass  Kunstepochen 
nicht  aneinander  anschließen,  wie  die  Kegierungen  der 
Fürsten,  sondern  sich  in  den  seltsamsten  Verbindungen 
ineinander  hineinschieben;  man  kann  die  Keime  der 
kommenden  schon  da  finden,  wo  die  vorhergehende  noch 
Zeitschrift  für  hüllende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  1. 


kaum  voll  zu  Worte  gekommen  ist,  und  ihr  Ausklingen 
zieht  sich  oft  bis  spät  in  die  Blütezeit  der  nachfolgenden 
hinein,  um  sich  vereinzelt  wieder  zu  starkem  lebens¬ 
vollem  Klange  zu  erheben.  So  ein  Später  ist  Ferdinand 
von  Keller.,  der  badische  Makart.  Kein  Zweifel,  mit  den 
]\Iodernen  hat  er  nichts  gemeinsam  —  oder  doch  nur 
soviel,  wie  eben  alle  echten  Künstler  gemeinsam  haben 
und  so  allein  will  er  auch  betrachtet  sein,  wenn  man 
von  seiner  Kunst  ein  klares  Bild  bekommen  will.  Man 
muss  eben  unterscheiden  zwischen  seiner  kunstgeschicht¬ 
lichen  Mission  und  dem  ästhetischen  Genuss,  den  er  be¬ 
reitet.  Aber  die  meisten  haben  es  vorgezogen,  nachdem 
sie  für  die  Modernen  ihr  Leben  eingesetzt  und  gesehen, 
dass  Keller  sich  so  gar  nicht  unter  das  alte  Eisen  der 
Historie  werfen  ließ,  —  an  ihm  vorbeizusehen  und  von 
etwas  andere)!!  zu  reden.  Dies  muss  vorausgeschickt 
werden,  um  für  ihn  den  richtigen  Standpunkt  zu  finden; 
und  dann  erscheint  er  als  ein  sonntägliches  dekoratives 
Genie,  das  mit  eklektischer  Benutzung  aller  gelösten 
Proble!!!e  ein  glänzendes  Eesume  giebt,  es  aber  mit  so 
viel  Eigenart  lungestaltet,  dass  seine  Wei'ke  innner  un- 

3 


18 


FERDINAND  VON  KELLER 


verkennbiii'  pclite  Ivellsr  sind  und  nie  wie  Totgeboneue 
anssehen,  die  g'crade  so  g'ut  von  einem  andern  herrühreu 
können.  Gerade  das  ist  der  Umstand,  der  die  Lebens¬ 
fähigkeit  seiner  Werke  verbürgt.  Aber  indem  er  dieses 
Erbe  einer  hinter  ihm  liegenden  Zeit  weiterführt  bis  zn 
einer  Zartheit  und  Verfeinerung,  die  nicht  mehr  zu  über¬ 
bieten  sind,  setzt  er  selbst  die  Grenze,  der  notwendiger¬ 
weise  etwas  anderes  folgen  muss.  Damit  ist  auch  genug¬ 
sam  erklärt,  weshalb  Keller  keine  eigentliche  Schule 


Könnens  ein  Führei'  sein,  wie  man  ihn  weit  und  breit 
nicht  zu  linden  gewusst  hätte,  auch  wenn  die  Schüler 
andere  Ziele  gesucht  hätten.  Das  ist  sein  ureigenstes 
Gebiet,  auf  dem  er  allen  anderen  weit  voraus  schritt  und 
eine  mächtig  dekorative  Farbe  damals  schon  brachte,  als 
die  andern  noch  zahme  Kolorirer  waren. 

Wenn  man  Keller’s  bisheriges  Lebensw’erk  über¬ 
schaut,  so  zeigen  sich  zwei  llauptiiliasen,  die  icli,  wenn 
man  es  mit  dem  Ausdruck  nicht  zu  genau  nehmen  will. 


Ferdinand  von  Keller.  Porträtskizze  von  Frau  Ernestine  Schultze -Naumburg. 


gründen  konnte.  Er  ist  auf  einer  Stufe  angelangt,  deren 
Ausdrucksform  zum  höchsten  Wohlklang  entwickelt 
ist,  ein  Überbieten  und  Weiterentwickeln  war  un¬ 
möglich  und  seinen  Schülern  blieb  nichts  übrig,  als 
hohle  Nachahmer  ihres  Meisters  zu  werden  oder  ein  neues 
Arbeitsfeld  anzubrechen.  Etwas  anderes  ist  es,  dass  Keller 
keine  Gelegenheit  hatte,  sein  enormes  Können  und  seine 
Erfahrung  in  der  dekorativen  Malerei  seinen  Schülern  zu 
übermitteln,  —  das  Gebiet,  auf  dem  wohl  auch  historisch 
seine  Ilauptmission  lag.  Hier  würde  er  vermöge  seines 


mit  der  Renaissance  und  dem  Rokoko  seiner  Entwick¬ 
lung  bezeichnen  möchte.  In  die  erste  trat  der  im 
Jahre  1842  geliorene  Künstler  mit  seinen  ersten  Wer¬ 
ken  als  fertiger  Meister  ein,  indem  er  schon  klar  jene 
ihm  eigentümliche  Gestaltungskraft  zu  Tage  treten 
ließ,  die  ihn  heute  auszeiclinet.  Was  er  von  seinem 
fünfzehnten  bis  zwanzigsten  Jahre  im  brasilianischen 
Urwald  in  sich  eingesogen:  die  Bilder  einer  prächtigen 
phantastischen  Natur,  bevölkert  mit  einer  exotischen 
Fauna  und  den  malerischen  Gestalten  der  Bewohner  von 


FERDINAND  VON  KELLER. 


19 


spanischer  und  portugiesischer  Abkunft,  machte  auf  ihn  am  Salamkemen“,  das  charakteristischste  Werk  für  seine 
den  nachhaltigsten  Eindruck,  welcher  zusammenschmulz  erste  Epoche.  Hier  war  dei'  Stoff  gefunden,  nach  dem  es 
mit  der  humanistischen 


Bildung,  die  er  in  Karls¬ 
ruhe  genossen.  So  ent¬ 
steht  jene)'  eigentümliche 
Zug,  der  sich  in  Keller’s 
Werken  zeigt;  jene  Vor¬ 
liebe  für  das  Prunkvolle, 

Fremdländische,  für  starke 
äußerliche  Affekte  mit 
einem  Stich  ins  Pathe¬ 
tische,  der  an  die  Blüte¬ 
zeit  der  spanischen  Ro¬ 
mantik  gemahnt.  Seine 
Ideen  offenbaren  sich  in 
glühenden  Farbenvisionen; 
es  drängt  sich  ihm  ein 
Konglomerat  von  Einzel¬ 
schönheiten  auf,  die  er 
zuerst  kaum  bewältigen 
kann,  so  dass  jene  ge¬ 
füllten  Kompositionen  ent¬ 
stehen,  bei  denen  er  mit 
stetig  größer  werdender 
Kunst  es  versteht,  kein 
Eckchen  frei  zu  lassen. 

So  mächtig  rinnt  der  Strom 
und  so  mühelos  fließt  er 
ihm  aus  dem  Pinsel,  dass 
er  niemals  kühle  Erwä¬ 
gung  braucht,sondern  stets 
nur  dem  Überfluss  wehren 
muss.  Rauschender  Wohl¬ 
klang  der  Farbe  und  ma¬ 
lerisch  dekorative  Wir¬ 
kung  über  alles.  Er  will 
keinen  Kompromiss; 

Wahrheit,  Möglichkeit, 
alles  muss  hinter  der  Er¬ 
scheinung  zurücktreten, 
wenn  er  seinem  Glaubens¬ 
bekenntnis,  dem  des  deko¬ 
rativen  Genies,  treu  blei¬ 
ben  will.  Sein  Nero,  den 
er  einst  in  Rom  gemalt, 
zeigte  noch  eine  gewisse 
V erwandtschaft  mit  Feuer¬ 
bach,  aber  bald  macht  er 
sich  auch  davon  ganz  frei. 

Im  Dresdener  Vorhang 
findet  er  eine  Fläche,  die 

einem  Jeden  Bangen  einflößen  würde,  ihm  aber  erst  ihn  verlangte;  ein  chaotiches  Durcheinander  von  malerischen 
die  rechte  Anregung  giebt.  —  Bald  danach  entsteht  Delikatessen,  aus  dunklem  glühenden  Fleisch  und  orienta- 
das  Schlachtenbild  „Markgraf  Ludwig  besiegt  die  Türken  lischer  Pracht,  schäumenden  Kossen  in  zitternder  Bewegung 


O  * 


Feri>.  von  Keli.er:  F.ntwurf  zum  Vorliang  im  Presileuer  Iloftlieatev. 


FERDINAND  VON  KELLER. 


-21 


und  linster  abendländiscliem  Waffensclimuck,  ein  Doppel¬ 
bild  von  düster  tragischer  Dose  und  einem  phantastischen 
Märchen  aus  Tausend  und  einer  Nacht.  Da  ist  alles  gefüllt 
bis  zum  letzten  Eckchen,  es  ist  das  Austoben  einer 
üppigen  Malerphantasie,  die  er  niclit  mehr  halten  kann, 
sondern  der  er  einmal  frei  die  Zügel  schießen  lassen  muss. 

Keller  verhält  sich  heute  ablehnend  gegen  seine 


erst  ganz  seinen  lleruf  zur  dekorativen  Malerei.  Was 
seit  Tiepolo  noch  keiner  gethan,  thut  er:  er  weiß  farbige 
Glut  in  das  spröde  Material  zu  bringen  und  erobert 
damit  dem  Fresko  seine  Farbenfreudigkeit  zurück;  er 
versteht  es  wieder ,  eine  weiße  Kalktläche  auf  den 
rauschenden  Accord  heiterer  Festesfreude  zu  stimmen, 
leuchtende  Schönheit  von  der  Wand  strahlen  zu  lassen, 


Feed.  von  Keller;  Brücke  in  Madrid.  (.Skizze.) 


„Jugendsünde“,  wie  er  es  nennt.  Und  doch  hat  das  Bild 
nichts  von  seiner  Wirkung  verloren,  wie  ein  jedes,  das 
mit  Herzblut  gemalt  ist:  es  mag  zum  Widerspruch  und 
streitsüchtige  Leute  zum  Ärger  reizen,  niemanden  aber 
wird  es  kühl  lassen,  sondern  stets  von  neuem  mächtig 
packen. 

Aber  in  dem  Meister  selbst  liegt  die  Ahnung,  dass 
er  noch  nicht  die  rechte  Fläche  gefunden,  der  gegen¬ 
über  er  sich  aussprechen  könnte.  Im  Fresko  findet  er 


in  einer  Zeit,  als  man  noch  bei  Cornelius’  Glyptothek- 
Fresken  von  „trefflichem  Kolorit“  sprach. 

Das  Heidelberger  Aula-Bild  bezeichnet  die  Abklärung 
und  den  Abschluss  dieser  ersten  Periode.  Hier  treten 
noch  einmal  alle  Elemente  zusammen,  die  jene  charak- 
terisiren,  gestalten  sich  hier  aber  zu  schöner,  klarer  Ruhe. 
Auch  hier  frohe  Feststimmung,  schmelzender  Farbenreiz 
und  siegreiche  Schönheit,  aber  mit  dem  Maßhalten  und 
der  Selbstbeschränkung,  welche  die  Reife  bringt. 


9-) 


FERDINAND  VON  EELLER. 


Und  nun  kDiuint  die  zweite  Phase  in  Keller’s  Kaust, 
die  der  kühlen  Rokokostimmung,  welche  die  Apotheose 
Kaiser  Wilhelms  ankündigte  mul  die  bis  jetzt  ihren 
Höhepunki  erreicht  hat  in  den  Stuttgarter  Fresken.  Die 
warmen  tiefen  Töne  sind  jetzt  silbergrau  geworden;  was 
früher  auf  braunen  satten  Umbratou  gestimmt  war,  steht 


tritt  sie  mit  mehr  Reservirtheit,  Unnahbarkeit  auf,  ein 
leiser  Zug  von  Blasiitheit  liegt  um  die  Lippen. 

Das  ist  das  Bild,  das  Keller’s  Schaffen,  im  Großen 
gesehen,  bis  heute  darbietet.  Nur  für  den  bemerkbar,  der 
ihm  näher  treten  kann,  wird  jedoch  die  Art,  wie  erschafft. 
Keller  besitzt  die  größte  manuelle  Geschickliclikeit,  die 


Ferd.  von  Keller:  Damenporträt.  (Pastell.) 


jetzt  auf  Gold  und  \Veiß,  —  der  düstere  Hintergrund 
der  Tragödie  ist  ganz  verschwunden  und  hat  einer 
repräsentativ- vornehmen  Atmosphäre  Platz  gemacht; 
die  überschäumende  Verve  von  früher  ist  ins  Galakleid 
geschlüpft  und  hat  Hofformen  angenommen.  Aber  die 
stolze  siegreiche  Schönheit  von  früher  ist  geblieben,  nur 


man  sich  überhaupt  vorstellen  kann;  alles,  was  ihm 
unter  die  Hände  kommt,  nimmt  formvollendete  Gestalt 
an,  sein  Formgefülil  und  seine  Gestaltungskraft  sind  so 
fabelhaft  entwickelt,  dass  ihm  alles  wie  aus  einer  Natur¬ 
notwendigkeit  heraus  gelingt,  wenn  er  nur  die  Hände 
darauf  legt.  Dabei  ist  es  ganz  gleich,  was.  Er  baut 


FERDINAND  VON  KEl.LER. 


23 


ein  Boot  mit  derselben  Grazie,  mit  der  er  modellirt, 
oder  in  Holz  schnitzt,  oder  Metall  bearbeitet,  mit  der 
er  Kostüme  entwirft  oder  anfertigt,  wie  er  einen  Saal 
dekorii-t  und  einen  Garten  anlegt.  Es  ist  ilim  gleich, 
ob  er  Ijeinwand  und  Ölfarbe  oder  die  Kalkwand  für  das 
Fresko  benutzen  muss,  er  ist  in  Pastell  genau  so  ge¬ 


meinen  könnte,  es  sei  auf  seine  Art  vor  der  Natur  ent¬ 
standen.  Eine  kleine  Skizze  genügt  ihm,  um  lebens- 
grotie  Akte  in  mächtig  dekorativer  Wirkung  aus  dem 
Kopfe  fertig  zu  malen,  dass  ein  jeder  ungeheuere  Studien 
dahinter  suchen  würde.  Wenn  man  schließlich  auch 
über  diese  Art  zu  arbeiten  disjuitiren  könnte,  so  gehört 


Ferd.  von  Keller:  Oentaurenpaar.  (Skizze.) 


schickt  wie  in  Aquarell  oder  der  Radirnadel  —  alles 
Technische  ist  ihm  etwas  so  Selbstverständliches,  dass 
er  es  anwenden  kann,  ohne  es  vorher  gelernt  zu  haben. 

Ebenso  staunenswert  ist  es,  was  für  Schätze  sein 
Gedäciitnis  birgt.  Was  er  einmal  gesehen,  prägt  sich 
ihm  derartig  ein,  dass  er  es  so  malen  kann,  dass  man 


das  nicht  in  den  Rahmen  unserer  kurzen  Betrachtung,  jeden¬ 
falls  ist  diese  Beobachtung  äußerst  interessant,  wenn 
man  sich  der  Persönlichkeit  Keller’s  nähert.  Er  kann  alles. 
Er  beherrscht  in  gleicher  Weise  den  nackten  Menschen 
wie  alle  Kostümtiguren,  wie  Pferde,  Hunde,  Raubtiere,  Vögel, 
wie  Früchte,  Ornament,  Architektur  oder  die  Landschaft, 


24 


ZU  DEN  KUNSTBLÄTTERN. 


in  der  derselbe  Grundtoii,  wie  in  seinen  großen  Deko¬ 
rationen,  traiisponirt  auftritt.  Die  Verlegeiilieit,  den 
formalen  Ausdruck  zu  finden,  scheint  er  überhaupt  nicht 
zu  kennen,  sein  Gedächtnis  birgt  alles,  was  er  braucht, 
und  nur  hie  und  da  holt  er  sich  eine  Anregung  ini 
kleinsten  Maßstab,  die  ihm  genügt. 

Wie  es  sich  ja  stets  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
verfolgen  lässt,  dass  die  Person  sich  mit  den  Werken 
deckt,  so  kann  man  dies  auch  bei  Keller  thun.  Man 
hat  sofort  den  Eindruck  einer  mächtigen  Persönlichkeit, 
W'enn  man  seine  elegante  Figur,  begleitet  von  seinen 
zwei  großen  Hunden,  einsam  daherschreiten  sieht.  Diese 
aristokratische  Erscheinung,  seine  Allüren  als  Weltmann 
decken  sieh  ohne  weiteres  mit  dem  Eindruck  des  Vor¬ 
nehm-Ritterlichen,  den  man  bei  seiner  Kunst  empfängt. 
Doch  tritt  noch  etwas  anderes  hinzu,  was  im  Verkehr 
mit  ihm  zum  Dominirenden  wird,  wovon  die  Bilder 


nicht  sprechen  können:  etwas  Anspruchsloses,  ganz  ohne 
Grund  Bescheidenes,  AVohlwollendes,  wodurch  er  einen 
jeden  sofort  sympathisch  berührt. 

Und  wie  die  Person,  so  ihr  Milieu.  Seine  geistvolle 
Gattin,  deren  Profil  zu  seinem  Typus  für  Frauenschön¬ 
heit  geworden,  giebt  den  Ton  an  in  ihrem  prächtigen 
Hause,  in  dem  sich  die  Größen  des  geistigen  und  ge¬ 
sellschaftlichen  Lebens  ein  Rendez-vous  gelieu.  Seine  Villa 
am  See,  wo  er  im  Sommer  seine  Segeljacht  über  die 
Wellen  treibt,  giebt  ihm  die  strotzende  Gesundheit;  die 
Wintertage,  die  er  auf  der  Jagd  verbringt,  erhalten 
ihm  seine  stetige  geistige  Frische. 

Keller  repräsentirt  eines  jener  beneidenswerten 
Künstlerleben ,  die  in  schöner  Harmonie,  ohne  große 
innere  und  äußere  Kämpfe,  sich  abrollen;  er  ist  einer  der 
wenigen  Sterblichen,  denen  mit  dem  Genie  auch  das 
Glück  in  die  Wiege  gelegt  ward. 


ZU  DEN  KUNSTBLÄTTERN. 


*  Pffw.  Gcmäldn  von  Fniriquc  Serra.  Für  die  in  Rom 
lebenden  Maler  sind  die  pontinischen  Sümpfe  mit  ihrer 
üppigen  Vegetation,  ihren  ruhigen  Wasserspiegeln  und  ihrer 
wilden  Tiei’welt  seit  einigen  Jahren  das  geworden,  was  vor 
einem  halben  Jahrhundert  der  Wald  von  Fontainebleau  für 
die  Begründer  der  französischen  Stimmungsmalerei  (Paysage 
intime)  gewesen  war:  eine  schier  unerschöpfliche  Fundgrube 
für  Motive  von  höchstem  malerischen  Reiz.  Mit  den  Italienern 
wetteifern  dabei  die  in  Rom  ansässigen  Spanier,  und  selbst 
der  ausgezeichnete  Tier-  und  Landschaftsmaler  Aurelio  Tira- 
telli  hat  es  nicht  leicht,  sich  neben  Francisco  de  Pradilla 
und  Serra  zu  behaupten.  Letzterer,  dessen  nach  der  be¬ 
herrschenden  Fans -Henne  benanntes  Bild  unsere  Helio¬ 
gravüre  mit  allen  Tonnüancen,  auch  mit  den  seltsamen,  das 
Gewölk  des  Hintergrundes  grell  durchbrechemlen  Lichtstreifen 
glücklich  wiedergielit,  ist  ein  sehr  vielseitiger  Künstler.  Er 
hat  Genrebilder  aus  dem  Volksleben,  intime  Kabinettstücke 
(architektonisch  reiche  Interieurs  mit  hohen  Geistlichen), 
Landschaften  u.  a.  m.  gemalt,  alles  mit  dem  gleichen,  jedem 
Format  entsprechenden  koloristischen  Zauber,  zu  dem  sich 
bei  den  Landschaften  noch  eine  tiefe  poetische  Pimpfinduug 
gesellt.  Letztere  kommt  am  stärksten  auf  einem  ebenfalls 


in  diesem  Jahre  vollendeten  Triptychon  zum  Ausdruck,  das 
die  landschaftlichen  Reize  der  ewigen  Stadt  in  drei  charak¬ 
teristischen  Momenten  zusammenfasst.  —  Unser  Bild  ist 
auf  der  diesjährigen  internationalen  Kunstausstellung  in 
Berlin  für  das  städtische  Museum  in  Magdebui'g  angekauft 
worden.  -R- 

*  „Ain  UfeF\  Originalradirung  von  Clemens  OniHc. 
Kaum  hatte  sich  Prof.  William  Unger  in  seiner  neuen  Stellung 
an  der  Wiener  Akademie  wohnlich  eingerichtet,  als  wir  auch 
schon  eine  Schar  begabter  Schüler  um  ihn  versammelt 
fanden ,  welche  sowohl  die  Radirung  als  reproduzirende 
Kunst  als  auch  in  freier  schöpferischer  Weise  mit  Glück  und 
Eifer  zu  üben  begannen.  Zu  diesen  zählt  der  Urheber  der 
beiliegenden  Originalradirung,  die  durch  die  empfindungs¬ 
volle  malerische  Wiedergabe  des  einfachen,  der  Natur  ab¬ 
gelauschten  Motivs  ohne  weiteren  Kommentar  den  Beschauer 
fesselt.  Clemens  Crncic  ist  in  Bruck  an  der  Mur  in  Steier¬ 
mark  1865  geboren,  war  zunächst  Schüler  der  Wiener  Aka¬ 
demie,  ging  später  nach  München  und  kehrte  dann  nach 
Wien  zurück,  um  sich  bei  Prof.  W.  Unger  zum  Radirer 
auszubilden.  Er  wurde  wiederholt  mit  Preisen  ausge¬ 
zeichnet. 


rierausgelrer;  Carl  von  TAitxoro  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Verlag  von  K  A  Seemarm  in  Leipzig.  Druckvon  Giesecke  u.Levnent  mLeipzig  u. Berlin 


4 


« 


I 


.t 


«# 


m. 


Jul  Wolf,  Joipui^ 


Dev  Öllievg  in  Stvaßbnvg.  Clesamtiuisiclit.  (Nach  Haußrnann,  Elsäss.-Lothr.  Kmistdenkmäler.)  S.  S.  2H. 


DAS  KAISER  WILHELM -DENKMAL  IN  BRESLAU. 

MIT  ABBILDUNG. 


S  war  in  der  Tliat  ein  feierlicher,  melir 
als  tag-esgescliichtliches  Interesse  bean- 
sprncliender  Augenblick,  als  an  diesem 
6.  September  in  Gegenwart  des  deutschen 
Kaiserpaares  und  einer  glänzenden  Fest¬ 
versammlung  unter  den  üblichen  Cere- 
inonieen  die  Hülle  von  dem  Denkmal  sank,  welches 
Schlesien  eher  als  andere  Provinzen  des  Eeiches,  eher 
als  dieses  selbst,  dem  Andenken  Kaiser  Wilhelm’s  I.  in 
seiner  Hauptstadt  gesetzt  hat. 

Schon  seit  ungefähr  der  Mitte  dieses  Jahrhunderts 
stehen  auf  dem  Einge  von  Breslau  unweit  des  alten, 
prächtigen  Eathauses  als  Werke  des  Schlesiers  August 
Kiss  die  schlichten,  ehernen  Eeiterstatuen  des  helläugigen, 
kühn  zugreifenden  Hohenzollern,  der  Schlesien  an  die 
Krone  Preußen  gebracht  hat,  uinl  Friedrich  Wilhelm’s  IIL, 
der  in  Breslau  zum  heiligen  Kriege  von  1813  rüstete  und 
von  hier  aus  den  „Aufruf  an  m(un  Volk“  erließ,  dessen 
Inhalt  auf  sechs  Erzplatten  in  erhabener  Schrift  seit  kurzem 
die  Sockellangseiten  des  letztgenannten  Standbildes 
schmückt.  Diesmal  galt  es  mehr.  Nicht  dem  jungen 
Eroberer,  unter  dessen  kräftiger  Hand  das  Land  eine 
neue  Blütezeit  erlebte,  nicht  dem  Preußenkönig,  den  ein 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIIJ.  II.  2. 


bitteres  Geschick  mit  der  schlesischen  Hauptstadt  be¬ 
sonders  verband,  dem  deutschen  Kaiser  und  dem  geeinten 
deutschen  Vaterlande  auch  der  Schlesier  sollte  der  freudige 
Stolz  auf  eine  große  Zeit,  sollten  Dankbarkeit,  Ver¬ 
ehrung  und  Liebe  gegenüber  dem  Herrscher,  der  diese 
Zeit  verkörperte,  ein  Denkmal  errichten.  Wie  aller 
Orten  sollte  auch  hier  durch  eine  gewisse  aufwandsvullere 
Fassung  desselben  kommenden  Geschlechtern  gezeigt 
werden,  dass  ein  Großer  schon  von  dei-  Mitwelt  in  seiner 
Größe  erkannt  und  gefeiert  wurde,  und  dass  die  Mit¬ 
welt  sich  des  Wertes  des  im  heißen  Kampfe  Errungenen 
voll  bewusst  war. 

Dieser  Absicht,  die  sich  in  dem  Programm  des 
Preisausschreibens  und  in  der  Bereitwilligkeit  zeigte, 
mit  der  die  erforderlichen  Mittel  allerseits  beigesteuert 
wurden,  entsprach  wohl  auch  der  größte  Teil  der  damals 
—  im  April  189(»  —  eingegangenen,  zahlreichen  Ent¬ 
würfe.  Unter  diesen  wurde  der  des  Bildhauers  CJ/ristiaii 
Behrens  und  des  Architekten  ]In(/o  lAcht  mit  dem  ersten 
Preise  ausgezeichnet  und  zur  Ausfühi'ung  bestimmt. 
Entsprach  er  auch  nicht  nach  allen  Seiten  hin  den 
Wünschen  der  Preisrichter,  bedurfte  es  auch  besonders 
in  betreff  des  Kostüms  des  Kaisers,  den  der  Künstler 


4 


DAS  KAISER  WILHELM -DENKMAL  IN  BRESLAU. 


2:; 

.1  •;  ]; ''.i’.'  orliplikeite,':.  fliireli  Lorbeerkranz  lind  Krüiunigs-  Ide  Wald  des,  wie  gesagt,  g-egebenen  Platzes  aber 

:  in  ein;  ideale  Sjiliäre  zu  versetzen  geglaubt  konnte  nicht  glücklicher  sein,  ln  der  Nähe  des  könig- 

l  noch  wiclui£i>r  Abänderungen  während  der  Aus-  liehen  Schlosses,  dort,  wo  die  verkehrsreichste  Ader  der 


Das  Kaiser  Willielm -Denlinial  in  Breslau. 


führung,  so  erschien  doch,  auf  der  Skizze  wenigstens, 
besonders  auch  der  architektonische  ÜAil  dei-  Aufgabe, 
das  Hinpinkom])oniren  in  die  voi-bestininite  Umgebung, 
gerade  in  diesem  Entwurf  am  besten  gelöst. 


Stadt,  die  vom  Ringe  ausgehende,  in  die  vornehme 
Kaiser  Willielmstraße  einmündende  Schweidnitzerstraße 
den  Lauf  des  alten  Stadtgrabens  unterbricht,  sollte  es 
liegen,  nicht  in  öder  Einsamkeit,  sondern  am  Strom 


DAS  KAISER  WILHELM-DENKMAL  IN  BRESLAU. 


27 


des  täglichen  Lehens  und  doch  von  diesem  nicht  üher- 
ilutet.  Und  hier  erliebt  es  sich  auch  jetzt.  Die  Vorder¬ 
seite  ist  der  Straße  zugekehrt,  an  den  Seiten  stellen 
Bäume  der  schönen  gärtnerischen  Anlagen,  welche  den 
Wasserspiegel  des  Stadtgrabens  rings  umsäumen,  und 
erst  weiterhin  jirivate  und  öffentliche  Glebäude,  den 
Hintergrund  aber  bilden  der  Himmel  und  wieder  die 
Baumwipfel  der  schönen  Promenaden,  die  sich  rechts 
am  Denkmal  hinziehen.  Ein  ziemlich  hoher  Stufenbau 
trägt  vorn  den  sich  fast  Ins  zum  Erdboden  herabsen¬ 
kenden,  oblongen  Sockel  von  edler  Form,  auf  dem  die 
Hauptffgur  steht.  Der  Kaiser,  in  großer  Generals¬ 
uniform,  von  weitem  faltenreichen  Mantel  umwallt,  den 
Helm  mit  dem  wehenden  Federbusch  auf  dem  Haupte, 
blickt  etwas  seitwärts  nach  unten;  die  Linke  hat  er 
leicht  in  die  Hüfte  gestemmt,  mit  der  Rechten  hält  er 
die  Zügel  des  schlanken  Rosses,  das  den  Kopf  ein  wenig 
gesenkt  ruhig  dasteht  und  nur  mit  dem  rechten  Vorder¬ 
fuß  ausgreift.  An  den  Vorderecken  dieses  Piedestals  und 
mit  diesem  verbunden  tragen  zwei  niedrigere,  pfeiler¬ 
artige  Sockel  zwei  sitzende  weibliche  Gestalten.  Durch 
ihre  Attribute,  Ölzweig,  Schriftrolle,  Bücher  und  eine 
Pallasbüste  einerseits,  Waffenschmuck,  Harnisch,  Helm, 
Schwert  und  Schild  andererseits,  sind  sie  vom  Künstler 
als  Verkörperungen  der  friedliebenden  Staats-  und  der 
friedhässigen  Kriegskunst  gekennzeichnet.  Zwischen 
beiden  zeigt  eine  ungefähr  in  Augenhöhe  des  Beschauers 
angebrachte  langgestaltete  Relieftafel  die  Germania,  um 
deren  Thron  sich  der  Kronprinz  Friedrich  Wilhelm, 
Bismarck,  Moltke  und  alle  die  anderen  Helfer  an  dem 
großen  Werke  Kaiser  Wilhelm’s  scharen.  Hinter  dem 
Hauptsockel  breitet  sich  eine  weite  Plattform  aus,  die 
nach  dem  Wasser  zu,  an  das  sie  mit  der  Rückseite 
grenzt,  durch  eine  halbkreisförmige  Pergola  abgeschlossen 
wird,  welche  zwei  mächtige  Obelisken  flankiren;  Waffen- 
trophäeu  direkt  über  ihren  Sockeln  und  steigende 
Adler  auf  den  abgestumpften,  kapitellgekrönten  Si)itzen 
schmücken  diese.  In  ihre  Flächen  aber  sind  wichtige 
Daten  aus  dem  Leben  des  Kaisers  und  bedeutsame  Aus¬ 
sprüche  des  Monarchen  eingemeißelt.  Im  übrigen  sind 
von  Inschriften  nur  der  Name  des  Herrschers  an  der 
Vorderseite  des  Hauptsockels  und  die  Weiheinschrift 
„Dem  großen  Kaiser  das  dankbare  Schlesien“  an  der 
Rückseite  desselben  angebracht.  Auch  Ornamente  sind 
in  weiser  Berechnung  nur  sparsam  an  Haupt-  und  Nebeu- 
sockeln  verwendet;  matt  und  hellgrau  heben  sie  sich 
von  der  dunkelpolirten  glänzenden  Granitfläche  wirkungs¬ 
voll  ab.  Reiterligur  und  Relief  bestehen  aus  Bronze; 
erstere,  bei  Miller  in  München  gegossen  ist,  etwas  gold- 
toniger  als  jenes  aus  der  Berliner  Gießerei  von 
Gladenbeck.  Die  beiden  allegorischen  Figuren  und  die 
Adler  sind  aus  kararischem  Marmor  von  bläulicher, 
Pergola  und  Pylonen  von  sogenanntem  Kelheimer 
Marmor  von  gelblicher  Färbung  gefertigt.  Etwas  seit¬ 
lich  rechts  von  vorn  gesehen  bietet  das  Ganze  unstreitig 


den  günstigsten  Anblick.  Hier  wird  auch  der  Tadel¬ 
süchtigste  die  imponirende  Wucht  und  Größe  der  Ge¬ 
samtanlage  anerkennen  müssen.  Klar  und  deutlich 
sondern  sich  die  einzelnen  Teile,  Unwichtiges  ver¬ 
schwindet  vor  dem  Wichtigen  und  völlig  harmonisch 
wirkt  das  Ganze.  Anders  freilich  verhält  es  sich, 
wenn  der  Breslauer  sich  von  anderen  Punkten  dem 
Denkmal  naht;  da  erzeugen  z.  B.  die  großen  Obelisken 
gar  manchmal  unschöne  Überschneidungen.  Und  auch 
sonst  kann  man  wohl  an  der  architektonischen  An¬ 
lage  mancherlei  Mängel  bemerken,  die  jetzt  erst  zu 
Tage  treten,  wo  die  anlässlich  der  Enthüllungsfeier  er¬ 
richteten  Gelegenheitsbauten  entfernt  sind.  Auf  dem 
Entwurf  schloss  sich  die  Plattform  der  Bildung  des 
Stadtgrabenbettes  au,  sich  bis  zur  Wasserfläche  herab- 
seukend.  So  war  die  schützende  Pergola  vollauf  ge¬ 
rechtfertigt.  .Jetzt  aber,  wo  zwischen  dieser  und  dem 
Wasser  ein  Weg  gebahnt  ist,  erscheint  die  Höhe  und 
Massigkeit  der  auf  einer  Rustikaunterlage  sich  erheben¬ 
den  Galerie  nicht  gerechtfertigt.  Ja  sie  wird  völlig 
unverständlich  werden,  wenn  in  nicht  allzuferner  Zeit 
den  Anforderungen  des  Verkehrs  entsprechend,  der  Stadt¬ 
graben  durch  Zuschüttung  verschwinden  wird.  Ferner 
ist  dadurch,  dass  die  hohe  Plattform  sich  nicht  auch 
vorn  um  den  Hauptsockel  heriimzielit,  eine  genauere 
Besichtigung  der  Vorderseite  des  ungewöhnlich  hoch 
stehenden  Reiterbildes,  besonders  des  Gesichts  des 
Kaisers,  unmöglich  gemacht,  (ibrigens  wird  auch  der 
gebückten  und  nach  der  Seite  gerichteten  Haltung  des 
Kopfes  der  Hauptfigur  nicht  sonderlich  Beifall  gezollt. 
Sehr  glücklich  dagegen  ist  die  Trennung  der  nun  ein¬ 
mal  unvermeidlichen  allegorischen  Gestalten  von  der 
Hau])tflgur.  Das  unirdische  Wesen  dieser  gewaltigen 
Frauen  bringt  das  „Riesenmaß  der  Leiber“,  der  strenge, 
wuchtige  Fluss  die  Gewandung  zu  glaubhaftem  Aus¬ 
druck,  wenn  vielleicht  auch  dem  einen  oder  andein  die 
Formen  ihrer  Köpfe  gar  zu  massig  erscheinen  wollen. 
Doch  sollte  man  angesichts  der  zuerst  ausgesprochenen, 
heutzutage  ziemlich  seltenen  Vorzüge  über  Einzelheiten 
nicht  allzu  scharf  richten.  Eines  aber  kann  nicht  genug 
verurteilt  werden,  das  ist  die,  milde  ausgedrückt,  skizzen¬ 
hafte  Behandlung  des  Reliefs  an  der  Vorderseite,  gerade 
der  Teil  des  Ganzen,  der  in  Folge  seiner  I.age  einer 
genauen  Betrachtung  am  meisten  ausgesetzt  ist.  Kom¬ 
position  und  Ausführung  zeigen  eine  bei  derartigen,  für 
die  Dauer  bestimmten  Monumenten  übel  angebradite, 
geradezu  unglaubliche  Nachlässigkeit.  Dieselbe  ist  um  so 
verwunderliche!',  als  der  Künstler  erst  neuerdings  durch 
zwei  für  ein  Leipziger  Grabdenkmal  bestimmte  Reliefs, 
deren  Modelle  auf  der  diesjährigen  Berlinei'  Ausstellung 
gerechte  Bewunderung  ei'regten,  gezeigt  hat,  was  er  in 
dieser  Beziehung  zu  leisten  im  stände  ist. 

Zum  Schluss  seien  noch  ein  paar  Worte  über  die 
Schöpfer  des  Denkmals  selbst  gestattet.  Der  jetzt  zum 
Professor  ernannte  Cltrisliaii  Behrens  ist  1852  in  Gotha 


4 


()LBERCt  und  osterspiel  TM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


ijebüreu  und  hat  seine  erste  künstlerische  Ausbildung 
ini  Atelier  Julius  Hühners  in  Dresden  genossen.  Sein 
Studiengaug  führte  ihn  dann  weiter  nach  Brüssel,  Paris, 
Italien.  Nach  einem  zeitweiligen  Aufenthalte  in  Wien 
bei  K'ui  Kunduiann  ist  er  nun  schon  seit  10  .lahren 
\'orsteher  des  Meisterateliers  für  Bildhauerei  am  Schle¬ 
sischen  Museum  der  bildenden  Künste  in  Breslau.  Die 
Sammlung  des  genannten  Museums  enthält  zwei  seiner 
Schöpfungen,  eine  Bronzegruppe  „Sphinx“  aus  seiner 
Frühzeit  und  eine  feine  Marmorbüste  des  Historikers 
Röpell,  die  in  Breslau  entstanden  ist.  Hier  hat  er  sich, 
wie  früher  in  Dresden,  und  aucli  in  Leipzig  und  Berlin, 
z.  B.  am  neuen  Reichstagsgebäude,  durch  plastische 
Arbeiten  für  architektonische  Schöpfungen  hervorgetlian. 
\'on  derartigen  Werken  in  Breslau  seien  besonders  die 


überaus  charakteristischen  Figuren  für  die  Südseite  des 
Rathauses  rühmend  genannt,  die  im  Geiste  der  eckigen, 
spitzen  Formenspi’ache  der  Gotik  geschaffen  auf  ihren 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  verwaisten  Sockeln  sich  gar 
wohl  zu  fühlen  scheinen.  Das  Kaiser  Wilhelm-Denkmal 
in  Breslau  aber  ist  sein  erstes  großes  selbständiges 
Werk.  Nähere  Mitteilungen  über  seinen  Mitarbeiter 
an  diesem  Werke  aber,  den  Stadtbaudirektor  von  Leipzig, 
Hugo  Licht,  sind  wohl  überflüssig.  Hat  er  sich  doch 
durch  seine  umfangreichen  Bauten  in  der  genannten 
Stadt  —  es  sei  nur  an  das  Konservatorium  und  das 
Grassimuseum  erinnert  —  einen  Namen  gemacht,  der 
weit  über  die  Grenzen  seines  Wirkungskreises  hinaus¬ 
reicht.  CONRAD  BUGIIWALD. 


ÖLBERG  UND  OSTERSPIEL 
IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 

VON  F.  BAU  MG  ARTEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


N  diese  Passionsspiele  thut  man  bekannt¬ 
lich  gut  sich  zu  erinnern,  wenn  man  den 
bikbierischen  Schmuck  unserer  Kirchen 
recht  begreifen  will.  Was  in  diesen 
Spielen  zuerst  in  <len  Kirchen  und  später 
doch  immer  noch  dicht  vor  ihren  Thüren 
agirt  und  vom  schaulustigen  Volk  bewundert  und  be¬ 
klatscht  wurde,  das  bannte  der  Bildner  in  Stein.  Da¬ 
her  das  viele  Dramatische  und  Drastische  in  diesen 
Bilderreihen.  Gerade  die  Gethsemane-Scene  bildete  natür¬ 
lich  einen  Hauptakt  in  allen  biblischen  Dramen,  und  so 
wäre  es  mehr  als  seltsam,  wenn  zwischen  der  bildnerischen 
Darstellung  dieses  Vorganges  und  der  durch  das  Schau¬ 
spiel  keinerlei  Beziehung  obwaltete. 

ln  Straßburg  waren  die  Aufführungen  der  bib¬ 
lischen  Geschichte  und  Legende  ganz  liesonders  im 
Schwange;  hier  wurde  auch  der  Komik  ein  breiterer 
Spielraum  gestattet  als  sonst  wo  in  Deutschland.  Geiler 
vonKaysersberg  kann  nicht  oft  und  nicht  eindringlich  genug 
gegen  den  groben  Unfug  predigen,  der  sich  allmählich 
in  die  Darstellung  des  Heiligsten  eingeschlichen  hatte. 
Mir  ist  gerade  kein  Straßburger  Passionsspiel  bekannt 
noch  zugänglich,  ich  kann  also  nicht  nachweisen,  in 
welchem  Umfang  gerade  zu  Straßburg  die  Gethsemane- 
Scene  burlesk  ausstaffirt  wurde.  Doch  in  den  Nachbar¬ 
städten  sind  solche  überliefert,  und  so  greife  ich  aus  der 


(Schluss.) 

ziemlich  großen  Anzahl  solcher  Passionsspiele')  als  mir 
zunächst  liegend  dasjenige  heraus,  welches  in  einer  Ur¬ 
kunde  des  Eb-eiburger  Stadtarchivs  von  1599  uns  ein¬ 
gehend  beschrieben  wird.'^)  Laut  dieser  Urkunde  wurde 
für  die  Spiele  eine  eigene  , Brücke“  oder,  wie  wir  sagen 
würden,  Bühne,  unter  freiem  Himmel  auf  dem  Müuster- 
platz  aufgeschlagen.  Sie  besaß  eine  große  Ausdehnung 
und  reichte  über  den  ganzen,  etwa  36  m  breiten  Raum 
von  dem  Südportal  des  lilünsters  bis  zum  Kaufhaus, 
wobei  Münster  und  Kaufhaus  abwechselnd  als  „hinter 
der  Scene“  benutzt  wurden.'^)  Da  ein  Scenen-  und 
Kulissenwechsel  nicht  angängig  war,  so  stellte  man  die 
Scenerie  für  die  verschiedenen  Akte  nebeneinander  auf 
der  Bühne  auf,  wie  der  uns  zufällig  erhaltene  Plan  der 
Donaueschinger  „Brücke“  veranschaulichen  kann.  Das 

1)  Vgl.  außer  Mone’s  bekanntem  Buch  „Die  Schauspiele 
des  Mittelalters“  noch  L.  Wirth,  Oster-  und  Passionsspiele. 
Halle  1889. 

2)  E.  Martin  in  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Be¬ 
förderung  der  Geschichtskunde  in  Freiburg,  Bd.  111,  S.  35  ff. 

3)  Die  nach  Gethsemane  eilenden  Juden  „fallen  aus  dem 
Münster“,  die  erschreckten  Jünger  „fangen  an  zu  fliehen  dem 
Kaufhaus  zu“,  den  gefa.ngenen  Heiland  führen  die  Häscher 
ebendahin,  Petrus  aber  „zeucht  ab  in  das  Münster“.  Noch 
sei  bemerkt,  dass  auch  bei  diesem  Freiburger  Spiel,  wie  auf 
den  Öll)ergen,  die  Türme  und  Häuser  von  Jerusalem  den 
Hintergrund  bildeten.  Vgl.  Schreiber  a.  a.  0.  S.  57. 


ÖLBEIUi  UND  OSTERSl’lEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


29 


P\  a  tt  T 


seil  au 


Spiel  verlief  in  dei-  Weise,  dass  nach  einander  anf  den 
einzelnen  Abteilungen  der  Bühne  die  hetreüenden  Vor¬ 
gänge  anfgeführt  wurden.  Das  Publikum  blieb  dabei 
nicht  an  einer  Stelle  stehen,  sondern  l)ewegte  sich  der 
Bühne  entlang  von  Scene  zu  Scene  weiter:  daher  bei 
jeder  neuen  Scene  wieder  um  Buhe  gebeten  werden 
musste.  Jeder  Hauptvorgang  wurde  wieder  von  andern 
Spielenden  aufgeführt,  und  zwar  scheinen  sich  die  Zünfte 
ein-  für  allemal  in  die  Rollen  geteilt  zu  haben.  Die 
Maurer  und  Zimmerleute  gaben  regelmäßig  dieGetlisemane- 
Scene,  wie  die  Küfer  das  Ecce  homo,  die  Metzger  die 

Kreuzigung.  Christus  und  die  Apostel  wurden  wolü, 

wie  anderwärts '),  so  auch  in  Freiburg  von  den  Geist¬ 
lichen  gespielt. 

Dass  es  nun  bei  diesem  Spiel 
und  ebenso  bei  dem  vorangehen¬ 
den  Umzug  der  Spielenden  durch 
die  Stadt  gelegentlich  etwas  fa¬ 
schingsmäßig  znging,  das  be¬ 

zeugt  uns  eine  Äußerung  des 
großen  Straßburger  Satirikers 
Fischart“)  über  die  Art  „Wie  die 
Metzgerzunft  zu  Freiburg  im 
Breisgau  alle  sieben  jar  den 

Passion  spielet:  Ich  geschweige 
der  Procession  und  Creutzgäng, 
da  sie  ihre  crucilix  durch  alle 
Straßen  und  gassen  führen  und 
spielen  auch  den  Passion  so  hur¬ 
tig  nach,  mit  allen  den  schmertzen 
unser  lieben  Frauen,  als  ob  es 
anders  nicht  gewesst  were  dann 
ein  lauter  Fassnachtspiel,  die  kin- 
der  darmit  zu  laclien  und  betrübte 
Herzen  fröhlich  zu  machen  .  .  .“ 


Aber  auch  der  Text  des  Passionsspieles  selbst 
schlägt  hie  und  da  einen  offenbar  ulkigen  Ton  an.  Man 
höre  nur  folgende  Proben  aus  der  Gethsemane-Scene: 

PiUiti  Kriegsknecht  sjiricht: 

Ich  bin  Piläti  bstelter  Knecht: 

Was  mir  gelt  treyt,  duclit  mich  recht. 

Nun  gibt  unnss  Caiphas  das  goldt, 

■ledtlichem  kneclit  ein  monat  seit, 

Das  ich  heltf  fairen  Jesum  Christ, 

Wiewohl  er  gar  unschuldig  ist. 

Der  minder  Judenkneeht-. 

Ir  Juden  nemeii  ebenn  wahr. 

Das  euch  kein  schancz*)  hie  widerfahr. 

Uird  Irahemr  uf  die  sach  guet  acht, 

Dieweill  ir  gohtrd  Irey  firrster  nacht. 
Malclms,  du  solt  nnss  ebetr  zünderr 
Das  wir  derr  Juden  körrig  ünderr. 
Uff  das  wir  greytferr  atr  derr  rechten. 
Es  war  eirr  schandt  sonst  allen 
krreclrterr ; 

Wa  nrairs  sagt  irr  iler  jüdischerr  rot, 
Da  unss  beschelrerr  solt  eirr  s]iott. 
Komlrt  her:  wir  wellerr  im’s  also 
nracheir, 

Das  im  das  hercz  im  leib  mttess 
krachen. 


Mälchus  airtwortet: 

Ich  birr  furwar  Mälclius  genarrdt. 
Ein  grret  liecht  trag  ich  in  <ler 
Irandt: 

Damit  will  ich  iirr  zürrdeir  eben. 
Judas  wüert  eirclr  eirr  zeiclrerr  gelreir, 
Welichen  er  küsst,  ileir  greytfen  -arr: 
W an  er  vill  falscher  lehr  hat  tha.ir 
Darczue  auch  grartssam  sehr  gelogen. 
Das  volklr  mit  seiner  leer  betrogeir. 
Er  ist  urrs  vor  gar  oft  errdtganngeir. 
Jecznnd  muess  er  werden  gefangerr. 


1)  Meyer-Altona  a.  a.  0.  S.  79. 

2)  Martin  a.  a.  0.  S.  201. 


Der  ülberg  zrt  Speier. 

Nach  einer  Dlrotogr.  des  Speierer  Gymnasiums. 


1)  Votr  chance,  hier  prägnant 
soviel  wie  Urrglücksfall. 


30 


(■)LBERCt  und  osterspiel  im  südwestlichen  DEUTSCHLAND. 


Dur  Olburg  zu  Speier.  Nach  rhotograiihieoii  ilcs  Mpeierer  Uymiiasüuns, 


J/i/las : 

Mein  hint  iiii  koptt'  lia.ti  sich  uinlikert, 

Vor  Zorn  ist  ineiii  hcrtz  j^Tir  versehrt. 

Erst  koin  i<'li  von  deiu  holien  [iriester. 

Die  sarli  wünlt  werden  wahrlich  wiiester. 

Ir  jiiden,  ir  juden  merckht  niicli  el)eii, 

Wa.s  wollt  ir  mir  zu  lohne  f^'ehen, 

Das  ich  euch  schail’  Jesum  in  dhannd, 

Weliche.r  mir  ga.r  wohl  ist  hek'haudt? 

Mälchds  (ulcr  ein  annder  Jn<l  spricht  7vd  Juda: 
Dreyssig  pfening  also  guet. 

Die  gendt  wir  dir  aiiss  freyen  muet, 

Das  du  unnss  scliaMst  Jesum  den  umn, 

Damit  unnd  er  nit  khom  darvon. 

Sehin,  ihi  liastu  (‘in,  zwen,  drey, 
hielum  Judas,  hiss  sellis  (hirhey. 

Viere,  t'iinth'.,  sechse  du  jecz  h(‘st. 

Lieher  .Iuda,s,  thue  das  liest. 

Sehin,  darczue  syhen  und  a,cht. 

Lieher  Judas,  nun  hah  guet  acht. 

Mer  neiine,  zehene,  zweinczig,  dreyssig, 

Lieher  Judas,  sei  gar  tleißig 

Und  thue  dich  gar'  nit  lang  hedenkhen, 

Ein  guet  drinckhgelt  will  ich  dir  a.ueh  scherddien. 

Judas  hedankt  sich: 

Ir  juden,  wellen  sein  ohu  sorg, 

Par  gelt  ist  hesser  dari  vill  liorg. 

Hierauf!'  so  solt  ir  mit  mir  gähn, 

Unnd  den  ich  küss,  den  greytfen  an. 

Den  l'ueren  woll  unnd  sicherlich. 

Hallt  acht,  das  er  auch  nit  entwiidi. 

Die  Juden,  •welche  auf  Jesu  Fragen  dreimal  zuriiek- 
fallen,  greifen  ihn  schließlich  „mit  großem  Geschrei“. 
Malchus,  der  im  Straßburger  Bildwerk  zum  Schutz  seiner 


Ohren  eine  l’erriicke  groß  wie  ein  Entgleisuiigspolster 
um  das  Haupt  trägt,  jammert,  als  Petrus  ihn  ver¬ 
stümmelt: 

0  we,  dz  io  ich  wardt  gc|ioren! 

Socht,  dz  rocht  ohr  hah  ich  vorlohron. 

Von  dem  ich  großen  schmertzen  han: 

Der  ghitskopf  hat  mir’s  gethon. 

Wo  ich  hinkom,  in  weichess  huid. 

So  hah  ich  nichts  da.n  schma.ch  und  schand. 

Und  würdt  man  Saigon  un verholen, 

Ich  sei  ein  dich  und  hah  gestohlen . 

Wie  er  glücklich  wieder  geheilt  ist,  ruft  der  Haupt- 
mann  Haga  den  Juden  zu,  indem  er  auf  Jesum  deutet: 
Ir  knocht,  es  hatt  ietz  diso  gstalt; 

Fluxs  füelirt  in  hin  mit  ga.ntzom  gwalt. 

Er  klap|iert,  schwotz  so  leiden  viel. 

Mit  uiis.s  must  uuhn  forth,  Inpl!  den  stiel  (?). 

Dieser  rüpelhafte  Ton  war  in  anderen  Spielen  noch 
weiter  variirt.  Die  sonderbarsten  Einlagen  wurden 
ersonnen.  So  erhielt  wohl  Judas  an  Orten,  wo  man 
sich  über  schlechtes  Geld  zu  ärgern  Anlass  hatte,  die 
Silberlinge  in  schlechter  Münze  ausgezahlt,  worüber  sich 
dann  eine  richtige  Prügelei  zu  entwickeln  pflegte. ')  In 
Donaueschingen  stand  hei  den  Jüngei  n  im  Garten  „der 
blind  Marcellus  und  hat  ein  ling  tüch  über  bloßen  lih 
und  den  flicht  Malchus  an  .  .  .  nu  fliehent  die  iunger  und 
erwüscht  Malchus  dem  blinden  Marcello  sin  mantel  und 
entrint  er  nackent“,^)  eine  herzlich  derbe  Scene,  die 
aber  nicht,  wie  man  vermuten  könnte,  frei  erfunden 


1)  Vgl.  Wirth  a.  a.  0.  S.  214. 

2)  Moiie  a.  a.  0.  11,  2(JÜ. 


ÖLBERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


31 


Pei'  Ölberg  zu  Speier.  Nach  Pliotograiiliieeii  des  Speierer  Uymiiasiums. 


wurde,  sondern  abe:eselien  vom  Namen  nnd  der  Blindheit 
des  Entfliehenden  schon  hei  Marens  14,  51ff.  sich  findet.') 
Tm  Passionsspiel  zn  Alsfeld  in  Oherhessen  stiftet  der 
Teufel,  nherhanpt  eine  Liehlingsfi^ur  der  Mysteriens])iele, 
den  .Tndas  persönlich  zu  seinem  Vei'rate  an,  derselbe 
Teufel,  der  später  dem  Judas  den  Strick  zum  Aufhäng-en 
hin  wirft,  der  ihn  eigenhändig  an  dem  Ungliiekshaume 
aufknüpft,  der  ihn  schließlich  in  ausgelassener,  von  den 
teuflischen  Heerscharen  getanzter  Prozession  zur  Hölle 
schleppt,  -j 

Diese  Proben  mögen  genügen.  Sie  beweisen,  denke 
ich,  nnwiderleglich,  dass  die  Häscher  in  der  Gethsemane- 
Scene  eine  burleske  Rolle  hatten,  die  sie,  je  rüpelhafter, 
tappiger  sie  sie  gaben,  nm  so  besser  gaben.  Und  wenn 
wir  nun  in  den  plastischen  Darstellungen  dieser  Scene, 
in  den  sogenannten  Olbergen,  bei  den  Häschern  derselljen 
spießbürgerlichen  Rüpelhaftigkeit  begegnen,  so  dürfte 
der  Zusanimeidiang  zwischen  der  Bildnerei  und  dem 
Passionsspiel  als  erwiesen  gelten. 

Zum  Schluss  sei  noch  auf  eine  andere  Gattung  von 
Ölbergen  aufmei-ksam  gemacht,  die  neben  der  im  Obigen 
beschriebenen  in  deutschen  Landen  beliebt  war  und  ge¬ 
legentlich  in  hervoiu'agend  schöner  Weise  zur  Ausführung 
gelangte.  Dei‘  wesentliche  Unterschied  zwischen  diese]' 

1)  Der  nackend  lliehende  Marcellus  ist,  wie  Professor 
Leoidiard  in  Freilnirg  mir  mitteilte,  auch  von  Dürer  in  seiner 
großen  Holzschnittpassion  li.  7  und  auf  der  Kupterstich- 
passion  1>.  ö  augebracht  worden. 

2)  Plastisch  ist  dies  z.  1>.  am  Hanptportal  des  Preiluirger 
Münsters  abgebihlet. 


zweiten  Gattung  und  jenei'  früheren  besteht  darin,  dass 
dabei  das  Bildwerk  ganz  frei  stand  und  sich  nicht  an 
eine  feste  Rückwand  aulehnte,  dass  es  mit  andei'ii  Woi'ten 
ein  Rnndwerk  mit  lauter  Volltiguren  wurde. 

Das  berühmteste  Beispiel  diese)'  Art  stand  seit  1511 
inmitten  des  Ki'euzgangs,  der  einst  auf  der  Südseite  des 
Spejjrrer  Doms  ein  mit  Gi'abmälei'ii  und  Kapellen  geziertes 
Viei'eck  bildete.  Ein  gewisser  Wipert  von  Finstei'lohe 
batte  im  Jahie  15Ö4  zu  seiner  Erl)anung  200  fl.  ge¬ 
stiftet,  wofüi'  das  Domkapitel  ihn  „zierlichst  und  an¬ 
dächtig!  ichst“  zu  ei'bauen  vei'sprach.  Schon  im  nächsten 
Jahre  ließ  man  sich  von  einem  schwäbischen  Meister, 
Hans  von  Heilbronn,  einen  Riss  dazu  fertigen.  Hoch 
kam  dieser  aus  unbekannten  Gi'ünden  nicht  znr  Aus¬ 
führung.  Erst  1509  wai'  das  Kapitel  mit  den  Meistern 
Lorenz  von  Mainz  und  Heini'ich  von  Spe}^]'  einig  ge¬ 
worden,  und  diese  hatten  denn  nach  einem  neuen 
Plan  in  di'ei  Jahren  das  Wei'k  vollendet;  3000  fl.,  ge¬ 
wiss  20  000  M.  nach  dem  heutigen  Geldwert,  waren 
allmählich  dafür  vei'ausgabt  worden.  Am  Gründonnei'stag 
des  Jalii'es  1512  wurde  das  Ganze  zum  ersten  Mal  be¬ 
leuchtet,  wozu  ein  frommes  Vei'inächfnis  die  Jlitfel  bot. 

Nicht  ganz  200  Jahre  lang  sollfe  dies  kostbare 
Kunstwerk  bestehen  Im  Jahre  1689  winde  mit  dem 
Dom  und  Kreuzgang  auch  der  Ölberg  von  den  Franzosen 
zerstört;  er  ist  jetzt  nnr  mtch  in  kümmerlichen,  uidängst 
notdürftig  ergänzten  Trümmern  vorhanden.  Doch  er¬ 
möglichen  uns  sieben  auf  der  Göttinger  Bibliothek  l»e- 
findliche,  außeroi'dentlich  feine  und  verständnisvolle 
Federzeichnungen  eine  ziemlich  sichei'e  Rekonstruktion: 
sie  geben  den  Zustand  des  Denkmals  von  1689  sichtlich 


32 


()LBERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


mit  gi’üßter  Treue  wieder.  J)  Eine  poetische  Schilderung 
desselben,  welche  der  Jesuit  Ar mbruster  im  Jahre  1654 
in  fließenden  lateinischen  Hexametern  herausgab,  deckt 
sich  mit  den  Zeichnungen  in  allen  wesentlichen  Punkten. 
Aus  beiden  Quellen  ergiebt  sich  etwa  folgendes  Bild. 

Die  Grundform  des  durchweg  aus  gelblich-weißem 
Hartsandstein  erbauten  "Werkes  ist  ein  regelmäßiges 
Sechseck  mit  m  langen  Seiten.  Sechs  spätgotisch 
profilirte  und  gezierte  Pfeiler  von  ungewöhnlicher 
Schlankheit  tragen  den  schützenden  Unterbau,  dessen 
innere  Decke  sich  als  ein  zierliches  Netzgewölbe  dar¬ 
stellte.  Rundstäbe.  welche  an  diese  Pfeiler  sich  an¬ 
lehnen,  schlossen  sich  in  stumpfen  Spitzbogen  zu  den 
sechs  Fenstern  zusammen.  Die  Fensterwandungen  bis  zum 
Dachgesims  hinauf  waren  mit  Brustbildei'n  in  Relief 
geschmückt;  eines  derselben  zeigte  einen  Mann  mit 
einem  Zwicker  auf  der  Nase;  es  erfieute  sich  natürlich 
ganz  besonderer  Popularität.  Das  Dach  war,  wenn  man 
Armbruster’s  Schilderung  ti-auen  darf,  ursprünglich  nach 
Art  einer  Turmpyramide  in  durchbrochener  Arbeit  ge¬ 
halten.  Zur  Zeit  der  Zerstörung  aber  lag  ein  schlichtes, 
außerordentlich  steiles,  mit  Schiefern  eingedecktes  Spitz¬ 
dach  über  dem  Ganzen. 

Auch  der  Ölberg  im  Innern  dieses  Gehäuses  war 
ganz  und  gar  aus  Stein.  Kunstvoll  türmte  er  sich  aus 
unregelmäßigen ,  chaotisch  durcheinander  gewürfelten 
Felsstücken  zur  Höhe.  Die  Westseite  des  Berges  war 
gänzlich  von  einem  Epheustamm  mit  grüngefärbten  Ranken 
übersponnen.  Aus  allen  Ritzen  des  Berges  sprossten 
Kräuter  und  Gräser,  hie  und  da  erhob  sich  sogar  ein 
steinerner  Baum.  Meist  waren  es  heimische  Gewächse, 
doch  auf  der  Ostseite  bemerkte  man  ägyi»tischen  Stech¬ 
dorn  und  andere  morgenländische  Pflanzen.  Flüchtige 
Hasen,  einer  den  andern  in  die  Hinterfronte  beißend, 
sprangen  am  Abhang,  Eichhörnchen  knackten  erbeutete 
Nüsse,  Eidechsen  tummelten  sich  in  erbostem  Kampfe, 
Schnecken  kroclien  ihre  Sti-aße,  eine  Schlange  erhaschte 
einen  hüpfenden  Fi'osch,  selbst  eine  Schildkröte  schlejtpte 
sich  bedächtig  ums  Gemäuer  und  auch  das  Wundertier, 
der  Greif,  war  nicht  vergessen.  Dicht  unter  der  Höhe 
des  Berges  aber  fuhr  ein  Hund  bellend  aus  einer  Höhle 
heraus. 

Um  diesen  also  belebten  Felsberg  zog  sich  ein 
schmaler  Pfad  in  Spiralen  zum  Gipfel,  Ein  steinernes 
Geländer,  das  verwitternde  Holzpfähle  aufs  getreuste 
iniitirte,  gereichte  ihm  zur  besonderen  Zierde.  Ein 
ebenso  täuschender  Zaun  umgrenzte  auch  den  Garten 
auf  der  Oberfläche  des  Berges.  Inmitten  dieser  Um¬ 
friedung  kniete  der  Erlöser,  während  der  Engel  Gabriel 
mit  Kreuz  und  Kelch  zu  ihm  niederschwebte.  Schon 
mehr  am  Abhang  der  Berghöhe  schlummerten  sorglos 


1)  Vgl.  die  ganz  vortreffliche  Analyse  des  Werkes,  welche 
A.  Schwartzenberger  in  seinem  „Ölberg  zu  Speyer“  18GG 
gegeben  hat. 


die  drei  Jünger.  Im  Rücken  des  Erlösers  schlich  Judas 
mit  dem  Beutel  auf  dem  Felspfad  heran.  Ihm  folgte 
ein  muskulöser  Bursche  mit  wahren  Schlächtersfäinsten, 
ganz  starrend  von  Eisen;  seine  Rechte  hielt  eine  runde 
Laterne,  wie  eine  Trommel  geformt.  Hinter  ihm  schritt 
ein  Kriegsknecht  mit  einer  Streitaxt  einher;  sein  Haupt 
war  bedeckt  mit  einer  gemeinen  Bickelhaube,  sein  Bart 
struppig,  ein  krummer  Säbel  hing  ihm  an  der  Seiten, 
und  aus  dem  nach  Metzgerl i rauch  um  die  Lenden  ge¬ 
schlungenen  Gürtel  starrten  zwei  Messer  mit  einem 
Wetzstein  hervor.  Hinter  diesem  kam  ein  plumper 
Geselle,  mit  einer  Laterne  an  hoher  Stange,  gegangen; 
seine  Rechte  hielt  ein  Bündel  Stricke.  Das  breite,  bart¬ 
lose  Gesicht  mit  fletschenden  Zähnen  war  nach  der 
Felsenliöhe  gerichtet,  sein  Helm  erschien  zum  Schutz 
der  Ohren  mit  dicken  Wülsten  ausgepolstert;  es  war 
Malchus.  Am  schlaffen  Gürtel  baumelte  ihm  ein  hänfener 
Sack,  strotzend  von  Knoblauch  und  Zwiebeln.  In 
schnellem  Schritt  kam  hinter  ihm  her  auf  dem  Felspfad 
ein  Alter  mit  borstigem  Bart,  den  Helm  tief  im  Nacken. 
Darnach  ein  Jüngling  mit  einem  zierlichen  Zwickelbart 
und  langen  Schmachtlocken;  Türkensäbel  und  Morgen¬ 
stern  waren  seine  Waffen.  Weiter  unten  auf  dem  Bei'g- 
pfad  humpelte  ein  von  der  Krätze  gequälter  Greis  des 
Weges.  Eine  Zipfelmütze  saß  auf  dem  spärlichen  Haar, 
sein  einer  Schenkel  war  entblößt,  weil  ein  dort  auf¬ 
gebrochenes  Geschwür  die  Hose  nicht  litt;  ein  breites 
Pflaster  saß  auf  dei-  Wunde,  auf  dem  Pflaster  eine 
Mücke,  welche  das  durchschwitzende  Blut  sog.  Im  linken 
Arm  trug  der  verkommene  Alte  —  eine  Hakenbüchse, 
an  der  Hüfte  hing  ihm  ein  Pulverhorn.  Es  folgte  ein 
anderer  Greis,  einen  Pechkorb  auf  einer  Stange  haltend. 
Ein  Kragen  aus  geflochtenem  Eisendraht  deckte  seine 
Brust,  einfältiges  Lachen  verzog  das  feiste  Gesicht.  Der 
nächste  im  Zug  —  es  war  bereits  der  sechste  der 
Rüpel  —  führte  eine  riesige  Mistgabel  wie  eine  Helle¬ 
barde  geschultert;  sein  Knie  war  in  Armut  entblößt, 
die  Beinkleider  bös  zerschlissen.  Diesen  ganzen  Zug 
von  sieben  derljen  Gesellen  beschloss  am  Fuß  des  Felsens 
ein  römischer  Centurio  mit  sechs  Kriegern,  würdige  Leute 
in  kostbarer,  welscher  Tracht,  welche  das  tölpische 
Wesen  der  jüdischen  Knechte  erst  recht  auffallend  machten. 

"Wir  behaupten  schwerlich  zuviel,  wenn  wir  diesen 
Speyerer  Ölberg  als  das  bedeutendste  Werk  gotischer 
Plastik  in  der  Pfalz  in  Anspruch  nehmen.')  Es  erfreut 

1)  Wie  die  vielen  für  ihn  gestifteten  Messen  bezeugen, 
war  dieser  Ölberg  von  Anfang  an  ein  hoch  )>opnläres  Werk. 
Es  zählte  lange  zu  den  sogenannten  Weltwundei'n,  „desgleichen 
man  an  Schönheit,  Art  und  Kunst  in  der  Teutschen  Nation 
nicht  leichtlich  linden  mag“.  (Geißer,  der  Kaiserdom  zu 
Speyei’,  153,  Anm.  410.)  Selbst  Luther,  der  doch  nie  in  Speyer 
war,  hatte  Kunde  von  dem  Ölberg  und  machte  sich  in  einer 
Tischrede  über  die  Hellebarden  der  Knechte  lustig.  Der 
krätzige  Alte  aber  mit  dem  Pflaster,  des  Malchus  Zwiebel- 
und  Knoblochsack  und  jene  oben  erwähnte  Fratze  mit  dem 
Nasenklemmer  galten  geradezu  als  Wahrzeichen  von  Speyer. 


ÖLl^ERG  UND  OSTERSPIEL  IM  SÜDWESTLICHEN  DEUTSCHLAND. 


33 


ganz  besonders  durch  den  ehrlichen,  kraftvollen  Realis¬ 
mus,  den  es  atmet.  Wie  täuschend  war  allem  nach 
die  Pflanzenwelt  wiedergegeben!  Wieviel  liebevolle 
Beobachtung  der  Natur  verriet  die  Darstellung  der  Tiere! 
Und  wie  reich  an  Abwechselung  war  offenbar  die 
Gruppirung  und  Ausstaffirung  der  Personen,  wie  treff¬ 
lich  waren  vor  allem  die  Häscher  charakterisii’t!  Nicht 
etwa  als  Juden,  nicht  durch  die  üblichen  krummen  Nasen. 
Nein,  deutsche  Rüpel  mit  gemütlich  breiten,  deutschen 
Gesichtern  wanderten  da  in  lustigem  Aufzug  am  Be¬ 
schauer  vorüber.  Die  Erinnerung  an  die  volkstümlich¬ 
burleske  Darstellung  dieser  Scene  in  den  Passionsspielen 
drängt  sich  auch  bei  dem  Speyrer  Bildwerk  unab- 
weislich  auf. 

Ein  ähnlich  schönes  Rundwerk  wie  Speyer  besaß 
auch  Vhn.^)  Auch  dort  stand  der  Ölbei'g  „mitten  auf 
dem  Kirchhof“  südlich  vom  Münster.  Im  Jahre  1474  hatte 
der  Bau  begonnen,  erst  1518  war  dei'  figürliche  Schmuck 
vollendet;  man  hatte  ihn 
während  des  Bauens  ver¬ 
mehrt.  Von  diesem  schö¬ 
nen  Werk,  das  einst  70" 
hoch  anfragte,  ist  jetzt 
außer  drei  schlechten,  zer¬ 
schlagenen  Nebenfiguren 
kein  Stein  mehr  vorhan¬ 
den.  Tn  der  Zeit  der  Bil- 
derstürmerei  hatten  die 
Statuen  schon  schwer  ge¬ 
litten,  1807  aber  wurde 
das  leere  Gehäuse,  das 
auch  so  noch  eine  viel¬ 
gepriesene  Zierde  des 
Münsterplatzes  war,  kur¬ 
zer  Hand  abgerissen,  — 
weil  es  den  Parademarsch  der  bayerischen  Garnison 
erschwerte ! 

Wir  sind  glücklicherweise  in  der  Lage,  von  diesem 
schönen  Werk  trotz  seiner  völligen  Zerstörung  eine 
ziemlich  genaue  Vorstellung  gewinnen  zu  können.  Es 
hat  sich  nämlich  der  Originalentwurf  vom  Jahre  1474 
wiedergefunden,  der  auch  schon  deshalb  ein  besonderes 
Interesse  verdient,  weil  kein  Geringerer  ihn  gezeichnet 
hat  als  MattJuius  Böblinger  aus  Esslingen,  der  geniale 
Baumeister  des  Münsterturms.  Es  wäre  ungerecht,  nach 
diesem  Riss  des  Architekten  den  bildnerischen  Schmuck 
zu  beurteilen:  nur  der  architektonische  Aufbau  will 
darin  vorgeführt  werden.  Und  der  ist  in  der  That 
merkwürdig  genug.  Der  spätere  Meister  des  Münster- 
turms  verrät  sich  besonders  in  den  eigentümlich  ge¬ 
schweiften  und  herausgebogenen  Fialen,  wie  sie  genau 
so  an  Böblinger’s  Riss  für  die  Turmpyramide  wieder¬ 
kehren.  Böblinger  dachte  sich  das  plastische  Bildwerk 


in  seinem  Ölberg  offenbar  etwas  anders  als  die  Meister 
zu  Speyer:  wir  entdecken  nichts  von  einem  kunstvollen 
Felsberg,  sondern  nur  einen  vom  stereotypen  Steinzaun 
umschlossenen,  blumenreichen  Garten,  und  an  einen  der 
sechs  Eckpfeiler  angelehnt  einen  Felsblock  als  Postament 
für  den  Engel.  Außen  herum  stellte  Böldinger  unter 
zierlichen  Baldachinen  Prophetengestalten  mit  altmodi¬ 
schen  Spruchbändern  an  den  Eckpfeilern  auf.')  Es 
fehlen  in  seinem  Entwurf  gänzlich  —  die  Juden.  Der 
Rat  ließ  anfänglich,  wie  es  scheint,  genau  nach  Böblinger’s 
Riss  arbeiten;  doch  im  Jahre  1516  beschloss  er,  „den 
Gatter-)  um  den  Ölberg  soll  mau  desto  weiter  richten, 
ob  man  mit  der  Zeit  Juden  darein  setzen  wollte,  dass 
man  Platz  dazu  habe“.  Offenbar  erfreuten  sich  diese 
burlesken  Gestalten,  die  man  in  Speyer,  Straßburg  und 
anderwärts  als  Staffage  verwendet  hatte,  so  großer  Be¬ 
liebtheit,  dass  auch  die  Ulnier  trotz  Böblinger  nicht 
darauf  verzichten  wollten.  Im  Jalii-e  1517  werden  that- 

sächlich  vier  Mitglieder 
des  Rats  bestimmt,  um 
Meister  Michel’s  (?)  Bild 
der  Juden  zu  besehen. 
Wir  dürfen  wohl  anneh- 
nien,  dass  in  der  schließ- 
lichen  Ausführung  von 
1518  in  irgend  einer 
Weise  auch  die  Rüpel  zur 
Darstellung  kamen,  etwa 
ähnlich  wie  in  Speyer,  auf 
dem  Anstieg  zum  Ölberg 
begriffen. 

Überblicken  wir  noch 
einmal  die  ganze  Reihe 
der  Denkmäler,  die  uns 
im  Vorhergehenden  be¬ 
schäftigt  haben,  so  drängt  sich  uns  zweierlei  auf.  Einmal, 
dass  dieser  Vorgang,  wieeresjaauch  verdient,  immer  und 
immer  wieder  hervorragende  Meister  zur  Darstellung  an¬ 
lockte.  Welcher  andere  Moment  der  Passion  wäre  denn  auch 
so  fruchtbar,  so  stimmungsvoll,  so  reich  an  ergreifenden 
Kontrasten?  Zweitens  aber  bestätigt  die  Betrachtung 
dieser  Ölberge  den  noch  nicht  lange  entdeckten  Zu¬ 
sammenhang  zwischen  kirchlicher  Kunst  und  geistlichem 
Schauspiel  in  überraschender  Weise;  er  kann  angesichts 
dieser  Häscliergestalten  nicht  mehr  bezweifelt  werden. 
Die  Bezugnahme  auf  die  kirchlichen  Dramen,  die 
getreue  Anlehnung  an  den  Volksgeschmack,  wie  sie  in 
der  Ausstattung  der  Rüpel  sich  offenbart,  lässt  diese  Öl- 


1)  Vgl.  über  die  Verwendung  dieser  Propheten-Gestalten 
in  der  mittelalterlichen  Kunst  und  darüber,  wie  auch  sie  auf 
die  Mysterienspiele  zurückgehen,  die  vortreffliche  Schrift  von 
Paul  Weber  „Geistliches  Schauspiel  und  kirchliche  Kunst“, 
Kap.  7. 

2)  Zeitblom  und  Martin  Scheflher  waren  beim  Anstreichen 
und  Vergolden  des  otlenbar  sehr  reichen  Gitters  thätig. 


\|  /))fc  Ifw 

liir  iF:l 


Vom  ölberg  zu  Straßburg. 


1)  Vgl.  A.  Walcher,  Ulmer  Münsterblätter,  Heft  6. 
Zeitschrift  für  biklejule  Kunst.  N.  F.  VIII.  II.  2. 


34 


DIE  BILDNISSE  DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


berge  endlich  auch  iu  kulturgeschichtlicher  Hinsicht  über¬ 
aus  interessant  erscheinen;  echtere  Typen  aus  dem  Volks¬ 
leben  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  dürfte  es  nicht  leiclit 
geben  als  die  biederen  Handwei'ker,  die  hier,  kriegerisch 
aufgeputzt  und  doch  so  unendlich  harmlos,  an  uns  voibei- 
marschii-en.  Der  leise,  etwas  plumpe  Humor,  der  über 


die  Gruppe  in  allen  uns  bekannten  Darstellungen  aus- 
gegossen  ist,  trägt  so  recht  deutschen  Charakter;  es  sind 
der  Vorfahren  treue,  muntere  Augen,  in  die  wir  hier 
mit  einer  Unmittelbark^t  hineinschauen,  wie  es  uns 
selten  vergönnt  wird. 

Freiburg  i.  B.  FIUTZ  BA  UM  GARTEN. 


DIE  BILDNISSE 

DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


1  Palast  Pitti,  beim  Eintritt  in  den  Saal 
der  Ilias,  erblickt  man  an  derselben 
Wand,  zu  vergleichender  Betrachtung  auf¬ 
fordernd,  zwei  Bildnisse  eines  Jünglings 
von  gleichem  Glanz  des  Namens  wie  der 
äußeren  Erscheinung.  Das  Alter,  in  dem 
er  hier  auftritt,  hat  er  nur  wenige  Jahre  überschritten; 
die  Zeit  ist  ihm  nicht  vergönnt  worden  vom  Geschick, 
ein  Kapitel  in  den  Annalen  der  Geschichte  an  seinen 
Namen  zu  knüpfen.  Aber  es  ist  einer  jener  Köpfe,  von 
denen  auch  ohne  das  aus  der  Biographie  übertragene 
Interesse  eine  eigene,  unvergängliche  Anziehungskraft 
ausgeht. 

In  dem  älteren  Gemälde  florentinischer  Arbeit, 
Jacoiio  de  Pontormo  bezeichnet,  trägt  er  einen  Platten¬ 
harnisch,  die  Rechte  i'uht  auf  dem 
Helm,  die  Linke  am  Hals  einer 
gi’oßen  Dogge  mit  weißem  eisbär- 
haftem  Kopf.  In  dem  zweiten,  un¬ 
gleich  berühmteren,  das  etwa  vier 
.lahre  später  gemalt  sein  würde, 
erscheint  ei’  in  fremdartigem,  nicht¬ 
italienischem  Aufzug.  Niemand  aber 
würde  aus  diesen  doch  höchst 
lebendigen  Figuren  des  Jünglings 
Stand  erraten,  zu  dem  weder  Kos¬ 
tüm  noch  Alter  passen.  Es  ist  der 
Kardinal  Hijipolyt  von  Medici. 

Es  gab  noch  ein  zweites  Bild¬ 
nis  Tizian’s  von  ihm,  da  hatte  er 
sich  wieder,  jedoch  unter  Lebens¬ 
größe,  in  Vollrüstung  aufnehmen 
lassen.  Endlich  bewahrt  die  Samm¬ 
lung  der  Uffizien  ein  viertes,  an¬ 
geblich  von  Bronzino,  diesmal 
zeigt  er  sich  auch  in  der  roten 
Mütze  und  dem  Mäntelchen,  als 


Fürst  der  Kirche.  Das  Gesicht  gleicht  ganz  jenem 
Tizian 'scheu. 

Don  Hippadyt  besaß  unter  seinen  vielen  Talenten 
{;lngeniii,m  habile  ad  emmia  perdiscenda  imitandaepte 
schreibt  ihm  Jovius  zu)  auch  das  des  Schauspielers,  des¬ 
halb  mögen  ihm  wohl  alle  jene  drei  Kostüme  so  vor¬ 
trefflich  sitzen.  In  jedem  erscheint  er  wie  in  seiner 
natürlichen  Rolle.  In  dem  ersten  schimmernden  Ritter¬ 
bild  würde  man  ihn  unter  jene  italienischen  Prinzen 
zählen,  die,  zur  Zeit  noch  in  jugendlichen  Sports  auf¬ 
gehend,  doch  schon  die  natürliche  Würde  des  künftigen 
Gebieters  merken  lassen.  Die  rote  Figur  auf  der 
Venezianischen  Leinwand  würden  Reiterführer  der 
Puszten  unbedenklich  als  einen  der  Ihrigen  {martlal, 
fort  escalahrous  nennt  ihn  Brantönie)  begrüßen.  Und 
unter  dem  roten  Barett  scheint 
er  sich  jenen  tiefen  und  ge¬ 
schmeidigen  Diplomaten  der  Kurie 
auzureihen,  die  uns  Raphael’s  Hand 
ebenso  vornehm  wie  scharf  be¬ 
obachtet  vorführt. 

Trotz  jenes  Talentes  hat  sich 
Hippolyt  dieser  letzten,  ihm  wirk¬ 
lich  zuletzt  bestimmten  Rolle  nicht 
gewachsen  gefühlt.  An  dem  Wider¬ 
spruch  dieser  Rolle  mit  seinem 
Temperament  und  mehr  noch  mit 
der  weltlichen  Krone,  die  er  als 
Knabe  geträumt,  ist  er  zu  Grunde 
gezogen. 

Hippolyt,  geboren  zu  Urbino 
am  19.  Api'il  1511,  war  ein  na¬ 
türlicher  Sohn  des  Herzogs  von 
Nemours,  Julian,  Sohn  Lorenzo 
des  Eidauchten.  Seine  feurige, 
thatendnrstige  Gemütsart  hatte 
er  nicht  vom  Vater  geerbt  (dessen 


Hippolyt-  in  Kanlinalstraoht.  (Uffizien.) 


DIE  BILDNISSE  DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


35 


Züge  ihm  weniger  fremd  sind)  und  auch  nicht  von 
der  Mutter,  einer  edelgeborenen  Witwe,  wofern  sie 
iliren  Taufnamen  Pacifica  mit  Recht  führte.  In  sei¬ 
nem  dritten  Jahre  ward  er  nach  Rom  gebracht. 
Der  Oheim  Leo  fand  an  dem  schüneu  und  lebhaften 
Knaben  Gefallen,  der  spielend  ein  halb  Dutzend  musi¬ 
kalischer  Instrumente  lernte.  Er  ließ  ihn  von  Raphael 
in  dem  Fresko  der  Kaiserkrönnng  in  den  Stanzen  an¬ 
bringen;  es  ist  der  knieeiide  Knabe,  der  die  Krone  (hinter 
Franz  1.)  hält. 

Nach  dem  Ende  des  Herzogs  von  Urbino,  Lorenzo 
Sohns  Piero’s  (1519),  stand  die  Linie  des  großen  Cosimo 
nur  noch  auf  vier  Augen,  außer  Hippolyt  war  noch 
Lorenzo’s  (ebenfalls  natürlicher)  Sohn  Alexander  da. 
Hippolyt  als  dem  älteren  leuchtete  die  Herrschaft  seiner 
Ahnen  entgegen;  vor  Alexander  hatte  er  außerdem 
voraus:  den  vornehmen  Stand  der  Mutter  (Alexander 
war  der  Sohn  einer  Bäuerin  von  Collevecchio),  die  Beliebt¬ 
heit  des  Vaters  bei  der  Bevolkerang,  die  nähere  Ver¬ 
wandtschaft  mit  Papst  Clemens.  Von  geistreichen  Zügen, 
aus  denen  Feuer  und  Leichtsinn  sprach,  gewinnend, 
verschwenderisch  freigebig,  Freund  der  Künstler,  war  in 
dieser  bestrickenden  Bastardnatur  aucli  ein  Hang  zum 
Abenteuerlichen. 

In  verhängnisvoller  Stunde,  als  Clemens  VII.  in 
schwerem  Fiberanfall  dem  Tode  nahe  schien,  hatte  die 
Partei  des  Hauses  gedrängt,  für  einen  Medici  im  bevor¬ 
stehenden  Konklav  Sorge  zu  tragen,  und  so  wurde  in 
wenigen  Stunden  der  achtzehnjährige  Vetter,  der  nach 
der  Hand  der  schönen  Julia  Gonzaga  strebte  (die  der 
Ferrarese  Cittadella  für  ihn  modellirte  und  Sebastian 
malte),  im  Krankenzimmer  zum  Kardinaldiakon  von 
S.  Praxedis  kreirt  und  mit  den  Insignien  bekleidet,  am 
10.  Januar  1529. 

Aber  er  sträulite  sich,  die  Diakouweihen  auzuiiehmen. 
er  war  nicht  dazu  zu  biüngen,  außer  in  Kousistorial- 
sitzungen  das  geistliche  Gewand  anzulegen.  Ihm  ahnte, 
dass  ihn  dieser  geistliche  Purpur  um  einen  ihm  viel 
teureren,  das  Ziel  seines  Lebens  bringen  würde.  Die 
Schrift  an  der  Gedenktafel  in  S.  Lorenzo  in  Daniaso  war 
nicht  in  seinem  Sinn. ') 

Gerade  in  dieses  Jahr  1529  müßte  nun  das  erste 
Bildnis,  angeblich  von  Pontormo,  fallen. 

Ohne  das  Zeugnis  der  Aufschrift  ANNVM  AGEBAT 
DECIMVM  OCTAVVM  auf  der  roten  Tischdecke  würde 
man  den  Junker  kaum  auf  bloß  achtzehn  Jahre  setzen.  Aber 
mau  macht  oft  die  Bemerkung,  daß  Südländer  in  unsern 
Galeriekatalogen  zu  alt  taxirt  werden.  Die  Tafel  hat 
jedoch  keine  Überlieferung.  Name  der  Person  wie  des 
Malers  sind  neuerliche  Vermutung.  Als  sie  aus  der 
Guardaropa  in  die  Galerie  aufgenommeu  wurde,  wird 
man  sich  bei  dem  nach  Stil  und  Tracht  auf  die  floren- 


] )  Qui  cum  taiita  rarissimarum  virtutum  indole  ad  Leonis 
Glementisque  patruorum  Pontificum  gloriam  contendit. 


tinische  Bilduismalerei  um  1530  hinweisenden  Werk, 
der  Erzählung  des  Vasari  erinnert  haben,  wonach  Pon¬ 
tormo  den  jungen  Hippolyt  mit  seinem  großen  Hund 
Rodon,  diesen  sehr  getreu  und  sehr  lebendig,  aufge¬ 
nommeu  hatte.  Eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  be¬ 
glaubigten  Bildnis  schien  nicht  zu  fehlen.  Die  Be¬ 
nennung  ist  dann  geblieben,  obwohl  die  von  den  Anno¬ 
tatoren  der  Lemonnier-Ausgabe  erhobenen  Einwürfe  nie 
beantwortet  worden  sind. 

Die  Erzählung  Vasari’s  ist  sehr  bestimmt  und 
klingt  glaubwürdig. 

Clemens  VlI.  hatte  im  Jahr  1524  den  Kardinal 


Hippolyt  von  Medici  von  Tizian.  1532. 


Silvio  Passerini  von  Cortona  als  Regenteu  nach 
Florenz  geschickt,  um  wieder  eine  (seit  Lorenzo’s  Tod 
1519  fehlende)  Repräsentation  des  Hauses  und  einen 
Sammelpunkt  für  die  Anhänger  zu  schaffen,  seine 
Vettern  Hippolyt  und  x\lexander  mit  einem  Hof  ausge¬ 
stattet  und  des  Kardinals  Obhut  auvertraut.  Man  be¬ 
trachtete  Hippolyt  nun  als  rechtmäßigen  Inhaber  medi- 
ceischer  Machtherrlichkeit;  man  gab  ihm  den  Beinamen 
Magrdfico. 

Damals  war  Michelangelo  mit  den  Denkmälern  der 
Väter  dieser  beiden  Knaben  in  S.  Lorenzo  beschäftigt. 
Die  Statue  Juliau’s  ist  schon  vor  der  Belagerung  nahezu 
fertig  gewesen.  Michelangelo  scheint  den  Sohn  Julian’s 
gern  gehabt  zu  haben,  und  diese  Zuneigung  wurde  erwidert. 


5* 


36 


DIE  BILDNISSE  DES  K4RDINALS  HlPl'OLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


Als  er  .S2):iter  in  Rom  einmal  ein  türkisclies  Pferd  des 
Ifardinals  bewundert  liatte.  sandte  es  ihm  dieser  sofort 
als  Präsent.  IMan  konnte  sich  denken,  dass  der  vielver¬ 
heißende.  .Jüngling-  dem  Meister  hei  den  selir  jugendliclien, 
edelgeformten  Zügen  und  der  stolzen  Haltung  des  Vaters 
\ui-gesdi wellt  habe. 

l!oi  jener  Hegründung  des  neuen  mediceischen  Hofes 
■war  rs  nach  ^■asari  Ottaviano,  vom  Neapeler  Zweig 
der  Medici,  ein  kluger,  treuer  und  rücksichtsloser  Ver¬ 
treter  ilirer  Interessen,  der  den  Pontormo  mit  der  Auf¬ 
nahme  der  beiden  Prinzen  beauftragte,  ^'asari  fand 
die  Hildnisse  noch  in  der  alten,  trockenen  „deutsclien“ 
Manier  des  Malers. 

Das  Hippolyt’s  soll  nun  unsere  Tafel  im  Pitti  sein; 
aber  damit  sind  die  Jahreszahlen  nicht  in  Einklang  zu 
setzen.  Pontormo  kann  sein  Bildnis  nicht  später  als 
1027  gemacht  haben,  und  die  Tafel  müßte  1529  fallen. 
Bei  dem  Zug  des  Connetable  von  Bourbon  durch  Toskana 
kam  es,  dank  der  Kopflosigkeit  des  Kardinals,  zu  einer 
Erhellung  der  Gegenpartei,  daraus  wurde  schließlicii  die. 
dritte  und  letzte  JTrbannung  der  Medici.  Vom  Jahre 
1527  bis  zur  Einnahme  der  Stadt  durch  das  kaiserliche 
Heer  kann  Hippolyt  nicht  in  Florenz  gewesen  sein. 
Er  hatte  sich  nach  Rom  begeben,  dass  ihm  Pontormo 
dahin  gefolgt  sei,  davon  ist  nichts  bekannt.  Was  sollte 
er  in  Rom  gesucht  haben  in  jenen  Tagen  des  Schreckens, 
als  die  Künstler  in  alle  Winde  zerstoben? 

Aber  die  Frage  ist  nicht  länger  zurückzuhalten: 
Warum  soll  dieser  achtzehnjährige  Jüngling  eigentlich 
Hippolyt  sein?  Für  die  Beurteilung  der  Ähnlichkeit 
giebt  es  eine  zuverlässige  Urkunde:  das  Bildnis 
Tizian’s. 

Es  sei  hier  gestattet,  der  Bei|uemlichkeit  wegen, 
dem  Leser  die  Umstände  seiner  Entstehung  noch  einmal 
ins  Gedächtnis  zurückzurufen. 

Im  Jahre  1529  war  es,  als  Karl  V.,  aus  Spanien 
kommend,  in  Genua  gelandet  war,  dass  der  Papst  das 
jüngste  Mitglied  des  heiligen  Kollegs  als  Legaten  a 
latere  ihm  entgegen  gesandt  hatte.  Hier  wird  ihm  die 
Gewissheit,  dass  sein  Vetter  Alexander  im  Vertrag  von 
Barcelona  zum  Vertreter  des  Hauses  bestimmt  worden 
ist.  Seine  Erregung  kennt  keine  Grenzen,  er  plant 
einen  Handstreich  auf  Florenz.  Der  besorgte  Papst 
will  dem  Feuerkopf  eine  Ablenkung  geben  nach  dessen 
Geschmack.  Er  macht  ihn  zum  Legaten  bei  den  päpst¬ 
lichen  Hilfstruppen,  die  für  die  an  der  Donau  sich  gegen 
Solyman  sammelnde  Armee  bestimmt  waren.  So  kommt 
Hippolyt  nach  Ungarn.  Das  kriegerische  Schauspiel, 
der  Völkermarkt,  in  den  er  sich  versetzt  sieht,  regt 
seine  Phantasie  mächtig  auf;  auch  der  Künstler  in  ihm 
fühlt  sich  angesprochen  bei  dem  Anblick  der  malerischen 
Trachten,  beim  Klang  der  fremden  Idiome  dieser 
interessanten  Nationen  des  Ostens.  Er  umgiebt  sich 
mit  Exemplaren  dieser  Magyaren,  Tartaren,  Türken, 
•Beduinen  und  luder;  er  findet  in  ihren  mannigfaltigen 


Virtuositäten  eine  neue  Klasse  von  Unterhaltung.  Es 
ist  ihm  nun  zu  stille,  wenn  er  nicht  zwanzig  Dialekte 
an  seiner  Tafel  vernimmt. 

Der  gedrohte  Angriff  des  Sultans  unterblieb.  Der 
Kaiser  sehnte  sich  nach  Spanien.  Er  beffehlt  den  Rück¬ 
zug  des  Heeres  nach  Italien  und  bestimmt  die  Marsch¬ 
ordnung.  Hier  war  es  nun,  wo  unser  Heißsporn  rebel¬ 
lisch  wurde.  Man  sieht  ilin,  auf  feurigem  Ross,  in 
leichtem  Pelzmantel  an  der  Spitze  eines  Reitertrupps, 
als  Fahuenzeichen  einen  ominösen  Kometen,  auf  eigene 
Hand  Vordringen.  Der  Kaiser,  der  seine  Gedanken  zu 
erraten  glaubte,  machte  jedoch  mit  dem  Vetter  S.  Heilig¬ 
keit  wenig  Umstände;  er  ließ  ihn  auf  einige  Tage 
einsperren.  —  Damals  war  es,  wo  er  in  Venedig  er¬ 
schien  und  in  Tizian’s  Atelier  geführt  wurde.  Die 
Stadt  entzückte  ihn,  und  nicht  weniger  ihr  Maler,  den 
er  einlud,  ihn  in  Rom  zu  besuchen.  Und  Tizian  ließ 
ihm,  gewiss  ohne  Übertreibung,  durch  seinen  Kämmerer 
Vendramo  sagen,  che  io  non  adoro  niun  2>nneij)e,  ne  ho 
amico  di  servir  di  euorc  a  ninno ,  coiiie  faria  a  Sna 
Signor ia  illustrissima. 

Hier  am  welthistorischen  Platz  der  großen  Maske¬ 
raden  war  es,  wo  er  die  römische  Maske  abwarf  und 
zum  Schrecken  seines  geistlichen  Gefolges,  aber  zur 
Wonne  der  \'irtuosen  und  Poeten,  die  ihn  umschwärmten, 
in  einem  Rotrock  von  ganz  anderer  FaQon  erschien.  Eine 
Variante  des  Kardinals,  die  noch  felilte.  Tizian  hatte 
das  Glück,  sie  der  Nachwelt  zu  überliefern.  Mit  welchem 
Vergnügen,  sieht  man  dem  Bilde  an,  das  in  einem  Zug, 
wie  inspirirt,  gemalt  ist.  Er  trägt  einen  rotliraunen 
Leibrock  mit  goldumsponnenen  Knöpfen,  umgürtet  von 
einer  Schärpe,  das  Barett  mit  steil  aufsteigenden  Straußen¬ 
federn.  Die  Linke  packt  den  krummen  Säbel  unterhalb 
des  Griffs,  die  Rechte  stemmt  den  Fußkolben  ans 
Knie.  Diesen  Kürissbengel,  den  die  Ungarn  damals 
von  den  Türken  angenommen,  hatte  er  wohl  wegen 
der  Ähnlichkeit  des  Scepters  gewählt. 

Man  iiflegt  das  Bildnis  in  die  Zeit  des  Besuchs 
in  Bologna  zu  setzen,  wohin  der  Kardinal  den  Maler 
durch  Aretino  rufen  ließ.  Alier  die  seltsam  anstößige 
Wrmummung  passt  nicht  zu  der  Hofhaltung  des  Kaisers, 
mit  dem  nach  den  jüngsten  Erfahrungen  doch  nicht  zu 
spaßen  war.  In  Bologna  wird  Tizian  vielmehr  das 
zweite,  verschollene  Bildnis  in  Vollrüstung  gemalt  haben. 
So  berichtet  Jovius,  dem  Ridolfi  folgt.  ') 

Große  Galerien  geben  dem  Besucher  zuweilen  in 
zufälligen  Nachbarschaften  willkommenere  Winke  als 
durch  lehrhafte  Anordnungen,  besonders  kunsthistorische 
neuesten  Geschmacks.  In  demselben  Saal  steht  auch 
ein  Tizian’scher  Philipp  II.,  in  fast  gleichem  Alter 
(23  Jahre).  Also  neben  dem  geborenen  Heer-  und  Reiter- 

1)  Hoc  Hungarico  militari  cultu  Ilippolytus  Medices 
Cardinalis  quum  e  Paniionia,  vbi  Legatus  apnd  Caesarem 
fuerat,  abeunte  Solyma.no  redisset,  ä  Titiano  pictore  eximio 
Venetiis  se  pingii  iussit.  Jovius  Elog.  L.  VI.  Basil.  p.  307. 


DIE  BILDNISSE  DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


37 


Guiclübaklo  H.  vou  Bronzino.  1531|33. 


führer,  eleu  Faniilienpolitik  ins  Pfaifenkleid  gesteckt, 
der  finstere  Erbauer  des  Palastklosters  Escorial,  dessen 
fahles  kaltes  Gesicht  besser  von  jenem  roten  Hut  be¬ 
schattet  wäre,  ein  Mönch,  den  der  Zufall  der  Geburt 
über  die  kriegerischste  Nation  jener  Zeit  gesetzt  hatte. 
Hier  kann  man  die  charakteristische  Kraft  Tizian’s 
empfinden,  —  die  ja  neuerdings  auch  angezweifelt 
worden  ist.  — 

Je  mehr  man  diesen  Hippolyt  Tiziau’s  mit  jenem 
des  Pontormo  vergleicht,  desto  schwerer  wird  der  Glaube 
au  die  Identität  der  Person.  Aul  auffallendsten  ist  die 
A'erscliiedenheit  der  Augen.  Der  Augapfel,  dort  tief 
eingebettet  unter  der  scharfen  Dachkante  der  Brauen, 
mit  scheinbar  ruhigem,  aber  durchdringendem  Seiten¬ 
blick,  ist  dort  von  vorquellender  Prominenz.  Die 
Brauen  selbst,  bei  dem  Venezianer  buschig,  in  auf¬ 
steigendem  Winkel  geknickt,  bilden  hier  einen  flachen 
Bogen.  Die  Nase,  dort  stark  ansetzend  aber  dann  sich 
schmal  zusammenziehend,  an  der  Spitze  etwas  umge- 
kriimmt,  ist  hier  breit,  platt  und  oben  gedrückt.  Der 
dominirende  Zug  des  wirklichen  Hippolytkopfes  ist  die 
Schärfe  aller  Linien.  ')  Eine  gewisse  Stumpfheit  ist  in 


1)  There  is  a  keen,  sbarpened  express!  on  tliat  strikes  you, 
like  a  blow  f’rom  the  spear  .  .  .  The  whole  face  and  every  se¬ 
parate  feature  is  cast  in  the  same  acute  add  wedgelike  form  . . . 
The  nuraber  of  acute  angles  which  the  lines  of  the  face 
form,  are,  in  fact,  a  net  entangling  the  attention  and  suhduing 


dem  florentinischen  Kopf  nicht  zu  verkennen.  Selbst 
die  Farbe  ist  anders,  bei  diesem  ein  weiBlicher  Ton, 
bei  jenem  ein  gleichmäßig  warmes  Braun  der  glatten  Haut. 

Das  sind  Unterschiede,  die  durch  vier  Jahre  stür- 
raischen  Lebens  nicht  hervorgebracht  wei’den  können. 
Noch  größer  ist  der  Gegensatz  des  Temperamentes.  Aus 
jenen  junonischen  Augen  Pontormo’s  blickt  ein  indolentes 
melancholisches  Wesen,  und  dazu  passen  die  müßig 
herabhängenden,  zarten,  wohlgepflegten  Hände.  Wenige 
ritterliche  Figuren  jener  Zeit  möchte  es  geben,  wo  der 
schwere  Plattenharnisch  so  schlecht  zu  Gesicht  und 
Haltung  passt.  Wie  anders  fassen  die  Hände  des 
Kardinals!  So  stand  er  vor  der  Fi’ont  seiner  wilden 
Reitersehaar.  Das  ist  „die  allerletzte  Blüte  des  großen 
mediceischen  Baumes,  die  der  alte  romantische  Duft 
noch  umspielt“.  (H.  Gi'imm.) 

Müsste  man  also  nach  einer  anderen  Person  für 
diesen  Pseudohippolyt  Umschau  halten,  so  braucht  man 
sich  hierbei  um  des  ihm  angehefteteu  Namens  des 
Pontormo  willen  den  Gesichtskreis  nicht  verengen  zu 
lassen.  Diese  Person  nun  glaube  ich  gefunden  zu  haben 
und  zwar  in  dem  Herzog 

Guidohaldo  11.  von  Urbino 

(geboren  1514,  Herzog  seit  1538,  gestorben  1574). 
Die  Abbildung  wäre  sein  von  ^Msari  zweimal  er¬ 
wähntes  Bildnis  von  der  Hand  Agnolo  Bronzino’s.  Ehe 
ich  meine  Gründe  nenne,  will  ich  verraten,  wie  ich  auf 
den  Namen  gekommen  bin. 

Jeder,  der  sich  mit  der  Ikonographie  der  italienischen 
Regentenhäuser  jener  Zeit  beschäftigt  hat,  wird  in  der 
Reihe  vorzüglicher  Originalporträts  der  Rovere  gerade 
Guidohaldo  vermisst  haben.  Von  den  in  Inventaren 
und  Malerlehen  verzeichneten  Bildnissen  namhafter  Künst¬ 
ler,  darunter  der  von  Aretino  enthusiastisch  geschilderte 
Tizian  aus  dem  Jahre  1545,  ist  nichts  auf  uns  ge¬ 
kommen,  wir  haben  nur  elende  Kopieen.  In  solchen 
Fällen  zeigt  sich  indes  zuweilen,  dass  dergleichen  Bild¬ 
nisse  unter  falschen  Namen  versteckt  sind;  ein  Zufall 
kann  sie  entdecken,  wenigstens  dem,  der  sich  die  Züge 
gemerkt  hat. 

Guidohaldo  hatte  bei  seiner  Ernennung  zum  General 
der  römischen  Kirche  (1555),  als  er  gerade  den  Bau 
des  festen  Hafens  von  Sinigaglia  vollendet  hatte,  vier 
Denkmünzen  prägen  lassen;  die  beste  war  eine  Arbeit 
des  Bartolomeo  Campi,  den  Aretino  bei  Gelegenheit 
eines  reich  verzierten  Degens  und  Panzers,  auch  für 
den  Herzog,  ein  mirarolo  della  sua  arte  nannte.  (Lot¬ 
tere  III.  30.  Oktober  1543,  f.  119.)  Jene  Medaille 
kommt  in  Silber,  Bronze  und  in  vei’goldeter  Bronze  vor; 
so  sah  ich  sie  in  der  Sammlung  des  Geheimen  Hofrat 

the  will.  Plaiu  Speaker  II.  All  the  lines  of  the  face,  pre¬ 
sent  the  same  sharp  angles,  the  sanie  acute,  edgy,  contractecl, 
violent  expression.  Ilazlitt. 


38 


DIE  BILDNISSE  DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


Eibsteiu  in  Dresden.  In  diesem  Kopf  ist  ein  besonderes 
K.'iinzeicben  die  Prominenz  des  Aug-apfels.  Die  Nase 
ist  i-rwas  kleinlich  ausg-efalleu;  denn  auf  einer  si)äteren, 
eit)2-t.lieuder  modedlirteu  Medaille  (mit  einer  Cirkusscene) 
slilit  sie  besser  aus.  Das  von  Deuiiistoun  in  der  l’ur- 
tierloge  des  Palasts  Albaiii  zu  Kom  entdeckte  und  in 
seiner  Uescliichte  der  Herzoge  von  Urbino  (auch  bei 
Litta)  mitgeteilte.  übrigens  mittelmäßige  Poi'ti’ät  des 
sehr  gealterten  Pürsten  zeigt  diese  .Eulenaugen  auffallend 
entwickelt,  so  auch  die  Miniatur  in  den  üftizien  (1171, 
n.  5). 


Meilaille  1 1  uidubalilo’s  II.  vou  B.  Camfi.  1555. 

Die  Eilmierung  an  diesen  Zug  brachte  mich  ange¬ 
sichts  des  Pittigemäldes  auf  diesen  Herzog  und  damit 
auf  das  von  \’asari  beschrieltene  (etwa  vierzehn  .lalire 
vor  der  Medaille  gemalte)  L'orträt  Bi’onziiio’s,  vou  dem 
bisher  nij'geudwo  gehört  worden  war  (LePeu  Pontormo’s 
Xr.  .öT).  Dronzino’s  XIII,  IGO). 

Es  war  nach  der  Übergabe  der  Stadt,  am  2.  August 
l-öGO,  dass  Bronzino  mit  vielen  andern  Florenz  verließ. 
Er  begab  sich  nach  Pesaro,  wo  der  damalige  Piinz 
Guidobaldo  für  den  in  Venedig  weilenden  Vater  die 
Regentschaft  führte.  iMancherlei  Auftiäge  fanden  sich 
für  den  jungen  IMann.  Die  Ausmalung  der  Gemächer 
der  \illa  Imperiale  war  im  Gang;  er  zeichnete  die 
Kartons  für  einige  Gewölbezwickel  und  )ualte  auch  eine 
Kupidotigur  in  01,  Er  porträtirte  eine  Schöne  des 
Hofes,  die  Tocliter  des  Matteo  Sofferoni.  Diese  Leistungen 
reizten  den  Prinzen,  ihm  zu  sitzen.  Inzwischen  begann  man 
in  Florenz  wieder  aufzuatmen,  und  von  seinem  Meister 
Pontormo  kamen  Briefe  über  Briefe,  wegen  des  Saales 
der  Villa  Poggio  aCaiano,  den  Bronzino  beendigen  sollte, 
da  jener  zu  betiuem  geworden  war,  das  Gerüste  zu  be¬ 
steigen.  Das  Porträt  gefiel,  also  dass  Guidobaldo  auf 
den  Gedanken  kam,  seine  so  wohl  getroffene  Person  mit 
einer  gleißenden  modernen  Rüstung  zu  umgeben.  Sie 
wurde  in  der  Lombardei,  d.  h.  in  ihreiu  weltberühmten 
Waffenfabrikplatz  Mailand,  bestellt.  Während  man  auf 
sie  wartete,  hatte  Bronzino  Zeit,  ein  Cassa  d’Arpicordo 
mit  vielen  Figuren  zu  bemalen.  Endlich  erschien  die 
roraz-ia,  Bronzino  machte  seine  Tafel  fertig  und  kehrte 
nach  Florenz  zurück. 

Alle  diese  Arbeiten  und  Verzögerungen  zusammen- 
gerechiiet,  kommt  gewiss  mehr  als  ein  Jahr  für  Bron- 
zino’s  Aufenthalt  in  Pesaro  heraus.  Das  auf  dem  Por¬ 


trät  angegebene  achtzehnte  Jahr  liegt  bei  Guidobaldo 
zwischen  dem  2.  Ajndl  1531  und  32.  Die  Rüstung 
darauf  ist  nach  dem  Urteil  der  besten  Waffenkenner 
mailändische  Arbeit  und  nach  dem  von  jener  Zeit  dort 
beliebten  Schema.  Es  ist  ein  Plattenharnisch,  „ge¬ 
schwärzt,  mit  schmalen  gekehlten,  geätzten  und  ver¬ 
goldeten  Strichen  und  Schlitzen  mit  stumpfem  Tapul 
auf  dem  Bruststücke  und  übermäßig  großen  Armkacheln“ 
(Wendelin  Boeheim).  Solche  Harnische  wurden  ge- 
werbs-  und  schablonenmäßig  damals  nur  in  Mailand 
gemacht,  wenn  auch  gelegentlich  anderwärts  nach¬ 
geahmt.  ') 

Auf  der  Rückseite  des  Tannenbretts  stehen,  wie  ich 
an  Ort  uml  Stelle  entdeckte,  in  weißer  filfarbe  aufge¬ 
malt  die  Buchstaben 

die  Dnea  Gvido  Bahlu  gelesen  werden  können.  Es  ist 
mir  nicht  unbekannt,  dass  auf  Inschriften  (z.  B.  im  Palast 
zu  Pesaro)  auch  anders  abgekürzt  wird;  G.  V.  DVX, 
das  ist  die  lateinische  Form  (Guidus  Vbaldus).  Der 
llofbeamte,  der  die  Buchstaben  auf  die  Tafel  setzte, 
folgte  der  italienischen  Aussprache,  die  nicht  Guid’ 
Ubaldo,  sondern  Guido  ’Baldo  lautet. 

Endlich  die  Malerei.  Da  wird  man  wohl  nichts  da¬ 
gegen  haben,  dass  die  Tafel  nach  Farbenauftrag,  Auffassung 
und  Haltung  mehr  zu  Bronzino  als  zu  Pontormo  passe. 
Die  glatte  und  kühle  Ausfülirlichkeit  im  Fleisch,  der 
Fall  der  Arme  und  Hände  verrät  die  Gepflogenheiten 
Brdiizino’s.  Die  Bildnisse  Pontormo’s  haben  einen  bräun¬ 
lichen  Ton,  oft  mit  schweren  Schatten,  seine  Posen 
sind  besonderer,  zugleich  persönlicher  und  unwillkür¬ 
licher.  Am  wenigsten  ist  etwas  von  einer  trockenen 
'1)1(1  lu'crn  trdcsca  zu  l)enierken. 

Das  Bronzino’sche  Porträt  fehlt  in  der  Liste  der 
Uihinatischen  Gemälde.  Wohl  aber  kommt  eines  von 
Zuccaro  vor,  II  iJitca  nroiato,  co)i  mcuio  sopra  Ja  tcsta 
di  u)i  caae,  di  ma))o  di  Zuccaro.  Niemand  hat  es  bis 
jetzt  gesehen.  Vielleicht  aber  war  eben  unser  Bild 
gemeint.  Der  Name  Bronzino’s,  der  nur  kurze  Zeit  in 
Pesaro  war,  mochte  dort  in  Vergessenheit  geraten  sein, 
während  Taddeo  Zuccaro,  der  ein  Landeskind  war  (aus 
S.  Angelo  in  Vado),  langjährige  nahe  Beziehungen  an 
Guidobaldo  knüpften.  Er  hatte  ihn  als  Fünfzehnjährigen 
an  seinen  Hof  gezogen,  auf  Reisen  mitgenommen  und 
im  Palaste  zu  Pesaro  einquartirt.  —  Wenn  das  viel 
spätere  Bildnis  eines  .lägers  mit  zwei  Jagdhunden  (Pitti) 
Guidobaldo  heißt,  so  ist  das  wohl  nur  der  Einfall  eines 
Kustoden,  der  seine  Inventargelehrsamkeit  hier  an¬ 
brachte.  — 


1)  Genau  dieses  Muster  hat  nach  W.  Boeheim  der  Augs¬ 
burger  Colmaii  an  dem  Harnisch  des  Wilhelm  von  Rogen¬ 
dorf  angewandt.  (Wiener  Watfensammlung,  Saal  XXVII, 
N.  20G.)  Nur  ist  der  Harnisch  blank  und  die  Atzung  nicht 
vergoldet. 


DIE  BILDNISSE  DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


39 


Was  sonst  von  GuidobaMo  II.  Person  bekannt  ist, 
passt  ganz  wohl  zu  dem  Bilde.  Von  seinem  Äußern 
schreibt  Frederigo  Badoer,  der  erste  Gesandte,  mit  dem 
die  Serenissima  einen  Herzog  von  Urbino  beehrte,  in 
seiner  Relation  von  1.547.  Seine  Figur  ist  robust 
(quadrato),  die  Statur  unter  mittel,  das  Temperament 
melancholisch  mit  Zusatz  vom  Sanguinischen.  Er  ist 
sehr  stark  und  gewandt,  vor  dreizehn  Jahren  hat 
er  im  Turnier  zu  Ferrara  (zwanzigjährig)  alle  aus¬ 
gestochen. 

Sein  Erzieher  glaubte  einst  in  dem  Knaben  den 
Geist  des  martialischen  Vaters  und  Oheims  (Julius’  II.) 
wieder  aufgelebt,  ausgeglichen  durch  die  Milde  der 
Mutter.  S]iäter  liel  seine  Schweigsamkeit,  auch  gegen¬ 
über  den  Höflingen,  unangenehm  auf,  man  nannte  es 
Strenge,  Aretino  erkühnte  sich,  ihn  wegen  dieser  modesta- 
mente  severa  tacitiirnüä  zu  hofmeistern.  Es  war  wohl 
ein  träumerisch  indolentes  Wesen  dieser  saturnischen 
Natur,  die  nicht  gern  aus  sich  herausging. 

Neben  einem  Vater  wie  Fi'ancesco  Maria  war  kein 
Raum  für  Ausleben  eigenen  Willens.  Unser  Bildnis 
fällt  in  dasselbe  Jahr,  wo  der  Prinz  die  Schwere  der 
väterlichen  Autorität  an  seinen  innigsten  Gefühlen  zu 
erfahren  bekam.  ')  Er  hatte  sich  in  den  Kopf  gesetzt, 
eine  Dame  vom  Hause  Orsini  zu  heiraten,  deren  Mutter 
Felice  eine  Tochter  .Tulius’  II.  war.  Der  Alte,  der  ihm 
die  Erbin  des  Herzogtums  Camerino  zugedacht,  hatte 
alles  mögliche  an  dieser  Wahl  auszusetzen.  Als  ihm 
die  übrigens  unterwürfige  Antwort  des  Sohnes  auf  seine 
schroffe  Einsprache  zu  verklausulirt  schien,  folgte  ein 
Ausbruch  wilden  Zornes.  Er  droht  ihm  mit  Enterbung 
und  giebt  ihm  zu  bedenken,  dass  seine  Mutter  eine  Ge¬ 
burt  erwarte  und  nötigenfalls  noch  zehn  Kinder  be¬ 
schaffen  könne.  „Und  sollte  ich  etwas  wie  Ungehorsam 
gegen  meinen  Befehl  hören,  so  werde  ich  gegen  Dich 
zuerst,  etwas  thun,  was  kein  Mensch  glauben  wird,  dass 
je  ein  Vater  gegen  einen  Sohn  gethan  habe;  und  gegen 
ihre  (der  Braut)  Mutter,  und  gegen  die  Tochter  und 
den  Sohn,  denen  werde  ich  ein  so  grimmiger  Feind 
werden  .  .  .  und  wer  sich  darein  mengt,  den  werde  ich 
verfolgen  nicht  nur  an  seiner  Habe,  sondern  an  Leben 
und  Seele,  wenn  es  möglich  ist,  ohne  Rücksicht  auf 
irgend  Jemanden  .  . 

Am  Helm  ist  ein  Inschriftschildchen  befestigt  mit 
einem  griechischen  ^Arse  (er  verstand  griechisch), -)  auf 
den  diese  Geschichte  ein  wunderliches  IJcht  wirft. 

ßA  EZTAl  AHQ 
9.S  ATAONTO 
BOVAHMA 


1)  Fil.  Ugolini,  Stnria  dei  conti  e  dncbi  d’Urbino  II.,  24841. 

2)  Da’  primi  aiini  S.  Ecc.  ha  dato  opera  alle  lettere  grecbe 
e  latine  per  avere  la  cognizione  delle  istorie  etc.  Badoer, 
Relazione  di  1547. 


Die  Worte  sind  offenbar  nachgemalt  von  einer  des 
Griechischen  unkundigen  Hand.  Wenn  man  statt  AIAON 
nach  Professor  Bücheler’s  Vorschlag  EIvlON  setzt,  so 
ergiebt  sich 

ojt)’  sovab  cog  illov  to  ßovh]^ci 

„Also  wird  geschehen,  wie  ich  den  Beschluss  ge¬ 
fasst  habe.“ 

Man  stelle  nun  den  Koj)!  des  Alten  von  Tizian  in 
den  Uffizien  neben  den  des  Sohnes,  und  man  wird  über 
den  Ausgang  dieses  Zusammenstoßes  keinen  Augenl)lick 
in  Zweifel  sein. 

.i:  :i: 

Guidobaldo  hatte  in  jungen  Tagen  nach  hohen 
Zielen  getrachtet,  und  es  fehlte  ihm  nicht  an  gründ¬ 
licher  Ausrüstung  für  eine  Rolle  auf  der  politischen 
Bühne;  Mocenigo  lobt  seine  staatsmännischen  und  kriegs¬ 
wissenschaftlichen  Kenntnisse.  Badoer  rühmt  auch  die 
einem  Feldherrn  seiner  Ansicht  nach  unentbehrliche 
Beredsamkeit.  Niemand  kannte  besser  die  politische 
und  militärische  Lage  der  Halbinselstaaten.  Musste  nicht 
ein  solcher  Nachbar,  der  Gebieter  einer  kinegstüchtigen, 
seinem  Hause  treu  ergebenen  Bevölkerung,  der  Signorie 
Venedigs  ein  willkommener  Bundesgenosse  sein?  Die 
Sehnsucht  des  Jünglings  war,  den  Spuren  seines  ^^aters 
zu  folgen,  dessen  strategische  Aufzeichnungen  er  fleißig 
studirte.  Tröstet  euch,  schrieb  ihm  Aretino  im  Ok¬ 
tober  1543,  die  Zeit  kommt,  es  kommt  die  Zeit,  die 
Eui'e  gelehrte  Kriegskunde  gebrauchen  wird.  Die  Fittiche 
des  Adlers,  allezeit  Mehrers  des  Reiches,  sind  von  un¬ 
berechenbarem  Flug,  also  dass  man  die  Schatten  seiner 
Kreise  fürchten  muss,  selbst  der  befieundeten  und  er¬ 
gebenen,  denn  Siegesüberhebung  kennt  keine  Rück¬ 
sichten.“ 

Diese  Zeit  ist  nie  gekommen.  Die  Tage  der  kleinen 
Potentaten  und  Condottieri  waren  vorbei.  Er  wurde 
es  endlich  müde,  als  General  governatore  delle  armi 
venete  in  Verona  Heerschau  zu  halten  und  die  Festungen 
der  Terra  ferma  mit  seinen  Ingenieuren  abzureisen.  Der 
Dienst  der  Republik  war  ebenso  kostspielig  wie  uner¬ 
giebig.  „Ich  habe,  klagt  er  seinem  ^Ttter,  dem  Kardinal 
von  Mantua  am  22.  August,')  in  diesen  lombardischen 
Quartieren  meine  ganzen  Landeseinkünfte  verbraucht  und 
meine  eigenen  Städte  ohne  Garnison  und  Befestigung 
lassen  müssen  ...  die  besten  Jahre  meines  Lebens  habe 
ich  weggeworfen,  ohne  etwas  auszuführen  von  alledem, 
was  von  jeher  mein  Verlangen  w'ar.  „Alles  das  nur  um 
des  erhofften  Titels  des  Generalkapitäns  der  Republik 
willen,  den  sein  Vater  besessen.  Es  war  jener  Kom¬ 
mandostab,  den  man  auf  dem  Bildnis  Francesco  Maria’s 
von  Tizian  sieht  und  dessen  Verleihung  ein  Decken¬ 
gemälde  der  Villa  Imperiale  darstellt.  Endlich  er))at 


])  Urbinat.  Archiv  in  Fbiren/..  Filza  KiS, 


40 


DIE  BILDNISSE  DES  KARDINALS  HIPPOLYT  VON  MEDICI  IN  FLORENZ. 


und  erliielt  er  seine  Entlassung,  als  ihn  der  Senat  auf 
sein  Ultimatum  endgültig  ahschlägig  heschieden  hatte. 
Kaum  tröstete  ihn,  den  Vasallen  des  Papstes,  das  von 
.Tnlius  UI.  verliehene  Capitanat  der  Kirche  und  die 
Präfektur  von  Rom.  Dann  folgte  er  dem  Strom,  wurde  auf 
Cosirao’s  Empfehlung  General  und  Pensionär  Philii)p’s  II. 

Der  einst  ehrgeizige  Mann  lenkte  nun  ein  in  die 
Bahnen  seiner  \Yrgänger  auf  dem  Thron.  Er  erinnei'te 
sich  der  glänzenden  Tage  Eederigo’s  und  des  ersten 
Guidohaldo,  der  auch,  freilich  durch  die  Gicht  zum 
Stillesitzen  verurteilt,  sein  Urhino  zu  jenen  Musenhof 
gemacht  hatte,  dtmi  Baldassar  Castiglione  im  Coi'tegiano 
ein  Denkmal  setzte.  Doch  war  dieses  Bergnest  jetzt  nicht 
mehr  zeitgemäß;  ihm  succedirte  das  von  Julius  II.  (1512) 
dem  Staat  zugefügte  Pesaro.  Hier  war  nun  jeder  Mann 
Voll  Bedeutung,  der  das  Land  betrat,  liebenswürdiger 
Aufnahme  und  zwangloser  Gastlichkeit  sicher.  Die  Namen 
Pesare  und  Urhino,  Guhhio  und  Castel  Durante  erinnern 
an  die  gelohte  Zeit  der  metaurischen  Majoliken,  die  fest 
zHsammentällt  mit  seiner  Regierung,  mit  deren  Ende  auch 
ihr  Verfall  entschieden  war.  Dass  das  Denkmal  seines 
Großoheinis  Julius’  II.,  wenn  auch  in  vei'kümmerter  Ge¬ 
stalt,  endlich  noch  aufgerichtet  werden  konnte,  verdankt 
Koni  seiner  von  Anfang  an  kundgegehenen  Bereitwillig¬ 
keit,  den  Forderungen  und  Launen  Michelangelo’s  ent- 
gegenzukommen.  Dieser  hatte  sogar  davon  gesprochen, 
nach  der  ruhigen  Bergstadt  überzusiedeln. 

Er  lebt,  sagt  Mocenigo,  sehr  vergnügt  unter  seinen 
Edlen  und  denen,  die  ihn  stets  umgeben,  er  ist  freigebig, 
und  wenn  er  einmal  Jemandem  Schutz  und  Freundschaft 
gewährt  hat,  hört  er  nie  auf,  ihn  mit  Aufmerksamkeiten 
und  Ehren  zu  bedenken.“ 

Die  Zeitgenossen  haben  es  an  Dank  nicht  fehlen 
lassen.  Uifugio  vcro  delle  miserrime  rhiii  d’Italla 
nannte  ihn  Aretino  in  seinem  Briefe  an  den  Maler 
Morettn.  „Ihr  seid  der  beste  Meister,  der  je  die  schwere 


und  göttliche  Kunst  der  Freigebigkeit  besessen  hat.“ 
Auf  der  Medaille  G.  B.  Oapo’s  steht  über  dem  Cirkus 
OlAydPETP^KT^,  d.  h.  wohl:  amico  di  hitte  h  virlu. 

Jenes  allegorische  Wandgemälde  des  Ralfaellin  del 
Colle  in  der  Villa  Imperiale,  wo  der  Fi'iede  in  Gestalt 
eines  thronenden  Mädchens  dem  kuieenden  Francesco 
Maria  statt  des  blutbefleckten  Lorbeers  einen  großen 
Ölzweig  reicht  und  ihm  die  Rechte  wie  segnend  ülier  den 
Scheitel  breitet,  schien  nun  wie  eine  Weissagung  seiner  Aera. 

Lucrezia  d’Este,  die  Gemahlin  des  Erbprinzen  lud 
Tasso  ein,  vor  dem  Herzog  seine  Aminta  vorzulesen,  der 
Park  von  Castel  Durante  soll  ihm  die  Gärten  der 
Armida  eingegeben  haben. 

Diese  Beziehungen  wai'en  von  lange  her.  Als 
Bernardo  Tasso,  aus  Neapel  flüchtig,  in  Rom  verfolgt, 
nach  Ravenna  gekommen  war,  rief  ihn  Guidohaldo  zu 
sich  und  stellte  ihm  ein  Kasino  zur  Verfügung,  wo  er 
zwei  Jahre  sorgenfrei  seinen  Versen  leben  konnte.  Sein 
siebenjähriger  Scdin  Torquato  nahm  an  dem  Unterricht 
des  Erbprinzen  Francesco  Maria  teil,  der  ihm  in  der 
Folge  ein  treuer  Freund  blieb.  Der  alte  Herzog  war 
es,  dem  der  Jüngling  zuei'st  seine  heiinlichen  Verse  vor¬ 
gelegt  hatte  (1562).  Die  Dedikation  des  Rinaldo  hatte 
er  damals  abgelehnt,  aber  den  Entwurf  eines  Epos  II 
Gicruscdem,  116  Strophen,  ließ  er  sich  gefallen.  Und 
doch  stand  im  Rinaldo,  Canto  VIll,  eine  sehr  schmeichel¬ 
hafte  Strophe,  die  man  seinem  Bildnis  als  Unterschrift 
geben  könnte,  da  wo  Euridice  den  Helden  im  Albergo 
della  Cortesia  bei  Neapel  vor  sein  Bild  führt: 

L’altro  severo  11  volto,  o  grave  11  clgllo, 

Fi  adorno  si,  dl  maestä  regale, 

Del  gran  Maria  Francesco  sarä  figllo, 

Magglor  del  padre  ln  pace,  in  guerra  egnale. 

Sotto  ’l  cui  saggio  huperio  iinqua  in  periglio 
Urbin  non  tia  d’  alciin  gravoso  male, 

Ma  fiorirä  per  Falme  sue  constradc 
Una  lieta,  felice,  ed  anrea  etade. 


Oberdeutsche  Schule, 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VII. 


Aus  „Handzeichnungen  alten  Meisten  aus  der  Albertina 
und  anderen  Sammlungen“. 


Lucas  Cranach  d.  A, 
1472  — 1553 

Männliches  Bildnis. 


Verlag  Gerlach  &  Schenk  ln  Wien, 


Hamlzeichmmg  Rembrandt’s.  Aus  dem  Werke:  Ilaudzeiclinuiigeii  alter  Meister  aus  der  Alhertiua.  (Verlag  von  Gerlacli  &  Schenk,  Wien.) 


HANDZEICHNUNGEN  ALTER  MEISTER.') 

MIT  ABBILDUNGEN. 


OR  kurzem  ist  mit  dem  Erscheinen  der 
zwölften  Lieferung  der  erste  Rand  des 
umfassend  angelegten  Sammelwerkes  al¬ 
ter  Meisterzeichnungen,  welches  Jos. 
Schünhriouter  und  Dr.  Jos.  Meder  letztes 
Jahr  begonnen  haben ,  znui  glücklichen 
Abschlüsse  gelangt.  Der  Wiener  Kunstverlag  und  ins¬ 
besondere  die  Firma  Gerlacli  £■  Schenk,  durch  die  Ge¬ 
diegenheit  und  den  Geschmack  ihrer  Publikationen  welt¬ 
bekannt,  dürfen  sich  in  dem  vorliegenden  Unternehmen 
eines  Werkes  rühmen,  welches  weit  über  die  Grenzen 
der  Fachgelehrsarakeit  hinaus  in  allen  künstlerischen 
und  kunstverwandten  Kreisen  Reaclitung  und  Beifall 
verdient. 

Allerdings  —  das  betonen  die  Herausgeber  selbst 
an  der  Schwelle  des  Werkes  mit  Recht  —  sind  die 
Handzeiclmungen  der  alten  Meister,  seien  es  nun  vor¬ 
bereitende  Skizzen  oder  fertige  Studien,  in  erster  Linie 
wichtig  als  Hilfsmittel  der  exakten  Kritik,  bei  der  Re- 

1)  Handzeiclmungen  alter  Meister  aus  der  Albertina  und 
anderen  Sammlungen.  Erster  Band.  Herausgegeben  von 
Jos.  Schönbrunner,  Galerie -Inspektor,  und  Dr.  Jos.  Meder. 
Wien,  Gerlach  &  Schenk.  120  Tafeln  und  8  Seiten  Text  kl. 
Fol.  In  Mappe  24  fl  =  40  Mk. 

Zeitschrift  für  bihlenile  Kirnst.  N.  F.  VIII.  II.  2. 


stimnung  der  einzelnen  Künstler  und  ganzer  Schulen; 
sie  sind  es,  welclie  uns  der  Gedankenarbeit  der  groben 
Meister  auf  den  Grund  schauen  lassen  und  uns  „die 
verschiedenen  Phasen  eines  Kunstwerkes  von  der  ersten 
Idee  bis  zur  höchsten  Vollendung  vor  Augen  führen“. 
Das  Eingreifen  der  Photographie  in  die  früher  ver¬ 
borgenen  und  schwer  zugänglichen  Schätze  der  Knust¬ 
kabinette  und  Sammlerniappen  war  daher  von  epoche¬ 
machender  Bedeutung  für  die  vergleichende  Kunst¬ 
wissenschaft.  Das  weit  zerstreute  Material,  das  bis 
dahin  nur  im  Gedächtnis  des  einzelnen  Forschers  zu¬ 
sammengehalten  werden  konnte,  lag  nun  zu  bequemer 
Übersicht  vor  aller  Augen  da.  Nicht  nur  der  Strich, 
sondern  auch  die  Farbe  wurde  bald  genau  nachgeahmt. 
Was  Ad.  Braun  schon  vor  dreißig  Jahren  mit  seinem 
Kohleverfahren  den  erstaunten  Blicken  darbot  und 
dann  in  rastloser  Arbeit  aus  allen  Sammlungen  Euro- 
pa’s  zu  vielen  Hunderten  von  Blättern  anhäufte,  fand 
in  seinem  „Catalogue  general“  von  1880  die  erste 
handliche  Zusammenstellung.  Es  folgten  die  großen 
Faksimile-Ausgaben  einzelner  Sammlnngen  und  Meister, 
wie  Bei'lin,  Paris,  München,  Dresden,  das  Dürerwerk, 
die  Rembrandtpnblikation.  Vor  allem  war  es  Giovanni 
Morelli,  der  für  seine  stilkritische  Prüfung  der  Schul- 

G 


HANDZEICHNUNGEN  ALTER  MEISTER. 


l’.  I’.  KUBENS.  Aus  dem  Werke;  Hamlzeichuuugeii  alter  Meister  etc. 
(Wien,  Gerlacli  &  Schenk.) 


AlbuechtDÜiier.  Aus  dem  Werke:  Handzeichnungen  alter  Meister  etc. 
(Wien,  Gerlach  &  Schenk.) 


cliaraktere  und  künstlerischen  Individualitäten  das  Stu¬ 
dium  der  Handzeichnungen  als  die  wichtigste  Aufgabe 
hinstellte  und  zunächst  bei  den  toskanischen  und  nm- 
bi’ischen  Meisteim  die  Gi'undsätze  seiner  vergleichenden 
Methode  zu  frnchtreiclier  Anwendung  brachte.  So  ge¬ 
lang  es  allmählich,  Schulen  und  Meister  auch  in  ihi-en 
Handzeichnungen  bestimmt  zu  unterscheiden  und  Schritt 
vor  Schiitt  Klarheit  in  ein  früher  völlig  der  Willkür 
anheiingegebenes  Gebiet  zu  bidngen. 

lüe  Herausgeber  des  hier  angezeigten  Werkes 
haben  sich  nun  die  Aufgabe  gestellt,  von  den  Ergeb¬ 
nissen  der  neu  gewonnenen  Erkenntnis  auch  weitere 
Kreise  Nutzen  ziehen  zu  lassen.  Sie  wollen  alle  Hanpt- 
meister  vom  15.  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
in  einem  oder  mehreren  charakteristischen,  womöglich 
signirten  Blättern  den  Kunstfreunden  vorführen.  Die 
Benennungen  derselben  sind  mit  größter  Sorgfalt  er¬ 
wogen.  Die  Beispiele  werden  aus  den  berühmtesten 
Sammlungen  gewählt.  In  erster  Linie  aus  der  Albertina 
und  aus  anderen  Wiener  Kabinetten,  dann  aus  der 
Sammlung  der  Landesgemälde- Galerie  zu  Budapest,  aus 
den  Uffizien  zu  Florenz  n.  s.  w.  Im  zweiten  Bande 
sollen  unter  anderem  die  Blätter  des  Museums  in  Basel 
an  die  Reihe  kommen.  Die  Reproduktionen  sind  in  der 
Regel  nach  neuen  Aufnahmen  in  Lichtdruck  hergestellt. 
Eine  geringe  Anzahl  von  Klischee-Drucken,  welche  aus¬ 
nahmsweise  dazu  kommen,  werden  stets  ausdrücklich 
als  solche  angegeben.  Der  Text  beschränkt  sich  auf 
das  Notwendigste;  ausführliche  Beschreibungen  sind  als 
überflüssig  vermieden,  dafür  aber  die  wichtigsten  Re¬ 
sultate  der  neuesten  Kunstforschung  in  Litteraturnach- 
weisen  fleißig  angegeben;  für  die  jüngeren  Kunstfreunde 
besonders  nützlich  ist  die  Beschreibung  der  charakte¬ 
ristischen  Zeichenweise  jedes  Meisters  und  der  ihm 
eigentümlichen  Auffassung  der  Formen.  —  Der  ins  Weite 
gehenden  Anlage  des  Werkes  musste  selbstverständlich 
auch  der  Preis  angepasst  werden.  Trotz  der  Eleganz 
der  Ausstattung  und  der  mustergültigen  Herstellung  der 
Tafeln  in  einfachem  oder  farbigem  Druck  beläuft  sich 
der  Preis  doch  nur  auf  etwa  20  Kreuzer  für  das  Blatt. 
Auch  das  mäßige  Folio-Format  erleichtert  die  Hand¬ 
lichkeit  und  die  Verbreitung.  Das  Werk  soll  eben 
nicht  wieder  eine  Rarität  sein,  wie  so  manche  andere 
Publikationen  von  Raritäten,  sondern  ein  Kunstbuch  für 
die  ganze  knnstfreundliche  Welt. 

Von  den  120  Tafeln  des  ersten  Bandes  nehmen 
mehr  als  ein  Drittel  die  Blätter  der  deutschen  Meister 
in  Anspruch.  Dürer  steht  mit  28  Zeichnungen  voran; 
daran  schließen  sich  Altdorfer,  Haus  Baidung,  Hans 
Sebald  Behani,  Lukas  Cranach  d.  ä.,  M.  Grunewald  u.  a. 
Den  Italienern  und  den  Niederländern  sind  etwa  je  30 
Blätter  gewidmet.  Bei  der  Auswahl  der  Italiener  hat 
offenbar  die  Rücksicht  auf  thunlichste  Mannigfaltigkeit 
in  der  Vertretung  der  Schulen  obgewaltet.  Die  Texte 
zu  Raffael,  Michelangelo,  Francia,  Botticelli,  Ubertini 


KORRESPONDENZ  AUS  GRIECHENLAND. 


43 


u.  a.  zeugen  von  besonderer  Sorgfalt.  Bei  dem  als 
Memling  bezeichneten  Blatte  der  Albertina  (Taf.  108) 
wird  die  neuerdings  aufgetaucbte  Zuschreibung  an 
Dürer  mit  vollem  Recht  zurückgewiesen.  Die  Fran¬ 
zosen  müssen  sich  mit  17  Blättern  begnügen,  was  bei 
dem  Umstande,  dass  ihre  Glanzepocheii  doch  erst  in  die 
modernen  Zeiten  fallen,  gerechtfertigt  erscheint.  Der 
Schwerpunkt  des  Werkes  wird  immer  in  den  älteren 
Meistern,  vom  Quattrocento  bis  zum  17.  Jahrhundert,  zu 
suchen  sein.  Neben  Dürer  und  Holbein,  Raffael  und 
Michelangelo,  Rubens  und  Eembrandt  haben  die  alten 


Italiener  und  Flandrer  vom  Anfänge  der  Renaissance 
den  größten  Wert  für  eine  derartige  Publikation. 
Solche  Blätter,  wie  das  zuerst  von  Morelli  in  kleiner 
Nachbildung  edirte  Mädclienprofil  von  Tinioteo  Viti 
(Uffizien  zu  Florenz,  Taf.  74),  gereichen  ihr  zur  höchsten 
Zierde. 

Wir  hoffen  bald  einen  zweiten,  ebenso  reich  aus¬ 
gestatteten  Band,  wie  es  der  vorliegende  ist,  begrüßen 
zu  können ,  und  empfehlen  hiermit  das  Werk  den 
Lesern  aufs  wärmste.  G.  v.  L. 


KORRESPONDENZ  AUS  GRIECHENLAND. 


TALIEN,  sonst  das  ersehnte  Ziel  so 
vieler  Reisenden,  ist  jetzt  für  Tausende 
nur  eine  Station  auf  dem  Wege  nach 
dem  Orient.  Diese  Bemerkung,  die 
sich  unter  den  Eingangsworten  eines 
beliebten  Reisehandbuches  findet,  spottet 
trefflich,  ohne  zu  wissen  wie,  des  Publikums,  das  sie  zu 
Fahrten  nach  den  Ländern  der  Levante  anregen  will. 
Denn  wirklich  hat  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten,  seit 
der  Erschließung  bequemerer  Routen  in  den  Orient,  hin¬ 
länglich  gezeigt,  dass  die  Sehnsucht  nach  Italien  für 
Tausende  nur  ein  Kitzel  der  Reisesucht  und  der  Neu¬ 
gierde  war  und  nunmehr  einer  ebenso  oberflächlichen 
Sehnsucht  nach  den  Herrlichkeiten  des  Ostens  zu  weichen 
beginnt.  Quälte  man  sich  früher  durch  Museen,  Kirchen 
und  unverstandene  Landschaften  bis  zum  Ätna  hindurch, 
so  lässt  man  jetzt  die  italienische  Kunst  und  die  Cam- 
pagna  auf  sich  beruhen  und  bewundert,  etwa  in  Ägypten, 
Sonnenuntergänge,  Pyramiden  und  Fellachen  mit  dem¬ 
selben  forcirten  Enthusiasmus.  Ein  Glück  nur,  dass 
Eisenbahn  und  Dampfschiff,  internationales  Hotelwesen 
und  Reklame  den  Strom  solcher  Reisenden  noch  nicht 
überallhin  leiten,  dass  es  vielmehr  noch  Länder  giebt, 
deren  vornehme  Schönheit  und  bedeutender  Inhalt  ge¬ 
wissermaßen  dem  echten  Reisenden  Vorbehalten  bleiben. 
Trotz  seines  energischen  wirtschaftlichen  Aufschwungs, 
der  denn  auch  einige  Verkehrserleichterungen  geschaffen 
hat,  gehört  Griechenland  zu  solchen  Ländern.  Es  offen¬ 
bart  sich  nicht  von  selbst  jedem  Vorübereilenden;  wie 
es,  in  den  meisten  seiner  Teile,  nur  unter  Strapazen 
bereist  wird,  so  eröffnet  es  das  Verständnis  seiner  Gegen¬ 
wart  und  seiner  Vergangenheit  allein  dem,  der  sich  mit 
Ernst  und  Eifer  darum  bemüht.  Und  es  wird  deshalb 
nicht  vernachlässigt  oder  vergessen:  der  absolute  Wert 
griechischer  Kultur  für  die  Bildung  aller  neueren  Kultur¬ 
völker,  der  Zauber,  den  altgriechischer  Geist  auf  alle 
ihm  zugänglichen  Geister  ausübt,  —  sie  locken  immer 


neue  Scharen  von  wahrliaft  Suchenden,  Fragenden,  Be- 
wundeimden  aus  allen  Nationen  heran. 

Solche  Leute  sind  nun  zum  Teil  warmherzige 
Dilettanten,  zum  Teil  völlig  entschlossene,  im  Beruf  auf¬ 
gehende  Pioniere  der  Wissenschaft.  Jene  streifen, 
schauen  und  genießen,  ziehen  davon  und  hinterlassen 
keine  Spuren,  zufrieden,  sicli  selbst  gefördert  zu  haben; 
diese,  nach  dem  Vorbilde  so  mancher  Philhellenen  der 
vergangenen  Jahrzehnte,  setzen  ihre  besten  Jahre,  wo 
nicht  ihr  Leben,  an  den  Dienst  der  idealistischen  Idee, 
die  Ei’kenntnis  des  alten  Hellenentums  von  angewöhnteu 
Missverständnissen  und  von  römischen  Traditionen  zu 
befreien,  und,  unterstützt  durch  die  Beweismittel,  die 
der  klassische  B(jden  allein  darbietet,  sie  in  Hellas  selbst 
und  überallhin  zu  verbreiten.  Eine  Fülle  von  Arbeit 
wird  für  diesen  Zweck  geleistet.  Im  Wetteifer  mit  den 
heutigen  Griechen,  die  freilich  durch  ihr  politisches,  alle 
anderen  Interessen  aufgebendes  Parteitreiben  und  durch 
die  Oberflächlichkeit  ihrer  Bildung  vielfach  darin  be¬ 
hindert  werden,  haben  Deutschland,  Österreich,  Frank¬ 
reich,  Russland,  England,  Italien,  Schweden,  die  Ver¬ 
einigten  Staaten  in  Athen  ihre  Institute  gegründet  oder 
sonstige  Gelegenheiten  geschaffen,  die  ihre  Gelehrten  zu 
archäologischen  und  philologisch-historischen  Studien  und 
Forschungen  ausnutzen  können.  Jüngere  wie  ältere 
Fachmänner  finden  dort  Anregung,  Anleitung  und  Möglich¬ 
keit,  die  verschiedenen  Gebiete  ihrer  Wissenschaft  durch 
unmittelbare  Benutzung  des  mannigfaltigsten  Materials, 
durch  eine  Autopsie  von  unvergleichlicher  Weite  besser 
zu  beherrschen  oder  zu  bereichern,  als  es  ihnen  anderswo 
gelingen  würde;  sei  es,  dass  sie  als  Archäologen  der 
kunsthistorischen  Richtung  sich  mit  Architektur  und 
Skulptur,  mit  Vasenmalerei  und  Kunstgewerbe  befassen; 
sei  es,  dass  sie  als  Historiker  des  Altertums  für  dessen 
ethische  oder  politische  Entwicklung  die  litterarischen 
Zeugnisse  an  Oi’t  und  Stelle  zu  revidiren  und  mit  den 
thatsächlichen  Verhältnissen,  wo  es  thunlich  ist,  zu  kon- 

6* 


14 


KORRESPONDENZ  AUS  GRIECHENLAND. 


'.r  .'-K'n  u  lia':  --!!'.  es  emllicli,  dass  sie  den  Resten  des 
i !  a-ali ,'rs  aii-i;  zins  onden  nnd  die  einsclilag-endeu  Fragen 
a  .■■!i  für  Gii(  i-lit-nland  nntersnclien. 

^rieelienland  ist  aber,  mit  x4nsnalime  des  Atlios- 
i:\  ^  s  nnd  einiger  anderer  Stellen,  nicht  eben  reich 

au  ihblii-theken.  Griechiscdie  Handschriften  von  He- 
diuitniia'  lindet  man  in  Enro])a,  wohin  sie  besonders  seit 
den  Zehen  der  rümisclien  Erobernng  in  Menge  exportii’t 
wurden,  entschieden  mehl“.  Dagegen  besitzt  das  Land 
mich  diejenigen  seiner  Schätze,  die  es  in  seinem  Schoße 
selbst  verliergeu  nnd  halten  konnte.  Zwar  sind  Ja  auch 
zahllose  Ranwerke  völlig  zerstört,  zahllose  Sknlptnren 
veibrannt  oder  geraubt  worden;  aber  in  abgelegenen 
oder  schnell  verödeten  Gegenden  ei’hielten  sich,  oft  wenig 
geschädigt,  oft  wenigstens  in  wesentlichen  Resten  ge¬ 
rettet,  mannigfaltige  Architekturen,  und  ül}er  die  Funda¬ 
mente.,  llauerzüge  und  Säulenstümiife  so  mancher 
'Pempelanlagen,  Märkte  und  Hallen,  die  Feindeshand, 
Feuer  odei'  Erdlieben  niederwarf,  legte  sich  eine  Schicht 
von  Schutt  und  Trümmern,  unter  der  die  zuerst  herab- 
gestürzten  Statuen  ein  leidlich  geschütztes  Lager  hatten; 
auch  4Verke  der  Kleinkunst  und  die  Scherben  von  Thon¬ 
waren  des  hänslichen  tiebrauches  wurden  auf  diese  Weise 
geI)orge)i,  gerade  sie  oft  die  wichtigsten  Dokumente  für 
die  Reantwortung  chronologischer  und  ethnographischer 
Fragen.  Alle  solche  Zeugen  des  Altertums  aufznspüren, 
vor  weiterer  \’erderbnis  zu  bewahren,  sie  den  wissen¬ 
schaftlichen  Arbeiten  als  Material,  den  Kunstfreunden 
zum  Genüsse  darznbieten,  ist  nun  das  Ziel  der  Archäo¬ 
logen,  seitdem  sich  die  Einsicht  Rahn  gebrochen  hat, 
dass  man  wie  in  der  Idiysik  und  Chemie  das  Experiment, 
so  im  historischen  Fach  die  irgend  erreichbaren  Realien 
V(U'wenden  müsse.  Ausgralmngen,  planvolle  und  tief¬ 
gehende  Ausgrabungen  wei'den  daher  in  immer  weiterem 
Umfange  unternommen;  für  sie  werden  die  besten  Kräfte 
geschult  und  verwendet;  ihi’e  Ergebnisse,  mögen  sie  an 
(.)rt  und  Stelle  oder  in  den  Museen  in  Wirkung  treten, 
entscheiden  schwebende  Streitfragen,  werfen  ihrer  neue 
auf,  eröffnen  ungeahnte  Ausblicke,  veranlassen  Arbeit 
auf  Arbeit;  nnd  wenn  sie  manche  Vorurteile  durch  die 
Klarheit  dei'  4'hatsache  vernichten,  so  begründen  sie 
andere,  liessere  Erkenntnisse,  wie  sie  ja  auch  ästhetische 
Genüsse  schatten  und  schließlich  jedem  kunstfreuudlichen 
Wanderer  die  Zahl  seiner  Richtpunkte  vermehren. 

Ein  waluhaft  imponirendes  Rild  bietet  uns  der  {iber- 
blick  über  das,  was  in  dieser  Reziehung  in  letzter  Zeit 
geschehen  ist.  Nachdem  am  Anfänge  unseres  Jahr¬ 
hunderts  besonders  von  Engländern,  Deutschen  und 
Franzosen  in  Griechenland  nnd  in  Kleinasien,  das  ja 
ebenfalls  griechisch  oder  vielmehr  urgriechisch  war, 
manches  entdeckt,  ausgegrabeu  und,  leider  oft  in  etwas 
barbarischer  AVeise,  entfühit  worden  w'ar,  nachdem  ferner 
Schliemann  mit  beispielloser  Eueigie  und  wunderbai'em 
Fiuderglück,  freilich  auch  in  gewissem  Sinne  dilettantisch, 
in  Ilion -Hissarlik,  in  Mykene,  Tiryns,  Orchomenos, 


Marathon  nnd  wo  noch  sonst  den  Spaten  eingesenkt  nnd 
durch  seine  Funde  die  Augen  der  ganzen  gebildeten 
AATlt  auf  die  AViederei-weckung  des  Altertums  gelenkt 
hatte,  kurz,  nachdem  es  gelungen  war,  das  Interesse  von 
Ministerien  nnd  Mäcenen  au  diese  Frage  nachhaltig  zu 
fesseln ,  ist  die  Ausgrabung  Altgiiechenlands  völlig 
l)lanmäßig  in  Angriff  genommen  und  an  bedeutenden 
Punkten  schon  ausgeführt  worden.  Um  zunächst  Athen 
zu  erwähnen:  wie  hat  man  nicht  die  altehrwürdige 
Aki'opolis  dui'ch forscht!  AATe  ist  mau  ihren  Umwandlungen 
bis  auf  den  Felsen  nachgegangen,  und  wie  hat  dafür  jede 
Rauschicht  herausgegebe)i ,  was  ihr,  wie  etwa  gleich 
nach  der  Pei'serzeit,  an  wuuderliaren  Rildvvei'ken  eingefügt 
war!  AAMe  hat  man  den  Parthenon,  das  Erechtheion,  die 
Propyläen  Stein  für  Stein  befragt,  und  welche  Auf¬ 
schlüsse  haben  diese  stummen  Zeugen  gegeben!  Freilich 
nur  dem  verständlich,  der  sie  nicht  missversteht;  aber 
es  fehlt  zum  Glück  nicht  an  solchen  Männern.  Wilhelm 
Dörpfeld,  dei'  geniale  Ingenieiu',  zur  Zeit  Leiter  des 
deutschen  archäologischen  Instituts  in  Athen,  hat  sich 
bedentende  Verdienste  um  die  Kenntnis  dieser  Dinge, 
der  Rautechnik  und  der  ursprünglichen  Gestalt,  sowie 
der  Umgebung  der  Akropolis  erworben;  erst  im  vorigen 
AAMnter  noch  hat  ei'  am  Fuße  des  Rerges  neue  umfang¬ 
reiche  Ausgrabungen  veranstaltet,  die  ihn  auf  einen  alten 
Stadtteil  und  auf  interessante  Wasserleitungen  führten. 
Deckt  seine  Thätigkeit  auf  diese  AVeise  immer  mehr 
wissenschaftliches  Material  an  wichtigster  Stelle  auf,  so  ist 
doch  womöglich  noch  dankenswerter,  dass  er  die  Technik 
des  Ausgrabeus  überhaupt  erst  erfunden,  entwickelt  und 
auf  einen  Stab  von  Mitaibeitern  übertragen  hat.  Wie 
unoi’dentlich  und  roli  hat  AVood  das  Artemision  von 
Ephesos  behandelt,  wie  planlos  nnd  wieviel  mehr  auf 
glückliche  Funde  als  auf  das  völlige  Anfdecken  bedacht 
trieb  Schliemann  anfangs  Schachte  nnd  Stollen!  Döri)feld, 
vom  praktischen  Rück  unterstützt,  in  langjähriger  Übung 
geschult,  mit  umfassenden  Erfahrungen  ausgerüstet  nnd 
geleitet  vom  reinen,  wissenschaftlichen  Interesse,  hat  ge¬ 
lehrt,  wie  mau  Schicht  nach  Schicht  abheljen,  keine 
undurchsucht,  keine  unaufgezeichnet  lassen  muss;  wie 
man  stets  bis  auf  den  Raugruud  zu  gehen  hat  und 
ül)erhaui)t  keinen  Stein  und  keine  Scherbe  für  unwesent¬ 
lich  halten  darf  Diese  Methode  wandte  er  an  der  Seite 
Schliemanu’s  in  Troja  nnd  Mykene  au;  sie  ist  bei  der 
Ausgrabung  von  Olympia  ebenfalls  zur  Anwendung 
gekommen  und  ist  seitdem  wohl  allenthalben  adoptirt 
worden. 

So  lässt  denn  die  hellenische  archäologische  Gesell¬ 
schaft  in  Athen  weitergraben;  so  hat  in  ihrem  Aufträge 
Heri'  Philios  Eleusis  aus  dem  Schutt  gezogen;  so  haben 
die  Schweden  das  Poseidonheiligtum  von  Kalanria-Poros 
anfs  sauberste  in  seinen  Grundrissliuien  entwickelt.  In 
Kürze  gar  nicht  aufzuzählen  sind  die  Tempel,  Theater 
nnd  Grabaulagen,  an  deren  Erforschung  man  in  letzter 
Zeit  gegangen  ist:  um  und  in  Attika  sei  nur  au  die 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


45 


Bauten  von  Ägina,  Sunion,  Ehainnus,  Tliorikos,  Eretria, 
iin  Peloponnes  an  Megalo])olis,  Lykosura,  Bassae-Pliigalia, 
Lepreon  und  Sainikon  erinnert,  —  überall  hat  die  exakte 
Arbeit  auch  exakte  Resultate  ergeben.  So  schreckt  man 
denn  keineswegs  davor  zurück,  die  umfangreiclisten  An¬ 
lagen  in  Angriff  zu  nehmen;  stehen  doch  Olympia, 
Eleusis,  Troja  und  Pergamon  als  Beispiele  des  Erreich¬ 
baren  seit  Jahren  da!  Mit  wahrliaft  kühnem  Mute  hat 
die  amerikanische  Schule  in  Atlien  sich  an  Alt-Koiinth 
gewagt.  Dort  deckt  eine  Schuttschicht  bis  zu  7  m  Höhe 
den  antiken  Straßenboden,  aber  man  ist  daran,  sie  ab¬ 
zutragen  und  glau))t  jetzt,  die  Agora  gefunden  zu  halien. 
Eiiidauros,  das  ein  wunderbar  erhaltenes  Theater  mit 
kreisrunder  Orchestra,  ein  Stadion  mit  den  Aldauf- 
schranken,  die  Reste  der  berühmten  Polykletischen  Tholos 
und  des  Asklepiostempels  besitzt,  wird  allmählich  mit 
allen  seinen  weitläutigen  Gymnasien,  Priestei'wohnungen, 
Kliniken  und  Bädern  durcli  die  griechische  archäologische 
Gesellschaft  freigelegt.  Zwei  kaum  übersehbare  Auf¬ 
gaben  haben  die  Franzosen  übernommen:  die  heilige 
Insel  Delos,  die  fast  ganz  von  den  Bezirken  Apollons 
und  der  Artemis  bedeckt  ist,  und  das  nicht  minder 
heilige  Delphi  wollen  sie  uns  eröffnen.  Augenblicklich 
stehen  ihre  Arbeiten  auf  Delos  still;  um  so  energischer 
geht  man  in  Delphi  vor,  wo  die  Lage  der  Heiligtümer, 
Hallen,  Schatzhäuser  und  Theater  auf  einem  steilen  Ab¬ 
hange  die  Ausgrabung  einerseits  erschwert,  andrerseits 
durch  die  Erleichterung  der  Schuttabfuhr  befördert. 
Delphi!  Was  hofft  man  nicht  alles  von  diesem  Boden, 
den  Jahrtausende  mit  den  reichsten  Weihgeschenken  be¬ 
dachten  und  dessen  heilige  Unnalibarkeit  lange  den 
Räubern  trotzte.  Schon  haben  dort  herrliche  und  über¬ 
raschend  neue  Skulpturen  sicli  finden  lassen;  noch  in 
den  letzten  Wochen  wurde  eine  lebensgroße,  archaische 
fein  gearbeitete  Bronzestatue  unter  den  Trümmern 
einer  Wasserleitung  hervorgezogen,  und  Tausende  von 
Inschriften  bedecken  die  Marmorwände  der  Terrassen  und 
der  Tempel. 

Ebenso  große  und  zum  Teil  noch  größere  Aufgaben 
beschäftigen  die  Ausgräber  auf  kleinasiatischem  Boden 
oder  harren  ihrer  noch  dort.  An  Ilion  und  Pergamon 


wird  nicht  mehr  gearbeitet  und  ibr  Heroon  von  Gjöl- 
baschi  haben  die  Österreicher  bereits  geborgen.  Aber 
die  begonnenen  Werke  des  leider  uns  entrissenen  Hu- 
mann  sind  noch  zu  vollenden  oder  wieder  aufzunehmen; 
an  der  Ausgrabung  von  Priene  wird  mächtig  geschaffen 
und  schon  ist  es  gelungen,  seine  vollständige  Agora  mit 
den  anstoßenden  Stadtteilen  darzulegeu;  das  niclit  ferne 
Magnesia  am  Mäander  mit  seinem  mächtigen  Tempel  und 
mit  den  langen,  im  Sumpfe  versinkenden  Säulenhallen  des 
Marktes,  mit  seinen  ]\Iauern  und  dem  von  Hiller  v. 
Gärtringen  ausgegrabenen  Theater  harrt  der  weiteren 
Aufdeckung.  Abei'iuals  nicht  w'eit  davon  dehnt  sich  die 
Ebene  von  Ephesos  aus:  doit  haben,  dicht  an  der  eng¬ 
lischen  Inte]’essensi)häre,  die  (Isterreiclier  sich  festgesetzt 
und  wollen  in  langjähriger  Arbeit,  für  die  sie  jetzt  ein 
eigenes  Ausgrabeiliaus  errichtet  haben,  die  wesentlichsten 
Partieen  der  Stadtanlage  auferstehen  lassen :  vor  kurzem 
ist  ihnen  der  Fund  einer  Wand  mit  reicher  Dekoration 
und  kostbarster  Marmorbekleidung,  sowie  mehrerer  anderer 
interessanter  Gel)äude  und  der  Fund  einer  Bronzestatue 
geglückt.  Immerhin  bleibt  nocli  manches  zu  thun  üluig. 
Wer  wird  Samos,  wer  Milet,  wei’  Sardes  der  Vergessen¬ 
heit  entreißen?  Wer  wird  Hierapolis  aus  seinem  weißen 
Kalksinter  heraus  meißeln?  Und  ferner;  wer  wird  das 
kaum  bekannte  Innere  Kleinasiens  abseits  der  großen 
Straßen  weiter  erforschen  und  die  antiken  Stätten  wieder¬ 
finden,  die  dann  ihrer  Zeit  auch  auszugraben  wären? 

Das  zwanzigste  .Jahrliundert  wird  ein  idealistisches 
sein,  und  daher  kann  es  ihm  au  Bearbeitern  dieser  Auf¬ 
gaben  nicht  fehlen.  Schwerlich  jedoch  wird  jemals  eine 
griechische  Ausgrabung  die  in  die  Augen  fallenden  Reize 
Pompeji’s  besitzen;  sie  wird  stets  mit  ihren  besclieidenen, 
oft  fast  formlosen  Resten  nur  den  auziehen,  der  ilir  aus 
dem  Seinigen  das  Fehlende  mitzuteilen  weiß.  Daher 
dürften  jene  Tausende,  die  jetzt  in  den  Orient  pilgern 
und  allmählich  wohl  auch  in  die  Ebenen  und  Thäler 
Griechenlands  gelangen  werden,  sich  an  seinen  Ruinen 
bald  ersättigt  haben,  und  in  großartiger  Einsamkeit, 
freundlich  nur  dem  Auserwählten  geöffnet,  werden  dann 
die  heiligen  Gelände  weitei-  ruhen. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Herrn  BadriifPs  „Assou/ptioiie“  mul  Baphael’s  „Sixti¬ 
nische  Madonna“.  A^or  einigen  Tagen  wurde  von  Zürich  ans 
die  Mitteilung  an  zahlreiche  deutsche  Zeitungen  gesandt,  der 
bekannte  tüchtige  Hotelbesitzer  Herr  Caspar  Badrutt  zu  St. 
Moritz  im  Engadin  habe  sich  mit  seinem  Gemälde,  das  die¬ 
selbe  Darstellung  zeigt  wie  RaphaeTs  Sixtinische  Madonna 
in  der  Dresdener  Galerie,  auf  die  Reise  nach  Deutschland 
begeben,  um  hier  die  „Streitfrage“  zu  entscheiden,  ob  sein 
Bild  oder  das  Dresdener  das  Original  sei.  Da  die  Laienwelt 
Dresdens  und  Deutschlands  unter  diesen  Umständen  durch 
die  Annahme  beunruhigt  werden  könnte,  als  sei  es  wirklich 


eine  Streitfrage,  ob  das  Dresdener  Bild  das  Original  Rapluiers 
sei,  eine  Streitfrage,  die  möglicherweise  zu  Llngunsten  des 
Dresdener  Bildes  eidschieden  werden  könnte,  so  halte  ich.  es 
für  meine  Pflicht,  an  dieser  Stelle  eine  kurze  Darstellung  des 
Sachverhalts  zu  geben.  Kein  Bild  ist  litterariscli  besser  be¬ 
glaubigt  als  Raphael’s  Madonna  in  der  Dresdener  Galerie. 
Jeder  Dresdener  kennt  die  Stelle  in  Giorgio  Vasari’s  Raphael- 
Biographie,  in  der  der  grolle  Florentiner  Kunstgeschiebts- 
schreiber  des  16.  Jahrhunderts  von  unserem  Bilde  sjiricht. 
,,1’ür  die  schwarzen  Mönche  von  Sankt  Sixtus  in  Piacenza 
malte  er  (Raphael)  die  Tafel  des  Hochaltars,  auf  der  er 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


T'.  - -i-p  liebe  i'i'au  mit  dem  heiligen  Sixtus  und  der  heiligen 
rinv:  v.i  d;:;-.-ieilte:  ein  wahrhaft  köstliches,  ja  einziges  Werk 
'  ■  •,  r -e  rarissima  e  singolare).“  Von  eben  diesem 

Hc- ii  dltar  der  Kirche  des  heiligen  Sixtus  zu  l'iacenza  nahm, 
wie  urkundlich  feststeht,  der  Bologneser  Maler  Giovannini 
ivn  Aidlrage  eines  Vertrauensmannes  des  sächsischen  Hofes 
1703  das  Bild  herab,  um  es  nach  Dresden  zu  schicken,  wo 
0.'-  zu  Anfang  des  .lalires  1754  ankam  und  mit  hellem  Jubel 
liegrüßr  wurde.  Hatte  doch  seit  zweihundert  Jahren  niemand 
CF-  anders  gewusst,  als  dass  Baphael’s  Bild  in  der  Kirche  San 
Sisto  zu  Piacenza  den  Hochaltar  schmückte  ,  und  schien  es 
Yasari’s  Zeugnis  gegenüber  doeb  auch  unmöglich,  dass  die 
Echtheit  des  Bildes  jemals  bezweifelt  werden  könne!  Es 
ist  wahr,  4'asari  war  auch  nur  ein  Älensch.  Er  konnte  irren, 
wie  alle  übrigen  Menschen.  Es  sind  ihm  sogar  ma,nche  Irr- 
tümer  in  seinem  biographischen  Riesenwerke  nachgewiesen 
worden.  Aberdass  er  sich  bei  einer  so  genauen  Angabe,  wie 
er  sie  über  die  Sixtinische  Madonna  drucken  ließ,  in  Be¬ 
zug  auf  einen  so  bedeutenden  Künstler  wie  Raphael  und  in 
Bezug  auf  eine  so  leicht  erreichbare  Kirche,  Avie  diejenige  des 
heil.  Sixtus  zu  Piacenza,  jemals  in  dieser  Weise  geirrt,  wäre 
erst  noch  nachznweisen;  cs  ist  in  cResem  Falle  um  so  un¬ 
denkbarer,  als  er  selbst  erzählt,  dass  er  vor  der  Herausgabe 
der  zweiten  Auflage  seines  Werkes  ganz  Italien  bereist  habe, 
um  die  von  ihm  beschriebenen  Kunstwerke  zu  sehen,  und 
als  er  an  verschiedenen  Stellen  seines  Werkes  gerade  in  Be¬ 
zug  auf  Piacenza  eine  eingehende  Ortskenntnis  veriät. 
Ja,  wenn  sich  das  Bild  thatsächlich  nicht  in  der  Kirche  San 
Sisto  zu  Piacenza  gefunden  hätte,  ließe  sich  vielleicht  da¬ 
rüber  streiten,  ob  Vasari  recht  berichtet  gewesen.  Alier  das 
Bild  ist  genau  so,  wie  er  es  beschreibt,  thatsächlich  in  der 
Kirche  gefunden  worden,  für  die  Raphael  es  nach  Yasari’s 
Angabe  gemalt  hat;  und  dass  der  heil.  Sixtus  gerade  in  die 
Kirche  dieses  Heiligen  und  die  heilige  Barbara  in  elmn  diese 
Kirche,  in  der  nachweislich  auch  sie  verehrt  Avurde,  gehörten, 
liegt  ebenfalls  so  auf  der  Hand,  dass  irnter  kritisch  ge¬ 
schulten  Lesern  auch  die  ärgsten  Verkleinerer  Vasari’s  nicht 
auf  den  Gedanken  kommen  könnten,  gerade  diese  Angabe 
seines  Buches  zu  bezAveifeln.  Mindestens  könnte  die  Angabe 
Yasari’s,  dass  Ka])hael  die  Madonna  für  die  Kirche  San  Sisto 
in  Piacenza  gemalt  habe,  nach  allen  Avissenschaftlichen 
Methoden  der  4Velt  nur  durch  einen  vollgültigen  urkundlichen 
(iegenbcAveis  entkräftet  Averden.  Nur  Avenn  von  anderer 
Stelle  der  über  die  Anfertigung  des  Bildes  geschlossene  Ver¬ 
trag  oder  die  Rechnung  über  seinen  Ankauf  beigebracht 
Avorden  wäre,  müsste  irgend  ein  Irrtum  in  Vasari’s  Mitteilung 
vermutet  werden.  Herr  Caspar  Badrutt  hat  sich  nun  freilich 
schon  vor  einigen  Jahren  daran  gemacht,  das  litterarische 
Zeugnis  Vasaii’s  durch  andere  Zeugnisse  aus  dem  Felde  zu 
schlagen.  Urkunden  und  litterarisches  Material  meinte  er  zu 
besitzen.  Er  hat  es  in  seiner  ])rachtvoll  ausgestatteten,  mit 
großen  Kosten  1894  in  Zürich  gedruckten  Schrift  ,,Assoinptione 
della  Madonna“  veröffentlicht.  Wer  dieses  Material  aber  nur 
mit  halbwegs  kritischem  Blicke  durchzusehen  im  Stande  ist, 
muss  unwillkürlich  auf  den  doch  wohl  unrichtigen  (Jedankeu 
kommen,  der  sonst  so  liebensAVÜrdige  Herr  Badrutt  halie 
sich  einen  Scherz  mit  ihm  machen  Avollen.  Herr  Badiutt  führt 
eine  Schriftquelle  dafür  an,  dass  sich  15G1  eine  „Himmel¬ 
fahrt  Maria  mit  vergoldetem  Rahmen“  ohne  Benennung  des 
Künstlers  im  Besitze  des  Hofes  von  Ferrara  befunden  halie. 
Er  zieht  ein  ZAveites  Zeugnis  dafür  herbei,  dass  sich  um  1596 
in  der  Schlosskapelle  zu  Ferrara  eine  „Himmelfalirt  der  Ma¬ 
donna  von  Meister  Girolamo  da  Carpi“  befunden  habe.  Er 
führt  ein  drittes  Zeugnis  dafür  an,  dass  sich  1770  eine 
,, Himmelfahrt  Mariä“  aus  der  Schule  Guido  Reni’s  in  der 


Schlosskirche  zu  Modena  befunden  habe.  —  Was  in  aller  Welt, 
wird  man  fragen,  haben  iRese  Darstellungen  der  „Himmelfahrt 
Mariä“  von  unliekannter  Hand,  von  Girolamo  da  Carpi  und  aus 
der  Schule  Guido  Reni’s  mit  Raphael’s  Sixtinischer  Madonna 
zu  thun?  Hat  man  jemals  eine  Darstellung  der  Himmel¬ 
fahrt  Mariä  mit  dem  Christkind  auf  dem  Arm,  mit  nur 
zAvei  Heiligen  anstatt  der  zwölf  Apostel  und  mit  einer 
herabschAvebenden  Madonna  gesehen?  Hält  es  irgendjemand 
für  möglich,  dass  an  dem  kunstsinnigen  Hofe  der  Este  zu 
Ferrara,  Avenn  überhaupt,  sogar  schon  im  16.  Jahrhundert, 
ein  Originalgemälde  Raphael’s,  das  dort  sicher  durch  lebendige 
Überlieferung  und  ])ersönRche  Kennerschaft  vor  Verkennung 
geschützt  und  wie  ein  Heiligtum  gehalten  worden  wäre,  für 
ein  Werk  Girolamo  da  Carpi’s,  dass  es  später  gar  für  ein 
Werk  aus  der  Schule  Guido  Reni’s  angesehen  und  zum  alten 
IRsen  gethan  worden  wäre?  Nur  völlige  Unkunde  der 
Geschichte  könnte  auf  einen  solchen  PRnfall  kommen.  Gleich- 
Avohl  Avill  Herr  Badrutt  sein  Bild,  dessen  Darstellung 
mit  derjenigen  der  Madonna  von  Piacenza  übereinstimmt, 
in  allen  jenen  Darstellungen  der  „Himmelfahrt  Mariä“ 
erkennen.  Jedem  anderen  Avird  es  mindestens  zweifel¬ 
haft  Illeiben,  ob  jene  Mitteilungen  überhaupt  ein  und  das¬ 
selbe  Bild  im  Auge  haben.  Zuin  ,, alten  Eisen“  müsste 
das  Bild  in  Modena  in  der  That  bald  geAvorfen  sein;  denn 
Herrn  Badrutt’s  Bild  finden  wir  1841  im  Hause  des  Ver¬ 
walters  der  früheren  estensischen  Domäne  Pente  torre.  Der 
Herr  Verwalter  Barahli  sah  das  Bild  allerdings  für  eine 
Himmelfahrt  Mariä  an;  und  diese  Unkenntnis  eines  Laien 
ist  das  einzige  Band,  das  es  mit  jenen  genannten  Bildern 
verknüpft.  Herr  Barahli  wusste  alier  auch  und  schrieli  es  nieder, 
dass  sein  Bild  nur  eine  Kopie,  dass  <las  Original  von  Raphael 
sei,  und  er  fügte  hinzu,  die  Kopie  Averde  wohl  zu  Raphael’s 
eigener  Zeit  angefertigt  sein.  Von  einer  Verwandten  dieser 
Verwalterfa.milie  erstand  Herrn  Ba,drutt’s  Vater  das  Bild  zu 
Ende  der  achtziger  Jahre.  Gesetzt  selbst,  sein  Bild  wäre 
identisch  mit  jenen  im  16.  und  18.  Jahrhundert  erwähnten 
Da.vstellungen  der  „Himmelfahrt  Mariä“,  so  unwahrschein¬ 
lich  dies  auch  ist,  Avürde  dann  nicht  für  jeden  unliefaingenen 
Leser  aus  Herrn  Badrutt’s  eigenen  Citaten  gerade  das  Gegen¬ 
teil  von  dem  folgen,  was  er  aus  ihnen  folgert?  Würden 
seine  eigenen  NacliAveise  nicht  völlig  genügen,  darzuthun, 
dass  sein  Gemälde  unmöglich  ein  Oiiginalbild  von  RaphaePs 
Hand  sein  könne?  Ich  glaulie,  jedem  wissenschaftlich  ge¬ 
schulten  Leser  würden  sie  genügen.  Mir  ist  denn  auch  keine 
Besprechung  des  Werkes  Badrutt’s,  der  eben,  wie  er  selbst 
sagt,  „als  Laie  und  in  eigener  Sache“  schrieb,  zu  Gesichte 
gekommen,  die  seinen  Ausführungen  zugestimmt  hätte.  Sellist 
Schweizer  Zeitungen  haben  sich  ablehnend  gegen  sie  ver¬ 
halten.  In  Dresden  hat  besonders  Dr.  Paul  Schumann  sie 
gebührend  abgefertigt.  Dadurch,  dass  jemand  ,,als  Laie  und 
in  eigener  Sache“  eine  Behauptung  aufstellt,  von  der  er  oben¬ 
drein  eigentlich  das  Gegenteil  beweist,  wird  wahrlich  keine 
wissenschaftliche  Streitfrage  geschaffen.  Wir  haben  uns  also 
zunächst  vom  Standpunkt  der  Quellenforschung  aus  dagegen 
zu  verwahren,  dass  es  eine  Streitfrage  sei,  oli  Herrn  Badrutt’s 
Bild  oder  das  durch  Vasari  beglauliigte  Dresdener  Bild  das 
Original  Raphael’s  sei.  Auf  Herrn  Badrutt’s  Frage  aber,  wie 
Raphael  in  seiner  reifsten  Zeit  darauf  gekommen  sein  solle, 
gerade  für  die  Mönche  von  Piacenza  ein  eigenhändiges  Ge¬ 
mälde  auszuführen,  haben  Crowe  und  Cavalcaselle  schon  im 
voraus  mit  der  ansprechenden  Vermutung  geantwortet,  dass 
der  römische  Kirchenfürst  Antonio  de’Monti,  der  den  Titel 
eines  Kardinals  von  San  Sisto  führte,  der  Vermittler  zwischen 
den  Mönchen  von  San  Sisto  und  R.aphael  gewesen  sei.  Nun 
könnte  noch  jemand  einwenden,  dass  die  Stilkritik,  iRe  auf 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


47 


dem  lebendigen  Augenschein  Ijenilit,  unter  Umständen  doch 
stärker  sei  als  alle  papierenen  Nachweise;  er  könnte  fragen, 
oh  denn  das  Badrutt’sche  Bild  nicht  eine  künstlerische  Ihind- 
schrift  zeige,  die  derjenigen  Raphael’s  so  nahe  stehe,  dass  es 
trotz  des  Misslingens  des  litterarischen  Nachweises  als  eine 
Streitfrage  bezeichnet  werden  müsse,  welches  der  beiden 
Bilder  das  echte  sei.  Hierauf  ist  zunächst  zu  antworten, 
dass  Herr  Badrutt  in  seiner  Schrift  selbst  zngesteht,  dass 
noch  kein  Kenner  —  und  manche  Kenner  halten  das  Bild 
in  St.  Moritz  gesehen  —  sich  für  die  Echtheit  seines  Bildes 
ausgesprochen  habe.  Ich  kann  hiuznfügen,  dass  eine  Reihe 
namhafter  Kenner,  die  das  Bild  gesehen,  mir  mitgeteilt 
haben  oder  durch  andere  haben  mitteilen  lassen ,  dass  das 
Badrutt’sche  Bild  sicher  nur  eine  mällige  alte  Kopie  sei. 


Von  der  Madonna  des  Dresdner  Originals  (Phot,  von  Braun.) 


Photograpliieen,  unter  denen  sich  eine  betindet,  die  von  dem 
Badrutt’scheu  Bilde  vor  dessen  Herstellung  durch  den  Restau¬ 
rator  Sesar  in  Augsburg  anfgenommen ,  ergiebt  sich  aber 
auch  bereits  schlagend  ein  äußerer  vollgültiger  Beweis  dafür, 
dass  das  Dresdener  Bild  das  Original,  das  Engailiuer  die 
Kojtie  ist.  Schon  Ibiul  ychumann  und  Ernst  Neuling  haben 
in  der  ,,Magileburgischen  Zeitung“  und  in  der  „Weser-Zeitung“ 
auf  diesen  Umstand  aufmerksam  gemacht.  Bekanntlich  war 
der  oberste  Teil  des  Dresdener  Bildes  früher  umgesclila.geu 
worden,  so  da-ss  die  Stange,  au  der  die  gemalten  Vorhänge 
hängen,  die  das  Bild  vorn  abschließen,  nicht  sichtbar  war; 
und  bekanntlich  fehlt  dementsprechend  die  Stange  auch  den 
älteren  Stichen,  die  angefertigt  worden,  ehe  das  umgeschlagene 
Stück,  ilas  dem  Motiv  der  Vorhänge  eist  Halt  und  Natfir- 


Vou  der  Madomia  der  Badrutt’scheu  Koiiie.  (Phot,  von  Braun. 


Ich  selbst  hatte  noch  keine  Gelegenheit,  das  Bild  zu  sehen. 
Man  braucht  aber,  wie  ich  schon  1894  in  der  „Kunst  für 
Alle“  bemerkt  habe,  nur  die  lieiden  Braun’schen  Bhoto- 
graphieen  des  Dresdener  und  des  St.  Moritzer  Bihles  neljen- 
einander  zu  halten,  um  sich  von  dem  gewaltigen  Unter¬ 
schiede  der  beiden  Gemälde  in  Bezug  auf  die  Reinheit, 
Unmittelbarkeit  und  Frische  der  Formenspraclie,  die  Leichtig¬ 
keit  und  Flüssigkeit  der  Pinselführung,  die  Tiefe,  Wahrheit 
und  Fülle  des  Ausdruckes  zu  überzeugen.  Die  siegreiche 
Hoheit  des  Ausdruckes,  die  Raphael’s  Bild  in  Dresden  zeigt, 
hat  noch  kein  Kopist  zu  erreichen  vermocht.  Derartige 
Unterschiede  sind  schon  in  guten  Photograpliieen  erkennbar; 
und  schon  die  Braun’schen  Photographieen  lassen  keinen 
Zweifel  daran,  dass  das  Badrutt’sche  Bild  nur  eine  alte 
Kopie  ist.  Nur  aus  der  Betrachtung  der  uns  vorliegenden 


lichkeit  giebt,  in  Dresden  wieder  hervorgeholt  wurde.  Nun, 
dem  Badrutt’schen  Bilde  fehlte,  wie  die  Pliotographie  deut¬ 
lich  erkennen  lässt,  vor  der  Sesar’scheu  Restauration  die 
Stange  der  Vorhänge;  und  Herr  Sesar  hat  in  einer  Zuschrift 
an  Herrn  Ernst  Neuling  in  Bremen,  wie  dieser  mitteilt 
(Weserzeitung  vom  29.  November  1895),  selbst  zugegeben, 
dass  er  die  fehlende  Stange  nach  dem  Dresdener  Bilde  er¬ 
gänzt  habe.  Der  Beweis  ist  in  der  That  schlagend.  Einem 
Meister  wie  Raphael  konnte  es  nicht  in  den  Sinn  kommen, 
die  Vorhänge  in  die  leere  Luft  zu  hängen.  Von  den  Koi>isten 
hat  aber  keiner  gewagt,  die  vermeintliche  Darstellung 
Raphael’s  zu  ergänzen.  ,,Für  die  Kritik“,  fügt  Neiding  liinzu, 
„ist  die  Sache  damit  erledigt“.  Kurz,  von  einer  ganzen 
Reihe  von  Erwägungen  genügt  jede  einzelne  zu  dem  Be¬ 
weise,  dass  Herrn  Badrutt’s  Bild  das  Original  nicht  sein 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


-JS 

L'uun.  'Wenn  da.?  Biid  jet/.t,  wie  es  scheint,  eine  Ausstellungs- 
u-i.-e  diin-.li  Deutschland  antreten  soll,  so  muss  man  freilich 
daraut  gefasst  sein,  noch  allerlei  Unkritisches  darülier  zu 
h-sen  zu  hekommen.  Es  wäre  sogar  auffallend,  wenn  sich 
keine  Laienfeder  zur  ^'erteidiguno•  des  Ihidrutt’schen  Bildes 
rüliren  sollte.  Dass  aber  namhafte  Kenner  sich  gegen  die 
Onginalität  der  Dresdener  Äladonna  anssprechen  sollten, 
muss  nach  allem,  was  gesagt  worden,  von  vornherein  als 
atisgcschlos.sen  gelten;  und,  auch  vom  stilkiitischen  Stand¬ 
punkte  ans  lietrachtet,  würde  das  Bestehen  einer  Streitfrage 
nur  anerkannt  werden  können,  wenn  iierufene  und  namhafte 
Kenner  die  Sacht'  iles  Herrn  Ba.drutt  zu  der  ihren  machten. 
Bei  ilieser  Sachlage  würde  eine  längere  ött'entliche  Ausstellung 
Leider  BiLler  ncLeneinander,  wie  Herr  Badrutt  sie  ,,verhingt“, 
in  ihtr  That  ,,eine  Komödie“  sein.  Die  Si.xtinische  Madonna 
ist  dazu  ila,  in  stiller  Andacht  genossen  zu  werden,  nicht 
alter  in  einen  künstlich  erregten  ,, Streit“  hineingezogen  zu 
werden,  dt'r  idierluiupt  nur  in  der  Kinhihlung  einiger  Laien 
Itesteht.  Von  ilen  zahlreichen  Meisterwerken  der  Dres¬ 
dener  thderie  gfeLt  es  alte  Kopieen,  Wohin  sollte  es  führen, 
wenn  ilen  Eigentümern  aller  dieser  Kopieen  gestattet  würde, 
ihre  Bihler  nehen  den  Originalen  ausznstellen  V  Etwas 


anderes  wäre  es,  wenn  ein  solcher  Kopieenbesitzer,  um  seinen 
Zweifel  zu  zerstreuen,  nur  den  Wunsch  ausspräche,  sein  Bild 
in  Oegenwart  einiger  Kenner  kiu'ze  Zeit  neben  das  Onginal 
halten  zu  dürfen.  Man  würde  sich  dem  Vorwurf  der  Eng¬ 
herzigkeit  oder  der  Furcht  aussetzen,  wenn  man  eine  solche 
NeVieneinanderstcllung  verhindern  wollte.  Eine  Stunde  würde 
vollkommen  genügen,  eine  kritische  Vergleichung  zu  ermög¬ 
lichen.  ln  diesem  Sinne  ist  Herr  Badrutt  schon  im  Jahre 
1892  beschieden  worden;  und  diese  Frage  brauchte  hier  nicht 
beridirt  zu  werden,  wenn  Herr  Badrutt  nicht  schon  in  seiner 
grollen  Schrift  über  diesen  Bescheid  Beschwerde  geführt  hätte 
und  ihm  idcht  jüngst  in  dem  bekannten  Londoner  Blatt 
,,'1'ruth“  ein  Eideshelfer  für  diese  Beschwerde  erstanden  wäre. 
Kein  einsichtiger  und  aufrichtiger  Kunstfreund  aber  wird 
sich  dem  „  Verla, ngen“  Herrn  Badrutt’s,  eine  Volksabstininumg 
in  dieser  Angelegenheit  herlmigeführt  zu  sehen,  ansc.hließen. 
Es  wäre,  wie  wenn  ein  Laie  behaujitete,  nicht  die  Erde  em- 
pfa.nge  ihr  Licht  von  der  Sonne,  sondern  die  Sonne  von  der 
Erde,  und  alsdann  über  die  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit 
dieser  Behauptung  eine  allgemeine  Laienabstimmung  ver¬ 
langte.  (Ans  dem  Dresdener  Journal.) 

KAHL  WOEUMANN. 


ZU  LJl'jN  RADIRUNGEN. 


"  Die  Kopiin  ron  Leopold  Carl  'Müller,  die  wir  in 
Radirnng  diesem  Hefte  l'eigeben,  ist  eine  jener  typischen 
Frauengestalten  aus  dem  Nillande,  wie  sie  der  allzu  früh 
verstorbene  Wiener  Orientmaler  so  künstlerisch  reizvoll  und 
zugleich  mit  so  überzeugender  Naturwahrheit  zu  schildern 
verstand.  In  Wirklichkeit  ein  schlichtes  Weil'  aas  dem  Volk, 
und  doch  ein  Lh'bild  jener  monumentalen  Gattung,  die  zu 
den  Sphinxen  der  alten  Ägypter  Modell  gestanden  hat.  Um 
das  bräunliche  Gesicht  ist  ein  weißes  Kopftuch  gehüllt; 
darüber  liegt  ein  ebenfalls  lichter,  etwas  ins  Gelbliche 
spielender  Umhang.  Eine  graue.  Mauer  bildet  den  Hinter- 
ginnd.  —  Der  geschickte  Ra.direr  des  Blattes,  Alfred  Coss- 
maun,  geboren  in  Graz  am  2.  Oktol'er  1870,  hat  eine  sorg¬ 
fältige  künstlerische  Bildung  genossen.  Nachdem  er  in 
seiner  \aterstadt  die  Rt'alschide  besucht  hatte,  trat  er  1880 
in  die  Kunstgewerbeschnle  des  k.  k.  österreichischen  Museums 
ein,  emjifing  dort  den  Unterricht  der  Professoren  Minigerode, 
Hrachowiua,  Macht  und  Karger,  und  erklärte  sich  schlie߬ 


lich  (1893)  für  das  Fach  der  Radirkunst,  in  welcher  W.  Unger 
sein  Meister  wurde.  Cossmann  hat  verschiedene  gelungene 
Reproduktionen  und  auch  einige  Originalradirungen  („Be¬ 
lauschte“,  „Brautwerbung“,  Selbstporträt)  angefertigt  und 
bewährte  sich  bei  festlichen  Gelegenheiten  wiederholt  als  ebenso 
erfinderischer  Zeichner  wie  simdger  Poet. 

Die  Flügelbilder  des  Triplijelions  vom  Sündenfall  von 
Liida'ig  Deitmann  sind  wir  nuseren  Lesern  noch  schuldig. 
Das  Mittelstück  erschien  mit  der  Studie  von  Alfr.  Gotth. 
Meyer  im  11.  Heft  des  vorigen  Jahrganges,  von  Fritx,  Kroste- 
■iritx,  radirt;  es  stellt  in  rea,listischer  Weise  die  Erfüllung  des 
alten  Fluchs  ilar,  der  auf  den  Sündenfall  folgte;  ,,lm  Schweiße 
deines  Angesichts  sollst  dn  dein  Brot  essen,  bis  dass  du 
wieder  zu  Erde  werdest,  davon  du  genommen  bist“,  ln  den 
Seitenbildern  ist  die  Überwindung  der  Sündenschuld  und 
die  Erlösung  von  dem  Fluche  durch  den  Gottessohn  alle¬ 
gorisch  dargestellt. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


-  ,liil  W-M 


r 


4 


4 


c- 


% 


<» 


E.  Schultze-Naümburg.  Am  Klavier. 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


S  ändert  sich  mit  den  Jahren  nicht  allein 
das  Bild  der  Ansstelluugen,  sondern  auch 
die  Art  der  Kunsthesprechung-.  Noch 
zu  Anfang  der  90er  Jahre  wurde  der 
ruhigste  Beobachter,  der  nur  Chronist 
sein  wollte,  wider  Willen  hineingezogen 
in  die  Kampfesstimniung,  die  in  den  Lagern  der  Jungen 
und  der  Alten  herrschte,  und  es  gab  keinen,  der  seinem 
Vorsatz,  neutral  zu  sein,  ganz  getreu  geblieben  wäre. 
Eine  Fülle  von  neuen  ungewohnten  Erscheinungen  trat 
auf,  die  zur  Parteinahme  reizten,  und  je  grotesker  sich 
die  einen  gebärdeten,  desto  lauter  riefen  die  andern  die 
alten  Götter  an.  Aber  nicht  allein  die  Presse  war  es, 
die  sich  in  der  Weise,  beteiligte,  sondern  auch  dem 
Publikum  machte  die  Sache  Spaß.  Welches  Ereignis  war 
damals  in  München  der  Eröffnungstag  im  Glaspalast! 
Keiner,  der  auf  guten  Ton  hielt  und  dort  nicht  in  den 
ersten  Tagen  seine  Karte  abgegeben  hätte.  Und  welche 
Kontroversen  knüpften  sich  an  die  Besuche;  die  Familien 
und  Stammgäste  im  Cafe  schieden  sich  mit  pro  und 
contra  in  zwei  Parteien,  der  „Spottvogel“  war  das  Er¬ 
eignis  des  Tages. 


I. 

Wie  still  ist  es  dagegen  heut  geworden!  Zu  Ende 
ist  der  große  Jahrmarkt,  auf  dem  mau  sich  so  gut  amü- 
sirte,  die  große  Variete  ist  zum  Tempel  hinausgejagt,  — 
was  soll  mau  noch  in  den  Ausstellungen?  Sie  sind 
langweilig  geworden.  Losgelöst  hat  sich  die  Kunst 
von  dem,  was  ästhetisch  Unerzogenen  Interesse  bieten 
konnte;  da  prangen  keine  bunten  Panoramen  mehr,  auf 
denen  die  Hetäre  als  Kypris  dem  Meere  entsteigt  und 
hundert  schöne  Atheuerinneu  ihre  verführerische  Nackt¬ 
heit  preisgehen,  keine  gruseligen  Greuelscenen,  kein 
„Historienbild“  mit  der  verwesten  Leiche  der  Königin, 
der  die  Höflinge  huldigen  müssen,  keine  bluttriefenden 
Gladiatoren  mehr,  keine  Odalisken,  die  umgebracht  werden, 
—  nicht  einmal  mehr  die  famose  Species  der  „modernen 
Bilder“  giebt  es  nocli,  auf  denen  die  faustdicke  Farbe 
reliefartig  aufgetragen  war  und  deren  unsagbar  blöde  Ge¬ 
stalten  zur  Zielscheibe  von  guten  und  schlechten  Witzen 
dienen  konnten;  nur  in  den  Fliegenden  Blättern  spuken  die 
noch,  aber  ganz  ohne  Grund,  Also  was  soll  man  noch 
in  den  Ausstellungen?  Sie  werden  ohne  Aufsehen  er¬ 
öffnet,  kaum  noch  honoris  causa  bekümmert  man  sich 
um  sie  und  nur  der  Künstler  und  Kunstfreund  sieht 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  3. 


7 


50 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 


iliiieu  mit  der  alten  Spannung  entgegen.  Oder  auch 
diese  uiclit? 

Man  sagt,  die  Leute  seien  ausstellungsmüde.  Aller- 
diims,  ein  gesunder  Boden  wird  der  Kunst  durch  jene 
■\  eranstaltungen  nicht  bereitet,  aber  sie  sind  doch  ein 
Surrogat.  Ich  glaube,  dass  niemand  bezweifelt,  dass  es 
ein  naturgemäßeres  Verfahren  wäre,  wenn  die  Amateurs 
die  Werkstätten  aufsuchten,  die  Kunsthändler  ihren 
Kamen  mit  Recht  trügen,  und  bei  ihnen  die  kleinen, 
ganz  intimen  Ausstellungen  stattfänden.  Ganz  gewiss 
würden  sich  dabei  Kunst  und  Künstler  wuhler  fühlen, 
aber  zu  diesem  Arrangement  gehört  auch  der  dritte 
im  Bunde,  das  Volk.  Und  da  das  seine  Beteiligung 
dankend  ablehnt,  die  Plutokraten  die  Kunst  für  Luxus 
halten,  die  sich  nur  die  reichsten  unter  ihnen  ge¬ 
statten  dürfen,  sucht  diese  den  Weg  der  Selbsthilfe, 
indem  sie  das  Mittel  der  Neuzeit,  die  Reklame,  benutzt 
und  sich  dadurch  aktuell  zu  machen  sucht.  Das  alles 
sahen  die  Schöpfer  der  Secession  sehr  gut  ein  und  sie 
suchten  zu  bessern,  was  zu  bessern  ist;  die  Ausstellungen 
so  zu  arrang'iren,  dass  sie  den  größtmöglichen  ästhe¬ 
tischen  Genuss  bereiteten.  Aber  Ausstellung  bleibt  Aus¬ 
stellung,  und  sie  werden  ewig  den  nur  zu  gerechten 
\'orwurf  mit  den  Museen  teilen  müssen,  dass  sie 
Stapelplätze,  aber  keine  lebendigen  Pflanzstätten  der 
Kunst  sind. 

Ausstellungsmüde?  Man  ist  in  nicht  höherem  Grade 
ausstellungsmüde,  als  man  von  jeher  niuseumsmüde  war. 
Und  das  wird  bleiben,  so  lange  nicht  ein  besserer  Modus 
für  den  Verkehr  zwischen  Volk  und  Kunst  gefunden 
ist.  x4ber  trotzdem  ist  die  Zahl  der  Esoteriker  im 
Steigen  begriffen.  Die  Übung  thut  viel  in  allen  Dingen, 
auch  in  ästhetischen,  und  dass  stets  wachsende  Kreise 
sich  dieser  Übung  unterziehen,  ist  ein  Zeichen,  das  doch 
zu  gewissen  Hoffnungen  berechtigt.  Die  wenigen  Kunst¬ 
freunde  sind  geübter  als  vor  einem  Jaln’zehut,  nur  kann 
ihre  geringe  Zahl  nicht  den  Boden  bereiten,  den  die 
Kunst  braucht  —  und  all  die  Pseudo-Amateurs,  die  uns 
eines  Tages  zu  erwachsen  schienen,  sind  spurlos  von 
der  Oberfläche  verschwunden;  man  kümmert  sich  heute 
soviel  um  vSecession  und  Glaspalast,  wie  man  sich  in 
zwei  Jahi'eii  um  den  letzten  Zarenbesuch  in  Deutschland 
kümmern  wird.  Das  sind  Interessen  von  ehemals,  die 
für  das  Heute  gar  keine  Rolle  mehr  spielen. 

Und  ähnlich,  wie’s  dem  Volke  geht,  geht’s  auch  der 
Kritik.  Die  Menge  der  Tagesblätter  führen  aus  alter 
Redaktiousgewohnheit  die  Rubrik  der  Kunstkritik  weiter, 
ihren  Mitarbeitern  wird  es  alier  immer  schwerer,  ein 
einfaches  pro  oder  contra  zu  ergreifen;  —  zu  einem, 
wenn  auch  ganz  mittelmäßigen  Kampfljild  Stellung  zu 
nehmen,  ist  nicht  schwer,  —  den  roten  Faden  der  Ent¬ 
wicklung  zu  finden,  gelingt  ihnen  nicht  und  so  werflen 
sie  immer  verwirrter.  Das  Publikum  liest’s  ja  übrigens 
doch  nicht.  Und  doch,  gerade  so,  wie  der  ungesunde 
Modus  der  Ausstellungen,  der  als  Ausweg  übrig  bleibt, 


zunimmt,  mehren  sich  die  Kunstbesprechungen,  die  ja 
im  Grunde  nur  ein  gleicher  Ausweg,  kein  gesunder 
Zustand  sind.  Und  ähnlich,  wie  die  Ausstellungen  durch 
die  Secession  bis  auf  den  möglichen  Grad  reorganisirt 
worden,  scheint  eine  Reorganisation  in  die  Kunst¬ 
besprechung  der  vornehmeren  Blätter  einzml ringen,  die 
dem  hellen  Licht  einiger  zündender  Geistei'  zuzuschreiben, 
die  man  heute  aus  lauter  Dankbarkeit  verlästert.  Hun¬ 
derte  von  guten  Interpreten  sind  entstanden,  die  heute 
beredt  auf  unsere  Kunst  hinweisen,  —  können  sie  alle 
zusammen  das  bereiten,  was  unserer  Kunst  fehlt,  einen 
gesunden  Boden?  Und  wenn  man  da  und  dort  gedruckt 
liest:  nur  an  einer  guten,  sachlichen  Kritik  liegt’s,  so 
halte  ich  das  für  Unsinn. 

Das  sind  so  im  Allgemeinen  die  Empfindungen,  die 
man  von  den  Besuchen  der  Ausstellungen  mit  sich  nimmt. 
Doch  was  hilft  alles?  Es  wird  weiter  ausgestellt  werden 
müssen  und  wir  wollen  froh  sein,  wenn  allmählich  das, 
was  die  Secession  bei  sich  und  bei  andern  Korporationen 
erreichte,  immer  mehr  zur  allgemeinen  Norm  werden  wird. 

Auch  dies  Jahr  ist  der  Eindruck  der  Secession  kein 
sehr  verschiedener  von  dem  des  Vorjahres,  weder  was 
In-  noch  was  Ausland  anbetrifft.  Die  großen  Züge  kehren 
doch  immer  eine  Zeitlang  gleich  wieder  und  nur  kleine 
Verschiebungen  lassen  sich  konstatiren.  Das  allgemeine 
Losungswort  ist  Ruhe,  Ruhe.  Man  unterstreicht  nicht 
mehr  so  den  Modernen,  lernt  wieder  willig  von  den  alten 
Meistei'n,  soweit  sich  das  mit  den  selbständigen  Ausdrucks¬ 
mitteln,  die  die  Kampfzeit  Iiervorgebracht,  vereinigen 
lässt.  Worin  diese  bestehe)i,  braucht  man  heute  nicht  noch 
einmal  zu  beleuchten;  wmr  Ohren  zum  Hören  gehabt  hat, 
weiß  es.  —  Die  Aufgaben  sind  nicht  mehr  einseitig 
koloristische,  das  zeichnerische  Element  dringt  als  Re¬ 
aktion  mehr  und  mehr  in  den  Vordergrund,  und  mit  ihm 
eine  stets  wachsende  Anteilnahme  an  den  Gebilden  der 
Phantasie.  Die  skandalsüchtige  Kunst  des  Plebejertums 
ist  vollkommen  überwunden  und  alle,  nicht  nur  die 
Künstler  ersten  Ranges,  wissen,  dass  die  Kunst  ihrem 
Geiste  nach  vornehm  ist.  Es  ist  mir  gänzlich  unver¬ 
ständlich,  wie  Leute,  denen  die  Wahrheit  über  den 
Fanatismus  geht,  heute  noch  als  das  Charakteristische 
in  der  Secession  die  krankhafte  Sucht,  mit  Neuem  und 
Gesuchtem  aufzufallen,  sehen  können,  denn  gerade  die 
einzelnen  Ruhestörer  bestätigen  als  Ausnahme  die  Regel. 
Es  ist  zwar  noch  manches  Gärende,  etliches,  was  nicht 
im  Aufsteigen  ist,  da,  aber  die  weitaus  größte  Mehrzahl 
hat  ehrliche  Ziele.  Der  Ansatz  zum  Ausreifen  ist  all¬ 
gemein,  —  der  Ansatz;  denn  die  weiteren  Bedingungen 
dazu  können  sich  nicht  die  Künstler  schaffen;  die  warme 
Sonne,  in  der  sich  die  Trauben  röten,  —  aber  mit  dem 
Ansatz  zur  Reife  haben  auch  die  rapiden  Fortschritte, 
die  allein  das  Wachstum  bringt,  aufgehört.  Man  muss 
sich  erst  mit  dem  Neuen,  was  jetzt  so  reichlich  gebracht 
wird,  ganz  auseinander  zu  setzen  haben. 

Begleite  man  mich  zum  Beleg  für  das  Gesagte  auf 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 


51 


einen  kurzen  Ruinlgang  dnrcli  die  Ansstellung.  Beginnt 
man  seine  Wanderung  ini  großen  Hauptsaal,  so  hat  man 
beim  Eintritt  ein  mittelgroßes,  in  starken,  tiefen  Farben 
und  teppichartiger  Wirkung  gehaltenes  Bild  zur  Rechten: 
Rachegöttinnen,  die  den  Verbrecher  zu  Tode  hetzen. 
Es  ist  von  Stuck,  und  bei  ilim  ist  es  kein  Wunder,  dass 
es  das  Gegenteil  von  einer  mühsam  ersonnenen  und 
korrekt  ausgeführten  Allegorie  ist,  die  man  wohl  leicht 
versteht,  die  aber  kühl  lässt  bis  ans  Herz  hinan,  sondern 
den  Eindruck  einer  mit  mächtiger  Faust  niederge¬ 
schriebenen  Vision  macht.  Das  ist  nicht  die  geringste 
Ursache  des  fascinirendeu  Reizes,  den  Stuck  stets  aus¬ 
übt,  dass  er  wie  heraus  aus  einer  Naturgewalt,  die  alle 
Fesseln  sprengt,  malt.  Gerade  das  bildet  den  Zauber,  dem 
sich  die  wenigsten  entziehen  können.  Stuck  ist  ein 
Künstler,  der  ganz  auf  eigenen  Füßen  steht,  nie  ver¬ 
wendet  er  Typen,  die  er  in  der  schon  vorhandenen 
Kunst  findet,  sondern  das  Leben  bietet  ihm  die  An¬ 
regung.  Und  wenn  er  auch  außer  seinen  Porträts  fast 
nie  unmittelbar  ein  Stück  Natur  wiedergiebt,  so  ist  doch 
ein  jeder  Strich  von  ihm  mit  Beobachtung  gesättigt,  die 
er  dann  in  seine  Handschrift  zwingt.  Für  alles  findet 
er  wie  von  selbst  den  knappsten,  oft  direkt  stilisirten 
Ausdruck.  Und  das  ist  auch  da  der  Fall,  wo  er  direkt 
vor  dem  Modell  steht,  wie  bei  dem  entzückenden  Pastell¬ 
kopf  einer  jungen  Frau,  der  mit  meisterhafter  Einfach¬ 
heit  hingeschrieben  ist. 

Links  von  Stuck  hängt  ein  großes  Werk  Uhde’s. 
Ein  glücklicher  Umstand  bei  Uhde’s  neueren  Arbeiten 
scheint  es  mir  zu  sein,  dass  das  Zusammenziehen  der 
christlichen  Mythe  mit  unserer  Zeit  immer  weniger  auf¬ 
dringlich  wird,  dass  er  Bilder  schafft,  die  gleich  weit 
von  archaistischer  Konstruktion  wie  von  sklavischer  Kopie 
der  Wirklichkeit  entfernt  sind,  sondern  in  denen  nur 
noch  das  rein  Menschliche  zum  Ausdruck  kommt.  Und 
das  tritt  bei  den  allerdings  oft  unschönen  Typen  auf 
der  „Predigt  am  See“  so  stark  hervor,  dass,  wer  an 
ihnen  Anstoß  nehmen  sollte,  doch  das  seelische  Leben, 
das  ihnen  innewolnit,  nicht  leugnen  kann.  Und  das 
steht  doch  wohl  höher  als  die  rein  formale  Schönheit,  die 
meist  billig  zu  erreichen  ist.  In  noch  höherem  Grade 
ist  das  bei  den  „Weisen  aus  dem  Morgenlande“  der 
Fall,  die  in  Bezug  auf  harmonisclie  und  sympathische 
Gesamtstimmung  in  Uhde’s  Werk  fast  ganz  unerreicht 
dastehen.  Dass  Uhde  stets  ein  ganzer  Meister  seines 
Handwerks  ist,  das  nur  nebenbei. 

Höckers  „Ausklingender  Tag“  ist  eines  von  den 
Kunstwerken,  das  die  Richtung  bezeichnet,  wohin 
der  wesentliche  Teil  unserer  Kunst  heute  steuert: 
von  der  zuerst  wirklichkeitsgetreuen,  dann  tiefer  em¬ 
pfundenen  Darstellung  der  Natur  zum  freien  Gedicht 
über  dieselbe,  in  dem  man  nur  noch  die  Seelenzustände, 
die  man  in  ihr  durchlebt,  festzuhalten  sucht.  Ähnlich 
wie  Herterich,  der  in  seinem  „Sommerabend“,  weit 
mehr  als  ein  Genrebild,  ein  Liebespaar  darstellend 


giebt,  sondern  ungemein  feine  Stimmungen  zu  erwecken 
weiß,  die  er  zum  größten  Teil  durch  seine  farbigen 
Mittel  erreicht.  Herterich  ist  einer  der  größten  Kolo¬ 
risten,  die  wir  besitzen,  wenn  er  auch,  oder  vielleicht 
weil  er  jeden  bunten  Tönen  aus  dem  Wege  geht  und 
sein  Ziel  nur  in  der  Verfeinerung  der  geringsten  Kon¬ 
traste  sieht.  Das  Prinzip,  nach  dem  er  malt,  ist  im 
Grunde  das  der  Pointillisten,  nur  mit  dem  Unterschied, 
dass  das,  was  bei  diesen  eine  bis  zur  äußersten  Konse¬ 
quenz  durchgeführte  Marotte  war,  hier  rein  künstlerisch 
verwendet  und  abgeklärt  erscheint,  dass  es  der,  der 
nichts  von  malerischer  Technik  weiß,  nicht  bemerkt, 
und  er  nur,  wenn  sein  ästhetischer  Sinn  genug  gebildet 
ist,  dass  er  auf  solclie  farbigen  Reize  reagirt,  in  Ver¬ 
wunderung  über  den  seltsamen  Schmelz  und  die  Leucht¬ 
kraft  der  Farbe  gerät,  durch  die  das  Bild  im  ganzen 
Saal  auffällt.  Herterich  erzielt  das  durch  das  stete 
Nebeneinander  der  Komplementärfarben,  die  bis  zu  ge¬ 
wissem  Grade  unvermischt  —  doch  unbemerkbar  —  neben¬ 
einander  stehen  und  dem  Bilde  dieses  farbige  Leben  ver¬ 
leihen.  Samherger’s  Porträts  nehmen  eine  Wand  für 
sich  in  Anspruch.  Samberger’s  KiTiist  wird  oft  mit  der 
Lenbach’s  verglichen,  wobei  der  erstere  allerdings  an 
Schärfe  der  Beobachtung  nachstehen  muss,  aber  an 
Größe  des  Stils  Leidjach  eher  über  ist.  Allerdings 
birgt  sein  Verfahren,  nur  die  allerwesentlichsten  Momente 
des  menschlichen  Antlitzes  zusammenzufassen  und  zu 
vergrößern,  so  sehr  es  rein  künstlerisch  auch  auzieht, 
die  Gefahr  in  sich,  die  jedes  Abweichen  von  der  Natur 
mit  sich  bringt:  eine  Manierirtheit,  die  bei  Samberger 
zwar  zumeist  noch  entzücken  kann,  manchmal  aber  schon 
den  Grad  streift,  wo  sie  den  Genuss  trübt.  Und  gerade 
das  Bildnis  verlangt  ja  den  engsten  Anschluss  au  die 
Natur.  Ilahermann,  der  nervöse,  in  tausend  Dingen 
sich  versuchende,  stets  unbefriedigte,  wird  mit  einmal 
klar,  einfach  und  bedeutend,  wenn  er  sich  dem  Porträt 
zuwpudet.  Sein  Herrenbihlnis  ist  von  ebenso  wuch¬ 
tiger  Kraft  wie  malerischem  Reiz,  welches  beides  auch 
schon  die  1875  entstandene,  in  der  Farbe  allerdings 
noch  ganz  im  braunen  Ton  befangene  Studie  eines 
Mönches  zeigt. 

Wandert  man  so  von  Bild  zu  Bild,  so  wird  man 
noch  auf  gar  viele  interessante  Persönlichkeiten  stoßen. 
Wie  dort  z.  B.  Dill,  der  in  seinem  Aquarell  der  Natur 
thatsächlich  ganz  neue  Reize  abzugewiuneu  weiß  und 
in  dieser  neuen  Technik  erst  so  recht  sich  selbst  ge¬ 
funden  zu  haben  scheint,  worauf  ich  anlässlich  seiner 
Kollektion  auf  der  Frühjahrsausstellung  schon  hinwies. 
Volx  weiß  in  seiner  Grablegung  die  neuen  Ausdrucks- 
niittel  in  strenge  Form  zu  bringen  und  seine  Farbe  dem 
feinsinnig  anzupassen.  Volz  war  von  jeher  vorwiegend 
Zeichner  und  hatte  sich  als  solcher  schon  seinen  Stil 
gebildet,  als  die  allgemeinen  Ziele  noch  ganz  auf  die 
Bewältigung  des  koloristischen  Programms  gerichtet 
waren;  jetzt  treffen  seine  Bemühungen  mit  den  zeit- 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 


liehen  ziisamiuen.  J.  Keller' s  „Glück“  zeigt  ihn  auf 
neuen  Wegen.  Er  sucht  hier  die  Idee  des  Glücks  in 
frei  erfundenen  Gestalten  zu  verkörpern;  die  Glücksfee, 
welche  ül)er  Nacht  kommt  und  jung  und  strahlend  vor 
dem  Fenster  erscheint,  aus  dem  das  Menschenpaar,  welches 
('rstaunt  und  als  könnte  es  die  Erscheinung  nicht  fassen, 
In  rausschaut. 

Ein  Bild,  das  sich  die  Gegner  der  Secession  sehr 
zu  Nutze  machen,  ist  Exter's  Kreuzigung.  Es  ist  tlieater- 
haft  aufgehauscht  und  zeigt  nicht  die  schlichte  Ehrlich¬ 
keit,  die  sonst  den  Werken  der  Modernen  eigen.  Zudem 
ist  es  für  das  Bild  nicht  günstig,  dass  alle  sofort  an 
die  Stuck'sche  Kreuzigung  errinnert  werden,  gegen  deren 
monumentale  Größe  die  Exter’sche  schwächlich,  ins  Gro¬ 
teske  verzerrt  wirkt,  so  dass  viele  wohl  die  großen 
malerischen  Schönheiten,  die  trotz  alledem  darin  sind, 


übersehen.  Denn  das  darf  man  nicht  vergessen,  dass 
Exter,  wenn  er  will,  d.  h.  wenn  er  das  malte,  was  ihm 
liegt  und  sicli  dabeiMühe  giebt,  ganz  Hervorragendes  leisten 
könnte,  da  er  eins  der  vielversprechendsten  Talente  ist, 
die  die  Jüngeren  überhaupt  besitzen,  ln  dem  kleinen 
Bilde  Adam  und  Eva  giebt  er  eine  bessere  Prol)e  da¬ 
von,  wessen  er  fähig  ist,  als  in  dem  so  ungeheuer  prä¬ 
tentiös  auftretenden  Monumentalgemälde. 

Ich  habe  nun  noch  eine  große  Anzahl  von  aus¬ 
gezeichneten  und  guten  Werken  zu  nennen,  die  auf 
geradem  Wege  auf  ihr  Ziel,  mag  es  hölier  oder  niederer 
gesteckt  sein,  losgehen.  Da  sind  noch  viele  Porträtisten, 
die  malen  können  und  genug  psychologischen  Blick 
haben,  um  mehr  zu  geben,  als  das  Animalische.  Frhr, 
Balmcr,  Kurowsld  gehören  zu  den  besten,  Borckanlt’s 
Studienkopf  ist  eine  Leistung  von  seltener  malerischer 


Verve.  Hervorragend  sind  auch  die  Arbeiten  des  Deutsch- 
Engländers  Smiter.  Von  den  übrigen  Figurennialern  fallen 
am  meisten  auf:  Georgi,  der  eine  Nymphe  im  abendlichen 
Walde  von  einem  Faun  belauschen  lässt,  Bulx  mit  seiner 
„Vanitas“,  die  er  durch  eine  liegende,  nackte  Frauen¬ 
gestalt  verkörpert,  Slcvogt,  dessen  Totentanz  vielleicht 
zu  den  unfertigsten  und  deshallj  meist  angegriffenen, 
aber  auch  zu  den  allerinteressantesten  Arbeiten  gehört. 
Slevogt's  Kunst  ist  rassig,  und  deshalb  kann  sie  nur 
Freunde  oder  Feinde  haben,  nie  aber  kalt  lassen.  Hass, 
Zivnifsclicr,  Ilierl-Deronco,  IVislicenus,  Ungcr,  Eichlcr, 
Jauß,  Jank  —  das  sind  alles  Namen,  denen  man  nur 
mit  eingehenden  Besprechungen  gerecht  werden  kann 
und  die  diese  auch  vollkommen  rechtfertigten.  Von  den 
Landschaften,  die  stets  nicht  die  kleinste  Aufmerksam¬ 
keit  auf  sich  zogen,  sind  es  diesmal  besonders  Kalkreuth, 


dessen  Garten  nach  dem  Gewitter  mit  dem  Regenbogen 
die  Pinakothek  erwarb,  Kuehl,  der  einzelne  kleinere 
aber  süperbe  Impressionen  aus  Elliflorenz  sandte, 
BicvicrschmkU  mit  seinem  „Garten  des  Paradieses“,  der 
zusammen  mit  seinem  Rahmen  eine  geschmackvolle  Deko¬ 
ration  bildet,  KcUer-IicutUngen ,  von  dem  unser  Heft 
ebenfalls  eine  kleine  Probe  enthält.  Bücklin  zählt  zu 
den  Klassikern;  außer  einer  Skizze  zu  seiner  „Meeres¬ 
brandung“  finden  wir  noch  die  gleichfalls  hier  repro- 
duzirte  „Nacht“.  Thoma’s  Wasserfälle  bei  Tivoli, 
Bartels'  virtuose  Marinen,  Zumlmsclis  feinsinniges  Bild 
„Einsames  Land“,  rocizclherger’slMiek.  über  ein  badisches 
Thal,  B.  Becker’s  Abendlandschaft  —  das  sind  eine 
Reihe  von  Namen,  die  mir  aus  der  Fülle  aufs  Gerate¬ 
wohl  einfallen,  ohne  diese  damit  auch  nur  annäliernd 
vollzählig  genannt  haben  zu  wollen. 


P.  AV.  Keller -Eeuti.ingen.  Bei  Bniok. 


i^i 


GiOV.  Segantini.  Liebespaar. 


