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ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST
Heraus cresreben
o o
von
PROF. DR. CARL VON LÜTZOW
Bibliothekar der K. K. Akademie der Künste zu Wien.
MIT DEM BEIBLATT KUNSTCHRONIK
NEUE FOLGE
Achter Jahrgang
LEIPZIG
Verlag von Seemann & Co.
1897.
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi32unse
Inhalt des achten Jahrgangs.
All gemeines.
Der kiinstliistorisclie Kongress 180G in Hiidajiesti. Von
C. V. Lütxow .
Carl von Lützow f .
Seite
1Ü7
233
Architektur.
Korrespondenz aus Griechenland . 43
Der Heiligenherg von Varallo und (hiudenzio Kerrari.
Von G. Pauli . 238
Die Baukunst Frankreichs. Von M. Scliu/id .... 298
Plastik.
Olherg und Osterspiel iiu südwestlichen Deutschland.
Von F. Bauii/gaiien . 1
Das Kaiser Wilhelm-Denkmal in Breslau. Von C. Buch¬
wald . 25
Altarwerke in Dänemark aus dem späteren Mittelalter.
Von Th. Bauipe . 55
Die Ausstellung der Secession in München. Von C. 0.
IjÜIxow . 101
Keinliold Begas. Von 0. Baisch und A. Pasenhertj . 129
Hans Gudewerdt. V^on G. Brandt . 217
Der Ileiligenl>erg von Varallo und Gaudenzio Ferrari.
Von G. Pauli . . : . 238. 262
Dannecker’s Ariadne. V^on Prof. Dr. G. Bcijcr . . . 244
Die Kaiser Wilhelin-Denkmals-Konkurrenz in Aachen.
Von M. Schmid . 275
Die Elfenheinplastik auf der Brüsseler Weltausstellung
von 1897. Von Prof. Dr. P. Joncph . 281
Wie man Skulpturen aufnehnien soll. 11. Yon il. JVölffiiu 294
Malerei.
Der Meister des Hausliuches als Maler. Y owE. Flcch.'iiy 8. 66
Ferdinand von Keller. Von P. SchulUe-Nauuihun/ . 17
Die Bildnisse des Kardinals Hippolyt von Medici in
Florenz. Von C. Justi . 34
Die Ausstellung der Secession in München. Von P.
Hchultxc-Nau))ihur(j . 49
Seite
Altarwerke in Dänemark aus dem späteren klittelalter.
Von Th. Ilaiiipe . ,55
Ein wiedererkanntes Bild von Hubens. Von C. v. Lülxow 74
Walter Crane. Von 11'. Schölcnnaiin . 81
Karl Helfucr. Von Jd. Poseuberej . 105
Das Berliner Bildnis Johann Sel)astian Bach’s. Von
G. Wusiiuami . 120
Die neue staatliche National-Porträt-Galerie in London.
Von 0. V. Schlciiiit\. . 142
Altes und Neues von Max Klinger. Von J. Yocjel . . 153
Domenico Thcotocopuli von Kreta. V'on C. Justi. 177. 257
Sandro Botticelli. Von Ad. Philippi . 185
Ludwig Dill. V'on P. Srhultxe-Aauiuburij . 209
Die IMuseen Italiens und ihre neuen Errungenschaften.
Von G. Friwoni . 233. 248
Der Heiligenberg von Varallo und Gaudenzio Ferrari.
Von G. Pauli . 238. 262. 289
Graphiselic Künste.
Handzeichnungen alter Meister. Von C. v. Lütxoiv . 41
Neue photograiihische Aufnahmen aus Italien. Von
G. Friwoni . 93
Charles Dana Gibson’s Zeichnungen. Von IP. Stduilcr-
iiiauii . 113
Neues vom Berliner und Karlsruher Radirverein . . . 254
Rembrandt’s Christus predigend. Von S. P. Köhler . 273
Büeherschau.
Flin patriotisches Künstlerbuch . .76
Flin deutsches Künstlerlei )en . 122
Der moderne Maler. Von IF. v. Octtiiujea . 125
X. Kraus’ Geschichte der christlichen Kunst .... 148
Weicluirdt: Pompeji vor der Zerstörung. V'on M. Schmid 197
Jacopo della t^uercia. A'’on J. Strxpyoicski . 278
Flinc Topographie des alten Rom . 303
NB. Uio kleinen Mitteilungen sind in das Register der „Kunst-
chronik“ aufgenominen.
IV
INHALTSVEIIZEICHNIS.
Verzeichnis der Illustrationen.
(Die mit t bezeicbueten sind Einzelblätter. Die Abbildungen der auf mehrere Hefte verteilten Aufsätze folgen hintereinander.)
tDur Üllierg' in Ott'enlnirg
Der Olberg in Neutlen .
Der Ollierg in .StraUburg
Vom Straßburger Ölberg
Der (llbero- in Straliburir.
Zu
(i
I iesanita.nsiclit
liiiliue des fl.sterspiels in Douaueseliingeti
Der Ollierg zu Speyer . ‘2l
Judasgrupjie vom Olberg zu Straßburg .
Verkündigung. Vom ]\Ieister des Hausbuclies. Darm
Stadt, IMuseum .
Petrus und Paulus. Von dems.; ebenda .
Liebespaar, ^'on dems.; (lotba, Museum ....
lleimsuebuug. Von dems. Mainz, städtische (lalerie
(ieburt Cliristi. Von dems. Klieiida .
Perdimind von Keller. Porträtskizze von Frau Ernesfiue
Schult e-Nauml uirg .
Markgrad' Ludwig liesiegt die Türken in der Schla.elit
am Salamkemen. Von Fcnl/uuiul nui Keller. Karls¬
ruher Oahnie .
Knlwuit'zum Vorhang im Dresdener lloilheater. Von
dems .
Drücke in IMadrid (Skizze). \"ou dems .
Damenporträt (Pastell). Von dems .
Ccntauremiaar (Skizze). Von dems .
, t„l’an.“ Heliogra.vüre mich dem flemälde von Ei/rujuc
Serra . Zu
■, t,,Am Ufer.“ ( Iriginalradiruug von Clemens Crncie. Zu
Das Kaiser Wilhelm-Deidiinal in Breshiu von Chr. Behrens
llipliolyt von Medici, in Kardinalstracht .
Derselbe, von 'l'r.idu .
Ouidobaldo II. von Medici, von Bron\ino
Medaille (iuidobaldo’s II. von B. Cnmpi
"Löwenstudie, von Reinhrujull .
diandzeichnungen von Kubcus und Dürer
;y'*tUorträtstudie von Luats Crunaeh . .
C .Vus dem Werke: ,,lIamlzeiclmuDgeii alter Meister aus
der Albertina etc.“, Verlag von Gerlach & Schenk, Wien.)
\^on der Si.xtinischen Madonna, in Dresden. Phot, von
Brunn .
Von der Dadrutt’schen Ko[iie in St. Moritz .
fJunge Koptin, von Lcopuld Müller, radirt von Alfred
Cossmanu . J'n
fFlügelbilder des Triptychons vom Süudenfall, von Lud-
n-hj Jlclhnnnn, radirt von Er. Kruslcwil:'., . . Zu
E. Sehnll'.c-XaKinbury: Am Klavier .
/'. IF. Kcller-h’eutlhifjcn: Bei Bruck .
Hiov. Scfjanllni: Liebespaar .
r. Valhjren-. Aschenurne .
.M itteltafel des Odenser Alta.rs .
Plinzelheiten vom Odenser Altar . ÜO.
Der Fmgel Gabriel und 8t. Antonius. Vom Altar zu
Aarhus .
Sip[)endarstellungen am Altar in der Kirche zu Nörre-
Broby auf Fünen .
Christi Kreuzesgang vom Altar in der Söndresogii-Kirche
zu Viborg .
*Fiine deutsche Madonna. Von Otto Seitz .
"Dorfschulze. Von L. Knniis .
'•■^Burgruine Ober-Cilli. Vignette von 0. Ubbelohde . .
Seite
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Seite
]*Eraiu^ SInch: Weiblicher Studienkopf .... Zu 76 t
(■*■ Aus dem Werke: Den Deutschen Österreichs! Verlag
von J. E. Lehmann in München.)
: f/’. /’. Hubens: Allegorische Darstellung aus der Ge¬
schichte Heinrichs IV. (Galerie Miethke, Wien.) Zu 74 ■'
Der Olberg zu Ulm (Idmer Münsterblätter) .... 80
Phillis on the new made luty. Von 115 (Kaie ... 81
The lloiise that Jack built. Kinderstubentajiete. Von
demselben . 83 .
,,Wood-notes“, Wall-Paper aus „The Studio“. Von dems. 84
Ta.nz der Nymjihen und Schnitter aus: The tempest von
Shakespeare. Illustrirt von dems . 86 -
Die Nacht. Sepiazeichnung. Von dems . 88 -
Der Mittag. Sepiazeiclinung. Von dems . 80
Auemones a,us: Flora’s Feast. Von dems. (Verlag von
Cassell & Comp., London) . 90 , ,,•
Bitter aus: Queen Summer. Von dems. ( Verla, g von
Cuissell & Comp., London) ... . 01
Bildnis Walter Cra,ne’s . 92 r'
Paris Burdonc: Der heilige Georg. Kom. Quirinal.
Holzschnitt von P. Berthuld in Leipzig . 95 l'
Allegorie von Girulamo Mawula in der K. (.lalerie zu
Neapel. (Nach einer Photographie von Brogi) . . 97 \j
,,La Frimavera“ von Cosimo Tu.ra in der Sammlung i
Layard in Venedig. (Nach einer Photographie von 1
xAlinari) . 90 v
Heil. Hieronymus von Ercolc de iloberti bei Herrn Aldo
Noseda in Mailand. (Nach einer Photographie von ,
Dubray) . 100 ^
tBüste Da,lou’s. Von .1. Ilmll/i. Heliogravüre von 11.
(I. Brinckmann in Leipzig . Zu 101 V
‘fln der Schusterwerkstatt. C)riginalradirung von Josef
Kriircr . Zu 104
.^Landschaft. Ölgemälde von K. Rcffncr. Heliogravüre
von U. G. Brinelnnetnn in Leipzig . 105 *
Karl Hetfner . 105
Morgen,Themseuferl)eiDa,tchol Ölgemälde von K. Ileffncr 106
Schloss Windsor. Ölgemälde von K. Heffner .... 108
Re((uiescant in pace. Ölgemälde von K. Heffner . . 109
Fnglische Landschaft. Ölgemälde von K. Heffner . . 111
Mondaufga,7ig. (Straße nach Ostia.) (Jlgemäldc von
K. Ueff)ter . 112
Titelbild zu ,,Drawings“ von Ch. D. Gibson . . . . 113 *
The Hopewell Bonds. Zeichnung von Ch. 1). Gibson. 116 ^
Her Punishment. Zeichnung von Ch. D. Gibson . . 117 *
Love will die. Zeichnung von Gh. D, Gibson . . . 118 u
ifJohann Sebastian Bach. (Ölgemälde von C- F. P. Li-
sicieskji. Lichtdruck von vl. Frisch .... Zu 120 *
^Weibliches Porträt. Von Er. nJtsniann . 123 V
‘''Der Mäher. Studie von Er. Wasmann . 124 /
(* Aus dem Werke: Friedrich Wasmami. Ein deutsches
Küustlerlebeii, von ihm selbst geschildert. Herausgegebeu
von liernt Grönwold. München, F. Bruckmann, 1896.)
•fBlick vom Wörthelstadeu nach der Thomaskirche in
Straßburg i. F. Originalradirung von ^1. . Zu 128 V
fBittere Medizin; nach dem Bilde von Adriaen Broutver,
gestochen von 0. Keim . Zu 152 /
Das Kaiser Wilhelm-Denkmal in Berlin. Entwurf von
R. Beyas (nach dem Gipsmodell) . 120 F
VI
INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
Seite
Birken im Moos. Ölo-emiUde von Jj. Dill .
Ski///.en von L. Dill . 210. 218.
Ludwig Dill. Nach einer Porträtstudie von Enirsfine
»S'c//?/7tee-Nauiuhurg .
iSchilt'hütt.e in der Lagune. Tuschzeichnung von L. DiH
Fischerhoote hei Goinacchio. Ölgemälde von L. Dill .
Dacliau. Skizze von L. Dill .
Skizze zur Wartburg von L. Dill .
fllans Gudewerdt.’s Altar in der Kirclie zu Kappeln.
Nach einer photogra[>hischen Aufnahme von L. Hansen
in Kajipeln. Lichtdruck von Sinsel & Co. . . Zu
Bekrönunng des Kappeiner Altars .
Das Abendmahl; ursprünglich in der Mittel])artie des
Kappeiner Altars .
Anbetung der Hirten aus dem Kappclner Altar. Holz¬
schnitt von Käseben/ d' Oertel .
Adam und Eva aus dem Kappeiner Altar .
Altargemillde von Francescu (’ossa-, znsanimengestellt
nach (1. Frizzoni (s. S. 227). Zeichnung des Rahmens
von Prof. Dogliayhi .
Predella von Vrancesen Cassa im Vatikanischen Museum
in Rom .
Bildnis des Alexander Farnese von Anlonis dr Moor
in der Kgl. Galerie zu Parma .
Bikinis des Herzogs Franz 1. von lliego ]'chr,qnex in
der Kgl. Galerie zu Modena .
Tempelgang der Maria von Thiaii in der Kgl. Galerie
zu Venedig .
Die sechste Anbetung der Könige von Sandro Bolticelli
in den Uflizien zn Florenz. Photographie Alinari. .
Die Heimsuchung; angeblich von Fra. Carnevale im
Palazzo Barberini zu Rom. Photographie Anderson.
fTiger. Originalradirung von D. Friese. (Ans dem
Hefte des Berliner Radirvereins) . Zu
Carl von Lützow f. Nach einer Photographie. Holz¬
schnitt von Küseberg <& Ocriel .
Plan des Sacro Monte bei Varallo .
Piazza dei Tribunali auf dem Sacro Monte zu Varallo.
Cajiella d’Anna (1), Palazzo di Pilato (2), Capella di
Erode (3), Capella di Caifas (4) .
Prima Capella di Adamo et Eva auf dem Sacro Monte
zu Varallo .
Qanden'.io Ferrari: Verkündigung Mariä. (Varallo; Sta.
Maria Delle Grazie) .
Gaadenxio Ferrari: Anbetung des Christkindes. (Varallo;
Sta. Maria Delle Grazie) .
Gaaden'.io Ferrari: Christus vor Pilatus. (Varallo; Sta.
Maria Delle Grazie) .
Gaadenzio Ferrari: Geißelung Christi. (Varallo; Sta.
Maria Delle Grazie) .
Gandenzio Ferrari: Johannes und die Marien, Kriegs¬
volk und Zuschauer bei der Kreuzigung Christi.
(Varallo; Sacro Monte) . . .
Gaudenzio Ferrari: Zwei Zuschauer bei der Kreuzigung
Christi. (Varallo; Sacro Monte, Capella del Crocitisso)
209
21(5
210.
211
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217 ■
218
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222
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240
241
242
204
205
207
208
209
271
Kopf der heiligen Veronika aus der Kreuztragung von
Giovanni TabacheUi (Vara.llo; Sacro monte) . . .
Kopf eines der würfelnden Tjandsknechte aus der Kreu¬
zigung von Gandor.io Ferrari (Varallo; Sacro monte
Ariadne; Marmorstatue von Dannecker. Seitenansicht
Holzschnitt von II. Berthold .
Ariadne; Marmorstatue von Dannecker. Vorderansicht
Holzschnitt von B. Berthold .
Ariadne; Marmorstatue von Dannecker. Rückansicht
Holzschnitt von 11. Berthold .
fEin Paar Blumen; Originalradirung von B. Weiß
(Aus dem 4. Hefte des Karlsruher Radirvereins.) . Zu
Christus predigend (Le petit bi Tombe); R.adirung von
Bembrandt (B. 07) .
fl’i'edigt Johannes des Täufers; Fresko von Ghirlandajo
* in Sta. Maria Novella in Florenz . Zu
Kaiser Wilhelm - Denkmal in Aachen ; Entwurf von
II. Maison in München .
ifReiterstandbild vom KaiserWilhelm-Denkmal in Aachen;
Entwurf von II. Maison in München .... Zu
*Das 0]ifer Abrahams am Hauptportale der Kirche S.
Petronin in Bologna. Von Jacopo delUi Qnercia
*Ma,donna mit dem Kinde am Han])tportalo der Kirche
S. I’etronio in Bologna. Von .Jncoj>o della Qnercia
{* Aus dem Werke: .laeopo della Qnercia. Von C. C.ornelins.
Halle, W. Knai)ii, 189(1.)
^ fDer Stempelschneider von Damaskus; Ölgemälde von
M. Babes\ Radirung von F. Krosteivitx, . . . Zu
fSie schieden aus dem Land der Leiden; Ölgemälde
von IF. Mällor-Schoencfcld; radirt von F. Krosfeiriiz,
Die Furie; Elfenbeinarbeit von J. Gclegir, Holzschnitt
von Kdseberg d' Oertel .
Der Venusberg. Elfenlieingruppe von Fd. Boinlxntx .
ln hoc signo vinces; Elfenbeingruppe von Charles ran
der Stoppen .
Die geheimnisvolle Spliinx; Elfenbeingruppe vonCharles
ran der Slappen .
Apollo von Belvedere ; Photographie Alinari (unrichtige
Aufnahme) .
Aiiollo von Belvedere; nach dem Stich von Marc Anton
Raimondi .
Kajdtolinische Venus; Photographie Alinari . . . .
Mediceische Venus; Photographie Brogi .
Venus Kallipygos; Photograpliie Brogi (unrichtige Anf-
nahme) .
*Südlicher Turm der Kathedrale St. Gatien in Tours.
Holzschnitt von Kdseberg d- Oertel .
*H6tel Gonin in Tours .
*Haus in Tours .
*Kirche Notre Dames-des-Doms in Avignon . . . .
(* Nach dem Werke von C. Gurlitt: Die Baukunst Frank¬
reichs; 2(10 Tafeln. Dresden, 189fi. Gilbers.)
**Säule und Gebälk aus den Thermen der Agrijipa
(** Aus dem Werke von A. Schneider: Das alte Rom.
Leiiizig, 189(!. B. G. Teuhner.)
IfEntdecktes Geheimnis; Originalradirung von F.
Schmutzer . Zu
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304
INHALTSVERZEICHNIS.
V
Roinholfl Begiis; nach einer Photographie .
.■Sarkophag Kaiser Friednehs iiii j\Iausoleum hei der
Friedenskirche zu Potsdam von I!. ISiyris ....
Merkur und Psyche. i\rarmorgruppe von i/. Bcf/a.t . .
.\dolf Menzel. Marmoihüste von L‘. Begas .
Grundriss des Kaiser M^ilhelm-Denkmais in Berlin .
Das Kaiser Wilhelm-Denkmal in Berlin (Mittelgruiipe)
von U. Brqas (nach dem Gipsmodell) .
Sir George Scharrt'; gemalt von 11 . Oiilcss .
'l'homas Carlyle; Büste von B. BUhm .
Charles Darwin; gemalt von Jahn ('ol/irr .
eil. .1. Fo.x; gemalt von K. .1. Ihcke! .
(leorgina S'pencer, Herzogin von Devonshiie, genitilt
von RrgnoJds .
Barhara Villiers, Herzogin von Cleveland; gemalt von
I.rlg .
.lohn tUiurchill, Herzog von Marlborough, gemalt von
C. . .
G. Bomney, Selhstporträt .
Sarkophag aus Perugia .
oS. Agnese Fnori Ic Älura .
■■Der Felsendom in Jerusalem. .
{* .‘\ns dem Werke: F. X. Kraus, Geschichte der elirist-
liclien Kunst, Baud I. Freihurg, Herder, ISPfi.)
tAus Alt-Straßhurg: Langstraße ruit Alt-8t. Peter.
Originalradirung von .1. Kiirttge . 7ai
tKassandra. Marmorfigur von Max kUuger. Farhen-
lichtdruck von Sinscl & Co. in Leipzig ... Zu
Kopfleiste, gezeichnet von Max Klmgcr .
Max Klinger bei der Arbeit; Ölgemälde von K. Sfocring-,
Holzschnitt von Käsrherg <('• Ocrid .
Studien zur Salome von Max Khngrr. Pastellbild im
Besitze des Herrn Dr. J. Vogel in Leiiizig ....
Bildnis eines Knaben; getuschte Federzeichnung von
Max KUuger .
Der 'i’od am Grabe; Federzeichnung von .l/«.i- KUuger
■lohannes predigt in derWüste; getuschte Federzeichnung
von Max Kliugrr . .
Das Ende; getuschte Federzeichnung von Max KUuger
Ein altes liied; Federzeichnung von Max KUuger . .
Sdireibendes Miidchen; getuschte Feilerzeichnung von
Ma.c KUuger .
„Zum weißen Schwan“, Straße in Grötzingen; Feder¬
zeichnung von Max KUuger .
Kreuzabnahme; getuschte Federzeichnung von Max
Kl ingcr .
Eine Vision; getuschte Federzeichnung von Max KUuger
Alädehen am Strande; Federzeichnung von Max KUuger
Hamlet uml der Geist; getuschte Federzeichnung von
Max KUuger .
Das Ur-Nichts; Federzeichnung von Max KUuger . .
Eingangsthor zar historischen Abteilung der Millenniums¬
ausstellung in Budapest; Architekt Alpär . . .
Nachbildung der Stiftskirche zu Jak in der historischen
Abteilung der Millonniumsaussf ellung in Budapest;
Architekt ■/. Alpär .
Barockbau in der historischen Abteilung derMillenniums-
ausstellung in Budapest; Architekt J. Alpär . . . .
Calvaiienberg des Königs Matthias Gorvinus . . . .
Galvarienberg des Königs Matthias Gorvinus (oberer Teil)
Galvarienberg des Königs Matthias Gorvinus (Basis) .
tGluistus vor den Hohenpriestern. Tuschzeichnung von
Ma.c KUuger-, Lichtdruck von Sinsel & Go. in Leipzig.
Zu
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Seite
fDie Tempelreinigung. Ölgemälde von Domenico Tlieofo-
eojuili in der Galerie des Earl of Yarborough in Lon¬
don. Heliogravüre von II. < !. Briuchuaun in Leipzig. Zu 177
Bildnis des Giulio Glovio. Ölgeml'ilde von Douicnien
TheoiocopuU im Museum zu Neapel. Holzschnitt von
R. Bcrtliold . 177
Die Heilung des Blinden. Ölgemälde von Douicnico
Thcotocopuli in der Galerie zu Parma . 180
Die Heilung des Blinden. Ölgemälde von Domenieo
TheoiocopuU in der Dresdener Galerie . 181
Die vier Künstler; Ausschnitt aus der Tempelreinigung.
Ölgemälde von Douicnico TheoiocopuU in der Galerie
des Earl of Yarborough in London . 183
Die Puerta del Sol in Toledo . 257
Die Kirche San Giorgio dei Greci in Venedig. . . . 260
Toledo von der Alcäntara- Brücke gesehen . 261
Engelskopf aus der Krönung der Jungfrau von Filippo
l/ippi in der Akademie zu Florenz . 185
Engelsköpfe aus der Krönung Mariä (dem sog. Magni-
ficat) von S. BotUcelli in den Uffizien zu Florenz . 186
Engelsköpfe aus der Taufe Christi von Vcrrocchio . . 186
Kopf der Madonna aus der Madonna mit dem Jesus-
knahen von Filippo Lippi im Palaste Pitti zu Florenz 187
Kopf der Madonna aus der Krönung Mariä (dem sog.
Magnificat) von S. Bolticclli in den Uffizien zu Florenz 187
Dienerin aus der Madonna mit dem Jesusknaben von
Filippi Lippi im Palaste Pitti zu Florenz .... 187
Die Verläumdung des Apelles von U. Botticelli in den
Uffizien zu Florenz . . 188
Der Frühling von S. Botticelli in der Akademie zu Florenz 189
Ausschnitt aus der Anbetung der Magier von 8. BoUieelU
in den Uffizien zu Florenz . 190
Die Krönung Mariä (das sog. Magnificat) von S. Botticelli
in den Uffizien zu Florenz . 191
Die Verkündigung von Picro Pollajuolo im Kgl. Museum
zu Berlin . 192
Drei Heilige von Auloiiio uml Picro Pollajuolo in den
Uffizien zu Florenz . 193
Der junge Tobias mit Engeln von 8. Bottieelli in der
Akademie zu Florenz . 194
Die Botte Korah. Freskogemäldo von 8. Botticelli in
der Sixtinischen Kapelle des Vatikans zu Born . . 195
*Der griecliische Tempel auf dem Forum tria,ngula,re in
Pompeji . 199
■■■‘Buine des Jupitertempels in l’ompeji . 200
*Bekonstruktion des Jupitertempels, der Triumphbögen
und der Forumshallen in Pompeji . 201
’^lviiine des Nerobogens in Pompeji (Nordseite) . . . 202
‘Mlekonstruktion des Nerobogens in Pompeji .... 203
*Bekonstruktion des Nerobogens in Pompeji .... 203
*Buine iles Tempels der Fortuna Augusta in Pompeji (vgl.
die Lichtdrucktafel) . 204
^f*'l'empel der Fortuna Augusta. Rekonstruktion; ver¬
kleinerter Lichtdruck . Zu 204
(*■ Aus dem Werke: Poiniiei vor der Zerstörung. Eekon-
striiktionen der Tempel und Ihrer Umgebung. Von C.
Weichardt, Architekt. Leipzig, Kommissionsverlag von
K. F. Köhler, 1897.)
**Fran^'ois de Theas Gomte de Thoranc. Holzschnitt
von Kaseherg K Oertcl . 207
**Landschaft von Schütz d. ü . 208
(** Aus dem Wei'ke von M. Schubart: Goethes Königs-
, lieutenant. München, 1896. F. Bruckmann )
(fViceuza. l.llgemälde von L. Dill. Heliogravüre von
' Dr. E. Albert d- Co. in München . Zu
209
Der Dlbei’g zu Offeiiljurg-,
r. r-
ÖLBERG UND OSTERSPIEL
IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
VON J5’. BAU MO ARTEN.
MIT ABBILDUNGEN.
EITVERBIvülTET war im 1 5. und 1 6. Jahr¬
hundert der fromme Ilranch, die Erinne-
rnng an Christi Seelenkamjif zu Geth¬
semane am Abend des Gründonnerstags
auf dem Gottesacker außerhalb der Kirche
mit Büßpredigt, Gesang und Gehet zu
begehen. ') Was lag da näher, als für diesen Gottes¬
dienst im Freien nun auch einen Mittelpunkt zu schaffen,
indem man inmitten der Gräber eine plastische Dar¬
stellung jenes ergreifenden Vorgangs sich eidieben ließ?
So entstanden damals allerorten vor den Kirchen die
sogenannten „Olberge“; ein solcher gehörte um 1.500
gewissermaßen zum Inventar einer jeden Pfarrkirche.-)
In späterer Zeit verlor sich jene schöne Sitte. Die
Friedhöfe wurden in der Regel vor die Stadtmauer ver¬
wiesen, die Ölberge aber mussten in der jetzt profa-
nirten Umgebung entschieden deplacirt erscheinen, sie
hemmten wohl gar den V^erkehr auf dem Kirchplatz,
kurz, man brach sie an den meisten Orten ab und ver¬
wies sie in eine Krypta oder Seitenkapelle der Kirche,
wo nicht gar in die Magazine. So gehören im Freien
stehende, in ihrer ursprünglichen Aufstellung erhaltene
Ölberge heutzutage zu den Seltenheiten.
Einzig in seiner Art, was gute Konservirung be¬
trifft, ist der Ölberg im badischen Anitsstädtchen Offen-
hiirg an der Kinzig. Er ist wenig bekannt — wer
sucht auch in dieser an Kunst und- eigener Geschichte
sonst so armen Stadt ein so hervorragendes Monument?
— und doch ist von ihm auszugehen, wenn man sich
von der künstlerischen und gemüterhebenden Wirkung
dieser Denkmälergattung eine Anschauung verschaffen will.
Noch an seiner ursprünglichen Stelle auf dem alten
Friedhof hinter der Pfarrkirche erhebt es sich; grünende
Büsche und einige Grabsteine aus dem letzten Jahr-
1 ) Mehrftich "wird eine Kanzel neben dem (Jlberg im
Freien ei-wähnt. Das 15. Jahrhundert kannte eigene „Ölberg¬
lieder“.
2) Vgl. die noch lange nicht vollständige Aufzählung
derselben bei „Der Ölberg zu Speyer“, S. Gtf.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 1.
hundert bilden seine Umgebung, der Ijärm des Tages
bleibt der Stätte fern. So ist dieser Ölberg noch heute
wohl im Stande, auf empfängliche Beschauer einen er¬
greifenden Eindruck zu machen.
Er steht in einer Art von gotischer Kapelle, deren
bunt bemaltes Netzgewölbe sich in hohem Rundbogen
gegen den Ilaupteiugang der Kirche öffnet. Im Eck¬
pfeiler rechter Hand ist eine Laterne ausgehöhlt, mit
einem Thürchen nach außen und einer EViisterrahmung
nach dem Bildwerk zu. Die ewige Lampe, die hier wohl
brannte, warf des Abends ihren Schein gerade auf die
Hauptfigur, den knieenden Heiland.
Das Prinzip, nach welchem die Gestalten des 1)1-
bergs an geordnet sind, erinnert einigermaßen an unsere
modernen Panoramen: zuvorderst Rundfiguren, die nach
rückwärts unmerklich in Hochreliefs und schließlich in
Malerei übergehen.
Den vorderen Abschluss der in Terrassen anstei¬
genden Scene — denn an eine solche fühlt man sich
lebhaft erinnert — bildet fasch inenartiges ETechtwtrk;
es soll die Erde des Vordergrundes halten und ist zu¬
gleich eines der Mittel, wodurch die Scenerie als Garten
gekennzeichnet wird. Allerhand Blumen und Kräuter
von Stein sprießen zwischen den Faschinen. Ein zier¬
lich geformtes Täfelchen, das an dem Flechtwerk Ije-
festigt ist, trägt ein später zu besprechendes Künstler¬
monogramm und die Jahreszahl 1524, während ein
zweites Täfelchen von gleicher Form uns meldet, dass
1820 das Denkmal renovirt w’urde.
Auf dieser vordersten und zugleich tiefsten Terrasse
nun, die von den Faschinen gehalten wird, sind die drei
Jünger des Herrn symmetrisch verteilt. Linker Hand
sehen wir im tiefsten Schlafe hingestreckt Jakobus;
seine Rechte hält noch das Buch, wajrin er zuletzt ge¬
lesen. Johannes nimmt die Mitte ein; ersitztaufeinem
aus unregelmäßigen Steinen aufgeschichteten Sitze. Das
])artlose, von Locken umrahmte Haupt hat er in die
Linke gestützt, die Augen sind im Halbschlummer ge¬
schlossen, doch die Rechte blättert noch mechanisch in
einem Buche, das auf seinem linken Knie liegt. Rechts
1
OLBERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
2
in clor Ecke, dein Jakobiis linker Hand entsiirecliend,
kauert Petrus. Er hat sich soeben von der Erdi' anf-
o-erichtid. offenbar durch den Waffenlänn der ini Ilinter-
g-rund aul'tauclienden Häscher geweckt. Nur mühsam
bringt er die von Schlafeucht schweren Lider ausein¬
ander und, die seinem Meister drohende Gefahr er¬
kennend, tastet er nach seinem Scliwert, das samt Welir-
gehäng vor ihm an der Erde liegt. Das clioh'.rische
Temiierament des Aiiostels kommt ebenso in den ener¬
gischen (lesichtszügen wie im Faltenwurf seiner Ge¬
wandung zum Ausdruck: es ist. wie wenn der Sturm
in dem weiten Mantid wühlte, der ihm zu hlä.upten
flattert.
Hinter den drei Apostelgestalten erhebt sich das
Gelände zu einer zweiten Terrasse. Diesmal nicht durch
Faschinen, sondern durch eine Art von Weinbergmauer
gestützt. -Auch an ihr wachsen allerhand Blumen und
Ranken hinauf, deutlich lassen sich Farrenkräuter und
Disteln, auch Wegerich- und Erdbeerstauden unter¬
scheiden, echt deutsclie Pflänzchen, die in der Flora
Paläs tina’s kaum Vorkommen dürften. In den Lücken
und Ritzen der mit Absicht unregelmäßig geschichteten
Mauer brachte der Künstler allerhand kleines Getier an,
vor allem fette Weinbergschnecken, doch auch eine Kröte,
der eine Schlange naclistellt, eine zierliche Eidechse und
ein allerliebstes Mäuschen. Man könnte versucht sein,
im Sinne der mittelalterlichen Bilder.sprache diese Tiere
symbolisch zu verstehen, also die Schnecke etwa auf
die Trägheit, die Kröte auf .Tudas, die Eidechse auf die
Pharisäer zu deuten. Aber was fangen wir dann mit
dem Mäuschen an? Diese liebenswürdigen Zuthaten von
Getier und Blumen, erinnern sie nicht an die Treue im
Kleinsten, wie sie unsere alten Maler auch übten, wie
sie einen Schongauer und Zeitblom, einen Hans Baidung
uns so rührend macht, wie sie allerneustens wieder in
den Zeichnungen Max Klinger’s vielfach uns entgegen tritt?
Die Terrasse nun, welche diese naturalistisch mit
Flora und Fauna ausgestattete Mauer stützt, steigt von
links nach rechts ein wenig an und trägt, als einzige
Gestalt, den Heiland. Im Pi'ofil nach rechts gewandt
kniet er mitten im Raum, also gerade über dem Johannes
der untern Terrasse, Die zum Gebet gefalteten Hände
sind meisterhaft geformt; man sieht alle Adei'n und
selbst die feinsten Fältchen an den Gelenken. Das
lockige Haupt — es könnte modern sein, so vollendet
ist die Haarbehandlung — erhellt Christus etwas nach
oben, einem kleinen Engelbihle zu, das mit Kelch und
Kreuz von der Höhe eines Steinwürfels ') hernieder-
1) Mit diesem SteinwürM hat es noch eine besondere
Bewandtnis. Er ist nändieli hold und die Steinplatte, welche
den Engel trägt, verschließt zugleich einen geheimen, unter¬
irdischen Gang, der einst von hier bis vor die Stadtmauer
lülirte. Besser konnte man diesen Eluchtweg wohl nicht
maskiren, als indem man seinen Eingang mitten in das
fromme Bildwerk verlegte
schwebt. Dieser Sfeiuwürfel zeigt dieselbe unregel¬
mäßige Struktur, wie die vorhin beschriebeue Stütz¬
mauer, als deren erhöhte Fortsetzung er sich darstellt.
Die unregelmäßigen Bruchsteine und Platten überspinnt
sorgfältig ausgemeißelter Epheu; auch die Schnecke fehlt
nicht, die aus einem Spalt hervorlugt.
Hinter Jesus, parallel mit der Gartenmauer, zieht
sich eine meterhohe Bretterwand durch den Raum.
Sorgfältig ist die Struktur des Holzes, die Nagelung
der einzelnen Bohlen im Steine wiedergegeben. Farren¬
kräuter und Epheu und eine ganz besonders schöne,
großblätterige Staude waclisen an ihm empor. Am linken
Ende öffnet sie sich in einer stattlichen Gartenpforte,
deren Pfosten eine kleine Überdachung tragen, die in
Höhe und Breite ein gutes Pendant zu dem Steinwürfel
rechter Hand bildet. Hinter der Bretterwand, bis in
Brusthöhe von ihr verdeckt, werden die jüdischen Häscher
sichtbar. Sie ziehen von rechts heran — wieder hat man
ganz den Eindruck der Bühne — und haben beim Anblick
des Heilands zum Teil Halt gemacht, um ihre Waffen
in Bereitschaft zu setzen und mit fragender Geberde
teils einander, teils ihr Opfer anzuschauen. Offenbar ist
es ihnen wenig wohl zu Mut dem frommen Beter gegen¬
über, der in seiner inbrünstigen Andacht sie gar nicht
bemerkt; vortrefflich hat der Künstler durch diesen Zug
die feige Heimtücke des ganzen Überfalls zum Ausdruck
gebracht. Durch die weit aufgestoßene Gartenpforte,
deren altertümliches Schloss- und Riegelwerk bis ins
Kleinste getreu wiedergegeben ist, drängen bereits die
Schergen ein: noch einen Augenblick, und die ver¬
räterische That vollzieht sich. Allen voran schleicht
Judas in den Garten; mit der Rechten hält er den un¬
vermeidlichen Geldbeutel, die linke Hand zieht das lange
Gewand etwas hoch, so dass die zierlich wie zum Tanz
gesetzten Füße sichtbar werden. Das leise Heran¬
schleichen des Verräters wird dadurch, freilich ein wenig
unbeholfen, angedeutet. Judas ist, und gewiss nicht
ohne Alisicht, auffallend klein und unansehnlich gebildet;
gleichwohl hebt er sich von den nachfolgenden Schergen
als ein AVesen höherer Gattung ab. Denn während sich
uns jene nach Antlitz und Gewandung als echte Kinder
des IG. Jahrhunderts darstellen, bemerken wir an .ludas
und in noch höherem Maße an Jesus und den drei
Aposteln eine ideale Gesichtsbihlung und eine Art von
klassischem Kostüm. Weit und faltig, wie ein Talar,
fließt der lange Mantel um die Leiber der Heiligen, die
Gesichter aber zeigen über die Natur geformte Züge
und ein überreichliches, stilisirtes Lockenhaar. Ganz
anders die Schergen. AVie die Juden zu Jesu Zeiten
liekleidet und bewaffnet waren, das wusste im 16. Jahr¬
hundert in Deutschland niemand; ohne Skrupel kostü-
mirte man sie wie die eigenen Zeitgenossen. Dieser
Anachronismus, vor dem bekanntlich selbst ein Dürer
nicht zurückschreckte, hatte auch für unsern Meister
nichts Bedenkliches. Und so entfaltete er in seinen
OLBEIIG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
3
Häscliergestalteu ein detailirtes Kostünibild seiner Zeit.
Da selien wir neben Platten- und Kettenpanzern ge¬
steppte Lederwäinse und offene Leibröcke, neben Helmen
mit und ohne Visier eine bunte Mannigfaltigkeit von
Hüten und Mützen. Ebenso unerliört für Zeitgenossen
Jesu sind zu einem guten Teil die Waffen und Geräte,
welche die Häscher mit sich führen. Gegen den Strick,
welclien der tölpelhafte Mann neben Judas (Malchus?)
Handlaterne, die ein würdiger Mann in Beamtentracht
über den Gartenzaun hält, zeigt eine Form, wie sie noch
heute in deutschen Haushaltungen vorkommt, und ebenso
ist der liohe Pechkranzbehälter in der Hand eines anderen
Mannes uns aus Sainmluugen mittelalterlicher Geräte
geläufig.
Doch nicht nur für die Kleider und Waffen, auch
für die Physiognomieen der Häscher sind allem Anschein
3. Der Ölberg in Neuft'eu.
zur Fesselung bereit hält, ist nichts einzuwenden. Des¬
gleichen hat die Feldflasche, aus der sich der hinterste
Mann für das Abenteuer guten ]\Iut trinkt, streng ge¬
nommen auch für einen Stadtpolizisten aus Jerusalem
nichts Auffallendes, so specifisch deutsch sie uns auf
den ersten Blick anmutet. Aber drollig macht es sich,
wenn einer der Häscher die Kurbel einer Armbrust
dreht, ein anderer einen eisernen Streithammer fühi-t und
einer der vordersten gar mit einer richtigen Muskete
zum Gartenpförtchen hereinstiirmt. Auch die geöffnete
nach unserm Künstler seine eigenen Zeitgenossen Modell
gestanden. Daher der geradezu packende Realismus in
diesen Gesichtern; ist es uns doch, als wären wir den
meisten, nur freilich anders kostümirt, soeben erst im
Städtchen begegnet.
Hinter dieser laugen Linie von Offenburgern des
16. Jahrhunderts beginnt nun der flache Relief hintcr-
gruiid. Er zeigt rundliche Hügel gleich denen, welche
die unmittelbare Umgegend Offenbui'gs bilden. Auf den
Hügeln stehen vereinzelte Bäume, ungeschickt und steif
1*
4
(■;L3ERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
v.i;; ,uis .ivi' Nüi'iiiK'iaer Taadschachtel. Iin Schatten
dev jjann.v .;iu,l massive Sitzhänke angebracht, ans
r.:;iid. n, vicn cknrt'ii Steiubalken bestehend. Auch zu
di^ .sen itinkeu wird der Künstler die Vorbilder in der
thiViii.urger Gegv-ud gefunden haben, wo noch heute
~ .,i;isc;!ve .Subsellien mehrfach in Gebrauch sind.
Im S'.igisns.s zwischen zweien der Hügel — wieder ganz
wi,; auf einer Ilühne — werden die Köpfe und Helle-
tcivden von einigen weiteren Häschern sichtbar, die sich
vm-spätet haben. Sie kommen aus einem Thore
Jerusalems, dessen mittelalterlich geformte Giebeldächer,
d'horuirme und Mauerzinnen die Hügel überragen. Auch
Sehr geschickt und fast umnerklich vollzieht sich
endlich der Übergang von diesem Flachrelief zum bloß
gemalten Hintergrund. Man sieht ein Briiekenthor und
eine steinerne, vierbogige Brücke, auf den Welleri des
Flusses einige Kähne, am Ufer aber drei Landsknechte
mit Hellebarden und Morgensternen, die sich eben an¬
schicken, ihren Kameraden zuin Garten uachzueilen. Der
fernere Hintergrund zeigt eine hügelige Landschaft am
Flusse; eine der Hohen ist durch zwei Kreuze als
Golgatha gekennzeichnet. Leider musste dieser Teil
des Gemäldes, der sehr verwittert war, bei der Renovation
vollständig neu gemacht werden; der Baumschlag sowie
4. Der Ölberg zu .Straßburg.
für diesen Teil des Bildes könnte Offenburg selbst dem
Künstler manches Motiv geliefert haben. Freilich nicht
die offene Stadt von heute, die nur von ihren zwei
Kirchtürmen und einigen Schornsteinen überragt wird,
sondern jene alte Reichsstadt Offenburg, wie sie unserm
Meister sich darstellte, eingefasst von einer wehrhaften,
zinnenbekrönten Mauer und einem reichen Kranz statt¬
licher Thortürme. Vielleicht ist es doch mehr als ein
bloßer Zufall, dass zwischen dem größten der Jerusalemer
Thore und dem Offenburger Stadtwappen ') eine frappante
Ähnlichkeit besteht.
1) Es ist dies ein „redendes“ Wappen und stellt ein
offenes Burgthor dar. — Ich will übrigens nicht verhehlen,
das Rokoko-Tempelchen in der Ferne verrät nur zu
deutlich den modernen Malermeister. Die Farben sind
dass der oben angestellte Versuch, zwischen den ini Bild¬
werk angedeuteten Gebäuden .lerusalems und denen Alt-
Off'enburgs eine Beziehung aufzuffuden, mancherlei gegen
sich hat. Ebensowenig wie auf den Wandgemälden der
l’ompejaner auch nur ein einziges Mal die grandiosen Linien
von Capri oder vom Monte S. Angelo in erkennbarer Wieder¬
gabe erscheinen, ebensowenig war es allem Anschein
nach bei deutschen Künstlern dieser Zeit Sitte , in ihren
Hintergründen die heimatliche Gegend und die Gebäude der
eigenen Stadt erkennbar zu schildern. Die künstlerische
Phantasie mied es, sich dergestalt Schranken zu setzen.
Dürer z. B. ist in seinen berühmten Hintergriuiden durchaus
frei schaffend verfahren. Es kommt da wohl der eine oder
ÜLBERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
5
ihm leider nicht besonders geglückt, der Hintergrund
ist offenbar zu bunt geraten im Vergleich zu der
schlichten Farbengebung an den Figuren und Reliefteilen.
Denn das ganze Werk war, um das hier nachzutragen,
bis zu einem gewissen Grade polychrom. Am wenigsten
noch die Figuren, bei denen man sich im Großen und
Ganzen an dem schönen, natürlichen Rot des Sandsteins
genügen ließ, nur dass die Augensterne, wenn man dem
Renovator trauen darf,') dunkel gemalt waren. Auch
die Gewänder, Waffen, Geräte blieben farblos, mit Aus¬
nahme der Eisenteile, die schwarz gefärbt wurden.
Hemalt war der ganze Reliefgrund, bemalt durchgehends
die Pflanzen, die sich durch hellgrüne Färbung vom
Rot der Mauersteine abhoben.
Fragen wir nun nach dem Künstler des Offen¬
burger Ölbergs. Das schon erwähnte Monogramm zeigt
zwei verschlungene Duclistaben, die am ehesten noch
als A und V oder U sicli deuten lassen. Dasselbe
Monogramm tindet sich an einem vielliewunderten Kru¬
zifix, das nicht weit davon auf demselben Oft’euburger
Friedhof steht. Man hat einen Andreas üraceusis (d. i. von
Urach) daraus lierauslesen wollen — mit anfechtbarem
Recht. In etwas späterer Zeit ist allerdings ein Ui’acher
Meister Christoph wie an andern badischen Plätzen so
auch in Offenburg thätig gewesen und schuf dort ein
hervorragend schönes Grabmal für einen gewissen Ritter
von Hach. 2) Aber das giebt uns natürlich nocli lange
kein Recht dazu, aus A und V einen Meister Andreas
von Urach zu konstruiren.
Auch das Steinmetzzeichen
im Schlussstein der Nische führt uns nicht w’eiter.'*)
Wohl erinnert es an das des Meisters Josef Sclimid
von Urach
doch erinnert es auch nur daian. Sieht
man sich aber in der Uracher Gegend um, wie dort die
gleichzeitigen Ölberge komponirt wurden, so giebt uns
auch diese Vergleichung kein Recht, dem Meister des
Offenburger Werkes mit einiger Bestimmtheit Urach
zur Heimat anzuweisen — im Gegenteil.
andere Turm vor, der an Nürnberger Bauweise erinnert; aber
soviel ich zu sehen vermag, ist nirgends Nürnberg direkt
abkonterfeit. In der Heimat und in der Fremde Geschautes
ist vielmehr phantastisch kombinirt. Mit Vorliebe gruppirt
Dürer seine Landschaft an den Ufern eines Sees, wofür ja
otienbar Nürnberg nicht vorbildlich war; eher könnten
Reiseeindrücke von den oberitalischen Seeen hierfür mad-
gebend gewesen sein.
1) Vgl. auch die Augensterne des gleich zu besprechen¬
den Straßburger Ölbergs.
2) Es ist außen am Chor der Pfarrkirche in die Mauer
gefügt, leider bisher, soviel ich weiß, nirgends pulilizirt.
3) Es kommt, wie Herr Dekan Klemm in Backnang mir
mitteilt, ebenso im Netzgewölbe des Chors von Röthenberg
bei Oberndorf in Württemberg vor.
4) Vgl. Alfred Klemm, Württembergische Baumeister
und Bildhauer, S. 145.
Zwei Ölberge aus der Uracher Gegend habe ich
verglichen, den in Neuffen von 1.504 und einen zweiten,
leider sehr zerstörten, in dem unfern Neuffen gelegenen
Beuren. Beide sind erheblich kleiner als der Offenburger,
stehen auch nicht selbständig, sondern nur in einer
Nische der Kirchen wand selbst. Im übrigen ist ja
freilich allerhand Übereinstimmung mit Off'enburg zu
konstatiren. Auch auf diesen schwä])ischen Ölbergen
wird der Garten durch Faschinen angedeutet, desgleichen
die Vegetation durcli allerhand Grasbüschel, die hie und
da in den Felsritzen wachsen. Reichlicher noch als in
Offenl)urg ist die Tierwelt vertreten: zu Schnecken und
Schlangen kommen in Neuffen noch Frösche und selbst
ein Vögelchen hinzu. Aber was wollen diese (iberein-
stimniungen besagen gegenüber der großen Verschieden¬
heit, die in einigen Hauptpunkten obwaltet? Erstens
fehlt in Neuffen und Beuren der ganze landschaftliche
Hintergrund. Sodann ist die Gartenpforte in die Mitte
gerückt, woraus dann die Notwendigkeit erwuchs, den
betenden Christus mehr an den linken Hand zu schielieu.
Die Figuren endlich sind samt und sonders viel zier¬
licher und schlanker als am Offenburger Ölberg, sie
gehören zu einer ganz anderen, viel zahmeren Rasse. Die
Häscher zeigen zwar auch in Neuffen recht individuelle
Gesichter und unzweideutig die Tracht des 16. Jahr¬
hunderts. Aber es fehlt der packende Realismus, der
drastische Humor, es fehleii Zuthaten, wie die Muskete
und Feldflasche, die in Offenburg so erheiternd wirken.
Alles in allem spricht offenbar mehr dafür, verschiedene
als gleiche oder auch nur schul verwandte Meister für
das Offenburger und die schwälnschen Bildwerke an¬
zunehmen.
Ungleich größer ist die Verwandtschaft des Offen¬
burger Ölbergs mit dem zu Straßhurg. ') Derselbe
stand dort seit 1498 auf dem neu angelegten Friedliof
der Thomaskirche und war aus der Stiftung eines reichen
Patriziers, Nikolaus Röder von Tiersburg, errichtet.
Nach mancherlei Schicksalen kamen die stark beschä¬
digten Reste dieses bedeutenden Kunstwerkes ins Mün¬
ster, wo sie jetzt in der schmucklosen, für gewöhnlich
verschlossenen Martinskapelle einen sehr ungünstigen,
ihrem Wert durchaus nicht entsprechenden Unterschlupf
gefunden haben. Nur wenige Straßburger wussten bis¬
her von der Existenz dieser eigenartigen Skulpturen.
Endlich im letzten Sommer hatte man sie aus Anlass der
elsass-lothringischen Kunst- und Altertumsausstellung
aus ihrer Verborgenheit ans Licht gezogen. Sie machten
auf dieser Ausstellung erhebliches Aufsehen, trotzdem
ihre Aufstellung eine nichts weniger als glückliche war.
Herr Dr. S. Hausmann, der Herausgeber des zur Zeit
1) Vgl. E. Meyer- Altona, die Skulpturen des Straßburger
Münsters. I. S. 77 ff. Der Güte dieses Gelehrten sowie des
Herrn Münsterl)anineisters Schmitz verdanke ich die Ab¬
bildungen 4 — G.
üLBERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
erschi-iiiendeu Praditwerkes ..EUässisclie und Lotli-
ringiscbt' KuiisidHiikmälei' - (Straßburg bei W. Heinrich)
liat denn auch niclit verfehlt, den Ülbei'g bei dieser
(Gelegenheit für seine Publikation neu aufzunehinen; die
ihn betreftendeu Bliltter dürften AV(dil die interessan¬
testen des ganzen Werkes sein. ')
An Größe des dargestellten Geländes und an Zahl
der Figuren (22) Übertritt das Straßburger Werk das
( )ffenburgische erheblich; doch in der Anordnung herrschte,
von Kleinigkeiten abgesehen, eine ganz überraschende
I hereinstimmung. Ich rede nicht von den Faschinen ini
Vordergrund , von den
Pluinen und dem Getier,
die ülier das Gartenland
zerstreut sind, auch nicht
von der ideal isir enden
Bildung bei den Heiligen,
der realistischen bei den
Häschern, denn alles das
fanden wir auch in Neuf¬
fen und Beuren. Es
sind noch weitergehende
l bereinstiinmungen zwi¬
schen Straßburg uinl
Offenburg vorhanden. An
beiden Orten steht das
Garten[iförtchen an der
Seite, nicht in der Mitte,
hier wie dort füllen die
Häuser und Türme von
Jerusalem als Flach¬
relief die Hintergrunds¬
kulisse, hier wie dort
werden über einem Hü¬
gel in fast etwas komi¬
scher Weise die Kö[)fe
und Hellebarden einiger
Nachzügler sichtbar, hier
wie dort herrscht eine
gewisse Poljchromie.’^)
Aber trotz dieser weit¬
gehenden Übereinstim¬
mung im Großen wie im
Kleinen wäre es doch
verkehrt, für beide Werke denselben Meister anzu-
1 ) Sie kamen mir leider erst während des Drncke.s zu,
als die Tafeln 4— b schon nach den früheren Aufnahmen
des Herrn E. Meyer -Altona hcrgestellt waren. Doch wird
der Schlussteil unseres Aufsatzes in Heft 2 dieses Jahrgangs
noch zwei Abbildungen nach den l’hotograpliieen Dr. Hans-
mann’s bringen, die HeiT A^erlagsbuchhändler W, Heinrich
die (liite hatte, zur A'^erfügung zu stellen.
2) Deutlich gefärbt sind, soweit ich zuletzt sah, nur die
Pupillen.
nehmen. Je genauer man die Denkmäler der niittel-
altei'lichen Kunst vergleichend kennen lernt, um so
mehr überzeugt man sich von der geradezu bannen¬
den Gewalt, welche einmal glücklich geschaffene Ty])en
auf alle nachfolgenden Künstler und ihre Darstellun¬
gen hatten. Ich erinnere nur au die Füllung der Tym-
panen au den Hauptportalen gotischer Kirchen. Man
hat da entschieden den Eindruck, dass es etwas wie
Musterbücher vorbildlicher ATsirungen gegel)en haben
muss, wonach die Künstler gut thaten sich zu richten,
wenn sie mit ihrer Darstellung biblischer A’^orgänge
den Beifall der Gläu¬
bigen erlangen woll¬
ten. ') Ihr Individualis¬
mus war dadurch stark
beschnitten; aber dei-
geniale Meister verstand
es trotzdem seine Eigen¬
art zur Geltung zu Inin-
gen. Durfte er in den
Hauptgestalten und Trä¬
gern der heiligen Hand¬
lung nichts eigenwillig
ä)Klern, so war dies doch
zulässig bei den Neben-
ffguren. ln der Dar¬
stellung von Gethsemane
bot sich in den Gestalten
der Häscher eine treff¬
liche Gelegenheit, wo ein
selbständiger Meister,
ohne gegen die Heilig¬
keit seines Bildwerks zu
verstoßen , seine eigen¬
sten, persönlichsten Ge¬
danken freimütig aus¬
münzen konnte. Alles
andere war fest gegeben,
für diesen Teil des Bil¬
des herrschte Freiheit;
und wenn nun gerade in
diesen Gestalten der
Häscher die Straßburger
Gi’uppe von der Offenbur¬
ger nicht unerheblich abweicht, so beweist das alles gegen
die Herkunft von demselben Meister. Der Straßburger
Bildner besitzt in der Tliat ein ganz anderes Können als
der Offenburger. Das zeigt sich schon in der gewandteren
Art, wie er den Baumschlag wiedergiebt, in der reicheren,
wenn auch nicht eben wirkungsvolleren Architektur.-)
1) Wie abhängig ist selbst noch Dürer in seinen Passionen
von dieser seit- Jahrhunderten feststehenden Formeus2irache!
2) Diese Architektur ist um ebensoviel reicher als die
am Offenburger Ölberg, als der städtische Zuschnitt Stiaß-
ÖLBEIIG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
7
mit der er den Hintergrund der Scene ausstattet, es
zeigt sich, wie gesagt, vor allem in der Darstellung der
Häscher. Auf dem Offenhurger Denkmal marschiren diese
so recht con amore hinter dem Bretterzaun einher, als
könnte es gar nicht anders sein; auf dem Straßl)urger
ist es ein böses Gedränge im engsten Raum, was
drastiscli genug zum Ausdruck kommt. Die wackern
Helden werden mehr geschoben, als dass sie wandelten.
Sie drängen neugierig nach der Gartenpforte und drängen
doch auch wieder davon weg: „Dabei möchten sie alle sein,
aber ja nicht in der ersten Reihe“. ‘•^) Und welch’ kö.stlicher
Kontrast zwischen dem kriegerisclien Apparat von Helmen
und Panzern, von Schwertern und Hellebarden, und der
unverkennbaren Gutmütigkeit und Bornirtheit, die sich
auf den Gesichtern dieser Spießbürger breit machen!
Meist sind es zahnlose Alte, womöglicli mit Warzen auf
den Wangen, verliockte Gesellen mit rundlichem Rücken,
burgs den des kleinen Offenbnrg fil)ei'ragt. Der großstädtische
Charakter des Straßl)urger Hintergrunds mit seinem Gedränge
von Thoren und Türmen, von ragenden Dächern und feiu-
durcbbroclienen Galerieen, mit seinem Wechsel von echt
gotischen und schon an die Renaissance anklingenden Formen
erinnert lebhaft an Dürer’sche Hintergrundsarchitekturen.
Auch Dürer liebte es, allerliand Renaissauce-Gelhlde, wie er
sie in Italien gesehen (vgl. z. B. das Blatt der Apokalyjise,
B. 61, wo auch eine Nachbildung der einen Säule von
der Piazzetta in Venedig fremdartig auffällt), zwischen die
biedern deutschen Bauten einzuschalten: dasLandschaftslhld
bekam dadurch etwas Fremdländisches und ließ sieh in Folge
dessen eher als Gegend des heiligen Landes ausgeben.
2) Ich entnehme diesen Satz der schon erwähnten Schrift
von Meyer-Altona, einer Schrift, der ich auch die Anregung
zu dem im Folgenden unternommenen Vergleich von Ölberg
und Osterspiel verdanke.
Gevatter Schneider und Handschuhmacher, die hier bis
zu den Zähnen bewaffnet ins Feld rücken. Viele aus
diesem Krähwinkler Landsturm haben geradezu etwas
Altweiberhaftes. Zum Fürchten ist keiner dieser Rüpel
trotz der Waffen, trotz der drollig gewichtigen Mienen,
keiner — außer jenem einen, der unmittelbar hinter
Judas zur Pforte drängt. Er ist auch der einzige, der
nicht germanischen, sondern ausgesprochen jüdischen
Typus aufweist, speciell in der Bildung der Nase. Wie
er sich so mit seinem verschmitzten, konfiszirten Gesicht
zu Judas’ Ohr herunter beugt, ihn anstachelnd mit ver¬
führerischen Worten und Gebärden, — eiinnert er nicht
ganz an Mephisto? Wie wenn er es wäre? Wenn wir
hier den Verführer selbst neben dem verführten Judas
zu erkennen hätten? Soll wohl das Sclilangenschuppen-
muster an seiner Kopfbedeckung und an den Handschuhen
diese Deutung erleichtern?
Die Komik, die in allen diesen Figuren liegt, ist
offenbar keine zufällige, sondern eine bewusste und vom
Künstler mit allen Mitteln geföi derte. Wie kommt dies
komische Element in diesen ernsten Vorgang? Ja, wie
kommt überhaupt die Komik in die Kirche und auf den
Friedhof, die übermütige Laune in die Reliefs und Fres¬
ken an so vielen Kirchen wänden? Das Gemüt hat nun
einmal gerade unter der lastenden Wucht des Tragischen
und Feierlichen das entschiedene Bedürfnis, nach irgend
einer Seite sich in Scherz und Lustigkeit Luft zu
machen. Zur antiken Tragödie gehört das Satyrspiel;
Shakespeare mildert den erschütternden Ernst seiner
Dramen durch das geistreiche Scherzgerede seiner Narren;
und so haben denn auch die mittelalterlichen Passions¬
spiele hie und da den Schalk durchspüren lassen, oft
mitten in den tragischsten Scenen. (Schluss folgt.)
B. Vom Straßburger Öllierg.
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
VON ED. FLECHSIG.
MIT ABBILDUNGEN.
OCH vor drei Jahren war der Stecher,
den man den Meister des Amsterdamer
Kaldnetts oder besser den Meister des
Hausbuches nennt, den meisten Forschern
und Freunden alter Kunst fast nur dem
Namen nach bekannt. Hei der Seltenlieit
seiner Stiche war das nur natürlich: ist doch von den
89, die sich von ihm erhalten haben, die Mehrzahl nur
in einem einzigen Abdrucke vorhanden. Da nun das
Kupferstichkabinett in Amsterdam allein 80 Stiche des
Meisters besitzt, so musste jeder, der ihn genauer kennen
lernen wollte, seine Schritte dorthin lenken. Jetzt ist
das alles anders geworden. Hekanntlich hat die Inter¬
nationale chalkographische Gesellschaft als Veröffent¬
lichung für die Jahre 1893 und 1894 das gesamte Werk
des Meisters in mustergiltigen Nachbildungen mit einer
Einleitung und einem kritischen Verzeichnis sämtlicher
Stiche von Max LeJir.s herausgegeben und sich dadurch
eines der größten Verdienste um die Kenntnis und
wissenschaftliche Erforschung der älteren deutschen Kunst
erworben. Wir linden also den Meister des Hausbuches
jetzt in jedem größeren Kupferstiehkabinett. Und nun,
da er uns auf diese Weise so nahe gebracht worden ist,
dass wir uns mit ihm vertraut machen können, wie mit
Schongauer und Dürer, da wird der rätselhafte Unbe¬
kannte vor unserem Auge von Tag zu Tag größer, da
wächst er immer mehr heraus aus seiner Zeit, seiner
Umgehung und erscheint uns als einer der besten Meister
nicht bloß seiner Zeit, sondern seines Volkes überhaupt.
Ist doch, wenn man ihn mit den deutschen und nieder¬
ländischen Kupferstechern im letzten Viertel des 15. Jahrh.
vergleicht, keiner, Schongauer nicht ausgenommen, selb¬
ständiger, eigenartiger, geistreicher als er. Fast scheint
es, als habe es für ihn keine Tradition gegeben, als
habe er seine Kunst nur sich allein zu verdanken ge¬
habt. Denn noch niemand hat in seinen Stichen eine
deutlicher in die Augen fallende Anlehnung an einen
der großen Meister, die vor und neben ihm thätig waren,
an den Meister E. S. oder Schongauer, nachweisen
können. Alles sieht er mit eigenen Augen, empfindet
er auf seine Weise, und gerade so, wie er es gesehen
und einjitünden hat, giebt er es wieder. Mit fröhlichen
Augen Idickt er in die Welt, ein sprudelnder Humor
kommt ihm von den Lippen. Doch ist er auch ernster,
tiefsinniger Versenkung fähig. Am wohlsten freilich
fühlt er sich immer, wenn er Gegenstände und Ereig¬
nisse des täglichen Lebens darstellen kann, da ist er
ganz in seinem Elemente. Seine Gestalten sind nicht
gerade schön, namentlich seine Madonnen und Christ¬
kinder oft geradezu hässlich, aber immer sind sie lebens¬
wahr und mit einer Fülle von gemütvollen Zügen aus¬
gestattet, die uns für den Mangel an idealer Schönheit
entschädigen. Kommt es ihm aber einmal darauf an,
den Zauber holder Jugend und süßes Minnespiel zu
schildern, so thut es ihm an Anmut und feinem Schön¬
heitsgefühl keiner seiner Zeitgenossen gleich. Auch in
der Technik geht er seine eigenen AVege. AV ährend alle
übrigen mit dem Grabstichel arbeiten und so ihre Her¬
kunft aus der Werkstatt des Goldschmieds nicht ver¬
leugnen, bedient er sich der kalten Nadel, mit der er
oft mehr kritzelt als zeichnet, so dass viele seiner Blätter
geradezu den Eindruck von Eadirungen machen. Das
ist keine Goldschmiedstechnik mehr, so wenig wie die
Eembrandts eine ist, das ist auch nicht die Formen¬
sprache, nicht die Phantasie eines Goldschmieds, die sich
uns in diesen lebensprühenden Blättern offenbart. Nein,
so schafft und spricht sich nur ein Ilaler aus.
Und wenn er ein Maler ist, wo sind dann seine
Bilder? Ist denn kein einziges auf uns gekommen, ist
die Zeit ebenso unbarmherzig mit ihnen umgegangen,
wie mit seinen Stichen? AVenn aber wirklich noch
welche erhalten sind, wo müssen wir suchen, um sie zu
finden?
Ich muss gestehen, diese Fragen habe ich mir weder
vorgelegt, noch habe ich den Drang gehabt, sie selbst
zu beantworten oder zu ihrer Lösung wenigstens bei¬
zutragen. AVenn ich jetzt im stände bin, den Schleier
zu lüften, der die Person unseres Meisters noch immer
verhüllte, wenn ich Bilder nachweisen kann, die sicher
von seiner Hand sind, so hat der Zufall die größte Eolle
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
9
dabei gespielt. Es ist mir beiiialie ergangen wie Sani,
dem Sol)ne Kis, der auszog, seines Vaters Eselinnen zu
suchen, und ein Königreich fand.
Seit mehr als drei Jahren bin ich mit einer größeren
kritischen Arbeit über Cranach und seine Schule be-
scliäftigt. Um einen Teil zum Abschluss zu bringen,
musste ich noch einmal die wichtigeren mittel- und
süddeutschen Galerieen besuclien. IMein Weg ging durcli
Tliüringen und Unterfranken nach dem Mittelrhein, dann
stromaufwärts und schließlich nach Bayern. In Golha fes¬
selte nächst den vielen treftlichen Cranachischen Bildern
eins vor allem meine Aufmerksamkeit, das mit der
sächsischen Schule nicht das Geringste zu thim hatte:
die Darstellung eines Liebespaares in Halbtiguren,
meinem Empfinden nach eins der schönsten altdeutschen
Bilder. Schon ein Jahr vorher hatte es mich eigenartig
berührt, es war mir so bekannt und doch auch wieder
nicht bekannt vorgekommen. Ich hatte mir einige No¬
tizen darüber gemacht und es seitdem nicht mehr aus
dem Gedächtnis verloren. Schon damals dämmerte der
Gedanke leise in mir auf, es könne mit jenem Meister
in Verbindung stehen, mit dessen Stichen ich mich einige
Zeit recht eingehend beschäftigt hatte. Jetzt also, nach
einem Jahre, trat ich wieder vor das Bild, diesmal mit
einer gewissen Spannung, denn ich wollte es nach dem
Namen seines Schöpfers fragen und hoft'te, es würde
mir Antwort geben. Wolgemut? Eine ganz geringe
Ähnlichkeit mit ihm. Doch unmöglich ist der brave
Nürnberger solcher Anmut fähig, wie sie dies Bild
aushaucht. Schüchlin, an den Scheibler gedacht hat?
Vielleicht. Doch wir keimen zu wenig von ihm, und
das Wenige sieht doch anders aus. Nein, das kann
kein anderer gemalt haben, als der „große Unbe¬
kannte“, der Meister des Hausbuches! Das ist ja einer
seiner feinen modischen Jünglinge, das eine seiner an¬
mutvollen verschämten Jungfrauen, das sind die Spruch¬
bänder, wie er sie so oft anbringt.
Als ich nach Aschaff’enhurg kam, erging es mir
ähnlich. In der Schlossgalerie befindet sich ein jetzt
in seine einzelnen Teile zerlegtes Altarwerk. So vieles
im Kolorit erinnerte mich an das Gothaer Bild, und in
der Formensprache glaubte ich verschiedene Anklänge
an Stiche des Hausbuchmeisters zu bemerken. In der
JJarmstüdtcr Galerie aber trat er mir wieder ganz
deiitlich erkennbar entgegen in einem Bilde der Ver¬
kündigung, das mit noch fünf anderen zu einem ehe¬
maligen Altarwerke gehörte. Der Engel Gabriel war
dem Jünglinge in Gotha so ähnlich, wie ein Zwillings¬
bruder dem andern. Außerdem wurde ich aufmerksam
auf ein noch in seinem ursprünglichen Zustande er¬
haltenes Altarwerk. Obgleich es ein bis zwei Jahr¬
zehnte älter schien als das erste, zeigte sich doch in
der Auffassung, in den Typen, namentlich aber in der
Farbengebung schon dieselbe Eigenart wie bei diesem.
Bald darauf kam ich nach Mainz. Als ich in der
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. II l.
städtischen Galerie eine Reihe von Darstellungen aus dem
Marienleben sah, wurde die Erinnerung an die Darm-
städter Bilder sofort wieder lebendig, kein Zweifel, sie
alle waren von derselben Hand gemalt. Nun verlor
ich unsern Meister längere Zeit aus den Augen, und
erst in Scl/leißlteiin tauchte er wieder vor mir auf. Es
war eine Geburt Christi, ganz in der Art des Mainzei’
Jlarienlebens gemalt.
Da die Bilder, die ich als Arbeiten des Hausbuch-
ineisters erkannt hatte, nicht im Bereich meiner be¬
sonderen Studien lagen, hatte ich mir über sie immei’
nur kurze Bemerkungen in mein Taschenbuch gemacht.
Ich beabsichtigte ursprünglich nicht, die Angelegenheit
weiter zu verfolgen und hätte auch nicht daran ge¬
dacht, meine Wahrnehmungen zu veröffentlichen, wenn
ich nicht von neuem durch Zufall auf den Meister hin¬
gelenkt worden wäre. Beim Durchblättern des OUlen-
hiirgcr Galcriewerkes von Bode traf ich auf eine Dar¬
stellung der y\nna selbdritt, die in wichtigen Einzel¬
heiten so genau mit dem Mainzer Marienleben über¬
einstimmt, dass ich anfangs glaubte, sie habe ursprünglich
zu dieser Folge gehört. Bald darauf lernte ich gleichfalls
durch Zufall noch einige andere Wei'ke des Ilausbueh-
meisters in Abbildungen kennen. Wegen der Wichtig¬
keit aller dieser Funde entschloss ich mich nun, trotz
meiner mangelhaften Reiseaufzeichnungen den Fach¬
genossen Mitteilung davon zu machen. Mein Erstes war,
mir von den Bildern, die ich gesehen hatte, Photo-
graphieen zu verschaffen. Ich wandte mich deshalb an
Herrn Realgymnasiallehrer Neeb in Mainz, einen äußerst
geschickten und intelligenten Liebhaber-Photographen,
und nur der Liebenswürdigkeit und Opferwilligkeit
dieses Herrn, der für mich in Darinstadt und x4schaffen-
burg die nötigen Aufnflimen machte, verdanke ich es,
dass ich bei der nachfolgenden Untersuchung meine
persönliche Meinung fast ganz unterdrücken und an ihre
Stelle eine objektive Beweisführung treten lassen kann.
Leider kann ich auf die Farbe nur in wenigen Fällen
Rücksicht nehmen, da mich meine Aufzeichnungen nach
dieser Seite so ziemlich im Stiche lassen.
Ich bespreche im folgenden die Bilder des Haus¬
buchmeisters nicht in der Reihenfolge, wie ich sie
gesehen habe, sondern so, wie sie mutmaßlich nach¬
einander entstanden sind.
Den x\nfang macht ein aus Wolfskehle n , einem
hessischen Dorfe, stammendes Altarwerk, das sich jetzt
im Museum zu Darmstadt befindet (Kat. Nr. 216). Es
besteht aus einer gemalten Predella, einem Mittel¬
schrein mit geschnitzten Figuren und zwei beiderseitig
bemalten Flügeln. J) Die Predella zeigt Christus
1) Die Bilder sind i>hotograpbiit von Realgymnasiallehrer
Ernst Neeb in Mainz, Gonsenheimerholil 14. Lichtdruck des
Altarwerks in geöffnetem Zustande bei Münzenberger, zur
Kenntnis und Würdigung der mittelalterlichen Altäre Deutsch¬
lands. 1. Bd. Frankfurt a. M. 1885 — 90, Tafel 56. — Vergl.
III
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
iritil dir Aj.ostrl iii Halbliguren. Clirisüis, ganz in
\'ordersicht nnci größer als die Apostel, halt in der
Linken die 'Weltkugel, die Rechte hat er segnend er¬
hoben. ■^’on den Aposteln hat jeder sein Attribut. — Der
Schrein schließt oben mit einem abgetreppten Giebel.
Dem entsprechend ist auch die Foimi der Flügel. Inner¬
halb des Schreins sehen wir in der Mitte auf einem
Sockel Maria mit dem Kinde. Hinter ihr ist (dn rotej-
Teppich gemalt, der von zwei Engeln gehalten wird.
Links von ihr ein h. Papst, dem das Attribut jetzt
fehlt, rechts eine Heilige mit einem Löwen zu Füßen
und einem Stiei' auf dem rechten Arm. — Auf den Innen¬
seiten der Flügel ist links die Geburt Christi, rechts
die Krönung Mariens, auf den Außenseiten die Ver¬
kündigung dargestellt.
(irhnrl Cl/risli. Maria kniet betend nach rechts
gewandt vor dem Kinde, das nackt auf einer 'Windel
liegt und mit der rechten Hand die Gebärde des
Segnens macht. Links hinter ihr steht Joseph mit der
Laterne, rechts im Mittelgründe Dchs und Esel. Durch
die offenen spitzbogigen Arkaden des Gebäudes, in dem
sich der Voi'gang absidelt, sieht man im Hintergründe
eine Ijaiidschaft mit einer Schafherde und einem Hirten,
iler soeben die Botschaft des Engels empfängt. Anstatt
der Luft Goldgrund.
Krümoiy Mariens. Maria kniet in der Mitte,
ganz von voi'ii gesehen. Hinter ihr, um eine Stufe
über den Erdboden erhöht, sitzen auf einem Throne,
einander zugekehrt, links Chilstus, rechts Gottvater,
beide gekrönt und mit kostbaren Brokatmänteln be¬
kleidet, die mit Perlen und Edelsteinen l)esetzt sind.
Jeder hält mit der Linken im Schoße den Reichsapfel,
Gottvater außerdem noch das Scepter, mit der Rechten
halten sie diclit über Mariens Kopf die Krone, auf die
die. Taube raul »vogelähnlich niederstößt. Im Hinter-
gi’unde zu beiden Seiten des Thrones Engel mit Pfauen-
fittigen. In der rediten unteren Ecke des Bildes das
Whappen derer von Fiersheim.
Die Vcrlci'mdiyunrj besteht aus zwei Tafeln, die
ein Ganzes bilden. Rechts kniet Maria in ihrem 'Wohn-
gemach, das mit einem hölzernen Tonnengewölbe über¬
deckt ist, am Betpulte. Die Hinterwand ist von zwei
Fenstern durchbrochen, außerdem kommt noch Licht
von rechts aus einem kleinen Nebenraum. Maria ist
ganz von vorn gesehen, hat das mit einer niedrigen
Krone geschmückte Haupt nach der recliten Schulter
geneigt und die Hände über der Brust gekreuzt. Die
Taube fliegt auf sie zu. Gabriel, von links herange-
komraen, hat sich auf ein Knie niedergelassen und hält
in der Linken den Stab, während er die Rechte zum
Gruß erhoben hat. In den beiden äußeren Ecken
Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, 11. Bd.,
S. G7— 72 I W. Franck, Kunstgescbichtl. Miscellen und An¬
regungen, IX).
knieen die Stifter des W^erkes. Nach den Wappen ist
es der Junker Ifliilipp von WMlfskehlen und seine
Hausfrau Barbara von \A''aldeck, genannt von Yben.
Die beiden heirateten 1457, Barbara starb am 15, Api il
1494. ’) Ihr früher in der Katharinenkirche zu Oppen¬
heim befindlicher Grabstein ist nach Fj’. Sclmeider’s
xAnnahme dort nicht mehr vorhanden. Die Grabschrift
flndet sich aber in einer größeren, 1611 von Georg
Helwich begonnenen Sammlung, deren Urschrift die
Seminarbibliothek in Mainz besitzt. In dieser steht
deutlich 1494 als Todesjahr der Barbara von Wolfs¬
kehlen.'-) Dagegen nennt eine Handschrift aus dem
Jahre 1681, die wahrscheinlich von dem pfälzischen
Kirchenschaffner Krauße in Oppenlieim herrührt, dafür
das Jahr 1483.^) Welche von beiden Angaben die
i'ichtige ist, läßt sich bei dem Mangel an weiterem
Quellenmaterial nicht entscheiden. Nur soviel steht
fest, dass das Altarwerk noch vor 1494 entstanden
sein muss. Ül»er das Todesjahr Philipp’s von Wolfs¬
kehlen ist urkundlich nichts bekannt.
Wie schon erwähnt, beflndet sich auf der Innen¬
seite des rechten Flügels das AVappen derer von Fiers¬
heim. Es bezieht sich jedenfalls auf einen Mitstifter
des Werkes, der, wie man vermuten kann, ein Yer-
wandter der AVolfskehlen war. Nun hatte Philipp von
Wolfskehlen eine Stiefschwester, Margaretha von Ran¬
deck (seine Mutter war in erster Ehe mit Ruprecht
von Randeck vermählt gewesen). Aus deren Ehe mit
Friedrich von Fiersheim ging auch ein Sohn Ruprecht
hervor.^) Philipp von Wolfskehlen war also dessen
Stiefoheim. 'Von diesem Ruprecht meldet die Flers-
heimer Chronik S. 32: „Ruei»recht ist auch geistlich
und dhombherr und capitular zu Trier worden. Hat
die pastorey zu Wolffskhelen gehabt, so im seine vettern
von 'Wolffskhelen geliehen; ist zu Lauthern gestorben,
da er auch begraben ligt.“ Sein Todesjahr ist un¬
bekannt, er wai' 1506 noch am Leben.’’) WTissten wir,
wann er Pastor zu Fiersheim geworden, so wären wir
in der Lage, die Entstehungszeit des Altarwerks noch
genauer zu begrenzen.
1) Joh. Max. Humbracht, Die höchste Zierde Teutsch-
Landes (Fra.nkfurt a. M. 1707) Tafel 200 (Wolfskehl) und 222
(Waldeck).
2) Herr Archivrat Dr. Wyss in Darmstadt wies mich auf
diese Handschrift hin, die jedenfalls auch Humbracht be¬
nützt hat, und Herr Prälat Dr. Friedr. Schneider in Mainz
hatte die Güte, sie für mich einzusehen. Der Titel lautet:
Syntagma monumentorum et epitaphiorum . . . quae tum in
dioecesi Moguntina, tum extra dioecesis in urbibus, oppidis . . .
splendide honoriticeque erecta conspiciuntur.
.8) "Vergl. Archiv für hessische Geschichte und Altertums¬
kunde, 8. Bd., S. 353.
4) Flersheimer Chronik, herausgegeben von 0. Waltz,
Leipzig 1874, S. 7 u. 32. Vergl. auch Humbracht, Tafel 1,
Fiersheim.
5) Würdtwein, Dioeces. Mogunt. 1, 508.
DEH MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
Yei'küiidig'iiug. Vom Meister des Ilausliuelies. Darmstadt, Museum.
(Inrcli einen Franken tlialer Maler Xainens Schmidt
restauiiren und dann an seinem jetzigen Standorte anf-
stellen ließ. Herman Riegel spriclit sich darüher in
seinen deutschen Kunststadien (Hannover 1868) S. 244
his 246 aus. Bei dieser sogenannten Restaui'atioii
wurde das schöne Werk gründlich verdorben. Auch
an den Photograidiieen ist dies deutlich wahrnehmbar,
die Gesicliter halten entschieden einen modernen Zug
bekommen.
Der Altar ist nicht in seiner urs|)rüngliclien Zu¬
sammensetzung erlialten. Man kann wohl mit Siclier-
die auch heutzutage noch niclits Seltenes ist. Die
Flügel waren auf beiden Seiten bemalt und zeigten auf
den Innenseiten links die Geburt Christi, rechts die
Anbetung der Könige, auf den Außenseiten die Ver¬
kündigung. Jetzt sind die) beiden Tafeln , aus denen
die Verkündigung besteht, abgesägt und zu einer Tafel
vereinigt und Itilden nun das Mittelstück des Altai's,
während die beiden übrigen Tafeln in ihrer ui'sprüng-
lichen Stellung geblieben sind.
(Jehurt Christi. Im Vordergi'unde liegt auf einem
dicken lleupolster , ülier das eine Windel gebreitet
Unmittelbar an dies Altarvvei'k schließt sich ein
gemalter Flügelaltar an, der sich jetzt in der Katha¬
rinenkapelle des Sjirycrer Doms betindet. Ich habe ihn vor
langen Jahren gesehen und kann mich deshalb seiner Ein¬
zelheiten kaum mehr entsinnen. Mein Urteil gründet
sicli auf drei kleine Photographieen von Neeb. Der
Altar befand sich vor 1866 in der Kirche zu JJoßireiler
bei Grünstadt in der bayerischen Pfalz (Bezirksamt
Frankenthal), wurde dort von dem Speyerer Domherrn
Dr. Wilhelm Molitor entdeckt und erworben, der ihn
heit annehmen, dass der Mittelschrein, der wie die Pre¬
della verloren gegangen zu sein scheint, geschnitzte
Figuren enthielt und in derselben Weise wie der
Schrein des Wolfskehlener Altai'werks ölten mit einem
abgetreppten Giebel abschloss. Der jetzige Zustand,
naanentlich des linken Flügels, auf dem der Engel links
oben in der Ecke ohne Kopf ist, beweist dies deutlich.
Außerdem wusste Herr Neeb vom Hörensagen, der
obere Teil der Bilder sei abgesägt worden, um sie für
den Kapellenraum passend zu machen. Eine Baiharei.
\>m MElsTElv DES HAUSBUCHES ALS MALEIL
ixr. (l:i^ na.-kir Kiml. Es slHit zur Mnttor empor,
iiiiiier ilini iuiiot uiul es mi-;. evliobeuen lliimlen
i.iiiks leuchtet Joseph, die Kiiiee beugend, mit
eiui v I.atel'ue. /jv,’i;-.ehen den Köjiteii des Paares be-
ii—rkf man '.veiti i' zui iiidv ( )(dis und Esel. Rechts im
Miitrlsruiiih- drei Hiri'Ui. l'eii Hintergrund bilden die
Ruinen i'ines Kii'( hengebilinles , durch die man aut eine
einer Krone aut dem Haupte der jüngere König, einen
Pokal haltend, hinter ihm steht der Mohr mit seinem
Geschenke und hinter diesem drängt das Gefolge herein.
Links im Mittelgründe Ochs und Esel. Joseph fehlt.
Im Hintergründe Ruinen. Oben im Goldgründe, gerade
über Maria, ein großer Steim.
Verkünd if/u II fj. Zwei Tafeln , die von einander
Petrus unil Paulus. Vom Meister des Hausbuches. Darmstadt, Museum.
hügelige Landschaft sieht, in der ein Schafhirte durch
einen Engel die Botschaft von der Geburt des Kindes
mniifängt. Anstatt der Luft Goldgrund.
Anijctnnij der Kdndge. Links sitzt auf einem
Schemel Maria mit dem nackten Kinde auf dem Schoße.
Es wendet .sich dem ältesten Könige zu, der mit einem
kostbaren großgemusterten Brokatmantel bekleidet bar-
Imuntig vor ihm kniet; rechts ihm zur Seite kniet mit
durch eine schmale Leiste getrennt sind, aber eine
Komposition bilden. Wir blicken in einen gotischen,
kapellenähnlichen Raum, dessen Gewölbe von schlanken
Säulen getragen wird. Ganz am Ende steht ein kleiner
Flügelaltar. Auf der rechten Tafel kniet Maria ganz
in Vordersicht vor ihrem Bett neben dem Betpult, die
Hände vor der Brust aneinander gelegt. Ihr Mantel
breitet sich weit auf dem Boden aus und bedeckt den
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
13
größten Teil des Vordergrundes auch der linken Tafel.
Auf ihrem Haupte, das sie etwas nach der rechten
Schulter geneigt hat, steht die Taube und berührt mit
dem Schnabel die niedrige Krone. Links kniet Gabriel
in reich besticktem Brokatmantel und hält in der
Linken den Stab, während er die Rechte zum Gruße
erhoben hat. Ein architektonischer Rahmen schließt,
einer Kirchenthiir ähnlich, das ganze Bild nach außen
ab. Aus dem Knaufe von je zwei Säulchen steigen
Aste empor, die sich oben nach der Mitte zu biegen.
Von diesen Asten geht prächtiges, naturalistisch gebil¬
detes Blatt- und Rankenwerk aus, das sich um sie herum
schlingt und die Zwickel ausfüllt.
Beide Altarwerke, das aus Boßweiler wie das aus
Wolfskehlen, sind von einer Hand gemalt. Sie stimmen
in so vielen Punkten miteinander überein, dass ein
Zweifel kaum möglich ist. Ich will nur auf das Wich¬
tigste aufmerksam machen. Vergleidien wir z. B. die
beiden Verkündigungen. Wie Maria kniet, die Augen
niederschlägt, das Haupt nach der Schulter neigt, wie
ihr Haar in schlichten Strähnen auf die Schultern
herab fällt, wie sich einzelne Haare an der Stirn los¬
gelöst haben und ins Gesicht hängen, wie die etwas
zu weite Krone auf dem Kopf sitzt: das kommt hier
wie dort genau so vor. Gabriel hat beidemal in der¬
selben Weise die rechte Hand mit eingeknicktem vier¬
ten und fünften Finger zum Gruß erhoben, seine
Pfauenflügel haben dieselbe Form und dieselbe Stellung
zu einander. Der Fußbodenbelag zeigt fast das gleiche
Muster; es tritt iii ähnlicher Weise auch in den spä¬
testen Bildern auf und zwar sehr regelmäßig und per¬
spektivisch richtig verkürzt, während es hier ungenau
gezeichnet ist und ziemlich unruhig wirkt. Besonders
aber zu beachten ist die Form der schlanken Säule mit
einem Kapital, das wie eine umgestülpte attische Basis
aussieht. Es ist dabei bemerkenswert, dass Bogen und
Gewölberippen unmittelbar auf dem runden Pfülile auf-
sitzen, dass also die Verbindung nicht durch eine vier¬
eckige oder polygonale Deckplatte hergestellt wird.
Soviel ich weiß, findet sich diese Form in Wirklichkeit
nur selten, unser Meister aber wendet sie sowohl in
seinen Stichen als in seinen Gemälden häufig an. ') Sie
bildet also ein wichtiges Kennzeichen für die Stilkritik.
Ferner liebt er es, die Kanten der Thür- und Fenster¬
gewände sowie die Bogenlaibungen auszukehlen. —
Vergleichen wir noch die übrigen Darstellungen mit¬
einander, so entsprechen z. B. Ochs und Esel auf der
Geburt Christi in Darmstadt denen auf der Anbetung der
Könige in Speyer. In der Art, wie Maria bei der Gebui t
das Kopftuch geschlungen hat, wie es mitten über der
1) Doch kommt sie auch bei anderen Stechern des
15. Jahrli. bisweilen vor, z. B. bei Schongauer (B. 12 Beiße-
lung), beim Monogrammisten A. B. (B. 3 Abendmahl und B. 7
Beißelueg), bei Israel von Meckenheim (B. 178 Lautens|iieler
und Harfenspielerin).
Stirne in eine kleine Falte gelegt ist, ist kein Unter¬
schied vorhanden. Die drei Hirten in Speyer finden
wir unter den Aposteln der Predella in Darmstadt
wieder.
Es dürfte damit bewiesen sein, dass die Ijeiden
Flügelaltäre das Werk c/nes Meisters sind. Sie werden
ungefähr um dieselbe Zeit entstanden sein; vielleicht
auch ist der Wolfskehlener Altar wenige Jahre älter.
Nicht ohne weiteres wird es jedoch einleuchten,
dass der Schöpfer dieser Bilder der Meister des Haus¬
buches sein soll. Prüfen wir einmal ihre Formen¬
sprache, namentlich bei den weiblichen Gestalten. Sie
ist im allgemeinen nicht schön. Ein langes hagei'es Ge¬
sicht mit stark hervortretenden Backenknochen, die
Augenbrauen nur wenig geschwungen, schwere Lider
und scharfe Fältchen um die Augen, eine lange gei'ade
Nase, ein kleiner Mund mit hervorspringender voller
Unterlippe, ein kleines, scharf abgesetztes Kinn mit
Grübchen, die Kehle und der obere Teil des langen
Halses in Falten gelegt. Die Finger sind lang, knochig
und hager. Eigentlich deutsch ist diese Formensprache
nicht, es ist die der Schule Roger’s, sie erinnert nament¬
lich an Memling, nur dass dieser weicher, milder, nicht
so herb wie unser Meister ist. Verschiedene seiner
männlichen Gestalten, namentlich unter den Aposteln,
weisen unmittelbar auf Memling’s jüngstes Gericht in
Danzig hin, und auch die Engel sind denen des fland¬
rischen Meisters blutsverwandt. Derartige Anklänge au
die niederländische Kunst können zu einer Zeit, wo die
ganze Malerei am Mittel- und Niederrhein unter nieder¬
ländischem Einfluss Stand, nicht befremden und sprechen
durchaus nicht gegen den Meister des Hausbuches als
Verfertiger dieser Bilder, die in den .Tahren 1470 — 80
entstanden sein mögen. Wenn wir nun erwägen, dass
der Meister kaum vor 1475, vielleicht erst um 1480
angefangen hat zu stechen, so findet der Umstand, dass die
beiden Altarwerke nur ganz geringe Ubereinstimmungen
mit den Stichen zeigen, dadurch seine genügende Er¬
klärung. Ausschlaggebend ist, dass diese fiaiheren
Bilder mit späteren in Verbindung stehen, die ihm auf
Grund der Stiche zugeschrieben werden müssen.
Der Stil der eben besprochenen Altarwerke prägt
sich leicht ins Gedächtnis ein. Wir dürfen daher wohl
einem tüchtigen Kenner der Kunst seines Heimatlandes,
W. Franck, Glauben schenken, wenn er sagt, in Lee-
heini bei Wolfskehlen befinde sich noch ein kleineres
Werk vom Meister des Wolfskehlener Altars.')
Von den mir bis jetzt bekannt gewordenen Werken
unseres Meisters folgt nun, von den früheren zeitlich
durch einen großen Zwischenraum getrennt, der Flügel¬
altar in der Kirche zu Waclienheim au der Pfilmm
vom Jahre 1489. Gesehen habe ich ihn nicht, mein
1) Archiv für hess. Beschiebte und Altertumskunde,
11. Bd., S. 71.
14
DER MEISTER DES IIAUSBUCHES ALS MALER’
iteil in-üiulet sicli nur auf einen sehr nncleutliclien
.4t !ii4riK-k :in cltui Kunstdenkmilleru des Großherzog-
nims Hussen, Kreis 'Wuiaus , N. 128!, der mir die Pre¬
della nml die Innenseiren des Altars wiederg'iebt. Auf
der Prudtdla erblicken wir gemalt das Schweißtneli
Clirisii, von zwei Engeln gehalten, im Mittelschrein auf
einem S(:ckeL der die Jahreszahl 1480 trägt, die ge-
scdinitzie Figur der jilaria mit dem Kinde. Auf den
beiden inneren Seitenwänden und der Rückwand des
Si hreins ist ein Teiiidrh gemalt, darüber vier bis zur
lii-ust siiditl-are Engel. Auf den Innenseiten der Flügel
ist links die heilige Elisabeth dargestellt, ihr zu Füßen
(du geistlicher Stifter, vor ihm sein M'ajiiien, über ihm
ein Njivuchbaiid mit den Worten: „o mater dei miserere
mei" in gotisehen Minuskeln: rechts die heilige Katha¬
rina, zu ihren Füßen ein zweiter Stifter, der nach
'einem 'Waiijieii dem Gesehledite der Landschaden
Voll Sieinacli angehört. Auf den Außenseiten ist
di(> W'i'küiidigung gemalt Diese wird jedenfalls bei
der Stilkritik iioidi eine, wichtige Rolle spielen, denn
Kigentiimliidikeiten und Wandlungen des Stils lassen
siidi ja nirgends beiiuemer und deutlicher uachweisen, als
an Darstellungen desselben Ge.genstandes. Unter den
lÜldern, die ich dem Ilausbuchmeister zuschreibe, be-
limlet sicli aber viermal die \A.rküudignng.
Hoffentlich wird uns bald Gelegenheit gegeben, an
der Hand guter Photograiihieeu des ganzen AVerkes eine
genauere kritische. Prüfung vorzunehmen. Doch lässt
sich schon nach dem mangelhaften Lichtdrucke mit
ziemlicher Sicherheit liehaupten, dass die Gemälde des
Altars von unserem Meister sind. Die A^erbindung mit
den früheren AVerken wird durch die Engel hergestellt,
liesonders die vier im Innern des Schreins. Sie ent¬
sprechen denen an gleicher Stelle beim AVolfskehlener
Altarwei'k. Doch, was das AAG.chtigste ist, sie. ei'innern
sofort, und dies gilt vor allem von denen der Predella,
an die Engel auf Stichen des Hausbuchmeisters. Ich
nenne hier den Tjeichuam Gliristi (L. 20), <lie säugende
Madonna (L. 2.5), besonders aber Magdalena’s Himmel¬
fahrt (L. 49 und 50). Für den Christuslcopf auf dem
Schweißtuche vergleiclie man die Stiche L. L3 (Kreuz-
tr.agung), L. 10 (Christus als guter Hirte) und L. 22
(das Passionswappen). Den 'kypus der heiligen Elisa¬
beth finden wir auf folgenden Sticlien wieder: der
Kreuztragung (I;. 13), Christus am Kreuz (L. 15), dem
Passionswappeu (L. 22), der heiligen Familie (L. 20),
Anna selbdidtt (L. 30) und den beiden Nonnen (L. 69).
Eine weitere Entwickelungstufe des Ilausbuch-
meisters vertreten sechs Tafeln der DarmstüdUr Galerie
i'Nr. 211 — 215), die ehemals die Flügel eines Altar¬
werks gebildet haben und der Überlieferung nach aus
dem Kloster Scl/gen.sfnrH stammen. ') Predella und
Mittelsclu'cin fehlen. Die Anonbiung war folgender-
1) Photogiaphirt von E. Neeb.
maßen: auf den Innenseiten links die Verkündigung
fNr. 212), darunter die Geburt Christi (Nr. 213), rechts
die Anbetung der Könige (Nr. 214), darunter die Be-
sdineiduug (Nr. 215), auf den Außenseiten die Heiligen
Petrus und Paulus (zusammen Nr. 211).
Verkündig un ff (Nr. 212, vergl. die Abbildung).
Maria kniet in ihrem Schlafgemach rechts vor dem
Betpult. Sie hat die. Rechte wie in plötzlicher Über¬
raschung erhoben und wendet das Gesicht ohne die
Augen aufzuschlagen dem Engel zu, einem schönen
Jünglinge mit Pfauenflügeln, der von links heran¬
gekommen ist. Vor ihm Hattei't in der Luft ein Spruch¬
band mit ,.Ave nia]'ia graci“ . . in gotischen Schriftzügen,
auf das er mit ausgestrecktem Zeigefinger der Rechten
hinweist. Die Taube kommt auf Maria zugefiogen.
Der Fußboden ist mit gemusterten Steinrtiesen bedeckt.
Gclnirt Gln'isii (Nr. 213). .In einem engen, ver¬
fallenen Raume, dessen Gemäuer mit Gras und Blatt¬
pflanzen bewmchsen ist, liegt auf einem dicken Heu-
polster, ültei' das eine AVindel gebie.itet ist, das nackte,
ziemlich hässliche. Kind. Rechts vor ilnn kniet Maria,
links neben ihr, ganz von voim gesehen, Joseph, die
Hände betend vor der Brust gefaltet. Hinter ihm der
Esel, der das Heu l.)eschnuppert, w'ährend der Ochs,
links von außen seinen Kopf hei'einsteckt. Durch ein
Fenster rechts sehen drei Hirten herein, dui-ch ein
anderes in der Hinterwand erblickt man einen Hirten
bei seiner Hei'de.
Änhctirng der Könige (Nr. 214). In einem Raum,
dessen Mauern wie gewaltsam von einander gebrochen
erscheinen, sitzt Maida nach rechts gewandt. Hinter
ihr die Köpfe von Ochs und Esel. Sie hat das
nackte Kind auf dem Schoße. AMr ihm kniet der
älteste König mit einem Kästchen voll Goldmünzen, in
welches das Kind greift, während es zu ihm aufsieht.
Rechts hinter dem Knieenden steht der mittlere König
mit liiu'zem Volll»art und reichem, langem, gelocktem
Haar. Er hält dem Kinde, mit der Rechten eine go¬
tische Monstranz hin. Der Mohr, der eben von rechts
her die Thür durchschidtten hat, bringt einen Pokal.
AVedei' .Toseidi noch das Gefolge der Könige ist sicht-
Irar. Anstatt der Luft Goldgrund.
Bcschncidung (Nr. 215). Auf einem Stuhle sitzt,
halb nach links gewandt, ein bärtiger Alann, auf seinen
Knieen hat er ein großes flaches Metallbecken, das von
einem Manne links neben ihm gehalten w'ird. Darauf
sitzt das nackte Kind, vor dem derjenige kniet, der die
Handlung vornimmt. Hinter dieser Gruppe steht ein
alter Mann und eine alte Frau (Simeon und Hanna?),
beide gedankenvoll vor sich hin sehend. Links schreiten
.Toseidi und Maria, die hier älter als auf den übrigen
Bildern erscheint, zur Thür herein. Im Hintergründe
rechts ein mit einem weißen Tuche bedeckter Tisch,
auf dem zwei brennende IJchter stehen. Der Fußboden
zeigt ein ähnliches Fliesenmuster wie Nr. 212.
DER MEISTER DES HAUSBUCHES Al.S MALER.
15
Petrus und Paulus auf zwei Tafeln, die aber als
ein Bild gedacht sind (Nr. 211, vergl. die Abbildung).
Die beiden Apostelfürsten sitzen einander zugekelirt,
Petrus links, Paulus rechts, auf einer Bank mit hoher
Lehne innerhalb eines kleinen, nischenartigen Baumes.
Petrus mit kurzem, leicht gelocktem Vollbart hält in
beiden Händen die Schlüssel und sieht vor sich hin.
Auf dem Haupte hat er die Paiistkrone, an seiner
linken Schulter lehnt das Doppelkreuz. Der breite
Saum seines Mantels ist reich verziert, — Paulus, bar¬
fuß und barhäuptig, mit großer Glatze und langem
weichem Haupt- und Barthaar, hält in der Rechten das
nach oben gekehrte Schwert. Die Linke hat er auf
den rechten Unterarm gelegt. Sein Blick ist geradeaus
gerichtet. Er ist in ein einfaches, langes, von einem
Gürtel zusammengehaltenes Gewand gekleidet, das von
einem schlichten Mantel bedeckt wird. Das ganze Bild
wird oben durch piächtiges Ast- und Eankenwerk ab¬
geschlossen, das aus den Knäufen zweier schlanker
Säulen emporsteigt, die es an den Seiten begrenzen. Vor
diesen steht auf Jeder Seite am äußersten Rande noch
eine solche Säule, die eine kleine männliche Statue trägt.
Die Forniensprache hat sich im \’ergleich zu den
früheren Werken bedeutend verändert. Wir haben nicht
mehr die schlanken Gestalten mit den knochigen Gesichtern
und den scharfen Zügen vor uns, alles ist voller, rundlicher
geworden. Es hat eine Weiterentwicklung vom Strengen
und Herben nach dem Weichen und Anmutigen, vom
Kirchlich-Feierlichen nach dem Weltlichen, Natürlichen
zu stattgefunden. Mit einem Worte, die Gestalten sind
alle deutscher geworden, der Meister hat die flandrischen
Angewohnheiten abgelegt, er spricht nun ganz seine eigene
Sprache. Man kann freilich nicht leugnen, dass seine
Menschen, namentlich die Männer (Joseph, die Hirten)
im Allgemeinen hässlicher sind als früher, es sind meist
derbe bäuerische Gestatten, aber sie fesseln durch ihr
ungeschminktes, treuherziges Wesen. Auffällig ist, dass
sie alle etwas Neigung zum Schielen haben und dass ihr
Haar meist wie eine Perücke auf dem Kopfe sitzt. Ein
besonderer Gesichtstypus ist nicht mehr streng durch¬
gebildet, es ist alles individuell, charakteristisch ge¬
worden. Maria ist z. B. jedesmal etwas anders aufge¬
fasst. Indessen lässt sich doch ein mittlerer weib¬
licher Normaltypus feststellen, wie er sich auf dem
A’erkündigungsbilde lindet. Bemerkenswert daran ist
folgendes: die Augenbrauen sind nur wenig geschwungen
und gehen unmittelbar in die beiden äußeren den breiten
Nasenrücken begrenzenden Linien über. Die Nase ist
ziemlich lang und an der Wurzel nicht oder nui' wenig
eingesattelt, d. h. sie verläuft meist mit der Stirn in
einer Flucht. In der Mitte zwischen Nase und Dberlippe
ein längliches Grübchen. Dann ein nicht zu großer
Mund mit vollen üppigen Lippen, der nach den Winkeln
zu in feine Linien ausläuft und mit einem Grülmhen
endigt, als wäre da mit einem feinen Bohrer ein Loch
gemacht worden. Die Unterlippe ist vorgewöllit. wo¬
durch unter ihr eine kleine Falte entsteht. Das kleine
fleischige Kinn ist deutlich von den Wangen abgegrenzt,
dann folgt eine starke Untei'kehle, an die sich der in
Falten gelegte Hals anschließt. Technisch bemerkens¬
wert ist bei diesen Bildern , dass die Schatten in den
Gewändern nicht durch eigentlich malerische Mittel,
sondern zeichnerisch durch Strichelung in schrägen Lagen
wiedergegeben sind. Dies ist auch der Fall bei den
sorgfältig behauenen Werkstücken. Auffällig sind auch
die ziemlich scharfen Umilsslinien, namentlich beim
n ac k teil Christkinde.
Suchen wir nach Übereinstiinmungen mit früheren
Bildern, so bieten sich nicht eben viele dar. Nur einige
an sich' unliedeutende Einzelheiten fallen wieder stark
ins Gewicht. So die Pfauenflügel des Engels Gabriel.
Dann das Fliesen muster des Fußliodens auf Nr. 212 und
215, das ganz ähnlich wie das auf den beiden frühesten
Altarwerken zusammengesetzt ist. Schließlich als wich¬
tigstes Merkmal die schlanke Säule mit dem an eine
umgekehrte attische Basis erinnernden Kapitäl auf der
Geburt Christi und der Darstellung der beiden Apostel¬
fürsten. Wir haben sie genau so schon bei den frühe¬
ren Bildern kennen gelernt. Die architektonische Um¬
rahmung mit dem Ast- und Rankenwerk auf Nr. 211
entspricht im Geiste ganz der der Verkündigung in
Speyer, wenn auch ihre Ausführung anders ist. Das
stärkste Band aber zwischen den bisher besprochenen
Werken bildet die ganz einheitliche Farbengebung. An
ihr wird man den Meister sofort erkennen, denn sie
ändert sich im Laufe der Zeit nicht so leicht, wie die
Formensprache. Sie verrät keine besonders hohe kolo¬
ristische Begabung, es sind immer dieselben ruhigen
matten Farben, die bisweilen ziemlich stumpf wirken.
Das mag vielleicht auch an der recht schlechten Er¬
haltung der Darmstädter Bilder mit liegen, die einer
sorgfältigen und sachverständigen Restauration dringend
bedürftig wären.
Übereinstimmungen mit Stichen Anden sich bei
diesen Bildern so gut wie keine. Und trotzdem sind sie
ganz sichere AVerke des Hausbuchmeisters.
Den unumstößlichen Beweis dafür bringt erst das
Bild Nr. 308 des Gothaer Museums (vergl. die Abbil¬
dung). Es stellt ein Liehcspaar in Halbfiguren hinter
einer Steinbrüstung dar. Der Jüngling links mit brau¬
nen Augen und langem blondem gelocktem Haar, auf
dem ein Kranz wilder Rosen ruht, hat mit der Linken
die Hüfte des Mädchens umfasst und sieht es dabei an.
Er trägt über dem mit Gold und Perlen gesäumten
Hemd ein dunkelrotes, tief ausgeschnittenes Wams mit
kurzen Ärmeln, das über der halbnackten Brust durch
ein paar Schnüre zusammengehalten wird, llber die
linke Schulter hängt ihm eine dicke Doppelschnur mit
zwei Quasten, von denen die eine von einem kostbaren
Armband umschlossen ist; die andere fasst er mit der
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
1 eil liai ilii- Haar unter einer hohen,
l ii'iuii * ii'hliietz ühersponnenen Haube
ist iimh ein Schleier gezogen, der
: .^Hgi i.st und dessen Rand iilier die
der Schulter herabhängt und auf das ihr Blick gerichtet
ist. Die beideji Siiruchbänder über ihnen geben den In¬
halt des Gesprächs an, das sie soeben miteinander ge¬
habt haben. Auf dem rechts, das die Worte des Mäd-
Liebespaav. Vom Meister des Hausbuches. Gotha, Museum.
Stirn fällt. Sie trägt ein dunkelgrünes ausgeschnittenes
Isleid mit langen weiten Ärmeln über einem mit Perlen
besetzten, von Goldlitzen geschmückten Hemd. Tn der Lin¬
ken hält sie eine wilde Rose, während sie mit der Rech¬
ten das Armband ergriffen hat, das dem Jüngling von
chens enthält, steht: „Sye . hat . vch . nyU gantz . veracht .
] )ye . vch . dafz . schnürlin . hat . gemacht“. Auf dem andern
des Jünglings Antwort: „vn . byllich . het . Sye . efz . gedan .
want . ich . han . efz . sye . genisse . lan“. Ganz oben in der
Mitte sehen wir ein Wap[)en mit drei roten Sparren in
FERDINANT) VON KELLER.
17
goldenem Felde. Es ist das der Graten von Hanau.
Das Bild ist auf Lindenholz gemalt.
Vergleiclien wir dies Bild zunächst mit den zuletzt
besprochenen Darmstädter Bildern! Der Jüngling sieht
aus wie ein Zwillingsbruder des Engels Gabriel, nur
dass dieser weichere, mehr weibliche Züge hat und ihm
als Himmelsbewohner eine idealere Schönheit eigen ist.
Aber auch wenn die Ähnlichkeit im Gesicht nicht so
außerordentlich groß wäre, würde schon die gleiche Haar¬
behandlung (die sich übrigens auch beim mittelsten der
h. drei Könige genau so findet) beweisen, dass hier der
Pinsel eines und desselben Meisters gearbeitet hat. Man
vergleiche ferner das Gesicht des Mädchens mit dem
der Maria auf der Geburt Christi und der Anl)etung der
Könige: dieselbe Neigung des Kopfes, dieselbe charak¬
teristische Umrisslinie, dieselben Eigentümlichkeiten in
der Bildung der einzelnen Gesichtsteile.
Das Berliner Kabinett besitzt eine Handzeichnung
vom Hausbuchmeister, die einzige, die ihm bis jetzt mit
Sicherheit außer den im Hausbuche enthaltenen zuge¬
schrieben ist. J) Dargestellt ist ein Liebespaar in ganzen
1) In Lichtdruck veröffentlicht von Lippmann in den
Zeichnungen alter Meister im Kupferstichkabinett der Königl.
Museen zu Berlin, 3. Lief., Nr. 51.
Figuren. Es bedarf wohl keines Beweises, dass diese
Zeichnung und das Liebespaar in Gotha von derselben
Hand sind. Auch ein ganz ungeübtes Auge würde dies
sofort erkennen.
Und nun nehmen wir zum Vergleich mit dem Bilde
die Stiche des Meisters zur Hand, zunächst einmal das
wundervolle Blatt mit dem Liebespaar (L. 75), dann den
Jüngling mit den beiden Mädchen (L. 66), die Karten¬
spieler (L. 73), die beiden Gegenstücke: das Mädchen
und der Greis (L. 55) und der Jüngling und die Alte
(L. 56). Vergleichen wir ferner mit dem Jüngling des
Bildes den auf den Stichen L. 58 (Jüngling und Tod)
und L. 70 (der Falkenier und sein Begleiter), mit dem
Mädchen die auf Aristoteles reitende Phyllis (L. 54)
und die Dame mit Helm und Wappenschild (L. 86), end¬
lich wegen der Schiiftbänder außer den schon genannten
Stichen L. 55, 56 und 86 noch L. 19, 68 und 69, so fin¬
den wir im Allgemeinen wie im Besonderen, namentlich
in der Tracht, den Gesichtstypen, eine so überraschende
Übereinstimmung, dass jeder Zweifel verstummen muss:
der Meister des Hausbuches ist thatsächlich der Maler
des Liebespaares in Gotha und somit auch der früher
genannten Bilder.
(Scblixss folgt.)
FERDINAND VON KELLER.
VON PAUL SGHULTZE- NAUMBURG.
MIT ABBILDUNGEN.
S hat zu allen Zeiten zwei Arten von
Künstlern gegeben: solche, die als Pio¬
niere neue Pfade suchten und solche,
welche die gebahnten Wege beschritten,
sie ebneten und kultivirteu. Die Wert¬
schätzung beider schwankt mit dem
Wechsel der Zeitideen, beide aber eiTüllen eine gleich
wichtige Mission, — nur die Breittreter sind für die
Kunst überflüssig, die fegt die Zeit beiseite, dahin
wo sie hingehören: in die Vergessenheit. Da aber
augenblicklich eine Epoche des Aufsteigens für die erste
Gruppe ist, geschieht es oft, dass zu summarisch ver¬
fahren und die zweiten mit den dritten zusammengenannt
werden.
Das ABC der objektiven Wertschätzung ist jedoch,
einfach nach der künstlerischen Kraft zu fragen, die den
Werken innewohnt; nie zu vergessen, dass Kunstepochen
nicht aneinander anschließen, wie die Kegierungen der
Fürsten, sondern sich in den seltsamsten Verbindungen
ineinander hineinschieben; man kann die Keime der
kommenden schon da finden, wo die vorhergehende noch
Zeitschrift für hüllende Kunst. N. F. VIII. H. 1.
kaum voll zu Worte gekommen ist, und ihr Ausklingen
zieht sich oft bis spät in die Blütezeit der nachfolgenden
hinein, um sich vereinzelt wieder zu starkem lebens¬
vollem Klange zu erheben. So ein Später ist Ferdinand
von Keller., der badische Makart. Kein Zweifel, mit den
]\Iodernen hat er nichts gemeinsam — oder doch nur
soviel, wie eben alle echten Künstler gemeinsam haben
und so allein will er auch betrachtet sein, wenn man
von seiner Kunst ein klares Bild bekommen will. Man
muss eben unterscheiden zwischen seiner kunstgeschicht¬
lichen Mission und dem ästhetischen Genuss, den er be¬
reitet. Aber die meisten haben es vorgezogen, nachdem
sie für die Modernen ihr Leben eingesetzt und gesehen,
dass Keller sich so gar nicht unter das alte Eisen der
Historie werfen ließ, — an ihm vorbeizusehen und von
etwas andere)!! zu reden. Dies muss vorausgeschickt
werden, um für ihn den richtigen Standpunkt zu finden;
und dann erscheint er als ein sonntägliches dekoratives
Genie, das mit eklektischer Benutzung aller gelösten
Proble!!!e ein glänzendes Eesume giebt, es aber mit so
viel Eigenart lungestaltet, dass seine Wei'ke innner un-
3
18
FERDINAND VON KELLER
verkennbiii' pclite Ivellsr sind und nie wie Totgeboneue
anssehen, die g'crade so g'ut von einem andern herrühreu
können. Gerade das ist der Umstand, der die Lebens¬
fähigkeit seiner Werke verbürgt. Aber indem er dieses
Erbe einer hinter ihm liegenden Zeit weiterführt bis zn
einer Zartheit und Verfeinerung, die nicht mehr zu über¬
bieten sind, setzt er selbst die Grenze, der notwendiger¬
weise etwas anderes folgen muss. Damit ist auch genug¬
sam erklärt, weshalb Keller keine eigentliche Schule
Könnens ein Führei' sein, wie man ihn weit und breit
nicht zu linden gewusst hätte, auch wenn die Schüler
andere Ziele gesucht hätten. Das ist sein ureigenstes
Gebiet, auf dem er allen anderen weit voraus schritt und
eine mächtig dekorative Farbe damals schon brachte, als
die andern noch zahme Kolorirer waren.
Wenn man Keller’s bisheriges Lebensw’erk über¬
schaut, so zeigen sich zwei llauptiiliasen, die icli, wenn
man es mit dem Ausdruck nicht zu genau nehmen will.
Ferdinand von Keller. Porträtskizze von Frau Ernestine Schultze -Naumburg.
gründen konnte. Er ist auf einer Stufe angelangt, deren
Ausdrucksform zum höchsten Wohlklang entwickelt
ist, ein Überbieten und Weiterentwickeln war un¬
möglich und seinen Schülern blieb nichts übrig, als
hohle Nachahmer ihres Meisters zu werden oder ein neues
Arbeitsfeld anzubrechen. Etwas anderes ist es, dass Keller
keine Gelegenheit hatte, sein enormes Können und seine
Erfahrung in der dekorativen Malerei seinen Schülern zu
übermitteln, — das Gebiet, auf dem wohl auch historisch
seine Ilauptmission lag. Hier würde er vermöge seines
mit der Renaissance und dem Rokoko seiner Entwick¬
lung bezeichnen möchte. In die erste trat der im
Jahre 1842 geliorene Künstler mit seinen ersten Wer¬
ken als fertiger Meister ein, indem er schon klar jene
ihm eigentümliche Gestaltungskraft zu Tage treten
ließ, die ihn heute auszeiclinet. Was er von seinem
fünfzehnten bis zwanzigsten Jahre im brasilianischen
Urwald in sich eingesogen: die Bilder einer prächtigen
phantastischen Natur, bevölkert mit einer exotischen
Fauna und den malerischen Gestalten der Bewohner von
FERDINAND VON KELLER.
19
spanischer und portugiesischer Abkunft, machte auf ihn am Salamkemen“, das charakteristischste Werk für seine
den nachhaltigsten Eindruck, welcher zusammenschmulz erste Epoche. Hier war dei' Stoff gefunden, nach dem es
mit der humanistischen
Bildung, die er in Karls¬
ruhe genossen. So ent¬
steht jene)' eigentümliche
Zug, der sich in Keller’s
Werken zeigt; jene Vor¬
liebe für das Prunkvolle,
Fremdländische, für starke
äußerliche Affekte mit
einem Stich ins Pathe¬
tische, der an die Blüte¬
zeit der spanischen Ro¬
mantik gemahnt. Seine
Ideen offenbaren sich in
glühenden Farbenvisionen;
es drängt sich ihm ein
Konglomerat von Einzel¬
schönheiten auf, die er
zuerst kaum bewältigen
kann, so dass jene ge¬
füllten Kompositionen ent¬
stehen, bei denen er mit
stetig größer werdender
Kunst es versteht, kein
Eckchen frei zu lassen.
So mächtig rinnt der Strom
und so mühelos fließt er
ihm aus dem Pinsel, dass
er niemals kühle Erwä¬
gung braucht,sondern stets
nur dem Überfluss wehren
muss. Rauschender Wohl¬
klang der Farbe und ma¬
lerisch dekorative Wir¬
kung über alles. Er will
keinen Kompromiss;
Wahrheit, Möglichkeit,
alles muss hinter der Er¬
scheinung zurücktreten,
wenn er seinem Glaubens¬
bekenntnis, dem des deko¬
rativen Genies, treu blei¬
ben will. Sein Nero, den
er einst in Rom gemalt,
zeigte noch eine gewisse
V erwandtschaft mit Feuer¬
bach, aber bald macht er
sich auch davon ganz frei.
Im Dresdener Vorhang
findet er eine Fläche, die
einem Jeden Bangen einflößen würde, ihm aber erst ihn verlangte; ein chaotiches Durcheinander von malerischen
die rechte Anregung giebt. — Bald danach entsteht Delikatessen, aus dunklem glühenden Fleisch und orienta-
das Schlachtenbild „Markgraf Ludwig besiegt die Türken lischer Pracht, schäumenden Kossen in zitternder Bewegung
O *
Feri>. von Keli.er: F.ntwurf zum Vorliang im Presileuer Iloftlieatev.
FERDINAND VON KELLER.
-21
und linster abendländiscliem Waffensclimuck, ein Doppel¬
bild von düster tragischer Dose und einem phantastischen
Märchen aus Tausend und einer Nacht. Da ist alles gefüllt
bis zum letzten Eckchen, es ist das Austoben einer
üppigen Malerphantasie, die er niclit mehr halten kann,
sondern der er einmal frei die Zügel schießen lassen muss.
Keller verhält sich heute ablehnend gegen seine
erst ganz seinen lleruf zur dekorativen Malerei. Was
seit Tiepolo noch keiner gethan, thut er: er weiß farbige
Glut in das spröde Material zu bringen und erobert
damit dem Fresko seine Farbenfreudigkeit zurück; er
versteht es wieder , eine weiße Kalktläche auf den
rauschenden Accord heiterer Festesfreude zu stimmen,
leuchtende Schönheit von der Wand strahlen zu lassen,
Feed. von Keller; Brücke in Madrid. (.Skizze.)
„Jugendsünde“, wie er es nennt. Und doch hat das Bild
nichts von seiner Wirkung verloren, wie ein jedes, das
mit Herzblut gemalt ist: es mag zum Widerspruch und
streitsüchtige Leute zum Ärger reizen, niemanden aber
wird es kühl lassen, sondern stets von neuem mächtig
packen.
Aber in dem Meister selbst liegt die Ahnung, dass
er noch nicht die rechte Fläche gefunden, der gegen¬
über er sich aussprechen könnte. Im Fresko findet er
in einer Zeit, als man noch bei Cornelius’ Glyptothek-
Fresken von „trefflichem Kolorit“ sprach.
Das Heidelberger Aula-Bild bezeichnet die Abklärung
und den Abschluss dieser ersten Periode. Hier treten
noch einmal alle Elemente zusammen, die jene charak-
terisiren, gestalten sich hier aber zu schöner, klarer Ruhe.
Auch hier frohe Feststimmung, schmelzender Farbenreiz
und siegreiche Schönheit, aber mit dem Maßhalten und
der Selbstbeschränkung, welche die Reife bringt.
9-)
FERDINAND VON EELLER.
Und nun kDiuint die zweite Phase in Keller’s Kaust,
die der kühlen Rokokostimmung, welche die Apotheose
Kaiser Wilhelms ankündigte mul die bis jetzt ihren
Höhepunki erreicht hat in den Stuttgarter Fresken. Die
warmen tiefen Töne sind jetzt silbergrau geworden; was
früher auf braunen satten Umbratou gestimmt war, steht
tritt sie mit mehr Reservirtheit, Unnahbarkeit auf, ein
leiser Zug von Blasiitheit liegt um die Lippen.
Das ist das Bild, das Keller’s Schaffen, im Großen
gesehen, bis heute darbietet. Nur für den bemerkbar, der
ihm näher treten kann, wird jedoch die Art, wie erschafft.
Keller besitzt die größte manuelle Geschickliclikeit, die
Ferd. von Keller: Damenporträt. (Pastell.)
jetzt auf Gold und \Veiß, — der düstere Hintergrund
der Tragödie ist ganz verschwunden und hat einer
repräsentativ- vornehmen Atmosphäre Platz gemacht;
die überschäumende Verve von früher ist ins Galakleid
geschlüpft und hat Hofformen angenommen. Aber die
stolze siegreiche Schönheit von früher ist geblieben, nur
man sich überhaupt vorstellen kann; alles, was ihm
unter die Hände kommt, nimmt formvollendete Gestalt
an, sein Formgefülil und seine Gestaltungskraft sind so
fabelhaft entwickelt, dass ihm alles wie aus einer Natur¬
notwendigkeit heraus gelingt, wenn er nur die Hände
darauf legt. Dabei ist es ganz gleich, was. Er baut
FERDINAND VON KEl.LER.
23
ein Boot mit derselben Grazie, mit der er modellirt,
oder in Holz schnitzt, oder Metall bearbeitet, mit der
er Kostüme entwirft oder anfertigt, wie er einen Saal
dekorii-t und einen Garten anlegt. Es ist ilim gleich,
ob er Ijeinwand und Ölfarbe oder die Kalkwand für das
Fresko benutzen muss, er ist in Pastell genau so ge¬
meinen könnte, es sei auf seine Art vor der Natur ent¬
standen. Eine kleine Skizze genügt ihm, um lebens-
grotie Akte in mächtig dekorativer Wirkung aus dem
Kopfe fertig zu malen, dass ein jeder ungeheuere Studien
dahinter suchen würde. Wenn man schließlich auch
über diese Art zu arbeiten disjuitiren könnte, so gehört
Ferd. von Keller: Oentaurenpaar. (Skizze.)
schickt wie in Aquarell oder der Radirnadel — alles
Technische ist ihm etwas so Selbstverständliches, dass
er es anwenden kann, ohne es vorher gelernt zu haben.
Ebenso staunenswert ist es, was für Schätze sein
Gedäciitnis birgt. Was er einmal gesehen, prägt sich
ihm derartig ein, dass er es so malen kann, dass man
das nicht in den Rahmen unserer kurzen Betrachtung, jeden¬
falls ist diese Beobachtung äußerst interessant, wenn
man sich der Persönlichkeit Keller’s nähert. Er kann alles.
Er beherrscht in gleicher Weise den nackten Menschen
wie alle Kostümtiguren, wie Pferde, Hunde, Raubtiere, Vögel,
wie Früchte, Ornament, Architektur oder die Landschaft,
24
ZU DEN KUNSTBLÄTTERN.
in der derselbe Grundtoii, wie in seinen großen Deko¬
rationen, traiisponirt auftritt. Die Verlegeiilieit, den
formalen Ausdruck zu finden, scheint er überhaupt nicht
zu kennen, sein Gedächtnis birgt alles, was er braucht,
und nur hie und da holt er sich eine Anregung ini
kleinsten Maßstab, die ihm genügt.
Wie es sich ja stets bis zu einem gewissen Grade
verfolgen lässt, dass die Person sich mit den Werken
deckt, so kann man dies auch bei Keller thun. Man
hat sofort den Eindruck einer mächtigen Persönlichkeit,
W'enn man seine elegante Figur, begleitet von seinen
zwei großen Hunden, einsam daherschreiten sieht. Diese
aristokratische Erscheinung, seine Allüren als Weltmann
decken sieh ohne weiteres mit dem Eindruck des Vor¬
nehm-Ritterlichen, den man bei seiner Kunst empfängt.
Doch tritt noch etwas anderes hinzu, was im Verkehr
mit ihm zum Dominirenden wird, wovon die Bilder
nicht sprechen können: etwas Anspruchsloses, ganz ohne
Grund Bescheidenes, AVohlwollendes, wodurch er einen
jeden sofort sympathisch berührt.
Und wie die Person, so ihr Milieu. Seine geistvolle
Gattin, deren Profil zu seinem Typus für Frauenschön¬
heit geworden, giebt den Ton an in ihrem prächtigen
Hause, in dem sich die Größen des geistigen und ge¬
sellschaftlichen Lebens ein Rendez-vous gelieu. Seine Villa
am See, wo er im Sommer seine Segeljacht über die
Wellen treibt, giebt ihm die strotzende Gesundheit; die
Wintertage, die er auf der Jagd verbringt, erhalten
ihm seine stetige geistige Frische.
Keller repräsentirt eines jener beneidenswerten
Künstlerleben , die in schöner Harmonie, ohne große
innere und äußere Kämpfe, sich abrollen; er ist einer der
wenigen Sterblichen, denen mit dem Genie auch das
Glück in die Wiege gelegt ward.
ZU DEN KUNSTBLÄTTERN.
* Pffw. Gcmäldn von Fniriquc Serra. Für die in Rom
lebenden Maler sind die pontinischen Sümpfe mit ihrer
üppigen Vegetation, ihren ruhigen Wasserspiegeln und ihrer
wilden Tiei’welt seit einigen Jahren das geworden, was vor
einem halben Jahrhundert der Wald von Fontainebleau für
die Begründer der französischen Stimmungsmalerei (Paysage
intime) gewesen war: eine schier unerschöpfliche Fundgrube
für Motive von höchstem malerischen Reiz. Mit den Italienern
wetteifern dabei die in Rom ansässigen Spanier, und selbst
der ausgezeichnete Tier- und Landschaftsmaler Aurelio Tira-
telli hat es nicht leicht, sich neben Francisco de Pradilla
und Serra zu behaupten. Letzterer, dessen nach der be¬
herrschenden Fans -Henne benanntes Bild unsere Helio¬
gravüre mit allen Tonnüancen, auch mit den seltsamen, das
Gewölk des Hintergrundes grell durchbrechemlen Lichtstreifen
glücklich wiedergielit, ist ein sehr vielseitiger Künstler. Er
hat Genrebilder aus dem Volksleben, intime Kabinettstücke
(architektonisch reiche Interieurs mit hohen Geistlichen),
Landschaften u. a. m. gemalt, alles mit dem gleichen, jedem
Format entsprechenden koloristischen Zauber, zu dem sich
bei den Landschaften noch eine tiefe poetische Pimpfinduug
gesellt. Letztere kommt am stärksten auf einem ebenfalls
in diesem Jahre vollendeten Triptychon zum Ausdruck, das
die landschaftlichen Reize der ewigen Stadt in drei charak¬
teristischen Momenten zusammenfasst. — Unser Bild ist
auf der diesjährigen internationalen Kunstausstellung in
Berlin für das städtische Museum in Magdebui'g angekauft
worden. -R-
* „Ain UfeF\ Originalradirung von Clemens OniHc.
Kaum hatte sich Prof. William Unger in seiner neuen Stellung
an der Wiener Akademie wohnlich eingerichtet, als wir auch
schon eine Schar begabter Schüler um ihn versammelt
fanden , welche sowohl die Radirung als reproduzirende
Kunst als auch in freier schöpferischer Weise mit Glück und
Eifer zu üben begannen. Zu diesen zählt der Urheber der
beiliegenden Originalradirung, die durch die empfindungs¬
volle malerische Wiedergabe des einfachen, der Natur ab¬
gelauschten Motivs ohne weiteren Kommentar den Beschauer
fesselt. Clemens Crncic ist in Bruck an der Mur in Steier¬
mark 1865 geboren, war zunächst Schüler der Wiener Aka¬
demie, ging später nach München und kehrte dann nach
Wien zurück, um sich bei Prof. W. Unger zum Radirer
auszubilden. Er wurde wiederholt mit Preisen ausge¬
zeichnet.
rierausgelrer; Carl von TAitxoro in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Verlag von K A Seemarm in Leipzig. Druckvon Giesecke u.Levnent mLeipzig u. Berlin
4
«
I
.t
«#
m.
Jul Wolf, Joipui^
Dev Öllievg in Stvaßbnvg. Clesamtiuisiclit. (Nach Haußrnann, Elsäss.-Lothr. Kmistdenkmäler.) S. S. 2H.
DAS KAISER WILHELM -DENKMAL IN BRESLAU.
MIT ABBILDUNG.
S war in der Tliat ein feierlicher, melir
als tag-esgescliichtliches Interesse bean-
sprncliender Augenblick, als an diesem
6. September in Gegenwart des deutschen
Kaiserpaares und einer glänzenden Fest¬
versammlung unter den üblichen Cere-
inonieen die Hülle von dem Denkmal sank, welches
Schlesien eher als andere Provinzen des Eeiches, eher
als dieses selbst, dem Andenken Kaiser Wilhelm’s I. in
seiner Hauptstadt gesetzt hat.
Schon seit ungefähr der Mitte dieses Jahrhunderts
stehen auf dem Einge von Breslau unweit des alten,
prächtigen Eathauses als Werke des Schlesiers August
Kiss die schlichten, ehernen Eeiterstatuen des helläugigen,
kühn zugreifenden Hohenzollern, der Schlesien an die
Krone Preußen gebracht hat, uinl Friedrich Wilhelm’s IIL,
der in Breslau zum heiligen Kriege von 1813 rüstete und
von hier aus den „Aufruf an m(un Volk“ erließ, dessen
Inhalt auf sechs Erzplatten in erhabener Schrift seit kurzem
die Sockellangseiten des letztgenannten Standbildes
schmückt. Diesmal galt es mehr. Nicht dem jungen
Eroberer, unter dessen kräftiger Hand das Land eine
neue Blütezeit erlebte, nicht dem Preußenkönig, den ein
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIIJ. II. 2.
bitteres Geschick mit der schlesischen Hauptstadt be¬
sonders verband, dem deutschen Kaiser und dem geeinten
deutschen Vaterlande auch der Schlesier sollte der freudige
Stolz auf eine große Zeit, sollten Dankbarkeit, Ver¬
ehrung und Liebe gegenüber dem Herrscher, der diese
Zeit verkörperte, ein Denkmal errichten. Wie aller
Orten sollte auch hier durch eine gewisse aufwandsvullere
Fassung desselben kommenden Geschlechtern gezeigt
werden, dass ein Großer schon von dei- Mitwelt in seiner
Größe erkannt und gefeiert wurde, und dass die Mit¬
welt sich des Wertes des im heißen Kampfe Errungenen
voll bewusst war.
Dieser Absicht, die sich in dem Programm des
Preisausschreibens und in der Bereitwilligkeit zeigte,
mit der die erforderlichen Mittel allerseits beigesteuert
wurden, entsprach wohl auch der größte Teil der damals
— im April 189(» — eingegangenen, zahlreichen Ent¬
würfe. Unter diesen wurde der des Bildhauers CJ/ristiaii
Behrens und des Architekten ]In(/o lAcht mit dem ersten
Preise ausgezeichnet und zur Ausfühi'ung bestimmt.
Entsprach er auch nicht nach allen Seiten hin den
Wünschen der Preisrichter, bedurfte es auch besonders
in betreff des Kostüms des Kaisers, den der Künstler
4
DAS KAISER WILHELM -DENKMAL IN BRESLAU.
2:;
.1 •; ]; ''.i’.' orliplikeite,':. fliireli Lorbeerkranz lind Krüiunigs- Ide Wald des, wie gesagt, g-egebenen Platzes aber
: in ein; ideale Sjiliäre zu versetzen geglaubt konnte nicht glücklicher sein, ln der Nähe des könig-
l noch wiclui£i>r Abänderungen während der Aus- liehen Schlosses, dort, wo die verkehrsreichste Ader der
Das Kaiser Willielm -Denlinial in Breslau.
führung, so erschien doch, auf der Skizze wenigstens,
besonders auch der architektonische ÜAil dei- Aufgabe,
das Hinpinkom])oniren in die voi-bestininite Umgebung,
gerade in diesem Entwurf am besten gelöst.
Stadt, die vom Ringe ausgehende, in die vornehme
Kaiser Willielmstraße einmündende Schweidnitzerstraße
den Lauf des alten Stadtgrabens unterbricht, sollte es
liegen, nicht in öder Einsamkeit, sondern am Strom
DAS KAISER WILHELM-DENKMAL IN BRESLAU.
27
des täglichen Lehens und doch von diesem nicht üher-
ilutet. Und hier erliebt es sich auch jetzt. Die Vorder¬
seite ist der Straße zugekehrt, an den Seiten stellen
Bäume der schönen gärtnerischen Anlagen, welche den
Wasserspiegel des Stadtgrabens rings umsäumen, und
erst weiterhin jirivate und öffentliche Glebäude, den
Hintergrund aber bilden der Himmel und wieder die
Baumwipfel der schönen Promenaden, die sich rechts
am Denkmal hinziehen. Ein ziemlich hoher Stufenbau
trägt vorn den sich fast Ins zum Erdboden herabsen¬
kenden, oblongen Sockel von edler Form, auf dem die
Hauptffgur steht. Der Kaiser, in großer Generals¬
uniform, von weitem faltenreichen Mantel umwallt, den
Helm mit dem wehenden Federbusch auf dem Haupte,
blickt etwas seitwärts nach unten; die Linke hat er
leicht in die Hüfte gestemmt, mit der Rechten hält er
die Zügel des schlanken Rosses, das den Kopf ein wenig
gesenkt ruhig dasteht und nur mit dem rechten Vorder¬
fuß ausgreift. An den Vorderecken dieses Piedestals und
mit diesem verbunden tragen zwei niedrigere, pfeiler¬
artige Sockel zwei sitzende weibliche Gestalten. Durch
ihre Attribute, Ölzweig, Schriftrolle, Bücher und eine
Pallasbüste einerseits, Waffenschmuck, Harnisch, Helm,
Schwert und Schild andererseits, sind sie vom Künstler
als Verkörperungen der friedliebenden Staats- und der
friedhässigen Kriegskunst gekennzeichnet. Zwischen
beiden zeigt eine ungefähr in Augenhöhe des Beschauers
angebrachte langgestaltete Relieftafel die Germania, um
deren Thron sich der Kronprinz Friedrich Wilhelm,
Bismarck, Moltke und alle die anderen Helfer an dem
großen Werke Kaiser Wilhelm’s scharen. Hinter dem
Hauptsockel breitet sich eine weite Plattform aus, die
nach dem Wasser zu, an das sie mit der Rückseite
grenzt, durch eine halbkreisförmige Pergola abgeschlossen
wird, welche zwei mächtige Obelisken flankiren; Waffen-
trophäeu direkt über ihren Sockeln und steigende
Adler auf den abgestumpften, kapitellgekrönten Si)itzen
schmücken diese. In ihre Flächen aber sind wichtige
Daten aus dem Leben des Kaisers und bedeutsame Aus¬
sprüche des Monarchen eingemeißelt. Im übrigen sind
von Inschriften nur der Name des Herrschers an der
Vorderseite des Hauptsockels und die Weiheinschrift
„Dem großen Kaiser das dankbare Schlesien“ an der
Rückseite desselben angebracht. Auch Ornamente sind
in weiser Berechnung nur sparsam an Haupt- und Nebeu-
sockeln verwendet; matt und hellgrau heben sie sich
von der dunkelpolirten glänzenden Granitfläche wirkungs¬
voll ab. Reiterligur und Relief bestehen aus Bronze;
erstere, bei Miller in München gegossen ist, etwas gold-
toniger als jenes aus der Berliner Gießerei von
Gladenbeck. Die beiden allegorischen Figuren und die
Adler sind aus kararischem Marmor von bläulicher,
Pergola und Pylonen von sogenanntem Kelheimer
Marmor von gelblicher Färbung gefertigt. Etwas seit¬
lich rechts von vorn gesehen bietet das Ganze unstreitig
den günstigsten Anblick. Hier wird auch der Tadel¬
süchtigste die imponirende Wucht und Größe der Ge¬
samtanlage anerkennen müssen. Klar und deutlich
sondern sich die einzelnen Teile, Unwichtiges ver¬
schwindet vor dem Wichtigen und völlig harmonisch
wirkt das Ganze. Anders freilich verhält es sich,
wenn der Breslauer sich von anderen Punkten dem
Denkmal naht; da erzeugen z. B. die großen Obelisken
gar manchmal unschöne Überschneidungen. Und auch
sonst kann man wohl an der architektonischen An¬
lage mancherlei Mängel bemerken, die jetzt erst zu
Tage treten, wo die anlässlich der Enthüllungsfeier er¬
richteten Gelegenheitsbauten entfernt sind. Auf dem
Entwurf schloss sich die Plattform der Bildung des
Stadtgrabenbettes au, sich bis zur Wasserfläche herab-
seukend. So war die schützende Pergola vollauf ge¬
rechtfertigt. .Jetzt aber, wo zwischen dieser und dem
Wasser ein Weg gebahnt ist, erscheint die Höhe und
Massigkeit der auf einer Rustikaunterlage sich erheben¬
den Galerie nicht gerechtfertigt. Ja sie wird völlig
unverständlich werden, wenn in nicht allzuferner Zeit
den Anforderungen des Verkehrs entsprechend, der Stadt¬
graben durch Zuschüttung verschwinden wird. Ferner
ist dadurch, dass die hohe Plattform sich nicht auch
vorn um den Hauptsockel heriimzielit, eine genauere
Besichtigung der Vorderseite des ungewöhnlich hoch
stehenden Reiterbildes, besonders des Gesichts des
Kaisers, unmöglich gemacht, (ibrigens wird auch der
gebückten und nach der Seite gerichteten Haltung des
Kopfes der Hauptfigur nicht sonderlich Beifall gezollt.
Sehr glücklich dagegen ist die Trennung der nun ein¬
mal unvermeidlichen allegorischen Gestalten von der
Hau])tflgur. Das unirdische Wesen dieser gewaltigen
Frauen bringt das „Riesenmaß der Leiber“, der strenge,
wuchtige Fluss die Gewandung zu glaubhaftem Aus¬
druck, wenn vielleicht auch dem einen oder andein die
Formen ihrer Köpfe gar zu massig erscheinen wollen.
Doch sollte man angesichts der zuerst ausgesprochenen,
heutzutage ziemlich seltenen Vorzüge über Einzelheiten
nicht allzu scharf richten. Eines aber kann nicht genug
verurteilt werden, das ist die, milde ausgedrückt, skizzen¬
hafte Behandlung des Reliefs an der Vorderseite, gerade
der Teil des Ganzen, der in Folge seiner I.age einer
genauen Betrachtung am meisten ausgesetzt ist. Kom¬
position und Ausführung zeigen eine bei derartigen, für
die Dauer bestimmten Monumenten übel angebradite,
geradezu unglaubliche Nachlässigkeit. Dieselbe ist um so
verwunderliche!', als der Künstler erst neuerdings durch
zwei für ein Leipziger Grabdenkmal bestimmte Reliefs,
deren Modelle auf der diesjährigen Berlinei' Ausstellung
gerechte Bewunderung ei'regten, gezeigt hat, was er in
dieser Beziehung zu leisten im stände ist.
Zum Schluss seien noch ein paar Worte über die
Schöpfer des Denkmals selbst gestattet. Der jetzt zum
Professor ernannte Cltrisliaii Behrens ist 1852 in Gotha
4
()LBERCt und osterspiel TM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
ijebüreu und hat seine erste künstlerische Ausbildung
ini Atelier Julius Hühners in Dresden genossen. Sein
Studiengaug führte ihn dann weiter nach Brüssel, Paris,
Italien. Nach einem zeitweiligen Aufenthalte in Wien
bei K'ui Kunduiann ist er nun schon seit 10 .lahren
\'orsteher des Meisterateliers für Bildhauerei am Schle¬
sischen Museum der bildenden Künste in Breslau. Die
Sammlung des genannten Museums enthält zwei seiner
Schöpfungen, eine Bronzegruppe „Sphinx“ aus seiner
Frühzeit und eine feine Marmorbüste des Historikers
Röpell, die in Breslau entstanden ist. Hier hat er sich,
wie früher in Dresden, und aucli in Leipzig und Berlin,
z. B. am neuen Reichstagsgebäude, durch plastische
Arbeiten für architektonische Schöpfungen hervorgetlian.
\'on derartigen Werken in Breslau seien besonders die
überaus charakteristischen Figuren für die Südseite des
Rathauses rühmend genannt, die im Geiste der eckigen,
spitzen Formenspi’ache der Gotik geschaffen auf ihren
im Laufe der Jahrhunderte verwaisten Sockeln sich gar
wohl zu fühlen scheinen. Das Kaiser Wilhelm-Denkmal
in Breslau aber ist sein erstes großes selbständiges
Werk. Nähere Mitteilungen über seinen Mitarbeiter
an diesem Werke aber, den Stadtbaudirektor von Leipzig,
Hugo Licht, sind wohl überflüssig. Hat er sich doch
durch seine umfangreichen Bauten in der genannten
Stadt — es sei nur an das Konservatorium und das
Grassimuseum erinnert — einen Namen gemacht, der
weit über die Grenzen seines Wirkungskreises hinaus¬
reicht. CONRAD BUGIIWALD.
ÖLBERG UND OSTERSPIEL
IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
VON F. BAU MG ARTEN.
MIT ABBILDUNGEN.
N diese Passionsspiele thut man bekannt¬
lich gut sich zu erinnern, wenn man den
bikbierischen Schmuck unserer Kirchen
recht begreifen will. Was in diesen
Spielen zuerst in <len Kirchen und später
doch immer noch dicht vor ihren Thüren
agirt und vom schaulustigen Volk bewundert und be¬
klatscht wurde, das bannte der Bildner in Stein. Da¬
her das viele Dramatische und Drastische in diesen
Bilderreihen. Gerade die Gethsemane-Scene bildete natür¬
lich einen Hauptakt in allen biblischen Dramen, und so
wäre es mehr als seltsam, wenn zwischen der bildnerischen
Darstellung dieses Vorganges und der durch das Schau¬
spiel keinerlei Beziehung obwaltete.
ln Straßburg waren die Aufführungen der bib¬
lischen Geschichte und Legende ganz liesonders im
Schwange; hier wurde auch der Komik ein breiterer
Spielraum gestattet als sonst wo in Deutschland. Geiler
vonKaysersberg kann nicht oft und nicht eindringlich genug
gegen den groben Unfug predigen, der sich allmählich
in die Darstellung des Heiligsten eingeschlichen hatte.
Mir ist gerade kein Straßburger Passionsspiel bekannt
noch zugänglich, ich kann also nicht nachweisen, in
welchem Umfang gerade zu Straßburg die Gethsemane-
Scene burlesk ausstaffirt wurde. Doch in den Nachbar¬
städten sind solche überliefert, und so greife ich aus der
(Schluss.)
ziemlich großen Anzahl solcher Passionsspiele') als mir
zunächst liegend dasjenige heraus, welches in einer Ur¬
kunde des Eb-eiburger Stadtarchivs von 1599 uns ein¬
gehend beschrieben wird.'^) Laut dieser Urkunde wurde
für die Spiele eine eigene , Brücke“ oder, wie wir sagen
würden, Bühne, unter freiem Himmel auf dem Müuster-
platz aufgeschlagen. Sie besaß eine große Ausdehnung
und reichte über den ganzen, etwa 36 m breiten Raum
von dem Südportal des lilünsters bis zum Kaufhaus,
wobei Münster und Kaufhaus abwechselnd als „hinter
der Scene“ benutzt wurden.'^) Da ein Scenen- und
Kulissenwechsel nicht angängig war, so stellte man die
Scenerie für die verschiedenen Akte nebeneinander auf
der Bühne auf, wie der uns zufällig erhaltene Plan der
Donaueschinger „Brücke“ veranschaulichen kann. Das
1) Vgl. außer Mone’s bekanntem Buch „Die Schauspiele
des Mittelalters“ noch L. Wirth, Oster- und Passionsspiele.
Halle 1889.
2) E. Martin in der Zeitschrift der Gesellschaft für Be¬
förderung der Geschichtskunde in Freiburg, Bd. 111, S. 35 ff.
3) Die nach Gethsemane eilenden Juden „fallen aus dem
Münster“, die erschreckten Jünger „fangen an zu fliehen dem
Kaufhaus zu“, den gefa.ngenen Heiland führen die Häscher
ebendahin, Petrus aber „zeucht ab in das Münster“. Noch
sei bemerkt, dass auch bei diesem Freiburger Spiel, wie auf
den Öll)ergen, die Türme und Häuser von Jerusalem den
Hintergrund bildeten. Vgl. Schreiber a. a. 0. S. 57.
ÖLBEIUi UND OSTERSl’lEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
29
P\ a tt T
seil au
Spiel verlief in dei- Weise, dass nach einander anf den
einzelnen Abteilungen der Bühne die hetreüenden Vor¬
gänge anfgeführt wurden. Das Publikum blieb dabei
nicht an einer Stelle stehen, sondern l)ewegte sich der
Bühne entlang von Scene zu Scene weiter: daher bei
jeder neuen Scene wieder um Buhe gebeten werden
musste. Jeder Hauptvorgang wurde wieder von andern
Spielenden aufgeführt, und zwar scheinen sich die Zünfte
ein- für allemal in die Rollen geteilt zu haben. Die
Maurer und Zimmerleute gaben regelmäßig dieGetlisemane-
Scene, wie die Küfer das Ecce homo, die Metzger die
Kreuzigung. Christus und die Apostel wurden wolü,
wie anderwärts '), so auch in Freiburg von den Geist¬
lichen gespielt.
Dass es nun bei diesem Spiel
und ebenso bei dem vorangehen¬
den Umzug der Spielenden durch
die Stadt gelegentlich etwas fa¬
schingsmäßig znging, das be¬
zeugt uns eine Äußerung des
großen Straßburger Satirikers
Fischart“) über die Art „Wie die
Metzgerzunft zu Freiburg im
Breisgau alle sieben jar den
Passion spielet: Ich geschweige
der Procession und Creutzgäng,
da sie ihre crucilix durch alle
Straßen und gassen führen und
spielen auch den Passion so hur¬
tig nach, mit allen den schmertzen
unser lieben Frauen, als ob es
anders nicht gewesst were dann
ein lauter Fassnachtspiel, die kin-
der darmit zu laclien und betrübte
Herzen fröhlich zu machen . . .“
Aber auch der Text des Passionsspieles selbst
schlägt hie und da einen offenbar ulkigen Ton an. Man
höre nur folgende Proben aus der Gethsemane-Scene:
PiUiti Kriegsknecht sjiricht:
Ich bin Piläti bstelter Knecht:
Was mir gelt treyt, duclit mich recht.
Nun gibt unnss Caiphas das goldt,
■ledtlichem kneclit ein monat seit,
Das ich heltf fairen Jesum Christ,
Wiewohl er gar unschuldig ist.
Der minder Judenkneeht-.
Ir Juden nemeii ebenn wahr.
Das euch kein schancz*) hie widerfahr.
Uird Irahemr uf die sach guet acht,
Dieweill ir gohtrd Irey firrster nacht.
Malclms, du solt nnss ebetr zünderr
Das wir derr Juden körrig ünderr.
Uff das wir greytferr atr derr rechten.
Es war eirr schandt sonst allen
krreclrterr ;
Wa nrairs sagt irr iler jüdischerr rot,
Da unss beschelrerr solt eirr s]iott.
Komlrt her: wir wellerr im’s also
nracheir,
Das im das hercz im leib mttess
krachen.
Mälchus airtwortet:
Ich birr furwar Mälclius genarrdt.
Ein grret liecht trag ich in <ler
Irandt:
Damit will ich iirr zürrdeir eben.
Judas wüert eirclr eirr zeiclrerr gelreir,
Welichen er küsst, ileir greytfen -arr:
W an er vill falscher lehr hat tha.ir
Darczue auch grartssam sehr gelogen.
Das volklr mit seiner leer betrogeir.
Er ist urrs vor gar oft errdtganngeir.
Jecznnd muess er werden gefangerr.
1) Meyer-Altona a. a. 0. S. 79.
2) Martin a. a. 0. S. 201.
Der ülberg zrt Speier.
Nach einer Dlrotogr. des Speierer Gymnasiums.
1) Votr chance, hier prägnant
soviel wie Urrglücksfall.
30
(■)LBERCt und osterspiel im südwestlichen DEUTSCHLAND.
Dur Olburg zu Speier. Nach rhotograiihieoii ilcs Mpeierer Uymiiasüuns,
J/i/las :
Mein hint iiii koptt' lia.ti sich uinlikert,
Vor Zorn ist ineiii hcrtz j^Tir versehrt.
Erst koin i<'li von deiu holien [iriester.
Die sarli wünlt werden wahrlich wiiester.
Ir jiiden, ir juden merckht niicli el)eii,
Wa.s wollt ir mir zu lohne f^'ehen,
Das ich euch schail’ Jesum in dhannd,
Weliche.r mir ga.r wohl ist hek'haudt?
Mälchds (ulcr ein annder Jn<l spricht 7vd Juda:
Dreyssig pfening also guet.
Die gendt wir dir aiiss freyen muet,
Das du unnss scliaMst Jesum den umn,
Damit unnd er nit khom darvon.
Sehin, ihi liastu (‘in, zwen, drey,
hielum Judas, hiss sellis (hirhey.
Viere, t'iinth'., sechse du jecz h(‘st.
Lieher .Iuda,s, thue das liest.
Sehin, darczue syhen und a,cht.
Lieher Judas, nun hah guet acht.
Mer neiine, zehene, zweinczig, dreyssig,
Lieher Judas, sei gar tleißig
Und thue dich gar' nit lang hedenkhen,
Ein guet drinckhgelt will ich dir a.ueh scherddien.
Judas hedankt sich:
Ir juden, wellen sein ohu sorg,
Par gelt ist hesser dari vill liorg.
Hierauf!' so solt ir mit mir gähn,
Unnd den ich küss, den greytfen an.
Den l'ueren woll unnd sicherlich.
Hallt acht, das er auch nit entwiidi.
Die Juden, •welche auf Jesu Fragen dreimal zuriiek-
fallen, greifen ihn schließlich „mit großem Geschrei“.
Malchus, der im Straßburger Bildwerk zum Schutz seiner
Ohren eine l’erriicke groß wie ein Entgleisuiigspolster
um das Haupt trägt, jammert, als Petrus ihn ver¬
stümmelt:
0 we, dz io ich wardt gc|ioren!
Socht, dz rocht ohr hah ich vorlohron.
Von dem ich großen schmertzen han:
Der ghitskopf hat mir’s gethon.
Wo ich hinkom, in weichess huid.
So hah ich nichts da.n schma.ch und schand.
Und würdt man Saigon un verholen,
Ich sei ein dich und hah gestohlen .
Wie er glücklich wieder geheilt ist, ruft der Haupt-
mann Haga den Juden zu, indem er auf Jesum deutet:
Ir knocht, es hatt ietz diso gstalt;
Fluxs füelirt in hin mit ga.ntzom gwalt.
Er klap|iert, schwotz so leiden viel.
Mit uiis.s must uuhn forth, Inpl! den stiel (?).
Dieser rüpelhafte Ton war in anderen Spielen noch
weiter variirt. Die sonderbarsten Einlagen wurden
ersonnen. So erhielt wohl Judas an Orten, wo man
sich über schlechtes Geld zu ärgern Anlass hatte, die
Silberlinge in schlechter Münze ausgezahlt, worüber sich
dann eine richtige Prügelei zu entwickeln pflegte. ') In
Donaueschingen stand hei den Jüngei n im Garten „der
blind Marcellus und hat ein ling tüch über bloßen lih
und den flicht Malchus an . . . nu fliehent die iunger und
erwüscht Malchus dem blinden Marcello sin mantel und
entrint er nackent“,^) eine herzlich derbe Scene, die
aber nicht, wie man vermuten könnte, frei erfunden
1) Vgl. Wirth a. a. 0. S. 214.
2) Moiie a. a. 0. 11, 2(JÜ.
ÖLBERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
31
Pei' Ölberg zu Speier. Nach Pliotograiiliieeii des Speierer Uymiiasiums.
wurde, sondern abe:eselien vom Namen nnd der Blindheit
des Entfliehenden schon hei Marens 14, 51ff. sich findet.')
Tm Passionsspiel zn Alsfeld in Oherhessen stiftet der
Teufel, nherhanpt eine Liehlingsfi^ur der Mysteriens])iele,
den .Tndas persönlich zu seinem Vei'rate an, derselbe
Teufel, der später dem Judas den Strick zum Aufhäng-en
hin wirft, der ihn eigenhändig an dem Ungliiekshaume
aufknüpft, der ihn schließlich in ausgelassener, von den
teuflischen Heerscharen getanzter Prozession zur Hölle
schleppt, -j
Diese Proben mögen genügen. Sie beweisen, denke
ich, nnwiderleglich, dass die Häscher in der Gethsemane-
Scene eine burleske Rolle hatten, die sie, je rüpelhafter,
tappiger sie sie gaben, nm so besser gaben. Und wenn
wir nun in den plastischen Darstellungen dieser Scene,
in den sogenannten Olbergen, bei den Häschern derselljen
spießbürgerlichen Rüpelhaftigkeit begegnen, so dürfte
der Zusanimeidiang zwischen der Bildnerei und dem
Passionsspiel als erwiesen gelten.
Zum Schluss sei noch auf eine andere Gattung von
Ölbergen aufmei-ksam gemacht, die neben der im Obigen
beschriebenen in deutschen Landen beliebt war und ge¬
legentlich in hervoiu'agend schöner Weise zur Ausführung
gelangte. Dei‘ wesentliche Unterschied zwischen diese]'
1) Der nackend lliehende Marcellus ist, wie Professor
Leoidiard in Freilnirg mir mitteilte, auch von Dürer in seiner
großen Holzschnittpassion li. 7 und auf der Kupterstich-
passion 1>. ö augebracht worden.
2) Plastisch ist dies z. 1>. am Hanptportal des Preiluirger
Münsters abgebihlet.
zweiten Gattung und jenei' früheren besteht darin, dass
dabei das Bildwerk ganz frei stand und sich nicht an
eine feste Rückwand aulehnte, dass es mit andei'ii Woi'ten
ein Rnndwerk mit lauter Volltiguren wurde.
Das berühmteste Beispiel diese)' Art stand seit 1511
inmitten des Ki'euzgangs, der einst auf der Südseite des
Spejjrrer Doms ein mit Gi'abmälei'ii und Kapellen geziertes
Viei'eck bildete. Ein gewisser Wipert von Finstei'lohe
batte im Jahie 15Ö4 zu seiner Erl)anung 200 fl. ge¬
stiftet, wofüi' das Domkapitel ihn „zierlichst und an¬
dächtig! ichst“ zu ei'bauen vei'sprach. Schon im nächsten
Jahre ließ man sich von einem schwäbischen Meister,
Hans von Heilbronn, einen Riss dazu fertigen. Hoch
kam dieser aus unbekannten Gi'ünden nicht znr Aus¬
führung. Erst 1509 wai' das Kapitel mit den Meistern
Lorenz von Mainz und Heini'ich von Spe}^]' einig ge¬
worden, und diese hatten denn nach einem neuen
Plan in di'ei Jahren das Wei'k vollendet; 3000 fl., ge¬
wiss 20 000 M. nach dem heutigen Geldwert, waren
allmählich dafür vei'ausgabt worden. Am Gründonnei'stag
des Jalii'es 1512 wurde das Ganze zum ersten Mal be¬
leuchtet, wozu ein frommes Vei'inächfnis die Jlitfel bot.
Nicht ganz 200 Jahre lang sollfe dies kostbare
Kunstwerk bestehen Im Jahre 1689 winde mit dem
Dom und Kreuzgang auch der Ölberg von den Franzosen
zerstört; er ist jetzt nnr mtch in kümmerlichen, uidängst
notdürftig ergänzten Trümmern vorhanden. Doch er¬
möglichen uns sieben auf der Göttinger Bibliothek l»e-
findliche, außeroi'dentlich feine und verständnisvolle
Federzeichnungen eine ziemlich sichei'e Rekonstruktion:
sie geben den Zustand des Denkmals von 1689 sichtlich
32
()LBERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
mit gi’üßter Treue wieder. J) Eine poetische Schilderung
desselben, welche der Jesuit Ar mbruster im Jahre 1654
in fließenden lateinischen Hexametern herausgab, deckt
sich mit den Zeichnungen in allen wesentlichen Punkten.
Aus beiden Quellen ergiebt sich etwa folgendes Bild.
Die Grundform des durchweg aus gelblich-weißem
Hartsandstein erbauten "Werkes ist ein regelmäßiges
Sechseck mit m langen Seiten. Sechs spätgotisch
profilirte und gezierte Pfeiler von ungewöhnlicher
Schlankheit tragen den schützenden Unterbau, dessen
innere Decke sich als ein zierliches Netzgewölbe dar¬
stellte. Rundstäbe. welche an diese Pfeiler sich an¬
lehnen, schlossen sich in stumpfen Spitzbogen zu den
sechs Fenstern zusammen. Die Fensterwandungen bis zum
Dachgesims hinauf waren mit Brustbildei'n in Relief
geschmückt; eines derselben zeigte einen Mann mit
einem Zwicker auf der Nase; es erfieute sich natürlich
ganz besonderer Popularität. Das Dach war, wenn man
Armbruster’s Schilderung ti-auen darf, ursprünglich nach
Art einer Turmpyramide in durchbrochener Arbeit ge¬
halten. Zur Zeit der Zerstörung aber lag ein schlichtes,
außerordentlich steiles, mit Schiefern eingedecktes Spitz¬
dach über dem Ganzen.
Auch der Ölberg im Innern dieses Gehäuses war
ganz und gar aus Stein. Kunstvoll türmte er sich aus
unregelmäßigen , chaotisch durcheinander gewürfelten
Felsstücken zur Höhe. Die Westseite des Berges war
gänzlich von einem Epheustamm mit grüngefärbten Ranken
übersponnen. Aus allen Ritzen des Berges sprossten
Kräuter und Gräser, hie und da erhob sich sogar ein
steinerner Baum. Meist waren es heimische Gewächse,
doch auf der Ostseite bemerkte man ägyi»tischen Stech¬
dorn und andere morgenländische Pflanzen. Flüchtige
Hasen, einer den andern in die Hinterfronte beißend,
sprangen am Abhang, Eichhörnchen knackten erbeutete
Nüsse, Eidechsen tummelten sich in erbostem Kampfe,
Schnecken kroclien ihre Sti-aße, eine Schlange erhaschte
einen hüpfenden Fi'osch, selbst eine Schildkröte schlejtpte
sich bedächtig ums Gemäuer und auch das Wundertier,
der Greif, war nicht vergessen. Dicht unter der Höhe
des Berges aber fuhr ein Hund bellend aus einer Höhle
heraus.
Um diesen also belebten Felsberg zog sich ein
schmaler Pfad in Spiralen zum Gipfel, Ein steinernes
Geländer, das verwitternde Holzpfähle aufs getreuste
iniitirte, gereichte ihm zur besonderen Zierde. Ein
ebenso täuschender Zaun umgrenzte auch den Garten
auf der Oberfläche des Berges. Inmitten dieser Um¬
friedung kniete der Erlöser, während der Engel Gabriel
mit Kreuz und Kelch zu ihm niederschwebte. Schon
mehr am Abhang der Berghöhe schlummerten sorglos
1) Vgl. die ganz vortreffliche Analyse des Werkes, welche
A. Schwartzenberger in seinem „Ölberg zu Speyer“ 18GG
gegeben hat.
die drei Jünger. Im Rücken des Erlösers schlich Judas
mit dem Beutel auf dem Felspfad heran. Ihm folgte
ein muskulöser Bursche mit wahren Schlächtersfäinsten,
ganz starrend von Eisen; seine Rechte hielt eine runde
Laterne, wie eine Trommel geformt. Hinter ihm schritt
ein Kriegsknecht mit einer Streitaxt einher; sein Haupt
war bedeckt mit einer gemeinen Bickelhaube, sein Bart
struppig, ein krummer Säbel hing ihm an der Seiten,
und aus dem nach Metzgerl i rauch um die Lenden ge¬
schlungenen Gürtel starrten zwei Messer mit einem
Wetzstein hervor. Hinter diesem kam ein plumper
Geselle, mit einer Laterne an hoher Stange, gegangen;
seine Rechte hielt ein Bündel Stricke. Das breite, bart¬
lose Gesicht mit fletschenden Zähnen war nach der
Felsenliöhe gerichtet, sein Helm erschien zum Schutz
der Ohren mit dicken Wülsten ausgepolstert; es war
Malchus. Am schlaffen Gürtel baumelte ihm ein hänfener
Sack, strotzend von Knoblauch und Zwiebeln. In
schnellem Schritt kam hinter ihm her auf dem Felspfad
ein Alter mit borstigem Bart, den Helm tief im Nacken.
Darnach ein Jüngling mit einem zierlichen Zwickelbart
und langen Schmachtlocken; Türkensäbel und Morgen¬
stern waren seine Waffen. Weiter unten auf dem Bei'g-
pfad humpelte ein von der Krätze gequälter Greis des
Weges. Eine Zipfelmütze saß auf dem spärlichen Haar,
sein einer Schenkel war entblößt, weil ein dort auf¬
gebrochenes Geschwür die Hose nicht litt; ein breites
Pflaster saß auf dei- Wunde, auf dem Pflaster eine
Mücke, welche das durchschwitzende Blut sog. Im linken
Arm trug der verkommene Alte — eine Hakenbüchse,
an der Hüfte hing ihm ein Pulverhorn. Es folgte ein
anderer Greis, einen Pechkorb auf einer Stange haltend.
Ein Kragen aus geflochtenem Eisendraht deckte seine
Brust, einfältiges Lachen verzog das feiste Gesicht. Der
nächste im Zug — es war bereits der sechste der
Rüpel — führte eine riesige Mistgabel wie eine Helle¬
barde geschultert; sein Knie war in Armut entblößt,
die Beinkleider bös zerschlissen. Diesen ganzen Zug
von sieben derljen Gesellen beschloss am Fuß des Felsens
ein römischer Centurio mit sechs Kriegern, würdige Leute
in kostbarer, welscher Tracht, welche das tölpische
Wesen der jüdischen Knechte erst recht auffallend machten.
"Wir behaupten schwerlich zuviel, wenn wir diesen
Speyerer Ölberg als das bedeutendste Werk gotischer
Plastik in der Pfalz in Anspruch nehmen.') Es erfreut
1) Wie die vielen für ihn gestifteten Messen bezeugen,
war dieser Ölberg von Anfang an ein hoch )>opnläres Werk.
Es zählte lange zu den sogenannten Weltwundei'n, „desgleichen
man an Schönheit, Art und Kunst in der Teutschen Nation
nicht leichtlich linden mag“. (Geißer, der Kaiserdom zu
Speyei’, 153, Anm. 410.) Selbst Luther, der doch nie in Speyer
war, hatte Kunde von dem Ölberg und machte sich in einer
Tischrede über die Hellebarden der Knechte lustig. Der
krätzige Alte aber mit dem Pflaster, des Malchus Zwiebel-
und Knoblochsack und jene oben erwähnte Fratze mit dem
Nasenklemmer galten geradezu als Wahrzeichen von Speyer.
ÖLl^ERG UND OSTERSPIEL IM SÜDWESTLICHEN DEUTSCHLAND.
33
ganz besonders durch den ehrlichen, kraftvollen Realis¬
mus, den es atmet. Wie täuschend war allem nach
die Pflanzenwelt wiedergegeben! Wieviel liebevolle
Beobachtung der Natur verriet die Darstellung der Tiere!
Und wie reich an Abwechselung war offenbar die
Gruppirung und Ausstaffirung der Personen, wie treff¬
lich waren vor allem die Häscher charakterisii’t! Nicht
etwa als Juden, nicht durch die üblichen krummen Nasen.
Nein, deutsche Rüpel mit gemütlich breiten, deutschen
Gesichtern wanderten da in lustigem Aufzug am Be¬
schauer vorüber. Die Erinnerung an die volkstümlich¬
burleske Darstellung dieser Scene in den Passionsspielen
drängt sich auch bei dem Speyrer Bildwerk unab-
weislich auf.
Ein ähnlich schönes Rundwerk wie Speyer besaß
auch Vhn.^) Auch dort stand der Ölbei'g „mitten auf
dem Kirchhof“ südlich vom Münster. Im Jahre 1474 hatte
der Bau begonnen, erst 1518 war dei' figürliche Schmuck
vollendet; man hatte ihn
während des Bauens ver¬
mehrt. Von diesem schö¬
nen Werk, das einst 70"
hoch anfragte, ist jetzt
außer drei schlechten, zer¬
schlagenen Nebenfiguren
kein Stein mehr vorhan¬
den. Tn der Zeit der Bil-
derstürmerei hatten die
Statuen schon schwer ge¬
litten, 1807 aber wurde
das leere Gehäuse, das
auch so noch eine viel¬
gepriesene Zierde des
Münsterplatzes war, kur¬
zer Hand abgerissen, —
weil es den Parademarsch der bayerischen Garnison
erschwerte !
Wir sind glücklicherweise in der Lage, von diesem
schönen Werk trotz seiner völligen Zerstörung eine
ziemlich genaue Vorstellung gewinnen zu können. Es
hat sich nämlich der Originalentwurf vom Jahre 1474
wiedergefunden, der auch schon deshalb ein besonderes
Interesse verdient, weil kein Geringerer ihn gezeichnet
hat als MattJuius Böblinger aus Esslingen, der geniale
Baumeister des Münsterturms. Es wäre ungerecht, nach
diesem Riss des Architekten den bildnerischen Schmuck
zu beurteilen: nur der architektonische Aufbau will
darin vorgeführt werden. Und der ist in der That
merkwürdig genug. Der spätere Meister des Münster-
turms verrät sich besonders in den eigentümlich ge¬
schweiften und herausgebogenen Fialen, wie sie genau
so an Böblinger’s Riss für die Turmpyramide wieder¬
kehren. Böblinger dachte sich das plastische Bildwerk
in seinem Ölberg offenbar etwas anders als die Meister
zu Speyer: wir entdecken nichts von einem kunstvollen
Felsberg, sondern nur einen vom stereotypen Steinzaun
umschlossenen, blumenreichen Garten, und an einen der
sechs Eckpfeiler angelehnt einen Felsblock als Postament
für den Engel. Außen herum stellte Böldinger unter
zierlichen Baldachinen Prophetengestalten mit altmodi¬
schen Spruchbändern an den Eckpfeilern auf.') Es
fehlen in seinem Entwurf gänzlich — die Juden. Der
Rat ließ anfänglich, wie es scheint, genau nach Böblinger’s
Riss arbeiten; doch im Jahre 1516 beschloss er, „den
Gatter-) um den Ölberg soll mau desto weiter richten,
ob man mit der Zeit Juden darein setzen wollte, dass
man Platz dazu habe“. Offenbar erfreuten sich diese
burlesken Gestalten, die man in Speyer, Straßburg und
anderwärts als Staffage verwendet hatte, so großer Be¬
liebtheit, dass auch die Ulnier trotz Böblinger nicht
darauf verzichten wollten. Im Jalii-e 1517 werden that-
sächlich vier Mitglieder
des Rats bestimmt, um
Meister Michel’s (?) Bild
der Juden zu besehen.
Wir dürfen wohl anneh-
nien, dass in der schließ-
lichen Ausführung von
1518 in irgend einer
Weise auch die Rüpel zur
Darstellung kamen, etwa
ähnlich wie in Speyer, auf
dem Anstieg zum Ölberg
begriffen.
Überblicken wir noch
einmal die ganze Reihe
der Denkmäler, die uns
im Vorhergehenden be¬
schäftigt haben, so drängt sich uns zweierlei auf. Einmal,
dass dieser Vorgang, wieeresjaauch verdient, immer und
immer wieder hervorragende Meister zur Darstellung an¬
lockte. Welcher andere Moment der Passion wäre denn auch
so fruchtbar, so stimmungsvoll, so reich an ergreifenden
Kontrasten? Zweitens aber bestätigt die Betrachtung
dieser Ölberge den noch nicht lange entdeckten Zu¬
sammenhang zwischen kirchlicher Kunst und geistlichem
Schauspiel in überraschender Weise; er kann angesichts
dieser Häscliergestalten nicht mehr bezweifelt werden.
Die Bezugnahme auf die kirchlichen Dramen, die
getreue Anlehnung an den Volksgeschmack, wie sie in
der Ausstattung der Rüpel sich offenbart, lässt diese Öl-
1) Vgl. über die Verwendung dieser Propheten-Gestalten
in der mittelalterlichen Kunst und darüber, wie auch sie auf
die Mysterienspiele zurückgehen, die vortreffliche Schrift von
Paul Weber „Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst“,
Kap. 7.
2) Zeitblom und Martin Scheflher waren beim Anstreichen
und Vergolden des otlenbar sehr reichen Gitters thätig.
\| /))fc Ifw
liir iF:l
Vom ölberg zu Straßburg.
1) Vgl. A. Walcher, Ulmer Münsterblätter, Heft 6.
Zeitschrift für biklejule Kunst. N. F. VIII. II. 2.
34
DIE BILDNISSE DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
berge endlich auch iu kulturgeschichtlicher Hinsicht über¬
aus interessant erscheinen; echtere Typen aus dem Volks¬
leben des 15. und 16. Jahrhunderts dürfte es nicht leiclit
geben als die biederen Handwei'ker, die hier, kriegerisch
aufgeputzt und doch so unendlich harmlos, an uns voibei-
marschii-en. Der leise, etwas plumpe Humor, der über
die Gruppe in allen uns bekannten Darstellungen aus-
gegossen ist, trägt so recht deutschen Charakter; es sind
der Vorfahren treue, muntere Augen, in die wir hier
mit einer Unmittelbark^t hineinschauen, wie es uns
selten vergönnt wird.
Freiburg i. B. FIUTZ BA UM GARTEN.
DIE BILDNISSE
DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
MIT ABBILDUNGEN.
1 Palast Pitti, beim Eintritt in den Saal
der Ilias, erblickt man an derselben
Wand, zu vergleichender Betrachtung auf¬
fordernd, zwei Bildnisse eines Jünglings
von gleichem Glanz des Namens wie der
äußeren Erscheinung. Das Alter, in dem
er hier auftritt, hat er nur wenige Jahre überschritten;
die Zeit ist ihm nicht vergönnt worden vom Geschick,
ein Kapitel in den Annalen der Geschichte an seinen
Namen zu knüpfen. Aber es ist einer jener Köpfe, von
denen auch ohne das aus der Biographie übertragene
Interesse eine eigene, unvergängliche Anziehungskraft
ausgeht.
In dem älteren Gemälde florentinischer Arbeit,
Jacoiio de Pontormo bezeichnet, trägt er einen Platten¬
harnisch, die Rechte i'uht auf dem
Helm, die Linke am Hals einer
gi’oßen Dogge mit weißem eisbär-
haftem Kopf. In dem zweiten, un¬
gleich berühmteren, das etwa vier
.lahre später gemalt sein würde,
erscheint ei’ in fremdartigem, nicht¬
italienischem Aufzug. Niemand aber
würde aus diesen doch höchst
lebendigen Figuren des Jünglings
Stand erraten, zu dem weder Kos¬
tüm noch Alter passen. Es ist der
Kardinal Hijipolyt von Medici.
Es gab noch ein zweites Bild¬
nis Tizian’s von ihm, da hatte er
sich wieder, jedoch unter Lebens¬
größe, in Vollrüstung aufnehmen
lassen. Endlich bewahrt die Samm¬
lung der Uffizien ein viertes, an¬
geblich von Bronzino, diesmal
zeigt er sich auch in der roten
Mütze und dem Mäntelchen, als
Fürst der Kirche. Das Gesicht gleicht ganz jenem
Tizian 'scheu.
Don Hippadyt besaß unter seinen vielen Talenten
{;lngeniii,m habile ad emmia perdiscenda imitandaepte
schreibt ihm Jovius zu) auch das des Schauspielers, des¬
halb mögen ihm wohl alle jene drei Kostüme so vor¬
trefflich sitzen. In jedem erscheint er wie in seiner
natürlichen Rolle. In dem ersten schimmernden Ritter¬
bild würde man ihn unter jene italienischen Prinzen
zählen, die, zur Zeit noch in jugendlichen Sports auf¬
gehend, doch schon die natürliche Würde des künftigen
Gebieters merken lassen. Die rote Figur auf der
Venezianischen Leinwand würden Reiterführer der
Puszten unbedenklich als einen der Ihrigen {martlal,
fort escalahrous nennt ihn Brantönie) begrüßen. Und
unter dem roten Barett scheint
er sich jenen tiefen und ge¬
schmeidigen Diplomaten der Kurie
auzureihen, die uns Raphael’s Hand
ebenso vornehm wie scharf be¬
obachtet vorführt.
Trotz jenes Talentes hat sich
Hippolyt dieser letzten, ihm wirk¬
lich zuletzt bestimmten Rolle nicht
gewachsen gefühlt. An dem Wider¬
spruch dieser Rolle mit seinem
Temperament und mehr noch mit
der weltlichen Krone, die er als
Knabe geträumt, ist er zu Grunde
gezogen.
Hippolyt, geboren zu Urbino
am 19. Api'il 1511, war ein na¬
türlicher Sohn des Herzogs von
Nemours, Julian, Sohn Lorenzo
des Eidauchten. Seine feurige,
thatendnrstige Gemütsart hatte
er nicht vom Vater geerbt (dessen
Hippolyt- in Kanlinalstraoht. (Uffizien.)
DIE BILDNISSE DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
35
Züge ihm weniger fremd sind) und auch nicht von
der Mutter, einer edelgeborenen Witwe, wofern sie
iliren Taufnamen Pacifica mit Recht führte. In sei¬
nem dritten Jahre ward er nach Rom gebracht.
Der Oheim Leo fand an dem schüneu und lebhaften
Knaben Gefallen, der spielend ein halb Dutzend musi¬
kalischer Instrumente lernte. Er ließ ihn von Raphael
in dem Fresko der Kaiserkrönnng in den Stanzen an¬
bringen; es ist der knieeiide Knabe, der die Krone (hinter
Franz 1.) hält.
Nach dem Ende des Herzogs von Urbino, Lorenzo
Sohns Piero’s (1519), stand die Linie des großen Cosimo
nur noch auf vier Augen, außer Hippolyt war noch
Lorenzo’s (ebenfalls natürlicher) Sohn Alexander da.
Hippolyt als dem älteren leuchtete die Herrschaft seiner
Ahnen entgegen; vor Alexander hatte er außerdem
voraus: den vornehmen Stand der Mutter (Alexander
war der Sohn einer Bäuerin von Collevecchio), die Beliebt¬
heit des Vaters bei der Bevolkerang, die nähere Ver¬
wandtschaft mit Papst Clemens. Von geistreichen Zügen,
aus denen Feuer und Leichtsinn sprach, gewinnend,
verschwenderisch freigebig, Freund der Künstler, war in
dieser bestrickenden Bastardnatur aucli ein Hang zum
Abenteuerlichen.
In verhängnisvoller Stunde, als Clemens VII. in
schwerem Fiberanfall dem Tode nahe schien, hatte die
Partei des Hauses gedrängt, für einen Medici im bevor¬
stehenden Konklav Sorge zu tragen, und so wurde in
wenigen Stunden der achtzehnjährige Vetter, der nach
der Hand der schönen Julia Gonzaga strebte (die der
Ferrarese Cittadella für ihn modellirte und Sebastian
malte), im Krankenzimmer zum Kardinaldiakon von
S. Praxedis kreirt und mit den Insignien bekleidet, am
10. Januar 1529.
Aber er sträulite sich, die Diakouweihen auzuiiehmen.
er war nicht dazu zu biüngen, außer in Kousistorial-
sitzungen das geistliche Gewand anzulegen. Ihm ahnte,
dass ihn dieser geistliche Purpur um einen ihm viel
teureren, das Ziel seines Lebens bringen würde. Die
Schrift an der Gedenktafel in S. Lorenzo in Daniaso war
nicht in seinem Sinn. ')
Gerade in dieses Jahr 1529 müßte nun das erste
Bildnis, angeblich von Pontormo, fallen.
Ohne das Zeugnis der Aufschrift ANNVM AGEBAT
DECIMVM OCTAVVM auf der roten Tischdecke würde
man den Junker kaum auf bloß achtzehn Jahre setzen. Aber
mau macht oft die Bemerkung, daß Südländer in unsern
Galeriekatalogen zu alt taxirt werden. Die Tafel hat
jedoch keine Überlieferung. Name der Person wie des
Malers sind neuerliche Vermutung. Als sie aus der
Guardaropa in die Galerie aufgenommeu wurde, wird
man sich bei dem nach Stil und Tracht auf die floren-
] ) Qui cum taiita rarissimarum virtutum indole ad Leonis
Glementisque patruorum Pontificum gloriam contendit.
tinische Bilduismalerei um 1530 hinweisenden Werk,
der Erzählung des Vasari erinnert haben, wonach Pon¬
tormo den jungen Hippolyt mit seinem großen Hund
Rodon, diesen sehr getreu und sehr lebendig, aufge¬
nommeu hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem be¬
glaubigten Bildnis schien nicht zu fehlen. Die Be¬
nennung ist dann geblieben, obwohl die von den Anno¬
tatoren der Lemonnier-Ausgabe erhobenen Einwürfe nie
beantwortet worden sind.
Die Erzählung Vasari’s ist sehr bestimmt und
klingt glaubwürdig.
Clemens VlI. hatte im Jahr 1524 den Kardinal
Hippolyt von Medici von Tizian. 1532.
Silvio Passerini von Cortona als Regenteu nach
Florenz geschickt, um wieder eine (seit Lorenzo’s Tod
1519 fehlende) Repräsentation des Hauses und einen
Sammelpunkt für die Anhänger zu schaffen, seine
Vettern Hippolyt und x\lexander mit einem Hof ausge¬
stattet und des Kardinals Obhut auvertraut. Man be¬
trachtete Hippolyt nun als rechtmäßigen Inhaber medi-
ceischer Machtherrlichkeit; man gab ihm den Beinamen
Magrdfico.
Damals war Michelangelo mit den Denkmälern der
Väter dieser beiden Knaben in S. Lorenzo beschäftigt.
Die Statue Juliau’s ist schon vor der Belagerung nahezu
fertig gewesen. Michelangelo scheint den Sohn Julian’s
gern gehabt zu haben, und diese Zuneigung wurde erwidert.
5*
36
DIE BILDNISSE DES K4RDINALS HlPl'OLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
Als er .S2):iter in Rom einmal ein türkisclies Pferd des
Ifardinals bewundert liatte. sandte es ihm dieser sofort
als Präsent. IMan konnte sich denken, dass der vielver¬
heißende. .Jüngling- dem Meister hei den selir jugendliclien,
edelgeformten Zügen und der stolzen Haltung des Vaters
\ui-gesdi wellt habe.
l!oi jener Hegründung des neuen mediceischen Hofes
■war rs nach ^■asari Ottaviano, vom Neapeler Zweig
der Medici, ein kluger, treuer und rücksichtsloser Ver¬
treter ilirer Interessen, der den Pontormo mit der Auf¬
nahme der beiden Prinzen beauftragte, ^'asari fand
die Hildnisse noch in der alten, trockenen „deutsclien“
Manier des Malers.
