ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST
MIT DEM BEIBLATT KUNSTCHRONIK
NEUE FOLGE
DREIZEHNTER JAHRGANG
LEIPZIG
VERLACi VON E. A. SEEMANN
IQO'Z
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi37unse
Inlialt des dreizehnten Jahrgangs
Malerei
Henri Fantin-Latoiir. Von Georgen /?/(iM»aris. Mit
1 Originallilhographie und 8 Ahbildntigen
Das Bildnis des Oiuvanni Bicci de’ Medici in den
Uffizien. Von /:. SthaeJJir. Mit 2 Abbildungen .
Die vlainisclien nnd niederländischen Meister in der
Ermitage zu St. I*etersburg. Von Max Roosfs-
Antwerpen. Mit 12 Abbildungen . , . . 43,
Hans üude’s Lebenserinnerungen. Von ü. Göthi'-
Stockholm. Mit 1 Radierung und 2 Abbildungen
Amor und Psyche. Ein Freskeneyklus aus der Schule
Kaffael’s in der Engelsburg zu Rom. Von E. Stein¬
mann. Mit b Abbildungen .
Ein vergessener Velazipiez. Von Dr. A. Bredtus-
Haag. Mit 1 Abbildung .
Paul Neuenborn. Von K- Mayr. Mit 1 Lithographie
und 1 1 Abbildungen .
Das gute Regiment, Fresko von Ambrogio Lorenzetti
in Siena. Von Paul Schubring. Mit 5 Abbildungen
Ein Qemälde des Matthias Orünewald. Von tranz
RieJJel. Mit 2 Abbildungen .
Französische Meister in der Mesdag’schen Sammlung
im Haag. Von Walter Gensei. Mit 10 Abbildungen
Konrad Witz. Von G. Dehio. Mit 1 Farbendruck
und 2 Abbildungen .
Qemälde des XIV. bis XVI. Jahrhunderts in der
Sammlung R. v. Kaufmann. Von AdolJ Goläsehmidt.
Mit 4 Abbildungen .
Rudolf von Alt zum neunzigsten Geburtstage. Von
Ludwig Hevesi. Mit 3 Farbendrucken und 20 Ab¬
bildungen .
Walter Leistikow. Von Werner Weisbaeh. Mit
tb Abbildungen .
Ein Bildnis von Pietro Luzzi da Feltre. Von Ih. r.
Erimmel. Mit 2 Abbildungen .
Plastik
Ein Florentiner Tonbildner vom Anfang der Hoch¬
renaissance. Von Wilhelm Bode. Mit 4 Abbildungen
Ein Meisterwerk des Sperandio im South-Kensington-
Museum zu London. Von Wilhelm Bode. Mit
2 Abbildungen .
Disiecta membra. Von Walter Amelang-Rom. Mit
20 Abbildungen . i^o,
Max Klinger’s Beethoven. Von Paul Mongr/. Mit
2 Heliogravüren, 1 Photographie und 2 Abbildungen
Die Monstranz des Hans Ryssenberg vom Jahre 1474
in der Ermitage zu Petersburg. Von Richard
Hausmann. Mit 2 Abbildungen .
Seile
Franz Zelezny, ein Wiener Holzbildner. Von Lud¬
wig Abels. Mit 12 Abbildungen ... 235
Ein neues Buch über Michel Colombe. Von Wilhelm
Bode. Mit 4 Abbildungen . 243
Die Kaiser Wilhelm -Brücke in Braunschweig. Von
G. V. Graevenitz. Mit 3 Abbildungen . 248
Architektur
Die neuentdeckte Pracht-Katakombe von Alexandria.
Von Josef Strzyy^owski. Mit 3 Abbildungen . 112
Arabisches aus Toledo. Von G. Barth. Mit 14 Ab¬
bildungen . '57
Graphische Künste
Bruno Heroux. Mit 4 Abbildungen . 23
Graphische Arbeiten von Hans Skala-München. Mit
2 Abbildungen . 74
Zeichnende Künste. Vierte Ausstellung der Berliner
Secession. Von L. Kaemmerer. Mit 6 Abbildungen 81
Felicien Rops. Von Rudolf Lothar-\f/\*ta. Mit 5 Ab¬
bildungen . .... 146
Allgemeines
Kunst und Leben in England. Von Hermann Muthesius-
London. Mit ib Abbildungen . 13, 49
Friedrich Lippmann. Zum 6. November 1901. Von
Jaro Springer. Mit 1 Abbildung . 25
Die Ausstellung älterer Kunstwerke in München.
Von Dr. Max J. Eriedldnder. Mit ö Abbildungen 27
Die neuen Erwerbungen der Berliner National-Qalerie.
Mit 9 Abbildungen . 33
Das Pergamon-Museum in Berlin. Von H. Winnefeld.
Mit 5 Abbildungen . 95
Charakter und Schönheit. Betrachtungen über Kunst
und Künstler von J. t. Raffaelli. Mit 1 Dreifarben¬
druck und 9 Abbildungen . lot
Die ästhetische Bildung der Kinder. Von Artur See¬
mann . 129
Eindrücke von der fünften Ausstellung der Berliner
Secession 1902. Von Ludwig Kaemmerer. Mit
19 Abbildungen . 191
Petrarca’s Einfluss auf die Kunst. Von C. de Man-
dach. Mit 4 Abbildungen . 212
Die Karlsruher Jubiläums-Ausstellung. Von Ernst
f'u/ufzcA-Strassburg . 250
Die Wallace-Sammlung in London. Von J. P. Richter.
Mit 8 Abbildungen . 295
Seile
5
40
• •7
7'
8b
1 10
•25
•38
205
215
229
239
259
281
302
1
77
171
181
225
IV
INHALTSVERZEICHNIS
Kunstbeilagen
Originale Arbeiten
Rrnno Hdroux, Alim'h, Stichradierung . . . .
zu
23'
// f nnlin-l ntour-Pat\s, Paradies und Peri (Rob.
Schumann) Originallithographie .
zu
5 .
Hfinrich ICnZ/y Miinchen, Lesende Frau. Original¬
radierung . . . . .
vor
4Q
Hnns München, Am Klavier. Schab-
knnstblatt .
zu
74.
() von Knnpf Geheimnis. Originalradierung .
vor
77
W'nlfrr l.rislikow, Waldsee, Originalradierung .
zu
84 .
I rnnz - Karlsruhe, Der Winter. Original¬
lithographie .
nach
124,
/*«/// Nriicnhoni, Originallitlinpraphie . zu 125
Rudolf Jrttmar-yN'x^n, Dichtertraum. Original-
radicrimg . . nach 180 ,
Uttn$ von Karlsruhe, Der Frühling.
Originallithographie . vor 205.
H. Rriffrmrhrid, An Adalbert Stifter. Radierung vor 253 ^
I r. KoHmorfrrn -HcxWn, Der Sommer. Original¬
lithographie . nach 256
f/. /:>//’r-Dresden, Ährensammlerin. Schabkunstblatt vor 281 n
A. //f7//mrr/- Karlsruhe, Der Herbst Original¬
lithographie . vor 297
M. / Vj/tmw-Berlin, Lithographiertes Bildnis . . nach 304
Künstlerische Reproduktionen
Jiiliw; Nordhorn, Sommernacht. Radierung nach
einem Gemälde von Professor Hans Gude zu 71
Seile
r. Fiusr/i/ofT, Cafe Boulevard. Radierung nach
E. Degas . zu t5b
IP. VC'ocnilr, Frauenkopf. Radierung nach einem
Gemälde von Llans Makart . vor 157
Photomechanische Reproduktionen
Hans Tltonta, Sehnsucht. Dreifarbendruck nach
einem Tempera-Gemälde . zu 24
Frn.sl Moritz Florenz, Silberner Hand¬
spiegel. Heliogravüre . zu 36
J. F. Rn ffarili Paris, Die Strasse von Argenteuil
in Paris. Dreifarbendruck . zu tot
Ma.v Ktinfier, Sitzender Beethoven. Brustbild,
Vorderansicht. Photographie . zu 183
Thronrückwand von Klinger's t^eethoven. Helio¬
gravüre . zu 183
Tantalidengruppc von Klinger’s Beethoven. Helio¬
gravüre . zn 183
Konrad WHz, Die heilige Magdaiena und Katharina
(Strassburg, Museum). Dreifarbendruck . . zu 229
Rudolf von /1//-Wien, Selbstbildnis. Dreifarben¬
druck . zu 259
Rudolf von /1//-Wicn, Aquarell von 1843. Drei-
farbendnick zu 259
Rudolf von zl/AWicn, Bergwand in Gastein. Drei¬
farbendruck zu 259
Abb. 1. Johannesbiiste
EIN FLORENTINER THONBILDNER VOM ANFANG DER
HOCHRENAISSANCE
Von Wilhelm Bode
IM Florentiner Kunsthandel begegnete man in den
letzten Jahrzehnten und begegnet man noch jetzt
gelegentlich Thonfigürchen des jugendlichen Jo¬
hannes, regelmässig in ganzer Figur und sitzend dar¬
gestellt, die durch ihre übereinstimmende Bildung der
schlanken Formen und des holden Köpfchens, wde durch
die sehr verwandte Haltung auf die Hand eines und
desselben Künstlers hinweisen. Im Handel pflegten
sie — nach der alten Florentiner Sitte, alle un¬
bestimmten Bildwerke der Renaissance, die nicht
augenscheinlich der Richtung Michelangelo’s angehören,
Donatello zuzuschreiben unter dem Namen dieses
heute noch neben Michelangelo gefeiertesten Floren¬
tiner Bildhauers zu gehen. Selbst eine im vorigen
Jahre in Florenz aufgetauchte beinahe lebensgrosse
Johannesbüste, deren Abbild ich hier gebe (Abb. i),
ist wieder von ein paar namhaften Florentiner Künst-
Zeitschritt für bildende Kunst. N. F. XIII. H. i.
lern als Werk Donatello’s bestimmt und dabei auf
hunderttausend Francs bewertet worden. Diese Be¬
stimmung brauchen wir, da wir die Abbildung geben,
nicht weiter zurückzuweisen. Mit dem charakter¬
vollen, herben Naturalismus Donatello’s steht diese
Büste in direktem Widerspruch. Dasselbe gilt noch
in höherem Grade von den Statuetten des sitzenden
Johannes.
Die Mehrzahl dieser Statuetten ist, wie die in der
Berliner Sammlung, etwa einen halben Meter hoch, ein¬
zelne sind noch kleiner; das einzige grössere (etwa
8o cm hohe) Exemplar ist im Besitz von Stefano
Bardini in Florenz und befand sich in seiner Sonder¬
ausstellung in der Pariser Weltausstellung des vorigen
Jahres. Da es die bedeutendste und feinste unter allen
diesenjohannesstatuetten ist, gebe icheinetrefflicheNach-
bildung davon, neben die ich eine kleine Hochätzung
1
2
EIN FLORENTINER THONBILDNER VOM ANFANG DER HOCHRENAISSANCE
des Berliner Stückes (Abb. 2j sU !e, um zu zeigen,
wie ähnlich diese verschiedencii 'r iederholungen i'es-
selben Alotiv^ unter sich sind. Johannes ist v.iar-
gestellt als hüi; eher .e!i!u:; .c ' Kral c, dem ,ui'£!T'h;S-
alter nahe, w!-- er auf schiefriger; Feiger, sitzt, das eine
Bein lierabliängeiid, flas andere hoch gesetzt, und
wie er begeistert narh o-'n -n blickt, v/ährend er einen
Arm auf die drust legi und in der Hand des andern,
herabhäiigenden Anms eine Scliale oder eine Sclirift-
n.lle hält. Nur das saubi;re Schafsfell, das er wie
einen Rock angc -r g-M' liat, und der felsige Boden
deuten darauf, das;- der Künstler in der wohlgebil¬
deten, anmutige ! Knabengestalt den jungen Täufer
wiedergebi'u wollte.
Die übrigi-n Johannes- Statuetten, deren mir etwa
ein Dutzend aus dem Florentiner Kunsthandel und
im Brivatbesitz bekannt ist, glei¬
chen dieser grösseren Figur der
Bardini’schen Sammlung so sehr,
dass sie in der Erinnerung wie
Wiederholungen derselben erschei¬
nen; bei näherer Vergleichung
stellen sich aber nur einige wenige
kleine E.xemplare als eigentliche
Wiederholungen derselben, wohl
von dritter Hand oder aus der
Werkstatt, heraus; die übrigen
weisen innerhalb ihrer grossen Ver¬
wandtschaft doch in Haltung, Be¬
wegung und Ausdruck wie in den
Nebensachen so starke Abweich¬
ungen unter einander auf, dass
sie nur als eigenhändige Arbeiten
eines und desselben wenig erfin¬
dungsreichen Künstlers betrachtet
werden können. Die elegante
Pose, die gewählten Wendungen
im Körper, die Opposition in der
Haltung der Arme und Beine, die
Freude an den schönen Formen in
allen diesen Arbeiten sind lauter
Merkmale der Florentiner Hoch¬
renaissance, wie sie uns Heinrich
Wölfflin in der Klassischen Kunst
in seiner klaren, eindringlichen Weise aufgezählt hat. Die
befangene Art, wie sie zur Geltung kommen, beweist
aber, dass der Künstler den ersten Jahrzehnten des Cin¬
quecento an gehört und mit seinen Anfängen wohl noch
im Quattrocento stand. Der halb schüchterne, halb pathe¬
tische Ausdruck, die schlanken Verhältnisse, die Tracht
erinnern noch an den etwa gleichaltrigen Johannes,
den Benedetto da Majano 1480 für die Thür der
Sala dell’Udienza im Palazzo Vecchio arbeitete, ln dem
geschmeidigen Fluss der Glieder können diese Figuren
wohl kaum ohne den Einfluss des Giovannino von
Michelangelo entstanden sein, dem gegenüber sie
sich als die jüngeren schon dadurch bekunden, dass
Johannes regelmässig sitzend gegeben ist, was Wölfflin
als ein Charakteristikum für die Darstellung des Knaben
Johannes im Cinquecento nachgewiesen hat. Auch
die starke Betonung der Gelenke, die Haarbehandlung,
der steinige Boden verraten den Einfluss der Jugend¬
werke Michelangelo ’s, neben dem der Künstler freilich
oberflächlich und leer erscheint. In der Pose er¬
innern diese Johannes- Statuetten an den durch die
zahlreichen Wiederholungen bekannten jugendlichen
Johannes von Raphael; doch da ihnen der visionäre
Ausdruck und das Pathos dieser Gestalt ganz ab¬
geht, so ist es nicht wahrscheinlich, dass sie nach
dieser berühmten Komposition entstanden sind.
Das Streben nach dem Anmutigen, Grazilen in
Formenbildung und Bewegung, das sich in diesen
Johannes-Statuetten besonders stark ausspricht, ist über¬
haupt charakteristisch für die Florentiner Plastik aus
der Zeit des Überganges vom Quattrocento zum Cin¬
quecento, ehe Michelangelo seinen Stil voll ausbildete
und dadurch der Hochrenaissance in Mittelitalien eine
neue, ausgeprägte Richtung ab.
Andrea Ferrucci und Benedetto da
Rovezzano entwickeln diesen gra¬
ziösen Stil in ihren reichen Deko¬
rationen, und selbst Andrea San-
sovino ist er eigentümlich, bis er
unter den Einfluss Michelangelo’s
kam. Leonardo del Tasso’s Sebas¬
tiansfiguren in San Ambrogio und
Santa Maria Maddalena dei Pazzi,
die marmorne Sebastiansstatuette
des Michele Maini in der Minerva
zu Rom, selbst noch der Bacchus
des Jacopo Sansovino verraten die
gleiche Richtung auf das Gefällige
und Graziöse, die auch schon in
der Wahl der Motive, namentlich
in der Vorliebe für die Darstellung
des jugendlichen Johannes und
des jungen Sebastian sich bekun¬
det. Zahlreiche Florentiner Statuetten
dieser Heiligen, meist in bemaltem
Thon, die den gleichen Charakter
tragen , aber bei ihrer meist
handwerklichen Auffassung aut
keine bestimmten Künstler sich
zurückführen lassen, sind das
lebendige Zeugnis für die Freude,
die die Florentiner um die Wende des Jahr¬
hunderts an solchen anmutigen Jünglingsgestalten
hatten.
Auch für unsere Johannes -Statuetten weiss ich
noch keinen Künstlernamen zu nennen. Sie erinnern
wohl an Tasso und sind auch den Jugendwerken des
Jacopo Sansovino verwandt, aber doch nicht so stark,
dass sie deshalb einem dieser Meister zugeschrieben
werden könnten. Für Jacopo, dessen tüchtigste Werke
gerade seiner Jugend angehören, sind sie vor allem
zu gleichmässig und zu leer; sein, freilich später,
sitzender Johannes in den Frari zu Venedig (vergl.
Abb. in Wölfflin, Klass. Kunst, S. 259) bietet den
besten Anhalt zu einem Vergleich, bei dem sich wohl
die meisten zu Gunsten der lieblichen Thonfigur im
Bardini’schen Besitz erklären werden, obgleich sie in
künstlerischer Qualität hinter Sansovino’s Arbeit
Abb. 2. Johannesstatiiette
Berlin, Kgl- Museen Nr. 22g
JOHANNES-STATUETTE (etwa 8o cm hoch) IM BESITZE VON STEFANO BARDINI IN FLORENZ
1
4
EIN FLORENTINER THONBILDNER VOM ANFANG DER HOCHRENAISSANCE
zuriicksteht. Auch an Giovanni della Robbia kann
man bei diesen Figuren nicht denken.
Ausser jenen Statuetten und der eingangs ge¬
nannten fast iebensgrossen Büste des jungen Johannes,
iin Besitz der Marchesa Serafini zu Florenz, kann
man unserem Meister mit Wahrscheinlichkeit noch
ein paar ähnliche Thonstatiictten des hl. Hieronymus
zuschreiben, von denen ich die einzige, deren ich
mich im öffentlichem Besitz erinnere, nebenstehend
wiedergebe: den Hieronymus vor dem Kruzifix knieend
und sich kasteiend, im Berliner Museum (Abb. 3). Wie
der Künstler das herbe Motiv ganz gemässigt auf¬
fasst, wie er den heiligen Dulder als Mann in mitt¬
leren Jahren und von schönen vollen Formen bildet.
wie er das lockige Haar stilisiert, wie er die grossen
Extremitäten wenig durchführt, wie er die Figur
stellt und bewegt, wie er den geschichteten Schiefer¬
boden bildet, alles das stimmt mit der Eigenart unsres
Meisters der Johannes-Statuetten. Auch die tiefbraune
Farbe, mit der der gebrannte Thon dieser und ein
paar ganz ähnlicher Hieronymus-Figuren , die ich ge¬
legentlich im Handel sah, angestrichen ist, findet sich
bei den Johannes-Figürchen, wenn diese nicht — wie
es meist der Fall ist — abgewaschen sind und da¬
her die rohe Thonfarbe zeigen. Auch dass die Farbig¬
keit verschmäht wird, ist ein Zeichen dafür, dass der
Künstler dieser Thonfiguren schon dem Anfang der
Hochrenaissance angehört.
Abb. 2- Hl. Hieronymus. Berlin, Kgl- Museen Nr. 129
Fantin-Latoiir. Selbstbildnis. Florenz, Uffizien
HENRI FANTIN-LATOUR
Von Georges Riat in Paris
Henri Fantin -Latour ist im Jahre 1836 in Grenoble geboren,
in jener Stadt, welche sich rühmen kann, einen Stendhal
(Henri Beyle) und Berlioz hervorgebracht zn haben. Seine
Mutter war eine Russin; sein Vater, Theodor Fantin-Latonr, von Metz
gebürtig, Hess sich in der Hauptstadt der Dauphine nieder und schuf
hier eine ganze Anzahl von Bildnissen, religiösen Gemälden und
Pastellen, die ihm ein ehrenvolles Ansehen verschafften.
Der Sohn kam zn rechter Stunde nach Paris, um sich dem Studium
der Malerei zn widmen, nach der es ihn besonders drängte. Er trat
bei Lecoct]| de Boisbeandrand an der Ecole des beaux-arts ein und
später in das Atelier von Conrbet. Das war 1863. Lecocq de
Boisbeandrand war kein grosser Meister und doch ein hervorragender
Lehrer. Andre Michel, der Konservator des Louvre, hat erst im
vorigen Jahre, als er die Centenalansstellnng in der Gazette des
beaux-arts besprach, auf den grossen Einfluss hingewiesen, den dieser
bescheidene Mann auf die Entwickelung der französischen Kunst
unseres Jahrhunderts durch seine Fähigkeit, die besonderen Talente
jedes seiner Schüler auszubilden, genommen hat.
Zwischen der gesunden Discipliu dieses Lehrers und dem unge¬
stümen Einfluss Courbet’s genoss aber unser junger Künstler noch
einen anderen Unterricht, nämlich den der alten Meister im
Louvre; dort hat er in jenen Jahren die Fülle von Kopien ausgeführt,
welche noch heute sein Atelier mit feierlichem Ernste zieren. ln cliesem Studium der Alten, in diesem
Huldigung für Berlioz f
1) Copyright iQOO by Manzi, Joyant & Cie.
6
HENRI FANTIN-LATOUR
H. Fanfin-Latoiir. Bildnis. Salon 1884
heissen Bemühen, in ihren Geist und ihre Technik
einzudringen, traf er sich damals mit den Besten der
jungen Generation: mit Bracqueniond, mit Manet und
Degas, mit Francois Millet. Noch heute liebt es
Fantin, von seinen Gesprächen mit dem Meister von
Barbizon zu erzählen: Er wirkte ein wenig kalt und
brüsk, aber ich hatte die Kühnheit, ihn anzusprechen,
und wir haben manchmal miteinander geplaudert.
Jung wie ich war, hatte ich meine bestimmten Vor¬
urteile, was Millet in seiner feinen Art bemerkt hatte.
Eines Tages führte er mich vor den hl. Michael:
Betrachten Sie, sagte er, betrachten Sie nur dieses Ge¬
mälde und lernen Sie Raphael begreifen. Sehen Sie
doch dieses Blitzartige der Bewegung! welch eine
Kraft muss der Mann gehabt haben, der das erfasst
hat! Und die grauenerregende Landschaft, diese
Felsen, diese Flammen .... ein Bild, das augenschein¬
lich durch den Unverstand der späteren Zeit gelitten
hat und doch, wie ist es unantastbar und mächtig
geblieben! .... Ich versichere Sie, mit ein oder zwei
solcher Worte von Millet habe ich Raphael begriffen;
so merkwürdig war seine Art, ein Bild zu zeigen.«
* *
*
Das Jahr 1861 wurde von besonderer Bedeutung
für unseren Meister. Die Kunsthändler Cadart und
Chevalier, in deren Laden regelmässig Manet, Legros,
Bracqueniond, Vollon, Jacqemard und Fantin ein-
nnd ausgingen, veranlassten die jungen Leute zur ge¬
meinsamen Herausgabe einer Reihe von Lithographien,
die wir heute fast noch höher schätzen , als es da¬
mals die Künstler und ihre Freunde thaten. Manet
gab den »Ballon , Legros die »Steinhauer von Mon¬
trouge' , Bracqueniond die »Chevaliers , Ribot die
Lektüre und Fantin steuerte gleich vier Blätter bei:
»Tannhäuser im Venusberg , »Die entwaffnete Venus«,
Die Erziehung des Amor« und Die Stickerinnen«.
Nach diesem Debüt begegnen wir unserem Meister
nahezu alljährlich im Salon und die Aufzählung aller
seiner Porträts, Phantasien, Pastelle und Lithographien
würde einen ganzen Katalog erfordern, wie ihn übrigens
Hediard im Jahre 1892 in vorzüglicher Weise ge¬
geben hat. Für unsere Betrachtung hätte eine solche
Titelaufzählung umso weniger Wert, als des Künstlers
Schaffen nicht in verschiedene Manieren zn teilen ist.
Betrachtet man sein Lebenswerk, so hat man den
Eindruck eines schönen, in ruhiger Majestät dahin-
fliessenden Stromes. Zu erwähnen bliebe höchstens,
dass er 1875 mit dem Porträt des Ehepaares Edwards
eine Medaille erhielt und 1879 RhKr der Ehrenlegion
wurde. Aber diese offiziellen Anerkennungen gelten
wenig im Vergleich zu der Verehrung und Bewun¬
derung, mit denen ihn weite Kreise seines Landes
umgeben haben.
Bonnier Blcmont Aicard
Fantin- Latour. Eine Tischecke. Salon iSj2
HENRI FANTIN- LATOUR
b
Oamif ist er, glaube ich, stolz; aber er ist nie¬
mals danach ausgegangen. Man kann sich wirklicli
keinen bescheideneren und geräuschloser lebenden
Künstler vorstellen als Fantin -Latour. Sein Dasein
spielt sich in dem einfachen Atelier der Rne des
beanx-arts ab, in ruhiger, einsamer Arbeit, fern von
Stürmen und Kabalen. Wer die Hallen kennt, wo
unsere Modemaler sich mit dem pathetischen Kram
einer Theaterdekoration umgeben, würde nicht wenig
erstaunt sein, wenn er Fantiu’s Atelier betritt. Zu
ebener Erde hinten auf dem Hofe, niedrig, zum Teil
sogar dunkel, über und über voll gestellt von Kopien,
von angefangenen Gemälden, von Abgüssen, dick¬
leibigen Mappen, wo der Meister seine Sammlungen
von Kunstblättern aufbewahrt, durch deren Studium
er seinen aussergewöhulicheu Schatz von künstle¬
rischer Kultur ständig vermehrt. Nirgends eine ge¬
suchte Eleganz, keine überflüssigen Schnurrpfeifereien,
keine Pose. Das ist kein Atelier, wo man Empfänge
giebt, das ist ein Laboratorium, ein Arbeitsraum. Mau
getraut sich gar nicht, ein leeres Ateliergeschwätz zu
beginnen; der Meister würde sich auch gar nicht
darauf einlassen.
Arseue Alexandre hat in der Monde moderne
(Dezember 1895) eine wunderhübsche Beschreibung
von Fautin als Hausherr gegeben: Nach all diesen
Erzählungen werden Sie sich ihn wohl als eine
finstere, brummige Persönlichkeit vorstellen. Und
doch kennt mancher einen Fantin von bezauberndem
Entgegenkommen, einen Fantin, über dessen Gesicht
plötzlich ein feines, anmutiges Lächeln leuchtet, einen
Fautin, der als echter Causeur aus der Fülle seiner
Erinnerungen schöpft, vor Begeisterung sprudelt und
mit seiner Abneigung nicht hinter dem Berge hält.
Dann veilieren diese stolzen durchdringenden Augen,
welche Sie in dem Selbstbildnis seines reifen Alters
in den Uffizien sehen, ihre Strenge, wenn sie auch
etwas ewig aufmerksam Fragendes behalten, dann
schwindet der bittere Zug dieses willensstarken Mundes,
der sich leicht verächtlich kräuseln kann, und die merk¬
würdigen Furchen auf seiner Stirn, um die etwas von
Sorge, Erstaunen und Ironie schwebt, lassen seine
Augen blauer, grösser, gerader erscheinen .
* *
Conlii’r Lrgros Whistler (Delacroix’ Porträt) Manet Braeqnenwnd Ballcroy
Duranty Fantin-Latour Champfleury Baudelaire
H. Fantin-Latoiir. Die Huldigung für Delacroix. Salon 1864
HENRI FANTIN- LATOUR
9
Es wäre hier noch ein Wort über die Litho¬
graphietechnik Fantin’s zu sagen. Der Künstler
arbeitet nicht direkt auf dem Stein, sondern zeichnet
mit lithographischer Kreide auf ein eigentümlich prä¬
pariertes Papier, das er über eine gekörnte Platte
spannt; und zwar hat er verschiedene Grade solcher
Unterlagen zur Hand, je nach dem beabsichtigten
Effekt. Die Zeichnung wird dann auf den Stein um¬
gedruckt und empfängt dort gewöhnlich noch einige
letzte Retouchen. Dies Verfahren ist auch in Deutsch¬
land bekannt, doch hat Fantin’s Arbeitsweise ihre Be¬
sonderheiten, die seine Blätter vor anderen sofort
kenntlich machen. Weil er sich von dem schwer¬
fälligen Hantieren mit dem Stein befreit hat, weil er
in der Lage ist, seinen Einfällen und Empfindungen
ohne technische Vorbereitung jeden Augenblick litho¬
graphisch Ausdruck geben zu können, deshalb haben
seine Blätter jene Frische und Unmittelbarkeit, die wir
an ihnen schätzen.
Aber wesentlich bemerkenswerter als die Technik
ist der Inhalt von Fantin’s lithographiertem Oeuvre.
Fast alle seine Blätter sind nämlich von musikalischen
Themen inspiriert und zwar in der Hauptsache durch
die Schöpfungen von Richard Wagner und Hektor
Berlioz; nur muss man sich nicht etwa diese Litho¬
graphien im Stile von Illustrationen zu den Text¬
büchern oder gar von Theaterdekorationen vorstellen;
es sind Traumesblüten, gepflückt im Garten der Sage.
Fantin vergöttert die Musik, ohne selbst ausübender
Musiker zu sein. Besonders Richard Wagner ist sein
erklärter Liebling. Fantin war einer der frühesten
Wagnerianer Frankreichs; trotzdem musste ihm das
Missgeschick passieren, dass er 1861 nicht dazu ge¬
langte, den Tannhäuser zu hören; sein Billet lautete erst
auf die vierte Vorstellung, zu der es bekanntlich nicht
mehr kam. So schuf er damals den Venusberg«,
ohne die Oper auf der Bühne gehört zu haben.
Aber 1876 war er einer der ersten, die die Pilger¬
fahrt nach Bayreuth antraten und von da ab giebt
es kein Jahr mehr, wo er nicht den Wundern, die
sich dort den Sinnen bieten, neue Eingebungen ver¬
dankt hätte. Persönlich ist er Wagner niemals näher
getreten, was als Zug seines zurückhaltenden Charak¬
ters nicht unerwähnt bleiben mag.
So finden wir die hauptsächlichsten Scenen aus
Wagner’s Werken bei Fantin wieder; alle diese Sym¬
phonien der Träumerei, der Phantasie, der Grazie,
der glühenden Leidenschaft und des Schmerzes; da
finden wir Elsa, Isolde, Evchen, Sieglinde, Brünhilde,
Kundry; Walter Stolzing, Tannhäuser, Tristan, Sieg¬
fried, Parsifal leben in diesem einzigartigen Werke,
als wenn sie wirklich existiert hätten.
Daran reihen sich die von Berlioz angeregten
Blätter: die Symphonie phantastique, Harald in Italien,
Benvenuto Cellini, Romeo und Julie und viele andere.
Auch eine Apotheose des so lange verkannten Meisters
sei hier aufgezählt.
Viele dieser Blätter nach Wagner und Berlioz
wurden ursprünglich für Adolphe Jullien’s Werk über
beide Musiker komponiert.
Dann aber haben noch zwei deutsche Genies in
Fantin’s Seele eine verwandte Saite erklingen lassen:
Schumann und Brahms. Und von Robert Schu-
mann’s »Paradies und Peri« ist auch das Blatt in¬
spiriert, das der Meister für diesen Aufsatz der »Zeit¬
schrift für bildende Kunst« geschaffen hat. An¬
scheinend hat Fantin an jene Anfangsscene des Ora¬
toriums gedacht, da die wegen ihres Fehltrittes aus
dem Himmel verbannte Peri im Morgengrauen auf
die Gärten Indiens niederblickt und wehklagt, dass
alle Wonnen der Natur nicht das verlorene Paradies
aufwiegen -
Der hehre Engel, der die Pforte
Des Lichts bewacht, vernimmt die Worte,
Und wie er lauscht und näher schleicht
Dem sanften Lied, entsinkt ihm eine Thräne;
Er sprach:
Dir, Kind des Stamms, schön, doch voll Sünden
Kann eine frohe Hoffnung ich noch künden.
Im Schicksalsbuche stehn die Worte:
Es sei der Schuld die Peri bar.
Die bringt zu dieser ewgen Pforte
Des Himmels liebste Gabe dar; —
Geh, suche sie und werde rein:
Gern lass ich die Entsühnten ein! —
* *
Die Mehrzahl aller dieser Gegenstände ist vom
Künstler noch ein zweites Mal aufgenommen und als
Gemälde ausgeführt worden; man möchte fast meinen,
dass das zart verhüllte seiner Figuren im Stile von
Girodet und Diaz dabei durch die Farbe noch ver¬
schönt und gehoben ist. Gerade dieses auf allen
Bildern Fantin’s wiederkehrende »Enveloppieren« ist
eine der grössten handwerklichen Schwierigkeiten, die
Fantin mit einer geradezu pittoresken Fertigkeit be¬
herrscht.
Neben solchen nach Lithographien entstandenen
Gemälden steht aber eine andere Gruppe, die nach
der Meinung mancher sogar den Gipfel seiner Kunst
bedeutet: das sind seine Porträts. Von seinem Selbst¬
bildnis haben wir schon oben gesprochen; sein Manet
im Cylinderhut und Spazierstock ist das bekannteste
und am häufigsten wiedergegebene Porträt dieses
Künstlers. Die lange, lange Reihe der anderen auf¬
zuzählen erübrigt sich. Das hier abgebildete köstliche
Damenbild, dessen glückliche Besitzerin die König¬
liche Nationalgalerie in Berlin seit einigen Jahren ist,
erzählt von dem Porträtisten Fantin mehr als alle
Worte. Nicht unerwähnt aber dürfen einige Gruppen¬
bilder bleiben, die schon wegen der dargestellten
Persönlichkeiten noch in späten Zeiten historisches
Interesse beanspruchen werden. »Die Huldigung für
Delacroix« (1864), »Das Atelier von Batignolles«
(1870), Das Musikzimmer< (1885) und die »Tisch¬
ecke« (1872) können als Dokumente aus der Maienblüte
unserer modernen Kunst betrachtet werden. Unter
die gleiche Klasse fällt auch noch der »Toast auf die
Wahrheit«, ein Bild, das die Personen der Huldigung
für Delacroix vereinigte; leider hat es der Meister
später vernichtet. Schliesslich wäre noch der »Familie
D.... zu gedenken, die 1878 auf dem Salon ein
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. i.
2
UN, KGL. NATIONALOALERIE
H. FANTIN-LATOUR
DAMENBILDNIS
HENRI FANTIN-LATOUR
1 1
allgemeines Entzücken hervorrief, das man noch heute
vor dem Bilde, welches das Atelier des Künstlers
schmückt, würdigt und begreift; es ist ein Wunder¬
werk von Ruhe, Natürlichkeit und intimem Leben,
ausgesprochen in der bezauberndsten Farbengebung.
Betrachte icii, sagt Arsene Alexandre so schön,
betrachte ich diese ernsten, treuen Bilder, diese
Männer der Kunst und des Geistes, die so verständ¬
nisvoll gemalt, so freimütig hingestellt sind in ihrer
wahren Haltung, in ihrem gewöhnlichen Auftreten,
so denke ich, dass in diesen Gemälden rechte Ver¬
teidiger vorbereitet sind für die Zukunft eines Zeit¬
alters, das sich selbst vielfach geschmäht hat, eines
Zeitalters, das viele Hanswurste und Gimpel hat Vor¬
beigehen sehen , das aber im edlen und festen Kern
der französischen Rasse nicht entartet ist. Und sehe
ich dann diese schönen Familienporträts, diese Frauen¬
bildnisse an — sind sie nicht bewundernswürdige
Plaidoyers zu gunsten unserer Sitten, von denen man
so geringschätzig reden möchte? Vor diesen Bildern
fühlt man: das sind die wahren französischen Frauen,
nicht jene, von welchen uns die geschwätzige Chronik
täglich zu berichten weiss.'