54 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 


Was  das  Ausland  aubetrifft,  so  bietet  es  viel  Iiiter- 
:',ssaiites,  einiges  Ausgezeichnete,  doch  ist  das  Ansgestellte 
nicht  im  stände,  ein  eigentliches  Bild  von  dem  Knnstleben 
der  einzelnen  Länder  zn  geben.  So  vorzüglich  z.  B.  die 
einzelnen  Schotten  auch  sind,  so  hat  sich  doch  mit  der¬ 
zeit  —  Dank  den  guten  Verkanfscliancen  ])ei  uns  —  zn 
viel  Ware  eingeschranggelt,  was  allerdings  wettgemacht 
wird  durch  jene  Künstler,  die  uns  nun  schon  seit  Jahren 
als  die  eigentlichen  Vertreter  der  schottischen  Kunst 
galten.  So  sind  Larerij  und  Guthrie  durch  Porti'äts 
vertreten,  denen  wir  in  ihrer  schlichten  Vornehmheit 
und  diesem  meisterhaf¬ 
ten  Können  kaum  eines 
zur  Seite  setzen  dürfen, 
wie  auch  einzelne,  dies¬ 
mal  aber  eben  nur  ver¬ 
einzelte  Landschaften, 
wie  die  von  Pater son, 

Stevenson,  Morton  etc., 
die  schottische  Kunst 
von  ihrer  besten  Seite 
zeigen.  England  ist  im 
Wesentlichen  nur  durch 
Brauffir/jn  und  IJer- 
homer  repräsentirt;  der 
erstere  zeigt  sich  durcli 
sein  farl)enfreudiges 
Werk  (orientalische 
Mutter),  dessen  Tone 
in  seiner  bekannten 
breiten  Manier  einge¬ 
setzt  sind,  von  seiner 
besten  Seite,  während 
man  bei  den  holien  An- 
si)rüchen,  die  man  doch 
an  einen  Herkomer  stel¬ 
len  muss,  im  besten 
Falle  von  Stillstand 
reden  kann.  Man  denkt 
vor  seinen  neueren  Ar¬ 
beiten,  dass  er  manch¬ 
mal  in  dem  Bestreben, 
es  seinem  Publikum 
recht  zu  machen,  etwas  zu  weit  geht.  Die  Franzosen, 
die  sich  zumeist  erst  nach  Schluss  der  Salons  ein¬ 
gestellt,  haben  wenig  gebracht,  was  die  Reise  nach 
Deutschland  rechtfertigt,  — ■  das  Beste  davon  ist  von 
Ausländem,  wie  die  drei  lierrlichen  Bilder  von  Thauloiv, 
der  wohl  zu  den  feinsten  aller  existirenden  Land¬ 
schafter  zu  zählen  ist,  das  wundervoll  zarte  Damen¬ 
porträt  von  Gandara  oder  die  originellen  Arbeiten 
gleichen  Genres  von  dem  Amerikaner  Alexander.  Das 
Beste,  was  von  Franzosen  seiht  kam,  ist  wohl  das  ganz 
herrliche  Damenporträt  Garriere’s,  dessen  weiche  Manier, 
die  alles  wie  durch  einen  Schleier  sehen  lässt  und  von 


der  wir  schon  verschiedene  schöne  Proben  in  Deutsch¬ 
land  sahen,  ihm  hier  zu  einer  Meisterleistung  gedient 
hat.  Blanche  ist  als  ein  raffinirt  geschmackvoller  Por¬ 
trätist  noch  zu  nennen,  der  sicli  zumeist  junge  Mädchen 
und  Franen  zum  Motiv  wählt  und  bei  ihrer  Darstellung 
eine  eigentümlich  sensible  Grazie  entwickelt. 

Holland,  das  kleine  Holland,  scheint  über  eine  Legion 
guter  Bilder  zu  verfügen;  überall  ist  es  gleich  gut  und 
gleich  zahlreich  vertreten,  und  Belgien  assistirt  ihm  dabei. 
Schon  seit  Jahren  ist  das  in  allen  Berichten  überall 
gern  bestätigt  woi'den,  und  gewöhnlich  hieß  dann  der 

Nachsatz;  ein  wenig 
langweilig  sind  sie  doch. 
Auch  ich  brauche  den 
holländischen  Saal  nicht 
näher  zu  beschreiljen, 
es  genügt,  wenn  ich 
das  nenne,  was  aus  dem 
gewohnten  Rahmen  des¬ 
selben  herausfällt:  des 
Mystikers  Khno iV/'sel  t- 
sam  weltentrückte  Ge¬ 
sichte,  die  man,  oline 
sehr  weitschweiüg  zu 
werden ,  schwer  be¬ 
schreiben  kann;  außer 
seinen  zarten  Figuren¬ 
bildern  hat  er  diesmal 
noch  eine  ebenso  zarte 
Landschaft —  ein  stilles 
Wasser  —  gesandt,  die, 
trotz  ihrer  einfachen 
Ungesuchtheit,  durch 
ihre  Ruhe  etwas  so 
Fascinirendes  hat,  dass 
mau  sich  ihrem  Zauber 
lücht  entziehen  kann. 
Sehr  auffallend  ist  das 
große  oder  besser  ge¬ 
sagt  ungeheuer  lange 
Bild  von  Leon  Frcderic 
„die  Lebensalter  der 
Bauern“,  in  dem  trotz 
seines  an  Starrköpfigkeit  grenzenden,  erbarmungslosen 
Naturalismus  der,  welcher  die  spätere  Entwicklung 
Frederie’s  kennt,  schon  den  Ansatz  zu  dieser  zu  bemerken 
glaubt;  denn  in  dem  selbstlosen  Aufgehen  in  der  Natur 
liegt  schon  etwas  von  der  tiefen,  mystischen  Versenkung 
in  dieselbe,  wie  sie  neue  Bilder  von  Frederic  zeigten. 

Italien  hat  diesmal  einiges  recht  Gute  zur  Se¬ 
cession  beigesteuert.  Hinter  der  eleganten  Routine,  die 
fast  allen  Italienern  angeboren  scheint,  steckt  diesmal 
doch  ein  gut  Teil  mehr  Ernst  als  bei  den  Arbeiten, 
die  sie  sonst  für  Deutschland  übrig  zu  haben  belieben. 
Tito,  Bezzi,  Zezzos,  das  sind  Maler,  die  ihr  Handwerk 


V.  Vallgren.  Asclieuurne. 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


55 


prächtig  beherrschen  und,  wenn  auch  nicht  tiefe,  so  doch 
wertvolle  und  anmutige  Werke  schaffen.  Etwas  Tän- 
telndes  haftet  ihnen  aber  stets  an,  und  der  einzige,  der 
davon  ganz,  aber  auch  ganz  frei  ist,  ist  Segantini,  eine 
imposante  Erscheinung  in  der  modernen  Malerei,  der 
sich  in  seinen  Werken,  die  sclion  in  der  Friihjahrsaus- 
stellung  aufgestellt  waren,  sicherlich  als  der  selbständigste, 
vielleicht  größte  italienische  Meister  unter  den  Lebenden 
zeigt,  so  weit  wir  das  in  Deutscliland  zu  beurteilen 
vermögen. 

Andree’s  und  Nansen’s  Landsleute  sind  nur  ganz 
vereinzelt  vertreten,  aber  das  Wenige,  was  sie  senden, 
ist  gut,  ja  ausgezeichnet.  Sie  verstehen  es  Respekt 
einzuflößen,  diese  Skandinavier;  sie  können  malen  und 
gehen  jeder  Konvention  in  weitem  Bogen  aus  dem 
Wege.  Zorn’s  Selbstbildnis  bildet  dafür  den  besten 
Beleg;  wenn  man  von  demselben  spricht,  kommt  einem 
unwillkürlich  das  sonst  nicht  geivade  schöne  Wort 
schneidig  in  die  Feder.  Ich  glaube  nicht,  dass  das  Bild 
entstanden  ist  in  der  Absicht,  ein  Bildnis  im  eigent¬ 
lichsten  Sinne  zu  malen;  Zorn  blickte  in  den  Spiegel, 
sah  da  ein  Stück  Natur,  von  dem  er  selbst  ein  Stück 
bildete,  und  malte  das  mit  seinem  verblüffend  sicheren 
Können  rascli  lierunter  und  zw'ai'  so  ehrlich  und  wahr, 
wie  das  jeder  rechte  Maler  timt.  Und  da  bei  dieser 
Studie  ein  schönes  Stückchen  Malerei  entstand,  steckte 
er’s  in  einen  Rahmen  und  schickte  es  in  den  Salon,  und  wir 


danken  ihm  dafür.  Liljefors,  der  die  moderne  Kunst  um 
ein  Kapitel  erweiterte,  die  Jagdmalerei,  hat  ein  kleineres 
Bild,  Nest  mit  jungen  Falken,  gescliickt,  das  gleichermaßen 
das  Entzücken  der  Tierfreunde  wie  der  Künstler  bildet. 
Larsson  ist  mit  einem  groß  und  eigenartig  komponirten 
Kain  und  Abel  vertreten.  —  Audi  ein  paar  Russen  haben 
sich  eingestellt,  die  sich  als  solide  und  ehrliche  Natura¬ 
listen  vorstellen. 

Es  ist  dies  die  letzte  Ausstellung  im  Bau  an  der 
Prinzregentenstraße.  Es  ’W’ar  die  Burg,  in  die  sich  die 
neue  Kunst  in  Deutschland  verschanzte  und  von  der 
aus  sie  sich  dasselbe  eroberte.  Mit  dem  Zugeständnis 
alles  dessen,  was  man  vor  vier  Jahren  forderte,  öffnet 
sich  jetzt  die  Pforte,  und  die  Secessiouisten  können  mit 
gutem  Gewissen  sagen,  dass  sie  Sieger  geblieben  sind 
auf  der  ganzen  Linie.  Und  doch  wird  es  jedem  ihrer 
Freunde  leid  thun,  iiire  erste  selbstgeschaflene  Heim¬ 
stätte,  die  man  allgemein  als  mustergültig  anerkannte, 
fallen  zu  sehen.  Möge  der  Wunsch  in  Erfüllung  gehen, 
dass,  sollte  die  Zeit  kommen,  in  der  die  Vereinigung 
als  solche  ilire  Mission  zu  Ende  geführt  hätte,  doch 
stets  ihr  Geist,  der  in  selbstlosem  Ringen  für  ideale 
Güter  bestand,  noch  lange  in  der  deutschen  Künstler¬ 
schaft  fortlelie,  und  dass  man  es  jenen  nie  vergesse, 
was  sie  dereinst  gethan,  als  sie  im  Kampfe  gegen  alle 
die  erste  Hocliburg  der  neuen  deutschen  Kunst  ge¬ 
gründet!  PAUL  SCIIÜLTZE-NAUMBURG. 


ALTARWERKE 

IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ENN  der  Kunstentwicklung  in  den  nörd¬ 
lichen  Gegenden  Deutschlands  von  Seiten 
der  Wissenschaft  bisher  nicht  das  gleiche 
Interesse  entgegengebracht  worden  ist, 
dessen  sich  die  Kunstgeschichte  Süd¬ 
deutschlands  seit  lange  erfreut,  so  hat 
diese  Thatsache  ihren  Gi'und  in  der  ungleich  geringeren 
Zahl  — ■  von  gänzlichem  Mangel  kann  nicht  die  Rede 
sein  —  großer,  wahrhaft  schöpferischer  Individualitäten 
unter  den  niederdeutschen  Künstlern.  Einen  Dürer  und 
Holbein,  einen  Peter  Vischer  hat  Niedei'deutschland  nicht 
hervorgebracht  und  ein  Tilman  Riemenschneider  hätte 
es  in  seiner  nördliclien  Heimat  schwerlich  zu  der  Meister¬ 
schaft  gebracht,  die  wir  an  seinen  Werken  nicht  genug 
bewundern  können.  Eine  Wissenschaft  also,  die  sich 
lediglich  den  Zweck  setzt,  die  Entwicklung  der  Kunst 
von  Stufe  zu  Stufe  zu  verfolgen,  diese  Entwicklung 


gleichsam  aus  sich  selbst  heraus  zu  eiklären,  eine  solche 
Wissenschaft  mag  über  die  mehr  massenhaften  als  speciell 
kunstgeschichtlicli  bedeutsamen  Hervorbringungen  des 
niederdeutschen  Kunstsinnes  immeiliin  mit  w'enigen 
Worten,  mit  einer  kurzen  Erwähnung  hinweggehen. 
Einen  nachhaltigen  Einfluss  auf  die  Kunstentwickluug 
Alldeutschlands  oder  gar  über  Deutschlands  Grenzen 
hinaus  auf  die  Entwicklung  anderer  Kunstgebiete  haljen 
die  niedei’deutschen  Meistei'  und  ihre  Erzeugnisse  selten 
oder  nie  gewonnen.  Und  anstatt  nur  seinen  eigenen 
Eingebungen  zu  folgen  und  der  Kunst  seines  Landes 
eine  selbständige  Richtung  zu  geljen,  hat  selljst  ein 
Hans  Brüggemann,  W'ohl  der  einzige  unter  den  älteren 
niederdeutschen  Künstlern,  den  wir  auch  in  kleineren, 
füi'  die  Hand  des  Laien  liestimmten  Kompendien  der 
Kunstgeschichte  gelegentlich  etwas  ausführlicher  behan¬ 
delt  linden,  bei  seinem  großen  Zeitgenossen  Albrecht 


56 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPATEREN  MITTELALTER. 


Dürer  kleine  Aiilelieii  zu  maelieu  sicli  niclit  entsclilagen 
können. 

Sobald  mau  aber  die  Knnstgescbicbte  unter  einem 
liülieren  Gesiditspunkte  betrachtet,  sie  als  einen  der 
wesentliclisten  und  wichtigsten  Abschnitte  der  Kultur- 
gescliicbte  auftasst,  gewinnen  auch  die  Erzeugnisse  der 
uiedej'deutscheu  Kunst,  insbesondere  des  Mittelalters,  eine 
erhöhte  Bedeutung.  Wo  es  sich  darum  handelt,  festzu¬ 
stellen,  wie  das  geistige  Leben  in  den  verschiedenen 
Gegenden  unseres  \haterlandes  beschaften  war,  welche 
Unterschiede  in  den  Äußerungen  dieses  Lebens  zwischen 
dem  Norden  und  Süden,  dem  (tsten  und  Westen  bestanden 
und  durch  welche  Verhältnisse  geograiihischer,  politischer 
oder  wirtschaftlicher  Art  diese  Unterschiede  wiederum 
bedingt  wurden,  —  und  auf  ein  Ei'kennen  alles  dessen 
zielt  iloch  die  historische  Wissenschaft  im  letzten  Grunde 
ab  —  da  wii’d  man  auch  eingehender  Forschungen  und 
genauer  Kenntnisse  über  die  Kunst  des  ganzen  nörd¬ 
lichen  und  östlichen  1  )entschlands  nicht  entraten  können. 
Weiß  doch  zudem  jeder,  der  Norddentschlaud,  seine 
stattlichen  alten  Bauten  und  Kirchenschätze,  den  Eeich- 
tum  der  wohlhabenderen,  niederdeutschen  Landbevölke¬ 
rung  an  prächtig  geschnitzten  Truhen  und  Schränken 
und  an  allerlei  Prunkgerät  auch  nur  oberllächlich  kennt, 
zur  Genüge,  einen  wie  wesentlichen  Faktoi'  im  geistigen 
Lelien  das  Kunstemptinden  auch  hier  zu  allen  Zeiten  ge¬ 
bildet  hat. 

Zwar  ist  das  Gesagte  keineswegs  so  zu  verstehen, 
als  ol)  auf  dem  Gebiet  der  niederdeutschen  Kunstforschung 
bisher  so  gut  wie  nichts  gearbeitet  worden  sei.  Köln 
z.  B.,  das  mit  dem  deutschen  Niederrhein  und  Westfalen 
zusammen  eine  vom  übrigen  Niederdentschland  zu  son¬ 
dernde  Stilprovinz  bildet,  hat  von  Anfang  an  so  gut 
wie  die  süddeutschen  Schulen  Sitz  und  Stimme  in  der 
deutschen  Kunstgeschichte  gehal)t  und  viel  für  Ver¬ 
breitung  und  Erweiterung  der  Kenntnis  seiner  Denk¬ 
mäler  gethan,  und  in  gleichem  Sinne  ist  neuerdings  auch 
die  Forschung  über  Ijübecker  Kunst  —  ich  erinnere 
namentlich  au  die  Veröffentlichungen  von  Milde  und 
Deecke,  sowie  an  Adolph  Goldschmidt’s  „Lübecker  Malerei 
und  Plastik  bis  1530“  —  emsig  thätig  gewesen;  freilich 
nicht  mit  ganz  dem  gleichen  Erfolge:  ein  Niederschlag 
dieser  Forschungen  in  umfassenderen  Darstellungen  der 
Kunstgeschichte  ist  bisher  nur  mangelhaft  erfolgt.  Noch 
weniger  hat  die  allgemeinere  Kunstbetrachtung  bis  zur 
Stunde  von  der  reichen  Fülle  archivalischen  und  künst¬ 
lerischen  Materiales  Notiz  genommen,  welche  sich  in  den 
teilweise  bereits  zum  Abschluss  gelangten  luventaren 
sämtlicher  Kunstdenkmäler,  in  den  Veröffentlichungen 
der  norddeutschen  Kunstmuseen  und  der  zahlreichen 
historischen  Lokalvereine  aufgehäuft  findet.  Hier  nun 
ist  es  vielfach  der  Mangel  an  guten  Abbildungen,  der 
einer  allgemeineren  und  gerechten  Würdigung  des  nieder¬ 
deutschen  Kunstschaffens  hinderlich  gewesen  ist.  Nur 
die  Architektur  bildet  in  dieser  Beziehung  eine  Aus¬ 


nahme  und  sie  kann  sich  demzufolge  auch  über  Ver¬ 
nachlässigung  von  Seiten  der  großen  Forschung  noch 
am  wenigsten  beklagen.  Für  die  Werke  der  Malerei 
und  Plastik  aber  geben  zwar  die  luventare  einen  will¬ 
kommenen  Überblick  über  den  Reichtum  des  noch  Vor¬ 
handenen  —  ein  Iteglückendes  Genießen  des  Schönen, 
ein  liebevolles  Versenken  in  das  Studium  der  darge¬ 
stellten  Kunstwerke  ist  indessen  bei  dem  kleinen  Ma߬ 
stab  der  R.epi'oduktionen  in  der  Regel  nicht  möglich, 
und  so  sind  derartige  Abbildungen  zumeist  nur  dazu 
geeignet,  uns  noch  begieriger  zu  machen  nach  mehr, 
nach  Tafelwerken  gi'oßen  Stiles  auch  für  die  nieder¬ 
deutsche  Kunst,  wozu  mit  der  Berücksichtigung,  welche 
ihre  Denkmäler  etwa  in  den  Publikationen  von  Müuzen- 
berger  gefunden  haben  oder  mit  einer  Anzahl  Mono- 
graphieen,  welche  insbesondere  die  letzten  .fahre  gezeitigt 
haben,  doch  nur  erst  ein  Anfang  gemacht  ist.  Gerade 
solche  mit  trefflichen  Reproduktionen  ausgestatteten, 
streng  wissenschaftlichen  Einzeldarstellungen,  wie  das 
bereits  oben  citirte  Buch  von  Gcddschmidt,  die  Arbeiten 
Engelhard’s  insbesondere  über  Hans  Eaphon,  das  präch¬ 
tige  Werk  von  Konrad  Lange  und  P.  Schwenke  über 
die  Silbei'bibliothek  des  Herzogs  Albrecht  von  Preußen 
u.  a.  m.,  haben  zugleich  auf  das  schlagendste  dargethan, 
zu  wie  bedeutsamen  Resultaten  auch  auf  dem  Geldete 
der  specielleren  Kunstgeschichte  eine  emsige  und  exakte 
Forschung  hier  führen  kann,  wie  manche  Fehler  und 
vorgefasste  Meinungen  es  hier  noch  zu  berichtigen  giebt. 

Einen  ansehnlichen  Schritt  weiter  auf  dieser  Bahn 
führt  uns  ein  dänisches  Werk,  das  auf  Veranlassung 
des  dänischen  Ministeriums  für  Kirchen-  und  Unterrichts¬ 
wesen  im  vorigen  Jahre  zu  Kopenhagen  erschienen  ist.  *) 
Die  neue  Pufilikation  umfasst,  im  Ganzen  27  Altarwerke, 
die  mit  ihren  einzelnen  Teilen  in  71  vorzüglichen,  teil¬ 
weise  auch  zur  Behandlung  stilkritischer  Fragen  vollauf 
genügenden  Lichtdrucktafeln  in  Folio  wiedergegeben  sind. 
Den  ersten  Anlass  zu  dieser  Veröffentlichung  hatte,  wie 
in  der  Einleitung  näher  ausgeführt  wird,  die  Restau¬ 
ration  von  Claus  Bcrg's  berühmtem  Schuitzaltar  und 
seine  Überführung  aus  der  Frauenkirche  zu  Odense  in 
die  dortige  St.  Knudskirche  im  Jahre  1885  gegeben. 
Bei  dieser  Gelegenheit  waren  von  dem  Altar  gleich  die 
nötigen  photographischen  Aufnahmen  zur  Vervielfältigung 
durch  den  Lichtdruck  gemacht  worden.  „Man  wünschte 
nämlich,  das  seltene  Kunstwerk  auf  diese  Weise  in 
weiteren  Kreisen  bekannt  zu  machen,  auch  über  die 
Grenzen  Dänemarks  hinaus.“  Weiterhin  schlossen  sich 
an  diesen  Altar,  Hand  in  Hand  gehend  mit  den  in  den 
folgenden  .Jahren  vorgenommenen  Restauriruugsarbeiten, 

1)  Altertavler  i  Danmark  fra  den  senere  Middelalder. 
Udgivne  paa  Foranstaltning  af  Ministeriet  for  Kirke-og 
linder visningsvaeseiiet.  LXXl  Tavler  i  Lystryk  udforte  af 
Pacht  &  Grone,  Tekst  af  Francis  Beckett.  Avec  un  resumö 
en  fra,n9.ais.  Kjobenbavn.  Trykt  hos  J.  Jorgensen  &  Co. 
(M.  A.  Hannover),  1895. 


^Iilti;ltul'i:l  ili;s  ( •ilriisri'  Alliu's. 


Zeitscbi'il't  liir  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  II 


8 


58 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


Aufnahmen  des  Altarwerkes  in  der  Söndresogn- Kirche 
zu  Vihorg  und  von  Bernt  Xoikes  Werk  im  Aarhuser 
Dom  an.  Damit  war  die  Zahl  der  Tafeln  bereits  auf 
33  gestiegen  und  es  lag  nunmehr  der  Gedanke  nahe, 
die  Publikation  überhaupt  zu  einem  Sammelwerk  der 
hervorragendsten  unter  den  in  dänischen  Kirchen  er- 
halten  gebliebenen  Altäre  des  Mittelalters  und  des 
frühen  16.  Jahrhunderts  zu  gestalten.  Die  Auswahl, 
die  bei  den  unzulänglichen  Mitteln  zur  Kenntnis  der 
dänischen  Kunstwerke  keine  leichte  war,  besorgte  Mu¬ 
seumsdirektor  Dr.  H.  Pedersen  in  Gemeinschaft  mit  dem 
Architekten  0.  V.  Koch.  Iler  Text  zu  dem  Weike 
stammt  aus  der  Feder  des  dänischen  Kunsthistorikers 
Francis  ßeckett,  der  inzwischen  auch  selbst  in  der 
Tidsskrift  for  Kunstindustri  (1896,  zweites  Heft,  S.  53 ff.) 
über  dasselbe  berichtet  und  die  Resultate  seiner  Unter¬ 
suchungen  kurz  mitgeteilt  hat. 

Wenden  wir  uns  zur  Betrachtung  des  Inhalts,  so 
werden  wir  am  besten  zu  Ausgangspunkten  die  vorer¬ 
wähnten  drei  Altäre  nehmen,  deren  Wiedergalte  und 
kunsthistorische  Würdigung  den  eigentlichen  Kern  der 
gegenwärtigen  Veröffentlichung  bildet.  »Sie  lehren  uns 
auch  gleich,  dass  wir  es  hier  nur  zum  kleinsten  Teil 
mit  IVerken  einer  national-dänischen  Kunst  zu  thun  haben, 
denn  Claus  Berg  und  Bernt  Notke  waren  geborene  Lü¬ 
becker  und  der  i41tar  in  der  Söndresogn -Kirche  zu 
Viborg,  bisher  häufig  als  eine  Arbeit  Brüggemann’s  an¬ 
gesprochen,  stammt  aus  einem  Autwerpener  Atelier. 
Ebenso  wird  sich  aus  einer  Betrachtung  der  übrigen 
Tafeln  des  Werkes  ergeben,  wie  berechtigt  wir  waren, 
dieses  in  erster  Linie  im  Interesse  der  niederdeutschen 
Kunstforschung  mit  Freude  zu  begrüßen.  Dänemark 
ist  zu  allen  Zeiten  arm  an  heimischer  Kunstübung  und 
tief  im  eigenen  Volke  wurzelnden,  großen  Künstlern  ge¬ 
wesen,  und  auch  das  15.  und  16.  .Jahrhundert  hat  in  dieser 
Beziehung  keine  Ausnahme  gemacht.  Man  könnte  das 
Land  darin  etwa  mit  Portugal  vergleichen,  das  in  der 
Kunstgeschichte  der  romanischen  Völker  eine  ähnliche 
Stellung  einuimmt,  wie  Dänemark  unter  den  germanischen 
Nationen. 

Andererseits  aber  gehört  gerade  ein  Meister  wie 
Claus  Berg  doch  fast  mehr  der  dänischen  als  der  deut¬ 
schen  Kunstgeschichte  an.  Nach  deai  Aufzeichnungen 
seines  gleichnamigen  Enkels  entstammte  er  einer  Lü¬ 
becker  Patrizierfamilie  und  soll  früh  namentlich  im 
Zeichnen  sehr  tüchtig  gewesen  sein.  Dennoch  hat  sich 
in  den  Lübecker  Archiven  bisher  keine  Nachricht  über 
ihn  finden  lassen,  und  auch  von  Arbeiten  seiner  Werk¬ 
statt  auf  deutschem  Boden  ist  bisher  nur  ein  Scluiitz- 
altar  in  Wittstock,  den  Münzenberger  Claus  Berg  zu¬ 
geschrieben  hat,  bekannt  geworden.  Wie  es  scheint 
noch  in  jungen  Jahren  folgte  er  dann  einem  Rufe  der 
Königin  Christine,  der  Gemahlin  des  dänischen  Königs 
Hans  und  Mutter  des  nachmaligen  letzten  „Unionskönigs“ 
Christian’s  II.,  nach  Odense,  um  für  die  dortige  Franzis¬ 


kanerkirche  jenen  umfangreichen  Schnitzaltar  zu  fertigen, 
der  erst  beim  Abbruch  der  Franziskanerkirche  1805  an 
die  Frauenkirche  verkauft  wurde.  In  Odense  besaß 
Claus  Berg  „ein  von  Grund  auf  gemauertes  Haus“,  das 
er  der  besonderen  Gnade  seiner  hohen  Gönneriu  ver¬ 
dankte,  hier  hat  er  sich  verheiratet  und  wird  er  auch 
wohl  sein  Leben  beschlossen  haben. 

Von  nicht  geringer  Bedeutung  ist  ferner  die  be¬ 
stimmte  Mitteilung  seines  Enkels  —  man  liest  die  Nach¬ 
richten,  die  er  giebt,  jetzt  am  besten,  freilich  in  Über¬ 
setzung,  liei  Goldschmidt  a.  a.  0.  S.  32  nach  —  dass 
Claus  Berg  selbst  an  dem  Odenser  Altar  nichts  ge¬ 
arbeitet,  sondern  die  Ausführung  seiner  Entwüi-fe  den 
Gesellen  überlassen  habe,  die  er  wohl,  dem  Wunsche 
der  Königin  entsprechend,  zum  größten  Teil  mit  sich 
aus  Deutschland  gebracht  hatte  und  deren  er  für  jenes 
Haujitwerk  zwölf  in  seiner  Werkstatt  beschäftigt  haben 
soll.  Sie  gingen  in  seidenen  Kleidern,  heißt  es,  und 
die  Königin  Christine  lohnte  sie  alle  Monate.  Claus 
Berg  also  lieferte  nur  die  Zeichnungen  und  überwachte 
die  Ausführung  —  ein  Verfahren,  das  in  den  meisten 
größeren  Künstlerwerkstätten  des  ausgehenden  Mittel- 
altei's  ähnlich  geübt  worden  sein  wird,  wie  es  in  den 
Ateliers  der  Bildhauer  meines  Wissens  auch  heute  noch 
die  Regel  ist.  Schon  der  Umstand,  dass  auch  die  Malerei 
in  reichem  Maße  zur  Anwendung  kommen  sollte,  musste 
zumal  bei  dem  bedeutenden  Umfang  des  Altars  —  der¬ 
selbe  ist  bei  geöffneten  Elügeln  etwa  6  m  breit  und  mit 
der  Predella  über  4  'I2  m  hoch  —  eine  ausgedehnte 
Arbeitsteilung  von  vornherein  ratsam  erscheinen  lassen. 

Die  Gemälde,  welche  die  Außenseiten  der  Flügel 
schmücken,  sind  ausnahmslos  nur  schlecht  erhalten  und 
daher  in  die  vorliegende  Publikation  nicht  mit  aufge- 
nonimen  worden.  Dargestellt  sind  16  Scenen  aus  der 
Vorgeschichte  und  dem  Leben  Christi  bis  zum  Beginn 
seiner  Passion.  Diese  Bilder  stehen,  nach  dem  Urteile 
unseres  dänischen  Gewährsmannes,  in  naher  Beziehung 
zu  Lül)ecker  Arbeiten  aus  dem  Beginn  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  unter  dem  Einfluß  der  italienisirenden  Nieder¬ 
länder  jener  Zeit,  weichen  aber  im  Charakter  von  den 
Holzschnitzereien  der  Innenseiten,  des  Mittelstückes  sowie 
der  Predella  ei'heblich  ab.  Wie  'W'eit  sich  in  diesen  etwa 
die  verschiedenen  Individualitäten  der  ausführenden  Ge¬ 
sellen  unterscheiden  lassen,  ist  von  dem  Verfasser  des 
Textes  nicht  untersucht  worden  und  lässt  sich  auf  Grund 
der  Abbildungen  natürlich  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden. 
Allen  gemeinsam  und  daher  ohne  Zweifel  auf  besondere 
Rechnung  der  Eigenart  Claus  Berg’s  zu  setzen  ist  die 
ungemeine,  zuweilen  ins  Übertriebene  gesteigerte  Be¬ 
wegtheit  der  Gestalten  und  Scenen.  Es  pulsirt  nament¬ 
lich  in  den  sechzehn  Passionsdarstellungen,  die,  eine 
jede  in  zierlicher  Umrahmung  von  Ast-  und  Rankenwerk 
und  Architekturteilen  nach  Art  der  Zopfgotik,  auf  den 
Innenseiten  der  Flügel  angeordnet  sind,  ein  dramatisches 
Leben,  wie  es  uns  in  den  plastischen  Werken  dieser 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


59 


Zeit  sonst  nirgends  in  so  leidenscliaftliclier  Erregtlieit 
entgegentritt.  Die  Gefangenneliinung  Christi  geht  in 
einer  bis  zur  Unschönheit  „wilden  und  tuniultuarischen 
Scene“  vor  sich  und  die  Darstellungen  der  Verspottung, 
der  Geißelung,  der  Kreuzschleppung  und  Kreuzigung 
können  an  gewaltiger,  allerdings  ausschließlich  schreck¬ 
licher  und  abstoßender  Wirkung  schwerlich  uherhoten 
werden.  Die  Darstellung  der  Hoheit  des  für  seinen 
göttlichen  Beruf  leidenden  Erlösers  ist  in  diesen  Scenen 
entschieden  über  der  Wiedergabe  seiner  Henker  und 
grausen  Marter  zu  kurz  gekommen;  indessen  streift  diese 
Wiedergabe  nur  selten  an  die  Karikatur,  und  der  Ein¬ 
druck,  der  durch  eine  zumeist  wohlgelungene  Pei’spek- 
tive  unterstützt  wird,  bleibt  daher  gleichwohl  ein  großer 
und  nachhaltiger.  An  neuer  Auffassung  und  kleinen 
originellen  Zügen,  die  den  selbständig  denkenden  Künstler 
verraten,  fehlt  es  nicht.  So  steigt  in  Gethsemane  ein 
Teil  der  Häscher  über  die  Mauer,  die  den  Garten  um- 
giebt,  und  erscheint  bei  der  Verspottung  ein  richtiger 
Nachtwächter,  der  unmittelbar  vor  dem  Ohre  des  Heilands 
in  sein  langes  Horn  stößt.  In  der  Ecce-homo- Scene 
wird  selbst  von  ein  paar  kleinen  Kindern  mit  leiden¬ 
schaftlich  erhobener  Rechten  das  „Kreuzige  ihn,  kreuzige 
ihn“  mitgerufen,  und  bei  der  Darstellung  des  ersten 
Pfingstfestes  umdrängen  die  zwölf  Apostel  die  Jungfrau 
Maria  und  hängen  mit  Andacht  und  Spannung  an  ihren 
Lippen,  während  sie  ihnen  aus  einem  Buche  vorliest. 

Vorzüge  und  Mängel  der  Kunst  Claus  Berg’s  lassen 
sich,  wie  gesagt,  auch  in  dem  Haupt-  und  Mittelstück 
des  Altars  deutlich  erkennen,  nur  dass  hier,  wo  es  zu¬ 
meist  nicht  dramatisch  bewegte  Scenen,  sondern  feier¬ 
liche  Momente  der  Legende  und  Zustände  des  Schauens 
darzustellen  galt,  die  Mängel  mehr  zurück-  und  die  großen 
Vorzüge  des  Meisters  weit  in  den  Vordergrund  treten. 
Wir  geben  eine  Abbildung  der  Mitteltafel  in  2/3  der 
Größe,  wie  sie  uns  Tafel  40  des  dänischen  Werkes 
bietet,  sowie  von  der  zu  unterst  dargestellten  Reihe  der 
Heiligen  und  Engel  Abbildungen  der  rechts  von  der 
Mittelgruppe  angeordneten  Figuren  in  der  Größe 
von  Taf.  42  und  43  dieser  Besprechung  bei.  (Abb.  1 — 3.) 
Allerdings  begegnen  auch  hier  hin  und  wieder,  wie  bei 
dem  krönenden  Christus,  mehreren  Apostelgestalten  der 
obersten  Heiligenreihe  oder  dem  heiligen  Papst  Clemens 
in  der  mittleren  Reihe,  übertriebene  Bewegungen  und 
gezwungene  Haltungen  oder  auch,  wie  bei  einigen 
Frauengestalten,  allzu  zierliche  Gesten,  die  den  Verfasser 
des  Textes  mit  Recht  an  Skulpturen  der  Rokokozeit 
erinnert  haben;  aber  wir  übersehen  störende  Züge  dieser 
Art  völlig  gegenüber  der  unwiderstehlichen  Größe  der 
Komposition,  der  berauschenden  Pracht  und  charakter¬ 
vollen  Art  des  Vortrages  und  dieser  Fülle  wundervoller 
oder  entzückender  Einzelheiten,  kurz  gegenüber  der  Ge¬ 
walt  des  Künstlergeistes,  der  aus  dieser  Altartafel  zu 
uns  redet.  „Und  es  wurde  eine  solche  Tafel,  dass  ihres¬ 
gleichen  nicht  in  ganz  Europa  zu  finden  ist“  schreibt  Claus 


Berg’s  Enkel,  indem  er  damit  das  Urteil  des  Sebastian 
Münster  über  das  Werk  seines  Ahnherrn  wiedergiebt.  *) 

Bereits  im  Jahre  1866  ist  zu  Odense  eine  Mono¬ 
graphie  aus  der  Feder  des  dänischen  Kunsthistorikers 
Höyen  über  Claus  Berg’s  bei'ühmtes  Altarwerk  erschienen, 
und  Höyen  hat  auch  zuerst  die  richtige  Erklärung  des 
Gedankeninhalts  der  Mitteltafel  gegeben,  indem  er  scharf¬ 
sinnig  darauf  hiiiwies,  dass  den  Darstellungen  derselljen 
eine  Verquickung  der  Rosenkranzidee  mit  Gedanken,  die 
der  bekannte  Mystiker  Bonaventura  (f  1274)  in  seiner 
Schrift  „Lignum  vitae“  äußere,  zu  Grunde  liege.  Dieser 
mystische  Lebensbaum  ist  es,  an  den  wir  den  Körper 
des  Herrn  in  der  Mitte  unserer  Tafel  geheftet  sehen. 
Seine  Äste  tragen  als  gute  Frucht  die  wahren  Christen, 
deren  jeder  nach  der  Meinung  Bonaventura’s  ganz  erfüllt 
sein  sollte  von  dem  Worte  des  Apostels  Paulus  „Ich 
bin  mit  Christus  gekreuzigt“:  eine  erlesene  Schar  von 
Heiligen,  Aposteln  und  Propheten.  Wie  sich  so  in  der 
Mitte  der  Tafel  das  Leiden  zum  Heile  der  Menschheit 
dargestellt  findet,  soll  —  ebenfalls  im  Anschluss  an 
Bonaventura  —  die  Gruppe  unter  dem  Crucifixus  Ur¬ 
sprung  und  Anfang  der  Erlösung  versinnbildlichen,  die 
Darstellung  zu  Häupten  des  Heilands  die  Vollendung 
des  Werkes,  den  Sieg  über  den  Tod  andeuten.  Weniger 
im  Sinne  Bonaventura’s  als  in  dem  des  ausgehenden 
Mittelalters  gipfelt  eben  diese  Darstellung  in  einer  Ver¬ 
herrlichung  Mariens,  der  jungfräulichen  Gottesmutter, 
welcher  der  Altar  geweiht  sein  sollte.  Das  Ganze  ist 
als  eine  himmlisclie  Vision  gedacht;  daher  die  Wolken 
zu  den  Füßen  der  dargestellten  heiligen  Personen  und 
die  überall  daraus  hervorlugenden  und  hervortauchenden 
Eiigelchen. 

Ohne  Zweifel  am  treftlichsten  gelungen  und  von 
ganz  besonderem  Reiz  sind  unter  diesen  Darstellungen 
dieijenigen  der  unteren  Reihe.  Prächtigste  Repräsen¬ 
tation  findet  sich  hier  mit  entzückendem  Liebreiz  ver¬ 
einigt.  Zunächst  die  schon  erwähnte  köstlich -hehre 
Mittelgruppe,  realistisch  und  doch  voll  Hoheit:  das  Jesus¬ 
kind  von  den  Armen  der  heiligen  Anna  zu  der  Mutter 
hinüberstrebend,  einer  kräftig-anmutigen,  wahrhaft  könig¬ 
lichen  Gestalt  in  weit  wallender  Gewandung.  Dann  die 
unübertreffliche  Figur  der  heiligen  Maria  Magdalena, 
ein  kleines  Kunstwerk  für  sich,  urwüchsig  und  echt, 
wie  wenige.  Die  Heilige  ist  sorgfältig  in  eine  etwas 
auffällige  Zeittracht  gekleidet,  hält  in  der  Linken  das 
Salbengefäß  und  schürzt  mit  der  Rechten  mit  leiser 


1)  Vergl.  Goldschmidt  a.  a.  0.  S.  32.  Die  Stelle  in  Se¬ 
bastian  Münster’s  Cosmograpliia  (Lib.  111,  S.  814)  lautet:  ,, Me¬ 
tropolis  eins  (nämlich  der  Insel  Fünen)  vocatur  Ottoninm, 
vulgo  Odensehe,  civitas  episcopalis  satis  bene  extructa,  sed 
male  munita,  quippe  quae  per  bella  saepe  fuit  depopulata 
ac  combusta.  Aiunt  matrem  regis  Christierni  secundi,  mira- 
bile  et  artificiosissimum  opus,  ingeniosa  sculjitura  in  ligno 
formatum,  super  altare  quoddam  apud  Minoritas  collocasse, 
cuius  simile  in  Europa  non  invenitur.“ 


8 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


Aiiektation  das  kostbare  Obergewaud,  Avalirend  sie,  wohl 
wvi'iL'vr  ,.iii  seliiiierzliclies  Xaclidenken  versunken"  (F. 
b'ckarr:  als  —  wenn  anders  wir  die  Zeit  richtig  ver- 
sTähen  —  im  Bewusstsein  ihrer  Schönheit  den  Blick  ge- 
e;mkt  hält.  Auf  der  anderen  Seite  der  Mittelgruppe  ent- 
sprichi  ihr  die  prächtige  G-estalt  der  heiligen  Katharina 
VüU  Alexandrien,  jeder  Zoll  eine  Fürstentochter,  eine 


Gerade  an  diesen  Darstellungen  erkennt  man  aber 
wieder  auf  das  deutlichste,  wie  unendlich  viel  die  Aus¬ 
führung  thut.  ln  großem  Stile,  gewissermaßen  monu¬ 
mental,  ohne  kleinliches  Eingehen  auf  Einzelheiten,  so 
wie  sie  der  vorschaffende  Geist  geschaut  und  gewollt, 
sind  die  meisten  dieser  Figuren  und  Gruppen  auch  voll¬ 
endet  worden,  und  selbst  gewisse  Härten  der  x\usführung. 


Einzelheit  von  der  untersten  Reihe  der  Engel  und  Heiligen  vom  Odenser  Altar. 


Krone  auf  dem  Haupte  und  mit  lang  auf  Brust  und 
Rücken  herabwallendem,  schwarzem  Lockenhaar.  Weiter¬ 
hin  folgen  noch  rechts  im  Vordergründe  die  heilige 
Christine  und  zwei  Engel,  die  naiverweise  einen  Schwaneu¬ 
pelz  mit  Flügeln  um  die  Schultern  tragen,  links  mit 
etwas  blödem  Gesichtsausdruck  die  heilige  Barbara,  Ur¬ 
sula,  mit  ihrem  Pfeil,  den  Blick  ernst  und  eindringlich 
aut  den  Beschauer  gerichtet,  und  ein  schwertbewehrter 
Engel,  vermutlich  Michael. 


die  namentlich  den  nicht  immer  ganz  natürlich  scheinen¬ 
den,  bauschigen  und  oft  unschönen  Faltenwurf  betreffen, 
tragen  nur  dazu  bei,  den  Eindruck,  dass  wir  es  mit 
einer  kraftvollen  und  bedeutenden  Künstlerindividualität 
zu  thun  haben,  noch  zu  erhöhen.  Um  so  mächtiger  wird 
aber  auch  der  Wunsch,  Näheres  über  die  Gesellen,  die 
Mitarbeiter  des  Meisters  zu  erfahren.  Sollte  darüber, 
wie  über  Claus  Berg  selbst,  in  den  dänischen  Archiven 
nicht  doch  noch  manches  zu  ermitteln  sein? 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


61 


Die  Stifterfig-uren  der  Predella  endlich,  wiedenuu 
treffliche  Beispiele  für  die  Art  des  Meisters,  in  großem 
Stil  zu  charakterisiren,  gleichsam  mit  wenig  Worten 
viel  zu  sagen,  geben  sichere  Anhaltspunkte  für  die 
Datirung  des  Werkes.  Dargestellt  sind,  zu  den  Seiten 
eines  kleinen  Ecce  homo  knieend,  rechts  die  Königin 
Christine  im  Witwenschleier,  hinter  ihr  die  arme  junge 
Königin  Elisabeth,  ihre  Schwiegertochtei’,  die  Gemahlin 


vorragenden  deutschen  Meisters,  eben  weil  wir  ihn  und 
sein  Schaffen  in  zusamraenfassenden  deutschen  Dar¬ 
stellungen  (von  Lühke,  Bode  etc.)  in  der  Kegel  überhaupt 
nicht  erwähnt,  geschweige  denn  eingehend  behandelt 
und  gewürdigt  finden,  an  der  Hand  des  neuen  dänischen 
Werkes  ausführlich  berichten  zu  sollen  geglaubt  habe, 
so  kann  ich  mich  bezüglich  derjenigen  dänischen  Altar¬ 
werke,  die  gleichfalls  aus  Claus  Berg’s  Werkstatt  her- 


Eiuzelheit  von  der  untersten  Reihe  der  Engel  und  Heiligen  vom  Odenser  Altar. 


König  Christian’s  II.  und  die  Kurfürstin  Elisabeth  von 
Brandenburg,  König  Hans’  und  Christinen’s  Tochter,  links 
König  Hans  und  seine  beiden  Söhne  König  Christian  II. 
und  Franz,  sowie  das  älteste  Söhnchen  Christian’s,  Hans. 
Das  Geburtsjahr  des  letzteren  (1518)  giebt  den  terminus 
a  quo,  das  Todesjahr  der  Königin  Christine  (1521)  mit 
ziemlicher  Gewissheit  den  terminus  ad  (juem  für  die 
Fertigstellung  der  Predella  und  wohl  auch  des  Altars, 
der  also  etwa  1520  vollendet  worden  sein  mag. 

Wenn  ich  über  das  bedeutendste  Werk  dieses  her¬ 


vorgegangen  sind  und  nun  ihre  zumeist  wohl  erstmalige 
Veröffentlichung  erfahren  haben,  mit  einer  kurzen  Er¬ 
wähnung  begnügen.  Denn  die  Betrachtung  derselben 
vermag  dem  Bilde  des  Künstlers  wesentliche  Züge  kaum 
mehr  hinzuzufügen,  wenn  sie  uns  auch  die  einzelnen 
Seiten  seines  Wesens  natürlich  noch  genauer  kennen 
lehrt.  Es  handelt  sich  um  die  Tafeln  52 — 55  des 
dänischen  Werkes,  bezw.  um  die  Schnitzaltäre  in  der 
Kirche  zu  Tistruj)  in  Jütland,  zu  Sauderum  bei  Odense, 
zu  Bregninge  auf  ^Erö  und  in  der  Frauenkirche  zu 


62 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


Aarlms.  Dreimal  (zu  Sanderum,  Bregniug-e  imd  Aarlius) 
tritt  uns  dabei  als  Mittelstück  eine  tigurenreicbe  Kreu¬ 
zigung  entgegen,  reich  an  allerlei  neuen  Motiven,  aber 
auch  voll  von  Scheußlichkeiten,  wie  denn  die  Darstellung 
des  Gemeinen  und  Abschreckenden  hier  wieder  zum 
Schaden  einer  harmonischen  und  reinen  'Wirkung  sehr 
überwuchert.  Die  beiden  Schächer  sind  jedesmal  in  ganz 
absonderlichen  und  entsetzlichen  Verrenkungen,  teilweise 
auch  mit  dem  Kopf  nach  unten  ans  Kreuz  geheftet,  und 
die  Physiognomieen  der  Häscher  und  Kriegsknechte  Claus 
Berg's  übei'ti’etfen  an  Roheit  und  Gemeinheit  selbst  die 
Unholde  der  alten  kölnischen  und  niederländischen  Bild¬ 
schnitzer. 

Übrigens  wird  im  Text  gesagt,  dass  die  WArke 
Claus  Berg’s  den  Einfluss  der  schwäbischen,  fränkischen 
und  niederländischen  Kunst  verrieten.  Dafür  scheinen 
mir  die  Abbildungen  wenigstens  keinen  genügenden  An¬ 
halt  zu  gewähren  und  an  direkte  Anlehnung  und  Herüber¬ 
nahme  ist  bei  der  stark  ausgeprägten,  charaktervollen 
Eigenart  des  norddeutschen  Meisters  wohl  keinenfalls 
zu  denken. 

Auch  bei  dem  zweiten  der  drei  Altarwerke,  deren 
umfassende  und  wüi'dige  Veröffentlichung  den  Grundstock 
des  dänischen  WT.rkes  bildet,  bei  dem  umfangreichen 
Elügelaltar  in  dei’  Domkirche  zu  Aarhus,  stehen  die 
Malereien  an  künstlerischem  W^ert  erheblich  hinter  den 
Holzschnitzereien  zurück,  wie  denn  in  der  That  die 
Malerei  in  Nordostdeutschland  während  des  Mittelalters 
und  bis  in  die  neue  Zeit  hinein  keinen  günstigen  Boden 
gefunden  zu  haben  scheint  und,  wo  sie  eine  selbständige 
Entwicklung  genommen  hat,  wie  etwa  in  den  Gemälden 
eines  Hans  Eaphon,  doch  in  der  Regel  keinen  Vergleich 
mit  den  Werken  der  großen  süddeutschen  und  nieder- 
rheinischen  Meister  auszuhalten  im  stände  ist.  Freilich 
bleibt  auch  hier  noch  manches  Dunkel  aufzuhellen,  w'ird 
auch  vielleicht  hier  noch  im  Laufe  der  Jahre  manches 
Kunstwerk  auftauchen,  das  dieses  ungünstige  Urteil  zu 
modiliziren  geeignet  ist. 

Als  Verfertiger  des  Aarhuser  Altars  ist  uns  durch 
eine  Notiz  im  Lübecker  Staatsarchiv,  die  zuerst  von 
A.  Hagedorn  aufgefunden  und  im  dritten  Heft  der  „Mit¬ 
teilungen  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und 
Altertumskunde“  (1889)  S.  220  veröffentlicht  wurde,  der 
Lübecker  Maler  und  Bildschnitzer  Bernt  Notke  bezeugt, 
der  1471  zuerst  urkundlich  vorkommt  und  noch  1505 
gelebt  hat.  Außer  dem  Aarhuser  Werke  ist  von  ihm 
nur  noch  ein  Altarschrein,  ebenfalls  Schnitzwerk  und 
Malereien,  erhalten  geblieben  oder  vielmehr  als  seine 
Arbeit  nachgewiesen  worden,  nämlich  der  Altar  in  der 
Heil.  Geist-Kirche  in  Reval. 

Zu  seinem  Hauptwerke  —  denn  als  solches  dürfen 
wir  den  Flügelaltar  im  Dom  zu  Aarhus  wohl  betrachten  — 
wurde  Bernt  Notke  1479  von  Jens  Iversen  Lange  be¬ 
rufen,  welcher  von  1449 — 1482  dem  Stifte  Aarhus  als 
Bischof  vorgestanden  hat  und  sich  auch  auf  unserem 


Altar  in  augenscheinlich  großer  Porträtähnlichkeit  als 
Stifter  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Schutzheiligen,  dem 
Evangelisten  Johannes,  dargestellt  findet,  —  das  früheste 
Bildnis  auf  dänischem  Boden. 

WTnn  es  nun  aber  schon  bei  dem  großen  Odenser 
Altarwerk  Glaus  Berg’s  schwer  hält,  die  künstlerischen 
Qualitäten  des  genannten  Meisters,  seine  Individualität, 
klar  zu  erkennen,  so  stößt  der  Forscher  gegenüber  dem 
Altar  im  Dom  zu  Aaidius  und  bezüglich  der  künstlerischen 
Persönlichkeit  Bernt  Notke’s  auf  vorderhand  noch  un- 
überw'indliche  Schwierigkeiten.  Denn  einmal  rühren  die 
Malereien  (Scenen  aus  dem  Leben  Christi,  aus  der  Legende 
des  heil.  Clemens,  dem  der  Altar  geweiht  war,  und  einige 
andere  Heiligendarstellungen),  wie  Francis  Beckett  des 
Näheren  ausführt,  von  mehreren,  zum  mindesten  von 
zwei  ganz  verschiedenen  Künstlern  her,  von  denen 
Becket  den  einen  ganz  in  die  Nähe  des  „Meisters  der 
Ijjversberg’schen  Passion“  rücken  möchte,  und  dann  lassen 
sieh  auch,  wenigstens  nach  den  in  verhältnismäßig 
kleinem  Maßstabe  hergestellten  Lichtdrucken,  an  den 
Skulpturen  (Heiligengestalten,  zu  beiden  Seiten  einer 
Gruppe  der  heil.  Anna  selbdritt  angeordnet)  charak¬ 
teristische  Züge  oder  eine  eigenartige  Auffassung  nicht 
mit  solcher  Deutlichkeit  erkennen,  wie  das  bei  den  oben 
besprochenen  Werken  Claus  Berg’s  möglich  war.  Eine 
Betrachtung  dei’  Originale,  und  zwar  nicht  nur  des  Altars 
in  Aarhus,  sondern  auch  desjenigen  in  Reval,  wdirde  hier 
aber  vielleicht  doch  noch  zu  einem  befriedigenderen 
Resultate  führen  können. 

Bei  einer  bereits  1514  vorgenommenen  Restauration 
ließ  der  Bischof  Niels  Klaus  Skade  zu  Altar  und  Pre¬ 
della  noch  eine  Bekrönung  hinzufügen,  einen  von  einem 
Crucifixus  und  den  Figuren  der  Gottesmutter  und  des 
Lieblingsjüngers  überhöhten  Schrein  mit  der  Krönung 
Mariä,  auf  der  einen  Seite  ein  betender  Bischof,  ver¬ 
mutlich  Niels  Skade  selbst,  auf  der  anderen  ein  Engel. 
Zu  diesem  Schrein  gehören  auch  die  beiden  Fig.  4  und 
5  reproduzirten  Gemälde,  von  denen  das  eine.  St.  An¬ 
tonius  mit  Buch  und  Kreuzesstab,  den  er  auf  ein  sich  zu 
seinen  Füßen  krümmendes  Teufelchen  setzt,  die  Außen¬ 
seite  des  rechten  Thürflügels,  das  andere,  den  Engel 
Gabriel  darstellend,  die  Innenseite  des  linken  Thürflügels 
schmückt.  Diese  Bilder  stehen  ohne  Zweifel  unter  dem 
starken  Einfluss  der  gleichzeitigen  niederländischen 
Malerei. 

Unter  den  zwölf  Altarwerken  (auf  23  Lichtdruck¬ 
tafeln  dargestellt),  die  der  Verfasser  des  Textes  noch 
weiterhin  deutschen  Schulen,  namentlich  Lübecker  und 
Schleswig-Holsteiner  Künstlern,  aus  stilistischen  Gründen 
zuschreiben  zu  müssen  glaubt,  seien  hier  nur  noch  drei 
kurz  hervorgehoben.  Der  älteste  derselben  und  über¬ 
haupt  der  älteste  von  allen  in  dem  dänischen  Werke 
publizirten  Altären  ist  ein  Flügelaltar  in  der  Kirche  zu 
Boesluude  auf  Seeland.  Er  stammt  noch  aus  dem  ersten 
Viertel  des  15.  Jahrhunderts,  und  die  Malereien,  welche 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


63 


das  äußere  Fliigelpaar,  sowie  die  Außenseiten  des  inneren 
Flügelpaares  und  die  Predella  aufweisen  (Verkündigung, 
Leidensgeschielite  Christi  und  Christus  zwischen  den 
klugen  und  den  thörichten  Jungfrauen),  gehören  nocli 
derjenigen  Stilrichtung  an,  die  an  den  Namen  des  Kölner 
Meisters  Wilhelm  angeknüpft  zu  werden  püegt.  Es  ist 
der  bekannte  Typus,  für  den  ein  milder  (Tesichtsausdruck, 


den  Skulpturen  des  Hochaltars  in  der  St.  Johanniskirehe 
zu  Lüneburg  zu  verraten  scheinen.  In  der  Mitte  ist 
Maria  als  Himmelskönigin  in  der  Gloria  dargestellt;  zu 
beiden  Seiten  Scenen  aus  dem  Lehen  Mariae,  darunter 
die  seltene  Darstellung:  Maria  in  der  Schule,  sowie  die 
zwölf  Apostel. 

Einem  anderen  Altar  (in  der  Kirche  von  Nörre- 


Der  Engel  Gabriel  und  St.  Antonius.  Vom  Altar  zu  Aarhns. 


weiße  Nasenrücken,  leichte  Kropfansätze  am  Halse  der 
Frauen  u.  a.  m.  so  charakteristisch  ist,  und  der  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  15.  Jahrhunderts  weit  über  Köln 
und  Westfalen  hinaus  verbreitet  war,  aber  auf  Nieder¬ 
deutschland  beschränkt  geblieben  zu  sein  scheint.  — 
Die  Innenseiten  des  inneren  Flügelpaares  und  die  Haupt¬ 
altartafel  zieren  Skulpturen,  zwar  noch  etwas  roh  in 
der  Ausführung,  aber  nicht  ohne  eine  gewisse  Innigkeit 
und  feine  Empfindung,  die  mir  eine  Verwandtschaft  mit 


Broby  auf  Fünen)  gehören  die  in  Fig.  6  wiedergegebenen 
entzückenden  Sippendarstellungen  als  Reliefs  der  Pre¬ 
della  an.  Aus  dem  überirdischen  Glanz  der  himmlischen 
Sphären  versetzen  sie  uns  in  das  anheimelnde  Dämmer¬ 
licht  des  Hauses,  der  Stube,  in  das  geruhige  Leben 
kleinbürgerlicher  Familien,  das  mit  so  viel  Poesie  und 
warmer  Emitfindung  vorgetragen  wird,  dass  diese  kleinen 
Genrescenen  zumal  bei  der  hohen  technischen  Vollendung, 
in  der  sie  ausgeführt  sind,  wohl  als  das  Anziehendste 


Gl 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


Sippendarstelluugen  am  Altar  in  der  Kirche  zu  Nörre-Broby  auf  Fünen. 


g-elteii  können,  das  uns  in  dein  an  Trefflichem  und  Le- 
deutendeni  so  reielien  dänischen  Tafelwerke  gehoten 
wird.  Der  Verfasser  des  Textes  niöclite  füi'  diese  Reliefs 
den  Einliuss  der  gleichzeitigen  uuterfränkisclien  Bild- 
schnifzerschule  in  Anspruch  nehmen,  und  namentlich 
die  Meisterscliaft,  mit  welcher  die  Perspektive  behandelt 
ist,  sowie  einiges  im  Paltenwurf  —  die  cliarak- 
teristische  in  drei  Spitzen  auslaufende  Komplikation  von 
Längs-  und  Querfalte  kommt  ein  iiaarmal  vor  —  erinnert 
in  der  That,  wenn  auch  nur  entfernt,  an  den  größten 
deutschen  Bildschnitzer,  Tilman  Eienienschneider.  — 
Die  übrigen  Teile  des  Altars  müssen  um  einige  .Jahr¬ 
zehnte  früher  entstanden  sein,  gehören  noch  dem  letzten 
Viertel  des  15.  Jahrhunderts  an  und  lassen  sich,  was 
Freiheit  der  Auffassung  und  Ausführung  betrifft,  mit 
den  Reliefs  der  Predella  nicht  vergleichen. 

Sehr  willkommen  ist  auch  die  getreue  Wiedergabe 
eines  nicht  sehr  umfangreichen  Triiitychons  im  National- 
museum  zu  Kopenhagen  (Katalog  von  18'Jl,  Nr.  258), 
das  aus  der  Heil.  (Teist-Kapelle  zu  Nyköping  auf  Falster 
stammt  und  dem  sogenannten  „kleister  von  Frankfurt“ 
zugeschrieben  wird.  Es  steht  dem  Triiityclion  dieses 
Meisters  im  Berliner  Alten  Museum  (Katalog  Nr.  575  B) 
besonders  nahe  und  weist  wie.  dieses  auf  den  Außenseiten 
der  beiden  Flügel  die  Vei’kündiguug  Mariä  auf  und  zwar 
genau  in  derselben  Weise,  hier  Avie  dort  „dieselben 
Stellungen,  dieselben  BeAvegungen,  diesellien  Köpfe  und 
die  gleiche  Ai’t  der  Ausführung  grau  in  grau  mit  leichter 
Fleisch-  und  Haarfarbe“.  In  unser  Altarwerk  ist  jedoch 
nur  die  Darstellung  aufgenommen,  die  das  dänische 
Triptychon  bei  geöffneten  Flügeln  bietet,  eine  innige 
und  feierliche,  aber  nicht  besonders  gut  erhaltene  An¬ 


betung  der  heiligen  drei  Könige,  deren  ältester  die  uns 
bereits  Avohlbekannten  Züge  des  Königs  Hans,  des  hohen 
Gönners  und  „zAveiten  Stifters“  des  Heil.  Geist-Spitals 
zu  Nyköping,  trägt.  In  der  Darstellung  des  mittleren 
Königs,  dessen  langer,  zu  einem  Zopf  zusamnienge- 
flochtener  Bart  auffällt,  Avird  ein  frühes  Bildnis  König 
Christian’s  11.  vermutet. 

An  die  Spitze  derjenigen  iVltai’Averke  in  Dänemark, 
Avelche  aus  niederländischen  Werkstätten  hervorgegangen 
sind,  Avii'd  mit  Recht  der  Altar  in  der  Söndresogn-Kirche 
zu  Mborg  gestellt.  Er  ist  nicht  nur  das  umfangreichste 
derselben,  sondern  steht  auch  an  Bedeutsamkeit  des  In¬ 
halts  und  Kraft  der  Charakteristik  nui'  Avenigen  selbst 
unter  den  besprochenen  deutschen  Werken  nach.  Leider 
geben  die  Lichtdrucke  (Tafel  62  —  69),  wie  der  Verfasser 
des  Textes  bemerkt,  von  der  Ausfühinug  kein  ganz 
i'iclitiges  Bild,  da  der  Altar  scliAvei’  zu  photographiren 
Avar.  r>ie  Modellirung  erscheint  gröber,  alle  Linien 
härter,  als  bei  dem  Originale. 

Auch  ohne  die  auf  einer  der  Schnitzereien  ange¬ 
brachte  Hand  mit  gespreizten  Fingern,  das  Zeichen  der 
Antwerpener  Herkunft,  könnte  man  doch  ülter  die  Schule, 
der  dieses  Altai'Averk  entstammt,  keinen  Augenblick  im 
ZAveifel  sein.  Die  Silhouette  des  Altars,  die  an  den 
Querschnitt  durch  eine  gotische  Kirche  mit  übeihöhtem 
Haupt-  und  zAvei  niedrigeren  Seitenschiffen  erinnert,  die 
Anordnnng  der  Darstellungen,  die  Gruppirnng  inner¬ 
halb  derselben  und  der  in  den  einzelnen  Grni)pen  und 
Figuren  zum  Ausdruck  kommende  Formenkanon,  alles 
weist  unwiderstehlich  auf  eine  Antwerpener  Werkstatt 
und  das  erste  Viertel  des  16.  Jahrhunderts  hin.  Ja 
ein  genauer  Vergleich  mit  den  Wei’ken  dieser  Schule, 


ALTARWERKE  IN  DÄNEMARK  AUS  DEM  SPÄTEREN  MITTELALTER. 


65 


die  wir  ja  auch  am  deutschen  Niederrhein  in  Kempen, 
Xanten,  Straelen  etc.  verschiedentlicli  antreffen,  würde 
sogar  eine  zum  Teil  vollkommene  Uljereinstimmung  in 
manchen  Einzelheiten  ergehen.  Doch  dazu  ist  hier  nicht 
der  Ort. 

Die  Malereien  auf  den  Außen-  und  Innenseiten  der 
Flügel  sind  nur  handwerksmäßige  Arbeiten,  haben  außer¬ 
dem  unter  Restaurationen  gelitten  und  hieten  auch  in¬ 
haltlich  nur  ein  geringes  Interesse.  Dieses  konzentrirt 
sich  vielmehr  ansschließlich  auf  die  Schnitzereien  des 
eigentlichen  Altarschreines.  In  der  Mitte  unten,  wie  so 
häutig  auf  Antwerpener  Altären,  der  schlafende  Jesse, 
dessen  Leihe  ein  starker  Stamm  entwächst,  der  sich 
bald  in  zwei  Teile  teilt,  zu  beiden  Seiten  Propheten 
mit  langen  Sclirifthändern  in  den  Händen.  Darüber  als 
Hauptdarstellung  eine  schön  komponirte  Kreuzigung,  von 
den  regelmäßigen  Windungen  des  tigurenhesetzten  Stamm¬ 
baums  Christi  umrahmt;  hoch  oben  die  Gottesmutter  mit 
dem  Kinde.  Rechts  von  diesem  Mittelstück  eine  größere 
Darstellung,  die  Kreuzschleppung,  und  darunter  zwei 
kleinere:  Verkündigung  und  Geburt  Christi;  ebenso  links 
davon  die  Beweinung  und  darunter  in 
kleineren  Abmessungen  die  Beschneidung, 
bei  der  der  Hohepriester  ganz  wie  in 
der  gleichen  Darstellung  auf  dem  Georgs¬ 
und  Viktors-Altar  in  der  Pfarrkirche  zu 
Kempen  mit  einer  Brille  bewehrt  ist, 
und  die  Darstellung  im  Tempel.  Am  be¬ 
deutendsten  und  harmonischesten  von 
diesen  Darstellungen  wirkt  vielleicht  die 
Scene  aus  Christi  Kreuzesgang,  die  bei¬ 
folgend  in  Fig.  7  wiedergegeben  ist.  Der 
Heiland  ist  im  Begriif,  unter  der  Last 
des  Kreuzes  niederzusinken,  das  Simon 
von  Kyrene  nun  tragen  hilft,  während 
Veronika  vor  Christus  niedergekniet  ist 
und  ihr  Tuch  mit  zarten  Fingern  empor¬ 
hebt.  Sie  ist  niedergekniet,  obgleich  der 
rauhe  Kriegsmann  im  Vordergründe  seinen 
Speer  gegen  sie  gefällt  hat  und  auch 
Simon  von  Kyrene  ihr  Warnungsworte 
zuzurufen  scheint.  Mit  einem  Blick  voll 
unendlichen  Vertrauens  und  gläubiger 
Hingabe  blickt  sie  zu  dem  von  dunklen 
Locken  umrahmten,  dornengekrönten  Dul- 
dei’antlitz  empor,  ruhig  und  in  den  Willen 
des  Höchsten  ergeben,  wie  ilir  Meister. 

Dieses  Moment  der  Ruhe  in  all  der  grau¬ 
sen  Bewegung  ist  mit  ungemeiner  Fein¬ 
heit  gegeben  und  von  großer  und  er¬ 
greifender  Wirkung.  In  den  Blicken  die¬ 
ser  zarten  Frau,  die  sich  so  ruhig  und 
furchtlos  unter  die  gefühllos  ihres  Dienstes 
waltenden  Kriegsknechte  mischt,  um  dem 
Herrn  noch  einen,  den  letzten  Liebes- 
Zeitsohrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  3. 


dienst  zu  erweisen,  lesen  wir  es,  mit  welclien  Mitteln 
die  Lehre  des  Mannes  von  Nazareth  und  seine  Naclifolge 
unwiderstehlich  den  Sieg  über  ihre  Widersacher  er¬ 
ringen  wird. 

Unter  den  weiteren  dänischen  Altartafeln  nieder- 
ländisclien  Ursprungs  seien  noch  ein  kleines  Tiiptychon 
in  der  Kirche  zu  Nöddebo  bei  Fredensborg  (Taf.  Gl) 
und  der  Altar  in  der  Kirche  zu  Sfeby  in  Jütland 
(Taf.  70 — 71)  erwähnt,  die  beide  durch  ihre  Gemälde 
ausgezeichnet  sind.  Die  Mitteltafel  des  Triptychons  in 
Nöddebo,  Christus  am  Kreuz  zwischen  Maria  und  Johannes, 
Maria  Magdalena  den  Fuß  des  Kreuzes  umklammernd, 
erinnert  Beckett  teils  an  die  Gerard  David  zugeschriebene 
Kreuzigung  im  Berliner  Museum,  teils  auch  an  die  bei 
Clemen,  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz  I,  214  repro- 
duzirte  Kreuzigung  in  der  Kapelle  des  Hauses  Caen  in 
Straelen  nicht  weit  von  Geldern  und  der  niederländischen 
Grenze.  Die  Flügel  des  Nöddeboer  Altärchens  sind  von 
anderer,  schwächerer  Hand  gemalt.  Von  den  Gemälden 
des  Altars  in  der  Kirche  zu  Sfeby  sind  die  bedeutendsten, 
die  beiden  Altarflügel,  bereits  1829  in  das  National- 


66 


DER  MEISTER  DES  HAUSBÜCHES  ALS  MALER. 


mxiseum  zu  Kopeuhag-en  überführt  ^yor(len.  Sie  stelleu 
die  Verküadigung  sowie  die  Aubetung  durcii  die  heiligeu 
drei  Könige  und  die  Anbetung  durch  die  Hirten  dar 
und  gelten  als  Werke  des  Herri  inet  de  Lies.  In  der 
Kirche  wurden  diese  Originale  durch  minderwertige 
niederländische  Kopieen  aus  dem  Ende  des  17.  Jahr- 
liunderts  ersetzt. 

Und  die  Werke  einheimischer  dänischer  Künstler? 
So  wird  der  Leser  Jetzt,  da  wir  am  Ende  unserer  Be¬ 
sprechung  des  neuen  dänischen  Tafel  Werkes  angelangt 
sind,  ohne  Zweifel  versucht  sein  zu  fragen.  Sie  befinden 
sich,  wie  bereits  o))en  bemerkt  ■wurde,  außerordentlich 
in  der  lliuderzahl.  Es  werden  als  solche  national¬ 
dänische  Werke  von  dem  Verfasser  des  Textes  mit 
einiger  Bestimmtlieit  eigentlich  nur  zwei  Altartafeln  zu 
Bjerre  auf  Seeland  und  zu  Engestofte  auf  Laaland  in 
Anspruch  genommen;  und  diese  beiden  Werke  bieten  — 
abgesehen  von  einigen  hübschen,  ornamentalen  Ein¬ 
fassungen  und  Laubstabverzierungen  —  so  wenig  des 


kunstgeschichtlich  Bedeutsamen  oder  ästhetisch  Schönen, 
dass  wir  uns  hier  mit  dieser  kurzen  Erwähnung  der¬ 
selben  begnügen  zu  dürfen  glauben.  Und  zwar  um  so 
mehr,  als  zur  Feststellung  dessen,  was  nun  an  diesen 
Arbeiten  als  specifiscli  dänisch,  als  einheimischer  Stil 
zu  l)etrachten  sei,  die  geringe  Zahl  der  Altäre  keine 
genügenden  Anhaltspunkte  bietet.  Dazu,  wie  überhaupt 
zu  einer  mehr  kulturgeschichtlichen  Betraclitung  und 
Würdigung  mangelt  es  uns  aber  im  Augenblick  nicht 
nur  an  dem  erforderlichen  Material,  sondern  an  dieser 
Stelle  auch  an  Raum,  weswegen  die  Behandlung  die¬ 
ser  und  ähnlicher  Fragen  einer  anderen  Clelegenheit 
Vorbehalten  bleiben  mag.  Hier  handelte  es  sich  für 
uns  vornehmlich  darum,  den  Weit  der  neuen  dänischen 
Publikation  insbesondere  für  die  niederdeutsche  Kuust- 
forschung  in  das  rechte  Licht  zu  setzen  und  die  Per¬ 
spektiven  anzudeuten,  die  es  eröffnet.  Möchte  es  reiche 
Nachfolge  finden ! 

Nürnberg.  TH.  HAMPE. 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 

VON  ED.  FLECHSIG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


AS  Liebespaar  ist  unstreitig  das  schönste 
Gemälde  des  Meisters,  jedoch  nicht  sein 
letztes.  Es  folgen  noch  eine  Reihe  von 
Darstellungen  aus  dem  Marienleben  in 
Mainz,  Oldenburg  und  Schleißheim  und 
eine  Auferstehung  Christi  in  Sigmaringen. 

Das  Marienleben  in  der  städtischen  Galerie  zu  Mainz 
besteht  aus  neun  Tafeln  (Nr.  299  —  307,  auf  Lindenholz) 
und  ist  1505  entstanden,  wie  auf  der  Verkündigung 
(Nr.  300)  zu  lesen  ist.  Woher  diese  Bilder  stammen, 
ist  nicht  bekannt,  möglich,  aus  einer  Mainzer  Kirche. 
Nach  dem  älteren  Kataloge  schenkte  sie  der  Kurfürst 
L.  F.  von  Schönborn  1720  dem  Wälschnonnenkloster 
in  Mainz,  von  wo  sie  1810  in  die  städtische  Galerie 
gelangten.  * ) 

Mariens  erster  Tempelgang  (Nr.  299).  Joachim  und 
Anna  sind  eben  im  Begriff,  von  links  her  mit  ihrem 
Hündchen  die  zum  Tempel  führende  Treppe  zu  betreten. 
Die  kleine  Maria  hat  schon  die  Hälfte  der  Stufen  hinter 
sich  und  sieht  zu  dem  Hohenpriester  empor,  der  mit 
einem  geöffneten  Buch  in  der  Linken  vor  der  Thür  des 
Tempels  steht,  begleitet  von  zwei  fackeltragenden  Jüng- 

1)  Photographirt  von  E.  Neeb.  —  Schon  Max  Priedläncler 
hat  im  Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XVII,  273,  auf  die 
nahe  stilistische  Verwandtschaft  dieser  Bilder  mit  den  Schöp¬ 
fungen  des  Hausbuchmeisters  hingewiesen. 


(Schluss.) 

lingen  mit  langem  lockigem  Haar.  Hinter  ihnen  erblickt 
man  den  Kopf  eines  unbärtigen  Mannes  mit  einer  Kegel¬ 
mütze.  Rechts  im  Vordergründe  am  Rande  der  Treppe 
stehen  vier  kerzentragende  reichgekleidete  Jungfrauen 
mit  Kronen  auf  dem  Haupte  und  offenem  Haar.  Im 
Hintergründe  links  ein  breiter  Fluss  mit  steilem  Ufer, 
darin  ein  Kahn,  in  dem  zwei  Männer  sitzen,  und  einige 
Wassertürme,  von  denen  der  hintere  durch  eine  steinerne 
Brücke  mit  dem  Ufer  verbunden  ist. 

Verkündigung  (Nr.  300).  Wir  sehen  in  ein  bürger¬ 
liches  Wohn-  und  Schlafgemach.  Maria  kniet  rechts  vor 
einem  Pulte,  im  Begriff,  ein  Blatt  ihres  Gebetbuches 
umzuschlagen.  Sie  wendet  den  Kopf  etwas  nach  dem 
Engel,  die  Rechte  hat  sie  wie  in  plötzlichem  Schreck 
erhoben.  Über  ihr  schwebt  die  Taube.  Gabriel  ist  von 
links  herangekommen,  beugt  das  Knie  und  spricht  zu 
Maria  mit  erhobenem  Zeigefinger  der  Rechten.  Die  Linke 
hält  den  Stab  und  das  Ende  des  Spruchbandes,  auf  dem 
in  Antiquabuchstaben ,  die  noch  mit  einigen  gotischen 
Typen  vermischt  sind,  die  Worte  stehen:  „Ave  graci(a) 
plena  dominus  tecum“.  Der  Fußboden  ist  mit  Steinfliesen 
belegt.  Über  der  Thür  links  befindet  sich  eine  Tafel 
mit  der  Jahreszahl  1505  und  einer  sonst  unleserlichen 
Inschrift.  Im  Hintergründe  das  Bett,  links  neben  ihm 
ein  Schrank  mit  blinkendem  Waschgeschirr,  dann  ein 
Handtuch  an  der  Wand,  ein  Tisch  mit  Gefäßen  u.  a. 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER 


67 


Heiinsiicliung'  (Nr.  301,  vergl.  die  Abbildung).  Im 
Vordergründe  begrüßt  Elisabeth  vor  der  Thür  ihres 
Hauses  verehrungsvoll  die  von  links  herangekommene 
Maria,  während  Zacharias  hinter  ihr  das  Knie  beugt. 
Joseph,  in  Wanderertracht,  hat  eben  das  Hofthor  durch¬ 
schritten.  Ganz  im  Vordergründe  ein  kleines  Quellwasser 
mit  Blumen  (und  Gräsern,  im  Hintergründe  eine  bergige 
Landschaft  mit  Laixbbäumen. 

Geburt  Christi  (Nr.  302,  vergl.  die  Ablxildung).  Links 


Heimsudmus.  Vom  Jleister  des  Hausbuches. 

Mainz,  Städtische  (ialerie. 

vorn  kniet  Joseph  mit  mürrischem  Gesicht,  den  Hut  vor 
die  Brust  gedrückt,  in  den  gefalteten  Händen  den  Stock 
haltend,  rechts,  etwas  weiter  zurück,  kniet  Maria  itnd 
betet  das  nackte  Kind  an,  das  zwischen  ihnen  auf  einer 
Windel  liegt  und  sein  Gesicht  Joseph  zuwendet.  Links 
hinter  einem  niedrigen  Bretterverschlag  drei  Hirten.  Im 
Mittelgründe  die  wohlerhaltenen  Ruinen  eines  Kirchen¬ 
gebäudes,  die  mit  einem  Strohdach  gedeckt  sind.  Dar¬ 
unter  Ochs  und  Esel  an  einer  Krippe.  Im  Hintergründe 


links  die  Verkündigung  an  die  Hirten  im  Felde,  rechts 
eine  Stadt. 

Anbetung  der  Könige  (Nr.  303).  Maria  sitzt  links 
im  Mittelgründe  und  hat  auf  ihrem  Schoße  das  Kind, 
dessen  Unterkörper  mit  einer  Windel  bedeckt  ist.  Links 
neben  ihr  steht  ein  Schemel  und  darauf  das  mit  Gold¬ 
münzen  angefüllte  Kästchen,  das  der  älteste  König  dar¬ 
gebracht  hat.  Dieser  kniet  anbetend  im  Vordergründe, 
rechts  neben  ihm  der  mittlere  König  mit  einem  Pokal, 


Geburt  Christi.  Vom  Meister  des  Hausbuches. 
Maiuz,  Städtische  Galerie. 


dessen  Deckel  er  abhebt,  rechts  hinter  ihnen  steht  der 
Mohr  mit  einem  Trinkhorn.  Dahinter  das  reiche  Gefolge 
der  Könige,  das  in  langem  Zuge  heraiikommt.  Joseph, 
sowie  Ochs  und  Esel  fehlen.  Die  Örtlichkeit  ist  dieselbe, 
wie  auf  dem  vorigen  Bilde. 

Darstellung  im  Tempel  (Nr.  304).  Rechts  am  Altar 
steht  der  Priester  und  hält  auf  einer  Windel  das  Kind; 
hinter  ihm  ein  junger  Mann  mit  einer  Kegelmütze  und 
einem  großen  geschlossenen  Buch  in  den  Händen.  Maria 

9* 


68 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


kniet  links,  dem  Priester  ztigewandt,  auf  der  Altarstufe||i 
mit  einem  Paar  Tauben  in  den  Händen.  Hinter  ihr  steht 
Joseph  und  greift  in  die  Tasche.  Außerdem  sind  noch 
drei  Frauen,  von  denen  die  vorderste  jüngste  eine  Kerze 
hält,  am  Vorgänge  beteiligt.  Der  Fußboden  hat  das¬ 
selbe  Fliesenmuster  wie  auf  Nr.  300. 

Der  zwöltjährige  Jesus  im  Tempel  (Nr.  305).  Jesus, 
mit  langem  auf  die  Schultern  herabfallendem  Haar,  in 
ein  weites,  bis  zu  den  Füßen  reichendes  Gewand  ge¬ 
kleidet,  sitzt  da,  den  Zeigefinger  der  Eechten  lehrend 
erhoben,  um  ihn  herum  auf  Bänken  die  Schriftgelehrten. 
Links  sind  Maria  und  Joseph  eben  zur  Thür  hereiu- 
gekommen. 

Ausgießung  des  heiligen  Geistes  (NT.  306).  In  einer 
kleinen  offenen,  polj'gonalen,  von  schlanken  Säulen  ge¬ 
tragenen  Halle  sitzt  Maria,  ganz  von  vorn  gesehen,  im 
Kreise  um  sie  herum  auf  Bänken  die  Apostel,  ihr  zu¬ 
nächst  links  Petrus,  rechts  Johannes.  Über  Maria 
schwebt  die  Taube.  Der  Fußboden  hat  dasselbe  Fliesen¬ 
muster  wie  auf  Nr.  300  und  304.  Den  Hintergrund 
bildet  eine  Flusslandschaft  mit  einem  Kahne  in  der  Mitte, 
einem  Laubwald  rechts,  einem  weit  ins  Wasser  gebauten 
Turm  links.  Anstatt  der  Luft  Goldgrund. 

Tod  Mariens  (Nr.  307).  Maria  liegt  mit  ge¬ 
schlossenen  Augen  und  gekreuzten  Händen  halb  auf¬ 
gerichtet  im  Bett.  \'orn  an  dessen  Fußende  sitzt  links  ein 
Apostel  mit  einem  Buch  auf  den  Knieen,  ein  anderer 
kniet  vor  einem  Gebetbuche.  Hinter  dem  Bett  stehen 
oder  knieen  die  übrigen  Apostel,  Maria  am  nächsten 
Johannes  mit  einem  Palmzweige,  dann  Petrus  als  Priester 
mit  Buch  und  Sprengwedel  und  Jakobus  d.  j.  mit  dem 
Weihwassergefäß.  Über  ihren  Köpfen  im  Goldgrund 
Christus,  der  die  Seele  der  Maria  empfängt.  Steinfliesen¬ 
muster  wie  auf  Nr.  300,  304  und  306. 

Übereinstimmungen  dieser  neun  Tafeln  mit  den 
früher  besprochenen  Bildern  sind  in  Menge  vorhanden. 
Ich  führe  nur  einige  an.  Das  Gesicht  Maria’s  auf  der 
Geburt  Christi  zeigt  engste  Verwandtschaft  mit  dem  des 
Mädchens  in  Gotha,  ebenso  das  der  jungen  Frau  mit 
turbanähnlicher  Haube  auf  der  Darstellung  im  Temi»el, 
womit  mau  die  Zeichnung  des  Berliner  Kabinetts  ver¬ 
gleiche.  Der  Engel  Gabriel  und  der  Apostel  Johannes 
erinnern  sehr  au  den  Jüngling  in  Gotha.  Die  Apostel 
haben  einige  Ähnlichkeit  mit  denen  der  Predella  des 
Wolfskehlener  Altar werks.  Gabriel  hat  wieder  Pfauen¬ 
fittiche;  der  Fußboden  ist  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie 
früher  mit  Steinfliesen  belegt,  und  auch  die  Säule  mit 
dem  schon  mehrfach  erwähnten  eigenartigen  Kapitäl 
fehlt  nicht.  Am  besten  jedoch  vermittelt  zwischen  den 
früheren,  namentlich  den  Darmstädter  Bildern  und  dem 
Mainzer  Marienleben  die  Farbengebung.  Darin  ist  sich 
der  Meister  im  wesentlichen  gleich  geblieben. 

Es  ist  noch  übrig,  die  Übereinstimmung  der  Mainzer 
Bilder  mit  den  Stichen  nachzuweisen.  Gelingt  dies  für  ein 
oder  zwei,  so  muss  es  auch  für  die  anderen  gelten.  Ver- 


■  gleichen  wir  z.  B.  die  Geburt  Christi  und  die  Anbetung  der 
Könige  mit  dem  Stiche  L.  1 0  (Anbetung  der  Könige).  In  der 
Komposition  sind  die  beiden  gleichnamigen  Darstellungen 
vollkommen  unabhängig  von  einander.  Zergliedern  wir 
sie  aber,  so  zeigt  es  sich,  dass  gewisse  Kleinigkeiten, 
auf  die  weder  der  Künstler  noch  der  Beschauer  Wert 
legt,  hier  wie  dort  genau  so  wiederkehren:  das  Stroh¬ 
dach,  die  Kämpfer,  auf  denen  die  Bogen  aufsitzen,  über¬ 
haupt  die  ganze  Art  des  Mauerwerks,  die  Treppe  im 
Hintergründe  (Geburt  Christi  in  Mainz),  die  Andeutung 
einer  Kellerthür  ganz  vorn  am  Rande,  ferner  Ochs  und 
Esel  an  der  Krippe  (auf  dem  Bilde  der  Geburt  genau 
von  der  Gegenseite),  der  Hut  des  ältesten  Königs,  die 
Geschenke  der  beiden  jüngeren,  die  Art,  wie  der  mittlere 
den  Deckel  des  Pokals  abhebt,  der  runde  Tisch,  auf  dem 
das  mit  Gold  gefüllte  Kästchen  steht.  Endlich  hat 
Maria  auf  der  Geburt  Christi  und  der  Mohr  auf  der  An¬ 
betung  der  Könige  dasselbe  Gesicht  wie  auf  dem  Stiche 
der  Anbetung  L.  10.  Auf  zweien  der  Mainzer  Bilder, 
dem  Tempelgang  Mariens  und  der  Ausgießung  des 
heiligen  Geistes,  ist  im  Hintergrund  eine  Flusslandschaft 
zu  sehen.  Man  vergleiche  damit  den  Hintergrund  der 
Stiche  L.  28  (heilige  Familie  beim  Rosenstock)  und  L.  74 
(der  Türke),  sowie  beim  Planeten  Luna  im  Hausbuche. 
Die  auf  den  Mainzer  Bildern  vorkommenden  Laubbäume 
finden  sich  auf  den  Stichen  L.  9,  54,  67,  73. 

Unmittelbar  an  das  Mainzer  Marienleben  schließt 
sich  eine  Geburt  Christi  in  Schleißheim  und  eine  Dar¬ 
stellung  der  Anna  selbdritt  in  Oldenburg  an.  Das 
Scltleißhehner  Bild  (Nr.  136)  ist  noch  auf  keine  Weise 
veröffentlicht.  Leider  reichen  auch  meine  knappen  Eeise- 
notizen  zu  keiner  genaueren  Beschreibung  aus.  Doch 
ist  die  Übereinstimmung  mit  dem  Mainzer  Marienleben 
in  Formensprache  und  Farbengebung  so  augenfällig,  dass 
jeder  Zweifel  an  der  Urheberschaft  unseres  Meisters  aus¬ 
geschlossen  erscheint.  Überdies  hat  auch  Scheibler  schon 
vor  einer  Reihe  von  Jahren  den  Zusammenhang  zwischen 
diesen  Bildern  erkannt.  Er  schrieb  sie  einem  guten 
Schüler  Schongauer’s  zu. ') 

Das  Oldenburger  Bild,  A?ina  selbdritt,  kenne  ich  nur 
aus  einer  Radirung  von  P.  Halm  in  dem  Werke  von 
W.  Bode  über  die  Großherzogi.  Gemäldegalerie  zu  Olden¬ 
burg)  Wien,  Gesellschaft  für  vervielfältigende  Kunst,  1888). 
Bode  schreibt  es  (S.  79)  nach  Scheibler's  Vorgänge  der 
Schule  Schongauer’s  zu,  ihm  folgt  der  Galeiiekatalog 
(6.  Aufl.  1890,  Nr.  271).  Es  befand  sich  früher  als 
Wolgemut  in  der  Sammlung  Rühle  und  kam  1868  in 
die  Oldenburger  Galerie.  Im  Chor  einer  spätromanischen 
Kirche  sitzen  unter  einem  golddurchwirkten  Baldachin 
auf  einem  goldenen  Thron  in  gotischem  Stile  einander 
zugekehrt  links  Maria,  rechts  Anna.  Beide  sehen  vor 


1)  Verzeichnis  der  Gemälde  im  fürstl.  hohenzollerscben 
Museum  zu  Sigmaringen,  2.  Auf!.,  1883,  Anmerkung  zu 
Nr.  18. 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


69 


sich  nieder.  Maria,  in  ein  blaues  Gewand  gekleidet,  im 
offenen  Haar  einen  mit  Perlen  besetzten  Reif,  hat  auf 
dem  Schoße  das  nackte  Kind,  das  fröhlich  nach  dem 
Apfel  greift,  den  ihm  die  Großmutter  mit  der  Rechten 
hinreicht,  während  sie  mit  der  Linken  ein  Buch  hält. 
Als  alte  Frau  hat  sie  Kopf  und  Hals  mit  einem  weißen 
Tuche  verhüllt,  das  nur  das  Gesicht  freilässt.  Mitten 
über  den  Köpfen  der  beiden  Frauen  schwebt  in  einer 
Flammenglorie  die  Taube  des  heiligen  Geistes.  Das 
Bild  ist  auf  Kiefernholz  gemalt.  —  Die  Typen  sind 
identisch  mit  denen  der  Mainzer  Bilder.  Anna  z.  B. 
finden  wir  genau  so  auf  Mariens  Tempelgang,  sowie  auf 
der  Darstellung  im  Tempel.  Architektur  und  Fußboden¬ 
belag  kommen  ebenso  in  Mainz  vor.  Ferner  zeigt  sich 
eine  weitgehende  Übereinstimmung  mit  dem  Stiche  L.  29, 
der  dieselbe  Darstellung  hat.*) 

Endlich  gehört  unserem  Meister  noch  eine  Auf¬ 
erstehung  Christi  im  Museum  zu  Sigmaringen  an  (Nr.  18, 
aus  der  Sammlung  Weyer  in  Köln,  frageweise  dem 
Mich.  Wohlgemut  zugeschrieben).  Im  Katalog  wird 
in  einer  Anmerkung  auf  Scheibler’s  Ansicht  hingewiesen, 
der  den  Meister  für  einen  „  guten  Schüler  Schon- 
gauer’s“  hielt,  denselben,  von  dem  auch  die  Nr.  299  bis 
307  (das  Marienleben)  in  Mainz  seien.  Erst  dadurch 
wurde  ich  auf  das  Bild  aufmerksam.  Da  ich  es  schon 
längere  Zeit  nicht  mehr  gesehen,  war  es  mir  aus  dem 
Gedächtnis  entschwunden.  Der  Direktor  des  Sigmaringer 
Museums,  Herr  Hofrat  Gröbbels,  stellte  mir  in  liebens¬ 
würdiger  Weise  für  die  Untersuchung  eine  ältere  Photo¬ 
graphie  zur  Verfügung,  auf  Grund  deren  ich  nicht  nur 
Scheibler’s  Ansicht  für  richtig  erklären,  sondern  auch 
den  Nachweis  führen  kann,  dass  das  Bild  thatsächlich 
vom  Meister  des  Hausbuchs  ist. 

Der  Auferstandene,  mit  der  Siegesfahne  in  der  Linken, 
um  Schultern  und  Hüften  mit  einem  Mantel  bekleidet, 
steht  links  neben  dem  geschlossenen  steinernen  Sarko¬ 
phage;  rings  um  diesen  die  Wächter  entweder  schlafend 
oder  eben  erwachend.  Von  links  oben  schwebt  ein  Engel 
herab.  Im  Hintergründe  eine  Landschaft  mit  Laubwald, 
in  der  rechts  die  drei  Frauen  herankommen.  Anstatt 
der  Luft  Goldgrund. 

Die  Gestalt  Christi  ist  die  der  Magdalena  des  Stiches 
L.  50,  nur  ins  Männliche  übersetzt.  Sein  etwas  breites 
Gesicht  finden  wir  auch  auf  der  Kreuztragung  (L.  13), 
ferner  auf  L.  16  (Kopf  Christi)  und  L.  19  (der  gute 
Hirte).  Dazu  vergleiche  man  in  Mainz  die  kleine  Dar- 
stellirng  Christi,  der  die  Seele  der  Maria  im  Himmel 
empfängt  (auf  dem  Tod  Mariens)  und  den  Kopf  Jakobus 

1)  Wie  ich  erst  später  bemerkte,  hat  schon  Lehrs  im 
Repertorium  für  Kunstwissenschaft  XV  (1892),  S.  118  auf  die 
Verwandtschaft  des  Oldenburger  Bildes  mit  diesem  Stiche 
aufmerksam  gemacht,  ohne  jedoch  den  Schluss  zu  ziehen, 
dass  wir  es  hier  mit  zwei  Werken  zu  thun  haben,  die  nicht 
abhängig  voneinander  sind,  sondern  derselben  künstlerischen 
Phantasie  ihr  Dasein  verdanken. 


d.  j.  (auf  der  Ausgießung  des  heiligen  Geistes).  Christus 
hat  einen  Liliennimbus,  wie  auf  den  drei  Mainzer  Bil¬ 
dern:  Geburt  Christi,  Anbetung  der  Könige  und  der 
Jesusknabe  unter  den  Schriftgelehrten.  Überraschend 
ist  die  Stellung  seiner  Füße,  die  ganz  genau  so  bei  der 
heiligen  Magdalena  (L.  50)  und  beinahe  so  beim  heiligen 
Sebastian  (L.  44)  wiederkehrt.  Dort  finden  wir  auch 
dieselbe  Fußform  mit  dem  stark  hervortretenden  Ballen 
der  großen  Zehe,  ebenso  bei  der  heiligen  Magdalena 
L.  49  und  bei  dem  Jesusknaben  im  Tempel  (Mainz). 
Zu  dem  Engel  vergleiche  man  die  auf  Magdalena’s 
Himmelfahrt  L.  50,  zu  den  Wächtern  die  Männertypen 
auf  den  Bildern  Anbetung  der  Könige  und  Jesus  im 
Tempel  (Mainz).  r):'e  Felsen  endlich,  die  die  Landschaft 
auf  der  rechten  Seite  abschließen,  finden  wir  in  ganz 
ähnlicher  Weise  auf  den  Stichen  L.  5  (Simson  mit 
dem  Löwen),  L.  6  (Sinisoii  und  Delila),  L.  19  (der  gute 
Hirte),  L.  50  (Magdalena’s  Himmelfahrt),  L.  74  (der 
Türke  zu  Pferde). 

Die  Auferstehung  Christi  dürfte  um  dieselbe  Zeit, 
wie  das  Mainzer  Marienleben  oder  einige  Jahre  vorher 
entstanden  sein. 

Scheibler  schreibt  dem  Meister  dieses  Bildes  noch 
zwei  Bilder  zu,  die  er  1882  bei  Frau  Lucie  von  Livonius 
in  Frankfurt  a.  M.  gesehen  hat.  Es  sind  dies :  Christus 
vor  Pilatus  und  die  Ausstellung  Christi.*)  Herr  Kon¬ 
servator  0.  Cornill  teilte  mir  auf  eine  Anfrage  gefälligst 
mit,  dass  diese  Bilder  nicht  mehr  in  Frankfurt  seien. 
Wo  sie  hingekommen,  wusste  er  nicht  zu  sagen. 

Alle  bisher  besprochenen  Bilder  sind,  für  mich 
wenigstens,  sichere  Werke  des  Hausbuchmeisters.  Von 
ihnen  werden  als  solche  das  Liebespaar  in  Gotha,  die 
Bilder  Nr.  211—215  in  Darmstadt,  das  Mai’ieuleben  in 
Mainz,  die  Bilder  in  Schleißheim,  Oldenburg  und  Sigma¬ 
ringen,  im  Ganzen  also  19,  auch  von  anderen  ohne  weiteres 
anerkannt  werden.  Sie  gehören  der  Zeit  nach  eng  zu¬ 
sammen  und  mögen  etwa  in  den  .Jahren  1495—1505 
entstanden  sein.  Das  Mainzer  Marienleben  bildet  den 
Schluss,  das  müsste  man  schon  aus  seinem  Stil  folgern, 
auch  wenn  es  nicht  datirt  wäre.  Die  Darmstädter 
Tafeln  stehen  am  Anfang  der  Reihe  und  sind  um  1495 
anzusetzen.  Das  Liebespaar  in  Gotha  steht  ungefähr 
in  der  Mitte.  Einen  ganz  äußerlichen  Anhaltspunkt  dafür 
bieten  die  Spruchbänder  mit  ihren  noch  gotischen  Buch¬ 
staben,  während  der  Spruch  des  Engels  Gabriel  auf  der 
Verkündigung  in  Mainz  schon  mit  Antiquabuchstaben 
geschi’ieben  ist. 

Die  übrigen  Bilder,  nämlich  das  ‘Wolfskehlener 
Altarwerk  in  Darmstadt,  das  aus  Bossweiler  im  Speyerer 
Dom  und  das  in  der  Kirche  zu  'Wachenheim  vom  Jahre 
1489  werden  sich,  obgleich  sie  sich  stilistisch  nur  wenig 
mit  jenen  späteren  W^erken  berühren,  ebenfalls  als  Werke 


1)  Vergl.  den  Sigmaringer  Katalog,  Anmerkung  zu 
Nr.  18, 


70 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


des  Hausbnchmeisters  ausweisen,  sobald  noch  einige 
Zwischenglieder  bekannt  geworden  sind,  die  sich  jeden¬ 
falls  mit  der  Zeit  linden  lassen  werden.  Wissen  wir 
doch  nun,  wo  wir  zu  suchen  haben! 

Nun  giebt  es  noch  ein  größeres  Werk,  das  in  vieler 
Hinsicht  des  Meisters  Art  zeigt,  auch  unbedingt  mit  üim 
in  \''erbiudung  stehen  muss,  das  sich  aber  doch  nicht 
ohne  Zwang  in  die  Entwicklung  einreihen  lässt,  soweit 
sie  bis  jetzt  für  uns  erkennbar  ist.  Es  besteht  aus 
fünf  Tafeln  (Nr.  270,  271,  273,  275  und  276)  in  der 
Schlossgalerie  zu  AscJinffenhurg.  Dort  werden  sie  dem 
M.  Schongauer  zugeschrieben,  erinnern  jedoch  in  keiner 
Weise  an  ihn. ')  Sie  bildeten  ursprünglich  einen  Flügel¬ 
altar  in  folgender  Anordnung;  in  der  Mitte  die  Geburt 
Christi  (Nr.  273),  auf  den  Innenseiten  der  Flügel  links 
Johannes  auf  Patmos  (Nr.  275),  rechts  der  heilige 
Hieronymus  (Nr.  271),  auf  den  Außenseiten  links  der 
heilige  Martin  und  die  heilige  Katharina  (Nr.  276),  rechts 
der  lieilige  Sebastian  und  die  heilige  Margaretha  (Nr.  270). 

Geburt  Christi  (Nr.  273).  In  der  Mitte  kniet  Maria 
nach  rechts  gewandt  betend  vor  dem  in  einem  steinernen 
Troge  liegenden  in  eine.  Windel  gewickelten  Kinde,  das 
von  vier  Engeln  in  langen  goldenen  Gewändern  ange¬ 
betet  wird.  Sie  hat  auf  dem  Haupte  einen  goldenen  mit 
Perlen  besetzten  Stirnreifen,  das  dunkelblonde  Haar  fällt 
leicht  gewellt  über  die  Schultern  und  wird  nur  lose  von 
einem  Schleier  bedeckt.  Sie  trägt  ein  Kleid  von  Gold¬ 
brokat,  darüber  einen  schwarzen,  mit  goldenen  Rosetten 
besetzten  Mantel,  der  dunkelkirschrot  gefüttert  ist.  Rechts 
hinter  Maria  sieht  man  die  Köpfe  von  Ochs  und  Esel 
und  rechts  von  diesen  hinter  einer  Holzplanke  zwei 
Hirten.  Links  im  Mittelgründe  steht  Josejih  und  dreht 
dem  Beschauer  den  Rücken  zu,  wendet  aber  den  Kopf 
nach  rechts.  Dicht  am  unteren  Rande  des  Bildes,  Maria 
zugekelirt,  kniet  der  Stifter,  ein  Geistlicher,  in  weißem 
Clmrhemd,  um  die  Schultern  einen  grauen  Pelzumhang. 
Von  seinem  Munde  geht  ein  Spruchband  aus,  auf  dem 
in  gotischen  Minuskeln  die  Worte  stehen:  „Tnclyta  theo- 
tocos  populis  enixa  tonantem  Av(r)es  inclina  tu  michi  confer 
opem“.  Im  Hintergründe  eine  hügelige,  mit  Laubbäumen 
und  Sträuchern  besetzte  Landschaft  mit  einer  Schaf- 
hei’de  und  einem  knieenden  Hirten,  der  durch  einem  vom 
Himmel  herabschwebeuden  Engel  die  Botschaft  von  der 
Geburt  Christi  erhält.  Goldgrund. 

Johannes  auf  Patmos  (Nr.  275).  Er  sitzt  nach  rechts 
gewandt,  in  einen  roten  Mantel  gehüllt,  vor  seinem  Buche, 
das  auf  einem  Erdhügel  liegt.  Die  Rechte,  die  den 
Schreibkiel  hält,  hat  er  erhoben.  Die  Augen  sind  empor¬ 
gerichtet  nach  der  Madoima,  die  am  Himmel  sichtbar  ist. 
Vor  dem  Buche  steht  der  Adler.  Goldgrund. 

Hieronymus  im  Gemach  (Nr.  271).  Ersitzt  als  Kardinal 
in  einer  Art  Chorstuhl  und  hat  sich  nach  vorn  gewendet, 
um  dem  Löwen,  der  rechts  unten  sitzt,  den  Dorn  aus 


1)  Photographirt  von  Neeb. 


der  rechten  Pranke  zu  ziehen.  Vor  ihm  das  Lesepult 
mit  einer  aufgeschlageneii  Bibelhandschrift.  Durch  das 
Fenster  sieht  man  auf  eine  Landschaft,  in  der  sich  der 
Heilige  vor  einem  Baum  kasteit.  Goldgrund. 

Der  heilige  Martin  (Nr.  276)  ist  in  Vordersicht  als 
Bischof  mit  dem  Krummstab  in  der  Linken  dargestellt.  Er 
giebt  einem  auf  Krücken  stehenden  Krüppel,  der  eine  Schale 
hinhält,  ein  Almosen.  Der  Hiutergrimd  auf  diesem  wie 
auf  den  folgenden  Bildern  ist  schwarz  und  mit  goldenen 
Sternen  besetzt.  —  Darunter;  die  heilige  Katharina,  nach 
rechts  gewandt,  hält  mit  der  Linken  das  Schwert,  mit 
der  Rechten  vor  der  Brust  ein  aufgeschlagenes  Buch.  Zu 
ihren  Füßen  liegen  zwei  Bruchstücke  des  Rades. 

Der  heilige  Sebastian  (Nr.  270),  ganz  von  voi'u,  ist  an 
eine  Säule  gebunden.  Auf  dem  Kopf  hat  er  ein  rotes 
Barett,  um  die  Schultern  einen  weiten  roten  Mantel,  der 
aber  den  Körper  nicht  bedeckt.  Der  Heilige  ist  durcli  sechs 
Pfeile  verwundet.  —  Darunter:  Margaretha,  nach  links 
gewandt,  in  der  Linken  ein  geschlossenes  Buch,  in  der 
Rechten  ein  hohes  Stabkreuz  haltend.  Sie  trägt  ein 
gelblich  -  graues  Kleid  mit  blauem  Granatmuster  und 
einen  hellgrünen  Mantel,  der  rot  gefüttert  ist.  Zu  ihren 
Füßen  der  Drache,  ein  zottiges,  hundeähnliches  Ungeheuer. 

Von  diesen  .fünf  Tafeln  zeichnen  sich  die  ersten 
drei,  welche  die  Innenseiten  des  Altars  bildeten,  durch 
eine  äußerst  sorgfältige,  fein  vertreibende  Technik  (nament¬ 
lich  in  Gesicht  und  Händen)  und  eine  ungewöhnlich  vor¬ 
nehme  Farben  Wirkung  aus,  die  hauptsächlich  durch  die 
lichten  bräunlichen  Töne  in  der  Landschaft  und  die 
reiche  Anwendung  von  Gold  erzielt  wird.  Die  Außen¬ 
seiten  fällen  dagegeii  merklich  ab,  eine  Erscheinung,  die 
auch  Imi  anderen  altdeutsclien  Altarwerken  beinahe 
regelmäßig  wiederkehrt.  Damit  soll  aber  nicht  gesagt 
sein,  dass  man  hier  die  Hand  eines  Gehilfen  anstatt  der 
des  Meisters  selbst  anzunehmen  hätte. 

ln  Bezug  auf  die  erwähnten  Vorzüge  steht  dieses 
Altarwerk  auf  einer  viel  höheren  Stufe  als  die  dem 
Meister  des  Hausbuches  zugeschriebenen  Bilder,  mit 
alleiniger  Ausnahme  des  Liebespaares,  das  koloristisch 
vielfach  an  jenes  erinnert.  Auch  die  Gesichtstypen  sind 
nicht  die  diesen  Bildern  eigenen,  wenn  sie  ihnen  auch 
selir  nahe  kommen.  Indessen,  mag  auch  einiges  an  den 
Meister  des  Peringsdörferschen  Altars  in  Nürnberg, 
anderes  (z.  B.  Johannes  auf  Patmos)  an  den  Kupfer¬ 
stecher  B.  M.,  den  Schüler  Schongauers,  erinnern,  bei 
genauerer  Prüfung  kann  man  das  Werk  mit  keinem 
anderen  als  dem  Hausbuchnieister  in  nähere  Verbindung 
bringen.  Auffällig  ist  bei  diesen  Gestalten  der  unsichere, 
lichtscheue  Blick;  sie  schielen  alle,  sogar  Ochs  und  Esel. 
Dies  kommt  ja  auch  bei  unserm  Meister  öfter  vor,  man 
vergleiche  z.  B.  die  Beschneidung  L.  11,  wo  sich  auch 
Analogieen  für  die  beiden  Hirten  auf  dem  Mittelbilde 
finden,  ferner  die  Darmstädter  Bilder  Nr.  212 — 215. 
Die  Behandlung  des  Baumschlags  entspricht  der  auf  dem 
Stiche  L.  74  (der  Türke  zu  Pferde). 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


71 


Zum  Schluss  weise  ich  noch  auf  eine  Geburt  Christi 
in  der  Schlossgalerie  zu  Aschaffenhurg  (Nr.  293)  hin, 
die  in  mancher  Beziehung,  namentlich  im  Kolorit,  an 
die  Bilder  unseres  Meisters  erinnert.  Doch  sind  die 
Übereinstimmungen  nicht  so  groß,  dass  ich  dies  Bild 
ihm  selbst  zuzuschreiben  wagte;  ein  Zusammenhang  mit 
ihm  ist  aber  jedenfalls  vorhanden. 

Übrigens  scheint  auch  die  Geburt  Christi  (B.  35) 
von  Israel  von  Meckenheim’)  auf  ein  Bild  vom  Meister 
des  Hausbuches  und  nicht,  wie  jetzt  allgemein  angenommen 
wird,  auf  ein  Original  von  Holbein  d.  ä.  zuriickzugehen. 
Ich  wenigstens  kann  hier  nichts  von  Holbein’s  Art  finden.-) 

Ist  es  gelungen,  eine  Reihe  von  Bildern  unserem  Meis¬ 
ter  mit  Sicherheit  zuzuschreilieu,  so  ist  damit  auch  die 
Frage  nach  dem  Orte  seiner  Thätigkeit  in  der  Hauptsache 
beantwortet.  Nach  Harzen’s  und  Retberg’s  Vorgänge  hatte 
man  sich  geeinigt,  auf  Grund  der  Wappen,  die  im  sogenann¬ 
ten  Hausbuche  Vorkommen,  ihn  für  einen  Süddeutschen, 
einen  Schwaben,  zu  erklären.  Doch  gehören  gerade  die¬ 
jenigen  Wappen,  die  für  diese  Frage  entscheidend  sind,  nicht 
schwäbischen,  sondern  mittelilieinischen,  rheinfränkischen 
Geschlechtern  au.  Ungewiss  ist  dies  nur  bei  dem  Wappen 
des  frühesten  Besitzers  des  Hausbuches.  Wir  finden  es 
als  besondere  Darstellung  aiifS.  2  a  und  34b,  außerdem 
zweimal  auf  einem  Zelte  des  Feldlagers  S.  53  c  (rechts 
oben).  Von  diesen  ist  das  auf  S.  2a  sicher  nicht  von 
der  Hand  des  Hausbuchmeisters,  sondern  eine  Nach¬ 
ahmung  des  auf  S.  34  b  befindlichen  von  späterer  Hand. 
Darüber  dürften  jetzt  so  ziemlich  alle  Kenner  einig  sein. 
Retberg'*)  hat  behauptet,  es  sei  das  der  Konstanzer 
Familie  Goldast.  Das  ist  durchaus  nicht  erwiesen. 
Retberg  selbst  sagt,  dass  es  in  der  Helmzier  nicht  mit 
diesem  übereinstimmt.  Außerdem  muss  man  sich  wohl 
fragen,  was  dies  bürgerliche  Geschlecht  unter  dem  hohen 


1)  Die  Formen  Meckenem  und  Meckenen  (sogar  in  der 
Abkürzung  Mecken)  werden  in  der  kunstgeschichtlichen 
Litteratur  mit  merkwürdiger  Zähigkeit  festgehalten,  als  ob 
es  sich  um  eiuen  Familiennamen  und  nicht  um  den  Namen 
des  Ortes  handelte,  der  heute  Meckenheim  heißt.  Warum 
schreiben  wir  dann  nicht  auch  Wenzel  von  Olomucz  statt 
Olmütz?  Dies  Meckenheim  ist  jedenfalls  das  Dorf  in  der 
bayerischen  Pfalz  (Bez.-Amt  Neustadt)  und  nicht,  wie  bisher 
angenommen  wurde,  das  im  Reg.-Bez.  Köln.  Wenigstens 
gehören  die  Formen  Meckenem  und  Meckenen  der  pfälzischen 
Mundart  an.  Man  vergl.  z.  B.  in  den  pfälzischen  Chroniken 
der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrh.  Ortsnamen  wie  Besiken 
(Besigheim),  Tossenhem  (Dossenheim),  Turkem  (Dürckheim), 
Hochhem  (Hochheim),  Leimen  (Leimheim),  Merxem  (Merx¬ 
heim)  u.  a. :  Quellen  und  Erörterungen  zur  bayerischen  und 
deutschen  Geschichte,  Bd.  2  u.  3. 

2)  Auch  wenn  die  sämtlichen  Vorbilder  für  die  Folge 
B.  30 — 41  sich  schließlich  als  Werke  Holbein’s  d.  ä.  nach- 
weisen  ließen,  so  könnten  sie  doch  nicht  alle  zu  einem  Ge- 
mäldecyklus  gehören,  d.  h.  nicht  zu  dem  Weingartener  Altar. 
Denn  die  Krönung  Mariens  kommt  schon  als  Nebenscene  auf 
der  Darstellung  im  Tempel  vor. 

3)  Kulturgeschichtliche  Briefe,  Leipzig  1865,  S.  13. 


Adel  im  kaiserlichen  Feldlager  zu  suchen  habe.  Die  Ver¬ 
mutung  liegt  nahe,  dass  dies  Wappen,  ebenso  wie  die 
anderen,  einem  mittelrheinisehen  ritterlichen  Geschleclite 
angehört.  Es  wäre  eine  nicht  undankbare  Aufgabe  für 
einen  Heraldiker,  der  Frage  weiter  nachzugehen. 

Das  am  häufigsten  im  Hausbuche  vorkommende 
Wappen  ist  das  mit  drei  Sparren.  Wir  finden  es  auf 
S.  24a  an  den  beiden  Wetterfahnen,  dann  auf  S.  52a 
an  dem  Fähnchen  des  ersten  Wagens  im  mittleren  Zuge, 
endlich  siebenmal  an  den  Zelten  im  Feldlager  (Bl.  53). 
Der  Meister  des  Hausbuches  muss  also  zu  dem  Geschleckte, 
das  dieses  Wappen  führte,  besonders  nahe  Beziehungen 
gehabt  haben.  Retberg  hat  gemeint,  das  W’appen  sei 
das  der  W erdenstein,  eines  schwäbischen  Rittergeschlechtes, 
und  alle  anderen  haben  es  ihm  nachgeschrieben.  Diese 
Angabe  ist  aber  falsch,  wie  sich  jeder  überzeugen  kann, 
Avenn  er  im  Sibmaclier’schen  Wappenbuch  ’)  nachschlägt. 
In  Betracht  kommen  nur  zwei  rheinfränkische  Ge¬ 
schlechter,  die  überdies  miteinander  verwandt  waren: 
die  Grafen  von  Hanau  (drei  rote  Sparren  in  Gold)  und 
die  Herren  von  Eppstein  (drei  rote  Sparren  in  Silber). 
Für  einen  Grafen  von  Hanau  malte  unser  Meister  das 
Liebespaar  in  Gotha,  wie  das  Wappen  auf  dem  Bilde 
beweist.  Da  die  Wappen  im  Hausl)uche  nicht  ursprüng¬ 
lich  tingiert  waren,  so  lässt  sich  nicht  entscheiden, 
welches  der  beiden  Geschlechter  jedesmal  gemeint  ist. 
Im  Feldlager  sind  sie  doch  wohl  beide  als  anwesend 
gedacht.  Nach  der  jetzigen  Bemalung,  die  wohl  von 
einem  späteren  Besitzer  der  Handschrift  herrührt,  ge¬ 
hören  diese  Wappen  alle  den  Eppsteinern  an.  Diese 
müsste  man  auch  ohnedies  als  Inhaber  der  beiden  großen 
Zelte  ganz  rechts  unten  annelnnen,  die  außer  dem  AVap- 
pen  mit  den  drei  Sparren  noch  das  württembergische  2) 
tragen,  ein  Umstand  der  auf  eine  engere  Amrbindung 
zwischen  beiden  Geschlechtern  schließen  lässt.  That- 
sächlich  war  Philipp  von  Eppstein  mit  Margaretha  von 
Württemberg  verheiratet.  Diese  starb  am  21.  April  1470. 

Die  übrigen  AVappen  finden  wir  auf  den  beiden 
größeren  Blättern,  die  miteinander  in  Zusammenhang 
stehen,  dem  Zuzug  der  Kontingente  und  dem  Feldlager, 
und  zwar  das  der  Grafen  von  Erhacti  an  dem  Fähnchen 
des  hintersten  Wagens  im  Zuge  und  viermal  im  Feld¬ 
lager  auf  der  linken  Seite,  das  der  Grafen  von  Nassau 
am  Fähnchen  des  mittleren  Wagens  und  wahrscheinlich 
auch  an  einem  Zelt  auf  der  rechten  Seite  des  Lagers. 
Endlich  sehen  wir  noch  auf  dem  Banner  hinter  dem 
großen  Zelt  mit  dem  württembergischen  AVappen  das 
nassauische  Wappen  in  Verbindung  mit  dem  Mainzer 
Rad.  Es  ist  das  des  Grafen  Adolf  11.  von  Nassau,  der 
von  1463 — 1475  Erzbischof  von  Mainz  war. 

1)  2.  Aufl.  Nürnberg  1657,  1.  Band,  S.  111. 

2)  Es  sind  hier  allerdings  nur  zwei  Hirschhörner  an¬ 
statt  der  drei  sonst  üblichen  vorhanden,  doch  lässt  sich  das 
AVappen  kaum  anders  als  auf  AVürttemberg  deuten.  Dem 
entspricht  auch  die  jetzige  Bemalung. 


72 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


Sicherlich  ist  es  kein  Zufall,  keine  Laune  des 
Künstlers  gewesen,  dass  er  da,  wo  er  ^  eraulassung 
liatte,  Wappen  anzuhriugen,  die  rlieinfränkischer  Ge¬ 
schlechter  verwendet  hat.  Sie  müssen  ihm  besonders 
vertraut  gewesen  sein.  Wir  können  nocli  einen  Schritt 
weiter  gehen  und  sagen:  diese  M'appen  gehörten  dem 
Adel  der  engeren  Heimat  des  Künstlers  an;  er  ist  also 
ein  Eheiufranke  gewesen.  Zu  demselben  Ergebnis 
kommen  wir,  wenn  wir  die  Orte  ins  Auge  fassen,  an 
denen  sich  seine  Bilder  früher  befunden  haben  oder  noch 
jetzi  befinden.  Mit  Ausnahme  von  Bossweiler  bei  Grün- 
stedt  in  der  bayerischen  Pfalz  (Bez.-Amt  Fraukenthal) 
liegen  sie  alle  im  Großherzogtum  Hessen.  Es  sind: 
Wachenheim  a.  d.  Pfrimm  (Kreis  Worms),  Wolfskehlen 
und  Leeheim  (Kreis  Großgerau),  Seligenstadt  (Kreis 
Offenbach)  und  Mainz.  Als  Wohnort  des  Meisters 
können  wir  uns  nur  eine  größere  Stadt,  einen  der 
Mittelpunkte  des  geistigen  und  künstlerischen  Lebens 
denken.  La  kämen  denn  zunächst  nur  i/ar/r.  und 
Frrnil'furt  in  Betracht.  Die  Mundart  der  Sprüche  auf 
dem  Gothaer  Bilde  bestätigt  das.  Es  ist  die,  welche 
im  letzten  Viertel  des  15.  Jahrhunderts  in  Frankfurt 
gesprochen  wurde. ')  Die  Mainzer  Mundart  wird  aber 
damals  kaum  von  der  Frankfurter  verschieden  gewesen 
sein,  wie  sie  ja  auch  heutzutage  nicht  von  ihr  abweicht. 
Ich  möchte  annehmen,  unser  Meister  sei  in  Mainz  thätig 
gewesen,  obgleich  ich  einen  eigentlichen  Beweis  dafür 
noch  nicht  zu  bringen  vermag.  Wer  ihn  für  einen 
Frankfurter  halten  will,  thut  es  mit  demselben  Eecht. 
Für  meine  Annahme  kann  ich  allein  den  Umstand  geltend 
machen,  dass  die  Mainzer  Bücherillustration  der  Zeit 
deutliche  Anklänge  an  die  Art  des  Meisters  zeigt. 
Ganz  auffallend  ist  dies  bei  den  Holzschnitten  der 
1492  von  Peter  Schöffer  gedruckten  „Cronecken  der 
sassen“  von  Conrad  Botho.  Eine  genauere  Untersuchung 
dürfte  sogar  zu  dem  Ergebnis  führen,  dass  die  Zeich¬ 
nungen  zu  diesen  Holzschnitten  von  dem  Meister  selbst 
herrühren.  Sie  erinnern  vielfach  au  die  größeren  und 
derberen  Zeichnungen  im  Hausbuche.  Es  wäre  eine 
gewiss  lohnende  Aufgabe,  den  Mainzer  Holzschnitt  am 
Ende  des  15.  und  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  einmal 
auf  den  Hausbuchmeister  hin  durchzusehen. 

Auch  über  die  Zeit  der  Thätigkeit  des  Meisters 
lassen  sich  nunmehr  genauere  Angaben  machen,  als 
dies  bis  jetzt  möglich  war.  Zunächst  steht  fest,  dass 
er  1505  noch  lebte.  Die  Verkündigung  in  Mainz  trägt 
diese  Jahreszahl.  Seine  Geburt  darf  man  kaum  später 
als  1450  ansetzen,  falls  das  Allianz- Wappen  der  Frank¬ 
furter  Familien  von  Rohrbach  und  von  Holzhausen  vom 


1)  Man  vergl.  z.  B.  Frankfurts  Reichskoi-respondenz, 
herausgegeben  von  J.  Janssen,  2.  Bd.  und  Wülcker,  Urkunden 
und  Akten  betreffend  die  Belagerung  von  Neuß  1474—75 
(Neujahrsblatt  des  Vereins  für  Geschichte  und  Altertums¬ 
kunde  zu  Frankfurt  a.  M.  1877). 


Monogrammisten  bx8  (P.  11,  123)  wirklich  aus  dem 
Jahre  1466  oder  67  stammt  und  falls  diesem  Stich 
wirklich  ein  Original  des  Hausbuchmeisters  zu  Grunde 
liegt.*)  Er  ist  also  ein  Altersgenosse  Schongauer’s. 

Über  seinen  Entwicklungsgang  lassen  sich  vor¬ 
läufig  nur  Vermutungen  äußern.  Wahrscheinlich  hat 
er  als  Maler  begonnen  und  als  solcher  den  Einfluss  der 
Niederländer,  namentlich  Hans  Memling’s,  erfahren,  ^ 
und  zwar  nicht  erst  in  Flandern,  sondern  in  der  Heimat. 
Wir  müssen  wohl  annehmen,  dass  Memling,  der  ja  aus 
Mömlingen  bei  Aschaffenburg  stammte,  in  Deutschland, 
höchst  wahrscheinlich  in  Mainz,  gelernt  und  noch  längere 
Zeit  dort  gearbeitet  hat,  ehe  er  nach  den  Niederlanden 
übergesiedelt  ist.  Wäre  er  nämlich  jung  dorthin  ge¬ 
kommen  und  hätte  er  sich  frühzeitig  dort  niedergelassen, 
so  hätte  er  doch  wohl  seinen  deutschen  Vornamen  Hans 
bald  mit  dem  vlämischen  Jan  vertauscht.  Es  ist  gar 
nicht  undenkbar,  dass  der  ältere  Memling  und  der  jüngere 
Meister  des  Hausbuchs  aus  derselben  Mainzer  Werkstätte 
hervorgegaugen  sind.  —  Als  Kupferstecher  hat  er  wohl 
erst  später  begonnen,  seine  stecherische  Thätigkeit  würde 
dann  einen  Zeitraum  von  etwa  25 — 30  Jahren  umfassen, 
ungefähr  vom  Jahre  1480  an  gerechnet,  so  dass  der 
Name  „Meister  von  1480“,  unter  dem  er  in  den  älteren 
Handbüchern  geht,  nicht  so  ganz  aus  der  Luft  gegriffen  wäre. 

Friedrich  Lippmann,  der  in  den  Stichen  des  un¬ 
bekannten  Meisters  Jugendarbeiten  Holbein’s  d.  ä.  er¬ 
kennen  wollte,  war  dadurch  zu  der  Annahme  gezwungen, 
sämtliche  Stiche  seien  in  einem  verhältnismäßig  kurzen 
Zeitraum  rasch  hinter  einander  entstanden.  Doch  fragt 
es  sich,  abgesehen  von  bedeutenderen  Einwänden,  auf 
welche  AVeise  man  die  vielen  Unterschiede  technischer  und 
stilistischer  Art,  die  wirklich  zwischen  einzelnen  Stichen 
vorhanden  sind,  erklären  wollte,  wenn  nicht  durch  einen 
großen  zeitlichen  Abstand.  Man  vergleiche  nur  so  un¬ 
beholfene  Blätter  wie  Simson  mit  dem  Löwen  (L.  5), 
Siuison  und  Delila  (L.  6)  oder  die  Bekehrung  Saul’s 
(L.  41)  mit  meisterhaften,  wie  die  Hirschjagd  (L.  67) 
oder  das  Liebespaar  (L.  75).  Leider  stellen  sich,  da 
auch  nicht  ein  einziger  Stich  datirt  ist,  ihrer  zeitlichen 
Anordnung  die  größten  Schwierigkeiten  entgegen.  Hier 
können  meist  nur  datirte  oder  datirbare  Kopieen  einige 
Anhaltspunkte  bieten. 

Dies  ist  der  Fall  bei  der  Madonna  im  Strahlen¬ 
kränze  L.  27,  die  vor  1497  entstanden  sein  muss. 
Das  Darmstädter  Museum  besitzt  nämlich  seit  Kur¬ 
zem  ein  gemaltes,  aus  der  Kirche  von  Nieder-Erlen- 
bach  stammendes  Triptychon,  das  die  Jahreszahl  1497 


1)  Vergl.  Lebrs,  Katalog  der  deutschen  Kupferstiche 
des  15.  Jahrh.  im  Germanischen  Museum,  S.  28 — 31. 

2)  Man  vergl.  auch  die  Bemerkung  Passavant’s  im 
Peintre-graveur  II,  255:  „Ges  gravures  nous  rappellent  quel- 
quefois  le  caractere  particulier  des  compositions  de  Hans 
Memling.“ 


Ji  i* 


^püh''': 
•^.1  .,  \  ■: 


i--:  's 

■' 


r. 


f:^)r: 


’i 


i 


Franz  Stack 


WFjfBLICFliiJR  STUDIENKOPF. 


Druck  V  F!  A.  Brockhaus,  Ijeipz^ig. 


Probebild  aus  dem  Werke:  „Den  Deutschen  Österreichs!“ 


Verlag  von  J.  F.  Lehmann  in  München. 


DER  MEISTER  DES  HAUSBUCHES  ALS  MALER. 


73 


trägt.*)  Dieses  Triptychon  ist  insofern  bemerkenswert, 
als  sich  der  Maler  darin  ohne  jegliche  Erfindungsgabe 
zeigt.  So  ist  auf  dem  Mittelbild  die  Hauptfigur,  die 
Madonna,  nach  dem  Stiche  des  Haushuchmeisters  L.  27 
kopirt,  links  von  ihr  der  Erzengel  Michael  nach  Schon- 
gauer  B.  58  (nur  dass  auf  dem  Bilde  der  Engel  vier 
nackte  Kinder  auf  dem  linken  Arm  hat);  rechts  von 
ilir  der  heilige  Hieronymus  als  Kardinal  mit  dem  Löwen 
dürfte  ebenfalls  auf  einen  Stich  zurückgehen.  Auf  den 
Innenseiten  der  Flügel  sehen  wir  die  zwölf  Apostel,  und 
zwar  sind  auf  dem  rechten  Flügel  fünf  von  ihnen  Kopien 
nach  Schongauer  (Andreas  nach  B.  35,  Jakobus  d.  ä. 
nach  B.  36,  Judas,  Thaddäus  nach  B.  42,  Philippus  nach 
B.  38,  Simon  nach  B.  43),  der  sechste,  Mathäus,  sowie 
die  sechs  Apostel  des  linken  Flügels  sind  kaum  eigene 
Erfindungen  des  Malers,  sondern  wahrscheinlich  ebenfalls 
nach  Stichen  kopirt  Auf  den  Außenseiten  der  Flügel 
sehen  wir  links  die  Verkündigung  nach  Schongauer  B.  3, 
rechts  noch  einmal  den  Erzengel  Michael,  allerdings  in 
ganz  anderer  Auffassung  als  auf  dem  Mittelbilde.  Er 
steht  auf  einem  Felsblock  und  hält  mit  der  Linken  die 
Wage,  deren  eine  Schale  mit  einer  Seele  in  Gestalt 
eines  nackten  Kindes  in  die  Höhe  schwebt,  während  die 
andere  durch  ein  Höllenungeheuer  niedergedrückt  wird, 
auf  das  der  Engel  den  linken  Fuß  und  das  Stabkreuz 
gesetzt  hat.  Wir  haben  hier  ohne  allen  Zweifel  die 
Kopie  eines  verschollenen  Originals,  jedenfalls  eines 
Stiches,  des  Hausbuchmeisters  vor  uns.  Es  ist  derselbe 
Gesichtstypus  und  dieselbe  Gewandbehandlung  wie  bei 
Maria  auf  der  Heimsuchung  L.  7  und  beim  Erzengel 
Michael  L.  39.  Auch  die  Pfauenfittiche,  die  wir  von  den 
Bildern  her  kennen,  fehlen  nicht.  —  Das  Ast-  und 
Raukenwerk,  das  die  Tafeln  der  Innenseiten  oben  ab¬ 
schließt,  ist  ebenfalls  den  Stichen  unseres  Meisters  entlehnt. 

Übrigens  dürfte  auch  das  Wappen  mit  dem  Löwen 
von  Israel  von  Meckenheim  B.  195  auf  einen  Stich  des 
Hausbuchmeisters  zurückgehen. 

Vielleicht  lässt  sich  für  die  Entstehung  noch  eines 
anderen  Stiches  eine  Zeitgrenze  angeben.  Ich  meine  den 
Türken  zu  Pferd  L.  74.  Bei  diesem  Sticlie  drängen  sich 
einem  sofort  einige  Fragen  auf.  Zunächst:  wer  ist 
der  Dargestellte?  Doch  nicht  irgend  ein  gewöhnlicher 
Türke,  sondern  einer,  der  Aufsehen  erregte,  von  dem  die 
Leute  redeten,  dessen  Bild  man  sich  gern  aufbewahrte, 
und  den  deshalb  der  Künstler  durch  den  Stichel  ver¬ 
ewigte.  Wie  kam  aber  damals  ein  solch  vornehmer  Türke 
an  den  Mittelrhein?  Ich  glaube  eine  Antwort  auf 
diese  Fragen  zu  haben,  die  der  Wahrheit  ziemlich 


1)  Kunstdenkmäler  im  Großherzogtum  Hessen ,  Kreis 
Friedberg,  bearbeitet  von  R.  Adamy,  S.  219.  Dort  auch  ein 
Lichtdruck  der  Innenseiten  des  Altars. 


nahe  kommen  dürfte.  Es  gab  damals  allerdings  einen 
Türken,  der  eine  gewisse  Rolle  in  Deutschland  spielte. 
Es  war  Calixt  Osman,  ein  Halbbruder  (nach  anderen  ein 
Sohn)  Mohammed’s  11.  Er  hatte  sicli  in  Rom  taufen  lassen 
und  lebte  seit  der  Romfahrt  Kaiser  Friedrich’s  III.  1469 
an  dessen  Hofe.  Als  der  Kaiser  zu  Ostern  1473  von 
seinen  Stammlanden  auf  brach,  um  in’s  Reich,  zunächst 
nach  Augsburg  zum  Reichstag  zu  ziehen,  begleitete  ihn 
Calixt  Osman.  Von  Augsburg  ging  die  Reise  nach  dem 
Westen,  über  Ulm  und  Esslingen,  nach  Baden-Baden, 
dann  nach  Straßburg,  Freiburg,  Basel,  Metz,  endlich  nach 
Trier  zur  Zusammenkunft  mit  Karl  dem  Kühnen  von 
Burgund.  In  den  zahlreichen  Berichten  über  diese  Zu¬ 
sammenkunft  wird  auch  der  türkische  Prinz  erwähnt, 
von  den  einen,  den  besser  Unterrichteten,  als  „frater 
imperatoris  Thurcorum,  le  frere  du  Turch“,  von  den 
anderen  als  der  „Turkesch  keyser“.  Von  Trier  fulir 
Friedrich  III.  zu  Schiff  nach  Koblenz,  wo  er  am 
28.  November  1473  aukam,  dann  weiter  nach  Köln.  Dort 
blieb  er  bis  zum  18.  Januar  1474,  dann  ging  es  wieder 
nach  Koblenz  zurück  und  von  da  zu  Land  über 
Nastätten  und  Wiesbaden  nach  Frankfurt,  wo  er  am 
25.  Januar  eiutraf.  Bei  den  Frankfurtern,  auch  den 
Herren  vom  Rat,  galt  Calixt  Osman  als  der  „türkische 
Kaiser“,  wie  aus  der  Beschreibung  vom  Aufenthalt  Fried¬ 
rich’s  III.  in  Frankfurt  hervorgeht.*)  Es  wäre  gar  nicht 
so  unmöglich,  dass  unser  Künstler  in  dem  Türken  zu 
Pferd  diesen  „türkischen  Kaiser“  hat  darstelleu  wollen. 
Dann  könnte  aber  der  Stich  nicht  vor  dem  Besuch  des 
Kaisers  Friedrich  in  Koblenz  oder  Frankfurt,  also  nicht 
vor  dem  Winter  1473/74  entstanden  sein.  Wahrschein¬ 
lich  jedoch  ist  er  viel  später  anzusetzen,  und  es  mögen 
bis  zur  Übertragung  der  Zeichnung  auf  das  Kupfer  ruhig 
eine  Reihe  von  Jahren  dahingegangen  sein.  Freilich 
gehört  der  Stich  schon  aus  technischen  Gründen  immer 
noch  zu  den  frühen,  es  trennt  ihn  z.  B.  von  dem  Liebes¬ 
paare  L.  75,  dem  Blatte,  das  ihm  in  der  Veröffent¬ 
lichung  der  chalkographischen  Gesellschaft  zunächst 
folgt  und  das  auf  jeden  Fall  zu  den  späteren  Arbeiten 
gehört,  ein  großer  zeitlicher  Abstand.  Ich  kann  hier 
Max  Lehrs  nicht  beipflichten,  der  sagt'ü:  „Der  Stich  ge¬ 
hört  zu  den  reifsten  Arbeiten  des  Meisters.  Die  Aus¬ 
bildung  des  landschaftlichen  Hintergrundes  erinnert  direkt 
an  Dürer.“  Der  Stich  mutet  einen,  wenn  man  ihn  mit 
manchem  andern  vergleicht,  ziemlich  reizlos  an,  nament¬ 
lich  das  Pferd  ist  viel  hölzerner  dargestellt,  als  z.  B. 
die  auf  den  Jagdbildern.  Endlich  ist  mir  bei  der  Land¬ 
schaft  des  Hintergrundes  noch  nie  der  Gedanke  an  Dürer 
gekommen. 

1)  Janssen,  Frankfurts  Reichskorrespondenz,  2.  Bd., 

1.  Abt.,  S.  304  u.  307. 

2)  Repert.  f.  Kunstwissensch.  XV,  124. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  3. 


10 


EIN  WIEDERERKANNTES  BILD  VON  RUBENS. 

MIT  HELIOÜHAVCBE. 


EI  der  Erüft'muig'  der  Galerie  Miethke  in 
Wien  im  Friililiiig'  dieses  Jahres  kam 
unter  anderen  Idslier  verborgen  gehlie- 
htmen  oder  dock  nur  AVenigen  bekannt 
gewesenen  Schätzen,  welche  die  AViener 
Kunsthandlung  ihr  eigen  nennt,  auch  ein 
großes  histoiisch-allegorisches  llild  von  Rubens  zu  Tage, 
welches  vor  einigen  Jaliren  mit  anderen  kostbai’en  AVer- 
keii  alter  niederländischer  Meister  aus  einer  schottischen 
Privatsammlnng  in  den  liesitz  Miethke’s  übergegangen  ist. 

Das  auf  Leinwand  gemalte  Bild  (1,82  m  Höhe  und 
2.73  m  Breite  messend)  trug  früher  den  Namen  „Alars 
und  A^enus"  und  war  mit  dieser  Bezeichnung  auch  vor 
nicht  langer  Zeit  in  London  in  der  Royal  Academy 
in  einer  der  Ausstellungen  von  AA-Ta-ken  alter  Aleister 
ausgestellt.  AVenn  es  damals,  von  den  Kennern  wohl 
beachtet  und  gewürdigt,  gleichwohl  nicht  zu  seinen 
VI dien  Ehren  gelangt  ist,  so  war  daran  wohl  haupt¬ 
sächlich  der  zu  jener  Zeit  nicht  günstige  Zustand  der 
Bildfläche  schuld.  Als  dieselbe  gereinigt  war,  kam  ein 
Aleisterwerk  des  Rubens  zu  Tage,  das  ebenso  fesselnd 
ist  durch  die  Pracht  und  Erische  seiner  Alalerei  wie  durch 
die  Bedeutsamkeit  des  dargestellten  Gegenstandes. 

Dass  dieser  nicht  als  „Alars  und  A^enus“  bezeichnet 
werden  dürfe,  war  sofort  klar.  Und  die  Erinnerung  au 
das  schöne  Arpiarell  des  AVeimarer  Museums,  welches 
im  großen  Rubenswerk  von  Rooses  (T.  V,  pl.  414)  ab¬ 
gebildet  ist,  fühlte  denn  auch  bald  auf  die  richtige  Spur. 
Rooses  ei’klärt  dasselbe  zutreffend  als  zu  der  zweiten 
Luxembourg-Folge  gehörig  und  giebt  ihm  den  Titel; 
., Heinrich  TV.  ergreift  die  günstige  Gelegenheit,  Frieden 
zu  schließen“.  I  )ie  Darstellung  des  AATimarer  Aquarells, 
von  der  mau  Ins  vor  kurzem  geglaubt  hatte,  dass  sie 
im  Großen  nie  zur  Ausführung  gelangt  sei,  liegt  uns  in 
dem  Gemälde  der  Galerie  Miethke  vor. 

AVir  wissen,  dass  Alaria  von  Aledicis  gleichzeitig 
mit  der  Bestellung  der  Bilderfolge  aus  ihrem  Leben  für  die 
Galerie  des  Luxembourg  auch  den  FHan  eines  zweiten,  ver¬ 
mutlich  ebenso  umfangreichen  Gemäldecyklus  gefasst  hatte, 
welcher  den  Hauptbegelienheiteu  der  Geschichte  König  Hein- 
rich’s  IV.  gewidmet  sein  sollte.  *)  Rubens  hat,  wie  es 
scheint,  bald  nach  der  Vollendung  seiner  Aledicis-Galerie 
im  Luxembourg  (1625)  sich  mit  der  zweiten  Gemäldereihe 
zu  beschäftigen  begonnen.  In  seiner  Koi-respondenz  mit 

1)  S.  das  Nähere  darüber  bei  Rooses,  L’Oeuvre  de  P.  P. 
Rubens,  III,  p.  275  ff. 


den  Agenten  der  Königin  und  mit  seinen  Freunden  liegen 
davon  die  Spuren  vor.  ln  einem  Brief  an  Dupuy  vom 
27.  Januar  1628  schi'eibt  der  Aleister:  „Ich  habe  nun¬ 
mehr  die  Zeichnungen  für  die  zweite  Galerie  begonnen, 
welche  nach  meiner  Aleinung  der  Natur  des  Gegenstandes 
wegen  noch  schöner  werden  wird  als  die  erste,  so  dass 
ich  damit  auch  noch  höhere  Ehren  zu  ei'ringen  hoffe.“ 
(Alan  vergl.  den  italienischen  Text  liei  Ad.  Rosenberg, 
Rubensbriefe,  S.  157.)  Im  Spätherbst  des  Jahres  1630 
lieklagt  sich  Rubens  brieflich  bei  demselben  Freunde 
darüber,  dass  man  wegen  ATrgrößerung  der  Thüren  die 
Höhe  der  Bilder  um  zwei  Fuß  niedriger  machen  wolle, 
nachdem  dieselben  doch  bereits  in  größeren  Dimensionen 
begonnen  seien.  Man  möge  ihm  wenigstens  einen  halben 
Fuß  noch  zugeben.  Die  Arbeit  wurde  dadurch  Alonate  lang 
verzögert  und  endlich  —  seit  1631  —  in  Folge  dazwischen 
getretener  politischer  Hindernisse  ganz  abgebrochen.  In 
der  „Speciflcation  des  peiutures  trouvees  ä  la  maison  mor- 
tuaire  de  feu  Messiin  Pierre-Paul  Rubens“  lesen  wir: 
„Six  grandes  pieces  imparfaictes,  contenans  des  Sieges 
des  villes,  batailles  et  triumphes  de  Henry  quatriesme, 
roy  de  France,  qui  sont  conimence.es  deiiuis  quelques 
annees  pour  la  Galeiie  de  l’hostel  du  Luxembourg,  de 
la  reyne  mere  de  France.“ 

Von  diesen  sechs  großen  unvollendeten  Stücken  zur 
Galerie  HeinriclTs  IV.  betinden  sich  zwei  bekanntlich 
im  Niobidensaale  der  üftizien  zu  Florenz.  Das  eine 
stellt  die  „Schlacht  von  Ivry“,  das  andere  den  „Sieges¬ 
einzug  lleinrich’s  IV.  in  Paris“  dar.  Es  sind  kolossale 
Gemälde  von  etwa  7  m  Länge  und  etwa  3'V4  ni  Höhe  mit 
zahlreichen  Figuren  in  Lebensgröße,  gleich  bewunderns¬ 
wert  in  der  klaren  Entwicklung  der  dargestellten  Er¬ 
eignisse  wie  in  der  bravourösen  Alalerei,  die  bei  dem 
letzterwähnten  Bilde  etwas  weiter  in  der  Vollendung 
vorgeschritten  ist  als  liei  dem  ersteren.  Unzweifelhaft 
besitzen  wir  in  beiden  Bildern  AVei-ke  von  des  Meisters 
eigener  Hand.  ') 

Dasselbe  gilt  von  dem  Bilde  der  Galerie  Aliethke, 
das  zwar  nicht  die  gleichen  riesigen  Dimensionen  und, 
seinem  Gegenstände  gemäß,  auch  nicht  einen  solchen  Reich- 


1)  Rooses,  a.  a.  0.  HI,  p.  275  zählt  noch  zwei  Gemälde 
zu  der  Folge  Heinrich’s  IV.,  welche  in  Brüssel  1738  bei  der 
„vente  Franla“  zur  Versteigerung  kamen,  aber  keine  Käufer 
fanden:  „Die  Belagerung  von  Paris“  und  „Die  Schlacht  von 
Constans“.  Sie  hatten,  dem  Auktionskataloge  zufolge,  eine 
Höhe  von  14  Fuß  und  eine  Breite  von  10  Fuß  und  10  V2  2oll. 


EIN  WIEDERERKANNTES  BILD  VON  RUBENS. 


75 


tum  au  Figuren  aufweist,  wie  die  beiden  Kompositionen 
in  Florenz,  aber  unzweifelhaft  ebenfalls  in  die  zweite 
Medicis-Folge  gehört  und  in  der  Ausführung  bedeutend 
weiter  vorgeschritten  ist  als  die  beiden  Florentiner  Bilder. 
Als  nicht  ganz  vollendet  können  nur  einzelne  Extremi¬ 
täten,  z.  B.  die  Füße  des  Genius  in  der  Ecke  links,  be¬ 
zeichnet  werden.  Was  sonst  an  dem  Zustande  des  Ge¬ 
mäldes  nicht  voll  befriedigt,  wie  vornehmlich  die  Kar- 
nation  der  weiblichen  unbekleideten  Hauptfigur  und  der 
beiden  Putten  am  Boden,  das  hat  in  Folge  des  Durch¬ 
wachsens  der  Untermalung  die  ursprüngliche  Frische 
der  Farbe  verloren.  Im  übrigen  ist  die  Malerei  nicht 
nur  durchaus  intakt,  sondern  auch  von  jener  Transpa¬ 
renz  und  jenem  blühenden  Koloiit,  welche  in  jedem 
Pinselstrich  die  eigene  Hand  des  Rubens  und  die  Zeit 
der  höchsten  Vollendung  seiner  Meisterschaft  bekunden. 
Man  hat  die  Meinung  ausgesprochen,  dass  die  Früchte 
im  Schoße  der  sitzenden  weiblichen  Figur  vielleicht 
von  Franz  Snyders  herrühren  könnten.  Wir  wollen  dem 
nicht  widersprechen.  Snyders  war  bekanntlich  ein  ebenso 
trefflicher  Stillleben- wie  Tiermaler  undnebenJanBrueghel 
wohl  der  geschickteste  von  den  Gehilfen  des  Rubens. 
Er  konnte  sich  diesem  so  vollkommen  anpassen,  wie  es 
hier  geschehen  ist.  .Jedoch  ein  zwingender  Grund  für 
die  Annahme  seiner  Mitarbeiterschaft  liegt  in  unserem 
Falle  nicht  vor. 

Wie  die  Ausführung  des  Bildes,  so  fügt  sich  auch 
dessen  Gegenstand  in  der  Konzeption  und  Auffassung 
durchaus  dem  Stil  der  Medicifolgen  ein.  Es  ist  eine 
Darstellung  von  jener  allegorisirenden  Art,  in  der  die 
Kunst  des  Meisters  hier  ihre  glänzendsten  Triumphe 
feiert.  Seine  Gedankenwesen  haben  die  nämliche  Glaub¬ 
würdigkeit  wie  die  Götter  und  Menschen:  alle  drei  ver¬ 
kehren  miteinander  in  der  gleichen,  leibhaftigen  Welt; 
niemandem  fällt  es  ein,  an  ihrer  AVirklichkeit  zu  zweifeln. 

Von  der  rechten  Seite  her  schreitet  König  Heinrich 
in  prächtiger,  goldverzierter  Stahlrüstung,  die  ein  hell¬ 
roter  Mantel  umwallt,  mit  dem  Medusenschild  in  der 
Linken,  etwas  vorgebeugt  herbei,  um  die  „Günstige  Ge¬ 
legenheit“  beim  Schopf  zu  fassen.  Zwei  über  seinem 
Haupte  schwebende  Genien  mit  Lorbeerkranz  und  Sieges- 
paline  kennzeichnen  ihn  als  den  Glorreichen.  Der  grimme 
Löwe  mit  vorgestreckter  Tatze,  ganz  rechts  zur  Seite, 
symbolisirt  seine  Stärke.  Doch  des  Königs  Gesinnung 
ist  offenbar  schon  dem  Frieden  zugeneigt.  Es  bedarf 
zu  seiner  Überredung  kaum  mehr  des  milden  Zuspruchs 
der  Göttin  der  Weisheit  Pallas  Athena,  welche  die  Linke 
zutraulich  um  den  Nacken  des  Herrschers  legt.  Diese 
Gestalt,  mit  ihrem  Stahlhelm,  den  eine  goldene  Sphinx 
bekrönt,  mit  dem  jugendfrischen  Antlitz  und  den  kraft¬ 
strotzenden,  in  sanftgetönte  Gewänder  leicht  gehüllten 
Körperformen  bildet  neben  dem  König  eine  der  herr¬ 
lichsten  Figuren  des  Bildes.  Über  ihr  schwebt  die  Eule. 
In  fast  völliger  Nacktheit  steht  die  Hauptperson  des 
Bildes,  die  jugendliche  Blondine  da,  in  der  uns  der 


Meister  die  „Günstige  Gelegenheit“  verkörpert.  Sie  hält 
nur  leicht  und  schamhaft  mit  der  Rechten  einen  Zipfel 
des  lichtroten  Mantels,  der  um  ihren  linken  Arm  ge¬ 
schlungen  ist  und  an  dem  der  Genius  zu  ihren  Füßen 
sie  fortzuziehen  sich  bemüht.  In  der  Haartracht  gleicht 
sie  jener  berühmten  Bronze  des  Lysippos,  in  welcher 
dieser  Meister  den  Kairos,  den  „Günstigen  Augenblick“ 
dargestellt  hatte.  Um  den  Hinterkopf  ist  ihr  Haar  kurz, 
nicht  greifbar,  nach  vorn  dagegen  wallt  es  in  langen 
AVellen  herab,  so  dass  es  die  Hände  der  Pallas  bequem 
in  die  des  Königs  legen  können.  Mit  jungfräulicher 
Zartheit,  die  Linke  graziös  über  dem  Busen,  giebt  die 
holde  Schöne  der  Bewerbung  nach,  vor  dem  Blicke  des 
Königs  die  Augen  senkend.  Die  linke  Seite  des  Bildes  ver¬ 
vollständigt  dessen  Gedankeninhalt.  Hier  sitzt,  in  reiche, 
bauschige  Gewänder  gehüllt,  die  Göttin  des  Friedens 
mit  den  Symbolen  der  xArbeit  und  des  Erntesegens, 
Ackergerät  und  Früchten.  In  Körperformen  und  Aus¬ 
druck  matronal  und  welterfahren ,  unterstützt  sie  die 
Aktion  des  oben  schwebenden  Kronos,  der  die  „Gelegen¬ 
heit“  sanft  vorwärts  schiebt.  Neben  dem  Zeitgott  hält 
ein  Genius  die  zusammengeringelte  Schlange,  das  Symbol 
der  Ewigkeit.  Der  vorhin  erwähnte  Kleine  zu  Füßen 
der  Friedensgöttin  ergötzt  sich  an  den  Früchten,  die 
diese  im  Schoße  trägt.  Dem  Boden  entsprießen  Blumen, 
und  rechts  blicken  wir  in  eine  weite,  wellige  Land¬ 
schaft  mit  Buschwerk,  Bäumen  und  Baulichkeiten,  von 
einem  leicht  bewölkten  Himmel  überspannt.  In  allen 
diesen  Teilen,  besonders  in  dem  reizvoll  behandelten 
landschaftlichen  Hintergründe,  tritt  die  eigenhändige 
Pinselführung  des  Rubens  mit  überzeugender  Klarheit 
zu  Tage.  Die  aus  Anlass  des  Budapester  Congresses 
in  diesem  Herbst  in  Wien  versammelten  Kunsthistori¬ 
ker  waren  mit  uns  einig  in  der  hohen  Schätzung  und 
allseitigen  Bewunderung  des  Werkes. 

Abgesehen  von  dem  oben  erwähnten  Weimarer  Aqua¬ 
rell  zählt  Rooses  (a.  a.  0.  III,  p.  267  ff.)  noch  etwa  ein 
Dutzend  Skizzen  auf,  welche  mit  größerer  oder  geringerer 
Wahrscheinlichkeit  zu  der  zweiten  Medicisfolge  gehören. 
Die  wichtigste  derselben  für  unsern  Gegenstand  befindet 
sich  in  der  Galerie  Liechtenstein  zuAVien(Kat.  v.  J.  1885, 
Nr.  100).  In  dieser  flüchtigen,  in  Bister  und  wenigen 
hellen  Farbentönen  leicht  hingeworfenen  Skizze  (Höhe 
0,64,  Breite  0,50  cm)  besitzen  wir  den  ersten  Ent¬ 
wurf  zu  dem  Bilde  der  Galerie  Miethke,  und  zwar  in 
seiner  ursprünglich  größer  gedachten  Form.  Der  in  dem 
fertigen  Gemälde  geschilderte  Vorgang  bildet  im  ersten 
Entwurf  den  oberen  Teil  der  Komposition,  welche  als 
Teppich  gedacht  und  von  geschweiftem  Ornament  um¬ 
geben  ist.  Dazu  kommt  in  der  Skizze  ein  unterer 
Teil,  welcher  eine  sitzende  weibliche  Gestalt  mit  Keule 
und  Schlange  in  den  Händen  und  neben  ihr  den  Adler 
des  Jui)iter  zeigt,  nach  der  Deutung  von  Rooses  die 
Allegorie  der  „AVachsamkeit“  (s.  die  Heliogravüre  von 
R.  Paulussen  in  AV.  Bode’s  AA^erk  über  die  fürstlich 


10 


76 


EIN  PATRIOTISCHES  KÜNSTLERBUCH. 


Liecliteusteia'sclie  Galerie).  Die  Yeriniitung-  liegt  nahe, 
dass  Eubeus  in  Folge  des  Wunsches  der  Königin,  die 
Dimensionen  der  Bilder  za  reduziren,  von  der  erwei¬ 
terten  Form  der  Komposition,  wie  sie  die  Skizze  zeigt, 
abgesehen  liat  und  zu  der  comprimirten  Darstellung  des 
Hauptgegenstandes  übergegangen  ist,  welche  uns  in  dem 
Weimarer  Aquarell  und  in  dem  Miethke’schen  Bilde  vorliegt. 

Von  dem  letzteren  besitzen  wir  endlich  auch  noch 


eine  gute  alte  Kopie  in  der  Galerie  von  Sanssouci 
(^Großer  Saal,  Nr.  9).  Sie  stimmt  in  allem  Wesentlichen 
mit  dem  Original  überein,  ist  aber  etwas  kleiner  als 
dieses  (Höhe  1,60,  Breite  2,08  m).  Schon  Smith  (Cat. 
rais.  IX,  p.  287,  Nr.  161)  und  Rooses  (a.  a.  0.  III,  i». 
274)  haben  ihrer  gedacht.  Letzterer  unter  bestimmter 
Bezeichnung  des  Bildes  als  Kopie,  ohne  das  nun  glück¬ 
lich  wiedererkanute  Original  zu  kennen. 

a  V.  LtiTzow. 


EIN  PATRIOTISCHES  KÜNSTLERBUCH. 0 

MIT  ABBILDUNGEN. 


EN  zahlreichen  illustrirten 
Dichterbüchern  und  sonstigen 
litterarischen  Sammelwerken 
mit  artistischem  Schmuck  tritt 
hier  ein  Künstlerbuch  zur  Seite, 
in  dem  nicht  das  Wort,  son¬ 
dern  das  Bild  die  Hauptsache  ist  und  dem 
beigefügten  Text  nur  der  Charakter  eines 
poetischen  Ornamentes  zukommt. 

Das  Werk  verdient  als  geschmackvoll 
ausgestattetes  Buch  und  vor  allem  seines 
patriotischen  Zweckes  wegen  die  wärmste 
Anerkennung  und  thatkräftigste  Förderung. 
Es  soll  nämlich  durch  sein  Erträgnis  den  hart 
bedrängten  Deutschen  Österreichs  zu  Hilfe 
kommen,  insbesondere  dem  neu  gegründeten 
deutschen  Studentenheim  und  dem  deutschen 
Vereinshause  in  Cilli  materielle  Unterstützung 
gewähren.  Ein  in  München  Anfang  dieses 
Jahres  gehaltener  Vortrag  von  Heinrich  Was- 
tian  aus  Graz  gab  den  ersten  Anstoß  zu  dem 
schönen  Unternehmen. 

Der  Münchener  „Verein  zur  Erhaltung 
des  Deutschtums  im  Auslande“  bildete  einen 
besonderen  „Hilfsausschuss  für  Cilli“,  und  zu 
den  Veranstaltungen  dieses  Ausschusses  gehört 
das  vorliegende  Prachtwerk,  zu  dessen  künst¬ 
lerischer  Herstellung  eine  große  Anzahl  deut¬ 
scher  Maler,  namentlich  Münchener,  sich 
vereinigt  haben.  Wastian  schildert  in  der 


1)  Den  Deidschen  Österreichs !  Hundert 
Studienblätter  deutscher  Künstler.  Auf  Veran¬ 
lassung  und  unter  Mitwirkung  des  Münchener 
,, Hilfsausschusses  für  Cilli“  herausgegeben  unter 
der  künstlerischen  Leitung  von  Franz  von,  De- 
fregcjer  zu  Gunsten  des  deutschen  Studentenheims 
und  des  deutschen  Vereinshauses  in  Cilli.  Mit 
Text  von  Professor  Dr.  Max  Haushofer  und  einer 
Einleitung  von  Heinrich  Wastian.  München, 
J.  F.  Lehmann.  1896.  XXIII  u.  18  S.  4°. 


Itrrix/JBncH.riJ/r/a^K i  n 

Eine  deutsche  Madonna.  Von  Otto  Seitz. 

Aus  dem  Werke:  Den  Deutschen  Österreiclis !  München,  J.  F.  Lehmann. 


EIN  PATRIOTISCHES  KÜNSTLERBUCH. 


77 


Einleitimg  des  Werkes,  welche  die  Überschrift  „Auf 
gefährlicher  Scholle“  trägt,  mit  beredten  AVorten  die 
Bedrängnis  der  Deutschen  in  Österreich,  welche  vor¬ 
nehmlich  gegen  den  xAnsturm  der  vereinigten  slavischen 


deutsche  A^olk“  —  sagt  er  —  ,,darf  nicht  achtlos  und 
stillschweigend  darüber  liinwegblicken,  dass  mächtige, 
ursprüngliche  und  urdeutsche  Volks-  und  Reichsteile  dem 
deutschen  A^olkstume  entfremdet  zu  werden  drohen;  es 


Der  Dorfschulze,  von  L,  Knaus.  Ans  dem  Werke:  Den  Deutschen  Österreichs!  München,  .7.  F.  Lehmann. 


„Zwergvölker“  immer  heftiger  entbrennende  Kämpfe 
zu  bestehen  haben.  Er  richtet  dabei  auch  wohl  zu 
beherzigende  AVorte  an  die  Deutschen  im  Reiche,  deren 
Sinn  und  Herz  für  diese  Kämpfe  der  Deutschen  der 
Ostmark  nur  allzuwenig  erschlossen  ist.  „Das  große 


muss  den  großen  Verzicht  auf  nationale  Macht  und  Ehre 
sich  vor  Augen  halten,  den  der  Verlust'  der  alten  Ost¬ 
mark,  dieser  größten  Siedelung  deutschen  Stammes,  be¬ 
deuten  müsste,  für  den  die  wiedergewonnene  AVestmark 
des  Reiches,  Elsass-Lothringen,  keinen  Ersatz  bietet.“ 


78 


EIN  PATRIOTISCHES  KÜNSTLERBUCH. 


Dass  diese  "Worte  in  den  Kiinstlerkreisen  Deutschlands 
ihr  lautes  Echo  gefunden  haben,  das  l)e\veisen  die  kost¬ 
baren  Beiträge,  welche  die  deutschen  Maler  und  Zeichner 
aller  Schulen  zu  dem  Werke  beisteuerten.  Es  fehlt 
darunter  kaum  ein  gefeierter  Name  der  Gegenwart;  aus 
Ost  undAVest,  aus  Nord  und  Süd  flogen  reizvolle  Studien¬ 
blätter  figürlicher  und  landschaftlicher  Natur,  poetische 
Kompositionen,  Schilderungen  deutscher  A'olkstypen,  Cha¬ 
rakterbilder  bedeutender  Persönlichkeiten,  vornehmlich 
aber  eine  Fülle  schöner  A’eduten  und  Skizzen  aus  den 
deutschen  Bergen  dem  Herausgeber  zu.  Sie  sind  teils 
als  besondere  Tafeln  durch  Heliogravüre  oder  Lichtdruck, 
teils  als  Textillustrationen  in  autotypischer  AViedergahe 
dem  AVerke  eingefügt.  AATr  nennen  unter  den  Spendern 
beispielsweise  K.  A.  Baur  (München),  Böcklin  (Florenz), 
L.  Burger  (AVien),  Defregger  (München),  0.  Eckmaun 
(München),  AAkalter  Firle  (München),  L.  Friedrich  (Dresden), 
A.  D.  Goltz  (AATen),  0.  Graf  (München),  Tony  Grubhofer 
(Meran),  A.  von  Heyden  (Berlin),  C.  Karger  (AVien), 
Fr.  Aug.  Kaulbach  (München),  L.  Knaus  (Berlin),  AV.  L. 
Lehmann  (München),  Lenbach  (München),  Liebermann 
(Berlin),  Löfftz  (München),  Menzel  (Berlin),  H.  Meyer 
(Berlin),  Oberländer  (München),  Räuber  (München),  P. 
Ritter  (Nürnberg),  G.  Schoenleber  (Karlsruhe),  Otto  Seitz 
(München),  Franz  Stuck  (München),  0.  übbelohde  (Mün¬ 
chen),  .T.  und  L.  AATllroider  (München).  Die  Leser  finden 
einige  Proben  der  Illustrationen  diesem  Aufsatze  bei¬ 
gegeben.  Auch  manche  Spende  von  Verstorbenen  ziert 


das  Buch.  Eine  Reihe  von  Beiträgen  musste  zurück¬ 
gelassen  werden,  da  sie  aus  Raummangel  nicht  mehr  auf¬ 
genommen  werden  konnten.  ATelleicht  wird  ein  erneuerter 
Appell  an  die  Küustlerwelt  von  Nöten  sein  und  sich  dann 
die  Form  finden,  um  auch  die  AA^erke  der  diesmal  Zurück¬ 
gebliebenen  zugleich  mit  den  Spenden  anderer  Geiiossen 
dem  Publikum  vorzuführen. 

Für  den  Text  hat  Max  Haushofer  einen  originellen 
poetischen  Rahmen  komponirt.  Er  lässt  an  einem  der 
gesegneten  Regentage  des  im  wahren  Sinne  des  AVortes 
verflossenen  Sommers  1896  eine  muntere  Gesellschaft 
aus  Nord  und  Süd,  Herren  und  Damen,  an  einem  von 
Felsbergen  umgürteten  See  des  österreichischen  Alpen¬ 
landes  Zusammenkommen.  Je  weniger  von  der  A^eranda 
des  Gasthauses  aus  damals  von  der  schönen  Natur  zu 
sehen  war,  desto  bereitwilliger  erschlossen  sich  Herz 
und  Humor  der  bald  näher  bekannt  gewordenen  Gäste. 
Haushofer  legt  ihnen  die  einlaufenden  Beiträge  der 
Künstler  vor  und  bald  dieser,  bald  jener  aus  der  Gesell¬ 
schaft  erfindet  dazu  eine  lustige  Geschichte,  lässt  sich 
durch  das  eine  Blatt  an  ein  ernstes  Erlebnis,  durch  das 
andere  an  einen  komischen  A'orfall  aus  dem  Leben  er¬ 
innern,  und  so  entsteht  ein  Arabeskenspiel  in  AVorten, 
das  zu  den  hübschen  Bildern  das  anmutigste  Beiwerk 
abgiebt.  Dass  am  Schluss  zwei  der  fröhlichen  Touristen 
und  Touristinnen  ein  glückliches  Paar  werden,  versteht 
sich  von  selbst.  * 


Burgruine  Ober-Cilli. 

Kopfleiste  von  0.  Übbelohde.  Aus  dem  Werke:  Den  Deutsclien  Österreichs!  München,  J.  F.  Lehmann. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Handbuch  der  Kunstgeschichte  von  Aiüoit  Springer. 

Vierte  Auflage  der  Grundzüge  der  Kunstgescliichte.  lllu- 

strirte  Ausgabe.  4  Bde.  In  Lwd.  geV).  M.  24. — .  In  eleg. 

Halbfrzbd.  geb.  M.  28. — .  Lei]izig,  E.  A.  Seemann. 

In  vier  stattliclien  Großoktavbänden  liegt  nunmelir  die 
äußerlich  völlig  und  im  Texte  zum  Teil  veränderte,  durch¬ 
weg  verbesserte  uird  revidirte  Neugestaltung  der  „Grundzüge“ 
vor,  die  mit  uird  nach  den  Werken  Lübke’s  den  Hauptairteil 
an  der  Popularisirung  der  Kunstgeschichte  auf  wissenschaft¬ 
licher  Grundlage  gehabt  haben.  Diese  Neugestaltung  ist 
nicht  etwa  eine  Buchhändlerspekulation,  sondern,  wie  aus 
dem  Nachworte  des  Verlegers  hervorgeht,  nur  die  Ausführung 
eines  von  Springer  seihst  geplanten  Unternehmens,  an  der 
er  sich  selbst  nicht  mehr  beteiligen  konnte.  Ihm  zuerst  hat 
sich  die  Überzeugung  aufgedrängt,  dass  die  Trennung  des 
Textes  von  den  Bildertafeln  nicht  bloß  dem  flüchtigen  Leser, 
sondern  auch  dem  nach  gründlicher  Belehrung  Suchenden 
am  Ende  doch  sehr  unbequem  geworden  war.  Dass  eine 
solche  Trennung  überhaupt  erfolgen  konnte,  erklärt  sich  aus 
der  Entstehungsgeschichte  der  ,, Kunsthistorischen  Bilder¬ 
bogen“,  die  der  Verleger  in  seinem  Nachworte  erzählt.  Es 
ist  bekannt,  dass  sich  erst  nach  dem  unerwarteten  Erfolge 
das  Bedürfnis  nach  einem  Texte  geltend  machte  und  dass  aus 
einem  kurzen  Texte  sehr  bald  die  „Grundzüge“  entstanden 
sind.  Mit  der  vierten  Auflage  ist  nun  die  Verschmelzung 
von  Text  und  Ahbildungen,  soweit  sie  möglich  war,  vollzogen 
worden.  Was  von  Abbildungen  irr  das  für  das  „Handbuch“ 
gewählte  Format  nicht  passte,  wurde  entweder  ausgeschlossen 
oder  durch  kleinere  Reproduktionen  ersetzt,  uird  ebenso  ge¬ 
schah  es  mit  veralteten  oder  den  jetzigen  .Ansprüchen  nicht 
mehr  genügenden  Illustrationen.  Für  den  Ersatz  ist  über¬ 
wiegend  die  Netzätzung  auf  Grund  der  besten  vorhandenen 
Photogi-aphieen  gewählt  worden,  und  dieses  Reproduktions¬ 
mittel  ist,  trotz  seiner  augenfälligen  Schwächen,  gegenwärtig 
so  allgemein  angenommen  worden,  dass  kein  Verleger,  der 
mit  Erfolg  in  dem  immer  heftiger  werdenden  Konkurrenz¬ 
kampf  eintreten  will,  jenes  Mittels  entraten  kann.  Nach  dem 
Fortschritte,  die  die  reproduzirende  Technik  in  den  letzten 
Jahren  gemacht  hat,  ist  mit  Sicherheit  zu  hoffen,  dass  auch 
die  Netzätzung  die  ihr  noch  anhaftenden  Mängel  abstreifen 
oder  dass  sie  durch  eine  andere,  das  künstlerisch  gebildete 
Auge  mehr  befriedigende  Technik  ersetzt  werden  wird. 
Solche  Verbesserungen  würden  besonders  der  völligen  Um¬ 
arbeitung  der  „Kunsthistorischen  Bilderbogen“  zu  gute 
kommen,  die  der  Verleger  vorbereitet.  Einstweilen  ist  das 
„Handbuch“  ganz  auf  eigene  Füße  gestellt,  ohne  dass  der 
Leser  anderweitig  Umschau  zu  halten  braucht.  Es  enthält 
in  seinen  vier  Bänden  die  imposante  Zahl  von  1450  Text¬ 
illustrationen,  wozu  sich  noch  acht  Tafeln  in  Farbendruck 
gesellen.  Auch  ein  Fachgelehrter  wird  in  diesem  Apparat  kaum 
etwas  vermissen,  das  ihm,  wenn  er  nicht  gerade  eine  ent¬ 
legene  Specialität  betreibt,  unentbehrlich  dünken  wird,  und 
ebensowenig  wird  er  eine  empflndliche  Lücke  im  Texte  be¬ 
merken,  obwohl  gerade  die  Neugestaltung  und  Revision  des 
Textes  manche  Schwierigkeit  in  Bezug  auf  die  Meinungsver¬ 


schiedenheiten  der  Fachgelehrten  bot.  Am  glattesten  ging  es 
mit  dem  ersten,  die  Kunst  des  Altertums  behandelnden  Bande 
ab,  dessen  Durchsicht  dem  langjährigen  F reunde  desV erewigten. 
Prof  Adolf  Michaelis  in  Straßljurg,  anvertraut  wurde.  Er 
ist  eine  unbestrittene  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  alten 
Kunstgeschichte,  ein  sicherer  Fels  unter  den  jüngeren  Hei߬ 
spornen  der  Archäologie,  die  in  neuerer  Zeit  überraschend  viele 
Originalwerke  von  Phidias  und  Praxiteles  oder  doch  ihnen 
sehr  nahe  stehende  Kopieen  in  entlegenen  Sammlungen  ent¬ 
deckt  haben.  Eine  starke  Dosis  von  Konservatismus  muss 
der  Herausgeber  eines  Lehr-  und  Handbuches  besitzen,  das 
auf  Jahre  hinairs  seine  Autorität  bewahren  soll;  er  darf  sich 
aber  auch  nicht  ganz  gegen  Wahrscheinliches  und  An- 
sprecliendes  in  neuen  Entdeckungen  und  Forschungen  ver¬ 
schließen.  Michaelis  hat  mit  Glück  die  richtige  Mitte  inne¬ 
gehalten.  Für  die  drei  anderen  Bände  war  die  Lage  viel 
schwieriger.  Der  Sohn  und  Erbe  des  Verfassers,  Prof.  Jaro 
Springer,  der  auf  demselben  Gebiete  der  Wissenschaft  ar¬ 
beitet,  hatte  hier  einen  Kampf  zwischen  Pietät  und  wissen¬ 
schaftlichem  Eifer  auszufechten.  Er  wollte  den  Vater  nicht 
schulmeistern,  er  wollte  aber  auch  nicht  an  den  neuesten 
Ergelinissen  der  Knnstforsclmng  vorübergehen.  Dass  viele 
davoir  ebenso  glänzend  wie  trügerisch  sind,  wird  er  wohl 
durchschaut  haben,  und  er  hat  sich  denn  auch  mit  seinen 
Zusätzen  und  Veränderungen  auf  das  am  wenigsten  anfecht¬ 
bare  beschränkt.  Vielleicht  wird  man  gut  thun,  auch  diesen 
Veränderungen  gegenüber  soweit  sie  nicht,  wie  z.  B.  die  an¬ 
schaulichere  Darlegung  des  gotischen  Gewölbebaus,  sachlich 
begründet  sind,  noch  einige  Vorsicht  zu  beachten.  Das  gilt 
natürlich  nur  für  die  Fachschriftsteller,  die  in  dem  Handbuch 
nachschlagen,  und  namentlich  für  die  Lehrer  der  Kunstge¬ 
schichte  an  denUniversitäten,  rlie  jetzt  eine  vortreffliche  Grund¬ 
lage  haben,  auf  denen  sie  ihre  eigenen  Doktrinen  auf  bauen  oder 
mit  deren  Hilfe  sie  ihren  Hörern  die  einzelnen  Abschnitte  inj  ede 
erwünschte  Vielseitigkeit  erweitern  können.  Der  Laie,  der  nur 
einen  reinen  und  möglichst  vollkommenen  ästhetischen  Ge¬ 
nuss  sucht,  hat  an  dem  Streit  der  Kunstgelehrten  kein 
Interesse.  Es  ist  ihm  ganz  gleichgültig,  wer  Barthel  Beham 
und  wer  der  Meister  von  Messkirch  ist  oder  wer  den  Altar 
des  Todes  der  klaria  gemalt  hat,  zwei  Streitfragen,  die  jetzt 
ein  Dutzend  junger  Gelehrter  nützlich  und  angenehm  lie- 
schäftigen.  Der  Laie  fragt  nur  nach  den  Größen  der  Kunst¬ 
geschichte,  und  diese  hat  Meister  Anton  Springer  in  seiner 
großen  Art  eines  über  alle  Kleinigkeiten  erhabenen  Histo¬ 
rikers  so  klassisch  geschildert,  dass  die  spätere  Zeit  diese 
Bilder  wohl  in  Einzelzügen  erweitern,  aber  niemals  stürzen 
wird.  Wenn  die  jüngeren  Kunsthistoriker,  die  nicht  seine 
Schüler  waren,  alier  vielleicht  vom  Hörensagen  oder  aus 
seinen  Schriften  seine  Methode  kennen  gelernt  haben,  noch 
sonst  etwas  von  ihm  profltiren  wollen,  so  empfehlen  wir 
ihnen  das  Studium  seines  Stils.  Einfachheit,  Klarheit, 
plastische  Schönheit!  Diese  Vorzüge  verbanden  sich  mit 
einem  universalen  Wissen,  und  beides  zusammen  wird  sein 
Gedächtnis  noch  lange  in  den  Kreisen  derer,  die  ihm  nach¬ 
streben,  erhalten!  A.  li. 


80 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Der  Öllierg  zu  Ulm.  (Ulmor  Müiisterhlätter.) 


E.  de  Goncourt,  Hohousai.  Paris, 
Bibliotheque  Charpentier  1896. 
a  3,50  frs.  le  vol. 

Eine  Serie  von  Monographieen 
japanischer  Künstler  hat  uns  E.  de 
Goncourt  in  Aussicht  gestellt.  Er¬ 
schienen  war  Insher  das  Leben  des 
Outaniaro.  Jetzt  folgt  die  Biogra¬ 
phie  des  Ilokusai,  des  Begründers 
des  modernen  japanischen  Natura¬ 
lismus  (1760 — 1849).  Die  Lebens¬ 
geschichte  des  Meisters  von  Yeddo 
ist  wenig  bekannt,  da  der  große 
Naturalist,  der  heute  in  Japan  wie 
in  Europa  wohl  der  bestgekannte 
und  höchstgeschätzte  Künstler  Ost¬ 
asiens  sein  dürfte,  zu  seinen  Leb¬ 
zeiten  verhältnismäßig  wenig  be¬ 
achtet  wurde.  Gegen  die  offizielle 
Kunst  der  Tosa-  und  Kairo -Schule 
vermochte  er  zu  seinen  Lebzeiten 
mit  seinen  zumeist  dem  täglichen 
Leben  entnommenen  Stofi'en  nicht 
aufzukommen.  Goncourt  giebt  einen 
sehr  ausführlichen  und  gewissen¬ 
haften  Nachweis  der  Werke  Hoku- 
sai’s,  vor  allem  auf  Grund  der  Samm¬ 
lung  Hayashi,  die  ein  fast  komplet¬ 
tes  Oeuvre  des  Meisters  aufweist, 
ferner  der  Sammlung  Bing  u.  a.  m. 
Für  Hokusai-Sammler  ist  das  Buch 
höchst  wertvoll.  Für  die  Lebensge¬ 
schichte  des  Meisters  sind  außer  einer 
kurzen,  bereits  früher  benutzten 
Biographie  aus  dem  Werke  ,,ükil- 
joye  Ruikö“  von  Kioden,  noch  eine 
Biographie  ,,Katsusika  Hokusai- 
den“  von  1-ijima  llanjuro  benutzt, 
deren  Übersetzung  Goncourt,  wie 
die  der  Yorworte  der  von  Hokusai 
illustrirten  Werke,  der  Gefälligkeit 
japanischer  Freunde  verdankt. 

M.  SCHMW. 


Der  Ölberg  \u  Ulm,  nach  dem 
Biss  des  Matthäus  Böblinger  (1474). 
Wir  bringen  dies  Blatt  als  Nach¬ 
trag  zu  S.  33  dieses  Bandes,  wo  aus¬ 
führlich  über  die  besondere  Bedeu¬ 
tung  des  Bisses  und  die  Schick¬ 
sale  des  später  danach  aufgeführten 
Bauwerks  gehandelt  wurde.  Die 
nachträgliche  Abbildung  des  viel¬ 
gepriesenen  Meisterwerks  des  Ulmer 
Gotikers  dürfte  um  so  willkommener 
sein,  als  die  Ulmer  Münsterblätter, 
deren  G.  Heft  (1889)  wir  dieselbe 
entnehmen,  doch  nur  in  verhältnis¬ 
mäßig  wenigen  Händen  sind. 


KC 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxoto  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


„Plnllis  on  the  new  made  hay.‘‘  Aus  Pan-Pipes  von  W.  Crane. 


WALTER  CRANE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ENN  irgend  eine  lierverragende  und  weit¬ 
hin  leuchtende  Persönlichkeit  einmal  er¬ 
fasst  und  ihr  Charakterbild  von  den  Zeit¬ 
genossen  festgestellt  worden  ist,  so  dass 
es  eine  allgeineingiiltige  Form  anzu¬ 
nehmen  begonnen  hat,  so  erscheint  es 
billige  Weisheit,  sich  in  endlosen  Wiederholungen  zu 
ergehen  und  feststehende  Wahrheiten  in  immer  neuen 
Bestätigungen  wieder  aufzuwärmen.  Wer  heute  noch 
etwas  wirklich  Neues  über  Fixsterne  der  bildenden  Kunst, 
wie  Menzel  oder  Böcklin,  oder  einen  Courbet  und  Millet, 
zu  sagen  hätte,  der  dürfte  voraussichtlich  wohl  kaum 
zu  der  Zunft  derer  gehören,  welche  kritisiren  und 
registriren.  Ihm  müsste  schon  neue  Entdeckungskraft 
und  die  Fähigkeit  verliehen  sein,  als  geistige  Fort¬ 
setzung  über  sie  hinaus  zu  denken. 

Etwas  anders  liegen  die  Binge  bei  der  Beurtei¬ 
lung  einer  neuen  Erscheinung  am  Kunsthimmel.  Hier 
droht  sogleich  die  Gefahr,  den  Maßstab  entweder  zu 
klein  oder  „etwas“  zu  groß  auzulegen.  Für  irgend  einen 
kuriosen  Liebhaber  ließe  sich  leicht  aus  der  langen 
Reihenfolge  von  Zeugnissen,  mit  denen  von  alters  her 
allerlei  inkommensurable  Gi'ößen  bei  ihrem  Eintritt 
in  das  kritische  Fegefeuer  begrüßt  und  entweder  in 
den  Himmel  gehoben,  oder  „abgeschlachtet“  und  „ge¬ 
kreuzigt“  worden  sind,  eine  kleine  Bibliothek  unfreiwil¬ 
liger  Komik  zusammenstellen.  Sobald  ein  neuei-  Stern 


Bei  den  alten  lieben  Toten, 

Will  man  Erklärung,  liraucht  man  Noten. 

Die  Neuen  glaubt  man  blank  zu  versteh’n; 
Ohne  Dolmetsch  wird’s  auch  nicht  geh’n. 

Goethe. 

aufgeht,  giebt  es  ja  der  Interpreten  immer  genug.  Weil 
der  erste  Eindruck  der  frischeste  ist,  glaubt  man,  er 
sei  auch  der  untrüglichste,  und  ein  lichtiges  Projektions¬ 
bild  zu  erhalten,  hinge  nur  von  der  mehr  oder  minder 
plastischen  Ausdrucksfähigkeit  des  Schriftstellers  ab. 
Trifft  das  auch  häuffg  zu,  so  erscheinen  doch  von  Zeit 
zu  Zeit  Sonnen,  deren  Strahlen  nicht  in  dem  ersten 
besten  kritischen  Brennspiegel  aufgefangen  werden 
können,  Persönlichkeiten,  deren  Sprache  so  sehr  ihre 
eigene  ist,  dass  sie  sich  nicht  immer  gleich  verdol¬ 
metschen  und  in  die  landesübliche  Münze  umprägen  lässt. 

Auf  dem  Gebiete  derjenigen  Schöpferkraft,  deren 
Wurzeln  aus  der  reinen  Phantasie  entspringen,  lassen 
sich  ein  Süd-,  ein  Mittel-  und  ein  Nordgermane  heraus¬ 
greifen,  über  deren  charakteristische  Eigenschaften  der  Ver¬ 
fasser  des  „Rembrandt  als  Erzieher“  vielleicht  Stoff  genug 
ffnden  könnte,  ein  neues  umfangreiches  Buch  zu  schreiben. 
Sie  stellen  ein  mitteleuropäisches  Künstlerdreieck  dar, 
mit  den  Stützpunkten  in  Basel,  Leipzig  und  London. 
An  des  Schweizers  Böcklin  heitere  Urwüchsigkeit  mit 
ihren  Fabelwesen  reiht  sich  des  Sachsen  Max  Klhnjcr 
grübelnder  Tiefsinn,  mit  seinem  herben  Ernst  und  dem 
philosophischen  Zug  seiner  Probleme.  Als  Dritter  ge¬ 
sellt  sich  ergänzend  zu  beiden  der  Engländer  Crane, 
in  keinem  einzelnen  Punkte  vielleicht  ihrer  individuellen 
Abgeschlossenheit  vergleichbar,  aber  als  Ganzes,  in  der 
Eigenschaft  eines  Bindegliedes  zwischen  Kunst  und  Leben, 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  11.  4. 


82 


WALTER  GRANE. 


ihi'er  Bedeutung  kaum  imebenbürtig.  An  selbständiger 
Hoheit  und  stolzer  Kraft  von  beiden  übertroffen,  steht 
er  gleich  weit  ab  vom  einen  wie  vom  andern,  und  gerade 
diese  Mittelstellung  'lässt  ihn  berufen  erscheinen,  die 
tiefe  Kluft,  welche  Künstlertum  und  Kunsthandwerk  so 
laime  voneinander  trennte,  zu  überbrücken  und  eine 
\’ennittlerrolle  zu  übernelimen,  die  selbstherrlicheren 
und  weniger  anpassungsfähigen  Begabungen  meistens 
versagt  ist. 

Auch  Walter  Ch-anc  gehört  zu  jener  Art  von  Pro¬ 
pheten,  welche  beim  ersten  Auftreten  kaum  irgendwo 
Gehör  zu  linden  pflegen,  ganz  abgesehen  vom  eigenen 
\'aterlande.  Als  die  Zeitschrift  vor  Jahren  einmal  um 
nähere  Auskunft  über  ihn  in  London  anfragte,  weil  dort 
eine  solche  voraussichtlich  am  ehesten  zu  erlangen  ge¬ 
wesen  wäre,  erhielt  sie  die  sehr  liezeichnende  Gegen¬ 
frage:  „Wer  ist  Grane?“  Und  anderswo  wusste  man 
ebensowenig  von  ihm  zu  sagen.  Die  Wenigen,  „die  was 
davon  erkannt“,  mögen  damals  ihre  Entdeckung  für  sich  be¬ 
halten  haben,  in  vorsichtiger  Erkenntnis  der  Gefährlich¬ 
keit,  etwas  Neues  unumwunden  anzuerkennen,  bevor  es 
durch  eine  Anzahl  authentischer  Beglaubigungszeugnisse 
für  die  öffentliche  Bewunderung  sanktionirt  worden  war. 
Die  Thatsachen  haben  seither  zu  Gunsten  des  Künstlers 
entschieden,  und  heute  würde  sich  wohl  niemand  mehr 
mit  einer  Frage,  wie  die  obige,  ein  testimonium  pau- 
pertatis  ausstelleu  mögen. 

Am  15.  August  1845  in  Liverpool,  als  der  Sohn 
des  aus  der  Grafschaft  Chester  stammenden  Miniatur- 
maleis  Thomas  Grane  geboren,  steht  unser  Künstler 
jetzt  im  zweiimdfiinfzigsten  Lebemsjahre  und  im  vollen 
Strom  seines  Schaffens  und  Wirkens.  Da  das  äußere 
Leben  eines  modernen  Künstlers  in  der  Regel  an  er¬ 
schütternden  Ereignissen,  besonders  dann,  wenn  es 
sich  in  der  aufsteigenden  Ebene  des  Erfolges  bewegt, 
nicht  sonderlich  reich  ist,  so  wird  unser  Hauptaugen¬ 
merk  auf  die  rein  künstlerische  Seite  seiner  Ent¬ 
wicklung  gerichtet  Ideiben.  Weniger,  als  beim  Schrift¬ 
steller,  steht  beim  bildenden  Künstler  das  eigene  Schick¬ 
sal  in  unmittelbarer  Beziehung  zum  Werke  der  Hand;  denn 
die  Fäden,  welche  sich  vom  Leben  zur  Kunst  hinüber¬ 
ziehen,  sind  Tiei  letzterem  in  den  meisten  Fällen  ver¬ 
borgener  und  undetinirbarer,  weil  er  oft  nur  auf  das 
Zufällige  und  flüchtig  Erschaute,  der  Dichter  weit  mehr 
auf  das  Selbsterlebte,  Folgerichtige,  angewiesen  ist.  Der 
Schwerpunkt  einer  kritischen  Untersuchung  über  den 
bildenden  Künstler  kann  inffdgedessen  auch  nicht  darin 
beruhen,  eine  mit  vielen  Einzelheiten,  Daten  und  Epi¬ 
soden  geschmückte  Lebensbeschreibung  zu  bringen;  viel¬ 
mehr  haben  die  Äußerlichkeiten  seiner  Ijaufbahn  nur 
dann  die  Berechtigung,  in  das  Gebiet  der  Betrachtung 
hineingezogen  zu  werden,  wenn  wir  nachweisen  können, 
dass  sie  auch  wirklich  mitbestimmend  auf  sein  künst¬ 
lerisches  Wachstum,  seine  Richtung  und  seine  innere 
Klärung  eingewirkt  haben.  Wer  sich  über  Crane’s 


Leben  und  seine  sämtlichen  Arbeiten,  die  zu  umfang¬ 
reich  sind,  um  sie  alle  hier  aufzuzählen,  genauere 
Auskunft  verschaffen  will,  der  findet  dieselbe  am  aus¬ 
führlichsten  in  dem  Katalog  seiner  AVeike  aus  der 
Bibliothek  des  Kunstgewerbemuseums  in  Berlin,  her¬ 
ausgegeben  von  Dr.  Peter  Jessen.  Wir  erfahren 
daraus,  dass  er,  durch  den  frühen  Tod  seines  Vaters 
auf  eigenen  Verdienst  angewiesen,  in  den  Jahren  1859 
bis  1862  als  Zeichner  (draughtsman)  im  Atelier  des 
Holzschneiders  W.  T.  Linton  arbeitete.  Er  selbst  sieht 
diese  Imlirzeit,  die  ihn  früh  mit  den  handwerklichen 
Grundlagen  der  Kunstübung  vertraut  machte,  als  einen 
Vorzug  vor  der  rein  akademischen  Bildung  an.  Neben¬ 
her  malerische  Studien  pflegend,  konnte  er  schon  1862 
sein  erstes  Gemälde  auf  der  Kunstausstellung  der  Royal 
Academy  in  Ijondon  ausstellen.  Dann  arbeitete  er  in 
einer  privaten  Kunstschule,  wo  sich  ihm  das  Verständ¬ 
nis  für  das  Ebenmaß  und  die  Einfachheit  der  Antike 
zuerst  erschloss.  Im  Alter  von  kaum  zwanzig  Jahren 
begann  er  seine  Thätigkeit  als  Zeichner  für  farbige 
Buch-Illustrationen.  Sie  sind  der  Ausgangspunkt  seines 
ganzen  künstlerischen  Wirkens,  und  man  kann  von  ihm 
sagen,  dass  er  mit  diesen  Bilderbüchern  sich  „von  der 
Kinderstube  aus“  sein  Reich  erobert  hat. 

Die  Worte  Uriel  Acosta’s:  „Es  wurzelt  in  unserem 
Volke  tief  die  Familie“  lassen  sich  mit  derselben  Be¬ 
rechtigung  auf  das  tägliche  Leben  von  „merry  old 
England“  anwenden.  Auch  im  britischen  Volke  wurzelt 
heute  noch,  wie  von  alters  her,  tief  die  Familie.  Nur 
wer  weiß,  was  das  starke  Wort  ,,,at  home“  für  den  Briten 
bedeutet,  wer  englische  Lebensweise  im  Kreise  der 
Familie  oder  auf  den  Landsitzen  der  besitzenden  Klassen 
kennen  und  schätzen  gelernt  hat,  vermag  auch  Walter 
Crane’s  Art,  sein  Dichten  und  Denken,  das  in  diesen 
Bilderbüchern  niedergelegt  ist,  ganz  zu  begreifen  und 
zu  lieben.  In  keinem  Lande  der  Welt  trifft  man 
mehr  gesunde,  natürliche  Kinder  als  in  den  mittleren 
und  oberen  Klassen  der  englischen  Bevölkerung,  vom 
einfachen  Geschäftsmann  bis  hinauf  zur  Aristokratie; 
gerade  diese  ist  im  Gegensatz  zu  manchen  anderen 
modernen  Staaten  eine  vollsaftige  geblieben,  eine  echte 
Adelssippe,  ausgestattet  mit  allen  Thorheiten  und 
Lastern,  aber  auch  mit  allen  Tugenden  einer  uralten, 
in  Generationen  auf  Genei’ationen  gefestigten  Über¬ 
lieferung.  Grane  ist  tief  hinabgetaucht  in  den  Geist 
seines  Volkes,  in  das  Herz  der  Kinder  seines  Vol¬ 
kes,  und  holte  daraus  den  quellfrischen  Born  der 
Poesie  seiner  Formen  und  Farben  hervor.  Sie  lagen 
bereit  für  jeden,  der  sie  redlich  suchte;  er,  als 
Erster,  fand  sie  nicht,  sondern  er  brauchte  sie  nur 
wieder  neu  einzukleiden  und  ins  Gedächtnis  zurück¬ 
zurufen,  auf  seine  Weise.  Er  steht  auch  schon  lange 
nicht  mehr  allein,  denn  sein  Beispiel  hat  Früchte  ge¬ 
tragen  und  verwandte  künstlerische  Kräfte  geweckt, 
die  wenig  hinter  den  seinen  zurückstehen.  Für  die 


WALTER  CRANB. 


83 


englischen  boys  und  girls  sind  die  Namen  Kate  Greena- 
way  und  Randolph  Caldecott  ebenso  geläufig  wie  der 
seine.  So  eine  Kinderpoesie  ist  das  beste  Naturheil¬ 
mittel  für  neuropatliische  oder  sentimentale  Dekadenten 
im  Zeitalter  der  kranken  Nerven. 

Das  britische  Volk  hat  Kindererzählungen,  heitere 
und  ernste,  duftige,  sinnige  Märchen,  die  sich,  wo¬ 
fern  sie  nicht  überhaupt  schon  eine  freie  Übertragung 
der  deutschen  und  skandinavischen  sind,  unserem  heimi¬ 
schen  Schatz  vollgültig  an  die  Seite  stellen  dürfen.  Die¬ 
selbe  echte,  heilige  Einfältigkeit  spricht  aus  ihnen. 
Mit  weitgeöffneten,  großen  Kinderaugen  sehen  sie  uns  an. 
Dieser  weite  offene  Blick  ist  es,  der  so  eigenartig 
herausleuchtet  aus  den  Märchenaugen,  welche  Grane 
zeichnet,  aus  den  schlanken  Jungfrauen  und  feurigen 


wenigen  harmonischen  Valeurs,  und  die  Illustration  ist 
fertig.  Dieser  kernige  Stil  hat  sich  während  der  Jahre 
1865  — 1876  immer  entschiedener  ausgeprägt  in  den 
Märchen-  und  ABC-Büchern,  von  denen  jährlich  zwei 
bis  drei  bei  Routledge  &  Sons  erschien  sind. 

Das  älteste  Bilderbuch  „The  Song  of  Sixpence“ 
giebt  die  Figuren  lebhaft  charakterisirt,  aber  noch  ohne 
Hintergrund.  Es  folgten:  Das  Kinder- Alphabet,  Aladdin’s 
Wunderlampe,  Goody  Twoshoes,  Jack  and  Jill,  The  little 
Cock-Sparrow,  Puss  in  Boots,  Blaubart,  The  Fairy  Ship 
u.  a.  m.  Zierlicher  als  diese  sind  die  Kinderbücher  „The 
Baby’s  Opera“,  „The  Baby’s  Bouquet“  und  „Baby’s  Own 
Aesop“,  während  in  der  Serie  von  acht  Erzählungen 
(worunter  „The  Beauty  and  the  Beast“  und  „The  Frog 
Prince“  aus  dem  Jahre  1875)  der  Einfluss  der  prä- 


Tlie  House  tbat  Jack  built.  Kinderstuben  -  Tapete  von  W.  Crane. 


Jünglingen,  zarten  Mädchen  und  ritterlichen  Knaben, 
aus  all  den  Knospen  und  Blüten,  Feen  und  Blumen¬ 
geistern.  Sie  leben  ein  tiefes,  natürliches  Leben  in 
schuldloser  Einfalt  und  Sinnenfreude.  Aber  wieviel 
Geist  in  dieser  Einfalt! 

Hatten  bis  dahin  in  den  englischen  Kinderbüchern 
grelle  Farben  und  rohe,  oberflächliche  Zeichnung  ge¬ 
herrscht,  so  führte  nun  Walter  Crane,  in  Verbindung 
mit  dem  Holzschneider  und  Drucker  E(h)miul  Evans, 
eine  neue  Hlustrationsweise  ein.  In  einfachen,  scharfen 
Umrissen  stehen  die  Figuren  auf  reich  gefülltem  Hinter¬ 
gründe,  in  so  großem  Maßstab  gezeichnet,  wie  es  der 
gegebene  Raum  und  die  Persi)ektive  irgend  ermöglichen. 
Dadurch  wird  eine  Linienwirkung  erzielt,  die  an  die 
alte  Technik  des  Holzschnittes  erinnert.  Ein  Paar 
Farben  dazu,  flach  mit  Pinsel  oder  Feder  behandelt,  in 


rafaelitischen  Formensprache  erkennbar  ist.  Davon 
später  mehr. 

Schon  im  Jahre  1874  hatte  aber  die  Firma  Jeffrey 
&  Co.  auch  den  ersten  Karton  zu  einer  Kiuderstuben- 
Tapete  bestellt.  Wie  Crane  dazu  gekommen,  erzählt 
er  selbst.  Ein  Fabrikant  hatte  ohne  sein  Wissen 
die  Illustrationen  zu  „The  Baby’s  Opera“  als  Kinder¬ 
stubentapete  herausgegeben  und  so  zeichnete  Crane  „zur 
Selbstverteidigung“  selber  Muster,  in  Verbindung  mit  Mr. 
Metford  Warner  (Jeffrey  &  Co.).  Es  folgte  (1876)  das 
lustige  Märchen  „Humpty  Dumpty“,  drei  Jahre  darauf 
in  derselben  Weise  „The  Sleeping  Beauty“  (die  eng¬ 
lische  Version  unseres  Dornröschen)  und  endlich,  1886, 
das  beliebte  Muster  „The  House  that  Jack  built“, 
welches  mit  Meisterschaft  die  Figuren  des  launigen 
Kinderverses  zu  dekorativer  Einheit  zu  verwerten  weiß. 


11* 


84 


WALTER  GRANE. 


Unsere  Illustration  giebt  die  reizvolle  Zusammenstellung 
wieder. 

Durch  Crane  und  William  Morris  hat  die  englische 
Tapete  ihr  eigenartiges  Gepräge  in  den  letzten  15  bis 
20  Jahren  erhalten.  Ohne,  wie  es  unsere  Zeichner  noch 
last  durchweg  tliun,  die  alten  Gewebemnster  naclizu- 
alimen,  ist  sie  mit  frei  erfundenen  Flachniustern  bedeckt, 
zu  denen  der  reiche  Blumenflor  der  englischen  Gärten 
und  Landschaften  meistens  die  dankbaren  Motive  liefern 
muss.  „The  Fairy  Garden"  ist  ein  Karton,  welcher  sich 


auf  der  in  Buchform  herausgegebenen  Komposition 
„Flora’s  Feast“  autbaut.  Das  herrliclie  „Woodnotes-Paper“ 
(Waldesklänge),  in  Ledertapete  ausgeführt,  giebt  unsere 
Abldldiing  wieder.  Es  liegt  ein  merkwürdiger  Naturlaut 
in  diesem  Stück.  Man  meint  das  Waldesweben  zu  ver¬ 
nehmen,  plötzlich  unterbrochen  von  dem  wilden  Hal- 
lulli  der  Jagd,  Bellen  der  Hunde,  Knacken  der  Äste, 
au fgescheu eilte  Vögel,  Jagdhörner,  und  über  dem  Gan¬ 
zen  schallt  „Waidmanns  Heil!“ .  Crane  giebt 

seinen  Mustern  gerne  bedeutungsvolle  Namen  und  Sym¬ 
bole:  „Die  Krone  des  Lebens“  (Corona  vitae),  „Das 


goldene  Zeitalter“  (The  Golden  Age)  u.  dergl.  Auch 
die  Decken  selbst  werden  zuweilen  mit  Tapeten  be¬ 
kleidet,  sogenannte  „Ceiliug-papers“,  wie  die  „Taube 
mit  dem  Ölzweig“  und  das  wildbewegte,  aber  in  sich 
vollkommen  geschlossene  Motiv  „läie  vier  Winde“. 
Crane  hat  für  mehrere  Kunstfreunde  die  dekorative  Aus¬ 
stattung  ganzer  Räume  aus  einem  Gesichtspunkt  heraus 
geschaffen,  wobei  er  auch  farbige  Stuckreliefs  anwendet, 
als  Füllungen  für  Decken  und  Friese,  die  er  eigenhändig 
modellirt  und  vergoldet.  Zu  solchen  Wandfüllungen  mit 
einheitlichem  Motiv  malte  er  den  großen 
Karton  des  „Fackellaufs“  (Passing  the 
Torch).  Zu  jeder  modernen  englischen 
Tapete  gehört  ein  ziemlich  breiter  Fries, 
den  Übergang  zur  Decke  vermittelnd,  und 
zuweilen  wird  noch  ein  sogenanntes  „dado“, 
ein  separates  Stück  mit  gewöhnlich  freier 
Variante  des  Grundmusters,  welches  vom 
Fußboden  bis  etwa  zur  Kuiehöhe  hinauf¬ 
reicht,  den  Hauptmotiven  beigegeben.  Dies 
ist  zum  Beispiel  bei  der  reizenden  „Mar- 
guerite-wallpaper“  der  Fall,  ein  durch 
Chaucer’s  Poem  „The  Flower  and  the 
Leaf“  angeregtes  Muster.  Die  einfache, 
aber  sehr  lebhaft  wirkende  Wellentajjete 
(Billow-paper)  besteht  aus  flüssig  gewun¬ 
denen  Wellenlinien,  in  bestimmten  Ab¬ 
ständen  von  Fischen  belebt.  Der  Fries 
zur  Wellentapete  ist  mit  Meerweibcheu 
bevölkert,  die  Kranzleiste  stellt  den  stei¬ 
nigen  Meerbodeu  dar,  durch  Muscheln,  See¬ 
sterne  u.  dergl.  belebt. 

In  verwandten  Zweigen  dekorativer 
Kuust  hat  Crane  sich  ebenfalls  bethätigt, 
durch  bemalte  Glasfenster,  Stickereien, 
Mosaiken,  Steinflieseu,  Kacheln  u.  s.  w. 

An  Illustrationen  für  kleine  und  — 
erwachsene  Kinder  sind  noch  hervorzu¬ 
heben:  „The  Book  of  Wedding  .Days“, 
eine  Art  größerer  Notizkalender  für 
Hochzeiten,  mit  frei  erfundenen,  humor¬ 
vollen  Randzeichnungen,  unter  denen  Pflan¬ 
zenornamente  und  Kinderflguren  die  Haupt¬ 
rolle  spielen.  Von  politisch -satirischem 
Inhalt  ist  die  originelle  Zusammenstellung  „Mrs.  Mundi 
at  home“,  dagegen  beschränken  sich  wiederum  auf  Ver¬ 
zierungen  und  textbegleitende  Randzeichnungen  die  Bil¬ 
der  zu  den  Erzählungen  der  Mrs.  Molesworth,  Miss  de 
Morgan,  Mrs.  Burton  Harrison  u.  a.  m. 

Ganz  frei  erdacht  sind  „The  Courtship  of  Columbia“ 
und  das  herrliche  Werk,  welches  zum  gi'(d.len  Teil  alte 
englische,  irische  und  schottische  Hirten-  und  Liebes¬ 
lieder,  Balladen  etc.  wieder  in  neuer,  reizvoller  Dar¬ 
stellung  erstehen  lässt:  die  Collection  „Pan  Pipes“.  Sein 
neuestes  Werk  in  Buchfoi’in,  die  Ausgabe  von  Spencer’s 


WALTER  GRANE. 


85 


„Fairie  Queene“,  zeigt,  ihn  auf  frischer  Lahn  und  der 
vollen  Höhe  seines  Könnens.  Der  Einklang  zwischen 
dem  Druck  des  Textes  und  der  kräftigen,  klaren  und 
bewussten  Zeichnung  ist  eine  Ei'rungenschaft,  welche 
nicht  zum  Wenigsten  der  Anregung  zu  verdanken  ist, 
die  William  Morris  mit  seiner  Kelmskottpresse  dem 
englischen  Buchdruck  gegeben  hatte. 

In  seinen  Bildern  und  größeren  freien  Kompositionen 
zeigt  Grane  eine  ausgesprochene  Neigung  zu  stilisiren- 
der  Natursymbolik.  So  hat  seine  Phantasie  die  über¬ 
schlagenden  Scliaumkämme  brandender  Meereswogen  in 
wild  anstürmende  Rosse  verwandelt,  schneeweiß,  an 
die  blendende  Kavallerieattatiue  der  Chasseurs  d’Afrique, 
1870  er  Andenkens,  gemahnend. 

Durcli  ähnliche  freie  Ideenassimilation  hat  unser 
Klinger  in  einer  Radirung  den  Schaum  stürzender  Wogen 
aus  lauter  Rosen  gebildet.  Wie  weit  die  Phantasie 
darin  gehen  darf,  kann  durch  die  Tlieorie  nicht  normirt 
werden.  Die  Sorge  des  Grestaltenden  muss  im  einzelnen 
Falle  selber  darauf  gerichtet  sein,  der  frei  schaffenden 
Umdichtung  der  Natur  ihre  Grenzen  zu  bestimmen. 
W'cnn  er  sie  glaubhaft  und  schön  macht,  ist  sie  be¬ 
rechtigt.  Sein  „inneres  Gesicht“  hat  dann  Gültigkeit, 
wenn  es  so  überzeugend  zum  Beschauer  spricht,  dass 
dieser,  wenigstens  für  den  Augenblick,  daran  glauben 
kann.  Kann  er  das  nicht,  so  ist  es  an  der  Klippe  des 
komischen  und  unvermittelten  Gegensatzes  gescheitert. 
Aber  weder  Klinger’s  „Rosenbrandung“  noch  Crane’s 
„Rosse  des  Neptun“  sind  daran  gescheitert.  Auch  die 
„Schwaneujungfrauen“  und  der  „Wettlauf  der  Stunden“ 
gehören  hierhin. 

Eine  umfassende  Allegorie  ist  die  „Bi'ücke  des 
Lebens“,  1884  in  Rom  entworfen;  in  sinnigem  Gedanken¬ 
gang  lässt  Grane  das  Menschenleben  von  Stufe  zu  Stufe 
über  einen  hoch  gespannten  Brückenbogen  dahinziehen. 
Er  selbst  erläutert  seine  Auffassung  mit  folgenden 
Worten:  Unter  der  Brücke  begegnen  sich  der  Naclien 
des  Lebens  und  des  Todes.  Aus  jenem  landet  das  junge 
Leben  und  steigt  die  Stufen  hinan,  gehegt  von  den 
Eltern,  belehrt  vom  Alter,  harmlos  im  kindlichen  Spiel, 
bis  es  im  llbermut  der  .Tugend  zum  Spiel  der  läebe 
wird,  bis  der  Ergeiz  ruft  und  des  ^VTges  Mitte  erreicht 
ist.  Glück  und  Ruhm  locken  und  entweichen  stets,  bis 
vielleicht  die  Krone  erreicht  wird.  Aber  die  schwere 
Erdenbürde  drückt.  Der  wankende  Greis  wird  gestützt 
von  dem  Knaben  und  schaut  auf  den  Nachen  mit  seiner 
dunklen  Last.  Die  Hoffnung,  von  der  Liebe  geleitet, 
leiht  ihr  bescheidenes  Licht  auch  auf  dem  Altstieg  vom 
Leben.  Unten  streuen  die  Trauernden  ihre  Blumen  über 
den  stillen  Toten.  — 

Englische  Balladen  hat  Grane  ebenfalls  verwertet, 
von  Keats  und  anderen,  wie  „La  belle  Dame  sans 
merci“,  aus  demselben  Jahre.  Eines  der  ältesten  Bilder 
(1875),  welches  sich  an  die  altflorentiner  Mal  weise  hält, 
ist  „Amor  omuia  vincit“.  Die  Stadt  der  Amazonen  ist 


vom  Gott  der  Liebe  und  seinen  Scharen  belagert  worden, 
und  die  Königin  Hippolyta  muss  am  Ende  die  Schlüssel 
dem  Überwinder  ausliefern,  worüber  ihre  Genossinnen 
nicht  in  dem  Maße  unglücklich  sind,  wie  man  annelimeii 
könnte.  Der  feine  Humor,  der  darin  liegt,  ist  herz¬ 
erfrischend,  denn,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  werden 
streitbare  Belagerer  weiblicher  Festungen  von  der 
überwundenen  Besatzung  zumeist  in  diesem  Sinne  em¬ 
pfangen. 

Zur  Maifeier  der  Arbeiter  im  Jahre  1891  wurde 
der  große  Holzschnitt  „The  Triumph  of  Labour“,  dessen 
Entwurf  auf  der  letztjährigen  Frühjahrsausstellung  der 
Secession  in  München  zu  sehen  war,  hergestellt.  Der¬ 
selbe  ist  ziemlich  verbreitet  und  bekannt  geworden,  allein 
künstlerisch  betrachtet  ist  er  Grane’s  am  wenigsten 
gelungene  Arbeit;  schon  deshalb,  weil  sie  an  einer  ge¬ 
wissen  Tendenz  klebt.  Man  wird  daran  erinnert,  dass 
Grane  den  socialistischen  Theorieen  zuneigt  und  von  der 
vereinfachten  Gesellschaftsordnung  ebenfalls  für  die  deko¬ 
rative  Kunst  die  Rückkehr  zur  Einfachheit  und  Schön¬ 
heit  erwartet.  Allein  eben  diese  einfache  Klarheit  seiner 
sonstigen  Gedanken  vermisst  man,  wie  in  seinen  socialen 
Träumen,  so  in  dieser  Komposition.  Statt  den,  wie  es 
scheint,  beabsichtigten  Reichtum  des  späten  Mantegnes- 
ken  Stils  zu  erreichen,  herrscht  Unklarheit  und  Über¬ 
ladung. 

Ganz  in  antikem  Stil  sind  die  Kompositionen  zu 
Homer  und  anderen  Altklassikern,  wie  die  „Echos  of 
Hellas“  (Nachdichtungen  zu  Homer  und  Äschylos).  Durch 
wirkungsvollen  Druck  in  zwei  Farben,  braunrot  und 
schwarz,  sind  sie  lehrreich  und  interessant  für  die  Buch¬ 
ornamentik,  besonders  in  Hinsicht  auf  die  geschmack¬ 
volle  und  originelle  Verwendung  und  Verteilung  des 
Raumes.  Offenbart  sich  in  diesen  Blättern  mehr  ein  fein 
durchgebildetes  Stilgefühl  als  gerade  Ursprünglichkeit, 
so  ist  das  durch  den  Gharakter  und  Inhalt  derselben 
n  aturgem  äß  begr ü  n  det . 

Auch  zu  Shakespeare  hat  Grane  Illustrationen  ge¬ 
macht.  Wir  geben  hier  aus  dem  ,.Stuim“  das  Vollblatt: 
„Tanz  der  Nymphen  und  Schnitter“  wieder.  Herrlicher, 
geschlossener  Rhythmus  der  Linien,  welche  wie  aus  einer 
Quelle  Hießen,  bilden  seinen  Hauptreiz.  In  dem  keuschen 
„noli  me  tangere“  dieser  schlanken  Frauenleiber,  in  ihrem 
halbverschleierten  Sehnen  nach  Leben,  in  der  heimlich¬ 
süßen  Hingabe  an  die  Freude,  die  das  verhaltene  sinn¬ 
liche  Lustgefühl  kaum  bewusst  genießt,  zeigt  der  Künstler 
manche  Berührungspunkte  mit  der  Empündungsschwelle 
der  englischen  Pi'ärafaeliten.  Ich  betone  ausdrück¬ 
lich  englische,  weil  der  Wesenskern  derjenigen  Schule, 
welche  ihren  ersten  Bahnbrecher  in  Rossetti  und  ihren 
ersten  Fürsprecher  und  Interpreten  in  Ruskin  gefunden, 
nur  an  ihrer  nationalen  Sonderstellung  zu  erkennen  ist. 
Nicht,  dass  sie  bei  Botticelli,  Mantegna  oder  Fi-a  Angelico 
ansetzte,  sondern  bei  aller  \Trwandtschaft  nordisch 
empfand,  dass  ihre  Ausdi'ucks weise  englischen  'ryi*"s 


86 


WALTER  GRANE. 


aiinahin,  ist  das  AVesentliclie.  Zuin  reinen  Forraen- 
gefühl  des  Romanen  trat  der  träuiuerisclie  Hang  des 
Germanen,  aus  Innigkeit  und  frommer  Glauben  skr  aft 
wurden  Selinsnclit  und  Schwermut.  Niemals  haben 
Eossetti  oder  Euskin  verlangt;  ,.Malt  wie  die  Prä- 
rafaeliten.“  Sie  berieten  sich  nur  auf  diese  und  mit 
ihnen  eben  auf  das  Recht,  ihre  eigene  Formen-  nnd 
Farbensprache  zum  Ausdruck  für  die  Poesie  und  Musik 
ihrer  innerlich  geschauten  Welt  zu  machen.  Diese  Be¬ 
rufung  auf  die  Vorläufer  des  Urbinaten  bedeutete  keine 


Tanz  der  Nymiiüeu  nnd  Sclinitter  aus :  The  temjiest  von  Shakespeare. 
Illustrirt  von  W.  Crane. 


Abhängigkeit,  sondern  nur  eine Seelenberuhrung  „im  Geiste 
und  in  der  Wahrheit“,  nämlich  derjenigen  unter  den 
vielen  künstlerischen  Wahrheiten,  die  (jerach  für  sie  die 
richtige  Wahrheit  war.  So  steckt  auch  in  Crane’s 
Formensprache  noch  ein  gut  Stück  Prärafaelit.  Aber 
ein  Nachbeter  wird  er  dadurch  ebenso  wenig  wie  Dante 
Gabriel  Eossetti.  Eine  andere  Ähnlichkeit  übrigens  ist 
auffallend  zwischen  ihnen.  Der  „painter  poet“,  wie  ihn 
die  Freunde  nannten,  fühlte  den  unbezwinglichen  Drang, 
die  Visionen  seines  leidenschaftlichen  Innern  bald  im 


Bilde,  bald  in  Versen  zu  krystallisiren.  Crane,  obwohl 
seine  Muse  weniger  glüliend  ist,  macht  das  ebenso.  Was 
bei  Eossetti  aber  mystisches  Träumen  ist,  wird  hier 
„heitere  Weisheit“.  Walter  Crane’s  Texte  zu  mehreren 
seiner  letzten  Kompositionen  sind  von  einer  Grazie  und 
Einfachheit,  die  klassisch  genannt  werden  darf.  Zwei 
Proben  davon  mögen  hier  Platz  tinden. 

„Do  not  quarrel  with  Nature“  ist  die  Moral  zu 
einer  Illustration,  worin  Juno’s  Lieblinge,  die  bunten 
und  stolzen  Pfauen,  sich  bei  der  Herrscherin  beklagen, 
dass  sie  keine  Singstimme  hätten,  wie  die 
Nachtigall.  Der  Text  lautet: 

„The  Peacock  considered  it  wrong 
That  he  had  not  tlie  Nightingale’s  song. 

So  to  .Juno  he  went. 

She  replied:  „Be  content 
With  tby  baving,  and  hold  thy  fool’s  tongue!“ 

Und  aus  den  begleitenden  Textunter¬ 
schriften  zu  „Flora’s  Feast“  die  Doppelzeile; 

,,The  Violet  and  tbe  biimrose  danie, 

With  niodest  luien  and  bearts  atlauie.“ 

ln  diesen  Versen  liegt  eine  Fülle  von 
Lebensweisheit  und  Humor  in  abgeklärter 
Harmonie,  wie  sie  nur  dem  leicht  und  glück¬ 
lich  schaffenden  Dichter  zu  Gebote  stehen. 
Diese  sichere  Harmonie  und  geläuterte  Lebeiis- 
anschaming  macht  einen  der  Hauptreize  der 
Crane’schen  Muse  aus,  von  welcher  sich  der 
eigentümliche  Märchenzauber  seiner  Darstel¬ 
lungen  leicht  nnd  anmutig  abhebt.  In  dieser 
eigenartigen  Mischung  ist  er  mit  keinem 
anderen  Künstler,  der  für  „Kinder“  gearbeitet 
oder  seine  Kunst  in  den  Dienst  der  Ver¬ 
schönerung  des  alltäglichen  Daseins  gestellt 
hat,  vergleichbar.  Man  liat  es  versucht,  aber 
alle  Vergleiche  hinken.  Weder  Ludwig 
Richter  noch  irgend  einer  unserer  echten 
Romantiker,  wie  Moriz  von  Schwind,  können 
zu  einer  Parallele  herangezogen  werden. 
Sie  alle  waren  in  ihrer  Ausdrucksweise  noch 
unmittelbarer,  konkreter,  „wirklicher“.  Grane 
ist  vor  allen  Dingen  der  Stilist,  der  deko¬ 
rativ  -  empfindende  Zeichner,  welcher  die 
unmittelbare  Natur  überhaupt  nicht  ge¬ 
brauchen  kann  und  will. 

Auch  mit  den  Japanern  hat  man  Crane  hin  und 
wieder  in  Verbindung  zu  bringen  versucht.  Zn  einer 
derartig  oberflächlichen  Betrachtungsweise  werden  wir 
uns  aber  schwerlich  verführen  lassen,  denn,  von  ganz 
vereinzelten  Anklängen  abgesehen,  erweist  diese  Ansicht 
sicli  als  unhaltbar.  Die  Künstler  des  raffiiiirtesten  ost¬ 
asiatischen  Kulturvolkes,  obzwar  sie  von  der  zeichne¬ 
rischen  Basis  ausgehen,  suchen  ihrer  ganzen  Empfindung 
nach  in  erster  Linie  immer  die  malerische  Wirkung. 


WALTER  CRANE. 


87 


Grane  schlägt  einen  Weg  ein,  der  diesem  diametral 
entgegenläuft :  er  bleibt  stets  architektonisch.  Die  Ver¬ 
wertung  des  Raumes  ist  seine  stärkste  Seite.  Die 
arcliitektonische  Anpassung  und  Einfügung  seiner  deko¬ 
rativen  und  illustrativen  Kompositionen  dient  ihm  zum 
Zwecke  der  Ausnutzung  gegebener  Flächen.  Sie  ist  seine 
oberste  Eichtschnur.  Er  übersieht  nie  seine  Grenzen. 
Die  selbst  aiiferlegte  Beschränkung  ist  ihm  Bedürfnis. 
Innerhalb  dieser  selbstgewählten  Grenzen  schafft  er  dann 
frei,  flüssig  und  formenreich. 

Dieses  Prinzip  geht  durch  alle  seine  Arbeiten  durch 
und  verleiht  ihnen,  bei  aller  Mannigfaltigkeit  der  Zwecke 
und  Themata,  ihren  einheitlichen  Gesamtstil  und  ihre 
bahnbrechende  praktische  Bedeutung  als  „angewandte 
Kunst“. 