Das Hippolyt’s soll nun unsere Tafel im Pitti sein;
aber damit sind die Jahreszahlen nicht in Einklang zu
setzen. Pontormo kann sein Bildnis nicht später als
1027 gemacht haben, und die Tafel müßte 1529 fallen.
Bei dem Zug des Connetable von Bourbon durch Toskana
kam es, dank der Kopflosigkeit des Kardinals, zu einer
Erhellung der Gegenpartei, daraus wurde schließlicii die.
dritte und letzte JTrbannung der Medici. Vom Jahre
1527 bis zur Einnahme der Stadt durch das kaiserliche
Heer kann Hippolyt nicht in Florenz gewesen sein.
Er hatte sich nach Rom begeben, dass ihm Pontormo
dahin gefolgt sei, davon ist nichts bekannt. Was sollte
er in Rom gesucht haben in jenen Tagen des Schreckens,
als die Künstler in alle Winde zerstoben?
Aber die Frage ist nicht länger zurückzuhalten:
Warum soll dieser achtzehnjährige Jüngling eigentlich
Hippolyt sein? Für die Beurteilung der Ähnlichkeit
giebt es eine zuverlässige Urkunde: das Bildnis
Tizian’s.
Es sei hier gestattet, der Bei|uemlichkeit wegen,
dem Leser die Umstände seiner Entstehung noch einmal
ins Gedächtnis zurückzurufen.
Im Jahre 1529 war es, als Karl V., aus Spanien
kommend, in Genua gelandet war, dass der Papst das
jüngste Mitglied des heiligen Kollegs als Legaten a
latere ihm entgegen gesandt hatte. Hier wird ihm die
Gewissheit, dass sein Vetter Alexander im Vertrag von
Barcelona zum Vertreter des Hauses bestimmt worden
ist. Seine Erregung kennt keine Grenzen, er plant
einen Handstreich auf Florenz. Der besorgte Papst
will dem Feuerkopf eine Ablenkung geben nach dessen
Geschmack. Er macht ihn zum Legaten bei den päpst¬
lichen Hilfstruppen, die für die an der Donau sich gegen
Solyman sammelnde Armee bestimmt waren. So kommt
Hippolyt nach Ungarn. Das kriegerische Schauspiel,
der Völkermarkt, in den er sich versetzt sieht, regt
seine Phantasie mächtig auf; auch der Künstler in ihm
fühlt sich angesprochen bei dem Anblick der malerischen
Trachten, beim Klang der fremden Idiome dieser
interessanten Nationen des Ostens. Er umgiebt sich
mit Exemplaren dieser Magyaren, Tartaren, Türken,
•Beduinen und luder; er findet in ihren mannigfaltigen
Virtuositäten eine neue Klasse von Unterhaltung. Es
ist ihm nun zu stille, wenn er nicht zwanzig Dialekte
an seiner Tafel vernimmt.
Der gedrohte Angriff des Sultans unterblieb. Der
Kaiser sehnte sich nach Spanien. Er beffehlt den Rück¬
zug des Heeres nach Italien und bestimmt die Marsch¬
ordnung. Hier war es nun, wo unser Heißsporn rebel¬
lisch wurde. Man sieht ilin, auf feurigem Ross, in
leichtem Pelzmantel an der Spitze eines Reitertrupps,
als Fahuenzeichen einen ominösen Kometen, auf eigene
Hand Vordringen. Der Kaiser, der seine Gedanken zu
erraten glaubte, machte jedoch mit dem Vetter S. Heilig¬
keit wenig Umstände; er ließ ihn auf einige Tage
einsperren. — Damals war es, wo er in Venedig er¬
schien und in Tizian’s Atelier geführt wurde. Die
Stadt entzückte ihn, und nicht weniger ihr Maler, den
er einlud, ihn in Rom zu besuchen. Und Tizian ließ
ihm, gewiss ohne Übertreibung, durch seinen Kämmerer
Vendramo sagen, che io non adoro niun 2>nneij)e, ne ho
amico di servir di euorc a ninno , coiiie faria a Sna
Signor ia illustrissima.
Hier am welthistorischen Platz der großen Maske¬
raden war es, wo er die römische Maske abwarf und
zum Schrecken seines geistlichen Gefolges, aber zur
Wonne der \'irtuosen und Poeten, die ihn umschwärmten,
in einem Rotrock von ganz anderer FaQon erschien. Eine
Variante des Kardinals, die noch felilte. Tizian hatte
das Glück, sie der Nachwelt zu überliefern. Mit welchem
Vergnügen, sieht man dem Bilde an, das in einem Zug,
wie inspirirt, gemalt ist. Er trägt einen rotliraunen
Leibrock mit goldumsponnenen Knöpfen, umgürtet von
einer Schärpe, das Barett mit steil aufsteigenden Straußen¬
federn. Die Linke packt den krummen Säbel unterhalb
des Griffs, die Rechte stemmt den Fußkolben ans
Knie. Diesen Kürissbengel, den die Ungarn damals
von den Türken angenommen, hatte er wohl wegen
der Ähnlichkeit des Scepters gewählt.
Man iiflegt das Bildnis in die Zeit des Besuchs
in Bologna zu setzen, wohin der Kardinal den Maler
durch Aretino rufen ließ. Alier die seltsam anstößige
Wrmummung passt nicht zu der Hofhaltung des Kaisers,
mit dem nach den jüngsten Erfahrungen doch nicht zu
spaßen war. In Bologna wird Tizian vielmehr das
zweite, verschollene Bildnis in Vollrüstung gemalt haben.
So berichtet Jovius, dem Ridolfi folgt. ')
Große Galerien geben dem Besucher zuweilen in
zufälligen Nachbarschaften willkommenere Winke als
durch lehrhafte Anordnungen, besonders kunsthistorische
neuesten Geschmacks. In demselben Saal steht auch
ein Tizian’scher Philipp II., in fast gleichem Alter
(23 Jahre). Also neben dem geborenen Heer- und Reiter-
1) Hoc Hungarico militari cultu Ilippolytus Medices
Cardinalis quum e Paniionia, vbi Legatus apnd Caesarem
fuerat, abeunte Solyma.no redisset, ä Titiano pictore eximio
Venetiis se pingii iussit. Jovius Elog. L. VI. Basil. p. 307.
DIE BILDNISSE DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
37
Guiclübaklo H. vou Bronzino. 1531|33.
führer, eleu Faniilienpolitik ins Pfaifenkleid gesteckt,
der finstere Erbauer des Palastklosters Escorial, dessen
fahles kaltes Gesicht besser von jenem roten Hut be¬
schattet wäre, ein Mönch, den der Zufall der Geburt
über die kriegerischste Nation jener Zeit gesetzt hatte.
Hier kann man die charakteristische Kraft Tizian’s
empfinden, — die ja neuerdings auch angezweifelt
worden ist. —
Je mehr man diesen Hippolyt Tiziau’s mit jenem
des Pontormo vergleicht, desto schwerer wird der Glaube
au die Identität der Person. Aul auffallendsten ist die
A'erscliiedenheit der Augen. Der Augapfel, dort tief
eingebettet unter der scharfen Dachkante der Brauen,
mit scheinbar ruhigem, aber durchdringendem Seiten¬
blick, ist dort von vorquellender Prominenz. Die
Brauen selbst, bei dem Venezianer buschig, in auf¬
steigendem Winkel geknickt, bilden hier einen flachen
Bogen. Die Nase, dort stark ansetzend aber dann sich
schmal zusammenziehend, an der Spitze etwas umge-
kriimmt, ist hier breit, platt und oben gedrückt. Der
dominirende Zug des wirklichen Hippolytkopfes ist die
Schärfe aller Linien. ') Eine gewisse Stumpfheit ist in
1) There is a keen, sbarpened express! on tliat strikes you,
like a blow f’rom the spear . . . The whole face and every se¬
parate feature is cast in the same acute add wedgelike form . . .
The nuraber of acute angles which the lines of the face
form, are, in fact, a net entangling the attention and suhduing
dem florentinischen Kopf nicht zu verkennen. Selbst
die Farbe ist anders, bei diesem ein weiBlicher Ton,
bei jenem ein gleichmäßig warmes Braun der glatten Haut.
Das sind Unterschiede, die durch vier Jahre stür-
raischen Lebens nicht hervorgebracht wei’den können.
Noch größer ist der Gegensatz des Temperamentes. Aus
jenen junonischen Augen Pontormo’s blickt ein indolentes
melancholisches Wesen, und dazu passen die müßig
herabhängenden, zarten, wohlgepflegten Hände. Wenige
ritterliche Figuren jener Zeit möchte es geben, wo der
schwere Plattenharnisch so schlecht zu Gesicht und
Haltung passt. Wie anders fassen die Hände des
Kardinals! So stand er vor der Fi’ont seiner wilden
Reitersehaar. Das ist „die allerletzte Blüte des großen
mediceischen Baumes, die der alte romantische Duft
noch umspielt“. (H. Gi'imm.)
Müsste man also nach einer anderen Person für
diesen Pseudohippolyt Umschau halten, so braucht man
sich hierbei um des ihm angehefteteu Namens des
Pontormo willen den Gesichtskreis nicht verengen zu
lassen. Diese Person nun glaube ich gefunden zu haben
und zwar in dem Herzog
Guidohaldo 11. von Urbino
(geboren 1514, Herzog seit 1538, gestorben 1574).
Die Abbildung wäre sein von ^Msari zweimal er¬
wähntes Bildnis von der Hand Agnolo Bronzino’s. Ehe
ich meine Gründe nenne, will ich verraten, wie ich auf
den Namen gekommen bin.
Jeder, der sich mit der Ikonographie der italienischen
Regentenhäuser jener Zeit beschäftigt hat, wird in der
Reihe vorzüglicher Originalporträts der Rovere gerade
Guidohaldo vermisst haben. Von den in Inventaren
und Malerlehen verzeichneten Bildnissen namhafter Künst¬
ler, darunter der von Aretino enthusiastisch geschilderte
Tizian aus dem Jahre 1545, ist nichts auf uns ge¬
kommen, wir haben nur elende Kopieen. In solchen
Fällen zeigt sich indes zuweilen, dass dergleichen Bild¬
nisse unter falschen Namen versteckt sind; ein Zufall
kann sie entdecken, wenigstens dem, der sich die Züge
gemerkt hat.
Guidohaldo hatte bei seiner Ernennung zum General
der römischen Kirche (1555), als er gerade den Bau
des festen Hafens von Sinigaglia vollendet hatte, vier
Denkmünzen prägen lassen; die beste war eine Arbeit
des Bartolomeo Campi, den Aretino bei Gelegenheit
eines reich verzierten Degens und Panzers, auch für
den Herzog, ein mirarolo della sua arte nannte. (Lot¬
tere III. 30. Oktober 1543, f. 119.) Jene Medaille
kommt in Silber, Bronze und in vei’goldeter Bronze vor;
so sah ich sie in der Sammlung des Geheimen Hofrat
the will. Plaiu Speaker II. All the lines of the face, pre¬
sent the same sharp angles, the sanie acute, edgy, contractecl,
violent expression. Ilazlitt.
38
DIE BILDNISSE DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
Eibsteiu in Dresden. In diesem Kopf ist ein besonderes
K.'iinzeicben die Prominenz des Aug-apfels. Die Nase
ist i-rwas kleinlich ausg-efalleu; denn auf einer si)äteren,
eit)2-t.lieuder modedlirteu Medaille (mit einer Cirkusscene)
slilit sie besser aus. Das von Deuiiistoun in der l’ur-
tierloge des Palasts Albaiii zu Kom entdeckte und in
seiner Uescliichte der Herzoge von Urbino (auch bei
Litta) mitgeteilte. übrigens mittelmäßige Poi'ti’ät des
sehr gealterten Pürsten zeigt diese .Eulenaugen auffallend
entwickelt, so auch die Miniatur in den üftizien (1171,
n. 5).
Meilaille 1 1 uidubalilo’s II. vou B. Camfi. 1555.
Die Eilmierung an diesen Zug brachte mich ange¬
sichts des Pittigemäldes auf diesen Herzog und damit
auf das von \’asari beschrieltene (etwa vierzehn .lalire
vor der Medaille gemalte) L'orträt Bi’onziiio’s, vou dem
bisher nij'geudwo gehört worden war (LePeu Pontormo’s
Xr. .öT). Dronzino’s XIII, IGO).
Es war nach der Übergabe der Stadt, am 2. August
l-öGO, dass Bronzino mit vielen andern Florenz verließ.
Er begab sich nach Pesaro, wo der damalige Piinz
Guidobaldo für den in Venedig weilenden Vater die
Regentschaft führte. iMancherlei Auftiäge fanden sich
für den jungen IMann. Die Ausmalung der Gemächer
der \illa Imperiale war im Gang; er zeichnete die
Kartons für einige Gewölbezwickel und )ualte auch eine
Kupidotigur in 01, Er porträtirte eine Schöne des
Hofes, die Tocliter des Matteo Sofferoni. Diese Leistungen
reizten den Prinzen, ihm zu sitzen. Inzwischen begann man
in Florenz wieder aufzuatmen, und von seinem Meister
Pontormo kamen Briefe über Briefe, wegen des Saales
der Villa Poggio aCaiano, den Bronzino beendigen sollte,
da jener zu betiuem geworden war, das Gerüste zu be¬
steigen. Das Porträt gefiel, also dass Guidobaldo auf
den Gedanken kam, seine so wohl getroffene Person mit
einer gleißenden modernen Rüstung zu umgeben. Sie
wurde in der Lombardei, d. h. in ihreiu weltberühmten
Waffenfabrikplatz Mailand, bestellt. Während man auf
sie wartete, hatte Bronzino Zeit, ein Cassa d’Arpicordo
mit vielen Figuren zu bemalen. Endlich erschien die
roraz-ia, Bronzino machte seine Tafel fertig und kehrte
nach Florenz zurück.
Alle diese Arbeiten und Verzögerungen zusammen-
gerechiiet, kommt gewiss mehr als ein Jahr für Bron-
zino’s Aufenthalt in Pesaro heraus. Das auf dem Por¬
trät angegebene achtzehnte Jahr liegt bei Guidobaldo
zwischen dem 2. Ajndl 1531 und 32. Die Rüstung
darauf ist nach dem Urteil der besten Waffenkenner
mailändische Arbeit und nach dem von jener Zeit dort
beliebten Schema. Es ist ein Plattenharnisch, „ge¬
schwärzt, mit schmalen gekehlten, geätzten und ver¬
goldeten Strichen und Schlitzen mit stumpfem Tapul
auf dem Bruststücke und übermäßig großen Armkacheln“
(Wendelin Boeheim). Solche Harnische wurden ge-
werbs- und schablonenmäßig damals nur in Mailand
gemacht, wenn auch gelegentlich anderwärts nach¬
geahmt. ')
Auf der Rückseite des Tannenbretts stehen, wie ich
an Ort uml Stelle entdeckte, in weißer filfarbe aufge¬
malt die Buchstaben
die Dnea Gvido Bahlu gelesen werden können. Es ist
mir nicht unbekannt, dass auf Inschriften (z. B. im Palast
zu Pesaro) auch anders abgekürzt wird; G. V. DVX,
das ist die lateinische Form (Guidus Vbaldus). Der
llofbeamte, der die Buchstaben auf die Tafel setzte,
folgte der italienischen Aussprache, die nicht Guid’
Ubaldo, sondern Guido ’Baldo lautet.
Endlich die Malerei. Da wird man wohl nichts da¬
gegen haben, dass die Tafel nach Farbenauftrag, Auffassung
und Haltung mehr zu Bronzino als zu Pontormo passe.
Die glatte und kühle Ausfülirlichkeit im Fleisch, der
Fall der Arme und Hände verrät die Gepflogenheiten
Brdiizino’s. Die Bildnisse Pontormo’s haben einen bräun¬
lichen Ton, oft mit schweren Schatten, seine Posen
sind besonderer, zugleich persönlicher und unwillkür¬
licher. Am wenigsten ist etwas von einer trockenen
'1)1(1 lu'crn trdcsca zu l)enierken.
Das Bronzino’sche Porträt fehlt in der Liste der
Uihinatischen Gemälde. Wohl aber kommt eines von
Zuccaro vor, II iJitca nroiato, co)i mcuio sopra Ja tcsta
di u)i caae, di ma))o di Zuccaro. Niemand hat es bis
jetzt gesehen. Vielleicht aber war eben unser Bild
gemeint. Der Name Bronzino’s, der nur kurze Zeit in
Pesaro war, mochte dort in Vergessenheit geraten sein,
während Taddeo Zuccaro, der ein Landeskind war (aus
S. Angelo in Vado), langjährige nahe Beziehungen an
Guidobaldo knüpften. Er hatte ihn als Fünfzehnjährigen
an seinen Hof gezogen, auf Reisen mitgenommen und
im Palaste zu Pesaro einquartirt. — Wenn das viel
spätere Bildnis eines .lägers mit zwei Jagdhunden (Pitti)
Guidobaldo heißt, so ist das wohl nur der Einfall eines
Kustoden, der seine Inventargelehrsamkeit hier an¬
brachte. —
1) Genau dieses Muster hat nach W. Boeheim der Augs¬
burger Colmaii an dem Harnisch des Wilhelm von Rogen¬
dorf angewandt. (Wiener Watfensammlung, Saal XXVII,
N. 20G.) Nur ist der Harnisch blank und die Atzung nicht
vergoldet.
DIE BILDNISSE DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
39
Was sonst von GuidobaMo II. Person bekannt ist,
passt ganz wohl zu dem Bilde. Von seinem Äußern
schreibt Frederigo Badoer, der erste Gesandte, mit dem
die Serenissima einen Herzog von Urbino beehrte, in
seiner Relation von 1.547. Seine Figur ist robust
(quadrato), die Statur unter mittel, das Temperament
melancholisch mit Zusatz vom Sanguinischen. Er ist
sehr stark und gewandt, vor dreizehn Jahren hat
er im Turnier zu Ferrara (zwanzigjährig) alle aus¬
gestochen.
Sein Erzieher glaubte einst in dem Knaben den
Geist des martialischen Vaters und Oheims (Julius’ II.)
wieder aufgelebt, ausgeglichen durch die Milde der
Mutter. S]iäter liel seine Schweigsamkeit, auch gegen¬
über den Höflingen, unangenehm auf, man nannte es
Strenge, Aretino erkühnte sich, ihn wegen dieser modesta-
mente severa tacitiirnüä zu hofmeistern. Es war wohl
ein träumerisch indolentes Wesen dieser saturnischen
Natur, die nicht gern aus sich herausging.
Neben einem Vater wie Fi'ancesco Maria war kein
Raum für Ausleben eigenen Willens. Unser Bildnis
fällt in dasselbe Jahr, wo der Prinz die Schwere der
väterlichen Autorität an seinen innigsten Gefühlen zu
erfahren bekam. ') Er hatte sich in den Kopf gesetzt,
eine Dame vom Hause Orsini zu heiraten, deren Mutter
Felice eine Tochter .Tulius’ II. war. Der Alte, der ihm
die Erbin des Herzogtums Camerino zugedacht, hatte
alles mögliche an dieser Wahl auszusetzen. Als ihm
die übrigens unterwürfige Antwort des Sohnes auf seine
schroffe Einsprache zu verklausulirt schien, folgte ein
Ausbruch wilden Zornes. Er droht ihm mit Enterbung
und giebt ihm zu bedenken, dass seine Mutter eine Ge¬
burt erwarte und nötigenfalls noch zehn Kinder be¬
schaffen könne. „Und sollte ich etwas wie Ungehorsam
gegen meinen Befehl hören, so werde ich gegen Dich
zuerst, etwas thun, was kein Mensch glauben wird, dass
je ein Vater gegen einen Sohn gethan habe; und gegen
ihre (der Braut) Mutter, und gegen die Tochter und
den Sohn, denen werde ich ein so grimmiger Feind
werden . . . und wer sich darein mengt, den werde ich
verfolgen nicht nur an seiner Habe, sondern an Leben
und Seele, wenn es möglich ist, ohne Rücksicht auf
irgend Jemanden . .
Am Helm ist ein Inschriftschildchen befestigt mit
einem griechischen ^Arse (er verstand griechisch), -) auf
den diese Geschichte ein wunderliches IJcht wirft.
ßA EZTAl AHQ
9.S ATAONTO
BOVAHMA
1) Fil. Ugolini, Stnria dei conti e dncbi d’Urbino II., 24841.
2) Da’ primi aiini S. Ecc. ha dato opera alle lettere grecbe
e latine per avere la cognizione delle istorie etc. Badoer,
Relazione di 1547.
Die Worte sind offenbar nachgemalt von einer des
Griechischen unkundigen Hand. Wenn man statt AIAON
nach Professor Bücheler’s Vorschlag EIvlON setzt, so
ergiebt sich
ojt)’ sovab cog illov to ßovh]^ci
„Also wird geschehen, wie ich den Beschluss ge¬
fasst habe.“
Man stelle nun den Koj)! des Alten von Tizian in
den Uffizien neben den des Sohnes, und man wird über
den Ausgang dieses Zusammenstoßes keinen Augenl)lick
in Zweifel sein.
.i: :i:
Guidobaldo hatte in jungen Tagen nach hohen
Zielen getrachtet, und es fehlte ihm nicht an gründ¬
licher Ausrüstung für eine Rolle auf der politischen
Bühne; Mocenigo lobt seine staatsmännischen und kriegs¬
wissenschaftlichen Kenntnisse. Badoer rühmt auch die
einem Feldherrn seiner Ansicht nach unentbehrliche
Beredsamkeit. Niemand kannte besser die politische
und militärische Lage der Halbinselstaaten. Musste nicht
ein solcher Nachbar, der Gebieter einer kinegstüchtigen,
seinem Hause treu ergebenen Bevölkerung, der Signorie
Venedigs ein willkommener Bundesgenosse sein? Die
Sehnsucht des Jünglings war, den Spuren seines ^^aters
zu folgen, dessen strategische Aufzeichnungen er fleißig
studirte. Tröstet euch, schrieb ihm Aretino im Ok¬
tober 1543, die Zeit kommt, es kommt die Zeit, die
Eui'e gelehrte Kriegskunde gebrauchen wird. Die Fittiche
des Adlers, allezeit Mehrers des Reiches, sind von un¬
berechenbarem Flug, also dass man die Schatten seiner
Kreise fürchten muss, selbst der befieundeten und er¬
gebenen, denn Siegesüberhebung kennt keine Rück¬
sichten.“
Diese Zeit ist nie gekommen. Die Tage der kleinen
Potentaten und Condottieri waren vorbei. Er wurde
es endlich müde, als General governatore delle armi
venete in Verona Heerschau zu halten und die Festungen
der Terra ferma mit seinen Ingenieuren abzureisen. Der
Dienst der Republik war ebenso kostspielig wie uner¬
giebig. „Ich habe, klagt er seinem ^Ttter, dem Kardinal
von Mantua am 22. August,') in diesen lombardischen
Quartieren meine ganzen Landeseinkünfte verbraucht und
meine eigenen Städte ohne Garnison und Befestigung
lassen müssen ... die besten Jahre meines Lebens habe
ich weggeworfen, ohne etwas auszuführen von alledem,
was von jeher mein Verlangen w'ar. „Alles das nur um
des erhofften Titels des Generalkapitäns der Republik
willen, den sein Vater besessen. Es war jener Kom¬
mandostab, den man auf dem Bildnis Francesco Maria’s
von Tizian sieht und dessen Verleihung ein Decken¬
gemälde der Villa Imperiale darstellt. Endlich er))at
]) Urbinat. Archiv in Fbiren/.. Filza KiS,
40
DIE BILDNISSE DES KARDINALS HIPPOLYT VON MEDICI IN FLORENZ.
und erliielt er seine Entlassung, als ihn der Senat auf
sein Ultimatum endgültig ahschlägig heschieden hatte.
Kaum tröstete ihn, den Vasallen des Papstes, das von
.Tnlius UI. verliehene Capitanat der Kirche und die
Präfektur von Rom. Dann folgte er dem Strom, wurde auf
Cosirao’s Empfehlung General und Pensionär Philii)p’s II.
Der einst ehrgeizige Mann lenkte nun ein in die
Bahnen seiner \Yrgänger auf dem Thron. Er erinnei'te
sich der glänzenden Tage Eederigo’s und des ersten
Guidohaldo, der auch, freilich durch die Gicht zum
Stillesitzen verurteilt, sein Urhino zu jenen Musenhof
gemacht hatte, dtmi Baldassar Castiglione im Coi'tegiano
ein Denkmal setzte. Doch war dieses Bergnest jetzt nicht
mehr zeitgemäß; ihm succedirte das von Julius II. (1512)
dem Staat zugefügte Pesaro. Hier war nun jeder Mann
Voll Bedeutung, der das Land betrat, liebenswürdiger
Aufnahme und zwangloser Gastlichkeit sicher. Die Namen
Pesare und Urhino, Guhhio und Castel Durante erinnern
an die gelohte Zeit der metaurischen Majoliken, die fest
zHsammentällt mit seiner Regierung, mit deren Ende auch
ihr Verfall entschieden war. Dass das Denkmal seines
Großoheinis Julius’ II., wenn auch in vei'kümmerter Ge¬
stalt, endlich noch aufgerichtet werden konnte, verdankt
Koni seiner von Anfang an kundgegehenen Bereitwillig¬
keit, den Forderungen und Launen Michelangelo’s ent-
gegenzukommen. Dieser hatte sogar davon gesprochen,
nach der ruhigen Bergstadt überzusiedeln.
Er lebt, sagt Mocenigo, sehr vergnügt unter seinen
Edlen und denen, die ihn stets umgeben, er ist freigebig,
und wenn er einmal Jemandem Schutz und Freundschaft
gewährt hat, hört er nie auf, ihn mit Aufmerksamkeiten
und Ehren zu bedenken.“
Die Zeitgenossen haben es an Dank nicht fehlen
lassen. Uifugio vcro delle miserrime rhiii d’Italla
nannte ihn Aretino in seinem Briefe an den Maler
Morettn. „Ihr seid der beste Meister, der je die schwere
und göttliche Kunst der Freigebigkeit besessen hat.“
Auf der Medaille G. B. Oapo’s steht über dem Cirkus
OlAydPETP^KT^, d. h. wohl: amico di hitte h virlu.
Jenes allegorische Wandgemälde des Ralfaellin del
Colle in der Villa Imperiale, wo der Fi'iede in Gestalt
eines thronenden Mädchens dem kuieenden Francesco
Maria statt des blutbefleckten Lorbeers einen großen
Ölzweig reicht und ihm die Rechte wie segnend ülier den
Scheitel breitet, schien nun wie eine Weissagung seiner Aera.
Lucrezia d’Este, die Gemahlin des Erbprinzen lud
Tasso ein, vor dem Herzog seine Aminta vorzulesen, der
Park von Castel Durante soll ihm die Gärten der
Armida eingegeben haben.
Diese Beziehungen wai'en von lange her. Als
Bernardo Tasso, aus Neapel flüchtig, in Rom verfolgt,
nach Ravenna gekommen war, rief ihn Guidohaldo zu
sich und stellte ihm ein Kasino zur Verfügung, wo er
zwei Jahre sorgenfrei seinen Versen leben konnte. Sein
siebenjähriger Scdin Torquato nahm an dem Unterricht
des Erbprinzen Francesco Maria teil, der ihm in der
Folge ein treuer Freund blieb. Der alte Herzog war
es, dem der Jüngling zuei'st seine heiinlichen Verse vor¬
gelegt hatte (1562). Die Dedikation des Rinaldo hatte
er damals abgelehnt, aber den Entwurf eines Epos II
Gicruscdem, 116 Strophen, ließ er sich gefallen. Und
doch stand im Rinaldo, Canto VIll, eine sehr schmeichel¬
hafte Strophe, die man seinem Bildnis als Unterschrift
geben könnte, da wo Euridice den Helden im Albergo
della Cortesia bei Neapel vor sein Bild führt:
L’altro severo 11 volto, o grave 11 clgllo,
Fi adorno si, dl maestä regale,
Del gran Maria Francesco sarä figllo,
Magglor del padre ln pace, in guerra egnale.
Sotto ’l cui saggio huperio iinqua in periglio
Urbin non tia d’ alciin gravoso male,
Ma fiorirä per Falme sue constradc
Una lieta, felice, ed anrea etade.
Oberdeutsche Schule,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII.
Aus „Handzeichnungen alten Meisten aus der Albertina
und anderen Sammlungen“.
Lucas Cranach d. A,
1472 — 1553
Männliches Bildnis.
Verlag Gerlach & Schenk ln Wien,
Hamlzeichmmg Rembrandt’s. Aus dem Werke: Ilaudzeiclinuiigeii alter Meister aus der Alhertiua. (Verlag von Gerlacli & Schenk, Wien.)
HANDZEICHNUNGEN ALTER MEISTER.')
MIT ABBILDUNGEN.
OR kurzem ist mit dem Erscheinen der
zwölften Lieferung der erste Rand des
umfassend angelegten Sammelwerkes al¬
ter Meisterzeichnungen, welches Jos.
Schünhriouter und Dr. Jos. Meder letztes
Jahr begonnen haben , znui glücklichen
Abschlüsse gelangt. Der Wiener Kunstverlag und ins¬
besondere die Firma Gerlacli £■ Schenk, durch die Ge¬
diegenheit und den Geschmack ihrer Publikationen welt¬
bekannt, dürfen sich in dem vorliegenden Unternehmen
eines Werkes rühmen, welches weit über die Grenzen
der Fachgelehrsarakeit hinaus in allen künstlerischen
und kunstverwandten Kreisen Reaclitung und Beifall
verdient.
Allerdings — das betonen die Herausgeber selbst
an der Schwelle des Werkes mit Recht — sind die
Handzeiclmungen der alten Meister, seien es nun vor¬
bereitende Skizzen oder fertige Studien, in erster Linie
wichtig als Hilfsmittel der exakten Kritik, bei der Re-
1) Handzeiclmungen alter Meister aus der Albertina und
anderen Sammlungen. Erster Band. Herausgegeben von
Jos. Schönbrunner, Galerie -Inspektor, und Dr. Jos. Meder.
Wien, Gerlach & Schenk. 120 Tafeln und 8 Seiten Text kl.
Fol. In Mappe 24 fl = 40 Mk.
Zeitschrift für bihlenile Kirnst. N. F. VIII. II. 2.
stimnung der einzelnen Künstler und ganzer Schulen;
sie sind es, welclie uns der Gedankenarbeit der groben
Meister auf den Grund schauen lassen und uns „die
verschiedenen Phasen eines Kunstwerkes von der ersten
Idee bis zur höchsten Vollendung vor Augen führen“.
Das Eingreifen der Photographie in die früher ver¬
borgenen und schwer zugänglichen Schätze der Knust¬
kabinette und Sammlerniappen war daher von epoche¬
machender Bedeutung für die vergleichende Kunst¬
wissenschaft. Das weit zerstreute Material, das bis
dahin nur im Gedächtnis des einzelnen Forschers zu¬
sammengehalten werden konnte, lag nun zu bequemer
Übersicht vor aller Augen da. Nicht nur der Strich,
sondern auch die Farbe wurde bald genau nachgeahmt.
Was Ad. Braun schon vor dreißig Jahren mit seinem
Kohleverfahren den erstaunten Blicken darbot und
dann in rastloser Arbeit aus allen Sammlungen Euro-
pa’s zu vielen Hunderten von Blättern anhäufte, fand
in seinem „Catalogue general“ von 1880 die erste
handliche Zusammenstellung. Es folgten die großen
Faksimile-Ausgaben einzelner Sammlnngen und Meister,
wie Bei'lin, Paris, München, Dresden, das Dürerwerk,
die Rembrandtpnblikation. Vor allem war es Giovanni
Morelli, der für seine stilkritische Prüfung der Schul-
G
HANDZEICHNUNGEN ALTER MEISTER.
l’. I’. KUBENS. Aus dem Werke; Hamlzeichuuugeii alter Meister etc.
(Wien, Gerlacli & Schenk.)
AlbuechtDÜiier. Aus dem Werke: Handzeichnungen alter Meister etc.
(Wien, Gerlach & Schenk.)
cliaraktere und künstlerischen Individualitäten das Stu¬
dium der Handzeichnungen als die wichtigste Aufgabe
hinstellte und zunächst bei den toskanischen und nm-
bi’ischen Meisteim die Gi'undsätze seiner vergleichenden
Methode zu frnchtreiclier Anwendung brachte. So ge¬
lang es allmählich, Schulen und Meister auch in ihi-en
Handzeichnungen bestimmt zu unterscheiden und Schritt
vor Schiitt Klarheit in ein früher völlig der Willkür
anheiingegebenes Gebiet zu bidngen.
lüe Herausgeber des hier angezeigten Werkes
haben sich nun die Aufgabe gestellt, von den Ergeb¬
nissen der neu gewonnenen Erkenntnis auch weitere
Kreise Nutzen ziehen zu lassen. Sie wollen alle Hanpt-
meister vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
in einem oder mehreren charakteristischen, womöglich
signirten Blättern den Kunstfreunden vorführen. Die
Benennungen derselben sind mit größter Sorgfalt er¬
wogen. Die Beispiele werden aus den berühmtesten
Sammlungen gewählt. In erster Linie aus der Albertina
und aus anderen Wiener Kabinetten, dann aus der
Sammlung der Landesgemälde- Galerie zu Budapest, aus
den Uffizien zu Florenz n. s. w. Im zweiten Bande
sollen unter anderem die Blätter des Museums in Basel
an die Reihe kommen. Die Reproduktionen sind in der
Regel nach neuen Aufnahmen in Lichtdruck hergestellt.
Eine geringe Anzahl von Klischee-Drucken, welche aus¬
nahmsweise dazu kommen, werden stets ausdrücklich
als solche angegeben. Der Text beschränkt sich auf
das Notwendigste; ausführliche Beschreibungen sind als
überflüssig vermieden, dafür aber die wichtigsten Re¬
sultate der neuesten Kunstforschung in Litteraturnach-
weisen fleißig angegeben; für die jüngeren Kunstfreunde
besonders nützlich ist die Beschreibung der charakte¬
ristischen Zeichenweise jedes Meisters und der ihm
eigentümlichen Auffassung der Formen. — Der ins Weite
gehenden Anlage des Werkes musste selbstverständlich
auch der Preis angepasst werden. Trotz der Eleganz
der Ausstattung und der mustergültigen Herstellung der
Tafeln in einfachem oder farbigem Druck beläuft sich
der Preis doch nur auf etwa 20 Kreuzer für das Blatt.
Auch das mäßige Folio-Format erleichtert die Hand¬
lichkeit und die Verbreitung. Das Werk soll eben
nicht wieder eine Rarität sein, wie so manche andere
Publikationen von Raritäten, sondern ein Kunstbuch für
die ganze knnstfreundliche Welt.
Von den 120 Tafeln des ersten Bandes nehmen
mehr als ein Drittel die Blätter der deutschen Meister
in Anspruch. Dürer steht mit 28 Zeichnungen voran;
daran schließen sich Altdorfer, Haus Baidung, Hans
Sebald Behani, Lukas Cranach d. ä., M. Grunewald u. a.
Den Italienern und den Niederländern sind etwa je 30
Blätter gewidmet. Bei der Auswahl der Italiener hat
offenbar die Rücksicht auf thunlichste Mannigfaltigkeit
in der Vertretung der Schulen obgewaltet. Die Texte
zu Raffael, Michelangelo, Francia, Botticelli, Ubertini
KORRESPONDENZ AUS GRIECHENLAND.
43
u. a. zeugen von besonderer Sorgfalt. Bei dem als
Memling bezeichneten Blatte der Albertina (Taf. 108)
wird die neuerdings aufgetaucbte Zuschreibung an
Dürer mit vollem Recht zurückgewiesen. Die Fran¬
zosen müssen sich mit 17 Blättern begnügen, was bei
dem Umstande, dass ihre Glanzepocheii doch erst in die
modernen Zeiten fallen, gerechtfertigt erscheint. Der
Schwerpunkt des Werkes wird immer in den älteren
Meistern, vom Quattrocento bis zum 17. Jahrhundert, zu
suchen sein. Neben Dürer und Holbein, Raffael und
Michelangelo, Rubens und Eembrandt haben die alten
Italiener und Flandrer vom Anfänge der Renaissance
den größten Wert für eine derartige Publikation.
Solche Blätter, wie das zuerst von Morelli in kleiner
Nachbildung edirte Mädclienprofil von Tinioteo Viti
(Uffizien zu Florenz, Taf. 74), gereichen ihr zur höchsten
Zierde.
Wir hoffen bald einen zweiten, ebenso reich aus¬
gestatteten Band, wie es der vorliegende ist, begrüßen
zu können , und empfehlen hiermit das Werk den
Lesern aufs wärmste. G. v. L.
KORRESPONDENZ AUS GRIECHENLAND.
TALIEN, sonst das ersehnte Ziel so
vieler Reisenden, ist jetzt für Tausende
nur eine Station auf dem Wege nach
dem Orient. Diese Bemerkung, die
sich unter den Eingangsworten eines
beliebten Reisehandbuches findet, spottet
trefflich, ohne zu wissen wie, des Publikums, das sie zu
Fahrten nach den Ländern der Levante anregen will.
Denn wirklich hat sich in den letzten Jahrzehnten, seit
der Erschließung bequemerer Routen in den Orient, hin¬
länglich gezeigt, dass die Sehnsucht nach Italien für
Tausende nur ein Kitzel der Reisesucht und der Neu¬
gierde war und nunmehr einer ebenso oberflächlichen
Sehnsucht nach den Herrlichkeiten des Ostens zu weichen
beginnt. Quälte man sich früher durch Museen, Kirchen
und unverstandene Landschaften bis zum Ätna hindurch,
so lässt man jetzt die italienische Kunst und die Cam-
pagna auf sich beruhen und bewundert, etwa in Ägypten,
Sonnenuntergänge, Pyramiden und Fellachen mit dem¬
selben forcirten Enthusiasmus. Ein Glück nur, dass
Eisenbahn und Dampfschiff, internationales Hotelwesen
und Reklame den Strom solcher Reisenden noch nicht
überallhin leiten, dass es vielmehr noch Länder giebt,
deren vornehme Schönheit und bedeutender Inhalt ge¬
wissermaßen dem echten Reisenden Vorbehalten bleiben.
Trotz seines energischen wirtschaftlichen Aufschwungs,
der denn auch einige Verkehrserleichterungen geschaffen
hat, gehört Griechenland zu solchen Ländern. Es offen¬
bart sich nicht von selbst jedem Vorübereilenden; wie
es, in den meisten seiner Teile, nur unter Strapazen
bereist wird, so eröffnet es das Verständnis seiner Gegen¬
wart und seiner Vergangenheit allein dem, der sich mit
Ernst und Eifer darum bemüht. Und es wird deshalb
nicht vernachlässigt oder vergessen: der absolute Wert
griechischer Kultur für die Bildung aller neueren Kultur¬
völker, der Zauber, den altgriechischer Geist auf alle
ihm zugänglichen Geister ausübt, — sie locken immer
neue Scharen von wahrliaft Suchenden, Fragenden, Be-
wundeimden aus allen Nationen heran.
Solche Leute sind nun zum Teil warmherzige
Dilettanten, zum Teil völlig entschlossene, im Beruf auf¬
gehende Pioniere der Wissenschaft. Jene streifen,
schauen und genießen, ziehen davon und hinterlassen
keine Spuren, zufrieden, sicli selbst gefördert zu haben;
diese, nach dem Vorbilde so mancher Philhellenen der
vergangenen Jahrzehnte, setzen ihre besten Jahre, wo
nicht ihr Leben, an den Dienst der idealistischen Idee,
die Ei’kenntnis des alten Hellenentums von angewöhnteu
Missverständnissen und von römischen Traditionen zu
befreien, und, unterstützt durch die Beweismittel, die
der klassische B(jden allein darbietet, sie in Hellas selbst
und überallhin zu verbreiten. Eine Fülle von Arbeit
wird für diesen Zweck geleistet. Im Wetteifer mit den
heutigen Griechen, die freilich durch ihr politisches, alle
anderen Interessen aufgebendes Parteitreiben und durch
die Oberflächlichkeit ihrer Bildung vielfach darin be¬
hindert werden, haben Deutschland, Österreich, Frank¬
reich, Russland, England, Italien, Schweden, die Ver¬
einigten Staaten in Athen ihre Institute gegründet oder
sonstige Gelegenheiten geschaffen, die ihre Gelehrten zu
archäologischen und philologisch-historischen Studien und
Forschungen ausnutzen können. Jüngere wie ältere
Fachmänner finden dort Anregung, Anleitung und Möglich¬
keit, die verschiedenen Gebiete ihrer Wissenschaft durch
unmittelbare Benutzung des mannigfaltigsten Materials,
durch eine Autopsie von unvergleichlicher Weite besser
zu beherrschen oder zu bereichern, als es ihnen anderswo
gelingen würde; sei es, dass sie als Archäologen der
kunsthistorischen Richtung sich mit Architektur und
Skulptur, mit Vasenmalerei und Kunstgewerbe befassen;
sei es, dass sie als Historiker des Altertums für dessen
ethische oder politische Entwicklung die litterarischen
Zeugnisse an Oi’t und Stelle zu revidiren und mit den
thatsächlichen Verhältnissen, wo es thunlich ist, zu kon-
6*
14
KORRESPONDENZ AUS GRIECHENLAND.
'.r .'-K'n u lia': --!!'. es emllicli, dass sie den Resten des
i ! a-ali ,'rs aii-i; zins onden nnd die einsclilag-endeu Fragen
a .■■!i für Gii( i-lit-nland nntersnclien.
^rieelienland ist aber, mit x4nsnalime des Atlios-
i:\ ^ s nnd einiger anderer Stellen, nicht eben reich
au ihblii-theken. Griechiscdie Handschriften von He-
diuitniia' lindet man in Enro])a, wohin sie besonders seit
den Zehen der rümisclien Erobernng in Menge exportii’t
wurden, entschieden mehl“. Dagegen besitzt das Land
mich diejenigen seiner Schätze, die es in seinem Schoße
selbst verliergeu nnd halten konnte. Zwar sind Ja auch
zahllose Ranwerke völlig zerstört, zahllose Sknlptnren
veibrannt oder geraubt worden; aber in abgelegenen
oder schnell verödeten Gegenden ei’hielten sich, oft wenig
geschädigt, oft wenigstens in wesentlichen Resten ge¬
rettet, mannigfaltige Architekturen, und ül}er die Funda¬
mente., llauerzüge und Säulenstümiife so mancher
'Pempelanlagen, Märkte und Hallen, die Feindeshand,
Feuer odei' Erdlieben niederwarf, legte sich eine Schicht
von Schutt und Trümmern, unter der die zuerst herab-
gestürzten Statuen ein leidlich geschütztes Lager hatten;
auch 4Verke der Kleinkunst und die Scherben von Thon¬
waren des hänslichen tiebrauches wurden auf diese Weise
geI)orge)i, gerade sie oft die wichtigsten Dokumente für
die Reantwortung chronologischer und ethnographischer
Fragen. Alle solche Zeugen des Altertums aufznspüren,
vor weiterer \’erderbnis zu bewahren, sie den wissen¬
schaftlichen Arbeiten als Material, den Kunstfreunden
zum Genüsse darznbieten, ist nun das Ziel der Archäo¬
logen, seitdem sich die Einsicht Rahn gebrochen hat,
dass man wie in der Idiysik und Chemie das Experiment,
so im historischen Fach die irgend erreichbaren Realien
V(U'wenden müsse. Ausgralmngen, planvolle und tief¬
gehende Ausgrabungen wei'den daher in immer weiterem
Umfange unternommen; für sie werden die besten Kräfte
geschult und verwendet; ihi’e Ergebnisse, mögen sie an
(.)rt und Stelle oder in den Museen in Wirkung treten,
entscheiden schwebende Streitfragen, werfen ihrer neue
auf, eröffnen ungeahnte Ausblicke, veranlassen Arbeit
auf Arbeit; nnd wenn sie manche Vorurteile durch die
Klarheit dei' 4'hatsache vernichten, so begründen sie
andere, liessere Erkenntnisse, wie sie ja auch ästhetische
Genüsse schatten und schließlich jedem kunstfreuudlichen
Wanderer die Zahl seiner Richtpunkte vermehren.
Ein waluhaft imponirendes Rild bietet uns der {iber-
blick über das, was in dieser Reziehung in letzter Zeit
geschehen ist. Nachdem am Anfänge unseres Jahr¬
hunderts besonders von Engländern, Deutschen und
Franzosen in Griechenland nnd in Kleinasien, das ja
ebenfalls griechisch oder vielmehr urgriechisch war,
manches entdeckt, ausgegrabeu und, leider oft in etwas
barbarischer AVeise, entfühit worden w'ar, nachdem ferner
Schliemann mit beispielloser Eueigie und wunderbai'em
Fiuderglück, freilich auch in gewissem Sinne dilettantisch,
in Ilion -Hissarlik, in Mykene, Tiryns, Orchomenos,
Marathon nnd wo noch sonst den Spaten eingesenkt nnd
durch seine Funde die Augen der ganzen gebildeten
AATlt auf die AViederei-weckung des Altertums gelenkt
hatte, kurz, nachdem es gelungen war, das Interesse von
Ministerien nnd Mäcenen au diese Frage nachhaltig zu
fesseln , ist die Ausgrabung Altgiiechenlands völlig
l)lanmäßig in Angriff genommen und an bedeutenden
Punkten schon ausgeführt worden. Um zunächst Athen
zu erwähnen: wie hat man nicht die altehrwürdige
Aki'opolis dui'ch forscht! AATe ist mau ihren Umwandlungen
bis auf den Felsen nachgegangen, und wie hat dafür jede
Rauschicht herausgegebe)i , was ihr, wie etwa gleich
nach der Pei'serzeit, an wuuderliaren Rildvvei'ken eingefügt
war! AAMe hat man den Parthenon, das Erechtheion, die
Propyläen Stein für Stein befragt, und welche Auf¬
schlüsse haben diese stummen Zeugen gegeben! Freilich
nur dem verständlich, der sie nicht missversteht; aber
es fehlt zum Glück nicht an solchen Männern. Wilhelm
Dörpfeld, dei' geniale Ingenieiu', zur Zeit Leiter des
deutschen archäologischen Instituts in Athen, hat sich
bedentende Verdienste um die Kenntnis dieser Dinge,
der Rautechnik und der ursprünglichen Gestalt, sowie
der Umgebung der Akropolis erworben; erst im vorigen
AAMnter noch hat ei' am Fuße des Rerges neue umfang¬
reiche Ausgrabungen veranstaltet, die ihn auf einen alten
Stadtteil und auf interessante Wasserleitungen führten.
Deckt seine Thätigkeit auf diese AVeise immer mehr
wissenschaftliches Material an wichtigster Stelle auf, so ist
doch womöglich noch dankenswerter, dass er die Technik
des Ausgrabeus überhaupt erst erfunden, entwickelt und
auf einen Stab von Mitaibeitern übertragen hat. Wie
unoi’dentlich und roli hat AVood das Artemision von
Ephesos behandelt, wie planlos nnd wieviel mehr auf
glückliche Funde als auf das völlige Anfdecken bedacht
trieb Schliemann anfangs Schachte nnd Stollen! Döri)feld,
vom praktischen Rück unterstützt, in langjähriger Übung
geschult, mit umfassenden Erfahrungen ausgerüstet nnd
geleitet vom reinen, wissenschaftlichen Interesse, hat ge¬
lehrt, wie mau Schicht nach Schicht abheljen, keine
undurchsucht, keine unaufgezeichnet lassen muss; wie
man stets bis auf den Raugruud zu gehen hat und
ül)erhaui)t keinen Stein und keine Scherbe für unwesent¬
lich halten darf Diese Methode wandte er an der Seite
Schliemanu’s in Troja nnd Mykene au; sie ist bei der
Ausgrabung von Olympia ebenfalls zur Anwendung
gekommen und ist seitdem wohl allenthalben adoptirt
worden.
So lässt denn die hellenische archäologische Gesell¬
schaft in Athen weitergraben; so hat in ihrem Aufträge
Heri' Philios Eleusis aus dem Schutt gezogen; so haben
die Schweden das Poseidonheiligtum von Kalanria-Poros
anfs sauberste in seinen Grundrissliuien entwickelt. In
Kürze gar nicht aufzuzählen sind die Tempel, Theater
nnd Grabaulagen, an deren Erforschung man in letzter
Zeit gegangen ist: um und in Attika sei nur au die
KLEINE MITTEILUNGEN.
45
Bauten von Ägina, Sunion, Ehainnus, Tliorikos, Eretria,
iin Peloponnes an Megalo])olis, Lykosura, Bassae-Pliigalia,
Lepreon und Sainikon erinnert, — überall hat die exakte
Arbeit auch exakte Resultate ergeben. So schreckt man
denn keineswegs davor zurück, die umfangreiclisten An¬
lagen in Angriff zu nehmen; stehen doch Olympia,
Eleusis, Troja und Pergamon als Beispiele des Erreich¬
baren seit Jahren da! Mit wahrliaft kühnem Mute hat
die amerikanische Schule in Atlien sich an Alt-Koiinth
gewagt. Dort deckt eine Schuttschicht bis zu 7 m Höhe
den antiken Straßenboden, aber man ist daran, sie ab¬
zutragen und glau))t jetzt, die Agora gefunden zu halien.
Eiiidauros, das ein wunderbar erhaltenes Theater mit
kreisrunder Orchestra, ein Stadion mit den Aldauf-
schranken, die Reste der berühmten Polykletischen Tholos
und des Asklepiostempels besitzt, wird allmählich mit
allen seinen weitläutigen Gymnasien, Priestei'wohnungen,
Kliniken und Bädern durcli die griechische archäologische
Gesellschaft freigelegt. Zwei kaum übersehbare Auf¬
gaben haben die Franzosen übernommen: die heilige
Insel Delos, die fast ganz von den Bezirken Apollons
und der Artemis bedeckt ist, und das nicht minder
heilige Delphi wollen sie uns eröffnen. Augenblicklich
stehen ihre Arbeiten auf Delos still; um so energischer
geht man in Delphi vor, wo die Lage der Heiligtümer,
Hallen, Schatzhäuser und Theater auf einem steilen Ab¬
hange die Ausgrabung einerseits erschwert, andrerseits
durch die Erleichterung der Schuttabfuhr befördert.
Delphi! Was hofft man nicht alles von diesem Boden,
den Jahrtausende mit den reichsten Weihgeschenken be¬
dachten und dessen heilige Unnalibarkeit lange den
Räubern trotzte. Schon haben dort herrliche und über¬
raschend neue Skulpturen sicli finden lassen; noch in
den letzten Wochen wurde eine lebensgroße, archaische
fein gearbeitete Bronzestatue unter den Trümmern
einer Wasserleitung hervorgezogen, und Tausende von
Inschriften bedecken die Marmorwände der Terrassen und
der Tempel.
Ebenso große und zum Teil noch größere Aufgaben
beschäftigen die Ausgräber auf kleinasiatischem Boden
oder harren ihrer noch dort. An Ilion und Pergamon
wird nicht mehr gearbeitet und ibr Heroon von Gjöl-
baschi haben die Österreicher bereits geborgen. Aber
die begonnenen Werke des leider uns entrissenen Hu-
mann sind noch zu vollenden oder wieder aufzunehmen;
an der Ausgrabung von Priene wird mächtig geschaffen
und schon ist es gelungen, seine vollständige Agora mit
den anstoßenden Stadtteilen darzulegeu; das niclit ferne
Magnesia am Mäander mit seinem mächtigen Tempel und
mit den langen, im Sumpfe versinkenden Säulenhallen des
Marktes, mit seinen ]\Iauern und dem von Hiller v.
Gärtringen ausgegrabenen Theater harrt der weiteren
Aufdeckung. Abei'iuals nicht w'eit davon dehnt sich die
Ebene von Ephesos aus: doit haben, dicht an der eng¬
lischen Inte]’essensi)häre, die (Isterreiclier sich festgesetzt
und wollen in langjähriger Arbeit, für die sie jetzt ein
eigenes Ausgrabeiliaus errichtet haben, die wesentlichsten
Partieen der Stadtanlage auferstehen lassen : vor kurzem
ist ihnen der Fund einer Wand mit reicher Dekoration
und kostbarster Marmorbekleidung, sowie mehrerer anderer
interessanter Gel)äude und der Fund einer Bronzestatue
geglückt. Immerhin bleibt nocli manches zu thun üluig.
Wer wird Samos, wer Milet, wei’ Sardes der Vergessen¬
heit entreißen? Wer wird Hierapolis aus seinem weißen
Kalksinter heraus meißeln? Und ferner; wer wird das
kaum bekannte Innere Kleinasiens abseits der großen
Straßen weiter erforschen und die antiken Stätten wieder¬
finden, die dann ihrer Zeit auch auszugraben wären?
Das zwanzigste .Jahrliundert wird ein idealistisches
sein, und daher kann es ihm au Bearbeitern dieser Auf¬
gaben nicht fehlen. Schwerlich jedoch wird jemals eine
griechische Ausgrabung die in die Augen fallenden Reize
Pompeji’s besitzen; sie wird stets mit ihren besclieidenen,
oft fast formlosen Resten nur den auziehen, der ilir aus
dem Seinigen das Fehlende mitzuteilen weiß. Daher
dürften jene Tausende, die jetzt in den Orient pilgern
und allmählich wohl auch in die Ebenen und Thäler
Griechenlands gelangen werden, sich an seinen Ruinen
bald ersättigt haben, und in großartiger Einsamkeit,
freundlich nur dem Auserwählten geöffnet, werden dann
die heiligen Gelände weitei- ruhen.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Herrn BadriifPs „Assou/ptioiie“ mul Baphael’s „Sixti¬
nische Madonna“. A^or einigen Tagen wurde von Zürich ans
die Mitteilung an zahlreiche deutsche Zeitungen gesandt, der
bekannte tüchtige Hotelbesitzer Herr Caspar Badrutt zu St.
Moritz im Engadin habe sich mit seinem Gemälde, das die¬
selbe Darstellung zeigt wie RaphaeTs Sixtinische Madonna
in der Dresdener Galerie, auf die Reise nach Deutschland
begeben, um hier die „Streitfrage“ zu entscheiden, ob sein
Bild oder das Dresdener das Original sei. Da die Laienwelt
Dresdens und Deutschlands unter diesen Umständen durch
die Annahme beunruhigt werden könnte, als sei es wirklich
eine Streitfrage, ob das Dresdener Bild das Original Rapluiers
sei, eine Streitfrage, die möglicherweise zu Llngunsten des
Dresdener Bildes eidschieden werden könnte, so halte ich. es
für meine Pflicht, an dieser Stelle eine kurze Darstellung des
Sachverhalts zu geben. Kein Bild ist litterariscli besser be¬
glaubigt als Raphael’s Madonna in der Dresdener Galerie.
Jeder Dresdener kennt die Stelle in Giorgio Vasari’s Raphael-
Biographie, in der der grolle Florentiner Kunstgeschiebts-
schreiber des 16. Jahrhunderts von unserem Bilde sjiricht.
,,1’ür die schwarzen Mönche von Sankt Sixtus in Piacenza
malte er (Raphael) die Tafel des Hochaltars, auf der er
KLEINE MITTEILUNGEN.
T'. - -i-p liebe i'i'au mit dem heiligen Sixtus und der heiligen
rinv: v.i d;:;-.-ieilte: ein wahrhaft köstliches, ja einziges Werk
' ■ •, r -e rarissima e singolare).“ Von eben diesem
Hc- ii dltar der Kirche des heiligen Sixtus zu l'iacenza nahm,
wie urkundlich feststeht, der Bologneser Maler Giovannini
ivn Aidlrage eines Vertrauensmannes des sächsischen Hofes
1703 das Bild herab, um es nach Dresden zu schicken, wo
0.'- zu Anfang des .lalires 1754 ankam und mit hellem Jubel
liegrüßr wurde. Hatte doch seit zweihundert Jahren niemand
CF- anders gewusst, als dass Baphael’s Bild in der Kirche San
Sisto zu Piacenza den Hochaltar schmückte , und schien es
Yasari’s Zeugnis gegenüber doeb auch unmöglich, dass die
Echtheit des Bildes jemals bezweifelt werden könne! Es
ist wahr, 4'asari war auch nur ein Älensch. Er konnte irren,
wie alle übrigen Menschen. Es sind ihm sogar ma,nche Irr-
tümer in seinem biographischen Riesenwerke nachgewiesen
worden. Aberdass er sich bei einer so genauen Angabe, wie
er sie über die Sixtinische Madonna drucken ließ, in Be¬
zug auf einen so bedeutenden Künstler wie Raphael und in
Bezug auf eine so leicht erreichbare Kirche, Avie diejenige des
heil. Sixtus zu Piacenza, jemals in dieser Weise geirrt, wäre
erst noch nachznweisen; cs ist in cResem Falle um so un¬
denkbarer, als er selbst erzählt, dass er vor der Herausgabe
der zweiten Auflage seines Werkes ganz Italien bereist habe,
um die von ihm beschriebenen Kunstwerke zu sehen, und
als er an verschiedenen Stellen seines Werkes gerade in Be¬
zug auf Piacenza eine eingehende Ortskenntnis veriät.
Ja, wenn sich das Bild thatsächlich nicht in der Kirche San
Sisto zu Piacenza gefunden hätte, ließe sich vielleicht da¬
rüber streiten, ob Vasari recht berichtet gewesen. Alier das
Bild ist genau so, wie er es beschreibt, thatsächlich in der
Kirche gefunden worden, für die Raphael es nach Yasari’s
Angabe gemalt hat; und dass der heil. Sixtus gerade in die
Kirche dieses Heiligen und die heilige Barbara in elmn diese
Kirche, in der nachweislich auch sie verehrt Avurde, gehörten,
liegt ebenfalls so auf der Hand, dass irnter kritisch ge¬
schulten Lesern auch die ärgsten Verkleinerer Vasari’s nicht
auf den Gedanken kommen könnten, gerade diese Angabe
seines Buches zu bezAveifeln. Mindestens könnte die Angabe
Yasari’s, dass Ka])hael die Madonna für die Kirche San Sisto
in Piacenza gemalt habe, nach allen Avissenschaftlichen
Methoden der 4Velt nur durch einen vollgültigen urkundlichen
(iegenbcAveis entkräftet Averden. Nur Avenn von anderer
Stelle der über die Anfertigung des Bildes geschlossene Ver¬
trag oder die Rechnung über seinen Ankauf beigebracht
Avorden wäre, müsste irgend ein Irrtum in Vasari’s Mitteilung
vermutet werden. Herr Caspar Badrutt hat sich nun freilich
schon vor einigen Jahren daran gemacht, das litterarische
Zeugnis Vasaii’s durch andere Zeugnisse aus dem Felde zu
schlagen. Urkunden und litterarisches Material meinte er zu
besitzen. Er hat es in seiner ])rachtvoll ausgestatteten, mit
großen Kosten 1894 in Zürich gedruckten Schrift ,,Assoinptione
della Madonna“ veröffentlicht. Wer dieses Material aber nur
mit halbwegs kritischem Blicke durchzusehen im Stande ist,
muss unwillkürlich auf den doch wohl unrichtigen (Jedankeu
kommen, der sonst so liebensAVÜrdige Herr Badrutt halie
sich einen Scherz mit ihm machen Avollen. Herr Badiutt führt
eine Schriftquelle dafür an, dass sich 15G1 eine „Himmel¬
fahrt Maria mit vergoldetem Rahmen“ ohne Benennung des
Künstlers im Besitze des Hofes von Ferrara befunden halie.
Er zieht ein ZAveites Zeugnis dafür herbei, dass sich um 1596
in der Schlosskapelle zu Ferrara eine „Himmelfalirt der Ma¬
donna von Meister Girolamo da Carpi“ befunden habe. Er
führt ein drittes Zeugnis dafür an, dass sich 1770 eine
,, Himmelfahrt Mariä“ aus der Schule Guido Reni’s in der
Schlosskirche zu Modena befunden habe. — Was in aller Welt,
wird man fragen, haben iRese Darstellungen der „Himmelfahrt
Mariä“ von unliekannter Hand, von Girolamo da Carpi und aus
der Schule Guido Reni’s mit Raphael’s Sixtinischer Madonna
zu thun? Hat man jemals eine Darstellung der Himmel¬
fahrt Mariä mit dem Christkind auf dem Arm, mit nur
zAvei Heiligen anstatt der zwölf Apostel und mit einer
herabschAvebenden Madonna gesehen? Hält es irgendjemand
für möglich, dass an dem kunstsinnigen Hofe der Este zu
Ferrara, Avenn überhaupt, sogar schon im 16. Jahrhundert,
ein Originalgemälde Raphael’s, das dort sicher durch lebendige
Überlieferung und ])ersönRche Kennerschaft vor Verkennung
geschützt und wie ein Heiligtum gehalten worden wäre, für
ein Werk Girolamo da Carpi’s, dass es später gar für ein
Werk aus der Schule Guido Reni’s angesehen und zum alten
IRsen gethan worden wäre? Nur völlige Unkunde der
Geschichte könnte auf einen solchen PRnfall kommen. Gleich-
Avohl Avill Herr Badrutt sein Bild, dessen Darstellung
mit derjenigen der Madonna von Piacenza übereinstimmt,
in allen jenen Darstellungen der „Himmelfahrt Mariä“
erkennen. Jedem anderen Avird es mindestens zweifel¬
haft Illeiben, ob jene Mitteilungen überhaupt ein und das¬
selbe Bild im Auge haben. Zuin ,, alten Eisen“ müsste
das Bild in Modena in der That bald geAvorfen sein; denn
Herrn Badrutt’s Bild finden wir 1841 im Hause des Ver¬
walters der früheren estensischen Domäne Pente torre. Der
Herr Verwalter Barahli sah das Bild allerdings für eine
Himmelfahrt Mariä an; und diese Unkenntnis eines Laien
ist das einzige Band, das es mit jenen genannten Bildern
verknüpft. Herr Barahli wusste alier auch und schrieli es nieder,
dass sein Bild nur eine Kopie, dass <las Original von Raphael
sei, und er fügte hinzu, die Kopie Averde wohl zu Raphael’s
eigener Zeit angefertigt sein. Von einer Verwandten dieser
Verwalterfa.milie erstand Herrn Ba,drutt’s Vater das Bild zu
Ende der achtziger Jahre. Gesetzt selbst, sein Bild wäre
identisch mit jenen im 16. und 18. Jahrhundert erwähnten
Da.vstellungen der „Himmelfahrt Mariä“, so unwahrschein¬
lich dies auch ist, Avürde dann nicht für jeden unliefaingenen
Leser aus Herrn Badrutt’s eigenen Citaten gerade das Gegen¬
teil von dem folgen, was er aus ihnen folgert? Würden
seine eigenen NacliAveise nicht völlig genügen, darzuthun,
dass sein Gemälde unmöglich ein Oiiginalbild von RaphaePs
Hand sein könne? Ich glaulie, jedem wissenschaftlich ge¬
schulten Leser würden sie genügen. Mir ist denn auch keine
Besprechung des Werkes Badrutt’s, der eben, wie er selbst
sagt, „als Laie und in eigener Sache“ schrieb, zu Gesichte
gekommen, die seinen Ausführungen zugestimmt hätte. Sellist
Schweizer Zeitungen haben sich ablehnend gegen sie ver¬
halten. In Dresden hat besonders Dr. Paul Schumann sie
gebührend abgefertigt. Dadurch, dass jemand ,,als Laie und
in eigener Sache“ eine Behauptung aufstellt, von der er oben¬
drein eigentlich das Gegenteil beweist, wird wahrlich keine
wissenschaftliche Streitfrage geschaffen. Wir haben uns also
zunächst vom Standpunkt der Quellenforschung aus dagegen
zu verwahren, dass es eine Streitfrage sei, oli Herrn Badrutt’s
Bild oder das durch Vasari beglauliigte Dresdener Bild das
Original Raphael’s sei. Auf Herrn Badrutt’s Frage aber, wie
Raphael in seiner reifsten Zeit darauf gekommen sein solle,
gerade für die Mönche von Piacenza ein eigenhändiges Ge¬
mälde auszuführen, haben Crowe und Cavalcaselle schon im
voraus mit der ansprechenden Vermutung geantwortet, dass
der römische Kirchenfürst Antonio de’Monti, der den Titel
eines Kardinals von San Sisto führte, der Vermittler zwischen
den Mönchen von San Sisto und R.aphael gewesen sei. Nun
könnte noch jemand einwenden, dass die Stilkritik, iRe auf
KLEINE MITTEILUNGEN.
47
dem lebendigen Augenschein Ijenilit, unter Umständen doch
stärker sei als alle papierenen Nachweise; er könnte fragen,
oh denn das Badrutt’sche Bild nicht eine künstlerische Ihind-
schrift zeige, die derjenigen Raphael’s so nahe stehe, dass es
trotz des Misslingens des litterarischen Nachweises als eine
Streitfrage bezeichnet werden müsse, welches der beiden
Bilder das echte sei. Hierauf ist zunächst zu antworten,
dass Herr Badrutt in seiner Schrift selbst zngesteht, dass
noch kein Kenner — und manche Kenner halten das Bild
in St. Moritz gesehen — sich für die Echtheit seines Bildes
ausgesprochen habe. Ich kann hiuznfügen, dass eine Reihe
namhafter Kenner, die das Bild gesehen, mir mitgeteilt
haben oder durch andere haben mitteilen lassen , dass das
Badrutt’sche Bild sicher nur eine mällige alte Kopie sei.
Von der Madonna des Dresdner Originals (Phot, von Braun.)
Photograpliieen, unter denen sich eine betindet, die von dem
Badrutt’scheu Bilde vor dessen Herstellung durch den Restau¬
rator Sesar in Augsburg anfgenommen , ergiebt sich aber
auch bereits schlagend ein äußerer vollgültiger Beweis dafür,
dass das Dresdener Bild das Original, das Engailiuer die
Kojtie ist. Schon Ibiul ychumann und Ernst Neuling haben
in der ,,Magileburgischen Zeitung“ und in der „Weser-Zeitung“
auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Bekanntlich war
der oberste Teil des Dresdener Bildes früher umgesclila.geu
worden, so da-ss die Stange, au der die gemalten Vorhänge
hängen, die das Bild vorn abschließen, nicht sichtbar war;
und bekanntlich fehlt dementsprechend die Stange auch den
älteren Stichen, die angefertigt worden, ehe das umgeschlagene
Stück, ilas dem Motiv der Vorhänge eist Halt und Natfir-
Vou der Madomia der Badrutt’scheu Koiiie. (Phot, von Braun.
Ich selbst hatte noch keine Gelegenheit, das Bild zu sehen.
Man braucht aber, wie ich schon 1894 in der „Kunst für
Alle“ bemerkt habe, nur die lieiden Braun’schen Bhoto-
graphieen des Dresdener und des St. Moritzer Bihles neljen-
einander zu halten, um sich von dem gewaltigen Unter¬
schiede der beiden Gemälde in Bezug auf die Reinheit,
Unmittelbarkeit und Frische der Formenspraclie, die Leichtig¬
keit und Flüssigkeit der Pinselführung, die Tiefe, Wahrheit
und Fülle des Ausdruckes zu überzeugen. Die siegreiche
Hoheit des Ausdruckes, die Raphael’s Bild in Dresden zeigt,
hat noch kein Kopist zu erreichen vermocht. Derartige
Unterschiede sind schon in guten Photograpliieen erkennbar;
und schon die Braun’schen Photographieen lassen keinen
Zweifel daran, dass das Badrutt’sche Bild nur eine alte
Kopie ist. Nur aus der Betrachtung der uns vorliegenden
lichkeit giebt, in Dresden wieder hervorgeholt wurde. Nun,
dem Badrutt’schen Bilde fehlte, wie die Pliotographie deut¬
lich erkennen lässt, vor der Sesar’scheu Restauration die
Stange der Vorhänge; und Herr Sesar hat in einer Zuschrift
an Herrn Ernst Neuling in Bremen, wie dieser mitteilt
(Weserzeitung vom 29. November 1895), selbst zugegeben,
dass er die fehlende Stange nach dem Dresdener Bilde er¬
gänzt habe. Der Beweis ist in der That schlagend. Einem
Meister wie Raphael konnte es nicht in den Sinn kommen,
die Vorhänge in die leere Luft zu hängen. Von den Koi>isten
hat aber keiner gewagt, die vermeintliche Darstellung
Raphael’s zu ergänzen. ,,Für die Kritik“, fügt Neiding liinzu,
„ist die Sache damit erledigt“. Kurz, von einer ganzen
Reihe von Erwägungen genügt jede einzelne zu dem Be¬
weise, dass Herrn Badrutt’s Bild das Original nicht sein
KLEINE MITTEILUNGEN.
-JS
L'uun. 'Wenn da.? Biid jet/.t, wie es scheint, eine Ausstellungs-
u-i.-e diin-.li Deutschland antreten soll, so muss man freilich
daraut gefasst sein, noch allerlei Unkritisches darülier zu
h-sen zu hekommen. Es wäre sogar auffallend, wenn sich
keine Laienfeder zur ^'erteidiguno• des Ihidrutt’schen Bildes
rüliren sollte. Dass aber namhafte Kenner sich gegen die
Onginalität der Dresdener Äladonna anssprechen sollten,
muss nach allem, was gesagt worden, von vornherein als
atisgcschlos.sen gelten; und, auch vom stilkiitischen Stand¬
punkte ans lietrachtet, würde das Bestehen einer Streitfrage
nur anerkannt werden können, wenn iierufene und namhafte
Kenner die Sacht' iles Herrn Ba.drutt zu der ihren machten.
Bei ilieser Sachlage würde eine längere ött'entliche Ausstellung
Leider BiLler ncLeneinander, wie Herr Badrutt sie ,,verhingt“,
in ihtr That ,,eine Komödie“ sein. Die Si.xtinische Madonna
ist dazu ila, in stiller Andacht genossen zu werden, nicht
alter in einen künstlich erregten ,, Streit“ hineingezogen zu
werden, dt'r idierluiupt nur in der Kinhihlung einiger Laien
Itesteht. Von ilen zahlreichen Meisterwerken der Dres¬
dener thderie gfeLt es alte Kopieen, Wohin sollte es führen,
wenn ilen Eigentümern aller dieser Kopieen gestattet würde,
ihre Bihler nehen den Originalen ausznstellen V Etwas
anderes wäre es, wenn ein solcher Kopieenbesitzer, um seinen
Zweifel zu zerstreuen, nur den Wunsch ausspräche, sein Bild
in Oegenwart einiger Kenner kiu'ze Zeit neben das Onginal
halten zu dürfen. Man würde sich dem Vorwurf der Eng¬
herzigkeit oder der Furcht aussetzen, wenn man eine solche
NeVieneinanderstcllung verhindern wollte. Eine Stunde würde
vollkommen genügen, eine kritische Vergleichung zu ermög¬
lichen. ln diesem Sinne ist Herr Badrutt schon im Jahre
1892 beschieden worden; und diese Frage brauchte hier nicht
beridirt zu werden, wenn Herr Badrutt nicht schon in seiner
grollen Schrift über diesen Bescheid Beschwerde geführt hätte
und ihm idcht jüngst in dem bekannten Londoner Blatt
,,'1'ruth“ ein Eideshelfer für diese Beschwerde erstanden wäre.
Kein einsichtiger und aufrichtiger Kunstfreund aber wird
sich dem „ Verla, ngen“ Herrn Badrutt’s, eine Volksabstininumg
in dieser Angelegenheit herlmigeführt zu sehen, ansc.hließen.
Es wäre, wie wenn ein Laie behaujitete, nicht die Erde em-
pfa.nge ihr Licht von der Sonne, sondern die Sonne von der
Erde, und alsdann über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit
dieser Behauptung eine allgemeine Laienabstimmung ver¬
langte. (Ans dem Dresdener Journal.)
KAHL WOEUMANN.
ZU LJl'jN RADIRUNGEN.
" Die Kopiin ron Leopold Carl 'Müller, die wir in
Radirnng diesem Hefte l'eigeben, ist eine jener typischen
Frauengestalten aus dem Nillande, wie sie der allzu früh
verstorbene Wiener Orientmaler so künstlerisch reizvoll und
zugleich mit so überzeugender Naturwahrheit zu schildern
verstand. In Wirklichkeit ein schlichtes Weil' aas dem Volk,
und doch ein Lh'bild jener monumentalen Gattung, die zu
den Sphinxen der alten Ägypter Modell gestanden hat. Um
das bräunliche Gesicht ist ein weißes Kopftuch gehüllt;
darüber liegt ein ebenfalls lichter, etwas ins Gelbliche
spielender Umhang. Eine graue. Mauer bildet den Hinter-
ginnd. — Der geschickte Ra.direr des Blattes, Alfred Coss-
maun, geboren in Graz am 2. Oktol'er 1870, hat eine sorg¬
fältige künstlerische Bildung genossen. Nachdem er in
seiner \aterstadt die Rt'alschide besucht hatte, trat er 1880
in die Kunstgewerbeschnle des k. k. österreichischen Museums
ein, emjifing dort den Unterricht der Professoren Minigerode,
Hrachowiua, Macht und Karger, und erklärte sich schlie߬
lich (1893) für das Fach der Radirkunst, in welcher W. Unger
sein Meister wurde. Cossmann hat verschiedene gelungene
Reproduktionen und auch einige Originalradirungen („Be¬
lauschte“, „Brautwerbung“, Selbstporträt) angefertigt und
bewährte sich bei festlichen Gelegenheiten wiederholt als ebenso
erfinderischer Zeichner wie simdger Poet.
Die Flügelbilder des Triplijelions vom Sündenfall von
Liida'ig Deitmann sind wir nuseren Lesern noch schuldig.
Das Mittelstück erschien mit der Studie von Alfr. Gotth.
Meyer im 11. Heft des vorigen Jahrganges, von Fritx, Kroste-
■iritx, radirt; es stellt in rea,listischer Weise die Erfüllung des
alten Fluchs ilar, der auf den Sündenfall folgte; ,,lm Schweiße
deines Angesichts sollst dn dein Brot essen, bis dass du
wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist“, ln den
Seitenbildern ist die Überwindung der Sündenschuld und
die Erlösung von dem Fluche durch den Gottessohn alle¬
gorisch dargestellt.
Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
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E. Schultze-Naümburg. Am Klavier.
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
MIT ABBILDUNGEN.
S ändert sich mit den Jahren nicht allein
das Bild der Ansstelluugen, sondern auch
die Art der Kunsthesprechung-. Noch
zu Anfang der 90er Jahre wurde der
ruhigste Beobachter, der nur Chronist
sein wollte, wider Willen hineingezogen
in die Kampfesstimniung, die in den Lagern der Jungen
und der Alten herrschte, und es gab keinen, der seinem
Vorsatz, neutral zu sein, ganz getreu geblieben wäre.
Eine Fülle von neuen ungewohnten Erscheinungen trat
auf, die zur Parteinahme reizten, und je grotesker sich
die einen gebärdeten, desto lauter riefen die andern die
alten Götter an. Aber nicht allein die Presse war es,
die sich in der Weise, beteiligte, sondern auch dem
Publikum machte die Sache Spaß. Welches Ereignis war
damals in München der Eröffnungstag im Glaspalast!
Keiner, der auf guten Ton hielt und dort nicht in den
ersten Tagen seine Karte abgegeben hätte. Und welche
Kontroversen knüpften sich an die Besuche; die Familien
und Stammgäste im Cafe schieden sich mit pro und
contra in zwei Parteien, der „Spottvogel“ war das Er¬
eignis des Tages.
I.
Wie still ist es dagegen heut geworden! Zu Ende
ist der große Jahrmarkt, auf dem mau sich so gut amü-
sirte, die große Variete ist zum Tempel hinausgejagt, —
was soll mau noch in den Ausstellungen? Sie sind
langweilig geworden. Losgelöst hat sich die Kunst
von dem, was ästhetisch Unerzogenen Interesse bieten
konnte; da prangen keine bunten Panoramen mehr, auf
denen die Hetäre als Kypris dem Meere entsteigt und
hundert schöne Atheuerinneu ihre verführerische Nackt¬
heit preisgehen, keine gruseligen Greuelscenen, kein
„Historienbild“ mit der verwesten Leiche der Königin,
der die Höflinge huldigen müssen, keine bluttriefenden
Gladiatoren mehr, keine Odalisken, die umgebracht werden,
— nicht einmal mehr die famose Species der „modernen
Bilder“ giebt es nocli, auf denen die faustdicke Farbe
reliefartig aufgetragen war und deren unsagbar blöde Ge¬
stalten zur Zielscheibe von guten und schlechten Witzen
dienen konnten; nur in den Fliegenden Blättern spuken die
noch, aber ganz ohne Grund, Also was soll man noch
in den Ausstellungen? Sie werden ohne Aufsehen er¬
öffnet, kaum noch honoris causa bekümmert man sich
um sie und nur der Künstler und Kunstfreund sieht
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 3.
7
50
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
iliiieu mit der alten Spannung entgegen. Oder auch
diese uiclit?
Man sagt, die Leute seien ausstellungsmüde. Aller-
diims, ein gesunder Boden wird der Kunst durch jene
■\ eranstaltungen nicht bereitet, aber sie sind doch ein
Surrogat. Ich glaube, dass niemand bezweifelt, dass es
ein naturgemäßeres Verfahren wäre, wenn die Amateurs
die Werkstätten aufsuchten, die Kunsthändler ihren
Kamen mit Recht trügen, und bei ihnen die kleinen,
ganz intimen Ausstellungen stattfänden. Ganz gewiss
würden sich dabei Kunst und Künstler wuhler fühlen,
aber zu diesem Arrangement gehört auch der dritte
im Bunde, das Volk. Und da das seine Beteiligung
dankend ablehnt, die Plutokraten die Kunst für Luxus
halten, die sich nur die reichsten unter ihnen ge¬
statten dürfen, sucht diese den Weg der Selbsthilfe,
indem sie das Mittel der Neuzeit, die Reklame, benutzt
und sich dadurch aktuell zu machen sucht. Das alles
sahen die Schöpfer der Secession sehr gut ein und sie
suchten zu bessern, was zu bessern ist; die Ausstellungen
so zu arrang'iren, dass sie den größtmöglichen ästhe¬
tischen Genuss bereiteten. Aber Ausstellung bleibt Aus¬
stellung, und sie werden ewig den nur zu gerechten
\'orwurf mit den Museen teilen müssen, dass sie
Stapelplätze, aber keine lebendigen Pflanzstätten der
Kunst sind.
Ausstellungsmüde? Man ist in nicht höherem Grade
ausstellungsmüde, als man von jeher niuseumsmüde war.
Und das wird bleiben, so lange nicht ein besserer Modus
für den Verkehr zwischen Volk und Kunst gefunden
ist. x4ber trotzdem ist die Zahl der Esoteriker im
Steigen begriffen. Die Übung thut viel in allen Dingen,
auch in ästhetischen, und dass stets wachsende Kreise
sich dieser Übung unterziehen, ist ein Zeichen, das doch
zu gewissen Hoffnungen berechtigt. Die wenigen Kunst¬
freunde sind geübter als vor einem Jaln’zehut, nur kann
ihre geringe Zahl nicht den Boden bereiten, den die
Kunst braucht — und all die Pseudo-Amateurs, die uns
eines Tages zu erwachsen schienen, sind spurlos von
der Oberfläche verschwunden; man kümmert sich heute
soviel um vSecession und Glaspalast, wie man sich in
zwei Jahi'eii um den letzten Zarenbesuch in Deutschland
kümmern wird. Das sind Interessen von ehemals, die
für das Heute gar keine Rolle mehr spielen.
Und ähnlich, wie’s dem Volke geht, geht’s auch der
Kritik. Die Menge der Tagesblätter führen aus alter
Redaktiousgewohnheit die Rubrik der Kunstkritik weiter,
ihren Mitarbeitern wird es alier immer schwerer, ein
einfaches pro oder contra zu ergreifen; — zu einem,
wenn auch ganz mittelmäßigen Kampfljild Stellung zu
nehmen, ist nicht schwer, — den roten Faden der Ent¬
wicklung zu finden, gelingt ihnen nicht und so werflen
sie immer verwirrter. Das Publikum liest’s ja übrigens
doch nicht. Und doch, gerade so, wie der ungesunde
Modus der Ausstellungen, der als Ausweg übrig bleibt,
zunimmt, mehren sich die Kunstbesprechungen, die ja
im Grunde nur ein gleicher Ausweg, kein gesunder
Zustand sind. Und ähnlich, wie die Ausstellungen durch
die Secession bis auf den möglichen Grad reorganisirt
worden, scheint eine Reorganisation in die Kunst¬
besprechung der vornehmeren Blätter einzml ringen, die
dem hellen Licht einiger zündender Geistei' zuzuschreiben,
die man heute aus lauter Dankbarkeit verlästert. Hun¬
derte von guten Interpreten sind entstanden, die heute
beredt auf unsere Kunst hinweisen, — können sie alle
zusammen das bereiten, was unserer Kunst fehlt, einen
gesunden Boden? Und wenn man da und dort gedruckt
liest: nur an einer guten, sachlichen Kritik liegt’s, so
halte ich das für Unsinn.
Das sind so im Allgemeinen die Empfindungen, die
man von den Besuchen der Ausstellungen mit sich nimmt.
Doch was hilft alles? Es wird weiter ausgestellt werden
müssen und wir wollen froh sein, wenn allmählich das,
was die Secession bei sich und bei andern Korporationen
erreichte, immer mehr zur allgemeinen Norm werden wird.
Auch dies Jahr ist der Eindruck der Secession kein
sehr verschiedener von dem des Vorjahres, weder was
In- noch was Ausland anbetrifft. Die großen Züge kehren
doch immer eine Zeitlang gleich wieder und nur kleine
Verschiebungen lassen sich konstatiren. Das allgemeine
Losungswort ist Ruhe, Ruhe. Man unterstreicht nicht
mehr so den Modernen, lernt wieder willig von den alten
Meistei'n, soweit sich das mit den selbständigen Ausdrucks¬
mitteln, die die Kampfzeit Iiervorgebracht, vereinigen
lässt. Worin diese bestehe)i, braucht man heute nicht noch
einmal zu beleuchten; wmr Ohren zum Hören gehabt hat,
weiß es. — Die Aufgaben sind nicht mehr einseitig
koloristische, das zeichnerische Element dringt als Re¬
aktion mehr und mehr in den Vordergrund, und mit ihm
eine stets wachsende Anteilnahme an den Gebilden der
Phantasie. Die skandalsüchtige Kunst des Plebejertums
ist vollkommen überwunden und alle, nicht nur die
Künstler ersten Ranges, wissen, dass die Kunst ihrem
Geiste nach vornehm ist. Es ist mir gänzlich unver¬
ständlich, wie Leute, denen die Wahrheit über den
Fanatismus geht, heute noch als das Charakteristische
in der Secession die krankhafte Sucht, mit Neuem und
Gesuchtem aufzufallen, sehen können, denn gerade die
einzelnen Ruhestörer bestätigen als Ausnahme die Regel.
Es ist zwar noch manches Gärende, etliches, was nicht
im Aufsteigen ist, da, aber die weitaus größte Mehrzahl
hat ehrliche Ziele. Der Ansatz zum Ausreifen ist all¬
gemein, — der Ansatz; denn die weiteren Bedingungen
dazu können sich nicht die Künstler schaffen; die warme
Sonne, in der sich die Trauben röten, — aber mit dem
Ansatz zur Reife haben auch die rapiden Fortschritte,
die allein das Wachstum bringt, aufgehört. Man muss
sich erst mit dem Neuen, was jetzt so reichlich gebracht
wird, ganz auseinander zu setzen haben.
Begleite man mich zum Beleg für das Gesagte auf
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
51
einen kurzen Ruinlgang dnrcli die Ansstellung. Beginnt
man seine Wanderung ini großen Hauptsaal, so hat man
beim Eintritt ein mittelgroßes, in starken, tiefen Farben
und teppichartiger Wirkung gehaltenes Bild zur Rechten:
Rachegöttinnen, die den Verbrecher zu Tode hetzen.
Es ist von Stuck, und bei ilim ist es kein Wunder, dass
es das Gegenteil von einer mühsam ersonnenen und
korrekt ausgeführten Allegorie ist, die man wohl leicht
versteht, die aber kühl lässt bis ans Herz hinan, sondern
den Eindruck einer mit mächtiger Faust niederge¬
schriebenen Vision macht. Das ist nicht die geringste
Ursache des fascinirendeu Reizes, den Stuck stets aus¬
übt, dass er wie heraus aus einer Naturgewalt, die alle
Fesseln sprengt, malt. Gerade das bildet den Zauber, dem
sich die wenigsten entziehen können. Stuck ist ein
Künstler, der ganz auf eigenen Füßen steht, nie ver¬
wendet er Typen, die er in der schon vorhandenen
Kunst findet, sondern das Leben bietet ihm die An¬
regung. Und wenn er auch außer seinen Porträts fast
nie unmittelbar ein Stück Natur wiedergiebt, so ist doch
ein jeder Strich von ihm mit Beobachtung gesättigt, die
er dann in seine Handschrift zwingt. Für alles findet
er wie von selbst den knappsten, oft direkt stilisirten
Ausdruck. Und das ist auch da der Fall, wo er direkt
vor dem Modell steht, wie bei dem entzückenden Pastell¬
kopf einer jungen Frau, der mit meisterhafter Einfach¬
heit hingeschrieben ist.
Links von Stuck hängt ein großes Werk Uhde’s.
Ein glücklicher Umstand bei Uhde’s neueren Arbeiten
scheint es mir zu sein, dass das Zusammenziehen der
christlichen Mythe mit unserer Zeit immer weniger auf¬
dringlich wird, dass er Bilder schafft, die gleich weit
von archaistischer Konstruktion wie von sklavischer Kopie
der Wirklichkeit entfernt sind, sondern in denen nur
noch das rein Menschliche zum Ausdruck kommt. Und
das tritt bei den allerdings oft unschönen Typen auf
der „Predigt am See“ so stark hervor, dass, wer an
ihnen Anstoß nehmen sollte, doch das seelische Leben,
das ihnen innewolnit, nicht leugnen kann. Und das
steht doch wohl höher als die rein formale Schönheit, die
meist billig zu erreichen ist. In noch höherem Grade
ist das bei den „Weisen aus dem Morgenlande“ der
Fall, die in Bezug auf harmonisclie und sympathische
Gesamtstimmung in Uhde’s Werk fast ganz unerreicht
dastehen. Dass Uhde stets ein ganzer Meister seines
Handwerks ist, das nur nebenbei.
Höckers „Ausklingender Tag“ ist eines von den
Kunstwerken, das die Richtung bezeichnet, wohin
der wesentliche Teil unserer Kunst heute steuert:
von der zuerst wirklichkeitsgetreuen, dann tiefer em¬
pfundenen Darstellung der Natur zum freien Gedicht
über dieselbe, in dem man nur noch die Seelenzustände,
die man in ihr durchlebt, festzuhalten sucht. Ähnlich
wie Herterich, der in seinem „Sommerabend“, weit
mehr als ein Genrebild, ein Liebespaar darstellend
giebt, sondern ungemein feine Stimmungen zu erwecken
weiß, die er zum größten Teil durch seine farbigen
Mittel erreicht. Herterich ist einer der größten Kolo¬
risten, die wir besitzen, wenn er auch, oder vielleicht
weil er jeden bunten Tönen aus dem Wege geht und
sein Ziel nur in der Verfeinerung der geringsten Kon¬
traste sieht. Das Prinzip, nach dem er malt, ist im
Grunde das der Pointillisten, nur mit dem Unterschied,
dass das, was bei diesen eine bis zur äußersten Konse¬
quenz durchgeführte Marotte war, hier rein künstlerisch
verwendet und abgeklärt erscheint, dass es der, der
nichts von malerischer Technik weiß, nicht bemerkt,
und er nur, wenn sein ästhetischer Sinn genug gebildet
ist, dass er auf solclie farbigen Reize reagirt, in Ver¬
wunderung über den seltsamen Schmelz und die Leucht¬
kraft der Farbe gerät, durch die das Bild im ganzen
Saal auffällt. Herterich erzielt das durch das stete
Nebeneinander der Komplementärfarben, die bis zu ge¬
wissem Grade unvermischt — doch unbemerkbar — neben¬
einander stehen und dem Bilde dieses farbige Leben ver¬
leihen. Samherger’s Porträts nehmen eine Wand für
sich in Anspruch. Samberger’s KiTiist wird oft mit der
Lenbach’s verglichen, wobei der erstere allerdings an
Schärfe der Beobachtung nachstehen muss, aber an
Größe des Stils Leidjach eher über ist. Allerdings
birgt sein Verfahren, nur die allerwesentlichsten Momente
des menschlichen Antlitzes zusammenzufassen und zu
vergrößern, so sehr es rein künstlerisch auch auzieht,
die Gefahr in sich, die jedes Abweichen von der Natur
mit sich bringt: eine Manierirtheit, die bei Samberger
zwar zumeist noch entzücken kann, manchmal aber schon
den Grad streift, wo sie den Genuss trübt. Und gerade
das Bildnis verlangt ja den engsten Anschluss au die
Natur. Ilahermann, der nervöse, in tausend Dingen
sich versuchende, stets unbefriedigte, wird mit einmal
klar, einfach und bedeutend, wenn er sich dem Porträt
zuwpudet. Sein Herrenbihlnis ist von ebenso wuch¬
tiger Kraft wie malerischem Reiz, welches beides auch
schon die 1875 entstandene, in der Farbe allerdings
noch ganz im braunen Ton befangene Studie eines
Mönches zeigt.
Wandert man so von Bild zu Bild, so wird man
noch auf gar viele interessante Persönlichkeiten stoßen.
Wie dort z. B. Dill, der in seinem Aquarell der Natur
thatsächlich ganz neue Reize abzugewiuneu weiß und
in dieser neuen Technik erst so recht sich selbst ge¬
funden zu haben scheint, worauf ich anlässlich seiner
Kollektion auf der Frühjahrsausstellung schon hinwies.
Volx weiß in seiner Grablegung die neuen Ausdrucks-
niittel in strenge Form zu bringen und seine Farbe dem
feinsinnig anzupassen. Volz war von jeher vorwiegend
Zeichner und hatte sich als solcher schon seinen Stil
gebildet, als die allgemeinen Ziele noch ganz auf die
Bewältigung des koloristischen Programms gerichtet
waren; jetzt treffen seine Bemühungen mit den zeit-
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
liehen ziisamiuen. J. Keller' s „Glück“ zeigt ihn auf
neuen Wegen. Er sucht hier die Idee des Glücks in
frei erfundenen Gestalten zu verkörpern; die Glücksfee,
welche ül)er Nacht kommt und jung und strahlend vor
dem Fenster erscheint, aus dem das Menschenpaar, welches
('rstaunt und als könnte es die Erscheinung nicht fassen,
In rausschaut.
Ein Bild, das sich die Gegner der Secession sehr
zu Nutze machen, ist Exter's Kreuzigung. Es ist tlieater-
haft aufgehauscht und zeigt nicht die schlichte Ehrlich¬
keit, die sonst den Werken der Modernen eigen. Zudem
ist es für das Bild nicht günstig, dass alle sofort an
die Stuck'sche Kreuzigung errinnert werden, gegen deren
monumentale Größe die Exter’sche schwächlich, ins Gro¬
teske verzerrt wirkt, so dass viele wohl die großen
malerischen Schönheiten, die trotz alledem darin sind,
übersehen. Denn das darf man nicht vergessen, dass
Exter, wenn er will, d. h. wenn er das malte, was ihm
liegt und sicli dabeiMühe giebt, ganz Hervorragendes leisten
könnte, da er eins der vielversprechendsten Talente ist,
die die Jüngeren überhaupt besitzen, ln dem kleinen
Bilde Adam und Eva giebt er eine bessere Prol)e da¬
von, wessen er fähig ist, als in dem so ungeheuer prä¬
tentiös auftretenden Monumentalgemälde.
Ich habe nun noch eine große Anzahl von aus¬
gezeichneten und guten Werken zu nennen, die auf
geradem Wege auf ihr Ziel, mag es hölier oder niederer
gesteckt sein, losgehen. Da sind noch viele Porträtisten,
die malen können und genug psychologischen Blick
haben, um mehr zu geben, als das Animalische. Frhr,
Balmcr, Kurowsld gehören zu den besten, Borckanlt’s
Studienkopf ist eine Leistung von seltener malerischer
Verve. Hervorragend sind auch die Arbeiten des Deutsch-
Engländers Smiter. Von den übrigen Figurennialern fallen
am meisten auf: Georgi, der eine Nymphe im abendlichen
Walde von einem Faun belauschen lässt, Bulx mit seiner
„Vanitas“, die er durch eine liegende, nackte Frauen¬
gestalt verkörpert, Slcvogt, dessen Totentanz vielleicht
zu den unfertigsten und deshallj meist angegriffenen,
aber auch zu den allerinteressantesten Arbeiten gehört.
Slevogt's Kunst ist rassig, und deshalb kann sie nur
Freunde oder Feinde haben, nie aber kalt lassen. Hass,
Zivnifsclicr, Ilierl-Deronco, IVislicenus, Ungcr, Eichlcr,
Jauß, Jank — das sind alles Namen, denen man nur
mit eingehenden Besprechungen gerecht werden kann
und die diese auch vollkommen rechtfertigten. Von den
Landschaften, die stets nicht die kleinste Aufmerksam¬
keit auf sich zogen, sind es diesmal besonders Kalkreuth,
dessen Garten nach dem Gewitter mit dem Regenbogen
die Pinakothek erwarb, Kuehl, der einzelne kleinere
aber süperbe Impressionen aus Elliflorenz sandte,
BicvicrschmkU mit seinem „Garten des Paradieses“, der
zusammen mit seinem Rahmen eine geschmackvolle Deko¬
ration bildet, KcUer-IicutUngen , von dem unser Heft
ebenfalls eine kleine Probe enthält. Bücklin zählt zu
den Klassikern; außer einer Skizze zu seiner „Meeres¬
brandung“ finden wir noch die gleichfalls hier repro-
duzirte „Nacht“. Thoma’s Wasserfälle bei Tivoli,
Bartels' virtuose Marinen, Zumlmsclis feinsinniges Bild
„Einsames Land“, rocizclherger’slMiek. über ein badisches
Thal, B. Becker’s Abendlandschaft — das sind eine
Reihe von Namen, die mir aus der Fülle aufs Gerate¬
wohl einfallen, ohne diese damit auch nur annäliernd
vollzählig genannt haben zu wollen.
P. AV. Keller -Eeuti.ingen. Bei Bniok.
i^i
GiOV. Segantini. Liebespaar.
54
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
Was das Ausland aubetrifft, so bietet es viel Iiiter-
:',ssaiites, einiges Ausgezeichnete, doch ist das Ansgestellte
nicht im stände, ein eigentliches Bild von dem Knnstleben
der einzelnen Länder zn geben. So vorzüglich z. B. die
einzelnen Schotten auch sind, so hat sich doch mit der¬
zeit — Dank den guten Verkanfscliancen ])ei uns — zn
viel Ware eingeschranggelt, was allerdings wettgemacht
wird durch jene Künstler, die uns nun schon seit Jahren
als die eigentlichen Vertreter der schottischen Kunst
galten. So sind Larerij und Guthrie durch Porti'äts
vertreten, denen wir in ihrer schlichten Vornehmheit
und diesem meisterhaf¬
ten Können kaum eines
zur Seite setzen dürfen,
wie auch einzelne, dies¬
mal aber eben nur ver¬
einzelte Landschaften,
wie die von Pater son,
Stevenson, Morton etc.,
die schottische Kunst
von ihrer besten Seite
zeigen. England ist im
Wesentlichen nur durch
Brauffir/jn und IJer-
homer repräsentirt; der
erstere zeigt sich durcli
sein farl)enfreudiges
Werk (orientalische
Mutter), dessen Tone
in seiner bekannten
breiten Manier einge¬
setzt sind, von seiner
besten Seite, während
man bei den holien An-
si)rüchen, die man doch
an einen Herkomer stel¬
len muss, im besten
Falle von Stillstand
reden kann. Man denkt
vor seinen neueren Ar¬
beiten, dass er manch¬
mal in dem Bestreben,
es seinem Publikum
recht zu machen, etwas zu weit geht. Die Franzosen,
die sich zumeist erst nach Schluss der Salons ein¬
gestellt, haben wenig gebracht, was die Reise nach
Deutschland rechtfertigt, — ■ das Beste davon ist von
Ausländem, wie die drei lierrlichen Bilder von Thauloiv,
der wohl zu den feinsten aller existirenden Land¬
schafter zu zählen ist, das wundervoll zarte Damen¬
porträt von Gandara oder die originellen Arbeiten
gleichen Genres von dem Amerikaner Alexander. Das
Beste, was von Franzosen seiht kam, ist wohl das ganz
herrliche Damenporträt Garriere’s, dessen weiche Manier,
die alles wie durch einen Schleier sehen lässt und von
der wir schon verschiedene schöne Proben in Deutsch¬
land sahen, ihm hier zu einer Meisterleistung gedient
hat. Blanche ist als ein raffinirt geschmackvoller Por¬
trätist noch zu nennen, der sicli zumeist junge Mädchen
und Franen zum Motiv wählt und bei ihrer Darstellung
eine eigentümlich sensible Grazie entwickelt.
Holland, das kleine Holland, scheint über eine Legion
guter Bilder zu verfügen; überall ist es gleich gut und
gleich zahlreich vertreten, und Belgien assistirt ihm dabei.
Schon seit Jahren ist das in allen Berichten überall
gern bestätigt woi'den, und gewöhnlich hieß dann der
Nachsatz; ein wenig
langweilig sind sie doch.
Auch ich brauche den
holländischen Saal nicht
näher zu beschreiljen,
es genügt, wenn ich
das nenne, was aus dem
gewohnten Rahmen des¬
selben herausfällt: des
Mystikers Khno iV/'sel t-
sam weltentrückte Ge¬
sichte, die man, oline
sehr weitschweiüg zu
werden , schwer be¬
schreiben kann; außer
seinen zarten Figuren¬
bildern hat er diesmal
noch eine ebenso zarte
Landschaft — ein stilles
Wasser — gesandt, die,
trotz ihrer einfachen
Ungesuchtheit, durch
ihre Ruhe etwas so
Fascinirendes hat, dass
mau sich ihrem Zauber
lücht entziehen kann.
Sehr auffallend ist das
große oder besser ge¬
sagt ungeheuer lange
Bild von Leon Frcderic
„die Lebensalter der
Bauern“, in dem trotz
seines an Starrköpfigkeit grenzenden, erbarmungslosen
Naturalismus der, welcher die spätere Entwicklung
Frederie’s kennt, schon den Ansatz zu dieser zu bemerken
glaubt; denn in dem selbstlosen Aufgehen in der Natur
liegt schon etwas von der tiefen, mystischen Versenkung
in dieselbe, wie sie neue Bilder von Frederic zeigten.
Italien hat diesmal einiges recht Gute zur Se¬
cession beigesteuert. Hinter der eleganten Routine, die
fast allen Italienern angeboren scheint, steckt diesmal
doch ein gut Teil mehr Ernst als bei den Arbeiten,
die sie sonst für Deutschland übrig zu haben belieben.
Tito, Bezzi, Zezzos, das sind Maler, die ihr Handwerk
V. Vallgren. Asclieuurne.
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
55
prächtig beherrschen und, wenn auch nicht tiefe, so doch
wertvolle und anmutige Werke schaffen. Etwas Tän-
telndes haftet ihnen aber stets an, und der einzige, der
davon ganz, aber auch ganz frei ist, ist Segantini, eine
imposante Erscheinung in der modernen Malerei, der
sich in seinen Werken, die sclion in der Friihjahrsaus-
stellung aufgestellt waren, sicherlich als der selbständigste,
vielleicht größte italienische Meister unter den Lebenden
zeigt, so weit wir das in Deutscliland zu beurteilen
vermögen.
Andree’s und Nansen’s Landsleute sind nur ganz
vereinzelt vertreten, aber das Wenige, was sie senden,
ist gut, ja ausgezeichnet. Sie verstehen es Respekt
einzuflößen, diese Skandinavier; sie können malen und
gehen jeder Konvention in weitem Bogen aus dem
Wege. Zorn’s Selbstbildnis bildet dafür den besten
Beleg; wenn man von demselben spricht, kommt einem
unwillkürlich das sonst nicht geivade schöne Wort
schneidig in die Feder. Ich glaube nicht, dass das Bild
entstanden ist in der Absicht, ein Bildnis im eigent¬
lichsten Sinne zu malen; Zorn blickte in den Spiegel,
sah da ein Stück Natur, von dem er selbst ein Stück
bildete, und malte das mit seinem verblüffend sicheren
Können rascli lierunter und zw'ai' so ehrlich und wahr,
wie das jeder rechte Maler timt. Und da bei dieser
Studie ein schönes Stückchen Malerei entstand, steckte
er’s in einen Rahmen und schickte es in den Salon, und wir
danken ihm dafür. Liljefors, der die moderne Kunst um
ein Kapitel erweiterte, die Jagdmalerei, hat ein kleineres
Bild, Nest mit jungen Falken, gescliickt, das gleichermaßen
das Entzücken der Tierfreunde wie der Künstler bildet.
Larsson ist mit einem groß und eigenartig komponirten
Kain und Abel vertreten. — Audi ein paar Russen haben
sich eingestellt, die sich als solide und ehrliche Natura¬
listen vorstellen.
Es ist dies die letzte Ausstellung im Bau an der
Prinzregentenstraße. Es ’W’ar die Burg, in die sich die
neue Kunst in Deutschland verschanzte und von der
aus sie sich dasselbe eroberte. Mit dem Zugeständnis
alles dessen, was man vor vier Jahren forderte, öffnet
sich jetzt die Pforte, und die Secessiouisten können mit
gutem Gewissen sagen, dass sie Sieger geblieben sind
auf der ganzen Linie. Und doch wird es jedem ihrer
Freunde leid thun, iiire erste selbstgeschaflene Heim¬
stätte, die man allgemein als mustergültig anerkannte,
fallen zu sehen. Möge der Wunsch in Erfüllung gehen,
dass, sollte die Zeit kommen, in der die Vereinigung
als solche ilire Mission zu Ende geführt hätte, doch
stets ihr Geist, der in selbstlosem Ringen für ideale
Güter bestand, noch lange in der deutschen Künstler¬
schaft fortlelie, und dass man es jenen nie vergesse,
was sie dereinst gethan, als sie im Kampfe gegen alle
die erste Hocliburg der neuen deutschen Kunst ge¬
gründet! PAUL SCIIÜLTZE-NAUMBURG.
ALTARWERKE
IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
MIT ABBILDUNGEN.
ENN der Kunstentwicklung in den nörd¬
lichen Gegenden Deutschlands von Seiten
der Wissenschaft bisher nicht das gleiche
Interesse entgegengebracht worden ist,
dessen sich die Kunstgeschichte Süd¬
deutschlands seit lange erfreut, so hat
diese Thatsache ihren Gi'und in der ungleich geringeren
Zahl — ■ von gänzlichem Mangel kann nicht die Rede
sein — großer, wahrhaft schöpferischer Individualitäten
unter den niederdeutschen Künstlern. Einen Dürer und
Holbein, einen Peter Vischer hat Niedei'deutschland nicht
hervorgebracht und ein Tilman Riemenschneider hätte
es in seiner nördliclien Heimat schwerlich zu der Meister¬
schaft gebracht, die wir an seinen Werken nicht genug
bewundern können. Eine Wissenschaft also, die sich
lediglich den Zweck setzt, die Entwicklung der Kunst
von Stufe zu Stufe zu verfolgen, diese Entwicklung
gleichsam aus sich selbst heraus zu eiklären, eine solche
Wissenschaft mag über die mehr massenhaften als speciell
kunstgeschichtlicli bedeutsamen Hervorbringungen des
niederdeutschen Kunstsinnes immeiliin mit w'enigen
Worten, mit einer kurzen Erwähnung hinweggehen.
Einen nachhaltigen Einfluss auf die Kunstentwickluug
Alldeutschlands oder gar über Deutschlands Grenzen
hinaus auf die Entwicklung anderer Kunstgebiete haljen
die niedei’deutschen Meistei' und ihre Erzeugnisse selten
oder nie gewonnen. Und anstatt nur seinen eigenen
Eingebungen zu folgen und der Kunst seines Landes
eine selbständige Richtung zu geljen, hat selljst ein
Hans Brüggemann, W'ohl der einzige unter den älteren
niederdeutschen Künstlern, den wir auch in kleineren,
füi' die Hand des Laien liestimmten Kompendien der
Kunstgeschichte gelegentlich etwas ausführlicher behan¬
delt linden, bei seinem großen Zeitgenossen Albrecht
56
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPATEREN MITTELALTER.
Dürer kleine Aiilelieii zu maelieu sicli niclit entsclilagen
können.
Sobald mau aber die Knnstgescbicbte unter einem
liülieren Gesiditspunkte betrachtet, sie als einen der
wesentliclisten und wichtigsten Abschnitte der Kultur-
gescliicbte auftasst, gewinnen auch die Erzeugnisse der
uiedej'deutscheu Kunst, insbesondere des Mittelalters, eine
erhöhte Bedeutung. Wo es sich darum handelt, festzu¬
stellen, wie das geistige Leben in den verschiedenen
Gegenden unseres \haterlandes beschaften war, welche
Unterschiede in den Äußerungen dieses Lebens zwischen
dem Norden und Süden, dem (tsten und Westen bestanden
und durch welche Verhältnisse geograiihischer, politischer
oder wirtschaftlicher Art diese Unterschiede wiederum
bedingt wurden, — und auf ein Ei'kennen alles dessen
zielt iloch die historische Wissenschaft im letzten Grunde
ab — da wii’d man auch eingehender Forschungen und
genauer Kenntnisse über die Kunst des ganzen nörd¬
lichen und östlichen 1 )entschlands nicht entraten können.
Weiß doch zudem jeder, der Norddentschlaud, seine
stattlichen alten Bauten und Kirchenschätze, den Eeich-
tum der wohlhabenderen, niederdeutschen Landbevölke¬
rung an prächtig geschnitzten Truhen und Schränken
und an allerlei Prunkgerät auch nur oberllächlich kennt,
zur Genüge, einen wie wesentlichen Faktoi' im geistigen
Lelien das Kunstemptinden auch hier zu allen Zeiten ge¬
bildet hat.
Zwar ist das Gesagte keineswegs so zu verstehen,
als ol) auf dem Gebiet der niederdeutschen Kunstforschung
bisher so gut wie nichts gearbeitet worden sei. Köln
z. B., das mit dem deutschen Niederrhein und Westfalen
zusammen eine vom übrigen Niederdentschland zu son¬
dernde Stilprovinz bildet, hat von Anfang an so gut
wie die süddeutschen Schulen Sitz und Stimme in der
deutschen Kunstgeschichte gehal)t und viel für Ver¬
breitung und Erweiterung der Kenntnis seiner Denk¬
mäler gethan, und in gleichem Sinne ist neuerdings auch
die Forschung über Ijübecker Kunst — ich erinnere
namentlich au die Veröffentlichungen von Milde und
Deecke, sowie an Adolph Goldschmidt’s „Lübecker Malerei
und Plastik bis 1530“ — emsig thätig gewesen; freilich
nicht mit ganz dem gleichen Erfolge: ein Niederschlag
dieser Forschungen in umfassenderen Darstellungen der
Kunstgeschichte ist bisher nur mangelhaft erfolgt. Noch
weniger hat die allgemeinere Kunstbetrachtung bis zur
Stunde von der reichen Fülle archivalischen und künst¬
lerischen Materiales Notiz genommen, welche sich in den
teilweise bereits zum Abschluss gelangten luventaren
sämtlicher Kunstdenkmäler, in den Veröffentlichungen
der norddeutschen Kunstmuseen und der zahlreichen
historischen Lokalvereine aufgehäuft findet. Hier nun
ist es vielfach der Mangel an guten Abbildungen, der
einer allgemeineren und gerechten Würdigung des nieder¬
deutschen Kunstschaffens hinderlich gewesen ist. Nur
die Architektur bildet in dieser Beziehung eine Aus¬
nahme und sie kann sich demzufolge auch über Ver¬
nachlässigung von Seiten der großen Forschung noch
am wenigsten beklagen. Für die Werke der Malerei
und Plastik aber geben zwar die luventare einen will¬
kommenen Überblick über den Reichtum des noch Vor¬
handenen — ein Iteglückendes Genießen des Schönen,
ein liebevolles Versenken in das Studium der darge¬
stellten Kunstwerke ist indessen bei dem kleinen Ma߬
stab der R.epi'oduktionen in der Regel nicht möglich,
und so sind derartige Abbildungen zumeist nur dazu
geeignet, uns noch begieriger zu machen nach mehr,
nach Tafelwerken gi'oßen Stiles auch für die nieder¬
deutsche Kunst, wozu mit der Berücksichtigung, welche
ihre Denkmäler etwa in den Publikationen von Müuzen-
berger gefunden haben oder mit einer Anzahl Mono-
graphieen, welche insbesondere die letzten .fahre gezeitigt
haben, doch nur erst ein Anfang gemacht ist. Gerade
solche mit trefflichen Reproduktionen ausgestatteten,
streng wissenschaftlichen Einzeldarstellungen, wie das
bereits oben citirte Buch von Gcddschmidt, die Arbeiten
Engelhard’s insbesondere über Hans Eaphon, das präch¬
tige Werk von Konrad Lange und P. Schwenke über
die Silbei'bibliothek des Herzogs Albrecht von Preußen
u. a. m., haben zugleich auf das schlagendste dargethan,
zu wie bedeutsamen Resultaten auch auf dem Geldete
der specielleren Kunstgeschichte eine emsige und exakte
Forschung hier führen kann, wie manche Fehler und
vorgefasste Meinungen es hier noch zu berichtigen giebt.
Einen ansehnlichen Schritt weiter auf dieser Bahn
führt uns ein dänisches Werk, das auf Veranlassung
des dänischen Ministeriums für Kirchen- und Unterrichts¬
wesen im vorigen Jahre zu Kopenhagen erschienen ist. *)
Die neue Pufilikation umfasst, im Ganzen 27 Altarwerke,
die mit ihren einzelnen Teilen in 71 vorzüglichen, teil¬
weise auch zur Behandlung stilkritischer Fragen vollauf
genügenden Lichtdrucktafeln in Folio wiedergegeben sind.
Den ersten Anlass zu dieser Veröffentlichung hatte, wie
in der Einleitung näher ausgeführt wird, die Restau¬
ration von Claus Bcrg's berühmtem Schuitzaltar und
seine Überführung aus der Frauenkirche zu Odense in
die dortige St. Knudskirche im Jahre 1885 gegeben.
Bei dieser Gelegenheit waren von dem Altar gleich die
nötigen photographischen Aufnahmen zur Vervielfältigung
durch den Lichtdruck gemacht worden. „Man wünschte
nämlich, das seltene Kunstwerk auf diese Weise in
weiteren Kreisen bekannt zu machen, auch über die
Grenzen Dänemarks hinaus.“ Weiterhin schlossen sich
an diesen Altar, Hand in Hand gehend mit den in den
folgenden .Jahren vorgenommenen Restauriruugsarbeiten,
1) Altertavler i Danmark fra den senere Middelalder.
Udgivne paa Foranstaltning af Ministeriet for Kirke-og
linder visningsvaeseiiet. LXXl Tavler i Lystryk udforte af
Pacht & Grone, Tekst af Francis Beckett. Avec un resumö
en fra,n9.ais. Kjobenbavn. Trykt hos J. Jorgensen & Co.
(M. A. Hannover), 1895.
^Iilti;ltul'i:l ili;s ( •ilriisri' Alliu's.
Zeitscbi'il't liir bildende Kunst. N. F. VIII. II
8
58
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
Aufnahmen des Altarwerkes in der Söndresogn- Kirche
zu Vihorg und von Bernt Xoikes Werk im Aarhuser
Dom an. Damit war die Zahl der Tafeln bereits auf
33 gestiegen und es lag nunmehr der Gedanke nahe,
die Publikation überhaupt zu einem Sammelwerk der
hervorragendsten unter den in dänischen Kirchen er-
halten gebliebenen Altäre des Mittelalters und des
frühen 16. Jahrhunderts zu gestalten. Die Auswahl,
die bei den unzulänglichen Mitteln zur Kenntnis der
dänischen Kunstwerke keine leichte war, besorgte Mu¬
seumsdirektor Dr. H. Pedersen in Gemeinschaft mit dem
Architekten 0. V. Koch. Iler Text zu dem Weike
stammt aus der Feder des dänischen Kunsthistorikers
Francis ßeckett, der inzwischen auch selbst in der
Tidsskrift for Kunstindustri (1896, zweites Heft, S. 53 ff.)
über dasselbe berichtet und die Resultate seiner Unter¬
suchungen kurz mitgeteilt hat.
Wenden wir uns zur Betrachtung des Inhalts, so
werden wir am besten zu Ausgangspunkten die vorer¬
wähnten drei Altäre nehmen, deren Wiedergalte und
kunsthistorische Würdigung den eigentlichen Kern der
gegenwärtigen Veröffentlichung bildet. »Sie lehren uns
auch gleich, dass wir es hier nur zum kleinsten Teil
mit IVerken einer national-dänischen Kunst zu thun haben,
denn Claus Berg und Bernt Notke waren geborene Lü¬
becker und der i41tar in der Söndresogn -Kirche zu
Viborg, bisher häufig als eine Arbeit Brüggemann’s an¬
gesprochen, stammt aus einem Autwerpener Atelier.
Ebenso wird sich aus einer Betrachtung der übrigen
Tafeln des Werkes ergeben, wie berechtigt wir waren,
dieses in erster Linie im Interesse der niederdeutschen
Kunstforschung mit Freude zu begrüßen. Dänemark
ist zu allen Zeiten arm an heimischer Kunstübung und
tief im eigenen Volke wurzelnden, großen Künstlern ge¬
wesen, und auch das 15. und 16. .Jahrhundert hat in dieser
Beziehung keine Ausnahme gemacht. Man könnte das
Land darin etwa mit Portugal vergleichen, das in der
Kunstgeschichte der romanischen Völker eine ähnliche
Stellung einuimmt, wie Dänemark unter den germanischen
Nationen.
Andererseits aber gehört gerade ein Meister wie
Claus Berg doch fast mehr der dänischen als der deut¬
schen Kunstgeschichte an. Nach deai Aufzeichnungen
seines gleichnamigen Enkels entstammte er einer Lü¬
becker Patrizierfamilie und soll früh namentlich im
Zeichnen sehr tüchtig gewesen sein. Dennoch hat sich
in den Lübecker Archiven bisher keine Nachricht über
ihn finden lassen, und auch von Arbeiten seiner Werk¬
statt auf deutschem Boden ist bisher nur ein Scluiitz-
altar in Wittstock, den Münzenberger Claus Berg zu¬
geschrieben hat, bekannt geworden. Wie es scheint
noch in jungen Jahren folgte er dann einem Rufe der
Königin Christine, der Gemahlin des dänischen Königs
Hans und Mutter des nachmaligen letzten „Unionskönigs“
Christian’s II., nach Odense, um für die dortige Franzis¬
kanerkirche jenen umfangreichen Schnitzaltar zu fertigen,
der erst beim Abbruch der Franziskanerkirche 1805 an
die Frauenkirche verkauft wurde. In Odense besaß
Claus Berg „ein von Grund auf gemauertes Haus“, das
er der besonderen Gnade seiner hohen Gönneriu ver¬
dankte, hier hat er sich verheiratet und wird er auch
wohl sein Leben beschlossen haben.
Von nicht geringer Bedeutung ist ferner die be¬
stimmte Mitteilung seines Enkels — man liest die Nach¬
richten, die er giebt, jetzt am besten, freilich in Über¬
setzung, liei Goldschmidt a. a. 0. S. 32 nach — dass
Claus Berg selbst an dem Odenser Altar nichts ge¬
arbeitet, sondern die Ausführung seiner Entwüi-fe den
Gesellen überlassen habe, die er wohl, dem Wunsche
der Königin entsprechend, zum größten Teil mit sich
aus Deutschland gebracht hatte und deren er für jenes
Haujitwerk zwölf in seiner Werkstatt beschäftigt haben
soll. Sie gingen in seidenen Kleidern, heißt es, und
die Königin Christine lohnte sie alle Monate. Claus
Berg also lieferte nur die Zeichnungen und überwachte
die Ausführung — ein Verfahren, das in den meisten
größeren Künstlerwerkstätten des ausgehenden Mittel-
altei's ähnlich geübt worden sein wird, wie es in den
Ateliers der Bildhauer meines Wissens auch heute noch
die Regel ist. Schon der Umstand, dass auch die Malerei
in reichem Maße zur Anwendung kommen sollte, musste
zumal bei dem bedeutenden Umfang des Altars — der¬
selbe ist bei geöffneten Elügeln etwa 6 m breit und mit
der Predella über 4 'I2 m hoch — eine ausgedehnte
Arbeitsteilung von vornherein ratsam erscheinen lassen.
Die Gemälde, welche die Außenseiten der Flügel
schmücken, sind ausnahmslos nur schlecht erhalten und
daher in die vorliegende Publikation nicht mit aufge-
nonimen worden. Dargestellt sind 16 Scenen aus der
Vorgeschichte und dem Leben Christi bis zum Beginn
seiner Passion. Diese Bilder stehen, nach dem Urteile
unseres dänischen Gewährsmannes, in naher Beziehung
zu Lül)ecker Arbeiten aus dem Beginn des 16. Jahr¬
hunderts unter dem Einfluß der italienisirenden Nieder¬
länder jener Zeit, weichen aber im Charakter von den
Holzschnitzereien der Innenseiten, des Mittelstückes sowie
der Predella ei'heblich ab. Wie 'W'eit sich in diesen etwa
die verschiedenen Individualitäten der ausführenden Ge¬
sellen unterscheiden lassen, ist von dem Verfasser des
Textes nicht untersucht worden und lässt sich auf Grund
der Abbildungen natürlich nicht mit Sicherheit entscheiden.
Allen gemeinsam und daher ohne Zweifel auf besondere
Rechnung der Eigenart Claus Berg’s zu setzen ist die
ungemeine, zuweilen ins Übertriebene gesteigerte Be¬
wegtheit der Gestalten und Scenen. Es pulsirt nament¬
lich in den sechzehn Passionsdarstellungen, die, eine
jede in zierlicher Umrahmung von Ast- und Rankenwerk
und Architekturteilen nach Art der Zopfgotik, auf den
Innenseiten der Flügel angeordnet sind, ein dramatisches
Leben, wie es uns in den plastischen Werken dieser
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
59
Zeit sonst nirgends in so leidenscliaftliclier Erregtlieit
entgegentritt. Die Gefangenneliinung Christi geht in
einer bis zur Unschönheit „wilden und tuniultuarischen
Scene“ vor sich und die Darstellungen der Verspottung,
der Geißelung, der Kreuzschleppung und Kreuzigung
können an gewaltiger, allerdings ausschließlich schreck¬
licher und abstoßender Wirkung schwerlich uherhoten
werden. Die Darstellung der Hoheit des für seinen
göttlichen Beruf leidenden Erlösers ist in diesen Scenen
entschieden über der Wiedergabe seiner Henker und
grausen Marter zu kurz gekommen; indessen streift diese
Wiedergabe nur selten an die Karikatur, und der Ein¬
druck, der durch eine zumeist wohlgelungene Pei’spek-
tive unterstützt wird, bleibt daher gleichwohl ein großer
und nachhaltiger. An neuer Auffassung und kleinen
originellen Zügen, die den selbständig denkenden Künstler
verraten, fehlt es nicht. So steigt in Gethsemane ein
Teil der Häscher über die Mauer, die den Garten um-
giebt, und erscheint bei der Verspottung ein richtiger
Nachtwächter, der unmittelbar vor dem Ohre des Heilands
in sein langes Horn stößt. In der Ecce-homo- Scene
wird selbst von ein paar kleinen Kindern mit leiden¬
schaftlich erhobener Rechten das „Kreuzige ihn, kreuzige
ihn“ mitgerufen, und bei der Darstellung des ersten
Pfingstfestes umdrängen die zwölf Apostel die Jungfrau
Maria und hängen mit Andacht und Spannung an ihren
Lippen, während sie ihnen aus einem Buche vorliest.
Vorzüge und Mängel der Kunst Claus Berg’s lassen
sich, wie gesagt, auch in dem Haupt- und Mittelstück
des Altars deutlich erkennen, nur dass hier, wo es zu¬
meist nicht dramatisch bewegte Scenen, sondern feier¬
liche Momente der Legende und Zustände des Schauens
darzustellen galt, die Mängel mehr zurück- und die großen
Vorzüge des Meisters weit in den Vordergrund treten.
Wir geben eine Abbildung der Mitteltafel in 2/3 der
Größe, wie sie uns Tafel 40 des dänischen Werkes
bietet, sowie von der zu unterst dargestellten Reihe der
Heiligen und Engel Abbildungen der rechts von der
Mittelgruppe angeordneten Figuren in der Größe
von Taf. 42 und 43 dieser Besprechung bei. (Abb. 1 — 3.)
Allerdings begegnen auch hier hin und wieder, wie bei
dem krönenden Christus, mehreren Apostelgestalten der
obersten Heiligenreihe oder dem heiligen Papst Clemens
in der mittleren Reihe, übertriebene Bewegungen und
gezwungene Haltungen oder auch, wie bei einigen
Frauengestalten, allzu zierliche Gesten, die den Verfasser
des Textes mit Recht an Skulpturen der Rokokozeit
erinnert haben; aber wir übersehen störende Züge dieser
Art völlig gegenüber der unwiderstehlichen Größe der
Komposition, der berauschenden Pracht und charakter¬
vollen Art des Vortrages und dieser Fülle wundervoller
oder entzückender Einzelheiten, kurz gegenüber der Ge¬
walt des Künstlergeistes, der aus dieser Altartafel zu
uns redet. „Und es wurde eine solche Tafel, dass ihres¬
gleichen nicht in ganz Europa zu finden ist“ schreibt Claus
Berg’s Enkel, indem er damit das Urteil des Sebastian
Münster über das Werk seines Ahnherrn wiedergiebt. *)
Bereits im Jahre 1866 ist zu Odense eine Mono¬
graphie aus der Feder des dänischen Kunsthistorikers
Höyen über Claus Berg’s bei'ühmtes Altarwerk erschienen,
und Höyen hat auch zuerst die richtige Erklärung des
Gedankeninhalts der Mitteltafel gegeben, indem er scharf¬
sinnig darauf hiiiwies, dass den Darstellungen derselljen
eine Verquickung der Rosenkranzidee mit Gedanken, die
der bekannte Mystiker Bonaventura (f 1274) in seiner
Schrift „Lignum vitae“ äußere, zu Grunde liege. Dieser
mystische Lebensbaum ist es, an den wir den Körper
des Herrn in der Mitte unserer Tafel geheftet sehen.
Seine Äste tragen als gute Frucht die wahren Christen,
deren jeder nach der Meinung Bonaventura’s ganz erfüllt
sein sollte von dem Worte des Apostels Paulus „Ich
bin mit Christus gekreuzigt“: eine erlesene Schar von
Heiligen, Aposteln und Propheten. Wie sich so in der
Mitte der Tafel das Leiden zum Heile der Menschheit
dargestellt findet, soll — ebenfalls im Anschluss an
Bonaventura — die Gruppe unter dem Crucifixus Ur¬
sprung und Anfang der Erlösung versinnbildlichen, die
Darstellung zu Häupten des Heilands die Vollendung
des Werkes, den Sieg über den Tod andeuten. Weniger
im Sinne Bonaventura’s als in dem des ausgehenden
Mittelalters gipfelt eben diese Darstellung in einer Ver¬
herrlichung Mariens, der jungfräulichen Gottesmutter,
welcher der Altar geweiht sein sollte. Das Ganze ist
als eine himmlisclie Vision gedacht; daher die Wolken
zu den Füßen der dargestellten heiligen Personen und
die überall daraus hervorlugenden und hervortauchenden
Eiigelchen.
Ohne Zweifel am treftlichsten gelungen und von
ganz besonderem Reiz sind unter diesen Darstellungen
dieijenigen der unteren Reihe. Prächtigste Repräsen¬
tation findet sich hier mit entzückendem Liebreiz ver¬
einigt. Zunächst die schon erwähnte köstlich -hehre
Mittelgruppe, realistisch und doch voll Hoheit: das Jesus¬
kind von den Armen der heiligen Anna zu der Mutter
hinüberstrebend, einer kräftig-anmutigen, wahrhaft könig¬
lichen Gestalt in weit wallender Gewandung. Dann die
unübertreffliche Figur der heiligen Maria Magdalena,
ein kleines Kunstwerk für sich, urwüchsig und echt,
wie wenige. Die Heilige ist sorgfältig in eine etwas
auffällige Zeittracht gekleidet, hält in der Linken das
Salbengefäß und schürzt mit der Rechten mit leiser
1) Vergl. Goldschmidt a. a. 0. S. 32. Die Stelle in Se¬
bastian Münster’s Cosmograpliia (Lib. 111, S. 814) lautet: ,, Me¬
tropolis eins (nämlich der Insel Fünen) vocatur Ottoninm,
vulgo Odensehe, civitas episcopalis satis bene extructa, sed
male munita, quippe quae per bella saepe fuit depopulata
ac combusta. Aiunt matrem regis Christierni secundi, mira-
bile et artificiosissimum opus, ingeniosa sculjitura in ligno
formatum, super altare quoddam apud Minoritas collocasse,
cuius simile in Europa non invenitur.“
8
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
Aiiektation das kostbare Obergewaud, Avalirend sie, wohl
wvi'iL'vr ,.iii seliiiierzliclies Xaclidenken versunken" (F.
b'ckarr: als — wenn anders wir die Zeit richtig ver-
sTähen — im Bewusstsein ihrer Schönheit den Blick ge-
e;mkt hält. Auf der anderen Seite der Mittelgruppe ent-
sprichi ihr die prächtige G-estalt der heiligen Katharina
VüU Alexandrien, jeder Zoll eine Fürstentochter, eine
Gerade an diesen Darstellungen erkennt man aber
wieder auf das deutlichste, wie unendlich viel die Aus¬
führung thut. ln großem Stile, gewissermaßen monu¬
mental, ohne kleinliches Eingehen auf Einzelheiten, so
wie sie der vorschaffende Geist geschaut und gewollt,
sind die meisten dieser Figuren und Gruppen auch voll¬
endet worden, und selbst gewisse Härten der x\usführung.
Einzelheit von der untersten Reihe der Engel und Heiligen vom Odenser Altar.
Krone auf dem Haupte und mit lang auf Brust und
Rücken herabwallendem, schwarzem Lockenhaar. Weiter¬
hin folgen noch rechts im Vordergründe die heilige
Christine und zwei Engel, die naiverweise einen Schwaneu¬
pelz mit Flügeln um die Schultern tragen, links mit
etwas blödem Gesichtsausdruck die heilige Barbara, Ur¬
sula, mit ihrem Pfeil, den Blick ernst und eindringlich
aut den Beschauer gerichtet, und ein schwertbewehrter
Engel, vermutlich Michael.
die namentlich den nicht immer ganz natürlich scheinen¬
den, bauschigen und oft unschönen Faltenwurf betreffen,
tragen nur dazu bei, den Eindruck, dass wir es mit
einer kraftvollen und bedeutenden Künstlerindividualität
zu thun haben, noch zu erhöhen. Um so mächtiger wird
aber auch der Wunsch, Näheres über die Gesellen, die
Mitarbeiter des Meisters zu erfahren. Sollte darüber,
wie über Claus Berg selbst, in den dänischen Archiven
nicht doch noch manches zu ermitteln sein?
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
61
Die Stifterfig-uren der Predella endlich, wiedenuu
treffliche Beispiele für die Art des Meisters, in großem
Stil zu charakterisiren, gleichsam mit wenig Worten
viel zu sagen, geben sichere Anhaltspunkte für die
Datirung des Werkes. Dargestellt sind, zu den Seiten
eines kleinen Ecce homo knieend, rechts die Königin
Christine im Witwenschleier, hinter ihr die arme junge
Königin Elisabeth, ihre Schwiegertochtei’, die Gemahlin
vorragenden deutschen Meisters, eben weil wir ihn und
sein Schaffen in zusamraenfassenden deutschen Dar¬
stellungen (von Lühke, Bode etc.) in der Kegel überhaupt
nicht erwähnt, geschweige denn eingehend behandelt
und gewürdigt finden, an der Hand des neuen dänischen
Werkes ausführlich berichten zu sollen geglaubt habe,
so kann ich mich bezüglich derjenigen dänischen Altar¬
werke, die gleichfalls aus Claus Berg’s Werkstatt her-
Eiuzelheit von der untersten Reihe der Engel und Heiligen vom Odenser Altar.
König Christian’s II. und die Kurfürstin Elisabeth von
Brandenburg, König Hans’ und Christinen’s Tochter, links
König Hans und seine beiden Söhne König Christian II.
und Franz, sowie das älteste Söhnchen Christian’s, Hans.
Das Geburtsjahr des letzteren (1518) giebt den terminus
a quo, das Todesjahr der Königin Christine (1521) mit
ziemlicher Gewissheit den terminus ad (juem für die
Fertigstellung der Predella und wohl auch des Altars,
der also etwa 1520 vollendet worden sein mag.
Wenn ich über das bedeutendste Werk dieses her¬
vorgegangen sind und nun ihre zumeist wohl erstmalige
Veröffentlichung erfahren haben, mit einer kurzen Er¬
wähnung begnügen. Denn die Betrachtung derselben
vermag dem Bilde des Künstlers wesentliche Züge kaum
mehr hinzuzufügen, wenn sie uns auch die einzelnen
Seiten seines Wesens natürlich noch genauer kennen
lehrt. Es handelt sich um die Tafeln 52 — 55 des
dänischen Werkes, bezw. um die Schnitzaltäre in der
Kirche zu Tistruj) in Jütland, zu Sauderum bei Odense,
zu Bregninge auf ^Erö und in der Frauenkirche zu
62
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
Aarlms. Dreimal (zu Sanderum, Bregniug-e imd Aarlius)
tritt uns dabei als Mittelstück eine tigurenreicbe Kreu¬
zigung entgegen, reich an allerlei neuen Motiven, aber
auch voll von Scheußlichkeiten, wie denn die Darstellung
des Gemeinen und Abschreckenden hier wieder zum
Schaden einer harmonischen und reinen 'Wirkung sehr
überwuchert. Die beiden Schächer sind jedesmal in ganz
absonderlichen und entsetzlichen Verrenkungen, teilweise
auch mit dem Kopf nach unten ans Kreuz geheftet, und
die Physiognomieen der Häscher und Kriegsknechte Claus
Berg's übei'ti’etfen an Roheit und Gemeinheit selbst die
Unholde der alten kölnischen und niederländischen Bild¬
schnitzer.
Übrigens wird im Text gesagt, dass die WArke
Claus Berg’s den Einfluss der schwäbischen, fränkischen
und niederländischen Kunst verrieten. Dafür scheinen
mir die Abbildungen wenigstens keinen genügenden An¬
halt zu gewähren und an direkte Anlehnung und Herüber¬
nahme ist bei der stark ausgeprägten, charaktervollen
Eigenart des norddeutschen Meisters wohl keinenfalls
zu denken.
Auch bei dem zweiten der drei Altarwerke, deren
umfassende und wüi'dige Veröffentlichung den Grundstock
des dänischen WT.rkes bildet, bei dem umfangreichen
Elügelaltar in dei’ Domkirche zu Aarhus, stehen die
Malereien an künstlerischem W^ert erheblich hinter den
Holzschnitzereien zurück, wie denn in der That die
Malerei in Nordostdeutschland während des Mittelalters
und bis in die neue Zeit hinein keinen günstigen Boden
gefunden zu haben scheint und, wo sie eine selbständige
Entwicklung genommen hat, wie etwa in den Gemälden
eines Hans Eaphon, doch in der Regel keinen Vergleich
mit den Werken der großen süddeutschen und nieder-
rheinischen Meister auszuhalten im stände ist. Freilich
bleibt auch hier noch manches Dunkel aufzuhellen, w'ird
auch vielleicht hier noch im Laufe der Jahre manches
Kunstwerk auftauchen, das dieses ungünstige Urteil zu
modiliziren geeignet ist.
Als Verfertiger des Aarhuser Altars ist uns durch
eine Notiz im Lübecker Staatsarchiv, die zuerst von
A. Hagedorn aufgefunden und im dritten Heft der „Mit¬
teilungen des Vereins für Lübeckische Geschichte und
Altertumskunde“ (1889) S. 220 veröffentlicht wurde, der
Lübecker Maler und Bildschnitzer Bernt Notke bezeugt,
der 1471 zuerst urkundlich vorkommt und noch 1505
gelebt hat. Außer dem Aarhuser Werke ist von ihm
nur noch ein Altarschrein, ebenfalls Schnitzwerk und
Malereien, erhalten geblieben oder vielmehr als seine
Arbeit nachgewiesen worden, nämlich der Altar in der
Heil. Geist-Kirche in Reval.
Zu seinem Hauptwerke — denn als solches dürfen
wir den Flügelaltar im Dom zu Aarhus wohl betrachten —
wurde Bernt Notke 1479 von Jens Iversen Lange be¬
rufen, welcher von 1449 — 1482 dem Stifte Aarhus als
Bischof vorgestanden hat und sich auch auf unserem
Altar in augenscheinlich großer Porträtähnlichkeit als
Stifter in Gemeinschaft mit seinem Schutzheiligen, dem
Evangelisten Johannes, dargestellt findet, — das früheste
Bildnis auf dänischem Boden.
WTnn es nun aber schon bei dem großen Odenser
Altarwerk Glaus Berg’s schwer hält, die künstlerischen
Qualitäten des genannten Meisters, seine Individualität,
klar zu erkennen, so stößt der Forscher gegenüber dem
Altar im Dom zu Aaidius und bezüglich der künstlerischen
Persönlichkeit Bernt Notke’s auf vorderhand noch un-
überw'indliche Schwierigkeiten. Denn einmal rühren die
Malereien (Scenen aus dem Leben Christi, aus der Legende
des heil. Clemens, dem der Altar geweiht war, und einige
andere Heiligendarstellungen), wie Francis Beckett des
Näheren ausführt, von mehreren, zum mindesten von
zwei ganz verschiedenen Künstlern her, von denen
Becket den einen ganz in die Nähe des „Meisters der
Ijjversberg’schen Passion“ rücken möchte, und dann lassen
sieh auch, wenigstens nach den in verhältnismäßig
kleinem Maßstabe hergestellten Lichtdrucken, an den
Skulpturen (Heiligengestalten, zu beiden Seiten einer
Gruppe der heil. Anna selbdritt angeordnet) charak¬
teristische Züge oder eine eigenartige Auffassung nicht
mit solcher Deutlichkeit erkennen, wie das bei den oben
besprochenen Werken Claus Berg’s möglich war. Eine
Betrachtung dei’ Originale, und zwar nicht nur des Altars
in Aarhus, sondern auch desjenigen in Reval, wdirde hier
aber vielleicht doch noch zu einem befriedigenderen
Resultate führen können.
Bei einer bereits 1514 vorgenommenen Restauration
ließ der Bischof Niels Klaus Skade zu Altar und Pre¬
della noch eine Bekrönung hinzufügen, einen von einem
Crucifixus und den Figuren der Gottesmutter und des
Lieblingsjüngers überhöhten Schrein mit der Krönung
Mariä, auf der einen Seite ein betender Bischof, ver¬
mutlich Niels Skade selbst, auf der anderen ein Engel.
Zu diesem Schrein gehören auch die beiden Fig. 4 und
5 reproduzirten Gemälde, von denen das eine. St. An¬
tonius mit Buch und Kreuzesstab, den er auf ein sich zu
seinen Füßen krümmendes Teufelchen setzt, die Außen¬
seite des rechten Thürflügels, das andere, den Engel
Gabriel darstellend, die Innenseite des linken Thürflügels
schmückt. Diese Bilder stehen ohne Zweifel unter dem
starken Einfluss der gleichzeitigen niederländischen
Malerei.
Unter den zwölf Altarwerken (auf 23 Lichtdruck¬
tafeln dargestellt), die der Verfasser des Textes noch
weiterhin deutschen Schulen, namentlich Lübecker und
Schleswig-Holsteiner Künstlern, aus stilistischen Gründen
zuschreiben zu müssen glaubt, seien hier nur noch drei
kurz hervorgehoben. Der älteste derselben und über¬
haupt der älteste von allen in dem dänischen Werke
publizirten Altären ist ein Flügelaltar in der Kirche zu
Boesluude auf Seeland. Er stammt noch aus dem ersten
Viertel des 15. Jahrhunderts, und die Malereien, welche
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
63
das äußere Fliigelpaar, sowie die Außenseiten des inneren
Flügelpaares und die Predella aufweisen (Verkündigung,
Leidensgeschielite Christi und Christus zwischen den
klugen und den thörichten Jungfrauen), gehören nocli
derjenigen Stilrichtung an, die an den Namen des Kölner
Meisters Wilhelm angeknüpft zu werden püegt. Es ist
der bekannte Typus, für den ein milder (Tesichtsausdruck,
den Skulpturen des Hochaltars in der St. Johanniskirehe
zu Lüneburg zu verraten scheinen. In der Mitte ist
Maria als Himmelskönigin in der Gloria dargestellt; zu
beiden Seiten Scenen aus dem Lehen Mariae, darunter
die seltene Darstellung: Maria in der Schule, sowie die
zwölf Apostel.
Einem anderen Altar (in der Kirche von Nörre-
Der Engel Gabriel und St. Antonius. Vom Altar zu Aarhns.
weiße Nasenrücken, leichte Kropfansätze am Halse der
Frauen u. a. m. so charakteristisch ist, und der in den
ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts weit über Köln
und Westfalen hinaus verbreitet war, aber auf Nieder¬
deutschland beschränkt geblieben zu sein scheint. —
Die Innenseiten des inneren Flügelpaares und die Haupt¬
altartafel zieren Skulpturen, zwar noch etwas roh in
der Ausführung, aber nicht ohne eine gewisse Innigkeit
und feine Empfindung, die mir eine Verwandtschaft mit
Broby auf Fünen) gehören die in Fig. 6 wiedergegebenen
entzückenden Sippendarstellungen als Reliefs der Pre¬
della an. Aus dem überirdischen Glanz der himmlischen
Sphären versetzen sie uns in das anheimelnde Dämmer¬
licht des Hauses, der Stube, in das geruhige Leben
kleinbürgerlicher Familien, das mit so viel Poesie und
warmer Emitfindung vorgetragen wird, dass diese kleinen
Genrescenen zumal bei der hohen technischen Vollendung,
in der sie ausgeführt sind, wohl als das Anziehendste
Gl
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
Sippendarstelluugen am Altar in der Kirche zu Nörre-Broby auf Fünen.
g-elteii können, das uns in dein an Trefflichem und Le-
deutendeni so reielien dänischen Tafelwerke gehoten
wird. Der Verfasser des Textes niöclite füi' diese Reliefs
den Einliuss der gleichzeitigen uuterfränkisclien Bild-
schnifzerschule in Anspruch nehmen, und namentlich
die Meisterscliaft, mit welcher die Perspektive behandelt
ist, sowie einiges im Paltenwurf — die cliarak-
teristische in drei Spitzen auslaufende Komplikation von
Längs- und Querfalte kommt ein iiaarmal vor — erinnert
in der That, wenn auch nur entfernt, an den größten
deutschen Bildschnitzer, Tilman Eienienschneider. —
Die übrigen Teile des Altars müssen um einige .Jahr¬
zehnte früher entstanden sein, gehören noch dem letzten
Viertel des 15. Jahrhunderts an und lassen sich, was
Freiheit der Auffassung und Ausführung betrifft, mit
den Reliefs der Predella nicht vergleichen.
Sehr willkommen ist auch die getreue Wiedergabe
eines nicht sehr umfangreichen Triiitychons im National-
museum zu Kopenhagen (Katalog von 18'Jl, Nr. 258),
das aus der Heil. (Teist-Kapelle zu Nyköping auf Falster
stammt und dem sogenannten „kleister von Frankfurt“
zugeschrieben wird. Es steht dem Triiityclion dieses
Meisters im Berliner Alten Museum (Katalog Nr. 575 B)
besonders nahe und weist wie. dieses auf den Außenseiten
der beiden Flügel die Vei’kündiguug Mariä auf und zwar
genau in derselben Weise, hier Avie dort „dieselben
Stellungen, dieselben BeAvegungen, diesellien Köpfe und
die gleiche Ai’t der Ausführung grau in grau mit leichter
Fleisch- und Haarfarbe“. In unser Altarwerk ist jedoch
nur die Darstellung aufgenommen, die das dänische
Triptychon bei geöffneten Flügeln bietet, eine innige
und feierliche, aber nicht besonders gut erhaltene An¬
betung der heiligen drei Könige, deren ältester die uns
bereits Avohlbekannten Züge des Königs Hans, des hohen
Gönners und „zAveiten Stifters“ des Heil. Geist-Spitals
zu Nyköping, trägt. In der Darstellung des mittleren
Königs, dessen langer, zu einem Zopf zusamnienge-
flochtener Bart auffällt, Avird ein frühes Bildnis König
Christian’s 11. vermutet.
An die Spitze derjenigen iVltai’Averke in Dänemark,
Avelche aus niederländischen Werkstätten hervorgegangen
sind, Avii'd mit Recht der Altar in der Söndresogn-Kirche
zu Mborg gestellt. Er ist nicht nur das umfangreichste
derselben, sondern steht auch an Bedeutsamkeit des In¬
halts und Kraft der Charakteristik nui' Avenigen selbst
unter den besprochenen deutschen Werken nach. Leider
geben die Lichtdrucke (Tafel 62 — 69), wie der Verfasser
des Textes bemerkt, von der Ausfühinug kein ganz
i'iclitiges Bild, da der Altar scliAvei’ zu photographiren
Avar. r>ie Modellirung erscheint gröber, alle Linien
härter, als bei dem Originale.
Auch ohne die auf einer der Schnitzereien ange¬
brachte Hand mit gespreizten Fingern, das Zeichen der
Antwerpener Herkunft, könnte man doch ülter die Schule,
der dieses Altai'Averk entstammt, keinen Augenblick im
ZAveifel sein. Die Silhouette des Altars, die an den
Querschnitt durch eine gotische Kirche mit übeihöhtem
Haupt- und zAvei niedrigeren Seitenschiffen erinnert, die
Anordnnng der Darstellungen, die Gruppirnng inner¬
halb derselben und der in den einzelnen Grni)pen und
Figuren zum Ausdruck kommende Formenkanon, alles
weist unwiderstehlich auf eine Antwerpener Werkstatt
und das erste Viertel des 16. Jahrhunderts hin. Ja
ein genauer Vergleich mit den Wei’ken dieser Schule,
ALTARWERKE IN DÄNEMARK AUS DEM SPÄTEREN MITTELALTER.
65
die wir ja auch am deutschen Niederrhein in Kempen,
Xanten, Straelen etc. verschiedentlicli antreffen, würde
sogar eine zum Teil vollkommene Uljereinstimmung in
manchen Einzelheiten ergehen. Doch dazu ist hier nicht
der Ort.
Die Malereien auf den Außen- und Innenseiten der
Flügel sind nur handwerksmäßige Arbeiten, haben außer¬
dem unter Restaurationen gelitten und hieten auch in¬
haltlich nur ein geringes Interesse. Dieses konzentrirt
sich vielmehr ansschließlich auf die Schnitzereien des
eigentlichen Altarschreines. In der Mitte unten, wie so
häutig auf Antwerpener Altären, der schlafende Jesse,
dessen Leihe ein starker Stamm entwächst, der sich
bald in zwei Teile teilt, zu beiden Seiten Propheten
mit langen Sclirifthändern in den Händen. Darüber als
Hauptdarstellung eine schön komponirte Kreuzigung, von
den regelmäßigen Windungen des tigurenhesetzten Stamm¬
baums Christi umrahmt; hoch oben die Gottesmutter mit
dem Kinde. Rechts von diesem Mittelstück eine größere
Darstellung, die Kreuzschleppung, und darunter zwei
kleinere: Verkündigung und Geburt Christi; ebenso links
davon die Beweinung und darunter in
kleineren Abmessungen die Beschneidung,
bei der der Hohepriester ganz wie in
der gleichen Darstellung auf dem Georgs¬
und Viktors-Altar in der Pfarrkirche zu
Kempen mit einer Brille bewehrt ist,
und die Darstellung im Tempel. Am be¬
deutendsten und harmonischesten von
diesen Darstellungen wirkt vielleicht die
Scene aus Christi Kreuzesgang, die bei¬
folgend in Fig. 7 wiedergegeben ist. Der
Heiland ist im Begriif, unter der Last
des Kreuzes niederzusinken, das Simon
von Kyrene nun tragen hilft, während
Veronika vor Christus niedergekniet ist
und ihr Tuch mit zarten Fingern empor¬
hebt. Sie ist niedergekniet, obgleich der
rauhe Kriegsmann im Vordergründe seinen
Speer gegen sie gefällt hat und auch
Simon von Kyrene ihr Warnungsworte
zuzurufen scheint. Mit einem Blick voll
unendlichen Vertrauens und gläubiger
Hingabe blickt sie zu dem von dunklen
Locken umrahmten, dornengekrönten Dul-
dei’antlitz empor, ruhig und in den Willen
des Höchsten ergeben, wie ilir Meister.
Dieses Moment der Ruhe in all der grau¬
sen Bewegung ist mit ungemeiner Fein¬
heit gegeben und von großer und er¬
greifender Wirkung. In den Blicken die¬
ser zarten Frau, die sich so ruhig und
furchtlos unter die gefühllos ihres Dienstes
waltenden Kriegsknechte mischt, um dem
Herrn noch einen, den letzten Liebes-
Zeitsohrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 3.
dienst zu erweisen, lesen wir es, mit welclien Mitteln
die Lehre des Mannes von Nazareth und seine Naclifolge
unwiderstehlich den Sieg über ihre Widersacher er¬
ringen wird.
Unter den weiteren dänischen Altartafeln nieder-
ländisclien Ursprungs seien noch ein kleines Tiiptychon
in der Kirche zu Nöddebo bei Fredensborg (Taf. Gl)
und der Altar in der Kirche zu Sfeby in Jütland
(Taf. 70 — 71) erwähnt, die beide durch ihre Gemälde
ausgezeichnet sind. Die Mitteltafel des Triptychons in
Nöddebo, Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes,
Maria Magdalena den Fuß des Kreuzes umklammernd,
erinnert Beckett teils an die Gerard David zugeschriebene
Kreuzigung im Berliner Museum, teils auch an die bei
Clemen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz I, 214 repro-
duzirte Kreuzigung in der Kapelle des Hauses Caen in
Straelen nicht weit von Geldern und der niederländischen
Grenze. Die Flügel des Nöddeboer Altärchens sind von
anderer, schwächerer Hand gemalt. Von den Gemälden
des Altars in der Kirche zu Sfeby sind die bedeutendsten,
die beiden Altarflügel, bereits 1829 in das National-
66
DER MEISTER DES HAUSBÜCHES ALS MALER.
mxiseum zu Kopeuhag-en überführt ^yor(len. Sie stelleu
die Verküadigung sowie die Aubetung durcii die heiligeu
drei Könige und die Anbetung durch die Hirten dar
und gelten als Werke des Herri inet de Lies. In der
Kirche wurden diese Originale durch minderwertige
niederländische Kopieen aus dem Ende des 17. Jahr-
liunderts ersetzt.
Und die Werke einheimischer dänischer Künstler?
So wird der Leser Jetzt, da wir am Ende unserer Be¬
sprechung des neuen dänischen Tafel Werkes angelangt
sind, ohne Zweifel versucht sein zu fragen. Sie befinden
sich, wie bereits o))en bemerkt ■wurde, außerordentlich
in der lliuderzahl. Es werden als solche national¬
dänische Werke von dem Verfasser des Textes mit
einiger Bestimmtlieit eigentlich nur zwei Altartafeln zu
Bjerre auf Seeland und zu Engestofte auf Laaland in
Anspruch genommen; und diese beiden Werke bieten —
abgesehen von einigen hübschen, ornamentalen Ein¬
fassungen und Laubstabverzierungen — so wenig des
kunstgeschichtlich Bedeutsamen oder ästhetisch Schönen,
dass wir uns hier mit dieser kurzen Erwähnung der¬
selben begnügen zu dürfen glauben. Und zwar um so
mehr, als zur Feststellung dessen, was nun an diesen
Arbeiten als specifiscli dänisch, als einheimischer Stil
zu l)etrachten sei, die geringe Zahl der Altäre keine
genügenden Anhaltspunkte bietet. Dazu, wie überhaupt
zu einer mehr kulturgeschichtlichen Betraclitung und
Würdigung mangelt es uns aber im Augenblick nicht
nur an dem erforderlichen Material, sondern an dieser
Stelle auch an Raum, weswegen die Behandlung die¬
ser und ähnlicher Fragen einer anderen Clelegenheit
Vorbehalten bleiben mag. Hier handelte es sich für
uns vornehmlich darum, den Weit der neuen dänischen
Publikation insbesondere für die niederdeutsche Kuust-
forschung in das rechte Licht zu setzen und die Per¬
spektiven anzudeuten, die es eröffnet. Möchte es reiche
Nachfolge finden !
Nürnberg. TH. HAMPE.
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
VON ED. FLECHSIG.
MIT ABBILDUNGEN.
AS Liebespaar ist unstreitig das schönste
Gemälde des Meisters, jedoch nicht sein
letztes. Es folgen noch eine Reihe von
Darstellungen aus dem Marienleben in
Mainz, Oldenburg und Schleißheim und
eine Auferstehung Christi in Sigmaringen.
Das Marienleben in der städtischen Galerie zu Mainz
besteht aus neun Tafeln (Nr. 299 — 307, auf Lindenholz)
und ist 1505 entstanden, wie auf der Verkündigung
(Nr. 300) zu lesen ist. Woher diese Bilder stammen,
ist nicht bekannt, möglich, aus einer Mainzer Kirche.
Nach dem älteren Kataloge schenkte sie der Kurfürst
L. F. von Schönborn 1720 dem Wälschnonnenkloster
in Mainz, von wo sie 1810 in die städtische Galerie
gelangten. * )
Mariens erster Tempelgang (Nr. 299). Joachim und
Anna sind eben im Begriff, von links her mit ihrem
Hündchen die zum Tempel führende Treppe zu betreten.
Die kleine Maria hat schon die Hälfte der Stufen hinter
sich und sieht zu dem Hohenpriester empor, der mit
einem geöffneten Buch in der Linken vor der Thür des
Tempels steht, begleitet von zwei fackeltragenden Jüng-
1) Photographirt von E. Neeb. — Schon Max Priedläncler
hat im Repertorium für Kunstwissenschaft, XVII, 273, auf die
nahe stilistische Verwandtschaft dieser Bilder mit den Schöp¬
fungen des Hausbuchmeisters hingewiesen.
(Schluss.)
lingen mit langem lockigem Haar. Hinter ihnen erblickt
man den Kopf eines unbärtigen Mannes mit einer Kegel¬
mütze. Rechts im Vordergründe am Rande der Treppe
stehen vier kerzentragende reichgekleidete Jungfrauen
mit Kronen auf dem Haupte und offenem Haar. Im
Hintergründe links ein breiter Fluss mit steilem Ufer,
darin ein Kahn, in dem zwei Männer sitzen, und einige
Wassertürme, von denen der hintere durch eine steinerne
Brücke mit dem Ufer verbunden ist.
Verkündigung (Nr. 300). Wir sehen in ein bürger¬
liches Wohn- und Schlafgemach. Maria kniet rechts vor
einem Pulte, im Begriff, ein Blatt ihres Gebetbuches
umzuschlagen. Sie wendet den Kopf etwas nach dem
Engel, die Rechte hat sie wie in plötzlichem Schreck
erhoben. Über ihr schwebt die Taube. Gabriel ist von
links herangekommen, beugt das Knie und spricht zu
Maria mit erhobenem Zeigefinger der Rechten. Die Linke
hält den Stab und das Ende des Spruchbandes, auf dem
in Antiquabuchstaben , die noch mit einigen gotischen
Typen vermischt sind, die Worte stehen: „Ave graci(a)
plena dominus tecum“. Der Fußboden ist mit Steinfliesen
belegt. Über der Thür links befindet sich eine Tafel
mit der Jahreszahl 1505 und einer sonst unleserlichen
Inschrift. Im Hintergründe das Bett, links neben ihm
ein Schrank mit blinkendem Waschgeschirr, dann ein
Handtuch an der Wand, ein Tisch mit Gefäßen u. a.
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER
67
Heiinsiicliung' (Nr. 301, vergl. die Abbildung). Im
Vordergründe begrüßt Elisabeth vor der Thür ihres
Hauses verehrungsvoll die von links herangekommene
Maria, während Zacharias hinter ihr das Knie beugt.
Joseph, in Wanderertracht, hat eben das Hofthor durch¬
schritten. Ganz im Vordergründe ein kleines Quellwasser
mit Blumen (und Gräsern, im Hintergründe eine bergige
Landschaft mit Laixbbäumen.
Geburt Christi (Nr. 302, vergl. die Ablxildung). Links
Heimsudmus. Vom Jleister des Hausbuches.
Mainz, Städtische (ialerie.
vorn kniet Joseph mit mürrischem Gesicht, den Hut vor
die Brust gedrückt, in den gefalteten Händen den Stock
haltend, rechts, etwas weiter zurück, kniet Maria itnd
betet das nackte Kind an, das zwischen ihnen auf einer
Windel liegt und sein Gesicht Joseph zuwendet. Links
hinter einem niedrigen Bretterverschlag drei Hirten. Im
Mittelgründe die wohlerhaltenen Ruinen eines Kirchen¬
gebäudes, die mit einem Strohdach gedeckt sind. Dar¬
unter Ochs und Esel an einer Krippe. Im Hintergründe
links die Verkündigung an die Hirten im Felde, rechts
eine Stadt.
Anbetung der Könige (Nr. 303). Maria sitzt links
im Mittelgründe und hat auf ihrem Schoße das Kind,
dessen Unterkörper mit einer Windel bedeckt ist. Links
neben ihr steht ein Schemel und darauf das mit Gold¬
münzen angefüllte Kästchen, das der älteste König dar¬
gebracht hat. Dieser kniet anbetend im Vordergründe,
rechts neben ihm der mittlere König mit einem Pokal,
Geburt Christi. Vom Meister des Hausbuches.
Maiuz, Städtische Galerie.
dessen Deckel er abhebt, rechts hinter ihnen steht der
Mohr mit einem Trinkhorn. Dahinter das reiche Gefolge
der Könige, das in langem Zuge heraiikommt. Joseph,
sowie Ochs und Esel fehlen. Die Örtlichkeit ist dieselbe,
wie auf dem vorigen Bilde.
Darstellung im Tempel (Nr. 304). Rechts am Altar
steht der Priester und hält auf einer Windel das Kind;
hinter ihm ein junger Mann mit einer Kegelmütze und
einem großen geschlossenen Buch in den Händen. Maria
9*
68
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
kniet links, dem Priester ztigewandt, auf der Altarstufe||i
mit einem Paar Tauben in den Händen. Hinter ihr steht
Joseph und greift in die Tasche. Außerdem sind noch
drei Frauen, von denen die vorderste jüngste eine Kerze
hält, am Vorgänge beteiligt. Der Fußboden hat das¬
selbe Fliesenmuster wie auf Nr. 300.
Der zwöltjährige Jesus im Tempel (Nr. 305). Jesus,
mit langem auf die Schultern herabfallendem Haar, in
ein weites, bis zu den Füßen reichendes Gewand ge¬
kleidet, sitzt da, den Zeigefinger der Eechten lehrend
erhoben, um ihn herum auf Bänken die Schriftgelehrten.
Links sind Maria und Joseph eben zur Thür hereiu-
gekommen.
Ausgießung des heiligen Geistes (NT. 306). In einer
kleinen offenen, polj'gonalen, von schlanken Säulen ge¬
tragenen Halle sitzt Maria, ganz von vorn gesehen, im
Kreise um sie herum auf Bänken die Apostel, ihr zu¬
nächst links Petrus, rechts Johannes. Über Maria
schwebt die Taube. Der Fußboden hat dasselbe Fliesen¬
muster wie auf Nr. 300 und 304. Den Hintergrund
bildet eine Flusslandschaft mit einem Kahne in der Mitte,
einem Laubwald rechts, einem weit ins Wasser gebauten
Turm links. Anstatt der Luft Goldgrund.
Tod Mariens (Nr. 307). Maria liegt mit ge¬
schlossenen Augen und gekreuzten Händen halb auf¬
gerichtet im Bett. \'orn an dessen Fußende sitzt links ein
Apostel mit einem Buch auf den Knieen, ein anderer
kniet vor einem Gebetbuche. Hinter dem Bett stehen
oder knieen die übrigen Apostel, Maria am nächsten
Johannes mit einem Palmzweige, dann Petrus als Priester
mit Buch und Sprengwedel und Jakobus d. j. mit dem
Weihwassergefäß. Über ihren Köpfen im Goldgrund
Christus, der die Seele der Maria empfängt. Steinfliesen¬
muster wie auf Nr. 300, 304 und 306.
Übereinstimmungen dieser neun Tafeln mit den
früher besprochenen Bildern sind in Menge vorhanden.
Ich führe nur einige an. Das Gesicht Maria’s auf der
Geburt Christi zeigt engste Verwandtschaft mit dem des
Mädchens in Gotha, ebenso das der jungen Frau mit
turbanähnlicher Haube auf der Darstellung im Temi»el,
womit mau die Zeichnung des Berliner Kabinetts ver¬
gleiche. Der Engel Gabriel und der Apostel Johannes
erinnern sehr au den Jüngling in Gotha. Die Apostel
haben einige Ähnlichkeit mit denen der Predella des
Wolfskehlener Altar werks. Gabriel hat wieder Pfauen¬
fittiche; der Fußboden ist in ganz ähnlicher Weise wie
früher mit Steinfliesen belegt, und auch die Säule mit
dem schon mehrfach erwähnten eigenartigen Kapitäl
fehlt nicht. Am besten jedoch vermittelt zwischen den
früheren, namentlich den Darmstädter Bildern und dem
Mainzer Marienleben die Farbengebung. Darin ist sich
der Meister im wesentlichen gleich geblieben.
Es ist noch übrig, die Übereinstimmung der Mainzer
Bilder mit den Stichen nachzuweisen. Gelingt dies für ein
oder zwei, so muss es auch für die anderen gelten. Ver-
■ gleichen wir z. B. die Geburt Christi und die Anbetung der
Könige mit dem Stiche L. 1 0 (Anbetung der Könige). In der
Komposition sind die beiden gleichnamigen Darstellungen
vollkommen unabhängig von einander. Zergliedern wir
sie aber, so zeigt es sich, dass gewisse Kleinigkeiten,
auf die weder der Künstler noch der Beschauer Wert
legt, hier wie dort genau so wiederkehren: das Stroh¬
dach, die Kämpfer, auf denen die Bogen aufsitzen, über¬
haupt die ganze Art des Mauerwerks, die Treppe im
Hintergründe (Geburt Christi in Mainz), die Andeutung
einer Kellerthür ganz vorn am Rande, ferner Ochs und
Esel an der Krippe (auf dem Bilde der Geburt genau
von der Gegenseite), der Hut des ältesten Königs, die
Geschenke der beiden jüngeren, die Art, wie der mittlere
den Deckel des Pokals abhebt, der runde Tisch, auf dem
das mit Gold gefüllte Kästchen steht. Endlich hat
Maria auf der Geburt Christi und der Mohr auf der An¬
betung der Könige dasselbe Gesicht wie auf dem Stiche
der Anbetung L. 10. Auf zweien der Mainzer Bilder,
dem Tempelgang Mariens und der Ausgießung des
heiligen Geistes, ist im Hintergrund eine Flusslandschaft
zu sehen. Man vergleiche damit den Hintergrund der
Stiche L. 28 (heilige Familie beim Rosenstock) und L. 74
(der Türke), sowie beim Planeten Luna im Hausbuche.
Die auf den Mainzer Bildern vorkommenden Laubbäume
finden sich auf den Stichen L. 9, 54, 67, 73.
Unmittelbar an das Mainzer Marienleben schließt
sich eine Geburt Christi in Schleißheim und eine Dar¬
stellung der Anna selbdritt in Oldenburg an. Das
Scltleißhehner Bild (Nr. 136) ist noch auf keine Weise
veröffentlicht. Leider reichen auch meine knappen Eeise-
notizen zu keiner genaueren Beschreibung aus. Doch
ist die Übereinstimmung mit dem Mainzer Marienleben
in Formensprache und Farbengebung so augenfällig, dass
jeder Zweifel an der Urheberschaft unseres Meisters aus¬
geschlossen erscheint. Überdies hat auch Scheibler schon
vor einer Reihe von Jahren den Zusammenhang zwischen
diesen Bildern erkannt. Er schrieb sie einem guten
Schüler Schongauer’s zu. ')
Das Oldenburger Bild, A?ina selbdritt, kenne ich nur
aus einer Radirung von P. Halm in dem Werke von
W. Bode über die Großherzogi. Gemäldegalerie zu Olden¬
burg) Wien, Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, 1888).
Bode schreibt es (S. 79) nach Scheibler's Vorgänge der
Schule Schongauer’s zu, ihm folgt der Galeiiekatalog
(6. Aufl. 1890, Nr. 271). Es befand sich früher als
Wolgemut in der Sammlung Rühle und kam 1868 in
die Oldenburger Galerie. Im Chor einer spätromanischen
Kirche sitzen unter einem golddurchwirkten Baldachin
auf einem goldenen Thron in gotischem Stile einander
zugekehrt links Maria, rechts Anna. Beide sehen vor
1) Verzeichnis der Gemälde im fürstl. hohenzollerscben
Museum zu Sigmaringen, 2. Auf!., 1883, Anmerkung zu
Nr. 18.
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
69
sich nieder. Maria, in ein blaues Gewand gekleidet, im
offenen Haar einen mit Perlen besetzten Reif, hat auf
dem Schoße das nackte Kind, das fröhlich nach dem
Apfel greift, den ihm die Großmutter mit der Rechten
hinreicht, während sie mit der Linken ein Buch hält.
Als alte Frau hat sie Kopf und Hals mit einem weißen
Tuche verhüllt, das nur das Gesicht freilässt. Mitten
über den Köpfen der beiden Frauen schwebt in einer
Flammenglorie die Taube des heiligen Geistes. Das
Bild ist auf Kiefernholz gemalt. — Die Typen sind
identisch mit denen der Mainzer Bilder. Anna z. B.
finden wir genau so auf Mariens Tempelgang, sowie auf
der Darstellung im Tempel. Architektur und Fußboden¬
belag kommen ebenso in Mainz vor. Ferner zeigt sich
eine weitgehende Übereinstimmung mit dem Stiche L. 29,
der dieselbe Darstellung hat.*)
Endlich gehört unserem Meister noch eine Auf¬
erstehung Christi im Museum zu Sigmaringen an (Nr. 18,
aus der Sammlung Weyer in Köln, frageweise dem
Mich. Wohlgemut zugeschrieben). Im Katalog wird
in einer Anmerkung auf Scheibler’s Ansicht hingewiesen,
der den Meister für einen „ guten Schüler Schon-
gauer’s“ hielt, denselben, von dem auch die Nr. 299 bis
307 (das Marienleben) in Mainz seien. Erst dadurch
wurde ich auf das Bild aufmerksam. Da ich es schon
längere Zeit nicht mehr gesehen, war es mir aus dem
Gedächtnis entschwunden. Der Direktor des Sigmaringer
Museums, Herr Hofrat Gröbbels, stellte mir in liebens¬
würdiger Weise für die Untersuchung eine ältere Photo¬
graphie zur Verfügung, auf Grund deren ich nicht nur
Scheibler’s Ansicht für richtig erklären, sondern auch
den Nachweis führen kann, dass das Bild thatsächlich
vom Meister des Hausbuchs ist.
Der Auferstandene, mit der Siegesfahne in der Linken,
um Schultern und Hüften mit einem Mantel bekleidet,
steht links neben dem geschlossenen steinernen Sarko¬
phage; rings um diesen die Wächter entweder schlafend
oder eben erwachend. Von links oben schwebt ein Engel
herab. Im Hintergründe eine Landschaft mit Laubwald,
in der rechts die drei Frauen herankommen. Anstatt
der Luft Goldgrund.
Die Gestalt Christi ist die der Magdalena des Stiches
L. 50, nur ins Männliche übersetzt. Sein etwas breites
Gesicht finden wir auch auf der Kreuztragung (L. 13),
ferner auf L. 16 (Kopf Christi) und L. 19 (der gute
Hirte). Dazu vergleiche man in Mainz die kleine Dar-
stellirng Christi, der die Seele der Maria im Himmel
empfängt (auf dem Tod Mariens) und den Kopf Jakobus
1) Wie ich erst später bemerkte, hat schon Lehrs im
Repertorium für Kunstwissenschaft XV (1892), S. 118 auf die
Verwandtschaft des Oldenburger Bildes mit diesem Stiche
aufmerksam gemacht, ohne jedoch den Schluss zu ziehen,
dass wir es hier mit zwei Werken zu thun haben, die nicht
abhängig voneinander sind, sondern derselben künstlerischen
Phantasie ihr Dasein verdanken.
d. j. (auf der Ausgießung des heiligen Geistes). Christus
hat einen Liliennimbus, wie auf den drei Mainzer Bil¬
dern: Geburt Christi, Anbetung der Könige und der
Jesusknabe unter den Schriftgelehrten. Überraschend
ist die Stellung seiner Füße, die ganz genau so bei der
heiligen Magdalena (L. 50) und beinahe so beim heiligen
Sebastian (L. 44) wiederkehrt. Dort finden wir auch
dieselbe Fußform mit dem stark hervortretenden Ballen
der großen Zehe, ebenso bei der heiligen Magdalena
L. 49 und bei dem Jesusknaben im Tempel (Mainz).
Zu dem Engel vergleiche man die auf Magdalena’s
Himmelfahrt L. 50, zu den Wächtern die Männertypen
auf den Bildern Anbetung der Könige und Jesus im
Tempel (Mainz). r):'e Felsen endlich, die die Landschaft
auf der rechten Seite abschließen, finden wir in ganz
ähnlicher Weise auf den Stichen L. 5 (Simson mit
dem Löwen), L. 6 (Sinisoii und Delila), L. 19 (der gute
Hirte), L. 50 (Magdalena’s Himmelfahrt), L. 74 (der
Türke zu Pferde).
Die Auferstehung Christi dürfte um dieselbe Zeit,
wie das Mainzer Marienleben oder einige Jahre vorher
entstanden sein.
Scheibler schreibt dem Meister dieses Bildes noch
zwei Bilder zu, die er 1882 bei Frau Lucie von Livonius
in Frankfurt a. M. gesehen hat. Es sind dies : Christus
vor Pilatus und die Ausstellung Christi.*) Herr Kon¬
servator 0. Cornill teilte mir auf eine Anfrage gefälligst
mit, dass diese Bilder nicht mehr in Frankfurt seien.
Wo sie hingekommen, wusste er nicht zu sagen.
Alle bisher besprochenen Bilder sind, für mich
wenigstens, sichere Werke des Hausbuchmeisters. Von
ihnen werden als solche das Liebespaar in Gotha, die
Bilder Nr. 211—215 in Darmstadt, das Mai’ieuleben in
Mainz, die Bilder in Schleißheim, Oldenburg und Sigma¬
ringen, im Ganzen also 19, auch von anderen ohne weiteres
anerkannt werden. Sie gehören der Zeit nach eng zu¬
sammen und mögen etwa in den .Jahren 1495—1505
entstanden sein. Das Mainzer Marienleben bildet den
Schluss, das müsste man schon aus seinem Stil folgern,
auch wenn es nicht datirt wäre. Die Darmstädter
Tafeln stehen am Anfang der Reihe und sind um 1495
anzusetzen. Das Liebespaar in Gotha steht ungefähr
in der Mitte. Einen ganz äußerlichen Anhaltspunkt dafür
bieten die Spruchbänder mit ihren noch gotischen Buch¬
staben, während der Spruch des Engels Gabriel auf der
Verkündigung in Mainz schon mit Antiquabuchstaben
geschi’ieben ist.
Die übrigen Bilder, nämlich das ‘Wolfskehlener
Altarwerk in Darmstadt, das aus Bossweiler im Speyerer
Dom und das in der Kirche zu 'Wachenheim vom Jahre
1489 werden sich, obgleich sie sich stilistisch nur wenig
mit jenen späteren W^erken berühren, ebenfalls als Werke
1) Vergl. den Sigmaringer Katalog, Anmerkung zu
Nr. 18,
70
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
des Hausbnchmeisters ausweisen, sobald noch einige
Zwischenglieder bekannt geworden sind, die sich jeden¬
falls mit der Zeit linden lassen werden. Wissen wir
doch nun, wo wir zu suchen haben!
Nun giebt es noch ein größeres Werk, das in vieler
Hinsicht des Meisters Art zeigt, auch unbedingt mit üim
in \''erbiudung stehen muss, das sich aber doch nicht
ohne Zwang in die Entwicklung einreihen lässt, soweit
sie bis jetzt für uns erkennbar ist. Es besteht aus
fünf Tafeln (Nr. 270, 271, 273, 275 und 276) in der
Schlossgalerie zu AscJinffenhurg. Dort werden sie dem
M. Schongauer zugeschrieben, erinnern jedoch in keiner
Weise an ihn. ') Sie bildeten ursprünglich einen Flügel¬
altar in folgender Anordnung; in der Mitte die Geburt
Christi (Nr. 273), auf den Innenseiten der Flügel links
Johannes auf Patmos (Nr. 275), rechts der heilige
Hieronymus (Nr. 271), auf den Außenseiten links der
heilige Martin und die heilige Katharina (Nr. 276), rechts
der lieilige Sebastian und die heilige Margaretha (Nr. 270).
Geburt Christi (Nr. 273). In der Mitte kniet Maria
nach rechts gewandt betend vor dem in einem steinernen
Troge liegenden in eine. Windel gewickelten Kinde, das
von vier Engeln in langen goldenen Gewändern ange¬
betet wird. Sie hat auf dem Haupte einen goldenen mit
Perlen besetzten Stirnreifen, das dunkelblonde Haar fällt
leicht gewellt über die Schultern und wird nur lose von
einem Schleier bedeckt. Sie trägt ein Kleid von Gold¬
brokat, darüber einen schwarzen, mit goldenen Rosetten
besetzten Mantel, der dunkelkirschrot gefüttert ist. Rechts
hinter Maria sieht man die Köpfe von Ochs und Esel
und rechts von diesen hinter einer Holzplanke zwei
Hirten. Links im Mittelgründe steht Josejih und dreht
dem Beschauer den Rücken zu, wendet aber den Kopf
nach rechts. Dicht am unteren Rande des Bildes, Maria
zugekelirt, kniet der Stifter, ein Geistlicher, in weißem
Clmrhemd, um die Schultern einen grauen Pelzumhang.
Von seinem Munde geht ein Spruchband aus, auf dem
in gotischen Minuskeln die Worte stehen: „Tnclyta theo-
tocos populis enixa tonantem Av(r)es inclina tu michi confer
opem“. Im Hintergründe eine hügelige, mit Laubbäumen
und Sträuchern besetzte Landschaft mit einer Schaf-
hei’de und einem knieenden Hirten, der durch einem vom
Himmel herabschwebeuden Engel die Botschaft von der
Geburt Christi erhält. Goldgrund.
Johannes auf Patmos (Nr. 275). Er sitzt nach rechts
gewandt, in einen roten Mantel gehüllt, vor seinem Buche,
das auf einem Erdhügel liegt. Die Rechte, die den
Schreibkiel hält, hat er erhoben. Die Augen sind empor¬
gerichtet nach der Madoima, die am Himmel sichtbar ist.
Vor dem Buche steht der Adler. Goldgrund.
Hieronymus im Gemach (Nr. 271). Ersitzt als Kardinal
in einer Art Chorstuhl und hat sich nach vorn gewendet,
um dem Löwen, der rechts unten sitzt, den Dorn aus
1) Photographirt von Neeb.
der rechten Pranke zu ziehen. Vor ihm das Lesepult
mit einer aufgeschlageneii Bibelhandschrift. Durch das
Fenster sieht man auf eine Landschaft, in der sich der
Heilige vor einem Baum kasteit. Goldgrund.
Der heilige Martin (Nr. 276) ist in Vordersicht als
Bischof mit dem Krummstab in der Linken dargestellt. Er
giebt einem auf Krücken stehenden Krüppel, der eine Schale
hinhält, ein Almosen. Der Hiutergrimd auf diesem wie
auf den folgenden Bildern ist schwarz und mit goldenen
Sternen besetzt. — Darunter; die heilige Katharina, nach
rechts gewandt, hält mit der Linken das Schwert, mit
der Rechten vor der Brust ein aufgeschlagenes Buch. Zu
ihren Füßen liegen zwei Bruchstücke des Rades.
Der heilige Sebastian (Nr. 270), ganz von voi'u, ist an
eine Säule gebunden. Auf dem Kopf hat er ein rotes
Barett, um die Schultern einen weiten roten Mantel, der
aber den Körper nicht bedeckt. Der Heilige ist durcli sechs
Pfeile verwundet. — Darunter: Margaretha, nach links
gewandt, in der Linken ein geschlossenes Buch, in der
Rechten ein hohes Stabkreuz haltend. Sie trägt ein
gelblich - graues Kleid mit blauem Granatmuster und
einen hellgrünen Mantel, der rot gefüttert ist. Zu ihren
Füßen der Drache, ein zottiges, hundeähnliches Ungeheuer.
Von diesen .fünf Tafeln zeichnen sich die ersten
drei, welche die Innenseiten des Altars bildeten, durch
eine äußerst sorgfältige, fein vertreibende Technik (nament¬
lich in Gesicht und Händen) und eine ungewöhnlich vor¬
nehme Farben Wirkung aus, die hauptsächlich durch die
lichten bräunlichen Töne in der Landschaft und die
reiche Anwendung von Gold erzielt wird. Die Außen¬
seiten fällen dagegeii merklich ab, eine Erscheinung, die
auch Imi anderen altdeutsclien Altarwerken beinahe
regelmäßig wiederkehrt. Damit soll aber nicht gesagt
sein, dass man hier die Hand eines Gehilfen anstatt der
des Meisters selbst anzunehmen hätte.
ln Bezug auf die erwähnten Vorzüge steht dieses
Altarwerk auf einer viel höheren Stufe als die dem
Meister des Hausbuches zugeschriebenen Bilder, mit
alleiniger Ausnahme des Liebespaares, das koloristisch
vielfach an jenes erinnert. Auch die Gesichtstypen sind
nicht die diesen Bildern eigenen, wenn sie ihnen auch
selir nahe kommen. Indessen, mag auch einiges an den
Meister des Peringsdörferschen Altars in Nürnberg,
anderes (z. B. Johannes auf Patmos) an den Kupfer¬
stecher B. M., den Schüler Schongauers, erinnern, bei
genauerer Prüfung kann man das Werk mit keinem
anderen als dem Hausbuchnieister in nähere Verbindung
bringen. Auffällig ist bei diesen Gestalten der unsichere,
lichtscheue Blick; sie schielen alle, sogar Ochs und Esel.
Dies kommt ja auch bei unserm Meister öfter vor, man
vergleiche z. B. die Beschneidung L. 11, wo sich auch
Analogieen für die beiden Hirten auf dem Mittelbilde
finden, ferner die Darmstädter Bilder Nr. 212 — 215.
Die Behandlung des Baumschlags entspricht der auf dem
Stiche L. 74 (der Türke zu Pferde).
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
71
Zum Schluss weise ich noch auf eine Geburt Christi
in der Schlossgalerie zu Aschaffenhurg (Nr. 293) hin,
die in mancher Beziehung, namentlich im Kolorit, an
die Bilder unseres Meisters erinnert. Doch sind die
Übereinstimmungen nicht so groß, dass ich dies Bild
ihm selbst zuzuschreiben wagte; ein Zusammenhang mit
ihm ist aber jedenfalls vorhanden.
Übrigens scheint auch die Geburt Christi (B. 35)
von Israel von Meckenheim’) auf ein Bild vom Meister
des Hausbuches und nicht, wie jetzt allgemein angenommen
wird, auf ein Original von Holbein d. ä. zuriickzugehen.