Ernst, Adel, Feierlichkeit, Wohlklang, Empfindung
— sind die Worte, die man am häufigsten an¬
wenden hört, wenn davon die Rede ist, das Lebens¬
werk Henri Fantin-Latours zu charakterisieren. Man
sagt von ihm, dass er einfach, gut, nachdenklich,
arbeitsam, sorglich mit dem Streben nach Unabhängig¬
keit ist; er hat es immer abgelehnt, in die Riege
einer bestimmten Klasse eingereiht zu werden. Die
einen nennen ihn Realisten, die anderen Idealisten —
er ist beides, ln seinen Werken aus der Welt der
Träume haben die Gestalten Muskeln und wirkliches
Leben, sind sie Mann und Weib, ln seinen Porträts,
wo die Ähnlichkeit packend ist bis auf die Toilette,
fühlt man hinter den ernsten Gesichtern eine ver¬
träumte Seele, einen weltfremden Zug in das Reich
des Unbekannten. Sein Lebenswerk ist ohnegleichen
in der zeitgenössischen Kunst Frankreichs, ja es ist
eines der stärksten, gesündesten und bedeutendsten
unserer Zeit überhaupt, eine Quelle des Genusses
für das Auge und für die Gedanken ; weil sie Ver¬
stand und Einbildungskraft gleichermassen befriedigen,
bleibt den Werken Fantin - Latours eine ruhmvolle
Unsterblichkeit gesichert.
Schotdercr Renoir Zola Maitre Bazille Monet
Manet Astrnc
H. Fantin-Latoiir. Das Atelier in Batigiwltes. Paris, Luxembourg- Museum. (Salon 1870)
2
Wolfram hält Tannhäiiser zurück
Nach einer Lithographie von H. Fantin-Latonr
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Von Hermann Muthesius in London
WER in irgend einem Zusammenhänge über
englisches Wesen schreibt, der sollte an die
Spitze setzen: England ist ein Inselreich.
Als solches hat es seine, von dem Festlande ver¬
schiedene, in hohem Masse selbständige Entwickelung
eingeschlagen; auf welches Gebiet wir auch blicken,
sehen wir knorrige Eigenart und ausgesprochenen
Charakter. Wer die wenigen Seemeilen von Calais
nach Dover auf dem Schiff zurückgelegt hat, befindet
sich in einer neuen Welt, die von der kontinentalen
weit verschiedener ist, als innerhalb dieser Frankreich
von Deutschland, Italien von Schweden. Nicht bloss
im Charakter der weichen, baumbekränzten Wiesen¬
landschaft prägt sich die Verschiedenheit aus, sondern
auch im Wesen der Menschen und hier mehr als
in jeder andern Beziehung. Sie drängt sich dem
flüchtigen Besucher noch nicht einmal in dem Masse
auf, als dem länger Ansässigen, der der Eigenart der
Bevölkerung näher zu treten versucht hat. Welcher
Unterschied im Fühlen und Denken, in Sitten und
Staatseinrichtungen, in Gesellschaftsbegriffen und
Lebensidealen !
Und daneben, welche scheinbaren Widersprüche
treten innerhalb dieser Eigenart in sich auf, welche
Verwachsenheit verschiedenartiger Ansätze! Man merkt
es bald: hier handelt es sich um eine alte, aber frei
und unbeschnitten gewachsene Kultur, wo jedem
Einzelnen und jedem Stande erlaubt war zu leben
wie er wollte, sich nach Belieben zu entfalten. Ein
früh entwickelter Unabhängigkeitssinn und ein hohes
Gefühl persönlicher Freiheit, beides Eigenschaften der
Bewohner natürlich geschützter Gebiete (wie Gebirge
und Inseln) sind die Grundbedingungen dieser Ent¬
wickelung gewesen. England gleicht einem wilden
Garten, in welchem jede Pflanze wächst wie sie will,
strotzende Sträucher erheben sich über weit ausge¬
dehntem Kleingewächs und prächtige Blumen ge¬
deihen über Flächen von Unkraut.
Blicken wir auf das Gebiet der Kunst, so ist
diese Buntheit der Erscheinungen vielleicht noch mehr
zu bemerken, als auf irgend einem andern. In den
kontinentalen Hauptstädten hält sich z. B. das Stadtbild
trotz aller architektonischer Verirrungen auf einem im
ganzen noch erträglichen Mittelniveau. In den Strassen
Londons ist die Architektur einfach unter aller Kritik.
Trotzdem aber finden sich hier und da eingestreut
ganz hervorragende Leistungen, die das Urteil sofort
bis zur Grenze der allerbesten Wertbemessung empor¬
schnellen lassen. Ähnliches bemerken wir auf allen
Kunstgebieten. Und man muss wohl in dem neulich
geäusserten Urteil eines englischen Redners auch in
seiner Übertragung auf die Kunst viel Wahres erblicken,
dass in England die Dinge entweder sehr schlecht
oder sehr gut seien. Dass die Leistungen Englands
in der Kunst im allgemeinen mehr in die Klasse des
sehr Schlechten fallen, dass England als Nation über¬
haupt wenig Befähigung für Kunst habe, hat in der
ganzen Welt lange als eine Art stilles Übereinkommen
gegolten und entspricht der volkstümlichen Vorstellung
noch heute, selbst derjenigen in England. Napoleon
nannte die Engländer ein Volk von Krämern, und kein
Urteil scheint das Herz dieser Nation in gleichem
Masse berührt zu haben, denn es wird noch heute
in fast jeder Tafelrede citiert.
Eine Thatsache liegt vielleicht vor, die den
Mangel an künstlerischer Befähigung zu bestätigen
scheint. In keinem Lande haben sich seit alters so viele
fremde Künstler ansässig gemacht wie in England, von
Holbein dem Jüngern, van Dyck, Lely, Antony Mor,
Kneller und Verrio geschichtlicher Zeit bis auf Her-
komer, Tadema und Legros von heute. Pugin, der
die neuere Baukunst begründete, war der Sohn fran¬
zösischer, nach England geflüchteter Eltern, Rossetti,
der Schöpfer der modernen Malerei der Gefühls¬
werte, der Sohn eines nach England geflüchteten
Italieners, Whistler und Sargent, die beiden leuch¬
tendsten Sterne am heutigen englischen Kunst¬
himmel, sind Amerikaner. In der Musik, in welcher
sich England bis in die neueste Zeit als vollkommen
steriler Boden erwiesen hat, ist die Abhängigkeit vom
Auslande noch viel augenscheinlicher. Und so bleibt
unter den Künsten als von aussen her unangetastetes
Gebiet eigentlich nur die Litteratur übrig, wo das
sprachliche Handwerkszeug von selbst Fremdes aus¬
schloss. Hier allerdings ist die Ernte eine so glän¬
zende und reiche, wie sie kaum gedacht werden
kann.
Scheint es demnach, als ob die Musen in der
That spärlich an der Wiege des englischen Volkes
gestanden hätten, so ist die Thatsache, auf die zuerst
neuere deutsche Kunstgelehrte hingewiesen haben,
dass von England aus eine Reihe wichtigster neuer
Ausgänge in der bildenden Kunst ihren Ursprung
nahmen, um so erstaunlicher. Das Inselreich wurde im
achtzehnten Jahrhundert das Ursprungsland der auf-
spriessenden Romantik und öffnete damit nordischem
Empfinden, das durch Jahrhunderte durch die blind
angebetete Antike in Fesseln gehalten worden war,
zuerst wieder die Schleusen. In der Malerei wurde
es durch die grossen Meister Reynolds und Gains-
borough, die sich seit den Holländern zuerst wieder
ihrem Gegenstand unbefangen gegenüber stellten,
das Ursprungsland einer neuen Kunst. In der im
i8. Jahrhundert so wichtigen Gartenkunst zog es
durch die Einführung der landschaftlichen statt der
geometrischen Anlage die ganze Welt in seine Bahnen.
In der häuslichen Kunst entwickelte es schon am
Ende des i8. Jahrhunderts die Grundlagen der
bürgerlichen Wohnungsausstattung durch die Möbel
Chippendale’s und Sheraton’s. Drei mächtige Strö¬
mungen, die im ig. Jahrhundert von höchster Be¬
deutung wurden. Und wenn wir in dieses Jahr-
\
14
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Erker in einem Wohnzimmer
Architekt W. A. S. Benson
luiiuiert selbst eintreten, so war es wiederum ein
Engländer, Constable, welcher im ersten Viertel des¬
selben eine durchaus neue Auffassung der Landschaft
einleitete und dadurch der Vater der romantischen
Landschaftsmalerei wurde. Und um die Mitte desselben
Jahrhunderts war es wiederum in England, wo zu¬
erst eine neue Macht emporwuchs, die ihren Einfluss
erst langsam und auf England beschränkt und dann
immer kräftiger auch nach dem Kontinent hin entfaltete:
die Kunst der Gefühlswerte und der dekorativen
Linie, die zuerst F^ossetti einschlug und die das Wesen
der Präraffaelitenschule ausmacht. Die Richtung
blieb nicht auf die Malerei beschränkt, sondern griff
auf ein weiteres Gebiet über, dasjenige der soge¬
nannten dekorativen Künste. Hier entfachte es eine
Bewegung, unter deren Zeichen unsere ganze heutige
Kunstlage aufgefasst werden muss: die sogenannte
neue Kunstbewegung in den Kleinkünsten, dem
Kinde des englischen Präraffaelitismus.
Erst seitdem die Flutwelle dieser neuen Kunst
auch den Kontinent überschwemmt hat, blickt die Welt
mit künstlerisch gläubigeren Augen nach England,
und die alte Volksanschauung, dass England ein un¬
künstlerisches Land sei, weicht rasch einer andern
Auffassung, ja, man muss heute bereits Schritte
thun, vor einer künstlerischen f/öe/'schätzung Eng¬
lands zu warnen. Ein Urteil über das künstlerische
England in zwei Worte zu fassen, ist weit schwerer,
als wenn es sich z. B. um ein Land wie Frankreich
handelte. Im Grunde trifft man gerade in England
oft die brutalste Nichtbeachtung künstlerischer Ge¬
sichtspunkte an, die englischen Städte sind die un¬
architektonischsten der Welt, die englische Malerei
hat sich, von einigen Einzelerscheinungen abgesehen,
bis heute noch nicht über den Bannkreis des lehr¬
haften oder moralischen Gedankens oder der Anekdote
hinweg zum rein Malerischen empor¬
zuschwingen vermocht, von einer eng¬
lischen Skulptur kann man überhaupt nur
in beschränktem Masse reden. Keine Ge¬
mäldeausstellung der Welt macht durch
die förmlichen Wucherungen der flachen
Mittel mässigkeit, wenn nicht der blanken
Unfähigkeit, einen so niederschlagenden
Eindruck als die Ausstellungen der Royal
Academy in London. — Wo liegt die Er¬
klärung für dieses widerspruchsvolle Bild?
Wie ist es vor allem zu erklären, dass
England dabei auf so vielen Gebieten
künstlerisch führend für die Welt werden
konnte?
Die Erklärung dafür ist vor allem in
der englischen Charakterbildung zu finden,
ln England ist jedem Menschen erlaubt,
was er auch thut auf seine Weise zu
thun, und von dieser Freiheit macht jeder
ausgiebigen Gebrauch, ja sie ist ihm Wesens¬
bedingung. Die Erziehung fängt schon
in der Kinderstube mit der Entwickelung
der Selbständigkeit an. Auf der Schule wird
diese auf alle mögliche Weise, vor allem
auch durch Sport und Spiele, eifrig weiter ausge¬
bildet, im spätem Leben findet der Engländer alle
seine Landeseinrichtungen auf die Selbständigkeit
des Individuums zugeschnitten. Die Geschichte er¬
zählt von der Selbständigkeit durch die frühe Ent¬
wickelung der parlamentarischen Verfassung, in der
Religion äussert sie sich in dem Vorhandensein der
vielen Sekten, in der Politik im Geltenlassen jeder
beliebigen Meinung.
Von ganz besonderer Bedeutung muss dieses
Selbständigkeitsgefühl aber in der Kunst sein. Denn
hier kommt es vor allem darauf an, dass der Pro¬
duzierende selbständig sei, dass er sich frei von Ein¬
flüssen halte, die seine Individualität unterdrücken,
dass er auf seine Weise sehe und bilde. Der Künstler
ist nichts, wenn er nicht er selbst ist. Gainsborough
und Constable sahen auf ihre Weise die Natur, die
Präraffacliten und in ihrem Gefolge die englischen
Kleinkünstler traten auf ihre Weise der Kunst gegen¬
über, ganz unbekümmert um das, was um sie herum
geschah. Und sie wurden die Gründer von Schulen.
Denn in der Kunst kommt es vor allem auf Selb¬
ständigkeit und Charakter an, Kunst ist der Ausdruck
der F’ersöulichkeit.
In der ausgeprägten Charaktereigenschaft, in der
Abwesenheit von Vorurteil, mit der der englische
Künstler an seine Aufgabe herantritt, liegt das Eigen¬
tümliche der englischen Kunst, wenn man sie als
Gesamtheit betrachtet. Die Einzelerscheinungen mögen
so vielgestaltig sein wie sie wollen, man erkennt doch
ein englisches Bild schon von weitem als solches,
und alle Leistungen der bildenden Kunst umschlingt
ein gemeinsames Band des Englischnationalen. Hierin
liegt ihre Stärke. Und mehr noch, hierin liegt ihre
Fähigkeit, Einfluss auszuüben, denn diese Fähigkeit
besitzt nur das eigentlich Originale. Und so ist es
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
15
gekommen, dass England nicht nur gelegentlich dem
Kontinent künstlerische Anregungen gegeben hat,
sondern dass eigentlich unsere ganze moderne Kunst
auf Englands Schultern ruht, ganz besonders aber
die heutige umgestalteude Bewegung im Kunstgewerbe,
in der Kunst des Hauses und der Architektur.
Und nicht nur in der Kunst ist neuerdings der
englische Einfluss massgebend gewesen, sondern er
wird es immer mehr in Bezug auf unsere Lebens¬
formen. Hier stehen wir klar vor der Thatsache
der allmählichen Verdrängung des französischen
EinfI usses durch den englischen. Es ist bezeich¬
nend, dass England in dieser Beziehung gerade von
dem Zeitpunkte an einflussfähig wurde, als eine
gewisse neue Schichtung der Gesellschaft au die Ober¬
fläche gelangte, nämlich das Bürgertum. England hat
die Grundsätze des Bürgertums um Jahrhunderte
früher entwickelt als andere Länder und war daher
ungemein weit voraus, als die kontinentalen Länder
einsetzten. Als die Frage des dritten Standes in
Frankreich durch Feuer und Schaffot gelöst wurde,
war sie in England längst auf friedlichem Wege er¬
ledigt. Und England wandte sich einem neuen,
eigentlich bürgerlichen Erwerbszweig, der industriellen
Fabrikation, reichlicli fünfzig Jahre früher zu, als
irgend ein anderes Land. Rechnet man dazu, dass
das Land in ruhiger Entwickelung seinen Reich¬
tum seit der glorreichen Regierung der Königin
Elisabeth ständig auch in bürgerlichen Kreisen, und
gerade in diesen, hatte vermehren können, so nimmt
es nicht Wunder, dass die modernen Lebensformen,
die man als recht eigentlich bürgerlich bezeichnen kann,
in England am frühesten und reinsten entwickelt werden
mussten, und von da auf den Kontinent übergingen.
Es kommt noch hinzu, dass die englischen Charakter¬
eigenschaften diesem bürgerlichen Lebensideal beson¬
ders angepasst waren. Ein gesunder Nütz¬
lichkeitssinn ist neben seinem Selbständig¬
keitsgefühl das Typische am Engländer.
Und dieser Nützlichkeitssinn ist es, durch
den er zunächst auch in den Künsten des
täglichen Lebens, in der Kleidung, in der
Wohnung, in den gewerblichen Künsten
und in der Architektur massgebend und
vorbildlich wurde.
ln der Kleidungsfrage haben Zweck¬
mässigkeitssinn und Vorurteilsfreiheit die
Normen geschaffen, die England heute der
Welt diktiert. Die Richtung ist eine streng
sachliche und Bequemlichkeitsrücksichten
die allein bestimmenden, wobei noch stets
ein gesunder Sinn für das Ungekünstelte
mitspricht. Der auf Taille geschnittene, eng
anliegende Überzieher musste dem weiten,
bequemen weichen, Sport und Spiel im
Freien entwickelte die verschiedenen, rein
aus dem Bedürfnis entstandenen Sportan¬
züge, Strümpfe und Kniehosen werden
umfänglich und bei allen Gelegenheiten ge¬
tragen, wo das untere Cylinderstück unserer
Beinbekleidung unbequem ist. Der Aufent¬
halt in den Tropen entwickelte sofort die passenden
Anzüge dafür. Für den F^eiter sind die am Knie
eng angepressten, sich oben aber pumphosenartig er¬
weiternden breeches allgemein geworden und statt
der langen Stiefel ist man ganz allgemein zu einer
weit praktischeren Bekleidung, den riemengeschnürten
Schuhen mit darüber sitzenden besonderen Leder¬
hüllen für die Waden, übergegangen. Der Einfluss
auf dem Gebiete der Kleidung, den England aus¬
geübt hat, Hesse sich ins Weite verfolgen, er kann
aber hier nur augedeutet werden. Er würde im vor¬
liegenden Zusammenhänge überhaupt nicht inter¬
essieren, wenn sich nicht mit der praktischen Seite
eine stark ausgesprochene ästhetische verbände. Das
Merkwürdige an allen den angeführten Dingen ist
nämlich, dass sie gefallen. Der weite Überzieher,
die Beinbekleidung des Reiters, sie werden heute von
der ganzen Welt nicht nur praktisch gefunden und
an Stelle der früheren Form angenommen, sondern sie
erfüllen auch unsere ästhetischen Ansprüche, obgleich
sie den früher von Frankreich aus diktierten wider¬
sprechen. Wo die Nützlichkeitsformen anfänglich in
Widerstreit mit unseren alten Anschauungen gerieten,
erlebten wir das Merkwürdige, dass wir uns binnen
kurzem daran gewöhnten und sie schön fanden. Der
jetzt in Südafrika getragene Kriegsanzug ist ein Muster
au Zweckmässigkeit und — viele werden diesem Urteil
beistimmen — Schönheit. Es ist offenbar, dass jetzt eine
Umbildung unserer ästhetischen Wertung vor sich geht,
die sich eben gerade an der Kleiderfrage am über¬
zeugendsten verfolgen lässt: die reine Zweckmässig¬
keit erobert sich das Urteil der Schönheit. England
ist das Geburtsland dieser neuen ästhetischen An¬
schauungen. Alle zu nichts tauglichen Ansätze (auch
solche, die früher aus Schönheitsrücksichteu ange¬
bracht wurden) geraten in Misskredit, wir scheuen
Vorraiun eines Herrenhauses
Architekt R. Norman Shaw
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
i6
uns nicht mehr, der rein zweckmässigen Form ins
Gesicht zu sehen, ja sie gefällt uns. Dies zeigä sich
sogar an der Frauenkleidung, in welcher England
den männerartigen Schnitt, dasjenige, was wir auch
in Deutschland tailor-made nennen, eingeführt hat
und in dem glatten Rock mit Binse und Gürtel
nebst Matrosenhut einen von allen Klassen getragenen
weiblichen Alltagsanzug geschaffen hat, an dem eigent¬
lich alles die reine Nützlichkeitsform, ohne weiblich¬
phantastischen Aufputz, verkörpert. Nur zwei Gebiete
sind noch der phantasievollen Ausschmückung über¬
lassen: der Gesellschaftsanzug der Frau und der
Kinderanzug. Im ersteren hängt auch England noch
ganz lind gar von Paris ab, es ist ein Stück alter
Kultur, das hier in die Gegenwart herüberreicht. Auf
letzteren verwendet man, bis in die untersten Klassen
herab, umsomehr die grösste Sorgfalt und ist zu
Opfern bereit, als der Kinderanzug in das Gebiet
der Kinderpflege, d. h. in dasjenige Gebiet fällt, das
als das wichtigste im ganzen englischen häuslichen
Leben betrachtet wird, ln den Kinderanzügen hat
England die allerreizvollsten Formen entwickelt. In
Bezug auf den Frauenanzug ist noch zu bemerken,
dass vor etwa fünfzehn Jahren eine der heutigen
deutschen Bewegung sehr ähnliche Bewegung zur
künstlerischen Umgestaltung des Frauenanzuges ein¬
setzte. Die Bewegung hat nicht gehalten, was sie
versprach. Aber sie hat wenigstens für jede Frau
die Freiheit hinterlassen, sich vollkommen so zu
kleiden, wie es ihr beliebt, so dass nirgends eine
solche Vielgestaltigkeit des weiblichen Gesellschafts¬
anzuges zu bemerken ist, als heute in England.
Solche kleinen Streiflichter aus dem Alltagsleben
helfen sicherlich auch in den grösseren Kunstfragen
vieles aufklären. Vom Anzug zur Wohnung ist nur
ein kleiner Schritt, beide sind unsere nächste körper¬
liche Umgebung, für die unser Geist, lange noch
bevor er das Gebiet der höheren Kunstleistung be¬
schreitet, Formen zu finden hat. Und wie im Anzug,
so finden wir auch in der Wohnung in England
einen ganz bestimmten Zug ausgeprägt, der die
spezifisch englische Auffassung des vor allen anderen
Dingen Zweckmässigen kennzeichnet.
Das Gebiet des englischen Hauses ist wiederum
so ausgedehnt, dass hier eine Beschränkung auf
einige Andeutungen allgemeiner Art eintreten muss,
um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu überschreiten.
Es ist klar, dass man von einer Kunst der Wohnung
eigentlich nur in einem Lande reden kann, das am
Wohnen im Einzelhause festgehalten hat. Das Leben
in der Etage mit der Aussicht, im nächsten Viertel¬
jahr hinausgewiesen zu werden, unterscheidet sich
nicht wesentlich vom Hotelleben. Das Zusammen¬
wachsen des Bewohners mit der Wohnung ist nur
in langen Zeiträumen und bei der Aussicht auf etwas
ähnliches wie dauernden Aufenthalt möglich, Be¬
dingungen, die eigentlich sogar nur im eigenen Hause
gegeben sind. Nur das eigene Haus kann der Spiegel
der Individualität des Bewohners werden und damit
die Grundbedingung für das künstlerische Haus er¬
füllen.
Diese Bedingung ist in England gegeben, England
ist das einzige Land, das grundsätzlich am Wohnen
im Einzel-, wenn nicht im eigenen Hause festgehalten
hat. Und so ist das Kapitel des englischen Hauses
eines der interessantesten, ja das eigentlich wesent¬
liche in einer Betrachtung über Kunst und Leben in
England.
Aus jahrhundertelanger Entwickelung, die durch
äussere Einwirkungen so wenig unterbrochen wurde,
wie dies nur auf einer Insel möglich ist, ist der Organis¬
mus des heutigen englischen Hauses hervorgegangen.
Eine ausgesprochene Vorliebe zum häuslichen Leben,
die den Grundzug des englischen Wesens bildet, der
Jahrhunderte alte Reichtum des Landes und die Liebe
zur Natur sind die Stützen, auf denen er sich auf¬
gebaut hat. In der Anlage des Hauses fallen zwei
Eigentümlichkeiten auf, das gänzliche Verwachsensein
desselben mit dem Garten und mit der natürlichen Um¬
gebung und in Bezug auf seine Bestandteile die un¬
gemeine Bedeutung, welche den Wirtschafts-, Diener¬
und Nebenräumen gegenüber dem eigentlichen Wohn-
teil eingeräunit ist. Beides sind alte kennzeichnende
Eigenschaften, sie liegen im Hause des i6. Jahr¬
hunderts bereits in demselben Masse ausgeprägt vor,
wie im heutigen.
Die besondere Form des heutigen Hauses hat
sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ent¬
wickelt. Und gegenüber dem alten Landhause, das
wir künstlerisch meist nur in seiner grösseren Form,
dem Landsitze, kennen, spielt im heutigen Hausbau
auch das kleinere, bürgerliche Haus eine Hauptrolle,
und gerade diesem hat sich die Vorliebe der häus¬
lichen Kunst heute zugewandt. Zu dem Ergebnis
des heutigen Hauses haben zwei Bewegungen bei¬
getragen, die beide ihren Ursprung in den sechziger
Jahren haben. Die eine war die kunstgewerbliche,
die von William Morris ausging und sich auf das
Innere des Hauses bezog, die andere eine architek¬
tonische, die man damals mit dem Namen Queen-
Anne-Richtung bezeichnete. Auf die erstere, die im
Anschluss an die Malerei erfolgte, wird im weiteren
Verlaufe dieses Aufsatzes noch zurückzukommen sein.
Die letztere, die rein architektonische, war ihrem
Wesen nach vielmehr ein Kampf gegen die Stil¬
bestrebungen in der Architektur, als etwa das Ein¬
führen eines neuen historischen Stils im Sinne
unserer deutschen Renaissance, wie der Name hätte
andeuten können. Die äusserliche Stihnacherei, in
der die Architektur des ig. Jahrhunderts befangen
gewesen ist, hat sich zwar auch in England kräftig
genug geäussert, aber sie wurde hier weit früher
lächerlich und drückend gefunden als in anderen
Ländern. Schon Dickens erfand für die formalistisch¬
bombastischen Aufmachungen der Architekten das
Scherzwort architectooral-looral. Die Queen -Anne-
Leute unternahmen es in England, mit der archäo¬
logischen Architektur aufzuräumen. Sie kämpften
gegen zwei Dinge an, die im Hausbau damals das
Feld beherrschten: gegen die italienische Villa mit
ihren ölfarbengestrichenen Putzwänden und der Prä¬
tension des fürstlichen Palazzo, und gegen das aus
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
17
der Burg und missverstandenen Kirchenformen zurecht¬
gemachte Hausgebilde, das man unter den Begriff
Profangotik registrierte. Gegen beide gleich unechten
Gebilde hoben sie das einfache Bürgerhaus des
18. und 17. Jahrhunderts auf den Schild, mit kurzen
Worten das Maurermeisterhaus, das die durch Jahr¬
hunderte gültig gewesenen, in natürlicher Entwickelung
weitergewachsenen und von den importierten Idealen
der Architekten unbeeinflusst gebliebenen örtlichen
Bautraditionen verkörperte. Dort fand man alles, was
man wünschte, Natürlichkeit, Sachlichkeit, Schlichtheit,
werkmässig richtigen Gebrauch der örtlichen Materialien,
Anpassung an Lebensbedingungen, Klima und Ört¬
lichkeit. Diese einfachen Häuser aus jener Zeit hatten
die archäologisch rückwärts blickenden Architekten
und Kunsthistoriker bisher nicht ihres Interesses für
würdig gehalten.
Drei Männer begründeten in diesem Sinne da¬
mals die neue Hausbaukunst: Philip Webb, Eden
Nesfield und Norman Shaw. Des letzteren Lebens¬
werk ist ausschlaggebend für die moderne englische
Hausbaukunst geworden. Er hat sich damit als einer
der grössten englischen Architekten aller Zeiten er¬
wiesen. Jedes seiner zahlreichen Werke wirkte wie
eine Erfrischung und die jüngere Welt jauchzte ihm
zu. Inzwischen ist diese jüngere Welt selbst ans
Ruder gekommen, nachdem der den Weg bahnende
Meister sich vom Schauplatz seiner Thätigkeit zurück¬
gezogen hat. Von den jüngeren, im Hausbau thätigen
Architekten seien hier nur dem Namen nach auf¬
geführt: Ernest Newton, Leonard Stokes, Lethaby,
Voysey, Baillie Scott, Prior, Prentice, Edgar Wood,
May, George Walton, Charles Mackintosh, von dem
etwas älteren Geschlecht ragen noch herein: Th.
Collcutt, J. Douglas und vor allem Ernest George.
Die Entwickelung ist im Hausbau von den in
den Bürgerhäusern des 17. und 18. Jahrhunderts
gegebenen Anregungen aus mit immer grösserer Ent¬
schiedenheit in das ganz Einfache und baumässig
Schlichte übergegangen. Man möchte sagen, es sind
allmählich auch noch die letzten Reste der dortigen
Ornament- und Architekturanwendung abgestossen
worden. Die Schlichtheit dieser Vorbilder gab den
Ausgang, aber sie wurde noch gesteigert. Einige
Architekten verfolgen vollkommen puritanische Ziele
und stimmen heute die äussere Erscheinung des
Hauses bis auf das Bäuerische herab. Die Echtheit
des Materials ist dabei Grundbedingung. East über
ganz England, mit alleiniger Ausnahme einiger stein¬
reicher Gegenden, wird der Ziegelstein angewendet,
von dem Gebrauch des Fachwerks, das früher in ganz
Mittel- und Südengland verbreitet war, kommen ernste
.Architekten immer mehr ab, da sie mit Recht der
Ansicht sind, dass es bei seinem zweifelhaften Bau¬
gefüge in der Gegenwart nur noch aus romantischen
Gründen beliebt ist.
Die allgemeine Form des Hauses wird, wo es
nur immer angeht, breit und niedrig gehalten, in
seiner äusseren Erscheinung spricht vor allem die
Farbe kräftig mit, die durch weissen Anstrich von
Fenstern und Holzwerk oder durch weissen Putz
herangezogen wird und mit dem roten Ziegeldach
oder den roten Ziegelwänden innerhalb der saftigen
grünen Landschaft ein ausserordentlich frisches Gegen¬
satzbild liefert, ln diesem streng ländlichen Gepräge
sind selbst vornehme Landsitze gehalten. Irgend ein
architektonischer oder ornamentaler Aufwand, selbst
eine nach malerischen Gesichtspunkten vorgenommene
Gruppierung der Baumasse, ist heute unbeliebt. Man
empfindet diese Dinge als unsachlich und darum
verwerflich. Und nichts ist in dieser Beziehung merk¬
würdiger zu beobachten, als der Gegensatz zwischen
dem wirklichen englischen Hause und jenen Wahn¬
gebilden, die man unter der Spitzmarke der »eng¬
lischen Villa« heute auf dem Kontinent allenthalben
auftauchen sieht und die in ihrer gespreizten Affek¬
tiertheit und gesuchten Nachäfferei eines noch dazu
gar nicht vorhandenen Urbildes zumeist wahre Ver¬
höhnungen des guten Geschmackes darstellen.
Durch reiche Entfaltungen zu prunken oder
überhaupt seinen Reichtum zu zeigen, daran denkt
der Engländer beim Bau seines Hauses ebenso¬
wenig, wie er dies in seinem Anzuge thun würde.
Das Bestreben, seinen Nebenmenschen zu imponieren,
liegt ihm vollkommen fern. England ist das reichste
Land der Welt, aber sein Reichtum ist mit einer Vor¬
nehmheit gepaart, die ihn alles Auffälligen entkleidet.
Jedes englische Haus liegt nach Möglichkeit in
seinem eigenen Garten. Ohne sich um die Strasse,
von der es zumeist gar nicht sichtbar ist, im min¬
desten zu kümmern, erschliesst es seine beste Seite
nach dem rückliegenden Gelände. — ln Bezug
auf die Anlage des Gartens ist in den letzten Jahr¬
zehnten eine Wendung eingetreten: man hat den geo¬
metrischen Garten wieder aufgenommen. Der Land¬
schaftsgarten, das, was wir in Deutschland »englischen
Garten« nennen, ist heute nicht mehr englisch im
modernen, sondern nur noch im historischen Sinne.
Die nächste Umgebung des Hauses wird wieder in
der alten Weise in regelmässiger Anlage, mit Terrassen,
Blumen- und Zierbeeten, beschnittenen Hecken u. s. w.
angelegt, selbst in kleinen Häusern gewinnt der bis vor
kurzem nur noch als Bauerngarten vorhandene Blumen¬
beet-Garten wieder seine Bedeutung. Von der theatra-
lisch-coulissenartigen Nachahmung der »Natur« in ein
Zehntel der natürlichen Grösse, dem, was unsere
Landschaftsgärtner zumeist anstreben, kommt man,
als von etwas gänzlich »Unnatürlichem«, immer mehr
zurück.
ln der Anlage des Planes giebt die Himmels¬
richtung in Verbindung mit der Lage und Form des
Grundstückes allein den Ausschlag. Nach englischer,
allgemein feststehender Anschauung kommt jedem
Zimmer je nach der Art seiner Benutzung eine bestimmte
Lage zur Sonne als die geeignetste zu, und diese
Idealforderungen zu verwirklichen, sie mit den Be¬
dingungen des Geländes, der Hausordnung, den be¬
sonderen Anforderungen des Hausherrn zu vereinigen,
das ist im wesentlichen die Thätigkeit des Entwerfers.
Im Programm des Hauses spielt selbst bei Familien,
welche etwa dreissigtausend Mark und mehr ausgeben,
die Rücksicht auf zu gebende »Diners« oder Gesell-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. i.
3
:8
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Wohnhaus in London
Architekt R. Norman Shaw
schäften nicht die geringste Rolle, das Familienleben
allein ist ausschlaggebend. Die Gastfreundschaft des
Hauses ist aber in der Anlage einer Reihe von
Fremdenzimmern ausgedrückt. Die Küche und die
zugehörigen zahlreichen Nebenräume in ein Unter¬
geschoss zu legen, gilt als ein nur beim Stadthause
zulässiger Notbehelf. Der Dachboden des Hauses ist
indessen stets vollkommen ausgebaut, eine Gewohn¬
heit, die nicht nur wirtschaftlich von Wichtigkeit,
sondern auch deshalb beliebt ist, weil sie zu male¬
rischen und traulichen Raumanordnungen Gelegenheit
giebt.
Die Geslaltung der Zimmer ist im heutigen eng¬
lischen Hause durchaus auf das Traute und Gemütliche
und nicht etwa auf das Stattliche und Imponierende ge¬
stimmt. Man bildet die Zimmer so niedrig als nur irgend
möglich, ln der Grundrissgestalt liebt man erweiternde
Ausbauten, die sich von aussen als Erker zu erkennen
geben. Es ist hierbei jedoch zu bemerken, dass der
englische Erker stets als innere Anordnung, die dem
Raum zugehört, aufgefasst wird, nicht als äusseres
-Architekturmotiv«, eine Thatsache, auf die schon der
englische Name baywindow (erweitertes Fenster) hin¬
weist. Die gewöhnlichen Fenster treten heute nicht
in architektonischen Achsen, sondern in Gruppen
vereint auf.
Die Ausstattung des Zimmers hängt von seiner
Bestimmung ab, wobei wiederum ganz feststehende
und einheitliche Anschauungen massgeblich sind.
Das Speisezimmer, die Bibliothek und die Haushalle
haben wohl noch einen dunkleren Charakter, dagegen
werden die Wohnzimmer und ganz besonders die
Schlafzimmer immer heller und heller gestaltet. Wo
in den ersteren Holzverkleidung der Wände auftritt
(diese wird immer erstrebt), da wird sie weiss ge¬
strichen. Die Schlafzimmer sind zumeist ganz weiss
gehalten. Der Gedanke, ein Schlafzimmer schwarz
anszustatten, der in einem der Häuser der diesjährigen
Darmstädter Ausstellung durchgeführt war, würde jedem
Engländer himmelschreiend erscheinen. Die Wand¬
teilung zeigt immer den Wandfries, der heute mit
Vorliebe ein Schablonenmuster trägt. Die Trennungs¬
leiste dient zugleich als Träger für die Bilder, die
hier mit lose aufsitzenden Haken aufgehängt werden.
Das Mobiliar des englischen Hauses ist heute das
wiederbelebte Chippendale- und besonders das Sheraton-
Möbel, zierliche, aus Mahagoniholz mit Bandeinlagen
gestaltete, aber sonst schmucklose Möbel, die recht eigent¬
lich das Gepräge einer vornehmen Bürgerlichkeit tragen.
Nur das Schlafzimmer hat neuartige, aber zumeist auch
dem Sheraton-Charakter angepasste Möbel ; die Messing¬
bettstelle weicht jetzt wieder der hölzernen. Die
modernen« Anläufe im Möbel haben in England zu
keinem wesentlichen Ergebnisse geführt, und was
jetzt noch Neuartiges hervorgebracht wird, bewegt
sich meist in der Tonlage des Bäuerischen.