Dass  eben  diese  Bedeutung  Crane’s,  als  typischer 
Vertreter  der  modernen  stilisirenden  Kunst,  durch  die 
bloße  Kenntnis  und  Aufzählung  seiner  Arbeiten  nicht 
erschöpft  werden  kann,  ist  schon  oben  betont  worden. 
Sie  geht  weiter.  In  der  näheren  Berührung  und  end¬ 
lichen  Verschmelzung  des  Handwerks  mit  der  Kunst  ist 
ihr  Schwerpunkt  zu  suchen,  und  daraus  muss  naturgemäß 
eine  innigere  Verbindung  und  Wechselwirkung  zwischen 
Kunst  und  Leben  zunächst  erfolgen.  Weitausschauende 
Perspektiven  eröffnen  sich.  Auf  dem  so  lange  spärlich 
bebauten  und  verachteten  Boden  der  angewandten  Künste 
bereitet  sich  von  England  aus  eine  gesunde  Regeneration 
vor,  deren  Ursprung  nicht  auf  die  Franzosen  zurück¬ 
geführt  und  deren  Ende  noch  nicht  abgesehen  werden 
kann.  Ebenso  beherzigenswert  in  der  Theorie  wie  nach¬ 
ahmungswürdig  in  der  Praxis,  hat  Crane’s  Beispiel  schon 
jetzt  erfreuliche  Resultate  zu  verzeichnen,  gleichviel  auf 
illustrativem  wie  dekorativem  Gebiete.  Zwei  der  hervor¬ 
ragendsten  und  beliebtesten  Künstlernamen,  die  als  Buch- 
illiistratoren  ähnliche  Ziele  verfolgen,  sind  schon  genannt. 
Als  Musterzeichner  für  Tapeten  (wall-papers)  ist,  neben 
vielen  andern,  C.  F.  A.  Voysey  mit  Erfolg  in  seine 
Faßtapfen  getreten,  ein  ebenso  fruchtbares  wie  elegantes 
Talent.  Dass  diese  Künstler  in  England  alle  reiche 
Beschäftigung  finden,  kann  als  der  beste  Beweis  für 
den  zunehmenden  Geschmack  und  die  Empfänglichkeit 
des  Publikums  gelten.  Da  sich  weder  in  England  noch 
in  Frankreich  die  Künstler  schämen,  für  gewerbliche 
Zwecke  zu  arbeiten,  so  haben  sie  nicht  erst  mit  allerlei 
Vorurteilen  zu  kämpfen  und  können  ihre  volle  Künstler¬ 
schaft  ohne  Furcht  auch  nach  dieser  Richtung  hin  frei 
entwickeln.  Bei  uns  huldigt  man  noch  vielfach  der  wer 
wmiß  in  welchem  senilen  Gehirn  entstandenen  Idee,  dass 
ein  Maler  notwendig  ein  Staffeleibild,  ein  von  der  übrigen 
Welt  durch  möglichst  kostspielige  Umrahmung  abge¬ 
trenntes  Ding,  malen  muss,  um  „Künstler“  zu  sein.  Erst 
in  diesen  Tagen  beginnt  wieder  eine  vernünftigere  und 
freiere  Anschauung  aufzukommen.  Es  wird  auch  Zeit. 
Wie  lange  soll  die  Kunst  denn  noch  auf  die  engere 
Berührung  mit  dem  Leben  warten?  Ein  Privatsport 


der  Mäcene  ist  sie  lange  genug  gewesen  und  wird  das 
auch  in  mancher  Hinsicht  immer  bleiben.  Je  mehr  sie 
aber  in  die  Forderungen  des  täglichen  Lebens  eindringt 
und  sich  als  „Angewandte“  den  Verhältnissen  und  den 
stets  vorhandenen  ästhetischen  Bedürfnissen  der  breiteren 
Schichten  anpasst,  um  so  mehr  kann  sie  in  Fleisch  und 
Blut  übergehen,  um  so  mehr  erfüllt  sie  ihre  erzieherische 
Aufgabe  im  Interesse  der  gegenwärtigen  und  der  heran¬ 
reifenden  Generation. 

Unter  solchen  Voraussetzungen  würden  wir  uns  auf 
natürlicher  Entwicklungsbasis  wieder  dem  Geiste  antiker 
Lebensformen  nähern,  und  es  ist  kein  triftiger  Grund 
vorhanden,  weshalb  ein  modernes  Kulturvolk  nicht  all¬ 
mählich  zu  den  Regionen  geistiger  Blüte  und  zum  Gipfel¬ 
punkt  geistigen  Sichauslebens  hinaufdringen  sollte,  wie 
sie  im  attischen  Ideal  enthalten  sind.  Eine  zweite 
perikleische  Glanzzeit  wird  vielleicht  unter  den  heutigen 
socialen  Bedingungen  nicht  mehr  möglich  sein,  aber  zu 
den  Griechen  können  wir  allein,  wie  zu  einem  unerreichten 
Gipfel,  immer  wieder  emporscbaueu.  (Denn  die  Römer 
waren  aus  sieb  selbst  heraus  ja  doch  nun  einmal  kein 
echtes  Küiistlervolk.)  Selbstverständlich  wird  unsere 
Kunst  sich  wieder  aus  unseren  veränderten,  modernen 
Lebensbedingungen  zu  erneuern  haben.  Thut  sie  das, 
so  wird  die  Parole  nicht  lauten:  „Werdet  wieder  Griechen, 
antikisirt  die  Kunst  nach  ihren  Formen“  sondern;  lasst 
sie  emporwachsen  aus  unseren  von  selbst  gegebenen 
Daseiusbedinguiigen.  Von  den  Alten  aber  lernt,  wie 
man  sich  auf  sich  selbst  besinnt.  Steigt  von  innen  heraus 
zu  ihren  lichten  Höben,  zu  ihren  reichen  Lebensformen 
liinaiif,  indem  ihr  die  Kunst  mit  dem  Leben,  das  Schöne 
mit  eurem  täglichen  Sein  und  Denken  zu  einem  un¬ 
trennbaren  Ganzen  verschmelzt.  Das  Leben  werde 
wieder  Kunst! 

In  dieser  Riebtung  denkt  mul  arbeitet  Walter  Graue. 
Werden  seine  weitausgreifenden  Zuknnftsideen,  die  mit 
socialistisclien  Theorieeu  vielfach  vermischt  sind,  sich 
verwirklichen  lassen?  Wir  wissen  es  nicht  und  ver¬ 
mögen  auch  seinen  Ansichten,  die  er  in  der  kürzlich 
erschienenen  Schrift  ‘)  entwickelt  und  als  sein  Glaubens¬ 
bekenntnis  iiiedergeleg't  hat,  bis  in  alle  Einzelheiten 
nicht  immer  zu  folgen.  Grane  hofft  von  der  „Organisation 
der  Arbeit“  die  beste  Lösung  der  Kunstfrage  und  sieht 
sein  Ideal  des  Zukunftsstaats  darin,  dass  ein  Künstler 
sich  um  Nahrung,  Kleidung  und  Arbeit  nicht  mehr  zu 
sorgen  braucht.  Von  seiten  der  Künstler  wird  er  wohl 
darin  schwerlich  auf  Widerspruch  stoßen!  Grane’s 
Socialismus  darf  mau  indessen  vielleicht  cum  grano  salis 
verstehen.  Das  socialistische  Problem  kann  vom  künst¬ 
lerischen  Standpunkt  aus  nie  und  nimmer  darin  bestehen, 
einen  socialdemokratischen  Gleichheitsstaat  zu  schaffen. 


1)  „The  Claims  of  decorative  Art“  („Die  Forderungen 
der  dekorativen  Kunst“),  in  der  deutschen  Übersetzung  von 
Otto  Wittich,  bei  Georg  Siemens  in  Berlin. 


Walter  Crane:  Die  Nacht.  Seiiiazeiehnung. 


V  v'i 


Waltek  Ceane:  Der  Mittag.  Sepiazeiobnung. 


Zeitschrift  far  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  4. 


12 


90 


WALTER  CRANE. 


mit  einer  möglichst  großen  Masse  satter  und  zufriedener 
Mitteltalente,  sondern  in  der  Heranziehung  einer  Aus¬ 
wahl  der  Besten  und  ihrer  geistigen  Führung  auf  dem 
Wege  veredelter  Existenzbedingungen  Aber  wir  brauchen 
nicht  in  allen  diesen  Punkten  mit  dem  Verfasser  über¬ 
einzustimmen,  um  zuzugeben,  dass  der  gesunde  Kern 
seiner  Gesamtbestrebungen  zweifellos  und  seine  jahre¬ 
lange  reformatorische  Arbeit  erfreulich  ist.  Trefflich 
kommt  ihm  dabei  heute  schon  der  hohe  Stand  des  eng¬ 
lischen  Kunsthandwerks  zu  statten,  der  dem  freien  Aus¬ 
druck  seines  Emptindens  weniger  Hindernisse  in  den 


nemones  Tode  our 
A  ^  ^^raii  ^t2|ir)ol-flower6  ffulterj, 

red  8^  pale 


rale 


Handwerk  dem  Künstler  folgt  und  sich  hütet,  ihn  zu 
brutalisiren,  wären  für  die  heimische  Kunstindustrie  in 
jeder  Hinsicht  nachahmenswerte  Vorbilder.  Zwei  Ge¬ 
biete  sind  es,  die  bei  uns  der  Reform  dringend  benötigen 
und  einen  noch  fast  jungfräulichen  Boden  für  die  künst¬ 
lerische  Produktion  darbieten:  die  Tapete  in,  wenn 
man  will,  „aristokratischer“  und  das  Plakat  in  mehr 
„demokratischer“  Richtung.  An  geeigneten  Talenten 
fehlt  es  gewiss  bei  uns  ebensowenig,  wie  anderswo;  vor¬ 
läufig  aber  hat  es  an  Anregung  und  Lust  gefehlt.  Wenn 
die  erstere  erst  einmal  ordentlich  geboten  wüi'de,  ließe 
auch  die  letztere  nicht  mehr  lange  auf  sich  warten. 
Sie  folgen  aufeinander  wie  Ursache  und  Wirkung. 

Und  solche  Anregungen  können  uns,  in  prak¬ 
tischer  Hinsicht,  Crane’s  und  seiner  Freunde  Ar¬ 
beiten  und,  in  theoretischer  Hinsicht,  seine  inter¬ 
essanten  Ausführungen  und  beherzigenswerten 
Wahrheiten  über  die  Aufgaben  der  verzierenden 
Künste  vorläufig  am  besten  liefern.  Es  sei  daher 
gestattet,  an  dieser  Stelle  einige  kurze  Auszüge 
aus  seinem  künstlerischen  Credo  zu  biüngen. 

In  Bezug  auf  das  Gebiet  der  Zeichnung  meint  er; 
„Zeichnung  fällt  unter  zwei  Gesichtspunkte, 
welche  sich  fortwährend  ergänzen  und  aufwiegen. 
Es  ist  die  Anschauung  (aspect)  und  die  An])as- 
sung  (adaptation).“  —  Ich  kann  es  mir  nicht  ver¬ 
sagen,  die  einfache,  ehrliche  und  knappe  englische 
Ausdrucksweise  hier  im  Original  wiederzugeben. 

„In  these  literal  and  photographic  days,  one 
of  the  first  (luestions  which  meets  the  designer 
is  the  degree  of  naturalism,  that  is  within  bis 
scope  and  purpose.  There  are  endless  ways  of 
looking  at  Nature.  We  may  use  our  eyes  alone, 
or  we  may  use  all  our  faculties  and  not  find  thein 
too  much.  Tlie  pictorial  sketcher  draws  an  oak- 
tree  from  nature,  as  truly  and  accurately  as 
l)Ossible  and  says:  this  is  an  oaktree.  The  deco- 
rative  designer  could  not  stop  here,  he  would 
have  to  geometrize  or  systemetize  it,  to  make  a 
pattem  of  it.  This  would  he  bis  manner  of  saying; 
this  is  an  oaktree.“  ') 

Hier  zeigt  sich  sogleich  der  dekorative  Sinn 
des  geschmackvollen  Erfinders  kunstgewerblich  ver- 


Anemones  ans:  Flora’s  feast  von  W.  Crane. 
(Verlag  von  Cassell  &  Comp.,  London  ) 


Weg  legt,  als  das  vorläufig  noch  bei  uns  der  Fall  sein 
würde.  Noch  unlängst  klagte  mir  einer  unserer  tüchtigsten 
deutschen  Maler  sein  Leid  über  die  im  allgemeinen  so 
niedrige  Stufe  des  einheimischen  reproduktiven  Hand¬ 
werks.  Es  wäre  nicht  im  stände,  künstlerische  Farben¬ 
gefühle,  überhaupt  so  gut  wie  gar  keine  feineren  Ton¬ 
werte,  wiederzugeben.  Gerne  hätte  ich  ihm  englische 
Muster  gezeigt,  wie  sie  von  den  Arbeitern  der  Firma 
Jeffrey  &  Co.  unter  Mr.  Warner’s  verständnisvoller 
Leitung,  oder  (für  Thonfliesen)  von  Maw  &  Co.,  in  der 
Grafschaft  Shropshire,  ausgeführt  werden.  Diese  Leucht¬ 
kraft  der  Farben  und  dabei  die  Sorgfalt,  mit  der  das 


1)  1 11  Übersetzung:  In  dieser  Zeit  buchstäblicber  und  photo¬ 
graphischer  Treue,  tritt  als  eine  der  wiclitigsten  Fragen  dem 
schattenden  Künstler  diejenige  entgegen,  welchen  Gra.d  von 
Naturalismus  er  für  seine  Zwecke  und  Raumverliältnisse  ge¬ 
brauchen  kann.  Vor  der  Natur  giebt  es  endlose  Betrachtungs¬ 
weisen,  wir  mögen  unsere  Augen  allein  gebrauchen,  oder 
sämtliche  inneren  Fähigkeiten  dazu  mit  benötigen.  Der  realis¬ 
tische  Zeichner  nimmt  einen  Eichbaum  nach  der  Natur  auf,  so 
wahr  und  genau  wie  möglich,  und  sagt:  dies  ist  ein  Eich¬ 
baum.  Der  dekorative  Zeichner  kann  hier  nicht  stehen  bleiben. 
Er  muss  den  Baum  erst  geometrisiren ,  systematisiren  und 
ein  Muster  daraus  formen.  Dies  würde  in  seiner  Sprache 
lauten:  „das  ist  ein  Eichbaum“. 


WALTER  CRANE. 


91 


wendbarer  Entwürfe  und  Stilisirungen.  Er  hat  als  Re¬ 
sultat  „the  pattem“,  das  Muster,  stets  vor  Augen. 

Und  dann  weiter: 

„In  dealing  witli  panels,  friezes,  or  pilasters,  all 
strictly  architectural,  the  designer  feels  the  necessity 
of  respecting  both  bis  surface  and  his  boundaries.  He 
does  not  wish  „to  cut  a  hole  in  his  wall“  and  fasten 
your  attention  on  soniething  seeu  through  it;  he  should 
never  attenipt  to  indnce  yon  to  forget  that  he  is  deco- 
rating  a  surface.  The  geoinetric  plans,  which  govern 
all  Ornament,  are  the  very  alphabet 
of  design.“ ') 

Und  folgende  Bemerkung: 

„A  birds  wing,  a  fan  or  a 
Shell,  with  its  emphatically  expres- 
sed  centre,  conveys  a  sense  of  both 
organic  vigour  and  yet  lightness, 
combining  a  viininmm  of  tveighf, 
with  a  maximmn  of  sire>igfJt.^‘~) 

Dieses  Beispiel  ist  treffend  ge¬ 
wählt  und  geistvoll  ausgedrückt, 
wie  denn  Grane  überhaupt  auch  in 
seinen  Schriften,  einige  Wieder¬ 
holungen  und  Längen  abgerechnet, 
einen  anschaulichen  Stil  hat.  Ei¬ 
lst  eben  stets  und  überall  so  viel 
wie  möglich  Künstler  und  steht 
nicht  auf  jener  Anschauung  mit 
engem  Horizont,  die  sich  im  Spe- 
ciellen,  Einzelnen,  Virtnosenhaften 
abmüht,  sondern  die  bildende  Kraft 
ist  ihm  das  Werkzeug  einer  gros¬ 
sen  Knlturaufgabe,  die  er  von 
seinem  erhöhten  Standpunkt  aus  als 
ein  untrennbares  Ganzes  zu  über¬ 
sehen  bestrebt  ist. 

Wie  hoch  ihm  das  Handwerk¬ 
liche  in  der  Kunst  gilt  und  wie 
sehr  er  es  mit  der  Kunst  in  er¬ 
gänzendem  und  sich  gegenseitig 
immer  befruchtendem  Zusammen¬ 


hang  anfgefasst  sehen  möchte,  geht  aus  folgenden  Sätzen 
hervor,  die  der  Übersetzung  seiner  Schrift  über  die 
„Forderungen  der  dekorativen  Kunst“  entnommen  sind: 

„Ich  bin  als  Künstler  alt  genug  geworden,  um  zu 
der  Überzeugung  zu  gelangen,  dass  jedes  Material  seine 
eigene  Sprache  redet,  dank  welcher  es  uns,  gleich  dem 
Medium  des  Spiritisten,  den  richtigen  Entwurf  vermitteln 
kann;  und  für  den  entwerfenden  Künstler  ist  es  eine 
Pflicht,  diese  Sprache  verstehen  zu  lernen  .... 

„Wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  wie  innig  die 


1 )  In  Übersetzung;  Hat  der  Künstler  llitter  aus  Queen  Summer  von  W.  Chane.  (Verlag  von  Cassell  &  Comp.,  Lomlon.) 


mit  Pilastern,  Panelen  und  Friesen  zu 

thun,  also  mit  streng  architektonischen  Verhältnissen,  so 
fühlt  er  die  Notwendigkeit,  seine  Umgebung  zu  respektiren. 
Er  darf  kein  „Loch  in  die  Wand  schneiden“  und  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  etwas  richten,  was  durch  dieses  Loch 
hindurch  gesehen  wird,  sondern  er  will  eine  gegebene  Fläche 
dekoriren,  ausfüllen.  Die  aller  Ornamentik  zu  Grunde  liegen¬ 
den  geometrischen  Pläne  sind  das  Al[)hahet  dekorativer 
Entwürfe. 

2)  In  Übersetzung:  Ein  Fächer,  eine  Seemuschel  oder  der 
Flügel  eines  Vogels,  mit  ihren  emphatisch  betonten  Schwer- 
junikten,  gelien  uns  ein  Gefühl  organischer  Stärke  hei  leichtem 
Gewicht,  indem  sie  ein  Minimum  von  Schwere  mit  einem 
Maximum  von  Kraft  vereinigen. 


Kunst  in  ihrer  angewandten  Form  mit  unserem  Alltags¬ 
leben  verschmolzen  ist,  wie  sie  dasselbe  spielend  und 
gefällig  beeinflusst,  so  kann  man  ihr  nie  genug  Wichtig¬ 
keit  zumessen. 

„Alle  Künste  bilden  ein  Ganzes  und  sind  auf  ein¬ 
ander  angewiesen.  Keine  sollte  eine  vorherrschende  Stelle 
einnehmen  .... 

„Zur  Zeit  jener  Blütenperiode  der  Vei’gangenheit, 
griffen  Kunst  und  Handwerk  harmonisch  ineinander 
über  .... 

„Über  das  italienische  Kunstgewerbe  ist  neuerdings 


12 


92 


WALTER  GRANE. 


ein  Buch  erschienen,  das  seinen  Stoff  schöpfte  aus  den 
Darstellung-en  von  Gewändern,  Hausg-erät  und  Wohnungs¬ 
einrichtungen,  auf  den  diesbezüglichen  Gemälden  unserer 
National  Gallery.  Wollten  wir  alle  Maler  des  fünf¬ 
zehnten  Jahrhunderts  zusamnienfassen ,  so  könnten  wir 
aus  den  allerliebsten  Details,  welche  ihre  Bilder  erfüllen, 
eine  ganze  Encyklopädie  der  angewandten  Künste  zu- 
sanimenstellen.  Aber  nicht  der  Wunsch,  für  etwaige 
kommende  Archäologen  vorzuarbeiten,  war  es,  was  diese 
Iffänner  antrieb,  gerade  derartige  Dinge  zu  malen,  son¬ 
dern  vielmehr  bewirkte  dies  jene  urgewaltige  Liebe  für 
Schönheit  und  jenes  Übermaß  von  Glück,  das  sie  em¬ 
pfanden,  beim  Anblick  all  des  reichen  und  freudeatmenden 
Lebens  rings  um  sie  her  —  vielleicht  auch,  weil  sie 
eben  nicht  allein  Künstler,  sondern  gleichzeitig  auch 
Kunsthandwerker  waren  .... 

„Dort,  wo  ich  irgend  einen  wirklich  brauchbaren 
Entwurf  fertig  brachte,  da  hatte  ich  mich  auch  immer 
persönlich  mit  den  Eigenarten  des  in  Frage  kommenden 
Materials  vertraut  gemacht,  indem  ich  mir  darüber  klar 
zu  werden  suchte,  mit  welchen  natürlichen  Schwierig¬ 
keiten  und  Beschränkungen  die  Ausführung  zu  rechnen 
habe  .  .  . 

„Schon  die  bloße  Möglichkeit,  einen  Entwurf  ge¬ 
gebenen  Falles  auch  persönlich  ausführen  zu  können, 
wirkt  herzerfrischend  und  stärkend  und  spornt  unseren 
Ertindungsgeist  an.“ 

Diese  kurzen  Auszüge  mögen  genügen,  um  zu  zeigen, 
wie  gesund  und  ehrlich,  wenn  auch  keineswegs  neu,  die 
Gesichtspunkte  sind,  von  denen  aus  AValter  Grane  den 
Künstlerberuf  aufgefasst  sehen  möchte,  und  mit  welcher 
echt  englischen  Beharrlichkeit  und  Konsequenz  er  die¬ 
selben  eigenhändig  nach  allen  Seiten  hin  durchführt. 
So  vereinigt  er  in  seiner  eigenen  Person  und  in  den 


technisch  so  mannigfaltigen  Eichtungen  seiner  Thätig- 
keit  das  von  ihm  sellist  proklamirte  Ideal:  den  Künstler 
und  den  Kunsthandwerker. 

Wie  in  jeder  dominirenden  Individualität,  lebt  und 
bethätigt  sich  auch  in  Waltei-  Grane  die  Quintessenz 
eines  Volkstums,  das  Resultat  einer  langen  Kultur¬ 
entwicklung,  welche  der  Form  seines  Ausdrucksvermögens 
mit  Naturnotwendigkeit  den  Stempel  aufdrückt.  Das 
\'erk ehrteste,  was  unsere  heimische  dekorative  Kunst 
thun  könnte,  wäre  also,  den  Stil  Grane’s  etwa  nachahmen 
zu  wollen.  „Aufpfropfen“  lässt  sich  so  etwas  nie.  Die 
Basis  eines  jeden  geistigen  Schaffens  liegt  tief  und  un¬ 
veräußerlich  in  der  Kunstpsychologie  der  Völker.  Sie 
ist  der  Urboden,  auf  dem  alles  das  allmählich  wächst, 
was  die  geistige  Elite  in  irgend  einem  Lande  hervor¬ 
zubringen  vermag,  soweit  es  echt  und  zeitüberdauernd 
ist.  Der  eigenbestiminenden  und  aus  sich  heraus¬ 
wachsenden  Entwicklung  gereicht  es  deshalb  auch  kaum 
zum  Nachteil,  wenn  eine  von  störenden  Einflüssen  freie 
Lage,  wie  die  der  britischen  Inseln,  und  das  feste 
Solidaritätsgefühl  einer  Nation,  diese  innere  Kulturbildung 
schützen  und  schirmen.  Wir  sind  als  Deutsche  in  keiner 
so  glücklichen  Lage  und  daher  leider  auch  noch  immer 
gern  geneigt,  aus  der  eigenen  Haut  heraus  und  in  eine 
fremde  hinein  zu  schlüjifen. 

Im  Sinne  unabhängigen  Stilgefühls  kann  uns 
Walter  Grane  ein  Vorbild,  aber  eben  nur  in  diesem 
Punkte  ein  Vorbild,  sein.  Doch  wir  selber  werden  am 
sichersten  der  Gefahr  entgehen,  in  Unselbständigkeit 
und  innere  Zerfahrenheit,  in  Fremdenkultus  und  Unnatur 
zu  verfallen,  wenn  wir  selbst  bestrebt  sind,  den  ganzen 
Künstler  und  den  ganzen  Menschen  stets  und  überall 
als  oberstes  Ziel  im  Auge  zu  behalten. 

WILHELM  SCHOLEBMÄNN. 


Walter  Chane. 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


kann  einem  Touristen  aus  dem  Nor¬ 
den  nach  Vollendung'  einer  Reise  in  dem 
gelobten  Lande  der  Kunst  erwünschter 
sein,  als  seine  Erinnerungen  an  die 
vielen  unheschreihlich  schönen  Gegen¬ 
stände,  die  ihm  Natur  und  Kunst  daselbst 
geboten  haben,  durch  etwas  Bleibendes  fest  zu  halten, 
das  es  ihm  ermöglicht,  sich  das  Erlebte  auf  anschau¬ 
liche  Weise  wieder  zu  vergegenwärtigen?  Bekanntlich 
ist  dies  heutzutage  leicht  zu  erreichen,  seitdem  sich 
auch  in  Italien  die  Thätigkeit  tüchtiger  und  im  Wett¬ 
eifer  mit  brillantem  Erfolg  arbeitender  Photographen 
immer  mehr  ausgeltreitet  hat.  In  der  That  pflegt  jetzt 
kein  Jahr  zu  vergehen,  ohne  dass  neue  erfreuliche 
Eroberungen  auf  diesem  Gebiete  zu  verzeichnen  wären. 

Das  Triumvirat  der  Photographen  Anderson,  Älinari 
und  Brogi  steht  noch  immer  durch  die  Fülle  und  die 
Trefflichkeit  seiner  Leistungen  an  der  Spitze. 

I. 

Indem  wir  uns  hier  speciell  auf  die  mit  dem  iso¬ 
chromatischen  Verfahren  ausgeführten  Erzeugnisse  be¬ 
schränken,  soll  vor  allem  der  vor  kurzem  erschienene 
Katalog  Anderson’s  erwähnt  werden,  in  welchem  vieles 
verzeichnet  ist,  das  bisher  entweder  gar  nicht  oder 
doch  nur  auf  unbefiiedigende  Weise  reproduzirt  worden 
war.  Anderson  hat  sich  diesmal  auf  Rom  beschränkt, 
und  da  kommen  denn  manche  seltene  und  öfters  gar 
nicht  leicht  zugängliche  Werke  vor,  die  man  sich  gerne 
in  seinen  Aufnahmen  anschaffen  wird. 

Aus  den  Kirchen  z.  B.  ist  ein  Freskogemälde  in 
Araceli  zu  erwähnen  von  Benozzo  GozzoU,  das  von 
den  meisten,  welche  die  Kirche  besuchten,  gänzlich  über¬ 
sehen  und  selbst  von  einem  so  ausführlichen  Führer,  wie 
es  derjenige  von  Gsell-Fels  ist,  als  untergegangen  be¬ 
zeichnet  wird.  Es  ist  dies  die  gewöhnlich  zugedeckte, 
auf  dem  dritten  Altar  links  sich  beflndende  höchst  as¬ 
ketische  Figur  des  heiligen  Antonius  von  Padua,  von 
zwei  lieblichen,  ganz  im  Geiste  seines  Meisters  Angelico 
gedachten  Engelknaben  und  zwei  kleinen  Donatoren 
begleitet;  im  wesentlichen  noch  ganz  leidlich  erhalten. 

In  der  Kirche  della  Pace  kommen  nicht  nur  die 
herrlichen  Sibyllen  von  Raffael  in  Betracht,  im  Ganzen 
und  in  einzelnen  Teilen  aufgenommen,  sondern  auch  die 


von  B.  Bcruzzi  zart  dekorirte  Nische  der  Kapelle 
Ponzetti,  in  der  die  sonst  kaum  beobachteten  kleinen 
Abteilungen  des  Gewölbes  mit  den  Darstellungen  der 
Anbetung  der  Könige,  der  Flucht  nach  Ägypten  und 
der  Geburt  Christi  glücklicherweise  nicht  übersehen 
worden.  Interessant  sowohl  für  den  Freund  der  Malerei 
als  auch  für  denjenigen  der  Architektur  ist  ferner,  dass 
auch  das  große  Wandgemälde  Penizzi’s  unter  derluippel, 
worin  Maria’s  Gang  zum  Tempel  abgebildet  ist,  mit 
verschiedenen  klassischen  Gebäuden  im  Hintergrund, 
aufgenommen  worden  ist. 

Von  den  Fresken  Pinturirchio's  in  S.  Maria  del 
Popolo,  in  Aracoeli  und  zuletzt  in  den  Gemächern  des 
Appartamento  Borgia  hat  Anderson  sehr  vieles  publizirt. 
Aus  letztei'eni  aber  soll  noch  manches  folgen,  was  vor¬ 
derhand  noch  nicht  veröffentlicht  werden  durfte. 

Will  hingegen  jemand  die  Fresken,  mit  denen 
Füqgnaw  Lippi  die  Kapelle  Caraffa  in  der  Kirche  Santa 
Maria  della  Minerva  verziert  hat,  eingehend  studiren, 
so  findet  er  davon  eine  Reihe  willkommener  Aufnahmen 
von  Anderson,  die  ihm  dazu  gute  Dienste  leisten  können. 

Die  berühmte  Lünette  im  Kloster  von  Saut  Onofrio 
kommt  bereits  in  seinem  Kataloge  nicht  mehr  als  Werk 
Lionardo’s,  sondern  von  seinem  Schüler  BoUraffio  vor, 
von  dem  es  auch  sicherlich  herstammt,  wie  es  bereits 
Schreiber  dieser  Zeilen  in  einem  früheren  Artikel  in 
Zusammenhang  mit  dem  bekannten  Madonnenbilde  Bol- 
traffio’s  im  Museum  Poldi-Pezzoli  darzulegen  versucht  hat. 

Vollends  neu  sind  sodann  mehrere  Aufnahmen  in 
fürstlichen  Privatwohnuugen,  sowie  in  einem  dem  Publi¬ 
kum  verschlossenen  Rnunie  des  Vatikan.  Besonders  er¬ 
wähnt  zu  werden  verdient,  dass  die  Aufnahmen  Ainler- 
son’s  kürzlich  zu  einer  eigenen  großartigen  Publikation 
Anlass  gegeben  haben,  nämlich  zu  einem  Luxusbande 
unter  dem  Titel;  Tesori  d’arte  inediti  di  Roma,  mit 
Text  von  Adolfo  Venturi  und  40  unverändei'lichen 
Kohlenphotograi)hieen  von  Anderson.  Unter  den  kost¬ 
barsten  und  für  die  Kunstgeschichte  wichtigsten  Stücken 
kommt  darin  folgendes  vor: 

Die  schon  von  Lermolieff  erwähnter  Madonna  von 
Botticelli  im  Besitze  des  Fürsten  Mario  Chigi,  wohl  das 
einzige  eigenhändige  Bild  des  Meisters  unter  den  dreien, 
die  Venturi  untei’  seinem  Namen  vorführt;  die  reizende 
Halbflgur  der  Magdalena  von  Pier  di  Cosimo,  welche 


94 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 


sich  vor  Jahren  ini  Pfandhause  zu  Eom,  als  Mantegua 
bezeichnet,  befand,  und  auf  Veranlassung  Morelli’s  von 
seinem  Freunde,  dem  Baron  Baracco,  erworben  wurde; 
im  Palazzo  Colouna  ein  Flügelbild  eines  ehemaligen  Tripty¬ 
chons  von  Cosimo  Tnra  aus  der  Kirche  von  Sau  Giorgio 
in  Ferrara,  dessen  mittlerer  Teil  in  die  Nationalgalerie 
von  London  gekommen  ist;  mehrere  gute  cimiuecentistische 
Ferrareser  aus  dem  Palazzo  Chigi;  zwei  reizende  Ennd- 
bilder  von  demselben  alten  Tnra\  der  herrliche  reriKjuw 
aus  Villa  Albani  in  sechs  Abteilungen,  aus  seiner  guten 
frühen  Zeit  (IdJl).  x4ußerdem  aber  kommen  nebst 
einigen  Stücken  der  Fresken  von  Pinturicchio  zwei 
merkwürdige  Bildei-  aus  einem  Vorsaale  der  päpstlichen 
Gemächer  zur  Schau,  nämlich  ein  ganz  echt  bezeichnetes 
uinl  charakteristisches  Prolilporträt  des  jungen  Francesco 
Sforza  (als  Knabe),  Sohnes  von  Giov.  Galeazzo  Sforza 
(dem  Gefangenen  in  Pavia),  von  dem  Mai  ländischen 
hialer  Jicrnardino  de  Conti,  und  ein  großes  Altarbild, 
ein  Kapital  werk  der  venetianischen  Schule,  worin  der 
beliebte  Gegenstand  der  Befreiung  der  fürstlichen  Jung¬ 
frau  durch  den  ritterlichen  heiligen  Georg  dargestellt  ist. 
Bei  diesem  Gemälde  soll  hier,  um  der  Walirheit  gerecht 
zu  werden,  bemerkt  werden,  dass  Lermolieff  diesmal 
gegen  seine  Gewohnheit,  sich  nicht  von  der  Bezeichnung 
auf  di'in  Bilde  bestimmen  zu  lassen,  dasselbe  dem  Por- 
dcnone  zugeschrieben  hat,  während  es  richtig  von  Ven- 
turi  als  ein  Werk  von  Paris  Bordonc  angenommen 
worden  ist,  was  ganz  klar  aus  allen  Teilen,  sowohl 
den  tigürlichen  als  auch  den  landschaftlichen,  hervorgeht, 
hian  kann  überzeugt  sein,  dass  bei  Anlass  der  vor 
Jahren  vorgenommenen  Eestauration  der  Name  Bor- 
done  darauf  in  Pordenone  gefälscht  worden  ist.  Demnach 
mag  wohl  schließlich  anerkannt  werden,  dass  dieser 
glänzende  Georg,  welcher  entschieden  ein  pi»rträtartiges 
Aussehen  hat,  kein  anderei-  ist  als  der,  welchen  Vasari 
im  Leben  von  Paris  Bordone  anführt,  indem  er  mitteilt, 
dass  in  dem  jugendlidjen  Helden  ein  Herr  Giulio  Man- 
frone  aus  Crema  abgebildet  sei.  L 

Zu  Gunsten  der  angedeuteten  Eivendikation  in  Be¬ 
zug  auf  den  Urheber  des  Werkes  aber  sprechen  die 
äußeren  Merkmale,  auf  die  ja  bekanntlich  ein  Kritiker 
wie  hlorelli  gerade  das  größte  Gewicht  zu  legen  pflegte 
und  die  er  selbst  sehr  leicht  auch  auf  dem  Bilde  wahr- 
genomuien  hätte,  das  er  eigentlich  nur  vor  vielen  .Jahren 
und  vorübergehend  im  Quirinal,  wo  es  damals  aufgestellt 
war,  gesehen  hatte.  In  der  That,  abgesehen  von  dem 
dem  Paris  eigenen  silbernen  Schimmer  des  Ganzen  im 
Gegensatz  zum  gewöhnlichen  goldenen  Ton  von  Giov. 
Antonio,  sind  in  dem  Gemälde  die  unruhigen  gebrochenen 


1)  Venturi  nimmt  an,  das  Bild  sei  dasselbe,  welches  sich 
in  Noale  bei  Padua  liefand;  dies  ist  aber  kaum  annehmbar, 
da  jenes  schon  von  llidolfi  als  ein  Pordenone  a.ngeführt  ist, 
während  zu  der  Zeit  (XVII.  Jahrh.)  das  Werk,  das  wir 
schildern,  gewiss  die  nngefälschte  Aufschrift  Paris  Bordone 
tragen  musste. 


Falten  im  Gewände  der  Prinzessin,  die  scharfe  Be¬ 
handlung  der  Haare,  sowie  der  Gebüsche  nnd  Gräser 
mit  getüpfelten  und  fein  gestrichelten  Lichtern  hervor- 
zuhebeu,  welche  Eigentümlichkeiten  für  den  Trevisaner 
Meister  durchaus  bezeichnend  sind. 

Sonderbarerweise  hat  aber  trotz  allem  auch  der 
tüchtige  Otto  Mündler  in  seinen  Beiträgen  zu  Burck- 
hardt’s  Cicerone  das  Werk  nach  der,  wie  Venturi  eben 
bewiesen,  alterirten  Inschrift  und  nicht  nach  dem  inner¬ 
lichen  Gepräge  des  Gemäldes  beurteilt,  wo  er  bei  Auf¬ 
zählung  der  Werke  des  Friauler  Meisters  folgender¬ 
maßen  schließt;  „Noch  sei  der  Seltenheit  wegen  ein 
Bild  des  Pordenone  erwähnt,  das  sich  im  Quirinalischen 
Palast  zu  Eom  belindet;  es  ist  der  heilige  Georg  in  der 
Eüstung,  auf  weißem  Pferde,  den  gewaltigen  Drachen 
bekämpfend.  Oben  in  dei-  Landschaft  kniet  in  gold¬ 
gelbem  Kleide  die  Prinzessin;  bezeichnet  I.  A.  REG. 
PORD.  F.“  — 

Anderson  hat  sich  ferner  mit  einer  Sammlung  be- 
schäftigt,  welche  seit  kurzer  Zeit  neu  geordnet  worden 
ist.  Es  ist  dies  diejenige,  welche  sich  im  Palazzo  Cor- 
sini  alla  Lungara  betindet,  welche  samt  der  Bibliothek 
und  allem  übrigen  in  dieser  fürstlichen  Residenz  von 
der  italienischen  Regierung  erworben  worden  ist.  Da 
nun  auch  ein  zwar  nicht  besonders  reichhaltiger  Überrest 
der  früheren  Galerie  Torlonia  gleichfalls  in  den  Besitz 
der  Regierung  übergegangen,  so  ist  diesei-  der  Samm¬ 
lung  Corsini  einverleibt  und  gemeinsam  ausgestellt  wor¬ 
den.  Unter  den  merkwürdigsten  dazu  gehörigen  Stücken 
soll  vorerst  das  Porträt  eines  Edelmanues  in  reicher 
Tracht  vom  Beginn  des  XVI.  Jahrhunderts  hervorgehoben 
werden,  ein  Bild,  welches  frülier  als  ein  Werk  des  Haus 
Holljein  angegeben,  aber  nunmehr  mit  richtiger  Sach¬ 
kenntnis  dem  eigentümlichen,  wiewohl  noch  etwas  rätsel¬ 
haften,  halb  lombardischen  und  hallt  venetianischen  Maler, 
welcher  sich  bisweilen  BarUdomco  Veneto  zu  bezeichnen 
beliebte,  zugeschrieben  wird.  Ein  echtes  Porträt  von 
Holbein  d.  j.  ist,  laut  der  Angabe  Venturi’s  ira  2.  Band 
der  Gallerie  Nazionali  Italiane,  auch  da  und  stellt  den 
dicken  König  Heinrich  VIII.  von  England  in  schmuck¬ 
vollem  weißem  Gewände  vor.  —  Wer  sich  an  den  immer 
anmutigen  Veduten  von  Venedig  erfreuen  will,  der  mag 
sich  vier  hültsche  Gemälde  auserwählen,  unter  dem 
Namen  des  CanalcUo  gehend,  und  des  jüngeren  Malers 
dieses  Namens  nicht  unwürdig.  Ferner  sei  die  Auf¬ 
merksamkeit  der  Liebhaber  der  früheren  venetianischen 
Kunst  auf  das  in  nur  zu  schüchterner  IVeise  als  Scuola 
Veneta  verzeichnete  Gemälde  hingelenkt,  worin  in  selt¬ 
samer  Weise  von  keinem  andern  als  dem  Bergamasker 
Giov.  Gariani  eine  nähende  Madonna  nebst  der  heiligen 
Elisabeth  und  den  zwei  Kindern  in  freier,  bergiger 
Landschaft  dargestellt  ist. 

Aus  dem  Bestandteil  der  Galerie  Corsini  ist,  außer 
dem  herrlichen  kleinen  Triptychon  des  Ängclico  und 
der  echten  Madonna  von  Murillo,  der  heilige  Georg  zu 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 


95 


Pferd  zu  nenueu,  noch  als  Grandi  von  Ferrara  bei  An¬ 
derson  angeführt,  wiewohl  Leriuolieff  (Kunstkrit.  Studien 
II,  101)  bereits  das  köstliche  Tafelbildchen,  das  man 
auch  in  der  Photographie  recht  gut  genießen  und  stu- 
diren  kann,  mit  vollem  Rechte  dem  Francesco  Francia 


gestellt  und  auch  vom  Photographen  berücksiclitigt 
worden.  Die  alten  Florentiner,  die  darin  Vorkommen, 
sind  besonders  beachtenswert.  Fehlt  ja  auch  ein  echtes 
Blatt,  mit  schwarzer  Kreide  von  Uliclielainjelo  gezeichnet, 
nicht.  Denjenigen,  welche  die  Gelegenheit  dazu  sich  vei- 


Paris  Boroone;  Der  heilige  Georg.  Rom,  (piiriiial.  (Nach  einer  Pliotograiihie.  von  Anderson.) 
Holzschnitt  von  R.  Berthold  in  Leipzig. 


und  zwar  aus  seiner  frühen  Zeit,  zuerkannt,  ein  Urteil, 
welchem  endgültig  auch  Venturi  beigetreten  ist. 

Die  Bililiothek  der  Accademia  de’  Lincei,  vormals 
Corsini,  enthält  bekanntlich  eine  kostbare  Sammlung 
von  Kupferstichen  und  Handzeichnungen.  Eine  Auswalil 
der  letzteren  ist  jetzt  in  einem  Saale  der  Galerie  aus¬ 


schaffen  können,  möchten  wir  raten,  dieses  Blatt  mit 
dem  entsprechenden  Gemälde  zu  vergleichen.  Das  Ge¬ 
mälde  ist  zwar  kein  besseres  als  dasjenige,  welches,  wie 
Vasari  Iterichtet,  der  unglückliche  Giuliano  Bugiardini 
nicht  zu  Stande  gebracht  hätte,  wenn  ihm  Michelangelo 
nicht  zu  rechter  Zeit  aus  der  Not  geholfen  lültte.  Vasari 


96 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUF'NAHMEN  AUS  ITALIEN. 


sagt;  ..II  Buonarroti  adunque,  i^er  compiacergli,  avendo 
coiiipassione  a  quel  pover  uonio,  accostatosi  coii  un  car- 
bone  alla  tavola,  contornü  de’  primi  segni,  schizzati  sola- 
meute,  ima  tila  di  ligure  ignude  iiiaravigliose,  le  (Hiali  in 
diversi  gesti  scortando,  variamente  cascano  cLi  iiidietro  e 
cbi  inuanzi;  con  alcimi  morti  e  feriti,  fatti  con  quel 
giudizio  ed  eccellenza  ehe  fu  propria  di  Miclielaugelo;  e  ciö 
fotto  si  parti  riiigraziato  da  Giuliauo.“  Man  müsste 
also  daraus  schließen,  dass  Michelangelo  seine  Skizze 
auf  der  Holztafel  gezeichnet  hätte:  indessen  sind  ähn¬ 
liche  Berichte  von  Vasari  nicht  gar  zu  wörtlich  zu 
nehmen  und  es  scheint  jedenfells  das  Blatt  aus  der  Cor- 
siniana  mit  dem  Gemälde  der  Marter  der  heiligen  Ka- 
tliarina  in  der  Kapelle  Eucellai  in  Santa  IMaria  Novella 
in  Zusammenhang  zu  stehen,  welches  der  ai’inselige  Bu- 
giardini  nur  mit  großer  klühe  vollendete.  Dieses  ein¬ 
leuchtende  Verliältnis  ist  auch  zuerst  von  Lermolieff 
(I,  S.  123)  gekennzeichnet  worden,  trotzdem  finden  wir 
das  Blatt  noch  unter  dem  Namen  G.  Bugiardini  registrirt. 

Unter  den  Neuigkeiten  im  vatikanischen  Palaste 
verdient  die  Aufnahme  vieler  interessanter  Teile  der 
Sixtinischen  Kapelle  erwähnt  zu  werden.  Unter  andeien 
sind  jetzt  zum  ersten  Male  auch  die  einzelnen  Figuren 
zwischen  den  Fenstern  in  Betracht  gezogen  worden, 
worunter  sich  nach  den  Angaben  von  Schmarsow  Und 
Ulmann  fünf  Bischöfe  von  Botticelli  befinden  sollen. 
Der  Decke  Miclielangelo’s  aber  hat  Anderson  die  größte 
Sorgfalt  gewidmet,  und  die  vorzügliche  Photographie  der 
ganzen  Bemalung,  in  großem  Maßstab  aus  verschiedenen 
Blättein  fleißig  zusammengesetzt,  ist  auf  Leinwand  ge¬ 
zogen  zu  beziehen.  Desgleichen  die  ganze  Folge  der 
bei’ülimten  Tapeten. ') 

II. 

Gehen  wir  nun  zu  den  Veröffentlichungen  der 
Florentiner  Photographen  über,  so  treten  uns  da  die 
von  Giacomo  Brogi  in  der  Galerie  des  National-Museums 
zu  Neapel  unternommenen  Aufnahmen  als  besondei's 
willkommen  entgegen.  Dass  diese  Galerie  bis  jetzt  im 
Vergleich  zu  den  Sammlungen  der  antiken  Kunst  in 
demselben  Institute  ziemlich  stiefmütterlich  vom  Vor¬ 
stande  desselben  beliandelt  worden,  mag  insofern  seine 
Erklärung  finden,  als  eben  dem  weltberühmten  Museum 
jener  Stadt  der  größte  Wert  in  den  Denkmälern  der 
Antike,  hauptsächlich  aus  Herculanum  und  Pompeji 
stammend,  zuerkannt  wird.  Indessen  enthält  die  im 
oberen  Stockwerke  aufgestellte  Bildergalerie  der  Re¬ 
naissance  und  der  nachfolgenden  Zeiten,  wiewohl  sehr 
gemischt,  doch  eine  bedeutende  Anzahl  wichtiger  Werke 
aus  verschiedenen  Schulen,  welche  verdienten,  besser 
verteilt,  richtiger  benannt  und  sorgsamer  erhalten  zu 

D  Detaillirte  Angaben  von  allen  diesen  und  andern 
Neuigkeiten  in  dem  kürzlich  herausgegebeneu,  die  Stadt  und 
Provinz  Rom  betretfenden  Katalog  von  Uomenico  Anderson, 
welcher  samt  Photographieen  beim  Buchhändler  Spithöver, 
Piazza  di  Spagna,  Rom)  zu  beziehen  ist. 


werden.  Besonders  reichhaltig  ist  der  Teil,  welcher  im 
vorigen  Jahrhundert  bei  Anlass  des  Überganges  eines 
Herzogs  Farnese  von  Parma  zum  Königreich  der  beiden 
Sizilien  nach  Neapel  kam.  Gar  manches  merkwürdige 
Stück,  aus  den  Schulen  von  Nord-  und  Mittelitalien,  für 
die  neuere  Kritik  geradezu  von  höchstem  Interesse,  an¬ 
dere  wieder  für  den  Kunstgenuss  hervorragend,  sind 
dem  genannten  Ursprünge  zu  verdanken.  Beginnen  wir 
mit  den  Meistern  von  Toskana,  so  mag  man  erstaunen, 
zwei  recht  primitive  Werke  zu  finden,  welche  keinem 
andern  als  dem  auch  in  seinem  Vaterlande  selten  vor¬ 
kommenden  Masolino  da  Panicale  zuerkannt  werden 
müssen.  Das  wichtigste  davon  ist  dasjenige,  auf  dem 
Papst  Liberins  dargestellt  ist,  der  in  Gegenwart  einer 
andächtigen  Menschenmenge,  wo  lauter  Typen  Vorkommen, 
die  sofort  an  diejenigen  der  Kapelle  Brancacci  gemahnen, 
mitten  im  Schnee  die  Umrisse  der  zu  errichtenden  Ba¬ 
silika  von  Sancta  Maria  ad  Nives  (Maggiore)  mit  einem 
Spaten  zeichnet.  Obeilialb  der  Wolken  sehen  Jesus 
und  Maria  segnend  der  Ceremonie  zu.  ü 

Von  Sandro  Botticelli,  oder  ihm  jedenfalls  sehr 
nahe  stehend,  ist  eines  jener  Madonnenbilder,  auf  denen 
das  Christuskind,  von  ein  Paar  Engeln  begleitet,  dar¬ 
gestellt  ist,  noch  im  grauen,  stark  an  den  Meister  Fra 
Filippo  erinnernden  Ton.  Es  ist  eine  durchaus  sinnige, 
ernst  empfundene,  wenn  auch  nicht  eben  schön  zu 
nennende  Schöpfung. 

Dem  Filippino  Lippi  hingegen  wird  eine  Ver¬ 
kündigung  nebst  den  Heiligen  Johannes  der  Täufer  und 
Andreas  zugeschrieben,  welche  wohl  eher  seinem  Schüler 
Rafaellino  del  Garbo  angehört,  dessen  milde,  etwas  schwäch¬ 
liche  Natur  sich  nicht  nur  in  den  Figuren,  sondern  auch  im 
malerischen  Hintergründe  kund  giebt,  wo  das  Arnothal 
mit  der  Stadt  Florenz  abgebildet  ist.  Ein  Rätsel,  das 
wohl  auch  bei  den  Toskanern  seine  Lösung  finden  dürfte, 
ist  sodann  das  Porträt  eines  Kardinals  Passerini,  in  der 
Galerie  als  Raffael  ausgestellt.'^)  Vollends  toskanisch 
aber  ist  die  sogenannte  Wiederholung  Raffael’s,  des  Por¬ 
träts  von  Leo  X.  aus  dem  Palazzo  Pitti,  das  mit  dem¬ 
jenigen  zu  identifiziren  sein  soll,  welches  Andrea  del 
Sarto,  laut  Vasari,  kopirt  hat. 

Aus  der  früheren  Zeit  der  norditalienischen  Schulen 
stammt  eine  Anzahl  ganz  bedeutende)’  Porträte,  und 
zwar:  unter  dem  Namen  Hans  Holbein  das  Brustbilduis 
eines  glattgeschorenen  Prälaten ,  in  dem  neulich  die 
Züge  des  auch  durch  eine  gleichzeitige  Medaille  bekannten 
Grafen  Bernardo  de  Rossi  aus  Parma,  päpstlichen  Legaten 
und  Bischof  von  Treviso,  erkannt  worden;  die  halb  deut¬ 
sche,  halb  venetianische  Auffassung,  die  flüssige,  helle  Farbe 

1)  Die  beiden  Bilder  sind  unter  der  allgemeinen  Be¬ 
nennung  „Scuola  Toscana“  verzeichjiet. 

2)  Von  Raphael  ist  wohl  in  Neapel  nichts  Eigenhändiges 
zu  finden.  Am  meisten  nähert  sich  ihm  die  sogenannte 
Madonna  del  divino  Amore,  in  der  Ausführung  jedoch  ge¬ 
wiss  von  dem  jungen  Giulio  liomcvno. 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 


97 


imd  die  scharfe  und  reine  Zeichnung  deuten  entschieden 
auf  ein  Werk  von  Jacopo  de  Barbari.  Unter  dem  Namen 
des  Giovanni  Bellini  gehen  zwei  andere  sti’enge  Bild¬ 
nisse,  das  eine  wohl  eher  von  Äntonello  da  Messina^ 
das  andere  ein  lebendiges  Profilköpfchen  eines  ganz 
jungen  Geistlichen,  mit  einer  so  klassischen  Einfachheit 
behandelt,  dass  dabei  am  ehesten  an  And.  Mantcgna 


Tizian,  Sebastiano  dd  Piombo ,  Moretto  mit  wichtigen 
Werken  in  Betracht;  sodann  eine  Folge  anziehender 
Canaletto’s. 

Unter  den  Lombarden  thut  sich  vor  allem  übrigen 
das  große  Altarbild  der  Anbetung  der  Könige  von 
Cesare  da  Sesto  hervor,  ein  Kapitalstück  aus  der  Schule 
Lionardo’s,  außerordentlich  reich  an  allerlei  Motiven  und 


Allegorie  von  Girolamo  Mazzola  in  der  k.  Galerie  zu  Neapel.  (Phot.  Brogi.) 


ZU  denken  ist,  wohl  nach  einem  Mitgliede  der  Familie 
Gonzaga  von  Mantua. 

Qiov.  Bellini  ist  in  einem  echten,  vorzüglichen 
Werke  vertreten,  nämlich  in  seiner  „Verklärung  Christi“, 
wo  nicht  nur  das  Figürliche,  sondern  auch  das  Land¬ 
schaftliche  höchst  bedeutend  ist. 

Von  den  späteren  Meistern  kommen  Pahna  Vecchio, 
Zeitsclu'il't  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Vlll.  11.  4. 


wundervoll  gediegen  in  der  Ausführung.  Die  Zeichnung 
dazu  befindet  sich  in  der  Sammlung  von  Venedig.*) 
Nebenbei  aber  soll  auch  noch  einer  alten  lombar- 


1)  Weiteres  über  dieses  Prachtbild  in  meinem  Bande: 
Arte  Italiana  del  Rinascimento.  Fratelli  Dnmohird,  Milano 
18Ül.  ra.g.  GO. 


lö 


98 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 


diseben  Kopie  der  Vierge  aux  roebers  von  Lionardo  ge¬ 
dacht  werden  (Anfang  des  XVI.  Jabrbunderts),  die  in¬ 
sofern  interessant  ist,  als  sie  bezeugt,  dass  das  Original, 
nunmebr  im  Louvre,  schon  früh  nach  Frankreich  ge¬ 
kommen  ist,  indem  sowohl  diese  als  auch  die  meisten  andern 
Kopien  nach  dem  späteren,  jetzt  in  der  Londoner  Galerie 
belindlichen  Exemplar  gemalt  worden  sind,  welches  sich 
bekanntlich  in  der  Kirche  S.  Francesco  in  Mailand  befand. 

Bietet  die  Schule  vitu  Parma  hier  nichts  Hervorragendes 
von  Correggio,  da  von  den  zwei  kleinen  ihm  zugeschrie¬ 
benen  Bildern,  „die  Vermählung  der  heiligen  Katharina“ 
und  die  „Zingarella“,  erstere  bekanntlich  nur  eine  Kopie 
aus  dem  XVIT.  Jahrhundert,  die  andere  aber  ein  wenig- 
genießbares  Gemälde  ist,  so  kann  man  nirgends  sonst, 
selbst  in  Parma  nicht,  die  Maler  der  Familien  JI/«;  so/« 
und  Sclmhme  besser  vertreten  sehen  als  in  Neapel.  Zu  den 
Juwelen  der  reifen  italienischen  Kunst  gehören  ein  paar 
Porträts  von  Francesco  Mazzola,  genannt  il  Parmigia- 
iiino,  namentlich  dasjenige  der  schlanken  Hetäre  Antea 
in  ihrer  malerischen  feinen  Tracht,  ’)  und  das  Porträt, 
welches  lange  Zeit  für  das  Bildnis  des  fJiristophorus 
Columbus  gegolten,  zu  dem  es  thatsächlich  nicht  die 
geringste  Beziehung  hat,  während  neuerdings  erkannt 
worden  ist,  dass  es  einen  Edelmann  und  zwar  augen¬ 
scheinlich  einen  seiner  Vornehmheit  recht  bewussten 
aus  der  alten  Familie  der  Sauvitale  von  Parma  darstellt. 

Dass  Francesco  IMazzola  mit  seinem  Vetter  Gii'o- 
lamo  Mazzola  öfters  verwecliselt  wird,  ist  bekannt.  Dies 
ist  denn  aucli  gerade  der  Fall  bei  einer  merkwürdigen 
allegorischen  Darstellung,  worin  eine  als  Pallas  ge¬ 
kleidete,  die  Stadt  Parma  personitizirende  Frau  den 
jungen  Krieger  Alexander  Farnese  umarmt,  ein  in  deko¬ 
rativer  Hinsiclit  sehr  beachtenswertes,  wenn  auch  in  der 
Behandlung  steiferes  Werk  als  diejenigen  vom  eigent¬ 
lichen  Parmigianiiio  sich  darzustellen  pflegen. 

All  den  genannten,  von  Brogi  treft'lich  aufgenom¬ 
menen  Werken  sind  sodann  noch  einige  aus  den  nordi¬ 
schen  Schulen  beizufügen,  unter  anderen  das  mit  köstlichem 
Humor  behandelte  Temperabild  vom  älteren  Brueghd, 
die  Parabel  der  Blinden  darstellend,  welche  in  Gesell¬ 
schaft  einer  nach  dem  andern  in  den  Wassergraben 
stürzen,  ein  Sinnbild  der  unselbständigen  Kunstgelehrten, 
wie  Morelli  meinte.  Ferner  vom  Meister  des  Todes  der 
Maria  ein  sehr  fein  ausgefülirtes  Trii)tyclion  mit  der 
Anbetung  der  Könige. 

In  der  Abteilung  der  lokalen  neapolitanischen 
lyieister,  wo  u.  a.  der  liebliche  Andrea  Sabati?ii  von 
Salerno  waltet,  soll  der  Photograi)h  erst  nocli  seine 
Arbeit  fortsetzen. 

in. 

Die  Gebrüder  Alinari  haben  während  der  letzten 
Zeit  mehr  in  Oberitalien  gearbeitet.-)  In  Venedig  haben 

1)  Abgebildet  in  der  Gazette  des  Beaux  Arts  v.  1.  Mai  lS9ü. 

2)  Seit  einigen  Monaten  bat  diese  Finna  auch  zahl¬ 
reiche  Aufnahmen  in  Neapel  und  Umgegend  gemacht. 


sie  sich  in  der  Calle  San  Moise  einen  eigenen  Laden 
eröffnet  und  im  Wetteifer  mit  Anderson  die  Aufnahme 
der  vielen  kostbaren  Kunstwerke  der  Stadt  unternommen. 
Unter  der  Eubrik  Venezia  e  il  Veneto  ist  bereits  ihr 
bezüglicher  Katalog  vor  mehr  als  einem  .Jahre  erschienen. 
Er  bezieht  sich  besonders  auf  die  Stadt  Venedig,  er¬ 
streckt  sich  aber  auch  auf  die  benachbarten  Städte,  wo 
auch  einige  abgelegene  Sachen  nicht  versäumt  wurden, 
wie  z.  B.  das  wenig  bekannte  Jugendbild  des  Loreuxo 
Lotto  in  Santa  Cristina  bei  Treviso,  worin  sich  der 
Künstler  als  ein  schlichter,  ernster  Nachfolger  der 
älteren  Meister,  der  Vivarini’s  und  der  Bellini’s,  zu  er¬ 
kennen  giebt  und  den  Kontrast  mit  seiner  später  be- 
W'egten  und  leidenschaftlichen  Manier  recht  fühlbar 
macht. 

Wer  sich  hingegen  speciell  für  die  großartigen 
dekorativen  Arbeiten  eines  Paolo  Veronese  interessii't, 
mag  sein  Wohlgetällen  haben  an  den  zahlreichen  Auf¬ 
nahmen  Alinari’s  aus  der  in  derselben  Provinz  gelegenen 
Villa  Giacomelli  in  Maser.  Auch  einige  Abstecher  in 
die  lombardischen  Provinzen  sind  zu  erwähnen,  von 
denen  gleichfalls  ein  Verzeichnis  uns  vorliegt,  welches 
w'ichtige  Kunstorte  betriftt,  wie  Brescia,  Como,  Mantua,  mit 
den  herrlichen  Werken  eines  Moretto  (unter  diesen  auch 
das  bezaubernde  Bild  aus  Paitone,  von  dem  die  Dresdener 
Galei'ie  nur  die  elende  Kopie  besitzt),  eines  Liiini,  eines 
Ma'}itcg)ia,  u.  s.  w. 

Ganz  besonders  aber  mag  es  die  Kunstfreunde 
freuen  zu  wissen,  dass  genannter  Firma  die  Erlaubnis 
seitens  der  Lady  Layard  zugestanden  wmrden  ist,  eine 
beträchtliche  Anzahl  ausgewählter  Gemälde  aus  dem 
Nachlasse  ihres  vor  zwei  Jahren  verstorbenen  Mannes 
Sir  Henry  Layard  zu  reproduziren.  Dieser  bekannte 
englische  Diplomat  hat  nämlich  in  Venedig  eine  sehr 
bedeutende  Bildersammlung  in  seiner  schönen,  am  großen 
Kanal  gelegenen  Wohnung  hinterlassen.  Laut  seiner 
testamentarischen  Verfügung  ist  die  Nutznießung  der 
Sammlung  seiner  Gattin  zugedacht  worden;  zuletzt  aber 
soll  sie  gänzlich  der  Londoner  Nationalgalerie,  für  die 
sich  Layard  sein  Leben  lang  stets  lebhaft  interessirt 
hatte,  einverleibt  werden.  Bei  w'eitem  der  bedeutendste 
Teil  der  Sammlung  besteht  aus  Gemälden  aus  den 
italienischen  Schulen  des  XV.  und  des  XVI.  .Jahrhun¬ 
derts,  meistens  Kabinettstücken,  bei  deren  Erwerb  ihn  vor 
allen  sein  Freund  Giovanni  Morelli  beraten  hatte.  Da 
kommt  denn  in  erster  Linie  die  veuetianische  Schule  in 
Betracht  mit  höchst  symi)athischen  Meistern,  wie  Qeniile 
Bcllini,  Vittor  Carpaccio,  Aloise  Vivarini,  Cinia  da 
Conegliano]  von  ihm  abhängend  der  jugendliche  Fra 
Sebastian  del  Fiombo-,  sodann  Francesco  Bonsignori, 
Savoldo  da  Brescia,  Moretto,  Moroni  u.  a.  m.  Unter 
den  Lombarden  Bramantino  mit  einer  ganz  eigentüm¬ 
lichen  Anbetung  der  Könige,  Bernardino  Luini,  Oau- 
denzio  Ferrari  etc.  Die  berühmte  Galerie  Costabili, 
einst  eine  wahre  Fundgrube  für  die  ferraresische 


NEUE  PPTOTOGRAPIIISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 


99 


TV. 


In  Mailand  liat  sich  in  letzter  Zeit 
Liiigi  Duhray  als  der  tliätigste  Ivunstplioto- 
graph  erwiesen,  nnd  seine  Leistungen  sind 
insofern  als  willkommen  zu  begrüßen,  als 
sie  viele  Gemälde  aus  Privatsammlungen 
wiedergehen,  die  nicht  leicht  zugänglich  sind. 

Ist  es  u.  a.  keine  gar  leichte  Sache  für 
jedermann,  die  Sammlung  des  Fürsten  Tri- 
vulzio  besuchen  zu  dürfen,  so  kann  mau  sich 
nun  hei  Duhray  die  Ahhildungen  einiger  der 
bedeutendsten  dort  heündlicheu  Bilder  an¬ 
seh  en;  vor  allem  die;)' eiligen  des  mächtigen 
Temperagemäldes  von  Andrea  Mantcgna  aus 
dem  Jahre  1497,  eine  im  Himmel  unter  einer 
Masse  von  Cherubim  sitzende  Gottesmutter, 
mit  Heiligen  im  unteren  Teil  und  drei  köst¬ 
lichen  singenden  Engeln,  von  denen  einer 
eine  Papierrolle  hält,  auf  welcher  (im  Groß- 
forinatblatt,  wo  die  drei  Engel  allein  auf¬ 
genommen  sind)  die  Inschrift  deutlich  zu 
lesen  ist:  A.  Mantinia  pi.  a.  Gracie  1497- 
15  augusti.  Hinter  einer  dieser  Engelsgestalten 
ist  in  kleinem  Maßstabe  eine  Kirchenorgel 
dargestellt,  welcher  Umstand  insofern  be¬ 
merkenswert  ist,  als  er  darauf  zu  deuten 
scheint,  dass  das  Werk  ursprünglich  als 
Altarblatt  in  der  bekannten  alten  Kirche  zu 
Verona,  Santa  Maria  in  Organo,  figurirt  habe. 

Wie  aber  und  wann  das  große  Kunstwerk 
seinen  ursprünglichen  Platz  verlassen,  ist 
nicht  bekannt. 

Höchst  gediegen  sind  sodann  in  ihrer 
Art  einige  Porträts,  d.  h.  dasjenige  eines 
Unbekannten  von  Antoucllo  da  Messina  und  die  zwei 
Profile  der  Sforza’s,  der  Söhne  des  alten  Francesco, 
Gründers  ihrer  Herrschaft  über  Mailand,  das  eine  mög¬ 
licherweise  von  Bernardino  de’  Conti,  das  andere  von 
Boltraffio  herstammend. 


1)  Weiteres  hierüber  in  meinem  Artikel  in  der  Gazette 
des  Beaux  Arts  vom  1.  Dezember  189G. 


,La  Primavera“  von  CosiMO  TORa  in  der  Sammlang  Layard  in  Venedig.  (Phot.  Aliuari.) 

Position  von  Bramantino  mit  strengem  architektonischen 
Hintergrund  u.  a.  m.)  bereits  in  die  Breragalerie  über¬ 
gegangen.  Auch  einige  Neuigkeiten  aus  den  öffentlichen 
Sammlungen  der  Brera  und  des  Museum  Poldi  Pezzoli 
wurden  von  Duhray  veröffentlicht.  Unter  diesen  sind 
besonders  folgende  Werke  zu  erwähnen:  das  Porträt 
eines  Clrafen  Porcia,  ein  Itezeichnetes  Gemälde  von  Tixian, 

13* 


Malerei,  lieferte  ihm  gar  manches  wertvolle  Stück.  Ein 
Specimen  des  bedeutendsten  unter  den  dortigen  Malern 
sollte  auch  nicht  fehlen,  und  wir  fügen  es  in  Abbildung 
bei,  worin  eine  allegorische  weibliche  Figur,  auf  einem 
durchaus  phantastisch  verzierten  Thron  sitzend,  den 
alten  Cosimo  Tura,  seiner  ganzen  merkwürdigen  Natur 
gemäß  vertritt.  Ihm  sich  anreihend  ffdgen  dann  Ercolc 
Grandi,  Lorenzo  Costa,  Garofalo,  Mazzolino. 

Von  Toskanern  nur  ein  gutes  Bild,  nämlich 
das  Porträt  eines  Jünglings,  unter  den  Pho- 
tographieen  von  Alinari  als  Botticelli  ver¬ 
zeichnet,  aber  wohl  eher  von  BafaelUno  del 
Garbo,  wie  es  Morelli  bestimmt  hat.') 


Eine  interessante  Wahl  wurde  unter  den  im  erz- 
bischöflichen  Palast  befindlichen  Bildern  getroffen,  wo 
erstens  ein  bis  jetzt  verkanntes  Juwel,  ein  Jugendwerk 
von  einem  der  größten  italienischen  Künstler,  entdeckt 
worden,  dessen  Kenntnis  der  Kunstwelt  erst  von  Rom  aus 
erteilt  werden  soll,  da  es  samt  andern  15  Stücken,  (dar¬ 
unter  ein  glänzender  Paris  Bordone,  eine  seltsame  Kom- 


NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  AUFNAHMEN  AUS  ITALIEN. 


welches  als  Geschenk  der  Herzogin  Litta  an 
die  k.  Galerie  voi-  wenigen  Jahren  kam;  ein 
anderes,  Brnststück  eines  jungen,  nnlnlitigen 
Mannes,  von  Andrea  Solari,  zwar  kein  neu 
erworbenes,  aber  nach  sorgfältiger  'Wieder¬ 
herstellung  durch  Cavenaghi  wie  zu  neuem 
Leben  erwecktes,  im  llaffaelsaal  aufgestellt. 
—  Für  solche  übrigens,  die  sich  gerne  den 
Untei'schied  zwischen  schlecht  restaurirten 
oder  verwahrlosten  Malereien  und  denselben 
in  de)'  verbesserten  Ausgabe  nach  Ilehand- 
lung  des  gescliickteii  Restaurators  veran¬ 
schaulichen  wollen,  sollen  hier  folgende  em- 
Itfohlen  werden;  das  ]\ladonne)iltild  \ünJaco])o 
BcUini  (mit  altem  gotischen  Rahmen  und  Sig- 
natu)'),  welches  von  de)'  k.  Akadonie  vo)i 
Ve)iedig  Cavenaghi  zugeschickt  und  von  ihm 
auf  die  glücklichste  Weise  voi  den  willkür¬ 
lichen  Ändo'ungen,  die  es  e)'fahren  hatte,  be- 
f)'eit  worden  ist;  die  drei  P)'edellenbilder  von 
Lorenzo  Lotto  aus  S.  Rartolonnneo  in  Ber¬ 
gamo,  )iunmehr  in  der  öffentlichen  Galo'ie 
daselbst  aufgestellt,  in  ihrem  vernachlässig¬ 
ten  früho'en  Zustande  von  Rotze  aus  Vermia, 
von  Dubray  aber  nach  der  Wiederherstelhnig 
in  Mailand  aufgenommen.  1  )ubray  hat  neuer¬ 
dings  auch  das  voi'  kurzer  Zeit  go'einigte 
F)'eskobild  von  Donato  Montorfatw  (1498), 
die  Kreuzigung  da)'stellend,  gegenüber  de)» 
Abendmahl  Linardo’s  photogj'aphirt. 

Als  eine  der  besten  Leistunge))  vo)i  1  )u- 
bray,  die  sich  zugleich  auf  ein  Weu'k  von 
einem  der  tüchtigsten  Charaktermaler  der 
italienischen  Renaissance  bezieht,  legen  wi)' 
hier  i)i  der  Abbildung  die  stattliche  Erschei¬ 
nung  eines  schlanken  heiligen  Hiero)iynius 
von  Ercole  de’  Butw.rti  (etwa  dreivio'tel  Le¬ 
bensgröße)  vor,  in  entsprechendem  geschmack¬ 
vollen  Rahmen,  für  sich  selbst  ein  günstiges 
Zeugnis  des  jetzigen  Vermögens  in  Sache)) 
des  Kunstgewerbes  i))  Mailand.  Der  glück¬ 
liche  Besitzer  dieses  Gonäldes  ist  ein  bis 
jetzt  speciell  in)  Gebiete  der  Musikpflege  be¬ 
kannter  geistreicher  Mailänder  Bürger,  der 
sehr  viel  dazu  beigetragen  hat,  in  seiner 
Vaterstadt  das  Verstä))d))is  u))d  de))  Ge))uss 
der  Schöpfungen  R.  Wagner’s  zu  verbreiten. 
Das  Ge)nälde  wurde  von  ilnn  unter  viele)) 
)))itteln)äßigen  Sachen  eines  Kaufhauses  unter 
de)))  Na)))en  Viva)'ini  vorgefu])den.  Als  es  aber 
auf  die  Staft’elei  des  obe))  ge])a))))te))  Restau¬ 
rators  zur  Entfer))ung  ungebührender  Re- 
touchen  ka))),  da  stellte  sich  recht  klar  her¬ 
aus,  dass  der  A)itor  desselhen  ])icht  unter  den 
Venetianern,  sonder))  u))ter  den  Ferrareseru 


Heil.  Hieronymus  von  Ercole  de’  Robert:  bei  Herrn  Aldo  Noseda  in  Mailand. 

(Pbot.  Dubray.) 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 


des  15.  Jahrliuiiderts  zu  suchen  ist.  Bekanntlicli  ver¬ 
danken  dieselben  ihr  eigenes  Gepräge  hauptsäcldich 
der  gehaltreichen  Wirkung  der  drei  Maler  Cosinio  Tura, 
Francesco  Cossa  und  Ercole  de’  Roherti.  Letzterem  wird 
denn  auch  jetzt  allgemein  der  vorliegende  Hieronymus 
zuerkannt.  Der  ernste,  großartige  Zug  dieses  Heiligen 
im  roten  Kardinalsgewand,  mitten  in  einer  Landschaft 
stehend,  mit  vergoldetem  Himmel,  der  grimmig  lieraldische 
Löwe  zu  seinen  Füßen,  stimmt  in  der  That  sowohl  in 
der  zusammenfassenden  Auffassung  als  auch  in  dem  ihm 
eigenen  Stil  und  in  der  Ausführung  des  Einzelnen  mit 
dem  beglaubigten  Altarblatte  aus  S.  Maria  in  porto  zu 
Ravenna  überein,  das  seit  Napoleon’s  Zeit  der  Hrera- 
galerie  einverleibt  ist.  Früher  möglicherweise  einem 
Triptychon  angehörend,  winl  dieses  dem  Kunstvermögen 
der  gebildeten  Welt  von  neuem  zugewachseue  Stück  um 
so  mehr  als  willkommen  angesehen,  als  die  AVerke  des 
Meisters  ja  zu  den  gesuchtesten  Seltenheiten  in  seinem 
Gebiete  gerechnet  werden. 

Ein  echtes  Werk  von  Alvise  Vivarim  mag  aber 
liier  noch  angeführt  werden,  nämlich  eine  heilige  .Tu- 
stina  de’  Horromei,  nunmehr  im  Besitz  einer  Dame 
dieser  Familie.  Wiewohl  von  überschlanken  Verhält¬ 
nissen,  gehört  die  Heilige  zu  den  feinsten  Erzeugnissen 
der  venetianischen  Malerei  und  nimmt  sich  auch  in  der 
Dubray’schen  Photographie  sehr  gut  aus. 

Unsere  Schilderung  würde  sich  zu  weit  ausdehnen, 
wollten  wir  eingehender  alles  von  interessanten  Meis¬ 
tern  (wie  A.  Borgoynone ,  BoÜraffio,  Luini,  Gaudcn- 
zio  Ferrari,  Bernardino  de’  Conli,  Sofonisba  Anguissoki, 
Moretto,  Francia,  Correggio  etc.  etc.)  erwähnen,  was  im 
Kataloge  des  Mailändischen  Photographen  vorkommt. 


V. 

Zuletzt  soll  doch  auch  des  deutschen,  oben  genannten 
Photographen  Richard  Lotze  nochmals  gedacht  werden,  dem 
man  es  zu  verdanken  hat,  dass  er,  wiewohl  in  Verona  an¬ 
sässig,  sich  die  Mühe  gegeben,  in  der  Stadt  Bergamo 
eine  reichliche  Anzahl  von  Werken  der  Malerei  zu 
publiziren  und  zwar  mit  einer  Wahl,  die  auf  keine 
gewöhnliche  Sachkenntnis  deutet,  wie  dies  schon  aus  dem 
Überblick  seines  gedruckten  Verzeichnisses  sich  zu  er¬ 
kennen  giebt. 

Dieses,  unter  dem  allgemeinen  Titel :  Le  opei’e  di  pittura 
a  Bergamo  erschienene  Verzeichnis  zerfällt  in  folgende  Ab¬ 
schnitte:  Galeria  Carrara,  bekanntlich  der  Grundstock  der 
öffentlichen  Gemäldegalerie;  GalUria  Locliis,  d.  h.  die 
zweite  durch  ein  Vermäclitnis  gebildete  Abteilung,  beide  be¬ 
merkenswert  durch  die  Werke  von  gar  manchen  seltenen 
und  hervorragenden  Meistern;  ')  Ä  Bartolomco ,  wo 
hinter  dem  Hauptaltar  das  größte  Werk  Lotto’s,  von 
a.  1516,  prangt;  Santo  Spirilo  (Lotto-  und  Previtali, 
Altarbilder);  San  Bernardino,  mit  dem  dritten  großen 
Altarbild  von  Lotto,  welches  unter  allen  auch  als  das 
schönste  zu  bezeichnen  ist;  Duonio  (kleines  Tafel¬ 
bild  aus  der  letzten  Zeit  von  Giovanni  Bellini);  Casa 
Buglioni  und  zuletzt  Casa  BiccineUi,  Wohnungen  wohl¬ 
habender  Kunstfreunde,  wo  gute  Bilder  von  CarianL 
Borgognone,  Lotto,  Previtali  u.  a.  m.  berücksichtigt 
worden  sind.  GUSTAV  FRIZZONI. 

1)  Die  dritte,  zuletzt  hiuzugekommene  Abteilung  ist 
diejenige  von  Morelli,  aus  der  .30  Stücke  vor  ihrer  Über¬ 
siedelung  von  Mailand  nach  Bergamo  von  der  Firma  Mar- 
cozzi  aufgenommen  worden ,  welche  denn  auch  als  V orlagen 
zur  Illustrirung  meines  im  V erläge  der  Fratelli  Bolis  erschie¬ 
nenen  Bandes:  La  Galeria  Morelli  in  Bergamo,  gedient  haljen. 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 

MIT  EINER  HELIOGRAVÜRE. 


lE  Plastik  auf  der  letzten  Ausstellung  In 
der  Prinzregentenstraße  veidangt  ein 
Wort  für  sieh.  Ihre  AVerke  standen 
diesmal  nicht  nur  so  herum,  nach  alter 
Gewohnheit,  wie  die  Garden  in  den 
Audienzräumen,  sondern  man  hatte  ihnen 
einen  besonderen  Saal  omgewiesen  und  Einzelnes,  was 
dort  nicht  mehr  gut  Platz  finden  konnte  oder  sich  un¬ 
schädlicherweise  als  Dekoration  verwenden  ließ,  ge¬ 
schmackvoll  in  den  Bildersälen  untergebracht. 

Vor  allen  zog  Adolf  Ilildebrand  das  Interesse  auf 
sich.  Er  hatte  unter  anderem  die  naliezu  lebensgroße 
Statue  eines  Mar.syas  ausgestellt,  die  durch  Originalität 
der  Erfindung  und  Frische  des  Stils  an  die  Jugend¬ 
arbeiten  des  Meisters  erinnert.  Der  bäuerisclie  Geselle, 


II. 

mit  struppigem  Bart  und  Haupthaar,  sitzt,  nackt  wie 
ihn  Zeus  geschaffen,  auf  einem  schwarzgrauen  Marmor¬ 
block  und  pfeift  sich  die  Alelodie  vor,  die  er  nächstens 
auf  dei'  von  Iieiden  Händen  gehaltenen  Flöte  versuchen 
wii'd.  Haltung  und  Ausdruck  des  klassischen  Burschen 
sind  von  köstlicher  Natürlichkeit.  Die  Modelliruiig  höchst 
soi’gfältig,  die  matte  Ciselirung  wie  der  Guss  ausge¬ 
zeichnet:  wahrscheinlich  Florentiner  Arbeit.  Unsere 
deutschen  Gießer  billigen  so  etwas  kaum  zuwege.  AMii 
den  andern  Hildebrand’scheii  Arbeiten  verdient  der  treff¬ 
liche  männliche  Studienkopf  alle  Anerkennung.  Das 
Relief  mit  einer  Badescene  ist  zwar  hübsch  komponirt, 
aber  doch  zu  skizzenhaft  und  namentlich  zu  reizlos  in 
der  Beliandliing,  um  den  Riilim  des  Künstlers  erliöhen 
zu  köniieii. 


102 


DIE  AUSSTELLUNG  DER  SECESSION  IN  MÜNCHEN. 


Auch  die  übrigen  Münchener  Bildhaner  zeigen  hiiiiüg 
mehr  Kraftgefülil  als  Reiz.  Ein  gewisser  derlter  Zug 
wiegt  vor.  Milnnliche  Gestalten,  liesonders  l’orträtkiipfe 
bedeutender  Charaktere,  gelingen  oft  vortrefflich.  Der 
Sinn  und  das  Geschick  für  Anmut  und  Seelenausdruck 
erweisen  sich  als  wenig  entwickelt.  Erwin  Kurz  be¬ 
friedigte  uns  nur  in  seinem  männlichen  Portriltrelief. 
Die  weibliche  Büste  von  Hermann  Lang  ist  ein  zwar 
lebensvolles,  aber  zu  wenig  schönes  Werk,  um  das  Auge 
dauernd  zu  fesseln,  ^'on  den  zahlreichen  Arbeiten  Jo¬ 
seph  Flossmcmns  konnte  uns  bloß  der  eimste,  walir 
empfundene  Christuskopf  imponiren.  Die  oidginellen 
Werke  Matlrias  Gaste igcr’s  lal)oriren  alle  an  zu  schweren, 
plumpen  Formen.  —  Ein  schönes,  ruliiges,  an  die  Antike 
streifendes  Bildwerk  ist  die  Bronzestatuette  des  Ganymed 
von  Arthur  Volkmann  (Rom);  trefflich  auch  der  kleine 
Stier  in  Bronze  von  L.  Tuaüloti  (daselbst). 

Höchst  interessante  Beiträge  zu  der  i)la.stischen 
Secessions-Ausstellung  hatten  die  westlichen  Kunstvölker 
geliefert:  Belgier,  Engländer  und  Franzosen.  Von  dem 
geistreichen  Brüsseler  Naturalisten  Constantin  Meunicr 
sahen  wir  eine  „Frau  aus  dem  Volke“  und  einen  ,,Ackers- 
manu“  von  Millet’scher  Lelienswahrheit.  In  eine  wunder¬ 
liche  Welt  V(dl  seltsamer  visionäre)'  Gestalten  von  Prä- 
Rafaelitiscliem  Stil  führte  uns  der  Londoner  George 
Frampton,  liesonders  in  seine))!  allegorischen  Brouzerelief 
„Meine  Gedanke)!  sind  nieine  Kinder“.  —  Als  echte 
Schöpfungen  einer  gesunden,  i'eich  aus  den!  Phantasie- 
lioden  lio'voi'iiuellenden  Kunst  erwiesen  sich  die  WA)'ke 
der  Franzosen.  Sie  umfassten  in  den!  engen  Ralnuen 
einer  kleinen  Answahl  das  Vorzüglichste  aus  den  Ge- 
liieten  der  idealen,  der  dekorativen  und  der  natura¬ 
listischen  Plastik.  Und  sie  bewiesen  khx)',  dass  Frank- 
!'eich  in  allen  diesen  Spl!ä)'e!!  den  übrigen  Völkern  den 
Rang  abgelaufen  hat.  Von  den  reizenden  kleinen  Ar- 
lieiten  dekorativen  Stils  von  F.  Vallgren  (Paris)  haben 
wir  den  Lese)!!  bereits  in!  Dezeanberheft  (S.  54)  ein 
Beispiel  vo)'gefül)rt.  Das  gleiche  Geu)'e,  wie  jene  „Aschen- 
lü'ne“,  vei'traten  auch  andere,  als  Blumenkelche  und 
Wandleuchter  bezeichnete  kleine  Bronzen.  Bewunderns¬ 
wert  ist  an  ihnen  vorzugsweise  die  sinnige  Benutzung 
des  ffgürlichen  Sclnnuckes  fü)-  die  Gerätteile  selbst,  z.  B. 
der  trauo'üden  weiblichen  Figur  fü)‘  den  Henkel  der 
Aschenurne.  Die  schlanke,  in  eng  anliegende  Gewänder 
gekleidete  Gestalt  fügt  sich  der  Henkelfo)’))!  schmiegsani 
an  und  Idetet  zugleich  das  Mittel  dar,  den  Zweck  des 
Gefäßes  andeutungsweise  zu  chai'akterisiren.  Besonders 
bezeichnend  für  die  Art  des  Künstlers  ist  der  obere, 
vegetabiliscl!  auslaufende  Rand  des  Gefäßes.  Vallgren 
liebt  diese  Anklänge  an  die  For)nenwelt  der  Natur. 


Seine  Gex'äte  haben  alle  etwas  Pflanzliches  und  auch  in 
den  zarten,  stengelhaften  Gestalten,  ndt  denen  er  sie 
ausstattet,  offenliart  sich  das  Hängen  des  Künstlers  an 
der  vegetativen  AVelt.  Auch  eine  allerliebste  kleine 
Bronzeliüste  hatte  Vallgren  ausgestellt:  eine  Bretagnerin 
in  der  Landestracht,  nrit  zierlichen!  Häuljclien  und  ge¬ 
fältelten!  Kragen.  I)!  allen!  der  Wiederscl)ein  einer 
Künstlerseele,  welche  die  Dinge  voll  aus  den!  Innern 
heraus  gestaltet!  —  Melir  nach  der  sinnlichen  Seite  fo )•)!!- 
begalit  erweist  sich  der  Pariser  Albert  Bartholome,  von 
deni  wir  eine  kleine,  l!errlich  nwdellirte  Brunnenfigur 
auf  der  Ausstellung  sahen.  Es  ist  eine  nackte  Frauen¬ 
gestalt,  die  sich  zwischen  de)'  olieren  Muschel  !!))d  decn 
u))te)'en  Becke)!  des  Brunnens  in  die  Ecke  drückt.  Die 
Figur  ist  so  schön  den!  Raun!  angefügt,  die  For)!!en  des 
in  Rückenansicht  dargestellten  Körpers  fließen  so  wolilig 
und  weich  und  in  so  breiter  Naturfülle  dahin,  dass  wir 
das  Wasser  glauben  rauschen  zu  liören,  das  sich  darülier 
ergießen  soll.  —  Das  Hauptinteresse  der  kleinen  Münchener 
Ausstellung  liildete  für  uns  der  fülmende  Meister  der 
]!!ode!')!en  Pariser  Naturalisten,  Auguste  liodin.  Wir 
kannten  ihn  bisher  nur  aus  Abbildungen  und  Abgüssen. 
So  z.  B.  aus  der  wunderbar  ))!odelli!'ten  Gestalt  seines 
„Age  d’aij'ain“  i))!  Dresdener  Augusteun!.  Auch  die 
Secessions-Ausstellung  enthielt  nieln'ej'e  seiner  Arbeiten 
in  Gips.  Aber  das  alles  kann  uns  keinen  !'echte!!  Be- 
g')'iff  seines  Wollens  und  Volllu'ingens  gelien.  Jedenfalls 
ein  größeres  Stück  davon  hatten  wir  in  der  n!erkwü)'dig'e)! 
Po!'t!'ätl!Üste  vor  uns,  welche  die  lieigegebene  Helio- 
g)'avü!'e  veranschaulicht.  Es  ist  der  Bildhaner  Dalou, 
n)odelli!'t  von  Rodin  und  mit  jener  unübertrefflichen 
Virtuosität  in  Bronze  gegossen,  u)!!  die  unsere  Bildliauer 
ihre  Pariser  Kollegen  beneiden.  Während  sehlecl!te 
Gießer  und  rolie  Ciseleure  nicht  selten  die  charakteristiscl!e 
Fo!')!!  der  Oliex'fläche  liis  zur  Unkenntlichkeit  entstellen, 
steht  liier  jeder  flüchtige  uiid  weiche  Druck  der  Hand, 
jeder  Strich  des  Modellirstäbchois  klar  zu  Tage.  Das 
knochige  Gesicht,  die  inatten,  innerliche)!  Augen,  das 
abstehende  Haar,  der  feine  Mund,  die  inagere)!,  unver¬ 
hüllten  Fornien  des  Halses  und  der  Bi'ust:  Alles  tritt 
scharf  und  lebensvoll  zusannnen  zu  der  geistreichsten 
und  dabei  wahrsten  Naturschildei'ung,  die  nnin  sich 
de)!ken  kann. 

Es  wäre  schon  wegen  all  de)'  uiivei'gessliche))  u))d 
i)!ti)!)e)!Ku)!Stei)!d)'ückevon  auswärts,  welchedieMüiichener 
Secessio)!  u)!S  vei')))ittelt  hat,  jamiiierschade,  we))n  sie 
ihre  vorläufig  beendeten  erleseiien  Ausstelhnige))  nicht 
bald  i)!  ei)!e))i  neuen,  ebenso  schönen  Lokale  wieder  auf- 
))eh)))e!!  kön)!te!  CARL  v.  LÜTZOW. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


P.  Clemen,  Die  Kunsidcnhnälcr  der  Rltcinproi  in''..  Dritter 
Band.  IV.  Die  Städte  und  Krei.se  Gladbach  und  Krefeld. 
Düsseldorf,  1890.  8".  1(37  S.  mit  74  Textabliildungen  und 
12  Tafeln.  G  M. 

Nicht  mehr  mit  der  fast  den  Atem  benehmenden  Ge¬ 
schwindigkeit,  wie  anfänglich,  aber  doch  immer  noch  erstaun¬ 
lich  schnell  und  pünktlich  folgen  einander  die  einzelnen 
Hefte  der  von  Paul  Clemen  geleiteten  und  besorgten  Ver¬ 
zeichnung  der  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz,  und  immer 
wieder  erfreuen  sie  durch  die  übersichtliche  Anordnung  des 
vielgestaltigen  Stoffes,  durch  die  klare,  gemeinverständliche 
Sprache  und  durch  die  auf  bester  Kenntnis  beruhende,  gründ¬ 
liche  und  sorgsame  Beschreibung  der  Kunstwerke,  ln  der 
Klarheit  der  Darstellung  möchte  ich  einen  der  wesentlichsten 
Vorzüge  der  Clemen’schen  Veröffentlichungen  erblicken,  welche 
dadurch  sich  weit  über  viele  ähuliche  Arbeiten  erheben. 
Auch  liefern  sie  uns  den  Beweis,  dass  die  hier  und  da  ge¬ 
rade  auch  in  jüngster  Zeit  geäußerte  Meinung,  nur  Archi¬ 
tekten  vermöchten  der  hier  gestellten  Aufgabe  völlig  gerecht 
zu  werden,  auf  einseitiger  und  irriger  Anschauung  beruht; 
das  Körnchen  Wahrheit,  welches  jenem  Urteile  zu  Grunde 
liegt,  kann  uns  nicht  darüber  hinwegtäuschen,  dass  zahlreiche 
von  Architekten  gearbeitete  Inventare  den  zu  stellenden  An¬ 
forderungen  nicht  entsprechen  und  ebenso  der  Um-  und 
Neubearbeitung  bedürfen,  wie  eine  ganze  Reihe  der  von  nicht 
technisch  geschulten  Kunstgelehrten  verfassten  Inventare.  — 
Die  wichtigsten  diesmal  besprochenen  Baudenkmale  dürften 
sein:  die  schöne  romanische  Abteikirche  von  M. -Gladbach 
mit  ihrem  gotischen  Chor,  welcher  bekanntlich  Meister  Ger¬ 
hard,  dem  Krbauer  des  Kölner  Dom-Chores,  zugeschrieben 
sein  dürfte,  und  die  Klosterkirche  in  Neuwerk,  sowie  unter 
den  Schlössern:  Millendonk,  Liedberg,  Neersen,  Linn  und 
namentlich  die  schöne  Renaissanceschöpfung  Rheydt;  von 
den  sonstigen  hier  vorhandenen  älteren  Knustwerken  ver¬ 
dienen  das  treffliche,  spätgotische  Kruziffx  in  der  katholischen 
l’farrkirche  zu  Linn  und  die  sill)erne  Schüssel  mit  dem 
Haupte  Johannis  des  Täufers  in  Anrath  besondere  Erwähnung. 
—  Zu  beanstanden  sind  nur  Kleinigkeiten.  Die  auf  S.  64 
erwähnte  Kopie  des  Bildnisses  Karl’s  des  Kühnen  soll  dem 
IG.  Jahrh.  entstammen,  ich  glaube,  dass  eine  genauere  Be¬ 
stimmung  der  Entstehungszeit  (Anfang  oder  Ende  des  Jahr¬ 
hunderts')  wohl  möglich  gewesen  wäre.  Am  Schlosse  Rheydt 
(S.  94)  sollen  die  Kartuschen  die  „wunderlichsten“  Formen 
zeigen,  während  sie  durchaus  nicht  über  das  gewöhnliche 
Maß  der  damaligen  niederländischen  Verzierungsart  hinaus¬ 
gehen  ;  bei  den  auf  8.  93  erwähnten  Schlusssteinen  hätte  die 
für  Cornelis  Floris  und  andere  gleichzeitige  Niederländer  sehr 
kennzeichnende  Form  des  Rostkorbes  (wenigstens  weisen  die 
Abbildungen  sie  auf)  Erwähnung  finden  können.  Aber  das 
sind,  wie  gesagt,  Kleinigkeiten,  welche  gegenüber  dem  großen 
Verdienste  des  Werkes  gar  nicht  in  das  Gewicht  fallen. 

HERMANN  EllRENDERU. 


Keller,  Dr.  Ph.  Joseph,  Bcdlliasar  iSeiimann,  Artillerie- 
und  Ingenieur-Oberst,  fürstlich  Bambergischer  und  Würz¬ 
burger  Oberarchitekt  und  Baudirektor.  Eine  Studie  zur 
Kunstgeschichte  des  18.  Jahrhunderts.  Würzburg,  S.  Bauer, 
1896.  8'J.  203  S. 

Vor  fünfzehn  bis  zwanzig  Jahren  noch  hätte  dasjenige, 
was  der  Verfasser  in  der  Vorrede  über  die  Hochschätzung 
der  Zeit  eines  Riemenschneider  und  über  die  Geringschätzung 
der  Periode  seines  Helden  sagt,  den  Thatsachen  ungefähr 
entsprochen.  Heutzutage  sind  seine  Bemerkungen  ein  Ana¬ 
chronismus.  Man  hat  längst  verlernt,  das  Jahrhundert,  in 
welchem  Neumann  thätig  war,  „über  die  Achsel  anzusehen“. 
Die  jetzige  Generation  ist  vielmehr  ganz  in  der  Verfixssung, 
auch  am  Barock  und  Rokoko  „offenbare  Geschmacklosig¬ 
keiten  nicht  bloß  entschuldbar,  sondern  selbst  bewunderns¬ 
wert“  zu  finden.  Die  Eiferer  für  die  Gothik  fanden,  wenn 
wir  uns  recht  erinnern,  den  Grund,  weswegen  die  letztere 
von  ihren  Vorgängern  mißachtet  wurde,  in  dem  ,, Mangel  an 
Abbildungen“.  Der  seitens  tles  Autors  unserem  Jahrhundert 
„leider  nicht  ersparte  Vorwurf,  dass  es  verdammte,  wenn  es 
keine  Kenntnis  hatte“,  steht  mit  der  Ansicht  der  Roman¬ 
tiker  ungefähr  auf  gleicher  Linie.  Den  Klassicisten  man¬ 
gelte  es  an  Abbildungen  gotischer  Denkmäler  ungefähr  aus 
demselben  Grunde,  aus  welcheiu  unsere  Zeit  über  ihre 
Vorgängerin  keine  Kenntnis  hatte.  Die  Schriften  von  Julius 
Lessing  z.  B.  hätten  den  Verfasser  darüber  belehren  können. 
Lessing  citirt  Keller  nicht,  dafür  aber  —  „Bernini  den 
Jüngeren“!  Deswegen  also  kamen  uns  seine  Jeremiaden  so 
bekannt  vor!  Die  Arbeit  Keller’s  ist  besser  als  die  Schriften 
Bernini  des  Jüngeren,  aber  noch  lange  nicht  so  gut  wie 
irgend  eine  Arbeit  Dohme’s.  Sie  zeigt  einen  kolossalen 
Flein,  enthält  viel  ,, urkundliches“  Material,  hätte  in  der  Zeit, 
da  seine  oben  erwähnten  Bemerkungen  noch  nicht  offene 
Thüren  einrannten,  möglicherweise  ein  bedeutendes  Auf¬ 
sehen  erregt,  ist  aber  heutzutage,  weil  es  die  Ergebnisse 
seiner  Forschung  am  Schlüsse  nicht  zu  einer  erschöpfenden 
Charakteristik  zusammenfasst,  dem  Meister  nicht  mit  voller 
Präzision  seine  Steilung  in  der  Kunstbewegung  der  da¬ 
maligen  Zeit  anweist,  in  wissenschaftlicher  Beziehung  unzu¬ 
reichend.  Was  ist  damit  gewonnen,  wenn  da  gesagt  wird, 
dass  Neumann  „zwei  bedeutende  Werke  der  neuen  Richtung 
in  Würzburg  selbst  vor  Augen  hatte?“  Was  mit  den  Hypo¬ 
thesen  über  einen  möglichen,  wenn  auch  vorläufig  noch 
nicht  bewiesenen  Einfluss  Dienzenhöfer’s  und  Fischer’s  von 
Erlach?  Wen  hat  l’etrini,  der  „wälsche  Baumeister“,  von 
die  beiden  letztgenannten  Architekter  vor  Augen?  (S.  139). 
Was  gewinnen  wir  im  Grunde,  wenn  wir  erfahren,  „dass  die 
Centralbauten  Neumann’s  immerhin  noch  regelmäßige,  an 
klassische  Muster  sich  anschließende  Anlagen  sind,  in  den 
zwei  letzten  Werken  desselben  aber  die  Sucht  nach  dem 
Gekünstelten,  Eigenartigen,  Neuen  klar  hervortritt?“  (S.  168). 
Und  erfahren  wir  wesentlich  Neues,  wenn  wir  lesen,  dass 


104 


KLEINE  MITTEILUNGN. 


Neumann  sich  „beim  Aufbau  der  Residenz  nahe  an  ita¬ 
lienische  Muster  mit  deutscher  Beimischung  gehalten,  wie 
er  sie  in  Prag  und  Wien  hinlänglich  kennen  zu  lernen  Ge¬ 
legenheit  hatte,“  in  Bezug  auf  den  Grundriss  und  die  Innen¬ 
räume  und  deren  Ausstattung,  aber  auch  die  Franzosen 
„teils  aus  den  Schriften  ihrer  Meister,  teils  aus  ihren  Werken 
selbst  wohl  studirt  habe“.  (S.  41).  „An  klassische  Muster 
sich  anschließende  Anlagen“,  „Sucht  nach  Gekünsteltem, 
Eigenartigem“,  „italienische  Muster  mit  deutscher  Bei¬ 
mischung“  und  ähnliche  vage  Bezeichnungen  sind  heute  ein 
überwundener  Standpunkt,  wie  der  „eigentlich  nichtssagende 
Name  Jesuitenstil“  (S.  139),  über  welchen  sich  Keller  bei 
Gurlitt  informirt  haben  könnte.  Sie  gehören  gegenwärtig 
schon  ebenso  in  das  alte  Eisen,  wie  die  einfache  Konstatirung 
von  Thatsachen,  wie  die,  dass  man  1788,  „als  Bönicke  sein 
Werk  drucken  ließ,  noch  Verständnis  und  Würdigung  des 
Wirkens  und  der  Verdienste  unseres  Meisters  hatte“,  und 
dass  nach  einigen  Jahrzehnten  Neumaun,  den  Gurlitt  „viel¬ 
leicht  den  größten  Baukünstler  seiner  Zeit  nennt,  vergessen 
war“  (S.  202.)  Nennt  Gurlitt  ihn  mit  Recht  oder  mit  Un¬ 
recht  so?  Nicht  das  Citat  allein,  sondern  eine  Überprüfung, 
eine  Bestätigung  oder  Nichtbestätigung,  eine  genauere  Um¬ 
schreibung  vor  allem  des  Gurlitt’schen  Urteils  hatten  wir 
von  der  Keller’schen  Arbeit  zu  erwarten,  die  übrigens  in 
mancher  Hinsicht  dankenswert  und  mit  Grundrissen  und 
Ansichten  sehr  instruktiv  illustrirt  ist.  J.  D. 

Auton  Kirstein,  Professor  der  Philosophie  am  luschöf- 
lichen  Priesterseminar  irr  Mainz,  Ästhetik  der  Natur  und 
Kunst.  Paderborn,  Druck  und  Verlag  von  Ferd.  Schöriingh. 
1890. 

Das  Buch  gehört  in  die  dritte  Reihe  einer  wisseirschaft- 
lichen  Handbibliothek:  Lehr-  und  Handbücher  verschiedener 
Wissenschaften.  Der  Verfasser  sagt  im  Vorwort:  „Vor¬ 
liegendes  Buch  will  kurz  die  Grundsätze  für  die  Beurteilung 
der  Schöirheit  in  Natur  und  Kunst  angeben.  Es  war  mein 
Bestreben,  die  verschiedenen  Ansichten,  die  im  Laufe  <ler 
Zeit  als  richtige  Schönheitsnormen  aufgestellt  und  verteidigt 
wurden,  sine  ira  et  studio  zu  prüfen  und  mich  unbefairgen 
für  diejenigen  zu  entscheiden,  die  ich  für  die  richtigen  hielt. 
Dass  ich  dabei  immer  das  Wahre  getroffen,  soll  keineswegs 
behauptet  werden.  Es  ist  eben  ein  Versuch,  deir  Schein  von 
der  Wahrheit  zu  trennen.  Auch  erheben  vorliegende  ästhe¬ 
tische  Untersucluingeir  nicht  Anspruch  auf  eiire  vollständige 


Behandlung  der  in  Betracht  kommenden  Materie.  Sie  bieten 
vielmehr,  wie  der  Titel  des  Buches  an  deutet,  eine  Skizze  . .  .“ 
Das  W erk  ist  damit  richtig  charakterisirt.  Es  ist  ein  skizzirter 
Entwurf,  wie  zur  G  rundlage  für  ausführlicheren  V ortrag.  Neues, 
Eigenartiges  wird  nicht  gegeben  und  war  zu  geben  nicht 
beabsichtigt.  Auch  die  Anlage  des  Ganzen  weist  auf  Nach¬ 
folge.  Viele  Autoren  verschiedener  Richtungen  werden  aus¬ 
führlich  citirt,  manche  darunter  sehr  häufig.  Das  „sine  ira 
et  Studio“  ist  in  besonderer  Weise  anzuerkennen.  Selten 
wendet  sich  der  Verfasser  direkt  gegen  Lehren,  die  er  von 
seinem  Sta.ndpunkt  aus  für  verwerflich,  im  allgemeinen  wählt 
er  nur  diejenigen  aus,  die  er  für  die  richtigen  hält.  Seine 
Persönlichkeit  lässt  er  anspruchslos  ganz  zurücktreten.  Da¬ 
durch  macht  das  Buch  in  seiner  Art  einen  ruhigen,  wohl- 
thuenden  Eindruck;  sicher  auch  für  die  Kreise,  für  die  es 
bestimmt  ist,  fördernder,  als  wenn  Hass  und  Tendenz  darin 
das  Wort  führten.  Von  diesem  oder  jenem  verschiedenen 
Standpunkt  abgesehen,  der  sich  schon  aus  der  Herkunft  des 
Buches  ergiebt,  möchten  wir  bei  der  Darstellung  des  Nackten 
in  der  Plastik  und  durch  die  Malerei  nur  an  das  bekannte 
Wort  Michelangelo’s  erinnern  „Saget  Seiner  Heiligkeit  .  .  . 
er  möge  nur  die  Welt  ändern“.  Richtige  Konsequenz  wäre, 
dass  auch  die  Darstellung  des  Rabulas  für  das  Kruzifix 
wieder  maßgebend  sein  müsse.  Die  auf  S.  153  angeführte 
Feindschaft  eines  Autors  gegen  die  Gotik  ist  nicht  richtig, 
wie  dessen  Worte  beweisen:  „Hellenischer  und  gotischer  Stil 
stehen  sich,  jeder  in  seiner  Art  vollkommen,  gegenüber,  jener 
die  Ruhe,  dieser  die  Bewegung  repräsentirend.“  S.  17Ü  ist 
versehentlich  Phidias  statt  Praxiteles  genannt.  Der  Verfasser 
schließt  im  Vorwort:  „Sollte  die  Skizze  gefallen,  so  werde 
ich  gerne  bereit  sein,  dieselbe  zu  einem  fertig  gemalten 
Bilde  zu  vervollständigen.“  Etwas  mehr  Kraft  und  Farbe  wäre 
auch  schon  dieser  Skizze  zu  wünschen  gewesen.  L. 


ln  der  Schustcrivcrkstatt ,  Originalradirung  von  Josef 
Kriwer.  Der  Urheber  der  diesem  Hefte  beigefügten  Radirung 
verrät  schon  in  der  Art  des  Vortrages  die  Schülerschaft 
Professor  P.  Ilalm’s  in  München.  Er  wurde  1871  in  Brody 
in  Galizien  geboren,  war  seit  seiner  frühesten  Kindheit  in 
Wien,  wo  er  die  Malschule  der  Akademie  besuchte.  Nach 
absolvirtem  Militärdienst  siedelte  der  Künstler  nach  München 
über  und  trat  in  die  Akademie  ein,  wo  er  unter  Prof.  Wilh. 
Diezen’s  Leitung  seinen  malerischen  Studien,  unter  Prof. 
Halm’s  Anleitung  der  Radirtechnik  obliegt. 


Herausgeber:  Carl  von  iMtxoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Au.gust  Pries  in  Leipzig. 


Verlag  v  E  A  Seemann.Leipzig 


J  DALOU 


Heliogravüre u,  DrucKvon  HG. BrincKmann, Leipzig. 


Bronceguss.-modellieri  von  Augusle  Rodin . 


IN  DNR,  WNN'KS  TATT 


Hcliof,ra'.-ui-e  von  HO  Brinckmann.i-eipzig 


Karl  Hetl'ner. 


KARL  HEFFNER. 

VON  ADOLF  R OSENBERG. 

MIT  EINER  IIELIOGRAVCRE  UND  MEHREREN  TEXTABBILDUNGEN. 


S  war  auf  der  Müiiclieiier  iiiteriiatioiialeii 
Kunstansstelluiig  des  Jahres  1883,  dass 
mir  der  Name  Karl  Heffiier’s  und  zugdeich 
zwei  Werke  seiner  Hand  zum  ersten 
Male  aufflelen,  auf  jener  unvergesslichen 
Ausstellung,  die  nicht  bloß  einen  Mark¬ 
stein  in  der  Geschichte  der  Münchener  Kunst,  sondern  in 
der  Geschichte  der  Kunstausstellungen  überhaupt  bildet. 
Damals  ward  der  Welt  zuerst  der  glänzende  Sieg  kund, 
den  die  Schulen  von  Diez  und  Löfftz  über  die  Schule 
Piloty’s  errungen  hatten,  damals  traten  zuerst  die  Spanier 
mit  imponirender  Kraft  in  den  Reigen  der  europäischen 
Kunsteutwickelung.  Noch  war  kein  Vorbote  der  Stürme 
zu  erblicken,  die  wenige  Jahre  später  die  Münchener 
Künstlerschaft  so  stark  erschüttern  sollten.  Ganz  am 
äußersten  Ende  des  westlichen  Flügels,  nachdem  man 
die  Säle  mit  den  prunkvollen  Ausstellungen  der  fremden 
Nationen  durchschritten  hatte,  gab  es  einen  stillen, 
behaglich  ausgestatteten  Raum,  der  im  Katalog  den 
Sondertitel  „Heffner’s  internationale  Kollektion  aus 
englischem  Privatbesitz“  trug.  Zu  ihrem  Erstaunen 
fanden  hier  Künstler  und  Kunstfreunde  eine  Fülle  von 
koloristisch  höchst  anziehenden  Werken  englischer,  fran¬ 
zösischer,  holländischer,  belgischer  und  deutscher  Maler, 
meist  Kabinettstücke,  wie  sie  die  englischen  Sammler 
lieben.  Viele  mögen  dabei  zum  ersten  Male  die  Bekannt¬ 
schaft  von  Künstlern  wie  Corot,  Daubigny,  Diaz,  Bastien- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  5. 


Lepage,  Th.  Rousseau,  Dupre,  Breton,  Herkomer,  Mesdag, 
Israels,  Henner  u.  a.  gemacht  haben,  und  nicht  minder 
würdig  war  die  deutsche  Malerei  durch  Menzel,  L.  C. 
Müller,  Eier,  Baisch,  G.  v.  Bochmann,  Oeder,  E.  Schindler 
u.  a.  vertreten.  Der  Künstler,  der  diese  Sammlung  im 
Aufträge  des  Ausstellungskomitee’s  herbeigeschafft  hatte, 
musste  mit  feinem  Sinn  für  die  zartesten  und  geheimsten 
koloristischen  Reize  ausgestattet  sein,  und  das  sah  man 
auch  bald  an  den  beiden  Bildern,  die  er  selbst  inmitten 
der  glänzenden  Versammlung  ausgestellt  hatte:  einer 
holländischen  und  einer  englischen  Landschaft  nach 
einem  Motiv  von  Guildford.  Letztere  hatte  mich  durch 
die  virtuose  Behandlung  des  Flusses ,  in  dem  sich  die 
Häuser  des  Dorfes  spiegeln,  durch  die  flüssige  Technik 
und  die  poetische  Grundstimmung  so  gefesselt,  dass  ich, 
um  die  Erinnerung  daran  für  meine  Berichte  recht  fest 
zu  halten,  das  Zeugnis  „Ersten  Ranges“  an  den  Rand 
meines  Katalogs  schrieb. 

Seitdem  hat  sich  das  Bild  von  Heffner’s  Persön¬ 
lichkeit  und  seinem  künstlerischen  Schaffen  in  mir  so 
erweitert  und  vertieft,  dass  ich  keine  Ursache  habe,  die 
Begeisterung,  die  ich  damals  empfand,  hier  durch  eine  nach¬ 
trägliche  Kritik  abzudämpfen.  Freilich  habe  ich  dabei 
mit  dem  Nachteil  zu  kämpfen,  dass  Heffner  der  Mehr¬ 
zahl  der  Ausstellungsbesucher  eine  wenig  oder  gar  nicht 
vertraute  Erscheinung  ist,  weil  er  nur  selten  in  dem 
Gewühl  der  großen  Bilderrevüen  auftaucht,  und  dass 


14 


lOü 


KARL  HEFFNER. 


Jlorgen.  Tliemseufer  bei  Datcbel.  OlgemäUle  von  K.  IIeffner. 


selbst  die  vollkoinmenste  Eeprodiiktidii  nur  eine  scliwaclie 
Vorstellung  von  dem  koloristischen  Reiz  und  dem  i)oe- 
tisclien  Inhalt  seiner  Landschaften  geben  kann.  Am 
ehesten  noch  die  Eadirung,  besonders  wenn  ein  Meister 
wie  ’W.  Unger  seine  ganze  unvergleichliche  Kunst  daran 
wendet,  wie  er  es  mit  Heffuer’s  großer,  melancliolischer 
Schilderung  einer  untergegangenen  herrlichen  Welt,  mit 
den  .jEuinen  von  Ostia“  gethan  hat. 

Karl  IIeffner  wurde  im  Jahre  1849  in  Würzburg 
geboren,  wo  er  auch  das  Gvmnasium  besuchte  und  ab- 
solvirte.  Im  letzten  Jahre  seiner  Schulstudien  starb 
sein  Vater,  und  seine  Familie  zog  nach  München.  Bis 
dahin  hatte  sich  nichts  in  ihm  geregt,  das  auf  seinen 
späteren  Beruf  gedeutet  hätte.  Nur  an  sauber  ausge¬ 
führten  Ornamenten  hatte  er  Freude,  daneben  aber  schon 
seit  seinem  0.  Lebensjahre  eine  fast  fanatische  Neigung 
zur  Musik,  in  der  er  es  bald  zu  solcher  Fertigkeit 
brachte,  dass  er  schon  mit  acht  Jahren  zur  großen  Be- 
Medigung  seiner  Lehrer  ein  Klavierkonzert  von  May- 
seder  spielen  konnte.  Auf  Grund  dieser  und  anderer 
Äußerungen  seiner  musikalischen  Begabung  gelang  es 
ihm,  von  seiner  Mutter  die  Erlaubnis  zu  erhalten,  dass 
er  sich  dem  Beruf  eines  Musikers  widmen  durfte.  Es 
wurden  die  besten  Lehrer  für  ihn  ausgewählt,  die  ihn 
im  Klavier-,  A'iolin-  und  Orgelspiel  unterrichteten,  und 
gerade  um  die  Zeit,  als  sich  IIeffner  über  seinen  Beruf 
klar  geworden  zu  sein  glaubte,  brachen  in  München  die 
Kämpfe  für  und  wider  AVagner  los.  Es  ist  noch  heute 
ein  Grundzug  seines  Wesens,  dass  er  stets  für  das 
Neue,  wahrhaft  Bahnbrechende  eintritt;  nur  muss  es,  wie 
er  in  weiser  Beschränkung  meint,  „der  Mühe  wert  sein“. 
Das  klingt  wie  ein  Gemeinplatz,  der  Vieles  und  doch 
im  Grunde  Nichts  sagt.  Aber  bisher  hat  IIeffner  noch 
immer  recht  behalten,  wenn  er  mit  voller  Zuversicht, 
aber  auch  mit  voller  Überlegung  für  etwas  Neues  ein¬ 
trat.  AVie  er  später  in  München  zuerst  mit  Erfolg  für 
die  Koryjiihäen  der  französischen  Stimmungsmalerei  Pro¬ 
paganda  gemacht  hat,  so  war  er  als  Jüngling  einer  der 


ej'Sten,  die  für  Eichard  Wagner  Partei  ergriffen,  und 
bald  trat  er  den  Männern  nahe,  die  an  der  Spitze  dieser 
Bewegung  standen:  Hans  von  Bülow ,  Richter,  Franz 
Fischer,  Ritter  u.  a.  Aber  gerade  durch  den  Umgang 
mit  diesen  Männern  wurde  IIeffner  in  eine  andere  Bahn 
geleitet,  wenn  ihm  die  Musik  auch  nach  wie  vor  ein 
Höchstes  blieb.  Durch  Hans  von  Bülow  war  er  mit 
Ludwig  Bechstein,  dem  liebenswürdigen  Zeichner  der 
„Fliegenden  Blätter“,  bekannt  geworden,  und  im  A^erkehr 
mit  diesem  entspross  allmählig  seine  Neigung  zur  Ma¬ 
lerei.  Der  endgültige  Übergang  zu  dieser  Kunst  wurde 
ihm  noch  durch  mehrere  Erfalirungen  erleichtert,  die  er 
in  seiner  praktischen  Thätigkeit  als  Musiker  gemacht 
hatte.  Wenn  er  öft’entlicli  auftrat,  überfiel  ihn  eine 
solche  Befangenheit,  dass  ihm  die  beabsichtigte,  Imrrekte 
Interpi'etation  der  Tonstücke  unmöglich  wurde,  und 
dazu  kam  noch  die  Überzeugung,  dass  seine  technischen 
Fertigkeiten  nicht  ausreichten,  um  ihm  die  erträumte 
glänzende  Zukunft  eines  Musikvirtuosen  zu  sichern. 
Seine  schüchterne,  nach  innen  gekehrte  Natur  war  mehr 
für  das  Schaffen  im  stillen  Kämmerlein  geeignet,  und 
diese  von  dem  irritirenden  Einfluss  der  lauten  Öffent¬ 
lichkeit  unabhängige  Tliätigkeit  glaubte  er  in  der  Mal¬ 
kunst  zu  finden.  Anstatt  aber  ein  regelmäßiges  Studium 
auf  der  Akademie  oder  in  einem  Maleratelier  zu  beginnen, 
wandte  sich  Heffner  in  seiner  Hilflosigkeit  und  Un¬ 
befangenheit  direkt  an  die  Quelle.  Er  zeichnete  auf 
eigene  Hand  von  früh  bis  spät  im  Freien  nach  der 
Natur;  auch  im  Winter  saß  er  stundenlang  im  Freien 
bei  seiner  Arbeit,  bis  sein  Körper  unterlag  und  ihn  der 
Typhus  auf  das  Krankenlager  warf.  Seine  kräftige 
Konstitution  siegte,  und  was  er  damals  mit  Schmerzen 
errang,  ist  später  seiner  Kunst  zu  Gute  gekommen. 
In  der  dieser  Charakteristik  beigegebenen  Heliogravüre, 
einer  AAJnterlandschaft  mit  einem  breiten  Flusse,  und  in 
dem  Kirchhofsbilde  „Requiescant  in  pace“  (S.  109)  erkennen 
wir  die  Nachklänge  jener  lebensgefährlichen  Natur¬ 
studien  zur  Winterszeit. 


KARL  HEFFNER 


107 


Als  Heffner  eiiigeseheii  hatte,  dass  er  nach  dem 
Zeiclmen  auch  das  Malen  lernen  müsste,  wandte  er  sich 
an  einen  Münchener  Landschaftsmaler  der  alten  Schule, 
J.  N.  Ott,  der  alles  hergah,  was  er  einem  Schüler  bieten 
konnte,  und  noch  kurz  vor  seinem  Tode  für  Heftiier 
sorgte,  indem  er  ihn  dem  Landschaftsmaler  Adolf  Stade¬ 
mann  empfahl.  Dieser  hat  in  der  Geschichte  der  Münchener 
Malerei  eine  hervorragendere  Rolle  gespielt,  als  seine 
eigenen  Schöpfungen  vermuten  lassen.  Frühzeitig  drückten 
ihn  Familiensorgen.  Er  musste  rasch  malen,  um  schnell 
Geld  zu  verdienen,  und  in  der  Tretmühle  der  täglichen 
Not  malte  er  für  die  Kunsthändler  unablässig  Winter¬ 
landschaften  und  Mondscheinbilder.  Seine  poetische  Seele 
war  nur  selten  dabei;  er  löste  sie  aber  gern  im  Ver¬ 
kehr  mit  jungen  Künstlern  aus,  und  wer  jemals  mit 
ihm  in  Berührung  gekommen  ist,  redet  nur  mit  Begeis¬ 
terung  und  rührender  Dankbarkeit  von  dem  trefflichen 
Manne,  der  in  der  Unterweisung  junger  Leute  das  Glück 
fand,  das  ihm  das  eigene  Schaifen  versagt  hatte.  Er 
steht  auf  der  Linie  zwischen  Schleich  und  Lier  in  der 
Mitte.  Lier  hat  auch  von  ihm  gelernt.  Trotz  seijier 
misslichen  Lage  war  Stademann  ein  wahrhaft  edler 
Künstler,  der  junge  Talente  nach  Kräften  förderte  und 
ihnen  dann  neidlos  die  Erfolge  gönnte,  die  sie  zum  Teil 
durch  seine  Ratschläge  errungen  hatten.  Vor  drei 
Jahren  ist  dieser  wackere  Mann  nach  einem  Leben  voll 
schwerer  Mühsale  gestorben. 

Karl  Heffner  ist  einer  von  denen,  die  offen  bekennen, 
dass  sie  ihm  sehr  viel,  wenigstens  alles  verdanken,  was 
ein  Künstler  von  einem  Lehrer  lernen  kann.  Nächst 
Stademann  hat  dann  noch  Adolf  Lier  Einfluss  auf  Heffner 
geübt.  Lier  hatte  die  französischen  Meister  der  Stim¬ 
mungslandschaft  an  der  Quelle  studirt,  und  seine 
ersten  in  Paris  und  bald  nach  seiner  Rückkehr  gemalten 
Bilder  spiegelten  die  französische  Art,  aber  auf  dem 
Grunde  deutscher  Enipflnduug,  wieder.  Sie  erregten  große 
Bewunderung  und  Begeisterung  unter  den  jungen  Künst¬ 
lern,  zu  denen  auch  Heffner  gehörte.  Aber  er  fühlte 
sich  damals  schon  zu  selbständig,  um  noch  in  ein  Schüler¬ 
verhältnis  zu  Lier  zu  treten.  Doch  besuchte  ihn  dieser 
oft  in  seinem  Atelier  und  unterstützte  ihn  freigebig 
mit  seinen  wertvollen  Ratschlägen.  Zu  Anfang  der  sieb¬ 
ziger  Jahre  machte  Heffner  die  Bekanntschaft  des  eng¬ 
lischen  Kunsthändlers  Thomas  Wallis,  den  seine  Geschäfte 
nach  München  geführt  hatten,  und  damit  trat  ein  Wende¬ 
punkt  nicht  bloß  in  seinem  Leben,  sondern  auch  in 
seiner  Kunst  ein.  Aus  der  Geschäftsverbindung  mit 
Wallis  entwickelte  sich  bald  eine  enge  Freundschaft, 
und  dieser  verdankte  es  Heffner,  dass  er  sich  eine  von 
allen  kommerziellen  Verdrießlichkeiten  unabhängige  Exi¬ 
stenz  und  damit  die  Vorbedingung  zu  freiem,  sorgen¬ 
losem  Schaffen  begründen  konnte.  Auf  Wallis’  Einladung 
reiste  Heffner  nach  England,  und  hier  fand  er,  dank  der 
Empfehlungen  des  in  allen  Kreisen  vornehmer  Sammler 
wohlbekannten  und  gescliätzten  Kunsthändlers,  nicht 


nur  Gelegenheit,  seltene,  vor  fremden  Augen  eifersüchtig 
gehütete  Kuustschätze  zu  studiren,  sondern  sich  auch 
in  die  herrliche  Natur  des  Landes  zu  vertiefen,  was 
ihm  durch  die  weitherzige,  von  jeder  Kleinlichkeit  freie 
englisclie  Gastfreundschaft  ermöglicht  wurde.  Heffner 
ist  ein  begeisterter  Bewunderer  der  englischen  Natur. 
Er  meint,  dass  sie  in  der  Welt  nicht  ihresgleichen  habe, 
und  diese  Begeisterung  spricht  mit  glänzender  Bered¬ 
samkeit  aus  seinen  zahlreichen  englischen  Landschaften, 
von  denen  wir  drei  wiedergeben:  ein  schlichtes  Fluss¬ 
ufermotiv  zur  Zeit,  wo  die  Sonne  mit  den  Morgennebelu 
kämpft,  einen  Blick  auf  Schloss  Windsor,  das  im  Hinter¬ 
gründe  noch  halb  verschleiert  von  dem  Nebeldunst  eines 
heißen  Tages  liegt,  während  der  ruhige,  nur  von  Schwänen 
durchschnittene  Wasserspiegel  in  hundert  Lichtreflexeu 
strahlt,  und  die  in  abendliche  Dämmerung  gehüllte,  nur 
hie  und  da  im  fahlen  Lichte  der  untergeheuden  Sonne 
glänzende,  herbstliclie  Flusslandschaft  nach  ausgiebigem 
Regen. 

Schon  nach  diesen  Bildern  lassen  sich  die  Elemente, 
deren  die  Kunst  Heffner’s  zu  ihrer  freiesten  und  höchsten 
Entfaltung  bedarf,  leicht  zusammenstelleu.  Die  Seele  der 
Landschaft  findet  er  in  einer  ruhigen  Wasserfläche,  die  die 
Stimmung  auschlägt,  das  Echo  aufnimmt  und  dann  in  einer 
unbeschreiblichen  Fülle  von  Modulationen  wiedergiebt. 
Der  Musiker,  der  sich  mit  den  tönenden  und  klingenden 
Instrumenten  nicht  zurecht  finden  konnte,  ist  in  dem 
Maler  wieder  lebendig  geworden.  Bei  aller  Ehrfurcht 
vor  der  strengen  Unterscheidungstheorie  Lessing’s  darf 
man  doch  behaupten,  dass  es  Grenzgebiete  giebt,  auf 
denen  sich  Musik  und  Malerei  begegnen,  dass  gewisse 
Tonschwingungen,  die  der  Mensch  durch  das  Ohr  auf¬ 
nimmt,  in  seiner  Seele  die  gleichen  Empfindungen  und 
dann  daraus  entbunden  dieselben  ästhetischen  Eindrücke 
hervorrufen,  wie  die  nicht  minder  feinen  Tönungen  des 
malerischen  Kolorits,  die  sich  der  Netzhaut  des  Auges 
einprägen. 

Die  englische  Landschaft  allein  liätte  vielleicht  den 
Grundzug  in  Heff'ner’s  Kunst  nicht  bestimmt.  Die  Brücke 
zu  ihrem  Verständnis  war  die  Bekanntschaft  mit  den 
Engländern  Turner  und  Constable  und  mit  den  Fran¬ 
zosen  Corot,  Rousseau,  Dupre,  Troyou,  Diaz,  Daubiguy  u.  a., 
deren  Werke  der  junge  Künstler  zum  ersten  Male  in 
englischen  Privatgalerieeu  sah.  Hier  trat  er  an  dieselbe 
Quelle,  aus  der  Lier  geschöpft  hatte,  und  damit  war  ihm 
seine  Bahn  vorgezeichnet.  Ein  Nachahmer  ist  Heffner 
aber  nicht  geworden.  Er  hat  jenen  Meistern  nur  die 
tiefe  Inbrunst  abgesehen,  mit  der  sie  sich  in  die  un¬ 
scheinbarsten  Einzelheiten  der  Natur  versenkten,  mit 
der  sie  darunter  die  Seele  suchten  und,  wenn  sie  sie  ge¬ 
funden  hatten,  die  ihrige  damit  zu  inniger  Zwiesprache 
verbanden.  Während  seines  ersten  Aufenthaltes  in  und 
bei  London  hatte  Heffner  auch  ein  Boot  zur  Verfügung, 
auf  dem  er  weite  Fahrten  auf  der  Themse  machte  und 
bei  beliaglichem  Aufenthalt  nacli  Herzenslust  malte,  was 


14 


•Schloss  Windsor.  Ölgemälde  von  K.  Heffner. 


KARL  HEFFNER. 


109 


ihm  anfstieß.  Die  Engländer  haben  denn  auch  seine 
Begeisterung  für  ihr  Land  mit  Liebe  vergolten.  Fast 
alle  Bilder,  die  Heffner  in  England  gemalt  hat,  sind 
dort  gehliehen  oder  nach  den  englischen  Kolonieen  ge¬ 
wandert,  und  dadurch  ist  es  gekommen,  dass  der  Künstler 
in  Deutschland  erst  verhältnismäßig  spät  bekannt  ge- 


dass  sich .  ohne  solide  Grundlage  wirkliche  Erfolge  in 
England  nicht  erzielen  lassen,  ln  den  letzten  Jahren 
ist  sogar  deutsche  Kunst  im  allgemeinen  in  dem  Grade 
im  Preise  gesunken,  wie  deutsche  Hand-  und  Fahrikarheit 
in  der  Achtung  gestiegen  ist. 

Wegen  seiner  genauen  Kenntnis  des  englischen 


Requiescaut  in  pace.  Ölgeniä.lile  von  K.  Heffner. 


worden  ist.  Mehrere  seiner  Bilder  sind  auch  durch 
englische  und  französische  Radirer  vervielfältigt  und 
dadurch  in  England  populär  geworden,  was  bisher  nur 
wenigen  deutschen  Landschaftsmalern  geglückt  ist.  Wie 
hoch  man  dabei  auch  die  Wirksamkeit  des  geschickten 
„Managers“  anschlagen  mag,  so  ist  doch  so  viel  sicher, 


Kunstbesitzes  war  Heflner,  der  sein  Hanpt(iuartier  in 
München  beibehielt,  1882  von  der  Münchener  Künstler¬ 
genossenschaft  beauftragt  worden,  jene  oben  erwähnte 
Sammlung  für  die  internationale  Kunstausstellung  von 
1883  zusammenzubringeu.  Obwohl  er  diese  Aufgabe 
weit  über  seinen  Auftrag  hinaus  erfüllt  hatte,  fehlte 


HO 


KARL  HEFFNER. 


es  imter  deu  Stimmeu  voller  Auerkeiiiiung-  auch  nicht 
an  solchen,  die  geringschätzig  über  dieses  Unternehmen 
urteilten.  Dafür  entschädigte  ihn  aber  Prinz  Luitpold 
von  Ba3’ern,  der  damals  im  Aufträge  König  Ludwig’s  II. 
die  Ausstellung  erötfnete,  durch  eine  zarte  Aufmerksam¬ 
keit,  indem  er  dem  ehemaligen  Musiker  und  jetzigen 
Musikfreunde  einen  Blüthner’schen  Flügel  sandte.  188G, 
als  Prinz  Luitpold  Regent  des  Königreichs  Bajmrn  ge¬ 
worden  war,  folgte  der  Michaelsorden  erster  Klasse. 

Bis  1883  hatte  Heft'ner  die  Motive  zu  seinen  Land¬ 
schaften  nur  aus  der  bayerischen  Heimat,  aus  England 
und  Holland  geschöpft.  Im  Winter  dieses  Jahres  machte 
er  seine,  erste  Reise  nach  Italien,  wo  er  sich  in  Rom 
niederließ  und  bald  in  dessen  näherer  Umgebung  eine 
solche  Fülle  von  Motiven  fand,  die  seinem  künstlerischen 
Emptinden  entsprachen,  dass  er  bis  1888  jeden  Winter 
dorthin  zurückkehrte.  Die  ausgetretenen  Pfade  italie¬ 
nischer,  speciell  römischer  Landschaftsraalerei  mied  er. 
Wenn  man  von  dem  großen  Bilde  einer  römischen 
Wasserleitung  absieht,  das  in  die  Nationalgalerie  von 
Sydney  gekommen  ist,  so  hat  er  in  Rom  nur  Studien 
gemacht,  die  nicht  bloß  in  ihrer  koloristischen  Behand¬ 
lung,  sondern  auch  in  ihren  Stoffen  etwas  durchaus 
Neues  boten.  Ein  glücklicher  Zufall  hatte  ihn  nämlich 
auf  ein  Terrain  geführt,  das  vor  ihm  noch  keines  mit 
einem  Skizzenbuche  bewaffneten  Malers  Fuß  betreten 
hatte,  in  jenen  wenig  besuchten  Teil  der  Carapagna, 
der  sich  von  Rom  westwärts  bis  nach  Ostia  erstreckt. 
Die  Isola  sacra,  das  von  den  beiden  Tiberarmen  an  der 
Mündung  des  Stromes  gebildete  Alluvium,  die  Umgebung 
des  Badeortes  Fiumicino  und  die  Via  Cassia,  die  „Macchie“ 
von  Ostia,  jenes  sumi)fige,  mit  dichtem  Gestrüpp  be¬ 
wachsene  Gelände,  in  dem  zahlreiche  Büffelherden  hausen, 
und  die  Ruinen  der  antiken  Stadt  mit  ihren  hochragenden 
Säulenriesen,  —  das  waren  die  Studienplätze,  auf  welchen 
Heffnei'  mit  rastlosem  Fleiß  seine  Skizzen  machte. 
Der  Spätherbst  und  der  Winter  waren  die  Jahreszeiten, 
die  seinen  durch  das  Studium  der  französischen  Gro߬ 
meister  des  Paysage  intime  geschärften  Augen  am  meisten 
zusagten.  Die  Campagna  im  bunten  Frühlingskleide  oder 
in  sommerlicher  Glut  bei  dem  berühmten  „ewig  blauen“ 
Himmel  zu  malen,  überließ  er  den  Schönfärbern.  Ihm 
genügte  es  schon,  wenn  er  mit  den  beiden  Grundfarben 
Braun  und  Grau  operiren  konnte.  Wie  unendlich  lang 
war  für  ihn  die  Skala  von  Tönen,  die  er  ihnen  zu  ent¬ 
locken  vermochte!  Wenn  man  sonst  ein  Recht  hat,  die 
Schönheit  der  italienischen  Natur  erhaben,  aber  seelen¬ 
los  zu  nennen,  so  war  hier  ein  nordischer  Künstler  ge¬ 
kommen,  der  dennoch  die  Seele  fand,  aber  nur,  wenn 
diese  Natur  gleichsam  im  Witwenschleier  trauerte.  Erst 
nach  ihm  sind  einige  neuere  Italiener  dieselben  Wege 
gewandelt,  indem  sie  ebenfalls  statt  der  üblichen,  bis 
zum  Überdruss  abgeleierten  Veduten  in  der  heimischen 
Natur  die  Stimmung  fanden  und  ihr  damit  gewisser¬ 
maßen  die  Zunge  lösten.  Einen  Blick  auf  die  Ruinen 


von  Ostia  hat  Heffner  zweimal  in  großem  Maßstabe  ge¬ 
malt.  Das  eine  dieser  Bilder  ist  in  die  Nationalgalerie 
zu  Melbourne  gekommen,  —  wenn  wir  nicht  irren,  das¬ 
selbe,  das  der  Radirung  Unger’s  zu  Grunde  liegt,  — 
das  andere  in  die  Leighton-Gallery  zu  Milwaukee.  Ein 
drittes  aus  der  Reihe  der  Ostiabilder  giebt  eine  unserer 
Abbildungen  (S.  112)  wieder,  eine  Partie  von  der  Land¬ 
straße,  die  bald  hinter  San  Paolo  fuori  le  Mura  an  den 
Tiher  herantritt  und  diesen  dann  in  dichter  Nähe  bis 
nach  Ostia  begleitet. 

Manche  dieser  Ostiabilder  Heffner’s,  besonders  solche, 
auf  denen  sich  das  fahle  Licht  der  von  Nebeln  oder 
grauen  Wolken  verhüllten  Sonne  in  Sumpflachen  spiegelt, 
rufen  uns  Theodor  Rousseau’s  berühmtes  Meisterwerk  im 
Louvre  „La  niare“  lebendig  in  die  Erinnerung.  Aber 
Heffner’s  Zusammenhang  mit  diesem  seinem  höchsten  Vor¬ 
bilde  war  damals  nur  noch  ein  äußerlicher,  der  sich  auf 
gewisse  gemeinsame  Eigenheiten  der  Pinselführung  er¬ 
streckt.  Im  übrigen  war  Heffner  schon  völlig  frei  ge¬ 
worden,  und  ganz  und  gar  bracli  seine  Persönlichkeit 
durcli,  als  er  im  Jahre  1880  seinen  Wohnsitz  in  Florenz 
nahm,  in  der  Absicht,  sich  dort  gänzlich  niederzulassen, 
—  so  mächtig  hatte  ihn ,  trotz  seiner  Jugendliebe  für 
England,  der  unentrinnbare  Zauber  Italiens  gepackt.  In 
einer  großen  Villa  am  Viale  de’  Colli  mit  einem  prächtigen 
Garten  alten  Bestandes  richtete  er  sich  häuslich  ein  und 
mit  durstigen  Blicken  sog  er  die  herrlichen  Bilder  in  sich, 
die  sich  ihm  täglich  darboten.  Wer  jemals  auf  dem 
Piazzale  Michelangelo  gestanden  und  seine  entzückten 
Augen  im  weiten  Rund  über  die  mit  Villen,  Dörfern 
und  Städtchen  besetzten  Höhenzüge  hat  schweifen  lassen, 
der  wird  empfinden,  was  diese  Fülle  der  Gesichter 
einem  Maler  bedeutet.  Als  Heffner  freilich  die  ersten 
Bilder,  die  er  in  Florenz  gemalt  hatte,  zur  Ausstellung 
brachte,  wirkten  sie  so  fremdartig  auf  die  individuelle 
Anschauung  Vieler,  dass  sie  daran  das  nordische  Auge 
und  die  nordische  Empfindung  tadeln  zu  müssen  glaubten. 
Aber  Heffner  hatte  auch  hier  nur  gegeben,  was  im  Wesen 
seiner  Kunst  liegt.  Er  war  dem  Alltäglichen  und 
Konventionellen  aus  dem  Wege  gegangen  und  hatte  die 
Reize  der  Blumenstadt  zumeist  nur  im  Winter  und  im 
Vorfrühling  geschildert,  wo  die  mit  rosigen  Blüten  be¬ 
deckten,  aber  noch  fröstelnden  Obstbäume  sich  in  an¬ 
geschwollenen  oder  über  die  Ufer  getretenen  Kanälen,  in 
Wasserlachen  und  Tümpeln  spiegeln.  Ich  muss  bekennen, 
dass  diese  florentinischen  Bilder  Heffner’s,  als  ich  sie 
zuerst  sah,  auch  auf  mich  fremdartig  wirkten.  Als  ich 
dann  aber  später  auf  dem  Piazzale  Michelangelo  selbst 
einen  Gewittersturm  erlebte,  der  mit  frühlingsfrischer 
Kraft  über  das  Thal  hinwegbrauste  und  die  lieblichen 
Höhenzüge  mit  Fetzen  zerrissenen  Gewölks  krönte,  da 
ging  mir  die  Wahrheit  der  Heffher’schen  Bilder  wie  eine 
plötzliche  Offenbarung  auf.  Wer  sich  länger  in  die 
Eigenart  der  landschaftlichen  Umgebung  von  Florenz 
eiugelebt  hat,  wird  diese  Wahrheit  sofort  empfunden 


Kiiglische  Lanilsdiat't.  i »Igeiniilile  von  K.  IIf.I'FNEH. 


KAKL  HEFFNEll. 


'  12 


iirl;_‘ii.  \\’iv'  vor  zwei  Jalirzelinteii  iii  England,  war 
Heffner's  TLätigkcit  auch  hier  eine  rezeptive  und  eine 
ii'odnktive.  Er  empfand  schnell,  dass  ein  Künstler  das 
I  i'Utigf  Florenz  erst  verstehen  und  mit  richtigen  Angen 
ai'^ehen  leriii ,  wenn  er  sich  zuvor  mit  Inbrunst  in  die 
'jiüfii  ^■ergangenheit  der  Stadt  und  in  das  „liebevolle 
intimo  Schaffen"  der  alten  fiorentinischen  Meister  ver- 
si-nki  hat.  „Ward  jemals  bessere  Kunst  ausgeübt?'‘ 
Das  ist  die  Frage,  die  sich  nach  längerem  Aufenthalt 
i)i  Florenz,  wie  vielen  andern,  auch  Heffner  aufdrängte. 
Nach  seinen  persönlichen  Eekenntnissen  und  nach  den 
lühlern,  die  e)‘  in  Florenz  gemalt  hat,  gehört  auch 
lleft'ner  zu  der  Zahl  derer,  die  nicht  in  Eom.  sondern  in 
Florenz  und  seimu-  herlun,  männlichen  Kunst  die  liochste 
Krattäutleinng  des  italienischen  Kunstgeistes  verehren. 
Es  war  eben  das  W'ahi-e  und  Echte,  das  ihn  in  dieser 
Kunst  anzog.  Es  war  wieder  einmal  Etwas,  das  nach 
seinem  Lieblingsworte  „der  Mühe  wei't  war“,  und  ob- 
W(dil  ihm  hier  eines  seiner  Lebenselemente,  die  weite 
^Vasser^läche,  fehlte,  vei'senkte  er  sich  mit  leidenschaft¬ 
licher  Eegeistei’ung  in  diese  Natur,  die  im  April  und 
Mai  so  wunderbar  lieblich,  im  Spätherbst  und  Winter 
so  todesti’aurig,  so  tragisch  sein  kann,  dass  man  begreift, 
wie  Michelangelo  aus  ihr  die  Eingebung  zu  seinen  Titanen 


schöpfen  konnte,  ln  den  Sommermonaten  suchte  Heffner 
seine  alten  Studienplätze  in  England,  Holland  und  Belgien 
auf.  Auch  was  er  unterwegs  sah,  hielt  er  gelegentlich  fest, 
darunter  auch  einige  Schweizerlandschaften,  deren  Ver¬ 
ständnis  ihm  aber  noch  nicht  aufgegangen  ist.  Es  kann 
noch  kommen.  Denn  ei'  hat  uns  im  Laufe  seines  Schaffens 
schon  oft  mit  neuen  Entdeckungen  überrascht.  Im  .Jahre 
1SÜ4  hat  e]‘  auch  seinen  Wohnsitz  in  Florenz  aufge¬ 
geben  und  hat  sich  dafür  in  Elbflorenz  niedergelassen. 
Dort  hat  er  sich  ein  prächtiges,  mit  seltenen  Kunst¬ 
schätzen  geschmücktes  Heim  erbaut.  Ob  er  noch  lange 
in  diesem  Hause,  einer  Stätte  edler  Gastlichkeit,  in  der 
neben  der  Malerei  immer  noch  die  alte  Liebe  des  Meisters, 
die  Musik,  die  Heri'schaft  führt,  sesshaft  bleiben  wird, 
scheint  mir  zweifelhaft.  Schon  ist  der  Wandejtrieb 
wieder  in  ihm  mächtig  geworden,  das  Zigeunertum 
des  echten  Künstlers,  das  ilin  drängt,  die  lästigen 
Fesseln  des  Hausbesitzes  abzustreifen  und  in  die  Welt 
zu  ziehen.  „Sie  ist  so  scliön“,  schrieb  er  mir  in  einem 
B)'iefe,  „und  wie  wenig  sieht  das  einzelne  Individuum, 
Mensch  genannt,  von  ihr.“  Wir  rufen:  Glück  auf 
zur  Heise!  Denn  wir  wissen,  dass  das,  was  Heffner 
davon  für  sich  und  uns  mitbriiigt,  wirklich  „der  Mühe 
wert“  sein  wird. 


Momlaufgarig  (Straße  uaeli  Ostia).  Ölgemälde  von  K. 


CHARLES  DANA  GIBSON’S  ZEICHNUNGEN. 

VON  WILHELM  SCHÖLERMANN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


iriKLICH  ei'freiilielie  Überraselningen 
legt  lins  die  heutige  Kuiust  nicht  alle 
Tage  auf  den  Präsentirteller.  Noch  sel¬ 
tener  solche,  die  nicht  nur  heim  ersten 
Anblick  zu  berücken,  sondern  ein  tieferes 
Interesse  anzuregen  und  dauernd  zu 
fesseln  vermögen.  Heute,  wo  jedes  neue  Geniechen 
und  Talentlein  auch  alsbald  seinen  Panegyriker  findet, 
ist  es  ein  doppelt  naheliegendes,  dringendes  Bedürfnis, 
die  Spreu  vom  Weizen  zu  sichten. 

Zu  den  Überraschungen  jüngeren  Datums,  zu  denen 
man  gerne  und  mehrmals  zurückkehrt,  gehören  die 
„Drawings“  by  Charles  Dana  Gibson,  eine  in  querem, 
großen  Alburaformat  herausgegebene  Folge  von  Zeich¬ 
nungen  teils  heiteren,  teils  ernsten  Inhalts,  die  in  zwei 
Weltteilen  gleichzeitig  erschienen  sind.') 

Auf  dem  Umschlag  ist  eine  Frauengestalt  abgebildet. 
(s.S.  113.)  Frisch,  kräftig  und  doch  dabei  pikant,  geschmack¬ 
voll  in  einem  hellen,  bequemen  Strandkostüm,  den  Strohhut 
in  der  Hand,  das  Haar  keck  und  kraus  im  Winde  flatternd, 
so  steht  sie  da.  Eine  Deutsche  ist  das  nicht,  auch  keine 
Französin,  keine  Engländerin.  Es  muss  eine  Ameri¬ 
kanerin  sein.  Die  eigentümliche  Mischung  von  Natur 
und  Kultur  verrät  die  „neue  Welt“,  das  Bild  dieses 
Weibes  ist  die  unter  günstigen  äußeren  Bedingungen 
emporgewachsene  Blüte  eines  stolzen  und  seiner  Macht 
bewussten  Staatswesens.  Es  giebt  Frauenkenner,  denen 
die  Amerikanerin  als  die  Krone  der  Schöpfung  gilt.  Mögen 
sie  Recht  oder  Unrecht  haben;  wer  Gibson’s  Gestalten 
sieht,  fängt  an,  das  begreiflich  zu  finden.  Wie  dieses 
Mädchen  dahergeht,  eine  volle,  eigene  Persönlichkeit 
und  dennoch  von  allen  Grazien  umflattert,  in  reich- 
liclien,  aber  nicht  weichlichen  Verhältnissen  aufgewachsen 
früh  daran  gewöhnt,  selbständig  zu  denken,  die  Ar¬ 
beit  zu  respektiren,  sich  dem  Manne  ebenbürtig  an 
die  Seite  zu  stellen,  so  ist  sie  das  Weib  des  neuen 
regime,  das  Weib  der  Zukunft,  das  Weil),  das  lächeln 
würde,  wenn  man  ihr  sagte:  „Er  soll  dein  Herr  sein!“ 

1)  R.  S.  Russell  &  Son,  publishers,  New  York,  und 
London,  John  Lane. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  II.  5. 


15 


114 


CHARLES  DANA  GIBSON’S  ZEICHNUNGEN. 


Der  Scliilderung  dieser  Gattung  von  amerikanisclien 
Franen  nud  Mädchen,  nnd  zwar  vornehmlich  der  be¬ 
sitzenden  Klassen,  der  „npper  ten“,  ist  Gibson’s  Werk 
in  der  Hauptsache  gewidmet.  Sie  bildet  den  breiten, 
kulturhistorisch  fesselnden  Hiiitergnuid  seiner  künst¬ 
lerischen  Arbeit.  Wie  so,  das  will  ich  in  Nachfolgen¬ 
dem  zu  deuten  versuchen. 

Gleich  das  erste  Blatt,  ..dedicated  to  a  little 
American  girl“,  zeigt  die  t'harakteristik  des  hei'aii- 
wachsenden  Mädchens,  halb  Kind  und  schon  ganz  „Dame“, 
die  manchmal  etwas  störende ,  in  diesem  Falle  aller¬ 
liebste,  Frühreife  amerikanischer  Kinder.  „Precocious“ 
ist  der  amerikanische  terminus  technicus  ihres  Wesens. 
So  ein  klein  wenig  „precocious“  steht  sie  da,  die 
Fingerspitzen  vorn  leicht  ineinander  gelegt,  bereit,  auf 
jede  Frage  gleich  Antwort  zu  geben,  nach  Allem  zu 
fragen  und  Auskunft  zu  verlangen.  Sie  kann  unter 
Umständen  ein  Plagegeist  und  Kobold  werden  „the  little 
American  girl“,  aber  aus  diesem  Kobold  wird  sich  die 
selbständige  Weltliürgeriu  entwickeln,  die  teilnelimen 
muss  an  Vielem,  was  ihr  bisher  vorenthalten  gewesen, 
die  nicht  mehr  in  verdummender  Haussklaverei,  im 
Kindergebären,  Ernähren,  Erziehen  und  Verziehen  allein 
aufgehen  will.  Alier  das  Streben  nach  Emanzipation, 
nach  neuen  Machtsphären  der  Bethätigung,  hat,  auf  dem 
missverstandenen  Wege  dazu,  eine  furchtbare  Gefahr 
für  die  amerikanische  Frau  nach  sich  gezogen:  die 
Spekulation  auf  die  „vorteilhafte  Partie“  im  weitesten 
Sinne,  die  Geld-  und  „Veruunftheirat“!  Und  dieses 
,, sociale  Elend“,  nicht  der  Proletarier  sondern  der  be¬ 
sitzenden  Klassen,  das  hat  Charles  Gibson’s  beobachten¬ 
der  Künstlerblick  herausgegriffen  und  in  allen  möglichen 
Situationen  durchgeführt,  die  sich  teils  zu  feiner  Ironie, 
teils  beinahe  zu  erschütternder  Tragik  erheben.  Da¬ 
zwischen  schieben  sieh  hin  und  wieder  Zeichnungen 
politisch -satirischen  Inhalts  ein,  die,  mit  ihren  vielen 
Anspielungen  und  grotesken  Übei'treibuugen,  Wahl- 
kampfscenen  und  dergleichen  wohl  nur  den  Amerikanern 
ganz  verständlich  sein  dürften.  Sie  mögen  deshalb 
hier  nur  kurz  erwähnt  sein. 

ln  den  Beziehungen  zwischen  den  Geschlechtern 
schlägt  Gibson  einen  heute  fast  ungekannten  und  daher 
neu  wirkenden,  thatsächlich  aber,  in  seiner  vornehmen 
Natürlichkeit,  fast  antiken  Ton  an.  Er  nimmt  es  ge¬ 
waltig  ernst  mit  der  vielgerühmten,  aber  nicht  immer 
ganz  waschechten  Freiheit  der  Amerikaner.  Da  dürfte 
er  wohl  auch  ein  Advokat  der  ,, freien  Liebe“  sein? 
Dieses  weniger.  Denn  er  stellt  der  tiefen  Unmoralität 
der  Verstandesheirat  und  ehelichen  Spekulation  nirgends 
die  zügellose  Libertinage  entgegen.  Man  braucht  das 
Buch  nicht  vor  der  höheren  Tochter  zu  verstecken; 
es  trägt  den  Stempel  der  Gesundheit.  Alles,  was  er 
zeichnet,  ist  ebenso  weit  entfernt  von  gallischer  Fri¬ 
volität  wie  von  englischer  Prüderie.  Nicht  freie  Liebe, 
sondern  „Freiheit  in  der  Liebe“  ist  die  Moral,  die  als 


Grundton,  ohne  zu  predigen,  aus  seinen  sämtlichen 
Schilderungen  herausklingt.  Hinter  seiner  Ironie  liegt 
ein  tiefes  Mitleid  mit  allen  denen,  welche  Jugend  und 
Schönheit  der  Seele  und  des  Leibes  weltlichen  Rück¬ 
sichten,  wirkliches  Glück  irgend  einem  Scheinglück 
zum  Opfer  bringen;  eine  zornige  Verachtung  aller  der¬ 
jenigen,  die  sich  freiwillig  zur  Sklaverei  erniedrigen, 
und  eine  Entschuldigung  nicht  nur,  sondern  eine  Hoch¬ 
achtung  für  die,  welche  mutig  und  klug  genug  sind, 
in  natürlicher  Neigung  und  schuldloser  Sinnenfreudigkeit 
der  Stimme  der  Liebe  zu  folgen.  Das  klingt  wohl 
etwas  romantisch,  idealistisch  und  —  unanierikaniscli; 
also  gehört  Gibson  natürlich  nicht  zu  den  „bösen  Natu¬ 
ralisten?“  Dass  die  leidigen  Schlagworte,  das  ewige 
Rubriziren  und  unter  den  Hut  bringen  doch  den  natür¬ 
lichen  frischen  Eindruck  nicht  immer  gleich  trüben 
möchte!  Wie  jede  wirkliche  Kunst,  ist  auch  die  Gibson’s 
eine  Mischung,  eine  organische  Verbindung.  Die  Gegen¬ 
stände  seiner  Schilderungen,  die  er  mitten  aus  der 
lebendigen  Gegenwart  herausholt,  sind  realistisch,  der 
innere  Gehalt  ist  idealistisch,  —  um  bei  den  Ausdrücken 
zu  bleiben.  Und  gerade  in  dieser  Mischung  liegt  ihr 
Reiz  und  ihre  Bedeutung. 

Aus  dem  Cyklus  „The  American  girl  abroad“ 
seien  zwei  Bilder  herausgegriffen.  Das  erste,  „Some 
features  of  the  matrimonial  market“,  stellt  „Typen  aus 
dem  Heiratsmai-kt“ dar.  Schön  und  voll  undhochgewachsen, 
mit  prachtvollen  nackten  Schultern,  jeder  Zoll  ein  Weib, 
die  zukünftige  Mutter  kräftiger,  freier  Söhne,  so  steht 
das  amerikanische  Mädchen  zwischen  ihren  Anbeterti. 
Drei  Europäer  bemühen  sich  um  ihre  Gunst  und  ihr  — 
Geld.  Aber  wie  sehen  sie  aus,  die  zukünftigen  Väter! 
Links  ein  Franzose,  geschniegelt  und  gebügelt,  mit 
gewichstem  Schnurrbart  und  ungeheurer  Glatze,  ein 
heruntergekommener  Marquis;  rechts  ein  älterer  eng¬ 
lischer  Lord,  hölzern  und  eckig,  mit  lang  herabliängen- 
de)i  Kotelettes,  die  nur  noch  aus  dünnen,  spärlichen 
Haaren  bestehen,  eine  vertrocknete  Kellnerphysiognomie; 
hinter  ihm  ein  dritter  „Aristokrat“,  die  Augen  halb 
zugekniffen,  die  Haltung  blasirt,  den  Kopf  vorgestreckt, 
die  Brust  flach  und  die  Hände  in  den  Taschen,  alle 
Laster  in  den  müden,  spitzen  Zügen,  ein  junger  Greis, 
ein  ausgemergelter  Mikrocephale.  Über  dem  Kleeblatt 
ist,  zu  Häupten  eines  Jeden,  das  Familien  Wappen  mit 
dem  Preise  in  Frs.  oder  £  sterling  angebracht.  Beim 
Anblick  dieser  Freier  hat  sie  in  komischer  Verwunderung 
die  Hände  vorn  zusammengelegt  (bei  den  Gibson’schen 
Frauen  eine  häufig  wiederkehrende  Bewegung)  und  sieht 
mit  einem  halb  verzweifelten,  halb  spöttischen  Blick  die 
drei  „Adelsmenschen“  an,  welche  ihrem  geträumten 
Ideal  anscheinend  doch  so  wenig  entsprechen,  dass  sie 
vielleicht  noch  am  Ende  auf  die  Ehre  der  teuren  Familien¬ 
wappen  verzichtet.  Zutrauen  möchte  man  ihr  das  schon, 
denn  sie  sieht  weder  dumm  noch  unselbständig  aus. 
Wird  sie  sich  noch  rechtzeitig  besinnen?  — 


CHARLES  DANA  GIBSON’S  ZEICHNUNGEN. 


115 


Das  zweite  Bild  führt  denselben  Gedanken  noch  dras¬ 
tischer  aus.  „The  Hopewell-Bonds“  (s.  S.  1 16),  (der  Ausdruck 
bedeutet  hier  so  viel  wie  „die  Aktien  der  guten  Hoff¬ 
nung“).  Es  ist  eine  Parodie  auf  das  Spiel  des  Ring¬ 
werfens.  Mit  fieberhaftem  Eifer  werfen  die  Töchter  der 
„freien  Republik“  mit  den  Ringen  nach  den  Preisen, 
welche  in  einer  Schaubude  hei  Lampionheleuchtung  in 
Reih  und  Glied  aufgestellt  sind.  Die  Preise  bestehen 
aus  Miniaturfigürchen  europäischer  Aristokraten,  mit 
ihren  Wappenschildern  vor  der  Brust,  die  Ringe  sind  — 
Eheringe.  Eins  der  Mädchen  steht  etwas  teilnahmlos 
und  ärgerlich  dabei.  Sie  hat  aufgehört  zu  werfen;  eine 
Menge  Ringe  sind  schon  nebenher  gefallen.  Ist  sie  sich 
plötzlich  der  schmählichen  Komödie  bewusst  geworden? 
Oder  hat  sie  nur  kein  Glück  im  Spiel  gehabt? 

„Amerika’s  Tribute.“  Eine  Parodie  auf  das  Bild 
der  Märtyrer  im  Cirkus  Maximus.  In  der  riesigen  an¬ 
tiken  Arena  sieht  man  eine  Gruppe  junger  Mädchen, 
die  in  verzückter  Schwärmerei  eben  ihr  Schicksal  er¬ 
warten,  das  in  der  Figur  eines  älteren  Löwen  vorn  aus 
der  Tiefe  emporsteigt.  Amor  wendet  sich  ab,  er  kann 
das  greuliche  Schauspiel  nicht  mit  ansehen.  Die  blühen¬ 
den  jungen  Geschöpfe  sind  Töchter  amerikanischer  Millio¬ 
näre,  die  dem  britischen  Löwen  zum  Opfer  gebracht 
werden.  Das  ist  die  umschriebene  Form,  in  welcher 
das  freie  Amerika  dem  allesverschluckenden  britischen 
Reiche  Tribut  zahlt:  seine  Frauen  jagen  nach  dessen 
Wappen,  Titeln  und  Kronen.  Der  alte  Löwe  trägt 
eine  Krone  auf  dem  Kopf.  Ein  seltsamer  Anblick.  Die 
Nachkommen  desselben  Benjamin  Franklin,  der  unter 
den  Hofschranzen  von  Versailles,  einfach  und  selbst¬ 
bewusst,  im  schwarzen  Rock  und  dem  breit  geränderten 
Quakerhut  einherging,  sie  haschen  in  lächerlicher  Eitel¬ 
keit  nach  den  europäischen  Stammbäumen  und  Orden. 
Und  achtet  sie  die  wirkliche  hohe  Aristokratie  ihrer  eben¬ 
bürtig?  Keineswegs.  Nur  die  Abgetakelten,  die  Ver¬ 
krachten,  die  beinahe  Schiffbrüchigen  möchten  sich  ihre 
Wai)pen  aufs  neue  mit  amerikanischen  Dollars  vergolden 
lassen.  Es  liegt  eine  freimütige  Selbstironie  und  gleich¬ 
zeitig  ein  ruhiges  Selbstgefühl  darin,  dass  der  Amerikaner 
sicli  nicht  scheut,  seinen  Landsleuten  mit  dem  Griffel 
in  der  Hand  ihre  Thorheiten  vor  Augen  zu  halten. 
Gibson’s  Griffel  ist  echt  Aristophanisch.  Wie  ergötzlich 
ist  „That  delicious  moment“,  jener  „köstliche  Moment“ 
geschildert,  in  dem  das  erwartungsvolle  amerikanische 
Elternpaar  den  noblen  Schwiegersohn  empfängt,  den  die 
Tochter  sich  aus  Europa  mitgebracht  hat.  Einen  Kopf 
kleiner  als  die  Tochter,  der  letzte  verkrüppelte  Spross 
eines  alten  Geschlechts,  hat  es  in  jeder  Hinsiclit  bei 
ihm  einen  Rest  gesetzt;  und  dieses  von  der  Natur  so 
stiefmütterlich  behandelte,  edle  Männlein  ist  der  Lohn 
für  den  lächerlichen  Ehrgeiz,  in  die  alten  em'oi)äischen 
Familien  hineinheiraten  zu  wollen.  Der  belämmerte  Aus¬ 
druck  aller  Beteiligten  redet  hier  seine  eigene  Sprache; 
es  muss  in  der  That  „a  delicious  moment“  gewesen  sein. 


Einen  angenehmen  Gegensatz  bietet  das  Bild: 
„This  can  happen“.  („Dieses  kann  Vorkommen.“)  Das 
junge  —  und  diesmal  glückliche  —  Paar  kommt  beim 
amerikanischen  Schwiegerpapa  an.  „Er“,  ein  schlanker 
Mann  mit  elastischem  Tritt  und  gesunden  Gliedmaßen, 
„sie“  lehnt  sich  liebend  an  ihn  —  und  der  Papa  fällt  in  die 
Arme  seines  Dieners  vor  Staunen,  dass  der  Engländer 
wirklich  diesmal  kein  so  ganz  „undesirable  article“  ist! 

Aber  nicht  nur  im  europäischen  Heiratsmarkt  findet 
Gibson  Arbeit  für  seine  satirische  Feder.  Mit  packen¬ 
der  Anschaulichkeit  weiß  er  manche  tragikomische 
Situationen  „at  home“  zu  schildern.  Das  „alte  Lied“ 
von  den  bejahrten  reichen  Männern,  die  sich  junge  Frauen 
genommen  haben,  ist  durch  einen  vorlesenden  Philister 
dargestellt,  der  seine  junge  Frau  belehren  und  unter¬ 
halten  will,  indessen  ihre  Gedanken  weit  fort  sind,  bei 
dem  wilden  Steppenjäger,  dem  „cowToy“,  der  über  die 
Prärie  frei  dahinjagen  darf ...  Arm  ist  er,  aber  ihre 
romantische  Sehnsucht  zaubert  in  Gedanken  sein  Bild 
herauf;  man  sieht  ihn  in  feinen  Umrissen  an  der  Thür 
erscheinen,  wie  er  auf  seinem  struppigen  Gaul  über  die 
sturmdurchfegte  Ebene  reitet  ....  Daneben  die  öde 
Trostlosigkeit  der  bloßen  Geld-  und  Vernunftheirat,  all 
das  vergoldete  Elend,  die  Verzweiflung  des  verfehlten 
Lebens,  der  unnatürlichen  Verbindung. 

„HerPunishment“ (Ihre Strafe).  (S.S.  117.)  Eineschöne 
junge  Frau  und  ein  bebrillter,  vertrockneter  Philister  führen 
ihren  Knaben  spaziren.  Er  ist  nicht  unterhaltend,  der 
Junge,  aber  er  hat  einen  sparsamen  Sinn  —  „a  frugal 
mind“,  wie  sein  Vater  —  und  trägt  auch  schon  eine 
Brille;  er  sieht  mürrisch  und  kränklich  aus,  ein  alt¬ 
geborenes  Kind;  er  wird  noch  einmal  ganz  so  verknöchern 
wie  sein  „Alter“.  Ein  Arbeiter  und  seine  drei  Kinder 
starren  respektvoll  die  reichen  Bürger  an.  Im  Hinter¬ 
gründe  geht  ein  Quakerpastor  vorüber.  Vermutlich  hat 
der  das  ungleiche  Paar  salbungsvoll  getraut.  Ehen 
werden  im  Himmel  geschlossen  .  .  . 

Als  Seitenstück:  „Poor  Tom  who  married  the  wrong 
girl.“  In  einem  reich  ausgestatteten  Zimmer  sitzt  ein 
junger  Ehemann  in  eleganter  Gesellschaftstoilette.  Seine 
Züge  sind  nicht  unedel,  doch  ist  er  das  Opfer  seiner 
Verblendung  geworden,  als  er  den  dummen  Streich  machte, 
die  reiche  Erhin  zu  heiraten.  Während  diese  gebieterisch¬ 
unliebenswürdig  dasteht,  hinter  ihr  der  Lakai  und  die 
Zofe,  den  pelzverbrämten  Mantel  zum  Ausfahren  bereit¬ 
haltend,  starrt  er  abwesend  vor  sich  hin.  Seine  Ge¬ 
danken  sind  bei  der  einst  so  thöricht  aufgegebenen 
Geliebten,  die  ihm  immer  wie  ein  Engel  vorkommt,  wenn 
seine  geldstolze,  bessere  Hälfte  gerade  „besonders  unaus¬ 
stehlich“  ist;  und  so  ersclieint  sie  auch  hier,  wie  ein 
guter  Geist  an  der  Seite  seines  Stuhles,  und  legt  freund¬ 
lich  und  wie  beschützend  die  Hand  auf  seinen  Arm  .  .  . 

Ein  ganzes  Gespann  solcher  Missheiraten  ist  unter 
dem  Titel  „His  everlasting  experiments  with  ill-mated 
pairs“  zusammengefasst,  deutsch  „Seine  ewigen  Expeil- 

15* 


ilG 


CHARLES  DANA  GIßSON’S  ZEICHNUNGEN. 


mente  mit  iingleicli  Zusammeiigespaunten“.  Eine  mit 
Liebesgöttern  nnd  Putten  als  Passagieren  besetzte  Kutsche 
wird  von  vier,  in  „evening  di-ess“  gekleideten  Ehepaaren 
mühsam  durch  tiefen  Schnee  gezogen.  Amor,  selbst  auf 
dem  Bock,  hält  die  lange  dünne  Peitsche  und  die  ver¬ 
wickelten  Zügel  und  giebt  sich  Mühe,  die  Geschichte 
vorwärts  zu  bringen,  aber  es  ist  nicht  mehr  möglich. 
Der  Wagen  bleibt  im  Schnee  stecken  und  droht  im 
nächsten  Augenblick  ganz  umzufallen,  trotzdem  die 
Amoretten  redlich  mithelfen.  Einer  ist  bereits,  Kopf 
zu  unterst,  in  den  Schnee  gepurzelt  und  die  kleinen 
Beinchen  zappeln  in  der  Luft.  Das  Paar  der  am  Wagen 


noch  verhältnismäßig  am  besten,  ein  bäuchiger,  älterer 
Herr,  von  stark  gelichtetem  Haar  und  eine  müde,  früh 
verblichene  junge  Frau.  Sie  arbeiten  mit  gutem  Willen, 
ergeben  in  ihr  Geschick,  kommen  aber  immer  mehr  aus¬ 
einander,  statt  vorwärts.  Amor,  dem  es  so  sehr  um 
das  „Paaren“  zu  thun  war,  hat  ganz  die  Liebe  darüber 
vergessen.  So  geht  es  denn,  wie  es  hier  geht.  Oben, 
auf  dem  Verdeck  des  seltsamen  Omnibus,  sitzen  zwei 
Putten  und  halten  sich  traulich  umschlungen,  ganz  un¬ 
bekümmert  um  Schnee  und  Gefahr;  die  werden  erst  auf- 
wachen,  wenn  der  Kasten  wirklich  umschmeißt.  — 

„Love  will  die.'‘  (s.S.  119.)  Sie  glaubten  sich  zu  lieben. 


The  Hopewell  Bonds.  Zeichnung  von  Ch.  D.  Giijson. 


zunächst  Ziehenden  ist  schon  nicht  mehr  im  stände,  sich 
aufrecht  zu  halten:  er  ist,  betrunken,  in  den  Schnee 
zurückgesunken  und  sie  bricht  bei  dem  Anblick  ver¬ 
zweifelt  an  der  Deichsel  zusammen.  Mitleidig  sieht  die 
Frau  des  nächsten  Paares  sich  um,  indessen  ihr  Gemahl 
der  vor  ihm  zunächst  ziehenden  Frau  glühende  Liebes- 
beteuerungen  macht.  Während  diese,  in  dem  von  Angst 
gepeinigten  Bewusstsein  ihrer  Schwäche,  vor  den  Wor¬ 
ten  des  Verführers  schaudernd  sich  die  Ohren  zuhält, 
geht  ihr  Gefährte  indessen,  müde  nnd  gelangweilt,  eine 
Cigarrette  zwischen  den  Lippen,  mit  halb  geschlossenen 
Augen  neben  ihr  her.  Das  vorderste  Paar  hält  sich 


haben  sich  aber  doch  im  Grunde  nicht  verstanden.  Tn  einem 
leidenschaftlichen  Augenblicke  ist  ihnen  das,  wie  ein 
greller  Blitz,  iilötzlich  klar  geworden.  Er,  trotzig  und 
unnachgiebig,  zwirbelt  mit  der  einen  Hand  den  Schnurr¬ 
bart,  eine  Cigarette  zwischen  den  Fingern  der  herab¬ 
hängenden  andern.  Sie  hat  sich  scliluchzend  abgewandt, 
den  Kopf  in  die  Arme  gelegt,  mit  ilu-em  Schmerz  wort¬ 
los  ringend.  Zwischen  beiden  liegt  Amor  auf  einem 
mit  schwerer  schwarzer  Decke  behangenen  Tischchen, 
tot,  so  tot,  dass  nichts  ihn  wieder  auferwecken  kann. 
Der  Wahn  ist  unwiderruflich  zei'stört.  Mit  Rosen  be¬ 
deckt  liegt  der  kleine,  süße  Gott,  aufgebahrt  wie  ein 


CHARLES  DANA  GIBSON’S  ZEICHNUNGEN. 


117 


totes  Kind ,  mit  den  Rosen  aus  der  ersten  Zeit  ihrer 
Liebe  .  .  . 

So  ernst  kann  Gibson  sein,  so  packend  ernst. 
Einen  feinen  sarkastiscli-linmoristischen  Ton  schlägt  er 
aber  am  liebsten  an,  wie  in  „No  respecter  of  a  widow’s 
grief‘.  Etwa  zn  übersetzen  mit:  „Dem  ist  nicht  einmal 
der  Schmerz  der  Witwe  heilig.“  Halb  vorgebeugt  über 
einen  niedrigen  Divan,  kniet  eine  blutjunge,  elegante 
Witwe  im  Trauerkleide.  Sie  blättert  soeben  in  alten 
Briefen  und  kleinen 
billets  doux  herum, 
und  man  sieht  es 
ganz  deutlich  ihren 
halb  verweinten  Au¬ 
gen  an,  dass  sie  in 
wehmütigen  Erin¬ 
nerungen  ge¬ 
schwelgt  hat.  Um 
sie  herum  auf  dem 
Boden  nnd  über  den 
Divan  verstreut  lie¬ 
gen  gepresste  Blu¬ 
men  und  frische, 
ebengepflückte 
Rosen  nebeneinan¬ 
der.  In  der  Hand 
hält  sie  das  feine 
Battisttaschentuch, 
das  sie  gegen  die 
schönen  Augen  ge¬ 
presst  haben  mag, 
während  sie  sich  um¬ 
wendet  ,  erschreckt 
und  doch  gebannt; 
denn  da  auf  dem 
großen  Stuhl  hat 
sich  ein  Gespenst 
häuslich  niederge¬ 
lassen,  ein  kleines 
nichtsnutziges 
Ding:  Amor  in  Per¬ 
son.  Die  Arme  be¬ 
haglich  verschränkt, 
die  kleinen  Flügel 
neckisch  ausgebreitet,  mit  einem  überlegenen  Lächeln, 
nackt  und  siegesgewiss.  Er  scheint  seiner  Sache  von 
vornherein  sicher.  Und  die  Zeit  wird  ihm  Recht  geben: 
es  wird  ihr  nicht  möglich  sein,  diesem  „Gesjienst“  auf 
die  Dauer  zu  widerstehen.  .  . 

Zu  den  besten  und  eigenartigsten  gehören  die 
„Renten  Confessions“.  Zwei  junge,  ehrbare  Mädchen, 
aus  zweifellos  guten  Familien,  knieen  auf  Kissen  links 
und  rechts  gegen  einen  Beichtstuhl.  Amor  selbst  will 
die  Beichte  entgegennehmen.  Die  strengen,  keuschen 
Fräulein  flüstern  leise  nnd  mit  niedergesenktem  Blick. 


Her  Punislimeiit.  Zeiclnmiig  von  CH.  n.  Gibson. 


Amor  war  vielleicht  auf  manches  gefasst,  aber  das  ist 
zu  viel!  Mit  ungeheurem  Entsetzen  hat  er  das  Brevier 
fallen  lassen,  die  Haare  stehen  ihm  zu  Berge,  er  traut 
seinen  Ohren  kaum  und,  um  nicht  weiter  zu  hören, 
stopft  er  sie  sich  krampfhaft  mit  den  Fingern  zu.  Was 
kann  das  nur  so  gar  Fürchterliches  sein,  was  selbst  dem 
Schelm  da  zu  viel  wirdV  Man  sieht’s  den  ehrbaren, 
züchtigen  Damen  wirklich  nicht  an.  — 

Ist  der  Liebesgott  hier  als  Beichtvater  dargestellt,  so 

erscheint  er  manch¬ 
mal  'auch  in  ganz 
anderer  Form,  als 
ultramoderner, 
blasirter  Yankee¬ 
boy,  blass,  schlank 
und  feingebaut,  mit 
selbstgefälligem 
Zug  um  den  Mund. 
Ara  originellsten 
ist  der  hochmütige 
Knirps  in  dem  Bilde 
„A  modern  Daniel“ 
getroffen.  Wie  Da¬ 
niel  in  der  Löwen¬ 
grube  steht  er  da, 
umgeben  von  vier 
verlangenden 
Frauen ,  die  aber 
weit  davon  entfernt 
sind,  ihm  etwas  zu¬ 
leide  zu  thun.  Eine 
steht  und  weint, 
weil'er  sie  gar  nicht 
ansehen  will ,  die 
drei  andern  kreisen 
um  ihn  herum.  Er 
aber  —  schneidet 
sie  alle.  Sie  hoff¬ 
ten  ihn  durch  eine 
schwere  Kugel,  die 
er  an  einer  Kette 
am  Beine  schleppt, 
zu  bezwingen.  Er 
aber  blickt ,  trotz 
der  Fesseln,  so  erhaben  drein,  dass  man  sich  nicht 
wundert,  wenn  die  „Löwinnen“  alle  wider  Willen  sehr 
demütig  um  seine  Gunst  betteln. 

Die  reifere  Frau  mit  ihrem  ganzen  unerklärlichen 
„Charme“  zeigt  wieder  das  Strandbild  „Danger“.  Sie 
wandelt  elastisch  im  feuchten  Seesand  nnd  hinter  ilir 
ein  ahnungsloser  männlicher  „Strandläufer“,  der  sie  noch 
nicht,  durch  einen  Dünenvorsprung  gedeckt,  gesehen  hat. 
Amoretten  haben  sich  in  gestrandeten  Booten  versteckt 
und  tuscheln  sich  geheimnisvoll  etwas  in  die  Ohren; 
sie  wissen,  dass  er  „verloren“  ist,  wenn  er  sie  gesehen 


IIS 


CHARLES  DANA  GTBSON’S  ZEICHNUNGEN. 


hat.  Daher  die  ,.Gefalir‘\  „That  restless  Sea“  ist  eine 
allegorische  Darstellung  von  Amoretten  und  Babys,  die 
sich  in  den  Wellen  alle  miteinander  umschlingen,  über¬ 
einander  purzeln,  sich  küssen,  beißen  und  necken. 

EineEeihe  von  Blättern  sind  in  der  Art  der  Vexirbilder 
gehalten,  so  z.  B.  ..Find  the  wife  of  the  man,  who  is 
telling  the  story“.  Er  erzählt  einen  Witz  in  Gesellschaft, 
natürlich  mit  denselben  alten,  auswendig  gelernten 
Pointen.  Die  schöne  Frau  kennt  das  alles,  hat  es  schon 
unzählige  Male  gehört.  Eire  Gedanken  sind  weitab;  sie 
sehnt  sich,  sie  weiß  selbst  nicht  recht  wonach,  aber 
nach  etwas  Anderem,  Bedeutenderem.  Sie  ist  ihm  geistig 


weichlich.  In  Tuschzeicliuungen  dagegen  bedient  er  sich 
oft  der  malerischen  Flecken-  und  Flächenbehandlung  der 
Franzosen,  beispielsweise  des  Alexandre  Lunois;  mit 
einfachsten  Mitteln  weiß  er  Stoffe  zu  behandeln,  den 
schweren  x\tlas  des  Frauenkleides  von  dem  Tnchrock 
des  Mannes  zu  unterscheiden,  Seide,  Spitzenvolants  oder 
Eüschen  anzndeuteu,  Teppiche,  Decken,  blanke  oder 
duffe  Stiefel,  Haare  u.  s.  w.  Die  Art,  wie  er  durch 
))loße  Tonwerte  in  Schwarz  und  Weiß  farbige  Em¬ 
pfindungen  hervorzurnfen  weiß,  hat  etwas  Bestrickendes. 
Da  liegen  einige  Rosen  neben-  und  übereinander; 
die  eine  ist  hellrot  und  kaum  aufgebrochen;  die 


überlegen,  die  Frau  mit  dem  schönen  Kopf  und  den 
vollen  Armen.  Wo  ist  da  das  Glück?  .  .  . 

Launig  werden  die  Erlebnisse  des  Rentiers  „Gullem“ 
geschildert,  besonders  seine  Abenteuer  in  Paris,  „at  the 
Cafe  Americain“,  at  the  Jardin  de  Paris“.  Some  sidewalk 
types.“  Hier  glaubt  man  einen  Rivalen  von  dem  Zauberer 
in  Momentaufnahmen,  Leonhart  Anders  Zorn  in  Paris, 
vor  sich  zu  haben.  Aber  Gibson’s  Technik  ist  immer 
eigen,  immer  natürlich.  Sie  ändert  sich  je  nach  den  An¬ 
sprüchen  und  Absichten  und  wird  niemals  zur  Schablone, 
zum  Paradestück.  Sie  beherrscht  ihn  nicht,  sondern  er 
bedient  sich  ihrer,  heute  so,  moi’gen  so.  Ihm  stehen  so 
gute  Instrumente  zur  Verfügung,  dass  er  sie  mit  Leichtig¬ 
keit  wechseln  und  das  eine  durch  das  andere  ersetzen  kann. 
Sein  Federstrich  ist  bestimmt  und  niemals  rund  oder 


daneben  ganz  tief  weinrot  und  die  darunter  gelb,  eine 
Gloire  de  Dijon.  Das  fühlt  man  aus  den  wenigen 
andeutenden  Strichen  heraus.  Wie  fein  ist  die  ge¬ 
mischte  Technik  (teils  Ton-,  teils  Strichbehandlung)  in 
dem  vorletzten  Bilde  von  dem  Souper  eines  alten  Jung¬ 
gesellen  („A  bachelor’s  supper“)!  Der  martialisch  aus¬ 
sehende  alte  Herr  stößt  in  Gedanken  mit  einer  „früheren 
Liebe“  an,  und  alle  Frauen  aus  seinem  Leben,  die  bis 
zur  Zeit  der  Krinolinen  und  Chignons  des  zweiten  Kaiser¬ 
reichs  zurückgehen,  scheinen  noch  einmal  in  seiner 
Erinnei'ung  Revue  zu  passiren  und  sich  nach  und  nach 
an  den  Tisch  zu  setzen.  —  Wo  es  angebracht  er¬ 
scheint,  lässt  die  Behandlung,  bei  A^ermeidung  alles 
Neljensächlichen,  unserer  Phantasie  noch  etwas  zu  thun 
übrig.  Wir  dürfen  uns  denken,  was  voi herging  und 


CHARLES  DANA  GIBSON’S  ZEICHNUNGEN. 


119 


was  vielleicht  noch  kommt.  Gihson  hat  oft  eine  Technik 
der  „Suggestion“,  um  mich  „modern“  auszudrücken.  Das 
Milieu  eines  reich  ausgestatteten  Salons,  eines  Künstler- 
Ateliers  (wie  in  dem  Cyklus  von  Zeichnungen,  aus  denen 
wir  sehen,  wie  die  Gesellschaft  sich  in  New  York  unter¬ 
hält  —  oder  langweilt),  einen  Durchblick  aus  dem  Halb- 
licht  einer  Theaterloge  heraus  auf  die  strahlende  Helle 
der  Bühne,  Lampionbeleuchtung,  Regen,  Schnee,  Himmel 
und  Erde,  eine  hölzerne,  öde  Dachkammer,  Kerkermauern, 
oder  die  lauggezogenen,  sandverwehten  Dünen  am  Meer, 
alles  das  ist  im  wesentlichen  so  erfasst,  dass  man  die 
unbedingte  Vorstellung  davon  hat.  Mit  gleicher  Sicher¬ 
heit  sind  Erwachsene  und  Kinder,  Jünglinge  und  Greise, 
Pferde,  Hunde,  Löwen,  Tiger  und  Elefanten  gezeichnet, 
die  Hunde  mit  jener  intimen  Kenntnis  der  einzelnen 
Rassen,  die  bei  den  Engländern  und  Amerikanern  so 
ausgebildet  ist.  Man  darf  Gibson  einen  Tierzeichner 
erster  Qualität  nennen. 

Selbst  der  —  vom  malerischen  Standpunkt  aus  be¬ 
trachtet  • —  monströsen  heutigen  Männertracht  weiß 
Gibson  auf  geschickte  Weise  beizukommen.  Man  sagt, 
sie  sei  besser  geeignet,  Fehler  der  Gestalt  zu  verdecken, 
als  Schönheiten  zum  Ausdruck  zu  verhelfen.  Er  weiß 
auch  das  zu  erreichen.  Seine  Figuren  sind  elegant  und 
sauber,  tragen  stets  reine  Wäsche  und  ihre  Kleider 
sind  vom  neuesten  Schnitt.  Ihre  äußere  Korrektheit 
steht  zuweilen  in  einem  fühlbaren  Kontrast  zu  ihrer 
etwas  defekten  „Innenseite“,  die  sich  in  zweifelhaften 
oder  komischen  Situationen  verrät.  Aber  Gibson  deckt 
manche  Blößen,  manche  wunde  Punkte  seiner  Salon¬ 
menschen,  mit  dem  „Liebesmantel“  des  guten  Geschmacks 
und  der  koi'rekt  sitzenden  Beinkleider  zu.  Dass  allerlei 
Thorheiten  des  konventionellen  guten  Tons,  Verwicke¬ 
lungen  und  Bosheiten  des  Schicksals,  manchmal  Löcher 
in  den  Liebesmantel  reißen,  kann  er  nicht  ändern.  Die 


Welt  ist  nun  einmal  so  und  er  hat  sie  ja  nicht  gemacht. 
Er  erzählt  nur  und  überlässt  uns,  die  Schlüsse  daraus 
selber  zu  ziehen.  Mitten  in  die  elegante  Gesellschaft 
setzt  er  seinen  nackten  Amor,  der  eine  besondere  Vor¬ 
liebe  zu  haben  scheint,  gerade  hier  seine  übermütigen 
Schelmenstücke  spielen  zu  lassen.  Dass  die  Komödie 
dann  zuweilen  einen  etwas  tragischen  Ausgang  nimmt, 
dürfte  ihm  wenig  Kopfzerbrechen  machen.  „Alles  ver¬ 
stehen  heisst  alles  verzeihen“,  so  denkt  auch  Amor, 
wenn  er  überhaupt  —  denkt. 

Zum  Schluss  dann  ein  voller,  starker  und  edler 
Accord:  zwei  sich  im  Kusse  umfassende,  ganz  in  ein¬ 
ander  aufgehende  junge  Menschenkinder.  Das  ewige 
Recht  der  Jugend  auf  Glück  und  Liebe.  Also  die 
tiefe,  gesunde  Moral  der  ganzen  Geschichte  —  ohne 
Predigt.  — 

Gibson  hat  kürzlich  ein  zweites  Heft  in  gleichem 
Format  folgen  lassen,  das  er  „Pictures  of  People“  nennt 
und  dessen  Inhalt  die  Früchte  europäischer  Reiseeindrücke 
in  verschiedenen  Sphären  bildet.  Es  wird  zu  des  Künst¬ 
lers  wachsender  Popularität  beitragen,  doch  steht  es 
nicht  ganz  auf  der  Höhe  des  ersten.  Einige  Typen 
wiederholen  sich  zu  häufig  darin,  und  die  größeren 
Zeichnungen  gehören  zu  den  am  wenigsten  gelungenen. 
Der  begabte  Amerikaner  muss  sich  in  Acht  nehmen,  dass 
der  Künstler  in  ihm  nicht  durch  —  den  Geschäftsmann 
beeinträchtigt  wird!  Es  drohte  ihm  sonst  ein  ähnlicher 
Rückgang  wie  dem  deutschen  Zeichner  C.  W.  Allers. 

Ein  Gleiches  gilt  von  dem  soeben  publizirten  Heft; 
„Vanity  Fair“,  einer  „Nachempfindung“  Gibson’schen 
Geistes,  worauf  wir  nicht  näher  eingehen  möchten.  Nur 
dem  oberflächlichen  Blick  werden  die  Schwächen  des¬ 
selben  entgehen,  die  freilich  oft  geschickt  hinter  einer 
Technik  voll  sprühender  Lichtwirkung  ä  la  Rene  Reinecke 
versteckt  sind. 


DAS  BERLINER  BILDNIS  JOHANN  SEBASTIAN  BACH’S. 

AUT  EINEM  LICIITDllUCK. 


EI  der  Herstellung  einer  Huste  Johann 
Sebastian  Hach’s,  die  der  Tjeipziger  Hild- 
hauer  Carl  Seffner  1895  mit  Hilfe  des 
kurz  zuvor  ausgegrabenen  Schädels  und 
bekannter  Bildnisse  Bach’s  angefertigt 
hat  (vgl.  die  Zeitschr.  f.  bild.  Kunst  1896, 
S.  276  fl'.),  ist  ein  Bildnis  unberücksichtigt  gelassen 
worden:  das  von  Lisiewsk}'  gemalte  in  der  Amalien¬ 
bibliothek  des  Joachimsthal’schen  Gymnasiums  in  Berlin. 
Wir  bringen  von  diesem  Bildnis,  das  bisher  in  weiteren 
Kreisen  wohl  so  gut  wie  unbekannt  gewesen  ist,  in  dem 
vorliegenden  Hefte  eine  gute  Nachbildung  in  Ijiclitdruck. 

Das  Bild  regt  mancherlei  Fragen  an,  auf  die  wir 
keine  befriedigende  Antwort  zu  geben  wissen.  Vielleicht 
können  sie  aber  Andere  geben.  Zunächst:  der  Kopf  unter¬ 
scheidet  sich  auffällig  von  allen  bisher  bekannten  Bild¬ 
nissen  Bach’s.  Einige  besonders  charakteristische  Züge 
finden  sich  zwar  aucli  hier,  so  die  etwas  steilen,  flügel¬ 
artig  oder  yiisilonartig  sich  ausbreitenden  Brauen  und 
die  fleischigen  Augenlider,  überhaupt  das  fleischige  Ge¬ 
sicht  mit  seiner  Unterkehle  und  mit  seinen  scharfen 
E’alten  über  der  Nasenwurzel  und  neben  den  Nasen¬ 
flügeln.  Andere  Gesichtsteile  aber  sind  ganz  anders 
gebildet;  so  sind  z.  B.  die  Augenlider,  die  auf  den 
andern  Bildern  die  Augen  an  beiden  Außenseiten  etwas 
bedecken,  hier  in  gleichmäßig  geschwungenem  Bogen 
gebildet,  so  dass  uns  die  Augen  frei  und  offen  anblicken, 
die  Nase  ist  nicht  so  lang  und  hat  nicht  die  etwas 
hängende  Spitze  wde  sonst,  und  auch  der  Mund,  der 
auf  den  andern  Bildern  breit,  auf  dem  Kütner’schen  Stich 
sogar  breit  bis  zur  Karikatur  erscheint,  ist  hier  schmal 
und  wohlproportionirt.  Man  könnte  fast  auf  den  Ge¬ 
danken  kommen,  das  Bild  stelle  gar  nicht  Johann 
Sebastian  Bach  dar,  und  dieser  Meinung  scheinen  wirk¬ 
lich  im  vorigen  Jahrhundert  Manche  gewesen  zu  sein, 
denn  in  Gerber’s  Lexikon  der  Tonkünstler  (2.  Teil, 
Leipzig,  1792,  Anhang  S.  61)  wird  unter  den  Gemälden 
von  Bildnissen  berühmter  Tonlehrer  und  Tonkünstler  mit 
einer  Bestimmtheit,  die  nichts  zu  wünschen  übrig  lässt, 
verzeichnet:  „Bach  (Carl  Philipp  Emanuel),  in  Öl  ge¬ 
malt  von  Lisiewsky;  befindet  sich  bei  der  von  der 


Prinzessin  Amalie  hinterlassenen  Bibliothek  im  Joachims- 
thaler  Gymnasium  zu  Berlin.“  Dennoch  ist  wohl  nicht 
daran  zu  zweifeln,  dass  das  Bild  wirklich  den  Vater  und 
nicht  den  Sohn  darstellen  soll.  Dafür  spricht  nicht  nur 
das  Notenblatt  auf  dem  Tische,  auf  dem  derselbe  Kanon 
steht  wie  auf  dem  Bilde  der  Leipziger  Thomasschule 
und  auf  dem  Kütner’schen  Stich,  sondern  vor  allem  die 
Inschrift  oben  an  dem  Rahmen  des  Bildes:  Johan 
Sebastian  Bach  |  Der  Teutschen  gröster  Harmonist  I 
geboren  zu  Eisenach  1685  |  gestorben  in  Leipzig  |  1750. 
Diesen  Rahmen  samt  der  Inschrift  soll  das  Bild  schon 
gehabt  haben,  als  es  1787  aus  dem  Nachlass  der  Schwester 
Friedrich’s  des  Großen  in  den  Besitz  des  Joachimsthal- 
schen  Gymnasiums  kam. 

Da  drängt  sich  nun  die  Frage  auf:  Wie  ist  das  Bild 
IJsiewsky’s  entstanden?  und  welchen  AVert  und  welche 
Glaul)wiirdigkeit  hat  es  den  andern  Bildern  gegenüber? 

Das  Bild  trägt  in  der  rechten  Ecke  die  Bezeichnung: 
CER  von  Liszewsky  pinxit  1772.  Es  ist  also  zweiund¬ 
zwanzig  Jahre  nach  Bach’s  Tode  gemalt,  folglich  Kopie. 
Aber  von  welchem  Original? 

Christian  Friedrich  Reinhold  (oder  Reinhard?)  Li¬ 
siewsky  (oder  Liszewsky)  war  1725  in  Berlin  geboren, 
wurde  1752  Hofmaler  in  Dessau  und  1779  Hofmaler  in 
Mecklenburg -Schwerin,  wo  er  am  12.  Jnni  1794  in 
Ludwigslust  starb;  ein  Selbstbildnis  von  ihm  befindet 
sich  im  Museum  in  Schwerin  (vgl.  Fioiüllo,  Geschichte 
der  zeichnenden  Künste  in  Deutschland  3.  Bd.,  S.  322  ff. 
und  Schlie’s  Verzeichnis  des  Schweriner  Museums).  Da 
wäre  es  denn  zunächst  möglich,  dass  er  ein  Bild  kopirt 
oder  benutzt  hätte,  das  er  früher  selbst  nach  dem  Leben 
gemalt  oder  gezeichnet  hatte.  In  Leipzig  ist  Lisiewsky 
gewesen.  Das  Leipziger  Museum  besitzt  von  ihm  ein 
vortreffliches  Bildnis  des  Leipziger  Zeichenlehrers  Zink, 
bezeichnet:  CFK  Lisiewsky  pinxit  1755.  Zink  „sitzt 
in  einem  mit  Pelz  aufgeschlagenen  Schlafrocke  mit  nn- 
bedecktem  silberfärbigen  Haupte  am  Tische,  ))lickt  durch 
die  Brille  seitwärts  nach  dem  in  Gyps  ausgegossenen 
Kopfe  des  antiken  Schleifers  nieder,  welchen  er  auf  blaues 
Papier  entwerfen  will  und  mit  der  ausgestreckten  Linken 
in  ein  vorteilhaftes  Licht  zu  stellen  sucht,  indem  er  schon 


DAS  BERLINER  BILDNIS  JOHANN  SEBASTIAN  BACH’S. 


121 


mit  der  Rechten  die  Reißfeder  ansetzt“.  ')  Lisiewsky 
könnte  aber  schon  früher,  in  den  vierziger  Jaliren,  in 
Leipzig  gewesen  sein  nnd  damals  Racli  nach  dem  Lehen 
gemalt  oder  gezeichnet  haben.  Lisiewsky's  Vater,  Georg 
Lisiewsky,  der  ebenfalls  Porträtmaler  gewesen  war,  war 
174G  in  Berlin  gestorben.  Nach  dessen  Tode  könnte 
der  Sohn  nach  Leipzig  gegangen  und  dort  vielleicht  sogar 
Zink’s  Schüler  geworden  sein. 

Aber  das  alles  sind  ja  haltlose  Vermutungen.  Es 
ist  ebenso  gut  möglich,  dass  er,  als  ihm  die  Prinzessin 
Amalie  1772  den  Auftrag  gab,  ihr  ein  Bildnis  Bach’s 
zu  malen,  sich  anderswoher  eine  A^orlage  verschafft  hat, 
ja  das  ist  sogar  das  wahrscheinlichere.  Das  Bildnis 
Bach’s  von  Lisiewsky  leidet  an  einer  gewissen  Unfreiheit. 
AVährend  sein  Bildnis  Zink’s  eine  prächtige  Studie  voll 
AVahrheit  und  Leben  ist,  macht  das  Bild  Bach’s  den  Ein¬ 
druck  des  „Komponirten“  im  eigentlichen  Sinne  des 
AVortes.  Die  Richtung  des  Kopfes  widerspricht  auffällig 
der  Haltung  des  liumpfes  und  des  auf  dem  Tische  ruhen¬ 
den  linken  Armes ;  man  braucht  nur  abAvechselnd  die  obere 
und  die  untere  Hälfte  des  Bildes  zuzudecken:  unwillkür¬ 
lich  wird  man  sich  die  zugedeckte  Hälfte  in  derselben 
Haltung  ergänzen  wie  die  offen  gelassene.  Und  wie  kommt 
die  Staatsperücke  zu  dem  Schlafpelz?  Das  Ganze  sieht 
aus,  als  ob  der  Maler  auf  einen  Körper,  den  er  nach 
einem  lebenden  Modell  gemalt  hatte  (man  beachte  die 
Hand,  die  Schreibfeder,  das  Pelzwerk,  das  nachlässig 
geknüpfte  rote  Halstuch  —  lauter  ganz  vortreff  lich  und 
naturwahr  gemalte  Dinge!)  einen  aus  einem  Bilde  ent¬ 
lehnten  Kopf  gesetzt  hätte.  AA^elches  war  aber  dann 
dieses  Bild?  AVer  besaß  es? 

Hier  liegt  nun  eine  Vermutung  nahe.  Vor  kurzem  ist 
in  der  Tagespresse  die  Aufmerksamkeit  auf  ein  Bildnis 
Bacli’s  gelenkt  worden,  das  Bach’s  Schüler  Johann  Philipp 
Kirnberger  in  Berlin  besaß.  Zelter,  der  es  oft  gesehen  hatte, 
erwähnt  es  in  einem  Brief  an  Goethe  aus  dem  Januar  1829 
(Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Zelter  Bd.5,  S.  163)  und 
ei'zählt  dabei  eine  Anekdote,  wie  ein  Leipziger  Handels- 


1)  A^gl.  nieiue  Quellen  zur  Geschichte  Leipzig.s  Bd.  1, 
S.  XII. 


mann  Kirnbergei'  Itesucht  habe,  dabei  über  das  Bild 
unpassende  Bemerkungen  gemaclit  habe  und  von  Kii'ii- 
berger  zur  Thür  hinaus  gejagt  worden  sei.  Auf  diesem 
Bilde  war  Bach,  wenn  sich  Zelter  recht  erinnert  hat, 
„in  einem  prächtigen  Sammetrock“  dargestellt.  Q  Der 
passt  zu  der  Perücke.  Kirnberger  war  der  Kapell¬ 
meister  der  Prinzessin  Amalie.  1776  ließ  sie  sich  auch 
dessen  Bildnis  von  Lisiewsky  malen,  dies  natürlich  nach 
dem  Imben.  Es  befindet  sich  ebenfalls  in  der  Amalien¬ 
bibliothek.  Es  ist  also  sehr  walirscheinlich,  dass  Lisiewsky 
das  in  Kirnberger’s  Besitz  befindliche  Bildnis  Bach’s 
benutzt  hat.  AVo  es  nach  Kii'nberger’s  Tode  hiugekommen 
ist,  ist  gänzlich  unbekannt.  Sollte  es  am  Ende  gar  das- 
sellte  Bild  sein,  das  zu  Ende  des  vorigen  .Jahrhunderts 
in  dem  Besitz  des  Erfurter  Organisten  Kittel  auftaucht, 
und  das  jetzt  wohl  endgültig  für  verloren  gelten  muss? 
Der  „prächtige  Sammetrock“  würde  dazu  stimmen,  denn 
auf  dem  Erfurter  Bilde  war  Bach  im  „Staatskleide“  ge¬ 
malt.  Freilich  soll  Kittel  sein  Bild  aus  dem  Nachlass 
der  Herzogin  Friederike  von  AVeißenfels  gehabt  haben, 
die  1775  gestorljen  war;  aber  sicher  ist  die  Nachricht 
nicht.  AVären  das  Kittel’sclie  Bild  und  das  Kirnberger’sche 
zwei  verschiedene,  so  hätten  wir  den  Verlust  zweier 
Originalbildnisse  Bach’s  zu  beklagen,  die  einst  von 
ihren  Besitzern  wie  Kleinodien  geliütet  worden  sind! 

Ob  es  Ijesonders  zu  bedauern  sei,  dass  Seffuer  Ijei 
der  Anfertigung  seiner  Büste  das  Berliner  Bild  niclit 
benutzt  hat,  wer  möchte  das  behaupten!  So  lange  wir 
über  die  Entstellung  des  Berliner  Bildes  völlig  im 
Dunkeln  sind,  so  lange  wir  nicht  wissen,  welche  Vorlage 
Lisiewsky  benutzt  hat,  so  lange  werden  wir  wohl  geneigt 
sein,  auf  die  übereinstimmenden  Züge  aller  drei  erhal¬ 
tenen  Bilder  mehr  Gewicht  zu  legen  als  auf  die  ab¬ 
weichenden  des  Berliner  Bildes. 

Leipzig.  G.  WUSTMANN. 


1)  Ganz  echt  ist  die  Anekdote  nicht,  die  Zelter  erzählt. 
AA’^enn  er  dem  Leipziger  Handelsmann  die  AVorte  in  den 
Mund  legt:  ,,Da  haben  Hie  ja  anch  unsern  Kantor  Bach  hängen ; 
den  haben  wir  anch  in  Imipzig  auf  der  'rhoinasschule“  —  so 
flnnkert  er.  Das  Bibi  der  Thomasschnle  ist  erst  seit  1809  in 
dem  Besitz  der  , Schule.  Kirnberger  alier  starb  1782. 


Zeitsdirilt  Ilu-  bildeiiile  Knust.  N.  F.  VIII.  H.  5. 


10 


EIN  DEUTSCHES  KÜNSTLERLEBEN.') 

MIT  ABßlLDUNNEIN. 


IE  bestellen  aufrichtig,  dass  uns  gegenüher 
von  Autdbidgraidiieen  im  Allgemeinen, 
und  Vdii  s(dchen  aus  Künstlerfedern  im 
Besduderen,  die  richtige  Begeisterung  zu¬ 
weilen  versagt.  Selbsthiographie  lieißt 
in  solchen  Fällen  meistens  Selbstverherr¬ 
lichung.  Um  so  größer  ist  unsere  Überraschung  und 
Befriedigung  beim  Bnrchblättern  des  vorliegenden  Werkes 
gewesen.  Eine  empfängliche  einfache  Künstlernatui’ 
schildert  ihren  normalen  Entwicklungsgang  ohne  jedes 
Aufbausehen  und  Effekthaschen  in  der  richtigen  Eniptin- 
dung,  dass  das  Hauptinteresse  weniger  in  der  eigenen 
Persönlichkeit  als  in  dem  politisch  und  social  bedeutenden 
Eahmen  liegt,  innerhalb  dessen  das  Leben  des  Künstlers 
sich  abspielt. 

Friedrich  Wasmann’s  Dasein  war  von  einer  doppelten 
Morgenröte  beschienen.  Er  erlebte  das  Erwachen  des 
nationaleii  und  das  des  künstlej'ischen  Bewusstseins  der 
deutschen  Nation.  Seine  Kindheit  fällt  in  die  Zeit  der 
Napoleonischen  Herrschaft,  ln  Hamburg,  wo  er  als  Sohn 
eines  finnzoseidiassenden  Kaufmannes  geboren  war,  erlebte 
er  schon  als  kleinei'  Knabe  alle  Schrecken  der  Fremd¬ 
herrschaft. 

Der  Vater  muss  fliehen;  die  Mutter  zieht  sich  mit 
den  Kindern  in  einen  kleinen  Oi’t  der  Viodande  zurück, 
wo  ein  Verwandter  von  ihr,  ein  protestantische]’  Geist¬ 
licher,  den  kleinen  Friedrich  mit  seinen  eigenen  und 
mehreren  ihm  anvertrauten  fremden  Kindern  in  liebevolle 
jiädagogisclie  Leitung  und  Oblmt  nimmt.  Aber  auch 
dieses  sonst  so  stille  Paradies  sollte  nicht  vom  Kriegs¬ 
geschrei  vei'schont  bleiben.  Nachdem  Tettenborn  den 
tollkühnen  Sti’eich  zur  Befreiung  Hamburgs  ausgeführt 
hatte,  der  ihm  den  unsterblichen  Namen  tete  bornee  ein¬ 
getragen  hat,  rückten  Franzosen  gegen  das  Dorf  und 
drohten  es  in  Brand  zu  stecken,  weil  angeblich  Bauern 
auf  sie  geschossen  hätten.  Dem  sprachenkundigen  liebens- 
wüi’digen  Pastor  gelang  es,  den  wutsclmaubenden  Offizier 
mittels  sanfter  Worte  und  guter  Weine  so  vollständig 
zu  beschäftigen,  dass  dieser  nach  Verlauf  einer  Stunde 
in  bester  Laune  schied. 

1)  Friedrich,  Wasmann.  Ein  deutsches  Künstterleben, 
von  ihm  selbst  geschildert,  llerausgegeben  von  Bernt  Qrm- 
■volt.  München,  F.  Brackmann.  189(J.  11  und  18G  S.  4“. 


'Während  der  jetzt  folgenden  Schul-Periode  tritt  bei 
E'i'iedi'ich  \Vasmann  noch  keine  besondei'e  künstlei'ische 
Begabung  zu  Tage;  hingegen  macht  sich  eine  ausge- 
si)rochene  Neigung  zu  religiösen  und  sittlichei]  Grübeleien 
:xn  ihm  bemerkbar.  Die  Vermutung  lag  nahe,  er  würde 
sich  dem  Studium  dei’  Philoso[>hie  zuwenden.  Aber  durch 
einen  ihm  befreundeten  Arzt  lässt  er  sich  für  die  Medizin 
bestimmen,  betreibt  seine  Studien  mit  Eifer  und  Selbst- 
verläugnung,  aber  der  unterdessen  aus  England  zurück- 
gekehi'te  Vater  findet  die  Lehrzeit  zu  kostspielig,  und  so 
stand  E’riedrich  Wasmann  wieder  der  Verlegenheit  einei’ 
Berufswahl  gegenüber.  Diese  wurde  durch  einen  er¬ 
fahrenen  Zeichenlehrer  gelöst,  der  ihn,  weil  ei’  von  jehei' 
eine  leichte  Hand  zum  Zeichnen  hatte,  für  ein  Talent 
erklärte.  Dai-aufhin  genoss  ei’  einen  kurzen  Zeichen¬ 
unterricht  in  Hamburg  und  wurde  Itald  nach  Dresden 
auf  die  Akademie  geschickt.  Auf  dei’  Eeise  dahin  er¬ 
blickte  der  Jüngling,  wie  er  sagt,  „mit  Schauer  und 
Entzücken  den  ersten  Berg  und  gar  den  Blocksbei’g!“ 

In  Dresden  war  Friedrich  Wasmann  zuerst  Schüler 
des  Nazareners  Näke  und  zeichnete  mit  jugendlicher  Be- 
geistei'ung  im  Mengs’schen  Antikenkabinett.  Das  Kopiren 
gelingt  ihm  nicht  recht,  aber  er  macht  gelungene  Ver¬ 
suche  von  Porträtskizzen,  die  ihm  großes  Lol)  des  da¬ 
maligen  Direktors  W^inkler  eintrugen  und  wohl  aus¬ 
schlaggebend  für  seine  Wahl  des  Porti’ätfaches  gewesen 
sein  mögen. 

Nach  Verlauf  eines  .lahi’es  nach  Hambui’g  zui’ück- 
gekehrt,  gelang  es  ihm,  ein  mehljähriges  Stipendium  zum 
Besuch  der  Münchener  Akademie  zu  erlangen,  und  so 
sind  wir  in  der  Lage,  unseren  jungen  Freund  nach  der 
schönen  Stadt  an  der  Isar  zu  begleiten  Er  sagt:  „Auf 
diesem  katlndischen  Boden  wuchs,  von  der  Sonne  der 
Fürstengunst  beschienen,  die  junge  Kunstpflanzung  unter 
Cornelius  empor.  Die  Großmut  des  Königs  Ludwig  1. 
ermöglichte  es  diesem  Meister,  den  alten  Sauerteig  aus¬ 
zufegen,  mit  gleichgesinnten  Männern  eine  neue,  auf 
Wahrheit  und  Geschichte  gegründete  Richtung  anzubahnen 
und  die  Adlerschwingen  des  Genius  zu  entfalten!“ 

Weiterhin  sagt  Wasmann:  „Es  war  damals  ein 
freudiges  Wirken  und  Zusammenleben  in  München,  wie 
noch  keine  Zeit  es  gesehen,  der  fröhliche  Jugendrausch 
eines  jungen  Deutschlands,  das,  von  den  Banden  fremder 


EIN  DEUTSCHES  KÜNSTLERLEBEN. 


]23 


Zwiiig-lieiTSchaft  befreit,  Brotneid,  Eitelkeit  und  Vornelnn- 
thiierei  ausscliloß.“ 

Außer  den  Schulen  von  Cornelius  und  des  Professors 
Sclilotthauer  war  es  liesonders  Heinrich  Hess,  der  es  ver¬ 
stand,  junge  Leute,  ohne  lange  akademische  Übergänge,  zu 
tüchtigen  Künstlern  heranzubilden.  Wasmann  war  es 


inklusive  der  Wohnung  seine  Zeche  nicht  tilter  30  Kr. 
hinaufschrauben,  und  fand  nebenbei  reiciiliche  Nahrung 
füi’  sein  Talent  in  der  herrlichen  Natur  sowohl  als  auch 
in  dem  prächtigen  Menschenschlag  ringsum.  Einmal 
fragt  ihn  ein  Passeier  Bauer:  „Meister,  wenn  es  mi  ai)- 
kunterfekten  wollet,  einen  Gulden  thet  i  schon  spedii'en.“ 


Porträtstudie  von  Fu.  Wasmann. 


gelungen,  trotz  fortwälirender  Kränkliclikeit.  ein  gi’ößei'es 
Genrebild  nach  seiner  Vaterstadt  zu  senden  und  dadurch 
die  Fortsetzung  seines  Stipendiums  zu  erreiclien.  Voi-- 
erst  begab  er  sich  zur  Wiederherstellung  seiner  Gesund¬ 
heit  nach  Meran,  zu  Fuß  natürlich,  durch  «lie  von  gro߬ 
artiger  Schönheit  strotzende  Landschaft,  ln  Obermais 
fand  er  gemütliclie  und  billige  Untei’kunft;  er  konnte 


Bei  P.  Beda  Wehei'  in  St.  Martin  hält  ^Vasmann 
sich  oft  auf  und  begegnete  dort  interessanten,  auf  sein 
Gemütsielten  tief  einwirkenden  Persönlichkeiten,  wie 
Görres,  Brentano  u.  a.  m. 

Für  Friedrich  AVasmann  war  dei'  Aufenthalt  in 
Tirol,  wie  wir  später  sehen,  nicht  nur  der  naturgemäße 
geographische  Übergang  nach  Pom,  wie  für  unzählige 

16* 


124 


EIN  DEUTSCHES  KUNSTLERLEBEN. 


Künstler  vor  und  nach  ilini.  Einstweilen  begleiten  wir 
ihn  üljcr  das  liebliche  Eiva,  l’erona,  Mantua,  Modena, 
wo  er  vor  dem  rolizeikoniniissär  erst  seine  politische 
Unschuld  dokumeutiren  muss,  iiach  der  schönen  Stadt  am 
Arno.  Hier  findet  er  diesellien  blauen  Tücher  vor  den 
Bildern,  die  auch  heute  die  Verzweiflung  des  Reisenden 
in  der  Karwoche  sind.  Eine  'Woche  später  betritt  er  als 
Kijähriger  junger  Mensch  den  Boden  der  ewigen  Stadt. 

Horace  ^'ernet  war  damals  Direktor  der  Ecole  de 
Rome;  viele  Franzosen  studiilen  da,  einige  waren  auch 
Hausgenossen  'Wasmann’s.  Als  letzterer  einmal  einen 
dei-selhen  darauf  aufmerksam  machte,  dTircli  das  viele 
Leinöl,  das  er  gebrauche,  würden  die  Bilder  stark  nach¬ 
dunkeln,  ei'widerte  jener  stolz,  das  sei  ihm  ganz  gleich, 
die  Nadiwelt  kümmere  ihn  nicht.  Ein  andeier  fand  im 
Gegensatz  zu  Goethe’s  Ijehrling,  der  da  klagte,  dass  die 
Kunst  zu  lang  für  dieses  kurze  Leben  sei:  dass  er  füi' 
diese  armselige  Kunst,  die  sich  in 
drei  Tagen  lernen  lasse,  viel  zu  viel 
\’crstand  und  Talent  besitze.  Dieser 
Cliauvinismus  behagte  unserm  Künst¬ 
ler  nidit,  er  schloss  sich  niehi-  an 
die  Deutschen,  die  Hambiii'ger,  Dänen 
etc.  an,  trat  in  Beziehungen  zu  dem 
Tiroler  Landsdiaftsmalei’  Koch,  zu 
Tlioi-waldsen  und  zu  dem  lierühmten 
Meister  Overbeck,  dem  eine  wichtige 
Rolle  in  Whismann’s  Seelenleben  Vor¬ 
behalten  war. 

^'ier  Jahre  römischen  Aufent¬ 
haltes  waren  bald  verflossen.  Untei' 

Studien,  Ausflügen,  Karnevalstaumel 
und  ernstem  ^'erkehr  mit  Kunst  und 
Künstlern  war  eine  Saat  gereift,  die 
W’asmann  unbewusst  aus  dem  kalten 
Norden  mitgebracht  hatte.  Was  war  es,  das  den  Jüng¬ 
ling  beim  Anblidc  der  Kirchen,  Kruzifixe  und  Heiligen¬ 
bilder  auf  der  Landstraße  im  Mainthal  mit  Andadit  ei- 
füllte,  was  erfasste  ihn  so  gewaltig  liei  den  Tönen  von 
Mozart’s  Eeipiiem  in  der  Kii'die  zu  Dresden  —  was 
machte  ihm  München  mit  seinem  WAihrauchduft  so  lieb 
—  was  Lässt  es  ihn  als  einen  Mangel  empfinden,  dass 
ei-  den  Gruß  eines  Tii'oler  Bauern  „Gelolit  sei  Jesus 
Christus“  nicht  zu  erwidern  weiß?  Von  den  tausend 
Stimmen,  die  in  Rom  ihn  zur  Kirche  rufen,  gar  nicht 
zu  reden;  er  war  prädestinirt  zum  Katholicismus,  und 
der  aufmeilcsame  Leser  wird  gai'  nicht  ei’staunt  sein, 
ihn  eines  Tages  ganz  jilötzlich  zu  Meister  Overbeck,  mit 
dem  Entschluss,  ülmrzutreten,  eilen  zu  sehen.  Sofort 
Ijeginnt  dej'  Unterricht,  liald  folgt  das  Abschwören  der 
Irrlehre,  und  kurze  Zeit  darauf  führt  Overbeck  als  Pate 
ilin  zur  Firmung,  Zugleich  nähert  sich  aber  auch  das 
iStipemlium  seinem  Ende  —  die  letzte  Stunde  für  Rom 
hat  geschlagen,  vom  Ponte  molle  winkt  er  der  Stadt  des 


Heils  den  letzten  Abschiedsgruss  zu  und  wandert  über 
Assisi,  l'eiugia  und  alle  die  herrlichen  Stätten  der  Kunst, 
die  den  Weg  nach  Deutschland  so  schwer  machen,  zum 
zweiten  JMal  nach  München.  Hier  kommt  er  todkrank 
an,  wii'd  sofort  in’s  Krankeidiaus  gebracht,  wo  die  charak¬ 
teristische  Gestalt  des  Mediziuali'ates  Ringseis,  mit  dem 
historischen,  schief  sitzenden  roten  Käppchen  an  sein  Bett 
tritt  und  ilin  mit  energischen  Mitteln  erlblgi-eich  dem 
Leben  zurückgiel)t. 

Müncheji  Avar  zu  jenei'  Zeit  in  seiner  Glanzepoche. 
Cornelius  malte  an  dem  .lüngsten  Gericht,  Kaulliach  hatte 
die  Hunnenschlacht  liegonnen,  Moilz  von  Schwind  betrat 
seine  duftige  Märchenlaufbahn,  dei'  Philosopli  Schelling 
hielt  M)rlesungen,  Guido  Göi'ies  und  Clemens  Brimtano, 
dei'  gelehrte  Orientalist  und  Exeget  Dümkai)itulai'  Fjled- 
i'ich  'W indischmann  gehöi'ten  zu  den  Freunden  unseres 
Künstlers. 

Aber  all  das  konnte  Wasmann 
nicht  lialten.  Seine  Gesundheit  ge¬ 
dieh  nicht  in  dem  kalten  Klima,  auch 
dei'  Erwei'b  ging  matt  und  lii'achte 
ihn  in  Konflikt  mit  seinen  Bestrebun¬ 
gen.  So  wendet  er  seine  Schritte 
denn  wieder  nach  Süd-Ti)'(d,  findet 
doi’t  sympathische  Aufnahme,  Bestel- 
liuigen  im  Porti'ätfach  kommen  un¬ 
ausgesetzt,  —  er  ist  ein  gemachter 
jMann! 

Nachdem  großen  Brand  iiiHam- 
Imrg  fühlt  'Wasmann  den  lebhaften 
Wunsch,  ^L^tel•stadt  und  Familie 
wiedei'zusehen.  Er  verlobt  sich  dort 
und  führt  seine  Braut  nach  man¬ 
chen  konfessionellen  Hindernissen 
doch  glücklich  nach  dem  schönen 
Meran,  lliei'  fließt  sein  Leiten  mihig  dahin,  ln  Hai'- 
monie  mit  seinem  Inneren,  liefriedigt  von  seinen  äus- 
sei'en  Verhältnissen,  treu  seiner  Kunst  und  seinem 
Glaulien,  bescliließt  ei'  seine  Aufzeichnungen  im  62. 
Lebensjahr  mit  der  Bitte  an  den  Leser  „um  ein 
Vaterunser,  damit  ich  bei  Gott  Gnade  und  Vei'gebung 
der  Sünden  finden  möge“.  —  Es  wäre  grausam,  ilim 
das  zu  verweigern. 