Ich wenigstens kann hier nichts von Holbein’s Art finden.-)
Ist es gelungen, eine Reihe von Bildern unserem Meis¬
ter mit Sicherheit zuzuschreilieu, so ist damit auch die
Frage nach dem Orte seiner Thätigkeit in der Hauptsache
beantwortet. Nach Harzen’s und Retberg’s Vorgänge hatte
man sich geeinigt, auf Grund der Wappen, die im sogenann¬
ten Hausbuche Vorkommen, ihn für einen Süddeutschen,
einen Schwaben, zu erklären. Doch gehören gerade die¬
jenigen Wappen, die für diese Frage entscheidend sind, nicht
schwäbischen, sondern mittelilieinischen, rheinfränkischen
Geschlechtern au. Ungewiss ist dies nur bei dem Wappen
des frühesten Besitzers des Hausbuches. Wir finden es
als besondere Darstellung aiifS. 2 a und 34b, außerdem
zweimal auf einem Zelte des Feldlagers S. 53 c (rechts
oben). Von diesen ist das auf S. 2a sicher nicht von
der Hand des Hausbuchmeisters, sondern eine Nach¬
ahmung des auf S. 34 b befindlichen von späterer Hand.
Darüber dürften jetzt so ziemlich alle Kenner einig sein.
Retberg'*) hat behauptet, es sei das der Konstanzer
Familie Goldast. Das ist durchaus nicht erwiesen.
Retberg selbst sagt, dass es in der Helmzier nicht mit
diesem übereinstimmt. Außerdem muss man sich wohl
fragen, was dies bürgerliche Geschlecht unter dem hohen
1) Die Formen Meckenem und Meckenen (sogar in der
Abkürzung Mecken) werden in der kunstgeschichtlichen
Litteratur mit merkwürdiger Zähigkeit festgehalten, als ob
es sich um eiuen Familiennamen und nicht um den Namen
des Ortes handelte, der heute Meckenheim heißt. Warum
schreiben wir dann nicht auch Wenzel von Olomucz statt
Olmütz? Dies Meckenheim ist jedenfalls das Dorf in der
bayerischen Pfalz (Bez.-Amt Neustadt) und nicht, wie bisher
angenommen wurde, das im Reg.-Bez. Köln. Wenigstens
gehören die Formen Meckenem und Meckenen der pfälzischen
Mundart an. Man vergl. z. B. in den pfälzischen Chroniken
der zweiten Hälfte des 15. Jahrh. Ortsnamen wie Besiken
(Besigheim), Tossenhem (Dossenheim), Turkem (Dürckheim),
Hochhem (Hochheim), Leimen (Leimheim), Merxem (Merx¬
heim) u. a. : Quellen und Erörterungen zur bayerischen und
deutschen Geschichte, Bd. 2 u. 3.
2) Auch wenn die sämtlichen Vorbilder für die Folge
B. 30 — 41 sich schließlich als Werke Holbein’s d. ä. nach-
weisen ließen, so könnten sie doch nicht alle zu einem Ge-
mäldecyklus gehören, d. h. nicht zu dem Weingartener Altar.
Denn die Krönung Mariens kommt schon als Nebenscene auf
der Darstellung im Tempel vor.
3) Kulturgeschichtliche Briefe, Leipzig 1865, S. 13.
Adel im kaiserlichen Feldlager zu suchen habe. Die Ver¬
mutung liegt nahe, dass dies Wappen, ebenso wie die
anderen, einem mittelrheinisehen ritterlichen Geschleclite
angehört. Es wäre eine nicht undankbare Aufgabe für
einen Heraldiker, der Frage weiter nachzugehen.
Das am häufigsten im Hausbuche vorkommende
Wappen ist das mit drei Sparren. Wir finden es auf
S. 24a an den beiden Wetterfahnen, dann auf S. 52a
an dem Fähnchen des ersten Wagens im mittleren Zuge,
endlich siebenmal an den Zelten im Feldlager (Bl. 53).
Der Meister des Hausbuches muss also zu dem Geschleckte,
das dieses Wappen führte, besonders nahe Beziehungen
gehabt haben. Retberg hat gemeint, das W’appen sei
das der W erdenstein, eines schwäbischen Rittergeschlechtes,
und alle anderen haben es ihm nachgeschrieben. Diese
Angabe ist aber falsch, wie sich jeder überzeugen kann,
Avenn er im Sibmaclier’schen Wappenbuch ’) nachschlägt.
In Betracht kommen nur zwei rheinfränkische Ge¬
schlechter, die überdies miteinander verwandt waren:
die Grafen von Hanau (drei rote Sparren in Gold) und
die Herren von Eppstein (drei rote Sparren in Silber).
Für einen Grafen von Hanau malte unser Meister das
Liebespaar in Gotha, wie das Wappen auf dem Bilde
beweist. Da die Wappen im Hausl)uche nicht ursprüng¬
lich tingiert waren, so lässt sich nicht entscheiden,
welches der beiden Geschlechter jedesmal gemeint ist.
Im Feldlager sind sie doch wohl beide als anwesend
gedacht. Nach der jetzigen Bemalung, die wohl von
einem späteren Besitzer der Handschrift herrührt, ge¬
hören diese Wappen alle den Eppsteinern an. Diese
müsste man auch ohnedies als Inhaber der beiden großen
Zelte ganz rechts unten annelnnen, die außer dem AVap-
pen mit den drei Sparren noch das württembergische 2)
tragen, ein Umstand der auf eine engere Amrbindung
zwischen beiden Geschlechtern schließen lässt. That-
sächlich war Philipp von Eppstein mit Margaretha von
Württemberg verheiratet. Diese starb am 21. April 1470.
Die übrigen AVappen finden wir auf den beiden
größeren Blättern, die miteinander in Zusammenhang
stehen, dem Zuzug der Kontingente und dem Feldlager,
und zwar das der Grafen von Erhacti an dem Fähnchen
des hintersten Wagens im Zuge und viermal im Feld¬
lager auf der linken Seite, das der Grafen von Nassau
am Fähnchen des mittleren Wagens und wahrscheinlich
auch an einem Zelt auf der rechten Seite des Lagers.
Endlich sehen wir noch auf dem Banner hinter dem
großen Zelt mit dem württembergischen AVappen das
nassauische Wappen in Verbindung mit dem Mainzer
Rad. Es ist das des Grafen Adolf 11. von Nassau, der
von 1463 — 1475 Erzbischof von Mainz war.
1) 2. Aufl. Nürnberg 1657, 1. Band, S. 111.
2) Es sind hier allerdings nur zwei Hirschhörner an¬
statt der drei sonst üblichen vorhanden, doch lässt sich das
AVappen kaum anders als auf AVürttemberg deuten. Dem
entspricht auch die jetzige Bemalung.
72
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
Sicherlich ist es kein Zufall, keine Laune des
Künstlers gewesen, dass er da, wo er ^ eraulassung
liatte, Wappen anzuhriugen, die rlieinfränkischer Ge¬
schlechter verwendet hat. Sie müssen ihm besonders
vertraut gewesen sein. Wir können nocli einen Schritt
weiter gehen und sagen: diese M'appen gehörten dem
Adel der engeren Heimat des Künstlers an; er ist also
ein Eheiufranke gewesen. Zu demselben Ergebnis
kommen wir, wenn wir die Orte ins Auge fassen, an
denen sich seine Bilder früher befunden haben oder noch
jetzi befinden. Mit Ausnahme von Bossweiler bei Grün-
stedt in der bayerischen Pfalz (Bez.-Amt Fraukenthal)
liegen sie alle im Großherzogtum Hessen. Es sind:
Wachenheim a. d. Pfrimm (Kreis Worms), Wolfskehlen
und Leeheim (Kreis Großgerau), Seligenstadt (Kreis
Offenbach) und Mainz. Als Wohnort des Meisters
können wir uns nur eine größere Stadt, einen der
Mittelpunkte des geistigen und künstlerischen Lebens
denken. La kämen denn zunächst nur i/ar/r. und
Frrnil'furt in Betracht. Die Mundart der Sprüche auf
dem Gothaer Bilde bestätigt das. Es ist die, welche
im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Frankfurt
gesprochen wurde. ') Die Mainzer Mundart wird aber
damals kaum von der Frankfurter verschieden gewesen
sein, wie sie ja auch heutzutage nicht von ihr abweicht.
Ich möchte annehmen, unser Meister sei in Mainz thätig
gewesen, obgleich ich einen eigentlichen Beweis dafür
noch nicht zu bringen vermag. Wer ihn für einen
Frankfurter halten will, thut es mit demselben Eecht.
Für meine Annahme kann ich allein den Umstand geltend
machen, dass die Mainzer Bücherillustration der Zeit
deutliche Anklänge an die Art des Meisters zeigt.
Ganz auffallend ist dies bei den Holzschnitten der
1492 von Peter Schöffer gedruckten „Cronecken der
sassen“ von Conrad Botho. Eine genauere Untersuchung
dürfte sogar zu dem Ergebnis führen, dass die Zeich¬
nungen zu diesen Holzschnitten von dem Meister selbst
herrühren. Sie erinnern vielfach au die größeren und
derberen Zeichnungen im Hausbuche. Es wäre eine
gewiss lohnende Aufgabe, den Mainzer Holzschnitt am
Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts einmal
auf den Hausbuchmeister hin durchzusehen.
Auch über die Zeit der Thätigkeit des Meisters
lassen sich nunmehr genauere Angaben machen, als
dies bis jetzt möglich war. Zunächst steht fest, dass
er 1505 noch lebte. Die Verkündigung in Mainz trägt
diese Jahreszahl. Seine Geburt darf man kaum später
als 1450 ansetzen, falls das Allianz- Wappen der Frank¬
furter Familien von Rohrbach und von Holzhausen vom
1) Man vergl. z. B. Frankfurts Reichskoi-respondenz,
herausgegeben von J. Janssen, 2. Bd. und Wülcker, Urkunden
und Akten betreffend die Belagerung von Neuß 1474—75
(Neujahrsblatt des Vereins für Geschichte und Altertums¬
kunde zu Frankfurt a. M. 1877).
Monogrammisten bx8 (P. 11, 123) wirklich aus dem
Jahre 1466 oder 67 stammt und falls diesem Stich
wirklich ein Original des Hausbuchmeisters zu Grunde
liegt.*) Er ist also ein Altersgenosse Schongauer’s.
Über seinen Entwicklungsgang lassen sich vor¬
läufig nur Vermutungen äußern. Wahrscheinlich hat
er als Maler begonnen und als solcher den Einfluss der
Niederländer, namentlich Hans Memling’s, erfahren, ^
und zwar nicht erst in Flandern, sondern in der Heimat.
Wir müssen wohl annehmen, dass Memling, der ja aus
Mömlingen bei Aschaffenburg stammte, in Deutschland,
höchst wahrscheinlich in Mainz, gelernt und noch längere
Zeit dort gearbeitet hat, ehe er nach den Niederlanden
übergesiedelt ist. Wäre er nämlich jung dorthin ge¬
kommen und hätte er sich frühzeitig dort niedergelassen,
so hätte er doch wohl seinen deutschen Vornamen Hans
bald mit dem vlämischen Jan vertauscht. Es ist gar
nicht undenkbar, dass der ältere Memling und der jüngere
Meister des Hausbuchs aus derselben Mainzer Werkstätte
hervorgegaugen sind. — Als Kupferstecher hat er wohl
erst später begonnen, seine stecherische Thätigkeit würde
dann einen Zeitraum von etwa 25 — 30 Jahren umfassen,
ungefähr vom Jahre 1480 an gerechnet, so dass der
Name „Meister von 1480“, unter dem er in den älteren
Handbüchern geht, nicht so ganz aus der Luft gegriffen wäre.
Friedrich Lippmann, der in den Stichen des un¬
bekannten Meisters Jugendarbeiten Holbein’s d. ä. er¬
kennen wollte, war dadurch zu der Annahme gezwungen,
sämtliche Stiche seien in einem verhältnismäßig kurzen
Zeitraum rasch hinter einander entstanden. Doch fragt
es sich, abgesehen von bedeutenderen Einwänden, auf
welche AVeise man die vielen Unterschiede technischer und
stilistischer Art, die wirklich zwischen einzelnen Stichen
vorhanden sind, erklären wollte, wenn nicht durch einen
großen zeitlichen Abstand. Man vergleiche nur so un¬
beholfene Blätter wie Simson mit dem Löwen (L. 5),
Siuison und Delila (L. 6) oder die Bekehrung Saul’s
(L. 41) mit meisterhaften, wie die Hirschjagd (L. 67)
oder das Liebespaar (L. 75). Leider stellen sich, da
auch nicht ein einziger Stich datirt ist, ihrer zeitlichen
Anordnung die größten Schwierigkeiten entgegen. Hier
können meist nur datirte oder datirbare Kopieen einige
Anhaltspunkte bieten.
Dies ist der Fall bei der Madonna im Strahlen¬
kränze L. 27, die vor 1497 entstanden sein muss.
Das Darmstädter Museum besitzt nämlich seit Kur¬
zem ein gemaltes, aus der Kirche von Nieder-Erlen-
bach stammendes Triptychon, das die Jahreszahl 1497
1) Vergl. Lebrs, Katalog der deutschen Kupferstiche
des 15. Jahrh. im Germanischen Museum, S. 28 — 31.
2) Man vergl. auch die Bemerkung Passavant’s im
Peintre-graveur II, 255: „Ges gravures nous rappellent quel-
quefois le caractere particulier des compositions de Hans
Memling.“
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Franz Stack
WFjfBLICFliiJR STUDIENKOPF.
Druck V F! A. Brockhaus, Ijeipz^ig.
Probebild aus dem Werke: „Den Deutschen Österreichs!“
Verlag von J. F. Lehmann in München.
DER MEISTER DES HAUSBUCHES ALS MALER.
73
trägt.*) Dieses Triptychon ist insofern bemerkenswert,
als sich der Maler darin ohne jegliche Erfindungsgabe
zeigt. So ist auf dem Mittelbild die Hauptfigur, die
Madonna, nach dem Stiche des Haushuchmeisters L. 27
kopirt, links von ihr der Erzengel Michael nach Schon-
gauer B. 58 (nur dass auf dem Bilde der Engel vier
nackte Kinder auf dem linken Arm hat); rechts von
ilir der heilige Hieronymus als Kardinal mit dem Löwen
dürfte ebenfalls auf einen Stich zurückgehen. Auf den
Innenseiten der Flügel sehen wir die zwölf Apostel, und
zwar sind auf dem rechten Flügel fünf von ihnen Kopien
nach Schongauer (Andreas nach B. 35, Jakobus d. ä.
nach B. 36, Judas, Thaddäus nach B. 42, Philippus nach
B. 38, Simon nach B. 43), der sechste, Mathäus, sowie
die sechs Apostel des linken Flügels sind kaum eigene
Erfindungen des Malers, sondern wahrscheinlich ebenfalls
nach Stichen kopirt Auf den Außenseiten der Flügel
sehen wir links die Verkündigung nach Schongauer B. 3,
rechts noch einmal den Erzengel Michael, allerdings in
ganz anderer Auffassung als auf dem Mittelbilde. Er
steht auf einem Felsblock und hält mit der Linken die
Wage, deren eine Schale mit einer Seele in Gestalt
eines nackten Kindes in die Höhe schwebt, während die
andere durch ein Höllenungeheuer niedergedrückt wird,
auf das der Engel den linken Fuß und das Stabkreuz
gesetzt hat. Wir haben hier ohne allen Zweifel die
Kopie eines verschollenen Originals, jedenfalls eines
Stiches, des Hausbuchmeisters vor uns. Es ist derselbe
Gesichtstypus und dieselbe Gewandbehandlung wie bei
Maria auf der Heimsuchung L. 7 und beim Erzengel
Michael L. 39. Auch die Pfauenfittiche, die wir von den
Bildern her kennen, fehlen nicht. — Das Ast- und
Raukenwerk, das die Tafeln der Innenseiten oben ab¬
schließt, ist ebenfalls den Stichen unseres Meisters entlehnt.
Übrigens dürfte auch das Wappen mit dem Löwen
von Israel von Meckenheim B. 195 auf einen Stich des
Hausbuchmeisters zurückgehen.
Vielleicht lässt sich für die Entstehung noch eines
anderen Stiches eine Zeitgrenze angeben. Ich meine den
Türken zu Pferd L. 74. Bei diesem Sticlie drängen sich
einem sofort einige Fragen auf. Zunächst: wer ist
der Dargestellte? Doch nicht irgend ein gewöhnlicher
Türke, sondern einer, der Aufsehen erregte, von dem die
Leute redeten, dessen Bild man sich gern aufbewahrte,
und den deshalb der Künstler durch den Stichel ver¬
ewigte. Wie kam aber damals ein solch vornehmer Türke
an den Mittelrhein? Ich glaube eine Antwort auf
diese Fragen zu haben, die der Wahrheit ziemlich
1) Kunstdenkmäler im Großherzogtum Hessen , Kreis
Friedberg, bearbeitet von R. Adamy, S. 219. Dort auch ein
Lichtdruck der Innenseiten des Altars.
nahe kommen dürfte. Es gab damals allerdings einen
Türken, der eine gewisse Rolle in Deutschland spielte.
Es war Calixt Osman, ein Halbbruder (nach anderen ein
Sohn) Mohammed’s 11. Er hatte sicli in Rom taufen lassen
und lebte seit der Romfahrt Kaiser Friedrich’s III. 1469
an dessen Hofe. Als der Kaiser zu Ostern 1473 von
seinen Stammlanden auf brach, um in’s Reich, zunächst
nach Augsburg zum Reichstag zu ziehen, begleitete ihn
Calixt Osman. Von Augsburg ging die Reise nach dem
Westen, über Ulm und Esslingen, nach Baden-Baden,
dann nach Straßburg, Freiburg, Basel, Metz, endlich nach
Trier zur Zusammenkunft mit Karl dem Kühnen von
Burgund. In den zahlreichen Berichten über diese Zu¬
sammenkunft wird auch der türkische Prinz erwähnt,
von den einen, den besser Unterrichteten, als „frater
imperatoris Thurcorum, le frere du Turch“, von den
anderen als der „Turkesch keyser“. Von Trier fulir
Friedrich III. zu Schiff nach Koblenz, wo er am
28. November 1473 aukam, dann weiter nach Köln. Dort
blieb er bis zum 18. Januar 1474, dann ging es wieder
nach Koblenz zurück und von da zu Land über
Nastätten und Wiesbaden nach Frankfurt, wo er am
25. Januar eiutraf. Bei den Frankfurtern, auch den
Herren vom Rat, galt Calixt Osman als der „türkische
Kaiser“, wie aus der Beschreibung vom Aufenthalt Fried¬
rich’s III. in Frankfurt hervorgeht.*) Es wäre gar nicht
so unmöglich, dass unser Künstler in dem Türken zu
Pferd diesen „türkischen Kaiser“ hat darstelleu wollen.
Dann könnte aber der Stich nicht vor dem Besuch des
Kaisers Friedrich in Koblenz oder Frankfurt, also nicht
vor dem Winter 1473/74 entstanden sein. Wahrschein¬
lich jedoch ist er viel später anzusetzen, und es mögen
bis zur Übertragung der Zeichnung auf das Kupfer ruhig
eine Reihe von Jahren dahingegangen sein. Freilich
gehört der Stich schon aus technischen Gründen immer
noch zu den frühen, es trennt ihn z. B. von dem Liebes¬
paare L. 75, dem Blatte, das ihm in der Veröffent¬
lichung der chalkographischen Gesellschaft zunächst
folgt und das auf jeden Fall zu den späteren Arbeiten
gehört, ein großer zeitlicher Abstand. Ich kann hier
Max Lehrs nicht beipflichten, der sagt'ü: „Der Stich ge¬
hört zu den reifsten Arbeiten des Meisters. Die Aus¬
bildung des landschaftlichen Hintergrundes erinnert direkt
an Dürer.“ Der Stich mutet einen, wenn man ihn mit
manchem andern vergleicht, ziemlich reizlos an, nament¬
lich das Pferd ist viel hölzerner dargestellt, als z. B.
die auf den Jagdbildern. Endlich ist mir bei der Land¬
schaft des Hintergrundes noch nie der Gedanke an Dürer
gekommen.
1) Janssen, Frankfurts Reichskorrespondenz, 2. Bd.,
1. Abt., S. 304 u. 307.
2) Repert. f. Kunstwissensch. XV, 124.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 3.
10
EIN WIEDERERKANNTES BILD VON RUBENS.
MIT HELIOÜHAVCBE.
EI der Erüft'muig' der Galerie Miethke in
Wien im Friililiiig' dieses Jahres kam
unter anderen Idslier verborgen gehlie-
htmen oder dock nur AVenigen bekannt
gewesenen Schätzen, welche die AViener
Kunsthandlung ihr eigen nennt, auch ein
großes histoiisch-allegorisches llild von Rubens zu Tage,
welches vor einigen Jaliren mit anderen kostbai’en AVer-
keii alter niederländischer Meister aus einer schottischen
Privatsammlnng in den liesitz Miethke’s übergegangen ist.
Das auf Leinwand gemalte Bild (1,82 m Höhe und
2.73 m Breite messend) trug früher den Namen „Alars
und A^enus" und war mit dieser Bezeichnung auch vor
nicht langer Zeit in London in der Royal Academy
in einer der Ausstellungen von AA-Ta-ken alter Aleister
ausgestellt. AVenn es damals, von den Kennern wohl
beachtet und gewürdigt, gleichwohl nicht zu seinen
VI dien Ehren gelangt ist, so war daran wohl haupt¬
sächlich der zu jener Zeit nicht günstige Zustand der
Bildfläche schuld. Als dieselbe gereinigt war, kam ein
Aleisterwerk des Rubens zu Tage, das ebenso fesselnd
ist durch die Pracht und Erische seiner Alalerei wie durch
die Bedeutsamkeit des dargestellten Gegenstandes.
Dass dieser nicht als „Alars und A^enus“ bezeichnet
werden dürfe, war sofort klar. Und die Erinnerung au
das schöne Arpiarell des AVeimarer Museums, welches
im großen Rubenswerk von Rooses (T. V, pl. 414) ab¬
gebildet ist, fühlte denn auch bald auf die richtige Spur.
Rooses ei’klärt dasselbe zutreffend als zu der zweiten
Luxembourg-Folge gehörig und giebt ihm den Titel;
., Heinrich TV. ergreift die günstige Gelegenheit, Frieden
zu schließen“. I )ie Darstellung des AATimarer Aquarells,
von der mau Ins vor kurzem geglaubt hatte, dass sie
im Großen nie zur Ausführung gelangt sei, liegt uns in
dem Gemälde der Galerie Miethke vor.
AVir wissen, dass Alaria von Aledicis gleichzeitig
mit der Bestellung der Bilderfolge aus ihrem Leben für die
Galerie des Luxembourg auch den FHan eines zweiten, ver¬
mutlich ebenso umfangreichen Gemäldecyklus gefasst hatte,
welcher den Hauptbegelienheiteu der Geschichte König Hein-
rich’s IV. gewidmet sein sollte. *) Rubens hat, wie es
scheint, bald nach der Vollendung seiner Aledicis-Galerie
im Luxembourg (1625) sich mit der zweiten Gemäldereihe
zu beschäftigen begonnen. In seiner Koi-respondenz mit
1) S. das Nähere darüber bei Rooses, L’Oeuvre de P. P.
Rubens, III, p. 275 ff.
den Agenten der Königin und mit seinen Freunden liegen
davon die Spuren vor. ln einem Brief an Dupuy vom
27. Januar 1628 schi'eibt der Aleister: „Ich habe nun¬
mehr die Zeichnungen für die zweite Galerie begonnen,
welche nach meiner Aleinung der Natur des Gegenstandes
wegen noch schöner werden wird als die erste, so dass
ich damit auch noch höhere Ehren zu ei'ringen hoffe.“
(Alan vergl. den italienischen Text liei Ad. Rosenberg,
Rubensbriefe, S. 157.) Im Spätherbst des Jahres 1630
lieklagt sich Rubens brieflich bei demselben Freunde
darüber, dass man wegen ATrgrößerung der Thüren die
Höhe der Bilder um zwei Fuß niedriger machen wolle,
nachdem dieselben doch bereits in größeren Dimensionen
begonnen seien. Man möge ihm wenigstens einen halben
Fuß noch zugeben. Die Arbeit wurde dadurch Alonate lang
verzögert und endlich — seit 1631 — in Folge dazwischen
getretener politischer Hindernisse ganz abgebrochen. In
der „Speciflcation des peiutures trouvees ä la maison mor-
tuaire de feu Messiin Pierre-Paul Rubens“ lesen wir:
„Six grandes pieces imparfaictes, contenans des Sieges
des villes, batailles et triumphes de Henry quatriesme,
roy de France, qui sont conimence.es deiiuis quelques
annees pour la Galeiie de l’hostel du Luxembourg, de
la reyne mere de France.“
Von diesen sechs großen unvollendeten Stücken zur
Galerie HeinriclTs IV. betinden sich zwei bekanntlich
im Niobidensaale der üftizien zu Florenz. Das eine
stellt die „Schlacht von Ivry“, das andere den „Sieges¬
einzug lleinrich’s IV. in Paris“ dar. Es sind kolossale
Gemälde von etwa 7 m Länge und etwa 3'V4 ni Höhe mit
zahlreichen Figuren in Lebensgröße, gleich bewunderns¬
wert in der klaren Entwicklung der dargestellten Er¬
eignisse wie in der bravourösen Alalerei, die bei dem
letzterwähnten Bilde etwas weiter in der Vollendung
vorgeschritten ist als liei dem ersteren. Unzweifelhaft
besitzen wir in beiden Bildern AVei-ke von des Meisters
eigener Hand. ')
Dasselbe gilt von dem Bilde der Galerie Aliethke,
das zwar nicht die gleichen riesigen Dimensionen und,
seinem Gegenstände gemäß, auch nicht einen solchen Reich-
1) Rooses, a. a. 0. HI, p. 275 zählt noch zwei Gemälde
zu der Folge Heinrich’s IV., welche in Brüssel 1738 bei der
„vente Franla“ zur Versteigerung kamen, aber keine Käufer
fanden: „Die Belagerung von Paris“ und „Die Schlacht von
Constans“. Sie hatten, dem Auktionskataloge zufolge, eine
Höhe von 14 Fuß und eine Breite von 10 Fuß und 10 V2 2oll.
EIN WIEDERERKANNTES BILD VON RUBENS.
75
tum au Figuren aufweist, wie die beiden Kompositionen
in Florenz, aber unzweifelhaft ebenfalls in die zweite
Medicis-Folge gehört und in der Ausführung bedeutend
weiter vorgeschritten ist als die beiden Florentiner Bilder.
Als nicht ganz vollendet können nur einzelne Extremi¬
täten, z. B. die Füße des Genius in der Ecke links, be¬
zeichnet werden. Was sonst an dem Zustande des Ge¬
mäldes nicht voll befriedigt, wie vornehmlich die Kar-
nation der weiblichen unbekleideten Hauptfigur und der
beiden Putten am Boden, das hat in Folge des Durch¬
wachsens der Untermalung die ursprüngliche Frische
der Farbe verloren. Im übrigen ist die Malerei nicht
nur durchaus intakt, sondern auch von jener Transpa¬
renz und jenem blühenden Koloiit, welche in jedem
Pinselstrich die eigene Hand des Rubens und die Zeit
der höchsten Vollendung seiner Meisterschaft bekunden.
Man hat die Meinung ausgesprochen, dass die Früchte
im Schoße der sitzenden weiblichen Figur vielleicht
von Franz Snyders herrühren könnten. Wir wollen dem
nicht widersprechen. Snyders war bekanntlich ein ebenso
trefflicher Stillleben- wie Tiermaler undnebenJanBrueghel
wohl der geschickteste von den Gehilfen des Rubens.
Er konnte sich diesem so vollkommen anpassen, wie es
hier geschehen ist. .Jedoch ein zwingender Grund für
die Annahme seiner Mitarbeiterschaft liegt in unserem
Falle nicht vor.
Wie die Ausführung des Bildes, so fügt sich auch
dessen Gegenstand in der Konzeption und Auffassung
durchaus dem Stil der Medicifolgen ein. Es ist eine
Darstellung von jener allegorisirenden Art, in der die
Kunst des Meisters hier ihre glänzendsten Triumphe
feiert. Seine Gedankenwesen haben die nämliche Glaub¬
würdigkeit wie die Götter und Menschen: alle drei ver¬
kehren miteinander in der gleichen, leibhaftigen Welt;
niemandem fällt es ein, an ihrer AVirklichkeit zu zweifeln.
Von der rechten Seite her schreitet König Heinrich
in prächtiger, goldverzierter Stahlrüstung, die ein hell¬
roter Mantel umwallt, mit dem Medusenschild in der
Linken, etwas vorgebeugt herbei, um die „Günstige Ge¬
legenheit“ beim Schopf zu fassen. Zwei über seinem
Haupte schwebende Genien mit Lorbeerkranz und Sieges-
paline kennzeichnen ihn als den Glorreichen. Der grimme
Löwe mit vorgestreckter Tatze, ganz rechts zur Seite,
symbolisirt seine Stärke. Doch des Königs Gesinnung
ist offenbar schon dem Frieden zugeneigt. Es bedarf
zu seiner Überredung kaum mehr des milden Zuspruchs
der Göttin der Weisheit Pallas Athena, welche die Linke
zutraulich um den Nacken des Herrschers legt. Diese
Gestalt, mit ihrem Stahlhelm, den eine goldene Sphinx
bekrönt, mit dem jugendfrischen Antlitz und den kraft¬
strotzenden, in sanftgetönte Gewänder leicht gehüllten
Körperformen bildet neben dem König eine der herr¬
lichsten Figuren des Bildes. Über ihr schwebt die Eule.
In fast völliger Nacktheit steht die Hauptperson des
Bildes, die jugendliche Blondine da, in der uns der
Meister die „Günstige Gelegenheit“ verkörpert. Sie hält
nur leicht und schamhaft mit der Rechten einen Zipfel
des lichtroten Mantels, der um ihren linken Arm ge¬
schlungen ist und an dem der Genius zu ihren Füßen
sie fortzuziehen sich bemüht. In der Haartracht gleicht
sie jener berühmten Bronze des Lysippos, in welcher
dieser Meister den Kairos, den „Günstigen Augenblick“
dargestellt hatte. Um den Hinterkopf ist ihr Haar kurz,
nicht greifbar, nach vorn dagegen wallt es in langen
AVellen herab, so dass es die Hände der Pallas bequem
in die des Königs legen können. Mit jungfräulicher
Zartheit, die Linke graziös über dem Busen, giebt die
holde Schöne der Bewerbung nach, vor dem Blicke des
Königs die Augen senkend. Die linke Seite des Bildes ver¬
vollständigt dessen Gedankeninhalt. Hier sitzt, in reiche,
bauschige Gewänder gehüllt, die Göttin des Friedens
mit den Symbolen der xArbeit und des Erntesegens,
Ackergerät und Früchten. In Körperformen und Aus¬
druck matronal und welterfahren , unterstützt sie die
Aktion des oben schwebenden Kronos, der die „Gelegen¬
heit“ sanft vorwärts schiebt. Neben dem Zeitgott hält
ein Genius die zusammengeringelte Schlange, das Symbol
der Ewigkeit. Der vorhin erwähnte Kleine zu Füßen
der Friedensgöttin ergötzt sich an den Früchten, die
diese im Schoße trägt. Dem Boden entsprießen Blumen,
und rechts blicken wir in eine weite, wellige Land¬
schaft mit Buschwerk, Bäumen und Baulichkeiten, von
einem leicht bewölkten Himmel überspannt. In allen
diesen Teilen, besonders in dem reizvoll behandelten
landschaftlichen Hintergründe, tritt die eigenhändige
Pinselführung des Rubens mit überzeugender Klarheit
zu Tage. Die aus Anlass des Budapester Congresses
in diesem Herbst in Wien versammelten Kunsthistori¬
ker waren mit uns einig in der hohen Schätzung und
allseitigen Bewunderung des Werkes.
Abgesehen von dem oben erwähnten Weimarer Aqua¬
rell zählt Rooses (a. a. 0. III, p. 267 ff.) noch etwa ein
Dutzend Skizzen auf, welche mit größerer oder geringerer
Wahrscheinlichkeit zu der zweiten Medicisfolge gehören.
Die wichtigste derselben für unsern Gegenstand befindet
sich in der Galerie Liechtenstein zuAVien(Kat. v. J. 1885,
Nr. 100). In dieser flüchtigen, in Bister und wenigen
hellen Farbentönen leicht hingeworfenen Skizze (Höhe
0,64, Breite 0,50 cm) besitzen wir den ersten Ent¬
wurf zu dem Bilde der Galerie Miethke, und zwar in
seiner ursprünglich größer gedachten Form. Der in dem
fertigen Gemälde geschilderte Vorgang bildet im ersten
Entwurf den oberen Teil der Komposition, welche als
Teppich gedacht und von geschweiftem Ornament um¬
geben ist. Dazu kommt in der Skizze ein unterer
Teil, welcher eine sitzende weibliche Gestalt mit Keule
und Schlange in den Händen und neben ihr den Adler
des Jui)iter zeigt, nach der Deutung von Rooses die
Allegorie der „AVachsamkeit“ (s. die Heliogravüre von
R. Paulussen in AV. Bode’s AA^erk über die fürstlich
10
76
EIN PATRIOTISCHES KÜNSTLERBUCH.
Liecliteusteia'sclie Galerie). Die Yeriniitung- liegt nahe,
dass Eubeus in Folge des Wunsches der Königin, die
Dimensionen der Bilder za reduziren, von der erwei¬
terten Form der Komposition, wie sie die Skizze zeigt,
abgesehen liat und zu der comprimirten Darstellung des
Hauptgegenstandes übergegangen ist, welche uns in dem
Weimarer Aquarell und in dem Miethke’schen Bilde vorliegt.
Von dem letzteren besitzen wir endlich auch noch
eine gute alte Kopie in der Galerie von Sanssouci
(^Großer Saal, Nr. 9). Sie stimmt in allem Wesentlichen
mit dem Original überein, ist aber etwas kleiner als
dieses (Höhe 1,60, Breite 2,08 m). Schon Smith (Cat.
rais. IX, p. 287, Nr. 161) und Rooses (a. a. 0. III, i».
274) haben ihrer gedacht. Letzterer unter bestimmter
Bezeichnung des Bildes als Kopie, ohne das nun glück¬
lich wiedererkanute Original zu kennen.
a V. LtiTzow.
EIN PATRIOTISCHES KÜNSTLERBUCH. 0
MIT ABBILDUNGEN.
EN zahlreichen illustrirten
Dichterbüchern und sonstigen
litterarischen Sammelwerken
mit artistischem Schmuck tritt
hier ein Künstlerbuch zur Seite,
in dem nicht das Wort, son¬
dern das Bild die Hauptsache ist und dem
beigefügten Text nur der Charakter eines
poetischen Ornamentes zukommt.
Das Werk verdient als geschmackvoll
ausgestattetes Buch und vor allem seines
patriotischen Zweckes wegen die wärmste
Anerkennung und thatkräftigste Förderung.
Es soll nämlich durch sein Erträgnis den hart
bedrängten Deutschen Österreichs zu Hilfe
kommen, insbesondere dem neu gegründeten
deutschen Studentenheim und dem deutschen
Vereinshause in Cilli materielle Unterstützung
gewähren. Ein in München Anfang dieses
Jahres gehaltener Vortrag von Heinrich Was-
tian aus Graz gab den ersten Anstoß zu dem
schönen Unternehmen.
Der Münchener „Verein zur Erhaltung
des Deutschtums im Auslande“ bildete einen
besonderen „Hilfsausschuss für Cilli“, und zu
den Veranstaltungen dieses Ausschusses gehört
das vorliegende Prachtwerk, zu dessen künst¬
lerischer Herstellung eine große Anzahl deut¬
scher Maler, namentlich Münchener, sich
vereinigt haben. Wastian schildert in der
1) Den Deidschen Österreichs ! Hundert
Studienblätter deutscher Künstler. Auf Veran¬
lassung und unter Mitwirkung des Münchener
,, Hilfsausschusses für Cilli“ herausgegeben unter
der künstlerischen Leitung von Franz von, De-
fregcjer zu Gunsten des deutschen Studentenheims
und des deutschen Vereinshauses in Cilli. Mit
Text von Professor Dr. Max Haushofer und einer
Einleitung von Heinrich Wastian. München,
J. F. Lehmann. 1896. XXIII u. 18 S. 4°.
Itrrix/JBncH.riJ/r/a^K i n
Eine deutsche Madonna. Von Otto Seitz.
Aus dem Werke: Den Deutschen Österreiclis ! München, J. F. Lehmann.
EIN PATRIOTISCHES KÜNSTLERBUCH.
77
Einleitimg des Werkes, welche die Überschrift „Auf
gefährlicher Scholle“ trägt, mit beredten AVorten die
Bedrängnis der Deutschen in Österreich, welche vor¬
nehmlich gegen den xAnsturm der vereinigten slavischen
deutsche A^olk“ — sagt er — ,,darf nicht achtlos und
stillschweigend darüber liinwegblicken, dass mächtige,
ursprüngliche und urdeutsche Volks- und Reichsteile dem
deutschen A^olkstume entfremdet zu werden drohen; es
Der Dorfschulze, von L, Knaus. Ans dem Werke: Den Deutschen Österreichs! München, .7. F. Lehmann.
„Zwergvölker“ immer heftiger entbrennende Kämpfe
zu bestehen haben. Er richtet dabei auch wohl zu
beherzigende AVorte an die Deutschen im Reiche, deren
Sinn und Herz für diese Kämpfe der Deutschen der
Ostmark nur allzuwenig erschlossen ist. „Das große
muss den großen Verzicht auf nationale Macht und Ehre
sich vor Augen halten, den der Verlust' der alten Ost¬
mark, dieser größten Siedelung deutschen Stammes, be¬
deuten müsste, für den die wiedergewonnene AVestmark
des Reiches, Elsass-Lothringen, keinen Ersatz bietet.“
78
EIN PATRIOTISCHES KÜNSTLERBUCH.
Dass diese "Worte in den Kiinstlerkreisen Deutschlands
ihr lautes Echo gefunden haben, das l)e\veisen die kost¬
baren Beiträge, welche die deutschen Maler und Zeichner
aller Schulen zu dem Werke beisteuerten. Es fehlt
darunter kaum ein gefeierter Name der Gegenwart; aus
Ost undAVest, aus Nord und Süd flogen reizvolle Studien¬
blätter figürlicher und landschaftlicher Natur, poetische
Kompositionen, Schilderungen deutscher A'olkstypen, Cha¬
rakterbilder bedeutender Persönlichkeiten, vornehmlich
aber eine Fülle schöner A’eduten und Skizzen aus den
deutschen Bergen dem Herausgeber zu. Sie sind teils
als besondere Tafeln durch Heliogravüre oder Lichtdruck,
teils als Textillustrationen in autotypischer AViedergahe
dem AVerke eingefügt. AATr nennen unter den Spendern
beispielsweise K. A. Baur (München), Böcklin (Florenz),
L. Burger (AVien), Defregger (München), 0. Eckmaun
(München), AAkalter Firle (München), L. Friedrich (Dresden),
A. D. Goltz (AATen), 0. Graf (München), Tony Grubhofer
(Meran), A. von Heyden (Berlin), C. Karger (AVien),
Fr. Aug. Kaulbach (München), L. Knaus (Berlin), AV. L.
Lehmann (München), Lenbach (München), Liebermann
(Berlin), Löfftz (München), Menzel (Berlin), H. Meyer
(Berlin), Oberländer (München), Räuber (München), P.
Ritter (Nürnberg), G. Schoenleber (Karlsruhe), Otto Seitz
(München), Franz Stuck (München), 0. übbelohde (Mün¬
chen), .T. und L. AATllroider (München). Die Leser finden
einige Proben der Illustrationen diesem Aufsatze bei¬
gegeben. Auch manche Spende von Verstorbenen ziert
das Buch. Eine Reihe von Beiträgen musste zurück¬
gelassen werden, da sie aus Raummangel nicht mehr auf¬
genommen werden konnten. ATelleicht wird ein erneuerter
Appell an die Küustlerwelt von Nöten sein und sich dann
die Form finden, um auch die AA^erke der diesmal Zurück¬
gebliebenen zugleich mit den Spenden anderer Geiiossen
dem Publikum vorzuführen.
Für den Text hat Max Haushofer einen originellen
poetischen Rahmen komponirt. Er lässt an einem der
gesegneten Regentage des im wahren Sinne des AVortes
verflossenen Sommers 1896 eine muntere Gesellschaft
aus Nord und Süd, Herren und Damen, an einem von
Felsbergen umgürteten See des österreichischen Alpen¬
landes Zusammenkommen. Je weniger von der A^eranda
des Gasthauses aus damals von der schönen Natur zu
sehen war, desto bereitwilliger erschlossen sich Herz
und Humor der bald näher bekannt gewordenen Gäste.
Haushofer legt ihnen die einlaufenden Beiträge der
Künstler vor und bald dieser, bald jener aus der Gesell¬
schaft erfindet dazu eine lustige Geschichte, lässt sich
durch das eine Blatt an ein ernstes Erlebnis, durch das
andere an einen komischen A'orfall aus dem Leben er¬
innern, und so entsteht ein Arabeskenspiel in AVorten,
das zu den hübschen Bildern das anmutigste Beiwerk
abgiebt. Dass am Schluss zwei der fröhlichen Touristen
und Touristinnen ein glückliches Paar werden, versteht
sich von selbst. *
Burgruine Ober-Cilli.
Kopfleiste von 0. Übbelohde. Aus dem Werke: Den Deutsclien Österreichs! München, J. F. Lehmann.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Handbuch der Kunstgeschichte von Aiüoit Springer.
Vierte Auflage der Grundzüge der Kunstgescliichte. lllu-
strirte Ausgabe. 4 Bde. In Lwd. geV). M. 24. — . In eleg.
Halbfrzbd. geb. M. 28. — . Lei]izig, E. A. Seemann.
In vier stattliclien Großoktavbänden liegt nunmelir die
äußerlich völlig und im Texte zum Teil veränderte, durch¬
weg verbesserte uird revidirte Neugestaltung der „Grundzüge“
vor, die mit uird nach den Werken Lübke’s den Hauptairteil
an der Popularisirung der Kunstgeschichte auf wissenschaft¬
licher Grundlage gehabt haben. Diese Neugestaltung ist
nicht etwa eine Buchhändlerspekulation, sondern, wie aus
dem Nachworte des Verlegers hervorgeht, nur die Ausführung
eines von Springer seihst geplanten Unternehmens, an der
er sich selbst nicht mehr beteiligen konnte. Ihm zuerst hat
sich die Überzeugung aufgedrängt, dass die Trennung des
Textes von den Bildertafeln nicht bloß dem flüchtigen Leser,
sondern auch dem nach gründlicher Belehrung Suchenden
am Ende doch sehr unbequem geworden war. Dass eine
solche Trennung überhaupt erfolgen konnte, erklärt sich aus
der Entstehungsgeschichte der ,, Kunsthistorischen Bilder¬
bogen“, die der Verleger in seinem Nachworte erzählt. Es
ist bekannt, dass sich erst nach dem unerwarteten Erfolge
das Bedürfnis nach einem Texte geltend machte und dass aus
einem kurzen Texte sehr bald die „Grundzüge“ entstanden
sind. Mit der vierten Auflage ist nun die Verschmelzung
von Text und Ahbildungen, soweit sie möglich war, vollzogen
worden. Was von Abbildungen irr das für das „Handbuch“
gewählte Format nicht passte, wurde entweder ausgeschlossen
oder durch kleinere Reproduktionen ersetzt, uird ebenso ge¬
schah es mit veralteten oder den jetzigen .Ansprüchen nicht
mehr genügenden Illustrationen. Für den Ersatz ist über¬
wiegend die Netzätzung auf Grund der besten vorhandenen
Photogi-aphieen gewählt worden, und dieses Reproduktions¬
mittel ist, trotz seiner augenfälligen Schwächen, gegenwärtig
so allgemein angenommen worden, dass kein Verleger, der
mit Erfolg in dem immer heftiger werdenden Konkurrenz¬
kampf eintreten will, jenes Mittels entraten kann. Nach dem
Fortschritte, die die reproduzirende Technik in den letzten
Jahren gemacht hat, ist mit Sicherheit zu hoffen, dass auch
die Netzätzung die ihr noch anhaftenden Mängel abstreifen
oder dass sie durch eine andere, das künstlerisch gebildete
Auge mehr befriedigende Technik ersetzt werden wird.
Solche Verbesserungen würden besonders der völligen Um¬
arbeitung der „Kunsthistorischen Bilderbogen“ zu gute
kommen, die der Verleger vorbereitet. Einstweilen ist das
„Handbuch“ ganz auf eigene Füße gestellt, ohne dass der
Leser anderweitig Umschau zu halten braucht. Es enthält
in seinen vier Bänden die imposante Zahl von 1450 Text¬
illustrationen, wozu sich noch acht Tafeln in Farbendruck
gesellen. Auch ein Fachgelehrter wird in diesem Apparat kaum
etwas vermissen, das ihm, wenn er nicht gerade eine ent¬
legene Specialität betreibt, unentbehrlich dünken wird, und
ebensowenig wird er eine empflndliche Lücke im Texte be¬
merken, obwohl gerade die Neugestaltung und Revision des
Textes manche Schwierigkeit in Bezug auf die Meinungsver¬
schiedenheiten der Fachgelehrten bot. Am glattesten ging es
mit dem ersten, die Kunst des Altertums behandelnden Bande
ab, dessen Durchsicht dem langjährigen F reunde desV erewigten.
Prof Adolf Michaelis in Straßljurg, anvertraut wurde. Er
ist eine unbestrittene Autorität auf dem Gebiete der alten
Kunstgeschichte, ein sicherer Fels unter den jüngeren Hei߬
spornen der Archäologie, die in neuerer Zeit überraschend viele
Originalwerke von Phidias und Praxiteles oder doch ihnen
sehr nahe stehende Kopieen in entlegenen Sammlungen ent¬
deckt haben. Eine starke Dosis von Konservatismus muss
der Herausgeber eines Lehr- und Handbuches besitzen, das
auf Jahre hinairs seine Autorität bewahren soll; er darf sich
aber auch nicht ganz gegen Wahrscheinliches und An-
sprecliendes in neuen Entdeckungen und Forschungen ver¬
schließen. Michaelis hat mit Glück die richtige Mitte inne¬
gehalten. Für die drei anderen Bände war die Lage viel
schwieriger. Der Sohn und Erbe des Verfassers, Prof. Jaro
Springer, der auf demselben Gebiete der Wissenschaft ar¬
beitet, hatte hier einen Kampf zwischen Pietät und wissen¬
schaftlichem Eifer auszufechten. Er wollte den Vater nicht
schulmeistern, er wollte aber auch nicht an den neuesten
Ergelinissen der Knnstforsclmng vorübergehen. Dass viele
davoir ebenso glänzend wie trügerisch sind, wird er wohl
durchschaut haben, und er hat sich denn auch mit seinen
Zusätzen und Veränderungen auf das am wenigsten anfecht¬
bare beschränkt. Vielleicht wird man gut thun, auch diesen
Veränderungen gegenüber soweit sie nicht, wie z. B. die an¬
schaulichere Darlegung des gotischen Gewölbebaus, sachlich
begründet sind, noch einige Vorsicht zu beachten. Das gilt
natürlich nur für die Fachschriftsteller, die in dem Handbuch
nachschlagen, und namentlich für die Lehrer der Kunstge¬
schichte an denUniversitäten, rlie jetzt eine vortreffliche Grund¬
lage haben, auf denen sie ihre eigenen Doktrinen auf bauen oder
mit deren Hilfe sie ihren Hörern die einzelnen Abschnitte inj ede
erwünschte Vielseitigkeit erweitern können. Der Laie, der nur
einen reinen und möglichst vollkommenen ästhetischen Ge¬
nuss sucht, hat an dem Streit der Kunstgelehrten kein
Interesse. Es ist ihm ganz gleichgültig, wer Barthel Beham
und wer der Meister von Messkirch ist oder wer den Altar
des Todes der klaria gemalt hat, zwei Streitfragen, die jetzt
ein Dutzend junger Gelehrter nützlich und angenehm lie-
schäftigen. Der Laie fragt nur nach den Größen der Kunst¬
geschichte, und diese hat Meister Anton Springer in seiner
großen Art eines über alle Kleinigkeiten erhabenen Histo¬
rikers so klassisch geschildert, dass die spätere Zeit diese
Bilder wohl in Einzelzügen erweitern, aber niemals stürzen
wird. Wenn die jüngeren Kunsthistoriker, die nicht seine
Schüler waren, alier vielleicht vom Hörensagen oder aus
seinen Schriften seine Methode kennen gelernt haben, noch
sonst etwas von ihm profltiren wollen, so empfehlen wir
ihnen das Studium seines Stils. Einfachheit, Klarheit,
plastische Schönheit! Diese Vorzüge verbanden sich mit
einem universalen Wissen, und beides zusammen wird sein
Gedächtnis noch lange in den Kreisen derer, die ihm nach¬
streben, erhalten! A. li.
80
KLEINE MITTEILUNGEN.
Der Öllierg zu Ulm. (Ulmor Müiisterhlätter.)
E. de Goncourt, Hohousai. Paris,
Bibliotheque Charpentier 1896.
a 3,50 frs. le vol.
Eine Serie von Monographieen
japanischer Künstler hat uns E. de
Goncourt in Aussicht gestellt. Er¬
schienen war Insher das Leben des
Outaniaro. Jetzt folgt die Biogra¬
phie des Ilokusai, des Begründers
des modernen japanischen Natura¬
lismus (1760 — 1849). Die Lebens¬
geschichte des Meisters von Yeddo
ist wenig bekannt, da der große
Naturalist, der heute in Japan wie
in Europa wohl der bestgekannte
und höchstgeschätzte Künstler Ost¬
asiens sein dürfte, zu seinen Leb¬
zeiten verhältnismäßig wenig be¬
achtet wurde. Gegen die offizielle
Kunst der Tosa- und Kairo -Schule
vermochte er zu seinen Lebzeiten
mit seinen zumeist dem täglichen
Leben entnommenen Stofi'en nicht
aufzukommen. Goncourt giebt einen
sehr ausführlichen und gewissen¬
haften Nachweis der Werke Hoku-
sai’s, vor allem auf Grund der Samm¬
lung Hayashi, die ein fast komplet¬
tes Oeuvre des Meisters aufweist,
ferner der Sammlung Bing u. a. m.
Für Hokusai-Sammler ist das Buch
höchst wertvoll. Für die Lebensge¬
schichte des Meisters sind außer einer
kurzen, bereits früher benutzten
Biographie aus dem Werke ,,ükil-
joye Ruikö“ von Kioden, noch eine
Biographie ,,Katsusika Hokusai-
den“ von 1-ijima llanjuro benutzt,
deren Übersetzung Goncourt, wie
die der Yorworte der von Hokusai
illustrirten Werke, der Gefälligkeit
japanischer Freunde verdankt.
M. SCHMW.
Der Ölberg \u Ulm, nach dem
Biss des Matthäus Böblinger (1474).
Wir bringen dies Blatt als Nach¬
trag zu S. 33 dieses Bandes, wo aus¬
führlich über die besondere Bedeu¬
tung des Bisses und die Schick¬
sale des später danach aufgeführten
Bauwerks gehandelt wurde. Die
nachträgliche Abbildung des viel¬
gepriesenen Meisterwerks des Ulmer
Gotikers dürfte um so willkommener
sein, als die Ulmer Münsterblätter,
deren G. Heft (1889) wir dieselbe
entnehmen, doch nur in verhältnis¬
mäßig wenigen Händen sind.
KC
Herausgeber: Carl von Lütxoto in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
„Plnllis on the new made hay.‘‘ Aus Pan-Pipes von W. Crane.
WALTER CRANE.
MIT ABBILDUNGEN.
ENN irgend eine lierverragende und weit¬
hin leuchtende Persönlichkeit einmal er¬
fasst und ihr Charakterbild von den Zeit¬
genossen festgestellt worden ist, so dass
es eine allgeineingiiltige Form anzu¬
nehmen begonnen hat, so erscheint es
billige Weisheit, sich in endlosen Wiederholungen zu
ergehen und feststehende Wahrheiten in immer neuen
Bestätigungen wieder aufzuwärmen. Wer heute noch
etwas wirklich Neues über Fixsterne der bildenden Kunst,
wie Menzel oder Böcklin, oder einen Courbet und Millet,
zu sagen hätte, der dürfte voraussichtlich wohl kaum
zu der Zunft derer gehören, welche kritisiren und
registriren. Ihm müsste schon neue Entdeckungskraft
und die Fähigkeit verliehen sein, als geistige Fort¬
setzung über sie hinaus zu denken.
Etwas anders liegen die Binge bei der Beurtei¬
lung einer neuen Erscheinung am Kunsthimmel. Hier
droht sogleich die Gefahr, den Maßstab entweder zu
klein oder „etwas“ zu groß auzulegen. Für irgend einen
kuriosen Liebhaber ließe sich leicht aus der langen
Reihenfolge von Zeugnissen, mit denen von alters her
allerlei inkommensurable Gi'ößen bei ihrem Eintritt
in das kritische Fegefeuer begrüßt und entweder in
den Himmel gehoben, oder „abgeschlachtet“ und „ge¬
kreuzigt“ worden sind, eine kleine Bibliothek unfreiwil¬
liger Komik zusammenstellen. Sobald ein neuei- Stern
Bei den alten lieben Toten,
Will man Erklärung, liraucht man Noten.
Die Neuen glaubt man blank zu versteh’n;
Ohne Dolmetsch wird’s auch nicht geh’n.
Goethe.
aufgeht, giebt es ja der Interpreten immer genug. Weil
der erste Eindruck der frischeste ist, glaubt man, er
sei auch der untrüglichste, und ein lichtiges Projektions¬
bild zu erhalten, hinge nur von der mehr oder minder
plastischen Ausdrucksfähigkeit des Schriftstellers ab.
Trifft das auch häuffg zu, so erscheinen doch von Zeit
zu Zeit Sonnen, deren Strahlen nicht in dem ersten
besten kritischen Brennspiegel aufgefangen werden
können, Persönlichkeiten, deren Sprache so sehr ihre
eigene ist, dass sie sich nicht immer gleich verdol¬
metschen und in die landesübliche Münze umprägen lässt.
Auf dem Gebiete derjenigen Schöpferkraft, deren
Wurzeln aus der reinen Phantasie entspringen, lassen
sich ein Süd-, ein Mittel- und ein Nordgermane heraus¬
greifen, über deren charakteristische Eigenschaften der Ver¬
fasser des „Rembrandt als Erzieher“ vielleicht Stoff genug
ffnden könnte, ein neues umfangreiches Buch zu schreiben.
Sie stellen ein mitteleuropäisches Künstlerdreieck dar,
mit den Stützpunkten in Basel, Leipzig und London.
An des Schweizers Böcklin heitere Urwüchsigkeit mit
ihren Fabelwesen reiht sich des Sachsen Max Klhnjcr
grübelnder Tiefsinn, mit seinem herben Ernst und dem
philosophischen Zug seiner Probleme. Als Dritter ge¬
sellt sich ergänzend zu beiden der Engländer Crane,
in keinem einzelnen Punkte vielleicht ihrer individuellen
Abgeschlossenheit vergleichbar, aber als Ganzes, in der
Eigenschaft eines Bindegliedes zwischen Kunst und Leben,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. 11. 4.
82
WALTER GRANE.
ihi'er Bedeutung kaum imebenbürtig. An selbständiger
Hoheit und stolzer Kraft von beiden übertroffen, steht
er gleich weit ab vom einen wie vom andern, und gerade
diese Mittelstellung 'lässt ihn berufen erscheinen, die
tiefe Kluft, welche Künstlertum und Kunsthandwerk so
laime voneinander trennte, zu überbrücken und eine
\’ennittlerrolle zu übernelimen, die selbstherrlicheren
und weniger anpassungsfähigen Begabungen meistens
versagt ist.
Auch Walter Ch-anc gehört zu jener Art von Pro¬
pheten, welche beim ersten Auftreten kaum irgendwo
Gehör zu linden pflegen, ganz abgesehen vom eigenen
\'aterlande. Als die Zeitschrift vor Jahren einmal um
nähere Auskunft über ihn in London anfragte, weil dort
eine solche voraussichtlich am ehesten zu erlangen ge¬
wesen wäre, erhielt sie die sehr liezeichnende Gegen¬
frage: „Wer ist Grane?“ Und anderswo wusste man
ebensowenig von ihm zu sagen. Die Wenigen, „die was
davon erkannt“, mögen damals ihre Entdeckung für sich be¬
halten haben, in vorsichtiger Erkenntnis der Gefährlich¬
keit, etwas Neues unumwunden anzuerkennen, bevor es
durch eine Anzahl authentischer Beglaubigungszeugnisse
für die öffentliche Bewunderung sanktionirt worden war.
Die Thatsachen haben seither zu Gunsten des Künstlers
entschieden, und heute würde sich wohl niemand mehr
mit einer Frage, wie die obige, ein testimonium pau-
pertatis ausstelleu mögen.
Am 15. August 1845 in Liverpool, als der Sohn
des aus der Grafschaft Chester stammenden Miniatur-
maleis Thomas Grane geboren, steht unser Künstler
jetzt im zweiimdfiinfzigsten Lebemsjahre und im vollen
Strom seines Schaffens und Wirkens. Da das äußere
Leben eines modernen Künstlers in der Regel an er¬
schütternden Ereignissen, besonders dann, wenn es
sich in der aufsteigenden Ebene des Erfolges bewegt,
nicht sonderlich reich ist, so wird unser Hauptaugen¬
merk auf die rein künstlerische Seite seiner Ent¬
wicklung gerichtet Ideiben. Weniger, als beim Schrift¬
steller, steht beim bildenden Künstler das eigene Schick¬
sal in unmittelbarer Beziehung zum Werke der Hand; denn
die Fäden, welche sich vom Leben zur Kunst hinüber¬
ziehen, sind Tiei letzterem in den meisten Fällen ver¬
borgener und undetinirbarer, weil er oft nur auf das
Zufällige und flüchtig Erschaute, der Dichter weit mehr
auf das Selbsterlebte, Folgerichtige, angewiesen ist. Der
Schwerpunkt einer kritischen Untersuchung über den
bildenden Künstler kann inffdgedessen auch nicht darin
beruhen, eine mit vielen Einzelheiten, Daten und Epi¬
soden geschmückte Lebensbeschreibung zu bringen; viel¬
mehr haben die Äußerlichkeiten seiner Ijaufbahn nur
dann die Berechtigung, in das Gebiet der Betrachtung
hineingezogen zu werden, wenn wir nachweisen können,
dass sie auch wirklich mitbestimmend auf sein künst¬
lerisches Wachstum, seine Richtung und seine innere
Klärung eingewirkt haben. Wer sich über Crane’s
Leben und seine sämtlichen Arbeiten, die zu umfang¬
reich sind, um sie alle hier aufzuzählen, genauere
Auskunft verschaffen will, der findet dieselbe am aus¬
führlichsten in dem Katalog seiner AVeike aus der
Bibliothek des Kunstgewerbemuseums in Berlin, her¬
ausgegeben von Dr. Peter Jessen. Wir erfahren
daraus, dass er, durch den frühen Tod seines Vaters
auf eigenen Verdienst angewiesen, in den Jahren 1859
bis 1862 als Zeichner (draughtsman) im Atelier des
Holzschneiders W. T. Linton arbeitete. Er selbst sieht
diese Imlirzeit, die ihn früh mit den handwerklichen
Grundlagen der Kunstübung vertraut machte, als einen
Vorzug vor der rein akademischen Bildung an. Neben¬
her malerische Studien pflegend, konnte er schon 1862
sein erstes Gemälde auf der Kunstausstellung der Royal
Academy in Ijondon ausstellen. Dann arbeitete er in
einer privaten Kunstschule, wo sich ihm das Verständ¬
nis für das Ebenmaß und die Einfachheit der Antike
zuerst erschloss. Im Alter von kaum zwanzig Jahren
begann er seine Thätigkeit als Zeichner für farbige
Buch-Illustrationen. Sie sind der Ausgangspunkt seines
ganzen künstlerischen Wirkens, und man kann von ihm
sagen, dass er mit diesen Bilderbüchern sich „von der
Kinderstube aus“ sein Reich erobert hat.
Die Worte Uriel Acosta’s: „Es wurzelt in unserem
Volke tief die Familie“ lassen sich mit derselben Be¬
rechtigung auf das tägliche Leben von „merry old
England“ anwenden. Auch im britischen Volke wurzelt
heute noch, wie von alters her, tief die Familie. Nur
wer weiß, was das starke Wort ,,,at home“ für den Briten
bedeutet, wer englische Lebensweise im Kreise der
Familie oder auf den Landsitzen der besitzenden Klassen
kennen und schätzen gelernt hat, vermag auch Walter
Crane’s Art, sein Dichten und Denken, das in diesen
Bilderbüchern niedergelegt ist, ganz zu begreifen und
zu lieben. In keinem Lande der Welt trifft man
mehr gesunde, natürliche Kinder als in den mittleren
und oberen Klassen der englischen Bevölkerung, vom
einfachen Geschäftsmann bis hinauf zur Aristokratie;
gerade diese ist im Gegensatz zu manchen anderen
modernen Staaten eine vollsaftige geblieben, eine echte
Adelssippe, ausgestattet mit allen Thorheiten und
Lastern, aber auch mit allen Tugenden einer uralten,
in Generationen auf Genei’ationen gefestigten Über¬
lieferung. Grane ist tief hinabgetaucht in den Geist
seines Volkes, in das Herz der Kinder seines Vol¬
kes, und holte daraus den quellfrischen Born der
Poesie seiner Formen und Farben hervor. Sie lagen
bereit für jeden, der sie redlich suchte; er, als
Erster, fand sie nicht, sondern er brauchte sie nur
wieder neu einzukleiden und ins Gedächtnis zurück¬
zurufen, auf seine Weise. Er steht auch schon lange
nicht mehr allein, denn sein Beispiel hat Früchte ge¬
tragen und verwandte künstlerische Kräfte geweckt,
die wenig hinter den seinen zurückstehen. Für die
WALTER CRANB.
83
englischen boys und girls sind die Namen Kate Greena-
way und Randolph Caldecott ebenso geläufig wie der
seine. So eine Kinderpoesie ist das beste Naturheil¬
mittel für neuropatliische oder sentimentale Dekadenten
im Zeitalter der kranken Nerven.
Das britische Volk hat Kindererzählungen, heitere
und ernste, duftige, sinnige Märchen, die sich, wo¬
fern sie nicht überhaupt schon eine freie Übertragung
der deutschen und skandinavischen sind, unserem heimi¬
schen Schatz vollgültig an die Seite stellen dürfen. Die¬
selbe echte, heilige Einfältigkeit spricht aus ihnen.
Mit weitgeöffneten, großen Kinderaugen sehen sie uns an.
Dieser weite offene Blick ist es, der so eigenartig
herausleuchtet aus den Märchenaugen, welche Grane
zeichnet, aus den schlanken Jungfrauen und feurigen
wenigen harmonischen Valeurs, und die Illustration ist
fertig. Dieser kernige Stil hat sich während der Jahre
1865 — 1876 immer entschiedener ausgeprägt in den
Märchen- und ABC-Büchern, von denen jährlich zwei
bis drei bei Routledge & Sons erschien sind.
Das älteste Bilderbuch „The Song of Sixpence“
giebt die Figuren lebhaft charakterisirt, aber noch ohne
Hintergrund. Es folgten: Das Kinder- Alphabet, Aladdin’s
Wunderlampe, Goody Twoshoes, Jack and Jill, The little
Cock-Sparrow, Puss in Boots, Blaubart, The Fairy Ship
u. a. m. Zierlicher als diese sind die Kinderbücher „The
Baby’s Opera“, „The Baby’s Bouquet“ und „Baby’s Own
Aesop“, während in der Serie von acht Erzählungen
(worunter „The Beauty and the Beast“ und „The Frog
Prince“ aus dem Jahre 1875) der Einfluss der prä-
Tlie House tbat Jack built. Kinderstuben - Tapete von W. Crane.
Jünglingen, zarten Mädchen und ritterlichen Knaben,
aus all den Knospen und Blüten, Feen und Blumen¬
geistern. Sie leben ein tiefes, natürliches Leben in
schuldloser Einfalt und Sinnenfreude. Aber wieviel
Geist in dieser Einfalt!
Hatten bis dahin in den englischen Kinderbüchern
grelle Farben und rohe, oberflächliche Zeichnung ge¬
herrscht, so führte nun Walter Crane, in Verbindung
mit dem Holzschneider und Drucker E(h)miul Evans,
eine neue Hlustrationsweise ein. In einfachen, scharfen
Umrissen stehen die Figuren auf reich gefülltem Hinter¬
gründe, in so großem Maßstab gezeichnet, wie es der
gegebene Raum und die Persi)ektive irgend ermöglichen.
Dadurch wird eine Linienwirkung erzielt, die an die
alte Technik des Holzschnittes erinnert. Ein Paar
Farben dazu, flach mit Pinsel oder Feder behandelt, in
rafaelitischen Formensprache erkennbar ist. Davon
später mehr.
Schon im Jahre 1874 hatte aber die Firma Jeffrey
& Co. auch den ersten Karton zu einer Kiuderstuben-
Tapete bestellt. Wie Crane dazu gekommen, erzählt
er selbst. Ein Fabrikant hatte ohne sein Wissen
die Illustrationen zu „The Baby’s Opera“ als Kinder¬
stubentapete herausgegeben und so zeichnete Crane „zur
Selbstverteidigung“ selber Muster, in Verbindung mit Mr.
Metford Warner (Jeffrey & Co.). Es folgte (1876) das
lustige Märchen „Humpty Dumpty“, drei Jahre darauf
in derselben Weise „The Sleeping Beauty“ (die eng¬
lische Version unseres Dornröschen) und endlich, 1886,
das beliebte Muster „The House that Jack built“,
welches mit Meisterschaft die Figuren des launigen
Kinderverses zu dekorativer Einheit zu verwerten weiß.
11*
84
WALTER GRANE.
Unsere Illustration giebt die reizvolle Zusammenstellung
wieder.
Durch Crane und William Morris hat die englische
Tapete ihr eigenartiges Gepräge in den letzten 15 bis
20 Jahren erhalten. Ohne, wie es unsere Zeichner noch
last durchweg tliun, die alten Gewebemnster naclizu-
alimen, ist sie mit frei erfundenen Flachniustern bedeckt,
zu denen der reiche Blumenflor der englischen Gärten
und Landschaften meistens die dankbaren Motive liefern
muss. „The Fairy Garden" ist ein Karton, welcher sich
auf der in Buchform herausgegebenen Komposition
„Flora’s Feast“ autbaut. Das herrliclie „Woodnotes-Paper“
(Waldesklänge), in Ledertapete ausgeführt, giebt unsere
Abldldiing wieder. Es liegt ein merkwürdiger Naturlaut
in diesem Stück. Man meint das Waldesweben zu ver¬
nehmen, plötzlich unterbrochen von dem wilden Hal-
lulli der Jagd, Bellen der Hunde, Knacken der Äste,
au fgescheu eilte Vögel, Jagdhörner, und über dem Gan¬
zen schallt „Waidmanns Heil!“ . Crane giebt
seinen Mustern gerne bedeutungsvolle Namen und Sym¬
bole: „Die Krone des Lebens“ (Corona vitae), „Das
goldene Zeitalter“ (The Golden Age) u. dergl. Auch
die Decken selbst werden zuweilen mit Tapeten be¬
kleidet, sogenannte „Ceiliug-papers“, wie die „Taube
mit dem Ölzweig“ und das wildbewegte, aber in sich
vollkommen geschlossene Motiv „läie vier Winde“.
Crane hat für mehrere Kunstfreunde die dekorative Aus¬
stattung ganzer Räume aus einem Gesichtspunkt heraus
geschaffen, wobei er auch farbige Stuckreliefs anwendet,
als Füllungen für Decken und Friese, die er eigenhändig
modellirt und vergoldet. Zu solchen Wandfüllungen mit
einheitlichem Motiv malte er den großen
Karton des „Fackellaufs“ (Passing the
Torch). Zu jeder modernen englischen
Tapete gehört ein ziemlich breiter Fries,
den Übergang zur Decke vermittelnd, und
zuweilen wird noch ein sogenanntes „dado“,
ein separates Stück mit gewöhnlich freier
Variante des Grundmusters, welches vom
Fußboden bis etwa zur Kuiehöhe hinauf¬
reicht, den Hauptmotiven beigegeben. Dies
ist zum Beispiel bei der reizenden „Mar-
guerite-wallpaper“ der Fall, ein durch
Chaucer’s Poem „The Flower and the
Leaf“ angeregtes Muster. Die einfache,
aber sehr lebhaft wirkende Wellentajjete
(Billow-paper) besteht aus flüssig gewun¬
denen Wellenlinien, in bestimmten Ab¬
ständen von Fischen belebt. Der Fries
zur Wellentapete ist mit Meerweibcheu
bevölkert, die Kranzleiste stellt den stei¬
nigen Meerbodeu dar, durch Muscheln, See¬
sterne u. dergl. belebt.
In verwandten Zweigen dekorativer
Kuust hat Crane sich ebenfalls bethätigt,
durch bemalte Glasfenster, Stickereien,
Mosaiken, Steinflieseu, Kacheln u. s. w.
An Illustrationen für kleine und —
erwachsene Kinder sind noch hervorzu¬
heben: „The Book of Wedding .Days“,
eine Art größerer Notizkalender für
Hochzeiten, mit frei erfundenen, humor¬
vollen Randzeichnungen, unter denen Pflan¬
zenornamente und Kinderflguren die Haupt¬
rolle spielen. Von politisch -satirischem
Inhalt ist die originelle Zusammenstellung „Mrs. Mundi
at home“, dagegen beschränken sich wiederum auf Ver¬
zierungen und textbegleitende Randzeichnungen die Bil¬
der zu den Erzählungen der Mrs. Molesworth, Miss de
Morgan, Mrs. Burton Harrison u. a. m.
Ganz frei erdacht sind „The Courtship of Columbia“
und das herrliche Werk, welches zum gi'(d.len Teil alte
englische, irische und schottische Hirten- und Liebes¬
lieder, Balladen etc. wieder in neuer, reizvoller Dar¬
stellung erstehen lässt: die Collection „Pan Pipes“. Sein
neuestes Werk in Buchfoi’in, die Ausgabe von Spencer’s
WALTER GRANE.
85
„Fairie Queene“, zeigt, ihn auf frischer Lahn und der
vollen Höhe seines Könnens. Der Einklang zwischen
dem Druck des Textes und der kräftigen, klaren und
bewussten Zeichnung ist eine Ei'rungenschaft, welche
nicht zum Wenigsten der Anregung zu verdanken ist,
die William Morris mit seiner Kelmskottpresse dem
englischen Buchdruck gegeben hatte.
In seinen Bildern und größeren freien Kompositionen
zeigt Grane eine ausgesprochene Neigung zu stilisiren-
der Natursymbolik. So hat seine Phantasie die über¬
schlagenden Scliaumkämme brandender Meereswogen in
wild anstürmende Rosse verwandelt, schneeweiß, an
die blendende Kavallerieattatiue der Chasseurs d’Afrique,
1870 er Andenkens, gemahnend.
Durcli ähnliche freie Ideenassimilation hat unser
Klinger in einer Radirung den Schaum stürzender Wogen
aus lauter Rosen gebildet. Wie weit die Phantasie
darin gehen darf, kann durch die Tlieorie nicht normirt
werden. Die Sorge des Grestaltenden muss im einzelnen
Falle selber darauf gerichtet sein, der frei schaffenden
Umdichtung der Natur ihre Grenzen zu bestimmen.
W'cnn er sie glaubhaft und schön macht, ist sie be¬
rechtigt. Sein „inneres Gesicht“ hat dann Gültigkeit,
wenn es so überzeugend zum Beschauer spricht, dass
dieser, wenigstens für den Augenblick, daran glauben
kann. Kann er das nicht, so ist es an der Klippe des
komischen und unvermittelten Gegensatzes gescheitert.
Aber weder Klinger’s „Rosenbrandung“ noch Crane’s
„Rosse des Neptun“ sind daran gescheitert. Auch die
„Schwaneujungfrauen“ und der „Wettlauf der Stunden“
gehören hierhin.
Eine umfassende Allegorie ist die „Bi'ücke des
Lebens“, 1884 in Rom entworfen; in sinnigem Gedanken¬
gang lässt Grane das Menschenleben von Stufe zu Stufe
über einen hoch gespannten Brückenbogen dahinziehen.
Er selbst erläutert seine Auffassung mit folgenden
Worten: Unter der Brücke begegnen sich der Naclien
des Lebens und des Todes. Aus jenem landet das junge
Leben und steigt die Stufen hinan, gehegt von den
Eltern, belehrt vom Alter, harmlos im kindlichen Spiel,
bis es im llbermut der .Tugend zum Spiel der läebe
wird, bis der Ergeiz ruft und des ^VTges Mitte erreicht
ist. Glück und Ruhm locken und entweichen stets, bis
vielleicht die Krone erreicht wird. Aber die schwere
Erdenbürde drückt. Der wankende Greis wird gestützt
von dem Knaben und schaut auf den Nachen mit seiner
dunklen Last. Die Hoffnung, von der Liebe geleitet,
leiht ihr bescheidenes Licht auch auf dem Altstieg vom
Leben. Unten streuen die Trauernden ihre Blumen über
den stillen Toten. —
Englische Balladen hat Grane ebenfalls verwertet,
von Keats und anderen, wie „La belle Dame sans
merci“, aus demselben Jahre. Eines der ältesten Bilder
(1875), welches sich an die altflorentiner Mal weise hält,
ist „Amor omuia vincit“. Die Stadt der Amazonen ist
vom Gott der Liebe und seinen Scharen belagert worden,
und die Königin Hippolyta muss am Ende die Schlüssel
dem Überwinder ausliefern, worüber ihre Genossinnen
nicht in dem Maße unglücklich sind, wie man annelimeii
könnte. Der feine Humor, der darin liegt, ist herz¬
erfrischend, denn, wie die Erfahrung lehrt, werden
streitbare Belagerer weiblicher Festungen von der
überwundenen Besatzung zumeist in diesem Sinne em¬
pfangen.
Zur Maifeier der Arbeiter im Jahre 1891 wurde
der große Holzschnitt „The Triumph of Labour“, dessen
Entwurf auf der letztjährigen Frühjahrsausstellung der
Secession in München zu sehen war, hergestellt. Der¬
selbe ist ziemlich verbreitet und bekannt geworden, allein
künstlerisch betrachtet ist er Grane’s am wenigsten
gelungene Arbeit; schon deshalb, weil sie an einer ge¬
wissen Tendenz klebt. Man wird daran erinnert, dass
Grane den socialistischen Theorieen zuneigt und von der
vereinfachten Gesellschaftsordnung ebenfalls für die deko¬
rative Kunst die Rückkehr zur Einfachheit und Schön¬
heit erwartet. Allein eben diese einfache Klarheit seiner
sonstigen Gedanken vermisst man, wie in seinen socialen
Träumen, so in dieser Komposition. Statt den, wie es
scheint, beabsichtigten Reichtum des späten Mantegnes-
ken Stils zu erreichen, herrscht Unklarheit und Über¬
ladung.
Ganz in antikem Stil sind die Kompositionen zu
Homer und anderen Altklassikern, wie die „Echos of
Hellas“ (Nachdichtungen zu Homer und Äschylos). Durch
wirkungsvollen Druck in zwei Farben, braunrot und
schwarz, sind sie lehrreich und interessant für die Buch¬
ornamentik, besonders in Hinsicht auf die geschmack¬
volle und originelle Verwendung und Verteilung des
Raumes. Offenbart sich in diesen Blättern mehr ein fein
durchgebildetes Stilgefühl als gerade Ursprünglichkeit,
so ist das durch den Gharakter und Inhalt derselben
n aturgem äß begr ü n det .
Auch zu Shakespeare hat Grane Illustrationen ge¬
macht. Wir geben hier aus dem ,.Stuim“ das Vollblatt:
„Tanz der Nymphen und Schnitter“ wieder. Herrlicher,
geschlossener Rhythmus der Linien, welche wie aus einer
Quelle Hießen, bilden seinen Hauptreiz. In dem keuschen
„noli me tangere“ dieser schlanken Frauenleiber, in ihrem
halbverschleierten Sehnen nach Leben, in der heimlich¬
süßen Hingabe an die Freude, die das verhaltene sinn¬
liche Lustgefühl kaum bewusst genießt, zeigt der Künstler
manche Berührungspunkte mit der Empündungsschwelle
der englischen Pi'ärafaeliten. Ich betone ausdrück¬
lich englische, weil der Wesenskern derjenigen Schule,
welche ihren ersten Bahnbrecher in Rossetti und ihren
ersten Fürsprecher und Interpreten in Ruskin gefunden,
nur an ihrer nationalen Sonderstellung zu erkennen ist.
Nicht, dass sie bei Botticelli, Mantegna oder Fi-a Angelico
ansetzte, sondern bei aller \Trwandtschaft nordisch
empfand, dass ihre Ausdi'ucks weise englischen 'ryi*"s
86
WALTER GRANE.
aiinahin, ist das AVesentliclie. Zuin reinen Forraen-
gefühl des Romanen trat der träuiuerisclie Hang des
Germanen, aus Innigkeit und frommer Glauben skr aft
wurden Selinsnclit und Schwermut. Niemals haben
Eossetti oder Euskin verlangt; ,.Malt wie die Prä-
rafaeliten.“ Sie berieten sich nur auf diese und mit
ihnen eben auf das Recht, ihre eigene Formen- nnd
Farbensprache zum Ausdruck für die Poesie und Musik
ihrer innerlich geschauten Welt zu machen. Diese Be¬
rufung auf die Vorläufer des Urbinaten bedeutete keine
Tanz der Nymiiüeu nnd Sclinitter aus : The temjiest von Shakespeare.
Illustrirt von W. Crane.
Abhängigkeit, sondern nur eine Seelenberuhrung „im Geiste
und in der Wahrheit“, nämlich derjenigen unter den
vielen künstlerischen Wahrheiten, die (jerach für sie die
richtige Wahrheit war. So steckt auch in Crane’s
Formensprache noch ein gut Stück Prärafaelit. Aber
ein Nachbeter wird er dadurch ebenso wenig wie Dante
Gabriel Eossetti. Eine andere Ähnlichkeit übrigens ist
auffallend zwischen ihnen. Der „painter poet“, wie ihn
die Freunde nannten, fühlte den unbezwinglichen Drang,
die Visionen seines leidenschaftlichen Innern bald im
Bilde, bald in Versen zu krystallisiren. Crane, obwohl
seine Muse weniger glüliend ist, macht das ebenso. Was
bei Eossetti aber mystisches Träumen ist, wird hier
„heitere Weisheit“. Walter Crane’s Texte zu mehreren
seiner letzten Kompositionen sind von einer Grazie und
Einfachheit, die klassisch genannt werden darf. Zwei
Proben davon mögen hier Platz tinden.
„Do not quarrel with Nature“ ist die Moral zu
einer Illustration, worin Juno’s Lieblinge, die bunten
und stolzen Pfauen, sich bei der Herrscherin beklagen,
dass sie keine Singstimme hätten, wie die
Nachtigall. Der Text lautet:
„The Peacock considered it wrong
That he had not tlie Nightingale’s song.
So to .Juno he went.
She replied: „Be content
With tby baving, and hold thy fool’s tongue!“
Und aus den begleitenden Textunter¬
schriften zu „Flora’s Feast“ die Doppelzeile;
,,The Violet and tbe biimrose danie,
With niodest luien and bearts atlauie.“
ln diesen Versen liegt eine Fülle von
Lebensweisheit und Humor in abgeklärter
Harmonie, wie sie nur dem leicht und glück¬
lich schaffenden Dichter zu Gebote stehen.
Diese sichere Harmonie und geläuterte Lebeiis-
anschaming macht einen der Hauptreize der
Crane’schen Muse aus, von welcher sich der
eigentümliche Märchenzauber seiner Darstel¬
lungen leicht nnd anmutig abhebt. In dieser
eigenartigen Mischung ist er mit keinem
anderen Künstler, der für „Kinder“ gearbeitet
oder seine Kunst in den Dienst der Ver¬
schönerung des alltäglichen Daseins gestellt
hat, vergleichbar. Man liat es versucht, aber
alle Vergleiche hinken. Weder Ludwig
Richter noch irgend einer unserer echten
Romantiker, wie Moriz von Schwind, können
zu einer Parallele herangezogen werden.
Sie alle waren in ihrer Ausdrucksweise noch
unmittelbarer, konkreter, „wirklicher“. Grane
ist vor allen Dingen der Stilist, der deko¬
rativ - empfindende Zeichner, welcher die
unmittelbare Natur überhaupt nicht ge¬
brauchen kann und will.
Auch mit den Japanern hat man Crane hin und
wieder in Verbindung zu bringen versucht. Zn einer
derartig oberflächlichen Betrachtungsweise werden wir
uns aber schwerlich verführen lassen, denn, von ganz
vereinzelten Anklängen abgesehen, erweist diese Ansicht
sicli als unhaltbar. Die Künstler des raffiiiirtesten ost¬
asiatischen Kulturvolkes, obzwar sie von der zeichne¬
rischen Basis ausgehen, suchen ihrer ganzen Empfindung
nach in erster Linie immer die malerische Wirkung.
WALTER CRANE.
87
Grane schlägt einen Weg ein, der diesem diametral
entgegenläuft : er bleibt stets architektonisch. Die Ver¬
wertung des Raumes ist seine stärkste Seite. Die
arcliitektonische Anpassung und Einfügung seiner deko¬
rativen und illustrativen Kompositionen dient ihm zum
Zwecke der Ausnutzung gegebener Flächen. Sie ist seine
oberste Eichtschnur. Er übersieht nie seine Grenzen.
Die selbst aiiferlegte Beschränkung ist ihm Bedürfnis.
Innerhalb dieser selbstgewählten Grenzen schafft er dann
frei, flüssig und formenreich.
Dieses Prinzip geht durch alle seine Arbeiten durch
und verleiht ihnen, bei aller Mannigfaltigkeit der Zwecke
und Themata, ihren einheitlichen Gesamtstil und ihre
bahnbrechende praktische Bedeutung als „angewandte
Kunst“.
Dass eben diese Bedeutung Crane’s, als typischer
Vertreter der modernen stilisirenden Kunst, durch die
bloße Kenntnis und Aufzählung seiner Arbeiten nicht
erschöpft werden kann, ist schon oben betont worden.
Sie geht weiter. In der näheren Berührung und end¬
lichen Verschmelzung des Handwerks mit der Kunst ist
ihr Schwerpunkt zu suchen, und daraus muss naturgemäß
eine innigere Verbindung und Wechselwirkung zwischen
Kunst und Leben zunächst erfolgen. Weitausschauende
Perspektiven eröffnen sich. Auf dem so lange spärlich
bebauten und verachteten Boden der angewandten Künste
bereitet sich von England aus eine gesunde Regeneration
vor, deren Ursprung nicht auf die Franzosen zurück¬
geführt und deren Ende noch nicht abgesehen werden
kann. Ebenso beherzigenswert in der Theorie wie nach¬
ahmungswürdig in der Praxis, hat Crane’s Beispiel schon
jetzt erfreuliche Resultate zu verzeichnen, gleichviel auf
illustrativem wie dekorativem Gebiete. Zwei der hervor¬
ragendsten und beliebtesten Künstlernamen, die als Buch-
illiistratoren ähnliche Ziele verfolgen, sind schon genannt.
Als Musterzeichner für Tapeten (wall-papers) ist, neben
vielen andern, C. F. A. Voysey mit Erfolg in seine
Faßtapfen getreten, ein ebenso fruchtbares wie elegantes
Talent. Dass diese Künstler in England alle reiche
Beschäftigung finden, kann als der beste Beweis für
den zunehmenden Geschmack und die Empfänglichkeit
des Publikums gelten. Da sich weder in England noch
in Frankreich die Künstler schämen, für gewerbliche
Zwecke zu arbeiten, so haben sie nicht erst mit allerlei
Vorurteilen zu kämpfen und können ihre volle Künstler¬
schaft ohne Furcht auch nach dieser Richtung hin frei
entwickeln. Bei uns huldigt man noch vielfach der wer
wmiß in welchem senilen Gehirn entstandenen Idee, dass
ein Maler notwendig ein Staffeleibild, ein von der übrigen
Welt durch möglichst kostspielige Umrahmung abge¬
trenntes Ding, malen muss, um „Künstler“ zu sein. Erst
in diesen Tagen beginnt wieder eine vernünftigere und
freiere Anschauung aufzukommen. Es wird auch Zeit.
Wie lange soll die Kunst denn noch auf die engere
Berührung mit dem Leben warten? Ein Privatsport
der Mäcene ist sie lange genug gewesen und wird das
auch in mancher Hinsicht immer bleiben. Je mehr sie
aber in die Forderungen des täglichen Lebens eindringt
und sich als „Angewandte“ den Verhältnissen und den
stets vorhandenen ästhetischen Bedürfnissen der breiteren
Schichten anpasst, um so mehr kann sie in Fleisch und
Blut übergehen, um so mehr erfüllt sie ihre erzieherische
Aufgabe im Interesse der gegenwärtigen und der heran¬
reifenden Generation.
Unter solchen Voraussetzungen würden wir uns auf
natürlicher Entwicklungsbasis wieder dem Geiste antiker
Lebensformen nähern, und es ist kein triftiger Grund
vorhanden, weshalb ein modernes Kulturvolk nicht all¬
mählich zu den Regionen geistiger Blüte und zum Gipfel¬
punkt geistigen Sichauslebens hinaufdringen sollte, wie
sie im attischen Ideal enthalten sind. Eine zweite
perikleische Glanzzeit wird vielleicht unter den heutigen
socialen Bedingungen nicht mehr möglich sein, aber zu
den Griechen können wir allein, wie zu einem unerreichten
Gipfel, immer wieder emporscbaueu. (Denn die Römer
waren aus sieb selbst heraus ja doch nun einmal kein
echtes Küiistlervolk.) Selbstverständlich wird unsere
Kunst sich wieder aus unseren veränderten, modernen
Lebensbedingungen zu erneuern haben. Thut sie das,
so wird die Parole nicht lauten: „Werdet wieder Griechen,
antikisirt die Kunst nach ihren Formen“ sondern; lasst
sie emporwachsen aus unseren von selbst gegebenen
Daseiusbedinguiigen. Von den Alten aber lernt, wie
man sich auf sich selbst besinnt. Steigt von innen heraus
zu ihren lichten Höben, zu ihren reichen Lebensformen
liinaiif, indem ihr die Kunst mit dem Leben, das Schöne
mit eurem täglichen Sein und Denken zu einem un¬
trennbaren Ganzen verschmelzt. Das Leben werde
wieder Kunst!
In dieser Riebtung denkt mul arbeitet Walter Graue.
Werden seine weitausgreifenden Zuknnftsideen, die mit
socialistisclien Theorieeu vielfach vermischt sind, sich
verwirklichen lassen? Wir wissen es nicht und ver¬
mögen auch seinen Ansichten, die er in der kürzlich
erschienenen Schrift ‘) entwickelt und als sein Glaubens¬
bekenntnis iiiedergeleg't hat, bis in alle Einzelheiten
nicht immer zu folgen. Grane hofft von der „Organisation
der Arbeit“ die beste Lösung der Kunstfrage und sieht
sein Ideal des Zukunftsstaats darin, dass ein Künstler
sich um Nahrung, Kleidung und Arbeit nicht mehr zu
sorgen braucht. Von seiten der Künstler wird er wohl
darin schwerlich auf Widerspruch stoßen! Grane’s
Socialismus darf mau indessen vielleicht cum grano salis
verstehen. Das socialistische Problem kann vom künst¬
lerischen Standpunkt aus nie und nimmer darin bestehen,
einen socialdemokratischen Gleichheitsstaat zu schaffen.
1) „The Claims of decorative Art“ („Die Forderungen
der dekorativen Kunst“), in der deutschen Übersetzung von
Otto Wittich, bei Georg Siemens in Berlin.
Walter Crane: Die Nacht. Seiiiazeiehnung.
V v'i
Waltek Ceane: Der Mittag. Sepiazeiobnung.
Zeitschrift far bildende Kunst. N. F. VIII. H. 4.
12
90
WALTER CRANE.
mit einer möglichst großen Masse satter und zufriedener
Mitteltalente, sondern in der Heranziehung einer Aus¬
wahl der Besten und ihrer geistigen Führung auf dem
Wege veredelter Existenzbedingungen Aber wir brauchen
nicht in allen diesen Punkten mit dem Verfasser über¬
einzustimmen, um zuzugeben, dass der gesunde Kern
seiner Gesamtbestrebungen zweifellos und seine jahre¬
lange reformatorische Arbeit erfreulich ist. Trefflich
kommt ihm dabei heute schon der hohe Stand des eng¬
lischen Kunsthandwerks zu statten, der dem freien Aus¬
druck seines Emptindens weniger Hindernisse in den
nemones Tode our
A ^ ^^raii ^t2|ir)ol-flower6 ffulterj,
red 8^ pale
rale
Handwerk dem Künstler folgt und sich hütet, ihn zu
brutalisiren, wären für die heimische Kunstindustrie in
jeder Hinsicht nachahmenswerte Vorbilder. Zwei Ge¬
biete sind es, die bei uns der Reform dringend benötigen
und einen noch fast jungfräulichen Boden für die künst¬
lerische Produktion darbieten: die Tapete in, wenn
man will, „aristokratischer“ und das Plakat in mehr
„demokratischer“ Richtung. An geeigneten Talenten
fehlt es gewiss bei uns ebensowenig, wie anderswo; vor¬
läufig aber hat es an Anregung und Lust gefehlt. Wenn
die erstere erst einmal ordentlich geboten wüi'de, ließe
auch die letztere nicht mehr lange auf sich warten.
Sie folgen aufeinander wie Ursache und Wirkung.
Und solche Anregungen können uns, in prak¬
tischer Hinsicht, Crane’s und seiner Freunde Ar¬
beiten und, in theoretischer Hinsicht, seine inter¬
essanten Ausführungen und beherzigenswerten
Wahrheiten über die Aufgaben der verzierenden
Künste vorläufig am besten liefern. Es sei daher
gestattet, an dieser Stelle einige kurze Auszüge
aus seinem künstlerischen Credo zu biüngen.
In Bezug auf das Gebiet der Zeichnung meint er;
„Zeichnung fällt unter zwei Gesichtspunkte,
welche sich fortwährend ergänzen und aufwiegen.
Es ist die Anschauung (aspect) und die An])as-
sung (adaptation).“ — Ich kann es mir nicht ver¬
sagen, die einfache, ehrliche und knappe englische
Ausdrucksweise hier im Original wiederzugeben.
„In these literal and photographic days, one
of the first (luestions which meets the designer
is the degree of naturalism, that is within bis
scope and purpose. There are endless ways of
looking at Nature. We may use our eyes alone,
or we may use all our faculties and not find thein
too much. Tlie pictorial sketcher draws an oak-
tree from nature, as truly and accurately as
l)Ossible and says: this is an oaktree. The deco-
rative designer could not stop here, he would
have to geometrize or systemetize it, to make a
pattem of it. This would he bis manner of saying;
this is an oaktree.“ ')
Hier zeigt sich sogleich der dekorative Sinn
des geschmackvollen Erfinders kunstgewerblich ver-
Anemones ans: Flora’s feast von W. Crane.
(Verlag von Cassell & Comp., London )
Weg legt, als das vorläufig noch bei uns der Fall sein
würde. Noch unlängst klagte mir einer unserer tüchtigsten
deutschen Maler sein Leid über die im allgemeinen so
niedrige Stufe des einheimischen reproduktiven Hand¬
werks. Es wäre nicht im stände, künstlerische Farben¬
gefühle, überhaupt so gut wie gar keine feineren Ton¬
werte, wiederzugeben. Gerne hätte ich ihm englische
Muster gezeigt, wie sie von den Arbeitern der Firma
Jeffrey & Co. unter Mr. Warner’s verständnisvoller
Leitung, oder (für Thonfliesen) von Maw & Co., in der
Grafschaft Shropshire, ausgeführt werden. Diese Leucht¬
kraft der Farben und dabei die Sorgfalt, mit der das
1) 1 11 Übersetzung: In dieser Zeit buchstäblicber und photo¬
graphischer Treue, tritt als eine der wiclitigsten Fragen dem
schattenden Künstler diejenige entgegen, welchen Gra.d von
Naturalismus er für seine Zwecke und Raumverliältnisse ge¬
brauchen kann. Vor der Natur giebt es endlose Betrachtungs¬
weisen, wir mögen unsere Augen allein gebrauchen, oder
sämtliche inneren Fähigkeiten dazu mit benötigen. Der realis¬
tische Zeichner nimmt einen Eichbaum nach der Natur auf, so
wahr und genau wie möglich, und sagt: dies ist ein Eich¬
baum. Der dekorative Zeichner kann hier nicht stehen bleiben.
Er muss den Baum erst geometrisiren , systematisiren und
ein Muster daraus formen. Dies würde in seiner Sprache
lauten: „das ist ein Eichbaum“.
WALTER CRANE.
91
wendbarer Entwürfe und Stilisirungen. Er hat als Re¬
sultat „the pattem“, das Muster, stets vor Augen.
Und dann weiter:
„In dealing witli panels, friezes, or pilasters, all
strictly architectural, the designer feels the necessity
of respecting both bis surface and his boundaries. He
does not wish „to cut a hole in his wall“ and fasten
your attention on soniething seeu through it; he should
never attenipt to indnce yon to forget that he is deco-
rating a surface. The geoinetric plans, which govern
all Ornament, are the very alphabet
of design.“ ')
Und folgende Bemerkung:
„A birds wing, a fan or a
Shell, with its emphatically expres-
sed centre, conveys a sense of both
organic vigour and yet lightness,
combining a viininmm of tveighf,
with a maximmn of sire>igfJt.^‘~)
Dieses Beispiel ist treffend ge¬
wählt und geistvoll ausgedrückt,
wie denn Grane überhaupt auch in
seinen Schriften, einige Wieder¬
holungen und Längen abgerechnet,
einen anschaulichen Stil hat. Ei¬
lst eben stets und überall so viel
wie möglich Künstler und steht
nicht auf jener Anschauung mit
engem Horizont, die sich im Spe-
ciellen, Einzelnen, Virtnosenhaften
abmüht, sondern die bildende Kraft
ist ihm das Werkzeug einer gros¬
sen Knlturaufgabe, die er von
seinem erhöhten Standpunkt aus als
ein untrennbares Ganzes zu über¬
sehen bestrebt ist.
Wie hoch ihm das Handwerk¬
liche in der Kunst gilt und wie
sehr er es mit der Kunst in er¬
gänzendem und sich gegenseitig
immer befruchtendem Zusammen¬
hang anfgefasst sehen möchte, geht aus folgenden Sätzen
hervor, die der Übersetzung seiner Schrift über die
„Forderungen der dekorativen Kunst“ entnommen sind:
„Ich bin als Künstler alt genug geworden, um zu
der Überzeugung zu gelangen, dass jedes Material seine
eigene Sprache redet, dank welcher es uns, gleich dem
Medium des Spiritisten, den richtigen Entwurf vermitteln
kann; und für den entwerfenden Künstler ist es eine
Pflicht, diese Sprache verstehen zu lernen ....
„Wenn man sich vergegenwärtigt, wie innig die
1 ) In Übersetzung; Hat der Künstler llitter aus Queen Summer von W. Chane. (Verlag von Cassell & Comp., Lomlon.)
mit Pilastern, Panelen und Friesen zu
thun, also mit streng architektonischen Verhältnissen, so
fühlt er die Notwendigkeit, seine Umgebung zu respektiren.
Er darf kein „Loch in die Wand schneiden“ und unsere
Aufmerksamkeit auf etwas richten, was durch dieses Loch
hindurch gesehen wird, sondern er will eine gegebene Fläche
dekoriren, ausfüllen. Die aller Ornamentik zu Grunde liegen¬
den geometrischen Pläne sind das Al[)hahet dekorativer
Entwürfe.
2) In Übersetzung: Ein Fächer, eine Seemuschel oder der
Flügel eines Vogels, mit ihren emphatisch betonten Schwer-
junikten, gelien uns ein Gefühl organischer Stärke hei leichtem
Gewicht, indem sie ein Minimum von Schwere mit einem
Maximum von Kraft vereinigen.
Kunst in ihrer angewandten Form mit unserem Alltags¬
leben verschmolzen ist, wie sie dasselbe spielend und
gefällig beeinflusst, so kann man ihr nie genug Wichtig¬
keit zumessen.
„Alle Künste bilden ein Ganzes und sind auf ein¬
ander angewiesen. Keine sollte eine vorherrschende Stelle
einnehmen ....
„Zur Zeit jener Blütenperiode der Vei’gangenheit,
griffen Kunst und Handwerk harmonisch ineinander
über ....
„Über das italienische Kunstgewerbe ist neuerdings
12
92
WALTER GRANE.
ein Buch erschienen, das seinen Stoff schöpfte aus den
Darstellung-en von Gewändern, Hausg-erät und Wohnungs¬
einrichtungen, auf den diesbezüglichen Gemälden unserer
National Gallery. Wollten wir alle Maler des fünf¬
zehnten Jahrhunderts zusamnienfassen , so könnten wir
aus den allerliebsten Details, welche ihre Bilder erfüllen,
eine ganze Encyklopädie der angewandten Künste zu-
sanimenstellen. Aber nicht der Wunsch, für etwaige
kommende Archäologen vorzuarbeiten, war es, was diese
Iffänner antrieb, gerade derartige Dinge zu malen, son¬
dern vielmehr bewirkte dies jene urgewaltige Liebe für
Schönheit und jenes Übermaß von Glück, das sie em¬
pfanden, beim Anblick all des reichen und freudeatmenden
Lebens rings um sie her — vielleicht auch, weil sie
eben nicht allein Künstler, sondern gleichzeitig auch
Kunsthandwerker waren ....
„Dort, wo ich irgend einen wirklich brauchbaren
Entwurf fertig brachte, da hatte ich mich auch immer
persönlich mit den Eigenarten des in Frage kommenden
Materials vertraut gemacht, indem ich mir darüber klar
zu werden suchte, mit welchen natürlichen Schwierig¬
keiten und Beschränkungen die Ausführung zu rechnen
habe . . .
„Schon die bloße Möglichkeit, einen Entwurf ge¬
gebenen Falles auch persönlich ausführen zu können,
wirkt herzerfrischend und stärkend und spornt unseren
Ertindungsgeist an.“
Diese kurzen Auszüge mögen genügen, um zu zeigen,
wie gesund und ehrlich, wenn auch keineswegs neu, die
Gesichtspunkte sind, von denen aus AValter Grane den
Künstlerberuf aufgefasst sehen möchte, und mit welcher
echt englischen Beharrlichkeit und Konsequenz er die¬
selben eigenhändig nach allen Seiten hin durchführt.
So vereinigt er in seiner eigenen Person und in den
technisch so mannigfaltigen Eichtungen seiner Thätig-
keit das von ihm sellist proklamirte Ideal: den Künstler
und den Kunsthandwerker.
Wie in jeder dominirenden Individualität, lebt und
bethätigt sich auch in Waltei- Grane die Quintessenz
eines Volkstums, das Resultat einer langen Kultur¬
entwicklung, welche der Form seines Ausdrucksvermögens
mit Naturnotwendigkeit den Stempel aufdrückt. Das
\'erk ehrteste, was unsere heimische dekorative Kunst
thun könnte, wäre also, den Stil Grane’s etwa nachahmen
zu wollen. „Aufpfropfen“ lässt sich so etwas nie. Die
Basis eines jeden geistigen Schaffens liegt tief und un¬
veräußerlich in der Kunstpsychologie der Völker. Sie
ist der Urboden, auf dem alles das allmählich wächst,
was die geistige Elite in irgend einem Lande hervor¬
zubringen vermag, soweit es echt und zeitüberdauernd
ist. Der eigenbestiminenden und aus sich heraus¬
wachsenden Entwicklung gereicht es deshalb auch kaum
zum Nachteil, wenn eine von störenden Einflüssen freie
Lage, wie die der britischen Inseln, und das feste
Solidaritätsgefühl einer Nation, diese innere Kulturbildung
schützen und schirmen. Wir sind als Deutsche in keiner
so glücklichen Lage und daher leider auch noch immer
gern geneigt, aus der eigenen Haut heraus und in eine
fremde hinein zu schlüjifen.
Im Sinne unabhängigen Stilgefühls kann uns
Walter Grane ein Vorbild, aber eben nur in diesem
Punkte ein Vorbild, sein. Doch wir selber werden am
sichersten der Gefahr entgehen, in Unselbständigkeit
und innere Zerfahrenheit, in Fremdenkultus und Unnatur
zu verfallen, wenn wir selbst bestrebt sind, den ganzen
Künstler und den ganzen Menschen stets und überall
als oberstes Ziel im Auge zu behalten.
WILHELM SCHOLEBMÄNN.
Walter Chane.
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
MIT ABBILDUNGEN.
kann einem Touristen aus dem Nor¬
den nach Vollendung' einer Reise in dem
gelobten Lande der Kunst erwünschter
sein, als seine Erinnerungen an die
vielen unheschreihlich schönen Gegen¬
stände, die ihm Natur und Kunst daselbst
geboten haben, durch etwas Bleibendes fest zu halten,
das es ihm ermöglicht, sich das Erlebte auf anschau¬
liche Weise wieder zu vergegenwärtigen? Bekanntlich
ist dies heutzutage leicht zu erreichen, seitdem sich
auch in Italien die Thätigkeit tüchtiger und im Wett¬
eifer mit brillantem Erfolg arbeitender Photographen
immer mehr ausgeltreitet hat. In der That pflegt jetzt
kein Jahr zu vergehen, ohne dass neue erfreuliche
Eroberungen auf diesem Gebiete zu verzeichnen wären.
Das Triumvirat der Photographen Anderson, Älinari
und Brogi steht noch immer durch die Fülle und die
Trefflichkeit seiner Leistungen an der Spitze.
I.
Indem wir uns hier speciell auf die mit dem iso¬
chromatischen Verfahren ausgeführten Erzeugnisse be¬
schränken, soll vor allem der vor kurzem erschienene
Katalog Anderson’s erwähnt werden, in welchem vieles
verzeichnet ist, das bisher entweder gar nicht oder
doch nur auf unbefiiedigende Weise reproduzirt worden
war. Anderson hat sich diesmal auf Rom beschränkt,
und da kommen denn manche seltene und öfters gar
nicht leicht zugängliche Werke vor, die man sich gerne
in seinen Aufnahmen anschaffen wird.
Aus den Kirchen z. B. ist ein Freskogemälde in
Araceli zu erwähnen von Benozzo GozzoU, das von
den meisten, welche die Kirche besuchten, gänzlich über¬
sehen und selbst von einem so ausführlichen Führer, wie
es derjenige von Gsell-Fels ist, als untergegangen be¬
zeichnet wird. Es ist dies die gewöhnlich zugedeckte,
auf dem dritten Altar links sich beflndende höchst as¬
ketische Figur des heiligen Antonius von Padua, von
zwei lieblichen, ganz im Geiste seines Meisters Angelico
gedachten Engelknaben und zwei kleinen Donatoren
begleitet; im wesentlichen noch ganz leidlich erhalten.
In der Kirche della Pace kommen nicht nur die
herrlichen Sibyllen von Raffael in Betracht, im Ganzen
und in einzelnen Teilen aufgenommen, sondern auch die
von B. Bcruzzi zart dekorirte Nische der Kapelle
Ponzetti, in der die sonst kaum beobachteten kleinen
Abteilungen des Gewölbes mit den Darstellungen der
Anbetung der Könige, der Flucht nach Ägypten und
der Geburt Christi glücklicherweise nicht übersehen
worden. Interessant sowohl für den Freund der Malerei
als auch für denjenigen der Architektur ist ferner, dass
auch das große Wandgemälde Penizzi’s unter derluippel,
worin Maria’s Gang zum Tempel abgebildet ist, mit
verschiedenen klassischen Gebäuden im Hintergrund,
aufgenommen worden ist.
Von den Fresken Pinturirchio's in S. Maria del
Popolo, in Aracoeli und zuletzt in den Gemächern des
Appartamento Borgia hat Anderson sehr vieles publizirt.
Aus letztei'eni aber soll noch manches folgen, was vor¬
derhand noch nicht veröffentlicht werden durfte.
Will hingegen jemand die Fresken, mit denen
Füqgnaw Lippi die Kapelle Caraffa in der Kirche Santa
Maria della Minerva verziert hat, eingehend studiren,
so findet er davon eine Reihe willkommener Aufnahmen
von Anderson, die ihm dazu gute Dienste leisten können.
Die berühmte Lünette im Kloster von Saut Onofrio
kommt bereits in seinem Kataloge nicht mehr als Werk
Lionardo’s, sondern von seinem Schüler BoUraffio vor,
von dem es auch sicherlich herstammt, wie es bereits
Schreiber dieser Zeilen in einem früheren Artikel in
Zusammenhang mit dem bekannten Madonnenbilde Bol-
traffio’s im Museum Poldi-Pezzoli darzulegen versucht hat.
Vollends neu sind sodann mehrere Aufnahmen in
fürstlichen Privatwohnuugen, sowie in einem dem Publi¬
kum verschlossenen Rnunie des Vatikan. Besonders er¬
wähnt zu werden verdient, dass die Aufnahmen Ainler-
son’s kürzlich zu einer eigenen großartigen Publikation
Anlass gegeben haben, nämlich zu einem Luxusbande
unter dem Titel; Tesori d’arte inediti di Roma, mit
Text von Adolfo Venturi und 40 unverändei'lichen
Kohlenphotograi)hieen von Anderson. Unter den kost¬
barsten und für die Kunstgeschichte wichtigsten Stücken
kommt darin folgendes vor:
Die schon von Lermolieff erwähnter Madonna von
Botticelli im Besitze des Fürsten Mario Chigi, wohl das
einzige eigenhändige Bild des Meisters unter den dreien,
die Venturi untei’ seinem Namen vorführt; die reizende
Halbflgur der Magdalena von Pier di Cosimo, welche
94
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
sich vor Jahren ini Pfandhause zu Eom, als Mantegua
bezeichnet, befand, und auf Veranlassung Morelli’s von
seinem Freunde, dem Baron Baracco, erworben wurde;
im Palazzo Colouna ein Flügelbild eines ehemaligen Tripty¬
chons von Cosimo Tnra aus der Kirche von Sau Giorgio
in Ferrara, dessen mittlerer Teil in die Nationalgalerie
von London gekommen ist; mehrere gute cimiuecentistische
Ferrareser aus dem Palazzo Chigi; zwei reizende Ennd-
bilder von demselben alten Tnra\ der herrliche reriKjuw
aus Villa Albani in sechs Abteilungen, aus seiner guten
frühen Zeit (IdJl). x4ußerdem aber kommen nebst
einigen Stücken der Fresken von Pinturicchio zwei
merkwürdige Bildei- aus einem Vorsaale der päpstlichen
Gemächer zur Schau, nämlich ein ganz echt bezeichnetes
uinl charakteristisches Prolilporträt des jungen Francesco
Sforza (als Knabe), Sohnes von Giov. Galeazzo Sforza
(dem Gefangenen in Pavia), von dem Mai ländischen
hialer Jicrnardino de Conti, und ein großes Altarbild,
ein Kapital werk der venetianischen Schule, worin der
beliebte Gegenstand der Befreiung der fürstlichen Jung¬
frau durch den ritterlichen heiligen Georg dargestellt ist.
Bei diesem Gemälde soll hier, um der Walirheit gerecht
zu werden, bemerkt werden, dass Lermolieff diesmal
gegen seine Gewohnheit, sich nicht von der Bezeichnung
auf di'in Bilde bestimmen zu lassen, dasselbe dem Por-
dcnone zugeschrieben hat, während es richtig von Ven-
turi als ein Werk von Paris Bordonc angenommen
worden ist, was ganz klar aus allen Teilen, sowohl
den tigürlichen als auch den landschaftlichen, hervorgeht,
hian kann überzeugt sein, dass bei Anlass der vor
Jahren vorgenommenen Eestauration der Name Bor-
done darauf in Pordenone gefälscht worden ist. Demnach
mag wohl schließlich anerkannt werden, dass dieser
glänzende Georg, welcher entschieden ein pi»rträtartiges
Aussehen hat, kein anderei- ist als der, welchen Vasari
im Leben von Paris Bordone anführt, indem er mitteilt,
dass in dem jugendlidjen Helden ein Herr Giulio Man-
frone aus Crema abgebildet sei. L
Zu Gunsten der angedeuteten Eivendikation in Be¬
zug auf den Urheber des Werkes aber sprechen die
äußeren Merkmale, auf die ja bekanntlich ein Kritiker
wie hlorelli gerade das größte Gewicht zu legen pflegte
und die er selbst sehr leicht auch auf dem Bilde wahr-
genomuien hätte, das er eigentlich nur vor vielen .Jahren
und vorübergehend im Quirinal, wo es damals aufgestellt
war, gesehen hatte. In der That, abgesehen von dem
dem Paris eigenen silbernen Schimmer des Ganzen im
Gegensatz zum gewöhnlichen goldenen Ton von Giov.
Antonio, sind in dem Gemälde die unruhigen gebrochenen
1) Venturi nimmt an, das Bild sei dasselbe, welches sich
in Noale bei Padua liefand; dies ist aber kaum annehmbar,
da jenes schon von llidolfi als ein Pordenone a.ngeführt ist,
während zu der Zeit (XVII. Jahrh.) das Werk, das wir
schildern, gewiss die nngefälschte Aufschrift Paris Bordone
tragen musste.
Falten im Gewände der Prinzessin, die scharfe Be¬
handlung der Haare, sowie der Gebüsche nnd Gräser
mit getüpfelten und fein gestrichelten Lichtern hervor-
zuhebeu, welche Eigentümlichkeiten für den Trevisaner
Meister durchaus bezeichnend sind.
Sonderbarerweise hat aber trotz allem auch der
tüchtige Otto Mündler in seinen Beiträgen zu Burck-
hardt’s Cicerone das Werk nach der, wie Venturi eben
bewiesen, alterirten Inschrift und nicht nach dem inner¬
lichen Gepräge des Gemäldes beurteilt, wo er bei Auf¬
zählung der Werke des Friauler Meisters folgender¬
maßen schließt; „Noch sei der Seltenheit wegen ein
Bild des Pordenone erwähnt, das sich im Quirinalischen
Palast zu Eom belindet; es ist der heilige Georg in der
Eüstung, auf weißem Pferde, den gewaltigen Drachen
bekämpfend. Oben in dei- Landschaft kniet in gold¬
gelbem Kleide die Prinzessin; bezeichnet I. A. REG.
PORD. F.“ —
Anderson hat sich ferner mit einer Sammlung be-
schäftigt, welche seit kurzer Zeit neu geordnet worden
ist. Es ist dies diejenige, welche sich im Palazzo Cor-
sini alla Lungara betindet, welche samt der Bibliothek
und allem übrigen in dieser fürstlichen Residenz von
der italienischen Regierung erworben worden ist. Da
nun auch ein zwar nicht besonders reichhaltiger Überrest
der früheren Galerie Torlonia gleichfalls in den Besitz
der Regierung übergegangen, so ist diesei- der Samm¬
lung Corsini einverleibt und gemeinsam ausgestellt wor¬
den. Unter den merkwürdigsten dazu gehörigen Stücken
soll vorerst das Porträt eines Edelmanues in reicher
Tracht vom Beginn des XVI. Jahrhunderts hervorgehoben
werden, ein Bild, welches frülier als ein Werk des Haus
Holljein angegeben, aber nunmehr mit richtiger Sach¬
kenntnis dem eigentümlichen, wiewohl noch etwas rätsel¬
haften, halb lombardischen und hallt venetianischen Maler,
welcher sich bisweilen BarUdomco Veneto zu bezeichnen
beliebte, zugeschrieben wird. Ein echtes Porträt von
Holbein d. j. ist, laut der Angabe Venturi’s ira 2. Band
der Gallerie Nazionali Italiane, auch da und stellt den
dicken König Heinrich VIII. von England in schmuck¬
vollem weißem Gewände vor. — Wer sich an den immer
anmutigen Veduten von Venedig erfreuen will, der mag
sich vier hültsche Gemälde auserwählen, unter dem
Namen des CanalcUo gehend, und des jüngeren Malers
dieses Namens nicht unwürdig. Ferner sei die Auf¬
merksamkeit der Liebhaber der früheren venetianischen
Kunst auf das in nur zu schüchterner IVeise als Scuola
Veneta verzeichnete Gemälde hingelenkt, worin in selt¬
samer Weise von keinem andern als dem Bergamasker
Giov. Gariani eine nähende Madonna nebst der heiligen
Elisabeth und den zwei Kindern in freier, bergiger
Landschaft dargestellt ist.
Aus dem Bestandteil der Galerie Corsini ist, außer
dem herrlichen kleinen Triptychon des Ängclico und
der echten Madonna von Murillo, der heilige Georg zu
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
95
Pferd zu nenueu, noch als Grandi von Ferrara bei An¬
derson angeführt, wiewohl Leriuolieff (Kunstkrit. Studien
II, 101) bereits das köstliche Tafelbildchen, das man
auch in der Photographie recht gut genießen und stu-
diren kann, mit vollem Rechte dem Francesco Francia
gestellt und auch vom Photographen berücksiclitigt
worden. Die alten Florentiner, die darin Vorkommen,
sind besonders beachtenswert. Fehlt ja auch ein echtes
Blatt, mit schwarzer Kreide von Uliclielainjelo gezeichnet,
nicht. Denjenigen, welche die Gelegenheit dazu sich vei-
Paris Boroone; Der heilige Georg. Rom, (piiriiial. (Nach einer Pliotograiihie. von Anderson.)
Holzschnitt von R. Berthold in Leipzig.
und zwar aus seiner frühen Zeit, zuerkannt, ein Urteil,
welchem endgültig auch Venturi beigetreten ist.
Die Bililiothek der Accademia de’ Lincei, vormals
Corsini, enthält bekanntlich eine kostbare Sammlung
von Kupferstichen und Handzeichnungen. Eine Auswalil
der letzteren ist jetzt in einem Saale der Galerie aus¬
schaffen können, möchten wir raten, dieses Blatt mit
dem entsprechenden Gemälde zu vergleichen. Das Ge¬
mälde ist zwar kein besseres als dasjenige, welches, wie
Vasari Iterichtet, der unglückliche Giuliano Bugiardini
nicht zu Stande gebracht hätte, wenn ihm Michelangelo
nicht zu rechter Zeit aus der Not geholfen lültte. Vasari
96
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUF'NAHMEN AUS ITALIEN.
sagt; ..II Buonarroti adunque, i^er compiacergli, avendo
coiiipassione a quel pover uonio, accostatosi coii un car-
bone alla tavola, contornü de’ primi segni, schizzati sola-
meute, ima tila di ligure ignude iiiaravigliose, le (Hiali in
diversi gesti scortando, variamente cascano cLi iiidietro e
cbi inuanzi; con alcimi morti e feriti, fatti con quel
giudizio ed eccellenza ehe fu propria di Miclielaugelo; e ciö
fotto si parti riiigraziato da Giuliauo.“ Man müsste
also daraus schließen, dass Michelangelo seine Skizze
auf der Holztafel gezeichnet hätte: indessen sind ähn¬
liche Berichte von Vasari nicht gar zu wörtlich zu
nehmen und es scheint jedenfells das Blatt aus der Cor-
siniana mit dem Gemälde der Marter der heiligen Ka-
tliarina in der Kapelle Eucellai in Santa IMaria Novella
in Zusammenhang zu stehen, welches der ai’inselige Bu-
giardini nur mit großer klühe vollendete. Dieses ein¬
leuchtende Verliältnis ist auch zuerst von Lermolieff
(I, S. 123) gekennzeichnet worden, trotzdem finden wir
das Blatt noch unter dem Namen G. Bugiardini registrirt.
Unter den Neuigkeiten im vatikanischen Palaste
verdient die Aufnahme vieler interessanter Teile der
Sixtinischen Kapelle erwähnt zu werden. Unter andeien
sind jetzt zum ersten Male auch die einzelnen Figuren
zwischen den Fenstern in Betracht gezogen worden,
worunter sich nach den Angaben von Schmarsow Und
Ulmann fünf Bischöfe von Botticelli befinden sollen.
Der Decke Miclielangelo’s aber hat Anderson die größte
Sorgfalt gewidmet, und die vorzügliche Photographie der
ganzen Bemalung, in großem Maßstab aus verschiedenen
Blättein fleißig zusammengesetzt, ist auf Leinwand ge¬
zogen zu beziehen. Desgleichen die ganze Folge der
bei’ülimten Tapeten. ')
II.
Gehen wir nun zu den Veröffentlichungen der
Florentiner Photographen über, so treten uns da die
von Giacomo Brogi in der Galerie des National-Museums
zu Neapel unternommenen Aufnahmen als besondei's
willkommen entgegen. Dass diese Galerie bis jetzt im
Vergleich zu den Sammlungen der antiken Kunst in
demselben Institute ziemlich stiefmütterlich vom Vor¬
stande desselben beliandelt worden, mag insofern seine
Erklärung finden, als eben dem weltberühmten Museum
jener Stadt der größte Wert in den Denkmälern der
Antike, hauptsächlich aus Herculanum und Pompeji
stammend, zuerkannt wird. Indessen enthält die im
oberen Stockwerke aufgestellte Bildergalerie der Re¬
naissance und der nachfolgenden Zeiten, wiewohl sehr
gemischt, doch eine bedeutende Anzahl wichtiger Werke
aus verschiedenen Schulen, welche verdienten, besser
verteilt, richtiger benannt und sorgsamer erhalten zu
D Detaillirte Angaben von allen diesen und andern
Neuigkeiten in dem kürzlich herausgegebeneu, die Stadt und
Provinz Rom betretfenden Katalog von Uomenico Anderson,
welcher samt Photographieen beim Buchhändler Spithöver,
Piazza di Spagna, Rom) zu beziehen ist.
werden. Besonders reichhaltig ist der Teil, welcher im
vorigen Jahrhundert bei Anlass des Überganges eines
Herzogs Farnese von Parma zum Königreich der beiden
Sizilien nach Neapel kam. Gar manches merkwürdige
Stück, aus den Schulen von Nord- und Mittelitalien, für
die neuere Kritik geradezu von höchstem Interesse, an¬
dere wieder für den Kunstgenuss hervorragend, sind
dem genannten Ursprünge zu verdanken. Beginnen wir
mit den Meistern von Toskana, so mag man erstaunen,
zwei recht primitive Werke zu finden, welche keinem
andern als dem auch in seinem Vaterlande selten vor¬
kommenden Masolino da Panicale zuerkannt werden
müssen. Das wichtigste davon ist dasjenige, auf dem
Papst Liberins dargestellt ist, der in Gegenwart einer
andächtigen Menschenmenge, wo lauter Typen Vorkommen,
die sofort an diejenigen der Kapelle Brancacci gemahnen,
mitten im Schnee die Umrisse der zu errichtenden Ba¬
silika von Sancta Maria ad Nives (Maggiore) mit einem
Spaten zeichnet. Obeilialb der Wolken sehen Jesus
und Maria segnend der Ceremonie zu. ü
Von Sandro Botticelli, oder ihm jedenfalls sehr
nahe stehend, ist eines jener Madonnenbilder, auf denen
das Christuskind, von ein Paar Engeln begleitet, dar¬
gestellt ist, noch im grauen, stark an den Meister Fra
Filippo erinnernden Ton. Es ist eine durchaus sinnige,
ernst empfundene, wenn auch nicht eben schön zu
nennende Schöpfung.
Dem Filippino Lippi hingegen wird eine Ver¬
kündigung nebst den Heiligen Johannes der Täufer und
Andreas zugeschrieben, welche wohl eher seinem Schüler
Rafaellino del Garbo angehört, dessen milde, etwas schwäch¬
liche Natur sich nicht nur in den Figuren, sondern auch im
malerischen Hintergründe kund giebt, wo das Arnothal
mit der Stadt Florenz abgebildet ist. Ein Rätsel, das
wohl auch bei den Toskanern seine Lösung finden dürfte,
ist sodann das Porträt eines Kardinals Passerini, in der
Galerie als Raffael ausgestellt.'^) Vollends toskanisch
aber ist die sogenannte Wiederholung Raffael’s, des Por¬
träts von Leo X. aus dem Palazzo Pitti, das mit dem¬
jenigen zu identifiziren sein soll, welches Andrea del
Sarto, laut Vasari, kopirt hat.
Aus der früheren Zeit der norditalienischen Schulen
stammt eine Anzahl ganz bedeutende)’ Porträte, und
zwar: unter dem Namen Hans Holbein das Brustbilduis
eines glattgeschorenen Prälaten , in dem neulich die
Züge des auch durch eine gleichzeitige Medaille bekannten
Grafen Bernardo de Rossi aus Parma, päpstlichen Legaten
und Bischof von Treviso, erkannt worden; die halb deut¬
sche, halb venetianische Auffassung, die flüssige, helle Farbe
1) Die beiden Bilder sind unter der allgemeinen Be¬
nennung „Scuola Toscana“ verzeichjiet.
2) Von Raphael ist wohl in Neapel nichts Eigenhändiges
zu finden. Am meisten nähert sich ihm die sogenannte
Madonna del divino Amore, in der Ausführung jedoch ge¬
wiss von dem jungen Giulio liomcvno.
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
97
imd die scharfe und reine Zeichnung deuten entschieden
auf ein Werk von Jacopo de Barbari. Unter dem Namen
des Giovanni Bellini gehen zwei andere sti’enge Bild¬
nisse, das eine wohl eher von Äntonello da Messina^
das andere ein lebendiges Profilköpfchen eines ganz
jungen Geistlichen, mit einer so klassischen Einfachheit
behandelt, dass dabei am ehesten an And. Mantcgna
Tizian, Sebastiano dd Piombo , Moretto mit wichtigen
Werken in Betracht; sodann eine Folge anziehender
Canaletto’s.
Unter den Lombarden thut sich vor allem übrigen
das große Altarbild der Anbetung der Könige von
Cesare da Sesto hervor, ein Kapitalstück aus der Schule
Lionardo’s, außerordentlich reich an allerlei Motiven und
Allegorie von Girolamo Mazzola in der k. Galerie zu Neapel. (Phot. Brogi.)
ZU denken ist, wohl nach einem Mitgliede der Familie
Gonzaga von Mantua.
Qiov. Bellini ist in einem echten, vorzüglichen
Werke vertreten, nämlich in seiner „Verklärung Christi“,
wo nicht nur das Figürliche, sondern auch das Land¬
schaftliche höchst bedeutend ist.
Von den späteren Meistern kommen Pahna Vecchio,
Zeitsclu'il't für bildende Kunst. N. F. Vlll. 11. 4.
wundervoll gediegen in der Ausführung. Die Zeichnung
dazu befindet sich in der Sammlung von Venedig.*)
Nebenbei aber soll auch noch einer alten lombar-
1) Weiteres über dieses Prachtbild in meinem Bande:
Arte Italiana del Rinascimento. Fratelli Dnmohird, Milano
18Ül. ra.g. GO.
lö
98
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
diseben Kopie der Vierge aux roebers von Lionardo ge¬
dacht werden (Anfang des XVI. Jabrbunderts), die in¬
sofern interessant ist, als sie bezeugt, dass das Original,
nunmebr im Louvre, schon früh nach Frankreich ge¬
kommen ist, indem sowohl diese als auch die meisten andern
Kopien nach dem späteren, jetzt in der Londoner Galerie
belindlichen Exemplar gemalt worden sind, welches sich
bekanntlich in der Kirche S. Francesco in Mailand befand.
Bietet die Schule vitu Parma hier nichts Hervorragendes
von Correggio, da von den zwei kleinen ihm zugeschrie¬
benen Bildern, „die Vermählung der heiligen Katharina“
und die „Zingarella“, erstere bekanntlich nur eine Kopie
aus dem XVIT. Jahrhundert, die andere aber ein wenig-
genießbares Gemälde ist, so kann man nirgends sonst,
selbst in Parma nicht, die Maler der Familien JI/«; so/«
und Sclmhme besser vertreten sehen als in Neapel. Zu den
Juwelen der reifen italienischen Kunst gehören ein paar
Porträts von Francesco Mazzola, genannt il Parmigia-
iiino, namentlich dasjenige der schlanken Hetäre Antea
in ihrer malerischen feinen Tracht, ’) und das Porträt,
welches lange Zeit für das Bildnis des fJiristophorus
Columbus gegolten, zu dem es thatsächlich nicht die
geringste Beziehung hat, während neuerdings erkannt
worden ist, dass es einen Edelmann und zwar augen¬
scheinlich einen seiner Vornehmheit recht bewussten
aus der alten Familie der Sauvitale von Parma darstellt.
Dass Francesco IMazzola mit seinem Vetter Gii'o-
lamo Mazzola öfters verwecliselt wird, ist bekannt. Dies
ist denn aucli gerade der Fall bei einer merkwürdigen
allegorischen Darstellung, worin eine als Pallas ge¬
kleidete, die Stadt Parma personitizirende Frau den
jungen Krieger Alexander Farnese umarmt, ein in deko¬
rativer Hinsiclit sehr beachtenswertes, wenn auch in der
Behandlung steiferes Werk als diejenigen vom eigent¬
lichen Parmigianiiio sich darzustellen pflegen.
All den genannten, von Brogi treft'lich aufgenom¬
menen Werken sind sodann noch einige aus den nordi¬
schen Schulen beizufügen, unter anderen das mit köstlichem
Humor behandelte Temperabild vom älteren Brueghd,
die Parabel der Blinden darstellend, welche in Gesell¬
schaft einer nach dem andern in den Wassergraben
stürzen, ein Sinnbild der unselbständigen Kunstgelehrten,
wie Morelli meinte. Ferner vom Meister des Todes der
Maria ein sehr fein ausgefülirtes Trii)tyclion mit der
Anbetung der Könige.
In der Abteilung der lokalen neapolitanischen
lyieister, wo u. a. der liebliche Andrea Sabati?ii von
Salerno waltet, soll der Photograi)h erst nocli seine
Arbeit fortsetzen.
in.
Die Gebrüder Alinari haben während der letzten
Zeit mehr in Oberitalien gearbeitet.-) In Venedig haben
1) Abgebildet in der Gazette des Beaux Arts v. 1. Mai lS9ü.
2) Seit einigen Monaten bat diese Finna auch zahl¬
reiche Aufnahmen in Neapel und Umgegend gemacht.
sie sich in der Calle San Moise einen eigenen Laden
eröffnet und im Wetteifer mit Anderson die Aufnahme
der vielen kostbaren Kunstwerke der Stadt unternommen.
Unter der Eubrik Venezia e il Veneto ist bereits ihr
bezüglicher Katalog vor mehr als einem .Jahre erschienen.
Er bezieht sich besonders auf die Stadt Venedig, er¬
streckt sich aber auch auf die benachbarten Städte, wo
auch einige abgelegene Sachen nicht versäumt wurden,
wie z. B. das wenig bekannte Jugendbild des Loreuxo
Lotto in Santa Cristina bei Treviso, worin sich der
Künstler als ein schlichter, ernster Nachfolger der
älteren Meister, der Vivarini’s und der Bellini’s, zu er¬
kennen giebt und den Kontrast mit seiner später be-
W'egten und leidenschaftlichen Manier recht fühlbar
macht.
Wer sich hingegen speciell für die großartigen
dekorativen Arbeiten eines Paolo Veronese interessii't,
mag sein Wohlgetällen haben an den zahlreichen Auf¬
nahmen Alinari’s aus der in derselben Provinz gelegenen
Villa Giacomelli in Maser. Auch einige Abstecher in
die lombardischen Provinzen sind zu erwähnen, von
denen gleichfalls ein Verzeichnis uns vorliegt, welches
w'ichtige Kunstorte betriftt, wie Brescia, Como, Mantua, mit
den herrlichen Werken eines Moretto (unter diesen auch
das bezaubernde Bild aus Paitone, von dem die Dresdener
Galei'ie nur die elende Kopie besitzt), eines Liiini, eines
Ma'}itcg)ia, u. s. w.
Ganz besonders aber mag es die Kunstfreunde
freuen zu wissen, dass genannter Firma die Erlaubnis
seitens der Lady Layard zugestanden wmrden ist, eine
beträchtliche Anzahl ausgewählter Gemälde aus dem
Nachlasse ihres vor zwei Jahren verstorbenen Mannes
Sir Henry Layard zu reproduziren. Dieser bekannte
englische Diplomat hat nämlich in Venedig eine sehr
bedeutende Bildersammlung in seiner schönen, am großen
Kanal gelegenen Wohnung hinterlassen. Laut seiner
testamentarischen Verfügung ist die Nutznießung der
Sammlung seiner Gattin zugedacht worden; zuletzt aber
soll sie gänzlich der Londoner Nationalgalerie, für die
sich Layard sein Leben lang stets lebhaft interessirt
hatte, einverleibt werden. Bei w'eitem der bedeutendste
Teil der Sammlung besteht aus Gemälden aus den
italienischen Schulen des XV. und des XVI. .Jahrhun¬
derts, meistens Kabinettstücken, bei deren Erwerb ihn vor
allen sein Freund Giovanni Morelli beraten hatte. Da
kommt denn in erster Linie die veuetianische Schule in
Betracht mit höchst symi)athischen Meistern, wie Qeniile
Bcllini, Vittor Carpaccio, Aloise Vivarini, Cinia da
Conegliano] von ihm abhängend der jugendliche Fra
Sebastian del Fiombo-, sodann Francesco Bonsignori,
Savoldo da Brescia, Moretto, Moroni u. a. m. Unter
den Lombarden Bramantino mit einer ganz eigentüm¬
lichen Anbetung der Könige, Bernardino Luini, Oau-
denzio Ferrari etc. Die berühmte Galerie Costabili,
einst eine wahre Fundgrube für die ferraresische
NEUE PPTOTOGRAPIIISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
99
TV.
In Mailand liat sich in letzter Zeit
Liiigi Duhray als der tliätigste Ivunstplioto-
graph erwiesen, nnd seine Leistungen sind
insofern als willkommen zu begrüßen, als
sie viele Gemälde aus Privatsammlungen
wiedergehen, die nicht leicht zugänglich sind.
Ist es u. a. keine gar leichte Sache für
jedermann, die Sammlung des Fürsten Tri-
vulzio besuchen zu dürfen, so kann mau sich
nun hei Duhray die Ahhildungen einiger der
bedeutendsten dort heündlicheu Bilder an¬
seh en; vor allem die;)' eiligen des mächtigen
Temperagemäldes von Andrea Mantcgna aus
dem Jahre 1497, eine im Himmel unter einer
Masse von Cherubim sitzende Gottesmutter,
mit Heiligen im unteren Teil und drei köst¬
lichen singenden Engeln, von denen einer
eine Papierrolle hält, auf welcher (im Groß-
forinatblatt, wo die drei Engel allein auf¬
genommen sind) die Inschrift deutlich zu
lesen ist: A. Mantinia pi. a. Gracie 1497-
15 augusti. Hinter einer dieser Engelsgestalten
ist in kleinem Maßstabe eine Kirchenorgel
dargestellt, welcher Umstand insofern be¬
merkenswert ist, als er darauf zu deuten
scheint, dass das Werk ursprünglich als
Altarblatt in der bekannten alten Kirche zu
Verona, Santa Maria in Organo, figurirt habe.
Wie aber und wann das große Kunstwerk
seinen ursprünglichen Platz verlassen, ist
nicht bekannt.
Höchst gediegen sind sodann in ihrer
Art einige Porträts, d. h. dasjenige eines
Unbekannten von Antoucllo da Messina und die zwei
Profile der Sforza’s, der Söhne des alten Francesco,
Gründers ihrer Herrschaft über Mailand, das eine mög¬
licherweise von Bernardino de’ Conti, das andere von
Boltraffio herstammend.
1) Weiteres hierüber in meinem Artikel in der Gazette
des Beaux Arts vom 1. Dezember 189G.
,La Primavera“ von CosiMO TORa in der Sammlang Layard in Venedig. (Phot. Aliuari.)
Position von Bramantino mit strengem architektonischen
Hintergrund u. a. m.) bereits in die Breragalerie über¬
gegangen. Auch einige Neuigkeiten aus den öffentlichen
Sammlungen der Brera und des Museum Poldi Pezzoli
wurden von Duhray veröffentlicht. Unter diesen sind
besonders folgende Werke zu erwähnen: das Porträt
eines Clrafen Porcia, ein Itezeichnetes Gemälde von Tixian,
13*
Malerei, lieferte ihm gar manches wertvolle Stück. Ein
Specimen des bedeutendsten unter den dortigen Malern
sollte auch nicht fehlen, und wir fügen es in Abbildung
bei, worin eine allegorische weibliche Figur, auf einem
durchaus phantastisch verzierten Thron sitzend, den
alten Cosimo Tura, seiner ganzen merkwürdigen Natur
gemäß vertritt. Ihm sich anreihend ffdgen dann Ercolc
Grandi, Lorenzo Costa, Garofalo, Mazzolino.
Von Toskanern nur ein gutes Bild, nämlich
das Porträt eines Jünglings, unter den Pho-
tographieen von Alinari als Botticelli ver¬
zeichnet, aber wohl eher von BafaelUno del
Garbo, wie es Morelli bestimmt hat.')
Eine interessante Wahl wurde unter den im erz-
bischöflichen Palast befindlichen Bildern getroffen, wo
erstens ein bis jetzt verkanntes Juwel, ein Jugendwerk
von einem der größten italienischen Künstler, entdeckt
worden, dessen Kenntnis der Kunstwelt erst von Rom aus
erteilt werden soll, da es samt andern 15 Stücken, (dar¬
unter ein glänzender Paris Bordone, eine seltsame Kom-
NEUE PHOTOGRAPHISCHE AUFNAHMEN AUS ITALIEN.
welches als Geschenk der Herzogin Litta an
die k. Galerie voi- wenigen Jahren kam; ein
anderes, Brnststück eines jungen, nnlnlitigen
Mannes, von Andrea Solari, zwar kein neu
erworbenes, aber nach sorgfältiger 'Wieder¬
herstellung durch Cavenaghi wie zu neuem
Leben erwecktes, im llaffaelsaal aufgestellt.
— Für solche übrigens, die sich gerne den
Untei'schied zwischen schlecht restaurirten
oder verwahrlosten Malereien und denselben
in de)' verbesserten Ausgabe nach Ilehand-
lung des gescliickteii Restaurators veran¬
schaulichen wollen, sollen hier folgende em-
Itfohlen werden; das ]\ladonne)iltild \ünJaco])o
BcUini (mit altem gotischen Rahmen und Sig-
natu)'), welches von de)' k. Akadonie vo)i
Ve)iedig Cavenaghi zugeschickt und von ihm
auf die glücklichste Weise voi den willkür¬
lichen Ändo'ungen, die es e)'fahren hatte, be-
f)'eit worden ist; die drei P)'edellenbilder von
Lorenzo Lotto aus S. Rartolonnneo in Ber¬
gamo, )iunmehr in der öffentlichen Galo'ie
daselbst aufgestellt, in ihrem vernachlässig¬
ten früho'en Zustande von Rotze aus Vermia,
von Dubray aber nach der Wiederherstelhnig
in Mailand aufgenommen. 1 )ubray hat neuer¬
dings auch das voi' kurzer Zeit go'einigte
F)'eskobild von Donato Montorfatw (1498),
die Kreuzigung da)'stellend, gegenüber de)»
Abendmahl Linardo’s photogj'aphirt.
Als eine der besten Leistunge)) vo)i 1 )u-
bray, die sich zugleich auf ein Weu'k von
einem der tüchtigsten Charaktermaler der
italienischen Renaissance bezieht, legen wi)'
hier i)i der Abbildung die stattliche Erschei¬
nung eines schlanken heiligen Hiero)iynius
von Ercole de’ Butw.rti (etwa dreivio'tel Le¬
bensgröße) vor, in entsprechendem geschmack¬
vollen Rahmen, für sich selbst ein günstiges
Zeugnis des jetzigen Vermögens in Sache))
des Kunstgewerbes i)) Mailand. Der glück¬
liche Besitzer dieses Gonäldes ist ein bis
jetzt speciell in) Gebiete der Musikpflege be¬
kannter geistreicher Mailänder Bürger, der
sehr viel dazu beigetragen hat, in seiner
Vaterstadt das Verstä))d))is u))d de)) Ge))uss
der Schöpfungen R. Wagner’s zu verbreiten.
Das Ge)nälde wurde von ilnn unter viele))
)))itteln)äßigen Sachen eines Kaufhauses unter
de))) Na)))en Viva)'ini vorgefu])den. Als es aber
auf die Staft’elei des obe)) ge])a))))te)) Restau¬
rators zur Entfer))ung ungebührender Re-
touchen ka))), da stellte sich recht klar her¬
aus, dass der A)itor desselhen ])icht unter den
Venetianern, sonder)) u))ter den Ferrareseru
Heil. Hieronymus von Ercole de’ Robert: bei Herrn Aldo Noseda in Mailand.
(Pbot. Dubray.)
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
des 15. Jahrliuiiderts zu suchen ist. Bekanntlicli ver¬
danken dieselben ihr eigenes Gepräge hauptsäcldich
der gehaltreichen Wirkung der drei Maler Cosinio Tura,
Francesco Cossa und Ercole de’ Roherti. Letzterem wird
denn auch jetzt allgemein der vorliegende Hieronymus
zuerkannt. Der ernste, großartige Zug dieses Heiligen
im roten Kardinalsgewand, mitten in einer Landschaft
stehend, mit vergoldetem Himmel, der grimmig lieraldische
Löwe zu seinen Füßen, stimmt in der That sowohl in
der zusammenfassenden Auffassung als auch in dem ihm
eigenen Stil und in der Ausführung des Einzelnen mit
dem beglaubigten Altarblatte aus S. Maria in porto zu
Ravenna überein, das seit Napoleon’s Zeit der Hrera-
galerie einverleibt ist. Früher möglicherweise einem
Triptychon angehörend, winl dieses dem Kunstvermögen
der gebildeten Welt von neuem zugewachseue Stück um
so mehr als willkommen angesehen, als die AVerke des
Meisters ja zu den gesuchtesten Seltenheiten in seinem
Gebiete gerechnet werden.
Ein echtes Werk von Alvise Vivarim mag aber
liier noch angeführt werden, nämlich eine heilige .Tu-
stina de’ Horromei, nunmehr im Besitz einer Dame
dieser Familie. Wiewohl von überschlanken Verhält¬
nissen, gehört die Heilige zu den feinsten Erzeugnissen
der venetianischen Malerei und nimmt sich auch in der
Dubray’schen Photographie sehr gut aus.
Unsere Schilderung würde sich zu weit ausdehnen,
wollten wir eingehender alles von interessanten Meis¬
tern (wie A. Borgoynone , BoÜraffio, Luini, Gaudcn-
zio Ferrari, Bernardino de’ Conli, Sofonisba Anguissoki,
Moretto, Francia, Correggio etc. etc.) erwähnen, was im
Kataloge des Mailändischen Photographen vorkommt.
V.
Zuletzt soll doch auch des deutschen, oben genannten
Photographen Richard Lotze nochmals gedacht werden, dem
man es zu verdanken hat, dass er, wiewohl in Verona an¬
sässig, sich die Mühe gegeben, in der Stadt Bergamo
eine reichliche Anzahl von Werken der Malerei zu
publiziren und zwar mit einer Wahl, die auf keine
gewöhnliche Sachkenntnis deutet, wie dies schon aus dem
Überblick seines gedruckten Verzeichnisses sich zu er¬
kennen giebt.
Dieses, unter dem allgemeinen Titel : Le opei’e di pittura
a Bergamo erschienene Verzeichnis zerfällt in folgende Ab¬
schnitte: Galeria Carrara, bekanntlich der Grundstock der
öffentlichen Gemäldegalerie; GalUria Locliis, d. h. die
zweite durch ein Vermäclitnis gebildete Abteilung, beide be¬
merkenswert durch die Werke von gar manchen seltenen
und hervorragenden Meistern; ') Ä Bartolomco , wo
hinter dem Hauptaltar das größte Werk Lotto’s, von
a. 1516, prangt; Santo Spirilo (Lotto- und Previtali,
Altarbilder); San Bernardino, mit dem dritten großen
Altarbild von Lotto, welches unter allen auch als das
schönste zu bezeichnen ist; Duonio (kleines Tafel¬
bild aus der letzten Zeit von Giovanni Bellini); Casa
Buglioni und zuletzt Casa BiccineUi, Wohnungen wohl¬
habender Kunstfreunde, wo gute Bilder von CarianL
Borgognone, Lotto, Previtali u. a. m. berücksichtigt
worden sind. GUSTAV FRIZZONI.
1) Die dritte, zuletzt hiuzugekommene Abteilung ist
diejenige von Morelli, aus der .30 Stücke vor ihrer Über¬
siedelung von Mailand nach Bergamo von der Firma Mar-
cozzi aufgenommen worden , welche denn auch als V orlagen
zur Illustrirung meines im V erläge der Fratelli Bolis erschie¬
nenen Bandes: La Galeria Morelli in Bergamo, gedient haljen.
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
MIT EINER HELIOGRAVÜRE.
lE Plastik auf der letzten Ausstellung In
der Prinzregentenstraße veidangt ein
Wort für sieh. Ihre AVerke standen
diesmal nicht nur so herum, nach alter
Gewohnheit, wie die Garden in den
Audienzräumen, sondern man hatte ihnen
einen besonderen Saal omgewiesen und Einzelnes, was
dort nicht mehr gut Platz finden konnte oder sich un¬
schädlicherweise als Dekoration verwenden ließ, ge¬
schmackvoll in den Bildersälen untergebracht.
Vor allen zog Adolf Ilildebrand das Interesse auf
sich. Er hatte unter anderem die naliezu lebensgroße
Statue eines Mar.syas ausgestellt, die durch Originalität
der Erfindung und Frische des Stils an die Jugend¬
arbeiten des Meisters erinnert. Der bäuerisclie Geselle,
II.
mit struppigem Bart und Haupthaar, sitzt, nackt wie
ihn Zeus geschaffen, auf einem schwarzgrauen Marmor¬
block und pfeift sich die Alelodie vor, die er nächstens
auf dei' von Iieiden Händen gehaltenen Flöte versuchen
wii'd. Haltung und Ausdruck des klassischen Burschen
sind von köstlicher Natürlichkeit. Die Modelliruiig höchst
soi’gfältig, die matte Ciselirung wie der Guss ausge¬
zeichnet: wahrscheinlich Florentiner Arbeit. Unsere
deutschen Gießer billigen so etwas kaum zuwege. AMii
den andern Hildebrand’scheii Arbeiten verdient der treff¬
liche männliche Studienkopf alle Anerkennung. Das
Relief mit einer Badescene ist zwar hübsch komponirt,
aber doch zu skizzenhaft und namentlich zu reizlos in
der Beliandliing, um den Riilim des Künstlers erliöhen
zu köniieii.
102
DIE AUSSTELLUNG DER SECESSION IN MÜNCHEN.
Auch die übrigen Münchener Bildhaner zeigen hiiiiüg
mehr Kraftgefülil als Reiz. Ein gewisser derlter Zug
wiegt vor. Milnnliche Gestalten, liesonders l’orträtkiipfe
bedeutender Charaktere, gelingen oft vortrefflich. Der
Sinn und das Geschick für Anmut und Seelenausdruck
erweisen sich als wenig entwickelt. Erwin Kurz be¬
friedigte uns nur in seinem männlichen Portriltrelief.
Die weibliche Büste von Hermann Lang ist ein zwar
lebensvolles, aber zu wenig schönes Werk, um das Auge
dauernd zu fesseln, ^'on den zahlreichen Arbeiten Jo¬
seph Flossmcmns konnte uns bloß der eimste, walir
empfundene Christuskopf imponiren. Die oidginellen
Werke Matlrias Gaste igcr’s lal)oriren alle an zu schweren,
plumpen Formen. — Ein schönes, ruliiges, an die Antike
streifendes Bildwerk ist die Bronzestatuette des Ganymed
von Arthur Volkmann (Rom); trefflich auch der kleine
Stier in Bronze von L. Tuaüloti (daselbst).
Höchst interessante Beiträge zu der i)la.stischen
Secessions-Ausstellung hatten die westlichen Kunstvölker
geliefert: Belgier, Engländer und Franzosen. Von dem
geistreichen Brüsseler Naturalisten Constantin Meunicr
sahen wir eine „Frau aus dem Volke“ und einen ,,Ackers-
manu“ von Millet’scher Lelienswahrheit. In eine wunder¬
liche Welt V(dl seltsamer visionäre)' Gestalten von Prä-
Rafaelitiscliem Stil führte uns der Londoner George
Frampton, liesonders in seine))! allegorischen Brouzerelief
„Meine Gedanke)! sind nieine Kinder“. — Als echte
Schöpfungen einer gesunden, i'eich aus den! Phantasie-
lioden lio'voi'iiuellenden Kunst erwiesen sich die WA)'ke
der Franzosen. Sie umfassten in den! engen Ralnuen
einer kleinen Answahl das Vorzüglichste aus den Ge-
liieten der idealen, der dekorativen und der natura¬
listischen Plastik. Und sie bewiesen khx)', dass Frank-
!'eich in allen diesen Spl!ä)'e!! den übrigen Völkern den
Rang abgelaufen hat. Von den reizenden kleinen Ar-
lieiten dekorativen Stils von F. Vallgren (Paris) haben
wir den Lese)!! bereits in! Dezeanberheft (S. 54) ein
Beispiel vo)'gefül)rt. Das gleiche Geu)'e, wie jene „Aschen-
lü'ne“, vei'traten auch andere, als Blumenkelche und
Wandleuchter bezeichnete kleine Bronzen. Bewunderns¬
wert ist an ihnen vorzugsweise die sinnige Benutzung
des ffgürlichen Sclnnuckes fü)- die Gerätteile selbst, z. B.
der trauo'üden weiblichen Figur fü)‘ den Henkel der
Aschenurne. Die schlanke, in eng anliegende Gewänder
gekleidete Gestalt fügt sich der Henkelfo)’))! schmiegsani
an und Idetet zugleich das Mittel dar, den Zweck des
Gefäßes andeutungsweise zu chai'akterisiren. Besonders
bezeichnend für die Art des Künstlers ist der obere,
vegetabiliscl! auslaufende Rand des Gefäßes. Vallgren
liebt diese Anklänge an die For)nenwelt der Natur.
Seine Gex'äte haben alle etwas Pflanzliches und auch in
den zarten, stengelhaften Gestalten, ndt denen er sie
ausstattet, offenliart sich das Hängen des Künstlers an
der vegetativen AVelt. Auch eine allerliebste kleine
Bronzeliüste hatte Vallgren ausgestellt: eine Bretagnerin
in der Landestracht, nrit zierlichen! Häuljclien und ge¬
fältelten! Kragen. I)! allen! der Wiederscl)ein einer
Künstlerseele, welche die Dinge voll aus den! Innern
heraus gestaltet! — Melir nach der sinnlichen Seite fo )•)!!-
begalit erweist sich der Pariser Albert Bartholome, von
deni wir eine kleine, l!errlich nwdellirte Brunnenfigur
auf der Ausstellung sahen. Es ist eine nackte Frauen¬
gestalt, die sich zwischen de)' olieren Muschel !!))d decn
u))te)'en Becke)! des Brunnens in die Ecke drückt. Die
Figur ist so schön den! Raun! angefügt, die For)!!en des
in Rückenansicht dargestellten Körpers fließen so wolilig
und weich und in so breiter Naturfülle dahin, dass wir
das Wasser glauben rauschen zu liören, das sich darülier
ergießen soll. — Das Hauptinteresse der kleinen Münchener
Ausstellung liildete für uns der fülmende Meister der
]!!ode!')!en Pariser Naturalisten, Auguste liodin. Wir
kannten ihn bisher nur aus Abbildungen und Abgüssen.
So z. B. aus der wunderbar ))!odelli!'ten Gestalt seines
„Age d’aij'ain“ i))! Dresdener Augusteun!. Auch die
Secessions-Ausstellung enthielt nieln'ej'e seiner Arbeiten
in Gips. Aber das alles kann uns keinen !'echte!! Be-
g')'iff seines Wollens und Volllu'ingens gelien. Jedenfalls
ein größeres Stück davon hatten wir in der n!erkwü)'dig'e)!
Po!'t!'ätl!Üste vor uns, welche die lieigegebene Helio-
g)'avü!'e veranschaulicht. Es ist der Bildhaner Dalou,
n)odelli!'t von Rodin und mit jener unübertrefflichen
Virtuosität in Bronze gegossen, u)!! die unsere Bildliauer
ihre Pariser Kollegen beneiden. Während sehlecl!te
Gießer und rolie Ciseleure nicht selten die charakteristiscl!e
Fo!')!! der Oliex'fläche liis zur Unkenntlichkeit entstellen,
steht liier jeder flüchtige uiid weiche Druck der Hand,
jeder Strich des Modellirstäbchois klar zu Tage. Das
knochige Gesicht, die inatten, innerliche)! Augen, das
abstehende Haar, der feine Mund, die inagere)!, unver¬
hüllten Fornien des Halses und der Bi'ust: Alles tritt
scharf und lebensvoll zusannnen zu der geistreichsten
und dabei wahrsten Naturschildei'ung, die nnin sich
de)!ken kann.
Es wäre schon wegen all de)' uiivei'gessliche)) u))d
i)!ti)!)e)!Ku)!Stei)!d)'ückevon auswärts, welchedieMüiichener
Secessio)! u)!S vei')))ittelt hat, jamiiierschade, we))n sie
ihre vorläufig beendeten erleseiien Ausstelhnige)) nicht
bald i)! ei)!e))i neuen, ebenso schönen Lokale wieder auf-
))eh)))e!! kön)!te! CARL v. LÜTZOW.
KLEINE MITTEILUNGEN
P. Clemen, Die Kunsidcnhnälcr der Rltcinproi in''.. Dritter
Band. IV. Die Städte und Krei.se Gladbach und Krefeld.
Düsseldorf, 1890. 8". 1(37 S. mit 74 Textabliildungen und
12 Tafeln. G M.
Nicht mehr mit der fast den Atem benehmenden Ge¬
schwindigkeit, wie anfänglich, aber doch immer noch erstaun¬
lich schnell und pünktlich folgen einander die einzelnen
Hefte der von Paul Clemen geleiteten und besorgten Ver¬
zeichnung der Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, und immer
wieder erfreuen sie durch die übersichtliche Anordnung des
vielgestaltigen Stoffes, durch die klare, gemeinverständliche
Sprache und durch die auf bester Kenntnis beruhende, gründ¬
liche und sorgsame Beschreibung der Kunstwerke, ln der
Klarheit der Darstellung möchte ich einen der wesentlichsten
Vorzüge der Clemen’schen Veröffentlichungen erblicken, welche
dadurch sich weit über viele ähuliche Arbeiten erheben.
Auch liefern sie uns den Beweis, dass die hier und da ge¬
rade auch in jüngster Zeit geäußerte Meinung, nur Archi¬
tekten vermöchten der hier gestellten Aufgabe völlig gerecht
zu werden, auf einseitiger und irriger Anschauung beruht;
das Körnchen Wahrheit, welches jenem Urteile zu Grunde
liegt, kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass zahlreiche
von Architekten gearbeitete Inventare den zu stellenden An¬
forderungen nicht entsprechen und ebenso der Um- und
Neubearbeitung bedürfen, wie eine ganze Reihe der von nicht
technisch geschulten Kunstgelehrten verfassten Inventare. —
Die wichtigsten diesmal besprochenen Baudenkmale dürften
sein: die schöne romanische Abteikirche von M. -Gladbach
mit ihrem gotischen Chor, welcher bekanntlich Meister Ger¬
hard, dem Krbauer des Kölner Dom-Chores, zugeschrieben
sein dürfte, und die Klosterkirche in Neuwerk, sowie unter
den Schlössern: Millendonk, Liedberg, Neersen, Linn und
namentlich die schöne Renaissanceschöpfung Rheydt; von
den sonstigen hier vorhandenen älteren Knustwerken ver¬
dienen das treffliche, spätgotische Kruziffx in der katholischen
l’farrkirche zu Linn und die sill)erne Schüssel mit dem
Haupte Johannis des Täufers in Anrath besondere Erwähnung.
— Zu beanstanden sind nur Kleinigkeiten. Die auf S. 64
erwähnte Kopie des Bildnisses Karl’s des Kühnen soll dem
IG. Jahrh. entstammen, ich glaube, dass eine genauere Be¬
stimmung der Entstehungszeit (Anfang oder Ende des Jahr¬
hunderts') wohl möglich gewesen wäre. Am Schlosse Rheydt
(S. 94) sollen die Kartuschen die „wunderlichsten“ Formen
zeigen, während sie durchaus nicht über das gewöhnliche
Maß der damaligen niederländischen Verzierungsart hinaus¬
gehen ; bei den auf 8. 93 erwähnten Schlusssteinen hätte die
für Cornelis Floris und andere gleichzeitige Niederländer sehr
kennzeichnende Form des Rostkorbes (wenigstens weisen die
Abbildungen sie auf) Erwähnung finden können. Aber das
sind, wie gesagt, Kleinigkeiten, welche gegenüber dem großen
Verdienste des Werkes gar nicht in das Gewicht fallen.
HERMANN EllRENDERU.
Keller, Dr. Ph. Joseph, Bcdlliasar iSeiimann, Artillerie-
und Ingenieur-Oberst, fürstlich Bambergischer und Würz¬
burger Oberarchitekt und Baudirektor. Eine Studie zur
Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts. Würzburg, S. Bauer,
1896. 8'J. 203 S.
Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren noch hätte dasjenige,
was der Verfasser in der Vorrede über die Hochschätzung
der Zeit eines Riemenschneider und über die Geringschätzung
der Periode seines Helden sagt, den Thatsachen ungefähr
entsprochen. Heutzutage sind seine Bemerkungen ein Ana¬
chronismus. Man hat längst verlernt, das Jahrhundert, in
welchem Neumann thätig war, „über die Achsel anzusehen“.
Die jetzige Generation ist vielmehr ganz in der Verfixssung,
auch am Barock und Rokoko „offenbare Geschmacklosig¬
keiten nicht bloß entschuldbar, sondern selbst bewunderns¬
wert“ zu finden. Die Eiferer für die Gothik fanden, wenn
wir uns recht erinnern, den Grund, weswegen die letztere
von ihren Vorgängern mißachtet wurde, in dem ,, Mangel an
Abbildungen“. Der seitens tles Autors unserem Jahrhundert
„leider nicht ersparte Vorwurf, dass es verdammte, wenn es
keine Kenntnis hatte“, steht mit der Ansicht der Roman¬
tiker ungefähr auf gleicher Linie. Den Klassicisten man¬
gelte es an Abbildungen gotischer Denkmäler ungefähr aus
demselben Grunde, aus welcheiu unsere Zeit über ihre
Vorgängerin keine Kenntnis hatte. Die Schriften von Julius
Lessing z. B. hätten den Verfasser darüber belehren können.
Lessing citirt Keller nicht, dafür aber — „Bernini den
Jüngeren“! Deswegen also kamen uns seine Jeremiaden so
bekannt vor! Die Arbeit Keller’s ist besser als die Schriften
Bernini des Jüngeren, aber noch lange nicht so gut wie
irgend eine Arbeit Dohme’s. Sie zeigt einen kolossalen
Flein, enthält viel ,, urkundliches“ Material, hätte in der Zeit,
da seine oben erwähnten Bemerkungen noch nicht offene
Thüren einrannten, möglicherweise ein bedeutendes Auf¬
sehen erregt, ist aber heutzutage, weil es die Ergebnisse
seiner Forschung am Schlüsse nicht zu einer erschöpfenden
Charakteristik zusammenfasst, dem Meister nicht mit voller
Präzision seine Steilung in der Kunstbewegung der da¬
maligen Zeit anweist, in wissenschaftlicher Beziehung unzu¬
reichend. Was ist damit gewonnen, wenn da gesagt wird,
dass Neumann „zwei bedeutende Werke der neuen Richtung
in Würzburg selbst vor Augen hatte?“ Was mit den Hypo¬
thesen über einen möglichen, wenn auch vorläufig noch
nicht bewiesenen Einfluss Dienzenhöfer’s und Fischer’s von
Erlach? Wen hat l’etrini, der „wälsche Baumeister“, von
die beiden letztgenannten Architekter vor Augen? (S. 139).
Was gewinnen wir im Grunde, wenn wir erfahren, „dass die
Centralbauten Neumann’s immerhin noch regelmäßige, an
klassische Muster sich anschließende Anlagen sind, in den
zwei letzten Werken desselben aber die Sucht nach dem
Gekünstelten, Eigenartigen, Neuen klar hervortritt?“ (S. 168).
Und erfahren wir wesentlich Neues, wenn wir lesen, dass
104
KLEINE MITTEILUNGN.
Neumann sich „beim Aufbau der Residenz nahe an ita¬
lienische Muster mit deutscher Beimischung gehalten, wie
er sie in Prag und Wien hinlänglich kennen zu lernen Ge¬
legenheit hatte,“ in Bezug auf den Grundriss und die Innen¬
räume und deren Ausstattung, aber auch die Franzosen
„teils aus den Schriften ihrer Meister, teils aus ihren Werken
selbst wohl studirt habe“. (S. 41). „An klassische Muster
sich anschließende Anlagen“, „Sucht nach Gekünsteltem,
Eigenartigem“, „italienische Muster mit deutscher Bei¬
mischung“ und ähnliche vage Bezeichnungen sind heute ein
überwundener Standpunkt, wie der „eigentlich nichtssagende
Name Jesuitenstil“ (S. 139), über welchen sich Keller bei
Gurlitt informirt haben könnte. Sie gehören gegenwärtig
schon ebenso in das alte Eisen, wie die einfache Konstatirung
von Thatsachen, wie die, dass man 1788, „als Bönicke sein
Werk drucken ließ, noch Verständnis und Würdigung des
Wirkens und der Verdienste unseres Meisters hatte“, und
dass nach einigen Jahrzehnten Neumaun, den Gurlitt „viel¬
leicht den größten Baukünstler seiner Zeit nennt, vergessen
war“ (S. 202.) Nennt Gurlitt ihn mit Recht oder mit Un¬
recht so? Nicht das Citat allein, sondern eine Überprüfung,
eine Bestätigung oder Nichtbestätigung, eine genauere Um¬
schreibung vor allem des Gurlitt’schen Urteils hatten wir
von der Keller’schen Arbeit zu erwarten, die übrigens in
mancher Hinsicht dankenswert und mit Grundrissen und
Ansichten sehr instruktiv illustrirt ist. J. D.
Auton Kirstein, Professor der Philosophie am luschöf-
lichen Priesterseminar irr Mainz, Ästhetik der Natur und
Kunst. Paderborn, Druck und Verlag von Ferd. Schöriingh.
1890.
Das Buch gehört in die dritte Reihe einer wisseirschaft-
lichen Handbibliothek: Lehr- und Handbücher verschiedener
Wissenschaften. Der Verfasser sagt im Vorwort: „Vor¬
liegendes Buch will kurz die Grundsätze für die Beurteilung
der Schöirheit in Natur und Kunst angeben. Es war mein
Bestreben, die verschiedenen Ansichten, die im Laufe <ler
Zeit als richtige Schönheitsnormen aufgestellt und verteidigt
wurden, sine ira et studio zu prüfen und mich unbefairgen
für diejenigen zu entscheiden, die ich für die richtigen hielt.
Dass ich dabei immer das Wahre getroffen, soll keineswegs
behauptet werden. Es ist eben ein Versuch, deir Schein von
der Wahrheit zu trennen. Auch erheben vorliegende ästhe¬
tische Untersucluingeir nicht Anspruch auf eiire vollständige
Behandlung der in Betracht kommenden Materie. Sie bieten
vielmehr, wie der Titel des Buches an deutet, eine Skizze . . .“
Das W erk ist damit richtig charakterisirt. Es ist ein skizzirter
Entwurf, wie zur G rundlage für ausführlicheren V ortrag. Neues,
Eigenartiges wird nicht gegeben und war zu geben nicht
beabsichtigt. Auch die Anlage des Ganzen weist auf Nach¬
folge. Viele Autoren verschiedener Richtungen werden aus¬
führlich citirt, manche darunter sehr häufig. Das „sine ira
et Studio“ ist in besonderer Weise anzuerkennen. Selten
wendet sich der Verfasser direkt gegen Lehren, die er von
seinem Sta.ndpunkt aus für verwerflich, im allgemeinen wählt
er nur diejenigen aus, die er für die richtigen hält. Seine
Persönlichkeit lässt er anspruchslos ganz zurücktreten. Da¬
durch macht das Buch in seiner Art einen ruhigen, wohl-
thuenden Eindruck; sicher auch für die Kreise, für die es
bestimmt ist, fördernder, als wenn Hass und Tendenz darin
das Wort führten. Von diesem oder jenem verschiedenen
Standpunkt abgesehen, der sich schon aus der Herkunft des
Buches ergiebt, möchten wir bei der Darstellung des Nackten
in der Plastik und durch die Malerei nur an das bekannte
Wort Michelangelo’s erinnern „Saget Seiner Heiligkeit . . .
er möge nur die Welt ändern“. Richtige Konsequenz wäre,
dass auch die Darstellung des Rabulas für das Kruzifix
wieder maßgebend sein müsse. Die auf S. 153 angeführte
Feindschaft eines Autors gegen die Gotik ist nicht richtig,
wie dessen Worte beweisen: „Hellenischer und gotischer Stil
stehen sich, jeder in seiner Art vollkommen, gegenüber, jener
die Ruhe, dieser die Bewegung repräsentirend.“ S. 17Ü ist
versehentlich Phidias statt Praxiteles genannt. Der Verfasser
schließt im Vorwort: „Sollte die Skizze gefallen, so werde
ich gerne bereit sein, dieselbe zu einem fertig gemalten
Bilde zu vervollständigen.“ Etwas mehr Kraft und Farbe wäre
auch schon dieser Skizze zu wünschen gewesen. L.
ln der Schustcrivcrkstatt , Originalradirung von Josef
Kriwer. Der Urheber der diesem Hefte beigefügten Radirung
verrät schon in der Art des Vortrages die Schülerschaft
Professor P. Ilalm’s in München. Er wurde 1871 in Brody
in Galizien geboren, war seit seiner frühesten Kindheit in
Wien, wo er die Malschule der Akademie besuchte. Nach
absolvirtem Militärdienst siedelte der Künstler nach München
über und trat in die Akademie ein, wo er unter Prof. Wilh.
Diezen’s Leitung seinen malerischen Studien, unter Prof.
Halm’s Anleitung der Radirtechnik obliegt.
Herausgeber: Carl von iMtxoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Au.gust Pries in Leipzig.
Verlag v E A Seemann.Leipzig
J DALOU
Heliogravüre u, DrucKvon HG. BrincKmann, Leipzig.
Bronceguss.-modellieri von Augusle Rodin .
IN DNR, WNN'KS TATT
Hcliof,ra'.-ui-e von HO Brinckmann.i-eipzig
Karl Hetl'ner.
KARL HEFFNER.
VON ADOLF R OSENBERG.
MIT EINER IIELIOGRAVCRE UND MEHREREN TEXTABBILDUNGEN.
S war auf der Müiiclieiier iiiteriiatioiialeii
Kunstansstelluiig des Jahres 1883, dass
mir der Name Karl Heffiier’s und zugdeich
zwei Werke seiner Hand zum ersten
Male aufflelen, auf jener unvergesslichen
Ausstellung, die nicht bloß einen Mark¬
stein in der Geschichte der Münchener Kunst, sondern in
der Geschichte der Kunstausstellungen überhaupt bildet.
Damals ward der Welt zuerst der glänzende Sieg kund,
den die Schulen von Diez und Löfftz über die Schule
Piloty’s errungen hatten, damals traten zuerst die Spanier
mit imponirender Kraft in den Reigen der europäischen
Kunsteutwickelung. Noch war kein Vorbote der Stürme
zu erblicken, die wenige Jahre später die Münchener
Künstlerschaft so stark erschüttern sollten. Ganz am
äußersten Ende des westlichen Flügels, nachdem man
die Säle mit den prunkvollen Ausstellungen der fremden
Nationen durchschritten hatte, gab es einen stillen,
behaglich ausgestatteten Raum, der im Katalog den
Sondertitel „Heffner’s internationale Kollektion aus
englischem Privatbesitz“ trug. Zu ihrem Erstaunen
fanden hier Künstler und Kunstfreunde eine Fülle von
koloristisch höchst anziehenden Werken englischer, fran¬
zösischer, holländischer, belgischer und deutscher Maler,
meist Kabinettstücke, wie sie die englischen Sammler
lieben. Viele mögen dabei zum ersten Male die Bekannt¬
schaft von Künstlern wie Corot, Daubigny, Diaz, Bastien-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 5.
Lepage, Th. Rousseau, Dupre, Breton, Herkomer, Mesdag,
Israels, Henner u. a. gemacht haben, und nicht minder
würdig war die deutsche Malerei durch Menzel, L. C.
Müller, Eier, Baisch, G. v. Bochmann, Oeder, E. Schindler
u. a. vertreten. Der Künstler, der diese Sammlung im
Aufträge des Ausstellungskomitee’s herbeigeschafft hatte,
musste mit feinem Sinn für die zartesten und geheimsten
koloristischen Reize ausgestattet sein, und das sah man
auch bald an den beiden Bildern, die er selbst inmitten
der glänzenden Versammlung ausgestellt hatte: einer
holländischen und einer englischen Landschaft nach
einem Motiv von Guildford. Letztere hatte mich durch
die virtuose Behandlung des Flusses , in dem sich die
Häuser des Dorfes spiegeln, durch die flüssige Technik
und die poetische Grundstimmung so gefesselt, dass ich,
um die Erinnerung daran für meine Berichte recht fest
zu halten, das Zeugnis „Ersten Ranges“ an den Rand
meines Katalogs schrieb.
Seitdem hat sich das Bild von Heffner’s Persön¬
lichkeit und seinem künstlerischen Schaffen in mir so
erweitert und vertieft, dass ich keine Ursache habe, die
Begeisterung, die ich damals empfand, hier durch eine nach¬
trägliche Kritik abzudämpfen. Freilich habe ich dabei
mit dem Nachteil zu kämpfen, dass Heffner der Mehr¬
zahl der Ausstellungsbesucher eine wenig oder gar nicht
vertraute Erscheinung ist, weil er nur selten in dem
Gewühl der großen Bilderrevüen auftaucht, und dass
14
lOü
KARL HEFFNER.
Jlorgen. Tliemseufer bei Datcbel. OlgemäUle von K. IIeffner.
selbst die vollkoinmenste Eeprodiiktidii nur eine scliwaclie
Vorstellung von dem koloristischen Reiz und dem i)oe-
tisclien Inhalt seiner Landschaften geben kann. Am
ehesten noch die Eadirung, besonders wenn ein Meister
wie ’W. Unger seine ganze unvergleichliche Kunst daran
wendet, wie er es mit Heffuer’s großer, melancliolischer
Schilderung einer untergegangenen herrlichen Welt, mit
den .jEuinen von Ostia“ gethan hat.
Karl IIeffner wurde im Jahre 1849 in Würzburg
geboren, wo er auch das Gvmnasium besuchte und ab-
solvirte. Im letzten Jahre seiner Schulstudien starb
sein Vater, und seine Familie zog nach München. Bis
dahin hatte sich nichts in ihm geregt, das auf seinen
späteren Beruf gedeutet hätte. Nur an sauber ausge¬
führten Ornamenten hatte er Freude, daneben aber schon
seit seinem 0. Lebensjahre eine fast fanatische Neigung
zur Musik, in der er es bald zu solcher Fertigkeit
brachte, dass er schon mit acht Jahren zur großen Be-
Medigung seiner Lehrer ein Klavierkonzert von May-
seder spielen konnte. Auf Grund dieser und anderer
Äußerungen seiner musikalischen Begabung gelang es
ihm, von seiner Mutter die Erlaubnis zu erhalten, dass
er sich dem Beruf eines Musikers widmen durfte. Es
wurden die besten Lehrer für ihn ausgewählt, die ihn
im Klavier-, A'iolin- und Orgelspiel unterrichteten, und
gerade um die Zeit, als sich IIeffner über seinen Beruf
klar geworden zu sein glaubte, brachen in München die
Kämpfe für und wider AVagner los. Es ist noch heute
ein Grundzug seines Wesens, dass er stets für das
Neue, wahrhaft Bahnbrechende eintritt; nur muss es, wie
er in weiser Beschränkung meint, „der Mühe wert sein“.
Das klingt wie ein Gemeinplatz, der Vieles und doch
im Grunde Nichts sagt. Aber bisher hat IIeffner noch
immer recht behalten, wenn er mit voller Zuversicht,
aber auch mit voller Überlegung für etwas Neues ein¬
trat. AVie er später in München zuerst mit Erfolg für
die Koryjiihäen der französischen Stimmungsmalerei Pro¬
paganda gemacht hat, so war er als Jüngling einer der
ej'Sten, die für Eichard Wagner Partei ergriffen, und
bald trat er den Männern nahe, die an der Spitze dieser
Bewegung standen: Hans von Bülow , Richter, Franz
Fischer, Ritter u. a. Aber gerade durch den Umgang
mit diesen Männern wurde IIeffner in eine andere Bahn
geleitet, wenn ihm die Musik auch nach wie vor ein
Höchstes blieb. Durch Hans von Bülow war er mit
Ludwig Bechstein, dem liebenswürdigen Zeichner der
„Fliegenden Blätter“, bekannt geworden, und im A^erkehr
mit diesem entspross allmählig seine Neigung zur Ma¬
lerei. Der endgültige Übergang zu dieser Kunst wurde
ihm noch durch mehrere Erfalirungen erleichtert, die er
in seiner praktischen Thätigkeit als Musiker gemacht
hatte. Wenn er öft’entlicli auftrat, überfiel ihn eine
solche Befangenheit, dass ihm die beabsichtigte, Imrrekte
Interpi'etation der Tonstücke unmöglich wurde, und
dazu kam noch die Überzeugung, dass seine technischen
Fertigkeiten nicht ausreichten, um ihm die erträumte
glänzende Zukunft eines Musikvirtuosen zu sichern.
Seine schüchterne, nach innen gekehrte Natur war mehr
für das Schaffen im stillen Kämmerlein geeignet, und
diese von dem irritirenden Einfluss der lauten Öffent¬
lichkeit unabhängige Tliätigkeit glaubte er in der Mal¬
kunst zu finden. Anstatt aber ein regelmäßiges Studium
auf der Akademie oder in einem Maleratelier zu beginnen,
wandte sich Heffner in seiner Hilflosigkeit und Un¬
befangenheit direkt an die Quelle. Er zeichnete auf
eigene Hand von früh bis spät im Freien nach der
Natur; auch im Winter saß er stundenlang im Freien
bei seiner Arbeit, bis sein Körper unterlag und ihn der
Typhus auf das Krankenlager warf. Seine kräftige
Konstitution siegte, und was er damals mit Schmerzen
errang, ist später seiner Kunst zu Gute gekommen.
In der dieser Charakteristik beigegebenen Heliogravüre,
einer AAJnterlandschaft mit einem breiten Flusse, und in
dem Kirchhofsbilde „Requiescant in pace“ (S. 109) erkennen
wir die Nachklänge jener lebensgefährlichen Natur¬
studien zur Winterszeit.
KARL HEFFNER
107
Als Heffner eiiigeseheii hatte, dass er nach dem
Zeiclmen auch das Malen lernen müsste, wandte er sich
an einen Münchener Landschaftsmaler der alten Schule,
J. N. Ott, der alles hergah, was er einem Schüler bieten
konnte, und noch kurz vor seinem Tode für Heftiier
sorgte, indem er ihn dem Landschaftsmaler Adolf Stade¬
mann empfahl. Dieser hat in der Geschichte der Münchener
Malerei eine hervorragendere Rolle gespielt, als seine
eigenen Schöpfungen vermuten lassen. Frühzeitig drückten
ihn Familiensorgen. Er musste rasch malen, um schnell
Geld zu verdienen, und in der Tretmühle der täglichen
Not malte er für die Kunsthändler unablässig Winter¬
landschaften und Mondscheinbilder. Seine poetische Seele
war nur selten dabei; er löste sie aber gern im Ver¬
kehr mit jungen Künstlern aus, und wer jemals mit
ihm in Berührung gekommen ist, redet nur mit Begeis¬
terung und rührender Dankbarkeit von dem trefflichen
Manne, der in der Unterweisung junger Leute das Glück
fand, das ihm das eigene Schaifen versagt hatte. Er
steht auf der Linie zwischen Schleich und Lier in der
Mitte. Lier hat auch von ihm gelernt. Trotz seijier
misslichen Lage war Stademann ein wahrhaft edler
Künstler, der junge Talente nach Kräften förderte und
ihnen dann neidlos die Erfolge gönnte, die sie zum Teil
durch seine Ratschläge errungen hatten. Vor drei
Jahren ist dieser wackere Mann nach einem Leben voll
schwerer Mühsale gestorben.
Karl Heffner ist einer von denen, die offen bekennen,
dass sie ihm sehr viel, wenigstens alles verdanken, was
ein Künstler von einem Lehrer lernen kann. Nächst
Stademann hat dann noch Adolf Lier Einfluss auf Heffner
geübt. Lier hatte die französischen Meister der Stim¬
mungslandschaft an der Quelle studirt, und seine
ersten in Paris und bald nach seiner Rückkehr gemalten
Bilder spiegelten die französische Art, aber auf dem
Grunde deutscher Enipflnduug, wieder. Sie erregten große
Bewunderung und Begeisterung unter den jungen Künst¬
lern, zu denen auch Heffner gehörte. Aber er fühlte
sich damals schon zu selbständig, um noch in ein Schüler¬
verhältnis zu Lier zu treten. Doch besuchte ihn dieser
oft in seinem Atelier und unterstützte ihn freigebig
mit seinen wertvollen Ratschlägen. Zu Anfang der sieb¬
ziger Jahre machte Heffner die Bekanntschaft des eng¬
lischen Kunsthändlers Thomas Wallis, den seine Geschäfte
nach München geführt hatten, und damit trat ein Wende¬
punkt nicht bloß in seinem Leben, sondern auch in
seiner Kunst ein. Aus der Geschäftsverbindung mit
Wallis entwickelte sich bald eine enge Freundschaft,
und dieser verdankte es Heffner, dass er sich eine von
allen kommerziellen Verdrießlichkeiten unabhängige Exi¬
stenz und damit die Vorbedingung zu freiem, sorgen¬
losem Schaffen begründen konnte. Auf Wallis’ Einladung
reiste Heffner nach England, und hier fand er, dank der
Empfehlungen des in allen Kreisen vornehmer Sammler
wohlbekannten und gescliätzten Kunsthändlers, nicht
nur Gelegenheit, seltene, vor fremden Augen eifersüchtig
gehütete Kuustschätze zu studiren, sondern sich auch
in die herrliche Natur des Landes zu vertiefen, was
ihm durch die weitherzige, von jeder Kleinlichkeit freie
englisclie Gastfreundschaft ermöglicht wurde. Heffner
ist ein begeisterter Bewunderer der englischen Natur.
Er meint, dass sie in der Welt nicht ihresgleichen habe,
und diese Begeisterung spricht mit glänzender Bered¬
samkeit aus seinen zahlreichen englischen Landschaften,
von denen wir drei wiedergeben: ein schlichtes Fluss¬
ufermotiv zur Zeit, wo die Sonne mit den Morgennebelu
kämpft, einen Blick auf Schloss Windsor, das im Hinter¬
gründe noch halb verschleiert von dem Nebeldunst eines
heißen Tages liegt, während der ruhige, nur von Schwänen
durchschnittene Wasserspiegel in hundert Lichtreflexeu
strahlt, und die in abendliche Dämmerung gehüllte, nur
hie und da im fahlen Lichte der untergeheuden Sonne
glänzende, herbstliclie Flusslandschaft nach ausgiebigem
Regen.
Schon nach diesen Bildern lassen sich die Elemente,
deren die Kunst Heffner’s zu ihrer freiesten und höchsten
Entfaltung bedarf, leicht zusammenstelleu. Die Seele der
Landschaft findet er in einer ruhigen Wasserfläche, die die
Stimmung auschlägt, das Echo aufnimmt und dann in einer
unbeschreiblichen Fülle von Modulationen wiedergiebt.