Dies führt auf eine wichtige Bemerkung. England
hat zwar seit den sechziger Jahren im langsamen
Werdegange die Grundlagen für unsere heutige
moderne Kunst geschaffen, wer aber heute mit den
Vorstellungen der kontinentalen Moderne« nach
England kommt, der findet zu seiner Überraschung
einen ganz auffallenden Mangel an »Modernem«. Wir
verknüpfen mit diesem Begriff augenblicklich allzusehr
die geschwungene Stimmungslinie und jene lyrischen
Verbiegungen alles Geraden, mit denen uns Belgien
beschenkt hat, um an der schlichten Sachlichkeit des
englischen Hauses und seines Inhaltes Gefallen zu
finden. Beides hat sich durchaus auf dem Boden der
Tradition und nicht etwa im Gegensätze zu dieser
entwickelt. Bereits sind verurteilende Schlagwörter wie
dürftig, phantasielos u. s. w. auf dem kunstschrift¬
stellerischen Markte im Umlauf, um das Englische
zu kennzeichnen. Die Jagd nach dem Sensationellen
findet in der heutigen englischen Hausbaukunst frei¬
lich wenig Beute. Aber wenn wir einst aus unserem
jetzigen Rausch der Verkrümmungen erwachen werden,
werden wir uns hoffentlich einer ähnlichen schlichten
Sachlichkeit zuwenden, wie sie im englischen Hause
vorwaltet. Nur in einer solchen kann bei der heutigen
Lebensauffassung das wirklich Moderne gefunden
werden, selbst wenn die augenblickliche »Mode«
anderer Meinung sein sollte.
Die Sachlichkeit, Wohnlichkeit und Behaglichkeit
(den letzteren Begriff vornehmlich in dem heutigen
Sinne des Gesunden, Hellen, Reinlichen gedacht) sind
die ausgesprochenen Merkmale der heutigen häus¬
lichen Kunst in England. Als Ausgangspunkt und
reinstes Beispiel für diese gilt nur das (grössere oder
kleinere) freiliegende Landhaus, mit Beispielen davon
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
IQ
ist ganz England übersät. Das Stadtwohnhaus ist
nur ein Notbehelf, bei welchem die eingekeilte Lage
mehr oder weniger drückend empfundene Opfer mit
sich bringt. Das Etagenmietshaus ist im eigentlichen
England erst seit etwa zehn Jahren vereinzelt aufge¬
taucht. Es leitet seine Daseinsberechtigung ganz vor¬
wiegend aus dem bei Vielen vorliegendem Bedürfnis
her, sich einzuschränken, wozu die leidige Dienst¬
botenfrage das ihrige beiträgt.
* *
Die häusliche Baukunst ist in England nicht nur
ihrem Umfange nach die bedeutendste und bestimmt
damit das Gesamtbild der architektonischen Leistungen
des Landes, sondern sie beeinflusst auch die öffent¬
liche Baukunst in ganz ausgesprochenem Masse in
ihrem Charakter. Es findet also genau das Gegen¬
teil vom Kontinent statt, wo die öffentliche Baukunst
stets die massgebende war und die häusliche Baukunst,
besonders heute, lediglich ein Wiederaufguss der öffent¬
lichen ist. Die öffentliche Baukunst hat sich in Eng¬
land fast zu allen Zeiten mit einem Scheindasein zu
begnügen gehabt. Die stark ausgeprägten häuslichen
Eigenschaften des Engländers haben einen verschwindend
geringen öffentlichen Bausinn im Gefolge, eine That-
sache, die sich durch die ganze englische Geschichte
verfolgen lässt. England besitzt keine Rathäuser,
Börsen, Staatsresidenzen aus alter Zeit, aber das ganze
Land ist dicht besetzt mit Landhäusern aus allen
Perioden. Noch heute ist für Strassenanlagen, Stadt¬
verbesserungen, öffentliche Gebäude nur ein ver¬
schwindend geringer Sinn vorhanden, woher es denn
kommt, dass englische Grossstädte und vor allem die
grösste Stadt der Welt, London, ins Riesenhafte ge¬
steigerten Dörfern gleichen. Es
giebt in ganz England, dem Lande
des grössten Eisenbahnverkehrs,
keinen Bahnhof von einigermassen
anständiger architektonischer Aus¬
bildung. Derselbe englische Architekt,
der sich im Plan des Wohnhauses
von grosser Ueberlegenheit zeigt,
produziert Grundrisse für öffentliche
Gebäude, die von unserem Stand¬
punkte aus unzulänglich sind. Und
auch in der äusseren Architektur
derselben bewegt er sich meist
schwerfällig. Ein wirklich hervor¬
ragendes öffentliches Gebäude im
besten Sinne hat in neuerer Zeit
nur Norman Shaw in seinem Haupt¬
polizeigebäude in London ge¬
schaffen.
Indessen sind gerade in neuester
Zeit die Anforderungen an die eng¬
lischen Architekten in Bezugauf öffent¬
liche Baukunst ganz beträchtlich ge¬
wachsen und zwar vorwiegend durch
die notwendig werdende Lösung sol¬
cher Aufgaben, welche sich aus der
weit vorwärts geschrittenen sozialen Bewegung ergeben.
Volksinstitute , Volksbildungsanstalten , Volksbiblio¬
theken, technische Mittelschulen, öffentliche Bäder
und Waschhäuser, Arbeiterkasernen spriessen allent¬
halben aus der Erde hervor. Neuerdings spielen in
London auch der Bau einer Reihe von Riesen-
Ministerialgebäuden, der Neubau des Southkensington-
Museums und andere grössere Architekturfragen eine
Hauptrolle. Die beabsichtigte Errichtung einer Denk¬
malsanlage für die Königin Victoria fordert augen¬
blicklich sogar höchstes architektonisch -bildnerisches
Können in die Schranken. Gerade in der Gegen¬
wart ist also wieder ein Auftrieb auch in der öffent¬
lichen Baukunst vorhanden, der etwa dem zu ver¬
gleichen ist, der in der ersten Hälfte des ig. Jahr¬
hunderts für einige Zeit vorlag und unter anderem
das Parlamentsgebäude in London und die St. Georgs¬
halle in Liverpool entstehen liess.
Die Art, wie man in formaler Hinsicht solche Auf¬
gaben zu lösen sucht, ist in England in den letzten
hundert Jahren fast noch schwankender gewesen, wie
auf dem Kontinent. Denn in England hat die Neugotik
auch in der Profanbaukunst eine Zeitlang das Feld völlig
beherrscht, wozu sie sich bekanntlich auf dem Festlande
nicht hat emporschwingen können. Ihre Lebenszeit
war aber dennoch von nicht allzulanger Dauer. Street’s
Gerichtsgebäude in Fleet Street in London wurde all¬
gemein als das letzte gothische Profangebäude betrachtet
und ist es geblieben. Ähnlich wie in Deutschland sind
gleichzeitig und nachher noch eine Reihe anderer
Versuche unternommen worden, allerhand Stile der
vergangenen Zeiten wieder zu beleben, doch vermochte
keiner derselben in weiterem Masse Fuss zu fassen, als
es etwa bei uns geschah. Die geschilderte Wiederauf¬
nahme der bürgerlichen Bauweise des achtzehnten Jahr-
Haiiptpolizeigebäude in London
Architekt R. Norman Shaw
3*
20
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
liunderis, die man damals als Queen-Anne- Stil bezeich-
nete, erstreckte sich zunächst nur auf die Hausarchitektur.
Ihr grosser Erfolg musste aber zu dem Wunsche
führen, sie auch auf grössere Bauten zu übertragen.
Allein hierfür fehlte es an Vorbildern. Vielleicht war
es das zeitliche Zusammenfallen der in England von
Inigo Jones eingeleiteten Stilperiode, die dieses
Land für i 50 Jahre vollkommen beherrschte, mit der¬
jenigen Phase kleinbürgerlicher Baukunst, auf die die
sogenannte Queen-Anne-Richtung zurückgriff, welches
im Laufe der Zeit auch zur Wiederaufnahme dieser
Inigo Jones’schen Bauweise veranlasste. Inigo Jones
hatte palladionische Architekturauffassung nach Eng¬
land übertragen, wobei er bestrebt war, die Kunst des
Italieners möglichst echt wiederzugeben, im Gegen¬
sätze zu Christopher Wren, welcher die italienischen
Formen auf seine Weise handhabte. Schon Ende
der achtziger Jahre tauchten Versuche auf, grössere
Aufgaben wieder in der strengen und wuchtigen Art
Palladio’s zu lösen. Seitdem ist sie die herrschende
Bauweise in England geworden, die gesamte öffent¬
liche Baukunst Englands steht heute unter dem Zei¬
chen der Kunst Inigo Jones’-Palladio’s.
Für den vollen Sieg dieser Richtung war ein
Gebäude massgebend, das von dem Londoner Archi¬
tekten John Beicher zu Anfang der neunziger Jahre
als Gesellschaftshaus der Vereidigten Bücherrevisoren«
in London errichtet wurde. Es wirkte so durch¬
schlagend, dass eigentlich sofort die ganze englische
Architektenschaft in diese Bahnen einlenkte. Bei
Wettbewerben trifft man heute demgemäss nur noch
Entwürfe in Barockformen an. Hierbei nennt man
als historisches Vorbild lediglich Inigo Jones, nicht
Palladio. Eine riesige Begeisterung hat sich für
diesen Meister erhoben, der seiner Zeit das so
sachliche England für anderthalb Jahrhunderte in den
Bannkreis italienischer Symmetrie- Ideale fesselte und
den so sachlichen englischen Landsitz zum Vorwände
einer Theater- und Kulissenarchitektur gemacht hatte.
Bücher über Bücher erscheinen über ihn. Ganz
England jauchzt wieder den italienisch -aniken Schön¬
heitsidealen zu.
Das Merkwürdigste ist aber, dass man diesen
Geist noch nicht wieder auf das Landhaus, nament¬
lich noch nicht auf das kleine Haus zu übertragen
gewagt hat. Er würde hier sogleich in klaffenden
Widerspruch mit den bisher gepflegten Idealen ge¬
raten und zum Aufgeben aller guten Errungenschaften
der letzten dreissig Jahre zwingen. Wird man diesen
Schritt wagen? Es ist vorderhand nicht anzunehmen,
wenigstens liefert das heutige Bild der häuslichen
Baukunst dafür noch keine Anhaltpunkte. Zwar sind
Versuche gemacht, auch dem Hause wieder das
symmetrische Kleid aufzunötigen. Aber diese ver¬
schwinden in ihrer Bedeutung doch dem Wirken von
Männern gegenüber, die vor allem den Wahlspruch auf
ihre Fahne geschrieben haben: genug der Stiltreibereien,
statt deren sei Unbefangenheit der Gestaltung, Aufrich¬
tigkeit und persönliches Empfinden die Losung. Die
Arbeiten von Baillie Scott, Voysey, George Walton,
Heniy Wilson, C. Harrison Townsend, Chas. R. Mackin¬
tosh, Ernest Newton, Leonard Stokes und einer
Reihe anderer wiegen in ihrer Bedeutung, selbst wenn
sie in der Minderzahl sind, die Stilarchitektur ganzer
Architektenverbände auf. In den Werken der genannten
Männer tritt uns heute das beste entgegen, was Eng¬
land architektonisch leistet. Baillie Scott, der poe¬
tische, in seiner geschlossenen Formenwelt unerschöpf¬
liche Innenkünstler, Voysey, der mehr verstandesmässig
schaffende, aber immer durch Klarheit und schlichte
Durchsichtigkeit erfreuende Meister (der daneben der
erste Vertreter des heutigen englischen Flachmusters
ist), der puritanische, aber in seiner Einfachheit bis
zur höchsten Möglichkeit verfeinerte Ernest Newton
und der vorwiegend der Zimmerausstattung zuge¬
wandte, einen eleganten Sachlichkeitsstil pflegende
George Walton beschränken ihre Thätigkeit aus¬
schliesslich auf den Hausbau. Henry Wilson, viel¬
leicht der phantasievollste architektonische Kopf, den
England heute aufweist, und der stets durch Wucht
und Verfeinerung zugleich imponierende Leonard
Stokes sind vorwiegend im Kirchenbau thätig, ohne
indes in die dort übliche gotische Schule zu fallen.
C. Harrison Townsend entzückt an jedem seiner
Bauten wieder durch eine durchaus persönliche Ge¬
staltung bei vollendetster künstlerischer Durchbildung
und Chas. R. Mackintosh, der jüngste von allen, ent¬
hüllt in seinen inneren Dekorationen eine Persön¬
lichkeit von einer Fülle und geheimnisvollen Über¬
zeugungsmacht, dass er in Glasgow geradezu einen
neuen Lokalstil geschaffen hat.
Ein ganz besonderes Kapitel bildet die englische
kirchliche Baukunst, in welcher sich im Verlaufe des
19. Jahrhunderts die ganze, in England so mächtig
auftretende neugotische Bewegung abgespielt hat.
England hat bis in die achtziger Jahre hinein die
beste architektonische Kraft an seine Kirchen verwendet.
Die Leistungen auf diesem Gebiete sind aber ebenso
eigenartig rückblickend und dem Aussenstehenden, der
den Fortschritt sucht, ebenso wenig ansprechend, als
die ganze mystisch -ritualistische Richtung des neueren
kirchlichen Lebens in England, mit der sie in Ver¬
bindung stehen. Die mystische Stimmung ist das
Ziel dieser Kunst und die Brücke dazu das kirchen¬
bauliche Rüstzeug des Mittelalters, dem man einen
mystischen Sinn künstlich unterschiebt. Denn dass
diese in ihrer Zeit durchaus fortschrittliche und
frische mittelalterliche Baukunst an sich frei von jedem
Nebengedanken gehandhabt wurde, bedarf keiner
Erläuterung. Erst der heutige Gedanke trägt die
Mystik hinein. Und so spricht für uns aus dem
ganzen Kirchenbau der englischen Staatskirche nichts
Lebendiges. Nur die Sekten schaffen in ihren aus
einer Verbindung von Predigtsaal und Gemeindehaus
bestehenden Bauten unbefangen und gegenwartsfreudig
und es liegt vielleicht in ihnen, bei augenblicklich
freilich noch wenig entwickelter Form, der Ent¬
wickelungskeim einer neuartigen kirchlichen Kunst
verborgen.
Aber der riesige Aufwand, den England im Ver¬
lauf der letzten hundert Jahre an die Wiederbelebung
der Gotik gesetzt hat, ist dennoch nicht als verloren
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
21
ZU betrachten. Denn diese durch Jahrzehnte herrschen¬
den gotischen Schulen haben ein treffliches Erziehungs¬
werk im Sinne des Werkmässigen, Echten, Kon-
struktionsmässigen, Sachlichen verrichtet, dessen Früchte
in der heutigen englischen Baukunst noch offen zu
Tage treten, selbst noch unter der Decke des neuen
Palladianismus. Der Sinn für echtes Material, Schlicht¬
heit der Erscheinung und Einfachheit der Kompo¬
sition zeichnet die englische Baukunst in ihrer Ge¬
samtheit aus. Billiger Prunk und prätentiöse Eleganz,
die das Stadtbild der Berliner neuen Häuserviertel
beherrschen, sind in England gänzlich abwesend und
es ist in dieser Hinsicht vielleicht nichts so bezeich¬
nend, als der Umstand, dass dort weder der auf
Eleganz ausgehende Verblendstein, noch die Stuck¬
fassade jemals hat Boden gewinnen können. Auch
die unecht -architektonischen Aufmachungen kleiner
Architekturaufgaben, mit denen uns die gewesenen
Zöglinge unsrer Baugewerkenschulen beglücken, fehlen
in England. Der Akademismus in jeder Form ist
in der englischen Architektur vielleicht deshalb noch
nicht in dem Masse vorhanden wie bei uns, weil es
dort keine Architektur-Akademien giebt, die Aus¬
bildung des Architekten vielmehr noch in der alten
Weise, nämlich im Lehrlingsverhältnis sich abspielt.
Sucht man »Modernes« im neuesten Sinne in der
heutigen englischen Architektur, so ist die Ausbeute
nicht sehr gross. Auf die Abwesenheit desselben in
der englischen Wohnung ist schon aufmerksam ge¬
macht. ln der Architektur gehen eigentlich nur zwei
oder drei Künstler darauf aus, die historischen Formen
grundsätzlich zu umgehen, nämlich die schon ge¬
nannten Townsend, Mackintosh und etwa noch Doysey.
Man muss gestehen, dass sie es mit Glück thun, aber
der Bauten, die in diesem Sinne errichtet sind, sind
verschwindend wenige. Mit wachsender Erkenntnis der
eigentlichen Werte und Triebkräfte in der Architektur
gelangen wir indes heute immer mehr dazu, dem eigent¬
lich Formalen eine verhältnismässig geringe Rolle beizu¬
messen. Sucht man das Moderne weniger in der grund¬
sätzlichen Vermeidung der von unseren Vorfahren
gebrauchten Formen als in vorurteilsfreier, durch die
Gegenwartsumstände diktierter Gestaltung, so dürfte
in dem heutigen englischen Hause ein durchaus
modernes Erzeugnis gefunden werden, in demselben
Sinne modern, wie die englische Kleidung modern
ist. Wie diese allgemein getragen und nicht indivi¬
dualistischen Künstlerlaunen entsprungen ist, so wird
dieses englische Haus allgemein und in grösster Aus¬
dehnung gebaut und bewohnt. Es ist kein erfundenes,
sondern ein gewachsenes modernes Erzeugnis. Ein
moderner Niederschlag statt moderner Aufwallungen.
Seine angebliche Nüchternheit wird durch die un¬
scheinbare aber gesunde Vernünftigkeit aufgewogen,
die durch das Ganze weht, und für seinen etwaigen
Mangel an »künstlerischen Stimmungen« entschädigt
vielleicht die Gewissheit, dass es der im ganzen
kühl denkende und vor allem fleissig arbeitende
Gegenwartsmensch in seinen Räumen auf die Dauer
ohne Beklemmung aushalten und sich unbedingt
glücklich fühlen kann.
Im englischen Hause ist das Vorbildliche und
Massgebliche der englischen Architektur zu erblicken,
die eigentliche englische Kulturleistung, und gewiss
eine solche von nicht geringer Bedeutung.
Wohnzimmer des Architekten Sidney Mitchell, Onllane
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST OKTOBER iQoi
ORIGINAL-HOLZSCHNITT VON BRUNO HEROUX IN LEIPZIG
BRUNO HEROUX
Am graphischen Him¬
mel ist ein neuer
Stern aufgegangen :
Bruno Heroux. Der Name
täuscht; es ist kein Franzose,
der diesen kernigen Holz¬
schnitt, diese subtile Radie¬
rung geschaffen hat, sondern
ein Deutscher, ein beschei¬
dener Leipziger junger Mann,
dessen Verdienste bisher in
der Stille der Illustrierung
technischer und wissenschaft¬
licher Bücher geblieben
waren. Der Ursprung seiner
Familie reicht hinauf bis zu
den Hugenotten, und so ist
der heutige unverfälschte
Sachse zu dem fremdlän¬
dischen Namen gekommen.
Der Lebensgang ist
rasch erzählt. Schon
der Vater unseres
Künstlers war im
graphischen Ge¬
werbe thätig; er
gab den Sohn, der
jetzt im 32. Jahre steht, frühe in die Leip¬
ziger Kunstakademie, um ihn in der Klasse
des Professor Berthold zum Holzschneider aus¬
bilden zu lassen. Fast vier Jahre genoss
Heroux den Unterricht dieses ausgezeichneten
Lehrers, dann zwang ihn des Lebens Not,
eine kaufmännische Thätigkeit zu ergreifen;
aber bald trat er wieder in die Schule ein,
diesmal bei Professor Nieper, wo streng
formal nach Gips gezeichnet wurde, und
später bei Professor J. R. Wehle, der dem
jungen Künstler die Augen für das male¬
rische Sehen öffnete.
Seit 1892 steht Heroux als vielbeschäftigter
Illustrator auf eigenen Füssen. Zumeist für
Verleger seiner Vaterstadt zeichnete er bald
Tierbilder für den Holzschnitt, bald Aquarelle
aus dem Kinderleben für den Dreifarben¬
druck, grosse lithographische Wandtafeln, die
dem Anschauungsunterrichte der Schule dienen,
Federzeichnungen in malerischer Technik für
das Buch der Erfindungen, und ähnliches.
Aber das war alles »bestellte Arbeit«, be¬
schwert mit all den Misslichkeiten, die sie für
eine nach freier Bethätigung drängende Künstler¬
natur im Gefolge zu haben pflegt. Besonders
die mangelhafte Wiedergabe des ursprüng¬
lichen Entwurfes, das Scheitern der künstle¬
rischen Intention an der Unfähigkeit der repro¬
duzierenden Techniker spielt unter diesen
Miseren eine Rolle. Gerade dies aber wurde unseres
Künstlers Glück; denn es drängte ihn dazu, selbst
alle technischen Verfahren zu erlernen, um die eigene
Hand vervielfältigen zu lassen, was das Ingenium er¬
sonnen hatte. Und noch ein bedeutungsvoller Zufall
hat über Heroux’ Beschäftigung als Illustrator ge¬
waltet: ihm wurde der Auftrag, die Tuschzeichnungen
zu dem bei S. Hirzel in Leipzig erschienenen Ana¬
tomischen Atlas des Professor Spalteholz auszuführen.
Die Arbeit an diesem Atlas, nebenbei bemerkt einem
der originellsten und schönsten Werke, das die medi¬
zinische Litteratur des letzten Jahrzehnts aufzuweisen
hat, wurde für Heroux zur vollendeten Schule der
Anatomie, zum Studium des menschlichen Körpers
unter kundigster Leitung, in einer Genauigkeit und
in einem Umfange, wie sie wohl unter gewöhnlichen
Umständen kein Künstler aufwendet. Jedes der hun¬
derte von Bildern wurde direkt nach der Leiche, aber
auf Grund einer Reihe von Präparaten , also als
Typus gezeichnet.
Inzwischen hatte sich aber unser Künstler auf
Bruno Heroux. Selbstbildnis. Bleistiftzeichnung
24
BRUNO HEROUX
eigene Faust versucht. Mit merkwürdiger Schnelle
und, wie er selbst gesteht, spielender Leichtigkeit hatte
er sich bald die Radierung, die Kaltnadelarbeit, Litho¬
graphie mit Kreide und Feder unterworfen — vom
Flolzschnitt, der ja sein ursprüngliches Fach war,
ganz zu
schweigen.
Und mm
begann er
sich frei zu
entfalten,
schuf in
buntem
Wechsel
eine Fülle
von Blät¬
tern, bald
als leicht
hingewor¬
fene Stu¬
dien, bald
in raffinier¬
ter Klein¬
arbeit.
Schliess¬
lich bot
sich ihm
Gelegen¬
heit, seine
Arbeiten
Max Klin-
ger’s Urteil
zu uuter-
breiteu, der
uns dann
auf das
ueueTalent
aufmerk¬
sam ge¬
macht hat.
So danken
wir es Mei¬
ster Klin-
ger , dass
wir Bruno
Heroux
heute vor¬
stellen kön¬
nen.
Ueber
die hier
beigefügten Arbeiten ist wenig zu sagen nötig.
Sie sprechen für sich selbst. Der Holzschnitt für
Lehnsmann hat bisher jedes Künstlers lebhaften
Beifall hervorgerufen, dem wir ihn zu zeigen Ge¬
legenheit hatten. Dass diese heute so tief im Kurse
gesunkene Technik ihre eigenen Reize hat, die ihr
kein anderes Verfahren streitig machen kann, wird
hier schlagend bewiesen. Die Ausdrucksfähigkeit
des Striches ist geradezu packend. — Und dann
die '>Almeh«. Warmes, pulsierendes Lebens hat der
Künstler
durch eine
unermüd¬
liche Tech¬
nik auf die
Platte ge¬
bannt. Die
Mundwin¬
kel, diePar-
tie unter
dem rech¬
ten Auge
reizen im¬
mer und
immerwie-
der zur
schärfsten
Betrach¬
tung. Von
hervorra¬
gend feiner
Erfindung
ist auch die
Remarque,
ein kleines
Meister¬
stück für
sich.
Ausser
dem, was
wir hier
veröffent¬
lichen, hat
uns He¬
roux noch
eine Reihe
trefflicher
Blätter vor¬
gelegt, dar¬
unter eine
so unge¬
mein tem¬
perament¬
volle, breite
Radierung
»Vor dem
Spiegel«, dass man darin den »Kläubler gar nicht
wiedererkennt. Als der junge Künstler kürzlich seine
Arbeiten Adolf Menzel sandte, schrieb der ihm: »Ich
bewundere Ihre technische Ausdauer und Ihre Fein¬
heit . Das ist auch ein Orden pour le merite.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
SEHNSUCHT
TEMPERA-GEMÄLDE VON HANS THOMA IN KARLSRUHE
ZEITSCHRIFT FÜR
BILDENDE KUNST
* OKTOBER 1901 •
NEUE FOLGE XIII
DREIFARBENDRUCK VON FÖRSTER & BORRIES
. - IN ZWICKAU ■- - - - " —
3HUH8JHA>s V\\ AMOHT 8I4AH MOV 3aJÄM30-A5l3^MaT
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FFilEDRiCH LiPPMANN
ZI'S 11. NOVEMBEK itjoi
Dem iVuii'iM.iin'^direktor tr
Beannen die Pfü'ht, aar.^. ■
Leistun«’ eine slArksie
hat Die cIcü bewährtesten Direktorfr
Museen zeigen in Auswahl, Haltut^
des AusgestelUen deutlich Widert?
des Leiters und doch nicht den -
Privätsai\ui i; rs. ’n seiner
Sammlung setzt sich der
Museumsdirektor durch
Vermehrung und Verwal¬
tung selbn-! rühmende
Denkms! -i.'’ ■: fhätigkeit.
vor Mfigercn
. .s Wie es in einer
' 'v ’• ■ VZ-,'
■ V ;g von
l-i^'Ang schon
Kabinetts
Wenn J:
u;'s gegen¬
wärtigen l'tircfktors des
Berliner Kupfersiichkabi-
netts, der vor 25 Jahren,
am 6. November 1876, in
seine Steilung berufen
wurde, güickwünschend
gedacht wird, so geschieht'
es in einem V'ermeh rungs¬
berichte dos Kupferstich¬
kabinetts während der letz¬
ten 25 Jahre, der sich mit
der Schilderung der Amts-
liiätigkeit ihres Direktors
während einer für die
Museumsentwicklung al-
lerwärts wichtigsten Zeit
deckt.
europäischen
ibinetten ist
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Kupferstie;
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zsw', .\ises
>:rcktor An-
fangNovember 1 876 über¬
nahm, war der Charakter
der ' i-r^ch jeden en Privat-
sanitnimt,. , aus denen
es vor 45 ehren entstanden
war, noch nicht verwischt
Namentlich w'ar die Sammelart des Gene -aioostmeister?
von Nagler, dessen 1835 gekaufte Kupferstich;- i .-w
lung den eigentlichen Orundsh ck de? Berliner ' 'abi-
netts bildete, deutlich und nicht immer erfreulich zu
verspüren. Denn die Zeit, in der Herr von Nagler
sammelte, kannte noch nicht das heutige berechtigte
Raffinement in der einzigen Schätzung' der Kupfer¬
stiche nach .frühen und frischen Abdrücken. Die
sogenannten Etats oder Plattenzustände wurden schon
beachtet, bei etailrscn Meistern aber, wie Dürer, weide
damals mehr darauf gesehen, dass ein Blatt überhaupt,
Zeilschrifl ffir bildende Kunst, h'. F. Xlll. H. a.
■ orawe
-’o i'breii
■'.Tiiand”:' •• V.
Nagler .i.-si'
mscln. .,;m
und 'd- ■
vertvoli "■■nd, Tl; Zo
t . gab
was heid -
bewerset
inangeruai'
AiappeodjMi j 1
F!iätigkei'.des;n
fors sogleich -in und n?
blieb dauernd sein; v:n-
nehmste Sorge, Jen
Werken namcido!! :r
wie! - nistcr ;
schlechten E-Keuiplais
durch gute und wieder bes¬
sere bi: zur möglichsten
zu ersetzen.
Anderes seines Wirkens
' "bannter geworden
re Th at aber
Fried "ici^ Liur-Hmr
rioorl isJsrnrfnaD
25 jjnn:-!
führen gelang; ria-s
heut .SL' n Festtage zun;
zu sagen. Dem Pe: f
siciiender: mag es oft s;,'--
erscheinen, wenn ; .
Bericht über die Lr-
O'ggeo des Kupfer-
o s.o-. -bs, der vierlel-
jäio 0 gecruck'Twird, z. B.
ein g. ’\r laekarnterKupfer-
Schoiigauer al; seiicr Ank.auf an-
O ; ist es gelungen, wied:'? ein ocssese'
- bisher besessene ovo. uOoo'rcibc::,
'Die knappe /'■i'"vi!:.ing des Vieileiviln'-oo^rj. nie:! ; , .nevv
nicht denrlic!; Wenn gelegen wivii- ^^ass eine ; -
dterung von * Jiribrandt, eine Zcuoinortg vo
erworben vv . 'ie, wird Tiicht verständlich,
Mühe und .\tbeit voiangcgwgtii ist. bevor die
Ankaufsnotiz . eröffentlicht werden konnte, h
wohl von einem iMuseiimsdircktor, dass er J' v o
Gelegenheiten geschickt zu bcnuizcr -.vi se.
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Exemplar al^-
nr
45 Centiraeter hoch
BERLIN, KÖNIOL. NATIONALQALERIE
SILBERNER HANDSPIEGEL VON ERNST MORITZ OEYGER IN FLORENZ
FRIEDRICH LIPPMANN
ZUM 6. NOVEMBER 1901
Dem Museumsdirektor mehrt es vor anderen
Beamten die Pflicht, dass seine öffentliche
Leistung eine stärkste persönliche Prägung
hat. Die den bewährtesten Direktoren unterstehenden
Museen zeigen in Auswahl, Haltung und Ordnung
des Ausgestellten deutlich Willen und Meinung
des Leiters und doch nicht den Geschmack des
Privatsammlers, ln seiner
Sammlung setzt sich der
Museumsdirektor durch
Vermehrung und Verwal¬
tung selbst das rühmende
Denkmal seiner Thätigkeit.
Wenn hier des gegen¬
wärtigen Direktors des
Berliner Kupferstichkabi¬
netts, der vor 25 Jahren,
am 6. November 1876, in
seine Stellung berufen
wurde, glückwünschend
gedacht wird, so geschieht
es in einem Vermehrungs¬
berichte des Kupferstich¬
kabinetts während der letz¬
ten 25 Jahre, der sich mit
der Schilderung der Amts-
thätigkeit ihres Direktors
während einer für die
Museumsentwicklung al-
lerwärts wichtigsten Zeit
deckt.
Unterden europäischen
Kupferstichkabinetten ist
das 1831 begründete Ber¬
liner das jüngste. Als es
der neue Direktor An-
fangNovember 1 876 über¬
nahm, war der Charakter
der verschiedenen Privat¬
sammlungen, aus denen
es vor 4 5 Jahren entstanden
war, noch nicht verwischt.
Namentlich war die Sammelart des Generalpostmeisters
von Nagler, dessen 1835 gekaufte Kupferstichsamm¬
lung den eigentlichen Grundstock des Berliner Kabi¬
netts bildete, deutlich und nicht immer erfreulich zu
verspüren. Denn die Zeit, in der Herr von Nagler
sammelte, kannte noch nicht das heutige berechtigte
Raffinement in der einzigen Schätzung der Kupfer¬
stiche nach frühen und frischen Abdrücken. Die
sogenannten Etats oder Plattenzustände wurden schon
beachtet, bei etatlosen Meistern aber, wie Dürer, wurde
damals mehr darauf gesehen, dass ein Blatt überhaupt,
ZeilschrifI für bildende Kunst. N. F. XIII. II. 2.
als wie es in einer Sammlung vorhanden war. Trotz¬
dem darf die Sammlung von Nagler nicht unter
schätzt werden, ihr Umfang schon machte sie zum
wichtigsten Teil des neuen Kabinetts und sie enthielt
Stücke, die noch heute wertvoll sind. Eür ihre Zeit
trefflich und gut gemeint gab sie freilich vieles in
den öffentlichen Besitz, was heute nicht mehr so
bewertet wird. Bei dieser
mangelhaft gewordenen
Mappenfüllung setzte die
Thätigkeit des neuen Direk¬
tors sogleich ein und es
blieb dauernd seine vor¬
nehmste Sorge, in den
Werken namentlich der
wichtigsten Meister die
schlechten Exemplare
durch gute und wieder bes¬
sere bis zur möglichsten
Steigerung zu ersetzen.
Anderes seines Wirkens
mag bekannter geworden
sein, diese stillereThat aber
bildet den besten Teil
seiner bisherigen Lebens¬
arbeit.
Wenn es möglich wäre,
zu zeigen wie das Werk
Schongauer’s, Dürer’s,
Rembrandt’simjahre 1 876
aussah und zu welcher
Höhe es in 25 Jahren zu
führen gelang: das wäre
heut zum Eesttage zunächst
zu sagen. Dem Fern¬
stehenden mag es oft selt¬
sam erscheinen, wenn in
dem Bericht über die Er¬
werbungen des Kupfer¬
stichkabinetts, der viertel¬
jährlich gedruckt wird, z. B.
ein ganz bekannter Kupfer¬
stich von Martin Schongauer als neuer Ankauf an¬
geführt wird. Dann ist es gelungen, wieder ein besseres
Exemplar, als das bisher besessene war, aufzutreiben.
Die knappe Mitteilung des Vierteljahresberichtes spricht
nicht deutlich. Wenn gelesen wird, dass eine Ra¬
dierung von Rembrandt, eine Zeichnung von Dürer
erworben wurde, so wird nicht verständlich, welche
Mühe und Arbeit vorangegangen ist, bevor die kurze
Ankaufsnotiz veröffentlicht werden konnte. Man rühmt
wohl von einem Museumsdirektor, dass er die gebotenen
Gelegenheiten geschickt zu benutzen wisse. Mehr zu
Friedrich Lippmann
26
FRIEDRICH LIPPMANN
rühmen ist, was öffentlicher Kenntnis sich freilich
meist entziehen wird, wenn er die günstige Kanf-
gelegenheit selbst schafft.
Recht altväterisch war auch der Zustand, in dem
sich die Sammlung der Handzeichnungen 1876 be¬
fand. Die berühmtesten Namen trugen eine reiche
Anzahl von Blättern, die jetzt vergessen und aus den
Mappen der Meisterzeichnungen ganz verschwunden
sind. Wiederum belastet das die frühere Verwaltung
wenig, denn diese Zeichnungen trugen ihre grossen
Namen meist mit Zustimmung der Gelehrten und
sicher mit der der Künstler. Es traf sich gut, dass
die neue Leitung des Kupferstichkabinetts einsetzte,
als die kunstkritische Neuwertung der Handzeichnungen
alter Meister, die sich seitdem so sehr verfeinert hat,
begann. Es wurde nicht gezögert, eine gründliche
Siclitung der Zeichnungsmappen vorzunehmen, die
dabei freilich bedenklich leer wurden. Es gehörte Mut
dazu, Zeichnungen von lokaler Berühmtheit als wertlos
hinzustellen, umso grösserer, als sich die Gelegenheiten,
Zeichnungen zu erwerben, seltener bieten und sich
für Werke der grössten Meister der italienischen Re¬
naissance auch bis heute noch nicht in gewünschter
Weise gefunden haben.
ln den Beginn der neuen Direktion fällt die Er¬
werbung der Dürer- Sammlung Posonyi-Hulot in Paris,
ein überaus reichhaltiges Werk der Stiche und Holz¬
schnitte des Meisters in vortrefflichen Abdrücken und
über vierzig echte Zeichnungen umfassend. Dürer
blieb der besondere Pflegling. An seinem Ehrentag
mag mit gerechtem Stolz, der es geschaffen hat, sich
sagen: ich habe das beste Dürerwerk der Welt
zusammengebracht. Die Berliner Sammlung von
Zeichnungen Dürer’s, vermehrt durch Ankäufe aus
den Sammlungen Didot, Mitchell, Klinkosch u. a.,
ist nächst der der Albertina jetzt die bedeutendste.