Als  Künstler  war  Friediicli  Wasmann,  der  hier 
zum  ersten  Mal  aus  dem  Dunkel  der  Vergessenheit 
hervortiitt,  keine  besonders  gottbegnadete  Natur.  Phan¬ 
tasie  und  Gestaltungskraft  wird  man  in  den  Abliildun- 
gen  des  besprochenen  Gedenkbuches  vergeblich  suchen. 
Dagegen  spricht  aus  den  Bildnissen,  von  denen  wir 
eine  Probe  geben,  eine  gewisse  Schlichtheit  der  Auf¬ 
fassung,  die  uns  angenehm  berührt.  Und  dieselbe  Natur¬ 
wahrheit  und  Unmittelbarkeit  besitzen  auch  die  land¬ 
schaftlichen  Zeichnungen  und  Skizzen.  Die  schönste 
darunter  ist  der  Blick  vom  Dorf  Tiiul  bei  Meran.  * 


DER  MODERNE  MALER. 

YON  WOLFGA^'G  VON  OETTINGEN. 


KZWEIFELHAFT  steht  fest,  dass  seit 
etwa  zwei  Jalirzeliiiteii  eine  inäclitige 
Bewegung  dnreli  die  Malerei,  insbeson¬ 
dere  auch  durch  die  deutsche,  zieht,  eine 
Bewegung,  die  wie  der  A\'ind  über  Ähren¬ 
feldern  das  Ins  dahin  V'ollgiiltige  ins 
Schwanken  bringt,  gelegentlich  sogar,  gleich  dem  Sturm 
im  Walde,  tiadzige  Stämme  entwurzelt  und  jujigem 
Unteiholze  dadurch  Luft  schafft.  Niemandem,  nicht  ein¬ 
mal  den  bloß  sonntäglichen  Besuchei'n  des  Kunstvereins, 
könnte  entgehen,  dass  von  jenen  seit  der  Mitte  unseres 
Jalnhunderts  herkömmlichen  Historienhildern  im  tfalerie- 
ton,  von  den  Genrebildein  der  siiß-gemtitlichen  Gattung, 
von  den  komiionirten  inid  stilisirten  Landschaften  mit 
romantischen  llochlandsmotiven  sieh  neue,  fremdartige 
Bilder  wie  unter  heftig  hervoi'gestoßenem  Widei'spruche 
absondern;  Gemälde,  die  alles  andere  lieber  sein  wollen 
als  Anschlüsse  an  das  Hergebrachte,  an  das  dem  Gegen¬ 
stände  nach  gemein  Y'erständliche  und  was  die  Farbe  be¬ 
trifft  nach  schlichter  Gewohnheit  des  Sehens  Dui'ch- 
geführte.  YHelmehr  bemühen  sich  diese  neuen  Bilder 
sichtlich,  das  Evangelium  der  „Moderne“  in  die  Malerei 
und  in  das  Y^erständnis  des  Publik  ims  einzuführen,  oder, 
richtiger  gesagt,  sie  verkündigen  dieses  Evangelium  der 
Emancipation  und  beanspruchen,  dass  man  es  und  sie 
(als  seien  sie  schon  was  sie  sein  wollen)  nun  auch  an¬ 
erkenne.  Dafür  fehlt  es  jedoch  uns  Laien  gewöhnlich 
an  Klarheit  über  Art  und  Ziele  dej’  meist  so  heftig 
anftretenden  und  oft  geradezu  herausfordernden  Neu¬ 
linge;  kein  Wunder,  da  diese  mit  fröhlich  naivem  Hin¬ 
weise  auf  die  diigendlichkeit  ihres  Zustandes  in  häutig  ver- 
ändertei-  Gestalt  erscheinen  und  wie  die  Socialdemokraten 
sich  ti'otz  aller  Unfehlbarkeit  ihrer  jeweiligen  Grund¬ 
sätze  von  Zeit  zu  Zeit  „mausern“. 

Da  kann  uns  dann,  als  verständliches  und  will¬ 
kommenes  Zeugnis  aus  jenem  Lager,  ein  soeben  aus- 
gegebenes  Buch  zur  Klärung  und  Belehrung  dienen: 
..Der  Studiengang  des  modernen  Malers.  Ein  Y^ademecum 
für  Studirende  von  Pmil  ScJndfzc-Nimvihtirr/P  ') 

Der  Verfasser  ist  bekanntlich  Maler,  Leiter  einer 
Malerschule  in  München  und  außerdem  Kunstschriftsteller; 
sein  Buch,  in  nicht  eben  strengem  Stile  gehalten,  ist 
also  aus  dem  Vollen,  aus  gründlicher  Erfahiaing  ge¬ 
schöpft  und  wendet  sich,  frisch  und  behaglich,  zwar 
zunächst  an  die  noch  unselbständigen  und  lernbegierigen 

1)  Leij)zig,  YV.  Opct/,.  lS9ü.  —  8'’,  96  S.  mit  22  Ali- 
bildungen. 


unter  den  Kunstgenossen,  mag  jedoch  nicht  minder  füi' 
Dilettanten  und  Laien  zur  Orientiiung  taugen;  es  will 
Eatschläge  für  die  Erziehung  zu  wahrhaft  künstlerischen 
Anschauungen  erteilen,  und  bezeichnet  also,  sei  es  ex- 
plicite,  sei  es  implicite,  was  in  den  Augen  des  modenien 
Malers  als  künstlerisch  gilt.  Ich  könnte  auch  sagen: 
zu  gelten  hat;  denn  ohne  einen  gewissen  Terrorismus 
geht  es  ja  selbst  bei  den  Liebenswürdigsten  unter  den 
Modernen  nicht  ab.  So  lange  jemand  sich  einen  „Mo¬ 
dernen“  nennt,  wandelt  er  überhaupt  auf  dem  Kriegs¬ 
pfade,  und  zwar  nicht  sowohl  gegen  die  Antike  als 
gegen  das  Gestern,  oder,  vielleicht  genauer,  gegen  die 
abzuthuende  Mode  von  gestern;  er  glaubt,  den  minder 
behenden  Fortschiittler  als  ein  Hemmnis  der  auszu¬ 
breitenden  neuen  Idee  bekämpfen  zu  müssen,  und  so 
kämpft  er  sich  denn  getrost  durch,  bis  über  kurz  oder 
lang  ei’  selbst  zum  vieux  jeu  gerechnet  wird  —  eine 
YTrgeltung  der  Nemesis,  die  der  Mensch  nur  selten  be- 
gi'eift  und  doch  gewöhnlich  verdient.  Oder  würde  Spott 
und  YTrgessenheit  ihm  unverdient  zu  Teil,  wenn  er,  ohne 
seinerseits  ein  schlechthin  Allerhöchstes  zu  leisten,  mit 
Hohn  und  Schärfe  die  verfolgt  und  geächtet  hat,  die 
ebenso  wacker  im  Getriebe  ihrer  Zeit  standen  wie  er  es, 
hoffentlich,  in  der  seinigen  that? 

Der  Terrorismus,  der  gegenüber  den  Unmodernen 
und  den  nicht  unbedingt  Modernen  in  dem  Buch  Paul 
Schultze’s  ausgeübt  wird,  gehört  jedoch  keineswegs  zu  den 
brutalen  oder  schlechthin  l)eleidigeuden  Gattungen  dieses 
Kamjifmittels.  Im  Gegenteil.  Mit  vollkommener  Ge¬ 
mütsruhe,  so  ganz  im  Y^orbeigehen,  so  sicher,  als  wäre 
ein  Irrtum  oder  ein  YYTders])ruch  gar  nicht  denkbar,  wird 
abgethan,  was  der  Yui’fasser  für  üljerwnuden  hält:  die 
akademische  Erziehung,  das  Histurienbild,  überhaupt 
jedes  Bild,  das  einen  anekdotenhaften  Voi’gang  gleichsam 
illustrirend  darstellt,  die  italienische  Landschaft,  das 
ähnliche  Porträt  auf  einfachem,  dunklem  Hintergründe  etc. 
Kurzum,  wir  begegnen  hier  einem  Standpunkte,  der 
weder  Angriff  noch  Verteidigung  markirt,  wir  hören 
einen  Lehrer,  dessen  Ideenkreis  sich  mit  dem  der  Secession 
in  München  etwa  deckt,  und  für  den  die  übrige  Mbit 
für  diesmal  nicht  vorhanden  ist.  YVohl  nicht,  weil  er 
sie  missachtete  —  wir  wenigstens  sind  davon  entfernt, 
ihm  eine  solche  Kirchtuimisanschauung  zuzutrauen  — 
aber  wie  um  weitläuffgen,  scheinbar  überflüssigen  Aus¬ 
einandersetzungen  aus  dem  YYT^ge  zu  gehen,  nimmt 
Schnitze  an,  die  Leser  seines  Buches  seien  gleich  ihm 
von  der  Notwendigkeit  übei'zeugt,  die  gesamte,  angeblich 


126 


DER  MODERNE  MALER 


iinbelelirbare  Gegiierscbaft  auf  sicli  beruhen  zu  lassen, 
und  redet  nun,  wie  hinter  geschlossenen  Thüren  und 
natürlich  unter  Ausschluss  der  Laien,  zu  seinen  CTesinnungs- 
genossen  in  der  Kno.spe. 

Da  könnte  zwar  einem  Laien  verdacht  werden,  dass  er 
trotz  dieser  Ausschließung  und  oligleidi  ein  T.aienurteil 
in  modernen  Kuustdingen  neuerdings  gern  für  bedeutungs¬ 
los  erklärt  wird,  ein  Wort  über  das  Künstlerbuch  zu 
sagen  unternimmt.  Wir  halten  jedoch  eine  solche 
l’roskription  des  laiienurteils  weder  für  klug  noch  für 
gerechtfertigt.  Wie  es  eine  durchaus  unhaltbare  Fiktion 
ist,  die  Maler,  wenn  anders  sie  echte  Künstler  sind, 
müssten  ihre  JÜlder  nur  zur  Darstellung  vmi  Farben- 
accorden  ausführen,  so  ist  auch  die  Behauptung  falsch, 
die  Künstler  bildeten  eine  Zunft  für  sich  und  hätten 
sich  schlechterdings  um  nichts  zu  bekümmern  als  um 
ihre  eigensten  Ansichten.  Die  Kunst  ist  keine  Treih- 
haus])flanze.  die  von  Wenigen  für  Wenige  gepflegt  wird: 
wir  Alle  haben  Anspruch  auf  Kunstwerke,  denn  die  Kunst 
gehört  uns  so  gut  wie  den  Künstlern;  wir  wollen,  da 
wir  selber  Künstlerisches  nicht  bilden  können,  uns  von 
den  Künstlern,  als  den  Bevorzugten,  den  Kunstsinn  be¬ 
friedigen,  natürlich  auch,  und  zwar  erst  recht,  ihn  zur 
Reife  erziehen  lassen;  und  eben  deshalb  dürfen  wir  auf 
einen  engen,  brüderlichen  Zusammenhang  mit  den  Künst¬ 
lern  nicht  verzichten.  Wir  dürfen  nie  aufiiören,  sie  zu 
verstehen,  denn  Missverständnisse  bedeuten  ebensoviele 
Verluste  an  Kunstgenuss;  und  wir  müssen  uns  ent¬ 
schieden  hüten,  durch  abweisende  A'orurteile  oder  frivole 
Äußerungen  undurchdachter  Missbilligung  zu  beeinträch¬ 
tigen,  was  sich  vor  uns,  vielleicht  in  überraschender, 
sell)st  fragwürdiger  Gestalt,  als  Fortschritt  in  der  Kunst 
entwickelt; 

Das  gebildete,  d.  h.  geistige  disciplinirte  und  auf 
Grund  von  Kenntnissen  und  geklärten  Überzeugungen 
urteilende  l’ublikum  —  und  es  ist  zahlreicher  und  also 
wesentlicher  als  manche  Künstler,  die  sich  nur  an  den 
Eecensenten  der  Tagesblätter  zu  ereifern  Gelegenheit 
haben,  wohl  denken  mögen  —  das  gebildete  Publikum, 
sage  ich,  hat  diesen  korrekten  Standpunkt  in  der  Regel 
eingehalten  und  gebildeten  wie  ungebildeten  Künstlern 
gegenüber  eine  Hingabe  beobachtet,  die  nur  durch  die 
Grenze  des  gegenseitigen  Verständnisses  bedingt  wurde; 
selbst  diese  Grenze  überschieitet  gelegentlich  das  gute 
Vertrauen  des  kunstfreudigeri  Laien,  der  vielleicht  mit 
Grund  auf  seine  allmählich  zunehmende  Aufklärung 
rechnet.  Dadurch  erwerben  wir  uns  alter  auch  ein  Recht 
auf  eine  entsprechende  Stellung  der  Künstler  zu  uns. 
AVir  wollen  den  Umstand  ganz  aus  dem  Spiele  lassen, 
dass  schließlich  niemand  anders  die  Künstler  ernährt 
und  die  Kunst  fördert,  als  eben  das  Publikum,  daher 
denn  die  Künstler,  ohne  irgend  etwas  von  ihrer  Würde 
oder  ihrer  Freiheit  einzubüßen,  recht  wohl  auch  ihrer¬ 
seits  bestrebt  sein  könnten,  die  Fühlung  mit  dem  Pub¬ 
likum  nicht  einzubüßen;  dagegen  muss  hier  daran 


erinnert  werden,  dass  die  Künstler  nicht  bloß  Techniker, 
sondern  auch  Erfinder,  und  als  solche  nach  allen  Seiten 
hin  reichende,  von  allen  Seiten  her  aufnehmende  Geister 
sind,  und  dass  sie  also  an  dem  vollen,  großen  Zuge  des 
geistigen  Lebens,  das  die  Nation  schafft,  energischen 
Anteil  nehmen  müssen.  Dem  Künstler  sollte  nichts  fern 
und  fremd  bleiben,  was  den  Menschen  angeht;  und  des¬ 
halb  wird  er  nur  mit  Nutzen  sich  Einflüssen  zugänglich 
erhalten,  die  von  den  verschiedenen  anderen  Sphären 
her  in  seine  AVerkstatt,  in  den  Kreis  seiner  Genossen 
dringen. 

Eine  unausgesetzte  AVechselwirkung  dieser  Art  zwi¬ 
schen  Publikum  und  Künstlein  hat  in  idealer  Reinheit 
wohl  niemals  stattgefnnden ,  denn  der  ungebildete  Teil 
des  Publikums  übeidönt  mit  vorlautem,  kränkendem  Urteil 
nur  zu  häufig  den  gebildeten,  und  andererseits  finden 
sich  neben  den  Künstlern  mit  offenen  und  klaren  Köpfen 
auch  solche,  die  schlechterdings  in  Roheit  und  Eigensinn 
verhari-en.  x4ber  man  muss  leider  gestehen,  dass  es  nicht 
zu  allen  Zeiten  so  schlimm  um  die  Einigkeit  bestellt 
war,  wie  in  der  unsrigen. 

Die  Schuld  an  diesem  Übelstande  trägt  ohne  Zweifel 
zum  großen  Teile  die  Kunstschriftstellerei.  AVenn  ehe¬ 
mals  die  Erscheinung  eines  auffallenden  Kunstwerkes 
oder  die  Aufstellung  eines  künstlerischen  Pi'oblems  die 
gesamte  Einwohnerschaft  einer  Stadt  in  Erregung  ver¬ 
setzte  —  man  denke  nur  an  den  Sonett-Regen,  der  sich 
über  die  AVerke  des  Michelangelo  ergoss  oder  an  die 
Metope  des  Sansovino  an  dei-  Bibliotheksecke  zu  A'enedig 
—  so  gab  es  ein  allgemeines,  gewaltsames  Für  und 
AVider,  das  zu  oft  persönlichen,  drastischen  Aussprachen 
führte  und  große  Parteien  im  Atem  erhielt.  Aber  solche 
Bewegungen  wurden  eben  von  der  warmen  Teilnahme 
Aller  und  der  Einzelnen  so  heftig  gesildirt;  es  war  ein 
Austausch,  der  immerhin  zu  Resultaten  verhalf,  auch 
wenn  dabei  viel  Asche  produzirt  wurde.  Heutzutage 
tritt  man  weniger  leidenschaftlich  vor  die  Kunstwerke: 
die  Meisten  kommen  zu  ihnen  ja  leider  „vom  Lesen  der 
Journale“,  ausgerüstet  mit  halben  Erinnerungen  an  das, 
was  sie  dort  zur  Vorbereitung  in  sich  aufnahnien,  und 
daher  angriffslustig  ohne  heiliges  Feuer.  Man  bleibt 
deshalb  nur  zu  oft  von  Herzen  kühl;  und  es  muss  ferner 
eingestauden  werden,  dass  manches,  das  in  den  Tages¬ 
blättern  über  die  Kunst  gedruckt  wird,  ebenso  kühl  ge¬ 
schrieben  wurde:  Eilfertigkeit,  Übersättigung,  Abneigung, 
vor  allem  das  weitverbreitete,  aber  ungerechtfertigte 
Gefühl  einer  gewissen  Sicherheit,  für  seine  Urteile  nicht 
zur  ATrantwortung  gezogen  zu  werden,  mögen  hierbei 
einwirken.  Die  Klärung  ästhetischer  Anschauungen,  die 
durch  das  gedruckte  AVort,  sei  es  durch  Artikel  und 
Gegenartikel,  sei  es  durch  das  uiivei’bundene  Nebeneinander 
entgegengesetzter  Aussprachen,  hervorgebracht  w'ird,  voll¬ 
zieht  sich  also  auf  dem  Geldete  der  ])opulären  Litteratur 
überaus  allmählich  und  stets  scluverfällig;  mit  wenigen 
gesprochenen  AVorten,  die  geschickt  die  Grundbegriffe  be- 


DER,  MODERNE  MALER. 


127 


stimmten,  würde  meistens  viel  melir  erreicht  werden, 
als  durch  Schreiben  und  Lesen. 

Um  so  sorgfältiger  müssen  daher  die,  die  ernsthaft 
und  gewissenhaft  auch  durch  das  gedruckte  Wort  für 
die  Kunst  wirken  wollen,  ihre  Aufgabe  anfassen.  Nichts 
beeinträchtigt  ihren  Ei'folg  mehr  als  die  einseitige  Be¬ 
handlung  von  Fragen,  über  die  noch  lange  nicht  end¬ 
gültig  geurteilt  werden  kann.  Und  in  dieser  Beziehung 
trifft  Schnitze  doch  wohl  der  Vorwurf,  die  Ansichten  der 
Münchener  Secession  und  ihrer  Vorbilder  allzu  bestimmt 
als  die  einzig  diskutablen  hinzustellen  in  einem  Buche, 
das  doch  über  seine  Malerschule  hinauszudringen  be¬ 
stimmt  ist.  Noch  mehr:  die  Hiebe,  die  er  seinen  angeb¬ 
lichen  Gegnern  gelegentlich  verabfolgt,  lassen  sich  oft 
doch  gar  zu  leicht  pariren  und  fallen  auf  ihn  selbst 
zurück!  So  sagt  Schnitze  z.  B.  S.  2:  dass  „es  nicht  die 
Gepflogenheit  akademischer  Lehrer  ist,  sich  intimer  mit 
der  künstlerischen  Heranbildung  ihrer  Zöglinge  zu  be¬ 
fassen,  als  es  ihre  Stellung  vorschreibt“,  und:  „die 
Akadeniieen  lassen  ruhig  zu,  wie  sich  der  ungebildete 
Geschmack  ihrer  Zöglinge  Pseudo-Künstler  zum  Muster 
nimmt“;  S.  5:  es  giebt  Anfänger,  „die  über  die  ganz 
besondere  Gabe  einer  säubern,  mechanischen  Arbeit  ver¬ 
fügen.  Diese  sind  dann  der  Stolz  und  die  Stütze  der 
Antikenklasse,  angestaunt  und  bewundert  von  ihren  Mit¬ 
schülern  und  nicht  selten  auch  von  ihren  Lehrern“. 
S.  7 :  „Ein  Urteil  über  die  Begabung  kann  sich  da  nur 
derjenige  verschaffen,  der  das  Glück  hat,  sich  an  einen 
wirklich  feinfühlenden  Künstler  wenden  zu  können;  an 
Akadeniieen,  wo  die  Sache  geschäftlich  ohne  Interesse 
behandelt  wird,  wird  er  nur  selten  auf  ein  Eingehen 
rechnen  dürfen.“  Zeugen  diese  Sätze,  die  die  schwersten 
Anschuldigungen  gegen  die  Akadeniieen  im  allgemeinen 
enthalten,  nicht  zugleich  von  einer  bedauerlichen  Un¬ 
kenntnis  der  Akadeniieen?  Wie  darf  man  es  wagen, 
auf  Grund  von  Hörensagen  oder,  vielleicht,  von  persön¬ 
lichen  üblen  Erfahrungen  in  dieser  oder  jener  Klasse 
jener  oder  dieser  Akademie,  die  Gewissenhaftigkeit 
und  das  Urteil  zahlreicher  Künstler  zu  verdächtigen,  die 
zunächst  kein  anderes  Odium  auf  sich  haben,  als  dieses, 
dass  sie  angestellt  sind,  innerhalb  eines  festen  Lehr¬ 
planes  zu  wirken?  Gewiss  mag  es  akademische  Lehrer 
geben,  die  in  Gleichgültigkeit  verfallen  und  sich  um  die 
Schüler  so  gut  wie  gar  nicht  kümmern:  solche  Pflicht¬ 
vergessene  werden  die  Nichtachtung  ihrer  Kollegen  schon 
empfinden!  Aber  finden  sich  nicht  auch  unter  den  nicht¬ 
akademischen  Malern  schlechte  Lehrer,  und  sind  nicht 
auch  viele  akademische  Schüler  selbst  daran  schuld,  dass 
der  Lehrer  nicht  näher  auf  sie  eingehen  kann?  Ein 
andei’es,  noch  deutlicheres  Zeichen  von  Voreingenommen¬ 
heit  bringt  uns  S.  11:  da  wird  gesagt,  wer  Künstler 
werden  wolle  und  einige  Mittel  habe,  solle  sich  nicht 
besinnen  „in  der  Kunstmetropole  zu  studiren.  Dies  ist 
für  Deutschland  ohne  alle  Frage  München  .  .  sein  einziger 
Rivale  ist  Berlin“,  in  Berlin  jedoch  ist  zu  viel  Geld, 


daher  eine  größere  künstlerische  Korruption,  in  München 
dagegen  kann  man  neuerdings  sogar  an  der  Akademie 
etwas  lernen.  Dass  München  die  „Kunstmetropole“  sei, 
nennt  Schnitze  eine  Thatsache,  die  zu  beweisen  er  für 
belanglos  halte.  Wir  unsrerseits  wollen  die  durchaus 
phrasenhafte  Bezeichnung  „Kunstmetropole“  nicht  weiter 
auf  ihren  Sinn  untersuchen,  und  nur  fragen,  mit  welchem 
Recht  Städte  wie  Dresden  und  Düsseldorf  in  diesem 
Zusammenhänge  völlig  übergangen,  gar  nicht  genannt 
werden?  Dresden,  wo  an  jeder  Stelle  Männer  wirken, 
die  keine  neue  Idee  von  sich  abweisen  und  alle  Ei'- 
scheinungen  junger  und  jüngster  Kunst  mit  Begeisterung 
aufnehmen!  Düsseldorf,  dessen  Akademie  so  manchen 
Künstler  mit  tüchtigen  Elenientarkenntnissen  und  Grund¬ 
begriffen  nach  München  entlassen  und  manchen  dafür 
von  dorther  übernommen  hat,  der  als  notwendig  empfand, 
der  Haltlosigkeit  seiner  Technik  und  Auffassung  durch 
eine  strammere  Zucht  aufzuhelfen,  das  außerhalb  der 
Akademie  in  der  „Freien  Vereinigung“,  im  „St.  Lucas- 
Klub“,  und  von  so  vielen  anderen  jüngeren  und  älteren 
Künstlern  Kunstwerke  schaffen  sieht,  die  zwar  selten 
durch  Extravaganzen  auffallen,  sich  aber  dafür  duith 
gesunden  künstlerischen  Sinn,  durch  maßvolle  Indivi¬ 
dualität  und  durch  Respekt  vor  der  Natur  auszeichnen. 

Offenbar  gelten  Düsseldorf  und  Dresden  trotz  allem 
nicht  für  hinreichend  „modern“.  Aber  was  soll  nun  der 
„moderne“  Maler  in  München  lernen?  Zunächst  soll  er 
manches  meiden.  Er  darf  weder  Vorlagen  kopiren,  noch 
nach  Gips  zeichnen,  am  wenigsten  nach  Antiken,  deren 
Formvollendung  ihm  nicht  verständlich  sei  und  die  ihm 
keinen  Begriff  von  der  Natur  geben.  Zugestanden,  dass 
diese  Übungen  nicht  zu  übertreiben  sind,  muss  doch 
betont  werden,  dass  bei  dem  recht  jugendlichen  Alter 
der  meisten  Anfänger  —  einem  Alter,  in  dem  sie  auf 
der  Schule  mit  Grammatik  und  Mathematik  disciplinirt 
werden  —  das  solide  Erlernen  elementarer  Technik  sehr 
nützlich  ist,  und  dass  es  bei  dem  Zeichnen  nach  Antiken 
nicht  sowohl  auf  ein  exaktes,  fast  mechanisches  Aus- 
striclieln  ankommt,  als  vielmehr  auf  ein  sicheres,  flottes 
Skizziren,  da  denn  in  den  so  erfassten  Bewegungs¬ 
motiven  die  Antike  ihren  wunderbar  fein,  im  höchsten 
Maße  künstlerisch  entwickelten  Natui-sinn  offenbart. 
Schnitze  verlangt  zwar  auch  eine  völlige  Belierrschung 
des  Zeichnens,  doch  soll  es  nur  nach  der  Natur  betrieben 
werden.  Damit  wird  aber  dem  Lernenden  die  Gelegen¬ 
heit  entzogen,  in  den  Begriff  einer  Formvollendung,  einer 
künstlerischen  Stilisirung  hineinzuwachsen;  ein  Begriff', 
den  die  Modernen  allerdings  gewöhnlich  perhorresciren, 
der  aber  doch  das  Gelieimnis  der  unvergänglichen 
Wirkung  aller  echten  Kunstwerke  ausmacht.  —  Ferner 
soll  der  moderne  Maler  sicli  nicht  mit  Kostümkunde 
jdagen,  denn  Bilder,  zu  denen  man  andere  Kostüme 
braucht  als  solche,  die  man  um  sich  sieht,  „werden“ 
nicht  mehr  gemalt  (auch  Künstlerfeste  „sind  niclit  melir 
zeitgemäß“);  Proportionslehre  ist  überflüssig,  weil  „die 


I2S 


KLEINE  MITTE] LUN GN. 


moderne  Kunst  viel  mehr  auf  das  Individuelle  als  auf 
das  Typische  sieht"  (S.  30);  eingehender  perspektivischer 
Unterricht  ist  für  den  Maler  die  ..unnützeste  Zeitver¬ 
geudung",  denn  „die  gestellten  lebenden  läilder  mit  dem 
konstruirteu  Prospekt  sind  auf  dem  Aussterbeetat",  und 
der  Pall  wird  selten  Vorkommen,  dass  der  Maler  eine 
perspektivische  Konstruktion  zu  machen  hat,  die  er  nicht 
mit  Hilfe  des  Motivsuchers  und  seiner  gesunden  Augen 
ausführen  kann;  kommt  der  Fall  doch  vor,  so  wird  man 
eben  einen  Architekten  um  Hilfe  bitten  (S.  31).  Koin- 
ponirübungen  sind  ..der  schlimmste  Zopf",  weil  manche 
Talente  gerade  für  die  etwa  gestellten  Aufgaben  keinen 
Sinn  liaben  und  also  mit  deren  Hearbeitung  ihre  Zeit 
verlieren  (als  ob  es  nicht  darauf  ankäme,  im  jugend¬ 
lichen  Alter  den  Umkreis  der  Hefähigung  durchaus  aus- 
zuiu'obiren  und  nach  Ki'äften  zu  erweitern).  Hei  dem 
Unterricht  in  Kunst-  und  Litteraturgeschichte  ..kommt 
rein  gar  nichts  heraus“  (S.  32)  u.  s.  w. 

Nach  allen  diesen  Warnungen  sind  wir  ge¬ 
spannt  zu  hören,  was  also  schließlich  zu  tliun  geraten 
wird.  Die  Hatschläge  zeichnen  ganz  anschaulich  die 
Umrisse  des  modernen  Malers.  Er  lernt  nach  der  Natur 
zeichnen,  versucht  aber  danelien  schon  früh,  bildmäßig 
zu  malen.  r»urchaus  muss  er  sich  darüber  klar  werden, 
dass  Malen  nicht  Koloriren  ist,  dass  es  also  nicht  darauf 
ankommt,  eine  Zeichnung  farbig  zu  machen.  Sondern 
sein  Prinziii  ist  die  Auflösung  sämtlicher  Lokaltöne  in 
Valeurs;  dieses  von  Whistler  aufgestellte  Problem  ist 
die  xAufgabe,  die  vou  unserer  Generatiiju  zu  lösen  ist. 
„Für  den  modernen  Maler  giebt  es  keinen  absoluten 
Lokalton,  nur  Stimmungstöne  zeigen  sich  seinem  Auge, 
und  diese  will  er  in  ihrem  farbigen  Accorde  festhalten“ 
(S.  Di).  Damit  er  völlig  verstehen  lernt,  dass  das  Malen 
das  üegenteil  vom  Zeichnen  ist,  soll  er  koloristische 
.Anschauungen  an  „den  neuen  Problemen  der  Landschaft 
und  des  Stilllebens“  lernen  und  sie  „auch  auf  die  Figuren 
übertragen“  (S.  17).  „Es  war  auch  blauer  Dunst,  als 
von  den  xAkademieen  her  der  Glaube  verbreitet  wurde“, 
die  Stoffe  zu  Historienbildern  seien  jetzt  den  modernen 
Verhältnissen  angepasst  (S.  37);  auf  den  dargestellten 
Vorgang  kommt  nichts  an,  „wir  finden  keine  Anekdoten 
mehr“  (S.  39),  und  gemalt  werden  sollen  nur  „Menschen, 
die  sich  bewegen,  wie  sie  es  im  Leben  thun,  sitzen  und 
stehen",  dazu  fromme  Legenden,  Landleben,  Landschaften, 
alles,  was  der  Maler  lebhaft  nachempfindet,  in  der  Sprache 
der  Farben  auszudrücken  den  Drang  hat.  „Das  ver¬ 
geistigte  Kunstwerk  ist  das,  was  sich  die  Modernen  als 
Ziel  gesetzt“  (S.  40). 

Diese  Grundgedanken  werden  dann  weiter  mit  sehr 
vielen  richtigen  Hemerkuugen,  gesunden  Urteilen  und 
praktischen  Ratschlägen,  vielleicht  nicht  ohne  einige 
Übertreibung,  ausgeführt.  Damit  liätten  wir  also  er¬ 
fahren,  was  der  ..moderne  Maler“  erreichen  soll  —  und 
wir  staunen  über  die  Einseitigkeit  der  Forderung!  So 


wie  alle  von  Schnitze  herangezogenen  Hildmotive  in 
Dämmerlicht,  in  Halbdunkel  versetzt  werden  (z.  H. 
S.  46 — 47),  so  sollen  alle  Wirkungen,  vermittels  male¬ 
rischer  Mittel,  sich  lediglich  auf  das  Erregen  unbe¬ 
stimmter  Empfindungen  richten.  Nichts  darf  gemalt  wer¬ 
den,  das  dem  Erzählen  eines  Vorganges,  dem  Heschreiben 
eines  Gegenstandes  gleicht.  Wir  fragen,  au  so  manche 
herrliche  Schöpfungen  der  Kunst  vor  der  Zeit  der  Mo¬ 
dernen  denkend:  warum  denn  eigentlich  nicht?  Die 
zwischen  den  Zeilen  liegende  Antwort  lautet  etwa:  nur 
die  größten  Meister  vermögen  zu  erzählen  und  zugleich 
den  Stoff  so  kraftvoll  malerisch  zu  erfassen,  dass  sie 
Maler  bleiben.  Das  müssen  wir  anerkennen.  .Aber  statt 
nun  zu  verdammen,  was  man,  einseitig  überanstrengt, 
heute  nicht  zu  leisten  vermag,  sollte  man  nicht  lieber 
den  Gesichtskreis  groß  ei  halten  und  auf  allen  nur  mög¬ 
lichen  Wegen  zu  den  Zielen  streben,  die  aus  dem  Kunst¬ 
bedürfnis  aller  Menschen,  der  Laien  und  auch  der 
meisten  Künstler,  heraus,  sich  von  jeher  gesetzt  haben? 
Das  Buch  Schultze’s  giebt  gute  Amskunft  über  ein  enges 
Gebiet,  über  das  Feldgeschrei  einiger  Jahre.  Mögen  wir 
die  Zeit  erleben,  wo  unsere  Maler  den  Anschluss  an  die 
ewig  wesensgleiche,  über  allen  Streit  erhabene,  wahrhaft 
freie  Kunst  wieder  gewinnen! 

*  Blick  vom  Wiirlliclsfailca  nach  der  SL  Thomaskirchc 
in  Slraßhur;!  7.  E.  Originaliadirung  von  Ä.  Kooitge.  Der 
Name  de.s  Künstlers,  mit  dem  wir  unsere  Leser  bekannt 
machen,  ist  bisher  noch  nicht  über  die  engeren  Kreise  seiner 
elsässischen  Heimat  hinausgedrungen.  Lange  Jahre  hindurch 
hat  er,  der  Not  des  Lelrens  gehorchend,  zwischen  einem 
prUiktischen  Dernf  und  seiner  llerzensneiguirg  ringen  müssen, 
bis  es  ihm  endlich  gelungen  ist,  sich  ganz  der  geliebtmi 
Kunst  widmen  zu  dürfen.  Im  Jahre  18G1  zu  Straßlmrg  ge¬ 
boren,  bildete  er  sich  nach  Absolvirung  des  Gymnasiums 
zum  Architekten  aus  und  hatte  bereits  mehrere  Jahre  als 
solcher  theoretisch  und  praktisch  gearbeitet,  als  ilin  eine 
Studienreise  nach  Paris  und  mehr  noch  eine  AVandernng  durch 
Algier,  Tunis,  Ägypten  und  Palästina  zu  der  Erkenntnis 
brachte,  dass  die  Aijuarellmalerei  sein  eigentlicher  Beruf  wäre, 
die  er  nach  seiner  Hückkehr  in  die  Heimat  zunächst  in  An¬ 
sichten  aus  den  an  architektrmischen  Kleinodien  so  reichen 
alten  Städten  des  Eisass  erprobte,  wobei  er  freilich  noch 
nebenher  seine  Thätigkeit  in  seinem  ursjirünglichen  Berufe 
wahrnehmen  musste.  Erst  nach  drei  Jahren  ernster  Arbeit 
durfte  er  es  wagen,  seine  Zukunft  ganz  auf  die  Kunst  zu 
stellen,  und  er  hat  sich  bisher  in  dieser  Zuversicht  nicht  ge¬ 
täuscht  gesehen,  da  seine  Arpiarelle  stets  willige  Käufer 
linden.  Eine  Förderung  in  der  Malerei  fand  er  durch  den 
Maler  Louis  ,Schützenberger  in  Paris,  mit  dem  er  eine  Zeit 
lang  in  dessen  Atelier  in  Scharrachljergheim  i.  E.  zusammen 
arbeitete,  ln  der  Absicht,  seine  Studien  aus  dem  Eisass 
noch  dauerhafter  festzuhalten,  entschloss  er  sich  auch  zur 
Erlernung  der  Radirtechnik ,  in  die  ihn  Th.  Meyer-Basel  in 
München  einführte.  Unser  Blatt,  dem  wir  in  einiger  Zeit 
noch  ein  zweites  folgen  lassen  werden,  zeigt,  mit  welcher 
Freiheit  und  malerischen  Feinheit  er  bereits  die  Nadel  zu  führen 
weiß,  ohne  über  der  koloristischen  Wirkung  die  Bedeutung 
und  die  charakteristische  Eigentündichkeit  des  architek¬ 
tonischen  Grundmotivs  aus  den  Augen  zu  verlieren.  A.  R. 


Herausgeber:  Carl  von  Liitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Aiujusf  Pries  in  Leipzig. 


wmlm 

’i  - 


Das  Kaiser  Wilhelm  -  Denkmal  in  Berlin.  Entwurf  von  R.  Begas.  (Nach  dem  Gipsmodell). 


REINHOLD  BEGAS. 

VON  OTTO  BAI  SC  HO) 

MIT  ABBILDÜNOEN. 


ENN  ein  Künstler  anf  der  Höhe  ange¬ 
langt  ist,  wo  er  eine  weithin  sichtbare 
Stellung  einniniint,  so  liegt  das  Ver¬ 
langen  nahe,  den  Pfaden  nachzuforsclien, 
auf  denen  er  diesen  Gipfel  erreicht  hat. 
Verfolgen  wir  dann,  dem  angedenteten 
Verlangen  gehorchend,  eine  künstlerische  Entwickelung 
bis  auf  ihren  Ursprung  zu¬ 
rück  und  begleiten  sie  darauf 
in  ihrem  stetigen  Verlaufe, 
so  kann  es  nicht  fehlen,  dass 
wir  neben  manchem  uns 
Neuen  auch  einer  Reihe  von 
Erscheinungen  begegnen,  die 
uns  längst  bekannt  und  mehr 
oder  minder  vertraut  sind. 

Dennoch  wird  es  uns  inter- 
essiren,  sie,  die  wir  bisher 
hauptsächlich  in  ihrer  Be¬ 
deutung  als  Einzelerschei¬ 
nungen  erfasst  haben,  nun¬ 
mehr  als  Glieder  einer  vor 
uns  sich  entrollenden  Kette 
betrachten  und  würdigen  zu 


lernen.  So  mag  es  wohl  auch  Entschuldigung  finden, 
wenn  in  dem  nachfolgenden  Abriss  einer  langen  Künstler¬ 
laufbahn  manchen  vielbekannten  Dingen  eine  wieder¬ 
holte  Erörterung  zu  teil  wird. 

Schon  der  Vater  unseres  Künstlers  sicherte  dem 
Namen  Begas  eine  dauernde  Stelle  in  den  Annalen 
der  deutschen  Kunstgeschichte.  Als  Abkömmling  eitier 

in  die  Rheinlande  einge¬ 
wanderten  spanisch  -  nieder¬ 
ländischen  Familie ,  deren 
Name  ursprünglich  Vega  ge¬ 
lautet  haben  soll,  war  Karl 
Begas,  der  Vater,  am  30. 
September  1794  in  Heins¬ 
berg  bei  Aachen  geboren.  In 
Paris  unter  Baron  Gros  ge¬ 
bildet,  kam  er  frühe  nach 
Berlin,  wo  er  sich  bleibend 
niederließ  und  unter  anderem 
für  eine  Reihe  von  Kirchen 
der  preußischen  Hauptstadt 
die  Altarbilder  schuf.  Unter 
seinen  zahlreichen  Genre¬ 
bildern  ist  die  Lurley,  unter¬ 
stützt  durch  Mandel’s  treff¬ 
liche  Vervielfältigung  im 
Stiche,  besonders  populär  ge¬ 
worden. 

Von  der  zahlreichen 
Nachkommenschaft,  die  die¬ 
sem  Meister  erwuchs,  haben 
sich  vier  Söhne  in  Berlin 
als  Künstler  hervorgethan. 
Oskar,  der  älteste,  und  Adal¬ 
bert,  der  dritte  unter  ihnen, 


Reinhold  Begas.  Nach  einer  Photographie. 


1)  Die  erstere  größere 
Hälfte  des  folgenden  Artikels 
stammt  aus  dem  litterarischen 
Nachlass  des  am  16.  Oktober 
1 892  verstorbeneiiKunstschrift- 
stellers  Otto  Baisch.  Sie  führt 
die  Geschichte  der  Entwicke¬ 
lung  des  Künstlers  bis  zur 
Mitte  der  achtziger  Jahre.  Das 
Schlusskapitel  ist  von  anderer 
Hand  hinzugefügt  worden. 


17 


Zeitschrift  für  bildemle  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  ß. 


130 


REINHOLD  BEGAS. 


haben,  unmittelbar  den  Fnßstapfen  des  \’aters  folgend, 
die  Malerei  erwählt;  Reiuhold  aber,  der  als  zweit¬ 
geborener  jener  vier  Söhne  das  Liclit  der  Welt  am 
1-5.  Jiüi  1831  erblickte,  zeigte  schon  als  Knabe  den 
vorwiegenden  Drang  zu  plastischem  Gestalten,  dem  er 
dann  auch  bei  der  Wahl  seines  I,ebensbernfes  in  vollem 
Maße  gerecht  wurde.  Seinem  Beispiele  folgte  späterhin 
Karl,  der  jüngste  der  Brüder. 

Die  Paten  Eeinhold's  waren  Schadoiv,  Rauch  und 
Luchctg  Wichmann.  Dieselben  drei  Größen  der  Bild¬ 
hauerkunst,  die  den  Knaben  aus  der  Taufe  gehoben 
hatten,  sollten  auch  des  Jünglings  Leiter  auf  dem 
Pfade  zur  künstlerischen  \Mllenduug  werden.  Als  Rein- 
hold  mit  vierzehn  bis  fünfzehn  Jahren  die  Knabenschule 
verließ,  hatte  er  durch  die  eifrige  Beschäftigung  mit 
dem  Modelliren,  die  das  größte  Vergnügen  seiner  Frei¬ 
stunden  gebildet,  sich  bereits  eine  Fertigkeit  in 
dieser  Technik  erworben,  vermöge  deren  er  Imi  seinem 
nunmehr  erfolgenden  Eintritt  in  die  Berliner  Aka¬ 
demie,  die  damals  noch  unter  G.  Schadow’s  Leitung- 
Stand,  schon  mit  ziemlich  eingehend  vorgeschulten  Zög¬ 
lingen  Scliritt  zu  halten  vermochte.  Er  arbeitete  zu¬ 
nächst  hauptsächlich  in  Wichmanu’s,  später  kui'ze  Zeit 
in  Rauch’s  Atelier,  bis  er  seine  Studien  zeitweilig  unter¬ 
brechen  musste,  um  sich  als  stattliclier  Garde-Infanterist 
seiner  Militärzeit  zu  eidedigen.  Nach  seiner  Rückkehr 
zu  der  geliebten  Kunsttliätigkeit  modellirte  er  die 
Gruppe  llagar  und  Ismael,  sein  erstes  selbständiges 
Werk,  dem  ein  zweites,  der  schlafende  Amor,  den  Psyche 
mit  der  Lampe  in  der  Hand  belauscht,  bald  folgte, 
lüese  letztere  Schöpfung  trug  ihm  den  lieißersehnten 
ersten  großen  Auftrag  ein.  Bankier  Oppenheim  be¬ 
stellte  eine  Marmorausführung  der  Gruppe  Amor  und 
Psyche.  Um  diesen  Auftrag  in  bestmöglicher  Weise  zu 
vidlführen,  eilte  Begas  um  die  Mitte  der  fünfziger  Jahre 
nach  Rom  als  der  Heimstätte  einer  tüchtigen  Marmor¬ 
technik.  Hier  schuf  er  alsbald  noch  ein  zweites  Mar¬ 
morwerk,  einen  mit  Weinlaub  bekränzten  Bacchusknaben, 
und  modellirte  seinen  „Pan,  die  verlassene  Psyche 
tröstend“.  Hatten  jene  ersten  drei  Schöpfungen  ihm 
bereits  verdientes  Lob  eingetragen,  so  erregte  die  vierte, 
mit  der  er  um  1858  vor  die  Öffentlichkeit  trat,  allge¬ 
meines  Aufsehen. 

Auf  einem  niedrigen  Erdhügel,  über  den  ein  Ziegen¬ 
fell  als  natürliche,  weiche  Polsterung  hingeworfen  ist, 
sitzt  Pan  behaglich  hingelehnt,  die  zottig  behaarten 
Bocksbeine  übereinander  geschlagen,  das  Gewicht  des 
Oberköri»ei's,  der  ein  wenig  nach  rückwärts  und  rechts 
geneigt  ist,  auf  den  aufgestemmten  rechten  Ellenbogen 
stützend.  Mit  dem  linken  Arm  umfängt  er  —  nicht 
ohne  eine  gewisse  würdige  Zurückhaltung  —  die  zarte 
Mädchengestalt,  die  halb  auf  einem  schmalen,  von  ihm 
freigelassenen  Plätzchen  des  Erdhügels  sitzt,  halb  an 
seine  iielzbewachsenen  Schenkel  angelehnt  ist.  Es  liegt 
ein  unsagbar  keuscher  Liebreiz  in  der  zierlichen  Er¬ 


scheinung  der  schlanken  Kleinen,  die  mit  der  Rechten 
nur  wenig  von  ihrem  fast  noch  kindlichen  Gesicht 
verdeckt,  mit  einer  Bewegung,  als  wische  sie  soeben 
die  letzte  Thräuenspur  aus  dem  halb  niedergeschla¬ 
genen  Auge.  Ruht  auch  noch  der  Ausdruck  der 
Klage  auf  den  schwellenden  Lippen  mit  den  ein  wenig 
herabgezogenen  Mundwinkeln,  so  erkennen  wir  doch 
klar,  wie  willig  sie  dem  vernünftigen  Zuspruch  des  bös¬ 
artigen  Gesellen  lauscht,  der  sich  in  die  Rolle  eines 
väterlichen  Freundes  und  Beschützers  bis  zur  eigenen 
inneren  Überzeugung  hineiugelebt  hat.  Die  solcher¬ 
gestalt  zum  Ausdruck  gelangende  Reinheit  der  Empfin¬ 
dung  erhöht  die  Freude  an  der  vollendeten  Durchbildung 
der  Formen  einerseits  des  derben  muskulösen  Wald¬ 
gottes,  andererseits  der  knospenden  Jungfranengestalt, 
deren  vom  Oberkörper  niedergeglittenes  Gewand  sie 
nur  von  den  Hüften  abwärts  bis  zu  den  Knöcheln  weich 
anschmiegend  umhüllt. 

Bei  dem  damaligen  Stande  der  Berliner  Bildhauerkunst, 
<lie  ganz  unter  dem  Einflüsse  Rauch’s  schuf,  bedeutete  das 
Erscheinen  der  Begas’schen  Gruppe  „Pan  und  Psyche“ 
nichts  Geringeres  als  die  volle  Rückkehr  zur  Wahrheit 
und  Natur.  Aller  fälsche  Regelzwang  ist  abgestreift; 
bindend  bleiben  nur  die  ewig  gültigen  Gesetze  des 
organischen  Lebens  und  jenes  künstlerische  Schönheits¬ 
gefühl,  das  undefinirbar  ist,  weil  es  in  jedem  besonderen 
Falle  eins  ist  mit  der  echt  künstlerischen  Persönlichkeit, 
und  somit  innerhalb  der  großen  Summe  der  Erscheinungen 
sich  so  mannigfaltig  darstellt,  wie  das  Spiel  der  Indivi¬ 
dualitäten. 

Indem  der  geborene  Künstler  seinem  Schönheits¬ 
gefühle  gehorcht,  empfindet  er  keinen  Zwang,  sondern 
vielmehr  ein  freies,  beglückendes,  schöpferisches  Sich- 
gehenlassen.  Wo  dieser  lebendige  Quell  gesprudelt  hat, 
dieser  ureigene  innei-e  Drang  in  dem  Werke  eines  form¬ 
gewandten  Künstlers  zum  vollendeten  Ausdruck  gelangte, 
da  ist  dem  Kunstwerke  jene  wunderbare  Gewalt  ver¬ 
liehen,  die  den  Sinn  des  empfänglichen  Beschauers  un¬ 
widerstehlich  fesselt.  Mit  solcher  Gewalt  wirkte  die 
Gruppe  „Pan  und  Psyche“,  die  eine  mächtige  Bewegung 
namentlich  auch  innerhalb  der  jüngeren  Künstlerschaft 
hervorrief,  deren  Kreise  sie  zur  Nacheiferung  auf  den 
neu  erschlossenen  Bahnen  sinnigei-,  naiver  Beobachtung 
und  Wiedergabe  der  unerschöpflich  reichen  Natur  ent¬ 
flammte. 

Mit  einem  Schlage  berühmt  geworden,  wurde  der 
in  seine  Heimat  zurückgekehrte  Schöpfer  der  Gruppe 
nunmehr  mit  Ausführung  einer  in  Sandstein  herzu¬ 
stellenden  kolossalen  Bekrönungsgruppe  für  die  von 
Hitzig  neu  erbaute  Börse,  eine  Borussia  als  Beschützerin 
von  Handel,  Ackerbau  und  Gewerbe,  beauftragt.  Da¬ 
neben  scluif  er  treffliche  Porträtbüsteii  des  vormaligen 
Reichskriegsministers  General  Peucker  und  Ferdinand 
Lassalle’s,  namentlich  aber  eine  neue  Gruppe  „Faunen¬ 
familie“,  in  der  wieder  sein  eigenstes  Künstlernaturell 


REINHOLD  BEGAS. 


131 


zum  erfrischenden,  formvollendeten  Ausdruck  gelangte. 
Der  derbe  Halbgott  hat  seine  beiden  Hände  mit  der 
Pansflöte,  auf  deren  orgelartig  zusammengestellten 
Pfeifen  er  augenscheinlich  soeben  sein  Liedchen  geblasen 
hat,  in  den  Schoß  sinken  lassen  und  wendet  Gesicht 
und  Blick  mit  glücklichem  Lächeln  dem  munteren  Kleinen 
zu,  den  das  in  jugendlicher  Üppigkeit  blühende  Weib, 
zur  Hechten  des  Gatten  auf  der  natürlichen  Rasenbank 
sitzend,  voll  strahlender  Mutterfreude  auf  den  Schultern 
wiegt. 

Während  Begas  mit  diesen  Arbeiten  beschäftigt  ge¬ 
wesen  war,  liatte  der  Großherzog  von  Sachsen- W eimar  seinen 
lange  genährten  Lieblingsplan,  der  die  Errichtung  einer 
Kunstschule  in  seiner  Residenzstadt  betraf,  der  Ver¬ 
wirklichung  entgegengeführt.  Oraf  Kalckreiäh  wurde 
zum  Direktor  der  neubegründeten  Anstalt  ernannt  und 
mit  Berufung  des  Lehrerkollegiums  beauftragt.  Dabei 
wurde  das  Hauptaugenmerk  auf  jugendliche  Kräfte  ge¬ 
richtet,  von  deren  Tüchtigkeit  und  Frische  man  sich 
eine  fröhliclie  Förderung  des  Unternehmens  versprach. 
Zum  Professor  der  Bildhauerei  ward  Reinhold  Begas  aus¬ 
ersehen.  Als  er,  dem  ehrenvollen  Rufe  folgend,  zu  An¬ 
fang  des  Jahres  1860  nach  Weimar  übersiedelte,  fand 
er  dort  unter  den  neuen  Kollegen  Arnold  Böcldin,  mit  dem 
er  schon  von  Rom  her  innig  befreundet  war,  und  Franz 
Lenbach,  den  Jüngsten  unter  allen,  den  die  Empfehlung 
seines  Meisters  Piloty  ins  Weimarische  Professoren- 
Kollegium  gebracht,  und  der  nunmehr  der  Dritte  im 
Begas -Böcklin’schen  Freundschafts -Bunde  ward.  Die 
Geistes-  und  Strebensverwandten  schlossen  sich  um  so 
enger  aneinander,  je  weniger  das,  was  sie  um  sich  her 
fanden,  ihnen  zuzusagen  vermochte.  Nicht  von  allen 
Seiten  kam  man  ihnen  in  Weimar  freundlich  entgegen. 

Als  der  Großherzog  vor  Jahr  und  Tag  mit  seinem 
Kunstschulenplan  an  den  Weimarischen  Altmeister  Preller 
herangetreten,  war  er  bei  diesem  auf  Widersi)ruch  ge¬ 
stoßen,  der  in  Preller’s  Abneigung  gegen  die  Akademieen 
als  solche  begründet  lag.  Daraufhin  war  der  Meister 
der  Odyssee  in  dieser  x4ngelegenheit  nicht  mehr  befragt 
worden;  vielmehr  fügte  sich’s  so,  dass  die  Kunstschule 
während  seiner  Abwesenheit  ins  Leben  trat,  indem  er 
im  September  1859  nach  Italien  aufgebroclien  war  und 
erst  im  Juli  des  folgenden  .Jahres  zurückkehrte,  zu 
welcher  Zeit  er  die  neu  begründete  Anstalt  in  vollem 
Gange  fand.  Preller  konnte  nicht  anders  als  sich  da¬ 
durch  gekränkt  fühlen;  mit  ihm  Genelli,  der  ein  Jahr 
zuvor  auf  Einladung  des  Großherzogs  seinen  Wohnsitz 
nach  Weimar  verlegt  hatte.  Die  beiden  älteren  Künstler 
zogen  sich  vornehm  auf  sieh  zurück,  und  mit  ihnen  be¬ 
trachtete  die  wohl  nicht  die  Mehrzahl  darstellende,  aber 
keinenfalls  einflusslose  Zahl  ihrer  Freunde  und  ^’'erehrer 
die  an  der  Kunstschule  leimenden  jüngeren  Kräfte  als 
unliebe  Eindringlinge.  Es  fehlte  in  beiden  Lagern  nicht 
an  solchen,  die  diese  Gespanntheit  verschärften,  indem 
sie  die  feindselige  Gesinnung  der  Gegenpartei  in  den 


übertriebensten  Farben  einer  niedrigen  Gehässigkeit  zu 
schildern  suchten.  Solche  Zustände  konnten  nicht  dazu 
dienen,  den  in  Weimar  neu  Eingezogenen  den  Aufent¬ 
halt  besonders  angenehm  zu  machen.  Indes  wären 
diese  Unliebsamkeiten  für  sich  allein  wohl  schwerlich 
mächtig  genug  gewesen,  den  Neuberufenen  ihren  Aufent¬ 
halt  ganz  zu  verleiden.  .Junge  Vollkraft  lässt  sich  durch 
den  Widerstand  der  Älteren,  zumal  wenn  er  immerhin 
ein  mehr  passiver  als  aktiver  ist,  wie  es  hier  in  Wirk¬ 
lichkeit  der  Fall  war,  nicht  leicht  zurückschrecken, 
sondern  fühlt  sich  viel  eher  dadurch  zu  um  so  kühnerem 
Vordringen  angespornt.  Was  aber  wie  ein  Alp  auf 
unserer  Künstler  -  Trias  lastete,  das  waren  die  in  der 
kleinen  Residenz  an  der  Ilm  herrschenden  engen  Ver¬ 
hältnisse,  die  den  emporringenden  Kräften  keinen  Raum 
zur  Entfaltung  ihres  Flügelschlages  gewährten.  Die 
Stätte,  wo  ein  Goethe  gelebt  und  gewirkt,  ein  Schiller 
seine  hinreißenden  Werke  geschaffen,  hatte  ihnen  in 
hohem  Grade  verlockend  und  vielversprechend  geschienen. 
Nunmehr  sagten  sie  sich:  „Ja,  für  einen  Denker,  einen 
Dichter  mag  diese  idyllische  Ruhe  ganz  willkommen 
und  angemessen  sein;  —  der  formgestaltende  Künstler 
bedarf  Anregung  und  Förderungen  anderer  Art,  die 
ihm  hier  völlig  versagt  sind.“  Die  Neu -Eingezogenen 
sahen  sich  zu  selir  isolirt,  zu  sehr  mit  Misstrauen  an¬ 
statt  mit  freundlichem  Entgegenkommen  Ijehandelt,  als 
dass  sie  sicli  hätten  berufen  und  begeistert  fühlen 
sollen,  der  im  Niedergang  begriffenen  Stätte  einen 
Schein  des  alten  Glanzes  zurückzuerobern.  Vielmehr 
empfanden  sie  die  Missstände,  von  denen  sie  sich  um¬ 
geben  sahen,  so  drückend  wie  möglich  und  hegten  bald 
keinen  andern  Gedanken  eifriger  als  den,  ihrem  neuen 
Aufenthaltsort,  der  ihnen  wie  ein  Gefängnis  erschien 
—  je  bälder,  je  lieber  —  zu  entfliehen.  „Am  ersten 
Oktober  in  Rom!“  Auf  diesen  Wahlspruch  stießen  unsere 
drei  jungen  Professoren  au,  als  sie  im  Sommer  1861 
bei  einer  Flasche  Wein  beisammen  saßen.  Es  war  das 
ein  Ausdruck  ihrer  heißesten  Wünsche,  der  in  einer 
Art  von  Galgenhumor  sich  Bahn  bracli,  obwohl  für 
eine  Aussicht  auf  Erfüllung  noch  nicht  die  geringste 
thatsächliche  Grundlage  vorhanden  war. 

Um  diese  Zeit  hatte  sich  Begas  mit  einem  ziemlicli 
umfangreichen  Modell  an  der  Konkurrenz  für  das  Reiter- 
Denkmal  beteiligt,  das  die  Stadt  Köln  dem  König 
Friedrich  Wilhelm  III.  zu  errichten  gedachte.  Seine 
Darstellung  zeigt  den  Monarchen  auf  einem  kräftigen, 
an  die  Pferde  der  altrömischen  Plastik  erinnernden 
Rosse  sitzend,  einen  Lorbeerkranz  um  das  unbedeckte 
Haupt  geschlungen  und  über  die  linke  Schulter  einen 
Hermelinmantel  geworfen,  der  in  seinem  breiten,  schwer- 
stofflichen  Faltenwurf  über  Seite  und  Rücken  herabwallt, 
wogegen  an  der  rechten  Seite  der  Figur  die  zeitgemäße 
Militär-Uniform  zu  Tage  tritt.  Auf  diese  Weise  ist 
der  Porträtwahrheit  und  dem  charakteristischen  Zeit- 
kostüni  im  wesentlichen  Rechnung  getragen,  während 

17 


132 


KEINHOLD  BEGAS. 


aiiclererseits  durch  die  kleinen,  leicht  zu  rechtfertigenden 
Freiheiten,  die  sich  der  Künstler  in  der  angedeuteten 
Richtung  erlaubte,  die  trockene  Alltagskopie  vermieden 
ist  und  die  uukleidsame  Tracht  sich  in  zwangloser 
A'eise  künstlerisch  veredelt  zur  monumentalen  Würde 
erhoben  zeigt.  Gas  au  seinen  vier  Seiten  mit  Flach¬ 
reliefs  gezierte  Postament  ist  weder  sehr  lioeli  noch 
sehr  breit,  gewährt  aber  durch  eine  weitvorspringende 
Deckplatte  der  Reiterstatue  gleichwohl  eine  in  W(dd- 


des  schöngegliederten  Ganzen  erkannte  man  diesem 
Entwürfe,  der  später  dem  Museum  Wallraf-Richartz  in 
Köln  einverleibt  wurde,  den  ersten  Preis  zu.  Die  Aus¬ 
führung  wurde  gleichwohl  einem  andern  Konkurrenten, 
dem  Kölner  Stadtkiude  Karl  Bläser,  übertragen.  Immer¬ 
hin  aber  hatte  Begas  in  dem  ausgesetzten  ersten  Preise 
von  dreitausend  Thalern  eine  Errungenschaft  zu  ver¬ 
zeichnen,  die  gerade  jetzt  eher  als  zu  irgend  welcher 
andern  Zeit  dazu  angethan  war,  ilin  nach  Möglichkeit 


Sarkophag  Kaiser  Kriedriohs  im  Mausoleum  bei  der  Friedeuskirche  zu  Potsdam  von  I!.  liEüAS. 


timender  Weise  reichlich  bemessene  Bodenfläche.  Diese 
vorspringende  Plinthe  wird  an  .jeder  ihrer  vier  Ecken 
von  zwei  kraftvollen,  nur  um  die  Irenden  mit  Pelzwerk 
umgürteten  Germanen  als  Repräsentanten  der  damaligen 
acht  preußischen  Provinzen  auf  den  Schultern  getragen. 
Jeder  Ecke  entsiirechend  zeigt  der  dici  Stufen  hohe 
Unterbau  einen  bedeutenden  Vorsprung,  auf  dem  ein 
gewaltiger  Löwe  ruht,  und  jedem  dieser  Wüstenkönige 
sind  in  gefälliger,  zwangloser  Anordnung  einige  be¬ 
ziehungsreiche  und  zugleich  dekorativ  wirkende  Attri¬ 
bute  beigegeben. 

In  gerechter  Würdigung  der  gewaltigen  Wirkung 


über  den  Kummer,  dass  er  seinem  mit  ganzer  Hingalte 
geschaffenen  Entwürfe  nicht  die  monumentale  Vollendung 
erteilen  durfte,  hinwegzuheben.  Sein  Herz  jauchzte 
auf  bei  dem  Gedanken,  dass  ihm  nunmehr  die  äußeren 
Mittel  geboten  waren,  die  es  ihm  ermöglichten,  dem 
so  rasch  als  iieinlich  drückend  empfundenen  Joch  zu  ent¬ 
rinnen.  Knall  und  Fall  brach  er  seine  Beziehungen 
zur  Weimaraner  Kunstschule  ab  und  begab  sich  in  dem 
Augenblick,  da  er  sich  im  thatsächlichen  Besitz  der 
dreitausend  Thaler  sah,  auf  den  Weg  nach  Italien.  Das 
war  das  entscheidende  Signal  auch  für  Böcklin  und 
Lenbacli.  Ohne  sich  lange  zu  besinnen,  rissen  auch  sie 


REINHOLD  BEGAS. 


133 


sich  mit  gewaltsamem  Ruck  aus  ihren  Stellungen  los, 
und  so  fand  das  Spätjahr  1861  die  drei  Freunde  in 
der  That  wiedervereinigt  an  den  klassischen  Ufern  des 
Tiber. 

Als  nächste  bedeutsame  Leistung  unseres  Künstlers 
haben  wir  sein  Konkurrenzmodell  für  das  Schillerdenk¬ 
mal  in  Berlin  zu  verzeichnen,  mit  dessen  Ausführung 
er  im  Jahre  1863  als  Sieger  in  dem  betreffenden 
Wettstreit  beauftragt  wurde.  Sein  plastischer  Entwurf 
zeigte  im  wesentlichen  bereits  dieselbe  Gliederung,  wie 
wir  sie  an  dem  ausgeführten  Monumente  sehen.  Nur 
die  Gestalt  des  Verherrlichten  selbst  war  eine  wesentlich 
andere  und  dabei  bedeutend  bessere,  als  sie  in  der 
Marmorausführung  geworden  ist.  Der  Blick  des  locken¬ 
umwallten  Angesichts  ist  nach  oben  gerichtet.  Die 
Rechte  hält  einen  Griffel,  bereit,  die  Insjiirationen  der 
göttlichen  Muse  auf  die  Tafel  niederzuschreiben,  die 
der  in  langsamem  Vorschreiten  begriffene  Poet  mit  der 
Linken  gegen  die  Hüfte  des  Standbeins  gestützt  hält. 
Gleichwohl  wurde  diese  Auffassung,  —  die  ein  knappes 
Jahrzehnt  später  von  Johannes  Schilling  bei  seinem 
Schillerdenkmal  für  Wien  in  ganz  ähnlicher  Weise  zur 
Anwendung  gebracht  und  mit  vielgepriesenem  Erfolge 
durchgeführt  worden  ist,  —  damals  so  lange  bekrittelt 
und  bemängelt,  bis  man  an  maßgebender  Stelle  dahin 
gelangte,  mit  Entschiedenheit  eine  andersgeartete  Hal¬ 
tung  der  Hauptfigur  zu  fordern.  Das  war  es,  was  dem 
Denkmal  verderblich  wurde.  Reinhold  Begas  ist  eine 
jener  Künstlernaturen,  die  aus  der  vollen  Begeisterung 
heraus  gestalten.  Vor  ihrem  innern  Auge  steht  das 
Bild  dessen,  was  sie  zu  schaffen  gedenken,  in  zwingender, 
greifbarer  Gestalt.  Seherartig  müssen  sie  verkünden, 
was  sie  erschaut  und  wie  sie  es  erschaut. 

In  den  Jahren,  während  welcher  dieses  Werk  sich 
aus  dem  Marmorblock  heraus  zu  entwickeln  hatte,  konnte 
selbstverständlich  der  schöpferische  Sinn  des  Künstlers, 
den  es  zu  neuen  Gestaltungen  drängte,  nicht  rasten. 
Durch  die  mannigfachen  künstlerischen  Anregungen  von 
Paris,  dem  er  inzwischen  einen  Besuch  abgestattet, 
durch  das  Glück,  das  er  in  Schließung  des  Ehebundes  mit 
einem  geliebten  Weibe  fand,  sowie  durch  mehrfach  sich 
wiederholenden  zeitweiligen  Aufenthalt  in  Rom  doppelt 
und  dreifach  begeistert,  schuf  Begas  zunächst  jene  her¬ 
zige  Gruppe,  zu  der  ein  Lied  des  Pseudo-Anakreon  den 
unmittelbaren  Anknüpfungspunkt  bot.  Wer  erinnerte 
sich  nicht  mit  Vergnügen  der  niedlichen  Verse: 

^EQcoq  jtav^  Iv  Qoöoioi 
Kocficofitvrjv  fisliödav 
Ovx  siÖep . 

Venus,  auf  natürlicher  Rasenbank  sitzend,  über 
die  ein  abgeworfenes  Gewandstück  gefällig  herabliängt, 
umfängt  mit  mütterlicher  Zärtlichkeit  den  vor  ihr  stehen¬ 
den  Knaben.  Der  zu  ihrem  Schoße  geflüchtete  Kleine 
lehnt  sein  Köpfchen  rückwärts  gegen  die  Brust  der 
Mutter,  mit  dem  Rücken  der  rechten  Hand  die  ver¬ 


wundete  Stelle  des  linken  Ärmchens  reibend.  Das  Kinn 
der  liebevoll  sich  über  ihn  hinneigenden  Mutter  berührt 
den  üppig  gelockten  Krauskopf  des  Kleinen,  während 
ihre  Rechte  weich  sein  Kinn  erfasst,  als  wollte  sie  sein 
verzagendes  Köpfchen  emporrichten  und  ihm  von  olmn 
in  die  großen  Kinderaugen  blicken.  Auf  ihrem  freund¬ 
lichen  Antlitz  liest  man  die  Worte  sanften  Zuspruchs 
und  mütterlicher  Mahnung,  während  es  über  das  kläglich 
dreinschauende  Gesichtchen  des  Kleinen  mit  den  herab¬ 
gezogenen  Mundwinkeln  und  der  halb  schmerzlich,  halb 
trotzig  aufgeworfenen  Unterlippe  hinzuckt  wie  das  plötz¬ 
liche  Aufdämmern  eines  leisen  Schuldbewusstseins. 

In  Rom  entstand  sodann  auch  jene  jungfräuliche 
Gestalt  einer  soeben  dem  Bad  Entstiegenen,  die  damit 
lieschäftigt  ist,  sich  abzutrocknen.  In  leicht  nieder¬ 
gebeugter  Stellung  hält  sie  mit  der  Linken  das  Ende 
eines  Leinentuches,  indem  sie  es  sanft  an  den  Körper 
unterhalb  der  rechten  Brust  andrückt.  Das  von  da 
niederwallende  Tuch  hat  sie  mit  der  nach  abwärts  ge¬ 
streckten  Rechten  erfasst,  um  damit  den  etwas  Vorge¬ 
setzten  rechten  Unterschenkel  trocken  zu  reiben.  Eine 
gewinnende  Anmut  liegt  in  dieser  Bewegung,  die  ganz 
schlicht  und  anspruchslos  der  Natur  abgelauscht  zu  sein 
scheint. 

Danelten  schuf  Begas  zunächst  die  gemütlich  klas¬ 
sisch-idyllische  Gruppe  des  Pan,  der  einen  nackten 
Knaben  ini  Flötenspiel  unterweist.  Dann  folgte  die 
bronzene  Brunnenfigur  eines  ebenfalls  nackten  Knaben, 
der  mit  beiden  Händen  eine  zweihenkelige  Uime  hält, 
die  auf  seinem  ein  wenig  vorgeneigten  Kopfe  ruht,  so 
dass  sich  das  Wasser  daraus  in  einem  breiten  Strahl 
ergießt,  den  sein  Blick  wohlgefällig  beobachtet.  Das 
nächste  Werk  ist  jene  junge  Mutter,  die  mit  ihrem 
kleinen  Liebling  spielend  niedergekuiet  ist,  um  das 
Kind  über  ihren  Rücken  herauf  klettern  zu  lassen.  Da¬ 
bei  hat  sie  ihm  beide  Hände  gereicht  und  schaut,  den 
Kopf  in  den  Nacken  zurückwerfend,  dem  auf  der  Höhe 
ihrer  Scliulterblätter  angelangten  Kleinen  mit  dem  Aus¬ 
druck  strahlenden  Mutterglücks  in  die  fröliliclien  Kinder¬ 
augen.  Es  liegt  eine  kokette  Grazie  in  dieser  Bewegung, 
die  gleichwohl  ganz  naturgemäß  entwickelt  ist.  Auf 
ein  paar  Medaillonreliefs  in  zarter  Marmordurclibildung: 
Venus  mit  Amor  und  ihren  Tauben,  und  Ganymed  mit 
Amoretten,  folgt  sodann  eine  zweite  dem  Bad  Ent¬ 
stiegene  von  überaus  reizv(dler  Bewegung.  Während 
jene  erste,  in  voller  Harmlosigkeit  ganz  mit  sich  und 
ihrer  augenblicklichen  Aufgabe  beschäftigt,  den  Eindruck 
epischer  Ruhe  macht,  tritt  hier  ein  mehr  dramatisches 
Motiv  hinzu.  Die  junge  Schöne,  die  sich  auf  einem 
schmalen,  natürlichen  Sitze  niedergelassen,  hat  augen¬ 
scheinlich  soeben  ein  Geräusch  vernommen,  als  nahe 
jemand  dem  Orte,  an  dem  sie  sich  uubelauscbt  geglaulit. 
Den  Kopf  zurückwendend,  späht  sie  nach  der  Veranlas¬ 
sung  des  unwillkommenen  Geräusches  und  fasst  zugleich 
mit  beiden  Händen  das  breit  entfaltete  Tuch,  das  sie 


134 


REINHOLD  BEGAS. 


über  ihren  Rücken  gespannt  liält,  fester  nni,  falls  sich 
ihre  Besorgnis  bestätigt,  iin  nächsten  Augenblick  ihre 
jungfräuliche  Gestalt  vor  den  zudringlichen  Blicken  un¬ 
berufener  Lauscher  zu  verhüllen.  Daraus  ergiebt  sich 
nun  ein  so  belebtes  Spiel  der  weich  geschwungenen 
Linien  und  Fonuen,  eine  so  harmonische  Rundung  der 
Gesamtlieit,  dass  dieses  Motiv  als  eines  der  glücklichsten 
bezeichnet  werden  muss,  das  ein  Talent  von  der  Art  des 
Reinhold  Begas  erfinden  konnte.  Um  die  Erscheinung 
l)is  auf  den  letzten  ilirer  Teile  plastiscli  zu  beleben, 
maskirte  tler  Künstler  den  Ruhesitz  seiner  Schönen,  der 
au  sich  kein  bildnerisches  Motiv  geboten  haben  würde, 
teils  durch  das  herabwallende  Tuch,  teils  durch  ein  am 
Boden  stellendes  vasenförmiges  Salliengefäß,  dessen  Relief¬ 
fries  in  hezieliuiigsvoller  W’eise  eine  an  sehilfumwachse- 
iiem  Ufer  spielende  und  sich  in  der  gemäßigten  Art 
harmlosen  Zeitvertreiiis  balgende  Kinderschaar  darstellt. 

Kindergruppeu  waren  es  auch,  mit  denen  Begas  in 
der  näclisten  Folgezeit  sich  beschäftigte.  In  erster  Linie 
brachte  er  solche  an  einem  palmbaumartig  gestalteten 
Kandelaber  an.  den  er  für  das  Treppenhaus  eines  Ber¬ 
liner  Kunstfreundes  ausführte,  und  für  die  Villa  eines 
andern  schuf  er  sodann  zwei  Gesimsgruppen,  in  denen 
die  Musik  und  die  bildende  Kunst  durch  Kinder  veran¬ 
schaulicht  werden,  die  sich  mit  der  einen  und  der  andern 
in  einer  naiv-altklugen  Weise  beschäftigen.  In  Arbeiten 
wie  der  letztgenannten  bekundet  Begas  ebensosehr  seine 
bedeutende  natürliche  Begabung  für  eine  leicht  hin¬ 
geworfene  architektonisch-dekorative  Behandlung,  wie  er 
durch  eine  Reihe  früherer  und  späterer  Werke  bewiesen 
hat,  mit  welcher  Feinheit  er  die  Formen  bis  auf  das 
Äußerste  durchzubilden  versteht. 

Für  sein  eigenes  Heim,  das  er  sich  in  einer  jener 
angenehmen  friedlichen  Villenstraßen  am  südwestlichen 
Rande  des  Berliner  Tiergartens  erbaut  und  mit  echt 
künstlerischer  Anmut  und  Behaglichkeit  eingerichtet  hat, 
schuf  er  sodann  in  jenem  zarten  Flachrelief,  als  dessen 
IMeister  er  sich  wiederholt  bekundet  hat,  einen  Fries,  der 
sich  ebenfalls  aus  liebevoll  beobachteten  und  in  feine 
geistreiche  Beziehungen  zu  dem  Thun  und  Treiben  der 
Erwachsenen  gebrachten  Kinderscenen  zusammensetzt. 

Mittlerweile  hatte  Begas  bereits  eines  seiner  eigen¬ 
artigsten  und  interessantesten  Werke  in  Angriff  ge¬ 
nommen,  dessen  Ausführung  in  dauerndem  Material  leider 
durch  äußere  Hemmnisse  unterbrochen  werden  sollte. 
Strousberg  hatte  für  seinen  im  Feldzuge  gegen  Frank¬ 
reich  gefallenen  Sohn  ein  Grabmal  bestellt,  und  unser 
Künstler  war  mit  voller  Hingebung  an  diese  Aufgabe 
gegangen.  Sein  vollendetes  Hilfsmodell  zeigt  uns,  in 
welchem  schönen  Sinne  er  sie  zu  lösen  gedachte.  Hin- 
gestreckt  auf  eine  Art  truhenförmiger  Bahre,  deren  Fül¬ 
lungen  mit  zart  reliefirten  Ranken  von  Winden  und 
Kornähren  arabeskenartig  geschmückt  sind,  liegt  leicht 
verhüllt  der  Jüngling,  der  im  Kampfe  für  das  deutsche 
Vaterland  die  Todeswunde  erhalten  hat.  Sein  Haupt 


mit  den  geschlossenen  Augenlidern  ruht  im  Schoße  einer 
ernsten  Frau,  die  sich  am  Rande  seines  Pfühls  nieder¬ 
gesetzt  hat  und  mit  der  Linken  sanft  und  ruhig  sein 
Lockenhaupt  umfängt,  während  ihre  Rechte  seine  schlaffe 
Hand  ein  wenig  emporhebt,  wie  um  nach  seinem  Pulse 
zu  fühlen.  Der  still  resignirte  Ausdruck,  mit  dem  sie 
dabei  auf  die  Züge  des  jungen  Mannes  niederblickt, 
lässt  uns  erkennen,  dass  dieser  Puls  bereits  stille  steht. 
Zu  Füßen  der  Bahre  sind  zwei  kleine  nackte  Knaben 
herangetreten,  um  das  Totenbett  des  jungen  Kriegers 
mit  Lorbeerkränzen  und  Rosen  zu  schmücken.  Die  ge¬ 
messene  Schönheit  des  Aufbaues,  die  Weichheit  der  sanft 
und  ruhig  bewegten  Linienführung  entsprechen  dem  see¬ 
lischen  Ausdruck  des  Grabmals,  das  rührend  und  trost¬ 
reich  zugleich  erscheint.  Schon  hatte  man  begonnen, 
aus  dem  für  die  Ausführung  beschafften  Marmorblock 
den  künstlerischen  Kern  im  strengen  Anschluss  an  das 
geschilderte  Modell  herauszuarbeiten,  da  brach  das  Haus 
Strousberg  zusammen,  und  in  Folge  davon  musste  auch 
das  Monument  unausgeführt  bleiben. 

Statt  dessen  führte  Begas  nunmehr  seinen  Merkur 
für  die  Berliner  Börse  aus,  dem  er  einen  nicht  undeut¬ 
lich  ausgesprochenen  Anklang  an  semitische  Züge  lieh. 
Der  handelbeschirmende  Gott  mit  den  beschwingten 
Sohlen  zählt  scharf  berechnenden  Blicks  mit  der  Rechten 
Geldstücke  in  einen  breitgeöffneten  ledernen  Beutel,  den 
er  mit  der  Linken  gegen  die  Hüfte  gedrückt  hält. 

Vermutlich  während  der  Beschäftigung  mit  dieser 
Statue  keimte  in  Begas  der  Gedanke,  den  Götterboten 
noch  ein  zweites  Mal  und  zwar  als  den  Träger  der 
zarten  Psyche  darzustellen.  Hatte  er  in  dem  Stand¬ 
bilde  für  die  Börse  dem  handeltreibenden  Gott  un¬ 
geachtet  der  Jugendlichkeit,  die  im  Antlitz  und  in  der 
Weichheit  der  Muskulaturen  zum  Ausdruck  gelangt, 
eine  gewisse  behäbige  Fülle  und  Breite  der  Körperent¬ 
wickelung  verliehen,  so  gab  er  ihm  für  die  neue  Gruppe 
unter  Beibehaltung  der  wuchtig  in  die  Breite  gehenden 
Anlage  männlich  gereiftere  Formen  und  eine  athletischere 
Muskeldurchbildung.  Vermöge  solcher  Ausstattung  sagt 
uns  sein  Anblick  um  so  überzeugender,  dass  es  ihm  ein 
Leichtes  sein  müsse,  die  im  Vergleich  zu  ihm  ätherisch 
erscheinende  Mädchengestalt  durch  die  Lüfte  dahin  zu 
tragen.  Hinter  ihm,  der  sich  ein  wenig  ins  Kniegelenk 
uiederbeugt,  steht  Psyche  etwas  erhöht  auf  einem  kleinen 
Felsblock  und  reicht  ihre  zarte  Rechte  nicht  ohne  eine 
gewisse  jungfräuliche  Schüchternheit  dem  jugendkräftigen 
Gott,  der  mit  in  den  Nacken  geworfenem  Kopfe  nach 
ihr  zurückblickt  und  im  Begriff  ist,  sie  mit  der  Linken 
sicher  und  be<iuem  zugleich  zu  fassen.  Es  giebt  wenige 
plastische  Gebilde,  bei  denen  das  leichte  Empor  streben 
so  elastisch  ausgedrückt,  das  Gefühl  der  Schwere  so 
nahezu  ganz  aufgehoben  erscheint  wie  bei  dieser  Gruppe. 

Während  ihre  Marmorausführung  in  der  Berliner 
Nationalgalerie  (s.  die  Abb.  S.  136)  von  Gehilfenhand 
vorbereitet  wurde,  modellirte  Begas,  dessen  rege  Künstler- 


REINHOLD  BEDAS. 


135 


Phantasie  seiner  gestaltenden  Hand  wenig  Rast  gestattet, 
bereits  eine  neue  Gruppe,  die  dramatisch  bewegteste 
unter  seinen  Schöpfungen.  Es  ist  eine  Episode  aus  dem 
Raub  der  Sabinerinnen.  Ein  nackter  Römer  in  jungen 
Mannesjahren,  dessen  von  Vollbart  und  kurzgelocktem 
Haupthaar  umrahmtes  Antlitz  der  reichgeschmiickte  Helm 
stattlich  überragt,  trägt,  in  scharfem  Laufe  dahinstür¬ 
mend,  ein  junges  schönes  Weib,  das  er  mit  nervigem 
Arme  mitten  um  den  Leib  gefasst  hält.  Jede  seiner 
Muskeln  ist  in  gedningener  Thätigkeit,  jede  Sehne  ge¬ 
spannt,  jede  Ader  geschwollen.  Bedarf  er  doch  seiner 
ganzen  Kraft,  um  der  verzweifelnd  Widerstrebenden 
Herr  zu  werden.  In  fast  horizontaler  Lage  über  dem 
Oberschenkel  seines  weit  ausschreitenden  rechten  Beines 
hingeworfen,  sucht  sie  vergeblich  für  ihre  in  der  Luft 
schwebenden  Füße  Boden  zu  gewinnen.  Mit  krampf¬ 
haft  znsammengekrallten  Fingern  strebt  ihre  Linke  aus 
dem  Arme  des  Mannes,  der  sie  mit  nahezu  raubtieräbn- 
lichem,  eisernem  Griff  umfasst,  sich  loszuringen;  ihrer 
Rechten  aber  ist  es  gelungen,  den  Entführer  an  der 
Gurgel  zu  packen,  und  nun  würgt  sie  ihn  trotz  der 
Gegenwehr  seines  niedergedrückten  Kinnes  so  gewaltig, 
dass  seine  Züge  sich  verzerren,  seine  rollenden  Augen 
fast  aus  den  Höhlen  zu  treten  beginnen.  Aber  die  fest 
aufeinander  gebissenen  Zähne,  die  zwischen  seinen  ge¬ 
öffneten  Lippen  hervorblitzen,  verraten  die  ganze  un- 
bezwingliche  Energie  seines  markigen  Widerstandes. 
Sie  indes  hat  den  nach  Hilfe  schreienden  Mund  weit 
aufgerissen;  ihr  Hals  ist  gebläht  von  der  Fülle  der  ton¬ 
erzeugenden  Luft,  die  aus  ihm  hervorgestoßen  wird,  und 
ihr  zur  Hälfte  gelöstes  Haar  flattert  herabhängend  im 
Winde. 

Der  ganze  Charakter  dieser  Gruppe  widerstrebte 
aus  äußeren  und  inneren  Gründen  einer  Ausführung  in 
Marmor  und  bedingte  vielmehr  eine  solche  in  Bronze¬ 
guss  ;  ein  Grund  mehr,  um  den  Künstler  von  einer  ver¬ 
tieften  Durchbildung  der  geöffneten  Mundhöhle  abzuhalten. 
Die  in  der  Natur  durch  Farbe  und  Transparenz  belebte 
Mundhöhle  würde  in  dem  spröden  schweren  Metall  viel 
zu  dunkel  und  dadurch  hässlich  gewirkt  haben. 

Nächstdem  beteiligte  sich  Begas  abermals  an  zwei 
Konkurrenzen.  Die  eine  betraf  die  Humboldtdenkmäler 
für  Berlin,  die  andere  das  Liebigdenkmal  für  München. 
In  beiden  Fällen  ging  er  von  dem  leitenden  Grundsätze 
aus,  neben  der  naturgemäß  gebundenen  Porträtdarstellung 
der  Gefeierten  einen  genügenden  Spielraum  für  frei  künst¬ 
lerische  Gestaltungen  zu  gewinnen.  Ein  abgesagter 
Feind  jener  hohen,  schwerfällig  wirkenden  viereckigen 
Postamente,  die  ungehührlicli  viel  Raum  für  sich  in  An¬ 
spruch  nehmen  und  treffend  genug  mit  Öfen  verglichen 
werden,  stellte  er  seinen  Justus  von  Liebig  auf  einen 
verhältnismäßig  niedrigen  Sockel,  dem  er  eine  um  so 
reichere  Umgebung  gesellte.  An  der  Vorder-  und  Rück¬ 
seite  des  Sockels  brachte  er  je  einen  Löwenkopf  als 
Wasserspeier  an,  unterhalb  dessen  ein  Becken  in  Muschel¬ 


form  von  liegenden  Delphinen  getragen  wird.  Auf  den 
breiten  Stufen  aber,  die  zu  diesem  Monument  empor¬ 
führen,  ließ  Begas  ein  reiches  Leben  sich  entfalten. 
Einerseits  charakterisirte  er  die  Landwirtschaft,  die 
durch  den  berühmten  Chemiker  so  vielfache  wissenschaft¬ 
liche  Förderung  gefunden,  durch  einen  leichtgeschürzten 
Ackersmann,  der  sich  auf  seinen  Pflug  lehnt,  und  durch 
Kinder,  die  sich  mit  reichlich  umher  lagernden  Feld¬ 
früchten  zu  schaffen  machen;  andererseits  symbolisirte 
er  die  Chemie  selbst  durch  eine  Frauengestalt  und  durch 
Putten,  die  emsig  mit  der  Anwendung  von  Retorten, 
Mörsern  und  ähnlichen  pharmaceutischen  Geräten  be¬ 
schäftigt  sind. 

Bei  den  Skizzen  für  die  Humboldtdenkmäler  ver¬ 
mied  er  um  des  für  die  plastische  Darstellung  wenig 
dankbaren  Zeitkostüms  w'illen  die  Statuenform  ganz  und 
ersetzte  sie  durch  Kolossalbüsten,  die,  auf  hohe  schmale 
Sockel  gestellt,  einen  hermenartigen  Charakter  erhielten. 
Zu  Seiten  dieser  beiden  Sockel  stehen  hier  ein  Jüng¬ 
ling  mit  hoher  brennender  Fackel,  der  begeistert  zu 
Wilhelm  von  Humboldt  aufblickt,  —  da  eine  liebliche 
Jungfrau,  die  mit  anmutvoller  Bewegung  einen  Lorbeer¬ 
kranz  emporhebt,  um  das  Haupt  Alexanders  damit  zu 
schmücken.  Auf  den  Stufen,  die  zu  diesen  emporrageu- 
den  Teilen  der  Monumente  führen,  sitzen  sodann  zwei 
Frauengestalten.  Die  eine,  zu  Wilhelms  Füßen,  be¬ 
trachtet  aufmerksam  eine  von  ihrer  Linken  gehaltene 
Schreibtafel,  als  überlese  sie  prüfend  eine  soeben  dort 
gemachte  Aufzeichnung;  die  zu  Alexanders  Füßen  Sitzende 
aber  ist  tief  versunken  in  das  Lesen  eines  auf  ihrem 
Schoße  ruhenden  Folianten. 

Die  herkömmliche  Zusammensetzung  der  Kommis¬ 
sionen  aus  einem  kleinen  Teil  von  Künstlern  oder  wahr¬ 
haft  Kunstverständigen  und  einer  erdrückenden  Mehr¬ 
heit  von  Verwaltungsbeamten,  Vertretern  der  abstrakten 
Wissenschaften  und  ähnlichen  Männern,  deren  Kunstsinn 
auch  im  günstigsten  Fall  nicht  über  die  Schranken  des 
Altherkömmlichen  hinauszureichen  pflegt,  verhinderte, 
dass  eigenartige  Gestaltungen,  wie  die  geschilderten  es 
sind,  für  die  Ausführung  genehmigt  wurden.  Begas  er¬ 
hielt  zwar  den  Auftrag,  ein  Monument  Alexanders  von 
Humboldt  auszuführen,  aber  es  wurde  eine  sitzende 
Statue  auf  viereckigem  Sockel  verlangt  im  genauen  x4n- 
schlussan  die  Verhältnisse  des  von  Paul  Otto  entworfenen 
und  diesem  zur  Ausführung  übertragenen  Monumentes 
für  Wilhelm  von  Humboldt.  Da  konnte  denn  das  Ergebnis 
unmöglich  ein  viel  erfreulicheres  werden,  als  es  bei  dem 
Schillerstandbilde  der  Fall  gewesen  war.  Die  Fähigkeit, 
sich  mit  Glück  den  als  Kanon  hingestellten  Ideen  Anderer 
anzuschmiegen,  tindet  sich  nicht  hei  einer  so  eigenartigen 
Schöpferkraft  wie  die  Begas’sche  es  ist. 

Freieren  Spielraum  erhielt  sie,  als  der  Künstler  für 
die  Reichsbank  den  Reichtum  zu  versinnbildlichen  hatte. 
Er  that  dies  durch  die  Gestalt  eines  üppig  schönen 
Weibes  in  leicht  gegürteter  Gewandung,  das  den  rechten 


136 


REINHOLD  BEGAS. 


rm’.  auf  eine  Erdkugel  gesetzt  hat  und  aus  einer 
zi;  dich  ini  Geschmack  der  Renais.sance  durchgehildeten 
ivasst  T’;e,  die  in  der  Linken  ruht,  eine  Peidenschnur  her- 
rurzielit.  Das  Haupt  der  stattlichen  Frau,  dessen  üppiger 
Haarwuchs  gesclnnackvoll  angeoi'dnet  und  von  Blumen 
ilurchflochten  isr.  wendet  sicli  mit  lebhaftem  Ausdruck 
zur  Seite,  als  stehe  dort  eine  Person,  der  sie  ihre  Schätze 
zu  zeigen  und  wohl  auch,  wie  ihr  wohlwollender  Ge¬ 
sichtsausdruck  zu  vermuten  nahelegt,  das  eine  oder 
andere  davon  freigebig  mitzuteilen  im  Begriff  sei. 

Ganz  unseres  Meisters  eigenstem  Ideenkreise  ent¬ 
stammt  sodann  die  Gruppe  Kentaur  und  Nymphe,  die 
im  Gipsmodell  auf  der  großen  Berliner  Kunstausstellung 


Merkur  und  Psyche.  Marmorgrurpe  von  R.  Begas. 


im  Herbst  1881  zum  ersten  Male  vor  die  Öffentlichkeit 
trat.  Der  von  Begas  in  seinen  Werken  schon  mehrfach 
betonte  und  für  die  plastische  Kunst  in  der  That  so 
überaus  dankbare  Gegensatz  zwischen  derber  Fülle  und 
jungträulicher  Zartheit  findet  hier  eine  ganz  besonders 
lebendige  Verkörperung.  Der  Kentaur,  eine  von  Kraft 
und  Lebenslust  strotzende  Erscheinung,  hat  seine  Hinter¬ 
beine  so  tief  ins  Knie  gebeugt,  dass  der  dichte  lang- 
herabwallende  Pferdeschweif  bei  seiner  fröhlichen  Be¬ 
wegung  breit  den  Boden  fegt.  Auf  diese  Weise  hat  er 
es  der  zarten  Nymphe,  die  er  beschwatzt  hat,  einen 
lustigen  Ritt  auf  seinem  Rücken  zu  unternehmen,  mög¬ 
lichst  leicht  gemacht,  diesen  breiten  Pferderücken  zu 
besteigen.  In  der  befangenen  Be¬ 
wegung,  mit  der  sie  dies  anstrebt, 
gelangt  die  Ungeschicklichkeit  des 
ersten  Versuchs,  die  gleichwohl 
von  der  angeborenen  unbewussten 
Anmut  durchdrungen  wird,  zu 
entzückendem  Ausdruck. 

Nelten  diesen  Werken  größe¬ 
ren  Umfangs  hatte  Begas  eine 
Reihe  von  sprechend  individuali- 
sirten  Porträtbüsten  geschaffen. 
Darunter  sind  zunächst  diejenigen 
seines  Taufpaten  und  ersten  Leh¬ 
rers  Ludwig  Wichmann  und 
Adolph  Menzel’s  zu  nennen.  Letz¬ 
tere,  die  den  merkwürdigen  Cha¬ 
rakterkopf  mit  der  gewaltigen 
Stirn,  den  tiefliegenden,  scharf¬ 
blickenden  Augen  und  dem  durch 
die  etwas  vorgeschobenen  Lippen 
eigenartig  verstärkten  iVusdruck 
sinnender  Beobachtung  in  voll¬ 
kommener  Treue  wiedergiebt,  geht 
über  die  einfache  Büstenform 
hinaus  und  wird  zur  Halbstatue, 
die  den  mit  schlichtem  Hausrock 
bekleideten  Körper  in  der  Hüft- 
gegend  glatt  abgeschnitten  er¬ 
scheinen  lässt.  Begas  fühlte  sich 
zur  Wahl  dieser  an  sich  etwas 
seltsam  erscheinenden  Form  augen¬ 
scheinlich  dadurcli  hingedrängt, 
dass  er  den  kleinen  Mann  von 
der  großen  Bedeutung,  die  sich 
der  unscheinbaren  Natur  zum 
Trotz  auch  in  seinem  Äußeiai 
energisch  ausspricht,  eingehender 
charakterisiren  wollte,  als  es 
durch  den  .Kopf  allein  möglich 
gewesen  wäre.  Da  er  diesen 
Zweck  vollkommen  erreicht  hat, 
muss  der  ausnahinsweisen  Ge- 


REINHOLD  BEGAS. 


137 


staltniigsart  für  diesen  besonderen  Fall  ilire  Bereclitignng 
ziierkannt  werden.  (.S.  die  Abbildung.)  Daran  reilien  sieb 
sodann  die  Büsten  einiger  Damen  aus  der  Berliner  Ge¬ 
sellschaft.  Ferner  verdanken  wir  unserem  Künstler  die 
vorzüglichen  Büsten  des  Kaisers  Wilhelm  I.  und  des  Feld¬ 
marschalls  Grafen  Moltke,  deren  feingegliederte  Züge  bis 
auf  das  zarteste  Fältchen,  bis  auf  die  leisesten  Ab¬ 
weichungen  von  der  Symmetrie  in  der  Bildung  der 
Nasenflügel  oder  dem  Spiele  der  Mundwinkel  hinaus  auf 
das  Treueste  und  Lebensvollste  wiedergegeben  sind,  und 
in  denen  zugleich  dei’  persönliche  Geist  und  Charakter 
dieser  weltgeschichtlichen  Gi'ößen  zum  unvei-kennbareii 
Ausdruck  gelangt.  Nur 
bezüglich  der  Einkleid¬ 
ung,  die  Begas  für  seine 
Moltkebüste  gewählt  hat, 
müssen  Bedenken  geltend 
gemacht  werden.  Wenn 
der  Künstler  seiner  Büste 
einen  nach  Hermenart 
gestalteten  Sockel  ver¬ 
lieh,  so  ist  dies  nicht 
minder  zu  billigen,  als 
dass  er  diesen  Sockel  mit 
Laubgewinden ,  schwe¬ 
benden  Genien  und  dem 
Wappen  des  Dargestell¬ 
ten  geschmackvoll  aus¬ 
stattete,  und  dass  er  die 
erwähnten  Reliefgebilde 
ihrer  dem  Hauptteile  des 
Ganzen  untergeordneten 
Bedeutung  gemäß  in 
leichter  skizzenhafter 
Weise  behandelte.  Ver¬ 
fehlt  aber  ist  die  Art, 
auf  welcher  die  beiden 
wesentlichen  Bestand¬ 
teile  des  Werkes  unter¬ 
einander  verbunden  sind. 

Begas  hat  der  Büste  ein 
in  togaälinlicher  Weise  angeordnetes  Tuch  zugeteilt  und 
dessen  Enden  so  weit  über  den  Sockel  herabhängen  lassen, 
dass  die  Verbindung  zwischen  diesem  und  der  Büste  voll¬ 
ständig  verhüllt  ist.  Das  Tuch  ist  so  behandelt,  dass 
es  sich  der  abgebi’ochenen  Büstenform  anschmiegt,  die 
nicht  die  volle  Schultei'iibreite  zeigt.  Dadurch  nun  ge¬ 
winnt  das  Tuch  den  Charäktei’,  als  sei  es  erst  nachträg¬ 
lich  um  die  nackt  angelegte  Büste  und  den  selbständig 
behandelten  Sockel  geschlungen  worden. 

Glücklicher  traf  Begas  die  entsprechende  Anordnung 
bei  seiner,  mit  unübertrefflicher  Feinheit  durchgebildeten 
Büste  der  deutschen  Kronprinzessin,  späteren  Kaiserin 
Friedrich.  Ihr  hat  er  ein  zartes  Si)itzentuch  um  die 
Schultern  gelegt,  das  von  der  einen  Schulter  halb  lierab- 
Zeitschrift  l'iir  bildende  Kunst.  N.  F.  Vlll.  II.  G. 


geglitten  ist,  aber  gleichwohl  nicht  anders  über  den 
Torso  fällt,  als  es  fallen  könnte,  wenn  sich  unter  ihm 
der  volle  Körper  befände.  Das  ist  es,  was  von  der 
Bekleidungsform  jeder  Büste  gefordert  werden  muss. 

Darauf  lieschäftigten  ihn  wieder  Aufgaben  von 
hervorragender  Bedeutung.  Sie  betrafen  einerseits  den 
jdastischen  Schmuck  des  zu  einer  Ruhmeshalle  umge¬ 
wandelten  Berliner  Zeughauses,  andererseits  die  Aus¬ 
führung  eines  großen  monumentalen  Bi'unnens.  Püir  das 
Zeughaus  schuf  er  zunächst  die  sitzenden  Kolossalge¬ 
stalten  zweier  römischen  Krieger.  Sie  flankiren  die 
AVangen  der  stattlichen  Freitreppe,  die  aus  dem  schönen 

Oberlichtliofe  nach  den 
großen  Heldensälen  em- 
porführt.  Wie  Hitzig  bei 
der  architektonischen 
Ausgestaltung  des  Baues 
mit  feinem  Takt  und 
vollendetem  Stilgefühl 
alle  dui-ch  die  neuen 
Zwecke  bedingten  Um¬ 
änderungen  und  Zusätze 
so  zu  gestalten  wusste, 
als  wären  sie  unmittel¬ 
bar  aus  dei'  ursprüng¬ 
lichen  Anlage  mit  einer 
gewissen  Natuimotwen- 
digkeit  organisch  hervor¬ 
gewachsen,  so  hat  auch 
Begas  bei  Ausführung 
jener  beiden  Kriegerge¬ 
stalten,  die  vermöge  ihrer 
Stellung  und  Bestimmung 
als  stumme  AVächter  des 
Treppenzugangs  mit  der 
architektonischen  Anlage 
besonders  eng  verfloch¬ 
ten  sind,  es  verstanden, 
die  an  den  plastischen 
Ornamenten  des  Zeug¬ 
hauses  reich  bethätigte 
Schlüter’sche  Kunstrichtung  voll  und  lebenskräftig  auf¬ 
erstehen  zu  lassen.  In  ihren  reich  geschmückten 
Rüstungen  zeigen  die  beiden  muskulösen  Söhne  des 
Mars  ganz  die  Art  einer  bereits  zum  Barockstil  hin¬ 
neigenden  Hochrenaissance,  aber  beseelt  von  einer 
urwüchsigen  Kraft,  für  welche  die  Foimienfülle  nicht 
als  eine  schwelgeiüsche  äußere  Zuthat,  sondern  als 
ein  impouirendes  Ergebnis  überquellender  Lebenssäfte 
erscheint.  Für  die  Mitte  desselben  Lichthofes  führte 
er  eine  Kolossalstatue  der  Borussia  in  Marmor  aus. 
Die  obere  Halle  erhielt  zwei  sitzende  Frauengestalten 
als  Verköi’penmgen  dei’  Kraft  und  der  Kiiegswissenschaft. 

An  dem  Monunientalbrunnen  hingegen  fand  Begas 
Gelegenheit,  ohne  irgend  welche  Rücksichtnahme  auf 

18 


Adolf  Menzel.  Marmorbüste  von  R.  Begas. 


138 


REINHOLD  BEGAS. 


gegebene  oder  seinem  Werke  zu  gesellende  Faktoren 
sich  in  voller  Freiheit  nach  seinem  eigensten  künst¬ 
lerischen  Ermessen  zu  entfalten. 

^  * 

¥ 

')  Die  ersten  Vorarbeiten  für  diesen  Brunnen  gehen 
auf  das  Jahr  1880  zurück.  Ohne  äußere  Anregung  war 
Begas  auf  den  Gedanken  gekommen,  das  an  monumen¬ 
talen  Brunnen  überaus  arme  Beilin  durch  eine  umfang¬ 
reiche  Anlage  zu  bereichern,  die  sicli  neben  dem  Wiener 
Donaubrunnen  von  R.  Donner,  ja  selbst  nelmn  der  be- 
i'ühmten  Fontana  Trevi  in  Rom  sehen  lassen  konnte. 
Eine  Anlehnung  an  einen  ai'chitektonisrhen  llintei-grnnd 
wie  bei  der  Fmitana  Trevi  war  natürlich  bei  dem 
Nüchternheitssinn  der  Beidiner,  dei'  allerdings  der  Aus¬ 
fluss  des  harten  Kampfes  um  das  Leben  ist,  ausge¬ 
schlossen.  j\[öglich  war  nur  ein  Freibrunnen,  und  da 
die  Errichtung  des  Steindenkmals  auf  dem  Dönhofts- 
platz  die  Beseitigung  des  doi'tigen  Spiingbrunnens,  der 
sogenannten  „wilden  Katz“,  veranlasst  hatte,  dachte 
Begas  in  seinen  J'räumen  zunächst  an  jenen  Platz.  Es 
gelang  ihm  auch,  nachdem  er  ein  Gipsmodell  in  kleinem 
IMaßstabe  angefertigt  hatte,  den  Kronprinzen  Friedrich 
Wilhelm,  der  ihm  gleicli  seiner  Gemahlin  schon  nach  seinen 
ersten  großen  Eifolgen  volles  Verständnis  seines  Wollens 
gezeigt  hatte,  für  die  Ausführung  des  Brunnens  zu 
interessiren.  Aber  die  Lebenszeit,  die  dem  edlen, 
kunstbegeisterten  Fürsten  bemessen  war,  reichte  nicht 
hin,  um  auch  nur  den  kleinsten  Teil  seiner  hochge¬ 
stimmten  Pläne  zu  verwirklichen.  x41s  Kaiser  Wilhelm  11. 
den  Thron  bestieg,  folgte  dem  Vater  ein  nicht  minder 
kunstljegeisterter  Sohn,  und  die  Gunst,  die  Kaiser  Friedrich 
und  seine  hohe  Gemahlin,  die  selbst  eine  gewandte, 
feinfühlende  Malerin  und  Bildnerin  in  Thon  ist,  dem  Künstler 
geschenkt  hatte,  übertrug  sich  auch  auf  Kaiser  Wilhelm  11. 
Als  der  Magistrat  der  Stadt  Berlin  beschloss,  dem  jungen 
Kaiser  ein  Huldigungsgeschenk  anzubieten,  glaubte  er 
im  Sinne  des  kaiserlichen  Herrn  zu  handeln,  indem  er 
eine  Gabe  auswählte,  die  zugleich  dem  ganzen  Gemein¬ 
wesen,  der  Verschönerung  der  Stadt  und  dem  Wohlge¬ 
fallen  des  Gefeierten  zu  Gute  kam.  Darum  wurde  eine 
Schöpfung  von  Begas  und  zugleich  der  Schlossplatz  ge¬ 
wählt,  auf  dem  täglich  der  Blick  des  Monai’chen  ruht, 
der  seine  Residenz  in  dem  Schlüter’schen  Bau  aufge¬ 
schlagen  hatte.  Mit  seiner  gewaltigen,  die  Nachbar¬ 
schaft  niederdrückenden  Fassade  zu  wetteifeim,  war  nur 
die  Kraft  unseres  Meisters  fähig,  der  sich,  wie  kein 
zweiter  unserer  Zeit,  mit  der  Formensprache  des  Barock¬ 
stils  vertraut  gemacht  hat,  aber  doch  soviel  künst¬ 
lerisches  Feingefühl  besitzt,  um  allen  sinnlosen  Aus¬ 
schreitungen  aus  dem  Wege  zu  gehen  und  jede  einzelne 
Figur  zweckmäßig,  d.  h.  mit  Rücksicht  auf  den  Gesamt¬ 
organismus,  durchzubilden. 

1)  Der  folgende  Schlussteil  des  Artikels  ist  von  Adolf 
Rosenherfj  verfasst. 


Der  Schlossbrunnen  ist  in  die  Mitte  des  unregel¬ 
mäßigen,  sehr  ungünstig  disponirten  Platzes  gerückt 
worden.  Er  hat  einen  Hintergrund;  aber  dieser  drückt 
ihn,  und  er  würde  ihn  auch  drücken,  wenn  er  statt  Avie  jetzt 
bis  zum  Dreizack  des  Neptuns  10  Meter  ihrer  20  mäße. 
Man  muss  diesen  Brunnen  für  sich,  ohne  den  architekto¬ 
nischen  Hintergrund,  wirken  lassen,  und  dann  wird  man 
ihm  einen  Platz  in  der  Reihe  der  klassischen  Monumental¬ 
brunnen  nicht  verwehren  dürfen.  Seine  Abstammung 
von  ihnen  ist  unverkennbar.  Der  auf  einer  von  vier 
Seecentauren  getragenen  Riesenmuschel  thronende  Neptun, 
die  Putten,  die  sich  im  Muschelbecken  tummeln  oder  vor¬ 
sichtig  über  das  Felsgestein  nach  dem  unteren  Becken 
heruntertasten,  die  riesigen  Seethiei'e,  Schildkröten, 
Schlangen,  Rold)en,  Krokodile  und  Hummern,  die,  aus 
dem  AVasser  auftauchend,  an  dem  Felsen  emporstreben, 
endlich  die  vier  auf  dem  Beckenrande  sitzenden  Nymphen, 
die  die  vier  Hauptsti'öme  Preußens  versinnlichen  —  das 
sind  alles  bekannte,  viel  gebrauchte,  konventionell  ge¬ 
wordene  Allegorieen.  Al)er  die  alten  Symbole  erscheinen 
uns  hier  doch  ganz  anders,  mit  gewaltigerer  Lebensfülle 
begabt,  als  Schöpfungen  eines  Meisters,  dessen  kühne 
Phantasie  sich  weit  über  die  Kleinlichkeit  moderner  Nach¬ 
ahmung  erhebt.  Diese  sozusagen  persönliche,  von  ihm  selbst 
ausströniende  Lebensfülle,  die  Begas  allen  seinen  Werken 
initgiebt,  lässt  niemals  in  dem  Beschauer,  selbst  wenn 
er  ein  kaltprüfender  Kritiker  ist,  die  Empfindung  auf- 
kommen,  dass  er  nur  ein  Nachahmer  oder  ein  ge¬ 
schickter  Fortsetzer  der  Barockkunst  ist.  Auch  den 
anfänglich  Widerstrebenden  nimmt  seine  hinreißende  Be¬ 
redsamkeit  schließlich  gefangen.  Er  ist  einer  von  den 
echten  Künstlern,  die  an  sich  selbst  glauben  und  diesen 
Glauben  auch  andern  aufzwingen.  Tn  sein  Inneres  darf 
man  dabei  nicht  einzudringen  versuchen;  er  kann  frivol, 
vielleicht  sogar  skeptisch,  cynisch  denken,  wie  sehr  viele 
große  und  kleine  Geister,  die  jahrzehntelang  Berliner 
Luft  geatmet  haben.  Aber  seine  Schöi)fungen  wollen 
unabhängig  von  persönlichen  Stimmungen  betrachtet  sein. 

Wie  mächtig  in  ihm  trotz  gelegentlicher  Neigungen 
zu  überschwänglichen  Bildungen  die  Flamme  eines 
reinen  Idealismus  glüht,  hat  er  am  überzeugendsten  in 
dem  Grabmal  Kaiser  Friedrichs  für  das  Mausoleum  an 
der  Friedenskirche  in  Potsdam  gezeigt  (s.  die  Abb.  S.  132). 
Er  war  der  erste  der  Berliner  Bildhauer,  der  nach  dem 
Vorgänge  Rauch’s  das  Wagnis  unternahm,  die  Gestalt 
eines  in  ewigen  Schlaf  Versunkenen  auf  dem  Deckel 
eines  Marmoi'sarkophags  darzustellen.  Bei  seiner  dra¬ 
matisch  bewegten  Gruppe  konnte  er,  ohne  sich  um  den 
Stil  zu  kümmern,  seinem  leidenschaftlichen  Naturell 
folgen.  Hier  war  das  Gebot,  sich  in  Ruhe  zu  mäßigen, 
und  doch  wollte  er  darüber  seinen  persönlichen  Stil 
nicht  verleugnen.  Es  ist  ihm  gelungen,  von  der  ,, edlen 
Einfalt  und  stillen  Größe“  der  Antike,  die  Rauch  in 
seinen  Sarkophagen  vertreten  hatte,  eine  Brücke  zu  der 
wirklich  oder  eingebildet  tieferen,  modernen  Empfindung 


REINHOLD  BEGAS. 


139 


zu  bauen.  In  den  Reliefs  an  den  Langseiten  des  Sar¬ 
kophags  glauben  wir  das  Eöiiiertuin  wiederzuerkennen, 
das  Rauch  und  seine  Schüler  für  den  allein  richtigen 
und  würdigen  Dolmetsch  hoher  Gefühle,  Meinungen  und 
Lehren  in  der  plastischen  Kunst  hielten;  aber  aus  der 
ruhenden  Gestalt,  deren  stolze  Glieder  sich  in  Todes- 
schliimmer  gelöst  haben,  spricht  die  volle  Persönlichkeit 
des  Künstlers,  v/eim  sie  auch  in  demütigem,  pietätvollem 
Gehorsam  gewissen  Anforderungen  des  allgemeinen 
Wirklichkeitssinnes  und  individuellen  Gesclimacksrich- 
tungen  Opfer  gebracht  haben  mag. 

Da  der  leicht  und  reich  schaffenden  Phantasie  des 
Künstlers  eine  ebenso  leichte  Hand  gehorcht,  sind  in 
der  Zeit  von  1885 — 1896  noch  zalilreiche  Werke  ent¬ 
standen,  die  wir  in  unserer  Scliilderuug  noch  nicht  er¬ 
wähnt  haben.  Wir  nennen  nur  in  kurzer  Aufzählung 
die  Büsten  Kaiser  Wilhelms  I.,  des  Kaisers  Friedrich, 
dessen  Bronzebüste  als  Kronprinz  Friedrich  Wilhelm 
das  Muster  für  alle  Feldherrenbüsten  in  der  Ruhmeshalle 
des  Zeughauses  geworden  ist,  die  Büsten  Kaiser  Wilhelms  II. 
und  des  Fürsten  Bismarck,  den  Begas  als  Bildliauer  so 
typisch  und  klassisch  gestaltet  hat  wie  Leubach  als  Maler,  die 
genial  erfundene  Gruppe,  die  den  „elektrischen  Funken“ 
versinnlicht,  und  die  an  die  lierbe  Größe  der  alten 
Florentiner  erinnernde  Gruppe  Kain  und  Abel,  die 
Begas  nach  einer  Skizze  aus  früheren  Jahren  erst  kürz¬ 
lich  in  kolossalem  Maßstabe  vollendet  hat. 

Über  diesen  Arbeiten  der  letzten  Jahre  stand 
immer  etwas  Höheres,  eine  Aufgabe,  wie  sie  seit  der 
Ausfülirung  des  Wormser  Lutherdenkmals  durch  Rietschel 
und  seine  Schüler  noch  keinem  deutschen  Bildhauer  zu 
teil  geworden  war.  Als  bald  nach  dem  Tode  Kaiser 
Wilhelms  I.  die  Frage  nach  einem  Nationaldenkmal  für 
den  Begründer  des  neuen  deutschen  Reichs  aufgeworfen 
wurde,  war  auch  schnell  die  Antwort  durch  die  Aus¬ 
schreibung  eines  allgemeinen  Wettbewerbes  gefunden 
worden.  Es  kam  dazu,  das  Ergebnis  war  groß  und  be¬ 
deutend;  aber  es  war  schon  damals  wahrscheinlich,  dass 
ein  erst  in  letzter  Stunde  übersandter  plastischer  Ent¬ 
wurf,  der  nur  einige  flüchtige  Andeutungen  gab,  über  die 
stolzen  Pläne  phantasievoller  Architekten  siegen  würde. 

So  ist  es  auch  geschehen;  aber  die  Architekten 
sind  auch  befriedigt  worden,  weil  die  Architektur  neben 
der  Plastik  zu  bedeutsamer  Entwicklung  gelangt  ist. 
Nachdem  sich  einmal  Kaiser  Wilhelm  II.  für  den  Platz 
der  sogenannten  Schlossfreiheit  gegenüber  der  West¬ 
front  des  alten  Königsschlosses  mit  dem  gewaltigen 
Triumphbogenportal  Eosander’s  in  der  Mitte  entschieden 
hatte,  war  es  selbstverständlich,  dass  ein  stilistischer 
Zusammenhang  zwischen  dem  Natioualdenkmal  und  der 
Schlossfassade  gewonnen  werden  musste.  Dabei  war  auf 
der  einen  Seite  ein  imposanter  architektonischer  Rahmen 
für  das  Standbild,  der  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der 
Wirkung  seines  Gegenbildes  die  Wage  zu  halten  hatte, 
geboten,  andererseits  erschien  es  selbstverständlich,  dass 


sich  die  plastischen  Formen  des  Denkmals  in  der  Stil¬ 
richtung  zu  bewegen  hatten,  die  Schlüter  und  sein  Nach¬ 
folger  den  Schlossfassaden  aufgeprägt  hatten.  Danach 
konnte  eigentlich  unter  den  bildenden  Künstlern  Berlins 
kein  anderer  mit  der  Aufgabe  betraut  werden  als  der 
genialste  Vertreter  jener  Richtung,  Reiiihold  Begas,  der 
Verfasser  jenes  Entwurfs,  der  bei  der  ersten  Konkurrenz 
ganz  außer  Betracht  kam,  weil  er  zu  spät  eingetroffen 
war,  auch  den  Bedingungen  des  Konkurrenzprogrammes 
nicht  entsprach. 

Freilich  ist  von  diesem  Entwurf  nicht  viel  übrig 
geblieben.  Eigentlich  ist,  wenn  man  von  nebensäch¬ 
lichem  Beiwerk  absieht,  nur  der  Grundgedanke  einer 
Plattform  beibehalten  worden.  Bei  der  Feststellung  des 
Planes  in  seinen  Einzelheiten,  zu  dessen  architek¬ 
tonischer  Bearbeitung  anfangs  Hofbaurat  Ihne,  später 
Architekt  HalmJmber  hinzugezogen  wurde,  wurde  das 
Hauptaugenmerk  darauf  gerichtet,  dass  das  Reiter¬ 
standbild  nicht  durch  den  architektonischen  Rahmen 
erdrückt  werden  durfte,  und  das  wurde  einerseits  durch 
seine  ungewöhnlichen  Größenverhältnisse,  andererseits 
dadurch  erreicht,  dass  das  Reiterstandbild  nicht  inner¬ 
halb  der  Halle  aufgestellt,  sondern  über  die  Vorder¬ 
seiten  der  beiden  Halleuarme  hinausgeschoben  wurde. 

Da  sich  an  der  Rückseite  der  Halle  ein  Wasser¬ 
lauf,  der  grüne  Graben,  entlang  zieht,  mußten  die  Funda¬ 
mente  zum  Teil  in  das  Wasser  hineingebaut  werden. 
Doch  ist  der  Wasserlauf  an  der  schmälsten  Stelle  nur 
bis  auf  18  m  eingeengt  worden.  Trotz  dieser  Be- 
schränicungen  nimmt  das  Denkmal  in  seiner  gesamten 
Ausdehnung  immer  noch  eine  umfangreiche  Fläche  ein. 
Ein  Blick  auf  den  Grundriss  (s.  S.  140)  zeigt  uns,’)  dass 
die  Anlage  aus  einem  erhöhten  Platz  für  den  Reiter, 
zu  dem  einige  Stufen  hinaufführen,  und  einer  den  Hinter¬ 
grund  abschließenden  Halle  besteht,  die  ebenfalls  um  einige 
Stufen  höher  gelegt  ist,  um  das  terrassenförmige  An¬ 
steigen  des  Platzes  noch  mehr  zu  betonen.  Die  Tiefen- 
ausdeimung  des  Denkmals  von  der  Vorderseite  der 
Löwenpostamente  an  der  18  m  breiten  Fahrstraße  zwischen 
Schloss  und  Denkmal  beträgt  40  m,  die  Gesamtlänge 
80  m.  Die  Höhe  der  Halle  beträgt  vom  Straßenfu߬ 
boden  aus  gemessen  12  m,  vom  mittleren  Wasserstande 
an  der  Rückseite  aus  gemessen  16  m.  Bei  dem  Ent¬ 
würfe  der  Halle,  für  welche  ionische  Stilformeii,  jedoch 
in  ganz  freier  Behandlung,  gewählt  wurden,  wurde  auf 
möglichst  durchbrochene  Anordnung  gehalten,  so  dass 
Schloss  und  Reiter  von  allen  Seiten  gesehen  werden 
können.  Die  Endpunkte  der  Halle  bilden  zwei  Pavillons, 
die  als  Bekrönung  je  eine  Quadriga  etwa  in  der  Größe  der 
auf  dem  Brandenburger  Thor  tragen.  Die  eine  stellt  Nord-, 
die  andere  Süddeutschland  dar.  Die  Verbindung  zwischen 


1 )  Das  Folgende  ist  znm  Teil  einem  Bericht  des  aus- 
führenden  Architekten  Q.  Ha Imimhcr  in  dem  Werke  „Berlin 
und  seine  Bauten“  Bd.  II  (Berlin  1896)  entnommen. 

18* 


140 


REINIIOLD  BEGAS. 


den  beiden  Pavillons  bildet  ein  ^^’andelg•ang,  dessen  ge- 
kupjielte  SUulenpaare  nüt  ihrem  Gebälk  in  gdeichmäßigem 
Rhytlnnus  den  eigentlichen  Hintergrund  für  den  Reiter 
bilden.  Die  Ecken  sind  durch  festere  Massen  betont. 
Die  Eingänge  zu  den  beiden  Pavillons  sind  durch  reiclie 
Portale  mit  geschwungener  Verdachung  und  vorgestellten 
Säulen  gekennzeichnet,  die  mit  dem  Reiter  zusammen 
die  diei  wesentlichen  Stützpunkte  des  Ganzen  abgebeii. 
Sie  sind  reich  mit  bildnerischem  Schmuck  versehen  und 
bilden  die  End])unkte  einer  glänzenden  Kette  von 
Bildwerken  Uber  dem  reichen  Hanptgesims  der  lunen- 


Hnterbau,  der  aus  rotem,  durchweg  polirtem  schwedisclien 
A\  irbogranit  besteht,  ruhen  an  beiden  Langseiten  die  beiden 
Kolossalgestalten  des  Krieges  und  Friedens,  während  vorn 
und  hinten  bedeutungsvolle  Embleme  angebracht  worden 
sind.  Das  8  m  holie  und  etwa  4,50  m  breite  Postament 
ist  aus  Bronze  gegossen  —  unseres  AVissens  das  erste 
Mal,  dass  in  Deutschland  ein  solcher  Versucli  in  großem 
Maßstabe  gemacht  worden  ist.  Audi  die  Reiterstatue, 
die  das  Pferd  führende  Siegesgöttin,  die  vier  an  den 
abgestumpften  Ecken  des  l'ostaments  auf  Kugeln  stehenden 
Anktorien  und  die  Reliefs  an  den  Langseiten  sind  in 


Grundriss  des  Kaiser  Wilhelm -Denkmals  in  Berlin. 


und  Außenseite.  Die  einzelnen  Skulpturen  der  Innenseite 
beziehen  sich  auf  die  Bundesstaaten,  die  der  Außenseite 
auf  Handel,  Gewerbe,  Kunst  und  A'Vissen Schaft.  Die 
Halle,  die  einen  prächtigen  Mosaikfußboden  erhalten 
wird,  und  die  zu  ihr  gehörigen  Skulpturen  sind  in  Sand¬ 
stein  ausgeführt,  mit  Ausnahme  der  beiden  Quadrigen 
und  der  die  Trophäen  hütenden  Adler  über  dem  mittleren 
Teile  der  Halle,  die  in  Kupfer  getx’iebeu  worden  sind. 

Innerhalb  dieses  reich  gestalteten  Rahmens  erhebt 
sich  die  Reitertigur  mit  dem  Sockel  bis  zur  Hiihe  von 
20  m  über  dem  Straßenniveau  auf  elliptischem  Unterbau, 
dem  sich  vier  diagonal  vorspringeude,  auf  Trophäen 
gelagerte  Löwen  aus  Bronze  angliedern.  Auf  dem 


Bronzeguss  ausgeführt  worden.  Die  Bronze  ist  aus 
93  iT’ozent  elektrolytischem  Kupfer  und  7  Prozent  Banka¬ 
zinn  zusammengesetzt.  Die  durchschnittliche  Stärke  der 
Bronzewandung  lieträgt,  aligesehen  von  einzelnen  Gewand¬ 
teilen,  5  mm.  Um  alle  Feinheiten  des  Modells  zu  be¬ 
wahren,  ist  der  Guss  mit  Wachsausschmelzverfahren 
erfolgt.  Für  das  Reiterstandbild  allein,  das  9  m  in  der 
Höhe  misst,  sind  etwa  500  Ceutner  Bronze  verbraucht 
worden.  Der  Genius,  der  das  Ross  des  Kaisers  führt, 
ist  5,50  m  groß,  während  die  Viktorien  au  den  Ecken 
4,70  m  in  der  Höhe  messen.  Der  Reiter  ist  in  ruhiger, 
edler  Haltung  dargestellt,  die  rechte  Hand  auf  den 
Kommandostab  stützend,  den  Blick  nach  dem  Lustgarten 


REINHOLD  BEGAS. 


141 


richtend,  wo  das  Denkmal  seines  Vaters  steht.  Auch  das 
Pferd  schreitet  in  ruhigem  Scliritt  vorwärts,  ganz  wie 
es  dem  besonnenen,  gemessenen  Wesen  des  ersten  Kaisers 
entspricht.  Ein  lang  herabwallender  Mantel  gieht  dem 
Reiter  mehr  Masse  und  Haltung.  Der  führende  Genius, 
der  in  der  Linken  einen  Palmenzweig  hält,  blickt  zu 
dem  Kaiser  empor. 

Soweit  die  sachliche  Beschreibung.  Zur  Zeit,  wo 
wir  diesen  Ai’tikel  zum  Abschluss  bringen  müssen 
(Mitte  Februar),  ist  eine  kritische  Würdigung  des 
Ganzen,  ein  Urteil  über  den  Gesamteindruck  noch  un¬ 
möglich.  Man  hat  bisher  nur  Gelegenheit  gehabt,  die 
einzelnen  Teile,  wie  sie  im  Guss  fertig  wurden,  be¬ 


sah,  der  er  blindlings,  aber  mit  freudig  zu  Gott  erhobenem 
Haupte  folgte.  Dieser  Verstoß  gegen  die  geschichtlicheWahr- 
heit  hat  aber  die  deutsche  Kunst  um  eine  Idealgestalt 
bereichert,  wie  wir  sie  seit  den  Viktorien  Rauch’s  nicht 
mehr  gesehen  haben.  Sie  und  ihre  vier  auf  Kugeln 
schwebenden,  geflügelten  Schwestern  werden  in  der 
Kunst  des  20.  Jahrhunderts  wohl  ebensolange  typische 
Geltung  behalten,  wie  sie  die  Siegesgöttinnen  Rauch’s  für 
die  lieideu  ersten  Dritteile  unseres  Jahrhunderts  gehabt 
haben.  Die  jugendliche,  jungfräuliche  Anmut,  die  diese 
fünf  Gebilde  einer  begnadeten  Phantasie  umschwelit  und 
erfüllt,  lässt  sich  nicht  in  Worte  fassen.  Wir  müssen 
abwarten,  bis  wir  diese  Gestalten  unsei’en  Leseim  vor 


Das  Kaiser  Wilhelm -Denkmal  in  Berlin  von  U.  Begas.  (Nach  ilem  fiipsmoilell.) 


sichtigen  zu  können,  und  danach  gestaltet  sich  das  Urteil 
zunächst  sehr  günstig.  Die  Bildung  aller  einzelnen  Ge¬ 
stalten  widerlegt  zunächst  die  anfangs  gehegte  Befürch¬ 
tung,  dass  Begas  sich  durch  die  kolossale  Größe  zu 
barocken  Ausschweifungen  seiner  Phantasie  würde  hin¬ 
reißen  lassen.  Freilich  wird  jeder,  der  die  schlichte  Größe, 
das  wahrhaft  kindliche  Gemüt  und  die  peinliche  Korrekt¬ 
heit  des  verewigten  Kaisers  wirklich  kennen  gelernt  und 
verstanden  hat,  sich  nicht  damit  befreunden  können,  dass 
ein  weiblicher  Genius  ihm  das  Pferd  führt,  ihm,  der  in 
seinem  Leben  als  Soldat  und  Kriegsherr  niemals  eine 
derartige  Hilfe  geduldet  hätte,  und  der  auf  allen  seinen 
Wegen  nur  die  unsichtbarelland  der  göttlichen  Voi'sehung 


Augen  führen  können.  Die  beiden,  mäßig  erhobenen 
Reliefs  an  den  Langseiten  des  Postaments  sind  aus 
einem  Geiste  gelieren,  der  in  sich  alles  aufgenommen 
hat,  was  die  florentinischen  Meister  des  15.  und  16  Jahr¬ 
hunderts  Großes  und  Erhabenes  ersonnen  haben,  und 
der  doch  immer  etwas  Persönliches  mitbringt.  Das 
Relief  des  Krieges  erinnert  in  dem  Grundmotiv  etwas  an 
einen  der  apokalyptischen  Reiter  von  Dürer  und  Cor¬ 
nelius;  aber  das  germanische  Ungestüm,  die  rauhe  Kraft 
wird,  unbeschadet  der  dramatischen  'Wucht,  durch  eine 
edle  Formensiirache  gemildert,  und  wenn  wir  danach 
das  Relief  des  Friedens  hetrachten,  glauben  wir  ein  in 
die  Plastik  übertragenes  Bild  Böcklin’s  vor  uns  zu 


142 


DIE  NEUE  STAATLICHE  „NATIONAL  PORTRAIT-GALLERA^“  IN  LONDON. 


sehen,  freilich  mit  dem  gewaltigen  Unterschiede,  dass 
Rücklin  die  Kraft  versagt  zu  sein  scheint,  ein  so  edles 
,.Gebild  aus  Himmelshöh’n"  zu  schaffen,  wie  diese  stolz 
und  leicht  durch  die  Gefilde  schreitende  Friedensgöttin, 
die  Blumen  und  Früchte  mit  vollen  Händen  ausstreut. 

Ein  Denkmal  dieses  Umfanges  kann  nicht,  wenn 
es  in  sieben  Jahren  zu  einer  bestimmten  Frist  fertig 
sein  muss,  die  Arbeit  eines  einzigen  Mannes  sein.  Begas 
hat  aus  der  großen  Zahl  seiner  Schüler  die  tüchtigsten 
Kräfte  erlesen,  die  nach  seinen  Skizzen  die  großen  Mo¬ 
delle  für  den  Guss  nnd  die  Treibarbeit  in  Kupfer  aus¬ 
geführt  haben.  So  ist  die  über  dem  Nordportal  der 
Halle  aufgestellte  Quadriga,  deren  Siegesgöttin  ein  Banner 
mit  dem  Adler  (Norddeutschland)  hält,  von  Johannes 
Güli,  die  andere,  deren  Banner  einen  Löwen  (Süd¬ 
deutschland)  zeigt,  von  C.  von  BcrnewUz  ausgeführt 
worden.  Die  beiden  dekorativen  Gruppen  mit  den 
Adlern  sind  von  Kraus  nnd  Gaul,  und  für  die  Löwen 
auf  den  dem  Reiterdenkmal  vorgelagerten  Gruppen  sind 
Tierbildner  herangezogen  worden.  An  den  Gruppen 
des  Friedens  und  des  Krieges  und  an  den  Viktorien  ist 
besonders  Eugen  llönnel  beteiligt  gewesen.  Nur  der 
Reiter  und  der  sein  Ross  führende  Genius  zeigen  im  wesent¬ 
lichen  die  eigene  Arbeit  des  Meisters.  Durch  die  ver¬ 
schiedenen  Hände,  die  an  dem  gewaltigen  Werke  mitge¬ 
holfen  haben,  sind  aber  keineswegs  stilistische  Ver¬ 


schiedenheiten  hervorgerufen  worden.  Jeder  Teil  ist 
von  dem  Geiste  des  Meisters  durchdrungen,  mit  dessen 
Formensprache  sich  seine  Schüler  und  Mitarbeiter  .so 
innig  vertraut  gemacht  haben,  dass  die  mächtige  Kom¬ 
position,  das  Heldengedicht  in  Erz  und  Stein  auf  den 
großen  Kaiser,  als  etwas  Einziges  und  Unteilbares  vor 
unsere  Augen  tritt  und  zu  unserem  Herzen  spricht. 
Im  Tmufe  eines  halben  Jahrhunderts  hat  die  Berliner 
Kunst  der  Welt  zweimal  dasselbe  festliche  Schauspiel 
geboten.  Wie  vor  fünfzig  Jahren  unter  der  Ägide 
Rauch’s  aus  dem  Zusammenwirken  vieler  Hände  das 
Reiterdenkmal  des  großen  Königs  erwuchs,  zugleich  das 
höchste  Ehrendenkmal  für  Rauch  und  seine  Schule  selbst, 
so  steht  am  Ende  dieser  Epoche,  wo  wir  eine  zweite 
Blüte  der  Berliner  Bildhauerschule  erlebt  haben,  das 
Denkmal  des  großen  Kaisers,  zugleich  ein  Wahrzeichen 
der  hohen,  edlen  Kunst  von  Reinhold  Begas  und  den 
Seinigen.  Und  auch  Persönliclies  klingt  dabei  in  selt¬ 
samer  Fügung  des  Schicksals  zusammen.  Wie  weit  sich 
auch  die  künstlerischen  Wege  von  Reinhold  Begas  von 
denen  seines  Taufpaten  und  Lehrmeisters  getrennt 
haben,  —  beiden  war  es  vergönnt,  für  ihre  Zeit  ein 
Höchstes  zu  schaffen,  die  Verherrlichung  der  beiden 
Helden,  deren  Wirken  und  Thaten  die  größten  Epochen 
in  Preußens  und  Deutschlands  Geschichte  erfüllt  haben. 

ADOLF  ROSENBERO. 


DIE  NEUE  STAATLICHE 

„NATIONAL  PORTRAIT- GALLERY“  IN  LONDON. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


INE  der  interessantesten  und  bedeutendsten 
natüuialen  Sammlungen  Englands  ver¬ 
dankt  in  der  Haujttsache  ihre  Entstehung, 
Erhaltung  und  Katalogisirung  einem 
deutschen  Künstler  und  Gelehrten.  Diese)' 
hervori'agende  Mann  ist  Georg  Scharf, 
der  noch  kurz  vor  seinem  im  Jahre  1895  ei'folgten  Tode, 
unter  dem  Titel  Sir  George  Scharf,  wegen  seiner  außer¬ 
ordentlichen  Vej'dienste  um  das  obige  Institut,  von  der 
Königin  ^'ictoria  in  den  Adelstand  erhoben  wiii'de.  Seit 
dei'  Begründung  der  histoi'ischeu  Galeu'ie  (mit  zwei 
Bildern)  im  Jahre  185G,  ;ilso  fast  40  Jahre  lang,  hat 
Schai'f  ununtei'brochen  als  Dii'ektor  des  Instituts  ge¬ 
wirkt  und  während  diese)'  Zeit  982  Port)'äts  )iebst  zahl- 
)'eichen  Porträtbüste)),  Kupferstichen  U))d  Autog)'apheu  ge¬ 
sammelt.  Durch  Geo)'g  Scha)'f  ist  in  London  hier  Geb)'a.uch 
geworde.)),  dass  Autographen,  we)))i  i)'ge)id  )nöglich,  ))ur 
)nit  den)  dazu  gehörigen  Kupferstich  der  bet)'eff'e))de)) 
Pea'son  gekauft  mid  ve)'äußert  werde)).  De.)'  Ve)'Sto)'bene 


wa)'  1820  als  Sohn  eines  bayerische))  Kü))stle)'s  gehöre)) 
u))d  begleitete  als  Zeiclnier  die  Expeditio))  des  Sir  Cha)'les 
Fellows  ))ach  Sy)'ie))  u))d  Kleinasien.  L)  gleicher  Eige.))- 
schaft  ))ahn)  er  1843  a))  ei))er  staatlichen  Expeditio)) 
dorthi))  Teil  u))d  bildete  sich  da))))  i])))))er  )nehr  als  ge¬ 
schickter  Buchillustrator  aus.  Ln  Jahre  1857  bekleidete 
er  auf  kurze  Zeit  den  Ve)'waltu))gsposte))  für  die  alte)) 
Bilderschätze  Ma)U'heste)'s,  und  ))üch  i))  de]))selbe))  Jahre 
wurde  ilnu  hierauf  Ijei  Beg)'ü))dung  der  „National  PorL'ait- 
Galle)'y“  do'en  wichtiges  Di)'ektoran)t  a))vert)'aut.  L) 
letzterer  Eige))schaft  erwies  sich  Stharf  äußerst  zuvor- 
ko)n)ne))d  gego)  alle  Aufsehlusssuchenden,  und  da  be- 
ka)))it  war,  dass  er  die  ))))ifassendste  Porträtke))))tnis  i)) 
ganz  Engla))d  besaß,  so  galt  i))  zweifelhafte))  Fälle)) 
sein  Urteil  als  )naßgebe))d.  Sei))e  E)'fah)'U))g  u))d  sein 
Rat  wurden  von  Historikern,  Fachgelehrte.)),  Künstlern 
und  Sch)'iftstelle)'))  aller  Schattirungo)  häufig  i))  A))spruch 
ge.))onin)e)), 

Vo))  Seiten  der  R.egieru))g  wa)'  es  da)nals  der  P)'i))z- 


143 


DIE  NEUE  STAATLICHE  „NATIONAL  PORTRAIT-GALLERY“  IN  LONDON. 


Sir  George  Soharff;  gemalt  von  W.  Ouless. 


Geiiialü  Albert,  iler  sich  besonders  für  Scharf s  Idee 
erwärmte,  und  in  gleicli  günstigem  Sinne  vertrat  «lieselbe 
im  Parlament  der  Graf  Stanliope.  In  Gemeinscliaft  mit 
Scliarf  entwarf  er  die  Statuten,  die  nianclie  interessanten 
Punkte  und  liei  event.  Naehaiiniung  folgende  zu  be¬ 
herzigenden  Grundsätze  enthalten:  Bei  Ankäufen  oder 
Erwerb  durch  Schenkungen  soll  es  sich  in  der  Regel 
mehr  um  die  Berühmtheit  der  dargestellten  Person  als 
um  das  künstlerische  Verdienst  des  beti'eflenden  aus¬ 
führenden  Malers,  Bildhauers  oder  Kupferstechers  handeln. 
Die  Wertschätzung  einer  Person  soll  vollständig  unab¬ 
hängig  vom  politischen  oder  religiösen  Standjiunkte  aus 
geschehen.  (Hierbei  dürfte  man  zwar  unwillkürlich  an 
Goethe’s  AVorte  erinnert  werden:  „Ich  kann  wohl  ver¬ 
sprechen,  aufrichtig  sein  zu  wollen,  aber  nicht  un¬ 
parteiisch.“)  Ja,  selbst  große  Fehler  und  Iridiimer,  wenn 
sie  von  allen  Seiten  zugegeben  weialen,  sollen  nicht 
Veranlassung  sein,  das  Porträt  einer  Person  auszu¬ 
schließen,  welche  dazu  dienen  könnte,  die  Geschichte  oder 
die  Kunst  und  Wissenschaft  des  Landes  zu  erläutern. 
(Hierunter  sind  Leute  verstanden,  wie  etwa  Heinrich  VIII. 
und  Cromwell.  Erstereii  nennen  bekanntlich  die  Eng¬ 
länder  den  „butcher“,  d.  h.  Schlächter.)  In  dem  Galerie¬ 
katalog  dai'f  sich  ferner  kein  einziger  Name  befinden, 
der  einem  Gebildeten  zu  der  Fi'age  Vei-anlassung  geben 
könnte:  „Wer  ist  dieser  Mann  oder  jene  Frau?“  Weiter 
beschränkende  und  den  eventuell  enormen  Zuwachs  zur 
Eindämmung  dienende  Bestimmungen  sind  folgende: 
Erst  nach  10  Jahi'en  kann  das  Poidrät  einer  verstoii)enen 
Person  Zulassung  finden,  falls  alsdann  nicht  drei  Mit¬ 


glieder  des  Direktoriums  gegen  den  Erwerb  stimmen. 
Von  lebenden  Personen  finden  nur  der  König  und  seine 
Gemahlin  resp.  der  Souverän  einen  Platz  in  der  Staats¬ 
sammlung.  Dieses  Verbot  ist  ein  sehr  weises,  denn  nach 
zehn  Jahren  ändert  sich  oft  die  Beurteilung  über  den 
wahren  Wert  eines  Mannes,  und  die  streitenden  Leiden¬ 
schaften  von  Freund  und  Feind  haben  alsdann  in  dei' 
Regel  einen  mehr  ausgleichenden  oder  sogar  abschließen¬ 
den  Charakter  angenommen.  Das  Porträt  des  Prinzen- 
Gemahls  Albert  ist  von  Winterhalter,  und  die  Königin  ist 
dargestellt  in  der  Kopie  nach  einem  Bilde  von  l'rofessor 
H.  von  Angeli  in  Wien.  AAVnn  obige  Einscln-änkungen 
nicht  vorhanden  wären,  so  würde  es  in  England  un¬ 
zählige  Personen  geben,  die  jeden  Preis  einem  ersten 
Künstler  bewilligen  möchten,  um  ihr  Porträt  anzufeidigen, 
mit  der  geiilanten  Absicht  einer  Schenkung  an  das 
Museum.  Auch  selbst  ein  Staatsiustitut  würde  oft  der 
Wi’suchung  nicht  widei'steheu  können,  ein  an  und  für 
sich  hohes  Kunstwerk  herzugeben,  (digleich  nach  den 
Statuten  die  da.rgestellte  Person  eigentlich  nicht  in  die 
Sammlung  gehört.  AVie  aber  schließlich  die  Ausnahme 
die  Regel  bestätigt,  so  halien  sich  doch  einige  Porti'äts 
im  Widerspruch  mit  den  bezüglichen  Statuten  einen  Platz 
in  der  Galerie  ei'obert.  Ein  solches  Bild,  gemalt  von 
dem  Akademiker  AV.  Ouless,  stellt  Scharf  selbst  dar.  Dies 
Werk  zieht  sofort  )»ei  dem  Betreten  des  ersten  Saales  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  sich,  und  nimmt  dassellie  sozusagen 
überhaupt  den  Ehrenplatz  der  gesamten  Kollektion  ein. 


Tliumas  Cailyle;  Büste  von  E.  Böhm. 


144 


DIE  NEUE  STAATLICHE  „NATIONAL  PORTHAIT-GALLERY“  IN  LONDON. 


Charles  Darwin;  gemalt  von  John  Collier. 


Ferner  li;it  Watts,  in  seiner  geradezu  großartigen 
Oiderfreuiligkeit,  der  Galerie  das  von  seiner  Hand  ge¬ 
malte  Porträt  des  Itekanuten  Künstlers  und  Kiiust- 
mäcens  William  Morris  angeltoteu.  Die  Belieldlieit  des 
letzteren  war  so  allgemein  und  widersiiruclislos,  dass  aucli 
hier  die  Statuten  durcliliroelien  werden  dürften.  Morris 
liinterlässt  außer  andern  Kunstschätzen  eine  der  schönsten 
illuminirten  Idanuskript-Sammliingen  der  Welt. 

Von  den  ühiigeii  statutenmäßigen  Bestimmungen 
will  ich  noch  erwähnen,  dass  eine  Schenkung  nur  an¬ 
genommen  werden  darf,  wenn  mindestens  drei  Viertel 
aller  Mitgliedm-  des  Verwaltungsrates  dafür  stimmen, 
und  dass  in  der  Regel  keine  Kf>pie  eines  modernen  Bildes 
Aufnahme  findet.  Endlich  ist  untei-  klarer  Darlegung 
des  IMotivs  ein  Gruppeuhild  zulässig,  in  dem  teils  Ver¬ 
storbene,  teils  noch  Lebende  zusammen  dargestellt  sind. 
Ein  s(dche.s  Beispiel  ist  das  sehr  wertvolle  Gemälde, 
welches  der  Kaiser  von  Üsteareich  der  Sammlung  voi' 
längerer  Zeit  schenkte,  und  das  96  Porti’äts  von  eng¬ 
lischen,  zu  einer  Sitzung  im  Unterhause  vereinigten 
Parlamentsmitgliedern  enthält. 

Nach  vielen  Jahren  des  Wanderns,  wenn  gleich  in 
liOndon,  hat  nunmehr  diese  Staatssammlung  eine  ihrem  Wert 
und  ihrer  Wichtigkeit  eiits]irechende  Heimstätte  gefunden. 
Der  Staat  stellte  den  Baui)latz  zur  Verfügung  und  zwar 
unmittelhar  hinter  der  National-Galerie,  in  Trafalgar- 
Siiuare,  währerid  das  Baugeld,  80000  Mi-.  Henry 
Alexander  schenkte.  Tn  Mr.  Liouel  Cust  hat  das  In¬ 
stitut  nicht  nur  einen  würdigen  Nachfolger  Scharf’s  er¬ 


halten,  sondern  anch  einen  Direktor,  der  es  bereits  ver¬ 
standen  hat,  das  Museum  zu  dem  volkstümlichsten  in  ganz 
England  zu  erheben.  Nur  zum  Verdruss  vieler  lie- 
rechtigter  und  auch  unherechtigter  Personen,  welclie  die 
Plätze  au  den  Wänden  schon  vergehen  finden,  ei'weist 
sich  der  Raum  für  die  Zukunft  als  viel  zu  klein.  An¬ 
gesichts  der  unausgesetzten  Schenkungsangehote  ist  das 
Institut  lieinahe  ganz  mit  Bildern  gefüllt,  und  doch  leben 
allein  in  London  wenigstens  1000  l’ersonen,  die  auf 
einen  derai'tigen  Ehrenidatz  dereinst  Anspruch  erheben 
zn  können  glaulien.  Da  indessen  seihst  I\lr.  Alexander 
einen  siddien  Itisher  nicht  erhalten  hat,  so  scheint  es, 
dass  der  Wortlaut  der  Statuten  streng  dnrchgeführt 
werden  soll. 

Den  Ban  des  Hauses  leitete  der  Architekt  Christian, 
dm-  einen  ähnlichen  Plan  hierfür  annahm,  wie  ei-  der 
National-Galerie  in  Berlin  zu  Grunde  liegt.  Die  AVerke 
sind  in  di-ei  Etagen  untei'gehracht,  von  denen  in  der 
Hauptsache  bloß  die  höchste  durch  Oberlicht  erhellt  wird. 
Nur  ein  Saal  liesitzt  einen  Ranminhalt  von  50  Quadrat¬ 
fuß,  während  die  übrigen  zwischen  15—20  Quadratfuß 
variiren.  Wer  die  chronologische  Besichtigung  vor¬ 
zieht,  hat  seine  AVanderung  von  olien  nach  unten  d.  h. 
von  der  dritten  Etage  1ds  zum  Erdgeschoss  vorzunehmen. 
Da  wo  Menschen  schweigen,  reden  wohl  Steine  oder 
andere  einzelne  Denkmale,  gewaltig  und  eindringlich  zu 
uns,  alter  es  ist  doch  oft  schwer  für  minder  geschulte 
Kräfte,  diese  Sprache  zu  verstehen  und  aus  ihr  die  Ge¬ 
schicke  des  Einzelnen  oder  gar  eines  ganzen  Abtlkes  heraus¬ 
zulesen.  Hier  zieht  auch  für  den  weniger  kundigen 


Ch.  J.  Fox;  gemalt  von  K.  A.  lIiCKEL. 


145 


DIE  NEUE  STAATLICHE  „NATIONAL  PORTKAIT-GALLEllY“  IN  LONDON. 


Georgina  Spencer,  Herzogin  von  Devonshire; 
gemalt  von  J.  Reynolds. 

Tlieljiiiier  die  Geschichte  einer  Nation,  in  ihrer  vollen 
Gi’öße,  mit  allen  Fehlern  und  Irrtümern,  mit  Licht  und 
Schatten,  alle  Kulturepochen,  ihre  Helden,  Dichter,  Künstler 
und  Gelehrten  in  leicht  erkennharer  Übersicht,  wie  eine 
ununterbrochene  Eeihe,  rasch  und  gedrängt  an  uns 
vorüber.  Ein  imposanter  Todeszug!  —  Georg  Scharf 
liegann  seine  Sammlung  im  Jahre  1857,  wie  bereits  er¬ 
wähnt,  mit  zwei  Bildern.  Das  eine  davon  bestand  in 
einer  Schenkung  des  Grafen  von  Ellesmere,  und  zwar 
des  vielleicht  einzig  beglaubigten  Bildes  von  Shakespeare, 
das  überhaupt  vorhanden  ist.  Dieses  Bild  ist  bekannt 
unter  dem  Namen  „Chandos-Shakespeare“,  weil  es  hei 
seinem  langen  und  vielseitigen  Stammbaum  auch  in  den 
Besitz  des  Herzogs  von  Chandos-Buckingham  kam,  und 
dann  von  dem  Grafen  Ellesmere,  dem  Besitzer  der 
Bridgevvater-Galerie,  dem  Museum  als  Geschenk  über¬ 
lassen  wurde.  Die  Ansichten  über  den  Urheber  des 
Bildes  sind  schwankend;  keiner  der  genannten  Namen 
hat  vollen  Anspruch  auf  Glauliwiirdigkeit,  wenngleich 
das  Porträt  bei  Lebzeiten  Shakespeare’s  gemalt  zu  sein 
scheint.  Das  andere  Porträt,  Sir  Walter  Ealeigh  dar¬ 
stellend,  wurde  angekauft.  Der  Günstling  der  Königin 
Elisabeth,  der  zu  Ehi'en  er  seine  Kolonie  in  Amerika 
„Virginia“  nannte  und  den  jedermann  aus  Walter  Scott’s 
Eoman  „Kenilworth“  kennt,  ist  wahrscheinlich  von 
Federigo  Zuccaro  gemalt.  Am  Ende  des  .Tahres  1857 
konnte  Scharf  seine  ei'ste  Ausstellung  mit  56  Bildern 
eröffnen. 

Wenn  an  dieser  Stelle  außer  der  Eeihe  von  einigen 
Zeitscliiift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  6. 


Porträts  berichtet  wird,  so  geschieht  dies,  weil  die  be¬ 
treffenden  Personen  über  die  Wichtigkeit  einer  natio¬ 
nalen  Porträtsamnilung  schriftliche  Äußerungen  hintei- 
lassen  haben.  So  finden  wir  hier  zwei  Bilder  und  eine 
Büste  von  dem  großen,  Deutschland  so  wohl  gesinnten 
Historiker  Thomas  Carlyle.  Eines  der  Gemälde  stammt 
von  dem  kürzlich  verstorbenen  Präsidenten  der  Akademie, 
E.  Iffillais,  das  andere  von  ^Vatts;  die  Büste  ist  von 
Boehm  ausgeführt  und  der  Galerie  gesclienkt.  .LE.Boehm, 
ein  Wiener,  galt  als  der  erste  Bildhauer  seiner  Zeit 
in  England,  und  wurde  zur  Auszeichnung  als  Baron 
Edgar  Boehm  von  der  Königin  in  den  Adelstand  er¬ 
hoben.  Carlyle  sagt:  „ln  allen  meinen  historischen 
Forschungen  ist  eine  meiner  ersten  Soi-gen  stets  die,  inii' 
von  dei'  zu  besclireibendeu  Persönlichkeit  ein  gutes  Bild 
zu  verschaffen.  Ist  dies  nicht  möglich,  so  bin  ich  auch 
mit  einer  geringeren  Allbildung  zufrieden,  voi’ausgesetzt, 
dass  ein  solches  Kunstwerk  aufrichtig  gemeint  ist.  Es 
ist  mir  stets  aufgefallen,  dass  historische  Porträt-Galerieen 
nicht  nur  für  Gelehrte  den  größten  Wert  besitzen,  sondern 
dass  denselben  auch  vom  Publikum  das  denkbar  höchste 
Interesse  entgegen  gebracht  wird.  Ein  so  populäres 
und  beliebtes  Staatseigentum  sollte  jede  Nation  besitzen.“ 
Zu  dem  Bilde  des  berühmten  Philosophen  John  Locke, 
des  Vorgängers  von  Kant,  erscheint  es  nicht  uninteressant, 
folgende  Stelle  eines  Briefes  an  seinen  Freund,  den 
Novellisten  Collins,  zu  citiren:  „Bitten  Sie  Sir  Godfrey 
Kneller,  auf  die  Eückseite  von  Lady  Masham’s  Bild  und 


Barbara  Villiers,  Herzogin  von  Cleveland; 
gemalt  von  I’.  Lely. 

l'J 


146 


DIE  NEUE  STAATLICHE  „NATIONAL  L’OHTKAIT-CtALLEHIE“  IN  LONDON. 


C'beuso  des  nieinigen  ..Ladj'  Masham"  und  ,.Jolin  Locke“ 
zu  schreiben.  Dies  ist  nötig,  weil  gewöhnlich  in  zwei 
oder  drei  Generationeu  die  Namen  der  Porträts  von 
Privatpersonen  verloren  gehen.“  Das  l'orträt  des  un¬ 
übertrefflichen  Satirikers  Addison  erinnert  an  die  ersten 
Zeilen  der  von  ihm  begründeten  und  heute  noch  so  viel 
gelesenen  Zeitschrift  „Spectator",  in  welcher  er  die 
originelle  Idee  hatte,  sich  selbst  zu  beschreiben:  ,.Ich 
liabe  die  Demei'knng  gemacht,  dass  der  Leser  eines 
I  Juches  dasselbe  nur  selten  mit  ^'ergnügen  genießt,  bis 
er  weiß,  ob  der  ^'erfasser  brünett  oder  blond  ist,  ob  er 
einen  sanften  oder  cholerischen  Pharakter  besitzt,  und 
endlich  olj  er  verheiratet  odei'  ein  Junggeselle  ist?  Erst 
wenn  mau  ein  solches  Bild 
sielit,  oder  sicli  gemacht  hat, 
kann  man  zu  dem  rechten 
Verständnis  und  zur  Würdig¬ 
ung  eines  Autors  gelangen.“ 

Das  Porträt  Addison's,  von 
G.  Kneller  gemalt,  gieljt  dem 
Satiriker  Eecht,  denn  man 
erkennt  ihn  sofort  heraus. 

G.  Kneller,  den  die  Eng¬ 
länder  als  einen  der  ihrigen 
reklamiren,  war  ülirigens 
ein  Deutscher,  in  Lübeck 
1648  geboren,  und  hieß  ein¬ 
fach  Gottfried.  Allerdings 
war  er  einer  unserer  vielen 
Künstb'r,  die  in  England  zu 
Würde,  und  Ansehen  ge¬ 
langten,  dennvonWilhelm  IIP 
wurde  er  geadelt,  und  von 
Georg  I.  zum  Baron  gemacht. 

Berühmt  ist  Kneller  hanpt- 
säclilidi  durch  seine  ,.llamp- 
ton-Conrt-Schönlieiten“, 
welche  die  zahlreichen  Mai- 
tresseu  Karl’s  11.  darstellen. 

ln  dem  obersten  Stock¬ 
werk  sind  die  Porträts  derart 
geordnet,  dass  sie  uns  einen  kurzen  chronologischen 
ilberblick  von  dem  Jahre  11-34  bis  1700  gelten.  Sum¬ 
marisch  ansgedrückt  mag  Saal  I  als  die  Tndor-Periode 
Vtezeichnet  werden,  Saal  II  als  gehörig  zur  Zeit  Jacob’sl. 
und  Karl’s  I.,  der  Saal  HI  ist  Cromwell  gewidmet,  Nr.  IV 
und  VI  gehören  der  Eestanratiou  der  Stuart’s  an,  und 
Saal  V  erstreckt  sich  über  etwa  100  Jahre  von  Jacob  II. 
bis  zur  Mitte  der  Eegiernng  Georg’s  IIP  d.  h.  von  den  frühen 
Werken  Kneller's  bis  zur  besten  I'eriode  des  noch  heute 
am  höchsten  gescliätzteu  Malers  Joshua  Eeynolds.  — 
Das  mittlere  Stockwerk  enthält  Porträts  der  berühmten 
Künstler,  Litteraten  und  Männer  der  Wissenschaft  ans 
dem  18.  Jahrhundert,  sowie  Politiker  und  diverse  außer¬ 
gewöhnliche  Persönlichkeiten  der  genannten  Zeit.  Um 


zu  unsern  Zeitgenossen  zu  gelangen,  müssen  wir  in 
das  Erdgeschoss  herabsteigen,  wo  wir  namentlich  eine 
Serie  von  etwa  20  Bildern  beitihmter  Männer  von  der 
Hand  des  Watts  gemalt  linden,  ln  freigiebigster  Weise  hat 
der  große  Veteran  der  englischen  Künstlerschaft  die  ge¬ 
dachten  Werke  dem  Museum  zum  Geschenk  gemacht. 
Bei  Gelegenheit  eines  Atelierbesuchs  zeigte  mir  der 
Illeister  noch  ein  Dutzend  älterer  und  neuerer  Schö¬ 
pfungen,  welche  er  gleichfalls  der  Galerie  schenken  wird. 

Über  ein  derartiges  Institut  im  Detail  zu  sprechen, 
ist  hier  unmöglich.  Der  neue  ol'lizielle  Katalog  lautet: 
„Ilistorical  and  descriptive  Catalogue  of  the  National 
Portrait-Gallery“  hei'ausgegeben  von  Sir  George  Scharf, 

abgekürzt,  revidirt  und  fort¬ 
gesetzt  von  Lionel  Cust. 
Der  Katalog  ist  ein  Meister¬ 
werk  an  und  für  sich,  und 
wenn  er  für  manche  den 
Fehler  l»esitzt,  dass  er  nur 
ali)habetisch  nach  den  Namen 
der  dargestellten  Personen, 
und  weder  chronologisch  noch 
nach  Sälen  räumlich  geordnet 
ist,  so  wird  dieser  Mangel 
reichlich  aufgewogeu  durch 
die  kurze  Biographie,  die 
sich  unter  dem  Namen  des 
Meisters  bei  jedem  Bilde  an¬ 
gebracht  befindet.  Ganz  ge¬ 
drängt  sollen  einige  der  iii- 
teressautesteu  Namen  ge¬ 
nannt  werden,  und  zwar 
möglichst  solche,  bei  denen 
durch  den  Künstler  auch  für 
Ausländer  die  Bedeutung 
über  die  Person  des  Darge¬ 
stellten  hinausreicht  und  ein 
allgemeineres  Kunstiiiteresse 
hervoi'gerufen  wird:  die  Grä¬ 
fin  Albany,  Gemahlin  des 
Prätendenten  Stuart,  von 
Battoni;  Anna  Boleyn,  die  Älutter  der  Königin  Elisabeth; 
Arkwright,  der  Erfinder  des  modernen  Webstuhls;  Sarah 
Austin,  bekannt  durch  ihre  Übei'setzungen  von  Goethe; 
Bacon  von  Verulam,  gemalt  von  Paul  van  Somer.  Dieser 
große  Staatsmann  und  Philosoph  hinterließ  ein  Testament, 
welches  mit  denWorten  beginnt:  „Meinen  Namen  undEuhm 
vermache  ich  vorläufig  fremden  Nationen,  der  meinigen 
erst,  wenn  einige  Zeit  vorübergegangen  sein  wird.“  Der 
Kupferstecher  Bartolozzi,  von  John  Opie;  Disraeli,  von 
Millais ;  der  Herzog  von  Bedford,  von  Gainsborough;  der 
Staatsmann  Bolingbroke,  von  Eigaud  gemalt;  John  Bright, 
Gegner  der  Kornzölle,  von  Ouless;  der  erste  Herzog 
von  Buckingham,  von  Honthorst  dargestellt;  der  Staats¬ 
mann,  Eedner  und  Schriftsteller  Burke,  von  Eeynolds’ 


John  Churchill,  Herzog  von  Marlborongh; 
gemalt  von  CI.  Knelleii. 


DIE  NEUE  STAATLICHE  „NATIONAL  PORTRAIT-GALLERY“  IN  LONDON. 


147 


Hand;  der  schottische  Dichter  Robert  ßuriis,  von  Nas- 
myth;  Lord  Byron.  Der  Minister  Canning,  Marmorbüste 
von  Chantrey.  Die  Gemahlinnen  der  meisten  Könige 
aus  dem  Hause  Hannover  sind  Deutsche,  so  z.  B.  Wil¬ 
helmine  Caroline  von  Brandenburg-Ansbach ,  Gemahlin 
Georgs  II.  Ferner  Caroline  von  Braunschvveig,  Gemahlin 
Georgs  IV.,  ein  ausgezeichnetes  Porträt,  von  P.  Lawrence 
ausgeführt.  Von  Cromwell  finden  wir  eine  ganze  Reihe 
guter  Porträts  von  unbekannten  Meistern  nnd  zahlreiche 
Marmorbüsten.  Charles  Eduard  Stuart,  von  Largilliere 
gemalt.  Der  Graf  von  Chesterfield,  l)erühmt  durch  seine 
Briefe  an  seinen  Sohn;  Lord  Olive,  der  Begründer  der 
englischen  Herrschaft  in  Indien;  Graf  Cobham,  Feld¬ 
marschall  unter  Marlborough 
in  Flandern  und  Gesandter 
bei  Karl  VI.  in  Wien,  von 
P.Vanloo  gemalt.  Sir  Henry 
Cole,  der  Gründer  des  South- 
Kensington-Museum,  eine  aus¬ 
gezeichnete  Büste  von  E. 

Boehm  modellirt.  Cosvvay, 
der  berühmte  Miniaturmaler, 
hat  sein  Selbstporträt  ge¬ 
liefert,  ebenso  der  große  eng¬ 
lische  Landschafter  J.  Con¬ 
stable.  Die  Büste  des  Na¬ 
turforschers  Darwin  stammt 
von  E.  Boehm;  ein  Bild 
des  humoristischen  Schrift¬ 
stellers  Dickens  hat  Ary 
Scheffer  gemalt.  Georgin  a 
Spencer,  Herzogin  von  De- 
vonshire,  als  eine  Schönheits¬ 
königin  bekannt,  ist  als  Kind 
von  Reynolds  dargestellt. 

Der  Alchymist  Kenelm  Dig- 
by,  von  van  Dyck.  Dar¬ 
stellungen  der  Königin  Eli¬ 
sabeth  sind  mehrere  vor¬ 
handen,  so  von  Hilliard,  Zuc- 
caro  und  Marc  Gheeraedts,  desgleichen  von  ihrem  Günstling 
Robert  Essex.  Lady  Ellenborough,  bekannt  unter  dem  Na¬ 
men  „  Janthe“,  von  Hay  ter  gemalt.  Diese  Dame  war  die  Ge¬ 
mahlin  desVicekönigs  von  Indien,  ließ  sich  aber  1830  schei¬ 
den,  heiratete  nacheinander  den  Baron  Venningen  in  Mün¬ 
chen,  dann  einen  griechischen  General  und  zuletzt  Midfouet, 
einen  arabischen  Scheikh,  mit  dem  sie  sehr  glücklich 
25  Jahre  in  Damaskus  zusammenlebte,  trotzdem  der 
Wüstensohn  sie  gelegentlich  tüchtig  durchprügelte.  Der 
Buchstabe  „F“  bringt  uns  zu  dem  großen  Redner  James 
Fox,  zu  dem  Elektriker  Faraday,  zu  Benjamin  Franklin 
und  dann  zu  allen  den  Königen  mit  Namen  „Georg“, 
aber  auch  zu  dem  Selbstporträt  von  Gainsl)orougli,  zu 
dem  Schauspieler  Garrick  und  dem  Schriftsteller  Oliver 
Goldsmith,  von  Reynolds  gemalt.  Die  Büste  des  in 


Kharthum  gefallenen  Generals  Gordon  ist  ein  Werk 
E.  Boehm’s.  Nicht  minder  erregt  unser  Interesse  ein 
Porträt  der  schönen  aber  unglücklichen  Jane  Grey,  die 
sich  verleiten  ließ,  den  Titel  „Königin“  anzunehmen,  nnd 
von  Maria  der  Blutigen  im  Jahre  1555,  erst  18  Jahre 
alt,  hingerichtet  wurde.  Das  Bild  ist  von  Lucas  de 
Heere  gemalt.  Leonore  Gwynn,  von  Peter  Lely,  bringt 
uns  zurück  zu  den  „Hampton-Court-Schönheiten“ ,  die 
hier  fast  vollzählig  vorhanden  sind,  wenn  gleich  nicht 
immer  von  denselben  Meistern  wie  dort  dargestellt. 
Wenn  auch  sonst  auf  Nichts,  so  verstand  sich  doch 
Karl  11.  auf  Schönheit.  Aus  diesem  Grunde,  und  weil 
jene  Damen  in  das  Geschick  Englands  wesentlich  ein¬ 
gegriffen  haben,  und  weil  sie 
ferner  von  den  berühmtesten 
Malern  gemalt,  sowie  endlich 
ihre  Nachkommen  zu  Herzö¬ 
gen  von  Karl  11.  gemacht 
wurden  und  ihre  Familien 
noch  heute  bestehen,  haben 
sie  auch  einen  berechtigten 
Platz  in  der  „Porträt-Gale¬ 
rie“  gefunden.  Leonore,  von 
den  Engländern  Nell  Gwynn 
genannt,  war  ursprünglich 
Obstverkänferin,  dann  Schau¬ 
spielerin  nnd  Gelielhe  des 
Königs,  und  aus  diesem  Ver¬ 
hältnis  stammen  die  Herzoge 
von  St.  Albans.  Barbai'a 
Villiers  wurde  in  gleicher 
Weise  die  Stammmutter  der 
Herzöge  von  Cleveland,  von 
Southampton  und  von  Graf¬ 
ton.  Eine  andere  in  der 
Galerie  dargestellte  und  1682 
von  P.  Mignard  gemalte  Ge- 
Geliebte  des  Königs  ist  die 
ebenso  schöne  wie  intrigante 
Französin  de  Querouaille,  von 
der  die  Herzöge  von  Richmond  ihren  Ursprung  herleiten. 
Ludwig  XIV.  hatte  mit  Kennerblick  herausgefühlt,  dass 
diese  Dame  die  riditige  Person  für  Karl  II.  sein  würde. 
In  der  langen  Reihe  fehlt  nur  Lucy  Walters;  indessen  iln- 
Sohn,  der  Herzog  von  Monmoutli,  ist  vorhanden,  von  dem 
wiederum  eins  der  berühmtesten  englischen  Adelsge- 
schlechter,  die  Herzoge  von  Buccleuch,  abstammen.  — 
Wir  kommen  im  Katalog  dann  zu  dem  Komponisten 
Haydn,  zu  dem  Astronomen  Herschel  aus  Hannover,  zn 
Hogarth,  zu  all  den  Königen  namens  „Heinrich“,  zu 
Angelica  Kanffmann’s  Selbstporträt,  zum  Fehlmai'schall 
Keitli,  dem  Afrikaforscher  Livingstone,  dem  Historiker 
Macaulay,  zn  dem  Archäologen  Layard  nnd  zu  Leighton; 
die  beiden  letzteren  sind  von  Watts  gemalt,  ebenso  der 
Kardinal  Manning.  Der  Herzog  von  Marlborough  und 


G.  Roinuay,  Selbstporträt. 


1')* 


14S 


GESCHICHTE  DER  CHRISTLICHEN  KUNST. 


seine  GemaLlin  sind  von  Ivneller  der  Naeliwelt  über¬ 
liefert.  Selbstverstcändlicli  reich  vertreten  sind  die  Porträts 
von  Naria  Stuart  (Janet  und  Oudry)  und  ihrem  sagen¬ 
umwobenen  Hause,  fortgesetzt  bis  zum  letzten  des 
Stammes,  dem  Kardinal  von  York,  der  als  Kind  von 
Largilliere  gemalt  wurde.  In  bunter  Reihe  folgen  dann : 
Milton.  Thomas  Moore,  Nelson,  die  von  Boehm  modellirte 
Büste  Lord  Napiers,  Palmerston,  Peel,  Pitt,  Isaac  New¬ 
ton,  Walter  Scott,  die  große  Tragödin  Sarah  Siddons 
und  Sophia  Dorothea,  Mutter  Friedrich’s  des  Großen! 
Eins  der  besten  Bilder,  die  Watts  überhaupt  gemalt  hat, 
ist  das  des  Oberbibliothekars  Panizzi,  der  abgesehen  von 
andern  Verdiensten  auch  den  Lesesaal  im  Britiscli-Museum 
errichtete.  Nach  den  Königen  „Richard“  erfreuen  wir 
uns  an  Reynolds’  Selbstporträt.  Dann  geraten  wir  in 
die  Dam])fkraft,  d.  h.  zu  den  Namen  Stephenson  und 
Watt,  um  endlich  mit  Wellington,  Wesley,  dem  Gründer 
der  Methodisten.  Wren  (Kneller),  dem  Architekten  des 
modernen  Lnudiui,  und,  last  not  least,  um  mit  dem 
Philanthropen  Wilberforce  zu  schließen,  der  seine  ganze 
Lebensthätigkeit  der  Aufliebung  der  Sklaverei  widmete. 

ln  England  macht  sich  eine  ungemein  bemerkbare 
Bewegung  geltend,  um  diese  Porträt-Galerie  im  weitesten 
Sinne  als  Erziehungsmittel  für  die  Jugend  zu  verwerten. 
Sir  .Joshua  Fitch,  Ehrenpräsident  der  „Lehrer-Vereinigung 
Englands",  hielt  vor  einer  zalilreich  besuchten  Versamm¬ 
lung  der  Mitglieder  der  gedachten  Gesellschaft  einen 
Vortrag  über  den  erziehlichen  Nutzen  des  gedachten 
Instituts.  Der  Vortragende  erläuterte  an  einzelnen 
Bildern,  in  welcher  Weise  dieselben  der  Jugend  erklärt 
werden  müssten,  um  die  Vaterlandsliebe  zu  befestigen  und 
den  Sinn  für  Schönes,  Hohes  und  Edles  zu  erwecken. 
Der  regelmäßige  Besuch  der  Unterrichtsanstalten  in  ge¬ 


eigneten  Zeitabschnitten  wird  neben  anregender  Unter¬ 
haltung  gleichzeitig  ein  mächtiges  pädagogisches  Hilfs¬ 
mittel  bilden.  Voraussetzung  dazu  ist  selbstverständ¬ 
lich  eine  den  Schülerkräften  richtig  angepasste  individuelle 
Belehrung,  die  in  gesunden  Grundsätzen  ihre  Basis  hat. 

Die  Statistik,  welche  in  unser m  modernen  Leben 
eine  so  große  Rolle  spielt,  liat  festgestellt,  dass  kein 
Institut  in  London  eine  derartige  Zunahme  des  Besuclie.s 
aufzuvveisen  hat,  wie  das  obige.  Wie  wichtig  und  be¬ 
lehrend,  nicht  minder  wie  genussreich  eine  derartige 
Sammlung  zu  durchvvandeln  ist,  bedarf  kaum  der  Er¬ 
wähnung.  Mit  spielender  Leichtigkeit  für  unser  Ver¬ 
ständnis  zieht  die  gesamte  Geschichte  und  Entwicklung 
der  Nation  an  uns  vorülter!  In  Deutschland  und  in  Öster¬ 
reich  wäre  ein  derartiges  Unternehmen  niclit  allzu  schwer 
ins  Leljen  zu  rufen,  vorausgesetzt,  dass  staatliche  Institute, 
die  Fürstenhäuser  und  einzelne  Privatpersonen  von 
ihrem  Bilderschatz  etwas  abgeben.  Ist  die  Begründung 
erst  einmal  erfolgt,  so  hat  hier  die  Ertährung  gelehrt, 
dass  ein  solches  Museum,  und  zwar  aus  sehr  nahe 
liegenden  Gründen,  vor  Schenkungsangeboten  der  besten 
Kunstobjekte  sich  kaum  zu  retten  vermag.  Der  Durch¬ 
schnitt  beträgt  hier  jährlich  200  Bilder  und  Büsten. 
Wenn  die  für  England  maßgebenden  Grundsätze  Deutsch¬ 
land  und  Österreich  angepasst  und  den  besonderen  Eigen¬ 
tümlichkeiten  hier))ei  Reclmung  getragen  wird,  so  ist  es 
gleichgültig,  ob  ein  solches  Museum  in  Berlin,  Dresden, 
Leipzig,  München  oder  Stuttgart  errichtet  wird;  für 
Österreich  dürfte  es  wohl  nur  Wien  sein.  Das  Motto; 
„Den  Toten  zum  Gedächtnis,  den  Lebenden  zur  Nacb- 
eiferung“  muss  der  leitende  Gedanke  bleiben! 

r.  SCHLEINITZ. 


F.  X.  KRAUS,  GESCHICHTE  DER  CHPISTLICHEN  KUNST.') 


AS  vorliegende  Buch  nimmt  einen  von 
den  vorhandenen  Lehr-  und  Handbüchern 
der  Kunstgeschichte  grundsätzlich  ab¬ 
weichenden  Standpunkt  ein.  Es  fasst  nur 
die  Kunst  der  christlichen  Völker  und 
auch  diese  nur  von  ihrer  religiösen  Seite 
ins  Auge.  Es  will  vor  allem  den  Inhalt  der  Darstel¬ 
lungen  betonen.  Die  Betrachtung  ist  eine  vorwiegend 
religions-  und  kulturgeschichtliche.  Der  Verfasser  spricht 
zu  uns  als  Theolog  und  will  diesem  das  Recht  vindizirt 
wissen,  in  den  die  geistige  Welt  der  christlichen  Kunst 


1)  GefirJn'rlilc  dor  chrisfliehen  Kxnsf.  Von  Franz  Xaver 
Kraus.  Erster  Band.  Vllt  und  ü21  S.  Mit  zahlreichen 
ninstrationen.  Freibnrg  i.  Br.,  Herder  1800.  Gr.  8". 


betreffenden,  namentlicb  in  den  ikonographischen  Fragen 
als  Stimmführer  betrachtet  zu  werden. 

Dabei  soll  aber  das  AVerk  ein  streng  wissen¬ 
schaftliches  sein.  Die  neueste  Forschung  wird  darin 
gewissenhaft  berücksichtigt;  alle  Kontroversen  sind  mit 
vollständiger  Umschau  über  das  gelehrte  Material  gründ¬ 
lich  und  sachlich  erörtert.  Als  Leser  denkt  sich  der 
Autor  in  erster  Linie  die  theologischen  Kreise,  und  es 
ist  gewiss  ein  berechtigter  Wunsch,  wenn  er  es  sich 
angelegen  sein  lässt,  die  Geistlichen  wieder  in  ein 
lebendiges  Verhältnis  zur  Kunst  zu  bringen. 

Als  wichtiges  Hilfsmittel  der  Darstellung  dienen 
die  Abbildungen,  von  denen  ein  Teil  den  frühei’en 
Werken  des  Verfassers  der  „Roma  sotterranea“  und  der 
„Real-Encyklpädie  der  christlichen  Altertümer“  entlehnt. 


GESCHICHTE  DER  CHRISTLICHEN  KUNST. 


149 


ein  anderer,  größerer  Teil  nen  angefertigt  sind.  Die 
Wahl  ist  eine  selir  glückliclie  zn  nennen  und  das  Ver¬ 
hältnis  von  Abbildung  und  Text,  was  Zahl  und  Größe 
der  Bilder  anbelangt,  das  richtige.  In 
manchen  neueren  Darstellungen  der 
Kunstgeschichte  ist  dies  leider  nicht 
der  Fall,  so  dass  wir  mein-  Bilder-  als 
Lehrbücher  vor  uns  zu  haben  glauben. 

Kraus  beginnt  mit  einer  litterar- 
geschichtlichen  und  bibliographischen 
Einleitung  in  den  Gegenstand  des  Buches, 
die  wir  besonders  wmgen  der  Übersicht 
über  die  bisherige  Litteratur  und  über 
die  Beteiligung  der  verschiedenen  Völker 
an  der  christlichen  Kunstwissenschaft 
beachtenswert  linden.  Einige  moderne 
kunstgeschichtliche  Bücher  geben  sich 
das  Ansehen,  als  ob  sie  den  Gegenstand 
zum  ersten  Mal  behandelten.  'Weder 
(Quellen  noch  Hilfsmittel  werden  citirt. 

Es  giebt  nur  den  einen  Autor,  den  wir 
vor  uns  haben.  Bei  Kraus  gewinnen 
wir  dagegen  einen  sehr  anregenden 
Überblick  über  die  Entwickelung  der 
Kunstgeschichte  als  Wissenschaft,  über 
die  verschiedenen  Eichtungen  derselben, 
auch  über  ihre  Beziehungen  zur  all¬ 
gemeinen  Geschichte,  zur  Ästhetik  und 
zu  anderen  angrenzenden  Fächern. 

In  der  Einleitung  begründet  der 
Verfasser  auch  die  in  seinem  Buche 
durchgeführte  Gliederung  des  Stoffes. 

Er  zieht  die  Grenzscheide  zwischen 
der  älteren  und  neuei’en  christlichen 
Kunst  an  der  Wende  des  13.  und  14. 

Jahrhunderts.  „Bis  dahin“  —  sagt 
er  —  „wmr  der  Betrieb  der  Kunst  mehr 
handwerklicher  Natur,  dem  Inhalte  nach 
war  sie  an  überlieferte  Typen  und  Tra¬ 
ditionen  gebunden;  ihr  Zweck  war  lehr¬ 
haft,  ihre  Mittel  sind  zum  guten  Teil 
rein  symbolisch,  sie  bewahrte  den  Cha¬ 
rakter  der  Erhabenheit,  Strenge  und  er¬ 
baulichen  Würde.“  In  diesen  ersten 
Zeitraum  rechnet  Kraus  die  Entwicke¬ 
lung  von  der  ältesten  christlichen  Kunst 
bis  zur  Frühgotik.  „Mit  Dante  und 
Giotto  (um  1300)  vollzieht  sich  in  Poesie 
und  Malerei  die  Entdeckung  der  Natur 
der  Seele.  Von  jetzt  an  will  innerlicli 
Erlebtes  dargestellt  werden.“  (Zweitei- 
Zeitraum.)  Den  dritten  Zeitraum  bildet  sodann  die  Re¬ 
naissance.  Das  Quattrocento  „entdeckt  die  äußere  Natur 
und  Schönheit  des  menschlichen  Leibes“  (Naturalismus  der 
.Niederländer  und  Florentiner.)  Das  Cin([necento  ist  die 


Blüte  dieser  Richtung.  In  ilim  sehen  wir  den  „inneren  Zu¬ 
sammenhang  mit  dem  Geiste  und  den  religiösen  Idealen  des 
ersten  und  zweiten  Zeitraums  bewahrt“  und  auf  solche 


Weise  den  Gipfel  des  christlichen  und  modernen  Knnst- 
lebens  erreicht  (Lionardo,  Miclielangelo,  Raffael,  Dürer). 
Bis  hiei  lier  können  wir  die  Einteilung  des  Verfassers  im 
Wesentlichen  gntheißen.  Anders  ist  es  dagegen,  wenn 


Sarkophag  aus  Perugia.  (Aus  F.  X.  Kraus;  Geschichte  der  ohristlicheu  Knust,  I.  Band.  Freiburg  i.  Br.,  Herder  1886.) 


150 


GESCHICHTE  DER  CHRISTLICHEN  KUNST. 


er  von  nun  an  gar  nichts  als  Verfall  und  Profanisirung 
der  christlichen  Kunst  erblicken  will.  In  seinem  vierten 
Zeitraum  erscheinen  unter  diesem  Gesichtspunkte  Giulio 
Romano,  Holbein  und  Rembrandt  zusammengestellt, 
—  ein  seltsames  Triumvirat.  Im  fünften  Zeitranni 
entfremdet  sich  die  Kunst  gänzlich  den  christlichen 
Idealen,  um  erst  im  sechsten  (durch  die  Nazarener) 
„eine  Repristination“  ihrer  alten  Traditionen  zu  er¬ 
reichen,  die  jedoch  bald  wieder  hinstarb.  Am  anfecht¬ 
barsten  in  dieser  Stoffglieilerung  ist  wohl  die  dem 
Remlirandt  angewiesene  Position.  Wir  dächten,  dass 
gerade  er  die  entschiedenste  seelische  Vertiefung  des  christ¬ 
lichen  Darstellungskreises  repräsentirte!  Auch  dem 
Barockstil  wird  Kraus  durch  das  einseitige  Betonen 
seines  profanen  Wesens  nicht  gerecht.  Es  liegt  in  der 
glänzenden  symphonischen  Entwickelung  der  Künste 


des  Barocco  ein  kirchliches  Element  geborgen,  über 
dessen  mächtige  Wirkung  auf  das  andächtige  Volk 
ddcli  wohl  kein  Zweifel  besteht.  Die  Einseitigkeiten  und 
Schiefheiten  in  der  Auffassung  des  Autors  erklären  sich 
unserer  Ansicht  nach  daraus,  dass  bei  ihm  der  christ¬ 
liche  Archäologe  den  Historiker  überwiegt. 

Dies  bestätigt  auch  die  Behandlung  des  Stoffs  im 
Einzelnen.  Schon  dem  Raume  nach.  Von  den  zwei 
Bänden,  auf  die  das  Ganze  berechnet  ist,  umfasst  der 
vorliegende  erste  nur  die  christliche  Kunst  der  primitiven 
Zeiten  nebst  den  Anfängen  der  künstlerischen  Thätigkeit 
bei  den  nordischen  Völkern.  Wenn  der  Autor  seinen 
Rahmen  nicht  beträchtlich  erweitern  will,  wird  er  die 
Kunst  des  Mittelalters  und  die  der  Renaissance,  die 
doch  nach  ihm  die  Blüte  des  christlichen  Stils  bezeichnet, 
in  sehr  kursorischer  Form  vortragen  müssen. 

Von  den  bisher  vorliegenden  Abschnitten  sind  die 


ersten  am  gewichtigsten.  Hier  bewährt  sich  der  Autor 
von  neuem  als  Meister  des  Stoffs:  nicht  nur  die  Formen¬ 
welt  der  ältesten  christlichen  Kunst,  sondern  vor  Allem 
die  in  ihr  aufkeimemlen  neuen  Ideen  und  Vorstellungs¬ 
kreise  werden  uns  zur  vollen  Anschaulichkeit  und  Klar¬ 
heit  gebracht.  Für  das  Studium  der  Anfänge  des  christ¬ 
lichen  Lebens  und  seiner  Äußerungen  in  der  bildenden 
Phantasie  ist  das  Buch  von  Kraus  der  beste  Führer. 
Der  Autor  schickt  nicht,  wie  es  üblich  ist,  die  Architektur, 
sondern  die  Malerei  voraus,  lässt  darauf  die  Plastik  und 
dann  erst  die  Baukunst  folgen.  Das  hat  seinen  guten  Grund. 
Die  Wiege  der  christlichen  Kunst  ist  in  den  Malereien 
der  Katakomben  zu  suchen.  Die  Kunstgeschichte  be¬ 
ginnt  auch  hier,  wie  im  heidnischen  Altertum,  mit  der 
Archäologie  des  Grabes.  Dieser  Umstand  zwingt  den 
Autor  allerdings,  über  die  Katakomben,  ihre  Anlage  und 
räumliche  Ausbildung  einige  Be¬ 
trachtungen  vorauszuschicken,  die 
dann  in  dem  Kapitel  über  die  Ar¬ 
chitektur  ihre  bestimmtere  Fassung 
und  Ausführung  finden.  Aber  für 
den  ikonographischen  und  archäo¬ 
logischen  Standpunkt  des  Verfassers 
ist  das  Vorschieben  der  bildenden 
Künste  der  beste  Weg,  um  uns  in 
die  geistige  Welt  des  Urchristen¬ 
tums  einzuführen.  Wir  beobachten 
hier  das  allmähliche  Hervorwachsen 
der  symbolisch-allegorischen  Kunst 
der  ersten  christlichen  Jahrhun¬ 
derte  aus  den  \Mrstellungskreisen 
der  griechisch-römischen  Kultui’. 
Wir  lernen  die  Bedeutung  der  ein¬ 
zelnen  Typen  und  Zeichen  kennen. 
Wii'  sehen,  wie  die  Gedanken¬ 
sphären  und  die  Erzählungen  der 
Bibel,  dann  die  Geschichten  der 
Heiligen  und  Märtyrer  in  den  Dai’- 
stellungskreis  der  Kunst  eintreten.  An  die  Malereien 
in  den  Katakomben  werden  die  Mosaikbilder,  die  Minia¬ 
turen  und  die  sonstigen  Werke  der  Kleinkunst  angereiht, 
um  das  reiche  Lebensbild  der  frühchristlichen  Welt  zu 
vervollständigen.  Ein  kurzes  Kapitel  schildert  die  alt¬ 
christliche  Skulptur.  Sie  ist  im  wesentlichen  Kleinjilastik 
und  dekorative  Kunst.  Nur  die  Reliefs  der  Sarkophage 
nehmen  eine  höhere  geistige  Bedeutung  in  Anspruch. 
Die  Anzahl  der  größeren  statuarischen  Bildungen  ist 
gering.  Kraus  stimmt  der  von  Wickhoif  in  unserer 
Zeitschrift  ausgesprochenen  Ansicht  bei,  dass  die  viel¬ 
besprochene  große  Bronzestatue  des  Apostels  in  der 
Peterskirche  zu  Rom  nicht  der  altchristlichen  Zeit, 
sondern  erst  dem  Mittelalter  angehöre. 

Den  Abschnitt  über  die  Baukunst  der  alten  Christen 
beginnt  Kraus  mit  einer  lichtvollen  Erörterung  des  Ver¬ 
hältnisses  der  Basilika  zum  Ökus  und  zur  Katakomben- 


S.  Aguese  Fuori  le  Miiia.  (Aus:  F.  X.  Ki’aus,  Geschichte  der  christlichen  Kirnst, 
Band  I.  Freiburg  i.  Br.,  Herder  1896.) 


GESCHICHTE  HEU  CHRISTLICHEN  KUNST. 


151 


kapelle.  Hie  ältesten  cliristliclieu  Gemeinden  kamen  in 
den  zu  Betsälen  unigewandelten  Hansbasiliken  ziisaninien. 
Die  Kapellen  im  Inneren  der  Katakomben  dagegen 
dienten  wohl  zu  speciellen  Kultusbandlungen  über  den 
Gebeinen  hervorragender 
Märtyrer,  aber  nicht  für  den 
i'egelmäßigen  Gottesdienst. 

Wichtig  für  die  Entwicke¬ 
lung  des  christlichen  Kirchen¬ 
baues  sind  die  kleinen  Bet¬ 
häuser  (Memoriae,  Cellae  ci- 
miteriales)  über  den  Kata¬ 
komben,  von  denen  uns  in 
den  sogenannten  Basiliken 
des  heil.  Sixtus  und  der  heil. 

Cacilia  über  der  Katakombe 
von  S.  Callist(j  zwei  merk¬ 
würdige  Beispiele  erhalten 
sind.  Ihr  absidial  abschlie¬ 
ßendes  Innere  diente  dem 
Kultus,  an  dem  das  Volk 
unter  freiem  Himmel  stehend 
teil  nahm.  Wenn  an  Stelle 
des  offenen  Baumes  ein 
Hallenbau  trat,  so  war  die 
Basilika  fertig.  Und  für  die 
Gestaltung  dieses  in  der  Ke¬ 
gel  dreischiffi  gen  Hallen  baues 
mag  sowohl  die  Hausbasilika 
als  auch  die  forensische  Basi¬ 
lika  der  Kölner  die  Motive 
dargeboten  haben. 

Nachdem  der  Autor  dann 
die  Denkmäler  des  Basiliken¬ 
baues  im  Einzelnen  geschil¬ 
dert  hat,  geht  er  zu  dem 
zweiten  Typus  der  christli¬ 
chen  Kirchenanlagen  über, 
zum  Centralbau,  welcher  sich 
aus  den  Kotunden  und  Koly- 
gonbauten  der  Körner  ent¬ 
wickelte.  Hier  wird  beson¬ 
ders  die  mannigfliche  Ausbil¬ 
dung  des  Kuppelbamsystems 
betont,  welche  in  die  Zeit 
vom  4.  bis  G.  Jahrhundert 
nach  Chr.  fällt.  Ein  lehr¬ 
reiches  Kapitel  übei'  die  kirch¬ 
lichen  Einrichtungsstücke  beschließt  diese  sehr  gehalt¬ 
volle  und  vortrefflich  illustilrte  Abteilung. 

Die  folgenden  Abschnitte  gelten  der  weiteren  Ent¬ 
wickelung  der  christlichen  Malerei  (vom  4.  bis  G.  Jahr¬ 
hundert),  sowie  den  Kleinkünsten  und  Kunstgewerben 
jener  Epoche.  Aus  den  letzteren  Kapiteln  heben  wir 
die  Abschnitte  über  die  Elfenbeinplastik  und  über  die 


neueidings  durch  die  ägyptischen  Eunde  so  bedeutsam 
gewordene  Textilkunst  besonders  hervor.  Die  Schluss¬ 
kapitel  des  ersten  Bandes  füllen  die  byzantinische  Kunst 
und  die  Anfänge  der  Kunstthätigkeit  bei  den  nordischen 


Völkern.  In  Betreff  der  Stellung  von  Byzanz  erklärt  sich 
Kraus  unseres  Erachtens  mit  Keclit  gegen  die  über¬ 
triebene  ^Vertschätzung,  welche  manche  Geleinte  der 
jüngeren  Generation  der  oströmischen  Kunst  haben  an- 
gedeilien  lassen.  Die  hohe  Stellung  der  Sophienkirche 
in  der  Kaumkunst  aller  Zeiten  bleibt  unangefochten. 
Auch  die  Feinheit  des  plastischen  Marmorstils  der  Byzan- 


152 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


tiner  ist  allerseits  anerkannt,  ln  ilir  lebt  ein  altlielle- 
nisclies  Element  fort.  Von  mächtigen  geistigen  Impulsen, 
die  in  der  byzantinischen  Kunst  gewirkt  und  sich  auf 
Europa  fortgeptlanzt  hätten,  kann  nicht  die  Eede  sein. 
Ungemein  anziehend  ist  die  Lektüre  der  letzten,  den 
hallibarbarischen  Kunstversuchen  unserer  nordischen  Vor¬ 
eltern  gewidmeten  Seiten  des  Buches.  Kraus  weiß  uns 
die  Urzeit  so  nahe  zu  bringen,  dass  wir  das  Echo  zu 
vernehmen  glauben,  welches  die  erste  christliche  Stimme 
in  den  Wäldern  unserer  Heimat  einst  hervorrief.  Wir 
beobachten  die  Ül)ertragung  der  altnordischen  oder  alt- 
asiatischen  Zierformen  in  das  westliche  Europa,  wir  sehen 


sie  hier  mit  römisclien  Motiven  sich  vermischen,  ln 
Poesie  und  Kunst  dilngen  dann  die  Vorstellungen  der 
neuen  Lehre  ein.  So  entsteht,  was  wir  Karolingische 
Kultur  nennen,  eine  Mischform  römisch-christlichen  und 
germanischen  Wesens.  Die  mönchische,  die  klösterliche 
Kunst  wartet  vor  der  Thür.  Wir  stehen  an  der  Pforte 
des  Mittelalters.  Mit  dem  Hinweis  auf  die  hohe  Be¬ 
deutung  des  Benediktinerordens  für  'die  Kultur  Europa’s 
um  die  Wende  des  ersten  Jahrtausends  nach  Chr.  schließt 
Kraus  die  Darstellung  seines  ersten  Bandes.  Möge  es 
ihm  vergönnt  sein,  uns  bald  den  zweiten  in  gleicher 
Gediegeidieit  und  Schönheit  zu  beschei'en!  G.  r.  L. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


"  LcDiijsiraßc  mif  Alt-St.  Vctcr  in  Sfraßbury  i.E.  Oiigiiial- 
radiriing  von  H.  Küriiije.  Wer  bei  seiner  Ankunft  in  Straß- 
tmrg,  vom  Balndiof  rasch  vorwärtsschreitend,  auf  kürzestem 
Wege  durch  die  Langstraße  zum  Hauptziel  eines  jeden 
Touristen,  dem  Münster  gelangen  will ,  der  sieht  sich  un- 
luittcdbar  nach  Überschreitung  des  in  die  111  führenden 
Kanals  unwillkürlich  durch  ein  altertümliches  Bauwerk  ge¬ 
fesselt,  das  trotz  seines  verwahrlosten  Zustandes  doch 
charakteristisch  genug  ist,  um  gleichsam  als  Wächter  am 
Eingang  zum  alten  Straßburg  zu  stehen.  Es  ist  die  alte 
St.  Peterskirche  mit  ihrem  irngleichen  Paar  von  Türmen,  von 
denen  sich  der  eine  zu  einer  beträchtlichen  Höhe  empor¬ 
streckt.  Er  ist  freilich  im  Vergleich  zum  Münstertnrm  nur 
ein  Zwerg;  aber  er  trägt  dafür  den  ehrwürdigen  Rost  des 
Alters,  der  dem  Münster  durch  beständige  Restaurationen 
mit  der  Zeit  verloren  gegangen  ist.  Der  Radirer,  der  es  sich 
zu  seiner  Lebensaufgabe  gemacht  hat,  die  köstlichen  archi¬ 
tektonischen  Winkel  des  deutsclien  Eisass  den  Augen  aller 
Kunstfreirnde  im  Reich  zu  öffnen,  hat  sich  denn  auch  einen 
Platz  am  Anfang  der  Langgasse,  mit  dem  Rücken  gegen  die 
innere  Stadt,  ausgesucht,  so  dass  das  Bild  einer  mittelalter¬ 
lichen  Stadt  uns  in  einer  durch  moderne  Zuthaten  wenig 
entstellten  Reinheit  vor  Augen  geführt  wird.  Über  seine 
Persönlichkeit  haben  wir  den  Leser  im  Februarhefte  der 
Zeitschrift  unterrichtet.  Seine  Begabung  für  die  Architektur- 
Hadirung  tritt  in  diesem  zweiten  Blatte  noch  stärker  zu  Tage 
als  in  seinem  ersten.  It. 

*  Bittere  Medizin.  Nach  dem  Bilde  von  Adriaen  Broiiivcr 
im  Städel’schen  Museum  in  Frankfurt  a.  M.  gestochen  von 
Otto  Heim.  Dieses  Bild  des  genialen  Meisters,  der  als  mehr¬ 
fach  auf-  und  alrwandelnder  Parteigänger  eine  Brücke  zwischen 
holländischer  und  vlämischer  Kunst  gebaut,  einen  Rubens 
zur  Bewunderung,  einen  Teniers  zu  gelegentlicher  Nach¬ 
ahmung  gezwungen  hat,  gehört  zu  der  Reihe  von  Halb- 
tiguren,  in  denen  Brouwer  nach  der  geistigen  Richtung  seiner¬ 
zeit  Allegorieen  zu  Menschen  gemacht  hat.  Der  wüste 
(ieselle,  der  vermutlich  zu  den  Zechgenossen  Brouwer’s  ge¬ 
hört  hat,  soll,  wie  wir  aus  Analogieen  wissen,  ein  Sinnbild 
des  Geschmacks  sein,  einer  aus  der  Reihe  der  fünf  Sinne, 
die  Brouwer  in  einem  Cyklus,  nach  seiner  Art,  dargestellt 
hat.  Der  Geschmack  äußert  sich  bei  diesen  Leuten  nur  dann 
drastisch,  wemr  sie  etwas  unerträglich  Bitteres  zu  trinken  be¬ 
kommen,  in  dem  nichts  Anregendes  zu  finden  ist.  ln  diesem 


unangenehmen  Falle  befindet  sich  der  Mann,  den  sich  Brouwer 
zum  Reiiräscntanten  des  „Geschmacks“  auserlesen  hat,  frei¬ 
lich  um  eine  meisterliche  Studie  daraus  zu  machen.  In 
ihrer  geistsprühenden  Behandlung  —  sie  ist  wohl,  so  zu  sagen 
auf  einem  Sitz,  alla  jtrinia  gemalt  —  übt  sie  auf  den  Stecher 
einen  unwiderstehlichen  R.eiz  zum  Wettkamjif  aus,  und  den 
hat  auch  Otto  Reim  empfunden,  als  ihm  die  Gelegenheit 
wa.r<l,  sich  täglich  mit  diesem  malerischen  Tausendkünstler 
vertraut  zu  machen.  Im  Jahre  1864  geboren,  ist  Otto  Reim 
1882  Schüler  der  Berliner  Kunstakailemie  geworden.  Nach¬ 
dem  er  sich  für  die  grajdiischen  Künste  entschieden  hatte, 
genoss  er  ■anderthalb  J-alire  lang  den  Unterricht  Hans  Meyer’s, 
und  nach  Überwindung  der  Lehrzeit  wurde  er  vom  Ende 
des  Jahres  1888  bis  zum  Anfang  1894  für  d-as  Berliner  Galerie- 
werk  beschäftigt,  wobei  ihm  freilich  meist  die  Reproduktion 
von  Gemälden  der  älteren  italienischen  Schulen  zufiel,  die 
seinem  Wesen  nicht  sehr  zusagten.  Seine  Leistungen  waren 
trotzdem  so  befriedigend,  dass  er  im  Oktober  1894  als 
Assistent  an  das  Städel’sche  Kunstinstitut  in  Frankfurt  a.  M. 
berufen  und  auch  mit  der  Leitung  des  Kabinetts  für  Kupfer¬ 
stiche  und  Handzeichnungen  betraut  wurde.  Er  blieb  jedoch, 
nur  eiir  Jahr  in  dieser  Stellung,  um  sich  fortan  wieder  freier 
künstlerischer  Thätigkcit  zu  widmen.  Während  seines  Auf¬ 
enthalts  in  Frankfurt  stach  er  u.  a.  auch  dieses  Blatt,  weil 
ihn,  wie  er  uns  schreibt,  „das  Original  durch  seine  ungemein 
frische,  lustige  Technik  reizte.“  Er  betrachtet  es,  wie  er 
hinzufügt,  ülirigens  nicht  im  allgemeinen  als  die  Aufgabe 
des  Stechers,  ,,die  Pinselstriche,  die  er  dem  Maler  nachfühlen 
muss,  sklavisch  zu  kopiren.“  ln  diesem  Falle  musste  cs  aber 
geschehen.  ,,Wenn  man  bei  diesem  Bilde  von  der  Mal¬ 
technik  alisieht,  so  bleibt  nicht  viel  übi-ig,  so  ist  der  Haupt¬ 
reiz  nicht  wiedergegeben.“  Das  gilt  nicht  bloß  von  diesem, 
somlern  vorr  den  meisten  Bildern  Brouwer’s,  bei  denen  fast  immer 
das  gegenständliche  Interesse  liitjter  dem  rein  koloristischen 
Reiz  zurückbleibt.  Um  diesen  in  seiner  volleir  Wirkung 
herauszubringen,  hat  Reim,  wie  es  auch  Klinger  häufig  thut, 
die  Rarlirnadel  mit  dem  Stichel  verl.)unden,  aber  so,  dass 
die  erstere  nur  die  Vorarbeit  in  deir  Nebensacheir  gethan 
hat,  während  die  Haupta.rbeit  dom  Stichel  überlassen  worden 
ist,  der  aber  mit  voller  Freiheit,  ohne  Ängstlichkeit  und 
Kleinlichkeit,  geführt  worden  ist.  Das  Blatt  darf  sich  den 
besten  Reproduktionen,  die  wir  von  Brouwer’schen  Bildern 
besitzen,  ebenbürtig  an  die  Seite  stellerr.  R 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxoio  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


liiTTJ'iK.ii;  MJ'iniriK 


Urii,:!.  V  ,T.il  Wolf,  Ijolpy.ii 


\ 


•  v 


.  .  < 


I 


yi.- 


■f 


imj 


KäSSäHDRä. 

Marniorfigtir  von  MAX  KLINGER. 


Zeitschrift  für  i)ildende  Kviiist  Jt.  F.  YIII. 


Aufnahme  und  F'arbeiilichtdriick  von  Siiisel  &  Co., 
Leipzig-Plagwitz. 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 

VON  JULIUS  VOGEL. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


er  Kuf  und  die  künstlerische  Be¬ 
deutung  Max  Klinger’s  stellen  jetzt  fest  ge¬ 
gründet  da,  in  Deutschland  und  weit  über  seine 
Grenzen  hinaus.  Seit  Jahren  schon  rechnen  wir  mit  dieser 
Thatsache,  die  uns  so  selbstverständlich  erscheint,  dass 
wir  darüber  keine  Worte  verlieren  mögen.  Und  doch,  wie 
schwer  hat  er  um  xAnerkennung  ringen  müssen,  wie  sehr 
und  wie  oft  ist  sein  ernstes  Streben  verkannt  worden, 
wie  oft  hat  trivialer  Witz  und  beißende  Satire  Kritik 
an  seinen  Werken  geübt!  Auf  die  sehr  anerkennenden 
Worte,  die  in  Berlin  im  Jahre  1878  seinen  Erstlings¬ 
arbeiten  bei  ihrer  Ausstellung  gezollt  wurden,  folgten 
Antikritiken  und  dann  in  den  folgenden  Jahren  Ab¬ 
sagen  in  Menge,  —  Klinger  habe  das  Zeug  zu  einem 
„verbummelten“  Künstler  in  sich,  lautete  die  Liebens¬ 
würdigkeit  eines  angesehenen  Berliner  Litteraten  —  und 
auch  an  ihm  ist  Ernst  Hähnel’s  Aphorisme  zur  Wahr¬ 
heit  geworden:  „In  den  Augen  der  Mitwelt  tritt  jedes  Genie 
als  Verrückter  auf!“  Wenigstens  ein  nicht  unbedeutender 
Teil  unserer  sog.  kunstsinnigen  Welt  hat  mit  scharfen 
Urteilen  selbst  späteren  Werken  gegenüber  nicht  zurück¬ 
gehalten,  wenn  es  natürlich  auch  nicht  an  einer  kleinen 
Gemeinde  fehlte,  die,  besonders  in  Berlin  und  in  Dresden, 
viel  für  den  Künstler  gethan  hat.  Weniger  haben  die 
Franzosen  mit  ihrer  Anerkennung  zurückgehalten,  und 
bezeichnend,  daneben  aber  seltsam  klingen  die  sauer¬ 
süßen  Worte,  die  vor  fünfzehn  Jahren  ein  Kritiker  des 
„Estampe“  niederschrieb:  „II  est  certainement  douloureux 
d’etre  force  de  reconnaitre  du  talent  ä  un  Allemand, 
mais  le  patriotisme  n’a  rien  ä  faire  en  art.“  In 
Klinger’s  Vaterstadt  Leipzig  ist  man  nicht  immer  so 
Zeltschnft  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  7. 


entschieden  wie  seit  den  letzten  Jahren  auf  Seiten 
derer  gewesen,  die  dem  Künstler  ihre  Sympathien  dar¬ 
brachten.  Man  könnte  zur  Erklärung  dieser  Thatsache 
das  bekannte  Sprüchwort  anführen  von  dem  Propheten, 
der  nichts  in  seinem  Vaterlande  gilt,  wenn  in  einigen 
der  ersten  Folgen  der  radirten  Werke  nicht  so  mancher 
fremdartige  und  unverständliche  Zug,  nicht  so  mancher 
barocke  Einfall,  manche  Küustlerlaune  und  manches  per¬ 
sönliche  Erlebnis  das  Verständnis  des  Wesens  und  das 
Eindringen  in  den  Inhalt  seiner  Kunst  auch  hier  Vielen 
sehr  erschwert  hätte.  Im  Spätherbste  des  Jahres  1887 
war  dann  sein  „Parisurteil“  im  Leipziger  Kunstverein 
ausgestellt.  Es  war  etwas  völlig  Neues  und  Fremd¬ 
artiges,  in  der  Gesamtwirkung  Überraschendes,  das  der 
„talentvolle“  Künstler  da  darbot,  und  ich,  der  ich  wenige 
Tage  zuvor,  als  ich  das  Bild  zum  ersten  Male  sah,  in 
Raffael’s  Loggien  und  Stanzen  im  Vatikan  geschwelgt 
hatte,  gestehe  auch  zu  denen  gehört  zu  haben,  die  sich 
mit  dieser  neuen,  den  Bruch  mit  jeder  landläufigen 
Tradition  laut  verkündenden  Schöpfung  nicht  recht  be¬ 
freunden  konnten.  Eine  Sonderausstellung  der  Werke 
Klinger’s  im  Januar  1893  brach  endlich  das  Eis  voll¬ 
ständig.  Der  große  moralische  Erfolg  dieses  Winter¬ 
feldzuges  war  die  Erwerbung  der  „Salome“  für  das 
städtische  Museum,  der  zwei  Jahre  später  die  „Kassandra“ 
als  hochherzige  Schenkung  eines  Kunstfreundes  nach¬ 
folgte,  dessen  Name  unbekannt  bleiben  soll. 

Über  beide  Werke,  über  die  „Salome“  mehr  als 
über  die  „Kassandra“,  ist  viel  schon  geschrieben  und 
beide  sind  durch  gute  und  schlechte  Abbildungen  zu  den 
populärsten  Erzeugnissen  der  modernen  Skulptur  ge- 

20 


154 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


worden,  innerhalb  deren  sie,  man  darf  wohl  sagen,  einen 
Merkstein  bezeichnen.  Die  „Salome“  hat  zweifellos  den 
Beschauern  mehr  zu  denken  gegeben,  nicht  nur  weil 
sie  früher  als  die  ..Kassaudi'a“  entstanden  ist,  sondern 
weil  man  den  moralischen  Wert  des  künstlerischen  Ge¬ 
dankens  vorsichtig  abwägte,  weil  der  Eindruck  aut  das 
nervöse  Emjifinden  des  Beschauers  intensiver,  die  Wir¬ 
kung  der  äußeren  Erscheinung  fascinirender  war  als  bei 
jener.  So  ist  in  die  Erklärung  der  Figur  manches 
hineingelegt  worden,  was  auszus]irechen  dem  Künstler 
fern  gelegen  hat,  was  überhaupt  mit  seiner  ganzen  von 
ernster,  i)hilosophisch  durchdrungener  Lebensauffassung 
getragenen  Anschauungsweise  nicht  harmoniren  würde. 
Haben  sich  doch  selbst  Neuro-Pathologen  mit  der  Figur 
befasst,  diese  mit  Ilichir’s  „Verderbtheit“  zusammenge- 
steilt  und  einen  „krankhaft -sexualperversen  Zug“  kon- 
struirt,  der  beide  W^erke  inspirirt  zu  haben  scheine. 
Der  Gedanke,  den  die  „Salome“  nach  des  Künstlers 
Absicht  verkörpern  soll,  ist  einfacher  und  bedarf  auch 
nicht  des  Appai-ates  der  symbolischen  Erläuterung.  In 
Kürze  gesagt;  es  ist  die  Wahrheit  von  der  Macht  der 
physischen  —  nicht  perversen,  sondern  natürlichen  — 
Liebe,  die  gleichmäßig  Jung  und  Alt  umstrickt.  Die 
Freude  über  das  Gelingen  und  der  hieraus  resultirende 
dämonische  Zug  bilden  die  psychologische  Grundstiinmung 
des  künstlerischen  Gedan¬ 
kens.  Als  dramatisches  Mo¬ 
ment  kommt  hinzu,  dass 
die,  welche  sich  dieser  pliy- 
sischen  Liebe  nicht  zu  ent¬ 
ziehen  vermochten,  ihre 
Opfer,  von  ihr  vernichtet 
werden,  und  der  Eindruck, 
den  dies  Ergebnis  auf  die 
Urheberin  hervorruft,  stei¬ 
gert  sich  bis  zur  Genug- 
thuuug  darüber,  bis  zum 
Triumph.  Das  Gefühl  der 
weiblichen  Überlegenheit 
S])richt  sich  aus  in  der  ener¬ 
gisches  Sell)stbewusstsein 
verratenden  Haltung,  in  der 
Art  und  Weise,  wie  die 
Arme  verschlungen  sind,  in 
der  physischen  Kraft,  in 
den  starken,  fast  männ¬ 
lichen  Händen,  —  Klinger 
hält  sie  selbst  beim  Weib 
für  eine  Schönheit  —  das 
Dämonische  des  Gedankens 
und  Unheimliche  des  Voll- 
bringens  spiegelt  sich  wie¬ 
der  in  den  Zügen  des  Ant¬ 
litzes,  in  den  tiefliegenden, 
umschleierten  Augen,  ja 


selbst  in  der  merkwürdigen  Schädelbildung,  die  in  der 
Seitenansicht  zur  vollen  Wirkung  gelangt.  Für  die 
Entstehung  dieses  Typus  ist  es  nicht  ohne  Interesse 
zu  wissen,  dass  das  Urbild,  das  der  Leser  in  ent¬ 
sprechender  Umarbeitung  schon  von  der  Athena  des 
„Parisurtcils“  her  kennt,  der  Abstammung  nach  jeden¬ 
falls  keine  rasse-reine  Persönlichkeit  war,  sondern  eine 
Mischung  von  französischem  und  slavischem  Blut  dar¬ 
stellt,  eine  'Wahrscheinlichkeit,  die  sich  besonders  aus 
der  Seitenansicht  in  der  Originalstudie,  einer  Pastell¬ 
zeichnung  auf  grünlichem  Papier,  zu  erkennen  giebt, 
wo  das  plattgedrückt  erscheinende  Gesicht  nicht  auf 
romanischen  Ursprung  hinweist,  obwolil  es  einer  Fran¬ 
zösin  angehört. 

Die  Halbfigur  der  „Kassandra“  spricht  menschlich 
mehr  an.  Klinger  schildert  die  mythische  Seherin  in 
dem  Augenblicke  höchster  pathetischer  Erregung,  die 
alle  Nerven  anspannt  und  aufregt,  zugleich  aber  das 
heroische  Weib,  das  sich  in  diesem  Momente  festen 
Willens  zu  beheri'schen  weiß.  Sie  sieht,  wie  der  Dichter 
es  schildert,  das  Unglück  in  ganzer  Schwere,  das  als 
tragisches  Verhängnis  ihrem  Hause  beschieden  ist;  in 
ihren  gramerfüllten,  in  ihrem  Schmerze  wunderbar  er¬ 
greifenden  Zügen  spiegelt  sich  die  unendliche  Sorge,  der 
bange  Kummer  wieder,  der  vor  ihren  in  die  Zukunft 

blickenden  Augen  steht.  Die 
Figur  ist  seitlich  und  stark 
vornüliergeneigt,  das  Haupt 
macht  eine  leichte  Wen¬ 
dung,  als  lauschten  die 
Ohren  auf  die  prophetische 
Stimme  des  Gottes.  Die 
mächtige  iisychische  Er¬ 
regung  macht  sieh  in  dei¬ 
ner  vösen  Uni'uhe  der  Hal¬ 
tung  bemerkbar  und  möchte 
auch  in  einer  spontanen 
Bewegung  der  Hände  nach 
Ausdruck  ringen.  Aber  die 
Kraft  bezwingt  die  körper¬ 
liche  Bewegung,  indem  die 
linke  Hand  krampfhaft  nach 
der  rechten  greift  und  diese 
mit  energischem  Druck  zn- 
rückhält.  Und  trotz  dieser 
Bezwingung  empfindet  man 
hier  körperliche  und  geis¬ 
tige  Bewegung  in  ihrer 
höchsten  Potenz. 

Jeder  Beschauer,  der 
den  beiden  auch  räumlich 
vereinten  Halbfiguren  zum 
ersten  Male  gegenüber  tritt, 
empfindet  sofort, dass  er  ganz 
ungewöhnliche  Schöpfungen 


Max  Klinger  bei  der  Arbeit;  Ölgemälde  von  K.  StoevinG. 

(Als  Geschenk  des  Herrn  Eduard  Stöhr  in  Leipzig-Plagwitz  seit  1896 
im  Besitze  des  Leipziger  Museums.  Im  Hintergründe  steht  die  Figur 
der  Kassandra.) 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


155 


Studie  zur  SaJome  von  Max  Klinger. 
Pastellbild  im  Besitze  des  Herrn  Dr.  J.  Vogel  in  Leipzig. 


Tliatsaclie,  dass  die  Farlic  des  von  iJim  zn  Skulptnr- 
zwecken  verarbeiteten  Steins  nur  durch  die  Quali¬ 
tät,  durch  die  Echtheit  des  Materials,  g-ewähideistet 
werden  kann.  Diese,  ich  will  den  Ausih’uck  ge¬ 
brauchen  „waschechte“,  Farbigkeit  ist  nach  seiner 
Meinung  da  zu  erstreben  und  zu  erreichen,  wo  die 
Natur  selbst  im  Stein,  Metall,  Elfenbein,  Holz  u. 
dgl.  m.  die  nötigen  Mittel  an  die  Hand  giebt.  Zu 
diesem  Zwecke  ist  die  Frage  von  der  Verwendbar¬ 
keit  der  verschiedensten  Steinsorten,  welche  Fär¬ 
bung  sie  durch  die  Politur  annehraen,  wie  sie  durch 
Patina  wirken,  von  ihm  zu  einem  Studium  gemacht 
worden,  wie  es  so  intensiv  bisher  vielleicht  von 
keinem  Bildhauer,  wenigstens  keinem  modernen,  be¬ 
trieben  worden  ist.  Das  Material,  dessen  Auswahl 
bekanntlich  oft  genug  dem  Händler  oder  dem  italie¬ 
nischen  Abbozzatore,  der  das  nach  dem  Modell  fertig 
punktirte  Werk  aus  seiner  Werkstatt  dem  Meister 
nur  zum  Zweck  der  letzten  Übergehung  zusendet, 
überlassen  wird,  ist  für  ihn  nicht  nur  Auschucks- 
mittel  für  die  Form,  sondern  es  soll  durch  seine 
Schönheit  und  den  intensiven  Ton  der  Farbe  wirken, 
jene  heben  und  erläutern.  Die  „Salome“  nun  ist  in 
der  Weise  zusammengesetzt,  dass  Kopf,  Hals  und 
Hände  aus  griechischem  (parischem)  Marmor  bestehen, 
das  graue,  in  der  Längsachse  der  Figur,  was  ein  merk¬ 
würdiger  Zufall  gefügt  hat,  von  weißen  Streifen  durch- 


der  plastischen  Kunst  vor  sich  hat,  und  dieser 
Eindruck  steigert  sich,  je  mehr  man  gewahrt, 
welche  entscheidende  Rolle  hier  der  Farbigkeit 
zugewiesen  worden  ist.  Um  diese  für  das  Auge 
so  bedeutsamen  Effekte  zu  erreichen,  ist  Klinger 
vor  einer  technischen  Maßnahme  nicht  zurück¬ 
gescheut,  die,  weil  sie  Manchem  als  eine  ästhe¬ 
tische  Unmöglichkeit  erschien,  im  besten  Falle 
als  künstlerische  Spielerei,  von  Vielen,  die  den 
Entwickelungsgang  der  Kunstgeschichte  nach 
Analogieen  konstruiren  möchten,  als  Zeugnis 
vom  Anfänge  einer  künstlerischen  Decadence 
betrachtet  wurde.  Beide  Skulpturen  sind  nicht 
polychrom,  —  das  würde  Niemanden  befremdend 
erscheinen,  —  sondern  polylith,  d.  h.  sie  sind 
aus  Stücken  verschiedenen  Steines,  für  dessen 
Wahl  hauptsächlich  die  farbige  Wirkung  ma߬ 
gebend  war,  zusammengefügt,  ähnlich  also,  um 
auf  erhaltene  analoge  Beispiele  hinzuweisen  — 
denn  auch  aus  dei’  besten  Zeit  der  klassisch¬ 
antiken  Kunst  ließen  sich  entsprechende  Paral¬ 
lelen  anführeu  —  ähnlich  wie  die  Kunst  der 
späteren  römischen  Kaiserzeit  Statuen  und  Büs¬ 
ten  von  Imperatoren  und  deren  Angehörigen 
zusammenzustücken  liebte.  Was  Klinger  zu 
diesem,  technisch  übrigens  sehr  schwierigen 
Versuch  in  erster  Linie  veranlasst  hat,  ist  die 


Stiiilie  zur  Salome  von  Max  Klinger. 
Pastellbild  im  Besitze  des  Herrn  Dr.  J.  Vogel  in  Leipzig. 