Der Musiker, der sich mit den tönenden und klingenden
Instrumenten nicht zurecht finden konnte, ist in dem
Maler wieder lebendig geworden. Bei aller Ehrfurcht
vor der strengen Unterscheidungstheorie Lessing’s darf
man doch behaupten, dass es Grenzgebiete giebt, auf
denen sich Musik und Malerei begegnen, dass gewisse
Tonschwingungen, die der Mensch durch das Ohr auf¬
nimmt, in seiner Seele die gleichen Empfindungen und
dann daraus entbunden dieselben ästhetischen Eindrücke
hervorrufen, wie die nicht minder feinen Tönungen des
malerischen Kolorits, die sich der Netzhaut des Auges
einprägen.
Die englische Landschaft allein liätte vielleicht den
Grundzug in Heff'ner’s Kunst nicht bestimmt. Die Brücke
zu ihrem Verständnis war die Bekanntschaft mit den
Engländern Turner und Constable und mit den Fran¬
zosen Corot, Rousseau, Dupre, Troyou, Diaz, Daubiguy u. a.,
deren Werke der junge Künstler zum ersten Male in
englischen Privatgalerieeu sah. Hier trat er an dieselbe
Quelle, aus der Lier geschöpft hatte, und damit war ihm
seine Bahn vorgezeichnet. Ein Nachahmer ist Heffner
aber nicht geworden. Er hat jenen Meistern nur die
tiefe Inbrunst abgesehen, mit der sie sich in die un¬
scheinbarsten Einzelheiten der Natur versenkten, mit
der sie darunter die Seele suchten und, wenn sie sie ge¬
funden hatten, die ihrige damit zu inniger Zwiesprache
verbanden. Während seines ersten Aufenthaltes in und
bei London hatte Heffner auch ein Boot zur Verfügung,
auf dem er weite Fahrten auf der Themse machte und
bei beliaglichem Aufenthalt nacli Herzenslust malte, was
14
•Schloss Windsor. Ölgemälde von K. Heffner.
KARL HEFFNER.
109
ihm anfstieß. Die Engländer haben denn auch seine
Begeisterung für ihr Land mit Liebe vergolten. Fast
alle Bilder, die Heffner in England gemalt hat, sind
dort gehliehen oder nach den englischen Kolonieen ge¬
wandert, und dadurch ist es gekommen, dass der Künstler
in Deutschland erst verhältnismäßig spät bekannt ge-
dass sich . ohne solide Grundlage wirkliche Erfolge in
England nicht erzielen lassen, ln den letzten Jahren
ist sogar deutsche Kunst im allgemeinen in dem Grade
im Preise gesunken, wie deutsche Hand- und Fahrikarheit
in der Achtung gestiegen ist.
Wegen seiner genauen Kenntnis des englischen
Requiescaut in pace. Ölgeniä.lile von K. Heffner.
worden ist. Mehrere seiner Bilder sind auch durch
englische und französische Radirer vervielfältigt und
dadurch in England populär geworden, was bisher nur
wenigen deutschen Landschaftsmalern geglückt ist. Wie
hoch man dabei auch die Wirksamkeit des geschickten
„Managers“ anschlagen mag, so ist doch so viel sicher,
Kunstbesitzes war Heflner, der sein Hanpt(iuartier in
München beibehielt, 1882 von der Münchener Künstler¬
genossenschaft beauftragt worden, jene oben erwähnte
Sammlung für die internationale Kunstausstellung von
1883 zusammenzubringeu. Obwohl er diese Aufgabe
weit über seinen Auftrag hinaus erfüllt hatte, fehlte
HO
KARL HEFFNER.
es imter deu Stimmeu voller Auerkeiiiiung- auch nicht
an solchen, die geringschätzig über dieses Unternehmen
urteilten. Dafür entschädigte ihn aber Prinz Luitpold
von Ba3’ern, der damals im Aufträge König Ludwig’s II.
die Ausstellung erötfnete, durch eine zarte Aufmerksam¬
keit, indem er dem ehemaligen Musiker und jetzigen
Musikfreunde einen Blüthner’schen Flügel sandte. 188G,
als Prinz Luitpold Regent des Königreichs Bajmrn ge¬
worden war, folgte der Michaelsorden erster Klasse.
Bis 1883 hatte Heft'ner die Motive zu seinen Land¬
schaften nur aus der bayerischen Heimat, aus England
und Holland geschöpft. Im Winter dieses Jahres machte
er seine, erste Reise nach Italien, wo er sich in Rom
niederließ und bald in dessen näherer Umgebung eine
solche Fülle von Motiven fand, die seinem künstlerischen
Emptinden entsprachen, dass er bis 1888 jeden Winter
dorthin zurückkehrte. Die ausgetretenen Pfade italie¬
nischer, speciell römischer Landschaftsraalerei mied er.
Wenn man von dem großen Bilde einer römischen
Wasserleitung absieht, das in die Nationalgalerie von
Sydney gekommen ist, so hat er in Rom nur Studien
gemacht, die nicht bloß in ihrer koloristischen Behand¬
lung, sondern auch in ihren Stoffen etwas durchaus
Neues boten. Ein glücklicher Zufall hatte ihn nämlich
auf ein Terrain geführt, das vor ihm noch keines mit
einem Skizzenbuche bewaffneten Malers Fuß betreten
hatte, in jenen wenig besuchten Teil der Carapagna,
der sich von Rom westwärts bis nach Ostia erstreckt.
Die Isola sacra, das von den beiden Tiberarmen an der
Mündung des Stromes gebildete Alluvium, die Umgebung
des Badeortes Fiumicino und die Via Cassia, die „Macchie“
von Ostia, jenes sumi)fige, mit dichtem Gestrüpp be¬
wachsene Gelände, in dem zahlreiche Büffelherden hausen,
und die Ruinen der antiken Stadt mit ihren hochragenden
Säulenriesen, — das waren die Studienplätze, auf welchen
Heffnei' mit rastlosem Fleiß seine Skizzen machte.
Der Spätherbst und der Winter waren die Jahreszeiten,
die seinen durch das Studium der französischen Gro߬
meister des Paysage intime geschärften Augen am meisten
zusagten. Die Campagna im bunten Frühlingskleide oder
in sommerlicher Glut bei dem berühmten „ewig blauen“
Himmel zu malen, überließ er den Schönfärbern. Ihm
genügte es schon, wenn er mit den beiden Grundfarben
Braun und Grau operiren konnte. Wie unendlich lang
war für ihn die Skala von Tönen, die er ihnen zu ent¬
locken vermochte! Wenn man sonst ein Recht hat, die
Schönheit der italienischen Natur erhaben, aber seelen¬
los zu nennen, so war hier ein nordischer Künstler ge¬
kommen, der dennoch die Seele fand, aber nur, wenn
diese Natur gleichsam im Witwenschleier trauerte. Erst
nach ihm sind einige neuere Italiener dieselben Wege
gewandelt, indem sie ebenfalls statt der üblichen, bis
zum Überdruss abgeleierten Veduten in der heimischen
Natur die Stimmung fanden und ihr damit gewisser¬
maßen die Zunge lösten. Einen Blick auf die Ruinen
von Ostia hat Heffner zweimal in großem Maßstabe ge¬
malt. Das eine dieser Bilder ist in die Nationalgalerie
zu Melbourne gekommen, — wenn wir nicht irren, das¬
selbe, das der Radirung Unger’s zu Grunde liegt, —
das andere in die Leighton-Gallery zu Milwaukee. Ein
drittes aus der Reihe der Ostiabilder giebt eine unserer
Abbildungen (S. 112) wieder, eine Partie von der Land¬
straße, die bald hinter San Paolo fuori le Mura an den
Tiher herantritt und diesen dann in dichter Nähe bis
nach Ostia begleitet.
Manche dieser Ostiabilder Heffner’s, besonders solche,
auf denen sich das fahle Licht der von Nebeln oder
grauen Wolken verhüllten Sonne in Sumpflachen spiegelt,
rufen uns Theodor Rousseau’s berühmtes Meisterwerk im
Louvre „La niare“ lebendig in die Erinnerung. Aber
Heffner’s Zusammenhang mit diesem seinem höchsten Vor¬
bilde war damals nur noch ein äußerlicher, der sich auf
gewisse gemeinsame Eigenheiten der Pinselführung er¬
streckt. Im übrigen war Heffner schon völlig frei ge¬
worden, und ganz und gar bracli seine Persönlichkeit
durcli, als er im Jahre 1880 seinen Wohnsitz in Florenz
nahm, in der Absicht, sich dort gänzlich niederzulassen,
— so mächtig hatte ihn , trotz seiner Jugendliebe für
England, der unentrinnbare Zauber Italiens gepackt. In
einer großen Villa am Viale de’ Colli mit einem prächtigen
Garten alten Bestandes richtete er sich häuslich ein und
mit durstigen Blicken sog er die herrlichen Bilder in sich,
die sich ihm täglich darboten. Wer jemals auf dem
Piazzale Michelangelo gestanden und seine entzückten
Augen im weiten Rund über die mit Villen, Dörfern
und Städtchen besetzten Höhenzüge hat schweifen lassen,
der wird empfinden, was diese Fülle der Gesichter
einem Maler bedeutet. Als Heffner freilich die ersten
Bilder, die er in Florenz gemalt hatte, zur Ausstellung
brachte, wirkten sie so fremdartig auf die individuelle
Anschauung Vieler, dass sie daran das nordische Auge
und die nordische Empfindung tadeln zu müssen glaubten.
Aber Heffner hatte auch hier nur gegeben, was im Wesen
seiner Kunst liegt. Er war dem Alltäglichen und
Konventionellen aus dem Wege gegangen und hatte die
Reize der Blumenstadt zumeist nur im Winter und im
Vorfrühling geschildert, wo die mit rosigen Blüten be¬
deckten, aber noch fröstelnden Obstbäume sich in an¬
geschwollenen oder über die Ufer getretenen Kanälen, in
Wasserlachen und Tümpeln spiegeln. Ich muss bekennen,
dass diese florentinischen Bilder Heffner’s, als ich sie
zuerst sah, auch auf mich fremdartig wirkten. Als ich
dann aber später auf dem Piazzale Michelangelo selbst
einen Gewittersturm erlebte, der mit frühlingsfrischer
Kraft über das Thal hinwegbrauste und die lieblichen
Höhenzüge mit Fetzen zerrissenen Gewölks krönte, da
ging mir die Wahrheit der Heffher’schen Bilder wie eine
plötzliche Offenbarung auf. Wer sich länger in die
Eigenart der landschaftlichen Umgebung von Florenz
eiugelebt hat, wird diese Wahrheit sofort empfunden
Kiiglische Lanilsdiat't. i »Igeiniilile von K. IIf.I'FNEH.
KAKL HEFFNEll.
' 12
iirl;_‘ii. \\’iv' vor zwei Jalirzelinteii iii England, war
Heffner's TLätigkcit auch hier eine rezeptive und eine
ii'odnktive. Er empfand schnell, dass ein Künstler das
I i'Utigf Florenz erst verstehen und mit richtigen Angen
ai'^ehen leriii , wenn er sich zuvor mit Inbrunst in die
'jiüfii ^■ergangenheit der Stadt und in das „liebevolle
intimo Schaffen" der alten fiorentinischen Meister ver-
si-nki hat. „Ward jemals bessere Kunst ausgeübt?'‘
Das ist die Frage, die sich nach längerem Aufenthalt
i)i Florenz, wie vielen andern, auch Heffner aufdrängte.
Nach seinen persönlichen Eekenntnissen und nach den
lühlern, die e)‘ in Florenz gemalt hat, gehört auch
lleft'ner zu der Zahl derer, die nicht in Eom. sondern in
Florenz und seimu- herlun, männlichen Kunst die liochste
Krattäutleinng des italienischen Kunstgeistes verehren.
Es war eben das W'ahi-e und Echte, das ihn in dieser
Kunst anzog. Es war wieder einmal Etwas, das nach
seinem Lieblingsworte „der Mühe wei't war“, und ob-
W(dil ihm hier eines seiner Lebenselemente, die weite
^Vasser^läche, fehlte, vei'senkte er sich mit leidenschaft¬
licher Eegeistei’ung in diese Natur, die im April und
Mai so wunderbar lieblich, im Spätherbst und Winter
so todesti’aurig, so tragisch sein kann, dass man begreift,
wie Michelangelo aus ihr die Eingebung zu seinen Titanen
schöpfen konnte, ln den Sommermonaten suchte Heffner
seine alten Studienplätze in England, Holland und Belgien
auf. Auch was er unterwegs sah, hielt er gelegentlich fest,
darunter auch einige Schweizerlandschaften, deren Ver¬
ständnis ihm aber noch nicht aufgegangen ist. Es kann
noch kommen. Denn ei' hat uns im Laufe seines Schaffens
schon oft mit neuen Entdeckungen überrascht. Im .Jahre
1SÜ4 hat e]‘ auch seinen Wohnsitz in Florenz aufge¬
geben und hat sich dafür in Elbflorenz niedergelassen.
Dort hat er sich ein prächtiges, mit seltenen Kunst¬
schätzen geschmücktes Heim erbaut. Ob er noch lange
in diesem Hause, einer Stätte edler Gastlichkeit, in der
neben der Malerei immer noch die alte Liebe des Meisters,
die Musik, die Heri'schaft führt, sesshaft bleiben wird,
scheint mir zweifelhaft. Schon ist der Wandejtrieb
wieder in ihm mächtig geworden, das Zigeunertum
des echten Künstlers, das ilin drängt, die lästigen
Fesseln des Hausbesitzes abzustreifen und in die Welt
zu ziehen. „Sie ist so scliön“, schrieb er mir in einem
B)'iefe, „und wie wenig sieht das einzelne Individuum,
Mensch genannt, von ihr.“ Wir rufen: Glück auf
zur Heise! Denn wir wissen, dass das, was Heffner
davon für sich und uns mitbriiigt, wirklich „der Mühe
wert“ sein wird.
Momlaufgarig (Straße uaeli Ostia). Ölgemälde von K.
CHARLES DANA GIBSON’S ZEICHNUNGEN.
VON WILHELM SCHÖLERMANN.
MIT ABBILDUNGEN.
iriKLICH ei'freiilielie Überraselningen
legt lins die heutige Kuiust nicht alle
Tage auf den Präsentirteller. Noch sel¬
tener solche, die nicht nur heim ersten
Anblick zu berücken, sondern ein tieferes
Interesse anzuregen und dauernd zu
fesseln vermögen. Heute, wo jedes neue Geniechen
und Talentlein auch alsbald seinen Panegyriker findet,
ist es ein doppelt naheliegendes, dringendes Bedürfnis,
die Spreu vom Weizen zu sichten.
Zu den Überraschungen jüngeren Datums, zu denen
man gerne und mehrmals zurückkehrt, gehören die
„Drawings“ by Charles Dana Gibson, eine in querem,
großen Alburaformat herausgegebene Folge von Zeich¬
nungen teils heiteren, teils ernsten Inhalts, die in zwei
Weltteilen gleichzeitig erschienen sind.')
Auf dem Umschlag ist eine Frauengestalt abgebildet.
(s.S. 113.) Frisch, kräftig und doch dabei pikant, geschmack¬
voll in einem hellen, bequemen Strandkostüm, den Strohhut
in der Hand, das Haar keck und kraus im Winde flatternd,
so steht sie da. Eine Deutsche ist das nicht, auch keine
Französin, keine Engländerin. Es muss eine Ameri¬
kanerin sein. Die eigentümliche Mischung von Natur
und Kultur verrät die „neue Welt“, das Bild dieses
Weibes ist die unter günstigen äußeren Bedingungen
emporgewachsene Blüte eines stolzen und seiner Macht
bewussten Staatswesens. Es giebt Frauenkenner, denen
die Amerikanerin als die Krone der Schöpfung gilt. Mögen
sie Recht oder Unrecht haben; wer Gibson’s Gestalten
sieht, fängt an, das begreiflich zu finden. Wie dieses
Mädchen dahergeht, eine volle, eigene Persönlichkeit
und dennoch von allen Grazien umflattert, in reich-
liclien, aber nicht weichlichen Verhältnissen aufgewachsen
früh daran gewöhnt, selbständig zu denken, die Ar¬
beit zu respektiren, sich dem Manne ebenbürtig an
die Seite zu stellen, so ist sie das Weib des neuen
regime, das Weib der Zukunft, das Weil), das lächeln
würde, wenn man ihr sagte: „Er soll dein Herr sein!“
1) R. S. Russell & Son, publishers, New York, und
London, John Lane.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. II. 5.
15
114
CHARLES DANA GIBSON’S ZEICHNUNGEN.
Der Scliilderung dieser Gattung von amerikanisclien
Franen nud Mädchen, nnd zwar vornehmlich der be¬
sitzenden Klassen, der „npper ten“, ist Gibson’s Werk
in der Hauptsache gewidmet. Sie bildet den breiten,
kulturhistorisch fesselnden Hiiitergnuid seiner künst¬
lerischen Arbeit. Wie so, das will ich in Nachfolgen¬
dem zu deuten versuchen.
Gleich das erste Blatt, ..dedicated to a little
American girl“, zeigt die t'harakteristik des hei'aii-
wachsenden Mädchens, halb Kind und schon ganz „Dame“,
die manchmal etwas störende , in diesem Falle aller¬
liebste, Frühreife amerikanischer Kinder. „Precocious“
ist der amerikanische terminus technicus ihres Wesens.
So ein klein wenig „precocious“ steht sie da, die
Fingerspitzen vorn leicht ineinander gelegt, bereit, auf
jede Frage gleich Antwort zu geben, nach Allem zu
fragen und Auskunft zu verlangen. Sie kann unter
Umständen ein Plagegeist und Kobold werden „the little
American girl“, aber aus diesem Kobold wird sich die
selbständige Weltliürgeriu entwickeln, die teilnelimen
muss an Vielem, was ihr bisher vorenthalten gewesen,
die nicht mehr in verdummender Haussklaverei, im
Kindergebären, Ernähren, Erziehen und Verziehen allein
aufgehen will. Alier das Streben nach Emanzipation,
nach neuen Machtsphären der Bethätigung, hat, auf dem
missverstandenen Wege dazu, eine furchtbare Gefahr
für die amerikanische Frau nach sich gezogen: die
Spekulation auf die „vorteilhafte Partie“ im weitesten
Sinne, die Geld- und „Veruunftheirat“! Und dieses
,, sociale Elend“, nicht der Proletarier sondern der be¬
sitzenden Klassen, das hat Charles Gibson’s beobachten¬
der Künstlerblick herausgegriffen und in allen möglichen
Situationen durchgeführt, die sich teils zu feiner Ironie,
teils beinahe zu erschütternder Tragik erheben. Da¬
zwischen schieben sieh hin und wieder Zeichnungen
politisch -satirischen Inhalts ein, die, mit ihren vielen
Anspielungen und grotesken Übei'treibuugen, Wahl-
kampfscenen und dergleichen wohl nur den Amerikanern
ganz verständlich sein dürften. Sie mögen deshalb
hier nur kurz erwähnt sein.
ln den Beziehungen zwischen den Geschlechtern
schlägt Gibson einen heute fast ungekannten und daher
neu wirkenden, thatsächlich aber, in seiner vornehmen
Natürlichkeit, fast antiken Ton an. Er nimmt es ge¬
waltig ernst mit der vielgerühmten, aber nicht immer
ganz waschechten Freiheit der Amerikaner. Da dürfte
er wohl auch ein Advokat der ,, freien Liebe“ sein?
Dieses weniger. Denn er stellt der tiefen Unmoralität
der Verstandesheirat und ehelichen Spekulation nirgends
die zügellose Libertinage entgegen. Man braucht das
Buch nicht vor der höheren Tochter zu verstecken;
es trägt den Stempel der Gesundheit. Alles, was er
zeichnet, ist ebenso weit entfernt von gallischer Fri¬
volität wie von englischer Prüderie. Nicht freie Liebe,
sondern „Freiheit in der Liebe“ ist die Moral, die als
Grundton, ohne zu predigen, aus seinen sämtlichen
Schilderungen herausklingt. Hinter seiner Ironie liegt
ein tiefes Mitleid mit allen denen, welche Jugend und
Schönheit der Seele und des Leibes weltlichen Rück¬
sichten, wirkliches Glück irgend einem Scheinglück
zum Opfer bringen; eine zornige Verachtung aller der¬
jenigen, die sich freiwillig zur Sklaverei erniedrigen,
und eine Entschuldigung nicht nur, sondern eine Hoch¬
achtung für die, welche mutig und klug genug sind,
in natürlicher Neigung und schuldloser Sinnenfreudigkeit
der Stimme der Liebe zu folgen. Das klingt wohl
etwas romantisch, idealistisch und — unanierikaniscli;
also gehört Gibson natürlich nicht zu den „bösen Natu¬
ralisten?“ Dass die leidigen Schlagworte, das ewige
Rubriziren und unter den Hut bringen doch den natür¬
lichen frischen Eindruck nicht immer gleich trüben
möchte! Wie jede wirkliche Kunst, ist auch die Gibson’s
eine Mischung, eine organische Verbindung. Die Gegen¬
stände seiner Schilderungen, die er mitten aus der
lebendigen Gegenwart herausholt, sind realistisch, der
innere Gehalt ist idealistisch, — um bei den Ausdrücken
zu bleiben. Und gerade in dieser Mischung liegt ihr
Reiz und ihre Bedeutung.
Aus dem Cyklus „The American girl abroad“
seien zwei Bilder herausgegriffen. Das erste, „Some
features of the matrimonial market“, stellt „Typen aus
dem Heiratsmai-kt“ dar. Schön und voll undhochgewachsen,
mit prachtvollen nackten Schultern, jeder Zoll ein Weib,
die zukünftige Mutter kräftiger, freier Söhne, so steht
das amerikanische Mädchen zwischen ihren Anbeterti.
Drei Europäer bemühen sich um ihre Gunst und ihr —
Geld. Aber wie sehen sie aus, die zukünftigen Väter!
Links ein Franzose, geschniegelt und gebügelt, mit
gewichstem Schnurrbart und ungeheurer Glatze, ein
heruntergekommener Marquis; rechts ein älterer eng¬
lischer Lord, hölzern und eckig, mit lang herabliängen-
de)i Kotelettes, die nur noch aus dünnen, spärlichen
Haaren bestehen, eine vertrocknete Kellnerphysiognomie;
hinter ihm ein dritter „Aristokrat“, die Augen halb
zugekniffen, die Haltung blasirt, den Kopf vorgestreckt,
die Brust flach und die Hände in den Taschen, alle
Laster in den müden, spitzen Zügen, ein junger Greis,
ein ausgemergelter Mikrocephale. Über dem Kleeblatt
ist, zu Häupten eines Jeden, das Familien Wappen mit
dem Preise in Frs. oder £ sterling angebracht. Beim
Anblick dieser Freier hat sie in komischer Verwunderung
die Hände vorn zusammengelegt (bei den Gibson’schen
Frauen eine häufig wiederkehrende Bewegung) und sieht
mit einem halb verzweifelten, halb spöttischen Blick die
drei „Adelsmenschen“ an, welche ihrem geträumten
Ideal anscheinend doch so wenig entsprechen, dass sie
vielleicht noch am Ende auf die Ehre der teuren Familien¬
wappen verzichtet. Zutrauen möchte man ihr das schon,
denn sie sieht weder dumm noch unselbständig aus.
Wird sie sich noch rechtzeitig besinnen? —
CHARLES DANA GIBSON’S ZEICHNUNGEN.
115
Das zweite Bild führt denselben Gedanken noch dras¬
tischer aus. „The Hopewell-Bonds“ (s. S. 1 16), (der Ausdruck
bedeutet hier so viel wie „die Aktien der guten Hoff¬
nung“). Es ist eine Parodie auf das Spiel des Ring¬
werfens. Mit fieberhaftem Eifer werfen die Töchter der
„freien Republik“ mit den Ringen nach den Preisen,
welche in einer Schaubude hei Lampionheleuchtung in
Reih und Glied aufgestellt sind. Die Preise bestehen
aus Miniaturfigürchen europäischer Aristokraten, mit
ihren Wappenschildern vor der Brust, die Ringe sind —
Eheringe. Eins der Mädchen steht etwas teilnahmlos
und ärgerlich dabei. Sie hat aufgehört zu werfen; eine
Menge Ringe sind schon nebenher gefallen. Ist sie sich
plötzlich der schmählichen Komödie bewusst geworden?
Oder hat sie nur kein Glück im Spiel gehabt?
„Amerika’s Tribute.“ Eine Parodie auf das Bild
der Märtyrer im Cirkus Maximus. In der riesigen an¬
tiken Arena sieht man eine Gruppe junger Mädchen,
die in verzückter Schwärmerei eben ihr Schicksal er¬
warten, das in der Figur eines älteren Löwen vorn aus
der Tiefe emporsteigt. Amor wendet sich ab, er kann
das greuliche Schauspiel nicht mit ansehen. Die blühen¬
den jungen Geschöpfe sind Töchter amerikanischer Millio¬
näre, die dem britischen Löwen zum Opfer gebracht
werden. Das ist die umschriebene Form, in welcher
das freie Amerika dem allesverschluckenden britischen
Reiche Tribut zahlt: seine Frauen jagen nach dessen
Wappen, Titeln und Kronen. Der alte Löwe trägt
eine Krone auf dem Kopf. Ein seltsamer Anblick. Die
Nachkommen desselben Benjamin Franklin, der unter
den Hofschranzen von Versailles, einfach und selbst¬
bewusst, im schwarzen Rock und dem breit geränderten
Quakerhut einherging, sie haschen in lächerlicher Eitel¬
keit nach den europäischen Stammbäumen und Orden.
Und achtet sie die wirkliche hohe Aristokratie ihrer eben¬
bürtig? Keineswegs. Nur die Abgetakelten, die Ver¬
krachten, die beinahe Schiffbrüchigen möchten sich ihre
Wai)pen aufs neue mit amerikanischen Dollars vergolden
lassen. Es liegt eine freimütige Selbstironie und gleich¬
zeitig ein ruhiges Selbstgefühl darin, dass der Amerikaner
sicli nicht scheut, seinen Landsleuten mit dem Griffel
in der Hand ihre Thorheiten vor Augen zu halten.
Gibson’s Griffel ist echt Aristophanisch. Wie ergötzlich
ist „That delicious moment“, jener „köstliche Moment“
geschildert, in dem das erwartungsvolle amerikanische
Elternpaar den noblen Schwiegersohn empfängt, den die
Tochter sich aus Europa mitgebracht hat. Einen Kopf
kleiner als die Tochter, der letzte verkrüppelte Spross
eines alten Geschlechts, hat es in jeder Hinsiclit bei
ihm einen Rest gesetzt; und dieses von der Natur so
stiefmütterlich behandelte, edle Männlein ist der Lohn
für den lächerlichen Ehrgeiz, in die alten em'oi)äischen
Familien hineinheiraten zu wollen. Der belämmerte Aus¬
druck aller Beteiligten redet hier seine eigene Sprache;
es muss in der That „a delicious moment“ gewesen sein.
Einen angenehmen Gegensatz bietet das Bild:
„This can happen“. („Dieses kann Vorkommen.“) Das
junge — und diesmal glückliche — Paar kommt beim
amerikanischen Schwiegerpapa an. „Er“, ein schlanker
Mann mit elastischem Tritt und gesunden Gliedmaßen,
„sie“ lehnt sich liebend an ihn — und der Papa fällt in die
Arme seines Dieners vor Staunen, dass der Engländer
wirklich diesmal kein so ganz „undesirable article“ ist!
Aber nicht nur im europäischen Heiratsmarkt findet
Gibson Arbeit für seine satirische Feder. Mit packen¬
der Anschaulichkeit weiß er manche tragikomische
Situationen „at home“ zu schildern. Das „alte Lied“
von den bejahrten reichen Männern, die sich junge Frauen
genommen haben, ist durch einen vorlesenden Philister
dargestellt, der seine junge Frau belehren und unter¬
halten will, indessen ihre Gedanken weit fort sind, bei
dem wilden Steppenjäger, dem „cowToy“, der über die
Prärie frei dahinjagen darf ... Arm ist er, aber ihre
romantische Sehnsucht zaubert in Gedanken sein Bild
herauf; man sieht ihn in feinen Umrissen an der Thür
erscheinen, wie er auf seinem struppigen Gaul über die
sturmdurchfegte Ebene reitet .... Daneben die öde
Trostlosigkeit der bloßen Geld- und Vernunftheirat, all
das vergoldete Elend, die Verzweiflung des verfehlten
Lebens, der unnatürlichen Verbindung.
„HerPunishment“ (Ihre Strafe). (S.S. 117.) Eineschöne
junge Frau und ein bebrillter, vertrockneter Philister führen
ihren Knaben spaziren. Er ist nicht unterhaltend, der
Junge, aber er hat einen sparsamen Sinn — „a frugal
mind“, wie sein Vater — und trägt auch schon eine
Brille; er sieht mürrisch und kränklich aus, ein alt¬
geborenes Kind; er wird noch einmal ganz so verknöchern
wie sein „Alter“. Ein Arbeiter und seine drei Kinder
starren respektvoll die reichen Bürger an. Im Hinter¬
gründe geht ein Quakerpastor vorüber. Vermutlich hat
der das ungleiche Paar salbungsvoll getraut. Ehen
werden im Himmel geschlossen . . .
Als Seitenstück: „Poor Tom who married the wrong
girl.“ In einem reich ausgestatteten Zimmer sitzt ein
junger Ehemann in eleganter Gesellschaftstoilette. Seine
Züge sind nicht unedel, doch ist er das Opfer seiner
Verblendung geworden, als er den dummen Streich machte,
die reiche Erhin zu heiraten. Während diese gebieterisch¬
unliebenswürdig dasteht, hinter ihr der Lakai und die
Zofe, den pelzverbrämten Mantel zum Ausfahren bereit¬
haltend, starrt er abwesend vor sich hin. Seine Ge¬
danken sind bei der einst so thöricht aufgegebenen
Geliebten, die ihm immer wie ein Engel vorkommt, wenn
seine geldstolze, bessere Hälfte gerade „besonders unaus¬
stehlich“ ist; und so ersclieint sie auch hier, wie ein
guter Geist an der Seite seines Stuhles, und legt freund¬
lich und wie beschützend die Hand auf seinen Arm . . .
Ein ganzes Gespann solcher Missheiraten ist unter
dem Titel „His everlasting experiments with ill-mated
pairs“ zusammengefasst, deutsch „Seine ewigen Expeil-
15*
ilG
CHARLES DANA GIßSON’S ZEICHNUNGEN.
mente mit iingleicli Zusammeiigespaunten“. Eine mit
Liebesgöttern nnd Putten als Passagieren besetzte Kutsche
wird von vier, in „evening di-ess“ gekleideten Ehepaaren
mühsam durch tiefen Schnee gezogen. Amor, selbst auf
dem Bock, hält die lange dünne Peitsche und die ver¬
wickelten Zügel und giebt sich Mühe, die Geschichte
vorwärts zu bringen, aber es ist nicht mehr möglich.
Der Wagen bleibt im Schnee stecken und droht im
nächsten Augenblick ganz umzufallen, trotzdem die
Amoretten redlich mithelfen. Einer ist bereits, Kopf
zu unterst, in den Schnee gepurzelt und die kleinen
Beinchen zappeln in der Luft. Das Paar der am Wagen
noch verhältnismäßig am besten, ein bäuchiger, älterer
Herr, von stark gelichtetem Haar und eine müde, früh
verblichene junge Frau. Sie arbeiten mit gutem Willen,
ergeben in ihr Geschick, kommen aber immer mehr aus¬
einander, statt vorwärts. Amor, dem es so sehr um
das „Paaren“ zu thun war, hat ganz die Liebe darüber
vergessen. So geht es denn, wie es hier geht. Oben,
auf dem Verdeck des seltsamen Omnibus, sitzen zwei
Putten und halten sich traulich umschlungen, ganz un¬
bekümmert um Schnee und Gefahr; die werden erst auf-
wachen, wenn der Kasten wirklich umschmeißt. —
„Love will die.'‘ (s.S. 119.) Sie glaubten sich zu lieben.
The Hopewell Bonds. Zeichnung von Ch. D. Giijson.
zunächst Ziehenden ist schon nicht mehr im stände, sich
aufrecht zu halten: er ist, betrunken, in den Schnee
zurückgesunken und sie bricht bei dem Anblick ver¬
zweifelt an der Deichsel zusammen. Mitleidig sieht die
Frau des nächsten Paares sich um, indessen ihr Gemahl
der vor ihm zunächst ziehenden Frau glühende Liebes-
beteuerungen macht. Während diese, in dem von Angst
gepeinigten Bewusstsein ihrer Schwäche, vor den Wor¬
ten des Verführers schaudernd sich die Ohren zuhält,
geht ihr Gefährte indessen, müde nnd gelangweilt, eine
Cigarrette zwischen den Lippen, mit halb geschlossenen
Augen neben ihr her. Das vorderste Paar hält sich
haben sich aber doch im Grunde nicht verstanden. Tn einem
leidenschaftlichen Augenblicke ist ihnen das, wie ein
greller Blitz, iilötzlich klar geworden. Er, trotzig und
unnachgiebig, zwirbelt mit der einen Hand den Schnurr¬
bart, eine Cigarette zwischen den Fingern der herab¬
hängenden andern. Sie hat sich scliluchzend abgewandt,
den Kopf in die Arme gelegt, mit ilu-em Schmerz wort¬
los ringend. Zwischen beiden liegt Amor auf einem
mit schwerer schwarzer Decke behangenen Tischchen,
tot, so tot, dass nichts ihn wieder auferwecken kann.
Der Wahn ist unwiderruflich zei'stört. Mit Rosen be¬
deckt liegt der kleine, süße Gott, aufgebahrt wie ein
CHARLES DANA GIBSON’S ZEICHNUNGEN.
117
totes Kind , mit den Rosen aus der ersten Zeit ihrer
Liebe . . .
So ernst kann Gibson sein, so packend ernst.
Einen feinen sarkastiscli-linmoristischen Ton schlägt er
aber am liebsten an, wie in „No respecter of a widow’s
grief‘. Etwa zn übersetzen mit: „Dem ist nicht einmal
der Schmerz der Witwe heilig.“ Halb vorgebeugt über
einen niedrigen Divan, kniet eine blutjunge, elegante
Witwe im Trauerkleide. Sie blättert soeben in alten
Briefen und kleinen
billets doux herum,
und man sieht es
ganz deutlich ihren
halb verweinten Au¬
gen an, dass sie in
wehmütigen Erin¬
nerungen ge¬
schwelgt hat. Um
sie herum auf dem
Boden nnd über den
Divan verstreut lie¬
gen gepresste Blu¬
men und frische,
ebengepflückte
Rosen nebeneinan¬
der. In der Hand
hält sie das feine
Battisttaschentuch,
das sie gegen die
schönen Augen ge¬
presst haben mag,
während sie sich um¬
wendet , erschreckt
und doch gebannt;
denn da auf dem
großen Stuhl hat
sich ein Gespenst
häuslich niederge¬
lassen, ein kleines
nichtsnutziges
Ding: Amor in Per¬
son. Die Arme be¬
haglich verschränkt,
die kleinen Flügel
neckisch ausgebreitet, mit einem überlegenen Lächeln,
nackt und siegesgewiss. Er scheint seiner Sache von
vornherein sicher. Und die Zeit wird ihm Recht geben:
es wird ihr nicht möglich sein, diesem „Gesjienst“ auf
die Dauer zu widerstehen. . .
Zu den besten und eigenartigsten gehören die
„Renten Confessions“. Zwei junge, ehrbare Mädchen,
aus zweifellos guten Familien, knieen auf Kissen links
und rechts gegen einen Beichtstuhl. Amor selbst will
die Beichte entgegennehmen. Die strengen, keuschen
Fräulein flüstern leise nnd mit niedergesenktem Blick.
Her Punislimeiit. Zeiclnmiig von CH. n. Gibson.
Amor war vielleicht auf manches gefasst, aber das ist
zu viel! Mit ungeheurem Entsetzen hat er das Brevier
fallen lassen, die Haare stehen ihm zu Berge, er traut
seinen Ohren kaum und, um nicht weiter zu hören,
stopft er sie sich krampfhaft mit den Fingern zu. Was
kann das nur so gar Fürchterliches sein, was selbst dem
Schelm da zu viel wirdV Man sieht’s den ehrbaren,
züchtigen Damen wirklich nicht an. —
Ist der Liebesgott hier als Beichtvater dargestellt, so
erscheint er manch¬
mal 'auch in ganz
anderer Form, als
ultramoderner,
blasirter Yankee¬
boy, blass, schlank
und feingebaut, mit
selbstgefälligem
Zug um den Mund.
Ara originellsten
ist der hochmütige
Knirps in dem Bilde
„A modern Daniel“
getroffen. Wie Da¬
niel in der Löwen¬
grube steht er da,
umgeben von vier
verlangenden
Frauen , die aber
weit davon entfernt
sind, ihm etwas zu¬
leide zu thun. Eine
steht und weint,
weil'er sie gar nicht
ansehen will , die
drei andern kreisen
um ihn herum. Er
aber — schneidet
sie alle. Sie hoff¬
ten ihn durch eine
schwere Kugel, die
er an einer Kette
am Beine schleppt,
zu bezwingen. Er
aber blickt , trotz
der Fesseln, so erhaben drein, dass man sich nicht
wundert, wenn die „Löwinnen“ alle wider Willen sehr
demütig um seine Gunst betteln.
Die reifere Frau mit ihrem ganzen unerklärlichen
„Charme“ zeigt wieder das Strandbild „Danger“. Sie
wandelt elastisch im feuchten Seesand nnd hinter ilir
ein ahnungsloser männlicher „Strandläufer“, der sie noch
nicht, durch einen Dünenvorsprung gedeckt, gesehen hat.
Amoretten haben sich in gestrandeten Booten versteckt
und tuscheln sich geheimnisvoll etwas in die Ohren;
sie wissen, dass er „verloren“ ist, wenn er sie gesehen
IIS
CHARLES DANA GTBSON’S ZEICHNUNGEN.
hat. Daher die ,.Gefalir‘\ „That restless Sea“ ist eine
allegorische Darstellung von Amoretten und Babys, die
sich in den Wellen alle miteinander umschlingen, über¬
einander purzeln, sich küssen, beißen und necken.
EineEeihe von Blättern sind in der Art der Vexirbilder
gehalten, so z. B. ..Find the wife of the man, who is
telling the story“. Er erzählt einen Witz in Gesellschaft,
natürlich mit denselben alten, auswendig gelernten
Pointen. Die schöne Frau kennt das alles, hat es schon
unzählige Male gehört. Eire Gedanken sind weitab; sie
sehnt sich, sie weiß selbst nicht recht wonach, aber
nach etwas Anderem, Bedeutenderem. Sie ist ihm geistig
weichlich. In Tuschzeicliuungen dagegen bedient er sich
oft der malerischen Flecken- und Flächenbehandlung der
Franzosen, beispielsweise des Alexandre Lunois; mit
einfachsten Mitteln weiß er Stoffe zu behandeln, den
schweren x\tlas des Frauenkleides von dem Tnchrock
des Mannes zu unterscheiden, Seide, Spitzenvolants oder
Eüschen anzndeuteu, Teppiche, Decken, blanke oder
duffe Stiefel, Haare u. s. w. Die Art, wie er durch
))loße Tonwerte in Schwarz und Weiß farbige Em¬
pfindungen hervorzurnfen weiß, hat etwas Bestrickendes.
Da liegen einige Rosen neben- und übereinander;
die eine ist hellrot und kaum aufgebrochen; die
überlegen, die Frau mit dem schönen Kopf und den
vollen Armen. Wo ist da das Glück? . . .
Launig werden die Erlebnisse des Rentiers „Gullem“
geschildert, besonders seine Abenteuer in Paris, „at the
Cafe Americain“, at the Jardin de Paris“. Some sidewalk
types.“ Hier glaubt man einen Rivalen von dem Zauberer
in Momentaufnahmen, Leonhart Anders Zorn in Paris,
vor sich zu haben. Aber Gibson’s Technik ist immer
eigen, immer natürlich. Sie ändert sich je nach den An¬
sprüchen und Absichten und wird niemals zur Schablone,
zum Paradestück. Sie beherrscht ihn nicht, sondern er
bedient sich ihrer, heute so, moi’gen so. Ihm stehen so
gute Instrumente zur Verfügung, dass er sie mit Leichtig¬
keit wechseln und das eine durch das andere ersetzen kann.
Sein Federstrich ist bestimmt und niemals rund oder
daneben ganz tief weinrot und die darunter gelb, eine
Gloire de Dijon. Das fühlt man aus den wenigen
andeutenden Strichen heraus. Wie fein ist die ge¬
mischte Technik (teils Ton-, teils Strichbehandlung) in
dem vorletzten Bilde von dem Souper eines alten Jung¬
gesellen („A bachelor’s supper“)! Der martialisch aus¬
sehende alte Herr stößt in Gedanken mit einer „früheren
Liebe“ an, und alle Frauen aus seinem Leben, die bis
zur Zeit der Krinolinen und Chignons des zweiten Kaiser¬
reichs zurückgehen, scheinen noch einmal in seiner
Erinnei'ung Revue zu passiren und sich nach und nach
an den Tisch zu setzen. — Wo es angebracht er¬
scheint, lässt die Behandlung, bei A^ermeidung alles
Neljensächlichen, unserer Phantasie noch etwas zu thun
übrig. Wir dürfen uns denken, was voi herging und
CHARLES DANA GIBSON’S ZEICHNUNGEN.
119
was vielleicht noch kommt. Gihson hat oft eine Technik
der „Suggestion“, um mich „modern“ auszudrücken. Das
Milieu eines reich ausgestatteten Salons, eines Künstler-
Ateliers (wie in dem Cyklus von Zeichnungen, aus denen
wir sehen, wie die Gesellschaft sich in New York unter¬
hält — oder langweilt), einen Durchblick aus dem Halb-
licht einer Theaterloge heraus auf die strahlende Helle
der Bühne, Lampionbeleuchtung, Regen, Schnee, Himmel
und Erde, eine hölzerne, öde Dachkammer, Kerkermauern,
oder die lauggezogenen, sandverwehten Dünen am Meer,
alles das ist im wesentlichen so erfasst, dass man die
unbedingte Vorstellung davon hat. Mit gleicher Sicher¬
heit sind Erwachsene und Kinder, Jünglinge und Greise,
Pferde, Hunde, Löwen, Tiger und Elefanten gezeichnet,
die Hunde mit jener intimen Kenntnis der einzelnen
Rassen, die bei den Engländern und Amerikanern so
ausgebildet ist. Man darf Gibson einen Tierzeichner
erster Qualität nennen.
Selbst der — vom malerischen Standpunkt aus be¬
trachtet • — monströsen heutigen Männertracht weiß
Gibson auf geschickte Weise beizukommen. Man sagt,
sie sei besser geeignet, Fehler der Gestalt zu verdecken,
als Schönheiten zum Ausdruck zu verhelfen. Er weiß
auch das zu erreichen. Seine Figuren sind elegant und
sauber, tragen stets reine Wäsche und ihre Kleider
sind vom neuesten Schnitt. Ihre äußere Korrektheit
steht zuweilen in einem fühlbaren Kontrast zu ihrer
etwas defekten „Innenseite“, die sich in zweifelhaften
oder komischen Situationen verrät. Aber Gibson deckt
manche Blößen, manche wunde Punkte seiner Salon¬
menschen, mit dem „Liebesmantel“ des guten Geschmacks
und der koi'rekt sitzenden Beinkleider zu. Dass allerlei
Thorheiten des konventionellen guten Tons, Verwicke¬
lungen und Bosheiten des Schicksals, manchmal Löcher
in den Liebesmantel reißen, kann er nicht ändern. Die
Welt ist nun einmal so und er hat sie ja nicht gemacht.
Er erzählt nur und überlässt uns, die Schlüsse daraus
selber zu ziehen. Mitten in die elegante Gesellschaft
setzt er seinen nackten Amor, der eine besondere Vor¬
liebe zu haben scheint, gerade hier seine übermütigen
Schelmenstücke spielen zu lassen. Dass die Komödie
dann zuweilen einen etwas tragischen Ausgang nimmt,
dürfte ihm wenig Kopfzerbrechen machen. „Alles ver¬
stehen heisst alles verzeihen“, so denkt auch Amor,
wenn er überhaupt — denkt.
Zum Schluss dann ein voller, starker und edler
Accord: zwei sich im Kusse umfassende, ganz in ein¬
ander aufgehende junge Menschenkinder. Das ewige
Recht der Jugend auf Glück und Liebe. Also die
tiefe, gesunde Moral der ganzen Geschichte — ohne
Predigt. —
Gibson hat kürzlich ein zweites Heft in gleichem
Format folgen lassen, das er „Pictures of People“ nennt
und dessen Inhalt die Früchte europäischer Reiseeindrücke
in verschiedenen Sphären bildet. Es wird zu des Künst¬
lers wachsender Popularität beitragen, doch steht es
nicht ganz auf der Höhe des ersten. Einige Typen
wiederholen sich zu häufig darin, und die größeren
Zeichnungen gehören zu den am wenigsten gelungenen.
Der begabte Amerikaner muss sich in Acht nehmen, dass
der Künstler in ihm nicht durch — den Geschäftsmann
beeinträchtigt wird! Es drohte ihm sonst ein ähnlicher
Rückgang wie dem deutschen Zeichner C. W. Allers.
Ein Gleiches gilt von dem soeben publizirten Heft;
„Vanity Fair“, einer „Nachempfindung“ Gibson’schen
Geistes, worauf wir nicht näher eingehen möchten. Nur
dem oberflächlichen Blick werden die Schwächen des¬
selben entgehen, die freilich oft geschickt hinter einer
Technik voll sprühender Lichtwirkung ä la Rene Reinecke
versteckt sind.
DAS BERLINER BILDNIS JOHANN SEBASTIAN BACH’S.
AUT EINEM LICIITDllUCK.
EI der Herstellung einer Huste Johann
Sebastian Hach’s, die der Tjeipziger Hild-
hauer Carl Seffner 1895 mit Hilfe des
kurz zuvor ausgegrabenen Schädels und
bekannter Bildnisse Bach’s angefertigt
hat (vgl. die Zeitschr. f. bild. Kunst 1896,
S. 276 fl'.), ist ein Bildnis unberücksichtigt gelassen
worden: das von Lisiewsk}' gemalte in der Amalien¬
bibliothek des Joachimsthal’schen Gymnasiums in Berlin.
Wir bringen von diesem Bildnis, das bisher in weiteren
Kreisen wohl so gut wie unbekannt gewesen ist, in dem
vorliegenden Hefte eine gute Nachbildung in Ijiclitdruck.
Das Bild regt mancherlei Fragen an, auf die wir
keine befriedigende Antwort zu geben wissen. Vielleicht
können sie aber Andere geben. Zunächst: der Kopf unter¬
scheidet sich auffällig von allen bisher bekannten Bild¬
nissen Bach’s. Einige besonders charakteristische Züge
finden sich zwar aucli hier, so die etwas steilen, flügel¬
artig oder yiisilonartig sich ausbreitenden Brauen und
die fleischigen Augenlider, überhaupt das fleischige Ge¬
sicht mit seiner Unterkehle und mit seinen scharfen
E’alten über der Nasenwurzel und neben den Nasen¬
flügeln. Andere Gesichtsteile aber sind ganz anders
gebildet; so sind z. B. die Augenlider, die auf den
andern Bildern die Augen an beiden Außenseiten etwas
bedecken, hier in gleichmäßig geschwungenem Bogen
gebildet, so dass uns die Augen frei und offen anblicken,
die Nase ist nicht so lang und hat nicht die etwas
hängende Spitze wde sonst, und auch der Mund, der
auf den andern Bildern breit, auf dem Kütner’schen Stich
sogar breit bis zur Karikatur erscheint, ist hier schmal
und wohlproportionirt. Man könnte fast auf den Ge¬
danken kommen, das Bild stelle gar nicht Johann
Sebastian Bach dar, und dieser Meinung scheinen wirk¬
lich im vorigen Jahrhundert Manche gewesen zu sein,
denn in Gerber’s Lexikon der Tonkünstler (2. Teil,
Leipzig, 1792, Anhang S. 61) wird unter den Gemälden
von Bildnissen berühmter Tonlehrer und Tonkünstler mit
einer Bestimmtheit, die nichts zu wünschen übrig lässt,
verzeichnet: „Bach (Carl Philipp Emanuel), in Öl ge¬
malt von Lisiewsky; befindet sich bei der von der
Prinzessin Amalie hinterlassenen Bibliothek im Joachims-
thaler Gymnasium zu Berlin.“ Dennoch ist wohl nicht
daran zu zweifeln, dass das Bild wirklich den Vater und
nicht den Sohn darstellen soll. Dafür spricht nicht nur
das Notenblatt auf dem Tische, auf dem derselbe Kanon
steht wie auf dem Bilde der Leipziger Thomasschule
und auf dem Kütner’schen Stich, sondern vor allem die
Inschrift oben an dem Rahmen des Bildes: Johan
Sebastian Bach | Der Teutschen gröster Harmonist I
geboren zu Eisenach 1685 | gestorben in Leipzig | 1750.
Diesen Rahmen samt der Inschrift soll das Bild schon
gehabt haben, als es 1787 aus dem Nachlass der Schwester
Friedrich’s des Großen in den Besitz des Joachimsthal-
schen Gymnasiums kam.
Da drängt sich nun die Frage auf: Wie ist das Bild
IJsiewsky’s entstanden? und welchen AVert und welche
Glaul)wiirdigkeit hat es den andern Bildern gegenüber?
Das Bild trägt in der rechten Ecke die Bezeichnung:
CER von Liszewsky pinxit 1772. Es ist also zweiund¬
zwanzig Jahre nach Bach’s Tode gemalt, folglich Kopie.
Aber von welchem Original?
Christian Friedrich Reinhold (oder Reinhard?) Li¬
siewsky (oder Liszewsky) war 1725 in Berlin geboren,
wurde 1752 Hofmaler in Dessau und 1779 Hofmaler in
Mecklenburg -Schwerin, wo er am 12. Jnni 1794 in
Ludwigslust starb; ein Selbstbildnis von ihm befindet
sich im Museum in Schwerin (vgl. Fioiüllo, Geschichte
der zeichnenden Künste in Deutschland 3. Bd., S. 322 ff.
und Schlie’s Verzeichnis des Schweriner Museums). Da
wäre es denn zunächst möglich, dass er ein Bild kopirt
oder benutzt hätte, das er früher selbst nach dem Leben
gemalt oder gezeichnet hatte. In Leipzig ist Lisiewsky
gewesen. Das Leipziger Museum besitzt von ihm ein
vortreffliches Bildnis des Leipziger Zeichenlehrers Zink,
bezeichnet: CFK Lisiewsky pinxit 1755. Zink „sitzt
in einem mit Pelz aufgeschlagenen Schlafrocke mit nn-
bedecktem silberfärbigen Haupte am Tische, ))lickt durch
die Brille seitwärts nach dem in Gyps ausgegossenen
Kopfe des antiken Schleifers nieder, welchen er auf blaues
Papier entwerfen will und mit der ausgestreckten Linken
in ein vorteilhaftes Licht zu stellen sucht, indem er schon
DAS BERLINER BILDNIS JOHANN SEBASTIAN BACH’S.
121
mit der Rechten die Reißfeder ansetzt“. ') Lisiewsky
könnte aber schon früher, in den vierziger Jaliren, in
Leipzig gewesen sein nnd damals Racli nach dem Lehen
gemalt oder gezeichnet haben. Lisiewsky's Vater, Georg
Lisiewsky, der ebenfalls Porträtmaler gewesen war, war
174G in Berlin gestorben. Nach dessen Tode könnte
der Sohn nach Leipzig gegangen und dort vielleicht sogar
Zink’s Schüler geworden sein.
Aber das alles sind ja haltlose Vermutungen. Es
ist ebenso gut möglich, dass er, als ihm die Prinzessin
Amalie 1772 den Auftrag gab, ihr ein Bildnis Bach’s
zu malen, sich anderswoher eine A^orlage verschafft hat,
ja das ist sogar das wahrscheinlichere. Das Bildnis
Bach’s von Lisiewsky leidet an einer gewissen Unfreiheit.
AVährend sein Bildnis Zink’s eine prächtige Studie voll
AVahrheit und Leben ist, macht das Bild Bach’s den Ein¬
druck des „Komponirten“ im eigentlichen Sinne des
AVortes. Die Richtung des Kopfes widerspricht auffällig
der Haltung des liumpfes und des auf dem Tische ruhen¬
den linken Armes ; man braucht nur abAvechselnd die obere
und die untere Hälfte des Bildes zuzudecken: unwillkür¬
lich wird man sich die zugedeckte Hälfte in derselben
Haltung ergänzen wie die offen gelassene. Und wie kommt
die Staatsperücke zu dem Schlafpelz? Das Ganze sieht
aus, als ob der Maler auf einen Körper, den er nach
einem lebenden Modell gemalt hatte (man beachte die
Hand, die Schreibfeder, das Pelzwerk, das nachlässig
geknüpfte rote Halstuch — lauter ganz vortreff lich und
naturwahr gemalte Dinge!) einen aus einem Bilde ent¬
lehnten Kopf gesetzt hätte. AA^elches war aber dann
dieses Bild? AVer besaß es?
Hier liegt nun eine Vermutung nahe. Vor kurzem ist
in der Tagespresse die Aufmerksamkeit auf ein Bildnis
Bacli’s gelenkt worden, das Bach’s Schüler Johann Philipp
Kirnberger in Berlin besaß. Zelter, der es oft gesehen hatte,
erwähnt es in einem Brief an Goethe aus dem Januar 1829
(Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter Bd.5, S. 163) und
ei'zählt dabei eine Anekdote, wie ein Leipziger Handels-
1) A^gl. nieiue Quellen zur Geschichte Leipzig.s Bd. 1,
S. XII.
mann Kirnbergei' Itesucht habe, dabei über das Bild
unpassende Bemerkungen gemaclit habe und von Kii'ii-
berger zur Thür hinaus gejagt worden sei. Auf diesem
Bilde war Bach, wenn sich Zelter recht erinnert hat,
„in einem prächtigen Sammetrock“ dargestellt. Q Der
passt zu der Perücke. Kirnberger war der Kapell¬
meister der Prinzessin Amalie. 1776 ließ sie sich auch
dessen Bildnis von Lisiewsky malen, dies natürlich nach
dem Imben. Es befindet sich ebenfalls in der Amalien¬
bibliothek. Es ist also sehr walirscheinlich, dass Lisiewsky
das in Kirnberger’s Besitz befindliche Bildnis Bach’s
benutzt hat. AVo es nach Kii'nberger’s Tode hiugekommen
ist, ist gänzlich unbekannt. Sollte es am Ende gar das-
sellte Bild sein, das zu Ende des vorigen .Jahrhunderts
in dem Besitz des Erfurter Organisten Kittel auftaucht,
und das jetzt wohl endgültig für verloren gelten muss?
Der „prächtige Sammetrock“ würde dazu stimmen, denn
auf dem Erfurter Bilde war Bach im „Staatskleide“ ge¬
malt. Freilich soll Kittel sein Bild aus dem Nachlass
der Herzogin Friederike von AVeißenfels gehabt haben,
die 1775 gestorljen war; aber sicher ist die Nachricht
nicht. AVären das Kittel’sclie Bild und das Kirnberger’sche
zwei verschiedene, so hätten wir den Verlust zweier
Originalbildnisse Bach’s zu beklagen, die einst von
ihren Besitzern wie Kleinodien geliütet worden sind!
Ob es Ijesonders zu bedauern sei, dass Seffuer Ijei
der Anfertigung seiner Büste das Berliner Bild niclit
benutzt hat, wer möchte das behaupten! So lange wir
über die Entstellung des Berliner Bildes völlig im
Dunkeln sind, so lange wir nicht wissen, welche Vorlage
Lisiewsky benutzt hat, so lange werden wir wohl geneigt
sein, auf die übereinstimmenden Züge aller drei erhal¬
tenen Bilder mehr Gewicht zu legen als auf die ab¬
weichenden des Berliner Bildes.
Leipzig. G. WUSTMANN.
1) Ganz echt ist die Anekdote nicht, die Zelter erzählt.
AA’^enn er dem Leipziger Handelsmann die AVorte in den
Mund legt: ,,Da haben Hie ja anch unsern Kantor Bach hängen ;
den haben wir anch in Imipzig auf der 'rhoinasschule“ — so
flnnkert er. Das Bibi der Thomasschnle ist erst seit 1809 in
dem Besitz der , Schule. Kirnberger alier starb 1782.
Zeitsdirilt Ilu- bildeiiile Knust. N. F. VIII. H. 5.
10
EIN DEUTSCHES KÜNSTLERLEBEN.')
MIT ABßlLDUNNEIN.
IE bestellen aufrichtig, dass uns gegenüher
von Autdbidgraidiieen im Allgemeinen,
und Vdii s(dchen aus Künstlerfedern im
Besduderen, die richtige Begeisterung zu¬
weilen versagt. Selbsthiographie lieißt
in solchen Fällen meistens Selbstverherr¬
lichung. Um so größer ist unsere Überraschung und
Befriedigung beim Bnrchblättern des vorliegenden Werkes
gewesen. Eine empfängliche einfache Künstlernatui’
schildert ihren normalen Entwicklungsgang ohne jedes
Aufbausehen und Effekthaschen in der richtigen Eniptin-
dung, dass das Hauptinteresse weniger in der eigenen
Persönlichkeit als in dem politisch und social bedeutenden
Eahmen liegt, innerhalb dessen das Leben des Künstlers
sich abspielt.
Friedrich Wasmann’s Dasein war von einer doppelten
Morgenröte beschienen. Er erlebte das Erwachen des
nationaleii und das des künstlej'ischen Bewusstseins der
deutschen Nation. Seine Kindheit fällt in die Zeit der
Napoleonischen Herrschaft, ln Hamburg, wo er als Sohn
eines finnzoseidiassenden Kaufmannes geboren war, erlebte
er schon als kleinei' Knabe alle Schrecken der Fremd¬
herrschaft.
Der Vater muss fliehen; die Mutter zieht sich mit
den Kindern in einen kleinen Oi’t der Viodande zurück,
wo ein Verwandter von ihr, ein protestantische]’ Geist¬
licher, den kleinen Friedrich mit seinen eigenen und
mehreren ihm anvertrauten fremden Kindern in liebevolle
jiädagogisclie Leitung und Oblmt nimmt. Aber auch
dieses sonst so stille Paradies sollte nicht vom Kriegs¬
geschrei vei'schont bleiben. Nachdem Tettenborn den
tollkühnen Sti’eich zur Befreiung Hamburgs ausgeführt
hatte, der ihm den unsterblichen Namen tete bornee ein¬
getragen hat, rückten Franzosen gegen das Dorf und
drohten es in Brand zu stecken, weil angeblich Bauern
auf sie geschossen hätten. Dem sprachenkundigen liebens-
wüi’digen Pastor gelang es, den wutsclmaubenden Offizier
mittels sanfter Worte und guter Weine so vollständig
zu beschäftigen, dass dieser nach Verlauf einer Stunde
in bester Laune schied.
1) Friedrich, Wasmann. Ein deutsches Künstterleben,
von ihm selbst geschildert, llerausgegeben von Bernt Qrm-
■volt. München, F. Brackmann. 189(J. 11 und 18G S. 4“.
'Während der jetzt folgenden Schul-Periode tritt bei
E'i'iedi'ich \Vasmann noch keine besondei'e künstlei'ische
Begabung zu Tage; hingegen macht sich eine ausge-
si)rochene Neigung zu religiösen und sittlichei] Grübeleien
:xn ihm bemerkbar. Die Vermutung lag nahe, er würde
sich dem Studium dei’ Philoso[>hie zuwenden. Aber durch
einen ihm befreundeten Arzt lässt er sich für die Medizin
bestimmen, betreibt seine Studien mit Eifer und Selbst-
verläugnung, aber der unterdessen aus England zurück-
gekehi'te Vater findet die Lehrzeit zu kostspielig, und so
stand E’riedrich Wasmann wieder der Verlegenheit einei’
Berufswahl gegenüber. Diese wurde durch einen er¬
fahrenen Zeichenlehrer gelöst, der ihn, weil ei’ von jehei'
eine leichte Hand zum Zeichnen hatte, für ein Talent
erklärte. Dai-aufhin genoss ei’ einen kurzen Zeichen¬
unterricht in Hamburg und wurde Itald nach Dresden
auf die Akademie geschickt. Auf dei’ Eeise dahin er¬
blickte der Jüngling, wie er sagt, „mit Schauer und
Entzücken den ersten Berg und gar den Blocksbei’g!“
In Dresden war Friedrich Wasmann zuerst Schüler
des Nazareners Näke und zeichnete mit jugendlicher Be-
geistei'ung im Mengs’schen Antikenkabinett. Das Kopiren
gelingt ihm nicht recht, aber er macht gelungene Ver¬
suche von Porträtskizzen, die ihm großes Lol) des da¬
maligen Direktors W^inkler eintrugen und wohl aus¬
schlaggebend für seine Wahl des Porti’ätfaches gewesen
sein mögen.
Nach Verlauf eines .lahi’es nach Hambui’g zui’ück-
gekehrt, gelang es ihm, ein mehljähriges Stipendium zum
Besuch der Münchener Akademie zu erlangen, und so
sind wir in der Lage, unseren jungen Freund nach der
schönen Stadt an der Isar zu begleiten Er sagt: „Auf
diesem katlndischen Boden wuchs, von der Sonne der
Fürstengunst beschienen, die junge Kunstpflanzung unter
Cornelius empor. Die Großmut des Königs Ludwig 1.
ermöglichte es diesem Meister, den alten Sauerteig aus¬
zufegen, mit gleichgesinnten Männern eine neue, auf
Wahrheit und Geschichte gegründete Richtung anzubahnen
und die Adlerschwingen des Genius zu entfalten!“
Weiterhin sagt Wasmann: „Es war damals ein
freudiges Wirken und Zusammenleben in München, wie
noch keine Zeit es gesehen, der fröhliche Jugendrausch
eines jungen Deutschlands, das, von den Banden fremder
EIN DEUTSCHES KÜNSTLERLEBEN.
]23
Zwiiig-lieiTSchaft befreit, Brotneid, Eitelkeit und Vornelnn-
thiierei ausscliloß.“
Außer den Schulen von Cornelius und des Professors
Sclilotthauer war es liesonders Heinrich Hess, der es ver¬
stand, junge Leute, ohne lange akademische Übergänge, zu
tüchtigen Künstlern heranzubilden. Wasmann war es
inklusive der Wohnung seine Zeche nicht tilter 30 Kr.
hinaufschrauben, und fand nebenbei reiciiliche Nahrung
füi’ sein Talent in der herrlichen Natur sowohl als auch
in dem prächtigen Menschenschlag ringsum. Einmal
fragt ihn ein Passeier Bauer: „Meister, wenn es mi ai)-
kunterfekten wollet, einen Gulden thet i schon spedii'en.“
Porträtstudie von Fu. Wasmann.
gelungen, trotz fortwälirender Kränkliclikeit. ein gi’ößei'es
Genrebild nach seiner Vaterstadt zu senden und dadurch
die Fortsetzung seines Stipendiums zu erreiclien. Voi--
erst begab er sich zur Wiederherstellung seiner Gesund¬
heit nach Meran, zu Fuß natürlich, durch «lie von gro߬
artiger Schönheit strotzende Landschaft, ln Obermais
fand er gemütliclie und billige Untei’kunft; er konnte
Bei P. Beda Wehei' in St. Martin hält ^Vasmann
sich oft auf und begegnete dort interessanten, auf sein
Gemütsielten tief einwirkenden Persönlichkeiten, wie
Görres, Brentano u. a. m.
Für Friedrich AVasmann war dei' Aufenthalt in
Tirol, wie wir später sehen, nicht nur der naturgemäße
geographische Übergang nach Pom, wie für unzählige
16*
124
EIN DEUTSCHES KUNSTLERLEBEN.
Künstler vor und nach ilini. Einstweilen begleiten wir
ihn üljcr das liebliche Eiva, l’erona, Mantua, Modena,
wo er vor dem rolizeikoniniissär erst seine politische
Unschuld dokumeutiren muss, iiach der schönen Stadt am
Arno. Hier findet er diesellien blauen Tücher vor den
Bildern, die auch heute die Verzweiflung des Reisenden
in der Karwoche sind. Eine 'Woche später betritt er als
Kijähriger junger Mensch den Boden der ewigen Stadt.
Horace ^'ernet war damals Direktor der Ecole de
Rome; viele Franzosen studiilen da, einige waren auch
Hausgenossen 'Wasmann’s. Als letzterer einmal einen
dei-selhen darauf aufmerksam machte, dTircli das viele
Leinöl, das er gebrauche, würden die Bilder stark nach¬
dunkeln, ei'widerte jener stolz, das sei ihm ganz gleich,
die Nadiwelt kümmere ihn nicht. Ein andeier fand im
Gegensatz zu Goethe’s Ijehrling, der da klagte, dass die
Kunst zu lang für dieses kurze Leben sei: dass er füi'
diese armselige Kunst, die sich in
drei Tagen lernen lasse, viel zu viel
\’crstand und Talent besitze. Dieser
Cliauvinismus behagte unserm Künst¬
ler nidit, er schloss sich niehi- an
die Deutschen, die Hambiii'ger, Dänen
etc. an, trat in Beziehungen zu dem
Tiroler Landsdiaftsmalei’ Koch, zu
Tlioi-waldsen und zu dem lierühmten
Meister Overbeck, dem eine wichtige
Rolle in Whismann’s Seelenleben Vor¬
behalten war.
^'ier Jahre römischen Aufent¬
haltes waren bald verflossen. Untei'
Studien, Ausflügen, Karnevalstaumel
und ernstem ^'erkehr mit Kunst und
Künstlern war eine Saat gereift, die
W’asmann unbewusst aus dem kalten
Norden mitgebracht hatte. Was war es, das den Jüng¬
ling beim Anblidc der Kirchen, Kruzifixe und Heiligen¬
bilder auf der Landstraße im Mainthal mit Andadit ei-
füllte, was erfasste ihn so gewaltig liei den Tönen von
Mozart’s Eeipiiem in der Kii'die zu Dresden — was
machte ihm München mit seinem WAihrauchduft so lieb
— was Lässt es ihn als einen Mangel empfinden, dass
ei- den Gruß eines Tii'oler Bauern „Gelolit sei Jesus
Christus“ nicht zu erwidern weiß? Von den tausend
Stimmen, die in Rom ihn zur Kirche rufen, gar nicht
zu reden; er war prädestinirt zum Katholicismus, und
der aufmeilcsame Leser wird gai' nicht ei’staunt sein,
ihn eines Tages ganz jilötzlich zu Meister Overbeck, mit
dem Entschluss, ülmrzutreten, eilen zu sehen. Sofort
Ijeginnt dej' Unterricht, liald folgt das Abschwören der
Irrlehre, und kurze Zeit darauf führt Overbeck als Pate
ilin zur Firmung, Zugleich nähert sich aber auch das
iStipemlium seinem Ende — die letzte Stunde für Rom
hat geschlagen, vom Ponte molle winkt er der Stadt des
Heils den letzten Abschiedsgruss zu und wandert über
Assisi, l'eiugia und alle die herrlichen Stätten der Kunst,
die den Weg nach Deutschland so schwer machen, zum
zweiten JMal nach München. Hier kommt er todkrank
an, wii'd sofort in’s Krankeidiaus gebracht, wo die charak¬
teristische Gestalt des Mediziuali'ates Ringseis, mit dem
historischen, schief sitzenden roten Käppchen an sein Bett
tritt und ilin mit energischen Mitteln erlblgi-eich dem
Leben zurückgiel)t.
Müncheji Avar zu jenei' Zeit in seiner Glanzepoche.
Cornelius malte an dem .lüngsten Gericht, Kaulliach hatte
die Hunnenschlacht liegonnen, Moilz von Schwind betrat
seine duftige Märchenlaufbahn, dei' Philosopli Schelling
hielt M)rlesungen, Guido Göi'ies und Clemens Brimtano,
dei' gelehrte Orientalist und Exeget Dümkai)itulai' Fjled-
i'ich 'W indischmann gehöi'ten zu den Freunden unseres
Künstlers.
Aber all das konnte Wasmann
nicht lialten. Seine Gesundheit ge¬
dieh nicht in dem kalten Klima, auch
dei' Erwei'b ging matt und lii'achte
ihn in Konflikt mit seinen Bestrebun¬
gen. So wendet er seine Schritte
denn wieder nach Süd-Ti)'(d, findet
doi’t sympathische Aufnahme, Bestel-
liuigen im Porti'ätfach kommen un¬
ausgesetzt, — er ist ein gemachter
jMann!
Nachdem großen Brand iiiHam-
Imrg fühlt 'Wasmann den lebhaften
Wunsch, ^L^tel•stadt und Familie
wiedei'zusehen. Er verlobt sich dort
und führt seine Braut nach man¬
chen konfessionellen Hindernissen
doch glücklich nach dem schönen
Meran, lliei' fließt sein Leiten mihig dahin, ln Hai'-
monie mit seinem Inneren, liefriedigt von seinen äus-
sei'en Verhältnissen, treu seiner Kunst und seinem
Glaulien, bescliließt ei' seine Aufzeichnungen im 62.
Lebensjahr mit der Bitte an den Leser „um ein
Vaterunser, damit ich bei Gott Gnade und Vei'gebung
der Sünden finden möge“. — Es wäre grausam, ilim
das zu verweigern.
Als Künstler war Friediicli Wasmann, der hier
zum ersten Mal aus dem Dunkel der Vergessenheit
hervortiitt, keine besonders gottbegnadete Natur. Phan¬
tasie und Gestaltungskraft wird man in den Abliildun-
gen des besprochenen Gedenkbuches vergeblich suchen.
Dagegen spricht aus den Bildnissen, von denen wir
eine Probe geben, eine gewisse Schlichtheit der Auf¬
fassung, die uns angenehm berührt. Und dieselbe Natur¬
wahrheit und Unmittelbarkeit besitzen auch die land¬
schaftlichen Zeichnungen und Skizzen. Die schönste
darunter ist der Blick vom Dorf Tiiul bei Meran. *
DER MODERNE MALER.
YON WOLFGA^'G VON OETTINGEN.
KZWEIFELHAFT steht fest, dass seit
etwa zwei Jalirzeliiiteii eine inäclitige
Bewegung dnreli die Malerei, insbeson¬
dere auch durch die deutsche, zieht, eine
Bewegung, die wie der A\'ind über Ähren¬
feldern das Ins dahin V'ollgiiltige ins
Schwanken bringt, gelegentlich sogar, gleich dem Sturm
im Walde, tiadzige Stämme entwurzelt und jujigem
Unteiholze dadurch Luft schafft. Niemandem, nicht ein¬
mal den bloß sonntäglichen Besuchei'n des Kunstvereins,
könnte entgehen, dass von jenen seit der Mitte unseres
Jalnhunderts herkömmlichen Historienhildern im tfalerie-
ton, von den Genrebildein der siiß-gemtitlichen Gattung,
von den komiionirten inid stilisirten Landschaften mit
romantischen llochlandsmotiven sieh neue, fremdartige
Bilder wie unter heftig hervoi'gestoßenem Widei'spruche
absondern; Gemälde, die alles andere lieber sein wollen
als Anschlüsse an das Hergebrachte, an das dem Gegen¬
stände nach gemein Y'erständliche und was die Farbe be¬
trifft nach schlichter Gewohnheit des Sehens Dui'ch-
geführte. YHelmehr bemühen sich diese neuen Bilder
sichtlich, das Evangelium der „Moderne“ in die Malerei
und in das Y^erständnis des Publik ims einzuführen, oder,
richtiger gesagt, sie verkündigen dieses Evangelium der
Emancipation und beanspruchen, dass man es und sie
(als seien sie schon was sie sein wollen) nun auch an¬
erkenne. Dafür fehlt es jedoch uns Laien gewöhnlich
an Klarheit über Art und Ziele dej’ meist so heftig
anftretenden und oft geradezu herausfordernden Neu¬
linge; kein Wunder, da diese mit fröhlich naivem Hin¬
weise auf die diigendlichkeit ihres Zustandes in häutig ver-
ändertei- Gestalt erscheinen und wie die Socialdemokraten
sich ti'otz aller Unfehlbarkeit ihrer jeweiligen Grund¬
sätze von Zeit zu Zeit „mausern“.
Da kann uns dann, als verständliches und will¬
kommenes Zeugnis aus jenem Lager, ein soeben aus-
gegebenes Buch zur Klärung und Belehrung dienen:
..Der Studiengang des modernen Malers. Ein Y^ademecum
für Studirende von Pmil ScJndfzc-Nimvihtirr/P ')
Der Verfasser ist bekanntlich Maler, Leiter einer
Malerschule in München und außerdem Kunstschriftsteller;
sein Buch, in nicht eben strengem Stile gehalten, ist
also aus dem Vollen, aus gründlicher Erfahiaing ge¬
schöpft und wendet sich, frisch und behaglich, zwar
zunächst an die noch unselbständigen und lernbegierigen
1) Leij)zig, YV. Opct/,. lS9ü. — 8'’, 96 S. mit 22 Ali-
bildungen.
unter den Kunstgenossen, mag jedoch nicht minder füi'
Dilettanten und Laien zur Orientiiung taugen; es will
Eatschläge für die Erziehung zu wahrhaft künstlerischen
Anschauungen erteilen, und bezeichnet also, sei es ex-
plicite, sei es implicite, was in den Augen des modenien
Malers als künstlerisch gilt. Ich könnte auch sagen:
zu gelten hat; denn ohne einen gewissen Terrorismus
geht es ja selbst bei den Liebenswürdigsten unter den
Modernen nicht ab. So lange jemand sich einen „Mo¬
dernen“ nennt, wandelt er überhaupt auf dem Kriegs¬
pfade, und zwar nicht sowohl gegen die Antike als
gegen das Gestern, oder, vielleicht genauer, gegen die
abzuthuende Mode von gestern; er glaubt, den minder
behenden Fortschiittler als ein Hemmnis der auszu¬
breitenden neuen Idee bekämpfen zu müssen, und so
kämpft er sich denn getrost durch, bis über kurz oder
lang ei’ selbst zum vieux jeu gerechnet wird — eine
YTrgeltung der Nemesis, die der Mensch nur selten be-
gi'eift und doch gewöhnlich verdient. Oder würde Spott
und YTrgessenheit ihm unverdient zu Teil, wenn er, ohne
seinerseits ein schlechthin Allerhöchstes zu leisten, mit
Hohn und Schärfe die verfolgt und geächtet hat, die
ebenso wacker im Getriebe ihrer Zeit standen wie er es,
hoffentlich, in der seinigen that?
Der Terrorismus, der gegenüber den Unmodernen
und den nicht unbedingt Modernen in dem Buch Paul
Schultze’s ausgeübt wird, gehört jedoch keineswegs zu den
brutalen oder schlechthin l)eleidigeuden Gattungen dieses
Kamjifmittels. Im Gegenteil. Mit vollkommener Ge¬
mütsruhe, so ganz im Y^orbeigehen, so sicher, als wäre
ein Irrtum oder ein YYTders])ruch gar nicht denkbar, wird
abgethan, was der Yui’fasser für üljerwnuden hält: die
akademische Erziehung, das Histurienbild, überhaupt
jedes Bild, das einen anekdotenhaften Voi’gang gleichsam
illustrirend darstellt, die italienische Landschaft, das
ähnliche Porträt auf einfachem, dunklem Hintergründe etc.
Kurzum, wir begegnen hier einem Standpunkte, der
weder Angriff noch Verteidigung markirt, wir hören
einen Lehrer, dessen Ideenkreis sich mit dem der Secession
in München etwa deckt, und für den die übrige Mbit
für diesmal nicht vorhanden ist. YVohl nicht, weil er
sie missachtete — wir wenigstens sind davon entfernt,
ihm eine solche Kirchtuimisanschauung zuzutrauen —
aber wie um weitläuffgen, scheinbar überflüssigen Aus¬
einandersetzungen aus dem YYT^ge zu gehen, nimmt
Schnitze an, die Leser seines Buches seien gleich ihm
von der Notwendigkeit übei'zeugt, die gesamte, angeblich
126
DER MODERNE MALER
iinbelelirbare Gegiierscbaft auf sicli beruhen zu lassen,
und redet nun, wie hinter geschlossenen Thüren und
natürlich unter Ausschluss der Laien, zu seinen CTesinnungs-
genossen in der Kno.spe.
Da könnte zwar einem Laien verdacht werden, dass er
trotz dieser Ausschließung und oligleidi ein T.aienurteil
in modernen Kuustdingen neuerdings gern für bedeutungs¬
los erklärt wird, ein Wort über das Künstlerbuch zu
sagen unternimmt. Wir halten jedoch eine solche
l’roskription des laiienurteils weder für klug noch für
gerechtfertigt. Wie es eine durchaus unhaltbare Fiktion
ist, die Maler, wenn anders sie echte Künstler sind,
müssten ihre JÜlder nur zur Darstellung vmi Farben-
accorden ausführen, so ist auch die Behauptung falsch,
die Künstler bildeten eine Zunft für sich und hätten
sich schlechterdings um nichts zu bekümmern als um
ihre eigensten Ansichten. Die Kunst ist keine Treih-
haus])flanze. die von Wenigen für Wenige gepflegt wird:
wir Alle haben Anspruch auf Kunstwerke, denn die Kunst
gehört uns so gut wie den Künstlern; wir wollen, da
wir selber Künstlerisches nicht bilden können, uns von
den Künstlern, als den Bevorzugten, den Kunstsinn be¬
friedigen, natürlich auch, und zwar erst recht, ihn zur
Reife erziehen lassen; und eben deshalb dürfen wir auf
einen engen, brüderlichen Zusammenhang mit den Künst¬
lern nicht verzichten. Wir dürfen nie aufiiören, sie zu
verstehen, denn Missverständnisse bedeuten ebensoviele
Verluste an Kunstgenuss; und wir müssen uns ent¬
schieden hüten, durch abweisende A'orurteile oder frivole
Äußerungen undurchdachter Missbilligung zu beeinträch¬
tigen, was sich vor uns, vielleicht in überraschender,
sell)st fragwürdiger Gestalt, als Fortschritt in der Kunst
entwickelt;
Das gebildete, d. h. geistige disciplinirte und auf
Grund von Kenntnissen und geklärten Überzeugungen
urteilende l’ublikum — und es ist zahlreicher und also
wesentlicher als manche Künstler, die sich nur an den
Eecensenten der Tagesblätter zu ereifern Gelegenheit
haben, wohl denken mögen — das gebildete Publikum,
sage ich, hat diesen korrekten Standpunkt in der Regel
eingehalten und gebildeten wie ungebildeten Künstlern
gegenüber eine Hingabe beobachtet, die nur durch die
Grenze des gegenseitigen Verständnisses bedingt wurde;
selbst diese Grenze überschieitet gelegentlich das gute
Vertrauen des kunstfreudigeri Laien, der vielleicht mit
Grund auf seine allmählich zunehmende Aufklärung
rechnet. Dadurch erwerben wir uns alter auch ein Recht
auf eine entsprechende Stellung der Künstler zu uns.
AVir wollen den Umstand ganz aus dem Spiele lassen,
dass schließlich niemand anders die Künstler ernährt
und die Kunst fördert, als eben das Publikum, daher
denn die Künstler, ohne irgend etwas von ihrer Würde
oder ihrer Freiheit einzubüßen, recht wohl auch ihrer¬
seits bestrebt sein könnten, die Fühlung mit dem Pub¬
likum nicht einzubüßen; dagegen muss hier daran
erinnert werden, dass die Künstler nicht bloß Techniker,
sondern auch Erfinder, und als solche nach allen Seiten
hin reichende, von allen Seiten her aufnehmende Geister
sind, und dass sie also an dem vollen, großen Zuge des
geistigen Lebens, das die Nation schafft, energischen
Anteil nehmen müssen. Dem Künstler sollte nichts fern
und fremd bleiben, was den Menschen angeht; und des¬
halb wird er nur mit Nutzen sich Einflüssen zugänglich
erhalten, die von den verschiedenen anderen Sphären
her in seine AVerkstatt, in den Kreis seiner Genossen
dringen.
Eine unausgesetzte AVechselwirkung dieser Art zwi¬
schen Publikum und Künstlein hat in idealer Reinheit
wohl niemals stattgefnnden , denn der ungebildete Teil
des Publikums übeidönt mit vorlautem, kränkendem Urteil
nur zu häufig den gebildeten, und andererseits finden
sich neben den Künstlern mit offenen und klaren Köpfen
auch solche, die schlechterdings in Roheit und Eigensinn
verhari-en. x4ber man muss leider gestehen, dass es nicht
zu allen Zeiten so schlimm um die Einigkeit bestellt
war, wie in der unsrigen.
Die Schuld an diesem Übelstande trägt ohne Zweifel
zum großen Teile die Kunstschriftstellerei. AVenn ehe¬
mals die Erscheinung eines auffallenden Kunstwerkes
oder die Aufstellung eines künstlerischen Pi'oblems die
gesamte Einwohnerschaft einer Stadt in Erregung ver¬
setzte — man denke nur an den Sonett-Regen, der sich
über die AVerke des Michelangelo ergoss oder an die
Metope des Sansovino an dei- Bibliotheksecke zu A'enedig
— so gab es ein allgemeines, gewaltsames Für und
AVider, das zu oft persönlichen, drastischen Aussprachen
führte und große Parteien im Atem erhielt. Aber solche
Bewegungen wurden eben von der warmen Teilnahme
Aller und der Einzelnen so heftig gesildirt; es war ein
Austausch, der immerhin zu Resultaten verhalf, auch
wenn dabei viel Asche produzirt wurde. Heutzutage
tritt man weniger leidenschaftlich vor die Kunstwerke:
die Meisten kommen zu ihnen ja leider „vom Lesen der
Journale“, ausgerüstet mit halben Erinnerungen an das,
was sie dort zur Vorbereitung in sich aufnahnien, und
daher angriffslustig ohne heiliges Feuer. Man bleibt
deshalb nur zu oft von Herzen kühl; und es muss ferner
eingestauden werden, dass manches, das in den Tages¬
blättern über die Kunst gedruckt wird, ebenso kühl ge¬
schrieben wurde: Eilfertigkeit, Übersättigung, Abneigung,
vor allem das weitverbreitete, aber ungerechtfertigte
Gefühl einer gewissen Sicherheit, für seine Urteile nicht
zur ATrantwortung gezogen zu werden, mögen hierbei
einwirken. Die Klärung ästhetischer Anschauungen, die
durch das gedruckte AVort, sei es durch Artikel und
Gegenartikel, sei es durch das uiivei’bundene Nebeneinander
entgegengesetzter Aussprachen, hervorgebracht w'ird, voll¬
zieht sich also auf dem Geldete der ])opulären Litteratur
überaus allmählich und stets scluverfällig; mit wenigen
gesprochenen AVorten, die geschickt die Grundbegriffe be-
DER, MODERNE MALER.
127
stimmten, würde meistens viel melir erreicht werden,
als durch Schreiben und Lesen.
Um so sorgfältiger müssen daher die, die ernsthaft
und gewissenhaft auch durch das gedruckte Wort für
die Kunst wirken wollen, ihre Aufgabe anfassen. Nichts
beeinträchtigt ihren Ei'folg mehr als die einseitige Be¬
handlung von Fragen, über die noch lange nicht end¬
gültig geurteilt werden kann. Und in dieser Beziehung
trifft Schnitze doch wohl der Vorwurf, die Ansichten der
Münchener Secession und ihrer Vorbilder allzu bestimmt
als die einzig diskutablen hinzustellen in einem Buche,
das doch über seine Malerschule hinauszudringen be¬
stimmt ist. Noch mehr: die Hiebe, die er seinen angeb¬
lichen Gegnern gelegentlich verabfolgt, lassen sich oft
doch gar zu leicht pariren und fallen auf ihn selbst
zurück! So sagt Schnitze z. B. S. 2: dass „es nicht die
Gepflogenheit akademischer Lehrer ist, sich intimer mit
der künstlerischen Heranbildung ihrer Zöglinge zu be¬
fassen, als es ihre Stellung vorschreibt“, und: „die
Akadeniieen lassen ruhig zu, wie sich der ungebildete
Geschmack ihrer Zöglinge Pseudo-Künstler zum Muster
nimmt“; S. 5: es giebt Anfänger, „die über die ganz
besondere Gabe einer säubern, mechanischen Arbeit ver¬
fügen. Diese sind dann der Stolz und die Stütze der
Antikenklasse, angestaunt und bewundert von ihren Mit¬
schülern und nicht selten auch von ihren Lehrern“.
S. 7 : „Ein Urteil über die Begabung kann sich da nur
derjenige verschaffen, der das Glück hat, sich an einen
wirklich feinfühlenden Künstler wenden zu können; an
Akadeniieen, wo die Sache geschäftlich ohne Interesse
behandelt wird, wird er nur selten auf ein Eingehen
rechnen dürfen.“ Zeugen diese Sätze, die die schwersten
Anschuldigungen gegen die Akadeniieen im allgemeinen
enthalten, nicht zugleich von einer bedauerlichen Un¬
kenntnis der Akadeniieen? Wie darf man es wagen,
auf Grund von Hörensagen oder, vielleicht, von persön¬
lichen üblen Erfahrungen in dieser oder jener Klasse
jener oder dieser Akademie, die Gewissenhaftigkeit
und das Urteil zahlreicher Künstler zu verdächtigen, die
zunächst kein anderes Odium auf sich haben, als dieses,
dass sie angestellt sind, innerhalb eines festen Lehr¬
planes zu wirken? Gewiss mag es akademische Lehrer
geben, die in Gleichgültigkeit verfallen und sich um die
Schüler so gut wie gar nicht kümmern: solche Pflicht¬
vergessene werden die Nichtachtung ihrer Kollegen schon
empfinden! Aber finden sich nicht auch unter den nicht¬
akademischen Malern schlechte Lehrer, und sind nicht
auch viele akademische Schüler selbst daran schuld, dass
der Lehrer nicht näher auf sie eingehen kann? Ein
andei’es, noch deutlicheres Zeichen von Voreingenommen¬
heit bringt uns S. 11: da wird gesagt, wer Künstler
werden wolle und einige Mittel habe, solle sich nicht
besinnen „in der Kunstmetropole zu studiren. Dies ist
für Deutschland ohne alle Frage München . . sein einziger
Rivale ist Berlin“, in Berlin jedoch ist zu viel Geld,
daher eine größere künstlerische Korruption, in München
dagegen kann man neuerdings sogar an der Akademie
etwas lernen. Dass München die „Kunstmetropole“ sei,
nennt Schnitze eine Thatsache, die zu beweisen er für
belanglos halte. Wir unsrerseits wollen die durchaus
phrasenhafte Bezeichnung „Kunstmetropole“ nicht weiter
auf ihren Sinn untersuchen, und nur fragen, mit welchem
Recht Städte wie Dresden und Düsseldorf in diesem
Zusammenhänge völlig übergangen, gar nicht genannt
werden? Dresden, wo an jeder Stelle Männer wirken,
die keine neue Idee von sich abweisen und alle Ei'-
scheinungen junger und jüngster Kunst mit Begeisterung
aufnehmen! Düsseldorf, dessen Akademie so manchen
Künstler mit tüchtigen Elenientarkenntnissen und Grund¬
begriffen nach München entlassen und manchen dafür
von dorther übernommen hat, der als notwendig empfand,
der Haltlosigkeit seiner Technik und Auffassung durch
eine strammere Zucht aufzuhelfen, das außerhalb der
Akademie in der „Freien Vereinigung“, im „St. Lucas-
Klub“, und von so vielen anderen jüngeren und älteren
Künstlern Kunstwerke schaffen sieht, die zwar selten
durch Extravaganzen auffallen, sich aber dafür duith
gesunden künstlerischen Sinn, durch maßvolle Indivi¬
dualität und durch Respekt vor der Natur auszeichnen.
Offenbar gelten Düsseldorf und Dresden trotz allem
nicht für hinreichend „modern“. Aber was soll nun der
„moderne“ Maler in München lernen? Zunächst soll er
manches meiden. Er darf weder Vorlagen kopiren, noch
nach Gips zeichnen, am wenigsten nach Antiken, deren
Formvollendung ihm nicht verständlich sei und die ihm
keinen Begriff von der Natur geben. Zugestanden, dass
diese Übungen nicht zu übertreiben sind, muss doch
betont werden, dass bei dem recht jugendlichen Alter
der meisten Anfänger — einem Alter, in dem sie auf
der Schule mit Grammatik und Mathematik disciplinirt
werden — das solide Erlernen elementarer Technik sehr
nützlich ist, und dass es bei dem Zeichnen nach Antiken
nicht sowohl auf ein exaktes, fast mechanisches Aus-
striclieln ankommt, als vielmehr auf ein sicheres, flottes
Skizziren, da denn in den so erfassten Bewegungs¬
motiven die Antike ihren wunderbar fein, im höchsten
Maße künstlerisch entwickelten Natui-sinn offenbart.
Schnitze verlangt zwar auch eine völlige Belierrschung
des Zeichnens, doch soll es nur nach der Natur betrieben
werden. Damit wird aber dem Lernenden die Gelegen¬
heit entzogen, in den Begriff einer Formvollendung, einer
künstlerischen Stilisirung hineinzuwachsen; ein Begriff',
den die Modernen allerdings gewöhnlich perhorresciren,
der aber doch das Gelieimnis der unvergänglichen
Wirkung aller echten Kunstwerke ausmacht. — Ferner
soll der moderne Maler sicli nicht mit Kostümkunde
jdagen, denn Bilder, zu denen man andere Kostüme
braucht als solche, die man um sich sieht, „werden“
nicht mehr gemalt (auch Künstlerfeste „sind niclit melir
zeitgemäß“); Proportionslehre ist überflüssig, weil „die
I2S
KLEINE MITTE] LUN GN.
moderne Kunst viel mehr auf das Individuelle als auf
das Typische sieht" (S. 30); eingehender perspektivischer
Unterricht ist für den Maler die ..unnützeste Zeitver¬
geudung", denn „die gestellten lebenden läilder mit dem
konstruirteu Prospekt sind auf dem Aussterbeetat", und
der Pall wird selten Vorkommen, dass der Maler eine
perspektivische Konstruktion zu machen hat, die er nicht
mit Hilfe des Motivsuchers und seiner gesunden Augen
ausführen kann; kommt der Fall doch vor, so wird man
eben einen Architekten um Hilfe bitten (S. 31). Koin-
ponirübungen sind ..der schlimmste Zopf", weil manche
Talente gerade für die etwa gestellten Aufgaben keinen
Sinn liaben und also mit deren Hearbeitung ihre Zeit
verlieren (als ob es nicht darauf ankäme, im jugend¬
lichen Alter den Umkreis der Hefähigung durchaus aus-
zuiu'obiren und nach Ki'äften zu erweitern). Hei dem
Unterricht in Kunst- und Litteraturgeschichte ..kommt
rein gar nichts heraus“ (S. 32) u. s. w.
Nach allen diesen Warnungen sind wir ge¬
spannt zu hören, was also schließlich zu tliun geraten
wird. Die Hatschläge zeichnen ganz anschaulich die
Umrisse des modernen Malers. Er lernt nach der Natur
zeichnen, versucht aber danelien schon früh, bildmäßig
zu malen. r»urchaus muss er sich darüber klar werden,
dass Malen nicht Koloriren ist, dass es also nicht darauf
ankommt, eine Zeichnung farbig zu machen. Sondern
sein Prinziii ist die Auflösung sämtlicher Lokaltöne in
Valeurs; dieses von Whistler aufgestellte Problem ist
die xAufgabe, die vou unserer Generatiiju zu lösen ist.
„Für den modernen Maler giebt es keinen absoluten
Lokalton, nur Stimmungstöne zeigen sich seinem Auge,
und diese will er in ihrem farbigen Accorde festhalten“
(S. Di). Damit er völlig verstehen lernt, dass das Malen
das üegenteil vom Zeichnen ist, soll er koloristische
.Anschauungen an „den neuen Problemen der Landschaft
und des Stilllebens“ lernen und sie „auch auf die Figuren
übertragen“ (S. 17). „Es war auch blauer Dunst, als
von den xAkademieen her der Glaube verbreitet wurde“,
die Stoffe zu Historienbildern seien jetzt den modernen
Verhältnissen angepasst (S. 37); auf den dargestellten
Vorgang kommt nichts an, „wir finden keine Anekdoten
mehr“ (S. 39), und gemalt werden sollen nur „Menschen,
die sich bewegen, wie sie es im Leben thun, sitzen und
stehen", dazu fromme Legenden, Landleben, Landschaften,
alles, was der Maler lebhaft nachempfindet, in der Sprache
der Farben auszudrücken den Drang hat. „Das ver¬
geistigte Kunstwerk ist das, was sich die Modernen als
Ziel gesetzt“ (S. 40).
Diese Grundgedanken werden dann weiter mit sehr
vielen richtigen Hemerkuugen, gesunden Urteilen und
praktischen Ratschlägen, vielleicht nicht ohne einige
Übertreibung, ausgeführt. Damit liätten wir also er¬
fahren, was der ..moderne Maler“ erreichen soll — und
wir staunen über die Einseitigkeit der Forderung! So
wie alle von Schnitze herangezogenen Hildmotive in
Dämmerlicht, in Halbdunkel versetzt werden (z. H.
S. 46 — 47), so sollen alle Wirkungen, vermittels male¬
rischer Mittel, sich lediglich auf das Erregen unbe¬
stimmter Empfindungen richten. Nichts darf gemalt wer¬
den, das dem Erzählen eines Vorganges, dem Heschreiben
eines Gegenstandes gleicht. Wir fragen, au so manche
herrliche Schöpfungen der Kunst vor der Zeit der Mo¬
dernen denkend: warum denn eigentlich nicht? Die
zwischen den Zeilen liegende Antwort lautet etwa: nur
die größten Meister vermögen zu erzählen und zugleich
den Stoff so kraftvoll malerisch zu erfassen, dass sie
Maler bleiben. Das müssen wir anerkennen. .Aber statt
nun zu verdammen, was man, einseitig überanstrengt,
heute nicht zu leisten vermag, sollte man nicht lieber
den Gesichtskreis groß ei halten und auf allen nur mög¬
lichen Wegen zu den Zielen streben, die aus dem Kunst¬
bedürfnis aller Menschen, der Laien und auch der
meisten Künstler, heraus, sich von jeher gesetzt haben?
Das Buch Schultze’s giebt gute Amskunft über ein enges
Gebiet, über das Feldgeschrei einiger Jahre. Mögen wir
die Zeit erleben, wo unsere Maler den Anschluss an die
ewig wesensgleiche, über allen Streit erhabene, wahrhaft
freie Kunst wieder gewinnen!
* Blick vom Wiirlliclsfailca nach der SL Thomaskirchc
in Slraßhur;! 7. E. Originaliadirung von Ä. Kooitge. Der
Name de.s Künstlers, mit dem wir unsere Leser bekannt
machen, ist bisher noch nicht über die engeren Kreise seiner
elsässischen Heimat hinausgedrungen. Lange Jahre hindurch
hat er, der Not des Lelrens gehorchend, zwischen einem
prUiktischen Dernf und seiner llerzensneiguirg ringen müssen,
bis es ihm endlich gelungen ist, sich ganz der geliebtmi
Kunst widmen zu dürfen. Im Jahre 18G1 zu Straßlmrg ge¬
boren, bildete er sich nach Absolvirung des Gymnasiums
zum Architekten aus und hatte bereits mehrere Jahre als
solcher theoretisch und praktisch gearbeitet, als ilin eine
Studienreise nach Paris und mehr noch eine AVandernng durch
Algier, Tunis, Ägypten und Palästina zu der Erkenntnis
brachte, dass die Aijuarellmalerei sein eigentlicher Beruf wäre,
die er nach seiner Hückkehr in die Heimat zunächst in An¬
sichten aus den an architektrmischen Kleinodien so reichen
alten Städten des Eisass erprobte, wobei er freilich noch
nebenher seine Thätigkeit in seinem ursjirünglichen Berufe
wahrnehmen musste. Erst nach drei Jahren ernster Arbeit
durfte er es wagen, seine Zukunft ganz auf die Kunst zu
stellen, und er hat sich bisher in dieser Zuversicht nicht ge¬
täuscht gesehen, da seine Arpiarelle stets willige Käufer
linden. Eine Förderung in der Malerei fand er durch den
Maler Louis ,Schützenberger in Paris, mit dem er eine Zeit
lang in dessen Atelier in Scharrachljergheim i. E. zusammen
arbeitete, ln der Absicht, seine Studien aus dem Eisass
noch dauerhafter festzuhalten, entschloss er sich auch zur
Erlernung der Radirtechnik , in die ihn Th. Meyer-Basel in
München einführte. Unser Blatt, dem wir in einiger Zeit
noch ein zweites folgen lassen werden, zeigt, mit welcher
Freiheit und malerischen Feinheit er bereits die Nadel zu führen
weiß, ohne über der koloristischen Wirkung die Bedeutung
und die charakteristische Eigentündichkeit des architek¬
tonischen Grundmotivs aus den Augen zu verlieren. A. R.
Herausgeber: Carl von Liitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Aiujusf Pries in Leipzig.
wmlm
’i -
Das Kaiser Wilhelm - Denkmal in Berlin. Entwurf von R. Begas. (Nach dem Gipsmodell).
REINHOLD BEGAS.
VON OTTO BAI SC HO)
MIT ABBILDÜNOEN.
ENN ein Künstler anf der Höhe ange¬
langt ist, wo er eine weithin sichtbare
Stellung einniniint, so liegt das Ver¬
langen nahe, den Pfaden nachzuforsclien,
auf denen er diesen Gipfel erreicht hat.
Verfolgen wir dann, dem angedenteten
Verlangen gehorchend, eine künstlerische Entwickelung
bis auf ihren Ursprung zu¬
rück und begleiten sie darauf
in ihrem stetigen Verlaufe,
so kann es nicht fehlen, dass
wir neben manchem uns
Neuen auch einer Reihe von
Erscheinungen begegnen, die
uns längst bekannt und mehr
oder minder vertraut sind.
Dennoch wird es uns inter-
essiren, sie, die wir bisher
hauptsächlich in ihrer Be¬
deutung als Einzelerschei¬
nungen erfasst haben, nun¬
mehr als Glieder einer vor
uns sich entrollenden Kette
betrachten und würdigen zu
lernen. So mag es wohl auch Entschuldigung finden,
wenn in dem nachfolgenden Abriss einer langen Künstler¬
laufbahn manchen vielbekannten Dingen eine wieder¬
holte Erörterung zu teil wird.
Schon der Vater unseres Künstlers sicherte dem
Namen Begas eine dauernde Stelle in den Annalen
der deutschen Kunstgeschichte. Als Abkömmling eitier
in die Rheinlande einge¬
wanderten spanisch - nieder¬
ländischen Familie , deren
Name ursprünglich Vega ge¬
lautet haben soll, war Karl
Begas, der Vater, am 30.
September 1794 in Heins¬
berg bei Aachen geboren. In
Paris unter Baron Gros ge¬
bildet, kam er frühe nach
Berlin, wo er sich bleibend
niederließ und unter anderem
für eine Reihe von Kirchen
der preußischen Hauptstadt
die Altarbilder schuf. Unter
seinen zahlreichen Genre¬
bildern ist die Lurley, unter¬
stützt durch Mandel’s treff¬
liche Vervielfältigung im
Stiche, besonders populär ge¬
worden.
Von der zahlreichen
Nachkommenschaft, die die¬
sem Meister erwuchs, haben
sich vier Söhne in Berlin
als Künstler hervorgethan.
Oskar, der älteste, und Adal¬
bert, der dritte unter ihnen,
Reinhold Begas. Nach einer Photographie.
1) Die erstere größere
Hälfte des folgenden Artikels
stammt aus dem litterarischen
Nachlass des am 16. Oktober
1 892 verstorbeneiiKunstschrift-
stellers Otto Baisch. Sie führt
die Geschichte der Entwicke¬
lung des Künstlers bis zur
Mitte der achtziger Jahre. Das
Schlusskapitel ist von anderer
Hand hinzugefügt worden.
17
Zeitschrift für bildemle Kunst. N. F. VIII. H. ß.
130
REINHOLD BEGAS.
haben, unmittelbar den Fnßstapfen des \’aters folgend,
die Malerei erwählt; Reiuhold aber, der als zweit¬
geborener jener vier Söhne das Liclit der Welt am
1-5. Jiüi 1831 erblickte, zeigte schon als Knabe den
vorwiegenden Drang zu plastischem Gestalten, dem er
dann auch bei der Wahl seines I,ebensbernfes in vollem
Maße gerecht wurde. Seinem Beispiele folgte späterhin
Karl, der jüngste der Brüder.
Die Paten Eeinhold's waren Schadoiv, Rauch und
Luchctg Wichmann. Dieselben drei Größen der Bild¬
hauerkunst, die den Knaben aus der Taufe gehoben
hatten, sollten auch des Jünglings Leiter auf dem
Pfade zur künstlerischen \Mllenduug werden. Als Rein-
hold mit vierzehn bis fünfzehn Jahren die Knabenschule
verließ, hatte er durch die eifrige Beschäftigung mit
dem Modelliren, die das größte Vergnügen seiner Frei¬
stunden gebildet, sich bereits eine Fertigkeit in
dieser Technik erworben, vermöge deren er Imi seinem
nunmehr erfolgenden Eintritt in die Berliner Aka¬
demie, die damals noch unter G. Schadow’s Leitung-
Stand, schon mit ziemlich eingehend vorgeschulten Zög¬
lingen Scliritt zu halten vermochte. Er arbeitete zu¬
nächst hauptsächlich in Wichmanu’s, später kui'ze Zeit
in Rauch’s Atelier, bis er seine Studien zeitweilig unter¬
brechen musste, um sich als stattliclier Garde-Infanterist
seiner Militärzeit zu eidedigen. Nach seiner Rückkehr
zu der geliebten Kunsttliätigkeit modellirte er die
Gruppe llagar und Ismael, sein erstes selbständiges
Werk, dem ein zweites, der schlafende Amor, den Psyche
mit der Lampe in der Hand belauscht, bald folgte,
lüese letztere Schöpfung trug ihm den lieißersehnten
ersten großen Auftrag ein. Bankier Oppenheim be¬
stellte eine Marmorausführung der Gruppe Amor und
Psyche. Um diesen Auftrag in bestmöglicher Weise zu
vidlführen, eilte Begas um die Mitte der fünfziger Jahre
nach Rom als der Heimstätte einer tüchtigen Marmor¬
technik. Hier schuf er alsbald noch ein zweites Mar¬
morwerk, einen mit Weinlaub bekränzten Bacchusknaben,
und modellirte seinen „Pan, die verlassene Psyche
tröstend“. Hatten jene ersten drei Schöpfungen ihm
bereits verdientes Lob eingetragen, so erregte die vierte,
mit der er um 1858 vor die Öffentlichkeit trat, allge¬
meines Aufsehen.
Auf einem niedrigen Erdhügel, über den ein Ziegen¬
fell als natürliche, weiche Polsterung hingeworfen ist,
sitzt Pan behaglich hingelehnt, die zottig behaarten
Bocksbeine übereinander geschlagen, das Gewicht des
Oberköri»ei's, der ein wenig nach rückwärts und rechts
geneigt ist, auf den aufgestemmten rechten Ellenbogen
stützend. Mit dem linken Arm umfängt er — nicht
ohne eine gewisse würdige Zurückhaltung — die zarte
Mädchengestalt, die halb auf einem schmalen, von ihm
freigelassenen Plätzchen des Erdhügels sitzt, halb an
seine iielzbewachsenen Schenkel angelehnt ist. Es liegt
ein unsagbar keuscher Liebreiz in der zierlichen Er¬
scheinung der schlanken Kleinen, die mit der Rechten
nur wenig von ihrem fast noch kindlichen Gesicht
verdeckt, mit einer Bewegung, als wische sie soeben
die letzte Thräuenspur aus dem halb niedergeschla¬
genen Auge. Ruht auch noch der Ausdruck der
Klage auf den schwellenden Lippen mit den ein wenig
herabgezogenen Mundwinkeln, so erkennen wir doch
klar, wie willig sie dem vernünftigen Zuspruch des bös¬
artigen Gesellen lauscht, der sich in die Rolle eines
väterlichen Freundes und Beschützers bis zur eigenen
inneren Überzeugung hineiugelebt hat. Die solcher¬
gestalt zum Ausdruck gelangende Reinheit der Empfin¬
dung erhöht die Freude an der vollendeten Durchbildung
der Formen einerseits des derben muskulösen Wald¬
gottes, andererseits der knospenden Jungfranengestalt,
deren vom Oberkörper niedergeglittenes Gewand sie
nur von den Hüften abwärts bis zu den Knöcheln weich
anschmiegend umhüllt.
Bei dem damaligen Stande der Berliner Bildhauerkunst,
<lie ganz unter dem Einflüsse Rauch’s schuf, bedeutete das
Erscheinen der Begas’schen Gruppe „Pan und Psyche“
nichts Geringeres als die volle Rückkehr zur Wahrheit
und Natur. Aller fälsche Regelzwang ist abgestreift;
bindend bleiben nur die ewig gültigen Gesetze des
organischen Lebens und jenes künstlerische Schönheits¬
gefühl, das undefinirbar ist, weil es in jedem besonderen
Falle eins ist mit der echt künstlerischen Persönlichkeit,
und somit innerhalb der großen Summe der Erscheinungen
sich so mannigfaltig darstellt, wie das Spiel der Indivi¬
dualitäten.
Indem der geborene Künstler seinem Schönheits¬
gefühle gehorcht, empfindet er keinen Zwang, sondern
vielmehr ein freies, beglückendes, schöpferisches Sich-
gehenlassen. Wo dieser lebendige Quell gesprudelt hat,
dieser ureigene innei-e Drang in dem Werke eines form¬
gewandten Künstlers zum vollendeten Ausdruck gelangte,
da ist dem Kunstwerke jene wunderbare Gewalt ver¬
liehen, die den Sinn des empfänglichen Beschauers un¬
widerstehlich fesselt. Mit solcher Gewalt wirkte die
Gruppe „Pan und Psyche“, die eine mächtige Bewegung
namentlich auch innerhalb der jüngeren Künstlerschaft
hervorrief, deren Kreise sie zur Nacheiferung auf den
neu erschlossenen Bahnen sinnigei-, naiver Beobachtung
und Wiedergabe der unerschöpflich reichen Natur ent¬
flammte.
Mit einem Schlage berühmt geworden, wurde der
in seine Heimat zurückgekehrte Schöpfer der Gruppe
nunmehr mit Ausführung einer in Sandstein herzu¬
stellenden kolossalen Bekrönungsgruppe für die von
Hitzig neu erbaute Börse, eine Borussia als Beschützerin
von Handel, Ackerbau und Gewerbe, beauftragt. Da¬
neben scluif er treffliche Porträtbüsteii des vormaligen
Reichskriegsministers General Peucker und Ferdinand
Lassalle’s, namentlich aber eine neue Gruppe „Faunen¬
familie“, in der wieder sein eigenstes Künstlernaturell
REINHOLD BEGAS.
131
zum erfrischenden, formvollendeten Ausdruck gelangte.
Der derbe Halbgott hat seine beiden Hände mit der
Pansflöte, auf deren orgelartig zusammengestellten
Pfeifen er augenscheinlich soeben sein Liedchen geblasen
hat, in den Schoß sinken lassen und wendet Gesicht
und Blick mit glücklichem Lächeln dem munteren Kleinen
zu, den das in jugendlicher Üppigkeit blühende Weib,
zur Hechten des Gatten auf der natürlichen Rasenbank
sitzend, voll strahlender Mutterfreude auf den Schultern
wiegt.
Während Begas mit diesen Arbeiten beschäftigt ge¬
wesen war, liatte der Großherzog von Sachsen- W eimar seinen
lange genährten Lieblingsplan, der die Errichtung einer
Kunstschule in seiner Residenzstadt betraf, der Ver¬
wirklichung entgegengeführt. Oraf Kalckreiäh wurde
zum Direktor der neubegründeten Anstalt ernannt und
mit Berufung des Lehrerkollegiums beauftragt. Dabei
wurde das Hauptaugenmerk auf jugendliche Kräfte ge¬
richtet, von deren Tüchtigkeit und Frische man sich
eine fröhliclie Förderung des Unternehmens versprach.
Zum Professor der Bildhauerei ward Reinhold Begas aus¬
ersehen. Als er, dem ehrenvollen Rufe folgend, zu An¬
fang des Jahres 1860 nach Weimar übersiedelte, fand
er dort unter den neuen Kollegen Arnold Böcldin, mit dem
er schon von Rom her innig befreundet war, und Franz
Lenbach, den Jüngsten unter allen, den die Empfehlung
seines Meisters Piloty ins Weimarische Professoren-
Kollegium gebracht, und der nunmehr der Dritte im
Begas -Böcklin’schen Freundschafts -Bunde ward. Die
Geistes- und Strebensverwandten schlossen sich um so
enger aneinander, je weniger das, was sie um sich her
fanden, ihnen zuzusagen vermochte. Nicht von allen
Seiten kam man ihnen in Weimar freundlich entgegen.
Als der Großherzog vor Jahr und Tag mit seinem
Kunstschulenplan an den Weimarischen Altmeister Preller
herangetreten, war er bei diesem auf Widersi)ruch ge¬
stoßen, der in Preller’s Abneigung gegen die Akademieen
als solche begründet lag. Daraufhin war der Meister
der Odyssee in dieser x4ngelegenheit nicht mehr befragt
worden; vielmehr fügte sich’s so, dass die Kunstschule
während seiner Abwesenheit ins Leben trat, indem er
im September 1859 nach Italien aufgebroclien war und
erst im Juli des folgenden .Jahres zurückkehrte, zu
welcher Zeit er die neu begründete Anstalt in vollem
Gange fand. Preller konnte nicht anders als sich da¬
durch gekränkt fühlen; mit ihm Genelli, der ein Jahr
zuvor auf Einladung des Großherzogs seinen Wohnsitz
nach Weimar verlegt hatte. Die beiden älteren Künstler
zogen sich vornehm auf sieh zurück, und mit ihnen be¬
trachtete die wohl nicht die Mehrzahl darstellende, aber
keinenfalls einflusslose Zahl ihrer Freunde und ^’'erehrer
die an der Kunstschule leimenden jüngeren Kräfte als
unliebe Eindringlinge. Es fehlte in beiden Lagern nicht
an solchen, die diese Gespanntheit verschärften, indem
sie die feindselige Gesinnung der Gegenpartei in den
übertriebensten Farben einer niedrigen Gehässigkeit zu
schildern suchten. Solche Zustände konnten nicht dazu
dienen, den in Weimar neu Eingezogenen den Aufent¬
halt besonders angenehm zu machen. Indes wären
diese Unliebsamkeiten für sich allein wohl schwerlich
mächtig genug gewesen, den Neuberufenen ihren Aufent¬
halt ganz zu verleiden. .Junge Vollkraft lässt sich durch
den Widerstand der Älteren, zumal wenn er immerhin
ein mehr passiver als aktiver ist, wie es hier in Wirk¬
lichkeit der Fall war, nicht leicht zurückschrecken,
sondern fühlt sich viel eher dadurch zu um so kühnerem
Vordringen angespornt. Was aber wie ein Alp auf
unserer Künstler - Trias lastete, das waren die in der
kleinen Residenz an der Ilm herrschenden engen Ver¬
hältnisse, die den emporringenden Kräften keinen Raum
zur Entfaltung ihres Flügelschlages gewährten. Die
Stätte, wo ein Goethe gelebt und gewirkt, ein Schiller
seine hinreißenden Werke geschaffen, hatte ihnen in
hohem Grade verlockend und vielversprechend geschienen.
Nunmehr sagten sie sich: „Ja, für einen Denker, einen
Dichter mag diese idyllische Ruhe ganz willkommen
und angemessen sein; — der formgestaltende Künstler
bedarf Anregung und Förderungen anderer Art, die
ihm hier völlig versagt sind.“ Die Neu -Eingezogenen
sahen sich zu selir isolirt, zu sehr mit Misstrauen an¬
statt mit freundlichem Entgegenkommen Ijehandelt, als
dass sie sicli hätten berufen und begeistert fühlen
sollen, der im Niedergang begriffenen Stätte einen
Schein des alten Glanzes zurückzuerobern. Vielmehr
empfanden sie die Missstände, von denen sie sich um¬
geben sahen, so drückend wie möglich und hegten bald
keinen andern Gedanken eifriger als den, ihrem neuen
Aufenthaltsort, der ihnen wie ein Gefängnis erschien
— je bälder, je lieber — zu entfliehen. „Am ersten
Oktober in Rom!“ Auf diesen Wahlspruch stießen unsere
drei jungen Professoren au, als sie im Sommer 1861
bei einer Flasche Wein beisammen saßen. Es war das
ein Ausdruck ihrer heißesten Wünsche, der in einer
Art von Galgenhumor sich Bahn bracli, obwohl für
eine Aussicht auf Erfüllung noch nicht die geringste
thatsächliche Grundlage vorhanden war.
Um diese Zeit hatte sich Begas mit einem ziemlicli
umfangreichen Modell an der Konkurrenz für das Reiter-
Denkmal beteiligt, das die Stadt Köln dem König
Friedrich Wilhelm III. zu errichten gedachte. Seine
Darstellung zeigt den Monarchen auf einem kräftigen,
an die Pferde der altrömischen Plastik erinnernden
Rosse sitzend, einen Lorbeerkranz um das unbedeckte
Haupt geschlungen und über die linke Schulter einen
Hermelinmantel geworfen, der in seinem breiten, schwer-
stofflichen Faltenwurf über Seite und Rücken herabwallt,
wogegen an der rechten Seite der Figur die zeitgemäße
Militär-Uniform zu Tage tritt. Auf diese Weise ist
der Porträtwahrheit und dem charakteristischen Zeit-
kostüni im wesentlichen Rechnung getragen, während
17
132
KEINHOLD BEGAS.
aiiclererseits durch die kleinen, leicht zu rechtfertigenden
Freiheiten, die sich der Künstler in der angedeuteten
Richtung erlaubte, die trockene Alltagskopie vermieden
ist und die uukleidsame Tracht sich in zwangloser
A'eise künstlerisch veredelt zur monumentalen Würde
erhoben zeigt. Gas au seinen vier Seiten mit Flach¬
reliefs gezierte Postament ist weder sehr lioeli noch
sehr breit, gewährt aber durch eine weitvorspringende
Deckplatte der Reiterstatue gleichwohl eine in W(dd-
des schöngegliederten Ganzen erkannte man diesem
Entwürfe, der später dem Museum Wallraf-Richartz in
Köln einverleibt wurde, den ersten Preis zu. Die Aus¬
führung wurde gleichwohl einem andern Konkurrenten,
dem Kölner Stadtkiude Karl Bläser, übertragen. Immer¬
hin aber hatte Begas in dem ausgesetzten ersten Preise
von dreitausend Thalern eine Errungenschaft zu ver¬
zeichnen, die gerade jetzt eher als zu irgend welcher
andern Zeit dazu angethan war, ilin nach Möglichkeit
Sarkophag Kaiser Kriedriohs im Mausoleum bei der Friedeuskirche zu Potsdam von I!. liEüAS.
timender Weise reichlich bemessene Bodenfläche. Diese
vorspringende Plinthe wird an .jeder ihrer vier Ecken
von zwei kraftvollen, nur um die Irenden mit Pelzwerk
umgürteten Germanen als Repräsentanten der damaligen
acht preußischen Provinzen auf den Schultern getragen.
Jeder Ecke entsiirechend zeigt der dici Stufen hohe
Unterbau einen bedeutenden Vorsprung, auf dem ein
gewaltiger Löwe ruht, und jedem dieser Wüstenkönige
sind in gefälliger, zwangloser Anordnung einige be¬
ziehungsreiche und zugleich dekorativ wirkende Attri¬
bute beigegeben.
In gerechter Würdigung der gewaltigen Wirkung
über den Kummer, dass er seinem mit ganzer Hingalte
geschaffenen Entwürfe nicht die monumentale Vollendung
erteilen durfte, hinwegzuheben. Sein Herz jauchzte
auf bei dem Gedanken, dass ihm nunmehr die äußeren
Mittel geboten waren, die es ihm ermöglichten, dem
so rasch als iieinlich drückend empfundenen Joch zu ent¬
rinnen. Knall und Fall brach er seine Beziehungen
zur Weimaraner Kunstschule ab und begab sich in dem
Augenblick, da er sich im thatsächlichen Besitz der
dreitausend Thaler sah, auf den Weg nach Italien. Das
war das entscheidende Signal auch für Böcklin und
Lenbacli. Ohne sich lange zu besinnen, rissen auch sie
REINHOLD BEGAS.
133
sich mit gewaltsamem Ruck aus ihren Stellungen los,
und so fand das Spätjahr 1861 die drei Freunde in
der That wiedervereinigt an den klassischen Ufern des
Tiber.
Als nächste bedeutsame Leistung unseres Künstlers
haben wir sein Konkurrenzmodell für das Schillerdenk¬
mal in Berlin zu verzeichnen, mit dessen Ausführung
er im Jahre 1863 als Sieger in dem betreffenden
Wettstreit beauftragt wurde. Sein plastischer Entwurf
zeigte im wesentlichen bereits dieselbe Gliederung, wie
wir sie an dem ausgeführten Monumente sehen. Nur
die Gestalt des Verherrlichten selbst war eine wesentlich
andere und dabei bedeutend bessere, als sie in der
Marmorausführung geworden ist. Der Blick des locken¬
umwallten Angesichts ist nach oben gerichtet. Die
Rechte hält einen Griffel, bereit, die Insjiirationen der
göttlichen Muse auf die Tafel niederzuschreiben, die
der in langsamem Vorschreiten begriffene Poet mit der
Linken gegen die Hüfte des Standbeins gestützt hält.
Gleichwohl wurde diese Auffassung, — die ein knappes
Jahrzehnt später von Johannes Schilling bei seinem
Schillerdenkmal für Wien in ganz ähnlicher Weise zur
Anwendung gebracht und mit vielgepriesenem Erfolge
durchgeführt worden ist, — damals so lange bekrittelt
und bemängelt, bis man an maßgebender Stelle dahin
gelangte, mit Entschiedenheit eine andersgeartete Hal¬
tung der Hauptfigur zu fordern. Das war es, was dem
Denkmal verderblich wurde. Reinhold Begas ist eine
jener Künstlernaturen, die aus der vollen Begeisterung
heraus gestalten. Vor ihrem innern Auge steht das
Bild dessen, was sie zu schaffen gedenken, in zwingender,
greifbarer Gestalt. Seherartig müssen sie verkünden,
was sie erschaut und wie sie es erschaut.
In den Jahren, während welcher dieses Werk sich
aus dem Marmorblock heraus zu entwickeln hatte, konnte
selbstverständlich der schöpferische Sinn des Künstlers,
den es zu neuen Gestaltungen drängte, nicht rasten.
Durch die mannigfachen künstlerischen Anregungen von
Paris, dem er inzwischen einen Besuch abgestattet,
durch das Glück, das er in Schließung des Ehebundes mit
einem geliebten Weibe fand, sowie durch mehrfach sich
wiederholenden zeitweiligen Aufenthalt in Rom doppelt
und dreifach begeistert, schuf Begas zunächst jene her¬
zige Gruppe, zu der ein Lied des Pseudo-Anakreon den
unmittelbaren Anknüpfungspunkt bot. Wer erinnerte
sich nicht mit Vergnügen der niedlichen Verse:
^EQcoq jtav^ Iv Qoöoioi
Kocficofitvrjv fisliödav
Ovx siÖep .
Venus, auf natürlicher Rasenbank sitzend, über
die ein abgeworfenes Gewandstück gefällig herabliängt,
umfängt mit mütterlicher Zärtlichkeit den vor ihr stehen¬
den Knaben. Der zu ihrem Schoße geflüchtete Kleine
lehnt sein Köpfchen rückwärts gegen die Brust der
Mutter, mit dem Rücken der rechten Hand die ver¬
wundete Stelle des linken Ärmchens reibend. Das Kinn
der liebevoll sich über ihn hinneigenden Mutter berührt
den üppig gelockten Krauskopf des Kleinen, während
ihre Rechte weich sein Kinn erfasst, als wollte sie sein
verzagendes Köpfchen emporrichten und ihm von olmn
in die großen Kinderaugen blicken. Auf ihrem freund¬
lichen Antlitz liest man die Worte sanften Zuspruchs
und mütterlicher Mahnung, während es über das kläglich
dreinschauende Gesichtchen des Kleinen mit den herab¬
gezogenen Mundwinkeln und der halb schmerzlich, halb
trotzig aufgeworfenen Unterlippe hinzuckt wie das plötz¬
liche Aufdämmern eines leisen Schuldbewusstseins.
In Rom entstand sodann auch jene jungfräuliche
Gestalt einer soeben dem Bad Entstiegenen, die damit
lieschäftigt ist, sich abzutrocknen. In leicht nieder¬
gebeugter Stellung hält sie mit der Linken das Ende
eines Leinentuches, indem sie es sanft an den Körper
unterhalb der rechten Brust andrückt. Das von da
niederwallende Tuch hat sie mit der nach abwärts ge¬
streckten Rechten erfasst, um damit den etwas Vorge¬
setzten rechten Unterschenkel trocken zu reiben. Eine
gewinnende Anmut liegt in dieser Bewegung, die ganz
schlicht und anspruchslos der Natur abgelauscht zu sein
scheint.
Danelten schuf Begas zunächst die gemütlich klas¬
sisch-idyllische Gruppe des Pan, der einen nackten
Knaben ini Flötenspiel unterweist. Dann folgte die
bronzene Brunnenfigur eines ebenfalls nackten Knaben,
der mit beiden Händen eine zweihenkelige Uime hält,
die auf seinem ein wenig vorgeneigten Kopfe ruht, so
dass sich das Wasser daraus in einem breiten Strahl
ergießt, den sein Blick wohlgefällig beobachtet. Das
nächste Werk ist jene junge Mutter, die mit ihrem
kleinen Liebling spielend niedergekuiet ist, um das
Kind über ihren Rücken herauf klettern zu lassen. Da¬
bei hat sie ihm beide Hände gereicht und schaut, den
Kopf in den Nacken zurückwerfend, dem auf der Höhe
ihrer Scliulterblätter angelangten Kleinen mit dem Aus¬
druck strahlenden Mutterglücks in die fröliliclien Kinder¬
augen. Es liegt eine kokette Grazie in dieser Bewegung,
die gleichwohl ganz naturgemäß entwickelt ist. Auf
ein paar Medaillonreliefs in zarter Marmordurclibildung:
Venus mit Amor und ihren Tauben, und Ganymed mit
Amoretten, folgt sodann eine zweite dem Bad Ent¬
stiegene von überaus reizv(dler Bewegung. Während
jene erste, in voller Harmlosigkeit ganz mit sich und
ihrer augenblicklichen Aufgabe beschäftigt, den Eindruck
epischer Ruhe macht, tritt hier ein mehr dramatisches
Motiv hinzu. Die junge Schöne, die sich auf einem
schmalen, natürlichen Sitze niedergelassen, hat augen¬
scheinlich soeben ein Geräusch vernommen, als nahe
jemand dem Orte, an dem sie sich uubelauscbt geglaulit.
Den Kopf zurückwendend, späht sie nach der Veranlas¬
sung des unwillkommenen Geräusches und fasst zugleich
mit beiden Händen das breit entfaltete Tuch, das sie
134
REINHOLD BEGAS.
über ihren Rücken gespannt liält, fester nni, falls sich
ihre Besorgnis bestätigt, iin nächsten Augenblick ihre
jungfräuliche Gestalt vor den zudringlichen Blicken un¬
berufener Lauscher zu verhüllen. Daraus ergiebt sich
nun ein so belebtes Spiel der weich geschwungenen
Linien und Fonuen, eine so harmonische Rundung der
Gesamtlieit, dass dieses Motiv als eines der glücklichsten
bezeichnet werden muss, das ein Talent von der Art des
Reinhold Begas erfinden konnte. Um die Erscheinung
l)is auf den letzten ilirer Teile plastiscli zu beleben,
maskirte tler Künstler den Ruhesitz seiner Schönen, der
au sich kein bildnerisches Motiv geboten haben würde,
teils durch das herabwallende Tuch, teils durch ein am
Boden stellendes vasenförmiges Salliengefäß, dessen Relief¬
fries in hezieliuiigsvoller W’eise eine an sehilfumwachse-
iiem Ufer spielende und sich in der gemäßigten Art
harmlosen Zeitvertreiiis balgende Kinderschaar darstellt.
Kindergruppeu waren es auch, mit denen Begas in
der näclisten Folgezeit sich beschäftigte. In erster Linie
brachte er solche an einem palmbaumartig gestalteten
Kandelaber an. den er für das Treppenhaus eines Ber¬
liner Kunstfreundes ausführte, und für die Villa eines
andern schuf er sodann zwei Gesimsgruppen, in denen
die Musik und die bildende Kunst durch Kinder veran¬
schaulicht werden, die sich mit der einen und der andern
in einer naiv-altklugen Weise beschäftigen. In Arbeiten
wie der letztgenannten bekundet Begas ebensosehr seine
bedeutende natürliche Begabung für eine leicht hin¬
geworfene architektonisch-dekorative Behandlung, wie er
durch eine Reihe früherer und späterer Werke bewiesen
hat, mit welcher Feinheit er die Formen bis auf das
Äußerste durchzubilden versteht.
Für sein eigenes Heim, das er sich in einer jener
angenehmen friedlichen Villenstraßen am südwestlichen
Rande des Berliner Tiergartens erbaut und mit echt
künstlerischer Anmut und Behaglichkeit eingerichtet hat,
schuf er sodann in jenem zarten Flachrelief, als dessen
IMeister er sich wiederholt bekundet hat, einen Fries, der
sich ebenfalls aus liebevoll beobachteten und in feine
geistreiche Beziehungen zu dem Thun und Treiben der
Erwachsenen gebrachten Kinderscenen zusammensetzt.
Mittlerweile hatte Begas bereits eines seiner eigen¬
artigsten und interessantesten Werke in Angriff ge¬
nommen, dessen Ausführung in dauerndem Material leider
durch äußere Hemmnisse unterbrochen werden sollte.
Strousberg hatte für seinen im Feldzuge gegen Frank¬
reich gefallenen Sohn ein Grabmal bestellt, und unser
Künstler war mit voller Hingebung an diese Aufgabe
gegangen. Sein vollendetes Hilfsmodell zeigt uns, in
welchem schönen Sinne er sie zu lösen gedachte. Hin-
gestreckt auf eine Art truhenförmiger Bahre, deren Fül¬
lungen mit zart reliefirten Ranken von Winden und
Kornähren arabeskenartig geschmückt sind, liegt leicht
verhüllt der Jüngling, der im Kampfe für das deutsche
Vaterland die Todeswunde erhalten hat. Sein Haupt
mit den geschlossenen Augenlidern ruht im Schoße einer
ernsten Frau, die sich am Rande seines Pfühls nieder¬
gesetzt hat und mit der Linken sanft und ruhig sein
Lockenhaupt umfängt, während ihre Rechte seine schlaffe
Hand ein wenig emporhebt, wie um nach seinem Pulse
zu fühlen. Der still resignirte Ausdruck, mit dem sie
dabei auf die Züge des jungen Mannes niederblickt,
lässt uns erkennen, dass dieser Puls bereits stille steht.
Zu Füßen der Bahre sind zwei kleine nackte Knaben
herangetreten, um das Totenbett des jungen Kriegers
mit Lorbeerkränzen und Rosen zu schmücken. Die ge¬
messene Schönheit des Aufbaues, die Weichheit der sanft
und ruhig bewegten Linienführung entsprechen dem see¬
lischen Ausdruck des Grabmals, das rührend und trost¬
reich zugleich erscheint. Schon hatte man begonnen,
aus dem für die Ausführung beschafften Marmorblock
den künstlerischen Kern im strengen Anschluss an das
geschilderte Modell herauszuarbeiten, da brach das Haus
Strousberg zusammen, und in Folge davon musste auch
das Monument unausgeführt bleiben.
Statt dessen führte Begas nunmehr seinen Merkur
für die Berliner Börse aus, dem er einen nicht undeut¬
lich ausgesprochenen Anklang an semitische Züge lieh.
Der handelbeschirmende Gott mit den beschwingten
Sohlen zählt scharf berechnenden Blicks mit der Rechten
Geldstücke in einen breitgeöffneten ledernen Beutel, den
er mit der Linken gegen die Hüfte gedrückt hält.
Vermutlich während der Beschäftigung mit dieser
Statue keimte in Begas der Gedanke, den Götterboten
noch ein zweites Mal und zwar als den Träger der
zarten Psyche darzustellen. Hatte er in dem Stand¬
bilde für die Börse dem handeltreibenden Gott un¬
geachtet der Jugendlichkeit, die im Antlitz und in der
Weichheit der Muskulaturen zum Ausdruck gelangt,
eine gewisse behäbige Fülle und Breite der Körperent¬
wickelung verliehen, so gab er ihm für die neue Gruppe
unter Beibehaltung der wuchtig in die Breite gehenden
Anlage männlich gereiftere Formen und eine athletischere
Muskeldurchbildung. Vermöge solcher Ausstattung sagt
uns sein Anblick um so überzeugender, dass es ihm ein
Leichtes sein müsse, die im Vergleich zu ihm ätherisch
erscheinende Mädchengestalt durch die Lüfte dahin zu
tragen. Hinter ihm, der sich ein wenig ins Kniegelenk
uiederbeugt, steht Psyche etwas erhöht auf einem kleinen
Felsblock und reicht ihre zarte Rechte nicht ohne eine
gewisse jungfräuliche Schüchternheit dem jugendkräftigen
Gott, der mit in den Nacken geworfenem Kopfe nach
ihr zurückblickt und im Begriff ist, sie mit der Linken
sicher und be<iuem zugleich zu fassen. Es giebt wenige
plastische Gebilde, bei denen das leichte Empor streben
so elastisch ausgedrückt, das Gefühl der Schwere so
nahezu ganz aufgehoben erscheint wie bei dieser Gruppe.
Während ihre Marmorausführung in der Berliner
Nationalgalerie (s. die Abb. S. 136) von Gehilfenhand
vorbereitet wurde, modellirte Begas, dessen rege Künstler-
REINHOLD BEDAS.
135
Phantasie seiner gestaltenden Hand wenig Rast gestattet,
bereits eine neue Gruppe, die dramatisch bewegteste
unter seinen Schöpfungen. Es ist eine Episode aus dem
Raub der Sabinerinnen. Ein nackter Römer in jungen
Mannesjahren, dessen von Vollbart und kurzgelocktem
Haupthaar umrahmtes Antlitz der reichgeschmiickte Helm
stattlich überragt, trägt, in scharfem Laufe dahinstür¬
mend, ein junges schönes Weib, das er mit nervigem
Arme mitten um den Leib gefasst hält. Jede seiner
Muskeln ist in gedningener Thätigkeit, jede Sehne ge¬
spannt, jede Ader geschwollen. Bedarf er doch seiner
ganzen Kraft, um der verzweifelnd Widerstrebenden
Herr zu werden. In fast horizontaler Lage über dem
Oberschenkel seines weit ausschreitenden rechten Beines
hingeworfen, sucht sie vergeblich für ihre in der Luft
schwebenden Füße Boden zu gewinnen. Mit krampf¬
haft znsammengekrallten Fingern strebt ihre Linke aus
dem Arme des Mannes, der sie mit nahezu raubtieräbn-
lichem, eisernem Griff umfasst, sich loszuringen; ihrer
Rechten aber ist es gelungen, den Entführer an der
Gurgel zu packen, und nun würgt sie ihn trotz der
Gegenwehr seines niedergedrückten Kinnes so gewaltig,
dass seine Züge sich verzerren, seine rollenden Augen
fast aus den Höhlen zu treten beginnen. Aber die fest
aufeinander gebissenen Zähne, die zwischen seinen ge¬
öffneten Lippen hervorblitzen, verraten die ganze un-
bezwingliche Energie seines markigen Widerstandes.
Sie indes hat den nach Hilfe schreienden Mund weit
aufgerissen; ihr Hals ist gebläht von der Fülle der ton¬
erzeugenden Luft, die aus ihm hervorgestoßen wird, und
ihr zur Hälfte gelöstes Haar flattert herabhängend im
Winde.
Der ganze Charakter dieser Gruppe widerstrebte
aus äußeren und inneren Gründen einer Ausführung in
Marmor und bedingte vielmehr eine solche in Bronze¬
guss ; ein Grund mehr, um den Künstler von einer ver¬
tieften Durchbildung der geöffneten Mundhöhle abzuhalten.
Die in der Natur durch Farbe und Transparenz belebte
Mundhöhle würde in dem spröden schweren Metall viel
zu dunkel und dadurch hässlich gewirkt haben.
Nächstdem beteiligte sich Begas abermals an zwei
Konkurrenzen. Die eine betraf die Humboldtdenkmäler
für Berlin, die andere das Liebigdenkmal für München.
In beiden Fällen ging er von dem leitenden Grundsätze
aus, neben der naturgemäß gebundenen Porträtdarstellung
der Gefeierten einen genügenden Spielraum für frei künst¬
lerische Gestaltungen zu gewinnen. Ein abgesagter
Feind jener hohen, schwerfällig wirkenden viereckigen
Postamente, die ungehührlicli viel Raum für sich in An¬
spruch nehmen und treffend genug mit Öfen verglichen
werden, stellte er seinen Justus von Liebig auf einen
verhältnismäßig niedrigen Sockel, dem er eine um so
reichere Umgebung gesellte. An der Vorder- und Rück¬
seite des Sockels brachte er je einen Löwenkopf als
Wasserspeier an, unterhalb dessen ein Becken in Muschel¬
form von liegenden Delphinen getragen wird. Auf den
breiten Stufen aber, die zu diesem Monument empor¬
führen, ließ Begas ein reiches Leben sich entfalten.
Einerseits charakterisirte er die Landwirtschaft, die
durch den berühmten Chemiker so vielfache wissenschaft¬
liche Förderung gefunden, durch einen leichtgeschürzten
Ackersmann, der sich auf seinen Pflug lehnt, und durch
Kinder, die sich mit reichlich umher lagernden Feld¬
früchten zu schaffen machen; andererseits symbolisirte
er die Chemie selbst durch eine Frauengestalt und durch
Putten, die emsig mit der Anwendung von Retorten,
Mörsern und ähnlichen pharmaceutischen Geräten be¬
schäftigt sind.
Bei den Skizzen für die Humboldtdenkmäler ver¬
mied er um des für die plastische Darstellung wenig
dankbaren Zeitkostüms w'illen die Statuenform ganz und
ersetzte sie durch Kolossalbüsten, die, auf hohe schmale
Sockel gestellt, einen hermenartigen Charakter erhielten.
Zu Seiten dieser beiden Sockel stehen hier ein Jüng¬
ling mit hoher brennender Fackel, der begeistert zu
Wilhelm von Humboldt aufblickt, — da eine liebliche
Jungfrau, die mit anmutvoller Bewegung einen Lorbeer¬
kranz emporhebt, um das Haupt Alexanders damit zu
schmücken. Auf den Stufen, die zu diesen emporrageu-
den Teilen der Monumente führen, sitzen sodann zwei
Frauengestalten. Die eine, zu Wilhelms Füßen, be¬
trachtet aufmerksam eine von ihrer Linken gehaltene
Schreibtafel, als überlese sie prüfend eine soeben dort
gemachte Aufzeichnung; die zu Alexanders Füßen Sitzende
aber ist tief versunken in das Lesen eines auf ihrem
Schoße ruhenden Folianten.
Die herkömmliche Zusammensetzung der Kommis¬
sionen aus einem kleinen Teil von Künstlern oder wahr¬
haft Kunstverständigen und einer erdrückenden Mehr¬
heit von Verwaltungsbeamten, Vertretern der abstrakten
Wissenschaften und ähnlichen Männern, deren Kunstsinn
auch im günstigsten Fall nicht über die Schranken des
Altherkömmlichen hinauszureichen pflegt, verhinderte,
dass eigenartige Gestaltungen, wie die geschilderten es
sind, für die Ausführung genehmigt wurden. Begas er¬
hielt zwar den Auftrag, ein Monument Alexanders von
Humboldt auszuführen, aber es wurde eine sitzende
Statue auf viereckigem Sockel verlangt im genauen x4n-
schlussan die Verhältnisse des von Paul Otto entworfenen
und diesem zur Ausführung übertragenen Monumentes
für Wilhelm von Humboldt. Da konnte denn das Ergebnis
unmöglich ein viel erfreulicheres werden, als es bei dem
Schillerstandbilde der Fall gewesen war. Die Fähigkeit,
sich mit Glück den als Kanon hingestellten Ideen Anderer
anzuschmiegen, tindet sich nicht hei einer so eigenartigen
Schöpferkraft wie die Begas’sche es ist.
Freieren Spielraum erhielt sie, als der Künstler für
die Reichsbank den Reichtum zu versinnbildlichen hatte.
Er that dies durch die Gestalt eines üppig schönen
Weibes in leicht gegürteter Gewandung, das den rechten
136
REINHOLD BEGAS.
rm’. auf eine Erdkugel gesetzt hat und aus einer
zi; dich ini Geschmack der Renais.sance durchgehildeten
ivasst T’;e, die in der Linken ruht, eine Peidenschnur her-
rurzielit. Das Haupt der stattlichen Frau, dessen üppiger
Haarwuchs gesclnnackvoll angeoi'dnet und von Blumen
ilurchflochten isr. wendet sicli mit lebhaftem Ausdruck
zur Seite, als stehe dort eine Person, der sie ihre Schätze
zu zeigen und wohl auch, wie ihr wohlwollender Ge¬
sichtsausdruck zu vermuten nahelegt, das eine oder
andere davon freigebig mitzuteilen im Begriff sei.
Ganz unseres Meisters eigenstem Ideenkreise ent¬
stammt sodann die Gruppe Kentaur und Nymphe, die
im Gipsmodell auf der großen Berliner Kunstausstellung
Merkur und Psyche. Marmorgrurpe von R. Begas.
im Herbst 1881 zum ersten Male vor die Öffentlichkeit
trat. Der von Begas in seinen Werken schon mehrfach
betonte und für die plastische Kunst in der That so
überaus dankbare Gegensatz zwischen derber Fülle und
jungträulicher Zartheit findet hier eine ganz besonders
lebendige Verkörperung. Der Kentaur, eine von Kraft
und Lebenslust strotzende Erscheinung, hat seine Hinter¬
beine so tief ins Knie gebeugt, dass der dichte lang-
herabwallende Pferdeschweif bei seiner fröhlichen Be¬
wegung breit den Boden fegt. Auf diese Weise hat er
es der zarten Nymphe, die er beschwatzt hat, einen
lustigen Ritt auf seinem Rücken zu unternehmen, mög¬
lichst leicht gemacht, diesen breiten Pferderücken zu
besteigen. In der befangenen Be¬
wegung, mit der sie dies anstrebt,
gelangt die Ungeschicklichkeit des
ersten Versuchs, die gleichwohl
von der angeborenen unbewussten
Anmut durchdrungen wird, zu
entzückendem Ausdruck.
Nelten diesen Werken größe¬
ren Umfangs hatte Begas eine
Reihe von sprechend individuali-
sirten Porträtbüsten geschaffen.
Darunter sind zunächst diejenigen
seines Taufpaten und ersten Leh¬
rers Ludwig Wichmann und
Adolph Menzel’s zu nennen. Letz¬
tere, die den merkwürdigen Cha¬
rakterkopf mit der gewaltigen
Stirn, den tiefliegenden, scharf¬
blickenden Augen und dem durch
die etwas vorgeschobenen Lippen
eigenartig verstärkten iVusdruck
sinnender Beobachtung in voll¬
kommener Treue wiedergiebt, geht
über die einfache Büstenform
hinaus und wird zur Halbstatue,
die den mit schlichtem Hausrock
bekleideten Körper in der Hüft-
gegend glatt abgeschnitten er¬
scheinen lässt. Begas fühlte sich
zur Wahl dieser an sich etwas
seltsam erscheinenden Form augen¬
scheinlich dadurcli hingedrängt,
dass er den kleinen Mann von
der großen Bedeutung, die sich
der unscheinbaren Natur zum
Trotz auch in seinem Äußeiai
energisch ausspricht, eingehender
charakterisiren wollte, als es
durch den .Kopf allein möglich
gewesen wäre. Da er diesen
Zweck vollkommen erreicht hat,
muss der ausnahinsweisen Ge-
REINHOLD BEGAS.
137
staltniigsart für diesen besonderen Fall ilire Bereclitignng
ziierkannt werden. (.S. die Abbildung.) Daran reilien sieb
sodann die Büsten einiger Damen aus der Berliner Ge¬
sellschaft. Ferner verdanken wir unserem Künstler die
vorzüglichen Büsten des Kaisers Wilhelm I. und des Feld¬
marschalls Grafen Moltke, deren feingegliederte Züge bis
auf das zarteste Fältchen, bis auf die leisesten Ab¬
weichungen von der Symmetrie in der Bildung der
Nasenflügel oder dem Spiele der Mundwinkel hinaus auf
das Treueste und Lebensvollste wiedergegeben sind, und
in denen zugleich dei’ persönliche Geist und Charakter
dieser weltgeschichtlichen Gi'ößen zum unvei-kennbareii
Ausdruck gelangt. Nur
bezüglich der Einkleid¬
ung, die Begas für seine
Moltkebüste gewählt hat,
müssen Bedenken geltend
gemacht werden. Wenn
der Künstler seiner Büste
einen nach Hermenart
gestalteten Sockel ver¬
lieh, so ist dies nicht
minder zu billigen, als
dass er diesen Sockel mit
Laubgewinden , schwe¬
benden Genien und dem
Wappen des Dargestell¬
ten geschmackvoll aus¬
stattete, und dass er die
erwähnten Reliefgebilde
ihrer dem Hauptteile des
Ganzen untergeordneten
Bedeutung gemäß in
leichter skizzenhafter
Weise behandelte. Ver¬
fehlt aber ist die Art,
auf welcher die beiden
wesentlichen Bestand¬
teile des Werkes unter¬
einander verbunden sind.
Begas hat der Büste ein
in togaälinlicher Weise angeordnetes Tuch zugeteilt und
dessen Enden so weit über den Sockel herabhängen lassen,
dass die Verbindung zwischen diesem und der Büste voll¬
ständig verhüllt ist. Das Tuch ist so behandelt, dass
es sich der abgebi’ochenen Büstenform anschmiegt, die
nicht die volle Schultei'iibreite zeigt. Dadurch nun ge¬
winnt das Tuch den Charäktei’, als sei es erst nachträg¬
lich um die nackt angelegte Büste und den selbständig
behandelten Sockel geschlungen worden.
Glücklicher traf Begas die entsprechende Anordnung
bei seiner, mit unübertrefflicher Feinheit durchgebildeten
Büste der deutschen Kronprinzessin, späteren Kaiserin
Friedrich. Ihr hat er ein zartes Si)itzentuch um die
Schultern gelegt, das von der einen Schulter halb lierab-
Zeitschrift l'iir bildende Kunst. N. F. Vlll. II. G.
geglitten ist, aber gleichwohl nicht anders über den
Torso fällt, als es fallen könnte, wenn sich unter ihm
der volle Körper befände. Das ist es, was von der
Bekleidungsform jeder Büste gefordert werden muss.
Darauf lieschäftigten ihn wieder Aufgaben von
hervorragender Bedeutung. Sie betrafen einerseits den
jdastischen Schmuck des zu einer Ruhmeshalle umge¬
wandelten Berliner Zeughauses, andererseits die Aus¬
führung eines großen monumentalen Bi'unnens. Püir das
Zeughaus schuf er zunächst die sitzenden Kolossalge¬
stalten zweier römischen Krieger. Sie flankiren die
AVangen der stattlichen Freitreppe, die aus dem schönen
Oberlichtliofe nach den
großen Heldensälen em-
porführt. Wie Hitzig bei
der architektonischen
Ausgestaltung des Baues
mit feinem Takt und
vollendetem Stilgefühl
alle dui-ch die neuen
Zwecke bedingten Um¬
änderungen und Zusätze
so zu gestalten wusste,
als wären sie unmittel¬
bar aus dei' ursprüng¬
lichen Anlage mit einer
gewissen Natuimotwen-
digkeit organisch hervor¬
gewachsen, so hat auch
Begas bei Ausführung
jener beiden Kriegerge¬
stalten, die vermöge ihrer
Stellung und Bestimmung
als stumme AVächter des
Treppenzugangs mit der
architektonischen Anlage
besonders eng verfloch¬
ten sind, es verstanden,
die an den plastischen
Ornamenten des Zeug¬
hauses reich bethätigte
Schlüter’sche Kunstrichtung voll und lebenskräftig auf¬
erstehen zu lassen. In ihren reich geschmückten
Rüstungen zeigen die beiden muskulösen Söhne des
Mars ganz die Art einer bereits zum Barockstil hin¬
neigenden Hochrenaissance, aber beseelt von einer
urwüchsigen Kraft, für welche die Foimienfülle nicht
als eine schwelgeiüsche äußere Zuthat, sondern als
ein impouirendes Ergebnis überquellender Lebenssäfte
erscheint. Für die Mitte desselben Lichthofes führte
er eine Kolossalstatue der Borussia in Marmor aus.
Die obere Halle erhielt zwei sitzende Frauengestalten
als Verköi’penmgen dei’ Kraft und der Kiiegswissenschaft.
An dem Monunientalbrunnen hingegen fand Begas
Gelegenheit, ohne irgend welche Rücksichtnahme auf
18
Adolf Menzel. Marmorbüste von R. Begas.
138
REINHOLD BEGAS.
gegebene oder seinem Werke zu gesellende Faktoren
sich in voller Freiheit nach seinem eigensten künst¬
lerischen Ermessen zu entfalten.
^ *
¥
') Die ersten Vorarbeiten für diesen Brunnen gehen
auf das Jahr 1880 zurück. Ohne äußere Anregung war
Begas auf den Gedanken gekommen, das an monumen¬
talen Brunnen überaus arme Beilin durch eine umfang¬
reiche Anlage zu bereichern, die sicli neben dem Wiener
Donaubrunnen von R. Donner, ja selbst nelmn der be-
i'ühmten Fontana Trevi in Rom sehen lassen konnte.
Eine Anlehnung an einen ai'chitektonisrhen llintei-grnnd
wie bei der Fmitana Trevi war natürlich bei dem
Nüchternheitssinn der Beidiner, dei' allerdings der Aus¬
fluss des harten Kampfes um das Leben ist, ausge¬
schlossen. j\[öglich war nur ein Freibrunnen, und da
die Errichtung des Steindenkmals auf dem Dönhofts-
platz die Beseitigung des doi'tigen Spiingbrunnens, der
sogenannten „wilden Katz“, veranlasst hatte, dachte
Begas in seinen J'räumen zunächst an jenen Platz. Es
gelang ihm auch, nachdem er ein Gipsmodell in kleinem
IMaßstabe angefertigt hatte, den Kronprinzen Friedrich
Wilhelm, der ihm gleicli seiner Gemahlin schon nach seinen
ersten großen Eifolgen volles Verständnis seines Wollens
gezeigt hatte, für die Ausführung des Brunnens zu
interessiren. Aber die Lebenszeit, die dem edlen,
kunstbegeisterten Fürsten bemessen war, reichte nicht
hin, um auch nur den kleinsten Teil seiner hochge¬
stimmten Pläne zu verwirklichen. x41s Kaiser Wilhelm 11.
den Thron bestieg, folgte dem Vater ein nicht minder
kunstljegeisterter Sohn, und die Gunst, die Kaiser Friedrich
und seine hohe Gemahlin, die selbst eine gewandte,
feinfühlende Malerin und Bildnerin in Thon ist, dem Künstler
geschenkt hatte, übertrug sich auch auf Kaiser Wilhelm 11.
Als der Magistrat der Stadt Berlin beschloss, dem jungen
Kaiser ein Huldigungsgeschenk anzubieten, glaubte er
im Sinne des kaiserlichen Herrn zu handeln, indem er
eine Gabe auswählte, die zugleich dem ganzen Gemein¬
wesen, der Verschönerung der Stadt und dem Wohlge¬
fallen des Gefeierten zu Gute kam. Darum wurde eine
Schöpfung von Begas und zugleich der Schlossplatz ge¬
wählt, auf dem täglich der Blick des Monai’chen ruht,
der seine Residenz in dem Schlüter’schen Bau aufge¬
schlagen hatte. Mit seiner gewaltigen, die Nachbar¬
schaft niederdrückenden Fassade zu wetteifeim, war nur
die Kraft unseres Meisters fähig, der sich, wie kein
zweiter unserer Zeit, mit der Formensprache des Barock¬
stils vertraut gemacht hat, aber doch soviel künst¬
lerisches Feingefühl besitzt, um allen sinnlosen Aus¬
schreitungen aus dem Wege zu gehen und jede einzelne
Figur zweckmäßig, d. h. mit Rücksicht auf den Gesamt¬
organismus, durchzubilden.
1) Der folgende Schlussteil des Artikels ist von Adolf
Rosenherfj verfasst.
Der Schlossbrunnen ist in die Mitte des unregel¬
mäßigen, sehr ungünstig disponirten Platzes gerückt
worden. Er hat einen Hintergrund; aber dieser drückt
ihn, und er würde ihn auch drücken, wenn er statt Avie jetzt
bis zum Dreizack des Neptuns 10 Meter ihrer 20 mäße.
Man muss diesen Brunnen für sich, ohne den architekto¬
nischen Hintergrund, wirken lassen, und dann wird man
ihm einen Platz in der Reihe der klassischen Monumental¬
brunnen nicht verwehren dürfen. Seine Abstammung
von ihnen ist unverkennbar. Der auf einer von vier
Seecentauren getragenen Riesenmuschel thronende Neptun,
die Putten, die sich im Muschelbecken tummeln oder vor¬
sichtig über das Felsgestein nach dem unteren Becken
heruntertasten, die riesigen Seethiei'e, Schildkröten,
Schlangen, Rold)en, Krokodile und Hummern, die, aus
dem AVasser auftauchend, an dem Felsen emporstreben,
endlich die vier auf dem Beckenrande sitzenden Nymphen,
die die vier Hauptsti'öme Preußens versinnlichen — das
sind alles bekannte, viel gebrauchte, konventionell ge¬
wordene Allegorieen. Al)er die alten Symbole erscheinen
uns hier doch ganz anders, mit gewaltigerer Lebensfülle
begabt, als Schöpfungen eines Meisters, dessen kühne
Phantasie sich weit über die Kleinlichkeit moderner Nach¬
ahmung erhebt. Diese sozusagen persönliche, von ihm selbst
ausströniende Lebensfülle, die Begas allen seinen Werken
initgiebt, lässt niemals in dem Beschauer, selbst wenn
er ein kaltprüfender Kritiker ist, die Empfindung auf-
kommen, dass er nur ein Nachahmer oder ein ge¬
schickter Fortsetzer der Barockkunst ist. Auch den
anfänglich Widerstrebenden nimmt seine hinreißende Be¬
redsamkeit schließlich gefangen. Er ist einer von den
echten Künstlern, die an sich selbst glauben und diesen
Glauben auch andern aufzwingen. Tn sein Inneres darf
man dabei nicht einzudringen versuchen; er kann frivol,
vielleicht sogar skeptisch, cynisch denken, wie sehr viele
große und kleine Geister, die jahrzehntelang Berliner
Luft geatmet haben. Aber seine Schöi)fungen wollen
unabhängig von persönlichen Stimmungen betrachtet sein.
Wie mächtig in ihm trotz gelegentlicher Neigungen
zu überschwänglichen Bildungen die Flamme eines
reinen Idealismus glüht, hat er am überzeugendsten in
dem Grabmal Kaiser Friedrichs für das Mausoleum an
der Friedenskirche in Potsdam gezeigt (s. die Abb. S. 132).
Er war der erste der Berliner Bildhauer, der nach dem
Vorgänge Rauch’s das Wagnis unternahm, die Gestalt
eines in ewigen Schlaf Versunkenen auf dem Deckel
eines Marmoi'sarkophags darzustellen. Bei seiner dra¬
matisch bewegten Gruppe konnte er, ohne sich um den
Stil zu kümmern, seinem leidenschaftlichen Naturell
folgen. Hier war das Gebot, sich in Ruhe zu mäßigen,
und doch wollte er darüber seinen persönlichen Stil
nicht verleugnen. Es ist ihm gelungen, von der ,, edlen
Einfalt und stillen Größe“ der Antike, die Rauch in
seinen Sarkophagen vertreten hatte, eine Brücke zu der
wirklich oder eingebildet tieferen, modernen Empfindung
REINHOLD BEGAS.
139
zu bauen. In den Reliefs an den Langseiten des Sar¬
kophags glauben wir das Eöiiiertuin wiederzuerkennen,
das Rauch und seine Schüler für den allein richtigen
und würdigen Dolmetsch hoher Gefühle, Meinungen und
Lehren in der plastischen Kunst hielten; aber aus der
ruhenden Gestalt, deren stolze Glieder sich in Todes-
schliimmer gelöst haben, spricht die volle Persönlichkeit
des Künstlers, v/eim sie auch in demütigem, pietätvollem
Gehorsam gewissen Anforderungen des allgemeinen
Wirklichkeitssinnes und individuellen Gesclimacksrich-
tungen Opfer gebracht haben mag.
Da der leicht und reich schaffenden Phantasie des
Künstlers eine ebenso leichte Hand gehorcht, sind in
der Zeit von 1885 — 1896 noch zalilreiche Werke ent¬
standen, die wir in unserer Scliilderuug noch nicht er¬
wähnt haben. Wir nennen nur in kurzer Aufzählung
die Büsten Kaiser Wilhelms I., des Kaisers Friedrich,
dessen Bronzebüste als Kronprinz Friedrich Wilhelm
das Muster für alle Feldherrenbüsten in der Ruhmeshalle
des Zeughauses geworden ist, die Büsten Kaiser Wilhelms II.
und des Fürsten Bismarck, den Begas als Bildliauer so
typisch und klassisch gestaltet hat wie Leubach als Maler, die
genial erfundene Gruppe, die den „elektrischen Funken“
versinnlicht, und die an die lierbe Größe der alten
Florentiner erinnernde Gruppe Kain und Abel, die
Begas nach einer Skizze aus früheren Jahren erst kürz¬
lich in kolossalem Maßstabe vollendet hat.
Über diesen Arbeiten der letzten Jahre stand
immer etwas Höheres, eine Aufgabe, wie sie seit der
Ausfülirung des Wormser Lutherdenkmals durch Rietschel
und seine Schüler noch keinem deutschen Bildhauer zu
teil geworden war. Als bald nach dem Tode Kaiser
Wilhelms I. die Frage nach einem Nationaldenkmal für
den Begründer des neuen deutschen Reichs aufgeworfen
wurde, war auch schnell die Antwort durch die Aus¬
schreibung eines allgemeinen Wettbewerbes gefunden
worden. Es kam dazu, das Ergebnis war groß und be¬
deutend; aber es war schon damals wahrscheinlich, dass
ein erst in letzter Stunde übersandter plastischer Ent¬
wurf, der nur einige flüchtige Andeutungen gab, über die
stolzen Pläne phantasievoller Architekten siegen würde.
So ist es auch geschehen; aber die Architekten
sind auch befriedigt worden, weil die Architektur neben
der Plastik zu bedeutsamer Entwicklung gelangt ist.
Nachdem sich einmal Kaiser Wilhelm II. für den Platz
der sogenannten Schlossfreiheit gegenüber der West¬
front des alten Königsschlosses mit dem gewaltigen
Triumphbogenportal Eosander’s in der Mitte entschieden
hatte, war es selbstverständlich, dass ein stilistischer
Zusammenhang zwischen dem Natioualdenkmal und der
Schlossfassade gewonnen werden musste. Dabei war auf
der einen Seite ein imposanter architektonischer Rahmen
für das Standbild, der bis zu einem gewissen Grade der
Wirkung seines Gegenbildes die Wage zu halten hatte,
geboten, andererseits erschien es selbstverständlich, dass
sich die plastischen Formen des Denkmals in der Stil¬
richtung zu bewegen hatten, die Schlüter und sein Nach¬
folger den Schlossfassaden aufgeprägt hatten. Danach
konnte eigentlich unter den bildenden Künstlern Berlins
kein anderer mit der Aufgabe betraut werden als der
genialste Vertreter jener Richtung, Reiiihold Begas, der
Verfasser jenes Entwurfs, der bei der ersten Konkurrenz
ganz außer Betracht kam, weil er zu spät eingetroffen
war, auch den Bedingungen des Konkurrenzprogrammes
nicht entsprach.
Freilich ist von diesem Entwurf nicht viel übrig
geblieben. Eigentlich ist, wenn man von nebensäch¬
lichem Beiwerk absieht, nur der Grundgedanke einer
Plattform beibehalten worden. Bei der Feststellung des
Planes in seinen Einzelheiten, zu dessen architek¬
tonischer Bearbeitung anfangs Hofbaurat Ihne, später
Architekt HalmJmber hinzugezogen wurde, wurde das
Hauptaugenmerk darauf gerichtet, dass das Reiter¬
standbild nicht durch den architektonischen Rahmen
erdrückt werden durfte, und das wurde einerseits durch
seine ungewöhnlichen Größenverhältnisse, andererseits
dadurch erreicht, dass das Reiterstandbild nicht inner¬
halb der Halle aufgestellt, sondern über die Vorder¬
seiten der beiden Halleuarme hinausgeschoben wurde.
Da sich an der Rückseite der Halle ein Wasser¬
lauf, der grüne Graben, entlang zieht, mußten die Funda¬
mente zum Teil in das Wasser hineingebaut werden.
Doch ist der Wasserlauf an der schmälsten Stelle nur
bis auf 18 m eingeengt worden. Trotz dieser Be-
schränicungen nimmt das Denkmal in seiner gesamten
Ausdehnung immer noch eine umfangreiche Fläche ein.
Ein Blick auf den Grundriss (s. S. 140) zeigt uns,’) dass
die Anlage aus einem erhöhten Platz für den Reiter,
zu dem einige Stufen hinaufführen, und einer den Hinter¬
grund abschließenden Halle besteht, die ebenfalls um einige
Stufen höher gelegt ist, um das terrassenförmige An¬
steigen des Platzes noch mehr zu betonen. Die Tiefen-
ausdeimung des Denkmals von der Vorderseite der
Löwenpostamente an der 18 m breiten Fahrstraße zwischen
Schloss und Denkmal beträgt 40 m, die Gesamtlänge
80 m. Die Höhe der Halle beträgt vom Straßenfu߬
boden aus gemessen 12 m, vom mittleren Wasserstande
an der Rückseite aus gemessen 16 m. Bei dem Ent¬
würfe der Halle, für welche ionische Stilformeii, jedoch
in ganz freier Behandlung, gewählt wurden, wurde auf
möglichst durchbrochene Anordnung gehalten, so dass
Schloss und Reiter von allen Seiten gesehen werden
können. Die Endpunkte der Halle bilden zwei Pavillons,
die als Bekrönung je eine Quadriga etwa in der Größe der
auf dem Brandenburger Thor tragen. Die eine stellt Nord-,
die andere Süddeutschland dar. Die Verbindung zwischen
1 ) Das Folgende ist znm Teil einem Bericht des aus-
führenden Architekten Q. Ha Imimhcr in dem Werke „Berlin
und seine Bauten“ Bd. II (Berlin 1896) entnommen.
18*
140
REINIIOLD BEGAS.
den beiden Pavillons bildet ein ^^’andelg•ang, dessen ge-
kupjielte SUulenpaare nüt ihrem Gebälk in gdeichmäßigem
Rhytlnnus den eigentlichen Hintergrund für den Reiter
bilden. Die Ecken sind durch festere Massen betont.
Die Eingänge zu den beiden Pavillons sind durch reiclie
Portale mit geschwungener Verdachung und vorgestellten
Säulen gekennzeichnet, die mit dem Reiter zusammen
die diei wesentlichen Stützpunkte des Ganzen abgebeii.
Sie sind reich mit bildnerischem Schmuck versehen und
bilden die End])unkte einer glänzenden Kette von
Bildwerken Uber dem reichen Hanptgesims der lunen-
Hnterbau, der aus rotem, durchweg polirtem schwedisclien
A\ irbogranit besteht, ruhen an beiden Langseiten die beiden
Kolossalgestalten des Krieges und Friedens, während vorn
und hinten bedeutungsvolle Embleme angebracht worden
sind. Das 8 m holie und etwa 4,50 m breite Postament
ist aus Bronze gegossen — unseres AVissens das erste
Mal, dass in Deutschland ein solcher Versucli in großem
Maßstabe gemacht worden ist. Audi die Reiterstatue,
die das Pferd führende Siegesgöttin, die vier an den
abgestumpften Ecken des l'ostaments auf Kugeln stehenden
Anktorien und die Reliefs an den Langseiten sind in
Grundriss des Kaiser Wilhelm -Denkmals in Berlin.
und Außenseite. Die einzelnen Skulpturen der Innenseite
beziehen sich auf die Bundesstaaten, die der Außenseite
auf Handel, Gewerbe, Kunst und A'Vissen Schaft. Die
Halle, die einen prächtigen Mosaikfußboden erhalten
wird, und die zu ihr gehörigen Skulpturen sind in Sand¬
stein ausgeführt, mit Ausnahme der beiden Quadrigen
und der die Trophäen hütenden Adler über dem mittleren
Teile der Halle, die in Kupfer getx’iebeu worden sind.
Innerhalb dieses reich gestalteten Rahmens erhebt
sich die Reitertigur mit dem Sockel bis zur Hiihe von
20 m über dem Straßenniveau auf elliptischem Unterbau,
dem sich vier diagonal vorspringeude, auf Trophäen
gelagerte Löwen aus Bronze angliedern. Auf dem
Bronzeguss ausgeführt worden. Die Bronze ist aus
93 iT’ozent elektrolytischem Kupfer und 7 Prozent Banka¬
zinn zusammengesetzt. Die durchschnittliche Stärke der
Bronzewandung lieträgt, aligesehen von einzelnen Gewand¬
teilen, 5 mm. Um alle Feinheiten des Modells zu be¬
wahren, ist der Guss mit Wachsausschmelzverfahren
erfolgt. Für das Reiterstandbild allein, das 9 m in der
Höhe misst, sind etwa 500 Ceutner Bronze verbraucht
worden. Der Genius, der das Ross des Kaisers führt,
ist 5,50 m groß, während die Viktorien au den Ecken
4,70 m in der Höhe messen. Der Reiter ist in ruhiger,
edler Haltung dargestellt, die rechte Hand auf den
Kommandostab stützend, den Blick nach dem Lustgarten
REINHOLD BEGAS.
141
richtend, wo das Denkmal seines Vaters steht. Auch das
Pferd schreitet in ruhigem Scliritt vorwärts, ganz wie
es dem besonnenen, gemessenen Wesen des ersten Kaisers
entspricht. Ein lang herabwallender Mantel gieht dem
Reiter mehr Masse und Haltung. Der führende Genius,
der in der Linken einen Palmenzweig hält, blickt zu
dem Kaiser empor.
Soweit die sachliche Beschreibung. Zur Zeit, wo
wir diesen Ai’tikel zum Abschluss bringen müssen
(Mitte Februar), ist eine kritische Würdigung des
Ganzen, ein Urteil über den Gesamteindruck noch un¬
möglich. Man hat bisher nur Gelegenheit gehabt, die
einzelnen Teile, wie sie im Guss fertig wurden, be¬
sah, der er blindlings, aber mit freudig zu Gott erhobenem
Haupte folgte. Dieser Verstoß gegen die geschichtlicheWahr-
heit hat aber die deutsche Kunst um eine Idealgestalt
bereichert, wie wir sie seit den Viktorien Rauch’s nicht
mehr gesehen haben. Sie und ihre vier auf Kugeln
schwebenden, geflügelten Schwestern werden in der
Kunst des 20. Jahrhunderts wohl ebensolange typische
Geltung behalten, wie sie die Siegesgöttinnen Rauch’s für
die lieideu ersten Dritteile unseres Jahrhunderts gehabt
haben. Die jugendliche, jungfräuliche Anmut, die diese
fünf Gebilde einer begnadeten Phantasie umschwelit und
erfüllt, lässt sich nicht in Worte fassen. Wir müssen
abwarten, bis wir diese Gestalten unsei’en Leseim vor
Das Kaiser Wilhelm -Denkmal in Berlin von U. Begas. (Nach ilem fiipsmoilell.)
sichtigen zu können, und danach gestaltet sich das Urteil
zunächst sehr günstig. Die Bildung aller einzelnen Ge¬
stalten widerlegt zunächst die anfangs gehegte Befürch¬
tung, dass Begas sich durch die kolossale Größe zu
barocken Ausschweifungen seiner Phantasie würde hin¬
reißen lassen. Freilich wird jeder, der die schlichte Größe,
das wahrhaft kindliche Gemüt und die peinliche Korrekt¬
heit des verewigten Kaisers wirklich kennen gelernt und
verstanden hat, sich nicht damit befreunden können, dass
ein weiblicher Genius ihm das Pferd führt, ihm, der in
seinem Leben als Soldat und Kriegsherr niemals eine
derartige Hilfe geduldet hätte, und der auf allen seinen
Wegen nur die unsichtbarelland der göttlichen Voi'sehung
Augen führen können. Die beiden, mäßig erhobenen
Reliefs an den Langseiten des Postaments sind aus
einem Geiste gelieren, der in sich alles aufgenommen
hat, was die florentinischen Meister des 15. und 16 Jahr¬
hunderts Großes und Erhabenes ersonnen haben, und
der doch immer etwas Persönliches mitbringt. Das
Relief des Krieges erinnert in dem Grundmotiv etwas an
einen der apokalyptischen Reiter von Dürer und Cor¬
nelius; aber das germanische Ungestüm, die rauhe Kraft
wird, unbeschadet der dramatischen 'Wucht, durch eine
edle Formensiirache gemildert, und wenn wir danach
das Relief des Friedens hetrachten, glauben wir ein in
die Plastik übertragenes Bild Böcklin’s vor uns zu
142
DIE NEUE STAATLICHE „NATIONAL PORTRAIT-GALLERA^“ IN LONDON.
sehen, freilich mit dem gewaltigen Unterschiede, dass
Rücklin die Kraft versagt zu sein scheint, ein so edles
,.Gebild aus Himmelshöh’n" zu schaffen, wie diese stolz
und leicht durch die Gefilde schreitende Friedensgöttin,
die Blumen und Früchte mit vollen Händen ausstreut.
Ein Denkmal dieses Umfanges kann nicht, wenn
es in sieben Jahren zu einer bestimmten Frist fertig
sein muss, die Arbeit eines einzigen Mannes sein. Begas
hat aus der großen Zahl seiner Schüler die tüchtigsten
Kräfte erlesen, die nach seinen Skizzen die großen Mo¬
delle für den Guss nnd die Treibarbeit in Kupfer aus¬
geführt haben. So ist die über dem Nordportal der
Halle aufgestellte Quadriga, deren Siegesgöttin ein Banner
mit dem Adler (Norddeutschland) hält, von Johannes
Güli, die andere, deren Banner einen Löwen (Süd¬
deutschland) zeigt, von C. von BcrnewUz ausgeführt
worden. Die beiden dekorativen Gruppen mit den
Adlern sind von Kraus nnd Gaul, und für die Löwen
auf den dem Reiterdenkmal vorgelagerten Gruppen sind
Tierbildner herangezogen worden. An den Gruppen
des Friedens und des Krieges und an den Viktorien ist
besonders Eugen llönnel beteiligt gewesen. Nur der
Reiter und der sein Ross führende Genius zeigen im wesent¬
lichen die eigene Arbeit des Meisters. Durch die ver¬
schiedenen Hände, die an dem gewaltigen Werke mitge¬
holfen haben, sind aber keineswegs stilistische Ver¬
schiedenheiten hervorgerufen worden. Jeder Teil ist
von dem Geiste des Meisters durchdrungen, mit dessen
Formensprache sich seine Schüler und Mitarbeiter .so
innig vertraut gemacht haben, dass die mächtige Kom¬
position, das Heldengedicht in Erz und Stein auf den
großen Kaiser, als etwas Einziges und Unteilbares vor
unsere Augen tritt und zu unserem Herzen spricht.
Im Tmufe eines halben Jahrhunderts hat die Berliner
Kunst der Welt zweimal dasselbe festliche Schauspiel
geboten. Wie vor fünfzig Jahren unter der Ägide
Rauch’s aus dem Zusammenwirken vieler Hände das
Reiterdenkmal des großen Königs erwuchs, zugleich das
höchste Ehrendenkmal für Rauch und seine Schule selbst,
so steht am Ende dieser Epoche, wo wir eine zweite
Blüte der Berliner Bildhauerschule erlebt haben, das
Denkmal des großen Kaisers, zugleich ein Wahrzeichen
der hohen, edlen Kunst von Reinhold Begas und den
Seinigen. Und auch Persönliclies klingt dabei in selt¬
samer Fügung des Schicksals zusammen. Wie weit sich
auch die künstlerischen Wege von Reinhold Begas von
denen seines Taufpaten und Lehrmeisters getrennt
haben, — beiden war es vergönnt, für ihre Zeit ein
Höchstes zu schaffen, die Verherrlichung der beiden
Helden, deren Wirken und Thaten die größten Epochen
in Preußens und Deutschlands Geschichte erfüllt haben.
ADOLF ROSENBERO.
DIE NEUE STAATLICHE
„NATIONAL PORTRAIT- GALLERY“ IN LONDON.
MIT ABBILDUNGEN.
INE der interessantesten und bedeutendsten
natüuialen Sammlungen Englands ver¬
dankt in der Haujttsache ihre Entstehung,
Erhaltung und Katalogisirung einem
deutschen Künstler und Gelehrten. Diese)'
hervori'agende Mann ist Georg Scharf,
der noch kurz vor seinem im Jahre 1895 ei'folgten Tode,
unter dem Titel Sir George Scharf, wegen seiner außer¬
ordentlichen Vej'dienste um das obige Institut, von der
Königin ^'ictoria in den Adelstand erhoben wiii'de. Seit
dei' Begründung der histoi'ischeu Galeu'ie (mit zwei
Bildern) im Jahre 185G, ;ilso fast 40 Jahre lang, hat
Schai'f ununtei'brochen als Dii'ektor des Instituts ge¬
wirkt und während diese)' Zeit 982 Port)'äts )iebst zahl-
)'eichen Porträtbüste)), Kupferstichen U))d Autog)'apheu ge¬
sammelt. Durch Geo)'g Scha)'f ist in London hier Geb)'a.uch
geworde.)), dass Autographen, we)))i i)'ge)id )nöglich, ))ur
)nit den) dazu gehörigen Kupferstich der bet)'eff'e))de))
Pea'son gekauft mid ve)'äußert werde)). De.)' Ve)'Sto)'bene
wa)' 1820 als Sohn eines bayerische)) Kü))stle)'s gehöre))
u))d begleitete als Zeiclnier die Expeditio)) des Sir Cha)'les
Fellows ))ach Sy)'ie)) u))d Kleinasien. L) gleicher Eige.))-
schaft ))ahn) er 1843 a)) ei))er staatlichen Expeditio))
dorthi)) Teil u))d bildete sich da)))) i])))))er )nehr als ge¬
schickter Buchillustrator aus. Ln Jahre 1857 bekleidete
er auf kurze Zeit den Ve)'waltu))gsposte)) für die alte))
Bilderschätze Ma)U'heste)'s, und ))üch i)) de]))selbe)) Jahre
wurde ilnu hierauf Ijei Beg)'ü))dung der „National PorL'ait-
Galle)'y“ do'en wichtiges Di)'ektoran)t a))vert)'aut. L)
letzterer Eige))schaft erwies sich Stharf äußerst zuvor-
ko)n)ne))d gego) alle Aufsehlusssuchenden, und da be-
ka)))it war, dass er die ))))ifassendste Porträtke))))tnis i))
ganz Engla))d besaß, so galt i)) zweifelhafte)) Fälle))
sein Urteil als )naßgebe))d. Sei))e E)'fah)'U))g u))d sein
Rat wurden von Historikern, Fachgelehrte.)), Künstlern
und Sch)'iftstelle)')) aller Schattirungo) häufig i)) A))spruch
ge.))onin)e)),
Vo)) Seiten der R.egieru))g wa)' es da)nals der P)'i))z-
143
DIE NEUE STAATLICHE „NATIONAL PORTRAIT-GALLERY“ IN LONDON.
Sir George Soharff; gemalt von W. Ouless.
Geiiialü Albert, iler sich besonders für Scharf s Idee
erwärmte, und in gleicli günstigem Sinne vertrat «lieselbe
im Parlament der Graf Stanliope. In Gemeinscliaft mit
Scliarf entwarf er die Statuten, die nianclie interessanten
Punkte und liei event. Naehaiiniung folgende zu be¬
herzigenden Grundsätze enthalten: Bei Ankäufen oder
Erwerb durch Schenkungen soll es sich in der Regel
mehr um die Berühmtheit der dargestellten Person als
um das künstlerische Verdienst des beti'eflenden aus¬
führenden Malers, Bildhauers oder Kupferstechers handeln.
Die Wertschätzung einer Person soll vollständig unab¬
hängig vom politischen oder religiösen Standjiunkte aus
geschehen. (Hierbei dürfte man zwar unwillkürlich an
Goethe’s AVorte erinnert werden: „Ich kann wohl ver¬
sprechen, aufrichtig sein zu wollen, aber nicht un¬
parteiisch.“) Ja, selbst große Fehler und Iridiimer, wenn
sie von allen Seiten zugegeben weialen, sollen nicht
Veranlassung sein, das Porträt einer Person auszu¬
schließen, welche dazu dienen könnte, die Geschichte oder
die Kunst und Wissenschaft des Landes zu erläutern.
(Hierunter sind Leute verstanden, wie etwa Heinrich VIII.
und Cromwell. Erstereii nennen bekanntlich die Eng¬
länder den „butcher“, d. h. Schlächter.) In dem Galerie¬
katalog dai'f sich ferner kein einziger Name befinden,
der einem Gebildeten zu der Fi'age Vei-anlassung geben
könnte: „Wer ist dieser Mann oder jene Frau?“ Weiter
beschränkende und den eventuell enormen Zuwachs zur
Eindämmung dienende Bestimmungen sind folgende:
Erst nach 10 Jahi'en kann das Poidrät einer verstoii)enen
Person Zulassung finden, falls alsdann nicht drei Mit¬
glieder des Direktoriums gegen den Erwerb stimmen.
Von lebenden Personen finden nur der König und seine
Gemahlin resp. der Souverän einen Platz in der Staats¬
sammlung. Dieses Verbot ist ein sehr weises, denn nach
zehn Jahren ändert sich oft die Beurteilung über den
wahren Wert eines Mannes, und die streitenden Leiden¬
schaften von Freund und Feind haben alsdann in dei'
Regel einen mehr ausgleichenden oder sogar abschließen¬
den Charakter angenommen. Das Porträt des Prinzen-
Gemahls Albert ist von Winterhalter, und die Königin ist
dargestellt in der Kopie nach einem Bilde von l'rofessor
H. von Angeli in Wien. AAVnn obige Einscln-änkungen
nicht vorhanden wären, so würde es in England un¬
zählige Personen geben, die jeden Preis einem ersten
Künstler bewilligen möchten, um ihr Porträt anzufeidigen,
mit der geiilanten Absicht einer Schenkung an das
Museum. Auch selbst ein Staatsiustitut würde oft der
Wi’suchung nicht widei'steheu können, ein an und für
sich hohes Kunstwerk herzugeben, (digleich nach den
Statuten die da.rgestellte Person eigentlich nicht in die
Sammlung gehört. AVie aber schließlich die Ausnahme
die Regel bestätigt, so halien sich doch einige Porti'äts
im Widerspruch mit den bezüglichen Statuten einen Platz
in der Galerie ei'obert. Ein solches Bild, gemalt von
dem Akademiker AV. Ouless, stellt Scharf selbst dar. Dies
Werk zieht sofort )»ei dem Betreten des ersten Saales unsere
Aufmerksamkeit auf sich, und nimmt dassellie sozusagen
überhaupt den Ehrenplatz der gesamten Kollektion ein.
Tliumas Cailyle; Büste von E. Böhm.
144
DIE NEUE STAATLICHE „NATIONAL PORTHAIT-GALLERY“ IN LONDON.
Charles Darwin; gemalt von John Collier.
Ferner li;it Watts, in seiner geradezu großartigen
Oiderfreuiligkeit, der Galerie das von seiner Hand ge¬
malte Porträt des Itekanuten Künstlers und Kiiust-
mäcens William Morris angeltoteu. Die Belieldlieit des
letzteren war so allgemein und widersiiruclislos, dass aucli
hier die Statuten durcliliroelien werden dürften. Morris
liinterlässt außer andern Kunstschätzen eine der schönsten
illuminirten Idanuskript-Sammliingen der Welt.