Die Erwerbung der Handschriftensammlung des
Herzogs von Hamilton im Jahre 1882 ist die be¬
kannteste That des Kabinettsdirektors. Mit ihr wurden
die Illustrationen Botticelli’s zur Divina Comedia er¬
worben, der jetzt wohl populärste Besitz des Berliner
Kupferstichkabinetts. Ausserdem kamen durch die
Sammlung Hamilton mehrere niederländische Gebet¬
bücher aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts mit
Miniaturen ersten Wertes und einige Handschriften
mit vorzüglichen Beispielen der blühenden italienischen
Illuminierkunst vom Ende des 1 5. Jahrhunderts hinzu.
Von der Sammlung Eelix in Leipzig gelang es,
den wertvollsten Teil, die Kupferstiche Martin Schon-
gauer’s und anderer primitiver deutscher Meister, für
das Kabinett anzukaufen. Die Erwerbung der Orna¬
mentstichsammlung Destailleur in Paris kam nach
der Auseinandersetzung mit dem Kunstgewerbemuseum
meist dem letzteren zu gut.
Eür ein Kupferstichkabinett von einem beträcht¬
lichen Grundstock sind die Erwerbungen ganzer
Sammlungen selten thunlich. Die Erwerbungen müssen
meist einzeln, seltener im freihändigen Kunsthandel,
häufiger auf Versteigerungen gemacht werden. Auf
den grossen internationalen Kupferstichauktionen ist
der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts der ge¬
schätzteste Käufer geworden. Es ist zu rühmen, dass
es im kargen Staat Preussen einem Mutigen vergönnt
war, für Kupferstiche und Zeichnungen Preise zu
zahlen, für deren Höhe die Anerkennung erst er¬
kämpft werden musste. Auf den berühmtesten
Kupferstichauktionen konnten oft beträchtliche Erwer¬
bungen für das Kabinett gemacht werden. Für An¬
käufe auf der Auktion der Sammlung des Herzogs
von Buccleugh hatte ein vornehmer Kunstfreund reiche
Mittel zur Verfügung gestellt, die gestatteten, bei einem
ersten Zustand von Rembrandt’s Hundertguldenblatt
und vielen anderen Radierungen Rembrandt’s in ersten
Abdrücken alle Steigerer zu überbieten. Die Samm¬
lung des Dr. A. Sträter in Aachen gab wichtige Er¬
gänzungen der kleineren niederländischen Radierer des
17. Jahrhunderts her. Bei der Vermehrung der Holz¬
schnittbücher konnte der Sammlungsleiter einer alten
eigenen Liebhaberei folgen. Kein anderes Kabinett ver¬
fügt über eine so notwendige Ergänzung der Holzschnitt¬
einzelblätter. Von italienischen Holzschnittbüchern des
1 5. Jahrhunderts fehlt kein künstlerisch hervorragendes
Werk, das noch zu beschaffen möglich war.
Neuerdings werden auch, nachdem diese Abteilung
von der Nationalgalerie dem Kupferstich kabinett über¬
wiesen wurde, hier graphische Arbeiten moderner
Künstler gesammelt, deren Ergänzung und Vermeh¬
rung besondere Umsicht und Sorgfalt erheischt.
Die Sammlung von Photographien nach Gemälden
und Zeichnungen alter Meister steht in ihrer Reich¬
haltigkeit und wissenschaftlichen Ordnung vielleicht
einzig da. Sie ist ein ungewöhnlich viel benutzter
Apparat für kunstwissenschaftliche Studien geworden.
Die steigende Benutzung der Sammlung legte die
Pflicht für besondere Schutzvorrichtungen auf, um
Kunstwerke zartester Art im Zustande ihrer Erhaltung
möglichst lange zu bewahren. Viele Betrachter sind
leider Abnutzer. Die technische Aufstellung der Stiche
und Zeichnungen, wie sie für das Berliner Kabinett
gewählt wurde, erreicht wohl das Mögliche. Die
Berliner Art, die Blätter zu bearbeiten und zu sichern,
wurde für viele auswärtige Sammlungen das Vorbild.
Die rasche und stetige Vermehrung der Sammlung
gebot sorgfältigere Eührung der Kataloge, als sie
früher im Brauch war. Es gilt nicht nur, die einzelnen
Objekte inventarmässig festzulegen, sondern mehr noch
müssen sie nach verschiedenen praktischen und wissen¬
schaftlichen Gesichtspunkten verzeichnet werden. Der
modernen Vorliebe für historische Illustration kam
diese Katalogisierungsarbeit vorzüglich zu gute. Ohne
sie wäre für manches derartige Werk der künstlerische
Schmuck nicht zu besorgen gewesen.
Eünfundzwanzig Jahre Schaffen in diesem um¬
fassenden und vielfältigen Thun ist ein schweres, aber
ein wirkendes und nützliches Teil guter Arbeit ge¬
wesen. ln wichtigster Zeit, in der reiche Erwerbungen
noch möglich waren, konnte das Kabinett unter kräftiger
Leitung emporwachsen. Nach langem Beharren in
der Ruhe wurde das Berliner Kupferstichkabinett zum
Ansehen, zur Grösse und Bedeutung geführt. Das
ist das persönlichste Werk seines Direktors Friedrich
Lippmann. JARO SPRINGER.
DIE AUSSTELLUNG ÄLTERER KUNSTWERKE
IN MÜNCHEN
Von Max J. Friedländer
Die »Ausstellung von Meisterwerken der Renais¬
sance aus Privatbesitz«, mit der die Münchner
»Secession« in diesem Sommer ihre Räume
im Königl. Kunstausstellungsgebäude gefüllt hatte,
errang, wenn keinen materiellen, so doch einen
beträchtlichen moralischen
Erfolg. Das mit feinem
Geschmack arrangierte Bei¬
einander älterer Kunst¬
werke in den mässig gros¬
sen, gut beleuchteten und
mit schönen Stoffen be¬
kleideten Oberlichtsälen
war überraschend gefällig
und überaus reich an Ab¬
wechslung. Zum Glück
herrschte nicht die »ma¬
lerische« Willkür, die,
als dem Münchner Ate¬
liergeschmack eigentüm¬
lich, etwa erwartet wor¬
den war. Und auch in
den anderen Eehler, den
der museologischen Nüch¬
ternheit, waren die Ver¬
anstalter nicht verfallen.
Der Glanzpunkt war das
Zimmer, das Freiherr
Heinrich von Tücher aus
der Fülle seines Besitzes
in ähnlicher Weise wie
seine römischen Wohn-
räume im Palazzo Borg¬
hese ausgestattet hatte.
Hier vereinigten sich Mö¬
bel, Gemälde in herr¬
lichen Rahmen, Bildwir¬
kereien, Brokatstücke und
der alte rote Sammet, mit
dem die Wände vollstän¬
dig bekleidet waren, zu
einem unvergesslichen Eindruck von schwerer Fest¬
pracht, von veredeltem Luxus.
Einwendungen gegen den Titel der Ausstellung
klingen vielleicht pedantisch. Elfenbeinschnitzereien
aus dem 14. Jahrhundert, Gemälde von Snyders oder
Tiepolo sind schliesslich überall willkommen, selbst
auf einer Renaissance-Ausstellung. Es waren aber
Dinge zu sehen, die nicht nur keine »Meisterwerke
der Renaissance«, sondern überhaupt keine Meister¬
werke waren, minderwertige und selbst falsche Stücke.
Allein, wer da weiss, wie solche Leihausstellungen
entstehen, wie mühsam der natürliche Widerstand der
Privatsammler überwun¬
den wird, macht die Ver¬
anstalter nicht ohne wei¬
teres für die angedeuteten
Mängel verantwortlich.
Hundert Rücksichten be¬
schränken die freie Wahl,
und wenn es gilt, einen
Privatsammler für das Un¬
ternehmen zu gewinnen,
geht es oft nicht an, eine
kritische Auslese zu wagen
unter den Gegenständen,
die er freundlich zur
Verfügung stellt.
Aus der natürlichen,
freilich nicht mehr stark
fliessenden Quelle, dem
bayerischen Privatbesitze,
hatten die Veranstalter er¬
folgreich geschöpft. Mit
wenigen Ausnahmen —
so fehlten die Stücke, die
Herr von Hefner-AIteneck
besitzt - war alles Wür¬
dige und Geeignete ans
München selbst gewon¬
nen worden. Einige her¬
vorragende Kostbarkeiten
aus den Kirchenschätzen
von Augsburg und Eich¬
städt, und aus dem Stadt¬
schatz von Regensburg
drei Stoffbehänge m it figür¬
lichen Darstellungen, Ar¬
beiten des 1 4. Jahrhunderts,
Darleihungen, die kaum zu erhoffen gewesen waren,
erhöhten die Bedeutung der Ausstellung. Die Herren
vom bayerischen Adel, Fürst Fugger, Fürst Oettingen,
die Grafen Toering-Jettenbach und Arco auf Walley
hatten wenige, aber höchst bedeutende, zum Teil
fast unbekannte Kunstwerke zur Verfügung gestellt.
Und das Münchener Sammlerwesen präsentierte sich
Abb. 1. Bildnis eines Mannes von Foiiqiiet
Besitzer Graf Wilczek in Wien
4
28
DIE AUSSTELLUNG ÄLTERER KUNSTWERKE IN MÜNCHEN
recht stattlich, da die Herrn Prof. Lenbach, Prof. Prings-
heim, Wilhelm Clemens, Dr. von Pannwitz und Greb
mit grosser Opferwilligkeit alles in den Rahmen der
Aiisstellimg Passende dargeliehen hatten. Von den
jüngeren Münchner Sammlern folgt Herr Clemens
heimischen Traditionen mit Glück und Geschmack,
indem er das Interesse namentlich süddeutschen Ar¬
beiten des 15. und 1 6. Jahrhunderts zuwendet. Seine
höchst reizvollen farbigen Schnitzwerke wahrten
dem Ganzen zusammen mit ähnlichen Stücken aus
von Miller’schem,
Greb’schem Besitz
und aus anderen
Quellen den Lokal¬
charakter. Herr
Prof. Pringsheim,
der Zahl der Ob¬
jekte nach der be¬
deutendste Ausstel¬
ler, besitzt eine
reiche Sammlung
von mehr internatio¬
nalem Gepräge.
Seine italienischen
Majoliken, sein deut¬
sches Silberzeug,
seine Bronzen, seine
französischen Email¬
platten, überall hoch-
geschätzte, markt¬
gängige Dinge, tra¬
ten in geschlossenen
Gruppen wirkungs¬
voll auf und füll¬
ten beinahe zwei
Räume. Herr Dr.
von Pannwitz hatte
weit wenigerGegen-
stände ausgestellt,
darunter aber meh¬
rere, die ganz be¬
sondere Beachtung
verdienen. Ihm ge¬
hört das hier ab¬
gebildete Holzrelief
— das Wunder des
heil. Eligius — ,
wohl eine fränki¬
sche Arbeit von 1510 etwa, die mit ihrer sicheren
Erzählung im Volkston eigentümlich anziehend
wirkt, wiewohl das Holz der Earbe beraubt ist. Und
ihm gehören die beiden besten Bronzen, die auf
der Ausstellung zu sehen waren, ein Herkules als
Knabe, die Schlangen würgend, eine geistvolle italie¬
nische Erfindung, die in drei oder vier Exemplaren be¬
kannt ist, und ein Herkules, der den Löwen tötet, eine
italienische Arbeit vom Anfang des 16. Jahrhunderts
in einem Guss von herrlicher Patina.
Der Fürst von Hohenzollern- Sigmaringen hatte
ausser dem wahrhaft königlichen Silberschatz portu-
gisischer Herkunft, Arbeiten im spanischen Renaissance¬
stil, von 1530 etwa, das zierlich durchgeführte
Madonnenrelief von Hans Daucher ausgestellt, das
hier abgebildet ist. Das in Kehlheimer Stein ge¬
arbeitete Stück ist von 1520 datiert, mit dem Namen
des Meisters (-Daher«) bezeichnet und teilt mit den
besten sonst bekannten Arbeiten Daucher’s die Accura-
tesse, Schärfe und Trockenheit. Die Erfindungsgabe
dieses geschickten Meisters war recht beschränkt.
Unser Relief ist in ängstlicher Anlehnung an Dürer’s
Holzschnitt der Madonna mit den vielen Engeln«
(von 1518) entstan¬
den.
Aus Wien hatte
Graf Wilczeck
einige interessante
Gemälde und Herr
Dr. Figdor meh¬
rere prächtige ober¬
deutsche Holzbild¬
werkegesandt. Vom
Rheinland her war
leider fast nichts zu
erhalten gewesen,
abgesehen davon,
dass der Grossher¬
zog von Hessen aus
seinem Privatbesitze
die beiden hübschen
Knabenbildnisse
von Lucas Cranach
und das Nürnber-
gische Porträt eines
jungen Mannes ge¬
sandt hatte, das den
frühen Dürerporträts
nah verwandt, als
beunruhigendes Rät¬
sel die Studieren¬
den beschäftigte.
Kurz vor dem
Schlüsse der Aus¬
stellung kamen noch
zwei gute Bildnisse
von Frans Hals
aus dem Besitze
des Freiherrn von
Heyl aus Worms
an.
Die Hamburger Sammler hatten sich nicht gerade
glücklich beteiligt. Herr Konsul Weber, der eine
grosse Zahl deutscher und italienischer Bilder des
15. und 16. Jahrhunderts besitzt, die sich in den
Rahmen der Münchner Ausstellung vortrefflich ein¬
gefügt hätten, hatte nur holländische und vlämische
Gemälde des 17. Jahrhunderts geschickt, dabei auch
solche, durch die seine reichhaltige und schöne
Galerie nicht würdig repräsentiert wurde.
Der Berliner Besitz war nur sehr unvollkommen
vertreten, da die grossen Sammlungen von Beckerath,
Hainauer, von Kaufmann, J. Simon, von Carstanjen
ganz fehlten. Doch bedeutete die Teilnahme der
Abb. 2. Das Wunder des heil. Eligius.
Holzrelief. Besitzer Dr. v. Pannwitz in München
DIE AUSSTELLUNG ÄLTERER KUNSTWERKE IN MÜNCHEN
29
Berliner Herren Dr. Weisbach, Eugen Schweitzer und
G. Salomon immerhin einen erheblichen Gewinn,
weil dadurch die schwächste Position verstärkt wurde.
Von Berlin aus wurden Werke der italienischen Renais¬
sance beigesteuert, an denen der süddeutsche Privat¬
besitz auffällig arm ist. Die von Herrn Dr. Weis¬
bach ausgestellten Stücke, das mit Recht viel bewun¬
derte Flachrelief der thronenden Madonna in zart be¬
maltem Stuck von
Donatello und zwei
höchst interessante
Gemälde, die diesem
Meisterwerke zeit¬
lich und örtlich nahe
stehen, waren neben
einigen Stücken in
dem Tücher- Raum
die einzigen gewissen
Boten vonderfloren-
tinischen Frührenais¬
sance. Herr Schweit¬
zerzeigte eine kleine
Gruppe lombar¬
discher Gemälde
vom Anfang des
]6. Jahrhunderts,
dabei einige reizende
braun in braun ge-
malteEngelgestalten,
Teile einer Predella,
von Gaudenzio Fer¬
rari, und Herr Gus¬
tav Salomon trug
zu der reichen De¬
korationswirkung
mit einer Reihe statt¬
licher Bronzefiguren
der italienischen
Hoch- und Spät¬
renaissance bei.
Von dem vielen
Guten, das an deut¬
schen Bildern und
Schnitz werken in
Berliner Privathäu¬
sern zu finden ist,
war nichts nach
München gekom¬
men, mit Ausnahme
der sehr hübschen
Holzstatue einer weiblichen Heiligen, im Stile Riemen-
schneider’s, die Herrn Wilhelm Gumprecht gehört.
Herr Zöllner aus Leipzig vertrat den sächsischen
Privatbesitz allein und brachte als Kenner und Sammler
seine Spezialität kräftig zur Geltung, indem er eine
Auswahl namentlich historisch bedeutsamer Zinn¬
arbeiten belehrend zusamnienstellte.
Um die dankenswerte Veranstaltung in der Er¬
innerung festzuhalten, zähle ich einige ihrer besten
Gaben auf. Durch das freundliche Entgegenkommen
der Ausstellungsleitung und der Aussteller sind wir
in den Stand gesetzt mehrere Werke hier in Abbil¬
dungen zu zeigen.
Wenn der Glanz der italienischen Hochrenaissance
weniger von einzelnen Meisterwerken aus erstrahlte
als von dem Beieinander her, das Herr von Tücher
geschaffen hatte, so fehlte es doch nicht ganz an
Gemälden, die auch ausserhalb des Dekorations¬
zusammenhanges und abgesehen vom kunsthistorischen
Interesse vollen Ge¬
nuss zu gewähren
geeignet sind. Das
eine der Tizianpor¬
träts in Lenbachs Be¬
sitz, das auf der Aus¬
stellung war, das Pro¬
filbildnis Franz’ 1.,
steht an Schärfe der
Charakteristik wohl,
nicht aber an Farben¬
reiz hinter dem im
Louvre aufgestellten
entsprechenden Ge¬
mälde zurück. Das
Frauenporträt von
Bronzino, das Herrn
Hermann Mumm
in Frankfurt a. M.
gehört, ist ein un¬
gewöhnlich gesun¬
des und befriedi¬
gendes Werk der
florentiner Spät¬
renaissance. Schade,
dass die goldblonde
Färbung dieses übri¬
gens wohl erhal¬
tenen Bildes unter
einem trüben Firnis
verborgen liegt. Die
charakteristische
Schöpfung des Dos-
so Dossi, ein tief¬
glühendes Frauen¬
bildnis, und das sig¬
nierte, in den Formen
etwas weichliche
Madonnenbild von
Caroto im Tucher-
Zimmer, das Brust¬
bild eines Feldherrn,
veronesisch, wie viele Kenner meinten, und 1 520
etwa entstanden, von derbem Effekt, aber sehr ein¬
drucksvoll, das Herr Böhler als >Giorgione zeigte,
endlich die grosse in gelber, satter, einheitlicher
Tönung breit gemalte, etwas wüst gezeichnete Kom¬
position von Tintoretto, Venus und Vulkan, aus dem
Besitz des Herrn Fr. Aug. von Kaulbach, vertraten die
grosse Zeit der italienischen Malerei, wenn nicht
glänzend, so doch würdig.
Unter den altniederländischen Tafeln erschienen
viele interessant und boten Überraschungen, wie die
Abb. 3. Madonnenrelief von Hans Daiicher.
Besitzer Fürst zu Hohenlohe-Sigmaringen
30
DIE AUSSTELLUNG ÄLTERER KUNSTWERKE IN MÜNCHEN
Abb. 4. Madonna. Tiroler tiolzschnitzarbeit.
Besitzer Dr. Figdor in Wien
genaue Wiederholung des Münchener Lucasbildes von
Roger van der Weyden, die Graf Wilczek besitzt und
die besser erhalten ist als das Original. Abgesehen von
der kleinen vernachlässigten und im jetzigen Zustand
schwer zu beurteilenden Memling-Tafel, die Herr Cle¬
mens in Spanien erworben hat, war eigentlich nur ein
Meisterwerk bei den altniederländischen Bildern und das
gehört schon dem Anfang des 16. Jahrhunderts an,
nämlich die Madonna mit fünf weiblichen Heiligen
von der Hand des Pseudo - Mostaert. Eine weit
schwächere Wiederholung dieses dem Grafen Arco auf
Walley gehörigen Gemäldes wird in der römischen
Galerie St. Luca bewahrt, ln der Münchener Tafel,
die eine köstliche Landschaft, die leichteste Grazie
der Gestalten und das schönste Verhältnis zwischen
Landschaft und Eiguren aufweist, erscheint der milde
Kleinmeister fast wie ein Nachfolger des Stephan
Lochner.
Wohl das merkwürdigste Bild unter denen, die
auf dieser Ausstellung erst im weiteren bekannt
wurden, ist das unter der Titulatur »Art des van
Eyck« katalogisierte Brustbild eines charaktervoll
hässlichen Mannes. Ohne eigentlichen Farbenreiz,
mit dunkler einfacher Gewandung und schwerer
bräunlicher Fleischfarbe, ist das Bildnis, wie unsere
Abbildung noch erkennen lässt, ungewöhnlich ziel¬
bewusst angelegt und drastisch in der Erscheinung.
Zwischen der Eyck’schen Porträtierkunst und der
florentinischen Bildnismalerei des 15. Jahrhunderts
hält diese Tafel im Grade der Durchführung etwa
die Mitte. Die Hände sind relativ schwach, knochen¬
los und unfleischig. Bode hat den Namen »Fouquet«
vor der Tafel , die dem Grafen Wilczek gehört,
zuerst ausgesprochen. Ihr zunächst steht, wie mir
scheint, das schöne, dem französischen Meister zu¬
geschriebene Porträt von 1476 in der Liechtenstein-
Galerie.
Reicher natürlich als die italienische und alt¬
niederländische Malkunst war die oberdeutsche ver¬
treten, die schwäbische weit besser als die fränkische.
Der ältere Hans Holbein und Amberger wahrten die
Ehre der deutschen Kunst. Von den beiden aus
Eichstädt gesandten Holbein-Tafeln ist die »Krönung
Mariä« erfreulich, die doppelt so breite, von dem¬
selben Altar stammende »Bestattung der hl. Afra«
aber durch eine arge Restaurierung« fast aller Reize
beraubt. Während die ganze Kirchenmalerei des
älteren Holbein handwerklich ist, und seine grossen
Gaben nur hie und da in einer farbig reizvollen
Partie, in einem individuellen Kopf oasenartig
aufblühen, ist er als Porträtist stets geistreich, ganz
bei der Sache und merkwürdig frei. Das gut er¬
haltene, aber vernachlässigte und unscheinbar ge¬
wordene Votivbild des schlimmen Bürgermeisters
Schwarz, aus dem Besitz des Herrn von Stetten, das
im Jahre 1508 entstanden ist, bietet in der glieder¬
reichen Stifterfamilie eine lange Reihe entzückender
Bildnisköpfe.
Die als »Schäufelein« ausgestellte Kreuzigung,
die jetzt Herrn Dr. Soltmann gehört, ist, wie ich
schon vor zehn Jahren gesagt habe, ein charakteris¬
tisches Werk des Ulmer Meisters Martin Schaffner,
stark restauriert, im Kopf der knieenden Magdalena
und auch sonst an vielen Stellen. Weit bedeutender
als diese Tafel, die Herr Hamminger in Regensburg
früher besass, und überhaupt eines der hervorragenden
Stücke der Ausstellung, war das von Herrn von
Habermann unter dem Namen Schaffner« ausgestellte
Frauenporträt. Ich kenne kein Porträt des Ulmer
Meisters, das so fest und ohne Manier gezeichnet, so
einfach und stattlich aufgefasst ist, wie dieses von
1529 datierte, angeblich die Ulmer Patrizierin Schad
von Mittelbiberach darstellende Porträt, und halte die
Autorschaft Schaffner’s für zweifelhaft.
Von den vier ausgestellten Amberger Porträts
sind die beiden aus dem Augsburger Maximilians¬
museum, die W. Moerz und seine Gattin Afra dar¬
stellen, schlecht erhalten. Die Fleischpartien sind
überarbeitet und undurchsichtig geworden. Hingegen
sind die beiden Bildnisse aus dem Besitz des Fürsten
Fugger einwandfrei in jeder Beziehung, und das
grössere davon, die 1541 gemalte Halbfigur eines
20jährigen Jünglings, kann wohl als das schönste
Werk gelten, das dem Meister gelungen ist. ln
der vornehmen Haltung erinnert die Figur an Bron-
zino, und auch die in Amberger’s Porträts kaum
wiederzufindende Weise des Abschlusses und des
DIE AUSSTELLUNG ÄLTERER KUNSTWERKE IN MÜNCHEN
31
Beiwerkes erinnert an den florentinischen Hofporträ-
tisten. Die Malweise aber ist nicht etwa glasig, in
Nachahmung des Italieners, vielmehr so weich und
flaumig im Fleisch und so leicht gleitend und
glänzend in der Gewandung wie sonst, in Am-
berger’s besten Arbeiten. Das Porträt ist ebenso
weit von altertümlicher Gebundenheit entfernt, wie
von Pose und Prätension.
Aus der grossen Zahl zum Teil unerfreulicher
vlämischer und holländischer Bilder des 17. Jahr¬
hunderts hebe ich die wenigen heraus, die ihre An¬
wesenheit rechtfertigen konnten. Das reiche sorg¬
fältig durchgebildete, in der Färbung etwas scharfe
Stillleben von j. D. de Heem, das dem Freiherrn
von Schacky gehört, ist echt signiert, tadellos erhalten
und teilt diese Eigenschaften mit dem schlichteren
Stillleben des Pieter Claesz aus Lenbach’s Besitz, das
sonderbarer Weise trotz des Monogramms als vlämisch
von 1644« katalogisiert war. Weit bedeutender und
ein Werk hohen Ranges ist das breite Fruchtstück
von Snyders, das vor kurzem in den Besitz des
Grafen Ernst von Moy gelangt ist und schon auf
einer früheren Münchner Ausstellung gerechte Be¬
wunderung mit der geistvollen Lebendigkeit des Mal¬
werkes und der milde glühenden Farbenpracht ge¬
weckt hatte.
Das schönste holländische Gemälde war der
»Pieter de Hooch , den Herr Dr. Weisbach geliehen
hatte, eine freundliche Familienscene in eleganter,
traulicher Räumlichkeit. Der koloristische Effekt ist
ungewöhnlich und ruht vornehmlich auf dem Orange¬
gelb des Kinderkleides.
In seiner Art, einer heute etwas missachteten Art,
ein vortreffliches Werk ist die Nachtlandschaft von
van der Neer, die dem Grafen Arco gehört. Dieses
Bild weist mehr Naturstudium und Feinheit der
Durchführung auf, als der Meister gewöhnlich für
das Motiv aufwendete, an dem er sich stumpf malte.
Der Gruppe der oberdeutschen Holzbildwerke
durfte man sich füglich mit hoch gespannten Er¬
wartungen nähern. Ist doch München seit langem
der Hauptmarkt für diese früher vernachlässigte, seit
kurzem auch im internationalen Handel zu Ehren
gekommene Kunst.
Einige erquickliche Überraschungen bot die Aus¬
stellung den Freunden der altdeutschen Schnitzkimst.
Herr Dr. Figdor, der ein ganz besonders feines Ver¬
ständnis für den farbigen Reiz der süddeutschen Holz¬
bildwerke besitzt, hatte aus seinem reichen Schatze
mehrere Stücke gesandt, vier flache Relieffiguren
weiblicher Heiliger, in den Formen etwas plump und
nur mittelgute Arbeiten von 1490 etwa, aber so
prächtig erhalten mit der originalen Vergoldung und
Bemalung, wie es uns leider ganz selten beschert
wird. Die fast lebensgrosse knieende Madonna aus
einer Altargruppe, einer Anbetung des Christkindes,
kaum minder gut erhalten, wenn auch die Farbe des
Antlitzes nicht die ursprüngliche zu sein scheint,
gehört mit ihrer herben, urwüchsigen Kraft und ein¬
drucksvollen Bewegung zu dem höchsten, was die
Tiroler Schnitzkunst hervorgebracht hat. Die Figur
ist hier abgebildet. Mir scheint, sie ist von derselben
Hand, wie die beiden bekannten Statuen Leonhard
und Stephan im Germanischen Museum. Den Jo¬
seph, der zu der Madonna des Herrn Figdor gehört,
besitzt Herr Ad. Thiem in San Remo. Schade, dass
die beiden Figuren nicht auf der Ausstellung ver¬
einigt werden konnten.
Einen üblen Eindruck machte die Blutenburger
Madonna, die man in bester Absicht auf die Aus¬
stellung gebracht hatte. Diese Figur, wie leider auch
die Hauptstücke in Nürnberg, hat man beachtet, be¬
wundert und — neu angestrichen. Es wäre wohl
zu empfehlen, dass die Blutenburger Figuren und
auch die »Nürnberger Madonna«, die ihre vorzeitige
Berühmtheit mit einem widerwärtigen grünlichen An¬
strich abbüsst, gereinigt würden. Das nackte Holz
ist der modernen Färbung bei weitem vorzuziehen.
Die beiden Werke, die auf der Ausstellung mit
vollem Recht dem Tilmann Riemenschneider zuge¬
schrieben waren, machten trotz ihrer schlichten Farb¬
losigkeit den besten Eindruck. Vor Arbeiten dieses
Abb. 5. Ehepaar aus einer Darstellung der hl. Sippe.
Holzschnitzerei von Tilman Riemenschneider.
Besitzer Fürst Oettingen-Oettingen
32
DIE AUSSTELLUNG ÄLTERER KUNSTWERKE IN MÜNCHEN
subtilen Schnitzers hat man öfters das Gefühl, dass die
Vergoldung und Bemalung die Wirkung eher ge¬
mindert als gesteigert haben möchte. Zu unserer
freudigen Überraschung lehrte die Ausstellung das
Gegenstück kennen der oft erwähnten und hoch
gerühmten Gruppe des Ehepaares im BetstuhT , die
das South Kensington- Museum besitzt, das andere
Eckstück von der grossen Sippendarstellung. Die
vom Fürsten Oettingen-Oettingen ausgestellte Gruppe
entspricht in jeder Beziehung der Londoner und
steht ihr an Qualität nicht nach. Nahezu ebenso
vortrefflich und gewiss auch eine Arbeit des
fränkischen Meisters ist das kleine, im Anato¬
mischen erstaunlich durchgebildete Crucifix, das Herr
Prof. Piloty aus Würzbiirg nach München geschickt
hatte.
An hübschen Arbeiten der Kleinkunst, in Holz
geschnitzten Statuetten und Altärchen fehlte es nicht.
Am meisten bewundert wurde die reizende, wenn
auch etwas spielerische Madonna, die auf einem von
Engeln getragenen Kissen steht, in originaler Ver¬
goldung und Bemalung, ein schwäbisches Werk von
1500 etwa, ganz mit Unrecht dem Veit Stoss zuge¬
schrieben. Der Besitzer dieses Stückes ist der Mün¬
chener Sammler Greb, der übrigens ausser alten
Schmuckstücken, Anhängern und dergl. noch ein sehr
gutes Leuchterweibchen im Stile Riemenschneider’s
zeigte. Alle die kleinen in Holz gearbeiteten Figuren
überragte eine in Silber getriebene Statuette, die Ma¬
donna aus dem Augsburger Dommuseum, die —
nicht nur im Sinne des Kunsthandels - das kost¬
barste Stück auf der Ausstellung war.
Die Aufzählung wirkt auflösend, sie wird viel¬
leicht die Vorstellung vermitteln, dass allerlei schöne
und gute Dinge zu sehen waren, dem besten, was
in München geboten wurde, dem Eindrücke des
Ganzen wird sie nicht gerecht. Der Dank für das
Gelingen der Veranstaltung kommt zuerst Herrn
Benno Becker zu, dessen Urteil und Geschmack vor
der ungewohnten Aufgabe nicht versagten.
Abb. 6. Bildnis eines jungen Mannes von Christoph Amberger.
Besitzer Fürst Fugger in Augsburg
Abb, 1. Max KJiinger. Dekorative Wandfällung
DIE NEUEN ERWERBUNGEN DER BERLINER
NATIONAL-OALERIE
Die National - Galerie ist kein Durchgangspunkt wie das
Pariser Luxembourg-Museum, aus dem nur die besten
Kunstwerke und auch diese frühestens zehn Jahre nach
dem Tode ihrer Schöpfer, in das grosse National-Museum des
Louvre wandern. Alles, was für sie erworben wird, geht in ihren
dauernden, unveräusserlichen Besitz über. Deshalb ist die Ver¬
antwortlichkeit ihres Leiters so gross und sind die Angriffe, die
er erfährt, so begreiflich. Den dauernden Wert eines Kunstwerkes
zur Evidenz darzulegen, ist nicht möglich, und Volksabstimmungen
kann man auch nicht darüber veranstalten. Der persönliche Ge¬
schmack wird hier immer eine wichtige Rolle spielen, und was
wir verlangen können, ist nur, dass er durch umfassende Kennt¬
nisse, reiche Erfahrung und Besonnenheit geleitet werde. Und
dass dies hier der Eall ist, beweist der von Tag zu Tag sich
mehrende Beifall, der der Umgestaltung und den neuen Erwer¬
bungen der Galerie gezollt wird.
Die Ausstellung der in den letzten zwei Jahren erworbenen
Werke, die vor kurzem im zweiten Corneliussaale eröffnet worden
ist, wirkt ganz überraschend reichhaltig; nicht allein durch die
Zahl, die allerdings, hauptsächlich infolge der grossherzigen
Schenkung der Erben des feinsinnigen Sammlers Eelix Königs,
aussergewöhnlich gross ist, sondern auch durch die Mannig¬
faltigkeit der in ihr vertretenen Schulen und Richtungen. Von
der herben Strenge eines Eeuerbach werden wir bis zu dem kecken
Plakatstil der Wiener und Münchner Jugend, von dem schlichten
Kolorit eines Sperl zu den kühnsten Schöpfungen der Ereilicht-
malerei geführt; neben dem deutschesten aller deutschen Meister,
Schwind, finden wir Eranzosen und Italiener.
Bei der Betrachtung der eigentlichen Erwerbungen, d. h. der
Ankäufe, fallen zunächst zwei Bestrebungen ins Auge: die Zahl
der ausgeprägt deutschen Bilder zu vermehren und eine wertvolle
Sammlung von der neuerdings erfreulich erstarkenden deutschen
Abb. 2. Troubetzkoj. Porträtbüste von Segantini. Kleinplastik anzulegen. Von Schwind, von dem die Sammlung
^Bronze bisher nur ein grösseres Bild besass, sind drei seiner um das
Jahr 1860 gemalten »Gelegenheitsgedichte« — so nannte er selbst
diese anspruchslosen Bildchen — erworben worden. Auf zwei
von ihnen hat sich der Künstler selbst dargestellt, auf dem einen, wie er, das Ränzel auf dem Rücken, im
Morgengrauen an der Hofthür vom väterlichen Hause Abschied nimmt, auf dem andern, wie ihm die junge
Herzogin von Orleans in eins seiner Wartburgbilder ein Blümchen hineinmalt. Das dritte Bild illustriert das
Herzenserlebnis eines Freundes, »Abenteuer des Malers Binder«. Diese persönlichen Beziehungen und die Innig-
Zeitschritt für bildende Kunst. N. F. XI il. H. 2.
\
5
34
DIE NEUEN ERWERBUNGEN DER BERLINER NATIONAL-GALERIE
Abb. 2- Giovanni Segantini. Rückkehr zur Heimat
keit des Empfindens geben den Werken einen Wert, der
ihren malerischen Eigenschaften allein nicht zukommen
würde. Von den gleichzeitig erworbenen Zeichnungen
Schwind’s möchte ich den frühsten, der schlichten
Studie zum »Spaziergang« (Abb. 6) und der »Land¬
partie den Preis zuerkennen. Ganz deutsch sind auch
die Bildchen des jüngst verstorbenen Erankfnrter Meisters
Louis Eysen. Das eine stellt weiter nichts als einen
mit Obstbäumen bestandenen Rasenhang mit einer
Hecke im Vordergründe vor; das andere zeigt uns
sein Mütterchen bei der Häkelarbeit in einem freund¬
lich hellen altmodischen Stübchen. Sie haben nichts
Blendendes; aber die Feinheit der Farbenstim¬
mung, die schlichte Natürlichkeit des Vortrags und die
Herzensgüte, die aus ihnen spricht, sichern ihrem
Schöpfer einen ehrenvollen Platz in der deutschen
Kunstgeschichte. Eysen musste sterben, ehe er in
weiteren Kreisen bekannt wurde, und auch Johannes
Sperl ist alt geworden, ehe sich ihm die deutschen
Museen öffneten. Wie wohlthuend berührten dies
Jahr seine Bilder auf der Münchner Ausstellung,
aber von wie wenigen wurden sie bemerkt! Ausser
dem Frühling«, einem freundlichen Bauerngarten,
unter dessen blütenbedeckten Apfelbäumen ein Mäd¬
chen seine Ziege füttert, wurden von ihm zwei fast
noch schlichtere Bildchen, das Äussere eines Bauern¬
hauses und eine Bauernstube erworben, bei denen sich
vornehmster Farbengeschmack mit feinster Lichtbehand¬
lung paart (s. d. Abb.).