20* 


156 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINOER 


zogene,  stofflich  überzeugend  walir  wirkende  Gewand  ans 
hyinettischem  (attischem)  Stein,  der  aus  einem  antiken 
Säulenkapitell  gewonnen  wurde,  das  der  Künstler  in 
einer  Vigna  vor  der  Porta  Portese  in  Rom  fand.  Der 
ältere  Kopf  an  der  Basis  ist  aus  afrikanischem  rotge- 
ädcrteni,  der  jüngere  aus  karrarischem  (l)läuli(  h  getöntem) 
Marmor  gearbeitet.  Aus  parischem  Marmor  bestehen 


Bildnis  eines  Knaben , 

getuschte  Federzeichnung  von  Max  Klinger. 


auch  die  Fleischpartieen  der  „Kassandra“,  während  für 
das  Gewand  rötlicher  Alabaster  verwendet  wurde,  der 
allerdings  wegen  der  Sprödigkeit  und  Rissigkeit  für  die 
statuarische  Plastik  sich  wenig  eignet  und  mit  einer 
Wachsscliicht  überzogen  werden  musste,  die  wiederum 
leicht  getönt  wurde.  Die  Augen  sind  bei  beiden  Figuren 
aus  Bernstein  eingesetzt;  Metall  (Bronze)  ist  nur  für 
das  Band  verwendet  worden,  das  über  der  liidcen  Schulter 
der  „Kassandra“  das  Gewand  zusammenhält. 

Wie  der  Rahmen,  der  mit  dem  Gemälde  und  für 
dieses  gedacht  und  bestimmt  nach  einem  alten  ästhe¬ 
tischem  Grundsätze  mit  diesem  geboren  werden  soll,  des 
Künstlers  Aufmerksamkeit  beansprucht,  so  soll  nach 
Klinger’s  üleinung  für  Werke  der  Plastik  das  Postament 
dazu  dienen,  jene  in  der  AVirkung  zu  lieben,  ohne 
aber  in  der  äußeren  Gestaltung  für  das  Auge  aufdring¬ 
lich  zu  werden.  Dieser  Grundsatz  ist  bei  den  Posta¬ 
menten  der  Ijeipziger  Halbfiguren  praktisch  befolgt 
worden.  Die  Würfel  aus  den  Brüchen  von  Bagneres  de 
Bigorre  (im  Departement  Hautes  Pyrenees)  stammend, 
zeigen  eine  intensiv  hellgrüne,  durch  graue  Streifen 
und  bei  dem  Postament  der  „Salome“  durch  breite, 
dunkelcarmoisinrote  Bänder  unterbrochene  Farlie,  die  in 
dem  einen  Falle  mit  dem  grauen,  in  dem  andern  mit 
dem  rötlichem  Tone  des  Gewandes  vortreftlich  harmonirt. 
Bemerkt  sei,  dass  bei  der  „Kassandra“,  gewissermaßen 
um  die  schlanke  Figur  zu  der  wuchtigen  Masse  des 
Postaments  überzuleiten,  zwischen  beide  eine  fünfseitige 
Basis  zwischengeschoben  ist,  für  die  der  Künstler  röt¬ 
lichen  nassauischen  Marmor  gewählt  hat. 

Dieses,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  manchem  Künstler 
als  eine  Sache  von  nebensächlicher  Bedeutung  erschei¬ 
nende  Studium  der  Steinarten  und  der  Möglichkeit  ihrer 
Verwendung  für  die  Plastik  hat  Klinger  auf  großen 
Reisen,  die  dem  Besuche  alter  und  neuer  Marmorbrüche 
galten,  vertieft,  Reisen,  die  ihm  die  Wahrnehmung  auf¬ 
drängten,  dass  für  die  materiellen  Zwecke  der  Bild¬ 
hauerei  in  Zukunft  noch  vieles  gewonnen  werden  kann. 
Besonders  ist  es  nach  seinen  praktischen  Erfahrungen 
der  schon  von  den  Alten  verwendete  Marmor  von  den 
Inseln  des  griechischen  Archipels  ■ —  Paros,  Syra  u.  a. 
—  der  im  Korn,  der  Farbe  und  Durchsichtigkeit  und 
der  zu  erwartenden  Patina  dem  gemeinhin  verarbei¬ 
teten  carrarischen  Stein  wesentlich  überlegen  ist.  Frei¬ 
lich  ist  die  Ausbeutung  dieser  Brüche  —  auf  Paros 
haben  sie  vor  .Tahren  Franzosen  unternommen,  dabei  aber 
schlechte  Erfahrungen  gemacht  —  mit  solchen  Schwierig¬ 
keiten  verbunden,  dass  wenige  Künstler  gesonnen  sein 
werden,  in  Klinger’s  Fußtapfen  zu  treten. 

Die  Kunstblättersammlung  des  Leipzigei'  städtischen 
Museums,  die  sich  früher  nur  aus  Schenkungen  und  Ver¬ 
mächtnissen  kunstsinniger  Bürger  zusammensetzte,  für 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


157 


Der  Tod  am  Grabe;  Federzeicbmiug  vou  Max  Klinger 


die  aber  nie  eigentliche  systeniatisclie  Ei'werbnngen  ge¬ 
macht  wurden,  versucht  seit  einigen  Jahi'en  nacliziiliolen, 
was  früher  versäumt  worden :  eine  Aufgabe,  deren  Lösung 
bei  der  jetzigen  Entwicklung  der  graphischen  Künste 
zum  guten  Teil  allerdings  noch  der  Zukunft  Vorbehalten 
ist.  Indessen  es  sind  doch  in  der  letzten  Zeit  manche, 
zum  Teil  umfangreiche  Erwerbungen  geglückt,  die  das 


Interesse  aller  Kunstforscher  und  Kunstfreunde  bean¬ 
spruchen  dürften.  Planmäßig  gesammelt  wurden  in 
erster  Linie  Blätter  von  Leipziger  Künstlern,  von  Otto 
Greiner  und  besonders  von  Max  Klinger,  deren  sämtliche 
Werke  nebst  einei'  großen  Reihe  von  Originalzeichiiungen 
erworben  worden  sind.  Diese  Zeichnungen  von  Klinger’s 
Hand,  von  denen  eine  Anzahl  charakteristischer  und  gegen- 


158 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


ständlich  interessanter  Beispiele  in  Faksimile-Naclibildung- 
hier  wiedergegeben  sind,  mögen  zunächst  unsere  Auf¬ 
merksamkeit  beanspruchen.  Es  sind,  abgesehen  von 
den  Studien,  die  der  Künstler  für  spätere  Werke  (die 
Kassandra)  entworfen  hat,  neunundfünfzig  Blatt,  sauber 
mit  der  Feder  gezeichnet,  die  meist  in  einfachen  Kon¬ 
turen  gehalten  und  leicht  getuscht  oder  sich  vom  dunklen 
Ilintergrundston  loslösend,  einige  bildmäßig  weiter  aus¬ 
geführt,  ursprünglich  zu  einem  Skizzenbuch  gehörten,  das 
Klinger,  weil  es  samt  und  sonders  Jugendarbeiten  waren, 
denen  er  keine  Bedeutung  beimaß,  schon  vor  Jahren 
weggab,  das  längere  Zeit  im  Kunsthandel  war  und 


auf  die  Gartenveranda  des  in  parkartiger  Umgebung  lie¬ 
genden  elterlichen  Hauses  zurückzog  und  hier,  gleichsam 
um  der  Ruhe  zu  genießen,  die  ihn  Itewegenden  Gedanken 
auf  das  Papier  übertrug.  Auf  Gussow’s  Betrieb  wurden 
die  unscheinbar  gewordenen  Blätter  später  aufgezogen 
und  liei  Gelegenheit  in  Berlin  ausgestellt.  Es  ist  die 
Zeit,  die  für  die  Entwicklung  Klinger’s  von  entscheidender 
Bedeutung  wurde,  insofern  er  auf  Anregung  des  Kupfer¬ 
stechers  und  Kunsthändlers  Hermann  Sagert  sich  ent¬ 
schloss,  zur  Ea<liruadel  zu  gi'eifen,  um.  wie  man  ihm  sagte, 
auch  andern  die  Freude  zu  machen,  seine  Zeichnungen 
und  zwar  in  eigener  Vervielfältigung  genießen  zu  können. 


Johannes  predigt  in  der  Wüste;  getuschte  Federzeichnung  von  Mas  Klinger. 


schließlich  um  eine  ansehnliche  Summe  —  ansehnlich 
wenigstens  im  Verliältnis  zu  der,  die  der  Schöpfer  der 
Zeichnungen  einst  erhalten  hatte,  —  von  der  Stadt 
Leipzig  angekauft  wurde.  Es  sind,  wie  gesagt,  Jugend¬ 
werke,  zeitlich  etwa  den  Zeichnungen  „Vom  Thema 
Christus“  gleichzustellen,  die  im  Besitze  der  Berliner 
National-Galerie  und  neuerdings  in  dem  unten  besprochenen 
Hanfstänghschen  Klinger-Werke  veröffentlicht  wnrden  sind. 
Entstanden  sind  sie  zum  Teil  während  Klinger’s  Studien¬ 
zeit  in  Karlsruhe  und  Berlin  unter  Gussow’s  Leitung,  zum 
Teil  in  den  Mußestunden,  die  der  Künstler  während  seiner 
militärischen  Dienstzeit  im  .Jahre  1876 — 1877  erübrigte, 
wo  er  nach  den  Anstrengungen  der  Übungen  gern  sich 


Der  erste  Versuch,  ein  den  Mond  anbetendes  Fabelwesen, 
mit  etwas  Befangenheit  in  zarten  Linien  in  die  Platte 
geritzt,  gelang  zur  Zufriedenheit  und  wurde  fortgesetzt, 
obschon  die  liebevolle  besorgte  Mutter  des  Künstlers, 
der  damals  an  einem  Magenleiden  nicht  unbedenklich 
erkrankt  war,  sich  mit  dem  Gedanken  erst  wenig  be¬ 
freunden  konnte,  weil  sie  von  der  Arbeit  über  der 
Kupferplatte  schlimme  Folgen  für  die  Gesundheit  des 
Sohnes  voraussah.  Die  Zeichnungen  des  Leipziger  Mu¬ 
seums  geben  ein  buntes  Bild  von  alledem,  was  den 
Künstler,  bevor  er  als  Radirer  an  die  Öffentlichkeit 
trat,  bewegte.  Der  Ideenkreis,  der  sich  hier  ausspricht, 
deckt  sich  mit  dem  gerade,  was  Klinger  als  den  hervor- 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


159 


ragendsten  Cliarakterzug  der  Zeichnung  bezeichnet,  mit 
der  starken  Subjektivität  des  Künstlers.  Was  er  darstellt, 
so  definirt  er  sie,  ist  seine  Welt  und  seine  Anschauung, 
es  sind  seine  persönlichen  Bemerkungen  zu  den  Vor¬ 
gängen  um  ihn  und  in  ihm,  wegen  derer  ihm  keiner¬ 
lei  Zwang  aufliegt,  als  sich  künstleriscli  mit  der  Natur 
seiner  Eindrücke  und  seinen  Fähigkeiten  abzufinden. 
Es  sind  also  Eindrücke  bald  dauernder  Art,  bald  flüchtiger 
Natur,  wie  sie  sich  der  geschäftigen  Pliantasie  auf¬ 
drängen  oder  wie  sie  das  Leben  und  die  Umgebung  mit 
sich  bringt,  bald 
solche,  die  desKünst- 
lers  Denken  jalire- 
lang  in  Ansprucli 
nalmien  gleichsam 
wie  eine  Lebens¬ 
weisheit,  die  in  die 
Sprache  der  Ctrilfel- 
kunst  übersetzt, 
nach  einem  konkre¬ 
ten  Ausdruck  sucht. 

Endlich  gehören  zu 
der  Sammlung  auch 
die  Originalzeich¬ 
nungen  zu  Klinger’s 
Erstlingswerke 
der  Radirkunst,  zu 
den  1878  erschiene¬ 
nen  „Radirten  Skiz¬ 
zen“,  die  als  allge¬ 
mein  bekannt  vor¬ 
ausgesetzt  werden 
können. 

Klingel’  ist  von 
Haus  aus  pessimis¬ 
tisch  veranlagt  und 
jahrelang  haben  ihn, 
wie  andere  große 
Geister  seines  Glei¬ 
chen,  die  Gedanken 
vom  Tode  bewegt. 

Was  er  in  den  bei¬ 
den  Cyklen  „Vom 
Tode“  ausgespro¬ 
chen  hat,  solche  Ideen  haben  sein  Hirn  von  Jugend  auf 
erfüllt,  und  die  Leipziger  Zeichnungen  sagen  uns,  dass  die 
viel  später  ausgeführten  Gedanken  eigentlich  Werke 
der  Jugend  sind.  Das  gilt  z.  B.  von  dem  vom  Throne 
herabgestürzten  Herodes  dem  Großen,  der  schon  in  den 
„Radirten  Skizzen“  verwendet  werden  sollte.  Bezeich¬ 
nender  aber  sind  zwei  Blätter,  wo  der  Sensenmann  in 
unmittelbare  Aktion  tritt.  Die  eine  zeigt  uns  eine 
weite  Gebirgslandschaft,  im  Vordergründe  öfluet  sich 
eine  Höhle,  der  der  Tod  entsteigt.  Den  einen  Fuß 
hat  er  schon  auf  den  Felspfad  gesetzt,  mit  den  Knochen¬ 


händen  hält  er  eine  mächtige  Sense,  mit  der  er  erbar¬ 
mungslos  zum  Hiebe  ausholt.  Die  andere  führt  uns  das 
irdische  Scheiden  des  Daseins  vor:  wir  sehen  ein  aus¬ 
geworfenes  Grab,  in  das  der  Tod,  der  gebieterisch  nach 
unten  weist,  ein  sich  wehrendes  und  sträubendes  Men¬ 
schenkind  hineinzustoßen  sich  anschickt.  Hierzu  kommen 
andere  Erscheinungen  und  Arten  des  Todes:  der  greise 
Mann,  der  im  Todeskampfe  ringend  mit  stierem  Auge 
blickt,  das  demnächst  zu  brechen  droht  (Klinger’s  Gro߬ 
vater  in  der  Agonie),  das  Weib,  das  den  Tod  in  den 

Wellen,  die  es  wie¬ 
der  an  den  Sand 
gespült  haben,  ge¬ 
sucht  oder  gefunden 
hat,  ein  Bild  von  er¬ 
schütternder  Wahr¬ 
heit.  Der  Wanderer, 
der  auf  einsamem 
Felsenpfade  vom 
Tode  ereilt  worden 
(in  den  „Radirten 
Skizzen“),  der  Tod, 
der  die  ägyptische 
Erstgeburt  dahin¬ 
gerafft  hat.  Dar¬ 
stellungen  aus  der 
biblischen  Ge¬ 
schichte  haben  ja 
Klinger  vielfach  be¬ 
schäftigt.  Am  be¬ 
kanntesten  sind  die 
oben  erwähnten 
Federzeichnungen 
„Vom  Thema  Chris¬ 
tus“.  Sie  haben 
Klinger’s  Ruf  be¬ 
gründet  und  ver¬ 
dienen  einen  Platz 
in  der  Kunstge¬ 
schichte.  Wesent¬ 
lich  gleichzeitig  mit 
ihnen  sind  auch 
einige  der  Leipziger 
geistesverwandten 
Blätter  entstanden,  so  die  wunderbar  lebensvolle  getuschte 
Zeichnung  „Christus  vor  dem  Hohenpriester“,  Christus 
auf  dem  Meere  wandelnd,  eine  Grablegung  Christi,  Jo¬ 
hannes  der  Täufer  predigt  in  der  Wüste,  die  Salome, 
ein  leicht  geschürztes  Judenmädchen  das  Haupt  des 
Täufers  von  der  Herodias  verlangend,  die  meisten  durch 
stark  semitische  Typen  ausgezeiclmet;  oder,  dem  alten 
Testament  entlehnt,  die  Personifikation  der  sieben  mage¬ 
ren  Jahre,  sieben  dämonisch  in  rasender  Wut  durch 
das  Land  jagende  Kühe.  Ebenfalls  historischen  Genre’s 
ist  schließlich  noch  das  wundervolle  Blatt,  in  dem  Ham- 


Das  Ende;  getuschte  Federzeichnung  von  Max  Klinger. 


160 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGEL. 


let  der  Geist  des  Vaters  erscheint.  Daun  aber  be¬ 
gegnen  wir  wieder  der  reinen  Phantasie,  die  das 
Rätselhafte,  Dämonische,  Unheimliche  schildert,  bald 
airch  märchenhafte  Lieblichkeit  und  zarte,  bestrickende 
Schönheit:  so  die  Phantasiefahrt  und  die  Siesta  (für  die 
radirten  Skizzen  entworfen),  das  „Ur-Nichts“,  ein  ge¬ 
flügelter,  jugendlicher  Dämon,  der  sich  träumerisch  zni' 
Ruhe  niedergelegt  hat,  so  ein  im  Grünen  unter  knospen¬ 
den  Bäumen  ruhendes  Mädchen,  ein  unter  einem  Strauche 
mit  riesigen  weißen  Blüten  lagerndes  nacktes  Weib, 
dem  ein  Kind  gegenüber  sitzt  und  mit  einem  Puma- 
lüwen  kost,  so  die  paradiesische  Scene,  in  der  Eva  von 
der  Schlange  beraten  nach  dem  Baume  der  Erkenntnis 
greift.  Endlich  haben  auch  die  greifbare  Gegenwart 
und  die  Vorstellungskreise  des  Alltagslebens  ihr  Recht 
geltend  gemacht:  wir  sehen,  wie  ein  junges  Mädchen  vor 
einem  Fenster  sitzt,  weit  vor  über  ihr  Schreibpult  ge¬ 
beugt,  eine  elastische,  leicht  auf  dem  Rücken  eines  steil 
sich  aufbänmenden  Pferdes  sitzende  Kunstreiterin,  oder 
die  pikante  Erscheinung  eines  im  Badekostüm  am  Strande 
stehenden  jungen  Mädchens,  das  seine  Blicke  über  die 
weite  Meeresfläche  schweifen  lässt,  einen  schüchternen  locki¬ 
gen  Knaben,  dessen  treuherziges  Auge  den  Beschauer  so 
eindringlich  aublickt,  allerhand  Japanisches,  das  bei  Ge¬ 
legenheit  einer  Ausstellung  in  Berlin  auf  den  Künstler  Ein¬ 
druck  machte,  und  schließlich  auch  eine  allerliebste  Vedute 
„Dem  w'eißen  Schwan“,  eine  Straße  in  Grötzingen,  das 
Klingel'  von  Karlsruhe  aus  Studien  halber  besuchte.  Es 
sind  nur  einige  Beispiele,  die  hier  angefiUirt  werden, 
denn  es  hält  schwer,  eine  ganze  Sammlung  phantasievoller 
oder  von  persönlicher  Stimmung  belebter  Zeichnungen 
in  flüchtigen  Worten  zu  beschreiben.  Zweck  dieser 


Sclireibeiides  Wädclieu ;  getuschte  Federzeichnung  von  Max  Klinger. 


Zeilen  ist  ja  auch  mehr  auf  die  Existenz  der  Leipziger 
Blätter  hinzuweisen,  um  Anregung  zu  deren  Studium 
zu  geben.  Es  sind,  was  nochmals  betont  werden  mag, 
Jugend  werke,  die  nicht  mit  den  reifen  Arbeiten  und 
Studien  verglichen  sein  wollen,  wie  sie  z.  B.  das  Dres¬ 
dener  Kupferstichkabinett  besitzt.  Zwischen  diesen  Werken 
liegt  ein  Zeitraum  von  gegen  fünfzehn  Jahren,  in  denen 
Klinger  sich  zur  gi'ößten  Meisterschaft  nicht  nur  all¬ 
gemein  als  Künstler,  sondern  besonders  als  Zeichner 
emporgearbeitet  hat.  Wer  aber  die  Leipziger  Zeich¬ 
nungen  an  seinem  Auge  vorüberziehen  lässt,  wer  die 
eminente  Sicherheit  der  Linienführung  und  reiche  Phan¬ 
tasie  bewundert  hat,  der  erkennt  hier  die  Offenbarung 
und  die  Gewalt  eines  Küustlergeistes,  der  bei  aller 
Jugend  Großes  erwarten  lässt.  Ex  ungue  leonem ! 

>fc  * 

* 

Auf  dem  unmittelbar  an  das  Wasser  grenzenden 
Grundstücke  der  Eltern,  dem  Walde  mit  riesenhohen 
knorrigen  Eichbäumen  auf  der  einen  und  einer  weit  in 
die  Ferne  hin  sich  dehnenden  Wiese  auf  der  andern 
Seite  gegenüber,  auf  einem  Platze,  wie  er  für  ernste 
Arbeit  nicht  zweckmäßiger  und  für  beschauliches  Hin¬ 
träumen  nicht  behaglicher  und  stimmungsvoller  sich 
denken  lässt,  hat  der  Künstler  sich  vor  nunmehr  zwei 
Jahren  ein  eigenes  Heim  errichtet,  das  im  Auf-  und 
Grundriss  nach  seinen  Angaben,  in  den  Verhältnissen 
nach  seinen  Plänen,  in  der  inneren  Ausstattung  nach 
seinem  Geschmack  angelegt  und  ausgeführt  ist.  Wer 
Klinger’s  praktischen  Sinn  kennt,  wird  in  diesem  Heim 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


161 


keine  prunkvoll  ausgestatteten  Räume  erwarten,  in 
denen  allerhand  dekorative  Stücke,  kostbare  alte  Möbel, 
Gobelins,  seidene  Stoffe,  Bouketts  aus  getrockneten  Blumen, 
echte  und  unechte  Antiken  jenen  zur  äußeren  Weihe  ver¬ 
helfen  müssen,  um  den  Herrn  des  Hauses  möglichst  dem 
gemeinen  Dasein  zn  entrücken,  sondern  er  wird  hier 
eine  in  erster  Linie  der  Zweckmäßigkeit  und  Brauch¬ 
barkeit  dienende,  möglichst  einfache  Künstlerwerkstatt 
suchen,  die,  wie  die  Thatsache  beweist,  mit  diesen  Eigen- 


„Dem  weißen  Schwan“,  Straße  in  Grötziugen;  Federzeichnung  von  Max  Klinger 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  7. 


schäften  auch  die  weiteren  in  sich  vereint,  dass  sie  be¬ 
haglich  und  in  ihrer  Art  schön  ist  und  zugleich  dem 
leider  viel  in  Anspruch  genommenen  Hausherrn  den 
Genuss  stiller  Einsamkeit  verschafft,  so  bald  er  für  die 
x\rbeit  der  Ruhe  bedarf.  Das  mäßig  große  Haus,  das 
in  den  Schlusssteinen  über  Thür  und  Fenstern  plastischen 
Schmuck,  Masken  von  des  Künstlers  eigener  Hand  auf¬ 
weist,  besteht  aus  einem  Erdgeschoss,  über  dem  mezzanin¬ 
artig  einige  Wohn-  und  Schlafräunie  sich  befinden  und 
vor  allem  eine  gegen  den  Wald  hin 
offene,  gegen  zwei  Seiten  durch  eine 
Wand  gegen  die  profane  Welt  ge¬ 
sicherte  Plattform,  auf  der  der  Künst¬ 
ler  unter  freiem  Himmel  ungestört  in 
nördlicher  Breite  nach  dem  nackten  Mo¬ 
dell  malen  kann.  Den  Hauptraum  des 
Erdgeschosses  bildet  das  große,  beinahe 
20  m  lange  und  12  m  breite,  durch 
Seiten-  und  Oberlicht  lieleuchtete  Haupt¬ 
atelier,  ein  Riesenraum,  dessen  Schmal¬ 
wand  gegenwärtig  das  große,  aus  Haupt¬ 
bild,  Nebenteilen  und  Predelle  beste¬ 
hende  farbenglühende  Gemälde  „Die  Ein¬ 
führung  Christi  in  den  Olymp“  bedeckt, 
der  Versuch  einer  Aussöhnung  der  heid¬ 
nischen  mit  der  christlichen  Weltan¬ 
schauung,  ein,  wie  man  vermuten  könnte, 
künstlerischer  Nachklang  von  Heine’s 
Gedicht  „Die  Götter  Griechenlands“: 
Doch  auch  die  Götter  regieren  nicht  ewig, 
Die  jungen  verdrängen  die  alten, 

Wie  du  einst  selber  den  greisen  Vater 
Und  deine  Titanen-Ohme  verdrängt  hast, 
Juppiter  Parricida! 

Verse,  von  denen  indessen  Klinger 
ebensowenig  inspirirt  war,  als  seiner 
Zeit  von  Nietzsche’s  Werken,  als  er  vor 
Jahren  an  den  Blättern  des  Cyklus 
„Vom  Tode“  arbeitete.  Das  große, 
figurenreiche,  in  der  Landschaft  eine 
Macht  der  Konzeption  ohne  Gleichen 
bekundende  Gemälde  geht  seiner  Voll¬ 
endung  entgegen,  und  dann  wird  es 
an  der  Zeit  sein,  darüber  das  Weitere 
mitzuteilen.  Seine  monumentale  Wir¬ 
kung,  die  stark  an  Freskomalerei  er¬ 
innert,  weshalb  das  AVerk  auch  im  Sinne 
dieser,  d.  h.  als  Wandmalerei  in  einem 
großen  Raume,  Verwendung  finden  muss, 
diese  monumentale  Wirkung  wird  unter- 
stüzt  durch  den  äußeren  Aufbau  und 
durch  die  Art  und  AAVise,  wie  der  Rah¬ 
men  in  seinen  einzelnen  Teilen  mit  der 
Darstellung  nach  des  Künstlers  Ge¬ 
schmack  in  farbige  Verbindung  gebracht 
21 


162 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


worden  ist.  Der  Leser  wird  sich  erinnern,  dass  das  „Paris¬ 
urteil"'.  das  —  wir  müssen  sagen  „leider“,  so  sehr  jeder 
Kunstfreund  auch  seinen  Besitz  dem  kunstsinnigen  Archi¬ 
tekten  Hummel  in  Triest  gönnen  muss  —  in  keiner  deut¬ 
schen  Galerie  eine  bleibende  Stätte  gefunden  hat,  von  einem 
Rahmen  umschlossen  ist,  der  mit  i)lastischem  Schmuck 
verziert  und  vom  Künstler  selbst  ausgeführt  für  die 
Gesamtwirkung  des  Gemäldes  von  großem  Einfluss  war. 
In  wesentlich  erhöhtem  Maße  wird  das  von  Klinger’s 
neuester  Schöpfung  gelten:  ihre  Umrahmung  wird  auf 
eine  weit  über  die  allgemeinen  Begrifl’e  hinausgehende 
künstlerische  Bedeutung  Anspruch  machen,  da  der 
plastische  Schmuck, 

Figuren  in  Lebens¬ 
größe,  ans  griechi¬ 
schem  Marmor  gear¬ 
beitet  ist,  die  Rah¬ 
menteile  selbst  aus 
dem  oben  genannten 
grünen  Pyrenäen- 
Marmor  und  anderem 
farbigen  Gestein  be¬ 
stehen,  so  weit  nicht, 
wie  für  zwei  Pal¬ 
menstämme,  die  die 
Hauptdarstellung 
flankiren,  Nussbaum¬ 
holz  Verwendung  ge¬ 
funden  hat. 
sehen,  auch  in  diesen 
vielen  Künstlern  ne¬ 
bensächlich  erschei¬ 
nenden  Dingen  hat 
Klinger,  seinen  son¬ 
stigen  Grundsätzen 
getreu,  die  Echtheit 
desMaterials  mit  Ent¬ 
schiedenheit  betont. 

Ein  so  umfas¬ 
sender  und  vielseiti¬ 
ger  Künstlergenius, 
wie  ihn  Klinger  in 
sich  verkörpert,  findet  nicht  sein  Genüge  in  der  Ein¬ 
schränkung  der  Arbeit  an  einem  Werke,  so  umfangreich 
es  auch  sein  mag,  so  sehr  es  die  Tliätigkeit  des  geistigen 
Menschen  in  Anspruch  nimmt.  Die  Arbeit  mit  Pinsel  und 
Palette  wird  vertauscht  mit  der  des  Meißels  und  des  Ham¬ 
mers  ;  kurz  darauf  führt  die  geschäftige,  nie  ermüdende  Hand 
die  Radirnadel  oder  die  Zeichenfeder.  Nachdem  das  farbige 
Gypsmodell  des  der  Welt  entrückt  und  in  überirdischen 
Sphären  thronend  gedachten  Beethoven  mindestens  seit 
zwölf  .Jahren  vollendet  ist,  geht  der  Künstler  jetzt  end¬ 
lich  an  die  Ausführung  der  Statue,  die  hinsichtlich  der 
Verwendung  kostbaren  Materials,  will  man  nach  tecli- 
nischen  Analogieen  suchen,  nur  in  den  Chryselefantin- 


werken  des  klassischen  Altertums  eine  entsprechende 
Parallele  findet.  Die  Figur  einer  weiblichen  Herme  und 
kleinere  Werke  der  Malerei  und  Skulptur  gehen  daneben 
der  Vollendung  entgegen,  Entwürfe  und  neue  Pläne 
werden  vorbereitet,  ein  Zeugnis  von  der  riesenhaften 
Arbeits-  und  Willenskraft,  von  denen  der  Meister  dieser 
Schöpfungen  sich  l»eherrschen  lässt.  Den  sonstigen 
künstlerische)!  Sclimuck  des  großen  Saales  und  seiner 
einfach-weißen  Wände  bilden  zwei  Böcklin’sche  Land¬ 
schaften  aus  früherer  Zeit,  einige  Stiche  von  Goya  und 
Ernst  Moi'itz  Geyger,  Lithographieen  von  Otto  Greiner, 
Studien  von  Klinger  selbst,  einige  Gypsabgüsse  nach 

Renaissancebüsten 
etc.  Dass  für  den  ver¬ 
ständnisvollen  Inter¬ 
preten  der  Brahms- 
schen  Lieder  ein  gro¬ 
ßer  Flügel  nicht  fehlt, 
mag  schließlich  nur 
beiläufig  noch  er¬ 
wähnt  werden. 

Ein  kleineres, 
für  den  Abbozzatore 
bestimmtes  Atelier 
schließt  sich  an  den 
Haupti’aum  an;  zwi¬ 
schen  beiden  liegt 
ein  mäßig  großer 
Ausstellungssaal, 
dessen  Wände  ein 
altflorentinisches  Re¬ 
lief,  Böcklin’s  be¬ 
kannte  „Flora“,  eine 
W  interlandschaft 
vom  Grafen  Kalck- 
reuth,  und  von  Klin- 
gei‘’s  Hand  die  Da)ne 
auf  dem  Dache  des 
römischen  Hauses, 
Radirungen  und  die 
Kreuzigung  schmü¬ 
cken,  die  hoffentlich 
nicht  auch  einmal  ins  Ausland  wandern  wird.  Im 
übrigen  enthält  das  Klinger’sche  Künstlo’heini  eine 
Anzahl  behaglich  eingerichteter  Wohnräume,  die  uns 
nicht  weiter  interessiren  können.  Und  obwohl  dieser 
villenartige,  äußerlich  einfache,  aber  geschmackvolle, 
innerlich  behaglich  und  vor  allem  zweckmäßig  einge¬ 
richtete  Bau  kaum  vollendet  war,  drohte  zu  Beginn  des 
vergangenen  Jahres  die  Gefahr,  dass  der  Bauherr  seine 
Vaterstadt  verlassen  wolle,  um  einem  an  ihn  ergangenen 
Ruf  in  die  Kaiserstadt  an  der  Donau  Folge  zu  leisten. 
Wir  würden  dieser  Thatsache  an  dieser  tStelle  nicht  ge¬ 
denken,  weil  sie  rein  persönlicher  Natur  ist  und  am 
besten  auf  einen  intimen  Kreis  beschränkt  bliebe.  Sie 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


163 


darf  aber  jetzt  erwähnt  werden,  da  die  Presse  sich  mehr¬ 
fach  mit  ihr  befasst  hat  und,  wie  aus  Wien  geschrieben 
wurde,  die  Hoffnung  nicht  aufgegeben  ward,  eine  die 
dortigen  Kunstkreise  befriedigende  Lösung  der  Frage 
doch  noch  iierbeiführen  zu  können.  Klinger  leimte  jeden¬ 
falls  den  Ruf  ab.  Der  Tod  des  Vaters,  der  in  ein  glück¬ 
liches  Familienleben  eine  klaffende  Lücke  riss,  sowie 
andere  Umstände  bewogen  den  Künstler,  der  Vaterstadt 
treu  zu  bleiben.  Und  wir  Leipziger  hoffen  mit  Zuversicht, 
dass  die  Bande,  die 
Klinger  bei  uns  ge¬ 
halten  haben,  nun  für 
die  Dauer  geknüpft 
sind.  Denn  die  Ar¬ 
beiten,  die  Klinger 
für  die  nächsten,  man 
kann  ohne  Übertrei¬ 
bung  sagen,  zehn 
Jahre  beschäftigen, 
ja  seine  Hauptthätig- 
keit  bilden  werden, 
machen  seinen  Auf¬ 
enthalt  in  Leipzig 
zur  zwingenden  Not¬ 
wendigkeit.  Es  han¬ 
delt  sich  um  zwei 
umfangreiche  Auf¬ 
träge  für  Wand¬ 
malerei,  nach  der  sich 
des  Künstlers  Herz 
wohl  schon  seit  lan¬ 
gen  Jahren  gesehnt 
hat,  Aufträge,  die 
aber  merkwüi'diger- 
weise  spät  an  ihn 
herangetreten  sind, 
obschon  seine  ganze, 
auf  das  Monumentale 
gerichtete  Kunst,  mit 
ilirem  energischen 
Streben  auch  äußer¬ 
lich  durch  große  Mit¬ 
tel  zu  wirken,  ge¬ 
rade  ihn  für  derar¬ 
tige  Schöpfungen  ge¬ 
eignet  erscheinen 
lässt.  Die  beiden  Aufträge,  um  die  es  sich,  handelt, 
knüpfen  sich  an  zwei  Monumentalbauten  an,  die  schon 
in  ihrer  Bestimmung  für  Wandmalereien  prädestinirt 
sind  und  eine  große  Entfaltung  malerisclier  Kunst  er¬ 
möglichen.  Der  eine  ist  das  städtische  Museum  der 
bildenden  Künste,  dessen  Treppenhaus,  ein  in  seinen 
Verhältnissen  besonders  glücklich  gedachter  und  vornehm 
wirkender  großer  Raum  mit  Oberlicht,  Bilderschmuck 
erhalten  soll  an  Stelle  der  jetzigen  Stucco-Inkiaistation 


und  der  höchst  mittelmäßigen  dekorativen  Vouten- 
malereien,  für  die  von  dem  Architekten,  Hugo  Licht, 
von  Haus  aus  ein  künstlerischer  Ersatz  gedacht  worden 
war.  Die  Entwürfe  für  diesen  Cyklus  sind  vom  Künstler 
vor  kurzem  vollendet  worden:  es  sind  vier  große  Kom¬ 
positionen,  durch  ihre  Stimmung  wirkende,  symbolische 
Erläuterungen  der  vier  Tageszeiten,  in  denen  gleich¬ 
mäßig  Lanilschaft,  Meer  und  Figuren  als  Träger 
mystischer  Gedanken  eine  gewaltige  Sprache  reden 

werden,  drei  dieser 
Entwürfe  für  je  eine 
Wand  gedacht,  wäh¬ 
rend  die  Komposition 
für  die  vierte  Wand¬ 
fläche,  die  durch  eine 
in  die  Geniäldesäle 
führende  Thür  in  zwei 
gleiche  Hälften  ge¬ 
teilt  ist,  in  zwei  in 
Stimmung  und  Tlie- 
ma  gleichwertige 
Scenen,  eine  Kreu¬ 
zigung  Christi  und 
die  Grablegung  — 
die  Nacht,  —  zerlegt 
wird.  Der  Grundge¬ 
danke  dieser  Haupt¬ 
darstellungen  setzt 
sich  in  der  durch 
perspektivische  Kon¬ 
struktion  scheinbar 
an  Tiefe  erweiterten 
Voute  fort  und  zwar 
in  der  Personitikation 
der  Tagesstunden, 
die,  in  Gruppen  zu- 
samuiengefasst, durch 
Figuren  aus  der  klas¬ 
sischen  und  der  ger¬ 
manischen  Mytholo¬ 
gie,  Horen  und  Wal¬ 
küren  ,  repräsentirt 
werden.  Als  Technik 
wird  hoffentlich,  al¬ 
tem  Brauche  folgend 
und  wie  es  der  Mo¬ 
numentalität  des  Auftrages  entspricht,  Freskomalei'ei 
gewählt,  obwohl  Klinger  auf  diesem  Gebiete  seine 
Kräfte  bisher  noch  nicht  bethätigt  hat.  Das  düi-fte  aber 
nie  ein  Hindernis  sein  für  die  altbewährte,  in  ihrer 
Haltbarkeit  und  künstlerischen  Wirkung  durch  Jahr¬ 
hunderte  eri)robte  Spraclie  der  monumentalen  Malerei 
einen  unserer  Ansicht  nach  dürftigen  Ersatz  in  Gestalt 
von  Leinwandtiächen  treten  zu  lassen,  die  über  die 
Wände  auszuspannen  wären.  Klinger  hat  bisher  jede 


Eine  Vision;  getuschte  Federzeichnung  von  Max  Klinger. 


21  * 


164 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGEK. 


Tecluiik  belierrsclieu  gelernt,  meist  als  Autodidakt  wie 
beim  Eadiren  und  Bildhaueu  aufangend,  und  er  wird 
auch  als  Freskomaler  ein  ausgezeichneter  Techniker 
werden. 

Etwa  gleichzeitig  mit  den  Malereien  für  das  städtische 
Museum  trat  an  Klinger  und  zwar  von  Seiten  der  könig¬ 
lich  sächsischen  Ministerien  des  Kultus  und  des  Innern 
ein  zweiter,  nicht  minder  dankbarer,  umfangreicher  und 
seine  ganze  Kraft  anspannender  Auftrag  heran:  die  lange, 
den  Fenstern  gegenüberliegende  Wand  der  Leipziger 
üniversitätsaula  in  dem  am  Augustusi)latze  gelegenen 


die  Vollbilder  der  „Brahms-Phantasie“  beweisen,  gerade 
in  Klinger  seinen  geborenen  Meister  gefunden  hat. 

Im  Vorstehenden  ist  ein  Stück  der  Kunstpflege  in 
Leipzig  behandelt  worden,  das  hoffentlich  dereinst  ein 
stattliches  Kapitel  deutsclier  Kunstgeschichte  bilden  wird. 
Wer  Leipzig,  die  Handelsstadt,  nicht  näher  kennt  oder 
seit  vielen  Jahren  die  Stadt  zum  ersten  Male  wieder 
betritt,  der  ahnt,  wie  die  Erfahrung  bestätigt  hat,  außen 
hinter  dem  Wald  von  Fabrikschornsteinen  und  hinter 
ihrer  dunklen  Atmosphäre,  innen  bei  dem  hastigen  Ge¬ 
triebe  des  Alltagslebens  und  dem  Lärm  des  groß- 


Mäclchen  am  Strande ;  Federzeichnung  von  Max  Klinger. 


sog.  Augusteum  auszumalen,  das  durch  den  jüngst  nacli 
Plänen  von  Arwed  Eossbach  vollendeten  Umbau  im 
Äußern  wie  im  Innern  eine  wesentlich  neue  Gestalt 
erhalten  hat.  Mit  welchen  Plänen  sich  der  Künstler 
für  dieses  Werk  trägt,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis, 
die  Frage  dürfte  überhaupt  erst  in  Jahren  aktuelle  Be¬ 
deutung  erhalten.  Der  Bestimmung  des  Gebäudes  und 
Klinger’s  Denken  und  Empfinden,  so  will  es  uns  scheinen, 
angemessen  wäre  die  schönste  Lösung  der  Aufgabe,  wenn 
die  Titanengestalt  des  Prometheus  in  Hinblick  auf  ihre 
mythische  Stellung  zum  Meuschengeschlechte  zum  Haupt¬ 
träger  des  Gedankens  gemacht  würde,  der,  wie  schon 


städtischen  Verkehrs  nicht,  dass  hier  ein  nicht  un¬ 
bedeutender  Fonds  künstlerischer  Interessen  zu  finden  ist 
und  nach  Möglichkeit  genährt  wird.  Speciell  auf  dem 
Gebiete  der  bildenden  Künste  ist  in  den  letzten  zwanzig 
Jahren  viel  geschaffen  und  zu  vielem  die  Anregung  ge¬ 
geben  worden,  so  dass  von  der  Zukunft  manche  schöne 
Saat  zu  erwarten  ist.  Der,  welcher  solche  Worte  iiieder- 
schreibt,  setzt  sich  leicht  der  Gefahr  aus,  für  ein  Opfer 
des  Lokalpatriütismus  zu  gelten,  denn  nicht  überall  wird 
wohlwollenden  Blickes  verfolgt ,  was  in  Leipzig  zur 
Pflege  seiner  Interessen  geschieht.  Wer  aber  weiß,  dass 
der  grüßte  Faktor  in  diesem  Getriebe  der  Bürgersinn 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


165 


ist,  die  aus  diesem  herausgeborene  Kraft  des  Gemein¬ 
wesens  ,  die  Freude  an  dem  mit  schweren  Opfern  er¬ 
worbenen  Besitz  und  die  Zuversicht,  dass  auch  kommende 
Zeiten  in  diesem  idealen  Ringen  nicht  ermatten  werden, 
der  wird  diesem  Patriotismus  seine  Berechtigung  nicht 
versagen  können. 

*  * 

* 

Es  bietet  sich  uns  hie.]'  die  passende  Gelegenlieit, 
um  einige  Worte  der  Orieutirung  anzuschließen  iiljer 
eine  KHngcr  -  Publikation,  die  der  Kunstmarkt  un¬ 
längst  gebracht  hat.')  Wie  die  unten  beigefiigte  Titel- 


Wiedergabe  gelangen  konnte.  Von  außergewöhnlichem 
Interesse  sind  vor  allem  eine  Anzahl  von  Feder-  und 
Kreidezeichnungen  nach  der  Natur,  Köpfe,  Hände,  Ge¬ 
wandstücke  u.  a.,  Studien  von  unübertrefflicher  Schärfe 
der  Beobachtung  und  einer  Festigkeit  der  Technik,  die 
an  Dürer  erinnert.  Einige  der  Blätter  beünden  sich 
noch  im  Besitze  des  Künstlers,  was  für  Sammler  betont 
sein  mag;  andere  sind  von  deutschen  Kabinetten,  wie 
z.  B.  dem  Dresdener,  und  aus  dem  Privatbesitz  beige¬ 
steuert,  darunter  das  reizvolle  dreigeteilte  Blatt  „Narziss 
und  Echo“,  Eigentum  des  Herrn  Kommerzienrates  Seeger 
in  Berlin. 


Hamlet  und  der  Geist;  getuschte  Federzeichnung  von  Max  Klinger. 


angabe  des  prächtig  ausgestatteteii  Foliobandes  zeigt, 
handelt  es  sich  um  eine  Auswahl  aus  den  Wei'keu  des 
Meisters,  in  der  seine  Skulpturen,  Ölbilder  und  Zeich¬ 
nungen  besonders  reich  vertreten  sind,  während  von 
den  etwa  150  Radirungen  nur  ein  kleiner  Bruchteil  zur 

1)  Max  Klinger.  Radiruiigen,  Zeichnungen,  Bilder  und 
Skulpturen  des  Künstlers,  mit  den  drei  vollständigen  Folgen: 
Zeichnungen  über  das  Thema  „Christus“,  Entwürfe  zu  einer 
griechisch-römischen  Gedichtsammlung  und  ,,Fiine  Liebe“, 
Radirungen  op.  X,  in  Nachbildungen  durch  Heliogravüre  etc. 
Text  von  Franz,  Hermann  Meißner.  München,  Franz  Ha.nf- 
stängl,  1897.  Fol. 


Eine  wenig  empfehlenswerte  Beigabe  ist  'der  aus¬ 
führliche  Text,  in  den  eine  Reihe  der  Klinger'sclien 
Studien  als  Illustrationen  eingestreut  sind.  Leiiler  können 
sie  die  Stilblüten  des  Herrn  Meißner  nicht  annehmbarer 
machen.  Wir  verhehlen  uns  keineswegs,  dass  der  Autor 
sich  die  redlichste  Mühe  gegeben  hat,  den  Ijebensgang 
und  die  künstlerische  Entwicklung  Max  Klinger’s  ge¬ 
schichtlich  darzulegen,  obwohl  ihm  auch  in  diesem  bio¬ 
graphischen  Teile  seiner  Aufgabe  einiges  Menschliche 
passirt.  So  z.  B.  auf  S.  10,  wo  ei’  sagt,  das  bereits 
1858  von  Lange  erbaute  Leipziger  Museum  sei  in 
Klinger’s  Jugend  noch  nicht  vorhanden  gewesen.  Klinger 


1G6 


ALTES  UND  NEUES  VON  MAX  KLINGER. 


ist  doch  1857  geboren.  Oder  wenn  er  von  Th.  Lewin, 
der  bekanutlicli  Klinger’s  Bedeutung  mit  zuerst  erkannt 
liat,  auf  S.  20  behauptet,  er  sei  „später  als  Bibliothekar 
in  Düsseldorf  gestorbeirk  Lewin  lebt  in  Düsseldorf 
unseres  \Yissens  ganz  gesund.  Aber  das  sind  Kleinig- 
ke.iten  gegenüber  den  Mängeln  des  kritischen  Teiles  der 
Textbeigabe.  Schon  das  ist  ein  Missgrift,  dass  uns  de- 
taillirte  AnaUsen  sämtlicher  \Verke  Klinger’s  geboten 
werden,  während  der  I^eser  doch  nur  eine  Auswahl  der¬ 
selben  vor  Augen  hat.  Und  nun  vollends  die  Sprache, 
deren  sich  Herr  Meißner  bedienen  zu  müssen  glaubte, 
um  zu  der  Höhe  des  von  ihm  angebeteten  Meisters 
emporzuklimmen!  Wir  begnügen  uns,  dem  Leser  eine 
einzige  I'robe  dieses  modeimen  Deutsch  vorzuführen,  und 
stellen  daneben  die  Unterschrift  einer  Lithograidiie, 
welche  das  Bildnis  des  bekannten  Komikei  s  Scholz  vom 
Wiener  Carltheater  darstellt.  In  der  Unterschrift  dieses 
I'orträts  ist  eine  Ansprache  wiedergegeben,  welche  Scholz 


nach  endlosen,  ihm  gespendeten  Beifallsäußerungen  an 
das  Publikum  gehalten  haben  soll. 


Meißner : 

,, Dreimal  schießt  kritischer 
Geist  vom  lieblichen  Bild  hin¬ 
aus  in  die  Atherhöbe,  in  der 
nach  Plato  die  Ideen  wohnen, 
und  wirft  iin  Wiederscbein 
dorthin  ein  Symbol  des  Be- 
gritfs  und  der  Folgerung  aus 
dem  eben  von  ihm  gebildeten 
Zustand.“ 


Sch  oh-  : 

,,Wenn  sich  der  Schwäche 
Kraft  in  der  Brreicbung  dunk¬ 
ler  Ziele  bat  gefestigt  und  so 
sehr  auch  des  Gelingens  Ilnld 
erwärmenderNachsicbt  dünkt, 
so  ist  es  unser  'l'rost ,  des 
Strebens  zaghaft  Ziel  mit 
l)anger  Sehnsucht  der  Ge¬ 
währung  V.u  sein ,  die  lUire 
gehabt  zu  haben.“ 


Preisfrage:  Auf  welcher  Seite  steht  hier  der  höhere 
Blödsinn?  Wobei  natürlich  zu  berücksichtigen  ist,  dass 
Schulz  wusste,  das  Publikum  lache  immei'  zum  Zerplatzen, 
was  er  auch  sagen  möge,  während  Hei'i'  Meißner  selbst¬ 
verständlich  ernst,  tief  ernst  genommen  sein  will. 

C.  V.  L. 


Das  Ur-Niolits;  Federzeicbmmg  von  Max  Klinger. 


DER  KUNSTHISTORISCHE  KONGRESS 
IN  BUDAPEST  1890. 

MIT  ABBILDDNGEN. 


TE  regelmäßigen  Verscammluiigeii  der 
Kunsthistoriker  haben  sich  seit  ihrer 
AViederaufnahnie  im  Jahre  1893  einer 
wachsenden  Teilnahme  der  Fachgenossen 
und  Kunstverwandten  zu  erfreuen.  Wäh¬ 
rend  der  damalige  Kongress  in  Nürnberg 
63  Teilnehmer  vereinigte,  war  die  Zahl  der  in  Budapest 
Versammelten  bereits  auf  ungefähr  das  Doppelte  davon 
angewachsen.  Darunter  eine  beträchliche  Zahl  von  Aus¬ 
ländern;  aus  den  Niederlanden,  aus  Skandinavien,  Italien, 
England  und  Frankreich.  Und  an  Stelle  der  Museuras- 
vorstände  und  Magistrate,  welche  die  Kongressmitglieder 
in  Nürnberg  und  in  Köln  1891  begrüßten,  waren  in  Buda¬ 
pest  die  Vertreter  der  Staatsregierung  zu  ihrem  Em¬ 
pfang  erschienen.  Diese  wetteiferten  mit  der  städtischen 
Repräsentanz,  mit  den  Vereinen  und  kunstsinnigen  Privaten 
in  ihrer  Ehrung  und  festlichen  Bewirtung. 

Den  Anlass  und  die  Möglichkeit  zu  einer  derartig 
solennen  Gestaltung  des  Kongresses  von  Budapest  bot 
die  ungarische  Millenniumsfeier.  Schon  die  Nürnberger 
Versammlung  war  von  Seiten  des  kgl.  ungarischen  Handels¬ 
ministeriums,  als  der  obersten  Instanz  für  die  Millenni¬ 
umsausstellung,  zur  Teilnahme  an  der  nationalen  Feier 
eingeladen  worden.  Der  Kongress  in  Köln  fasste,  auf 
Grundlage  der  Satzungen,  darüber  einmütig  einen  zu¬ 
stimmenden  Beschluss.  Und  wenn  auch  manche  widrigen 
Umstände  seither  dazwischen  getreten  waren,  welche  eine 
Zeit  lang  die  Verwirklichung  des  Kongresses  sogar  in 
Frage  stellten,  so  wird  es  gewiss  Keinen  von  denjenigen, 
die  dem  E.ufe  nach  Budapest  gefolgt  sind,  gereut  haben, 
Teilnelnner  an  dieser  denkwürdigen  Versammlung  gewesen 
zu  sein. 

Im  Programm  hatte  man  den  Festsaal  des  unga¬ 
rischen  Nationalmuseums  für  die  feierliche  Eröffnung  der 
Kongressverhandlungen  in  Aussicht  genommen.  Da  dieser 
Saal  jedoch  bis  zur  gänzlichen  Vollendung  des  neuen 
Parlamentsgebäudes  als  Sitzungssaal  des  Magnatenhauses 
dient,  und  da  letzteres  eben  damals  versammelt  war,  so 
musste  rasch  in  der  Wahl  der  Lokalität  eine  Änderung 
getroffen  werden.  Die  Sitzungen  begannen  daher  am 


Vormittage  des  1.  Oktober  in  der  Festhalle  der  Millen¬ 
niums-Ausstellung,  in  welcher  auch  am  Voralmnde  bereits 
die  Begrüßung  der  Kongressmitglieder  durch  den  Haudels- 
minister  Ernst  v.  Daniel,  in  seiner  Eigenschaft  als  Präsi¬ 
denten  der  Ausstellung,  stattgefunden  hatte.  Nach  den 
bisherigen  Erfahrungen  musste  man  Zw'eifel  darüber  liegen, 
ob  sich  der  weite  Raum  für  die  Versammlung  der  Fach¬ 
genossen  nicht  zu  groß  erweisen  werde.  Aber  die  glän¬ 
zende  Versammlung,  an  der  außer  den  Vertretern  der 
V/issenschaft  aus  fern  und  nah  mit  ihren  Damen,  den 
Ministern  und  den  Repräsentanten  der  Stadt  auch  zahl¬ 
reiche  hocligestellte  Kunstfreunde  und  Mäcene,  Künstler 
und  Schriftsteller  teilnahmen,  ließ  bald  alle  jene  Be¬ 
denken  als  unbegründet  erscheinen. 

Um  9  V2  Uhr  konstituirte  sich  das  Bureau ')  und 
der  Obmann  des  Budapester  Lokalkomitee’s,  Bischof  Sigis¬ 
mund  V.  Bul)ics,  übernahm  den  A'orsitz.  Zu  seiner  Rechten 
saß  der  Unterrichtsminister  Dr.  Julius  Wlassics,  zu  seiner 
Linken  der  Obmann  des  ständigen  Ausschusses  der  Kon¬ 
gresse,  Prof.  Dr.  V.  Lützow,  und  Hofrat  Pi'of.  Dr.  Schlie. 
Nachdem  zunächst  der  Vorsitzende  die  Kongressmitglieder 
in  kurzen  Worten  begrüßt  hatte,  hielt  der  Unterrichts¬ 
minister  Dr.  Wlassics  in  französischer  Sprache  die  Er¬ 
öffnungsrede.  Er  gab  vor  allem  der  Freude  darüber 
Ausdruck,  dass  die  Kunsthistoriker,  der  Einladung  der 
kgl.  ungarischen  Regierung  folgend,  ihren  vierten  Kongress 
gerade  im  Millenniumsjahre  in  Budapest  abzuhalten  lie- 
schlossen  haben.  Die  Regierung  fühle  sich  dadurch  zu 
tiefem  Danke  verpflichtet.  Denn  sie  hege  die  Überzeu¬ 
gung,  dass  diese  Vei'sammlung,  wie  viele  andere  Vereini¬ 
gungen  ähnlicher  Art,  mit  dazu  beitragen  werde,  die 
Bande  zwischen  Ungarn  und  dem  westlichen  Europa  fester 
und  fester  zu  knüpfen.  Ungarn  hoffe  und  wisse,  dass 
auch  die  Mitglieder  dieses  Kongresses  den  in  der  Kultur¬ 
arbeit  sieh  äußernden  Eifer  der  Nation  anerkennen  und 

1)  Dasselbe  bestand,  außer  dem  Vorsitzenden,  Prof.  Dr. 
D.  Lütxoip,  aus  den  Herren  E.  v.  KanuHerer  (Budapest),  U. 
Hi/i/ians  (Brüssel),  Prof.  Cook  (London'),  Dir.  G.  Le  Breton 
(Reuen),  llofrath  Dr.  Schlie  (Schwerin),  Dr.  A.  Ni/ori  (Buda¬ 
pest)  und  Dr.  J.  Dcrnjac  (Wien). 


168 


DER  KUNSTHISTORISCHE  KONGRESS  IN  BUDAPEST  1896. 


in  die  Heimat  ziirückeekelirt  dafür  Zeugniss  ablegen  werden, 
dass  die  Ungarn  nickt  nur  seit  einem  Jahrtausend  auf 
ihrem  Boden  den  einheitlichen  Staat,  die  Freiheit  und 
das  EeOiT  aufrecht  zu  eidialteu  gewusst  haben,  sondern 
auch  mit  aller  Energie  darnach  streben,  aus  ihrem  Lande 
eine  Pflegc-st,iite  der  westeuropäischen  Kultur  und  Kunst 
zu  machen.  —  Auf  große  Resultate  könne  Ungarn  frei¬ 
lich  noch  nicht  hinweisen.  Sein  Boden  war  Jahrhunderte 


treue  Helfer  und  Ratgeber  bei  der  im  Dienste  des  edlen 
Zieles  unternommenen  Arbeit!  Knüpfen  wir  enger  das  Band, 
das  uns  mit  der  Gesamtheit  der  Kunstwelt  verbindet! 
Damit  begrüße  ich  Sie  auf  das  wärmste.  Ihre  Arbeit  sei 
erfolgreich  und  mögen  Sie  sich  so  wohl  in  unserer  Mitte 
tülilen,  wie  sie  mit  echtem  ungarischen  Herzen  empfängt 
nicht  die  ungarische  Regierung  allein,  sondern  die  ganze 
ungarische  Nation.“ 


lang  ein  Kampfplatz.  Das  Schwert  drängte  den  Pinsel 
und  Griffel  aus  der  Hand.  Aber  der  Sinn  für  die  er¬ 
habenen  Ideen  der  Kunst  und  Wissenschaft  sei  dadurcli 
niemals  ertötet  worden.  Hervorragende  Talente  bürgen 
für  den  Beruf  der  Nation  zur  Kunst,  und  emsige  Forscher 
arbeiten  daran,  die  Geschichte  derselben  in  der  Ver¬ 
gangenheit  aufzuhellen.  „Seien  Sie“  —  so  schloss  der 
Minister  —  „auf  diesem  Kongresse  und  immerfort  uns 


Der  Obmann  des  ständigen  Ausschusses,  Prof.  Dr. 
V.  Liitzow,  antwortete  auf  diese  Begrüßung  mit  einer 
kurzen  Ansprache,  in  welcher  er  zunächst  auf  die  Ent¬ 
stehung  der  kunsthistorischen  Kongresse  hinwies  und 
deren  erfreuliches  Wachstum  konstatirte.  Der  erste  Kon¬ 
gress,  1873  in  Wien,  habe  melir  einen  familiären  Charak¬ 
ter  gehabt ;  die  Leitung  und  das  Endergebniss  ruhte  einzig 
und  allein  in  den  Händen  des  hochverdienten  R.  v.  Eitel- 


DER  KUNSTHISTORISCHE  KONGRESS  IN  BUDAPEST  1896 


169 


berger.  In  Nürnberg  (1893)  und  in  Köln  (1894)  war  lerisclien  Interessen,  gelangte  darin  zu  erfreulichem  Aus- 
dies  schon  anders.  Nicht  nur  die  dortigen  Museen,  son-  druck.  In  Budapest,  so  fuhr  der  Redner  fort,  ge- 


dern  die  Städte  selbst  machten  die  Sache  der  Kongresse 
zu  der  ihrigen.  Die  alte  kommunale  Bedeutung  der  Kunst, 
die  Bürgerschaft  als  Trägerin  und  Pflegerin  der  künst- 

Zeitscbi'ift  für  bilJemle  Kunst.  N.  F.  VIII.  II.  7. 


schiebt  es  zum  ersten  Male,  dass  die  Staatsregierung 
des  Ijandes,  in  dessen  Hauptstadt  wir  aus  hochfeier¬ 
lichem  Anlasse  tagen,  der  Sache  des  Kongresses  ihren 


170 


DER  KUNSTHISTORISCHE  KONGRESS  IN  BUDAPEST  1896. 


freundlichen  und  ehrenvollen  Schutz  gewährt.  Ini  Namen 
des  ungarischen  Volkes  rief  sie  uns  zu;  „Kommt  her, 
Ihr  Freunde  der  Kultur,  Ihr  Träger  der  Wissenschaft; 
und  Kunst  und  freut  Euch  mit  uns  au  dem,  was  wir, 
was  unser  altes,  edles  Volk  geschaffen  hat.  Dieses  Volk 
ist  lange  nicht  mehr  ein  wildes  Reitervolk,  es  baut  nicht 


Hoch  auf  Ungarn  und  seine  thatkräftige  und  weise  Re¬ 
gierung. 

Der  Ehrenpräsident  des  Kongresses,  Sig.  v.  Buhics, 
Bischof  von  Kaschau,  nahm  hiernach  das  Wort  zu  einer 
längeren  Rede  (in  französischer  Sprache),  deien  wesent¬ 
lichen  Inhalt  ein  orientirender  Überblick  iiber  die  Knltur- 


Barockbau  in  iler  Instorischeu  Abteilung  der  Millenniumsausstelliing  in  Budapest. 
Architekt  J.  Alpar. 


nur  fleißig  seinen  Boden  und  sammelt  von  ihm  die 
Früchte,  sondern  es  will  auch  frank  und  frei  mitar- 
beiten  auf  allen  Gebieten  der  Kultur.“  Unter  einem 
Hinweis  auf  die  Bauten  der  Ausstellung  und  deren 
reichen,  glänzenden  Kunstinhalt  schloss  der  Redner  mit 
einem  von  stürmischem  Beitall  begleiteten  dreimaligen 


und  Kunstgeschichte  des  Landes  bildete.  Er  gedachte 
zunächst  der  furchtbaren  Kriegsnote  und  Gefahren,  von 
denen  Ungarn  wiederholt  heinigesucht  war;  des  Ein¬ 
bruches  der  tartarischen  Horden  in  das  unter  den  Arjia- 
den  eben  aufgeblühte  Land,  dann  der  mit  dem  15.  Jahr¬ 
hundert  beginnenden  Einfälle  der  Osinanen.  Nach  der 


DER  KUNSTHISTORISCHE  KONGRESS  IN  BUDAPEST  1896. 


171 


traiu'igeu  Niederlage  von  Moliacs  (1526)  folgte  für  Ungarn 
eine  anderthalb  Jahrhunderte  dauernde  Epoche  der  Knecht¬ 
schaft.  Dass  sieh  in  dieser  langen,  schweren  Zeit  die 
Künste  und  Wissenschaften  hier  nicht  in  gleichem  Maße 
entwickeln  konnten,  wie  im  übrigen  Europa,  das  liegt 
auf  der  Hand.  Ganz  brach  aber  lagen  sie  dennoch 
nicht;  ähnlich  dem  alten  Volke  Israel  hielt  der  Ungar 
in  der  einen  Hand  zur  Verteidigung  das  Schwert,  in  der 
andern  den  Mörtel  zum  neuen  Dane.  Endlich  im  Jahre 
1686  wurde  der  Erbfeind  durch  die  christlichen  Waffen 
aufs  Haupt  geschlagen.  Mit  der  Rückeroberung  Ofens 
aus  Feindeshand  begann  das  Erlösungswerk. 

Hierauf  ging  Bischof  von  Bubics  zu  der  Schilderung 
der  Kunstdenkmäler  Ungarns  und  ihrer  verschiedenen 
Stilepochen  über.  Er  gedachte  kurz  der  Rönierzeit  und 
ihrer  Denkmale  in  Altofen,  Waitzen,  Steinamanger  und 
an  anderen  Orten  und  wandte  sich  dann  zu  der  Periode  des 
heiligen  Stephanus  (1000 — ^1038),  des  ersten  Königs  von 
Ungarn,  unter  dem  die  christliche  Kunst  ihren  Einzug  in 
das  Land  hielt.  Er  teilte  dasselbe  in  zehn  Bistümer  und 
gründete  eine  Anzahl  stattlicher  Kirchen,  unter  anderen 
die  von  Stuhl weißenburg,  in  welcher  mehrere  ungarische 
Könige  gekrönt  und  begraben  wurden,  in  der  auch 
Matthias  Corvinus  seine  letzte  Ruhestätte  fand.  Sie 
war  im  romanischen  Stil  erbaut.  Denselben  Stil  zeigten 
der  Dom  von  Großwardein,  die  Kirche  von  Lebeny-Szent- 
Miklos  im  Wieselburger  Komitat,  die  von  Zsämbek,  die 
Kapelle  von  Leless,  die  Kapelle  von  Bodrog-Keresstur 
und  die  schöne  Kirche  von  Jäk  im  Eisenburger  Komitat, 
welche  heute  noch  besteht.  Ein  Teil  von  ihr,  das  welt¬ 
bekannte  reiche  Portal,  schmückt  in  einer  getreuen 
Nachbildung  den  Park  der  historischen  Ausstellung.  Die 
meisten  dieser  Bauten  stammen  aus  dem  12.  Jahr¬ 
hundert.  —  Das  13.  Jahrhundert  sah  den  Einzug  der 
Gotik  in  unser  Land.  Die  Cisterzienser  haben  sie  von 
Frankreich  aus  zu  uns  gebracht.  Sie  beherrschte  den 
Kirchenbaustil  Jalirhunderte  lang.  Der  jüngst  restau- 
rirte  Kaschauer  Dom,  die  St.  Ägidiuskirche  zu  Bartfeld 
und  andere  nordungarische  Denkmäler  gehören  zu  den 
ältesten  gotischen  Bauwerken  des  Landes.  Die  Haupt¬ 
pfarrkirche  des  alten  Pest,  die  Matthiaskirche  in  Ofen, 
die  Kirchen  zu  Karlsburg,  Kronstadt,  Schässburg,  Klausen¬ 
burg,  Kirchdrauf  und  andere  reihen  sich  ihnen  an.  Eine 
Specialität  bilden  die  in  Oberungarn  vorkommenden 
Holzkirchen,  z.  B.  die  in  Kesmark  und  die  in  Szinyer- 
varalya  im  Bistum  Szatmar.  Sie  wurden  von  deutschen 
Bewohnern  des  Landes  erbaut,  deren  Einwanderung  bis 
in  die  Arpadenzeit  zurückreicht. 

Nachdem  Bischof  Bubics  dann  noch  der  Schloss¬ 
bauten  aus  der  Zeit  der  Renaissance,  vor  allem  der  Burg 
Vajdahunyad  und  der  Schlösser  aus  der  Periode  Maria 
Theresias,  Gödöllö  und  Esterhäza  gedacht  hatte,  ging 
er  zu  der  Geschichte  der  Malerei  in  Ungarn  über.  Aus 
dem  frühen  Mittelalter  haben  sich  zunächst  eine  Anzahl 
hochinteressanter  Wandmalereien  erhalten;  so  z.  B.  in 


Sankt-Marstiusberg,  dem  Ursitze  des  Benediktinerordeus 
in  Ungarn,  Dazu  kommen  dann  die  Schöpfungen  deut¬ 
scher  Meister,  sowohl  Wandgemälde  als  namentlich  farben¬ 
prächtige  Altarwerke,  in  den  Domen  von  Kaschau,  Kirch¬ 
drauf,  der  St.  Jakobskirche  zu  Leutschau  und  andere.  Die 
Nürnberger  Schule  hat  daran  hervorragenden  Anteil. 
Neben  dem  deutschen  macht  sich  der  italienische  Ein- 
ffuss  geltend.  Wir  können  ihn  bereits  im  14.  Jahr¬ 
hundert  nachweisen,  zur  Zeit  der  Regierung  des  Hauses 
Anjou,  besonders  unter  dem  kunstsinnigen  Könige  Sigis¬ 
mund,  der  die  Ofener  Königsburg  vergrößerte  und  hier¬ 
zu  nicht  nur  italienische  Architekten,  sondern  auch  Bild¬ 
hauer  und  Maler  kommen  ließ.  Erscheint  doch  selbst 
der  große  Name  des  ]\Iasolino  unter  den  in  Ungarn  be¬ 
schäftigten  Meistern!  —  Während  von  Skulpturwerken, 
namentlich  von  statuarischen,  sich  fast  gar  nichts  bis  auf 
unsere  Tage  erhalten  hat,  zeugen  zahlreiche  prächtige 
Goldsclnniedewerke,  Geräte,  Gefäße,  auch  mit  Perlen  und 
Edelsteinen  besetzte  Waffen  und  Gewänder,  welche  sich 
noch,  besonders  in  den  von  den  Türken  verschont  ge¬ 
bliebenen  Städten  Oberungarns,  vorfinden,  von  der  Pracht- 
und  Kunstliebe  der  Herrscher  jener  Zeit.  Die  Jahrbücher 
der  Stadt  Kaschau  melden  uns  die  Namen  von  125  dort 
ansässig  gewesenen  Goldschmieden.  Der  Graner  Doni- 
schatz  besitzt  eine  Anzahl  der  kostbarsten  Goldschmiede¬ 
werke  des  14.  und  15.  Jahrhunderts,  darunter  den  be¬ 
rühmten  Kalvarienberg  des  Königs  Matthias  Corvinus, 
eines  der  glänzendsten  Werke  der  Gold-  und  Email¬ 
technik  jener  Zeit,  das  Hauptstück  der  historischen  Aus¬ 
stellung.  Unzählige  seltene  und  höchst  wertvolle  Stücke 
verwandter  Art  befinden  sich  im  Natioualmuseum  zu 
Pest,  in  den  Händen  unseres  begüterten  Adels,  vor 
allem  im  Besitze  der  fürstlichen  Familie  Esterhazy  in 
Fraknö  und  au  anderen  Orten.  Die  Ausstellung  bietet 
davon  eine  interessante  und  lehrreiche  Ausbeute.  Wir 
vermögen  daraus  zu  erkennen,  wie  reich  Ungarn  an 
Schätzen  aller  Art  von  Kunst  besonders  am  Ende  der 
Regierung  des  Königs  Matthias  Corvinus  gewesen  sein 
muss.  Der  fürchterliche  Tag  von  Mohacs,  36  Jahre  nach 
dem  Tode  des  Königs,  und  die  150  Jahre  dauernde  Türken¬ 
herrschaft  haben  unsagbare  Verluste  an  diesen  Gütern 
und  in  einzelnen  Teilen  des  Königreiches  den  vollstän¬ 
digen  Ruin  des  Volkes  mit  sich  gebracht.  Der  Redner 
warf  zum  Schluss  einen  Blick  auf  die  neueste  Zeit, 
scliilderte  in  Kürze  die  bedeutendsten  Museen  und  Samm¬ 
lungen  des  Landes,  und  gedachte  der  verschiedenen  Ma߬ 
regeln  der  Regierung,  der  Komitate  und  der  Städte  zur 
Förderung  der  modernen,  wie  zur  Pffege  der  alten  Kunst. 
Nach  Aidiörung  dieses  höchst  instruktiven  Vortrags  be¬ 
fanden  sich  die  Kongressmitglieder  in  der  Lage,  über 
alles,  was  ihnen  der  historische  Teil  der  Ausstellung 
bot,  bereits  vor  deren  Besichtigung  über  den  Verlauf  der 
Dinge  im  allgemeinen  orientirt  zu  sein.  Der  Rund¬ 
gang  durch  die  Ausstellung  vervollständigte  später  dieses 
Gesamtbild  durch  eine  Fülle  von  Einzelheiten,  welche 

.22* 


DER  KUNST  HISTORISCHE  KONGRESS  IN  BUDAPEST  1896. 


den  Teiliielinieni  durch  denionstrirende  Vorträge  erläutert 
wurden.  Bischof  Bnbics  und  Prof.  Dr.  Bcla  Cxohor 
teilten  sich  unter  lebhafter  Befriedigung  der  Zuhörer  in 
diese  nicht  leichte  Aufgabe. 

Doch  ))evor  die  Demonstrationen  begannen,  war 
noch  die  Tagesordnung  des  ersten  Sitzungstages  zu  er¬ 
ledigen.  Zunächst  folgte  die  Begrüßung  der  Kongress¬ 
mitglieder  durch  den  Heri'ii  Magistratsrat  Eozsavölgyi 
namens  der  Haupt-  und  Residenzstadt  Budaijest,  welche  der 
Versammlung  ihre  lebhaften  Sympathieen  kundgeben  ließ. 
Dann  berichtete  der  Vorsitzende  über  den  Fortgang  der 
Vorarbeiten  für  das  in  Florenz  zu  gründende  kunsthisto¬ 
rische  Institut,  welches  demnächst  ins  Leben  treten  werde, 
l’rof.  Dr.  Heinrich  Brocichaus  in  Leipzig  habe  sich  be¬ 
reit  erklärt,  die  Einrichtung  und  Leitung  der  Anstalt 
für  die  erste  Zeit  zu  übernehmen.  Der  Sindaco  von 
Florenz  bekundete  seine  Sympathie  für  das  Unternehmen. 
Der  Voi'sitzcnde  verband  diese  mit  Beifall  aufgenommenen 
Mitteilungen  mit  einem  Apell  an  die  Versammelten,  sich 
an  den  Spenden  und  Saninilungen  für  das  Institut  zu 
beteiligen. 

Sodann  erfolgte  die  Wahl  des  nächsten  Kongress¬ 
ortes  für  das  Jahr  1898.  Der  Vorsitzende  veidas  ein 
Schreiben  des  Herrn  Dr.  Hofstede  de  Groot,  welches  den 
Kongress  einladet,  das  nächste  Mal  in  Amsterdam  zu- 
sanimenzutreten  und  die  freundliclie  Aufnahme  von  Seiten 
der  Stadt  und  der  dortigen  Kunstkreise  zusichert.  Direktor 
Dr.  Bredius,  der  dem  Budapester  Kongress  beiwohnte, 
unterstützte  diese  Einladung  mit  warmen  Worten.  Die 
Einladung  ward  einstimmig  angenommen,  und  zwar  für 
die  ersten  Septembertage  des  Jahres  1898,  in  denen  ge¬ 
legentlich  der  Krönung  der  jungen  Königin  Wilhelmine 
voraussichtlich  große  Festlichkeiten  künstlerischen 
Charakters  in  Amsterdam  stattiinden  werden. 

Den  Schluss  der  Verhandlungen  des  ersten  Tages 
bildete  ein  von  Demonstrationen  begleiteter,  höchst  ge¬ 
haltvoller  Vortrag  Prof.  Dr.  Jos.  NetnoirÜis  aus  Prag 
über  „Verlorene  und  doch  erhaltene  Cyklen  mittelalter¬ 
licher  Malerei  iti  Böhnien'L 

Mit  dem  Hinweise  auf  die  Möglichkeit  beginnend, 
dass  verlorene  luittelalterliche  Bildercyklen  nach  alten 
Kopieenfolgen  rekonstruirt  werden  können,  hob  Neuwirth 
hervor,  dass  sich  auf  dieser  Grundlage  zwei  große  Cyklen 
sitätmittelalterlicher  Wandmalerei  aus  böhmischen  Königs¬ 
burgen  —  der  eine  aus  KaiTstein,  der  andere  aus  der 
Residenz  auf  dem  Prager  Hradschin  —  fesstellen  lassen. 
Der  Gewährsmann  für  die  Karlsteiner  Bilderfolge  ist  der 
Brabanter  Geschichtsschreiber  Edmund  de  Dynter,  welcher 
als  Gesandter  zu  Wenzel  IV.  nach  Böhmen  kam.  Letz¬ 
terer  zeigte  dem  Brabanter  in  einem  Karlsteiner  Saale 
einen  die  Genealogie  der  Luxemburger  darstellenden  Bil- 
dercyklus,  der  kostbare  Bilder  aller  Herzoge  von  Bra¬ 
bant  bis  auf  Johann  III.  —  im  Aufträge  Kaiser  Karls  IV. 
ausgeführt  —  umfasste  und  von  dem  Könige  selbst  als 
seine  Genealogie  bezeichnet  wurde;  denn  er  stamme  von 


Calvarienberg  des  Königs  Matthias  Corvinus. 


DER  KUNSTHlSTORiSCHE  KONGRESS  IN  BUDAPEST  1896. 


173 


dem  Geschleclite  der  Trojaner  und  insbesondere  auch 
Karls  des  Großen  sowie  von  dem  berühmten  Hanse 
Brabant  ab,  da  sein  Urgroßvater  Kaiser  Heinrich  VlI. 
von  Luxemburg  die  Tochter  Johanns  I.  von  Brabant  ge¬ 
heiratet  hatte,  deren  Sohn  König  Joliann  von  Böhmen 
war.  Eine  solche  Bilderfolge  befand  sich  im  Karlsteiner 
Palas  bis  in  die  Tage  Rudolfs  II.,  da  sie  erst  nach  einem 
Berichte  aus  dem  Jahre  1597  über  Karlsteiner  Restau- 
riruugsarbeiten  als  zu  Grunde  gegangen  betrachtet  werden 
darf.  Sind  auch  die  Originalbilder  unwiederbringlich  ver¬ 
loren,  so  vermittelt  uns  doch 
eine  vortreffliche  Vorstellung 
derselben  die  vollständige 
Kopieenfolge  der  Handschrift 
8330  in  der  k.  und  k.  Hof¬ 
bibliothek  in  Wien.  Die  hier 
vorgeführte  Herrscherreihe, 
deren  Darstellungen  durch  das 
in  den  Inschriften  regelmäßig 
wiederkehrende  „genuit“  als 
Genealogie  charakterisirt  sind, 
entspricht  ganz  den  Angaben 
des  Edmund  de  Dynter  und 
deutet,  zwischen  guten  Ko- 
pieen  mehrerer  heute  noch  in 
Karlstein  erhaltener  Wand¬ 
bilder  stehend,  auf  den  glei¬ 
chen  Herkunftsort.  Für  die 
vor  dem  Trojanerkönige  Pria- 
mus  angeordueten,  bis  auf 
Noah  zurückreichendeu  Ge¬ 
stalten,  unter  denen  besonders 
Saturn  und  Juppiter  auffallen, 
bietet  eine  durch  Überein¬ 
stimmung  der  Anschauungen 
frappirende  Erklärung  das 
Buch  „nionarchos“  in  dem  Ge¬ 
schichtswerke  des  Johannes 
Warignola,  der  im  Aufträge 
und  nach  Angaben  Karls  IV. 
arbeitete.  Letzterer  wollte 
durch  den  Cyklus  gleichsam 
seine  durch  Abkunft  beson¬ 
ders  begründeten  Ansprüche 
auf  die  deutsche  Kaiserkrone  illustriren.  Biblische 
Überlieferung,  klassische  Mythologie,  die  Stammsage 
der  Franken,  die  Geschichte  der  Merowinger,  Karo¬ 
linger,  der  Brabanter  Hei'zoge  und  der  Luxemburger 
bildeten  die  Grundlagen  der  Bilderreihe,  deren  treu 
kopirte  Trachten  genau  den  Berichten  über  den  Trachten¬ 
wandel  in  Böhmen  zwischen  1330  bis  1370  entsprechen. 
Die  Vollendung  des  Cyklus  erfolgte  zwischen  1355  und 
1356  wahrscheinlich  durch  den  schon  1357  als  Hofmaler 
Karls  IV.  genannten  Nikolaus  Wurniser  von  Straßbui'g. 
Die  Treue  der  Kopieen  lässt  sich  besonders  nach  den  von 


derselben  Hand  stammenden  Nachbildungen  der  drei  heute 
noch  in  Karlstein  befindlichen  Wandgemälde  bestimmen, 
da  beide  Kopieengruppen  zu  den  verlorenen,  beziehungs¬ 
weise  erhaltenen  Originalen  genau  in  demselben  Ver¬ 
hältnisse  stehen  müssen.  Die  Kopieen  wurden  unter  und 
wahrscheinlich  für  Maximilian  II.  zwischen  1569  und 
1575  ausgeführt;  der  Name  des  Kopisten  konnte  nicht 
eruirt  werden.  Mit  dem  Cyklus  ist  wertvolles  Material 
für  das  Einsetzen  neuer  Darstellungsgedanken  in  die. 
Wandmalerei  Böhmens  während  des  14.  Jahrliundeits 

gewonnen;  dasselbe  hat  auch 
für  die  Kunstgeschichte  Bra¬ 
bants  unbestreitbare  Bedeu¬ 
tung. 

Die  Grundlage  für  den 
Nachweis  einer  1541  durch 
Brand  vernichteten  Bilder- 
reihe  böhmischer  Herrscher  in 
der  Prager  Burg  bilden  die 
Handschriften  7304,  8043 

und  8491  der  k.  und  k.  Hof¬ 
bibliothek  in  Wien,  welche 
teils  Inschriften,  teils  Dar¬ 
stellungen  übei'liefern.  Die 
Darstellungen  der  Handschrift 
8043  gehen  auf  Kopieen  zu¬ 
rück,  die  Böhmens  oberster 
Erbtruchsess  Johann  von  Ha¬ 
senburg  und  Budin  noch  vor 
dem  Burgbrande  hatte  an¬ 
fertigen  lassen,  und  stellen 
ein  Ferdinand  I.  unterbreite¬ 
tes  Restaurirungsprogramm 
für  die  Regentenbilder  dar; 
die  Originale  stammten  aus 
der  Zeit  Karls  IV.,  sind  aber 
in  dem  Hasenburgischen  Wid¬ 
mungsexemplar  nicht  mit  jener 
Treue  kopirt,  welche  die  Nach¬ 
bildungen  des  Luxemburger 
Stammltaumes  aus  Karlstein 
auszeichnen.  Doch  bleiben 
einige  Typen  für  bestimmte 
böhmische  Herrscher  Ins  ins 
18.  Jahrhundert  in  Geltung.  Die  Erneuerung  des  zum 
Schmucke  der  Prager  Landrechtsstube  bestimmten  Cyklus 
wurde  vom  Erzherzoge  Ferdinand  dem  Salzluti’ger  Maler 
Hans  Getschingen,  von  Ferdinand  1.  dem  Meister  .loh. 
Ferro  zugiMacht  und  schließlich  dem  Mailänder  1  )omenico 
Pozzo  zugeteilt. 

Die  Betrachtung  beider  Bilderreihen  betont  einen 
wohl  entwücklungsfähigen  Arlieitsgedanken,  indem  sie 
einen  wertvollen  Fingerzeig  gibt,  darauf  ab  und  zu  das 
Augenmeilc  zu  richten,  ob  nicht  auch  anderwärts  in  ähn¬ 
licher  Weise  verlorene  Bildercyklen  für  die  kunstge- 


Calvai’ienbei'g  des  Königs  Matthias  Coi'viuus.  (Obei'er  Teil.) 


174 


BÜCHERSCIIAU. 


schiclitliclie  Erkeuiitnis  späterer  Geiieratioiieu  liiiiüljer 
gerettet  wurcten.  Die  Kopieeiifriige  der  Luxemburger 
Genealogie  aus  Xarlsteiu  könnte  überdies  für  die  Aus¬ 
schmückung  des  Karlsteiner  Palas  berangezügen  werden 
und  einen  alten  Ausstattungsgedanken  neu  beleben 
beiten.  — 

Nacbdein  der  Vorsitzende  dem  Kedner  für  seine 
gelehrten  Auseinandersetzungen  den  Dank  der  Versamm¬ 
lung  ausgesprocben  batte,  verteilte  sieb  dieselbe  in  den 


Räumen  der  Ausstellung  zu  den  bereits  erwäbnten 
Demonstrationen.  Um  zwei  Ubr  fand  sodann  das  vom 
Handelsminister  gegebene  Festbankett  und  nacbmittags 
der  gemeinsame  Uesueb  der  modernen  Kunstausstellung 
im  neuen  Künstlerbause  statt.  Eine  Eestvorstellung  im 
kgl.  ungariseben  Opernliause  beschloss  den  lehr-  und 
genussreicben  ersten  Kongresstag. 

(Fortsetzung  folgt.) 


BÜCHERSCHAU. 


Hugo  Hartung,  Motive  der  niittelalterlichen  Bau¬ 
kunst  in  Deutschland  in  photographischen  Ori¬ 
ginalaufnahmen.  Beilni  ISOü.  E.  Wasiinitli.  ü  Lfgn. 

25  V.  (25  Blatt  Lichtdruck  in  Folio  pro  Ltg.) 

Alle  Versuche,  unseren  kirchlichen  Helkluden  einen 
modernen  Stil  zu  erfinden,  haben  doch  immer  wieder  zur 
Anlehnung  an  die  mittelalterlichen  Stile  für  die  formale 
Ausgestaltung  geführt,  wobei  allerdings  die  romanischen 
und  Ubergangsbauten  immer  mehr  die  Vorherrschaft  der 
(iotik  überwinden.  So  kann  der  moderne  Architekt  ein¬ 
gehende  Studien  an  alten  kirchlichen  Bamlenkmalen  nicht 
entliehren,  die  doch,  wie  Hartung  in  seinem  Vorworte  be¬ 
tont,  nur  die  wenigsten  auf  größeren  Studienreisen  gründ¬ 
lich  betreiben  können,  während  die  Mehrzahl  der  Archi¬ 
tekten  nach  vollendetem  Studium  unmittelbar  vor  den  An¬ 
forderungen  der  Praxis  steht.  Es  ist  höchst  dankenswert, 
wenn  ein  mit  diesen  Bedürfnissen  der  Praxis  vertrauter 
EAichmann,  der  zugleich  als  akademischer  Lehrer  einen 
größeren  Überblick  über  das  ^Material  und  über  die  mannig¬ 
fache  Verwendung  desselben  hat,  eine  Auswahl  aus  den 
besten  deutschen  mittelalterlichen  Bauten  trifft.  Hartung 
hat  mit  Geschick  aus  der  Fülle  des  Vorhandenen  muster¬ 
gültige  und  anregende  Beispiele  sowohl  für  Gesamtanlagen 
als  auch  für  Details  gewählt.  Er  trägt  Sorge,  dass  möglichst 
die  erhaltenen,  nicht  restaurirten  Partieen  der  Bauwerke 
zur  Veröffentlichung  gelangen,  dass  möglichst  alle  Bau¬ 
materialien  in  ihrer  Anwendung  vorgeführt  werden.  In¬ 
dem  er  so  dem  Architekten  nützlich  wird,  bringt  er  dem 
E’orscher  und  Lielihaber  zugleich  höchst  wertvolle  Beiträge 
zur  Kenntnis  unserer  deutschen  mittelalterlichen  Bauten. 
Auch  diesen  muss  ja  daran  liegen,  möglichst  viel  des  in 
situ  befindlichen  authentischen  Materiales,  und  von  diesem 
wieder  das  durch  Pligenart  der  Gestaltung  und  bauliche 
Bedeutung  Hervorragende  in  bequemer  Weise  vorgetührt 
zu  sehen.  Die  großen,  photographischen  Aufnahmen  sind 
so  gewählt,  dass  sie  alles  wichtige  Detail  mit  genügender 
Deutlichkeit  darstellen  und  sind  in  ausgezeichneten  Licht- 
dracken  von  Römmler  &  Jonas  reproduzirt.  Die  Aufnahmen 
sind  ausnahmslos  so  geschickt  gemacht,  dass  axreh  schwierige 
Partieen  ohne  allzu  starke,  die  Proportionen  verzerrende 
l'ehler  herauskommen.  Dass  die  äußere  Ausstattung  eine 
elegante  und  solide  ist,  dafür  bürgt  rler  Name  des  vortreff¬ 
lichen  Wasmuth’schen  Verlages.  Wir  finden  zunächst  als 
Vertreter  des  massiven,  schlicht  dekorirten  Werksteinbaues 
der  Sachsenlande  den  Chor  von  St.  Godehard,  daneben  den 


reicher  entwickelten  Westchor  von  St.  jMichael,  beide  aus 
Hildesheim.  Lehrreich  ist  danel)en  der  einfache,  a))er  durch 
einen  hübschen  Bogenfries  belebte  Chor  von  St.  Peter  und 
Paul  zu  Königslutter  (Anfang  13.  Jahrh.),  und  der  reiche 
Chor  der  Goslarer  Neuwerkerkirche  mit  seinen  kräftigen, 
aber  zierlich  ornamentirten  Werksteingliedern,  welche  die 
ehemals  verputzten  Wandllächen  aus  Bruchstein  einrahmen. 
Das  Motiv  der  wunderlich  gekrümmten  kleinen  Säulchen 
vor  den  Kragsteinen,  welche  hier  die  oberen  Säulen  tragen, 
dürfte  mehr  originell  als  nachahmenswert  sein.  Wie  einfach 
andrerseits  bei  einem  Bruchsteinbau  mit  Werksteingliedern 
sich  der  Chor  ausbilden  lässt,  zeigt  der  des  Braunschweiger 
Domes.  Das  Innere  eines  romanischen  Chores  von  schlich¬ 
tester  Gestaltung  zeigt  die  Halberstädter  Liebfrauenkirche, 
etwas  schmuckvoller  im  Detail  die  Neuwerkerkirche  zu 
Goslar,  reicher  gegliedert  St.  Peter  und  I’aul  zu  Königs¬ 
lutter,  endlich  den  eigentümlichen,  gradlinigen,  romanischen 
Chorschluss  mit  Umgang  die  Cisterzienserabtei  zu  Riddags¬ 
hausen.  So  können  wir  Typen  .des  romanischen  Portal¬ 
baues  an  dem  schwerfälligen,  aber  interessanten  Nordportal 
von  Königslutter  (12.  Jahrh.),  die  übliche  Normalform  an 
der  Katharinenkirche  zu  Braunschweig,  die  Übergangs¬ 
formen  an  der  Cisterzieuerabtei  zu  Riddagshausen  studiren. 
Die  Gotik  vertritt  eine  Teilansicht  des  llalberstädter 
Domes,  eine  Folge  von  Blättern  vom  Magdeburger  Dom 
und  eine  sehr  hübsche  Ansicht  des  nördlichen  Seitenschiffes 
vom  Braunschweiger  Dom  mit  seinem  originellen,  spät¬ 
gotischen  Gewölbe.  Kreuzgänge,  Chorschranken,  einzelne 
Kapitelle  ergänzen  dies  Material.  Da  fast  alle  genannten 
Bauten  in  mehreren  Blättern,  sowohl  in  Gesamtansichten  als 
auch  in  Details  gegebonsind,  wirdauch  für  die  kunsthisto  rischen 
Sammlungen  das  Werk  in  seiner  lehrreichen  Zusammen¬ 
stellung  sehr  wertvoll.  Die  auf  Inhaltsangabe,  Erbauungs¬ 
zeit  und  Baumaterial  beschränkteir  Notizen  unter  jedem 
Blatte  geben  gerade  das  Notwendige  und  sind  höchst  will¬ 
kommen.  Die  irächsten  Lieferirngen,  über  die  wir  s.  Z.  Ire- 
richten  werden,  düiften  aus  dem  engeren  Rahmen  Nieder¬ 
sachsens  uns  in  andere  baulich  wichtige  Gebiete  Deutsch¬ 
lands  führen.  M.  SCII. 


Altfränkische  Bilder  mit  erläuterndem  Text  von  Th. 
Renner.  Kalendarium  für  1897.  W ürzburg,  1897.  H.  Stürtz. 
Dieser  Kalender  hat  neben  seinen  praktischen  Zielen  den 
Endzweck,  das  Publikum  des  fränkischen  Kreises  mit  seinen 
Kunstdenkmalen  bekannt  zu  machen  rurd  in  Beziehung  zu 


BÜCHERSCHAÜ. 


175 


erhalten.  Somit  würde  er  kaum  hier  der  Besprechung  für 
weitere  Kreise  zu  unterziehen  sein.  Aber  mir  scheint,  solche 
Kalender  sollten  alle  deutschen  Gaue  besitzen.  Da.  wird  der 
farbige  Umschlag  durch  eine  nette  Nachbildung  der  Einband¬ 
decke  eines  Evangelienkodex  der  Würzburger  Universitäts¬ 
bibliothek  gebildet,  der  in  seidebespannter  Umrahmung  ein 
byzantinisches  Elfenbeinrelief  umschließt.  Der  Einband  um¬ 
fängt  eine  Serie  von  Autotypieen  fränkischer  Kunstdenk¬ 
male  mit  begleitendem  Text.  Die  lustigen  dekorativen 
E.okokoskulpturen  aus  Veitshöchheim  von  dem  Würzburger 
HotUildhauer  Diez  (f  1755)  neben  dem  Grabmal  des  Ritters 
Konrad  von  Hutten  zu  Arnstein  (f  1502).  Neben  Gemälden 
des  Oiov.  Dom.  Ticpolo  (f  1795)  das  romanische  l’ortal  der 


anderem  durch  das  witzige,  unter  dem  Pseudonym  Dirk  van 
Waterloo  erschienene  Büchlein;  ,, Kunstästhetische  Sünden“ 
bekannt  gemacht  hat,  bietet  uns  in  der  vorliegenden  Vor¬ 
bildersammlung,  die  bei  einigem  Beifall  fortgesetzt  werden 
soll,  die  Nachbildung  einer  Anzahl  wohlgelungener  Be¬ 
schläge  für  Büffets,  Saloukästen,  Kleider-,  Geld-,  Bücher¬ 
und  Cigarrenschränke,  wie  er  sie  für  sein  eigenes  Haus  in 
Graz  (Zinzendorfstraßo  29)  zum  Teil  mit  Hilfe  eines  Graveurs 
horgestellt  hat.  Er  geht  bei  ihnen  von  dem  Grundsatz  aus, 
dass  ,,die  Funktion  des  jeweiligen  Möbels  mit  dem  Orna¬ 
ment  in  harmonischer  Beziehung  stehen  müsse“,  und 
wünscht,  ilass  man  deshalb  auch  auf  die  Beschläge  diesellre 
peinliche  Sorgfalt  wie  auf  die  Füllungen  verwenden  möge.  Um 


Calvarieuberg  des  Königs  Matthias  Corvinus.  (Basis.) 


Aljtei  Oberzell,  neben  l’ruidtbechern  aus  Schönborn’schem  Be¬ 
sitze  ein  altes  Würzburger  Stadtthor.  So  hat  der  kleine 
Kalender  doch  auch  ülier  den  fränkischen  Kreis  hinaus 
Interesse  und  verdient  nachgeahmt  zu  werden.  Es  ist  eine 
einfache  und  doch  wirkungsvolle  Methode,  den  Sinn  für  vater¬ 
ländische  Kunst  und  Altertümer  in  weiteren  Kreisen  zu  wecken. 

M.  SCH. 


Humoristische  Flachornamente  für  Intarsia,  Holz- 
hrand,  Holzmalerei,  Metallätzung  u.  s.  w.  (Heft  ,3: 
Beschläge.)  12  Tafeln  in  groß  t)uart  entworfen  von  Prof. 
Dr.  Ilarnifi  von  Weißenharh.  Leipzig,  Druck  und  Verlag 
von  E.  Haberland.  189G. 

Der  Autor,  der  sich  dem  kunstsiiinigen  l’nldikuni  unter 


mit  der  ,, ledernen  Volute,  den  Rosetten  und  dem  Akantlius“  zu 
brechen,  entschloss  er  sich,  die  Motive  für  seine  ornamentalen 
Muster  aus  der  Welt,  die  uns  täglich  umgielit,  zu  wählen. 
Er  verwendet  daher  am  liebsten  unsere  gewöhnlichsten 
Nutz-  und  Zierjitlanzen,  z.  B.  die  verschiedenen  Getreid('- 
arten,  ferner  Kukurutz,  Kartolfelblüten,  den  Fingerhut,  die 
Fuchsie,  Tabak,  Ho2)fen  und  Weinlaub  als  Grundformen  und 
versteht  es,  da  er  eine  reiche  humoristische,  gelegentlich 
auch  eine  satirische  Ader  besitzt,  aus  diesen  Elementen 
durchaus  originelle  Geljilde  zu  schaffen,  die  l.)ei  aller  ab¬ 
sichtlichen  Einfachheit  doch  stilgerecht  wirken,  weil  sic  sich 
a.ls  zweckentsprechend  erweisen.  W<!ißenba,ch  will  auf 
diesem  Wege  die  Po]iuhirisirung  des  Kunstgewerbes  im 
Sinne  des  Ib.  Jahrlumderts  a.nbahnen.  Da.  er  als  „Amateur 


176 


BÜCHERSCHAU. 


und  Dr.  jui-.,  den  der  Zunftzwang  und  seine  Regeln  nichts 
angelien“,  hauptsächlich  an  die  Amateurs  denkt,  unter  denen 
die  Hausfrauen  das  Hauptkontingent  stellen,  wollen  wir 
wünschen,  dass  es  ihm  gelingen  möge,  mit  seinen  Vorlage- 
Idättern  „den  entschieden  vorhandenen  üeherschuss  an 
künstlerischen  Kräften  in  richtige,  auch  zu  einem  Zweck 
i'ührende  Bahnen  zu  lenken“.  Denn  offenbar  hat  er  recht, 
wenn  er  in  der  A'orrede  meint,  „dass  der  Dilettantismus 
(las  solide  Fundament  bilden  müsse,  auf  dem  die  Kunst  und 
das  Kuustgewerbe  aufgebaut  werden  können“.  H.  A.  L. 

Von  Aen  ,,Vie)icljahrs]ieftcn  des  l'ereinshtldendcrKiaisiler 
I)resde»s,  deren  erster  Band,  wie  wir  in  unserer  Januar- 
Korrespondenz  berichtet  haben,  im  vorigen  Herbst  abge¬ 
schlossen  voiiag,  ist  soeben  das  erste  Heft  des  zweiten 
Jahrsauffes  ausfregeben  worden.  Der  Umschlag  dazu  ist 
nach  einer  Zeichnuirg  von  Ts. //.  Walther  hergestellt  worden, 
in  dem  eine  vollentwickelte  Sonnenrose  mit  vielem  Geschmack 
zu  einem  zwar  höchst  einfachen,  aber  wirkungsvollen  orna¬ 
mentalen  jMotiv  verarbeitet  worden  ist.  Leider  entspricht 
jedoch  der  Inhalt  dieses  neuesten  Heftes  keineswegs  den 
Erwartungen,  die  man  nach  den  im  ersten  Jahrgange  ge¬ 
botenen  Leistungen  zu  stellen  geneigt  war.  Von  seinen  fünf 
Blättern  genügt  nur  die  Steinzeichnung  von  Wilhehn  Bitter 
den  Anforderungen,  an  die  wir  durch  den  ersten  Jahrgang 
gewöhnt  sind.  Mit  wenigen,  aber  sicher  geführten  Strichen 
führt  uns  hier  Ritter  das  anmutende  Bild  einer  aus  Wiesen, 
Feldern  und  vereinzelten  Bäumen  bestehenden  Landschaft 
vor,  deren  Reiz  durch  die  eigenartige  Beleuchtung  und  durch 
einen  leise  durch  die  Wiese  herabfließenden  Bach  bedingt 
ist.  Der  Horizont  ist  ziemlich  hoch  genommen,  etwa  so, 
wie  Biistieii-Lcjtai/e  in  vielen  seiner  Landschaften  zu  ver¬ 
fahren  pflegte.  Der  Druck  auf  bläulichem  Rapier,  in  der 
Anstalt  von  Wilhclnt  llofftnann  in  Dresden  ausgeführt,  lässt 
nichts  zu  wünschen  übrig.  Riehard  Aliillcr  erweitert  unsere 
zoologischen  Kenntnisse, duj||fii  die  gleichfalls  in  Steindruck 
wiedergegebene  Darstellun^eines  Mantel-Favians,  der  nelien 
einem  mächtigen  Korb  kauert,  üttenbar  hat  der  Künstler 
auch  für  dieses  Blatt  eingehende  Studien  in  einem  zoologischen 
Garten  oder  in  einer  Menagerie  gemacht,  aJ)er  da  sein  Mod(3ll, 
das  er  mit  größter  Naturtreuo  behandelt  hat,  ein  gar  zu 
hässliches  Geschöid  ist,  braucht  er  sich  nicht  zu  wundern. 


wenn  sich  nur  wenige  Beschauer  von  seiner  Arbeit  ange¬ 
zogen  fühlen.  Derselbe  stoffliche  Grund  hindert  uns,  Max 
Pietschmann’ s  weibliches  Porträt,  eine  in  der  Hauptsache 
geschickt  angelegte  Radirung,  mit  derselben  Wärme  zu  be¬ 
grüßen,  wie  dies  sein  Studienkopf  im  vierten  Hefte  des  ersten 
Bandes  verdiente.  Die  ganze  Haltung  der  auf  einem  Lehn¬ 
stuhl  sitzenden  Dame  ist  gesucht,  und  die  zurückgewandte 
Stellung  des  Kopfes  mit  den  überenergischeu  Gesichtszügen 
wirkt  eher  abstoßend  als  angenehm.  Hans  Umjer’s  „Fischer¬ 
bote“,  von  denen  man  nur  den  unteren  Teil  und  die  An¬ 
fänge  der  Maste  sieht,  bietem  dem  Auge  gar  zu  w-enig; 
auch  w’ill  uns  der  braune  Sepiaton  dieser  seiner  Radirung 
nicht  gefallen.  Aus  Otto  Fischer’ s  beiden  Landschaften,  die 
auf  einem  Blatte  vereinigt  sind,  weiß  der  Beschauer  erst 
recht  wenig  zu  machen.  Er  hat  sich  die  schwierigsten  und 
künstlichsten  Beleuchtungsprobleme  gestellt,  an  denen  einst 
Tcicher  in  seinen  Ölgemälden  scheiterte,  und  sie  in  einer 
Manier  behandelt,  die  an  Remhrandt’s  Radiruugen  erinnert, 
der  aber  seine  Kräfte  noch  nicht  gewachsen  sind.  Unter 
dem  GeAvirr  der  Striche,  die  gar  zu  genial  über-  und  durch¬ 
einander  geführt  sind,  leidet  die  Klarheit  der  Zeichnung, 
weshalb  namentlich  das  landschaftliche  Motiv  in  der  unteren 
seiner  beiden  Radirungen  unverständlich  bleibt.  Auch  mag 
die  von  E.  Meißner  in  Dresd(  ii  besorgte  Druckausführung 
nicht  immer  den  Absichten  des^  Künstlers  entsprechen.  Das 
Ganze  ist  viel  zu  dunkel  geraten  und  stört  schon  hierdurch 
die  Klarheit  des  Bildes.  Wir  geben  aber  zu,  dass  auch  in 
dieser  Arbeit  die  Begabung  des  Künstlers  für  die  Radirung 
nicht  zu  verkennen  ist,  möchten  alier  wünschen,  dass  sie 
sich  mehr  nach  der  früher  von  ihm  vertretenen,  gefälligeren 
Richtung,  als  in  der  diesmaligen  kraftgenialischen  ent¬ 
wickeln  möge.  Der  Kommission,  die  über  die  Auswahl  der 
Blätter  zu  entscheiden  hat,  möchten  wdr  die  Frage  vor¬ 
legen,  ob  es  nicht  möglich  wäre,  eine  größere  Abwechslung 
in  das  Unternehmen  dadurch  zu  bringen,  dass  ein  weiterer 
Kreis  der  Vcreinsmitglieder  in  den  Heften  Berücksichtigung 
fände.  Es  sind  meist  dieselben  Autoren,  die  uns  in  den 
Heften  begegnen,  und  wenn  sie  auch  bisher,  wie  wir  gern 
konstatiren  w^ollen,  meistens  mit  tüchtigen  Leistungen  ver¬ 
treten  waren,  so  fragt  man  doch:  habt  ihr  außer  Fietsch- 
mann,  Unger,  Fischer,  Richard  Müller,  Müller-Breslau  und 
Mediz  nicht  noch  andere  Leute,  die  für  die  Viertel] ahrshefte 
etwas  Tüchtiges  liefern  könnten V 


Herausgeber:  Carl  von  Liitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Auejust  Pries  in  Leipzig. 


■/•;•  'K-  ■ 


'ffn 


m,r- 


'i  ■  ' 


% 


'  leiiogravure  H  u  Brmckmann 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KRETA 


EIT  dem  Anfänge  des  XV.  Jalirlmnderts 
war  die  griecliisclie  Kolonie  in  Venedig 
durch  wachsenden  Zuzug  ans  dem  seinem 
Untergang  entgegeneilenden  Ostreicli  fort¬ 
während  an  Bedeutung  gestiegen.  Ini  Jahre 
1498  erfolgte  die  Gründung  der  Scuola, 
zu  Kultus-  und  Wolilthätigkeitsz wecken;  ihr  tiel  dann  das 
Patronat  der  Kirclie  zu,  deren  Bau  Leo  X.  (1514) 
gestattet  hatte.  Schon  1539  wurde  der  Grundstein 
zum  Neulmu  von  S.  Giorgio  de’  Greci  gelegt,  nach 
den  Plänen  Saute  Lombardis.  Neuer  Zuwachs  kam  im 
XVI.  Jahrhundert,  seit  dem  Niedergang  der  Herrschaft 
im  Peloponnes  und  dem  Verlust  von  Cypern;  die  Zahl  der 
dortigen  Griechen  stieg  auf  viertausend. 


Die  griechischen  Druckereien,  deren  es  schon  im 
Quattrocento  drei  gab,  waren  in  lebhafter  Thätigkeit; 
von  dieser  Kolonie  ist  „der  belebende  Same  ueugi'iechischer 
Bildung  ausgegangen,  sie  hat  dem  geistigen  Wieder¬ 
aufleben  Griechenlands  die  Wege  geljahnt“. 

An  der  malerischen  Ausstattung  der  Nationalkirche 
waren  in  diesem  Jahrhundert  auch  Gi’iechen  und  Candioten 
beteiligt,  die  mehr  oder  weniger  an  ihrer  byzantinischen 
Weise  festhielteu.  AVir  hören  zwar,  dass  Tintoretto  1589 
bei  der  Mosaicirung  der  Kuppel  zur  Beratung  und  Ver- 
Itesserung  der  Entwürfe  herangezogen  wurde.  Aber  im 
folgenden  Jahrzehnt  war  eine  Zeichnung  des  Salvator 
von  der  Hand  des  jüngeren  Palma  verworfen  worden, 
und  die  des  Griechen  Tomio  Bathä  vorgezogen.  Nur 


BilJiiis  des  (iiiilio  Clovio  im  Museum  /.u  Neapel.  Ölgemälde  von  1>o:uenico  Theotocoiu'li. 


Zeilscliiit't  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  II.  8. 


178 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KRETA. 


die  begabtesten  baben  sieb  ganz  venezianisirt;  der  be¬ 
kannteste  ist  Antonio  Vassillaccbi  (Ba6iX(y.x')]g),  der  Sobn 
des  Fisebers  Stepbanos  von  Milo  (geb.  155G),  der  1571 
naeb  l'enedig  kam  und  aneb  Tizian  nabegetreten  ist. 
Er  malte  einige  morgenlilndiscbe  Begebenbeiten  des 
großen  Ratsaals,  die  Krönung  Balduins,  die  Belagerung 
von  Tyrus  in  der  Sala  di  Scrutinio,  die  Gesebiebte  des 
Cyrus  über  dem  Campo  S.  Stefano,  und  eifüllte  die  Kircbe 
S.  Pietro  de’  Casinesi  in  Perugia  mit  seinem  (etwas  ver¬ 
gröberten)  paolesken  Pomp. 

Audi  unter  den  jungen  Talenten,  die  der  greise 
Tizian  an  sidi  zog  und  besdiäftigte,  werden  zwei  von 
griecbisdier  Herkunft  genannt,  sie  führen  denselben,  frei¬ 
lich  nidit  griediisdien  Taufnamen  Domenico.  Begreitlidi 
ist,  dass  solche  forest icri  schnell  vergessen  wurden;  ilir 
Name  ward  selbst,  wo  sie  ihn  dem  Werke  aufgescbideben 
batten,  nicht  mehr  bemerkt.  Beide  Domenicu  sind  später 
für  dieselbe  Person  gehalten  worden;  in  Tizian’s  Chronik 
liegen  sie  höchstens  drei  Lustra  auseinander. 

Der  erste,  der  sich  selbst  „venezianischer  Maler“ 
nennt,  ist  nur  als  Formsebneider  bekannt;  Domeneco 
(lalle  grcche, ')  depentore  venctiano.  Der  zweite,  ungleich 
berühmtere,  war  Jahrhunderte  lang  nur  aus  Spanien  be¬ 
kannt,  als  El  Gricgn,  in  Italien  war  Domenico  Theoto- 
copuli  vergessen.  Ob  irgend  ein  —  verwandtschaft¬ 
licher?  —  Zusammenhang  zwischen  beiden  besteht?  Auch 
für  eine  bloße  Vermutung  fehlen  alle  Daten. 

Der  Name  jenes  ersten  Domenico  dalle  greche  war 
bisher  besonders  berühmt  durch  den  nach  einer  Zeichnung 
Tizians  gearbeiteten  Holzschnitt  von  zwölf  Stöcken  aus 
dem  .Jahre  D5 49.  Ferner  sind  von  ihm  die  Illustrationen  zu 
einer  Palästinareise,  die  1547  zu  Prag  erschien  und  von 
Ulrich  l’refat  von  Wilkanau  geschrieben  ist.  Auf  diese 
Zeichnungen  beziehen  sich  einige  Dokumente,  die  ich  1878 
im  Archiv  zu  Venedig  fand.  Die  neuerdings  wieder  ab¬ 
gedruckte  Ansicht  der  lieil.  Grabeskirche  ist  mit  leben¬ 
digen  Gruppen  von  National-  und  Kostümfiguren  im  Stil 
der  venezianischen  Schule  staffirt. 

Danach  liatte  Domenico  eine  Pilgerfahrt  nach  den 
historischen  Stätten  Palästinas  gemacht,  wo  er  „die  heilige 
Stadt  Jerusalem  mit  alle))  Stationen,  den  heil.  Grabestempel, 
den  Berg  Syon  mit  seinen  Heiligtümern,  Bethanien,  den 
Ölberg  und  das  Thal  Josafat  mit  seinen  schon  fast  ver¬ 
schwundenen  Mysterien“  aufgenommen.  Nach  seiner  Rück¬ 
kehr  hatte  er  in  Rom  einen  Gönner  gefunden  in  dem 
Spanier  Pedro  de  Zarate,  Ritter  vom  Orden  des  heil. 
Grabes,  Cavalier(sc»f/Are)undTischgenosse  Pauls  III.  Auf 
seinen  Antrieb  führte  er  jene  Ansichten  in  Farben  aus, 
erhielt  das  päpstliche  Privileg,  am  1.  April  154G,  und  am 
28.  August  auch  das  der  Signorie.-) 


1)  Zu  ergänzen  vielleicht  contrade. 

2)  Das  Privileg  Paul’s  JII.  vom  1.  April  154G  beginnt: 
Motu  proprio  etc.  Cum  sicut  accepimus  dilectus  filius  nr 
Dfiicus  dalle  greci  pictor  Venetus  ciuitate  sauctam  bieru- 


Vielleicht  hatten  die  Erzählungen  von  seinen  Reisen 
an  jenen  Küsten  dem  Tizian  die  Anregung  zu  dem  Pharao¬ 
karton  gegeben. 

Des  zweiten  griechischen  Domenico  Leben  in  Venedig 
und  Italien,  vor  seiner  Übersiedelung  nacli  Spanien,  lag 
lange  Zeit  in  völligem  Dunkel.*)  Gleichwohl  hatte  be¬ 
reits  18G5  Amadio  Ronchini  einen  Brief  des  Miniaturisten 
Julio  Clovio  veröffentliclit,  der  auf  seine  .Tugendgeschichte 
ungeahntes  Licht  wirft.  Aber  niemand  hat  gesehen, 
dass  hier  von  unserem  Domenico  die  Rede  war.  Der 
Brief  vom  IG.  November  1570  ist  aus  dem  Palast  Farne.se 
in  Rom  an  seinen  Gönner,  den  Kardinal  Alexander  Farnese 
gerichtet,  der  als  Legat  a  latere  der  Pi'ovinz  des  Pa- 
trimonio  in  Viterbo  residirte,  im  Palast  Rocca,  den  er 
durch  Vignola  hatte  erneuern  lassen. 

„Es  ist  in  Rom  ein  junger  Candiote  angekommen, 
ein  Schüler  Tizian’s,  der  mir,  nach  meinem  Uiheil,  au.s- 
gezeichnet  scheint  in  der  Malerei,  und  unter  anderem 
hat  er  ein  Selbstbildnis  gemacht,  das  bei  allen  Malern 
Roms  Aufsehen  en'egt.  Ich  möchte  ihn  unter  dem  Schirm 
Euer  Hochwürden  bergen,  ohne  andere  Ausgaben  zum 
Ijeben,  nur  ein  Zimmer  im  Palast  Farnese  für  einige 
kurze  Zeit,  d.  h.  bis  er  mehr  in  Ordnung  gekommen  ist. 
Deshalb  bitte  und  flehe  ich,  Ihr  möchtet  geruhen,  an  den 
Grafen  Imdovico  Euren  Majordomus  zu  schreiben,  dass 
er  ihm  im  besagten  I’alast  ein  Zimmer  oben  gebe;  Eure 
Herrlichkeit  wii'd  da  ein  gutes  AVeih  Ihrer  würdig  thun, 
und  ich  werde  Euch  verpflichtet  sein.“-) 


Salem  cum  önibus  stationibus  iiec  uö  aedem  Smi  se]>ulcn  et 
montem  sion  cum  eins  misteriis  iusup  betbauiam  Moutciu 
oliueti  et  totam  va.llera  Tosapba.t  et  cum  illius  misteriis  tem- 
porum  antiquitate  jam  fere  abolitas  Nuperrime  uero  diligentia 
et  corretioiie  suasuq?  dilecti  tilii  petri  (t  Carate  cantabri 
militis  Smi  sepulcri  D.  n.  itus  ebristi  ac  de  numero  partici- 
pantium  scutiferi  et  famifls  coiitiuui  comesalis  liri  elaborate 
desiguauerit,  et  subTd  ad  amusim  dejiinxerit  ac  demum  im- 
pensa  sua  imprimi  facere  inteudat,  dubitetip  ue  0]ius  picture 
bmoi  post  modum  ab  aliis  abscp  eius  liceucia  imiirimatuv  etc. 
Das  Privileg  wird  auf  zehn  Jahre  erteilt. 

Die  Bittschrift  au  den  Senat  lautet: 

Cossi  Como  lo  Dfiico  dalle  greci  pictor  ho  cum  molta 
mia  fatica  &  gran»ai  pericoli  superato  uuo  lungo  &  diticile 
peregiuazo  per  essermi  cum  molta  spesa  appresso  coudutto 
iino  alla  cita  de  hierusalem  &  dessegnato  tutti  quelli  santfi 
lochi  cossi  mi  contido  nella  benignita  &  clementia  di  V.  Serta 
ehe  nö  mi  sara  scarsa  in  conciederme  gratia  che  alcuno  nö 
possa  p  vinti  anui  nelle  terre  e  lochi  sui  stampar  li  dissegni 
pdetti,  sotto  pena  de  perderli  &  pagar  d.  X.  ,p  ano  .  acio  che 
cum  cjsto  modo  possa  restaurar  taute  mie  sjiese  &  fatiche  che 
sara  cum  honor  dl  Si'  Dio  &  molta  satisfazion  de  tutti  &  di 
V.  Serta  humte  me  ric». 

Am  28.  August  154G  wird  die  Gewährung  für  zehn  Jahre 
beschlossen,  vorausgesetzt  dass  die  Zeichnungen  neu  und 
noch  nicht  gedruckt  seien. 

1)  Tout  d’ailleurs  est  demeure  enigmatique  de  ce  qui 
touche  ä  l’existence  de  cet  artiste,  heißt  es  noch  in  Leforts 
Peinture  Espagnole,  Paris  1893  p.  114. 

2)  Der  Brief  ist  auch  in  Bradley’s  Leben  Clovio’s  (Lon- 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KRETA. 


179 


Dass  Theotocopuli  ein  Schüler  Tizians  war,  wie 
durch  diesen  Brief  nun  erwiesen  ist,  hatte  bereits  sein 
spanischer  Biograph  Palomino  vermutet ;  aber  alle 
neueren  Kritiker  haben  es  liezweifelt,  noch  zuletzt  Morelli. 
Man  kannte  nur  seine  spanischen  Sachen,  und  diese  mit 
ihrer  sehr  reduzirten  Palette,  ihrem  wilden  Skizzismus, 
ihren  bizarren  Posen,  ihren  architektonisclien  Perspektiven 
erinnerten  freilich  mehr  an  Tintoretto.  Die  bisher  un¬ 
beachteten  Stücke  seiner  italienischen  Jugendzeit  dagegen 
ließen  eher,  wie  ihre  Namengebungen  zeigen,  an  Bassano, 
Paolo,  ja  Barocci  denken.  Von  Tintorettos  Tonmalerei 
ist  wenig  darin.  De.shalb  hat  man  ihm  auch  wohl  bloß 
eine  eklektische  Wanderbildung  zuschreibeu  wollen.  Aber 
Schülerschaft  bedeutet  ja  nicht  strikten  Anschluss  an 
des  Meisters  Stil;  am  wenigsten  ist  natürlich  an  einen 
regelrechten  Kursus  zu  denken. 

Er  machte  auf  Clovio  den  Eindruck  eines  fjiovane-, 
seine  Lehrzeit  wird  also  wohl  in  die  sechziger  Jahre 
zu  setzen  sein.  Das  ist  die  Zeit  der  Altersmanier 
Tizians;  wo  in  seinen  Gemälden  Linien  und  Flächen  in 
chaotisch  fleckigen,  nachlässigen  Strichen  und  Ketouchen 
verschwimmen.  Diese  Altersmanier  ist  später  Grecos 
Verhängnis  geworden.  Der  kopfüber  herabstürzende 
Engel  in  Tizians  Lepanto  im  Pj-ado  spukt  in  allen 
seinen  Visionen.  Die  zwei  Bildchen  in  Urbino  (die  Auf¬ 
erstehung  und  das  Abendmahl),  mit  ihren  auffallenden 
Verkürzungen,  Fingergesten  und  Architekturen  könnten 
damals  unter  seinen  Augen  entstanden  sein.  Domenico 
mag  dem  alten  Meister  bei  seinen  Arbeiten,  z.  B.  denen 


don  1891,  p.  386)  aber  fehlerhaft  und  unvollständig  aljge- 
druckt. 

Al  Card.  Farnese  Viterbo. 

Ä  di  16  di  Obre  1570. 

'E  capitato  irr  Roma  uu  giouane  Candiotto  discejiolo  di 
Titiano,  che  a  mio  giuditio  [larmi  raro  nella  pittura;  et,  fra  laltre 
cose  egli  ha  fatto  un  ritratto  da  se  stesso,  che  fa  stupire  tutti 
questi  Pittori  di  Roma.  Io  vorrei  trattenerlo  sotto  l’ornlrra 
di  V.  S.  Illma  et  Revma  senza  spesa  altra  del  vivere,  ma 
solo  de  uira  stanza  nel  Palazzo  Farnese  per  qualche  tempo, 
cioe  per  fin  che  egli  si  venghi  ad  accomodare  meglio.  Perö 
la  prego  et  supplico  sia  contenta  di  scriuere  al  Co.  Ludco 
suo  Maiordo,  che  V.  S.  Illma.  farä  un’  opera  degna  di  Lei, 
et  io  gliene  terrö  obligo.  Et  Le  bascio  con  reirereirza 
le  marri. 

Di  V.  S.  Illma  et  Revma  huinilisso  seruitore 
Don  Julio  Clovio 

(Atti  e  mernorie  di  storia  patria  per  le  prov.  Moden,  e 
Parmensi.  Vol.  III,  270  Modeira  1865.) 

Merkwürdig  ist  die  Wiederholung  eines  ähnlichen  Ein¬ 
drucks  iir  demselben  Rom  fast  dreihundert  Jahre  später. 

Mi  ricordo  varj  anni  fa  di  aver  veduto  a  Roma  un  bei 
ritratto  con  armatura,  posseduto  da  un  negoziante,  che  tutti 
giudicavano  di  Tiziano,  il  Restauratore  trovö  la  tirma  di 
Theotocopuli. 

So  schrieb  mir  am  12.  April  1878  nach  Venedig  der 
Maler  Cav.  Giorgio  Mignaty  in  Florenz,  ehr  Grieche  aus 
Corfu. 


für  Philipp  IL,  an  die  Hand  gegangen  sein, ')  begierig 
ihm  seine  Handgriffe  abzusehen.  Daneben  wird  er  die 
ringsum  erstehenden  Wunder  Paul  Veroneses  und  Robustis 
mit  glühenden  Augen  eiugesogen  haben. 

Clovio,  der  als  ein  sehr  verbindlicher  und  wohl¬ 
wollender  Herr  geschildert  wird,  nimmt  sich,  wie  man 
sieht,  des  jungen  Mannes  nach  Kräften  an.  Gewiss  hat 
da,  neben  der  Empfehlung  Tizians,  die  griechische  Ab¬ 
kunft  eine  Rolle  gespielt.  Clovio  nennt  sich  selbst  auf 
Miniaturen  Macedonier  {Julius  Macedo  fec.),  so  heißt 
er  auch  in  den  Gesprächen  des  Francisco  d’Hollanda.  Er 
war  aber  gebürtig  aus  Grizane  in  Kroatien,  und  in  den 
Kupferstichen,  die  Cornelius  Cort,  besonders  in  den  Jahren 
1567 — 69  in  Rom  nach  seinen  Bildern  anfertigte,  steht 
hinter  seinem  Namen  de  Crovatia  und  lliricus.  Domenico 
unterzeichnet  sich  immer  Kreter  (Apt/j).  Es  war  gewiss 
die  griechische  Sjirache,  die  beide  aus  so  entlegenen 
Ländern  hier  vom  Zufall  zusammengeführte,  grundver¬ 
schiedene  Künstler,  den  Greis  und  den  Jüngling,  rasch 
verliand. 

Merkwürdig  ist  dass  Domenico  in  demselben  Jahre 
Tizian  verlässt  und  nach  Rom  zu  Clovio  kommt,  wo 
Cort  den  umgekehrten  Weg  nimmt.  FJist  als  hätte  hier 
ein  Tausch  stattgefunden. 

Unaufgeklärt  bleibt,  ob  er  aus  Kreta  eingewandert 
oder  von  griechischen  Eltern  in  Venedig  geboren  ist. 
ln  den  Kirchenbüchern  und  dem  Archiv  der  Kolonie  hat 
sich,  wie  mir  deren  fleissiger  Diu'chforscher,  der  ver¬ 
storbene  Präfekt  der  Mai'ciana,  Giovanni  Veludo,  ver¬ 
sicherte,  sein  Name  nicht  gefunden. 

Er  besaß  eine  für  einen  Maler  nicht  gewöhnliche 
Bildung:  Pacheco  wusste  von  Lehrschriften  seiner  Feder 
über  die  drei  Künste;  er  hat  sich  auch  in  Statuen  und 
Bauentwürfen  versucht.  Die  geläufige  griechische  Hand 
in  den  Unterschriften  seiner  Gemähle,  gewisse  byzan¬ 
tinische  Reminiscenzen  seiner  späteren  Gemälde  weisen 
auf  Jugendjahre  in  griechischer  Umgebung  hin. 

Nach  den  Namen  kretischer  Künstle.]-,  die  in  dieser 
Zeit  nicht  selten  begegnen,-)  scheint  die  venezianische 
Verwaltung  doch  nicht  bloß  ausbeutend,  auslaugend  ge¬ 
arbeitet  zu  haben.  Die  Insel  Kreta  hatte  damals  wenig¬ 
stens  ein  ganz  anderes  Aussehen  als  heutzutage,  nach  mehr 
als  zweihundertjähriger  Türkenherrschaft.  Die  Kultur¬ 
interessen  der  dem  Inselstaat  gehorchenden  Länder  standen 
sich  unter  jener  strengen  Aristokratie  nicht  so  schlecht. 


1)  Sollte  er  iiiclit  gemeint  sein  mit  dem  jungen  fähigen 
Schüler,  den  Tizian  in  einem  Briefe  an  Philipp  II.  rühmt  als 
Mitarbeiter  am  S.  Lorenzo:  non  restando  di  adoprar  in  questo 
Oratio  mio  figliuolo  et  suo  servitore  insieme  con  im’  altro 
molto  ualcnte  (jiouine  mio  discepolo.  2.  Decembre  1567. 
Crowe,  Life  of  Titian  II,  536. 

1)  In  den  siebziger  Jahren  finden  wir  in  der  Kolonie  den 
Maler  Michael  Damasceno  beschäftigt;  der  Miniaturist  Nico¬ 
laus  della  Torre  wurde  von  Philipp  IL  im  Escorial  als  grie¬ 
chischer  Kopist  beschäftigt.  Beide  waren  aus  Kreta. 

23* 


DOMENICO  THEOTOCOPULl  VON  KKETA. 


jJie  Insel  frelüirte  den  Venezicinern  seit  1204,  vorher 
halte  sie  unter  den  Osikaisern  gestanden  (mit  Ausnahme 
der  aradischen  Episode).  Venn  die  venezianischen  ducJri, 
proi  rrditori .  und  rrltorl  auch  keine  Akademieen  g-rün- 
den,  so  waren  sie  doch  geni’itig't,  sich  dort  civilisirt- 
häuslicli  einzurichten.  Die  Eeisenden  sprechen  von 
ihren  zahlreichen  Palästen ,  von  großen  Pai'ks  und 
tiärten.  die  ihresgleichen  iiiilit  hätten  in  der  Levante. 


gelang  mir  auch  in  wenigen  Jaliren  eine  Leihe  vor 
seiner  Eeise  nach  Spanien  gemalter  Bilder  in  italie¬ 
nischen  und  englischen  Galerieen  zusammenzustellen,  die 
selbst  auf  seine  dunklen  biographischen  Anfänge  einiges 
Licht  wai’fe.n.  Von  diesen  möchte  ich  jetzt  einige  der 
merkwürdigsten  den  Lesern  der  Zeitschrift  bekannt 
machen,  nachdem  ich  sie  schon  1888  im  Leben  des 
l^elaziiuez  signalisirt  hatte. 


Die  Heiluug  des  Blinden,  (iemälde  von  Domenico  Theotocopuli  in  der  (ialerie  zu  Parma. 


Seit  ßondelmonti,  der  diese  Länder  für  Cosimo  bereiste 
und  hier  drei  Jahre  verweilte,  war  man  auf  ihre  Alter¬ 
tümer  aufmerksam  geworden,  und  griechische  JMarmor- 
werke  wurden  von  den  Jacopo  Foscarini,  Alvise  Grimani 
u.  a.  aus  den  Trümmerstätten  der  weiland  ' ixarofmohg 
entführt.  Die  dort  residirenden  Venezianer  mögen  talent¬ 
volle  dünglinge  oft  in  ihr  Haus  aufgenommen  und  nach 
der  Lagunenstadt  mitgebracht  haben.. 

Ein  Gemälde  des  Meisters,  das  ich  am  8.  Sep¬ 
tember  1874  in  Venedig  entdeckte,  wo  es  in  der  Galerie 
Manfrin  unter  dem  Namen  des  Barocci  verborgen  war, 
brachte  mich  darauf,  seinen  Spuren  naclizugehen.  Es 


Das  Bildnis  JuUo  CJovio’s. 

Was  war  der  Erfolg  jener  Bittschrift  des  alten 
Clovio? 

Darüber  ist  uns  keine  Kunde  geworden.  Aber  wir 
haben  mehr;  eine  Eeihe  ganz  sicherer,  meist  signirter  Ge¬ 
mälde  Domenico’s,  die  zeigen,  was  er  gekonnt  und  wie  er 
in  Eoni  ganz  ins  rechte  Fahrwasser  gekommen  war.  Dar¬ 
unter  sind  drei  immer  in  farnesischem  Besitz  geblieben 
und  noch  in  den  Galerieen  von  Neapel  und  Parma  zu 
sehen;  andere,  zerstreute,  sind  wahrscheinlich  ebenfalls 
damals  entstanden.  WH  sehen  ihn  in  den  ersten  Jah- 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KRETA. 


181 


reu  des  achten  Jalirzehnts  unter  farnesiscliem  Dach, 
wahrscheinlich  für  den  Kardinalnepoten  nach  dessen  An¬ 
gaben  kleine  Stücke  ausführend  oder  wiederholend. 

Wie  er  sich  der  Maiergemeinde  Roms  vorgestellt 
hatte  durch  ein  Selbstbildnis,  so  bedankt  er  sich  nun 
bei  seinem  Gönner,  indem  er  dessen  Züge  in  einem  mit 
allem  Eeiz  venezianischer  Porträtkunst  geschmückten 
Bilde  der  Nachwelt  erhält. 

Dies  Bildnis  Don  Julio  Clovio’s  (geh.  1498,  f  5.  Januar 
1578)  im  Museum  von  Neapel  war  f'rüliei-  in  der  Camera 


ausgeübt  habe.  Eine  Kopie  in  England,  the  Curxon 
portrait,  ist  in  Bradley’s  Buch  S.  186  mitgeteilt. 

Der  Maler  steht  vor  einer  kahlen  Wand  zur 
Linken  eines  hochgelegenen  offenen  Fensters  und  weist  mit 
dem  rechten  Zeigefinger  auf  ein  geöffnetes  Buch  in  seiner 
Hand,  in  dem  zwei  Vollblätter  Miniaturen  zu  sehen  sind. 
Das  Motiv  erinnert  an  Tizian’s  Strada.  Vielleicht  ist 
dies  Buch  das  für  den  Kardinal  gemalte  Ufflzio  della 
Madonna,  ein  Werk  neunjähriger  Arbeit,  bis  1859  in 
der  Bibliothek  zu  Neapel.  Eine  hohe  breite  Stirn,  von 


Die  Heilung  des  Blinden.  Gemälde  von  Domenico  Theotocoi'ULi  in  der  Dresdner  Galerie. 


f/e’  ritratti  des  Gartenpalasts  zu  Parma ' )  und  galt  dort  als 
Selbstporträt,  ist  aber  mit  Domenico’s  Namen  in  grie¬ 
chischen  Versalbuchstaben  bezeichnet.  Nagler  (der  es 
vortrefflich  nennt  in  Charakter  und  Farbe)  und  Kukul- 
jevic  in  der  Schrift  über  seinen  Landsmann  nahmen  es 
als  Beweis,  dass  Clovio  noch  so  spät  auch  die  Ölmalerei 


1)  ün  quadro  alto  br.  1  on.  2.,  largo  l)r.  1  on.  8. 
Ritratto  di  D.  Giulio  Clovio  con  barba  biaiica  quadra,  fa 
cenno  con  la  destra  ad  un  libro  uiiniato  che  tiene  nella 
sinistra,  di  Giulio  Clovio.  Camera  de’  Ritratti,  Palazzo  del 
giardino  in  Parma,  c.  1734.  Campori  Raceo/ki  di  cataloghi 
p.  231. 


weiben  zurückgestrichenen  ^dünnen  Haaren  eingerahmt, 
starke,  gebogeneNase  unter  den  nahe  beisammen  stehenden 
grauen  Augen.  Das  linke  Auge  scheint  leidend.  Alle  diese 
Züge,  sowie  die  Hände  sind  mit  ebensoviel  Sorgfalt  wie 
Geist,  mit  feinem  Pinsel  durchgearbeitet.  Der  zarte 
gelbliche  Ton  der  Haut,  der  Strich  erinnert  wohl  an  den 
viel  derberen  Tintoretto.  Durchs  Fenster  öffnet  sich 
eine  windbewegte  Landschaft  voll  Luft  und  Licht,  in 
den  warmen  Tinten  des  Spätnachmittags:  blauer  Himmel, 
Hochgebirgsferne,  goldene  Wölkchen;  vorn  einabgestor¬ 
bener  Ihium  mit  Nachwuchs  grünender  Zweige.  Die  Lein¬ 
wand  hat  eine  ungewöhnlich  längliche  Form  und  ist 


182 


DOMENICO  THEOTOCOPüLl  VON  KRETA. 


am  oberen  Eaiid,  der  durch  den  Scheitel  geht,  abge- 
schnitten. 

Außerdem  sieht  mau  in  Neapel  noch  ein  kleines 
Xachtstiick;  ein  Knabe,  der  eine  Wachskerze  anzünden 
■will,  und  mit  vollen  Backen  den  verkohlten  Holzspan  ent¬ 
facht.  Wahrscheinlich  die  Studie  für  ein  Historienbild. 
Auch  dies  Bildchen  galt  in  Parma  für  einen  Clovio. ') 

Die  Heilung  des  Blinden. 

Zwei  Kompositionen  dieser  fai-uesisclien  .Jahre  sind 
jetzt  in  zwei  bis  di'ei  Wioderliolungen  bekannt:  die 
Heilung  des  Blinden  und  die  Vertreibung  der  Wechsler 
aus  dem  Tempel.  Sie  müssen  damals  viel  Beifall  ge¬ 
funden  ]ial)en.  Wir  wüssten  auch  kaum  Bilder  von 
ilim  zu  nennen,  wo  der  venezianisclie  Charakter  so  stark 
und  reich  ausgespnichen  wäre.  Sie  sind  gesättigt  mit 
allem,  worauf  sich  die  damalige  venezianische  Schule 
etwas  zu  Gute  that.  Es  giebt  kaum  einen  bedeutenden 
Namen,  den  man  nicht  hören  könnte,  wenn  man  Kenner 
vor  diese  römischen  Bilder  des  Greco  führt. 

Die  Blindenheilung  existirt  in  einem  bezeichneten 
Exeniiilar  der  Galerie  zu  Parma,  das  ebenfalls  einst  (um 
16.S0)  in  dem  Gaidenpalast,  alier  als  Paul  Vei’onese,  auf¬ 
gehängt  war;-)  undin  einem  ohne  Namen  in  der  Dresdener 
Galei'ie,  für  die  es  1741  von  Eossi  in  Venedig  erworben 
wurde,  und  zwar  als  Leandro  Bassano.  Bei  einem  Be¬ 
such  im  Oktober  1874  erkannte  ich  seine  Hand  darin, 
drei  Jahre  später  fand  ich  meine  Vermutung  vor  dem 
signirten  Doppelgänger  in  l’arnia  Jiestätigt. 

Über  das  Zeitverhältnis  beider  Gemälde  wird  man 
sich  nicht  leicht  sofoi't  entscheiden.  Sie  stehen  keines¬ 
wegs  im  "Wrhältnis  bloßer  ^Viederholungen,  obwohl  die 
1  lauiitfigureu  übereinstimmen. 

Im  Dresdener  Exemplare  sieht  man  zwei  ziemlich 
gleichwiegende  Gruppen  an  beiden  Seiten,  durch  einen 
breiten  Zwischenraum  getrennt;  links  den  Heiland  mit 
dem  Blinden  und  einen  Neugierigen,  nebst  einer  Grupiie 
unbeteiligter  Personen  dahinter;  rechts  die  aufgeregte 
Apostelschar.  In  Parma  ist  Christus  genau  in  die 
Mitte  der  Tafel  gerückt,  die  Apostel  sind  an  den 
Rand  gedrängt  und  zusammengezogen ,  mit  mehr  ver¬ 
deckten  Gesichtern,  wogegen  jene  Hauptgruppe  mit  Um¬ 
gebung  mehr  als  die  Hälfte  der  Bildfläche  einnimmt. 
Einen  seltsamen  Zuwachs  hat  sie  bekommen  durch  drei 
nackte  Figuren.  Die  Absicht  war  oftenbar  die  Einheit 
der  Komposition  zu  betonen.  In  diesem  Punkt  mögen 
tadelnde  Urteile  gehört  worden  sein.  Das  Dresdener 
Bild  scheint  also  das  frühere. 

Dementsprechend  ist  der  Augenpunkt  anders  ge- 

Ij  Uiia  notte  con  mezza  figura  d’  un  giovine  che  col 
soffio  accende  una  piccola  candela,  di  Giulio  Clovio.  br.  1 
0.  21/2-  o.  11.  A.  a.  0.  p.  207. 

2)  Un  quadro  alto  on.  10.  e  '/zi  largo  br.  1.  on.  1.  Un 
Salvatore  che  illumina  il  cieco,  con  diversi  Apostoli  et  altie 
figure,  di  Paolo  Veronese.  A.  a.  0.  p.  214. 


wählt.  In  beiden  Bildern  liegt  er  in  dem  hintersten 
Bogen  der  Palastperspektive,  in  Dresden  in  der  tonnen¬ 
gewölbten  Vorhalle,  in  Parma  in  dem  Schlussbogen  der 
kreuzgewölbten  Kirchenruine;  dort  wenig  links  von 
der  Mitte  der  Bildfläche,  hier  fast  zwei  Drittel  nacli 
rechts,  und  außerdem  bedeutend  höher.  An  die  Stelle 
des  Cinquecentopalasts  ist  eine  Reihe  von  vier  I'racht- 
bauten  getreten.  Die  blaue  Bergkette  im  Hintergrund 
ist  gestrichen.  Auch  in  der  großen  Fläche  des  Platzes 
mit  Marmoriilatten  ist  gesorgt,  durcli  mehrere  in  die 
fliehenden  Linien  ausgestreute  Figuren,  Wagen,  Reiter, 
dem  Auge  in  Schätzung  der  Tiefe  zu  Hilfe  zu  kommen. 
Die  J)eiden  im  Rücken  gesehenen  Figuren  vorn  sind  be¬ 
stimmt,  die  Gruppen  in  realistisch  wahrscheinliclier  Weise 
.  abzurunden. 

Tiotz  dieser  aufgewandten  Künste  wird  man  das 
Dresdener  Exemplar  ansprechender  linden.  Der  Raum 
ist  offener,  die  Figuren  haben  mehr  Luft,  die  Gruppen 
und  Paläste  treten  besser  zurück  und  auseinander.  Noch 
mehr  ins  Gewicht  fällt  der  Unterschied  der  Hauptflgur. 
Der  Ausdruck  innigen  Mitleids  in  der  seitlichen  Neigung 
des  Hauptes  und  Blickes  Chiisti  ist  in  Parma  verflacht. 

Die  parmenser  Leinwand  macht  also  den  Eindruck 
einer  flotten  Wiederholung  der  dem  Meister  geläuflgen 
Komposition.  Die  Zeiclniung  ist  feuriger,  aber  auch 
manierirter;  auffallend  sind  die  untersetzteren  Verhält¬ 
nisse  der  Gestalten. 

Die  Tcnq)elreinigu)ig 

ist  sogar  in  drei  Originalrepliken  vorhanden,  von  denen 
zwei  dieser  römischen  Zeit,  ein  drittes  der  spanischen, 
und  dem  späteren  ganz  verwandelten  Stil  angehört.  Alle 
drei  betinden  sich  in  England. 

In  der  ersten  ursprünglichen  Gestalt  zeigt  sie 
uns  das  Exemplar  in  der  Galerie  des  Earl  of  Vaaborough 
zu  London.  Dies  war  schon  im  XVII.  Jahrhundert  nach 
England  gekommen,  in  der  Galerie  Buckinghams  führte 
es  noch  den  später  vergessenen  Namen  des  Greco.  Denn 
eine  Nummer  im  Katalog  bezieht  sich  ohne  Zweifel  auf 
unser  Bild.  Ü 

Der  jerusalemische  Tempel  gab  dem  jungen  Maler, 
der,  wie  die  Spanier  behaupten,  in  der  Baukunst  melir 
als  Dilettant  war,  willkommene  Gelegenheit  zu  einem 
prächtigen  Architekturstück.  Man  befindet  sich  in  einer 
Vorhalle  des  Tempels.  Links  öffnet  sich  durch  einen 
breiten  Thorbogen  die  Aussicht  auf  einen  von  vene¬ 
zianischen  Palästen,  einer  allseitig  offenen  Loggia, 
einem  Rundbau  umgebenen  Platz.  Zur  rechten  Seite 
scheint  ein  von  römischen  Säulen  getragenes  Vestibül 


1)  A  Catalogue  of  the  curious  Collection  of  G.  Villiers 
Duke  of  Buckingham.  London  1758,  p.  3:  By  Del  Greco. 
Christ  driving  the  traders  out  of  the  teiuple.  There  are  about 
32  figures  in  this  picture,  four  whereof  are  the  pictures  of 
Titian,  Raphael,  etc. 


DOMENICO  THEOTOCOPULl  VON  KRETA. 


18:3 


in  das  dunkle  Tempelinnere  zu  führen.  Der  Augen¬ 
punkt  ist  in  diesen  rechten  Rand  der  Bildiläche  ver¬ 
legt.  —  Die  Vorhalle  nun,  aus  der  Marmorstufen  ins 
Freie  führen,  ist  eben  der  Schauplatz  der  „heiligen  Gewalt- 
that  Jesu“.  An  der  Wand  und  den  ihr  Vorgesetzten 
mächtigen  vier  Säulenschäften  steht  eine  bunte  Versamm¬ 
lung  gereiht,  Apostel,  Juden,  Männer  in  levantinischer 
Tracht,  durch  die  Christus  hindurchgeschritten  ist.  Er 
steht  vor  der  Thürötfnuug,  fast  genau  in  der  Mitte 
des  Gemäldes,  die  Geißel  in  der  die  Brust  überschnei¬ 


schwanke  Stange,  wie  die  venezianischen  Wasserträger- 
innen  (higolanii),  an  deren  Enden  ein  Hahn  und  ein 
Körbchen  aufgehängt  sind. 

Man  begreift  vor  dieser  Leinwand  wohl,  wie  die  Lieb¬ 
haber  der  Zeit  Carl  Stuart’s  auf  Paul  Cagliari  verfallen 
konnten,  au  den  nicht  bloß  die  herrliche  Piazza  erinnert. 
Wenn  der  junge  Grieche  dessen  fein  niiaucirte  Farben¬ 
tönungen  nicht  erreicht,  wenn  sein  Malerauge  in  schwereren 
Schatten  und  weißlichen  Lichtern  weniger  fein  sieht,  so  wirkt 
dafür  seine  Erzählung  durch  reichere  Auswahl  aus  dem  Leben 


Die  vier  Künstler  aus  der  Tempelreinigung. 

Gemälde  von  Domenico  Theotocopuli  in  der  Sammlung  des  Earl  of  Yarborougli  in  London. 


denden  Rechten  schwingend.  Eindrücke  der  mannig¬ 
faltigsten  Art  spiegeln  sich  in  den  Mienen  und  Gebärden  der 
hinter  ihm  stehenden  Zuschauer.  Im  Kontrast  zu  der 
gemessenen  Haltung  dieser  beobachtenden,  flüsternden 
Gruppen  bew'egt  sich  die  Schar  der  Verkäufer  in  tumul- 
tuarischem  Gedränge  (wobei  eine  Frau  zu  Boden  stürzt) 
nach  der  linken  Seite,  hinter  einem  auf  der  vordersten 
Stufe  sitzenden  jungen  Mädchen  her.  Diese  üppige  Figur 
ist  nach  dem  Korb,  auf  den  sie  sich  lehnt,  eine  Taulien- 
händlerin.  Ein  anderes  schönes  junges  Weib  eilt  mit 
ihrem  nackten  Knäbchen  an  dem  Eingang  des  Vestibüls 
zur  Rechten  vorliei.  Sie  trägt  auf  der  Achsel  eine 


aufgegriffeuer  Figuren  und  Charakterköpfe,  stürmischer 
wie  gehaltener  Bewegung,  ungleich  stärker  als  des  J'ei'o- 
nesers  vornehme,  decente  Convenienz.  jibrigens  hatte  noch 
Waagen  die  Attribution  Paolo  nicht  beanstandet.  *) 

1)  Waagen,  Tren.sures  IV,  70.  Paul  Veronese  ....  The 
comjiositioii  is  very  draniatic,  tbougb  not  free  froin  undigiii- 
fied  motives.  The  colouiing  is  clear  and  wann.  Waagen 
meint  hier  die  üppigen  Nuditäten. 

.An  der  Schwelle  steht 

/tOMiNiKO  etOSicönyyip : 

Kpftc  rnoih)  ^ 

Größe:  2'  U''x2'  2“  (englisch). 


184 


DOMENICO  THEOTOCOPULl  VON  KRETA. 


Sieht  man  sich  das  leere  Vestibül  zur  Eechten  näher 
an,  so  bemerkt  man,  dass  hier  der  Platz  der  Weclisler 
war,  die  sich  bereits  aus  dem  Staube  gemacht  haben.  Da 
steht  ein  schweres  Tischchen  mit  Sphiiixbeiuen  und  pracht¬ 
voll  gewirkter  Decke,  auf  dem  Marmorboden  daneben  liegen 
Haufen  Goldstücke  zerstreut,  ein  Kontobuch,  Tintenfass, 
eine  Kassette,  eine  Goldwage.  Ein  nacktes  Kind  ist 
hier  vergessen  worden,  es  macht  sich  mit  dem  weinge¬ 
füllten  Kelchglas  zu  schaffen. 

Das  merkwürdigste  in  dem  Bilde  aber  ist  die  Gruppe 
in  der  Ecke  rechts.  Wir  erkennen  da  auf  den  ersten 
Blick  einige  wohlgetroff'ene  Bildnisse  berühmter  Maler  der 
Zeit.  Der  junge  Mann  will  ihnen  seine  besondere  Ver¬ 
ehrung  und  Dankbarkeit  bezeigen,  verrät  aber  zugleich 
ein  nicht  geringes  Selbstgefühl,  indem  er  sich  ihnen  als 
vierter  anschließt.  Er  scheint  zu  sagen:  „Diesen  ver¬ 
dank’  ich  alles  was  ich  bin“,  aber  auch:  „Auf  diese  folg’ 
ich  die  sich  gi’oß  erwiesen“. 

Das  Bildnis  Tizians  entspricht  dem  bekannten  Stich 
des  Agostiuo  Caracci;  nur  ist  der  Kopf  wie  in  dem 
Berliner  Gemälde  nach  rechts  gewandt;  statt  des  Pelzes 
hat  er  einen  Mantel  um  Arm  und  Ilrust  geworfen;  die 
Haare  sind  fast  weiß,  die  Augen  hell.  Der  darauffolgende 
Kopf  des  Michelangelo  ist  nach  einem  Original  früherer 
Zeit,  die  leicht  gekräuselten  flaare  sind  grau,  der  Bart  noch 
dunkel.  Der  dritte  des  Clovio  ist  eine  Wiederholung  <les 
Neapler  Porträts.  Endlich  neben  diesen  Patriarchen  ein 
Jüngling;  kurze,  gerade  Stirn,  die  braunen  Haare,  in 
der  Mitte  gescheitelt,  in  reichen  Wellen  über  die  Schultern 
fallend;  die  Nase  lang,  gebogen  mit  überhängender  Spitze, 
starke  Lippen.  Der  das  Kinn  Imrührende  Zeigefinger 
drückt  das  Ipse  fccit  aus.  Nach  diesem  unzweifelhaften 
Dokument  kann  das  in  allen  illustrirten  Besprechungen 
des  Greco  wiedergegebene  Malerporträt  im  Palast  San- 
telmo  zu  Sevilla  ihn  nicht  vorstellen.') 

1)  Dies  Porträt  ist  auch  dem  Artikel  über  unsern  Maler 
von  /l.  Bixlla  in  der  athenischen  Zeitschrift  Eixoroy(>u<fiii- 
(1894,  13.  März)  vorgesetzt. 


Die  Anordnung  dieser  Brustbilder  ist  übrigens  so, 
dass  Michelangelo  und  Clovio  später  eingeschoben  scheinen 
könnten.  Tizian  und  Domenico  stehen  sich  gegenüber  in 
der  vorderen  Reihe,  ungefähr  so  wie  Raphael’s  Navagero 
und  Beazzano.  Tizian  war  doch  sein  einziger  wirklicher 
Lehrer.  In  Rom  würde  er  dann  den  Miniaturmaler  aus 
Dankbarkeit  und  den  ihm  dort  offenbar  gewordenen  Bon- 
arroti  aus  Heroeuverehrung  hinzugefügt  haben.  Dies 
Exemplar  könnte  also  noch  in  Venedig  gemalt  sein. 

Das  zweite  Exemplar  der  Tempelreinigung  ziert  die 
Galerie  Cook  in  Richmond.  Es  ist  in  bedeutend  kleinerem 
Maßstab;  in  der  Komposition,  wenn  mich  das  Gedächtnis 
nicht  täuscht,  ganz  übereinstimmend,  aber  in  einem  an¬ 
deren  Stil  gemalt,  ln  Sättigung  und  Leuchtkraft  der 
Farbe,  fast  bis  zum  Bunten,  in  dem  emailartig  pastosen 
Auftrag,  in  der  gediegenen  Sorgfalt  der  Ausführung, 
steht  es  unter  Greco’s  Werken  vereinzelt  da.  Die 
männlichen  Körper  glänzen  wie  Bronze,  die  weiblichen 
sind  von  blendender  Weiße.  Dabei  ist  es  vorzüglich 
erhalten,  noch  in  dem  alten  geschnitzten  und  vergol¬ 
deten  Holzrahinen.  Wahrscheinlich  hat  ihn  der  Ver- 
kehr  mit  dem  alten  Miniaturisten  gereizt,  sich  einmal  in 
dessen  Art,  soweit  es  seine  stürmische  Natur  vermochte, 
zu  versuchen.  Man  kann  es  also  wohl  das  feinste 
und  fleißigste  Bild,  aber  nicht  das  Meisterstück ')  Grecos 
nennen,  der  hier  sein  eigenes  Wesen  eher  verleugnet 
hat.  Es  ist  bezeichnet: 

/lörjHNJK^  eeoT^Kom 

KPH^  ^ 


1)  Wie  Sir  J.  C.  Robinson  meint,  von  dem  es  einst 
Francis  Cook  nebst  anderen  Stücken  kaufte.  It  is,  witliout 
exemption,  tlie  most  excellent  specimen  of  the  master,  of  its 
kind,  wbicb  bas  yct  fallen  nnder  tbe  notice  of  the  writer, 
either  in  or  out  of  Spain. 


(Fortsetzung  folgt.) 


ALESSANDRO  BOTTICELLL 

VON  ADOLF  PTIILIPPIA) 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ACH  Filippo  Lippi’s  Tode  war  Alessandro 
(Sandro)  ENlipepi,  nach  einem  Goldsclimied, 
bei  dem  er  gelernt  hatte,  gewöhnlich 
Botticelli  genannt  (1446 — 1510),  unbe¬ 
stritten  der  erste  Maler  in  Florenz.  Er 
war  erst  23  .Jahre  alt  nnd  malte  Ma¬ 
donnen,  wie  Filippo,  der  anf  ihn  eingewirkt  hatte,  und 
in  der  Art  der  Eeliefs  der  Marmorbildhauer  Desiderio 
oder  Antonio  Eossellino.  Aber  in  den  nächsten  zehn 
.Jahren  machte  er  eine  Entwicklung  durch,  die  ihn 
sehr  weit  über  seinen  einstigen  Lehrer  hinausführen 
sollte.  Er  ist  reicher  in  seiner  künstlerischen  Phan¬ 
tasie,  aber  auch  theoretisch,  weltlich  vielseitiger  ge¬ 
bildet  und  im  Bereiche  seiner  Stoffe  von  einer  Mannig¬ 
faltigkeit,  die  Filippo  nicht  von  ferne,  die  aber  auch 
kein  anderer  Maler  des  15.  .Jahrhunderts  völlig  erreicht 
hat,  so  dass  man,  wenn  man  zu  seinen  Leistungen  noch  den 
Einfluss,  den  er  ausgeübt  hat,  hinzunimmt,  ihn  nur  mit 
Masaccio  vergleichen  kann.  Wie  dieser  der  ersten  Früh¬ 
renaissance  den  Ernst  und  den  Charakter  aufgedrückt 
hatte,  so  gab  ihr  Sandro  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahr¬ 
hunderts  den  Gleist  und  das  strahlende  Leben  und  dazu  den 
Glanz  seiner  virtuosen  Technik.  Den  Eeichtum  seiner 
Erfindung,  worin  er  alle  andern  über¬ 
ragte,  lehrt  schon  ein  schneller  Überblick 
über  sein  weites  Stoffgebiet  kennen. 

Wie  viel  Neues  tritt  uns  da  ent¬ 
gegen!  Wir  wollen  es  nach  Gruppen 
zu  ordnen  suchen.  Zunächst  seine 
Engel.  Ihr  Typus  kündigt  sich  schon 
bei  Filippo  an,  z.  B.  auf  der  „Krönung 
Mariä“  in  der  Akademie.  Aber  durch 
Sandro  wird  er  schöner  und  zugleich 
charaktervoller,  bei  aller  großen,  äus¬ 
seren  Anmut  noch  mehr  durchgeistigt. 

Der  moderne  Betrachter  wird  diesen 


1)  Aus  einem  demnächst  erscheinen¬ 
den  kunstgeschichtlichem  Werke  des  Ver¬ 
fassers. 


Typus  am  besten  verstehen,  wenn  er  an  die  Liebe  in  den 
Canzoneu,  Sonetten  und  Madrigalen  des  Stil  nuovo  seit 
Dante  denkt.  Gegenstand  der  Verehrung  ist  darin  eine  Frau 
von  fast  überii'discher  Hoheit,  und  Amore,  der  Liebesgott, 
ist  )iicht  der  tändelnde,  nackte  Flügelknabe  der  spät¬ 
griechischen  Kunst,  sondern  ein  nicht  minder  hohes, 
ernstes  Wesen,  das  des  Dichters  Herz  gefangen  nimmt 
und  in  seinen  Sinnen  auch  wohl  ganz  mit  dem  mensch¬ 
lichen  Bilde  jener  Geliebten  zusammenfließen  kann. 
Sandro  hat  sich  tief  in  Dante  versenkt  upd  auch  sein 
großes  Gedicht  illustrirt.  Er  hat  nun  in  seinen  er¬ 
wachsenen,  langbekleideten,  der  allgemeinen  körperlichen 
Erscheinung  nach  weiblich  gedachten  Engeln,  die  keines¬ 
wegs  immer  Flügel  haben,  ein  künstlerisches  Gegenbild 
zu  jenem  Gegenstände  der  italienischen  Liebespoesie  ge¬ 
schaffen.  Die  Engel  sind  schlank  und  reich  gekleidet, 
mit  schönen  blonden  oder  dunkeln  Haaren,  auch  wohl 
mit  Kränzen  geschmückt,  wie  Frauen.  Aber  in  ihren 
Gesichtszügen  erinnern  sie  an  .Jünglinge,  und  ihr  Aus¬ 
druck  ist  sinnend,  tief,  manchmal  ernst  und  sogar 
schwermütig.  Diese  erhöhten  oder  verstärkten  Mädchen¬ 
gestalten  sind  die  Begleiter  seiner  Madonna,  die  auch 
ihrerseits  wieder  um  einen  Grad  höher  und  geistiger 
aufgefasst  ist,  als  die  Filippo’s  ('man 
vergleiche  dafür  die  schönste  auf  dem 
Eundbilde  mit  dem  „Magnificat“  in 
den  Uffizien,  so  bezeiclinet  von  den 
Anfangsvvorten  einer  Seite  des  auf¬ 
geschlagenen  Buches,  an  dem  die  Ma¬ 
donna  zu  schreiben  im  Begriff  ist: 
magnificat  anima  meum  dominum),  — 
aber  diese  Engel  erscheinen  dann  auch 
auf  seinen  andern  Bildern,  oft  als 
irdische  junge  Mädchen  oder  als  wirk¬ 
liche  Engel  selbständig  z.  B.  in  dem 
wundervollen  Eeigentanz  oben  in  der 
Luft  über  einer  „  Geburt  Christi  “ 
(Jjondon,  Natioualgalei'ie ;  aus  der 
Sammlung  Youiig  Ottley,  mit  der 
.Jahreszahl  1500  in  griechisclier  In- 


EugelUopf  aus  der  Krönung  der  .Jungfrau 
von  Filippo  Lippi  in  der  Akademie  zu 
Florenz. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VJII.  II.  8. 


24 


ISö 


ALESSANDKO  BOTTICELLI. 


erwaclisenen  Mädcbeu  bekränzen 
wälirend  drei  Teufel  wütend  ent- 


sclirift);  einige  dieser 
lierannaliende  Schäfer, 
flielien. 

An  die  Mädchenengel  reihen  wir  die  Schünlieit  der 
reifen  irdischen  Frau,  die  uns 
Sandro  oft  auf  seinen  Bildern 
giebt,  manchmal  mit  einem  ener¬ 
gischen  Motive  der  Stellung  oder 
der  Bewegung,  z.  B.  entfliehend 
oder  etwas  ti’agend.  So  lange 
das  nicht  übertrieben  wird,  haben 
wir  in  solchen  Darstellungen  den 
Anfang  eines  idealen,  schöngebil¬ 
deten  und  zugleich  vornehmen 
florentinischen  Frauentypus  in  der 
Kunst.  Bei  Ghirlandajo  und  Filip- 
pino  treft'en  wir  etwas  später  ganz 
dieselben  Figuren,  bei  Filippo  da¬ 
gegen  sind  nur  erst  schwache 
Versuche  (z.  B.  auf  dem  Eund- 
bild  mit  der  „Madonna“  im  Pa¬ 
last  Pitti  unter  den  Nebenper¬ 
sonen  des  Hintergrundes  die  Die¬ 
nerin  mit  dem  Korb  auf  dem 
Kopfe)  vorhanden.  Das  Verdienst 
der  Erfindung  scheint  Sandro 
zu  gehören.  Jedenfalls  bekommt  doch  bei  ihm  das 
Weibliche  für  die  Malerei  eine  wesentlich  erhöhte  Be¬ 
deutung,  und  auch  der  Masse  nach  tritt  es,  wenn 
man  ihn  mit  Masaccio  vergleicht,  mehr  liervor.  Wir 
sehen,  dass  Filippo  hauptsächlicli  weibliche  Wesen  dar¬ 
stellt,  und  nehmen  in  sei¬ 
ner  ganzen  Kunst,  abge¬ 
sehen  von  den  Fresken  in 
Prato,  diesen  Charakter  des 
Weichen  oder  Weiblichen 
wahr.  Auch  Sandro  ist 
weich.  Aber  nicht  immer. 

Er  kann  heftig  und  streng 
werden,  ausgreifend  bis  zur 
Karikatur.  Seine  Frauen 
und  seine  Menschen  über¬ 
haupt  haben  in  ihrer  Hal¬ 
tung  und  in  ihrem  Clesichts- 
ausdruck  die  Stimmung  des 
jeweiligen  Augenblicks,  sie 
sind  milde  oder  erregt.  Sein 
jüngerer  Freund  Ghirlan¬ 
dajo  übertrifft  ihn  durch 
seine  monumentale  Größe, 
aber  Sandro’s  „Sentiment“ 
haben  seine  Menschen  nicht.  Sandro  verfügt  über  die 
Fähigkeit,  auf  dieser  Gedankengrundlage  starke  Gegen¬ 
sätze  gut  auszudrücken,  und  er  arbeitet  mit  solchen 
Gegensätzen  oft  auf  demselben  Bilde.  Wegen  seiner 


Engelköpfe  aus  der  Krönung  Mariä  (dem  sog.  Magnificat) 
von  S.  Botticelli  in  den  Uftizien  in  Florenz. 


Engelköpt'e  aus  der  Taufe  Cbristi  von  Verrocchio. 

Sandro  verfügt 


psychologischen,  oft  in  das  kapriziöse  fallenden  Mannig¬ 
faltigkeit  hat  man  ihm  in  der  allerneuesten  Zeit,  zuerst 
in  England,  wieder  ein  ganz  besonderes  Interesse  zuge¬ 
wandt. 

Bei  Sandro  streift  nun  auch 
das  Weltlich-Natürliche  die  Rolle 
des  Beiwerks  der  heiligen  Dar¬ 
stellung  ab  und  wird  als  Gattung 
selbständig:  Wir  finden  bei  ihm 
zunächst  Mythologisches,  was  er 
dann  wohl  auch  nach  Art  eines 
Humanisten  selbst  suchend  und 
sinnend  sich  zurechtlegt,  so  die 
„Verläumdung  des  Apelles“  nach 
Lucian  (Uffizien)  oder  Pallas, 
einen  Centauren  beim  Schopf  fas¬ 
send,  den  „Thörichten“,  w'ahr- 
scheinlich  eine  Anspielung  auf  die 
1478  niedergeworfene  Verschwör¬ 
ung  der  Pazzi  (1895  im  Palast 
Pitti  entdeckt,  jetzt  Uffizien).  In 
solchen  Gegenständen  giebt  Sandro 
die  Form  niemals  als  Nachahmer 
der  Antike,  außer  bei  ganz  äußer¬ 
lichen  Dingen,  sondern  stets  mit 
den  Augen  und  den  Empfindungen 
des  Florentiners  aus  dem  15.  .lahrhundert  wieder,  und 
dazu  kommt  eine  Stimmung,  zu  der  ihn  keine  antike 
Darstellung  anleiten  konnte,  und  die  im  15.  Jahrhundert 
auch  wieder  nur  Sandro  ausdrücken  kann.  So  in  der 
„Geburt  der  Venus“  (Uffizien),  wo  die  Göttin  nackt  auf 

einer  Muschel  stehend  über 
das  Meer  zu  uns  heran- 
fälirt,  von  zwei  sich  um¬ 
schlingenden  Windgöttern 
unter  einem  Regen  von 
Blumen  an  das  Ufer  ge¬ 
blasen  (die  Erfindung  des 
Blasenden  geht  auf  eine 
Handzeichnung  Ifionardo’s 
zurück),  wo  unter  Lorbeer¬ 
büschen  eine  kostbar  ge¬ 
kleidete  Frauen  gestalt  ihr 
ein  rotes  Gewand  entgegeu- 
hält.  Noch  stimmungsvoller 
ist  das  älinliclie  Bild  „der 
Frühling  “(Akademie) :  Mäd¬ 
chen  und  einige  Jünglinge, 
in  einem  Park  unter  hohen 
Bäumen.  Das  ist  nicht 
mehr  Altertum ,  sondern 
bereits  italienische  Poesie  in  der  Art  von  Boccaccio’s 
„Ameto“.  Au  ihn  werden  wir  schon  erinnert  durch 
giotteske  Fj-esken  in  Pisa  und  Florenz.  Aber 
anders,  reicher  und  wirksamer  verstellt  Sandro  zu 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


187 


schildern  als  das  14.  Jaluliuiidert.  Er  hat  großes  Ge¬ 
fallen  an  weltlichen  Stoffen  und  liebt  es  nun  auch,  die 
lieiligen  Vorgänge  ganz  weltlich  darznstellen.  Zn  den 
Historienmalern  darf  man  ihn  darum  nicht  rechnen, 


Kopf  der  Madonna  aus  der  Madonna  mit  dem  Jesus¬ 
knaben  von  Filii'PO  Lim  im  Palaste  Pitti  zu  Florenz. 


händig,  und  nachträglich  durch  Übermalung  sehr  ent¬ 
stellt.  Die  Darstellung  des  Festmahls  mit  dem  Reiter 
und  den  zwei  Hunden  ist  bei  aller  Flüchtigkeit  un¬ 
heimlich  und  ohne  allen  Beigeschmack  von  Lächerlich- 


Kopf  der  Madonna  aus  der  Krönung  Mariä  (dem  sog.  Maguitioat) 
von  S.  Botticelli  in  den  Uffizien  zu  Florenz. 


obwohl  er,  wie  wir  sehen  werden,  drei  von  den  Fresken 
der  Sixtinischen  Kapelle  in  Rom,  die  unter  seiner  Leitung 
ausgeführt  worden  sind ,  selbst  gemalt  hat.  Diesen 
Bildern  fehlt  die  Größe  des  Gesamtausdrucks,  die  Ruhe 
der  Linien,  ohne  welche  Bilder  von  solchem  Umfange 
keine  Wirkung  haben  können.  Sandro, 
giebt  uns  statt  dessen  lauter  Einzel- 
scenen.  Er  ist  lebhaft,  überlebendig 
sogar,  aber  doch  kein  Dramatiker 
wie  Ghirlandajo.  Ihm  fehlt  die  Ruhe. 

Und  wie  uns  seine  Madonnen  mit 
ihren  Engelknaben  an  die  italienische 
Liebeslyrik  erinnerten,  so  dürfen  wir 
seine  Art,  weltliche  Vorgänge  zu  be¬ 
handeln,  novellistisch  nennen.  Die 
Komposition  ist  nicht  auf  einen 
Mittelpunkt  Iiingehalten,  sondern  sie 
geht  zerfahren  nach  rechts  und  links 
auseinander.  Charakteristisch  ist  da¬ 
für  schon  die  von  Sandro  gern  ge¬ 
wählte  Form  der  sehr  breiten  Tafel 
von  geringer  Höhe,  auf  der  sich 
nun  vielerlei  ungehemmt  nebeneinan¬ 
der  entfalten  kann.  Diese  Form  haben 
vier  kleine  Tafeln  von  1487  mit  der 
Geschichte  des  Nastagio  degli  Onesti 
bei  Boccaccio  5,  8  (aus  der  Samm¬ 
lung  Barker,  jetzt  im  Museum  zu  Lyon, 
mit  Ausnahme  des  Gastmahls,  das  sich  noch  im  Londoner 
Kunsthandel  befindet)  für  die  Familie  Pucci  zur  Hoch¬ 
zeit  einer  Tochter  gemalt,  aber  nicht  durchweg  eigen- 


keit,  der  solche  Übertreibungen  leicht  verfallen.  Sie 
setzte  nicht  nur  starke  Nerven  voraus,  sondern  legte  — 
für  die  Braut  —  auch  fatale  Vergleiche  nahe,  woran 
aller  der  Sinn  der  Zeit  keinen  Anstoß  nahm.  Von  ähn¬ 
licher  Haltung  sind  die  vier  Bilder  aus  dem  „Leben  des 
hl.  Zenobius“  (Dresden),  gut  und 
leuchtend  in  der  Farbe,  aber  ohne 
den  sonstigen  Schmelz  Saudro’s  und 
hart  gezeichnet,  also  wesentlich  Schul¬ 
arbeit. 

Efidlich  nimmt  Sandro  in  der 
Komposition,  worin  sonst  nicht  seine 
Stärke  liegt,  mit  einem  figurenreichen 
Bilde  großen  Stils  ein  selbständiges 
Verdienst  in  Anspruch.  Es  ist  die 
prächtige  „Anbetung  der  Könige“ 
(Uffizien  n.  1286)  für  S.  Maria  No- 
vella  im  Aufträge  von  Lorenzo  de’ 
Medici  gemalt.  Ghirlandajo  hat  diesen 
in  fast  allen  italienischen  Schulen 
beliebten  Gegenstand  dreimal  1487/8 
sehr  schön  behandelt.  Aber  bei  San¬ 
dro  haben  wir  die  neue,  pyramiden¬ 
artige  Grnppirung.  Oben  in  der  ülitte 
sitzt  die  Madonna  mit  dem  ältesten, 
knieenden  König,  hinter  der  Gra[)pe 
steht  etwas  erhöht  Josef.  Von  beiden 
Seiten  rechts  und  links  reiht  sich 
daran  eine  kreisartig  nach  unten  hin  verlaufende,  aber  vorne 
nicht  völlig  geschlossene  Versammlung  von  sehr  ausdrucks¬ 
vollen  zeitgenössischen  Gestalten,  unter  ihnen  die  andern 

24* 


Dienerin  aus  der  Madonna  mit  dem  Jesusknaben 
von  Filiit’O  Lipit  im  Palaste  Pitti  zu  Florenz. 


ISS 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


Vü-ideu  Küiiige.  Der  zur  Linken  stellt  nach  Vasari 
Giuliano  dar,  der  durch  die  \Ar.sch\vürnng'  der  Pazzi 
fiel,  der  andere  Giovanni,  Cosimo'.s  Sohn,  während  der 
älteste  König  des  verstorltenen  alten  Oosiino  Züge  trägt. 
Die  Darstellung  zeicdmet  sich  aus  durch  eine  große, 
t  ornehine  Ruhe  hei  sehr  lehendiger  Ealtung  der  Figuren 
und  sprechendeni  Gesichtsausdruck.  Man  wird  hier  an 
die  Kreiie  aller  dieser  Darstellungen,  an  Idonardo’s 
spätere  .. Anhetung"  in  den  Uffizien,  erinnert,  und  Lio- 
nardo’s  Einfluss  auf  Sandi'u  ist  wahrscheinlich;  heide 
waren  in  Verrocchio's  Atelier  einander  ludie  getreten. 
Sandro  gah  hier  in  einer  Art  von  ^■otivhihl  der  Mediceer 


hei  Ghirlandajo  nhliche  glänzende  Architektur  fehlt  hei 
Sandro,  dafür  treten  aber  hei  diesem  die  Figuren  gegen- 
üher  der  Scenerie  seihständig  und  kräftig,  in  ganz  neuer 
Weise  auf  einer  solchen  „Anhetung“,  hervor. 

Eierniit  hahen  wir  das  Stoffgehiet  Sandro’s  und  zu¬ 
gleich  seine  geistige  Auffassung  umschrielten.  ln  der 
völlig  persönlichen  Auffassung  seiner  Gegenstände  gieht 
er  durchaus  sein  eigenes  ^Vesen  und  die  neue  Zeit  wieder. 
Er  ist  kein  Nachahmer,  sondern  ein  Erfinder  nach  allen 
Seiten  hin,  wenn  auch  sein  nervöses  Naturell  ihn  oftmals 
einen  seinen  Gedanken  keineswegs  gleichwertigen  Aus¬ 
druck  finden  lässt.  Mit  der  geistigen  Auffassung  der 


Die  Vei'läumduiig  des  Apelles  von  S.  Botticecli  in  den  Uffizien  zu  Florenz. 


nach  der  idjerwindung  der  Pazzi  sein  T)estes.  Sein  Bild 
gehört  in  den  Anfang  der  achtziger  Jahre,  ei-  hat  die 
Priorität  vor  Ghirlandajo,  der  ihn  in  der  Komposition 
seiner  späteren  gleichartigen  Bilder  nicht  erreicht.  Die 

1)  Den  Giuliano  hat  er  auch  besonders  porträtirt,  als 
lirnsthild,  fast  im  Profil  mit  merkwürdig  geschlossenen 
Augen,  wie  man  es  sonst  auf  Büsten  der  Bildhauer,  aber  liei 
weiblichen,  nicht  hei  männlichen  Bildnissen  sieht  (Berlin 
n.  105  B  und  Sammlung  Morelli).  Dagegen  ist  Giuliano’s 
berühmte  Geliebte  Simonelta  niemals  authentisch,  und  ihre 
gewöhnlich  so  hezeichnetcn  Bildnisse  (Palast  Pitti;  Herzog 
von  Aumale,  Chantilly)  sind  nicht  einmal  von  Sandro,  während 
Berlin  wenigstens  ein  Phantasiebild  von  seiner  Hand  hat, 
ein  junges  Mädchen  fast  im  Profil  im  roten  Kleide  (n.  lOGA). 


Stoffe  hahen  wir  auch  schon  ihre  formelle  Darstellung 
berührt.  Es  ist  noch  ein  AVort  im  allgemeinen  über  seine 
ganz  bestimmte  Technik  zu  sagen,  ehe  wir  versuchen 
können,  uns  seine  künstlerische  Entwicklung  klar  zu 
machen.  Aus  der  Schule  eines  Goldschmieds  hervor¬ 
gegangen,  hat  er  eine  bestimmte,  scharfe  Zeichnung, 
bisweilen  nicht  ohne  Härte,  aber  dabei  doch  wieder  eine 
natürliche  Grazie  der  Linien  und  der  Formen,  so  lange 
er  sich  von  Übertreilning,  von  unruhiger  und  heftiger  Be¬ 
wegung  fern  hält.  Plastisches  Alodelliren  ist  seine  Sache 
nicht.  Der  Umriss,  das  Zeichnerische  herrscht  auch  bei 
der  übrigens  natürlichen  Erscheinung  seiner  Formen  vor. 
Das  eigentlich  Malerische,  die  perspektivische  Vertiefung 
der  Räume  und  die  Abstufung  der  Töne  in  Farbe,  Luft 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


189 


mul  Licht,  der  Creg-eiisatz  von  Nähe  mul  Ferne,  das  alles 
tritt  dageg-en  zurück,  er  hat  darin  nicht  seine  Stärke. 
Auch  in  der  Landscliaft  nicht.  Sein  etwas  jüngerer 
Schnlgcnosse  Liunai'do  legte  großen  Wert  auf  die  Land¬ 
schaft  und  suchte  die  geheimnisvolle  AVirkung  ihrer 
einzelnen  Elemente  auf  die  menschliche  Stimmmig  zu 
ergründen.  Er  hat  einmal  in  seinem  Traktat  üher  die 
Malei'ei  (9,3)  Sandro  halli  scherzend  getadelt  wegen  einer 
leichtfertigen  Bemerkung,  die  dieser  üher  die  nehen- 
sächliche  Bedeutung  dieser  Zuthat  zu  einem  Figurenhilde 
gemacht  liatte.  AVir  können  uns  dadurch  zu  einer  Be¬ 
obachtung  führen  lassen,  die  die  landschaftlichen  Bestand- 


Bildern  und  Eadirungen  zu  eigen  gemacht  haben.  Es 
ist  oft  befremdlich  und  her)),  aber  man  empfindet  immer 
etwas  dabei.  Franz  Kugler,  dei'  doch  als  Dichter  ganz 
in  den  Stimmungen  der  romantischen  Schule  stand, 
konnte  sich  darein  noch  nicht  finden.  Dass  es  ein  Ab¬ 
weg  ist  von  dem  eigentlichen  Ziel  der  vollgültigen 
malerischen  Erscheinung,  eine  Art  Alischlagszahlung  an 
unsere  Gedanken,  die  das  AVeitere  seihst  hinzufügen 
müssen,  Innucht  kaum  gesagt  zu  werden. 

In  der  Technik,  in  der  leuchtenden,  ganz  reinen 
Tempera  steht  er  in  seiner  besten  Zeit  allen  Malern  des 
15.  Jahrhunderts  voran.  Neben  den  klarflüssigen,  durch- 


Der  Früliliiig  von  S.  Botticelli  in  der  Akademie  zu  Florenz. 


teile  auf  Sandro’s  Bildern  nahe  legen.  Diese  machen 
nicht  die  spezifisch  malerische  Wirkung,  die  z.  B.  ein 
viel  Geringerer  aus  diesem  Kreise,  Lorenzo  di  Credi, 
mit  den  duftigen  Hintergründen  seiner  besten  Bilder 
erreicht,  sie  haben  vielmehr  ihren  allerdings  ganz  be- 
sondern  und  ebenso  großen  Reiz  in  den  viel  reicheren 
Zügen  und  Gaben  einer  tiefen,  sinnenden,  oft  eigensinnig 
gestaltenden  und  willkürlich  verstreuenden  Phantasie, 
die  unser  Gemüt  ergreifen  und  stimmen,  wenn  sie  auch 
zu  unserer  auf  die  Natur  gestützten  Erfahrung  nicht 
passen  wollen.  Es  ist  das  Phantastische,  was  manchmal 
Zeichen  für  wirkliche  und  naturwahre  Formen  nimmt, 
und  was  unsere  modernen  Symbolisten  sich  wieder  in 


sichtigen  Farben  wird  auch  Gold  angewandt,  aber  nicht 
dick  aufgelegt  oder  als  Fläche  gegeben,  sondern  in 
zartester,  spinnwebeartiger  Zeichnung  zur  Erhöhung 
der  Lichter.  Seine  Ausführung  ist  sorgfältig,  die  Zeich¬ 
nung  der  Körperforinen  und  der  Gewandfalten  gewissen¬ 
haft,  alles  Beiwerk  —  Geräte,  Blumen,  Tepiiiche  —  be¬ 
sonders  reizvoll  und  ausführlich.  Dass  die  zeichnende 
Linie  immer  bleibt  und  jedes  Detail  bei  Sandro  zu  seinem 
Rechte  kommt  und  trotz  dieser  manchmal  ängstlichen  Be¬ 
handlung  des  Einzelnen  doch  ein  Gesamteindruck  er¬ 
reicht  ist,  nicht  nur  für  die  Stimmung,  sondern  auch  in 
der  körjierlichen  AVahrheit  und  sogar  nach  dei'  Seite 
der  rein  malerischen  Erscheinung :  auf  diesem  Si)iel 


190 


ALESSANDRO  BOTTICEI.LL 


der  Gegensätze  beruht  der  beinahe  einzige  Zauber  der 
JÜlder  seiner  besten  Zeit,  z.  B.  der  ..Madonna  mit  dem 
Magnificat'h  Dass  seine  Technik  aber  liier  niclit  stellen 
bleibt,  wird  uns  seine  weitere  künstlerische  Entwicklung 
zeigen. 

In  demselben  Jahre,  das  Filippo  Lippi  hinwegnahin, 
starb  auch  Piero  Medici  (14G9).  Der  alte  Cosinio  hatte 
sehr  lange  gelebt,  und  sein  Sohn  Piero  war  schon  nicht 
weit  von  den  Fünfzigern,  als  er  die  Stellung  eines  ersten 
Bürgers  von  Florenz  überkam,  die  er  nur  fünf  Jahre 
genießen  sollte.  Er  war  kränklich  und  willenssdiwach,  und 


deriualige  Haupt  dieser  Familie  gleichwohl  von  selbst. 
Fr  hat  auch  Sandro  mit  Aufträgen  bedacht.  Zwei  Bilder, 
die  nach  der  Verschwörung  der  Pazzi  entstanden,  den 
„Centauren  "  und  die  „Anbetung“,  haben  wir  schon  kennen 
gelernt.  Unmittelbar  nach  dem  Ereignis  (1478)  musste 
Sandro  außerdem  die  Bildnisse  der  hingerichteten  ^Ar- 
schwörer  mit  den  Köpfen  nach  unten  an  die  Mauer  des 
Rathauses  malen.  Zufällig  ist  uns  auch  noch  eine  Spur 
seines  großen  Mitstrebenden  Lionardo  aus  jenen  Tagen 
erhalten,  eine  Federzeichnung,  die  den  Mörder  Giuliano’s, 
Bernardo  Bandini,  am  Galgen  hängend  in  verschiedenen 


Aussdmitt  aus  der  Anbetung  der  Magier  von  S.  Botticelli  in  den  Offizien  zu  Florenz. 


die  kurze  Zeit  seiner  Verwaltung  war  von  Sorgen  erfüllt. 
Gleich  seinem  Vater  förderte  er  die  Kunst  und  fuhr  fort, 
öffentlich  und  im  Stillen  seinen  Mitbürgern  Wohlthaten 
zu  erw’eisen.  Sein  Sohn,  Ijorenzo  der  Prächtige,  der  auf 
ihn  folgte,  hat  diese  Aufwendungen  seiner  beiden  Voi'- 
fahren  in  einer  Summe  angegeben,  die  man  nach  dem 
heutigen  Wert  des  Geldes  auf  über  30  Millionen  Lire 
berechnet  hat.  Tjorenzo  war  erst  21  Jahre  alt,  als  er 
mit  seinem  Bruder  Giuliano  das  Erbe  des  Vaters  über¬ 
nahm.  Er  hatte  sowohl  in  der  F^olitik  als  in  seinem 
Privatleben  zunächst  mit  gi'oßen  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen.  Die  Pflege  der  Künste  verstand  sich  für  das 


Ansichten  zeigt  mit  Notizen  über  die  Farbe  seiner 
Kleidung  (vom  29.  Dezember  1479).  Bandini  war  nach 
Konstantinopel  entflohen  und,  auf  Lorenzo’s  Begehren  vom 
Sultan  ausgeliefert,  noch  nachträglich  gehenkt  worden. 

Fline  eigentümliche  Fügung  hat  es  mit  sich  gebracht, 
dass  Sandro  bald  daraufeinem  bitteren  Feinde  seiner  Gönner 
für  dessen  künstlerische  Pläne  seinen  Pinsel  lieh,  dem 
Willensstärken  und  ruhmsüchtigen  Emporkömmling  Six¬ 
tus  IV.,  zur  Zeit  da  dieser  noch  dazu  mit  Florenz  in  Fehde 
lag.  Die  Sixtinische  Kapelle  in  Rom  enthält  an  ihren 
beiden  Längsseiten  zwölf  Fresken  aus  dem  Alten  und 
dem  Neuen  Testament  von  der  Hand  Sandro’s,  Cosimo  Eos- 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


191 


selli’s,  Gliirlandajo’s,  Perugino’s,  Pinturicchio’s  und  ihrer 
Familiäres,  wie  es  in  dem  Kontrakt  vom  Oktober  1481 
heißt,  fertigzustellen  nach  Ablauf  von  fünf  Monaten. 
Aber  erst  am  15.  August  1483  ist  die  Kapelle  ein¬ 
geweiht  worden.  Das  große  Werk,  hei  dem  Sandro 
nach  Vasari  eine  Art  Oberleitung  gehabt  haben  muss, 
wird  uns  später  beschäftigen.  Von  Sandro  rühren  drei 
Bilder  her.  Nach  1482  oder  83  kehrte  er  nach  Florenz 
zurück.  Er  blieb  daselbst  bis  an  seinen  Tod  und  stand 
in  ungemindertem  Ansehen.  Aber  seine  künstlerische 
Thätigkeit  zeigt  einen  Niedergang.  Das  scheint  mit 
äußeren  Umständen  zusammenzuhängen,  aber  auch  mit 
Wandlungen  seiner  persönlichen  Natur.  Als  Karl  VIII. 
von  Frankreich  1494 
durch  Toskana  nach 
Neapel  einbrach,  ver¬ 
trieben  die  Floren¬ 
tiner  Lorenzo’s  Sohn, 
den  jüngern  Piero, 
und  die  andern  Me¬ 
dici,  und  Sandro  war 
seiner  Gönner  be¬ 
raubt.  Nun  begann 
auch  die  Bewegung 
des  Savonarola.  San¬ 
dro  gehörte  zu  den 
eifrigsten  Anhängern 
des  Dominikaners. 

Vasari  berührt  öfter 
einen  sinnenden, 
schwärmerischen 
Zug  an  Sandro  und 
kommt  in  diesem  Zu¬ 
sammenhänge  zuletzt 
dann  auch  auf  seine 
Vorliebe  für  Dante 
und  seinen  Zusam¬ 
menhang  mit  Savo¬ 
narola.  Darnach  sei  er 
so  ziemlich  verträumt 
und  am  Ende  verkommen.  Uns  sind  in  der  That  noch  fast 
hundert  Zeichnungen  auf  Folioblättern  zu  Dante’s  Komödie 
(86  in  Berlin,  darunter  eine  farbige  und  8  im  Vatikan)  er¬ 
halten,  und  außerdem  gehen  schon  die  neunzehn  Kupfer¬ 
stiche  der  Dante- Ausgabe  von  1482  auf  Sandro  zurück.  An¬ 
dererseits  können  wir  uns  vorstellen,  welchen  Eindruck 
die  Erschütterung  des  ganzen  florentinischen  Lebens  durch 
Savonarola  auf  jemanden  machen  musste,  der  sich,  wie 
Sandr(j,  dem  gewaltigen  Propheten  ganz  ergab  und  der 
dann  alle  Schritte  der  großen  geistigen  Bewegung  mit 
erlebte  und  zuletzt  den  Märtyrer  auf  dem  Scheiterhaufen 
enden  sah  (1498).  Sandro’s  späte  Bilder  haben  nicht 
mehr  den  frohen  Glanz  der  Jugend,  sondern  etwas  Ernstes, 
Trübes,  Asketisches  im  Ausdruck  und  manchmal  sogar  in 
den  Typen  der  Körper.  Über  das  .Tahr  1503  hinaus, 


wo  er  sich  an  einem  Gutachten  über  die  Aufstellung 
von  Michelangelo’s  „David“  beteiligte,  haben  wir  keine 
Aufzeichnung  mehr  über  sein  Leben.  Er  wird  also  in 
den  letzten  Jahren  in  der  That,  wie  Vasari  zu  verstehen 
giebt,  als  Künstler  tot  gewesen  sein.  Die  Begeisterung 
für  Savonarola  teilten  übrigens  noch  andere  bedeutende 
Künstler,  und  bei  manchen  bemerkt  man  auch  in  ihren 
Werken  seinen  Einfluss  um  diese  Zeit.  Savonarola  wollte 
indessen  nicht  die  Kunst  vernichten,  er  wandte  sich  nur 
gegen  die  äußeren,  weltlichen  Reize,  die  ja  wesentlich  die 
Malerei  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  he- 
stimmen,  und  er  wollte  der  ganzen  Kunst  eine  ernste,  reli¬ 
giöse  Richtung  geben.  Fra  Bartolommeo,  Raftäel’s 

ernster  Mitstreben¬ 
der,  ist  Savonarola’s 
Ordensbruder.  Bei 
Pietro  Perugino 
sehen  wir  nicht  zu¬ 
fällig  gerade  in  die¬ 
sen  Jahren  Ernst  und 
Trauer  in  den  Gegen¬ 
ständen  (die  Pieta  des 
Palazzo  Pitti  von 
1495)  vorherrschen. 
Der  sanfte  Lorenzo 
di  Credi  ist  durch  Sa¬ 
vonarola  bestimmt, 
und  sogar  Filipiiino 
Lippi  zeigt  sich  in 
seiner  letzten  Zeit 
in  ganz  besonderer 
Weise  von  Savonaro¬ 
la’s  Geist  beeinflusst. 
Auch  der  junge  Mi¬ 
chelangelo  gehörte  zu 
den  Anhängern  der 
neuen  Glaubenslehre, 
wie  unter  anderm  ein 
Brief  von  ihm  von 
1496  beweist.  Und 
es  ist  das  nicht  so  wunderbar,  wie  es  auf  den  ersten 
Blick  scheinen  mag.  Denn  in  Wirklichkeit  ist  Michel¬ 
angelo’s  und  Raffael’s  Kunst  ernster  und,  sogar  vom 
Standpunkt  der  Kirche  betrachtet,  eindringlicher  als  die 
der  florentinischen  Frührenaissance. 

In  Sandro’s  künstlerische  Entwicklung  einzudringen, 
ist  uns  dadurch  schwer  gemacht,  dass  er  selbst  seine 
Bilder  nicht  zu  datiren  pflegt,  und  dass  wir  außerdem 
über  sein  Verhältnis  zu  Männern,  welche  außer  seinen 
eigentlichen  Lehrern  jedenfalls  auf  ihn  den  größten  Ein¬ 
fluss  ausübten,  wie  Verrocchio  und  die  Brüder  Polla- 
juoli,  aus  der  Geschichte  der  Zeit  nichts  oder  doch  nur 
allgemeines  erfahren,  was  uns  schon  die  Vergieiclnmg 
der  beiderseitigen  Werke  lehrt.  Hier  greift  nun  auch 
mit  seinem  alle  überragenden,  frühreifen  Talent  der  junge 


Die  Krönung  Mariä  (das  sog.  Magniticat)  von  S.  Botticelli  in  den  Dfttzien 

zu  Florenz. 


192 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


Lionardo  ein.  der  um  1466  in  \'erroecliio’s  Atelier  kam 
und,  obwohl  er  1472  als  selbständig  genannt  wird,  doch 
bis  nach  1477  dem  älteren  Heister  nahe  blieb.  In  den 
Hand^ieichnungen.  worin  sich  ja  eines  Künstlers  Sprache 
am  reinsten  für  uns  anspi’ägt.  kommen  Verrocchio  und 
Tdonardo  einander  manchmal  so  nahe,  dass  man  sie  ver¬ 
wechseln  könnte.  Man  lernt  daraus,  dass  mancher  Ge¬ 
danke.  den  wir  in  der  Ausführung  nur  durch  Idonardo 
kennen,  auch  auf  \'errocchio  zurückgehen  kann.  Anderer- 


nendes  und  klareres,  harziges  oder  öliges  Bindemittel 
den  Farben  zuzusetzen.  In  Florenz  ist  dies  zuerst  im 
Kreise  der  Pollajuoli  und  Verrocchio’s  geschehen,  und  dass 
Sandro,  der  vollendete  Meister  in  der  reinen  Tempera, 
auch  den  \'ersuchen  in  der  gemischten  Technik  nicht  fern 
geblieben  ist,  zeigt  z.  B.  ein  Bild  aus  seiner  mittleren 
Zeit,  die  „Madonna  mit  den  beiden  .Tohannes“  vor  einer 
frischen,  saftigen,  tiefleuchtenden  Wand  von  Oliven  und 
Palmen  (Berlin  n.  lOG),  worin  die  Farben  der  Blumenvasen 


Die  Verkündigung  von  Piero  Pollajüolo  im  kgl.  Museum  in  Berlin. 


seits  hat  Verrocchio,  aus  dessen  Schule  zwei  so  ver¬ 
schiedene  und  technisch  tüchtige  Maler  hervorgingen, 
wie  Pietro  Perugino  und  Lorenzo  di  Credi,  aller  Wahr¬ 
scheinlichkeit  nach  selbst  noch  mehr  gemalt,  als  das  eine 
beglaubigte  Bild  für  S.  Salvi.  Das  hängt  wieder  mit 
den  Anfängen  des  Ölmalens  in  Italien  zusammen,  deren 
wirkliche  Geschichte  verloren  ist.  Einzelne  Spuren  davon 
begegnen  uns  aber  an  verschiedenen  Orten,  und  die  ein¬ 
zelnen  Maler  werden  auch  zum  teil  unabhängig  von 
einander  und  selbständig  Versuche  gemacht  haben,  statt 
der  schnell  trocknenden  Tempera  ein  langsamer  trock- 


mit  Öl  oder  Firnis  angesetzt  sind.  Aber  in  diesem  Kreise 
lernte  Sandi-o  mehr  als  solche  äußere  Dinge,  und  ehe 
wir  uns  mit  seiner  eigenen  Entwicklung  beschäftigen, 
müssen  wir  seinen  älteren  llorentinischen  Kunstgenossen 
einen  Blick  zuwenden. 


Das  Eigentum  der  beiden  Brüder  Pollajuoli  ist,  was 
die  Malerei  anlangt,  nicht  sicher  zu  scheiden.  Antonio, 
der  ältere  und  bedeutendere  (1429 — 1498),  ist  Gold¬ 
schmied  und  als  solcher  schon  1456  thätig,  sodann 
Bildhauer,  abei’  er  hat  daneben  auch  gemalt.  Piero 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


193 


(1443 —  vor  1496),  ebenfalls  Goldschmied,  ist  vor  allem 
Maler,  aber  keiner,  der  neue  Wege  weist,  sondern 
er  gebt  in  den  Wegen  seines  älteren  Bruders  weiter. 
Als  Maler  werden  beide  Brüder  zusammen  zuerst  1460 
erwähnt.  Die  vorhandenen ,  nicht  zahlreichen  Bilder 
zeigen  uns  im  allgemeinen  eine  kräftige  Hand,  eine 
manchmal  herbe  und  rücksichtslose  Modellirung  des 
Körperlichen,  energische  Bewegungen  und  Stellungen  der 
Figuren  und  scharfe  Umrisse,  dabei  tiefe,  leuchtende 
Farbe  und,  wenn  Architektur  vorkommt,  gute  Perspektive 
nebst  sorgfältiger  Ausarbeitung  der  Zierformen  in  Stein 
und  Metall.  Es  ist  also  eine  Malerei,  die  in  der  Form¬ 
gebung  ihre  Haupteigenschaften  von  der  Plastik  und 
von  der  Metallarbeit  entlehnt  zu  haben  scheint.  Es 
kann  von  vornherein 
angenommen  werden, 
dass  das  meiste  auf 
den  erhaltenen  Bil¬ 
dern  von  Piero  ge¬ 
malt  worden  ist.  So 
werden  die  große 
„Verkündigung“  mit 
herrlicher,  bunter  Ar¬ 
chitektur  und  Durch¬ 
blick  ins  Freie,  so¬ 
wie  ein  ganz  kleines 
Hochbild  mit  einem 
eleganten  jungen,  als 
David  gedachten 
Edelmann  (beide  in 
Berlin)  ihm  zuge¬ 
schrieben,  wobei  man 
höchstens  bei  dem 
ersten  Bilde  einen 
Anteil  an  der  Er¬ 
lindung  in  Bezug  auf 
die  Architektur  für 
Antonio  offen  lässt. 

Bezeichnend  ist  an 
diesem  Bilde,  das 
jedenfalls  erst  in  die 
achtziger  Jahre  gehört,  die  leuchtende  und  doch  dick  auf¬ 
getragene,  harzige  Faibe,  die  sich  in  ihrer  Wirkung  von 
der  Tempera  deutlicli  unterscheidet  und  sehr  an  Ölmalerei 
erinnert.  Piero  hat  also  in  dieser  Richtung  Versuche  ge¬ 
macht,  die  seinem  Bestreben  nach  kräftigem  Ausdruck 
der  Formen  dienen  sollten.  Er  hat  dabei  noch  Einflüsse 
von  anderer  Seite  erfahren,  abgesehen  von  dem  älteren 
Bruder.  Man  denkt  in  Bezug  auf  die  Formgebung  au 
den  altertümlich-strengen  Andrea  del  Castagno  (1390 
bis  1457),  im  Technischen  aber  an  den  etwas  jüngeren 
Alesso  Baldovinetti  und  an  einen  großen  Meister  in  der 
Führung  von  Linien  und  in  der  Behandlung  von  Luft 
und  Licht,  Piero  de  FranceseJä.  Geht  man  nun  auf 
den  Bildern  der  Brüder  Pollajuoli  der  Zeichnung  des 
Zeitsolirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  8. 


Figürlichen  schärfer  nach,  so  bemerkt  man  einen  Unter¬ 
schied.  Eine  ganz  naturwahre,  einfache,  überzeugende 
Auffassung  der  Formen,  der  Körperteile  und  ihrer  Funk¬ 
tionen,  z.  B.  des  Anfassens,  steht  einer  zierlicheren, 
schwächlicheren,  nicht  so  sicheren  und  scheinbar  affek- 
tirten  Ausdrucksweise  gegenüber.  Jene  giebt  man  nun 
dem  Antonio,  diese  dem  Piero.  Die  Zuweisung  des 
Einzelnen  hängt  dabei  zum  Teil  von  persönlicher  Em¬ 
pfindung  ab. 

Ganz  unbestritten  gehört  dem  Antonio  eine  kleine 
Doppeltafel  mit  „Herkuleskämpfen“  (Antäus  und  Hydra; 
Uffizien  n.  1153),  modellirt  wie  ein  Erzwerk,  und  eine 
sehr  viel  lieblichere  Darstellung:  „Apollo  und  Daphne“ 
(London).  Zwei  andere  in  ihrer  Art  gleich  wichtige 

Bilder  sind  jedenfalls 
gemeinsame  Arbeiten 
der  Brüder,  aber  über 
die  Grenze  des  An¬ 
teils  gehen  die  Mei¬ 
nungen  sehr  weit 
auseinander.  Drei 
Heilige,  aufrecht  in 
Lebensgröße,  sehr 
kräftig  gezeichnet 
und  in  emailartiger 
Farbe  (Uffizien  n. 
1301),  eimst  das  Al¬ 
tarbild  für  die  Ka¬ 
pelle  des  Kardinals 
von  Portugal,  giebt 
Vasari  beiden  Brü¬ 
dern,  während  es 
manche  jetzt  ganz  dem 
Piero  zusehreiben 
möchten.  Ein  etwas 
späteres  (1475)  gros¬ 
ses  „Martyrium  des 
heil.  Sebastian“  mit 
vielen  Bogenschützen 
in  mannigfachen  Stel- 
lungen(London)  giebt 
Vasari  dem  Antonio,  und  manche  Neueren  urteilen  ebenso, 
während  andere  etwas  Langweiliges,  Schlaffes  in  den  Körper¬ 
formen  finden  im  Vergleich  mit  der  Zeichnung  auf  dem 
einzigen  sichern  Kupferstich  von  Antonio  („Kampf  dei- 
zehn  Nackten“)  und  darum  das  Londoner  Bild  lieber  ganz 
oder  doch  zum  großen  Teile  dem  Piero  zuweisen  möchten. 
Wie  sich  nun  aber  auch  im  einzelnen  jemand  darüber  ent¬ 
scheiden  mag,  die  Hauptsache,  um  deren  willen  wir  die 
Daten  über  die  Brüder  Pollajuoli  ausfülirlich  geben 
mussten,  bleibt  davon  unberührt. 

Hier  in  Florenz  hat  man  gegen  die  Mitte  der 
siebziger  Jahre  neben  einzelnen  technischen  Problemen 
der  Malerei  den  Versuch  gemacht,  die  menschliche  Figur 
nackt  in  Lebensgröße  gemalt  darzustellen,  was  bis  da- 

25 


194 


ALESSANDRO  BOTTICELLI 


Lin  nur  die  Bildliauer  getLan  hatten,  von  denen  man 
nun  mit  der  richtigeren  Zeichnung  aucli  die  strengere 
Auftassung  der  Formen  zunächst  übernehmen  musste. 

Das  führt  uns  auf  Verrocchio  als  Maler  und  auf 
das  leider  nicht  datirte  Bild  in  der  Akademie,  die  „Taufe 
Christi"  für  S.  Salvi,  welches  in  diese  Jahre  geliören 
muss.  Denn  Liouardo,  der  den  einen  der  beiden  Engel 
darauf  gemalt  hat.  ist  1452  geboren.  Er  kam  um  1466 
zu  \'errocchio  und  war  in  dessen  Werkstatt  vielleicht  nur 
bis  1472,  wo  er  als  selbständig  erwähnt  wird,  blieb 
aber  mit  dem  selir  angesehenen  Meister  in  Zusammen¬ 
hang  und  konnte  auch  dann  noch  den  für  die  Anschau¬ 
ung  der  Zeit  immerhin  bescheidenen  Beitrag  zu  dem  Bilde 


uns  niclit  in  unsicheren  Vermutungen  ergehen  wollen, 
so  bleibt  uns  leider  nichts  übrig  als  einige  Beobacht¬ 
ungen  über  dies  wiclitige  Denkmal  der  iilalerei  zusammen¬ 
zustellen.  Der  nackte  Christus  und  der  hagere,  sehnige 
Johannes  mit  den  von  geschwollenen  Adeim  durchzogenen 
Armen  und  Händen  sind  zwei  männliche  Akte  ohne 
jeden  äußeren  Beiz;  aber  so  durchgebildet  und  natur¬ 
wahr  hat  bis  dahin  kein  Maler  Körper  in  Lebensgröße 
dargestellt.  Der  Bildhauer  Verrocchio  zeigt  sich  hier 
als  Maler  init  den  Mitteln  der  alten  Temjieratechnik 
auf  der  vollen  Höhe,  auf  welche  ihn  die  Überlieferung 
nach  der  Ansicht  der  Zeitgenossen  als  Künstlei'  im  all¬ 
gemeinen  und  als  schulbildenden  Lehrer  gestellt  hat. 


Der  junge  Tobias  mit  Engeln  von  S.  Botticelli  (I)  in  der  Akademie  in  Florenz. 


geben.  Ob  das  aber  übei'  ein  gewisses  Alter  des  ehemaligen 
Schülers  hinaus  wahrscheinlich  ist  ?  —  1  )ar  nach  wird  man  die 
\'ollendung  der  „Taufe  Christi“  von  Verrocchio  jeden¬ 
falls  nicht  viel  unter  1477  herunterrücken  dürfen.  Wie 
es  dabei  in  Wirklichkeit  zugegangen  ist,  als  der  Meister 
dem  Schüler  die  Rolle  zuwies,  wieviel  genau  der  Schüler 
gemacht  hat,  und  was  der  Meister  dann  dazu  gemeint  und 
wieviel  er  selbst  nachträglich  noch  daran  geändert  haben 
mag,  um  das  durch  den  genialen  Schüler  gestörte  Gleich¬ 
gewicht  wieder  herzustellen,  —  das  hat  man  in  sehr 
verschiedener  Art  aus  der  Komposition  und  aus  dem  Tech¬ 
nischen  des  Bildes  herausgelesen,  dessen  Erhaltungszu¬ 
stand  indessen  nicht  völlig  durchsichtig  ist  und  von  den 
Einzelnen  sehr  verschieden  beurteilt  wird.  Wenn  wir 


Der  Engel  des  jungen  IJonardo  ist  lebendiger,  voi’uehmer, 
vor  allen  Dingen  geistiger  aufgefasst,  als  sein  plumi)er 
Genosse  mit  dem  bäurischen  Gesicht  und  den  großen 
Händen,  und  dieser  Unterschied  macht  es  wahrscheinlich, 
dass  der  ganze  Engel,  nicht  nur  der  Kopf  mit  dem  ent¬ 
scheidenden  Typus  dem  Lionai'do  gehört.  Auf  diesem  linken 
Teile  des  Bildes  ist  ausserdem  ein  ölartiges  Bindemittel 
angewandt,  und  nach  der  günstigsten  Auffassung  dieses 
Thatbestandes  (Bode  bei  Müller -Walde)  liätte  Liouardo 
auch  an  den  Bestandteilen  der  Landschaft,  den  Händen  des 
zweiten  Engels  und  an  dem  Christusköi'per  in  01  gear¬ 
beitet,  das  Temperabild  seines  Meisters  also  über  den  einen 
Engel  hinaus  in  Öl  verbessert,  während  nach  der  un¬ 
günstigsten  Meinung  (Morelli)  das  ganze  Bild  später. 


Die  Rotte  Korah.  Freskogemälde  von  S.  Botticelli  in  der  Sixtinischen  Kapelle  des  Vatikans  in  Rom. 


196 


ALESSANDRO  BOTTICELLI. 


etwa  im  vorigen  Jahrlnmdert,  mit  Ölfirnis  überschmiert, 
darauf  aber  auf  der  rechten  Hälfte  wieder  gereinigt 
worden  wäre,  so  dass  nunmehr  die  ganze  linke  Hälfte, 
im  Zustande  der  nachträglichen  Übermalung,  über  die 
von  Lionardo  ursprünglich  angewandte  Teclinik  kein 
Urteil  mehr  gestattete.  Eine  Entscheidung  ist  demnach 
ohne  eine  mechanisch  eingreifende  technische  Untersuch¬ 
ung  nicht  mehr  möglich. 

Abgesehen  von  diesem  beglaubigten  Bild  meint 
man  in  neuerer  Zeit,  namentlich  nach  Bode’s  Beobacht¬ 
ungen,  Verrocchio’s  Hand  in  dem  vorliandenen  Bildervor¬ 
rat  nachweisen  zu  können,  worüber  bei  der  Bedeutung 
der  Frage  das  Wichtigste  zusammengestellt  werden 
muss.  Am  nächsten  kommt  der  Art  Verrocchio’s  ein 
sonst  dem  Sandro  zugeschriebenes  Bild  mit  dem  „jungen 
Tobias  von  Engeln  geleitet“  (Florenz,  Akademie):  gro߬ 
artig  aufgefaßten,  kräftig  und  zugleicli  zierlich  aus- 
schreiteuden  Figuren  in  einer  schönen,  naturwahren  Land¬ 
schaft.  Dazu  stellen  sich  ein  kleineres  Bild  mit  „Tobias“ 
(London)  und  eine  „Madonna“  (Berlin  n.  104A),  während 
verschiedene  andere  Bilder  in  Berlin,  Frankfurt,  Paris, 
die  bisher  unter  den  Xameii  von  Cosimo  Rosselli,  Filippo 
Lippi,  Granacci,  Peselliuo  gingen,  namenlosen  Mit¬ 
gliedern  der  Werkstatt  Verrocchio’s  zugeschrieben  werden. 
Aus  diesen  Beobachtungen  geht  jedenfalls  soviel  hervor, 
dass  Verrocchio’s  Einfluss  unter  den  Malern  seit  den 
siel)ziger  Jahren  zu  erkennen  ist,  sodann  dass  ihm  ins¬ 
besondere  Sandro,  zu  dem  wir  nun  zurückkehren,  nahe 
gestanden  hat.  Denn  der  „Tobias  mit  den  drei  Engeln“ 
ist  bisher  ohne  Bedenken  für  Sandro’s  Werk  angesehen 
worden,  und  ob  man  bei  der  früheren  Meinung  bleibt 
oder  der  neuen  beipflichtet,  in  beiden  Fällen  spricht  das 
Bild  für  ein  nahes  Verhältnis  zwischen  Verrocchio  und 
Sandro. 


Gegen  diese  ganze  Auffassung  wandte  Morelli  ein, 
dass  Sandro  viel  reicher  gewesen  wäre  als  Verrocchio, 
und  dass  dieser  schon  1484 — 1485  aus  Florenz  fortging. 
Mit  Unrecht!  Denn  es  handelt  sich  hierbei  nicht  um 
Stoff  und  Reichtum  der  Gedanken,  sondern  um  formelles 
Gestalten,  und  als  Verrocchio  Florenz  verließ,  ja  selbst 
früher,  als  Sandro  nach  Rom  ging,  bereits  um  1480  war 
das  alles  geschehen,  und  Sandro  war  fertig.  Seine  Fresken 
in  der  Sixtina  geben  an  lebhafter,  scharfer  Charakteristik 
und  an  heftiger  Bewegung  („Rotte  Korah“)  schon  das 
Äußerste  und  zeigen  außerdem  in  der  Menge  der  Motive, 
in  der  Zahl  der  zu  Gruppen  zusamraengedrängten  Figuren 
und  in  dem  Vorrat  der  Typen  Sandro’s  Vermögen  nach 
seinem  ganzen  Umfange.  Der  Einfluss,  den  Verrocchio 
auf  ihn  übte,  hat  sich  also  um  diese  Zeit  bereits  voll¬ 
zogen.  Sandro  war  um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre 
dreißig  Jahre  alt.  Der  zehn  Jahre  ältere  Verrocchio 
stand  im  engsten  Verhältnis  zu  Lionardo  und  näherte 


sich  als  Künstler  und  als  Lehrer  seiner  Hölie.  Die 
Brüder  Pollajuoli  waren  schon  in  voller  Thätigkeit. 

In  den  Anfang  der  achtziger  Jahre  und  wahrschein¬ 
lich  noch  vor  die  römische  Reise  gehört  Sandro’s  „An¬ 
betung  der  Könige“,  die  man  wohl,  wenn  man  Erfindung, 
Komposition  und  Technik  zusammennimmt,  als  sein  größtes 
Werk  wird  bezeichnen  düifeii.  Darin  spürt  man  schon 
etwas  von  Lionardo’s  Geist.  Zwischen  1475und  Sandro’srö- 
mischen  Aufenthalt  fallen  Ereignisse,  die  ihn  persönlich 
sehr  ergreifen  mussten:  die  Verschwörung  gegen  die 
Medici  1478  und  der  Krieg,  den  Sixtus  IV.  und  der 
König  von  Neapel  gegen  Florenz  führten,  dann  Lorenzo’s 
Reise  zu  Ferrante  nach  Neapel  und  endlich  seine  lang¬ 
erwartete  Rückkehr  im  März  1479.  In  dieselbe  Zeit 
gehören  Sandro’s  reifste  Bilder:  „Pallas  und  der  Cen¬ 
taur“,  „Der  Frühling“,  „Die  Geburt  der  Venus“.  Das 
erste  ist  allegorisch  gedeutet  worden.  Wer  weiß, 
wieviel  Zeitanspielung  hinter  der  schönen  und  an 
und  für  sich  schon  völlig  genügenden  Erscheinung  der 
übrigen  verborgen  ist?  Es  ist  nicht  nur  eine  andere 
Welt  der  Gedanken,  sondern  es  ist  auch  schärfer  durch¬ 
gebildete  und  anspruchsvollere  Form,  was  uns  hier  ent¬ 
gegentritt,  wenn  wir  es  vergleichen  mit  der  Madonna  und 
Engeln  und  mit  der  Art  Filippo’s,  von  der  Sandro  ausge¬ 
gangen  war.  Die  römischeReise  macht  also  einen  Einschnitt, 
und  wir  werden  die  erste  Periode  Sandro’s  in  die  zehn 
Jahre  1470  — 1480  setzen,  wo  er,  abgesehen  von  den  eben 
genannten  Bildern,  seine  besten  Madonnen  und  Engel  in 
ihrer  ruhigen  Schönheit  und  mit  klarer,  reiner  Tempera 
malt.  Dann  kommt  die  Zeit  der  römischen  Fresken. 
Nach  der  Rückkehr  aus  Rom  wird  die  Zeichinrng  auf 
seinen  Tafelbildern  nachlässiger.  Die  Frische  des  Eigen¬ 
händigen  fehlt.  Manchmal  zeigt  sich  sogar  sehr  plump 
die  Handwerksarbeit  der  Gehilfen.  Dass  die  Tafelbilder 
in  Bezug  auf  die  Ausführung  zurückgehen,  sobald  die 
Maler  im  Fresko  thätig  sind,  ist  eine  vielfach  gemachte 
Erfahrung. 

Wichtige  Bilder  aus  dieser  späteren  Zeit  besitzt 
das  Berliner  Museum.  Auf  dem  Rundbilde  mit  der  zwischen 
Engeln  stehenden  Madonna  vor  einer  Rosenhecke  (n.  102) 
entspricht  der  herrlichen  Erfindung  schon  nicht  mehr  ganz 
die  Ausführung.  Bald  darauf  werden  auch  die  Heiligen 
ernster  im  Ausdrucke  und  härter  in  den  Formen,  wie  die 
beiden  Johannes  zu  Seiten  der  „thronenden  Madonna“ 
auf  dem  großen  Breitbilde  (n.  106),  wo  die  Blumen  und 
das  Laubwerk  an  der  prächtigen  Wand  von  Oliven  und 
Palmen  noch  auf  das  sorgfältigste  ausgeführt  sind.  An 
seiner  düsteren  „Grablegung“  (München)  merkt  man 
vollends  schon  die  Stimmung  Savonarola’s.  In  diese 
Zeit  gehören  die  meisten  Werkstattbilder,  während 
andererseits  von  den  bedeutenderen  eigenhändigen  Werken 
keines  mit  Sicherheit  so  spät  gesetzt  werden  kann.  Es 
bestätigt  sich  demnach,  wasVasari  über  Sandro’s  späteres 
Nachlassen  berichtet  hat. 


C.  WEICHARDT,  POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRÜNG.') 


lES  Fluch  uiitersclieidet  sicli  vonso  iiianclieiu 
iin  xAuftrage  eines  Verlegers  geschrieheiieii 
dadurch,  dass  es,  wie  der  Verfasser  in 
der  Vorrede  betont,  wirklich  einmal 
einem  Bedürfnisse  des  Autors  seihst  ent¬ 
sprach,  dasselbe  herauszugehen.  Das 
Buch  ist  Herzenssache  des  xAutors  und  Selbstverlag;  das 
kommt  ihm  zu  gute.  Der  Verfasser  hat  an  dieses 
Lieblingskind  nicht  nur  unendliche  Zeit  und  Mühe  vei- 
wandt,  er  hat  ihm  auch  sein  Gewand  nach  eigenem  Ge¬ 
schmack  zugeschnitten.  Es  ist  eine  persönliche  Note  in 
dem  Werke,  die  erfreut,  weil  sie  bei  wissenschaftlichen 
Werken  immerhin  selten  ist.  FJs  ist  der  erste  Band 
eines  Unternehmens,  welches  das  alte  Pompeji  vor  uusei-en 
Augen  aus  seinen  Trümmern  erstehen  lassen  soll.  Es 
beschränkt  sich  zunächst  auf  die  Eekonstruktion  der 
Tempel  und  ihrer  Umgebung,  aber  hoffentlich  folgen  ihm 
bald  die  Profanbanten,  vor  allem  die  Wohnhäuser,  von 
deren  Wiederherstellung  am  Forum  trianguläre  ein  so 
hübsches  Beispiel  gegeben  ist.  Gezeichnet  und  ge¬ 
schrieben  ist  es  zunächst  für  die,  welche  Pompeji  kennen. 
Man  muss  Pompeji  durchwandert  haben,  nicht  als  Trink¬ 
geld  zahlender  forestiere,  sondern  mit  der  Andaclit  eines 
Kunstfreundes,  mit  Staunen  und  Interesse  an  dieser  einst 
blühenden,  jetzt  in  feierlicher  Euhe  lagernden,  unter¬ 
gegangenen  Welt,  mit  dem  Wunsche,  dieses  alles  einmal 
lebendig  wieder  vor  sich  sehen  zu  können.  Viele 
kommen  freilich  bei  einem  flüchtigen  Besuche  von  Pompeji 
kaum  über  das  Museum  und  seine  Gipsabgüsse  hinaus, 
andere,  die  weiter  Vordringen,  werden  überwältigt  von 
dem  Trümmermeere  und  ermüdet,  weil  sie  nur  Torsi 
vor  sich  sehen. 