Von den ühiigeii statutenmäßigen Bestimmungen
will ich noch erwähnen, dass eine Schenkung nur an¬
genommen werden darf, wenn mindestens drei Viertel
aller Mitgliedm- des Verwaltungsrates dafür stimmen,
und dass in der Regel keine Kf>pie eines modernen Bildes
Aufnahme findet. Endlich ist untei- klarer Darlegung
des IMotivs ein Gruppeuhild zulässig, in dem teils Ver¬
storbene, teils noch Lebende zusammen dargestellt sind.
Ein s(dche.s Beispiel ist das sehr wertvolle Gemälde,
welches der Kaiser von Üsteareich der Sammlung voi'
längerer Zeit schenkte, und das 96 Porti’äts von eng¬
lischen, zu einer Sitzung im Unterhause vereinigten
Parlamentsmitgliedern enthält.
Nach vielen Jahren des Wanderns, wenn gleich in
liOndon, hat nunmehr diese Staatssammlung eine ihrem Wert
und ihrer Wichtigkeit eiits]irechende Heimstätte gefunden.
Der Staat stellte den Baui)latz zur Verfügung und zwar
unmittelhar hinter der National-Galerie, in Trafalgar-
Siiuare, währerid das Baugeld, 80000 Mi-. Henry
Alexander schenkte. Tn Mr. Liouel Cust hat das In¬
stitut nicht nur einen würdigen Nachfolger Scharf’s er¬
halten, sondern anch einen Direktor, der es bereits ver¬
standen hat, das Museum zu dem volkstümlichsten in ganz
England zu erheben. Nur zum Verdruss vieler lie-
rechtigter und auch unherechtigter Personen, welclie die
Plätze au den Wänden schon vergehen finden, ei'weist
sich der Raum für die Zukunft als viel zu klein. An¬
gesichts der unausgesetzten Schenkungsangehote ist das
Institut lieinahe ganz mit Bildern gefüllt, und doch leben
allein in London wenigstens 1000 l’ersonen, die auf
einen derai'tigen Ehrenidatz dereinst Anspruch erheben
zn können glaulien. Da indessen seihst I\lr. Alexander
einen siddien Itisher nicht erhalten hat, so scheint es,
dass der Wortlaut der Statuten streng dnrchgeführt
werden soll.
Den Ban des Hauses leitete der Architekt Christian,
dm- einen ähnlichen Plan hierfür annahm, wie ei- der
National-Galerie in Berlin zu Grunde liegt. Die AVerke
sind in di-ei Etagen untei'gehracht, von denen in der
Hauptsache bloß die höchste durch Oberlicht erhellt wird.
Nur ein Saal liesitzt einen Ranminhalt von 50 Quadrat¬
fuß, während die übrigen zwischen 15—20 Quadratfuß
variiren. Wer die chronologische Besichtigung vor¬
zieht, hat seine AVanderung von olien nach unten d. h.
von der dritten Etage 1ds zum Erdgeschoss vorzunehmen.
Da wo Menschen schweigen, reden wohl Steine oder
andere einzelne Denkmale, gewaltig und eindringlich zu
uns, alter es ist doch oft schwer für minder geschulte
Kräfte, diese Sprache zu verstehen und aus ihr die Ge¬
schicke des Einzelnen oder gar eines ganzen Abtlkes heraus¬
zulesen. Hier zieht auch für den weniger kundigen
Ch. J. Fox; gemalt von K. A. lIiCKEL.
145
DIE NEUE STAATLICHE „NATIONAL PORTKAIT-GALLEllY“ IN LONDON.
Georgina Spencer, Herzogin von Devonshire;
gemalt von J. Reynolds.
Tlieljiiiier die Geschichte einer Nation, in ihrer vollen
Gi’öße, mit allen Fehlern und Irrtümern, mit Licht und
Schatten, alle Kulturepochen, ihre Helden, Dichter, Künstler
und Gelehrten in leicht erkennharer Übersicht, wie eine
ununterbrochene Eeihe, rasch und gedrängt an uns
vorüber. Ein imposanter Todeszug! — Georg Scharf
liegann seine Sammlung im Jahre 1857, wie bereits er¬
wähnt, mit zwei Bildern. Das eine davon bestand in
einer Schenkung des Grafen von Ellesmere, und zwar
des vielleicht einzig beglaubigten Bildes von Shakespeare,
das überhaupt vorhanden ist. Dieses Bild ist bekannt
unter dem Namen „Chandos-Shakespeare“, weil es hei
seinem langen und vielseitigen Stammbaum auch in den
Besitz des Herzogs von Chandos-Buckingham kam, und
dann von dem Grafen Ellesmere, dem Besitzer der
Bridgevvater-Galerie, dem Museum als Geschenk über¬
lassen wurde. Die Ansichten über den Urheber des
Bildes sind schwankend; keiner der genannten Namen
hat vollen Anspruch auf Glauliwiirdigkeit, wenngleich
das Porträt bei Lebzeiten Shakespeare’s gemalt zu sein
scheint. Das andere Porträt, Sir Walter Ealeigh dar¬
stellend, wurde angekauft. Der Günstling der Königin
Elisabeth, der zu Ehi'en er seine Kolonie in Amerika
„Virginia“ nannte und den jedermann aus Walter Scott’s
Eoman „Kenilworth“ kennt, ist wahrscheinlich von
Federigo Zuccaro gemalt. Am Ende des .Tahres 1857
konnte Scharf seine ei'ste Ausstellung mit 56 Bildern
eröffnen.
Wenn an dieser Stelle außer der Eeihe von einigen
Zeitscliiift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 6.
Porträts berichtet wird, so geschieht dies, weil die be¬
treffenden Personen über die Wichtigkeit einer natio¬
nalen Porträtsamnilung schriftliche Äußerungen hintei-
lassen haben. So finden wir hier zwei Bilder und eine
Büste von dem großen, Deutschland so wohl gesinnten
Historiker Thomas Carlyle. Eines der Gemälde stammt
von dem kürzlich verstorbenen Präsidenten der Akademie,
E. Iffillais, das andere von ^Vatts; die Büste ist von
Boehm ausgeführt und der Galerie gesclienkt. .LE.Boehm,
ein Wiener, galt als der erste Bildhauer seiner Zeit
in England, und wurde zur Auszeichnung als Baron
Edgar Boehm von der Königin in den Adelstand er¬
hoben. Carlyle sagt: „ln allen meinen historischen
Forschungen ist eine meiner ersten Soi-gen stets die, inii'
von dei' zu besclireibendeu Persönlichkeit ein gutes Bild
zu verschaffen. Ist dies nicht möglich, so bin ich auch
mit einer geringeren Allbildung zufrieden, voi’ausgesetzt,
dass ein solches Kunstwerk aufrichtig gemeint ist. Es
ist mir stets aufgefallen, dass historische Porträt-Galerieen
nicht nur für Gelehrte den größten Wert besitzen, sondern
dass denselben auch vom Publikum das denkbar höchste
Interesse entgegen gebracht wird. Ein so populäres
und beliebtes Staatseigentum sollte jede Nation besitzen.“
Zu dem Bilde des berühmten Philosophen John Locke,
des Vorgängers von Kant, erscheint es nicht uninteressant,
folgende Stelle eines Briefes an seinen Freund, den
Novellisten Collins, zu citiren: „Bitten Sie Sir Godfrey
Kneller, auf die Eückseite von Lady Masham’s Bild und
Barbara Villiers, Herzogin von Cleveland;
gemalt von I’. Lely.
l'J
146
DIE NEUE STAATLICHE „NATIONAL L’OHTKAIT-CtALLEHIE“ IN LONDON.
C'beuso des nieinigen ..Ladj' Masham" und ,.Jolin Locke“
zu schreiben. Dies ist nötig, weil gewöhnlich in zwei
oder drei Generationeu die Namen der Porträts von
Privatpersonen verloren gehen.“ Das l'orträt des un¬
übertrefflichen Satirikers Addison erinnert an die ersten
Zeilen der von ihm begründeten und heute noch so viel
gelesenen Zeitschrift „Spectator", in welcher er die
originelle Idee hatte, sich selbst zu beschreiben: ,.Ich
liabe die Demei'knng gemacht, dass der Leser eines
I Juches dasselbe nur selten mit ^'ergnügen genießt, bis
er weiß, ob der ^'erfasser brünett oder blond ist, ob er
einen sanften oder cholerischen Pharakter besitzt, und
endlich olj er verheiratet odei' ein Junggeselle ist? Erst
wenn mau ein solches Bild
sielit, oder sicli gemacht hat,
kann man zu dem rechten
Verständnis und zur Würdig¬
ung eines Autors gelangen.“
Das Porträt Addison's, von
G. Kneller gemalt, gieljt dem
Satiriker Eecht, denn man
erkennt ihn sofort heraus.
G. Kneller, den die Eng¬
länder als einen der ihrigen
reklamiren, war ülirigens
ein Deutscher, in Lübeck
1648 geboren, und hieß ein¬
fach Gottfried. Allerdings
war er einer unserer vielen
Künstb'r, die in England zu
Würde, und Ansehen ge¬
langten, dennvonWilhelm IIP
wurde er geadelt, und von
Georg I. zum Baron gemacht.
Berühmt ist Kneller hanpt-
säclilidi durch seine ,.llamp-
ton-Conrt-Schönlieiten“,
welche die zahlreichen Mai-
tresseu Karl’s 11. darstellen.
ln dem obersten Stock¬
werk sind die Porträts derart
geordnet, dass sie uns einen kurzen chronologischen
ilberblick von dem Jahre 11-34 bis 1700 gelten. Sum¬
marisch ansgedrückt mag Saal I als die Tndor-Periode
Vtezeichnet werden, Saal II als gehörig zur Zeit Jacob’sl.
und Karl’s I., der Saal HI ist Cromwell gewidmet, Nr. IV
und VI gehören der Eestanratiou der Stuart’s an, und
Saal V erstreckt sich über etwa 100 Jahre von Jacob II.
bis zur Mitte der Eegiernng Georg’s IIP d. h. von den frühen
Werken Kneller's bis zur besten I'eriode des noch heute
am höchsten gescliätzteu Malers Joshua Eeynolds. —
Das mittlere Stockwerk enthält Porträts der berühmten
Künstler, Litteraten und Männer der Wissenschaft ans
dem 18. Jahrhundert, sowie Politiker und diverse außer¬
gewöhnliche Persönlichkeiten der genannten Zeit. Um
zu unsern Zeitgenossen zu gelangen, müssen wir in
das Erdgeschoss herabsteigen, wo wir namentlich eine
Serie von etwa 20 Bildern beitihmter Männer von der
Hand des Watts gemalt linden, ln freigiebigster Weise hat
der große Veteran der englischen Künstlerschaft die ge¬
dachten Werke dem Museum zum Geschenk gemacht.
Bei Gelegenheit eines Atelierbesuchs zeigte mir der
Illeister noch ein Dutzend älterer und neuerer Schö¬
pfungen, welche er gleichfalls der Galerie schenken wird.
Über ein derartiges Institut im Detail zu sprechen,
ist hier unmöglich. Der neue ol'lizielle Katalog lautet:
„Ilistorical and descriptive Catalogue of the National
Portrait-Gallery“ hei'ausgegeben von Sir George Scharf,
abgekürzt, revidirt und fort¬
gesetzt von Lionel Cust.
Der Katalog ist ein Meister¬
werk an und für sich, und
wenn er für manche den
Fehler l»esitzt, dass er nur
ali)habetisch nach den Namen
der dargestellten Personen,
und weder chronologisch noch
nach Sälen räumlich geordnet
ist, so wird dieser Mangel
reichlich aufgewogeu durch
die kurze Biographie, die
sich unter dem Namen des
Meisters bei jedem Bilde an¬
gebracht befindet. Ganz ge¬
drängt sollen einige der iii-
teressautesteu Namen ge¬
nannt werden, und zwar
möglichst solche, bei denen
durch den Künstler auch für
Ausländer die Bedeutung
über die Person des Darge¬
stellten hinausreicht und ein
allgemeineres Kunstiiiteresse
hervoi'gerufen wird: die Grä¬
fin Albany, Gemahlin des
Prätendenten Stuart, von
Battoni; Anna Boleyn, die Älutter der Königin Elisabeth;
Arkwright, der Erfinder des modernen Webstuhls; Sarah
Austin, bekannt durch ihre Übei'setzungen von Goethe;
Bacon von Verulam, gemalt von Paul van Somer. Dieser
große Staatsmann und Philosoph hinterließ ein Testament,
welches mit denWorten beginnt: „Meinen Namen undEuhm
vermache ich vorläufig fremden Nationen, der meinigen
erst, wenn einige Zeit vorübergegangen sein wird.“ Der
Kupferstecher Bartolozzi, von John Opie; Disraeli, von
Millais ; der Herzog von Bedford, von Gainsborough; der
Staatsmann Bolingbroke, von Eigaud gemalt; John Bright,
Gegner der Kornzölle, von Ouless; der erste Herzog
von Buckingham, von Honthorst dargestellt; der Staats¬
mann, Eedner und Schriftsteller Burke, von Eeynolds’
John Churchill, Herzog von Marlborongh;
gemalt von CI. Knelleii.
DIE NEUE STAATLICHE „NATIONAL PORTRAIT-GALLERY“ IN LONDON.
147
Hand; der schottische Dichter Robert ßuriis, von Nas-
myth; Lord Byron. Der Minister Canning, Marmorbüste
von Chantrey. Die Gemahlinnen der meisten Könige
aus dem Hause Hannover sind Deutsche, so z. B. Wil¬
helmine Caroline von Brandenburg-Ansbach , Gemahlin
Georgs II. Ferner Caroline von Braunschvveig, Gemahlin
Georgs IV., ein ausgezeichnetes Porträt, von P. Lawrence
ausgeführt. Von Cromwell finden wir eine ganze Reihe
guter Porträts von unbekannten Meistern nnd zahlreiche
Marmorbüsten. Charles Eduard Stuart, von Largilliere
gemalt. Der Graf von Chesterfield, l)erühmt durch seine
Briefe an seinen Sohn; Lord Olive, der Begründer der
englischen Herrschaft in Indien; Graf Cobham, Feld¬
marschall unter Marlborough
in Flandern und Gesandter
bei Karl VI. in Wien, von
P.Vanloo gemalt. Sir Henry
Cole, der Gründer des South-
Kensington-Museum, eine aus¬
gezeichnete Büste von E.
Boehm modellirt. Cosvvay,
der berühmte Miniaturmaler,
hat sein Selbstporträt ge¬
liefert, ebenso der große eng¬
lische Landschafter J. Con¬
stable. Die Büste des Na¬
turforschers Darwin stammt
von E. Boehm; ein Bild
des humoristischen Schrift¬
stellers Dickens hat Ary
Scheffer gemalt. Georgin a
Spencer, Herzogin von De-
vonshire, als eine Schönheits¬
königin bekannt, ist als Kind
von Reynolds dargestellt.
Der Alchymist Kenelm Dig-
by, von van Dyck. Dar¬
stellungen der Königin Eli¬
sabeth sind mehrere vor¬
handen, so von Hilliard, Zuc-
caro und Marc Gheeraedts, desgleichen von ihrem Günstling
Robert Essex. Lady Ellenborough, bekannt unter dem Na¬
men „ Janthe“, von Hay ter gemalt. Diese Dame war die Ge¬
mahlin desVicekönigs von Indien, ließ sich aber 1830 schei¬
den, heiratete nacheinander den Baron Venningen in Mün¬
chen, dann einen griechischen General und zuletzt Midfouet,
einen arabischen Scheikh, mit dem sie sehr glücklich
25 Jahre in Damaskus zusammenlebte, trotzdem der
Wüstensohn sie gelegentlich tüchtig durchprügelte. Der
Buchstabe „F“ bringt uns zu dem großen Redner James
Fox, zu dem Elektriker Faraday, zu Benjamin Franklin
und dann zu allen den Königen mit Namen „Georg“,
aber auch zu dem Selbstporträt von Gainsl)orougli, zu
dem Schauspieler Garrick und dem Schriftsteller Oliver
Goldsmith, von Reynolds gemalt. Die Büste des in
Kharthum gefallenen Generals Gordon ist ein Werk
E. Boehm’s. Nicht minder erregt unser Interesse ein
Porträt der schönen aber unglücklichen Jane Grey, die
sich verleiten ließ, den Titel „Königin“ anzunehmen, nnd
von Maria der Blutigen im Jahre 1555, erst 18 Jahre
alt, hingerichtet wurde. Das Bild ist von Lucas de
Heere gemalt. Leonore Gwynn, von Peter Lely, bringt
uns zurück zu den „Hampton-Court-Schönheiten“ , die
hier fast vollzählig vorhanden sind, wenn gleich nicht
immer von denselben Meistern wie dort dargestellt.
Wenn auch sonst auf Nichts, so verstand sich doch
Karl 11. auf Schönheit. Aus diesem Grunde, und weil
jene Damen in das Geschick Englands wesentlich ein¬
gegriffen haben, und weil sie
ferner von den berühmtesten
Malern gemalt, sowie endlich
ihre Nachkommen zu Herzö¬
gen von Karl 11. gemacht
wurden und ihre Familien
noch heute bestehen, haben
sie auch einen berechtigten
Platz in der „Porträt-Gale¬
rie“ gefunden. Leonore, von
den Engländern Nell Gwynn
genannt, war ursprünglich
Obstverkänferin, dann Schau¬
spielerin nnd Gelielhe des
Königs, und aus diesem Ver¬
hältnis stammen die Herzoge
von St. Albans. Barbai'a
Villiers wurde in gleicher
Weise die Stammmutter der
Herzöge von Cleveland, von
Southampton und von Graf¬
ton. Eine andere in der
Galerie dargestellte und 1682
von P. Mignard gemalte Ge-
Geliebte des Königs ist die
ebenso schöne wie intrigante
Französin de Querouaille, von
der die Herzöge von Richmond ihren Ursprung herleiten.
Ludwig XIV. hatte mit Kennerblick herausgefühlt, dass
diese Dame die riditige Person für Karl II. sein würde.
In der langen Reihe fehlt nur Lucy Walters; indessen iln-
Sohn, der Herzog von Monmoutli, ist vorhanden, von dem
wiederum eins der berühmtesten englischen Adelsge-
schlechter, die Herzoge von Buccleuch, abstammen. —
Wir kommen im Katalog dann zu dem Komponisten
Haydn, zu dem Astronomen Herschel aus Hannover, zn
Hogarth, zu all den Königen namens „Heinrich“, zu
Angelica Kanffmann’s Selbstporträt, zum Fehlmai'schall
Keitli, dem Afrikaforscher Livingstone, dem Historiker
Macaulay, zn dem Archäologen Layard nnd zu Leighton;
die beiden letzteren sind von Watts gemalt, ebenso der
Kardinal Manning. Der Herzog von Marlborough und
G. Roinuay, Selbstporträt.
1')*
14S
GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN KUNST.
seine GemaLlin sind von Ivneller der Naeliwelt über¬
liefert. Selbstverstcändlicli reich vertreten sind die Porträts
von Naria Stuart (Janet und Oudry) und ihrem sagen¬
umwobenen Hause, fortgesetzt bis zum letzten des
Stammes, dem Kardinal von York, der als Kind von
Largilliere gemalt wurde. In bunter Reihe folgen dann :
Milton. Thomas Moore, Nelson, die von Boehm modellirte
Büste Lord Napiers, Palmerston, Peel, Pitt, Isaac New¬
ton, Walter Scott, die große Tragödin Sarah Siddons
und Sophia Dorothea, Mutter Friedrich’s des Großen!
Eins der besten Bilder, die Watts überhaupt gemalt hat,
ist das des Oberbibliothekars Panizzi, der abgesehen von
andern Verdiensten auch den Lesesaal im Britiscli-Museum
errichtete. Nach den Königen „Richard“ erfreuen wir
uns an Reynolds’ Selbstporträt. Dann geraten wir in
die Dam])fkraft, d. h. zu den Namen Stephenson und
Watt, um endlich mit Wellington, Wesley, dem Gründer
der Methodisten. Wren (Kneller), dem Architekten des
modernen Lnudiui, und, last not least, um mit dem
Philanthropen Wilberforce zu schließen, der seine ganze
Lebensthätigkeit der Aufliebung der Sklaverei widmete.
ln England macht sich eine ungemein bemerkbare
Bewegung geltend, um diese Porträt-Galerie im weitesten
Sinne als Erziehungsmittel für die Jugend zu verwerten.
Sir .Joshua Fitch, Ehrenpräsident der „Lehrer-Vereinigung
Englands", hielt vor einer zalilreich besuchten Versamm¬
lung der Mitglieder der gedachten Gesellschaft einen
Vortrag über den erziehlichen Nutzen des gedachten
Instituts. Der Vortragende erläuterte an einzelnen
Bildern, in welcher Weise dieselben der Jugend erklärt
werden müssten, um die Vaterlandsliebe zu befestigen und
den Sinn für Schönes, Hohes und Edles zu erwecken.
Der regelmäßige Besuch der Unterrichtsanstalten in ge¬
eigneten Zeitabschnitten wird neben anregender Unter¬
haltung gleichzeitig ein mächtiges pädagogisches Hilfs¬
mittel bilden. Voraussetzung dazu ist selbstverständ¬
lich eine den Schülerkräften richtig angepasste individuelle
Belehrung, die in gesunden Grundsätzen ihre Basis hat.
Die Statistik, welche in unser m modernen Leben
eine so große Rolle spielt, liat festgestellt, dass kein
Institut in London eine derartige Zunahme des Besuclie.s
aufzuvveisen hat, wie das obige. Wie wichtig und be¬
lehrend, nicht minder wie genussreich eine derartige
Sammlung zu durchvvandeln ist, bedarf kaum der Er¬
wähnung. Mit spielender Leichtigkeit für unser Ver¬
ständnis zieht die gesamte Geschichte und Entwicklung
der Nation an uns vorülter! In Deutschland und in Öster¬
reich wäre ein derartiges Unternehmen niclit allzu schwer
ins Leljen zu rufen, vorausgesetzt, dass staatliche Institute,
die Fürstenhäuser und einzelne Privatpersonen von
ihrem Bilderschatz etwas abgeben. Ist die Begründung
erst einmal erfolgt, so hat hier die Ertährung gelehrt,
dass ein solches Museum, und zwar aus sehr nahe
liegenden Gründen, vor Schenkungsangeboten der besten
Kunstobjekte sich kaum zu retten vermag. Der Durch¬
schnitt beträgt hier jährlich 200 Bilder und Büsten.
Wenn die für England maßgebenden Grundsätze Deutsch¬
land und Österreich angepasst und den besonderen Eigen¬
tümlichkeiten hier))ei Reclmung getragen wird, so ist es
gleichgültig, ob ein solches Museum in Berlin, Dresden,
Leipzig, München oder Stuttgart errichtet wird; für
Österreich dürfte es wohl nur Wien sein. Das Motto;
„Den Toten zum Gedächtnis, den Lebenden zur Nacb-
eiferung“ muss der leitende Gedanke bleiben!
r. SCHLEINITZ.
F. X. KRAUS, GESCHICHTE DER CHPISTLICHEN KUNST.')
AS vorliegende Buch nimmt einen von
den vorhandenen Lehr- und Handbüchern
der Kunstgeschichte grundsätzlich ab¬
weichenden Standpunkt ein. Es fasst nur
die Kunst der christlichen Völker und
auch diese nur von ihrer religiösen Seite
ins Auge. Es will vor allem den Inhalt der Darstel¬
lungen betonen. Die Betrachtung ist eine vorwiegend
religions- und kulturgeschichtliche. Der Verfasser spricht
zu uns als Theolog und will diesem das Recht vindizirt
wissen, in den die geistige Welt der christlichen Kunst
1) GefirJn'rlilc dor chrisfliehen Kxnsf. Von Franz Xaver
Kraus. Erster Band. Vllt und ü21 S. Mit zahlreichen
ninstrationen. Freibnrg i. Br., Herder 1800. Gr. 8".
betreffenden, namentlicb in den ikonographischen Fragen
als Stimmführer betrachtet zu werden.
Dabei soll aber das AVerk ein streng wissen¬
schaftliches sein. Die neueste Forschung wird darin
gewissenhaft berücksichtigt; alle Kontroversen sind mit
vollständiger Umschau über das gelehrte Material gründ¬
lich und sachlich erörtert. Als Leser denkt sich der
Autor in erster Linie die theologischen Kreise, und es
ist gewiss ein berechtigter Wunsch, wenn er es sich
angelegen sein lässt, die Geistlichen wieder in ein
lebendiges Verhältnis zur Kunst zu bringen.
Als wichtiges Hilfsmittel der Darstellung dienen
die Abbildungen, von denen ein Teil den frühei’en
Werken des Verfassers der „Roma sotterranea“ und der
„Real-Encyklpädie der christlichen Altertümer“ entlehnt.
GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN KUNST.
149
ein anderer, größerer Teil nen angefertigt sind. Die
Wahl ist eine selir glückliclie zn nennen und das Ver¬
hältnis von Abbildung und Text, was Zahl und Größe
der Bilder anbelangt, das richtige. In
manchen neueren Darstellungen der
Kunstgeschichte ist dies leider nicht
der Fall, so dass wir mein- Bilder- als
Lehrbücher vor uns zu haben glauben.
Kraus beginnt mit einer litterar-
geschichtlichen und bibliographischen
Einleitung in den Gegenstand des Buches,
die wir besonders wmgen der Übersicht
über die bisherige Litteratur und über
die Beteiligung der verschiedenen Völker
an der christlichen Kunstwissenschaft
beachtenswert linden. Einige moderne
kunstgeschichtliche Bücher geben sich
das Ansehen, als ob sie den Gegenstand
zum ersten Mal behandelten. 'Weder
(Quellen noch Hilfsmittel werden citirt.
Es giebt nur den einen Autor, den wir
vor uns haben. Bei Kraus gewinnen
wir dagegen einen sehr anregenden
Überblick über die Entwickelung der
Kunstgeschichte als Wissenschaft, über
die verschiedenen Eichtungen derselben,
auch über ihre Beziehungen zur all¬
gemeinen Geschichte, zur Ästhetik und
zu anderen angrenzenden Fächern.
In der Einleitung begründet der
Verfasser auch die in seinem Buche
durchgeführte Gliederung des Stoffes.
Er zieht die Grenzscheide zwischen
der älteren und neuei’en christlichen
Kunst an der Wende des 13. und 14.
Jahrhunderts. „Bis dahin“ — sagt
er — „wmr der Betrieb der Kunst mehr
handwerklicher Natur, dem Inhalte nach
war sie an überlieferte Typen und Tra¬
ditionen gebunden; ihr Zweck war lehr¬
haft, ihre Mittel sind zum guten Teil
rein symbolisch, sie bewahrte den Cha¬
rakter der Erhabenheit, Strenge und er¬
baulichen Würde.“ In diesen ersten
Zeitraum rechnet Kraus die Entwicke¬
lung von der ältesten christlichen Kunst
bis zur Frühgotik. „Mit Dante und
Giotto (um 1300) vollzieht sich in Poesie
und Malerei die Entdeckung der Natur
der Seele. Von jetzt an will innerlicli
Erlebtes dargestellt werden.“ (Zweitei-
Zeitraum.) Den dritten Zeitraum bildet sodann die Re¬
naissance. Das Quattrocento „entdeckt die äußere Natur
und Schönheit des menschlichen Leibes“ (Naturalismus der
.Niederländer und Florentiner.) Das Cin([necento ist die
Blüte dieser Richtung. In ilim sehen wir den „inneren Zu¬
sammenhang mit dem Geiste und den religiösen Idealen des
ersten und zweiten Zeitraums bewahrt“ und auf solche
Weise den Gipfel des christlichen und modernen Knnst-
lebens erreicht (Lionardo, Miclielangelo, Raffael, Dürer).
Bis hiei lier können wir die Einteilung des Verfassers im
Wesentlichen gntheißen. Anders ist es dagegen, wenn
Sarkophag aus Perugia. (Aus F. X. Kraus; Geschichte der ohristlicheu Knust, I. Band. Freiburg i. Br., Herder 1886.)
150
GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN KUNST.
er von nun an gar nichts als Verfall und Profanisirung
der christlichen Kunst erblicken will. In seinem vierten
Zeitraum erscheinen unter diesem Gesichtspunkte Giulio
Romano, Holbein und Rembrandt zusammengestellt,
— ein seltsames Triumvirat. Im fünften Zeitranni
entfremdet sich die Kunst gänzlich den christlichen
Idealen, um erst im sechsten (durch die Nazarener)
„eine Repristination“ ihrer alten Traditionen zu er¬
reichen, die jedoch bald wieder hinstarb. Am anfecht¬
barsten in dieser Stoffglieilerung ist wohl die dem
Remlirandt angewiesene Position. Wir dächten, dass
gerade er die entschiedenste seelische Vertiefung des christ¬
lichen Darstellungskreises repräsentirte! Auch dem
Barockstil wird Kraus durch das einseitige Betonen
seines profanen Wesens nicht gerecht. Es liegt in der
glänzenden symphonischen Entwickelung der Künste
des Barocco ein kirchliches Element geborgen, über
dessen mächtige Wirkung auf das andächtige Volk
ddcli wohl kein Zweifel besteht. Die Einseitigkeiten und
Schiefheiten in der Auffassung des Autors erklären sich
unserer Ansicht nach daraus, dass bei ihm der christ¬
liche Archäologe den Historiker überwiegt.
Dies bestätigt auch die Behandlung des Stoffs im
Einzelnen. Schon dem Raume nach. Von den zwei
Bänden, auf die das Ganze berechnet ist, umfasst der
vorliegende erste nur die christliche Kunst der primitiven
Zeiten nebst den Anfängen der künstlerischen Thätigkeit
bei den nordischen Völkern. Wenn der Autor seinen
Rahmen nicht beträchtlich erweitern will, wird er die
Kunst des Mittelalters und die der Renaissance, die
doch nach ihm die Blüte des christlichen Stils bezeichnet,
in sehr kursorischer Form vortragen müssen.
Von den bisher vorliegenden Abschnitten sind die
ersten am gewichtigsten. Hier bewährt sich der Autor
von neuem als Meister des Stoffs: nicht nur die Formen¬
welt der ältesten christlichen Kunst, sondern vor Allem
die in ihr aufkeimemlen neuen Ideen und Vorstellungs¬
kreise werden uns zur vollen Anschaulichkeit und Klar¬
heit gebracht. Für das Studium der Anfänge des christ¬
lichen Lebens und seiner Äußerungen in der bildenden
Phantasie ist das Buch von Kraus der beste Führer.
Der Autor schickt nicht, wie es üblich ist, die Architektur,
sondern die Malerei voraus, lässt darauf die Plastik und
dann erst die Baukunst folgen. Das hat seinen guten Grund.
Die Wiege der christlichen Kunst ist in den Malereien
der Katakomben zu suchen. Die Kunstgeschichte be¬
ginnt auch hier, wie im heidnischen Altertum, mit der
Archäologie des Grabes. Dieser Umstand zwingt den
Autor allerdings, über die Katakomben, ihre Anlage und
räumliche Ausbildung einige Be¬
trachtungen vorauszuschicken, die
dann in dem Kapitel über die Ar¬
chitektur ihre bestimmtere Fassung
und Ausführung finden. Aber für
den ikonographischen und archäo¬
logischen Standpunkt des Verfassers
ist das Vorschieben der bildenden
Künste der beste Weg, um uns in
die geistige Welt des Urchristen¬
tums einzuführen. Wir beobachten
hier das allmähliche Hervorwachsen
der symbolisch-allegorischen Kunst
der ersten christlichen Jahrhun¬
derte aus den \Mrstellungskreisen
der griechisch-römischen Kultui’.
Wir lernen die Bedeutung der ein¬
zelnen Typen und Zeichen kennen.
Wii' sehen, wie die Gedanken¬
sphären und die Erzählungen der
Bibel, dann die Geschichten der
Heiligen und Märtyrer in den Dai’-
stellungskreis der Kunst eintreten. An die Malereien
in den Katakomben werden die Mosaikbilder, die Minia¬
turen und die sonstigen Werke der Kleinkunst angereiht,
um das reiche Lebensbild der frühchristlichen Welt zu
vervollständigen. Ein kurzes Kapitel schildert die alt¬
christliche Skulptur. Sie ist im wesentlichen Kleinjilastik
und dekorative Kunst. Nur die Reliefs der Sarkophage
nehmen eine höhere geistige Bedeutung in Anspruch.
Die Anzahl der größeren statuarischen Bildungen ist
gering. Kraus stimmt der von Wickhoif in unserer
Zeitschrift ausgesprochenen Ansicht bei, dass die viel¬
besprochene große Bronzestatue des Apostels in der
Peterskirche zu Rom nicht der altchristlichen Zeit,
sondern erst dem Mittelalter angehöre.
Den Abschnitt über die Baukunst der alten Christen
beginnt Kraus mit einer lichtvollen Erörterung des Ver¬
hältnisses der Basilika zum Ökus und zur Katakomben-
S. Aguese Fuori le Miiia. (Aus: F. X. Ki’aus, Geschichte der christlichen Kirnst,
Band I. Freiburg i. Br., Herder 1896.)
GESCHICHTE HEU CHRISTLICHEN KUNST.
151
kapelle. Hie ältesten cliristliclieu Gemeinden kamen in
den zu Betsälen unigewandelten Hansbasiliken ziisaninien.
Die Kapellen im Inneren der Katakomben dagegen
dienten wohl zu speciellen Kultusbandlungen über den
Gebeinen hervorragender
Märtyrer, aber nicht für den
i'egelmäßigen Gottesdienst.
Wichtig für die Entwicke¬
lung des christlichen Kirchen¬
baues sind die kleinen Bet¬
häuser (Memoriae, Cellae ci-
miteriales) über den Kata¬
komben, von denen uns in
den sogenannten Basiliken
des heil. Sixtus und der heil.
Cacilia über der Katakombe
von S. Callist(j zwei merk¬
würdige Beispiele erhalten
sind. Ihr absidial abschlie¬
ßendes Innere diente dem
Kultus, an dem das Volk
unter freiem Himmel stehend
teil nahm. Wenn an Stelle
des offenen Baumes ein
Hallenbau trat, so war die
Basilika fertig. Und für die
Gestaltung dieses in der Ke¬
gel dreischiffi gen Hallen baues
mag sowohl die Hausbasilika
als auch die forensische Basi¬
lika der Kölner die Motive
dargeboten haben.
Nachdem der Autor dann
die Denkmäler des Basiliken¬
baues im Einzelnen geschil¬
dert hat, geht er zu dem
zweiten Typus der christli¬
chen Kirchenanlagen über,
zum Centralbau, welcher sich
aus den Kotunden und Koly-
gonbauten der Körner ent¬
wickelte. Hier wird beson¬
ders die mannigfliche Ausbil¬
dung des Kuppelbamsystems
betont, welche in die Zeit
vom 4. bis G. Jahrhundert
nach Chr. fällt. Ein lehr¬
reiches Kapitel übei' die kirch¬
lichen Einrichtungsstücke beschließt diese sehr gehalt¬
volle und vortrefflich illustilrte Abteilung.
Die folgenden Abschnitte gelten der weiteren Ent¬
wickelung der christlichen Malerei (vom 4. bis G. Jahr¬
hundert), sowie den Kleinkünsten und Kunstgewerben
jener Epoche. Aus den letzteren Kapiteln heben wir
die Abschnitte über die Elfenbeinplastik und über die
neueidings durch die ägyptischen Eunde so bedeutsam
gewordene Textilkunst besonders hervor. Die Schluss¬
kapitel des ersten Bandes füllen die byzantinische Kunst
und die Anfänge der Kunstthätigkeit bei den nordischen
Völkern. In Betreff der Stellung von Byzanz erklärt sich
Kraus unseres Erachtens mit Keclit gegen die über¬
triebene ^Vertschätzung, welche manche Geleinte der
jüngeren Generation der oströmischen Kunst haben an-
gedeilien lassen. Die hohe Stellung der Sophienkirche
in der Kaumkunst aller Zeiten bleibt unangefochten.
Auch die Feinheit des plastischen Marmorstils der Byzan-
152
KLEINE MITTEILUNGEN.
tiner ist allerseits anerkannt, ln ilir lebt ein altlielle-
nisclies Element fort. Von mächtigen geistigen Impulsen,
die in der byzantinischen Kunst gewirkt und sich auf
Europa fortgeptlanzt hätten, kann nicht die Eede sein.
Ungemein anziehend ist die Lektüre der letzten, den
hallibarbarischen Kunstversuchen unserer nordischen Vor¬
eltern gewidmeten Seiten des Buches. Kraus weiß uns
die Urzeit so nahe zu bringen, dass wir das Echo zu
vernehmen glauben, welches die erste christliche Stimme
in den Wäldern unserer Heimat einst hervorrief. Wir
beobachten die Ül)ertragung der altnordischen oder alt-
asiatischen Zierformen in das westliche Europa, wir sehen
sie hier mit römisclien Motiven sich vermischen, ln
Poesie und Kunst dilngen dann die Vorstellungen der
neuen Lehre ein. So entsteht, was wir Karolingische
Kultur nennen, eine Mischform römisch-christlichen und
germanischen Wesens. Die mönchische, die klösterliche
Kunst wartet vor der Thür. Wir stehen an der Pforte
des Mittelalters. Mit dem Hinweis auf die hohe Be¬
deutung des Benediktinerordens für 'die Kultur Europa’s
um die Wende des ersten Jahrtausends nach Chr. schließt
Kraus die Darstellung seines ersten Bandes. Möge es
ihm vergönnt sein, uns bald den zweiten in gleicher
Gediegeidieit und Schönheit zu beschei'en! G. r. L.
KLEINE MITTEILUNGEN.
" LcDiijsiraßc mif Alt-St. Vctcr in Sfraßbury i.E. Oiigiiial-
radiriing von H. Küriiije. Wer bei seiner Ankunft in Straß-
tmrg, vom Balndiof rasch vorwärtsschreitend, auf kürzestem
Wege durch die Langstraße zum Hauptziel eines jeden
Touristen, dem Münster gelangen will , der sieht sich un-
luittcdbar nach Überschreitung des in die 111 führenden
Kanals unwillkürlich durch ein altertümliches Bauwerk ge¬
fesselt, das trotz seines verwahrlosten Zustandes doch
charakteristisch genug ist, um gleichsam als Wächter am
Eingang zum alten Straßburg zu stehen. Es ist die alte
St. Peterskirche mit ihrem irngleichen Paar von Türmen, von
denen sich der eine zu einer beträchtlichen Höhe empor¬
streckt. Er ist freilich im Vergleich zum Münstertnrm nur
ein Zwerg; aber er trägt dafür den ehrwürdigen Rost des
Alters, der dem Münster durch beständige Restaurationen
mit der Zeit verloren gegangen ist. Der Radirer, der es sich
zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, die köstlichen archi¬
tektonischen Winkel des deutsclien Eisass den Augen aller
Kunstfreirnde im Reich zu öffnen, hat sich denn auch einen
Platz am Anfang der Langgasse, mit dem Rücken gegen die
innere Stadt, ausgesucht, so dass das Bild einer mittelalter¬
lichen Stadt uns in einer durch moderne Zuthaten wenig
entstellten Reinheit vor Augen geführt wird. Über seine
Persönlichkeit haben wir den Leser im Februarhefte der
Zeitschrift unterrichtet. Seine Begabung für die Architektur-
Hadirung tritt in diesem zweiten Blatte noch stärker zu Tage
als in seinem ersten. It.
* Bittere Medizin. Nach dem Bilde von Adriaen Broiiivcr
im Städel’schen Museum in Frankfurt a. M. gestochen von
Otto Heim. Dieses Bild des genialen Meisters, der als mehr¬
fach auf- und alrwandelnder Parteigänger eine Brücke zwischen
holländischer und vlämischer Kunst gebaut, einen Rubens
zur Bewunderung, einen Teniers zu gelegentlicher Nach¬
ahmung gezwungen hat, gehört zu der Reihe von Halb-
tiguren, in denen Brouwer nach der geistigen Richtung seiner¬
zeit Allegorieen zu Menschen gemacht hat. Der wüste
(ieselle, der vermutlich zu den Zechgenossen Brouwer’s ge¬
hört hat, soll, wie wir aus Analogieen wissen, ein Sinnbild
des Geschmacks sein, einer aus der Reihe der fünf Sinne,
die Brouwer in einem Cyklus, nach seiner Art, dargestellt
hat. Der Geschmack äußert sich bei diesen Leuten nur dann
drastisch, wemr sie etwas unerträglich Bitteres zu trinken be¬
kommen, in dem nichts Anregendes zu finden ist. ln diesem
unangenehmen Falle befindet sich der Mann, den sich Brouwer
zum Reiiräscntanten des „Geschmacks“ auserlesen hat, frei¬
lich um eine meisterliche Studie daraus zu machen. In
ihrer geistsprühenden Behandlung — sie ist wohl, so zu sagen
auf einem Sitz, alla jtrinia gemalt — übt sie auf den Stecher
einen unwiderstehlichen R.eiz zum Wettkamjif aus, und den
hat auch Otto Reim empfunden, als ihm die Gelegenheit
wa.r<l, sich täglich mit diesem malerischen Tausendkünstler
vertraut zu machen. Im Jahre 1864 geboren, ist Otto Reim
1882 Schüler der Berliner Kunstakailemie geworden. Nach¬
dem er sich für die grajdiischen Künste entschieden hatte,
genoss er ■anderthalb J-alire lang den Unterricht Hans Meyer’s,
und nach Überwindung der Lehrzeit wurde er vom Ende
des Jahres 1888 bis zum Anfang 1894 für d-as Berliner Galerie-
werk beschäftigt, wobei ihm freilich meist die Reproduktion
von Gemälden der älteren italienischen Schulen zufiel, die
seinem Wesen nicht sehr zusagten. Seine Leistungen waren
trotzdem so befriedigend, dass er im Oktober 1894 als
Assistent an das Städel’sche Kunstinstitut in Frankfurt a. M.
berufen und auch mit der Leitung des Kabinetts für Kupfer¬
stiche und Handzeichnungen betraut wurde. Er blieb jedoch,
nur eiir Jahr in dieser Stellung, um sich fortan wieder freier
künstlerischer Thätigkcit zu widmen. Während seines Auf¬
enthalts in Frankfurt stach er u. a. auch dieses Blatt, weil
ihn, wie er uns schreibt, „das Original durch seine ungemein
frische, lustige Technik reizte.“ Er betrachtet es, wie er
hinzufügt, ülirigens nicht im allgemeinen als die Aufgabe
des Stechers, ,,die Pinselstriche, die er dem Maler nachfühlen
muss, sklavisch zu kopiren.“ ln diesem Falle musste cs aber
geschehen. ,,Wenn man bei diesem Bilde von der Mal¬
technik alisieht, so bleibt nicht viel übi-ig, so ist der Haupt¬
reiz nicht wiedergegeben.“ Das gilt nicht bloß von diesem,
somlern vorr den meisten Bildern Brouwer’s, bei denen fast immer
das gegenständliche Interesse liitjter dem rein koloristischen
Reiz zurückbleibt. Um diesen in seiner volleir Wirkung
herauszubringen, hat Reim, wie es auch Klinger häufig thut,
die Rarlirnadel mit dem Stichel verl.)unden, aber so, dass
die erstere nur die Vorarbeit in deir Nebensacheir gethan
hat, während die Haupta.rbeit dom Stichel überlassen worden
ist, der aber mit voller Freiheit, ohne Ängstlichkeit und
Kleinlichkeit, geführt worden ist. Das Blatt darf sich den
besten Reproduktionen, die wir von Brouwer’schen Bildern
besitzen, ebenbürtig an die Seite stellerr. R
Herausgeber: Carl von Lütxoio in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
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Urii,:!. V ,T.il Wolf, Ijolpy.ii
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KäSSäHDRä.
Marniorfigtir von MAX KLINGER.
Zeitschrift für i)ildende Kviiist Jt. F. YIII.
Aufnahme und F'arbeiilichtdriick von Siiisel & Co.,
Leipzig-Plagwitz.
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
VON JULIUS VOGEL.
MIT ABBILDUNGEN.
er Kuf und die künstlerische Be¬
deutung Max Klinger’s stellen jetzt fest ge¬
gründet da, in Deutschland und weit über seine
Grenzen hinaus. Seit Jahren schon rechnen wir mit dieser
Thatsache, die uns so selbstverständlich erscheint, dass
wir darüber keine Worte verlieren mögen. Und doch, wie
schwer hat er um xAnerkennung ringen müssen, wie sehr
und wie oft ist sein ernstes Streben verkannt worden,
wie oft hat trivialer Witz und beißende Satire Kritik
an seinen Werken geübt! Auf die sehr anerkennenden
Worte, die in Berlin im Jahre 1878 seinen Erstlings¬
arbeiten bei ihrer Ausstellung gezollt wurden, folgten
Antikritiken und dann in den folgenden Jahren Ab¬
sagen in Menge, — Klinger habe das Zeug zu einem
„verbummelten“ Künstler in sich, lautete die Liebens¬
würdigkeit eines angesehenen Berliner Litteraten — und
auch an ihm ist Ernst Hähnel’s Aphorisme zur Wahr¬
heit geworden: „In den Augen der Mitwelt tritt jedes Genie
als Verrückter auf!“ Wenigstens ein nicht unbedeutender
Teil unserer sog. kunstsinnigen Welt hat mit scharfen
Urteilen selbst späteren Werken gegenüber nicht zurück¬
gehalten, wenn es natürlich auch nicht an einer kleinen
Gemeinde fehlte, die, besonders in Berlin und in Dresden,
viel für den Künstler gethan hat. Weniger haben die
Franzosen mit ihrer Anerkennung zurückgehalten, und
bezeichnend, daneben aber seltsam klingen die sauer¬
süßen Worte, die vor fünfzehn Jahren ein Kritiker des
„Estampe“ niederschrieb: „II est certainement douloureux
d’etre force de reconnaitre du talent ä un Allemand,
mais le patriotisme n’a rien ä faire en art.“ In
Klinger’s Vaterstadt Leipzig ist man nicht immer so
Zeltschnft für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 7.
entschieden wie seit den letzten Jahren auf Seiten
derer gewesen, die dem Künstler ihre Sympathien dar¬
brachten. Man könnte zur Erklärung dieser Thatsache
das bekannte Sprüchwort anführen von dem Propheten,
der nichts in seinem Vaterlande gilt, wenn in einigen
der ersten Folgen der radirten Werke nicht so mancher
fremdartige und unverständliche Zug, nicht so mancher
barocke Einfall, manche Küustlerlaune und manches per¬
sönliche Erlebnis das Verständnis des Wesens und das
Eindringen in den Inhalt seiner Kunst auch hier Vielen
sehr erschwert hätte. Im Spätherbste des Jahres 1887
war dann sein „Parisurteil“ im Leipziger Kunstverein
ausgestellt. Es war etwas völlig Neues und Fremd¬
artiges, in der Gesamtwirkung Überraschendes, das der
„talentvolle“ Künstler da darbot, und ich, der ich wenige
Tage zuvor, als ich das Bild zum ersten Male sah, in
Raffael’s Loggien und Stanzen im Vatikan geschwelgt
hatte, gestehe auch zu denen gehört zu haben, die sich
mit dieser neuen, den Bruch mit jeder landläufigen
Tradition laut verkündenden Schöpfung nicht recht be¬
freunden konnten. Eine Sonderausstellung der Werke
Klinger’s im Januar 1893 brach endlich das Eis voll¬
ständig. Der große moralische Erfolg dieses Winter¬
feldzuges war die Erwerbung der „Salome“ für das
städtische Museum, der zwei Jahre später die „Kassandra“
als hochherzige Schenkung eines Kunstfreundes nach¬
folgte, dessen Name unbekannt bleiben soll.
Über beide Werke, über die „Salome“ mehr als
über die „Kassandra“, ist viel schon geschrieben und
beide sind durch gute und schlechte Abbildungen zu den
populärsten Erzeugnissen der modernen Skulptur ge-
20
154
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
worden, innerhalb deren sie, man darf wohl sagen, einen
Merkstein bezeichnen. Die „Salome“ hat zweifellos den
Beschauern mehr zu denken gegeben, nicht nur weil
sie früher als die ..Kassaudi'a“ entstanden ist, sondern
weil man den moralischen Wert des künstlerischen Ge¬
dankens vorsichtig abwägte, weil der Eindruck aut das
nervöse Emjifinden des Beschauers intensiver, die Wir¬
kung der äußeren Erscheinung fascinirender war als bei
jener. So ist in die Erklärung der Figur manches
hineingelegt worden, was auszus]irechen dem Künstler
fern gelegen hat, was überhaupt mit seiner ganzen von
ernster, i)hilosophisch durchdrungener Lebensauffassung
getragenen Anschauungsweise nicht harmoniren würde.
Haben sich doch selbst Neuro-Pathologen mit der Figur
befasst, diese mit Ilichir’s „Verderbtheit“ zusammenge-
steilt und einen „krankhaft -sexualperversen Zug“ kon-
struirt, der beide W^erke inspirirt zu haben scheine.
Der Gedanke, den die „Salome“ nach des Künstlers
Absicht verkörpern soll, ist einfacher und bedarf auch
nicht des Appai-ates der symbolischen Erläuterung. In
Kürze gesagt; es ist die Wahrheit von der Macht der
physischen — nicht perversen, sondern natürlichen —
Liebe, die gleichmäßig Jung und Alt umstrickt. Die
Freude über das Gelingen und der hieraus resultirende
dämonische Zug bilden die psychologische Grundstiinmung
des künstlerischen Gedan¬
kens. Als dramatisches Mo¬
ment kommt hinzu, dass
die, welche sich dieser pliy-
sischen Liebe nicht zu ent¬
ziehen vermochten, ihre
Opfer, von ihr vernichtet
werden, und der Eindruck,
den dies Ergebnis auf die
Urheberin hervorruft, stei¬
gert sich bis zur Genug-
thuuug darüber, bis zum
Triumph. Das Gefühl der
weiblichen Überlegenheit
S])richt sich aus in der ener¬
gisches Sell)stbewusstsein
verratenden Haltung, in der
Art und Weise, wie die
Arme verschlungen sind, in
der physischen Kraft, in
den starken, fast männ¬
lichen Händen, — Klinger
hält sie selbst beim Weib
für eine Schönheit — das
Dämonische des Gedankens
und Unheimliche des Voll-
bringens spiegelt sich wie¬
der in den Zügen des Ant¬
litzes, in den tiefliegenden,
umschleierten Augen, ja
selbst in der merkwürdigen Schädelbildung, die in der
Seitenansicht zur vollen Wirkung gelangt. Für die
Entstehung dieses Typus ist es nicht ohne Interesse
zu wissen, dass das Urbild, das der Leser in ent¬
sprechender Umarbeitung schon von der Athena des
„Parisurtcils“ her kennt, der Abstammung nach jeden¬
falls keine rasse-reine Persönlichkeit war, sondern eine
Mischung von französischem und slavischem Blut dar¬
stellt, eine 'Wahrscheinlichkeit, die sich besonders aus
der Seitenansicht in der Originalstudie, einer Pastell¬
zeichnung auf grünlichem Papier, zu erkennen giebt,
wo das plattgedrückt erscheinende Gesicht nicht auf
romanischen Ursprung hinweist, obwolil es einer Fran¬
zösin angehört.
Die Halbfigur der „Kassandra“ spricht menschlich
mehr an. Klinger schildert die mythische Seherin in
dem Augenblicke höchster pathetischer Erregung, die
alle Nerven anspannt und aufregt, zugleich aber das
heroische Weib, das sich in diesem Momente festen
Willens zu beheri'schen weiß. Sie sieht, wie der Dichter
es schildert, das Unglück in ganzer Schwere, das als
tragisches Verhängnis ihrem Hause beschieden ist; in
ihren gramerfüllten, in ihrem Schmerze wunderbar er¬
greifenden Zügen spiegelt sich die unendliche Sorge, der
bange Kummer wieder, der vor ihren in die Zukunft
blickenden Augen steht. Die
Figur ist seitlich und stark
vornüliergeneigt, das Haupt
macht eine leichte Wen¬
dung, als lauschten die
Ohren auf die prophetische
Stimme des Gottes. Die
mächtige iisychische Er¬
regung macht sieh in dei¬
ner vösen Uni'uhe der Hal¬
tung bemerkbar und möchte
auch in einer spontanen
Bewegung der Hände nach
Ausdruck ringen. Aber die
Kraft bezwingt die körper¬
liche Bewegung, indem die
linke Hand krampfhaft nach
der rechten greift und diese
mit energischem Druck zn-
rückhält. Und trotz dieser
Bezwingung empfindet man
hier körperliche und geis¬
tige Bewegung in ihrer
höchsten Potenz.
Jeder Beschauer, der
den beiden auch räumlich
vereinten Halbfiguren zum
ersten Male gegenüber tritt,
empfindet sofort, dass er ganz
ungewöhnliche Schöpfungen
Max Klinger bei der Arbeit; Ölgemälde von K. StoevinG.
(Als Geschenk des Herrn Eduard Stöhr in Leipzig-Plagwitz seit 1896
im Besitze des Leipziger Museums. Im Hintergründe steht die Figur
der Kassandra.)
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
155
Studie zur SaJome von Max Klinger.
Pastellbild im Besitze des Herrn Dr. J. Vogel in Leipzig.
Tliatsaclie, dass die Farlic des von iJim zn Skulptnr-
zwecken verarbeiteten Steins nur durch die Quali¬
tät, durch die Echtheit des Materials, g-ewähideistet
werden kann. Diese, ich will den Ausih’uck ge¬
brauchen „waschechte“, Farbigkeit ist nach seiner
Meinung da zu erstreben und zu erreichen, wo die
Natur selbst im Stein, Metall, Elfenbein, Holz u.
dgl. m. die nötigen Mittel an die Hand giebt. Zu
diesem Zwecke ist die Frage von der Verwendbar¬
keit der verschiedensten Steinsorten, welche Fär¬
bung sie durch die Politur annehraen, wie sie durch
Patina wirken, von ihm zu einem Studium gemacht
worden, wie es so intensiv bisher vielleicht von
keinem Bildhauer, wenigstens keinem modernen, be¬
trieben worden ist. Das Material, dessen Auswahl
bekanntlich oft genug dem Händler oder dem italie¬
nischen Abbozzatore, der das nach dem Modell fertig
punktirte Werk aus seiner Werkstatt dem Meister
nur zum Zweck der letzten Übergehung zusendet,
überlassen wird, ist für ihn nicht nur Auschucks-
mittel für die Form, sondern es soll durch seine
Schönheit und den intensiven Ton der Farbe wirken,
jene heben und erläutern. Die „Salome“ nun ist in
der Weise zusammengesetzt, dass Kopf, Hals und
Hände aus griechischem (parischem) Marmor bestehen,
das graue, in der Längsachse der Figur, was ein merk¬
würdiger Zufall gefügt hat, von weißen Streifen durch-
der plastischen Kunst vor sich hat, und dieser
Eindruck steigert sich, je mehr man gewahrt,
welche entscheidende Rolle hier der Farbigkeit
zugewiesen worden ist. Um diese für das Auge
so bedeutsamen Effekte zu erreichen, ist Klinger
vor einer technischen Maßnahme nicht zurück¬
gescheut, die, weil sie Manchem als eine ästhe¬
tische Unmöglichkeit erschien, im besten Falle
als künstlerische Spielerei, von Vielen, die den
Entwickelungsgang der Kunstgeschichte nach
Analogieen konstruiren möchten, als Zeugnis
vom Anfänge einer künstlerischen Decadence
betrachtet wurde. Beide Skulpturen sind nicht
polychrom, — das würde Niemanden befremdend
erscheinen, — sondern polylith, d. h. sie sind
aus Stücken verschiedenen Steines, für dessen
Wahl hauptsächlich die farbige Wirkung ma߬
gebend war, zusammengefügt, ähnlich also, um
auf erhaltene analoge Beispiele hinzuweisen —
denn auch aus dei’ besten Zeit der klassisch¬
antiken Kunst ließen sich entsprechende Paral¬
lelen anführeu — ähnlich wie die Kunst der
späteren römischen Kaiserzeit Statuen und Büs¬
ten von Imperatoren und deren Angehörigen
zusammenzustücken liebte. Was Klinger zu
diesem, technisch übrigens sehr schwierigen
Versuch in erster Linie veranlasst hat, ist die
Stiiilie zur Salome von Max Klinger.
Pastellbild im Besitze des Herrn Dr. J. Vogel in Leipzig.
20*
156
ALTES UND NEUES VON MAX KLINOER
zogene, stofflich überzeugend walir wirkende Gewand ans
hyinettischem (attischem) Stein, der aus einem antiken
Säulenkapitell gewonnen wurde, das der Künstler in
einer Vigna vor der Porta Portese in Rom fand. Der
ältere Kopf an der Basis ist aus afrikanischem rotge-
ädcrteni, der jüngere aus karrarischem (l)läuli( h getöntem)
Marmor gearbeitet. Aus parischem Marmor bestehen
Bildnis eines Knaben ,
getuschte Federzeichnung von Max Klinger.
auch die Fleischpartieen der „Kassandra“, während für
das Gewand rötlicher Alabaster verwendet wurde, der
allerdings wegen der Sprödigkeit und Rissigkeit für die
statuarische Plastik sich wenig eignet und mit einer
Wachsscliicht überzogen werden musste, die wiederum
leicht getönt wurde. Die Augen sind bei beiden Figuren
aus Bernstein eingesetzt; Metall (Bronze) ist nur für
das Band verwendet worden, das über der liidcen Schulter
der „Kassandra“ das Gewand zusammenhält.
Wie der Rahmen, der mit dem Gemälde und für
dieses gedacht und bestimmt nach einem alten ästhe¬
tischem Grundsätze mit diesem geboren werden soll, des
Künstlers Aufmerksamkeit beansprucht, so soll nach
Klinger’s üleinung für Werke der Plastik das Postament
dazu dienen, jene in der AVirkung zu lieben, ohne
aber in der äußeren Gestaltung für das Auge aufdring¬
lich zu werden. Dieser Grundsatz ist bei den Posta¬
menten der Ijeipziger Halbfiguren praktisch befolgt
worden. Die Würfel aus den Brüchen von Bagneres de
Bigorre (im Departement Hautes Pyrenees) stammend,
zeigen eine intensiv hellgrüne, durch graue Streifen
und bei dem Postament der „Salome“ durch breite,
dunkelcarmoisinrote Bänder unterbrochene Farlie, die in
dem einen Falle mit dem grauen, in dem andern mit
dem rötlichem Tone des Gewandes vortreftlich harmonirt.
Bemerkt sei, dass bei der „Kassandra“, gewissermaßen
um die schlanke Figur zu der wuchtigen Masse des
Postaments überzuleiten, zwischen beide eine fünfseitige
Basis zwischengeschoben ist, für die der Künstler röt¬
lichen nassauischen Marmor gewählt hat.
Dieses, wie die Erfahrung lehrt, manchem Künstler
als eine Sache von nebensächlicher Bedeutung erschei¬
nende Studium der Steinarten und der Möglichkeit ihrer
Verwendung für die Plastik hat Klinger auf großen
Reisen, die dem Besuche alter und neuer Marmorbrüche
galten, vertieft, Reisen, die ihm die Wahrnehmung auf¬
drängten, dass für die materiellen Zwecke der Bild¬
hauerei in Zukunft noch vieles gewonnen werden kann.
Besonders ist es nach seinen praktischen Erfahrungen
der schon von den Alten verwendete Marmor von den
Inseln des griechischen Archipels ■ — Paros, Syra u. a.
— der im Korn, der Farbe und Durchsichtigkeit und
der zu erwartenden Patina dem gemeinhin verarbei¬
teten carrarischen Stein wesentlich überlegen ist. Frei¬
lich ist die Ausbeutung dieser Brüche — auf Paros
haben sie vor .Tahren Franzosen unternommen, dabei aber
schlechte Erfahrungen gemacht — mit solchen Schwierig¬
keiten verbunden, dass wenige Künstler gesonnen sein
werden, in Klinger’s Fußtapfen zu treten.
Die Kunstblättersammlung des Leipzigei' städtischen
Museums, die sich früher nur aus Schenkungen und Ver¬
mächtnissen kunstsinniger Bürger zusammensetzte, für
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
157
Der Tod am Grabe; Federzeicbmiug vou Max Klinger
die aber nie eigentliche systeniatisclie Ei'werbnngen ge¬
macht wurden, versucht seit einigen Jahi'en nacliziiliolen,
was früher versäumt worden : eine Aufgabe, deren Lösung
bei der jetzigen Entwicklung der graphischen Künste
zum guten Teil allerdings noch der Zukunft Vorbehalten
ist. Indessen es sind doch in der letzten Zeit manche,
zum Teil umfangreiche Erwerbungen geglückt, die das
Interesse aller Kunstforscher und Kunstfreunde bean¬
spruchen dürften. Planmäßig gesammelt wurden in
erster Linie Blätter von Leipziger Künstlern, von Otto
Greiner und besonders von Max Klinger, deren sämtliche
Werke nebst einei' großen Reihe von Originalzeichiiungen
erworben worden sind. Diese Zeichnungen von Klinger’s
Hand, von denen eine Anzahl charakteristischer und gegen-
158
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
ständlich interessanter Beispiele in Faksimile-Naclibildung-
hier wiedergegeben sind, mögen zunächst unsere Auf¬
merksamkeit beanspruchen. Es sind, abgesehen von
den Studien, die der Künstler für spätere Werke (die
Kassandra) entworfen hat, neunundfünfzig Blatt, sauber
mit der Feder gezeichnet, die meist in einfachen Kon¬
turen gehalten und leicht getuscht oder sich vom dunklen
Ilintergrundston loslösend, einige bildmäßig weiter aus¬
geführt, ursprünglich zu einem Skizzenbuch gehörten, das
Klinger, weil es samt und sonders Jugendarbeiten waren,
denen er keine Bedeutung beimaß, schon vor Jahren
weggab, das längere Zeit im Kunsthandel war und
auf die Gartenveranda des in parkartiger Umgebung lie¬
genden elterlichen Hauses zurückzog und hier, gleichsam
um der Ruhe zu genießen, die ihn Itewegenden Gedanken
auf das Papier übertrug. Auf Gussow’s Betrieb wurden
die unscheinbar gewordenen Blätter später aufgezogen
und liei Gelegenheit in Berlin ausgestellt. Es ist die
Zeit, die für die Entwicklung Klinger’s von entscheidender
Bedeutung wurde, insofern er auf Anregung des Kupfer¬
stechers und Kunsthändlers Hermann Sagert sich ent¬
schloss, zur Ea<liruadel zu gi'eifen, um. wie man ihm sagte,
auch andern die Freude zu machen, seine Zeichnungen
und zwar in eigener Vervielfältigung genießen zu können.
Johannes predigt in der Wüste; getuschte Federzeichnung von Mas Klinger.
schließlich um eine ansehnliche Summe — ansehnlich
wenigstens im Verliältnis zu der, die der Schöpfer der
Zeichnungen einst erhalten hatte, — von der Stadt
Leipzig angekauft wurde. Es sind, wie gesagt, Jugend¬
werke, zeitlich etwa den Zeichnungen „Vom Thema
Christus“ gleichzustellen, die im Besitze der Berliner
National-Galerie und neuerdings in dem unten besprochenen
Hanfstänghschen Klinger-Werke veröffentlicht wnrden sind.
Entstanden sind sie zum Teil während Klinger’s Studien¬
zeit in Karlsruhe und Berlin unter Gussow’s Leitung, zum
Teil in den Mußestunden, die der Künstler während seiner
militärischen Dienstzeit im .Jahre 1876 — 1877 erübrigte,
wo er nach den Anstrengungen der Übungen gern sich
Der erste Versuch, ein den Mond anbetendes Fabelwesen,
mit etwas Befangenheit in zarten Linien in die Platte
geritzt, gelang zur Zufriedenheit und wurde fortgesetzt,
obschon die liebevolle besorgte Mutter des Künstlers,
der damals an einem Magenleiden nicht unbedenklich
erkrankt war, sich mit dem Gedanken erst wenig be¬
freunden konnte, weil sie von der Arbeit über der
Kupferplatte schlimme Folgen für die Gesundheit des
Sohnes voraussah. Die Zeichnungen des Leipziger Mu¬
seums geben ein buntes Bild von alledem, was den
Künstler, bevor er als Radirer an die Öffentlichkeit
trat, bewegte. Der Ideenkreis, der sich hier ausspricht,
deckt sich mit dem gerade, was Klinger als den hervor-
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
159
ragendsten Cliarakterzug der Zeichnung bezeichnet, mit
der starken Subjektivität des Künstlers. Was er darstellt,
so definirt er sie, ist seine Welt und seine Anschauung,
es sind seine persönlichen Bemerkungen zu den Vor¬
gängen um ihn und in ihm, wegen derer ihm keiner¬
lei Zwang aufliegt, als sich künstleriscli mit der Natur
seiner Eindrücke und seinen Fähigkeiten abzufinden.
Es sind also Eindrücke bald dauernder Art, bald flüchtiger
Natur, wie sie sich der geschäftigen Pliantasie auf¬
drängen oder wie sie das Leben und die Umgebung mit
sich bringt, bald
solche, die desKünst-
lers Denken jalire-
lang in Ansprucli
nalmien gleichsam
wie eine Lebens¬
weisheit, die in die
Sprache der Ctrilfel-
kunst übersetzt,
nach einem konkre¬
ten Ausdruck sucht.
Endlich gehören zu
der Sammlung auch
die Originalzeich¬
nungen zu Klinger’s
Erstlingswerke
der Radirkunst, zu
den 1878 erschiene¬
nen „Radirten Skiz¬
zen“, die als allge¬
mein bekannt vor¬
ausgesetzt werden
können.
Klingel’ ist von
Haus aus pessimis¬
tisch veranlagt und
jahrelang haben ihn,
wie andere große
Geister seines Glei¬
chen, die Gedanken
vom Tode bewegt.
Was er in den bei¬
den Cyklen „Vom
Tode“ ausgespro¬
chen hat, solche Ideen haben sein Hirn von Jugend auf
erfüllt, und die Leipziger Zeichnungen sagen uns, dass die
viel später ausgeführten Gedanken eigentlich Werke
der Jugend sind. Das gilt z. B. von dem vom Throne
herabgestürzten Herodes dem Großen, der schon in den
„Radirten Skizzen“ verwendet werden sollte. Bezeich¬
nender aber sind zwei Blätter, wo der Sensenmann in
unmittelbare Aktion tritt. Die eine zeigt uns eine
weite Gebirgslandschaft, im Vordergründe öfluet sich
eine Höhle, der der Tod entsteigt. Den einen Fuß
hat er schon auf den Felspfad gesetzt, mit den Knochen¬
händen hält er eine mächtige Sense, mit der er erbar¬
mungslos zum Hiebe ausholt. Die andere führt uns das
irdische Scheiden des Daseins vor: wir sehen ein aus¬
geworfenes Grab, in das der Tod, der gebieterisch nach
unten weist, ein sich wehrendes und sträubendes Men¬
schenkind hineinzustoßen sich anschickt. Hierzu kommen
andere Erscheinungen und Arten des Todes: der greise
Mann, der im Todeskampfe ringend mit stierem Auge
blickt, das demnächst zu brechen droht (Klinger’s Gro߬
vater in der Agonie), das Weib, das den Tod in den
Wellen, die es wie¬
der an den Sand
gespült haben, ge¬
sucht oder gefunden
hat, ein Bild von er¬
schütternder Wahr¬
heit. Der Wanderer,
der auf einsamem
Felsenpfade vom
Tode ereilt worden
(in den „Radirten
Skizzen“), der Tod,
der die ägyptische
Erstgeburt dahin¬
gerafft hat. Dar¬
stellungen aus der
biblischen Ge¬
schichte haben ja
Klinger vielfach be¬
schäftigt. Am be¬
kanntesten sind die
oben erwähnten
Federzeichnungen
„Vom Thema Chris¬
tus“. Sie haben
Klinger’s Ruf be¬
gründet und ver¬
dienen einen Platz
in der Kunstge¬
schichte. Wesent¬
lich gleichzeitig mit
ihnen sind auch
einige der Leipziger
geistesverwandten
Blätter entstanden, so die wunderbar lebensvolle getuschte
Zeichnung „Christus vor dem Hohenpriester“, Christus
auf dem Meere wandelnd, eine Grablegung Christi, Jo¬
hannes der Täufer predigt in der Wüste, die Salome,
ein leicht geschürztes Judenmädchen das Haupt des
Täufers von der Herodias verlangend, die meisten durch
stark semitische Typen ausgezeiclmet; oder, dem alten
Testament entlehnt, die Personifikation der sieben mage¬
ren Jahre, sieben dämonisch in rasender Wut durch
das Land jagende Kühe. Ebenfalls historischen Genre’s
ist schließlich noch das wundervolle Blatt, in dem Ham-
Das Ende; getuschte Federzeichnung von Max Klinger.
160
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGEL.
let der Geist des Vaters erscheint. Daun aber be¬
gegnen wir wieder der reinen Phantasie, die das
Rätselhafte, Dämonische, Unheimliche schildert, bald
airch märchenhafte Lieblichkeit und zarte, bestrickende
Schönheit: so die Phantasiefahrt und die Siesta (für die
radirten Skizzen entworfen), das „Ur-Nichts“, ein ge¬
flügelter, jugendlicher Dämon, der sich träumerisch zni'
Ruhe niedergelegt hat, so ein im Grünen unter knospen¬
den Bäumen ruhendes Mädchen, ein unter einem Strauche
mit riesigen weißen Blüten lagerndes nacktes Weib,
dem ein Kind gegenüber sitzt und mit einem Puma-
lüwen kost, so die paradiesische Scene, in der Eva von
der Schlange beraten nach dem Baume der Erkenntnis
greift. Endlich haben auch die greifbare Gegenwart
und die Vorstellungskreise des Alltagslebens ihr Recht
geltend gemacht: wir sehen, wie ein junges Mädchen vor
einem Fenster sitzt, weit vor über ihr Schreibpult ge¬
beugt, eine elastische, leicht auf dem Rücken eines steil
sich aufbänmenden Pferdes sitzende Kunstreiterin, oder
die pikante Erscheinung eines im Badekostüm am Strande
stehenden jungen Mädchens, das seine Blicke über die
weite Meeresfläche schweifen lässt, einen schüchternen locki¬
gen Knaben, dessen treuherziges Auge den Beschauer so
eindringlich aublickt, allerhand Japanisches, das bei Ge¬
legenheit einer Ausstellung in Berlin auf den Künstler Ein¬
druck machte, und schließlich auch eine allerliebste Vedute
„Dem w'eißen Schwan“, eine Straße in Grötzingen, das
Klingel' von Karlsruhe aus Studien halber besuchte. Es
sind nur einige Beispiele, die hier angefiUirt werden,
denn es hält schwer, eine ganze Sammlung phantasievoller
oder von persönlicher Stimmung belebter Zeichnungen
in flüchtigen Worten zu beschreiben. Zweck dieser
Sclireibeiides Wädclieu ; getuschte Federzeichnung von Max Klinger.
Zeilen ist ja auch mehr auf die Existenz der Leipziger
Blätter hinzuweisen, um Anregung zu deren Studium
zu geben. Es sind, was nochmals betont werden mag,
Jugend werke, die nicht mit den reifen Arbeiten und
Studien verglichen sein wollen, wie sie z. B. das Dres¬
dener Kupferstichkabinett besitzt. Zwischen diesen Werken
liegt ein Zeitraum von gegen fünfzehn Jahren, in denen
Klinger sich zur gi'ößten Meisterschaft nicht nur all¬
gemein als Künstler, sondern besonders als Zeichner
emporgearbeitet hat. Wer aber die Leipziger Zeich¬
nungen an seinem Auge vorüberziehen lässt, wer die
eminente Sicherheit der Linienführung und reiche Phan¬
tasie bewundert hat, der erkennt hier die Offenbarung
und die Gewalt eines Küustlergeistes, der bei aller
Jugend Großes erwarten lässt. Ex ungue leonem !
>fc *
*
Auf dem unmittelbar an das Wasser grenzenden
Grundstücke der Eltern, dem Walde mit riesenhohen
knorrigen Eichbäumen auf der einen und einer weit in
die Ferne hin sich dehnenden Wiese auf der andern
Seite gegenüber, auf einem Platze, wie er für ernste
Arbeit nicht zweckmäßiger und für beschauliches Hin¬
träumen nicht behaglicher und stimmungsvoller sich
denken lässt, hat der Künstler sich vor nunmehr zwei
Jahren ein eigenes Heim errichtet, das im Auf- und
Grundriss nach seinen Angaben, in den Verhältnissen
nach seinen Plänen, in der inneren Ausstattung nach
seinem Geschmack angelegt und ausgeführt ist. Wer
Klinger’s praktischen Sinn kennt, wird in diesem Heim
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
161
keine prunkvoll ausgestatteten Räume erwarten, in
denen allerhand dekorative Stücke, kostbare alte Möbel,
Gobelins, seidene Stoffe, Bouketts aus getrockneten Blumen,
echte und unechte Antiken jenen zur äußeren Weihe ver¬
helfen müssen, um den Herrn des Hauses möglichst dem
gemeinen Dasein zn entrücken, sondern er wird hier
eine in erster Linie der Zweckmäßigkeit und Brauch¬
barkeit dienende, möglichst einfache Künstlerwerkstatt
suchen, die, wie die Thatsache beweist, mit diesen Eigen-
„Dem weißen Schwan“, Straße in Grötziugen; Federzeichnung von Max Klinger
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 7.
schäften auch die weiteren in sich vereint, dass sie be¬
haglich und in ihrer Art schön ist und zugleich dem
leider viel in Anspruch genommenen Hausherrn den
Genuss stiller Einsamkeit verschafft, so bald er für die
x\rbeit der Ruhe bedarf. Das mäßig große Haus, das
in den Schlusssteinen über Thür und Fenstern plastischen
Schmuck, Masken von des Künstlers eigener Hand auf¬
weist, besteht aus einem Erdgeschoss, über dem mezzanin¬
artig einige Wohn- und Schlafräunie sich befinden und
vor allem eine gegen den Wald hin
offene, gegen zwei Seiten durch eine
Wand gegen die profane Welt ge¬
sicherte Plattform, auf der der Künst¬
ler unter freiem Himmel ungestört in
nördlicher Breite nach dem nackten Mo¬
dell malen kann. Den Hauptraum des
Erdgeschosses bildet das große, beinahe
20 m lange und 12 m breite, durch
Seiten- und Oberlicht lieleuchtete Haupt¬
atelier, ein Riesenraum, dessen Schmal¬
wand gegenwärtig das große, aus Haupt¬
bild, Nebenteilen und Predelle beste¬
hende farbenglühende Gemälde „Die Ein¬
führung Christi in den Olymp“ bedeckt,
der Versuch einer Aussöhnung der heid¬
nischen mit der christlichen Weltan¬
schauung, ein, wie man vermuten könnte,
künstlerischer Nachklang von Heine’s
Gedicht „Die Götter Griechenlands“:
Doch auch die Götter regieren nicht ewig,
Die jungen verdrängen die alten,
Wie du einst selber den greisen Vater
Und deine Titanen-Ohme verdrängt hast,
Juppiter Parricida!
Verse, von denen indessen Klinger
ebensowenig inspirirt war, als seiner
Zeit von Nietzsche’s Werken, als er vor
Jahren an den Blättern des Cyklus
„Vom Tode“ arbeitete. Das große,
figurenreiche, in der Landschaft eine
Macht der Konzeption ohne Gleichen
bekundende Gemälde geht seiner Voll¬
endung entgegen, und dann wird es
an der Zeit sein, darüber das Weitere
mitzuteilen. Seine monumentale Wir¬
kung, die stark an Freskomalerei er¬
innert, weshalb das AVerk auch im Sinne
dieser, d. h. als Wandmalerei in einem
großen Raume, Verwendung finden muss,
diese monumentale Wirkung wird unter-
stüzt durch den äußeren Aufbau und
durch die Art und AAVise, wie der Rah¬
men in seinen einzelnen Teilen mit der
Darstellung nach des Künstlers Ge¬
schmack in farbige Verbindung gebracht
21
162
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
worden ist. Der Leser wird sich erinnern, dass das „Paris¬
urteil"'. das — wir müssen sagen „leider“, so sehr jeder
Kunstfreund auch seinen Besitz dem kunstsinnigen Archi¬
tekten Hummel in Triest gönnen muss — in keiner deut¬
schen Galerie eine bleibende Stätte gefunden hat, von einem
Rahmen umschlossen ist, der mit i)lastischem Schmuck
verziert und vom Künstler selbst ausgeführt für die
Gesamtwirkung des Gemäldes von großem Einfluss war.
In wesentlich erhöhtem Maße wird das von Klinger’s
neuester Schöpfung gelten: ihre Umrahmung wird auf
eine weit über die allgemeinen Begrifl’e hinausgehende
künstlerische Bedeutung Anspruch machen, da der
plastische Schmuck,
Figuren in Lebens¬
größe, ans griechi¬
schem Marmor gear¬
beitet ist, die Rah¬
menteile selbst aus
dem oben genannten
grünen Pyrenäen-
Marmor und anderem
farbigen Gestein be¬
stehen, so weit nicht,
wie für zwei Pal¬
menstämme, die die
Hauptdarstellung
flankiren, Nussbaum¬
holz Verwendung ge¬
funden hat.
sehen, auch in diesen
vielen Künstlern ne¬
bensächlich erschei¬
nenden Dingen hat
Klinger, seinen son¬
stigen Grundsätzen
getreu, die Echtheit
desMaterials mit Ent¬
schiedenheit betont.
Ein so umfas¬
sender und vielseiti¬
ger Künstlergenius,
wie ihn Klinger in
sich verkörpert, findet nicht sein Genüge in der Ein¬
schränkung der Arbeit an einem Werke, so umfangreich
es auch sein mag, so sehr es die Tliätigkeit des geistigen
Menschen in Anspruch nimmt. Die Arbeit mit Pinsel und
Palette wird vertauscht mit der des Meißels und des Ham¬
mers ; kurz darauf führt die geschäftige, nie ermüdende Hand
die Radirnadel oder die Zeichenfeder. Nachdem das farbige
Gypsmodell des der Welt entrückt und in überirdischen
Sphären thronend gedachten Beethoven mindestens seit
zwölf .Jahren vollendet ist, geht der Künstler jetzt end¬
lich an die Ausführung der Statue, die hinsichtlich der
Verwendung kostbaren Materials, will man nach tecli-
nischen Analogieen suchen, nur in den Chryselefantin-
werken des klassischen Altertums eine entsprechende
Parallele findet. Die Figur einer weiblichen Herme und
kleinere Werke der Malerei und Skulptur gehen daneben
der Vollendung entgegen, Entwürfe und neue Pläne
werden vorbereitet, ein Zeugnis von der riesenhaften
Arbeits- und Willenskraft, von denen der Meister dieser
Schöpfungen sich l»eherrschen lässt. Den sonstigen
künstlerische)! Sclimuck des großen Saales und seiner
einfach-weißen Wände bilden zwei Böcklin’sche Land¬
schaften aus früherer Zeit, einige Stiche von Goya und
Ernst Moi'itz Geyger, Lithographieen von Otto Greiner,
Studien von Klinger selbst, einige Gypsabgüsse nach
Renaissancebüsten
etc. Dass für den ver¬
ständnisvollen Inter¬
preten der Brahms-
schen Lieder ein gro¬
ßer Flügel nicht fehlt,
mag schließlich nur
beiläufig noch er¬
wähnt werden.
Ein kleineres,
für den Abbozzatore
bestimmtes Atelier
schließt sich an den
Haupti’aum an; zwi¬
schen beiden liegt
ein mäßig großer
Ausstellungssaal,
dessen Wände ein
altflorentinisches Re¬
lief, Böcklin’s be¬
kannte „Flora“, eine
W interlandschaft
vom Grafen Kalck-
reuth, und von Klin-
gei‘’s Hand die Da)ne
auf dem Dache des
römischen Hauses,
Radirungen und die
Kreuzigung schmü¬
cken, die hoffentlich
nicht auch einmal ins Ausland wandern wird. Im
übrigen enthält das Klinger’sche Künstlo’heini eine
Anzahl behaglich eingerichteter Wohnräume, die uns
nicht weiter interessiren können. Und obwohl dieser
villenartige, äußerlich einfache, aber geschmackvolle,
innerlich behaglich und vor allem zweckmäßig einge¬
richtete Bau kaum vollendet war, drohte zu Beginn des
vergangenen Jahres die Gefahr, dass der Bauherr seine
Vaterstadt verlassen wolle, um einem an ihn ergangenen
Ruf in die Kaiserstadt an der Donau Folge zu leisten.
Wir würden dieser Thatsache an dieser tStelle nicht ge¬
denken, weil sie rein persönlicher Natur ist und am
besten auf einen intimen Kreis beschränkt bliebe. Sie
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
163
darf aber jetzt erwähnt werden, da die Presse sich mehr¬
fach mit ihr befasst hat und, wie aus Wien geschrieben
wurde, die Hoffnung nicht aufgegeben ward, eine die
dortigen Kunstkreise befriedigende Lösung der Frage
doch noch iierbeiführen zu können. Klinger leimte jeden¬
falls den Ruf ab. Der Tod des Vaters, der in ein glück¬
liches Familienleben eine klaffende Lücke riss, sowie
andere Umstände bewogen den Künstler, der Vaterstadt
treu zu bleiben. Und wir Leipziger hoffen mit Zuversicht,
dass die Bande, die
Klinger bei uns ge¬
halten haben, nun für
die Dauer geknüpft
sind. Denn die Ar¬
beiten, die Klinger
für die nächsten, man
kann ohne Übertrei¬
bung sagen, zehn
Jahre beschäftigen,
ja seine Hauptthätig-
keit bilden werden,
machen seinen Auf¬
enthalt in Leipzig
zur zwingenden Not¬
wendigkeit. Es han¬
delt sich um zwei
umfangreiche Auf¬
träge für Wand¬
malerei, nach der sich
des Künstlers Herz
wohl schon seit lan¬
gen Jahren gesehnt
hat, Aufträge, die
aber merkwüi'diger-
weise spät an ihn
herangetreten sind,
obschon seine ganze,
auf das Monumentale
gerichtete Kunst, mit
ilirem energischen
Streben auch äußer¬
lich durch große Mit¬
tel zu wirken, ge¬
rade ihn für derar¬
tige Schöpfungen ge¬
eignet erscheinen
lässt. Die beiden Aufträge, um die es sich, handelt,
knüpfen sich an zwei Monumentalbauten an, die schon
in ihrer Bestimmung für Wandmalereien prädestinirt
sind und eine große Entfaltung malerisclier Kunst er¬
möglichen. Der eine ist das städtische Museum der
bildenden Künste, dessen Treppenhaus, ein in seinen
Verhältnissen besonders glücklich gedachter und vornehm
wirkender großer Raum mit Oberlicht, Bilderschmuck
erhalten soll an Stelle der jetzigen Stucco-Inkiaistation
und der höchst mittelmäßigen dekorativen Vouten-
malereien, für die von dem Architekten, Hugo Licht,
von Haus aus ein künstlerischer Ersatz gedacht worden
war. Die Entwürfe für diesen Cyklus sind vom Künstler
vor kurzem vollendet worden: es sind vier große Kom¬
positionen, durch ihre Stimmung wirkende, symbolische
Erläuterungen der vier Tageszeiten, in denen gleich¬
mäßig Lanilschaft, Meer und Figuren als Träger
mystischer Gedanken eine gewaltige Sprache reden
werden, drei dieser
Entwürfe für je eine
Wand gedacht, wäh¬
rend die Komposition
für die vierte Wand¬
fläche, die durch eine
in die Geniäldesäle
führende Thür in zwei
gleiche Hälften ge¬
teilt ist, in zwei in
Stimmung und Tlie-
ma gleichwertige
Scenen, eine Kreu¬
zigung Christi und
die Grablegung —
die Nacht, — zerlegt
wird. Der Grundge¬
danke dieser Haupt¬
darstellungen setzt
sich in der durch
perspektivische Kon¬
struktion scheinbar
an Tiefe erweiterten
Voute fort und zwar
in der Personitikation
der Tagesstunden,
die, in Gruppen zu-
samuiengefasst, durch
Figuren aus der klas¬
sischen und der ger¬
manischen Mytholo¬
gie, Horen und Wal¬
küren , repräsentirt
werden. Als Technik
wird hoffentlich, al¬
tem Brauche folgend
und wie es der Mo¬
numentalität des Auftrages entspricht, Freskomalei'ei
gewählt, obwohl Klinger auf diesem Gebiete seine
Kräfte bisher noch nicht bethätigt hat. Das düi-fte aber
nie ein Hindernis sein für die altbewährte, in ihrer
Haltbarkeit und künstlerischen Wirkung durch Jahr¬
hunderte eri)robte Spraclie der monumentalen Malerei
einen unserer Ansicht nach dürftigen Ersatz in Gestalt
von Leinwandtiächen treten zu lassen, die über die
Wände auszuspannen wären. Klinger hat bisher jede
Eine Vision; getuschte Federzeichnung von Max Klinger.
21 *
164
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGEK.
Tecluiik belierrsclieu gelernt, meist als Autodidakt wie
beim Eadiren und Bildhaueu aufangend, und er wird
auch als Freskomaler ein ausgezeichneter Techniker
werden.
Etwa gleichzeitig mit den Malereien für das städtische
Museum trat an Klinger und zwar von Seiten der könig¬
lich sächsischen Ministerien des Kultus und des Innern
ein zweiter, nicht minder dankbarer, umfangreicher und
seine ganze Kraft anspannender Auftrag heran: die lange,
den Fenstern gegenüberliegende Wand der Leipziger
üniversitätsaula in dem am Augustusi)latze gelegenen
die Vollbilder der „Brahms-Phantasie“ beweisen, gerade
in Klinger seinen geborenen Meister gefunden hat.
Im Vorstehenden ist ein Stück der Kunstpflege in
Leipzig behandelt worden, das hoffentlich dereinst ein
stattliches Kapitel deutsclier Kunstgeschichte bilden wird.
Wer Leipzig, die Handelsstadt, nicht näher kennt oder
seit vielen Jahren die Stadt zum ersten Male wieder
betritt, der ahnt, wie die Erfahrung bestätigt hat, außen
hinter dem Wald von Fabrikschornsteinen und hinter
ihrer dunklen Atmosphäre, innen bei dem hastigen Ge¬
triebe des Alltagslebens und dem Lärm des groß-
Mäclchen am Strande ; Federzeichnung von Max Klinger.
sog. Augusteum auszumalen, das durch den jüngst nacli
Plänen von Arwed Eossbach vollendeten Umbau im
Äußern wie im Innern eine wesentlich neue Gestalt
erhalten hat. Mit welchen Plänen sich der Künstler
für dieses Werk trägt, entzieht sich unserer Kenntnis,
die Frage dürfte überhaupt erst in Jahren aktuelle Be¬
deutung erhalten. Der Bestimmung des Gebäudes und
Klinger’s Denken und Empfinden, so will es uns scheinen,
angemessen wäre die schönste Lösung der Aufgabe, wenn
die Titanengestalt des Prometheus in Hinblick auf ihre
mythische Stellung zum Meuschengeschlechte zum Haupt¬
träger des Gedankens gemacht würde, der, wie schon
städtischen Verkehrs nicht, dass hier ein nicht un¬
bedeutender Fonds künstlerischer Interessen zu finden ist
und nach Möglichkeit genährt wird. Speciell auf dem
Gebiete der bildenden Künste ist in den letzten zwanzig
Jahren viel geschaffen und zu vielem die Anregung ge¬
geben worden, so dass von der Zukunft manche schöne
Saat zu erwarten ist. Der, welcher solche Worte iiieder-
schreibt, setzt sich leicht der Gefahr aus, für ein Opfer
des Lokalpatriütismus zu gelten, denn nicht überall wird
wohlwollenden Blickes verfolgt , was in Leipzig zur
Pflege seiner Interessen geschieht. Wer aber weiß, dass
der grüßte Faktor in diesem Getriebe der Bürgersinn
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
165
ist, die aus diesem herausgeborene Kraft des Gemein¬
wesens , die Freude an dem mit schweren Opfern er¬
worbenen Besitz und die Zuversicht, dass auch kommende
Zeiten in diesem idealen Ringen nicht ermatten werden,
der wird diesem Patriotismus seine Berechtigung nicht
versagen können.
* *
*
Es bietet sich uns hie.]' die passende Gelegenlieit,
um einige Worte der Orieutirung anzuschließen iiljer
eine KHngcr - Publikation, die der Kunstmarkt un¬
längst gebracht hat.') Wie die unten beigefiigte Titel-
Wiedergabe gelangen konnte. Von außergewöhnlichem
Interesse sind vor allem eine Anzahl von Feder- und
Kreidezeichnungen nach der Natur, Köpfe, Hände, Ge¬
wandstücke u. a., Studien von unübertrefflicher Schärfe
der Beobachtung und einer Festigkeit der Technik, die
an Dürer erinnert. Einige der Blätter beünden sich
noch im Besitze des Künstlers, was für Sammler betont
sein mag; andere sind von deutschen Kabinetten, wie
z. B. dem Dresdener, und aus dem Privatbesitz beige¬
steuert, darunter das reizvolle dreigeteilte Blatt „Narziss
und Echo“, Eigentum des Herrn Kommerzienrates Seeger
in Berlin.
Hamlet und der Geist; getuschte Federzeichnung von Max Klinger.
angabe des prächtig ausgestatteteii Foliobandes zeigt,
handelt es sich um eine Auswahl aus den Wei'keu des
Meisters, in der seine Skulpturen, Ölbilder und Zeich¬
nungen besonders reich vertreten sind, während von
den etwa 150 Radirungen nur ein kleiner Bruchteil zur
1) Max Klinger. Radiruiigen, Zeichnungen, Bilder und
Skulpturen des Künstlers, mit den drei vollständigen Folgen:
Zeichnungen über das Thema „Christus“, Entwürfe zu einer
griechisch-römischen Gedichtsammlung und ,,Fiine Liebe“,
Radirungen op. X, in Nachbildungen durch Heliogravüre etc.
Text von Franz, Hermann Meißner. München, Franz Ha.nf-
stängl, 1897. Fol.
Eine wenig empfehlenswerte Beigabe ist 'der aus¬
führliche Text, in den eine Reihe der Klinger'sclien
Studien als Illustrationen eingestreut sind. Leiiler können
sie die Stilblüten des Herrn Meißner nicht annehmbarer
machen. Wir verhehlen uns keineswegs, dass der Autor
sich die redlichste Mühe gegeben hat, den Ijebensgang
und die künstlerische Entwicklung Max Klinger’s ge¬
schichtlich darzulegen, obwohl ihm auch in diesem bio¬
graphischen Teile seiner Aufgabe einiges Menschliche
passirt. So z. B. auf S. 10, wo ei’ sagt, das bereits
1858 von Lange erbaute Leipziger Museum sei in
Klinger’s Jugend noch nicht vorhanden gewesen. Klinger
1G6
ALTES UND NEUES VON MAX KLINGER.
ist doch 1857 geboren. Oder wenn er von Th. Lewin,
der bekanutlicli Klinger’s Bedeutung mit zuerst erkannt
liat, auf S. 20 behauptet, er sei „später als Bibliothekar
in Düsseldorf gestorbeirk Lewin lebt in Düsseldorf
unseres \Yissens ganz gesund. Aber das sind Kleinig-
ke.iten gegenüber den Mängeln des kritischen Teiles der
Textbeigabe. Schon das ist ein Missgrift, dass uns de-
taillirte AnaUsen sämtlicher \Verke Klinger’s geboten
werden, während der I^eser doch nur eine Auswahl der¬
selben vor Augen hat. Und nun vollends die Sprache,
deren sich Herr Meißner bedienen zu müssen glaubte,
um zu der Höhe des von ihm angebeteten Meisters
emporzuklimmen! Wir begnügen uns, dem Leser eine
einzige I'robe dieses modeimen Deutsch vorzuführen, und
stellen daneben die Unterschrift einer Lithograidiie,
welche das Bildnis des bekannten Komikei s Scholz vom
Wiener Carltheater darstellt. In der Unterschrift dieses
I'orträts ist eine Ansprache wiedergegeben, welche Scholz
nach endlosen, ihm gespendeten Beifallsäußerungen an
das Publikum gehalten haben soll.
Meißner :
,, Dreimal schießt kritischer
Geist vom lieblichen Bild hin¬
aus in die Atherhöbe, in der
nach Plato die Ideen wohnen,
und wirft iin Wiederscbein
dorthin ein Symbol des Be-
gritfs und der Folgerung aus
dem eben von ihm gebildeten
Zustand.“
Sch oh- :
,,Wenn sich der Schwäche
Kraft in der Brreicbung dunk¬
ler Ziele bat gefestigt und so
sehr auch des Gelingens Ilnld
erwärmenderNachsicbt dünkt,
so ist es unser 'l'rost , des
Strebens zaghaft Ziel mit
l)anger Sehnsucht der Ge¬
währung V.u sein , die lUire
gehabt zu haben.“
Preisfrage: Auf welcher Seite steht hier der höhere
Blödsinn? Wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass
Schulz wusste, das Publikum lache immei' zum Zerplatzen,
was er auch sagen möge, während Hei'i' Meißner selbst¬
verständlich ernst, tief ernst genommen sein will.
C. V. L.
Das Ur-Niolits; Federzeicbmmg von Max Klinger.
DER KUNSTHISTORISCHE KONGRESS
IN BUDAPEST 1890.
MIT ABBILDDNGEN.
TE regelmäßigen Verscammluiigeii der
Kunsthistoriker haben sich seit ihrer
AViederaufnahnie im Jahre 1893 einer
wachsenden Teilnahme der Fachgenossen
und Kunstverwandten zu erfreuen. Wäh¬
rend der damalige Kongress in Nürnberg
63 Teilnehmer vereinigte, war die Zahl der in Budapest
Versammelten bereits auf ungefähr das Doppelte davon
angewachsen. Darunter eine beträchliche Zahl von Aus¬
ländern; aus den Niederlanden, aus Skandinavien, Italien,
England und Frankreich. Und an Stelle der Museuras-
vorstände und Magistrate, welche die Kongressmitglieder
in Nürnberg und in Köln 1891 begrüßten, waren in Buda¬
pest die Vertreter der Staatsregierung zu ihrem Em¬
pfang erschienen. Diese wetteiferten mit der städtischen
Repräsentanz, mit den Vereinen und kunstsinnigen Privaten
in ihrer Ehrung und festlichen Bewirtung.
Den Anlass und die Möglichkeit zu einer derartig
solennen Gestaltung des Kongresses von Budapest bot
die ungarische Millenniumsfeier. Schon die Nürnberger
Versammlung war von Seiten des kgl. ungarischen Handels¬
ministeriums, als der obersten Instanz für die Millenni¬
umsausstellung, zur Teilnahme an der nationalen Feier
eingeladen worden. Der Kongress in Köln fasste, auf
Grundlage der Satzungen, darüber einmütig einen zu¬
stimmenden Beschluss. Und wenn auch manche widrigen
Umstände seither dazwischen getreten waren, welche eine
Zeit lang die Verwirklichung des Kongresses sogar in
Frage stellten, so wird es gewiss Keinen von denjenigen,
die dem E.ufe nach Budapest gefolgt sind, gereut haben,
Teilnelnner an dieser denkwürdigen Versammlung gewesen
zu sein.
Im Programm hatte man den Festsaal des unga¬
rischen Nationalmuseums für die feierliche Eröffnung der
Kongressverhandlungen in Aussicht genommen. Da dieser
Saal jedoch bis zur gänzlichen Vollendung des neuen
Parlamentsgebäudes als Sitzungssaal des Magnatenhauses
dient, und da letzteres eben damals versammelt war, so
musste rasch in der Wahl der Lokalität eine Änderung
getroffen werden. Die Sitzungen begannen daher am
Vormittage des 1. Oktober in der Festhalle der Millen¬
niums-Ausstellung, in welcher auch am Voralmnde bereits
die Begrüßung der Kongressmitglieder durch den Haudels-
minister Ernst v. Daniel, in seiner Eigenschaft als Präsi¬
denten der Ausstellung, stattgefunden hatte. Nach den
bisherigen Erfahrungen musste man Zw'eifel darüber liegen,
ob sich der weite Raum für die Versammlung der Fach¬
genossen nicht zu groß erweisen werde. Aber die glän¬
zende Versammlung, an der außer den Vertretern der
V/issenschaft aus fern und nah mit ihren Damen, den
Ministern und den Repräsentanten der Stadt auch zahl¬
reiche hocligestellte Kunstfreunde und Mäcene, Künstler
und Schriftsteller teilnahmen, ließ bald alle jene Be¬
denken als unbegründet erscheinen.
Um 9 V2 Uhr konstituirte sich das Bureau ') und
der Obmann des Budapester Lokalkomitee’s, Bischof Sigis¬
mund V. Bul)ics, übernahm den A'orsitz. Zu seiner Rechten
saß der Unterrichtsminister Dr. Julius Wlassics, zu seiner
Linken der Obmann des ständigen Ausschusses der Kon¬
gresse, Prof. Dr. V. Lützow, und Hofrat Pi'of. Dr. Schlie.
Nachdem zunächst der Vorsitzende die Kongressmitglieder
in kurzen Worten begrüßt hatte, hielt der Unterrichts¬
minister Dr. Wlassics in französischer Sprache die Er¬
öffnungsrede. Er gab vor allem der Freude darüber
Ausdruck, dass die Kunsthistoriker, der Einladung der
kgl. ungarischen Regierung folgend, ihren vierten Kongress
gerade im Millenniumsjahre in Budapest abzuhalten lie-
schlossen haben. Die Regierung fühle sich dadurch zu
tiefem Danke verpflichtet. Denn sie hege die Überzeu¬
gung, dass diese Vei'sammlung, wie viele andere Vereini¬
gungen ähnlicher Art, mit dazu beitragen werde, die
Bande zwischen Ungarn und dem westlichen Europa fester
und fester zu knüpfen. Ungarn hoffe und wisse, dass
auch die Mitglieder dieses Kongresses den in der Kultur¬
arbeit sieh äußernden Eifer der Nation anerkennen und
1) Dasselbe bestand, außer dem Vorsitzenden, Prof. Dr.
D. Lütxoip, aus den Herren E. v. KanuHerer (Budapest), U.
Hi/i/ians (Brüssel), Prof. Cook (London'), Dir. G. Le Breton
(Reuen), llofrath Dr. Schlie (Schwerin), Dr. A. Ni/ori (Buda¬
pest) und Dr. J. Dcrnjac (Wien).
168
DER KUNSTHISTORISCHE KONGRESS IN BUDAPEST 1896.
in die Heimat ziirückeekelirt dafür Zeugniss ablegen werden,
dass die Ungarn nickt nur seit einem Jahrtausend auf
ihrem Boden den einheitlichen Staat, die Freiheit und
das EeOiT aufrecht zu eidialteu gewusst haben, sondern
auch mit aller Energie darnach streben, aus ihrem Lande
eine Pflegc-st,iite der westeuropäischen Kultur und Kunst
zu machen. — Auf große Resultate könne Ungarn frei¬
lich noch nicht hinweisen. Sein Boden war Jahrhunderte
treue Helfer und Ratgeber bei der im Dienste des edlen
Zieles unternommenen Arbeit! Knüpfen wir enger das Band,
das uns mit der Gesamtheit der Kunstwelt verbindet!
Damit begrüße ich Sie auf das wärmste. Ihre Arbeit sei
erfolgreich und mögen Sie sich so wohl in unserer Mitte
tülilen, wie sie mit echtem ungarischen Herzen empfängt
nicht die ungarische Regierung allein, sondern die ganze
ungarische Nation.“
lang ein Kampfplatz. Das Schwert drängte den Pinsel
und Griffel aus der Hand. Aber der Sinn für die er¬
habenen Ideen der Kunst und Wissenschaft sei dadurcli
niemals ertötet worden. Hervorragende Talente bürgen
für den Beruf der Nation zur Kunst, und emsige Forscher
arbeiten daran, die Geschichte derselben in der Ver¬
gangenheit aufzuhellen. „Seien Sie“ — so schloss der
Minister — „auf diesem Kongresse und immerfort uns
Der Obmann des ständigen Ausschusses, Prof. Dr.
V. Liitzow, antwortete auf diese Begrüßung mit einer
kurzen Ansprache, in welcher er zunächst auf die Ent¬
stehung der kunsthistorischen Kongresse hinwies und
deren erfreuliches Wachstum konstatirte. Der erste Kon¬
gress, 1873 in Wien, habe melir einen familiären Charak¬
ter gehabt ; die Leitung und das Endergebniss ruhte einzig
und allein in den Händen des hochverdienten R. v. Eitel-
DER KUNSTHISTORISCHE KONGRESS IN BUDAPEST 1896
169
berger. In Nürnberg (1893) und in Köln (1894) war lerisclien Interessen, gelangte darin zu erfreulichem Aus-
dies schon anders. Nicht nur die dortigen Museen, son- druck. In Budapest, so fuhr der Redner fort, ge-
dern die Städte selbst machten die Sache der Kongresse
zu der ihrigen. Die alte kommunale Bedeutung der Kunst,
die Bürgerschaft als Trägerin und Pflegerin der künst-
Zeitscbi'ift für bilJemle Kunst. N. F. VIII. II. 7.
schiebt es zum ersten Male, dass die Staatsregierung
des Ijandes, in dessen Hauptstadt wir aus hochfeier¬
lichem Anlasse tagen, der Sache des Kongresses ihren
170
DER KUNSTHISTORISCHE KONGRESS IN BUDAPEST 1896.
freundlichen und ehrenvollen Schutz gewährt. Ini Namen
des ungarischen Volkes rief sie uns zu; „Kommt her,
Ihr Freunde der Kultur, Ihr Träger der Wissenschaft;
und Kunst und freut Euch mit uns au dem, was wir,
was unser altes, edles Volk geschaffen hat. Dieses Volk
ist lange nicht mehr ein wildes Reitervolk, es baut nicht
Hoch auf Ungarn und seine thatkräftige und weise Re¬
gierung.
Der Ehrenpräsident des Kongresses, Sig. v. Buhics,
Bischof von Kaschau, nahm hiernach das Wort zu einer
längeren Rede (in französischer Sprache), deien wesent¬
lichen Inhalt ein orientirender Überblick iiber die Knltur-
Barockbau in iler Instorischeu Abteilung der Millenniumsausstelliing in Budapest.
Architekt J. Alpar.
nur fleißig seinen Boden und sammelt von ihm die
Früchte, sondern es will auch frank und frei mitar-
beiten auf allen Gebieten der Kultur.“ Unter einem
Hinweis auf die Bauten der Ausstellung und deren
reichen, glänzenden Kunstinhalt schloss der Redner mit
einem von stürmischem Beitall begleiteten dreimaligen
und Kunstgeschichte des Landes bildete. Er gedachte
zunächst der furchtbaren Kriegsnote und Gefahren, von
denen Ungarn wiederholt heinigesucht war; des Ein¬
bruches der tartarischen Horden in das unter den Arjia-
den eben aufgeblühte Land, dann der mit dem 15. Jahr¬
hundert beginnenden Einfälle der Osinanen. Nach der
DER KUNSTHISTORISCHE KONGRESS IN BUDAPEST 1896.
171
traiu'igeu Niederlage von Moliacs (1526) folgte für Ungarn
eine anderthalb Jahrhunderte dauernde Epoche der Knecht¬
schaft. Dass sieh in dieser langen, schweren Zeit die
Künste und Wissenschaften hier nicht in gleichem Maße
entwickeln konnten, wie im übrigen Europa, das liegt
auf der Hand. Ganz brach aber lagen sie dennoch
nicht; ähnlich dem alten Volke Israel hielt der Ungar
in der einen Hand zur Verteidigung das Schwert, in der
andern den Mörtel zum neuen Dane. Endlich im Jahre
1686 wurde der Erbfeind durch die christlichen Waffen
aufs Haupt geschlagen. Mit der Rückeroberung Ofens
aus Feindeshand begann das Erlösungswerk.
Hierauf ging Bischof von Bubics zu der Schilderung
der Kunstdenkmäler Ungarns und ihrer verschiedenen
Stilepochen über. Er gedachte kurz der Rönierzeit und
ihrer Denkmale in Altofen, Waitzen, Steinamanger und
an anderen Orten und wandte sich dann zu der Periode des
heiligen Stephanus (1000 — ^1038), des ersten Königs von
Ungarn, unter dem die christliche Kunst ihren Einzug in
das Land hielt. Er teilte dasselbe in zehn Bistümer und
gründete eine Anzahl stattlicher Kirchen, unter anderen
die von Stuhl weißenburg, in welcher mehrere ungarische
Könige gekrönt und begraben wurden, in der auch
Matthias Corvinus seine letzte Ruhestätte fand. Sie
war im romanischen Stil erbaut. Denselben Stil zeigten
der Dom von Großwardein, die Kirche von Lebeny-Szent-
Miklos im Wieselburger Komitat, die von Zsämbek, die
Kapelle von Leless, die Kapelle von Bodrog-Keresstur
und die schöne Kirche von Jäk im Eisenburger Komitat,
welche heute noch besteht. Ein Teil von ihr, das welt¬
bekannte reiche Portal, schmückt in einer getreuen
Nachbildung den Park der historischen Ausstellung. Die
meisten dieser Bauten stammen aus dem 12. Jahr¬
hundert. — Das 13. Jahrhundert sah den Einzug der
Gotik in unser Land. Die Cisterzienser haben sie von
Frankreich aus zu uns gebracht. Sie beherrschte den
Kirchenbaustil Jalirhunderte lang. Der jüngst restau-
rirte Kaschauer Dom, die St. Ägidiuskirche zu Bartfeld
und andere nordungarische Denkmäler gehören zu den
ältesten gotischen Bauwerken des Landes. Die Haupt¬
pfarrkirche des alten Pest, die Matthiaskirche in Ofen,
die Kirchen zu Karlsburg, Kronstadt, Schässburg, Klausen¬
burg, Kirchdrauf und andere reihen sich ihnen an. Eine
Specialität bilden die in Oberungarn vorkommenden
Holzkirchen, z. B. die in Kesmark und die in Szinyer-
varalya im Bistum Szatmar. Sie wurden von deutschen
Bewohnern des Landes erbaut, deren Einwanderung bis
in die Arpadenzeit zurückreicht.
Nachdem Bischof Bubics dann noch der Schloss¬
bauten aus der Zeit der Renaissance, vor allem der Burg
Vajdahunyad und der Schlösser aus der Periode Maria
Theresias, Gödöllö und Esterhäza gedacht hatte, ging
er zu der Geschichte der Malerei in Ungarn über. Aus
dem frühen Mittelalter haben sich zunächst eine Anzahl
hochinteressanter Wandmalereien erhalten; so z. B. in
Sankt-Marstiusberg, dem Ursitze des Benediktinerordeus
in Ungarn, Dazu kommen dann die Schöpfungen deut¬
scher Meister, sowohl Wandgemälde als namentlich farben¬
prächtige Altarwerke, in den Domen von Kaschau, Kirch¬
drauf, der St. Jakobskirche zu Leutschau und andere. Die
Nürnberger Schule hat daran hervorragenden Anteil.
Neben dem deutschen macht sich der italienische Ein-
ffuss geltend. Wir können ihn bereits im 14. Jahr¬
hundert nachweisen, zur Zeit der Regierung des Hauses
Anjou, besonders unter dem kunstsinnigen Könige Sigis¬
mund, der die Ofener Königsburg vergrößerte und hier¬
zu nicht nur italienische Architekten, sondern auch Bild¬
hauer und Maler kommen ließ. Erscheint doch selbst
der große Name des ]\Iasolino unter den in Ungarn be¬
schäftigten Meistern! — Während von Skulpturwerken,
namentlich von statuarischen, sich fast gar nichts bis auf
unsere Tage erhalten hat, zeugen zahlreiche prächtige
Goldsclnniedewerke, Geräte, Gefäße, auch mit Perlen und
Edelsteinen besetzte Waffen und Gewänder, welche sich
noch, besonders in den von den Türken verschont ge¬
bliebenen Städten Oberungarns, vorfinden, von der Pracht-
und Kunstliebe der Herrscher jener Zeit. Die Jahrbücher
der Stadt Kaschau melden uns die Namen von 125 dort
ansässig gewesenen Goldschmieden. Der Graner Doni-
schatz besitzt eine Anzahl der kostbarsten Goldschmiede¬
werke des 14. und 15. Jahrhunderts, darunter den be¬
rühmten Kalvarienberg des Königs Matthias Corvinus,
eines der glänzendsten Werke der Gold- und Email¬
technik jener Zeit, das Hauptstück der historischen Aus¬
stellung. Unzählige seltene und höchst wertvolle Stücke
verwandter Art befinden sich im Natioualmuseum zu
Pest, in den Händen unseres begüterten Adels, vor
allem im Besitze der fürstlichen Familie Esterhazy in
Fraknö und au anderen Orten. Die Ausstellung bietet
davon eine interessante und lehrreiche Ausbeute. Wir
vermögen daraus zu erkennen, wie reich Ungarn an
Schätzen aller Art von Kunst besonders am Ende der
Regierung des Königs Matthias Corvinus gewesen sein
muss. Der fürchterliche Tag von Mohacs, 36 Jahre nach
dem Tode des Königs, und die 150 Jahre dauernde Türken¬
herrschaft haben unsagbare Verluste an diesen Gütern
und in einzelnen Teilen des Königreiches den vollstän¬
digen Ruin des Volkes mit sich gebracht. Der Redner
warf zum Schluss einen Blick auf die neueste Zeit,
scliilderte in Kürze die bedeutendsten Museen und Samm¬
lungen des Landes, und gedachte der verschiedenen Ma߬
regeln der Regierung, der Komitate und der Städte zur
Förderung der modernen, wie zur Pffege der alten Kunst.
Nach Aidiörung dieses höchst instruktiven Vortrags be¬
fanden sich die Kongressmitglieder in der Lage, über
alles, was ihnen der historische Teil der Ausstellung
bot, bereits vor deren Besichtigung über den Verlauf der
Dinge im allgemeinen orientirt zu sein. Der Rund¬
gang durch die Ausstellung vervollständigte später dieses
Gesamtbild durch eine Fülle von Einzelheiten, welche
.22*
DER KUNST HISTORISCHE KONGRESS IN BUDAPEST 1896.
den Teiliielinieni durch denionstrirende Vorträge erläutert
wurden. Bischof Bnbics und Prof. Dr. Bcla Cxohor
teilten sich unter lebhafter Befriedigung der Zuhörer in
diese nicht leichte Aufgabe.
Doch ))evor die Demonstrationen begannen, war
noch die Tagesordnung des ersten Sitzungstages zu er¬
ledigen. Zunächst folgte die Begrüßung der Kongress¬
mitglieder durch den Heri'ii Magistratsrat Eozsavölgyi
namens der Haupt- und Residenzstadt Budaijest, welche der
Versammlung ihre lebhaften Sympathieen kundgeben ließ.
Dann berichtete der Vorsitzende über den Fortgang der
Vorarbeiten für das in Florenz zu gründende kunsthisto¬
rische Institut, welches demnächst ins Leben treten werde,
l’rof. Dr. Heinrich Brocichaus in Leipzig habe sich be¬
reit erklärt, die Einrichtung und Leitung der Anstalt
für die erste Zeit zu übernehmen. Der Sindaco von
Florenz bekundete seine Sympathie für das Unternehmen.
Der Voi'sitzcnde verband diese mit Beifall aufgenommenen
Mitteilungen mit einem Apell an die Versammelten, sich
an den Spenden und Saninilungen für das Institut zu
beteiligen.
Sodann erfolgte die Wahl des nächsten Kongress¬
ortes für das Jahr 1898. Der Vorsitzende veidas ein
Schreiben des Herrn Dr. Hofstede de Groot, welches den
Kongress einladet, das nächste Mal in Amsterdam zu-
sanimenzutreten und die freundliclie Aufnahme von Seiten
der Stadt und der dortigen Kunstkreise zusichert. Direktor
Dr. Bredius, der dem Budapester Kongress beiwohnte,
unterstützte diese Einladung mit warmen Worten. Die
Einladung ward einstimmig angenommen, und zwar für
die ersten Septembertage des Jahres 1898, in denen ge¬
legentlich der Krönung der jungen Königin Wilhelmine
voraussichtlich große Festlichkeiten künstlerischen
Charakters in Amsterdam stattiinden werden.
Den Schluss der Verhandlungen des ersten Tages
bildete ein von Demonstrationen begleiteter, höchst ge¬
haltvoller Vortrag Prof. Dr. Jos. NetnoirÜis aus Prag
über „Verlorene und doch erhaltene Cyklen mittelalter¬
licher Malerei iti Böhnien'L
Mit dem Hinweise auf die Möglichkeit beginnend,
dass verlorene luittelalterliche Bildercyklen nach alten
Kopieenfolgen rekonstruirt werden können, hob Neuwirth
hervor, dass sich auf dieser Grundlage zwei große Cyklen
sitätmittelalterlicher Wandmalerei aus böhmischen Königs¬
burgen — der eine aus KaiTstein, der andere aus der
Residenz auf dem Prager Hradschin — fesstellen lassen.
Der Gewährsmann für die Karlsteiner Bilderfolge ist der
Brabanter Geschichtsschreiber Edmund de Dynter, welcher
als Gesandter zu Wenzel IV. nach Böhmen kam. Letz¬
terer zeigte dem Brabanter in einem Karlsteiner Saale
einen die Genealogie der Luxemburger darstellenden Bil-
dercyklus, der kostbare Bilder aller Herzoge von Bra¬
bant bis auf Johann III. — im Aufträge Kaiser Karls IV.
ausgeführt — umfasste und von dem Könige selbst als
seine Genealogie bezeichnet wurde; denn er stamme von
Calvarienberg des Königs Matthias Corvinus.
DER KUNSTHlSTORiSCHE KONGRESS IN BUDAPEST 1896.
173
dem Geschleclite der Trojaner und insbesondere auch
Karls des Großen sowie von dem berühmten Hanse
Brabant ab, da sein Urgroßvater Kaiser Heinrich VlI.
von Luxemburg die Tochter Johanns I. von Brabant ge¬
heiratet hatte, deren Sohn König Joliann von Böhmen
war. Eine solche Bilderfolge befand sich im Karlsteiner
Palas bis in die Tage Rudolfs II., da sie erst nach einem
Berichte aus dem Jahre 1597 über Karlsteiner Restau-
riruugsarbeiten als zu Grunde gegangen betrachtet werden
darf. Sind auch die Originalbilder unwiederbringlich ver¬
loren, so vermittelt uns doch
eine vortreffliche Vorstellung
derselben die vollständige
Kopieenfolge der Handschrift
8330 in der k. und k. Hof¬
bibliothek in Wien. Die hier
vorgeführte Herrscherreihe,
deren Darstellungen durch das
in den Inschriften regelmäßig
wiederkehrende „genuit“ als
Genealogie charakterisirt sind,
entspricht ganz den Angaben
des Edmund de Dynter und
deutet, zwischen guten Ko-
pieen mehrerer heute noch in
Karlstein erhaltener Wand¬
bilder stehend, auf den glei¬
chen Herkunftsort. Für die
vor dem Trojanerkönige Pria-
mus angeordueten, bis auf
Noah zurückreichendeu Ge¬
stalten, unter denen besonders
Saturn und Juppiter auffallen,
bietet eine durch Überein¬
stimmung der Anschauungen
frappirende Erklärung das
Buch „nionarchos“ in dem Ge¬
schichtswerke des Johannes
Warignola, der im Aufträge
und nach Angaben Karls IV.
arbeitete. Letzterer wollte
durch den Cyklus gleichsam
seine durch Abkunft beson¬
ders begründeten Ansprüche
auf die deutsche Kaiserkrone illustriren. Biblische
Überlieferung, klassische Mythologie, die Stammsage
der Franken, die Geschichte der Merowinger, Karo¬
linger, der Brabanter Hei'zoge und der Luxemburger
bildeten die Grundlagen der Bilderreihe, deren treu
kopirte Trachten genau den Berichten über den Trachten¬
wandel in Böhmen zwischen 1330 bis 1370 entsprechen.
Die Vollendung des Cyklus erfolgte zwischen 1355 und
1356 wahrscheinlich durch den schon 1357 als Hofmaler
Karls IV. genannten Nikolaus Wurniser von Straßbui'g.
Die Treue der Kopieen lässt sich besonders nach den von
derselben Hand stammenden Nachbildungen der drei heute
noch in Karlstein befindlichen Wandgemälde bestimmen,
da beide Kopieengruppen zu den verlorenen, beziehungs¬
weise erhaltenen Originalen genau in demselben Ver¬
hältnisse stehen müssen. Die Kopieen wurden unter und
wahrscheinlich für Maximilian II. zwischen 1569 und
1575 ausgeführt; der Name des Kopisten konnte nicht
eruirt werden. Mit dem Cyklus ist wertvolles Material
für das Einsetzen neuer Darstellungsgedanken in die.
Wandmalerei Böhmens während des 14. Jahrliundeits
gewonnen; dasselbe hat auch
für die Kunstgeschichte Bra¬
bants unbestreitbare Bedeu¬
tung.
Die Grundlage für den
Nachweis einer 1541 durch
Brand vernichteten Bilder-
reihe böhmischer Herrscher in
der Prager Burg bilden die
Handschriften 7304, 8043
und 8491 der k. und k. Hof¬
bibliothek in Wien, welche
teils Inschriften, teils Dar¬
stellungen übei'liefern. Die
Darstellungen der Handschrift
8043 gehen auf Kopieen zu¬
rück, die Böhmens oberster
Erbtruchsess Johann von Ha¬
senburg und Budin noch vor
dem Burgbrande hatte an¬
fertigen lassen, und stellen
ein Ferdinand I. unterbreite¬
tes Restaurirungsprogramm
für die Regentenbilder dar;
die Originale stammten aus
der Zeit Karls IV., sind aber
in dem Hasenburgischen Wid¬
mungsexemplar nicht mit jener
Treue kopirt, welche die Nach¬
bildungen des Luxemburger
Stammltaumes aus Karlstein
auszeichnen. Doch bleiben
einige Typen für bestimmte
böhmische Herrscher Ins ins
18. Jahrhundert in Geltung. Die Erneuerung des zum
Schmucke der Prager Landrechtsstube bestimmten Cyklus
wurde vom Erzherzoge Ferdinand dem Salzluti’ger Maler
Hans Getschingen, von Ferdinand 1. dem Meister .loh.
Ferro zugiMacht und schließlich dem Mailänder 1 )omenico
Pozzo zugeteilt.
Die Betrachtung beider Bilderreihen betont einen
wohl entwücklungsfähigen Arlieitsgedanken, indem sie
einen wertvollen Fingerzeig gibt, darauf ab und zu das
Augenmeilc zu richten, ob nicht auch anderwärts in ähn¬
licher Weise verlorene Bildercyklen für die kunstge-
Calvai’ienbei'g des Königs Matthias Coi'viuus. (Obei'er Teil.)
174
BÜCHERSCIIAU.
schiclitliclie Erkeuiitnis späterer Geiieratioiieu liiiiüljer
gerettet wurcten. Die Kopieeiifriige der Luxemburger
Genealogie aus Xarlsteiu könnte überdies für die Aus¬
schmückung des Karlsteiner Palas berangezügen werden
und einen alten Ausstattungsgedanken neu beleben
beiten. —
Nacbdein der Vorsitzende dem Kedner für seine
gelehrten Auseinandersetzungen den Dank der Versamm¬
lung ausgesprocben batte, verteilte sieb dieselbe in den
Räumen der Ausstellung zu den bereits erwäbnten
Demonstrationen. Um zwei Ubr fand sodann das vom
Handelsminister gegebene Festbankett und nacbmittags
der gemeinsame Uesueb der modernen Kunstausstellung
im neuen Künstlerbause statt. Eine Eestvorstellung im
kgl. ungariseben Opernliause beschloss den lehr- und
genussreicben ersten Kongresstag.
(Fortsetzung folgt.)
BÜCHERSCHAU.
Hugo Hartung, Motive der niittelalterlichen Bau¬
kunst in Deutschland in photographischen Ori¬
ginalaufnahmen. Beilni ISOü. E. Wasiinitli. ü Lfgn.
25 V. (25 Blatt Lichtdruck in Folio pro Ltg.)
Alle Versuche, unseren kirchlichen Helkluden einen
modernen Stil zu erfinden, haben doch immer wieder zur
Anlehnung an die mittelalterlichen Stile für die formale
Ausgestaltung geführt, wobei allerdings die romanischen
und Ubergangsbauten immer mehr die Vorherrschaft der
(iotik überwinden. So kann der moderne Architekt ein¬
gehende Studien an alten kirchlichen Bamlenkmalen nicht
entliehren, die doch, wie Hartung in seinem Vorworte be¬
tont, nur die wenigsten auf größeren Studienreisen gründ¬
lich betreiben können, während die Mehrzahl der Archi¬
tekten nach vollendetem Studium unmittelbar vor den An¬
forderungen der Praxis steht. Es ist höchst dankenswert,
wenn ein mit diesen Bedürfnissen der Praxis vertrauter
EAichmann, der zugleich als akademischer Lehrer einen
größeren Überblick über das ^Material und über die mannig¬
fache Verwendung desselben hat, eine Auswahl aus den
besten deutschen mittelalterlichen Bauten trifft. Hartung
hat mit Geschick aus der Fülle des Vorhandenen muster¬
gültige und anregende Beispiele sowohl für Gesamtanlagen
als auch für Details gewählt. Er trägt Sorge, dass möglichst
die erhaltenen, nicht restaurirten Partieen der Bauwerke
zur Veröffentlichung gelangen, dass möglichst alle Bau¬
materialien in ihrer Anwendung vorgeführt werden. In¬
dem er so dem Architekten nützlich wird, bringt er dem
E’orscher und Lielihaber zugleich höchst wertvolle Beiträge
zur Kenntnis unserer deutschen mittelalterlichen Bauten.
Auch diesen muss ja daran liegen, möglichst viel des in
situ befindlichen authentischen Materiales, und von diesem
wieder das durch Pligenart der Gestaltung und bauliche
Bedeutung Hervorragende in bequemer Weise vorgetührt
zu sehen. Die großen, photographischen Aufnahmen sind
so gewählt, dass sie alles wichtige Detail mit genügender
Deutlichkeit darstellen und sind in ausgezeichneten Licht-
dracken von Römmler & Jonas reproduzirt. Die Aufnahmen
sind ausnahmslos so geschickt gemacht, dass axreh schwierige
Partieen ohne allzu starke, die Proportionen verzerrende
l'ehler herauskommen. Dass die äußere Ausstattung eine
elegante und solide ist, dafür bürgt rler Name des vortreff¬
lichen Wasmuth’schen Verlages. Wir finden zunächst als
Vertreter des massiven, schlicht dekorirten Werksteinbaues
der Sachsenlande den Chor von St. Godehard, daneben den
reicher entwickelten Westchor von St. jMichael, beide aus
Hildesheim. Lehrreich ist danel)en der einfache, a))er durch
einen hübschen Bogenfries belebte Chor von St. Peter und
Paul zu Königslutter (Anfang 13. Jahrh.), und der reiche
Chor der Goslarer Neuwerkerkirche mit seinen kräftigen,
aber zierlich ornamentirten Werksteingliedern, welche die
ehemals verputzten Wandllächen aus Bruchstein einrahmen.
Das Motiv der wunderlich gekrümmten kleinen Säulchen
vor den Kragsteinen, welche hier die oberen Säulen tragen,
dürfte mehr originell als nachahmenswert sein. Wie einfach
andrerseits bei einem Bruchsteinbau mit Werksteingliedern
sich der Chor ausbilden lässt, zeigt der des Braunschweiger
Domes. Das Innere eines romanischen Chores von schlich¬
tester Gestaltung zeigt die Halberstädter Liebfrauenkirche,
etwas schmuckvoller im Detail die Neuwerkerkirche zu
Goslar, reicher gegliedert St. Peter und I’aul zu Königs¬
lutter, endlich den eigentümlichen, gradlinigen, romanischen
Chorschluss mit Umgang die Cisterzienserabtei zu Riddags¬
hausen. So können wir Typen .des romanischen Portal¬
baues an dem schwerfälligen, aber interessanten Nordportal
von Königslutter (12. Jahrh.), die übliche Normalform an
der Katharinenkirche zu Braunschweig, die Übergangs¬
formen an der Cisterzieuerabtei zu Riddagshausen studiren.
Die Gotik vertritt eine Teilansicht des llalberstädter
Domes, eine Folge von Blättern vom Magdeburger Dom
und eine sehr hübsche Ansicht des nördlichen Seitenschiffes
vom Braunschweiger Dom mit seinem originellen, spät¬
gotischen Gewölbe. Kreuzgänge, Chorschranken, einzelne
Kapitelle ergänzen dies Material. Da fast alle genannten
Bauten in mehreren Blättern, sowohl in Gesamtansichten als
auch in Details gegebonsind, wirdauch für die kunsthisto rischen
Sammlungen das Werk in seiner lehrreichen Zusammen¬
stellung sehr wertvoll. Die auf Inhaltsangabe, Erbauungs¬
zeit und Baumaterial beschränkteir Notizen unter jedem
Blatte geben gerade das Notwendige und sind höchst will¬
kommen. Die irächsten Lieferirngen, über die wir s. Z. Ire-
richten werden, düiften aus dem engeren Rahmen Nieder¬
sachsens uns in andere baulich wichtige Gebiete Deutsch¬
lands führen. M. SCII.
Altfränkische Bilder mit erläuterndem Text von Th.
Renner. Kalendarium für 1897. W ürzburg, 1897. H. Stürtz.
Dieser Kalender hat neben seinen praktischen Zielen den
Endzweck, das Publikum des fränkischen Kreises mit seinen
Kunstdenkmalen bekannt zu machen rurd in Beziehung zu
BÜCHERSCHAÜ.
175
erhalten. Somit würde er kaum hier der Besprechung für
weitere Kreise zu unterziehen sein. Aber mir scheint, solche
Kalender sollten alle deutschen Gaue besitzen. Da. wird der
farbige Umschlag durch eine nette Nachbildung der Einband¬
decke eines Evangelienkodex der Würzburger Universitäts¬
bibliothek gebildet, der in seidebespannter Umrahmung ein
byzantinisches Elfenbeinrelief umschließt. Der Einband um¬
fängt eine Serie von Autotypieen fränkischer Kunstdenk¬
male mit begleitendem Text. Die lustigen dekorativen
E.okokoskulpturen aus Veitshöchheim von dem Würzburger
HotUildhauer Diez (f 1755) neben dem Grabmal des Ritters
Konrad von Hutten zu Arnstein (f 1502). Neben Gemälden
des Oiov. Dom. Ticpolo (f 1795) das romanische l’ortal der
anderem durch das witzige, unter dem Pseudonym Dirk van
Waterloo erschienene Büchlein; ,, Kunstästhetische Sünden“
bekannt gemacht hat, bietet uns in der vorliegenden Vor¬
bildersammlung, die bei einigem Beifall fortgesetzt werden
soll, die Nachbildung einer Anzahl wohlgelungener Be¬
schläge für Büffets, Saloukästen, Kleider-, Geld-, Bücher¬
und Cigarrenschränke, wie er sie für sein eigenes Haus in
Graz (Zinzendorfstraßo 29) zum Teil mit Hilfe eines Graveurs
horgestellt hat. Er geht bei ihnen von dem Grundsatz aus,
dass ,,die Funktion des jeweiligen Möbels mit dem Orna¬
ment in harmonischer Beziehung stehen müsse“, und
wünscht, ilass man deshalb auch auf die Beschläge diesellre
peinliche Sorgfalt wie auf die Füllungen verwenden möge. Um
Calvarieuberg des Königs Matthias Corvinus. (Basis.)
Aljtei Oberzell, neben l’ruidtbechern aus Schönborn’schem Be¬
sitze ein altes Würzburger Stadtthor. So hat der kleine
Kalender doch auch ülier den fränkischen Kreis hinaus
Interesse und verdient nachgeahmt zu werden. Es ist eine
einfache und doch wirkungsvolle Methode, den Sinn für vater¬
ländische Kunst und Altertümer in weiteren Kreisen zu wecken.
M. SCH.
Humoristische Flachornamente für Intarsia, Holz-
hrand, Holzmalerei, Metallätzung u. s. w. (Heft ,3:
Beschläge.) 12 Tafeln in groß t)uart entworfen von Prof.
Dr. Ilarnifi von Weißenharh. Leipzig, Druck und Verlag
von E. Haberland. 189G.
Der Autor, der sich dem kunstsiiinigen l’nldikuni unter
mit der ,, ledernen Volute, den Rosetten und dem Akantlius“ zu
brechen, entschloss er sich, die Motive für seine ornamentalen
Muster aus der Welt, die uns täglich umgielit, zu wählen.
Er verwendet daher am liebsten unsere gewöhnlichsten
Nutz- und Zierjitlanzen, z. B. die verschiedenen Getreid('-
arten, ferner Kukurutz, Kartolfelblüten, den Fingerhut, die
Fuchsie, Tabak, Ho2)fen und Weinlaub als Grundformen und
versteht es, da er eine reiche humoristische, gelegentlich
auch eine satirische Ader besitzt, aus diesen Elementen
durchaus originelle Geljilde zu schaffen, die l.)ei aller ab¬
sichtlichen Einfachheit doch stilgerecht wirken, weil sic sich
a.ls zweckentsprechend erweisen. W<!ißenba,ch will auf
diesem Wege die Po]iuhirisirung des Kunstgewerbes im
Sinne des Ib. Jahrlumderts a.nbahnen. Da. er als „Amateur
176
BÜCHERSCHAU.
und Dr. jui-., den der Zunftzwang und seine Regeln nichts
angelien“, hauptsächlich an die Amateurs denkt, unter denen
die Hausfrauen das Hauptkontingent stellen, wollen wir
wünschen, dass es ihm gelingen möge, mit seinen Vorlage-
Idättern „den entschieden vorhandenen üeherschuss an
künstlerischen Kräften in richtige, auch zu einem Zweck
i'ührende Bahnen zu lenken“. Denn offenbar hat er recht,
wenn er in der A'orrede meint, „dass der Dilettantismus
(las solide Fundament bilden müsse, auf dem die Kunst und
das Kuustgewerbe aufgebaut werden können“. H. A. L.
Von Aen ,,Vie)icljahrs]ieftcn des l'ereinshtldendcrKiaisiler
I)resde»s, deren erster Band, wie wir in unserer Januar-
Korrespondenz berichtet haben, im vorigen Herbst abge¬
schlossen voiiag, ist soeben das erste Heft des zweiten
Jahrsauffes ausfregeben worden. Der Umschlag dazu ist
nach einer Zeichnuirg von Ts. //. Walther hergestellt worden,
in dem eine vollentwickelte Sonnenrose mit vielem Geschmack
zu einem zwar höchst einfachen, aber wirkungsvollen orna¬
mentalen jMotiv verarbeitet worden ist. Leider entspricht
jedoch der Inhalt dieses neuesten Heftes keineswegs den
Erwartungen, die man nach den im ersten Jahrgange ge¬
botenen Leistungen zu stellen geneigt war. Von seinen fünf
Blättern genügt nur die Steinzeichnung von Wilhehn Bitter
den Anforderungen, an die wir durch den ersten Jahrgang
gewöhnt sind. Mit wenigen, aber sicher geführten Strichen
führt uns hier Ritter das anmutende Bild einer aus Wiesen,
Feldern und vereinzelten Bäumen bestehenden Landschaft
vor, deren Reiz durch die eigenartige Beleuchtung und durch
einen leise durch die Wiese herabfließenden Bach bedingt
ist. Der Horizont ist ziemlich hoch genommen, etwa so,
wie Biistieii-Lcjtai/e in vielen seiner Landschaften zu ver¬
fahren pflegte. Der Druck auf bläulichem Rapier, in der
Anstalt von Wilhclnt llofftnann in Dresden ausgeführt, lässt
nichts zu wünschen übrig. Riehard Aliillcr erweitert unsere
zoologischen Kenntnisse, duj||fii die gleichfalls in Steindruck
wiedergegebene Darstellun^eines Mantel-Favians, der nelien
einem mächtigen Korb kauert, üttenbar hat der Künstler
auch für dieses Blatt eingehende Studien in einem zoologischen
Garten oder in einer Menagerie gemacht, aJ)er da sein Mod(3ll,
das er mit größter Naturtreuo behandelt hat, ein gar zu
hässliches Geschöid ist, braucht er sich nicht zu wundern.
wenn sich nur wenige Beschauer von seiner Arbeit ange¬
zogen fühlen. Derselbe stoffliche Grund hindert uns, Max
Pietschmann’ s weibliches Porträt, eine in der Hauptsache
geschickt angelegte Radirung, mit derselben Wärme zu be¬
grüßen, wie dies sein Studienkopf im vierten Hefte des ersten
Bandes verdiente. Die ganze Haltung der auf einem Lehn¬
stuhl sitzenden Dame ist gesucht, und die zurückgewandte
Stellung des Kopfes mit den überenergischeu Gesichtszügen
wirkt eher abstoßend als angenehm. Hans Umjer’s „Fischer¬
bote“, von denen man nur den unteren Teil und die An¬
fänge der Maste sieht, bietem dem Auge gar zu w-enig;
auch w’ill uns der braune Sepiaton dieser seiner Radirung
nicht gefallen. Aus Otto Fischer’ s beiden Landschaften, die
auf einem Blatte vereinigt sind, weiß der Beschauer erst
recht wenig zu machen. Er hat sich die schwierigsten und
künstlichsten Beleuchtungsprobleme gestellt, an denen einst
Tcicher in seinen Ölgemälden scheiterte, und sie in einer
Manier behandelt, die an Remhrandt’s Radiruugen erinnert,
der aber seine Kräfte noch nicht gewachsen sind. Unter
dem GeAvirr der Striche, die gar zu genial über- und durch¬
einander geführt sind, leidet die Klarheit der Zeichnung,
weshalb namentlich das landschaftliche Motiv in der unteren
seiner beiden Radirungen unverständlich bleibt. Auch mag
die von E. Meißner in Dresd( ii besorgte Druckausführung
nicht immer den Absichten des^ Künstlers entsprechen. Das
Ganze ist viel zu dunkel geraten und stört schon hierdurch
die Klarheit des Bildes. Wir geben aber zu, dass auch in
dieser Arbeit die Begabung des Künstlers für die Radirung
nicht zu verkennen ist, möchten alier wünschen, dass sie
sich mehr nach der früher von ihm vertretenen, gefälligeren
Richtung, als in der diesmaligen kraftgenialischen ent¬
wickeln möge. Der Kommission, die über die Auswahl der
Blätter zu entscheiden hat, möchten wdr die Frage vor¬
legen, ob es nicht möglich wäre, eine größere Abwechslung
in das Unternehmen dadurch zu bringen, dass ein weiterer
Kreis der Vcreinsmitglieder in den Heften Berücksichtigung
fände. Es sind meist dieselben Autoren, die uns in den
Heften begegnen, und wenn sie auch bisher, wie wir gern
konstatiren w^ollen, meistens mit tüchtigen Leistungen ver¬
treten waren, so fragt man doch: habt ihr außer Fietsch-
mann, Unger, Fischer, Richard Müller, Müller-Breslau und
Mediz nicht noch andere Leute, die für die Viertel] ahrshefte
etwas Tüchtiges liefern könnten V
Herausgeber: Carl von Liitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Auejust Pries in Leipzig.
■/•;• 'K- ■
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' leiiogravure H u Brmckmann
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KRETA
EIT dem Anfänge des XV. Jalirlmnderts
war die griecliisclie Kolonie in Venedig
durch wachsenden Zuzug ans dem seinem
Untergang entgegeneilenden Ostreicli fort¬
während an Bedeutung gestiegen. Ini Jahre
1498 erfolgte die Gründung der Scuola,
zu Kultus- und Wolilthätigkeitsz wecken; ihr tiel dann das
Patronat der Kirclie zu, deren Bau Leo X. (1514)
gestattet hatte. Schon 1539 wurde der Grundstein
zum Neulmu von S. Giorgio de’ Greci gelegt, nach
den Plänen Saute Lombardis. Neuer Zuwachs kam im
XVI. Jahrhundert, seit dem Niedergang der Herrschaft
im Peloponnes und dem Verlust von Cypern; die Zahl der
dortigen Griechen stieg auf viertausend.
Die griechischen Druckereien, deren es schon im
Quattrocento drei gab, waren in lebhafter Thätigkeit;
von dieser Kolonie ist „der belebende Same ueugi'iechischer
Bildung ausgegangen, sie hat dem geistigen Wieder¬
aufleben Griechenlands die Wege geljahnt“.
An der malerischen Ausstattung der Nationalkirche
waren in diesem Jahrhundert auch Gi’iechen und Candioten
beteiligt, die mehr oder weniger an ihrer byzantinischen
Weise festhielteu. AVir hören zwar, dass Tintoretto 1589
bei der Mosaicirung der Kuppel zur Beratung und Ver-
Itesserung der Entwürfe herangezogen wurde. Aber im
folgenden Jahrzehnt war eine Zeichnung des Salvator
von der Hand des jüngeren Palma verworfen worden,
und die des Griechen Tomio Bathä vorgezogen. Nur
BilJiiis des (iiiilio Clovio im Museum /.u Neapel. Ölgemälde von 1>o:uenico Theotocoiu'li.
Zeilscliiit't für bildende Kunst. N. F. VIII. II. 8.
178
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KRETA.
die begabtesten baben sieb ganz venezianisirt; der be¬
kannteste ist Antonio Vassillaccbi (Ba6iX(y.x')]g), der Sobn
des Fisebers Stepbanos von Milo (geb. 155G), der 1571
naeb l'enedig kam und aneb Tizian nabegetreten ist.
Er malte einige morgenlilndiscbe Begebenbeiten des
großen Ratsaals, die Krönung Balduins, die Belagerung
von Tyrus in der Sala di Scrutinio, die Gesebiebte des
Cyrus über dem Campo S. Stefano, und eifüllte die Kircbe
S. Pietro de’ Casinesi in Perugia mit seinem (etwas ver¬
gröberten) paolesken Pomp.
Audi unter den jungen Talenten, die der greise
Tizian an sidi zog und besdiäftigte, werden zwei von
griecbisdier Herkunft genannt, sie führen denselben, frei¬
lich nidit griediisdien Taufnamen Domenico. Begreitlidi
ist, dass solche forest icri schnell vergessen wurden; ilir
Name ward selbst, wo sie ihn dem Werke aufgescbideben
batten, nicht mehr bemerkt. Beide Domenicu sind später
für dieselbe Person gehalten worden; in Tizian’s Chronik
liegen sie höchstens drei Lustra auseinander.
Der erste, der sich selbst „venezianischer Maler“
nennt, ist nur als Formsebneider bekannt; Domeneco
(lalle grcche, ') depentore venctiano. Der zweite, ungleich
berühmtere, war Jahrhunderte lang nur aus Spanien be¬
kannt, als El Gricgn, in Italien war Domenico Theoto-
copuli vergessen. Ob irgend ein — verwandtschaft¬
licher? — Zusammenhang zwischen beiden besteht? Auch
für eine bloße Vermutung fehlen alle Daten.
Der Name jenes ersten Domenico dalle greche war
bisher besonders berühmt durch den nach einer Zeichnung
Tizians gearbeiteten Holzschnitt von zwölf Stöcken aus
dem .Jahre D5 49. Ferner sind von ihm die Illustrationen zu
einer Palästinareise, die 1547 zu Prag erschien und von
Ulrich l’refat von Wilkanau geschrieben ist. Auf diese
Zeichnungen beziehen sich einige Dokumente, die ich 1878
im Archiv zu Venedig fand. Die neuerdings wieder ab¬
gedruckte Ansicht der lieil. Grabeskirche ist mit leben¬
digen Gruppen von National- und Kostümfiguren im Stil
der venezianischen Schule staffirt.
Danach liatte Domenico eine Pilgerfahrt nach den
historischen Stätten Palästinas gemacht, wo er „die heilige
Stadt Jerusalem mit alle)) Stationen, den heil. Grabestempel,
den Berg Syon mit seinen Heiligtümern, Bethanien, den
Ölberg und das Thal Josafat mit seinen schon fast ver¬
schwundenen Mysterien“ aufgenommen. Nach seiner Rück¬
kehr hatte er in Rom einen Gönner gefunden in dem
Spanier Pedro de Zarate, Ritter vom Orden des heil.
Grabes, Cavalier(sc»f/Are)undTischgenosse Pauls III. Auf
seinen Antrieb führte er jene Ansichten in Farben aus,
erhielt das päpstliche Privileg, am 1. April 154G, und am
28. August auch das der Signorie.-)
1) Zu ergänzen vielleicht contrade.
2) Das Privileg Paul’s JII. vom 1. April 154G beginnt:
Motu proprio etc. Cum sicut accepimus dilectus filius nr
Dfiicus dalle greci pictor Venetus ciuitate sauctam bieru-
Vielleicht hatten die Erzählungen von seinen Reisen
an jenen Küsten dem Tizian die Anregung zu dem Pharao¬
karton gegeben.
Des zweiten griechischen Domenico Leben in Venedig
und Italien, vor seiner Übersiedelung nacli Spanien, lag
lange Zeit in völligem Dunkel.*) Gleichwohl hatte be¬
reits 18G5 Amadio Ronchini einen Brief des Miniaturisten
Julio Clovio veröffentliclit, der auf seine .Tugendgeschichte
ungeahntes Licht wirft. Aber niemand hat gesehen,
dass hier von unserem Domenico die Rede war. Der
Brief vom IG. November 1570 ist aus dem Palast Farne.se
in Rom an seinen Gönner, den Kardinal Alexander Farnese
gerichtet, der als Legat a latere der Pi'ovinz des Pa-
trimonio in Viterbo residirte, im Palast Rocca, den er
durch Vignola hatte erneuern lassen.
„Es ist in Rom ein junger Candiote angekommen,
ein Schüler Tizian’s, der mir, nach meinem Uiheil, au.s-
gezeichnet scheint in der Malerei, und unter anderem
hat er ein Selbstbildnis gemacht, das bei allen Malern
Roms Aufsehen en'egt. Ich möchte ihn unter dem Schirm
Euer Hochwürden bergen, ohne andere Ausgaben zum
Ijeben, nur ein Zimmer im Palast Farnese für einige
kurze Zeit, d. h. bis er mehr in Ordnung gekommen ist.
Deshalb bitte und flehe ich, Ihr möchtet geruhen, an den
Grafen Imdovico Euren Majordomus zu schreiben, dass
er ihm im besagten I’alast ein Zimmer oben gebe; Eure
Herrlichkeit wii'd da ein gutes AVeih Ihrer würdig thun,
und ich werde Euch verpflichtet sein.“-)
Salem cum önibus stationibus iiec uö aedem Smi se]>ulcn et
montem sion cum eins misteriis iusup betbauiam Moutciu
oliueti et totam va.llera Tosapba.t et cum illius misteriis tem-
porum antiquitate jam fere abolitas Nuperrime uero diligentia
et corretioiie suasuq? dilecti tilii petri (t Carate cantabri
militis Smi sepulcri D. n. itus ebristi ac de numero partici-
pantium scutiferi et famifls coiitiuui comesalis liri elaborate
desiguauerit, et subTd ad amusim dejiinxerit ac demum im-
pensa sua imprimi facere inteudat, dubitetip ue 0]ius picture
bmoi post modum ab aliis abscp eius liceucia imiirimatuv etc.
Das Privileg wird auf zehn Jahre erteilt.
Die Bittschrift au den Senat lautet:
Cossi Como lo Dfiico dalle greci pictor ho cum molta
mia fatica & gran»ai pericoli superato uuo lungo & diticile
peregiuazo per essermi cum molta spesa appresso coudutto
iino alla cita de hierusalem & dessegnato tutti quelli santfi
lochi cossi mi contido nella benignita & clementia di V. Serta
ehe nö mi sara scarsa in conciederme gratia che alcuno nö
possa p vinti anui nelle terre e lochi sui stampar li dissegni
pdetti, sotto pena de perderli & pagar d. X. ,p ano . acio che
cum cjsto modo possa restaurar taute mie sjiese & fatiche che
sara cum honor dl Si' Dio & molta satisfazion de tutti & di
V. Serta humte me ric».
Am 28. August 154G wird die Gewährung für zehn Jahre
beschlossen, vorausgesetzt dass die Zeichnungen neu und
noch nicht gedruckt seien.
1) Tout d’ailleurs est demeure enigmatique de ce qui
touche ä l’existence de cet artiste, heißt es noch in Leforts
Peinture Espagnole, Paris 1893 p. 114.
2) Der Brief ist auch in Bradley’s Leben Clovio’s (Lon-
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KRETA.
179
Dass Theotocopuli ein Schüler Tizians war, wie
durch diesen Brief nun erwiesen ist, hatte bereits sein
spanischer Biograph Palomino vermutet ; aber alle
neueren Kritiker haben es liezweifelt, noch zuletzt Morelli.
Man kannte nur seine spanischen Sachen, und diese mit
ihrer sehr reduzirten Palette, ihrem wilden Skizzismus,
ihren bizarren Posen, ihren architektonisclien Perspektiven
erinnerten freilich mehr an Tintoretto. Die bisher un¬
beachteten Stücke seiner italienischen Jugendzeit dagegen
ließen eher, wie ihre Namengebungen zeigen, an Bassano,
Paolo, ja Barocci denken. Von Tintorettos Tonmalerei
ist wenig darin. De.shalb hat man ihm auch wohl bloß
eine eklektische Wanderbildung zuschreibeu wollen. Aber
Schülerschaft bedeutet ja nicht strikten Anschluss an
des Meisters Stil; am wenigsten ist natürlich an einen
regelrechten Kursus zu denken.
Er machte auf Clovio den Eindruck eines fjiovane-,
seine Lehrzeit wird also wohl in die sechziger Jahre
zu setzen sein. Das ist die Zeit der Altersmanier
Tizians; wo in seinen Gemälden Linien und Flächen in
chaotisch fleckigen, nachlässigen Strichen und Ketouchen
verschwimmen. Diese Altersmanier ist später Grecos
Verhängnis geworden. Der kopfüber herabstürzende
Engel in Tizians Lepanto im Pj-ado spukt in allen
seinen Visionen. Die zwei Bildchen in Urbino (die Auf¬
erstehung und das Abendmahl), mit ihren auffallenden
Verkürzungen, Fingergesten und Architekturen könnten
damals unter seinen Augen entstanden sein. Domenico
mag dem alten Meister bei seinen Arbeiten, z. B. denen
don 1891, p. 386) aber fehlerhaft und unvollständig aljge-
druckt.
Al Card. Farnese Viterbo.
Ä di 16 di Obre 1570.
'E capitato irr Roma uu giouane Candiotto discejiolo di
Titiano, che a mio giuditio [larmi raro nella pittura; et, fra laltre
cose egli ha fatto un ritratto da se stesso, che fa stupire tutti
questi Pittori di Roma. Io vorrei trattenerlo sotto l’ornlrra
di V. S. Illma et Revma senza spesa altra del vivere, ma
solo de uira stanza nel Palazzo Farnese per qualche tempo,
cioe per fin che egli si venghi ad accomodare meglio. Perö
la prego et supplico sia contenta di scriuere al Co. Ludco
suo Maiordo, che V. S. Illma. farä un’ opera degna di Lei,
et io gliene terrö obligo. Et Le bascio con reirereirza
le marri.
Di V. S. Illma et Revma huinilisso seruitore
Don Julio Clovio
(Atti e mernorie di storia patria per le prov. Moden, e
Parmensi. Vol. III, 270 Modeira 1865.)
Merkwürdig ist die Wiederholung eines ähnlichen Ein¬
drucks iir demselben Rom fast dreihundert Jahre später.
Mi ricordo varj anni fa di aver veduto a Roma un bei
ritratto con armatura, posseduto da un negoziante, che tutti
giudicavano di Tiziano, il Restauratore trovö la tirma di
Theotocopuli.
So schrieb mir am 12. April 1878 nach Venedig der
Maler Cav. Giorgio Mignaty in Florenz, ehr Grieche aus
Corfu.
für Philipp IL, an die Hand gegangen sein, ') begierig
ihm seine Handgriffe abzusehen. Daneben wird er die
ringsum erstehenden Wunder Paul Veroneses und Robustis
mit glühenden Augen eiugesogen haben.
Clovio, der als ein sehr verbindlicher und wohl¬
wollender Herr geschildert wird, nimmt sich, wie man
sieht, des jungen Mannes nach Kräften an. Gewiss hat
da, neben der Empfehlung Tizians, die griechische Ab¬
kunft eine Rolle gespielt. Clovio nennt sich selbst auf
Miniaturen Macedonier {Julius Macedo fec.), so heißt
er auch in den Gesprächen des Francisco d’Hollanda. Er
war aber gebürtig aus Grizane in Kroatien, und in den
Kupferstichen, die Cornelius Cort, besonders in den Jahren
1567 — 69 in Rom nach seinen Bildern anfertigte, steht
hinter seinem Namen de Crovatia und lliricus. Domenico
unterzeichnet sich immer Kreter (Apt/j). Es war gewiss
die griechische Sjirache, die beide aus so entlegenen
Ländern hier vom Zufall zusammengeführte, grundver¬
schiedene Künstler, den Greis und den Jüngling, rasch
verliand.
Merkwürdig ist dass Domenico in demselben Jahre
Tizian verlässt und nach Rom zu Clovio kommt, wo
Cort den umgekehrten Weg nimmt. FJist als hätte hier
ein Tausch stattgefunden.
Unaufgeklärt bleibt, ob er aus Kreta eingewandert
oder von griechischen Eltern in Venedig geboren ist.
ln den Kirchenbüchern und dem Archiv der Kolonie hat
sich, wie mir deren fleissiger Diu'chforscher, der ver¬
storbene Präfekt der Mai'ciana, Giovanni Veludo, ver¬
sicherte, sein Name nicht gefunden.
Er besaß eine für einen Maler nicht gewöhnliche
Bildung: Pacheco wusste von Lehrschriften seiner Feder
über die drei Künste; er hat sich auch in Statuen und
Bauentwürfen versucht. Die geläufige griechische Hand
in den Unterschriften seiner Gemähle, gewisse byzan¬
tinische Reminiscenzen seiner späteren Gemälde weisen
auf Jugendjahre in griechischer Umgebung hin.
Nach den Namen kretischer Künstle.]-, die in dieser
Zeit nicht selten begegnen,-) scheint die venezianische
Verwaltung doch nicht bloß ausbeutend, auslaugend ge¬
arbeitet zu haben. Die Insel Kreta hatte damals wenig¬
stens ein ganz anderes Aussehen als heutzutage, nach mehr
als zweihundertjähriger Türkenherrschaft. Die Kultur¬
interessen der dem Inselstaat gehorchenden Länder standen
sich unter jener strengen Aristokratie nicht so schlecht.
1) Sollte er iiiclit gemeint sein mit dem jungen fähigen
Schüler, den Tizian in einem Briefe an Philipp II. rühmt als
Mitarbeiter am S. Lorenzo: non restando di adoprar in questo
Oratio mio figliuolo et suo servitore insieme con im’ altro
molto ualcnte (jiouine mio discepolo. 2. Decembre 1567.
Crowe, Life of Titian II, 536.
1) In den siebziger Jahren finden wir in der Kolonie den
Maler Michael Damasceno beschäftigt; der Miniaturist Nico¬
laus della Torre wurde von Philipp IL im Escorial als grie¬
chischer Kopist beschäftigt. Beide waren aus Kreta.
23*
DOMENICO THEOTOCOPULl VON KKETA.
jJie Insel frelüirte den Venezicinern seit 1204, vorher
halte sie unter den Osikaisern gestanden (mit Ausnahme
der aradischen Episode). Venn die venezianischen ducJri,
proi rrditori . und rrltorl auch keine Akademieen g-rün-
den, so waren sie doch geni’itig't, sich dort civilisirt-
häuslicli einzurichten. Die Eeisenden sprechen von
ihren zahlreichen Palästen , von großen Pai'ks und
tiärten. die ihresgleichen iiiilit hätten in der Levante.
gelang mir auch in wenigen Jaliren eine Leihe vor
seiner Eeise nach Spanien gemalter Bilder in italie¬
nischen und englischen Galerieen zusammenzustellen, die
selbst auf seine dunklen biographischen Anfänge einiges
Licht wai’fe.n. Von diesen möchte ich jetzt einige der
merkwürdigsten den Lesern der Zeitschrift bekannt
machen, nachdem ich sie schon 1888 im Leben des
l^elaziiuez signalisirt hatte.
Die Heiluug des Blinden, (iemälde von Domenico Theotocopuli in der (ialerie zu Parma.
Seit ßondelmonti, der diese Länder für Cosimo bereiste
und hier drei Jahre verweilte, war man auf ihre Alter¬
tümer aufmerksam geworden, und griechische JMarmor-
werke wurden von den Jacopo Foscarini, Alvise Grimani
u. a. aus den Trümmerstätten der weiland ' ixarofmohg
entführt. Die dort residirenden Venezianer mögen talent¬
volle dünglinge oft in ihr Haus aufgenommen und nach
der Lagunenstadt mitgebracht haben..
Ein Gemälde des Meisters, das ich am 8. Sep¬
tember 1874 in Venedig entdeckte, wo es in der Galerie
Manfrin unter dem Namen des Barocci verborgen war,
brachte mich darauf, seinen Spuren naclizugehen. Es
Das Bildnis JuUo CJovio’s.
Was war der Erfolg jener Bittschrift des alten
Clovio?
Darüber ist uns keine Kunde geworden. Aber wir
haben mehr; eine Eeihe ganz sicherer, meist signirter Ge¬
mälde Domenico’s, die zeigen, was er gekonnt und wie er
in Eoni ganz ins rechte Fahrwasser gekommen war. Dar¬
unter sind drei immer in farnesischem Besitz geblieben
und noch in den Galerieen von Neapel und Parma zu
sehen; andere, zerstreute, sind wahrscheinlich ebenfalls
damals entstanden. WH sehen ihn in den ersten Jah-
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KRETA.
181
reu des achten Jalirzehnts unter farnesiscliem Dach,
wahrscheinlich für den Kardinalnepoten nach dessen An¬
gaben kleine Stücke ausführend oder wiederholend.
Wie er sich der Maiergemeinde Roms vorgestellt
hatte durch ein Selbstbildnis, so bedankt er sich nun
bei seinem Gönner, indem er dessen Züge in einem mit
allem Eeiz venezianischer Porträtkunst geschmückten
Bilde der Nachwelt erhält.
Dies Bildnis Don Julio Clovio’s (geh. 1498, f 5. Januar
1578) im Museum von Neapel war f'rüliei- in der Camera
ausgeübt habe. Eine Kopie in England, the Curxon
portrait, ist in Bradley’s Buch S. 186 mitgeteilt.
Der Maler steht vor einer kahlen Wand zur
Linken eines hochgelegenen offenen Fensters und weist mit
dem rechten Zeigefinger auf ein geöffnetes Buch in seiner
Hand, in dem zwei Vollblätter Miniaturen zu sehen sind.
Das Motiv erinnert an Tizian’s Strada. Vielleicht ist
dies Buch das für den Kardinal gemalte Ufflzio della
Madonna, ein Werk neunjähriger Arbeit, bis 1859 in
der Bibliothek zu Neapel. Eine hohe breite Stirn, von
Die Heilung des Blinden. Gemälde von Domenico Theotocoi'ULi in der Dresdner Galerie.
f/e’ ritratti des Gartenpalasts zu Parma ' ) und galt dort als
Selbstporträt, ist aber mit Domenico’s Namen in grie¬
chischen Versalbuchstaben bezeichnet. Nagler (der es
vortrefflich nennt in Charakter und Farbe) und Kukul-
jevic in der Schrift über seinen Landsmann nahmen es
als Beweis, dass Clovio noch so spät auch die Ölmalerei
1) ün quadro alto br. 1 on. 2., largo l)r. 1 on. 8.
Ritratto di D. Giulio Clovio con barba biaiica quadra, fa
cenno con la destra ad un libro uiiniato che tiene nella
sinistra, di Giulio Clovio. Camera de’ Ritratti, Palazzo del
giardino in Parma, c. 1734. Campori Raceo/ki di cataloghi
p. 231.
weiben zurückgestrichenen ^dünnen Haaren eingerahmt,
starke, gebogeneNase unter den nahe beisammen stehenden
grauen Augen. Das linke Auge scheint leidend. Alle diese
Züge, sowie die Hände sind mit ebensoviel Sorgfalt wie
Geist, mit feinem Pinsel durchgearbeitet. Der zarte
gelbliche Ton der Haut, der Strich erinnert wohl an den
viel derberen Tintoretto. Durchs Fenster öffnet sich
eine windbewegte Landschaft voll Luft und Licht, in
den warmen Tinten des Spätnachmittags: blauer Himmel,
Hochgebirgsferne, goldene Wölkchen; vorn einabgestor¬
bener Ihium mit Nachwuchs grünender Zweige. Die Lein¬
wand hat eine ungewöhnlich längliche Form und ist
182
DOMENICO THEOTOCOPüLl VON KRETA.
am oberen Eaiid, der durch den Scheitel geht, abge-
schnitten.
Außerdem sieht mau in Neapel noch ein kleines
Xachtstiick; ein Knabe, der eine Wachskerze anzünden
■will, und mit vollen Backen den verkohlten Holzspan ent¬
facht. Wahrscheinlich die Studie für ein Historienbild.
Auch dies Bildchen galt in Parma für einen Clovio. ')
Die Heilung des Blinden.
Zwei Kompositionen dieser fai-uesisclien .Jahre sind
jetzt in zwei bis di'ei Wioderliolungen bekannt: die
Heilung des Blinden und die Vertreibung der Wechsler
aus dem Tempel. Sie müssen damals viel Beifall ge¬
funden ]ial)en. Wir wüssten auch kaum Bilder von
ilim zu nennen, wo der venezianisclie Charakter so stark
und reich ausgespnichen wäre. Sie sind gesättigt mit
allem, worauf sich die damalige venezianische Schule
etwas zu Gute that. Es giebt kaum einen bedeutenden
Namen, den man nicht hören könnte, wenn man Kenner
vor diese römischen Bilder des Greco führt.
Die Blindenheilung existirt in einem bezeichneten
Exeniiilar der Galerie zu Parma, das ebenfalls einst (um
16.S0) in dem Gaidenpalast, alier als Paul Vei’onese, auf¬
gehängt war;-) undin einem ohne Namen in der Dresdener
Galei'ie, für die es 1741 von Eossi in Venedig erworben
wurde, und zwar als Leandro Bassano. Bei einem Be¬
such im Oktober 1874 erkannte ich seine Hand darin,
drei Jahre später fand ich meine Vermutung vor dem
signirten Doppelgänger in l’arnia Jiestätigt.
Über das Zeitverhältnis beider Gemälde wird man
sich nicht leicht sofoi't entscheiden. Sie stehen keines¬
wegs im "Wrhältnis bloßer ^Viederholungen, obwohl die
1 lauiitfigureu übereinstimmen.
Im Dresdener Exemplare sieht man zwei ziemlich
gleichwiegende Gruppen an beiden Seiten, durch einen
breiten Zwischenraum getrennt; links den Heiland mit
dem Blinden und einen Neugierigen, nebst einer Grupiie
unbeteiligter Personen dahinter; rechts die aufgeregte
Apostelschar. In Parma ist Christus genau in die
Mitte der Tafel gerückt, die Apostel sind an den
Rand gedrängt und zusammengezogen , mit mehr ver¬
deckten Gesichtern, wogegen jene Hauptgruppe mit Um¬
gebung mehr als die Hälfte der Bildfläche einnimmt.
Einen seltsamen Zuwachs hat sie bekommen durch drei
nackte Figuren. Die Absicht war oftenbar die Einheit
der Komposition zu betonen. In diesem Punkt mögen
tadelnde Urteile gehört worden sein. Das Dresdener
Bild scheint also das frühere.
Dementsprechend ist der Augenpunkt anders ge-
Ij Uiia notte con mezza figura d’ un giovine che col
soffio accende una piccola candela, di Giulio Clovio. br. 1
0. 21/2- o. 11. A. a. 0. p. 207.
2) Un quadro alto on. 10. e '/zi largo br. 1. on. 1. Un
Salvatore che illumina il cieco, con diversi Apostoli et altie
figure, di Paolo Veronese. A. a. 0. p. 214.
wählt. In beiden Bildern liegt er in dem hintersten
Bogen der Palastperspektive, in Dresden in der tonnen¬
gewölbten Vorhalle, in Parma in dem Schlussbogen der
kreuzgewölbten Kirchenruine; dort wenig links von
der Mitte der Bildfläche, hier fast zwei Drittel nacli
rechts, und außerdem bedeutend höher. An die Stelle
des Cinquecentopalasts ist eine Reihe von vier I'racht-
bauten getreten. Die blaue Bergkette im Hintergrund
ist gestrichen. Auch in der großen Fläche des Platzes
mit Marmoriilatten ist gesorgt, durcli mehrere in die
fliehenden Linien ausgestreute Figuren, Wagen, Reiter,
dem Auge in Schätzung der Tiefe zu Hilfe zu kommen.
Die J)eiden im Rücken gesehenen Figuren vorn sind be¬
stimmt, die Gruppen in realistisch wahrscheinliclier Weise
. abzurunden.
Tiotz dieser aufgewandten Künste wird man das
Dresdener Exemplar ansprechender linden. Der Raum
ist offener, die Figuren haben mehr Luft, die Gruppen
und Paläste treten besser zurück und auseinander. Noch
mehr ins Gewicht fällt der Unterschied der Hauptflgur.
Der Ausdruck innigen Mitleids in der seitlichen Neigung
des Hauptes und Blickes Chiisti ist in Parma verflacht.
Die parmenser Leinwand macht also den Eindruck
einer flotten Wiederholung der dem Meister geläuflgen
Komposition. Die Zeiclniung ist feuriger, aber auch
manierirter; auffallend sind die untersetzteren Verhält¬
nisse der Gestalten.
Die Tcnq)elreinigu)ig
ist sogar in drei Originalrepliken vorhanden, von denen
zwei dieser römischen Zeit, ein drittes der spanischen,
und dem späteren ganz verwandelten Stil angehört. Alle
drei betinden sich in England.
In der ersten ursprünglichen Gestalt zeigt sie
uns das Exemplar in der Galerie des Earl of Vaaborough
zu London. Dies war schon im XVII. Jahrhundert nach
England gekommen, in der Galerie Buckinghams führte
es noch den später vergessenen Namen des Greco. Denn
eine Nummer im Katalog bezieht sich ohne Zweifel auf
unser Bild. Ü
Der jerusalemische Tempel gab dem jungen Maler,
der, wie die Spanier behaupten, in der Baukunst melir
als Dilettant war, willkommene Gelegenheit zu einem
prächtigen Architekturstück. Man befindet sich in einer
Vorhalle des Tempels. Links öffnet sich durch einen
breiten Thorbogen die Aussicht auf einen von vene¬
zianischen Palästen, einer allseitig offenen Loggia,
einem Rundbau umgebenen Platz. Zur rechten Seite
scheint ein von römischen Säulen getragenes Vestibül
1) A Catalogue of the curious Collection of G. Villiers
Duke of Buckingham. London 1758, p. 3: By Del Greco.
Christ driving the traders out of the teiuple. There are about
32 figures in this picture, four whereof are the pictures of
Titian, Raphael, etc.
DOMENICO THEOTOCOPULl VON KRETA.
18:3
in das dunkle Tempelinnere zu führen. Der Augen¬
punkt ist in diesen rechten Rand der Bildiläche ver¬
legt. — Die Vorhalle nun, aus der Marmorstufen ins
Freie führen, ist eben der Schauplatz der „heiligen Gewalt-
that Jesu“. An der Wand und den ihr Vorgesetzten
mächtigen vier Säulenschäften steht eine bunte Versamm¬
lung gereiht, Apostel, Juden, Männer in levantinischer
Tracht, durch die Christus hindurchgeschritten ist. Er
steht vor der Thürötfnuug, fast genau in der Mitte
des Gemäldes, die Geißel in der die Brust überschnei¬
schwanke Stange, wie die venezianischen Wasserträger-
innen (higolanii), an deren Enden ein Hahn und ein
Körbchen aufgehängt sind.
Man begreift vor dieser Leinwand wohl, wie die Lieb¬
haber der Zeit Carl Stuart’s auf Paul Cagliari verfallen
konnten, au den nicht bloß die herrliche Piazza erinnert.
Wenn der junge Grieche dessen fein niiaucirte Farben¬
tönungen nicht erreicht, wenn sein Malerauge in schwereren
Schatten und weißlichen Lichtern weniger fein sieht, so wirkt
dafür seine Erzählung durch reichere Auswahl aus dem Leben
Die vier Künstler aus der Tempelreinigung.
Gemälde von Domenico Theotocopuli in der Sammlung des Earl of Yarborougli in London.
denden Rechten schwingend. Eindrücke der mannig¬
faltigsten Art spiegeln sich in den Mienen und Gebärden der
hinter ihm stehenden Zuschauer. Im Kontrast zu der
gemessenen Haltung dieser beobachtenden, flüsternden
Gruppen bew'egt sich die Schar der Verkäufer in tumul-
tuarischem Gedränge (wobei eine Frau zu Boden stürzt)
nach der linken Seite, hinter einem auf der vordersten
Stufe sitzenden jungen Mädchen her. Diese üppige Figur
ist nach dem Korb, auf den sie sich lehnt, eine Taulien-
händlerin. Ein anderes schönes junges Weib eilt mit
ihrem nackten Knäbchen an dem Eingang des Vestibüls
zur Rechten vorliei. Sie trägt auf der Achsel eine
aufgegriffeuer Figuren und Charakterköpfe, stürmischer
wie gehaltener Bewegung, ungleich stärker als des J'ei'o-
nesers vornehme, decente Convenienz. jibrigens hatte noch
Waagen die Attribution Paolo nicht beanstandet. *)
1) Waagen, Tren.sures IV, 70. Paul Veronese .... The
comjiositioii is very draniatic, tbougb not free froin undigiii-
fied motives. The colouiing is clear and wann. Waagen
meint hier die üppigen Nuditäten.
.An der Schwelle steht
/tOMiNiKO etOSicönyyip :
Kpftc rnoih) ^
Größe: 2' U''x2' 2“ (englisch).
184
DOMENICO THEOTOCOPULl VON KRETA.
Sieht man sich das leere Vestibül zur Eechten näher
an, so bemerkt man, dass hier der Platz der Weclisler
war, die sich bereits aus dem Staube gemacht haben. Da
steht ein schweres Tischchen mit Sphiiixbeiuen und pracht¬
voll gewirkter Decke, auf dem Marmorboden daneben liegen
Haufen Goldstücke zerstreut, ein Kontobuch, Tintenfass,
eine Kassette, eine Goldwage. Ein nacktes Kind ist
hier vergessen worden, es macht sich mit dem weinge¬
füllten Kelchglas zu schaffen.
Das merkwürdigste in dem Bilde aber ist die Gruppe
in der Ecke rechts. Wir erkennen da auf den ersten
Blick einige wohlgetroff'ene Bildnisse berühmter Maler der
Zeit. Der junge Mann will ihnen seine besondere Ver¬
ehrung und Dankbarkeit bezeigen, verrät aber zugleich
ein nicht geringes Selbstgefühl, indem er sich ihnen als
vierter anschließt. Er scheint zu sagen: „Diesen ver¬
dank’ ich alles was ich bin“, aber auch: „Auf diese folg’
ich die sich gi’oß erwiesen“.
Das Bildnis Tizians entspricht dem bekannten Stich
des Agostiuo Caracci; nur ist der Kopf wie in dem
Berliner Gemälde nach rechts gewandt; statt des Pelzes
hat er einen Mantel um Arm und Ilrust geworfen; die
Haare sind fast weiß, die Augen hell. Der darauffolgende
Kopf des Michelangelo ist nach einem Original früherer
Zeit, die leicht gekräuselten flaare sind grau, der Bart noch
dunkel. Der dritte des Clovio ist eine Wiederholung <les
Neapler Porträts. Endlich neben diesen Patriarchen ein
Jüngling; kurze, gerade Stirn, die braunen Haare, in
der Mitte gescheitelt, in reichen Wellen über die Schultern
fallend; die Nase lang, gebogen mit überhängender Spitze,
starke Lippen. Der das Kinn Imrührende Zeigefinger
drückt das Ipse fccit aus. Nach diesem unzweifelhaften
Dokument kann das in allen illustrirten Besprechungen
des Greco wiedergegebene Malerporträt im Palast San-
telmo zu Sevilla ihn nicht vorstellen.')
1) Dies Porträt ist auch dem Artikel über unsern Maler
von /l. Bixlla in der athenischen Zeitschrift Eixoroy(>u<fiii-
(1894, 13. März) vorgesetzt.
Die Anordnung dieser Brustbilder ist übrigens so,
dass Michelangelo und Clovio später eingeschoben scheinen
könnten. Tizian und Domenico stehen sich gegenüber in
der vorderen Reihe, ungefähr so wie Raphael’s Navagero
und Beazzano. Tizian war doch sein einziger wirklicher
Lehrer. In Rom würde er dann den Miniaturmaler aus
Dankbarkeit und den ihm dort offenbar gewordenen Bon-
arroti aus Heroeuverehrung hinzugefügt haben. Dies
Exemplar könnte also noch in Venedig gemalt sein.
Das zweite Exemplar der Tempelreinigung ziert die
Galerie Cook in Richmond. Es ist in bedeutend kleinerem
Maßstab; in der Komposition, wenn mich das Gedächtnis
nicht täuscht, ganz übereinstimmend, aber in einem an¬
deren Stil gemalt, ln Sättigung und Leuchtkraft der
Farbe, fast bis zum Bunten, in dem emailartig pastosen
Auftrag, in der gediegenen Sorgfalt der Ausführung,
steht es unter Greco’s Werken vereinzelt da. Die
männlichen Körper glänzen wie Bronze, die weiblichen
sind von blendender Weiße. Dabei ist es vorzüglich
erhalten, noch in dem alten geschnitzten und vergol¬
deten Holzrahinen. Wahrscheinlich hat ihn der Ver-
kehr mit dem alten Miniaturisten gereizt, sich einmal in
dessen Art, soweit es seine stürmische Natur vermochte,
zu versuchen. Man kann es also wohl das feinste
und fleißigste Bild, aber nicht das Meisterstück ') Grecos
nennen, der hier sein eigenes Wesen eher verleugnet
hat. Es ist bezeichnet:
/lörjHNJK^ eeoT^Kom
KPH^ ^
1) Wie Sir J. C. Robinson meint, von dem es einst
Francis Cook nebst anderen Stücken kaufte. It is, witliout
exemption, tlie most excellent specimen of the master, of its
kind, wbicb bas yct fallen nnder tbe notice of the writer,
either in or out of Spain.
(Fortsetzung folgt.)
ALESSANDRO BOTTICELLL
VON ADOLF PTIILIPPIA)
MIT ABBILDUNGEN.
ACH Filippo Lippi’s Tode war Alessandro
(Sandro) ENlipepi, nach einem Goldsclimied,
bei dem er gelernt hatte, gewöhnlich
Botticelli genannt (1446 — 1510), unbe¬
stritten der erste Maler in Florenz. Er
war erst 23 .Jahre alt nnd malte Ma¬
donnen, wie Filippo, der anf ihn eingewirkt hatte, und
in der Art der Eeliefs der Marmorbildhauer Desiderio
oder Antonio Eossellino. Aber in den nächsten zehn
.Jahren machte er eine Entwicklung durch, die ihn
sehr weit über seinen einstigen Lehrer hinausführen
sollte. Er ist reicher in seiner künstlerischen Phan¬
tasie, aber auch theoretisch, weltlich vielseitiger ge¬
bildet und im Bereiche seiner Stoffe von einer Mannig¬
faltigkeit, die Filippo nicht von ferne, die aber auch
kein anderer Maler des 15. .Jahrhunderts völlig erreicht
hat, so dass man, wenn man zu seinen Leistungen noch den
Einfluss, den er ausgeübt hat, hinzunimmt, ihn nur mit
Masaccio vergleichen kann. Wie dieser der ersten Früh¬
renaissance den Ernst und den Charakter aufgedrückt
hatte, so gab ihr Sandro in der zweiten Hälfte des Jahr¬
hunderts den Gleist und das strahlende Leben und dazu den
Glanz seiner virtuosen Technik. Den Eeichtum seiner
Erfindung, worin er alle andern über¬
ragte, lehrt schon ein schneller Überblick
über sein weites Stoffgebiet kennen.
Wie viel Neues tritt uns da ent¬
gegen! Wir wollen es nach Gruppen
zu ordnen suchen. Zunächst seine
Engel. Ihr Typus kündigt sich schon
bei Filippo an, z. B. auf der „Krönung
Mariä“ in der Akademie. Aber durch
Sandro wird er schöner und zugleich
charaktervoller, bei aller großen, äus¬
seren Anmut noch mehr durchgeistigt.
Der moderne Betrachter wird diesen
1) Aus einem demnächst erscheinen¬
den kunstgeschichtlichem Werke des Ver¬
fassers.
Typus am besten verstehen, wenn er an die Liebe in den
Canzoneu, Sonetten und Madrigalen des Stil nuovo seit
Dante denkt. Gegenstand der Verehrung ist darin eine Frau
von fast überii'discher Hoheit, und Amore, der Liebesgott,
ist )iicht der tändelnde, nackte Flügelknabe der spät¬
griechischen Kunst, sondern ein nicht minder hohes,
ernstes Wesen, das des Dichters Herz gefangen nimmt
und in seinen Sinnen auch wohl ganz mit dem mensch¬
lichen Bilde jener Geliebten zusammenfließen kann.
Sandro hat sich tief in Dante versenkt upd auch sein
großes Gedicht illustrirt. Er hat nun in seinen er¬
wachsenen, langbekleideten, der allgemeinen körperlichen
Erscheinung nach weiblich gedachten Engeln, die keines¬
wegs immer Flügel haben, ein künstlerisches Gegenbild
zu jenem Gegenstände der italienischen Liebespoesie ge¬
schaffen. Die Engel sind schlank und reich gekleidet,
mit schönen blonden oder dunkeln Haaren, auch wohl
mit Kränzen geschmückt, wie Frauen. Aber in ihren
Gesichtszügen erinnern sie an .Jünglinge, und ihr Aus¬
druck ist sinnend, tief, manchmal ernst und sogar
schwermütig. Diese erhöhten oder verstärkten Mädchen¬
gestalten sind die Begleiter seiner Madonna, die auch
ihrerseits wieder um einen Grad höher und geistiger
aufgefasst ist, als die Filippo’s ('man
vergleiche dafür die schönste auf dem
Eundbilde mit dem „Magnificat“ in
den Uffizien, so bezeiclinet von den
Anfangsvvorten einer Seite des auf¬
geschlagenen Buches, an dem die Ma¬
donna zu schreiben im Begriff ist:
magnificat anima meum dominum), —
aber diese Engel erscheinen dann auch
auf seinen andern Bildern, oft als
irdische junge Mädchen oder als wirk¬
liche Engel selbständig z. B. in dem
wundervollen Eeigentanz oben in der
Luft über einer „ Geburt Christi “
(Jjondon, Natioualgalei'ie ; aus der
Sammlung Youiig Ottley, mit der
.Jahreszahl 1500 in griechisclier In-
EugelUopf aus der Krönung der .Jungfrau
von Filippo Lippi in der Akademie zu
Florenz.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VJII. II. 8.
24
ISö
ALESSANDKO BOTTICELLI.
erwaclisenen Mädcbeu bekränzen
wälirend drei Teufel wütend ent-
sclirift); einige dieser
lierannaliende Schäfer,
flielien.
An die Mädchenengel reihen wir die Schünlieit der
reifen irdischen Frau, die uns
Sandro oft auf seinen Bildern
giebt, manchmal mit einem ener¬
gischen Motive der Stellung oder
der Bewegung, z. B. entfliehend
oder etwas ti’agend. So lange
das nicht übertrieben wird, haben
wir in solchen Darstellungen den
Anfang eines idealen, schöngebil¬
deten und zugleich vornehmen
florentinischen Frauentypus in der
Kunst. Bei Ghirlandajo und Filip-
pino treft'en wir etwas später ganz
dieselben Figuren, bei Filippo da¬
gegen sind nur erst schwache
Versuche (z. B. auf dem Eund-
bild mit der „Madonna“ im Pa¬
last Pitti unter den Nebenper¬
sonen des Hintergrundes die Die¬
nerin mit dem Korb auf dem
Kopfe) vorhanden. Das Verdienst
der Erfindung scheint Sandro
zu gehören. Jedenfalls bekommt doch bei ihm das
Weibliche für die Malerei eine wesentlich erhöhte Be¬
deutung, und auch der Masse nach tritt es, wenn
man ihn mit Masaccio vergleicht, mehr liervor. Wir
sehen, dass Filippo hauptsächlicli weibliche Wesen dar¬
stellt, und nehmen in sei¬
ner ganzen Kunst, abge¬
sehen von den Fresken in
Prato, diesen Charakter des
Weichen oder Weiblichen
wahr. Auch Sandro ist
weich. Aber nicht immer.