Und nicht minder deutsch ist auch des Stuttgarter
Grafen von Kalchreuth »Schloss Klein-Oels«, bei dem
man höchstens das ein wenig zn grosse Format als
störend empfinden könnte (Abb. 5). Das Gelbgrün der
hellbeschienenen Baumkronen, das tiefe Grün des im
Schatten liegenden Laubes und das wundervolle Rot
des sich am Schlosse emporrankenden wilden Weins
ergeben einen herrlichen milden und doch kräftigen
Accord. Die auf dem Wege unter den Bäumen
lesend auf den Beschauer zukommende Frauengestalt
ist vermutlich ein Porträt. Bei Robert Haug's
»Freiwilligen Jägern« kommen auch die auf ihre
Rechnung, die vom Künstler nicht nur deutsches
Empfinden, sondern auch patriotische Stoffe verlangen.
Die Scene, die Haug darstellt — einer der Jäger
stürzt, von einer feindlichen Kugel getroffen, zu¬
sammen erscheint auf den ersten Blick ein wenig
theatralisch, aber das vergisst man bald über der
wundervollen Lichtbehandlung. Unvergleichlich schön
ist insbesondere die Morgenstimmung über dem ab¬
ziehenden Feinde und den dahinter liegenden bewal¬
deten Bergen (Abb. 7).
Von Hans von Marees besass die Galerie bisher
nur ein kleines Bildchen »Der heilige Georg«. Ma¬
rees gehört zn den Künstlern, die mehr als durch
ihre Werke durch ihre Persönlichkeit, durch das edle
Feuer wirken, mit dem sie ihre Ideen über das Wesen
der Kunst vortragen. Die hohe Vorstellung, die man
von ihm aus den Erzählungen seiner Freunde und
Schüler gewinnt, wird durch die Bilder meist ein
wenig enttäuscht. Das jetzt erworbene »Bildnis des
Malers Häger« aber ist ein völlig abgeschlossenes
Kunstwerk; es erinnert in seiner kraftvollen Einfach¬
heit an die besten Franzosen.
Nachdem die Verhandlungen über ihren Ankauf
lange in der Schwebe geblieben waren, konnte nun
nachträglich auch noch die neueste kostbare Erwer¬
bung ausgestellt werden. Man erinnert sich, dass im
verflossenen Winter bei Schulte in Berlin ein Cyklns
BERLIN, KGL NATIONAL-GALERIE
JOHANNES SPERL, IM FRÜHLING
\
5
36
DIE NEUEN ERWERBUNGEN DER BERLINER NATIONAL-GALERIE
Abb. 4. Charles Daiibigny. Landschaft
von vier heroischen Landschaften und zehn kleinen
mythologischen Scenen von Max Kl'mger zu sehen war,
der ursprünglich den einheitlichen Schmuck der Ein¬
gangshalle in einer inzwischen abgebrochenen Villa in
Steglitz gebildet hatte. Die Hälfte dieser Schöpfungen
— leider nicht das Ganze - durfte die National-
Galerie sich auswählen. Die Arbeiten sind anfangs der
achtziger Jahre geschaffen. Im Spiel der Wellen«, so
könnte man nach Böcklin die humorvollen Scenen
nennen, auf denen Kentauren und Nymphen im
Wasser herumplantschen und sich necken oder sich
auf leichten Wagen durch die Wogen ziehen lassen,
und doch sind sie ganz anders als die Böcklin’schen
Bilder (Abb. 1). Klinger ging damals dem Problem der
Ereilichtmalerei zu Leibe, er malte ganz hell und ganz
impressionistisch flott. Es sind kecke Erzeugnisse
heiterer Künstlerlaune. Die Landschaften bilden da¬
zwischen feierliche Ruhepunkte.
Neben den reifen und berühmten Künstlern ist
aber auch, wie schon erwähnt, die Jugend vertreten,
vor allem Ferdinand Andri, das frischeste und ge¬
sündeste Mitglied der Wiener Secession, mit einem
famosen Pastell Die Heuernte« und Walter Qeorgi
mit einem in ganz wenigen Earben gehaltenen, eben¬
falls mit dem Pastellstift gezeichneten Herbstbilde
Gelbe Linden«.
Unter den Bildhauerarbeiten gehören nur zwei der
grossen Plastik an, die liebliche Büste eines jungen
Mädchens und der energische Kopf einer alten Erau
von dem vor einigen Jahren verstorbenen Professor
Nikolaus Geiger. Alle anderen Werke sind der, wie uns
die Dresdner Ausstellung beweist, mächtig aufblühenden
Kleinplastik zuzuzählen. Ernst Moritz Oeyger’s »Hand¬
spiegel« (s. d. Heliogravüre), Peter Pöppelmann’sdeamwWg
kecker »Reigen , Hermann Hosäus’ trotz ihrer kleinen
Dimensionen monumental wirkende Bronzegruppe
»Nach dem Kampfe«, Fritz KHmsch’s sprühend leben¬
dige »Tänzerin« Theodor von Goseu’s »Geigenspieler«
sind hier hervorzuheben; Arbeiten von Freese, Cauer,
Felderhoff, Stark schliessen sich ihnen an. August
GauTs bedeutsames Talent kommt in den »Pelikanen«
nicht so zur Geltung, wie man wünschen möchte.
Die meisten dieser Künstler sind eben erst dreissig
Jahre, manche noch nicht einmal so alt; das erweckt
frohe Hoffnungen für die Zukunft. Merkwürdig ist
es, wie gut eine vor nunmehr fünfzig Jahren ge¬
schaffene Bronzestatuette des Malers Lessing von Bläser
in diese Reihe hineinpasst; ein Beweis dafür, dass
man auch hier den Zusammenhang mit der älteren
deutschen Kunst nicht verloren hat.
Schliesslich sei des schönen und reichen Zu¬
wachses gedacht, den das Handzeichnungs - Kabinett
der Galerie durch die Blätter von Knaus, Amberg,
Klette und Rene Reinecke — Schwind wurde schon
genannt — erfahren hat.
Sind bei den Ankäufen ausschliesslich deutsche
Künstler berücksichtigt worden, so kommt bei den
Schenkungen auch das Ausland in einigen seiner besten
Vertreter zu Worte. Es ist das ganz im Sinne des ur¬
sprünglichen Stifters der Sammlung, Konsul Wagner, der
neben den Deutschen auch eine ganze Anzahl von Werken
der damals beliebtesten Eranzosen, Holländer, Belgier,
Italiener erworben hatte. Wohl das schönste neue aus¬
ländische Bild ist die grosse Landschaft des Eranzosen
Daubigny, die wir der Ereigebigkeit einiger Berliner
Kunstfreunde verdanken (Abb. 4). Mag man die letzten
37
die Zeit, in der die Hoffnungen zu Grabe
getragen werden. Die Hauptsache auf
dem Bilde ist aber nicht der trübselige
Zug im Vordergründe, sondern die im
letzten Abendschein erstrahlende Alpen¬
kette mit den rosa und violettroten, vom
Winde zerrissenen Wolken darüber. Kein
Künstler vor Segantini hat das Hoch¬
gebirge so grossartig gemalt. Wirken
die Bilder der anderen wie heitere Deko¬
rationen, so fühlt man hier die ganze
Struktur der Berge, dass sie aus hartem
Gestein bestehen und nicht aus Zucker¬
kand. Daubigny’s Landschaft schliesst
sich an Corot an, der den über den
Dingen liegenden Duft malen wollte,
Segantini ist ein Schüler Millet’s, dem
es vor allem darauf ankam, das, was er
zu sagen hatte, kraftvoll und eindring¬
lich auszudrücken.
Hat der einsame Gebirgssohn Se¬
gantini wirklich so ausgesehen, wie ihn
Troubetzkoj, von dem übrigens noch
zwei kleinere Werke ans der Königs’schen
Sammlung in den Besitz der Galerie
übergegangen sind, in Bronze dargestellt
hat? (Abb. 2.) Wie haben die beiden
überhaupt zu einander gestanden, der rus¬
sische Graf, der die berückende Grazie
kapriziöserW eltdamen so suggestiv wieder¬
zugeben weiss, und der schlichte Bauer,
der die Ärmsten unter den Armen sich als
Abb. 5. Graf L. v. Kßlckreath. Schloss Klein-Oels
dunkleren Bilder dieses Malers, dessen hohe Bedeu¬
tung für die Entwicklung der Landschaftsmalerei noch
immer nicht genug gewürdigt wird, noch gewaltiger
finden, den unmittelbarsten Genuss gewähren doch
seine Frühlingsbilder. Er ist der Maler des saftigen
Wiesengrüns, der knospenden Bäume und des leicht
bewölkten Himmels. Unser Bild, das einige Jahre
später als der berühmte »Printemps« des Louvre ent¬
standen ist (1861), übertrifft diesen an Grösse und ist
auch malerisch noch reifer.
Es lässt sich kaum ein grösserer Gegensatz
denken als zwischen diesem Daubigny und dem
neuen grossen Segantini, »Rückkehr zur Heimat«,
der im Mittelpunkt der Königs’schen Sammlung steht
(Abb. 3). Legt dort die von leichtem Dunste er¬
füllte Luft der nordfranzösischen Tiefebene über alles
einen duftigen Schleier, so strömt uns hier die klare
scharfe Alpenluft entgegen, die alle Konturen deut¬
lich hervortreten lässt. Paart sich dort ein ganz
zartes Grün mit einem noch zarteren Graublau, so
herrschen hier rötliche Töne vor. Sind Daubigny’s
Hügel mit ganz weichem Pinsel hingestrichen, so
sind Segantini’s Berge wie aufgemauert. Dort der
Frühling, die Zeit des Höffens und des Werdens,
verkörpert in einem jungen Liebespaar, hier der Herbst,
Abb. 6. Moritz von Schwindt. Studie zum > Spaziergang
38
DIE NEUEN ERWERBUNGEN DER BERLINER NATIONAL-OALERIE
Modelle auserkoren hat? Troiibetzkoj’s Bronze ist ein
geistreiches und virtuoses Werk, aber die heraus¬
fordernde Haltung mit den in die Ärmelöffnungen
der Weste gesteckten Daumen will nicht recht zu dem
Bilde stimmen, das wir aus den Werken Segantini’s
von ihrem Schöpfer gewinnen. Vielleicht wäre es
besser, es ginge unter keinem Namen.
Man muss den tiefen Eindruck des Segantini’schen
Bildes zu vergessen suchen, wenn man den übrigen
ausländischen Werken gerecht werden will. Selbst
der heitere und sonnige »Februarmorgen« des belgi¬
schen Impressionisten Clans wirkt daneben ein wenig flau.
Am wenigsten Eintrag thut es dem von der vorjäh¬
rigen Secessions - Ausstellung her bekannten kecken
Frauenbilde ( Maja ) von Zorn, das eine willkommene
Ergänzung zu dessen schon in der Galerie vorhandenem
Bilde darstellt. Die kühne, früher so gefürchtete Zu¬
sammenstellung von Blau und Grün — das rötliche
Haar hebt sich von einem ultramarinblauen Hintergründe
ab, während das Kleid aus hellgrüner Seide besteht
— und die ungemein virtuose, dabei völlig gesunde
Mache sind für den berühmten schwedischen Maler
höchst charakteristisch (Abb. 8).
Auch unter den deutschen Malern hatte Königs
besonders den Impressionisten seine Aufmerksamkeit
zugewandt. Zügel ist mit einem prächtigen kleinen
Bilde -Knabe und Stier , Hans Olde mit einer wuch¬
tigen ganz auf einen graurosa Ton gestimmten Winter¬
sonnenlandschaft mit einer Schafherde im Vorder¬
gründe, Landenberger mit der lebensvollen Studie
eines badenden Knaben, auf dessen sich im Wasser
spiegelnden Körper gelbe und grüne Sonnenreflexe
ein mutwilliges Spiel treiben, der Münchner Holzel
mit einer kleinen Landschaft »Vor Sonnenuntergang'
vertreten, ln ausgesprochenem Gegensätze zu diesen
pastös gemalten farbenfrohen Bildern steht das in
ganz diskreten Tönen gehaltene, mit grösster Liebe
und Sorgfalt gemalte Bildnis des Kammersängers
Wallenreiter von Böcklin, das die schon so reiche
und doch noch immer empfindliche Lücken auf¬
weisende Böcklin-Sammlung der Galerie auf das wert¬
vollste ergänzt und hier in dem Leibl’schm »Amt¬
mann« ein schönes, wenn auch nicht ganz ebenbürtiges
Gegenstück hat, und die ebenso ungemein edle und
kräftige Landschaftsstudie von Feiierbach, eine schroffe
Felspartie mit weidenden Kühen. Endlich enthält die
Sammlung zwei Bilder eines jung verstorbenen und
wenig bekannten Berliner Künstlers, Paul KlHte, der
zwar kein Genius ersten Ranges zu werden versprach,
aber es vollauf verdient, in der Galerie seiner Vater¬
stadt vertreten zu sein.
Die wichtigste Bereicherung der Skulpturen- Ab¬
teilung ist Klinger’s » Amphitrite«. Der grosse Leip¬
ziger Künstler, dessen Namen der Galerie-Katalog von
igoi überhaupt noch nicht aufweist, wird also auch
hier endlich vertreten sein. Der herrliche Körper
dieser in ihrer majestätischen Ruhe an die Antike
erinnernden und doch durchaus modernen und in¬
dividuellen Gestalt ist schon häufig abgebildet
worden^); wundervoll ist die bläuliche und meer¬
grüne Tönung der edlen Gewandung.
i) Siehe Georg Treu, Max Klinger als Bildhauer
Leipzig 1899. Mit 30 Abb. u. 4 Lichtdrucktafeln. 6 Mark.
DIE NEUEN ERWERBUNGEN DER BERLINER NATIONAL-GALERIE
39
Von dem Eranzosen Rodin besass die Galerie
bisher nur zwei seiner an Charakterisierungsvermögen
fast alle gleichzeitigen Schöpfungen überragenden
Bronzebüsten. Das Marmorwerk »Der Mensch und
sein Gedanke« ist vortrefflich geeignet, in den Kreis
seiner ganz impressionistisch gehaltenen Gruppen ein¬
zuführen, die oft abstrakte Begriffe in seltsam sym¬
bolischer Weise zu versinnlichen trachten. Dazu
kommt die schöne Bronzebüste eines seeländischen
Mädchens von dem berühmten Belgier van derStappen
und eine bemalte weibliche Terrakottabüste von dem
wenig bekannten deutschen Bildhauer Gottlieb Elster.
Den Kunstfreund Königs selbst hat Seeböck in Bronze
porträtiert. w. G.
\
Abb. 8. Anders Zorn. Maja
DAS BILDNIS DES GIOVANNI BICCI DE' MEDICI IN DEN UFFIZIEN
IM ersten Korridor der Uffizien hängt ein Porträt,
das, in Tempera auf Holz gemalt, Giovanni Bicci
de’ Medici darstellt. *) Giovanni Bicci, der Vater
Cosimo’s war gleichsam der Wegbaumeister« für
seine Familie, er bahnte die Pfade, auf denen sein
Sohn nnd dessen Enkel zur Macht und Herrlichkeit
emporsteigen sollten. Im Jahre 1407 ward Giovanni
Podestä zu Pistoja, im Jahre 1421 bekleidete er, aus
verhältnismässig kleinen Anfängen rastlos sich herauf¬
arbeitend, bereits die höchste Würde der Republik,
das Amt eines Gonfaloniere und als er acht Jahre
später im Alter von 68 Jahren starb, folgten seinem
1) Katalog der Uffizien von 1897, Nr. 43. Uölic 0,73 ni,
Breite 0,75 ni.
Sarge alle Gesandten des Kaisers, der Könige, der
Venezianer und der anderen Mächte i).« Giovannis
Ruhm erlosch nicht mit seinem Leben. Die Medici
betrachteten ihn als Gründer ihrer Dynastie und hielten
sein Andenken in höchsten Ehren. Eür Gourmets
einer historischen Bild- Anschauung wird es darum
stets verlockend sein, in den »stillredenden Zügen des
Ahnherrn« die typischen Wesenseigentümlichkeiten der
berühmten Enkel zu erspähen. Von jener schlauen
Zähigkeit, die Cosimo vom Vater erbte, kündet im
Porträt der Uffizien Giovannis seltsam eingekniffener
Mund mit den dünnen blutleeren Lippen; die rück-
1) Scipione Animirato; Istorie fiorentine. Firenze
1848, Bei. IV, lib. XIX, p. 379.
DAS BILDNIS DES GIOVANNI BICCl DE’ MEDICI IN DEN UEEIZIEN
41
sichtslose Energie der breiten Stirne wiederum, die
grossen Augen, die von innerem Leben leuchten, —
all’ dies ist, ebenso wie die geistvolle Hässlichkeit
des Ahnherrn, auch seinem Urenkel, dem prunkenden
Lorenzo eigen.
Das Porträt selbst galt immer als authentisch, und
die Kopien 1) von Bronzino, Alessandro Allori, Al-
tissimo und Allegrini, denen allen es als Vorlage
diente, zeugen von der hohen Achtung, deren sich
dies früheste Medicäer- Bildnis erfreute. Natürlich
dankte es sein Ansehen zunächst der Person des Dar¬
gestellten, vielleicht aber auch seinen künstlerischen
Vorzügen. Die Zeit hat dem Gemälde viel Schaden
zugefügt; dann hat ein ziemlich plumper Restaurator
das Rot des Gewandes anfgefrischt, den Hintergrund
mit grünlich -grauen Tonen übermalt, im Antlitz ge¬
wahrt man deutlich Spuren von Verputzungen und
trotz alledem verrät dies Porträt, das ersichtlich der
ersten Hälfte des Quattrocento gehört, auch heute noch
die Hand eines Meisters von erstem Range. Mit einer
prachtvoll breiten Behandlung des Ganzen, einer
grossen Eormgebung, die auf einen Beherrscher des
Eresko als Autor hinweist, geht eine Kunst der Charak¬
teristik Hand in Hand, so eindringlich und grausam,
dass mit der Struktur der Knochen gleichsam auch
die Seele blossgelegt ist.
Der Katalog weist das Porträt Giovanni Bicci’s
dem Zanobi Strozzi-) zu, einem höchst mittehnässigen
Schüler Era Angelico’s, dessen Stärke auf dem Gebiete
der Miniaturmalerei lag. Man betrachte mir einmal seinen
»hl. Laurentius«’^) (s. d. Abb.): konnte einem Künstler,
der eine so herzlich unbedeutende Gestalt geschaffen,
je ein Haupt, wie das Giovanni Bicci’s, gelingen?
Und, Zanobi’s Autorschaft einmal angenommen, könnte
es sich überdies nur um eine Kopie handeln, denn
Zanobi zählte im Todesjahr des Giovanni Bicci erst
17 Jahre! Vor diesem Gemälde jedoch wird niemand
wohl den Eindruck einer Kopistenarbeit gewinnen.
Die Zuweisung des Porträts an Zanobi Strozzi geht
auf eine Stelle des Vasari^) zurück, steht und fällt
1) Kopien: Bronzino: s. Vasari (ed. Milanesi) VII,
p. 603. Diese Miniaturbildnisse, die einst das stndiolo
Cosimos I. schmückten, befinden sich heute in den Uffizien
(Kat. Nr. 3363). Ebendaselbst die anderen Kopien. —
Alessandro Allori: s. R. Archivio di Stato. Firenze: Guar-
daroba. Filza in, Inserto 11, Bl. 210. Am 2g. Juli dieses
Jahres 1586 werden Allori 25 Scudi für die Kopie an¬
gewiesen, er erhält aber dann 30. Am 26. Dezember
wird die Kopie der Galerie überwiesen. Altissinio: s.
Vasari VII, p. 608 u. Kenner: Die Porträtsammlung des
Erzherzogs Ferdinand von Tirol im Jahrbuch der kunst-
hist. Sammlungen des allerh. Kaiserhauses . Wien 1897,
p. i44f. R. Archivio di Stato: Guardaroba. Filza 45,
Bl. 29 wird anno 1560 una testa di giovanni di bicci de’
medici senz’ ornamento di man di Luigi fiamingo erwähnt.
Ich konnte ihn leider nicht nachweisen.
2) Über Zanobi Strozzi s. Crowe e Cavalcaselle: Storia
della pittura in Italia.« Vol. II, p. 420 und neuerdings
Langton Douglas: »Fra Angelico.« London igoo, p. lyyf.
3) Kat. der Uff. Nr. 44.
4) Vasari: Le vite etc. In Fiorenza 1568, T. I, p. 363.
In Milanesi’s Ausgabe vol. II, p. 521 u. Anm. 1.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 2.
mit der Notiz des Aretiners. In der zweiten Auflage
seiner »vite«, d. h. im Jahre 1568, schreibt Vasari:
»Und in der Guardaroba des Herzogs,« d. h.
Cosimo’s 1. — »befindet sich von Zanobi Strozzi’s
Hand gemalt, in einem und demselben Rahmen das
Bildnis des Giovanni Bicci de’ Medici und das des
Bartolornmeo Valori«. Das Uffizien-Porträt war ur¬
sprünglich nun ein Doppelbildnis. Noch heute ge¬
wahrt man zur Linken des Medici, vom Restaurator
nahezu schwarz getönt, einen Teil vom Mantel des
Valori. Als Folge der Verstümmelung des Gemäldes
ergab sich auch jene spitzbogenartige Form, die seltsam
genug bei einem Porträt anmntet. Ferner muss
der erste Rahmen beseitigt worden sein, denn der
goldene Rahmen, der mit seinen schnppenartigen Orna¬
menten heilte das Bild einschliesst, gehört wohl dem
Cinquecento. Die Tafel, die in goldenen Lettern auf
blauem Grunde die Inschrift
42
DAS BILDNIS DES GIOVANNI BICCI DE’ MEDICI IN DEN UFFIZIEN
lOHANES BICCI DE MEDICIS
trägt, wurde ebenfalls erst ini i6. Jahrhundert dem
Bilde angefügd, denn ihr Holz scheint jünger und
von anderer Qualität als das des Porträts. Es lag
sehr nahe, Vasari’s Bemerkung auf dieses Gemälde
zu beziehen. Aber nicht nur der künstlerische Wert
des Bildes, sondern auch Dokumente sprechen dagegen.
Kein einziges Inventar der mediceischen Guardaroba
nämlich kennt ein Doppelporträt des Giovanni Bicci
und des Bartolommeo Valori. Das Uffizien-Porträt
jedoch wird bereits im Jahre 1553, also volle 15 Jahre,
bevor Vasari jene Notiz drucken liess, als Einzelbildnis
in einem Inventar des Palazzo Vecchio erwähnt; *)
auch von einem Porträt Baccio Valori’s ist die Rede,
— aber dies war auf Stein gemalt. Beide Bildnisse
werden nun öfters in den Inventaren genannt,'^) von
einem Doppelporträt wird jedoch ebensowenig wie
von Zanobi Strozzi gesprochen. Seine Autorschaft
erscheint nach jeder Richtung hin unbeglaubigt, hält
weder der historischen Forschung noch der Stilkritik
Stand. Wer aber ist der Maler dieses Porträts?
Am 19. April des Jahres 1422 wurde vom Erz¬
bischof Amerigo Corsini durch eine feierliche Pro¬
zession die Kirche St. Maria del Carmine zu Florenz
eingeweiht. Masaccio schilderte in einem längst zu
Grunde gegangenem Fresko diese Scene, die »sagra'<
und zwar oberhalb der Pforte, die ins Kloster führt.
In den festlichen Aufzug reihte er »eine sehr grosse
Menge von Bürgern« ein; Vasari nennt mehrere,
darunter »Niccolo da Uzanno, Oiovanni Bicci de’
Medici, Bartolommeo Valori und diese beiden ; —
heisst es weiter — sind, von seiner Hand gemalt,
auch im Hause des Simon Corsi, eines Florentiner
Edelmannes, zu seheu'i. J Dieser Wortlaut schliesst
den Gedanken an ein Doppelbildnis nicht im Ent¬
ferntesten aus und die künstlerischen Qualitäten des
Medici-Porträts sind so bedeutend, dass man selbst
an einen Masaccio als Autor denken darf. Hat er
dies Porträt gemalt, so Hesse es sich ziemlich genau
datieren; denn Bartolommeo Valori starb bereits im
Jahre 1427 und Masaccio wieder verbrachte sein letztes
Lebensjahr in Rom. Das Gemälde müsste also ums
Jahr 1525 oder 1526 entstanden sein. Vergleicht
man nun das letzte Werk, das Masaccio in Florenz
schuf, die Gruppe des »Petrus in Kathedra« der
Brancacci-Kapelle mit dem Bildnis der Uffizien, so
werden sich, — insofern man überhaupt Tafelbilder
und noch dazu Porträts mit Fresken vergleichen kann, —
gemeinsame Züge herausfinden lassen, nicht nur in
Bezug auf die Grösse der Auffassung und die be¬
deutende Charakteristik, die Art, wie mit sparsamsten
Mitteln das Höchste erzielt wird, sondern auch in der
1) Conti: La prima reggia di Cosimo I. Firenze 1893.
In dem dort mitgeteilten Inventar vom Jahre 1563 heisst
es p. 139: Uno niezzo tondo pittovi Giovanni de’ Medici
con cornice dorata und auf p. 96: Un ritratto di Baccio
Valori in su la pietra alto braccie 1 Va-
2) S. die Auszüge aus den Inventaren am Schlüsse des
Aufsatzes.
3) Vasari (ed. Milanesi) II, p. 295.
Behandlung von Details, z. B. in der starken Accen-
tuierung der Kinnpartie, in dem breiten Nasenrücken
und der Bildung des Auges. Vasari bezeichnet Simone
Corsi als Besitzer des Porträts. Vielleicht irrt der
Aretiner, wie so oft, auch hierin; vielleicht überliess
es Simone Corsi dem Herzog, der ja darauf ausging,
die Porträts seiner Ahnen zu sammeln. Im Jahre
1553 erwähnen die mediceischen Inventare, wie gesagt,
zum erstenmal das Bild. Gerade um diese Zeit aber
begann der Herzog seine Porträt-Kollektion anzulegen,
und man kann leicht folgern, dass just ciamals das
Gemälde seinen Eigentümer wechselte. Doch dies
sind Hypothesen. Die Inventare geben keine Auskunft
darüber, wo das Bild vor dem Jahre 1 553 sich befand.
Aber die blosse Thatsache, dass Masaccio ein Bildnis
des Giovanni de’ Medici und des Bartolommeo Valori
gemalt, genügt vielleicht, um ein vorzügliches Porträt
aus der ersten Hälfte des Quattrocento, das einstens
diese beiden darstellte, dem oeuvre dieses Grossen
vermutungsweise einzureihen.
Florenz. em/L SCHA EFF ER.
ANHANG.
Reale Archivio di Stato. Firenze: Quardarobax.
Ricordi. Filza 26, Bl. 29. - 11. November 1553.
Fö’cordo adi detto come il barigiel hebe 2 (sic!) quadri -
(hier ist das ursprüngliche o in i verbessert) - dentrovi
Joanni de bicci de medici per ricavarlo . Diese Stelle, die
einzig in den Inventaren dasteht, ist ebenso dunkel wie in¬
teressant. Ricavare, die Verstärkung von cavare« kann
herausnehnien und kopieren bedeuten. Das Letzte scheint
insofern schwer anzunehmen, als barigiel ein Eigenname
und gar kein Künstler dieses Namens bekannt ist. Cosimo 1.
aber liess Kopien nach anderen Bildern, besonders nach
Porträts stets von Künstlern ersten Ranges anfertigen und
ihre Namen werden in den Inventaren auch genannt. Die
Bedeutung Herausnehmen für ricavare hat, in Verbin¬
dung mit dem ausgestrichenen un und der darüber ge¬
schriebenen 2 mehr Wahrscheinlichkeit. Dieser barigiel
bekam ein Bild, nahm den Medici heraus und lieferte 2 ab,
d. h. die Bilder des Medici und des Valori. Vielleicht
findet sich das Porträt des Letzteren noch in den Depots
der Uffizien.
Andere Erwähnungen des Porträts: Inventar von 1553
s. oben. - Inventario generale . Anno 1574. Eilza
107 bis. Bl. 48. Quadro di Oiovanni Bicci de’ Medici sopra
tondo e antico. Anno 1596. Eilza 190, Bl. 40. Quadro
in mezzo tondo alto braccie i^/-, entrovj Oiovanni Bicci
ed ornamento messo a oro. Anno 1609. Eilza 261, Bl. 82.
Quadro mezzo acuato in tavola in cornice messo a oro
con il ritratto di giovannj bicci de’ Medici.
Die Erwähnungen des Valori-Porträts : Inventar von
1553 s. oben. Anno 1560. Eilza 45, Bl. 61. Un quadro
di tela dipintovj anzi di pietra ed ornamento di Legnio
ritrattovi baccio valori. Porträts des Valori ohne nähere
Bezeichnung Eilza 65, Bl. 62 u. Eilza 107 bis. Bl. 94. Mög¬
licherweise beziehen sich all’ diese Bildnisse auf den jüngeren
Valori, obschon es auch vom älteren einige Porträts ge¬
geben haben muss: s. Vita di Bartolommeo di Niccolo di
Taldo di Valore Rustichelli, scritta in lingua latina da Euca
di Simone della Robbia e fatta volgare da Messer
Piero della Stufa im Arch. stör. it. IV. Eirenze 1843, P- 238.
Eins,« — d. h. Bart. Valoris - >dtnago a miütis expressa,
miroque fuit artificio .
P. P. Rubens. Maria verleiht dem heil, lldefonso ein geistliches Gewand. Petersburg, Ermitage
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
IN DER ERMITAGE ZU ST. PETERSBURG
Von Max Rooses in Antwerpen
WENN man den lebhaften Newski- Prospekt
verlassen hat und rechter Hand über den
Alexandergarten und den Schlossplatz schreitet,
erreicht man im Anfänge der Millionaja und neben
dem Winterpalais den bescheideneren Palast der
Ermitage, welcher mit seinen feinen, edeln Linien
griechischen Stils günstig von dem Barockprunk
seines grossen Nachbars absticht. Der Eingetretene
befindet sich in einem wahrhaften Palast; Säulen,
Statuen, Treppen, Marmorgänge, seidene Tapeten an
den Wänden, vergoldete Sitzbänke und Diener in
fürstlicher Livree; man glaubt sich in den Gemächern
des Kaisers zu befinden und es ist auch in der That
so. Das überreich ausgestattete Kaiserliche Museum
in Wien ausgenommen, ist keine Gemäldegalerie der
Pracht dieses Gebäudes ebenbürtig.
Durch den Inhalt kann die Ermitage mit den
grössten und berühmtesten Museen um den Preis
ringen. Es giebt in der Welt weder ein Museum,
wo die holländische Schule des grossen Jahrhunderts
so vorzüglich vertreten ist wie hier, noch ausser
Madrid ein solches, wo die spanische Schule so reich
auftritt und ausser Paris keines, das über so aus¬
gezeichnete Exemplare verfügt. Und auch von den
grössten Meistern vlämischer und italienischer Schule
sind prächtige Werke im Überfluss vorhanden.
Dass alle diese Herrlichkeiten soweit von der grossen
Strasse abgekommen sind, dass es nur wenigen ver¬
gönnt ist, sie aufzusuchen, ist sicher beklagenswert;
dass sie andererseits die Mühe der langen Reise lohnen,
ist ebenso gewiss. Sie sind dorthin gekommen dank
dem erlauchten Kunstsinn der Fürsten des Landes;
Peter der Grosse, Katharina II. und ihre Nachfolger
haben wetteifernd mitgewirkt zur Bereicherung der
grossen Sammlung. An Geld fehlte es ihnen nicht
und glücklicherweise ebensowenig an gutem Geschmack
und Rat durch befugte Mitarbeiter. Im i8. Jahr¬
hundert, einer Zeit, in der Holland und Flandern
die Verkaufssäle für ihre Kunstschätze geworden
waren, bereicherten sich Frankreich, Deutschland und
6
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
auch Russland mit Dingen, für welche dem heimat¬
lichen Nationalstolze das Gefühl fehlte, um sie für das
Land anzukaufen, und die der Bürgerschaft gleich¬
gültiger waren als gewebte Taj^eten und gemünztes
Gold. Der grösste Teil dieser Perlen aus Hollands
Krone ist zu Geld gemacht und für immer dem Vater¬
land verloren, nur ein Trost blieb uns Niederländern,
nämlich dass diese Verbannten die Verbreitung des
guten Namens unserer Schule durch die ganze Welt
befördern halfen.
Seltsam genug, Katharina und ihre Nachfolger
kauften die meisten und schönsten der holländischen
und vlämischen Gemälde
nicht am Ursprungsorte,
sondern in Erankreich,
England und Deutsch¬
land. In Paris war der
grösste Kunstmarkt des
i8. Jahrhunderts, und
aus den weltberühmten
und fabelhaft reichen
Sammlungen Crozat,
Choiseul, Randon de
Boisset und Conti gingen
Schiffsladungen mit
Meisterwerken nach St.
Petersburg. Hierzu kam
das Museum vonMalmai-
son — von der Kaiserin
Josephine durch die Ge¬
mälde begründet, welche
aus Kassel entführt wor¬
den waren —, die Galerie
Brühl in Dresden, das
Kabinett von Lord Wal¬
pole und verschiedene
andere, worunter auch
das von Wilhelm II.,
König von Holland, ver¬
meldet zu werden ver¬
dient, welche ganz oder
teilweise nach dem Nor¬
den zogen. Die spani¬
schen Gemälde wurden
hauptsächlich gekauft
auf den Auktionen des
Prinzen des Eriedens,
Manoel Godoy, von Gessler, dem russischen Konsul zu
Cadix, von Paez de la Cadena, dem spanischen Minister
zu St. Petersburg, und des Marschalls Soult, welch
letzterer einen langen Eeld- und Raubzug in Spanien
hinter sich hatte.
Die alte vlämische und holländische Schule ist
nur kärglich vertreten. Abgesehen von der Wer-
kündigung' von Jan van Eyck, sowie von zwei ihm
zugeschriebenen Flügelstücken und dem Triptychon
von Lucas van Leyden, der >Genesung des Blinden
von Jericho - sind keine bedeutenderen Werke zu
melden. Mit Ausnahme des letztgenannten Meisters
wollen wir unsere Übersicht denn auch auf die
Meister des 17. Jahrhunderts beschränken, die
wie wir bereits erwähnten — eine wahrhaft glänzende
Stellung im Kaiserlichen Museum einnehmen.
DIE VLÄMISCHE SCHULE.
Petrus Paulus Rubens.
Von Rubens sind 54 Gemälde in dem Katalog
angegeben, wozu noch fünf alte Kopien kommen.
Sechs dieser Werke sind ihm irrtümlich zugeschrieben,
dagegen sind zwei, die schönsten Porträts, welche
das .Museum von ihm
besitzt, unter van Dyck
vermerkt. Die Gesamt¬
zahl beträgt also 50
Werke des grossen Vla-
men. Eine ungeheure
Zahl, jedoch nur eine
Ziffer, die noch kein
genaues Bild zu geben
vermag von der Bedeu¬
tung der persönlichen
Beteiligung des Meisters
an seinen Werken.
In diese Zahl sind
übrigens zwanzig Skizzen
inbegriffen, welche in
ihrer Art sehr bemerkens¬
wert sind, andererseits
aber den vollendeten Ge¬
mälden nicht an die
Seite gestellt werden
können. Unter den Por¬
träts befindet sich ein
halbes Dutzend von mit-
telmässigem Werte und
unter den übrigen Bil¬
dern sind noch fünf von
untergeordnetem Range,
so dass schliesslich neun¬
zehn Bilder von hervor¬
ragendster Bedeutung
übrig bleiben; immerhin
ist diese Gruppe an
Umfang und Beschaf¬
fenheit so gross, dass
jedes Museum der Welt sich ihrer rühmen würde.
Die religiösen Bilder haben ungleichen Wert.