Wer  aller  in  stiller  Einsamkeit,  wenn  der  Fremden¬ 
schwarm  sich  verlaufen  hat,  in  diesen  Tempeln  weilte, 
dem  Herrn  Epidius  Rufus,  Marcus  Lucretius  und  allen 
den  anderen  in  ihren  ausgestoiTienen  Palästen  einen  Be¬ 
such  alistattete  und  Raum  für  Raum  durchschreitend 
sich  klar  werden  wollte  über  Anordnung  und  Zweck 
der  öde  ragenden  Wände,  der  wird  mit  dem  Verfixsser 

1)  Rekonstruktionen  der  Temjiel  und  ihrer  üingelmng. 
Leipzig,  18SJ7.  Kommissionsverlag  von  K.  F.  Köhler.  Gr.  Fol. 
128  S.  12  Tafeln  und  15t)  Textb.  (M.  50.) 


den  heißen  Wunsch  empfunden  haben,  dies  alles  in  F'orm 
und  Farbe  einmal  wieder  gleichsam  aulTdühen  zu  sehen, 
der  wird  ihm  Dank  wissen  für  seine  mühevolle  jalire- 
lange  Arbeit.  Vollends  aber  wer  nur  aus  Büchern  übei' 
Pompeji  sich  unterrichten  kann,  wird  aus  Weichardt’s 
Werk  ganz  andere  Eindilicke  von  der  alten  Herrlichkeit 
empfangen,  als  wenn  er  die  Trümmer  in  x\bbildungen 
vor  Augen  hat  und  noch  viel  weniger  als  der  Pompeji- 
wanderer  sich  dieselben  lebendig  machen  kann. 

Weichardt  ging  ursprünglich  zu  seiner  Erholung 
nach  Pompeji  und  malte  hier  in  dieser  farbigen  Trümmer- 
welt,  wie  so  viele  andere,  Aquarelle.  Aber  Weichardt 
ist  Architekt,  und  als  Architekt  suchte  er  bald  aus  dem 
Vorhandenen  auf  das  Verlorene  zu  schließen.  Je  länger 
er  hier  saß,  um  so  lelxendiger  wurde  sein  architektonisches 
Gewissen,  das  von  ihm  Aufschlüsse  über  den  einstigen 
Zustand  der  Bauten  verlangte,  die  er  zunächst  nur  als 
malerische  Ruine  betrachtet.  Je  öfter  er  wiederkehrte, 
um  so  mehr  reizte  ihn  dies  Problem.  Mit  technischen 
Kenntnissen  reichlich  ausgerüstet,  ging  er  hier  sichere!' 
als  die  Buchgelehrten.  Er  baute  sich  das  alte  Pompeji 
nicht  nur  in  Worten  wieder  auf,  sondern  vor  allem  in 
Bildern.  Auf  dieser  Rekonstruktion  in  Zeichnungen  be¬ 
ruht  der  besondere  Wert  des  Buches.  Heute  sind  ja 
eine  ganze  Reihe  von  tüchtigen  Architekten  bemüht, 
mit  ihren  FTichkenntnissen  der  Phantasie  zu  Hilfe  zu 
kommen  und  das  Altertum  uns  wieder  als  Ganzes  zu 
geben.  Diesen  Meistern  wie  Dörpfeld,  Tliiersch,  Adler, 
Durm  u.  a.  m.  verdankt  die  Kenntnis  des  Altertums, 
gerade  wo  es  sich  um  künstlerische  Betrachtungen 
handelt,  ganz  Hervorragendes.  xAn  sie  schließt  sicli  nun 
Weichardt  an.  Aber  man  darf  nicht  fürchten,  dass  er 
darum  ein  nur  den  Faehgenossen  genießbares  Werk  ge¬ 
liefert.  Im  Gegenteil.  Die  malerischen  xAnsichten  der 
wiederhergestellten  Bauten  sind  auch  jedem  Fjaien  ohne 
weiteres  verständlich,  und  im  Texte  vermeidet  er  alle 
trockene  Gelehi'samkeit,  vermeidet  er  klüglich  vor  allem 
die  Häufung  fach  technischer  Ausdrücke,  die  der  Bache 
zwar  einen  gelehrten  Auf[>utz  geben  können,  den  ge¬ 
wöhnlichen  Sterblichen  aber  von  dem  Vei'ständnisse  fei'n- 
halten.  Um  so  häuffgei'  bricht  dafüi'  im  Texte  die  Fi'eude 
und  die  Begeisterung  des  Autors  an  seinei'  xAufgabo 


19S 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


durch,  und  das  sachliche  Referat  wird  durch  gut 
empfundene  Schilderung  der  Landschaft  und  manche 
Evokation  der  hier  umgehenden  Geister  angenehm  belebt. 

Weichardt  hat  naturgemäß  nicht  nur  seine  fach- 
technischen  Kenntnisse  für  die  Rekonstruktion  zu  Rate 
gezogen,  er  hat  nicht  nur  mit  Umsicht  das  vorhandene 
Denkraälermaterial  benutzt,  in  Museen  nach  verschwun¬ 
denen  Stücken  geforscht,  er  kennt  auch  die  einschlägige 
Litteratur  und  baut  seine  Restaurationsversuche  sowohl 
auf  dem  vorhandenen  Material  als  auf  dem  auf,  was 
ältere  Ponii»ejiforscher  zusammengetragen  haben,  und 
was  zum  Teil  nur  in  ihren  Publikationen  nachlebt. 

Noch  eine  dritte  Eigenschaft  lässt  Weichardt  zu 
dieser  Wiederherstellung  besonders  berufen  erscheinen. 
Er  ist  auch  ein  bekannter  Aquarellist.  Ein  A(juarell 
von  ihm  linden  wir  z.  B.  im  Leipziger  Museum,  andere 
waren  auf  früheren  Kunstausstellungen  bekannt  ge¬ 
worden.  Und  dieser  malerische  Blick,  diese  glückliche 
Aiiftässung  der  x\rchitektur  wie  der  Landschaft  ist  hier, 
da  er  in  unfreiwilliger  Muße  malend  leben  musste, 
wohl  bes(in<lerer  Anlass  für  ihn  geworden,  gerade  diese 
Antike  wieder  zu  beleben,  die  mehr  als  strenge  helle¬ 
nische  Werke  einen  malerischen  Reiz  darbieten.  Durch 
die  malerische  Auffassung  seiner  Blätter  werden  die 
Bauten  dem  Beschauer  besonders  lebendig  und  anziehend, 
da  sie  nicht  nur  in  strengen  Konturlinien,  sondern  in 
flotten  Tuschzeichnungen  dargestellt  sind  und  dabei  doch 
die  architektonische  Korrektheit  wahren.  Aus  seinem 
malerischen  Empfinden  her  hat  er  auch  die  Landschaften 
durch  zahlreiche  Figuren  belebt,  die  er  recht  geschickt 
aus  den  an  Ort  und  Stelle  gefundenen  Wandgemälden 
entnommen  und  wieder  in  die  ursprüngliche  Umgebung 
zurückversetzt  hat.  Wenngleich  dabei  einzelne  dieser 
Figuren,  da  sie  auf  ältere  griechische  Vorbilder  teil¬ 
weise  zurückgehen,  im  Kostüm  nicht  streng  historisch 
der  Zeit  völlig  entsprechen,  so  wird  doch  im  wesent¬ 
lichen  ein  natürliches  Bild  der  ehemaligen  Bevölkerung 
in  den  Straßen  und  Tempeln  damit  gegeben. 

Es  bedarf  nach  dem  vorher  Gesagten  nicht  weiter 
der  Erklärung,  dass  dieses  Werk  sichtlich  allen  Tte- 
rechtigten  Anforderungen  entspricht,  und  dass  es  durch 
seine  künstlerische  Behandlung  im  Texte  wie  in  den 
Bildern  reiche  Anregung  allen  denen  verspricht,  die 
entweder  mit  Pompeji  schon  persönlich  vertraut  sind, 
oder  aber  Bekanutschafti  mit  dieser  uns  so  interessanten 
Stadt  machen  wollen. 

Vorausgeschickt  wird  eine  kurze  Erörterung  über 
die  Lage  der  Stadt,  über  die  Gestalt  des  Vesuv  einst 
und  jetzt,  über  das  Wesen  dieses  gespenstigen  wunder¬ 
baren  und  in  seiner  ruhigen  Form  doch  so  schönen 
Berges,  der  allen,  die  am  Golf  von  Neapel  weilten,  als 
der  Punkt  erscheint,  zu  dem  von  überall  her  sich  un¬ 
willkürlich  der  Blick  stets  wendet.  Von  ihm  ging  im 
Jahre  63  n.  Chr.  die  erste  große  Erschütterung  aus,  die 
Pompeji  niederwarf,  von  ihm  im  Jahre  79  jenes  furcht¬ 


bare  Naturereignis,  das  Pompeji,  Herkulaneum  und 
Stabiä  verschüttete  und  so  der  Nachwelt  erhielt. 

Kurz  wird  die  ursprüngliche  Besiedelung  des  Ge¬ 
bietes  durch  die  Osker,  die  Eroberung  durch  die 
Samniter  im  Jahre  420  und  die  sich  entwickelnde, 
von  Hellas  abhängige  reife  und  edle  Kultur  ge¬ 
schildert.  Mit  der  Unterwerfung  durch  die  Römer 
im  Jahre  89,  mit  der  völligen  Besiegung  durch  Sulla 
im  Jahre  80  wird  das  Römertum  an  Stelle  des  Hellenen¬ 
tums  gesetzt.  Pompeji  wird  die  Colonia  Veneria  Cor¬ 
nelia  Pompejanorum.  Aber  die  alte  hellenistische  oskisch- 
samnitische  Kultur  wird  doch  nicht  völlig  verdrängt, 
sondern  verschmilzt  mit  der  der  Römer.  Pompeji  blüht, 
wird  eine  Stadt  von  über  30000  Einwohnern,  der  selbst 
das  Erdbeben  vom  Jahre  63  die  Lebenskraft  nicht 
rauben  konnte,  das  erst  im  Jahre  79  unterging. 

Im  sechsten  Kapitel  behandelt  Weichardt  ein  Thema, 
das  vielleicht  besser  gleich  hier  sich  angereiht  hätte; 
die  Frage  nach  der  Verschüttung  und  der  Wieder¬ 
ausgrabung.  Schon  in  antiker  Zeit  wurden  ja  hier  um¬ 
fangreiche  Nachgrabungen  nach  Wertgegenständen,  nach 
Baustücken,  nach  Statuen  gehalten  und  überdies  alles 
davon  geschleppt,  was  über  der  deckenden  Schicht  von 
Steinen  und  Asche  sich  fand.  Für  den  Wiederhersteller 
ergeben  sich  hieraus  ganz  wesentliche  Schwierigkeiten, 
insotern  vielfach  die  oberen  Teile  der  Gebäude  nur  in 
sehr  geringen  Resten  sich  erhielten.  Es  wird  dann  kurz 
der  Verfolg  der  Ausgrabungen  seit  1748  bis  zum  heutigen 
Tage  behandelt,  und  über  das  Baumaterial,  das  in  ver¬ 
schiedenen  I’erioden  benutzt  wurde,  Aufschluss  gegeben. 
Wenn  die  alten  Osker  in  der  Hauptsache  mit  Sarno- 
kalkstein,  seltener  mit  Lavablöcken  bauten,  wird  später 
neben  Lava  vor  allem  grauer  und  gelber  Tuffstein  von 
Nocera  besonders  für  die  feineren  Gliederungen  verwandt. 
Die  römischen  Architekten  bringen  dann  den  Backstein 
als  Mauerkern,  mit  Marmorverkleidung,  und  für  die 
Gliederung  travertinartigen  Kalkstein. 

Weichardt’s  Wiederherstellung  nimmt  ihren  Anfang 
mit  dem  ältesten  Heiligtum  der  Stadt,  mit  dem  Tempel, 
der  die  Mitte  des  Forum  trianguläre  einnimmt.  Der 
Felsen,  auf  dem  dieser  Marktplatz  lag,  fiel  einst  nach 
dem  Sarnusthale  hin  steil  ab,  so  dass  das  Niveau  des 
Mai’ktplatzes  etwa  16  m  ülier  der  Thalsohle  lag.  Weichardt 
belegt  diese  Thatsache  außerordentlich  sorgfältig,  was 
um  so  notwendiger,  da  man  heute  das  kaum  bemerkt, 
und  die  überraschend  schöne  Lage  des  griechischen 
Tempels  auf  der  freien  Höhe  nicht  ahnt,  da  man 
ihn  ja  nur  vom  Forum  selbst  aus  betrachtet.  Vom 
Forum  westlich  lagen  einige  elegante  Villen  am  Rande 
des  Felsens,  die  nach  dem  Thale  hin  terrassenartig  sich 
abbauten.  Weichardt  giebt  von  diesen  sehr  interessante 
Rekonstruktionen,  welche  die  pikante  und  geschmackvolle 
Anlage  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  widerspiegeln. 

Bevor  er  zur  Schilderung  der  Bauten  auf  dem 
Forum  trianguläre  gelangt,  klärt  ei’  uns  zunächst  über 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


199 


die  Umgrenzung  dieses  Platzes  auf.  Der  liocliliegende 
Fels  war  in  alter  Zeit  mit  einer  Mauer  umgeljen,  während 
von  Osten  her,  vom  Stabianer  Tlior,  die  tiefer  liegende 
Stadtmauer  lieranzog  und,  wie  Weicliardt  darlegt,  an  der 
Südostecke  des  Forum  trianguläre  sich  so  verbreiterte. 


Säulenhalle  des  Forum  schließt,  Weicliardt  zufolge,  hier 
mit  einem  Pfeiler  ab,  was  wohl  berechtigt  ersclieint. 

Büir  die  Wiederherstellung  des  Tempels  auf  dem 
Forum  waren  nur  wenige  Anhaltspunkte  gegeben.  Er¬ 
halten  ist  der  Quaderunterbau  von  fünf  Stufen,  einige 


Der  griechische. Tempel  auf  dem  Forum  triaugulare  in  Fomi>eji.  (Aus  dem  Werke  von  Weicliardt:  Pompeji.) 


dass  ein  terrassenartiger  Übergang  zu  dem  höher  liegenden 
IMrum  sich  ergab.  Diese  Lösung,  abweichend  von  den 
bisherigen,  wird  durch  Skizzen  erläutert  und  sehr  wahr¬ 
scheinlich  gemacht.  Dass  Treppen  hier  vom  Forum  hinali- 
führten,  haben  auch  frühere  Wiederhersteller  bereits 
erkannt,  Weicliardt  stellt  ihre  Lage  genauer  fest.  Die 


dorische  Kapitelle  und  Säuleiitrommeln,  endlich  ein 
W'assersiieier  und  Bruchstücke  der  bemalten  Rinnleiste 
aus  Thon.  Weicliardt  gelingt  es,  unter  Zuhilfenahme 
gleichzeitiger  sizilischer  und  anderer  Tempel,  den  Bau 
wieder  herzustellen.  Darnach  hatte  der  J’empel  elf 
Säulen  an  der  Laugseite  und  merkwürdiger  Weise  sieben 


200 


POMPE.Il  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


Säulen  an  der  Front.  Diese  ungleiche  Säulenzalil  der 
Teinpelfront  ist  ja  nicht  ohne  Beispiel,  sie  weist  aher 
Jedenfalls  hier  auf  sehr  weit  zurückliegende  Entstehung 
des  Teinjiels  hin.  Weichardt  erklärt  sie  aus  dem  ursprüng¬ 
lichen  Holzl)austile,  der  in  der  Frontmitte  einer  Unter¬ 
stützung  des  Architravs  bedurfte,  da  gerade  liier  das  den 
Dachfirst  tragende  horizontale  Auflagerholz  ruhte,  ln  der 
Mitte  vor  der  Tempelfront  stand  in  der  Kaiserzeit  ein 
kleiner  Bau,  von  dem  der  Unterbau  noch  erhalten  ist 
und  der  wohl  an  Stelle  eines  älteren  aus  der  Zeit  der 
Temiielgründung  stammenden  trat.  Dieser  Unterbau 
vor  der  Frontmitte  war  hier  erklärlich,  da  der  Zu¬ 
gang  zu  der  siebensäuligen  Front  ohnehin  nicht  in 
der  Mittelaxe  des  Tempels  genommen  werden  konnte. 
^Feichardt  vermutet  in  diesem  älteren  Bau  einen  Altar 
oder  ein  Grahnial ;  ersteres  ist  wahrscheinlicher.  Tempel¬ 


wird  schwerlich  eine  Entscheidung  getroffen  werden 
können.  Aufiallend  ist  hei  Weichardt  das  Profil  des 
Echinus  und  die  darunter  angegebenen  Ringe,  ferner 
dass  Weichardt  auf  einem  Blatte  den  Säulenfuß  auf 
einer  kleinen  Platte  aufsitzen  lässt,  die  auf  anderer 
Aufnahme  fehlt. 

Das  Forum  trianguläre  war  an  zwei  Dreieckseiten 
von  dorischen  Säulenhallen  eingefasst,  die  noch  aus  vor¬ 
römischer  Zeit  stammten.  An  der  Nordseite  ist  der 
Dreieckwinkel  abgestumpft  und  jonische  Säulen  vor¬ 
gelegt,  die  Weichardt  als  I'roanos  (richtiger  wohl  als 
I’ortikus)  bezeichnet.  Mit  Recht  hebt  dann  Weichardt 
den  imposanten  Eindruck  hervor,  den  der  durch  diesen 
Portikus  Eintretende  empfangen  musste.  Beiderseits 
verdeckten  die  Säulengänge  alle  sonstigen  Bauten.  Nur 
der  wuchtige  dorische  Tempel  lag  unmittelbar  vor  ihm, 


Ruine  des  Juriter-Tempels  in  Pompeji  (s.  die  Rekonstruktion  S.  201).  (Ans  dem  Wei’ke  von  C.  Weichardt;  Pompeji.) 


stufen  und  Säulenschäfte  bestanden  aus  Tuff,  die  Kapi¬ 
telle  aus  Kalkstein,  wie  auch  der  Oberbau  wohl  aus 
verputztem  Kalkstein  errichtet  war.  Die  Rinnleiste,  zu 
deren  Ergänzung  das  Geloerschatzhaus  von  Olympia  und 
das  Gebälk  vom  Tempel  C  in  Selinunt  herangezogen 
wird,  scheint  richtig  so  ergänzt  zu  sein,  dass  der 
Wasserspeier  der  Langseite  des  Tempels,  die  beiden 
anderen  Bruchstücke  aber  der  Traufrinne  des  Giebels 
angehören. 

Mit  diesen  wenigen  Hilfsmitteln  stellt  Weichardt 
das  Bild  des  wuchtigen  aber  durch  seine  Bemalung  leb¬ 
haft  wirkenden  alten  Tempels  uns  wieder  her.  Er  hat 
freilich  schon  in  Zeiten  der  römischen  Republik  einem 
kleineren  Tempel  eben  von  geringerem  Umfänge  weichen 
müssen,  das  sich  auf  den  Fundamenten  des  älteren 
größeren  Tempels  erhoben.  Ob  hier,  wie  Nissen  meint, 
wirklich  die  Venus  pompejana  verehrt  wurde,  darüber 


dahinter'  Ijreitete  sich  das  prächtige  Panorama  der  Sarnus- 
El)ene  mit  dem  Berghintergrund  und  dem  funkelnden 
Äleere  aus.  Moderne  Baumeister  hätten  jedenfalls  die 
Halle  an  allen  drei  Seiten  umgeführt  und  so  den  wunder¬ 
baren  Blick  üljer  die  niedrige  Burgmauer  in  die  Ebene 
hinaus  vernichtet.  Weichardt  hebt  dann  noch  hervor, 
dass  auf  dem  Forum  keine  strenge  Achsensjunmetrie 
herrscht,  der  Tempel  zu  keiner  der  Hallen  parallel  läuft, 
der  kleine  Bau  vor  dem  Tempel  )iicht  in  der  Tempel¬ 
achse  liegt  und  der  davor  liegende  Rundtempel  wiederum 
nach  keiner  dieser  Achsen  orientirt  ist.  Der  erwähnte 
Rundbau  vor  der  Tempelfront  ist  ein  aus  früher 
römischer  Zeit  stammender  dorischer  Bau,  der  über 
einem  wohl  von  Alters  her  hier  existirenden  Brunnen¬ 
schacht  errichtet  wurde,  und  der  auf  Giund  alter  Bruch¬ 
stücke  auch  bezüglich  des  Architravs  und  Gesimses  sich 
soweit  wieder  hersteilen  ließ,  dass  nur  das  Dach  und 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  8. 


26 


Weichardt’s  Rekonstruktion  des  Jupitertempels,  der  Triumphbögen  und  Forurashallen,  Pompeji. 


202 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


sein  Sclimuck  Erfindung  des  Architekten  bleibt.  So  ist 
der  älteste  Tempelraum  Pompejis  in  seiner  wuudervmllen 
Grt:ße  und  Einfachheit  inmitten  der  üppigen  Landschaft 
und  der  farbenreichen  Profaubauten  und  Tempel  von 
V’eichardt  im  Bilde  wiedererrichtet,  und  was  heute 
als  etwas  öde  Stätte  erscheint,  ist  wieder  lebendig. 

Weichardt  wendet  sich  dann  dem  Apollotempel  zu, 
den  heute  der  von  der  Porta  marina  hereingeschleppte 
Fremdling  zuerst  zu  betreten  und  in  der  Regel 
noch  aufmerksam  zu  betrachten  pflegt.  Während  der 
griechische  Tempel  frei  auf  dem  Forum  lag,  tritt 
man  hier  durch  ein  Thor  in  den  von  Säulen  um¬ 
gebenen  Hof.  in  dessen  Hintergrund  der  Tempel  mit 


seiner  Freitreppe  liegt.  'Es  wird  zunächst  die  den  Hof 
umgebende  Säulenhalle  mit  ;ihren  48  Tufl'säulen  rekon- 
struirt.  Sie  hat  Wandlungen  durchgemacht.  In  vor¬ 
römischer  Zeit  waren  es  jonische  Säulen,  über  denen 
ein  dorischer  Triglyphenfries  hinlief.  Da  der  Architrav 
durch  zw’ei  Balken  gebildet  wurde,  über  denen  Fries 
und  Gesims  aufgemauert  waren,  so  ist  von  letzteren 
wenig  erhalten.  Dass  eine  zweite  obere  Säulenhalle 
darüberstand,  lässt  sich  aber  noch  aus  den  Treppen¬ 
anlagen  in  der  hinteren  Nordostecke  des  Tempelhofes, 
sowie  aus  den  Standspuren  von  Säulenbasen  auf  der 
Oberfläche  der  Gesimsstücke  uachweisen.  Nach  dem 
Erdbeben  von  68  flel  wohl  die  obere  Halle  fort,  in  der 
unteren  wurden  die  Säulen  mit  Stuck  verkleidet  und 


korinthische  Kapitelle  angefügt.  Mazois  sah  noch  Reste 
dieser  Verkleidung,  die  heute  verschwunden  ist  und  sich 
nur  noch  an  den  überarbeiteten  Voluten  der  jonischen 
Kapitelle  erkennen  lässt.  In  der  Rekonstruktion  hat 
Weichardt  in  einer  Zeichnung  diesen  jonischen  Kapi¬ 
tellen  nach  allen  vier  Seiten  die  gleiche  Form  gegeben, 
während  ja  in  der  Regel  je  zwei  Seiten  gleichartig  ge¬ 
bildet  wurden.  Leider  ist  nicht  ersichtlich,  wie  weit 
diese  Formengebung  auf  dem  Originalbefund  beruht. 
Aus  der  in  ziemlicher  Entfernung  von  der  Säulenreihe 
im  Plattenbelag  des  Hofes  gearbeiteten  Regenrinne 
schließt  Weichardt  mit  Recht  auf  eine  weitere  Aus¬ 
ladung  des  Gesimses  der  Säulenhalle,  die  wohl  durch 


die  Absicht,  im  Hofe  vor  den  Säulen  Statuen  aufzu¬ 
stellen,  bedingt  war.  Von  diesen  Statuen  ist  nur  noch 
eine  Herme  an  Ort  und  Stelle  erhalten,  die  fünf  übrigen 
aber  im  Museum  zu  Neapel  nachweisbar,  so  dass  die 
Halle  mit  ihrem  Schmuck  vollständig  wiederhergestellt 
werden  konnte.  Der  korinthische  Tempel,  den  diese 
Halle  umgiebt,  zeigt  die  charakteristische  italische  Form 
der  tiefen  Vorliallen  und  kurzen  Cella.  Es  war  ein 
von  28  Säulen  umgebener  Peilpteraltempel,  zu  dem  eine 
breite  Freitrepiie  von  14  Stufen  hinaufführte.  Vor  der 
Treppe  befand  sich  wie  gewöhnlich  im  Freien  der  Altar, 
links  von  ihm  auf  einer  Säule  eine  Sonnenuhr.  Auf 
der  rechts  davon  befindlichen  Lavabasis  vermutet 
Weichardt  wohl  mit  Recht  einen  ehernen  Opfertisch. 


Ruine  des  Nerobogens.^. (Nordseite.) 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


203 


Die  Säulen  von  Tuff  waren  mit  Stuck  verputzt  und 
bemalt.  Von  Gesims  und  Dach  ist  nichts  erhalten,  doch 
konnte  es  unschwer  nach  analogen  Bauten  rekonstruirt 
werden.  Im  Inneren  finden  sich  noch  die  große  Basis 
der  Apollostatue,  zur  linken  der  Omphalos  und  auf  dem 
Mosaikfries  des  Fußbodens  eine  oskische  Inschrift,  welche 
die  Weihung  des  Tempels  an  Apollo  bezeugt.  Die 
Cellawand  war  verputzt  und  bemalt.  So  waren  Anhalts¬ 
punkte  genug  gegeben,  um  diesen  reizenden  kleineren 
Tempelhof  wieder  aufzubaueu,  der  mit  seiner  kühlen 
Halle  sich  wie  eine  große  Peristylanlage  ausnimmt. 
Weichardt  giebt  eine  sehr  wirkungsvolle  Durchsicht  von 
der  Osthalle  zur  Westhalle,  die  neben  der  Ansicht  des 
heutigen  Zustandes  so  recht  geeignet  ist,  uns  den  Wert 
seiner  Rekonstruktion  vor  Augen  zu  führen. 

Die  Ostseite  des  Apollotempels  grenzt  unmittelbar 
an  den  Hauptmarkt  der  Stadt  Pompeji.  Es  mag  ein 
Genuss  für  den  Künstler  gewesen  sein,  diesen  prächtig 
wirkenden,  vornehmen,  weiten  und  offenen 
Festsaal  mit  seinen  Tempeln,  seinen  Thoren 
und  Säulenhallen  uns  wieder  herzustellen, 
der  selbst  heute  in  seinen  Trümmern,  alles 
bildlichen  Schmuckes  beraubt,  noch  durch 
seine  schönen  Verhältnisse  einen  ele¬ 
ganten  Eindruck  hinterlässt.  An  drei 
Seiten  führten  offene  Säulengänge  um 
den  Platz,  über  die  stattliche  Bauten 
herüberblickten.  Zahllose  Statuen  und 
Eeitergestalten  schmückten  den  wohl¬ 


Rekonsti'uktion  des  Nerobogens  nach  Weichardt. 


Kekoiistruktlou  des  sog.  Nerobogens  nach  Rossini. 

gepflasterten  Raum,  der,  nachdem  aller  Markt¬ 
verkehr  in  die  Nebengebäude  verbannt  war,  den 
Eindruck  einer  herrlichen  Eesthalle  unter  offenem 
Himmel  machen  musste. 

Die  Säulenhallen  hatten  im  Laufe  der  Zeit 
mehrfache  Wandlungen  erfahren.  In  älteren  Zeiten 
waren  es  dorische  Tuffsäulen,  die,  mit  Stuck  über¬ 
zogen  und  bemalt,  einen  einfachen  x4rchitrav  und 
Fries  trugen.  Im  Beginne  der  Kaiserzeit  wurde 
ein  Neubau  der  Halle  gleichfalls  im  dorischen 
Stile  vorgenommen.  Endlich  kurz  vor  der  Zer¬ 
störung  begann  man  diese  einfache  Anlage  vor 
dem  östlich  gelegenen  Macellum  umzubauen  und 
zwar  im  korinthischen  Stile. 

Weichardt  rekonstruirt  einen  Durchblick  vom 
Inneren  dieser  prächtigen  korinthischen  Säulen¬ 
halle,  die  eine  obere  Säulenordnung,  aber  keine 
Zwischengeschossdeeke  trug,  vorüber  an  der 
Tempelfront  bis  zur  gegenüberliegenden  Halle, 
der  außerordentlich  reizvoll  in  seiner  Wirkung 
ist,  da  auch  Statuen  und  die  zwischen  den  oberen 
Säulen  frei  stehenden  Weihegeräthe  zur  Belebung 
herangezogen  sind.  Der  den  Platz  beherrschende 
Tempel  war  dem  Jupiter  geweiht,  wie  aus  einer 

2(1* 


204 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG 


JVeilieinsclirift  her  vergeht.  Es  war  ein  korinthischer 
Tempel,  in  der  Anlage  wie  der  Apollotempel  mit  tiefer 
Vorhalle,  aber  nicht  peripteral.  d.  h.  ohne  die  umlaufende 
Säulenreihe  um  die  Cella.  Das  Innere  war  durch  zwei 
S.äuleureihen  in  ein  breites  Mittelschiff  und  zwei  schmale 
Seitenschiffe  geteilt.  Der  hohe  Sockelbau  für  die  Götter¬ 
bilder  ist  in  der  Cella  heute  noch  erhalten.  Der  Front 
war  zunächst  ein  breites  Podium  vorgelegt,  zu  dem 
zwei  Seitentreppen  hinaufführten  und  das  den  Altar  trug; 
von  ihm  fühi’te  eine  Freitreppe  zur  Tempelvorhalle. 
Auch  hier  fehlt  von  Gebälk  und  Giebel  jede  Spur,  nur 


Öffnungen  besaßen,  das  nötige  Licht  zuzuführen,  darf 
wohl  nicht  ohne  weiteres  eine  Hypäthralanlage  ver¬ 
mutet  werden. 

Den  nordöstlichen  Abschluss  des  Forum  Itildete 
der  stattliche  sogenannte  Triumphbogen  des  Nero,  der 
allerdings  fälschlich  auf  Grund  einer  Inschrift  dem 
Kaiser  Nero  zugeschrieben  wurde,  was  Mau  widerlegt 
hat.  Die  Wiederherstellung  diese  Triumphbogens  haben 
bereits  Mazois  und  Rossini  versucht.  Hier  giebt  Weichardt 
eine  sehr  interessante,  davon  abweichende  Lösung,  die 
aber  durchaus  das  Richtige  zu  treffen  scheint,  da  sie 


Ruine  des  Tempels  der  Fortuna  Augusta.  (Rekonstruktion  s.  den  Lichtdruck  am  Schluss  des  Heftes.) 


von  den  Säulen  sind  Reste  erhalten;  doch  war  der  Bau, 
soweit  erhalten,  verputzt,  also  auch  bemalt.  Für  seine 
Rekonstruktion  hat  Weichardt  angenommen,  dass  er 
nach  63  wieder  aufgebaut  wurde,  so  dass  er  neben  dem 
korinthischen  Teile  der  Säulenhalle  auf  der  Zeichnung 
dargestellt  werden  durfte.  Ob  der  Tempel,  wie  Weichardt 
annimmt,  eine  Hj^päthralanlage  besaß,  ist  nicht  zu  ent¬ 
scheiden,  hat  aber  nach  den  neueren  Untersuchungen 
über  derartige  Anlagen  nicht  viel  Wahrscheinlichkeit 
für  sich.  Die  mächtige  von  Weichardt  dargestellte  Thür 
würde  übrigens  hinreichende  Beleuchtung  für  die  Zwecke, 
denen  die  Cella  geweiht  war,  ergeben  haben,  und  nur 
um  den  Kellerräumen,  die  nach  dem  Cellafußboden  hin 


auf  genauer  Beachtung  der  erhaltenen  Reste  beruht, 
und  weniger  einem  allgemeinen  Bogenschema  folgt.  Er¬ 
halten  ist  der  Backsteinmauerkern,  zwischen  zwei  breiten 
Pfeilern  eine  überwölbte  Durchfahrt  (Abb.  S.  202).  In  den 
Pfeilern  sind  rechteckige  Nischen  ausgetieft.  Von  der 
Marmorbekleidung  sind  an  der  Nordseite,  außer  einem 
kräftigen  Sockel,  Reste  zweier  Marmorsäulen  erhalten, 
welche  die  linke  Nische  flankiren;  zwischen  ihnen  ein 
Sockelglied,  rechts  von  der  Säulenbasis  ein  niederer 
Pilasterfuß,  der  zu  dem  die  Durchfahrt  rahmenden 
Pilaster  gehörte.  Mazois  sah  noch  die  Reste  des 
Pilasterkapitells  und  der  Bogenumrahmung  und  zeichnete 
sie.  Die  Nischen  nach  der  Forumseite  enthielten  wohl 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


•205 


Statuen,  nach  der  anderen  Seite  Brunnenanlagen,  wie 
aus  Vorgefundenen  Leitungsröliren  liervorgeht. 

Mit  diesen  Mitteln  rekonstruiren  Mazois  und  Rossini 
den  Triumphbogen  ähnlich  dem  Titusbogen  (Abb.  S.  203). 

Die  Säulenreste  aber  lassen,  wie  Weichardt  nach¬ 
weist,  nach  ihren  Abmessungen  sich  höchstens  zur  Um¬ 
rahmung  der  Nischen,  resp.  als  Träger  des  Sturzes  über 
der  Nische  verwenden,  nicht  als  Träger  eines  über  dem 
Bogen  durchlaufenden  Gesimses,  selbst  nicht  in  der  von 
Mazois  gewählten  Lösung.  Den  Bogen  trugen  die  die 
Durchfahrt  flankirenden  Pilaster. 

Eine  ähnliche  Disposition  finden  wir  an  der  Porta 
maggiore  in  Rom  Diese  Rekonstruktion  dürfte  im 
Prinzip  das  Richtige  treffen.  Ebensowenig  ist  gegen 
die  Annahme  einer  ursprünglich  vorhanden  gewesenen 
hohen  Attika  mit  Inschrifttafel  und  einer  Basis  für  die 
Reiterstatue  einzuwenden.  Die  neben  der  Inschrifttafel  an¬ 
gebrachten  Reliefs  wie  die  Eckkrönungen  der  Attika  sind 
natürliche,  aber  frei  beigefügte  Ergänzungen  (Abb.  S.  203). 

Sodann  unterzieht  Weichardt  das  Relief  im  Hause 
des  L.  Cäcilius  Jucundus  einer  Kritik.  In  diesem 
Hause  befindet  sich  an  einem  Larenaltare  ein  Marmor¬ 
relief,  das  die  heutigen  Ciceroni  als  eine  Darstellung 
des  Jupitertempels  und  seiner  Umgebung  auslegen.  Zu¬ 
nächst  ist  das  Relief  so  flüchtig  und  dilettantisch  ge¬ 
arbeitet,  dass  vielleicht  überhaupt  nicht  an  eine  Dar¬ 
stellung  eines  bestimmten  Gebäudes  in  Pompeji  dabei 
zu  denken  ist.  Hat  aber  der  Bildhauer  ein  solches  vor 
Augen  gehabt,  dann  gewiss  nicht  die  sechssäulige.  Front 
des  Jupitertempels,  sondern,  wie  Weichardt  nachweist, 
den  nahen  Tempel  der  Fortuna  Augusti,  neben  dem  sich 
gleichfalls  ein  Triumphbogen  findet,  überraschend  ist 
die  Nebeneinanderstellung  einer  Rekonstruktion  jenes 
Fortunatempels  durch  Gell  mit  diesem  Reliefbilde.  Gell 
kannte  das  Relief  noch  nicht,  kann  also  seine  Rekonstruk¬ 
tion  nicht  im  Anschluss  an  dasselbe  gemacht  haben. 
Trotzdem  ist  die  Ähnlichkeit  zwischen  beiden  auffallend. 

Vermutlich  darf  aber  das  Relief  überhaupt  nicht 
für  die  Rekonsti’uktion  eines  bestimmten  Tempels  ver¬ 
wandt  werden,  da  es,  wie  die  Säulendarstellung  aus¬ 
weist,  vollständig  frei  gebildet  ist. 

An  der  Ostseite  des  Forum  befindet  sich  in  einem 
Hofe  der  früher  fälschlich  als  Merkurtempel  bezeichnete 
Tempel  des  Vespasianus.  Wie  Mau  nachweist  ist  er 
erst  nach  63  erbaut  und  war  79,  wenigstens  in  der 
Hofdekoration,  noch  nicht  vollendet.  Der  Eintritt  zum 
Hofe  erfolgt  durch  eine  Säulenhalle  an  der  Eingangs¬ 
seite,  von  der  ein  Gesimsstück  und  Säulenreste  erhalten 
sind.  Die  drei  übrigen  Seiten  des  Vorhofes  zeigen  keine 
Säulenhallen,  sondern  einfach  architektonisch  dekorirte 
Wände,  an  denen  der  Wechsel  des  dreieckigen  und  des 
Flachbogengiebels  auffällt.  Diese  Wände  waren  bemalt. 
Vor  dem  Tempel  befindet  sich  der  bekannte,  wohlerhaltene 
Altar  mit  den  Marmorreliefs,  die  auf  der  Vorderseite 
die  Darstellung  eines  Opfers  vor  dem  Vespasian-Tempel 


geben;  ein  Podest  ist  dem  Tempel  vorgelegt,  zu  dem 
von  den  Seiten  des  Tempels  her  beiderseits  neun  Stufen 
hinaufführen.  Mazois  giebt  die  Zeichnung  von  zwei  Bruch¬ 
stücken,  einem  friesartigen  Stücke  mit  Akanthus-Ranken- 
band  und  einem  Pilasterkapitell  mit  Delphinen  und 
Rudern.  Mazois  benutzt  die  Friesstücke  zur  Rekon¬ 
struktion  des  Tempelfrieses.  Weichardt  hat  die  Original¬ 
stücke  der  Zeichnung  im  Museum  zu  Neapel  wieder  ent¬ 
deckt  und  dabei  die  merkwürdige  Bemerkung  gemacht, 
dass  das  angebliche  Friesstück  in  Wirklichkeit  ein  Teil 
der  Brüstungsmauer  des  Podiums  ist,  so  dass  er  dieses 
Podium  korrekt  wiederherstellen  konnte.  Vom  Cellabau 
ist  wenig  erhalten,  doch  lässt  sich  aus  der  Stärke  des 
Sockels  der  Eckpilaster  schließen,  dass  diese  mit  15  cm 
starken  Marmorplatten  bekleidet  waren.  So  ist  dieser 
Tempel  mit  seinen  einfachen  Hofwänden  und  sehr 
schlichten  Anlagen  zwar  neben  dem  prachtvollen  Jupiter¬ 
tempel  bescheiden,  aber  der  Eindruck  des  farbenstrahlenden 
Baues  in  dem  engen  Hofe,  so  ganz  abweichend  von  dem, 
was  die  hellenische  Kunst  mit  ihren  säulenumgebenen 
Tempeln  anstrebte,  ist  doch  eigenartig  und  wirkungs¬ 
voll,  wie  aus  der  Rekonstruktion  auf  Weichardt’s  Tafeln 
hervorgeht.  Ja,  in  seiner  Weise  muss  er  einst,  trotz 
beschränkter  Verhältnisse,  überraschend  gewirkt  haben. 
Die  kleinen  Verschiebungen,  welche  durch  die  nicht 
genau  rechtwinklige  Form  des  Grundstücks  sich  ergaben, 
verliehen  ihm  noch  einen  besonderen  malerischen  Reiz, 
und  nirgends  so,  wie  hier,  bedauert  man,  dass  es  Weichardt 
nicht  möglich  war,  seine  interessante  Rekonstruktion 
auch  farbig  zu  reproduziren. 

An  malerischer  W’irkung  übertraf  den  Vespasian- 
tempel  wohl  noch  der  Isistempel,  der  freilich  dem  strenger 
urteilenden  Auge  des  Architekten  durch  seine  Willkür 
und  Maßlosigkeit  in  Architektur  und  Ornamentinmg 
etwas  unsympathisch  sein  muss,  eine  Empfindung,  die 
sich  auch  in  Weichardt’s  Ausführungen  spiegelt.  Andrer¬ 
seits  ist  diese  Freiheit,  diese  stark  malerische  xlnlage 
doch  erheiternd  und  bei  einem  antiken  Bau  doppelt  an¬ 
ziehend.  Dazu  kommt,  dass  gerade  der  Isistempel  ver- 
hältnismäßig  gut  erhalten  ist,  obwohl  er  nach  63  auf 
Kosten  eines  Knaben  sichtlich  eilfertig  und  weniger 
solid  von  Neuem  aufgebaut  wurde. 

Die  unorganisch  der  Cellawand  angegliederten  kleinen 
Ädikulen,  der  nach  Weichardt’s  Annahme  das  Giebel¬ 
dach  der  Vorhalle  überragende  Cellabau,  das  kleine 
bunte  Purgatorium  im  Hofe,  gaben  dem  Tempel  einen 
etwas  fremdländischen  Charakter.  Ebenso  der  unmittel¬ 
bar  auf  den  Säulen  auflagernde  ornamentirte  Fries.  Das 
Vollbild  bei  Weichardt  ist  mit  einer  kleinen  novelli¬ 
stischen  Scene  staffirt,  offenbar  die  Opfergabe  des 
6  jährigen  Stifters  unter  Assistenz  seiner  Eltern  dar¬ 
stellend. 

Zu  der  bei  dem  Tempel  gefundenen  Isisstatue  sei 
bemerkt,  dass  sie  wohl  nicht,  wie  Weichardt  annimmt, 
auf  Bekleidung  mit  Mantel  berechnet  war,  da  ja  das 


•206 


POMPEJI  VOR  DER  ZERSTÖRUNG. 


dargestellte  Kostüm  annähernd  der  ägj^ptischeu  Isis¬ 
tracht  entspricht,  und  der  hier  absichtlich  archaisirende 
Künstler  (vgl.  das  Auftreten  mit  gleichen  Sohlen)  doch 
wohl  die  ägyptischen  Originalstatuen  nachahmen  wollte. 

Der  Tempel  der  Fortuna  Augusti  weicht  von  den 
früheren  darin  ah,  dass  er  frei  auf  dem  Eckgrundstiick 
an  einer  der  belebtesten  Straßenkreuzungen  lag,  nicht 
in  einem  Hofe. 

Auch  hier  ist  leider  wenig  erhalten,  und  die  Kekon- 
struktion  wurde  damit  schwierig.  Der  Tempel  hatte 
wieder  eine  Cella  mit  vorgelegter  tiefer  Säulenhalle. 
Die  jetzt  an  der  Thür  vermauerten  Pilasterreste  ver¬ 
weist  Weichardt  mit  Eecht  an  die  Ecken  der  Cella¬ 
vorderwand.  Da  Architrav,  Fries  und  Giebel  fehlen, 
so  musste  hier  frei  ergänzt  werden. 

Nahe  dem  Fortnnatempel  liegt  zur  Linken  ein 
kleiner  Triumphbogen,  den  Weichardt,  da  außer  dem 
Sockelfuß  und  der  Andeutung  zweier  Wasserbecken 
Schniuckreste  nicht  erhalten,  frei  nach  dem  Bogen 
rekonstruirt,  der  auf  dem  oben  erwähnten  Eelief  des 
L.  Cäc.  Jucundus  sich  findet.  Als  sicher  darf  wohl  die 
Krönung  dieses  Bogens  durch  die  Eeiterstatue  des 
Neai)ler  Museums  gelten,  die  als  Nero  oder  Caligula 
bezeichnet  wird,  von  der  aber  Weichardt  nach  weist, 
dass  sie  jedenfalls  keinen  dieser  beiden,  eher  noch 
Claudius  darstellt. 

Der  Fortunatempel  lag  frei  an  der  Kreuzung  zweier 
der  belebtesten  und  vornehmsten  Straßen.  So  inter¬ 
essant  die  malerischen  Einblicke  in  die  Höfe  des  Apollo 
und  Vespasiantempels,  so  feierlich  der  Blick  auf  das 
Forum,  so  fesselnd  ist  das  Bild,  welches  Weichardt  von 
diesem  Tempel,  seiner  Umgebung,  von  dem  Anblicke 
entwirft,  den  er  einst  in  seiner  begünstigten  Lage  ge¬ 
boten.  Wer  die  Trümmer  durchforscht,  geht  wohl  meist 
mit  dem  Gefühl  davon,  dass  diese  Tempel,  abgesehen 
vom  griechischen  und  Isisterapel,  sich  allzusehr  gleichen. 
Stets  die  gleiche  fast  quadratische  Cella,  die  tiefe  Säulen¬ 
vorhalle,  die  Freitreppe  vorgelagert.  Erst  aus  Weichardt’s 
Buche  erkennen  wir,  wie  mannigfaltig  einst  durch  Lage 
und  Umgebung  die  scheinbar  monoton  sich  wiederholenden 
Anlagen  waren,  gewinnen  wir  das  rechte  Verständnis 
für  die  Kunst  der  Architekten  von  Pompeji,  deren  Werke 
uns  ein  nachgeboi'ener  Kollege  hier  mit  gliicklichem 
Verständnis  und  gutem  Geschmacke  anschaulich  macht. 

Der  letzte  der  Tempel  von  Pompeji  ist  der,  offiziell 
Äskulaptempel  genannte,  der  dem  Jupiter,  in  der  letzten 
Zeit  wohl  provisorisch  der  kapitolinischen  Göttertrias 
geweiht  war.  Stark  zerstört,  lässt  er  sich  nur  ver¬ 
mutungsweise  wieder  hersteilen.  Weichardt  tritt  für 
eine  Anordnung  der  Säulen  der  Vorhalle  ein,  wonach, 
wie  beim  griechischem  Tempel  vom  Forum  trianguläre, 
hier  in  der  Front  eine  unpaarige  Säulenreihe  gestanden 
habe,  und  unterstützt  diese  Hypothese  recht  gut. 
Jedenfalls  wird  man  diese  wieder  auferstandenen  Tempel 
in  Weichardt’s  anziehenden  Bildern  nicht  betrachten 


können,  ohne  zur  Erkenntnis  zu  kommen,  wie  ein  fach¬ 
männischer  Bericht  uns  über  diese  Trümmerwelt,  ihre 
einstigen  Eeize  und  Schönheiten,  ganz  anders  Aufschluss 
giebt,  als  alles  Umherwandern  in  jener  toten  Welt.  Es 
wäre  dringend  zu  wünschen,  dass  der  Künstler  die  nötige 
Teilnahme  und  Unterstützung  findet,  um  das  mit  so  großen 
persönlichen  Opfern  begonnene  Werk  fortführen  zu  können. 

AVie  aus  dem  Vorstehenden  ersichtlich,  handelt  es 
sich  nicht  um  Herstellung  gefälliger  Bilder,  wie  sie  ein 
phantasievoller  Maler  etwa  schafft.  Neben  die  Eekon- 
struktion  stellt  Weichardt  stets  eine  Originalaufnahme 
des  heutigen  Zustandes,  vom  gleichen  Punkte  aus  auf¬ 
genommen,  unter  Beifügung  der  nacliweisbaren  Details. 

Mit  großer  Gewissenhaftigkeit  jeden,  aucli  den 
kleinsten  erhaltenen  Eest  prüfend,  schafl’t  er,  immer  dem 
urkundlichen  Material  folgend,  soweit  sich  eben  solches 
eruiren  ließ,  seine  AViederherstellungen.  Neben  dem 
wissenschaftlichen  AVerte  dieser  Arbeiten  muss  aber 
nochmals  der  hervorragend  künstlerische  AVert  hier 
hervorgehoben  Averden,  der  gerade  für  ein  weiteres 
Publikum  so  wesentlich  erscheint,  namentlich  wenn  da¬ 
bei  die  Gewissheit  gegeben  ist,  dass  alle  Forschungs¬ 
resultate  berücksichtigt  wurden.  Mag  auch  der  archä¬ 
ologische  Forscher,  dem  es  auf  prompte  Zusammenfassung 
der  Haui)tresultate  ankommt,  hier  und  da  eine  etwas 
strengere  Gruppirung  des  Textes  wünschen,  so  wird 
allen  übrigen  Lesern  gerade  das  Behagen,  mit  dem 
AVeichardt  überall  auch  von  seinen  persönlichen  Ein¬ 
drücken  und  Arbeiten  im  Text  berichtet,  angenehm  die 
sachliche  Erörterung  beleben. 

Für  den  zu  erwartenden  II.  Teil  wäre  vielleicht 
zu  bemerken,  dass  gelegentlich  noch  ein  etwas  ausführ¬ 
licheres  Citiren  der  Belegstellen  erwünscht  wäre.  Doch 
sind  das  Dinge,  die  den  eigentlichen  AA^ert  des  Buches 
in  keiner  AVeise  berühren.  Dafür  muss  hervorgehoben 
werden,  dass  die  Liebe  und  Sorgfalt,  die  der  Verfasser 
auf  seine  Arbeit  verwendet,  auch  in  der  äußeren  Ge¬ 
staltung  auf  das 'glänzendste  zu  Tage  treten,  dass  diesem 
im  Selbstverlag  erschienenen  Buche  eine  Ausstattung 
zu  teil  wurde,  die  sonst  in  solchen  Fällen  nicht  üblich. 
Auch  hier  konnte  der  künstlerische  Geschmack  des  Autors 
nichts  Halbes  dulden,  und  so  hat  er  neben  bildlichen 
Darstellungen  nach  seinen  Zeichnungen  auch  Original- 
photographieen  und  Aufnahmen  nach  früheren  Publi¬ 
kationen  so  reichlich  gegeben,  dass  jedes  seiner  AA^orte 
nach  allen  Richtungen  hin  erläutert  wird  und  für 
die  Art,  wie  kunstgeschichtliche  Mitteilungen  dem 
Publikum  anschaulich  zu  machen  sind,  dieses  Werk 
als  mustergültig  bezeichnet  werden  kann.  Er  scheut 
keine  Mühe,  um  durch  Grundrissskizzen,  Situations¬ 
pläne,  durch  Nebeneinanderstellung  des  heutigen  und  des 
früheren  Zustandes  den  Leser  an  seiner  Arbeit  lebendigen 
Anteil  nehmen  zu  lassen.  Was  er  im  Original  vor 
Augen  hatte,  wird  hier  gegeben,  und  selbst  wo  er  Hypo¬ 
thesen  aufzustellen  gezwungen  war,  ist  jeder  in  der  Lage, 


BÜCHERSCHAU. 


207 


mitarbeitend  die  Leistung  zu  kontrolliren  und  eventuell 
eigene  Anschauungen  auf  Grund  des  reichhaltigen  Materials 
sich  zu  bilden.  Gerade  in  Hinsicht  auf  das  Darstellungs¬ 
material  operirt  er  im  modernsten  Sinne  streng  wissen¬ 
schaftlich,  indem  er  seine  gesamten  Arbeitsmittel  klar 
vor  Augen  stellt  und  jedem  Gelegenheit  zur  Nachprüfung 
damit  giebt.  So  verschwenderisch  in  bildlichen  Dar¬ 
stellungen  konnte  nur  ein  Künstler  Vorgehen,  der  gar 
nicht  abhängig  von  den  Wünschen  einer  Verlagsbuch¬ 


handlung  war,  gar  keine  Rücksicht  auf  die  Kalkulation 
und  auf  den  Gewinn  zu  nehmen  hatte,  sondern  nur  von 
dem  einen  Gedanken  erfüllt  war,  das,  was  ihn  durch 
lange  Jahre  hindurch  auf  das  intimste  beschäftigt,  ihn 
interessirt  und  begeistert  hatte,  anderen  niitzuteilen  und 
sie  so  zu  Genossen  seiner  Studien  zu  machen.  Diese 
Freude  au  seiner  Schöpfung  lässt  der  Autor  überall  uns 
spüren,  und  sie  macht  das  Buch  zu  einem  ganz  besonders 
sympathischen.  M.  SCHMID. 


BÜCHERSCHAU. 


M.  Schubart,  Goethe  s  KönigsUeutenant  (Francois  de  Theas 
Comte  de  Tlioranc).  München,  1896.  F.  Bruckmann  A.-G. 

Wie  stark  Goethe’s  eigene  Kunstproduktion  erfüllt  ist  von 
Nachklängen  an  die  Künstler,  welche  im  Frankfurter  Vater¬ 
hause  thätig  waren,  das  ist  bekannt.  Jeder  Beitrag  zur 
Geschichte  dieser  Elpoche  aus  Goethe’s  Leben  ist  willkommen, 
sowohl  dem  Goetheforscher  als  auch  dem  Kunsthistoriker, 
der  jener  Periode  deutscher  Kunst 
sein  Augenmerk  zu  wendet.  Schub  art, 
in  seinem  Buche  über  Goethe’s  Königs¬ 
lieutenant,  bringt  nicht  nur  eine  aus 
reichen  Quellen  geschöpfte,  korrekte 
Schilderung  dieser  interessanten  Per¬ 
sönlichkeit.  Er  stellt  nicht  nur  fest, 
dass  er  Thoranc  zu  schreiben  ist, 
statt  nach  Goethe’s  Vorgang  Thorane. 

Schubart  weist  vor  allem  nach,  dass 
diejenigen  Bilder,  welche  Graf  Tho¬ 
ranc  bei  den  im  Hause  des  Rat  Goethe 
beschäftigten  Künstlern  bestellte, 
heute  noch  vorhanden  sind.  Elr  fand 
sie  in  Grasse  in  der  Provence,  zum 
Teil  noch  an  Ort  und  Stelle,  zum 
Teil  auf  Schloss  Mouans,  bei  den 
Elrben  des  Königslieutenants.  Schu¬ 
bart  giebt  neben  einer  Beschreibung 
der  in  Grasse  betindlichen  Bilder  gute 
Heliogravüren  eines  Cyklus  aus  Jo- 
seph’s  Geschichte,  den  er  für  seine 
Sammlung  in  Grasse  erwerben  konnte. 

Es  sind  das  diejenigen  Bilder,  die 
offenbar  der  junge  Goethe  selbst  in 
Vorschlag  gebracht  hatte  (vgl.  Wahr¬ 
heit  und  Dichtung,  Buch  111).  Als 
Künstler  derselben  vermutet  Schu¬ 
bart  den  Landschafter  'Trautmann,  doch  leugnet  er  nicht 
eine  gelegentliche  Mitarbeit  von  Seekatz.  Des  weiteren 
bringt  Schubart  Lichtdrucke  einiger  Bilder  jener  Frank¬ 
furter  Künstler  aus  seinem  Privatbesitz,  darunter  die  in¬ 
teressante  Landschaft  Schütz  d.  ä.,  auf  der  als  Staffage 
Frau  Rat  und  der  Maler  dargestellt  scheinen.  Vorstehende 
kurze  Angabe  genügt,  um  die  Reichhaltigkeit  und  die  kunst¬ 
geschichtliche  Bedeutung  der  Schubart’schen  Publikation 
anzudeuten.  Die  Wiederentdeckung  der  Thoranc’schen  Samm¬ 
lung,  die  Erforschung  des  Lebens  und  der  Schicksale  dieses 
originellen  Kunstfreundes,  die  mannigfachen  Beiträge  zur  Ge¬ 
schichte  jenes  Frankfurt-Dannstädter  Künstlerkreises  sichern 


an  sich  dem  Buche  vollen  Wert,  das  andrerseits  als  Kommentar 
zum  dritten  Buche  von  Goethe’s  Wahrheit  und  Dichtung 
noch  eine  höhere,  weit  über  die  Grenzen  der  Kunstforschung 
hinausgehende  Bedeutung  besitzt.  Dabei  ist  es  höchst  an¬ 
ziehend  geschrieben,  sehr  geschmackvoll  ausgestattet  und 
gebunden  und  vor  allem  in  wundervollen  ruhigen  und  das 
Auge  erquickenden  Typen  gedruckt.  jV.  SCH. 

El.  Weumann,  Architektonische  Be¬ 
trachtungen  eines  deutschen  Bau¬ 
meisters  mit  besonderer  Beziehung 
auf  deutsches  Wesen  in  deutscher 
Baukunst.  Berlin,  1896,  Ernst  & 
Sohn.  S'l  328  S. 

Das  Buch  zerfällt  in  zwei  Teile, 
deren  erster  einen  Abriss  der  Archi¬ 
tekturgeschichte  von  den  Urzeiten 
bis  zur  Gegenwart  giebt,  der  mit  dem 
zweiten  Teile  nur  in  lockerem  Zu¬ 
sammenhänge  steht.  Da  diese  kurze 
Baugeschichte  auf  Quellenangaben 
verzichtet,  Abbildungen  nicht  ent¬ 
hält  und  ziemlich  wahllos  bald  geo¬ 
graphische,  bald  kulturgeschichtliche 
Betrachtungen  mit  Exkursen  über 
Bauformenlebre  mengt,  so  kann  auf 
eine  nähere  Besprechung  hier  ver¬ 
zichtet  werden.  Bemerkt  sei  nur, 
dass  sie  stellenweise  durch  kühne  Hy¬ 
pothesen  von  den  sonst  herrschenden 
Anschauungen  abweicht,  daneben 
aber  auch  durch  technische  Erör¬ 
terungen  manche  Anregung  bietet. 
Der  zweite  Abschnitt  behandelt  die 
Bestrebungen  yler  Gegenwart,  z.  B. 
den  Putzbau,  die  Renommirbauten,  den  „Naturalstil“  etc., 
die  einer  stellenweise  etwas  einseitigen,  aber  auch  viele 
richtige  Beobachtungen  enthaltenden  Kritik  unterworfen 
werden.  Er  schließt  diesen  Abschnitt  mit  den  Worten: 
„Ein  Neues,  Eigenartiges,  Bedeutsames  zu  gestalten,  wenig¬ 
stens  den  Samen  auszustreuen,  aus  dem  ein  stolzer,  hoher, 
weitschattender,  alles  Gewesene  überragender,  in  unver¬ 
gleichlicher  Schönheit  prangender  E’ruclitbaum  einer  neuen 
Kunst  erwachsen  kann,  das  ist  das  ungestillte,  täglich 
von  neuem  erwachende  Sehnen  der  Besten  unserer  Zeit. 
Gegenstand  unserer  ferneren  Betrachtungen  möge  es  sein, 
zu  prüfen,  was  zu  thun  ist,  um  zu  diesem  Ziele  zu  gelangen.“ 


FraDQOis  de  Tbfeas  Comte  de  Tliorauc. 

(Aus  dem  Werke  von  M.  Schübaet,  Goetbe’s  Königs¬ 
lieutenant.  Münolien  1896.  F.  Bruckmann  A.-G. 


208 


BUCHERSCHAU. 


Nach  der  zum  Teil  gauz  berechtigten  scharfen  Kritik,  welche 
der  Verfasser  an  der  neueren  Architektur  geübt,  ist  man 
begierig,  seine  Ratschläge  für  die  Zukunft  zu  vernehmen. 
Er  verlangt  einen  gesteigerten,  auf  tieferer  Naturanschaunng 
ruhenden  Idealismus  unter  Wahrung  der  nationalen  Eigenart 
für  die  deutsche  Baukunst  der  Zukunft,  sagt  ferner  „soll  die 
deutsche  Kunst  wahrhaft  deutschen  Beist  atmen,  so  muss 
im  Künstler  das  Wesen  des  deutschen  Geistes  lebendig  sein.“ 
Neumann  giebt  denn  auch  gleich  die  ,, Eigentümlichkeiten 
des  deutschen  Volkscharakters  an,  soweit  sie  auf  die  Kunst- 
gestaltuug  Einfluss  erlangen“.  1)  Vorwiegen  des  Gedanken¬ 
inhaltes  über  das  Formale,  2)  Wahrheit,  Vermeiden  alles 
falschen  Scheines ,  3 ) 

Hervortreten  der  In¬ 
dividualität,  4)  Das 
lebhafte  Naturgefühl, 
der  Sinn  für  das  Ma¬ 
lerische,  5)  Wohlwol¬ 
lende  Anerkennung 
fremder  Eigenart,  (i) 

Strenge  Beurteilung 
der  eigenen  Vorzüge. 

—  i\Iir  scheint,  er  ist 
freigelng  im  Nachweis 
deutscher  National- 
charakterzfige.  Ob  al.ier 
nicht  einige  derselben 
auch  bei  anderen  Völ¬ 
kern  sich  finden?  C)b 
z.  B.  der  Sinn  für  das 
Malerische  gerade  den 
Dentschen  besonders 
eigentümlich  ist?  Auf 
die  Baukunst  ange¬ 
wandt,  dürften  die 
Eigentümlichkeiten 
wohl  heute  internatio¬ 
naler  Besitz  der  Archi¬ 
tektenwelt  sein.  Ver¬ 
meiden  alles  falschen 
Scheines,  Hervorheben 
der  Individualität,  ira- 
turalistische  und  ma¬ 
lerische  Ausl  »ildung, 

Berücksichtigung  auch 
fremder  Schulen  und 
älterer  Vorbilder,  [ist 
doch  das  Ziel  aller 
besseren  Architekten.  Mir  scheint,  das  etwas  gesuchte  Hinein¬ 
ziehen  des  „nationalen“  Gedankens,  so  wie  er  hier  durch 
Dick  und  Dünrr  gezerrt  wird,  schädigt  die  Klarheit  der  Dar¬ 
stellung.  Was  Neumann  von  berechtigten  Forderungen  an 
den  Baustil  der  Zukunft  aufstellt,  das  ist,  so  viel  ich  sehen 
kann,  eben  das,  was  die  moderne  Architektur  seit  einem 
Jahrzehnt  anstrebt,  freie,  aber  sinngemäße  Verwendung  der 
überlieferten  Stilformen,  Entwicklung  der  Form  gemäß  dem 
Material  und  struktiven  Zweck,  solides,  zweckgeniäßes,  sinn¬ 
volles  Bauen.  Aber  gerade  den  modernen,  englischen  Stil, 
der  diesen  Forderungen  so  sehr  entspricht,  den  bekämpft 
Neumann,  nur  weil  er  englisch,  und  angeblich  für  uns  gar 
nicht  passend  sei.  Warum  nicht?  So  ist  man  denn  über 
den  Baustil  der  Zukunft  am  Schlüsse  des  Buches  ebenso  klar 
wie  zuvor.  Der  Autor  sagt  selbst,  „wie  die  Architektur  der 
Folgezeit  sich  gestalten  wird,  wer  mag  es  wissen!“  Am 


Schlüsse  steht  übrigens  noch  eine  ganz  hübsche  Zusammen¬ 
stellung  desjenigen,  was  an  den  einzelnen  historischen  Bau¬ 
stilen  sich  als  besonders  lebenskräftig  und  wirkungsvoll  er¬ 
wiesen  hat,  wobei  Neumann  allerdings  die  romanischen,  aus 
dem  Mauerkörper  herausgeschnittenen,  mit  ihrer  Umrahmung 
nicht  auf  der  Mauerfläche  aufliegenden  Fenster  rühmt,  auf 
der  nächsten  Seite  (310)  aber  Ijemerkt,  dass  sie  bei  der 
geringen  Mauerstärke  moderner  Bauten  kaum  verwendbar 
seien.  Gegen  die  allzu  üppigen  Formen  der  Spätgotik  er¬ 
klärt  er  sich  (311),  aber  ohne  Erfolg,  wie  man  aus  den  Bauten  der 
letzten  Jahre  sieht.  Somit  enthält  das  Buch  neben  manchem 
Interessanten  leider  auch  einen  Ballast  nicht  ganz  geklärter 

Ideen,  die  durch  die 
wortverschwendende 
Schreibweise  nicht  ge¬ 
rade  klarer  werden. 

M.  Sch. 


Hausschatz  mo¬ 
derner  Kunst. 

Heftl,  3  M.  Wien, 
Gesellschaft  für  ver- 
vielfältigendeKunst. 
Dem  Zuge  der  Zeit 
folgend,  dieWerke  der 
Kunst  in  die  breitesten 
Schichten  zu  tragen, 
hat  auch  die  Gesell¬ 
schaft  für  vervielfäl¬ 
tigende  Kunst  in  W ien, 
sich  entschlossen,  ein 
Sammelwerk  moder¬ 
ner  Gemälde  zu  ver- 
ötfentlichen.  Sie  ist  in 
der  Lage,  ans  ihren 
zahlreichen  Publika¬ 
tionen  eine  große  An¬ 
zahl  Blätter  zu  ent¬ 
nehmen,  die  für  das 
große  Publikum  Inter¬ 
esse  haben;  denn  un¬ 
mittelbarer  und  ver¬ 
ständlicher  als  die 
Kunstwerke  der  Ver¬ 
gangenheit  sprechen 
die  der  Gegenwart  zu 
uns.  Entgegen  dem 
Verfahren  anderer  Un¬ 
ternehmungen,  die  Originale  auf  photomechanischem  Wege  zu 
reproduziren,  sind  hier  Stich  und  Radirung  gewählt  worden, 
um  an  der  Hand  hervorragender  Künstler  die  Schöpfungen  der 
Meister  der  Farbe  in  die  einfachen  Kontraste  von  Schwarz  und 
Weiß  umzusetzen.  Der  Preis  ist  gegenüber  dem  Gebotenen 
mäßig,  für  3  M.  erhält  man  fünf  Blatt  vortrefflicher  Kadirungen. 
Das  soeben  ausgegebene  erste  Heft  enthält:  A.  Böcklin,  Villa 
am  Meer,  Radirung  von  W.  Hecht;  H.  Kauffmann,  Verliebt, 
Radirung  von  H.  Bürkner ;  Fr.  A.  von  Kaulbach,  Ein  Maitag, 
Radirung  von  W.  Unger;  E.  Grützner,  Klosterschäfl'lerei, 
Radirung  von  C.  Vaditz;  F.  von  Uhde,  Auf  dem  Heimweg, 
Radirung  von  W.  Unger.  Für  die  Folge  sind  in  Aussicht  ge¬ 
nommen  Werke  von  Schindler,  Kuehl,  Volkhardt,  Max, 
Schönleber,  Salentin,  Feuerbach,  Böcklin,  Schwind,  Ecken- 
l)recher,  Defregger,  Wollroider,  Kröner,  Schirmer,  Steinle, 
Waldmüller,  Bode,  Liebermann  u.  a.  m. 


Herausgeber:  Cwrl  von  lÄitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Aucjust  Pries  in  Leipzig. 


Landschaft  von  .Schütz  d.  ä.  (Aus  dem  Werke  von  M.  Schobart,  Goethes 
Königslieutenant.  München  1896.  F,  Bruckmann  A.-G. 


4; 


ki'V.. ' 


tl 


pj^. 


piinc  Helio^,rT:  Dr  E.iULeiH:  u.C^..!M!üiiclieD. 


vic?;nza. 


•■-  '•  -  M-fHim  Leip^'-ig. 


Druck  V  Jul  -Wolf,  Iieipzig. 


Birken  im  Woos  von  L.  Dill. 


LUDWIG  DILL 

VON  PAUL  S  C  IW  LTZE- NAUMBURG. 


S  giebt  heute  in  Dentscliland  unter  den 
Malern  jüngerer  Schule  eine  recht  große 
Anzahl  tüchtiger  Landschafter;  respek¬ 
table  Leute,  die  viel  können,  ihre  Bilder 
mit  gutem  Studium  des  TJchts  faustfertig 
heruntermalen  und  ganz  ohne  Zweifel 
ihr  Handwerk  gut  verstehen. 

Sieht  man  aber  genau  zu,  wieviel  Künstler  unter 
diesen  Malern  stecken,  dann  kommt  man  auf  eine  recht, 
recht  viel  geiängere  Zahl.  Dill  gehört  unter  die  letztei’en. 
Dill  ist  Maler  und  Künstler.  Und  was  für  ein  Maler: 
ein  bravourhafter  Könner,  dem  der  künstlerische  Aus¬ 
druck  angeboren  zu  sein  scheint,  und  der  diese  Gabe  in 
rastlosem  'Werben  vor  der  Natur  zu  einer  Herrschaft 
über  seine  Mittel  hat  wachsen  lassen,  die  seinesgleichen 
sucht.  Aber  das  ist  es  nicht,  was  ihn  so  hochstellt. 
Sondern  einmal,  dass  er  ein  Doet  ist,  der  es  versteht, 

Zeitsehrii't  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Vlll.  II.  9. 


seine  Gebilde  zu  beseelen,  gegen  die  gehalten  so  manche 
„guten  Bilder“  wie  flotte  Berichterstattungen  über  die 
Natur  aussehen.  Und  zum  zweiten,  dass  er  wie  wenig 
andere  dem  gerecht  wird,  was  der  Zweck  des  Bildes 
ist:  dass  er  farbige  Fhächen  schallt,  die  in  ihrer  starken 
und  doch  diskreten  Tönung  wirklich  auch  zum  Schmuck 
eines  vornehmen  Innenraums  dienen,  nicht  bloß  in 
Galerieen  als  tote  Proben  eines  großen  Könnens  auf¬ 
bewahrt  werden  können.  Dill  schaftt  harmonische  Kunst¬ 
werke. 

Ludwig  Dill  wurde  im  Jahre  1848  am  2.  Februar 
in  Gernsbach  in  Baden  als  Sohn  des  Amtsrichters  Dill 
geboren.  In  Durlach  bei  Karlsruhe  verlebte  er  seine 
Kinderzeit  und  kam  mit  14  Jahren  nach  Stuttgart,  wo 
er  das  Gymnasium  durchmachte,  um  dann  Architekt  zu 
werden.  Nach  einigen  Semestern,  die  er  auf  dem  Polj'’. 
technikum  verbrachte,  brach  der  deutsch -französische 


210 


LUDWIG  DILL. 


Ki’ieg  aus.  den  Dill  als  Sekondelieutenaiit  im  Werder- 
scheu  Kori)S  mitmachte.  Glücklich  zurückgekehrt,  be¬ 
schloss  er,  seiner  langgehegten  Neigung  zu  folgen  und 
sich  ganz  der  Malerei  zu  widmen.  Im  Jahre  1872  be¬ 
zog  er  die  Akademie  in  München,  vertauschte  sie  aber 
ein  Jahr  darauf  gern  mit  einem  Aufentlialt  in  Italien, 
um  dort  im  Aufträge  der  Engelhorn’schen  Verlagsanstalt 
eine  Serie  von  Illustrationen  für  das  bekannte  Pracht¬ 
werk  „Italien'‘  zu  schaffen.  Von  da  ab  bildete  er  sich 
als  Autodidakt  weiter,  indem  er  zuerst  die  strengsten 
und  intimsten  Zeichenstudien  nach  der  Natur  machte, 
wobei  ihm  seine  frühere  Thätigkeit  als  Architekt  in¬ 
sofern  zu  Hilfe  kam,  als  es  ihn  auf  eine  grof?ie  Korrekt¬ 
heit  hinwies,  die  er  auch  nie  wieder  einbüßte,  wenn  ihn 
auch  seine  angeborene  Degabung  davor  bewahrte,  dieser 
Koria'ktheit  etwa  seine  malerische  Verve  zu  opfern. 
Nocli  heute  hat  er  Mappen  über  Mappen  der  detaillirtesten 
Studien  anfzuweisen,  die  er  damals  in  allen  Winkeln 
Italiens  machte  —  Landschaften,  Architekturen,  figür¬ 
liche  Studien  und  Tiere.  Zum  Malen  kam  er  noch  wenig 
und  da  hauptsächlich  zum  A(iuarell ;  doch  folgte  er  dem 
Triebe  eines  guten  Geschmackes,  als  er  hunderte  von 
pomiiejanischen  Wandmalereien  in  Wasserfarben  kopirte, 
da  deren  harmonischer  Farbenaccord  ilin  mehr  entzückte, 
als  die  bunten  Veduten,  die  um  ihn  herum  entstanden, 
und  er  bei  jenen  eine  höher  stehende  Farbenanschauung 
zu  finden  glaubte,  als  hier. 


Ludwig  Dill. 

Nach  einer  Porträtstudie  von  Krnestine  Schuetze- Naumburg. 


Skizze  von  L.  Un,L. 


Doch  vernachlässigte  er  dabei  nicht  die  Natur. 
Beständig  auf  Leisen,  die  nur  ein  kurzer  Aufenthalt 
in  München  unterbrach,  erwarb  er  sieh  eine  unge¬ 
meine  Routine  im  raschen  Beobachten  und  Schaffen.  In 
Chioggia  lernte  er  Schönleber  kennen,  der  nicht  ohne 
großen  Finflnss  auf  ihn  war.  Mit  den  Bildern,  die 
er  damals,  so  um  die  Jahre  77  und  78,  von  den  La¬ 
gunen  und  Kanälen  Venedigs  zu  malen  begann,  hat 
er  sich  rasch  bekannt  gemacht  und  sich  den  Namen 
des  Marinemalers  Dill,  den  er  heute  wenn  nun  auch 
fälschlich  noch  trägt,  erworben. 

Dill’s  Kunstschaffen  scheidet  sich  nämlich  in 
zwei  große  Perioden;  die  italienische  und  die  deutsche 
—  dort  des  Meeres  und  hier  des  heimischen  Landes. 
Mich  deucht,  dass  sich  in  der  zweiten  der  Künstler 
noch  freier,  noch  persönlicher  giebt,  als  in  der  ersten. 
Es  ist  zwar  nicht  schwer  zu  erkennen:  auch  Dill’s 
italienische  Landschaften  haben  ein  ganz  persönliches, 
ganz  deutsches  Gepräge;  diese  innige  Schlichtheit, 
diese  leise  Melancholie  jener  Dämmerungslandschaften 
ist  ganz  deutsch.  Es  ist  deutsche  Kunst  mit  Be¬ 
nutzung  italienischer  Foianen  • —  und  wen  zöge  der 
Reichtum  derselben  nicht  auV  Aber  hat  sich  auch 
Dill  an  diesem  Reichtum  erzogen  und  verfeinert:  da, 
wo  er  seine  Kunst  nun  in  Deutschland  anwendet,  ent¬ 
steht  etwas  so  Echtes  und  so  unendlich  Feines,  dass 
alle,  die  diese  zweite  Schaffensperiode  recht  zu  sehen 


Scbitl'hütte  in  der  Lagune.  Tuschzeicbuung  von  L.  Dill. 


27* 


212 


LUDWIG  DILL. 


G -legeiilit'it  haben,  erst  hier  so  ganz  niitl  restlos  ihren 
Dill  ei’kannten,  in  dieser  tiefernsten,  herben,  kraftvollen 
—  männlichen  Kunst,  die  doch  mit  so  nnendlich  viel 
Zartheit  verbunden  erscheint. 

Gegen  das  Jahr  1889  kam  die  Wendung.  ^Yie 
.‘;i(di  damals  in  ganz  Deutschland  aus  dem  gärenden 
iMost  der  neuen  Kunst  eine  Wendung  zur  \'erfeinerung, 
zur  Durchgeistigung  entwickelte,  ting  auch  Dill  an, 
intimere  Wirkungen  anzustreben.  Sein  Studienfeld  wurde 
mehr  und  mehr  das  Festland  Oberitaliens,  die  tote  Lagune, 
die  Sümpfe  der  Po-Kiederung,  in  denen  ihm  ganz  neue 
Reize  Italiens  aufgingen.  Hatte  er  früher  lustig  Sonne 


Mit  dem  .Jahre  1894  beginnt  eine  neue  Steigerung. 
Wir  sehen  das  immerhin  seltene  Schauspiel,  dass  ein 
JMaiin,  der  sich  den  Fünfzigern  nähert,  nicht  von  dem 
Erreichten  zehrt,  sondern  erst  seinem  Höhepunkt  zu¬ 
schreitet,  der  zudem  nichts  gemein  hat  mit  jener  blassen 
Nachblüte  des  zweiten  Alters. 

Amtsgeschäfte  als  Präsident  der  Secession  hatten 
Dill  abgehalten,  seinen  gewohnten  Studienaufenthalt  an 
der  Lagune  zu  nehmen.  Um  einen  Ersatz  zu  haben, 
geht  er  auf  ein  paar  Monat  nach  Dachau,  und  er  ent¬ 
deckt  dort  die  Diirsche  deutsche  Landschaft. 

Ja,  die  Dill’sche  deutsche  Landschaft.  Denn  diese 


Fischerboote  bei  Comacchio.  Ölgemälde  von  L.  Dill. 


und  Licht,  blauen  Himmel  und  wasserdampfgesättigte 
Atmosphären  gemalt,  so  ging  er  jetzt  dem  verschwiegenen 
Zauber  der  Dämmerung  nach,  deren  tiefe  satte  Töne 
ihm  jetzt  besser  gefielen,  als  die  blendenden  der  Tages¬ 
helle.  Mehr  und  mehr  erscheinen  nun  seine  Bilder  auf 
einen  leisen  Mollaccord  gestimmt;  wie  ein  Zug  von 
Wehmut  klingt  es  durch  die  sonoren  Harnionieen  seiner 
Abendlandschaften.  AVar  früher  noch  vielleicht  der  volle 
Ausdruck  seiner  Persönlichkeit  hinter  der  erdrückenden 
Fülle  der  gemeinsamen  neuen  Ausdrucksmittel  zurück¬ 
getreten,  so  beginnt  nun  mit  der  steigenden  Souveränität 
über  die  Form  ein  vollständig  freies  und  ungehindertes 
Aussprechen. 


ist  etwas  anderes,  als  die  absolut  reale  Natur,  und  dass 
er  sie  in  Dachau  fand,  ist  im  Grunde  wohl  nur  ein  Zu¬ 
fall,  denn  Dachau  ist  ein  malerisches  Landstädtchen,  wie 
tausend  andere.  Aber  der  echte  Künstler  kann  in  jedem 
Stück  Natur  sein  Eden  finden,  wenn  er  sich  dort  wohl 
fühlt.  Man  muss  also  nicht  meinen,  dass  die  Dill’sche  Land¬ 
schaft  in  Dachau  auf  der  Straße  läge.  Seit  Jahrzehnten 
gehen  die  Münchener  Maler  im  Sommer  nach  Dachau, 
ohne  sie  gesehen  zu  haben.  Der  Künstler  macht  ja 
auch  nicht  Illustrationen  zu  dem  Dorf,  dem  Städtchen, 
in  dem  er  sich  auf  hält,  sondern  er  benutzt  es  zu  An¬ 
regungen,  um  durch  sie  etwas  neues,  sein  Paradies,  das 
er  nur  mit  den  Augen  der  Seele  sieht,  nachzuschaft’en. 


LUDWIG  DILL. 


213 


Die  Anregung,  die  Dachau  Dill  hrachte,  waren  wolil 
vor  allen  die  herben,  knorrigen  Formen,  die  in  schroffem 
Gegensatz  zu  der  Eleganz  Italiens  stehen.  Die  Natur 
zwang  ihu  hier  gleichsam,  mit  noch  weit  größerer  Kraft 
vorzugehen,  als  die  weiche  Luft  des  Veneto  von  ihm 
gefordert.  Aber  der  Ausdruck  der  Kraft  paart  sich 


anderes  Material  gefunden  wäre;  nur  die  Verwendung  war 
eine  so  eigenartige,  dass  wirklich  etwas  ganz  neues  ge¬ 
funden  war,  das  sich  besser,  als  irgend  etwas  voiher 
dagewesenes  dafür  eignet,  den  Zweck  eines  Bildes  zu 
erfüllen  neben  dem  Kunstwerk  an  sich:  ein  vornehm 
dekorativer  Schmuck  zu  sein. 


Skizze  von  L.  Dill. 


meist  mit  Einfachheit,  und  so  kam  Dill  ganz  von  selbst 
darauf,  seine  Ausdrucksmittel  zu  wechseln. 

Und  nun  erfand  er  das  Dill’sche  Aquarell. 

Mau  muss  sich  unter  DiU’sclieu  Aquarellen  nicht 
das  vorstellen,  was  man  sich  sonst  unter  Aquarellen 


Man  fragt  nun  wohl  ungeduldig;  ja,  wie  sieht’s  denn 
nun  aus.  Also:  ein  weiches,  samtartiges  Papier,  in 
irgend  einem  feinen  Ton  gehalten;  tiefgrün,  grau  oder 
mattgelb.  Auf  diesem  ist  in  wenigen,  aber  kraftvollen 
und  knapp  charakteristischen  Strichen  die  Komposition 


Skizze  vou  L.  Dill. 


denkt:  mit  leichten  Farben  üott  und  elegant  hingemalte 
Wasserfarbenbilder,  die  die  Mitte  halten  zwischen  der 
Skizze  und  dem  farbigen  Ölbild.  Das  DiH’sche  Aquarell 
ist  etwas  anderes,  etwas  neues.  Es  neigt  mehr  zur 
Wandmalerei  —  hält  die  Mitte  zwischen  dieser  und 
dem  Staffeleibilde.  Nicht  als  ob  im  wesentlichen  ein 


aufgezeichnet.  Keine  Ansicht.  Beim  Ausschnitt  des 
Motivs  war  die  Flächenverteilung  maßgebend,  nichts 
anderes,  ln  diese  herben  und  einfachen  Konturen  tönt 
nun  Dill  die  satte  Glut  seiner  Farben,  wie  man  sie  beim 
Aquarell  nicht  leicht  wieder  findet. 

Es  ist  ganz  falsch,  einem  Aquarell  nachzurühmen. 


•21-1 


LUDWIG  DILL. 


li.iss  man  e.s  für  ein  OlbiM  halten  kann.  Der  t'eiiit'iililig-e 
KüusÜe)'  denkt  nicht  an  Imitation,  sondern  er  will  sein 
Maierial  in  seinen  Eigentümlichkeiten  ziini  Ausdruck 
bringen.  Dill's  Aquarelle  erkennt  man  sofort  als  Wasser- 
farl)enbilder .  wenn  sie  auch  an  Leuchtkraft  der  Farbe 
manch  Olliild  iibertreffen.  Ja,  es  sind  ini  Grunde  eigent- 
lich  farbige  Zeichnungen;  nur  ist  eben  die  Farbe  da- 
liei  mit  einer  Kühnheit  und  Feiidieit  verwendet,  dass 
sie  dem  Zweck  des  Bildes:  an  der  Wand  zu  wirken, 
ganz  gerecht  wird.  Oder  richtiger:  nicht  nur  gerecht 
wird,  sondern  sogar  die  idealste  Lösung  für  diese 
Foi’derung  ist,  da  der  leuchtenden  und  satten  Farbe  jede 


trotzdem  die  abgedroschene  Redensart  weiter  nachbeten, 
dass  die  moderne  Kunst  nichts  zum  Gebrauche  im  Privat¬ 
haus  geeignete  schaffte  —  in  Deutscldand  eine  Wahrheit 
vor  zehn  Jahren.  —  Nun  ja,  Zimmerbilder  übers  Sofa, 
den  Königssee  in  '/2  ™  breiten  Goldrahmen  —  die  muss 
man  schon  bei  der  guten  alten  Kunst  suchen. 


Was  sonst  noch  von  Dill’s  Leben  sagen?  Er  hat 
alle  Ehrungen  empfangen,  mit  denen  man  bedeutende 
Künstler  auszuzeichnen  i)ffegt,  er  führt  den  Titel  eines 
kgl.  Professors,  und  die  Secession  wählte  ilin  zu  ihrem 
Präsidenten.  Also  zu  entdecken  ist  er  eigentlich  nicht 


Dachau.  Aquarell  von  L.  Dill. 


Sjuir  von  dem  fettigen  Glanz  der  Ölfarbe  fehlt  und  sie 
der  Teppichwirkung  —  dem  doch  gewiss  organischsten 
Schmuck  des  Innenraums  —  am  nächsten  kommt. 

Jlan  missverstehe  mich  nicht.  Ich  meine  nicht,  dass 
nun  in  Zukunft  die  Maler  auf  ein  weiches,  samtartiges 
Papier,  in  irgend  einem  feinen  Ton  gelialten,  in  starke 
IJüienkonturen  farldge  Flächen  tönen  sollen.  Auch  für 
das  Zimmerbild  können  die  Ausdrucksmittel  verschiedent- 
liche  sein.  Aber  ich  glaube,  dass  die  DiH’sche  Ver¬ 
wendung  der  Mittel  mit  Recht  viel  Nacliahmung  finden 
und  sich  zu  einer  neuen  Art  von  Bildern  entwickeln  wird, 
die  vielleicht  unter  dem  Titel  „getönte  Zeichnung“  die 
breiteste  Verwendung  finden  wird.  —  Man  wird  zwar 


mehr.  Wenn  er  aber  auch  durchaus  nicht  zu  denverkannten 
Ünbekannten  gehört,  so  scheint  es  mir  doch,  dass  er  in 
breiteren  Kreisen  nicht  recht  verstanden  würde.  Man 
schätzte  in  ihm  den  virtuosen  Maler,  ohne  zu  sehen, 
dass  er  vor  allem  ein  tief  empfindender  Poet  ist,  der 
die  Klänge  seiner  Seele  in  die  Sprache  der  Farben  über¬ 
setzt.  Aber  seine  Kunst  ist  eine  zu  diskrete,  zu  sehr 
an  das  eigentlichste  Kunstgefühl  im  Menschen  appel- 
lirende,  als  dass  seine  Werke  je  einmal  aktuell  werden 
könnten. 

Alter  wenn  er  auch  nichts  geschaffen  hätte,  als  seine 
Aiiuarelle  aus  Dachau,  so  würden  doch  diese  genügen,  um 
ihm  einen  Platz  in  der  Kunstgeschichte  zu  sichern. 


Skizze  zur  „Wartburg“  von  L.  Dill. 


21G 


LUDWIG  DILL. 


Noch  ein  paar  Worte  über  unsere  Bilder.  Bei  Aus¬ 
wahl  derselben  ist  nicht  so  der  Wunsch  maßgebend  ge¬ 
wesen,  eine  Anzahl  von  Hauptwerken  unseres  Meisters 
zu  bringen,  sondern  einige  typische  Beispiele  anzuführen; 
solche,  die  einen  Einblick  in  sein  Schäften  gewähren. 

Um  eine  Ahnung  von  dem  zu  geben,  was  Dill  mit 
dem  Stifte  kann,  haben  wir  eine  kleine  Anzahl  von 
Bleistiftskizzen  reproduzirt  und  in  den  Text  eingestreut; 
eine  ziemlich  zufällige  Auswahl  aus  dem  nnübei'sehl)aren 
Eeichtum  von  tausend  und  abertausend  ftiichtigen  Notizen, 
mit  denen  Dill  auf  jeder  Reise  seine  Skizzenbücher  füllte. 
All  diese  kleinen  Sachen  sind  nun  nicht  etwa  wohl¬ 
überlegte  Zeichnungen,  sondern  Augenblicksnotizen,  vom 
vorbeifahrenden  Dampfer,  vom  schauckelnden  Boot  aus, 
im  Marktgedräiige  gemacht.  Nirgends  sieht  man  Dill’s 
jihänomenale  Sicherheit  der  Zeichnung  besser  als  an 
diesen  Blätteim,  die  man  ihrer  Korrektheit  nach  für 
wohlübei'legte  Studien,  mit  der  Camera  lucida  nachge- 
zeichnet  halten  könnte,  so  sicher  ist  schon  die  ganze 
Ivomjtosition  entworfen,  sind 
die  flüchtigsten  Bewegun¬ 
gen  festgehalten,  ist  auf 
das  Detail  sogar  eingegan- 
geii.  Es  hätten  sich  gerade, 
dafür  noch  schlagendere  Bei¬ 
spiele  wählen  lassen.  Aber 
es  ist  schwer,  unter  den 
tausenden  von  Zeichnungen 
die  Wahl  zu  tretfen. 

Die  Gravüre,  die  un¬ 
ser  m  Heft  beigegeben  ist, 
ist  als  eine  gänzlich  freie 
Schöpfung  zu  betrachten. 

Im  vorlieisausenden  Zuge, 
vom  Coupefenster  aus,  fällt 

Dill  bei  der  Festung  Vicenza  eine  interessante  Silhouette 
auf.  In  Ermangelung  eines  Skizzeubuches  auf  die  Manchette 
skizzirt,  dient  es  ihm  als  Grundlage  für  das  Bild,  dessen 
Farbenzauber  es  zu  einem  der  schönsten  Werke  Dill’s 
macht.  —  Man  muss  nun  indessen  nicht  glauben,  dass  es 
Dill  mit  diesem  Aus -dem -Kopf- malen  so  leicht  ge¬ 
nommen.  Nur  dadurch,  dass  er  ein  Menschenalter  lang 
die  intensivsten  ununterbrochenen  Studien  vor  der  Natur 
machte,  hat  er  es  soweit  gebracht,  dass  er  nun  schlie߬ 
lich  dieser  Unterlage,  des  Naturmotives,  entbehren  und 
ganz  fi  el  seinen  Phantasieen  folgen  kann,  ohne  die  Wahr¬ 
heit  zu  verlieren. 

Das  „Motiv  bei  Comacchio“  ist  eines  der  vornehmsten, 
diskretesten  Werke  Dill’s  ( Abb.  S.  2 1 2 ).  Leider  kann  davon 
unsere  Autotypie  keine  Vorstellung  geben.  Sehr  liezeiclmend 
ist  dies  Werk  für  die  Art  Dill’s,  Kunstwerke  zu  concipiren. 
Er  sieht  irgendwo  im  Atelier  eine  alte  Photographie, 
auf  dem  Kopf  stehend.  Es  war  vielleicht  gar  keine 
Landschaft.  Die  interessante  Fleckenverteilung  fällt 
ihm  auf,  und  er  benutzt  dieselbe  als  Grundlage  für  die 


Skizze  von  L.  Dit.L. 


Massenverteilung  eines  Farbenaccordes ,  der  ihm  sym¬ 
pathisch.  Man  sieht  daraus,  wie  innig  die  Kunst  Dill’s 
auf  der  reinen  Anschauung  basirt.  ^'on  dem  farbigen 
Zauber,  wie  die  goldbestrahlten  Segel  auf  dem  blau- 
grünen  Wasser  stehen,  kann  leider  die  Reproduktion 
nichts  erzählen. 

Die  Abb.  auf  S.  211  ist  ein  Motiv  aus  den  Sümpfen, 
das  aus  der  Erinnerung  leicht  mit  Kohle  skizzirt  und  mit 
ein  paar  Tönen  Deckweiß  zur  Wirkung  gebracht  ist.  Vorn 
eine  alte  Boothütte  im  stehenden  Wasser,  im  Hintergründe 
der  matte  Glanz  der  toten  Lagune.  Man  wird  hier  die 
spielende  Ijeichtigkeit  bewundern,  mit  der  mit  den  ein¬ 
fachsten  Mitteln  schon  eine  tiefe  Wirkung  erzielt  ist. 

Das  Motiv  aus  Dachau  zeigt  uns  ein  A(iuarell  Dill’s 
in  unvollendetem  Zustande,  die  die  Bezeichnung  „farbige 
Zeichnung“  besonders  gut  klarlegt. 

Der  allgemeine  Ton  ist  der  ursprüngliche  Pa]iierton; 
mit  ein  paai’  helleren  und  ein  paar  dunkleren  Flächen 
ist  hier  eine  Raumwirkung  erzielt,  wie  sie  ein  voll¬ 
kommen  ausgeführtes  Ge¬ 
mälde  nicht  mehr  haben 
kann. 

Gei’adezu  bedeutend 
aber  ist  hier  die  Kontur. 
Sie  erinnerte  mich  in  man¬ 
chem  an  Rethel’s  einfache 
Linienführung.  In  wie  we¬ 
nige  sichere  Striche  löst 
er  das  Gewirr  der  Pappeln 
auf,  wie  einfach  und  fein 
sind  die  großen  Konturen 
D  1  der  Häuschen  gezogen,  wie 

pikant  wirkt  das  Brückchen 
vorn  mit  dem  Wege.  In 
dieser  Art  von  Vereinfa¬ 
chung  bedarf  es  in  hohem  Grade  der  Meisterschaft;  und 
wiewohl  es  im  Zuge  der  Zeit  liegt,  bei  solchen  zeich¬ 
nerischen  Aufgaben  wieder  den  Schwerpunkt  in  die  Ein¬ 
fachheit  und  den  Inhaltsreichtum  der  Linie  zu  legen, 
wird  man  wenige  linden,  die  so  frei  von  jeder  Manier  und 
so  erschöpfend  wie  Dill  die  Lösung  finden. 

Ein  vollkommen  fertiges  Bild  sind  die  Birken  im 
Moos  (S.  209 ).  Dies  Bild  hat  etwas  von  jener  ornamentalen 
Schönheit,  die  die  moderne  Kunst  ihren  Schöpfungen  zu 
geben  sucht,  und  ist  dabei  doch  in  allem  ein  Stück  tiefer 
Naturpoesie. 

Dill  hat  einen  mit  Thoma  verwandten  Zug.  Auch 
aus  seinen  Werken  spricht  jene  träumende  deutsche 
Volksseele,  die  in  Thoma  ihren  Ausdruck  gefunden.  Nur 
ein  Unterschied  ist  da:  jener  geradezu  raffinirte  Ge¬ 
schmack  Dill’s  schließt  die  naive  Ursprünglichkeit  Thoma’s 
aus,  wenn  er  ihm  auch  an  Kraft  überlegen  erscheint. 

Eine  neue  Aufgabe  stellte  sich  Dill,  als  ihm  von 
Wallot  für  den  Re.ichstagbau  die  Schöpfung  eines  großen 
Wandgemäldes  „die  Wartburg“  übertragen  wurde.  Dill 


Hans  Gudewerdts  Altar  in  der  Kirche  zu  Kappeln. 

Nach  einer  photograpliischen  Aufnahme  von  L.  HANSEN  in  Kappeln. 


Verlag  von  SHKMANN  &  Co.  in  Leipzig. 


I.irhtdnick  von  S1NSJ*‘,I,  fc  Co.  in  l.vip/ig. 


HANS  GUDEWERDT. 


217 


niiiiiut  jede  Aufgabe  sehr  ernst,  und  so  fing  er  nach 
einem  längeren  Studienaufenthalt  in  Eisenach  an,  un¬ 
zählige  Skizzen  zu  machen.  Denn  er  wollte  nicht  eine 
Ansicht,  eine  Illustration  der  Wartbujg  geben,  sondern 
er  wollte  den  Gefühlswerten,  die  wir  Deutsche  beim 
Gedanken  an  die  Wartburg,  jener  stolzen  Veste  im 
Thüringer  Waldgebirge,  emptinden,  malerischen  Ausdruck 
verleihen,  ohne  jedoch  zu  sehr  von  der  Wirklichkeit  ab- 
znweichen.  Wir  sind  in  der  glücklichen  Lage,  eine 
dieser  unzähligen  Skizzen  —  es  ist  nicht  gesagt,  dass 
Dill  gerade  diese  zur  Ausführung  wählen  wird  —  wieder- 
zugeben.  (Abb.  S.  215.)  Der  Schwerpunkt  dieses  Entwurfes 


liegt  hier  in  der  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Burg  über 
den  bewaldeten  Porphyrklippen  auftürmt,  während  für  den 
Vordergrund  noch  keine  bestimmten  Formen  angenommen 
sind.  Aber  wie  schön  ist  hier  schon  mit  ein  paar 
Strichen  der  Zauber  jener  fernen  Höhen  gegeben,  auf 
deren  breiten  Kücken  sich  die  Burg  lagert.  Und  da 
Dill  in  diesem  Werk  durchaus  nicht  etwa  eine  Art  Öl¬ 
bild,  das  man  einfach  in  die  Wand  einfügt,  schaffen  will, 
sondern  eine  den  Kaumbedingungen  entsprechende  Wand¬ 
malerei,  so  darf  man  sich  davon  einen  guten  Schritt 
nach  Vorwärts  auf  dem  Gebiet  unserer  modernen  dekorativen 
Kunst  versprechen. 


HANS  GUDEWERDT. 

VON  0.  BRAND'l. 


ENN  die  niederdeutsche  Plastik  in  der 
Geschichte  deutscher  Kunst  bisher  eine 
recht  bescheidene  Kolle  spielte,  so  ist  der 
Grund  dafür  nur  zum  geringeien  Teil  in 
einem  Mangel  an  künstlerisch  bedeuten¬ 
den  Leistlingen  niederdeutscher  Bildner 
zu  suchen;  vor  allem  ist  ein  Mangel  an  ausreichenden 
Publikationen  schuld  daran,  dass  die  niederdeutsche  Plastik 
allzusehr  unterschätzt  wurde.  Es  fehlt  unter  den  nieder¬ 
deutschen  Meistern  nicht  in  dem  Maße,  wie  angenommen 
worden  ist,  an  großen,  eigengearteteu,  schöpferischen 
Künstlern.  Besonders  Schleswig-Holstein  ist  in  dieser 
Beziehung  Unrecht  geschehen.  Die  dort  heimische  Holz¬ 
schnitzkunst  hat  weit  reichere  Früchte  getragen,  als  mau 
noch  heute  allgemein  glauben  mag.  Mit  Hans  Brügge¬ 
mann  allein  ist  der  Keichtum  seiner  Schnittker  nicht 
erschöpft.  Ich  möchte  hier  zum  ersten  Male  weitere 
Kreise  mit  einem  schleswig-holsteinischen  Holzschnitzer 
bekannt  machen,  dem  sich  zu  seiner  Zeit  im  ganzen 
Deutschland  kaum  ein  anderer  Meister  zur  Seite  stellen 
durfte;  es  ist  Hans  Gudewerdt.  Er  wurde  um  das  Jahr 
1600  geboren  in  dem  kleinen  schleswigschen  Städtchen 
Eckernförde,  das  bekannt  geworden  ist  durch  den  Sieg 
der  Schleswig-Holsteiner  über  dänische  Kriegsschiffe  in 
der  Eckeruförder  Bucht  am  5.  April  1849.  —  Hans  Gude¬ 
werdt  gehörte  einer  altangesessenen,  wohlhabenden 
Familie  an,  sein  Vater  war  Meister  und  Ältermaun  der 
Schuittkerinnuug  und  muss  sehr  angesehen  gewesen  sein, 
denn  mehrfach  wurden  ihm  Ehrenämter  übertragen.  Wie 
der  Name,  so  überkam  Gewerbe,  Stellung  und  Ansehen  vom 
Vater  auf  unsern  Meister,  und  er  selber  übertrug  sie  wieder 
auf  seinen  ältesten  Sohn.  So  wollte  es  alte  gute  Laudes¬ 
sitte.  Die  Zeitgenossen  bewunderten  Haus  Gudewerdt 
wegen  seiner  Kunst;  auch  der  kluge,  kunstliebende 
Gottorper  Herzog  Friedrich  III.  zog  ihn  in  seine  Dienste. 
Im  Auftrag  des  Herzogs  verfertigte  der  Meister  einen 
Zeitsohril't  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  ö. 


Brautwagen  für  die  Vermählungsfeierlichkeiten  der  Prin¬ 
zessin  Sophie  Augusta,  einer  Ahnfran  der  Mutter  unseres 
Kaisers,  mit  dem  Fürsten  Johann  von  Anhalt.  Als 
Hans  Gudewerdt  am  12.  Februar  1671  in  seiner  Vater¬ 
stadt  gestorben  war,  fügte  das  sonst  so  wortkarge  Toten¬ 
register  seinem  Namen  die  Bemerkung  hinzu;  „ein  Ge¬ 
wesener  kunstreicher  Bihlschnittßer“.  —  Lange  Zeit 
war  er  vergessen,  man  wusste  nichts  von  ihm,  nicht  ein¬ 
mal  sein  Name  wurde  mehr  genannt.  Es  ist  das  Ver¬ 
dienst  von  Kichard  Haupt  in  seinem  Werke  „Bau-  und 
Kunstdenkmäler  der  Provinz  Schleswig-Holstein“,  zuerst 
wieder  auf  ihn  aufmerksam  gemacht  und  die  wichtigsten 
seiner  Werke  als  ihm  zugehörend  erkannt  und  bezeichnet 
zu  haben. 

Eine  eingehende  AVürdigung  des  Meisters  iiabe  ich 
in  einer  demnächst  erscheinenden  Monographie  zu  geben 
versucht;  an  dieser  Stelle  möchte  ich  den  Lesern  der 
Zeitschrift  in  knapper  Skizziruug  nur  ein  Werk  Haus 
Giulewerdt’s,  nämlich  den  Kappeier  ')  Altar  vorführen. 
Das  zum  Verständnis  des  Werkes  unbedingt  Nötige 
schicke  ich  voraus. 

Hans  Gudewerdt’s  Arbeiten  gehören  ihrer  Gesamt¬ 
form  und  ihrem  Ornament  nach  der  zweiten  Stilrichtung 
des  Barock  im  Lande,  dem  sogenannten  Ohrmuschelstil 
au.  Der  Name  berücksichtigt  nur  eine  charakteristische 
Eigenschaft  des  Ornaments,  nämlich  die,  dass  seine  Linien 
ineinander  verschnörkelt  und  gleichzeitig  abgeplattet, 
etwa  wie  eine  durcheinander  geschobene  und  seitlich 
gedrückte  Papierspirale,  oft  ohrniuschelähnliche  Formen 
zu  Stande  kommen  lassen;  unberücksichtigt  bleibt  in  der 
Bezeichnung  der  oft  bizarre,  aber  doch  kühne  und  flotte 
Schwung  des  Ornaments,  das  unleugbar  malerisch  wirkt. 
Malerische  Wirkung  erstrebt  die  zweite  Barockperiode 


1)  Ivapjielii  ist  ein  kleines  schleswigsches  Städtchen  an 
der  Schlei. 


28 


21S 


HANS  GUDEWERDT. 


vor  allem.  Deshalb  lüst  sie  das  feste  Gefüge  und  die 
geradlinigen  Umrisse  der  Eenaissance  auf,  fügt  Zwischen¬ 
glieder  eia  und  ersetzt  die  geraden  durch  geschwungene 
Linien,  sie  bevorzugt  vor  dem  Viereck  das  Oval  oder 
Kompositionen  aus  Kreisteilen.  Eine  reichliche  A'er- 
wendung  von  Putten,  geflügelten  Engelköpfen,  Kartuschen, 
Masken  und  die  gewundene,  bei  Gudewerdt  mit  Wein¬ 
laub  bekränzte  Säule  vollenden  das  Bild  des  reichen, 
aus  den  Niederlanden  stammenden  Stils.  —  In  einer 
sulchen  phantastisch  malerischen  Barockumrahmung  zeigen 
Gudewerdt’s  Altäre  Figuren  von  schlichter  Einfachheit 
und  oft  großer  Schönheit,  scenische  Darstellungen  von 


Altars  aufbaueu,  sind  Scheinarchitektur  und  dienen  de¬ 
korativen  Zwecken. 

Nicht  nur  die  durch  Zapfen  im  Rahmenwerk  be¬ 
festigten  Einzelflguren,  sondern  auch  die  Figuren  in  den 
Füllungen  sind  in  voller  Körperlichkeit  aus  dem  Eichen¬ 
holz  herausgearbeitet,  ebenso  der  größte  Teil  des  Orna¬ 
ments,  nur  die  Gesimse,  Konsolen,  Eahmenleisten  und 
ähnliche  Teile  überziehenden,  oft  sehr  feinen  Zierformen 
sind  in  Relief  gegeben.  —  Während  Gudewerdt  die 
plastischen  Ornamente  mit  der  Feile  glättete,  verwandte 
er  bei  den  Figuren  durchweg  nur  Meißel  und  Messer, 
dessen  kräftiger  sicherer  Schnitt  überall  ei'kennbar  bleibt. 


BekrunuEg  des  Kappeler  Altars. 


unmittelbarster  Lebenswahrheit  und  ungekünsteltem  Natu¬ 
ralismus  in  seltsamem  Kontrast  zu  dem  barocken  Rahmen¬ 
werk.  —  Die  aus  starken  Brettern  zusammengefügte, 
mit  Eichenholz  verkleidete  Rückwand  der  Altäre  Gude¬ 
werdt’s  bildet  zugleich  den  breiten,  mit  reichem  archi¬ 
tektonischen  ,  ornamentalen  und  figürlichen  Schmuck 
überdeckten  Rahmen  und  ist  der  eigentlich  konstruktive, 
hier  versteckte  Teil  des  Aufbaues.  In  ihn  sind  aus 
Eichenbrettern  gebildete  rechteckige  Kasten  zur  Auf¬ 
nahme  der  scenischen  Darstellungen  der  Füllungen  ein¬ 
gesetzt.  Über  die  Ränder  des  Kastens  legen  sich  Rahmen¬ 
leisten  oder  Ohrmuschelornamente.  Säulen,  Architrav, 
Gesims  und  Konsolen,  die  sich  vor  dem  Rahmenwerk  des 


Die  größeren  Oruamentformen  und  Figuren  sind,  wie 
die  gotischen  Ilolzfiguren  meist,  von  der  Hinterseite  aus¬ 
gehöhlt  und  mit  dünnen  Brettern  wieder  geschlossen. 
Arme,  Beine  und  andere  stark  hervortretende  Teile  wurden 
häutig  eingesetzt. 

Gudewerdt’s  Altäre  sind  nicht  für  Bemalung  ge¬ 
arbeitet,  mit  Ausnahme  des  im  Jahre  1641  entstandenen 
Kappeler  A Rares.  Die  Scenen  in  seinen  Füllungen 
zeigen  eine  vortreffliche  naturalistische  Farbengebung 
und  mögen  der  ursprünglichen  Bemalung  recht  nahe 
kommen.  Nicht  so  die  hai'te  unschöne  Färbung  des 
Rahmenwerkes.  Gesimse,  Friese,  Konsolen  und  Säulen 
sind  grau,  schwarz  und  rotbraun  marmorirt,  Ornament, 


HANS  GÜDEWERDT. 


21 


Wappen  und  Einzeltiguren  zeigen  ein  totes  gipsernes 
W  eiß. 

Im  Jahre  1790  wurde  die  alte  Kirche  in  Kappeln 
abgebrochen,  und  als  man  einige  Jahre  später  die  neue, 
im  nüchternen  Zeitgeschmack  ausgestattete  Kirche  ein¬ 
richtete,  mag  man  wohl  das  Kunstwerk  aus  der  Barock¬ 
zeit  allzu  kraus  und  unruhig  gefunden  haben.  Man  ent¬ 
nahm  ihm  die  das  Abendmahl  enthaltende  Mittelpartie, 
um  sie  über  dem  neuen  Altar  einzufügen,  sowie  die 
Moses-  und  Johannesfigur,  vnn  sie  auf  den  Schalldeckel 
der  über  dem  Altar  angebrachten  Kanzel  zu  stellen.  Die 
übrigen  Teile  des  Altars  wurden  zusammengezogen;  das 
Rahmen  werk  strich  man  vermutlich  damals  in  der  ge¬ 
schilderten  Weise  neu  an,  damit  es  nicht  allzusehr  in 
der  Einpirekirche  auffiele.  In  dieser  Form  brachte  man 
das  Altarblatt  an  der  Nordwand  der  Kirche  an,  wo  es 
noch  heute,  im  allgemeinen  wenig  beachtet,  hängt. 

Der  Altar  ist  in  drei  Partieen  aufgebaut.  Die 
Staffel  enthält  die  Anbetung  der  Hirten;  die  wiederum 
dreigeteilte  Mittelpartie  zeigte  in  der  Hauptfüllung  das 
Abendmahl,  iin  rechten  Seitenfeld  die  Kreuzigung,  im 
linken  die  Auferstehung;  das  Oljergeschoss  enthält  die 
Himmelfahrt.  Die  Höhe  des  Altares  beträgt  fast  17  Fuß, 
er  hat  in  der  heutigen  Gestalt  eine  Breite  von  12  Fuß; 
beide  Maße  sind  durch  die  Zusa]nmenziehung  verringert. 
Die  jetzt  in  die  Mitte  gesetzten  Seitenfelder  der  Mittel¬ 
partie  haben  eine  Höhe  von  4  Fuß,  eine  Breite  von 
1^/^  Fuß.  Die  Füllung  der  Staffel  ist  1^2  Fuß  hoch 
und  3  Fuß  breit.  Der  obere  Teil  misst  8  Fuß  in  der 
Höhe.  Die  Adam-  und  Evafiguren  sind  je  2  Fuß  hoch. ') 

Die  Widmungsinschrift  befindet  sich  unter  der 
Himmelfahrtsscene  auf  einem  Felde  in  Form  eines  Kreis¬ 
segmentes,  sie  lautet: 

In  Dei  Omnipotentis  Honorem  Ecclesiae  Ornamentuiu 
Suiq.  Ac  Posteritatis  Recordatione  Nobiliss.  Ac  Strenu. 
Henricns  Rumohr  Hereditarius  In  Roest  Et  Toestorf 
Ecclesiae  Hujus  Patronus  Ejusque  Conjux  Nobilissima 
Ida  Rumohren  Altäre  Hoc  Suis  Sumppibus  Gonfici  Ac 
Ei’igi  Curarunt. 

Anno  —  1641. 

Die  Wappen  der  Stifter  und  ihrer  Eltern  sind  an 
der  Staffel  angebracht,  die  der  Großeltern  und  Urgro߬ 
eltern  enthält  die  Mittelpartie  des  Aufbaues.  Ida  Rumohr, 
die  Mitstifterin  des  Altares,  entstammte  der  Familie 
Brockdorff,  ihres  Mannes  und  ihre  Familie  gehören  dem 
alten  Adel  Schleswig-Holsteins  an  und  sind  verwandt 
mit  den  vornehmsten  Geschlechtern  des  Landes.  So 
bietet  der  Kappeier  Altar  vortreffliche  Gelegenheit,  die 
Wappen  der  wichtigsten  heimischen  Adelsfamilien  kennen 
zu  lernen,  außer  den  Schilden  der  Stifter,  Hinrich  Rumohr 
und  Ida  Brockdorff,  finden  sich  die  Wappen  der  Ahle- 

1)  Die  Maße  sind  einem  Aufsatz  des  verstorl>enen  Pastor 
Scholz  entnommen  (Neues  Staatsbürger!.  Mag.  IV,  849  vom 
Jahre  1834),  da  die  Anbringung  des  Altares  an  der  Wand 
genaue  eigene  Messungen  zu  sehr  erschwerte. 


feldt,  Blume,  Buchwald,  Meinstorp,  Rantzow,  Reventlou, 
Sehestedt  und  von  der  Wische. 

Die  Staffel  giebt  zwischen  zwei  stark  vorspringenden, 
mit  Wappen  haltenden  Putten  geschmückten  Sockeln  in 
länglich  rechteckigem,  von  Ohrrauscheiornament  um¬ 
rahmtem  Felde  die  Anbetung  der  Hirten.  (S.  221.)  Die  an¬ 
ziehende  lebendige  Scene  gehört  zu  den  besten  Schöpfungen 
Gudewerdt’s.  Den  Mittelpunkt  der  Gruppe  bildet  die  hinter 
der  Krippe  mit  dem  auf  Stroh  gebetteten  Christkinde 
sitzende  liebliche  Maria.  Sie  ist  von  ganz  besonderem 
Reiz  durch  die  individuelle  Charakteristik,  die  sie  in 
Haltung  und  Miene  bekundet.  Den  rechten  Arm  hat 
sie  unter  die  Kissen  ihres  Knaben  geschoben,  die  linke 
Hand  legt  sie  leicht,  wie  ordnend,  an  die  Decke  zu  seinen 
Füßen,  während  sie  mit  halber  Körperwendung  den 
herbeieilenden  Hirten  entgegensieht.  Der  Kopf  ist  ein 
wenig  in  den  Nacken  gelegt,  das  feine  liebliche  Gesicht 
ist  den  Ankommenden  zugewandt,  fast  liegt  etwas  Vor¬ 
nehm-Überlegenes  darin,  wie  sie  den  Hirten  entgegen¬ 
sieht.  Mir  will  es  Vorkommen,  als  habe  der  Künstler 
in  dieser  Maria  die  adelige  Stifterin  des  Altares  selbst 
porträtirt,  denn  um  ein  Porträt  handelt  es  sich  offenbar. 
Das  energisch  geformte  Kinn,  die  um  ein  Geringes  über¬ 
ragende  Oberlippe,  das  leicht  aufgebogene  Näschen,  die 
ganze  Haltung  des  Kopfes  haben  etwas  so  Persönliches, 
dass  sie  kaum  erfunden  sein  können.  Charakteristisch 
und  lebenswahr  ist  das  durch  die  Haltung  der  Maria 
trefflich  zum  Ausdruck  gebrachte  Verhältnis  zum  Christus¬ 
kinde.  In  der  Kunst  der  Frührenaissance  wurde  die 
Maria  mit  gefalteten  Händen  oder  über  der  Brust  ge¬ 
kreuzten  Armen,  anbetend  w'ie  die  Hirten,  auf  den  Knieen 
liegend  vor  dem  Gottessohn  dargestellt,  die  Mutter  des 
Heilandes  selbst,  ein  Mensch  wie  andere,  das  göttliche 
Wunder  seiner  Geburt  verehrend.  Schongauer,  Dürer, 
Aldegrever  u.  a.  fassten  so  das  Verhältnis  der  Maria 
zum  Christkinde  in  der  Anbetung  der  Hirten  auf.  Auch 
die  Bildner  haben  dieselbe  Auffassung,  so  Veit  Stoß  im 
Altar  der  Marienkirche  in  Krakau.  Hans  Gudewerdt 
zeigt  nichts  von  dem  Mysticismus,  der  dort  zum  Aus¬ 
druck  kommt,  er  schildert  das  menschliche,  lebenswarme 
Glück  und  den  Stolz  der  Mutter  im  Besitze  ihres  Kindes. 
—  Hinter  dem  Kinde  steht  Josef,  der  mit  sprechendem 
Ausdruck  den  herbeikommeiiden  Hirten  das  Wunder  der 
Geburt  bestätigt.  Im  Vordergrund  der  Mitte  hat  sich 
ein  in  wirksamem  Gegensatz  zu  der  vornehmen  Er¬ 
scheinung  der  Maria  stehendes,  derbes,  echt  schleswig¬ 
holsteinisches  Bauernmädchen  auf  ein  Knie  niedergelassen 
und  reicht  dem  Kinde  aus  vor  ihr  stehendem  Korbe  ein 
Ei  hinüber.  Ein  geschlachteter  Hahn  und  ein  hoher 
Henkelkrug  neben  ihr  werden  gleichfalls  Gaben  der 
Hirten  sein.  Hinter  dem  Bauernmädchen  sieht  man  in 
halber  Figur  eine  Alte,  die  neugierig  bew'underud  zu 
dem  prächtigen  Kinde  hinschaut;  das  Gesicht,  die  etwas 
vorgebeugte  Haltung  und  die  über  die  Brust  hinauf  ge¬ 
zogenen,  ineinander  geschlagenen  Hände  sind  jiraehtvoll 

28* 


220 


HANS  GUDEWERDT. 


beobachtet.  Ebenso  ganz  der  Natnr  abgelaiisclit  sind 
die  drei  Hirten,  in  deren  Mienen  nnd  ungelenken  Be¬ 
wegungen  sich  scheue  Ehrfurcht  unverkennbar  ausdrücken. 
Dem  letzten  der  Hirten,  der  in  Haltung  und  Kleidung 
besonders  naturalistisch  wiedergegeben,  ist  sein  Hund 
gefolgt  und  lugt  nun  zwischen  den  ausschreitenden  Beinen 
seines  Herrn  hervor.  Im  Hintergründe  lässt  sich  noch 
eine  Frauengestalt  mit  einer  auf  dem  Kopfe  getragenen 
Bütte  erkennen.  Ochse  und  Esel  fehlen  nicht  in  der 
lebendigen  Scene, 
die  sich,  wie  das 
holperige  Kopfstein¬ 
pflaster  anzeigt,  im 
Stalle  abspielt. 

Die  Staffel 
schließt  mit  gerade 
verlaufendem  Ge¬ 
sims  nach  oben  ab. 

Die  Hauptfiillung 
der  Mittelpartie  ent- 
liielt  das  Abend¬ 
mahl.  Christus,  der 
Johannes,  seinen 
angstvoll  zu  ilimauf- 
scdiaueiiden  Liel)- 
ling.sjünger,  auf  dem 
Sclioße  hat,  sitzt  in 
hohem,  mit  schma¬ 
len  rundbogigen 
Fenstern  versehe¬ 
nem  Saal  unter 
einem  Baldachin  vor 
dem  Tisch,  zu  bei¬ 
den  Seiten  grup- 
piren  sich  in  leb¬ 
hafter  Bewegung 
die  Jünger;  die 
Episode  mit  dem 
Schwerhörigen  felilt 
nicht.  Zwei  große 
Lichter  in  goldenen 
Leuclitern,  Speisen, 

Trinkgefäße  stehen 
auf  dem  mit  weis- 
sem  goldbefranzten  Tuche  gedeckten  Tisch.  Vorne  auf 
den  Boden  gestellt  ist  eine  Schale  mit  Broten  und  eine 
JVoinkanne.  —  Auch  diese  Gruppe  enthält  mehrere 
vortreflliclie  Figuren,  namentlich  sind  es  zwei  Jünger 
zu  den  Seiten  des  Heilandes,  deren  ausdrucksvolle,  cha¬ 
rakteristische  Köpfe  fesseln.  Nicht  so  gut  ist  Christus 
selbst  dem  Künstler  gelungen,  das  Gesicht  ist  leer,  die 
Bewegung  der  übrigens  gut  gearbeiteten  Hände  ist 
steif.  Wie  der  Heiland  im  Abendmahl  des  Lionardo  da 
Vinci  unleugbar  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Christus¬ 
figur  gewesen  ist,  sei  es  nun  durch  andere  Anlehnungen 


vermittelt  oder  unmittelbar,  so  hat  Gudewerdt  auch 
dasselbe  Motiv,  das  der  große  italienische  Meister  zuerst 
brachte,  seiner  ganzen  Komposition  zu  Grunde  gelegt, 
auch  hier  wird  der  Augenblick  geschildert,  in  dem  Christus 
das  von  ihm  gesprochene  Wort:  Einer  von  Euch  wird 
mich  verraten!  bestätigt.  Auffallend  ist  die  Figur  von 
Johannes,  nicht  weil  er  wörtlich  genommen  an  der  Brust 
des  Herrn  ruht  —  das  ist  landesübliche  Darstellung, 
sie  findet  sich  in  Altären,  in  Truhen-  und  Schrankfül¬ 
lungen  oft;  —  es 
ist  der  von  dem 
traditionellen  bart¬ 
losen  Johannes¬ 
typus  ganz  abwei¬ 
chende,  höchst  in¬ 
dividuelle  Ko])f  mit 
Schnurrbart  und 
Zwickelbart,  eine 
Barttracht,  wie  wir 
sie  auf  Bildern  von 
Zeitgenossen  Gude- 
werdt’s  so  oft  sehen. 
Auch  hier  handelt 
es  sich  offenbar  um 
ein  Porträt,  und 
dieses  Mal  kommt 
uns  die  Überliefe¬ 
rung  zu  Hilfe;  sie 
berichtet,  in  dem 
namensverwandten 
Lieblings  jünger  des 
Herrn  habe  Hans 
Gudewerdt  sich  sel¬ 
ber  dai'gestellt. 

Das  Hauptfeld 
wird  durch  je  zwei 
glattschaftige.  Säu¬ 
len  mit  ornamentir- 
ten  und  wappenge¬ 
schmückten  unteren 
Stücken  und  korin- 
thisirenden  Kapitel¬ 
len  flankirt,  vor  sie 
ist  auf  beiden  Seiten 
eine  dritte  gewundene,  mit  naturalistischen  Astansätzen 
versehene  und  reich  mit  ti'aubentragenden  Weinge¬ 
winden  verzierte  Säule  gestellt.  Die  drei  Säulen  sind 
zu  den  Seiten  des  Hauptfeldes  der  Mittelpartie  in 
jedem  Gudewerdt’schen  Altar  angebracht.  —  In  den 
jetzt  in  die  Mitte  zusammengeschobenen  Füllungen 
der  Seitenfelder  befindet  sich  rechts  die  Kreuzigung. 
Der  vorzüglich  modellirte,  nur  mit  von  grobem  Seil 
gehaltenem  Ijeudentuch  bekleidete  Körper  des  Heilandes 
hängt  tief  an  den  Armen  am  Kreuz  herab,  das 
edle  dornengekrönte  Haupt  ist  auf  die  Brust  gesunken, 


Das  Abendmalil ;  tirsiii'ünglicb  in  der  Mittelpartie  des  Kappeier  Altars. 


HANS  GUDEWERDT. 


221 


über  ihm  schwebt  eiu  Strahlenki-anz.  Zwei  Engel  fliegen 
anbetend  luid  tröstend  herbei.  Unter  dem  Kreuz  steht 
rechts  mit  gefalteten  Händen  zu  ihrem  sterbenden  Sohn 
aufblickend  die  edle  Gestalt  der  Maria;  es  ist  dieselbe 
Figur,  der  wir  in  der  Anbetungsscene  begegnet  sind. 
Links  unter  dem  Kreuz  steht  Johannes  in  etwas  über¬ 
mäßig  theatralischer  Pose.  Der  lockenumrahmte,  mit 
Schnurrbart  und  Kinnbart  versehene,  ausdrucksvolle  Kopf 
erinnert  sehr  stark  an  den  Johannes  in  der  Abendmahls¬ 
scene;  Unterschiede,  die  voi’lianden  sind,  lassen  sich  auf 
die  Bemalung  zurückführen.  Unter  dem  Kreuz  mit  über¬ 
einandergeschlagenen  Armen,  das  liebliche  andächtige 
Gesichtchen  nach  oben  gewandt,  liegt  Maria  Magdalena 
auf  den  Knieen,  wieder  eine  besonders  reizvolle  Gestalt, 
eine  Magdalena,  wie  sie  etwa  Eubens  malte.  Die  Stel¬ 
lung  der  Figur  giebt  Gudewerdt  Gelegenheit,  seine 
Meisterschaft  in  Behandlung  der  Gewänder  zu  be¬ 
währen. 


sendende  Wolken  umgeben  ihn,  über  seinem  lockigen 
Haupte  schwebt  die  Gloriole,  seine  linke  Hand  hält  die 
Siegesfahne,  die  rechte  weist  zum  Himmel  auf.  Die  Grab¬ 
wächter  benehmen  sich  diesem  überraschenden  Ereignis 
gegenüber  sehr  verschieden.  Hier  stellt  Gudewerdt  ein¬ 
mal  wieder  seiner  Fähigkeit  zu  charakterisiren  das  beste 
Zeugnis  aus.  Zwei  Krieger  sind  aufgeregt  in  die  Hohe 
gefahren,  der  eine,  speerbewaffnete,  hat,  geblendet  von 
der  Erscheinung,  seine  Hand  über  die  Augen  gelegt,  der 
andere  hält  schützend  sein  Schild  über  sein  Haupt,  wäh¬ 
rend  die  Rechte  nach  der  Wehre  an  seiner  Seite  fährt. 
Ein  dritter  Krieger  schläft  ungestört.  Arm  und  Haupt 
auf  die  Steinplatte  des  Grabes  stützend.  Zwei  Krieger 
im  Vordergründe  sind  im  Schrecken  über  das  unerwar¬ 
tete  und  wundersame  Geschehnis  auf  den  Rücken  ge¬ 
fallen.  Einer  derselben,  in  Koller  und  federgeziertem 
Helm,  sucht  sich  bereits  wieder  zu  erheben,  doch  der 
andere  liegt  noch,  mit  den  Beinen  und  einem  Arm  in 


Anbetung  der  Hirten  aus  dem  Kappeier  Altar. 


Im  linken  Seitenfelde  ist  die  Auferstehung  Christi 
dargestellt.  Auch  hier  zeigt  sich  eine  von  der  Auffas¬ 
sung  der  Scene  in  der  Renaissance  gänzlich  abweichende 
Schilderung.  Bei  Dürer  z.  B.  ist  es  betont,  dass  sich 
das  Wunder  der  Auferstehung  in  heiliger  verschwiegener 
Nacht  begiebt;  Dem  versiegelten  Grab  ist  der  Heiland 
entstiegen  mit  der  Siegesfahne  in  der  Hand,  das  Haupt 
von  überirdischem  Glanz  umstrahlt,  schreitet  er  vorbei 
an  den  schlafenden  Grabwächtern.  Nur  einer  von  ihnen 
ist  erwacht  und  legt  schlaftrunken  den  Arm  über  die 
geblendeten  Augen,  ungewiss,  ob  er  nicht  träume.  Die 
Weihe  des  geheimnisvollen  Wunders  liegt  über  dem 
Vorgang.  Hans  Brüggemann  hat  diese  Komposition  der 
gleichen  Scene  seines  berühmten  Altares  in  Schleswig 
zu  Grunde  gelegt.  Hans  Gudewerdt  vermenschlicht  auch 
hier;  mit  derbem,  lebendigem  Realismus  schildert  er  die 
Auferstehung:  Aus  dem  geschlossenen,  mit  großem  Siegel 
verwahrtem  Grab  ist  Christus  auferstanden,  strahlenaus- 


der  Luft  zappelnd,  auf  dem  Rücken.  Die  Figur  ist 
meisterhaft  mit  derber  Komik  gestaltet,  die  unbeholfene 
Stellung,  das  dumme  Gesicht  mit  dem  aufgerissenen 
Mund  giebt  trefflich  das  Gefühl  fassungslosen  Schreckens 
wieder.  Den  Eindruck  des  Tölpelhaften  erhöht  noch  die 
auffallende,  einer  Nachtmütze  nicht  ganz  unähnliche 
Kopfbedeckung.  —  Die  drastische  Scene  entspricht  ganz 
volkstümlicher  Auffassung.  Schon  früh  hatte  sich  der 
Humor  des  Volkes  der  mit  allem  militärischen  Gepränge 
ausziehenden  und  schließlich  doch  so  schimpflich  düpirten 
Grabwächter  bemächtigt.  In  den  Osterspielen  des  Mittel¬ 
alters  sind  uns  Scenen  der  Art  überkommen.  Als  dann 
in  protestantischer  Zeit  die  religiösen  Si)iele  aufgehört 
hatten,  bewahrte  die  Überlieferung  doch  die  Auffassung 
der  Grabwächter  als  komischer  Figuren. 

Im  reichen  Ornamentbehang,  der  die  Mittelpartie 
nach  außen  abschließt,  stehen  zwei  vortrefflii  he  Ai)ostel- 
figuren  mit  Schwert  und  Kreuz.  Über  den  Seitennischen 


222 


HANS  GUDEWERDT. 


befanden  sich,  wie  ich  veriimte,  zwei  jetzt  auf  dem  Schall¬ 
deckel  der  Kanzel  angebi’achte  Statuen,  die  des  Moses  und 
Johannes  des  Täufers,  üudewerdt  stellt  mit  Vorliebe  in 
ihnen  den  alten  IJund  mit  seiner  Gesetzesforderung  und  den 
neuen  mit  seiner  Gnadenverheißung  einander  gegenüber. 

Konsolen  über  den  ^Veinstocksäulen  tragen  ein  paar 
meisterhafte  nackte  Statuen,  die  in  lebhafte  lieziehung 
zu  einander  gebrachten  Adam-  und  Evatigureu.  Gude- 
werdt’s  Eva  ist  weit  von  dem  Schönheitsideal  der  Ee- 
naissance  entfernt,  der  Figur  mit  dem  schlanken  Glieder¬ 
bau,  dem  runden  langen  Hals  und  dem  ovalen  Gesicht, 
wie  sie  Tilman  Eiemenschneider 's  Kunst  schuf,')  und 


Adam  aus  dem  Kajipeler  Altai'. 


wie  sie  in  ausgeprägtester  Form  wohl  die  Venus  in  der 
Muschel  von  Sandro  Botticelli  zeigt.-)  Die  Eva  im  Kap- 
peler  Altar  hat  volle,  kräftige  Formen,  die  —  wie  der 
Oberarm  —  stellenweise  fast  männlich  gebildet  sind. 
Die  feste,  energische  Bildung  der  Formen  verhütet,  dass 
die  Figur  üppig  wirkt,  und  die  gesunde  Schönheit  der 
Körperlinien  stellt  sie  weit  über  die  allzuvollen,  dabei 
häufig  derb  und  gewöhnlich  gebildeten  Figuren  nackter 

1)  Am  I’ortal  der  Marienkirche  zu  Würzburg.  Alibild.; 
Bode,  Deutsche  Elastik,  8.  1G9. 

2)  Original  in  der  Galerie  der  Tlffizien.  Abbild.:  See¬ 
mann,  Kunsthistorische  Bilderbogen,  201.  Springer,  Eenais- 
sance  in  Italien,  u.  a.  m. 


Frauen  wie  sie  z.  B.  Eubens  oft  gemalt.  —  Brüggemann’s 
Eva  hat  mit  Gudewerdt’s  Figur  die  kräftige  Gestalt  ge¬ 
meinsam,  aber  sie  bleibt  hinter  der  Kappeier  Eva  weit 
zurück  in  der  feinen  Durchbildung  des  Körpers;  man 
vergleiche  z.  B.  die  vortreffliche  Modellirung  der  Bauch¬ 
decke  bei  dieser  mit  den  glatten,  wenig  dui'chgearbei- 
teten  Partieen  bei  jener,  —  ferner  zeichnet  sich  Gude- 
wei'dt’s  Figur  sehr  vorteilhaft  durch  die  freie  Unge¬ 
zwungenheit  ihrer  Haltung  aus.  Sie  hat  nichts  mehr 
von  der  Geziertheit  und  Steifheit  der  Brüggemann- 
schen  Eva,  wahres,  warmes  Leben  kommt  in  voller  Un¬ 
befangenheit  in  ihr  zum  Ausdiuck.  Der  Künstler  hat 


Eva  aus  dem  Kappeler  Altar. 


in  der  Eva  das  lockende,  verführende  'Weib  mit  der 
größten  Freiheit  und  in  charakteristischer  Weise  dar¬ 
gestellt.  Sie  wirft  Adam  den  Apfel  zu,  der  Kopf  mit 
dem  runden,  vollen  Gesichtchen  ist  kokett  in  den  Nacken 
gelegt.  Haltung  und  Mienen  sprechen  deutlich  den 
Willen  zu  verführen  und  die  Erwartung  des  Gelingens 
aus.  Die  prachtvollen  reichen  Haarmassen  sind  geschickt 
verteilt  und  lieben  durch  ihre  naturalistische  Behandlung 
die  Wirkung  des  fein  modellirten  Körpers.  Die  linke 
Hand  hat  eine  Flut  von  Haarwellen  über  den  Ober¬ 
schenkel  geworfen.  Der  Künstler  ersetzt  dadurch  in 
glücklichster  Weise  die  manirirte  anstößige  Verdeckung 
durch  den  Blättei’büschel.  Freilich,  die  Haltung  des 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UNI)  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


223 


linken  Annes  mit  der  etwas  zu  groß  geratenen  Hand 
ist  keine  besonders  gelungene.  Icli  erwähnte  vorhin  die 
Venus  des  Sandro  Botticelli;  ihre  Körpert'ormen  stehen 
vielleicht  in  dem  denkbar  größten  Gegensatz  zu  denen 
der  Eva  von  Gudewerdt,  aber  wie  der  Maler  dort  das 
Haar  verwandt,  so  hat  es  hier  der  Schnitzer  gethan, 
nur  ist  jener  bezüglich  der  Arnihaltung  glücklicher  ge¬ 
wesen  als  dieser.  —  Das  Individuellgestaltete,  Porträt¬ 
artige,  was  wir  an  mehreren  anderen  Figuren  des  Al¬ 
tares  feststellen  konnten,  verleugnet  auch  die  Eva  nicht. 
Das  runde,  volle  Gesicht  mit  dem  aufgebogenen  Naschen 
zeigt  ganz  den  Typus  der  Schleswig-Holsteinerinnen  der 
Ostküste.  Der  Hals  verrät,  dass  Gudewerdt  zweifellos 
nach  einem  Modell  gearbeitet  hat,  ebenso  verleiht  der 
konsequent  durchgeführte  leise  Anklang  an  männliche 
Formen  dem  schönen  Körper  etwas  ganz  Persönliches. 

Der  Eva  gegenüber  am  Altar  steht  die  prachtvolle 
Figur  des  Adam.  Wir  bewundern  an  ihm  dieselbe  Frei¬ 
heit  in  der  Haltung,  dieselbe  ausdrucksvolle  Bewegung 
und  dieselbe  Meisterschaft  in  der  Beherrschung  der  Kör¬ 
performen.  Mit  halber  Drehung  ist  Adam  der  Eva  zu¬ 
gewandt,  beide  Hände  sind  begehrend  ausgestreckt,  um 
den  Apfel  aufzufangen.  Lebendig  und  wahr  ist  auch 
hier  das  Gefühl  zum  Ausdruck  gekommen,  d(jch  liegt 
etwas  Gehaltenes,  Männlich-Ernstes  in  dem  vortrefflichen, 
charaktervollen  Kopf.  Ungewöhnlich  ist  der  Schnurrbart 
und  Kinnbart  am  Adam.  Übrigens  ist  der  Kopf  verhält¬ 
nismäßig  groß.  Der  magere,  aber  außerordentlich  mus¬ 
kulöse  Körper  ist  ausgezeichnet  modellirt,  etwas  zu  stark 
betont  ist  wohl  die  Bauchmuskulatur,  und  der  Knick  der 
Falten  zwischen  Bauch  und  Brust  scheint  mir  zu  scharf 


zu  sein.  Meisterhaft  sind  dagegen  wieder  die  Arme,  na¬ 
mentlich  die  Unterarme  und  die  sprechend  lel)endigen 
Hände  behandelt.  —  Unbedingt  gehören  die  Adam-  und 
Evastatuen  Gudewerdt’s  zu  den  besten  Schöpfungen 
deutscher  Holzskulptur. 

Das  Obergeschoss  enthält  eine  Darstellung  der 
Himmelfahrt  Christi.  Die  Jünger  des  Herrn,  in  ihrer 
Mitte  Maria,  knieen  und  blicken  mit  gefalteten  Händen 
dem  entschwebenden  Christus  nach,  von  dem  man  nur 
noch  in  krausem  Gewölk  die  Beine  sieht.  Diese,  un¬ 
serem  Geschmack  nicht  ganz  würdig  erscheinende  Dar¬ 
stellungsweise  des  gen  Himmel  fahrenden  Heilands  findet 
sich  auch  sonst  in  Epitaph,  Kanzel  und  Altar.  Hechts 
und  links  auf  kleineren  Sockeln  mit  der  Jahreszahl 
stehen  zwei  große  schöne  Engeltiguren  mit  trefflich  be¬ 
handelter  Gewandung,  zwischen  ihnen  das  Fehl  mit  der 
Inschrift.  Olten  im  Ornament  sitzen  kleine  Putten  mit 
Kreuz  und  Anker,  vermutlich  hat  auf  der  jetzt  leeren 
Konsole  zwischen  Adam  und  Eva  ein  dritter  Putte  mit 
dem  flammenden  Herzen  gesessen.  — 

Ich  habe  in  kurzer,  keineswegs  Ornamenttormen, 
Einzelliguren  und  Gruppen  erschöpfender  Weise  nur 
ein  AVerk  des  Eckernförder  Meisters  vorgeführt,  ich  Idn 
aber  überzeugt,  der  Leser  werde  mir  schon  jetzt  darin 
zustimmen,  dass  Hans  Gudewerdt  verdient,  allgemeiner 
bekannt  zu  werden,  und  dass  es  der  Mühe  lohnt,  mit 
den  AVerken  dieses  Künstlers  weitere  Kreise  bekannt 
zu  machen.  Hoffentlich  wird  es  dann  auch  gelingen, 
wie  von  dem  Altar  Hans  Brüggemann’s,  so  von  AATrken 
Hans  Gudewerdt’s  Abgüsse  für  unsere  Museen  zu  be¬ 
schaffen. 


DIE  MUSEEN  ITALIENS 
UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN.') 

VON  G.  FRIZZONI. 


I. 

ER  würde  es  heutzutage  leugnen  wollen, 
dass  auch  der  kleinste  von  den  Staaten 
des  europäischen  Dreibundes,  wenn  schon 
mit  Mühe  und  nicht  ohne  herbe  Kämpfe, 
dennoch  nach  und  nach  auf  ein  höheres 
Niveau  der  Kultur  sich  zu  heben  bemüht 
ist?  Liegt  auch  beim  italienischen  Volk  und  vielleicht 
noch  mehr  in  dessen  leitenden  Kreisen,  wie  man  täglich 
erfährt,  noch  gar  manches  im  Argen,  so  fehlen  doch  auch 
die  gesunden  Kräfte  nicht,  welche  den  bösen  Mächten 
entgegen  steuern,  und  sind  die  leuchtenden  Funken  des 


1)  Le  Gallerie  Nazionali  Italiane.  Per  cura  del  Minis- 
tero  della  Publica  Istruzione.  Roma  1895 — 189(J.  2  vol.  Fol. 


heiligen  Feuers  für  die  Pflege  des  Guten  und  des  Schönen 
keineswegs  erloschen. 

Beschränken  wir  uns  auf  das  Gebiet  der  Kunst,  so 
darf  wohl  behauptet  werden,  dass  zu  Gunsten  derselben 
seit  dem  Aufschwünge  des  Landes  zu  seiner  politischen 
Einheit  schon  vieles  unternommen  worden  ist,  um  dessen 
Angelegenheiten  zu  fördern  und  für  die  Aufstellung  und 
Erhaltung  der  Kunstwerke  Sorge  zu  tragen. 

Zweifelsohne  ist  dem  jüngsten  der  drei  Staaten 
sein  Bündnis  mit  den  älteren  auch  in  dieser  Beziehung 
zu  statten  gekommen,  insofern  ersterer  mit  der  strengen 
Civilisation  der  Nordstaaten  näher  in  Berührung  ge¬ 
kommen  ist  und  von  derselben  gar  vieles  mit  klarer 
Einsicht  und  praktischen  Anlagen  zu  verwerten  gewusst 


224 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


hat.  Rrauclit  mau  ja  nur  dabei  au  einen  weitumfasseu- 
deu  Geist  zu  denkeu,  ■wie  er  einen  Mann  gleich  Giov. 
Morelli  beseelte,  einen  Manu,  der  von  einem  seiner  besten 
Freunde  treffend  als  der  Gesinnung  nach  ein  Italiener, 


Als  Verbindungsglied  zwischen  den  zwei  so  ver¬ 
schiedenen  Rassen  hat  denn  dieser  Mann  in  der  Kunst¬ 
welt  einen  nachhaltigen  Einlluss  ausgeübt,  dem  sich 
schließlich;  auch  seine  Landsleute,  wiewohl  mit  einer 


in  Betracht  seiner  Studien  aber  ein  Deutscher  bezeichnet 
worden.  ^  j 

1)  S.  Giovanni  Morelli,  ein  Lebensl)ild,  p.  XXXVl  im 
dritten  Bande  der  kunsthistorisclien  Studien  von  J.  Lenuo- 
lietf.  Leipzig,  F.  A  Brockhaiis,  1893. 


gewissen  Saumseligkeit,  nicht  zu  entziehen  vermochten, 
indem  der  von  ihm  [gegebene  Impuls  auch  in  Italien 
unter  den  jüngeren  Kräften  befruchtend  wirkte. 

So  ist  es  heutzutage  der  Thätigkeit  und  dem 
Kuusteifer  Adolf o  Venturx’s  hauptsächlich  zu  verdanken, 


l’i-edella  von  Kit.  Uossa  iin  vatikanischen  Mnsenin  in  Koni. 


Zeitschrift  für  biltleinle  Kunst.  N.  F.  VIII.  II.  ‘.h 


21) 


226 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


(lass  iu  Italien  seit  einigen  Jahren  eine  Reorganisation 
der  öffentlichen  Sammlungen  vorgenommen  und  darüber 
unter  seiner  Leitung  angemessene  offizielle  Berichte 
herausgegeben  werden.  Anstatt  aber  in  einzelnen  Heften 
zu  erscheinen,  wie  dies  in  Deutschland  zu  geschehen 
pflegt,  ist  in  Rom  die  Maßregel  getroffen  worden,  die 
Veröffentlichungen,  wie  in  Österreich,  nur  einmal  jähr¬ 
lich  iu  der  Form  von  stattliclien  Quartbäuden  heraus¬ 
zugeben,  in  welchen  die  die  Museen  betreffenden  Neuig¬ 
keiten  zusainmenfassend  pro  Jalir  mitgeteilt  werden. 
Mag  diese  Norm  gebilligt  oder  getadelt  werden  —  (und 
wir  denken,  dass  sie  schließlich  ebenso  ihre  Vorzüge 
wie  ihre  Nachteile  hat),  —  sicher  ist,  dass  die  reich¬ 
haltigen  und  schön  illnstrirten  Prachtbände  jedesmal 
gar  viel  des  Erbaulichen  und  Denkwürdigen  enthalten. 
Davon  soll  nun  hier  das  Wesentlichste  unseren  Lesern 
mitgeteilt  werden. 

II. 

Zu  den  erfreulichsten  Neuigkeiten  ist  gleich  am 
Anfang  die  Erwerbung  der  zwei  kostbaren  Tafelbilder 
von  Francesco  Gossa  durch  die  Breragalerie  zu  Mailand 
zu  nennen.  Von  diesen  ist  bereits  in  dieser  Zeitschrift 
(Rd.  XXIII)  die  Rede  gewesen,  in  meinem  Artikel:  Zur 
Wiederherstellung  eines  altferraresisclien  Altarwerkes, 
als  sie  noch  in  Ferrara  im  Besitze  der  Frau  Barbi  Cinti 
waren,  sowie  in  dem  Artikel  von  E.  Jacobsen,  und 
es  ist  hier  am  Platz,  einige  Nachträge  zu  dem  da¬ 
mals  Angegebenen  zu  liefern.  Die  Vermutung  näm¬ 
lich,  dass  diese  zwei  Gemälde,  die  Heiligen  Johannes  den 
Täufer  und  Petrus  darstellend,  samt  dem  sti'engen  Domi¬ 
nikaner-Heiligen  der  Londoner  Nationalgalerie  und  dem 
langen  Predellenbilde  in  der  vatikanischen  Galerie  in 
früherer  Zeit  ein  Altarbild  in  einer  Kapelle  zu  San 
Petronio  in  Bologna  gebildet  hätten,  hat  sich  insofern 
als  unhaltbar  erwiesen,  als  der  Centrallieilige,  der  Mönch, 
nicht  einen  Heiligen  Vincenz  Ferrer,  dem  die  ange¬ 
deutete  Kapelle  gewidmet  ist,  personifizirt,  da  die  Figur 
mit  keinem  der  unausbleiblichen  Attribute  dieses  Heiligen 
versehen  erscheint,  wohl  aber  einen  andern  asketischen 
Nachfolger  des  Dominikus,  als  welchen  sich  der  Heilige 
Hyacinth  herausstellt.  Dies  zu  bestimmen  sind  wir  da¬ 
durch  in  der  Lage,  dass  die  dramatischen  Darstellungen, 
welche  sich  auf  dem  vatikanischen  Gemälde  vorfinden, 
und  die  sich  nach  gewölinlicher  Sitte  der  altitalienischen 
Maler  auf  die  Hauptperson  unter  den  oberhalb  darge¬ 
stellten  Heiligen  beziehen,  doch  genauer  mit  den  legenda¬ 
rischen  Episoden  aus  dem  Leben  des  letztgenannten 
Heiligen  stimmen,  wie  dies  im  Verzeichnis  der  päpst¬ 
lichen  Galerie  angenommen  und  vor  einigen  Jahren  in 
einem  Artikel  von  Herrn  Gustave  Gruyer  in  der  Zeit¬ 
schrift  „Notes  d’Art  et  dArcheologie  (1890,  Januar), 
gegen  meine  ketzerische  Deutung  überzeugend  ausein¬ 
andergesetzt  worden  ist.  Dass  aber  dieses  Predellen¬ 
bild  mit  den  drei  übrigen  Gemälden  ursprünglich  im 
engsten  Zusammenhang  gestanden  haben  muss,  erhellt 


nicht  nur  aus  der  augenfälligen  Identität  des  Stiles 
aller  dieser  Gemälde,  sondern  auch  aus  der  ganz  ent¬ 
sprechenden  Tracht  und  der  Übereinstimmung  in  dem 
ganzen  Habitus,  in  dem  der  Heilige  im  kleinen  und  im 
größeren  Maßstab  dargestellt  ist,  abgesehen  von  den 
Größeninaßeu,  die  man  sich  mit  der  gebührenden  Er¬ 
gänzung  des  ursprünglichen  Rahmens  für  das  Altarblatt 
zu  denken  hat.  Da  nun  allerseits  kein  Zweifel  über 
die  Zusammengehörigkeit  dieser  Stücke  waltet,  so  sei 
es  uns  gestattet,  hier  den  Ausspruch  zu  thun,  wie  schön, 
wie  zeitgemäß  aufgeklärt  es  wäre,  wenn  in  mehr  oder 
weniger  nahebevorstehender  Zeit  mittels  einei-  inter¬ 
nationalen  Verständigung  die  Angelegenheit  so  weit  ge¬ 
führt  würde,  dass  die  gesonderten  Glieder  des  ursprüng¬ 
lichen  Altarwerkes  von  neuem  in  einem  Ganzen  vereinigt 
und  derart  der  civilisirten  Welt  wiedergegeben  werden 
könnten.  Mittlerweile  verdanken  wir  der  Gefälligkeit 
sowie  der  künstlerischen  Einsicht  von  Herrn  Pi’of. 
Ludovico  Pogliaghi  aus  Mailand,  unsern  Ijesern  hier  eine 
ideale  Wiederherstellung  des  Tryptichon  vorlegen  zu 
können,  mittelst  Einlegung  der  verschiedenen  Teile  in  den 
auf  sinnige  Weise  von  ihm  ersonnenen  und  gezeichneten 
Rahmen.  —  Was  den  Ort  betrifft,  an  dem  die  Aufstel¬ 
lung  von  Anfang  an  stattgefunden  haben  dürfte,  so  wäre 
darüber  eine  neue  Vermutung  aufzustellen.  In  Ferrara 
existirt  nämlich  eine  alte,  wiewohl  im  vorigen  Jahrhun¬ 
dert  erneuerte,  dem  Heiligen  Dominicus  geweihte  Kirche, 
die  wie  in  andern  ähnlichen  Fällen  gleich  einem  Pantheon 
der  Nachfolger  aus  demselben  Orden  angelegt  ist.  Da 
fehlt  denn  auch  eine  dem  Heiligen  Hyacinth  gewidmete 
Kapelle  nicht,  aus  der  vor  wenigen  Jahren  eine  bedeutende 
Terrakottabüste  desselben  von  Alfonso  LomhanU  in 
den  benachbarten  Palast  Strozzi  übertragen  worden  ist. 
Es  liegt  also  nichts  näher  als  die  Annahme,  dass  das 
Altarwei'k,  vom  dem  hier  die  Rede  ist,  für  diese  Kapelle 
ausgeführt  worden  sei,  vor  der  Zeit,  in  der  Fr.  Gossa 
(wohl  ungefähr  1470)  nach  Bologna  übersiedelte,  indem 
der  herbe,  primitive  Stil,  der  sich  in  dem  ganzen 
Werke  kund  giebt,  gewiss  auf  die  Jugendjahre  des  ge¬ 
diegenen  Meisters  deutet  und  auf  recht  fühlbare,  sicht¬ 
bare  Weise  von  der  breiteren,  großartiger  angelegten 
Manier  sich  unterscheidet,  die  uns  beim  Anblick  seines 
allgemein  gerühmten  Leinwandbildes  in  der  Pinakothek 
entgegentritt. 

Um  schließlich  auf  die  richtige  Deutung  des  inter¬ 
essanten  vatikanischen  Predellenbildes,  das  gewisser¬ 
maßen  ein  malerischer  Kommentar  zur  Geschichte  des 
Titular-Heiligen  ist,  zurückzukommen,  so  sei  es  uns  ge¬ 
stattet,  dieselbe  mit  den  treffenden  Worten  im  Aufsatze 
von  Herrn  Gruyer,  der  von  uns  früher  angenommenen, 
entgegenzustellen.  Es  handelt  sich  um  vier  der 
Reihe  nach  dargestellte  Begebenheiten.')  La  premiere, 

1)  Die  Schilderung  derselben  ist,  laut  brietlicher  Mit¬ 
teilung  von  Herrn  Gustave  Gniyer,  der  Lebensbeschreibung 
des  Heiligen  Hyacinth  von  Severin  von  Krakau  entnommen. 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


227 


heißt  es,  nous  fait  assister  a  la  resurrection  d’uii  eiifant 
iiiort  Sans  etre  baptise,  niiracle  qui  eut  lieu  a  Cracovie 
en  1231.  Pendant  que  la  niere  de  l’enfant,  assise  sous 
le  portique  de  la  niaison,  s’abandonne  a  son  affliction,  le 
pere  s’acheinine  vers  le  teniple  en  portant  l’enfant  niort 
dans  une  corheille,  et  nn  peu  plus  loin  on  le  voit 
agenouille  a  rinterieur  du  teinple  devant  le  tombeau  de 
Saint  Hyacinthe,  sur  le  quel  son  fils  ressuscite  sourit 
a  quelques  spectateurs  stupefaits.  Une  fenime  vue  de 
dos,  tenant  un  enfant  par  la  niain,  nionte  les  marches 
du  temple.  L’enfant  rappelle  celui  de  la  zone  iiitenne- 
diaire  d’avril  dans  les  fresques  du  palais  de  Scbifanoia. 

—  Dans  la  seconde  coinposition  c’est  ä  rextinctioii  niira- 
culeuse  d’une  incendie  que  nous  assistons.  Un  jeune 
bomiiie,  probablement  le  fils  du  proprietaire  de  la  iiiaison, 
est  a  genoux  sur  une  arcade  ä  denii  consuiuee  et  voit 
apparaitre  dans  les  airs  Saint  Hyacintbe  qui  apaise  les 
flammes  par  une  benediction.  Au  preinier  plan,  a  droite, 
un  bonime  agenouille  puise  de  l’eau;  un  autre  lance  de 
l’eau  contre  les  murs  einbrases;  un  troisieine  se  pencbe 
vers  un  baquet  d’eau,  et  un  quatrienie  tire,  ä  l’aide  de 
crocs  adaptes  a  une  corde,  des  poutres  calcinees,  tandis 
qu’un  ouvrier,  vu  de  face,  porte  ses  mains  a  sa  tete 
ensanglantee.  A  gaucbe,  une  fennne  accourt  en  ouvrant 
les  bras  et  en  regardaut  le  jeune  bomme  a  genoux  sur 
l’arcade.  Devant  eile,  un  bomine  blesse  a  la  Jambe 
s’est  assis  pour  se  panser.  Aupres  de  lui  trois  bommes 
debout  (un  vu  de  dos  et  deux  vus  de  face)  causent  entre 
eux.  —  La  troisieme  composition  represente  Saint  Hya- 
ciuthe  au  moment  oü  il  guerit,  en  etendant  la  niain,  une 
feinnie  qui  est  tombee  a  terre  et  dont  un  jeune  bomme 
soutient  la  tete  renversee.  Un  grand  nombre  de  person- 
nages  (bommes,  femmes,  eufants)  assistent  au  miracle  qui 
a  lieu  devant  un  edifice  a  quatre  rangees  de  colonnes. 

—  Dans  la  quatrieme  composition,  la  fenime  du  boutillier 
du  roi  de  Pologne,  assise  sur  son  lit,  invoque  Saint 
Hyacintlie  et  est  aussitot  delivree  d’une  cruelle  maladie. 
Au  Premier  plan,  trois  femmes  (une  debout  et  deux  assises) 
preparent  des  linges  pour  la  malade.  Celle  de  droite 
fait  songer  a  quelques  unes  des  femmes  qui  figurent  dans 
la  zoiie  superieure  d’avril  au  palais  de  Scbifanoia. 
En  debors  de  la  cbambre  on  apergoit  a  gaucbe  un 
bomme  debout,  a  droite  deux  autres  bommes  debout, 
conversant  et  un  cavalier  vu  par  derriere,  qui  se  dirige 
vers  une  porte  pratiquee  dans  un  rocber  aux  decoupures 
bizarres  et  iuvraisemblables.“ 

Alle  diese  Einzelbeiten  kann  man  in  dem  reizemlen 
Predellenbilde  aufs  Bestimmteste  wabrnehmen,  uud  es 
waltet  daiin  faktisch  Ubei'all  derselbe  Geist,  welcher  den 
besten  Teil  in  der  äußerst  merkwürdigen  malerischen 
Dekoration  des  bekannten  großen  Saales  im  Palast  der 
Scbifanoia  zu  Ferrara  beseelt.  Die  Brera  aber  bat 
durch  den  Erwerl)  der  zwei  zugehörigen  Figuren  einen 
Zuwachs  erhalten,  um  den  sie  angesichts  der  Seltenheit 
solcher  Stucke  manche  Galerie  beneiden  könnte. 


Derselben  Sammlung  sind  weiterhin  zwei  andere 
Gemälde  zirgeflossen,  welche  sich  in  kirchlichen  Räumen 
befunden  hatten,  nämlich  ein  toter  Christus  von  zwei 
Engeln  beweint,  von  Alvise  Vivarini,  dem  man  wohl 
mehr  Zutrauen  schenken  mag  als  dem  anderen  segnen¬ 
den  Christus  ebendaselbst,  welcher  demselben  zugeschrie¬ 
ben  wird,  und  eine  Lünette  mit  der  Krönung  Mariä  von 
dem  bergamasker  Schüler  des  Giov.  Bellini  Andrea  Pre- 
vitali.  Diese  Bilder  gehören  zu  dei-  beträchtlichen  Zahl 
derjenigen,  die  durch  die  gewaltsame  AVillkür  des  ersten 
Napoleon  gar  manchen  Kirchen  in  Ober-  und  Mittel¬ 
italien  entrissen  wurden,  um  sie  in  der  Hauptstadt  Italiens 
zu  konzentriren,  wo  sie  schließlich  den  gehörigen  Raum 
vermissten,  um  aufgestellt  zu  werden,  und  folglich  in  ver¬ 
schiedenen  Kirchen  der  Umgegend  leihweise  deponirt 
wurden. 

In  den  uns  vorliegenden  Bänden  hat  der  Sekretäi 
der  Breraakademie,  Herr  Carotti,  einen  fleißigen  Bericht 
erteilt  über  die  vielen  Gemälde  genannter  Kategorie, 
die  nocli  in  den  Kirchen  zu  sehen  sind,  und  von  denen 
die  Direktion  der  Galerie  eventuell  noch  manches  Spe- 
cinien  zurückfordern  könnte.  Leider  ist  aber  das  meiste 
heutzutage  in  so  verwahrlostem  Zustande,  dass  an  eine 
neue  Aufstellung  kaum  noch  zu  denken  ist.  Anderer¬ 
seits  ist  dann  auch  nicht  alles  Gold,  was  da  geschildert  wird. 
Unter  anderen  eine  Maria  mit  dem  Kinde,  wegen  der 
auf  dem  Gürtel  der  Mutter  angebrachten  Bezeichnung 
dem  alten  .lacopo  Bellini  zugemutet,  wobei  an  das  von 
Morelli  sinnig  angeführte  venetianische  Sprichwort 
„clii  guarda  cartek)  no  magna  videlo“  erinnert  werden 
sollte,  wodurch  augedeutet  wird,  wie  leicht  man  durch 
bloßes  Betrachten  von  verführerischen  Inschriften  irre 
geführt  werden  kann. 

III. 


Viel  des  Neuen,  und  zwar  recht  Lobenswertes,  ist 
über  Parma  und  Modena  mitzuteilen.  Die  den  genann¬ 
ten  Städten  gehörigen  kgl.  Galerieen  sind  nämlich  von 
Grund  aus  nach  rationellen  Normen  neu  geordnet  worden. 
In  Parma  hat  sich  bei  diesem  gewaltigen  Unternehmen 
mit  der  Energie  eines  echten  Romagnolen  und  mit  ge- 
bülirender  Einsicht  der  bereits  im  Gebiete  der  Litteratur 
bekannte  Prof.  Corrado  Ricci  hervorgethan  und  seinen 
Landsleuten  gezeigt,  wieviel  durch  eine  feurige  und 
rastlose  Thätigkeit  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  zu 
Stande  gebracht  werden  kann.  Hat  er  nicht  in  weniger 
als  drei  Jahren  die  Anordnung  der  aus  mehr  als  tausend 
Nummern  bestehenden  Sammlung  durchzuführen,  den 
dazu  gehörigen  wissenschaftlichen  Katalog  (einen  beträcht¬ 
lichen  Band  mit  14  Abbildungen  versehen),  endlich  noch 
ein  erschöpfendes  AVerk  über  Correggio,  —  das  bereits 
in  englischer  und  in  deutscher  Übersetzung  erschienen 
ist  —  zu  Stande  zu  bringen  gewusst!  AVas  die  Galerie 
betrifft,  welche  die  herrlichen  Meisterwerke  Correggio’s 
enthält,  —  außer  manch  anderen  wertvollen  Kunst- 


20* 


228 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


Sfliützeii .  —  so  wird  jedermann  bestätigen,  der  seit 
mehreren  Jahren  dessen  Thürscliwelle  nielit  mehr  be¬ 
treten  hatte,  welch  vorteilhafte  Ändernngen  darin  vor- 
genonimen  worden  sind.  Erstens  nicht  mehr  die  frühere 
Zusammenstellung  der  Bilder  aufs  Geratewohl,  wobei 
öfters  der  Eindruck  des  einen  denjenigen  des  nahe  da¬ 
nebenstehenden  auf¬ 
zuheben  pflegt,  son¬ 
dern  eine  besonnene 
Verteilung,  nicht  nur 
nach  Scliulen,  son¬ 
dern  aucli  so  weit  wie 
möglicli  nach  Zeiten 
und  nach  Gegen¬ 
ständen,  wie  z.  B. 
besondere  Porträt- 
sammlungen.Schlach- 
ten,  Prospekte,  Land¬ 
schaften,  Wasserfar- 
l)engemälde,  Hand- 
zeichnuugen,  Stiche 
etc.;  dann  aber  eine 
in  allen  Sälen  durch¬ 
gehende  ruhige, 
aschengraue  Wand¬ 
farbe,  welche  von 
Ricci  als  die  beste 
angesehen  wird  für 
das  Alistechen  der 
Bilder.  Dies  was  das 
Allgemeine  betriftt. 

Im  Einzelnen  soll 
hervorgehoben  wer¬ 
den,  was  er  alles 
gethan,  um  die  Be¬ 
urteilung  und  den 
Genuss  der  Werke 
der  großen  Haupt- 
nieister  der  Schule 
Correggio’s  und  Par- 
niigianio’s  zu  begün¬ 
stigen.  Durch  die  be¬ 
sondere  Gruppirung 
ihrer  Bilder,  durch 
specielle  Einrichtun¬ 
gen,  um  den  von  der 
Pinakothek  abhängi¬ 
gen  berühmten  Raum  der  Äbtissin  von  San  Paolo,  mit  den 
spielenden  Putten~Allegri’s  in  einer  grünen  Laube,  sicht¬ 
barer  zu  machen,  endlich  durch  zweckmäßige  Verträge  mit 
den  kirchlichen  Behörden,  wodurch  er  erlangte,  dass  die 
Malereien  der  Kuppeln  von  S.  Giovanni  und  der  Domkirche 
mit  elektrischer  Beleuchtung  jederzeit  gesehen  werden 
können,  während  er  für  die  Galerie  die  zwei  alten,  ur¬ 
sprünglichen,  architektonischen  Rahmen  zu  den  Bildern  der 


Madonna  della  scodella  von  Correggio  und  zu  denjenigen 
der  Conception  von  Gerolamo  Mazzola  mittels  mäßiger 
Entschädigung  zu  gewinnen  wußte.  Von  dieser  harmo¬ 
nischen  Wiederherstellung  des  Einklanges  zwischen  dem 
Enthaltenden  und  dem  Enthaltenen  giebt  der  erste  Band 
der  Gallerie  Nazionali  Italiane  ansdiauliche  Rechenschaft 

mittels  trefflichen 
von  der  Firma  Danesi 
in  Rom  ausgeführten 
Photogravüren  nach 
lihotographischen 
Vorlagen  von  Ander¬ 
son.  Desgleichen  fin¬ 
det  man  daselbst  ein 
großes  Altarblatt  ab¬ 
gebildet,  welches  als 
das  Hauptwerk  des 
Cristuforo  Caselli 
von  Parma  zu  be¬ 
trachten  ist,  ein 
Werk,  in  welchem 
sich  seine  künstle¬ 
rische  Erziehung  in 
V'euedig  durch  die 
offenbaren  Eindrücke 
eines  Giov.  Bellini, 
eines  Alvise  Vivarini 
und  eines  Ciina  da 
Conegliano  kund  ga¬ 
lten  und  das  vom  Di- 
i'ektur  der  Galerie 
für  dieselbe  von  einer 
geistlichen  Brüder¬ 
schaft  erworben  wor¬ 
den.  Demselben  hat 
man  ferner  zu  ver¬ 
danken,  dass  er  den 
eben  genannten,  den 
trefflichsten  der  ita¬ 
lienischen  Photogra¬ 
phen  geleitet  und 
unterstüzt  hat  in  der 
Aufnahme  all  der 
köstlichen  Kunst¬ 
werke,  die  seit  Jahr¬ 
hunderten  die  Frem¬ 
den  in  der  hübschen 
ehemaligen  kleinen  Residenzstadt  anziehen.  So  wird  uns 
denn  zum  erstenmal  der  hohe  Genuss  gewährt,  treue  und 
klare  Abbildungen  von  den  berühmten  Fresken  der  Kirchen 
und  Klöster  zu  erlangen  und  eine  Musterung  der  vielen 
interessanten  Bilder  zu  halten,  welche  die  Galerie  be¬ 
sitzt,  worunter  wir  außer  den  weltbekannten  Werken 
Correggio’s  und  einiger  seiner  talentvollen  Nachfolger 
noch  mehrere  vorzügliche  Gemälde  anführen  möchten. 


Bildnis  des  Alexander  Farnese  von  Antonis  de  Moor  in  der  k,  Galerie  zu  Parma. 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


229 


IV. 


als  welche  speciell  zu  nennen  sind:  vier  herrliche  Stücke 
von  Cima  da  Conegliano  (zwei  kirchlichen  und  andere 
zwei  mythologischen  Gegenstandes),  mehrere  von  Francesco 
Francia,  ein  echtes  Porträt  des  Erasmus  von  Kotter- 
dam  von  Hans  Holbein  d.  j.  (im  Anderson’schen  Katalog 
merkwürdigerweise  als  —  „ritratto  d'ignoto“  —  ange¬ 
geben)  ;  weiterhin  das  Bildnis  des  jungen  Alexander  Far¬ 
nese  von  Antonis  Moor  (s.  Abbild.)  '),  eine  Heilung  des 
Blinden  von  dem  merkwürdigen  griechisch-italienisch¬ 
spanischen  Maler  Theotocopuli,  eine  geistvolle  und  breit 
gemalte  Darstellung 
zweier  heiliger  Mön¬ 
che  in  einer  höchst 
wirkungsvollen 
Landschaft  von  Gio. 

Batt.  Tiepolo ,  meh¬ 
rere  malerische  An¬ 
sichten  von  Bernardo 
Belotto  gen.  Cana- 
letto,  u.  a.  m. 


In  Modena  ist 
in  dem  sog.  Albergo 
Arti  alles  neu  auf¬ 
gestellt  worden, nach¬ 
dem  bekanntlich  der 
ganze  Bestand  der 
Galerie  aus  dem  her¬ 
zoglichen  Schloss 
welches  dem  großen 
militärischen  Insti¬ 
tut  zugewiesen  ist, 
herausgenommen  und 
lange  Zeit  in  provi¬ 
sorischen  unziigäug- 
lichen  Räumen  auf¬ 
bewahrt  worden  war. 

Schon  längst  hatte 
Venturi  dieser  seiner 
vaterländischen 
Sammlung  eine  be¬ 
sondere  Aufmerk-  Bildnis  des  Herzogs  Franz  I.  von  Diego 
samkeit  zugewandt, 

wie  das  sein  beträchtliches,  seit  1883  erschienenes  Werk 


1)  Man  würde  wohl  kaum  ahnen,  dass  der  Dargestellte 
eben  dieselbe  Person  ist,  die  Gerolamo  Mazzola  wenig  später 
in  einem  seiner  Bilder,  welche  sich  jetzt  in  Neapel  befinden, 
in  Verbindung  mit  der  personifizirten  Stadt  Parma  dargestellt 
und  die  in  dieser  Zeitschrift  in  unserem  Artikel  ülier  die 
neuen  photograiihischen  Aufnahmen  in  Italien  abgebildet 
wurde.  Das  ganz  vorzügliche  Porträt  von  Ant.  Moor  ist  be¬ 
zeichnet  und  datirt  1557,  als  der  Dargestellte  erst  12  .lahre 
alt  war  und  sich  bei  König  Philipp  IT.  in  Flandern  befand. 
(S.  Katalog  Ricci  p.  20G.) 


über  die  Estensische Galerie ')  und  hernach  mehrere  kleinere 
Schriften  bezeugen.  Kein  Wunder  also,  dass  er  seinem 
langgehegten  Bestreben  gemäß,  die  Galerie  endlich  wieder 
auf  würdige  Weise  aufgestellt  zu  sehen,  sich  für  dessen 
Anordnung  lebhaft  interessirt  und  sich  selbst  eingreifend 
an  die  bezügliclie  Arbeit  mit  Beihilfe  des  Direktors  Prof. 
Giulio  Cantalamessa  beteiligte.  Resultat  davon  ist,  dass 
nunmehr  den  Kunstfreunden,  welche  die  Stadt  Modena 
besuchen,  die  Befriedigung  gewährt  wird,  die  ganze 
Sammlung,  welche  außer  den  Gemälden  auch  andere 

wertvolle  Gegen¬ 
stände,  wie  Iland- 
zeichnungen,  Majo¬ 
liken  ,  Bronzen  und 
andere  plastische 
Werke  in  einer  Reihe 
stattliclier,  mit  Ober¬ 
licht  beleuchteter 
Säle  lietrachten  zu 
können.  Dass  die  in¬ 
nere  Einrichtung  so 
viel  wie  möglich  den 
neueren  F  orderungen 
gemäß  ausgeführt 
worden,  versteht  sich 
von  selbst  und  er¬ 
laubt  wohl  den  meis¬ 
ten,  die  Überzeugung 
zu  gewinnen,  dass 
die  Modenesischeu 
Sammlungen  trotz 
des  erheblichen  Ver¬ 
lustes,  den  sie  im 
vorigen  Jahrhundert 
durch  den  \hrkauf 
der  hundert  ausge¬ 
wählten  Bilder  an 
die  Dresdener  Galerie 
erlitten  haben,  doch 
noch  mehr  des  Guten 
und  Sehenswerten, 
als  allgemein  geahnt, 
Velazquez  in  der  k.  Galerie  zu  Modena.  besitzen,  und  zwar 

sowohl  an  Werken 
einheimischer  als  auch  fremder  Meister.  Unter  ersteren 
eine  Anzahl  selten  vorkommender  Stücke,  die  auf  den 
Zusammenhang  sowohl  des  iiolitischen  als  des  künst¬ 
lerischen  Lebens  zwischen  Modena  und  Ferrara  bis 
zu  Ende  des  XVI.  .lahrhunderts  deuten.  Unter  diesen 
soll  besonders  der  seltsamen  Verkündigung  von  Francesco 
Bianclii  gedacht  werden,  von  dem  noch  mehreres  in  der 


1)  Adolfo  Venturi:  La  K.  Galleria  Esteuse  in  Modena. 
Modena  Paolo  Toschi  e  G.  —  Editori  1883.  Ein  4“- Band  von 
nahezu  5U0  Seiten,  reich  illustrirt. 


231) 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


Stadt  vorkomiiit  und  der  mit  den  älteren  Ferraresen  nahe 
Verwandtschaft  zu  bekunden  pflegt;  ein  fleißiger,  wenn 
auch  etwas  trockener  Kleister,  in  den  dekorativen  und 
architektonischen  Teilen  seiner  Bilder  ganz  besonders 
sorgfältig  und  fein,  in  dem  aber  niemand  den  ersten 
Meister  des  Correggio  raten  würde,  als  welcher  er  von 
einem  alten  lokalen  Schriftsteller  ausgegeben  wird,  was 
auch  der  Zeit  nach  kaum  oder  doch  nur  für  selir  kurze 
Zeit  möglich  sein  konnte,  da  er  1510  gestorben  sein 
soll,  als  Correggio  also  nur  16  Jahre  alt  war. 

Besseres  haben  doch  scliließlich  die  ersten  Ferraresen 
geleistet.  So  hat  denn  Modena  sowohl  in  einigen  Kirchen 
als  auch  in  der  Galerie  einige  ganz  vorzügliclie  Werke 
der  beiden  Dosso  aufzuweisen,  die  mit  denjenigen  wett¬ 
eifern  können,  welche  die  Räume  der  kgl.  Galerie  in 
Dresden  schmücken.  Darunter  sind  zu  zählen  die  Por¬ 
träts  der  Herzoge  Herkules’  I.  und  Alphonso’s  L,  das¬ 
jenige  eines  laclienden  Narren  mit  einem  Lamme  unter 
dem  Arm,  das  höchst  poetische,  fast  in  Giorgione’s  phan¬ 
tastischer  Art  gedachte  Altarblatt  mit  den  lieiligen 
Kriegern  Georg  und  Michael,  endlich  aber  eine  Reilie 
viereckiger  Stücke  (mehrei-e  leider  nur  spätere  Kopieen 
oder  Ergänzungsstücke),  welche  zur  Verziejung  eines 
Frieses  in  einem  Saale  des  Schlosses  zu  Ferrara  ge¬ 
dient  haben  sollen ,  lauter  geistreich  aufgefasste  Genre¬ 
bilder,  dem  lebensfrohen  Gemüte  des  tüchtigen  Kolo¬ 
risten  Dosso  vollends  entsprechend. ') 

Auch  sein  Zeitgenosse  und  Mitbürger  Oarofalo  ist 
durch  ein  herrliches  großes  Werk  vertreten,  eine  harmonisch 
aufgebaute  Komposition,  deren  Mittelpunkt  eine  hoch  auf 
einem  Thron  sitzende  Madonna  mit  dem  Kinde  bildet, 
von  musizirenden  Engeln  umringt,  während  im  unteren 
Teil  drei  Heilige  sich  vorstellen,  unter  denen  besonders 
ein  sitzender  Pilger  zu  beachten  ist  in  ekstatischer 
Haltung,  ein  Urahne  der  Familie  d’Este;  ein  um  so 
bemerkenswerteres  Bild,  als  es  noch  voll  einer,  man 
dürfte  sagen  raphaelischen  Anmut  sich  darstellt,  wie¬ 
wohl  aus  verhältnismäßig  später  Zeit,  da  es  volle 
13  Jahre  nach  dem  Tode  Raphael’s  ausgeführt  worden 
ist,  wie  sich  aus  der  mit  der  Nelke  und  dem  Datum 
1533  versehenen  Bezeichnung  ergiebt. 

Eines  der  .Juwelen  der  ganzen  Sammlung  verdankt 
aber  die  Modenesische  Galerie  dem  Nachlasse  seines 
ausgezeichneten,  auch  durch  seine  zahlreichen  archivalischen 
Forschungen  und  Veröffentlichungen  bekannten  Lands¬ 
manns,  Marchese  Giuseppe  Campori,  von  dem  die  durch 
ihre  Grazie  auch  bei  der  Abbildung  in  der  offiziellen 
Illustration  ganz  einnehmend  dargestellte  Maria  mit  dem 
Kinde  auf  dem  Schoß,  von  Correggio,  herstammt. 

Dieses  Gemälde  ist  wohl  zu  denjenigen  aus  dem 
Ende  seiner  früheren,  der  Übersiedelung  nach  Parma 

1)  Eine  Abbildung  davon  nach  einer  Anderson’scheu 
Photographie  in  der  neu  illustrirten,  von  der  Firma  Fratelli 
Treves  in  Mailand  kürzlicli  herausgegebenen  Ausgabe  von 
Morelli’s  Buch:  Deila  Pittura  Italiaua. 


vorangehenden  Zeit  zu  zählen.  Obwohl  es  leider  durch 
eine  zu  ergreifende  Restauration  in  manchen  Teilen 
sichtlich  stark  renovirt  ist,  wohnt  doch  dem  Werke  noch 
ein  unbeschreiblicher  Zauber  iune,  der  aus  dem  Zu- 
sammentreften  des  duftigen,  hellen  Kolorits  mit  den  har¬ 
monischen  Linien  und  dem  lieldichen  Ausdruck  ent¬ 
springt.  Nichts  kann  interessanter  sein,  als  der  Vor¬ 
bereitung  des  großen  Malers  zu  seiner  reiferen  Ent¬ 
wicklung  in  Gemälden  wie  diesem  gewissermaßen 
beizuwohnen.  Ähnliches,  siieciell  im  Typus  der  Jungfrau, 
erblickt  man  in  dem  anderen,  von  Dr.  Bode  entdeckten, 
Jugend  werke  Allegris,  welches  sich  im  Besitze  des  Fürsten 
von  Hohenzollei’ii-Sigmaringen  befindet. 

Ein  anderes  aus  derselben  Sammlung  stammendes 
Bild,  welches  eine  Erwähnung  verdient,  ist  das  beglaubigte 
Stück  von  BartoJommco  Motitagna,  das  zwar  dem  Anfänge 
des  XVI.  Jahrhunderts  angehört,  aber  noch  in  der 
ernsten,  herben  Auffassung  des  XV.  gehalten  ist.  Weniger 
befriedigend  hingegen,  sowohl  wegen  des  etwas  zwei¬ 
deutigen  Ausdruckes  als  wegen  der  Modell irung,  erscheint 
uns  der  dem  sonst  so  gediegenen  Andrea  Solari  zuge¬ 
schriebene  kreuztragende  Christus,  gleichfalls  aus  der 
Sammlung  Cami)ori. 

Zwei  interessante  und  anziehende  Bilder  rühren 
von  Malern  aus  der  Umgegend  von  Cremona  her,  in 
denen  sich  eine  Mischung  von  lombardischen  und  von 
venetianischen  Zügen  zu  äußern  pflegen.  Mit  der  näheren 
Bestimmung  derselben  scheint  aber  in  der  Galerie  eine 
Verwechslung  geschehen  zu  sein. 

Dem  Cremoneser  Boccaccio  Boccaccino  wird  nämlich 
ein  Halbfigurenbild  der  Maria  mit  dem  Söhnlein  und 
einen  an  eine  Säule  gebundenen  Sebastian  zugesprochen, 
das  sich  durch  die  merkwürdigen  kugelrunden  Köpfe 
und  die  eigenen  abgerundeten  Falten  in  den  Gewändern 
als  ein  Werk  de.sjenigen  Meisters  kundgiebt,  welcher  (da 
sein  Name  noch  nicht  bekannt  ist,  wiewohl  eine  be¬ 
trächtliche  Zahl  Arbeiten  von  ihm  bereits  zu  erwähnen 
wäre)  von  Dr.  W.  Bode  passend  als  ein  Pseudo-Baccaccino 
bezeichnet  worden.  Hingegen  wird  einem  schwachen 
Schüler  des  echten  und  zarten  Boccaccino  ein  kaum 
etwas  größeres  Tafelgemälde  zugeschrieben,  in  welchem 
zwei  knieende  Hirten  vor  der  göttlichen  Mutter  und 
Kind  dargestellt  sind.  Vergleicht  man  nun  dieses  Bild 
mit  der  beglaubigten,  in  der  Akademie  zu  Venedig  sich 
befindlichen  sog.  Santa  Conversazione  von  Boccaccino, 
so  dürfte  es  doch  nicht  schwer  fallen,  sich  davon  zu 
überzeugen,  dass  in  den  beiden  gar  manche  Züge  der¬ 
maßen  übereinstimmen,  dass  das  feine  Modenesische  Ge¬ 
mälde  nicht  seinem  schwachen  Nachfolger  Tomaso  Aleni, 
wohl  aber  dem  Meister  selber,  B.,  vindizirt  werden  sollte. ') 

1)  Ein  Vergleich  durch  die  trefl'licheii  Photographieen 
Anderson’s  von  den  genannten  und  andern  hauptsächlich  in 
Venedig  sich  befindenden  Stücken  dürfte  wohl  jeden  wohl¬ 
aufgelegten  Kunstbeflissenen  von  der  Richtigkeit  des  Gesagten 
überzeugen. 


DIE  MÜSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


231 


Erwälinenswert  in  Bezug  auf  die  estensisclie  Galerie 
sind  ferner  melirere  Meister  aus  der  venetianischen 
Schule,  wie  Cima  da  Comgliano,  Bonifazio,  der  seltene 
Brrnardo  Parenzano,  Qio.  Fr.  Carotto,  Olrolanio  Moceio, 
Paolo  Caliari,  Tintoreito. 

Von  den  Auswärtigen  möge  nur  einer  für  alle  her- 
vorgeliohen  werden,  nämlich  der  Porträtmaler  par  ex- 
cellence  Velazquez.  Von  den  zwei  Bildnissen,  die  ihm 
in  der  Pinakothek  zugeschriehen  wurden,  wollen  wir 
uns  nicht  hei  demjenigen  aufhalten  das  als  sein  Selhst- 
porträt  ausgegehen  wurde,  das  aber  bereits  bei  der 
neuen  Aufstellung  in  Quarantäne  gestellt  woi'den,  sondern 
die  Aufmerksamkeit  unserer  Fi'eunde  auf  das  Porträt  des 
Herzogs  von  Modena,  Franz  L,  lenken,  ein  Meisterstück, 
um  das  jede  Galerie  ersten  Ranges  Modena  beneiden 
dürfte.  Bemerkenswei't  ist  die  Geschichte  seiner  Ent¬ 
stehung,  über  die  uns  Prof.  Carl  Justi  in  seinem  unüber¬ 
troffenen  Werke  über  Velazquez  (II,  G2  ff.)  das  Nähere 
zu  berichten  weiß.  Es  ergieht  sich  hieraus,  dass  der 
achtundzwanzigjährige  Herzog,  der  sich  bereits  zu  Gunsten 
der  spanischen  Interessen  in  Italien  verwendet  hatte, 
auf  Veranlassung  des  mächtigen  Olivares  im  .Jahre  16.38 
eine  Reise  nach  Madrid  unternahm,  um  daselbst  dem 
Könige  Philipp  IV.  zu  huldigen.  Am  23.  September 
kam  er  in  der  spanischen  Hauptstadt  an,  wo  er  vom 
König  gütig  empfangen  wurde.  Der  Eindruck  scheint 
auch  im  allgemeinen  ein  recht  günstiger  gewesen  zu 
sein.  Man  sagte,  „das  ist  ein  Spanier“,  weil  er  so 
schwarze  Haare  hatte  (moreno).  „Er  ist  wirklich  von 
schönem  Äußeren“,  schrieb  der  toskanische  Minister, 
„großgewachsen,  joviale  Mienen,  freundlich,  lebhaft, 
frank.“  Dieser  Reise  und  andren  Umständen,  in  Folge 
deren  das  Porträt  lange  Zeit  unbekannt  gehliehen,  ist 
es  zu  verdanken,  dass  es  noch  heutzutage  die  kgl.  Galerie 
zu  Modena  ziert.  Wäre  es  daselbst  im  vorigen  Jahr¬ 
hundert  aufgestellt  gewesen,  so  würde  es  gewiss  unter  den 
Bildern  sich  befinden,  die  sich  König  August  III.  von 
Sachsen  im  .Jahre  174.5  auserwählte,  wie  er  sich  auch 
die  drei  anderen  Bildnisse  von  Velazquez,  die  sich  jetzt 
in  der  Galerie  zu  Dresden  befinden,  aus  der  Sammlung 
des  elenden  Franz  III.  in  Modena  erkoren  hatte.  Wie 
wir  aus  der  Geschichte  der  Galerie  von  Modena  durch 
Venturi  erfahren,  wurde  das  Bild  erst  im  Jahre  1843 
wieder  von  der  herzoglichen  Verwaltung  erworben  und 
unter  die  übrigen  aufgenommen.  Es  ist  ohne  Zweifel 
dasjenige,  welches  der  spanische  Geschichtsschreiber 
Cean  Bermudez  mit  folgenden  Worten  erwähnt;  „Pintö 
Velazquez  otros  muchos  retratos  entre  les  que  se  dis- 
tinguiö  el  del  duque  de  Modena,  que  se  h.allaba  en  Ma¬ 
drid  el  ano  de  1638,  quien  le  gratificiö  con  una  ricca 


cadena  que  D.  Diego  se  ponia  las  dias  de  gala.“  Es  ist 
in  breiter,  fast  skizzenhafter  Weise,  höchst  wirkungsvoll 
ausgeführt.  Den  leJtendigen  Blick  auf  den  Betrachter 
gerichtet,  trägt  der  Dargestellte  über  der  Rüstung  eine 
rote  Schärpe.  „So  vollkommen  hat  er  sich  dem  Ge¬ 
schmack  der  Nation,  bei  der  er  Gast  wai’,  anhequemt,“ 
meint  Justi,  „dass  man  sein  Bild  ohne  die  Daten  für  einen 
Spanier  erklären  würde.  So  aber  verkündigt  diese  stolze, 
etwas  trotzige  Miene,  das  reiche,  lockere,  hoch  frisirte 
schwarze  Haar,  das  über  die  rechte  Seite  der  Stirn 
wellenförmig  herabgleitet,  der  noch  dünne,  aufwärts  ge¬ 
richtete  Schnurrbart,  die  Golilla,  das  goldene  Vließ,  den 
geschmeidigen,  zum  Schauspieler  geborenen  Italiener.  Die 
Nasensjiitze  tritt  keck  hervor,  das  Kinn  weicht  hinter 
die  breite  Unterlippe  zurück.  Der  Kopf  hat  etwas  Jiigend- 
lich-Unhefangenes;  der  Eindruck  ist  für  damalige  Vor¬ 
stellungen  nicht  sehr  hofmäßig,  eine  geniale  Nachlässig¬ 
keit  ist  darin,  eine  absichtliche  Einfachlieit  —  sehr  ab¬ 
weichend  von  den  späteren,  im  französisclien  Geschmack 
gemalten  Bildnissen,  wo  er  kälter,  blässer,  feiner  aus¬ 
sieht.  Das  Gesiclit  ist  fast  schattenlos  gemalt,  aber 
jetzt  durch  Firnis  stark  verdüstert.  Dieses  Denkmal 
seiner  spanischen  Verwandlung  mag  später  mit  scheelen 
Augen  angesehen  worden  sein;  daher  das  Verschwinden 
des  Bildes  aus  dem  Palast.“ 

Ein  anderes  denkwürdiges  Porträt  von  Franz  I., 
das  sich  noch  in  der  Galerie  von  Modena  befindet,  ist 
die  ülier  Naturgröße  gehaltene  marmorne,  von  Jjorenzo 
Bernini  im  Jahi’e  1650  ausgeführte  Büste.  Der  talent¬ 
volle  Bildhauer  arbeitete  fast  ein  Jahr  lang  daran,  „con 
affetto  e  diligenza  incomparahile“  (mit  unvergleichlicher 
Liehe  und  Sorgfalt)  wie  es  heißt.  Auch  wurde  er  vom 
Herzog  reichlich  dafür  belohnt  (mit  tausend  Doiihlonen), 
da  er  wohl  wusste,  wie  der  Künstler  am  päpstlichen 
Hofe  mit  allerlei  Wohlthaten  und  Ehrenbezeugungen 
überschüttet  wurde.')  Die  Büste  ist  in  der  That  ein 
ganz  ausgezeiclinetes  'Werk  in  ihren  lu'eiten,  frei  ge¬ 
schwungenen  Linien  und  der  edlen  Haltung  des  vor¬ 
nehmen  Mannes. 

Unter  den  plastischen  Kunstw'erken,  von  denen  gar 
manches  genannt  zu  werden  verdiente,  wollen  wir 
wenigstens  noch  die  vier  herrlichen,  mit  Figuren  und  Or¬ 
namenten  reich  verzierten  Bronzevasen  von  dem  be¬ 
kannten  Paduaner  Andrea  Briosco,  il  Riccio  gemannt, 
dem  Autor  des  prachtvollen  IvandelaJ»ers  in  S.  Antonio 
zu  Ikidua  erwähnen,  von  denen  die  JJchtdrucke  im  ersten 
Band  der  Galleria  Nazionali  Italiane  einen  guten  Be¬ 
griff  geben.  (Schluss  folgt.) 

1)  S.  Veil turi’s  Werk  (S.  112),  wo  die  IJüste  als  Titelblatt 
abgebildet  ist. 


BÜCHERSCHAU. 


Emile  Molinier.  Catalogue  des  ivoires.  (Mus^e  national 
du  Louvre  Departement  des  objets  d’art  du  moyeu-Age 
de  la  Renaissance  et  des  temps  modernes.  Paris,  1896. 

Der  neueste  Band  der  LouvrePataloge  behandelt  die 
Klfenbeine,  und  sicher  konnte  es  keinem  Kundigeren  anver¬ 
traut  werden  als  Molinier.  Der  Louvre  ist  gerade  au  IHfen- 
beinen  sehr  reich  und  die  Benutzung  derselben  ließ  oft 
schmerzlich  einen  neuen  zuverlässigen  Katalog  vermissen.  Die 
244  Nummern  umfassende  Sammlung  nimmt  einen  Raum  von 
3G6  Oktavseiten  ein,  schon  äunerlich  ein  Beweis  für  die  Ge¬ 
nauigkeit  ihrer  Beschreibung.  Au  der  Spitze  steht  das 
Fragment  eines  Evangeliardeckels,  die  Gefangennahme  Christi, 
den  sitzenden  Petrus  und  Petri  Verläuguung  darstellend.  Er¬ 
worben  wurde  das  Stück  1895.  Woher,  ist  leider  nicht  ange¬ 
geben.  Stilistisch  hängt  es  mit  dem  Mailänder  Deckel  (West¬ 
wood  Nr.  95,  96)  zusammen.  Das  Diptychon  Nr.  2  (auch  hier 
abgebildet)  ist  jetzt  vereint;  das  Museum  zu  Puy  hat  die  eine 
Hälfte  desselben  im  Jahre  1894  an  den  Louvre  abgegeben. 
Das  1893  erworbene  Relief,  den  sitzenden  lehrenden  Apostel 
Paulus  darstellend  (abgeb.  S.  8)  ist  als  fragliche  italienische 
Arbeit  des  0.  oder  7.  Jahrh.  bezeichnet.  Ich  setze  dasselbe 
in  die  Nähe  der  bekannten  Trierer  Reliquientafel  (zuletzt 
abgell,  bei  Kraus,  Christi.  Kuustgeschichte  1.  1896.  S.  501), 
die  byzantinischer  Provenienz  ist.  Fernerhin  seien  erörtert 
die  Abbildungen  der  Tafeln  mit  der  Abner-Joabepisode,  mit 
dem  Urteil  des  Salomo  (deutsch  9/10.  Jahrh.),  mit  den  David¬ 
darstellungen  (deutsch  9/10.  Jahrh.),  des  bereits  von  Labartei 
Atlas  pl.  X  2.  Ausgabe  1.  p.  42  pl.  VI 11  aligeb.  deutschen 
Kästchens  aus  dem  10.  Jahrh.,  des  bekannten  Triptyque  Har- 
baville  u.  a.  m.  Sehr  interessant  und  charakteiistisch  ist  eine 
Geburt  Christi,  eine  vortreif liehe  französische  Arbeit  des 
13.  Jahrh.  (Nr.  38,  abgeb.  S.  99).  Die  letzte  Nr.,  244,  ist 
eine  hochinteressante  Freigruppe,  eine  Kreuzabnahme;  Joseph 
von  Arimathia  trägt  den  Erlöser,  dessen  linke  Hand  die 
Madonna  ergreift.  Außerdem  ist  eine  fragmentirte  Ecclesia 
vorhanden;  offenbar  gehörte  noch  ein  Johannes  und  die  Figur 
der  Synagoge  dazu.  Das  zum  Teil  im  Lichtdruck  abgebildete 
prächtige  Stück  ist  erst  im  Jahre  1896  erworben  wmrden. 
Woher?  Der  Katalog  ist  vortrefflich  gearbeitet,  doch  es  ist 
dennoch  einiges  Tadelswertes  an  ihm.  Erstens  vermisst  man 
die  Nummern  von  Westwood,  zweitens  die  Register,  wie  sie 
gerade  bei  diesem  Werke  so  überaus  wertvoll  sind.  Eine 
zweite  Auflage  darf  diese  Fehler  nicht  un verbessert  lassen. 
Der  Louvrekatalog  tritt  jetzt  ebenbürtig  an  die  Seite  der 
Londoner,  Berliner  mid  Petersburger  Kollegen,  die  wir  West¬ 
wood,  Maskel,  Bode-Tschudi  und  Kondakoff  verdanken.  Ge¬ 
rade  für  das  Studium  der  Elfenbeine  sind  solche  Kataloge 
wertvoll  und  dankenswert.  Wenn  dann  noch  das  vor  einigen 
Jahren  von  Clemen  wieder  so  energisch  gewünschte  Korpus 
altchristlicher  und  frühmittelalterlicher  Elfenbeine  Wahrheit 
wird,  liegt  der  Forschung  das  Material  bequem  vor. 

Dr.  ED.  BRAUN. 


*  Baedeker' s  „Spanien  und  Po)iiir/al“',  der  eben  er¬ 
schienene  neueste  Band  der  roten  Führer  durch  die  Welt, 
bildet  ein  wirkliches  Pireignis  auf  dem  Büchermarkt,  wenigstens 


auf  dem  der  Reiselitteratur.  Alle  praktischen  guten  Rat¬ 
schläge,  die  tler  bewährte  Mentor  den  Seinigen  mit  auf  den 
Weg  giebt,  kommen  nun  auch  denjenigen  zu  Gute,  welche 
eine  flour  durch  die  Städte  der  iberischeu  Halbinsel  wagen 
wollen,  um  die  Natur,  das  Volk  und  namentlich  die  Kunst 
des  eigentlichen  Landes  an  Ort  utul  Stelle  kennen  zu  lernen. 
Für  die  Denkmälerwelt  Spaniens  hat  Baedeker  wiederum 
einen  besoiideren  Cicerone  gewonnen  und  zwar  keinen  ge- 
ringei'en  als  Geheimrat  C.  Jii><fi  in  Bonn,  den  geistvollen 
Biographen  des  Velasquez  und  Murillo.  ln  einem  einleiten¬ 
den  Kapitel  ,,Zur  spanischen  Kunstgeschichte“  giebt  der  be¬ 
rühmte  Gelehrte  eine  scharfe  Charakteristik  des  künstlerischen 
Geistes  der  Spanier,  den  er  mehr  zur  Aneignung  als  zur 
Selbstschöplung  berufen  erkennt,  und  nimmt  dann  die  ver¬ 
schiedenen  Kunstepochen  von  der  Römerzeit  bis  zur  Gegen¬ 
wart  durch,  in  jeder  die  hervorragenden  Denkmäler  und 
Meister  mit  wenigen  Strichen  kennzeichnend.  Kein  Kunst¬ 
gelehrter  oder  Kunstfreund,  auch  wenn  er  nicht  in  die  Lage 
kommt,  das  Land  zu  besuchen,  wird  das  Baedeker’sche  Reise¬ 
buch  fortan  entbehren  können,  weil  es  besser  als  irgend  ein 
anderes  Werk  orieutirenden  Stils  geeignet  ist,  ihm  ein  deut¬ 
liches  Bild  von  der  Stellung  Spaniens  in  der  Kuustgeschichte 
zu  gewähren. 

Die  Gemälde  der  Prado- Galerie  in  Madrid  werden  gegen¬ 
wärtig  von  den  Photographen  eifrig  umworben.  Die  Firma 
Braun  &  Co.  in  Dörnach  publizirt  nach  den  hervorragend¬ 
sten  Gemälden  ihre  rühmlich  bekannten  Kohledrucke;  die 
Photographische  Gcscllsehaft  in  Berlin  beginnt  eine  große 
Verötlentlichung  in  110  Heliogravüren  (zehn  Lieferungen  zu 
je  elf  Blatt)  und  die  Libreria  nacional  y  extranjera  in  Madrid 
giebt  eine  Folge  von  über  hundert  photographischen  Auf¬ 
nahmen  in  kleinem  Format  heraus,  die  von  Hauser  und 
Menet  in  Madrid  hergestellt  sind.  Über  die  Braun’schen 
Leistungen  bedarf  es  keines  Wortes  mehr;  man  erhält,  was 
mau  erwartet,  nämlich  Vorzügliches.  Die  großen  Helio¬ 
gravüren  der  Photographischen  Gesellschaft  erscheinen  im 
l'ormat  von  50  zu  68  cm,  die  Bildgröße  ist  circa  38  bis 
50  cm.  Das  uns  vorliegende  Probeblatt  der  Übergabe  von 
Breda  hat  eine  Bildgröße  von  47  zu  39  cm  und  erweist  sich 
als  eine  technisch  völlig  tadellose  Leistung.  Allerdings  ist 
der  Preis  nicht  gering ;  man  erhält  nur  ganze  Lieferungen 
zum  Preise  von  125  Mark,  was  die  Anschaffung  erschwert. 
Die  Photographieen  der  spanischen  Firma  haben  einen  viel 
poiiuläreren  Preis,  1  Fr.  50  Cent,  das  Stück,  in  der  Größe 
von  20  zu  27  cm.  Sie  sind  weit  besser  als  die  alten  Laurent- 
scheu  Aufnahmen,  aber  freilich  nicht  gleichmäßig  gut,  und 
stehen  natürlich  gegen  die  größeren  Aufnahmen  beträchtlich 
zurück,  halten  auch  den  Vergleich  mit  den  neuen  Emis¬ 
sionen  von  Brogi,  Alinari  und  Anderson  nicht  aus.  Es  fehlt 
an  Kontrasten  und  in  den  tiefen  Schatten  an  Zeichnung. 
Immerhin  sind  aber  auch  unter  diesen  Aufnahmen  eine  be¬ 
trächtliche  Zahl,  die  mau  unbedingt  empfehlen  kann,  und 
da  jedes  Blatt  einzeln  käuflich  ist,  so  kann  sich  der  Kunst¬ 
freund  eine  etwa  schmerzlich  empfundene  Lücke  seiner 
Sammlung  wenigstens  zum  Teil  ergänzen. 


Herausgeber:  Carl  von  Liitxow  in  Wien.  —  E'ür  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Carl  von  LiU.zow  t.  Nach  einer  Photograiibie. 


CARL  VON  LÜTZOW. 

GESTORBEN  DEN  22.  APRIL  1897. 


IN  Freund  giebt  hier  ein  Bild  des  Freundes, 
mit  dem  er  seit  Knabenzeit  auf  Schule 
und  Universitäten  zusammen  war  und 
mit  dem  er  auch  liernacli  durch  steten 
Briefwechsel  und  Austausch  von  Arbeiten, 
durch  gemeinschaftliche  Reisen  und  Be¬ 
suche  in  ununterbrochenem  Verkehr  blieb. 

Die  Persönlichkeit  des  seltenen  Mannes  und  eigen¬ 
tümlichen  Geistes  gilt  es  zu  zeichnen;  den  Lesern  dieser 
Zeitschrift  liegt  in  dieser  selbst  sein  hauptsächlichstes 
Wirken  und  sein  unvergängliches  Verdienst  um  die 
Förderung  aller  künstlerischen  Interessen  in  Deutschland 
vor  Augen. 


Carl  von  Lützow  wurde  am  25.  Dezemlier  1832 
geboren  als  Sohn  des  Großherzoglich  Mecklenburgischen 
Kammerherrn  und  Schlosshauptinanns  von  Lützow  und 
dessen  Gemahlin,  der  Tochter  des  berühmten  Anatomen 
Prof.  Loder  in  Jena,  des  Freundes  und  anatomischen 
Lehrers  von  Göthe.  Lützow’s  Mutter  befand  sich  da¬ 
mals  auf  Besuch  bei  ihrem  Großvater,  dem  Professor 
der  Augenheilkunde  Ritter  in  Göttingen.  Daher  der 
Zufall  der  Geburt  in  dieser  Musenstadt.  Sonst  ist  Lützow 
ein  Schweriner  Kind. 

Nicht  bloß  von  mütterlicher  Seite  her  stammte  der 
Gelelirtengeist,  der  den  Spross  des  alten  weitverzweigten 
Adelsgeschlechtes  beseelte;  schon  sein  Vater  war  eine 
Ausnahme  in  seiner  adeligen  Genossenschaft  durch 
litterarische  und  wissenschaftliche  Neigungen  und  Ar¬ 


beiten,  und  auch  sonst,  wie  lleirat,  Erziehung  dieses 
Sohnes  und  anderes  zeigten.  Eine  dreibändige  prag¬ 
matische  Geschiclite  Mecklenburgs  erhält  sein  Andenken 
als  Historiker. 

Die  Mutter  hat  Lützow  früh  verloren.  In  statt¬ 
lichem  Hause,  das  sich  sein  Vater  erbaute.  Avuchs 
er  auf  unter  Eindrücken,  wie  nach  Wissenschaft  und 
Kunstsinn  kaum  ein  anderes  Haus  in  Schwerin  sie 
bot.  Der  Verfasser  dieses  Nachrufes  erinnert  sich  noch 
seines  freudigen  Schreckens,  als  ihm  der  befreundete 
Knabe  die  Bibliothek  des  Vaters  zeigte  mit  all  diesen 
Werken  der  Litteratur,  und  er  die  Übersetzungen  von 
Bojardo’s  und  Ariosto’s  Roland  mitnehmen  durfte,  sieh 
in  ihre  Wunderwelt  der  Abenteuer  zu  versenken. 

In  Schwerin  wurden  die  Knaben  damals  gewöhnlich 
in  Privatschulen  für  das  Gymnasium  vorbereitet.  IJitzow’s 
Vater  sandte  seinen  Sohn  Carl  ausnahmsweise  in  die 
dem  väterlichen  Hause  gegenüberliegende  Bürgerschule, 
die  von  Knaben  mittlerer  und  auch  ärmerer  Familien 
besucht  war.  Der  Lateinunterricht  kam  dann  besonders 
hinzu. 

Von  Kind  an  war  Carl  von  Lützow’s  Charakter 
merkwürdig  klar  ausgeprägt  und  ist  sich  außerordent¬ 
lich  gleich  geblieben.  Der  schöne,  kluge,  heitere  Knabe, 
der  einzige  Adlige  unter  allen  Genossen  wusste  ebenso¬ 
wohl  seine  Würde  zu  wahren,  wie  sich  allgemein  beliebt 
zu  machen.  Er  war  immer  frisch  und  fröhlich,  klar 
und  sicher’,  musterhaft  in  Fleiß  und  Betragen,  nie  Spiel¬ 
verderber,  nie  in  Streit,  vornehm  in  Sitte  und  Benehmen 


:i(i 


Zeitsclii’il't  für  bildende  Kunst.  N.  VIII.  II.  lo. 


234 


CARL  VON  LÜTZOW. 


und  (las  Gemeinere  von  sich  abweisend,  aber  auch  nie 
liochmiitig  verletzend  und  dummstolz,  sondern  guter 
Kamerad,  und  dabei  stets  Primus  seines  Jalirgangs. 

Ostern  1843  trat  er  in  das  damals  von  dem  be¬ 
kannten  Philologen  C.  Fr.  Wex  geleitete  Schweriner 
Gymnasium  über. 

Oer  Knabe  und  Jüngling  entfaltete  hier  in  stetem 
Fortschritt  alle  seine  trefflichen  Anlagen  und  Eigen¬ 
schaften.  Eine  apollinische  Natur  —  das  möchte  ihn 
wohl  am  besten  charakterisiren.  Nach  Geist  und  Köriier 
gleiclimäßig  bevorzugt,  war  alles  in  ihm  maßvoll  har¬ 
monisch.  Klar  von  Verstand  und  für  alles,  was  die 
Schule  in  Sprachen  und  Mathematik  u.  s.  w.  verlangte, 
hoclibegal)t,  mit  ausgezeichnetem  Gedächtnis  und  wie 
von  selbst  fließender  Oarstellungsgabe,  heiter  von  Ge¬ 
müt,  durchaus  nicht  sentimental,  wenn  er  aucli  für  alles 
Scliöne  und  Große  schwärmte,  sicher  in  Cliarakter  und 
Wesen,  dabei  musisch  veranlagt,  gymnastisch  tüclitig, 
erwarb  er  sich  in  seltener  Weise  die  Liebe  und  Aclitung 
seiner  Lehrer  und  Mitschüler.  Au  seinem  Fleiße  bei 
seiner  Fröhlichkeit  und  Regsamkeit  in  jeder  I Jeziehung 
konnte  jeder  sich  ein  Muster  nehmen.  Dass  er  ein  ge¬ 
lehrter  Professor  werde,  stand  von  vornherein  für  alle 
seine  Genossen  fest.  Aber  nicht  Mediziner,  wie  Gro߬ 
vater  und  Urgroßvater  mütterlicher  Seite,  auch  nicht 
.Jurist,  um  docli  vielleicht  lioher  Staatsbeamter  in  seiner 
Heimat  zu  werden  —  auf  Philologie  und  Archäologie 
ging  von  vornherein  seine  Neigung.  Man  mag  sich  die 
Freude  der  pliilologischen  Jjehrer  am  Gymnasium  über 
diesen  herrlichen  Zögling  denken. 

Sein  Abgangszeugnis  vom  Gymnasium  (Sept.  1851) 
giebt  davon  Kunde:  Er  hat  in  allen  Sprachen  und  in 
der  Mathematik  die  besten  Noten.  Seine  natürlichen 
Anlagen,  sein  reger  Sinn  für  Wissenscliaft,  sein  Fleiß, 
seine  sehr  erfreuliclie  Scliulbildung  werden  hervorge¬ 
hoben.  Sein  musterhaftes  Betragen  und  eine  wackere 
Gesinnung  habe  ihn  bei  liehrern  und  Schülern  in  holiem 
Grade  beliebt  gemacht.  Die  Prüfungskommission  ent¬ 
lässt  ihn  „mit  den  schönsten  Hoffnungen  und  iliren  besten 
Segenswünschen“. 

Da  war  niemand  unter  Lehrern  und  Mitschülern, 
der  nicht  erwartet  hätte,  ihn  nach  wenigen  Jahren  unter 
die  ersten  Universitätsgrößen  aufrücken  zu  sehen. 

Der  junge  Student  ging  nach  Göttingen  und  trat 
hier  in  die,  unter  den  Einwirkungen  des  Jahres  1848  ent¬ 
standene,  dem  sogenannten  Progress  huldigende  Burschen¬ 
schaft  Hannovera.  Ältere  Schweriner  Gymnasiums¬ 
genossen  sorgten,  wie  es  zu  gehen  pflegt,  für  Nachschub 
und  Fuchsfang.  Carl  vonLützow  war  sogleich  mit  voller 
Seele  dabei,  auch  für  die  neuen  burschenschaftlichen 
Prinzipien  des  Progresses.  Es  gab  keinen  fröhlicheren 
und  dabei  keinen  fleißigeren  Studenten. 

Wacker  auf  dem  Fechtboden,  auf  der  Kneipe  ein 
Trinker,  der  allen  gerecht  wurde,  aber  sich  niemals  um 


Sinn  und  Verstand  trank,  sondern  stets  im  Geist  seines 
späteren  Freundes  Bodenstedt  zechte  — 

Trinken  wir,  sind  wir  begeistert  .  .  . 
unerschöpflich  an  AVitz  und  Einfällen  und  Schiiäcken, 
über  die  er  dann  selbst  glutrot  werdend  lachte,  war  er 
nach  den  schwersten  Kneipnächten  morgens  unfehlbar 
im  Kolleg.  Ihn,  dem  vom  Glücke  begünstigten,  verließ 
der  angeborene  eiserne  Fleiß  und  die  Klugheit  nie, 
während  andere,  die  den  Fleiß  so  dringend  nötig  gehabt 
hätten,  akademisch  verbummelten. 

C.  Fr.  Hermann,  den  er  begeistert  verehrte,  Sclmeide- 
win  und  Fr.  Wieseler  waren  seine  Hau])tprofessoren. 

Selbst  Gut-Freund  mit  allen  Genossen,  aber  für 
seine  intimeren  Angelegenheiten  liis  zur  Verschlossenheit 
verschwiegen,  haben  ihm  die  verschiedensten  Charaktere 
schwärmerische  Freundschaft  entgegengetragen.  Seine 
eigene  leicht  erregte  Schwärmerei  für  Personen  und 
Ideen  machte  ihn  so  besonders  liebenswürdig  und  beliebt, 
aber  Sentimentalität  und  Gefühlsüberschwang  jeder  Art 
war  bei  ihm  ausgeschlossen,  wie  das  Gleichmaß  seiner 
Anlagen  dem  Außergewöhnlichen  nach  der  einen  oder 
anderen  Seite  wehrte. 

Seine  Klugheit  und  Fähigkeit  zu  lenken  und  zu 
leiten,  bethätigte  er  schon  hervorragend  als  Chargirter 
in  seiner  Verbindung.  Dass  er,  dei-  vielfach  Verzogene, 
dabei  nach  Gelegenheit  und  Bedürfnis  den  Olympier 
hervorkehrte  und  hier  wie  auch  später  den  Selbst¬ 
herrscher  zu  spielen  verstand,  war  nicht  zu  verwundern. 

Im  Frühling  1854  ging  er  nach  München.  Das 
studentische  Verbindungsleben  hörte  hier  auf;  dafür 
genoss  er  Geselligkeit  aller  Art.  An  engeren  Freundes¬ 
kreis  von  jungen  Gelehrten  und  Musikern  reihten  sich 
weitere.  An  F.  v.  Thiersch  empfohlen,  fand  er  im 
Hause  des  berühmten  Philhellenen,  dem  Sammeli)latz 
aller  BeiJilimtheiten  in  München,  die  freundlichste  Auf¬ 
nahme;  ebenso  im  gastfi'eien  Liebig’schen  Hause  und 
selbstverständlich  bei  seinen  großen  gesellschaftlichen 
Vorzügen  auch  in  anderen  Kreisen  geistiger  oder  geld¬ 
licher  Elite. 

Von  besonderem  Werte  wurde  für  ihn  eine  Em¬ 
pfehlung  Karl  Ludwig  Aegidi’s  —  damals  als  hinreißen¬ 
der  Redner  berühmter  Docent  in  Göttingen  und  Ehren¬ 
mitglied  der  Burschenschaft  Hannovera  —  an  Friedrich 
Bodenstedt.  Das  war  jener  Zeit  ein  Sonnenschein  des 
Glücks  im  Hause  des  von  König  Maximilian  von  Bayern 
mit  Geibel,  Riehl,  Carriere  und  Paul  Heyse  nach  München 
berufenen  Dichters  und  seiner  Edlitam!  Und  mit  ge¬ 
ringen  Mitteln  machten  der  Mirza,  wie  Bodenstedt 
nach  seinem  Mirza-Schaffy  hieß,  nnd  seine  mit  Silberstimme 
so  lieblich  singende  Edlitam  es  möglich,  ihr  Haus 
zum  Mittelpunkt  aller  Berühmtheiten  und  fürstlicher 
Dichterinnen  zu  machen,  die  nach  München  kamen,  und 
ihre  Gastfreundlichkeit  selbst  auf  Studenten  auszudehnen, 
die  bei  dem  gefeierten  Dichter-Professor  hörten. 

Bodenstedt  hat,  nebenbei  bemerkt,  nie  studirt,  wie 


CARL  VON  LÜTZOW. 


235 


selbst  sonst  treffliclie  ausfiilirlichere  BiogTapliieen  von 
ilnn  berichten.  Nur  durch  Selbstbildung  schwang  er 
sich  vom  Krämer-Ladentisch  in  Peine  auf  zum  sprach¬ 
kundigen  Lehrer,  der  als  solcher  in  Russland,  dann  auch 
als  Reisender,  Schriftsteller  und  Dicliter  sich  Ruhm  er¬ 
warb  und  dessen  Mirza -Schaffy  in  der  Reaktionszeit 
nach  1848  eine  Erfrischung  und  Freude  sondergleichen 
für  die  Geister  wurde.  In  seiner  ersten  Vorlesung  im 
November  1854  kam  er,  unkundig  des  akademischen 
Tempus  und  ohne  für  Beleuchtung  gesorgt  zu  haben,  Punkt 
4  Uhr  ins  Kolleg  und  begann  zu  lesen,  während  die 
verwunderten  Studenten  allmählich  eintraten.  Um  '/^5  Uhr 
konnte  er  auf  dem  Katheder  schon  nicht  mehr  sehen 
und  trat  ans  Fenster;  um  72 ^  Uhr  war  er  mit  seinem 
Manuskripte  fertig,  wie  er  selbst  ganz  erstaunt  uns  Er¬ 
staunten  erklärte. 

Aber  wie  aiich  der  schöne,  geistvolle,  heitere  Student 
von  Lützow  in  Glück  und  Gesellschaft  schwamm,  er  be¬ 
hände  in  eisernem  Fleiße  als  Philologe  und  Archäologe. 
Thiersch,  Spengel,  Halm,  Prantl  hörte  er  zumeist.  Am 
5.  August  1856  machte  er  summa  cum  laude  seinen 
Doktor.  Seine  Dissertation  handelte  de  vasis  fictilibus 
antiquis  more  archaico  pictis. 

Im  Jahre  1857  ging  er  nach  Berlin,  die  dortigen 
Antiken- Sammlungen  zu  studiren.  Hier  in  Berlin  be¬ 
gannen  die  ersten  Einwirkungen,  die  ihn  dann  später 
von  seinen  anfänglichen  Zielen  ablenkten.  Er  lernte 
Kugler  und  AVilhelm  Lübke  kennen,  der  damals  Pro¬ 
fessor  der  Baugeschichte  au  der  Bauakademie  in  Berlin 
wurde.  Die  beiden  so  außerordentlich  begabten,  in 
mancher  Beziehung  so  ähnlichen,  von  Geist  und  Witz 
sprühenden,  von  rastlosem  Fleiß  förmlich  geplagten,  dem 
Positiven  zugewandten  und  der  philosophischen  Spekulation 
durchaus  abgewandten  jungen  Männer  und  Kollegen  in 
der  Philologie  hatten  sich  schnell  gefunden.  Der  ältere 
Kunsthistoriker  Lübke  erkannte  die  Kraft  des  jüngeren 
Archäologen  und  machte  Lützow  zum  Mitarbeiter  bei 
der  2.  Auflage  der  „Denkmäler  der  Kunst“.  Fortan 
blieben  sie  im  regsten  Verkehr;  im  Herbst  1858  begleitete 
Lützow  Wilhelm  Lübke,  dessen  Frau  und  Schnaase  auf 
einer  Studienreise  nach  Italien;  er  selbst  kam  diesmal 
nur  bis  Florenz. 

Er  datirt  von  dieser  Reise  seine  Neigung  zur  all¬ 
gemeinen  Kunstgeschichte  über  das  archäologische  Fach 
hinaus. 

Wie  schwärmte  er  bei  seiner  Rückkehr!  Nur  die 
neueren  Italiener  kamen  damals  als  Einheits-Patrioten 
bei  ihm  schlecht  weg,  wogegen  die  österreichischen 
Soldaten  seine  Freude  gewesen  waren. 