Er kann heftig und streng
werden, ausgreifend bis zur
Karikatur. Seine Frauen
und seine Menschen über¬
haupt haben in ihrer Hal¬
tung und in ihrem Clesichts-
ausdruck die Stimmung des
jeweiligen Augenblicks, sie
sind milde oder erregt. Sein
jüngerer Freund Ghirlan¬
dajo übertrifft ihn durch
seine monumentale Größe,
aber Sandro’s „Sentiment“
haben seine Menschen nicht. Sandro verfügt über die
Fähigkeit, auf dieser Gedankengrundlage starke Gegen¬
sätze gut auszudrücken, und er arbeitet mit solchen
Gegensätzen oft auf demselben Bilde. Wegen seiner
Engelköpfe aus der Krönung Mariä (dem sog. Magnificat)
von S. Botticelli in den Uftizien in Florenz.
Engelköpt'e aus der Taufe Cbristi von Verrocchio.
Sandro verfügt
psychologischen, oft in das kapriziöse fallenden Mannig¬
faltigkeit hat man ihm in der allerneuesten Zeit, zuerst
in England, wieder ein ganz besonderes Interesse zuge¬
wandt.
Bei Sandro streift nun auch
das Weltlich-Natürliche die Rolle
des Beiwerks der heiligen Dar¬
stellung ab und wird als Gattung
selbständig: Wir finden bei ihm
zunächst Mythologisches, was er
dann wohl auch nach Art eines
Humanisten selbst suchend und
sinnend sich zurechtlegt, so die
„Verläumdung des Apelles“ nach
Lucian (Uffizien) oder Pallas,
einen Centauren beim Schopf fas¬
send, den „Thörichten“, w'ahr-
scheinlich eine Anspielung auf die
1478 niedergeworfene Verschwör¬
ung der Pazzi (1895 im Palast
Pitti entdeckt, jetzt Uffizien). In
solchen Gegenständen giebt Sandro
die Form niemals als Nachahmer
der Antike, außer bei ganz äußer¬
lichen Dingen, sondern stets mit
den Augen und den Empfindungen
des Florentiners aus dem 15. .lahrhundert wieder, und
dazu kommt eine Stimmung, zu der ihn keine antike
Darstellung anleiten konnte, und die im 15. Jahrhundert
auch wieder nur Sandro ausdrücken kann. So in der
„Geburt der Venus“ (Uffizien), wo die Göttin nackt auf
einer Muschel stehend über
das Meer zu uns heran-
fälirt, von zwei sich um¬
schlingenden Windgöttern
unter einem Regen von
Blumen an das Ufer ge¬
blasen (die Erfindung des
Blasenden geht auf eine
Handzeichnung Ifionardo’s
zurück), wo unter Lorbeer¬
büschen eine kostbar ge¬
kleidete Frauen gestalt ihr
ein rotes Gewand entgegeu-
hält. Noch stimmungsvoller
ist das älinliclie Bild „der
Frühling “(Akademie) : Mäd¬
chen und einige Jünglinge,
in einem Park unter hohen
Bäumen. Das ist nicht
mehr Altertum , sondern
bereits italienische Poesie in der Art von Boccaccio’s
„Ameto“. Au ihn werden wir schon erinnert durch
giotteske Fj-esken in Pisa und Florenz. Aber
anders, reicher und wirksamer verstellt Sandro zu
ALESSANDRO BOTTICELLI.
187
schildern als das 14. Jaluliuiidert. Er hat großes Ge¬
fallen an weltlichen Stoffen und liebt es nun auch, die
lieiligen Vorgänge ganz weltlich darznstellen. Zn den
Historienmalern darf man ihn darum nicht rechnen,
Kopf der Madonna aus der Madonna mit dem Jesus¬
knaben von Filii'PO Lim im Palaste Pitti zu Florenz.
händig, und nachträglich durch Übermalung sehr ent¬
stellt. Die Darstellung des Festmahls mit dem Reiter
und den zwei Hunden ist bei aller Flüchtigkeit un¬
heimlich und ohne allen Beigeschmack von Lächerlich-
Kopf der Madonna aus der Krönung Mariä (dem sog. Maguitioat)
von S. Botticelli in den Uffizien zu Florenz.
obwohl er, wie wir sehen werden, drei von den Fresken
der Sixtinischen Kapelle in Rom, die unter seiner Leitung
ausgeführt worden sind , selbst gemalt hat. Diesen
Bildern fehlt die Größe des Gesamtausdrucks, die Ruhe
der Linien, ohne welche Bilder von solchem Umfange
keine Wirkung haben können. Sandro,
giebt uns statt dessen lauter Einzel-
scenen. Er ist lebhaft, überlebendig
sogar, aber doch kein Dramatiker
wie Ghirlandajo. Ihm fehlt die Ruhe.
Und wie uns seine Madonnen mit
ihren Engelknaben an die italienische
Liebeslyrik erinnerten, so dürfen wir
seine Art, weltliche Vorgänge zu be¬
handeln, novellistisch nennen. Die
Komposition ist nicht auf einen
Mittelpunkt Iiingehalten, sondern sie
geht zerfahren nach rechts und links
auseinander. Charakteristisch ist da¬
für schon die von Sandro gern ge¬
wählte Form der sehr breiten Tafel
von geringer Höhe, auf der sich
nun vielerlei ungehemmt nebeneinan¬
der entfalten kann. Diese Form haben
vier kleine Tafeln von 1487 mit der
Geschichte des Nastagio degli Onesti
bei Boccaccio 5, 8 (aus der Samm¬
lung Barker, jetzt im Museum zu Lyon,
mit Ausnahme des Gastmahls, das sich noch im Londoner
Kunsthandel befindet) für die Familie Pucci zur Hoch¬
zeit einer Tochter gemalt, aber nicht durchweg eigen-
keit, der solche Übertreibungen leicht verfallen. Sie
setzte nicht nur starke Nerven voraus, sondern legte —
für die Braut — auch fatale Vergleiche nahe, woran
aller der Sinn der Zeit keinen Anstoß nahm. Von ähn¬
licher Haltung sind die vier Bilder aus dem „Leben des
hl. Zenobius“ (Dresden), gut und
leuchtend in der Farbe, aber ohne
den sonstigen Schmelz Saudro’s und
hart gezeichnet, also wesentlich Schul¬
arbeit.
Efidlich nimmt Sandro in der
Komposition, worin sonst nicht seine
Stärke liegt, mit einem figurenreichen
Bilde großen Stils ein selbständiges
Verdienst in Anspruch. Es ist die
prächtige „Anbetung der Könige“
(Uffizien n. 1286) für S. Maria No-
vella im Aufträge von Lorenzo de’
Medici gemalt. Ghirlandajo hat diesen
in fast allen italienischen Schulen
beliebten Gegenstand dreimal 1487/8
sehr schön behandelt. Aber bei San¬
dro haben wir die neue, pyramiden¬
artige Grnppirung. Oben in der ülitte
sitzt die Madonna mit dem ältesten,
knieenden König, hinter der Gra[)pe
steht etwas erhöht Josef. Von beiden
Seiten rechts und links reiht sich
daran eine kreisartig nach unten hin verlaufende, aber vorne
nicht völlig geschlossene Versammlung von sehr ausdrucks¬
vollen zeitgenössischen Gestalten, unter ihnen die andern
24*
Dienerin aus der Madonna mit dem Jesusknaben
von Filiit’O Lipit im Palaste Pitti zu Florenz.
ISS
ALESSANDRO BOTTICELLI.
Vü-ideu Küiiige. Der zur Linken stellt nach Vasari
Giuliano dar, der durch die \Ar.sch\vürnng' der Pazzi
fiel, der andere Giovanni, Cosimo'.s Sohn, während der
älteste König des verstorltenen alten Oosiino Züge trägt.
Die Darstellung zeicdmet sich aus durch eine große,
t ornehine Ruhe hei sehr lehendiger Ealtung der Figuren
und sprechendeni Gesichtsausdruck. Man wird hier an
die Kreiie aller dieser Darstellungen, an Idonardo’s
spätere .. Anhetung" in den Uffizien, erinnert, und Lio-
nardo’s Einfluss auf Sandi'u ist wahrscheinlich; heide
waren in Verrocchio's Atelier einander ludie getreten.
Sandro gah hier in einer Art von ^■otivhihl der Mediceer
hei Ghirlandajo nhliche glänzende Architektur fehlt hei
Sandro, dafür treten aber hei diesem die Figuren gegen-
üher der Scenerie seihständig und kräftig, in ganz neuer
Weise auf einer solchen „Anhetung“, hervor.
Eierniit hahen wir das Stoffgehiet Sandro’s und zu¬
gleich seine geistige Auffassung umschrielten. ln der
völlig persönlichen Auffassung seiner Gegenstände gieht
er durchaus sein eigenes ^Vesen und die neue Zeit wieder.
Er ist kein Nachahmer, sondern ein Erfinder nach allen
Seiten hin, wenn auch sein nervöses Naturell ihn oftmals
einen seinen Gedanken keineswegs gleichwertigen Aus¬
druck finden lässt. Mit der geistigen Auffassung der
Die Vei'läumduiig des Apelles von S. Botticecli in den Uffizien zu Florenz.
nach der idjerwindung der Pazzi sein T)estes. Sein Bild
gehört in den Anfang der achtziger Jahre, ei- hat die
Priorität vor Ghirlandajo, der ihn in der Komposition
seiner späteren gleichartigen Bilder nicht erreicht. Die
1) Den Giuliano hat er auch besonders porträtirt, als
lirnsthild, fast im Profil mit merkwürdig geschlossenen
Augen, wie man es sonst auf Büsten der Bildhauer, aber liei
weiblichen, nicht hei männlichen Bildnissen sieht (Berlin
n. 105 B und Sammlung Morelli). Dagegen ist Giuliano’s
berühmte Geliebte Simonelta niemals authentisch, und ihre
gewöhnlich so hezeichnetcn Bildnisse (Palast Pitti; Herzog
von Aumale, Chantilly) sind nicht einmal von Sandro, während
Berlin wenigstens ein Phantasiebild von seiner Hand hat,
ein junges Mädchen fast im Profil im roten Kleide (n. lOGA).
Stoffe hahen wir auch schon ihre formelle Darstellung
berührt. Es ist noch ein AVort im allgemeinen über seine
ganz bestimmte Technik zu sagen, ehe wir versuchen
können, uns seine künstlerische Entwicklung klar zu
machen. Aus der Schule eines Goldschmieds hervor¬
gegangen, hat er eine bestimmte, scharfe Zeichnung,
bisweilen nicht ohne Härte, aber dabei doch wieder eine
natürliche Grazie der Linien und der Formen, so lange
er sich von Übertreilning, von unruhiger und heftiger Be¬
wegung fern hält. Plastisches Alodelliren ist seine Sache
nicht. Der Umriss, das Zeichnerische herrscht auch bei
der übrigens natürlichen Erscheinung seiner Formen vor.
Das eigentlich Malerische, die perspektivische Vertiefung
der Räume und die Abstufung der Töne in Farbe, Luft
ALESSANDRO BOTTICELLI.
189
mul Licht, der Creg-eiisatz von Nähe mul Ferne, das alles
tritt dageg-en zurück, er hat darin nicht seine Stärke.
Auch in der Landscliaft nicht. Sein etwas jüngerer
Schnlgcnosse Liunai'do legte großen Wert auf die Land¬
schaft und suchte die geheimnisvolle AVirkung ihrer
einzelnen Elemente auf die menschliche Stimmmig zu
ergründen. Er hat einmal in seinem Traktat üher die
Malei'ei (9,3) Sandro halli scherzend getadelt wegen einer
leichtfertigen Bemerkung, die dieser üher die nehen-
sächliche Bedeutung dieser Zuthat zu einem Figurenhilde
gemacht liatte. AVir können uns dadurch zu einer Be¬
obachtung führen lassen, die die landschaftlichen Bestand-
Bildern und Eadirungen zu eigen gemacht haben. Es
ist oft befremdlich und her)), aber man empfindet immer
etwas dabei. Franz Kugler, dei' doch als Dichter ganz
in den Stimmungen der romantischen Schule stand,
konnte sich darein noch nicht finden. Dass es ein Ab¬
weg ist von dem eigentlichen Ziel der vollgültigen
malerischen Erscheinung, eine Art Alischlagszahlung an
unsere Gedanken, die das AVeitere seihst hinzufügen
müssen, Innucht kaum gesagt zu werden.
In der Technik, in der leuchtenden, ganz reinen
Tempera steht er in seiner besten Zeit allen Malern des
15. Jahrhunderts voran. Neben den klarflüssigen, durch-
Der Früliliiig von S. Botticelli in der Akademie zu Florenz.
teile auf Sandro’s Bildern nahe legen. Diese machen
nicht die spezifisch malerische Wirkung, die z. B. ein
viel Geringerer aus diesem Kreise, Lorenzo di Credi,
mit den duftigen Hintergründen seiner besten Bilder
erreicht, sie haben vielmehr ihren allerdings ganz be-
sondern und ebenso großen Reiz in den viel reicheren
Zügen und Gaben einer tiefen, sinnenden, oft eigensinnig
gestaltenden und willkürlich verstreuenden Phantasie,
die unser Gemüt ergreifen und stimmen, wenn sie auch
zu unserer auf die Natur gestützten Erfahrung nicht
passen wollen. Es ist das Phantastische, was manchmal
Zeichen für wirkliche und naturwahre Formen nimmt,
und was unsere modernen Symbolisten sich wieder in
sichtigen Farben wird auch Gold angewandt, aber nicht
dick aufgelegt oder als Fläche gegeben, sondern in
zartester, spinnwebeartiger Zeichnung zur Erhöhung
der Lichter. Seine Ausführung ist sorgfältig, die Zeich¬
nung der Körperforinen und der Gewandfalten gewissen¬
haft, alles Beiwerk — Geräte, Blumen, Tepiiiche — be¬
sonders reizvoll und ausführlich. Dass die zeichnende
Linie immer bleibt und jedes Detail bei Sandro zu seinem
Rechte kommt und trotz dieser manchmal ängstlichen Be¬
handlung des Einzelnen doch ein Gesamteindruck er¬
reicht ist, nicht nur für die Stimmung, sondern auch in
der körjierlichen AVahrheit und sogar nach dei' Seite
der rein malerischen Erscheinung : auf diesem Si)iel
190
ALESSANDRO BOTTICEI.LL
der Gegensätze beruht der beinahe einzige Zauber der
JÜlder seiner besten Zeit, z. B. der ..Madonna mit dem
Magnificat'h Dass seine Technik aber liier niclit stellen
bleibt, wird uns seine weitere künstlerische Entwicklung
zeigen.
In demselben Jahre, das Filippo Lippi hinwegnahin,
starb auch Piero Medici (14G9). Der alte Cosinio hatte
sehr lange gelebt, und sein Sohn Piero war schon nicht
weit von den Fünfzigern, als er die Stellung eines ersten
Bürgers von Florenz überkam, die er nur fünf Jahre
genießen sollte. Er war kränklich und willenssdiwach, und
deriualige Haupt dieser Familie gleichwohl von selbst.
Fr hat auch Sandro mit Aufträgen bedacht. Zwei Bilder,
die nach der Verschwörung der Pazzi entstanden, den
„Centauren " und die „Anbetung“, haben wir schon kennen
gelernt. Unmittelbar nach dem Ereignis (1478) musste
Sandro außerdem die Bildnisse der hingerichteten ^Ar-
schwörer mit den Köpfen nach unten an die Mauer des
Rathauses malen. Zufällig ist uns auch noch eine Spur
seines großen Mitstrebenden Lionardo aus jenen Tagen
erhalten, eine Federzeichnung, die den Mörder Giuliano’s,
Bernardo Bandini, am Galgen hängend in verschiedenen
Aussdmitt aus der Anbetung der Magier von S. Botticelli in den Offizien zu Florenz.
die kurze Zeit seiner Verwaltung war von Sorgen erfüllt.
Gleich seinem Vater förderte er die Kunst und fuhr fort,
öffentlich und im Stillen seinen Mitbürgern Wohlthaten
zu erw’eisen. Sein Sohn, Ijorenzo der Prächtige, der auf
ihn folgte, hat diese Aufwendungen seiner beiden Voi'-
fahren in einer Summe angegeben, die man nach dem
heutigen Wert des Geldes auf über 30 Millionen Lire
berechnet hat. Tjorenzo war erst 21 Jahre alt, als er
mit seinem Bruder Giuliano das Erbe des Vaters über¬
nahm. Er hatte sowohl in der F^olitik als in seinem
Privatleben zunächst mit gi'oßen Schwierigkeiten zu
kämpfen. Die Pflege der Künste verstand sich für das
Ansichten zeigt mit Notizen über die Farbe seiner
Kleidung (vom 29. Dezember 1479). Bandini war nach
Konstantinopel entflohen und, auf Lorenzo’s Begehren vom
Sultan ausgeliefert, noch nachträglich gehenkt worden.
Fline eigentümliche Fügung hat es mit sich gebracht,
dass Sandro bald daraufeinem bitteren Feinde seiner Gönner
für dessen künstlerische Pläne seinen Pinsel lieh, dem
Willensstärken und ruhmsüchtigen Emporkömmling Six¬
tus IV., zur Zeit da dieser noch dazu mit Florenz in Fehde
lag. Die Sixtinische Kapelle in Rom enthält an ihren
beiden Längsseiten zwölf Fresken aus dem Alten und
dem Neuen Testament von der Hand Sandro’s, Cosimo Eos-
ALESSANDRO BOTTICELLI.
191
selli’s, Gliirlandajo’s, Perugino’s, Pinturicchio’s und ihrer
Familiäres, wie es in dem Kontrakt vom Oktober 1481
heißt, fertigzustellen nach Ablauf von fünf Monaten.
Aber erst am 15. August 1483 ist die Kapelle ein¬
geweiht worden. Das große Werk, hei dem Sandro
nach Vasari eine Art Oberleitung gehabt haben muss,
wird uns später beschäftigen. Von Sandro rühren drei
Bilder her. Nach 1482 oder 83 kehrte er nach Florenz
zurück. Er blieb daselbst bis an seinen Tod und stand
in ungemindertem Ansehen. Aber seine künstlerische
Thätigkeit zeigt einen Niedergang. Das scheint mit
äußeren Umständen zusammenzuhängen, aber auch mit
Wandlungen seiner persönlichen Natur. Als Karl VIII.
von Frankreich 1494
durch Toskana nach
Neapel einbrach, ver¬
trieben die Floren¬
tiner Lorenzo’s Sohn,
den jüngern Piero,
und die andern Me¬
dici, und Sandro war
seiner Gönner be¬
raubt. Nun begann
auch die Bewegung
des Savonarola. San¬
dro gehörte zu den
eifrigsten Anhängern
des Dominikaners.
Vasari berührt öfter
einen sinnenden,
schwärmerischen
Zug an Sandro und
kommt in diesem Zu¬
sammenhänge zuletzt
dann auch auf seine
Vorliebe für Dante
und seinen Zusam¬
menhang mit Savo¬
narola. Darnach sei er
so ziemlich verträumt
und am Ende verkommen. Uns sind in der That noch fast
hundert Zeichnungen auf Folioblättern zu Dante’s Komödie
(86 in Berlin, darunter eine farbige und 8 im Vatikan) er¬
halten, und außerdem gehen schon die neunzehn Kupfer¬
stiche der Dante- Ausgabe von 1482 auf Sandro zurück. An¬
dererseits können wir uns vorstellen, welchen Eindruck
die Erschütterung des ganzen florentinischen Lebens durch
Savonarola auf jemanden machen musste, der sich, wie
Sandr(j, dem gewaltigen Propheten ganz ergab und der
dann alle Schritte der großen geistigen Bewegung mit
erlebte und zuletzt den Märtyrer auf dem Scheiterhaufen
enden sah (1498). Sandro’s späte Bilder haben nicht
mehr den frohen Glanz der Jugend, sondern etwas Ernstes,
Trübes, Asketisches im Ausdruck und manchmal sogar in
den Typen der Körper. Über das .Tahr 1503 hinaus,
wo er sich an einem Gutachten über die Aufstellung
von Michelangelo’s „David“ beteiligte, haben wir keine
Aufzeichnung mehr über sein Leben. Er wird also in
den letzten Jahren in der That, wie Vasari zu verstehen
giebt, als Künstler tot gewesen sein. Die Begeisterung
für Savonarola teilten übrigens noch andere bedeutende
Künstler, und bei manchen bemerkt man auch in ihren
Werken seinen Einfluss um diese Zeit. Savonarola wollte
indessen nicht die Kunst vernichten, er wandte sich nur
gegen die äußeren, weltlichen Reize, die ja wesentlich die
Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts he-
stimmen, und er wollte der ganzen Kunst eine ernste, reli¬
giöse Richtung geben. Fra Bartolommeo, Raftäel’s
ernster Mitstreben¬
der, ist Savonarola’s
Ordensbruder. Bei
Pietro Perugino
sehen wir nicht zu¬
fällig gerade in die¬
sen Jahren Ernst und
Trauer in den Gegen¬
ständen (die Pieta des
Palazzo Pitti von
1495) vorherrschen.
Der sanfte Lorenzo
di Credi ist durch Sa¬
vonarola bestimmt,
und sogar Filipiiino
Lippi zeigt sich in
seiner letzten Zeit
in ganz besonderer
Weise von Savonaro¬
la’s Geist beeinflusst.
Auch der junge Mi¬
chelangelo gehörte zu
den Anhängern der
neuen Glaubenslehre,
wie unter anderm ein
Brief von ihm von
1496 beweist. Und
es ist das nicht so wunderbar, wie es auf den ersten
Blick scheinen mag. Denn in Wirklichkeit ist Michel¬
angelo’s und Raffael’s Kunst ernster und, sogar vom
Standpunkt der Kirche betrachtet, eindringlicher als die
der florentinischen Frührenaissance.
In Sandro’s künstlerische Entwicklung einzudringen,
ist uns dadurch schwer gemacht, dass er selbst seine
Bilder nicht zu datiren pflegt, und dass wir außerdem
über sein Verhältnis zu Männern, welche außer seinen
eigentlichen Lehrern jedenfalls auf ihn den größten Ein¬
fluss ausübten, wie Verrocchio und die Brüder Polla-
juoli, aus der Geschichte der Zeit nichts oder doch nur
allgemeines erfahren, was uns schon die Vergieiclnmg
der beiderseitigen Werke lehrt. Hier greift nun auch
mit seinem alle überragenden, frühreifen Talent der junge
Die Krönung Mariä (das sog. Magniticat) von S. Botticelli in den Dfttzien
zu Florenz.
192
ALESSANDRO BOTTICELLI.
Lionardo ein. der um 1466 in \'erroecliio’s Atelier kam
und, obwohl er 1472 als selbständig genannt wird, doch
bis nach 1477 dem älteren Heister nahe blieb. In den
Hand^ieichnungen. worin sich ja eines Künstlers Sprache
am reinsten für uns anspi’ägt. kommen Verrocchio und
Tdonardo einander manchmal so nahe, dass man sie ver¬
wechseln könnte. Man lernt daraus, dass mancher Ge¬
danke. den wir in der Ausführung nur durch Idonardo
kennen, auch auf \'errocchio zurückgehen kann. Anderer-
nendes und klareres, harziges oder öliges Bindemittel
den Farben zuzusetzen. In Florenz ist dies zuerst im
Kreise der Pollajuoli und Verrocchio’s geschehen, und dass
Sandro, der vollendete Meister in der reinen Tempera,
auch den \'ersuchen in der gemischten Technik nicht fern
geblieben ist, zeigt z. B. ein Bild aus seiner mittleren
Zeit, die „Madonna mit den beiden .Tohannes“ vor einer
frischen, saftigen, tiefleuchtenden Wand von Oliven und
Palmen (Berlin n. lOG), worin die Farben der Blumenvasen
Die Verkündigung von Piero Pollajüolo im kgl. Museum in Berlin.
seits hat Verrocchio, aus dessen Schule zwei so ver¬
schiedene und technisch tüchtige Maler hervorgingen,
wie Pietro Perugino und Lorenzo di Credi, aller Wahr¬
scheinlichkeit nach selbst noch mehr gemalt, als das eine
beglaubigte Bild für S. Salvi. Das hängt wieder mit
den Anfängen des Ölmalens in Italien zusammen, deren
wirkliche Geschichte verloren ist. Einzelne Spuren davon
begegnen uns aber an verschiedenen Orten, und die ein¬
zelnen Maler werden auch zum teil unabhängig von
einander und selbständig Versuche gemacht haben, statt
der schnell trocknenden Tempera ein langsamer trock-
mit Öl oder Firnis angesetzt sind. Aber in diesem Kreise
lernte Sandi-o mehr als solche äußere Dinge, und ehe
wir uns mit seiner eigenen Entwicklung beschäftigen,
müssen wir seinen älteren llorentinischen Kunstgenossen
einen Blick zuwenden.
Das Eigentum der beiden Brüder Pollajuoli ist, was
die Malerei anlangt, nicht sicher zu scheiden. Antonio,
der ältere und bedeutendere (1429 — 1498), ist Gold¬
schmied und als solcher schon 1456 thätig, sodann
Bildhauer, abei’ er hat daneben auch gemalt. Piero
ALESSANDRO BOTTICELLI.
193
(1443 — vor 1496), ebenfalls Goldschmied, ist vor allem
Maler, aber keiner, der neue Wege weist, sondern
er gebt in den Wegen seines älteren Bruders weiter.
Als Maler werden beide Brüder zusammen zuerst 1460
erwähnt. Die vorhandenen , nicht zahlreichen Bilder
zeigen uns im allgemeinen eine kräftige Hand, eine
manchmal herbe und rücksichtslose Modellirung des
Körperlichen, energische Bewegungen und Stellungen der
Figuren und scharfe Umrisse, dabei tiefe, leuchtende
Farbe und, wenn Architektur vorkommt, gute Perspektive
nebst sorgfältiger Ausarbeitung der Zierformen in Stein
und Metall. Es ist also eine Malerei, die in der Form¬
gebung ihre Haupteigenschaften von der Plastik und
von der Metallarbeit entlehnt zu haben scheint. Es
kann von vornherein
angenommen werden,
dass das meiste auf
den erhaltenen Bil¬
dern von Piero ge¬
malt worden ist. So
werden die große
„Verkündigung“ mit
herrlicher, bunter Ar¬
chitektur und Durch¬
blick ins Freie, so¬
wie ein ganz kleines
Hochbild mit einem
eleganten jungen, als
David gedachten
Edelmann (beide in
Berlin) ihm zuge¬
schrieben, wobei man
höchstens bei dem
ersten Bilde einen
Anteil an der Er¬
lindung in Bezug auf
die Architektur für
Antonio offen lässt.
Bezeichnend ist an
diesem Bilde, das
jedenfalls erst in die
achtziger Jahre gehört, die leuchtende und doch dick auf¬
getragene, harzige Faibe, die sich in ihrer Wirkung von
der Tempera deutlicli unterscheidet und sehr an Ölmalerei
erinnert. Piero hat also in dieser Richtung Versuche ge¬
macht, die seinem Bestreben nach kräftigem Ausdruck
der Formen dienen sollten. Er hat dabei noch Einflüsse
von anderer Seite erfahren, abgesehen von dem älteren
Bruder. Man denkt in Bezug auf die Formgebung au
den altertümlich-strengen Andrea del Castagno (1390
bis 1457), im Technischen aber an den etwas jüngeren
Alesso Baldovinetti und an einen großen Meister in der
Führung von Linien und in der Behandlung von Luft
und Licht, Piero de FranceseJä. Geht man nun auf
den Bildern der Brüder Pollajuoli der Zeichnung des
Zeitsolirift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 8.
Figürlichen schärfer nach, so bemerkt man einen Unter¬
schied. Eine ganz naturwahre, einfache, überzeugende
Auffassung der Formen, der Körperteile und ihrer Funk¬
tionen, z. B. des Anfassens, steht einer zierlicheren,
schwächlicheren, nicht so sicheren und scheinbar affek-
tirten Ausdrucksweise gegenüber. Jene giebt man nun
dem Antonio, diese dem Piero. Die Zuweisung des
Einzelnen hängt dabei zum Teil von persönlicher Em¬
pfindung ab.
Ganz unbestritten gehört dem Antonio eine kleine
Doppeltafel mit „Herkuleskämpfen“ (Antäus und Hydra;
Uffizien n. 1153), modellirt wie ein Erzwerk, und eine
sehr viel lieblichere Darstellung: „Apollo und Daphne“
(London). Zwei andere in ihrer Art gleich wichtige
Bilder sind jedenfalls
gemeinsame Arbeiten
der Brüder, aber über
die Grenze des An¬
teils gehen die Mei¬
nungen sehr weit
auseinander. Drei
Heilige, aufrecht in
Lebensgröße, sehr
kräftig gezeichnet
und in emailartiger
Farbe (Uffizien n.
1301), eimst das Al¬
tarbild für die Ka¬
pelle des Kardinals
von Portugal, giebt
Vasari beiden Brü¬
dern, während es
manche jetzt ganz dem
Piero zusehreiben
möchten. Ein etwas
späteres (1475) gros¬
ses „Martyrium des
heil. Sebastian“ mit
vielen Bogenschützen
in mannigfachen Stel-
lungen(London) giebt
Vasari dem Antonio, und manche Neueren urteilen ebenso,
während andere etwas Langweiliges, Schlaffes in den Körper¬
formen finden im Vergleich mit der Zeichnung auf dem
einzigen sichern Kupferstich von Antonio („Kampf dei-
zehn Nackten“) und darum das Londoner Bild lieber ganz
oder doch zum großen Teile dem Piero zuweisen möchten.
Wie sich nun aber auch im einzelnen jemand darüber ent¬
scheiden mag, die Hauptsache, um deren willen wir die
Daten über die Brüder Pollajuoli ausfülirlich geben
mussten, bleibt davon unberührt.
Hier in Florenz hat man gegen die Mitte der
siebziger Jahre neben einzelnen technischen Problemen
der Malerei den Versuch gemacht, die menschliche Figur
nackt in Lebensgröße gemalt darzustellen, was bis da-
25
194
ALESSANDRO BOTTICELLI
Lin nur die Bildliauer getLan hatten, von denen man
nun mit der richtigeren Zeichnung aucli die strengere
Auftassung der Formen zunächst übernehmen musste.
Das führt uns auf Verrocchio als Maler und auf
das leider nicht datirte Bild in der Akademie, die „Taufe
Christi" für S. Salvi, welches in diese Jahre geliören
muss. Denn Liouardo, der den einen der beiden Engel
darauf gemalt hat. ist 1452 geboren. Er kam um 1466
zu \'errocchio und war in dessen Werkstatt vielleicht nur
bis 1472, wo er als selbständig erwähnt wird, blieb
aber mit dem selir angesehenen Meister in Zusammen¬
hang und konnte auch dann noch den für die Anschau¬
ung der Zeit immerhin bescheidenen Beitrag zu dem Bilde
uns niclit in unsicheren Vermutungen ergehen wollen,
so bleibt uns leider nichts übrig als einige Beobacht¬
ungen über dies wiclitige Denkmal der iilalerei zusammen¬
zustellen. Der nackte Christus und der hagere, sehnige
Johannes mit den von geschwollenen Adeim durchzogenen
Armen und Händen sind zwei männliche Akte ohne
jeden äußeren Beiz; aber so durchgebildet und natur¬
wahr hat bis dahin kein Maler Körper in Lebensgröße
dargestellt. Der Bildhauer Verrocchio zeigt sich hier
als Maler init den Mitteln der alten Temjieratechnik
auf der vollen Höhe, auf welche ihn die Überlieferung
nach der Ansicht der Zeitgenossen als Künstlei' im all¬
gemeinen und als schulbildenden Lehrer gestellt hat.
Der junge Tobias mit Engeln von S. Botticelli (I) in der Akademie in Florenz.
geben. Ob das aber übei' ein gewisses Alter des ehemaligen
Schülers hinaus wahrscheinlich ist ? — 1 )ar nach wird man die
\'ollendung der „Taufe Christi“ von Verrocchio jeden¬
falls nicht viel unter 1477 herunterrücken dürfen. Wie
es dabei in Wirklichkeit zugegangen ist, als der Meister
dem Schüler die Rolle zuwies, wieviel genau der Schüler
gemacht hat, und was der Meister dann dazu gemeint und
wieviel er selbst nachträglich noch daran geändert haben
mag, um das durch den genialen Schüler gestörte Gleich¬
gewicht wieder herzustellen, — das hat man in sehr
verschiedener Art aus der Komposition und aus dem Tech¬
nischen des Bildes herausgelesen, dessen Erhaltungszu¬
stand indessen nicht völlig durchsichtig ist und von den
Einzelnen sehr verschieden beurteilt wird. Wenn wir
Der Engel des jungen IJonardo ist lebendiger, voi’uehmer,
vor allen Dingen geistiger aufgefasst, als sein plumi)er
Genosse mit dem bäurischen Gesicht und den großen
Händen, und dieser Unterschied macht es wahrscheinlich,
dass der ganze Engel, nicht nur der Kopf mit dem ent¬
scheidenden Typus dem Lionai'do gehört. Auf diesem linken
Teile des Bildes ist ausserdem ein ölartiges Bindemittel
angewandt, und nach der günstigsten Auffassung dieses
Thatbestandes (Bode bei Müller -Walde) liätte Liouardo
auch an den Bestandteilen der Landschaft, den Händen des
zweiten Engels und an dem Christusköi'per in 01 gear¬
beitet, das Temperabild seines Meisters also über den einen
Engel hinaus in Öl verbessert, während nach der un¬
günstigsten Meinung (Morelli) das ganze Bild später.
Die Rotte Korah. Freskogemälde von S. Botticelli in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans in Rom.
196
ALESSANDRO BOTTICELLI.
etwa im vorigen Jahrlnmdert, mit Ölfirnis überschmiert,
darauf aber auf der rechten Hälfte wieder gereinigt
worden wäre, so dass nunmehr die ganze linke Hälfte,
im Zustande der nachträglichen Übermalung, über die
von Lionardo ursprünglich angewandte Teclinik kein
Urteil mehr gestattete. Eine Entscheidung ist demnach
ohne eine mechanisch eingreifende technische Untersuch¬
ung nicht mehr möglich.
Abgesehen von diesem beglaubigten Bild meint
man in neuerer Zeit, namentlich nach Bode’s Beobacht¬
ungen, Verrocchio’s Hand in dem vorliandenen Bildervor¬
rat nachweisen zu können, worüber bei der Bedeutung
der Frage das Wichtigste zusammengestellt werden
muss. Am nächsten kommt der Art Verrocchio’s ein
sonst dem Sandro zugeschriebenes Bild mit dem „jungen
Tobias von Engeln geleitet“ (Florenz, Akademie): gro߬
artig aufgefaßten, kräftig und zugleicli zierlich aus-
schreiteuden Figuren in einer schönen, naturwahren Land¬
schaft. Dazu stellen sich ein kleineres Bild mit „Tobias“
(London) und eine „Madonna“ (Berlin n. 104A), während
verschiedene andere Bilder in Berlin, Frankfurt, Paris,
die bisher unter den Xameii von Cosimo Rosselli, Filippo
Lippi, Granacci, Peselliuo gingen, namenlosen Mit¬
gliedern der Werkstatt Verrocchio’s zugeschrieben werden.
Aus diesen Beobachtungen geht jedenfalls soviel hervor,
dass Verrocchio’s Einfluss unter den Malern seit den
siel)ziger Jahren zu erkennen ist, sodann dass ihm ins¬
besondere Sandro, zu dem wir nun zurückkehren, nahe
gestanden hat. Denn der „Tobias mit den drei Engeln“
ist bisher ohne Bedenken für Sandro’s Werk angesehen
worden, und ob man bei der früheren Meinung bleibt
oder der neuen beipflichtet, in beiden Fällen spricht das
Bild für ein nahes Verhältnis zwischen Verrocchio und
Sandro.
Gegen diese ganze Auffassung wandte Morelli ein,
dass Sandro viel reicher gewesen wäre als Verrocchio,
und dass dieser schon 1484 — 1485 aus Florenz fortging.
Mit Unrecht! Denn es handelt sich hierbei nicht um
Stoff und Reichtum der Gedanken, sondern um formelles
Gestalten, und als Verrocchio Florenz verließ, ja selbst
früher, als Sandro nach Rom ging, bereits um 1480 war
das alles geschehen, und Sandro war fertig. Seine Fresken
in der Sixtina geben an lebhafter, scharfer Charakteristik
und an heftiger Bewegung („Rotte Korah“) schon das
Äußerste und zeigen außerdem in der Menge der Motive,
in der Zahl der zu Gruppen zusamraengedrängten Figuren
und in dem Vorrat der Typen Sandro’s Vermögen nach
seinem ganzen Umfange. Der Einfluss, den Verrocchio
auf ihn übte, hat sich also um diese Zeit bereits voll¬
zogen. Sandro war um die Mitte der siebziger Jahre
dreißig Jahre alt. Der zehn Jahre ältere Verrocchio
stand im engsten Verhältnis zu Lionardo und näherte
sich als Künstler und als Lehrer seiner Hölie. Die
Brüder Pollajuoli waren schon in voller Thätigkeit.
In den Anfang der achtziger Jahre und wahrschein¬
lich noch vor die römische Reise gehört Sandro’s „An¬
betung der Könige“, die man wohl, wenn man Erfindung,
Komposition und Technik zusammennimmt, als sein größtes
Werk wird bezeichnen düifeii. Darin spürt man schon
etwas von Lionardo’s Geist. Zwischen 1475und Sandro’srö-
mischen Aufenthalt fallen Ereignisse, die ihn persönlich
sehr ergreifen mussten: die Verschwörung gegen die
Medici 1478 und der Krieg, den Sixtus IV. und der
König von Neapel gegen Florenz führten, dann Lorenzo’s
Reise zu Ferrante nach Neapel und endlich seine lang¬
erwartete Rückkehr im März 1479. In dieselbe Zeit
gehören Sandro’s reifste Bilder: „Pallas und der Cen¬
taur“, „Der Frühling“, „Die Geburt der Venus“. Das
erste ist allegorisch gedeutet worden. Wer weiß,
wieviel Zeitanspielung hinter der schönen und an
und für sich schon völlig genügenden Erscheinung der
übrigen verborgen ist? Es ist nicht nur eine andere
Welt der Gedanken, sondern es ist auch schärfer durch¬
gebildete und anspruchsvollere Form, was uns hier ent¬
gegentritt, wenn wir es vergleichen mit der Madonna und
Engeln und mit der Art Filippo’s, von der Sandro ausge¬
gangen war. Die römischeReise macht also einen Einschnitt,
und wir werden die erste Periode Sandro’s in die zehn
Jahre 1470 — 1480 setzen, wo er, abgesehen von den eben
genannten Bildern, seine besten Madonnen und Engel in
ihrer ruhigen Schönheit und mit klarer, reiner Tempera
malt. Dann kommt die Zeit der römischen Fresken.
Nach der Rückkehr aus Rom wird die Zeichinrng auf
seinen Tafelbildern nachlässiger. Die Frische des Eigen¬
händigen fehlt. Manchmal zeigt sich sogar sehr plump
die Handwerksarbeit der Gehilfen. Dass die Tafelbilder
in Bezug auf die Ausführung zurückgehen, sobald die
Maler im Fresko thätig sind, ist eine vielfach gemachte
Erfahrung.
Wichtige Bilder aus dieser späteren Zeit besitzt
das Berliner Museum. Auf dem Rundbilde mit der zwischen
Engeln stehenden Madonna vor einer Rosenhecke (n. 102)
entspricht der herrlichen Erfindung schon nicht mehr ganz
die Ausführung. Bald darauf werden auch die Heiligen
ernster im Ausdrucke und härter in den Formen, wie die
beiden Johannes zu Seiten der „thronenden Madonna“
auf dem großen Breitbilde (n. 106), wo die Blumen und
das Laubwerk an der prächtigen Wand von Oliven und
Palmen noch auf das sorgfältigste ausgeführt sind. An
seiner düsteren „Grablegung“ (München) merkt man
vollends schon die Stimmung Savonarola’s. In diese
Zeit gehören die meisten Werkstattbilder, während
andererseits von den bedeutenderen eigenhändigen Werken
keines mit Sicherheit so spät gesetzt werden kann. Es
bestätigt sich demnach, wasVasari über Sandro’s späteres
Nachlassen berichtet hat.
C. WEICHARDT, POMPEJI VOR DER ZERSTÖRÜNG.')
lES Fluch uiitersclieidet sicli vonso iiianclieiu
iin xAuftrage eines Verlegers geschrieheiieii
dadurch, dass es, wie der Verfasser in
der Vorrede betont, wirklich einmal
einem Bedürfnisse des Autors seihst ent¬
sprach, dasselbe herauszugehen. Das
Buch ist Herzenssache des xAutors und Selbstverlag; das
kommt ihm zu gute. Der Verfasser hat an dieses
Lieblingskind nicht nur unendliche Zeit und Mühe vei-
wandt, er hat ihm auch sein Gewand nach eigenem Ge¬
schmack zugeschnitten. Es ist eine persönliche Note in
dem Werke, die erfreut, weil sie bei wissenschaftlichen
Werken immerhin selten ist. FJs ist der erste Band
eines Unternehmens, welches das alte Pompeji vor uusei-en
Augen aus seinen Trümmern erstehen lassen soll. Es
beschränkt sich zunächst auf die Eekonstruktion der
Tempel und ihrer Umgebung, aber hoffentlich folgen ihm
bald die Profanbanten, vor allem die Wohnhäuser, von
deren Wiederherstellung am Forum trianguläre ein so
hübsches Beispiel gegeben ist. Gezeichnet und ge¬
schrieben ist es zunächst für die, welche Pompeji kennen.
Man muss Pompeji durchwandert haben, nicht als Trink¬
geld zahlender forestiere, sondern mit der Andaclit eines
Kunstfreundes, mit Staunen und Interesse an dieser einst
blühenden, jetzt in feierlicher Euhe lagernden, unter¬
gegangenen Welt, mit dem Wunsche, dieses alles einmal
lebendig wieder vor sich sehen zu können. Viele
kommen freilich bei einem flüchtigen Besuche von Pompeji
kaum über das Museum und seine Gipsabgüsse hinaus,
andere, die weiter Vordringen, werden überwältigt von
dem Trümmermeere und ermüdet, weil sie nur Torsi
vor sich sehen.
Wer aller in stiller Einsamkeit, wenn der Fremden¬
schwarm sich verlaufen hat, in diesen Tempeln weilte,
dem Herrn Epidius Rufus, Marcus Lucretius und allen
den anderen in ihren ausgestoiTienen Palästen einen Be¬
such alistattete und Raum für Raum durchschreitend
sich klar werden wollte über Anordnung und Zweck
der öde ragenden Wände, der wird mit dem Verfixsser
1) Rekonstruktionen der Temjiel und ihrer üingelmng.
Leipzig, 18SJ7. Kommissionsverlag von K. F. Köhler. Gr. Fol.
128 S. 12 Tafeln und 15t) Textb. (M. 50.)
den heißen Wunsch empfunden haben, dies alles in F'orm
und Farbe einmal wieder gleichsam aulTdühen zu sehen,
der wird ihm Dank wissen für seine mühevolle jalire-
lange Arbeit. Vollends aber wer nur aus Büchern übei'
Pompeji sich unterrichten kann, wird aus Weichardt’s
Werk ganz andere Eindilicke von der alten Herrlichkeit
empfangen, als wenn er die Trümmer in x\bbildungen
vor Augen hat und noch viel weniger als der Pompeji-
wanderer sich dieselben lebendig machen kann.
Weichardt ging ursprünglich zu seiner Erholung
nach Pompeji und malte hier in dieser farbigen Trümmer-
welt, wie so viele andere, Aquarelle. Aber Weichardt
ist Architekt, und als Architekt suchte er bald aus dem
Vorhandenen auf das Verlorene zu schließen. Je länger
er hier saß, um so lelxendiger wurde sein architektonisches
Gewissen, das von ihm Aufschlüsse über den einstigen
Zustand der Bauten verlangte, die er zunächst nur als
malerische Ruine betrachtet. Je öfter er wiederkehrte,
um so mehr reizte ihn dies Problem. Mit technischen
Kenntnissen reichlich ausgerüstet, ging er hier sichere!'
als die Buchgelehrten. Er baute sich das alte Pompeji
nicht nur in Worten wieder auf, sondern vor allem in
Bildern. Auf dieser Rekonstruktion in Zeichnungen be¬
ruht der besondere Wert des Buches. Heute sind ja
eine ganze Reihe von tüchtigen Architekten bemüht,
mit ihren FTichkenntnissen der Phantasie zu Hilfe zu
kommen und das Altertum uns wieder als Ganzes zu
geben. Diesen Meistern wie Dörpfeld, Tliiersch, Adler,
Durm u. a. m. verdankt die Kenntnis des Altertums,
gerade wo es sich um künstlerische Betrachtungen
handelt, ganz Hervorragendes. xAn sie schließt sicli nun
Weichardt an. Aber man darf nicht fürchten, dass er
darum ein nur den Faehgenossen genießbares Werk ge¬
liefert. Im Gegenteil. Die malerischen xAnsichten der
wiederhergestellten Bauten sind auch jedem Fjaien ohne
weiteres verständlich, und im Texte vermeidet er alle
trockene Gelehi'samkeit, vermeidet er klüglich vor allem
die Häufung fach technischer Ausdrücke, die der Bache
zwar einen gelehrten Auf[>utz geben können, den ge¬
wöhnlichen Sterblichen aber von dem Vei'ständnisse fei'n-
halten. Um so häuffgei' bricht dafüi' im Texte die Fi'eude
und die Begeisterung des Autors an seinei' xAufgabo
19S
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG.
durch, und das sachliche Referat wird durch gut
empfundene Schilderung der Landschaft und manche
Evokation der hier umgehenden Geister angenehm belebt.
Weichardt hat naturgemäß nicht nur seine fach-
technischen Kenntnisse für die Rekonstruktion zu Rate
gezogen, er hat nicht nur mit Umsicht das vorhandene
Denkraälermaterial benutzt, in Museen nach verschwun¬
denen Stücken geforscht, er kennt auch die einschlägige
Litteratur und baut seine Restaurationsversuche sowohl
auf dem vorhandenen Material als auf dem auf, was
ältere Ponii»ejiforscher zusammengetragen haben, und
was zum Teil nur in ihren Publikationen nachlebt.
Noch eine dritte Eigenschaft lässt Weichardt zu
dieser Wiederherstellung besonders berufen erscheinen.
Er ist auch ein bekannter Aquarellist. Ein A(juarell
von ihm linden wir z. B. im Leipziger Museum, andere
waren auf früheren Kunstausstellungen bekannt ge¬
worden. Und dieser malerische Blick, diese glückliche
Aiiftässung der x\rchitektur wie der Landschaft ist hier,
da er in unfreiwilliger Muße malend leben musste,
wohl bes(in<lerer Anlass für ihn geworden, gerade diese
Antike wieder zu beleben, die mehr als strenge helle¬
nische Werke einen malerischen Reiz darbieten. Durch
die malerische Auffassung seiner Blätter werden die
Bauten dem Beschauer besonders lebendig und anziehend,
da sie nicht nur in strengen Konturlinien, sondern in
flotten Tuschzeichnungen dargestellt sind und dabei doch
die architektonische Korrektheit wahren. Aus seinem
malerischen Empfinden her hat er auch die Landschaften
durch zahlreiche Figuren belebt, die er recht geschickt
aus den an Ort und Stelle gefundenen Wandgemälden
entnommen und wieder in die ursprüngliche Umgebung
zurückversetzt hat. Wenngleich dabei einzelne dieser
Figuren, da sie auf ältere griechische Vorbilder teil¬
weise zurückgehen, im Kostüm nicht streng historisch
der Zeit völlig entsprechen, so wird doch im wesent¬
lichen ein natürliches Bild der ehemaligen Bevölkerung
in den Straßen und Tempeln damit gegeben.
Es bedarf nach dem vorher Gesagten nicht weiter
der Erklärung, dass dieses Werk sichtlich allen Tte-
rechtigten Anforderungen entspricht, und dass es durch
seine künstlerische Behandlung im Texte wie in den
Bildern reiche Anregung allen denen verspricht, die
entweder mit Pompeji schon persönlich vertraut sind,
oder aber Bekanutschafti mit dieser uns so interessanten
Stadt machen wollen.
Vorausgeschickt wird eine kurze Erörterung über
die Lage der Stadt, über die Gestalt des Vesuv einst
und jetzt, über das Wesen dieses gespenstigen wunder¬
baren und in seiner ruhigen Form doch so schönen
Berges, der allen, die am Golf von Neapel weilten, als
der Punkt erscheint, zu dem von überall her sich un¬
willkürlich der Blick stets wendet. Von ihm ging im
Jahre 63 n. Chr. die erste große Erschütterung aus, die
Pompeji niederwarf, von ihm im Jahre 79 jenes furcht¬
bare Naturereignis, das Pompeji, Herkulaneum und
Stabiä verschüttete und so der Nachwelt erhielt.
Kurz wird die ursprüngliche Besiedelung des Ge¬
bietes durch die Osker, die Eroberung durch die
Samniter im Jahre 420 und die sich entwickelnde,
von Hellas abhängige reife und edle Kultur ge¬
schildert. Mit der Unterwerfung durch die Römer
im Jahre 89, mit der völligen Besiegung durch Sulla
im Jahre 80 wird das Römertum an Stelle des Hellenen¬
tums gesetzt. Pompeji wird die Colonia Veneria Cor¬
nelia Pompejanorum. Aber die alte hellenistische oskisch-
samnitische Kultur wird doch nicht völlig verdrängt,
sondern verschmilzt mit der der Römer. Pompeji blüht,
wird eine Stadt von über 30000 Einwohnern, der selbst
das Erdbeben vom Jahre 63 die Lebenskraft nicht
rauben konnte, das erst im Jahre 79 unterging.
Im sechsten Kapitel behandelt Weichardt ein Thema,
das vielleicht besser gleich hier sich angereiht hätte;
die Frage nach der Verschüttung und der Wieder¬
ausgrabung. Schon in antiker Zeit wurden ja hier um¬
fangreiche Nachgrabungen nach Wertgegenständen, nach
Baustücken, nach Statuen gehalten und überdies alles
davon geschleppt, was über der deckenden Schicht von
Steinen und Asche sich fand. Für den Wiederhersteller
ergeben sich hieraus ganz wesentliche Schwierigkeiten,
insotern vielfach die oberen Teile der Gebäude nur in
sehr geringen Resten sich erhielten. Es wird dann kurz
der Verfolg der Ausgrabungen seit 1748 bis zum heutigen
Tage behandelt, und über das Baumaterial, das in ver¬
schiedenen I’erioden benutzt wurde, Aufschluss gegeben.
Wenn die alten Osker in der Hauptsache mit Sarno-
kalkstein, seltener mit Lavablöcken bauten, wird später
neben Lava vor allem grauer und gelber Tuffstein von
Nocera besonders für die feineren Gliederungen verwandt.
Die römischen Architekten bringen dann den Backstein
als Mauerkern, mit Marmorverkleidung, und für die
Gliederung travertinartigen Kalkstein.
Weichardt’s Wiederherstellung nimmt ihren Anfang
mit dem ältesten Heiligtum der Stadt, mit dem Tempel,
der die Mitte des Forum trianguläre einnimmt. Der
Felsen, auf dem dieser Marktplatz lag, fiel einst nach
dem Sarnusthale hin steil ab, so dass das Niveau des
Mai’ktplatzes etwa 16 m ülier der Thalsohle lag. Weichardt
belegt diese Thatsache außerordentlich sorgfältig, was
um so notwendiger, da man heute das kaum bemerkt,
und die überraschend schöne Lage des griechischen
Tempels auf der freien Höhe nicht ahnt, da man
ihn ja nur vom Forum selbst aus betrachtet. Vom
Forum westlich lagen einige elegante Villen am Rande
des Felsens, die nach dem Thale hin terrassenartig sich
abbauten. Weichardt giebt von diesen sehr interessante
Rekonstruktionen, welche die pikante und geschmackvolle
Anlage mit großer Wahrscheinlichkeit widerspiegeln.
Bevor er zur Schilderung der Bauten auf dem
Forum trianguläre gelangt, klärt ei’ uns zunächst über
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG.
199
die Umgrenzung dieses Platzes auf. Der liocliliegende
Fels war in alter Zeit mit einer Mauer umgeljen, während
von Osten her, vom Stabianer Tlior, die tiefer liegende
Stadtmauer lieranzog und, wie Weicliardt darlegt, an der
Südostecke des Forum trianguläre sich so verbreiterte.
Säulenhalle des Forum schließt, Weicliardt zufolge, hier
mit einem Pfeiler ab, was wohl berechtigt ersclieint.
Büir die Wiederherstellung des Tempels auf dem
Forum waren nur wenige Anhaltspunkte gegeben. Er¬
halten ist der Quaderunterbau von fünf Stufen, einige
Der griechische. Tempel auf dem Forum triaugulare in Fomi>eji. (Aus dem Werke von Weicliardt: Pompeji.)
dass ein terrassenartiger Übergang zu dem höher liegenden
IMrum sich ergab. Diese Lösung, abweichend von den
bisherigen, wird durch Skizzen erläutert und sehr wahr¬
scheinlich gemacht. Dass Treppen hier vom Forum hinali-
führten, haben auch frühere Wiederhersteller bereits
erkannt, Weicliardt stellt ihre Lage genauer fest. Die
dorische Kapitelle und Säuleiitrommeln, endlich ein
W'assersiieier und Bruchstücke der bemalten Rinnleiste
aus Thon. Weicliardt gelingt es, unter Zuhilfenahme
gleichzeitiger sizilischer und anderer Tempel, den Bau
wieder herzustellen. Darnach hatte der J’empel elf
Säulen an der Laugseite und merkwürdiger Weise sieben
200
POMPE.Il VOR DER ZERSTÖRUNG.
Säulen an der Front. Diese ungleiche Säulenzalil der
Teinpelfront ist ja nicht ohne Beispiel, sie weist aher
Jedenfalls hier auf sehr weit zurückliegende Entstehung
des Teinjiels hin. Weichardt erklärt sie aus dem ursprüng¬
lichen Holzl)austile, der in der Frontmitte einer Unter¬
stützung des Architravs bedurfte, da gerade liier das den
Dachfirst tragende horizontale Auflagerholz ruhte, ln der
Mitte vor der Tempelfront stand in der Kaiserzeit ein
kleiner Bau, von dem der Unterbau noch erhalten ist
und der wohl an Stelle eines älteren aus der Zeit der
Temiielgründung stammenden trat. Dieser Unterbau
vor der Frontmitte war hier erklärlich, da der Zu¬
gang zu der siebensäuligen Front ohnehin nicht in
der Mittelaxe des Tempels genommen werden konnte.
^Feichardt vermutet in diesem älteren Bau einen Altar
oder ein Grahnial ; ersteres ist wahrscheinlicher. Tempel¬
wird schwerlich eine Entscheidung getroffen werden
können. Aufiallend ist hei Weichardt das Profil des
Echinus und die darunter angegebenen Ringe, ferner
dass Weichardt auf einem Blatte den Säulenfuß auf
einer kleinen Platte aufsitzen lässt, die auf anderer
Aufnahme fehlt.
Das Forum trianguläre war an zwei Dreieckseiten
von dorischen Säulenhallen eingefasst, die noch aus vor¬
römischer Zeit stammten. An der Nordseite ist der
Dreieckwinkel abgestumpft und jonische Säulen vor¬
gelegt, die Weichardt als I'roanos (richtiger wohl als
I’ortikus) bezeichnet. Mit Recht hebt dann Weichardt
den imposanten Eindruck hervor, den der durch diesen
Portikus Eintretende empfangen musste. Beiderseits
verdeckten die Säulengänge alle sonstigen Bauten. Nur
der wuchtige dorische Tempel lag unmittelbar vor ihm,
Ruine des Juriter-Tempels in Pompeji (s. die Rekonstruktion S. 201). (Ans dem Wei’ke von C. Weichardt; Pompeji.)
stufen und Säulenschäfte bestanden aus Tuff, die Kapi¬
telle aus Kalkstein, wie auch der Oberbau wohl aus
verputztem Kalkstein errichtet war. Die Rinnleiste, zu
deren Ergänzung das Geloerschatzhaus von Olympia und
das Gebälk vom Tempel C in Selinunt herangezogen
wird, scheint richtig so ergänzt zu sein, dass der
Wasserspeier der Langseite des Tempels, die beiden
anderen Bruchstücke aber der Traufrinne des Giebels
angehören.
Mit diesen wenigen Hilfsmitteln stellt Weichardt
das Bild des wuchtigen aber durch seine Bemalung leb¬
haft wirkenden alten Tempels uns wieder her. Er hat
freilich schon in Zeiten der römischen Republik einem
kleineren Tempel eben von geringerem Umfänge weichen
müssen, das sich auf den Fundamenten des älteren
größeren Tempels erhoben. Ob hier, wie Nissen meint,
wirklich die Venus pompejana verehrt wurde, darüber
dahinter' Ijreitete sich das prächtige Panorama der Sarnus-
El)ene mit dem Berghintergrund und dem funkelnden
Äleere aus. Moderne Baumeister hätten jedenfalls die
Halle an allen drei Seiten umgeführt und so den wunder¬
baren Blick üljer die niedrige Burgmauer in die Ebene
hinaus vernichtet. Weichardt hebt dann noch hervor,
dass auf dem Forum keine strenge Achsensjunmetrie
herrscht, der Tempel zu keiner der Hallen parallel läuft,
der kleine Bau vor dem Tempel )iicht in der Tempel¬
achse liegt und der davor liegende Rundtempel wiederum
nach keiner dieser Achsen orientirt ist. Der erwähnte
Rundbau vor der Tempelfront ist ein aus früher
römischer Zeit stammender dorischer Bau, der über
einem wohl von Alters her hier existirenden Brunnen¬
schacht errichtet wurde, und der auf Giund alter Bruch¬
stücke auch bezüglich des Architravs und Gesimses sich
soweit wieder hersteilen ließ, dass nur das Dach und
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 8.
26
Weichardt’s Rekonstruktion des Jupitertempels, der Triumphbögen und Forurashallen, Pompeji.
202
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG.
sein Sclimuck Erfindung des Architekten bleibt. So ist
der älteste Tempelraum Pompejis in seiner wuudervmllen
Grt:ße und Einfachheit inmitten der üppigen Landschaft
und der farbenreichen Profaubauten und Tempel von
V’eichardt im Bilde wiedererrichtet, und was heute
als etwas öde Stätte erscheint, ist wieder lebendig.
Weichardt wendet sich dann dem Apollotempel zu,
den heute der von der Porta marina hereingeschleppte
Fremdling zuerst zu betreten und in der Regel
noch aufmerksam zu betrachten pflegt. Während der
griechische Tempel frei auf dem Forum lag, tritt
man hier durch ein Thor in den von Säulen um¬
gebenen Hof. in dessen Hintergrund der Tempel mit
seiner Freitreppe liegt. 'Es wird zunächst die den Hof
umgebende Säulenhalle mit ;ihren 48 Tufl'säulen rekon-
struirt. Sie hat Wandlungen durchgemacht. In vor¬
römischer Zeit waren es jonische Säulen, über denen
ein dorischer Triglyphenfries hinlief. Da der Architrav
durch zw’ei Balken gebildet wurde, über denen Fries
und Gesims aufgemauert waren, so ist von letzteren
wenig erhalten. Dass eine zweite obere Säulenhalle
darüberstand, lässt sich aber noch aus den Treppen¬
anlagen in der hinteren Nordostecke des Tempelhofes,
sowie aus den Standspuren von Säulenbasen auf der
Oberfläche der Gesimsstücke uachweisen. Nach dem
Erdbeben von 68 flel wohl die obere Halle fort, in der
unteren wurden die Säulen mit Stuck verkleidet und
korinthische Kapitelle angefügt. Mazois sah noch Reste
dieser Verkleidung, die heute verschwunden ist und sich
nur noch an den überarbeiteten Voluten der jonischen
Kapitelle erkennen lässt. In der Rekonstruktion hat
Weichardt in einer Zeichnung diesen jonischen Kapi¬
tellen nach allen vier Seiten die gleiche Form gegeben,
während ja in der Regel je zwei Seiten gleichartig ge¬
bildet wurden. Leider ist nicht ersichtlich, wie weit
diese Formengebung auf dem Originalbefund beruht.
Aus der in ziemlicher Entfernung von der Säulenreihe
im Plattenbelag des Hofes gearbeiteten Regenrinne
schließt Weichardt mit Recht auf eine weitere Aus¬
ladung des Gesimses der Säulenhalle, die wohl durch
die Absicht, im Hofe vor den Säulen Statuen aufzu¬
stellen, bedingt war. Von diesen Statuen ist nur noch
eine Herme an Ort und Stelle erhalten, die fünf übrigen
aber im Museum zu Neapel nachweisbar, so dass die
Halle mit ihrem Schmuck vollständig wiederhergestellt
werden konnte. Der korinthische Tempel, den diese
Halle umgiebt, zeigt die charakteristische italische Form
der tiefen Vorliallen und kurzen Cella. Es war ein
von 28 Säulen umgebener Peilpteraltempel, zu dem eine
breite Freitrepiie von 14 Stufen hinaufführte. Vor der
Treppe befand sich wie gewöhnlich im Freien der Altar,
links von ihm auf einer Säule eine Sonnenuhr. Auf
der rechts davon befindlichen Lavabasis vermutet
Weichardt wohl mit Recht einen ehernen Opfertisch.
Ruine des Nerobogens.^. (Nordseite.)
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG.
203
Die Säulen von Tuff waren mit Stuck verputzt und
bemalt. Von Gesims und Dach ist nichts erhalten, doch
konnte es unschwer nach analogen Bauten rekonstruirt
werden. Im Inneren finden sich noch die große Basis
der Apollostatue, zur linken der Omphalos und auf dem
Mosaikfries des Fußbodens eine oskische Inschrift, welche
die Weihung des Tempels an Apollo bezeugt. Die
Cellawand war verputzt und bemalt. So waren Anhalts¬
punkte genug gegeben, um diesen reizenden kleineren
Tempelhof wieder aufzubaueu, der mit seiner kühlen
Halle sich wie eine große Peristylanlage ausnimmt.
Weichardt giebt eine sehr wirkungsvolle Durchsicht von
der Osthalle zur Westhalle, die neben der Ansicht des
heutigen Zustandes so recht geeignet ist, uns den Wert
seiner Rekonstruktion vor Augen zu führen.
Die Ostseite des Apollotempels grenzt unmittelbar
an den Hauptmarkt der Stadt Pompeji. Es mag ein
Genuss für den Künstler gewesen sein, diesen prächtig
wirkenden, vornehmen, weiten und offenen
Festsaal mit seinen Tempeln, seinen Thoren
und Säulenhallen uns wieder herzustellen,
der selbst heute in seinen Trümmern, alles
bildlichen Schmuckes beraubt, noch durch
seine schönen Verhältnisse einen ele¬
ganten Eindruck hinterlässt. An drei
Seiten führten offene Säulengänge um
den Platz, über die stattliche Bauten
herüberblickten. Zahllose Statuen und
Eeitergestalten schmückten den wohl¬
Rekonsti'uktion des Nerobogens nach Weichardt.
Kekoiistruktlou des sog. Nerobogens nach Rossini.
gepflasterten Raum, der, nachdem aller Markt¬
verkehr in die Nebengebäude verbannt war, den
Eindruck einer herrlichen Eesthalle unter offenem
Himmel machen musste.
Die Säulenhallen hatten im Laufe der Zeit
mehrfache Wandlungen erfahren. In älteren Zeiten
waren es dorische Tuffsäulen, die, mit Stuck über¬
zogen und bemalt, einen einfachen x4rchitrav und
Fries trugen. Im Beginne der Kaiserzeit wurde
ein Neubau der Halle gleichfalls im dorischen
Stile vorgenommen. Endlich kurz vor der Zer¬
störung begann man diese einfache Anlage vor
dem östlich gelegenen Macellum umzubauen und
zwar im korinthischen Stile.
Weichardt rekonstruirt einen Durchblick vom
Inneren dieser prächtigen korinthischen Säulen¬
halle, die eine obere Säulenordnung, aber keine
Zwischengeschossdeeke trug, vorüber an der
Tempelfront bis zur gegenüberliegenden Halle,
der außerordentlich reizvoll in seiner Wirkung
ist, da auch Statuen und die zwischen den oberen
Säulen frei stehenden Weihegeräthe zur Belebung
herangezogen sind. Der den Platz beherrschende
Tempel war dem Jupiter geweiht, wie aus einer
2(1*
204
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG
JVeilieinsclirift her vergeht. Es war ein korinthischer
Tempel, in der Anlage wie der Apollotempel mit tiefer
Vorhalle, aber nicht peripteral. d. h. ohne die umlaufende
Säulenreihe um die Cella. Das Innere war durch zwei
S.äuleureihen in ein breites Mittelschiff und zwei schmale
Seitenschiffe geteilt. Der hohe Sockelbau für die Götter¬
bilder ist in der Cella heute noch erhalten. Der Front
war zunächst ein breites Podium vorgelegt, zu dem
zwei Seitentreppen hinaufführten und das den Altar trug;
von ihm fühi’te eine Freitreppe zur Tempelvorhalle.
Auch hier fehlt von Gebälk und Giebel jede Spur, nur
Öffnungen besaßen, das nötige Licht zuzuführen, darf
wohl nicht ohne weiteres eine Hypäthralanlage ver¬
mutet werden.
Den nordöstlichen Abschluss des Forum Itildete
der stattliche sogenannte Triumphbogen des Nero, der
allerdings fälschlich auf Grund einer Inschrift dem
Kaiser Nero zugeschrieben wurde, was Mau widerlegt
hat. Die Wiederherstellung diese Triumphbogens haben
bereits Mazois und Rossini versucht. Hier giebt Weichardt
eine sehr interessante, davon abweichende Lösung, die
aber durchaus das Richtige zu treffen scheint, da sie
Ruine des Tempels der Fortuna Augusta. (Rekonstruktion s. den Lichtdruck am Schluss des Heftes.)
von den Säulen sind Reste erhalten; doch war der Bau,
soweit erhalten, verputzt, also auch bemalt. Für seine
Rekonstruktion hat Weichardt angenommen, dass er
nach 63 wieder aufgebaut wurde, so dass er neben dem
korinthischen Teile der Säulenhalle auf der Zeichnung
dargestellt werden durfte. Ob der Tempel, wie Weichardt
annimmt, eine Hj^päthralanlage besaß, ist nicht zu ent¬
scheiden, hat aber nach den neueren Untersuchungen
über derartige Anlagen nicht viel Wahrscheinlichkeit
für sich. Die mächtige von Weichardt dargestellte Thür
würde übrigens hinreichende Beleuchtung für die Zwecke,
denen die Cella geweiht war, ergeben haben, und nur
um den Kellerräumen, die nach dem Cellafußboden hin
auf genauer Beachtung der erhaltenen Reste beruht,
und weniger einem allgemeinen Bogenschema folgt. Er¬
halten ist der Backsteinmauerkern, zwischen zwei breiten
Pfeilern eine überwölbte Durchfahrt (Abb. S. 202). In den
Pfeilern sind rechteckige Nischen ausgetieft. Von der
Marmorbekleidung sind an der Nordseite, außer einem
kräftigen Sockel, Reste zweier Marmorsäulen erhalten,
welche die linke Nische flankiren; zwischen ihnen ein
Sockelglied, rechts von der Säulenbasis ein niederer
Pilasterfuß, der zu dem die Durchfahrt rahmenden
Pilaster gehörte. Mazois sah noch die Reste des
Pilasterkapitells und der Bogenumrahmung und zeichnete
sie. Die Nischen nach der Forumseite enthielten wohl
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG.
•205
Statuen, nach der anderen Seite Brunnenanlagen, wie
aus Vorgefundenen Leitungsröliren liervorgeht.
Mit diesen Mitteln rekonstruiren Mazois und Rossini
den Triumphbogen ähnlich dem Titusbogen (Abb. S. 203).
Die Säulenreste aber lassen, wie Weichardt nach¬
weist, nach ihren Abmessungen sich höchstens zur Um¬
rahmung der Nischen, resp. als Träger des Sturzes über
der Nische verwenden, nicht als Träger eines über dem
Bogen durchlaufenden Gesimses, selbst nicht in der von
Mazois gewählten Lösung. Den Bogen trugen die die
Durchfahrt flankirenden Pilaster.
Eine ähnliche Disposition finden wir an der Porta
maggiore in Rom Diese Rekonstruktion dürfte im
Prinzip das Richtige treffen. Ebensowenig ist gegen
die Annahme einer ursprünglich vorhanden gewesenen
hohen Attika mit Inschrifttafel und einer Basis für die
Reiterstatue einzuwenden. Die neben der Inschrifttafel an¬
gebrachten Reliefs wie die Eckkrönungen der Attika sind
natürliche, aber frei beigefügte Ergänzungen (Abb. S. 203).
Sodann unterzieht Weichardt das Relief im Hause
des L. Cäcilius Jucundus einer Kritik. In diesem
Hause befindet sich an einem Larenaltare ein Marmor¬
relief, das die heutigen Ciceroni als eine Darstellung
des Jupitertempels und seiner Umgebung auslegen. Zu¬
nächst ist das Relief so flüchtig und dilettantisch ge¬
arbeitet, dass vielleicht überhaupt nicht an eine Dar¬
stellung eines bestimmten Gebäudes in Pompeji dabei
zu denken ist. Hat aber der Bildhauer ein solches vor
Augen gehabt, dann gewiss nicht die sechssäulige. Front
des Jupitertempels, sondern, wie Weichardt nachweist,
den nahen Tempel der Fortuna Augusti, neben dem sich
gleichfalls ein Triumphbogen findet, überraschend ist
die Nebeneinanderstellung einer Rekonstruktion jenes
Fortunatempels durch Gell mit diesem Reliefbilde. Gell
kannte das Relief noch nicht, kann also seine Rekonstruk¬
tion nicht im Anschluss an dasselbe gemacht haben.
Trotzdem ist die Ähnlichkeit zwischen beiden auffallend.
Vermutlich darf aber das Relief überhaupt nicht
für die Rekonsti’uktion eines bestimmten Tempels ver¬
wandt werden, da es, wie die Säulendarstellung aus¬
weist, vollständig frei gebildet ist.
An der Ostseite des Forum befindet sich in einem
Hofe der früher fälschlich als Merkurtempel bezeichnete
Tempel des Vespasianus. Wie Mau nachweist ist er
erst nach 63 erbaut und war 79, wenigstens in der
Hofdekoration, noch nicht vollendet. Der Eintritt zum
Hofe erfolgt durch eine Säulenhalle an der Eingangs¬
seite, von der ein Gesimsstück und Säulenreste erhalten
sind. Die drei übrigen Seiten des Vorhofes zeigen keine
Säulenhallen, sondern einfach architektonisch dekorirte
Wände, an denen der Wechsel des dreieckigen und des
Flachbogengiebels auffällt. Diese Wände waren bemalt.
Vor dem Tempel befindet sich der bekannte, wohlerhaltene
Altar mit den Marmorreliefs, die auf der Vorderseite
die Darstellung eines Opfers vor dem Vespasian-Tempel
geben; ein Podest ist dem Tempel vorgelegt, zu dem
von den Seiten des Tempels her beiderseits neun Stufen
hinaufführen. Mazois giebt die Zeichnung von zwei Bruch¬
stücken, einem friesartigen Stücke mit Akanthus-Ranken-
band und einem Pilasterkapitell mit Delphinen und
Rudern. Mazois benutzt die Friesstücke zur Rekon¬
struktion des Tempelfrieses. Weichardt hat die Original¬
stücke der Zeichnung im Museum zu Neapel wieder ent¬
deckt und dabei die merkwürdige Bemerkung gemacht,
dass das angebliche Friesstück in Wirklichkeit ein Teil
der Brüstungsmauer des Podiums ist, so dass er dieses
Podium korrekt wiederherstellen konnte. Vom Cellabau
ist wenig erhalten, doch lässt sich aus der Stärke des
Sockels der Eckpilaster schließen, dass diese mit 15 cm
starken Marmorplatten bekleidet waren. So ist dieser
Tempel mit seinen einfachen Hofwänden und sehr
schlichten Anlagen zwar neben dem prachtvollen Jupiter¬
tempel bescheiden, aber der Eindruck des farbenstrahlenden
Baues in dem engen Hofe, so ganz abweichend von dem,
was die hellenische Kunst mit ihren säulenumgebenen
Tempeln anstrebte, ist doch eigenartig und wirkungs¬
voll, wie aus der Rekonstruktion auf Weichardt’s Tafeln
hervorgeht. Ja, in seiner Weise muss er einst, trotz
beschränkter Verhältnisse, überraschend gewirkt haben.
Die kleinen Verschiebungen, welche durch die nicht
genau rechtwinklige Form des Grundstücks sich ergaben,
verliehen ihm noch einen besonderen malerischen Reiz,
und nirgends so, wie hier, bedauert man, dass es Weichardt
nicht möglich war, seine interessante Rekonstruktion
auch farbig zu reproduziren.
An malerischer W’irkung übertraf den Vespasian-
tempel wohl noch der Isistempel, der freilich dem strenger
urteilenden Auge des Architekten durch seine Willkür
und Maßlosigkeit in Architektur und Ornamentinmg
etwas unsympathisch sein muss, eine Empfindung, die
sich auch in Weichardt’s Ausführungen spiegelt. Andrer¬
seits ist diese Freiheit, diese stark malerische xlnlage
doch erheiternd und bei einem antiken Bau doppelt an¬
ziehend. Dazu kommt, dass gerade der Isistempel ver-
hältnismäßig gut erhalten ist, obwohl er nach 63 auf
Kosten eines Knaben sichtlich eilfertig und weniger
solid von Neuem aufgebaut wurde.
Die unorganisch der Cellawand angegliederten kleinen
Ädikulen, der nach Weichardt’s Annahme das Giebel¬
dach der Vorhalle überragende Cellabau, das kleine
bunte Purgatorium im Hofe, gaben dem Tempel einen
etwas fremdländischen Charakter. Ebenso der unmittel¬
bar auf den Säulen auflagernde ornamentirte Fries. Das
Vollbild bei Weichardt ist mit einer kleinen novelli¬
stischen Scene staffirt, offenbar die Opfergabe des
6 jährigen Stifters unter Assistenz seiner Eltern dar¬
stellend.
Zu der bei dem Tempel gefundenen Isisstatue sei
bemerkt, dass sie wohl nicht, wie Weichardt annimmt,
auf Bekleidung mit Mantel berechnet war, da ja das
•206
POMPEJI VOR DER ZERSTÖRUNG.
dargestellte Kostüm annähernd der ägj^ptischeu Isis¬
tracht entspricht, und der hier absichtlich archaisirende
Künstler (vgl. das Auftreten mit gleichen Sohlen) doch
wohl die ägyptischen Originalstatuen nachahmen wollte.
Der Tempel der Fortuna Augusti weicht von den
früheren darin ah, dass er frei auf dem Eckgrundstiick
an einer der belebtesten Straßenkreuzungen lag, nicht
in einem Hofe.
Auch hier ist leider wenig erhalten, und die Kekon-
struktion wurde damit schwierig. Der Tempel hatte
wieder eine Cella mit vorgelegter tiefer Säulenhalle.
Die jetzt an der Thür vermauerten Pilasterreste ver¬
weist Weichardt mit Eecht an die Ecken der Cella¬
vorderwand. Da Architrav, Fries und Giebel fehlen,
so musste hier frei ergänzt werden.
Nahe dem Fortnnatempel liegt zur Linken ein
kleiner Triumphbogen, den Weichardt, da außer dem
Sockelfuß und der Andeutung zweier Wasserbecken
Schniuckreste nicht erhalten, frei nach dem Bogen
rekonstruirt, der auf dem oben erwähnten Eelief des
L. Cäc. Jucundus sich findet. Als sicher darf wohl die
Krönung dieses Bogens durch die Eeiterstatue des
Neai)ler Museums gelten, die als Nero oder Caligula
bezeichnet wird, von der aber Weichardt nach weist,
dass sie jedenfalls keinen dieser beiden, eher noch
Claudius darstellt.
Der Fortunatempel lag frei an der Kreuzung zweier
der belebtesten und vornehmsten Straßen. So inter¬
essant die malerischen Einblicke in die Höfe des Apollo
und Vespasiantempels, so feierlich der Blick auf das
Forum, so fesselnd ist das Bild, welches Weichardt von
diesem Tempel, seiner Umgebung, von dem Anblicke
entwirft, den er einst in seiner begünstigten Lage ge¬
boten. Wer die Trümmer durchforscht, geht wohl meist
mit dem Gefühl davon, dass diese Tempel, abgesehen
vom griechischen und Isisterapel, sich allzusehr gleichen.
Stets die gleiche fast quadratische Cella, die tiefe Säulen¬
vorhalle, die Freitreppe vorgelagert. Erst aus Weichardt’s
Buche erkennen wir, wie mannigfaltig einst durch Lage
und Umgebung die scheinbar monoton sich wiederholenden
Anlagen waren, gewinnen wir das rechte Verständnis
für die Kunst der Architekten von Pompeji, deren Werke
uns ein nachgeboi'ener Kollege hier mit gliicklichem
Verständnis und gutem Geschmacke anschaulich macht.
Der letzte der Tempel von Pompeji ist der, offiziell
Äskulaptempel genannte, der dem Jupiter, in der letzten
Zeit wohl provisorisch der kapitolinischen Göttertrias
geweiht war. Stark zerstört, lässt er sich nur ver¬
mutungsweise wieder hersteilen. Weichardt tritt für
eine Anordnung der Säulen der Vorhalle ein, wonach,
wie beim griechischem Tempel vom Forum trianguläre,
hier in der Front eine unpaarige Säulenreihe gestanden
habe, und unterstützt diese Hypothese recht gut.
Jedenfalls wird man diese wieder auferstandenen Tempel
in Weichardt’s anziehenden Bildern nicht betrachten
können, ohne zur Erkenntnis zu kommen, wie ein fach¬
männischer Bericht uns über diese Trümmerwelt, ihre
einstigen Eeize und Schönheiten, ganz anders Aufschluss
giebt, als alles Umherwandern in jener toten Welt. Es
wäre dringend zu wünschen, dass der Künstler die nötige
Teilnahme und Unterstützung findet, um das mit so großen
persönlichen Opfern begonnene Werk fortführen zu können.
AVie aus dem Vorstehenden ersichtlich, handelt es
sich nicht um Herstellung gefälliger Bilder, wie sie ein
phantasievoller Maler etwa schafft. Neben die Eekon-
struktion stellt Weichardt stets eine Originalaufnahme
des heutigen Zustandes, vom gleichen Punkte aus auf¬
genommen, unter Beifügung der nacliweisbaren Details.
Mit großer Gewissenhaftigkeit jeden, aucli den
kleinsten erhaltenen Eest prüfend, schafl’t er, immer dem
urkundlichen Material folgend, soweit sich eben solches
eruiren ließ, seine AViederherstellungen. Neben dem
wissenschaftlichen AVerte dieser Arbeiten muss aber
nochmals der hervorragend künstlerische AVert hier
hervorgehoben Averden, der gerade für ein weiteres
Publikum so wesentlich erscheint, namentlich wenn da¬
bei die Gewissheit gegeben ist, dass alle Forschungs¬
resultate berücksichtigt wurden. Mag auch der archä¬
ologische Forscher, dem es auf prompte Zusammenfassung
der Haui)tresultate ankommt, hier und da eine etwas
strengere Gruppirung des Textes wünschen, so wird
allen übrigen Lesern gerade das Behagen, mit dem
AVeichardt überall auch von seinen persönlichen Ein¬
drücken und Arbeiten im Text berichtet, angenehm die
sachliche Erörterung beleben.
Für den zu erwartenden II. Teil wäre vielleicht
zu bemerken, dass gelegentlich noch ein etwas ausführ¬
licheres Citiren der Belegstellen erwünscht wäre. Doch
sind das Dinge, die den eigentlichen AA^ert des Buches
in keiner AVeise berühren. Dafür muss hervorgehoben
werden, dass die Liebe und Sorgfalt, die der Verfasser
auf seine Arbeit verwendet, auch in der äußeren Ge¬
staltung auf das 'glänzendste zu Tage treten, dass diesem
im Selbstverlag erschienenen Buche eine Ausstattung
zu teil wurde, die sonst in solchen Fällen nicht üblich.
Auch hier konnte der künstlerische Geschmack des Autors
nichts Halbes dulden, und so hat er neben bildlichen
Darstellungen nach seinen Zeichnungen auch Original-
photographieen und Aufnahmen nach früheren Publi¬
kationen so reichlich gegeben, dass jedes seiner AA^orte
nach allen Richtungen hin erläutert wird und für
die Art, wie kunstgeschichtliche Mitteilungen dem
Publikum anschaulich zu machen sind, dieses Werk
als mustergültig bezeichnet werden kann. Er scheut
keine Mühe, um durch Grundrissskizzen, Situations¬
pläne, durch Nebeneinanderstellung des heutigen und des
früheren Zustandes den Leser an seiner Arbeit lebendigen
Anteil nehmen zu lassen. Was er im Original vor
Augen hatte, wird hier gegeben, und selbst wo er Hypo¬
thesen aufzustellen gezwungen war, ist jeder in der Lage,
BÜCHERSCHAU.
207
mitarbeitend die Leistung zu kontrolliren und eventuell
eigene Anschauungen auf Grund des reichhaltigen Materials
sich zu bilden. Gerade in Hinsicht auf das Darstellungs¬
material operirt er im modernsten Sinne streng wissen¬
schaftlich, indem er seine gesamten Arbeitsmittel klar
vor Augen stellt und jedem Gelegenheit zur Nachprüfung
damit giebt. So verschwenderisch in bildlichen Dar¬
stellungen konnte nur ein Künstler Vorgehen, der gar
nicht abhängig von den Wünschen einer Verlagsbuch¬
handlung war, gar keine Rücksicht auf die Kalkulation
und auf den Gewinn zu nehmen hatte, sondern nur von
dem einen Gedanken erfüllt war, das, was ihn durch
lange Jahre hindurch auf das intimste beschäftigt, ihn
interessirt und begeistert hatte, anderen niitzuteilen und
sie so zu Genossen seiner Studien zu machen. Diese
Freude au seiner Schöpfung lässt der Autor überall uns
spüren, und sie macht das Buch zu einem ganz besonders
sympathischen. M. SCHMID.
BÜCHERSCHAU.
M. Schubart, Goethe s KönigsUeutenant (Francois de Theas
Comte de Tlioranc). München, 1896. F. Bruckmann A.-G.
Wie stark Goethe’s eigene Kunstproduktion erfüllt ist von
Nachklängen an die Künstler, welche im Frankfurter Vater¬
hause thätig waren, das ist bekannt. Jeder Beitrag zur
Geschichte dieser Elpoche aus Goethe’s Leben ist willkommen,
sowohl dem Goetheforscher als auch dem Kunsthistoriker,
der jener Periode deutscher Kunst
sein Augenmerk zu wendet. Schub art,
in seinem Buche über Goethe’s Königs¬
lieutenant, bringt nicht nur eine aus
reichen Quellen geschöpfte, korrekte
Schilderung dieser interessanten Per¬
sönlichkeit. Er stellt nicht nur fest,
dass er Thoranc zu schreiben ist,
statt nach Goethe’s Vorgang Thorane.
Schubart weist vor allem nach, dass
diejenigen Bilder, welche Graf Tho¬
ranc bei den im Hause des Rat Goethe
beschäftigten Künstlern bestellte,
heute noch vorhanden sind. Elr fand
sie in Grasse in der Provence, zum
Teil noch an Ort und Stelle, zum
Teil auf Schloss Mouans, bei den
Elrben des Königslieutenants. Schu¬
bart giebt neben einer Beschreibung
der in Grasse betindlichen Bilder gute
Heliogravüren eines Cyklus aus Jo-
seph’s Geschichte, den er für seine
Sammlung in Grasse erwerben konnte.
Es sind das diejenigen Bilder, die
offenbar der junge Goethe selbst in
Vorschlag gebracht hatte (vgl. Wahr¬
heit und Dichtung, Buch 111). Als
Künstler derselben vermutet Schu¬
bart den Landschafter 'Trautmann, doch leugnet er nicht
eine gelegentliche Mitarbeit von Seekatz. Des weiteren
bringt Schubart Lichtdrucke einiger Bilder jener Frank¬
furter Künstler aus seinem Privatbesitz, darunter die in¬
teressante Landschaft Schütz d. ä., auf der als Staffage
Frau Rat und der Maler dargestellt scheinen. Vorstehende
kurze Angabe genügt, um die Reichhaltigkeit und die kunst¬
geschichtliche Bedeutung der Schubart’schen Publikation
anzudeuten. Die Wiederentdeckung der Thoranc’schen Samm¬
lung, die Erforschung des Lebens und der Schicksale dieses
originellen Kunstfreundes, die mannigfachen Beiträge zur Ge¬
schichte jenes Frankfurt-Dannstädter Künstlerkreises sichern
an sich dem Buche vollen Wert, das andrerseits als Kommentar
zum dritten Buche von Goethe’s Wahrheit und Dichtung
noch eine höhere, weit über die Grenzen der Kunstforschung
hinausgehende Bedeutung besitzt. Dabei ist es höchst an¬
ziehend geschrieben, sehr geschmackvoll ausgestattet und
gebunden und vor allem in wundervollen ruhigen und das
Auge erquickenden Typen gedruckt. jV. SCH.
El. Weumann, Architektonische Be¬
trachtungen eines deutschen Bau¬
meisters mit besonderer Beziehung
auf deutsches Wesen in deutscher
Baukunst. Berlin, 1896, Ernst &
Sohn. S'l 328 S.
Das Buch zerfällt in zwei Teile,
deren erster einen Abriss der Archi¬
tekturgeschichte von den Urzeiten
bis zur Gegenwart giebt, der mit dem
zweiten Teile nur in lockerem Zu¬
sammenhänge steht. Da diese kurze
Baugeschichte auf Quellenangaben
verzichtet, Abbildungen nicht ent¬
hält und ziemlich wahllos bald geo¬
graphische, bald kulturgeschichtliche
Betrachtungen mit Exkursen über
Bauformenlebre mengt, so kann auf
eine nähere Besprechung hier ver¬
zichtet werden. Bemerkt sei nur,
dass sie stellenweise durch kühne Hy¬
pothesen von den sonst herrschenden
Anschauungen abweicht, daneben
aber auch durch technische Erör¬
terungen manche Anregung bietet.
Der zweite Abschnitt behandelt die
Bestrebungen yler Gegenwart, z. B.
den Putzbau, die Renommirbauten, den „Naturalstil“ etc.,
die einer stellenweise etwas einseitigen, aber auch viele
richtige Beobachtungen enthaltenden Kritik unterworfen
werden. Er schließt diesen Abschnitt mit den Worten:
„Ein Neues, Eigenartiges, Bedeutsames zu gestalten, wenig¬
stens den Samen auszustreuen, aus dem ein stolzer, hoher,
weitschattender, alles Gewesene überragender, in unver¬
gleichlicher Schönheit prangender E’ruclitbaum einer neuen
Kunst erwachsen kann, das ist das ungestillte, täglich
von neuem erwachende Sehnen der Besten unserer Zeit.
Gegenstand unserer ferneren Betrachtungen möge es sein,
zu prüfen, was zu thun ist, um zu diesem Ziele zu gelangen.“
FraDQOis de Tbfeas Comte de Tliorauc.
(Aus dem Werke von M. Schübaet, Goetbe’s Königs¬
lieutenant. Münolien 1896. F. Bruckmann A.-G.
208
BUCHERSCHAU.
Nach der zum Teil gauz berechtigten scharfen Kritik, welche
der Verfasser an der neueren Architektur geübt, ist man
begierig, seine Ratschläge für die Zukunft zu vernehmen.
Er verlangt einen gesteigerten, auf tieferer Naturanschaunng
ruhenden Idealismus unter Wahrung der nationalen Eigenart
für die deutsche Baukunst der Zukunft, sagt ferner „soll die
deutsche Kunst wahrhaft deutschen Beist atmen, so muss
im Künstler das Wesen des deutschen Geistes lebendig sein.“
Neumann giebt denn auch gleich die ,, Eigentümlichkeiten
des deutschen Volkscharakters an, soweit sie auf die Kunst-
gestaltuug Einfluss erlangen“. 1) Vorwiegen des Gedanken¬
inhaltes über das Formale, 2) Wahrheit, Vermeiden alles
falschen Scheines , 3 )
Hervortreten der In¬
dividualität, 4) Das
lebhafte Naturgefühl,
der Sinn für das Ma¬
lerische, 5) Wohlwol¬
lende Anerkennung
fremder Eigenart, (i)
Strenge Beurteilung
der eigenen Vorzüge.
— i\Iir scheint, er ist
freigelng im Nachweis
deutscher National-
charakterzfige. Ob al.ier
nicht einige derselben
auch bei anderen Völ¬
kern sich finden? C)b
z. B. der Sinn für das
Malerische gerade den
Dentschen besonders
eigentümlich ist? Auf
die Baukunst ange¬
wandt, dürften die
Eigentümlichkeiten
wohl heute internatio¬
naler Besitz der Archi¬
tektenwelt sein. Ver¬
meiden alles falschen
Scheines, Hervorheben
der Individualität, ira-
turalistische und ma¬
lerische Ausl »ildung,
Berücksichtigung auch
fremder Schulen und
älterer Vorbilder, [ist
doch das Ziel aller
besseren Architekten. Mir scheint, das etwas gesuchte Hinein¬
ziehen des „nationalen“ Gedankens, so wie er hier durch
Dick und Dünrr gezerrt wird, schädigt die Klarheit der Dar¬
stellung. Was Neumann von berechtigten Forderungen an
den Baustil der Zukunft aufstellt, das ist, so viel ich sehen
kann, eben das, was die moderne Architektur seit einem
Jahrzehnt anstrebt, freie, aber sinngemäße Verwendung der
überlieferten Stilformen, Entwicklung der Form gemäß dem
Material und struktiven Zweck, solides, zweckgeniäßes, sinn¬
volles Bauen. Aber gerade den modernen, englischen Stil,
der diesen Forderungen so sehr entspricht, den bekämpft
Neumann, nur weil er englisch, und angeblich für uns gar
nicht passend sei. Warum nicht? So ist man denn über
den Baustil der Zukunft am Schlüsse des Buches ebenso klar
wie zuvor. Der Autor sagt selbst, „wie die Architektur der
Folgezeit sich gestalten wird, wer mag es wissen!“ Am
Schlüsse steht übrigens noch eine ganz hübsche Zusammen¬
stellung desjenigen, was an den einzelnen historischen Bau¬
stilen sich als besonders lebenskräftig und wirkungsvoll er¬
wiesen hat, wobei Neumann allerdings die romanischen, aus
dem Mauerkörper herausgeschnittenen, mit ihrer Umrahmung
nicht auf der Mauerfläche aufliegenden Fenster rühmt, auf
der nächsten Seite (310) aber Ijemerkt, dass sie bei der
geringen Mauerstärke moderner Bauten kaum verwendbar
seien. Gegen die allzu üppigen Formen der Spätgotik er¬
klärt er sich (311), aber ohne Erfolg, wie man aus den Bauten der
letzten Jahre sieht. Somit enthält das Buch neben manchem
Interessanten leider auch einen Ballast nicht ganz geklärter
Ideen, die durch die
wortverschwendende
Schreibweise nicht ge¬
rade klarer werden.
M. Sch.
Hausschatz mo¬
derner Kunst.
Heftl, 3 M. Wien,
Gesellschaft für ver-
vielfältigendeKunst.
Dem Zuge der Zeit
folgend, dieWerke der
Kunst in die breitesten
Schichten zu tragen,
hat auch die Gesell¬
schaft für vervielfäl¬
tigende Kunst in W ien,
sich entschlossen, ein
Sammelwerk moder¬
ner Gemälde zu ver-
ötfentlichen. Sie ist in
der Lage, ans ihren
zahlreichen Publika¬
tionen eine große An¬
zahl Blätter zu ent¬
nehmen, die für das
große Publikum Inter¬
esse haben; denn un¬
mittelbarer und ver¬
ständlicher als die
Kunstwerke der Ver¬
gangenheit sprechen
die der Gegenwart zu
uns. Entgegen dem
Verfahren anderer Un¬
ternehmungen, die Originale auf photomechanischem Wege zu
reproduziren, sind hier Stich und Radirung gewählt worden,
um an der Hand hervorragender Künstler die Schöpfungen der
Meister der Farbe in die einfachen Kontraste von Schwarz und
Weiß umzusetzen. Der Preis ist gegenüber dem Gebotenen
mäßig, für 3 M. erhält man fünf Blatt vortrefflicher Kadirungen.
Das soeben ausgegebene erste Heft enthält: A. Böcklin, Villa
am Meer, Radirung von W. Hecht; H. Kauffmann, Verliebt,
Radirung von H. Bürkner ; Fr. A. von Kaulbach, Ein Maitag,
Radirung von W. Unger; E. Grützner, Klosterschäfl'lerei,
Radirung von C. Vaditz; F. von Uhde, Auf dem Heimweg,
Radirung von W. Unger. Für die Folge sind in Aussicht ge¬
nommen Werke von Schindler, Kuehl, Volkhardt, Max,
Schönleber, Salentin, Feuerbach, Böcklin, Schwind, Ecken-
l)recher, Defregger, Wollroider, Kröner, Schirmer, Steinle,
Waldmüller, Bode, Liebermann u. a. m.
Herausgeber: Cwrl von lÄitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Aucjust Pries in Leipzig.
Landschaft von .Schütz d. ä. (Aus dem Werke von M. Schobart, Goethes
Königslieutenant. München 1896. F, Bruckmann A.-G.
4;
ki'V.. '
tl
pj^.
piinc Helio^,rT: Dr E.iULeiH: u.C^..!M!üiiclieD.
vic?;nza.
•■- '• - M-fHim Leip^'-ig.
Druck V Jul -Wolf, Iieipzig.
Birken im Woos von L. Dill.
LUDWIG DILL
VON PAUL S C IW LTZE- NAUMBURG.
S giebt heute in Dentscliland unter den
Malern jüngerer Schule eine recht große
Anzahl tüchtiger Landschafter; respek¬
table Leute, die viel können, ihre Bilder
mit gutem Studium des TJchts faustfertig
heruntermalen und ganz ohne Zweifel
ihr Handwerk gut verstehen.
Sieht man aber genau zu, wieviel Künstler unter
diesen Malern stecken, dann kommt man auf eine recht,
recht viel geiängere Zahl. Dill gehört unter die letztei’en.
Dill ist Maler und Künstler. Und was für ein Maler:
ein bravourhafter Könner, dem der künstlerische Aus¬
druck angeboren zu sein scheint, und der diese Gabe in
rastlosem 'Werben vor der Natur zu einer Herrschaft
über seine Mittel hat wachsen lassen, die seinesgleichen
sucht. Aber das ist es nicht, was ihn so hochstellt.
Sondern einmal, dass er ein Doet ist, der es versteht,
Zeitsehrii't für bildende Kunst. N. F. Vlll. II. 9.
seine Gebilde zu beseelen, gegen die gehalten so manche
„guten Bilder“ wie flotte Berichterstattungen über die
Natur aussehen. Und zum zweiten, dass er wie wenig
andere dem gerecht wird, was der Zweck des Bildes
ist: dass er farbige Fhächen schallt, die in ihrer starken
und doch diskreten Tönung wirklich auch zum Schmuck
eines vornehmen Innenraums dienen, nicht bloß in
Galerieen als tote Proben eines großen Könnens auf¬
bewahrt werden können. Dill schaftt harmonische Kunst¬
werke.
Ludwig Dill wurde im Jahre 1848 am 2. Februar
in Gernsbach in Baden als Sohn des Amtsrichters Dill
geboren. In Durlach bei Karlsruhe verlebte er seine
Kinderzeit und kam mit 14 Jahren nach Stuttgart, wo
er das Gymnasium durchmachte, um dann Architekt zu
werden. Nach einigen Semestern, die er auf dem Polj'’.
technikum verbrachte, brach der deutsch -französische
210
LUDWIG DILL.
Ki’ieg aus. den Dill als Sekondelieutenaiit im Werder-
scheu Kori)S mitmachte. Glücklich zurückgekehrt, be¬
schloss er, seiner langgehegten Neigung zu folgen und
sich ganz der Malerei zu widmen. Im Jahre 1872 be¬
zog er die Akademie in München, vertauschte sie aber
ein Jahr darauf gern mit einem Aufentlialt in Italien,
um dort im Aufträge der Engelhorn’schen Verlagsanstalt
eine Serie von Illustrationen für das bekannte Pracht¬
werk „Italien'‘ zu schaffen. Von da ab bildete er sich
als Autodidakt weiter, indem er zuerst die strengsten
und intimsten Zeichenstudien nach der Natur machte,
wobei ihm seine frühere Thätigkeit als Architekt in¬
sofern zu Hilfe kam, als es ihn auf eine grof?ie Korrekt¬
heit hinwies, die er auch nie wieder einbüßte, wenn ihn
auch seine angeborene Degabung davor bewahrte, dieser
Koria'ktheit etwa seine malerische Verve zu opfern.
Nocli heute hat er Mappen über Mappen der detaillirtesten
Studien anfzuweisen, die er damals in allen Winkeln
Italiens machte — Landschaften, Architekturen, figür¬
liche Studien und Tiere. Zum Malen kam er noch wenig
und da hauptsächlich zum A(iuarell ; doch folgte er dem
Triebe eines guten Geschmackes, als er hunderte von
pomiiejanischen Wandmalereien in Wasserfarben kopirte,
da deren harmonischer Farbenaccord ilin mehr entzückte,
als die bunten Veduten, die um ihn herum entstanden,
und er bei jenen eine höher stehende Farbenanschauung
zu finden glaubte, als hier.
Ludwig Dill.
Nach einer Porträtstudie von Krnestine Schuetze- Naumburg.
Skizze von L. Un,L.
Doch vernachlässigte er dabei nicht die Natur.
Beständig auf Leisen, die nur ein kurzer Aufenthalt
in München unterbrach, erwarb er sieh eine unge¬
meine Routine im raschen Beobachten und Schaffen. In
Chioggia lernte er Schönleber kennen, der nicht ohne
großen Finflnss auf ihn war. Mit den Bildern, die
er damals, so um die Jahre 77 und 78, von den La¬
gunen und Kanälen Venedigs zu malen begann, hat
er sich rasch bekannt gemacht und sich den Namen
des Marinemalers Dill, den er heute wenn nun auch
fälschlich noch trägt, erworben.
Dill’s Kunstschaffen scheidet sich nämlich in
zwei große Perioden; die italienische und die deutsche
— dort des Meeres und hier des heimischen Landes.
Mich deucht, dass sich in der zweiten der Künstler
noch freier, noch persönlicher giebt, als in der ersten.
Es ist zwar nicht schwer zu erkennen: auch Dill’s
italienische Landschaften haben ein ganz persönliches,
ganz deutsches Gepräge; diese innige Schlichtheit,
diese leise Melancholie jener Dämmerungslandschaften
ist ganz deutsch. Es ist deutsche Kunst mit Be¬
nutzung italienischer Foianen • — und wen zöge der
Reichtum derselben nicht auV Aber hat sich auch
Dill an diesem Reichtum erzogen und verfeinert: da,
wo er seine Kunst nun in Deutschland anwendet, ent¬
steht etwas so Echtes und so unendlich Feines, dass
alle, die diese zweite Schaffensperiode recht zu sehen
Scbitl'hütte in der Lagune. Tuschzeicbuung von L. Dill.
27*
212
LUDWIG DILL.
G -legeiilit'it haben, erst hier so ganz niitl restlos ihren
Dill ei’kannten, in dieser tiefernsten, herben, kraftvollen
— männlichen Kunst, die doch mit so nnendlich viel
Zartheit verbunden erscheint.
Gegen das Jahr 1889 kam die Wendung. ^Yie
.‘;i(di damals in ganz Deutschland aus dem gärenden
iMost der neuen Kunst eine Wendung zur \'erfeinerung,
zur Durchgeistigung entwickelte, ting auch Dill an,
intimere Wirkungen anzustreben. Sein Studienfeld wurde
mehr und mehr das Festland Oberitaliens, die tote Lagune,
die Sümpfe der Po-Kiederung, in denen ihm ganz neue
Reize Italiens aufgingen. Hatte er früher lustig Sonne
Mit dem .Jahre 1894 beginnt eine neue Steigerung.
Wir sehen das immerhin seltene Schauspiel, dass ein
JMaiin, der sich den Fünfzigern nähert, nicht von dem
Erreichten zehrt, sondern erst seinem Höhepunkt zu¬
schreitet, der zudem nichts gemein hat mit jener blassen
Nachblüte des zweiten Alters.
Amtsgeschäfte als Präsident der Secession hatten
Dill abgehalten, seinen gewohnten Studienaufenthalt an
der Lagune zu nehmen. Um einen Ersatz zu haben,
geht er auf ein paar Monat nach Dachau, und er ent¬
deckt dort die Diirsche deutsche Landschaft.
Ja, die Dill’sche deutsche Landschaft. Denn diese
Fischerboote bei Comacchio. Ölgemälde von L. Dill.
und Licht, blauen Himmel und wasserdampfgesättigte
Atmosphären gemalt, so ging er jetzt dem verschwiegenen
Zauber der Dämmerung nach, deren tiefe satte Töne
ihm jetzt besser gefielen, als die blendenden der Tages¬
helle. Mehr und mehr erscheinen nun seine Bilder auf
einen leisen Mollaccord gestimmt; wie ein Zug von
Wehmut klingt es durch die sonoren Harnionieen seiner
Abendlandschaften. AVar früher noch vielleicht der volle
Ausdruck seiner Persönlichkeit hinter der erdrückenden
Fülle der gemeinsamen neuen Ausdrucksmittel zurück¬
getreten, so beginnt nun mit der steigenden Souveränität
über die Form ein vollständig freies und ungehindertes
Aussprechen.
ist etwas anderes, als die absolut reale Natur, und dass
er sie in Dachau fand, ist im Grunde wohl nur ein Zu¬
fall, denn Dachau ist ein malerisches Landstädtchen, wie
tausend andere. Aber der echte Künstler kann in jedem
Stück Natur sein Eden finden, wenn er sich dort wohl
fühlt. Man muss also nicht meinen, dass die Dill’sche Land¬
schaft in Dachau auf der Straße läge. Seit Jahrzehnten
gehen die Münchener Maler im Sommer nach Dachau,
ohne sie gesehen zu haben. Der Künstler macht ja
auch nicht Illustrationen zu dem Dorf, dem Städtchen,
in dem er sich auf hält, sondern er benutzt es zu An¬
regungen, um durch sie etwas neues, sein Paradies, das
er nur mit den Augen der Seele sieht, nachzuschaft’en.
LUDWIG DILL.
213
Die Anregung, die Dachau Dill hrachte, waren wolil
vor allen die herben, knorrigen Formen, die in schroffem
Gegensatz zu der Eleganz Italiens stehen. Die Natur
zwang ihu hier gleichsam, mit noch weit größerer Kraft
vorzugehen, als die weiche Luft des Veneto von ihm
gefordert. Aber der Ausdruck der Kraft paart sich
anderes Material gefunden wäre; nur die Verwendung war
eine so eigenartige, dass wirklich etwas ganz neues ge¬
funden war, das sich besser, als irgend etwas voiher
dagewesenes dafür eignet, den Zweck eines Bildes zu
erfüllen neben dem Kunstwerk an sich: ein vornehm
dekorativer Schmuck zu sein.
Skizze von L. Dill.
meist mit Einfachheit, und so kam Dill ganz von selbst
darauf, seine Ausdrucksmittel zu wechseln.
Und nun erfand er das Dill’sche Aquarell.
Mau muss sich unter DiU’sclieu Aquarellen nicht
das vorstellen, was man sich sonst unter Aquarellen
Man fragt nun wohl ungeduldig; ja, wie sieht’s denn
nun aus. Also: ein weiches, samtartiges Papier, in
irgend einem feinen Ton gehalten; tiefgrün, grau oder
mattgelb. Auf diesem ist in wenigen, aber kraftvollen
und knapp charakteristischen Strichen die Komposition
Skizze vou L. Dill.
denkt: mit leichten Farben üott und elegant hingemalte
Wasserfarbenbilder, die die Mitte halten zwischen der
Skizze und dem farbigen Ölbild. Das DiH’sche Aquarell
ist etwas anderes, etwas neues. Es neigt mehr zur
Wandmalerei — hält die Mitte zwischen dieser und
dem Staffeleibilde. Nicht als ob im wesentlichen ein
aufgezeichnet. Keine Ansicht. Beim Ausschnitt des
Motivs war die Flächenverteilung maßgebend, nichts
anderes, ln diese herben und einfachen Konturen tönt
nun Dill die satte Glut seiner Farben, wie man sie beim
Aquarell nicht leicht wieder findet.
Es ist ganz falsch, einem Aquarell nachzurühmen.
•21-1
LUDWIG DILL.
li.iss man e.s für ein OlbiM halten kann. Der t'eiiit'iililig-e
KüusÜe)' denkt nicht an Imitation, sondern er will sein
Maierial in seinen Eigentümlichkeiten ziini Ausdruck
bringen. Dill's Aquarelle erkennt man sofort als Wasser-
farl)enbilder . wenn sie auch an Leuchtkraft der Farbe
manch Olliild iibertreffen. Ja, es sind ini Grunde eigent-
lich farbige Zeichnungen; nur ist eben die Farbe da-
liei mit einer Kühnheit und Feiidieit verwendet, dass
sie dem Zweck des Bildes: an der Wand zu wirken,
ganz gerecht wird. Oder richtiger: nicht nur gerecht
wird, sondern sogar die idealste Lösung für diese
Foi’derung ist, da der leuchtenden und satten Farbe jede
trotzdem die abgedroschene Redensart weiter nachbeten,
dass die moderne Kunst nichts zum Gebrauche im Privat¬
haus geeignete schaffte — in Deutscldand eine Wahrheit
vor zehn Jahren. — Nun ja, Zimmerbilder übers Sofa,
den Königssee in '/2 ™ breiten Goldrahmen — die muss
man schon bei der guten alten Kunst suchen.
Was sonst noch von Dill’s Leben sagen? Er hat
alle Ehrungen empfangen, mit denen man bedeutende
Künstler auszuzeichnen i)ffegt, er führt den Titel eines
kgl. Professors, und die Secession wählte ilin zu ihrem
Präsidenten. Also zu entdecken ist er eigentlich nicht
Dachau. Aquarell von L. Dill.
Sjuir von dem fettigen Glanz der Ölfarbe fehlt und sie
der Teppichwirkung — dem doch gewiss organischsten
Schmuck des Innenraums — am nächsten kommt.
Jlan missverstehe mich nicht. Ich meine nicht, dass
nun in Zukunft die Maler auf ein weiches, samtartiges
Papier, in irgend einem feinen Ton gelialten, in starke
IJüienkonturen farldge Flächen tönen sollen. Auch für
das Zimmerbild können die Ausdrucksmittel verschiedent-
liche sein. Aber ich glaube, dass die DiH’sche Ver¬
wendung der Mittel mit Recht viel Nacliahmung finden
und sich zu einer neuen Art von Bildern entwickeln wird,
die vielleicht unter dem Titel „getönte Zeichnung“ die
breiteste Verwendung finden wird. — Man wird zwar
mehr. Wenn er aber auch durchaus nicht zu denverkannten
Ünbekannten gehört, so scheint es mir doch, dass er in
breiteren Kreisen nicht recht verstanden würde. Man
schätzte in ihm den virtuosen Maler, ohne zu sehen,
dass er vor allem ein tief empfindender Poet ist, der
die Klänge seiner Seele in die Sprache der Farben über¬
setzt. Aber seine Kunst ist eine zu diskrete, zu sehr
an das eigentlichste Kunstgefühl im Menschen appel-
lirende, als dass seine Werke je einmal aktuell werden
könnten.
Alter wenn er auch nichts geschaffen hätte, als seine
Aiiuarelle aus Dachau, so würden doch diese genügen, um
ihm einen Platz in der Kunstgeschichte zu sichern.
Skizze zur „Wartburg“ von L. Dill.
21G
LUDWIG DILL.
Noch ein paar Worte über unsere Bilder. Bei Aus¬
wahl derselben ist nicht so der Wunsch maßgebend ge¬
wesen, eine Anzahl von Hauptwerken unseres Meisters
zu bringen, sondern einige typische Beispiele anzuführen;
solche, die einen Einblick in sein Schäften gewähren.
Um eine Ahnung von dem zu geben, was Dill mit
dem Stifte kann, haben wir eine kleine Anzahl von
Bleistiftskizzen reproduzirt und in den Text eingestreut;
eine ziemlich zufällige Auswahl aus dem nnübei'sehl)aren
Eeichtum von tausend und abertausend ftiichtigen Notizen,
mit denen Dill auf jeder Reise seine Skizzenbücher füllte.
All diese kleinen Sachen sind nun nicht etwa wohl¬
überlegte Zeichnungen, sondern Augenblicksnotizen, vom
vorbeifahrenden Dampfer, vom schauckelnden Boot aus,
im Marktgedräiige gemacht. Nirgends sieht man Dill’s
jihänomenale Sicherheit der Zeichnung besser als an
diesen Blätteim, die man ihrer Korrektheit nach für
wohlübei'legte Studien, mit der Camera lucida nachge-
zeichnet halten könnte, so sicher ist schon die ganze
Ivomjtosition entworfen, sind
die flüchtigsten Bewegun¬
gen festgehalten, ist auf
das Detail sogar eingegan-
geii. Es hätten sich gerade,
dafür noch schlagendere Bei¬
spiele wählen lassen. Aber
es ist schwer, unter den
tausenden von Zeichnungen
die Wahl zu tretfen.
Die Gravüre, die un¬
ser m Heft beigegeben ist,
ist als eine gänzlich freie
Schöpfung zu betrachten.
Im vorlieisausenden Zuge,
vom Coupefenster aus, fällt
Dill bei der Festung Vicenza eine interessante Silhouette
auf. In Ermangelung eines Skizzeubuches auf die Manchette
skizzirt, dient es ihm als Grundlage für das Bild, dessen
Farbenzauber es zu einem der schönsten Werke Dill’s
macht. — Man muss nun indessen nicht glauben, dass es
Dill mit diesem Aus -dem -Kopf- malen so leicht ge¬
nommen. Nur dadurch, dass er ein Menschenalter lang
die intensivsten ununterbrochenen Studien vor der Natur
machte, hat er es soweit gebracht, dass er nun schlie߬
lich dieser Unterlage, des Naturmotives, entbehren und
ganz fi el seinen Phantasieen folgen kann, ohne die Wahr¬
heit zu verlieren.
Das „Motiv bei Comacchio“ ist eines der vornehmsten,
diskretesten Werke Dill’s ( Abb. S. 2 1 2 ). Leider kann davon
unsere Autotypie keine Vorstellung geben. Sehr liezeiclmend
ist dies Werk für die Art Dill’s, Kunstwerke zu concipiren.
Er sieht irgendwo im Atelier eine alte Photographie,
auf dem Kopf stehend. Es war vielleicht gar keine
Landschaft. Die interessante Fleckenverteilung fällt
ihm auf, und er benutzt dieselbe als Grundlage für die
Skizze von L. Dit.L.
Massenverteilung eines Farbenaccordes , der ihm sym¬
pathisch. Man sieht daraus, wie innig die Kunst Dill’s
auf der reinen Anschauung basirt. ^'on dem farbigen
Zauber, wie die goldbestrahlten Segel auf dem blau-
grünen Wasser stehen, kann leider die Reproduktion
nichts erzählen.
Die Abb. auf S. 211 ist ein Motiv aus den Sümpfen,
das aus der Erinnerung leicht mit Kohle skizzirt und mit
ein paar Tönen Deckweiß zur Wirkung gebracht ist. Vorn
eine alte Boothütte im stehenden Wasser, im Hintergründe
der matte Glanz der toten Lagune. Man wird hier die
spielende Ijeichtigkeit bewundern, mit der mit den ein¬
fachsten Mitteln schon eine tiefe Wirkung erzielt ist.
Das Motiv aus Dachau zeigt uns ein A(iuarell Dill’s
in unvollendetem Zustande, die die Bezeichnung „farbige
Zeichnung“ besonders gut klarlegt.
Der allgemeine Ton ist der ursprüngliche Pa]iierton;
mit ein paai’ helleren und ein paar dunkleren Flächen
ist hier eine Raumwirkung erzielt, wie sie ein voll¬
kommen ausgeführtes Ge¬
mälde nicht mehr haben
kann.
Gei’adezu bedeutend
aber ist hier die Kontur.
Sie erinnerte mich in man¬
chem an Rethel’s einfache
Linienführung. In wie we¬
nige sichere Striche löst
er das Gewirr der Pappeln
auf, wie einfach und fein
sind die großen Konturen
D 1 der Häuschen gezogen, wie
pikant wirkt das Brückchen
vorn mit dem Wege. In
dieser Art von Vereinfa¬
chung bedarf es in hohem Grade der Meisterschaft; und
wiewohl es im Zuge der Zeit liegt, bei solchen zeich¬
nerischen Aufgaben wieder den Schwerpunkt in die Ein¬
fachheit und den Inhaltsreichtum der Linie zu legen,
wird man wenige linden, die so frei von jeder Manier und
so erschöpfend wie Dill die Lösung finden.
Ein vollkommen fertiges Bild sind die Birken im
Moos (S. 209 ). Dies Bild hat etwas von jener ornamentalen
Schönheit, die die moderne Kunst ihren Schöpfungen zu
geben sucht, und ist dabei doch in allem ein Stück tiefer
Naturpoesie.
Dill hat einen mit Thoma verwandten Zug. Auch
aus seinen Werken spricht jene träumende deutsche
Volksseele, die in Thoma ihren Ausdruck gefunden. Nur
ein Unterschied ist da: jener geradezu raffinirte Ge¬
schmack Dill’s schließt die naive Ursprünglichkeit Thoma’s
aus, wenn er ihm auch an Kraft überlegen erscheint.
Eine neue Aufgabe stellte sich Dill, als ihm von
Wallot für den Re.ichstagbau die Schöpfung eines großen
Wandgemäldes „die Wartburg“ übertragen wurde. Dill
Hans Gudewerdts Altar in der Kirche zu Kappeln.
Nach einer photograpliischen Aufnahme von L. HANSEN in Kappeln.
Verlag von SHKMANN & Co. in Leipzig.
I.irhtdnick von S1NSJ*‘,I, fc Co. in l.vip/ig.
HANS GUDEWERDT.
217
niiiiiut jede Aufgabe sehr ernst, und so fing er nach
einem längeren Studienaufenthalt in Eisenach an, un¬
zählige Skizzen zu machen. Denn er wollte nicht eine
Ansicht, eine Illustration der Wartbujg geben, sondern
er wollte den Gefühlswerten, die wir Deutsche beim
Gedanken an die Wartburg, jener stolzen Veste im
Thüringer Waldgebirge, emptinden, malerischen Ausdruck
verleihen, ohne jedoch zu sehr von der Wirklichkeit ab-
znweichen. Wir sind in der glücklichen Lage, eine
dieser unzähligen Skizzen — es ist nicht gesagt, dass
Dill gerade diese zur Ausführung wählen wird — wieder-
zugeben. (Abb. S. 215.) Der Schwerpunkt dieses Entwurfes
liegt hier in der Art und Weise, wie sich die Burg über
den bewaldeten Porphyrklippen auftürmt, während für den
Vordergrund noch keine bestimmten Formen angenommen
sind. Aber wie schön ist hier schon mit ein paar
Strichen der Zauber jener fernen Höhen gegeben, auf
deren breiten Kücken sich die Burg lagert. Und da
Dill in diesem Werk durchaus nicht etwa eine Art Öl¬
bild, das man einfach in die Wand einfügt, schaffen will,
sondern eine den Kaumbedingungen entsprechende Wand¬
malerei, so darf man sich davon einen guten Schritt
nach Vorwärts auf dem Gebiet unserer modernen dekorativen
Kunst versprechen.
HANS GUDEWERDT.
VON 0. BRAND'l.
ENN die niederdeutsche Plastik in der
Geschichte deutscher Kunst bisher eine
recht bescheidene Kolle spielte, so ist der
Grund dafür nur zum geringeien Teil in
einem Mangel an künstlerisch bedeuten¬
den Leistlingen niederdeutscher Bildner
zu suchen; vor allem ist ein Mangel an ausreichenden
Publikationen schuld daran, dass die niederdeutsche Plastik
allzusehr unterschätzt wurde. Es fehlt unter den nieder¬
deutschen Meistern nicht in dem Maße, wie angenommen
worden ist, an großen, eigengearteteu, schöpferischen
Künstlern. Besonders Schleswig-Holstein ist in dieser
Beziehung Unrecht geschehen. Die dort heimische Holz¬
schnitzkunst hat weit reichere Früchte getragen, als mau
noch heute allgemein glauben mag. Mit Hans Brügge¬
mann allein ist der Keichtum seiner Schnittker nicht
erschöpft. Ich möchte hier zum ersten Male weitere
Kreise mit einem schleswig-holsteinischen Holzschnitzer
bekannt machen, dem sich zu seiner Zeit im ganzen
Deutschland kaum ein anderer Meister zur Seite stellen
durfte; es ist Hans Gudewerdt. Er wurde um das Jahr
1600 geboren in dem kleinen schleswigschen Städtchen
Eckernförde, das bekannt geworden ist durch den Sieg
der Schleswig-Holsteiner über dänische Kriegsschiffe in
der Eckeruförder Bucht am 5. April 1849. — Hans Gude¬
werdt gehörte einer altangesessenen, wohlhabenden
Familie an, sein Vater war Meister und Ältermaun der
Schuittkerinnuug und muss sehr angesehen gewesen sein,
denn mehrfach wurden ihm Ehrenämter übertragen. Wie
der Name, so überkam Gewerbe, Stellung und Ansehen vom
Vater auf unsern Meister, und er selber übertrug sie wieder
auf seinen ältesten Sohn. So wollte es alte gute Laudes¬
sitte. Die Zeitgenossen bewunderten Haus Gudewerdt
wegen seiner Kunst; auch der kluge, kunstliebende
Gottorper Herzog Friedrich III. zog ihn in seine Dienste.
Im Auftrag des Herzogs verfertigte der Meister einen
Zeitsohril't für bildende Kunst. N. F. VIII. H. ö.
Brautwagen für die Vermählungsfeierlichkeiten der Prin¬
zessin Sophie Augusta, einer Ahnfran der Mutter unseres
Kaisers, mit dem Fürsten Johann von Anhalt. Als
Hans Gudewerdt am 12. Februar 1671 in seiner Vater¬
stadt gestorben war, fügte das sonst so wortkarge Toten¬
register seinem Namen die Bemerkung hinzu; „ein Ge¬
wesener kunstreicher Bihlschnittßer“. — Lange Zeit
war er vergessen, man wusste nichts von ihm, nicht ein¬
mal sein Name wurde mehr genannt. Es ist das Ver¬
dienst von Kichard Haupt in seinem Werke „Bau- und
Kunstdenkmäler der Provinz Schleswig-Holstein“, zuerst
wieder auf ihn aufmerksam gemacht und die wichtigsten
seiner Werke als ihm zugehörend erkannt und bezeichnet
zu haben.
Eine eingehende AVürdigung des Meisters iiabe ich
in einer demnächst erscheinenden Monographie zu geben
versucht; an dieser Stelle möchte ich den Lesern der
Zeitschrift in knapper Skizziruug nur ein Werk Haus
Giulewerdt’s, nämlich den Kappeier ') Altar vorführen.
Das zum Verständnis des Werkes unbedingt Nötige
schicke ich voraus.
Hans Gudewerdt’s Arbeiten gehören ihrer Gesamt¬
form und ihrem Ornament nach der zweiten Stilrichtung
des Barock im Lande, dem sogenannten Ohrmuschelstil
au. Der Name berücksichtigt nur eine charakteristische
Eigenschaft des Ornaments, nämlich die, dass seine Linien
ineinander verschnörkelt und gleichzeitig abgeplattet,
etwa wie eine durcheinander geschobene und seitlich
gedrückte Papierspirale, oft ohrniuschelähnliche Formen
zu Stande kommen lassen; unberücksichtigt bleibt in der
Bezeichnung der oft bizarre, aber doch kühne und flotte
Schwung des Ornaments, das unleugbar malerisch wirkt.
Malerische Wirkung erstrebt die zweite Barockperiode
1) Ivapjielii ist ein kleines schleswigsches Städtchen an
der Schlei.
28
21S
HANS GUDEWERDT.
vor allem. Deshalb lüst sie das feste Gefüge und die
geradlinigen Umrisse der Eenaissance auf, fügt Zwischen¬
glieder eia und ersetzt die geraden durch geschwungene
Linien, sie bevorzugt vor dem Viereck das Oval oder
Kompositionen aus Kreisteilen. Eine reichliche A'er-
wendung von Putten, geflügelten Engelköpfen, Kartuschen,
Masken und die gewundene, bei Gudewerdt mit Wein¬
laub bekränzte Säule vollenden das Bild des reichen,
aus den Niederlanden stammenden Stils. — In einer
sulchen phantastisch malerischen Barockumrahmung zeigen
Gudewerdt’s Altäre Figuren von schlichter Einfachheit
und oft großer Schönheit, scenische Darstellungen von
Altars aufbaueu, sind Scheinarchitektur und dienen de¬
korativen Zwecken.
Nicht nur die durch Zapfen im Rahmenwerk be¬
festigten Einzelflguren, sondern auch die Figuren in den
Füllungen sind in voller Körperlichkeit aus dem Eichen¬
holz herausgearbeitet, ebenso der größte Teil des Orna¬
ments, nur die Gesimse, Konsolen, Eahmenleisten und
ähnliche Teile überziehenden, oft sehr feinen Zierformen
sind in Relief gegeben. — Während Gudewerdt die
plastischen Ornamente mit der Feile glättete, verwandte
er bei den Figuren durchweg nur Meißel und Messer,
dessen kräftiger sicherer Schnitt überall ei'kennbar bleibt.
BekrunuEg des Kappeler Altars.
unmittelbarster Lebenswahrheit und ungekünsteltem Natu¬
ralismus in seltsamem Kontrast zu dem barocken Rahmen¬
werk. — Die aus starken Brettern zusammengefügte,
mit Eichenholz verkleidete Rückwand der Altäre Gude¬
werdt’s bildet zugleich den breiten, mit reichem archi¬
tektonischen , ornamentalen und figürlichen Schmuck
überdeckten Rahmen und ist der eigentlich konstruktive,
hier versteckte Teil des Aufbaues. In ihn sind aus
Eichenbrettern gebildete rechteckige Kasten zur Auf¬
nahme der scenischen Darstellungen der Füllungen ein¬
gesetzt. Über die Ränder des Kastens legen sich Rahmen¬
leisten oder Ohrmuschelornamente. Säulen, Architrav,
Gesims und Konsolen, die sich vor dem Rahmenwerk des
Die größeren Oruamentformen und Figuren sind, wie
die gotischen Ilolzfiguren meist, von der Hinterseite aus¬
gehöhlt und mit dünnen Brettern wieder geschlossen.
Arme, Beine und andere stark hervortretende Teile wurden
häutig eingesetzt.
Gudewerdt’s Altäre sind nicht für Bemalung ge¬
arbeitet, mit Ausnahme des im Jahre 1641 entstandenen
Kappeler A Rares. Die Scenen in seinen Füllungen
zeigen eine vortreffliche naturalistische Farbengebung
und mögen der ursprünglichen Bemalung recht nahe
kommen. Nicht so die hai'te unschöne Färbung des
Rahmenwerkes. Gesimse, Friese, Konsolen und Säulen
sind grau, schwarz und rotbraun marmorirt, Ornament,
HANS GÜDEWERDT.
21
Wappen und Einzeltiguren zeigen ein totes gipsernes
W eiß.
Im Jahre 1790 wurde die alte Kirche in Kappeln
abgebrochen, und als man einige Jahre später die neue,
im nüchternen Zeitgeschmack ausgestattete Kirche ein¬
richtete, mag man wohl das Kunstwerk aus der Barock¬
zeit allzu kraus und unruhig gefunden haben. Man ent¬
nahm ihm die das Abendmahl enthaltende Mittelpartie,
um sie über dem neuen Altar einzufügen, sowie die
Moses- und Johannesfigur, vnn sie auf den Schalldeckel
der über dem Altar angebrachten Kanzel zu stellen. Die
übrigen Teile des Altars wurden zusammengezogen; das
Rahmen werk strich man vermutlich damals in der ge¬
schilderten Weise neu an, damit es nicht allzusehr in
der Einpirekirche auffiele. In dieser Form brachte man
das Altarblatt an der Nordwand der Kirche an, wo es
noch heute, im allgemeinen wenig beachtet, hängt.
Der Altar ist in drei Partieen aufgebaut. Die
Staffel enthält die Anbetung der Hirten; die wiederum
dreigeteilte Mittelpartie zeigte in der Hauptfüllung das
Abendmahl, iin rechten Seitenfeld die Kreuzigung, im
linken die Auferstehung; das Oljergeschoss enthält die
Himmelfahrt. Die Höhe des Altares beträgt fast 17 Fuß,
er hat in der heutigen Gestalt eine Breite von 12 Fuß;
beide Maße sind durch die Zusa]nmenziehung verringert.
Die jetzt in die Mitte gesetzten Seitenfelder der Mittel¬
partie haben eine Höhe von 4 Fuß, eine Breite von
1^/^ Fuß. Die Füllung der Staffel ist 1^2 Fuß hoch
und 3 Fuß breit. Der obere Teil misst 8 Fuß in der
Höhe. Die Adam- und Evafiguren sind je 2 Fuß hoch. ')
Die Widmungsinschrift befindet sich unter der
Himmelfahrtsscene auf einem Felde in Form eines Kreis¬
segmentes, sie lautet:
In Dei Omnipotentis Honorem Ecclesiae Ornamentuiu
Suiq. Ac Posteritatis Recordatione Nobiliss. Ac Strenu.
Henricns Rumohr Hereditarius In Roest Et Toestorf
Ecclesiae Hujus Patronus Ejusque Conjux Nobilissima
Ida Rumohren Altäre Hoc Suis Sumppibus Gonfici Ac
Ei’igi Curarunt.
Anno — 1641.
Die Wappen der Stifter und ihrer Eltern sind an
der Staffel angebracht, die der Großeltern und Urgro߬
eltern enthält die Mittelpartie des Aufbaues. Ida Rumohr,
die Mitstifterin des Altares, entstammte der Familie
Brockdorff, ihres Mannes und ihre Familie gehören dem
alten Adel Schleswig-Holsteins an und sind verwandt
mit den vornehmsten Geschlechtern des Landes. So
bietet der Kappeier Altar vortreffliche Gelegenheit, die
Wappen der wichtigsten heimischen Adelsfamilien kennen
zu lernen, außer den Schilden der Stifter, Hinrich Rumohr
und Ida Brockdorff, finden sich die Wappen der Ahle-
1) Die Maße sind einem Aufsatz des verstorl>enen Pastor
Scholz entnommen (Neues Staatsbürger!. Mag. IV, 849 vom
Jahre 1834), da die Anbringung des Altares an der Wand
genaue eigene Messungen zu sehr erschwerte.
feldt, Blume, Buchwald, Meinstorp, Rantzow, Reventlou,
Sehestedt und von der Wische.
Die Staffel giebt zwischen zwei stark vorspringenden,
mit Wappen haltenden Putten geschmückten Sockeln in
länglich rechteckigem, von Ohrrauscheiornament um¬
rahmtem Felde die Anbetung der Hirten. (S. 221.) Die an¬
ziehende lebendige Scene gehört zu den besten Schöpfungen
Gudewerdt’s. Den Mittelpunkt der Gruppe bildet die hinter
der Krippe mit dem auf Stroh gebetteten Christkinde
sitzende liebliche Maria. Sie ist von ganz besonderem
Reiz durch die individuelle Charakteristik, die sie in
Haltung und Miene bekundet. Den rechten Arm hat
sie unter die Kissen ihres Knaben geschoben, die linke
Hand legt sie leicht, wie ordnend, an die Decke zu seinen
Füßen, während sie mit halber Körperwendung den
herbeieilenden Hirten entgegensieht. Der Kopf ist ein
wenig in den Nacken gelegt, das feine liebliche Gesicht
ist den Ankommenden zugewandt, fast liegt etwas Vor¬
nehm-Überlegenes darin, wie sie den Hirten entgegen¬
sieht. Mir will es Vorkommen, als habe der Künstler
in dieser Maria die adelige Stifterin des Altares selbst
porträtirt, denn um ein Porträt handelt es sich offenbar.
Das energisch geformte Kinn, die um ein Geringes über¬
ragende Oberlippe, das leicht aufgebogene Näschen, die
ganze Haltung des Kopfes haben etwas so Persönliches,
dass sie kaum erfunden sein können. Charakteristisch
und lebenswahr ist das durch die Haltung der Maria
trefflich zum Ausdruck gebrachte Verhältnis zum Christus¬
kinde. In der Kunst der Frührenaissance wurde die
Maria mit gefalteten Händen oder über der Brust ge¬
kreuzten Armen, anbetend w'ie die Hirten, auf den Knieen
liegend vor dem Gottessohn dargestellt, die Mutter des
Heilandes selbst, ein Mensch wie andere, das göttliche
Wunder seiner Geburt verehrend. Schongauer, Dürer,
Aldegrever u. a. fassten so das Verhältnis der Maria
zum Christkinde in der Anbetung der Hirten auf. Auch
die Bildner haben dieselbe Auffassung, so Veit Stoß im
Altar der Marienkirche in Krakau. Hans Gudewerdt
zeigt nichts von dem Mysticismus, der dort zum Aus¬
druck kommt, er schildert das menschliche, lebenswarme
Glück und den Stolz der Mutter im Besitze ihres Kindes.
— Hinter dem Kinde steht Josef, der mit sprechendem
Ausdruck den herbeikommeiiden Hirten das Wunder der
Geburt bestätigt. Im Vordergrund der Mitte hat sich
ein in wirksamem Gegensatz zu der vornehmen Er¬
scheinung der Maria stehendes, derbes, echt schleswig¬
holsteinisches Bauernmädchen auf ein Knie niedergelassen
und reicht dem Kinde aus vor ihr stehendem Korbe ein
Ei hinüber. Ein geschlachteter Hahn und ein hoher
Henkelkrug neben ihr werden gleichfalls Gaben der
Hirten sein. Hinter dem Bauernmädchen sieht man in
halber Figur eine Alte, die neugierig bew'underud zu
dem prächtigen Kinde hinschaut; das Gesicht, die etwas
vorgebeugte Haltung und die über die Brust hinauf ge¬
zogenen, ineinander geschlagenen Hände sind jiraehtvoll
28*
220
HANS GUDEWERDT.
beobachtet. Ebenso ganz der Natnr abgelaiisclit sind
die drei Hirten, in deren Mienen nnd ungelenken Be¬
wegungen sich scheue Ehrfurcht unverkennbar ausdrücken.
Dem letzten der Hirten, der in Haltung und Kleidung
besonders naturalistisch wiedergegeben, ist sein Hund
gefolgt und lugt nun zwischen den ausschreitenden Beinen
seines Herrn hervor. Im Hintergründe lässt sich noch
eine Frauengestalt mit einer auf dem Kopfe getragenen
Bütte erkennen. Ochse und Esel fehlen nicht in der
lebendigen Scene,
die sich, wie das
holperige Kopfstein¬
pflaster anzeigt, im
Stalle abspielt.
Die Staffel
schließt mit gerade
verlaufendem Ge¬
sims nach oben ab.
Die Hauptfiillung
der Mittelpartie ent-
liielt das Abend¬
mahl. Christus, der
Johannes, seinen
angstvoll zu ilimauf-
scdiaueiiden Liel)-
ling.sjünger, auf dem
Sclioße hat, sitzt in
hohem, mit schma¬
len rundbogigen
Fenstern versehe¬
nem Saal unter
einem Baldachin vor
dem Tisch, zu bei¬
den Seiten grup-
piren sich in leb¬
hafter Bewegung
die Jünger; die
Episode mit dem
Schwerhörigen felilt
nicht. Zwei große
Lichter in goldenen
Leuclitern, Speisen,
Trinkgefäße stehen
auf dem mit weis-
sem goldbefranzten Tuche gedeckten Tisch. Vorne auf
den Boden gestellt ist eine Schale mit Broten und eine
JVoinkanne. — Auch diese Gruppe enthält mehrere
vortreflliclie Figuren, namentlich sind es zwei Jünger
zu den Seiten des Heilandes, deren ausdrucksvolle, cha¬
rakteristische Köpfe fesseln. Nicht so gut ist Christus
selbst dem Künstler gelungen, das Gesicht ist leer, die
Bewegung der übrigens gut gearbeiteten Hände ist
steif. Wie der Heiland im Abendmahl des Lionardo da
Vinci unleugbar nicht ohne Einfluss auf die Christus¬
figur gewesen ist, sei es nun durch andere Anlehnungen
vermittelt oder unmittelbar, so hat Gudewerdt auch
dasselbe Motiv, das der große italienische Meister zuerst
brachte, seiner ganzen Komposition zu Grunde gelegt,
auch hier wird der Augenblick geschildert, in dem Christus
das von ihm gesprochene Wort: Einer von Euch wird
mich verraten! bestätigt. Auffallend ist die Figur von
Johannes, nicht weil er wörtlich genommen an der Brust
des Herrn ruht — das ist landesübliche Darstellung,
sie findet sich in Altären, in Truhen- und Schrankfül¬
lungen oft; — es
ist der von dem
traditionellen bart¬
losen Johannes¬
typus ganz abwei¬
chende, höchst in¬
dividuelle Ko])f mit
Schnurrbart und
Zwickelbart, eine
Barttracht, wie wir
sie auf Bildern von
Zeitgenossen Gude-
werdt’s so oft sehen.
Auch hier handelt
es sich offenbar um
ein Porträt, und
dieses Mal kommt
uns die Überliefe¬
rung zu Hilfe; sie
berichtet, in dem
namensverwandten
Lieblings jünger des
Herrn habe Hans
Gudewerdt sich sel¬
ber dai'gestellt.
Das Hauptfeld
wird durch je zwei
glattschaftige. Säu¬
len mit ornamentir-
ten und wappenge¬
schmückten unteren
Stücken und korin-
thisirenden Kapitel¬
len flankirt, vor sie
ist auf beiden Seiten
eine dritte gewundene, mit naturalistischen Astansätzen
versehene und reich mit ti'aubentragenden Weinge¬
winden verzierte Säule gestellt. Die drei Säulen sind
zu den Seiten des Hauptfeldes der Mittelpartie in
jedem Gudewerdt’schen Altar angebracht. — In den
jetzt in die Mitte zusammengeschobenen Füllungen
der Seitenfelder befindet sich rechts die Kreuzigung.
Der vorzüglich modellirte, nur mit von grobem Seil
gehaltenem Ijeudentuch bekleidete Körper des Heilandes
hängt tief an den Armen am Kreuz herab, das
edle dornengekrönte Haupt ist auf die Brust gesunken,
Das Abendmalil ; tirsiii'ünglicb in der Mittelpartie des Kappeier Altars.
HANS GUDEWERDT.
221
über ihm schwebt eiu Strahlenki-anz. Zwei Engel fliegen
anbetend luid tröstend herbei. Unter dem Kreuz steht
rechts mit gefalteten Händen zu ihrem sterbenden Sohn
aufblickend die edle Gestalt der Maria; es ist dieselbe
Figur, der wir in der Anbetungsscene begegnet sind.
Links unter dem Kreuz steht Johannes in etwas über¬
mäßig theatralischer Pose. Der lockenumrahmte, mit
Schnurrbart und Kinnbart versehene, ausdrucksvolle Kopf
erinnert sehr stark an den Johannes in der Abendmahls¬
scene; Unterschiede, die voi’lianden sind, lassen sich auf
die Bemalung zurückführen. Unter dem Kreuz mit über¬
einandergeschlagenen Armen, das liebliche andächtige
Gesichtchen nach oben gewandt, liegt Maria Magdalena
auf den Knieen, wieder eine besonders reizvolle Gestalt,
eine Magdalena, wie sie etwa Eubens malte. Die Stel¬
lung der Figur giebt Gudewerdt Gelegenheit, seine
Meisterschaft in Behandlung der Gewänder zu be¬
währen.
sendende Wolken umgeben ihn, über seinem lockigen
Haupte schwebt die Gloriole, seine linke Hand hält die
Siegesfahne, die rechte weist zum Himmel auf. Die Grab¬
wächter benehmen sich diesem überraschenden Ereignis
gegenüber sehr verschieden. Hier stellt Gudewerdt ein¬
mal wieder seiner Fähigkeit zu charakterisiren das beste
Zeugnis aus. Zwei Krieger sind aufgeregt in die Hohe
gefahren, der eine, speerbewaffnete, hat, geblendet von
der Erscheinung, seine Hand über die Augen gelegt, der
andere hält schützend sein Schild über sein Haupt, wäh¬
rend die Rechte nach der Wehre an seiner Seite fährt.
Ein dritter Krieger schläft ungestört. Arm und Haupt
auf die Steinplatte des Grabes stützend. Zwei Krieger
im Vordergründe sind im Schrecken über das unerwar¬
tete und wundersame Geschehnis auf den Rücken ge¬
fallen. Einer derselben, in Koller und federgeziertem
Helm, sucht sich bereits wieder zu erheben, doch der
andere liegt noch, mit den Beinen und einem Arm in
Anbetung der Hirten aus dem Kappeier Altar.
Im linken Seitenfelde ist die Auferstehung Christi
dargestellt. Auch hier zeigt sich eine von der Auffas¬
sung der Scene in der Renaissance gänzlich abweichende
Schilderung. Bei Dürer z. B. ist es betont, dass sich
das Wunder der Auferstehung in heiliger verschwiegener
Nacht begiebt; Dem versiegelten Grab ist der Heiland
entstiegen mit der Siegesfahne in der Hand, das Haupt
von überirdischem Glanz umstrahlt, schreitet er vorbei
an den schlafenden Grabwächtern. Nur einer von ihnen
ist erwacht und legt schlaftrunken den Arm über die
geblendeten Augen, ungewiss, ob er nicht träume. Die
Weihe des geheimnisvollen Wunders liegt über dem
Vorgang. Hans Brüggemann hat diese Komposition der
gleichen Scene seines berühmten Altares in Schleswig
zu Grunde gelegt. Hans Gudewerdt vermenschlicht auch
hier; mit derbem, lebendigem Realismus schildert er die
Auferstehung: Aus dem geschlossenen, mit großem Siegel
verwahrtem Grab ist Christus auferstanden, strahlenaus-
der Luft zappelnd, auf dem Rücken. Die Figur ist
meisterhaft mit derber Komik gestaltet, die unbeholfene
Stellung, das dumme Gesicht mit dem aufgerissenen
Mund giebt trefflich das Gefühl fassungslosen Schreckens
wieder. Den Eindruck des Tölpelhaften erhöht noch die
auffallende, einer Nachtmütze nicht ganz unähnliche
Kopfbedeckung. — Die drastische Scene entspricht ganz
volkstümlicher Auffassung. Schon früh hatte sich der
Humor des Volkes der mit allem militärischen Gepränge
ausziehenden und schließlich doch so schimpflich düpirten
Grabwächter bemächtigt. In den Osterspielen des Mittel¬
alters sind uns Scenen der Art überkommen. Als dann
in protestantischer Zeit die religiösen Si)iele aufgehört
hatten, bewahrte die Überlieferung doch die Auffassung
der Grabwächter als komischer Figuren.
Im reichen Ornamentbehang, der die Mittelpartie
nach außen abschließt, stehen zwei vortrefflii he Ai)ostel-
figuren mit Schwert und Kreuz. Über den Seitennischen
222
HANS GUDEWERDT.
befanden sich, wie ich veriimte, zwei jetzt auf dem Schall¬
deckel der Kanzel angebi’achte Statuen, die des Moses und
Johannes des Täufers, üudewerdt stellt mit Vorliebe in
ihnen den alten IJund mit seiner Gesetzesforderung und den
neuen mit seiner Gnadenverheißung einander gegenüber.
Konsolen über den ^Veinstocksäulen tragen ein paar
meisterhafte nackte Statuen, die in lebhafte lieziehung
zu einander gebrachten Adam- und Evatigureu. Gude-
werdt’s Eva ist weit von dem Schönheitsideal der Ee-
naissance entfernt, der Figur mit dem schlanken Glieder¬
bau, dem runden langen Hals und dem ovalen Gesicht,
wie sie Tilman Eiemenschneider 's Kunst schuf,') und
Adam aus dem Kajipeler Altai'.
wie sie in ausgeprägtester Form wohl die Venus in der
Muschel von Sandro Botticelli zeigt.-) Die Eva im Kap-
peler Altar hat volle, kräftige Formen, die — wie der
Oberarm — stellenweise fast männlich gebildet sind.
Die feste, energische Bildung der Formen verhütet, dass
die Figur üppig wirkt, und die gesunde Schönheit der
Körperlinien stellt sie weit über die allzuvollen, dabei
häufig derb und gewöhnlich gebildeten Figuren nackter
1) Am I’ortal der Marienkirche zu Würzburg. Alibild.;
Bode, Deutsche Elastik, 8. 1G9.
2) Original in der Galerie der Tlffizien. Abbild.: See¬
mann, Kunsthistorische Bilderbogen, 201. Springer, Eenais-
sance in Italien, u. a. m.
Frauen wie sie z. B. Eubens oft gemalt. — Brüggemann’s
Eva hat mit Gudewerdt’s Figur die kräftige Gestalt ge¬
meinsam, aber sie bleibt hinter der Kappeier Eva weit
zurück in der feinen Durchbildung des Körpers; man
vergleiche z. B. die vortreffliche Modellirung der Bauch¬
decke bei dieser mit den glatten, wenig dui'chgearbei-
teten Partieen bei jener, — ferner zeichnet sich Gude-
wei'dt’s Figur sehr vorteilhaft durch die freie Unge¬
zwungenheit ihrer Haltung aus. Sie hat nichts mehr
von der Geziertheit und Steifheit der Brüggemann-
schen Eva, wahres, warmes Leben kommt in voller Un¬
befangenheit in ihr zum Ausdiuck. Der Künstler hat
Eva aus dem Kappeler Altar.
in der Eva das lockende, verführende 'Weib mit der
größten Freiheit und in charakteristischer Weise dar¬
gestellt. Sie wirft Adam den Apfel zu, der Kopf mit
dem runden, vollen Gesichtchen ist kokett in den Nacken
gelegt. Haltung und Mienen sprechen deutlich den
Willen zu verführen und die Erwartung des Gelingens
aus. Die prachtvollen reichen Haarmassen sind geschickt
verteilt und lieben durch ihre naturalistische Behandlung
die Wirkung des fein modellirten Körpers. Die linke
Hand hat eine Flut von Haarwellen über den Ober¬
schenkel geworfen. Der Künstler ersetzt dadurch in
glücklichster Weise die manirirte anstößige Verdeckung
durch den Blättei’büschel. Freilich, die Haltung des
DIE MUSEEN ITALIENS UNI) IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
223
linken Annes mit der etwas zu groß geratenen Hand
ist keine besonders gelungene. Icli erwähnte vorhin die
Venus des Sandro Botticelli; ihre Körpert'ormen stehen
vielleicht in dem denkbar größten Gegensatz zu denen
der Eva von Gudewerdt, aber wie der Maler dort das
Haar verwandt, so hat es hier der Schnitzer gethan,
nur ist jener bezüglich der Arnihaltung glücklicher ge¬
wesen als dieser. — Das Individuellgestaltete, Porträt¬
artige, was wir an mehreren anderen Figuren des Al¬
tares feststellen konnten, verleugnet auch die Eva nicht.
Das runde, volle Gesicht mit dem aufgebogenen Naschen
zeigt ganz den Typus der Schleswig-Holsteinerinnen der
Ostküste. Der Hals verrät, dass Gudewerdt zweifellos
nach einem Modell gearbeitet hat, ebenso verleiht der
konsequent durchgeführte leise Anklang an männliche
Formen dem schönen Körper etwas ganz Persönliches.
Der Eva gegenüber am Altar steht die prachtvolle
Figur des Adam. Wir bewundern an ihm dieselbe Frei¬
heit in der Haltung, dieselbe ausdrucksvolle Bewegung
und dieselbe Meisterschaft in der Beherrschung der Kör¬
performen. Mit halber Drehung ist Adam der Eva zu¬
gewandt, beide Hände sind begehrend ausgestreckt, um
den Apfel aufzufangen. Lebendig und wahr ist auch
hier das Gefühl zum Ausdruck gekommen, d(jch liegt
etwas Gehaltenes, Männlich-Ernstes in dem vortrefflichen,
charaktervollen Kopf. Ungewöhnlich ist der Schnurrbart
und Kinnbart am Adam. Übrigens ist der Kopf verhält¬
nismäßig groß. Der magere, aber außerordentlich mus¬
kulöse Körper ist ausgezeichnet modellirt, etwas zu stark
betont ist wohl die Bauchmuskulatur, und der Knick der
Falten zwischen Bauch und Brust scheint mir zu scharf
zu sein. Meisterhaft sind dagegen wieder die Arme, na¬
mentlich die Unterarme und die sprechend lel)endigen
Hände behandelt. — Unbedingt gehören die Adam- und
Evastatuen Gudewerdt’s zu den besten Schöpfungen
deutscher Holzskulptur.
Das Obergeschoss enthält eine Darstellung der
Himmelfahrt Christi. Die Jünger des Herrn, in ihrer
Mitte Maria, knieen und blicken mit gefalteten Händen
dem entschwebenden Christus nach, von dem man nur
noch in krausem Gewölk die Beine sieht. Diese, un¬
serem Geschmack nicht ganz würdig erscheinende Dar¬
stellungsweise des gen Himmel fahrenden Heilands findet
sich auch sonst in Epitaph, Kanzel und Altar. Hechts
und links auf kleineren Sockeln mit der Jahreszahl
stehen zwei große schöne Engeltiguren mit trefflich be¬
handelter Gewandung, zwischen ihnen das Fehl mit der
Inschrift. Olten im Ornament sitzen kleine Putten mit
Kreuz und Anker, vermutlich hat auf der jetzt leeren
Konsole zwischen Adam und Eva ein dritter Putte mit
dem flammenden Herzen gesessen. —
Ich habe in kurzer, keineswegs Ornamenttormen,
Einzelliguren und Gruppen erschöpfender Weise nur
ein AVerk des Eckernförder Meisters vorgeführt, ich Idn
aber überzeugt, der Leser werde mir schon jetzt darin
zustimmen, dass Hans Gudewerdt verdient, allgemeiner
bekannt zu werden, und dass es der Mühe lohnt, mit
den AVerken dieses Künstlers weitere Kreise bekannt
zu machen. Hoffentlich wird es dann auch gelingen,
wie von dem Altar Hans Brüggemann’s, so von AATrken
Hans Gudewerdt’s Abgüsse für unsere Museen zu be¬
schaffen.
DIE MUSEEN ITALIENS
UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.')
VON G. FRIZZONI.
I.
ER würde es heutzutage leugnen wollen,
dass auch der kleinste von den Staaten
des europäischen Dreibundes, wenn schon
mit Mühe und nicht ohne herbe Kämpfe,
dennoch nach und nach auf ein höheres
Niveau der Kultur sich zu heben bemüht
ist? Liegt auch beim italienischen Volk und vielleicht
noch mehr in dessen leitenden Kreisen, wie man täglich
erfährt, noch gar manches im Argen, so fehlen doch auch
die gesunden Kräfte nicht, welche den bösen Mächten
entgegen steuern, und sind die leuchtenden Funken des
1) Le Gallerie Nazionali Italiane. Per cura del Minis-
tero della Publica Istruzione. Roma 1895 — 189(J. 2 vol. Fol.
heiligen Feuers für die Pflege des Guten und des Schönen
keineswegs erloschen.
Beschränken wir uns auf das Gebiet der Kunst, so
darf wohl behauptet werden, dass zu Gunsten derselben
seit dem Aufschwünge des Landes zu seiner politischen
Einheit schon vieles unternommen worden ist, um dessen
Angelegenheiten zu fördern und für die Aufstellung und
Erhaltung der Kunstwerke Sorge zu tragen.
Zweifelsohne ist dem jüngsten der drei Staaten
sein Bündnis mit den älteren auch in dieser Beziehung
zu statten gekommen, insofern ersterer mit der strengen
Civilisation der Nordstaaten näher in Berührung ge¬
kommen ist und von derselben gar vieles mit klarer
Einsicht und praktischen Anlagen zu verwerten gewusst
224
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
hat. Rrauclit mau ja nur dabei au einen weitumfasseu-
deu Geist zu denkeu, ■wie er einen Mann gleich Giov.
Morelli beseelte, einen Manu, der von einem seiner besten
Freunde treffend als der Gesinnung nach ein Italiener,
Als Verbindungsglied zwischen den zwei so ver¬
schiedenen Rassen hat denn dieser Mann in der Kunst¬
welt einen nachhaltigen Einlluss ausgeübt, dem sich
schließlich; auch seine Landsleute, wiewohl mit einer
in Betracht seiner Studien aber ein Deutscher bezeichnet
worden. ^ j
1) S. Giovanni Morelli, ein Lebensl)ild, p. XXXVl im
dritten Bande der kunsthistorisclien Studien von J. Lenuo-
lietf. Leipzig, F. A Brockhaiis, 1893.
gewissen Saumseligkeit, nicht zu entziehen vermochten,
indem der von ihm [gegebene Impuls auch in Italien
unter den jüngeren Kräften befruchtend wirkte.
So ist es heutzutage der Thätigkeit und dem
Kuusteifer Adolf o Venturx’s hauptsächlich zu verdanken,
l’i-edella von Kit. Uossa iin vatikanischen Mnsenin in Koni.
Zeitschrift für biltleinle Kunst. N. F. VIII. II. ‘.h
21)
226
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
(lass iu Italien seit einigen Jahren eine Reorganisation
der öffentlichen Sammlungen vorgenommen und darüber
unter seiner Leitung angemessene offizielle Berichte
herausgegeben werden. Anstatt aber in einzelnen Heften
zu erscheinen, wie dies in Deutschland zu geschehen
pflegt, ist in Rom die Maßregel getroffen worden, die
Veröffentlichungen, wie in Österreich, nur einmal jähr¬
lich iu der Form von stattliclien Quartbäuden heraus¬
zugeben, in welchen die die Museen betreffenden Neuig¬
keiten zusainmenfassend pro Jalir mitgeteilt werden.
Mag diese Norm gebilligt oder getadelt werden — (und
wir denken, dass sie schließlich ebenso ihre Vorzüge
wie ihre Nachteile hat), — sicher ist, dass die reich¬
haltigen und schön illnstrirten Prachtbände jedesmal
gar viel des Erbaulichen und Denkwürdigen enthalten.
Davon soll nun hier das Wesentlichste unseren Lesern
mitgeteilt werden.
II.
Zu den erfreulichsten Neuigkeiten ist gleich am
Anfang die Erwerbung der zwei kostbaren Tafelbilder
von Francesco Gossa durch die Breragalerie zu Mailand
zu nennen. Von diesen ist bereits in dieser Zeitschrift
(Rd. XXIII) die Rede gewesen, in meinem Artikel: Zur
Wiederherstellung eines altferraresisclien Altarwerkes,
als sie noch in Ferrara im Besitze der Frau Barbi Cinti
waren, sowie in dem Artikel von E. Jacobsen, und
es ist hier am Platz, einige Nachträge zu dem da¬
mals Angegebenen zu liefern. Die Vermutung näm¬
lich, dass diese zwei Gemälde, die Heiligen Johannes den
Täufer und Petrus darstellend, samt dem sti'engen Domi¬
nikaner-Heiligen der Londoner Nationalgalerie und dem
langen Predellenbilde in der vatikanischen Galerie in
früherer Zeit ein Altarbild in einer Kapelle zu San
Petronio in Bologna gebildet hätten, hat sich insofern
als unhaltbar erwiesen, als der Centrallieilige, der Mönch,
nicht einen Heiligen Vincenz Ferrer, dem die ange¬
deutete Kapelle gewidmet ist, personifizirt, da die Figur
mit keinem der unausbleiblichen Attribute dieses Heiligen
versehen erscheint, wohl aber einen andern asketischen
Nachfolger des Dominikus, als welchen sich der Heilige
Hyacinth herausstellt. Dies zu bestimmen sind wir da¬
durch in der Lage, dass die dramatischen Darstellungen,
welche sich auf dem vatikanischen Gemälde vorfinden,
und die sich nach gewölinlicher Sitte der altitalienischen
Maler auf die Hauptperson unter den oberhalb darge¬
stellten Heiligen beziehen, doch genauer mit den legenda¬
rischen Episoden aus dem Leben des letztgenannten
Heiligen stimmen, wie dies im Verzeichnis der päpst¬
lichen Galerie angenommen und vor einigen Jahren in
einem Artikel von Herrn Gustave Gruyer in der Zeit¬
schrift „Notes d’Art et dArcheologie (1890, Januar),
gegen meine ketzerische Deutung überzeugend ausein¬
andergesetzt worden ist. Dass aber dieses Predellen¬
bild mit den drei übrigen Gemälden ursprünglich im
engsten Zusammenhang gestanden haben muss, erhellt
nicht nur aus der augenfälligen Identität des Stiles
aller dieser Gemälde, sondern auch aus der ganz ent¬
sprechenden Tracht und der Übereinstimmung in dem
ganzen Habitus, in dem der Heilige im kleinen und im
größeren Maßstab dargestellt ist, abgesehen von den
Größeninaßeu, die man sich mit der gebührenden Er¬
gänzung des ursprünglichen Rahmens für das Altarblatt
zu denken hat. Da nun allerseits kein Zweifel über
die Zusammengehörigkeit dieser Stücke waltet, so sei
es uns gestattet, hier den Ausspruch zu thun, wie schön,
wie zeitgemäß aufgeklärt es wäre, wenn in mehr oder
weniger nahebevorstehender Zeit mittels einei- inter¬
nationalen Verständigung die Angelegenheit so weit ge¬
führt würde, dass die gesonderten Glieder des ursprüng¬
lichen Altarwerkes von neuem in einem Ganzen vereinigt
und derart der civilisirten Welt wiedergegeben werden
könnten. Mittlerweile verdanken wir der Gefälligkeit
sowie der künstlerischen Einsicht von Herrn Pi’of.
Ludovico Pogliaghi aus Mailand, unsern Ijesern hier eine
ideale Wiederherstellung des Tryptichon vorlegen zu
können, mittelst Einlegung der verschiedenen Teile in den
auf sinnige Weise von ihm ersonnenen und gezeichneten
Rahmen. — Was den Ort betrifft, an dem die Aufstel¬
lung von Anfang an stattgefunden haben dürfte, so wäre
darüber eine neue Vermutung aufzustellen. In Ferrara
existirt nämlich eine alte, wiewohl im vorigen Jahrhun¬
dert erneuerte, dem Heiligen Dominicus geweihte Kirche,
die wie in andern ähnlichen Fällen gleich einem Pantheon
der Nachfolger aus demselben Orden angelegt ist. Da
fehlt denn auch eine dem Heiligen Hyacinth gewidmete
Kapelle nicht, aus der vor wenigen Jahren eine bedeutende
Terrakottabüste desselben von Alfonso LomhanU in
den benachbarten Palast Strozzi übertragen worden ist.
Es liegt also nichts näher als die Annahme, dass das
Altarwei'k, vom dem hier die Rede ist, für diese Kapelle
ausgeführt worden sei, vor der Zeit, in der Fr. Gossa
(wohl ungefähr 1470) nach Bologna übersiedelte, indem
der herbe, primitive Stil, der sich in dem ganzen
Werke kund giebt, gewiss auf die Jugendjahre des ge¬
diegenen Meisters deutet und auf recht fühlbare, sicht¬
bare Weise von der breiteren, großartiger angelegten
Manier sich unterscheidet, die uns beim Anblick seines
allgemein gerühmten Leinwandbildes in der Pinakothek
entgegentritt.
Um schließlich auf die richtige Deutung des inter¬
essanten vatikanischen Predellenbildes, das gewisser¬
maßen ein malerischer Kommentar zur Geschichte des
Titular-Heiligen ist, zurückzukommen, so sei es uns ge¬
stattet, dieselbe mit den treffenden Worten im Aufsatze
von Herrn Gruyer, der von uns früher angenommenen,
entgegenzustellen. Es handelt sich um vier der
Reihe nach dargestellte Begebenheiten.') La premiere,
1) Die Schilderung derselben ist, laut brietlicher Mit¬
teilung von Herrn Gustave Gniyer, der Lebensbeschreibung
des Heiligen Hyacinth von Severin von Krakau entnommen.
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
227
heißt es, nous fait assister a la resurrection d’uii eiifant
iiiort Sans etre baptise, niiracle qui eut lieu a Cracovie
en 1231. Pendant que la niere de l’enfant, assise sous
le portique de la niaison, s’abandonne a son affliction, le
pere s’acheinine vers le teniple en portant l’enfant niort
dans une corheille, et nn peu plus loin on le voit
agenouille a rinterieur du teinple devant le tombeau de
Saint Hyacinthe, sur le quel son fils ressuscite sourit
a quelques spectateurs stupefaits. Une fenime vue de
dos, tenant un enfant par la niain, nionte les marches
du temple. L’enfant rappelle celui de la zone iiitenne-
diaire d’avril dans les fresques du palais de Scbifanoia.
— Dans la seconde coinposition c’est ä rextinctioii niira-
culeuse d’une incendie que nous assistons. Un jeune
bomiiie, probablement le fils du proprietaire de la iiiaison,
est a genoux sur une arcade ä denii consuiuee et voit
apparaitre dans les airs Saint Hyacintbe qui apaise les
flammes par une benediction. Au preinier plan, a droite,
un bonime agenouille puise de l’eau; un autre lance de
l’eau contre les murs einbrases; un troisieine se pencbe
vers un baquet d’eau, et un quatrienie tire, ä l’aide de
crocs adaptes a une corde, des poutres calcinees, tandis
qu’un ouvrier, vu de face, porte ses mains a sa tete
ensanglantee. A gaucbe, une fennne accourt en ouvrant
les bras et en regardaut le jeune bomme a genoux sur
l’arcade. Devant eile, un bomine blesse a la Jambe
s’est assis pour se panser. Aupres de lui trois bommes
debout (un vu de dos et deux vus de face) causent entre
eux. — La troisieme composition represente Saint Hya-
ciuthe au moment oü il guerit, en etendant la niain, une
feinnie qui est tombee a terre et dont un jeune bomme
soutient la tete renversee. Un grand nombre de person-
nages (bommes, femmes, eufants) assistent au miracle qui
a lieu devant un edifice a quatre rangees de colonnes.
— Dans la quatrieme composition, la fenime du boutillier
du roi de Pologne, assise sur son lit, invoque Saint
Hyacintlie et est aussitot delivree d’une cruelle maladie.
Au Premier plan, trois femmes (une debout et deux assises)
preparent des linges pour la malade. Celle de droite
fait songer a quelques unes des femmes qui figurent dans
la zoiie superieure d’avril au palais de Scbifanoia.
En debors de la cbambre on apergoit a gaucbe un
bomme debout, a droite deux autres bommes debout,
conversant et un cavalier vu par derriere, qui se dirige
vers une porte pratiquee dans un rocber aux decoupures
bizarres et iuvraisemblables.“
Alle diese Einzelbeiten kann man in dem reizemlen
Predellenbilde aufs Bestimmteste wabrnehmen, uud es
waltet daiin faktisch Ubei'all derselbe Geist, welcher den
besten Teil in der äußerst merkwürdigen malerischen
Dekoration des bekannten großen Saales im Palast der
Scbifanoia zu Ferrara beseelt. Die Brera aber bat
durch den Erwerl) der zwei zugehörigen Figuren einen
Zuwachs erhalten, um den sie angesichts der Seltenheit
solcher Stucke manche Galerie beneiden könnte.
Derselben Sammlung sind weiterhin zwei andere
Gemälde zirgeflossen, welche sich in kirchlichen Räumen
befunden hatten, nämlich ein toter Christus von zwei
Engeln beweint, von Alvise Vivarini, dem man wohl
mehr Zutrauen schenken mag als dem anderen segnen¬
den Christus ebendaselbst, welcher demselben zugeschrie¬
ben wird, und eine Lünette mit der Krönung Mariä von
dem bergamasker Schüler des Giov. Bellini Andrea Pre-
vitali. Diese Bilder gehören zu dei- beträchtlichen Zahl
derjenigen, die durch die gewaltsame AVillkür des ersten
Napoleon gar manchen Kirchen in Ober- und Mittel¬
italien entrissen wurden, um sie in der Hauptstadt Italiens
zu konzentriren, wo sie schließlich den gehörigen Raum
vermissten, um aufgestellt zu werden, und folglich in ver¬
schiedenen Kirchen der Umgegend leihweise deponirt
wurden.
In den uns vorliegenden Bänden hat der Sekretäi
der Breraakademie, Herr Carotti, einen fleißigen Bericht
erteilt über die vielen Gemälde genannter Kategorie,
die nocli in den Kirchen zu sehen sind, und von denen
die Direktion der Galerie eventuell noch manches Spe-
cinien zurückfordern könnte. Leider ist aber das meiste
heutzutage in so verwahrlostem Zustande, dass an eine
neue Aufstellung kaum noch zu denken ist. Anderer¬
seits ist dann auch nicht alles Gold, was da geschildert wird.
Unter anderen eine Maria mit dem Kinde, wegen der
auf dem Gürtel der Mutter angebrachten Bezeichnung
dem alten .lacopo Bellini zugemutet, wobei an das von
Morelli sinnig angeführte venetianische Sprichwort
„clii guarda cartek) no magna videlo“ erinnert werden
sollte, wodurch augedeutet wird, wie leicht man durch
bloßes Betrachten von verführerischen Inschriften irre
geführt werden kann.
III.
Viel des Neuen, und zwar recht Lobenswertes, ist
über Parma und Modena mitzuteilen. Die den genann¬
ten Städten gehörigen kgl. Galerieen sind nämlich von
Grund aus nach rationellen Normen neu geordnet worden.
In Parma hat sich bei diesem gewaltigen Unternehmen
mit der Energie eines echten Romagnolen und mit ge-
bülirender Einsicht der bereits im Gebiete der Litteratur
bekannte Prof. Corrado Ricci hervorgethan und seinen
Landsleuten gezeigt, wieviel durch eine feurige und
rastlose Thätigkeit in verhältnismäßig kurzer Zeit zu
Stande gebracht werden kann. Hat er nicht in weniger
als drei Jahren die Anordnung der aus mehr als tausend
Nummern bestehenden Sammlung durchzuführen, den
dazu gehörigen wissenschaftlichen Katalog (einen beträcht¬
lichen Band mit 14 Abbildungen versehen), endlich noch
ein erschöpfendes AVerk über Correggio, — das bereits
in englischer und in deutscher Übersetzung erschienen
ist — zu Stande zu bringen gewusst! AVas die Galerie
betrifft, welche die herrlichen Meisterwerke Correggio’s
enthält, — außer manch anderen wertvollen Kunst-
20*
228
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
Sfliützeii . — so wird jedermann bestätigen, der seit
mehreren Jahren dessen Thürscliwelle nielit mehr be¬
treten hatte, welch vorteilhafte Ändernngen darin vor-
genonimen worden sind. Erstens nicht mehr die frühere
Zusammenstellung der Bilder aufs Geratewohl, wobei
öfters der Eindruck des einen denjenigen des nahe da¬
nebenstehenden auf¬
zuheben pflegt, son¬
dern eine besonnene
Verteilung, nicht nur
nach Scliulen, son¬
dern aucli so weit wie
möglicli nach Zeiten
und nach Gegen¬
ständen, wie z. B.
besondere Porträt-
sammlungen.Schlach-
ten, Prospekte, Land¬
schaften, Wasserfar-
l)engemälde, Hand-
zeichnuugen, Stiche
etc.; dann aber eine
in allen Sälen durch¬
gehende ruhige,
aschengraue Wand¬
farbe, welche von
Ricci als die beste
angesehen wird für
das Alistechen der
Bilder. Dies was das
Allgemeine betriftt.
Im Einzelnen soll
hervorgehoben wer¬
den, was er alles
gethan, um die Be¬
urteilung und den
Genuss der Werke
der großen Haupt-
nieister der Schule
Correggio’s und Par-
niigianio’s zu begün¬
stigen. Durch die be¬
sondere Gruppirung
ihrer Bilder, durch
specielle Einrichtun¬
gen, um den von der
Pinakothek abhängi¬
gen berühmten Raum der Äbtissin von San Paolo, mit den
spielenden Putten~Allegri’s in einer grünen Laube, sicht¬
barer zu machen, endlich durch zweckmäßige Verträge mit
den kirchlichen Behörden, wodurch er erlangte, dass die
Malereien der Kuppeln von S. Giovanni und der Domkirche
mit elektrischer Beleuchtung jederzeit gesehen werden
können, während er für die Galerie die zwei alten, ur¬
sprünglichen, architektonischen Rahmen zu den Bildern der
Madonna della scodella von Correggio und zu denjenigen
der Conception von Gerolamo Mazzola mittels mäßiger
Entschädigung zu gewinnen wußte. Von dieser harmo¬
nischen Wiederherstellung des Einklanges zwischen dem
Enthaltenden und dem Enthaltenen giebt der erste Band
der Gallerie Nazionali Italiane ansdiauliche Rechenschaft
mittels trefflichen
von der Firma Danesi
in Rom ausgeführten
Photogravüren nach
lihotographischen
Vorlagen von Ander¬
son. Desgleichen fin¬
det man daselbst ein
großes Altarblatt ab¬
gebildet, welches als
das Hauptwerk des
Cristuforo Caselli
von Parma zu be¬
trachten ist, ein
Werk, in welchem
sich seine künstle¬
rische Erziehung in
V'euedig durch die
offenbaren Eindrücke
eines Giov. Bellini,
eines Alvise Vivarini
und eines Ciina da
Conegliano kund ga¬
lten und das vom Di-
i'ektur der Galerie
für dieselbe von einer
geistlichen Brüder¬
schaft erworben wor¬
den. Demselben hat
man ferner zu ver¬
danken, dass er den
eben genannten, den
trefflichsten der ita¬
lienischen Photogra¬
phen geleitet und
unterstüzt hat in der
Aufnahme all der
köstlichen Kunst¬
werke, die seit Jahr¬
hunderten die Frem¬
den in der hübschen
ehemaligen kleinen Residenzstadt anziehen. So wird uns
denn zum erstenmal der hohe Genuss gewährt, treue und
klare Abbildungen von den berühmten Fresken der Kirchen
und Klöster zu erlangen und eine Musterung der vielen
interessanten Bilder zu halten, welche die Galerie be¬
sitzt, worunter wir außer den weltbekannten Werken
Correggio’s und einiger seiner talentvollen Nachfolger
noch mehrere vorzügliche Gemälde anführen möchten.
Bildnis des Alexander Farnese von Antonis de Moor in der k, Galerie zu Parma.
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
229
IV.
als welche speciell zu nennen sind: vier herrliche Stücke
von Cima da Conegliano (zwei kirchlichen und andere
zwei mythologischen Gegenstandes), mehrere von Francesco
Francia, ein echtes Porträt des Erasmus von Kotter-
dam von Hans Holbein d. j. (im Anderson’schen Katalog
merkwürdigerweise als — „ritratto d'ignoto“ — ange¬
geben) ; weiterhin das Bildnis des jungen Alexander Far¬
nese von Antonis Moor (s. Abbild.) '), eine Heilung des
Blinden von dem merkwürdigen griechisch-italienisch¬
spanischen Maler Theotocopuli, eine geistvolle und breit
gemalte Darstellung
zweier heiliger Mön¬
che in einer höchst
wirkungsvollen
Landschaft von Gio.
Batt. Tiepolo , meh¬
rere malerische An¬
sichten von Bernardo
Belotto gen. Cana-
letto, u. a. m.
In Modena ist
in dem sog. Albergo
Arti alles neu auf¬
gestellt worden, nach¬
dem bekanntlich der
ganze Bestand der
Galerie aus dem her¬
zoglichen Schloss
welches dem großen
militärischen Insti¬
tut zugewiesen ist,
herausgenommen und
lange Zeit in provi¬
sorischen unziigäug-
lichen Räumen auf¬
bewahrt worden war.
Schon längst hatte
Venturi dieser seiner
vaterländischen
Sammlung eine be¬
sondere Aufmerk- Bildnis des Herzogs Franz I. von Diego
samkeit zugewandt,
wie das sein beträchtliches, seit 1883 erschienenes Werk
1) Man würde wohl kaum ahnen, dass der Dargestellte
eben dieselbe Person ist, die Gerolamo Mazzola wenig später
in einem seiner Bilder, welche sich jetzt in Neapel befinden,
in Verbindung mit der personifizirten Stadt Parma dargestellt
und die in dieser Zeitschrift in unserem Artikel ülier die
neuen photograiihischen Aufnahmen in Italien abgebildet
wurde. Das ganz vorzügliche Porträt von Ant. Moor ist be¬
zeichnet und datirt 1557, als der Dargestellte erst 12 .lahre
alt war und sich bei König Philipp IT. in Flandern befand.
(S. Katalog Ricci p. 20G.)
über die Estensische Galerie ') und hernach mehrere kleinere
Schriften bezeugen. Kein Wunder also, dass er seinem
langgehegten Bestreben gemäß, die Galerie endlich wieder
auf würdige Weise aufgestellt zu sehen, sich für dessen
Anordnung lebhaft interessirt und sich selbst eingreifend
an die bezügliclie Arbeit mit Beihilfe des Direktors Prof.
Giulio Cantalamessa beteiligte. Resultat davon ist, dass
nunmehr den Kunstfreunden, welche die Stadt Modena
besuchen, die Befriedigung gewährt wird, die ganze
Sammlung, welche außer den Gemälden auch andere
wertvolle Gegen¬
stände, wie Iland-
zeichnungen, Majo¬
liken , Bronzen und
andere plastische
Werke in einer Reihe
stattliclier, mit Ober¬
licht beleuchteter
Säle lietrachten zu
können. Dass die in¬
nere Einrichtung so
viel wie möglich den
neueren F orderungen
gemäß ausgeführt
worden, versteht sich
von selbst und er¬
laubt wohl den meis¬
ten, die Überzeugung
zu gewinnen, dass
die Modenesischeu
Sammlungen trotz
des erheblichen Ver¬
lustes, den sie im
vorigen Jahrhundert
durch den \hrkauf
der hundert ausge¬
wählten Bilder an
die Dresdener Galerie
erlitten haben, doch
noch mehr des Guten
und Sehenswerten,
als allgemein geahnt,
Velazquez in der k. Galerie zu Modena. besitzen, und zwar
sowohl an Werken
einheimischer als auch fremder Meister. Unter ersteren
eine Anzahl selten vorkommender Stücke, die auf den
Zusammenhang sowohl des iiolitischen als des künst¬
lerischen Lebens zwischen Modena und Ferrara bis
zu Ende des XVI. .lahrhunderts deuten. Unter diesen
soll besonders der seltsamen Verkündigung von Francesco
Bianclii gedacht werden, von dem noch mehreres in der
1) Adolfo Venturi: La K. Galleria Esteuse in Modena.
Modena Paolo Toschi e G. — Editori 1883. Ein 4“- Band von
nahezu 5U0 Seiten, reich illustrirt.
231)
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
Stadt vorkomiiit und der mit den älteren Ferraresen nahe
Verwandtschaft zu bekunden pflegt; ein fleißiger, wenn
auch etwas trockener Kleister, in den dekorativen und
architektonischen Teilen seiner Bilder ganz besonders
sorgfältig und fein, in dem aber niemand den ersten
Meister des Correggio raten würde, als welcher er von
einem alten lokalen Schriftsteller ausgegeben wird, was
auch der Zeit nach kaum oder doch nur für selir kurze
Zeit möglich sein konnte, da er 1510 gestorben sein
soll, als Correggio also nur 16 Jahre alt war.
Besseres haben doch scliließlich die ersten Ferraresen
geleistet. So hat denn Modena sowohl in einigen Kirchen
als auch in der Galerie einige ganz vorzügliclie Werke
der beiden Dosso aufzuweisen, die mit denjenigen wett¬
eifern können, welche die Räume der kgl. Galerie in
Dresden schmücken. Darunter sind zu zählen die Por¬
träts der Herzoge Herkules’ I. und Alphonso’s L, das¬
jenige eines laclienden Narren mit einem Lamme unter
dem Arm, das höchst poetische, fast in Giorgione’s phan¬
tastischer Art gedachte Altarblatt mit den lieiligen
Kriegern Georg und Michael, endlich aber eine Reilie
viereckiger Stücke (mehrei-e leider nur spätere Kopieen
oder Ergänzungsstücke), welche zur Verziejung eines
Frieses in einem Saale des Schlosses zu Ferrara ge¬
dient haben sollen , lauter geistreich aufgefasste Genre¬
bilder, dem lebensfrohen Gemüte des tüchtigen Kolo¬
risten Dosso vollends entsprechend. ')
Auch sein Zeitgenosse und Mitbürger Oarofalo ist
durch ein herrliches großes Werk vertreten, eine harmonisch
aufgebaute Komposition, deren Mittelpunkt eine hoch auf
einem Thron sitzende Madonna mit dem Kinde bildet,
von musizirenden Engeln umringt, während im unteren
Teil drei Heilige sich vorstellen, unter denen besonders
ein sitzender Pilger zu beachten ist in ekstatischer
Haltung, ein Urahne der Familie d’Este; ein um so
bemerkenswerteres Bild, als es noch voll einer, man
dürfte sagen raphaelischen Anmut sich darstellt, wie¬
wohl aus verhältnismäßig später Zeit, da es volle
13 Jahre nach dem Tode Raphael’s ausgeführt worden
ist, wie sich aus der mit der Nelke und dem Datum
1533 versehenen Bezeichnung ergiebt.
Eines der .Juwelen der ganzen Sammlung verdankt
aber die Modenesische Galerie dem Nachlasse seines
ausgezeichneten, auch durch seine zahlreichen archivalischen
Forschungen und Veröffentlichungen bekannten Lands¬
manns, Marchese Giuseppe Campori, von dem die durch
ihre Grazie auch bei der Abbildung in der offiziellen
Illustration ganz einnehmend dargestellte Maria mit dem
Kinde auf dem Schoß, von Correggio, herstammt.
Dieses Gemälde ist wohl zu denjenigen aus dem
Ende seiner früheren, der Übersiedelung nach Parma
1) Eine Abbildung davon nach einer Anderson’scheu
Photographie in der neu illustrirten, von der Firma Fratelli
Treves in Mailand kürzlicli herausgegebenen Ausgabe von
Morelli’s Buch: Deila Pittura Italiaua.
vorangehenden Zeit zu zählen. Obwohl es leider durch
eine zu ergreifende Restauration in manchen Teilen
sichtlich stark renovirt ist, wohnt doch dem Werke noch
ein unbeschreiblicher Zauber iune, der aus dem Zu-
sammentreften des duftigen, hellen Kolorits mit den har¬
monischen Linien und dem lieldichen Ausdruck ent¬
springt. Nichts kann interessanter sein, als der Vor¬
bereitung des großen Malers zu seiner reiferen Ent¬
wicklung in Gemälden wie diesem gewissermaßen
beizuwohnen. Ähnliches, siieciell im Typus der Jungfrau,
erblickt man in dem anderen, von Dr. Bode entdeckten,
Jugend werke Allegris, welches sich im Besitze des Fürsten
von Hohenzollei’ii-Sigmaringen befindet.
Ein anderes aus derselben Sammlung stammendes
Bild, welches eine Erwähnung verdient, ist das beglaubigte
Stück von BartoJommco Motitagna, das zwar dem Anfänge
des XVI. Jahrhunderts angehört, aber noch in der
ernsten, herben Auffassung des XV. gehalten ist. Weniger
befriedigend hingegen, sowohl wegen des etwas zwei¬
deutigen Ausdruckes als wegen der Modell irung, erscheint
uns der dem sonst so gediegenen Andrea Solari zuge¬
schriebene kreuztragende Christus, gleichfalls aus der
Sammlung Cami)ori.
Zwei interessante und anziehende Bilder rühren
von Malern aus der Umgegend von Cremona her, in
denen sich eine Mischung von lombardischen und von
venetianischen Zügen zu äußern pflegen. Mit der näheren
Bestimmung derselben scheint aber in der Galerie eine
Verwechslung geschehen zu sein.