Eine Anbetung der Könige« und eine »Maria,
welche den Rosenkranz dem hl. Dominicus über¬
reicht«, sind grosse, dekorativ behandelte Bilder, die
Rubens durch seine Schüler malen Hess zur Aus¬
stattung von weniger begüterten oder abgelegenen
Kirchen, und die er übermalte. Ein »Christus bei
Simon dem Pharisäer« und eine »Kreuzabnahme«,
aus der Kapuzinerkirche von Lier stammend, sind da¬
gegen Werke, die dem Meister Ehre machen. Das
erste lacht uns entgegen mit jenen reichen Farben,
die er seinen festlichen Darstellungen verlieh, während
seine dramatische Kraft aus den missgünstigen Ge-
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
Sichtszügen und den neiderfüllten Gebärden der
Priester und Pharisäer spricht. Die »Kreuzabnahme«
steht weit unter derjenigen der Hauptkirche von
Antwerpen; jedoch unter dem halben Dutzend jener
Auffassungen desselben Themas, welche Rubens kurz
nach der Vollendung seines
Meisterwerks vom Jahre 1612
lieferte, ist diese wohl die
beste. Sie beweist ebenso
wie die anderen Kreuzab¬
nahmen, dass die erste den
Vorwurf auf so vollkommene
Weise zum Ausdruck ge¬
bracht hat, dass sie jede an¬
dere dieser Darstellungen, von
Rubens oder von welchem
Meister auch, übertrifft. Zu¬
gleich bezeugt sie die uner¬
schöpfliche Eruchtbarkeit sei¬
ner Schaffenskraft, die ein
und denselben Gedanken auf
so verschiedene Weise aus¬
zusprechen vermochte, stets
neu, stets bewunderungs¬
würdig.
Reicher ist der Eabel-
erzähler vertreten. Ein kleiner
Silenenzug aus der Reihe jener
Aufzüge, in denen der Meister
so ausgesucht gute Typen der
ausschweifenden Geniesser
gab; »Venus und Adonis ,
wovon das Mauritshans ein
zweites, weniger bedeuten¬
des Exemplar besitzt und
das an eine der lieb¬
lichsten Gruppen von Tizian
erinnert; »Perseus und An¬
dromeda«, flach wie eine
Wandmalerei; und dann auf
Leinwand eine Wiederholung
der Darstellungen, mit wel¬
chen Rubens das Innere
seines Hauses bemalte; end¬
lich »Bachus auf dem Pass«,
eines seiner letzten Werke,
leuchtend, von saftiger Earbe
und spielendem Licht; sie
alle gehören zu Rubens
Meisterwerken. Die Statue
der Ceres in einer Nische, um¬
ringt von schalkhaften Liebes-
götterchen, ist eins der rei¬
zendsten Bildchen des grossen Kindermalers (Abb. S. 46).
Zwei Landschaften sind dort: eine, der Regen¬
bogen«, wovon der Louvre eine mittel mässige Wieder¬
holung besitzt, aus des Meisters früherer Zeit, als er
sich noch der Werke des Annibale Caracci erinnerte
und idyllische Landschaftsdarstellungen malte; und
eine andere, »die festgefahrene Karre«, aus seinen
letzten Jahren stammend, als er draussen wohnte und
dort das Land und seine Bewohner malte, sowie er
sie vor Augen hatte.
Die Skizzen nehmen in der Ermitage unter den
Werken von Rubens einen ansehnlichen Platz ein.
Nirgendwo, selbst nicht einmal in der Pinakothek
in München, welche die Ent¬
würfe der Medici-Galerie be¬
sitzt, noch in Madrid, wo
sich diejenigen der Eiguren
lind Triumphe des hl. Sacra-
ments« befinden, trifft man
so viele und bedeutende an :
sieben Stück für den Einzug
des Kardinal -Infant in Ant¬
werpen, fünf für die Medici-
Galerie, zwei für die Pla¬
fonds von Whitehall, eins
für die -Geschichte Constan-
tin’s des Grossen , und dann
noch fünf für besondere
Bilder. Die Skizzen für den
Einzug des Eerdinandus sind
weitaus am bedeutendsten.
Sie zeigen uns, mit welch
leichter verschwenderischer
Hand Rubens die grossen
Reihen schuf, mit denen er
eine ganze Stadt zierte, und
die unter seiner Leitung durch
alle hervorragenden Künstler,
welche Antwerpen damals
besass, ausgeführt wurden
(Abbildung Seite 48). Die
Skizzen der Medici-Galerie
sind leicht hingeworfene
Entwürfe der ersten Auffas¬
sung einiger der grossen Zu¬
sammenstellungen, welche
später in den zweiten Skizzen
bestimmter werden sollten.
Diejenigen für Whitehall ge¬
hören zu den unzähligen
und meistens prächtig ge¬
malten Stücken eines Wer¬
kes, das in seiner Gesamt¬
heit zu den wenigst bedeu¬
tenden von Rubens gehört.
Unter den Skizzen für
besondere Gemälde verdient
diejenige für das Mirakel
des hl. Ildefons besonders
genannt zu werden. Das Bild
(in der Wiener Gemälde¬
galerie) gehört zu den herrlichsten Schöpfungen von
Rubens und der Malerei überhaupt, es veranschaulicht in
einem dreiteiligen Bild in der Mitte die Mutter Gottes,
welche dem hl. Ildefons die Casel überreicht und
auf den Seitenflügeln die Erzherzöge Albrecht und
Isabella in betender Haltung. Auf der Skizze sind
die drei Teile in einen zusammengeschmolzen, die
Erzherzöge wohnen dem Wunder bei; der Schauplatz
P. P. Rubens. Bildnis seiner zweiten Frau,
Helene Founnent. Petersburg, Ermitage
46
DIE VLAMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
P. P. Rubens. Statue der Ceres
Petersburg, Ermitage
ist ausserhalb der Kirche verlegt, was nicht in Über¬
einstimmung ist mit der Legende und der späteren
Bearbeitung (Abb. S. 43).
Gerade in seinen Skizzen verrät Rubens die ihm
eigentümliche Begabung; er malt sie ohne weiteres
Zögern in breiten Zügen, überzeugt von der Sicher¬
heit seiner Hand und kaum imstande, den überfliessen-
den Reichtum seiner Ideen schnell genug auf die
Leinwand zu bringen. Die Earben deutet er mit
einigen Strichen an, stets heller und blasser wie in
dem Gemälde, denn seine erste Sorge ist, licht zu
bleiben. Alle seine Skizzen waren Improvisationen,
die er bei näherer Überlegung verbesserte, aber in
den grossen Zügen beibehielt.
Die Porträts sind der wichtigste Teil der Werke
von Rubens, welche die Ermitage besitzt. Die ihm
irrtümlich zugeschriebenen ausgenommen, bleiben noch
zehn ersten Ranges übrig. Eins, dasjenige des Herzogs
von Bucquoy, ist nur eine Skizze in Graumalerei
mit einigen Farbenstrichen. Es zeigt uns das Bildnis
des Feldobersten in einer reichen, sinnbildlichen Um¬
rahmung, wie Rubens drei derartige zu Ehren grosser
Persönlichkeiten malte. Ein anderes ist das frische,
liebe Gesichtchen einer Kammerjungfer der Infantin
Isabella, die wir aus der meisterlichen Zeichnung,
welche Rubens von ihr machte, näher kennen lernen
und worauf einer seiner Bedienten mit ungeübter
Hand schrieb: »Zaeldochter der infante.« Dann
kommt die herrliche, triumphierende Helene Fourment,
seine zweite Frau, mit dem Federfächer in der Hand.
Ferner Susanne Fourment, ihre Schwester, der Lieb¬
ling von Rubens, und endlich Isabella Braut, seine
erste Gattin: die drei Frauen, welche ihm das Liebste
auf Erden - für ihn die Personifizierung der Schön¬
heit, des Geistes und der Güte waren (Abb. S. 44 u. 45).
Diese Susanna Fourment und Isabella Braut haben
in den letzten Jahren hier und da zu Meinungs¬
verschiedenheiten 'Anlass gegeben. Früher wurde die
erstere van Dyck zugeschrieben und für das Porträt
einer unbekannten Dame mit ihrer Tochter gehalten;
bei meinem ersten Besuch der Ermitage erkannte ich
in ihr ein Werk von Rubens und das Porträt von Susanne
Fourment; es ist dieselbe Person, wie jene Frau mit dem
Strohhut in der National Gallery von London, und
die Dame aus der Familie Boonen im Louvre, ln
dem Katalog von 1895 erhielt das Modell seinen
richtigen Namen, blieb jedoch van Dyck zugeschrieben.
Schlimmer noch, Isabella Brant, die immer für ein
Werk von Rubens durchgegangen war, wurde nun
wegen der offenbaren Übereinstimmung der Be¬
handlung mit derjenigen der Susanna Fourment und
infolge einer Bemerkung von Wilhelm Bode, der am
liebsten alle von Rubens gegen 1620 vollendeten
Porträts van Dyck zugeschrieben hätte, auch unter
den Namen dieses letzteren gesetzt. Ich habe damals
die Unhaltbarkeit dieser Ansicht auseinandergesetzt
und bei meinem letzten Besuch zu St. Petersburg
sah ich mit Vergnügen, dass alles in Ordnung ge¬
bracht war und Rubens zwei seiner Meisterwerke
wiedergegeben worden waren.
Über Isabella Brant, deren Abbildung beigefügt
ist, noch einige Worte. Sie war die älteste Tochter
von Jan Brant, Amtsschreiber und später Schöffe von
Antwerpen und wurde getauft in der Liebfrauenkirche
am 20. Oktober 1591. Rubens verheiratete sich mit
ihr am 3. Oktober 1609. Sie schenkte ihm drei
Kinder: Clara Serena, die früh starb. Albert und
Nicolaus. Sie verschied den 20. Juni 1626. Lob¬
spendend und rührend war das Zeugnis, welches
Rubens in einem Brief an seinen Pariser Korrespon¬
denten Pierre Dupuy wenige Tage nach ihrem Tode
von ihrem Charakter ablegte: »Ich habe wahrlich
eine vortreffliche Lebensgefährtin verloren, die man
liebhaben mochte und musste aus dem guten Grunde,
weil sie keins von den Gebrechen ihres Geschlechts
besass; in ihr war weder Unwilligkeit noch irgend
ein andres weibliches Gebrechen; sie war lauter Güte
und Lieblichkeit und wurde in ihrem Leben wegen
ihrer Tugenden verehrt und nach ihrem Tode durch
jeden betrauert.«
Rubens malte sie wiederholt: das erste Mal in
der lieblichen^ Gruppe, welche die Pinakothek in
München hat, wo das junge Paar nebeneinander sitzt
im Glück der Flitterwochen und im festlichen Hoch¬
zeitsschmuck; sie, vertraulich die Hand in die seine
schmiegend, stolz auf ihren Mann ; er, sich innig und
gütig zu ihr neigend, glücklich im Besitze seines
DIE VLAMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
47
jungen lieben Weibchens. In späteren Jahren malte
er sie verschiedene Male als Brustbild; das Maurits-
haus im Haag, die Königliche Sammlung zu Windsor-
Castle, die Uffizien in Florenz, das Wallace-Museum
in London und verschiedene andere Sammlungen
besitzen dergleichen Bildnisse.
Die Ermitage besitzt das vollendetste und schönste
ihrer Porträts. Sie sitzt in einem Lehnstuhl bis über
die Kniee nach unten im Bilde; die eine ihrer Hände
ruht in ihrem Schoss und hält einen Rosenzweig, die
andere liegt auf dem Arm des Sessels und hält einen
Fächer von Straussenfedern. Sie trägt einen rot und
gold gestreiften Rock, ein goldfarbiges Leibchen und
darüber eine schwarzseidene Mantille, einen Hals¬
kragen mit Spitzenläppchen, eine doppelte Perlen¬
schnur, eine goldene, emaillierte Kette, die dreimal
doppelt auf die Brust fällt und die auch von Susanna
und Helene Fourment getragen wurde, wenn sie
Rubens malte. Rechter Hand sieht man das Portal,
welches den Binnenhof des Rubenshauses von dem
Garten trennte, darüber der blaue, leicht bewölkte
Himmel; links eine rote Gardine.
Dieses Bild ist wohl das beste, das die Ermitage
von Rubens besitzt. Es ist eine Pracht — dieses Ge¬
mälde. Der Hintergrund ist zusammengehalten durch
das graue Gebäude und den blaugrauen Himmel;
die rote Gardine ist tief in der Farbe, jedoch
fast ohne Glanz, nur einige mattleuchtende Reflexe
auf den Faltenbrechungen. Die Frauenfigur kommt
auf diesem gemässigten Tone in voller Kraft zum
Ausdruck. Es ist nicht mehr die achtzehnjährige
Braut, die wir hier sehen; fünfzehn oder sechzehn
Winter müssen vergangen sein, seitdem Rubens sie
zum erstenmal malte. Die Frische des Gesichts hat
nachgelassen, die Hautfarbe ist gebräunt und das Rot
der Wangen ist stärker geworden, die Familien¬
züge sind ausgesprochener, die dünnen Brauen gehen
schräger in die Höhe, die Kinnbacken treten mehr
heraus und das Kinn ist spitz geworden; wir sehen
eine Frau von vierunddreissig Jahren vor uns, die zu
früh gealtert ist. Sie ist kostbar gekleidet, ihr Aus¬
druck verrät jedoch nicht das Gefühl des Behagens;
möglichst einfach ist das dunkelbraune Haar gehalten,
unregelmässig über die Stirne und ganz glatt nach
hinten gestrichen.
Isabella Brant zeichnet sich nicht durch besondere
Schönheit aus; sie ist eine Frau des höheren Bürger¬
standes, nicht stolz auf die fürstliche Pracht ihrer
Gewandung und ihrer Umgebung, im Gegenteil gütig
und anmutig. Ihre Lippen haben sich zu sanftem
Lächeln verzogen, ihr Blick ist verständig und klar.
Ruhig sitzt sie da, mit demselben stillen Blick und
voll Vertrauen schaut sie ihren Mann an, wie sie
fünfzehn Jahre früher an seiner Seite in die Welt
blickte. Aber damals war das Zittern freudiger
Hoffnung und jugendlicher Erwartung in ihrem Auge
zu lesen, heute ist es Zufriedenheit über ihr Los und
Frieden mit der Welt. Und ihr Porträt trägt den
Stempel des grossen Meisters, ihre Haltung ist lose
und gefällig, ihre stille, sanfte Seele spricht aus jedem
Zug, aus jedem Fältchen ihres ganzen Wesens, sie
lebt fort in der vollen Wahrheit und in dem unver-
welklichen Farbenglanz dieser Verewigung.
Das Bild ist unumstritten ein Prachtporträt. Es
wurde gegen Ende des kurzen Daseins der ersten
Gattin des Meisters gemalt und ohne Zweifel hing
es einige Jahre nach der Vollendung in seinem
Zimmer zum Andenken an die innig verehrte Mutter
seiner Kinder. Es ist eins der naturgetreusten Porträts,
die Rubens jemals gemalt hat. Das britische Museum
besitzt eine Zeichnung in schwarzer Kreide nach dem
Leben, in aller Einfachheit und ohne Schmuck, die
in dieser Malerei unverändert wiedergegeben ist.
Es gehört zu den Werken aus der Mitte der Lauf¬
bahn des Künstlers und ist ein treffendes Zeugnis
für die Weise, wie er um 1625 das Porträt auffasste,
ln dieser wie in jeder anderen Gattung seiner Kunst
besserte er stets seine Technik. In seinen ältesten
bekannten Bildnissen, dem Herzog und der Herzogin
von Mantua, in den Jahren 1604 — 1606 gemalt und
jetzt im Museum von Mantua, liebt er das Stattliche,
Majestätische und verfällt leicht ins Romantische.
Nach seiner Rückkehr nach Antwerpen wird er ruhiger,
sittsamer, wie in seinem Bildnis von Nicolas Rochox
in dem Museum von Antwerpen, gezeichnet 1613
bis 1615, stattlich und steif in der Haltung, flach
und poliert in der Farbe. Einige Jahre später, 1618
bis 1620 ist er blühender und farbiger, wie wir in
P. P. Rubens. Skizze. Petersburg, Ermitage
48
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
den Porträts von Jean Charles de Cordes und
Jacqueline van Caestre, iin Museum zu Brüssel, sehen,
ebenso in dem von Theodoor van Thulden zu
München und in dem der Snsanna Fourment in der
National Gallery. Wieder vergehen einige Jahre und
er gewinnt an Geschick in der Wiedergabe des
Seelenlebens, und der Natürlichkeit und Eleganz in
der Gebärde, an Weichheit und Glanz, wie in der
Gruppe seiner zwei Söhne in der Liechtenstein-
Galerie. In dieser Richtung geht er weiter, stets
leichter, geschmeidiger und glänzender, wie in der
Reihe seiner herrlichen Porträts von Helene Fourment
und von Jan Braut zu München. Die Isabella Braut
malt er zur selben Zeit wie die Gruppe seiner zwei
Söhne, während des Wendepunktes von der zweiten
zu seiner letzten Manier. Das Bild erreicht den
höchsten Grad von Ehrlichkeit in der Wiedergabe,
in der Leichtigkeit und Lebendigkeit der Haltung
ohne Zugeständnisse zu machen an die Sucht durch
Äusserliches zu glänzen und ohne durch die Zauber¬
macht des Lichtes und der Farbe zu verführen.
(Fortsetzung folgt.)
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XHI
ORIOINALRADIERUNG VON HEINRICH WOLFF-MÜNCHEN
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ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIII AM KLAVIER. SCHABKUNSTBLATT VON FIANS NEUMANN, MÜNCHEN
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Von Hermann Mutmesius in London
(f'oii Setzung)
Abb. 1. E. A. Abbey. Die Kreuzfahrer beim Anblick Jerusalems
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. tl. 3
Das bedeutendste Ereignis in der Ge-
scliiclite der neueren englischen Ma¬
lerei und eines der bedeutendsten in
der modernen Kunstentwickelung überhaupt
ist das Auftreten der englischen Präraffael iten.
Nicht dass sie, wie etwa die romantischen
Landschafter oder die französischen Realisten,
neue Werte rein malerischer Art in die Kunst
unserer Zeit eingeführt hätten; aber die
von ihnen verursachte Bewegung war den¬
noch eine der tiefsten und im allgemein
künstlerischen Sinne bedeutendsten, die sich
je abgespielt haben. Überblickt man die
Entwickelungsreihe der Kunstproduktionen
des ig. Jahrhunderts, so bleibt das Auge
mit gesteigertem Anteil auf den Bildern der
Präraffael iten haften. Hier spriessen plötzlich
Blumen von saftigster Farbenpracht und be¬
rauschendem, fast exotischen Dufte empor.
Aber trotz des Seltsamen, das aus der Erschei¬
nung spricht, mutet uns ihr Geist merk¬
würdig fesselnd an, wir fühlen es, hier
weht uns der Hauch eines innersten Geheim¬
nisses unseres modernen Empfindens ent¬
gegen, hier werden Gefühlswerte in die That
umgesetzt, die sich unbemerkt in unserer
Brust angesammelt hatten und der Auslösung
harrten.
Wie kam es, dass sie in England zuerst
ausgelöst werden sollten, in jenem Lande des
kühlen Geschäftsgeistes, der abgeklärten, lei¬
denschaftslosen Verstandesmenschen? Und
wie konnte der Ausbruch einer romantischen
Gefühls- und Empfindungskunst, wie sie das
Präraffael itentum darstellt, gerade hier Boden
gewinnen, wo sich die ganze Lebensauffas¬
sung durch das rücksichtslose Bekennen zum
rein Zweckmässigen, Ungekünstelten, Nüch¬
ternen ausgezeichnet, in einem Lande, das
sich gerade damit zur Führerin in der Ent¬
wickelung einer neuen Art von Lebensformen
gemacht hatte? Wie verträgt sich eine reine
Stimmungskunst, wie die präraffaelitische, mit
jener Realistik, deren Vorwalten sich, wie
früher bemerkt, in den Künsten des täglichen
Lebens, in der Kleidung, im Hausbau, in
Architektur und Kleinkunst in England so
klar ausspricht?
Wir befinden unshiersogleich mitten in dem
seltsamen Widerstreit, der in der modernen
7
50
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Kunst überhaupt zwischen Realistik und Stimmungs¬
bestrebungen obwaltet. Augenblicklich lässt sich
dieser Streit wohl am auffallendsten in der neuesten
kontinentalen Kleinkunst beobachten, wo die Wogen
beider Gebiete hoch gehen. Man behauptet dort
in mathematischer Schärfe rationalistisch zu bilden,
man versteigt sich bis zur Forderung der 'Ausschal¬
tung der Phantasie« aus der Tektonik und steckt im
tiefsten Banne stimmungmachender Phantastik. Die
Verquickung, man möchte sagen Vermählung beider
Elemente ist indessen nicht so ungewöhnlich, wie sie
im ersten Augenblicke erscheint. Ja man kann sagen,
sie ist stets das Charakteristische der nordischen
(germanischen, im Gegensatz zur klassischen) Kunst¬
übung gewesen, wo diese unbeeinflusst auftrat.
Das Klassische ist der Gegenpol dazu, hier gilt die
reine, sinnfällige "Schöne Form«. Aber der nordische
Geist liebt die Verschmelzung von Wahrheit und
Dichtung, von Realistik und Phantastik, wir begegnen
ihr bei den Romantikern, in klar ausgesprochener
Weise bei den altdeutschen Meistern, in überzeugender
Form in der Gotik selbst. Dadurch, dass die mo¬
derne Kunst beide Elemente in so seltsamer Ver¬
mischung zeigt, bekundet sie eben gerade ihre Her¬
kunft am deutlichsten, sie trägt den Stempel des nor¬
dischen Ursprungs klar aufgeprägt.
Wird so schon der Umstand, dass gerade aus dem
Lande der ausgesprochensten Zweckmässigkeit die
stärkste Gefühlswelle in die moderne Kunst gesandt wer¬
den konnte, seiner Seltsamkeit entkleidet, so macht ein
Blick auf die allgemeine Geistesbewegung, die England
im ig. Jahrhundert eingeschlagen hat, den Vorgang
noch besonders erklärlich. Diese Bewegung ist eine
sehr merkwürdige gewesen. Man braucht heute nur
die im Lichte rationalistischen Denkens mit sieghafter
Klarheit vorgetragenen Freiheitsbetrachtungen Macau-
lay’s und Buckle’s zu lesen, wie sie in England
in der ersten Hälfte des Jahrhunderts das Feld
beherrschten, und damit die heutige Geistesrichtung
vergleichen, um sich des inzwischen eingetretenen
Wandels bewusst zu werden! Dort wird die wissen¬
schaftliche Erkenntnis, die Befreiung von jeder Art
religiösem, als Aberglauben bezeichneten Mysticismus
als die Quelle wirklichen Kulturfortschrittes, von
Civilisation und Wohlstand bezeichnet, und heute
schwelgt die bessere englische Gesellschaft förmlich
in Mysticismus und kirchlichem Ritualwesen, und eine
starke kirchlich-reaktionäre Partei begrüsst jeden Ver¬
such mit Hohngelächter, dem Sturmschritte, mit dem
sie sich dem römisch-katholischen Ziele nähert, Ein¬
halt zu thun. Die Frauen der heutigen englischen
Gesellschaft belagern die Wahrsagerinnen, die in den
besten Vierteln Londons flotte Geschäftsbetriebe unter¬
halten, und unter der Bezeichnung Christian Science
ist eine förmliche Wiederbelebung des Besprechungs«-
oder Sympathieheilschwindels eingeführt und in hohem
Schwünge. Vor einigen Jahren unterhielt die »Times«
ihre Leser den ganzen Sommer hindurch mit einem mit
der Miene tiefsten Ernstes geführten Briefwechsel über
Geisterspuk. Auf sozialem Gebiete haben die Ansichten
Englands ebenfalls eine volle Umkehr erfahren. Buckle
behandelt in einem besonderen Abschnitte seines Buches
über die Civilisation die >Beschützungspolitik« der
kontinentalen Staaten und weist es von dem damaligen
englischen Standpunkte aus mit Verachtung zurück,
dass einem englischen Bürger Zwangsmassregeln über
die Erziehung seiner Kinder zugemutet, der englische
Arbeiter durch Regierungsschutz entmündigt werden
sollte. Und 1870 führte das Parlament den Schul¬
zwang nach kontinentalem Muster ein, fünfundzwanzig
Jahre später kopierte es sogar unsere deutschen Ar¬
beiterschutzgesetze! Auf wirtschaftlichem, national¬
ökonomischem Gebiete dieselbe Erscheinung, fast
überall sehen wir im Verlaufe des ig. Jahrhunderts
eine völlige Umkehr von den früheren Zielen in
England eintreten.
In der Kunst äusserte sich seit den fünfziger
Jahren das Überhandnehmen von Stimmungselementen
in derselben auffallenden Weise wie in der Religion
und zwar in der Litteratur nicht minder wie in der
bildenden Kunst. Die künstlerische und die religiöse
Bewegung sind in dieser Beziehung als Parallel-
Strömungen nach demselben Zielpunkt hin aufzu¬
fassen. Die Malerei war es, die durch die Persön¬
lichkeit Rossetti’s, der ein Dichter mit dem Worte
und dem Pinsel zugleich war, der Krystallisations-
kern für eine ganze, zu Zeiten hochgehende »ästhe¬
tische« Bewegung wurde, die die weitesten Kreise
erfasste, und die in der Folge für England künstlerisch
von der allerweitreichendsten Bedeutung werden sollte.
An dem Präraffaelismus hat sich das Kunstverständnis
breiterer Kreise in England emporgerankt, im An¬
schluss an ihn trat das merkwürdige Ereignis ein,
dass England im letzten Viertel des ig. Jahr¬
hunderts fast künstlerisch führend und tonangebend
wurde.
Eigentlich wollten die Präraffael iten etwas ganz
anderes, als jene Gefühlswellen heraufbeschwören,
in denen sich ihr Einfluss am kräftigsten äusserte.
Das Ziel der Vereinigung der jungen Männer, die
sich damals zu der »Präraffaelischen Brüderschaft«
verbanden, war der Protest gegen jene Verbindung
von Schematismus und Anmaassung, die der Begriff
»Akademie« für sie ausmachte. Ähnliches haben wir
im letzten Jahrhundert in allen Ländern erlebt. Die
wirklich massgebende Kunst des ganzen Jahrhunderts
ist eigentlich ein beständiger Kampf gegen die Akademien
gewesen, ein Kampf des individuellen Kunstempfindens
gegen den staatlich sanktionierten Kunstkodex, ein
Kampf der echten, d. h. persönlichen Kunst gegen
die durch Kommissionsbeschluss festgesetzte und
durch äusseres Ansehen aufrecht erhaltene Kunst der
Akademien. Hier kam als Angriffsgegenstand der ganze
verstaubte Apparat der alten, auf Raffael und der Antike
fussenden Ästhetik in Betracht, die durch die Aka¬
demie künstlich aufrecht erhalten wurde. Gegen alles
das verschworen sich die drei erst am Eingang in die
Zwanziger stehenden jungen Leute Rossetti, Holman
Hunt und Millais. Ihr Anreger war der seine eigenen
Wege gehende grosse Einsame Ford Maddox Brown
gewesen, eine jener Naturen, die von ihrer Zeit uner¬
kannt, ja verlacht, dennoch die ihnen vom Geschick
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
51
zugeteilte Aufgabe standhaft erfüllten, der Welt neue
Wege zu zeigen, unbekümmert darum, dass erst die
Nachwelt sie in breiterem Strome wandeln würde.
Ford Maddox Brown wird einst als einer der Heroen
der Malerei des ig. Jahrhunderts dastehen.
Die Präraffael iten betonten in ihrem Programm
»Rückkehr zur Natur« — den in den kunstgeschicht¬
lichen Entwickelungen so oft ausgeworfenen Rettungs¬
anker. Ein Vorbild für die liebevolle Anlehnung an
die Natur sahen sie in den frühen Italienern, von
deren Werken ihnen einige schlechte Kupferstiche
Auskunft gaben. Daher der Name, den sie sich zu¬
legten. Er ist so beziehungslos zu dem, was er
heute bezeichnet, wie der Name Gotik zur mittel¬
alterlichen Baukunst, der Name Queen-Anne-Richtung
zu der weiter vorn geschilderten Architekturbewegung
ist. Er ist vor allem nicht für das naturalistische
Element in der Bewegung gültig geblieben, sonst
hätte weder Rossetti, noch später Burne-jones zu den
Präraffael iten gerechnet werden dürfen, die die heutige
Volksmeinung doch als ihre Führer erkennt. Einige
englische Knnstschriftsteller machen freilich noch einen
Unterschied zwischen den eigentlichen, d. h. den
naturalistischen Präraffael iten und der Rossetti-Gruppe.
Aber dies ist der allgemeinen Meinung gegenüber
bedeutungslos. Nach dem heutigen Sprachgebrauche
verbindet man mit den Präraffaelitentum die Vorstellung
der eigentümlichen dekorativen Linie und der Ge¬
fühlswerte, die Rossetti in seine Gemälde legte und
in denen ihm eine ganze Schule anderer Künstler
folgte. Wen man zu dieser Schule im einzelnen
rechnen soll und wen nicht, darüber sind die
Meinungen verschieden, darüber kann auch nur die
persönliche Auffassung und diese selbst mit Ansehung
desjenigen Umstandes entscheiden, ob die betreffenden
Künstler selbst zu der Schule gehören wollen oder
nicht. So wird man den grossen Künstler Watts
zur Präraffaelitengruppe rechnen, obgleich er sich
dagegen verwahrt, zu ihr zu gehören.
Die naturalistischen Absichten der Präraffael iten
sind in einer eigentümlichen Befangenheit stecken ge¬
blieben. Entgegen dem kraftvollen Ernst der kon¬
tinentalen Realisten, welche der Natur mit gross¬
zügigem Empfinden auf den Leib rückten, hielten sich
die englischen an das kleine Detail, das sie in einer
mikroskopisch genauen Art nachbildeten. Wohl haben
Holman Hunt, der diese Richtung am schärfsten ver¬
tritt, Ford Maddox Brown und einige andere, wie
Arthur Hughes, W. L. Windus, Ch. A. Collins,
John Brett, den eigenartigen Wirkungen des freien
Lichts auf den Grund zu kommen versucht, Holman
Hunt unternahm sogar eine eigene Reise nach Palästina,
um für seine biblischen Bilder die richtige örtliche
Beleuchtung zu studieren, allein sie vermögen da¬
durch, dass sie ein haarscharfes Detail alles beherrschen
lassen, nicht überzeugend zu wirken. Und so sind
sie zu dem, was sie eigentlich erstrebten, dem tieferen
Eindringen in die Natur, nicht gelangt. Dieses Ein¬
dringen in die Natur, das malerische Erfassen der¬
selben hat sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts
immer schärfer als das Problem der Beleuchtung, der
atmosphärischen Stimmung, der Nüancen, die Luft
und Licht in der Erscheinung des Gegenstandes aus¬
machen, zu erkennen gegeben. Die Lösung dieser
Probleme blieb dem Impressionismus Vorbehalten und
das Präraffaelitentum hat hierzu nichts beigesteuert.
Der eigentliche Wert der Bilder auch dieser natura¬
listischen Gruppe der Präraffael iten liegt auf einem
ganz andern Gebiete: dem der innigen Versenkung
in ihren Gegenstand, gegenüber der damals herrschen¬
den Äusserlichkeit und Oberflächlichkeit, in der warmen
Aufrichtigkeit, mit dem sie sich ihm näherten, der
Liebe, mit der sie der Natur beizukommen suchten.
Mit dem jetzt 74jährigen Holman Hunt wird sich
dieser Detail -Naturalismus wohl, ohne wesentliche
Spuren zu hinterlassen, aus der Malerei der Gegen¬
wart entfernen.
Ganz anders steht es mit der Richtung, die die
Rossettigruppe vertrat. Sie ist die eigentliche lebendige
geblieben, und von ihr strahlten die grossen Werke
aus, die einer neuen Kunstrichtung das Gepräge auf-
drückten. Zwar hat auch sie zunächst manche
Schwankungen durchgemacht. Die saftige sinnliche
Glut Rossetti ’s hatte sich schon bei dem Künstler,
den man wohl als den Erben des Meisters betrachten
kann, Burne-jones, in eine zwar noch farbentiefe, aber
in Bezug auf Empfindung stark asketische Richtung
umgewandelt. Aus dem Liebesdurst, von dem uns
die Rossetti’schen Lippen und der verlangende Blick
seiner Frauen erzählen, war eine himmlische Sehn¬
sucht geworden, die sich in den mageren Gesichtern
und den schweigsam blickenden, tiefliegenden Augen
seiner Ritter und Frauen ausspricht. Aber trotz allem
tritt uns doch eine starke Macht aus den Werken
dieses Meisters entgegen. Machtvoll war vor allem
auch sein Einfluss auf das Volk, er ist in England
populärer als irgend ein anderer Maler geworden.
Reproduktionen nach seinen Werken sind heute in
jedem Hause, selbst in der Hütte des Arbeiters, zu
finden, während der reiche Sammler seine Gemälde
oder Zeichnungen zu den Glanzstücken seines Be¬
standes rechnet. In dieser Beziehung bedeutet sein
Tod einen Abschnitt in der englischen Kunst, denn
es ist kein Ersatz für ihn vorhanden. Stimmung und
vor allem auch ein grossartiger Farbensinn, nicht zu¬
letzt aber die grosse dekorative Linie in seinen Bildern
machen ihn zu einem grossen Meister aller Zeiten.
Aber ein gewisser, dem Leben abgewandter
kranker Zug ist an ihnen nicht minder zu beobachten.
Er tritt bei den Schülern und Nachahmern Burne-
jones’ noch mehr hervor wie bei dem Meister, weil
er dort nicht die starken Gegenwerte zur Seite hat.
Evelyn de Morgan, J. M. Strudwick, Marie S. Still-
man sind dahin zu rechnen, auch Spencer Stan-
hope, der sich vorwiegend in kirchlicher Wand¬
malerei bethätigt, geht in den Geleisen der Burne-
Jones’schen Kunst weiter. Soweit der kränkliche,
dumpf-mystische Zug dieser Richtung in Betracht
gezogen wird, ist auch sie heute in England sicher¬
lich dem Erlöschen nahe. Die Schwächlichkeit und
Gebrechlichkeit, das Charakteristische dieses Gefolges
Burne-jones’ kann dem frischen Hauch der Gegen-
7
52
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
wart auf die Dauer nicht melir Stand halten. Da¬
gegen leben die Werte, die Burne-Jones mit Rossetti
gemein hatte: die dekorative Linie, die Glut der
Farbe, die Romantik der Gedankenwelt in einer
jüngeren Malerscluile weiter, mit der wir uns
noch zu beschäftigen haben werden. Ihie An¬
hänger sind vielfach als Neu-Präraffaeliten bezeichnet
worden. Sie haben die Rossetti-Tradition über die
Burne-Jones’sche mimosenhafte Empfindsamkeit und
den Holman Hunt’schen Detail-Naturalismus hinweg
von neuem aufgenommen und führen sie als kräftige
Phantasiekunst auf romantisch-dekorativer Grundlage
weiter.
Indessen bildet diese Gruppe doch nur einen ganz
kleinen Prozentsatz des Künstlertums, das heute in
England malerisch jiroduziert. Sieht man sich den
grossen Rest näher an, so nimmt natürlich auch heute
noch wie früher die offizielle Akademiekunst den
allergrössten Raum ein. Wenn nun auch der eng¬
lische Präraffael ismus das erste Beispiel dafür bildet,
dass es einer ausserhalb der Akademie entsprungenen
Kunst gelang, sich selbständig zu erheben und
breitere Kreise für sich zu gewinnen, so bleibt
docli die Akademiekunst die grosse Versorgerin der
Massen und steht mit ihren Produktionen in inniger
Wechselbeziehung zum Geschmack der letzteren. Und
zu diesen Massen gehören in England gerade so wie
in anderen Ländern keineswegs nur die mittleren und
unteren Volksschichten. Im Gegenteil, gerade an die
Mittelklasse hat sich hier der Präraffaelismus mit dem
grössten Erfolge gewendet und ist von ihr am besten
verstanden. Spricht man in England von einer »na¬
tionalen Kunst, so ist es die präraffaelitische, nicht
die mit gewaltigen Massen operierende Akademie¬
kunst. Denn um die erstere scharen sich alle künstlerisch
Bekehrten, die wahren und überzeugten Bekenner der
neuen künstlerischen Religion, deren machtvoller Pro¬
phet in England Ruskin war, zur letzteren gehören die
Haufen von künstlerisch Wilden , jene naiven Leute,
die in einem Bilde gerade so wie in einem Theater¬
stück oder Roman nichts anderes als die Anekdote
sehen und das Gebotene um so mehr bewundern, je
sensationeller diese ist.