AVer  Carl  von  Lützow  kannte,  der  wusste,  um  dies 
hierbei  zu  erinnern,  dass  er,  so  treu  er  sonst  persönlich 
war,  und  so  felsenfest  seine  Freunde  auf  ihn  bauen 
konnten,  in  seinem  Enthusiasmus,  allerdings  ei-st  in 
längeren  Zeiträumen,  wechsle.  Hitzig  und  schwärmerisch 
ergab  er  sich  eiper  Zeitrichtung,  Kunstepoche;  hatte  er 


sie  durchgearbeitet,  kam  wohl  eine  andere  an  die  Reihe. 
So  machte  er  es  z.  B.  früher  mit  Gotik,  Barock,  der 
Klassik  Hansen’s.  Wie  er  sich  in  den  letzten  Jahren 
den  modernsten  Strömungen  zuwendete,  wissen  die  Leser 
dieser  Zeitschrift.  Licht  und  Schatten  ergaben  sich 
natürlicherweise  daraus.  Er  blieb  stets  im  regsten 
Streljen  und  in  heißer  Parteinahme  dafür  oder  dagegen; 
immer  schritt  er  mit  gleicher  Energie  voran.  Erinnerte 
man  ihn,  dass  er  vor  Jahren  heiß  gelobt  habe,  was  er  jetzt 
verwarf  oder  umgekehrt,  so  verschlug  ihm  das  nicht  viel. 
Das  war  ja  da)nals  gewesen  und  war  jetzt  ganz  anders. 

Er  habilitirte  sich  am  17.  Februar  1859  als  Privat- 
docent  in  München.  Umfassendes  fleißigstes  Studium, 
treffliche  Schulung,  sicheres  Gedächtnis,  rednerische  Be¬ 
gabung  und  seine  Art,  alles  mit  Wärme  zu  behandeln, 
machten  ihn  zu  einem  trefflichen  und  beliebten  Docenten. 
Er  trug  vor  über  griechische  Kunstgeschichte,  griechische 
Lyriker,  antikes  Drama,  Pausanias,  Kunstmythologie,  die 
Antiken  der  Münchener  Sammlung.  Die  Veröffentlichung 
der  „Münchener  Antiken“  begann  er  1861.  Durch  Reisen 
im  In-  und  Ausland  erweiterte  er  seine  Kenntnisse. 

Es  war  eine  geistig  bewegte  Zeit  in  München.  Die 
Maximilian-Epoche  hatte  heftigen  Kampf  zwischen  alten 
und  neuen  Bestrebungen  und  A^orherrschaften  gebracht. 
Die  kirchliche  Parteiung  war  auch  au  der  Universität 
groß.  In  der  bildenden  Kunst  denke  man  an  den  da¬ 
mals  noch  nicht  beendeten  Streit,  der  durch  die  Namen 
Kaulbach,  Piloty,  Rabl,  Genelli  u.  s.  w.  charakterisirt 
wird,  an  den  neuen  Maximiliansstil  in  der  Architektur. 
1859  erregte  der  österreichisch-italienische  Krieg  die 
Gemüter  aufs  heftigste  und  nun  die  neue  Ära  in  Preußen 
und  all  die  weiteren  Aufregungen  in  Deutschland  im 
Gefolge  davon!  Wie  Stahl  und  Eisen  trafen  die  Gegen¬ 
sätze  aufeinander  und  schlugen  Funken. 

Carl  von  Lützow  war  in  seinem  Element.  Mit 
seiner  riesigen  Nervenkraft  brachte  er  es  nach  wie  vor 
fertig,  der  fleißigste  Docent  und  Schriftsteller,  eine  ge¬ 
suchte  gesellschaftliche  Kraft  und  der  flotteste  Vereins¬ 
genosse  verschiedenster  Art  zu  sein.  Beim  Mittagstisch 
von  Gelehrten  und  Schriftstellern  unter  Vorsitz  von 
Melchior  Meyr,  bei  den  Krokodilen  unter  Geibel’s  Dichter- 
majestäts-Leituug,  bei  den  Zwanglosen,  nicht  zu  vergessen 
im  Alfenkasten  des  Augustinerbräus,  ülierall  war  Lützow, 
und  zwar,  was  heitere  Geselligkeit  anbelangt,  voran  und 
unerschöpflich  an  lustigen  und  auch  drastisdi  treffenden 
Einfällen  und  AVitzen. 

Seine  Freunde  in  der  Ferne  wunderten  sich  wohl,  dass 
er  nicht  mit  einem  gelehrten  philologischen  oder  archäo¬ 
logischen  Werke  hervortrat,  das  ihn  sogleich  in  die 
Reihe  der  ersten  Größen  stellte.  Al)er  statt  sich  der¬ 
artig  zu  konzentriren,  hatte  er,  mehr  als  selbst  nähere 
Bekannte  wussten,  sich  neuen  Gebieten  zugewandt.  So 
war  er  in  die  Passion  liineingekommen,  die  ihn  nie  wieder 
verließ,  für  alles,  was  dem  Illustrationsfach  und  dessen 
Aufschwung  angehört,  für  Zeichnung,  Holzschnitt,  Kupfer- 

30* 


236 


CARL  VON  LÜTZOVV. 


stich,  Photog-raphie  ii.  s.  w.  Mau  staunt,  wenn  man 
seine  Briefe  ans  jener  Zeit  liest,  die  er  nur  wegen  der 
damals  neuen  Holzphotograpliie  an  einen  Leipziger  Ver¬ 
leger  schrieb.  Mit  den  Künstlern  betreffenden  Fachs 
trat  er  in  rührigsten  persönlichen  oder  schriftlichen 
\'erkehr. 

Und  nun  ülierraschte  er  1862  seine  Freunde  mit  dem 
Buch  ,.Die  Meisterwerke  der  Kirchenbaukunst,  eine  Dar¬ 
stellung  der  Oeschichte  des  christlichen  Kirchenbaues 
durch  die  hauptsächlichsten  Denkmäler“,  erschienen  bei 
E.  A.  Seemann,  mit  dem  auch  Carl  von  Lützow,  wie 
vorher  schon  W.  Lübke,  nun  in  so  folgenreiche  Ver¬ 
bindung  trat.  Der  Philologe  und  Archäologe  war  ab¬ 
geschwenkt  zur  neueren  Kunstgeschichte  unter  dem  Ein- 
rtusse  W.  Lübke’s.  Diesem  ist  das  Buch  gewidmet.  Die 
Reise  mit  ihm  in  Italien  halie  den  ersten  Anlass  ge- 
gegeben.  ..Durch  den  akademischen  Beruf  in  den  Gebieten 
der  klassischen  Studien  festgehalten  .  .  konnte  ich  nur 
verstohlen  und  in  mühsam  zusammengesparten  Stunden 
unsere  damaligen  Wanderungen,  welche  fast  ausschlie߬ 
lich  den  mittelalterlichen  und  modernen  Kunstdenkmälern 
galten,  im  Geiste  fortsetzen  und  ihre  Ergebnisse  auf 
neuen  Reisen  in  Frankreich,  England  und  Deutschland 
vervollständigen  und  befestigen.  .  .  Du  bist  es  gewesen, 
der  mich  in  das  exakte  Studium  der  Monumente  des 
Mittelalters  und  der  neueren  Zeit  hineingeführt  hat.“ 
Und  nun  charaktcrisirt  er  trefflich,  was  er  fortan  als 
eine  Hauptaufgabe  ansah. 

Es  war  jener  Zeit  ein  Rückschlag  gegen  die  Über¬ 
sättigung  in  Religionsphilosophie  und  Philosophie  des 
bisherigen  Stils,  speciell  gegen  das  tdm-rmaß  der  Ästhetik 
in  Fragen  der  Kunst  bei  Mangel  an  gründlichem  und 
umfassendem  kuusthistorischem  und  technischem  AVissen. 
Diese  neuen,  in  ihrer  Art  bahnbrechenden  Männer  wollten 
Kunst  und  nur  Kunst  —  selbst  die  Kulturgeschichte, 
die  zur  Erklärung  notwendig  ist,  kam  bekanntlich  bei 
einigen  zu  kurz;  das  kunstgeschichtliche  Interesse  wurde 
in  die  weitesten  Kreise  getragen  und  namentlich  durch  die 
Anschauung,  durch  die  Illustration  gefördert  und  dadurch 
ein  neuer  Aufschwung  lierbeigeführt. 

Lützow  sagt  im  Vorwort,  dass  er  ungleich  einem 
gelelu'ten  französischen  Abbe,  seinem  äußerlichen  AMrbild 
für  die  Kirchenbaukunst,  sich  von  religiösen  Diatriben 
durchaus  fern  gehalten  habe.  „Unser  Publikum  will  in 
kunstgeschichtlichen  Büchern  nicht  erbaut,  sondern  wissen¬ 
schaftlich  angeregt  und  unterrichtet  sein.  Auch  scheint 
es  mir,  als  ob  die  größeren  Kreise,  welche  bei  uns  in 
diesen  Dingen  von  .Jahr  zu  .Jahr  lebendigeren  Anteil 
nehmen,  mit  allgemeinen  ästhetischen  Raisonnements 
nicht  mehr  zufrieden  zu  stellen  seien,  dass  man  sie  viel¬ 
mehr  genauer  in  das  Positive  und  Besondere  einführen 
dürfe,  ohne  dem  A^orwurf  ermüdender  Stofflichkeit  zu 
verfallen.“ 

Das  war  die  damals  neu  ausgegebene  Parole. 

AVie  schon  AV.  Lübke  bei  seiner  Architekturge¬ 


schichte  gethan,  so  gründete  auch  C.  v.  Lützow  seine 
Urteile  auf  Kugler  und  Schnaase,  von  den  eingehenden 
Specialstudien  abgesehen. 

Damit  war  er  aus  dem  engeren  Kreis  seiner  bis¬ 
herigen  Studien  und  Arbeiten  herausgetreten.  Er  sollte 
bald  mehr  und  mehr  in  die  neue  Bahn  hinübergedrängt 
werden.  Damals  eine  Berufung  als  Professor,  und  sein 
Schicksal  hätte  sich  wohl  anders  gestaltet. 

Der  junge  Docent  hatte  jener  Zeit  seine  geistvolle, 
liebenswürdige  Gattin  heimgeführt.  AVar  das  eine 
Idylle  in  dem  kleinen  Haus  im  Garten  zu  Schwabing, 
wohin  das  junge  tapfere  Paar  zog  und  bei  notwendiger 
Einschränkung  so  fröhlich  den  Sorgen  des  Lebens  eines 
unbesoldeten  Docenten  trotzte! 

Nun  kamen  ernste  Tage.  Lützow  klagte  niemals, 
sondern  schwieg  über  Sorgen,  die  ihn  l^edrückten,  und  so 
blieb  selbst  guten  Freunden  vieles  verborgen  .  .  . 

Ein  Zw'ischenfall,  entstanden  diu’ch  eine  Kritik  von 
dem  später  so  hochgeschätzten  Schweizer  Dichter  Heinrich 
Leuthold,  die  Lützow  beeinflusst  haben  sollte,  hat  diesen 
wohl  mitbewogen,  München  gegen  AA^ien  zu  vertauschen. 
Es  war  damals  an  der  Münchener  Universität,  wie  schon 
gesagt,  viel  Hass  und  Streit  und  je  nachdem  wenig  Ams- 
sicht  auf  Beförderung.  Aber  es  war  damit  nicht  gethan, 
dass  er  als  Docent  an  die  Universität  Wien  übertrat. 
„Denn  man  muss  leben  auf  der  Erde“  sagt  Mirza  Schaffy. 
Der  Fürst  Czartoryski  gab  seit  1853  in  AARen  „Rezensionen 
und  Mitteilungen  über  Theater  und  Musik“  heraus. 
Hieran  schlossen  sich  seit  1862  „Rezensionen  und  Mit¬ 
teilungen  über  bildende  Kunst“.  C.  v.  Lützow  wurde 
„Hauptmitarbeiter“,  wie  er  es  selbst  nannte.  Der  zweite 
Jahrgang,  der  unter  besonderer  Mitwirkung  von  R.  v. 
Eitelberger,  Jac.  Falke,  AV.  Lübke,  C.  v.  Lützow  und 
F.  Recht“  erschien,  begann  mit  dem  Vorwort  „Was  wii' 
wollen“.  Der  Eingang  ist  bezeichnend,  allerdings  wenig 
geschmackvoll:  „Die  modei'iie  Kunstkritik  spielt  gai- 
zu  gern  die  Rolle  des  Heriai  Famulus  AVagner;  sie  gräbt 
mit  gieriger  Hand  nach  den  Schätzen  der  echten  Kunst 
und  glaubt  vergnügt,  sie  in  den  Regenwürmern  des  Ge¬ 
dankens,  der  Tendenz,  der  Symbolik,  des  Nationalen  oder 
Zeitgemäßen  gefunden  zu  haben.“ 

Gegen  die  bisherige  Behandlung  wird  hervorgehoben, 
dass  das  Kunstw'erk  ein  Geschautes,  nicht  ein  Gedachtes 
sei.  Es  gehöre  dazu,  dass  man  sich  die  schwierige 
Kunst  des  Sehens  aneigne  gegen  diejenigen,  welche  die 
Kunstwerke  lesen  und  nicht  schauen  wollten.  Gesunde, 
aufstrebende,  lebenskräftige  Kunst,  die  stets  mit  der 
Jugend  verbundene  Schönheit  als  Ziel,  und  eine  zweck¬ 
entsprechende,  dabei  durch  Schönheit  gehobene  Kunst¬ 
industrie  gelte  es  zu  fördern  und  zu  vertreten. 

Frühling  1863  ging  C.  v.  Lützow  nach  Wien,  er¬ 
hielt  die  venia  docendi  für  Gescliichte  und  Archäologie 
der  klassischen  Kunst  an  der  Universität  und  wurde 
Sommer  1864  auch  Docent  der  Kunstgescliichte  an  der 
K.  K.  Akademie  der  bildenden  Künste.  1865  wurde  er 


CARL  VON  LÜTZOW. 


237 


Vorstand  der  Bibliotliek  und  Knpfei’sticlisammlung  der 
Akademie.  Mit  diesem  Jahre  hörten  die  „Rezensionen“ 
auf.  Dafür  hatte  Lützow  mit  E.  A.  Seemann  einen 
verbesserten  Ersatz  geplant  und  sich  der  Mitwirkung 
der  hervorragendsten  Gelehrten  und  Kritiker  des  Kunst¬ 
faches  versichert. 

1866  erschien  die  „Zeitschrift  für  bildende  Kunst, 
mit  dem  Beiblatt:  die  Kunstchronik“  von  C.  v.  Lützow 
herausgegeben  im  Verlag  von  E.  A.  Seemann.  „Seit  dem 
Jahre  1865,  wo  wir  unsere  Zeitschrift  geplant  und  ins 
Leben  gerufen  haben,  war  ich  mit  ihm  in  ungetrübter 
Freundschaft  zu  gemeinsamer  Thätigkeit  verbanden“ 
ruft  der  Verleger  seinem  Freunde  schmerzlich  nach. 
Und  —  wiederholen  wir  hier  dessen  weitere  Worte  über 
den  Verlust,  da  kürzer  und  schöner  C.  v.  Lützow’s  Thätig¬ 
keit  als  Herausgeber  nicht  charakterisirt  werden  kann: 
„denn  nicht  leicht  ist  der  Ersatz  eines  vornehm  gesinnten 
Mannes,  der  mit  praktischem  Sinn  seines  Amtes  wartend 
im  Streit  der  Meinungen  die  volle  Gelassenheit  bewahrt 
und  freimütig  genug  ist,  um  auch  Andersgläubigen  das 
Wort  zu  gönnen“. 

„Das  üntei’iiehmen,  welches  wir  heute  beginnen“,  so 
lautet  das  Vorwort,  „ist  bestimmt,  alles  Bemerkenswerte 
und  Schöne,  was  die  Kunst  der  Gegenwart,  vornehmlich 
in  Deutschland  hervorbringt  und  anstrebt,  den  größeren 
Kreisen  des  gebildeten  Publikums  durch  Bild  und  WTrt 
vor  die  Seele  zu  führen.  Nicht  nur  zum  Lesen  und  Ur¬ 
teilen  über  Kunst,  sondern  zum  eigenen  Sehen  und 
Vergleichen  will  es  Gelegenheit  bieten;  nicht  in  erster 
Linie  den  Scharfsinn,  sondern  den  Schönheitssinn  wird  es 
zu  nähren  und  zu  entwickeln  bestrebt  sein.  Der  Drang 
nach  künstlerischer  Bildung  lebt  im  innersten  Bewusst¬ 
sein  unseres  Volkes.  Die  religiösen  und  politischen 
Kämpfe  ruhen;  der  Kreislauf  der  philosophischen  Systeme 
scheint  vollendet  zu  sein.“  Dafür  sei  die  Kunst  wieder¬ 
erkannt  als  die  reife  und  edelste  Frucht  der  Gesittung. 

Die  Schönheit  wird  damals  noch,  wie  man  sieht, 
in  besonderer  Weise  betont.  Wie  die  religiösen,  poli¬ 
tischen  und  philosophischen  Kämpfe  (Schopenhauer!) 
ignorirt  werden,  ist  interessant.  Die  eigene  Tendenz 
aber  war  klar  ausgesprochen:  Kunst  unter  Fernhaltung 
all  der  genannten  Einflüsse,  —  die  freilich  die  Kunst 
so  vielfach  bestimmen! 

Was  Wert  der  Männer  anbelangt,  die  Lützow  für 
die  Zeitschrift  geeint  hatte,  so  war  in  dieser  Beziehung 
der  Erfolg  sogleich  gesichert.  R.  v.  Eitelberger,  Jac. 
Falke,  G.  Heider,  H.  Hettner,  M.  Jordan,  W.  Lül)ke, 
Jul.  Meyer,  0.  Mündler,  Fr.  Pecht,  Anton  Springer,  G. 
F.  Waagen,  A.  Woltmann,  Rob.  Zimmermann  sind  als 
Mitarbeiter  genannt ! 

Das  Verdienst  0.  v.  Lützow’s  in  der  harmonischen 
Leitung,  wo  es  galt,  die  verschiedensten  Kräfte  zu- 
sammenziihalten  und  zu  erneuern,  die  kritische  Steuerung 
durch  die  kunstbewegten  Decennien  ruhig  und  klar  zu 
fühi-en,  sine  ira  et  Studio  auch  der  emptindlichen  und 


leidenschaftlichen  Künstlerwelt  gegenül)er  seinen  Stand¬ 
punkt  zu  wahren,  nicht  zurückzubleiben,  sondern  immer 
mit  der  Gegenwart  im  Weiterschreiten  —  das  nicht 
immer  Fortschritt  besagt  —  zu  bleiben,  —  das  ist  außer¬ 
ordentlich. 

Seine  apollinische  Natur,  wie  wir  sie  nannten,  ver¬ 
schmolz  dabei  mit  der  des  gewandten,  geschäftskundigen, 
göttlichen  Hermes.  Er  war  eminent  durch  seine  Klar¬ 
heit,  Ordnung,  Arbeitskraft  und  Freude. 

1867  wurde  er  außerordentlicher,  1882  ordentlicher 
Professor  der  Architekturgeschichte  an  der  K.  K.  tech¬ 
nischen  Hochschule  in  Wien.  Mitglied  vieler  gelehrter 
Gesellschaften  im  In-  und  Ausland  war  er  längst  ge¬ 
worden. 

Zu  der  nie  endenden  Redaktionsarbeit  kamen  nun 
alle  seine  Pflichten  in  Wien  als  Professor,  Bibliothekar, 
Kustos,  Vorstand.  Dazu  wirkte  er  als  Schriftsteller, 
als  Meister  in  öffentlichen  Vorträgen,  als  Vorstand  der 
kunsthistorischen  Kongresse  und  von  anderen  Vereinen. 

In  den  letzten  Jahren  schrieb  er  über  Kunst  und 
einschlägige  Fragen,  z.  B.  über  städtische  Neuerungen 
auch  in  die  Neue  freie  Presse,  ein  Artikel  immer  jugend¬ 
lich  schnei(Uger  und  um  Gegnerschaft  unbekümmerter 
als  der  andere.  Der  Sturm,  den  er  durch  seinen  Aufsatz 
über  Wallot’s  Parlamentsgebäude  erregte,  ist  bekannt. 
„Es  muss  wirken“,  war  seine  Antwort  bei  Verwunderung 
über  seine  Art,  vorzugehen. 

So  lebte  er  in  der  Arbeit,  allem  gewachsen,  was 
an  ihn  herantrat,  nie  müde,  nie  klagend,  immer  andere 
anspornend.  Ihm  war  nicht  wohl,  wenn  er  nicht  in 
Geschäften  steckte  und  nicht  anordnen,  dirigiren  konnte. 
So  sorgte  er  selbst  auf  anstrengenden  Studienreisen 
dafür,  dass  er  womöglich  täglich  Briefe  und  Dejieschen 
erhielt.  Auf  Reisen  mit  Freunden  verstand  es  sich  von 
selbst,  dass  er  der  Reisemarschall  war.  Wer  Bequem- 
lichkeit  liebte,  kam  dabei  freilich  schlimm  weg.  Aber 
war  das  gewaltige  Tages-Menü  der  Besichtigungen  ab- 
gethan,  dann  war  niemand  genussfroher  und  leistungs¬ 
fähiger  als  er  bei  dem  Menü  von  Küche  und  Keller. 

Als  Archäologe  schrieb  er  1868  noch  „Das  chora- 
gische  Denkmal  des  Lysikrates  in  Athen“,  nachdem  er 
1866  den  1.  Band  der  2.  xAuflage  von  Schnaase’s  Ge¬ 
schichte  der  bildenden  Künste  neu  bearbeitet  hatte. 
1877  erschien  die  Geschichte  der  K.  K.  Akademie  der 
bildenden  Künste,  1884  das  Prachtwerk  „Die  Kunst¬ 
schätze  Italiens“,  danach  ein  Text  zu  Unger’s  Belvedere- 
Galerie,  ein  Galeriekatalog  der  Akademie  der  bildenden 
Künste  und  die  bei  seiner  gründliclien  Kenntnis  und 
Vorliebe  so  treffliche  Geschichte  des  deutschen  Kupfer¬ 
stichs  und  Holzschnitts  (1891). 

Im  vorigen  Jahre  erfüllte  er  allen  Theilnehmern 
unvergesslich  mit  unverwüstlicher  Kraft  und  Frische  die 
Pflichten  als  Vorstand  der  deutschen  Abteilung  auf  dem 
kunsthistorischen  Kongress  zu  Buda[)est  während  der 
Millenar-Feier. 


238 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


Jetzt  hatte  er  eigene  Auflagen,  ilann  eine  neue 
Ausgabe  von  Lübke’s  Grundriss  der  Kunstgescbicbte 
auf  Händen.  Er  beabsichtigte  in  diesem  Fiübjabr  zu¬ 
erst  eine  Reise  nach  Italien,  dann  änderte  er  seinen  Plan; 
er  wollte  auf  längerer  Studienreise  wieder  nach  Frank¬ 
reich  und  England.  Er  war  nach  seiner  Gewohnheit 
Feuer  und  Flamme  dafür.  Anfang  x4pril  wollte  er  ab- 
rciseu.  Ein  luduenza-Aiifall  wurde  anfangs  nicht  weiter 
beachtet  und  galt  als  schnell  vorübergehend.  So  schob 
er  dreimal  seine  Abreise,  immer  um  wenige  Tage, 


hinaus.  Niemand  dachte  an  Gefahr.  Fis  zum  14.  April 
war  er  noch  thätig.  Da  entwickelte  sich  die  tückische 
Krankheit  zu  einem  schmerzhaften  Nierenleiden,  und 
Blutvergiftung  entriss  ihn  plötzlich  den  Seinen,  seinen 
Freunden  und  der  Kunst,  die  er  als  der  Besten  einer 
in  seiner  Zeit  so  frisch  und  freudig,  so  aufopfernd  und 
tapfer  gefördert  hat. 

Seine  alten  Freunde  haben  Unersetzliches  in  ihm 
verloren.  Nun  er  fehlt,  wer  wird  sich  freuen,  anregen, 
antreiben  und  für  alles  ein  Herz  haben,  wie  er  es  hatte? 

C.  L. 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO 
UND  GAUDENZIO  FERRARI. 

VON  GUSTAV  PAULI. 


1. 

IE  Heiligcnbei'ge  Oberitaliens,  so  l)etitelt 
sich  eines  der  Kapitel  in  der  neueren 
Kunstgeschichte,  die  noch  geschrieben 
werden  müssen,  ln  ansehnlicher  Zahl 
sind  sie  verstreut  in  den  südlichen  Al])en- 
ländern,  diese  merkwürdigsten  und  grö߬ 
ten  Stätten  der  Erbauung,  welche  die  spätere  Renais¬ 
sancezeit  in  Italien  hervorgebraclit  hat.  ln  Varallo, 
\'arese,  Orta,  Locarno,  Domo  d’Ossola,  Orojia,  Graglia, 
S.  Giovanni  d’Aiidorno,  Crea  finden  wir  solche  sacri 
monti  mit  ihren  Kapellen  teils  vollendet,  teils  doch  ge¬ 
plant  und  begonnen.  Das  ganze  sechzehnte  und  sieb¬ 
zehnte  Jahrhundert  hindurch  hat  man  auf  ihnen  gebaut, 
geformt  und  gemalt,  und  einige  der  besten  lombardischen 
Künstler  jener  Zeit  haben  dabei  mitgewirkt.  Insonder¬ 
heit  entwickelte  sich  hier  eine  Nachblüte  der  farbigen 
Terrakottaplastik.  Die  kunsthistorische  Bedeutung  dieser 
Berge  ist  also  nicht  zu  bezweifeln.  Dennoch  aber  er¬ 
scheint  mir  größer  ihre  kulturhistorische  Bedeutung. 
Wirsehen  in  ihnen  die  letzte  große  künstlerische  Leistung 
der  Volkspartei  in  der  katholischen  Kirche,  der  Bettel- 
niönchorden,  den  letzten  Versuch,  die  heiligen  Dinge  zu 
popularisiren,  einen  Versuch,  unternommen  auf  echt 
italienische  und  echt  katholische  Ai't. 

Bei  dem  Städtchen  Romagnano,  das  dreißig  Kilo¬ 
meter  von  Novara  entfernt  liegt,  öffnet  sich  das  Sesia- 
thal,  eines  jener  schönen  und  fruchtbaren  Thäler  der 
südlichen  Alpen.  Es  führt  in  nordwestlicher  Richtung 
zu  der  Gruppe  des  Monte  Rosa.  Der  Hauptort  des 
Thaies  ist  Varallo,  die  Endstation  einer  Sekundärbahn, 
die  von  Novara  ausgeht.  Das  malerische,  trotz  seines 
Bahnhofes  weltabgeschiedene  Städtchen  mit  verschiede¬ 


nen  Kirchen,  alten  Klöstern  und  ein  paar  Palästen  ist 
der  Sammelpunkt  für  die  Bauern  der  umliegenden  Berg- 
thäler,  die  an  Festtagen  die  engen  Straßen  in  ihren 
seltsamen  Trachten  füllen.  Schon  von  weitem,  wenn 
die  kleine  Stadt  noch  unter  Kastanienbäunien  verborgen 
liegt,  sieht  der  Wanderer  den  Heiligenberg  mit  seinen 
hellschimmernden  Gebäuden  ragen.  Es  ist  ein  nach 
drei  Seiten  freiliegender  Granitkegel,  der  sich  um  zwei¬ 
hundert  Meter  über  die  Thalsohle  erhebt.  Als  ein  frommer 
Hüter  steht  er  neben  dem  an  seinem  Fuße  gelagerten 
Varallo. 

Wie  alle  überhaupt  kulturfähigen  Gegenden  Italiens, 
so  trägt  auch  das  entlegene  Sesiathal  die  Spuren  einer 
großen  künstlerischen  Vergangenheit.’)  Manche  inter¬ 
essante  Bauten  trifft  man  in  den  kleinen  Städten,  und 
in  den  Kirchen  manche  gute  Gemälde  von  lombardischen 
und  piemontesischeu  Meistern;  das  Hauptdenkmal  jedoch, 
gleichsam  das  künstlerische  Wahrzeichen  des  Thaies  ist 
der  sacro  monte.  Folgendes  ist  in  kurzen  Zügen  die 
Geschichte  seiner  Gründung. 

Ein  Franziskaner,  der  Bruder  Bernardino  Caimi, 
hat  vor  vierhundert  Jahren  den  Plan  des  frommen  Werkes 
ersonnen.  Er  war  ein  Mann,  der  gleichermaßen  durch 
edle  Geburt  —  er  entstammte  einem  Mailänder  Grafen¬ 
geschlecht,  und  durch  seinen  heiligen  Eifer  in  großem 
Ansehen  stand.  Längere  Zeit  hatte  er  als  Guardian 
der  Brüder  des  heiligen  Grabes  in  Jerusalem  gelebt, 
als  er  im  Jahre  1481  nach  Italien  zurückkehrte.  Da- 

1)  P.  Oalloni,  LTomini  e  fatti  celebri  della  Valsesia. 
Varallo  1873. 

O.  F'n'zzoni,  L’arte  in  Valsesia.  Archivio  storico  dell’ 
arte.  IV.  (18'Jl.)  Fase.  5. 


DER  HEILIGENBERD  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


239 


liials  schon,  so  heißt  es,  war  er  von  dem  Wunsche  er¬ 
füllt,  in  seiner  Heimat  ein  Abbild  der  heiligen  Stätten 
zu  errichten,  zur  andächtigen  Erbauung  für  alle,  welche 
die  weite  Pilgerfahrt  nicht  unternehmen  konnten.  Zur 
Ausführung  kamen  seine  Pläne  freilich  erst  nach 
weiteren  zehn  Jahren,  indessen  erwirkte  er  sich  schon 
1486  vom  Papste  Innocenz  dem  Achten  ein  Breve  (unter 
dem  Datum  des  21.  Dezember),  dessen  Wortlaut  uns 
zwar  nicht  erhalten  ist,  das  aber  in  der  Grabscln-ift  des 
frommen  Mannes  als  die  Stiftungsurkunde  des  Heilig¬ 
tums  betrachtet  wird.  Im  folgenden  Jahre  sehen  wir 
Bruder  Bernardino  abermals  auf  dem  Wege  nach  Jeru¬ 
salem.  Gewiss  benützte  er  den  neuen  Aufenthalt  eifrig, 
um  Studien  für  sein  Unternehmen  zu  sammeln.  Gleich 
nach  seiner  Rückkehr,  im  Jahre  1491,  begannen  die 
Arbeiten. ') 

Es  war  eine  gewaltige  Aufgabe,  die  sich  Bernardino 
gestellt  hatte.  Einen  Wallfahrtsort  allergrößten  Stils 
wollte  er  schaffen.  Die  Anregung  dazu  hatten  ilim  ge¬ 
wiss  die  Anlagen  seiner  Ordensbrüder  in  den  benach¬ 
barten  deutschen  Gebieten  gegeben,  die  Kalvarienberge 
oder  Stationen,  eine  Zusammenstellung  von  Gemälden, 
Reliefs  oder  Freigruppen,  in  denen  die  einzelnen  Mo¬ 
mente  der  Leidensgeschichte  Christi  geschildert  sind. 
Allein  was  sich  dort  im  kleinen,  an  der  Kirchenwand 
oder  etwa  in  einem  Kapellenraum  darstellte,  sollte  hier 
in  großem  Umfange,  in  einer  Reihe  von  Tempelbauten 

1)  Aus  der  Litteratur  über  den  sacro  monte  von  Varallo, 
die  man  in  der  Anibrosianabibliothek  in  Mailand  beisammen 
findet,  hebe  ich  folgende  Werke  hervor: 

Descrittione  del  sacro  monte  di  Varale  di  Val  di  Scsia, 
dove,  come  in  uiia  nuova  Gerusalemme  .  .  .  Novara  15S7.  8". 

(0.  Bordiga  und  nach  ihm  8.  Bidlcr  nennen  als  den 
Verfasser  einen  gewissen  Caccia  und  führen  nocli  zwei  ältere 
Ausgaben  an:  die  erste  von  15G5,  Novara,  die  zweite  von  157G, 
Brescia.)  Eine  neuere  Ausgabe  erschien  in  Varallo,  bei  den 
Revelli  als  erstes  dort  gedrucktes  Buch  1591. 

Conte  Oio.  Battisla  Fassola,  La  nuova  Gerusalemme 
ossia  il  Santo  sepolcro  di  Varallo  .  .  .  Milano  1G71.  8'’. 

Canon.  Torrotti,  Historia  della  nuova  Gerusalemme  .... 
Varallo  1G86.  8'’. 

Dies  sind  neben  dem  Urkundenmaterial,  das  sich  im 
Collegio  d’Adda  zu  Varallo  befindet,  die  wichtigsten,  alten 
Quellen.  Von  der  neueren  Guidenlitteratur  ist  weitaus  das 
wichtigste:  G.  Bordiga,  Storia  e  guida  del  sacro  monte  di 
Varallo.  Edizione  ristampata  e  riveduta  per  cura  dell’  ammi- 
nistrazione  del  ven.  Santuario.  Varallo  1857.  8*^. 

Mich.  Gifsa,  II  sacro  monte  di  Varallo.  Vercelli  1858.  8**. 

Neuerdings  hat  ein  begeisterter  Verehrer  des  sacro  monte, 
Herr  Sam.  Butler  in  London,  ihm  ein  zusammenfassendes 
Buch  gewidmet,  betitelt  Ex  voto,  das  in  zwei  Ausgaben,  einer 
englischen  1892  in  London  und  einer  italienischen  in  Novara 
1894,  erschienen  ist.  Der  Enthusiasmus  des  liebenswürdigen 
Autors  steht  leider  im  umgekehrten  Verhältnis  zu  seiner 
kritischen  Schärfe. 

Die  Darstellung  Butler’s  ergänzt  und  berichtigt  der  ver¬ 
dienstvolle  Kunstforscher  Varallos  Oiuho  Aricuta  in  einer 
Reihe  von  Artikeln  in  der  Zeitschrift  Arte  e  Storia,  anno  VIII 
S.  234,  Xll,  p.  138,  XIII  S.  205,  XIV  S.  117,  XV  S.  38. 


in  Freigrnppeu  lebensgroßer  Figuren  ausgeführt  werden. 
Die  erste  große  Schwierigkeit,  die  es  dabei  zu  über¬ 
winden  gab,  war  die  Auswahl  des  Platzes.  Eine  An¬ 
höhe  musste  es  sein,  die  womöglich  gewisse  Ähnlich¬ 
keiten  mit  der  Schädelstätte  aufwies,  und  die  geeignet 
war,  zur  Aufnahme  jener  zahlreichen  Bauten,  ein  Ort 
ferner,  der  in  seiner  Abgeschiedenheit  zu  frommer  Be¬ 
trachtung  einlud  und  der  doch  einer  menschlichen  Nieder¬ 
lassung  die  nötigen  materiellen  Bedingungen  gewährte. 
Alles  dieses  fand  Bruder  Bernardino  in  jener  Anhöhe 
bei  Varallo  vereinigt.  Die  alten  Schriftsteller  wissen 
eine  Reihe  von  Wundern  zu  berichten,  durch  die  sich 
dem  frommen  Manne  dieser  Berg  als  der  einzig  ge¬ 
eignete  kund  that.  Als  nun  vollends  im  ersten  Jahre 
der  Bauarbeiten  ein  Stein  gefunden  wurde,  den  die  Sach¬ 
verständigen  als  das  getreue  Abbild  des  Steines  auf  dem 
Grabe  Christi  erkannten,  da  war  die  Heiligkeit  dieser 
Stätte  aller  Welt  offenbar.  —  Bernardino  Caimi  fand  in 
Varallo  noch  mehr  als  den  Platz,  er  fand  eine  Menge 
von  frommen  und  freigebigen  Leuten,  die  seine  Pläne 
unterstützten,  allen  voran  Milano  Scarrognini  mit  dem 
Beinamen  magnifico,  den  angesehensten  Mann  der  Gegend. 
Dieser  machte  die  Sache  des  sacro  monte  zu  der  seinen. 
Er  erscheint  als  der  erste  Bauherr  (fabbriciere).  Die 
erste  Kapelle,  die  des  heiligen  Grabes,  ließ  er  auf  seine 
Kosten  errichten  und  daneben  ein  dem  Franz  von  Assisi 
geweihtes  Heiligtum  und  eine  Wohnung  für  Bruder 
Bernardino  und  ein  paar  andere  Minoriten.  Zum  Ge¬ 
dächtnis  dessen  sieht  man  an  jenem  Bau  eine  Tafel 
eingemauert  mit  der  Inschrift: 

Jlagnificus  D.  Milanus  Scarrogninus  hoc  Sepulcrum 
cum  fabrica  sibi  contigua  Christo  posuit  die  sejitimo 
octobris  MCCCCLXXXXI  R.  P.  frater  Bernardinus  de 
Mediolano  ordinis  Minorum  de  osserv.  sacra  huius  montis 
exeogitavit  loca,  nt  hic  Hierusalem  videat  qui  pere- 
grinare  nequit. 

Merkwürdigerweise  wurde  erst  zwei  Jahre  später, 
1493,  das  Gebiet  des  sacro  monte  in  aller  Form  dem 
Bruder  Caimi  abgetreten.  Gleichzeitig  überwies  man 
seinem  Orden  die  Kirche,  am  Fuße  des  Heiligenberges, 
Sta.  Maria  Delle  Grazie  und  das  anliegende  Kloster. 

Bernardino  sollte  die  glänzende  Verwirklichung 
seines  Planes  nicht  mehr  erleben.  1494  starb  er  in 
jenem  Kloster.  Dreiundzwanzig  Jahre  später  folgte  ihm 
Milano  Scarrognini  in  den  Tod.  Es  wurden  dann  (1517) 
von  der  Gemeinde  von  Varallo  zwei  neue  fabbricieri  er¬ 
nannt,  Pietro  Ravelli  und  Bernardo  Baldi. 

Die  Bauherren  leiteten  in  letzter  Instanz  alle  Ar¬ 
beiten  in  den  Kapellen.  Unter  ihnen  oder  neben  ilinen 
standen  die  Minoritenbrüder,  die  ein  Hospiz  auf  dem  Berge 
behielten.  Sie  nahmen  hier  nicht  nur  in  der  bald  erilchteten 
Kirche  Sta.  Maria  Dell’ Ascensione  die  heiligen  Funktionen 
wahr  und  behüteten  die  Wallfahrtsstätten,  sondern  be¬ 
aufsichtigten  auch  die  künstlerischen  Arbeiten  und  be¬ 
teiligten  sich  selbst  daran.  Wii-  wissen,  dass  zur  Zeit 


240 


DER  HEILIGENBERD  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


3rilauo  Scarrognini’s  ein  frate  Francesco,  der  Bildschnitzer 
nud  Zeichner  genannt  wird  (inaestro  di  leguame  e 
diseguatore),  hier  arbeitete.  Ihm  folgte  in  gleicher 
Thätigkeit  ein  fra  Eiisebio. ')  Eine  weitere  Obliegenheit 
der  Mönche  war  jedenfalls  die  Sorge  für  die  Einkünfte 
des  Heiligenberges.  Es  musste  alles  aus  frommen 
Spenden  bezahlt  werden.  Und  um  diese  beizutreiben, 
war  niemand  geeigneter  als  die  Franziskaner,  die  das 
Betteln  berufsmäßig  ausübten.  Dabei  kam  ihnen  die  In- 
dulgentia  plenaria  sehr  zu  statten,  die  ihr  Ordensgeneral 
Francesco  Liccheri  schon  15'20  für  die  Besuclier  aller 
Kapellen  vom  Papst  erwirkt  hatte,  ln  der  That  fehlte 


ohne  Erfolg.  Der  edle  Carl  Borromeo,  der  an  diesem 
vornehmsten  Wallfahrtsort  seiner  Erzdiözese  lebhaften 
Anteil  nahm,  scheint  vorübergehend  durcli  mehrfache 
Anwesenheit  in  Varallo  die  Gemüter  besänftigt  zu  haben. 
Sixtus  V.  nahm  schließlich  in  seiner  energischen  Art 
eine  vollkommene  Neuordnung  der  Behörde  der  fabbri- 
cieri  vor.  Danach  sollten  künftighin  immer  auf  sechs  Jahre 
sechs  Bauherren  von  der  Gemeinde  ernannt  werden,  die 
vom  Guardian  des  Klosters  bestätigt  werden  mussten, 
und  umgekehrt  sechs  vom  Guardian  ernannt  werden, 
welche  die  Gemeinde  zu  bestätigen  hatte.  Indessen  auch 
damit  waren  die  Mönche  noch  nicht  beruhigt,  und  der 


A  MV 

Ca^neLi 

5  AAitax  'perii  S  Sjfru  u 

C  C/uesaf)e'plj.£sfC4j~i 
D  A/>iIav*Ti£SS‘Sivfdob 
E  A>tt°OxjJtxificUl 

F  PfsMenxa 

G  Al'Uaxioni'  pcl  Cusfn,/f 

H  ÄxK'y'/?  Ul  (piriie 
I  Al/'xrffo 

Cit/ipfUi-  Uu'frj-e  rtf/Lt.r.Uiln 


PIÄNTA 

in:LL  •  INSIGNF 

SANTUAlii« 

Dl  VAHAl  f.O 


SFII'GAZIONE 


iutadt .  ^Jaru- 

Ml' 

t''  EliJaMla 


7  Pri'.tcnfnt  Ul  G  <il  Tf/’ipii 

f Mustypfit.-ii.fUi/'iipp. 

3  Fuja  Ul  O  m  Fi/i/to 
IO  Stutje  U>i//.  hmrc^nfi 
n  Ga/GsnnD  Ocsii 
12  Gtsu  tr  i/u/t>  Hfl  U(.‘eftf 

|•|‘|||'ertf  /.I  SiH'iiUi/ir 
iiSt2>ii7  U  Pufaiilif/’ 
>S  0  liStLfcita  U/ij/l'U  l'f,/, 
16  T’^J'/hpiinxit’iie  iw 


lii//rfj.\oUi  G.  inOi'fiis.ilt 

>9  CfHU  /ll^y/lrt/f 

A.jr'}iii  eUrr/ii' Ul  G 

sn-ij/.ii  tf/i  Api’.UMi 

r,i//.,rn/i'  ,/UGfiiUfi 
Ci'riUi  Ul'  ild  /Uuuu 


2i  G  ci'fiUi'äf'  a 
IS  S  PieJro  pf/ntente 
\S  0  if  PtiaU 

Z7  G  u  tl  ProA^c 

23  C  ruanUvUc  a  PUafr 
V)  6 

30  0  Cfronaic  Ut  SpifU 
•  57  0  <L Piiaif 

}2  6  maslrala  12/  Pojiolo 
a  PUntc  S!  Im/a  7-e  uia/u 
ib  0  (fiiiUuiiiiaif  a  rruirft 
Ji  0 porlu  la  Croe^ 

%  G  nuUuadaif  w  C'oef 
.V  G  fiffom  ziante  in  Proce 
’  ,W  G  iiepi>si^  JaUa  Proe^ 

53  0  tn  ^reni{>o  Ufüa  B  V. 
■M  6  uwrl/f’  Hflla  SiuUonf 
n  w/  i.Pra/ifeJTf) 

6t  Pt  HflSt/'Aer,'  f  PivfSii  a. 

'/.5  SPifU 

S.Atuiit 

63  Ai'i’l.ioaliii  B  VJrljiui/rti 

if  XepcUti'Ut  M  Vftjiri!  . 


Plan  des  Sacro  Monte  bei  Varallo. 


es  dem  Heiligenberge  fast  nie  an  liberalen  Gönnern,  und 
noch  in  jüngster  Zeit  hat  sich  ein  Wohlthäter  gefunden, 
der  die  Kirche  des  Berges  mit  einer  neuen  Marmor¬ 
fassade  beschenkte. 

Wo  neben  der  Laienbehörde  die  Geistlichen  eine 
so  große  Rolle  spielten,  waren  Kompetenzstreitigkeiten 
unausldeiblich.  Im  Bewusstsein  alles  dessen,  was  sie 
für  den  Berg  thaten,  wollten  die  Mönche  seine  Ver¬ 
waltung  am  liebsten  ganz  an  sich  reißen  und  auch  die 
Bauherren  ernennen.  Dem  widersetzte  sieh  natüi’lich 
die  Gemeinde,  die  alte  Herrin  des  Bodens.  Von  zwei 
Päpsten,  Julius  III.  und  Paul  IV.,  wussten  die  Mönche 
ihren  Ansprüchen  günstige  Bullen  zu  erlangen,  indessen 


Friede  scheint  erst  auf  dem  sacro  monte  eingezogen  zu 
sein,  als  man  die  Minoriten  1603  wegschickte,  und  refor- 
mirte  Franziskaner  an  ihre  Stelle  setzte.') 

Dass  bei  einer  so  schwankenden  Bescliaffenheit  der 
leitenden  Baubehörden  von  der  konseriuenten  Durch¬ 
führung  eines  eiidieitlichen  Planes  nicht  die  Rede  war, 
liegt  auf  der  Hand.  Es  ist  sogar  zu  bezweifeln,  dass 
Bruder  Caimi  und  sein  Beschützer  Milano  Scarrognini 
von  vornherein  einen  ins  Einzelne  gehenden  Plan  aus¬ 
gearbeitet  hätten.  Vielmehr  ist  alle  die  vierhundert 
Jahre  lang  an  der  Anlage  des  Berges  beständig  herum¬ 
gebessert  worden.  Die  WAge  wurden  verändert,  Kapellen 
hier  eingerissen  und  dort  wieder  aufgebaut,  sie  wecii- 


1)  Q.  Arienta.  Arte  e  storia  XIV.  (1895).  S.  117. 


1)  A^gl.  hierüber  Fasso/.a,  a.  a.  0.  S.  2411. 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


241 


selten  ihre  Bestimmung  und  damit  auch  die  plastischen 
Gruppen  in  ihrem  Innern.  Es  wäre  ebenso  mühsam  wie 
zwecklos,  Schritt  für  Schritt  allen  Begebenheiten  der 
Baugeschichte  nachzugehen;  ihre  Hauptperioden,  auf  die 
es  uns  ankommt,  liegen  fest  und  werden  durch  zahlreiche 
Denkmale  illustrirt. 

Bei  der  Franziskanerkirche,  Sta.  Maria  delle  grazie, 
die  dicht  vor  der  Stadt  liegt,  beginnt  der  Weg,  der  im 
Schatten  prächtiger  alter  Kastanienbäume  zum  sacro 
monte  hinanführt.  Oben  befindet  man  sich  auf  einer 
Einsattelung  des  Berges,  einer  Art  von  kleinem  Plateau. 
Ein  Brunnen  rauscht  hier,  eine  Osterie  lädt  den  müden 
Pilger  zur  Erholung  ein,  und  daneben  werden  in  einem 
Laden  Rosenkränze,  Heiligenbilder  und  all  die  frommen 


(t  1517),  bis  zu  dem  Auftreten  Gaudenzio  Ferrari’s  unter 
den  Künstlern  des  Berges.  Eine  äußerst  rege  Tliätig- 
keit  wurde  damals  entfaltet.  Etwa  zwölf  Kapellen 
entstanden,  dazu  das  Hospiz  und  die  Kirche.  Fast  alle 
diese  Bauten  scheinen  an  der  Peripherie  des  Berges 
gelegen  zu  haben.  Da  war  zunächst  im  Nordosten  das 
Haus  der  Madonna  di  Loreto  mit  der  Gruppe  der  Ver¬ 
kündigung  (Plan  2),  sodann  im  Osten  die  Kapellengruppe 
von  der  Geburt  Christi  bis  zum  Traume  Josephs  vor 
der  Flucht  nach  Ägypten  (Plan  5—8^),  jedoch  ohne  die 
Gruppen  und  Fresken,  die  später  hinzukamen.  Das 
Gebäude  lehnt  sich  an  eine  kleine  Anhöhe  und  besteht 
aus  zwei  Stockwerken,  die  durch  eine  marmorne  Wendel¬ 
treppe  miteinander  verbunden  sind.  Im  Erdgeschosse 


Piazza  dei  Tribiiuali  auf  dem  Sacro  Monte  bei  Varallo.  Capelia  d’Anna  (1),  Palazzo  di  Pilato  (2),  Capella  di  Erode  (3),  Capelia  di  Caifas  (4). 


Jahrmarkts  waren  feilgeboten.  Durch  ein  großes  banales 
Barockthor,  das  1584  von  Pellegrino  Tibaldi  errichtet 
wurde,  betritt  man  den  heiligen  Bezirk,  der,  von  einer 
Mauer  begrenzt,  die  ganze  Höhe  des  Berges  einnimmt. 
Der  beigegebene  Plan  enthebt  mich  der  Mühe,  die  Lage 
der  einzelnen  Kapellen  auseinander  zu  setzen.  Es  sind 
ihrer  jetzt,  wenn  man  von  den  drei  letzten  verfallenen 
absieht,  vierundvierzig.  (Auf  dem  Plane  ist  die  kleine 
Grotte  des  von  den  Eltern  angebeteten  Christkindes  nach 
der  fünften  Kapelle,  wie  es  früher  üblich  war,  über¬ 
gangen  worden,  so  dass  von  hier  an  die  Nummernfolge 
gegen  die  jetzt  in  Varallo  angebrachte  um  eins  zurück¬ 
bleibt.) 

Als  die  erste  Periode  der  Baugeschichte  dürfen  wir 
die  Zeit  der  Wirksamkeit  Milano  Scarrognini’s  betrachten 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  lü. 


bildet  den  Hauptraum  ein  weites  kellerartiges  Gemach, 
an  das  zwei  Kapellen  grenzen,  im  Oberstock  kommen 
dazu  zwei  weitere  Kapellen.  —  An  der  Südecke  des 
Berges,  hinter  der  alten  Kirche,  lag  die  Kapelle  des 
Abendmahls,  die  später  zur  Sakristei  eingerichtet  wurde, 
deren  Figuren  man  jedoch  bei  der  Neuaufstellung  der 
Gruppe  (Plan  19)  wieder  verwendete.  Nicht  weit  da¬ 
von  müssen  sich  (nach  einem  später  zu  besprechenden 
Plaue  Pellegrino  Tibaldi’s)  das  Gebet  auf  dem  Ölberg 
und  die  Gefangennahme  befunden  haben.  Diese  Kapellen 
sind  längst  verschwunden,  doch  haben  sich  die  Figuren 
der  Gefangennalime  in  der  neuen  Darstellung  dieses 
Gegenstandes  (Plan  22)  erhalten.  Ziemlich  weit  davon 


1)  6r.  Ärieuta.  Arte  e  Storia.  XIV  S.  117.  Anmerkg. 

31 


242 


DER  HElLlüEXBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI 


entfernt  lagen  ini  Norden  des  Bezirkes  nahe  dem  Ein¬ 
gangsthor  nebeneinander  die  Kapellen  der  Geißelung 
und  Dornenkrünting,  die  schon  um  1560  ausgeräumt 


und  der  Christus  der  Geißelung  befinden  sich  im  Museum 
zu  Varallo.  Zwei  Figuren  der  letzteren  Gruppe  wurden 
bei  ihrer  Neuaufstellung  wieder  verwendet.  Bernardino 


Prima  Caiiella  di  Adamo  et  Eva  auf  dem  Sacro  Monte  bei  Varallo. 


wurden  und  gegenwärtig  zur  Woliuung  des  Wächters 
eingerichtet  sind. 'j  Die  Figuren  zur  Dornenkrönung 

1)  G.  Arienta.  a.  a.  0. 


Lanini,  der  Schüler  Gatidenzio  Feri-ari’s,  hat  später 
die  Wände  beider  Kapellen  mit  Fresken  geschmückt. 
Das  den  Hintergrund  zur  Dornenkrönung  bildende  Ge¬ 
mälde:  Christus  vor  Pilatus  befindet  sich  gegenwärtig 


DER  HEILIGENBERG  VON  YARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


243 


in  einzelnen  Bruchstücken  im  genannten  Museum.  Man 
mag  sie  sich  im  Geiste  zusammenfügen  nach  der  kleinen 
danebenhängenden  Skizze,  die  Herr  Arien ta  vor  dem 
Absagen  des  Fresko  aufgenommen  hat.  Die  Fresken 
zur  Geißelung  harren  noch  auf  das  Schabeisen  eines 
Wohlthäters,  der  sie  hinter  der  Tünche  hervorklopfen 
möge. 

Nicht  weit  davon  in  der  gegenwärtigen  Kapelle 
der  Versuchung  Christi  war  die  Kreuztragung  aufge¬ 
stellt.  Ein  merkwürdig  weiter  Abstand  trennte  diese 
Kapellen  von  der  zur  Darstellung  der  Kreuzigung  aus¬ 
ersehenen  Stätte.  Es  war  dies  eine  kleine  Anhölie  am 
entgegengesetzten  Ende  des  Berges,  in  der  Bernardino 
Caimi  eine  besondere  Ähnlichkeit  mit  Golgatha  entdeckt 
hatte.  Dicht  daneben,  am  Westende  des  Berges,  lagen 
die  früher  erwähnten  ältesten  Bauten,  das  hl.  Grab, 
die  Frauziskuskapelle  und  die  später  zum  Hospiz  er¬ 
weiterte  Wohnung  des  Bruders  Caimi  und  seiner  Mi- 
noriten. 

In  ihren  Bauformen  sind  alle  diese  Kapellen  so 
schmucklos,  dass  man  zögert,  bei  ihnen  überhaupt  von 
Architektur  zu  reden:  vier  nackte  Wände,  einfach  über¬ 
wölbt,  ein  oder  ein  paar  große  vergitterte  Fenster, 
durch  die  man  die  Gruppen  im  Innern  betrachtete,  und 
vor  jeder  Kapelle  ein  kleiner  Portikus,  um  die  Schau¬ 
lustigen  vor  Regen  zu  schützen.  Das  ganze  Interesse 
konzentrirte  sich  auf  die  Gruppe,  und  hier  ging  die  Ab¬ 
sicht  des  Bruders  Caimi  darauf  aus,  dem  an  Geist  und 
an  Gelde  Armen,  dem  der  nicht  nach  dem  gelobten  Lande 
wallen  konnte,  einen  möglichst  handgreiflichen  Ersatz 
für  die  Wirklichkeit  zu  bieten.  Handgreifliche  Natür¬ 
lichkeit  in  der  Darstellung  ist  nun  zwar  ein  unkünst¬ 
lerisches,  aber  dafür  ein  um  so  populäreres  Prinzip. 
Die  mönchischen  Bildschnitzer,  selbst  aus  dem  Volke 


hervorgegangen  und  in  steter  Berührung  mit  dem  Volke, 
wussten  sehr  wohl,  dass  man  bei  ihrem  Publikum  nicht 
viel  nach  Anatomie  und  adligen  Körperformen  fragte, 
umsomehr  aber  sich  an  einer  groben  Sinnestäuschung 
erfreute. 

Mit  Ausnahme  des  gekreuzigten  Christus  und  der 
beiden  Schergeniiguren  der  Geißelung,  die  noch  passiren 
mögen,  sind  ihre  Gestalten  dürftige  Puppen  oft  mit  über¬ 
großen  Köpfen  von  einem  erschreckend  starren  Gesichts¬ 
ausdruck.  Nicht  allein  sind  sie  naturalistisch  bemalt, 
sondern  —  zum  Entzücken  der  Bauern  imd  zum  Ent¬ 
setzen  aller  ästhetischen  Seelen  —  tragen  sie  auch 
wirkliche  Scln'ipfe  und  Bärte  aus  Rosshaaren  und  wirk¬ 
liche  Gewänder  aus  grobem  Leinenstoff.  Bei  der  Dar¬ 
stellung  des  Abendmahls  behandelten  die  Künstler  den 
Gegenstand  weniger  von  der  psychologischen  als  von 
der  gastronomischen  Seite.  Sie  verzichteten  gänzlich 
darauf,  in  den  Gesichtern  der  heiligen  Schar  die  Be¬ 
wegung  auszudrücken  über  den  erschütternden  Vorgang, 
der  sich  in  diesem  Augenblicke  abspielt.  Dagegen  legten 
sie  den  größten  Wert  auf  die  Herrichtung  des  Tisches. 
Da  musste  ein  wirkliches  Tuch  ausgebreitet  sein,  wirk¬ 
liche  Gläser  darauf  stehen  und  Teller  mit  Bergen  von 
Äpfeln  und  Birnen  und  Broten  und  Käse  und  Langusten. 
Kurz,  die  wackeren  mönchischen  Bildschnitzer  kannten 
in  ihrem  Eifer  für  den  Naturalismus  keine  Grenzen. 
Und  wenn  sie  noch  nicht  den  Hintergrund  mit  seinen 
Malereien  in  direkte  Verbindung  setzten  mit  den  pla¬ 
stischen  Gruppen,  so  waren  es  gewiss  keine  ästhetischen 
Bedenken,  die  sie  davon  abhielten.  Sie  waren  eben  auf 
diesen  Gedanken  noch  nicht  gekommen.  Er  blieb  dem 
größten  Künstler  Vorbehalten,  der  auf  all  diesen  Hei¬ 
ligenbergen  thätig  war,  dem  Gaudenzio  Ferrari  aus  Val- 
duggia.  (Fortsetzung  folgt.) 


31* 


DANNECKER’S  ARIADNE. 

YON  PROF.  DR.  C.  BEYER -STm'TGATxT. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


M  Stuttgarter  Schlossplatz,  wo  nuniuelir  der 
iiionuiiieiitale  Köiiiginhau  als  nicht  ganz  ehen- 
bürtiges  Gegenstück  des  schräg  gegenüberliegen¬ 
den  stolzen  Königsbanes  sich  erliebt,  stand  Dannecker’s 
ansi)ruchsloses  Künstlerheim.  Dort  befand  sich  sein 
vielbesuchtes  Atelier.  Dort  entstanden  seine  zahlreichen 


plastischen  Schöpfungen,  durch  die  er  sich  neben  Canova 
und  Thorvvaldsen  znin  Begründer  einer  epochebildenden 
Renaissance  einporrang,  z.  B.  seine  durchgeistigte, 
Kolossalldiste  Schiller’s;  sein  weihevoller,  fast  visionärer 
Evangelist  Johannes;  seine  wasserausgießende,  knieende 
Brunnen-Njunphe;  seine  charakteristische  Büste  des  Erz- 


Ariadne;  Marmorstatue  von  Dannecker.  Seitenansicht. 


DANNECKER’S  ARIADNE. 


245 


herzogs  Karl;  seine  unvergleichliche  Gruppe  der  ruhenden 
Wiesen-  und  Wassernymphe;  vor  allem  aber  seine  in 
Nachbildungen  weitverbreitete  bezaubernde  Ariadne,  die, 
in  weicher  Ruhe  auf  dem  breiten  Rücken  eines  Panthers 
hingegossen,  zweifellos  als  ebenso  bewunderungswürdig 
gelten  darf,  wie  die  antike,  schlafende  Ariadne  im  Vati¬ 
kanischen  Museum  zu  Rom. 

Die  Entstehungsgeschichte  der  meisten  Werke 
Dannecker’s  ist  bekannt,  nicht  aber  die  seiner  Glanz¬ 
schöpfung  Ariadne. 

Durch  seinen  Schüler,  den  nachmals  berühmt  ge¬ 
wordenen  Bildhauer  Wagner,  gelangte  eine  Mitteilung 
hiervon  auf  uns,  die  wir  der  Nachwelt  überliefern  wollen, 
nachdem  wir  auch  die  Aktenstücke  verglichen  haben, 
die  aus  dem  v.  Bethmann’schen  Familienarchiv  in  liebens¬ 
würdiger  Weise  (durch  Dr.  Pallmann)  zur  Verfügung 
gestellt  wurden. 

In  Dannecker’s  freundlichen 
Gesellschaftsräumen  versammelte 
sich  allwöchentlich  am  Donners¬ 
tag  zu  trauter  Unterhaltung  ein 
auserlesener  Kreis  von  Gelehr¬ 
ten,  Staatsmännern  und  Künst¬ 
lern;  das  sogenannte  Donners¬ 
tags-Kränzchen;  dort  verkehrten 
Uhland,  Schelling,  Baggesen,  Fr. 

Rückert,  Humboldt,  Bornstedt, 

Lord  Eglin,  Dannecker’s  Schwa¬ 
ger  Hofrat  Heinrich  Rapp,  Staats- 
niinister  v.  Wangenheim  u.  a.,  dort 
begegnete  man  auch  den  an¬ 
mutigsten  Frauen  aus  allen  Gauen 
Deutschlands. 

Zu  letzteren  zählte  die  all¬ 
beliebte  Hofsängerin  und  Hof¬ 
schauspielerin  Charlotte  Fossetta, 
eine  geborene  Münch  aus  Mainz, 
aus  bester  Familie,  die  Gemahlin 
des  Hofstuccators  Fossetta,  der 
mit  Dannecker  aufs  innigste  be¬ 
freundet  war  und  mit  ihm  die 
Karlsschiüe  besucht  hatte.  Sie 
war  eine  blendende  Schönheit  von 
bezaubernder  Anmut,  zugleich  eine 
hochbegabte  Sängerin  und  Schau¬ 
spielerin,  die  sich  von  Dannecker’s 
Begeisterung  für  das  Idealschöne 
und  von  seiner  humorgewürzten 
Unterhaltung  stets  hingerissen 
zeigte.  Sie  bildete  eine  Zierde 
aller  künstlerischen  Zirkel  der 
Residenzstadt. 

Mit  Vorliebe  verkehrte  Dan¬ 
necker  mit  dieser  vornehmen  Er¬ 
scheinung,  deren  unbefangenes, 


taktvolles  Urteil,  deren  zartsinniges  Empfinden,  deren  En¬ 
thusiasmus  für  die  Kunst  den  phantasievollen  Meister  er¬ 
wärmten.  Einmal  unterhielt  er  sich  mit  ihr  über  ideale 
Conception  und  Komposition,  sowie  über  plastische 
Darstellung;  er  äußerte,  wie  schwer  es  dem  Künstler 
zuweilen  werde,  mustergültige  Modelle  für  plastische 
Schöpfungen,  ideale  Vorbilder  für  ideale  Gestaltungen 
zu  entdecken  und  zu  gewinnen.  Und  nun  entspann  sich 
folgender  bedeutsamer  Dialog: 

„Frau  Fossetta“,  sagte  Dannecker,  fragenden  Blicks, 
von  einem  Gedankenblitz  durchleuchtet,  „wenn  ich  so 
glücklich  wäre,  ein  Vorbild  gleich  Ihnen  als  Modell  zu 
gewinnen,  so  sollte  der  wahren  Kunst  Segen  daraus 
erblühen!“ 

Darauf  die  Künstlerin:  „Und  Sie  glauben  in  der 
That,  dass  meine  Erscheinungsformen  Ihrer  Kunst  zu 
wirklicher  Förderung  gereichen 
könnten?“  Und  ohne  Dannecker’s 
Antwort  abzuwarten ,  fuhr  sie 
fort:  „Gut  denn,  verfügen  Sie 
über  mich,  wenn  Sie  meinen, 
Neues,  Geniales  schaffen  zu 
können!“ 

„Sie  scherzen  nicht?“  rief  em¬ 
porschnellend  strahlenden  Auges 
der  Meister;  „und  ich  dürfte  Sie 
beim  Wort  nehmen?“ 

„Ich  hab’s  gesagt;  es  soll  gel¬ 
ten“,  erwiderte  ruhig  entschlos¬ 
sen  die  vorurteilsfreie  Künstlerin. 

Nun  fasste  Dannecker  schnell 
den  Entschluss,  der  Welt  —  unter 
Fernhaltung  alles  Modernen  — 
eine  Lichtgestalt  zu  schaffen,  wie 
sie  nur  dem  Idealismus  entblühen 
könnte:  eine  dem  Bacchus  auf 
dem  Panthertier  entgegengeführte 
Ariadne,  deren  bräutlich  ver¬ 
klärter  Blick  bereits  dem  Irdischen 
entrückt  erscheinen  sollte. 

Schon  nach  wenig  Tagen 
—  es  war  mitten  in  der  Aus¬ 
führung  seiner  genial-gewaltigen 
Schillerböste  —  hatte  seine  Idee 
plastische  Form  gewonnen:  eine 
grundlegende  Thonskizze  war  er¬ 
standen. 

Dannecker  eilte  zur  Künst¬ 
lerin,  diese  an  ihre  Zusage  zu 
gemahnen.  Ohne  jegliche  Zöge¬ 
rung  zeigte  sich  dieselbe  bereit, 
zunächst  freilich  unter  gewissen 
Einschränkungen  und  Verhüllun¬ 
gen  sich  der  Idee  Dannecker’s  als 
sichtbares  Substrat  zu  bieten. 


Ariadne;  Marmorstatue  von  Dannecker. 
Vorderansicht. 


246 


DANNECKER’S  ARIADNE. 


Durch  die  Intervention  eines  begeisterten  Be- 
wimdei'ers  der  werdenden  Statue,  den  Bildhauer  Benz 
aus  Rom,  der  hei  Dannecker  zu  Besuch  weilte,  ließ  sich 
Frau  Fossetta  schließlich  noch  bestimmen,  dem  Künstler 
ohne  Schleier  zu  sitzen. 

So  entstand  denn  die  bräutliche  Dionysos-Erwählte 
mit  dem  Weinlaubkranz  im  geflochtenen  Haare,  mit 
dem  feinen  griechischen  Oval  und  den  liebreizenden 
weichen  deutschen  Kürperformen  in  einer  an  die  Natur 
sich  anlehnenden  klassischen  Idealität  und  gemüts¬ 
innigen  Anmut,  die  als  Kriterium  der  Koinpositions- 
weise  Dannecker’s  für  alle  Zeiten  zu  preisen  sein  wird; 
so  erblühte  eine  in  sinnigem  Behagen  sich  wiegende, 
ideal  blickende  Gütterflgur,  die  auf  kräftigem,  leicht 
dahin  schreitenden  Tiere  die  fein  drapirte  Gewandung 
in  leichter  Lässigkeit  zur  Erde  sinken  lässt. 

Fürwahr  ein  vorbildliches,  edles  Kunstwerk  in 
eminentem  Sinne.  Hier  ist  nichts  von  barockisirender 
oder  sinnlich  realistischer  Fornienverweichlichung  vvahr- 
zunehmen,  nichts  von  gefühlsarmer  Sentimentalität; 
wohl  aber  zeigt  sich  eine  typische  Charakteristik,  die  — 
ihres  idealen  Zieles  sich  vollbewusst  —  dasselbe  zur 
edlen  Lichterscheinung  emporzuzaubern  verstand,  ja, 
eine  Originalität,  welche  den  künstlerischen  Idealismus 
in  unserem  Jahrhundert  siegreich  auf  das  stolze 
Banner  hob. 

Im  edlen  Ausdruck  echter  Lebenswahrheit  und 
gemütkündender  Darstellungsweise,  aber  besonders  in 
charakteristischer  Individualisirung,  durch  welche  Dan- 
necker  sein  Vorbild  Canova  überragte  und  seinem  Freunde 
Thorwaldsen,  der  ihm  an  Tiefe  und  Fülle  der  Ideen 
überlegen  war,  sich  mindestens  ebenbürtig  an  die  Seite 
stellte,  zeigte  sich  Dannecker’s  eigenartige  Stilrichtung, 
die  nicht  romantisch,  nicht  eklektisch,  wohl  aber  echt 
antik  ist  im  Sinne  der  altattischen  Schule  des  5.  und 
4.  Jahrhunderts,  im  Geiste  des  echten  Klassicismus. 

Der  fürstliche  Gönner  Daimecker’s,  König  Friedrich 
von  Württemberg,  aber  war,  wie  es  so  in  seiner  Art 
liegen  mochte,  beim  öfteren  Bescliauen  des  werdenden 
Kunstwerks  stets  mit  ostensibler  Gleichgültigkeit  an 
demselben  vorüber  geschritten.  Er  schien  die  echt  freien 
Kunstwerke,  die  einei'  königlichen  Protektion  nicht  be¬ 
durften,  zu  ignoriren  und  auf  den  Künstler,  der  sich  in 
seinem  Reiche  nicht  minder  Fürst  dünken  mochte,  gewisser¬ 
maßen  eifersüchtig  zu  sein.  Dies  wirkte  nach  und  nach 
abkühlend,  ja  kränkend  auf  Dannecker’s  Künstlerstolz. 

Da  erschien  um  diese  Zeit  im  Atelier  Dannecker’s 
ein  feiner  Kenner  des  Schönen,  der  Frankfurtei-  Kunst- 
mäcen  Staatsrat  Moritz  von  Bethmann.  Ei'  war  ganz 
verloren  in  Bewunderung  des  Kunstwerks  und  widmete 
demselben  überschwängliches  Lob.  Als  er  von  der  ent¬ 
mutigenden  Nichtbeachtung  des  Kunstwerks  seitens  des 
Königs  erfuhr,  ermutigte  er  Dannecker  trotzdem  dringend 
zur  Ausführung  in  Marmor.  In  der  Folge  trat  er  mit 
lern  Künstler  insbesondere  auch  durch  dessen  Schwager, 


Hofrat  Heinrich  Rapp,  in  lelihaften  Gedankenaustausch. 
Bereits  am  6.  Oktober  1807  schreibt  Rapp  an  v.  Beth¬ 
mann  : 

„Dannecker’s  Ariadne  wartet  nur  auf  den 
Marmorblock;  sie  wird  dann  zum  bleibenden  Ruhm 
des  Künstlers  und  künftigen  Besitzers  sich  ins  Dauernde 
gestalten.  —  Ich  habe  eine  heimliche  Freude  daran, 
dass  ich  noch  eine  Vorliebe  für  dieses  göttliche  Bild 
bei  Ihnen  bemerke.  Sie  dürfen  die  Könige  fragen: 
„Und  wer  hat  ein  gleiches  V“  Es  ist  ohne  Vorurteil, 
wenn  ich  glaube,  dass  die  ganze  moderne  Kunst  nichts 
besseres  hat.“ 

Als  V.  Bethmann  darauf  noch  keine  bindende  Er¬ 
klärung  abgiebt,  wird  Rapp  dringender,  indem  er 
unterm  '2.  Februar  1808  mitteilt; 

„Für  Dannecker’s  Ariadne  in  Marmor  entsteht 
Konkurrenz.  Noch  einmal  wünscht  man  sie  in  ganzer 
Größe  und  fürs  andere  in  halber  Lebensgröße  zu  haben. 
Ich  für  meinen  Teil  wünschte  sie  aber  Niemandem  als 
Ihnen.  Waren  Sie  doch  der  erste,  welcher  die  Aus¬ 
führung  in  Anregung  brachte!  Können  Sie  sich  dazu 
entschließen,  so  bitte  ich  um  gütige  Antwort  und  sie 
bleibt  die  Ihrige.“  — 

Daraufhin  gab  Staatsrat  v.  Bethmann  eine  vor- 
läuflge  Erklärung  ab,  welche  bewies,  dass  es  ihm  mit 
der  xlcquisition  ernst  war. 

Inzwischen  war  der  Marmorblock  eingetroffen,  und 
Dannecker  ließ  im  Glauben  an  Bethmann  schon  im 
Juli  1810  mit  den  zeitraubenden  Vorarbeiten  zur  Marmor¬ 
ausführung  beginnen.  Von  diesen  Vorarbeiten  spricht 
ein  Brief  Rapp’s  vom  16.  Dezember  1810,  dem  nunmehr 
der  verabredete  Vertrag  beigelegt  war,  welchen  Rapp 
auf  Wunsch  Bethmann’s  entworfen  hatte,  v.  Bethmann 
Unterzeichnete  diesen  Vortrag  unverzüglich  am  20. 
Dezember  1810,  während  sich  Dannecker  Zeit  gönnte 
und  erst  am  24.  März  1811  seinen  Namen  dem  be¬ 
deutungsreichen,  historischen  Aktenstücke  anfügte.  Den 
Preis  wollten  beide  Kontrahenten,  wie  aus  schriftlichen 
Bemerkungen  zu  ersehen  ist,  ursprünglich  geheim  ge¬ 
halten  wissen.  Er  soll  (nach  Stuttgarter  Angaben)  die 
Summe  von  30000  fl.  =  54  000  M.  betragen  haben. 

ln  diesem  von  Rapp  entworfenen  Vertrage  ver¬ 
pflichtet  sich  Dannecker,  ..die  oben  erwähnte  Statue  an 
niemand  Anderen  als  an  Herrn  v.  Bethmann  zu  über¬ 
lassen,  wenn  ihm  gleich  noch  so  viel  darauf  geboten 
würde  oder  er  durch  Überredung  oder  Gewalt  dazu 
veranlasst  werden  sollte“.  (Aus  diesem  Grunde  hat 
auch  —  nebeiihei  bemei'kt  —  der  Sohn  des  Staatsrats 
V.  Bethmann,  der  k.  preiiß.  Generalkonsul  Moritz  Frei¬ 
herr  V.  Bethmann,  später  d.  i.  Ende  der  vierziger 
Jahre  noch  das  Gypsmodell  der  Ariadne  von  Wagner 
in  Stuttgart  erwoi'ben,  „damit  keine  gleichgroße  Nach¬ 
bildung  des  Kunstwerks  hergestellt  werden  könne.“) 

Nach  Ausfertigung  des  Vertrags  Dannecker’s  mit 
V.  Bethmann  förderte  Danuecker  die  Vorarbeiten  durch 


DANNECKER’S  ARIADNE. 


247 


seine  Hilfskräfte  in  angelegentliclister  Weise,  so  dass 
Rapp  am  5.  August  1811  mitteilen  durfte: 

„Die  Ariadne  kommt  allernächstens  unter  Dannecker’s 
Hände,  da  die  Vorarbeiten  fertig  sind.“ 

Drei  volle  Jahre  widmete  nunmelir  der  Meister 
begeistert  und  unausgesetzt  der  Marmorausfübrung 
seines  Lieblingswerks.  21  der  scliönsten  Frauen  Schwa¬ 
bens  batten  für  Einzellieiten  bei  der  Vergleichung  und 
für  die  Scliönheit 
des  Details  bei  der 
Ciselirung  geses¬ 
sen,  ähnlich  wie  ja 
auch  noch  Frau 
Fossetta  den  Arm 
für  die  1809  ent¬ 
standene  Dan- 
necker’sche  Wie¬ 
sennymphe  am 
Stuttgarter  k.  An¬ 
lagensee  lieh. 

Im  August 
1814  war  das 
Kunstwerk  vollen¬ 
det,  wenn  es  auch 
erst  am  19.  Juni 
1816  von  Stutt¬ 
gart  abgeschickt 
werden  konnte, 
weil  das  für  die 
Aufstellung  be¬ 
stimmte  Gebäude 
(Ariadneum)  nicht 
früher  fertig  zu 
stellen  war. 

In  allen  Krei¬ 
sen  Stuttgarts  Wal¬ 
es  bekannt,  dass 
das  Kunstwerk  in 
Dannecker’s 
freundlich  ge¬ 
schmücktem  Heim 
den  Blicken  der 
Beschauer  zugäng¬ 
lich  sei. 

Hier  thronte 
es  in  wunderbarer 
Schöne  und  Voll¬ 
endung.  Ergreifend  wirkte  auf  Jeden  der  harmonische 
Linienfluss,  die  attische  Vollendung,  der  gemütbestrickende 
Rhythmus,  das  reiche  Innenleben  und  das  charakteristische 
Gepräge  maßvoller  edler  Ruhe.  Es  machte  den  Eindruck 
eines  hellenischen  Kunstwerks  aus  dem  Perikleischen  Zeit¬ 
alter,  aus  der  Blütezeit  der  hellenischen  Plastik.  x\lt  und 
Jung  drängte  sich  in  bewegter  Stimmung  herbei,  um  den 
Meister  und  sein  Werk  zu  feiern  und  dem  Bedauern  über 


Ariadne,  Marmorstatue  von  Dannecker.  Rüokausiclit. 


den  baldigen  Verlust  einer  epochebildenden  schwäbischen 
Künstlerleistung  wehmütige  Worte  zu  leihen.  Die  Elite 
des  Geistes,  die  berufenen  Kenner  des  Schönen  und  un¬ 
gezählte  Bewunderer  umstanden  täglich  teils  in  laut  sich 
äußernder  Begeisterung,  teils  in  schweigendem  Erstaunen 
dieses  Muster  klassischer  Schönheitsgestaltung. 

Um  diese  Zeit  kam  der  zu  Besucli  in  Stuttgart 
weilende  Kaiser  Alexander  von  Russland  in  Dannecker’s 

Atelier  und  gab 
seinem  freudigen 
Ei'staunen  über  die 
Ariadne  so  unver- 
liohlenen  Aus¬ 
druck,  dass  König 
Friedrich  nach¬ 
denklichwurde  und 
den  Entschluss 
fasste,  das  Werk 
für  den  Kaiser  zu 
acquiriren. 

Unter  der  Hand 
ließ  er  sich  nacli 
dem  Preis  erkun¬ 
digen,  musste  aber 
zu  seinem  großen 
Ärger  erfahi'en, 
dass  Jas  dem  Kai¬ 
ser  zugedachte  Ge¬ 
schenk  in  die  Hän¬ 
de  eines  Frank¬ 
furter  Patriziers 
übergehen  sollte. 

Nunmehr  for¬ 
derte  er  die  Rück¬ 
gängigmachung 
des  Kaufs,  da  ja 
Dannecker  in  sei¬ 
ner  Eigenschaft 
als  Hotbildhauer 
seine  Werke  in 
erster  IJnie  dem 
König  anzubieten 
halte,  was  hier  ver¬ 
säumt  worden  sei. 

Herr  v.  Beth- 
mann  schien  aber 


nicht  geneigt,  frei¬ 
willig  zurückzutreten.  So  kam  es  zu  \'erhandlungen,  in 
welchen  sich  Dannecker  darauf  berief,  dass  er  seiner 
Pflicht  als  Hofbildhauer  durch  wiederholtes  Vorzeigen  des 
Werkes  voll  nachgekouimen  sei. 

Die  Behörden  entschieden  zu  Gunsten  v.  Bethmann’s, 
und  grollend  wandte  sicli  der  König  ab,  da  das  herrliche 
Kunstwerk  aus  seinen  rebengrünen  Landen  nach  Frankfurt 
entführt  ward.  Ganz  Stuttgart  trauerte  über  den  Verlust. 


•248 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


Kein  Geringerer  als  der  Busenfreund  des  Staats¬ 
ministers  V.  Wangeulieim,  der  Dichter  Fr.  Rückert,  der 
damals  mit  dem  Epigrammatiker  Hang  das  Cotta’sche 
Morgenblatt  in  Stuttgart  redigirte,  hat  der  Stimmung 
der  Stadt  dichterischen  Ausdruck  verliehen  und  zwar  in 


zwei  anspruchslosen,  leicht  hingeworfenen  unbekannten 
Gelegenheits-Gedichten,  die  in  der  Gesamt-Ausgabe  der 
Rückert’schen  Werke  bis  heute  nocli  fehlen^  und  von  denen 
ich  bereits  in  meiner  großen  Euckert-Biographie  be¬ 
richten  konnte. 


DIE  MUSEEN  ITALIENS 
UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 

VON  G.  FRIZZONL 


V. 

N  Venedig  ist  sehr  viel,  ja  vielleicht  nur 
zu  viel  geschehen.  Vernünftig  ist  die  vor¬ 
genommene  Sonderung  der  Malerwerke 
von  den  Skulpturen.  Letztere  nämlich, 
von  denen  eine  ganze  Anzahl,  meistens 
kleinere  Sachen,  in  der  kgl.  Gemälde¬ 
galerie  aufgestellt  waren  (in  dem  Saale,  in  dem  früher  zu¬ 
gleich  die  Handzeichnungeu  sich  befanden),  wurden  samt 
den  Münzen,  den  Medaillen  und  den  Plaketten,  in  besonderen 
Räumen  des  zum  Museum  eingerichteten  Dogenpalastes  ver¬ 
einigt.  Ein  merkwürdiges,  bis  jetzt  kaum  beachtetes  Hoch¬ 
relief  in  Bronze  ist  dasjenige,  welches  uns  in  einer  Ab¬ 
bildung  des  obengenannten  Bandes  vorliegt,  und  das  auf 
ganz  genrehafte  Weise  drei  gesattelte  in  Gegenwart  eines 
Stalljungen  fressende  Pferde  darstellt,  wohl  nur  der 
Teil  eines  ursprünglich  ausgedehnteren  Werkes  von  dem 
obengenannten  Eiccio.  Noch  mehr  wird  man  sich  aber 
an  °der  ebenso  einfach  als  würdevoll,  im  Geiste  der 
Bellini  gedachten  Büste  in  Bronze  erbaneu,  von  einem 
gleichzeitigen,  aber  kaum  zu  bestimmenden  Meister,  so¬ 
wie  an  dem  vom  klassischen  Altertum  inspirirten  mar¬ 
mornen  Hochrelief  von  Tnllio  Lombardi  u.  a.  m. 

Auch  in  der  archäologischen  Abteilung  sind  manche 
gute  Stücke  vereinigt  worden,  da  Venedig  zu  Zeiten 
der  Republik  das  Glück  zu  Teil  ward,  durch  ihre  Be¬ 
ziehungen  zum  Orient  sich  echte  griechische  Werke  zu 
verschaffen. 

Von  der  neuen  Anordnung  der  Sammlungen  in  der 
Galerie  der  Kunstakademie  ist  schon  vielfach  und  in 
verschiedenem  Sinne  die  Rede  gewesen.  Seitdem  nun 
längere  Zeit  über  das  Zustandekommen  dieser  Ände¬ 
rungen  verflossen,  mag  es  uns  gestattet  sein,  mit  ruhigerer 
Einsicht  zu  urteilen  und  zu  schließen,  was  daran  mehr 
oder  weniger  lobenswert  ist.  Alles  in  allem  genommen 
will  es  uns  scheinen,  als  hätte  man  von  Seite  der  höheren 
Leitung  der  Kunstangelegenheiten  gar  zu  sehr  der  Be¬ 
strebung  huldigen  wollen,  die  Kunstwerke  nach  dem 
chronologischen  Prinzip  aufzustellen.  Die  Lokalität  der 
Akademie,  so  wie  sie  gebaut  ist,  passt  eben  entschieden 


(Schluss.) 

nicht  zur  Durchführung  eines  solchen  Prinzips,  und 
muss  der  Umstand  dem  Besucher  heutzutage  in  mehreren 
Räumen  in  nicht  eben  angenehmer  Weise  fühlbar  werden. 
Die  Umwandlung,  die  z.  B.  gleich  bei  Ersteigung  der 
großen  Dopiteltreppe  der  mächtige  Saal  mit  der  ver¬ 
goldeten  Decke  (welche  die  eingefügten  Dekorationsbilder 
von  Paolo  Veronese  und  von  Domenico  (Jampagnola  und 
den  Fries  mit  den  Malerporträts  enthält)  erfalmen,  im 
Vergleich  mit  seiner  frühei'eu  Ausstattung,  ist  wahr¬ 
lich  nicht  als  eine  erfreuliche  zu  bezeichnen.  War  auch 
nicht  alles  daselbst  früher  aufs  beste  gedacht,  um  die 
einzelnen  Bilder  ihrem  Werte  gemäß  zur  Geltung  zu 
bringen,  so  war  doch  der  Raum  der  ausgedehnten  Wände 
im  Ganzen  schön  ausgefüllt  und  verleibte  ihm  einen 
reichen,  würdevollen  Eindruck,  welcher  jetzt  bedeutend 
beeinträchtigt  erscheint,  seitdem  man  den  Saal  par 
force  dem  früheren  Zeitalter  der  Malerei  hat  einräumen 
wollen,  wodurch  vorwiegend  Gemälde  von  kleineren  Di¬ 
mensionen  den  stattlichen  von  früher  substituirt  worden 
und  folglich  eine  Leere  in  den  oberen  Teilen  der  Wände 
entstanden,  die  man  vergeblich  mit  müßigen  eingelegten 
Rundbildern,  welche  nichts  anderes  als  Künstlernamen 
enthalten,  zu  füllen  gesucht  hat. 

Um  so  mehr  aber  erscheinen  die  Bilder  in  den  zwei 
weiter  gelegenen  Hauptsälen  überhäuft  und  zusammen¬ 
gedrängt,  ja  so  sehr  überhäuft,  dass  an  einigen  Stellen  bis 
fünf  Reihen  Bilde]-,  die  einen  über  die  andern,  zu  zählen 
sind,  was  doch  etwas  zu  weit  getrieben  ist. 

Allgemeinen  Beifall  haben  hingegen  die  zwei  neu 
eingerichteten  achteckigen  Säle  gefunden,  der  eine  gänz¬ 
lich  dem  reizenden  Cyklus  der  Ursulalegende  von  Car¬ 
paccio  geweiht,  der  andere  einer  Anzahl  von  beträcht¬ 
lichen  meistens  historischen  Gemälden  aus  derselben  Zeit 
der  venetianischen  Schule.  Dass  dabei  freilich  manche 
Mängel,  d.  h.  manche  Übelstände,  woran  die  Bilder 
hauptsächlich  durch  die  Schuld  heilloser  Restaurationen 
gelitten,  näher  und  schreiender  ins  Auge  fallen,  als  zur 
Zeit,  wo  sie  in  den  eben  genannten  größeren  Sälen  hingen, 
muss  mau  sich  gefallen  lassen. 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


249 


Der  gelniigenste  Teil  liiiisiclitlicli  der  allgenieiiieii  Re¬ 
organisation  ist  nach  der’  Ansrliiuinng  des  Schreibers  dieser 
Zeilen  derjenige,  in  dein  die  Werke  inäl-Üger  Dimensionen 
(meistens  Madonnen-und  Heiligenbilder),  die  den  Bellinis,den 
Vivarinis  und  deren  Schülern  und  Nachfolgern  angehiiren, 
aufgestellt  sind.  Hier  findet  man  eine  wahre  Oase  der  geis¬ 
tigen  Kühe,  in  der  sich  bei  Hetrachtung  so  gar  nia.iii  her 
edler  und  sinniger  Schöpfungen  der  wahre  Kunstfi'eund 
zu  vertiefen  gefällt. 

Verlässt  man  aber  diese  unser  innigstes  Gemüt 
fesselnden  Säle  und  tritt,  sich  linker  Hand  umwendend, 
auf  die  Schwelle  einer  Thüre,  die  zu  einem  um  mehi-ere 
Stufen  niederer  gelegenen  noch  im  strengen  Styl  eines 
frühen  Quattrocento  ausgestatteten  Kaum  führt,  so  wird 
man  von  einer  andern  neuen  Erscheinung  übei'i’ascht,  die 


Thüren  verursacht  worden  sind,  wobei  zu  liemerken  ist, 
dass  von  diesen  beiden  Thüren  nur  die  eine  früher  exi- 
stirt  hat  und  von  Tizian  bei  Ausführung  seines  AVei’kes 
berücksichtigt  worden  war,  indem  die  Öffnung  dii-ekt  unter 
der  Mauer  zu  stehen  kommt,  welche  die  Stufen  ti’ägt,  auf  deren 
Höhe  der  Hohei»riester  die  junge  Maria  empfängt.  Sehr  zu 
bedauern  ist  hingegen,  dass  die  zweite  Thüre  (neben  dem 
Fenster)  wegen  anderer’,  schon  im  17.  .Tahihumlert  voi’- 
genommener  innerer  Baueinrirhtungen  ci'öffnet  wui'de 
während  das  Meisterstück  des  Cadoriners  itoch  nicht 
von  seiner  urspi'ünglichen  Aufstellung  entferrrt  woi’den 
war  und  somit  in  der  andei’ii  Ecke  einer  Verstümmelirng 
unterworfen  wui’de,  die  heutzutage  (fi'eilich  ohne  Schuld 
der  jetzigen  Vei’waltung)  recht  fühlbar  dem  Auge  des 
Beschauei’s  entgegenti’itt,  indem  sie  auf  brutale  AVeise 


Der  Tempelgaug  der  Maria  von  Tizian  in  der  k.  tlalerie  zu  Venedig. 


wiederum  eine  gewaltige  AA’irkung  auf  Augen  und  Seelen 
hervorzurufen  bestimmt  ist,  nämlich  die  Erscheinung  des  be¬ 
rühmten,  die  ganze  AA'and  neben  dem  Fenster  einneh¬ 
menden  „Tempelganges  der  Maria“  von  Tizian,  an  seinem 
ui’sprünglichen  Platz  aufgestellt,  wo  es  erst  wieder  sein 
günstiges,  vom  Künstler  berechnetes  Licht  erhalten  hat 
und  zur  vollen  Geltung  gelangt  ist.  Hier’  soll  nämlich 
erinnert  werden,  dass  dieses  Gemälde,  als  im  Jahi’e  1807 
die  alte  Scuola  della  Caritä,  welche  in  diesem  Kaum 
ihren  Sitz  hatte,  geschlossen  wurde  und  die  Gemälde¬ 
galerie  in  der  Lokalität  des  ehemaligen  Klosters  aufge¬ 
stellt,  in  einen  der  größeren  Säle  ülierti’agen  wurde. 
Um  aber  der  großen  Leinwand  eine  regelmäßige  Form 
zu  geben,  mussten  einige  Ergänzungen  daran  vorge¬ 
nommen  wei’den,  damit  die  Lücken  ausgefüllt  würden, 
die  an  dem  unteren  Teil  der  zwei  Enden  durch  die 


die  Beine  der  Figuren  abschneidet,  welche  in  dieser 
Ecke  angebracht  sind.  AVie  es  hingegen  zuvor  aus- 
gesehen  haben  muss,  mag  aus  der  guten  Photographie 
von  Anderson  entnommen  wei'den,  wo  die  beiden  Er¬ 
gänzungen  wahrzunehmen  sind;  und  zwar  diejenige 
rechter  Hand  vom  Beschauer  nach  der  Erfindung  des 
llestaurators,  die  andere  abei’,  wie  auzunehmen  ist,  nach 
ei’haltenen  Angaben  des  früheren  Zustandes  des  Ge¬ 
mäldes.  Demnach  wäre  die  Bemerkung  J.  Burck- 
hardt’s  im  „Cicerone“  nicht  ganz  zutreffend,  wenn  er 
meint,  dass  die  späteren  Einfügungen  in  der  Leinwand 
den  beabsichtigten  Effekt  fötal  geändert  hätten,  da 
jedenfalls  ursprünglich  nur  eine  Lücke  berücksichtigf 
werden  musste  in  einer  für  die  Komposition  übrigens 
recht  gleichgültigen  Stelle.  AVie  dem  auch  sei,  sicher 
ist,  dass  das  herrliche  AA9?rk  Tizian’s  (welches,  beilänlig 

•'O 


Zeitsebrift  für  biltlende  Kunst.  N.  K.  Vlll.  II.  lo. 


Sechste  Anbetung  der  Könige  von  Sandro  Botticelli  in  den  Cfflzien  zu  Florenz.  Nach  Photographie  Alinari. 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


251 


gesagt,  nicht  im  Jahre  1530  entstanden,  wie  bis  jetzt 
angenommen  worden,  sondern  bereits  1538  fertig  war), 
in  seiner  neuen,  d.  h.  ursprünglichen  Aufstellung  eine 
ganz  außerordentliche  Bewunderung  unter  den  Besuchern 
der  Galerie  her  vorzurufen  im  stände  ist,  die  man  denn 
in  der  guten  Jahreszeit  scharenweise  vor  der  bezau¬ 
bernden  Erscheinung  sich  versammeln  und  verweilen 
sieht,  um  den  Eindruck  vom  obengenannten  genialen  Ästh¬ 
etiker  zu  teilen,  dass  das  Werk  „unmittelbar  aus  dem 
venezianischen  Lelmn  geschöpft  und  mit  einer  Fülle  von 
Nebenmotiven  ausgestattet  ist,  die  mit  einer  erstaun¬ 
lichen  Frische  und  Schönheit  dargestellt  sind“. 

Noch  sei  hier  erwähnt,  dass  für  die  Erhaltung  und 
die  bessere  Aufstellung  der  llandzeichnungen  alter 
Meister  in  demselben  Kunstinstitut  besondere  Maßregeln 
getroffen  woiden  sind.  Ähnliches  ist  für  die  aus  wert¬ 
vollen  Elementen  bestehende  Sammlung  von  Kupfer¬ 
stichen  in  der  kgl.  Binakothek  zu  Bologna  zu  bemerken, 
mit  der  sich  zu  dem  Behuf,  seiner  bekannten  Kompetenz 
gemäß,  Dr.  Paul  Kristeller  befasst  hat. 

VI. 

tiberschreiten  wir  nun  den  Apennin  und  halten  uns 
eine  Weile  in  Florenz  auf,  wo  auch  einige  bedeutende 
Zuwachse  in  den  öffentlichen  Sammlungen  aufzuzeiehnen 
sind.  Zu  demselben  gehört  ein  liebliches  Rundbild  in 
emaillirter  Tonerde  von  Andrea  della  Robbia,  welche  aus 
einem  Zimmer  des  Staatsarchivs  geholt  worden  und 
vom  Unterrichtsministerium  dem  Museo  Nazionale  im 
alten  Bargello  zugewiesen  wurde.  Ebendaselbst  befindet 
sich  ein  merkwürdiges  Marmortaufbecken  aus  dem  XII. 
Jahrhundert  u.  a.  ni.  In  den  Uffizien  aber  verdienen 
speciell  einige  Werke  der  Malerei  hervorgehoben  zu 
w'erden.  Erstens  eine  Venus  (seit  längerer  Zeit  im  ersten 
tosk.  Saal  auf  einer  Staff'elei  aufgestellt),  in  flüssiger 
Tempera  auf  Leinwand  von  Lorcnzo  di  Crcdi  ausge¬ 
führt,  als  förmliches  Aktstück  behandelt,  in  der  man 
freilich  den  genialen,  lebendigen  Zug  eines  Botticelli 
(gedenkt  man  seiner  auf  der  Muschel  stehenden  Venus) 
gar  zu  sehr  vermisst,  trotzdem  man  an  der  feinen,  ge¬ 
schmackvollen  Ausführung  den  Meister  von  seiner  guten 
Seite  erkennen  mag.  Das  Bild  stammt  aus  einer  der 
kgl.  Villen  in  der  Nähe  von  Florenz. 

Interessanter  in  Betreff  der  eigenen  Bedeutung, 
wenn  auch  nur  ein  kleines,  fragmentarisches  Stück,  ist 
ein  ideales  Profilköpfchen  eines  Jünglings,  die  Stirne 
mit  einer  Blätterranke  gekrönt,  im  Hintergründe  eine 
felsige  Landschaft.  Aus  diesem  im  Magazin  der  Galerie 
vorgefundeiie)!  zarten  Bildchen  weht  ein  so  leonardesker 
Duft,  dass  mau  es  einem  tüchtigen,  immerfort  auf  Ent¬ 
deckungen  von  Werken  Verrocchio’s  und  seines  großen 
Schülers  bedachten  Fachmann,  als  welcher  Dr.  W.  Bode 
bekannt  ist,  kaum  zur  Schuld  berechnen  kann,  dass  er 

1)  S.  den  II.  Band  der  italienischen  Ausgabe  von  Crowe 
und  Cavalcaselle,  S.  39. 


es  in  seinem  Buche  über  die  italienischen  Bildhauer  der 
Renaissance  dem  Meister  selbst  zuschreibeu  will.  Sicher 
steckt  in  dieser  feinen  Figur  mehr  vom  Wesen  desselben 
als  iu  manchen  anderen  ihm  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
zugeschriebener  Werke;  vergleicht  man  es  jedoch  mit 
anderen  Schöpfungen  aus  der  Mailändischen  Schule, 
namentlich  mit  denen  eines  strengen  Nacheiferers  des 
toskanischen  Meisters,  wie  dies  Gio.  A)it.  Boltrafßo  ge¬ 
wesen,  so  wird  die  Bestimmung,  die  nunmehr  in  der 
Galerie  dafür  angenoinmen,  dass  es  diesem  Maler  auge¬ 
höre,  als  völlig  gerechtfertigt  erscheinen.  Den  ent¬ 
scheidendsten  Beweis  dazu  würde  der  unmittelbare  Ver¬ 
gleich  mit  einem  schon  längst  als  Boltraffio  beglaubigten 
l’rofiliiorträtchen  seines  als  Heiliger  Sebastian  dargestellteu 
Jünglings  liefern,  welches  sich  im  Privatbesitz  iu  Ber¬ 
gamo  befindet  und  dem  Florentiner  schlagend  ähnlich 
ist,  sowohl  im  Typus  als  in  der  Malerei.  Schon  die 
Zusammenstellung  der  Photographieen  von  Anderson 
und  von  Dubray  stellt  diese  Thatsache  in  volle  Klarheit. 

Von  höherem  Belang  aber  ist  die  Errungenschaft 
eines  Tafelbildes  von  BulMcelli^  welches  sich  bis  vor 
kurzem  gleichfalls  im  Depot  verloren  hatte,  im  XVII.  Jahr¬ 
hundert  aber  der  Unbill  einer  vollständigen  Übermalung 
unterworfen  worden  war,  welche  iu  diesen  Tagen  vom 
Restaurator  der  Galerie  nur  teilweise  entfernt  werden 
konnte  und  auf  die  Vermutung  brachte,  dass  das  Ge¬ 
mälde  von  Sandro  unvollendet  hinterlassen  worden ,  in¬ 
dem  es  an  und  für  sich  seinen  spätesten  Jahren  anzuge¬ 
hören  scheint.  Es  handelt  sich  nämlich  um  nichts  weniger 
als  eine  ganz  außerordentlich  flgurenreiche  Kompo¬ 
sition  einer  Anbetung  der  Könige.  Es  wäre  dies  das 
sechste  Gemälde  desselben  Gegenstandes,  das  uns  vom 
tüchtigen  Florentiner  Meister  bekannt  ist;  da  ihm 
ja  heutzutage  von  der  aufgeklärteren  Kritik  drei  in 
der  Londoner  National- Galerie  zuerkannt  sind  (wenn 
man  nämlich  die  mystisch  und  symbolisch  gedachte  Ge¬ 
burt  Christi  vom  Jubiläumsjahr  1500  auch  dazu  rechnet), 
deren  zwei  vom  Schreiber  dieser  Zeilen  zuerst  als  solche 
erörtert,')  eine  schon  längst  bekannte  im  Saal  des  Don 
Lorenzo  Monaco  in  den  Uffizien,  eine  fünfte  in  der  kgl. 
Ermitage  zu  Petersburg,  zuletzt  die  eben  an  das  Licht 
der  Welt  ausgestellte.  Wie  aber  nur  mit  dem  Fort¬ 
schritt  der  Zeit  ähnlichen  Werken  Gerechtigkeit  wider¬ 
fährt,  bezeugen  gerade  diese  Werke  von  Botticelli.  Stehen 
ja  noch  heutzutage  im  offiziellen  Londoner  Katalog  die 
zwei  ersten,  widil  seiner  früheren  Zeit  angehörigen, 
worin  sich  die  Anklänge  mit  seinem  Lehrer  Fra  Filippo 
fühlbar  machen,  willkürlicher  Weise  unter  dem  Namen 
von  Filippino  Lippi,  während  dasjenige  in  Petersburg  bis 
1861,  als  es  erst  Waagen  richtig  bestimmte,  unter  dem 

1)  S.  ,,Art.e  Italiana  del  Riuascimento“,  Saggi  critici  di 
(iustavo  Fi'izzoni,  Milano.  Fratelli  Dumolard  editori  1891 
S.  236  und  folg.  —  Gute  und  nicht  zu  teuere  Abltildungen 
bei  dem  Photograjilien  Mariano  Morelli  in  der  National- 
Galerie  zu  haben. 


32* 


Die  lleimsueliuiig;  aiigublicli  vüu  Kka  Caknen  ale  im  Palazzo  Baiheiiiii  io  lioiu;  uiielj  i’hotogiapliie  Amlei'suii, 


DIE  MUSEEN  ITALIENS  UND  IHRE  NEUEN  ERRUNGENSCHAFTEN. 


253 


Nanieu  des  Andreas  Maiitegua  hing,  und  das  letztgenannte 
in  Florenz  von  Crowe  und  Cavalcaselle  nur  als  eine  Arbeit  der 
Schüler  oder  ini  Atelier  des  Meisters  thätiger  Gehilfen 
ausgeführt  erachtet  wurde.  Sieht  man  sich  aber  jetzt 
das  letztere  Bild  genauer  an,  so  fühlt  man  sich  zum 
Schluss  gezwungen,  besonders  wenn  man  von  der  Malerei 
abstrahirt  und  nur  auf  die  Art  und  Weise  das  Ganze  zu 
kompoiiiren  und  zu  zeichnen  achtet,  dass  wir  da  in  der 
That  eine  Schöpfung  des  Meisters  vor  uns  haben,  so 
voll  Leben  und  dramatischen  Schwung  ist  alles,  was 
sich  darin  bewegt  und  mit  dem  leidenschaftlichen  Eifer 
nach  dem  Centrum,  dem  göttlichen  Neugeborenen  zu¬ 
wendet.  Desgleichen  deuten  ja  auch  die  Typen  der 
Figuren,  der  Faltenwurf,  die  Gebärden,  speciell  aber 
das  Spiel  der  Hände,  durchaus  auf  Botticelli  selbst  und 
ließe  sich  aufs  Innigste  mit  den  berühmten  Zeichnungen 
zu  Dante’s  Göttlicher  Komödie  im  Hamilton’schen  Ber¬ 
liner  Kodex  vergleichen.  Dass  unter  den  vielen  Personen, 
die  im  Gemälde  Vorkommen,  gar  mancher  Zeitgenosse 
vom  Maler  in  Augenschein  genommen  worden,  ist  gewiss 
anzunehmen;  ohne  zwar  dem  Direktor  der  Galerie  in 
all  den  in  seinem  Berichte  geäußerten  Vermutungen 
folgen  zu  wollen,  möchten  wir  doch  mit  ihm  unsere 
Freunde  auf  die  tiefsinnig  dreinschauende  Figur  mit 
langem  Bart  und  Haar  aufmerksam  machen,  die  ungefähr 
in  der  Mitte  der  Gruppe  zur  Rechten  des  Beschauers 
mit  der  Hand  vor  dem  Munde  sich  uns  darstellt,  in  der 
möglicherweise  sein  Mitbürger  Lionardo  da  Vinci  in 
vollem  Mannesalter  dargestellt  sein  könnte. 

Von  verschiedenen  anderen,  weniger  wichtigen  Er¬ 
werbungen  soll  hier  abgesehen  werden.  Hingegen  ver¬ 
dient  eine  Neuigkeit  betont  zu  werden,  die  die  Erweite¬ 
rung  der  Abteilung  der  Handzeichnungen  alter  Meister 
betrifft.  Es  ist  nämlich  dafür  ein  neuer  Saal  einge¬ 
richtet,  der  erstens  dazu  bestimmt  ist,  die  früher  in 
einem  Raume  der  Sammlung  in  der  Kunstakademie  auf¬ 
gestellten  Kartons  aufzuuehmeu,  um  damit  die  ange¬ 
messene  Vereinigung  von  ähnlichen  Erzeugnissen  zu  be¬ 
zwecken,  außerdem  aber  auch  noch  erlaubt  hat,  einen 
andern  Teil  des  reichhaltigen  Vorrates  von  Zeichnungen 
auszustellen;  eine  Zuvorkommenheit,  w'elche  vielleicht 
als  zu  weitgehend  genannt  werden  dürfte,  wenn  mau 
bedenkt,  dass  die  beschränkte  Zahl  der  sich  füi-  solche 
Sachen  Interessirenden  dieselben  beriuemer  und  wohl  nocli 
besser  mit  den  Vorlagen  eigener  Mappen  betrachten,  und 
dass  gar  manche  Zeichnungen  an  und  für  sich  dui'ch  die 
beständige  Ausstellung  im  vollen  Licht  mit  der  Zeit  nur 
leiden  können. 

VII. 

Wir  beschließen  diese  unsere  zusammenfassende 
Musterung  mit  dem,  was  in  den  Sammlungen  von  Rom 


vorgenommen  worden.  Da  käme  denn  vor  allem  die 
unter  der  Verwaltung  des  römischen  Unterrichtsmiuisters 
Baccelli  veranstaltete  Gründung  der  kgl.  Natioualgalerie 
der  alten  Kunst  in  Betracht,  welche,  w’ie  anderswo 
schon  bemerkt  worden,  ihre  Installirung  iin  ehemaligen 
Palazzo  Corsini  alla  Lungara  gefunden.  Da  wir  uns 
aber  bereits  in  einem  anderen  Artikel  darüber  aufge¬ 
halten,  ')  so  wäre  es  überflüssig,  uns  hier  wiederum  da¬ 
mit  zu  beschäftigen. 

—  Eine  heiklige  Frage,  die  seitens  der  italienischen 
Regierung  aufgeworfen,  ist  diejenige  der  derselben  ge¬ 
bührenden  Rechte  über  die  Galerieen,  welche  unter  dem 
Zwang  des  Fideikommiss  stehen.  Um  eine  Bestätigung  zu 
erlangen  über  alles,  was  in  diesen  Bereich  gehört,  wurde 
eine  Untersuchung  in  den  fürstlichen  Palästen  von  einem 
dazu  beauftragten  Kommissar  veranstaltet,  welche  im 
ganzen  mit  gutem  gegenseitigen  Verständnis  ausgeführt 
wurde,  wie  aus  dem  Bericht  im  1.  Band  der  Gallcrie  Na-.w- 
nali  von  Herrn  Giulio  Gantalamessa  zu  entnehmen.  Diese 
fürstlichen  Sammlungen  sind  sov/ohl  die  dem  Kumst- 
publikum  bekannten,  Borghese  und  Doria, als  andere,  wekdie 
demselben  nie  aufgeschlossen  worden,  wie  diejenigen,  die 
sich  in  den  Privatwohnuiigen  der  Familien  Barberini, 
Chigi,  Colonna,  Sciai’ra  etc.  betinden.  Letztere  haben 
die  Gelegenheit  zu  manchen  merkwürdigen  Entdeckungen 
geboten,  und  beschränken  wir  uns  diejenigen,  die  darüber 
eingehend  benachrichtigt  zu  werden  wünschen,  auf  ge¬ 
nannten  Bericht  und  auf  Venturi’s  Prachtwerk:  „Tesori 
d’arte  ineiliti  di  Roma“  (in  Roma  presso  D.  Anderson 
fot.  edit.  1896)  zu  verweisen.  Da  wird  denn  speciell 
von  wichtigen  Werken  aus  der  ferraresischen  Schule 
Rechenschaft  gegeben,  außer  anderen  Gemälden  von  ver¬ 
schiedenen  Schulen.  Der  Toskana  aber  gehören  zwei 
köstliche  Bilder  auf  Holz,  aus  der  Privatwohnung  des 
Fürsten  Barberini,  an,  deren  eines  wir  hier  wiedergeben. 
Dass  die  alte  Benennung  nach  Ghirlandajo  nicht  stich¬ 
haltig  ist,  braucht  kaum  bemerkt  zu  werden ;  schwieriger 
ist  es  freilich,  diesen  Namen  durch  einen  anderen  zu  er¬ 
setzen,  der  völlig  überzeugend  wäre,  obwohl  neulich  von 
\"enturi  derjenige  von  Fra  Carnevale  vorgeschlagen 
worden  ist.  So  können  diese  beiden,  durch  die  fein  bewegten 
und  gruppii  teii  Figuren  in  ihrem  grauen  an  die  Schule 
von  Fra  Filippo  Lippi  erinnernden  Ton  nicht  weniger 
als  durch  die  reichen  architektonischen  Motive  einzig 
dastehenden  Stücke  vor  dei'  Hand  noch  als  wahre  Rätsel 
aus  der  reinsten  Kunst  des  (Quattrocento  liezeichnet 
werden.  o  US  TA  V  FinZZOyT. 


1)  S.  ,,Neue  2iliotogTa])hisdie  Aafmibiiieii  in  Italien'“  iin 
.laniiai'heft  dieser  sellien  Zeitschrift. 


NEUES  AUS  DEM  BERLINER  UND  KARLSRUHER 

RADIRVEREIN. 


()R  mir  liegen  zwei  Mappen  Original- 
jadiningen.  heransgegelien  vom  Berliner 
lind  Karlsruher  Kadirverein.  Wenn  man 
die  vor  einiger  Zeit  im  Kölner  AValraif- 
Ricliartz-Mnsenm  veranstaltete  Ausstel¬ 
lung  von  deutschen  Originalradirungen 
gesehen  hat,  wo  auch  Berlin  und  Kaidsruhe  vorzüglich 
vertreten  war,  so  macht,  in  der  Rin  Icerinneruiig  an  das 
dort  Geschaute,  das  hier  in  der  Mappe  Gesammelte  einen 
etwas  spärlichen  Eindruck,  da  die  Mitglieder  der  Vereine 
fast  ausschließlich  Landschafter  sind,  was  ja  liei  Karls¬ 
ruhe  in  der  Lage  der  Sache  hedingt  ist,  hei  Berlin  je¬ 
doch  anders  sein  könnte;  denn  warum,  wenn  die  Frage 
erlaulit  ist,  birgt  der  Berliner  Radirklub  nicht  die  Namen 
Köpi)ing,  Geyger,  Liebeiauann,  Schennis?  was  zweifelsohne 
ein  vollständigeres  Gesamtbild  liefern  und  der  Kritik 
eine  interessantere  Aufgabe  stellen  würde. 

1  »ie  Berliner  Mappe  birgt  acht  Namen  mit  je  einem 
Blatt.  —  Eilcrs’  Strandbild  ist  in  der  Komposition 
für  unseren  Kunstgeschmack  ein  wenig  zu  novellistisch. 
W'ährend  uns  die  modernen  Marine-  und  Strandbildmaler, 
der  Mesdag  und  Israels  und  nach  diesen  die  ganze  jüngere 
Generation,  den  Fischer  im  Kampf  mit  der  Natur  dar¬ 
stellen,  wodurch  in  die  Auffassung  ein  Zug  von  Größe, 
von  Dramatischem  kam,  finden  wir  bei  Eifers  den  Geist 
des  Henry  Ritter  und  der  frühen  Dänen  wieder,  kurzum 
ein  sonniges  Fischerfamilienidyll,  das  uns  Modernen  uns 
dal:iei  eidappen  lässt,  dem  gefährlichen  archaistischen 
Gelüste  zu  fröhnen,  von  allen  Kulturen,  Zeiten  und 
■Moden  den  Schaum  zu  schöpfen,  hier  eben  den  ver¬ 
klungenen  Tönen  der  Landidyllen  unser  Ohr  zu  leihen; 
was  dem  Kritiker  ja  ansteht,  dem  Künstler  alter  nicht, 
da  es  die  eigene  Individualität  verfasert,  dem  subjektiv- 
objektiven  Impressionisten  der  Kritik  aber  ermöglicht, 
allen  Künstlern  gerecht  zu  werdern,  wofern  es  Indivi¬ 
dualitäten  waren.  —  Pli.  Frank  führt  uns  mit  seinem 
Blatte  „an  der  Charlottenburger  Brücke“  in  das  AVeich- 
bild  der  Großstadt.  Kalt  und  nass  ist  der  Winterabend, 
von  den  kahlen  schwarzen  Zweigen,  die  wie  harte  Iland- 
gerippe  in  die  Luft  starren,  tropft  es,  um  die  brennen¬ 
den  Laternen  stehen  gelbe  Dunstringe,  und  am  Geländer 
der  einsamen  Brücke,  unter  deren  nassem  Gebälk  zwei 
stumme  Schwäne  kreisen,  ruht  ein  in  Schwarz  gehülltes 
Weib;  was  steht  sie  da  so  einsam  und  schaut  ihr 


schwankes  Spiegelliild  in  der  dunklen  Flut:  ein  Spiaing, 
ein  Schrei,  und  wieder  ruhig  kreisen  die  Schwäne,  während 
fern  hinten,  wo  die  Fenster  der  Häuser  eileuchtet,  der 
Leltenslärm  der  Großstadt  weilerrast  wie  ein  glänzendes 
lärmendes  Ungeheuer.  Solche  Gedaidien  drängen  sich 
dem  Beschauer  lieim  Betrachten  des  Blattes  von  Ph. 
Frank  auf,  das  technisch  so  geschickt  wie  äußei'st 
stimmungsvoll  erdai  ht  ist.  — •  R.  Fricac  hat  mit  seinen 
früheren  Löwenbildei-n,  besonders  mit  dem  jetzt  in  der 
Dresdener  Galerie  befindlichen,  berechtigtes  Aufsehen  ge¬ 
macht.  Die  dem  Hefte  beigegebene  Radiruug  eines 
Königstigers  ist  ein  Abglanz  der  früheren  tüchtigen 
Leistungen  des  unlängst  mit  der  großen  goldenen 
Medaille  ausgezeichneten  Malers.  In  dem  Blatte  „Ver¬ 
lassen“  von  Iloffmann  v.  Faller alchcn  wirkt  die  Aus¬ 
führung  der  Gebäulichkeiten  ein  wenig  kleinlich,  was 
der  sonst  stinimungsvollen  Auffassung  des  Motivs  ein 
wenig  Abbruch  thut.  —  Von  hervorragender  Charakteristik 
der  Naturauffassung  ist  Walter  Leistikow.  Leider  ge¬ 
hört  er  zu  jenen  Künstlern,  deren  ganzer  AA^ei't  sich 
nicht  nach  der  Radii'ung  beurteilen  lässt,  da  er  in  der 
Farbe  steckt.  Die  Farbe  ist  das  Erzeugnis  des  Tem¬ 
peramentes  und  das  Temi)erament  das  Erzeugnis  der 
Bodenbeschaffenheit  —  Walter  Leistilvow  ist  daher  der 
typische  Repräsentant  der  nordöstlichen  Landschaft,  deren 
schlichtem  Äußern  sein  tiefes  Empfinden  wahre  Zauber¬ 
töne  zu  entlocken  weiß.  In  dem  Bhitte  „Weiden“  der 
Radirer-Mappe  kann  man  nur  studiren,  wie  sich  seine 
Naturauffassung  in  der  Linie  darstellt,  die  hier  von  der 
charakteristischen,  synthetischen  Art  der  Japaner  ist.  — 
K.  Ocniko's  „Waldinueres“  ist  eine,  wenn  auch  nicht 
sonderlich  originelle,  so  doch  stimmungsvoll  und  fein 
erdachte  AValdlandschaft,  deren  technische  Qualitäten 
von  gleichem  Werte  sind.  —  Die  Mappe  beschließt  Fritz 
StaliVs  „Idylle“,  ln  einem  Park,  oder  sonst  wo  in  einem 
baumigen  Grunde,  der  nicht  näher  moditizirt  ist,  steht 
ein  AVeib  in  langem  fließenden  Gewände,  eine  jener 
zarten  kränkelnden  Treibhausblüten  des  High-life,  wie 
sie  Stahl  so  meisterhaft  schildert,  um  die  Lippen,  die 
einst  nach  den  letzten  Reizen  der  Genusssucht  lechzten, 
ein  Zug  schmerzlicher  Entsagung,  die  Stirn  umwölkt 
von  tiefem  Sinnen.  —  Die  Karlsruher  Majtpe  umfasst 
neun  Namen:  Gattiker,  Hansen,  Hein,  Hoch,  Kallmorgen, 
Krauskopf,  Pötzelberger,  Schöiileber  und  Weiß.  —  In 


i.nr'RF.IN  >'iTP>  ORTGIIIAI.-H/iVDIRUNCt  TTU  BERLIN 


NEUES  AUS  DEM  BERLINER  UND  KARLSRUHER  RADIRVEREIN. 


255 


Hermann  Gattiker  lernen  wir  einen  Künstler  kennen, 
der  mehr  noch  wie  Leistikow  in  seinem  oben  erwähnten 
Blatte  die  Landschaft  in  eigen  stilisirter,  von  japanischem 
System  ansgehender  Weise  znr  Darstellung  bringt.  Es 
giebt  wohl  keine  Kunstart,  die  so  wie  die  der  Japaner 
anf  das  enropäische  Kunstschaffen  von  Einfluss  gewesen 
wäre:  zuerst  anfangs  der  siebziger  Jahre,  als  das  Haupt 
der  Pariser  Impressionisten,  ]\Ianet  der  Liclitbringer  von 
ihnen,  die  liuministische  Klarheit  des  Tons  und  die  Will¬ 
kür  der  Komposition  lernte;  lieute,  wo  der  Hang  nach 
Stil,  nach  berechneter  Vereinfachung  der  Mittel  ein  so 
großer  geworden  ist,  trifft  man  in  der  europäischen  Kunst, 
am  ausgesprochensten  bei  dem  Pariser  Valloton  und  dem 
M ünchener  Th.  Th.  Heine,  der  Japaner  ])sychologisch  scharfe, 
alles  Neliensächliche  aufsaugende,  synthetische  Linie.  So 
auch  bei  Gattiker.  Seine  Bäume  bestehen  aus  ein  paar 
Grundlinien,  die  förmlich  nach  geometrischen  Gesetzen 
anschwellen,  sich  verzweigen,  wieder  eins  werden.  Bei 
einer  solchen  Naturauffassung  ist  der  Gegenstand  alles 
Nebensächlichen  entkleidet  und  das  Grundwesen  in  eine 
geschlossene  Linie  gebracht,  es  ist  dasselbe,  was  das 
Wesen  des  Volksliedes  ausmacht.  Die  eigene,  aquatinta¬ 
matte  Art  des  Drucks  ti’ägt  zur  erhöhten  Wirkung  des 
Gewollten  bei  und  giebt  den  Entwürfen  einen  aparten 
Reiz.  —  Tn  dem  Triptychon  „Menschenleben“  versucht 
sich  Hansen  in  Klinger’s  philosophischer  Weltauffassung, 
ohne  freilich  dessen  erschütternde  Gedankentiefe  und 
Ausdrucksfähigkeit  zu  erreichen,  in  dem  er  uns  in  drei 
Strophen  das  alte  Epos  des  jungen  Mannes  singt,  der 
erst  titanisch  den  Himmel  stürmt,  dann  entmutigt  in 
den  schwarzen  Schlund  des  Todes  stiert,  um  schließlich, 
geheilt  von  übermenschlichem  Wollen,  die  Früchte  ruhiger 
Lebensarbeit  vom  Baume  zu  brechen  —  während  Ilchi 
mit  seinem  Königssohn  zu  jenen  archaisireiiden  Künst- 
lei’ii  gehört,  die  die  Sehnsucht  ihrer  Träume  aus  der 
rauhen  Wirklichkeit  forttreibt  in  jene  fihhen  Märclien- 
zeiten,  da  stahlgepanzerte  Jünglinge  Prinzessinnen  freiten, 
die  so  ätherisch  zart  wie  die  strahlenden  Narzissen  ihrer 
geheimnisvollen  Gärten.  —  Sprangen  diese  Künstler 
durch  ihre  Neuheit  ein  wenig  aus  dem  Rahmen  der  be¬ 
kannten  Karlsruher  Kunstart,  die  mit  einem  gesunden 
Naturalismus  vor  Jahren  von  sich  reden  machte,  als  das 
reformatorische  spinatgrün  und  schlohweiß  der  ersten 
Plain-airisten  überwunden,  so  finden  wir  jenen  in  den 
folgenden  Malern  auf  dem  Gebiet  der  Radirung  wieder. 
Diese  Karlsruher  zeichneten  sich  sowohl  durch  eine 
koloristisch  kräftige  Farbe  wie  eine  Motiv  wähl  aus,  die 


auch  noch  etwas  anderes  in  der  Natur  sah  wie  Felder 
roten  Kohls  und  weiße  Giebel  in  Sonnenbeleuchtung.  Tn 
ein  geheimnisvoll  stilles  Waldplätzchen  führt  uns  Hoch, 
mit  seinem  „Sommer“.  Feine,  schlanke  Pappeln,  dünn 
belaubt,  —  wie  Böcklin  sie  liel)t,  mau  möchte  sagen  als 
Symbol  des  Wachstums,  der  Naturreife,  Sommerreife, 
Sommerruhe  —  streben  neben  dünnem  Unterholz  gen 
Himmel,  sich  in  der  stillen  Tiefe  eines  klaren,  kühlen 
Wassers  spiegelnd,  während  der  Wind  stille  steht,  kein 
Vogel  singt  und  die  Zeit  aussetzt  wie  etwas,  das  seinen 
Höhepunkt  erreicht:  das  ist  ein  Sommertag,  wie  er  an 
einem  heißen  Tag  nur  nachmittags  um  3  Uhr  sein  kann, 
da  Pan  schläft,  das  ist  der  „Sommer“.  —  Kallnwrgcii 
erreicht  in  seiner  „Straße  in  Chioggia“  durch  die  ge¬ 
schickt  gewählte  Einfachheit  der  Technik,  indem  er  mit 
Ausnahme  von  flüchtigen  Umrissen  den  weißen  Grund 
stehen  lässt,  die  Illusion  der  gelben  Sonnenreflexe  des 
Südens,  während  Krauslwpf  uns  mit  wuchtigen  Strichen 
unter  die  Stämme  eines  dunklen  Waldinnern  versetzt. 
—  rötzclhcrrjcrs  „Nymphe“,  ScJ/ünlcber’s  meisterhafte 
„Marine“  und  „drm  Blumen“  von  TUef/J  (s.  d.  Tafel)  be¬ 
schließen  die  Ivarlsruher  iliappe. 

Es  sind  nun  fast  zwei  Jahrzehnte  her,  dass  Max 
Ivlinger  aus  dem  küustlerischeu  Unvermögen  zur  Farbe 
unter  dem  Zwange  eines  Ausdruckmittels,  das  ihm  den 
wihlen  Bienenschwarm  seiner  Ideen  fangen  half,  die 
Radii'ung  neu  Iielebte.  Seitdem  ist  in  allen  Kunstcentren 
aus  dem  Drange,  intime  Eckchen  und  Fleckchen,  caprieiöse 
Einfälle  und  dramatisch  l)ewegte  Scenen  leicht  und  aus¬ 
drucksvoll  festhalten  zu  können,  die  Liebe  zur  Radirung 
aufgegaugen  wie  eine  unter  der  Erde  schlummernde  Saat 
nach  warmem  Frühlingsregen.  München,  Karlsruhe,  Berlin, 
Düsseldorf  etc.  gründeten  seinen  Klub  für  Originalradiruug 
und  legen  uns  in  jedem  Jahr  eine  Mappe  auf  den  Tisch, 
deren  anderer  \Trzug  nicht  zum  wenigsten  <ler  ist, 
dass  sie  es  auch  dem  weniger  mit  Glüeksgütern  Ge¬ 
segneten  ermöglicht,  seinem  Auge  an  der  Wand  einen 
Ruhepunkt  zu  gönnen,  an  dem  es  in  müßiger  Stunde 
eine  geistvolle  Erquickung  findet.  Und  wie  in  Deutsch¬ 
land,  so  wird  die  Radirung  mit  gleichem  Eifer  im  Aus¬ 
lande  betrieben.  lu  Frankreich  ist  Rops,  der  große 
Psychologe  des  Weibes,  Meister;  in  England  Whistler, 
der  „geschickteste  Wildling  der  Radirung“  seit  Rem- 
brandt;  in  Skandinavien  handhabt  Zorn  in  gleich  rück¬ 
sichtslosem  Naturalismus  die  zarte  Nadel  wie  den  kräftigen 
Pinsel.  RUDOLF  KLEIN  (DÜHSKLDORF). 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


linickiiKitui's  l’iinticiildrKckc  der  Kyl.  rillen  I’liiiiliilliek 
in  Miinrlien.  Nicht  mit  Unrecht  hat  man  den  Aut'sclnvnng', 
den  die  SHlkiitik  in  der  Knnsttorschnn<>;  o'cnommen,  in  /n- 
saminenhanij;  o-ehracht  mit  der  Eliiindnng  resp.  Verroll- 
kommnnnp-  der  pliotoo’raphischen  'JVchnik.  Auch  die  grölUen 
Meister  stilkritischer  Forschung',  deren  ( Jedäclitnis  iilier  einen 
auHerordentlichen  anfgespeic.herten  Formenscliatz  verfügt,  he- 
dürfen  ziirNach[)rüfung  eines  umfangreiclien  photograidnschen 
Ap[iarats.  Und  wenn  uncli  der  Itesitz  eines  solclien  Apparats 
nicht  ohne  weiteres  herrliche Forschungsresnl  täte  gavantirt,  wie 
manche  oer  mit  der  tarmera  hente  reisenden  jungen  luinst- 
historiker  glanhen,  so  ist  er  doch  andererseits  unenthelniich. 
Während  aber  ilie  günstigen  Lichtverhältnisse  in  Italien  eine 
lebhafte  Reproilnktionsindustrie  hervorriefen,  die  zwar  nicht 
immer  durch  (lüte,  wohl  aber  durch  Menge  des  gelieferten 
Materials  für  den  EArsclier  erfreulich  war,  ist  es  in  Dentsch- 
laml  hente  noch  anlierordentlich  schwierig,  immer  die  ge¬ 
wünschten  l’hotographieen  in  gewünschter  (lüte  zn  erhalten. 
Die  grollen  (lalerieen  sind  in  ihren  Haupt  werken  muster¬ 
gültig  durch  Ibaun  imblizirt,  da  es  aber  unter  den  Kunst¬ 
forschern  auch  minder  liemittelte  giebt,  so  ist  diesen  von 
vornherein  ilie  Frweibung  des  kostbaren  l'.iann’schen  Materials 
abgeschnitten.  Und  wer  auf  Reisen  sein  Vei'gleichsmaterial 
mitzuführen  gewöhnt  ist,  wird  an  den  schönen  aber  grollen 
Hraun’schen  lllättern  ein  etwas  umständliches  Reisegejiäck 
besitzen.  Vor  allem  musste  llraiin  bei  der  Kostspieligkeit  der 
lllätter  sich  in  der  Regel  auf  Hauptwerke  Ijeschrärdcen. 
Bruckmann  will  den  Bann  brechen,  der  für  den  minder  be¬ 
mittelten  Kunstforscher  über  unserrm  (lalerieen  lag.  Er  ver¬ 
öffentlicht  fast  zwei  drittel  aller  in  der  l’inakothek  zu  München 
enthaltenen  (lemälde  in  vorzüglichen  dauerhaften  l’igment- 
drucken  und  giebt  die  Blätter  zu  1  M.  jiro  Stück  ab.  Die¬ 
selben  haben  das  handliche  E\)rmat  von  etwa  21x27  cm 
und  sind  selbst  bei  tignrenreiehen  Bildern  so  sclnirf  und  so 
gut  aufgenommen,  dass  auch  feinere  Detsiils  und  kleinere 
Zeichnungen  hinreichend  wieilergegeben  werden,  um  Ijci 
stilkritischen  Vergleichungen  als  Unterlage  zu  dienen.  Dass 
ilie  schönen  rigmentdrncke  auch  in  künstlerischer  Hinsicht 
allen  Anforderungen  entsprechen,  versteht  sich.  Es  braucht 
nicht  ausdrücklich  darauf  hingewiesen  zu  werden ,  dass  da¬ 
mit  sowohl  dem  großen  l’ublikum  als  den  Facharbeitein 
dieses  (lebietes  eine  längst  vermisste  Unterlage  für  Studium 
und  (lenuss  gegeben  ist.  Besomlers  für  knnstgeschichtliche 
Seminare  wird  es  außerordentlich  wichtig  sein,  jedem  Studiren- 
den  die  zu  vergleichenden  Blätter  unmittelbar  in  die  Hand 
geben  zu  können  und  nicht  die  Menge  vor  einem  doch  nur 


einzelnen  sichtbaren  Blatte  versammeln  zn  müssen.  Was 
die  Ausführung  anbelangt,  so  entsjirechen  die  mir  vorliegen¬ 
den  Blätter  allen  berechtigten  Anforderungen.  Auf  Altdorfer’.s 
hülischer  Landschaft  mit  dem  Inuligen  (leorg  ist  bis  in  die 
'riefen  hinein  die  liehandlung  der  großen  Lanbmassen  er¬ 
kennbar  und  die  eigentümliche  'l'echnik  mit  den  zeich¬ 
nerisch  aufgesetzten  jiastosen  Lichtern  vollUommen  dentlich. 
Sogar  bei  Altdorfer’s  Ale.xanderschlacht  sind  im  Vorder¬ 
gründe  die  Details  der  einzelnen  Krieger  noch  erkennbar, 
der  ^Vagen  des  Darius  tritt  klar  hervor,  nml  bis  in  die  Ferne 
hinein  ist  die  ilnftig  werdende  Lamlscliaft,  die  eigentümliche 
Zeichnung  der  Wolkengel »ilde  so  genau  sichtliar,  dass  bei 
leidlich  gutem  (ledächtnis  man  fast  der  einzelnen  Farbentöne 
an  der  betreifenden  Stelle  sich  wieder  erinnern  kann,  und  die 
scharfe  Zeichnung  des  Vordergrundes,  die  schummerige 
'rechnik  der  fernen  Berge  sehr  wohl  sich  unterscheiden  lässt. 
IHrich  A]it's  klare,  etwas  magere  'J'önnng  auf  dem  Bilde 
l'iirakothek  Nr.  21)2 a,  seine  eigentümliche  Zeichnung  der 
Finger  und  des  Halses  an  der  l'lvangelistenligur,  sogar  die 
Einzelheiten  der  'Leu  felgest  alt  an  der  Höhle  im  Hintergründe 
sind  klar  erkennbar.  In  Hans  Baldung’s  Markgrafen- Porträt 
sind  die  feinen  aufgesetzten  Haarstriche,  die  sclniife  lineare 
Konturirung,  sogar  die  feinen  Risse  in  der  F’arlieniläche 
bomerklich.  Auf  Dürer’s  (leburt  Uliristi  auch  die  Hirten 
im  fernen  Hintergründe  und  der  verkündende  ]<lngel  scharf 
ansgezeichnet.  Natüi'lich  lässt  sich  die  weiche  tonige  Mahl¬ 
weise  des  Rubens  auf  dem  Bilde  der  reuigen  Sünderin, 
die  kleinliche  fein  vertreibende  Technik  Ratfael’s  in  der 
Madonna  'Fempi  nml  die  ganz  anders  geartete  Feinmalerei 
des  Slingeland  auf  den  betr.  Blättern  sehr  dentlich  wmhr- 
nehinen.  Man  kann  also,  mit  diesen  Hilfsmitteln  ausgerüstet, 
bis  zu  einem  gewissen  (Irade  auch  auf  solche  Unterschiede 
aufmerksam  machen,  sofern  man  im  Vortrage  etwa  in  der 
Lago  ist,  jeden  Fjinzelnen  mit  einem  Abzug  auszurüsten. 
Bruckmann  hatte  dabei  den  Vorteil,  in  der  Benennung  und 
der  übrigens  sehr  gut  und  deutlich  gegebenen  Unterschrift 
unter  Anführung  der  Pinakothek-Nummer  auf  dem  so  sorg¬ 
fältig  und  immer  erneut  durchgesehenen  Münchener  Katalog 
fußen  zu  können,  so  dass  man  hier  nicht  wie  bei  so  vielen  der 
italienischen  Blätter,  die  oft  falsch,  iingenau  oder  gar  nicht 
bezeichnet  sind,  mühsam  suchen  muss.  Die  Bedeutung  des 
Bruckmann'schen  Unteinehmens  und  die  Vorteile  dessellien 
für  l'iunst.freunde  und  Knnstforscher  liegen  so  klar  auf  der 
Hand,  dass  sie  hier  noch  des  weiteren  zu  erörtern  überilüssig 
erscheint.  M.  Sch. 


Herausgeber:  Carl  von  Lützotv  in  Wien.  —  F'ür  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  /Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


f'rr- 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KRETA. 

VON  G.  JUS  TI. 


II. 


(Fortsetzung.) 


Io».  Eovi  nach  Tulrdo. 

NSER  Pilger  von  der  „Königin  der  Inseln“ 
konnte  sich  bis  jetzt  über  das  Glück  nicbt  be¬ 
klagen.  Beim  Hinanstreten  ins  Leben  hatte 
er  Gönner  gefunden,  wie  inan  sie  sich  nur  im  Traume 
wünschen  konnte.  Er  war  in  der  Luft  des  Tizianischen 
Hauses  zum  Künstler 
gereift.  Seine  Bilder 
hatten  den  Beifall 
der  Großen  gefunden. 

Nun  wohnte  er  am 
Tiber  unter  dem 
Dache  des  präch¬ 
tigsten  Palastes  in 
Rom,  hatte  zum 
Spazirengehen  am 
westlichen  Ufer  die 
Villa  weiland  Agos- 
tino  Chigis,  und 
etwas  weiter  im 
Süden  den  Palatin, 
den  Vignola  zur  Villa 
Farnese  umgeschaf¬ 
fen.  Wir  Alten  haben 
die  ewige  Stadt  noch 
als  Stadt  der  Toten 
gesehen,  damals 
schien  sie  eine  sehr 
lebendige ,  eine  neu 
auflebende  Stadt.  Es 
war  die  Ära  der 
großen  Straßenaxen 
und  Prachtbrunnen, 
wo  sie  die  Monumen¬ 
talphysiognomie  er¬ 
hielt,  deren  mit  so 
viel  Erfolg  in  Scene 
gesetzter  Zerstörung  Die  Puerta  dei 


und  Verunstaltung  uns  ebenfalls  nun  seit  einem  Viertel¬ 
jahrhundert  zuzusehen  beschieden  ist.  Damals  galt 
(nach  dem  Ausspruch  Gregors  XIV.)  Bauen  für  eine 
caritd  pidMica,  mit  der  man  dem  Einzelnen  wie  dem 
Ganzen  diene.  Wir  sehen  es  aus  den  ol:»en  beschriebenen 
Gemälden,  dass  schöne  reiche  mit  Sachkenntnis  gemalte 

Architektur  als  wert¬ 
vollster  Schmuck  von 
Historien  galt.  Donie- 
nico  war  Zeuge,  wie 
hoch  Künstler  in  der 
allgemeinen  Schät¬ 
zung  standen,  als 
Vignola  (f  7.  Juli 
1573)  unter  unerhör¬ 
ter  Beteiligung  im 
Pantheon  beigesetzt 
wurde. 

Was  verführte 
ihn,  dieses  Rom  zu 
verlassen ,  nm  ein 
ungewisses  Los  in 
der  Ferne  zu  suchen? 
Ein  abenteuerlicher 
Hang?  derselbe,  der 
ihn  vielleicht  erst  von 
Kreta  nach  Venedig, 
dann  von  Venedig 
nach  Rom  geführt 
hatte  ?  Aber  das 
spanische  Abenteuer, 
wenn  es  eins  war,  soll¬ 
te  das  Ende  seiner 
Abenteuer  werden.  Er 
ging  um  nie  wieder¬ 
zukehren.  Aus  der  im 
Weltherrschaftstil 
Sol  in  Toledo.  sich  neu  erhebenden 


0‘> 

Oii 


Zeitsclirilt  für  bildende  Kunst.  N.  F.  YIII.  H.  ll. 


258 


DOMENICO  THEOTOCOPÜLI  VON  KRETA. 


päpstlichen  Residenz,  wo  inan  eben  das  bronzene  Eeiter- 
liild  Marc  Anreis  auf  dem  Kapitol  errichtet  hatte,  kam 
er  in  jene  entthronte  Gotenveste,  ans  der  eben  damals 
mit  dem  Künigshof  alles  Leben  ausgezogen  war  und  wo 
die  Paläste  zn  Ruinen  wurden.  Aus  der  kosmopolitischen 
Stadt,  wo,  wie  Michel  de  Montaigne  fand,  jeder  Fremde  sich 
wiezn  Hanse  fühlt  und  wo  der  Unterschied  der  Rationalität 
am  wenigsten  zn  sagen  hat,  nach  dem  goldenen  Tajo, 
wo  die  Knaben  nach  den  Fremden  mit  Steinen  warfen. 
Und  da  hat  ihn  das  Schicksal  festgehalten  bis  an  sein 
Ende.  Es  fehlte  nicht  an  Erfolgen,  aber  auch  nicht 
an  bitteren  Enttänschnngen.  Unter  dem  Einfluss  des 
Ortes  und  der  Vereinsamung  ging  rasch  eine  Wandlung 
in  ihm  vor.  Er  wurde  etwas  ganz  anderes,  als  sein  ita¬ 
lienischer  Lenz  verheißen  hatte.  Statt  zu  einem  Gra^co- 
Venezianer  von  der  Art  und  dem  Maß  jener  Gefeierten, 
deren  Spuren  bisher  seine  Leinwand  aufgewiesen,  wurde 
er  —  der  größte  Sonderling  in  den  Annalen  der  neueren 
Malerei.  Wie  Schmetterlingsflügelstaub  flelen  die  vene¬ 
zianischen  Farben  ab  von  seiner  Palette  in  jener  trocke¬ 
nen  und  scharfen  Luft  der  kastilischen  Berge.  Er  er¬ 
füllte  Stadt  und  Provinz  mit  erstaunlichen  AVerken,  in 
denen,  tmtz  des  unheimlich  überspannten  Selbstgefühls,  das 
sjianische  AA^esen  jenes  Zeitalters  Philipps  II.  einen  selt¬ 
samen,  halb  bestrickenden,  halb  widerwärtigen  Ausdruck 
fand.  AVie  im  Traum  verschwand  die  Kunde  von  dem, 
was  er  früher  gewesen,  und  niemand  vermochte  mehr 
diesen  spanischen  Greco  in  den  einst  gefeierten  AVerken 
seiner  Jünglingsjahre  wiedei'zuerkennen. 

Thatsächlich  ist  über  die  Beweggründe  dieser  Reise 
nichts  bekannt,  als  was  in  den  Akten  des  Kapitels  von 
Toledo  steht:  „Er  kam  zu  uns,  um  den  Altar  von  S°. 
Domingo  zu  malen.“  Er  mag  auch  von  den  Einkünften 
der  dortigen  Kathedrale  und  ihres  Pi’älaten  und  von  der 
Kunstliebe  ihrer  Domherrn  gehört  haben.  AVahrschein- 
lich  al)er  hat  er  Toledo  nur  als  Etappe  zum  Hof  Phi- 
lipi)S  II.  angesehen.  Der  Escorial  war  im  Bau;  der 
König  suchte  italienische  Maler,  er  hat  um  Paul  Vero¬ 
nese  werben  lassen.  In  den  sechziger  Jahren,  als  Greco 
noch  bei  Tizian  war,  waren  dort  unter  seinen  Augen,  viel¬ 
leicht  nicht  ohne  seine  Hilfe,  jene  Escorialbilder  entstanden : 
das  Abendmahl,  der  heil.  Laurentius,  die  Magdalena  im 
Garten,  der  Adonis.  Wenn  jener  gekrönte  Gemälde¬ 
schwärmer  seinen  alten  Meister  über  alle  stellte,  nun,  der 
junge  Grieche  konnte  ihm  mit  Sachen  aufwarten,  die 
denen  des  Cadoriners  zum  Verwechseln  ähnlich  sahen. 
In  der  That  hat  er  sich  einige  Jahre  nach  seiner  Über¬ 
siedelung  um  eine  Arbeit  im  Escorial  beworben.  —  Der 
äußere  Anstoß  kam  aber  vielleicht  auf  folgende  Weise. 

Nie  war  der  Verkehr  des  toledanischen  Klerus  mit 
Rom  so  lebhaft  gewesen,  wie  in  dem  Jahrzehnt  1566 
bis  76.  Im  Jahre  1559  hatte  sich  das  Unerhörteste 
ereignet,  von  dem  die  Annales  ecclesiastici  Spaniens  be¬ 
richten:  der  Erzbischof  von  Toledo,  Bartolome  Carranza, 
der  angesehenste  spanische  Theolog  des  tridentinischen 


Konzils,  einst  die  rechte  Hand  der  blutigen  Maria  Tudor, 
den  der  Kaiser  nach  Yuste  au  sein  Sterbelager  berufen 
hatte,  er  war  der  lutherischen  Ketzerei  beschuldigt  und 
von  den  Sendboten  der  Imxuisition  in  Tordelagniia  ver¬ 
haftet  worden.  Es  war  ein  tückischer  Streich  des  Gro߬ 
inquisitors  A^aldes,  der  sich  einst  selbst  auf  den  Stuhl 
von  Toledo  Hoffnung  gemacht  hatte.  Nach  siebenjähriger 
Untersuchungshaft  in  Valladolid,  die  nach  der  Absicht 
seiner  Todfeinde  eine  ewige  werden  sollte,  hatte  nur  der 
Befehl  des  Papstes  Pius  A^.,  aber  vei’stärkt  durch  die 
Drohung  des  Interdikts,  den  König,  der  sich  gegen  eine 
Bloßstellung  des  naffionalen  Glaubensgerichts  aufs  hef¬ 
tigste  sträubte,  dazu  gebracht,  Cari'anza’s  Überführung 
nach  Rom  zu  gestatten.  Der  Prozess  währte  noch  zehn 
Jahre;  Pius  V.  war  von  der  Rechtgläultigkeit  des  I’rimas 
überzeugt,  aber  sein  Nachfolger  fand  es  i)olitischer,  mit 
den  Gegnern  zu  transigiren.  AAJihrend  diesei'  Zeit  hatte 
das  Kapitel  von  Toledo,  schon  um  der  Elire  seiner 
Kirche  willen,  treu  zu  dem  Erzbischof  gestanden,  zwei 
seiner  Mitglieder  waren  zu  dessen  Dienst  in  Rom  be¬ 
stimmt  worden.  Carranza  starb  kurz  nach  der  Unter¬ 
zeichnung  eines  AAJderrufs  der  angefochtenen  Siltze  und 
ward  im  Chor  der  Dominikanerkirche  S.  Maria  soi)ra 
Minerva  beigesetzt. 

Nun  war  der  Dechant  von  Toledo,  Diego  de  Castilla, 
damals  zum  Testamentvollstrecker  einer  vornehmen 
Klosterfrau,  und  zugleich  mit  der  Sorge  für  den  Neubau 
ihrer  Kirche  und  deren  Gemähleausstattnng  betraut 
worden.  So  groß  war  das  Interesse,  das  er  an  der  Stiftung 
nahm,  dass  er  selbst  eine  beträchtliche  Summe  l)ei- 
steuerte.  Er  mochte  Gründe  haben,  sich  diesmal,  obwohl 
es  in  J’oledo  an  Kirchenmalern  nicht  fehlte,  nach  Italien 
zu  wenden.  ATelleicht  hat  man  dortClovio  befragt,  dessen 
Miniaturen  Plulipp  II.  schätzte  und  kaufte;  im  Jahi-e  1565 
hatte  er  eine  Anzahl  dem  Escorial  überwiesen.  — 

AVas  war  das  für  ein  Schauplatz,  auf  den  sich 
Domenico  im  .Jahre  1575  versetzt  fandV 

Toledo. 

Ein  Granitfelsen,  umschäumt  von  dem  zwischen 
Ruinengeröll  sich  durchwindenden  giünlichen  Tajo,  an 
drei  Seiten  umragt  von  schroffen,  jenseits  des  Stromes 
aufsteigenden  Steinwänden,  eine  von  der  Natur  ge¬ 
schaffene  Feste,  wie  vorausbestimmt,  als  Sitz  krie¬ 
gerischer  Dynastien,  die  Brandung  der  Eassenkämpfe  zu 
brechen;  nun  schon  seit  drei  Jahrhunderten  in  fast  allen 
Ijebensadern  unterbunden,  nur  noch  durch  Transfusion 
am  Leben  erhalten,  —  das  ist  heute  die  alte  Stadt  der 
Concile,  die  geistliche  Kapitale  Spaniens,  der  Scherben¬ 
berg  Castiliens,  —  Toledo. 

Über  dieser  Klippe,  oben  umsäumt  von  einem  zer¬ 
brochenen  Kranz  aral»ischer  Mauern  und  Thore,  mudejarer 
und  gotischer  Kirchen  und  Klöster,  gebleicht  von  der 
Glut  eines  dön'enden  Sommers,  gepeitscht  von  schnei¬ 
denden  AA^interstürmen,  ülier  diesem  in  klarster  Luft 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KRETA. 


259 


so  wunderbar  scharf  sich  abzeichnenden  hehren  Stadt¬ 
bild  schwebt  ein  Zauber  zusaniniengedrängter  Erin¬ 
nerungen,  wie  einst  über  der  Stadt  der  sieben  Hügel. 
Denn  auch  dies  hispanische  Rom  hat  die  Poesie  der 
Verlassenheit  und  des  Verfalls,  die  Majestät  des  Todes, 
die  seine  in  mehr  als  tausend  Jahren  angehäuften 
Schichten  von  Denkmälern  und  Trümmern  verklärt. 
Das  kümmerliche  Alltagsleben  der  Gegenwart  drängt 
sich  hier  nicht  dreist  dazwischen,  es  bringt  nur  den 
Konstrast  hinzu  gegen  die  aus  dämmeriger  Ferne  riesen¬ 
groß  erscheinende  Vorzeit,  deren  Symbole  uns  auf  Schritt 
und  Tritt  begleiten,  von  den  Linien  jener  Brückenbogen 
unten  bis  hinauf  zu  dem  trotzigen  Würfel  des  Alcazar; 
zwischen  den  ungezählten  Gedenktafeln  und  -Bildern  der 
kampflustigen  Geschlechter,  die  hier  Wacht  gehalten 
und  geschwelgt,  der  stolzen  Priester,  die  da  geherrscht 
und  die  ganze  civilisirte  und  die  neue  Welt  für  ihr 
Iviperial  Toledo  tributpflichtig  gemacht  hatten. 

Die  Stadt  war  stolz,  durch  mehr  als  drei  Jahr¬ 
hunderte  des  Halbmonds  ihre  mozarabische  Kirche  und 
Liturgie  bewahrt  zu  haljen;  sie  wollte  auch  als  Haupt¬ 
stadt  des  christlichen  Reiches  durch  katholische  Gesin¬ 
nung  vorleuchten.  „Die  Herren  Toledos,  schrie))  1526 
Navagero,  und  besonders  der  Frauen  sind  die  Priester, 
die  prächtige  Häuser  haben  und  triumphiren,  indem  sie 
sich  das  beste  Leben  der  Welt  schäften,  ohne  dass 
jemandem  einfällt  sie  zu  tadeln.“  Nach  der  Eroberung 
(1058)  waren  die  Castilier  mit  der  Gründung  von  Kir¬ 
chen  und  Klöstern  dergestalt  vorgegangen,  dass  sich  die 
Stadt  (wie  Gamero,  der  Geschiclitschreiber  Toledos  sagt) 
mit  raschen  Schritten  in  eine  weite  Thebais  zu  verwandeln 
schien.  Deshalb  hatte  König  Alfons  der  Weise  (1252 
bis  84)  die  Zahl  ihrer  Klöster  auf  fünf  beschi'änken 
wollen.  Nach  den  Tagen  des  großen  Kardinals  von 
Spanien,  Pedro  de  Meudoza,  der  dieses  Edikt  erneuerte, 
sollen  bis  zum  Ende  des  XVL  Jahrhunderts  fünfzig 
Paläste  von  Königen,  Infanten  und  Rittern  und  über 
sechshundert  bürgerliche  Häuser  solchen  Stiftungen 
zum  Opfer  gefallen  sein. 

Gleichwohl  bewahrte  Toledo  sein  intensiv  maurisches 
Gepräge,  das  auch  heute  noch  in  dem  Stadti)lan  wenig¬ 
stens  offenbar  ist.  Im  Anfang  des  sechzehnten  Jahr¬ 
hunderts  bestand  es  fast  noch  unverfälscht.  Derselbe 
Venezianer  fand  im  Labyrinth  seiner  engen,  krummen 
und  steilen  Gassen  die  Adelshäuser  ganz  im  Geschmack 
der  Ungläubigen,  außen  auffallend  schlicht,  die  Gemächer 
um  einen  marmorbelegten  Patio,  Wände,  Thüren  und 
Decken  nach  dem  bekannten  Schema  der  Alhambra. 

Die  Zeit  al)er,  in  die  uns  das  Leben  des  Greco  ver¬ 
setzt,  war  gegen  solche  Erinnerungen  schon  empflnd- 
licher  geworden.  Wir  lesen,  dass  der  Gouverneur  des 
Erzbistums  während  der  Gefangenschaft  Carranza’s, 
D.  Sancho  Busto  de  Villegas,  die  Brücken  und  Thore 
zierenden  arabischen  Inschriften  entfernen  ließ  und 
durch  frömmere  devolos)  ersetzen.  Der  Erzl)ischof 


Quiroga  bewirkte  auf  dem  Provinzialkonzil  von  1580 
das  Verbot  der  arabischen  Sprache.  Denn  damals  pries 
man  die  Inquisition  als  den  Hüter  dieses  Paradieses, 
seinen  Cherub  mit  Flammenschwert.  Und  während  die 
Toledaner  in  den  Cortes  von  1553  des  Italieners 
Antonelli  Plan  der  Schiffbarmachung  ihres  Stromes  ver¬ 
eitelt  hatten,  beschworen  1617  Ayuntamiento,  Universität 
samt  allen  civilen  und  geistlichen  Körperschaften  in 
der  Kirche  San  Juan  de  los  Reyes  die  Verteidigung  der 
Immaculata  Conceptio  gegen  die  Dominikaner.  Als  Phi¬ 
lipp  II.  die  Zeit  gekommen  dünkte,  sich  als  echten 
Spanier  zu  zeigen,  zog  er  mit  dem  Hof  von  Valladolid 
aus  und  erschien  im  Jahre  1559  zu  Toledo,  zum  ersten 
Male  ohne  sein  l)isheriges  vlämisches  Gefolge,  von  den 
längst  ausersehenen  spanischen  Vertrauten  umgeben.  Er 
hielt  hier  die  Cortes  von  Castilien,  auf  denen  dem  Prinzen 
gehuldigt  und  die  Vermählung  mit  Isabel  von  Bourbon  ver¬ 
kündigt  wurde;  er  berief  das  Kapitel  der  drei  Ritter¬ 
orden,  um  den  Feldzug  nach  Oran  vorzubereiten.  Bei 
dem  Stiergefecht  auf  dem  Platz  Zocodover  traten  fünf¬ 
hundert  Kavaliere  kostümirt  alla  moresca  auf.  Die 
Fenster  des  elien  im  Renaissancestil  wiederhergestellten 
Alcazar  schimmerten  von  dem  Kerzenglanz  der  Hofbälle, 
deren  Sterne  Don  Juan  von  Österreich  und  Alexander 
Farnese  waren. 

Niemand  ahnte,  dass  dies  für  Toledo  die  Strahlen 
einer  untergehenden  Sonne  waren.  Es  zeigte  sich  bald, 
dass  die  Ansprüche  einer  ganz  veränderten  Zeit  mit 
den  Zuständen  der  mittelalterlichen  Stadt  nicht  zu  ver¬ 
einigen  waren.  Ja  nicht  einmal  der  König  vertrug  sich 
mit  den  hochfahrenden  Domherren.  Als  er  durch  Ver¬ 
haftung  eines  bei'üchtigten  Bravo  das  eifrig  gehütete 
Asylrecht  verletzt  hatte,  verhängte  die  Geistlichkeit 
das  Interdikt  über  die  Stadt  (1560).  Der  König  ant¬ 
wortete,  indem  er  den  Verurteilten  au  einem  hohen  Galgen 
aufknüpfen  ließ.  —  Aber  seit  er  (1561)  seine  Residenz 
nach  Madrid  verlegt  hatte,  und  die  Diiilomaten  und 
die  Großen  nebst  Anhang  ihm  uachgefolgt  waren  (nach 
Tiepolo  belief  sich  die  Zahl  der  Auswanderer  auf  fünf- 
uudzwanzigtausend),  verflel  die  Stadt  so  rasch,  dass  man 
ihr  nahes  Verschwinden  vorausberechnen  zu  können 
glaubte.  Die  Seidenindustrie,  bisher  die  Quelle  ihres 
Wohlstandes,  versclnvand,  dank  den  verkehrten  Gesetzen, 
))is  auf  einen  armseligen  Rest.  Gewerbe,  die  vor  kurzem 
noch  ganze  Straßen  füllten  (heißt  es  in  einem  Memorial 
von  1617),  sind  ausgestorben;  Häuser  in  den  besten 
Straßen  stehen  leer;  was  einstürzt,  wird  nicht  wieder  auf¬ 
gebaut;  die  übriggebliebenen  fünftausend  Bewohner  leben 
mit  hundert  Entbehrungen.  Und  so  schleppte  Toledo  sich 
Jahrhunderte  hin.  Wenn  der  Fremde  durch  die  men¬ 
schenleeren  Gassen  irrte,  und  plötzlich  auf  ein  weites 
Feld  von  Ruinen,  Bergen  von  Ziegeln  heraustrat,  da 
konnte  es  ihn  dünken,  als  sei  die  Zeit  nicht  fern,  wo 
die  stolzeste  Kathedrale  Spaniens  hier  thronen  werde, 
wie  S.  Apollinare  in  Classe  oder  Sankt  Paul  vor  den 

33* 


260 


DOMENICO  THEOTOCOPULl  VON  KRETA. 


Mauern,  eine  Basilika  ohne  Gemeinde,  eine  Königin  der 
Wüste. 

Denn  eines  war  unverändert  geblieben:  die  Kirche, 
der  erzbischöfliche  Stuhl  des  heil.  Ildefonse,  mit  seinen 
300000  Dukaten  Einkünften.  „Die  Kirche  (hat  ein 
Sohn  der  Stadt  gesagt)  war  die  einzige  Ursache,  dass 
Toledo  nicht  verschwand  von  der  Karte  Spaniens.“  Sie 
gab  der  Stadt  ihr  Gepräge.  Tempel  und  Klöster,  manch¬ 
mal  wie  in  einem  Bündel  zusammengedrängt:  es  ist  als 
sollten  die  eingegangenen  Heiligtümer  eines  Reiches  hier  in 


ist  diese  einsame,  stille,  stolze  Stadt  durch  hundert  kleine 
Adern  mit  der  Kulturwelt  im  Osten  und  Norden  in 
\  erbinduiig  geblieben.  Sie  erscheint  dem  Modernen  wie 
„der  Traum  eines  Altertümlers,  verwirklicht  durch  den 
Zauber  eines  Feenmärchens“  (Imbert).  Ginge  einmal 
in  einem  socialen  Erdbeben  (dessen  Furcht  mit  Alpdruck 
auf  unserer  abendländischen  Kultur  lastet)  alles  ringsum 
zu  Grunde,  man  könnte  einen  Abriss  der  Kunst  der 
Jahrliunderte  aus  Toledos  Denkmälern  wiederherstellen. 
Maurische  Moscheen,  Ex-Synagogen  und  Thore  vertragen 


Die  Kirche  Sau  Giorgio  Jei  Greci  in  Venedig..) 


einem  Depot  verwahrt  werden,  harrend  der  Zeit,  wo  die 
Nation  wieder  damit  gesegnet  werden  wollte. 

Und  in  einem  Punkt  hat  die  hohe  Kirche  von  Toledo, 
die  einst  selbst  nach  dem  römischen  Pontifex  nicht  viel 
zu  fragen  pflegte,  ihre  Fühlung  mit  der  Welt  draußen, 
sollen  wir  sagen,  mit  der  Humanität  bewahrt.  Toledo, 
rühmt  der  Reisende  Ponz,  ist  die  Stadt,  wo  die  Künste 
wieder  autlebten;  in  keiner  sind  sie  so  belohnt  worden 
wie  in  dieser  „kaiserlichen“.  Darum  ruht  noch  heute  auf 
ihr  auch  ein  profaner  Glorienschein.  Seit  König  Ferdinand 
im  Jahre  1227  den  Grundstein  zum  neuen  Dom  gelegt 
und  nun  zwischen  den  maurischen  Glockentürmen  und 
Absiden  die  französisch -gotische  Kathedrale  sich  erhob. 


sich  hier  mit  dem  Statuenheer  gotischer  Chorwände, 
Claustros  und  Retabel;  hinter  Portalen  besetzt  von  eng¬ 
brüstig  grämlichen  Aposteln  niederdeutscher  Steinmetzen 
schweben  die  unkörperlichen  Schatten  giottesker  Hei¬ 
liger;  lieidnische  Groteskenorgien  der  Renaissance  wechseln 
mit  den  nordisch  -  zarten  Gebilden  flandro-kastilischer 
Triptychen ;  und  selbst  die  drangvoll  bewegten  Propheten 
Buonarroti’s  haben  hier  ihre  Nischen  gefunden . . . 

Der  Retahlo  von  S°.  Domingo. 

Dofia  Maria  da  Silva,  eine  edle  portugiesische  Dame, 
einst  mit  der  Kaiserin  Isabella  nach  Spanien  gekommen, 
hatte  nach  dem  Tode  ihres  Gatten,  D.  Pedro  Gonzalez  de 


DOMENICO  THEOTOCOPULI  VON  KliETÄ. 


•2(il 


Mendüza,  Mayorclomo  des  Palastes,  im  38.  Lelieiisjahr  den 
Sclileiei’ genommen,  undnnn  (sie  starb  am28. Oktober  1575) 
ihr  binterlassenes  Vermögen  für  einen  Nenbau  der  Kirche 
ihres  Klosters,  S®.  Domingo  de  Silos,  einer  alten  Gründung 
Alfons  VI.,  bestimmt.  Die  Kirche  neben  der  uralten 
Parochie  von  S.  Leocadia,  und  der  Retablo,  wegen  dessen 
Domenico  nach  Toledo  kam,  sind  noch  vorhanden,  zieiii- 
licb  unverändert,  wie  sie  vor  mehr  als  dreiliundert  Jahren 
in  nicht  mehr  als  einem  Lustrum  von  Nicolas  de  Vergara 
mit  Hilfe  der  besten  Kräfte  Toledos  fertig  gestellt 
worden  waren.  Sie  hat  nur  ein  Schiff,  mit  einer  durch- 


Statuen  der  drei  theologischen  Tugenden  von  weißbemaltem 
Holz,  auf  den  Enden  des  mittleren  Gesimses  stehen  die 
Proidieten;  ihre  Posen  erinnern  an  Jacopo  Sansovino. 

Das  Hauptgemälde  der  himmelfahrenden  Maria  ist 
an  Ort  und  Stelle  jetzt  durch  eine  Kopie  ersetzt.  Das 
Original  reizte  die  Begehrlichkeit  des  Infanteu  D. Sebastian, 
in  dessen  zu  Pau  in  den  Pyrenäen  zeitweilig  aufge¬ 
stellter  sehr  merkwürdiger  Galeide  der  Verfasser  dieses 
bizarr  dämonische  Werk  in  den  siebziger  Jahren  wieder¬ 
holt  gesehen  hat.  Das  wilde  Feuer  des  skizzirenden,  von 
Farbe  schweren  Pinsels  (nebst  Spatel),  breit  und  scharf 


Toledo  von  der  Alcäntara-Brüoke  gesehen. 


gehenden  jonischen  Pilasterordnung;  ihre  Verhältnisse 
sind  hoch,  streng  berechnet,  in  der  etwas  kahlen  und 
steifen  Formensprache  dieser  Zeit. 

Der  Retablo,  dessen  steilen  architektonischen  Aufbau 
der  Baumeister  J.  B.  Monegro  lieferte,  besteht  aus  einem 
dreiteiligen  Hauptgeschoss  und  einem  mittleren  gegiebel- 
ten  Aufsatz.  Die  große  Rundbogennische  war  bestimmt 
für  ein  Gemälde  der  Asunta,  der  gekrümmte  Giebel  um¬ 
schließt  ein  Rund  der  heil.  Veronika;  kleinere  Bogenblenden 
an  den  Seiten  die  Gestalten  des  Täufers  und  des  Apostels 
Paul,  Vierecke  über  ihnen  die  heil.  Benedikt  und  Bern¬ 
hard.  In  der  bekrönenden  Tafel  des  oberen  Teiles  sieht 
man  die  Anbetung  des  Kindes.  Auf  dessen  Giebel  lagern 


zugleich,  die  stark  gesättigten  ungebrochenen  Tinten,  grün, 
goldbraun,  gelber  Ocker,  Karmin,  Indigo,  zuweilen  auch 
changirend,  durch  überall  eingeworfene  schwärzliche  Fäden 
auf  einen  düsteren  Ton  gestimmt  —  bannten  das  Auge 
an  diese  hier  so  seltsam  deplacirte  Leinwand,  die  nur  in 
dem  gedämpften  Licht  einer  CcqnUa  7uai/or  und  zwischen 
Weihrauchwidkchen  gesehen  wei'den  sollte.  Ein  außer¬ 
gewöhnlich  persönliches  Werk!  Man  fühlt,  der  Grieche 
will  diesen  stolzen  Priestern,  Rittern  und  Damen 
Kastiliens  zeigen,  was  er  ist,  und  zugleich  in  der  dortigen 
Malergesellschaft  mit  ihrer  glatten  Vollendung  und 
frostigen  Färbung,  ihren  allgemeinen  Gesichtern  und 
manierirten  Posen  ein  Gefühl  ihres  Nichts  hervor- 


262 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


bringen.  Denn  er  betrachtet  sich  zngleichals  Evangelisten 
Venedigs,  des  ,furor6‘  eines  Tintoretto,  Tizianischen 
Farbenzanbers,  und  aller  ihrer  sinnlichen  Reize. 

In  der  Komposition  erkennt  man  freilich  die  Asnnta 
derFrari,  wenn  auch  in  einen  ganz  andern  Dialekt  übersetzt, 
in  Temperament  und  Mimik,  wie  in  Form  und  Farben¬ 
gefühl.  Dieselbe  Schar  der  zwölf  mächtigen  Männer, 
dieselbe  Heilige,  im  Begriff,  der  Erde  zu  entschweben, 
sehnsüchtig  aber  noch  mit  einem  Nachklang  des  Schmer¬ 
zes  das  Licht  des  endlich  anbrechendeu  Sabbaths  be¬ 
grüßend;  endlich  die  holdseligen  Engel  als  heitere  Kolo¬ 
raturen  zwischen  jenen  tief  ergreifenden  Accorden. 

Doch  ist  das  alles  profan  leidenschaftlicher,  unkirch¬ 
lich  verwildert,  wie  die  Improvisation  eines  genialen 
Vagabunden.  Maria,  wie  gebettet  in  dem  gelben  Licht¬ 
glanz,  das  volle  weiche  Antlitz  zurückgeworfen,  die 
dunklen  Augen  eingesunken  wie  nach  einer  Fieberuacht, 
die  Arme  (mit  den  langen  schönen  Händen)  ffist  wage¬ 
recht  ausgelu'eitet,  und  zwar  in  einer  die  Bildfläche 
diagonal  schneidenden  Linie;  —  diese  Engel,  braunlockige 
spanische  IMädchen  in  sehr  gewagten  Dosen  mit  starken 
Schultern  und  Armen  und  melancholischen,  verschlafenen 
gi'oßen  Augen  in  den  runden  stumpfnasigen  Gesichtern, 
die  langen  Hälse  aus  weiten,  scharfgebrochenen,  weißen 
Draperien  hervorwachsend  —  Avas  für  seltsame  Gebilde 
aus  Unschuld  und  Üpiiigkeit  gemischt! 

Am  weitesten  weicht  er  ab  von  seinem  Meister  in 


den  Aposteln.  Diese  sind  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  Modelle  seiner  neuen  Umgebung,  unverfälschte  Söhne 
der  Gebirge  von  Toledo.  Man  muss  erstaunen,  wie  rasch 
er  sich  in  die  Art  dieser  Kastilier  hiueingesehen  hat. 
Von  jener  heftigen,  demonstrativ  aufgeregten,  Avogenden 
BeAvegung  des  Venezianers  ist  da  keine  Spur.  Auch  ihr 
Antlitz  spiegelt  kaum  das  Wunder  Avieder,  das  sich  vor  ihi-en 
Augen  so  greifbar  vollzieht.  Sie  gebärden  sich  Avie  die 
Räte  eines  Consejo,  die  auch  die  Depesche  der  ver¬ 
lorenen  Armada  mit  der  formalidad  rhetorisch-feierlicher 
Gestikulationen  entgegennehmen,  und  eher  sterben  Avür- 
den,  als  ihren  gravitätischen  sosiego,  ihr  vornehmes 
flcma  einen  Augenblick  aufgeben. 

Paulus  und  der  Täufer  sind  überaus  imposante  Ge¬ 
stalten,  von  mächtigem  Bau,  nicht  ohne  Erinnerungen 
Michelangelo’s,  al)er  gemalt  in  jenem  ihm  neuen,  schwärz¬ 
lichen  Ton;  bemerkenswert  sind  die  großen,  edelgeformten 
Hände.  —  In  der  Auferstehung  begegnen  tizianische 
Motive  aus  dem  Petrus  Martyr  und  der  Verklärung  in 
S.  Salvador. 

Denkt  mau  nun  an  jene  römischen  Bilder  des  Greco 
zurück,  so  Avird  man  eine  Wandlung  nicht  verkennen, 
die  sicli  also  mit  seinem  Betreten  des  spanischen  Bodens 
vollzogen  hätte.  Die  hravura  di  iocco,  der  reichliche 
Gebrauch  des  ScliAvarz,  die  Schlanklieit  der  Proportionen 
zeigen  einen  starken  Schritt  zum  späteren  Manierismus 

(Fortsetzung  folgt.) 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO 
UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


VON  G  USTA  V  PA  ULI. 


Ben  potrc)  aggiungere  eon  dispiacere  che 
taut’  uomo  fn  poco  noto  o  poco  accetto  al 
Vasari,  onde  gli  oltraniontani,  che  tutto  il 
merito  misurano  dalß  istoria,  mal  lo  conos- 
cono  e  negli  scritti  loro  lo  ban  quasi  involto 
iiel  silenzio. 

Jjcvnxi.  Storia  della  pittura  ital. 

AUDENZIO  Ferrari  ist  einer  der  Künst¬ 
ler,  die  man  auch  heute  noch  —  trotz 
aller  internationalen  Museen  —  nur  in 
ihrer  Heimat  kennen  lernen  kann.  Da 
sind  sie  verstreut  in  den  großen  und 
kleinen  Städten  Piemonts  und  der  Lom¬ 


bardei,  seine  Fresken  und  Altartafeln;  und  das  Schick¬ 
sal  hat  es  so  geAvollt,  dass  gerade  seine  besten  Werke 
in  stille  kleine  Landstädte  geraten  sind,  seitab  von 
den  Straßen,  auf  denen  die  Scharen  der  kunst¬ 
liebenden  Italienfahrer  wallen.  Daher  ist  er  nur  Avenig 


IL  (Fortsetzung.) 

bekannt,  obwohl  er  doch  einer  der  bedeutendsten  lom- 
bai'diseh-piemontesischen  Künstler  des  goldenen  Zeitalters 
der  italienischen  Kunst  Avar,  einer,  der  z.  B.  seinen 
populären  Altersgenossen  Luini  um  Haupteslänge  über¬ 
ragte.  Auch  denen,  die  sich  eingehender  mit  ihm  be¬ 
schäftigen,  bereitet  er  manche  Schwierigkeiten  und  hüllt 
sich  namentlich  in  den  Anfängen  seiner  künstlerischen 
Entwickelung  in  ein  scliier  undurchdringliches  Dunkel. 
Wer  waren  seine  ersten  Lehrer?  —  Darauf  hat  noch 
niemand  eine  befriedigende  Antwort  gegeben.  Merk¬ 
würdig  aucli,  dass  man  die  Zeit  seiner  prima  maniera, 
seines  Jugendstils  nicht  ohne  Grund  bis  zum  Jahr  1516 
rechnet,  bis  zu  einem  Jahr,  wo  der  Künstler  viel  älter 
Avar,  als  es  mancher  andere  große  Künstler  je  geworden, 
etwa  fünfundvierzig  Jahre  alt. ' ) 


1)  Tonctti.  Museo  storico  ed  artisticoValsesiano.  Serie  IV, 
Nr.  1.  Varallo  1888. 


DER  HETLIGENBERG  VON  VAR  ALLO  END  GAUDENZLO  FERRARI. 


263 


In  dei’  zweiten  Hälfte  seines  Lebens,  über  die  wir 
allein  genauer  unterrichtet  sind,  lebte  er  nacheinander 
in  Varallo,  in  Vercelli  und  Mailand.  Und  mit  diesen 
drei  Städten  sind  auch  die  Hauptwerke  seiner  künst¬ 
lerischen  Entwickelungsperioden  verknüpft.  —  Vor  1508 
hatte  er  seinen  ständigen  Wohnsitz  in  Varallo,  wie  aus 
der  Unterschrift  zweier  Urkunden  hervorgeht,  die  er 
1508  und  1509  in  Vercelli  Unterzeichnete  und  in  denen 
er  sich  Gaudentius  de  Varali  nannte.')  Aus  dieser  Zeit 
nennt  Colombo,  der  Biograph  Ferrari’s,  drei  seiner  Werke 
in  und  bei  Varallo:  eine  Pietä  im  Kreuzgang  des  Fran¬ 
ziskanerklosters  am  Fuße  des  Heiligenberges,  die  Tafeln 
am  Altar  der  Pfarrkirche  (San  Martino)  in  Eoccapietra 
bei  Varallo  und  die  Fresken  in  der  Kapelle  der  Be¬ 
weinung  Christi  auf  dem  sacro  monte  (Plan  39).  — 
Indessen  Colombo  war  ein  Papiermensch,  der  alles,  was 
er  schwarz  auf  weiß  besaß,  getrost  nach  Hause  und  in 
sein  Buch  trug,  der  aber  den  Denkmalen  selbst  ziem¬ 
lich  ratlos  gegenüberstand.  Das  steife  und  kümmerliche 
Fresko  der  Pietä  wird  freilich  von  der  Lokaltradition 
Gaudenzio  zugeschrieben ,  es  dürfte  aber  scliwer  fallen, 
außerdem  einen  einzigen  Grund  zu  finden,  aus  dem  es 
etwas  mit  unserm  Meister  zu  thun  liätte.  Sodann  die 
Altartafeln  in  Eoccapietra  sind  freilich  wohl  unzweifel¬ 
hafte  Werke  Ferrari’s,  allein  es  will  uns  scheinen,  als 
ob  sie  ebensowohl  wie  die  Fresken  in  der  Kapelle  der 
Beweinung  Christi  einer  um  etwa  zehn  Jahre  späteren 
Zeit  angehörten. 

Als  die  frühesten  Arbeiten  seiner  Hand  in  Varallo 
bleiben  demnach  die  Fresken  in  der  Franziskanerkirche 
übrig.-)  Sie  gehören  zu  den  vornehmsten  Denkmalen 
oberitalienischer  Malerei.  —  Die  Anlage  der  einfachen 
Kirche  kehrt  in  diesen  Gegenden  des  öfteren  wieder. 
Das  bekannteste  Beispiel  dafür  dürfte  wohl  Sta.  Maria 
Degli  Angeli  in  Lugano  sein.  Der  einschiffige  Eaum  für 
die  Gemeinde  wird  durch  eine  große  Querwand,  eine 
Art  von  innerer  Fassade  vom  Chor  getrennt.  In  drei 
Bögen  öffnet  sich  diese  Wand,  von  denen  die  beiden 
seitlichen  zu  Kapellen  führen,  der  mittlere  zur  Apsis.  — 
Zunächst  ward  Gaudenzio  mit  der  Aufgabe  betraut,  die 
linke  dieser  beiden  Kapellen,  die  der  heiligen  Marga¬ 
rethe  geweiht  war,  mit  Fresken  zu  schmücken.  Da  an 
der  Hinterwand  der  Altar  mit  der  Statue  der  Heiligen 
stand,  so  blieben  ihm  die  im  Halbrund  geschlossenen 
Felder  der  Seiten  wände  und  das  Kreuzgewölbe  übrig. 
Auf  die  linke  (nördliche)  Fensterwand  malte  er  die  Dar¬ 
stellung  im  Tempel.  Maria,  eine  schlanke  Jungfrau, 
reicht  mit  einer  eigentümlichen,  schamhaft  sinnigen 
Neigung  des  Hauptes  das  Cliristkind  dem  alten  Simeon. 
Dahinter  stehen  Joseph  und  eine  Greisin  (Hannah?), 
vorn  ein  blühender  Jüngling  an  einen  Stab  gelehnt.  Das 

1)  Guts.  Colontho.  Vita  ed  oiiere  di  Gaudenzio  Ferrari. 
Torino  1881.  S.  25. 

2)  So  aucli  Giiat.  Frixxoiri.  Arcbivio  storico  dell’  arte  IV. 
(1891.)  Fase.  ,5. 


Bild  ist  mangelhaft  beleuchtet  und  stellenweise  ver¬ 
dorben.  Bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt  sind  die  beiden 
knieenden  Stifterfiguren  rechts  daneben.') 

Auf  der  rechten  Wand  sehen  wir  Christus  zwischen 
den  Schriftgelehrten.  Der  Knabe  steht  mit  einer  etwas 
theatralischen  Eednergebärde  inmitten  einer  offenen  Pfeiler¬ 
halle  auf  einem  achteckigen  Podium,  umgeben  von  der  stau¬ 
nenden  Schar  der  weisen  Pharisäer.  Von  rechts  treten  Maria 
und  Joseph  herein.  Die  Laibung  des  Eingangsbogens 
schmückte  Gaudenzio  mit  den  nicht  näher  bezeichneten 
Halbfiguren  von  sechs  Propheten,  und  am  Gewölbe  erging 
er  sich  in  leichten  Spielen  von  Eankenwerk,  untermischt 
mit  Putten  und  Tiergestalten.  Den  Mittelpunkt  bildet 
das  Monogramm  Jesu,  und  in  den  vier  Gewölbekappen 
sind  Medaillons  angebracht,  die  in  Grisaillemalerei  die 
Verkündigung,  die  Geburt  Christi,  die  Anbetung  der 
Könige  und  die  Flucht  nach  Ägy})ten  darstellen. 

Gaudenzio  war  ein  erfindungsreicher  und  origineller 
Ornaraentist,  der  sich  seinen  eigenen,  leicht  wiederzu¬ 
erkennenden  Groteskenstil  ausbildete,  und  der  meistens 
die  reichen  Umrahmungen  für  seine  Altartafeln  entwarf.-) 
Bei  dieser  Gelegenheit  mag  die  Sammlung  vortrefflicher 
Kopieen  erwähnt  werden,  die  der  erfahrene  Kenner  Fer¬ 
rari’s,  Herr  Giulio  Arienta  in  Varallo,  nach  dessen  orna¬ 
mentalen  Arbeiten  angelegt  hat,  und  die  er  noch  immer 
weiter  ergänzt.  Eine  Publikation  dieser  Arbeiten  wäi'e 
für  die  Kenntnis  Ferrari’s  und,  rein  praktisch,  zum  Ge¬ 
brauche  an  kunstgewerblichen  Lehranstalten  sehr  er¬ 
wünscht. 

Wann  sind  die  Fresken  in  der  Capella  Sta.  Mar- 
glierita  entstanden?  —  In  den  Handbüchern  werden  sie 
1507  datirt,  wobei  man  sich  auf  ein  paar  Inschriften 
am  Gewölbe  beruft.  Es  steht  da  zunächst  links  auf 
einer  Tafel  der  Name  GAUDETIO,  sodann  finden  wir 
in  den  angrenzenden  Gewölbekappen  die  rätselhaften 

Zeichen  einer  anderen  Stelle  -X-V- 

—  Man  deutete  ziemlich  willkürlich  diese  XV  auf  die 
Zahl  des  Jahrhunderts  und  nahm  dazu  das  letzte  jener 
drei  Zeichen,  das  einer  7  gleichsieht.  Wenn  diese  Be¬ 
gründung  auch  keineswegs  stichhaltig  ist,  so  düi’fte  das 
Jahr  1507  aus  inneren  Gründen  doch  der  thatsächlichen 
Entstehungszeit  nahekommen.  Dass  die  Fresken  jeden¬ 
falls  älter  sind  als  die  angrenzenden  der  Chorwand 
(vom  .Jahre  1513),  ergiebt  sich  schon  daraus,  dass  an 
der  Ecke  des  Eingangsbogens,  wo  beide  Malereien  Zu¬ 
sammenstößen,  die  Farbe  von  der  Chorwaud  her  über 
die  der  Laibung  an  einigen  Stellen  hinweggeflossen  ist. 


1)  Umrissstiche  nach  diesem,  wie  auch  nach  den  meisten 
der  si)äter  zu  erwälmenden  Gemälde  und  Skulpturen  Ferrari’s 
bei  Silr.  Pianaxxi  und  Gaud.  Bordirja,  Opere  del  pittore  e 
lilasticatore  Ga.ud.  Ferrari.  Milano  1835. 

2)  .1.  G.  Mcijcr  äußert  diese  Vermutung  sjiociell  für  den 
berülimten  Alta.r  di  Sa, nt’  Alaindio  ini  Dome  zu  t'omo.  lle- 
pertorium  f.  Kw.  XX.  8.  14T. 


264 


DER  HEILIGENBERG  VON  VAR  ALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


Wie  stellt  sieli  nun  hier  der  Charakter  des  Künst¬ 
lers  dar? 

Wir  sehen  eine  frische  Individualität  vor  uns,  einen 
Maler,  der  seine  Freude  hat  an  einem  lebhaften  Aus¬ 
druck  und  an  starken  Gesten,  der  aber  zugleich  in  jugend¬ 
licher  Befangenheit  bestrebt  ist,  seine  Figuren  möglichst 
zierlich  und  gefällig  hinzustellen,  und  der  dadurcli  hie 
und  da  ein  wenig  affektirt  erscheint.  Bemerkenswert 
ist  seine  Vorliebe  für  bauscliige,  faltenreiche  Gewänder. 
Er  scheint  sich  nicht 
wenig  auf  seine  ..pan- 
ni“  zu  gute  gethaii 
zu  haben,  und  doch 
ist  seine  Gewandbe¬ 
handlung  mit  ihren 
gedrängten ,  paral¬ 
lelen  Faltenlagen 
mehr  manierirt  als 
stilvoll.  —  Vollkom¬ 
men  manierirt  und 
sehr  auffallend  ist 
die  Bildung  der 
Hände  mit  unmöglich 
langen  dünnen  Fin¬ 
gern.  Auf  die  Per¬ 
spektive  ist  viel  Sorg¬ 
falt  verwendet.  Die 
symmetrische  Anord¬ 
nung  der  Pfeilerhalle 
auf  der  Disputation 
Christi  mit  den 
Schriftgelelirten  er¬ 
innert  an  die  Archi¬ 
tekturen  der  um- 
brischen  Schule.  Der 
Alte  links  voim  auf 
demselben  Bilde,  der 
mit  dem  erhobenen 
Zeigefinger  die  Auf¬ 
merksamkeit  des  Be¬ 
schauers  auf  den  hei¬ 
ligen  Wimderknaben 
lenkt,  ist  ein  Typus, 
der  uns  noch  etliche 
Mal  bei  Gaudenzio 
begegnet  und  der  auf  leonardeske  Vorbilder  zurückgeht. ') 
Dagegen  verraten  wieder  die  Propheten  im  Eingangs¬ 
bogen  unv erkenn! »are  Anklänge  an  die  umbrische  Weise. 
Diese  rundlichen  Gesichter,  diese  schweren  Augenlider, 
diese  kleinen  Münder  mit  scharfer  Bezeichnung  des 


Bogens  der  Oberlippe,  die  ganze  müde  Anmut  in  der 
Kopfhaltung  stammen  von  niemand  sonst  als  von  Perugino. 

Die  Technik  der  Malerei  ist  sehr  flott,  die  Pinsel - 
führung  etwas  zeichnerisch;  charakteristisch  sind  ins¬ 
besondere  die  mit  wenigen  Strichen  aufgesetzten  wei߬ 
lichen  Lichter  auf  Gewändern  und  Haaren. 

Sehr  interessant  ist  der  ^Vrgleich  zwischen  diesen 
Fresken  und  vier  kleinen  Tafelbildchen  Gaudenzio’s  in 
der  Turiner  Pinakothek.  Diese  letzteren,  wahrscheinlich 

Reste  eines  verschol¬ 
lenen  Altarwerkes, 
sind  die  frühesten  be¬ 
kannten  Arbeiten  des 
Meisters.  Sie  stellen 
dar;  Die  sitzende 
Figur  des  segnenden 
Gottvaters  (Kat.  53), 
Mariä  Heimsuchung 


(Kat. 


Joachims 


G.vuJiEisZiü  FErmAKi;  VerkündiguDg  Mariä-  (Varallo;  Sta.  Maria  Delle  Grazie.) 


1)  Wenn  S.  Butler  in  seinem  Ex  voto  S.  255  ft',  lebhaft 
dafür  eintritt,  dass  dieses  das  Porträt  Stefano  Scotto’s,  des 
Lehrers  des  Gaudenzio  sei,  so  sind  seine  Gründe  dafür  erstens 
nicht  stichhaltig,  und  zweitens  erscheint  mir  die  Frage  nach 
der  dargestellten  Persönlichkeit  überhaipit  gleichgültig. 


Vertreibung  aus  dem 
Tempel  (Kat.  57)  und 
die  heilige  Anna 
selbdritt  mit  zwei 
musizirenden  Engeln 
(Kat.  58).  ■ —  Eine 
Studie  zu  dem  Kopfe 
des  Hohenpriesters 
auf  der  Veifreibung 
.Joachims  bewahrt 
das  Museum  in  Va¬ 
rallo  (Tuschzeich- 
nuiig  weiß  gehöht 
auf  dunkeim  Grunde). 
—  Die  gleiche Künst- 
lerhaud  offenbart  sich 
unverkennbar  in  den 
gleichen  männlichen 
Typen  (namentlich 
der  Gottvater  mit 
seinem  wallenden 
Barte  sehr  charak¬ 
teristisch)  ,  in  der 
gleichen  Gewandbe¬ 
handlung,  den  glei¬ 
chen  überschlanken 
Händen.  Die  tiefen  satten  Farben  —  ein  leuchtendes  Rot 
ist  der  bevorzugte  Ton  —  verraten  den  Koloristen,  doch 
lassen  gewisse  Befangenheiten  —  so  sind  z.  B.  die  Füße 
ängstlich  verhüllt  —  frühe  Jugend  des  Künstlers  vermuten. 
Merkwürdigerweise  bemerkt  man  hier  nirgends  einen 
Einfluss  Leonardo’s  oder  der  umbrischen  Schule.  Eher 
wird  man  an  die  ältere  lombardisch-})iemontesische  Ma¬ 
lerei  erinnert,  etwa  an  Macrino  d’Alba,  obwohl  die  Zeich¬ 
nung  weit  weniger  streng  ist. 

An  die  Fresken  der  Margarethenkapelle  schließen 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


•265 


sich  die  der  Querwand  vor  dem  Chore  an.  Es  wurde 
hiermit  dem  Künstler  eine  grohe,  beneidenswerte  Arbeit 
aufgetragen,  auf  deren  Vollendung  er  sich  auch  nicht 
wenig  zu  gute  gethan  haben  mag.  Das  verrät  schon 
die  umständliche  Inschrift,  die  er  in  zwei  Medaillons 
in  den  äußersten  Bogenzwickelu  auf  der  Wand  an¬ 
brachte;  links;  1513.  1  Gaudentius  |  Ferrarus  Vallis  |  sic- 
cide  I  pinxit,  und  rechts  fortfahrend :  Hoc  opus  impe  |  nsis 
populi  Varalli  |  ad  Christi  |  gloriam. 

Wie  die  alten 
Florentiner ,  Giotto 
und  Ghirlandaio,  es 
gethan  hatten,  teilte 
Gaudenzio  die  Wand¬ 
fläche  in  ein  Netz 
von  Einzelgeniälden. 

In  die  Mitte  setzte 
er  die  Kreuzigung 
und  umgab  sie  mit 
einer  dreifachen 
Reihe  von  zwanzig- 
kleineren  Darstel¬ 
lungen.  In  den  er¬ 
sten  zehn  schilderte 
er  die  Vorgeschichte 
der  Passion  von  der 
Verkündigung  Mariä 
bis  zum  Gebet  auf 
dem  Ülberg,  in  den 
übrigen  die  Passion, 
die  Höllenfahrt 
Christi  und  die  Auf¬ 
erstehung.  Eine  ein¬ 
gehende  Beschrei¬ 
bung  der  Bilder  glau¬ 
be  ich  mir  aus  Rück¬ 
sicht  auf  den  verfüg¬ 
baren  Raum  ersparen 
zu  dürfen.  Sie  sind 
sämtlich  in  dem  vor¬ 
her  erwähnten  Werke 
vonPianazzi  und  Bor- 
diga  in  Umrissstichen 
ahgebildet,  und  aus¬ 
serdem  von  zwei  Va- 
ralleser  Photogra¬ 
phen  Emmanuele  Fortiuo  und 
Pizzetta  aufgenommen  worden. 

So  nahe  diese  Fresken  auch  stilistisch  denen  der 
Margarethenkapelle  verwandt  sind,  so  lassen  sich  doch 
gewisse  Unterschiede  deutlich  wahrnehmen.  Die  Gewand¬ 
behandlung  ist  freier  geworden.  In  der  Scene  der  Be¬ 
weinung  Christi  ist  sie  mit  aufdringlicher  Bravour  ge- 
handhabt.  —  Die  Formen  der  Hände  und  Füße  sind 
dagegen  noch  manierirter.  Unglaublich  lang  und  spindel¬ 


Uaudexzio  Feuuaiii:  Anbetung  des  Christkindes.  (Varallo;  Sta.  Maria  delle  Grazie.) 

besser  —  von  Giov. 


dürr  z.  B.  die  Füße  des  Johannes  auf  der  Taufe  Christi 
oder  die  rechte  Hand  des  Herodes  auf  dem  Bilde  nach 
der  Gefangennehmung.  Ebenda  finden  wir  auch  in  dem 
Schergen,  der  hinter  Christus  steht,  den  vorhin  erwähnten 
leonardesken  Typus  wieder.  Noch  einmal  erscheint  er 
auf  dem  nächsten  Bilde  in  der  Person  des  Pilatus. 
Diese  Scene  ist,  nebenbei  gesagt,  interessant  wegen  des 
Reliefs,  das  Gaudenzio  über  dem  Thor  des  „palacium 
Pilati“  malte.  Es  ist  eine  Laokoongruppe,  indessen 

nicht  etwa  ein  Ab¬ 
bild  des  1506  ausge¬ 
grabenen  Marmors, 
sondern  ein  Phanta- 
siebikR  wie  es  sich 
Gaudenzio  nach  Hö¬ 
rensagen  ausgedacht 
hatte. 

Von  fremden 
künstlerischen  Ein¬ 
flüssen  möchten  wir 
wieder  den  Perugi- 
no’s  hervorheben, 
nicht  als  ob  er  so  über¬ 
mächtig  wäre,  son¬ 
dern  weil  er  von  der 
kunstgeschichtlichen 
Kritik  des  letzten 
Jahrzeiintes  über¬ 
sehen  oder  geleugnet 
worden  ist.  Die  älte¬ 
ren  Kunstschriftstel¬ 
ler  hatten  mit  ge¬ 
ringen  Ausnahmen 
einen  starken  Ein¬ 
fluss  Perugino’s  bei 
Gaudenzio  Ferrari 
bemerkt. ')  Man  hatte 
dafür ,  ich  möchte 
sagen,  den  symboli¬ 
schen  Ausdruck  ge¬ 
funden,  dass  Gauden¬ 
zio  unter  Perugin 
als  dessen  Schüler 
studirt  habe.  Bei  der 
Vorliebe  der  älteren 
Kunstgeschichte  für 
das  Anekdotenhafte  verfehlte  man  nicht,  dies  unbegründete 
Histörchen  mehr  oder  minder  ausgeschmückt  in  die  Lebens¬ 
geschichte  Gaudenzio’s  einzutragen.  Dagegen  wandte  sich 
nun  mit  Entschiedenheit  Colombo,  der  in  seinem  schwarz¬ 
weißen  Forschungsmaterial  nicht  den  mindesten  Anhalt  für 
ein  solches  Schülerverhältnis  fand.  Indessen,  wozu  der 


1)  S.  die  ausfübrliclieii  Litteraturangabeii  l>ei  Culoii/bo 
a.  a.  0.  S.  27. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  II.  11. 


34 


266 


DER  HElLlGENßERG  VON  VAR  ALLO  UNI)  GAUDENZiO  FERRARI. 


Eifer?  Nicht  darauf  kommt  es  an,  ob  Gaudenzio  wirklich 
im  Atelier  des  Meisters  Vaimucci  gesessen  habe,  soii- 
deim  darauf,  dass  er  von  dessen  Art  sich  hat  anregen 
lassen  und  dass  er  diesen  Anregungen  in  seinen  Werken 
sichtbaren  Ausdruck  verliehen  hat. 

Dies  scheint  ja  freilich  bei  der  großen  Verschiedenheit 
der  Charaktere  beider  Künstler  verwundersam.  Auf  der 
einen  Seite  der  alte  Eoutinier  des  Quatti'ocento,  der  jahraus 
jahrein  mit  häutigen  Wiederholungen  seine  glatten,  sü߬ 
lichen  Heiligenbilder  in  die  Welt  setzte,  auf  der  andern 
Seite  eine  ungestüme,  bis  ins  Alter  jugendfrische  Indi¬ 
vidualität,  die  den  merkwürdigsten  Stilwandlungen 
unterworfen  war,  und  die  es  nie  zu  harmonischer  Aus¬ 
geglichenheit  brachte.  Man  liedenke  indessen,  wie  po- 
l)ulär  Perugino  damals  war.  Seine  leidenschaftslosen 
Gestalten  in  ihrer  weichen  Anmut,  seine  leuchtenden 
und  doch  so  milden  Farben,  der  ruhige  Rhythmus  seiner 
symmetrischen  Architekturen  schmeichelten  unvergleich¬ 
lich  dem  platten  Schönheitssinn  der  Menge,  die  mühelos 
genießen  wollte.  Er  war  stets  „bello“,  wofür  zu  allen 
Zeiten  kein  ^■olk  empfänglicher  war  als  das  italienische. 

—  Es  ist  nur  natürlich,  dass  Gaudenzio  vor  allem  das 
bei  ihm  bewunderte  und  suchte,  was  ihm  selber  fehlte 

—  und  als  solches  erkennen  wir  die  ruhige  Anmut  der 
Körperhaltung.  Gerade  das  Gefühl  für  den  ebenmäßigen 
Fluss  der  Linien  mangelte  Gaudenzio  in  einem  für  den 
Italiener  auffallenden  Maße.  Seine  Gestalten  haben  etwas 
„plötzliches“  in  ihren  Bewegungen.  Das  Korrektiv  dafür 
erblickte  er,  wie  mir  scheint,  in  einer  Wellenform  der 
Körperstellung,  die  bei  Perugino  zu  einer  stereotypen 
Anmutsformel  gewoi'den  ist.  Die  allei'meisten  seiner 
Gestalten  lassen  sich  an  einem  S  förmig  gebogenen 
Draht  aufziehen.  (Zuweilen,  wie  in  seiner  Anbetung 
des  Kindes  in  der  Münchener  Pinakothek,  wirkt  die 
S2)irale  Gi’azie  der  sämtlichen  Stellungen  geradezu  ko¬ 
misch.)  ■ —  Man  vergleiche  nun  einmal  daraufhin  in  den 
Fresken  der  Franziskanerkirche  Figuren,  wie  den  Joseph 
in  der  „Anbetung  des  Kindes“,  den  Johannes  in  der 
„Taufe  Cliristi“,  den  Christus,  der  vor  Kai])has  geführt 
wird,  den  Christus  auf  der  Geißelung,  den  auferstehenden 
Christus.  Zwei  dieser  Figuren  erinnern  unmittelbar  an 
bestimmte  Vorbilder  liei  Perugino;  der  Johannes  der 
„Taufe“  an  die  gleiche  Gestalt  auf  dem  Gemälde  Pei'u- 
gino’s  in  der  Münchener  Pinakothek,  und  der  gegeißelte 
Christus  an  Perugino’s  Sebastian  auf  der  Madonna  von  1493 
in  den  Uffizien  (wiederholt  in  der  Einzelfigur  des  Louvre, 
früher  Galerie  Sciarra  Colonna).  Dass  Gaudenzio  zwei 
Jahre  vorher,  1511,  in  seinem  herrlichen  Altarbihle  der 
Anbetung  Christi  in  der  Marienkirche  in  Arona  die 
Maria  und  das  Christuskind  mit  geringen  Veränderungen 
dem  Bilde  Perugino’s  entnommen  hatte,  das  sich  jetzt 
im  Pitti  befindet,  ist  eine  längst  erkannte,  aucli  von 
Colombo  angeführte  Thatsache.  Soviel  von  den  Formen. 
In  der  Farbengebung  ist  Gaudenzio  bereits  ganz  selb¬ 
ständig. 


Auch  hierin  hat  er  die  größten  Wandlungen  durcli- 
gemacht.  In  den  Fresken  dieser  frülien  Zeit  sind  die 
vorheiTSchenden  Töne  ein  lichtes  Gelb  mit  orange¬ 
farbenen  Scliatten  (daneben  oft  ein  helles  Kirschrot)  und 
als  wirksamer  Kontrast  dazu  Ultramarinblau.  —  Leider 
nui'  ist  die  Gesamtwirkung  wesentlich  beeinträchtigt 
durch  die  Verderbnis,  der  elmn  dieses  Blau  an  den  meis¬ 
ten  Stellen  anlieimgefallen  ist.  Nur  auf  den  Fresken 
der  cappella  Sta.  Margherita  und  der  obersten  Reihe 
der  Querwand  ist  das  Ultramarin  leidlich  unversehrt  er¬ 
halten.  Bei  den  sämtlichen  anderen  Fresken  finden  wir 
an  Stelle  des  Blau  entweder  —  in  den  Gewändern  ein 
kaltes  Grau  mit  schwach  bläulichem  Anfiug  oder  ge¬ 
radezu  schwarz  (Himmel  auf  dem  Gemälde  der  Kreu¬ 
zigung).  Dies  erklärt  sich  daraus,  dass  Gaudenzio,  um 
an  dem  teuren  Ultramarin  zu  sparen,  die  betreffenden 
Partieen  grau  und  schwarz  untermalte  und  dann  nur 
mit  Blau  darüber  lasirte.  Die  Farbe  konnte  nun  von 
der  mit  jenen  dunkeln  Tönen  durchtränkten  Kalkschicht 
natürlich  nicht  mehr  aufgesogen  wei’den  und  verschwand 
mit  der  Zeit  so  gut  wie  gänzlicli.  Nur  bei  genauerem 
Betrachten  entdeckt  man  auf  jenen  Partieen  noch  Spu¬ 
ren  von  Blau.  —  Durch  dieses  unselige  Verfahren  hat 
Gaudenzio  auch  späterhin  noch  mehrfach  die  Wiikung 
seiner  Fresken  beeinträchtigt. 

An  vielen  Stellen  sind  hier  —  was  in  der  cappella 
Sta.  Margheritlia  nirgends  der  Fall  war  —  die  Orna¬ 
mente  plastisch  gebildet,  päte  sur  päte  gemalt,  so  alle 
Nimben  und  einzelne  Teile  der  Rüstung,  auf  dem  Kreu- 
zigungsbihl  die  Helme,  der  Harnisch  des  Longinus  u.  s.  w. 
Gaudenzio  hat  diese  Technik  auch  späterliin  noch  manch¬ 
mal,  obwohl  immer  seltenei-,  angewendet,  zuletzt  meines 
Wissens  an  den  Fresken  in  San  Cristoforo  in  Vercelli. 

In  derselben  Zeit,  wie  diese  Fresken,  muss  ein  in 
Tempera  gemaltes  Tafelbild  mit  der  Stigmatisation  des 
heiligen  Franz  entstanden  sein,  das  ursprünglich  die 
von  Milano  Scarognini  errichtete  Franzenskapelle  auf 
dem  sacro  monto  schmückte  und  gegenwärtig  im  museo 
artistico  von  Varallo  aufl)ewahrt  wird.  *)  Es  hat  gleich¬ 
falls  jene  weichen,  peruginesken  Gesichtstypen.  Die 
Strahlen,  die  von  dem  mit  sechs  Purpurschwingen  schwe¬ 
benden  Kruzifix  ausgehen,  sind  vergoldet.  Plastische 
Ornamente  kommen  nicht  vor.  Übrigens  hat  das  Bild 
durch  Witterungseinflüsse  arg  gelitten. 

Wenige  Jahre,  nachdem  er  die  Arbeiten  in  der 
Franziskanerkirche  beendet  hatte,  malte  Gaudenzio  auf 
dem  Heiligenberge  die  Kapelle  aus,  in  der  die  letzten 
Augenblicke  Christi  vor  der  Kreuzigung  dargestellt 
waren.-)  Das  unansehnliche  kleine  Gebäude  hat  mehr- 


1)  Abgebildet  bei  Pianazxi  und  ßordiga.  a.  a.  0.  — 
Das  Bild  ist  schon  von  Lo)iiaz,zo ,  Trattato  della  pittura. 
Mailand  1585  S.  58.3  erwähnt. 

2)  „Gesü  sj)ogliato  dei  suoi  panni  e  condotto  sul  monte 
calvario“,  eine  Scene,  die  nach  der  Kreuztragung  folgte. 
(„Christo  condotto  alla  inorte  con  la  croce  alle  S2)alle“.)  Des- 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAÜDENZIO  FERRARI. 


267 


fache  Wandlungen  durcligemacht.  Nicht  lange,  nachdem 
Gaudenzio  mit  seinen  Arbeiten  begonnen  hatte,  wurde 
der  Eaiim  durch  eine  Quermauer  halbirt,  und  dement¬ 
sprechend  mussten  die  Malereien  zum  Teil  von  der 
Hinterwand  auf  die  neue  Seitenwand  übertragen  werden. 
Sodann  wurde  einige  Jahrzehnte  später  die  Bestinuimng 
der  Kapelle  verändert  und  eine  neue  Gruppe  der  Be¬ 
weinung  Christi  darin  aufgestellt,  wie  sie  sich  noch 
heute  erhalten  hat.  Von  den  alten,  ziemlich  rohen 
Holzstatiien  der  Gau- 
denzianischen  Zeit 
verwendete  man 
nachmals  den  Chri¬ 
stus  und  zwei  Kriegs¬ 
knechte  für  die  ver¬ 
wandte  Scene,  wo 
Christus  mit  der  Dor¬ 
nenkrone  auf  dem 
Haupte  vor  Pilatus 
geschleppt  wird.  In 
jener  Kapelle  (Plan 
31)  sind  sie  noch 
heute  unter  den  ent¬ 
sprechenden  leichten 
Vermummungen 
wohl  zu  erkennen. 

Gaudenzio  that 
mit  seinen  Malereien 
den  letzten  möglichen 
Schritt  zur  täuschen¬ 
den  Natnrnachah- 
miing,  indem  er  die 
Darstellung  der  plas¬ 
tischen  Freigruppe 
auf  dem  flachen  Hin¬ 
tergründe  fortsetzte. 

Hinter  die  Figuren 
Christi  und  seiner 
Peiniger  malte  er 
(auf  der  Hinter  wand) 
eine  Schar  von  Rei¬ 
sigen  und  Fußvolk 
und  (auf  der  neuen 
Querwand  rechts)  die 
Gruppe  der  Marien 
mit  dem  wehklagen¬ 
den  Johannes,  denen  ein  Soldat,  den  Streitkolbeu 
in  der  Linken,  in  den  Weg  tritt.  So  entstand  das  erste 
Panorama. 

Die  Malereien  der  Hintervvand  sind  durch  Witterungs¬ 
einflüsse  stark  mitgenommen  und  im  Farbenton  etwas 
kälter  geraten  als  die  bald  darauf  entstandenen  Fresken 


Gaudenzio  Feiu'.ari:  Christus  vor  Pilatus.  (Varallo;  Sta.  Maria  delle  Grazie.) 


der  Querwand.  Stilistiscli  bezeichnen  sie  gegen  die 
Werke  in  der  Franziskanerkircbe  einen  deutlichen  Fort¬ 
schritt.  Wir  haben  zwar  auch  hier  dieselben  reliefirten 
Stuckornamente,  diesell>en  plumpen  Gäule  mit  gestutzten 
Ohren,  die  gleiche  Faltenbeliandlung,  indessen  die  Ge- 
siclitszüge  baljen  sich  verändert,  sind  weicher  geworden, 
lind  auch  die  Malweise,  die  früher  etwas  zeichnerisches, 
gestricheltes  hatte,  ist  weicher  und  breiter.  Die  Hände 
und  Füße  haben  ilire  spindeldürre  Länge  verloren  und 

normale  Formen  an¬ 
genommen. 

Mit  diesen  Fres¬ 
ken  möchte  ich  die 
Gemälde  am  Altar 
der  Pfarrkirche  San 
Martine  in  Rocca- 
pietra  hei  Varallo 
znsaramenstellen.  Es 
sind  die  Reste  einer 
ancona,  dienni  1G68  ' ) 
in  ein  barockes  zwei¬ 
geschossiges  Taher- 
nakelgehände  einge¬ 
lassen  wurden.  Un¬ 
ten  hefindensich  links 
und  rechts  die  Bilder 
zweier  Heiligen,  links 
Gaudentins  und  Jo¬ 
hannes  der  Täufer, 
rechts  Martin  v.Tonrs 
und  Amlirosins.  Die 
würdigen  kräftigen 
Gestalten  heben  sich 
von  einem  plastisch 
gemusterten  Gold¬ 
grund  all.  Ebenso 
sind  die  Nimben, 
Bischofstähe  und  Ge- 
wandsäiime  aus  Gips 
gebildet.  Im  Ober¬ 
geschoss  links:  Die 
Jungfrau  der  Ver- 
kündiguug,eine  Halh- 
fignr  mit  der  für  Gan- 
denzio  so  charakte- 
ristisclien  Haltung 
der  über  der  Brust  gekreuzten  Hände,  rechts  der  Engel 
der  Verkündigung,  einen  Lilieiistengel  in  der  Linken 
haltend,  und  in  der  Mitte  darüber  die  Halhügnr  des 
auferstellenden  Christus.  Die  reichliclie  Verwendung  von 
plastischen  Ornamenten  ist  ein  Charakteristikum  der 


crittione  del  sacro  monte  di  Vavale  di  Val  di  Sesia.  Novara 
1587,  —  Oiitl'io  Arienta,  Arte  e  Storia  XV  (1890)  S.  .39. 


1)  Auf  dem  Rücken  einer 
Seite  des  Altars  fand  icli  die 
di  San  Giovanni  .  .  .  fn  fatta, 


.Tohannesstatue  an  der  Riick- 
Inschrift:  Qiiesta  statna  .  .  . 
,  .  .  1008. 


268 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARL 


Frühzeit.  Doch  sind  die  Hände,  wie  in  der  cappella 
della  pietä,  normal  geformt.  Die  weiche,  vertriebene 
Malweise  sowie  die  tiefere  Farbenstimmnng  entspricht 
gleichfalls  jenen  Fresken. 

Ein  paar  Scliritte  von  der  Kapelle  der  Beweinung 
Christi  geht  es  die  Treppe  hinauf  zum  Kalvarienberge, 
auf  dem  die  Kreuzigung  steht,  Gaudenzio’s  berühmtestes 
Werk.  Durcli  zwei  Thüröffnnngen  betritt  man  den  weiten, 
viereckigen  Raum.  In  seiner  Mitte  steht  ein  Pfeiler  als 
Stütze  des  Gewölbes. 

Die  Hinterwand  bil¬ 
det  eine  hallirunde 
Kiscbe.  Davor  ist 
auf  einem  sanft  an¬ 
steigenden  Boden  die 
große,  sechsund¬ 
zwanzig  Figuren  zäh¬ 
lende  Gruppe  der 
Ivreuzigung  aufge- 
Itaut.  —  In  der  Mitte 
liängt  der  eben  ver¬ 
schiedene  Christus 
am  Kreuze,  neben 
ihm  in  verzerrten 
Haltungen  die  beiden 
Scliächer.  Rechts  vor 
dem  Kreuze  lullt  lioch 
zu  Ross  der  Haupt¬ 
mann,  der  ]nit  einem 
Streitkollien  in  der 
Rechten  zu  (Iiristus 
hinaufzeigt  —  eine 
Figur,  die  älinlich 
auf  dem  Fresko  der 
Franziskanerkirche 
vorgekommen  war 
und  die  Gaudenzio 
auch  auf  späteren 
Darstellungen  der 
Kreuzigung  (in  Tu¬ 
rin  ,  Pinakothek  Nr. 

371,  in  Vercelli,  San 
Christo  fero  und  in 
Mailand,  S.  Maria 
delle  grazie)  wieder 
verwendete.  Weiter 
rechts  die  würfelnden  Kriegsknechte,  ein  vortrefflicher 
.Tohannes  in  edelster  Haltung  und  die  ebenfalls  sehr 
lebenswahre  Gruppe  der  Marien.  —  Links  vom  Kreuze 
Kriegsvolk  und  einige  teilnehmende  Zuschauer.  — 
Dahinter  breitet  sich  an  den  Wänden  eine  auf  den 
ersten  Blick  unabsehbare  Schar  von  Reitern,  Sol¬ 
daten  und  Zuschauern  in  einer  hügeligen  Landschaft 
aus.  Über  der  Thür  der  rechten  Seitenwand  sieht  man 
die  knieenden  Gestalten  zweier  Stifter,  in  denen  die 


Tradition,  gewiss  mit  Recht,  den  Bauherrn  und  Haupt- 
wohlthäter  des  Heiligenberges,  Milano  Scarognini  mit 
seinem  Sohne  Francesco,  erblickt. ') 

Ob  man  einen  stattlichen  Ritter  auf  der  gegenüber¬ 
liegenden  Wand  für  den  Grafen  Toimielli,  den  General 
Karls  V.,  halten  soll,  ist  dagegen  zweifelhaft.  Selbst 
den  Kaiser  hat  man  ohne  Grund  in  einem  der  Ritter 
erblicken  wollen.  An  der  Eingangswand,  wo  die  Fresken 
ganz  besonders  —  bis  zur  Unkenntlichkeit  —  zerkratzt 

sind,  stehen  vier  Zu¬ 
schauer,  allem  An¬ 
schein  nach  Bildnisse 
von  Förderern  des 
frommen  Werkes. 
Dahinter  sieht  man 
ganz  rechts  Judas 
am  Baume  hängen. 
—  An  dem  blauen 
Himmel  des  Gewol¬ 
ltes  schweben  zwan¬ 
zig  große,  prächtige 
Engelsgestalten  mit 
den  verschiedensten 
Gebärden  des 
Schmei'zes.  Auf  die 
Engel  verstand  sich 
Gaudenzio  ganz  be¬ 
sonders.  Ich  erinnere 
nur  an  seine  berühm¬ 
te  Engelsglorie  in 
der  Kuppel  der  Wall¬ 
fahrtskirche  zu  Sa- 
ronno.  Um  so  we¬ 
niger  wusste  er  et¬ 
was  mit  dem  Teufel 
anzufangen.  Das  ge¬ 
hörnte  Ungetüm,  das 
da  oben  nahe  dem 
Pfeiler  sein  Wesen 
treibt,  macht  einen 
mehr  gi'otesken  als 
fürchterlichen  Ein¬ 
druck. 


Gauhexzio  Feurai:!:  Geißelung  Christi.  (Varallo;  Sta.  Maria  delle  Grazie.) 


1)  Das  Bildnis  ist 
freilich  erst  nach  dem 
Tode  des  Dargestellten  gemalt,  da  Milano  1517  gestorben  war. 
Dass  die  Scarognini  die  Stifter  derlvajielle  waren,  gebt  übrigens 
auch  daraus  heiwor,  dass  ihr  Wajipen,  ein  gekrönter  Adler,  auf 
dem  Schihle  des  rechts  hinter  dem  Ilauptma.nne  hervor¬ 
tretenden  Kriegers  erscheint.  —  Ein  Monogramm  nnten  am 
Rande  des  großen  Schildes  des  Soldaten  weiter  unten  löst 
Herr  Giulio  Arienta  in  die  Buchstaben  S.  E.  A.  M.  auf  und 
deutet  es  auf  die  drei  Scarognini :  Milano,  Francesco,  Antonio; 
doch  erscheint  mir  diese  Deutung  weniger  einleuchtend  als 
die  des  andern  Moiiogrammes  auf  dem  gleichen  Scbilde  auf 
Gaudenzio  Ferrari.  (Arte  e  Storia.  VI II  S.  234.) 


Gauiienzhi  Feiiuaiu:  Jobannes  und  die  Marien,  Kriegsvolk  und  Zuscliauer  bei  der  Kreuzigung  Cbristi' 

(Varallo;  Saoro  Monte.) 


270 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


Wer,  von  der  Franziskanerkirclie  kommend,  znm 
erstenmal  diesen  Raum  betritt,  wird  scliwerlich  glauben, 
denselben  Künstler  vor  sich  zu  sehen  —  so  grundver¬ 
schieden  sind  diese  prachtvollen,  stiirmiscli  bewegten 
Gestalten  von  den  zierlichen,  sentimentalen  Menschen 
jener  älteren  Fresken.  Gaudenzio  Ferrari  hat  sich  hier 
vollständig  selbst  gefunden.  Hier  ist  keine  Si)ur  mehr 
von  der  Befangenheit  eines  Unfertigen,  noch  auch  von 
fremdartigen  Einflüssen,  die  auf  dem  Künstler  lasteten. 
■\Vir  sehen  seine  Ideale  in  aller  Frische  verköri)ert:  ein 
Geschlecht  von  kecken,  kräftigen  Männern  und  blühen¬ 
den,  rotwangigen  Weil)ern  —  alle  rötlich  blond,  soweit 
sie  nicht  ergraut  sind.  Man  spricht  von  seiner  ma- 
niera  bionda  —  und  dies  ist  das  Hauptwerk  jener 
Manier.  Die  ganze  italienische  Kunst  hat  keine  gesun¬ 
deren  Geschöpfe  hervoi'gebracht.  Sie  fühlen  sich  augen¬ 
scheinlich  so  wohl,  dass  ihre  Lebensfreudigkeit  einen 
eigentümlichen  Kontrast  bildet  zu  dem  tragischen  Vor¬ 
gang,  der  sich  hier  abspielt.  Selbst  die  Angehörigen 
Christi  machen  davon  keine  Ausnahme.  Der  Johannes 
drückt  in  seinen  Mienen  weit  eher  schwärmerische  Ver¬ 
ehrung  als  verzweifelnden  Schmerz  aus.  Die  Fi'auen 
scheinen  Jlaria  vielmehr  zurückzuhalten,  damit  sie  nicht 
auf  das  Kreuz  zustüi'ze,  als  dass  sie  eine  Zusammen¬ 
brechende  stützten.  —  Bemei’kenswert  ist  insonderheit 
die  Veränderung,  die  mit  dem  weiblichen  Idealtypus 
vorgegangen  ist.  Er  ist  runder,  voller  geworden,  die 
Nase  küi’zer  und  breiter.  —  In  den  Farben  spielt  Rot 
eine  größere  Rolle.  Das  Blau  ist  infolge  jener  Unter¬ 
malungen  wieder  vielfach  verblichen. 

Man  begreift  es  wohl,  das  angesichts  solcher  Ver¬ 
schiedenheiten  noch  die  Herausgeber  der  letzten  .'\uflage 
des  Cicerone  von  einem  „späten  Hauptwerk“  reden. 
Von  den  älteren  Schriftstellern  hatte  der  sachkundigste, 
Gaudenzio  Bordiga,')  behauptet,  die  Kapelle  sei  bald 
nach  1.024  eingerichtet  worden.  Colombo  spricht  von 
circa  1.Ö24.-)  Ein  glücklicher  Zufall  verschafft  uns  in¬ 
dessen  Gewissheit  und  rückt  das  Datum  der  Entstehung 
um  mindestens  ein  .Tahr  weiter  zurück.  Die  Narren¬ 
hände,  die  Tisch  und  Wände  beschmieren,  sind  es  dies¬ 
mal,  denen  wir  ausnahmsweise  zu  Danke  verpflichtet 
sind.  Sie  begannen  ihre  sinnreiche  Thätigkeit,  als  kaum 
die  Malereien  trocken  geworden  waren.  Unter  den  zahl¬ 
losen  Daten,  die  da  neben  anderem  Gekritzel  die  Wände, 
soweit  sie  erreichbar  waren,  bedecken,  fand  Herr  Giulio 
Arienta,  die  Zahl  1523.^)  Sie  ist,  wie  fast  alle  jene 
Schmierereien,  mit  einem  sintzen  Instrument  eingekratzt 
und  befindet  sich  an  der  linken  Seitenwand  nahe  dem  linken 
Eingänge  auf  der  Kruppe  des  Pferdes  eines  der  Reiter, 
die  zum  Gefolge  des  (sogenannten)  Grafen  Tornielli  ge- 


1)  Bordiga.  Notizie  intoriio  alle  opere  di  Gaudenzio 
Ferrari.  Milano  1821.  S.  18. 