Dem Cremoneser Boccaccio Boccaccino wird nämlich
ein Halbfigurenbild der Maria mit dem Söhnlein und
einen an eine Säule gebundenen Sebastian zugesprochen,
das sich durch die merkwürdigen kugelrunden Köpfe
und die eigenen abgerundeten Falten in den Gewändern
als ein Werk de.sjenigen Meisters kundgiebt, welcher (da
sein Name noch nicht bekannt ist, wiewohl eine be¬
trächtliche Zahl Arbeiten von ihm bereits zu erwähnen
wäre) von Dr. W. Bode passend als ein Pseudo-Baccaccino
bezeichnet worden. Hingegen wird einem schwachen
Schüler des echten und zarten Boccaccino ein kaum
etwas größeres Tafelgemälde zugeschrieben, in welchem
zwei knieende Hirten vor der göttlichen Mutter und
Kind dargestellt sind. Vergleicht man nun dieses Bild
mit der beglaubigten, in der Akademie zu Venedig sich
befindlichen sog. Santa Conversazione von Boccaccino,
so dürfte es doch nicht schwer fallen, sich davon zu
überzeugen, dass in den beiden gar manche Züge der¬
maßen übereinstimmen, dass das feine Modenesische Ge¬
mälde nicht seinem schwachen Nachfolger Tomaso Aleni,
wohl aber dem Meister selber, B., vindizirt werden sollte. ')
1) Ein Vergleich durch die trefl'licheii Photographieen
Anderson’s von den genannten und andern hauptsächlich in
Venedig sich befindenden Stücken dürfte wohl jeden wohl¬
aufgelegten Kunstbeflissenen von der Richtigkeit des Gesagten
überzeugen.
DIE MÜSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
231
Erwälinenswert in Bezug auf die estensisclie Galerie
sind ferner melirere Meister aus der venetianischen
Schule, wie Cima da Comgliano, Bonifazio, der seltene
Brrnardo Parenzano, Qio. Fr. Carotto, Olrolanio Moceio,
Paolo Caliari, Tintoreito.
Von den Auswärtigen möge nur einer für alle her-
vorgeliohen werden, nämlich der Porträtmaler par ex-
cellence Velazquez. Von den zwei Bildnissen, die ihm
in der Pinakothek zugeschriehen wurden, wollen wir
uns nicht hei demjenigen aufhalten das als sein Selhst-
porträt ausgegehen wurde, das aber bereits bei der
neuen Aufstellung in Quarantäne gestellt woi'den, sondern
die Aufmerksamkeit unserer Fi'eunde auf das Porträt des
Herzogs von Modena, Franz L, lenken, ein Meisterstück,
um das jede Galerie ersten Ranges Modena beneiden
dürfte. Bemerkenswei't ist die Geschichte seiner Ent¬
stehung, über die uns Prof. Carl Justi in seinem unüber¬
troffenen Werke über Velazquez (II, G2 ff.) das Nähere
zu berichten weiß. Es ergieht sich hieraus, dass der
achtundzwanzigjährige Herzog, der sich bereits zu Gunsten
der spanischen Interessen in Italien verwendet hatte,
auf Veranlassung des mächtigen Olivares im .Jahre 16.38
eine Reise nach Madrid unternahm, um daselbst dem
Könige Philipp IV. zu huldigen. Am 23. September
kam er in der spanischen Hauptstadt an, wo er vom
König gütig empfangen wurde. Der Eindruck scheint
auch im allgemeinen ein recht günstiger gewesen zu
sein. Man sagte, „das ist ein Spanier“, weil er so
schwarze Haare hatte (moreno). „Er ist wirklich von
schönem Äußeren“, schrieb der toskanische Minister,
„großgewachsen, joviale Mienen, freundlich, lebhaft,
frank.“ Dieser Reise und andren Umständen, in Folge
deren das Porträt lange Zeit unbekannt gehliehen, ist
es zu verdanken, dass es noch heutzutage die kgl. Galerie
zu Modena ziert. Wäre es daselbst im vorigen Jahr¬
hundert aufgestellt gewesen, so würde es gewiss unter den
Bildern sich befinden, die sich König August III. von
Sachsen im .Jahre 174.5 auserwählte, wie er sich auch
die drei anderen Bildnisse von Velazquez, die sich jetzt
in der Galerie zu Dresden befinden, aus der Sammlung
des elenden Franz III. in Modena erkoren hatte. Wie
wir aus der Geschichte der Galerie von Modena durch
Venturi erfahren, wurde das Bild erst im Jahre 1843
wieder von der herzoglichen Verwaltung erworben und
unter die übrigen aufgenommen. Es ist ohne Zweifel
dasjenige, welches der spanische Geschichtsschreiber
Cean Bermudez mit folgenden Worten erwähnt; „Pintö
Velazquez otros muchos retratos entre les que se dis-
tinguiö el del duque de Modena, que se h.allaba en Ma¬
drid el ano de 1638, quien le gratificiö con una ricca
cadena que D. Diego se ponia las dias de gala.“ Es ist
in breiter, fast skizzenhafter Weise, höchst wirkungsvoll
ausgeführt. Den leJtendigen Blick auf den Betrachter
gerichtet, trägt der Dargestellte über der Rüstung eine
rote Schärpe. „So vollkommen hat er sich dem Ge¬
schmack der Nation, bei der er Gast wai’, anhequemt,“
meint Justi, „dass man sein Bild ohne die Daten für einen
Spanier erklären würde. So aber verkündigt diese stolze,
etwas trotzige Miene, das reiche, lockere, hoch frisirte
schwarze Haar, das über die rechte Seite der Stirn
wellenförmig herabgleitet, der noch dünne, aufwärts ge¬
richtete Schnurrbart, die Golilla, das goldene Vließ, den
geschmeidigen, zum Schauspieler geborenen Italiener. Die
Nasensjiitze tritt keck hervor, das Kinn weicht hinter
die breite Unterlippe zurück. Der Kopf hat etwas Jiigend-
lich-Unhefangenes; der Eindruck ist für damalige Vor¬
stellungen nicht sehr hofmäßig, eine geniale Nachlässig¬
keit ist darin, eine absichtliche Einfachlieit — sehr ab¬
weichend von den späteren, im französisclien Geschmack
gemalten Bildnissen, wo er kälter, blässer, feiner aus¬
sieht. Das Gesiclit ist fast schattenlos gemalt, aber
jetzt durch Firnis stark verdüstert. Dieses Denkmal
seiner spanischen Verwandlung mag später mit scheelen
Augen angesehen worden sein; daher das Verschwinden
des Bildes aus dem Palast.“
Ein anderes denkwürdiges Porträt von Franz I.,
das sich noch in der Galerie von Modena befindet, ist
die ülier Naturgröße gehaltene marmorne, von Jjorenzo
Bernini im Jahi’e 1650 ausgeführte Büste. Der talent¬
volle Bildhauer arbeitete fast ein Jahr lang daran, „con
affetto e diligenza incomparahile“ (mit unvergleichlicher
Liehe und Sorgfalt) wie es heißt. Auch wurde er vom
Herzog reichlich dafür belohnt (mit tausend Doiihlonen),
da er wohl wusste, wie der Künstler am päpstlichen
Hofe mit allerlei Wohlthaten und Ehrenbezeugungen
überschüttet wurde.') Die Büste ist in der That ein
ganz ausgezeiclinetes 'Werk in ihren lu'eiten, frei ge¬
schwungenen Linien und der edlen Haltung des vor¬
nehmen Mannes.
Unter den plastischen Kunstw'erken, von denen gar
manches genannt zu werden verdiente, wollen wir
wenigstens noch die vier herrlichen, mit Figuren und Or¬
namenten reich verzierten Bronzevasen von dem be¬
kannten Paduaner Andrea Briosco, il Riccio gemannt,
dem Autor des prachtvollen IvandelaJ»ers in S. Antonio
zu Ikidua erwähnen, von denen die JJchtdrucke im ersten
Band der Galleria Nazionali Italiane einen guten Be¬
griff geben. (Schluss folgt.)
1) S. Veil turi’s Werk (S. 112), wo die IJüste als Titelblatt
abgebildet ist.
BÜCHERSCHAU.
Emile Molinier. Catalogue des ivoires. (Mus^e national
du Louvre Departement des objets d’art du moyeu-Age
de la Renaissance et des temps modernes. Paris, 1896.
Der neueste Band der LouvrePataloge behandelt die
Klfenbeine, und sicher konnte es keinem Kundigeren anver¬
traut werden als Molinier. Der Louvre ist gerade au IHfen-
beinen sehr reich und die Benutzung derselben ließ oft
schmerzlich einen neuen zuverlässigen Katalog vermissen. Die
244 Nummern umfassende Sammlung nimmt einen Raum von
3G6 Oktavseiten ein, schon äunerlich ein Beweis für die Ge¬
nauigkeit ihrer Beschreibung. Au der Spitze steht das
Fragment eines Evangeliardeckels, die Gefangennahme Christi,
den sitzenden Petrus und Petri Verläuguung darstellend. Er¬
worben wurde das Stück 1895. Woher, ist leider nicht ange¬
geben. Stilistisch hängt es mit dem Mailänder Deckel (West¬
wood Nr. 95, 96) zusammen. Das Diptychon Nr. 2 (auch hier
abgebildet) ist jetzt vereint; das Museum zu Puy hat die eine
Hälfte desselben im Jahre 1894 an den Louvre abgegeben.
Das 1893 erworbene Relief, den sitzenden lehrenden Apostel
Paulus darstellend (abgeb. S. 8) ist als fragliche italienische
Arbeit des 0. oder 7. Jahrh. bezeichnet. Ich setze dasselbe
in die Nähe der bekannten Trierer Reliquientafel (zuletzt
abgell, bei Kraus, Christi. Kuustgeschichte 1. 1896. S. 501),
die byzantinischer Provenienz ist. Fernerhin seien erörtert
die Abbildungen der Tafeln mit der Abner-Joabepisode, mit
dem Urteil des Salomo (deutsch 9/10. Jahrh.), mit den David¬
darstellungen (deutsch 9/10. Jahrh.), des bereits von Labartei
Atlas pl. X 2. Ausgabe 1. p. 42 pl. VI 11 aligeb. deutschen
Kästchens aus dem 10. Jahrh., des bekannten Triptyque Har-
baville u. a. m. Sehr interessant und charakteiistisch ist eine
Geburt Christi, eine vortreif liehe französische Arbeit des
13. Jahrh. (Nr. 38, abgeb. S. 99). Die letzte Nr., 244, ist
eine hochinteressante Freigruppe, eine Kreuzabnahme; Joseph
von Arimathia trägt den Erlöser, dessen linke Hand die
Madonna ergreift. Außerdem ist eine fragmentirte Ecclesia
vorhanden; offenbar gehörte noch ein Johannes und die Figur
der Synagoge dazu. Das zum Teil im Lichtdruck abgebildete
prächtige Stück ist erst im Jahre 1896 erworben wmrden.
Woher? Der Katalog ist vortrefflich gearbeitet, doch es ist
dennoch einiges Tadelswertes an ihm. Erstens vermisst man
die Nummern von Westwood, zweitens die Register, wie sie
gerade bei diesem Werke so überaus wertvoll sind. Eine
zweite Auflage darf diese Fehler nicht un verbessert lassen.
Der Louvrekatalog tritt jetzt ebenbürtig an die Seite der
Londoner, Berliner mid Petersburger Kollegen, die wir West¬
wood, Maskel, Bode-Tschudi und Kondakoff verdanken. Ge¬
rade für das Studium der Elfenbeine sind solche Kataloge
wertvoll und dankenswert. Wenn dann noch das vor einigen
Jahren von Clemen wieder so energisch gewünschte Korpus
altchristlicher und frühmittelalterlicher Elfenbeine Wahrheit
wird, liegt der Forschung das Material bequem vor.
Dr. ED. BRAUN.
* Baedeker' s „Spanien und Po)iiir/al“', der eben er¬
schienene neueste Band der roten Führer durch die Welt,
bildet ein wirkliches Pireignis auf dem Büchermarkt, wenigstens
auf dem der Reiselitteratur. Alle praktischen guten Rat¬
schläge, die tler bewährte Mentor den Seinigen mit auf den
Weg giebt, kommen nun auch denjenigen zu Gute, welche
eine flour durch die Städte der iberischeu Halbinsel wagen
wollen, um die Natur, das Volk und namentlich die Kunst
des eigentlichen Landes an Ort utul Stelle kennen zu lernen.
Für die Denkmälerwelt Spaniens hat Baedeker wiederum
einen besoiideren Cicerone gewonnen und zwar keinen ge-
ringei'en als Geheimrat C. Jii><fi in Bonn, den geistvollen
Biographen des Velasquez und Murillo. ln einem einleiten¬
den Kapitel ,,Zur spanischen Kunstgeschichte“ giebt der be¬
rühmte Gelehrte eine scharfe Charakteristik des künstlerischen
Geistes der Spanier, den er mehr zur Aneignung als zur
Selbstschöplung berufen erkennt, und nimmt dann die ver¬
schiedenen Kunstepochen von der Römerzeit bis zur Gegen¬
wart durch, in jeder die hervorragenden Denkmäler und
Meister mit wenigen Strichen kennzeichnend. Kein Kunst¬
gelehrter oder Kunstfreund, auch wenn er nicht in die Lage
kommt, das Land zu besuchen, wird das Baedeker’sche Reise¬
buch fortan entbehren können, weil es besser als irgend ein
anderes Werk orieutirenden Stils geeignet ist, ihm ein deut¬
liches Bild von der Stellung Spaniens in der Kuustgeschichte
zu gewähren.
Die Gemälde der Prado- Galerie in Madrid werden gegen¬
wärtig von den Photographen eifrig umworben. Die Firma
Braun & Co. in Dörnach publizirt nach den hervorragend¬
sten Gemälden ihre rühmlich bekannten Kohledrucke; die
Photographische Gcscllsehaft in Berlin beginnt eine große
Verötlentlichung in 110 Heliogravüren (zehn Lieferungen zu
je elf Blatt) und die Libreria nacional y extranjera in Madrid
giebt eine Folge von über hundert photographischen Auf¬
nahmen in kleinem Format heraus, die von Hauser und
Menet in Madrid hergestellt sind. Über die Braun’schen
Leistungen bedarf es keines Wortes mehr; man erhält, was
mau erwartet, nämlich Vorzügliches. Die großen Helio¬
gravüren der Photographischen Gesellschaft erscheinen im
l'ormat von 50 zu 68 cm, die Bildgröße ist circa 38 bis
50 cm. Das uns vorliegende Probeblatt der Übergabe von
Breda hat eine Bildgröße von 47 zu 39 cm und erweist sich
als eine technisch völlig tadellose Leistung. Allerdings ist
der Preis nicht gering ; man erhält nur ganze Lieferungen
zum Preise von 125 Mark, was die Anschaffung erschwert.
Die Photographieen der spanischen Firma haben einen viel
poiiuläreren Preis, 1 Fr. 50 Cent, das Stück, in der Größe
von 20 zu 27 cm. Sie sind weit besser als die alten Laurent-
scheu Aufnahmen, aber freilich nicht gleichmäßig gut, und
stehen natürlich gegen die größeren Aufnahmen beträchtlich
zurück, halten auch den Vergleich mit den neuen Emis¬
sionen von Brogi, Alinari und Anderson nicht aus. Es fehlt
an Kontrasten und in den tiefen Schatten an Zeichnung.
Immerhin sind aber auch unter diesen Aufnahmen eine be¬
trächtliche Zahl, die mau unbedingt empfehlen kann, und
da jedes Blatt einzeln käuflich ist, so kann sich der Kunst¬
freund eine etwa schmerzlich empfundene Lücke seiner
Sammlung wenigstens zum Teil ergänzen.
Herausgeber: Carl von Liitxow in Wien. — E'ür die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Carl von LiU.zow t. Nach einer Photograiibie.
CARL VON LÜTZOW.
GESTORBEN DEN 22. APRIL 1897.
IN Freund giebt hier ein Bild des Freundes,
mit dem er seit Knabenzeit auf Schule
und Universitäten zusammen war und
mit dem er auch liernacli durch steten
Briefwechsel und Austausch von Arbeiten,
durch gemeinschaftliche Reisen und Be¬
suche in ununterbrochenem Verkehr blieb.
Die Persönlichkeit des seltenen Mannes und eigen¬
tümlichen Geistes gilt es zu zeichnen; den Lesern dieser
Zeitschrift liegt in dieser selbst sein hauptsächlichstes
Wirken und sein unvergängliches Verdienst um die
Förderung aller künstlerischen Interessen in Deutschland
vor Augen.
Carl von Lützow wurde am 25. Dezemlier 1832
geboren als Sohn des Großherzoglich Mecklenburgischen
Kammerherrn und Schlosshauptinanns von Lützow und
dessen Gemahlin, der Tochter des berühmten Anatomen
Prof. Loder in Jena, des Freundes und anatomischen
Lehrers von Göthe. Lützow’s Mutter befand sich da¬
mals auf Besuch bei ihrem Großvater, dem Professor
der Augenheilkunde Ritter in Göttingen. Daher der
Zufall der Geburt in dieser Musenstadt. Sonst ist Lützow
ein Schweriner Kind.
Nicht bloß von mütterlicher Seite her stammte der
Gelelirtengeist, der den Spross des alten weitverzweigten
Adelsgeschlechtes beseelte; schon sein Vater war eine
Ausnahme in seiner adeligen Genossenschaft durch
litterarische und wissenschaftliche Neigungen und Ar¬
beiten, und auch sonst, wie lleirat, Erziehung dieses
Sohnes und anderes zeigten. Eine dreibändige prag¬
matische Geschiclite Mecklenburgs erhält sein Andenken
als Historiker.
Die Mutter hat Lützow früh verloren. In statt¬
lichem Hause, das sich sein Vater erbaute. Avuchs
er auf unter Eindrücken, wie nach Wissenschaft und
Kunstsinn kaum ein anderes Haus in Schwerin sie
bot. Der Verfasser dieses Nachrufes erinnert sich noch
seines freudigen Schreckens, als ihm der befreundete
Knabe die Bibliothek des Vaters zeigte mit all diesen
Werken der Litteratur, und er die Übersetzungen von
Bojardo’s und Ariosto’s Roland mitnehmen durfte, sieh
in ihre Wunderwelt der Abenteuer zu versenken.
In Schwerin wurden die Knaben damals gewöhnlich
in Privatschulen für das Gymnasium vorbereitet. IJitzow’s
Vater sandte seinen Sohn Carl ausnahmsweise in die
dem väterlichen Hause gegenüberliegende Bürgerschule,
die von Knaben mittlerer und auch ärmerer Familien
besucht war. Der Lateinunterricht kam dann besonders
hinzu.
Von Kind an war Carl von Lützow’s Charakter
merkwürdig klar ausgeprägt und ist sich außerordent¬
lich gleich geblieben. Der schöne, kluge, heitere Knabe,
der einzige Adlige unter allen Genossen wusste ebenso¬
wohl seine Würde zu wahren, wie sich allgemein beliebt
zu machen. Er war immer frisch und fröhlich, klar
und sicher’, musterhaft in Fleiß und Betragen, nie Spiel¬
verderber, nie in Streit, vornehm in Sitte und Benehmen
:i(i
Zeitsclii’il't für bildende Kunst. N. VIII. II. lo.
234
CARL VON LÜTZOW.
und (las Gemeinere von sich abweisend, aber auch nie
liochmiitig verletzend und dummstolz, sondern guter
Kamerad, und dabei stets Primus seines Jalirgangs.
Ostern 1843 trat er in das damals von dem be¬
kannten Philologen C. Fr. Wex geleitete Schweriner
Gymnasium über.
Oer Knabe und Jüngling entfaltete hier in stetem
Fortschritt alle seine trefflichen Anlagen und Eigen¬
schaften. Eine apollinische Natur — das möchte ihn
wohl am besten charakterisiren. Nach Geist und Köriier
gleiclimäßig bevorzugt, war alles in ihm maßvoll har¬
monisch. Klar von Verstand und für alles, was die
Schule in Sprachen und Mathematik u. s. w. verlangte,
hoclibegal)t, mit ausgezeichnetem Gedächtnis und wie
von selbst fließender Oarstellungsgabe, heiter von Ge¬
müt, durchaus nicht sentimental, wenn er aucli für alles
Scliöne und Große schwärmte, sicher in Cliarakter und
Wesen, dabei musisch veranlagt, gymnastisch tüclitig,
erwarb er sich in seltener Weise die Liebe und Aclitung
seiner Lehrer und Mitschüler. Au seinem Fleiße bei
seiner Fröhlichkeit und Regsamkeit in jeder I Jeziehung
konnte jeder sich ein Muster nehmen. Dass er ein ge¬
lehrter Professor werde, stand von vornherein für alle
seine Genossen fest. Aber nicht Mediziner, wie Gro߬
vater und Urgroßvater mütterlicher Seite, auch nicht
.Jurist, um docli vielleicht lioher Staatsbeamter in seiner
Heimat zu werden — auf Philologie und Archäologie
ging von vornherein seine Neigung. Man mag sich die
Freude der pliilologischen Jjehrer am Gymnasium über
diesen herrlichen Zögling denken.
Sein Abgangszeugnis vom Gymnasium (Sept. 1851)
giebt davon Kunde: Er hat in allen Sprachen und in
der Mathematik die besten Noten. Seine natürlichen
Anlagen, sein reger Sinn für Wissenscliaft, sein Fleiß,
seine sehr erfreuliclie Scliulbildung werden hervorge¬
hoben. Sein musterhaftes Betragen und eine wackere
Gesinnung habe ihn bei liehrern und Schülern in holiem
Grade beliebt gemacht. Die Prüfungskommission ent¬
lässt ihn „mit den schönsten Hoffnungen und iliren besten
Segenswünschen“.
Da war niemand unter Lehrern und Mitschülern,
der nicht erwartet hätte, ihn nach wenigen Jahren unter
die ersten Universitätsgrößen aufrücken zu sehen.
Der junge Student ging nach Göttingen und trat
hier in die, unter den Einwirkungen des Jahres 1848 ent¬
standene, dem sogenannten Progress huldigende Burschen¬
schaft Hannovera. Ältere Schweriner Gymnasiums¬
genossen sorgten, wie es zu gehen pflegt, für Nachschub
und Fuchsfang. Carl vonLützow war sogleich mit voller
Seele dabei, auch für die neuen burschenschaftlichen
Prinzipien des Progresses. Es gab keinen fröhlicheren
und dabei keinen fleißigeren Studenten.
Wacker auf dem Fechtboden, auf der Kneipe ein
Trinker, der allen gerecht wurde, aber sich niemals um
Sinn und Verstand trank, sondern stets im Geist seines
späteren Freundes Bodenstedt zechte —
Trinken wir, sind wir begeistert . . .
unerschöpflich an AVitz und Einfällen und Schiiäcken,
über die er dann selbst glutrot werdend lachte, war er
nach den schwersten Kneipnächten morgens unfehlbar
im Kolleg. Ihn, dem vom Glücke begünstigten, verließ
der angeborene eiserne Fleiß und die Klugheit nie,
während andere, die den Fleiß so dringend nötig gehabt
hätten, akademisch verbummelten.
C. Fr. Hermann, den er begeistert verehrte, Sclmeide-
win und Fr. Wieseler waren seine Hau])tprofessoren.
Selbst Gut-Freund mit allen Genossen, aber für
seine intimeren Angelegenheiten liis zur Verschlossenheit
verschwiegen, haben ihm die verschiedensten Charaktere
schwärmerische Freundschaft entgegengetragen. Seine
eigene leicht erregte Schwärmerei für Personen und
Ideen machte ihn so besonders liebenswürdig und beliebt,
aber Sentimentalität und Gefühlsüberschwang jeder Art
war bei ihm ausgeschlossen, wie das Gleichmaß seiner
Anlagen dem Außergewöhnlichen nach der einen oder
anderen Seite wehrte.
Seine Klugheit und Fähigkeit zu lenken und zu
leiten, bethätigte er schon hervorragend als Chargirter
in seiner Verbindung. Dass er, dei- vielfach Verzogene,
dabei nach Gelegenheit und Bedürfnis den Olympier
hervorkehrte und hier wie auch später den Selbst¬
herrscher zu spielen verstand, war nicht zu verwundern.
Im Frühling 1854 ging er nach München. Das
studentische Verbindungsleben hörte hier auf; dafür
genoss er Geselligkeit aller Art. An engeren Freundes¬
kreis von jungen Gelehrten und Musikern reihten sich
weitere. An F. v. Thiersch empfohlen, fand er im
Hause des berühmten Philhellenen, dem Sammeli)latz
aller BeiJilimtheiten in München, die freundlichste Auf¬
nahme; ebenso im gastfi'eien Liebig’schen Hause und
selbstverständlich bei seinen großen gesellschaftlichen
Vorzügen auch in anderen Kreisen geistiger oder geld¬
licher Elite.
Von besonderem Werte wurde für ihn eine Em¬
pfehlung Karl Ludwig Aegidi’s — damals als hinreißen¬
der Redner berühmter Docent in Göttingen und Ehren¬
mitglied der Burschenschaft Hannovera — an Friedrich
Bodenstedt. Das war jener Zeit ein Sonnenschein des
Glücks im Hause des von König Maximilian von Bayern
mit Geibel, Riehl, Carriere und Paul Heyse nach München
berufenen Dichters und seiner Edlitam! Und mit ge¬
ringen Mitteln machten der Mirza, wie Bodenstedt
nach seinem Mirza-Schaffy hieß, nnd seine mit Silberstimme
so lieblich singende Edlitam es möglich, ihr Haus
zum Mittelpunkt aller Berühmtheiten und fürstlicher
Dichterinnen zu machen, die nach München kamen, und
ihre Gastfreundlichkeit selbst auf Studenten auszudehnen,
die bei dem gefeierten Dichter-Professor hörten.
Bodenstedt hat, nebenbei bemerkt, nie studirt, wie
CARL VON LÜTZOW.
235
selbst sonst treffliclie ausfiilirlichere BiogTapliieen von
ilnn berichten. Nur durch Selbstbildung schwang er
sich vom Krämer-Ladentisch in Peine auf zum sprach¬
kundigen Lehrer, der als solcher in Russland, dann auch
als Reisender, Schriftsteller und Dicliter sich Ruhm er¬
warb und dessen Mirza -Schaffy in der Reaktionszeit
nach 1848 eine Erfrischung und Freude sondergleichen
für die Geister wurde. In seiner ersten Vorlesung im
November 1854 kam er, unkundig des akademischen
Tempus und ohne für Beleuchtung gesorgt zu haben, Punkt
4 Uhr ins Kolleg und begann zu lesen, während die
verwunderten Studenten allmählich eintraten. Um '/^5 Uhr
konnte er auf dem Katheder schon nicht mehr sehen
und trat ans Fenster; um 72 ^ Uhr war er mit seinem
Manuskripte fertig, wie er selbst ganz erstaunt uns Er¬
staunten erklärte.
Aber wie aiich der schöne, geistvolle, heitere Student
von Lützow in Glück und Gesellschaft schwamm, er be¬
hände in eisernem Fleiße als Philologe und Archäologe.
Thiersch, Spengel, Halm, Prantl hörte er zumeist. Am
5. August 1856 machte er summa cum laude seinen
Doktor. Seine Dissertation handelte de vasis fictilibus
antiquis more archaico pictis.
Im Jahre 1857 ging er nach Berlin, die dortigen
Antiken- Sammlungen zu studiren. Hier in Berlin be¬
gannen die ersten Einwirkungen, die ihn dann später
von seinen anfänglichen Zielen ablenkten. Er lernte
Kugler und AVilhelm Lübke kennen, der damals Pro¬
fessor der Baugeschichte au der Bauakademie in Berlin
wurde. Die beiden so außerordentlich begabten, in
mancher Beziehung so ähnlichen, von Geist und Witz
sprühenden, von rastlosem Fleiß förmlich geplagten, dem
Positiven zugewandten und der philosophischen Spekulation
durchaus abgewandten jungen Männer und Kollegen in
der Philologie hatten sich schnell gefunden. Der ältere
Kunsthistoriker Lübke erkannte die Kraft des jüngeren
Archäologen und machte Lützow zum Mitarbeiter bei
der 2. Auflage der „Denkmäler der Kunst“. Fortan
blieben sie im regsten Verkehr; im Herbst 1858 begleitete
Lützow Wilhelm Lübke, dessen Frau und Schnaase auf
einer Studienreise nach Italien; er selbst kam diesmal
nur bis Florenz.
Er datirt von dieser Reise seine Neigung zur all¬
gemeinen Kunstgeschichte über das archäologische Fach
hinaus.
Wie schwärmte er bei seiner Rückkehr! Nur die
neueren Italiener kamen damals als Einheits-Patrioten
bei ihm schlecht weg, wogegen die österreichischen
Soldaten seine Freude gewesen waren.
AVer Carl von Lützow kannte, der wusste, um dies
hierbei zu erinnern, dass er, so treu er sonst persönlich
war, und so felsenfest seine Freunde auf ihn bauen
konnten, in seinem Enthusiasmus, allerdings ei-st in
längeren Zeiträumen, wechsle. Hitzig und schwärmerisch
ergab er sich eiper Zeitrichtung, Kunstepoche; hatte er
sie durchgearbeitet, kam wohl eine andere an die Reihe.
So machte er es z. B. früher mit Gotik, Barock, der
Klassik Hansen’s. Wie er sich in den letzten Jahren
den modernsten Strömungen zuwendete, wissen die Leser
dieser Zeitschrift. Licht und Schatten ergaben sich
natürlicherweise daraus. Er blieb stets im regsten
Streljen und in heißer Parteinahme dafür oder dagegen;
immer schritt er mit gleicher Energie voran. Erinnerte
man ihn, dass er vor Jahren heiß gelobt habe, was er jetzt
verwarf oder umgekehrt, so verschlug ihm das nicht viel.
Das war ja da)nals gewesen und war jetzt ganz anders.
Er habilitirte sich am 17. Februar 1859 als Privat-
docent in München. Umfassendes fleißigstes Studium,
treffliche Schulung, sicheres Gedächtnis, rednerische Be¬
gabung und seine Art, alles mit Wärme zu behandeln,
machten ihn zu einem trefflichen und beliebten Docenten.
Er trug vor über griechische Kunstgeschichte, griechische
Lyriker, antikes Drama, Pausanias, Kunstmythologie, die
Antiken der Münchener Sammlung. Die Veröffentlichung
der „Münchener Antiken“ begann er 1861. Durch Reisen
im In- und Ausland erweiterte er seine Kenntnisse.
Es war eine geistig bewegte Zeit in München. Die
Maximilian-Epoche hatte heftigen Kampf zwischen alten
und neuen Bestrebungen und A^orherrschaften gebracht.
Die kirchliche Parteiung war auch au der Universität
groß. In der bildenden Kunst denke man an den da¬
mals noch nicht beendeten Streit, der durch die Namen
Kaulbach, Piloty, Rabl, Genelli u. s. w. charakterisirt
wird, an den neuen Maximiliansstil in der Architektur.
1859 erregte der österreichisch-italienische Krieg die
Gemüter aufs heftigste und nun die neue Ära in Preußen
und all die weiteren Aufregungen in Deutschland im
Gefolge davon! Wie Stahl und Eisen trafen die Gegen¬
sätze aufeinander und schlugen Funken.
Carl von Lützow war in seinem Element. Mit
seiner riesigen Nervenkraft brachte er es nach wie vor
fertig, der fleißigste Docent und Schriftsteller, eine ge¬
suchte gesellschaftliche Kraft und der flotteste Vereins¬
genosse verschiedenster Art zu sein. Beim Mittagstisch
von Gelehrten und Schriftstellern unter Vorsitz von
Melchior Meyr, bei den Krokodilen unter Geibel’s Dichter-
majestäts-Leituug, bei den Zwanglosen, nicht zu vergessen
im Alfenkasten des Augustinerbräus, ülierall war Lützow,
und zwar, was heitere Geselligkeit anbelangt, voran und
unerschöpflich an lustigen und auch drastisdi treffenden
Einfällen und AVitzen.
Seine Freunde in der Ferne wunderten sich wohl, dass
er nicht mit einem gelehrten philologischen oder archäo¬
logischen Werke hervortrat, das ihn sogleich in die
Reihe der ersten Größen stellte. Al)er statt sich der¬
artig zu konzentriren, hatte er, mehr als selbst nähere
Bekannte wussten, sich neuen Gebieten zugewandt. So
war er in die Passion liineingekommen, die ihn nie wieder
verließ, für alles, was dem Illustrationsfach und dessen
Aufschwung angehört, für Zeichnung, Holzschnitt, Kupfer-
30*
236
CARL VON LÜTZOVV.
stich, Photog-raphie ii. s. w. Mau staunt, wenn man
seine Briefe ans jener Zeit liest, die er nur wegen der
damals neuen Holzphotograpliie an einen Leipziger Ver¬
leger schrieb. Mit den Künstlern betreffenden Fachs
trat er in rührigsten persönlichen oder schriftlichen
\'erkehr.
Und nun ülierraschte er 1862 seine Freunde mit dem
Buch ,.Die Meisterwerke der Kirchenbaukunst, eine Dar¬
stellung der Oeschichte des christlichen Kirchenbaues
durch die hauptsächlichsten Denkmäler“, erschienen bei
E. A. Seemann, mit dem auch Carl von Lützow, wie
vorher schon W. Lübke, nun in so folgenreiche Ver¬
bindung trat. Der Philologe und Archäologe war ab¬
geschwenkt zur neueren Kunstgeschichte unter dem Ein-
rtusse W. Lübke’s. Diesem ist das Buch gewidmet. Die
Reise mit ihm in Italien halie den ersten Anlass ge-
gegeben. ..Durch den akademischen Beruf in den Gebieten
der klassischen Studien festgehalten . . konnte ich nur
verstohlen und in mühsam zusammengesparten Stunden
unsere damaligen Wanderungen, welche fast ausschlie߬
lich den mittelalterlichen und modernen Kunstdenkmälern
galten, im Geiste fortsetzen und ihre Ergebnisse auf
neuen Reisen in Frankreich, England und Deutschland
vervollständigen und befestigen. . . Du bist es gewesen,
der mich in das exakte Studium der Monumente des
Mittelalters und der neueren Zeit hineingeführt hat.“
Und nun charaktcrisirt er trefflich, was er fortan als
eine Hauptaufgabe ansah.
Es war jener Zeit ein Rückschlag gegen die Über¬
sättigung in Religionsphilosophie und Philosophie des
bisherigen Stils, speciell gegen das tdm-rmaß der Ästhetik
in Fragen der Kunst bei Mangel an gründlichem und
umfassendem kuusthistorischem und technischem AVissen.
Diese neuen, in ihrer Art bahnbrechenden Männer wollten
Kunst und nur Kunst — selbst die Kulturgeschichte,
die zur Erklärung notwendig ist, kam bekanntlich bei
einigen zu kurz; das kunstgeschichtliche Interesse wurde
in die weitesten Kreise getragen und namentlich durch die
Anschauung, durch die Illustration gefördert und dadurch
ein neuer Aufschwung lierbeigeführt.
Lützow sagt im Vorwort, dass er ungleich einem
gelelu'ten französischen Abbe, seinem äußerlichen AMrbild
für die Kirchenbaukunst, sich von religiösen Diatriben
durchaus fern gehalten habe. „Unser Publikum will in
kunstgeschichtlichen Büchern nicht erbaut, sondern wissen¬
schaftlich angeregt und unterrichtet sein. Auch scheint
es mir, als ob die größeren Kreise, welche bei uns in
diesen Dingen von .Jahr zu .Jahr lebendigeren Anteil
nehmen, mit allgemeinen ästhetischen Raisonnements
nicht mehr zufrieden zu stellen seien, dass man sie viel¬
mehr genauer in das Positive und Besondere einführen
dürfe, ohne dem A^orwurf ermüdender Stofflichkeit zu
verfallen.“
Das war die damals neu ausgegebene Parole.
AVie schon AV. Lübke bei seiner Architekturge¬
schichte gethan, so gründete auch C. v. Lützow seine
Urteile auf Kugler und Schnaase, von den eingehenden
Specialstudien abgesehen.
Damit war er aus dem engeren Kreis seiner bis¬
herigen Studien und Arbeiten herausgetreten. Er sollte
bald mehr und mehr in die neue Bahn hinübergedrängt
werden. Damals eine Berufung als Professor, und sein
Schicksal hätte sich wohl anders gestaltet.
Der junge Docent hatte jener Zeit seine geistvolle,
liebenswürdige Gattin heimgeführt. AVar das eine
Idylle in dem kleinen Haus im Garten zu Schwabing,
wohin das junge tapfere Paar zog und bei notwendiger
Einschränkung so fröhlich den Sorgen des Lebens eines
unbesoldeten Docenten trotzte!
Nun kamen ernste Tage. Lützow klagte niemals,
sondern schwieg über Sorgen, die ihn l^edrückten, und so
blieb selbst guten Freunden vieles verborgen . . .
Ein Zw'ischenfall, entstanden diu’ch eine Kritik von
dem später so hochgeschätzten Schweizer Dichter Heinrich
Leuthold, die Lützow beeinflusst haben sollte, hat diesen
wohl mitbewogen, München gegen AA^ien zu vertauschen.
Es war damals an der Münchener Universität, wie schon
gesagt, viel Hass und Streit und je nachdem wenig Ams-
sicht auf Beförderung. Aber es war damit nicht gethan,
dass er als Docent an die Universität Wien übertrat.
„Denn man muss leben auf der Erde“ sagt Mirza Schaffy.
Der Fürst Czartoryski gab seit 1853 in AARen „Rezensionen
und Mitteilungen über Theater und Musik“ heraus.
Hieran schlossen sich seit 1862 „Rezensionen und Mit¬
teilungen über bildende Kunst“. C. v. Lützow wurde
„Hauptmitarbeiter“, wie er es selbst nannte. Der zweite
Jahrgang, der unter besonderer Mitwirkung von R. v.
Eitelberger, Jac. Falke, AV. Lübke, C. v. Lützow und
F. Recht“ erschien, begann mit dem Vorwort „Was wii'
wollen“. Der Eingang ist bezeichnend, allerdings wenig
geschmackvoll: „Die modei'iie Kunstkritik spielt gai-
zu gern die Rolle des Heriai Famulus AVagner; sie gräbt
mit gieriger Hand nach den Schätzen der echten Kunst
und glaubt vergnügt, sie in den Regenwürmern des Ge¬
dankens, der Tendenz, der Symbolik, des Nationalen oder
Zeitgemäßen gefunden zu haben.“
Gegen die bisherige Behandlung wird hervorgehoben,
dass das Kunstw'erk ein Geschautes, nicht ein Gedachtes
sei. Es gehöre dazu, dass man sich die schwierige
Kunst des Sehens aneigne gegen diejenigen, welche die
Kunstwerke lesen und nicht schauen wollten. Gesunde,
aufstrebende, lebenskräftige Kunst, die stets mit der
Jugend verbundene Schönheit als Ziel, und eine zweck¬
entsprechende, dabei durch Schönheit gehobene Kunst¬
industrie gelte es zu fördern und zu vertreten.
Frühling 1863 ging C. v. Lützow nach Wien, er¬
hielt die venia docendi für Gescliichte und Archäologie
der klassischen Kunst an der Universität und wurde
Sommer 1864 auch Docent der Kunstgescliichte an der
K. K. Akademie der bildenden Künste. 1865 wurde er
CARL VON LÜTZOW.
237
Vorstand der Bibliotliek und Knpfei’sticlisammlung der
Akademie. Mit diesem Jahre hörten die „Rezensionen“
auf. Dafür hatte Lützow mit E. A. Seemann einen
verbesserten Ersatz geplant und sich der Mitwirkung
der hervorragendsten Gelehrten und Kritiker des Kunst¬
faches versichert.
1866 erschien die „Zeitschrift für bildende Kunst,
mit dem Beiblatt: die Kunstchronik“ von C. v. Lützow
herausgegeben im Verlag von E. A. Seemann. „Seit dem
Jahre 1865, wo wir unsere Zeitschrift geplant und ins
Leben gerufen haben, war ich mit ihm in ungetrübter
Freundschaft zu gemeinsamer Thätigkeit verbanden“
ruft der Verleger seinem Freunde schmerzlich nach.
Und — wiederholen wir hier dessen weitere Worte über
den Verlust, da kürzer und schöner C. v. Lützow’s Thätig¬
keit als Herausgeber nicht charakterisirt werden kann:
„denn nicht leicht ist der Ersatz eines vornehm gesinnten
Mannes, der mit praktischem Sinn seines Amtes wartend
im Streit der Meinungen die volle Gelassenheit bewahrt
und freimütig genug ist, um auch Andersgläubigen das
Wort zu gönnen“.
„Das üntei’iiehmen, welches wir heute beginnen“, so
lautet das Vorwort, „ist bestimmt, alles Bemerkenswerte
und Schöne, was die Kunst der Gegenwart, vornehmlich
in Deutschland hervorbringt und anstrebt, den größeren
Kreisen des gebildeten Publikums durch Bild und WTrt
vor die Seele zu führen. Nicht nur zum Lesen und Ur¬
teilen über Kunst, sondern zum eigenen Sehen und
Vergleichen will es Gelegenheit bieten; nicht in erster
Linie den Scharfsinn, sondern den Schönheitssinn wird es
zu nähren und zu entwickeln bestrebt sein. Der Drang
nach künstlerischer Bildung lebt im innersten Bewusst¬
sein unseres Volkes. Die religiösen und politischen
Kämpfe ruhen; der Kreislauf der philosophischen Systeme
scheint vollendet zu sein.“ Dafür sei die Kunst wieder¬
erkannt als die reife und edelste Frucht der Gesittung.
Die Schönheit wird damals noch, wie man sieht,
in besonderer Weise betont. Wie die religiösen, poli¬
tischen und philosophischen Kämpfe (Schopenhauer!)
ignorirt werden, ist interessant. Die eigene Tendenz
aber war klar ausgesprochen: Kunst unter Fernhaltung
all der genannten Einflüsse, — die freilich die Kunst
so vielfach bestimmen!
Was Wert der Männer anbelangt, die Lützow für
die Zeitschrift geeint hatte, so war in dieser Beziehung
der Erfolg sogleich gesichert. R. v. Eitelberger, Jac.
Falke, G. Heider, H. Hettner, M. Jordan, W. Lül)ke,
Jul. Meyer, 0. Mündler, Fr. Pecht, Anton Springer, G.
F. Waagen, A. Woltmann, Rob. Zimmermann sind als
Mitarbeiter genannt !
Das Verdienst 0. v. Lützow’s in der harmonischen
Leitung, wo es galt, die verschiedensten Kräfte zu-
sammenziihalten und zu erneuern, die kritische Steuerung
durch die kunstbewegten Decennien ruhig und klar zu
fühi-en, sine ira et Studio auch der emptindlichen und
leidenschaftlichen Künstlerwelt gegenül)er seinen Stand¬
punkt zu wahren, nicht zurückzubleiben, sondern immer
mit der Gegenwart im Weiterschreiten — das nicht
immer Fortschritt besagt — zu bleiben, — das ist außer¬
ordentlich.
Seine apollinische Natur, wie wir sie nannten, ver¬
schmolz dabei mit der des gewandten, geschäftskundigen,
göttlichen Hermes. Er war eminent durch seine Klar¬
heit, Ordnung, Arbeitskraft und Freude.
1867 wurde er außerordentlicher, 1882 ordentlicher
Professor der Architekturgeschichte an der K. K. tech¬
nischen Hochschule in Wien. Mitglied vieler gelehrter
Gesellschaften im In- und Ausland war er längst ge¬
worden.
Zu der nie endenden Redaktionsarbeit kamen nun
alle seine Pflichten in Wien als Professor, Bibliothekar,
Kustos, Vorstand. Dazu wirkte er als Schriftsteller,
als Meister in öffentlichen Vorträgen, als Vorstand der
kunsthistorischen Kongresse und von anderen Vereinen.
In den letzten Jahren schrieb er über Kunst und
einschlägige Fragen, z. B. über städtische Neuerungen
auch in die Neue freie Presse, ein Artikel immer jugend¬
lich schnei(Uger und um Gegnerschaft unbekümmerter
als der andere. Der Sturm, den er durch seinen Aufsatz
über Wallot’s Parlamentsgebäude erregte, ist bekannt.
„Es muss wirken“, war seine Antwort bei Verwunderung
über seine Art, vorzugehen.
So lebte er in der Arbeit, allem gewachsen, was
an ihn herantrat, nie müde, nie klagend, immer andere
anspornend. Ihm war nicht wohl, wenn er nicht in
Geschäften steckte und nicht anordnen, dirigiren konnte.
So sorgte er selbst auf anstrengenden Studienreisen
dafür, dass er womöglich täglich Briefe und Dejieschen
erhielt. Auf Reisen mit Freunden verstand es sich von
selbst, dass er der Reisemarschall war. Wer Bequem-
lichkeit liebte, kam dabei freilich schlimm weg. Aber
war das gewaltige Tages-Menü der Besichtigungen ab-
gethan, dann war niemand genussfroher und leistungs¬
fähiger als er bei dem Menü von Küche und Keller.
Als Archäologe schrieb er 1868 noch „Das chora-
gische Denkmal des Lysikrates in Athen“, nachdem er
1866 den 1. Band der 2. xAuflage von Schnaase’s Ge¬
schichte der bildenden Künste neu bearbeitet hatte.
1877 erschien die Geschichte der K. K. Akademie der
bildenden Künste, 1884 das Prachtwerk „Die Kunst¬
schätze Italiens“, danach ein Text zu Unger’s Belvedere-
Galerie, ein Galeriekatalog der Akademie der bildenden
Künste und die bei seiner gründliclien Kenntnis und
Vorliebe so treffliche Geschichte des deutschen Kupfer¬
stichs und Holzschnitts (1891).
Im vorigen Jahre erfüllte er allen Theilnehmern
unvergesslich mit unverwüstlicher Kraft und Frische die
Pflichten als Vorstand der deutschen Abteilung auf dem
kunsthistorischen Kongress zu Buda[)est während der
Millenar-Feier.
238
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
Jetzt hatte er eigene Auflagen, ilann eine neue
Ausgabe von Lübke’s Grundriss der Kunstgescbicbte
auf Händen. Er beabsichtigte in diesem Fiübjabr zu¬
erst eine Reise nach Italien, dann änderte er seinen Plan;
er wollte auf längerer Studienreise wieder nach Frank¬
reich und England. Er war nach seiner Gewohnheit
Feuer und Flamme dafür. Anfang x4pril wollte er ab-
rciseu. Ein luduenza-Aiifall wurde anfangs nicht weiter
beachtet und galt als schnell vorübergehend. So schob
er dreimal seine Abreise, immer um wenige Tage,
hinaus. Niemand dachte an Gefahr. Fis zum 14. April
war er noch thätig. Da entwickelte sich die tückische
Krankheit zu einem schmerzhaften Nierenleiden, und
Blutvergiftung entriss ihn plötzlich den Seinen, seinen
Freunden und der Kunst, die er als der Besten einer
in seiner Zeit so frisch und freudig, so aufopfernd und
tapfer gefördert hat.
Seine alten Freunde haben Unersetzliches in ihm
verloren. Nun er fehlt, wer wird sich freuen, anregen,
antreiben und für alles ein Herz haben, wie er es hatte?
C. L.
DER HEILIGENBERG VON VARALLO
UND GAUDENZIO FERRARI.
VON GUSTAV PAULI.
1.
IE Heiligcnbei'ge Oberitaliens, so l)etitelt
sich eines der Kapitel in der neueren
Kunstgeschichte, die noch geschrieben
werden müssen, ln ansehnlicher Zahl
sind sie verstreut in den südlichen Al])en-
ländern, diese merkwürdigsten und grö߬
ten Stätten der Erbauung, welche die spätere Renais¬
sancezeit in Italien hervorgebraclit hat. ln Varallo,
\'arese, Orta, Locarno, Domo d’Ossola, Orojia, Graglia,
S. Giovanni d’Aiidorno, Crea finden wir solche sacri
monti mit ihren Kapellen teils vollendet, teils doch ge¬
plant und begonnen. Das ganze sechzehnte und sieb¬
zehnte Jahrhundert hindurch hat man auf ihnen gebaut,
geformt und gemalt, und einige der besten lombardischen
Künstler jener Zeit haben dabei mitgewirkt. Insonder¬
heit entwickelte sich hier eine Nachblüte der farbigen
Terrakottaplastik. Die kunsthistorische Bedeutung dieser
Berge ist also nicht zu bezweifeln. Dennoch aber er¬
scheint mir größer ihre kulturhistorische Bedeutung.
Wirsehen in ihnen die letzte große künstlerische Leistung
der Volkspartei in der katholischen Kirche, der Bettel-
niönchorden, den letzten Versuch, die heiligen Dinge zu
popularisiren, einen Versuch, unternommen auf echt
italienische und echt katholische Ai't.
Bei dem Städtchen Romagnano, das dreißig Kilo¬
meter von Novara entfernt liegt, öffnet sich das Sesia-
thal, eines jener schönen und fruchtbaren Thäler der
südlichen Alpen. Es führt in nordwestlicher Richtung
zu der Gruppe des Monte Rosa. Der Hauptort des
Thaies ist Varallo, die Endstation einer Sekundärbahn,
die von Novara ausgeht. Das malerische, trotz seines
Bahnhofes weltabgeschiedene Städtchen mit verschiede¬
nen Kirchen, alten Klöstern und ein paar Palästen ist
der Sammelpunkt für die Bauern der umliegenden Berg-
thäler, die an Festtagen die engen Straßen in ihren
seltsamen Trachten füllen. Schon von weitem, wenn
die kleine Stadt noch unter Kastanienbäunien verborgen
liegt, sieht der Wanderer den Heiligenberg mit seinen
hellschimmernden Gebäuden ragen. Es ist ein nach
drei Seiten freiliegender Granitkegel, der sich um zwei¬
hundert Meter über die Thalsohle erhebt. Als ein frommer
Hüter steht er neben dem an seinem Fuße gelagerten
Varallo.
Wie alle überhaupt kulturfähigen Gegenden Italiens,
so trägt auch das entlegene Sesiathal die Spuren einer
großen künstlerischen Vergangenheit.’) Manche inter¬
essante Bauten trifft man in den kleinen Städten, und
in den Kirchen manche gute Gemälde von lombardischen
und piemontesischeu Meistern; das Hauptdenkmal jedoch,
gleichsam das künstlerische Wahrzeichen des Thaies ist
der sacro monte. Folgendes ist in kurzen Zügen die
Geschichte seiner Gründung.
Ein Franziskaner, der Bruder Bernardino Caimi,
hat vor vierhundert Jahren den Plan des frommen Werkes
ersonnen. Er war ein Mann, der gleichermaßen durch
edle Geburt — er entstammte einem Mailänder Grafen¬
geschlecht, und durch seinen heiligen Eifer in großem
Ansehen stand. Längere Zeit hatte er als Guardian
der Brüder des heiligen Grabes in Jerusalem gelebt,
als er im Jahre 1481 nach Italien zurückkehrte. Da-
1) P. Oalloni, LTomini e fatti celebri della Valsesia.
Varallo 1873.
O. F'n'zzoni, L’arte in Valsesia. Archivio storico dell’
arte. IV. (18'Jl.) Fase. 5.
DER HEILIGENBERD VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
239
liials schon, so heißt es, war er von dem Wunsche er¬
füllt, in seiner Heimat ein Abbild der heiligen Stätten
zu errichten, zur andächtigen Erbauung für alle, welche
die weite Pilgerfahrt nicht unternehmen konnten. Zur
Ausführung kamen seine Pläne freilich erst nach
weiteren zehn Jahren, indessen erwirkte er sich schon
1486 vom Papste Innocenz dem Achten ein Breve (unter
dem Datum des 21. Dezember), dessen Wortlaut uns
zwar nicht erhalten ist, das aber in der Grabscln-ift des
frommen Mannes als die Stiftungsurkunde des Heilig¬
tums betrachtet wird. Im folgenden Jahre sehen wir
Bruder Bernardino abermals auf dem Wege nach Jeru¬
salem. Gewiss benützte er den neuen Aufenthalt eifrig,
um Studien für sein Unternehmen zu sammeln. Gleich
nach seiner Rückkehr, im Jahre 1491, begannen die
Arbeiten. ')
Es war eine gewaltige Aufgabe, die sich Bernardino
gestellt hatte. Einen Wallfahrtsort allergrößten Stils
wollte er schaffen. Die Anregung dazu hatten ilim ge¬
wiss die Anlagen seiner Ordensbrüder in den benach¬
barten deutschen Gebieten gegeben, die Kalvarienberge
oder Stationen, eine Zusammenstellung von Gemälden,
Reliefs oder Freigruppen, in denen die einzelnen Mo¬
mente der Leidensgeschichte Christi geschildert sind.
Allein was sich dort im kleinen, an der Kirchenwand
oder etwa in einem Kapellenraum darstellte, sollte hier
in großem Umfange, in einer Reihe von Tempelbauten
1) Aus der Litteratur über den sacro monte von Varallo,
die man in der Anibrosianabibliothek in Mailand beisammen
findet, hebe ich folgende Werke hervor:
Descrittione del sacro monte di Varale di Val di Scsia,
dove, come in uiia nuova Gerusalemme . . . Novara 15S7. 8".
(0. Bordiga und nach ihm 8. Bidlcr nennen als den
Verfasser einen gewissen Caccia und führen nocli zwei ältere
Ausgaben an: die erste von 15G5, Novara, die zweite von 157G,
Brescia.) Eine neuere Ausgabe erschien in Varallo, bei den
Revelli als erstes dort gedrucktes Buch 1591.
Conte Oio. Battisla Fassola, La nuova Gerusalemme
ossia il Santo sepolcro di Varallo . . . Milano 1G71. 8'’.
Canon. Torrotti, Historia della nuova Gerusalemme ....
Varallo 1G86. 8'’.
Dies sind neben dem Urkundenmaterial, das sich im
Collegio d’Adda zu Varallo befindet, die wichtigsten, alten
Quellen. Von der neueren Guidenlitteratur ist weitaus das
wichtigste: G. Bordiga, Storia e guida del sacro monte di
Varallo. Edizione ristampata e riveduta per cura dell’ ammi-
nistrazione del ven. Santuario. Varallo 1857. 8*^.
Mich. Gifsa, II sacro monte di Varallo. Vercelli 1858. 8**.
Neuerdings hat ein begeisterter Verehrer des sacro monte,
Herr Sam. Butler in London, ihm ein zusammenfassendes
Buch gewidmet, betitelt Ex voto, das in zwei Ausgaben, einer
englischen 1892 in London und einer italienischen in Novara
1894, erschienen ist. Der Enthusiasmus des liebenswürdigen
Autors steht leider im umgekehrten Verhältnis zu seiner
kritischen Schärfe.
Die Darstellung Butler’s ergänzt und berichtigt der ver¬
dienstvolle Kunstforscher Varallos Oiuho Aricuta in einer
Reihe von Artikeln in der Zeitschrift Arte e Storia, anno VIII
S. 234, Xll, p. 138, XIII S. 205, XIV S. 117, XV S. 38.
in Freigrnppeu lebensgroßer Figuren ausgeführt werden.
Die erste große Schwierigkeit, die es dabei zu über¬
winden gab, war die Auswahl des Platzes. Eine An¬
höhe musste es sein, die womöglich gewisse Ähnlich¬
keiten mit der Schädelstätte aufwies, und die geeignet
war, zur Aufnahme jener zahlreichen Bauten, ein Ort
ferner, der in seiner Abgeschiedenheit zu frommer Be¬
trachtung einlud und der doch einer menschlichen Nieder¬
lassung die nötigen materiellen Bedingungen gewährte.
Alles dieses fand Bruder Bernardino in jener Anhöhe
bei Varallo vereinigt. Die alten Schriftsteller wissen
eine Reihe von Wundern zu berichten, durch die sich
dem frommen Manne dieser Berg als der einzig ge¬
eignete kund that. Als nun vollends im ersten Jahre
der Bauarbeiten ein Stein gefunden wurde, den die Sach¬
verständigen als das getreue Abbild des Steines auf dem
Grabe Christi erkannten, da war die Heiligkeit dieser
Stätte aller Welt offenbar. — Bernardino Caimi fand in
Varallo noch mehr als den Platz, er fand eine Menge
von frommen und freigebigen Leuten, die seine Pläne
unterstützten, allen voran Milano Scarrognini mit dem
Beinamen magnifico, den angesehensten Mann der Gegend.
Dieser machte die Sache des sacro monte zu der seinen.
Er erscheint als der erste Bauherr (fabbriciere). Die
erste Kapelle, die des heiligen Grabes, ließ er auf seine
Kosten errichten und daneben ein dem Franz von Assisi
geweihtes Heiligtum und eine Wohnung für Bruder
Bernardino und ein paar andere Minoriten. Zum Ge¬
dächtnis dessen sieht man an jenem Bau eine Tafel
eingemauert mit der Inschrift:
Jlagnificus D. Milanus Scarrogninus hoc Sepulcrum
cum fabrica sibi contigua Christo posuit die sejitimo
octobris MCCCCLXXXXI R. P. frater Bernardinus de
Mediolano ordinis Minorum de osserv. sacra huius montis
exeogitavit loca, nt hic Hierusalem videat qui pere-
grinare nequit.
Merkwürdigerweise wurde erst zwei Jahre später,
1493, das Gebiet des sacro monte in aller Form dem
Bruder Caimi abgetreten. Gleichzeitig überwies man
seinem Orden die Kirche, am Fuße des Heiligenberges,
Sta. Maria Delle Grazie und das anliegende Kloster.
Bernardino sollte die glänzende Verwirklichung
seines Planes nicht mehr erleben. 1494 starb er in
jenem Kloster. Dreiundzwanzig Jahre später folgte ihm
Milano Scarrognini in den Tod. Es wurden dann (1517)
von der Gemeinde von Varallo zwei neue fabbricieri er¬
nannt, Pietro Ravelli und Bernardo Baldi.
Die Bauherren leiteten in letzter Instanz alle Ar¬
beiten in den Kapellen. Unter ihnen oder neben ilinen
standen die Minoritenbrüder, die ein Hospiz auf dem Berge
behielten. Sie nahmen hier nicht nur in der bald erilchteten
Kirche Sta. Maria Dell’ Ascensione die heiligen Funktionen
wahr und behüteten die Wallfahrtsstätten, sondern be¬
aufsichtigten auch die künstlerischen Arbeiten und be¬
teiligten sich selbst daran. Wii- wissen, dass zur Zeit
240
DER HEILIGENBERD VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
3rilauo Scarrognini’s ein frate Francesco, der Bildschnitzer
nud Zeichner genannt wird (inaestro di leguame e
diseguatore), hier arbeitete. Ihm folgte in gleicher
Thätigkeit ein fra Eiisebio. ') Eine weitere Obliegenheit
der Mönche war jedenfalls die Sorge für die Einkünfte
des Heiligenberges. Es musste alles aus frommen
Spenden bezahlt werden. Und um diese beizutreiben,
war niemand geeigneter als die Franziskaner, die das
Betteln berufsmäßig ausübten. Dabei kam ihnen die In-
dulgentia plenaria sehr zu statten, die ihr Ordensgeneral
Francesco Liccheri schon 15'20 für die Besuclier aller
Kapellen vom Papst erwirkt hatte, ln der That fehlte
ohne Erfolg. Der edle Carl Borromeo, der an diesem
vornehmsten Wallfahrtsort seiner Erzdiözese lebhaften
Anteil nahm, scheint vorübergehend durcli mehrfache
Anwesenheit in Varallo die Gemüter besänftigt zu haben.
Sixtus V. nahm schließlich in seiner energischen Art
eine vollkommene Neuordnung der Behörde der fabbri-
cieri vor. Danach sollten künftighin immer auf sechs Jahre
sechs Bauherren von der Gemeinde ernannt werden, die
vom Guardian des Klosters bestätigt werden mussten,
und umgekehrt sechs vom Guardian ernannt werden,
welche die Gemeinde zu bestätigen hatte. Indessen auch
damit waren die Mönche noch nicht beruhigt, und der
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63 Ai'i’l.ioaliii B VJrljiui/rti
if XepcUti'Ut M Vftjiri! .
Plan des Sacro Monte bei Varallo.
es dem Heiligenberge fast nie an liberalen Gönnern, und
noch in jüngster Zeit hat sich ein Wohlthäter gefunden,
der die Kirche des Berges mit einer neuen Marmor¬
fassade beschenkte.
Wo neben der Laienbehörde die Geistlichen eine
so große Rolle spielten, waren Kompetenzstreitigkeiten
unausldeiblich. Im Bewusstsein alles dessen, was sie
für den Berg thaten, wollten die Mönche seine Ver¬
waltung am liebsten ganz an sich reißen und auch die
Bauherren ernennen. Dem widersetzte sieh natüi’lich
die Gemeinde, die alte Herrin des Bodens. Von zwei
Päpsten, Julius III. und Paul IV., wussten die Mönche
ihren Ansprüchen günstige Bullen zu erlangen, indessen
Friede scheint erst auf dem sacro monte eingezogen zu
sein, als man die Minoriten 1603 wegschickte, und refor-
mirte Franziskaner an ihre Stelle setzte.')
Dass bei einer so schwankenden Bescliaffenheit der
leitenden Baubehörden von der konseriuenten Durch¬
führung eines eiidieitlichen Planes nicht die Rede war,
liegt auf der Hand. Es ist sogar zu bezweifeln, dass
Bruder Caimi und sein Beschützer Milano Scarrognini
von vornherein einen ins Einzelne gehenden Plan aus¬
gearbeitet hätten. Vielmehr ist alle die vierhundert
Jahre lang an der Anlage des Berges beständig herum¬
gebessert worden. Die WAge wurden verändert, Kapellen
hier eingerissen und dort wieder aufgebaut, sie wecii-
1) Q. Arienta. Arte e storia XIV. (1895). S. 117.
1) A^gl. hierüber Fasso/.a, a. a. 0. S. 2411.
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
241
selten ihre Bestimmung und damit auch die plastischen
Gruppen in ihrem Innern. Es wäre ebenso mühsam wie
zwecklos, Schritt für Schritt allen Begebenheiten der
Baugeschichte nachzugehen; ihre Hauptperioden, auf die
es uns ankommt, liegen fest und werden durch zahlreiche
Denkmale illustrirt.
Bei der Franziskanerkirche, Sta. Maria delle grazie,
die dicht vor der Stadt liegt, beginnt der Weg, der im
Schatten prächtiger alter Kastanienbäume zum sacro
monte hinanführt. Oben befindet man sich auf einer
Einsattelung des Berges, einer Art von kleinem Plateau.
Ein Brunnen rauscht hier, eine Osterie lädt den müden
Pilger zur Erholung ein, und daneben werden in einem
Laden Rosenkränze, Heiligenbilder und all die frommen
(t 1517), bis zu dem Auftreten Gaudenzio Ferrari’s unter
den Künstlern des Berges. Eine äußerst rege Tliätig-
keit wurde damals entfaltet. Etwa zwölf Kapellen
entstanden, dazu das Hospiz und die Kirche. Fast alle
diese Bauten scheinen an der Peripherie des Berges
gelegen zu haben. Da war zunächst im Nordosten das
Haus der Madonna di Loreto mit der Gruppe der Ver¬
kündigung (Plan 2), sodann im Osten die Kapellengruppe
von der Geburt Christi bis zum Traume Josephs vor
der Flucht nach Ägypten (Plan 5—8^), jedoch ohne die
Gruppen und Fresken, die später hinzukamen. Das
Gebäude lehnt sich an eine kleine Anhöhe und besteht
aus zwei Stockwerken, die durch eine marmorne Wendel¬
treppe miteinander verbunden sind. Im Erdgeschosse
Piazza dei Tribiiuali auf dem Sacro Monte bei Varallo. Capelia d’Anna (1), Palazzo di Pilato (2), Capella di Erode (3), Capelia di Caifas (4).
Jahrmarkts waren feilgeboten. Durch ein großes banales
Barockthor, das 1584 von Pellegrino Tibaldi errichtet
wurde, betritt man den heiligen Bezirk, der, von einer
Mauer begrenzt, die ganze Höhe des Berges einnimmt.
Der beigegebene Plan enthebt mich der Mühe, die Lage
der einzelnen Kapellen auseinander zu setzen. Es sind
ihrer jetzt, wenn man von den drei letzten verfallenen
absieht, vierundvierzig. (Auf dem Plane ist die kleine
Grotte des von den Eltern angebeteten Christkindes nach
der fünften Kapelle, wie es früher üblich war, über¬
gangen worden, so dass von hier an die Nummernfolge
gegen die jetzt in Varallo angebrachte um eins zurück¬
bleibt.)
Als die erste Periode der Baugeschichte dürfen wir
die Zeit der Wirksamkeit Milano Scarrognini’s betrachten
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. lü.
bildet den Hauptraum ein weites kellerartiges Gemach,
an das zwei Kapellen grenzen, im Oberstock kommen
dazu zwei weitere Kapellen. — An der Südecke des
Berges, hinter der alten Kirche, lag die Kapelle des
Abendmahls, die später zur Sakristei eingerichtet wurde,
deren Figuren man jedoch bei der Neuaufstellung der
Gruppe (Plan 19) wieder verwendete. Nicht weit da¬
von müssen sich (nach einem später zu besprechenden
Plaue Pellegrino Tibaldi’s) das Gebet auf dem Ölberg
und die Gefangennahme befunden haben. Diese Kapellen
sind längst verschwunden, doch haben sich die Figuren
der Gefangennalime in der neuen Darstellung dieses
Gegenstandes (Plan 22) erhalten. Ziemlich weit davon
1) 6r. Ärieuta. Arte e Storia. XIV S. 117. Anmerkg.
31
242
DER HElLlüEXBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI
entfernt lagen ini Norden des Bezirkes nahe dem Ein¬
gangsthor nebeneinander die Kapellen der Geißelung
und Dornenkrünting, die schon um 1560 ausgeräumt
und der Christus der Geißelung befinden sich im Museum
zu Varallo. Zwei Figuren der letzteren Gruppe wurden
bei ihrer Neuaufstellung wieder verwendet. Bernardino
Prima Caiiella di Adamo et Eva auf dem Sacro Monte bei Varallo.
wurden und gegenwärtig zur Woliuung des Wächters
eingerichtet sind. 'j Die Figuren zur Dornenkrönung
1) G. Arienta. a. a. 0.
Lanini, der Schüler Gatidenzio Feri-ari’s, hat später
die Wände beider Kapellen mit Fresken geschmückt.
Das den Hintergrund zur Dornenkrönung bildende Ge¬
mälde: Christus vor Pilatus befindet sich gegenwärtig
DER HEILIGENBERG VON YARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
243
in einzelnen Bruchstücken im genannten Museum. Man
mag sie sich im Geiste zusammenfügen nach der kleinen
danebenhängenden Skizze, die Herr Arien ta vor dem
Absagen des Fresko aufgenommen hat. Die Fresken
zur Geißelung harren noch auf das Schabeisen eines
Wohlthäters, der sie hinter der Tünche hervorklopfen
möge.
Nicht weit davon in der gegenwärtigen Kapelle
der Versuchung Christi war die Kreuztragung aufge¬
stellt. Ein merkwürdig weiter Abstand trennte diese
Kapellen von der zur Darstellung der Kreuzigung aus¬
ersehenen Stätte. Es war dies eine kleine Anhölie am
entgegengesetzten Ende des Berges, in der Bernardino
Caimi eine besondere Ähnlichkeit mit Golgatha entdeckt
hatte. Dicht daneben, am Westende des Berges, lagen
die früher erwähnten ältesten Bauten, das hl. Grab,
die Frauziskuskapelle und die später zum Hospiz er¬
weiterte Wohnung des Bruders Caimi und seiner Mi-
noriten.
In ihren Bauformen sind alle diese Kapellen so
schmucklos, dass man zögert, bei ihnen überhaupt von
Architektur zu reden: vier nackte Wände, einfach über¬
wölbt, ein oder ein paar große vergitterte Fenster,
durch die man die Gruppen im Innern betrachtete, und
vor jeder Kapelle ein kleiner Portikus, um die Schau¬
lustigen vor Regen zu schützen. Das ganze Interesse
konzentrirte sich auf die Gruppe, und hier ging die Ab¬
sicht des Bruders Caimi darauf aus, dem an Geist und
an Gelde Armen, dem der nicht nach dem gelobten Lande
wallen konnte, einen möglichst handgreiflichen Ersatz
für die Wirklichkeit zu bieten. Handgreifliche Natür¬
lichkeit in der Darstellung ist nun zwar ein unkünst¬
lerisches, aber dafür ein um so populäreres Prinzip.
Die mönchischen Bildschnitzer, selbst aus dem Volke
hervorgegangen und in steter Berührung mit dem Volke,
wussten sehr wohl, dass man bei ihrem Publikum nicht
viel nach Anatomie und adligen Körperformen fragte,
umsomehr aber sich an einer groben Sinnestäuschung
erfreute.
Mit Ausnahme des gekreuzigten Christus und der
beiden Schergeniiguren der Geißelung, die noch passiren
mögen, sind ihre Gestalten dürftige Puppen oft mit über¬
großen Köpfen von einem erschreckend starren Gesichts¬
ausdruck. Nicht allein sind sie naturalistisch bemalt,
sondern — zum Entzücken der Bauern imd zum Ent¬
setzen aller ästhetischen Seelen — tragen sie auch
wirkliche Scln'ipfe und Bärte aus Rosshaaren und wirk¬
liche Gewänder aus grobem Leinenstoff. Bei der Dar¬
stellung des Abendmahls behandelten die Künstler den
Gegenstand weniger von der psychologischen als von
der gastronomischen Seite. Sie verzichteten gänzlich
darauf, in den Gesichtern der heiligen Schar die Be¬
wegung auszudrücken über den erschütternden Vorgang,
der sich in diesem Augenblicke abspielt. Dagegen legten
sie den größten Wert auf die Herrichtung des Tisches.
Da musste ein wirkliches Tuch ausgebreitet sein, wirk¬
liche Gläser darauf stehen und Teller mit Bergen von
Äpfeln und Birnen und Broten und Käse und Langusten.
Kurz, die wackeren mönchischen Bildschnitzer kannten
in ihrem Eifer für den Naturalismus keine Grenzen.
Und wenn sie noch nicht den Hintergrund mit seinen
Malereien in direkte Verbindung setzten mit den pla¬
stischen Gruppen, so waren es gewiss keine ästhetischen
Bedenken, die sie davon abhielten. Sie waren eben auf
diesen Gedanken noch nicht gekommen. Er blieb dem
größten Künstler Vorbehalten, der auf all diesen Hei¬
ligenbergen thätig war, dem Gaudenzio Ferrari aus Val-
duggia. (Fortsetzung folgt.)
31*
DANNECKER’S ARIADNE.
YON PROF. DR. C. BEYER -STm'TGATxT.
MIT ABBILDUNGEN.
M Stuttgarter Schlossplatz, wo nuniuelir der
iiionuiiieiitale Köiiiginhau als nicht ganz ehen-
bürtiges Gegenstück des schräg gegenüberliegen¬
den stolzen Königsbanes sich erliebt, stand Dannecker’s
ansi)ruchsloses Künstlerheim. Dort befand sich sein
vielbesuchtes Atelier. Dort entstanden seine zahlreichen
plastischen Schöpfungen, durch die er sich neben Canova
und Thorvvaldsen znin Begründer einer epochebildenden
Renaissance einporrang, z. B. seine durchgeistigte,
Kolossalldiste Schiller’s; sein weihevoller, fast visionärer
Evangelist Johannes; seine wasserausgießende, knieende
Brunnen-Njunphe; seine charakteristische Büste des Erz-
Ariadne; Marmorstatue von Dannecker. Seitenansicht.
DANNECKER’S ARIADNE.
245
herzogs Karl; seine unvergleichliche Gruppe der ruhenden
Wiesen- und Wassernymphe; vor allem aber seine in
Nachbildungen weitverbreitete bezaubernde Ariadne, die,
in weicher Ruhe auf dem breiten Rücken eines Panthers
hingegossen, zweifellos als ebenso bewunderungswürdig
gelten darf, wie die antike, schlafende Ariadne im Vati¬
kanischen Museum zu Rom.
Die Entstehungsgeschichte der meisten Werke
Dannecker’s ist bekannt, nicht aber die seiner Glanz¬
schöpfung Ariadne.
Durch seinen Schüler, den nachmals berühmt ge¬
wordenen Bildhauer Wagner, gelangte eine Mitteilung
hiervon auf uns, die wir der Nachwelt überliefern wollen,
nachdem wir auch die Aktenstücke verglichen haben,
die aus dem v. Bethmann’schen Familienarchiv in liebens¬
würdiger Weise (durch Dr. Pallmann) zur Verfügung
gestellt wurden.
In Dannecker’s freundlichen
Gesellschaftsräumen versammelte
sich allwöchentlich am Donners¬
tag zu trauter Unterhaltung ein
auserlesener Kreis von Gelehr¬
ten, Staatsmännern und Künst¬
lern; das sogenannte Donners¬
tags-Kränzchen; dort verkehrten
Uhland, Schelling, Baggesen, Fr.
Rückert, Humboldt, Bornstedt,
Lord Eglin, Dannecker’s Schwa¬
ger Hofrat Heinrich Rapp, Staats-
niinister v. Wangenheim u. a., dort
begegnete man auch den an¬
mutigsten Frauen aus allen Gauen
Deutschlands.
Zu letzteren zählte die all¬
beliebte Hofsängerin und Hof¬
schauspielerin Charlotte Fossetta,
eine geborene Münch aus Mainz,
aus bester Familie, die Gemahlin
des Hofstuccators Fossetta, der
mit Dannecker aufs innigste be¬
freundet war und mit ihm die
Karlsschiüe besucht hatte. Sie
war eine blendende Schönheit von
bezaubernder Anmut, zugleich eine
hochbegabte Sängerin und Schau¬
spielerin, die sich von Dannecker’s
Begeisterung für das Idealschöne
und von seiner humorgewürzten
Unterhaltung stets hingerissen
zeigte. Sie bildete eine Zierde
aller künstlerischen Zirkel der
Residenzstadt.
Mit Vorliebe verkehrte Dan¬
necker mit dieser vornehmen Er¬
scheinung, deren unbefangenes,
taktvolles Urteil, deren zartsinniges Empfinden, deren En¬
thusiasmus für die Kunst den phantasievollen Meister er¬
wärmten. Einmal unterhielt er sich mit ihr über ideale
Conception und Komposition, sowie über plastische
Darstellung; er äußerte, wie schwer es dem Künstler
zuweilen werde, mustergültige Modelle für plastische
Schöpfungen, ideale Vorbilder für ideale Gestaltungen
zu entdecken und zu gewinnen. Und nun entspann sich
folgender bedeutsamer Dialog:
„Frau Fossetta“, sagte Dannecker, fragenden Blicks,
von einem Gedankenblitz durchleuchtet, „wenn ich so
glücklich wäre, ein Vorbild gleich Ihnen als Modell zu
gewinnen, so sollte der wahren Kunst Segen daraus
erblühen!“
Darauf die Künstlerin: „Und Sie glauben in der
That, dass meine Erscheinungsformen Ihrer Kunst zu
wirklicher Förderung gereichen
könnten?“ Und ohne Dannecker’s
Antwort abzuwarten , fuhr sie
fort: „Gut denn, verfügen Sie
über mich, wenn Sie meinen,
Neues, Geniales schaffen zu
können!“
„Sie scherzen nicht?“ rief em¬
porschnellend strahlenden Auges
der Meister; „und ich dürfte Sie
beim Wort nehmen?“
„Ich hab’s gesagt; es soll gel¬
ten“, erwiderte ruhig entschlos¬
sen die vorurteilsfreie Künstlerin.
Nun fasste Dannecker schnell
den Entschluss, der Welt — unter
Fernhaltung alles Modernen —
eine Lichtgestalt zu schaffen, wie
sie nur dem Idealismus entblühen
könnte: eine dem Bacchus auf
dem Panthertier entgegengeführte
Ariadne, deren bräutlich ver¬
klärter Blick bereits dem Irdischen
entrückt erscheinen sollte.
Schon nach wenig Tagen
— es war mitten in der Aus¬
führung seiner genial-gewaltigen
Schillerböste — hatte seine Idee
plastische Form gewonnen: eine
grundlegende Thonskizze war er¬
standen.
Dannecker eilte zur Künst¬
lerin, diese an ihre Zusage zu
gemahnen. Ohne jegliche Zöge¬
rung zeigte sich dieselbe bereit,
zunächst freilich unter gewissen
Einschränkungen und Verhüllun¬
gen sich der Idee Dannecker’s als
sichtbares Substrat zu bieten.
Ariadne; Marmorstatue von Dannecker.
Vorderansicht.
246
DANNECKER’S ARIADNE.
Durch die Intervention eines begeisterten Be-
wimdei'ers der werdenden Statue, den Bildhauer Benz
aus Rom, der hei Dannecker zu Besuch weilte, ließ sich
Frau Fossetta schließlich noch bestimmen, dem Künstler
ohne Schleier zu sitzen.
So entstand denn die bräutliche Dionysos-Erwählte
mit dem Weinlaubkranz im geflochtenen Haare, mit
dem feinen griechischen Oval und den liebreizenden
weichen deutschen Kürperformen in einer an die Natur
sich anlehnenden klassischen Idealität und gemüts¬
innigen Anmut, die als Kriterium der Koinpositions-
weise Dannecker’s für alle Zeiten zu preisen sein wird;
so erblühte eine in sinnigem Behagen sich wiegende,
ideal blickende Gütterflgur, die auf kräftigem, leicht
dahin schreitenden Tiere die fein drapirte Gewandung
in leichter Lässigkeit zur Erde sinken lässt.
Fürwahr ein vorbildliches, edles Kunstwerk in
eminentem Sinne. Hier ist nichts von barockisirender
oder sinnlich realistischer Fornienverweichlichung vvahr-
zunehmen, nichts von gefühlsarmer Sentimentalität;
wohl aber zeigt sich eine typische Charakteristik, die —
ihres idealen Zieles sich vollbewusst — dasselbe zur
edlen Lichterscheinung emporzuzaubern verstand, ja,
eine Originalität, welche den künstlerischen Idealismus
in unserem Jahrhundert siegreich auf das stolze
Banner hob.
Im edlen Ausdruck echter Lebenswahrheit und
gemütkündender Darstellungsweise, aber besonders in
charakteristischer Individualisirung, durch welche Dan-
necker sein Vorbild Canova überragte und seinem Freunde
Thorwaldsen, der ihm an Tiefe und Fülle der Ideen
überlegen war, sich mindestens ebenbürtig an die Seite
stellte, zeigte sich Dannecker’s eigenartige Stilrichtung,
die nicht romantisch, nicht eklektisch, wohl aber echt
antik ist im Sinne der altattischen Schule des 5. und
4. Jahrhunderts, im Geiste des echten Klassicismus.
Der fürstliche Gönner Daimecker’s, König Friedrich
von Württemberg, aber war, wie es so in seiner Art
liegen mochte, beim öfteren Bescliauen des werdenden
Kunstwerks stets mit ostensibler Gleichgültigkeit an
demselben vorüber geschritten. Er schien die echt freien
Kunstwerke, die einei' königlichen Protektion nicht be¬
durften, zu ignoriren und auf den Künstler, der sich in
seinem Reiche nicht minder Fürst dünken mochte, gewisser¬
maßen eifersüchtig zu sein. Dies wirkte nach und nach
abkühlend, ja kränkend auf Dannecker’s Künstlerstolz.
Da erschien um diese Zeit im Atelier Dannecker’s
ein feiner Kenner des Schönen, der Frankfurtei- Kunst-
mäcen Staatsrat Moritz von Bethmann. Ei' war ganz
verloren in Bewunderung des Kunstwerks und widmete
demselben überschwängliches Lob. Als er von der ent¬
mutigenden Nichtbeachtung des Kunstwerks seitens des
Königs erfuhr, ermutigte er Dannecker trotzdem dringend
zur Ausführung in Marmor. In der Folge trat er mit
lern Künstler insbesondere auch durch dessen Schwager,
Hofrat Heinrich Rapp, in lelihaften Gedankenaustausch.
Bereits am 6. Oktober 1807 schreibt Rapp an v. Beth¬
mann :
„Dannecker’s Ariadne wartet nur auf den
Marmorblock; sie wird dann zum bleibenden Ruhm
des Künstlers und künftigen Besitzers sich ins Dauernde
gestalten. — Ich habe eine heimliche Freude daran,
dass ich noch eine Vorliebe für dieses göttliche Bild
bei Ihnen bemerke. Sie dürfen die Könige fragen:
„Und wer hat ein gleiches V“ Es ist ohne Vorurteil,
wenn ich glaube, dass die ganze moderne Kunst nichts
besseres hat.“
Als V. Bethmann darauf noch keine bindende Er¬
klärung abgiebt, wird Rapp dringender, indem er
unterm '2. Februar 1808 mitteilt;
„Für Dannecker’s Ariadne in Marmor entsteht
Konkurrenz. Noch einmal wünscht man sie in ganzer
Größe und fürs andere in halber Lebensgröße zu haben.
Ich für meinen Teil wünschte sie aber Niemandem als
Ihnen. Waren Sie doch der erste, welcher die Aus¬
führung in Anregung brachte! Können Sie sich dazu
entschließen, so bitte ich um gütige Antwort und sie
bleibt die Ihrige.“ —
Daraufhin gab Staatsrat v. Bethmann eine vor-
läuflge Erklärung ab, welche bewies, dass es ihm mit
der xlcquisition ernst war.
Inzwischen war der Marmorblock eingetroffen, und
Dannecker ließ im Glauben an Bethmann schon im
Juli 1810 mit den zeitraubenden Vorarbeiten zur Marmor¬
ausführung beginnen. Von diesen Vorarbeiten spricht
ein Brief Rapp’s vom 16. Dezember 1810, dem nunmehr
der verabredete Vertrag beigelegt war, welchen Rapp
auf Wunsch Bethmann’s entworfen hatte, v. Bethmann
Unterzeichnete diesen Vortrag unverzüglich am 20.
Dezember 1810, während sich Dannecker Zeit gönnte
und erst am 24. März 1811 seinen Namen dem be¬
deutungsreichen, historischen Aktenstücke anfügte. Den
Preis wollten beide Kontrahenten, wie aus schriftlichen
Bemerkungen zu ersehen ist, ursprünglich geheim ge¬
halten wissen. Er soll (nach Stuttgarter Angaben) die
Summe von 30000 fl. = 54 000 M. betragen haben.
ln diesem von Rapp entworfenen Vertrage ver¬
pflichtet sich Dannecker, ..die oben erwähnte Statue an
niemand Anderen als an Herrn v. Bethmann zu über¬
lassen, wenn ihm gleich noch so viel darauf geboten
würde oder er durch Überredung oder Gewalt dazu
veranlasst werden sollte“. (Aus diesem Grunde hat
auch — nebeiihei bemei'kt — der Sohn des Staatsrats
V. Bethmann, der k. preiiß. Generalkonsul Moritz Frei¬
herr V. Bethmann, später d. i. Ende der vierziger
Jahre noch das Gypsmodell der Ariadne von Wagner
in Stuttgart erwoi'ben, „damit keine gleichgroße Nach¬
bildung des Kunstwerks hergestellt werden könne.“)
Nach Ausfertigung des Vertrags Dannecker’s mit
V. Bethmann förderte Danuecker die Vorarbeiten durch
DANNECKER’S ARIADNE.
247
seine Hilfskräfte in angelegentliclister Weise, so dass
Rapp am 5. August 1811 mitteilen durfte:
„Die Ariadne kommt allernächstens unter Dannecker’s
Hände, da die Vorarbeiten fertig sind.“
Drei volle Jahre widmete nunmelir der Meister
begeistert und unausgesetzt der Marmorausfübrung
seines Lieblingswerks. 21 der scliönsten Frauen Schwa¬
bens batten für Einzellieiten bei der Vergleichung und
für die Scliönheit
des Details bei der
Ciselirung geses¬
sen, ähnlich wie ja
auch noch Frau
Fossetta den Arm
für die 1809 ent¬
standene Dan-
necker’sche Wie¬
sennymphe am
Stuttgarter k. An¬
lagensee lieh.
Im August
1814 war das
Kunstwerk vollen¬
det, wenn es auch
erst am 19. Juni
1816 von Stutt¬
gart abgeschickt
werden konnte,
weil das für die
Aufstellung be¬
stimmte Gebäude
(Ariadneum) nicht
früher fertig zu
stellen war.
In allen Krei¬
sen Stuttgarts Wal¬
es bekannt, dass
das Kunstwerk in
Dannecker’s
freundlich ge¬
schmücktem Heim
den Blicken der
Beschauer zugäng¬
lich sei.
Hier thronte
es in wunderbarer
Schöne und Voll¬
endung. Ergreifend wirkte auf Jeden der harmonische
Linienfluss, die attische Vollendung, der gemütbestrickende
Rhythmus, das reiche Innenleben und das charakteristische
Gepräge maßvoller edler Ruhe. Es machte den Eindruck
eines hellenischen Kunstwerks aus dem Perikleischen Zeit¬
alter, aus der Blütezeit der hellenischen Plastik. x\lt und
Jung drängte sich in bewegter Stimmung herbei, um den
Meister und sein Werk zu feiern und dem Bedauern über
Ariadne, Marmorstatue von Dannecker. Rüokausiclit.
den baldigen Verlust einer epochebildenden schwäbischen
Künstlerleistung wehmütige Worte zu leihen. Die Elite
des Geistes, die berufenen Kenner des Schönen und un¬
gezählte Bewunderer umstanden täglich teils in laut sich
äußernder Begeisterung, teils in schweigendem Erstaunen
dieses Muster klassischer Schönheitsgestaltung.
Um diese Zeit kam der zu Besucli in Stuttgart
weilende Kaiser Alexander von Russland in Dannecker’s
Atelier und gab
seinem freudigen
Ei'staunen über die
Ariadne so unver-
liohlenen Aus¬
druck, dass König
Friedrich nach¬
denklichwurde und
den Entschluss
fasste, das Werk
für den Kaiser zu
acquiriren.
Unter der Hand
ließ er sich nacli
dem Preis erkun¬
digen, musste aber
zu seinem großen
Ärger erfahi'en,
dass Jas dem Kai¬
ser zugedachte Ge¬
schenk in die Hän¬
de eines Frank¬
furter Patriziers
übergehen sollte.
Nunmehr for¬
derte er die Rück¬
gängigmachung
des Kaufs, da ja
Dannecker in sei¬
ner Eigenschaft
als Hotbildhauer
seine Werke in
erster IJnie dem
König anzubieten
halte, was hier ver¬
säumt worden sei.
Herr v. Beth-
mann schien aber
nicht geneigt, frei¬
willig zurückzutreten. So kam es zu \'erhandlungen, in
welchen sich Dannecker darauf berief, dass er seiner
Pflicht als Hofbildhauer durch wiederholtes Vorzeigen des
Werkes voll nachgekouimen sei.
Die Behörden entschieden zu Gunsten v. Bethmann’s,
und grollend wandte sicli der König ab, da das herrliche
Kunstwerk aus seinen rebengrünen Landen nach Frankfurt
entführt ward. Ganz Stuttgart trauerte über den Verlust.
•248
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
Kein Geringerer als der Busenfreund des Staats¬
ministers V. Wangeulieim, der Dichter Fr. Rückert, der
damals mit dem Epigrammatiker Hang das Cotta’sche
Morgenblatt in Stuttgart redigirte, hat der Stimmung
der Stadt dichterischen Ausdruck verliehen und zwar in
zwei anspruchslosen, leicht hingeworfenen unbekannten
Gelegenheits-Gedichten, die in der Gesamt-Ausgabe der
Rückert’schen Werke bis heute nocli fehlen^ und von denen
ich bereits in meiner großen Euckert-Biographie be¬
richten konnte.
DIE MUSEEN ITALIENS
UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
VON G. FRIZZONL
V.
N Venedig ist sehr viel, ja vielleicht nur
zu viel geschehen. Vernünftig ist die vor¬
genommene Sonderung der Malerwerke
von den Skulpturen. Letztere nämlich,
von denen eine ganze Anzahl, meistens
kleinere Sachen, in der kgl. Gemälde¬
galerie aufgestellt waren (in dem Saale, in dem früher zu¬
gleich die Handzeichnungeu sich befanden), wurden samt
den Münzen, den Medaillen und den Plaketten, in besonderen
Räumen des zum Museum eingerichteten Dogenpalastes ver¬
einigt. Ein merkwürdiges, bis jetzt kaum beachtetes Hoch¬
relief in Bronze ist dasjenige, welches uns in einer Ab¬
bildung des obengenannten Bandes vorliegt, und das auf
ganz genrehafte Weise drei gesattelte in Gegenwart eines
Stalljungen fressende Pferde darstellt, wohl nur der
Teil eines ursprünglich ausgedehnteren Werkes von dem
obengenannten Eiccio. Noch mehr wird man sich aber
an °der ebenso einfach als würdevoll, im Geiste der
Bellini gedachten Büste in Bronze erbaneu, von einem
gleichzeitigen, aber kaum zu bestimmenden Meister, so¬
wie an dem vom klassischen Altertum inspirirten mar¬
mornen Hochrelief von Tnllio Lombardi u. a. m.
Auch in der archäologischen Abteilung sind manche
gute Stücke vereinigt worden, da Venedig zu Zeiten
der Republik das Glück zu Teil ward, durch ihre Be¬
ziehungen zum Orient sich echte griechische Werke zu
verschaffen.
Von der neuen Anordnung der Sammlungen in der
Galerie der Kunstakademie ist schon vielfach und in
verschiedenem Sinne die Rede gewesen. Seitdem nun
längere Zeit über das Zustandekommen dieser Ände¬
rungen verflossen, mag es uns gestattet sein, mit ruhigerer
Einsicht zu urteilen und zu schließen, was daran mehr
oder weniger lobenswert ist. Alles in allem genommen
will es uns scheinen, als hätte man von Seite der höheren
Leitung der Kunstangelegenheiten gar zu sehr der Be¬
strebung huldigen wollen, die Kunstwerke nach dem
chronologischen Prinzip aufzustellen. Die Lokalität der
Akademie, so wie sie gebaut ist, passt eben entschieden
(Schluss.)
nicht zur Durchführung eines solchen Prinzips, und
muss der Umstand dem Besucher heutzutage in mehreren
Räumen in nicht eben angenehmer Weise fühlbar werden.
Die Umwandlung, die z. B. gleich bei Ersteigung der
großen Dopiteltreppe der mächtige Saal mit der ver¬
goldeten Decke (welche die eingefügten Dekorationsbilder
von Paolo Veronese und von Domenico (Jampagnola und
den Fries mit den Malerporträts enthält) erfalmen, im
Vergleich mit seiner frühei'eu Ausstattung, ist wahr¬
lich nicht als eine erfreuliche zu bezeichnen. War auch
nicht alles daselbst früher aufs beste gedacht, um die
einzelnen Bilder ihrem Werte gemäß zur Geltung zu
bringen, so war doch der Raum der ausgedehnten Wände
im Ganzen schön ausgefüllt und verleibte ihm einen
reichen, würdevollen Eindruck, welcher jetzt bedeutend
beeinträchtigt erscheint, seitdem man den Saal par
force dem früheren Zeitalter der Malerei hat einräumen
wollen, wodurch vorwiegend Gemälde von kleineren Di¬
mensionen den stattlichen von früher substituirt worden
und folglich eine Leere in den oberen Teilen der Wände
entstanden, die man vergeblich mit müßigen eingelegten
Rundbildern, welche nichts anderes als Künstlernamen
enthalten, zu füllen gesucht hat.
Um so mehr aber erscheinen die Bilder in den zwei
weiter gelegenen Hauptsälen überhäuft und zusammen¬
gedrängt, ja so sehr überhäuft, dass an einigen Stellen bis
fünf Reihen Bilde]-, die einen über die andern, zu zählen
sind, was doch etwas zu weit getrieben ist.
Allgemeinen Beifall haben hingegen die zwei neu
eingerichteten achteckigen Säle gefunden, der eine gänz¬
lich dem reizenden Cyklus der Ursulalegende von Car¬
paccio geweiht, der andere einer Anzahl von beträcht¬
lichen meistens historischen Gemälden aus derselben Zeit
der venetianischen Schule. Dass dabei freilich manche
Mängel, d. h. manche Übelstände, woran die Bilder
hauptsächlich durch die Schuld heilloser Restaurationen
gelitten, näher und schreiender ins Auge fallen, als zur
Zeit, wo sie in den eben genannten größeren Sälen hingen,
muss mau sich gefallen lassen.
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
249
Der gelniigenste Teil liiiisiclitlicli der allgenieiiieii Re¬
organisation ist nach der’ Ansrliiuinng des Schreibers dieser
Zeilen derjenige, in dein die Werke inäl-Üger Dimensionen
(meistens Madonnen-und Heiligenbilder), die den Bellinis,den
Vivarinis und deren Schülern und Nachfolgern angehiiren,
aufgestellt sind. Hier findet man eine wahre Oase der geis¬
tigen Kühe, in der sich bei Hetrachtung so gar nia.iii her
edler und sinniger Schöpfungen der wahre Kunstfi'eund
zu vertiefen gefällt.
Verlässt man aber diese unser innigstes Gemüt
fesselnden Säle und tritt, sich linker Hand umwendend,
auf die Schwelle einer Thüre, die zu einem um mehi-ere
Stufen niederer gelegenen noch im strengen Styl eines
frühen Quattrocento ausgestatteten Kaum führt, so wird
man von einer andern neuen Erscheinung übei'i’ascht, die
Thüren verursacht worden sind, wobei zu liemerken ist,
dass von diesen beiden Thüren nur die eine früher exi-
stirt hat und von Tizian bei Ausführung seines AVei’kes
berücksichtigt worden war, indem die Öffnung dii-ekt unter
der Mauer zu stehen kommt, welche die Stufen ti’ägt, auf deren
Höhe der Hohei»riester die junge Maria empfängt. Sehr zu
bedauern ist hingegen, dass die zweite Thüre (neben dem
Fenster) wegen anderer’, schon im 17. .Tahihumlert voi’-
genommener innerer Baueinrirhtungen ci'öffnet wui'de
während das Meisterstück des Cadoriners itoch nicht
von seiner urspi'ünglichen Aufstellung entferrrt woi’den
war und somit in der andei’ii Ecke einer Verstümmelirng
unterworfen wui’de, die heutzutage (fi'eilich ohne Schuld
der jetzigen Vei’waltung) recht fühlbar dem Auge des
Beschauei’s entgegenti’itt, indem sie auf brutale AVeise
Der Tempelgaug der Maria von Tizian in der k. tlalerie zu Venedig.
wiederum eine gewaltige AA’irkung auf Augen und Seelen
hervorzurufen bestimmt ist, nämlich die Erscheinung des be¬
rühmten, die ganze AA'and neben dem Fenster einneh¬
menden „Tempelganges der Maria“ von Tizian, an seinem
ui’sprünglichen Platz aufgestellt, wo es erst wieder sein
günstiges, vom Künstler berechnetes Licht erhalten hat
und zur vollen Geltung gelangt ist. Hier’ soll nämlich
erinnert werden, dass dieses Gemälde, als im Jahi’e 1807
die alte Scuola della Caritä, welche in diesem Kaum
ihren Sitz hatte, geschlossen wurde und die Gemälde¬
galerie in der Lokalität des ehemaligen Klosters aufge¬
stellt, in einen der größeren Säle ülierti’agen wurde.
Um aber der großen Leinwand eine regelmäßige Form
zu geben, mussten einige Ergänzungen daran vorge¬
nommen wei’den, damit die Lücken ausgefüllt würden,
die an dem unteren Teil der zwei Enden durch die
die Beine der Figuren abschneidet, welche in dieser
Ecke angebracht sind. AVie es hingegen zuvor aus-
gesehen haben muss, mag aus der guten Photographie
von Anderson entnommen wei'den, wo die beiden Er¬
gänzungen wahrzunehmen sind; und zwar diejenige
rechter Hand vom Beschauer nach der Erfindung des
llestaurators, die andere abei’, wie auzunehmen ist, nach
ei’haltenen Angaben des früheren Zustandes des Ge¬
mäldes. Demnach wäre die Bemerkung J. Burck-
hardt’s im „Cicerone“ nicht ganz zutreffend, wenn er
meint, dass die späteren Einfügungen in der Leinwand
den beabsichtigten Effekt fötal geändert hätten, da
jedenfalls ursprünglich nur eine Lücke berücksichtigf
werden musste in einer für die Komposition übrigens
recht gleichgültigen Stelle. AVie dem auch sei, sicher
ist, dass das herrliche AA9?rk Tizian’s (welches, beilänlig
•'O
Zeitsebrift für biltlende Kunst. N. K. Vlll. II. lo.
Sechste Anbetung der Könige von Sandro Botticelli in den Cfflzien zu Florenz. Nach Photographie Alinari.
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
251
gesagt, nicht im Jahre 1530 entstanden, wie bis jetzt
angenommen worden, sondern bereits 1538 fertig war),
in seiner neuen, d. h. ursprünglichen Aufstellung eine
ganz außerordentliche Bewunderung unter den Besuchern
der Galerie her vorzurufen im stände ist, die man denn
in der guten Jahreszeit scharenweise vor der bezau¬
bernden Erscheinung sich versammeln und verweilen
sieht, um den Eindruck vom obengenannten genialen Ästh¬
etiker zu teilen, dass das Werk „unmittelbar aus dem
venezianischen Lelmn geschöpft und mit einer Fülle von
Nebenmotiven ausgestattet ist, die mit einer erstaun¬
lichen Frische und Schönheit dargestellt sind“.
Noch sei hier erwähnt, dass für die Erhaltung und
die bessere Aufstellung der llandzeichnungen alter
Meister in demselben Kunstinstitut besondere Maßregeln
getroffen woiden sind. Ähnliches ist für die aus wert¬
vollen Elementen bestehende Sammlung von Kupfer¬
stichen in der kgl. Binakothek zu Bologna zu bemerken,
mit der sich zu dem Behuf, seiner bekannten Kompetenz
gemäß, Dr. Paul Kristeller befasst hat.
VI.
tiberschreiten wir nun den Apennin und halten uns
eine Weile in Florenz auf, wo auch einige bedeutende
Zuwachse in den öffentlichen Sammlungen aufzuzeiehnen
sind. Zu demselben gehört ein liebliches Rundbild in
emaillirter Tonerde von Andrea della Robbia, welche aus
einem Zimmer des Staatsarchivs geholt worden und
vom Unterrichtsministerium dem Museo Nazionale im
alten Bargello zugewiesen wurde. Ebendaselbst befindet
sich ein merkwürdiges Marmortaufbecken aus dem XII.
Jahrhundert u. a. ni. In den Uffizien aber verdienen
speciell einige Werke der Malerei hervorgehoben zu
w'erden. Erstens eine Venus (seit längerer Zeit im ersten
tosk. Saal auf einer Staff'elei aufgestellt), in flüssiger
Tempera auf Leinwand von Lorcnzo di Crcdi ausge¬
führt, als förmliches Aktstück behandelt, in der man
freilich den genialen, lebendigen Zug eines Botticelli
(gedenkt man seiner auf der Muschel stehenden Venus)
gar zu sehr vermisst, trotzdem man an der feinen, ge¬
schmackvollen Ausführung den Meister von seiner guten
Seite erkennen mag. Das Bild stammt aus einer der
kgl. Villen in der Nähe von Florenz.
Interessanter in Betreff der eigenen Bedeutung,
wenn auch nur ein kleines, fragmentarisches Stück, ist
ein ideales Profilköpfchen eines Jünglings, die Stirne
mit einer Blätterranke gekrönt, im Hintergründe eine
felsige Landschaft. Aus diesem im Magazin der Galerie
vorgefundeiie)! zarten Bildchen weht ein so leonardesker
Duft, dass mau es einem tüchtigen, immerfort auf Ent¬
deckungen von Werken Verrocchio’s und seines großen
Schülers bedachten Fachmann, als welcher Dr. W. Bode
bekannt ist, kaum zur Schuld berechnen kann, dass er
1) S. den II. Band der italienischen Ausgabe von Crowe
und Cavalcaselle, S. 39.
es in seinem Buche über die italienischen Bildhauer der
Renaissance dem Meister selbst zuschreibeu will. Sicher
steckt in dieser feinen Figur mehr vom Wesen desselben
als iu manchen anderen ihm seit einer Reihe von Jahren
zugeschriebener Werke; vergleicht man es jedoch mit
anderen Schöpfungen aus der Mailändischen Schule,
namentlich mit denen eines strengen Nacheiferers des
toskanischen Meisters, wie dies Gio. A)it. Boltrafßo ge¬
wesen, so wird die Bestimmung, die nunmehr in der
Galerie dafür angenoinmen, dass es diesem Maler auge¬
höre, als völlig gerechtfertigt erscheinen. Den ent¬
scheidendsten Beweis dazu würde der unmittelbare Ver¬
gleich mit einem schon längst als Boltraffio beglaubigten
l’rofiliiorträtchen seines als Heiliger Sebastian dargestellteu
Jünglings liefern, welches sich im Privatbesitz iu Ber¬
gamo befindet und dem Florentiner schlagend ähnlich
ist, sowohl im Typus als in der Malerei. Schon die
Zusammenstellung der Photographieen von Anderson
und von Dubray stellt diese Thatsache in volle Klarheit.
Von höherem Belang aber ist die Errungenschaft
eines Tafelbildes von BulMcelli^ welches sich bis vor
kurzem gleichfalls im Depot verloren hatte, im XVII. Jahr¬
hundert aber der Unbill einer vollständigen Übermalung
unterworfen worden war, welche iu diesen Tagen vom
Restaurator der Galerie nur teilweise entfernt werden
konnte und auf die Vermutung brachte, dass das Ge¬
mälde von Sandro unvollendet hinterlassen worden , in¬
dem es an und für sich seinen spätesten Jahren anzuge¬
hören scheint. Es handelt sich nämlich um nichts weniger
als eine ganz außerordentlich flgurenreiche Kompo¬
sition einer Anbetung der Könige. Es wäre dies das
sechste Gemälde desselben Gegenstandes, das uns vom
tüchtigen Florentiner Meister bekannt ist; da ihm
ja heutzutage von der aufgeklärteren Kritik drei in
der Londoner National- Galerie zuerkannt sind (wenn
man nämlich die mystisch und symbolisch gedachte Ge¬
burt Christi vom Jubiläumsjahr 1500 auch dazu rechnet),
deren zwei vom Schreiber dieser Zeilen zuerst als solche
erörtert,') eine schon längst bekannte im Saal des Don
Lorenzo Monaco in den Uffizien, eine fünfte in der kgl.
Ermitage zu Petersburg, zuletzt die eben an das Licht
der Welt ausgestellte. Wie aber nur mit dem Fort¬
schritt der Zeit ähnlichen Werken Gerechtigkeit wider¬
fährt, bezeugen gerade diese Werke von Botticelli. Stehen
ja noch heutzutage im offiziellen Londoner Katalog die
zwei ersten, widil seiner früheren Zeit angehörigen,
worin sich die Anklänge mit seinem Lehrer Fra Filippo
fühlbar machen, willkürlicher Weise unter dem Namen
von Filippino Lippi, während dasjenige in Petersburg bis
1861, als es erst Waagen richtig bestimmte, unter dem
1) S. ,,Art.e Italiana del Riuascimento“, Saggi critici di
(iustavo Fi'izzoni, Milano. Fratelli Dumolard editori 1891
S. 236 und folg. — Gute und nicht zu teuere Abltildungen
bei dem Photograjilien Mariano Morelli in der National-
Galerie zu haben.
32*
Die lleimsueliuiig; aiigublicli vüu Kka Caknen ale im Palazzo Baiheiiiii io lioiu; uiielj i’hotogiapliie Amlei'suii,
DIE MUSEEN ITALIENS UND IHRE NEUEN ERRUNGENSCHAFTEN.
253
Nanieu des Andreas Maiitegua hing, und das letztgenannte
in Florenz von Crowe und Cavalcaselle nur als eine Arbeit der
Schüler oder ini Atelier des Meisters thätiger Gehilfen
ausgeführt erachtet wurde. Sieht man sich aber jetzt
das letztere Bild genauer an, so fühlt man sich zum
Schluss gezwungen, besonders wenn man von der Malerei
abstrahirt und nur auf die Art und Weise das Ganze zu
kompoiiiren und zu zeichnen achtet, dass wir da in der
That eine Schöpfung des Meisters vor uns haben, so
voll Leben und dramatischen Schwung ist alles, was
sich darin bewegt und mit dem leidenschaftlichen Eifer
nach dem Centrum, dem göttlichen Neugeborenen zu¬
wendet. Desgleichen deuten ja auch die Typen der
Figuren, der Faltenwurf, die Gebärden, speciell aber
das Spiel der Hände, durchaus auf Botticelli selbst und
ließe sich aufs Innigste mit den berühmten Zeichnungen
zu Dante’s Göttlicher Komödie im Hamilton’schen Ber¬
liner Kodex vergleichen. Dass unter den vielen Personen,
die im Gemälde Vorkommen, gar mancher Zeitgenosse
vom Maler in Augenschein genommen worden, ist gewiss
anzunehmen; ohne zwar dem Direktor der Galerie in
all den in seinem Berichte geäußerten Vermutungen
folgen zu wollen, möchten wir doch mit ihm unsere
Freunde auf die tiefsinnig dreinschauende Figur mit
langem Bart und Haar aufmerksam machen, die ungefähr
in der Mitte der Gruppe zur Rechten des Beschauers
mit der Hand vor dem Munde sich uns darstellt, in der
möglicherweise sein Mitbürger Lionardo da Vinci in
vollem Mannesalter dargestellt sein könnte.
Von verschiedenen anderen, weniger wichtigen Er¬
werbungen soll hier abgesehen werden. Hingegen ver¬
dient eine Neuigkeit betont zu werden, die die Erweite¬
rung der Abteilung der Handzeichnungen alter Meister
betrifft. Es ist nämlich dafür ein neuer Saal einge¬
richtet, der erstens dazu bestimmt ist, die früher in
einem Raume der Sammlung in der Kunstakademie auf¬
gestellten Kartons aufzuuehmeu, um damit die ange¬
messene Vereinigung von ähnlichen Erzeugnissen zu be¬
zwecken, außerdem aber auch noch erlaubt hat, einen
andern Teil des reichhaltigen Vorrates von Zeichnungen
auszustellen; eine Zuvorkommenheit, w'elche vielleicht
als zu weitgehend genannt werden dürfte, wenn mau
bedenkt, dass die beschränkte Zahl der sich füi- solche
Sachen Interessirenden dieselben beriuemer und wohl nocli
besser mit den Vorlagen eigener Mappen betrachten, und
dass gar manche Zeichnungen an und für sich dui'ch die
beständige Ausstellung im vollen Licht mit der Zeit nur
leiden können.
VII.
Wir beschließen diese unsere zusammenfassende
Musterung mit dem, was in den Sammlungen von Rom
vorgenommen worden. Da käme denn vor allem die
unter der Verwaltung des römischen Unterrichtsmiuisters
Baccelli veranstaltete Gründung der kgl. Natioualgalerie
der alten Kunst in Betracht, welche, w’ie anderswo
schon bemerkt worden, ihre Installirung iin ehemaligen
Palazzo Corsini alla Lungara gefunden. Da wir uns
aber bereits in einem anderen Artikel darüber aufge¬
halten, ') so wäre es überflüssig, uns hier wiederum da¬
mit zu beschäftigen.
— Eine heiklige Frage, die seitens der italienischen
Regierung aufgeworfen, ist diejenige der derselben ge¬
bührenden Rechte über die Galerieen, welche unter dem
Zwang des Fideikommiss stehen. Um eine Bestätigung zu
erlangen über alles, was in diesen Bereich gehört, wurde
eine Untersuchung in den fürstlichen Palästen von einem
dazu beauftragten Kommissar veranstaltet, welche im
ganzen mit gutem gegenseitigen Verständnis ausgeführt
wurde, wie aus dem Bericht im 1. Band der Gallcrie Na-.w-
nali von Herrn Giulio Gantalamessa zu entnehmen. Diese
fürstlichen Sammlungen sind sov/ohl die dem Kumst-
publikum bekannten, Borghese und Doria, als andere, wekdie
demselben nie aufgeschlossen worden, wie diejenigen, die
sich in den Privatwohnuiigen der Familien Barberini,
Chigi, Colonna, Sciai’ra etc. betinden. Letztere haben
die Gelegenheit zu manchen merkwürdigen Entdeckungen
geboten, und beschränken wir uns diejenigen, die darüber
eingehend benachrichtigt zu werden wünschen, auf ge¬
nannten Bericht und auf Venturi’s Prachtwerk: „Tesori
d’arte ineiliti di Roma“ (in Roma presso D. Anderson
fot. edit. 1896) zu verweisen. Da wird denn speciell
von wichtigen Werken aus der ferraresischen Schule
Rechenschaft gegeben, außer anderen Gemälden von ver¬
schiedenen Schulen. Der Toskana aber gehören zwei
köstliche Bilder auf Holz, aus der Privatwohnung des
Fürsten Barberini, an, deren eines wir hier wiedergeben.
Dass die alte Benennung nach Ghirlandajo nicht stich¬
haltig ist, braucht kaum bemerkt zu werden ; schwieriger
ist es freilich, diesen Namen durch einen anderen zu er¬
setzen, der völlig überzeugend wäre, obwohl neulich von
\"enturi derjenige von Fra Carnevale vorgeschlagen
worden ist. So können diese beiden, durch die fein bewegten
und gruppii teii Figuren in ihrem grauen an die Schule
von Fra Filippo Lippi erinnernden Ton nicht weniger
als durch die reichen architektonischen Motive einzig
dastehenden Stücke vor dei' Hand noch als wahre Rätsel
aus der reinsten Kunst des (Quattrocento liezeichnet
werden. o US TA V FinZZOyT.
1) S. ,,Neue 2iliotogTa])hisdie Aafmibiiieii in Italien'“ iin
.laniiai'heft dieser sellien Zeitschrift.
NEUES AUS DEM BERLINER UND KARLSRUHER
RADIRVEREIN.
()R mir liegen zwei Mappen Original-
jadiningen. heransgegelien vom Berliner
lind Karlsruher Kadirverein. Wenn man
die vor einiger Zeit im Kölner AValraif-
Ricliartz-Mnsenm veranstaltete Ausstel¬
lung von deutschen Originalradirungen
gesehen hat, wo auch Berlin und Kaidsruhe vorzüglich
vertreten war, so macht, in der Rin Icerinneruiig an das
dort Geschaute, das hier in der Mappe Gesammelte einen
etwas spärlichen Eindruck, da die Mitglieder der Vereine
fast ausschließlich Landschafter sind, was ja liei Karls¬
ruhe in der Lage der Sache hedingt ist, hei Berlin je¬
doch anders sein könnte; denn warum, wenn die Frage
erlaulit ist, birgt der Berliner Radirklub nicht die Namen
Köpi)ing, Geyger, Liebeiauann, Schennis? was zweifelsohne
ein vollständigeres Gesamtbild liefern und der Kritik
eine interessantere Aufgabe stellen würde.
1 »ie Berliner Mappe birgt acht Namen mit je einem
Blatt. — Eilcrs’ Strandbild ist in der Komposition
für unseren Kunstgeschmack ein wenig zu novellistisch.
W'ährend uns die modernen Marine- und Strandbildmaler,
der Mesdag und Israels und nach diesen die ganze jüngere
Generation, den Fischer im Kampf mit der Natur dar¬
stellen, wodurch in die Auffassung ein Zug von Größe,
von Dramatischem kam, finden wir bei Eifers den Geist
des Henry Ritter und der frühen Dänen wieder, kurzum
ein sonniges Fischerfamilienidyll, das uns Modernen uns
dal:iei eidappen lässt, dem gefährlichen archaistischen
Gelüste zu fröhnen, von allen Kulturen, Zeiten und
■Moden den Schaum zu schöpfen, hier eben den ver¬
klungenen Tönen der Landidyllen unser Ohr zu leihen;
was dem Kritiker ja ansteht, dem Künstler alter nicht,
da es die eigene Individualität verfasert, dem subjektiv-
objektiven Impressionisten der Kritik aber ermöglicht,
allen Künstlern gerecht zu werdern, wofern es Indivi¬
dualitäten waren. — Pli. Frank führt uns mit seinem
Blatte „an der Charlottenburger Brücke“ in das AVeich-
bild der Großstadt. Kalt und nass ist der Winterabend,
von den kahlen schwarzen Zweigen, die wie harte Iland-
gerippe in die Luft starren, tropft es, um die brennen¬
den Laternen stehen gelbe Dunstringe, und am Geländer
der einsamen Brücke, unter deren nassem Gebälk zwei
stumme Schwäne kreisen, ruht ein in Schwarz gehülltes
Weib; was steht sie da so einsam und schaut ihr
schwankes Spiegelliild in der dunklen Flut: ein Spiaing,
ein Schrei, und wieder ruhig kreisen die Schwäne, während
fern hinten, wo die Fenster der Häuser eileuchtet, der
Leltenslärm der Großstadt weilerrast wie ein glänzendes
lärmendes Ungeheuer. Solche Gedaidien drängen sich
dem Beschauer lieim Betrachten des Blattes von Ph.
Frank auf, das technisch so geschickt wie äußei'st
stimmungsvoll erdai ht ist. — • R. Fricac hat mit seinen
früheren Löwenbildei-n, besonders mit dem jetzt in der
Dresdener Galerie befindlichen, berechtigtes Aufsehen ge¬
macht. Die dem Hefte beigegebene Radiruug eines
Königstigers ist ein Abglanz der früheren tüchtigen
Leistungen des unlängst mit der großen goldenen
Medaille ausgezeichneten Malers. In dem Blatte „Ver¬
lassen“ von Iloffmann v. Faller alchcn wirkt die Aus¬
führung der Gebäulichkeiten ein wenig kleinlich, was
der sonst stinimungsvollen Auffassung des Motivs ein
wenig Abbruch thut. — Von hervorragender Charakteristik
der Naturauffassung ist Walter Leistikow. Leider ge¬
hört er zu jenen Künstlern, deren ganzer AA^ei't sich
nicht nach der Radii'ung beurteilen lässt, da er in der
Farbe steckt. Die Farbe ist das Erzeugnis des Tem¬
peramentes und das Temi)erament das Erzeugnis der
Bodenbeschaffenheit — Walter Leistilvow ist daher der
typische Repräsentant der nordöstlichen Landschaft, deren
schlichtem Äußern sein tiefes Empfinden wahre Zauber¬
töne zu entlocken weiß. In dem Bhitte „Weiden“ der
Radirer-Mappe kann man nur studiren, wie sich seine
Naturauffassung in der Linie darstellt, die hier von der
charakteristischen, synthetischen Art der Japaner ist. —
K. Ocniko's „Waldinueres“ ist eine, wenn auch nicht
sonderlich originelle, so doch stimmungsvoll und fein
erdachte AValdlandschaft, deren technische Qualitäten
von gleichem Werte sind. — Die Mappe beschließt Fritz
StaliVs „Idylle“, ln einem Park, oder sonst wo in einem
baumigen Grunde, der nicht näher moditizirt ist, steht
ein AVeib in langem fließenden Gewände, eine jener
zarten kränkelnden Treibhausblüten des High-life, wie
sie Stahl so meisterhaft schildert, um die Lippen, die
einst nach den letzten Reizen der Genusssucht lechzten,
ein Zug schmerzlicher Entsagung, die Stirn umwölkt
von tiefem Sinnen. — Die Karlsruher Majtpe umfasst
neun Namen: Gattiker, Hansen, Hein, Hoch, Kallmorgen,
Krauskopf, Pötzelberger, Schöiileber und Weiß. — In
i.nr'RF.IN >'iTP> ORTGIIIAI.-H/iVDIRUNCt TTU BERLIN
NEUES AUS DEM BERLINER UND KARLSRUHER RADIRVEREIN.
255
Hermann Gattiker lernen wir einen Künstler kennen,
der mehr noch wie Leistikow in seinem oben erwähnten
Blatte die Landschaft in eigen stilisirter, von japanischem
System ansgehender Weise znr Darstellung bringt. Es
giebt wohl keine Kunstart, die so wie die der Japaner
anf das enropäische Kunstschaffen von Einfluss gewesen
wäre: zuerst anfangs der siebziger Jahre, als das Haupt
der Pariser Impressionisten, ]\Ianet der Liclitbringer von
ihnen, die liuministische Klarheit des Tons und die Will¬
kür der Komposition lernte; lieute, wo der Hang nach
Stil, nach berechneter Vereinfachung der Mittel ein so
großer geworden ist, trifft man in der europäischen Kunst,
am ausgesprochensten bei dem Pariser Valloton und dem
M ünchener Th. Th. Heine, der Japaner ])sychologisch scharfe,
alles Neliensächliche aufsaugende, synthetische Linie. So
auch bei Gattiker. Seine Bäume bestehen aus ein paar
Grundlinien, die förmlich nach geometrischen Gesetzen
anschwellen, sich verzweigen, wieder eins werden. Bei
einer solchen Naturauffassung ist der Gegenstand alles
Nebensächlichen entkleidet und das Grundwesen in eine
geschlossene Linie gebracht, es ist dasselbe, was das
Wesen des Volksliedes ausmacht. Die eigene, aquatinta¬
matte Art des Drucks ti’ägt zur erhöhten Wirkung des
Gewollten bei und giebt den Entwürfen einen aparten
Reiz. — Tn dem Triptychon „Menschenleben“ versucht
sich Hansen in Klinger’s philosophischer Weltauffassung,
ohne freilich dessen erschütternde Gedankentiefe und
Ausdrucksfähigkeit zu erreichen, in dem er uns in drei
Strophen das alte Epos des jungen Mannes singt, der
erst titanisch den Himmel stürmt, dann entmutigt in
den schwarzen Schlund des Todes stiert, um schließlich,
geheilt von übermenschlichem Wollen, die Früchte ruhiger
Lebensarbeit vom Baume zu brechen — während Ilchi
mit seinem Königssohn zu jenen archaisireiiden Künst-
lei’ii gehört, die die Sehnsucht ihrer Träume aus der
rauhen Wirklichkeit forttreibt in jene fihhen Märclien-
zeiten, da stahlgepanzerte Jünglinge Prinzessinnen freiten,
die so ätherisch zart wie die strahlenden Narzissen ihrer
geheimnisvollen Gärten. — Sprangen diese Künstler
durch ihre Neuheit ein wenig aus dem Rahmen der be¬
kannten Karlsruher Kunstart, die mit einem gesunden
Naturalismus vor Jahren von sich reden machte, als das
reformatorische spinatgrün und schlohweiß der ersten
Plain-airisten überwunden, so finden wir jenen in den
folgenden Malern auf dem Gebiet der Radirung wieder.
Diese Karlsruher zeichneten sich sowohl durch eine
koloristisch kräftige Farbe wie eine Motiv wähl aus, die
auch noch etwas anderes in der Natur sah wie Felder
roten Kohls und weiße Giebel in Sonnenbeleuchtung. Tn
ein geheimnisvoll stilles Waldplätzchen führt uns Hoch,
mit seinem „Sommer“. Feine, schlanke Pappeln, dünn
belaubt, — wie Böcklin sie liel)t, mau möchte sagen als
Symbol des Wachstums, der Naturreife, Sommerreife,
Sommerruhe — streben neben dünnem Unterholz gen
Himmel, sich in der stillen Tiefe eines klaren, kühlen
Wassers spiegelnd, während der Wind stille steht, kein
Vogel singt und die Zeit aussetzt wie etwas, das seinen
Höhepunkt erreicht: das ist ein Sommertag, wie er an
einem heißen Tag nur nachmittags um 3 Uhr sein kann,
da Pan schläft, das ist der „Sommer“. — Kallnwrgcii
erreicht in seiner „Straße in Chioggia“ durch die ge¬
schickt gewählte Einfachheit der Technik, indem er mit
Ausnahme von flüchtigen Umrissen den weißen Grund
stehen lässt, die Illusion der gelben Sonnenreflexe des
Südens, während Krauslwpf uns mit wuchtigen Strichen
unter die Stämme eines dunklen Waldinnern versetzt.
— rötzclhcrrjcrs „Nymphe“, ScJ/ünlcber’s meisterhafte
„Marine“ und „drm Blumen“ von TUef/J (s. d. Tafel) be¬
schließen die Ivarlsruher iliappe.
Es sind nun fast zwei Jahrzehnte her, dass Max
Ivlinger aus dem küustlerischeu Unvermögen zur Farbe
unter dem Zwange eines Ausdruckmittels, das ihm den
wihlen Bienenschwarm seiner Ideen fangen half, die
Radii'ung neu Iielebte. Seitdem ist in allen Kunstcentren
aus dem Drange, intime Eckchen und Fleckchen, caprieiöse
Einfälle und dramatisch l)ewegte Scenen leicht und aus¬
drucksvoll festhalten zu können, die Liebe zur Radirung
aufgegaugen wie eine unter der Erde schlummernde Saat
nach warmem Frühlingsregen. München, Karlsruhe, Berlin,
Düsseldorf etc. gründeten seinen Klub für Originalradiruug
und legen uns in jedem Jahr eine Mappe auf den Tisch,
deren anderer \Trzug nicht zum wenigsten <ler ist,
dass sie es auch dem weniger mit Glüeksgütern Ge¬
segneten ermöglicht, seinem Auge an der Wand einen
Ruhepunkt zu gönnen, an dem es in müßiger Stunde
eine geistvolle Erquickung findet. Und wie in Deutsch¬
land, so wird die Radirung mit gleichem Eifer im Aus¬
lande betrieben. lu Frankreich ist Rops, der große
Psychologe des Weibes, Meister; in England Whistler,
der „geschickteste Wildling der Radirung“ seit Rem-
brandt; in Skandinavien handhabt Zorn in gleich rück¬
sichtslosem Naturalismus die zarte Nadel wie den kräftigen
Pinsel. RUDOLF KLEIN (DÜHSKLDORF).
KLEINE MITTEILUNGEN
linickiiKitui's l’iinticiildrKckc der Kyl. rillen I’liiiiliilliek
in Miinrlien. Nicht mit Unrecht hat man den Aut'sclnvnng',
den die SHlkiitik in der Knnsttorschnn<>; o'cnommen, in /n-
saminenhanij; o-ehracht mit der Eliiindnng resp. Verroll-
kommnnnp- der pliotoo’raphischen 'JVchnik. Auch die grölUen
Meister stilkritischer Forschung', deren ( Jedäclitnis iilier einen
auHerordentlichen anfgespeic.herten Formenscliatz verfügt, he-
dürfen ziirNach[)rüfung eines umfangreiclien photograidnschen
Ap[iarats. Und wenn uncli der Itesitz eines solclien Apparats
nicht ohne weiteres herrliche Forschungsresnl täte gavantirt, wie
manche oer mit der tarmera hente reisenden jungen luinst-
historiker glanhen, so ist er doch andererseits unenthelniich.
Während aber ilie günstigen Lichtverhältnisse in Italien eine
lebhafte Reproilnktionsindustrie hervorriefen, die zwar nicht
immer durch (lüte, wohl aber durch Menge des gelieferten
Materials für den EArsclier erfreulich war, ist es in Dentsch-
laml hente noch anlierordentlich schwierig, immer die ge¬
wünschten l’hotographieen in gewünschter (lüte zn erhalten.
Die grollen (lalerieen sind in ihren Haupt werken muster¬
gültig durch Ibaun imblizirt, da es aber unter den Kunst¬
forschern auch minder liemittelte giebt, so ist diesen von
vornherein ilie Frweibung des kostbaren l'.iann’schen Materials
abgeschnitten. Und wer auf Reisen sein Vei'gleichsmaterial
mitzuführen gewöhnt ist, wird an den schönen aber grollen
Hraun’schen lllättern ein etwas umständliches Reisegejiäck
besitzen. Vor allem musste llraiin bei der Kostspieligkeit der
lllätter sich in der Regel auf Hauptwerke Ijeschrärdcen.
Bruckmann will den Bann brechen, der für den minder be¬
mittelten Kunstforscher über unserrm (lalerieen lag. Er ver¬
öffentlicht fast zwei drittel aller in der l’inakothek zu München
enthaltenen (lemälde in vorzüglichen dauerhaften l’igment-
drucken und giebt die Blätter zu 1 M. jiro Stück ab. Die¬
selben haben das handliche E\)rmat von etwa 21x27 cm
und sind selbst bei tignrenreiehen Bildern so sclnirf und so
gut aufgenommen, dass auch feinere Detsiils und kleinere
Zeichnungen hinreichend wieilergegeben werden, um Ijci
stilkritischen Vergleichungen als Unterlage zu dienen. Dass
ilie schönen rigmentdrncke auch in künstlerischer Hinsicht
allen Anforderungen entsprechen, versteht sich. Es braucht
nicht ausdrücklich darauf hingewiesen zu werden , dass da¬
mit sowohl dem großen l’ublikum als den Facharbeitein
dieses (lebietes eine längst vermisste Unterlage für Studium
und (lenuss gegeben ist. Besomlers für knnstgeschichtliche
Seminare wird es außerordentlich wichtig sein, jedem Studiren-
den die zu vergleichenden Blätter unmittelbar in die Hand
geben zu können und nicht die Menge vor einem doch nur
einzelnen sichtbaren Blatte versammeln zn müssen. Was
die Ausführung anbelangt, so entsjirechen die mir vorliegen¬
den Blätter allen berechtigten Anforderungen. Auf Altdorfer’.s
hülischer Landschaft mit dem Inuligen (leorg ist bis in die
'riefen hinein die liehandlung der großen Lanbmassen er¬
kennbar und die eigentümliche 'l'echnik mit den zeich¬
nerisch aufgesetzten jiastosen Lichtern vollUommen dentlich.
Sogar bei Altdorfer’s Ale.xanderschlacht sind im Vorder¬
gründe die Details der einzelnen Krieger noch erkennbar,
der ^Vagen des Darius tritt klar hervor, nml bis in die Ferne
hinein ist die ilnftig werdende Lamlscliaft, die eigentümliche
Zeichnung der Wolkengel »ilde so genau sichtliar, dass bei
leidlich gutem (ledächtnis man fast der einzelnen Farbentöne
an der betreifenden Stelle sich wieder erinnern kann, und die
scharfe Zeichnung des Vordergrundes, die schummerige
'rechnik der fernen Berge sehr wohl sich unterscheiden lässt.
IHrich A]it's klare, etwas magere 'J'önnng auf dem Bilde
l'iirakothek Nr. 21)2 a, seine eigentümliche Zeichnung der
Finger und des Halses an der l'lvangelistenligur, sogar die
Einzelheiten der 'Leu felgest alt an der Höhle im Hintergründe
sind klar erkennbar. In Hans Baldung’s Markgrafen- Porträt
sind die feinen aufgesetzten Haarstriche, die sclniife lineare
Konturirung, sogar die feinen Risse in der F’arlieniläche
bomerklich. Auf Dürer’s (leburt Uliristi auch die Hirten
im fernen Hintergründe und der verkündende ]<lngel scharf
ansgezeichnet. Natüi'lich lässt sich die weiche tonige Mahl¬
weise des Rubens auf dem Bilde der reuigen Sünderin,
die kleinliche fein vertreibende Technik Ratfael’s in der
Madonna 'Fempi nml die ganz anders geartete Feinmalerei
des Slingeland auf den betr. Blättern sehr dentlich wmhr-
nehinen. Man kann also, mit diesen Hilfsmitteln ausgerüstet,
bis zu einem gewissen (Irade auch auf solche Unterschiede
aufmerksam machen, sofern man im Vortrage etwa in der
Lago ist, jeden Fjinzelnen mit einem Abzug auszurüsten.
Bruckmann hatte dabei den Vorteil, in der Benennung und
der übrigens sehr gut und deutlich gegebenen Unterschrift
unter Anführung der Pinakothek-Nummer auf dem so sorg¬
fältig und immer erneut durchgesehenen Münchener Katalog
fußen zu können, so dass man hier nicht wie bei so vielen der
italienischen Blätter, die oft falsch, iingenau oder gar nicht
bezeichnet sind, mühsam suchen muss. Die Bedeutung des
Bruckmann'schen Unteinehmens und die Vorteile dessellien
für l'iunst.freunde und Knnstforscher liegen so klar auf der
Hand, dass sie hier noch des weiteren zu erörtern überilüssig
erscheint. M. Sch.
Herausgeber: Carl von Lützotv in Wien. — F'ür die Redaktion verantwortlich: Artur /Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
f'rr-
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KRETA.
VON G. JUS TI.
II.
(Fortsetzung.)
Io». Eovi nach Tulrdo.
NSER Pilger von der „Königin der Inseln“
konnte sich bis jetzt über das Glück nicbt be¬
klagen. Beim Hinanstreten ins Leben hatte
er Gönner gefunden, wie inan sie sich nur im Traume
wünschen konnte. Er war in der Luft des Tizianischen
Hauses zum Künstler
gereift. Seine Bilder
hatten den Beifall
der Großen gefunden.
Nun wohnte er am
Tiber unter dem
Dache des präch¬
tigsten Palastes in
Rom, hatte zum
Spazirengehen am
westlichen Ufer die
Villa weiland Agos-
tino Chigis, und
etwas weiter im
Süden den Palatin,
den Vignola zur Villa
Farnese umgeschaf¬
fen. Wir Alten haben
die ewige Stadt noch
als Stadt der Toten
gesehen, damals
schien sie eine sehr
lebendige , eine neu
auflebende Stadt. Es
war die Ära der
großen Straßenaxen
und Prachtbrunnen,
wo sie die Monumen¬
talphysiognomie er¬
hielt, deren mit so
viel Erfolg in Scene
gesetzter Zerstörung Die Puerta dei
und Verunstaltung uns ebenfalls nun seit einem Viertel¬
jahrhundert zuzusehen beschieden ist. Damals galt
(nach dem Ausspruch Gregors XIV.) Bauen für eine
caritd pidMica, mit der man dem Einzelnen wie dem
Ganzen diene. Wir sehen es aus den ol:»en beschriebenen
Gemälden, dass schöne reiche mit Sachkenntnis gemalte
Architektur als wert¬
vollster Schmuck von
Historien galt. Donie-
nico war Zeuge, wie
hoch Künstler in der
allgemeinen Schät¬
zung standen, als
Vignola (f 7. Juli
1573) unter unerhör¬
ter Beteiligung im
Pantheon beigesetzt
wurde.
Was verführte
ihn, dieses Rom zu
verlassen , nm ein
ungewisses Los in
der Ferne zu suchen?
Ein abenteuerlicher
Hang? derselbe, der
ihn vielleicht erst von
Kreta nach Venedig,
dann von Venedig
nach Rom geführt
hatte ? Aber das
spanische Abenteuer,
wenn es eins war, soll¬
te das Ende seiner
Abenteuer werden. Er
ging um nie wieder¬
zukehren. Aus der im
Weltherrschaftstil
Sol in Toledo. sich neu erhebenden
0‘>
Oii
Zeitsclirilt für bildende Kunst. N. F. YIII. H. ll.
258
DOMENICO THEOTOCOPÜLI VON KRETA.
päpstlichen Residenz, wo inan eben das bronzene Eeiter-
liild Marc Anreis auf dem Kapitol errichtet hatte, kam
er in jene entthronte Gotenveste, ans der eben damals
mit dem Künigshof alles Leben ausgezogen war und wo
die Paläste zn Ruinen wurden. Aus der kosmopolitischen
Stadt, wo, wie Michel de Montaigne fand, jeder Fremde sich
wiezn Hanse fühlt und wo der Unterschied der Rationalität
am wenigsten zn sagen hat, nach dem goldenen Tajo,
wo die Knaben nach den Fremden mit Steinen warfen.
Und da hat ihn das Schicksal festgehalten bis an sein
Ende. Es fehlte nicht an Erfolgen, aber auch nicht
an bitteren Enttänschnngen. Unter dem Einfluss des
Ortes und der Vereinsamung ging rasch eine Wandlung
in ihm vor. Er wurde etwas ganz anderes, als sein ita¬
lienischer Lenz verheißen hatte. Statt zu einem Gra^co-
Venezianer von der Art und dem Maß jener Gefeierten,
deren Spuren bisher seine Leinwand aufgewiesen, wurde
er — der größte Sonderling in den Annalen der neueren
Malerei. Wie Schmetterlingsflügelstaub flelen die vene¬
zianischen Farben ab von seiner Palette in jener trocke¬
nen und scharfen Luft der kastilischen Berge. Er er¬
füllte Stadt und Provinz mit erstaunlichen AVerken, in
denen, tmtz des unheimlich überspannten Selbstgefühls, das
sjianische AA^esen jenes Zeitalters Philipps II. einen selt¬
samen, halb bestrickenden, halb widerwärtigen Ausdruck
fand. AVie im Traum verschwand die Kunde von dem,
was er früher gewesen, und niemand vermochte mehr
diesen spanischen Greco in den einst gefeierten AVerken
seiner Jünglingsjahre wiedei'zuerkennen.
Thatsächlich ist über die Beweggründe dieser Reise
nichts bekannt, als was in den Akten des Kapitels von
Toledo steht: „Er kam zu uns, um den Altar von S°.
Domingo zu malen.“ Er mag auch von den Einkünften
der dortigen Kathedrale und ihres Pi’älaten und von der
Kunstliebe ihrer Domherrn gehört haben. AVahrschein-
lich al)er hat er Toledo nur als Etappe zum Hof Phi-
lipi)S II. angesehen. Der Escorial war im Bau; der
König suchte italienische Maler, er hat um Paul Vero¬
nese werben lassen. In den sechziger Jahren, als Greco
noch bei Tizian war, waren dort unter seinen Augen, viel¬
leicht nicht ohne seine Hilfe, jene Escorialbilder entstanden :
das Abendmahl, der heil. Laurentius, die Magdalena im
Garten, der Adonis. Wenn jener gekrönte Gemälde¬
schwärmer seinen alten Meister über alle stellte, nun, der
junge Grieche konnte ihm mit Sachen aufwarten, die
denen des Cadoriners zum Verwechseln ähnlich sahen.
In der That hat er sich einige Jahre nach seiner Über¬
siedelung um eine Arbeit im Escorial beworben. — Der
äußere Anstoß kam aber vielleicht auf folgende Weise.
Nie war der Verkehr des toledanischen Klerus mit
Rom so lebhaft gewesen, wie in dem Jahrzehnt 1566
bis 76. Im Jahre 1559 hatte sich das Unerhörteste
ereignet, von dem die Annales ecclesiastici Spaniens be¬
richten: der Erzbischof von Toledo, Bartolome Carranza,
der angesehenste spanische Theolog des tridentinischen
Konzils, einst die rechte Hand der blutigen Maria Tudor,
den der Kaiser nach Yuste au sein Sterbelager berufen
hatte, er war der lutherischen Ketzerei beschuldigt und
von den Sendboten der Imxuisition in Tordelagniia ver¬
haftet worden. Es war ein tückischer Streich des Gro߬
inquisitors A^aldes, der sich einst selbst auf den Stuhl
von Toledo Hoffnung gemacht hatte. Nach siebenjähriger
Untersuchungshaft in Valladolid, die nach der Absicht
seiner Todfeinde eine ewige werden sollte, hatte nur der
Befehl des Papstes Pius A^., aber vei’stärkt durch die
Drohung des Interdikts, den König, der sich gegen eine
Bloßstellung des naffionalen Glaubensgerichts aufs hef¬
tigste sträubte, dazu gebracht, Cari'anza’s Überführung
nach Rom zu gestatten. Der Prozess währte noch zehn
Jahre; Pius V. war von der Rechtgläultigkeit des I’rimas
überzeugt, aber sein Nachfolger fand es i)olitischer, mit
den Gegnern zu transigiren. AAJihrend diesei' Zeit hatte
das Kapitel von Toledo, schon um der Elire seiner
Kirche willen, treu zu dem Erzbischof gestanden, zwei
seiner Mitglieder waren zu dessen Dienst in Rom be¬
stimmt worden. Carranza starb kurz nach der Unter¬
zeichnung eines AAJderrufs der angefochtenen Siltze und
ward im Chor der Dominikanerkirche S. Maria soi)ra
Minerva beigesetzt.
Nun war der Dechant von Toledo, Diego de Castilla,
damals zum Testamentvollstrecker einer vornehmen
Klosterfrau, und zugleich mit der Sorge für den Neubau
ihrer Kirche und deren Gemähleausstattnng betraut
worden. So groß war das Interesse, das er an der Stiftung
nahm, dass er selbst eine beträchtliche Summe l)ei-
steuerte. Er mochte Gründe haben, sich diesmal, obwohl
es in J’oledo an Kirchenmalern nicht fehlte, nach Italien
zu wenden. ATelleicht hat man dortClovio befragt, dessen
Miniaturen Plulipp II. schätzte und kaufte; im Jahi-e 1565
hatte er eine Anzahl dem Escorial überwiesen. —
AVas war das für ein Schauplatz, auf den sich
Domenico im .Jahre 1575 versetzt fandV
Toledo.
Ein Granitfelsen, umschäumt von dem zwischen
Ruinengeröll sich durchwindenden giünlichen Tajo, an
drei Seiten umragt von schroffen, jenseits des Stromes
aufsteigenden Steinwänden, eine von der Natur ge¬
schaffene Feste, wie vorausbestimmt, als Sitz krie¬
gerischer Dynastien, die Brandung der Eassenkämpfe zu
brechen; nun schon seit drei Jahrhunderten in fast allen
Ijebensadern unterbunden, nur noch durch Transfusion
am Leben erhalten, — das ist heute die alte Stadt der
Concile, die geistliche Kapitale Spaniens, der Scherben¬
berg Castiliens, — Toledo.
Über dieser Klippe, oben umsäumt von einem zer¬
brochenen Kranz aral»ischer Mauern und Thore, mudejarer
und gotischer Kirchen und Klöster, gebleicht von der
Glut eines dön'enden Sommers, gepeitscht von schnei¬
denden AA^interstürmen, ülier diesem in klarster Luft
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KRETA.
259
so wunderbar scharf sich abzeichnenden hehren Stadt¬
bild schwebt ein Zauber zusaniniengedrängter Erin¬
nerungen, wie einst über der Stadt der sieben Hügel.
Denn auch dies hispanische Rom hat die Poesie der
Verlassenheit und des Verfalls, die Majestät des Todes,
die seine in mehr als tausend Jahren angehäuften
Schichten von Denkmälern und Trümmern verklärt.
Das kümmerliche Alltagsleben der Gegenwart drängt
sich hier nicht dreist dazwischen, es bringt nur den
Konstrast hinzu gegen die aus dämmeriger Ferne riesen¬
groß erscheinende Vorzeit, deren Symbole uns auf Schritt
und Tritt begleiten, von den Linien jener Brückenbogen
unten bis hinauf zu dem trotzigen Würfel des Alcazar;
zwischen den ungezählten Gedenktafeln und -Bildern der
kampflustigen Geschlechter, die hier Wacht gehalten
und geschwelgt, der stolzen Priester, die da geherrscht
und die ganze civilisirte und die neue Welt für ihr
Iviperial Toledo tributpflichtig gemacht hatten.
Die Stadt war stolz, durch mehr als drei Jahr¬
hunderte des Halbmonds ihre mozarabische Kirche und
Liturgie bewahrt zu haljen; sie wollte auch als Haupt¬
stadt des christlichen Reiches durch katholische Gesin¬
nung vorleuchten. „Die Herren Toledos, schrie)) 1526
Navagero, und besonders der Frauen sind die Priester,
die prächtige Häuser haben und triumphiren, indem sie
sich das beste Leben der Welt schäften, ohne dass
jemandem einfällt sie zu tadeln.“ Nach der Eroberung
(1058) waren die Castilier mit der Gründung von Kir¬
chen und Klöstern dergestalt vorgegangen, dass sich die
Stadt (wie Gamero, der Geschiclitschreiber Toledos sagt)
mit raschen Schritten in eine weite Thebais zu verwandeln
schien. Deshalb hatte König Alfons der Weise (1252
bis 84) die Zahl ihrer Klöster auf fünf beschi'änken
wollen. Nach den Tagen des großen Kardinals von
Spanien, Pedro de Meudoza, der dieses Edikt erneuerte,
sollen bis zum Ende des XVL Jahrhunderts fünfzig
Paläste von Königen, Infanten und Rittern und über
sechshundert bürgerliche Häuser solchen Stiftungen
zum Opfer gefallen sein.
Gleichwohl bewahrte Toledo sein intensiv maurisches
Gepräge, das auch heute noch in dem Stadti)lan wenig¬
stens offenbar ist. Im Anfang des sechzehnten Jahr¬
hunderts bestand es fast noch unverfälscht. Derselbe
Venezianer fand im Labyrinth seiner engen, krummen
und steilen Gassen die Adelshäuser ganz im Geschmack
der Ungläubigen, außen auffallend schlicht, die Gemächer
um einen marmorbelegten Patio, Wände, Thüren und
Decken nach dem bekannten Schema der Alhambra.
Die Zeit al)er, in die uns das Leben des Greco ver¬
setzt, war gegen solche Erinnerungen schon empflnd-
licher geworden. Wir lesen, dass der Gouverneur des
Erzbistums während der Gefangenschaft Carranza’s,
D. Sancho Busto de Villegas, die Brücken und Thore
zierenden arabischen Inschriften entfernen ließ und
durch frömmere devolos) ersetzen. Der Erzl)ischof
Quiroga bewirkte auf dem Provinzialkonzil von 1580
das Verbot der arabischen Sprache. Denn damals pries
man die Inquisition als den Hüter dieses Paradieses,
seinen Cherub mit Flammenschwert. Und während die
Toledaner in den Cortes von 1553 des Italieners
Antonelli Plan der Schiffbarmachung ihres Stromes ver¬
eitelt hatten, beschworen 1617 Ayuntamiento, Universität
samt allen civilen und geistlichen Körperschaften in
der Kirche San Juan de los Reyes die Verteidigung der
Immaculata Conceptio gegen die Dominikaner. Als Phi¬
lipp II. die Zeit gekommen dünkte, sich als echten
Spanier zu zeigen, zog er mit dem Hof von Valladolid
aus und erschien im Jahre 1559 zu Toledo, zum ersten
Male ohne sein l)isheriges vlämisches Gefolge, von den
längst ausersehenen spanischen Vertrauten umgeben. Er
hielt hier die Cortes von Castilien, auf denen dem Prinzen
gehuldigt und die Vermählung mit Isabel von Bourbon ver¬
kündigt wurde; er berief das Kapitel der drei Ritter¬
orden, um den Feldzug nach Oran vorzubereiten. Bei
dem Stiergefecht auf dem Platz Zocodover traten fünf¬
hundert Kavaliere kostümirt alla moresca auf. Die
Fenster des elien im Renaissancestil wiederhergestellten
Alcazar schimmerten von dem Kerzenglanz der Hofbälle,
deren Sterne Don Juan von Österreich und Alexander
Farnese waren.
Niemand ahnte, dass dies für Toledo die Strahlen
einer untergehenden Sonne waren. Es zeigte sich bald,
dass die Ansprüche einer ganz veränderten Zeit mit
den Zuständen der mittelalterlichen Stadt nicht zu ver¬
einigen waren. Ja nicht einmal der König vertrug sich
mit den hochfahrenden Domherren. Als er durch Ver¬
haftung eines bei'üchtigten Bravo das eifrig gehütete
Asylrecht verletzt hatte, verhängte die Geistlichkeit
das Interdikt über die Stadt (1560). Der König ant¬
wortete, indem er den Verurteilten au einem hohen Galgen
aufknüpfen ließ. — Aber seit er (1561) seine Residenz
nach Madrid verlegt hatte, und die Diiilomaten und
die Großen nebst Anhang ihm uachgefolgt waren (nach
Tiepolo belief sich die Zahl der Auswanderer auf fünf-
uudzwanzigtausend), verflel die Stadt so rasch, dass man
ihr nahes Verschwinden vorausberechnen zu können
glaubte. Die Seidenindustrie, bisher die Quelle ihres
Wohlstandes, versclnvand, dank den verkehrten Gesetzen,
))is auf einen armseligen Rest. Gewerbe, die vor kurzem
noch ganze Straßen füllten (heißt es in einem Memorial
von 1617), sind ausgestorben; Häuser in den besten
Straßen stehen leer; was einstürzt, wird nicht wieder auf¬
gebaut; die übriggebliebenen fünftausend Bewohner leben
mit hundert Entbehrungen. Und so schleppte Toledo sich
Jahrhunderte hin. Wenn der Fremde durch die men¬
schenleeren Gassen irrte, und plötzlich auf ein weites
Feld von Ruinen, Bergen von Ziegeln heraustrat, da
konnte es ihn dünken, als sei die Zeit nicht fern, wo
die stolzeste Kathedrale Spaniens hier thronen werde,
wie S. Apollinare in Classe oder Sankt Paul vor den
33*
260
DOMENICO THEOTOCOPULl VON KRETA.
Mauern, eine Basilika ohne Gemeinde, eine Königin der
Wüste.
Denn eines war unverändert geblieben: die Kirche,
der erzbischöfliche Stuhl des heil. Ildefonse, mit seinen
300000 Dukaten Einkünften. „Die Kirche (hat ein
Sohn der Stadt gesagt) war die einzige Ursache, dass
Toledo nicht verschwand von der Karte Spaniens.“ Sie
gab der Stadt ihr Gepräge. Tempel und Klöster, manch¬
mal wie in einem Bündel zusammengedrängt: es ist als
sollten die eingegangenen Heiligtümer eines Reiches hier in
ist diese einsame, stille, stolze Stadt durch hundert kleine
Adern mit der Kulturwelt im Osten und Norden in
\ erbinduiig geblieben. Sie erscheint dem Modernen wie
„der Traum eines Altertümlers, verwirklicht durch den
Zauber eines Feenmärchens“ (Imbert). Ginge einmal
in einem socialen Erdbeben (dessen Furcht mit Alpdruck
auf unserer abendländischen Kultur lastet) alles ringsum
zu Grunde, man könnte einen Abriss der Kunst der
Jahrliunderte aus Toledos Denkmälern wiederherstellen.
Maurische Moscheen, Ex-Synagogen und Thore vertragen
Die Kirche Sau Giorgio Jei Greci in Venedig..)
einem Depot verwahrt werden, harrend der Zeit, wo die
Nation wieder damit gesegnet werden wollte.
Und in einem Punkt hat die hohe Kirche von Toledo,
die einst selbst nach dem römischen Pontifex nicht viel
zu fragen pflegte, ihre Fühlung mit der Welt draußen,
sollen wir sagen, mit der Humanität bewahrt. Toledo,
rühmt der Reisende Ponz, ist die Stadt, wo die Künste
wieder autlebten; in keiner sind sie so belohnt worden
wie in dieser „kaiserlichen“. Darum ruht noch heute auf
ihr auch ein profaner Glorienschein. Seit König Ferdinand
im Jahre 1227 den Grundstein zum neuen Dom gelegt
und nun zwischen den maurischen Glockentürmen und
Absiden die französisch -gotische Kathedrale sich erhob.
sich hier mit dem Statuenheer gotischer Chorwände,
Claustros und Retabel; hinter Portalen besetzt von eng¬
brüstig grämlichen Aposteln niederdeutscher Steinmetzen
schweben die unkörperlichen Schatten giottesker Hei¬
liger; lieidnische Groteskenorgien der Renaissance wechseln
mit den nordisch - zarten Gebilden flandro-kastilischer
Triptychen ; und selbst die drangvoll bewegten Propheten
Buonarroti’s haben hier ihre Nischen gefunden . . .
Der Retahlo von S°. Domingo.
Dofia Maria da Silva, eine edle portugiesische Dame,
einst mit der Kaiserin Isabella nach Spanien gekommen,
hatte nach dem Tode ihres Gatten, D. Pedro Gonzalez de
DOMENICO THEOTOCOPULI VON KliETÄ.
•2(il
Mendüza, Mayorclomo des Palastes, im 38. Lelieiisjahr den
Sclileiei’ genommen, undnnn (sie starb am28. Oktober 1575)
ihr binterlassenes Vermögen für einen Nenbau der Kirche
ihres Klosters, S®. Domingo de Silos, einer alten Gründung
Alfons VI., bestimmt. Die Kirche neben der uralten
Parochie von S. Leocadia, und der Retablo, wegen dessen
Domenico nach Toledo kam, sind noch vorhanden, zieiii-
licb unverändert, wie sie vor mehr als dreiliundert Jahren
in nicht mehr als einem Lustrum von Nicolas de Vergara
mit Hilfe der besten Kräfte Toledos fertig gestellt
worden waren. Sie hat nur ein Schiff, mit einer durch-
Statuen der drei theologischen Tugenden von weißbemaltem
Holz, auf den Enden des mittleren Gesimses stehen die
Proidieten; ihre Posen erinnern an Jacopo Sansovino.
Das Hauptgemälde der himmelfahrenden Maria ist
an Ort und Stelle jetzt durch eine Kopie ersetzt. Das
Original reizte die Begehrlichkeit des Infanteu D. Sebastian,
in dessen zu Pau in den Pyrenäen zeitweilig aufge¬
stellter sehr merkwürdiger Galeide der Verfasser dieses
bizarr dämonische Werk in den siebziger Jahren wieder¬
holt gesehen hat. Das wilde Feuer des skizzirenden, von
Farbe schweren Pinsels (nebst Spatel), breit und scharf
Toledo von der Alcäntara-Brüoke gesehen.
gehenden jonischen Pilasterordnung; ihre Verhältnisse
sind hoch, streng berechnet, in der etwas kahlen und
steifen Formensprache dieser Zeit.
Der Retablo, dessen steilen architektonischen Aufbau
der Baumeister J. B. Monegro lieferte, besteht aus einem
dreiteiligen Hauptgeschoss und einem mittleren gegiebel-
ten Aufsatz. Die große Rundbogennische war bestimmt
für ein Gemälde der Asunta, der gekrümmte Giebel um¬
schließt ein Rund der heil. Veronika; kleinere Bogenblenden
an den Seiten die Gestalten des Täufers und des Apostels
Paul, Vierecke über ihnen die heil. Benedikt und Bern¬
hard. In der bekrönenden Tafel des oberen Teiles sieht
man die Anbetung des Kindes. Auf dessen Giebel lagern
zugleich, die stark gesättigten ungebrochenen Tinten, grün,
goldbraun, gelber Ocker, Karmin, Indigo, zuweilen auch
changirend, durch überall eingeworfene schwärzliche Fäden
auf einen düsteren Ton gestimmt — bannten das Auge
an diese hier so seltsam deplacirte Leinwand, die nur in
dem gedämpften Licht einer CcqnUa 7uai/or und zwischen
Weihrauchwidkchen gesehen wei'den sollte. Ein außer¬
gewöhnlich persönliches Werk! Man fühlt, der Grieche
will diesen stolzen Priestern, Rittern und Damen
Kastiliens zeigen, was er ist, und zugleich in der dortigen
Malergesellschaft mit ihrer glatten Vollendung und
frostigen Färbung, ihren allgemeinen Gesichtern und
manierirten Posen ein Gefühl ihres Nichts hervor-
262
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
bringen. Denn er betrachtet sich zngleichals Evangelisten
Venedigs, des ,furor6‘ eines Tintoretto, Tizianischen
Farbenzanbers, und aller ihrer sinnlichen Reize.
In der Komposition erkennt man freilich die Asnnta
derFrari, wenn auch in einen ganz andern Dialekt übersetzt,
in Temperament und Mimik, wie in Form und Farben¬
gefühl. Dieselbe Schar der zwölf mächtigen Männer,
dieselbe Heilige, im Begriff, der Erde zu entschweben,
sehnsüchtig aber noch mit einem Nachklang des Schmer¬
zes das Licht des endlich anbrechendeu Sabbaths be¬
grüßend; endlich die holdseligen Engel als heitere Kolo¬
raturen zwischen jenen tief ergreifenden Accorden.
Doch ist das alles profan leidenschaftlicher, unkirch¬
lich verwildert, wie die Improvisation eines genialen
Vagabunden. Maria, wie gebettet in dem gelben Licht¬
glanz, das volle weiche Antlitz zurückgeworfen, die
dunklen Augen eingesunken wie nach einer Fieberuacht,
die Arme (mit den langen schönen Händen) ffist wage¬
recht ausgelu'eitet, und zwar in einer die Bildfläche
diagonal schneidenden Linie; — diese Engel, braunlockige
spanische IMädchen in sehr gewagten Dosen mit starken
Schultern und Armen und melancholischen, verschlafenen
gi'oßen Augen in den runden stumpfnasigen Gesichtern,
die langen Hälse aus weiten, scharfgebrochenen, weißen
Draperien hervorwachsend — Avas für seltsame Gebilde
aus Unschuld und Üpiiigkeit gemischt!
Am weitesten weicht er ab von seinem Meister in
den Aposteln. Diese sind nicht mehr und nicht weniger
als Modelle seiner neuen Umgebung, unverfälschte Söhne
der Gebirge von Toledo. Man muss erstaunen, wie rasch
er sich in die Art dieser Kastilier hiueingesehen hat.
Von jener heftigen, demonstrativ aufgeregten, Avogenden
BeAvegung des Venezianers ist da keine Spur. Auch ihr
Antlitz spiegelt kaum das Wunder Avieder, das sich vor ihi-en
Augen so greifbar vollzieht. Sie gebärden sich Avie die
Räte eines Consejo, die auch die Depesche der ver¬
lorenen Armada mit der formalidad rhetorisch-feierlicher
Gestikulationen entgegennehmen, und eher sterben Avür-
den, als ihren gravitätischen sosiego, ihr vornehmes
flcma einen Augenblick aufgeben.
Paulus und der Täufer sind überaus imposante Ge¬
stalten, von mächtigem Bau, nicht ohne Erinnerungen
Michelangelo’s, al)er gemalt in jenem ihm neuen, schwärz¬
lichen Ton; bemerkenswert sind die großen, edelgeformten
Hände. — In der Auferstehung begegnen tizianische
Motive aus dem Petrus Martyr und der Verklärung in
S. Salvador.
Denkt mau nun an jene römischen Bilder des Greco
zurück, so Avird man eine Wandlung nicht verkennen,
die sicli also mit seinem Betreten des spanischen Bodens
vollzogen hätte. Die hravura di iocco, der reichliche
Gebrauch des ScliAvarz, die Schlanklieit der Proportionen
zeigen einen starken Schritt zum späteren Manierismus
(Fortsetzung folgt.)
DER HEILIGENBERG VON VARALLO
UND GAUDENZIO FERRARI.
VON G USTA V PA ULI.
Ben potrc) aggiungere eon dispiacere che
taut’ uomo fn poco noto o poco accetto al
Vasari, onde gli oltraniontani, che tutto il
merito misurano dalß istoria, mal lo conos-
cono e negli scritti loro lo ban quasi involto
iiel silenzio.
Jjcvnxi. Storia della pittura ital.
AUDENZIO Ferrari ist einer der Künst¬
ler, die man auch heute noch — trotz
aller internationalen Museen — nur in
ihrer Heimat kennen lernen kann. Da
sind sie verstreut in den großen und
kleinen Städten Piemonts und der Lom¬
bardei, seine Fresken und Altartafeln; und das Schick¬
sal hat es so geAvollt, dass gerade seine besten Werke
in stille kleine Landstädte geraten sind, seitab von
den Straßen, auf denen die Scharen der kunst¬
liebenden Italienfahrer wallen. Daher ist er nur Avenig
IL (Fortsetzung.)
bekannt, obwohl er doch einer der bedeutendsten lom-
bai'diseh-piemontesischen Künstler des goldenen Zeitalters
der italienischen Kunst Avar, einer, der z. B. seinen
populären Altersgenossen Luini um Haupteslänge über¬
ragte. Auch denen, die sich eingehender mit ihm be¬
schäftigen, bereitet er manche Schwierigkeiten und hüllt
sich namentlich in den Anfängen seiner künstlerischen
Entwickelung in ein scliier undurchdringliches Dunkel.
Wer waren seine ersten Lehrer? — Darauf hat noch
niemand eine befriedigende Antwort gegeben. Merk¬
würdig aucli, dass man die Zeit seiner prima maniera,
seines Jugendstils nicht ohne Grund bis zum Jahr 1516
rechnet, bis zu einem Jahr, wo der Künstler viel älter
Avar, als es mancher andere große Künstler je geworden,
etwa fünfundvierzig Jahre alt. ' )
1) Tonctti. Museo storico ed artisticoValsesiano. Serie IV,
Nr. 1. Varallo 1888.
DER HETLIGENBERG VON VAR ALLO END GAUDENZLO FERRARI.
263
In dei’ zweiten Hälfte seines Lebens, über die wir
allein genauer unterrichtet sind, lebte er nacheinander
in Varallo, in Vercelli und Mailand. Und mit diesen
drei Städten sind auch die Hauptwerke seiner künst¬
lerischen Entwickelungsperioden verknüpft. — Vor 1508
hatte er seinen ständigen Wohnsitz in Varallo, wie aus
der Unterschrift zweier Urkunden hervorgeht, die er
1508 und 1509 in Vercelli Unterzeichnete und in denen
er sich Gaudentius de Varali nannte.') Aus dieser Zeit
nennt Colombo, der Biograph Ferrari’s, drei seiner Werke
in und bei Varallo: eine Pietä im Kreuzgang des Fran¬
ziskanerklosters am Fuße des Heiligenberges, die Tafeln
am Altar der Pfarrkirche (San Martino) in Eoccapietra
bei Varallo und die Fresken in der Kapelle der Be¬
weinung Christi auf dem sacro monte (Plan 39). —
Indessen Colombo war ein Papiermensch, der alles, was
er schwarz auf weiß besaß, getrost nach Hause und in
sein Buch trug, der aber den Denkmalen selbst ziem¬
lich ratlos gegenüberstand. Das steife und kümmerliche
Fresko der Pietä wird freilich von der Lokaltradition
Gaudenzio zugeschrieben , es dürfte aber scliwer fallen,
außerdem einen einzigen Grund zu finden, aus dem es
etwas mit unserm Meister zu thun liätte. Sodann die
Altartafeln in Eoccapietra sind freilich wohl unzweifel¬
hafte Werke Ferrari’s, allein es will uns scheinen, als
ob sie ebensowohl wie die Fresken in der Kapelle der
Beweinung Christi einer um etwa zehn Jahre späteren
Zeit angehörten.
Als die frühesten Arbeiten seiner Hand in Varallo
bleiben demnach die Fresken in der Franziskanerkirche
übrig.-) Sie gehören zu den vornehmsten Denkmalen
oberitalienischer Malerei. — Die Anlage der einfachen
Kirche kehrt in diesen Gegenden des öfteren wieder.
Das bekannteste Beispiel dafür dürfte wohl Sta. Maria
Degli Angeli in Lugano sein. Der einschiffige Eaum für
die Gemeinde wird durch eine große Querwand, eine
Art von innerer Fassade vom Chor getrennt. In drei
Bögen öffnet sich diese Wand, von denen die beiden
seitlichen zu Kapellen führen, der mittlere zur Apsis. —
Zunächst ward Gaudenzio mit der Aufgabe betraut, die
linke dieser beiden Kapellen, die der heiligen Marga¬
rethe geweiht war, mit Fresken zu schmücken. Da an
der Hinterwand der Altar mit der Statue der Heiligen
stand, so blieben ihm die im Halbrund geschlossenen
Felder der Seiten wände und das Kreuzgewölbe übrig.
Auf die linke (nördliche) Fensterwand malte er die Dar¬
stellung im Tempel. Maria, eine schlanke Jungfrau,
reicht mit einer eigentümlichen, schamhaft sinnigen
Neigung des Hauptes das Cliristkind dem alten Simeon.
Dahinter stehen Joseph und eine Greisin (Hannah?),
vorn ein blühender Jüngling an einen Stab gelehnt. Das
1) Guts. Colontho. Vita ed oiiere di Gaudenzio Ferrari.
Torino 1881. S. 25.
2) So aucli Giiat. Frixxoiri. Arcbivio storico dell’ arte IV.
(1891.) Fase. ,5.
Bild ist mangelhaft beleuchtet und stellenweise ver¬
dorben. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind die beiden
knieenden Stifterfiguren rechts daneben.')
Auf der rechten Wand sehen wir Christus zwischen
den Schriftgelehrten. Der Knabe steht mit einer etwas
theatralischen Eednergebärde inmitten einer offenen Pfeiler¬
halle auf einem achteckigen Podium, umgeben von der stau¬
nenden Schar der weisen Pharisäer. Von rechts treten Maria
und Joseph herein. Die Laibung des Eingangsbogens
schmückte Gaudenzio mit den nicht näher bezeichneten
Halbfiguren von sechs Propheten, und am Gewölbe erging
er sich in leichten Spielen von Eankenwerk, untermischt
mit Putten und Tiergestalten. Den Mittelpunkt bildet
das Monogramm Jesu, und in den vier Gewölbekappen
sind Medaillons angebracht, die in Grisaillemalerei die
Verkündigung, die Geburt Christi, die Anbetung der
Könige und die Flucht nach Ägy})ten darstellen.
Gaudenzio war ein erfindungsreicher und origineller
Ornaraentist, der sich seinen eigenen, leicht wiederzu¬
erkennenden Groteskenstil ausbildete, und der meistens
die reichen Umrahmungen für seine Altartafeln entwarf.-)
Bei dieser Gelegenheit mag die Sammlung vortrefflicher
Kopieen erwähnt werden, die der erfahrene Kenner Fer¬
rari’s, Herr Giulio Arienta in Varallo, nach dessen orna¬
mentalen Arbeiten angelegt hat, und die er noch immer
weiter ergänzt. Eine Publikation dieser Arbeiten wäi'e
für die Kenntnis Ferrari’s und, rein praktisch, zum Ge¬
brauche an kunstgewerblichen Lehranstalten sehr er¬
wünscht.
Wann sind die Fresken in der Capella Sta. Mar-
glierita entstanden? — In den Handbüchern werden sie
1507 datirt, wobei man sich auf ein paar Inschriften
am Gewölbe beruft. Es steht da zunächst links auf
einer Tafel der Name GAUDETIO, sodann finden wir
in den angrenzenden Gewölbekappen die rätselhaften
Zeichen einer anderen Stelle -X-V-
— Man deutete ziemlich willkürlich diese XV auf die
Zahl des Jahrhunderts und nahm dazu das letzte jener
drei Zeichen, das einer 7 gleichsieht. Wenn diese Be¬
gründung auch keineswegs stichhaltig ist, so düi’fte das
Jahr 1507 aus inneren Gründen doch der thatsächlichen
Entstehungszeit nahekommen. Dass die Fresken jeden¬
falls älter sind als die angrenzenden der Chorwand
(vom .Jahre 1513), ergiebt sich schon daraus, dass an
der Ecke des Eingangsbogens, wo beide Malereien Zu¬
sammenstößen, die Farbe von der Chorwaud her über
die der Laibung an einigen Stellen hinweggeflossen ist.
1) Umrissstiche nach diesem, wie auch nach den meisten
der si)äter zu erwälmenden Gemälde und Skulpturen Ferrari’s
bei Silr. Pianaxxi und Gaud. Bordirja, Opere del pittore e
lilasticatore Ga.ud. Ferrari. Milano 1835.
2) .1. G. Mcijcr äußert diese Vermutung sjiociell für den
berülimten Alta.r di Sa, nt’ Alaindio ini Dome zu t'omo. lle-
pertorium f. Kw. XX. 8. 14T.
264
DER HEILIGENBERG VON VAR ALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
Wie stellt sieli nun hier der Charakter des Künst¬
lers dar?
Wir sehen eine frische Individualität vor uns, einen
Maler, der seine Freude hat an einem lebhaften Aus¬
druck und an starken Gesten, der aber zugleich in jugend¬
licher Befangenheit bestrebt ist, seine Figuren möglichst
zierlich und gefällig hinzustellen, und der dadurcli hie
und da ein wenig affektirt erscheint. Bemerkenswert
ist seine Vorliebe für bauscliige, faltenreiche Gewänder.
Er scheint sich nicht
wenig auf seine ..pan-
ni“ zu gute gethaii
zu haben, und doch
ist seine Gewandbe¬
handlung mit ihren
gedrängten , paral¬
lelen Faltenlagen
mehr manierirt als
stilvoll. — Vollkom¬
men manierirt und
sehr auffallend ist
die Bildung der
Hände mit unmöglich
langen dünnen Fin¬
gern. Auf die Per¬
spektive ist viel Sorg¬
falt verwendet. Die
symmetrische Anord¬
nung der Pfeilerhalle
auf der Disputation
Christi mit den
Schriftgelelirten er¬
innert an die Archi¬
tekturen der um-
brischen Schule. Der
Alte links voim auf
demselben Bilde, der
mit dem erhobenen
Zeigefinger die Auf¬
merksamkeit des Be¬
schauers auf den hei¬
ligen Wimderknaben
lenkt, ist ein Typus,
der uns noch etliche
Mal bei Gaudenzio
begegnet und der auf leonardeske Vorbilder zurückgeht. ')
Dagegen verraten wieder die Propheten im Eingangs¬
bogen unv erkenn! »are Anklänge an die umbrische Weise.
Diese rundlichen Gesichter, diese schweren Augenlider,
diese kleinen Münder mit scharfer Bezeichnung des
Bogens der Oberlippe, die ganze müde Anmut in der
Kopfhaltung stammen von niemand sonst als von Perugino.
Die Technik der Malerei ist sehr flott, die Pinsel -
führung etwas zeichnerisch; charakteristisch sind ins¬
besondere die mit wenigen Strichen aufgesetzten wei߬
lichen Lichter auf Gewändern und Haaren.
Sehr interessant ist der ^Vrgleich zwischen diesen
Fresken und vier kleinen Tafelbildchen Gaudenzio’s in
der Turiner Pinakothek. Diese letzteren, wahrscheinlich
Reste eines verschol¬
lenen Altarwerkes,
sind die frühesten be¬
kannten Arbeiten des
Meisters. Sie stellen
dar; Die sitzende
Figur des segnenden
Gottvaters (Kat. 53),
Mariä Heimsuchung
(Kat.
Joachims
G.vuJiEisZiü FErmAKi; VerkündiguDg Mariä- (Varallo; Sta. Maria Delle Grazie.)
1) Wenn S. Butler in seinem Ex voto S. 255 ft', lebhaft
dafür eintritt, dass dieses das Porträt Stefano Scotto’s, des
Lehrers des Gaudenzio sei, so sind seine Gründe dafür erstens
nicht stichhaltig, und zweitens erscheint mir die Frage nach
der dargestellten Persönlichkeit überhaipit gleichgültig.
Vertreibung aus dem
Tempel (Kat. 57) und
die heilige Anna
selbdritt mit zwei
musizirenden Engeln
(Kat. 58). ■ — Eine
Studie zu dem Kopfe
des Hohenpriesters
auf der Veifreibung
.Joachims bewahrt
das Museum in Va¬
rallo (Tuschzeich-
nuiig weiß gehöht
auf dunkeim Grunde).
— Die gleiche Künst-
lerhaud offenbart sich
unverkennbar in den
gleichen männlichen
Typen (namentlich
der Gottvater mit
seinem wallenden
Barte sehr charak¬
teristisch) , in der
gleichen Gewandbe¬
handlung, den glei¬
chen überschlanken
Händen. Die tiefen satten Farben — ein leuchtendes Rot
ist der bevorzugte Ton — verraten den Koloristen, doch
lassen gewisse Befangenheiten — so sind z. B. die Füße
ängstlich verhüllt — frühe Jugend des Künstlers vermuten.
Merkwürdigerweise bemerkt man hier nirgends einen
Einfluss Leonardo’s oder der umbrischen Schule. Eher
wird man an die ältere lombardisch-})iemontesische Ma¬
lerei erinnert, etwa an Macrino d’Alba, obwohl die Zeich¬
nung weit weniger streng ist.
An die Fresken der Margarethenkapelle schließen
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
•265
sich die der Querwand vor dem Chore an. Es wurde
hiermit dem Künstler eine grohe, beneidenswerte Arbeit
aufgetragen, auf deren Vollendung er sich auch nicht
wenig zu gute gethan haben mag. Das verrät schon
die umständliche Inschrift, die er in zwei Medaillons
in den äußersten Bogenzwickelu auf der Wand an¬
brachte; links; 1513. 1 Gaudentius | Ferrarus Vallis | sic-
cide I pinxit, und rechts fortfahrend : Hoc opus impe | nsis
populi Varalli | ad Christi | gloriam.
Wie die alten
Florentiner , Giotto
und Ghirlandaio, es
gethan hatten, teilte
Gaudenzio die Wand¬
fläche in ein Netz
von Einzelgeniälden.
In die Mitte setzte
er die Kreuzigung
und umgab sie mit
einer dreifachen
Reihe von zwanzig-
kleineren Darstel¬
lungen. In den er¬
sten zehn schilderte
er die Vorgeschichte
der Passion von der
Verkündigung Mariä
bis zum Gebet auf
dem Ülberg, in den
übrigen die Passion,
die Höllenfahrt
Christi und die Auf¬
erstehung. Eine ein¬
gehende Beschrei¬
bung der Bilder glau¬
be ich mir aus Rück¬
sicht auf den verfüg¬
baren Raum ersparen
zu dürfen. Sie sind
sämtlich in dem vor¬
her erwähnten Werke
vonPianazzi und Bor-
diga in Umrissstichen
ahgebildet, und aus¬
serdem von zwei Va-
ralleser Photogra¬
phen Emmanuele Fortiuo und
Pizzetta aufgenommen worden.
So nahe diese Fresken auch stilistisch denen der
Margarethenkapelle verwandt sind, so lassen sich doch
gewisse Unterschiede deutlich wahrnehmen. Die Gewand¬
behandlung ist freier geworden. In der Scene der Be¬
weinung Christi ist sie mit aufdringlicher Bravour ge-
handhabt. — Die Formen der Hände und Füße sind
dagegen noch manierirter. Unglaublich lang und spindel¬
Uaudexzio Feuuaiii: Anbetung des Christkindes. (Varallo; Sta. Maria delle Grazie.)
besser — von Giov.
dürr z. B. die Füße des Johannes auf der Taufe Christi
oder die rechte Hand des Herodes auf dem Bilde nach
der Gefangennehmung. Ebenda finden wir auch in dem
Schergen, der hinter Christus steht, den vorhin erwähnten
leonardesken Typus wieder. Noch einmal erscheint er
auf dem nächsten Bilde in der Person des Pilatus.
Diese Scene ist, nebenbei gesagt, interessant wegen des
Reliefs, das Gaudenzio über dem Thor des „palacium
Pilati“ malte. Es ist eine Laokoongruppe, indessen
nicht etwa ein Ab¬
bild des 1506 ausge¬
grabenen Marmors,
sondern ein Phanta-
siebikR wie es sich
Gaudenzio nach Hö¬
rensagen ausgedacht
hatte.
Von fremden
künstlerischen Ein¬
flüssen möchten wir
wieder den Perugi-
no’s hervorheben,
nicht als ob er so über¬
mächtig wäre, son¬
dern weil er von der
kunstgeschichtlichen
Kritik des letzten
Jahrzeiintes über¬
sehen oder geleugnet
worden ist. Die älte¬
ren Kunstschriftstel¬
ler hatten mit ge¬
ringen Ausnahmen
einen starken Ein¬
fluss Perugino’s bei
Gaudenzio Ferrari
bemerkt. ') Man hatte
dafür , ich möchte
sagen, den symboli¬
schen Ausdruck ge¬
funden, dass Gauden¬
zio unter Perugin
als dessen Schüler
studirt habe. Bei der
Vorliebe der älteren
Kunstgeschichte für
das Anekdotenhafte verfehlte man nicht, dies unbegründete
Histörchen mehr oder minder ausgeschmückt in die Lebens¬
geschichte Gaudenzio’s einzutragen. Dagegen wandte sich
nun mit Entschiedenheit Colombo, der in seinem schwarz¬
weißen Forschungsmaterial nicht den mindesten Anhalt für
ein solches Schülerverhältnis fand. Indessen, wozu der
1) S. die ausfübrliclieii Litteraturangabeii l>ei Culoii/bo
a. a. 0. S. 27.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. II. 11.
34
266
DER HElLlGENßERG VON VAR ALLO UNI) GAUDENZiO FERRARI.
Eifer? Nicht darauf kommt es an, ob Gaudenzio wirklich
im Atelier des Meisters Vaimucci gesessen habe, soii-
deim darauf, dass er von dessen Art sich hat anregen
lassen und dass er diesen Anregungen in seinen Werken
sichtbaren Ausdruck verliehen hat.
Dies scheint ja freilich bei der großen Verschiedenheit
der Charaktere beider Künstler verwundersam. Auf der
einen Seite der alte Eoutinier des Quatti'ocento, der jahraus
jahrein mit häutigen Wiederholungen seine glatten, sü߬
lichen Heiligenbilder in die Welt setzte, auf der andern
Seite eine ungestüme, bis ins Alter jugendfrische Indi¬
vidualität, die den merkwürdigsten Stilwandlungen
unterworfen war, und die es nie zu harmonischer Aus¬
geglichenheit brachte. Man liedenke indessen, wie po-
l)ulär Perugino damals war. Seine leidenschaftslosen
Gestalten in ihrer weichen Anmut, seine leuchtenden
und doch so milden Farben, der ruhige Rhythmus seiner
symmetrischen Architekturen schmeichelten unvergleich¬
lich dem platten Schönheitssinn der Menge, die mühelos
genießen wollte. Er war stets „bello“, wofür zu allen
Zeiten kein ^■olk empfänglicher war als das italienische.
— Es ist nur natürlich, dass Gaudenzio vor allem das
bei ihm bewunderte und suchte, was ihm selber fehlte
— und als solches erkennen wir die ruhige Anmut der
Körperhaltung. Gerade das Gefühl für den ebenmäßigen
Fluss der Linien mangelte Gaudenzio in einem für den
Italiener auffallenden Maße. Seine Gestalten haben etwas
„plötzliches“ in ihren Bewegungen. Das Korrektiv dafür
erblickte er, wie mir scheint, in einer Wellenform der
Körperstellung, die bei Perugino zu einer stereotypen
Anmutsformel gewoi'den ist. Die allei'meisten seiner
Gestalten lassen sich an einem S förmig gebogenen
Draht aufziehen. (Zuweilen, wie in seiner Anbetung
des Kindes in der Münchener Pinakothek, wirkt die
S2)irale Gi’azie der sämtlichen Stellungen geradezu ko¬
misch.) ■ — Man vergleiche nun einmal daraufhin in den
Fresken der Franziskanerkirche Figuren, wie den Joseph
in der „Anbetung des Kindes“, den Johannes in der
„Taufe Cliristi“, den Christus, der vor Kai])has geführt
wird, den Christus auf der Geißelung, den auferstehenden
Christus. Zwei dieser Figuren erinnern unmittelbar an
bestimmte Vorbilder liei Perugino; der Johannes der
„Taufe“ an die gleiche Gestalt auf dem Gemälde Pei'u-
gino’s in der Münchener Pinakothek, und der gegeißelte
Christus an Perugino’s Sebastian auf der Madonna von 1493
in den Uffizien (wiederholt in der Einzelfigur des Louvre,
früher Galerie Sciarra Colonna). Dass Gaudenzio zwei
Jahre vorher, 1511, in seinem herrlichen Altarbihle der
Anbetung Christi in der Marienkirche in Arona die
Maria und das Christuskind mit geringen Veränderungen
dem Bilde Perugino’s entnommen hatte, das sich jetzt
im Pitti befindet, ist eine längst erkannte, aucli von
Colombo angeführte Thatsache. Soviel von den Formen.
In der Farbengebung ist Gaudenzio bereits ganz selb¬
ständig.
Auch hierin hat er die größten Wandlungen durcli-
gemacht. In den Fresken dieser frülien Zeit sind die
vorheiTSchenden Töne ein lichtes Gelb mit orange¬
farbenen Scliatten (daneben oft ein helles Kirschrot) und
als wirksamer Kontrast dazu Ultramarinblau. — Leider
nui' ist die Gesamtwirkung wesentlich beeinträchtigt
durch die Verderbnis, der elmn dieses Blau an den meis¬
ten Stellen anlieimgefallen ist. Nur auf den Fresken
der cappella Sta. Margherita und der obersten Reihe
der Querwand ist das Ultramarin leidlich unversehrt er¬
halten. Bei den sämtlichen anderen Fresken finden wir
an Stelle des Blau entweder — in den Gewändern ein
kaltes Grau mit schwach bläulichem Anfiug oder ge¬
radezu schwarz (Himmel auf dem Gemälde der Kreu¬
zigung). Dies erklärt sich daraus, dass Gaudenzio, um
an dem teuren Ultramarin zu sparen, die betreffenden
Partieen grau und schwarz untermalte und dann nur
mit Blau darüber lasirte. Die Farbe konnte nun von
der mit jenen dunkeln Tönen durchtränkten Kalkschicht
natürlich nicht mehr aufgesogen wei’den und verschwand
mit der Zeit so gut wie gänzlicli. Nur bei genauerem
Betrachten entdeckt man auf jenen Partieen noch Spu¬
ren von Blau. — Durch dieses unselige Verfahren hat
Gaudenzio auch späterhin noch mehrfach die Wiikung
seiner Fresken beeinträchtigt.