Dieses Publikum tritt in England auffallender an
die Oberfläche als in andern Ländern. Unter dem
halben Hundert von Londoner Theatern ist für den,
der einen ernsten dramatischen Genuss sucht, zu¬
weilen kaum eins zu finden, das ihn gewährt oder
auch nur zu gewähren willens wäre. Seichte Farcen,
Schauerstücke, Ausstattungskram, Tingeltangel; nur
hin und wieder hat man Gelegenheit, ein annehm¬
bares modernes Lustspiel zu sehen, dann und wann
auch ein Stück von Shakespeare, das dann aber durch
die Betonung von Äusserlichkeiten stark an das Aus¬
stattungsstück streift. Zu einer Oper hat man es im
ganzen Lande England überhaupt noch nicht ge¬
bracht. Das Publikum, das man im Theater trifft,
steht auf dem Standpunkte, dass es den Bösewicht¬
darsteller auspfeift und den Tugendhelden beklatscht,
ln Gesellschaften wird mit grosser Vorliebe musiziert,
aber das Niveau der Musik ist niederdrückend. Es
blüht besonders eine Sorte englischer Gesangslitteratur
(man nennt sie Drawing room songs«), die unerhört
trivial und eigentlich musikalisch unmöglich ist, aber
trotzdem viel geliebt und viel geübt wird. Gerade
angesichts solcher Erfahrungen kommt man immer
wieder dahin, an der innigeren Berührung des eng¬
lischen Volkes mit dem Hauche der Kunst zu zweifeln.
Dasselbe Publikum in seinem Verhältnis zur bil¬
denden Kunst betrachtet, bildet das Publikum der
englischen Akademie. Zu der offiziellen Kunst kann
man wohl ausser den Vorführungen der Royal Aca¬
demy auch noch diejenigen der andern beiden mit
dem Titel Royal beehrten Gesellschaften rechnen,
nämlich der Royal Society und des Royal Institute of
Painters in Watercolours, obgleich deren Beisteuer im
Vergleich zu der der Akademie an Umfang gering
ist. Die Ausstellungen der drei Gesellschaften und
die einiger anderen finden während der Season in
London statt und besonders die Royal Academy ist
in der Regel vom Publikum derart belagert, dass man
nur früh am Morgen Aussicht hat, sich der Betrach¬
tung der Bilder widmen zu können, ln den übrigen
Stunden drängt sich ein dichter Strom von Besuchern,
besonders die vornehmste Damenwelt, in den Gängen
und Sälen, die Lieblingsbilder sind förmlich um¬
lagert und es ist häufig dagewesen, dass vor gewissen
Bildern Schutzleute aufgestellt werden mussten, um
Verkehrsstörungen zu verhindern. Das Akademie¬
publikum hat seine festen Lieblinge unter den regel¬
mässigen Ausstellern, die es mit grosser Beharrlich¬
keit von Jahr zu Jahr wieder bewundert, mögen die
Leistungen auch noch so mangelhaft sein. Hat
ein Künstler überhaupt durch die Aufnahme in die
Akademie die offizielle Prägung des »Academician«
erhalten, so kann er fast schalten und walten wie er
will; nicht nur bescheint seinen ganzen übrigen Lebens¬
weg die Sonne der Gunst des Publikums, sondern
es fliessen ihm auch die goldenen Sovereigns un¬
unterbrochen zu. Der Bedarf an Bildern ist eben in
England, worunter hier nicht nur das Mutterland,
sondern das weite britische Weltreich zu verstehen
ist, ein gewaltiger. Um ihn richtig abzuschätzen,
muss man überdies wissen, dass im englischen Hause
als einzig zulässiger Wandschmuck das Original¬
gemälde gilt. Dies bezieht sich selbst auf das klein¬
bürgerliche Haus. Es gehört zu den Überraschungen,
die der Fremde in England erlebt, dass hier selbst
»kleine Leute< nur echte Bilder in ihrem Besuchs¬
und Speisezimmer aufgehängt haben ; Stiche, Photo¬
graphien, Radierungen gehören höchstens auf Vor¬
raum und Treppenhaus. Aus dem Massenbedarf an
Bildern, der sich daraus ergiebt, erklärt sich nicht nur
die grosse Kunstproduktion, sondern auch die breite
Schicht mittelmässiger Künstler, vor allem aber auch
die privilegierte Stellung der Akademie - Mitglieder.
Denn wer es bezahlen kann, und das sind in Eng¬
land viele, der will natürlich etwas Gutes haben, und
dieses glaubt er mangels eigenen Urteils in erster
Linie von den geprägten Vertretern der Kunst, den
Akademiemitgliedern, erwarten zu können. Ein ein¬
mal etablierter Ruf wird in England durch dick und
Mit Erlaubnis des Herrn A. Werlheimer, London.
). S. SAKOENT, l,()NI)ON
DOPI’ELBILDNIS
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Mit Erlaubnis des Künstlers
Abb. 3. J. W. Waterhoiise, London. Die heilige Cäcilie
dünn liochgehalten, und eine erlangte soziale Stellung
vollends deckt jede spätere Unzulänglichkeit zu.
Aus diesen Zuständen heraus wird es erklärlich,
warum die Ausstellungen der Londoner Akademie es
zu dem Rufe gebracht haben, die schlechtesten der
Welt zu sein. Die Akademiemitglieder brauchen
sich zur Aufrechterhaltung ihres Rufes und ihrer Ein¬
nahmen nicht weiter anzustrengen. Was liegt näher,
als dass viele derselben verflachen? Hat man nicht
ähnliches selbst an dem grössten der bisherigen Aka¬
demiemitglieder und, vom Standpunkte des rein ma¬
lerischen Könnens aus betrachtet, dem grössten male¬
rischen Genie, das England im ig. Jahrhundert
hervorgebracht hat, an Millais bemerkt? Man
betrachte seine bewundernswürdigen Jugendwerke, die
er malte, als er noch zu den Präraffael iten gehörte.
Gleich sein erstes Ausstellungsbild, Lorenzo und lsa¬
bel la, birgt eine Hoffnung auf die Zukunft in sich,
wie sie selten in der Kunstgeschichte bei einem Maier
berechtigt gewesen ist. Und dann durchmustere man
die vielen in der Tate Gallery in London aufgehäng¬
ten Werke aus seiner Glanzzeit, als er der erste Stern
der Akademie war. Sie lassen bei grossem male¬
rischen Können gleichgültig. Die Höhe seines Lebens¬
werkes bezeichnet der seifenblasende Junge, den er
für 44 000 Mark an die Pears-Soap-Eirma verkaufte
und der als sehr mittelmässiges Plakat heute alle eng¬
lischen Bretterzäune bedeckt. Schlimmer noch als bei
diesen Grossen äussert sich das in der Akademie
herrschende einlullende Wohlbefinden natürlich bei
den Kleinen. Durchschreitet man die Säle der Aka¬
demie, so ist man über die Plattheit derjenigen Bil¬
der, die vielfach gerade die besten Plätze der Wände
bedecken, erstaunt. Wie kommen derartige Bilder an
diese Stellen? Die Antwort giebt der Katalog, hinter
den Namen der Urheber stehen die bedeutungsvollen
Buchstaben R. A. »Royal Academician . Es handelt
sich um ein offizielles Anrecht, das hier behauptet
wird. Gerade dass sich diese Leistungen genau in
Gesichtshöhe breit machen, drückt das Niveau der
Akademie-Vorführungen so unglaublich herab. Würde
jemand dem Rate folgen, bei seinem ersten Besuche
der Akademie nur die oberste, unmittelbar unter der
Decke hängende Bilderreihe anzusehen, so würde er
einen weit besseren Eindruck bekommen: dort hängen
die Bilder der jungen Talente, unter denen mancher
strebsame Künstler Tüchtiges und Eigenartiges vor¬
führt.
Es braucht indessen kaum hervorgehoben zu
werden, dass eine Akademie nicht lediglich aus mittel-
mässigen Künstlern bestehen kann. Und in der That
haben auch der englischen Akademie nicht nur früher die
hervorragendsten Künstler angehört, sondern gehören
ihr im grossen und ganzen auch heute noch an. ln der
letzten Vergangenheit deckte Millais mit seinem breiten
Rücken durch Jahrzehnte jeden Schaden im Rufe der
Akademie zu und Lord Leighton stand ihr als ebenso
hoch gebildete wie vornehme Persönlichkeit mit aus¬
gesprochenem Anstande beinahe zwanzig Jahre lang
vor. Unter den heutigen Mitgliedern zeichnen sich
W. Q. Orchardson, J. W. Waterhoiise, Erank Dicksee
und der Präsident Sir Edward J. Poynter als bedeu¬
tende Künstler rein englischer Nationalität aus. Die
beiden Hauptzierden der Akademie, Herkomer und
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
55
Sargent, und weiter die tüchtigen Kräfte Alma-
Tadema und E. A. Abbey müssen als in England le¬
bende Ausländer aufgefasst werden. Aus der Reihe
der »Associates« (mit welchem Ausdrucke eine Vor¬
stufe zur Vollmitgliedschaft bezeichnet wird) ragen die
Ereilichtgenre-Maler Ei. H. La Thangue, G. Clausen
und Stanhope A. Forbes, sowie die Seemaler V. L.
Wyllie, Chas. N. Hemy und der impressionistische
Tiermaler John M. Swan hervor und eine Reihe von
anderen jüngeren verspricht guten Nachwuchs zu
liefern. Gerade an den letztgenannten Künstlern lässt
sich aber auch verfolgen, wie die Akademie jetzt mit
einiger Nervosität tüchtige jüngere Kräfte heranzu¬
holen bestrebt ist, auch wenn diese eine Eigenart
zeigen, vor der man sich früher dreimal bekreuzt
hätte. Man hat sich veranlasst gesehen, seine Politik
zu ändern, so dass das früher sehr einheitliche Aka¬
demiebild augenblicklich durch Künstlerpersönlich¬
keiten, die eigentlich nicht dahin gehören, etwas ge¬
stört ist.
Drei Gebiete sind es, die die Akademiekunst seit
alters her mit Vorliebe gepflegt hat und heute noch
pflegt: das Genre, die Landschaft und das Porträt.
Das breiteste Feld behauptete stets das Genre (in den
letzten Jahrzehnten mit dem Nebenzweige des altklas¬
sischen Genres, heute am deutlichsten durch Alma-
Tadema und Poynter vertreten). England ist das
eigentliche Land der neueren Genremalerei, die hier
diejenige Vervollkommnung bis in alle Einzelheiten
gefunden hat, die nur durch die Ausübung im grossen
Maassstabe und aus einer langen Tradition heraus zu
erklären ist. Der Anfang der englischen Malerei zeigt
gleich einen Genremaler ausgeprägtester englischer
Art: Elogarth. Die aufdringlich ausgearbeitete Anek¬
dote mit der dick unterstrichenen Moral hat sich von
Hogarth über Mulready und Leslie hinweg bis auf
die neuesten englischen Vertreter des Genres ver¬
pflanzt, in deren jedem auch unter der heutigen
feineren Decke noch ein Stück moralisierender Ho¬
garth zu bemerken ist. Der Schotte David Wilkie
führte zu Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst eine
intimer durchgebildete Art Genre in England ein
und begründete recht eigentlich die grosse eng¬
lische Genre - Schule des 1 9. Jahrhunderts, die sich
durch spannende Schilderung, liebevolle Detail¬
durchbildung und eine minutiös-feine Ausführung
auszeichnet. Ch. R. Leslie war der ausgeprägteste
und fruchtreichste Vertreter desselben um die Mitte
des Jahrhunderts. Um dieselbe Zeit gründete der
Schotte Robert Scott Lander eine neue, mit erweiter¬
ten malerischen Mitteln arbeitende schottische Schule
in Edinburg, aus der neben W. F. Douglas der treff¬
liche 1893 gestorbene John Pettie und der jetzt im
Zenith seines Wirkens stehende William Quiller Or-
chardson, beide in London thätig, hervorgegangen
sind. Der letztere Künstler vertritt ohne Zweifel die
eigentliche Genremalerei heute am besten, er erhebt
sich zu einer Höhe des sprechenden Ausdrucks, die
keiner seiner Vorgänger und Mitlebenden erreicht
hat und die ihn zu einem grossen Künstler stem¬
pelt. Unter seinen Kollegen englischer Nationalität
herrscht zumeist noch die glatte, hübsche Aus¬
führung von früher, mit der meist lieblichen und
tröstlichen Moral; es wird nichts das Auge Verletzen¬
des und das Wohlbehagen Störendes, wie Armut und
Elend zugelassen, auch das, womit sich der Engländer
als Tagesarbeit beschäftigt, Handel und Industrie,
Fabrikbetrieb nnd Verkehr bleibt ausgeschlossen. Von
solchen Dingen ist bisher keine Spur jemals in einen
der Goldrahmen gedrungen, welche an den Wänden
der Akademie glänzen. Das Akademiepublikum will
nur die gefällige Seite des Lebens sehen und nimmt
selbst mit nicht sehr lebenswahren Aufmachungen
vorlieb, wenn sie nur angenehm und lieblich sind.
Mit Erlaubnis des Künstlers
Abb. 4. J. W. Waterhouse, London. Ulysses und die Sirenen
Die Musik. Farbiges Tonrcliej
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
57
Vor einem Werke wie Millet’s Ährenleserinnen oder
Menzel’s Walzwerk würde dieses Publikum ratlos
stehen.
Die alte Schule der Genremalerei vertreten von
den jetzigen Akademiemitgliedern die hauptsäch¬
lich im Kostümgenre arbeitenden Marcus Stone und
Seymor Lucas, der in venezianische Typen verliebte
Luke Fildes, der jetzt beinahe achtzigjährige, viel
orientalische Sujets verarbeitende Frederic Goodall, der
durch tüchtige sorgfältigste Ausführung bekannte, dem
Militärbild eine gewisse Vorliebe entgegenbringende
Andrew C. Gow, und die das gewöhnliche histo¬
rische Genre pflegenden Ernest Crofts und W. F.
Yeames. Von der eben dahingegangenen Generation,
die noch lebhaft in der Erinnerung der Lebenden
ist, müssen der früh verstorbene Frank Holl, der
das sensationelle Tagesgenre vertrat, der sehr beliebte
Ph. H. Calderon und der zu enormer Popularität ge¬
langte Edwin Long, der Vertreter gewisser trivial¬
sensationeller, figurenreicher Darstellungen aus dem
Orient, Erwähnung finden. Alma-Tadema, der das
in archäologisch erstaunlich treuer Art gemalte Genre
aus dem Altertum vertritt, vermittelt nach der klassi¬
schen Gruppe Leighton-Poynter hin, die in Poynter
jetzt ihren letzten Vertreter hat.
Diese alte, ganz wesentlich im Atelier arbeitende
Genre -Schule ist nun neuerdings durch eine neuere
Schule durchbrochen worden, in der sich vor allem
das Verlangen ausprägte, aus dem Atelier heraus in
die Natur zu kommen und das verkleidete Modell zu
gunsten des im Leben studierten Originals aufzugeben.
Als Begründer dieser Schule muss wohl Stanhope A.
Forbes betrachtet werden, von dem man sagen kann,
dass er sie durch sein im Jahie 1885 in der Akademie
ausgestelltes Bdd »Fischmarkt an der Küste von
Cornwall« ins Leben rief, obgleich der Aquarell¬
maler Walter Langley schon früher ähnliche Wege
beschriften hatte. Das Bild stellt eine im Freien
beobachtete und gemalte Scene am Strande vor, ein
Stück aus dem wirklichen Leben, voller Wahrheit und
Überzeugungsfähigkeit mit gleich sorgfältiger Beobach¬
tung der Landschaft wie der Figuren. Einige Jahre
später liess er das treffliche, jetzt in der Tate Gallery
hängende Bild »Der Toast auf die Braut« folgen,
ebenso naturwahr in der Beobachtung wie der Fisch¬
markt, eine Glanzleistung der englischen Kunst. Das
neue, das diese Bilder für England brachten, war
das naturalistische Element. Es kam von Frank¬
reich her nach England, denn die jüngeren Leute
hatten jetzt angefangen ihre Studien in Paris zu
machen, Forbes selber hatte bei Bonnat studiert.
Um sich mit der Natur in innigster Berührung zu
halten, liess sich Forbes in dem Fischerdorfe New-
lyn bei Pensance in Cornwall nieder und ist jetzt
daselbst der Mittelpunkt einer zahlreichen Anhänger¬
schaft. Die Newlyn-Schule spielt so in der heutigen
englischen Malerei etwa dieselbe Rolle, wie die Dachauer
oder Worpsweder in Deutschland. Zu ihren hervor¬
ragenderen Mitgliedern im Genre sind noch Cheva¬
lier Tayler und Frank Bramley zu rechnen, obgleich
diese Künstler jetzt Newlyn wieder den Rücken ge-
Zeitschritt für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 3.
kehrt haben, Fred Hall, Percy Craft sind Newlyn treu
geblieben. Einer intimen Naturbeobachtung hat sich,
unabhängig von Newlyn, auch der bedeutende Genre¬
maler H. H. La Thangue hingegeben, er sowohl wie
die in seinen Fusstapfen gehenden G. Clausen und
James Charles wohnen und arbeiten auf dem Lande
und in ihren Darstellungen steht ihnen die Lebens¬
beobachtung höher als die Anekdote, sie malen grund¬
sätzlich jedes Bild vor der Natur fertig. Die hervor¬
ragendsten der hier zuletzt genannten, das Freilicht¬
genre vertretenden Künstler sind in der Akademie
erst bis zur Klasse der Associates vorgedrungen. Sie
haben alle in Paris studiert und das hat für die Auf¬
fassung des richtigen Akademikers eigentlich etwas Be¬
denkliches, der in seiner Selbstgefälligkeit auch in
der Malerei auf das Französische wie auf etwas Un¬
gediegenes, Frivoles herabsieht. Dass man sie über¬
haupt in die Akademie einliess, bedeutet eigentlich
schon einen Bruch mit der Tradition.
Nächst dem Genre ist es die Landschaft, freilich
nur die alten Stiles, sowie die Darstellung der See,
die in der Akademie heute eine hervorragende Rolle
spielen. Robert de la Sizeranne behauptet in seinem
Buche La peinture anglaise contemporaine, dass es
eine englische Landschaft »nicht, oder vielmehr nicht
mehr« gäbe: ein fundamentaler Irrtum, der ihm von
der englischen Kritik mit Recht sehr übel angerechnet
worden ist. Die Geschichte der englischen Land¬
schaft muss freilich erst noch geschrieben werden;
es wäre eine höchst dankbare Aufgabe dies einmal
zu thun und diese Geschichte würde zum grossen
Teil gleichzeitig eine Geschichte der englischen
Aquarellmalerei werden. In keinem Lande ist das
Aquarell, das sich ja recht eigentlich an der Land¬
schaftsdarstellung entwickelt hat, eingehender gepflegt
worden als in England. Der Gebrauch der Wasser¬
farben hat sich hier aus der alten Miniaturmalerei
entwickelt, in der England schon in früheren Jahr¬
hunderten sich einen gewissen Namen erworben
hatte, als von einer englischen Malerei im übrigen
noch keine Rede sein konnte. Im i8. Jahrhundeif
bereitete sich das moderne Aquarell aus der kolorier¬
ten Federzeichnung allmählig vor, am Beginn des
neunzehnten fand es in Girtin und Turner seine
vollendete Ausbildung. Turner entwickelte im wesent¬
lichen die gesamte Technik der als Lasur gebrauchten
Wasserfarben, wie sie in den drei ersten Vierteln des
ig. Jahrhunderts üblich war. Er lebte so sehr in
dem leichtflüssigen, buntschillernden Element der
Wasserfarbe, dass er auch seine Ölgemälde im
Charakter des Aquarells behandelte, was ihnen für
das nicht an Turner gewöhnte Auge jenes eigen¬
tümlich-seltsame Gepräge verleiht. Schon 1805
wurde die eine der Königlichen Gesellschaften für
Wasserfarbenmaler, die Society, 1832 das Royal In¬
stitute of Painters in Water Colours gegründet. Von
da an ist das Aquarell in England stets in der
breitesten Ausdehnung zur Darstellung der Land¬
schaft verwandt und ausgeübt worden, eine eigent¬
lich nationale Kunst. Für Aquarelle liegt auch auf
dem englischen Kunstmarkte die grösste Nach-
8
58
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
iTa-^e voi% denn sie bilden ein wichtiges Element in
der Aujdattung des Hauses. In dieser Beziehung
liat sich gerade in neuerer Zeit die Nachfrage noch
dadurch vermehrt, dass das Wasserfarbenbild auch
in den Haupträumen des Hauses, besonders dem
Empfangszimmer, immer herrschender, ja jetzt so
ziemlich alleinherrschend geworden ist, was mit der
früher an dieser Stelle erwähnten Zeitrichtung zu¬
sammenhängt, die Räume des Hauses heller und
heller zu gestalten. Kein Wunder also, wenn die
stets mit Vorliebe gepflegte Landschaft in Wasser¬
farben auch heute noch ihren breiten Boden hat.
Aber die Landschaft ist keineswegs auf die Dar¬
stellung in Wasserfarben beschränkt geblieben. Nach
Turner war es Constable, der sie auf der Leinwand voll¬
kommen heimisch machte. Constable beobachtete
in der still eindringenden, sich genau an das Gegebene
haltenden, aber für das romantische Element empfäng¬
lichen Art, mit der schon Gainsborough in seinen
Landschaften hervorgetreten war, in unermüdlicher
Arbeit die Natur und errichtete so durch seine Lebens¬
arbeit jenes Bollwerk gegen die auf dem Kontinent
herrschende klassische Landschaft , an das sich die
französische romantische Schule anlehnen konnte, als
sie in Barbizon die Grundlagen für die gesamte
moderne Landschaft entwickelte, ln England wurden
diese Konsequenzen aus der Constable’schen Kunst
damals noch nicht gezogen, die moderne Landschaft,
deren Pflege heute vorwiegend in der Hand der
Glasgowschule liegt, zog hier erst fünfzig Jahre
später wieder über Holland und Frankreich herein,
nachdem ihr Whistler in einem engeren Kreise die
Wege geebnet hatte. Die Akademiekunst hat dieser
neueren Landschaft bisher fremd gegenübergestanden
und verschliesst ihr bis heute standhaft die Thore.
Sie hat kein Verständnis für impressionistische Auf¬
fassung, die für sie den Beigeschmack des Rohen
hat. It is only the disease of the unskilfui to think
rüde things greater than polished<q druckte sie als
sehr bezeichnendes Motto auf einem ihrer letzten
Kataloge ab. In der That ist es das Polierte, was
die Akademiewände vor allem zeigen und was das
Akademiepublikum wünscht. So kommt es, dass
man daselbst nur Landschaften der alten »gediegenen«,
d. h. sauber durchgearbeiteten Art erblickt. In dieser
Art ist in England seit Constable keineswegs Geringes
geleistet worden, im Gegenteil, es sind ganze Berge
trefflicher Leistungen aufgetürmt. Nach Constable
erwarb sich David Cox mit Recht die grösste Popu¬
larität, P. de Wint, Copley Fielding, William j. Müller,
Clarkson Stanfeild, die Architekturmaler Sam. Prout,
und David Roberts und die Maler venezianischer und
anderer italienischer Landschaften James Holland und
J. B. Pyne, ferner Birket Foster, Sam. Bough, Vicat Cole
und der grossartige Darsteller der See Henry Moore
werden alle ihren Ehrenplatz in der Geschichte der
englischen Landschaft einnehmen, während Schott¬
land mit Namen wie Alex. Nasmyth, Horatio Maccul-
loch, Paul Chalmers, William Mc. Taggart glänzt,
ja mit seinen Künstlern wiederholt geradezu be¬
fruchtend auf die englische Landschaft eingewirkt
hat. Eine ganz besondere Stellung nimmt der
stimmungsvolle Cicil Lawson in der Geschichte der
neueren englischen Landschaft ein, dessen Tradition
heute nur von John W. North noch weitergeführt
wird. Unter den heutigen Akademie-Mitgliedern ist
B. W. Leader entschieden der populärste Landschafter,
ein erklärter Liebling des Publikums. Sidney Cooper,
Peter Graham, J. MacWhirter, J. C.Hook folgen in der
Gunst des Publikums dicht hinter ihm, enttäuschen aber
nicht selten durch das, was sie heute bieten um diese
Gunst zu rechtfertigen. Unter den Associates ist der vor¬
zügliche Künstler John Brett, der früher zu den Präraffae-
liten gehörte, besonders hervorzuheben, Alfred East, David
Murray, J. Faquharson wirken in der Landschaft, wie
Chas. N. Hemy, Colin Hunter und William Wyllie
im Seestück mit ausgezeichnetem Erfolg schaffen.
Aber alles in allem wird man, wenn man von der heuti¬
gen englischen Landschaft redet, nicht allein oder in
erster Linie an die Landschaft der Akademie- Aus¬
stellungen denken, vielmehr gerade an die der ausser¬
halb stehenden Künstlergruppen, und so wird sich
auch die Gelegenheit für die Betrachtung derselben
in späterem Zusammenhänge ergeben.
Welche Rolle das Porträt zu allen Zeiten in der
englischen Kunst gespielt hat und ein wie grosser
Teil der Kunstproduktion auf dasselbe verwendet
worden ist, zeigt am besten ein Gang durch das
sehr nachahmenswerte Institut der National Portrait
Gallery in London. Hier finden sich die herrlichsten
englischen Bildnisse aus allen Zeiten, besonders auch aus
der Glanzperiode englischer Porträtkunst unter Reynolds
und Gainsborough. Und welche Rolle das Porträt heute
noch spielt, das zeigt das Vorwalten von Bildnissen
in den Ausstellungen der Akademie, wo es einen
wesentlichen Bruchteil des Vorgeführten überhaupt
ausmacht. In Bezug auf die Bildniskunst gebührt
England ein Ehrenplatz in der Geschichte der neueren
Malerei. Nicht nur werden hier mehr Bildnisse ge¬
schaffen, als anderswo, was vor allem auf Rechnung
des grossen Reichtums des Landes zu setzen ist,
sondern es trägt auch die dem Schaffen des Engländers
besonders naheliegende Art, auf die nackten Thatsachen
loszugehen, hier ihre besten Früchte. Fast alle eng¬
lischen Maler haben neben ihrem Spezialgebiet stets
auch noch das Porträt gepflegt, und häufig sind
sie uns dort am verständlichsten und sympathischsten,
jedenfalls erheben sie sich dort über alle Schwan¬
kungen von Geschmack und Kunstmode hinweg.
Wer aus dem Watts- Saale der Tate Gallery her¬
ausgeht, ohne die ganze Grösse der Kunst dieses
englischen Meisters erkannt zu haben, der wandere
in die National Portrait Gallery und sehe sich die
27 Bildnisse an, die er dort beigesteuert hat, und er
wird Watts als Künstler begreifen. Auch heute noch
glänzt England im Porträt und hier finden sich auch
innerhalb der Akademie vorzügliche Leistungen, man
braucht nur an die weltbekannten Erfolge Herkomer’s
zu erinnern. Ouless, der Porträtmaler altetablierten
Rufes, beschickt jede Ausstellung mit ganzen Reihen
von Porträts, ohne sich indes überall auf der bei
ihm gern vorausgesetzten Höhe zu halten. Alles
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
59
übrige verdunkelnd hat aber seit einer Reihe von
Jahren John S. Sargent im Porträt gewirkt.
Sargent zählt zu den drei oder vier Künstlern, die
nicht nur ihrer Nationalität nach Eremde in England sind
(er ist in Amerika geboren), sondern von denen man
sagen kann, dass sie eigentlich weder nach England,
noch in die englische Akademie gehören. Die spielende
Bravour, mit der arbeitet, ist durchaus unenglisch,
die Flottheit seiner Darstellung müsste eigentlich in
dem Lande Ruskin’scher Kunstlehre, die die sorg¬
fältige Durchbildung verschreibt, sogar Anstoss er¬
regen. Sargent malt mit der sicheren Schlagfertigkeit
Boldini’s, mit dem er grosse Ähnlichkeit hat und in
hellen silberigen Tönen, die etwas an die Zeit Tie-
polo’s erinnern. Seine Bildnisse haben stets einen
sprechenden, sehr lebhaften Ausdruck. Sie sind
Äugenblicksbilder, aber der Augenblick, in welchem
die Dargestellten festgehalten sind, ist der ihres be¬
zeichnendsten Ausdruckes. Er hat einen Instinkt für
das Charakteristische eines Gesichts, der zu seinen
glücklichsten Gaben gehört, und es liegt ihm fern,
dieses Charakteristische irgendwie zu verschönen, er
liebt es vielmehr zu verschärfen, wodurch er oft bei¬
nahe grausam gegen sein Modell wird. Der Trumpf
seiner Porträts auf der letzten Akademie- Ausstellung
war das grosse Doppelbildnis der Töchter des
Kunsthändlers A. Wertheimer in London, das hier
wiedergegeben ist, eine seiner bezeichnendsten Leis¬
tungen (s. S. 53).
Von sonstigen Vertretern des Bildnisses in der
Akademie verdient vor allem noch der Amerikaner
J. J. Shannon hervorgehoben zu werden, ein sehr
fruchtbarer Künstler, dessen Leistungen sich stets auf
guter Mittelhöhe halten, übrigens in Ton und Linie
hier und da an Reynolds erinnern wollen. Von den
übrigen Akademie-Mitgliedern widmen A. S. Cope,
Solomon J. Solomon, Arthur Hacker, H. S. Tuke,
Frank Dicksee, einen grossen Teil ihrer Zeit dem
Bildnis, zum Teil mit sehr gutem Erfolg. Abgesehen
von Sargent und Herkomer sind jedoch die bedeu¬
tendsten englischen Bildnismaler heute nicht in der
Akademie, sondern bei den Schotten zu suchen.
Noch ein anderes Gebiet ist zu erwähnen, das in
der Akademie stets eine bevorzugte Pflege gefunden
hat: das Tierbild. Die ungeheure Popularität der
Bilder von Landseer, der von den dreissiger bis in
die siebziger Jahre wirkte, ist bekannt. Er verband
mit der Darstellung des Tieres bei grosser Meister¬
schaft in der Beobachtung meist etwas Anekdoten¬
haftes, womit er dem Geschmack der Menge ent¬
gegenkam. Hierin unterscheidet sich der grosszügige
Briton Riviere von ihm, der seine Bilder zu mäch¬
tigen, stimmungsvollen Grosslandschaften erweitert,
in die er seine Tiere handelnd setzt und in ihrer
ganzen, mit wissenschaftlicher Schärfe studierten Eigen¬
art sich bewegen lässt. Noch einen Schritt weiter ist
der seit 1894 zu den Associates der Akademie ge¬
hörende J. M. Swan in der Beobachtung und Dar¬
stellung gegangen. Er nähert sich dem Tier — be¬
sonders die wilden Tiere hat er zum Gegenstand
seiner Studien gemacht — in impressionistischer Auf¬
fassung und sucht vor allem dessen hastige Bewegungen
festzuhalten. Das Gierige, Schleichende, Heimtückische
der wilden Bestie hat keiner bisher so zu schildern
vermocht, wie er (Abb. 9). Seine Darstellung ist
leicht hingeworfen, skizzenhaft. Aber mit erstaun¬
licher Sicherheit versteht er durch wenige Striche das
Charakteristische nicht nur der Bewegung und des
Umrisses, sondern auch der Textur des Felles, des
Ausdruckes des Auges u. s. w. festzuhalten. Swan
stellt das Tier nicht nur als Maler, sondern auch als
Bildhauer dar. Seine Skulpturen (Abb. 10) zeigen
dieselbe Eigenart, wie seine bildlichen Darstellungen:
raschestes und sicherstes Erfassen des Charakteristischen,
skizzenhafte, flotte Darstellung. Er hat in Paris bei
Gerome, Bastien-Lepage und Fremiet studiert und auf
dem Kontinent alle möglichen Ehren eingeheimst.
Seine Wahl in die Akademie bezeichnet vielleicht
deutlicher als die irgend eines anderen Künstlers jene
schon mehrfach erwähnte Änderung des Kurses, die
seit einigen Jahren daselbst zu bemerken ist. Man
zwingt sich, wenigstens die Anerkanntesten der neuen
Generation aufzunehmen, um nicht gänzlich aufs
Trockne zu gelangen. Man thut es mit Widerstreben
und nicht ganz mit ehrlicher Überzeugung, denn Er¬
scheinungen wie Sargent und Swan müssen von
dem überzeugten Akademiker als heterogene Elemente
empfunden werden.
Dies ungefähr ist ein Bild der englischen Akademie
und ihrer Kunst, die, wie gesagt, auch heute noch
für das grosse englische Publikum die Allgemein-
Versorgerin ist. Überblickt man die wirklichen Thaten
in der englischen Malerei der letzten fünfzig Jahre, so
bemerkt man, dass sie mit grosser Einheitlichkeit
ausserhalb der Akademie liegen. Ford Maddox Brown
und Holman Hunt, Rossetti und Burne Jones,
Whistler und die neueren schottischen Künstler wussten
und wissen nichts von der Akademie. Die Akademie
gab ihrerseits vor, nichts von ihnen zu wissen. Die
neuere englische Kunstbewegung in den dekorativen
Künsten hat mit der Akademie auch nicht das mindeste
zu thun gehabt. Die Akademiker behaupten noch heute,
das »Studio- , jene Zeitschrift, die den Ruhm der
neueren englischen Kunst über die ganze Welt ver¬
breitet hat, überhaupt nicht zu kennen. Dafür ist
denn auch im ganzen Lager der »Neuen« der Name
Akademie der Inbegriff künstlerischer Hoffnungslosig¬
keit, ein Institut, von dem man nichts weiter zu er¬
warten braucht und dem man seine volle Verachtung
angedeihen lassen kann. Beide Lager stehen sich mit
einer Geringschätzung gegenüber, die in beiden Fällen
gewiss ungerecht, aber von der Seite der Nicht¬
akademiker wenigstens mehr zu verstehen ist, als
von der anderen.
Zur Zeit, als sich die Präraffael iten zuerst im
scharfen Winkel von der Akademie abwendeten,
mussten sie ausserhalb derselben ein ziemlich un¬
scheinbares Dasein fristen und mit Ausstellungen
in kleinen Privatgalerien vorlieb nehmen, oder sich
überhaupt, ohne ihre Bilder auszustellen, an einen
kleinen Kreis von sympathisierenden Kunstfreunden
wenden. Das letztere that z. B. Rossetti, der so
6o
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
gut wie nie öffentlich ausgestellt hat. Kein Wunder
also, wenn selbst die Kenntnis des Vorhandenseins
dieser Bewegung lange auf Wenige beschränkt blieb.
Das was Rossetti, Burne -Jones und deren Anhänger
wollten, war inzwischen von einer andern Gruppe
in weniger schroffer und daher leichter verständlichen
Form dem Publikum näher gebracht worden, näm¬
lich durch die Schule Fred, Walkers. Dieser Künstler
veriritt um die siebziger Jahre herum zusammen mit
den gai.z geistesverwandten G. H. Mason, Cecil
G. Lawson und G. J. Pinwell eine Kunstrichtung,
die ihr Ziel in einer stimmungsvollen Figurenkom¬
position meist ländlichen Charakters inmitten einer
liarmonischen Landschaft erblickt. Das Ganze hat
durchaus den dekorativen, graziösen Charakter in der
Linie und ist verbunden mit einer Weichheit der
Farbe und Stimmung und einer einschmeichelnden
sentimentalen Empfindung, die das englische Publikum
unmittelbar ansprechen musste. Diese höchst in¬
teressante Gruppe, deren Entstehungsgeschichte, Ar¬
beitsgebiet und Einfluss auf die Allgemeinentwick¬
lung einmal näher zu untersuchen eine dankbare
Aufgabe für den Kunsthistoriker sein würde, bildet
ein Mittelglied zwischen den ersten, vom Publikum
nicht gekannten Präraffael iten und den zweiten, von
breiteren Schichten verstandenen.