2)  Colombo,  a.  a.  0.  8.  109. 

3)  Arte  e  Storia.  111.  S.  234. 


hören.  Glücklicherweise  sind  die  Ziffern  so  deutlich,  dass 
sie  keinen  Zweifel  zulassen.  Ich  gebe  sie  hier  wieder. 


wie  ich  sie  an  Ort  und  Stelle  kopirt  habe. 


In  der  Nähe  finden  sich  andere  Daten  des  sedizehnten 
Jahrhunderts:  1529,  1548,  1550,  1550,  1560  u.  s.  w. 

1523  waren  also  jedenfalls  die  Fresken  vollendet 
und  vielleicht  auch  die  Statuen.  Dass  Gaudenzio  Fer¬ 
rari  auch  die  plastischen  Arbeiten  selbst  ausgeführt 
habe,  darf  nicht  bezweifelt  werden.  Lomazzo,  der  künst¬ 
lerische  Enkel  Gaudenzio’s,  sagt  ausdrücklich  von  ilim, 
dass  er  die  Figuren  Stück  für  Stück  mit  eigener  Hand 
aus  Tlion  geformt  liabe. ')  Und  die  Stilkritik  giebt  der 
Übei'lieferung  recht.  Freilich  ist  hier  die  Vergleicliung 
zwischen  Plastik  und  Malerei  dadurch  erschwert,  dass 
zwei  wichtige  Momente  ganz  wegfallen:  die  Farben¬ 
gebung  —  denn  die  Figuren  sind  mehrfach  angestrichen 
worden  —  und  die  Haarbehandlung  —  denn  die  Haare 
und  Bärte  sind  nach  dem  Vorbild  der  älteren  Holz- 
skul])turen  aufgeleimtes  Rosshaar.  Immerhin  bleibt  in 
den  Köi’per-  und  Gewandformen  genug  übereinstimmen¬ 
des.  Zunächst  einmal  begegnen  wir  wieder  jenem  Leo- 
nardesken  glattrasirten  Greisenkopf,  der  in  den  Fresken 
der  Franziskanerkirche  dreimal  vorgekommen  war.  Er 
ist  sogar  hier  in  der  plastischen  Ausführung  ganz  be¬ 
sonders  gut  gei'aten.  Sodann  war  ebenfalls  jener  Sol¬ 
dat,  der  sich  mit  eiliolienem  Zeigefinger  der  Rechten 
eifrig  redend  zu  den  Würflern  herabbeugt,  bereits  in 
dem  älteren  Fresko  verwendet.  Derselbe  kommt  auch 
in  den  späteren  Ki-euzigungsbildern  Gaudenzio’s  vor  — 
el)enso  wie  der  scheußliche  Kropfmensch  mit  dem  Essig¬ 
schwamm  am  Fuße  des  Ki'euzes.  Von  dem  Haupt¬ 
mann  mit  dem  Streitkolben  bemerkten  wir  dies  schon. 
Nelimen  wir  hinzu,  dass  die  Ornamentik  der  Waffen 
durchaus  der  auf  den  Fresken  entspricht,  dass  die  Pferde 
mit  ihren  gestutzten  Ohren  die  gleichen  plumi)en  Formen 
haben,  so  kann  sich  unser  kunsthistorisches  Gewissen 
bei  der  Tradition  lieruhigen,  dass  Gaudenzio  auch  der 
Verfertiger  der  Statuen  gewesen  sei.  Mit  einer  Aus¬ 
nahme!  Der  Christus,  ein  starres  Holzbild,  ist  offenbar 
eine  ältere  Skulj)tur,  die  der  Künstler  als  ein  bekanntes 
Andachtsbild  übernommen  haben  mochte.  Die  beiden 
Schächer  dagegen  scheinen  mir,  trotzdem  sie  aus  Holz 
geschnitzt  sind,  auf  Modelle  Gaudenzio’s  zurückzugehen. 
Der  Künstler  trug  offenltar  Bedenken,  ein  Thonl)ild  an 
dem  hohen  Kreuze  aufzuhängen.  —  Es  ist  nur  merk¬ 
würdig,  dass  sich  von  einem  so  geschickten  Plastiker 
außer  den  wenigen  Arbeiten  auf  dem  sacro  monte  nichts 
erhalten  zu  haben  scheint.'^) 


1)  Lomaxxo.  Trattato  della  jiittura.  Milano  1:585.  S.  112. 

2)  Die  Gruppen  der  Passion  im  Ba.pt, isteriniu  zu  Novara, 
die  der  Cicerone  vermutungsweise  ihm  znscbreibt,  haben  nichts 
mit  ihm  zu  tbun  und  sind  teils  das  Werk  eines  Schülers  des 
Giovanni  d’Enrico,  teils  eines  modernen  Bildhauers,  Gau¬ 
denzio  Prinetti,  der  im  Anfänge  dieses  .labrbunderts  lebte. 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARVLLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


271 


Man  mag  über  die  ästhetische  Verwerflichkeit  der 
Panoramen  denken  wie  man  will,  so  wird  man  sich 
doch  dem  packenden  Eindruck  dieses  Kreuzigungsbildes 
nicht  entziehen  können.  Es  übt  eine  Wirkung  von 
brutaler  Großartigkeit  aus.  Wenn  auch  nicht  das 
schönste,  so  ist  es  doch  gewiss  das  bedeutendste  Werk 
seines  Meisters. 

Die  Komposition  war  nicht  Gaudenzio’s  stärkste 
Seite,  ja  er  hat  sich  mit  zunehmenden  Jahren  immer 
mehr  darin  gehen  lassen.  Auch  hier  sind  die  Figuren 
ziemlich  willkürlich  anein¬ 
andergefügt,  und  die  Rei¬ 
terscharen  des  Hintergrun¬ 
des  stellen  sich  vollends  als 
eine  dichte,  unentwirrbare 
Masse  dar,  indessen  —  wie 
weit  überragt  Gaudenzio 
trotzdem  auch  hierin  seine 
Vorgänger  und  Nachfolger 
am  sacro  monte!  Er  ver¬ 
steht  es  doch  wenigstens, 
die  Einheitlichkeit  des  Bil¬ 
des  zu  wahren.  Der  Cha¬ 
rakter  des  Gemäldes 
herrscht  durchaus  vor,  in¬ 
dem  die  nicht  unnötig  ge¬ 
häuften  FreifigiU’en  nahe 
an  den  gemalten  Hinter¬ 
grund  gerückt  sind. 

Die  annähernde  Dati- 
rung,  der  terniinus  ante 
quem,  der  Entstehung  der 
capella  del  crocifisso  giebt 
uns  die  Möglichkeit,  die 
Entstehuugszeit  einer  klei¬ 
nen  Gruppe  von  Werken 
näher  zu  umgrenzen,  die 
stilistisch  vermitteln  zwi¬ 
schen  den  Fresken  der  Fran¬ 
ziskanerkirche  und  denen 
dieser  Kapelle.  —  Da  ist 
zunächst  das  reizende  kleine 
Fresko  der  Anbetung  des 
Kindes  in  der  Bogenlünette  über  dem  Portal  des  ver¬ 
lassenen  Kirchleins  S.  Maria  di  Loreio  bei  Varallo. ') 
Es  steht  den  Fresken  der  capella  del  crociüsso  beson¬ 
ders  nahe.  Ein  blondlockiger  Engel,  so  liebenswürdig 
und  frisch,  wie  ihn  nur  Gaudenzio  malen  kann,  kniet 
nieder,  die  Mandoline,  auf  der  er  eben  gespielt  hat,  im 
Arm  und  richtet  das  am  Boden  liegende  Christkind 

1)  Die  Fresken  der  Kirche  San  Marco  bei  Varallo,  die 
der  Cicerone  anführt,  haben  nichts  mit  Gaudenzio  gemein. 
Die  späteren  dieser  Fresken  sind  Werke  des  Varalleser 
Malers  Giulio  Cesare  Luini,  eines  Nachfolgers  des  Ferrari, 
der  bis  gegen  das  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  lebte. 


ein  wenig  auf,  das  Maria  und  Joseph  knieend  verehren. 
Hinter  dem  ersten  Engel  steht  ein  zweiter,  der  geigend 
auf  das  Christkind  niederblickt.  —  Die  Haltung  des 
Elternpaares,  namentlich  der  Maria,  erinnert  an  Gau¬ 
denzio’s  Gemälde  des  gleichen  Gegenstandes  in  dem 
schönen  Altar  der  Kirche  San  Gaudenzio  in  Novara, 
der  in  den  Jahren  1514 — 1516  entstanden  war.  Cha¬ 
rakteristisch  ist  besonders  die  Haltung  der  übereinander- 
gelegten  Hände  mit  zangenförmig  zu  einander  gestelltem 
Daumen  und  Zeigefinger.  —  Die  Finger  sind  durchaus 

normal.  Die  Nimben  sind 
noch  plastisch  gebildet.  — 
In  den  Farben  der  beliebte 
Accord  von  gelb  (Mantel 
des  vorderen  Engels),  rot 
(Mantel  Josephs)  und  ultra¬ 
marinblau  (Mantel  Mariä). 

Die  beiden  Grotesken¬ 
streifen,  die  das  Bild  um¬ 
säumen  ,  entsprechen  den 
Ornamenten  in  S.  Maria 
delle  grazie,  sind  aber  auch 
das  einzige,  was  an  jene 
älteren  Werke  erinnert. 

Jedenfalls  etwas  frülier 
entstanden  ist  der  präch¬ 
tige  Katliarinenaltar  in  San 
Gaudenzio,  der  Kollegiat- 
kirche  in  V arallo.  Die  sechs 
Tafeln,  die  noch  an  ihrem 
ursprünglichen  Bestim¬ 
mungsorte  geblieben  sind, 
wurden  im  vorigen  Jalir- 
Imndert  von  einem  reichen 
Bronzerahmen  umgeben. 
Das  Hauptbild  stellt  die 
^'erlobung  der  heiligen  Ka¬ 
tharina  mit  dem  Christ¬ 
kinde  dar.  Auch  hier  hat 
Gaudenzio  eine  ältere  Kom¬ 
position  zu  Grunde  gelegt, 
die  der  Altartafel  im  Chor 
von  Sta.  Caterina  in  Ver- 
celli.  Die  Hauptgruppe  ist  mit  leichten  Veränderungen  bei¬ 
behalten,  die  Nebenfiguren  der  Heiligen  sind  weggelassen 
bis  auf  Joseph,  der  links  hinter  Maria  hervorschaut. 
Der  Vergleich  beider  Gemälde  fällt  sehr  zu  Gunsten  des 
Varalleser  Altars  aus.  Besonders  ist  die  Beziehung 
zwischen  den  beiden  mystisch  Verlobten  reizend  ausge¬ 
drückt.  Das  kleine  Bürschchen  schiebt  mit  drolligem 
Ernst  den  Ring  an  den  Finger  der  frommen  Jungfrau, 
und  diese  —  ein  allerliebstes  blondes  Geschöpf  —  schlägt 
ihre  dunkeln  Augen  mit  einem  Ausdruck  unsag])arer 
keuscher  Verehrung  zu  ihm  auf.  —  Auf  den  Flügeln 
links  der  heilige  Gaudentius  mit  erhobener  Rechten,  den 


Gaüdenziu  Feuhai:i;  Zwei  Zuschauer  bei  der  Kreuzigung  Christi. 
(Varallo;  Sacro  Monte,  Capella  del  Croceftsso.) 


•272 


DER  HEILTGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAÜDENZIO  FERRARI. 


Bischofstab  iu  der  Linken,  und  rechts  Petras,  ein  Buch 
in  der  Linken  haltend,  die  langen  Schlüssel  in  der 
Rechten.  —  Darüber  in  der  Mitte  der  Leichnam  Christi 
anf  dem  Rande  des  Grabes  sitzend,  gestützt  von  Maria 
nud  Johannes,  links  Johannes  der  Täufer,  rechts  Markus 
iu  einem  Buche  lesend,  beide  knieend. 

An  die  Fresken  in  S.  Maria  delle  grazie  erinnern 
namentlich  Gandeutins  und  Petras  in  der  weichen  An- 
nmt  ihrer  Stellung.  Zum  Gesiclitstypus  des  Gaudentius 
vergleiche  man  z.  B.  die  Prophetenköpfe  iu  der  Bogeii- 
laibung  der  capella  Sta.  Marglierita.  Zwei  perugineske 
Motive  am  Petrus  sind,  nebenbei  gesagt,  die  Drapirung 
des  Mantels  mit  dem  über  den  Leib  gezogenen  einen 
Ende  und  die  gespreizte  Haltung  des  kleinen  Fingers 
der  linken  Hand. 

Die  vier  Predellenbilder  zu  diesem  Altar,  die  Gau- 
denzio  nach  seiner  Weise  in  Grisaille  gemalt  hatte  (Geburt 
Christi,  Anbetung  der  Könige,  Darstellung  im  Tempel, 
die  vier  Kirchenväter),  betinden  sich  in  der  Sammlung 
des  Fürsten  Belgiojoso  iu  Mailand. 

Der  Typus  der  Madonna  ist  eine  Weiterentwicke¬ 
lung  dessen  in  der  ca])pella  Sta.  Marglierita  oder  auf 
dem  Altar  in  Arona.  Die  feinen  Züge  sind  voller  ge¬ 
worden,  die  immer  noch  großen,  dunkeln  Augen  weniger 
groß,  es  ist  aber  noch  nicht  jener  rundliche  Kopf  des 
Loretofresko,  wie  er,  etwa  seit  1522,  eine  Zeit  lang  von 
Gaudenzio  bevorzugt  wird.  Das  bekannteste  Beispiel 
desselben  Typus  bietet  die  Madonna  der  Brera  (Kat. 
Nr.  lOG  bis) ,  ein  anderes  der  Madonnenaltar  beim 
Fürsten  Borromeo  in  Mailand.  Ebendahin  gehört  das 
köstliche  Bild  der  Verkündigung  im  Berliner  Museum. 
Alle  diese  Werke  können  wir  daher  als  in  Varallo  ent¬ 
standen  betrachten  —  höchstwahrscheinlich  in  den  Jah¬ 
ren  1516 — 1521,  nach  der  Vollendung  des  großen  x\ltar- 
werkes  in  Novara  (Sau  Gaudenzio)  und  vor  Beginn  der 
cappella  del  crocifisso. 

Aus  dem  Urkundenmaterial  wissen  wir,  dass  Gau¬ 
denzio  1528  Varallo  verlassen  hatte  und  in  Vercelli 
ansässig  war.')  — •  Diesen  letzten  Jahren  seines  Varal- 
leser  Aufenthaltes  müssen  wir  die  Darstellung  des  Zuges 
der  drei  Könige  zuweisen,  die  in  jenem  etwa  dreißig 
Jahre  zuvor  errichteten  Bau  an  der  Ostseite  des  Berges 
(s.  Seite  241)  iliren  Platz  fand.  Sie  nimmt  hier  den 
größten  Kapellenraum  des  Erdgeschosses  ein  zunächst 
dem  (nördlichen)  Eingang  und  ist  verhältnismäßig  noch 
am  besten  beleuchtet.  —  Die  sieben  Figuren  stellen  die 
Könige  mit  einigen  Dienern  dar,  wie  sie  von  ihren  Pfer¬ 
den  abgestiegen  sich  der  heiligen  Familie  nahen.  An 
den  Wänden  zieht  sich  wieder  ein  gewaltiger  Tross  von 
Reisigen  und  Fußvolk  hin,  der  von  links  aus  einem  Fel¬ 
sen  thale  kommt.  —  Mau  kann  sich  des  Werkes  nicht 
recht  erfreuen.  Die  Statuen  sind  weit  schwächer  als 
ilie  der  Kreuzigung,  mittelmäßige  Schülerarbeiten.  Be- 


1)  Colombo,  a.  a.  0.  S.  134  ff. 


sonders  störend  wdrkt  die  dreimal  wdederkehrende,  steif 
gegretete  Beinstelluug.  Die  Pferde,  die  Gaudenzio  nie 
sonderlich  gelungen  w'areu,  sind  diesmal  vollends  die 
reinen  Karikaturen  seiner  Ungeschicklichkeit.  —  Die 
Fresken  mit  ihren  lebhaft  bewegten  blonden  Männern 
entsprechen  stilistisch  denen  der  Kreuzigung  sow'eit  man 
sehen  kann,  denn  sie  sind  von  der  Feuchtigkeit  arg 
mitgenommen  und  zum  Teil  überhaupt  verschw'unden 
und  übertüncht. ')  Rechts  neben  dieser  Kapelle,  in  der 
Richtung,  iu  der  die  Könige  sich  bewmgen,  ist  eine  kleine 
Grotte  in  den  Felsen  gehauen,  in  der  die  Figuren  von 
Joseph  und  Maria  sichtbar  sind,  die  knieend  das  Kind 
verehren.  Wenn  ich  sage  sichtbar,  so  gilt  das  aller¬ 
dings  nur  von  der  Mittagszeit,  da  nur  dann  ein  Licht¬ 
strahl  in  die  Nähe  dieser  dunkeln  Ecke  fällt.  Die  Sta¬ 
tuen  werden  mit  Recht  Gaudenzio  zugeschrieben.  Der 
Kopf  der  Maila  erinnert  deutlich  an  die  Älagdalene  in 
der  Kreuzigungsgruppe.  Wegen  der  auffallenden  Länge 
der  Finger  möchte  ich  indessen  die  Figuren  einer  frühe¬ 
ren  Zeit  zuschreiben.  Das  Christkind  ist  modern,  da 
das  ursprüngliche  und  auch  dessen  Ersatz  von  übereif¬ 
rigen  Gläubigen  entwendet  worden  sind.  —  Kaum  besser 
beleuchtet  ist  die  gegenüberliegende  erweiterte  Gruppe 
des  presepio,  wo  Maria  vor  der  von  einem  Engelreigen 
umgebenen  Krippe  kniet,  während  hinter  ilir  die  anbe- 
teuden  Hirten  stehen.  Maria,  mit  dem  gleichen  Ge- 
sichtsty})  wie  in  der  vorigen  Gruppe,  ist  sicher  ein 
Werk  Gaudenzio’s,  vielleicht  auch  die  beiden  Engel 
links  und  rechts  neben  ihr.  Bei  den  übrigen  Figuren 
mit  ihren  groben  Gesiclitszügen  und  plumpen  Händen 
ei'scheint  mir  die  Urheberschaft  Gaudenzio’s  ausgeschlos¬ 
sen.  Das  Gewand  der  Jungfrau  ist  aus  natürlichen 
Stoffen  drapirt  wie  bei  den  alten  Holzliguren.  Ihr  Kopf 
ist  abgebrochen  und  hat  sich  leicht  nach  rechts  gewen¬ 
det,  woran  sich  sofort  eine  Legende  geknüpft  hat.  Ma¬ 
lereien  sind  in  dieser  Kapelle  nie  gewesen  —  schon 
aus  dem  Grunde,  weil  mau  sie  nicht  hätte  sehen  können. 

Außer  diesen  Werken  Gaudenzio’s  in  der  Stadt  und 
auf  dem  Heiligenberge  befinden  sich  noch  einige  Kleinig¬ 
keiten  von  ihm  im  Museum  von  Varallo.  Da  sind  zu¬ 
nächst  ein  paar  Überbleibsel  von  den  Fresken,  mit  denen 
er  die  Außeninauer  der  Kapelle  des  Petrus  martyr  in 
der  Nähe  von  Varallo  auf  dem  Wege  zum  val  Mastal- 
lone  geschmückt  hatte:  eine  sehr  beschädigte  heilige  Pe¬ 
tronilla,  die  1887  auf  Leinwand  übertragen  wurde,  der 
Kopf  des  Petrus  Martyr  und  der  eines  schlummernden 
Benediktiuermönches.  —  Sodann  drei  Tafelbildchen,  die 
von  der  Predella  des  aufgelösten  Marienaltares  in  Gatti¬ 
nara  stammen,  mit  den  Halbfiguren  der  Kirchenväter 
Hieronymus,  Augustinus,  Ambrosius.  (Der  vierte,  Gre¬ 
ll  Worin  die  „sonsibile  varietä  di  stile“  bestehen  soll, 
von  der  Bordiya,  Notizde  ...  S.  25  spricht,  weiß  ich  nicht. 
—  ln  den  Opere  del  pittore  e  plasticatore  Gaudenzio  Ferrari 
weist  Bordiga  die  Malereien  gar  der  letzten  Manier  Gau¬ 
denzio’s  zu. 


REMBRANDT’S  „CHRISTUS  PREDIGEND“. 


•273 


gorius,  im  Besitze  des  Bildhauers  Herrn  Cristoforo  Bussi 
in  Varallo.)  —  Ein  Täfelchen  in  Grisaillemalerei  mit 
dem  Martyrium  der  hl.  Katharina  —  ebenfalls  augen¬ 
scheinlich  Teil  einer  Predella  —  und  schließlich  ein 
paar  Handzeichnungen:  der  leicht  zurückgebeugte,  halb 
nach  rechts  gewendete  Kopf  eines  vollbärtigen  Mannes 
(Studie  zum  Kopf  des  Priesters  auf  dem  Jugendbilde 
Gaudenzio’s  der  Vertreibung  Joachims  ans  dem  Tempel 


in  der  Turiner  Pinakothek),  ein  heiliger  Paulus  nach 
links  gewendet,  mit  dem  Schwert  in  der  Rechten  und 
einem  Buche  in  der  Linken  (gleichfalls  eine  frühe  Zeich¬ 
nung)  und  zuguterletzt  eine  spätere,  weicher  und  breiter 
behandelte  Zeichnung  dreier  Bischöfe,  die  das  Schwei߬ 
tuch  Christi  halten. 

Die  Technik  ist  bei  allen  drei  Blättern  dieselbe: 
Tuschzeichnung  auf  dunkeim  Grunde  weiß  gehöht. 

(Schluss  folgt.) 


REMBRANDT’S  „CHRISTUS  PREDIGEND“. 

MIT  ABBILDUNG. 


S  ist  schon  oft  darauf  aufmerksam  ge¬ 
macht  worden,  dass  Rembrandt  in  seinen 
Radirungen  Anregungen  verwertet  hat, 
die  ihm  aus  den  Werken  anderer  Künst¬ 
ler  —  deutscher  und  niederländischer 
sowohl  als  auch  italienischer  —  erwachsen 
sind.  Merkwürdigerweise  hat  aber  noch  niemand  nach¬ 
gewiesen,  dass  auch  sein  weitaus  schönstes  und  vollen¬ 
detstes  Blatt  einer  ähnlichen,  und  zwar  von  Italien 
kommenden  Anregung  seine  Inspiration  verdankt.  Ich 
spreche  hier  von  dem  predigenden  Christus,  B.  67,  — 
auch  heute  noch  im  Sammlerjargon  „Le  petit  La 
Tombe“  genannt,  welche  fast  immer  falsch  verstandene 
Bezeichnung  zu  einer  kuriosen,  absolut  nichtssagenden 
Titelverstiimmelung,  „La  petite  tombe“,  Anlass  gegeben 
hat.  Die  Inspiration  floss  ihm  in  diesem  Falle  aus 
Domenico  Ghirlandajo’s  Fresko,  „Die  Predigt  Johannes 
des  Täufers“  (in  S.  Maria  Novella,  Florenz)  zu,  von 
welchem  die  Arundel  Society  eine  Chromolithographie 
veröffentlicht  hat,  deren  weite  ^Trbreitung  es  noch  sonder¬ 
barer  erscheinen  lässt,  dass  die  evidente  Analogie  bis¬ 
her  nicht  aufgefalleu  ist.  Auf  welche  Weise  dieses 
Fresko  ihm  bekannt  geworden  ist,  wird  sich  wohl  nie 
nachweisen  lassen.  Am  einfachsten  ist  es,  zu  vermuten, 
dass  ein  aus  Italien  zurückgekehrter  Künstler  eine  Skizze 
davon  mitgebracht  habe.  Die  beigegebenen  Nachbildungen 
des  Fresko’s  und  des  Rembrandt’schen  Blattes  machen  die 
Aufzählung  der  Übereinstimmungen  zwar  fast  überflüssig, 
trotzdem  wird  es  aber  geraten  sein,  im  Detail  auf  die¬ 
selben  hinzuweisen. 

Die  Verhältnisse  der  beiden  Darstellungen  sind  sich 
sehr  ähnlich.  Das  Fresko,  dessen  Maße  wohl  durch  den 
zu  füllenden  Raum  geboten  waren,  ist  etwas  länger. 
Rembrandt  hat  ein  wenig  gekürzt  und  schon  dadurch 
eine  geschlossenere  Komposition  erzielt.  Die  Art  der 
Komposition  ist  in  beiden  Bildern  genau  dieselbe.  Es 
ist  die  bekannte  Kreisanlage,  der  in  dem  einen  Falle 
Johannes  der  Täufer,  in  dem  anderen  Christus  zum 


Mittelpunkte  dient.  Eine  Diagonale,  in  beiden  Fällen 
von  der  oberen  linken  nach  der  unteren  rechten  Ecke 
gezogen,  teilt  die  Komposition  in  zwei  Dreiecke,  nur 
ist  bei  Rembrandt  die  Teilung  nicht  ganz  so  auffallend. 
In  beiden  Bildern  ist  der  Hintergrund  links  am  dunkel¬ 
sten,  die  größte  Lichtfülle  im  Hintei’grunde  zeigt  sich 
rechts.  Im  Einklang  mit  der  ganzen  Disposition  fällt 
jedoch  das  Licht  bei  Rembrandt  von  rechts,  während 
es  bei  Ghirlandajo  von  der  linken  Seite  kommt.  Im 
Vordergründe  zeigt  in  beiden  Kompositionen  der  Kreis 
der  Zuhörer  eine  Unterbrechung.  Die  beiden  stehenden 
Figuren,  rechts  bei  Ghirlandajo,  welche  nötig  waren  um 
die  Diagonale  zu  markiren,  sind  bei  Rembrandt  weg¬ 
gefallen,  aber  als  in  der  Komposition  gleichwertige  Masse 
ist  dafür  die  Mauer  mit  dem  Eckpfeiler  eingetreten. 

Alles  dies  betrifft  nur  die  Komposition  in  ihrer 
allgemeinsten  Anlage.  Geht  man  aber  auf  die  einzelnen 
Figuren  ein,  so  werden  die  Analogieen  noch  frappanter. 
Dass  die  beteiligten  Personen  rechts  sich  meistens  als 
sitzend,  links  meistens  als  stehend  bemerkbar  machen, 
dass  die  Position  Christi  bei  Rembrandt  der  des  Jo¬ 
hannes  bei  Ghirlandajo  entspricht,  dass  der  konipositio- 
nelle  Wert  des  feisten  beleuchteten  Pharisäers  links 
ungefähr  dem  des  bei  Ghirlandajo  aus  dem  Hintergründe 
kommenden  Christus  gleich  ist,  —  alles  das  möchte  noch 
als  von  geringerer  Bedeutung  gelten.  Aber  die  Mutter 
mit  dem  Kinde  direkt  im  Vordergründe,  und  der  Greis 
rechts  von  Christus  im  Mittelgründe,  der  freilich  bei 
Rembrandt  zu  dem  unmittelbar  zu  den  Füßen  des  Meisters 
sitzenden  Lieblingsjünger  geworden  ist!  Sollten  alle 
diese  Analogieen  i)urer  Zufall  sein? 

Angesichts  der  beiden  Kompositionen  ist  man 
stark  versucht,  sich  ein  Geschichtchen  zu  ersinnen.  Da 
steht  Rembrandt  und  blättert  mit  einem  eben  aus  Italien 
zurückgekehrteu  Kunstgenossen  dessen  Skizzenbnch  durch 
Besagter  Kunstgenosse  schwelgt  in  Enthusiasmus  über, 
die  Herrlichkeiten  des  schönen  Südens,  und  als  Maler 
natürlich  besonders  über  die  Malerei,  die  so  viel  edler, 


ZeitscLi'ift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  11. 


35 


274 


REMBRANDT’S  „CHRISTUS  PREDIGEND“. 


so  viel  erhabener,  —  mit  einem  AVorte  idealistischer 
ist.  als  die  heimische.  Eembrandt  besieht  sich  eben  die 
Skizze  nach  dem  Ghirlandajo.  und  ein  etwas  sjiöttisches 
Lächeln  fliegt  über  die  breiten  Züge.  ,.Hm!“  meint  er. 
..da  liegt  allerdings  eine  schöne  Idee  drin,  —  aber  — 
wie  wenig  der  —  der  —  sonderliare  Italiener.“  —  aus 
Höflichkeit  gegen  seinen  Freund  wird  er  wohl  „sonder¬ 
bar"  gesagt  haben,  vielleicht  aber  auch,  in  seiner  derben 
nordischen  AVeise,  etwas  anderes!  —  ..aber  wie  wenig 
der  ..sonderbare“  Italiener  daraus  zu  machen  gewusst 
liat!  Du,  —  borg  mir  das  Ding  einmal!  Ich  möchte 
aucli  einmal  versuchen  so  etwas  zu  machen!“  Und  nun 


läuft  er  nach  Hause  und  setzt  sich  hin  in  seine  AA'erk- 
statt.  die  mit  allerlei  krausem  Zeug  stafflrt  ist  und  wo 
seine  Presse  steht,  und.  vielleicht  noch  am  selben  Tage, 
hat  er,  wenigstens  in  ihren  Grundzügen,  die  heriliche 
Komposition  fertig,  die  das  Platt  zum  schönsten,  zum 
reinsten  und  innigst  gefühlten  in  seinem  ganzen  Werke 
macht,  und  die  er  nun  auch  mit  voller  Liebe,  in  wunder¬ 
barer  Anrschmelzung  von  Breite  und  Durchfühiaing,  in 
allen  ihren  Teilen  zu  gleich  glücklichem  Ende  bringt! 

Und  worin  liegt  denn  der  Unterschied  in  deiiAVerken 
des  Italienei'S  und  des  Holländers,  die  sich  beide  so 
gleich  und  doch  so  grundverschieden  sind?  Kurz  ge¬ 
sagt:  —  das  eine  ist  Körper,  —  Form;  das  andere  ist 


Geist,  —  Seele,  —  Gemüt,  —  wie  man  den  Begriff 
auch  formuliren  wolle.  Es  offenbart  sich  in  diesen 
beiden  AATrken  der  ganze  Unterschied  zwischen  der 
südlichen  und  der  nordischen  Natur,  und  sollte  der  hier 
erreichte  eklatante  Ausdruck  dieses  fundamentalen  Unter¬ 
schiedes  dem  Zufall  seine  Entstehung  verdanken,  so 
würde  das  —  angesichis  der  oben  angedeuteten  merk¬ 
würdigen  Analogieen  —  fast  noch  wunderbarer  sein,  als 
unter  den  hypothetisch  angenommenen  Umständen. 

ln  Ghirlandajo’s  Bilde  mangelt  die  Einheit,  —  die 
äußere  sowohl,  als  auch  die  innere.  Auf  die  AALahrscheinlich- 
keit  ist  gar  nicht  geachtet,  —  nur  die  ,.Scliönheit“  ist 


überall  herrschend.  „Schöne“  Frauen,  „schöne“  Greise, 
„schöne“  Gebärden,  „schöne“  Gruppen,  aber  jedes  einzelne 
auf  sich  gestellt,  ohne  wirkliches  geistiges  Centrum,  — 
ein  kalter  Idealismus,  der  stückweise  das  Auge  be¬ 
friedigen  mag,  aber  als  Ganzes  das  Herz  kalt  lässt. 
Dagegen  Eembrandt!  1  )ie  A^eränderung  des  Lokals  — 
aus  welch’  letzterem  der  Holländer  freilich  alles  ge¬ 
macht  hat,  was  sich  nur  machen  ließ  —  dürfen  wir 
ihm  nicht  zu  hoch  anrechnen.  Johannes  der  Täufer  hat, 
der  biblischen  Legende  nach,  nicht  in  solchen  Stadt¬ 
winkeln  gepredigt,  wie,  wahrscheinlicher  AA^eise,  Christus. 
Dagegen  dürfen  wir  auch  mit  Ghirlandajo  nicht  zu 
scharf  rechten,  weil  er  Landschaft  und  Beleuchtung  nicht 


C'hristns  predigend  (Le  petit  la  Tombe);  Radiriing  von  (B.  67). 


.ü:t  J(i]i;uines  des  Tilutei’s;  Fresco  in  Sa.  Mai'ia  Novella  in  Floren/,  von  GhiüIjAXDA.jo. 


KAISER  WILHELM -DENKMALS -KONKURRENZ  ZU  AACHEN. 


275 


zu  bewältigen  wusste,  —  sein  Werk  ist  ja  an  die  zwei¬ 
hundert  Jahre  älter  als  das  Rembrandt’s!  Aber  der 
Geist,  der  Geist,  der  die  ganze  Komposition  durclidringt! 
Die  geschlossene  Lichtwirkung  ist  nur  ein  äußeres 
Zeichen  der  geschlossenen  geistigen  Wirkung.  Keine 
„Schönheit“  hier,  —  lauter  hässliche,  teilweise  sogar 
verkommene  Gestalten  und  Gesichter,  —  aber  wie  sie 
alle  bei  der  Sache  sind,  und  wie  die  Wirkung  der  Rede 
Christi  in  allen  möglichen  Abstufungen  in  ihnen  zum 
Ausdruck  kommt,  —  natürlich,  ungezwungen,  nicht  mit 
der  Ostentatioii  der  Gestalten  des  Italieners,  sondern  als 
ob  mittelst  einer  Art  geistiger  Momentphotographie  alle 
die  Seelenregungen  der  Zuhörenden,  ihnen  unbewusst, 
fixirt  worden  seien,  während  die  Körpergerüste  nur 
flüchtiger  angedeutet  sind!  Bei  Ghirlandajo  sehen  wir 
eine  elegante  Gesellschaft,  die  dem  Vortrage  eines 
fashionablen  Schöngeistes  mit  nicht  gar  zu  gespannter 
Aufmerksamkeit  zuhört  und  sich  nicht  einmal  scheut 
seine  Worte  noch  während  des  Vortrages  zu  kritisiren, 
—  bei  Rembrandt  haben  wir  eine  Versammlung  der 
„Enterbten“,  die  mit  Inbrunst  die  Worte  verschlingen, 
welche  ihnen  Erlösung  verheißen,  versetzt  mit  einer 
Zutliat  von  Grüblern  und  Zweiflern  und  Verächtern. 
Es  giebt  einen  Abdruck  dieses  Blattes,  auf  dem  ein 
früherer  Besitzer  den  Kreisel  des  Kindes  im  Vorder¬ 
gründe  wegradirt  hat,  wohl  weil  dem  —  sagen  wir 
„sonderbaren“  Manne  diese  Beigabe  dem  hehren  Thema 
nicht  angepasst  schien!  Auch  Ghirlandajo  hat  in  dem 
Kinde  einen  realistischen  Zug  anbringen  wollen,  —  es 
langweilt  sich  und  fängt  an  zu  heulen.  Das  arme  Kind 
der  „Enterbten“  dagegen  ist  es  gewohnt,  sich  selbst 
überlassen  zu  sein.  Es  spielt  ganz  ruhig  für  sich,  un¬ 
bekümmert  um  die  welterschütternden  Worte,  die  über 
es  dahinbrausen,  und  man  meint  fast,  man  höre  es 
nach  Kinderart  vergnüglich  gröhlen ,  während  es ,  auf 
dem  Bauche  liegend,  mit  seinem  Fingerchen  in  den  Straßen¬ 
staub  zeichnet. 


Vielleicht  wird  man  sagen,  dass  auch  eine  solche 
Entgegenstellung  eines  Italieners  des  15.  und  eines 
Holländers  des  17.  Jahrhunderts  nicht  gerechtfertigt  sei, 
eben  des  Zeitunterschiedes  wegen.  Aber  der  Einwurf 
ist  nicht  stichhaltig.  Die  Italiener  waren  den  Nord¬ 
ländern  weit  voraus  in  der  intellektuellen  Entwicklung, 
und  trotzdem  haben  sie  im  weiterem  Verlaufe  der  Zeit 
nichts  zu  Tage  gefördert,  was  sich  in  tiefem  Gemüts¬ 
drange  mit  den  Niederländern  vergleichen  ließe,  — 
weder  die  römische  Schule,  noch  die  Venetianer,  noch 
die  neapolitanischen  „Realisten“,  oder  nun  gar  die  Eklek¬ 
tiker.  Will  man  Gemüt,  oder  wenigstens  Naivetät  haben, 
so  muss  man  auf  die  Primitiven  zurückgeheu.  Später 
ist  alles  äußerlich  und  selbstbewusst. 

Damit  ist  jedoch  gar  nicht  gesagt,  dass  wir  den 
Drang  nach  äußerer  Schönheit  nicht  besäßen,  dass  wir 
uns  nicht  alle  nach  dem  sonnigen  Süden  sehnten,  und 
dass  wir  seine  Formen-  und  Farbenpracht  nicht  zu 
würdigen  wüssten.  Aber  die  nordische  Natur  kehrt  sich 
immer  wieder  gern  nach  innen,  und  sie  fühlt  sich  daher 
immer  und  immer  wieder  angeheimelt  von  den  tiefge¬ 
fühlten,  wie  von  innen  heraus  leuchtenden  „hässlichen“ 
Gestalten  eines  Rembrandt.  Bei  dem  Italiener  haben 
wir  „die  Kunst  um  der  Kunst  willen“,  bei  dem  Hol¬ 
länder  die  Kunst  als  Ausdrucksmittel  geistiger  Regungen 
—  darin  liegt  das  Geheimnis  —  ein  offenbares,  freilich, 
aber  heutzutage  wiederum,  wie  es  scheinen  möchte,  für 
die  Meisten  ein  unergründliches. 

Und  Rembrandt?  Brannte  in  ihm  immer  das  reine 
Feuer,  das  uns  aus  seinem  predigenden  Christus  ent¬ 
gegen  leuchtet?  Vergessen  wir  nicht,  dass,  wie  Homer 
manchmal  schläft,  so  auch  Rembrandt  manchmal  felil- 
greift,  recht  oft  willkürlich  ist,  und  dann  und  wann 
leider  noch  schlimmere  Sünden  begeht.  Augen  offen 
und  Zunge  frei,  —  selbst  in  der  Bewunderung! 

S'.  R.  KOEHLER. 


KAISER  WILHELM  -  DENKMALS-  KONKURRENZ 

ZU  AACHEN. 


jS  das  Preisausschreiben  für  das  National¬ 
denkmal  Kaiser  Wilhelms  I.  in  Berlin 
erging-,  war  bei  der  Größe  der  Mittel 
und  der  Bedeutung  des  Denkmals  ein 
außerordentlicher  Reichtum  an  Entwür¬ 
fen  zu  erwarten.  Aber  die  Thatsachen 
entsprachen  dieser  Erwartung  nicht.  Es  herrschte  eine 
erschreckende  Gleichförmigkeit  in  der  Hauptform.  Wenn 
man  seitdem  die  Reihe  von  Konkurrenzen  betrachtet, 
welche  von  Provinzialstädten  ausgeschrieben  wurden  zur 


Erlangung  eines  Kaiser  Wilhelm-Denkmals,  so  erscheint 
jene  große  Konkurrenz  noch  als  eine  außerordentlich 
resultatvolle.  Es  ist  unleugbar,  dass  mit  der  zunehmen¬ 
den  Zahl  der  Konkurrenzen  um  ein  Kaiser  Wilhelm- 
Denkmal  diese  Einförmigkeit  in  den  Kompositionsmotiven 
immer  erdrückender  sich  zeigt,  die  nur  selten  von  Pro¬ 
jekten  wie  das  von  Bruno  Schmitz  u.  a.  unterbrochen  wird. 
Immer  dies  Normalschema,  der  Kaiser  zu  Pferde,  auf 
reich  ornamentirtem  Sockel,  vorne,  oder  nach  Maßgabe 
der  .verfügbaren  Mittel  auch  an  beiden  Seiten  oder  an 

35* 


276 


KAISER.  WILHELM-DENKMALS-KONKURRENZ  ZU  AACHEN. 


vier  Seiten  allegorische  Grestalten.  Zuweilen  wird  auch 
das  Ganze  auf  einen  Stufenbau  gestellt,  von  den  vier  Ecken 
Postamente  vorgeschoben  und  darauf  nach  Bedarf  alle¬ 
gorische  Tiere  oder  Menschen  errichtet,  wenn  man  es  nicht 
vorzieht,  vier  Reiterstatuen  dort  anzubriugen.  Das  ist 
das  Schema  Begas,  das  Schema  Siemering  u.  s.  w. 

So  folgt  natürlich  auch  in  Aachen  die  Majorität  der 
eiügesandten  Entwürfe  einem  der  vorgenannten  Schemata. 
Nur  einer  entfernt  sieh  völlig  davon  und  folgt  der  Bahn, 
die  man  längst  in  Frankreich  bei  neueren  Denkmälern,  ein¬ 
geschlagen  hat.  Statt  des  architektonischen  Aufbaues, 
der  sjnnmetrischen  Gruppirung  bringt  er  eine  malerische 
Darstellung,  die  rein  plastisch  komponirt  ist.  Der 
Schöpfer  dieses  Entwurfes  ist  Professor  Maison  aus 
München,  der  bedeutendste  Vertreter  des  malerischen 
Stiles  und  der  Polychromie  in  der  neuen  deutschen 
Plastik. 

Das  Denkmal  soll  in  Aachen  auf  dem  belebtesten 
öffentlichen  Platze  umnittell»ar  vor  dem  in  strengen 
Schinkelformen  aufgeliauten  Stadttheater  errichtet  wer¬ 
den.  Es  rückt  so  nahe  an  dieses  heran,  dass  das  Ge¬ 
bäude  mit  seiner  Säulenhalle  als  Hintergrund  benutzt 
werden  kann,  da  zwischen  Denkmal  und  Theater  nur 
eine  nicht  zu  breite  Durchfahrt  bleibt.  Günstiger  kann 
ein  Platz  kaum  dafür  gefunden  werden.  Maisou  hat  dem 
Konkurrenzprogramm  gemäß  vorläuffg  eine  Gesanitskizze 
im  Maßstabe  1  :  20  und  eine  Detaildarstellung  des 
Kaisers  im  Maßstabe  1 :  5  gegeben.  Er  denkt  sich  das 
bisher  vorhandene  elliptische  Boscpiet  vor  dem  Theater 
ersetzt  durch  ein  Wasserljecken.  Am  hinteren  Rande 
desselben  unmittelbar  gegen  das  Theater  sich  absetzend, 
steht  ein  mächtiger,  rechteckiger,  geradwandiger  Marmor¬ 
block  und  auf  ihm  die  Reiterstatue  des  Kaisers.  Der 
Marmorblock  zeigt  nur  auf  der  Vorderseite  eingravirt 
den  Namenszug  Kaiser  Wilhelms  in  einem  Strahlenglanze, 
verzichtet  sonst  aber  auf  jede  architektonische  Durch¬ 
bildung  und  lenkt  also  den  Blick  des  Beschauers  in 
keiner  Weise  von  der  Hauptsache,  nämlich  dem  Kaiser¬ 
bildnisse,  ab.  Das  Wasserbecken  davor  ist  stark  ausge¬ 
tieft,  so  dass  der  Beckenrand  nur  flach  und  wenig  sich 
erhebend  über  das  Niveau  des  Platzes  hervortritt.  Er 
stört  somit  nicht  die  Architektur  und  beeinträchtigt 
nicht  den  Blick  auf  das  Denkmsl  selbst.  Der  Grund 
des  Beckens  ist  mit  Felsblöcken  in  Naturform  bedeckt, 
die  zum  Teil  aus  dem  Wasserspiegel  hervorragen 
und  Höhlen,  von  Wasserpflanzen  überwuchert,  bilden. 
Zur  Linken  auf  einem  erhöhten  Felsblock  steht  die 
prächtige  Kraftgestalt  Siegfrieds  des  Drachentöters, 
eine  symbolische  Andeutung  der  Heldenthaten,  die  unter 
des  alten  Kaisers  Führung  Preußen  und  Deutschland 
geleistet.  Zu  seinen  Füßen  liegt  auf  den  Rücken  ge¬ 
wälzt  das  erlegte  Untier,  dessen  mächtiger  Bronzekopf 
über  den  Beckenrand  hinüberreicht.  Halb  vom  Wasser 
bedeckt  würde  der  in  farbiger  Bronze  gedachte  Körper 
des  Untiers  mit  seinem  im  Lichte  spiegelnden  hellen 


Unterleib  und  seinen  in  der  Flut  verschwindenden  dunk¬ 
leren  Rückenpartieen  höchst  malerisch  wirken.  Im  rechten 
Teile  des  Beckens,  etwas  mehr  nach  vorne  gerückt,  sehen 
wir  im  wirbelnden  Reigentanz  die  Rheintöchter  auf¬ 
tauchen  und  eine  güldene  Krone  eniporheben.  Es  ist 
das  eine  reizvolle  Anspielung  auf  die  Dichterworte:  „Es 
liegt  eine  Krone  tief  unten  im  Rhein!“,  und  doch  in 
der  Art  der  Ausführung  ist  es  mehr  als  eine  Illu¬ 
stration  eines  Liedes,  ist  es  nicht  nur  ein  poetischer, 
sondern  auch  ein  hervorragend  künstlerischer  Gedanke, 
aus  der  Flut  des  Beckens  die  drei  schlanken  Bronze¬ 
gestalten  auftauchen  zu  lassen.  Man  denke  sich  das 
spiegelnde  Wasser,  die  mannigfaltig  patinirten  Bronze¬ 
gestalten,  die  tonigen  Blöcke  der  Felsen,  und  man  hat 
ein  den  Platz  außerordentlich  belebendes  Bild  vor  Augen. 
Und  doch  ist  es  so  komponirt,  dass  es  fast  in  der  Fläche 
bleibt,  nur  links  und  rechts  zu  beiden  Seiten  eine  Stei¬ 
gung  in  der  Linie  zeigt  und  in  der  Mitte  vor  allem  die 
Hauptsache,  die  Kaisergestalt  völlig  frei  lässt. 

Die  Kaiserfigur  selbst  ist  ebenso  eigenartig  und 
selbständig  empfunden,  wie  die  ganze  Komposition.  Das 
Pferd  steht  fest  und  ruhig;  vielleicht  ist  der  Künstler 
über  die  endgültige  Gestaltung  desselben  noch  nicht 
ganz  entschieden,  denn  auf  der  Skizze  wenigstens  zeigt 
dasselbe  eine  andere  Bewegung  als  auf  dem  größeren 
Modell.  Ein  Meister  der  Pferdebildnerei,  wie  Maison, 
wird  aber  gerade  hier  ohne  Mühe  das  richtige  finden 
bei  der  Ausführung  des  Hauptmodells.  Der  Kaiser  ist 
so  schlicht  und  einfach  gehalten  wie  nur  irgend  denk¬ 
bar,  und  doch  verschmäht  Maison,  ihn  in  gewöhnlich 
realistischem  Sinne,  nur  in  Helm  und  Waffenrock  etwa 
darzustellen.  Zwar  trägt  er  die  Uniform  mit  dem  Bande 
des  Adlerordens,  aber  um  die  Schultern  ist  ein  Hermelin 
gelegt,  der  in  schlichter  ruhiger  Linie  nur  der  Gestalt 
die  nötige  Breite  giebt,  auf  der  rechten  Seite  herabfällt 
und  von  hier  aus  gesehen  der  Figur  etwas  mächtiges, 
Säulenhaftes  verleiht.  Die  linke  Hand  ist  gehoben  und 
fasst  ruhig  den  Zügel,  die  rechte  sinkt  lose  und  lässig 
herab  und  berührt  leicht  die  Satteldecke.  Auf  dem  in 
knappen,  aber  starken  Formen  geschnittenen  Körper 
sitzt  der  wundervolle  Greisenkopf  unseres  alten  Kaisers, 
dessen  künstlerische  Schönheit  Maison  in  hervorragendem 
Maße  erkannt  und  hier  verwertet  hat.  Um  die  hohe 
schön  geformte  Stirn  schlingt  sich  ein  feines  Lorbeer¬ 
reis.  Der  Blick,  der  Ausdruck  der  Züge  zeugt  von  Ruhe, 
Festigkeit  und  zugleich  von  jener  stillen  Bescheidenheit, 
die  die  schönste  Zierde  des  ehrwürdigen  Fürsten  war. 
Es  ist  eine  wunderbare  Mischung  von  Wirklichkeit, 
feiner  seelischer  Beobachtung  und  Kenntnis  dieses  Mannes 
und  doch  leisem  Anklingenlassen  idealisirender  Elemente. 
Man  darf  nach  der  Skizze  überzeugt  sein,  dass  hier 
wirklich  ein  hervorragendes  Denkmal  dieses  Fürsten  ent¬ 
steht,  das  uns  die  Wahrheit  der  äußeren  Form,  die 
Schönheit  der  Seele  und  dieses  Ganze  in  einem  gewissen 
Hauche  der  Verklärung,  um  nicht  zu  sagen  Idealisirung 


Reiterstatoe  des  Entwurfs  zum  Kaiser  Wilhelm -Denkmal  in  Aachen  von  Prof.  R.  Maison  in  München. 


■  i'»  ;  ■  .... 


if  -t 


■■  “l..-  ■  >'S' 
.;  1 1‘..  .'  ' 


KAISER  WILHELM-DENKMALS-KONKURRENZ  ZU  AACHEN. 


277 


giebt.  Wenn,  wie  zu  hoffen  und  wohl  auch  zu  erwarten 
ist,  da  es  unter  den  drei  preisgekrönten  in  erster  Linie 
genannt  wurde,  dieses  für  Aachen  zur  Ausführung 
kommt,  so  darf  Berlin  mit  seinem  Begas’schen  Fanfaren¬ 
denkmal  neidvoll  auf  die  Stadt  im  fernsten  Rheinlande 
hinl)licken. 

Unter  den  preisgekrönten  Entwürfen  befindet  sich 
des  weiteren  einer  von  Schaper,  den  Kaiser  in  Helm 
und  Mantel  zu  Pferde  auf  einem  Sockel  mit  beiderseits 
je  drei  allegorischen  Figui-en,  ganz  nach  dem  Schema, 
darstellend.  Ein  im  Linienaufbau  ganz  tüchtiges, 
aber  hervorragend  langweiliges  Werk.  Ganz  ähn¬ 
lich  in  der  Komposition  ist  der  Entwurf  von  Emil 


Kauer ,  der  aber  in  der  Reitergestalt  weniger  Reflexion 
und  mehr  natürliche  Empfindung  aufweist,  etwas  Monu¬ 
mentaleres  und  Kraftvolleres  dem  Kaiser  zu  geben  weiß, 
als  der  saftlose  Schaper’sche  Entwurf  bietet.  Preis¬ 
gekrönt  ist  auch  ein  Entwurf  von  Clemens  Buscher 
aus  Düsseldorf,  der  nett  und  gefällig  im  Gedanken,  doch 
etwas  zu  spielerisch  und  zu  kleinlich  für  die  weitere 
Durchführung  erscheint.  Der  Kaiser,  in  Hermelin  und 
Kaiserkrone  und  allen  Prunk  des  Kaisertums  gekleidet, 
erhebt  das  mächtige  Reichsschwert  und  ist  demgemäß 
auf  ein  kolossales,  etwas  zu  kolossales  Ross  gesetzt. 
Zur  rechten  Seite  des  Sockels  sitzt  Karl  der  Große,  zur 
linken  hat  sich  von  seinem  Thronsessel  Friedrich  Bar¬ 
barossa  erhoben  und  blickt  fragend  zum  neuen  Herrn 


des  neuen  Reiches  empop.  Dies  letztere  Motiv  dürfte 
die  Ausführung  unmöglich  machen,  da  nicht  wohl  eine 
historisch  so  bedeutsame  Gestalt  auf  dem  Denkmal  in 
einer  nichtssagenden  genrehaften  Haltung  gegeben  wer¬ 
den  kann. 

Auch  Hundrieser-Berlin  hat  sich  mit  drei  Entwürfen 
beteiligt.  Einmal  stellt  er  den  Kaiser  einfach  in  WaÖen- 
rock  und  Helm  zu  Pferde  auf  einem  schweren  Sockel 
dar,  den  in  abgefiachtem  Halbkreise  Marmorbänke  um¬ 
schließen.  Gegen  dieses  Denkmal  ließe  sich  höchstens 
einwenden,  dass  es  für  die  hiesigen  Verhältnisse  viel¬ 
leicht  zu  einfach  behandelt  und  die  Marmorbänke  doch 
höchstens  von  einigen  Arbeitsscheuen  nächtlich  benutzt 


werden  dürften.  Sein  zweiter  Entwurf  zeigt  den  Kaiser 
wieder  in  vollem  Krönungsoruat,  in  welcher  Erscheinung 
er  jedem  historisch  Empfindenden  immer  etwas  Befrem¬ 
dendes  haben  muss.  Links  und  rechts  sind  auf  geson¬ 
derten  Postamenten  Kaiser  Karl  und  Kaiser  Barbarossa 
sitzend  dargestellt.  Gegen  solche  wie  zufällig  angereihte 
Sonderdenkmale  wird  man  heute  eine  leicht  ei'klärliche 
Antipathie  besitzen.  Auf  dem  zweiten  Sockelentwurfe 
ist  in  einer  Sockelnische  die  Kaiserkrone  dargestellt,  vor 
der  ein  gewaffneter  Germane  die  Wacht  hält.  Wäre  die 
übrigens  höchst  schwungvoll  und  mächtig  behandelte 
Kaisergestalt  nicht  mit  diesem  Tlieaterornate  ausgeputzt, 
sondern  wie  auf  dem  kleinen  Entwürfe  einfach  im  Mantel 
dargestellt,  so  würde  das  an  sich  vielleicht  das  an- 


Eutwurf  zum  Kaiser  Wilhelm-Denkmal  in  Aachen  von  Prof.  R.  Maison  in  München. 


280 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


der  letztere  erst  von  Varignaini  vollendet  und  falsch 
anfgestellt  ist,  können  sich  nicht  mit  den  Genesisreliefs 
an  Bedeutung  messen,  eher  ein  zweites  unvollendet  in 
Bologna  zurückgehliebenes  Werk,  das  Grabmal  Benti- 
voglio(Varj  l  in  8.  Giacomo,  mit  zwei  flüchtig  behandelten 
Eeliefs,  einer  Madonna  und  einem  lil.  Georg,  in  denen 
Cornelius  einen  sinnigen  Stimmungsaccord  empfindet. 

In  dem  letzten  Abschnitte  „Rückblick  und  Aus¬ 
blick”  entwickelt  Cornelius  die  Stellung  Quercia’s  im 
Rahmen  der  Renaissance -Bewegung  mit  einer  Klarheit 
und  Ruhe,  die  für  denjenigen,  welcher  diesen  Fragen 
selbst  nachgegrübelt  hat,  unnatürlich  erscheint.  Wo 
wir  noch  voll  Unsicherheit  im  schwankenden  Kahn  gegen 
die  bewegte  See  ankämpften,  da  schaukelt  die  Generation, 
der  Cornelius  angehört,  bereits  in  i'uhigem  Selbstgefühl 
auf  glatter  Fläche.  Biesen  beneidenswerten  Zustand 
hat  der  Autor  seinem  Ijehrer  Heinrich  Wölfflin  zu 
danken.  Bas  sind  goldene  Sätze,  die  da  stehen  und 
unser  eigenes  Glaubensbekenntnis  aussiirechen:  Der  Sinn 
für  das  AVesentliche,  das  Körper inotiv  im  großen  und 


das  Verhältnis  der  Figur  zum  Raum  ist  kein  durch¬ 
gehendes  Merkmal  der  ganzen  Renaissance;  nur  drei 
Übergangsmeistern,  Masaccio,  Quercia  und  Bonatello 
und  auf  der  anderen  Seite  den  Heroen  der  Blütezeit  ist 
er  eigen.  Baraus  erklärt  sich,  dass  der  sonst  so  schrotf 
ablehnend  an  den  Quattrocentisten  vorübergehende 
Michelangelo  gerade  ihren  frühesten  Meistern  Bonatello 
und  Quercia  Kinfluss  auf  sein  Schäften  gestattet,  lilan 
denke  sich  die  Art  dieser  beiden  weiter  entwickelt,  den 
Bogen  ül)erspannt,  so  ist  eine  Kunst  daraus  geworden, 
die  eine  Vorahnung  des  Barock  bedeutet.  Michelangelo 
übernimmt  gleichsam  das  Erbe  dieser  latenten  Kräfte 
und  fortbildungsbedürftigen  Formen,  welche  das  spätere 
Quattrocento  unberücksichtigt  gelassen  hatte. 

Es  hat  mir  keine  Mühe  gemacht,  den  Inhalt  von 
Cornelius’  Buch  mit  seinen  eigenen  Worten  zu  skizziren: 
w'as  er  Wesentliches  vorbringt,  kann  nicht  besser  ge¬ 
sagt  wei’den,  und  Nebendinge  gehören  überhaupt  nicht 
hierher.  J.  STBZYGOWSKI 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


*  Sfeiiijielscliiicider  in  Damaskus.  Nach  dem  Cemälde 
von  Max  h’ahcs,  radirt  von  F.  Krostorit' .  Seit  dem  Tode 
von  Wilhelm  Gentz,  der  länger  als  ein  Menschenalter  hin¬ 
durch  auf  dem  Gebiete  der  Orientmalerei  nicht  nur  in  Berlin, 
sondern  in  ganz  Deutschland  der  Herrscher  und  Führer  ge¬ 
wesen  war,  ist  unter  den  Jüngeren  keiner  so  würdig  und 
fähig,  an  seine  Stelle  zu  treten,  wie  der  Künstler,  dessen 
sonnige  Straße  in  Damaskus  mit  dem  bärtigen  StempeT 
schneider  Krostewitz  mit  glücklicher  Erfassung  der  Tonwerte 
und  mit  einer  Schärfe  der  Nadelführung  radirt  hat,  die  den 
keck  alles  Charakteristische  herausholenden  Pinselstrichen 
des  Malers  völlig  adäcpiat  ist.  Max  Rabes  ist  trotz  emsiger 
'fhätigkeit  über  Berlin  hinaus  noch  wenig  bekannt  ge¬ 
worden.  Nur  eines  seiner  Gemälde,  ein  Handel  zwischen 
drei  Arabern  um  eine  Damaszener  Schwertklinge,  ist  in  eine 
öffentliche  Sammlung,  in  das  Museum  zu  Schwerin,  über¬ 
gegangen.  Mit  unserem  Bilde  und  der  1897  vollendeten 
,, Klagemauer  in  Jerusalem“  mit  sieben  fast  lebensgroßen 
Figuren  bildet  jener  arabische  Schwerthandel  bis  jetzt  den 
Höhepunkt  im  Schaffen  des  Künstlers.  Wie  Wilhelm  Gentz 
ist  er  aber  nicht  bloß  Genre-  oder  richtiger  Charaktermaler 
und  Ethnograph  —  auch  die  orientalische  Landschaft  mit 


ihren  Architekturen  nimmt  sein  volles  Interesse  in  Anspruch, 
und  von  Jahr  zu  Jahr,  seit  1887,  wo  er  mit  der  Ausbeute 
seiner  ersten  Reise  in  die  Öffentlichkeit  trat,  gewinnt  sein 
Kolorit  an  Reichtum,  Geschmeidigkeit  und  Vielseitigkeit  des 
Ausdrucks.  Am  17.  April  1868  zu  Samter  in  der  Provinz 
Posen  geboren,  ist  Rabes  schon  im  Alter  von  fünfzehn  Jahren 
nach  Berlin  gekommen.  Die  Akademie  hat  er  nur  kurze 
Zeit  als  Hospitant  besucht;  seine  erste  künstlerische  Aus¬ 
bildung  verdankt  er  mehr  dem  Unterricht  des  Landschafts¬ 
und  Architekturmalers  Paul  Graeb,  dem  Sohne  Karl  Graebs. 
Als  dessen  Schüler  machte  Rabes  seine  erste  Studienreise  nach 
dem  Moselthal,  der  bereits  1887  seine  erste  Fahrt  gen  Süden 
und  Osten  folgte,  die  er  unter  großen  Schwierigkeiten  und 
Entbehrungen  bis  nach  dem  wirklichen  Orient  ausdehnte. 
Seitdem  hat  er  noch  fünf  Orientreisen  gemacht,  die  ihm 
eine  umfassende  Kenntnis  Ägyptens,  Syriens,  l’alästinas, 
Kleinasiens  und  Konstantinopels  verschafft  haljen.  Kaum 
dreißig  Jahre  alt  hat  Rabes,  dessen  Laufbahn  keineswegs 
durch  äußere  Glücksumstände  geebnet  worden  ist,  jene 
Zähigkeit  und  Energie  bewiesen ,  die  die  beste  Gewähr  für 
eine  weitere  Entwicklung  in  einer  gesunden  Richtung  leisten. 

-1.  B. 


Herausgeber:  CarZ  von  lAitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


STEMPELSOHNEIDER  IN  DAMASKUS 


DIE  ELFENBEINPLASTIK 

AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897. 

VON  PROFESSOR  DR.  I).  JOSEPH. 


EITAB  vom  verwirreiulen  Getriebe  der 
eigentlichen  Weltausstellung'  in  der  Nähe 
des  in  idyllischer  Ruhe  gelegenen  Dorfes 
Tervuren  hat  der  mächtig  aufstrebende 
Kongostaat  eine  interessante  Soiider- 
ausstellung  organisirt.  Was  wir  dort 
finden,  ist  in  mehr  als  einer  Beziehung  ungemein  be¬ 
merkenswert.  Ganz  abgesehen  von  der  vielseitigen  In¬ 
dustrie  des  jungen  Staatswesens  nimmt  unser  dauerndes 
Interesse  in  Anspruch,  was  in  kulturhistorischer,  speciell 
anthropologischer  Hinsicht  zum  Ausdruck  gelangt  ist, 
und  es  wäre  wünschenswert,  dass  diese  Seite  von  kom¬ 
petenten  Fachleuten  einmal  einer  eingehenden  Würdigung 
unterzogen  würde. 

Die  rührige  Verwaltung  des  Kongostaates,  dessen 
Geschicke  durch  die  weise  Einsicht  König  Leopolds  II. 
in  humanitärem  Sinne  geleitet  werden,  hat  sich  aber 
auch  der  edlen  Erkenntnis  nicht  verschlossen,  dass  die 
Größe  eines  Staates  in  vorderster  Reihe  durch  den  Grad 
seiner  Kunstübung  erkennbar  ist.  Demzufolge  haben 
die  maßgebenden  Faktoren  nichts  unversucht  gelassen, 
um  hervorragende  Künstler  dazu  anzuhalten,  ihre  Fähig¬ 
keiten  in  den  Dienst  des  neuen  Unternehmens  zu  stellen, 
insofern  es  sich  darum  handelte,  die  im  Kongoland  vor¬ 
handenen  Materialien,  als  Elfenbein,  Erz,  Holz  etc.,  zu 
künstlerischen  Formen  zu  verarbeiten. 

Dieser  Versuch,  dessen  Anfänge  bereits  auf  der 
Antwerpener  Ausstellung  vom  Jahre  1893  vielver¬ 
heißend  w'aren,  ist  besonders  der  Munificenz  des  Königs 
zu  verdanken,  der  das  kostbare  Elfeubeinmaterial  den 
Künstlern  unentgeltlich  zur  Verfügung  stellte,  sodann 
der  glücklichen  Initiative  des  Staatssekretärs  Edmond 
van  Eetvelde.  Die  Bemühungen  dieses  hohen  Beamten 
waren  von  außerordentlichem  Erfolge  gekrönt,  und  wenn 
wir  heute  den  Ehrensaal  der  Brüsseler  Kongoausstellung 
durchschreiten,  so  müssen  wir  gestehen,  dass  er  hier 
sichtlich  eine  Kunst  zum  Aufblühen  gebracht  hat,  deren 
beste  Zeiten  man  längst  vorübergegangen  wähnte,  und 
deren  Renaissance  wir  nunmehr  mitfeiern  dürfen. 

Ja,  es  gab  Zeiten,  in  denen  die  Elfenbeinkunst  in 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  12. 


weit  ausgedehnterer  Weise  die  ihr  zukommende  Wert¬ 
schätzung  erfuhr,  als  dies  heute  der  Fall  ist,  und  es 
sei  mir  gestattet,  nur  kurz  auf  die  Hauptepochen  der 
Pflege  der  Elfenbeiukunst  hinzuweisen.  Die  alten 
Völker  des  Orients,  die  Ägypter  und  Mesopotamier  be¬ 
dienten  sich  des  Elfenbeins  vorzugsweise  zur  Herstellung 
kunstindustrieller  Gegenstände;  noch  heute  werden  alte 
Elfenbeinstücke  aus  dem  freigebigen  Boden  der  alten 
assyrischen  Köuigsschlösser  ans  Tageslicht  gefördert. 
Dass  die  Elfenbeinkunstübung  auch  der  sog.  mykenischeu 
Epoche  nicht  fremd  war,  ist  uns  durch  die  Ausgralningen 
der  letzten  Jahrzehnte  klar  geworden,  aber  auch  ohne 
dies  hätten  wir  es  wissen  können  und  haben  es  in  der 
That  gewusst,  da  uns  die  Homerischen  Gedichte,  die 
den  Elefanten  als  solchen  zwar  nicht  kennen,  anschau¬ 
liche  Schilderungen  von  Elfenbeinarbeiten,  so  z.  B. 
Schwert-  und  Schlüsselgriffen,  gewähren.  Hierbei  seien 
auch  die  berühmten  von  Pausanias  beschriebenen  einge¬ 
legten  Arbeiten  der  Lade  des  Kypselos  erwähnt. 

Die  höchste  Blüte  erlebte  die  Elfenbeinkunst  im 
historischen  Griechenland  und  besonders  im  goldenen 
Zeitalter  des  Perikies  zu  jener  Zeit,  da  Phidias 
sich  dieses  bildsamen  Materials  bemächtigte,  um  die 
Götter  der  Griechen  zu  formen.  Wer  kennt  nicht  das 
Goldelfenbeinbild  des  olympischen  Zeus,  den  Haupt¬ 
anziehungspunkt  der  kunstgeschmückten  Altis,  wer  hat 
nicht  von  der  Statue  der  Athena  Parthenos  auf  der  Burg 
zu  Athen,  die  in  deren  Tempel  aufgestellt  war,  wenigstens 
sprechen  hören?  Wohl  kann  ich  mir  nicht  vorstellen, 
dass  es  jemals  zu  ähnlichen  gewaltigen  Schöpfungen 
kommen  könne,  weil  der  Gegenstand  der  Darstellung  fehlt; 
aber  noch  giebt  es  Heiligenbilder  und  Porträtbüsten 
sowie  ein  ganzes  Heer  von  bescheideneren  Gegenständen, 
an  denen  diese  Kunst  mit  Glück  geübt  werden  kann, 
wie  gerade  aus  ihrer  Reihe  die  Skulpturensammlung 
der  Kongoausstellung  markante  Beispiele  gewährt. 

Die  Römer,  besonders  zur  Zeit,  da  sie  sich  auf  dem 
Gipfel  ihrer  Macht  befanden,  bedienten  sich  mit  Vorliebe 
des  Elfenbeins  zu  kunstgewerblichen  Zwecken,  ja,  sie 
schnitzten  ganze  massive  Füße  zu  Tischen  und  Betten. 

30 


282  DIE  ELFENBEINPLASTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897. 


Sehr  beliebt  waren  die  Diptychen,  Schreibtäfelchen, 
aus  Elfenbein;  von  ihnen  hat  sich  eine  ganze  Reihe 
erhalten.  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auch  gesagt,  dass 
die  Griechen  und  Römer  nach  den  Bericliten  antiker 
Schriftsteller  die  Erweichung  des  Elfenbeins  verstanden, 
so  dass  sie  in  der  Lage  waren,  weit  größere  Platten 
herzustellen,  als  wir  sie  heute  haben. 

Bei  dem  Übergange  von  der  antiken  zur  christlichen 
Elfenbeinplastik  wird  man  einen  Augenblick  bei  der  im 
Berliner  Museum  befindlichen  Pyxis  (Nr.  427)  mit  der 
Darstellung  Christi  zwischen  den  Aposteln  und  dem 
Opfer  Abrahams  Halt  machen  müssen,  einem  Werke,  das 
in  der  altchristlichen  Plastik  eine  sehr  hohe  Stelle  ein¬ 
nimmt  und  dem  4.  Jahrhundert  zugeteilt  werden  muss. 

Wie  Byzanz  der  Abglanz  Roms  hinsichtlich  der 
großen  Kunst  wurde,  so  geschah  es  auch  mit  der  Elfenbein- 
skulptiir,  die  in  der  Hagia  Sophia  ilire  höchsten  Triumphe 
feiert;  zur  gleichen  Zeit  aber  finden  wir,  wie  die  by¬ 
zantinische  Kunst  Ravennas  das  übrige  Italien  beein- 
Üusst,  wenn  wir  z.  B.  die  gleichfalls  einen  Schatz  des 
Berliner  Museums  bildenden  Diptycha  (Nr.  428  und  429) 
mit  Christus  auf  dem  Tlirone  zwischen  Petrus  und  Paulus 
und  der  thronenden  Maria  zwischen  zwei  Engeln  in 
Augenschein  nehmen.  Während  wir  aber  in  den  Dar¬ 
stellungen  auf  der  obengenannten  Pyxis  noch  einen 
frischen  Zug  antiker  Bildnerei  erkennen,  sind  die  Formen 
auf  den  Diiitychen  bis  zum  Manierismus  herabgesunken. 
Beachtenswert,  da  aus  jener  Zeit  nur  spärliche  Reste 
vorhanden  sind,  ist  auch  ein  Gefäß  im  Musee  Cluny  zu 
Paris,  etwa  aus  dem  6.  Jahrhundert,  mit  einer  Reihe  von 
Darstellungen  aus  dem  neuen  Testament,  darunter  Christus 
und  die  Samaiiterin. 

Unter  Karl  dem  Großen  ist  es  in  der  Plastik  nur 
die  Elfenbeinskulptur,  die  sich  einer  besondern  Beachtung 
erfreut.  Vor  allem  sind  es  Gegenstände  des  kirchlichen 
Kultes,  die  zur  Bildung  gelangen,  darunter  auch  Sta¬ 
tuetten,  und  zwar  solche,  die  in  direktem  Anschluss  an 
die  Antike  geformt  werden.  Seitdem  sich  aber  Otto  II. 
mit  Theophanu,  der  griechischen  Fürstentochter  (i.  J. 
972)  vermählt  hatte,  wird  wieder  der  byzantinische 
Einfluss  wach,  und  es  ist  bekannt,  welche  wichtige  Rolle 
jene  vielen  in  Deutschland  seitdem  vorhandenen  Kopieen 
byzantinischer  Originalwerke  gespielt  haben.  Erst  durch 
sie  gewinnen  wir  ein  Bild  von  der  eigentlichen  byzan¬ 
tinischen  Kunstübung. 

Als  erste  deutsche  Arbeiten  noch  aus  karolingischer 
Zeit  stammend  sind  die  Elfenbeintafel  des  Tutilo  in 
St.  Gallen  und  das  Diptychon  mit  den  celebrirenden 
Geistlichen  anzusehen,  die  eine  Tafel  dieses  Diptychons 
in  der  Bibliothek  zu  Frankfurt  a.  M.,  die  andere  früher 
bei  Fr.  Spitzer  in  Paris.  Namentlich  die  Darstellungen 
auf  dem  zuletztgenannten  Diptychon  scheinen  einen  Ein¬ 
fluss  auf  die  Elfenbeinwerke  Frankreichs  im  10.  und  zum 
Teil  noch  im  11.  Jahrhundert  ausgeübt  zu  haben.  In 
Deutschland  beherrschen  in  dieser  Zeit,  also  im  10.  und 


11.  Jahrhundert,  die  Elfenbeinarbeiten  Niedersachsens 
das  Feld,  sie  zeigen  uns  teils  das  Festhalten  am  direkten 
spätrömischen  Kunstgeschmack  oder  byzantinische  Ein¬ 
wirkung,  andererseits  aber  auch  schon  nationale  Eigen¬ 
art,  die  sich  namentlich  in  einem  gewissen  naiven  Realis¬ 
mus  ausspricht;  es  sei  dabei  noch  auf  die  Deckel  des 
Gebetbuchs  Karls  des  Kahlen  mit  den  beiden  Reliefs  aus 
Davids  Leben  hingewiesen. 

Aus  dem  12.  Jahrhundert  ist  das  Hauptwerk  Italiens, 
nicht  ohne  byzantinischen  Formalismus,  der  oft  ge¬ 
nannte  Altarvorsatz  im  Dom  zu  Salerno. 

Das  13.  Jahrhundert  war  der  Elfenbeinplastik  nicht 
günstig,  doch  hören  wir  aus  dem  14.  Jahrhundert  von 
der  Begründung  der  berühmten  Schule  zu  Dieppe,  die 
bis  ins  16.  Jahrhundert  gewissermaßen  diese  Kunstübung 
monopolisirt,  l)is  noch  im  16.  und  sodann  im  17.  Jahr¬ 
hundert  die  Technik  einen  großen  Aufschwung  zugleich 
in  Deutschland,  Frankreich  und  den  Niederlanden  nimmt. 
Vornehmlich  werden  Gegenstände  religiösen  Bedürfnisses, 
besonders  Kruzifixe,  geformt.  Das  18.  und  19.  Jahr¬ 
hundert  sieht  die  Elfenbeinplastik  als  Kunst  vollkommen  im 
Argen  liegen,  nur  in  Deutschland  wird,  Dieppe  überflügelnd, 
in  einigen  Städten,  so  in  Nürnberg,  Fürth,  Geislingen, 
ein  schwungliafter  Handel  mit  elfenbeinernen  Industrie¬ 
erzeugnissen  betrieben,  oline  die  Verdienste  der  Orien¬ 
talen,  der  Chinesen  und  Japaner  auf  diesem  Gebiete  zu 
beeinträchtigen. 

Wohl  hatten  von  Zeit  zu  Zeit  französische  Künstler, 
so  namentlich  im  Jahre  1855  der  Pariser  Simart,  mit 
seiner  Athena  Partlienos  den  Versuch  gemacht,  die  alte 
Elfenbeintechnik  als  Kunst  wieder  einzuführen,  jedoch 
ohne  nachhaltigen  Erfolg.  Erst  unserer  Zeit  am  Aus¬ 
gange  des  Jahrhunderts  ist  es  Vorbehalten  geblieben,  hier 
Wandel  zu  schaffen.  Künstler  Belgiens  haben  sich  in 
größerer  Anzahl  zusammengethan,  um  die  ehedem  wohl- 
liewährte  Kunstübung  zu  erneuten  Ehren  zu  bringen,  und 
ich  glaube,  dass  dereinst  die  Kunstgeschichte  davon  wird 
sprechen  müssen. 

Wer  den  Dingen  so  nahe  steht,  wie  ich  im  Augen¬ 
blick,  muss  sich  darüber  wundern,  dass  die  chryselephan¬ 
tine  Kunst  so  lange  hat  in  Verfall  liegen  können.  Man 
wolle  nur  die  Feinheit  des  Elfenbeins,  seine  prächtige, 
wie  für  die  Darstellung  der  menschlichen  Epidermis  ge¬ 
schaffene  Struktur  und  vor  allem  die  milde  Farben- 
nüance  betrachten,  die  von  allen  natürlichen  der  Plastik 
dienenden  Materialien  der  Hautfarbe  des  Menschen  am 
meisten  entspricht.  Dazu  gesellt  sich  der  gleiche  Vorteil 
wie  beim  Marmor,  die  Durchsichtigkeit  bis  zu  einem 
gewissen  Maße.  Gerade  diese  Durchsichtigkeit  in  Ver¬ 
bindung  mit  dem  gelblichen  Tone  des  Elfenbeins  ver¬ 
leihen  der  dargestellten  Figur  mehr  als  einen  Hauch  von 
Leben.  Das  lebensvolle  Material,  vom  Leben  kommend, 
setzt  uns  In  den  Stand,  uns  mit  dem  Gegenstände  unserer 
Betrachtung  weit  intimer  zu  fülflen,  als  es  uns  beim 
Marmor  oder  bei  der  Bronze  vorkommt,  und  nur  die 


DIE  ELFENBEINPLASTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897.  283 


Pflicht  des  Kritikers  schreckt  mich  aus  allzugroßer  In¬ 
timität  auf.  — 

Der  von  dem  Architekten  und  Professor  an  der 
neuen  polytechnischen  Schule  Paul  Hankar  geschmack¬ 
voll  und  mit  feinem  Kunstsinn  ausgestattete  Salon  hat 
etwa  80  Bildwerke  aufgenommen,  die  von  40  Künstlern 
gefertigt  worden  sind  und  bei  denen  das  Elfenbein  in 
Verbindung  mit  Gold,  Silber,  Holz  oder  Bronze  eine 
Hauptrolle,  wenn  nicht  die  einzige  Rolle  spielt. 

Ah  und  zu  tauchen  freilich  auch  Bildwerke  auf, 
die  meinem  persönlichen  Geschmack  zuwiderlaufen,  so 
hat  beispielsweise  Ä.  Aarts  ein  Experiment  gemacht, 
das  in  technischer  Beziehung  als  gelungen  angesehen 
werden  muss.  Er  nennt  seine  Figur:  Phantasie  nach 
Donatello.  Wir  sehen  einen  der  bekannten  Donatellesken 
lachenden  Kinderköpfe,  in  deren  Anschauen  man  sich 
gern  immer  und  immer  wieder  versenken  mag.  Das 
dargestellte  Köpfchen  zeigt  alle  Vorzüge  seines  Originals; 
nun  aber  kommt  die  subjektive  Zuthat  von  Aarts,  er 
legt  über  den  Kopf  ein  schleierartiges  Gewand  und  lässt 
nun  die  Formen  durch  den  Schleier  hindurch  scheinen. 
Wie  gesagt,  persönlich  Gegner  derartiger  Kunststücke 
kann  ich  nicht  umhin,  zuzugeben,  dass  in  formaler  Hin¬ 
sicht  Virtuosenhaftes  geleistet  worden  ist.  Überdies  will 
es  mir  scheinen,  als  ob  derartige  Bildungen  nur  mit  Hilfe 
des  durchscheinenden  Elfenbeins  ermöglicht  werden,  ein 
Versuch  in  Marmor  ist  mir  wenigstens  nicht  bekannt. 

Nur  eine  einzige  Figur  hat  P.  Braecke  ausgestellt; 
Vers  l’Infini.  Aus  den  Fängen  eines  stilisirten  Mollusken¬ 
geschöpfes  heraus  strebt  eine  weibliche  Gestalt  ins  un¬ 
endliche  Weltall.  Ganz  vorzüglich  ist  das  Empor¬ 
schweben  durch  die  nach  oben  gerichteten  Arme  und  die 
emporweisende  Geste  der  Hände  mit  dem  harmonievollen 
Fingerspiel  angedeutet,  dazu  der  verklärte  Ausdruck  des 
gleichfalls  ins  Unendliche  schauenden  Gesichts,  dem  das 
Material  vortrefflich  zu  statten  kommt. 

In  die  reale  Wirklichkeit  führt  uns  Qiiillaume 
Charliefs  Wasserträger  aus  Palermo  zurück.  Hier 
können  wir  den  wirkungsvollen  Gegensatz  zwischen  dem 
im  Ton  warmen  Elfenbein  und  der  dunklen  Bronze  be¬ 
wundern,  eine  köstliche  Zusammenstellung.  Der  weh¬ 
mütige  Gesichtsausdruck  des  Burschen  hebt  sich  von  der 
straffen  Kopfumhüllung,  einem  groben  Sacktuch,  wegen 
des  daraus  resultirenden  Schattenwurfs  ausgezeichnet  ab. 

Als  Gegenstück  hierzu  könnte  das  vlämische  Milch¬ 
weib,  euphemistisch  gesprochen  Milchmädchen,  von  Co- 
mein  gelten.  Auf  dem  rechten  Arm  und  in  den  Händen 
Milchgefäße  haltend,  schreitet  es  in  vergnüglicher  Selbst¬ 
gefälligkeit  einher. 

Ungemein  reizvoll  und  von  bestrickendem  Zauber 
ist  der  Frühlingstraum  M.  de  Mathclins.  Eine  holde 
weibliche  Gestalt,  in  der  Linken  einen  Zweig  haltend, 
auf  der  Rechten  eine  Anzahl  kleiner  Fliegewesen  spielen 
lassend,  erhebt  sich  in  den  Äther,  noch  berührt  das  herab¬ 
fallende  Gewand  die  Erde,  die  sich  hier  des  Vorzugs 


erfreut,  in  vergoldetem  Silber  dargestellt  zu  sein,  ein 
herrliches  Idyll  in  wohlgelungener  Vortragsweise. 

In  eine  ernstere  Stimmung  versetzen  uns  die 
Schöpfungen  von  A.  des  Enfans.  Dieser  vortreffliche 
Künstler  liebt  die  Darstellung  religiöser  Scenen.  Sein 
an  die  Säule  gefesselter  Christus  lässt  uns  sozusagen 
die  Leiden  des  Herrn  selbst  mit  erleben.  Dem  nach  oben 
gerichteten  edlen  Dulderantlitz  und  dem  kraftlosen,  viel¬ 
leicht  etwas  zu  fleischigen  Körper  kommt  die  Struktur 
des  Elfenbeins  ganz  vorzüglich  zu  gute.  Dasselbe  gilt 
von  seiner  Maria,  auf  die  das  Wort:  Tota  pulchra  es, 
Maria,  wohl  angewandt  werden  kann,  wenn  man  von 
der  im  Profil  etwas  zu  sehr  hervortretenden  Oberlippe 
absieht.  Das  Gewand  fällt  in  reichen  Falten  herab,  die 
Hände  sind  zum  Gebet  emporgehoben,  das  seelenvolle 
Auge  blickt  nach  oben. 

Dieselbe  religiöse  Richtung  spricht  sich  in  dem  um¬ 
fangreichen  Meisterwerk  A.  de  Tomhay's  aus:  Christus 
im  Grabe.  Die  Fleischteile  aus  Elfenbein,  das  Gewand 
aus  Holz.  Mit  erschreckender  Natürlichkeit  ist  hier  der 
tote  Heiland  dargestellt.  Das  vollkommen  abgemagerte 
Gesicht,  die  tiefliegenden,  eingefallenen  Augen,  die  fahle 
Hautfarbe  machen  den  Tod  mehr  als  wahrscheinlich, 
man  glaubt  an  die  Gewissheit;  dabei  darf  nicht  über¬ 
sehen  werden,  was  der  Künstler  Hervorragendes  in  der 
Durchbildung  der  mit  anatomischer  Wahrheit  gezeichneten 
Hände  und  Füße  geleistet  hat.  Alles  in  allem  genommen 
muss  man  sagen,  dass  de  Tombay  sich  darin  zu  einem 
großen,  freien  und  edlen  Stil  hindurchgearbeitet  hat, 
der  weitab  liegt  von  den  proportionslosen  und  knittrigen 
Gewandstatuen  ehemaliger  Zeiten.  Manches  hat  mich 
jedoch  an  Tilman  Riemenschneider  erinnert. 

Nicht  auf  der  Höhe  seiner  Fähigkeiten  erscheint 
mir  Oodefroid  de  Vreese  in  seiner  heiligen  Jungfrau  mit 
den  über  die  Brust  gekreuzten  Armen  und  dem  langen  in 
schweren  Falten  herabfallenden  Gewand.  Hingegen  halte 
ich  seine  aphroditische  Chrysis  für  eine  Glanzleistung 
bei  der  Gold,  Silber  und  Elfenbein  in  gleicher  Weise 
zur  Vervollkommnung  beigetragen  haben.  Die  sclilanke 
Spenderin  hält  das  Horn  hoch  empor,  eine  Bewegung, 
die  das  über  die  Hüften  gelegte  Gewand  herabgleiten 
lässt.  Der  schon  an  sich  hohe  Reiz  dieser  Gestalt  wird 
noch  durch  das  feingestrichene  Elfenbein  erhöht. 

Der  mythologischen  Verwandtschaft  wegen  nenne 
ich  gleich  hier  P.  de  Vigne’s  Psyche,  ein  herrliches  Köpf¬ 
chen  von  ungemein  charakteristischer  Gestaltung. 

Nicht  so  rein,  mehr  sinnlich  wirkt  J.  Dillens’  Genius 
mit  der  Lilie.  Die  üppige  Frauengestalt  mit  jungfräu¬ 
lichem  Körper  und  straffen  Brüsten  steht  nur  in  losem 
Zusammenhang  mit  der  am  Boden  liegenden  Lilie.  Die 
um  Arm  und  Schulter  gelegten  Bänder,  offenbar  zur 
Verdeckung  der  Ansatzstellen  verwendet,  stören  den 
Eindruck. 

Mehr  als  kunstgewerbliche  Arbeiten  und  von  diesem 
Standpunkte  aus  als  lobenswert  müssen  die  zahlreichen 


36* 


284  DIE  ELFENBEINPLASTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897. 


Darbietungen  Fern.  Duhois’  betrachtet  werden.  Hervor¬ 
zuheben  ist  ein  Hochzeitskasten  mit  acht  ansprechenden 
Basrelief-Darstellungen  aus  dem  Liebes-  und  Eheleben 
oder,  wenn  man  will,  einer  Illustration  des  Themas  von 
der  Wiege  bis  zum  Grabe.  In  einer  besondern  Vitrine 
befinden  sich  hübsche  Fächer,  Schmuckkasten,  Bücher¬ 
messer,  Broschen  und  verschiedene  unbedeutende  Reliefs, 
als  deren  bestes  noch  die  Eva  unter  dem  Erkenntnis¬ 
baum  und  nach  der  Erkenntnis  gelten  kann. 

Ungleich  künstlerischer  ist  ein  anderer  Gegenstand 
des  testamentarischen  Bilderkreises,  der  heilige  Johannes, 
von  Jo.su'6  Dnpon  wiedergegeben  worden.  Das  Elfen¬ 


Abb.  1.  Die  Furie.  Elfenbeinarbeit  von  J.  Geleyn. 

beinrelief  zeigt  uns  den  Gespielen  .Tesu  mit  dem  Rohr¬ 
kreuz  in  der  Linken.  Das  kindliche  Gesicht,  in  dem 
sich  die  Gottergebeuheit  sinnig  ausprägt,  ist  von  aller¬ 
liebstem  Aussehen.  Auch  hier  hilft  sichtlich  das  Feine 
und  liCbensvolle  in  der  Eigenart  des  Elfenbeins  der 
plastischen  Behandlung  wirkungsvoll  nach.  Während  es 
hier  der  Künstler  versteht,  das  Innige  und  Gutmütige 
zum  Vortrag  zu  bringen,  ist  er  bemüht,  in  seiner 
Statuette  „der  Heldenmut“  die  rohe  physische  Kraft  in 
die  Erscheinung  treten  zu  lassen.  Über  einem  Sockel, 
der  von  getöteten,  verwundeten  oder  wütend  sich  empor¬ 
bäumenden  Panthern  umgeben  ist,  erhebt  sich  die  Ge¬ 
stalt  eines  nackten  mit  Schwert,  Schild  und  sphinx¬ 


geschmücktem  Helm  ausgerüsteten,  den  Tod  verachtenden 
lü'iegers.  Seine  Rechte  schwingt  einen  vergoldeten  Drei¬ 
zack,  den  er  im  Begrifte  ist,  auf  eine  der  zudringlichen 
wütenden  Bestien  zu  schleudern.  Der  Unnachgiebigkeit, 
die  sich  in  den  strengen,  entschlossenen  Zügen  des  Kriegers 
ausspricht,  sieht  man  an,  dass  deren  Träger  gegebenen¬ 
falls  die  äußersten  Konsequenzen  seines  Handelns  zu 
ziehen  bereit  ist,  wenn  es  sein  muss  bis  zur  Grausamkeit. 
In  dem  Bestreben,  die  Handlung  bis  zum  höchsten  Grade 
wahrscheinlich  zu  machen,  ist  es  dem  Künstler  wie 
andern  lange  vor  ihm  ergangen,  er  hat  übertrieben 
Denn  nur  so  kann  man  die  unnatürliche  Muskulatur  ver- 


Abb.  2.  Die  Furie.  Elfeubeinarbeit  von  J.  Geleyn. 

stehen,  die  im  einzelnen,  wie  bei  den  Oberschenkeln,  der 
anatomischen  Richtigkeit  entbehrt. 

Wie  hier  macht  sich  der  auf  Vernichtung  gerichtete 
Sinn  auch  in  der  Furie  J.  Qelcyns  (s.  Abb.  1  und  2) 
bemerkbar.  Unheilvoll,  schrecklich,  entsetzlich,  fürchter¬ 
lich  könnte  man  das  verderbenbringende  Geschöpf  in 
seinem  unheimlichen  Habitus  nennen.  Der  Gliederbau 
ist  gedrungen,  fast  männlich.  Die  zornentflammte,  un¬ 
nachsichtige  Gesichtsmiene  des  an  den  Füßen  geflügelten 
dämonischen  Wesens  verkündigt  nichts  Gutes,  dazu  der 
Dolch  in  der  Rechten,  die  Fackel  in  der  Linken,  die 
Schlangen  um  Hals  und  Kopf  und  zum  Überflüsse 
noch  eine  recht  kräftige  Schlange  zu  Füßen,  das  alles 


DIE  ELFENBEINPLASTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1S97.  285 


zusammengenommen  rechtfertigt  die  oben  gebrauchten 
Epitheta. 

Einen  mehr  heiteren  Gesichtskreis  eröffnet  uns 
E.  Jespers,  indem  er  uns  den  entwaffneten  Amor  vor¬ 
führt.  Eine  für  Psyche  etwas  zu  groß  geratene  weib¬ 
liche  Gestalt,  deren  Schweben  recht  glaubhaft  gemacht 
ist,  hat  den  kleinen  Schelm  mit  der  Linken  an  den 
Schmetterlingsflügeln  gefasst  und  verhindert  ihn  so,  den 
in  ihrer  Rechten  gehaltenen  Pfeil  zu  entringen.  Die 
siegesbewusste  Haltung  der  schönen  Quälerin  und  die 
schelmisch-flehende  Gebärde 
Amors  nehmen  den  Blick  un¬ 
gewöhnlich  gefangen.  Es  ist 
eine  der  reizvollsten  Grup¬ 
pen,  die  ich  je  gesehen.  Da¬ 
gegen  steht  weit  zurück,  was 
der  Künstler  in  seiner  Per- 
soniflkation  des  Widerstre¬ 
bens  geschaffen,  obwohl  auch 
hier  viele  Schönheiten  ent¬ 
deckt  werden  können.  Dem 
zurückgelehnten  Kopf  mit 
dem  trotzig  sein  sollenden 
Gesicht sausdi’uck  will  man 
den  ernstlichen  Widerstand 
nicht  glauben.  Besser  als 
diese  Büste  erscheint  noch 
die  Simplicitas.  Sie  ist  hier 
dargestellt  als  eine  holde, 
eine  Stufe,  herabschreitende 
Mädcheugestalt  in  kurzem 
Kleidchen,  von  anziehendem 
idyllischen  Zauber.  DeiTänd- 
liche  Backfisch  hält  ein  Buch 
in  der  Rechten;  trotzdem 
guckt  süße  Unwissenheit  aus 
dem  Unschuld svollen  Gesicht- 
chen  heraus. 

Ein  aus  ornamentirter 
bronzener  Umrahmung  uns 
anschauendes  Antlitz  von 
Fernand  Klinopff,  dem  be¬ 
kannten  Mystiker  und  Sym¬ 
bolisten,  kann  mir  in  dieser 
Zusammenstellung  nicht  gefallen;  wie  der  Künstler  diese 
Schöpfung  Büste  benennen  konnte,  bleibt  mir  unklar. 

Die  Jungfrau  mit  der  Lilie  von  Edmond  Lefever 
ist  kein  bedeutendes,  aber  auch  kein  übles  Werk.  Zu 
loben  ist  die  Behandlung  des  Faltenwurfs  und  der  Haare, 
die  lang  herunterwallen;  das  Gesicht  kann  auf  Idealität 
keinen  Anspruch  machen,  zeigt  aber  doch  regelmäßige 
Formen. 

Eine  ungemein  anmutige  Gruppe  giebt  Ilipp.  Le 
Eoij  mit  einem  Mädchen,  das  im  Begriff  ist,  ein  Zicklein 
zum  Felde  zu  führen.  Die  schöne  Schäferin  fasst  mit 


der  Rechten  das  Tier,  mit  der  Linken  die  Schnim;  Mate¬ 
rial:  Elfenbein  und  Holz.  Unangenehm  und  auffällig 
wirken  die  zu  sehr  sichtbaren  Ansatzstellen  im  Holz. 

Und  nun  Constantin  Meunicr ,  der  neben  van  der 
Stappen  auf  der  Höhe  der  modernen  belgischen  Plastik 
einherschreitet.  Er  hat  nur  ein  Werk  ausgestellt,  das 
aber  eine  ganze  Reihe  von  Schöpfungen  gewisser  anderer 
Bildhauer  aufwiegt.  In  seinem  Christus  am  Kreuze, 
einer  Figur,  die  nicht  frei  von  Manierismus  ist,  packt 
der  Künstler  gleichwohl  durch  den  leidensvollen  Aus¬ 
druck  des  mit  spärlichem 
Barthaar  ausgestatteten 
Antlitzes,  wie  überhaupt 
durch  die  geistvolle  Behand¬ 
lung  des  Kopfes  und  der 
ganzen  wohlproportionirten 
Gestalt  des  Heilandes.  Ana¬ 
tomisch  bemerkenswert  sind 
die  durch  das  Eintreiben  der 
Nägel  in  Händen  und  Füßen 
entstandenden ,  angescbvvol- 
lenen  Wundstellen,  einer  von 
den  vielen  Beweisen,  wie  der 
Meister  die  Natur  anschaut 
und  sich  in  deren  Studium 
versenkt. 

Mehr  Vertreter  der 
Kunstindustrieais  der  eigent¬ 
lichen  Großplastik  ist  A.  G. 
Orcres.  In  einer  besonderen 
Vitrine  hat  er  eine  Reihe 
von  kunstgewerblichen  Ge¬ 
genständen  in  Elfenbein  aus¬ 
gestellt,  so  eine  Uhr  und 
Kandelaber  im  Stil  Ludwigs 
XVI.,  Rahmen  und  Wappen; 
es  sind  gute  Arbeiten;  so¬ 
bald  Overes  aber  auf  das 
speciell  künstlerische  Gebiet 
der  Rundplastik  übergeht, 
wirkt  er  unreif.  Ich  will 
nur  seine  Figur  „Die  Über¬ 
schwemmung“  nennen,  per- 
sonifizirt  durch  ein  Weib,  das 
ihre  Kindlein  in  Sicherheit  bringen  will.  Es  wäre  zu 
wünschen,  dass  dieser  der  Darstellung  gewnss  würdige 
Gegenstand  von  einem  bedeutenden  Künstler  bearbeitet 
würde. 

Den  Venusberg  Ed.  Romhaux’  (s.  Abb.  3)  würde  ich 
für  die  drei  Grazien  gehalten  haben,  wenn  der  Künstler 
seine  Gruppe  von  drei  sich  im  Reigen  bewegenden  w'eib- 
lichen  Gestalten  nicht  selbst  als  solchen  hätte  angesehen 
wissen  wollen.  Aber  auch  die  Gespielinnen  der  Venus 
sollen  graziös  sein,  und  in  der  That  bestätigt  sich  dies  in 
der  von  dem  Künstler  mit  liebenswürdiger  Sorgfilt  auf- 


Abb.  3.  Der  Venusberg.  Elfenbeingruppe  von  Ed.  Eojibacx. 


Abb.  4.  In  boc  signo  vinces.  Elfenbeingruppe  von  Charles  VAN 
DER  Stapfen. 


DIE  ELFEXBEINPLASTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897. 


gebauten  Komposition;  der  verführerisclie  Ausdruck  in  den 
wonnetrunkenen  Gesichtern  ziemt  sich  gerade  für  die 
Beschäftigung  dieser  holden  Weiblichkeit.  Übrigens  hat 
bekanntlich  Amor  dafür  zu  sorgen,  dass  es  im  Yenus- 
berge  an  Kurzweil  nicht  fehle,  und  in  dieser  seiner 
Thätigkeit  lässt  uns  Felix  Romhaiix  den  kleinen  Jäger 
schauen.  Es  ist  das  ein  ganz  entzückendes  Figürchen. 
Amor,  auf  Wolken  gedacht,  ist  eben  im  Sturm  daliin- 
gesaust  und  hat  den  Pfeil  abgeschossen,  dessen  Richtung 
er  nun  mit  schmunzelndem  Lächeln  folgt,  er  hat  auf  das 
Sinnbild  der  Rose  gezielt,  die  sich  in  Form  eines  weib¬ 
lichen  geflügelten  Putto  als  Pendant  zum  Amor  dar¬ 
stellt;  in  der  Rechten  hält  Rosa  ilire  Blume,  in  der 
Linken  den  Pfeil. 

Mit  einem  größeren,  menschliches  Elend  veran¬ 
schaulichenden  Holz-Elfenbeinbihlwerk  tiitt  L.  Sainain 
auf.  Eine  weibliche,  dem  Kindesalter  noch  nicht  ent¬ 
wachsene  Gestalt  ist,  in  der  Hand  die  Gebetkette  haltend, 
niedergesunken  und  ruft  in  ihrem  bejammernswerten 
Zustand  Gott  an;  Sorge  und  Elend  haben  dem  jungen 
Menschenkinde  ihren  Stempel  aufgedrückt.  Darunter  am 
Sockel  befindet  sich  das  erläuternde  Gedicht: 

C’est  encore  une  enfant  et  la  souffVance  impie 
A  rendu  mere  cette  enfant. 

Elle  appelle  l’aniour,  ne  vient  que  l’agonie 
Est  ce  donc  pour  cela  que  tu  creas  hi  vie 
Seigneur  qui  t’en  vas  fauchant 
La  moisson  ä  peine  fleurie! 

Elfenbein  in  Verbindung  mit  Bronze  verwendet 
CJi.  Samuel  zu  seiner  Chimäre,  die  ohne  die  Zuthat 
eines  legendarischen  Vogelgeschöpfs  auf  dem  Kopfe  auch 
ebenso  gut  die  Büste  irgend  einer,  wenn  aucli  nicht  gar 
zu  selir  liebenswürdigen  Salondame  vorstellen  könnte; 
denn  auch  bei  einer  solchen  soll  es  Vorkommen,  dass  sie 
sinnenden  Auges  dasitzt.  Keineswegs  ist  das  Mysteriöse 
in  der  Figur  genügend  zum  Ausdruck  gebracht  worden. 
Der  Meister  hat  dann  noch  andere  weil)liche  Statuetten 
geschnitzt,  von  denen  mir  die  sicli  schmückende  schlanke 
Gestalt  der  Ophelia  am  besten  gefallen  hat.  Außerdem 
hat  er  nach  der  Zeichnung  Ad.  Crespins  einen  Holz- 
Elfenbeinrahmen  zu  einem  Spiegel  gearbeitet.  Die  das 
Spiegelfeld  umrankenden  elfenbeinernen  Pfauen  in  stilisirter 
Form  sind  vortrefflich  durchgebildet. 

Eine  ungemein  köstliche,  höchst  anmutige  Figur  hat 
31.  Strymaiiti  in  seinem  Schlangenbeschwörer  geschaffen, 
einem  Werke,  das  uns  an  die  schönsten  Gestalten  früherer 
Zeiten,  so  namentlich  im  Linienfluss  der  Konturen  an 
den  jugendlichen  Johannes  des  Michelangelo  erinnert. 
Die  feinen  Finger  halten  eine  zum  Munde  geführte  Flöte, 
und  um  den  Körper  herum  winden  sich  die  musikliebenden 
Amphibien. 

Von  gleichem  Zauber  erscheint  der  nackte  Knabe 
an  der  Fontäne,  eines  der  vielen  Meisterwerke  des  Ant- 
werpener  Akademieprofessors  van  Beurdcn.  Besonders 
glücklich  gewählt  ist  die  Stellung  des  halbwüchsigen 
Jungen.  Mit  der  linken  Hand  fasst  er  den  Krug,  um 


DIE  ELFENßEINPLASTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897.  287 


ihn  füllen  zu  lassen,  mit  der  rechten  lässt  er  eine  Rute 
in  dem  hervorstürzenden  Wasserstrahl  spielen.  Die  ver¬ 
schiedenartige  immer  wechselnde  Richtung,  die  das 
Wasser  dadurch  gewinnt,  muss  dem  Knaben  viel  Ver¬ 
gnügen  verursachen;  denn  nur  so  lässt  sich  der  ver¬ 
gnügliche,  heitere  Gesichtsausdruck  verstehen.  Der 
AVasserträger  lehnt  sich  dabei  auf  einen  Pilasterpfeiler, 
dessen  vordere  Seite  eine  Gesichtsmaske  aufweist,  aus 
deren  Mundöffnung 
das  Wasser  ent- 
strahlt. 

Gleich  des  En- 
fans  hat  auch  van 
Beurden  einen  an  die 
Säule  gefesselten 
Christus  gebildet,  der 
dem  des  erstgenann¬ 
ten  Künstlers  in 
nichts  nachsteht,  der 
aber  auch  dessen 
Nachteile  hat.  Wohl 
nimmt  das  Leiden  des 
Herrn  auch  hier  un¬ 
ser  höchstes  Mitge¬ 
fühl,  namentlich 
durch  den  traurigen, 
wehmutsvollen  Ge¬ 
sichtsausdruck  in  An¬ 
spruch,  aber  wir  ttn- 
den  ebenso,  dass  die 
Körperformen  doch 
auch  in  dieser  Figur 
ein  wenig  zu  voll 
und  fleischig  geraten 
sind.  Darunter  am 
Sockel  erkennen  wir 
eine  ganz  ausgezeich¬ 
nete,  wenn  auch,  da 
nur  nebensächlicher 
Gegenstand,  in  skiz¬ 
zenhafter  Behand¬ 
lung  dargebotene  An¬ 
betung  der  heiligen 
drei  Könige. 

Der  produktive 

Künstler  hat  dann  noch  eine  Reihe  weiterer  Werke,  so 
einen  leidenden  heiligen  Sebastian,  ein  allerliebstes  Land¬ 
mädchen,  einen  prächtigen  Madonnenkopf  und  einen  träu¬ 
merischen  Kupido  ausgestellt,  Schöpfungen,  die  von  dem 
vielseitigen  Können  des  Meisters  in  hohem  Maße  Zeugnis 
ablegen.  Ganz  flach  und  nur  skizzenhaft  aufgefasst  ist  ein 
Elfenbeinrelief  der  Madame  E.  Beetz-,  es  stellt  einen  auf 
einem  Stuhle  sitzenden,  seine  Pfeife  rauchenden  Bauern  oder 
Arbeitsmann  dar.  Auch  hier  hat  die  famose  Struktur 
des  Materials  günstig  mitgewirkt. 


Abb.  5.  Die  geheimnisvolle  Sphinx.  Elfenbeingruppe  von  Charles  van  her  Stai'1'.ex, 


Und  nun  der  Brüsseler  Akademieprofessor  Charles 
van  der  Stappen,  der  Lehrer  einer  großen  Anzahl  aus 
der  Reihe  der  bereits  erwähnten  Künstler.  Seine  aus¬ 
gesprochene  Absicht  ist  es,  die  chryselephantine  Kunst 
wieder  emporzuheben  auf  die  Höhe,  welche  das  vor¬ 
nehme  Material  zu  fordern  berechtigt  ist.  Er  will 
jedoch  keine  Reproduktion  der  Antike,  wenngleich  er 
ihr  Studium  wohl  empfiehlt.  Was  nunmehr  geschaffen 

wird,  soll  in  durchaus 
modernem  Gewände 
und  so  weit  es  die 
neueren  Ausdrucks¬ 
mittel  gestatten,  ge¬ 
schehen  ,  eine  Mei¬ 
nung,  der  wir  uns 
gern  anzuschließen 
vermögen.  Wie  in 
der  Glanzzeit  der 
Goldelfenbeinplastik 
im  Altertum  sollen 
auch  jetzt  wieder 
große  Bildwerke  die¬ 
ser  Art  geformt  wer¬ 
den,  und  wie  damals 
sollen  auch  jetzt  die 
hehrsten  Gegen¬ 
stände  gerade  gut  ge¬ 
nug  sein,  dargestellt 
zu  werden. 

Und  wie  hat  der 
Meister  es  vermocht, 
seine  Idee  in  die 
Praxis  zu  übersetzen. 
Sprechen  wir  zuerst 
von  seiner  Besiegerin 
des  Bösen  (s.  Abb.  4). 
Über  einem  Onyx¬ 
sockel  sehen  wir  den 
hinabgeschleuderten 
Genius  des  Bösen, 
er  fällt  einem  schreck¬ 
lichen  Ungeheuer  an¬ 
heim,  das  sich 
schlangenähnlich  um 
einen  Pfeiler  herum- 
wiiidet,  und  erst  dann  folgt  darüber  der  Engel,  eine  im  Aus¬ 
sehen  weiblich  zu  nennende  Figur,  die  ruhig  auf  beiden 
Füßen  steht.  Die  Figur  ist  mit  langem,  schwerem 
liliengeschmückten  Gewände  und  darübergelegtem  Panzer 
bekleidet.  Sockel  mit  Figur  messen  etwa  1,50  in.  In 
der  hocherhobenen  Rechten  hält  sie  ein  goldenes,  mit 
Edelsteinen  ausgelegtes,  mit  der  Dornenkrone  geziertes 
Schwert  in  Kreuzesform,  das  vielleicht  etwas  zu  groß 
geraten  ist.  Die  Linke  ist  beschwichtigend  nach  unten 
gerichtet.  Das  Ganze  eine  Illustration  zu  dem  Worte: 


28S  DIE  ELFENBEINPLISTIK  AUF  DER  BRÜSSELER  WELTAUSSTELLUNG  VON  1897. 


In  hoc  signo  vinces.  Besonders  hervorhebenswert  ist 
die  natürliche  Durchbildung  der  Hände  und  der  see¬ 
lische  Ausdi’uck  des  Gesichts.  Das  Haar  ist  einfach 
glatt  gescheitelt. 

Ungleich  bedeutender  als  diese  Statue,  ja  als  das 
hervorragendste  Werk  auf  der  ganzen  Elfenbeiuskulptur- 
Ausstellung  erscheint  mir  jedoch  der  „Sphinx  mysterieux“ 
(s.  Abb.  5)  betitelte  Kopf,  eine  Arbeit,  die  uns  mehr 
als  jedes  andere  Werk  eine  reale  Anschauung  von  der 
götterbildenden  Kunst  des  Phidias  vermittelt,  weil  erstens 
der  Maßstab  ein  übernatürlicher  ist,  zweitens  die  An¬ 
wendung  des  Elfenbeins  für  die  Fleischteile,  des  Goldes 
(vergoldetes  Silber)  für  das  Gewand  und  die  übrigen  Zu- 
thaten  am  klarsten  durchgeführt  ist '.)  Nirgends  prägt 
sich  die  Macht  des  Materials  so  lebendig  aus,  wie  hier, 
dazu  kommt  der  fesselnde  Zauber  in  dem  mysteriösen, 
etwas  verschleierten  Gesichtsausdruck.  Es  ist  ein  Werk, 
an  dessen  Anblick  man  sich  nicht  satt  genug  sehen 
kann,  und  wie  einfach  ist  doch  die  ganze  Darstellungs¬ 
weise.  Wir  sehen  einen  weiblichen  Kopf  in  groß  ge¬ 
dachter  Formenbehandlung,  nichts  Kleinliches  ist  daran, 
und  andererseits,  wie  vollkommen  erscheint  die  Technik. 
Wie  Phidias  seinen  Schöpfungen  den  Hauch  der  Vollen¬ 
dung  bis  zur  äußersten  Konsequenz  aufdrückte,  indem 
er  auch  die  Eückteile  seiner  Figuren  mit  derselben 
Liebe  und  Sorgfalt  ausbildet  wie  die  Vorderteile,  so 
auch  Meister  van  der  Stappen.  Der  Kopf  bietet  von 
allen  Seiten  gesehen  dieselbe  Feinheit  der  Behandlung 
bis  auf  die  das  Gewand  schmückenden  Blattpflanzen,  die 
in  leicht  verständlicher  Beziehung  auf  den  Gegenstand 
der  Darstellung  dem  Kreise  derjenigen  entnommen  sind, 
deren  Duft  die  Sinne  zu  benehmen  pflegt.  Was  uns  im 
ersten  Augenblick  befremdet,  ist  das  Hervorstrecken  der 
rechten  sclilaugengezierten  Hand  in  senkrechter  Form, 
bis  die  Fingerspitzen  etwa  die  Höhe  des  Mundes  er¬ 
reicht  haben,  aber  bei  näherer  Betrachtung  finden  wir, 
dass  auch  dieses  Moment  mitwirkt,  um  uns  die  Schöpfung 
nur  desto  anziehender  zu  machen.  Uns  ist,  als  wollten 
wir  ergründen,  was  von  Gedanken  in  diesem  Kopfe 
verborgen  liegt,  doch  zu  gleicher  Zeit  erkennen  wir, 
dass  unser  Mühen  vergebens,  unser  Trachten  erfolg¬ 
los  ist,  denn  unergründlich  ist  die  Sphinx,  bis  ihr  Ödipus 
kommt.  Wie  hat  sich  doch  alles  vereinigt,  um  das 
Werk  als  vollendet  erscheinen  zu  lassen;  der  feinge¬ 
aderte  Onyx,  der  als  Sockel  dient,  der  hellgetönte  Gold- 

1)  Das  Werk  ist  in  einer  Gipsnachbildung  auch  auf  der 
Dresdener  Kunstausstellung  (Nr.  1221)  zu  sehen. 

Anm.  der  Redaktion. 


ton  des  sphinxgeschmückten  Helms  und  des  geblümten  Ge¬ 
wandes,  die  feine  Struktur  des  Elfenbeins,  die  dem  Werke 
Leben  verleiht  imd  alles  dieses  hat  des  Meisters  Hand 
in  rechter  Harmonie  zusammenklingen  lassen.  Hoffen 
wir,  dass  es  dem  Meister  vergönnt  sei,  seine  Absicht, 
eine  ganze  Goldelfenbeinfigur  in  mehr  als  natürlicher 
Größe  zu  bilden,  verwirklicht  zu  sehen. 

Einen  vornehmen  Platz  in  der  Sammlung  und  mit 
Recht  nimmt  D.  Weygers,  ein  Schüler  van  der  Stappen’s, 
mit  seinem  heiligen  Michael  ein.  Der  geflügelte  und 
gepanzerte  Erzengel  schwebt  über  dem  Drachen,  er  ist 
ausgerüstet  mit  goldenem  Schwert  und  Schild.  Indivi¬ 
dueller  x\uffassung  ist  hier  weniger  Spielraum  gegeben, 
gleichwohl  ist  eine  technisch  sehr  beachtenswerte  Leistung 
geliefert  worden. 

Dem  Schlangenbeschwörer  von  Strymans  stellt  sich 
eine  solche  Beschwörerin  von  der  Meisterhand  Jidcs 
Weyns’  zur  Seite.  Am  meisten  berückend  erscheint  das 
kluge,  zierliche  und  anziehende  Köpfchen  der  venus¬ 
gleichen  Gestalt;  eine  mächtige  Schlange  befindet  sich 
in  ihren  Händen.  Die  Figur  zeichnet  sich  durch  ein 
seltenes  Ebenmaß  der  Verhältnisse  aus,  alles  an  ihr  ist 
Leben  und  Bewegung. 

Außerdem  hat  der  Meister,  der  auch  auf  der  großen 
Berliner  Kunstausstellung  mit  einer  guten  Elfenbeinarbeit, 
Kopf  einer  Edeldame,  vertreten  ist,  eine  dem  Könige 
Leopold  II.  als  dem  Souverän  des  Kongostaates  ge¬ 
widmete  Büste  dieses  Monarchen  ausgestellt.  Sowohl 
die  Büste  an  sich  erscheint  wohlgelungen  als  auch 
der  gesamte  Aufbau.  Eine  in  lebhaftem  Schwünge  be¬ 
griffene  weibliche  Gestalt,  sagen  wir  Fama,  hält  in 
der  linken  Hand  den  wohlverdienten  Lorbeerkranz,  mit 
der  rechten  legt  sie  die  Posaune  an  den  Mund,  um  der 
Welt  von  den  Thaten  des  Monarchen  Kunde  zuzutragen. 
Am  Sockel  befindet  sich  im  Relief  eine  Allegorie  auf 
den  befreiten  Erdteil  in  Gestalt  einer  erwachenden,  ihrer 
Fesseln  ledigen  weiblichen,  lagernden  Figur.  Zu  Seiten 
sind  Reliefs  verdienter  belgischer  Offiziere  angebracht. 

So  macht  sich  denn  in  der  neuen  Bewegung  ein 
großer,  frischer  Zug  bemerkbar,  der  ungemein  wohl- 
thuend  wirkt.  Ich  schließe  meine  Betrachtung  mit  dem 
Wunsche,  dass  die  belgischen  Künstler  auf  der  nun 
einmal  mit  Glück  betretenen  Bahn  wacker  fortschreiten 
mögen,  nicht  nur  zur  Ehre  Belgiens,  sondern  auch  zum 
Ruhme  der  Kunst  unseres  gegenwärtigen  Zeitalters,  in 
dem  die  freundschaftlichen  internationalen  Beziehungen 
in  wissenschaftlicher  und  künstlerischer  Hinsicht  eine 
so  große  Rolle  spielen. 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO 
UND  GAUDENZIO  FERRARI. 

VON  GUSIAV  PAULI. 

ITT. 


ACHDEM  Gaudenzio  Ferrari  Varallo  ver¬ 
lassen  hatte,  trat  allem  Anschein  nach 
eine  gewisse  Stagnation  in  den  Arbeiten 
auf  dem  Heiligenberge  ein.  Wenigstens 
haben  wir  aus  den  nächsten  Jahrzehnten 
von  keiner  einzigen  dort  ausgeführten  Ar¬ 
beit  gewisse  Kunde.  Erst  ein  Menschenalter  später  kam  ein 
neuer  Aufschwung  in  die  Bauthätigkeit.  Er  knüpft  sich  an 
den  Namen  des  Giacomo  d’Adda,  eines  angesehenen  Valse- 
sianers,  der  die  Tochter  des  letzten  Scarognini,  Giovanni 
Antonio,  heiratete.  Als  ihm  nach  dessen  Tode  1556  das 
reiche  Erbe  der  Scarognini  zugefallen  war,  sorgte  er  in  der 
liberalsten  Weise  bis  an  sein  Lebensende  (f  1580)  für 
den  sacro  monte,  und  späterhin  wurde  bei  seinen  Nach¬ 
kommen  diese  Fürsorge  zu  einer  ehrenvollen  Tradition. 
Giacomo  d’Adda  setzte  sich  als  fabbriciere  mit  dem  be¬ 
rühmten  Mailänder  Architekten  und  Maler  Pellegrino  Pelle- 
grini,  genannt  Tibaldi,  in  Verbindung  und  ließ  von  diesem 
den  ganzen  Plan  des  Heiligenberges  neu  bearbeiten.  Die 
Aufnahmen  und  Pläne  Tibaldi’s  haben  sich  nebst  dem 
Memorandum,  das  er  dabei  überreichte,  in  einem  statt¬ 
lichen  Bande  im  Collegio  d’Adda  in  Varallo  erhalten  und 
bilden  eine  der  wichtigsten  Quellen  für  die  Geschichte 
des  Berges.  Q  Er  ging  davon  aus,  dass  es  von  größter 
Wichtigkeit  sei,  die  Darstellungen  der  einzelnen  Mysterien 
in  der  richtigen  Reihenfolge  dem  Pilger  vorzuführen, 
was  man  bisher  vernachlässigt  hatte.  Daher  verlangte 
er  zunächst  Beseitigung  der  regellosen  Kreuz-  und  Quer¬ 
wege  und  zeichnete  einen  neuen  Weg  vor,  der  in  großen 
geschweiften  Zickzacklinien  die  verschiedenen  Kapellen 
der  Reihe  nach  miteinander  verband.  Sodann  vervoll¬ 
ständigte  er  die  Zahl  der  darzustellenden  Mysterien  und 
entwarf  für  einige  der  neuen  Tempel  selbst  die  Pläne. 
Der  Zeitpunkt  dieser  seiner  Thätigkeit  wird  annähernd 

1)  Eine  Kopie  seines  Entwurfes  bei  Butler,  Ex  voto  nach 
S.  60,  woselbst  auch  ein  Auszug  aus  dem  Memorandum  ab¬ 
gedruckt  ist. 

Zeitschril't  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  12. 


(Schluss.) 

dadurch  bestimmt,  dass  in  dem  erwähnten  ältesten 
Führer  des  Berges  von  1587  (Descrittione  del  sacro 
monte  etc.)  einige  der  von  ihm  projektirten  Ivap  eilen  als 
vollendet  angegeben  werden,  andere  als  begonnen. 

Ein  mächtiger  Sporn  musste  damals  den  Tvünstlern 
und  Bauherren  des  Berges  die  Teilnahme  sein,  mit  der 
der  Erzbischof  Carlo  Borromeo  ihr  Werk  verfolgte.  Der 
merkwürdige,  schon  zu  seinen  Lebzeiten  fast  wie  ein 
Heiliger  verehrte  Mann  besuclite  zuerst  1578  das  neue 
Jerusalem  und  weilte  daun  noch  einmal  1584  dort  vier¬ 
zehn  Tage  unter  Fasten  und  Beten.  .Ta,  die  Legende 
berichtet,  er  habe  an  der  dem  Gebet  Christi  auf  dem 
Ülberg  geweihten  Kapelle  die  Ankündigung  seines  eigenen 
nahen  Endes  empfangen.  Jedenfalls  starb  er  bald  nach 
jenem  zweiten  Besuche. 

Die  von  Pellegrino  Tibaldi  damals  entworfene  An¬ 
lage  ist  für  die  Folgezeit  maßgebend  geblieben.  Der 
Kapellenweg  ist  zum  größten  Teile  noch  heute  der  von 
ihm  vorgezeichnete,  Proben  seiner  gemäßigten  Barock¬ 
architektur  sind  in  dem  Eingangsthor  und  in  der  ersten 
Ivapelle  erhalten.  Im  übrigen  verzichtete  man  auf  die 
Ausführung  seiner  Baupläne,  vermutlich  weil  sie  zu 
teuer  geworden  wäre.  Leider  wurde  die  plastische  und 
malerische  Ausschmückung  der  neu  errichteten  Kapellen 
anfänglich  recht  ungeschickten  Händen  anvertraut.  Wie 
der  Bildner  geheißen  haben  mag,  dem  man  hier  ein  nur 
allzu  weites  Feld  der  Thätigkeit  eröffnete,  ist  nicht  ge¬ 
wiss.  Sein  Name  ist  es  auf  alle  Fälle  auch  nicht  wert, 
der  Nachwelt  überliefert  zu  werden.  Er  ist  der  unge¬ 
schickteste  Stümjier,  der  sich  auf  all  den  Heiligenbergen 
versucht  hat.  Man  erkennt  ihn  leicht  wieder  an  einem 
fatalen  geradnasigen  Idealkopf  mit  übergroßen  Augen 
und  einem  kleinen  Ivirschenmündchen,  den  er  überall 
anbringt,  an  den  regelmäßig  zu  kleinen  Füßen,  an  der 
verschwommenen  Behandlung  der  Muskeln  und  Gew'and- 
falten.  Ein  weiteres  äußeres  Ivennzeichen  seiner  Ar¬ 
beiten  ist,  dass  sie  sämtlich  aus  Gips  oder  Stuck,  nicht 

37 


290 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


aus  g'ebranntem  Thou  gefertigt  sind.  Sie  sind  daher  zu 
allem  Überfluss  noch  in  einem  bejammernswerten  Zu¬ 
stand  der  Erhaltung,  oft  angebröckelt,  morsch  und  mit 
weihem  Staube  bedeckt.  —  Folgende  Gruppen  gehen  auf 
ihn  zurück: 

Ileschneidung  Christi  (Plan  7),  Traum  Josephs  vor 
der  Flucht  nach  Ägypten  (Plan  8),  Taufe  Christi  (Plan  11), 
Versuchung  Christi  (Plan  12)  mit  Ausnahme  der  Tier- 
flguren,  die  von  dem  später  zu  erwähnenden  Tabachetti 
hinzugefügt  wurden,  Christus  und  die  Saniariterin(Plan  13), 
Auferweckung  des  Jünglings  zu  Naim  (Plan  15),  Auf¬ 
erweckung  Lazari  (Plan  17),  Einzug  in  .Terusalem  (Plan  18 ). 
—  Bei  den  ersten  beiden  dieser  Gruppen,  der  Be¬ 
schneidung  und  dem  Traume  Josephs,  hat  offenbar  noch 
ein  anderer,  etwas  besserer  Künstler  mitgewii'kt,  dessen 
Hand  wir  auch  in  der  Kapelle  der  drei  Könige  zu  er¬ 
kennen  glauben.  Möglicherweise  hat  Bordiga  recht, 
wenn  er  hier  den  Maler  Fermo  Stella  nennt,  einen  Ge¬ 
hilfen  und  Nachfolger  Ferrari’s. 

Etwas  später  als  die  meisten  dieser  Gruppen  sind 
die  der  Heimsuchung  (Plan  3)  und  des  bethlehemitischen 
Kindermordes  (Plan  10)  entstanden.  Die  sechs  Figuren 
der  ersteren  Kapelle  sind  kaum  viel  besser  als  die  eben 
genannten  und  gleichfalls  aus  Stuck.  An  den  Wänden 
sehen  wir  hier  noch  die  alten  Malereien  aus  der  Zeit, 
als  hier  die  Gruppe  der  Verkündigung  Mariä  aufgestellt 
war;  über  einem  tepi)ichartigen  Wandrauster  in  sechs 
Bogenfeldern  Halbfiguren  von  Propheten  und  rechts  und 
links  einen  Putto,  von  Antonio  Zanetti,  einem  mittel¬ 
mäßigen  Ferrarischüler,  der  auch  an  der  früher  erwähnten 
Kirche  S.  Maria  di  Loreto  gemalt  hat.  —  Die  Kapelle 
des  Kindermordes  ist,  wenn  auch  nicht  eine  der  ge¬ 
lungensten,  so  doch  eine  der  größten  des  Berges.  Der 
Bau  entstand  in  den  .Jahren  1586  und  1587.')  Wähi'end 
man  noch  daran  arbeitete,  besuchte  der  Herzog  Karl 
Emanuel  I.  von  Savoyen  mit  seiner  Gemahlin  den 
Heiligenberg  und  stiftete  bei  der  Gelegenheit  die  Mittel 
zur  plastischen  und  malerischen  Ausstattung.  Zwei  Bild¬ 
hauer,  Giacomo  Bargnola  genannt  Parracca  und  Michel¬ 
angelo  liossetti,  stellten  in  fünfiindnennzig  lebensgroßen 
Terrakottafiguren  diese  schauderhafteste  aller  Blutscenen 
dar,  während  zwei  noch  mehrfach  an  den  Heiligenbergen 
tliätige  Maler,  die  Brüder  Gioranni  Battista  und  Gio¬ 
vanni  Mauro  Boveri,  genannt  i  Fiammenghini,  den  Vor¬ 
gang  in  den  Fi’esken  der  Wände  fortsetzten. '^)  Die 

1)  G.  Arienta.  Arte  e  storia  XII.  S.  138. 

2)  Die  ältere  Guidenlitteratur  bezeichnet  ausnahmslos 
Bargnola  als  den  Verfertiger  der  Gruppe;  dagegen  findet 
sich  auf  dem  Halsband  des  rechts  von  Herodes  stehenden 
Kriegers  der  Name  des  sonst  wenig  bekannten  Michelangelo 
Rossetti  mit  der  Jahreszahl  1590.  Auf  den  Halsbändern  der 
zwei  links  von  Ilerodes  stehenden  Krieger  haben  sich  die 
Maler  der  Fresken  bezeichnet:  Battisto  Roveri  Pictor  Milanes 
Aeta  XXXV  und  Jo  .  Mauro  .  Rover .  Pictor.  Von  ilinen 
stammen  außerdem  die  Fresken  in  der  Ka])elle  des  Einzugs 
in  Jerusalem  und  an  den  Außenwänden  der  ersten  Kapelle 


Gesamtwirkung  der  Schar  verzweifelter  Mütter,  roher  Sol¬ 
daten  und  blutender  Kinderkörper  ist  bei  dem  schranken¬ 
losen  Naturalismus,  dem  Plastiker  und  Maler  huldigten, 
wie  nicht  anders  zu  erwarten,  grauenhaft.  Die  Kom¬ 
position  ist,  wie  so  oft,  auch  hier  wieder  ziemlich  ver¬ 
worren,  doch  sind  einzelne  Figuren  Bargnola’s  für  sich 
betrachtet  wohl  gelungen,  weit  besser  als  die  Figuren 
des  Herodes  und  seiner  Diener,  die  —  vielleicht  nach 
Bargnola’s  Tode  —  Itossetti  im  Hintergründe  der  Kapelle 
ausführte.  1591  war  die  Kapelle  fertig,  wie  aus  einer 
entsprechenden'Bemerkung  in  der  in  jenem  Jahre  in  Varallo 
neu  erschienenen  descrittione  del  sacro  monte  hervorgeht. 

Wahrscheinlich  in  den  letzten  Jahren  des  sech¬ 
zehnten  .Jahrhunderts  ist  ein  Künstler  nach  Varallo  ge¬ 
kommen,  der  als  ein  klassischer  Vertreter  jener  Art  von 
Thonbihlnerei  betrachtet  werden  kann  und  der  sich  dort 
zu  J^ande  noch  heute  des  größten  volkstümlichen  An¬ 
sehens  erfreut.  Dieser  Künstler  war  Gioranni  Tabachetti. 
Über  seine  Herkunft  sind  wir  jetzt  durch  verdienstvolle 
Untersuchungen  S.  Butler’s  genauer  unterrichtet.')  Da¬ 
nach  ist  Tabachetti  ein  Flamländer  aus  Dinant,  der  Sohn 
eines  Guillaume  de  Wespin  genannt  Tabaguet.  Ver- 
mutlich  ist  er  in  dem  Jahrzehnt  zwischen  1560  und 
1570  geboren.  Da  Tabachetti  1587  als  aJjwesend  in 
einer  Urkunde  seiner  Heimat  erwähnt  wird,  und  da  in 
Belgien  bislang  keine  Arbeiten  von  ihm  gefunden  worden 
sind,  so  hat  er  wahrscheiiilich  in  jungen  .Jahren  Flandern 
verlassen.  Er  muss  gleich  nach  Italien  gewandert  sein, 
denn  als  um  1590  die  Arbeiten  auf  dem  Heiligeiiberge 
zu  Crea  bei  Casale  begonnen  wurden,  sehen  wir  ihn  dort 
beschäftigt.  In  die  Heimat  scheint  er  nie  wieder  zurück¬ 
gekehrt  zu  sein.  Er  blieb  in  der  Nähe  von  Crea  an¬ 
sässig,  wird  mehrfach  als  dortiger  Grundbesitzer  erwähnt 
und  starb  1615  oder  in  den  ersten  Tagen  des  folgenden 
Jah  res,  denn  1616  am  4.  Januar  wird  die  Geburt  eines 
ihm  posthum  geborenen  Sohnes  bezeugt.-)  Außer  seinen 
Arbeiten  in  Crea  und  Varallo  ist  bisher  nichts  von  ihm 
bekannt  geworden,  was  bei  der  Vergänglichkeit  der  Stuck- 
und  Terrakottabildwerke  wohl  begreiflich  ist. 

Die  Datirung  seiner  Varalleser  Werke  lässt  sich 
annähernd  bestimmen.  Gewöhnlich  wurden  in  den  Ka¬ 
pellen  zuerst  die  Gruppen  in  Angriff  genommen  und 
später  die  Fresken  dazu  gemalt.  Nun  wissen  wir,  dass 
1594  und  1599  wegen  der  Ausmalung  der  ersten  Kapelle 
(des  Sündenfalls),  zu  der  Tabachetti  die  Figuren  geliefert 
hat,  mit  einem  Maler  verhandelt  wurde.  ^)  Also  werden 

1)  Butter,  Ex  voto.  S.  119ff.  —  Aus  einer  ebenda  S.  124 
aJ)gedruckten  Urkunde  ersehen  wir,  dass  1587  ein  Oheim 
unseres  Tabachetti  für  den  Abwesenden  die  Erbschaft  seiner 
Eltern  und  seiner  Schwester  antritt.  Aus  dem  Umstande, 
dass  diese  jüngst  verstorbene  Schwester  als  minorenn  be¬ 
zeichnet  wird,  folgern  wir  die  oben  annähernd  bezeichnete 
Geburtszeit  des  Künstlers. 

2)  Butler,  Ex  voto.  Vorrede.  S.  XI. 

3)  Bordiga.  Storia  e  guida  del  sacro  monte  di  Varallo. 
Varallo  1830.  S.  39. 


DER  HEILlGENßERG  VON  VAR  ALLO  UND  OAUDENZIO  FERRARI. 


291 


um  1594  seine  Arbeiten  beendet  gewesen  sein.  Man 
braucht  sich  mit  den  beiden  nichtssagenden  Aktfiguren 
nicht  lange  anfzuhalten,  zumal  da  die  Kapelle  unlängst 
einer  gründlichen  Restaurirung  unterzogen  worden  ist. 

Das  große  Werk  Tabachetti’s  in  Varallo  ist  die 
Gruppe  der  Kreuztragung  (Plan  35),  die  wahrscheinlich 
sechs  bis  sieben  Jahre  später  entstanden  ist,  da  1602 
mit  dem  Maler  Antonio  Qandino  wegen  der  Ausmalung 
des  Hintergrundes  ein  Kontrakt  abgeschlossen  wurdeU) 
Tabachetti  hat  hier  nach  der  allgemeinen  Ansicht  sein 
bestes  geleistet.  Wegen  der  Mängel  der  Komposition 
muss  man  ein  Auge  zudrücken,  denn  es  war  von  vorn¬ 
herein  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  vierzig  lebensgroße 
Figuren  zu  einem  einheitlichen  Bilde  zusammenzufassen, 
wo  es  für  den  Beschauer  so  völlig  an  einem  Standpunkt 
mangelte,  das  Ganze  zu  übersehen.  In  einem  schmalen 
Gange  geht  mau  an  der  Gruppe  entlang  und  sieht  durch 
die  ovalen  Öffnungen  einer  Holzschranke  den  Figuren 
aus  nächster  Nähe  ins  Gesicht.  —  Der  Zug  bewegt 
sich  nach  links.  Voran  schreiten  die  beiden  nackten 
Schächer,  die  Hände  auf  dem  Rücken  gefesselt,  von 
Kriegsknechten  geführt.  In  der  Mitte  schleppt  sich 
Christus  unter  dem  Kreuze  fort.  Vor  ihm  breitet 
Vei'onika  mit  entsetzter  Miene  das  Schweißtuch  aus. 
Hinter  ihm  her  wandeln  die  Marien  mit  .lohaunes,  zwischen 
die  sich  ein  Soldat  mit  drohender  Miene  drängt.  Zu¬ 
schauer  und  Krieger  füllen  den  übrigen  Raum.  Ge¬ 
schickt  sind  hinter  den  Fußgängern  einige  Reiter  an¬ 
geordnet.  Ähnlich  wie  in  den  großen  Kapellen  Qcmdenzio 
FerrarUs  sind  auf  die  Wände  dichte  Scharen  von  Reisigen 
und  Fußvolk  und  an  das  Gewölbe  etliche  jammernde 
Engel  gemalt.  Zur  Ikonographie  sei  erwähnt,  dass  drei 
dieser  Engel  Bilder  tragen,  auf  denen  als  symbolisch 
vergleichbare  Begebenheiten  des  alten  Bundes  das  Opfer 
Isaaks,  Josua  und  Kaleb  mit  der  großen  Weintraube  und 
der  König  Abimelech  mit  einem  Baumstamm  auf  den 
Schultern  dargestellt  sind.  —  Der  Meister  dieser  Malereien 
war  der  unter  dem  populären  Namen  des  „Morazzone“ 
bekannte  Pierfrancesco  Mazzticchelli.  einer  der  namhaften 
mailändischen  Maler  jener  Zeit  mit  rascher  Hand  und 
wmnig  Charakter.  Auf  dem  Heiligenberge  in  Varallo 
malte  er  außer  der  Kapelle  der  Kreuztragung  in  den 
.fahren  1612  — 1614  die  des  Ecce  homo  und  der  Ver¬ 
urteilung  Christi  aus.  Man  muss  ihn  dort  besonders 
hoch  geschätzt  haben,  denn  seiner  Kunst  wegen  brach 
man  1604  den  obenerwähnten  mit  dem  Maler  Qandino 
abgeschlossenen  Vertrag,  und  ließ  dessen  schon  be¬ 
gonnene  Malereien  herunterschlagen.  —  Morazzone 
scheute  sich  nicht,  eine  Menge  seiner  Gestalten,  Reiter 
und  Engel,  mit  einigen  leichten  Veränderungen  aus  der 
Kapelle  der  Kreuzigung  zu  copieren. 

Außer  den  beiden  genannten  Kapellen  schreibt  die 
Tradition,  offenbar  mit  Recht,  noch  die  Kapelle  des  ersten 


Traumgesichts  des  hl.  Joseph  (Plan  Nr.  4)  dem  Tabachetti 
zu.  Sie  enthält  nur  drei  Figuren  und  keine  Fresken. 
Joseph  lehnt  fest  schlafend  mit  zurückgesunkenem  Haupte 
in  einem  Sessel.  Von  links  tritt  der  Engel  an  ihn  heran, 
der  ihm  die  Geburt  des  Heilandes  verkündet,  während 
Maria,  eine  liebliche  junge  Hausmutter,  nichts  ahnend  von 
der  himmlischen  Erscheinung,  rechts  von  ihrem  Gatten 
sitzt,  mit  einer  Spitzenklöppelei  beschäftigt.  —  Da  diese 
Darstellung  in  den  Guiden  bis  um  1610  noch  nicht  erwähnt 
wird,  so  ist  sie  offenljar  die  letzte  Arbeit  Tabachetti’s 
auf  dem  sacro  monte. 

Tabachetti  hat  das  Glück  gehabt,  dass  er  an  Stätten 
thätig  war,  wo  —  abgesehen  von  Gaudenzio  Ferrari  — 
kein  Ijedeutenderer  Plastiker  vor  dem  Forum  der  Nach¬ 
welt  mit  ihm  konkurrireu  konnte.  Sein  Verdienst  er¬ 
schien  daher  den  Bewohnern  jener  Gegenden  von  jeher 
im  glänzendsten  Lichte,  und  zuguterletzt  hat  der  leicht 
begeisterte  S.  Butler,  von  der  lokalen  Bewunderung  an¬ 
gesteckt,  mit  enthusiastischen  Worten  in  seinem  Buche 
über  den  Heiligenberg  Tabachetti’s  Lob  verkündet.  Über¬ 
all,  wo  ihm  in  Varallo  eine  Figur  gut  gefiel,  erblickte 
er  in  ihr  Tabachetti’s  Meisterhand.  Er  stellte  ihn  nicht 
nur  über  Gaudenzio,  sondern  sogar  über  Michelangelo. 
Die  Kreuztragung  schien  ihm  Vorzüge  zu  besitzen,  deren 
die  Grabkapelle  der  Medici  ermangelte.  —  Nun  —  wir 
wünschen  dem  verklärten  Tabachetti  aufrichtig  Glück  zu 
seinen  Bewunderern,  mehr  als  den  letzteren  zu  ihrem 
Geschmack. 

Tabachetti  war  ohne  Zweifel  ein  geschickter  Pla¬ 
stiker.  Seine  Maria,  die  sich  über  ihr  Klöppelkissen 
beugt,  ist  ein  vortreffliches  Stück  liebenswürdiger 
naturalistischer  Thonbildnerei,  auch  der  schlafende  Joseph 
ist  trotz  seiner  odiösen  Eosshaarperücke  anziehend, 
weil  naturwahr.  Die  vielgerühmte  Kreuztragungsgruppe 
dagegen  offenbart  gar  deutlich  die  Grenzen  von  Ta¬ 
bachetti’s  Begabung.  Diesem  Gegenstand,  der  das 
größte  tragische  Pathos  erheischt,  war  er  nicht  ge¬ 
wachsen.  Er  verfiel  hier  in  ein  langweiliges  Schema- 
tisiren  der  weiblichen  Idealfiguren  mit  ihren  länglichen 
schmalen  Gesichtern  und  erborgte  sich  einige  Charakter¬ 
köpfe  einfach  aus  Gaudenzio’s  Kreuzigung.  —  Zum 
großen  Künstler  fehlte  es  ihm  an  einer  starken  schöpfe¬ 
rischen  Persönlichkeit;  danach  aber  fragt  das  große 
Publikum  nicht.  Ihm  gefiel  er,  weil  er  nichts  verdarb, 
in  Körper-  und  Gewandbehaiidlung  korrekt  war,  und 
weil  ihm  jene  liebenswürdige  Anmut,  in  allem  was  er 
schuf,  eigen  war,  jene  Anmut,  für  die  man  gerade  in 
Italien  so  viel  Verständnis  hat.  Darum  war  er  an 
seinem  Platze  der  rechte  Mann. 

Nach  seinem  Weggange  erlahmte  die  Thätigkeit  auf 
dem  Ileiligenberge  in  keiner  AVeise.  Gerade  damals  war 
dem  Unternehmen  ein  neuer  einflussreicher  Gönner  er¬ 
wachsen  in  dem  Monsignore  Carlo  Bescape,  der  1593 
den  bischöflichen  Stuhl  von  Novara  bestiegen  hatte.  Un¬ 
längst  war  damals  in  seiner  Diöcese  ein  neuer  Heiligeu- 

37* 


1)  Bordiga.  Storia.  S.  79. 


292 


DER  HEILIGENBERG  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


berg,  dein  Franziskus  geweiht,  bei  Orta  entstanden.  Und 
wenn  der  Bischof  auch  seine  Fürsorge  hauptsächlich 
diesem  jungen  Unternehmen  widmete,  so  war  er  daneben 
doch  so  eifrig  für  das  alte  Heiligtum  in  Varallo  bemüht, 
dass  man  ihm  das  Hauptverdienst  an  seiner  Vollendung 
zuschreibeii  darf.  So  rasch  wie  jetzt  war  liier  nie  zuvor 
gearbeitet  worden.  In  den  ersten  vierzig  oder  fünfund¬ 
vierzig  Jahren  des  siebzehnten  Jahrhunderts  wurden 
über  zwanzig  Kapellen  vollendet,  zu  denen  die  folgenden 
Jahrhunderte  dann  nur  noch  drei  weitere  hinzugefügt 
haben. 

Einem  Schüler  J'abachetti's  fällt  der  Löwenanteil 
an  diesen  Arbeiten  zu.  Gioraivti  d'Enrko  ist  der 
Name  des  sonst  wenig  be¬ 
kannten  Plastikers  und  Archi¬ 
tekten.  Er  stammte  aus  dem 
letzten  höchstgelegenen  Orte 
des  Sesiathales  aus  Alagna, 
dessen  Bewohner  noch  einen 
deutschen  Dialekt  sprechen  — 
eine  Thatsache,  die  unsern 
meisten  Landsleuten  unbekannt 
sein  dürfte.  Gegen  1605  muss 
er  nacdi  Varallo  gekommen  sein, 
da  keines  seiner  dortigen  Werke 
sich  mit  Sicherheit  früher  da- 
tiren  lässt.  1644  ist  er  in  dem 
Städtchen  Montrigoiie  nicht 
weit  von  Varallo  gestorben.’) 

Außer  ihm  waren  noch  zwei 
seiner  Brüder  auf  dem  Heiligen¬ 
berge  als  Maler  thätig,  ein 
älterer,  Melchiorre,  und  ein 
entschieden  befähigterer  jünge¬ 
rer,  Antonio,  mit  einer  fami¬ 
liären  Abkürzung  Tanzio  ge¬ 
nannt.  Daraus  haben  dann 
Nagler  und  Zani  für  alle  drei 
einen  Familiennamen  gemacht, 
der  auch  in  Meyer’s  Eeisehand- 
buch  zu  lesen  ist.  Giovanni  d’Enrico  ist  der  Erbauer  der 
neuen,  1614  begonnenen,  Kirche  des  Heiligenberges,  und 
außerdem  hat  ei’  die  Pläne  geliefert  für  die  drei  großen  Ka¬ 
pellenbauten,  die  man  in  dieser  Zeit  zur  Aufnahme  der  noch 
fehlenden  Passionsgruppen  errichtete.  Es  sind  die  so¬ 
genannten  Paläste  des  Kaiphas,  des  Herodes  und  Pilatus, 
die  an  der  Nordwestseite  des  Bei'ges  um  einen  vier¬ 
eckigen  Platz  liegen  (Plan  24 — 34).  Bei  erheblich 

größeren  Dimensionen  halten  sie  sich  doch  in  den  ein¬ 
fachen  traditionellen  Bauformen  der  älteren  Kapellen. 
Von  dem  neun  Kapellen  umfassenden  großen  Palast  des 

1)  Vgl.  F.  Tonetti.  Museo  storico  ed  aitistico  Valsesiano. 
II.  Varallo  1888.  S.  48. 

P.  Galloni,  Uomini  e  fatti  celebri  della  Valsesia.  S.  148. 

S.  Butler,  Ex  voto.  S.  15111’. 


Pilatus,  der  1605  begonnen  wurde, ')  führte  man  einen 
Bogengang  zu  den  alten  Kapellenbauten  des  heiligen 
Grabes  hinüber. 

Man  muss  Giovanni  d’Enrico  mehr  als  Plastiker 
denn  als  Baumeister  beurteilen;  doch  ist  es  auch  hier 
nicht  leicht,  ihm  gerecht  zu  werden,  da  die  ihm  zuge¬ 
schriebenen  Gruppen  so  sehr  ungleichwertig  sind.  Er 
sah  sich  bei  der  Menge  der  Arbeit  genötigt,  in  ausge¬ 
dehntem  Maße  Gehilfen  zu  beschäftigen,  ja  späterhin 
schloss  er  sogar  mit  einem  derselben,  dem  Giaco7no  Ferro, 
einen  Vertrag  ab,  wonach  er  diesem  die  Hälfte  seines 
gesamten  Lohnes  zusicherte.  Außerdem  handelte  es  sich 
in  vielen  Fällen  mehr  um  eine  Ergänzung  und  Neuauf¬ 
stellung  vorhandenen  Materials. 

Die  fiühesten  Arbeiten 
Giovanni’s,  bei  denen  man  auch 
am  ehesten  Eigenhändigkeit  an¬ 
nehmen  kann,  befinden  sich  im 
Palazzo  di  Pilato.  Die  große 
Gruppe  des  Ecce  honio ,  die 
zwischen  1608  und  1612  ent¬ 
standen  ist,“)  zeichnet  sich  in 
jeder  Hinsicht  vorteilhaft  aus 
vor  seinen  späteren  Werken. 
Zunächst  ist  die  Gesamtanord- 
nung  gelungener.  Ähnlich  wie 
auf  dem  Fresko  Gaudenzio 
Ferrari’s  in  Sta.  Maria  delle 
grazie  in  Mailand  erscheint 
Pilatus  mit  dem  gefesselten 
Christus  auf  einem  hohen  von 
Balustradengeländer  umgebe¬ 
nen  Altar.  Unten  drängt  sich 
die  Schar  der  Juden,  die  gleich¬ 
falls  nach  dem  Vorbilde  Gau- 
denzio’s  geschickt  im  Halbkreis 
gruppirt  ist.  In  ein  paar  Ein¬ 
zelfiguren  hat  Giovanni  seinen 
großen  Vorgänger  direkt  kopirt. 
Der  leonardeske  Kahlkopf  zu 
äußerst  links,  der  vollbärtige  Greis,  der  in  seiner 
Nähe  steht,  und  der  darauffolgende  Zuschauer,  der 
die  Arme  über  der  Brust  kreuzt,  sind  nur  leicht 
veränderte  Wiederholungen  der  entsprechenden  Figuren 
in  der  Kapelle  der  Kreuzigung.  (Als  ein  Kuriosum 
sei  bemeidct,  dass  Sam.  Butler  in  der  letztgenannten 
Figur  ein  Selbstbildnis  Tabachetti’s  erkennen  will.)  An 
Tabachetti  erinnern  die  Idealtypen  der  Weiber  und  Jüng¬ 
linge,  sowie  die  Vorliebe  für  einen  halbgeöffneten  Mund, 


1)  0.  Arienta.  Arte  e  Storia.  XTV.  (1895.)  S  117  ff. 

2)  1608  wurde  nach  einer  aus  Rom  verschriebenen 
Zeichnung  die  scala  santa  erliaut,  auf  der  man  zur  Kapelle, 
die  im  Oberstock  der  casa  di  l’ilato  liegt,  hinansteigt.  1612 
empfing  Morazzone  die  Zahlung  für  seine  Hintergrunds¬ 
malereien. 


Kopf  der  h.  Veronika  aus  der  Kreuztragung  von  Giovanni 
Tabachetti.  (Varallo:  Sacro  monte.) 


DER  HEILIGENBEIIC;  VON  VARALLO  UND  GAUDENZIO  FERRARI. 


293 


doch  ist  Giovanni  d’Enrico  im  allgemeinen  frischer  nnd 
lebhafter  im  Ausdruck,  derber  in  seiner  Körperbildung-. 
Bald  nach  dem  Ecce  homo  wurden  die  drei  andern  Ka¬ 
pellen  eingerichtet,  die  außerdem  im  Oberstock  der  casa 
di  Pilato  liegen,  zuerst  die  Verurteilung  Christi  (Plan 34), 
in  den  Einzelheiten  der  Formenbehandlung  durchaus  dem 
Ecce  lionio  entsprechend,  sodann  die  erste  Begegnung 
Christi  mit  Pilatus  und  die  Handwaschung  Pilati  (Plan  26 
und  33).  Die  beiden  letzteren  Gruppen  fallen  gegen 
das  Ecce  homo  entschieden  ab,  wahrscheinlich  infolge 
starker  Mitwirkung  von  Schülerhänden.  Die  Fresken 
des  Hintergrundes  malte  hier  Tanzio  d’Enrico. 

Bei  den  folgenden  Gruppen  wurden  in  reichlichem 
Maße  ältere  Holzfiguren  wieder  verwendet.  Bei  der 
Vorführung  des  dornengekrönten  Christus  vor  Pilatus 
(Plan  31)  sind,  wie  wir  schon 
früher  bemerkt  haben,  drei 
Figuren  der  von  Gaudenzio 
Ferrari  ausgemalten  Kapelle 
der  Vorbereitung  zur  Kreuzi¬ 
gung  entnommen.  Von  den 
sieben  Figuren  der  Geißelung 
Christi  (Plan  29)  sind  zwei  alt 
nnd  ans  Holz,  die  übi'igen  fünf, 
die  Arienta  für  Arbeiten  des 
Giovanni  d’Enrico  erklärt,  kann 
ich  nur  für  Werke  eines  ge¬ 
schickten  Schülers  halten,  da- 
die  weiche  Behandlung  der  Fal¬ 
ten  zu  sehr  von  der  des  Gio¬ 
vanni  abweicht.  —  ln  der 
Kapelle  der  Gefangennahme 
Christi  auf  dem  Ülberg  (Plan 
22)  sind  gar  drei  viertel  der 
Gruppe  steife  alte  Holzfiguren, 
und  nur  vier  Terrakottafiguren, 
zwei  fliehende  Apostel  rechts 
nnd  zwei  Schergen,  entstammen 
der  Werkstatt  des  Giovanni  d’Enrico. 

Die  übrigen  Kapellen,  die  auf  ihn  nnd  seine  Ge¬ 
hilfen  zurückgehen,  nenne  ich  hier  in  Kürze  nach  der 
wahrscheinlichen  Zeitfolge  ihrer  Entstehung. 

Die  Dornenkrönung  (Plan  30)  gehört  offenbar 
zu  den  frühesten  und  besten  Arbeiten  des  Giovanni 
d’Enrico. 

Die  Beweinung  Christi  (Plan  39),  das  Gebet  im 
Garten  Gethsemane  nnd  die  schlafenden  Apostel  (Plan  20, 
21).  ln  einer  Nische  neben  der  Kapelle  des  Gebets  ist 
eine  knieende  Statue  des  Erzbischofs  Carl  Borromeo  im 
roten  Kardinalsgewand  aufgestellt,  weil  der  Heilige  der 
früheren  Kapelle  dieses  Gegenstandes  seine  besondere 
Verehrung  bezeugt  haben  soll.  Die  Heilung  des  Gicht¬ 
brüchigen  (Plan  14)  ist  dadurch  in  ihrer  Entstehungs¬ 
zeit  bestimmt,  dass  1622  der  Maler  des  Hintergrundes 
(  Cristoforo  Martinolo  genannt  Jiocca)  seinen  Arbeits¬ 


kontrakt  Unterzeichnete,  f)  —  Christus  vor  Herodes  (Plan 
27).  Eine  sehr  umfangreiche  Gruppe  von  fünfunddreißig 
Statuen,  nach  Bordiga-)  gegen  1638  beendet.  Die  Wand¬ 
malereien  des  Tanzio,  architektonische  Perspektiven  mit 
Scharen  von  Zuschauern,  sind  zwar  an  sich  betrachtet  keine 
großen  Meisterwerke,  schließen  sich  aber  recht  gut  an 
die  Skulpturen  an.  Christus  vor  Kaiphas  (Plan  24).  Die 
dreiunddreißig  Figuren  sind  sehr  ungleichen  Wertes,  am 
besten  der  derbe  lebhafte  Kaiphas,  der  von  seinem  Throne 
an  einen  Tisch  getreten  ist  und  mit  drohend  erhobener 
Rechten  auf  Christus  einredet.  Als  Urheber  der  Fresken 
hat  sicli  an  der  rechten  Wand  Cristoforo  Martinolo  Rocca 
bezeichnet  mit  dem  Datum  1642.  —  In  einer  Nische 
neben  dieser  Kapelle  sieht  man  die  Statue  des  Petrus,  der 
bei  dem  dritten  Hahnenschrei  seines  Verrates  an  Christo 
inne  wird  (Plan  25).  —  Christus 
wird  von  Herodes  kommend 
dem  Pilatus  zurückgebracht 
(Plan  28).  Die  Gruppe  ist  eine 
der  letzten,  die  noch  zu  Leb¬ 
zeiten  des  Giovanni  d'Enrico 
vollendet  wurden.  Die  Male¬ 
reien,  nach  den  alten  Gniden 
(Fassola  nnd  Torrotti)  von 
Tanzio  und  Morazzone  be¬ 
gonnen,  wurden  erst  viel  später 
von  den  Architekturmalern 
Grandi  und  von  Pietro  Gia- 
iioli,  vollendet.  Letzterer  hat 
sich  links  vorn  mit  einem  Zettel 
in  der  Hand,  auf  dem  sein  Name 
und  die  Jahreszahl  1679  steht, 
abgenialt.  —  Den  Beschluss  der 
auf  Giovanni  d’Enrico  zurückzn- 
führenden  Werke  machen  die 
beiden  Ka[)ellen,  die  neben  der 
Kreuzigung  Gaudenzio  Fer- 

rari’s  auf  dem  Kalvarien¬ 

berge  stehen.  Die  Nachbarschaft  war  gefährlich,  nnd 
leider  zeigte  sich  Giovanni  d’Enrico  gerade  hier  von 

seinen  schwachen  Seiten.  In  der  großen  Kapelle  der 
Anheftung  Christi  auf  das  Kreuz  (Plan  36)  suchte  er 
durch  die  Masse  zu  wirken,  verfehlte  aber  eben  dadurch 
von  vornherein  jede  künstlerische  Wirkung.  Es  ist  ein 
Getümmel  von  siebzig  Thonfiguren,  aber  keine  Gruppe 
mehr,  dazu  sind  die  einzelnen  Ge.stalten  offenbar  meist 
Gehilfenwerk  und  recht  oberflächlich  behandelt.  Ver¬ 

gebens  suchen  wir  nach  einer  jener  keck  naturalistischen 
Gestalten,  wie  sie  Giovanni  d’Enrico  zuweilen  geglückt 
sind,  dagegen  begegnen  uns  wieder  mehrfache  Reminis- 
cenzen  an  Gaudenzio  Ferrari.  Die  schon  von  Tabaclietti 
verwendeten  Charakterköpfe  des  krummnasigeu  Schergen 


1)  Bordiga,  Storia  e  guida.  S.  52. 

2)  Ebenda.  S.  67. 


Kopf  eines  der  würfelnden  Landsknechte  ans  der  Kreuzigung 
von  Gaudenzio  Feheaei.  (Varallo :  Saoro  uionte.) 


294 


WIE  MAN  SKULPTUREN  AUFNEHMEN  SOLL. 


und  des  Kropfnien sehen ,  ferner  einzelne  Waffenstücke, 
Helme,  Schwerter,  Schilde.  —  Giovanni  d’Enrico  hat  die 
Vollendung'  dieser  Ai'heiten  nicht  mehr  erlebt.  —  Auch 
in  der  Gruppe  der  Ivreuzabnahrae  (Plan  38)  ist  das 
meiste  miiiderwerdige  Werkstattarheit,  nur  eine  Gestalt, 
ein  altes  Bäuerlein,  links  vom  Beschauer,  das  in  der 
rechten  Hand  Hammer  und  Zange  hält,  und  mit  der 
linken  den  breitkrempigen  Hut  lüftet,  um  nach  dem 
Kreuze  hinaufzuschauen,  fällt  vorteilhaft  auf.  Es  ist 
wohl  die  gelungenste,  frischeste  Arbeit  des  Giovanni 
d’Enrico,  dem  sie  Butler  ohne  Grund  abspricht,  um  sie 
seinem  verehrten  Tabachetti  zuzuschreibeu.  — •  Die  Hinter¬ 
gründe  sind  in  beiden  Fällen  von  dem  Mailänder  Mdchiorre 
Gilardini  gemalt. 

An  der  Kapelle  des  heiligen  Grabes  sind  Werke 
des  Giovanni  d’Enrico,  die  Statue  des  Begründers  des 
Berges,  Bernardino  Caimi,  die  an  der  Außenwand  in 
einer  Nische  steht,  und  des  hl.  Carl  Borromeo,  der  in 
einer  kleinen  Kapelle  neben  der  Grabkirche  kniet. 

Mit  der  Thätigkeit  des  Giovanni  d "Enrico  ist  die 
x\nlage  des  Heiligenberges  im  wesentlichen  beendet.  Eine 
noch  zu  seiner  Zeit  begonnene  Kapelle,  die  der  Trans- 
ffguration,  die  auf  dem  höchsten  Punkte  des  Berges  ge- 
gelegen  ist  (Plan  16),  wurde  einige  Jahrzehnte  später 
vollendet.  Dazu  kam  dann  im  achtzehnten  Jahrhundert 
die  Gruppe  des  Christus  vor  Hannas  (Plan  23),  ein  recht 
schwaches  Eokokomachwerk,  und  schließlich  als  die 
schwächste  aller  Grup^ien  im  neunzehnten  Jahrhundert 
die  Grablegung,  1826  von  einem  gewissen  Luigi  Marchesi 
vollendet  (Plan  40). 

Die  kunstgeschichtliche  Bedeutung  des  Heiligenberges 
von  Varallo  und  aller  der  nach  seinem  Muster  geschaffenen 
Anlagen  liegt  in  einer  regen  Entwickelung  der  bemalten 
Thonplastik.  Der  Meister,  von  dem  diese  Kunstbewegung 


hier  in  den  lombardisch-piemontesischeu  Gebirgsländern 
ausging,  war  Gaudenzio  Ferrari.  Woher  aber  hatte  der 
Maler  Gaudenzio  die  Anregung  zu  dieser  Art  von  Bildnerei 
bekommen?  —  Die  klassische  Stätte  dafür  war  in  Italien 
die  steinarme  Emilia  mit  den  Städten  wie  Älodena  und 
Bologna  und  mit  Künstlern  wie  Guido  Mazzoni  und 
Begarelli.  Hier  zuerst  sah  man  in  den  Kirchen  jene 
derbrealistischen  buntfarbigen  Freigruppen  von  gemälde¬ 
artiger  Wirkung.  Dass  Gaudenzio  Ferrari  die  W’erke 
der  umbrischen  Schule  in  ihrer  Heimat  kennen  gelernt 
habe,  halten  wir  für  sehr  wahrscheinlich,  und  der  Weg 
nach  Umbrien  führte  ihn  durch  die  Emilia.  Einer  gründ¬ 
lichen  technischen  Schulung  bedurfte  es  hier  ja  weniger 
als  bei  der  Stein-  oder  Bronzeplastik.  ■ —  Ein  anderes 
vereinzeltes,  aber  bekanntes  Beispiel  desselben  Einflusses 
der  modeneser  Thonplastik  haben  wir  in  ]\Iailand  in  der 
schönen  Gruppe  der  Pieta  in  San  Satiro,  die  man  auf 
das  Zeugnis  Lomazzo’s  hin  dem  Caradosso  zuschreibt.  — 
Es  ist  wahr,  nach  Gaudenzio  Ferrari  hat  sich  kein 
Künstler  von  demselben  Range  wieder  in  den  Thon¬ 
gruppen  der  sacri  monti  bethätigt.  Dem  ist  es  auch 
zuzuschreiben,  dass  es  die  Kunstwissenschaft  für  nicht 
der  Mühe  wert  erachtet  hat,  sich  mit  ihnen  abzugeben. 
Dennoch  aber  gab  es  in  den  ersten  Jahrzehnten  des 
siebzehnten  Jahrhunderts,  als  die  populäre  Bewegung 
für  die  sacra  monti  am  lebhaftesten  war,  dort  eine  Reihe 
tüchtiger  Plastiker  zweiten  Ranges,  Tabachetti,  Gio¬ 
vanni  d'Enrico  in  Varallo  und  Crea,  Dionigio  Bussola 
in  Orta  und  Francesco  Silva  in  Varese,  deren  Namen 
es  immerhin  wert  sind,  der  Vergessenheit  entrissen  zu 
werden.  Später,  im  achtzehnten  Jahrhundert,  war  die 
ganze  Bewegung  der  Heiligenberge  wieder  erstorben 
und  mit  ihr  jene  Nachblüte  der  farbigen  Terrakotta¬ 
plastik. 


WIE  MAN  SKULPTUREN  AUFNEHMEN  SOLL. 

VON  IIEINßlGlI  IVÖLFFLIN. 

II. 


CH  habe  in  -einem  ersten  Artikel  einige 
bekannte  Stücke  der  italienischen  Re¬ 
naissance  besprochen'),  mit  der  Absicht, 
das  Bewusstsein  dafür  wieder  zu  schärfen, 
dass  eine  alte  Figur  nicht  von  jeder  be¬ 
liebigen  Seite  her  angesehen  werden  darf, 
dass  sie  vielmehr  ihre  bestimmte  Ansicht  hat,  und  dass 
nur  eine  sträfliche  Sorglosigkeit  ihr  diese  künstlerisch 
gewollte  Ansicht  vorenthalten  wird,  sobald  es  gilt,  eine 
Abbildung  herzustellen.  Leider  ist  diese  Sorglosigkeit 
so  allgemein,  dass  man  nur  in  seltenen  Fällen  be¬ 
friedigende  Aufnahmen  von  Skulpturen  finden  wird;  fast 


1)  Vgl.  Zeitschr.  f.  bild.  Kunst  1896,  Juliheft. 


immer  weicht  man  der  normalen  Frontansicht  aus  und 
glaubt  der  Figur  den  größten  Gefallen  zu  thun,  wenn 
man  ihr  eineii  „malerischen  Reiz“  giebt  d.  h.  den  Stand¬ 
punkt  etwas  seitlich  niinmt.  Wenige  wissen,  dass  da¬ 
durch  in  den  meisten  Fällen  der  beste  Wert  verloren 
geht.  Man  zerstört  die  Silhouette,  auf  die  der  Künstler 
sich  eingerichtet  hat  und  das  heisst  nicht  nur,  dass  die 
Linien  aus  der  Harmonie  gebracht  sind,  nein,  dass  heisst 
viel  mehr;  die  große  künstlerische  Arbeit  bestand  ge¬ 
rade  darin,  in  einer  Fläche  den  ganzen  plastischen  In¬ 
halt  auszubreiten  und  das,  was  in  der  Natur  durch 
einzelne  successive  Wahrnehmungen  aufgefasst  werden 
muss,  dem  Auge  auf  einmal,  zu  leichter  müheloser  Per- 
ception  gesammelt  vorzustellen.  Damit  soll  nicht  gesagt 


WIE  MAN  SKULPTUREN  AUFNEHMEN  SOLL. 


295 


sein,  dass  eine  Figur  nicht  auch  gute  seitliche  Ansichten 
haben  könne.  Die  Skulptur  hat  sich  in  der  That  so 
entwickelt,  dass  sie  von  dem  ein-  oder  zweiseitigen 
Flächenstil  zur  vielseitigen  Komposition  (mit  Wendungen 
und  Drehungen)  fortgeschritten  ist;  allein  eine  er¬ 
schöpfende  Hauptansicht  muss  immer  vorhanden  sein, 
wenn  man  nicht  endlos  unruhig  um  die  Figur  herum¬ 
getrieben  werden  soll.  (Vgl.  Hildebrand,  Das  Problem 
der  Form,  Kap.  5).  Ist  das  Auge  einmal  sensibel  ge¬ 
worden  für  die  Unterschiede  des  klaren  und  unklaren 
Sehens,  so  ist  es  eine  große  Pein,  moderne  Bnch- 


Abb.  1.  Apollo  vom  Belvedere.  Photographie  AJinari. 
(Unrichtige  Aufnahme.) 


illustrationen  und  Anschauungswerke  durchzugehen,  in¬ 
dem  man  auf  Schiitt  und  Tritt  sagen  muss;  aber  warum 
denn  diese  unglückselige  schiefe  Ansicht?  Das  Hein  ist 
ja  widerwärtig  überschnitten!  Die  Armbewegung  ist 
unverständlich  und  der  Umriss  im  ganzen  so  zerrissen 
wie  nur  möglich!  Angesichts  der  Originale  aber  wird 
man  finden,  dass  es  ein  besonderer  Genuss  ist,  von  den 
minderwertigen  Ansichten  zu  den  vollkommenen  überzu¬ 
gehen,  und  man  wird  nicht  müde,  das  Experiment  wieder¬ 
holend,  aus  den  unzulänglichen  Erscheinungsweisen  das 
gereinigte  Bild  hervorgehen  zu  lassen,  das  ruhig  und 
klar  dasteht  und  im  wahren  Sinne  als  eine  Befreiung 


empfunden  wird.  Das  ist  eine  Freude,  die  die  Malerei 
uns  nicht  geben  kann. 

Wenn  nun  schon  in  den  neueren  Jahrhunderten  das 
Auge  disciplinlos  herumirrt,  und  die  feinen  Kunstwerke  der 
Renaissance  ganz  willkürlich  behandelt  werden,  wie  viel 
mehr  wird  das  der  Fall  sein  in  der  antiken  Kunst,  bei 
Figuren,  wo  fast  immer  die  originale  Basis  fehlt,  wo 
spätere  Ergänzungen  den  ursi)rünglichen  Gedanken  ver¬ 
dunkeln  und  eine  falsche  Museumsaufstellung  den  Be¬ 
schauer  noch  vollends  aus  der  Richtung  bringt!  Bei  den 
Gipsen  deutscher  Universitätssammlungen  mögen  diese 
Fehler  mehr  oder  weniger  ausgeglichen  sein;  zu  Gunsten 
des  italienreisenden  Publikums  und  aller  derer,  die 
photographiren  und  Photographieen  kaufen,  sollen  in- 


Abb.  2.  Apollo  vom  Belvedere. 

Nach  dem  Stich  vou  Marc  Anton  Raimondi, 


dessen  hier  ein  paar  Fälle  notirt  werden,  die  für  die 
Verfahrenheit  des  plastischen  Sinnes  in  unseren  Tagen 
charakteristisch  sind. 

Wer  wird  es  glauben?  Ein  Hauptstück  aller  Skulptur 
ein  Werk  vom  Ruhm  des  lielvederischen  Apolls  —  es, 
ist  im  Vatikan  so  aufgestellt,  dass  man  sich  hart  an  die 
Wand  drücken  muss,  um  des  originalen  Anblickes  teil¬ 
haftig  zu  werden,  und  alle  modernen  Photographieen  bis 
hinauf  zu  der  Lichtdrucktafel  in  den  „Antiken  Denk¬ 
mälern“  von  Brunn-Bruckmann  geben  die  Figur  in  einer 
falschen,  unleidlichen  Art  (s.  Abb.  1).  Der  ausgestreckte 
Arm  mit  dem  !\lantel  gehört  in  die  Wandfläche,  parallel 


296 


WIE  MAN  SKULPTUREN  AUFNEHMEN  SOLL. 


zum  Bescliauer;  der  Kopf  stellt  sich  darauf  ins  reine 
Prohl  und  die  Füße  schließen  sich  für  das  Auge  zu¬ 
sammen.  Meines  MTssens  ist  der  Apoll  ein  einziges 
Mal  seit  seiner  Auferstehung  so  aufgenommen  worden, 
noch  zu  Zeiten  Ratfaers,  in  einem  Stich  des  Marc  Anton 
(s.  Ahh.  2).  Die  Differenz  der  zwei  Bilder  ist  gewiss 
keine  gleichgültige.  Mit  einem  Male  gewinnt  der  Torso 
eine  ungeahnte  Mächtigkeit,  Vertikale  und  Horizontale, 
Brust  und  Arm  setzen  sich  in  schärferem  Kontrast 
gegeneinander  ab,  und  die  schlaffen  Umrisse  der  ersten 


In  der  Rotunde  des  Vatikans  steht  die  harberinische 
Hera.  Ihr  gegenüber  zu  lehrreichem  Vergleich  die 
andere,  ältere  Hera,')  die  dem  Alkamenes  zugeschriehen 
worden  ist.  Beide  Figuren,  Repräsentanten  zweier  Jahr¬ 
hunderte,  haben  Standbein  und  Spielbein;  die  eine, 
flächenhaft  entwickelt  wie  eine  Mauer,  lässt  keinen 
Augenblick  zweifeln,  wo  ihre  Frontansicht  zu  suchen 
ist,  die  jüngere  dagegen,  die  mehr  Wendung  liat,  lässt 
den  Beschauer  nicht  ohne  weitei-es  zur  Ruhe  kommen, 
man  ist  genötigt,  dem  Spielbein  nachzugelien  und  ver- 


Abl).  3.  Kaiiitoliniscbe  Venus. 
Pbotogr.  Alinari. 


Abb.  4.  Meilioeiscbe  Venus. 
Pbotogr.  Brogi. 


Abb.  5.  Venus  Kallipygos. 
Pbotogr.  Brogi.  (Uuricbtige  Aufnahme.) 


Ansicht  werden  plötzlich  in  jeder  Partikel  voll  Leben 
und  Energie.  Durch  das  Zusammentreten  der  Beinlinien 
gewinnt  die  Figur  erst  Sicherheit  und  Ruhe, ')  ohne  an 
Schnellkraft  zu  verlieren.  Und  der  ausgestreckte  Arm 
wird  überhaupt  erst  erträglich,  wenn  er  dem  Beschauer 
nicht  schräg  entgegenkommt,  sondern  der  Wandfläche 
sich  einordnet.  Für  jeden  andern  Anblick  erscheint  die 
Gestalt  unsicher,  brüchig,  beunruhigend.  2) 

1)  Marc  Anton  ist  etwas  zu  weit  nach  links  (vom  Be¬ 
schauer  aus)  ausgewichen.  Der  linke  Fuß  wird  zu  stark 
überschnitten,  was  der  Deutlichkeit  der  Bewegung  schadet. 

2)  Offenbar  verdankt  der  Stich  des  Marc  Anton  einen 
Teil  seiner  Wirkung  dem  Umstand,  dass  die  Bodentläche 


lässt  damit  die  Frontfläche,  die  das  (moderne)  Posta¬ 
ment  angiebt. 

Das  ist  nicht  der  Fehler  der  Figur,  sondern  der 
Fehler  der  Aufstellung.  Sobald  man  sich  das  Spielbein 
für  den  Blick  aufgeklärt  hat,  d.  h.  sobald  man  etwas 
seitlich  Stellung  genommen  hat,  bemerkt  man,  dass  nun 
die  Figur  im  ganzen  sich  ordnet  und  ohne  eine  weitere  Be- 

verschwindet.  Hier  bann  leider  die  Photographie  nicht  kon- 
kurriren,  indem  eine  Ansicht  von  unten  die  Proportionen 
fürchterlich  entstellen  würde.  Es  ist  das  eine  der  prinzipiellen 
Beschränkungen,  die  die  Zeichnung  der  Photographie  gegen¬ 
über  immer  wieder  begehrenswert  erscheinen  lässt. 

1)  Nach  anderer  Deutung  Demeter. 


WIE  MAN  SKULPTUREN  AUFNEHMEN  SOLL. 


297 


weguug  zu  fordern,  trotz  dem  Drehungsmotiv,  vollkommen 
befriedigend  und  in  allen  Teilen  klar  sich  ausbreitet. 
Selbstverständlich  müsste  sie  so  aufgestellt  sein,  dass 
nicht  erst  der  Beschauer  die  Ansicht  sich  suchen  muss, 
sondern  dass  schon  im  Postament  die  Frontansicht 
acceutuirt  ist.  Im  Thermenmuseum  in  Rom  findet  sich 
übrigens  eine  Wiederholung,  wo  die  alte  Plinthe  erhalten 
ist  und  unsere  Auffassung  über  die  Orientirung  der 
Figur  bestätigt  wird.*) 

Die  kapitolinische  Venus  ist  drehbaf  aufgestellt. 
Wer  hätte  die  arme  Frau  in  ihrer  Nische  nicht  schon 
sich  uradrehen  lassen  ?  Und  gewiss,  man  hat  ein  Recht, 
die  einzelnen  Ansichten  alle  durchzukosten.  Aber  man 
soll  dann  auch  den  Fixpunkt  kennen,  auf  den  die  Figur 
für  eine  Abbildung  jedenfalls  einzustellen  ist.  Und  da 
schwanken  nun  die  Photographen  wieder  herum,  der  eine 
meint,  rechts  wäre  es  schöner,  der  andere  links,  während 
man  doch  gar  keine  Wahl  hat:  die  Basis  sagt  ganz 
kategorisch,  wie  der  Körper  gesehen  werden  soll. 
(Abb.  3.)  Nichts  ist  lehrreicher  als  eine  Anzahl  von 
wenig  divergirenden  Aufnahmen  nebeneinanderzusehen. 
Man  macht  sich  da  erst  recht  klar  (was  für  die  Malerei 
von  größter  Wichtigkeit  ist),  wie  eine  und  dieselbe  Be¬ 
wegung  Bilder  von  ganz  verschiedenem  Ausdruckswert 
liefern  kann,  wie  eine  minimale  Änderung  im  Ansichts¬ 
winkel  alle  Kraft  der  Linie  lähmen  oder  das  Motiv 
überhaupt  als  ein  anderes  erscheinen  lassen  kann.  Die 
mediceische  Venus  (Abb.  4)  ist  unendlich  viel  feiner 
bewegt  als  die  kapitolinische  —  das  Zusammendrückeu 
der  Oberschenkel  hier  ist  eine  (sinnliche)  Vergröberung 
des  Motivs  — ,  die  ganze  Eigentümlichkeit  der  Bein¬ 
haltung,  die  wundervolle  Delikatesse  der  Bewegung  geht 
aber  sofort  verloren,  wenn  man  von  der  genauen  Front¬ 
ansicht  abweicht.  Das  Schwebende  verschwindet  und 
das  rechte  Bein  —  der  wesentliche  Träger  des  Aus¬ 
drucks  —  bekommt  etwas  Geknicktes,  Schleppendes. 

Das  alles  sind  verhältnismäßig  einfache  Probleme. 
Wie  aber,  wenn  eine  Figur  nun  stark  sich  dreht,  wenn 
sie,  um  einen  frappanten  Fall  zu  nehmen,  wie  die  Venus 
Kallipygos  in  Neapel  (Abb.  5)  sich  selbst  über  den 
Rücken  hinabsieht?  Ich  gestehe,  dass  in  der  That  alle 
Photographieen,  die  mir  davon  zu  Gesicht  kamen,  einen 
unbefriedigenden  Eindruck  machten.  Ist  die  Figur  von 
vorn  aufgenommen,  so  wünsclit  man  doch  auch  etwas 
von  dem  Zielpunkt  ihrer  Blicke  zu  sehen,  und  ist  sie 
von  hinten  aufgenommen,  so  erscheint  die  Ansicht  doch 
gar  zu  zufällig  und  nebensächlich.  Und  trotzdem  ist  es 


1)  Wenn  die  barberinische  Hera  trotz  falscher  Aufstellung 
meist  annähernd  richtig  photographirt  wurde,  so  liegt  das  an 
dem  zufälligen  Umstand,' dass  man  ihr  direkt  von  vorn  nicht 
beikommen  kann:  es  steht  eine  Schale  im  Wege. 

2)  Eine  besonders  unglückliche  Aufnahme  in  llrunn- 
Bruckmann’s  „Antiken  Denkmälern“. 


eine  künstlerisch  ernsthaft  durchgeführte  Komposition: 
die  Frau  ist  eben  weder  auf  die  Ansicht  von  vorn  noch 
auf  die  Ansicht  von  liinten  berechnet,  sondern  hier  liegt 
die  Front  seitlich.  Nimmt  man  diesen  Standpunkt,  so 
entwickelt  sich  die  Figur  außerordentlich  schön.  Der 
Künstler  sagt  es  auch  dem  Beschauer  deutlich  genug, 
wo  er  hiustehen  solle:  Nicht  umsonst  sind  die  Gewand¬ 
massen  in  der  Hauptrichtung  wandartig  zu  einer  Grund¬ 
fläche  gesammelt.  So  wie  diese  Venus  jetzt  aufgestellt 
ist,  leitet  sie  den  Beschauer  notwendig  irre.  Sie  gehört 
mit  ihrer  linken  Seite  an  eine  Wand  bezw.  in  eine  Nische. 

Daneben  kommen  nun  freilich  Fälle  vor,  wo  beim 
besten  Willen  eine  geschlossene  Ansicht  nicht  zu  finden 
ist.  Der  farnesische  Stier  im  Neapeler  Museum  ist 
ein  monströses  Beispiel  von  Geschmacksvei’irrung  im 
Altertum.  Aber  auch  abgesehen  von  solchen  Auswüchsen 
einer  dekadirenden  Kunst  ist  das  Gesetz  der  flächen¬ 
haften  Plastik  nicht  überall  verstanden  worden.  Neben 
den  späten  giebt  es  ganz  frühe  Sachen ,  wo  einzelne 
Brutalitäten  Vorkommen.  Ja  selbst  eine  Figur  wie  der 
Schaber  Lysipps  wird  sich  nie  rein  auflösen  lassen. 
Nimmt  man  die  Beine  ausdrucksvoll,  wie  sie  sich  in  der 
Vorderansicht  präsentiren,  so  kommt  der  Arm  uns  direkt 
entgegen,  wirkt  also  nicht  nur  durch  die  starke  Ver¬ 
kürzung  unklar,  sondern  ist  überhaupt,  da  er  gewisser¬ 
maßen  über  den  Bülmenraum  hinausgreift,  unangenehm 
aggressiv.  Tritt  man  zur  Seite,  so  entwickelt  sich  der 
Arm  befriedigend,  aber  die  Beine  verlieren.  Die  Statue 
setzt  sich  also  aus  zwei  Ansichten  zusammen,  und  das 
ist  ein  Mangel,  der  nicht  ganz  abzuleugnen  sein  wird. 
Ein  bekanntes  Beispiel  weiterhin  ist  der  dornaus- 
ziehende  Knabe,  wo  man  sich  auch  lange  besinnt,  wie 
er  eigentlich  gesehen  wmrden  wolle  und  schließlich  doch 
zu  keinem  rechten  Resultat  kommt.  Die  künstlerische 
Auffassung  Marc  Anton’s,  dem  wir  einen  Stich  nach  der 
Figur  verdanken,  hat  sieh  auch  hier  wie  beim  Apoll  erst 
bei  einem  ganz  flächenhaften  Bild  beruhigt.  Er  nimmt 
den  Knaben  vollkommen  von  seiner  rechten  Seite,  wo¬ 
bei  man  denn  die  Fußsohle  und  die  ganze  Operation 
gut  sieht,  aber  wichtige  Teile  wie  das  Gesicht  verliert, 
so  dass  man  doch  zweifeln  muss,  ob  damit  das  Richtige 
getroffen  sei. 

Es  wäre  nun  eine  besonders  interessante  Unter¬ 
suchung,  die  Orte  zu  fixiren,  wo  solche  Licenzen  ge¬ 
duldet  werden:  der  Dornauszieher  wie  der  Schaber  sind 
Produkte  der  peloponnesischen  Kunst,  in  der  attischen 
Kunst  wird  man  Anstößigkeiten  der  Art  nicht  linden. 
Indessen  ginge  es  weit  über  die  Absicht  dieses  Auf¬ 
satzes  hinaus,  auf  solche  Fragestellungen  einzugehen. 
Bevor  die  wenigen  Figuren  aufgesucht  werden,  die  einer 
reinen  Bildanschauung  widerstehen,  möge  man  erst  ein¬ 
mal  den  vielen  sich  zuwenden,  die  nach  flächeuhafter 
Auffassung  schreien  und  denen  ihr  Recht  noch  nicht  ge¬ 
worden  ist. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VIII.  H.  12. 


38 


DIE  BAUKUNST  FRANKREICHS. 

MIT  ABBlLDUNCiEN. 


lE  französisclie  Baukunst  wird  in  ihrem 
Einfluss  auf  die  Entwickelung  der  mo¬ 
dernen  Architektur  in  steigendem  Maße 
anerkannt.  Klassische  und  mittelalter¬ 
liche  Architektur,  italienische  und  deut¬ 
sche  Renaissance  sind  von  unseren  Archi¬ 
tekten  durchprobirt.  Jetzt  beginnt  man  die  zwar  schon 
benutzten,  aber  noch  nicht  erschöpften  Quellen  der  fran¬ 
zösischen  Architektur  auszubeuten.  Und  wer  die  fran¬ 
zösischen  Provinzen  bereist  hat,  der  kennt  die  Menge 
köstlicher,  origineller  Bauten,  die  hier  weit  zahlreicher 
als  Bilder  und  Skulpturen  anzutreö'en  sind,  der  weiß, 
welche  Fülle  dankbarer  Motive  hier  noch  der  Verwer¬ 
tung  harrt.  Frankreich  darf  sich  in  baulicher  Hinsicht 
wohl  mit  Italien  messen,  nicht  nur  in  der  Zahl  wicht¬ 
tiger  Werke,  auch  in  der  Bedeutung  derselben  für  die 
allgemeine  Entwickelung  der  Baukunst  diesseits  der  Alpen. 
Die  romanischen  Kirchen  Südfrankreichs,  die  Gotik  in 
allen  Stadien  ihrer  Entwicklung,  bis  zu  gewissem  Grade 
die  aufblühende  Renaissance,  vor  allem  die  Baustile  aus 
der  Zeit  Ludwigs  XIV.  und  seiner  Nachfolger  haben 
weithin  gewirkt  und  wirken  auch  heute,  in  unserem 
Jahrhundert  des  Eklekticismus,  von  neuem. 

In  Frankreich  werden  die  alten  Baudenkmale  auf 
das  Sorgsamste  gepflegt,  auf  das  Verständigste  restaurirt, 
in  zahlreichen  Publikationen  veröffentlicht.  Freilich 
bleibt  die  Mehrzahl  dieser  Veröffentlichungen  wie  der  Ori¬ 
ginale  in  Deutschland  fast  unzugäu.glich,  da  immer  Italien 
die  Kräfte  und  Interessen  in  erster  Linie  in  Anspruch  nimmt, 
und  die  Prachtwerke  über  französische  Architektur,  be¬ 
sonders  über  einzelne  Baudenkmale,  durch  ihren  Preis  meist 
abschreckend  auf  die  deutsche  Kaufkraft  wirken.  Nun 
legt  uns  Cor7ielms  Qtirlitt  eine  vorzügliche  zusammen¬ 
fassende  Publikation  in  seiner  „Baukunst  Frankreichs“  ') 
vor,  die  bisher  bei  uns  leider  fehlte.  2)  Dieselbe  bringt 


1)  C.  Gurlitfc,  Uie  Baukunst  Frankreichs.  200  Tafeln. 
Gr.  Fol.  8  Liefgen.  ä  25  Mk.  Dresden,  1896,  Gilbers  (J.  Bleyl). 

2)  Lübke’s  „Geschichte  der  Renaissance  in  Frankreich“ 
verfolgt  andere  Ziele. 


in  prachtvollen  Lichtdrucken  nach  Originalaufnahmen 
Ansichten  der  wichtigsten  Bauten  Frankreichs,  nicht 
nur  der  bekannten  und  oft  publizirten,  sondern  auch 
der  weniger  beachteten.  Während  die  Mehrzahl  der 
französischen  Werke  Lithographieen  oder  Kupferstiche 
geben,  wird  hier  durch  den  Lichtdruck  das  Original 
selbst  vor  Augen  gestellt. 

Das  ist  für  den  modernen  Architekten  von  höchster 
Wichtigkeit.  Frühere  Zeiten  suchten  in  den  alten  Vor¬ 
bildern  vor  allem  das  Typische,  die  Regel,  die  Normal¬ 
form.  Die  Wiedergabe  durch  den  Stich  führte  dazu,  die 
Bauten  rekonstruirt,  in  ihrem  Grundschema,  zu  reprodu- 
ziren.  Die  Zufälligkeiten  ,  die  durch  An-  und  Umbau, 
durch  spätere  Ergänzung  hinzugekommen,  pflegte  der 
Architekt  im  Kupferstich  meist  auszumerzen. 

Heute  suchen  wir  aber  nicht  mehr  so  sehr  das 
Typische,  Normale,  als  das  Persönliche  und  Origi¬ 
nelle,  die  überraschenden  Einfälle  und  originellen  Lö¬ 
sungen  älterer  Vorbilder  zu  erfassen  und  auszunutzen. 
Die  Grammatik  der  Stillehre  beherrscht  der  moderne 
Künstler,  in  seinen  Bauten  aber  will  er  nicht  Beispiele 
aus  der  Stillehre,  sondern  freie  Varianten  über  das 
Thema,  eigenartige,  malerische  Bauten  geben.  Nur  selten 
noch  bindet  er  sich  streng  an  einen  Stil,  geschweige 
denn  an  die  vielbenutzten  Hauptty])en  desselben.  Freie 
Veränderung  der  Grundformen,  Mischimg  verwandter 
oder  nur  formal  korrespondirender  Stile  ist  beliebt. 
Nicht  Stilgeschichte,  sondern  persönlicher  Geschmack 
giebt  heute  die  Gesetze  des  Schaffens. 

Zudem  macht  unsere  neuere  Architektur  den  Wandel 
der  künstlerischen  Empflndung  mit,  der  sich  in  der  Malerei 
in  der  Folge  „Carton,  Historienbild,  Stimmungsbild“  aus¬ 
drückt.  Schinkel  komponirte  auf  dem  Reißbrett  in  sauberen 
Linien,  die  Neueren  suchten  die  große  plastische  Form, 
die  Modernen  erstreben  in  der  Architektur  malerische 
Haltung,  formale  und  farbige  Stimmung.  Das  nun  kam 
in  den  bisherigen  Publikationen  kaum  zum  Ausdruck.') 

1)  Vgl.  aber  die  malerischen  Radirungen  bei  L.  Falustre, 
La  renaissance  en  France.  Paris  1879  ff. 


DIE  BAUKUNST  FRANKREICHS. 


299 


Die  photoraechaniselien  Verfahren  aber  reproduzireii  aucli 
den  malerischen  Eindruck  des  Gebäudes,  seine  Licht- 
und  Schattenvvirkung,  die  nialerisclie  Gruppirung  der 
Details,  die  Zufälligkeiten 
und  kleinen  Abweichungen 
mit  vollkommener  Treue. 

Insofern  ist  also  Gurlitt’s 
Werk  auch  für  den  eine 
willkommene  Ergänzung, 
dem  die  älteren  franzö¬ 
sischen  Publikationen  zur 
Verfügung  stehen. 

Gurlitt  bringt  alle 
Stilperioden,  von  den  Res¬ 
ten  der  Rönierzeit  bis  zum 
Empire.  Aber  er  wendet 
naturgemäß  seine  Auf¬ 
merksamkeit  besonders 
denjenigen  Perioden  zu, 
die  früher  meist  zu  kurz 
kamen,  jetzt  aber  dem 
Architekten  wertvoll 
sind,  z.  P).  den  Über¬ 
gangsbauten  von  der  Spät¬ 
gotik  zur  Renaissance. 

Wir  lieben  heute  diesen 
reizenden  Mischstil,  der 
das  Formengerüst  der  Re¬ 
naissance  allmählich  auf- 
niinmt,  aber  gotisch  or- 
namentirt,  der  anderer¬ 
seits  an  gotische  Kon¬ 
struktionen  Renaissance¬ 
ornamente  fügt  oder  die¬ 
selben  renaissancemäßig 
umstilisirt,  der  vor  allem 
in  den  Proportionen  noch 
ganz  frei  gestaltet, weniger 
korrekt  als  malerisch  frei 
verfährt.  Im  Kirclienbau 
und  Profanbau  wird  er 
heute  bei  uns  immer  mehr 
beliebt. 

Die  älteren  französi¬ 
schen  Publikationen  brin¬ 
gen  nur  weniges  darüber. 

Sauvageot,  Berty,  Cesar 
Daly  u.  a.  m.  geben  Ein¬ 
zelnes  derart,  Rouyer 
nichts,  am  meisten  noch 
Petit  (Chäteaux  de  la 
Loire,  Paris  1861),  dessen  Lithographieen  aber  modernen 
Ansprüchen  in  keiner  Weise  genügen,  und  Leon  Palustre 
in  dem  obengenannten  Prachtwerk,  das  aber  nur  wenigen 
zugänglich  sein  dürfte,  überdies  unvollständig  ist. 


Als  Beispiel  für  diese  interessante  Periode,  die  außer¬ 
ordentlich  lange  nachwirkt,  geben  wir  nach  Gurlitt’s  Auf¬ 
nahme  hier  den  Südturm  der  Kathedrale  St.  Gatien  zu 

Tours  (Abb.  1).  Die  Fas¬ 
sade  dieser  im  12.  Jahr¬ 
hundert  begonnenen  Ka¬ 
thedrale  wird  im  15.  Jahr¬ 
hundert  ausgebaut,  1507 
der  nördliche  und  1547 
der  südliche  Glocken¬ 
turm  vollendet.  Berty 
(Renaissance  en  France, 
Paris  1864)  giebt  eine 
genaue  Aufnahme,  Sclinitt 
und  Details  dieses  origi¬ 
nellen,  vielfach  an  Schloss 
Chambord  gemahnenden 
Baues,  der  aus  dem  qua¬ 
dratischen  Grundriss  zum 
reicligegliederten  Achteck 
übergeht.  Eine  ziemlich 
sclilanke Steinkuppel  trägt 
dann  die  aclitseitige,  mit 
liaclier  Kuppel  gedeckte 
Laterne.  Bei  aller  Ge¬ 
drungenheit  ist  der  Auf¬ 
bau  leicht  und  von  fein¬ 
ster  Silhouette,  reich  an 
eigenai'tigen  Details,  Re- 
miniscenzen  an  ältere  Stile 
und  naiven  Renaissance- 
fornien. 

Ein  reizendes  Bei¬ 
spiel  des  Profanbaues  bie¬ 
tet  sich  uns  im  Hotel 
Gouin  zu  Tours  (Al)b.  2). 
Tn  unbefangenster  Weise 
mischen  sich  hier  mit  der 
Formenwelt  der  Früh¬ 
renaissance  gotische  Mo¬ 
tive.  Höchst  originell  ist 
zur  Linken  der  gotisirende 
Pfeiler  mit  seinem  Kom- 
positkapitell,  und  dem  et¬ 
was  unvermittelt  darüber 
gestellten  gotischen  Bal¬ 
dachin,  der  wiederum  von 
Renaissancesäulchen  flan- 
kirt  wii'd.  Wunderlich 
wirkt  dazwischen  die  an 
Florentiner  Frührenais¬ 
sance  gemahnende  Statuenbasis.  ^4Ml  außerordentlicher 
Schönheit  ist  das  zarte  PÜanzenornament,  das  den  Bau 
überspinnt,  sehr  wirkungsvoll  der  vortretende  Portal¬ 
bau,  dessen  Giebel  in  seinen  Renaissanceformen  gelungen 

38* 


Abb.  1.  Siidliober  Turm  der  Kathedrale  St.  Gatieii  in  Tours. 
Aus  Gurlitt,  Die  Baukunst  Frankreichs.  200  Tafeln,  Dresden  189G, 
Gilbers.) 


300 


DIE  BAUKUNST  FRANKREICHS. 


k  iiirrp 
fciisrc 


!i  t  mit  den  gotisirenden  Giebelii'der  Dachgesclioss- 
Hoiter.  launig  und  graziös  ist  die  kleine  Fassade, 
dem  strengen  Stilisten  ein  Schrecken,  dem  nicht 


Noch  reingotische  Formen  zeigt  die  reizende  kleine 
Fassade  an  der  Place  du  grand  marche  5(3  (s.  die  Abb.  3), 
die  auch  wieder  der  liübschen  Hauptstadt  der  Tonraine 


Abb.  2.  Hotel  Gouiii  iu  Tours.  (Aus  G.  Gurlitt,  Die  Baukunst  Frankreielis.) 


scliulmeisternden  Betrachter  aber  erfreulich,  weil  der  per¬ 
sönliche  Geschmack  des  Arcliitekten  liier  das  Verschie¬ 
denartigste  zu  einer  gewissen  Einheit  verschmolzen  hat. 


angehört.  Eingekeilt  in  geschmacklose  moderne  Bauten, 
wirkt  sie  durch  ihre  malerischen  Baldachinnischen,  ihre 
tiefen,  reichnmrahmten  Fenster,  durch  die  kräftigen  \Tr- 


DIE  BAUKUNST  FRANKREICHS. 


301 


hältnisse  und  die  energische,  maßvoll  verteilte  Orna¬ 
mentik.  Die  kleine  Fassade  ist  außerordentlich  lehr¬ 
reich,  trotz  vieler  Willkür,  anziehend  durch  die  fein¬ 
fühlige  Entwicklung  der  dekorativen  Gliederung  aus  dem 
Portal  heraus. 

Ein  origineller  Eenaissanceumhau  findet  sich  in 
der  alten  romanischen  Kirche  Notre  Dame-des-Doms  zu 
Avignon  (s.  die  Ahb.  4),  wo  der  etwas  nüchterne  schwer¬ 
fällige  Bau  durch  Vorsetzen  der  Eenaissancepfeiler  und 
Bog^n,  sowie  durch  die  Durchführung  des  sehr  originell 
ausgebildeten  Laufganges  bereichert  ist. 

Selbstverständlich  beschränkt  sich  das  groß  ange¬ 
legte  Werk  keineswegs  auf  die  in  den  vorstehenden 
Beispielen  geschilderte  Epoche  französischer  Baukunst. 
Bringt  Gurlitt  doch  aus  der  klassischen  gallo-römischen 
Kunst  Beispiele,  wie  die  Reste  desrömischen  Theaters  zu  Be¬ 
sangen,  aus  dem  Mittelalter  romanische  Kathedralen  wie 
St.  Pierre  zu  Angouleme  (besonders  eine  vorzügliche 
Aufnahme  des  Innern),  St.  Saturnin  zu  Toulouse,  gotische 
Kirchen ,  wie  St.  Julien  zu  Tours,  die  Kathedrale  von  Or¬ 
leans,  ein  vortreffliches  Interieur  von  Notre-Dame  zu 
Mantes,  den  konstruktiv  interessanten  Chor  der  Kathedrale 
zu  Coutances.  Ferner  mittelalterliche  und  spätere  Profan¬ 
bauten,  den  Glockenturm  von  Bordeaux,  Renaissauce- 
paläste,  wie  das  Palais  Granvelle  zu  Besangen,  und 
Kirchen  dieser  Epoche  wie  den  berühmten  Chor  von 
St.  Pierre  zu  Caen.  Selbstverständlich  sind  auch  die 
späteren  Stile  bis  zum  Empire  hinreichend  berücksichtigt, 
wie  das  von  C.  Gurlitt,  der  gerade  auf  diesem  Gebiete 
so  fleißig  gearbeitet,  zu  erwarten  war. 

Neben  den  photographischen  Aufnahmen  nach  der 
Natur  sind  auch  einzelne  gute  Federzeichnungen  nach 
Privat  häusern  (Hotel  Chambellan,  Dijon  u.a.)  aufgenommen. 
Des  weiteren  sind  ältere  französische  Aufnahmen  da  ein¬ 
geschoben,  wo  das  historische  Interesse  neben  dem  künst¬ 
lerischen  es  wünschenswert  machte,  z.  B.  von  J.  Andr. 
Du  Cerceau,  Jean  Berain,  G.  M.  Oppenord,  Delafosse. 
Neben  größeren  Ansichten  finden  wir  wertvolle  Details, 
Portale,  wie  das  durch  seinen  ornamentalen  Aufbau  be¬ 
merkenswerte  gotische  Portal  von  St.  Seurin  zu  Bor¬ 
deaux,  interessant  auch  im  Vergleiche  mit  dem  charak¬ 
teristisch  normannischen  Portal  von  St.  Pierre  zu  Lisieux. 
Dann  den  pikanten  Kreuzgang  des  Klosters  vom  Mont 
St.  Michel,  das  reiche  Chorgestühl  von  Notre-Dame  de 
Brou  zu  Bourg,  elegante  Kapellenschranken  aus  dem 
Justizpalast  zu  Dijon,  einen  Brunnenentwurf  von  G.  M. 
Oppenord.  Auch  ein  Farbendruck  ist  beigegeben,  eine 
leicht  getuschte  Federzeichnung  einer  Decke  von  Daniel 
Marot,  die  in  ihrer  Materialwirkung  vorzüglich  reprodu- 
zirt  ist. 

Um  aus  der  Überfülle  der  französischen  Architektur 
eine  solche  Auswahl  zu  treffen,  dazu  gehörte  ein  Pfad¬ 
finder,  der  die  Bedürfnisse  des  Architekten  kennt  und  den 
Blick  des  Historikers  hat,  um  Bleibendes  vom  Unwesent¬ 
lichen,  Geschmackvolles  vom  Trivialen  auszuscheiden. 


Abb.  3.  Haus  in  Tours.  (Aus  0.  Gurlitt,  lUe  Baukunst  Frankreicbs.) 


DIE  BAÜKUXST  FRANKREICHS. 


3ii2 


Gurlitt  hat  aber  auch  in  der  Regel  das  rein  bild- 
...üi'iig  Interessante  vermieden,  hat  geschickt  den  Punkt 


Bekanntes  wiederum  zu  bringen.  Aber  auch  wo  er  Be¬ 
kanntes  bringt,  wie  beim  Chor  von  St.  Pierre  zu 


Kirche  Notre  Dame- des-Doms  in  Avignon.  (Aus  C.  Gurlitt,  Die  Daukunst  P'rankrelchs.) 


ZU  finden  gewusst,  wo  der  Apparat  in  anzieliendem  Bilde 
lehrreiches  Material  festhillt. 

Offenbar  war  Gurlitt  bestrebt,  nicht  nur  längst 


Caen  etc.,  da  hat  er  so  gute,  scharf  durchgezeichnete  Auf¬ 
nahmen  erzielt,  dass  man  seine  Freude  daran  haben 
kann.  Dass  er  nicht  einseitig  vorgeht,  zeigt  sich  darin. 


EINE  TOPOGRAPHIE  DES  ALTEN  ROM. 


303 


wie  er  neben  dem  erwähnten,  beliebten  Chor  von  St. 
Pierre  auch  die  selten  aufgenornmene  Gesamtansicht  mit 
ihrem  für  die  Normandie  charakteristischen  Haicpttnrme 
bringt. 

Hoffentlich  geben  uns  die  nächsten  Liefernngen  auch 
Ansichten  von  St.  Denis,  von  St.  Enstache  u.  a.  späteren 
Pariser  Kirchen,  sowie  der  heute  so  viel  benutzten  ro¬ 
manischen  Bauten  Südfrankreichs.  Wir  werden  darüber 
s.  Z.  berichten.  Hoffen  wir  auch,  dass  der  für  den 
Schlussbaud  in  Aussicht  gestellte  Text  von  C.  Gurlitt 
neben  Notizen  über  so  manchen,  sonst  selten  erwähnten 
Bau  vor  allem  Grundrisse  bringt,  die  bei  der  Betrach¬ 
tung  der  ersten  Lieferungen  zuweilen  schmerzlich  ent¬ 
behrt  werden. 

Jedenfalls  lässt  sich  so  viel  koustatireu,  dass  das 
Unternehmen  in  guten  Händen  liegt.  Der  Architekt  in 


erster  Linie,  der  Kunstforscher  und  Kunstfreund  nicht 
minder  werden  in  ihren  Ansprüchen  vollauf  befriedigt. 

Die  Ausstattung  ist  tadellos,  und  macht  dem  Ver¬ 
lage  alle  Ehre.  Die  photographischen  Aufnahmen  sind 
durchgehends  gut,  ohne  die  bei  Naturaufnahmen  oft  so 
störenden  Verzeichnungen  des  Apparates.  Sie  geben 
wunderbar  scharf  das  zarteste  Detail,  und  die  Licht¬ 
druckwiedergabe  durch  Römmler  und  Jonas  lässt  nicht 
das  Geringste  verloren  gehen.  Aufnahmen,  wie  das  Innere 
der  Notre-Dame  zu  Mantes,  das  Detail  aus  dem  Justiz¬ 
palast  zu  Dijon,  die  Chorstühle  zu  Bourg,  die  Kathedrale 
zu  Mantes  e  tutti  fiuanti  sind  ganz  hervorragende  Leist¬ 
ungen.  Wir  sehen  daher  der  Fortsetzung  dieses  in 
Deutschland  einzig  dastehenden  Werkes  über  französische 
Architektur  mit  Interesse  entgegen.  M.  SCII. 


EINE  TOPOGRAPHIE  DES  ALTEN  ROM.‘) 


Jeder  Gymnasiast  fühlt  bei  der  Lektüre  des  Livius 
oder  des  Horaz,  jeder  Italienreisende  bei  der  Wanderung 
durch  Rom  das  immer  neue  Bedürfnis,  von  der  Ge¬ 


schichte  der  ewigen  Stadt,  von  der  Lage  ihrer  Denk¬ 
mäler  ,  von  deren  Entstehung  und  Wandlung  ein  an¬ 
schauliches  Bild  zu  gewinnen.  Für  den  Archäologen 
vollends  ist  das  topographische  Studium  der  Geschichte 
Roms  ein  unerlässliches  Hilfsmittel  seiner  Wissen¬ 
schaft.  Ein  Werk  also,  welches  unter  diesen  drei 
Gesichtspunkten,  für  Schule,  Reiseleben  und  ge¬ 
lehrte  Arbeit,  sich  als  praktisch  und  zuverlässig 
erweist,  kann  gewiss  auf  den  Beifall  weiter  Kreise 
rechnen.  Der  unten  genauer  bezeichnete  SeJineider’sche 
Atlas  ist  ein  derartiges,  in  guter  Stunde  durchge¬ 
führtes  Buch,  das  namentlich  den  Kunstfreunden,  die 
sich  von  der  Geschichte  des  römischen  Stadtbildes 
im  Altertum  eine  klare,  übersichtliche  Vorstellung 
machen  wollen,  warm  em}tfohleu  werden  kann. 

Der  kartographische  Teil  des  Werkes  zerfällt 
in  Tafeln  und  Pläne.  Auf  den  14  Tafeln  sind  die 
Deiikmälerreste  des  alten  Rom  von  der  ersten  An¬ 
lage  der  Stadt,  der  Roma  quadrata  auf  dem  Palatin, 
bis  zur  Zeit  des  Kaisers  Constantin  (3.  und  4.  Jahrh. 
nach  dir.)  in  geschichtlicher  Folge  vorgeführt.  Wir 
sehen  sie  dargestellt  in  Grundrissen,  perspektivischen 
Ansichten,  Aufnahmen  des  ruinösen  gegenwärtigen 
Zustandes  und  in  Restaurationen.  Den  Bauten  sind 
auch  einzelne  Bildwerke  beigefügt,  welche  für  die 
Veranschaulichung  alter  banlicher  Anlagen  wichtig 
sind,  oder  Persönlichkeiten  darstellen,  die  wie 


1)  Das  alte  Rom.  Entwickelung  seines  Grundrisses 
und  Geschiclite  seiner  Bauten.  Auf  12  Karten  und 
14  Tafeln  dargestellt  und  mit  einem  Plane  der  heutigen 
Stadt  sowie  einer  stadtgeschichtlichen  Einleitung  heraus¬ 
gegeben  von  Arthur  Schneider.  Leipzig,  Druck  und 
Verlag  von  B.  G.  Teubner.  189(1.  XII  S.  Text,  Gr.  tju.-Fol. 


Säule  und  Gebälk  aus  den  Thermen  des  Agrijipa.  (Aus  Schxeiuer’s  Atlas.) 


304 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Aiigustus  und  andere  Kaiser  auf  die  Physiognomie 
der  Stadt  mäditig  eingewirkt  haben.  Ganz  lehrreiche 
Beigaben  sind  die  auf  Tafel  I  gebotene  Zusamnien- 
stellung  moderner  Stadtpläne  mit  dem  in  gleichem  Ma߬ 
stabe  gezeichneten  ältesten  Teil  von  Born  und  die  Ver- 
gleichuug  antiker  und  moderner  Großstädte  auf  Tafel  XIV. 
—  An  die  Tafeln  schließen  sich  die  12  Karten.  Die 
letzte  derselben  giebt  in  schwarz  und  rot  gedruckter 
Lithographie  den  Plan  des  heutigen  Eoni  mit  den  bei¬ 
schriftlich  bezeichneten  Denkmälern  aller  Epochen.  Zu 
diesem  Plan,  der  gewissermaßen  die  Oiientirungstafel 
für  das  Ganze  bildet,  kommen  dann  11  auf  Pauspapier 
gezeichnete  Einzelpläne  der  aufeinander  gefolgten  Ent¬ 
wickelungsphasen  der  Stadt.  Durch  Auflegen  eines  dieser 
Pläne  auf  weißes  Papier  (etwa  auf  die  Rückseite  des 
modernen  Stadtplanes)  kann  man  von  dem  Zustande  des 
alten  Rom  in  jeder  einzelnen  Epoche  sich  ein  Bild 
machen.  Durch  Auflegen  eines  der  Pausblätter  auf  den 
modernen  Plan  gewinnt  man  Klarheit  über  die  Situirung 
der  auf  dem  Pausblatt  erscheinenden  alten  Denkmäler 
innerhalb  der  heutigen  Stadt.  Auch  das  Übereinander- 
legen  mehrerer  Pausblätter  auf  weißer  Grundlage  kann 
erwünscht  sein,  um  die  baulichen  Zustände  in  verschie¬ 
denen  Epochen  miteinander  in  Vergleich  zu  ziehen.  — 


Jedenfalls  besitzt  man  in  dem  auf  den  Tafeln  und  Karten 
des  Schneider’schen  Atlas  zusammengetragenen  Material 
ein  Orientiruugsmittel  auf  dem  Gebiete  der  alten  Stadt¬ 
geschichte  Roms,  wie  es  in  gleicher  Vollständigkeit  und 
Bequemlichkeit  bisher  von  keinem  anderen  Werke  ge¬ 
boten  wurde. 

Dazu  kommt  ein  kurzer,  erläuternder  Text,  der  sich 
der  Reihenfolge  der  Tafeln  anschließt  und  durch  Hervor¬ 
hebung  der  wichtigsten  bildlich  dargestellten  Momente 
das  A'erständnis  der  Abbildungen  wesentlich  erleichtert. 
Der  topographische  Gesichtspunkt  war  für  den  Verfasser 
des  Textes  natürlich  bei  diesem  Werke  der  in  erster 
Linie  maßgebende.  Doch  lässt  er  deshalb  die  archäo¬ 
logische  und  kunstgeschichtliche  Seite  des  Gegenstandes 
nicht  aus  den  Augen  und  bietet  uns  in  seinen  Erläute¬ 
rungen  eine  wirkliche  Kunstgeschichte  Roms  in  ge¬ 
drängtester  Form. 

Für  die  Tafeln  wie  für  den  Text  haben  die  Er¬ 
gebnisse  der  jüngsten  Forschung  als  Quellen  gedient. 
Bei  aller  seiner  Verwendbarkeit  für  große  Kreise  darf 
das  Atlaswerk  daher  zugleich  den  vollen  Ehrentitel 
strengster  Wissenschaftlichkeit  für  sich  in  Anspruch 
nehmen.  C.  v.  L. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


*  „Sic  schieden  ans  dem  Land,  der  Leiden“.  Nach  dem 
(iemälde  von  Wilhelm  MiiUcr-Sehöncfc/d,  radirt  von  id ffrosfe- 
iritx.  Der  junge  Künstler,  der  sich  wie  die  meisten  seiner 
kuustbeflissenen  Namensvetter  durch  die  Anhängung  seines 
Geburtsortes  an  seinen  Namen  ein  Unterscheidungsmerkmal 
geschatfen  hat,  ist  erst  durch  die  Berliner  Kunstausstellung 
des  Jahres  18!J5  weiteren  Kreisen  bekannt  geworden,  nach¬ 
dem  er  freilich  schon  früher  durch  einige  Studienköpfe  die 
Aufmerksamkeit  der  Kenner,  die  die  Delikatessen  des  Kolo¬ 
rits  zu  schätzen  wissen,  auf  sich  gelenkt  hatte.  Ernst  Wil¬ 
helm  Müller  aus  Schönefeld  ist  am  2.  Februar  18ü7  geboren 
worden.  Mit  18  Jahren  ist  er  in  die  Berliner  Kunstakademie 
eingetreten  und  hat  dort  bis  zum  Sommer  1894  neun  Jahre 
lang  studirt,  also  den  regelrechten  Kursus  durchgemacht. 
Wie  wenig  dieser  viel,  aber  mit  Unrecht  geschmähte  Lehr¬ 
gang  der  Entwicklung  seiner  künstlerischen  Individualität 
hinderlich  gewesen  ist,  haben  die  beiden  Bilder  gezeigt, 
die  1895  mit  Recht  als  die  ersten  Keime  einer  neuen  idealen 
Kunst  im  Sinne  moderner  Stimmungsmalerei  und  moderner 
Empfindung  begrüßt  wurden.  Das  eine  bot  unter  dem  Titel 
„Frühling“  ein  Pastorale,  eine  arkadische  Idylle  aus  dem 
goldenen  Zeitalter  der  Menschheit,  dem  jetzt  wieder,  wie  in 
jeder  Zeit  physischer  und  moralischer  Abspannung  der  trei¬ 
benden  Kräfte,  Poeten,  idealistisch  gesinnte  Socialpolitiker  und 
bildende  Künstler  ihre  Träumereien  und  ihre  Sehnsucht  wid¬ 
men;  im  Vordergründe  links  eine  auf  blumiger  Wiese  ruhende 
Frauengestalt  von  der  Art,  wie  sie  Giorgione,  Palma  und  Tizian 
malten,  rechts  ein  vom  Rücken  gesehener  nackter  Jüngling, 
der  auf  dem  Wiesenteppich  sitzend  die  Doppelflöte  spielt. 
Ein  silbriger,  kühler  Gesamtton  verschmilzt  Figuren  und 
Landschaft  zu  einem  Ganzen;  die  Umrisse  der  Figuren  gehen 
zart  verschwimmend  in  den  dämmrigen  Ton  über,  der  über 


der  ganzen  Landschaft  ruht.  Noch  stärker  ist  dieses  Hin¬ 
überfließen  der  Konturen  in  die  Landschaft  auf  dem  von 
unserer  Radirung  wiedergegebenem  Bilde  betont,  das  eine 
antike  Mythe  im  Geiste  des  modernen  Eudämonismus  belebt. 
Es  ist  nicht  die  dunkle  Asphodeloswiese,  die  das  Liebespaar 
betritt,  das  eben  aus  dem  Nachen  des  Charon  ans  Land 
gestiegen  ist,  sondern  die  Insel  der  Seligen,  auf  der  trotz  des 
leicht  verschleierten  Sonnenlichts  ewiger  Frühling  herrscht. 
Die  Aufgabe  des  Radirers  war  bei  der  eigenartigen  kolo¬ 
ristischen  Behandlung  des  Bildes,  die  in  erster  Linie  nach 
Tonwirkungen  strebt,  äußerst  schwierig.  Aber  es  ist  ihm 
doch  gelungen,  die  Figuren  plastisch  herauszuheben,  ohne  die 
schattenhafte  Gesamtwirkung  des  Originals  durch  Härten 
allzusehr  zu  stören.  —  Müller-Schönefeld  hat  im  folgenden 
Jahre  einen  weniger  glücklichen  Ausflug  in  das  Gebiet  des 
modernen  Symbolismus  und  Mysticismus  gemacht.  Es  ist 
aber  zu  hoffen,  dass  sein  echt  künstlerisches  Empfinden  ihn 
bald  wieder  von  unfruchtbaren  Spekulationen  befreien  wird. 

A.  R. 

Entdecktes  (ieheimnis,  Originalradirung  von  Ecrdinnnd 
Schmnixer.  Der  junge  Künstler,  der  dies  kleine  anziehende 
Blatt  radirt  hat,  erblickte  das  Licht  der  Welt  im  Jahre  1870 
und  entstammt  einer  bekannten  Kupferstecherfamilie,  dessen 
berühmtestes  Glied  J.  M.  Schmutzer  war.  Ferd.  Schmutzer 
studirte  an  der  Wiener  Akademie  (Schüler  William  Ungers), 
und  gewann  1894  dort  den  Staatspreis.  Er  hat  alsdann 
zwei  Jahr  in  Holland  studirt,  teils  als  Maler,  teils  als  Ra- 
direr  und  wir  können  den  Freunden  dieser  Zeitschrift  noch 
ein  weiteres  anziehendes  Blatt  aus  der  holländischen  Studien¬ 
zeit  in  Aussicht  stellen.  Was  die  Genrescene  wiedergiebt, 
besagt  zur  Genüge  der  gewählte  Titel. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich;  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


DEN  .EIIo  DEM  LE.ND  DER  LEIDEN 


V 


iJTUck  V  UiesecKe  ii.JJevnorit  t;  achmutzer  rad. 


ENTDECKTES  GEHEIMNIS S 


Vrria.y  v:  Seeuiami  u.  Co