An vielen Stellen sind hier — was in der cappella
Sta. Margheritlia nirgends der Fall war — die Orna¬
mente plastisch gebildet, päte sur päte gemalt, so alle
Nimben und einzelne Teile der Rüstung, auf dem Kreu-
zigungsbihl die Helme, der Harnisch des Longinus u. s. w.
Gaudenzio hat diese Technik auch späterliin noch manch¬
mal, obwohl immer seltenei-, angewendet, zuletzt meines
Wissens an den Fresken in San Cristoforo in Vercelli.
In derselben Zeit, wie diese Fresken, muss ein in
Tempera gemaltes Tafelbild mit der Stigmatisation des
heiligen Franz entstanden sein, das ursprünglich die
von Milano Scarognini errichtete Franzenskapelle auf
dem sacro monto schmückte und gegenwärtig im museo
artistico von Varallo aufl)ewahrt wird. *) Es hat gleich¬
falls jene weichen, peruginesken Gesichtstypen. Die
Strahlen, die von dem mit sechs Purpurschwingen schwe¬
benden Kruzifix ausgehen, sind vergoldet. Plastische
Ornamente kommen nicht vor. Übrigens hat das Bild
durch Witterungseinflüsse arg gelitten.
Wenige Jahre, nachdem er die Arbeiten in der
Franziskanerkirche beendet hatte, malte Gaudenzio auf
dem Heiligenberge die Kapelle aus, in der die letzten
Augenblicke Christi vor der Kreuzigung dargestellt
waren.-) Das unansehnliche kleine Gebäude hat mehr-
1) Abgebildet bei Pianazxi und ßordiga. a. a. 0. —
Das Bild ist schon von Lo)iiaz,zo , Trattato della pittura.
Mailand 1585 S. 58.3 erwähnt.
2) „Gesü sj)ogliato dei suoi panni e condotto sul monte
calvario“, eine Scene, die nach der Kreuztragung folgte.
(„Christo condotto alla inorte con la croce alle S2)alle“.) Des-
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAÜDENZIO FERRARI.
267
fache Wandlungen durcligemacht. Nicht lange, nachdem
Gaudenzio mit seinen Arbeiten begonnen hatte, wurde
der Eaiim durch eine Quermauer halbirt, und dement¬
sprechend mussten die Malereien zum Teil von der
Hinterwand auf die neue Seitenwand übertragen werden.
Sodann wurde einige Jahrzehnte später die Bestinuimng
der Kapelle verändert und eine neue Gruppe der Be¬
weinung Christi darin aufgestellt, wie sie sich noch
heute erhalten hat. Von den alten, ziemlich rohen
Holzstatiien der Gau-
denzianischen Zeit
verwendete man
nachmals den Chri¬
stus und zwei Kriegs¬
knechte für die ver¬
wandte Scene, wo
Christus mit der Dor¬
nenkrone auf dem
Haupte vor Pilatus
geschleppt wird. In
jener Kapelle (Plan
31) sind sie noch
heute unter den ent¬
sprechenden leichten
Vermummungen
wohl zu erkennen.
Gaudenzio that
mit seinen Malereien
den letzten möglichen
Schritt zur täuschen¬
den Natnrnachah-
miing, indem er die
Darstellung der plas¬
tischen Freigruppe
auf dem flachen Hin¬
tergründe fortsetzte.
Hinter die Figuren
Christi und seiner
Peiniger malte er
(auf der Hinter wand)
eine Schar von Rei¬
sigen und Fußvolk
und (auf der neuen
Querwand rechts) die
Gruppe der Marien
mit dem wehklagen¬
den Johannes, denen ein Soldat, den Streitkolbeu
in der Linken, in den Weg tritt. So entstand das erste
Panorama.
Die Malereien der Hintervvand sind durch Witterungs¬
einflüsse stark mitgenommen und im Farbenton etwas
kälter geraten als die bald darauf entstandenen Fresken
Gaudenzio Feiu'.ari: Christus vor Pilatus. (Varallo; Sta. Maria delle Grazie.)
der Querwand. Stilistiscli bezeichnen sie gegen die
Werke in der Franziskanerkircbe einen deutlichen Fort¬
schritt. Wir haben zwar auch hier dieselben reliefirten
Stuckornamente, diesell>en plumpen Gäule mit gestutzten
Ohren, die gleiche Faltenbeliandlung, indessen die Ge-
siclitszüge baljen sich verändert, sind weicher geworden,
lind auch die Malweise, die früher etwas zeichnerisches,
gestricheltes hatte, ist weicher und breiter. Die Hände
und Füße haben ilire spindeldürre Länge verloren und
normale Formen an¬
genommen.
Mit diesen Fres¬
ken möchte ich die
Gemälde am Altar
der Pfarrkirche San
Martine in Rocca-
pietra hei Varallo
znsaramenstellen. Es
sind die Reste einer
ancona, dienni 1G68 ' )
in ein barockes zwei¬
geschossiges Taher-
nakelgehände einge¬
lassen wurden. Un¬
ten hefindensich links
und rechts die Bilder
zweier Heiligen, links
Gaudentins und Jo¬
hannes der Täufer,
rechts Martin v.Tonrs
und Amlirosins. Die
würdigen kräftigen
Gestalten heben sich
von einem plastisch
gemusterten Gold¬
grund all. Ebenso
sind die Nimben,
Bischofstähe und Ge-
wandsäiime aus Gips
gebildet. Im Ober¬
geschoss links: Die
Jungfrau der Ver-
kündiguug,eine Halh-
fignr mit der für Gan-
denzio so charakte-
ristisclien Haltung
der über der Brust gekreuzten Hände, rechts der Engel
der Verkündigung, einen Lilieiistengel in der Linken
haltend, und in der Mitte darüber die Halhügnr des
auferstellenden Christus. Die reichliclie Verwendung von
plastischen Ornamenten ist ein Charakteristikum der
crittione del sacro monte di Vavale di Val di Sesia. Novara
1587, — Oiitl'io Arienta, Arte e Storia XV (1890) S. .39.
1) Auf dem Rücken einer
Seite des Altars fand icli die
di San Giovanni . . . fn fatta,
.Tohannesstatue an der Riick-
Inschrift: Qiiesta statna . . .
, . . 1008.
268
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARL
Frühzeit. Doch sind die Hände, wie in der cappella
della pietä, normal geformt. Die weiche, vertriebene
Malweise sowie die tiefere Farbenstimmnng entspricht
gleichfalls jenen Fresken.
Ein paar Scliritte von der Kapelle der Beweinung
Christi geht es die Treppe hinauf zum Kalvarienberge,
auf dem die Kreuzigung steht, Gaudenzio’s berühmtestes
Werk. Durcli zwei Thüröffnnngen betritt man den weiten,
viereckigen Raum. In seiner Mitte steht ein Pfeiler als
Stütze des Gewölbes.
Die Hinterwand bil¬
det eine hallirunde
Kiscbe. Davor ist
auf einem sanft an¬
steigenden Boden die
große, sechsund¬
zwanzig Figuren zäh¬
lende Gruppe der
Ivreuzigung aufge-
Itaut. — In der Mitte
liängt der eben ver¬
schiedene Christus
am Kreuze, neben
ihm in verzerrten
Haltungen die beiden
Scliächer. Rechts vor
dem Kreuze lullt lioch
zu Ross der Haupt¬
mann, der ]nit einem
Streitkollien in der
Rechten zu (Iiristus
hinaufzeigt — eine
Figur, die älinlich
auf dem Fresko der
Franziskanerkirche
vorgekommen war
und die Gaudenzio
auch auf späteren
Darstellungen der
Kreuzigung (in Tu¬
rin , Pinakothek Nr.
371, in Vercelli, San
Christo fero und in
Mailand, S. Maria
delle grazie) wieder
verwendete. Weiter
rechts die würfelnden Kriegsknechte, ein vortrefflicher
.Tohannes in edelster Haltung und die ebenfalls sehr
lebenswahre Gruppe der Marien. — Links vom Kreuze
Kriegsvolk und einige teilnehmende Zuschauer. —
Dahinter breitet sich an den Wänden eine auf den
ersten Blick unabsehbare Schar von Reitern, Sol¬
daten und Zuschauern in einer hügeligen Landschaft
aus. Über der Thür der rechten Seitenwand sieht man
die knieenden Gestalten zweier Stifter, in denen die
Tradition, gewiss mit Recht, den Bauherrn und Haupt-
wohlthäter des Heiligenberges, Milano Scarognini mit
seinem Sohne Francesco, erblickt. ')
Ob man einen stattlichen Ritter auf der gegenüber¬
liegenden Wand für den Grafen Toimielli, den General
Karls V., halten soll, ist dagegen zweifelhaft. Selbst
den Kaiser hat man ohne Grund in einem der Ritter
erblicken wollen. An der Eingangswand, wo die Fresken
ganz besonders — bis zur Unkenntlichkeit — zerkratzt
sind, stehen vier Zu¬
schauer, allem An¬
schein nach Bildnisse
von Förderern des
frommen Werkes.
Dahinter sieht man
ganz rechts Judas
am Baume hängen.
— An dem blauen
Himmel des Gewol¬
ltes schweben zwan¬
zig große, prächtige
Engelsgestalten mit
den verschiedensten
Gebärden des
Schmei'zes. Auf die
Engel verstand sich
Gaudenzio ganz be¬
sonders. Ich erinnere
nur an seine berühm¬
te Engelsglorie in
der Kuppel der Wall¬
fahrtskirche zu Sa-
ronno. Um so we¬
niger wusste er et¬
was mit dem Teufel
anzufangen. Das ge¬
hörnte Ungetüm, das
da oben nahe dem
Pfeiler sein Wesen
treibt, macht einen
mehr gi'otesken als
fürchterlichen Ein¬
druck.
Gauhexzio Feurai:!: Geißelung Christi. (Varallo; Sta. Maria delle Grazie.)
1) Das Bildnis ist
freilich erst nach dem
Tode des Dargestellten gemalt, da Milano 1517 gestorben war.
Dass die Scarognini die Stifter derlvajielle waren, gebt übrigens
auch daraus heiwor, dass ihr Wajipen, ein gekrönter Adler, auf
dem Schihle des rechts hinter dem Ilauptma.nne hervor¬
tretenden Kriegers erscheint. — Ein Monogramm nnten am
Rande des großen Schildes des Soldaten weiter unten löst
Herr Giulio Arienta in die Buchstaben S. E. A. M. auf und
deutet es auf die drei Scarognini : Milano, Francesco, Antonio;
doch erscheint mir diese Deutung weniger einleuchtend als
die des andern Moiiogrammes auf dem gleichen Scbilde auf
Gaudenzio Ferrari. (Arte e Storia. VI II S. 234.)
Gauiienzhi Feiiuaiu: Jobannes und die Marien, Kriegsvolk und Zuscliauer bei der Kreuzigung Cbristi'
(Varallo; Saoro Monte.)
270
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
Wer, von der Franziskanerkirclie kommend, znm
erstenmal diesen Raum betritt, wird scliwerlich glauben,
denselben Künstler vor sich zu sehen — so grundver¬
schieden sind diese prachtvollen, stiirmiscli bewegten
Gestalten von den zierlichen, sentimentalen Menschen
jener älteren Fresken. Gaudenzio Ferrari hat sich hier
vollständig selbst gefunden. Hier ist keine Si)ur mehr
von der Befangenheit eines Unfertigen, noch auch von
fremdartigen Einflüssen, die auf dem Künstler lasteten.
■\Vir sehen seine Ideale in aller Frische verköri)ert: ein
Geschlecht von kecken, kräftigen Männern und blühen¬
den, rotwangigen Weil)ern — alle rötlich blond, soweit
sie nicht ergraut sind. Man spricht von seiner ma-
niera bionda — und dies ist das Hauptwerk jener
Manier. Die ganze italienische Kunst hat keine gesun¬
deren Geschöpfe hervoi'gebracht. Sie fühlen sich augen¬
scheinlich so wohl, dass ihre Lebensfreudigkeit einen
eigentümlichen Kontrast bildet zu dem tragischen Vor¬
gang, der sich hier abspielt. Selbst die Angehörigen
Christi machen davon keine Ausnahme. Der Johannes
drückt in seinen Mienen weit eher schwärmerische Ver¬
ehrung als verzweifelnden Schmerz aus. Die Fi'auen
scheinen Jlaria vielmehr zurückzuhalten, damit sie nicht
auf das Kreuz zustüi'ze, als dass sie eine Zusammen¬
brechende stützten. — Bemei’kenswert ist insonderheit
die Veränderung, die mit dem weiblichen Idealtypus
vorgegangen ist. Er ist runder, voller geworden, die
Nase küi’zer und breiter. — In den Farben spielt Rot
eine größere Rolle. Das Blau ist infolge jener Unter¬
malungen wieder vielfach verblichen.
Man begreift es wohl, das angesichts solcher Ver¬
schiedenheiten noch die Herausgeber der letzten .'\uflage
des Cicerone von einem „späten Hauptwerk“ reden.
Von den älteren Schriftstellern hatte der sachkundigste,
Gaudenzio Bordiga,') behauptet, die Kapelle sei bald
nach 1.024 eingerichtet worden. Colombo spricht von
circa 1.Ö24.-) Ein glücklicher Zufall verschafft uns in¬
dessen Gewissheit und rückt das Datum der Entstehung
um mindestens ein .Tahr weiter zurück. Die Narren¬
hände, die Tisch und Wände beschmieren, sind es dies¬
mal, denen wir ausnahmsweise zu Danke verpflichtet
sind. Sie begannen ihre sinnreiche Thätigkeit, als kaum
die Malereien trocken geworden waren. Unter den zahl¬
losen Daten, die da neben anderem Gekritzel die Wände,
soweit sie erreichbar waren, bedecken, fand Herr Giulio
Arienta, die Zahl 1523.^) Sie ist, wie fast alle jene
Schmierereien, mit einem sintzen Instrument eingekratzt
und befindet sich an der linken Seitenwand nahe dem linken
Eingänge auf der Kruppe des Pferdes eines der Reiter,
die zum Gefolge des (sogenannten) Grafen Tornielli ge-
1) Bordiga. Notizie intoriio alle opere di Gaudenzio
Ferrari. Milano 1821. S. 18.
2) Colombo, a. a. 0. 8. 109.
3) Arte e Storia. 111. S. 234.
hören. Glücklicherweise sind die Ziffern so deutlich, dass
sie keinen Zweifel zulassen. Ich gebe sie hier wieder.
wie ich sie an Ort und Stelle kopirt habe.
In der Nähe finden sich andere Daten des sedizehnten
Jahrhunderts: 1529, 1548, 1550, 1550, 1560 u. s. w.
1523 waren also jedenfalls die Fresken vollendet
und vielleicht auch die Statuen. Dass Gaudenzio Fer¬
rari auch die plastischen Arbeiten selbst ausgeführt
habe, darf nicht bezweifelt werden. Lomazzo, der künst¬
lerische Enkel Gaudenzio’s, sagt ausdrücklich von ilim,
dass er die Figuren Stück für Stück mit eigener Hand
aus Tlion geformt liabe. ') Und die Stilkritik giebt der
Übei'lieferung recht. Freilich ist hier die Vergleicliung
zwischen Plastik und Malerei dadurch erschwert, dass
zwei wichtige Momente ganz wegfallen: die Farben¬
gebung — denn die Figuren sind mehrfach angestrichen
worden — und die Haarbehandlung — denn die Haare
und Bärte sind nach dem Vorbild der älteren Holz-
skul])turen aufgeleimtes Rosshaar. Immerhin bleibt in
den Köi’per- und Gewandformen genug übereinstimmen¬
des. Zunächst einmal begegnen wir wieder jenem Leo-
nardesken glattrasirten Greisenkopf, der in den Fresken
der Franziskanerkirche dreimal vorgekommen war. Er
ist sogar hier in der plastischen Ausführung ganz be¬
sonders gut gei'aten. Sodann war ebenfalls jener Sol¬
dat, der sich mit eiliolienem Zeigefinger der Rechten
eifrig redend zu den Würflern herabbeugt, bereits in
dem älteren Fresko verwendet. Derselbe kommt auch
in den späteren Ki-euzigungsbildern Gaudenzio’s vor —
el)enso wie der scheußliche Kropfmensch mit dem Essig¬
schwamm am Fuße des Ki'euzes. Von dem Haupt¬
mann mit dem Streitkolben bemerkten wir dies schon.
Nelimen wir hinzu, dass die Ornamentik der Waffen
durchaus der auf den Fresken entspricht, dass die Pferde
mit ihren gestutzten Ohren die gleichen plumi)en Formen
haben, so kann sich unser kunsthistorisches Gewissen
bei der Tradition lieruhigen, dass Gaudenzio auch der
Verfertiger der Statuen gewesen sei. Mit einer Aus¬
nahme! Der Christus, ein starres Holzbild, ist offenbar
eine ältere Skulj)tur, die der Künstler als ein bekanntes
Andachtsbild übernommen haben mochte. Die beiden
Schächer dagegen scheinen mir, trotzdem sie aus Holz
geschnitzt sind, auf Modelle Gaudenzio’s zurückzugehen.
Der Künstler trug offenltar Bedenken, ein Thonl)ild an
dem hohen Kreuze aufzuhängen. — Es ist nur merk¬
würdig, dass sich von einem so geschickten Plastiker
außer den wenigen Arbeiten auf dem sacro monte nichts
erhalten zu haben scheint.'^)
1) Lomaxxo. Trattato della jiittura. Milano 1:585. S. 112.
2) Die Gruppen der Passion im Ba.pt, isteriniu zu Novara,
die der Cicerone vermutungsweise ihm znscbreibt, haben nichts
mit ihm zu tbun und sind teils das Werk eines Schülers des
Giovanni d’Enrico, teils eines modernen Bildhauers, Gau¬
denzio Prinetti, der im Anfänge dieses .labrbunderts lebte.
DER HEILIGENBERG VON VARVLLO UND GAUDENZIO FERRARI.
271
Man mag über die ästhetische Verwerflichkeit der
Panoramen denken wie man will, so wird man sich
doch dem packenden Eindruck dieses Kreuzigungsbildes
nicht entziehen können. Es übt eine Wirkung von
brutaler Großartigkeit aus. Wenn auch nicht das
schönste, so ist es doch gewiss das bedeutendste Werk
seines Meisters.
Die Komposition war nicht Gaudenzio’s stärkste
Seite, ja er hat sich mit zunehmenden Jahren immer
mehr darin gehen lassen. Auch hier sind die Figuren
ziemlich willkürlich anein¬
andergefügt, und die Rei¬
terscharen des Hintergrun¬
des stellen sich vollends als
eine dichte, unentwirrbare
Masse dar, indessen — wie
weit überragt Gaudenzio
trotzdem auch hierin seine
Vorgänger und Nachfolger
am sacro monte! Er ver¬
steht es doch wenigstens,
die Einheitlichkeit des Bil¬
des zu wahren. Der Cha¬
rakter des Gemäldes
herrscht durchaus vor, in¬
dem die nicht unnötig ge¬
häuften FreifigiU’en nahe
an den gemalten Hinter¬
grund gerückt sind.
Die annähernde Dati-
rung, der terniinus ante
quem, der Entstehung der
capella del crocifisso giebt
uns die Möglichkeit, die
Entstehuugszeit einer klei¬
nen Gruppe von Werken
näher zu umgrenzen, die
stilistisch vermitteln zwi¬
schen den Fresken der Fran¬
ziskanerkirche und denen
dieser Kapelle. — Da ist
zunächst das reizende kleine
Fresko der Anbetung des
Kindes in der Bogenlünette über dem Portal des ver¬
lassenen Kirchleins S. Maria di Loreio bei Varallo. ')
Es steht den Fresken der capella del crociüsso beson¬
ders nahe. Ein blondlockiger Engel, so liebenswürdig
und frisch, wie ihn nur Gaudenzio malen kann, kniet
nieder, die Mandoline, auf der er eben gespielt hat, im
Arm und richtet das am Boden liegende Christkind
1) Die Fresken der Kirche San Marco bei Varallo, die
der Cicerone anführt, haben nichts mit Gaudenzio gemein.
Die späteren dieser Fresken sind Werke des Varalleser
Malers Giulio Cesare Luini, eines Nachfolgers des Ferrari,
der bis gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts lebte.
ein wenig auf, das Maria und Joseph knieend verehren.
Hinter dem ersten Engel steht ein zweiter, der geigend
auf das Christkind niederblickt. — Die Haltung des
Elternpaares, namentlich der Maria, erinnert an Gau¬
denzio’s Gemälde des gleichen Gegenstandes in dem
schönen Altar der Kirche San Gaudenzio in Novara,
der in den Jahren 1514 — 1516 entstanden war. Cha¬
rakteristisch ist besonders die Haltung der übereinander-
gelegten Hände mit zangenförmig zu einander gestelltem
Daumen und Zeigefinger. — Die Finger sind durchaus
normal. Die Nimben sind
noch plastisch gebildet. —
In den Farben der beliebte
Accord von gelb (Mantel
des vorderen Engels), rot
(Mantel Josephs) und ultra¬
marinblau (Mantel Mariä).
Die beiden Grotesken¬
streifen, die das Bild um¬
säumen , entsprechen den
Ornamenten in S. Maria
delle grazie, sind aber auch
das einzige, was an jene
älteren Werke erinnert.
Jedenfalls etwas frülier
entstanden ist der präch¬
tige Katliarinenaltar in San
Gaudenzio, der Kollegiat-
kirche in V arallo. Die sechs
Tafeln, die noch an ihrem
ursprünglichen Bestim¬
mungsorte geblieben sind,
wurden im vorigen Jalir-
Imndert von einem reichen
Bronzerahmen umgeben.
Das Hauptbild stellt die
^'erlobung der heiligen Ka¬
tharina mit dem Christ¬
kinde dar. Auch hier hat
Gaudenzio eine ältere Kom¬
position zu Grunde gelegt,
die der Altartafel im Chor
von Sta. Caterina in Ver-
celli. Die Hauptgruppe ist mit leichten Veränderungen bei¬
behalten, die Nebenfiguren der Heiligen sind weggelassen
bis auf Joseph, der links hinter Maria hervorschaut.
Der Vergleich beider Gemälde fällt sehr zu Gunsten des
Varalleser Altars aus. Besonders ist die Beziehung
zwischen den beiden mystisch Verlobten reizend ausge¬
drückt. Das kleine Bürschchen schiebt mit drolligem
Ernst den Ring an den Finger der frommen Jungfrau,
und diese — ein allerliebstes blondes Geschöpf — schlägt
ihre dunkeln Augen mit einem Ausdruck unsag])arer
keuscher Verehrung zu ihm auf. — Auf den Flügeln
links der heilige Gaudentius mit erhobener Rechten, den
Gaüdenziu Feuhai:i; Zwei Zuschauer bei der Kreuzigung Christi.
(Varallo; Sacro Monte, Capella del Croceftsso.)
•272
DER HEILTGENBERG VON VARALLO UND GAÜDENZIO FERRARI.
Bischofstab iu der Linken, und rechts Petras, ein Buch
in der Linken haltend, die langen Schlüssel in der
Rechten. — Darüber in der Mitte der Leichnam Christi
anf dem Rande des Grabes sitzend, gestützt von Maria
nud Johannes, links Johannes der Täufer, rechts Markus
iu einem Buche lesend, beide knieend.
An die Fresken in S. Maria delle grazie erinnern
namentlich Gandeutins und Petras in der weichen An-
nmt ihrer Stellung. Zum Gesiclitstypus des Gaudentius
vergleiche man z. B. die Prophetenköpfe iu der Bogeii-
laibung der capella Sta. Marglierita. Zwei perugineske
Motive am Petrus sind, nebenbei gesagt, die Drapirung
des Mantels mit dem über den Leib gezogenen einen
Ende und die gespreizte Haltung des kleinen Fingers
der linken Hand.
Die vier Predellenbilder zu diesem Altar, die Gau-
denzio nach seiner Weise in Grisaille gemalt hatte (Geburt
Christi, Anbetung der Könige, Darstellung im Tempel,
die vier Kirchenväter), betinden sich in der Sammlung
des Fürsten Belgiojoso iu Mailand.
Der Typus der Madonna ist eine Weiterentwicke¬
lung dessen in der ca])pella Sta. Marglierita oder auf
dem Altar in Arona. Die feinen Züge sind voller ge¬
worden, die immer noch großen, dunkeln Augen weniger
groß, es ist aber noch nicht jener rundliche Kopf des
Loretofresko, wie er, etwa seit 1522, eine Zeit lang von
Gaudenzio bevorzugt wird. Das bekannteste Beispiel
desselben Typus bietet die Madonna der Brera (Kat.
Nr. lOG bis) , ein anderes der Madonnenaltar beim
Fürsten Borromeo in Mailand. Ebendahin gehört das
köstliche Bild der Verkündigung im Berliner Museum.
Alle diese Werke können wir daher als in Varallo ent¬
standen betrachten — höchstwahrscheinlich in den Jah¬
ren 1516 — 1521, nach der Vollendung des großen x\ltar-
werkes in Novara (Sau Gaudenzio) und vor Beginn der
cappella del crocifisso.
Aus dem Urkundenmaterial wissen wir, dass Gau¬
denzio 1528 Varallo verlassen hatte und in Vercelli
ansässig war.') — • Diesen letzten Jahren seines Varal-
leser Aufenthaltes müssen wir die Darstellung des Zuges
der drei Könige zuweisen, die in jenem etwa dreißig
Jahre zuvor errichteten Bau an der Ostseite des Berges
(s. Seite 241) iliren Platz fand. Sie nimmt hier den
größten Kapellenraum des Erdgeschosses ein zunächst
dem (nördlichen) Eingang und ist verhältnismäßig noch
am besten beleuchtet. — Die sieben Figuren stellen die
Könige mit einigen Dienern dar, wie sie von ihren Pfer¬
den abgestiegen sich der heiligen Familie nahen. An
den Wänden zieht sich wieder ein gewaltiger Tross von
Reisigen und Fußvolk hin, der von links aus einem Fel¬
sen thale kommt. — Mau kann sich des Werkes nicht
recht erfreuen. Die Statuen sind weit schwächer als
ilie der Kreuzigung, mittelmäßige Schülerarbeiten. Be-
1) Colombo, a. a. 0. S. 134 ff.
sonders störend wdrkt die dreimal wdederkehrende, steif
gegretete Beinstelluug. Die Pferde, die Gaudenzio nie
sonderlich gelungen w'areu, sind diesmal vollends die
reinen Karikaturen seiner Ungeschicklichkeit. — Die
Fresken mit ihren lebhaft bewegten blonden Männern
entsprechen stilistisch denen der Kreuzigung sow'eit man
sehen kann, denn sie sind von der Feuchtigkeit arg
mitgenommen und zum Teil überhaupt verschw'unden
und übertüncht. ') Rechts neben dieser Kapelle, in der
Richtung, iu der die Könige sich bewmgen, ist eine kleine
Grotte in den Felsen gehauen, in der die Figuren von
Joseph und Maria sichtbar sind, die knieend das Kind
verehren. Wenn ich sage sichtbar, so gilt das aller¬
dings nur von der Mittagszeit, da nur dann ein Licht¬
strahl in die Nähe dieser dunkeln Ecke fällt. Die Sta¬
tuen werden mit Recht Gaudenzio zugeschrieben. Der
Kopf der Maila erinnert deutlich an die Älagdalene in
der Kreuzigungsgruppe. Wegen der auffallenden Länge
der Finger möchte ich indessen die Figuren einer frühe¬
ren Zeit zuschreiben. Das Christkind ist modern, da
das ursprüngliche und auch dessen Ersatz von übereif¬
rigen Gläubigen entwendet worden sind. — Kaum besser
beleuchtet ist die gegenüberliegende erweiterte Gruppe
des presepio, wo Maria vor der von einem Engelreigen
umgebenen Krippe kniet, während hinter ilir die anbe-
teuden Hirten stehen. Maria, mit dem gleichen Ge-
sichtsty}) wie in der vorigen Gruppe, ist sicher ein
Werk Gaudenzio’s, vielleicht auch die beiden Engel
links und rechts neben ihr. Bei den übrigen Figuren
mit ihren groben Gesiclitszügen und plumpen Händen
ei'scheint mir die Urheberschaft Gaudenzio’s ausgeschlos¬
sen. Das Gewand der Jungfrau ist aus natürlichen
Stoffen drapirt wie bei den alten Holzliguren. Ihr Kopf
ist abgebrochen und hat sich leicht nach rechts gewen¬
det, woran sich sofort eine Legende geknüpft hat. Ma¬
lereien sind in dieser Kapelle nie gewesen — schon
aus dem Grunde, weil mau sie nicht hätte sehen können.
Außer diesen Werken Gaudenzio’s in der Stadt und
auf dem Heiligenberge befinden sich noch einige Kleinig¬
keiten von ihm im Museum von Varallo. Da sind zu¬
nächst ein paar Überbleibsel von den Fresken, mit denen
er die Außeninauer der Kapelle des Petrus martyr in
der Nähe von Varallo auf dem Wege zum val Mastal-
lone geschmückt hatte: eine sehr beschädigte heilige Pe¬
tronilla, die 1887 auf Leinwand übertragen wurde, der
Kopf des Petrus Martyr und der eines schlummernden
Benediktiuermönches. — Sodann drei Tafelbildchen, die
von der Predella des aufgelösten Marienaltares in Gatti¬
nara stammen, mit den Halbfiguren der Kirchenväter
Hieronymus, Augustinus, Ambrosius. (Der vierte, Gre¬
ll Worin die „sonsibile varietä di stile“ bestehen soll,
von der Bordiya, Notizde ... S. 25 spricht, weiß ich nicht.
— ln den Opere del pittore e plasticatore Gaudenzio Ferrari
weist Bordiga die Malereien gar der letzten Manier Gau¬
denzio’s zu.
REMBRANDT’S „CHRISTUS PREDIGEND“.
•273
gorius, im Besitze des Bildhauers Herrn Cristoforo Bussi
in Varallo.) — Ein Täfelchen in Grisaillemalerei mit
dem Martyrium der hl. Katharina — ebenfalls augen¬
scheinlich Teil einer Predella — und schließlich ein
paar Handzeichnungen: der leicht zurückgebeugte, halb
nach rechts gewendete Kopf eines vollbärtigen Mannes
(Studie zum Kopf des Priesters auf dem Jugendbilde
Gaudenzio’s der Vertreibung Joachims ans dem Tempel
in der Turiner Pinakothek), ein heiliger Paulus nach
links gewendet, mit dem Schwert in der Rechten und
einem Buche in der Linken (gleichfalls eine frühe Zeich¬
nung) und zuguterletzt eine spätere, weicher und breiter
behandelte Zeichnung dreier Bischöfe, die das Schwei߬
tuch Christi halten.
Die Technik ist bei allen drei Blättern dieselbe:
Tuschzeichnung auf dunkeim Grunde weiß gehöht.
(Schluss folgt.)
REMBRANDT’S „CHRISTUS PREDIGEND“.
MIT ABBILDUNG.
S ist schon oft darauf aufmerksam ge¬
macht worden, dass Rembrandt in seinen
Radirungen Anregungen verwertet hat,
die ihm aus den Werken anderer Künst¬
ler — deutscher und niederländischer
sowohl als auch italienischer — erwachsen
sind. Merkwürdigerweise hat aber noch niemand nach¬
gewiesen, dass auch sein weitaus schönstes und vollen¬
detstes Blatt einer ähnlichen, und zwar von Italien
kommenden Anregung seine Inspiration verdankt. Ich
spreche hier von dem predigenden Christus, B. 67, —
auch heute noch im Sammlerjargon „Le petit La
Tombe“ genannt, welche fast immer falsch verstandene
Bezeichnung zu einer kuriosen, absolut nichtssagenden
Titelverstiimmelung, „La petite tombe“, Anlass gegeben
hat. Die Inspiration floss ihm in diesem Falle aus
Domenico Ghirlandajo’s Fresko, „Die Predigt Johannes
des Täufers“ (in S. Maria Novella, Florenz) zu, von
welchem die Arundel Society eine Chromolithographie
veröffentlicht hat, deren weite ^Trbreitung es noch sonder¬
barer erscheinen lässt, dass die evidente Analogie bis¬
her nicht aufgefalleu ist. Auf welche Weise dieses
Fresko ihm bekannt geworden ist, wird sich wohl nie
nachweisen lassen. Am einfachsten ist es, zu vermuten,
dass ein aus Italien zurückgekehrter Künstler eine Skizze
davon mitgebracht habe. Die beigegebenen Nachbildungen
des Fresko’s und des Rembrandt’schen Blattes machen die
Aufzählung der Übereinstimmungen zwar fast überflüssig,
trotzdem wird es aber geraten sein, im Detail auf die¬
selben hinzuweisen.
Die Verhältnisse der beiden Darstellungen sind sich
sehr ähnlich. Das Fresko, dessen Maße wohl durch den
zu füllenden Raum geboten waren, ist etwas länger.
Rembrandt hat ein wenig gekürzt und schon dadurch
eine geschlossenere Komposition erzielt. Die Art der
Komposition ist in beiden Bildern genau dieselbe. Es
ist die bekannte Kreisanlage, der in dem einen Falle
Johannes der Täufer, in dem anderen Christus zum
Mittelpunkte dient. Eine Diagonale, in beiden Fällen
von der oberen linken nach der unteren rechten Ecke
gezogen, teilt die Komposition in zwei Dreiecke, nur
ist bei Rembrandt die Teilung nicht ganz so auffallend.
In beiden Bildern ist der Hintergrund links am dunkel¬
sten, die größte Lichtfülle im Hintei’grunde zeigt sich
rechts. Im Einklang mit der ganzen Disposition fällt
jedoch das Licht bei Rembrandt von rechts, während
es bei Ghirlandajo von der linken Seite kommt. Im
Vordergründe zeigt in beiden Kompositionen der Kreis
der Zuhörer eine Unterbrechung. Die beiden stehenden
Figuren, rechts bei Ghirlandajo, welche nötig waren um
die Diagonale zu markiren, sind bei Rembrandt weg¬
gefallen, aber als in der Komposition gleichwertige Masse
ist dafür die Mauer mit dem Eckpfeiler eingetreten.
Alles dies betrifft nur die Komposition in ihrer
allgemeinsten Anlage. Geht man aber auf die einzelnen
Figuren ein, so werden die Analogieen noch frappanter.
Dass die beteiligten Personen rechts sich meistens als
sitzend, links meistens als stehend bemerkbar machen,
dass die Position Christi bei Rembrandt der des Jo¬
hannes bei Ghirlandajo entspricht, dass der konipositio-
nelle Wert des feisten beleuchteten Pharisäers links
ungefähr dem des bei Ghirlandajo aus dem Hintergründe
kommenden Christus gleich ist, — alles das möchte noch
als von geringerer Bedeutung gelten. Aber die Mutter
mit dem Kinde direkt im Vordergründe, und der Greis
rechts von Christus im Mittelgründe, der freilich bei
Rembrandt zu dem unmittelbar zu den Füßen des Meisters
sitzenden Lieblingsjünger geworden ist! Sollten alle
diese Analogieen i)urer Zufall sein?
Angesichts der beiden Kompositionen ist man
stark versucht, sich ein Geschichtchen zu ersinnen. Da
steht Rembrandt und blättert mit einem eben aus Italien
zurückgekehrteu Kunstgenossen dessen Skizzenbnch durch
Besagter Kunstgenosse schwelgt in Enthusiasmus über,
die Herrlichkeiten des schönen Südens, und als Maler
natürlich besonders über die Malerei, die so viel edler,
ZeitscLi'ift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 11.
35
274
REMBRANDT’S „CHRISTUS PREDIGEND“.
so viel erhabener, — mit einem AVorte idealistischer
ist. als die heimische. Eembrandt besieht sich eben die
Skizze nach dem Ghirlandajo. und ein etwas sjiöttisches
Lächeln fliegt über die breiten Züge. ,.Hm!“ meint er.
..da liegt allerdings eine schöne Idee drin, — aber —
wie wenig der — der — sonderliare Italiener.“ — aus
Höflichkeit gegen seinen Freund wird er wohl „sonder¬
bar" gesagt haben, vielleicht aber auch, in seiner derben
nordischen AVeise, etwas anderes! — ..aber wie wenig
der ..sonderbare“ Italiener daraus zu machen gewusst
liat! Du, — borg mir das Ding einmal! Ich möchte
aucli einmal versuchen so etwas zu machen!“ Und nun
läuft er nach Hause und setzt sich hin in seine AA'erk-
statt. die mit allerlei krausem Zeug stafflrt ist und wo
seine Presse steht, und. vielleicht noch am selben Tage,
hat er, wenigstens in ihren Grundzügen, die heriliche
Komposition fertig, die das Platt zum schönsten, zum
reinsten und innigst gefühlten in seinem ganzen Werke
macht, und die er nun auch mit voller Liebe, in wunder¬
barer Anrschmelzung von Breite und Durchfühiaing, in
allen ihren Teilen zu gleich glücklichem Ende bringt!
Und worin liegt denn der Unterschied in deiiAVerken
des Italienei'S und des Holländers, die sich beide so
gleich und doch so grundverschieden sind? Kurz ge¬
sagt: — das eine ist Körper, — Form; das andere ist
Geist, — Seele, — Gemüt, — wie man den Begriff
auch formuliren wolle. Es offenbart sich in diesen
beiden AATrken der ganze Unterschied zwischen der
südlichen und der nordischen Natur, und sollte der hier
erreichte eklatante Ausdruck dieses fundamentalen Unter¬
schiedes dem Zufall seine Entstehung verdanken, so
würde das — angesichis der oben angedeuteten merk¬
würdigen Analogieen — fast noch wunderbarer sein, als
unter den hypothetisch angenommenen Umständen.
ln Ghirlandajo’s Bilde mangelt die Einheit, — die
äußere sowohl, als auch die innere. Auf die AALahrscheinlich-
keit ist gar nicht geachtet, — nur die ,.Scliönheit“ ist
überall herrschend. „Schöne“ Frauen, „schöne“ Greise,
„schöne“ Gebärden, „schöne“ Gruppen, aber jedes einzelne
auf sich gestellt, ohne wirkliches geistiges Centrum, —
ein kalter Idealismus, der stückweise das Auge be¬
friedigen mag, aber als Ganzes das Herz kalt lässt.
Dagegen Eembrandt! 1 )ie A^eränderung des Lokals —
aus welch’ letzterem der Holländer freilich alles ge¬
macht hat, was sich nur machen ließ — dürfen wir
ihm nicht zu hoch anrechnen. Johannes der Täufer hat,
der biblischen Legende nach, nicht in solchen Stadt¬
winkeln gepredigt, wie, wahrscheinlicher AA^eise, Christus.
Dagegen dürfen wir auch mit Ghirlandajo nicht zu
scharf rechten, weil er Landschaft und Beleuchtung nicht
C'hristns predigend (Le petit la Tombe); Radiriing von (B. 67).
.ü:t J(i]i;uines des Tilutei’s; Fresco in Sa. Mai'ia Novella in Floren/, von GhiüIjAXDA.jo.
KAISER WILHELM -DENKMALS -KONKURRENZ ZU AACHEN.
275
zu bewältigen wusste, — sein Werk ist ja an die zwei¬
hundert Jahre älter als das Rembrandt’s! Aber der
Geist, der Geist, der die ganze Komposition durclidringt!
Die geschlossene Lichtwirkung ist nur ein äußeres
Zeichen der geschlossenen geistigen Wirkung. Keine
„Schönheit“ hier, — lauter hässliche, teilweise sogar
verkommene Gestalten und Gesichter, — aber wie sie
alle bei der Sache sind, und wie die Wirkung der Rede
Christi in allen möglichen Abstufungen in ihnen zum
Ausdruck kommt, — natürlich, ungezwungen, nicht mit
der Ostentatioii der Gestalten des Italieners, sondern als
ob mittelst einer Art geistiger Momentphotographie alle
die Seelenregungen der Zuhörenden, ihnen unbewusst,
fixirt worden seien, während die Körpergerüste nur
flüchtiger angedeutet sind! Bei Ghirlandajo sehen wir
eine elegante Gesellschaft, die dem Vortrage eines
fashionablen Schöngeistes mit nicht gar zu gespannter
Aufmerksamkeit zuhört und sich nicht einmal scheut
seine Worte noch während des Vortrages zu kritisiren,
— bei Rembrandt haben wir eine Versammlung der
„Enterbten“, die mit Inbrunst die Worte verschlingen,
welche ihnen Erlösung verheißen, versetzt mit einer
Zutliat von Grüblern und Zweiflern und Verächtern.
Es giebt einen Abdruck dieses Blattes, auf dem ein
früherer Besitzer den Kreisel des Kindes im Vorder¬
gründe wegradirt hat, wohl weil dem — sagen wir
„sonderbaren“ Manne diese Beigabe dem hehren Thema
nicht angepasst schien! Auch Ghirlandajo hat in dem
Kinde einen realistischen Zug anbringen wollen, — es
langweilt sich und fängt an zu heulen. Das arme Kind
der „Enterbten“ dagegen ist es gewohnt, sich selbst
überlassen zu sein. Es spielt ganz ruhig für sich, un¬
bekümmert um die welterschütternden Worte, die über
es dahinbrausen, und man meint fast, man höre es
nach Kinderart vergnüglich gröhlen , während es , auf
dem Bauche liegend, mit seinem Fingerchen in den Straßen¬
staub zeichnet.
Vielleicht wird man sagen, dass auch eine solche
Entgegenstellung eines Italieners des 15. und eines
Holländers des 17. Jahrhunderts nicht gerechtfertigt sei,
eben des Zeitunterschiedes wegen. Aber der Einwurf
ist nicht stichhaltig. Die Italiener waren den Nord¬
ländern weit voraus in der intellektuellen Entwicklung,
und trotzdem haben sie im weiterem Verlaufe der Zeit
nichts zu Tage gefördert, was sich in tiefem Gemüts¬
drange mit den Niederländern vergleichen ließe, —
weder die römische Schule, noch die Venetianer, noch
die neapolitanischen „Realisten“, oder nun gar die Eklek¬
tiker. Will man Gemüt, oder wenigstens Naivetät haben,
so muss man auf die Primitiven zurückgeheu. Später
ist alles äußerlich und selbstbewusst.
Damit ist jedoch gar nicht gesagt, dass wir den
Drang nach äußerer Schönheit nicht besäßen, dass wir
uns nicht alle nach dem sonnigen Süden sehnten, und
dass wir seine Formen- und Farbenpracht nicht zu
würdigen wüssten. Aber die nordische Natur kehrt sich
immer wieder gern nach innen, und sie fühlt sich daher
immer und immer wieder angeheimelt von den tiefge¬
fühlten, wie von innen heraus leuchtenden „hässlichen“
Gestalten eines Rembrandt. Bei dem Italiener haben
wir „die Kunst um der Kunst willen“, bei dem Hol¬
länder die Kunst als Ausdrucksmittel geistiger Regungen
— darin liegt das Geheimnis — ein offenbares, freilich,
aber heutzutage wiederum, wie es scheinen möchte, für
die Meisten ein unergründliches.
Und Rembrandt? Brannte in ihm immer das reine
Feuer, das uns aus seinem predigenden Christus ent¬
gegen leuchtet? Vergessen wir nicht, dass, wie Homer
manchmal schläft, so auch Rembrandt manchmal felil-
greift, recht oft willkürlich ist, und dann und wann
leider noch schlimmere Sünden begeht. Augen offen
und Zunge frei, — selbst in der Bewunderung!
S'. R. KOEHLER.
KAISER WILHELM - DENKMALS- KONKURRENZ
ZU AACHEN.
jS das Preisausschreiben für das National¬
denkmal Kaiser Wilhelms I. in Berlin
erging-, war bei der Größe der Mittel
und der Bedeutung des Denkmals ein
außerordentlicher Reichtum an Entwür¬
fen zu erwarten. Aber die Thatsachen
entsprachen dieser Erwartung nicht. Es herrschte eine
erschreckende Gleichförmigkeit in der Hauptform. Wenn
man seitdem die Reihe von Konkurrenzen betrachtet,
welche von Provinzialstädten ausgeschrieben wurden zur
Erlangung eines Kaiser Wilhelm-Denkmals, so erscheint
jene große Konkurrenz noch als eine außerordentlich
resultatvolle. Es ist unleugbar, dass mit der zunehmen¬
den Zahl der Konkurrenzen um ein Kaiser Wilhelm-
Denkmal diese Einförmigkeit in den Kompositionsmotiven
immer erdrückender sich zeigt, die nur selten von Pro¬
jekten wie das von Bruno Schmitz u. a. unterbrochen wird.
Immer dies Normalschema, der Kaiser zu Pferde, auf
reich ornamentirtem Sockel, vorne, oder nach Maßgabe
der .verfügbaren Mittel auch an beiden Seiten oder an
35*
276
KAISER. WILHELM-DENKMALS-KONKURRENZ ZU AACHEN.
vier Seiten allegorische Grestalten. Zuweilen wird auch
das Ganze auf einen Stufenbau gestellt, von den vier Ecken
Postamente vorgeschoben und darauf nach Bedarf alle¬
gorische Tiere oder Menschen errichtet, wenn man es nicht
vorzieht, vier Reiterstatuen dort anzubriugen. Das ist
das Schema Begas, das Schema Siemering u. s. w.
So folgt natürlich auch in Aachen die Majorität der
eiügesandten Entwürfe einem der vorgenannten Schemata.
Nur einer entfernt sieh völlig davon und folgt der Bahn,
die man längst in Frankreich bei neueren Denkmälern, ein¬
geschlagen hat. Statt des architektonischen Aufbaues,
der sjnnmetrischen Gruppirung bringt er eine malerische
Darstellung, die rein plastisch komponirt ist. Der
Schöpfer dieses Entwurfes ist Professor Maison aus
München, der bedeutendste Vertreter des malerischen
Stiles und der Polychromie in der neuen deutschen
Plastik.
Das Denkmal soll in Aachen auf dem belebtesten
öffentlichen Platze umnittell»ar vor dem in strengen
Schinkelformen aufgeliauten Stadttheater errichtet wer¬
den. Es rückt so nahe an dieses heran, dass das Ge¬
bäude mit seiner Säulenhalle als Hintergrund benutzt
werden kann, da zwischen Denkmal und Theater nur
eine nicht zu breite Durchfahrt bleibt. Günstiger kann
ein Platz kaum dafür gefunden werden. Maisou hat dem
Konkurrenzprogramm gemäß vorläuffg eine Gesanitskizze
im Maßstabe 1 : 20 und eine Detaildarstellung des
Kaisers im Maßstabe 1 : 5 gegeben. Er denkt sich das
bisher vorhandene elliptische Boscpiet vor dem Theater
ersetzt durch ein Wasserljecken. Am hinteren Rande
desselben unmittelbar gegen das Theater sich absetzend,
steht ein mächtiger, rechteckiger, geradwandiger Marmor¬
block und auf ihm die Reiterstatue des Kaisers. Der
Marmorblock zeigt nur auf der Vorderseite eingravirt
den Namenszug Kaiser Wilhelms in einem Strahlenglanze,
verzichtet sonst aber auf jede architektonische Durch¬
bildung und lenkt also den Blick des Beschauers in
keiner Weise von der Hauptsache, nämlich dem Kaiser¬
bildnisse, ab. Das Wasserbecken davor ist stark ausge¬
tieft, so dass der Beckenrand nur flach und wenig sich
erhebend über das Niveau des Platzes hervortritt. Er
stört somit nicht die Architektur und beeinträchtigt
nicht den Blick auf das Denkmsl selbst. Der Grund
des Beckens ist mit Felsblöcken in Naturform bedeckt,
die zum Teil aus dem Wasserspiegel hervorragen
und Höhlen, von Wasserpflanzen überwuchert, bilden.
Zur Linken auf einem erhöhten Felsblock steht die
prächtige Kraftgestalt Siegfrieds des Drachentöters,
eine symbolische Andeutung der Heldenthaten, die unter
des alten Kaisers Führung Preußen und Deutschland
geleistet. Zu seinen Füßen liegt auf den Rücken ge¬
wälzt das erlegte Untier, dessen mächtiger Bronzekopf
über den Beckenrand hinüberreicht. Halb vom Wasser
bedeckt würde der in farbiger Bronze gedachte Körper
des Untiers mit seinem im Lichte spiegelnden hellen
Unterleib und seinen in der Flut verschwindenden dunk¬
leren Rückenpartieen höchst malerisch wirken. Im rechten
Teile des Beckens, etwas mehr nach vorne gerückt, sehen
wir im wirbelnden Reigentanz die Rheintöchter auf¬
tauchen und eine güldene Krone eniporheben. Es ist
das eine reizvolle Anspielung auf die Dichterworte: „Es
liegt eine Krone tief unten im Rhein!“, und doch in
der Art der Ausführung ist es mehr als eine Illu¬
stration eines Liedes, ist es nicht nur ein poetischer,
sondern auch ein hervorragend künstlerischer Gedanke,
aus der Flut des Beckens die drei schlanken Bronze¬
gestalten auftauchen zu lassen. Man denke sich das
spiegelnde Wasser, die mannigfaltig patinirten Bronze¬
gestalten, die tonigen Blöcke der Felsen, und man hat
ein den Platz außerordentlich belebendes Bild vor Augen.
Und doch ist es so komponirt, dass es fast in der Fläche
bleibt, nur links und rechts zu beiden Seiten eine Stei¬
gung in der Linie zeigt und in der Mitte vor allem die
Hauptsache, die Kaisergestalt völlig frei lässt.
Die Kaiserfigur selbst ist ebenso eigenartig und
selbständig empfunden, wie die ganze Komposition. Das
Pferd steht fest und ruhig; vielleicht ist der Künstler
über die endgültige Gestaltung desselben noch nicht
ganz entschieden, denn auf der Skizze wenigstens zeigt
dasselbe eine andere Bewegung als auf dem größeren
Modell. Ein Meister der Pferdebildnerei, wie Maison,
wird aber gerade hier ohne Mühe das richtige finden
bei der Ausführung des Hauptmodells. Der Kaiser ist
so schlicht und einfach gehalten wie nur irgend denk¬
bar, und doch verschmäht Maison, ihn in gewöhnlich
realistischem Sinne, nur in Helm und Waffenrock etwa
darzustellen. Zwar trägt er die Uniform mit dem Bande
des Adlerordens, aber um die Schultern ist ein Hermelin
gelegt, der in schlichter ruhiger Linie nur der Gestalt
die nötige Breite giebt, auf der rechten Seite herabfällt
und von hier aus gesehen der Figur etwas mächtiges,
Säulenhaftes verleiht. Die linke Hand ist gehoben und
fasst ruhig den Zügel, die rechte sinkt lose und lässig
herab und berührt leicht die Satteldecke. Auf dem in
knappen, aber starken Formen geschnittenen Körper
sitzt der wundervolle Greisenkopf unseres alten Kaisers,
dessen künstlerische Schönheit Maison in hervorragendem
Maße erkannt und hier verwertet hat. Um die hohe
schön geformte Stirn schlingt sich ein feines Lorbeer¬
reis. Der Blick, der Ausdruck der Züge zeugt von Ruhe,
Festigkeit und zugleich von jener stillen Bescheidenheit,
die die schönste Zierde des ehrwürdigen Fürsten war.
Es ist eine wunderbare Mischung von Wirklichkeit,
feiner seelischer Beobachtung und Kenntnis dieses Mannes
und doch leisem Anklingenlassen idealisirender Elemente.
Man darf nach der Skizze überzeugt sein, dass hier
wirklich ein hervorragendes Denkmal dieses Fürsten ent¬
steht, das uns die Wahrheit der äußeren Form, die
Schönheit der Seele und dieses Ganze in einem gewissen
Hauche der Verklärung, um nicht zu sagen Idealisirung
Reiterstatoe des Entwurfs zum Kaiser Wilhelm -Denkmal in Aachen von Prof. R. Maison in München.
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KAISER WILHELM-DENKMALS-KONKURRENZ ZU AACHEN.
277
giebt. Wenn, wie zu hoffen und wohl auch zu erwarten
ist, da es unter den drei preisgekrönten in erster Linie
genannt wurde, dieses für Aachen zur Ausführung
kommt, so darf Berlin mit seinem Begas’schen Fanfaren¬
denkmal neidvoll auf die Stadt im fernsten Rheinlande
hinl)licken.
Unter den preisgekrönten Entwürfen befindet sich
des weiteren einer von Schaper, den Kaiser in Helm
und Mantel zu Pferde auf einem Sockel mit beiderseits
je drei allegorischen Figui-en, ganz nach dem Schema,
darstellend. Ein im Linienaufbau ganz tüchtiges,
aber hervorragend langweiliges Werk. Ganz ähn¬
lich in der Komposition ist der Entwurf von Emil
Kauer , der aber in der Reitergestalt weniger Reflexion
und mehr natürliche Empfindung aufweist, etwas Monu¬
mentaleres und Kraftvolleres dem Kaiser zu geben weiß,
als der saftlose Schaper’sche Entwurf bietet. Preis¬
gekrönt ist auch ein Entwurf von Clemens Buscher
aus Düsseldorf, der nett und gefällig im Gedanken, doch
etwas zu spielerisch und zu kleinlich für die weitere
Durchführung erscheint. Der Kaiser, in Hermelin und
Kaiserkrone und allen Prunk des Kaisertums gekleidet,
erhebt das mächtige Reichsschwert und ist demgemäß
auf ein kolossales, etwas zu kolossales Ross gesetzt.
Zur rechten Seite des Sockels sitzt Karl der Große, zur
linken hat sich von seinem Thronsessel Friedrich Bar¬
barossa erhoben und blickt fragend zum neuen Herrn
des neuen Reiches empop. Dies letztere Motiv dürfte
die Ausführung unmöglich machen, da nicht wohl eine
historisch so bedeutsame Gestalt auf dem Denkmal in
einer nichtssagenden genrehaften Haltung gegeben wer¬
den kann.
Auch Hundrieser-Berlin hat sich mit drei Entwürfen
beteiligt. Einmal stellt er den Kaiser einfach in WaÖen-
rock und Helm zu Pferde auf einem schweren Sockel
dar, den in abgefiachtem Halbkreise Marmorbänke um¬
schließen. Gegen dieses Denkmal ließe sich höchstens
einwenden, dass es für die hiesigen Verhältnisse viel¬
leicht zu einfach behandelt und die Marmorbänke doch
höchstens von einigen Arbeitsscheuen nächtlich benutzt
werden dürften. Sein zweiter Entwurf zeigt den Kaiser
wieder in vollem Krönungsoruat, in welcher Erscheinung
er jedem historisch Empfindenden immer etwas Befrem¬
dendes haben muss. Links und rechts sind auf geson¬
derten Postamenten Kaiser Karl und Kaiser Barbarossa
sitzend dargestellt. Gegen solche wie zufällig angereihte
Sonderdenkmale wird man heute eine leicht ei'klärliche
Antipathie besitzen. Auf dem zweiten Sockelentwurfe
ist in einer Sockelnische die Kaiserkrone dargestellt, vor
der ein gewaffneter Germane die Wacht hält. Wäre die
übrigens höchst schwungvoll und mächtig behandelte
Kaisergestalt nicht mit diesem Tlieaterornate ausgeputzt,
sondern wie auf dem kleinen Entwürfe einfach im Mantel
dargestellt, so würde das an sich vielleicht das an-
Eutwurf zum Kaiser Wilhelm-Denkmal in Aachen von Prof. R. Maison in München.
280
KLEINE MITTEILUNGEN.
der letztere erst von Varignaini vollendet und falsch
anfgestellt ist, können sich nicht mit den Genesisreliefs
an Bedeutung messen, eher ein zweites unvollendet in
Bologna zurückgehliebenes Werk, das Grabmal Benti-
voglio(Varj l in 8. Giacomo, mit zwei flüchtig behandelten
Eeliefs, einer Madonna und einem lil. Georg, in denen
Cornelius einen sinnigen Stimmungsaccord empfindet.
In dem letzten Abschnitte „Rückblick und Aus¬
blick” entwickelt Cornelius die Stellung Quercia’s im
Rahmen der Renaissance -Bewegung mit einer Klarheit
und Ruhe, die für denjenigen, welcher diesen Fragen
selbst nachgegrübelt hat, unnatürlich erscheint. Wo
wir noch voll Unsicherheit im schwankenden Kahn gegen
die bewegte See ankämpften, da schaukelt die Generation,
der Cornelius angehört, bereits in i'uhigem Selbstgefühl
auf glatter Fläche. Biesen beneidenswerten Zustand
hat der Autor seinem Ijehrer Heinrich Wölfflin zu
danken. Bas sind goldene Sätze, die da stehen und
unser eigenes Glaubensbekenntnis aussiirechen: Der Sinn
für das AVesentliche, das Körper inotiv im großen und
das Verhältnis der Figur zum Raum ist kein durch¬
gehendes Merkmal der ganzen Renaissance; nur drei
Übergangsmeistern, Masaccio, Quercia und Bonatello
und auf der anderen Seite den Heroen der Blütezeit ist
er eigen. Baraus erklärt sich, dass der sonst so schrotf
ablehnend an den Quattrocentisten vorübergehende
Michelangelo gerade ihren frühesten Meistern Bonatello
und Quercia Kinfluss auf sein Schäften gestattet, lilan
denke sich die Art dieser beiden weiter entwickelt, den
Bogen ül)erspannt, so ist eine Kunst daraus geworden,
die eine Vorahnung des Barock bedeutet. Michelangelo
übernimmt gleichsam das Erbe dieser latenten Kräfte
und fortbildungsbedürftigen Formen, welche das spätere
Quattrocento unberücksichtigt gelassen hatte.
Es hat mir keine Mühe gemacht, den Inhalt von
Cornelius’ Buch mit seinen eigenen Worten zu skizziren:
w'as er Wesentliches vorbringt, kann nicht besser ge¬
sagt wei’den, und Nebendinge gehören überhaupt nicht
hierher. J. STBZYGOWSKI
KLEINE MITTEILUNGEN.
* Sfeiiijielscliiicider in Damaskus. Nach dem Cemälde
von Max h’ahcs, radirt von F. Krostorit' . Seit dem Tode
von Wilhelm Gentz, der länger als ein Menschenalter hin¬
durch auf dem Gebiete der Orientmalerei nicht nur in Berlin,
sondern in ganz Deutschland der Herrscher und Führer ge¬
wesen war, ist unter den Jüngeren keiner so würdig und
fähig, an seine Stelle zu treten, wie der Künstler, dessen
sonnige Straße in Damaskus mit dem bärtigen StempeT
schneider Krostewitz mit glücklicher Erfassung der Tonwerte
und mit einer Schärfe der Nadelführung radirt hat, die den
keck alles Charakteristische herausholenden Pinselstrichen
des Malers völlig adäcpiat ist. Max Rabes ist trotz emsiger
'fhätigkeit über Berlin hinaus noch wenig bekannt ge¬
worden. Nur eines seiner Gemälde, ein Handel zwischen
drei Arabern um eine Damaszener Schwertklinge, ist in eine
öffentliche Sammlung, in das Museum zu Schwerin, über¬
gegangen. Mit unserem Bilde und der 1897 vollendeten
,, Klagemauer in Jerusalem“ mit sieben fast lebensgroßen
Figuren bildet jener arabische Schwerthandel bis jetzt den
Höhepunkt im Schaffen des Künstlers. Wie Wilhelm Gentz
ist er aber nicht bloß Genre- oder richtiger Charaktermaler
und Ethnograph — auch die orientalische Landschaft mit
ihren Architekturen nimmt sein volles Interesse in Anspruch,
und von Jahr zu Jahr, seit 1887, wo er mit der Ausbeute
seiner ersten Reise in die Öffentlichkeit trat, gewinnt sein
Kolorit an Reichtum, Geschmeidigkeit und Vielseitigkeit des
Ausdrucks. Am 17. April 1868 zu Samter in der Provinz
Posen geboren, ist Rabes schon im Alter von fünfzehn Jahren
nach Berlin gekommen. Die Akademie hat er nur kurze
Zeit als Hospitant besucht; seine erste künstlerische Aus¬
bildung verdankt er mehr dem Unterricht des Landschafts¬
und Architekturmalers Paul Graeb, dem Sohne Karl Graebs.
Als dessen Schüler machte Rabes seine erste Studienreise nach
dem Moselthal, der bereits 1887 seine erste Fahrt gen Süden
und Osten folgte, die er unter großen Schwierigkeiten und
Entbehrungen bis nach dem wirklichen Orient ausdehnte.
Seitdem hat er noch fünf Orientreisen gemacht, die ihm
eine umfassende Kenntnis Ägyptens, Syriens, l’alästinas,
Kleinasiens und Konstantinopels verschafft haljen. Kaum
dreißig Jahre alt hat Rabes, dessen Laufbahn keineswegs
durch äußere Glücksumstände geebnet worden ist, jene
Zähigkeit und Energie bewiesen , die die beste Gewähr für
eine weitere Entwicklung in einer gesunden Richtung leisten.
-1. B.
Herausgeber: CarZ von lAitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
STEMPELSOHNEIDER IN DAMASKUS
DIE ELFENBEINPLASTIK
AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897.
VON PROFESSOR DR. I). JOSEPH.
EITAB vom verwirreiulen Getriebe der
eigentlichen Weltausstellung' in der Nähe
des in idyllischer Ruhe gelegenen Dorfes
Tervuren hat der mächtig aufstrebende
Kongostaat eine interessante Soiider-
ausstellung organisirt. Was wir dort
finden, ist in mehr als einer Beziehung ungemein be¬
merkenswert. Ganz abgesehen von der vielseitigen In¬
dustrie des jungen Staatswesens nimmt unser dauerndes
Interesse in Anspruch, was in kulturhistorischer, speciell
anthropologischer Hinsicht zum Ausdruck gelangt ist,
und es wäre wünschenswert, dass diese Seite von kom¬
petenten Fachleuten einmal einer eingehenden Würdigung
unterzogen würde.
Die rührige Verwaltung des Kongostaates, dessen
Geschicke durch die weise Einsicht König Leopolds II.
in humanitärem Sinne geleitet werden, hat sich aber
auch der edlen Erkenntnis nicht verschlossen, dass die
Größe eines Staates in vorderster Reihe durch den Grad
seiner Kunstübung erkennbar ist. Demzufolge haben
die maßgebenden Faktoren nichts unversucht gelassen,
um hervorragende Künstler dazu anzuhalten, ihre Fähig¬
keiten in den Dienst des neuen Unternehmens zu stellen,
insofern es sich darum handelte, die im Kongoland vor¬
handenen Materialien, als Elfenbein, Erz, Holz etc., zu
künstlerischen Formen zu verarbeiten.
Dieser Versuch, dessen Anfänge bereits auf der
Antwerpener Ausstellung vom Jahre 1893 vielver¬
heißend w'aren, ist besonders der Munificenz des Königs
zu verdanken, der das kostbare Elfeubeinmaterial den
Künstlern unentgeltlich zur Verfügung stellte, sodann
der glücklichen Initiative des Staatssekretärs Edmond
van Eetvelde. Die Bemühungen dieses hohen Beamten
waren von außerordentlichem Erfolge gekrönt, und wenn
wir heute den Ehrensaal der Brüsseler Kongoausstellung
durchschreiten, so müssen wir gestehen, dass er hier
sichtlich eine Kunst zum Aufblühen gebracht hat, deren
beste Zeiten man längst vorübergegangen wähnte, und
deren Renaissance wir nunmehr mitfeiern dürfen.
Ja, es gab Zeiten, in denen die Elfenbeinkunst in
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 12.
weit ausgedehnterer Weise die ihr zukommende Wert¬
schätzung erfuhr, als dies heute der Fall ist, und es
sei mir gestattet, nur kurz auf die Hauptepochen der
Pflege der Elfenbeiukunst hinzuweisen. Die alten
Völker des Orients, die Ägypter und Mesopotamier be¬
dienten sich des Elfenbeins vorzugsweise zur Herstellung
kunstindustrieller Gegenstände; noch heute werden alte
Elfenbeinstücke aus dem freigebigen Boden der alten
assyrischen Köuigsschlösser ans Tageslicht gefördert.
Dass die Elfenbeinkunstübung auch der sog. mykenischeu
Epoche nicht fremd war, ist uns durch die Ausgralningen
der letzten Jahrzehnte klar geworden, aber auch ohne
dies hätten wir es wissen können und haben es in der
That gewusst, da uns die Homerischen Gedichte, die
den Elefanten als solchen zwar nicht kennen, anschau¬
liche Schilderungen von Elfenbeinarbeiten, so z. B.
Schwert- und Schlüsselgriffen, gewähren. Hierbei seien
auch die berühmten von Pausanias beschriebenen einge¬
legten Arbeiten der Lade des Kypselos erwähnt.
Die höchste Blüte erlebte die Elfenbeinkunst im
historischen Griechenland und besonders im goldenen
Zeitalter des Perikies zu jener Zeit, da Phidias
sich dieses bildsamen Materials bemächtigte, um die
Götter der Griechen zu formen. Wer kennt nicht das
Goldelfenbeinbild des olympischen Zeus, den Haupt¬
anziehungspunkt der kunstgeschmückten Altis, wer hat
nicht von der Statue der Athena Parthenos auf der Burg
zu Athen, die in deren Tempel aufgestellt war, wenigstens
sprechen hören? Wohl kann ich mir nicht vorstellen,
dass es jemals zu ähnlichen gewaltigen Schöpfungen
kommen könne, weil der Gegenstand der Darstellung fehlt;
aber noch giebt es Heiligenbilder und Porträtbüsten
sowie ein ganzes Heer von bescheideneren Gegenständen,
an denen diese Kunst mit Glück geübt werden kann,
wie gerade aus ihrer Reihe die Skulpturensammlung
der Kongoausstellung markante Beispiele gewährt.
Die Römer, besonders zur Zeit, da sie sich auf dem
Gipfel ihrer Macht befanden, bedienten sich mit Vorliebe
des Elfenbeins zu kunstgewerblichen Zwecken, ja, sie
schnitzten ganze massive Füße zu Tischen und Betten.
30
282 DIE ELFENBEINPLASTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897.
Sehr beliebt waren die Diptychen, Schreibtäfelchen,
aus Elfenbein; von ihnen hat sich eine ganze Reihe
erhalten. Bei dieser Gelegenheit sei auch gesagt, dass
die Griechen und Römer nach den Bericliten antiker
Schriftsteller die Erweichung des Elfenbeins verstanden,
so dass sie in der Lage waren, weit größere Platten
herzustellen, als wir sie heute haben.
Bei dem Übergange von der antiken zur christlichen
Elfenbeinplastik wird man einen Augenblick bei der im
Berliner Museum befindlichen Pyxis (Nr. 427) mit der
Darstellung Christi zwischen den Aposteln und dem
Opfer Abrahams Halt machen müssen, einem Werke, das
in der altchristlichen Plastik eine sehr hohe Stelle ein¬
nimmt und dem 4. Jahrhundert zugeteilt werden muss.
Wie Byzanz der Abglanz Roms hinsichtlich der
großen Kunst wurde, so geschah es auch mit der Elfenbein-
skulptiir, die in der Hagia Sophia ilire höchsten Triumphe
feiert; zur gleichen Zeit aber finden wir, wie die by¬
zantinische Kunst Ravennas das übrige Italien beein-
Üusst, wenn wir z. B. die gleichfalls einen Schatz des
Berliner Museums bildenden Diptycha (Nr. 428 und 429)
mit Christus auf dem Tlirone zwischen Petrus und Paulus
und der thronenden Maria zwischen zwei Engeln in
Augenschein nehmen. Während wir aber in den Dar¬
stellungen auf der obengenannten Pyxis noch einen
frischen Zug antiker Bildnerei erkennen, sind die Formen
auf den Diiitychen bis zum Manierismus herabgesunken.
Beachtenswert, da aus jener Zeit nur spärliche Reste
vorhanden sind, ist auch ein Gefäß im Musee Cluny zu
Paris, etwa aus dem 6. Jahrhundert, mit einer Reihe von
Darstellungen aus dem neuen Testament, darunter Christus
und die Samaiiterin.
Unter Karl dem Großen ist es in der Plastik nur
die Elfenbeinskulptur, die sich einer besondern Beachtung
erfreut. Vor allem sind es Gegenstände des kirchlichen
Kultes, die zur Bildung gelangen, darunter auch Sta¬
tuetten, und zwar solche, die in direktem Anschluss an
die Antike geformt werden. Seitdem sich aber Otto II.
mit Theophanu, der griechischen Fürstentochter (i. J.
972) vermählt hatte, wird wieder der byzantinische
Einfluss wach, und es ist bekannt, welche wichtige Rolle
jene vielen in Deutschland seitdem vorhandenen Kopieen
byzantinischer Originalwerke gespielt haben. Erst durch
sie gewinnen wir ein Bild von der eigentlichen byzan¬
tinischen Kunstübung.
Als erste deutsche Arbeiten noch aus karolingischer
Zeit stammend sind die Elfenbeintafel des Tutilo in
St. Gallen und das Diptychon mit den celebrirenden
Geistlichen anzusehen, die eine Tafel dieses Diptychons
in der Bibliothek zu Frankfurt a. M., die andere früher
bei Fr. Spitzer in Paris. Namentlich die Darstellungen
auf dem zuletztgenannten Diptychon scheinen einen Ein¬
fluss auf die Elfenbeinwerke Frankreichs im 10. und zum
Teil noch im 11. Jahrhundert ausgeübt zu haben. In
Deutschland beherrschen in dieser Zeit, also im 10. und
11. Jahrhundert, die Elfenbeinarbeiten Niedersachsens
das Feld, sie zeigen uns teils das Festhalten am direkten
spätrömischen Kunstgeschmack oder byzantinische Ein¬
wirkung, andererseits aber auch schon nationale Eigen¬
art, die sich namentlich in einem gewissen naiven Realis¬
mus ausspricht; es sei dabei noch auf die Deckel des
Gebetbuchs Karls des Kahlen mit den beiden Reliefs aus
Davids Leben hingewiesen.
Aus dem 12. Jahrhundert ist das Hauptwerk Italiens,
nicht ohne byzantinischen Formalismus, der oft ge¬
nannte Altarvorsatz im Dom zu Salerno.
Das 13. Jahrhundert war der Elfenbeinplastik nicht
günstig, doch hören wir aus dem 14. Jahrhundert von
der Begründung der berühmten Schule zu Dieppe, die
bis ins 16. Jahrhundert gewissermaßen diese Kunstübung
monopolisirt, l)is noch im 16. und sodann im 17. Jahr¬
hundert die Technik einen großen Aufschwung zugleich
in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden nimmt.
Vornehmlich werden Gegenstände religiösen Bedürfnisses,
besonders Kruzifixe, geformt. Das 18. und 19. Jahr¬
hundert sieht die Elfenbeinplastik als Kunst vollkommen im
Argen liegen, nur in Deutschland wird, Dieppe überflügelnd,
in einigen Städten, so in Nürnberg, Fürth, Geislingen,
ein schwungliafter Handel mit elfenbeinernen Industrie¬
erzeugnissen betrieben, oline die Verdienste der Orien¬
talen, der Chinesen und Japaner auf diesem Gebiete zu
beeinträchtigen.
Wohl hatten von Zeit zu Zeit französische Künstler,
so namentlich im Jahre 1855 der Pariser Simart, mit
seiner Athena Partlienos den Versuch gemacht, die alte
Elfenbeintechnik als Kunst wieder einzuführen, jedoch
ohne nachhaltigen Erfolg. Erst unserer Zeit am Aus¬
gange des Jahrhunderts ist es Vorbehalten geblieben, hier
Wandel zu schaffen. Künstler Belgiens haben sich in
größerer Anzahl zusammengethan, um die ehedem wohl-
liewährte Kunstübung zu erneuten Ehren zu bringen, und
ich glaube, dass dereinst die Kunstgeschichte davon wird
sprechen müssen.
Wer den Dingen so nahe steht, wie ich im Augen¬
blick, muss sich darüber wundern, dass die chryselephan¬
tine Kunst so lange hat in Verfall liegen können. Man
wolle nur die Feinheit des Elfenbeins, seine prächtige,
wie für die Darstellung der menschlichen Epidermis ge¬
schaffene Struktur und vor allem die milde Farben-
nüance betrachten, die von allen natürlichen der Plastik
dienenden Materialien der Hautfarbe des Menschen am
meisten entspricht. Dazu gesellt sich der gleiche Vorteil
wie beim Marmor, die Durchsichtigkeit bis zu einem
gewissen Maße. Gerade diese Durchsichtigkeit in Ver¬
bindung mit dem gelblichen Tone des Elfenbeins ver¬
leihen der dargestellten Figur mehr als einen Hauch von
Leben. Das lebensvolle Material, vom Leben kommend,
setzt uns In den Stand, uns mit dem Gegenstände unserer
Betrachtung weit intimer zu fülflen, als es uns beim
Marmor oder bei der Bronze vorkommt, und nur die
DIE ELFENBEINPLASTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897. 283
Pflicht des Kritikers schreckt mich aus allzugroßer In¬
timität auf. —
Der von dem Architekten und Professor an der
neuen polytechnischen Schule Paul Hankar geschmack¬
voll und mit feinem Kunstsinn ausgestattete Salon hat
etwa 80 Bildwerke aufgenommen, die von 40 Künstlern
gefertigt worden sind und bei denen das Elfenbein in
Verbindung mit Gold, Silber, Holz oder Bronze eine
Hauptrolle, wenn nicht die einzige Rolle spielt.
Ah und zu tauchen freilich auch Bildwerke auf,
die meinem persönlichen Geschmack zuwiderlaufen, so
hat beispielsweise Ä. Aarts ein Experiment gemacht,
das in technischer Beziehung als gelungen angesehen
werden muss. Er nennt seine Figur: Phantasie nach
Donatello. Wir sehen einen der bekannten Donatellesken
lachenden Kinderköpfe, in deren Anschauen man sich
gern immer und immer wieder versenken mag. Das
dargestellte Köpfchen zeigt alle Vorzüge seines Originals;
nun aber kommt die subjektive Zuthat von Aarts, er
legt über den Kopf ein schleierartiges Gewand und lässt
nun die Formen durch den Schleier hindurch scheinen.
Wie gesagt, persönlich Gegner derartiger Kunststücke
kann ich nicht umhin, zuzugeben, dass in formaler Hin¬
sicht Virtuosenhaftes geleistet worden ist. Überdies will
es mir scheinen, als ob derartige Bildungen nur mit Hilfe
des durchscheinenden Elfenbeins ermöglicht werden, ein
Versuch in Marmor ist mir wenigstens nicht bekannt.
Nur eine einzige Figur hat P. Braecke ausgestellt;
Vers l’Infini. Aus den Fängen eines stilisirten Mollusken¬
geschöpfes heraus strebt eine weibliche Gestalt ins un¬
endliche Weltall. Ganz vorzüglich ist das Empor¬
schweben durch die nach oben gerichteten Arme und die
emporweisende Geste der Hände mit dem harmonievollen
Fingerspiel angedeutet, dazu der verklärte Ausdruck des
gleichfalls ins Unendliche schauenden Gesichts, dem das
Material vortrefflich zu statten kommt.
In die reale Wirklichkeit führt uns Qiiillaume
Charliefs Wasserträger aus Palermo zurück. Hier
können wir den wirkungsvollen Gegensatz zwischen dem
im Ton warmen Elfenbein und der dunklen Bronze be¬
wundern, eine köstliche Zusammenstellung. Der weh¬
mütige Gesichtsausdruck des Burschen hebt sich von der
straffen Kopfumhüllung, einem groben Sacktuch, wegen
des daraus resultirenden Schattenwurfs ausgezeichnet ab.
Als Gegenstück hierzu könnte das vlämische Milch¬
weib, euphemistisch gesprochen Milchmädchen, von Co-
mein gelten. Auf dem rechten Arm und in den Händen
Milchgefäße haltend, schreitet es in vergnüglicher Selbst¬
gefälligkeit einher.
Ungemein reizvoll und von bestrickendem Zauber
ist der Frühlingstraum M. de Mathclins. Eine holde
weibliche Gestalt, in der Linken einen Zweig haltend,
auf der Rechten eine Anzahl kleiner Fliegewesen spielen
lassend, erhebt sich in den Äther, noch berührt das herab¬
fallende Gewand die Erde, die sich hier des Vorzugs
erfreut, in vergoldetem Silber dargestellt zu sein, ein
herrliches Idyll in wohlgelungener Vortragsweise.
In eine ernstere Stimmung versetzen uns die
Schöpfungen von A. des Enfans. Dieser vortreffliche
Künstler liebt die Darstellung religiöser Scenen. Sein
an die Säule gefesselter Christus lässt uns sozusagen
die Leiden des Herrn selbst mit erleben. Dem nach oben
gerichteten edlen Dulderantlitz und dem kraftlosen, viel¬
leicht etwas zu fleischigen Körper kommt die Struktur
des Elfenbeins ganz vorzüglich zu gute. Dasselbe gilt
von seiner Maria, auf die das Wort: Tota pulchra es,
Maria, wohl angewandt werden kann, wenn man von
der im Profil etwas zu sehr hervortretenden Oberlippe
absieht. Das Gewand fällt in reichen Falten herab, die
Hände sind zum Gebet emporgehoben, das seelenvolle
Auge blickt nach oben.
Dieselbe religiöse Richtung spricht sich in dem um¬
fangreichen Meisterwerk A. de Tomhay's aus: Christus
im Grabe. Die Fleischteile aus Elfenbein, das Gewand
aus Holz. Mit erschreckender Natürlichkeit ist hier der
tote Heiland dargestellt. Das vollkommen abgemagerte
Gesicht, die tiefliegenden, eingefallenen Augen, die fahle
Hautfarbe machen den Tod mehr als wahrscheinlich,
man glaubt an die Gewissheit; dabei darf nicht über¬
sehen werden, was der Künstler Hervorragendes in der
Durchbildung der mit anatomischer Wahrheit gezeichneten
Hände und Füße geleistet hat. Alles in allem genommen
muss man sagen, dass de Tombay sich darin zu einem
großen, freien und edlen Stil hindurchgearbeitet hat,
der weitab liegt von den proportionslosen und knittrigen
Gewandstatuen ehemaliger Zeiten. Manches hat mich
jedoch an Tilman Riemenschneider erinnert.
Nicht auf der Höhe seiner Fähigkeiten erscheint
mir Oodefroid de Vreese in seiner heiligen Jungfrau mit
den über die Brust gekreuzten Armen und dem langen in
schweren Falten herabfallenden Gewand. Hingegen halte
ich seine aphroditische Chrysis für eine Glanzleistung
bei der Gold, Silber und Elfenbein in gleicher Weise
zur Vervollkommnung beigetragen haben. Die sclilanke
Spenderin hält das Horn hoch empor, eine Bewegung,
die das über die Hüften gelegte Gewand herabgleiten
lässt. Der schon an sich hohe Reiz dieser Gestalt wird
noch durch das feingestrichene Elfenbein erhöht.
Der mythologischen Verwandtschaft wegen nenne
ich gleich hier P. de Vigne’s Psyche, ein herrliches Köpf¬
chen von ungemein charakteristischer Gestaltung.
Nicht so rein, mehr sinnlich wirkt J. Dillens’ Genius
mit der Lilie. Die üppige Frauengestalt mit jungfräu¬
lichem Körper und straffen Brüsten steht nur in losem
Zusammenhang mit der am Boden liegenden Lilie. Die
um Arm und Schulter gelegten Bänder, offenbar zur
Verdeckung der Ansatzstellen verwendet, stören den
Eindruck.
Mehr als kunstgewerbliche Arbeiten und von diesem
Standpunkte aus als lobenswert müssen die zahlreichen
36*
284 DIE ELFENBEINPLASTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897.
Darbietungen Fern. Duhois’ betrachtet werden. Hervor¬
zuheben ist ein Hochzeitskasten mit acht ansprechenden
Basrelief-Darstellungen aus dem Liebes- und Eheleben
oder, wenn man will, einer Illustration des Themas von
der Wiege bis zum Grabe. In einer besondern Vitrine
befinden sich hübsche Fächer, Schmuckkasten, Bücher¬
messer, Broschen und verschiedene unbedeutende Reliefs,
als deren bestes noch die Eva unter dem Erkenntnis¬
baum und nach der Erkenntnis gelten kann.
Ungleich künstlerischer ist ein anderer Gegenstand
des testamentarischen Bilderkreises, der heilige Johannes,
von Jo.su'6 Dnpon wiedergegeben worden. Das Elfen¬
Abb. 1. Die Furie. Elfenbeinarbeit von J. Geleyn.
beinrelief zeigt uns den Gespielen .Tesu mit dem Rohr¬
kreuz in der Linken. Das kindliche Gesicht, in dem
sich die Gottergebeuheit sinnig ausprägt, ist von aller¬
liebstem Aussehen. Auch hier hilft sichtlich das Feine
und liCbensvolle in der Eigenart des Elfenbeins der
plastischen Behandlung wirkungsvoll nach. Während es
hier der Künstler versteht, das Innige und Gutmütige
zum Vortrag zu bringen, ist er bemüht, in seiner
Statuette „der Heldenmut“ die rohe physische Kraft in
die Erscheinung treten zu lassen. Über einem Sockel,
der von getöteten, verwundeten oder wütend sich empor¬
bäumenden Panthern umgeben ist, erhebt sich die Ge¬
stalt eines nackten mit Schwert, Schild und sphinx¬
geschmücktem Helm ausgerüsteten, den Tod verachtenden
lü'iegers. Seine Rechte schwingt einen vergoldeten Drei¬
zack, den er im Begrifte ist, auf eine der zudringlichen
wütenden Bestien zu schleudern. Der Unnachgiebigkeit,
die sich in den strengen, entschlossenen Zügen des Kriegers
ausspricht, sieht man an, dass deren Träger gegebenen¬
falls die äußersten Konsequenzen seines Handelns zu
ziehen bereit ist, wenn es sein muss bis zur Grausamkeit.
In dem Bestreben, die Handlung bis zum höchsten Grade
wahrscheinlich zu machen, ist es dem Künstler wie
andern lange vor ihm ergangen, er hat übertrieben
Denn nur so kann man die unnatürliche Muskulatur ver-
Abb. 2. Die Furie. Elfeubeinarbeit von J. Geleyn.
stehen, die im einzelnen, wie bei den Oberschenkeln, der
anatomischen Richtigkeit entbehrt.
Wie hier macht sich der auf Vernichtung gerichtete
Sinn auch in der Furie J. Qelcyns (s. Abb. 1 und 2)
bemerkbar. Unheilvoll, schrecklich, entsetzlich, fürchter¬
lich könnte man das verderbenbringende Geschöpf in
seinem unheimlichen Habitus nennen. Der Gliederbau
ist gedrungen, fast männlich. Die zornentflammte, un¬
nachsichtige Gesichtsmiene des an den Füßen geflügelten
dämonischen Wesens verkündigt nichts Gutes, dazu der
Dolch in der Rechten, die Fackel in der Linken, die
Schlangen um Hals und Kopf und zum Überflüsse
noch eine recht kräftige Schlange zu Füßen, das alles
DIE ELFENBEINPLASTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1S97. 285
zusammengenommen rechtfertigt die oben gebrauchten
Epitheta.
Einen mehr heiteren Gesichtskreis eröffnet uns
E. Jespers, indem er uns den entwaffneten Amor vor¬
führt. Eine für Psyche etwas zu groß geratene weib¬
liche Gestalt, deren Schweben recht glaubhaft gemacht
ist, hat den kleinen Schelm mit der Linken an den
Schmetterlingsflügeln gefasst und verhindert ihn so, den
in ihrer Rechten gehaltenen Pfeil zu entringen. Die
siegesbewusste Haltung der schönen Quälerin und die
schelmisch-flehende Gebärde
Amors nehmen den Blick un¬
gewöhnlich gefangen. Es ist
eine der reizvollsten Grup¬
pen, die ich je gesehen. Da¬
gegen steht weit zurück, was
der Künstler in seiner Per-
soniflkation des Widerstre¬
bens geschaffen, obwohl auch
hier viele Schönheiten ent¬
deckt werden können. Dem
zurückgelehnten Kopf mit
dem trotzig sein sollenden
Gesicht sausdi’uck will man
den ernstlichen Widerstand
nicht glauben. Besser als
diese Büste erscheint noch
die Simplicitas. Sie ist hier
dargestellt als eine holde,
eine Stufe, herabschreitende
Mädcheugestalt in kurzem
Kleidchen, von anziehendem
idyllischen Zauber. DeiTänd-
liche Backfisch hält ein Buch
in der Rechten; trotzdem
guckt süße Unwissenheit aus
dem Unschuld svollen Gesicht-
chen heraus.
Ein aus ornamentirter
bronzener Umrahmung uns
anschauendes Antlitz von
Fernand Klinopff, dem be¬
kannten Mystiker und Sym¬
bolisten, kann mir in dieser
Zusammenstellung nicht gefallen; wie der Künstler diese
Schöpfung Büste benennen konnte, bleibt mir unklar.
Die Jungfrau mit der Lilie von Edmond Lefever
ist kein bedeutendes, aber auch kein übles Werk. Zu
loben ist die Behandlung des Faltenwurfs und der Haare,
die lang herunterwallen; das Gesicht kann auf Idealität
keinen Anspruch machen, zeigt aber doch regelmäßige
Formen.
Eine ungemein anmutige Gruppe giebt Ilipp. Le
Eoij mit einem Mädchen, das im Begriff ist, ein Zicklein
zum Felde zu führen. Die schöne Schäferin fasst mit
der Rechten das Tier, mit der Linken die Schnim; Mate¬
rial: Elfenbein und Holz. Unangenehm und auffällig
wirken die zu sehr sichtbaren Ansatzstellen im Holz.
Und nun Constantin Meunicr , der neben van der
Stappen auf der Höhe der modernen belgischen Plastik
einherschreitet. Er hat nur ein Werk ausgestellt, das
aber eine ganze Reihe von Schöpfungen gewisser anderer
Bildhauer aufwiegt. In seinem Christus am Kreuze,
einer Figur, die nicht frei von Manierismus ist, packt
der Künstler gleichwohl durch den leidensvollen Aus¬
druck des mit spärlichem
Barthaar ausgestatteten
Antlitzes, wie überhaupt
durch die geistvolle Behand¬
lung des Kopfes und der
ganzen wohlproportionirten
Gestalt des Heilandes. Ana¬
tomisch bemerkenswert sind
die durch das Eintreiben der
Nägel in Händen und Füßen
entstandenden , angescbvvol-
lenen Wundstellen, einer von
den vielen Beweisen, wie der
Meister die Natur anschaut
und sich in deren Studium
versenkt.
Mehr Vertreter der
Kunstindustrieais der eigent¬
lichen Großplastik ist A. G.
Orcres. In einer besonderen
Vitrine hat er eine Reihe
von kunstgewerblichen Ge¬
genständen in Elfenbein aus¬
gestellt, so eine Uhr und
Kandelaber im Stil Ludwigs
XVI., Rahmen und Wappen;
es sind gute Arbeiten; so¬
bald Overes aber auf das
speciell künstlerische Gebiet
der Rundplastik übergeht,
wirkt er unreif. Ich will
nur seine Figur „Die Über¬
schwemmung“ nennen, per-
sonifizirt durch ein Weib, das
ihre Kindlein in Sicherheit bringen will. Es wäre zu
wünschen, dass dieser der Darstellung gewnss würdige
Gegenstand von einem bedeutenden Künstler bearbeitet
würde.
Den Venusberg Ed. Romhaux’ (s. Abb. 3) würde ich
für die drei Grazien gehalten haben, wenn der Künstler
seine Gruppe von drei sich im Reigen bewegenden w'eib-
lichen Gestalten nicht selbst als solchen hätte angesehen
wissen wollen. Aber auch die Gespielinnen der Venus
sollen graziös sein, und in der That bestätigt sich dies in
der von dem Künstler mit liebenswürdiger Sorgfilt auf-
Abb. 3. Der Venusberg. Elfenbeingruppe von Ed. Eojibacx.
Abb. 4. In boc signo vinces. Elfenbeingruppe von Charles VAN
DER Stapfen.
DIE ELFEXBEINPLASTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897.
gebauten Komposition; der verführerisclie Ausdruck in den
wonnetrunkenen Gesichtern ziemt sich gerade für die
Beschäftigung dieser holden Weiblichkeit. Übrigens hat
bekanntlich Amor dafür zu sorgen, dass es im Yenus-
berge an Kurzweil nicht fehle, und in dieser seiner
Thätigkeit lässt uns Felix Romhaiix den kleinen Jäger
schauen. Es ist das ein ganz entzückendes Figürchen.
Amor, auf Wolken gedacht, ist eben im Sturm daliin-
gesaust und hat den Pfeil abgeschossen, dessen Richtung
er nun mit schmunzelndem Lächeln folgt, er hat auf das
Sinnbild der Rose gezielt, die sich in Form eines weib¬
lichen geflügelten Putto als Pendant zum Amor dar¬
stellt; in der Rechten hält Rosa ilire Blume, in der
Linken den Pfeil.
Mit einem größeren, menschliches Elend veran¬
schaulichenden Holz-Elfenbeinbihlwerk tiitt L. Sainain
auf. Eine weibliche, dem Kindesalter noch nicht ent¬
wachsene Gestalt ist, in der Hand die Gebetkette haltend,
niedergesunken und ruft in ihrem bejammernswerten
Zustand Gott an; Sorge und Elend haben dem jungen
Menschenkinde ihren Stempel aufgedrückt. Darunter am
Sockel befindet sich das erläuternde Gedicht:
C’est encore une enfant et la souffVance impie
A rendu mere cette enfant.
Elle appelle l’aniour, ne vient que l’agonie
Est ce donc pour cela que tu creas hi vie
Seigneur qui t’en vas fauchant
La moisson ä peine fleurie!
Elfenbein in Verbindung mit Bronze verwendet
CJi. Samuel zu seiner Chimäre, die ohne die Zuthat
eines legendarischen Vogelgeschöpfs auf dem Kopfe auch
ebenso gut die Büste irgend einer, wenn aucli nicht gar
zu selir liebenswürdigen Salondame vorstellen könnte;
denn auch bei einer solchen soll es Vorkommen, dass sie
sinnenden Auges dasitzt. Keineswegs ist das Mysteriöse
in der Figur genügend zum Ausdruck gebracht worden.
Der Meister hat dann noch andere weil)liche Statuetten
geschnitzt, von denen mir die sicli schmückende schlanke
Gestalt der Ophelia am besten gefallen hat. Außerdem
hat er nach der Zeichnung Ad. Crespins einen Holz-
Elfenbeinrahmen zu einem Spiegel gearbeitet. Die das
Spiegelfeld umrankenden elfenbeinernen Pfauen in stilisirter
Form sind vortrefflich durchgebildet.
Eine ungemein köstliche, höchst anmutige Figur hat
31. Strymaiiti in seinem Schlangenbeschwörer geschaffen,
einem Werke, das uns an die schönsten Gestalten früherer
Zeiten, so namentlich im Linienfluss der Konturen an
den jugendlichen Johannes des Michelangelo erinnert.
Die feinen Finger halten eine zum Munde geführte Flöte,
und um den Körper herum winden sich die musikliebenden
Amphibien.
Von gleichem Zauber erscheint der nackte Knabe
an der Fontäne, eines der vielen Meisterwerke des Ant-
werpener Akademieprofessors van Beurdcn. Besonders
glücklich gewählt ist die Stellung des halbwüchsigen
Jungen. Mit der linken Hand fasst er den Krug, um
DIE ELFENßEINPLASTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897. 287
ihn füllen zu lassen, mit der rechten lässt er eine Rute
in dem hervorstürzenden Wasserstrahl spielen. Die ver¬
schiedenartige immer wechselnde Richtung, die das
Wasser dadurch gewinnt, muss dem Knaben viel Ver¬
gnügen verursachen; denn nur so lässt sich der ver¬
gnügliche, heitere Gesichtsausdruck verstehen. Der
AVasserträger lehnt sich dabei auf einen Pilasterpfeiler,
dessen vordere Seite eine Gesichtsmaske aufweist, aus
deren Mundöffnung
das Wasser ent-
strahlt.
Gleich des En-
fans hat auch van
Beurden einen an die
Säule gefesselten
Christus gebildet, der
dem des erstgenann¬
ten Künstlers in
nichts nachsteht, der
aber auch dessen
Nachteile hat. Wohl
nimmt das Leiden des
Herrn auch hier un¬
ser höchstes Mitge¬
fühl, namentlich
durch den traurigen,
wehmutsvollen Ge¬
sichtsausdruck in An¬
spruch, aber wir ttn-
den ebenso, dass die
Körperformen doch
auch in dieser Figur
ein wenig zu voll
und fleischig geraten
sind. Darunter am
Sockel erkennen wir
eine ganz ausgezeich¬
nete, wenn auch, da
nur nebensächlicher
Gegenstand, in skiz¬
zenhafter Behand¬
lung dargebotene An¬
betung der heiligen
drei Könige.
Der produktive
Künstler hat dann noch eine Reihe weiterer Werke, so
einen leidenden heiligen Sebastian, ein allerliebstes Land¬
mädchen, einen prächtigen Madonnenkopf und einen träu¬
merischen Kupido ausgestellt, Schöpfungen, die von dem
vielseitigen Können des Meisters in hohem Maße Zeugnis
ablegen. Ganz flach und nur skizzenhaft aufgefasst ist ein
Elfenbeinrelief der Madame E. Beetz-, es stellt einen auf
einem Stuhle sitzenden, seine Pfeife rauchenden Bauern oder
Arbeitsmann dar. Auch hier hat die famose Struktur
des Materials günstig mitgewirkt.
Abb. 5. Die geheimnisvolle Sphinx. Elfenbeingruppe von Charles van her Stai'1'.ex,
Und nun der Brüsseler Akademieprofessor Charles
van der Stappen, der Lehrer einer großen Anzahl aus
der Reihe der bereits erwähnten Künstler. Seine aus¬
gesprochene Absicht ist es, die chryselephantine Kunst
wieder emporzuheben auf die Höhe, welche das vor¬
nehme Material zu fordern berechtigt ist. Er will
jedoch keine Reproduktion der Antike, wenngleich er
ihr Studium wohl empfiehlt. Was nunmehr geschaffen
wird, soll in durchaus
modernem Gewände
und so weit es die
neueren Ausdrucks¬
mittel gestatten, ge¬
schehen , eine Mei¬
nung, der wir uns
gern anzuschließen
vermögen. Wie in
der Glanzzeit der
Goldelfenbeinplastik
im Altertum sollen
auch jetzt wieder
große Bildwerke die¬
ser Art geformt wer¬
den, und wie damals
sollen auch jetzt die
hehrsten Gegen¬
stände gerade gut ge¬
nug sein, dargestellt
zu werden.
Und wie hat der
Meister es vermocht,
seine Idee in die
Praxis zu übersetzen.
Sprechen wir zuerst
von seiner Besiegerin
des Bösen (s. Abb. 4).
Über einem Onyx¬
sockel sehen wir den
hinabgeschleuderten
Genius des Bösen,
er fällt einem schreck¬
lichen Ungeheuer an¬
heim, das sich
schlangenähnlich um
einen Pfeiler herum-
wiiidet, und erst dann folgt darüber der Engel, eine im Aus¬
sehen weiblich zu nennende Figur, die ruhig auf beiden
Füßen steht. Die Figur ist mit langem, schwerem
liliengeschmückten Gewände und darübergelegtem Panzer
bekleidet. Sockel mit Figur messen etwa 1,50 in. In
der hocherhobenen Rechten hält sie ein goldenes, mit
Edelsteinen ausgelegtes, mit der Dornenkrone geziertes
Schwert in Kreuzesform, das vielleicht etwas zu groß
geraten ist. Die Linke ist beschwichtigend nach unten
gerichtet. Das Ganze eine Illustration zu dem Worte:
28S DIE ELFENBEINPLISTIK AUF DER BRÜSSELER WELTAUSSTELLUNG VON 1897.
In hoc signo vinces. Besonders hervorhebenswert ist
die natürliche Durchbildung der Hände und der see¬
lische Ausdi’uck des Gesichts. Das Haar ist einfach
glatt gescheitelt.
Ungleich bedeutender als diese Statue, ja als das
hervorragendste Werk auf der ganzen Elfenbeiuskulptur-
Ausstellung erscheint mir jedoch der „Sphinx mysterieux“
(s. Abb. 5) betitelte Kopf, eine Arbeit, die uns mehr
als jedes andere Werk eine reale Anschauung von der
götterbildenden Kunst des Phidias vermittelt, weil erstens
der Maßstab ein übernatürlicher ist, zweitens die An¬
wendung des Elfenbeins für die Fleischteile, des Goldes
(vergoldetes Silber) für das Gewand und die übrigen Zu-
thaten am klarsten durchgeführt ist '.) Nirgends prägt
sich die Macht des Materials so lebendig aus, wie hier,
dazu kommt der fesselnde Zauber in dem mysteriösen,
etwas verschleierten Gesichtsausdruck. Es ist ein Werk,
an dessen Anblick man sich nicht satt genug sehen
kann, und wie einfach ist doch die ganze Darstellungs¬
weise. Wir sehen einen weiblichen Kopf in groß ge¬
dachter Formenbehandlung, nichts Kleinliches ist daran,
und andererseits, wie vollkommen erscheint die Technik.
Wie Phidias seinen Schöpfungen den Hauch der Vollen¬
dung bis zur äußersten Konsequenz aufdrückte, indem
er auch die Eückteile seiner Figuren mit derselben
Liebe und Sorgfalt ausbildet wie die Vorderteile, so
auch Meister van der Stappen. Der Kopf bietet von
allen Seiten gesehen dieselbe Feinheit der Behandlung
bis auf die das Gewand schmückenden Blattpflanzen, die
in leicht verständlicher Beziehung auf den Gegenstand
der Darstellung dem Kreise derjenigen entnommen sind,
deren Duft die Sinne zu benehmen pflegt. Was uns im
ersten Augenblick befremdet, ist das Hervorstrecken der
rechten sclilaugengezierten Hand in senkrechter Form,
bis die Fingerspitzen etwa die Höhe des Mundes er¬
reicht haben, aber bei näherer Betrachtung finden wir,
dass auch dieses Moment mitwirkt, um uns die Schöpfung
nur desto anziehender zu machen. Uns ist, als wollten
wir ergründen, was von Gedanken in diesem Kopfe
verborgen liegt, doch zu gleicher Zeit erkennen wir,
dass unser Mühen vergebens, unser Trachten erfolg¬
los ist, denn unergründlich ist die Sphinx, bis ihr Ödipus
kommt. Wie hat sich doch alles vereinigt, um das
Werk als vollendet erscheinen zu lassen; der feinge¬
aderte Onyx, der als Sockel dient, der hellgetönte Gold-
1) Das Werk ist in einer Gipsnachbildung auch auf der
Dresdener Kunstausstellung (Nr. 1221) zu sehen.
Anm. der Redaktion.
ton des sphinxgeschmückten Helms und des geblümten Ge¬
wandes, die feine Struktur des Elfenbeins, die dem Werke
Leben verleiht imd alles dieses hat des Meisters Hand
in rechter Harmonie zusammenklingen lassen. Hoffen
wir, dass es dem Meister vergönnt sei, seine Absicht,
eine ganze Goldelfenbeinfigur in mehr als natürlicher
Größe zu bilden, verwirklicht zu sehen.
Einen vornehmen Platz in der Sammlung und mit
Recht nimmt D. Weygers, ein Schüler van der Stappen’s,
mit seinem heiligen Michael ein. Der geflügelte und
gepanzerte Erzengel schwebt über dem Drachen, er ist
ausgerüstet mit goldenem Schwert und Schild. Indivi¬
dueller x\uffassung ist hier weniger Spielraum gegeben,
gleichwohl ist eine technisch sehr beachtenswerte Leistung
geliefert worden.
Dem Schlangenbeschwörer von Strymans stellt sich
eine solche Beschwörerin von der Meisterhand Jidcs
Weyns’ zur Seite. Am meisten berückend erscheint das
kluge, zierliche und anziehende Köpfchen der venus¬
gleichen Gestalt; eine mächtige Schlange befindet sich
in ihren Händen. Die Figur zeichnet sich durch ein
seltenes Ebenmaß der Verhältnisse aus, alles an ihr ist
Leben und Bewegung.
Außerdem hat der Meister, der auch auf der großen
Berliner Kunstausstellung mit einer guten Elfenbeinarbeit,
Kopf einer Edeldame, vertreten ist, eine dem Könige
Leopold II. als dem Souverän des Kongostaates ge¬
widmete Büste dieses Monarchen ausgestellt. Sowohl
die Büste an sich erscheint wohlgelungen als auch
der gesamte Aufbau. Eine in lebhaftem Schwünge be¬
griffene weibliche Gestalt, sagen wir Fama, hält in
der linken Hand den wohlverdienten Lorbeerkranz, mit
der rechten legt sie die Posaune an den Mund, um der
Welt von den Thaten des Monarchen Kunde zuzutragen.
Am Sockel befindet sich im Relief eine Allegorie auf
den befreiten Erdteil in Gestalt einer erwachenden, ihrer
Fesseln ledigen weiblichen, lagernden Figur. Zu Seiten
sind Reliefs verdienter belgischer Offiziere angebracht.
So macht sich denn in der neuen Bewegung ein
großer, frischer Zug bemerkbar, der ungemein wohl-
thuend wirkt. Ich schließe meine Betrachtung mit dem
Wunsche, dass die belgischen Künstler auf der nun
einmal mit Glück betretenen Bahn wacker fortschreiten
mögen, nicht nur zur Ehre Belgiens, sondern auch zum
Ruhme der Kunst unseres gegenwärtigen Zeitalters, in
dem die freundschaftlichen internationalen Beziehungen
in wissenschaftlicher und künstlerischer Hinsicht eine
so große Rolle spielen.
DER HEILIGENBERG VON VARALLO
UND GAUDENZIO FERRARI.
VON GUSIAV PAULI.
ITT.
ACHDEM Gaudenzio Ferrari Varallo ver¬
lassen hatte, trat allem Anschein nach
eine gewisse Stagnation in den Arbeiten
auf dem Heiligenberge ein. Wenigstens
haben wir aus den nächsten Jahrzehnten
von keiner einzigen dort ausgeführten Ar¬
beit gewisse Kunde. Erst ein Menschenalter später kam ein
neuer Aufschwung in die Bauthätigkeit. Er knüpft sich an
den Namen des Giacomo d’Adda, eines angesehenen Valse-
sianers, der die Tochter des letzten Scarognini, Giovanni
Antonio, heiratete. Als ihm nach dessen Tode 1556 das
reiche Erbe der Scarognini zugefallen war, sorgte er in der
liberalsten Weise bis an sein Lebensende (f 1580) für
den sacro monte, und späterhin wurde bei seinen Nach¬
kommen diese Fürsorge zu einer ehrenvollen Tradition.
Giacomo d’Adda setzte sich als fabbriciere mit dem be¬
rühmten Mailänder Architekten und Maler Pellegrino Pelle-
grini, genannt Tibaldi, in Verbindung und ließ von diesem
den ganzen Plan des Heiligenberges neu bearbeiten. Die
Aufnahmen und Pläne Tibaldi’s haben sich nebst dem
Memorandum, das er dabei überreichte, in einem statt¬
lichen Bande im Collegio d’Adda in Varallo erhalten und
bilden eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte
des Berges. Q Er ging davon aus, dass es von größter
Wichtigkeit sei, die Darstellungen der einzelnen Mysterien
in der richtigen Reihenfolge dem Pilger vorzuführen,
was man bisher vernachlässigt hatte. Daher verlangte
er zunächst Beseitigung der regellosen Kreuz- und Quer¬
wege und zeichnete einen neuen Weg vor, der in großen
geschweiften Zickzacklinien die verschiedenen Kapellen
der Reihe nach miteinander verband. Sodann vervoll¬
ständigte er die Zahl der darzustellenden Mysterien und
entwarf für einige der neuen Tempel selbst die Pläne.
Der Zeitpunkt dieser seiner Thätigkeit wird annähernd
1) Eine Kopie seines Entwurfes bei Butler, Ex voto nach
S. 60, woselbst auch ein Auszug aus dem Memorandum ab¬
gedruckt ist.
Zeitschril't für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 12.
(Schluss.)
dadurch bestimmt, dass in dem erwähnten ältesten
Führer des Berges von 1587 (Descrittione del sacro
monte etc.) einige der von ihm projektirten Ivap eilen als
vollendet angegeben werden, andere als begonnen.
Ein mächtiger Sporn musste damals den Tvünstlern
und Bauherren des Berges die Teilnahme sein, mit der
der Erzbischof Carlo Borromeo ihr Werk verfolgte. Der
merkwürdige, schon zu seinen Lebzeiten fast wie ein
Heiliger verehrte Mann besuclite zuerst 1578 das neue
Jerusalem und weilte daun noch einmal 1584 dort vier¬
zehn Tage unter Fasten und Beten. .Ta, die Legende
berichtet, er habe an der dem Gebet Christi auf dem
Ülberg geweihten Kapelle die Ankündigung seines eigenen
nahen Endes empfangen. Jedenfalls starb er bald nach
jenem zweiten Besuche.
Die von Pellegrino Tibaldi damals entworfene An¬
lage ist für die Folgezeit maßgebend geblieben. Der
Kapellenweg ist zum größten Teile noch heute der von
ihm vorgezeichnete, Proben seiner gemäßigten Barock¬
architektur sind in dem Eingangsthor und in der ersten
Ivapelle erhalten. Im übrigen verzichtete man auf die
Ausführung seiner Baupläne, vermutlich weil sie zu
teuer geworden wäre. Leider wurde die plastische und
malerische Ausschmückung der neu errichteten Kapellen
anfänglich recht ungeschickten Händen anvertraut. Wie
der Bildner geheißen haben mag, dem man hier ein nur
allzu weites Feld der Thätigkeit eröffnete, ist nicht ge¬
wiss. Sein Name ist es auf alle Fälle auch nicht wert,
der Nachwelt überliefert zu werden. Er ist der unge¬
schickteste Stümjier, der sich auf all den Heiligenbergen
versucht hat. Man erkennt ihn leicht wieder an einem
fatalen geradnasigen Idealkopf mit übergroßen Augen
und einem kleinen Ivirschenmündchen, den er überall
anbringt, an den regelmäßig zu kleinen Füßen, an der
verschwommenen Behandlung der Muskeln und Gew'and-
falten. Ein weiteres äußeres Ivennzeichen seiner Ar¬
beiten ist, dass sie sämtlich aus Gips oder Stuck, nicht
37
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DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
aus g'ebranntem Thou gefertigt sind. Sie sind daher zu
allem Überfluss noch in einem bejammernswerten Zu¬
stand der Erhaltung, oft angebröckelt, morsch und mit
weihem Staube bedeckt. — Folgende Gruppen gehen auf
ihn zurück:
Ileschneidung Christi (Plan 7), Traum Josephs vor
der Flucht nach Ägypten (Plan 8), Taufe Christi (Plan 11),
Versuchung Christi (Plan 12) mit Ausnahme der Tier-
flguren, die von dem später zu erwähnenden Tabachetti
hinzugefügt wurden, Christus und die Saniariterin(Plan 13),
Auferweckung des Jünglings zu Naim (Plan 15), Auf¬
erweckung Lazari (Plan 17), Einzug in .Terusalem (Plan 18 ).
— Bei den ersten beiden dieser Gruppen, der Be¬
schneidung und dem Traume Josephs, hat offenbar noch
ein anderer, etwas besserer Künstler mitgewii'kt, dessen
Hand wir auch in der Kapelle der drei Könige zu er¬
kennen glauben. Möglicherweise hat Bordiga recht,
wenn er hier den Maler Fermo Stella nennt, einen Ge¬
hilfen und Nachfolger Ferrari’s.
Etwas später als die meisten dieser Gruppen sind
die der Heimsuchung (Plan 3) und des bethlehemitischen
Kindermordes (Plan 10) entstanden. Die sechs Figuren
der ersteren Kapelle sind kaum viel besser als die eben
genannten und gleichfalls aus Stuck. An den Wänden
sehen wir hier noch die alten Malereien aus der Zeit,
als hier die Gruppe der Verkündigung Mariä aufgestellt
war; über einem tepi)ichartigen Wandrauster in sechs
Bogenfeldern Halbfiguren von Propheten und rechts und
links einen Putto, von Antonio Zanetti, einem mittel¬
mäßigen Ferrarischüler, der auch an der früher erwähnten
Kirche S. Maria di Loreto gemalt hat. — Die Kapelle
des Kindermordes ist, wenn auch nicht eine der ge¬
lungensten, so doch eine der größten des Berges. Der
Bau entstand in den .Jahren 1586 und 1587.') Wähi'end
man noch daran arbeitete, besuchte der Herzog Karl
Emanuel I. von Savoyen mit seiner Gemahlin den
Heiligenberg und stiftete bei der Gelegenheit die Mittel
zur plastischen und malerischen Ausstattung. Zwei Bild¬
hauer, Giacomo Bargnola genannt Parracca und Michel¬
angelo liossetti, stellten in fünfiindnennzig lebensgroßen
Terrakottafiguren diese schauderhafteste aller Blutscenen
dar, während zwei noch mehrfach an den Heiligenbergen
tliätige Maler, die Brüder Gioranni Battista und Gio¬
vanni Mauro Boveri, genannt i Fiammenghini, den Vor¬
gang in den Fi’esken der Wände fortsetzten. '^) Die
1) G. Arienta. Arte e storia XII. S. 138.
2) Die ältere Guidenlitteratur bezeichnet ausnahmslos
Bargnola als den Verfertiger der Gruppe; dagegen findet
sich auf dem Halsband des rechts von Herodes stehenden
Kriegers der Name des sonst wenig bekannten Michelangelo
Rossetti mit der Jahreszahl 1590. Auf den Halsbändern der
zwei links von Ilerodes stehenden Krieger haben sich die
Maler der Fresken bezeichnet: Battisto Roveri Pictor Milanes
Aeta XXXV und Jo . Mauro . Rover . Pictor. Von ilinen
stammen außerdem die Fresken in der Ka])elle des Einzugs
in Jerusalem und an den Außenwänden der ersten Kapelle
Gesamtwirkung der Schar verzweifelter Mütter, roher Sol¬
daten und blutender Kinderkörper ist bei dem schranken¬
losen Naturalismus, dem Plastiker und Maler huldigten,
wie nicht anders zu erwarten, grauenhaft. Die Kom¬
position ist, wie so oft, auch hier wieder ziemlich ver¬
worren, doch sind einzelne Figuren Bargnola’s für sich
betrachtet wohl gelungen, weit besser als die Figuren
des Herodes und seiner Diener, die — vielleicht nach
Bargnola’s Tode — Itossetti im Hintergründe der Kapelle
ausführte. 1591 war die Kapelle fertig, wie aus einer
entsprechenden'Bemerkung in der in jenem Jahre in Varallo
neu erschienenen descrittione del sacro monte hervorgeht.
Wahrscheinlich in den letzten Jahren des sech¬
zehnten .Jahrhunderts ist ein Künstler nach Varallo ge¬
kommen, der als ein klassischer Vertreter jener Art von
Thonbihlnerei betrachtet werden kann und der sich dort
zu J^ande noch heute des größten volkstümlichen An¬
sehens erfreut. Dieser Künstler war Gioranni Tabachetti.
Über seine Herkunft sind wir jetzt durch verdienstvolle
Untersuchungen S. Butler’s genauer unterrichtet.') Da¬
nach ist Tabachetti ein Flamländer aus Dinant, der Sohn
eines Guillaume de Wespin genannt Tabaguet. Ver-
mutlich ist er in dem Jahrzehnt zwischen 1560 und
1570 geboren. Da Tabachetti 1587 als aJjwesend in
einer Urkunde seiner Heimat erwähnt wird, und da in
Belgien bislang keine Arbeiten von ihm gefunden worden
sind, so hat er wahrscheiiilich in jungen .Jahren Flandern
verlassen. Er muss gleich nach Italien gewandert sein,
denn als um 1590 die Arbeiten auf dem Heiligeiiberge
zu Crea bei Casale begonnen wurden, sehen wir ihn dort
beschäftigt. In die Heimat scheint er nie wieder zurück¬
gekehrt zu sein. Er blieb in der Nähe von Crea an¬
sässig, wird mehrfach als dortiger Grundbesitzer erwähnt
und starb 1615 oder in den ersten Tagen des folgenden
Jah res, denn 1616 am 4. Januar wird die Geburt eines
ihm posthum geborenen Sohnes bezeugt.-) Außer seinen
Arbeiten in Crea und Varallo ist bisher nichts von ihm
bekannt geworden, was bei der Vergänglichkeit der Stuck-
und Terrakottabildwerke wohl begreiflich ist.
Die Datirung seiner Varalleser Werke lässt sich
annähernd bestimmen. Gewöhnlich wurden in den Ka¬
pellen zuerst die Gruppen in Angriff genommen und
später die Fresken dazu gemalt. Nun wissen wir, dass
1594 und 1599 wegen der Ausmalung der ersten Kapelle
(des Sündenfalls), zu der Tabachetti die Figuren geliefert
hat, mit einem Maler verhandelt wurde. ^) Also werden
1) Butter, Ex voto. S. 119ff. — Aus einer ebenda S. 124
aJ)gedruckten Urkunde ersehen wir, dass 1587 ein Oheim
unseres Tabachetti für den Abwesenden die Erbschaft seiner
Eltern und seiner Schwester antritt. Aus dem Umstande,
dass diese jüngst verstorbene Schwester als minorenn be¬
zeichnet wird, folgern wir die oben annähernd bezeichnete
Geburtszeit des Künstlers.
2) Butler, Ex voto. Vorrede. S. XI.
3) Bordiga. Storia e guida del sacro monte di Varallo.
Varallo 1830. S. 39.
DER HEILlGENßERG VON VAR ALLO UND OAUDENZIO FERRARI.
291
um 1594 seine Arbeiten beendet gewesen sein. Man
braucht sich mit den beiden nichtssagenden Aktfiguren
nicht lange anfzuhalten, zumal da die Kapelle unlängst
einer gründlichen Restaurirung unterzogen worden ist.
Das große Werk Tabachetti’s in Varallo ist die
Gruppe der Kreuztragung (Plan 35), die wahrscheinlich
sechs bis sieben Jahre später entstanden ist, da 1602
mit dem Maler Antonio Qandino wegen der Ausmalung
des Hintergrundes ein Kontrakt abgeschlossen wurdeU)
Tabachetti hat hier nach der allgemeinen Ansicht sein
bestes geleistet. Wegen der Mängel der Komposition
muss man ein Auge zudrücken, denn es war von vorn¬
herein ein Ding der Unmöglichkeit, vierzig lebensgroße
Figuren zu einem einheitlichen Bilde zusammenzufassen,
wo es für den Beschauer so völlig an einem Standpunkt
mangelte, das Ganze zu übersehen. In einem schmalen
Gange geht mau an der Gruppe entlang und sieht durch
die ovalen Öffnungen einer Holzschranke den Figuren
aus nächster Nähe ins Gesicht. — Der Zug bewegt
sich nach links. Voran schreiten die beiden nackten
Schächer, die Hände auf dem Rücken gefesselt, von
Kriegsknechten geführt. In der Mitte schleppt sich
Christus unter dem Kreuze fort. Vor ihm breitet
Vei'onika mit entsetzter Miene das Schweißtuch aus.
Hinter ihm her wandeln die Marien mit .lohaunes, zwischen
die sich ein Soldat mit drohender Miene drängt. Zu¬
schauer und Krieger füllen den übrigen Raum. Ge¬
schickt sind hinter den Fußgängern einige Reiter an¬
geordnet. Ähnlich wie in den großen Kapellen Qcmdenzio
FerrarUs sind auf die Wände dichte Scharen von Reisigen
und Fußvolk und an das Gewölbe etliche jammernde
Engel gemalt. Zur Ikonographie sei erwähnt, dass drei
dieser Engel Bilder tragen, auf denen als symbolisch
vergleichbare Begebenheiten des alten Bundes das Opfer
Isaaks, Josua und Kaleb mit der großen Weintraube und
der König Abimelech mit einem Baumstamm auf den
Schultern dargestellt sind. — Der Meister dieser Malereien
war der unter dem populären Namen des „Morazzone“
bekannte Pierfrancesco Mazzticchelli. einer der namhaften
mailändischen Maler jener Zeit mit rascher Hand und
wmnig Charakter. Auf dem Heiligenberge in Varallo
malte er außer der Kapelle der Kreuztragung in den
.fahren 1612 — 1614 die des Ecce homo und der Ver¬
urteilung Christi aus. Man muss ihn dort besonders
hoch geschätzt haben, denn seiner Kunst wegen brach
man 1604 den obenerwähnten mit dem Maler Qandino
abgeschlossenen Vertrag, und ließ dessen schon be¬
gonnene Malereien herunterschlagen. — Morazzone
scheute sich nicht, eine Menge seiner Gestalten, Reiter
und Engel, mit einigen leichten Veränderungen aus der
Kapelle der Kreuzigung zu copieren.
Außer den beiden genannten Kapellen schreibt die
Tradition, offenbar mit Recht, noch die Kapelle des ersten
Traumgesichts des hl. Joseph (Plan Nr. 4) dem Tabachetti
zu. Sie enthält nur drei Figuren und keine Fresken.
Joseph lehnt fest schlafend mit zurückgesunkenem Haupte
in einem Sessel. Von links tritt der Engel an ihn heran,
der ihm die Geburt des Heilandes verkündet, während
Maria, eine liebliche junge Hausmutter, nichts ahnend von
der himmlischen Erscheinung, rechts von ihrem Gatten
sitzt, mit einer Spitzenklöppelei beschäftigt. — Da diese
Darstellung in den Guiden bis um 1610 noch nicht erwähnt
wird, so ist sie offenljar die letzte Arbeit Tabachetti’s
auf dem sacro monte.
Tabachetti hat das Glück gehabt, dass er an Stätten
thätig war, wo — abgesehen von Gaudenzio Ferrari —
kein Ijedeutenderer Plastiker vor dem Forum der Nach¬
welt mit ihm konkurrireu konnte. Sein Verdienst er¬
schien daher den Bewohnern jener Gegenden von jeher
im glänzendsten Lichte, und zuguterletzt hat der leicht
begeisterte S. Butler, von der lokalen Bewunderung an¬
gesteckt, mit enthusiastischen Worten in seinem Buche
über den Heiligenberg Tabachetti’s Lob verkündet. Über¬
all, wo ihm in Varallo eine Figur gut gefiel, erblickte
er in ihr Tabachetti’s Meisterhand. Er stellte ihn nicht
nur über Gaudenzio, sondern sogar über Michelangelo.
Die Kreuztragung schien ihm Vorzüge zu besitzen, deren
die Grabkapelle der Medici ermangelte. — Nun — wir
wünschen dem verklärten Tabachetti aufrichtig Glück zu
seinen Bewunderern, mehr als den letzteren zu ihrem
Geschmack.
Tabachetti war ohne Zweifel ein geschickter Pla¬
stiker. Seine Maria, die sich über ihr Klöppelkissen
beugt, ist ein vortreffliches Stück liebenswürdiger
naturalistischer Thonbildnerei, auch der schlafende Joseph
ist trotz seiner odiösen Eosshaarperücke anziehend,
weil naturwahr. Die vielgerühmte Kreuztragungsgruppe
dagegen offenbart gar deutlich die Grenzen von Ta¬
bachetti’s Begabung. Diesem Gegenstand, der das
größte tragische Pathos erheischt, war er nicht ge¬
wachsen. Er verfiel hier in ein langweiliges Schema-
tisiren der weiblichen Idealfiguren mit ihren länglichen
schmalen Gesichtern und erborgte sich einige Charakter¬
köpfe einfach aus Gaudenzio’s Kreuzigung. — Zum
großen Künstler fehlte es ihm an einer starken schöpfe¬
rischen Persönlichkeit; danach aber fragt das große
Publikum nicht. Ihm gefiel er, weil er nichts verdarb,
in Körper- und Gewandbehaiidlung korrekt war, und
weil ihm jene liebenswürdige Anmut, in allem was er
schuf, eigen war, jene Anmut, für die man gerade in
Italien so viel Verständnis hat. Darum war er an
seinem Platze der rechte Mann.
Nach seinem Weggange erlahmte die Thätigkeit auf
dem Ileiligenberge in keiner AVeise. Gerade damals war
dem Unternehmen ein neuer einflussreicher Gönner er¬
wachsen in dem Monsignore Carlo Bescape, der 1593
den bischöflichen Stuhl von Novara bestiegen hatte. Un¬
längst war damals in seiner Diöcese ein neuer Heiligeu-
37*
1) Bordiga. Storia. S. 79.
292
DER HEILIGENBERG VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
berg, dein Franziskus geweiht, bei Orta entstanden. Und
wenn der Bischof auch seine Fürsorge hauptsächlich
diesem jungen Unternehmen widmete, so war er daneben
doch so eifrig für das alte Heiligtum in Varallo bemüht,
dass man ihm das Hauptverdienst an seiner Vollendung
zuschreibeii darf. So rasch wie jetzt war liier nie zuvor
gearbeitet worden. In den ersten vierzig oder fünfund¬
vierzig Jahren des siebzehnten Jahrhunderts wurden
über zwanzig Kapellen vollendet, zu denen die folgenden
Jahrhunderte dann nur noch drei weitere hinzugefügt
haben.
Einem Schüler J'abachetti's fällt der Löwenanteil
an diesen Arbeiten zu. Gioraivti d'Enrko ist der
Name des sonst wenig be¬
kannten Plastikers und Archi¬
tekten. Er stammte aus dem
letzten höchstgelegenen Orte
des Sesiathales aus Alagna,
dessen Bewohner noch einen
deutschen Dialekt sprechen —
eine Thatsache, die unsern
meisten Landsleuten unbekannt
sein dürfte. Gegen 1605 muss
er nacdi Varallo gekommen sein,
da keines seiner dortigen Werke
sich mit Sicherheit früher da-
tiren lässt. 1644 ist er in dem
Städtchen Montrigoiie nicht
weit von Varallo gestorben.’)
Außer ihm waren noch zwei
seiner Brüder auf dem Heiligen¬
berge als Maler thätig, ein
älterer, Melchiorre, und ein
entschieden befähigterer jünge¬
rer, Antonio, mit einer fami¬
liären Abkürzung Tanzio ge¬
nannt. Daraus haben dann
Nagler und Zani für alle drei
einen Familiennamen gemacht,
der auch in Meyer’s Eeisehand-
buch zu lesen ist. Giovanni d’Enrico ist der Erbauer der
neuen, 1614 begonnenen, Kirche des Heiligenberges, und
außerdem hat ei’ die Pläne geliefert für die drei großen Ka¬
pellenbauten, die man in dieser Zeit zur Aufnahme der noch
fehlenden Passionsgruppen errichtete. Es sind die so¬
genannten Paläste des Kaiphas, des Herodes und Pilatus,
die an der Nordwestseite des Bei'ges um einen vier¬
eckigen Platz liegen (Plan 24 — 34). Bei erheblich
größeren Dimensionen halten sie sich doch in den ein¬
fachen traditionellen Bauformen der älteren Kapellen.
Von dem neun Kapellen umfassenden großen Palast des
1) Vgl. F. Tonetti. Museo storico ed aitistico Valsesiano.
II. Varallo 1888. S. 48.
P. Galloni, Uomini e fatti celebri della Valsesia. S. 148.
S. Butler, Ex voto. S. 15111’.
Pilatus, der 1605 begonnen wurde, ') führte man einen
Bogengang zu den alten Kapellenbauten des heiligen
Grabes hinüber.
Man muss Giovanni d’Enrico mehr als Plastiker
denn als Baumeister beurteilen; doch ist es auch hier
nicht leicht, ihm gerecht zu werden, da die ihm zuge¬
schriebenen Gruppen so sehr ungleichwertig sind. Er
sah sich bei der Menge der Arbeit genötigt, in ausge¬
dehntem Maße Gehilfen zu beschäftigen, ja späterhin
schloss er sogar mit einem derselben, dem Giaco7no Ferro,
einen Vertrag ab, wonach er diesem die Hälfte seines
gesamten Lohnes zusicherte. Außerdem handelte es sich
in vielen Fällen mehr um eine Ergänzung und Neuauf¬
stellung vorhandenen Materials.
Die fiühesten Arbeiten
Giovanni’s, bei denen man auch
am ehesten Eigenhändigkeit an¬
nehmen kann, befinden sich im
Palazzo di Pilato. Die große
Gruppe des Ecce honio , die
zwischen 1608 und 1612 ent¬
standen ist,“) zeichnet sich in
jeder Hinsicht vorteilhaft aus
vor seinen späteren Werken.
Zunächst ist die Gesamtanord-
nung gelungener. Ähnlich wie
auf dem Fresko Gaudenzio
Ferrari’s in Sta. Maria delle
grazie in Mailand erscheint
Pilatus mit dem gefesselten
Christus auf einem hohen von
Balustradengeländer umgebe¬
nen Altar. Unten drängt sich
die Schar der Juden, die gleich¬
falls nach dem Vorbilde Gau-
denzio’s geschickt im Halbkreis
gruppirt ist. In ein paar Ein¬
zelfiguren hat Giovanni seinen
großen Vorgänger direkt kopirt.
Der leonardeske Kahlkopf zu
äußerst links, der vollbärtige Greis, der in seiner
Nähe steht, und der darauffolgende Zuschauer, der
die Arme über der Brust kreuzt, sind nur leicht
veränderte Wiederholungen der entsprechenden Figuren
in der Kapelle der Kreuzigung. (Als ein Kuriosum
sei bemeidct, dass Sam. Butler in der letztgenannten
Figur ein Selbstbildnis Tabachetti’s erkennen will.) An
Tabachetti erinnern die Idealtypen der Weiber und Jüng¬
linge, sowie die Vorliebe für einen halbgeöffneten Mund,
1) 0. Arienta. Arte e Storia. XTV. (1895.) S 117 ff.
2) 1608 wurde nach einer aus Rom verschriebenen
Zeichnung die scala santa erliaut, auf der man zur Kapelle,
die im Oberstock der casa di l’ilato liegt, hinansteigt. 1612
empfing Morazzone die Zahlung für seine Hintergrunds¬
malereien.
Kopf der h. Veronika aus der Kreuztragung von Giovanni
Tabachetti. (Varallo: Sacro monte.)
DER HEILIGENBEIIC; VON VARALLO UND GAUDENZIO FERRARI.
293
doch ist Giovanni d’Enrico im allgemeinen frischer nnd
lebhafter im Ausdruck, derber in seiner Körperbildung-.
Bald nach dem Ecce homo wurden die drei andern Ka¬
pellen eingerichtet, die außerdem im Oberstock der casa
di Pilato liegen, zuerst die Verurteilung Christi (Plan 34),
in den Einzelheiten der Formenbehandlung durchaus dem
Ecce lionio entsprechend, sodann die erste Begegnung
Christi mit Pilatus und die Handwaschung Pilati (Plan 26
und 33). Die beiden letzteren Gruppen fallen gegen
das Ecce homo entschieden ab, wahrscheinlich infolge
starker Mitwirkung von Schülerhänden. Die Fresken
des Hintergrundes malte hier Tanzio d’Enrico.
Bei den folgenden Gruppen wurden in reichlichem
Maße ältere Holzfiguren wieder verwendet. Bei der
Vorführung des dornengekrönten Christus vor Pilatus
(Plan 31) sind, wie wir schon
früher bemerkt haben, drei
Figuren der von Gaudenzio
Ferrari ausgemalten Kapelle
der Vorbereitung zur Kreuzi¬
gung entnommen. Von den
sieben Figuren der Geißelung
Christi (Plan 29) sind zwei alt
nnd ans Holz, die übi'igen fünf,
die Arienta für Arbeiten des
Giovanni d’Enrico erklärt, kann
ich nur für Werke eines ge¬
schickten Schülers halten, da-
die weiche Behandlung der Fal¬
ten zu sehr von der des Gio¬
vanni abweicht. — ln der
Kapelle der Gefangennahme
Christi auf dem Ülberg (Plan
22) sind gar drei viertel der
Gruppe steife alte Holzfiguren,
und nur vier Terrakottafiguren,
zwei fliehende Apostel rechts
nnd zwei Schergen, entstammen
der Werkstatt des Giovanni d’Enrico.
Die übrigen Kapellen, die auf ihn nnd seine Ge¬
hilfen zurückgehen, nenne ich hier in Kürze nach der
wahrscheinlichen Zeitfolge ihrer Entstehung.
Die Dornenkrönung (Plan 30) gehört offenbar
zu den frühesten und besten Arbeiten des Giovanni
d’Enrico.
Die Beweinung Christi (Plan 39), das Gebet im
Garten Gethsemane nnd die schlafenden Apostel (Plan 20,
21). ln einer Nische neben der Kapelle des Gebets ist
eine knieende Statue des Erzbischofs Carl Borromeo im
roten Kardinalsgewand aufgestellt, weil der Heilige der
früheren Kapelle dieses Gegenstandes seine besondere
Verehrung bezeugt haben soll. Die Heilung des Gicht¬
brüchigen (Plan 14) ist dadurch in ihrer Entstehungs¬
zeit bestimmt, dass 1622 der Maler des Hintergrundes
( Cristoforo Martinolo genannt Jiocca) seinen Arbeits¬
kontrakt Unterzeichnete, f) — Christus vor Herodes (Plan
27). Eine sehr umfangreiche Gruppe von fünfunddreißig
Statuen, nach Bordiga-) gegen 1638 beendet. Die Wand¬
malereien des Tanzio, architektonische Perspektiven mit
Scharen von Zuschauern, sind zwar an sich betrachtet keine
großen Meisterwerke, schließen sich aber recht gut an
die Skulpturen an. Christus vor Kaiphas (Plan 24). Die
dreiunddreißig Figuren sind sehr ungleichen Wertes, am
besten der derbe lebhafte Kaiphas, der von seinem Throne
an einen Tisch getreten ist und mit drohend erhobener
Rechten auf Christus einredet. Als Urheber der Fresken
hat sicli an der rechten Wand Cristoforo Martinolo Rocca
bezeichnet mit dem Datum 1642. — In einer Nische
neben dieser Kapelle sieht man die Statue des Petrus, der
bei dem dritten Hahnenschrei seines Verrates an Christo
inne wird (Plan 25). — Christus
wird von Herodes kommend
dem Pilatus zurückgebracht
(Plan 28). Die Gruppe ist eine
der letzten, die noch zu Leb¬
zeiten des Giovanni d'Enrico
vollendet wurden. Die Male¬
reien, nach den alten Gniden
(Fassola nnd Torrotti) von
Tanzio und Morazzone be¬
gonnen, wurden erst viel später
von den Architekturmalern
Grandi und von Pietro Gia-
iioli, vollendet. Letzterer hat
sich links vorn mit einem Zettel
in der Hand, auf dem sein Name
und die Jahreszahl 1679 steht,
abgenialt. — Den Beschluss der
auf Giovanni d’Enrico zurückzn-
führenden Werke machen die
beiden Ka[)ellen, die neben der
Kreuzigung Gaudenzio Fer-
rari’s auf dem Kalvarien¬
berge stehen. Die Nachbarschaft war gefährlich, nnd
leider zeigte sich Giovanni d’Enrico gerade hier von
seinen schwachen Seiten. In der großen Kapelle der
Anheftung Christi auf das Kreuz (Plan 36) suchte er
durch die Masse zu wirken, verfehlte aber eben dadurch
von vornherein jede künstlerische Wirkung. Es ist ein
Getümmel von siebzig Thonfiguren, aber keine Gruppe
mehr, dazu sind die einzelnen Ge.stalten offenbar meist
Gehilfenwerk und recht oberflächlich behandelt. Ver¬
gebens suchen wir nach einer jener keck naturalistischen
Gestalten, wie sie Giovanni d’Enrico zuweilen geglückt
sind, dagegen begegnen uns wieder mehrfache Reminis-
cenzen an Gaudenzio Ferrari. Die schon von Tabaclietti
verwendeten Charakterköpfe des krummnasigeu Schergen
1) Bordiga, Storia e guida. S. 52.
2) Ebenda. S. 67.
Kopf eines der würfelnden Landsknechte ans der Kreuzigung
von Gaudenzio Feheaei. (Varallo : Saoro uionte.)
294
WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.
und des Kropfnien sehen , ferner einzelne Waffenstücke,
Helme, Schwerter, Schilde. — Giovanni d’Enrico hat die
Vollendung' dieser Ai'heiten nicht mehr erlebt. — Auch
in der Gruppe der Ivreuzabnahrae (Plan 38) ist das
meiste miiiderwerdige Werkstattarheit, nur eine Gestalt,
ein altes Bäuerlein, links vom Beschauer, das in der
rechten Hand Hammer und Zange hält, und mit der
linken den breitkrempigen Hut lüftet, um nach dem
Kreuze hinaufzuschauen, fällt vorteilhaft auf. Es ist
wohl die gelungenste, frischeste Arbeit des Giovanni
d’Enrico, dem sie Butler ohne Grund abspricht, um sie
seinem verehrten Tabachetti zuzuschreibeu. — • Die Hinter¬
gründe sind in beiden Fällen von dem Mailänder Mdchiorre
Gilardini gemalt.
An der Kapelle des heiligen Grabes sind Werke
des Giovanni d’Enrico, die Statue des Begründers des
Berges, Bernardino Caimi, die an der Außenwand in
einer Nische steht, und des hl. Carl Borromeo, der in
einer kleinen Kapelle neben der Grabkirche kniet.
Mit der Thätigkeit des Giovanni d "Enrico ist die
x\nlage des Heiligenberges im wesentlichen beendet. Eine
noch zu seiner Zeit begonnene Kapelle, die der Trans-
ffguration, die auf dem höchsten Punkte des Berges ge-
gelegen ist (Plan 16), wurde einige Jahrzehnte später
vollendet. Dazu kam dann im achtzehnten Jahrhundert
die Gruppe des Christus vor Hannas (Plan 23), ein recht
schwaches Eokokomachwerk, und schließlich als die
schwächste aller Grup^ien im neunzehnten Jahrhundert
die Grablegung, 1826 von einem gewissen Luigi Marchesi
vollendet (Plan 40).
Die kunstgeschichtliche Bedeutung des Heiligenberges
von Varallo und aller der nach seinem Muster geschaffenen
Anlagen liegt in einer regen Entwickelung der bemalten
Thonplastik. Der Meister, von dem diese Kunstbewegung
hier in den lombardisch-piemontesischeu Gebirgsländern
ausging, war Gaudenzio Ferrari. Woher aber hatte der
Maler Gaudenzio die Anregung zu dieser Art von Bildnerei
bekommen? — Die klassische Stätte dafür war in Italien
die steinarme Emilia mit den Städten wie Älodena und
Bologna und mit Künstlern wie Guido Mazzoni und
Begarelli. Hier zuerst sah man in den Kirchen jene
derbrealistischen buntfarbigen Freigruppen von gemälde¬
artiger Wirkung. Dass Gaudenzio Ferrari die W’erke
der umbrischen Schule in ihrer Heimat kennen gelernt
habe, halten wir für sehr wahrscheinlich, und der Weg
nach Umbrien führte ihn durch die Emilia. Einer gründ¬
lichen technischen Schulung bedurfte es hier ja weniger
als bei der Stein- oder Bronzeplastik. ■ — Ein anderes
vereinzeltes, aber bekanntes Beispiel desselben Einflusses
der modeneser Thonplastik haben wir in ]\Iailand in der
schönen Gruppe der Pieta in San Satiro, die man auf
das Zeugnis Lomazzo’s hin dem Caradosso zuschreibt. —
Es ist wahr, nach Gaudenzio Ferrari hat sich kein
Künstler von demselben Range wieder in den Thon¬
gruppen der sacri monti bethätigt. Dem ist es auch
zuzuschreiben, dass es die Kunstwissenschaft für nicht
der Mühe wert erachtet hat, sich mit ihnen abzugeben.
Dennoch aber gab es in den ersten Jahrzehnten des
siebzehnten Jahrhunderts, als die populäre Bewegung
für die sacra monti am lebhaftesten war, dort eine Reihe
tüchtiger Plastiker zweiten Ranges, Tabachetti, Gio¬
vanni d'Enrico in Varallo und Crea, Dionigio Bussola
in Orta und Francesco Silva in Varese, deren Namen
es immerhin wert sind, der Vergessenheit entrissen zu
werden. Später, im achtzehnten Jahrhundert, war die
ganze Bewegung der Heiligenberge wieder erstorben
und mit ihr jene Nachblüte der farbigen Terrakotta¬
plastik.
WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.
VON IIEINßlGlI IVÖLFFLIN.
II.
CH habe in -einem ersten Artikel einige
bekannte Stücke der italienischen Re¬
naissance besprochen'), mit der Absicht,
das Bewusstsein dafür wieder zu schärfen,
dass eine alte Figur nicht von jeder be¬
liebigen Seite her angesehen werden darf,
dass sie vielmehr ihre bestimmte Ansicht hat, und dass
nur eine sträfliche Sorglosigkeit ihr diese künstlerisch
gewollte Ansicht vorenthalten wird, sobald es gilt, eine
Abbildung herzustellen. Leider ist diese Sorglosigkeit
so allgemein, dass man nur in seltenen Fällen be¬
friedigende Aufnahmen von Skulpturen finden wird; fast
1) Vgl. Zeitschr. f. bild. Kunst 1896, Juliheft.
immer weicht man der normalen Frontansicht aus und
glaubt der Figur den größten Gefallen zu thun, wenn
man ihr eineii „malerischen Reiz“ giebt d. h. den Stand¬
punkt etwas seitlich niinmt. Wenige wissen, dass da¬
durch in den meisten Fällen der beste Wert verloren
geht. Man zerstört die Silhouette, auf die der Künstler
sich eingerichtet hat und das heisst nicht nur, dass die
Linien aus der Harmonie gebracht sind, nein, dass heisst
viel mehr; die große künstlerische Arbeit bestand ge¬
rade darin, in einer Fläche den ganzen plastischen In¬
halt auszubreiten und das, was in der Natur durch
einzelne successive Wahrnehmungen aufgefasst werden
muss, dem Auge auf einmal, zu leichter müheloser Per-
ception gesammelt vorzustellen. Damit soll nicht gesagt
WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.
295
sein, dass eine Figur nicht auch gute seitliche Ansichten
haben könne. Die Skulptur hat sich in der That so
entwickelt, dass sie von dem ein- oder zweiseitigen
Flächenstil zur vielseitigen Komposition (mit Wendungen
und Drehungen) fortgeschritten ist; allein eine er¬
schöpfende Hauptansicht muss immer vorhanden sein,
wenn man nicht endlos unruhig um die Figur herum¬
getrieben werden soll. (Vgl. Hildebrand, Das Problem
der Form, Kap. 5). Ist das Auge einmal sensibel ge¬
worden für die Unterschiede des klaren und unklaren
Sehens, so ist es eine große Pein, moderne Bnch-
Abb. 1. Apollo vom Belvedere. Photographie AJinari.
(Unrichtige Aufnahme.)
illustrationen und Anschauungswerke durchzugehen, in¬
dem man auf Schiitt und Tritt sagen muss; aber warum
denn diese unglückselige schiefe Ansicht? Das Hein ist
ja widerwärtig überschnitten! Die Armbewegung ist
unverständlich und der Umriss im ganzen so zerrissen
wie nur möglich! Angesichts der Originale aber wird
man finden, dass es ein besonderer Genuss ist, von den
minderwertigen Ansichten zu den vollkommenen überzu¬
gehen, und man wird nicht müde, das Experiment wieder¬
holend, aus den unzulänglichen Erscheinungsweisen das
gereinigte Bild hervorgehen zu lassen, das ruhig und
klar dasteht und im wahren Sinne als eine Befreiung
empfunden wird. Das ist eine Freude, die die Malerei
uns nicht geben kann.
Wenn nun schon in den neueren Jahrhunderten das
Auge disciplinlos herumirrt, und die feinen Kunstwerke der
Renaissance ganz willkürlich behandelt werden, wie viel
mehr wird das der Fall sein in der antiken Kunst, bei
Figuren, wo fast immer die originale Basis fehlt, wo
spätere Ergänzungen den ursi)rünglichen Gedanken ver¬
dunkeln und eine falsche Museumsaufstellung den Be¬
schauer noch vollends aus der Richtung bringt! Bei den
Gipsen deutscher Universitätssammlungen mögen diese
Fehler mehr oder weniger ausgeglichen sein; zu Gunsten
des italienreisenden Publikums und aller derer, die
photographiren und Photographieen kaufen, sollen in-
Abb. 2. Apollo vom Belvedere.
Nach dem Stich vou Marc Anton Raimondi,
dessen hier ein paar Fälle notirt werden, die für die
Verfahrenheit des plastischen Sinnes in unseren Tagen
charakteristisch sind.
Wer wird es glauben? Ein Hauptstück aller Skulptur
ein Werk vom Ruhm des lielvederischen Apolls — es,
ist im Vatikan so aufgestellt, dass man sich hart an die
Wand drücken muss, um des originalen Anblickes teil¬
haftig zu werden, und alle modernen Photographieen bis
hinauf zu der Lichtdrucktafel in den „Antiken Denk¬
mälern“ von Brunn-Bruckmann geben die Figur in einer
falschen, unleidlichen Art (s. Abb. 1). Der ausgestreckte
Arm mit dem !\lantel gehört in die Wandfläche, parallel
296
WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.
zum Bescliauer; der Kopf stellt sich darauf ins reine
Prohl und die Füße schließen sich für das Auge zu¬
sammen. Meines MTssens ist der Apoll ein einziges
Mal seit seiner Auferstehung so aufgenommen worden,
noch zu Zeiten Ratfaers, in einem Stich des Marc Anton
(s. Ahh. 2). Die Differenz der zwei Bilder ist gewiss
keine gleichgültige. Mit einem Male gewinnt der Torso
eine ungeahnte Mächtigkeit, Vertikale und Horizontale,
Brust und Arm setzen sich in schärferem Kontrast
gegeneinander ab, und die schlaffen Umrisse der ersten
In der Rotunde des Vatikans steht die harberinische
Hera. Ihr gegenüber zu lehrreichem Vergleich die
andere, ältere Hera,') die dem Alkamenes zugeschriehen
worden ist. Beide Figuren, Repräsentanten zweier Jahr¬
hunderte, haben Standbein und Spielbein; die eine,
flächenhaft entwickelt wie eine Mauer, lässt keinen
Augenblick zweifeln, wo ihre Frontansicht zu suchen
ist, die jüngere dagegen, die mehr Wendung liat, lässt
den Beschauer nicht ohne weitei-es zur Ruhe kommen,
man ist genötigt, dem Spielbein nachzugelien und ver-
Abl). 3. Kaiiitoliniscbe Venus.
Pbotogr. Alinari.
Abb. 4. Meilioeiscbe Venus.
Pbotogr. Brogi.
Abb. 5. Venus Kallipygos.
Pbotogr. Brogi. (Uuricbtige Aufnahme.)
Ansicht werden plötzlich in jeder Partikel voll Leben
und Energie. Durch das Zusammentreten der Beinlinien
gewinnt die Figur erst Sicherheit und Ruhe, ') ohne an
Schnellkraft zu verlieren. Und der ausgestreckte Arm
wird überhaupt erst erträglich, wenn er dem Beschauer
nicht schräg entgegenkommt, sondern der Wandfläche
sich einordnet. Für jeden andern Anblick erscheint die
Gestalt unsicher, brüchig, beunruhigend. 2)
1) Marc Anton ist etwas zu weit nach links (vom Be¬
schauer aus) ausgewichen. Der linke Fuß wird zu stark
überschnitten, was der Deutlichkeit der Bewegung schadet.
2) Offenbar verdankt der Stich des Marc Anton einen
Teil seiner Wirkung dem Umstand, dass die Bodentläche
lässt damit die Frontfläche, die das (moderne) Posta¬
ment angiebt.
Das ist nicht der Fehler der Figur, sondern der
Fehler der Aufstellung. Sobald man sich das Spielbein
für den Blick aufgeklärt hat, d. h. sobald man etwas
seitlich Stellung genommen hat, bemerkt man, dass nun
die Figur im ganzen sich ordnet und ohne eine weitere Be-
verschwindet. Hier bann leider die Photographie nicht kon-
kurriren, indem eine Ansicht von unten die Proportionen
fürchterlich entstellen würde. Es ist das eine der prinzipiellen
Beschränkungen, die die Zeichnung der Photographie gegen¬
über immer wieder begehrenswert erscheinen lässt.
1) Nach anderer Deutung Demeter.
WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.
297
weguug zu fordern, trotz dem Drehungsmotiv, vollkommen
befriedigend und in allen Teilen klar sich ausbreitet.
Selbstverständlich müsste sie so aufgestellt sein, dass
nicht erst der Beschauer die Ansicht sich suchen muss,
sondern dass schon im Postament die Frontansicht
acceutuirt ist. Im Thermenmuseum in Rom findet sich
übrigens eine Wiederholung, wo die alte Plinthe erhalten
ist und unsere Auffassung über die Orientirung der
Figur bestätigt wird.*)
Die kapitolinische Venus ist drehbaf aufgestellt.
Wer hätte die arme Frau in ihrer Nische nicht schon
sich uradrehen lassen ? Und gewiss, man hat ein Recht,
die einzelnen Ansichten alle durchzukosten. Aber man
soll dann auch den Fixpunkt kennen, auf den die Figur
für eine Abbildung jedenfalls einzustellen ist. Und da
schwanken nun die Photographen wieder herum, der eine
meint, rechts wäre es schöner, der andere links, während
man doch gar keine Wahl hat: die Basis sagt ganz
kategorisch, wie der Körper gesehen werden soll.
(Abb. 3.) Nichts ist lehrreicher als eine Anzahl von
wenig divergirenden Aufnahmen nebeneinanderzusehen.
Man macht sich da erst recht klar (was für die Malerei
von größter Wichtigkeit ist), wie eine und dieselbe Be¬
wegung Bilder von ganz verschiedenem Ausdruckswert
liefern kann, wie eine minimale Änderung im Ansichts¬
winkel alle Kraft der Linie lähmen oder das Motiv
überhaupt als ein anderes erscheinen lassen kann. Die
mediceische Venus (Abb. 4) ist unendlich viel feiner
bewegt als die kapitolinische — das Zusammendrückeu
der Oberschenkel hier ist eine (sinnliche) Vergröberung
des Motivs — , die ganze Eigentümlichkeit der Bein¬
haltung, die wundervolle Delikatesse der Bewegung geht
aber sofort verloren, wenn man von der genauen Front¬
ansicht abweicht. Das Schwebende verschwindet und
das rechte Bein — der wesentliche Träger des Aus¬
drucks — bekommt etwas Geknicktes, Schleppendes.
Das alles sind verhältnismäßig einfache Probleme.
Wie aber, wenn eine Figur nun stark sich dreht, wenn
sie, um einen frappanten Fall zu nehmen, wie die Venus
Kallipygos in Neapel (Abb. 5) sich selbst über den
Rücken hinabsieht? Ich gestehe, dass in der That alle
Photographieen, die mir davon zu Gesicht kamen, einen
unbefriedigenden Eindruck machten. Ist die Figur von
vorn aufgenommen, so wünsclit man doch auch etwas
von dem Zielpunkt ihrer Blicke zu sehen, und ist sie
von hinten aufgenommen, so erscheint die Ansicht doch
gar zu zufällig und nebensächlich. Und trotzdem ist es
1) Wenn die barberinische Hera trotz falscher Aufstellung
meist annähernd richtig photographirt wurde, so liegt das an
dem zufälligen Umstand,' dass man ihr direkt von vorn nicht
beikommen kann: es steht eine Schale im Wege.
2) Eine besonders unglückliche Aufnahme in llrunn-
Bruckmann’s „Antiken Denkmälern“.
eine künstlerisch ernsthaft durchgeführte Komposition:
die Frau ist eben weder auf die Ansicht von vorn noch
auf die Ansicht von liinten berechnet, sondern hier liegt
die Front seitlich. Nimmt man diesen Standpunkt, so
entwickelt sich die Figur außerordentlich schön. Der
Künstler sagt es auch dem Beschauer deutlich genug,
wo er hiustehen solle: Nicht umsonst sind die Gewand¬
massen in der Hauptrichtung wandartig zu einer Grund¬
fläche gesammelt. So wie diese Venus jetzt aufgestellt
ist, leitet sie den Beschauer notwendig irre. Sie gehört
mit ihrer linken Seite an eine Wand bezw. in eine Nische.
Daneben kommen nun freilich Fälle vor, wo beim
besten Willen eine geschlossene Ansicht nicht zu finden
ist. Der farnesische Stier im Neapeler Museum ist
ein monströses Beispiel von Geschmacksvei’irrung im
Altertum. Aber auch abgesehen von solchen Auswüchsen
einer dekadirenden Kunst ist das Gesetz der flächen¬
haften Plastik nicht überall verstanden worden. Neben
den späten giebt es ganz frühe Sachen , wo einzelne
Brutalitäten Vorkommen. Ja selbst eine Figur wie der
Schaber Lysipps wird sich nie rein auflösen lassen.
Nimmt man die Beine ausdrucksvoll, wie sie sich in der
Vorderansicht präsentiren, so kommt der Arm uns direkt
entgegen, wirkt also nicht nur durch die starke Ver¬
kürzung unklar, sondern ist überhaupt, da er gewisser¬
maßen über den Bülmenraum hinausgreift, unangenehm
aggressiv. Tritt man zur Seite, so entwickelt sich der
Arm befriedigend, aber die Beine verlieren. Die Statue
setzt sich also aus zwei Ansichten zusammen, und das
ist ein Mangel, der nicht ganz abzuleugnen sein wird.
Ein bekanntes Beispiel weiterhin ist der dornaus-
ziehende Knabe, wo man sich auch lange besinnt, wie
er eigentlich gesehen wmrden wolle und schließlich doch
zu keinem rechten Resultat kommt. Die künstlerische
Auffassung Marc Anton’s, dem wir einen Stich nach der
Figur verdanken, hat sieh auch hier wie beim Apoll erst
bei einem ganz flächenhaften Bild beruhigt. Er nimmt
den Knaben vollkommen von seiner rechten Seite, wo¬
bei man denn die Fußsohle und die ganze Operation
gut sieht, aber wichtige Teile wie das Gesicht verliert,
so dass man doch zweifeln muss, ob damit das Richtige
getroffen sei.
Es wäre nun eine besonders interessante Unter¬
suchung, die Orte zu fixiren, wo solche Licenzen ge¬
duldet werden: der Dornauszieher wie der Schaber sind
Produkte der peloponnesischen Kunst, in der attischen
Kunst wird man Anstößigkeiten der Art nicht linden.
Indessen ginge es weit über die Absicht dieses Auf¬
satzes hinaus, auf solche Fragestellungen einzugehen.
Bevor die wenigen Figuren aufgesucht werden, die einer
reinen Bildanschauung widerstehen, möge man erst ein¬
mal den vielen sich zuwenden, die nach flächeuhafter
Auffassung schreien und denen ihr Recht noch nicht ge¬
worden ist.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VIII. H. 12.
38
DIE BAUKUNST FRANKREICHS.
MIT ABBlLDUNCiEN.
lE französisclie Baukunst wird in ihrem
Einfluss auf die Entwickelung der mo¬
dernen Architektur in steigendem Maße
anerkannt. Klassische und mittelalter¬
liche Architektur, italienische und deut¬
sche Renaissance sind von unseren Archi¬
tekten durchprobirt. Jetzt beginnt man die zwar schon
benutzten, aber noch nicht erschöpften Quellen der fran¬
zösischen Architektur auszubeuten. Und wer die fran¬
zösischen Provinzen bereist hat, der kennt die Menge
köstlicher, origineller Bauten, die hier weit zahlreicher
als Bilder und Skulpturen anzutreö'en sind, der weiß,
welche Fülle dankbarer Motive hier noch der Verwer¬
tung harrt. Frankreich darf sich in baulicher Hinsicht
wohl mit Italien messen, nicht nur in der Zahl wicht¬
tiger Werke, auch in der Bedeutung derselben für die
allgemeine Entwickelung der Baukunst diesseits der Alpen.
Die romanischen Kirchen Südfrankreichs, die Gotik in
allen Stadien ihrer Entwicklung, bis zu gewissem Grade
die aufblühende Renaissance, vor allem die Baustile aus
der Zeit Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger haben
weithin gewirkt und wirken auch heute, in unserem
Jahrhundert des Eklekticismus, von neuem.
In Frankreich werden die alten Baudenkmale auf
das Sorgsamste gepflegt, auf das Verständigste restaurirt,
in zahlreichen Publikationen veröffentlicht. Freilich
bleibt die Mehrzahl dieser Veröffentlichungen wie der Ori¬
ginale in Deutschland fast unzugäu.glich, da immer Italien
die Kräfte und Interessen in erster Linie in Anspruch nimmt,
und die Prachtwerke über französische Architektur, be¬
sonders über einzelne Baudenkmale, durch ihren Preis meist
abschreckend auf die deutsche Kaufkraft wirken. Nun
legt uns Cor7ielms Qtirlitt eine vorzügliche zusammen¬
fassende Publikation in seiner „Baukunst Frankreichs“ ')
vor, die bisher bei uns leider fehlte. 2) Dieselbe bringt
1) C. Gurlitfc, Uie Baukunst Frankreichs. 200 Tafeln.
Gr. Fol. 8 Liefgen. ä 25 Mk. Dresden, 1896, Gilbers (J. Bleyl).
2) Lübke’s „Geschichte der Renaissance in Frankreich“
verfolgt andere Ziele.
in prachtvollen Lichtdrucken nach Originalaufnahmen
Ansichten der wichtigsten Bauten Frankreichs, nicht
nur der bekannten und oft publizirten, sondern auch
der weniger beachteten. Während die Mehrzahl der
französischen Werke Lithographieen oder Kupferstiche
geben, wird hier durch den Lichtdruck das Original
selbst vor Augen gestellt.
Das ist für den modernen Architekten von höchster
Wichtigkeit. Frühere Zeiten suchten in den alten Vor¬
bildern vor allem das Typische, die Regel, die Normal¬
form. Die Wiedergabe durch den Stich führte dazu, die
Bauten rekonstruirt, in ihrem Grundschema, zu reprodu-
ziren. Die Zufälligkeiten , die durch An- und Umbau,
durch spätere Ergänzung hinzugekommen, pflegte der
Architekt im Kupferstich meist auszumerzen.
Heute suchen wir aber nicht mehr so sehr das
Typische, Normale, als das Persönliche und Origi¬
nelle, die überraschenden Einfälle und originellen Lö¬
sungen älterer Vorbilder zu erfassen und auszunutzen.
Die Grammatik der Stillehre beherrscht der moderne
Künstler, in seinen Bauten aber will er nicht Beispiele
aus der Stillehre, sondern freie Varianten über das
Thema, eigenartige, malerische Bauten geben. Nur selten
noch bindet er sich streng an einen Stil, geschweige
denn an die vielbenutzten Hauptty])en desselben. Freie
Veränderung der Grundformen, Mischimg verwandter
oder nur formal korrespondirender Stile ist beliebt.
Nicht Stilgeschichte, sondern persönlicher Geschmack
giebt heute die Gesetze des Schaffens.
Zudem macht unsere neuere Architektur den Wandel
der künstlerischen Empflndung mit, der sich in der Malerei
in der Folge „Carton, Historienbild, Stimmungsbild“ aus¬
drückt. Schinkel komponirte auf dem Reißbrett in sauberen
Linien, die Neueren suchten die große plastische Form,
die Modernen erstreben in der Architektur malerische
Haltung, formale und farbige Stimmung. Das nun kam
in den bisherigen Publikationen kaum zum Ausdruck.')
1) Vgl. aber die malerischen Radirungen bei L. Falustre,
La renaissance en France. Paris 1879 ff.
DIE BAUKUNST FRANKREICHS.
299
Die photoraechaniselien Verfahren aber reproduzireii aucli
den malerischen Eindruck des Gebäudes, seine Licht-
und Schattenvvirkung, die nialerisclie Gruppirung der
Details, die Zufälligkeiten
und kleinen Abweichungen
mit vollkommener Treue.
Insofern ist also Gurlitt’s
Werk auch für den eine
willkommene Ergänzung,
dem die älteren franzö¬
sischen Publikationen zur
Verfügung stehen.
Gurlitt bringt alle
Stilperioden, von den Res¬
ten der Rönierzeit bis zum
Empire. Aber er wendet
naturgemäß seine Auf¬
merksamkeit besonders
denjenigen Perioden zu,
die früher meist zu kurz
kamen, jetzt aber dem
Architekten wertvoll
sind, z. P). den Über¬
gangsbauten von der Spät¬
gotik zur Renaissance.
Wir lieben heute diesen
reizenden Mischstil, der
das Formengerüst der Re¬
naissance allmählich auf-
niinmt, aber gotisch or-
namentirt, der anderer¬
seits an gotische Kon¬
struktionen Renaissance¬
ornamente fügt oder die¬
selben renaissancemäßig
umstilisirt, der vor allem
in den Proportionen noch
ganz frei gestaltet, weniger
korrekt als malerisch frei
verfährt. Im Kirclienbau
und Profanbau wird er
heute bei uns immer mehr
beliebt.
Die älteren französi¬
schen Publikationen brin¬
gen nur weniges darüber.
Sauvageot, Berty, Cesar
Daly u. a. m. geben Ein¬
zelnes derart, Rouyer
nichts, am meisten noch
Petit (Chäteaux de la
Loire, Paris 1861), dessen Lithographieen aber modernen
Ansprüchen in keiner Weise genügen, und Leon Palustre
in dem obengenannten Prachtwerk, das aber nur wenigen
zugänglich sein dürfte, überdies unvollständig ist.
Als Beispiel für diese interessante Periode, die außer¬
ordentlich lange nachwirkt, geben wir nach Gurlitt’s Auf¬
nahme hier den Südturm der Kathedrale St. Gatien zu
Tours (Abb. 1). Die Fas¬
sade dieser im 12. Jahr¬
hundert begonnenen Ka¬
thedrale wird im 15. Jahr¬
hundert ausgebaut, 1507
der nördliche und 1547
der südliche Glocken¬
turm vollendet. Berty
(Renaissance en France,
Paris 1864) giebt eine
genaue Aufnahme, Sclinitt
und Details dieses origi¬
nellen, vielfach an Schloss
Chambord gemahnenden
Baues, der aus dem qua¬
dratischen Grundriss zum
reicligegliederten Achteck
übergeht. Eine ziemlich
sclilanke Steinkuppel trägt
dann die aclitseitige, mit
liaclier Kuppel gedeckte
Laterne. Bei aller Ge¬
drungenheit ist der Auf¬
bau leicht und von fein¬
ster Silhouette, reich an
eigenai'tigen Details, Re-
miniscenzen an ältere Stile
und naiven Renaissance-
fornien.
Ein reizendes Bei¬
spiel des Profanbaues bie¬
tet sich uns im Hotel
Gouin zu Tours (Al)b. 2).
Tn unbefangenster Weise
mischen sich hier mit der
Formenwelt der Früh¬
renaissance gotische Mo¬
tive. Höchst originell ist
zur Linken der gotisirende
Pfeiler mit seinem Kom-
positkapitell, und dem et¬
was unvermittelt darüber
gestellten gotischen Bal¬
dachin, der wiederum von
Renaissancesäulchen flan-
kirt wii'd. Wunderlich
wirkt dazwischen die an
Florentiner Frührenais¬
sance gemahnende Statuenbasis. ^4Ml außerordentlicher
Schönheit ist das zarte PÜanzenornament, das den Bau
überspinnt, sehr wirkungsvoll der vortretende Portal¬
bau, dessen Giebel in seinen Renaissanceformen gelungen
38*
Abb. 1. Siidliober Turm der Kathedrale St. Gatieii in Tours.
Aus Gurlitt, Die Baukunst Frankreichs. 200 Tafeln, Dresden 189G,
Gilbers.)
300
DIE BAUKUNST FRANKREICHS.
k iiirrp
fciisrc
!i t mit den gotisirenden Giebelii'der Dachgesclioss-
Hoiter. launig und graziös ist die kleine Fassade,
dem strengen Stilisten ein Schrecken, dem nicht
Noch reingotische Formen zeigt die reizende kleine
Fassade an der Place du grand marche 5(3 (s. die Abb. 3),
die auch wieder der liübschen Hauptstadt der Tonraine
Abb. 2. Hotel Gouiii iu Tours. (Aus G. Gurlitt, Die Baukunst Frankreielis.)
scliulmeisternden Betrachter aber erfreulich, weil der per¬
sönliche Geschmack des Arcliitekten liier das Verschie¬
denartigste zu einer gewissen Einheit verschmolzen hat.
angehört. Eingekeilt in geschmacklose moderne Bauten,
wirkt sie durch ihre malerischen Baldachinnischen, ihre
tiefen, reichnmrahmten Fenster, durch die kräftigen \Tr-
DIE BAUKUNST FRANKREICHS.
301
hältnisse und die energische, maßvoll verteilte Orna¬
mentik. Die kleine Fassade ist außerordentlich lehr¬
reich, trotz vieler Willkür, anziehend durch die fein¬
fühlige Entwicklung der dekorativen Gliederung aus dem
Portal heraus.
Ein origineller Eenaissanceumhau findet sich in
der alten romanischen Kirche Notre Dame-des-Doms zu
Avignon (s. die Ahb. 4), wo der etwas nüchterne schwer¬
fällige Bau durch Vorsetzen der Eenaissancepfeiler und
Bog^n, sowie durch die Durchführung des sehr originell
ausgebildeten Laufganges bereichert ist.
Selbstverständlich beschränkt sich das groß ange¬
legte Werk keineswegs auf die in den vorstehenden
Beispielen geschilderte Epoche französischer Baukunst.
Bringt Gurlitt doch aus der klassischen gallo-römischen
Kunst Beispiele, wie die Reste desrömischen Theaters zu Be¬
sangen, aus dem Mittelalter romanische Kathedralen wie
St. Pierre zu Angouleme (besonders eine vorzügliche
Aufnahme des Innern), St. Saturnin zu Toulouse, gotische
Kirchen , wie St. Julien zu Tours, die Kathedrale von Or¬
leans, ein vortreffliches Interieur von Notre-Dame zu
Mantes, den konstruktiv interessanten Chor der Kathedrale
zu Coutances. Ferner mittelalterliche und spätere Profan¬
bauten, den Glockenturm von Bordeaux, Renaissauce-
paläste, wie das Palais Granvelle zu Besangen, und
Kirchen dieser Epoche wie den berühmten Chor von
St. Pierre zu Caen. Selbstverständlich sind auch die
späteren Stile bis zum Empire hinreichend berücksichtigt,
wie das von C. Gurlitt, der gerade auf diesem Gebiete
so fleißig gearbeitet, zu erwarten war.
Neben den photographischen Aufnahmen nach der
Natur sind auch einzelne gute Federzeichnungen nach
Privat häusern (Hotel Chambellan, Dijon u.a.) aufgenommen.
Des weiteren sind ältere französische Aufnahmen da ein¬
geschoben, wo das historische Interesse neben dem künst¬
lerischen es wünschenswert machte, z. B. von J. Andr.
Du Cerceau, Jean Berain, G. M. Oppenord, Delafosse.
Neben größeren Ansichten finden wir wertvolle Details,
Portale, wie das durch seinen ornamentalen Aufbau be¬
merkenswerte gotische Portal von St. Seurin zu Bor¬
deaux, interessant auch im Vergleiche mit dem charak¬
teristisch normannischen Portal von St. Pierre zu Lisieux.
Dann den pikanten Kreuzgang des Klosters vom Mont
St. Michel, das reiche Chorgestühl von Notre-Dame de
Brou zu Bourg, elegante Kapellenschranken aus dem
Justizpalast zu Dijon, einen Brunnenentwurf von G. M.
Oppenord. Auch ein Farbendruck ist beigegeben, eine
leicht getuschte Federzeichnung einer Decke von Daniel
Marot, die in ihrer Materialwirkung vorzüglich reprodu-
zirt ist.
Um aus der Überfülle der französischen Architektur
eine solche Auswahl zu treffen, dazu gehörte ein Pfad¬
finder, der die Bedürfnisse des Architekten kennt und den
Blick des Historikers hat, um Bleibendes vom Unwesent¬
lichen, Geschmackvolles vom Trivialen auszuscheiden.
Abb. 3. Haus in Tours. (Aus 0. Gurlitt, lUe Baukunst Frankreicbs.)
DIE BAÜKUXST FRANKREICHS.
3ii2
Gurlitt hat aber auch in der Regel das rein bild-
...üi'iig Interessante vermieden, hat geschickt den Punkt
Bekanntes wiederum zu bringen. Aber auch wo er Be¬
kanntes bringt, wie beim Chor von St. Pierre zu
Kirche Notre Dame- des-Doms in Avignon. (Aus C. Gurlitt, Die Daukunst P'rankrelchs.)
ZU finden gewusst, wo der Apparat in anzieliendem Bilde
lehrreiches Material festhillt.
Offenbar war Gurlitt bestrebt, nicht nur längst
Caen etc., da hat er so gute, scharf durchgezeichnete Auf¬
nahmen erzielt, dass man seine Freude daran haben
kann. Dass er nicht einseitig vorgeht, zeigt sich darin.
EINE TOPOGRAPHIE DES ALTEN ROM.
303
wie er neben dem erwähnten, beliebten Chor von St.
Pierre auch die selten aufgenornmene Gesamtansicht mit
ihrem für die Normandie charakteristischen Haicpttnrme
bringt.
Hoffentlich geben uns die nächsten Liefernngen auch
Ansichten von St. Denis, von St. Enstache u. a. späteren
Pariser Kirchen, sowie der heute so viel benutzten ro¬
manischen Bauten Südfrankreichs. Wir werden darüber
s. Z. berichten. Hoffen wir auch, dass der für den
Schlussbaud in Aussicht gestellte Text von C. Gurlitt
neben Notizen über so manchen, sonst selten erwähnten
Bau vor allem Grundrisse bringt, die bei der Betrach¬
tung der ersten Lieferungen zuweilen schmerzlich ent¬
behrt werden.
Jedenfalls lässt sich so viel koustatireu, dass das
Unternehmen in guten Händen liegt. Der Architekt in
erster Linie, der Kunstforscher und Kunstfreund nicht
minder werden in ihren Ansprüchen vollauf befriedigt.
Die Ausstattung ist tadellos, und macht dem Ver¬
lage alle Ehre. Die photographischen Aufnahmen sind
durchgehends gut, ohne die bei Naturaufnahmen oft so
störenden Verzeichnungen des Apparates. Sie geben
wunderbar scharf das zarteste Detail, und die Licht¬
druckwiedergabe durch Römmler und Jonas lässt nicht
das Geringste verloren gehen. Aufnahmen, wie das Innere
der Notre-Dame zu Mantes, das Detail aus dem Justiz¬
palast zu Dijon, die Chorstühle zu Bourg, die Kathedrale
zu Mantes e tutti fiuanti sind ganz hervorragende Leist¬
ungen. Wir sehen daher der Fortsetzung dieses in
Deutschland einzig dastehenden Werkes über französische
Architektur mit Interesse entgegen. M. SCII.
EINE TOPOGRAPHIE DES ALTEN ROM.‘)
Jeder Gymnasiast fühlt bei der Lektüre des Livius
oder des Horaz, jeder Italienreisende bei der Wanderung
durch Rom das immer neue Bedürfnis, von der Ge¬
schichte der ewigen Stadt, von der Lage ihrer Denk¬
mäler , von deren Entstehung und Wandlung ein an¬
schauliches Bild zu gewinnen. Für den Archäologen
vollends ist das topographische Studium der Geschichte
Roms ein unerlässliches Hilfsmittel seiner Wissen¬
schaft. Ein Werk also, welches unter diesen drei
Gesichtspunkten, für Schule, Reiseleben und ge¬
lehrte Arbeit, sich als praktisch und zuverlässig
erweist, kann gewiss auf den Beifall weiter Kreise
rechnen. Der unten genauer bezeichnete SeJineider’sche
Atlas ist ein derartiges, in guter Stunde durchge¬
führtes Buch, das namentlich den Kunstfreunden, die
sich von der Geschichte des römischen Stadtbildes
im Altertum eine klare, übersichtliche Vorstellung
machen wollen, warm em}tfohleu werden kann.
Der kartographische Teil des Werkes zerfällt
in Tafeln und Pläne. Auf den 14 Tafeln sind die
Deiikmälerreste des alten Rom von der ersten An¬
lage der Stadt, der Roma quadrata auf dem Palatin,
bis zur Zeit des Kaisers Constantin (3. und 4. Jahrh.
nach dir.) in geschichtlicher Folge vorgeführt. Wir
sehen sie dargestellt in Grundrissen, perspektivischen
Ansichten, Aufnahmen des ruinösen gegenwärtigen
Zustandes und in Restaurationen. Den Bauten sind
auch einzelne Bildwerke beigefügt, welche für die
Veranschaulichung alter banlicher Anlagen wichtig
sind, oder Persönlichkeiten darstellen, die wie
1) Das alte Rom. Entwickelung seines Grundrisses
und Geschiclite seiner Bauten. Auf 12 Karten und
14 Tafeln dargestellt und mit einem Plane der heutigen
Stadt sowie einer stadtgeschichtlichen Einleitung heraus¬
gegeben von Arthur Schneider. Leipzig, Druck und
Verlag von B. G. Teubner. 189(1. XII S. Text, Gr. tju.-Fol.
Säule und Gebälk aus den Thermen des Agrijipa. (Aus Schxeiuer’s Atlas.)
304
KLEINE MITTEILUNGEN.
Aiigustus und andere Kaiser auf die Physiognomie
der Stadt mäditig eingewirkt haben. Ganz lehrreiche
Beigaben sind die auf Tafel I gebotene Zusamnien-
stellung moderner Stadtpläne mit dem in gleichem Ma߬
stabe gezeichneten ältesten Teil von Born und die Ver-
gleichuug antiker und moderner Großstädte auf Tafel XIV.
— An die Tafeln schließen sich die 12 Karten. Die
letzte derselben giebt in schwarz und rot gedruckter
Lithographie den Plan des heutigen Eoni mit den bei¬
schriftlich bezeichneten Denkmälern aller Epochen. Zu
diesem Plan, der gewissermaßen die Oiientirungstafel
für das Ganze bildet, kommen dann 11 auf Pauspapier
gezeichnete Einzelpläne der aufeinander gefolgten Ent¬
wickelungsphasen der Stadt. Durch Auflegen eines dieser
Pläne auf weißes Papier (etwa auf die Rückseite des
modernen Stadtplanes) kann man von dem Zustande des
alten Rom in jeder einzelnen Epoche sich ein Bild
machen. Durch Auflegen eines der Pausblätter auf den
modernen Plan gewinnt man Klarheit über die Situirung
der auf dem Pausblatt erscheinenden alten Denkmäler
innerhalb der heutigen Stadt. Auch das Übereinander-
legen mehrerer Pausblätter auf weißer Grundlage kann
erwünscht sein, um die baulichen Zustände in verschie¬
denen Epochen miteinander in Vergleich zu ziehen. —
Jedenfalls besitzt man in dem auf den Tafeln und Karten
des Schneider’schen Atlas zusammengetragenen Material
ein Orientiruugsmittel auf dem Gebiete der alten Stadt¬
geschichte Roms, wie es in gleicher Vollständigkeit und
Bequemlichkeit bisher von keinem anderen Werke ge¬
boten wurde.
Dazu kommt ein kurzer, erläuternder Text, der sich
der Reihenfolge der Tafeln anschließt und durch Hervor¬
hebung der wichtigsten bildlich dargestellten Momente
das A'erständnis der Abbildungen wesentlich erleichtert.
Der topographische Gesichtspunkt war für den Verfasser
des Textes natürlich bei diesem Werke der in erster
Linie maßgebende. Doch lässt er deshalb die archäo¬
logische und kunstgeschichtliche Seite des Gegenstandes
nicht aus den Augen und bietet uns in seinen Erläute¬
rungen eine wirkliche Kunstgeschichte Roms in ge¬
drängtester Form.
Für die Tafeln wie für den Text haben die Er¬
gebnisse der jüngsten Forschung als Quellen gedient.
Bei aller seiner Verwendbarkeit für große Kreise darf
das Atlaswerk daher zugleich den vollen Ehrentitel
strengster Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch
nehmen. C. v. L.
KLEINE MITTEILUNGEN.
* „Sic schieden ans dem Land, der Leiden“. Nach dem
(iemälde von Wilhelm MiiUcr-Sehöncfc/d, radirt von id ffrosfe-
iritx. Der junge Künstler, der sich wie die meisten seiner
kuustbeflissenen Namensvetter durch die Anhängung seines
Geburtsortes an seinen Namen ein Unterscheidungsmerkmal
geschatfen hat, ist erst durch die Berliner Kunstausstellung
des Jahres 18!J5 weiteren Kreisen bekannt geworden, nach¬
dem er freilich schon früher durch einige Studienköpfe die
Aufmerksamkeit der Kenner, die die Delikatessen des Kolo¬
rits zu schätzen wissen, auf sich gelenkt hatte. Ernst Wil¬
helm Müller aus Schönefeld ist am 2. Februar 18ü7 geboren
worden. Mit 18 Jahren ist er in die Berliner Kunstakademie
eingetreten und hat dort bis zum Sommer 1894 neun Jahre
lang studirt, also den regelrechten Kursus durchgemacht.
Wie wenig dieser viel, aber mit Unrecht geschmähte Lehr¬
gang der Entwicklung seiner künstlerischen Individualität
hinderlich gewesen ist, haben die beiden Bilder gezeigt,
die 1895 mit Recht als die ersten Keime einer neuen idealen
Kunst im Sinne moderner Stimmungsmalerei und moderner
Empfindung begrüßt wurden. Das eine bot unter dem Titel
„Frühling“ ein Pastorale, eine arkadische Idylle aus dem
goldenen Zeitalter der Menschheit, dem jetzt wieder, wie in
jeder Zeit physischer und moralischer Abspannung der trei¬
benden Kräfte, Poeten, idealistisch gesinnte Socialpolitiker und
bildende Künstler ihre Träumereien und ihre Sehnsucht wid¬
men; im Vordergründe links eine auf blumiger Wiese ruhende
Frauengestalt von der Art, wie sie Giorgione, Palma und Tizian
malten, rechts ein vom Rücken gesehener nackter Jüngling,
der auf dem Wiesenteppich sitzend die Doppelflöte spielt.
Ein silbriger, kühler Gesamtton verschmilzt Figuren und
Landschaft zu einem Ganzen; die Umrisse der Figuren gehen
zart verschwimmend in den dämmrigen Ton über, der über
der ganzen Landschaft ruht. Noch stärker ist dieses Hin¬
überfließen der Konturen in die Landschaft auf dem von
unserer Radirung wiedergegebenem Bilde betont, das eine
antike Mythe im Geiste des modernen Eudämonismus belebt.
Es ist nicht die dunkle Asphodeloswiese, die das Liebespaar
betritt, das eben aus dem Nachen des Charon ans Land
gestiegen ist, sondern die Insel der Seligen, auf der trotz des
leicht verschleierten Sonnenlichts ewiger Frühling herrscht.
Die Aufgabe des Radirers war bei der eigenartigen kolo¬
ristischen Behandlung des Bildes, die in erster Linie nach
Tonwirkungen strebt, äußerst schwierig. Aber es ist ihm
doch gelungen, die Figuren plastisch herauszuheben, ohne die
schattenhafte Gesamtwirkung des Originals durch Härten
allzusehr zu stören. — Müller-Schönefeld hat im folgenden
Jahre einen weniger glücklichen Ausflug in das Gebiet des
modernen Symbolismus und Mysticismus gemacht. Es ist
aber zu hoffen, dass sein echt künstlerisches Empfinden ihn
bald wieder von unfruchtbaren Spekulationen befreien wird.
A. R.
Entdecktes (ieheimnis, Originalradirung von Ecrdinnnd
Schmnixer. Der junge Künstler, der dies kleine anziehende
Blatt radirt hat, erblickte das Licht der Welt im Jahre 1870
und entstammt einer bekannten Kupferstecherfamilie, dessen
berühmtestes Glied J. M. Schmutzer war. Ferd. Schmutzer
studirte an der Wiener Akademie (Schüler William Ungers),
und gewann 1894 dort den Staatspreis. Er hat alsdann
zwei Jahr in Holland studirt, teils als Maler, teils als Ra-
direr und wir können den Freunden dieser Zeitschrift noch
ein weiteres anziehendes Blatt aus der holländischen Studien¬
zeit in Aussicht stellen. Was die Genrescene wiedergiebt,
besagt zur Genüge der gewählte Titel.
Herausgeber: Carl von Lütxoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich; Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
DEN .EIIo DEM LE.ND DER LEIDEN
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ENTDECKTES GEHEIMNIS S
Vrria.y v: Seeuiami u. Co