Diese zweite Periode begann 1877, und zwar
mit der Eröffnung eines neuen Ausstellungshauses,
der Grosvenor-Galerie, die von da an für eine Reihe
von Jahren der Sammelpunkt der nichtakademischen
Kunst in England wurde. Ein Maler, Sir Coutts
Lindsay, hatte sie eingerichtet, man führte eine künst¬
lerischere Art der Aufhängung ein, man gab jedem
Talente die freieste Gelegenheit zur Entfaltung und
errichtete so neben der Hochburg der Akademie
eine freie Ansiedelung unabhängiger Kunst, die den
Erfolg hatte, sich sofort auch der Gunst des grösseren
Publikums zu erfreuen. Die Grosvenor-Galerie war die
Vorläuferin der jetzigen eigentlichen Secessions-
Galerie, der seit 1888 bestehenden New Gallery in
Regent Street. Hier erlangte zuerst Burne-Jones, der
bis dahin ein Unbekannter war, seine Popularität,
hier trat zuerst der damals noch nicht einmal dem
Namen nach bekannte Whistler vor das englische
Publikum. In den Werken beider und einer Reihe
anderer Künstler, wie G. F. Watts, Holman Hunt,
Albert Moore, C. G. Lawson, W. B. Richm.ond, Wal¬
ter Grane brachte diese Galerie nun von Jahr zu
Jahr Anziehungspunkte allererster Art, denn alle diese
Künstlerpersönlichkeiten boten reifste Werke, nicht
Versuchsobjekte. Ein Publikum für die der Prä¬
raffael itenauffassung sich nähernden Werke war auch
bereits vorhanden in dem stets sich erweiternden
Kreise von Ästheten, die sich um die Kunst Rossetti ’s
zu scharen begonnen hatten, sowie in dem weiten Leser¬
kreise der zu immer grösserer Popularität gelangenden
Ruskin’schen Bücher. Das Verständnis dieses Publi¬
kums musste freilich zunächst vor einer für England
völlig neuen Erscheinung wie Whistler versagen.
Der bekannte Prozess, den dieser Künstler gegen
Ruskin im Anschluss an dessen Kritik über seine
Bilder führte, beleuchtet die damalige Situation
schlagend.
Indessen auch hierin änderten sich die Verhält¬
nisse, und zwar vorwiegend durch Eröffnung einer
Art künstlerischen Verkehrs mit Frankreich. Der
französische Künstler Alphonse Legros, seit 1876
siebzehn Jahre lang Leiter der als künstlerische Er¬
ziehungsstätte wichtigen Slade School in London
trug die aufs rein Malerische losgehenden Anschau¬
ungen der Pariser Ateliers in die englische Jugend.
Viele seiner Schüler gingen auf diese Anregung hin
zu ihrer weiteren Ausbildung nach Paris, zum Teil
in die Ecole des Beaux-Arts. Daraus wieder bildete
sich für viele die Gewohnheit aus, in Paris auszu¬
stellen, wobei sich das Merkwürdige ereignete, dass
Künstler, die von der englischen Akademie hochmütig
abgewiesen worden waren, in Paris Preise davon¬
trugen und sogar durchschlagende Erfolge erzielten.
Nichts musste dem sonst trotz allem bombenfesten
Vertrauen des Engländers in seine Akademie ver¬
hängnisvoller werden, als solche Vorkommnisse;
denn dass Paris die eigentliche Kunststadt der Welt
sei, daran wagt kein auch noch so sehr von den
Vorzügen seiner Nation überzeugter Engländer zu
zweifeln.
Auf der anderen Seite gelangten aber auch fran¬
zösische Kunstwerke von den achtziger Jahren ab
häufiger in London zur Ausstellung. Die Akademie-
Ausstellungen verschliessen bekanntlich ausländischer
Kunst ihre Pforten, wie man denn in England stets
verschwindend geringe Neigung zeigt, sich über das,
was ausserhalb der Insel vorgeht, zu unterrichten.
Wie es unmöglich ist, an einem Londoner Zeitungs¬
stande eine deutsche oder französische Zeitung zu
erwerben, so ist es im allgemeinen unmöglich, in
einer englischen Gemäldeausstellung jemals ein nicht¬
englisches Bild zu sehen. Und so war, wie so vieles
andere, auch die Kunstfrage in England bisher eine
rein insulare gewesen, die man mit der ganzen Be¬
schränktheit beurteilte, die sich aus solcher Ab¬
schliessung ergeben musste. Trotzdem wagten es von
den achtziger Jahren ab einige Privatgalerien, dem
englischen Publikum kleine Sammelausstellungen aus¬
ländischer, zumeist französischer Kunst vorzuführen,
und zwar mit ausgezeichnetem Erfolge wenigstens in
dem kleineren Kreise von Kunstverständigen. So
wirkte namentlich die 1883 in der alten Dowdeswell
Gallery vor sich gehende Sonderausstellung der fran¬
zösischen Impressionisten Manet, Renoir, Degas, Monet,
Pissaro, Sisley, Boudin u. s. w. wie ein Sauerteig
auf die englische Kunst ein. Gleichzeitig schufen
nach England übergesiedelte flotte amerikanische Künst¬
ler, neben Whistler noch Sargent, Abbey u. a. in der
leichtflüssigen, geistreich -impressionistischen Weise,
zu der die Pariser Kunst in amerikanischen Händen
sich umzubilden pflegt. Und schliesslich wurden
von jetzt an auch die französischen romantischen Land¬
schafter aus der Barbizonschule: Corot, Daubigny,
Dupre, Rousseau, Diaz, Lhermitte, Harpignies, Troyon,
neben diesen auch Millet, und von den Holländern
die Brüder Maris, Mesdag, Bosboom, Israels in
Mit Erlaubnis des Künstlers
Frank Brangwyn
Skizze zu einem Wandgemälde
für die Börse in London
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
63
grösserer Anzahl nach England eingeführt und fanden
in gewissen Kreisen grossen Anklang. Ihnen war
eine Sonderausstellung 1886 in Edinburg und eine
solche 188g in London gewidmet, und einige Kunst¬
händler Englands und Schottlands haben es sich seit¬
dem fast zur Lebensaufgabe gemacht, die Werke
dieser Schulen in England zu vertreiben. Eine wie
reiche Ausbeute jetzt bereits in England vorliegt, das
zeigte die internationale Ausstellung in Glasgow 1901,
auf der weit über zwei Hundert derartige Bilder,
meist aus schottischem Besitz, zusammengebracht und
ausgestellt waren.
Alle diese Einflüsse brachten das seit 1880 in
England vor sich gehende Ereignis mit sich, das
Land künstlerisch aufzuschliessen. Der Akademie
wurde dadurch ihre alles beherrschende Autorität
mehr und mehr beschnitten, und neben der in alt¬
modisch-gravitätischem Gange weiterschreitenden Aka¬
demiekunst alten Stiles wurde eine neue, von ihr unab¬
hängige Kunst immer sicherer etabliert. Im Jahre 1885
thaten sich in London eine Anzahl meist jüngerer Künst¬
ler, »welche fühlten, dass ihre Arbeiten mit der Art von
Vorführungen in andern Ausstellungen nicht im Ein¬
klang ständen« zu dem »New English Art Club« zu¬
sammen, der seitdem jährlich zweimal Ausstellungen
von Werken seiner Mitglieder veranstaltet. In Glasgow
schlossen sich im selben Jahre die jungen schottischen
Künstler dichter zusammen, welche seitdem auf dem
Kontinent so grosse, von ihnen selbst kaum geträumte
Erfolge errangen. Seit dem Jahre i8g8 finden sogar
»Internationale Kunstausstellungen« in London statt,
eine Künstlervereinigung unter der Präsidentschaft
Whistler’s, die »International Society of Sculptors,
Painters and Gravers«, hat es auf sich genommen,
dem englischen Publikum alljährlich (nur im Jahre 1900
fiel die Ausstellung aus) die besten Kunsterzeugnisse
aus allen Ländern vorzuführen. Ist nun auch die Inter¬
nationalität im Laufe der Veranstaltungen dieser Ge¬
sellschaft etwas zusammengeschrumpft, so dass dieser
Anspruch z. B. bei der im Herbst 1901 stattgefundenen
Ausstellung nur noch in beschränktem Maasse aufrecht
erhalten werden konnte, so lässt sich doch nicht leugnen,
dass das ganze englische Kunstleben heute bereits in
das Stadium eines gewissen internationalen Aus¬
tausches eingetreten ist. Dadurch hat es einen neuen
mächtigen Impuls erhalten. Seit der Eröffnung der
Grosverior-Galerie ist die Kunst in das Tagesinteresse
des englischen Bürgers eingerückt, sie spielt heute
im gesellschaftlichen Leben eine Rolle, die sie früher
nie auch nur im entferntesten gespielt hat. Es ge¬
hört heute auch in England zum guten Ton, die
Galerien zu durchstreifen, seine Ansichten über Kunst
zu haben, über die Vorgänge in den Ateliers Be¬
scheid zu wissen, die Auktionsräume zu besuchen,
Kunstwerke zu sammeln.
Mit diesem Steigen des allgemeinen Interesses ist
bis zu einem gewissen Grade auch das Verständnis
für die Bestrebungen der Jüngeren gewachsen, der
ihnen gewährte Spielraum vergrössert worden. Über¬
blickt man deren Wirken heute, so lassen sich aus
der Vielheit der Erscheinungen zwei ihrem Wesen
nach grundverschiedene Richtungen deutlich hervor-
tretend erkennen, eine solche, welche der Natur nach¬
geht und eine solche, welche in symbolischen oder
dekorativen Grundbestrebungen romantischen Träumen
von der Art der Rossettiauffassung folgt. Richtungen
ähnlicher Art sind jetzt wohl in allen Ländern neben¬
einander zu finden. In England tragen aber beide
ein besonderes Gepräge. Die naturalistische Rich¬
tung folgte im wesentlichen den Anregungen, die
Whistler nach England gebracht hatte. Er war, von
ausserhalb nach England gekommen, der erste, welcher
das Eigentümliche der englischen Luft, die Weichheit,
mit der sie schon die nächste Umgebung abschwächend
umhüllt, wobei sie ganz bestimmte, abgetönt-einheit¬
liche Earbenwerte erzeugt, künstlerisch erkannt und
dargestellt hat. Diese atmosphärische Weichheit
wurde von da an das Ziel eines ausgebreiteten neue¬
ren englischen Naturalismus (wenn man diese Be¬
wegung überhaupt so nennen kann) impressionistischer
Art, der von dem Naturalismus der ersten Präraffae-
liten so grundverschieden ist. Whistler, die Barbizon-
Schule und die modernen Holländer, zusammen mit
einem weiter hinten zu erwähnenden eigenartigen
Einfluss, der von den Bildern Monticelli’s herrührte,
machten die Schotten. Eine, allerdings schwächere.
Parallel -Bewegung zu der neueren schottischen findet
sich aber auch bei der englischen jüngeren Generation.
In dieser vorwiegend von den Schotten vertretenen
naturalistisch-impressionistischen Bewegung haben wir
eine ausgesprochene englische Nationalschule vor uns.
Neben diesem Naturalismus läuft indes noch ein
andrer, direkt von Paris importierter her, in dessen
Mittelpunkt der schon erwähnte Stanhope Eorbes in
Newlyn steht, und den man als den englischen Erei-
licht- Naturalismus bezeichnen könnte. Er bietet dem
kontinentalen Beobachter nichts wesentlich Neues, ob¬
gleich die tüchtigen Leistungen dieser Schule immer
erfreuen.
Viel mächtiger als in andern Ländern hat sich aber
gerade die phantastisch-dekorative Richtung über die
naturalistischen Einflüsse hinweg in England behauptet.
Und das ist kein Wunder, denn England ist das Ge¬
burtsland dieser Richtung. Rossetti, Burne -Jones,
G. E. Watts, Albert Moore waren die erklärten Lieb¬
linge des künstlerisch empfindenden England ge¬
worden und die von ihnen geschaffene Tradition
musste daher mächtig weiter klingen, auch nachdem
die Mehrzahl dieser Meister vom Schauplatz abge-
getreten war. Aber noch ein anderer Umstand ist für
die Beurteilung dieser englischen Richtung von Wich¬
tigkeit. Es war das Eigentümliche der Rossetti-Burne-
Jones’schen Kunst, dass sie sich von Anbeginn mit
kunstgewerblichen Bestrebungen vermählte. Der grosse
Vermittler nach diesem Gebiete hin war William
Morris, seit den sechziger Jahren über drei Jahrzehnte
unvermeidlich mit seiner grossen Persönlichkeit wir¬
kend. Er verknüpfte instinktiv das Gebiet der deko¬
rativen Künste mit dem malerischen der Rossetti-
gruppe. Vermöge seiner dichterischen Gaben nährte
er dazu beide mit jenem stofflichen Untergründe
der altenglischen Sagenwelt, die von Anbeginn
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
,,:i , , : ria Schule gewesen ist. Burne-
i . ..:d.io\ Brown, Walter Grane stellten
.. . : ;;i ! i.i den Dienst der Morris’schen Werk-
u i'erren Entwürfe für Kirchenfenster,
. jp.drin , rhidiillnstrationen, dekorative Zwecke
..'.ler Art. Musste schon diese stete Berührung mit
dem lektonischen Gebiet der Schule ihr strenges archi-
iektonisches Rückgrat erhalten und stärken, und musste
für kunstgewerbliche Entwürfe wie in der figürlichen
Komposition im Sinne der Rossetti 'sehen Gemälde zu
verwirklichen suchten. Ein mit besonderer Vorliebe ge¬
pflegtes Gebiet, die Buchillustration, bildete die Brücke
nach der Malerei hin. Von diesen Schulen des Landes,
einer Verbindung von Kunst- und Knnstgewerbe-
schulen, hat besonders diejenige in Birmingham die
reichsten Früchte getragen. Hier ging von der Knnst-
Abb. 7. Byam Shaw. Die Wahrheit
Mit Erlaubnis des Künstlers
die eintretende rasche Entwicklung des kunstgewerb¬
lichen Schaffensgebietes für einen gewissen breiteren
Nachwuchs in der jüngeren Welt sorgen, so kam
noch hinzu, dass infolge eines frnchtreichen Er¬
ziehungsplanes, der vorwiegend von dem Sonthken-
sington- Museum entwickelt und verwirklicht wurde,
Kunstschulen über das ganze Land entstanden waren,
die alle eine künstlerische Erziehung auf einer tek¬
tonisch-kunstgewerblichen Basis anstrebten. Dort wur¬
den die Schüler mit der dekorativen Linie erfüllt,
die sie in gleicher Weise beim Stilisieren der Pflanze
schule geradezu eine örtliche Kunsttradition ans, die
das eigentümlich Dekorative, um das es sich hier
handelt, besonders einheitlich verkörpert und in Namen
wie Arthur Gaskin, J. E. Southall, C. M. Gere,
L. F. Muckley, H. Payne u. s. w. ihre besten Ver¬
treter hat.
Aus der Vermählung der präraffaelitischen Kunst¬
richtung mit dem Kunstgewerbe ist in England auf
der einen Seite das entstanden, was wir im Knnst-
gewerbe den englischen Stil nennen, auf der andern
Seite erhielt diejenige englische Schule in der Malerei
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 3,
9
Byam Shaw Liebes-Tand
66
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Mit hrl.iubnis i.ies Künstlers
Abb. g. Durst. Gemälde von J. M. Swan
durcli das Medium der Unterrichtsanstalten einen
kräftigen Zufluss, die heute die Rossetti-Tradition auf
einer freieren, ganz allgemein-dekorativen Grundlage
weiter pflegt und deren Anhänger als Neupräraffaeliten
bezeichnet werden können. Sie stehen alle mehr oder
weniger an der kunstgewerblichen Grenze, viele von
ihnen sind unmittelbar aus den Kunstgewerbeschulen
hervorgegangen. Auf sie hat keine Art Pariser oder
sonstwie fremder Einfluss stattgefunden, sie sind ganz
und gar auf englisch nationalem Boden gewachsen.
Eben deshalb aber verdienen sie vielleicht unsere be¬
sondere Beachtung.
Die Ziele dieser Schule sind in allererster Linie
solche dekorativer Art, nnd zwar in der Komposition
wie in der Farbe, ln der Komposition sind ihre
Leistungen am einheitlichsten, hier herrscht die elegante,
volle, schwunghafte und nicht selten etwas ins Gezierte
getriebene Linienführung, die der Welt durch das Prä-
raffaelitentum enthüllt worden ist. ln der Farbe wird
eine reiche satte Teppichwirkung angestrebt, wobei
Kontraste keineswegs vermieden, aber die Einzeltöne
nach einer bestimmten Farbenabsicht aufgereiht und
gegeneinander abgestimmt werden. Als Vorwurf,
man möchte sagen Vorwand, für diese Linien- und
Farbenphantasien dienten nicht mehr allein, wie das bei
den Präraffael iten der Fall war, der Arthurlegenden¬
kreis und die Gestalten des Dantezeitalters, aber doch
stets ein von der Gegenwart und Wirklichkeit mög¬
lichst weit abliegender Gegenstand, mit Vorliebe aus
den Dichtungen und Sagen, die dem englischen Volke
aus seiner Litteratur bekannt sind. Deshalb ist es
eigentlich nötig, den Stoffkreis der englischen schönen
Litteratur zu kennen, um die Bilder dieser Schule zu
verstehen, gerade so wie die Bilder von Rossetti und
Burne -Jones nur mit Malory’s »Morte d’Arthur« in
der Hand verstanden werden können. Eine andre
Gattung von Bildern sucht symbolisch eine moralische
Idee oder eine Lebensweisheit zu verkörpern nach
der Art der Kunst Watt’s, der das Symbolische ge¬
radezu als den Anfang aller Kunst bezeichnet und
noch heute als Forderung an das Kunstwerk hinstellt.
Immer aber liegt als erste Absicht die dekorative
Wirkung zu Grunde. Deshalb erzeugt diese Schule
recht eigentlich bildmässige Werke, Gemälde, die man
als architektonischen Schmuck betrachten und als treff¬
lich wirksame Wandbilder aufhängen kann. Damit be¬
rührt sie die Grundprinzipien jeder frühen Kunst,
mag sich diese nun in gotischen Altarbildern, ja¬
panischen Farbenholzschnitten oder frühitalienischen
Wandmalereien äussern, die alle den architektonischen
Aufbau mit der teppichmässigen Wirkung vereinen
und im wahren Sinne dekorativ« sind.
Man kann nicht sagen, dass die junge Generation,
die jetzt in England diese Richtung vertritt, sich direkt
an den bis vor kurzem noch unter den Lebenden
wirkenden Burne -Jones anlehnte. Sie ist frischer,
lebensfroher, heiterer als dieser, übrigens vielleicht auch
etwas leichter im Gewicht. Dagegen hat ein andrer
Meister den grössten Einfluss auf sie ausgeübt, der
allerdings nur in gewisser Beziehung in derselben
Richtung arbeitet, nämlich John W. Waterhouse.
Waterhouse, jetzt ein beginnender Fünfziger, hat
sich erst allmählich zu seiner heutigen Individualität,
der poetischen Farbenkomposition entwickelt. Zwei
treffliche Bilder in der Tate Gallery »die Befragung
des Orakels und »der Märtyrertod der heiligen Eu¬
lalia^ zeigen ihn noch auf dem von Alma-Tadema
gepflegten Gebiete des klassischen Genres, verraten
aber seinen ausgesprochenen Sinn für aparte Farben¬
gebung schon damals. Mit seinem i8gi gemalten
Bilde »Ulysses und die Syrenen« (Abb. 4) steuerte er
nach seinem eigentlichen Fahrwasser hin, in dem er
sich seit zehn Jahren bewegt, nicht ohne zunächst an
der Klippe Burne-Jones alle Aufmerksamkeit gegen die
von dort drohende Gefahr einer allzugrossen Beein¬
flussung aufbieten zu müssen. Das Bild »die heilige
Cäcilie« (Abb. 3) zeigt ihn noch etwas in Abhängigkeit
von diesem Meister, später hat er sich von ihm ganz
losgemacht. Waterhouse lebt und schafft ganz in
einer Welt des Märchens, die mit der Wirklichkeit
nichts gemein hat, sein Ziel ist die Farbenkompo¬
sition. Er liebt es, entschiedene Farben nebeneinander
zu setzen, wobei er gewisse blaue, grüne und violette
Töne bevorzugt. Er schafft so, ohne die Stilisierung
irgend wie zuweit nach dem Kunstgewerblichen hin
zu treiben, satte teppichartige Wirkungen hohen Reizes.
Immer spricht aus seinen Bildern eine schlichte Anmut
und aufrichtige künstlerische Empfindung, die ihn zu
einer der sympathischsten Erscheinungen unter den
heutigen englischen Malern machen. Waterhouse ist seit
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
67
1895 Vollmitglied der Akademie, nachdem er schon
1885, noch in seiner klassischen Periode, zum Associate
gemacht worden war. Seiner ganzen Individualität
nach fällt er durchaus aus dem Rahmen der Akademie
heraus.
WaterhoLise gehört nur halb zu den Neupräraffae-
liten, denn seine Linie hält sich frei von jedem künst¬
lichen Schwung. Er hat durch seine Farbe aber trotz¬
dem den grössten Einfluss auf diejenige junge Gene¬
ration ausgeübt, die heute diese Schule rein präsentiert.
Unter ihr ist der glänzendste Vertreter unstreitbar der
heute erst neunundzwanzigjährige Byam Shaw. Die
Laufbahn dieses Künstlers ist von Anbeginn eine
der glänzendsten gewesen. Seine Erfolge als junger
Zwanziger erinnern fast an die von Millais. Mit
fünfundzwanzig Jahren stellte er jenes Gemälde aus,
das bis heutigen Tages sein bestes und vielleicht das
beste der ganzen Schule geblieben ist und seinen
Ruf sofort unzweifelhaft etablierte: das Bild mit
dem Titel Liebes-Tand (Love’s baubles). Es wurde von
der Liverpooler Gemäldegalerie erworben (Abb. S. 65)
und bildet heute neben Rossetti’s Dantetraum den
Glanzpunkt dieser Sammlung. Der Vorwurf ist einem
Rossetti 'sehen Gedichte aus dessen Sammlung House
of Life« entnommen. Ein Knabe, die Liebe dar¬
stellend, trägt eine Schale mit verlockenden Früchten,
nach denen ein Gefolge von schönen Frauen begierig
hascht. Über dem ganzen Bilde, das in den lebhaf¬
testen Farben gehalten ist und dessen Komposition
ein Meisterstück der Linie darstellt, schwebt eine köst¬
liche Lebensfreude, die sich unmittelbar dem Be¬
schauer mitteilt. Es ist die Äusserung eines bedeu¬
tenden rein menschlichen wie grossen malerischen
Talentes, an das sich die schönsten Erwartungen
knüpfen müssen. Ein andres Bild, benannt »Wahr¬
heit« (Abb. 7) zeigt des Malers Stoffkreis von derselben
symbolisierenden Seite, sein Kompositions- und Farben¬
talent in kaum minder glücklichem Lichte. Aber als
das Repräsentationsbild der neuen Schule muss der
Liebes-Tand bezeichnet werden.
Ein ungefährer Altersgenosse Byam Shaw’s, G.
E. Moira, ist nächst diesem jetzt der hervorragendste
Vertreter der dekorativen Schule. Obgleich schon
seit Anfang der neunziger Jahre ein regelmässiger
Aussteller, ist er doch erst durch einen Wandfries im
Trocadero - Restaurant in London allgemein bekannt
geworden. Dieser Fries verwirklichte eine technische
Neuerung zum erstenmale in wirklich effektvoller und
überzeugender Weise: das farbige Relief. Rings um
die vier Wände des Vestibüls ziehen sich dicht unter
der Decke entlang Friese mit ungefähr lebensgrossen
Figuren, die im Flachrelief herausgearbeitet und so¬
dann mit nichtöligen Pigmenten gefärbt sind. Die
Farbentöne sind keineswegs in abgeschwächter Form
gehandhabt, aber auf den Reliefflächen so verrieben,
dass sie in den Vertiefungen dichter sitzen als auf
den Höhen. Einzelteile des Reliefs erhalten dabei
Metallauflagen, um die eigenartig schimmernde Wir¬
kung noch zu erhöhen. Nach dieser sehr erfolg¬
reichen Arbeit ist der Künstler fortgesetzt mit der
Lösung ähnlicher Aufgaben beschäftigt gewesen, zu¬
letzt mit dem figürlichen Schmuck des schönen
Pavillons der Peninsular and Oriental Steamship Com¬
pany auf der letztjährigen Pariser Weltausstellung,
ln allen Fällen besorgte Moira die Kartons und färbte
das fertige Relief, während die Herstellung des letzteren
der Bildhauer Lynn Jenkins übernahm. Diese farbigen
Reliefs haben Moira’s Namen allbekannt gemacht, sein
berechtigter Ruf gründet sich jedoch nicht auf sie
allein. Er ist ein grosses Kompositionstalent mit nie
Abb. 10. Puma und Macaw. Gruppe von J. M. Swau
9
68
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
versagendem Schwung der Linie und grosser Kraft iin
dekorativem Aufbau, dazu ein virtuoser Figurenzeichner.
Seine Individualität wiUde nach der Qrosskunst im
Sinne von Cornelius hindräugen, wenn nicht die
weiche präraffaclitische Linie gleichzeitig das Liebliche
in seinen Kompositionen aufrecht erhielte. Von seiner
kürzlich erfolgten Berufung als Lehrer an die South-
kensington- Schule kauri nur der günstigste Einfluss
erwartet werden.
Steht Moira, der sich auch in Entwürfen für Glas¬
fenster ausgezeichnet hat, mit einem Fusse im Kunst¬
gewerbe, so bewegt sich Miss Eleanor Fortescue
Brickdale, eine fernere Vertreterin der Schule, ähnlich
wie Byam Sliaw auf rein malerischer Grundlage.
Eine kürzlich in der Dowdeswell Gallery veranstal¬
tete Sonderausstellung enthüllte ein ganz merkwür¬
diges Talent dieser jungen Künstlerin. Hier sind
unmittelbare starke Rossetti - Einflüsse zu erkennen,
wie sie schon auf der beigefügten Abbildung hervor¬
treten (S. 6g). Kühne, aber wohl verarbeitete Farbenzu¬
sammenstellungen geben dem Bilde eine prächtig reiche
Wirkung, die an den Glanz der alten Venezianer er¬
innert. Die Künstlerin hat sich auch in der Buch¬
illustration glänzend bethätigt. Eine andre an dieser
Stelle zu nennende Künstlerin ist Miss Catherine
Cameron, ebenfalls in den Bahnen weitergehend, die
Rossetti vorzeichnete, an den sie ganz besonders durch
den Reichtum ihrer Farbe erinnert.
Eine Sonderstellung nimmt der ebenfalls in diese
Gruppe einznreihende F. Caley Robinson ein. Er
lebt zwar in der romantischen Empfindnngswelt wie
die andern Künstler, aber seine Werke sind weder
so saftig in der Farbe, noch so schwungvoll in der
Linie wie die jener. Dafür haucht er ihnen einen
Reiz ganz besonderer Intimität ein, sie sind in hohem
Grade inhaltvoll durch den Reichtum an Empfindung,
durch die Menge künstlerischer Einzelzüge und durch
die grosse Sorgfalt der Ausarbeitung. Ein strenger,
fast primitiver Zug geht durch seine Linienführung.
Der Ausdruck seiner Kunst ist der einer aus dem
tiefsten Innern schöpfenden, bewundernden Künstler¬
seele, die sich zwar zunächst nur an wenige wenden
kann, deren Äusserungen aber für denjenigen, der
ihnen näher getreten ist, mehr bedeuten, als manches
mit sieghafter Gewissheit auftretendes Kunstwerk.
Einige andere jüngere Mitglieder dieser Gruppe
sind noch der durch sein treffliches Bild in der Tate
Gallery: My Lady ’s Garden allgemeiner bekannt ge¬
wordene J. Young Hunter (eine Dame in reichem
romantischen Anzuge füttert im Garten einen Pfau
mit prächtigem grossen Rad), der viel versprechende
Harold Speed und John da Costa; in gewisser Be¬
ziehung gehört auch der Glasgower Künstler E.
A. Hornel mit seinen phantastischen, ganz teppich¬
artig wirkenden Bildern hierher.
Ein viel breiteres Bethätignngsgebiet als in der
Malerei, hat diese Gruppe stets in der Buchillustration
gefunden. Hier wirkte der geniale aber seine Eigen¬
art fast bis ins Krankhafte steigernde Aubrey Beards-
ley auf die jüngere Generation mächtig ein. Daneben
regte der stets liebenswürdige Zeichner und Maler
Anning Bell, weltbekannt durch seine Umschlag¬
zeichnung für das »Studio«, in mehr kunstgewerblich-
dekorativer Richtung an. Auch er hat sich übrigens
viel mit den weiter vorn erwähnten farbigen Reliefs
beschäftigt und seine beiden grossen Friese Musik
und Tanz, von denen das eine in Abb. S. 56 vorgeführt
wird, gehören zu den reizendsten Erzeugnissen der
Schule. Auch Walter Crane muss durchaus hierher
gezählt werden, seine massenhaft verbreiteten Kinder¬
bücher haben nicht wenig dazu beigetragen, den
Geist der dekorativen Zeichnung im Volke heimisch
zu machen, ja sie haben diese englischen dekorativen
Ideen sogar als erste Sendboten hinaus in die weitere
Welt getragen. Andere bekannte dekorative Buch¬
illustratoren sind der vortreffliche C. H. Shannon (nicht
zu verwechseln mit dem Porträtmaler j.j. Shannon), der
Dichter-Zeichner Laurence Housman, ferner die schon
genannte Gruppe der Birminghamer Künstler, sowie
Charles Ricketts, Selwyn Image, Charles Robinson,
j. D. Batten, Patten Nilson, Fairfax Muckley, nicht zu
reden von einem ganzen Heere weiterer weniger be¬
kannter Künstler, die alle in der erwähnten Richtung
treffliche Beiträge zur Buchillustration geliefert haben.
In den letzten Jahren haben sich vor allem noch zwei
Künstler hervorgethan , die anfangs unter dem Pseu¬
donym Beggarstaff Brothers zusammenarbeiteten und
die Welt durch ihre ebenso phantasievollen als straffen
und grosszügigen Illustrationen entzückten. Später
trennten sie sich und traten als W. Nicholson und
James Pryde mit ihren wahren Namen hervor. Nament¬
lich W. Nicholson hat, nachdem er sich durch sein
in der New Review erschienenes Porträt der Königin
Viktoria einen Weltruf erworben hatte, durch eine
Reihe vortrefflicher illustrierter Bücher in seiner
drastischen Wiedergabe von Personen und Typen
bahnbrechend für diese Schule gewirkt.
Wie sehr das dekorative Element gelegentlich auch
in Künstlern zum Vorschein kommt, die nicht gerade
auf die neupräraffaelilische Fahne schwören, das zeigte
das grosse, in seinem Aufbau und seiner Farbe gleich
treffliche Bild des schon weiter vorn erwähnten
E. A. Abbey auf der letztjährigen Akademie- Ausstel¬
lung: Kreuzfahrer beim Anblick Jerusalems (Abb. 1).
Und in ähnlicher Weise schlagen die Bilder des be¬
kannten Künstlers Maurice Greiffenhagen zuweilen
Töne kraftvollsten dekorativen Schwunges in der Linie
wie in der Farbe an, die einen veranlassen möchten,
auch diesen Künstler der neupräraffaelitischen Gruppe
einzureihen.
Neben dieser jetzt in freudiger Blüte stehenden
dekorativ - romantischen Richtung hat die alte prä-
raffaelitische Kunst noch einen andern Abzweig in
die englische Malerei der Gegenwart gesandt: eine
archaistisch-religiös-dekorative Schule, die heute vor¬
wiegend der in Newlyn thätige T. C. Gotch vertritt.
Gotch malte früher Freilichtbilder und hat sich erst
vor einigen Jahren plötzlich zu seiner jetzigen Spe¬
zialität bekehrt, für die ihm sein Aufenthalt in Newlyn
kaum etwas helfen kann. Am bekanntesten ist sein
Bild in der Tate Gallery »Hallelujah« geworden,
welches zwei Reihen singender kleiner Mädchen, in
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
6g
Goldbrokat gekleidet, darstellt. Die Anlehnung im
Kompositionsgedanken an die frühitalienische Wand¬
malerei ist unverkennbar, aber die Gesichter und Fri¬
suren sind ganz modern, wodurch ein gewisser ge¬
mischter und nicht durchaus erfreulicher Eindruck
erzeugt wird. Das Goldbrokat spielt stets eine
Hauptrolle in seinen Bildern, häufig greift er sogar
zum Goldhintergrund. Verwandt in der Auffassung
und Durchführung sind die Bilder von Marianne
Stokes, der Gattin des Malers Adrian Stokes. Auch
hier die biblischen Sujets in primitiv-dekorativem Ge¬
wände, die Brokatstoffe, Schriftbänder, Goldauflagen
für Heiligenscheine u. s. w. In der Empfindungstiefe
erscheinen Marianne Stokes’ Bilder jedoch inniger als
die von Gotch.
Die dekorativen Neigungen sind, wenn man das
Bodenwüchsige in der heutigen englischen Malerei
heraussucht, vielleicht die am stärksten hervortretenden
Werte der englischen Schule. Die grosse Tradition
der Rossetti’schen Kunst wirkt hier auf alle ein, die
sich ihr volles nationales Empfinden gewahrt haben.
Sie tritt auch plötzlich wieder bei Künstlern hervor, die
eigentlich auf anderm Boden stehen und mit der
Gruppe Waterhouse-Shaw nicht das Geringste gemein
haben. So muss man unbedingt einen der genialsten
unter den jüngeren englischen Künstlern, Frank Brang-
wyn in diesem Zusammenhänge nennen. Brangwyn
fand, nachdem er vorher Landschaften gemalt hatte,
auf einer Orientreise seine Individualität; die im¬
pressionistische Malweise verbunden mit der satten
vollen Farbe und einer durchaus aufs Dekorative ge¬
richteten Komposition. Seine Bilder strotzen von
übersprudelnder Kraft. Sie zeigen scharfe Beleuch¬
tungskontraste, die den prächtigen Aufbau der Massen
noch mehr hervorheben. Eines seiner Bilder »Gold,
Weihrauch und Myrrhen« wurde vom Musee de
Luxembourg angekauft, wie denn der Künstler über¬
haupt seine grössten Erfolge auf dem Kontinent er¬
kämpft hat. Neuerdings hat er sich neben dem eigent¬
lichen Tafelbilde auch mit der rein dekorativen Kom¬
position für kunstgewerbliche Zwecke beschäftigt, ja
sogar rein tektonisch-kunstgewerbliche Entwürfe ge¬
liefert. In Abbildung S. 6i wird der bisher noch nicht
veröffentlichte Entwurf für ein in der Ausführung
begriffenes Wandgemälde für die Börse in London
wiedergegeben, das Handel und Schiffahrt darstellt.
Brangwyn berührt sich dicht mit einem andern
ungemein originellen Künstler, A. Melville, der die
Brücke nach der im nächsten Aufsatze zu behan¬
delnden schottischen Künstlergruppe darstellt.
Mit Genehmigung des Herrn Edwin Tate
Abb. n. Die Falschheit des Reichtums. Von Miss Eleanor Fortesciic Brickdale
Hans Gilde. Brieflesende Dame. Zeichnung
HANS OUDE’S LEBENSERINNERUNOEN
Af Hans Gudes Liv og Vaerker. Kunstnerens Livserin-
dringer, udgivne og forsynede med en biografisk Ind-
ledning af L. Dietrichson. Det norske Aktieforlag,
Kristiania 1899. Pris 15 KrA)
Es hat den Verfasser dieser Zeilen gewundert, dass
diese schöne und interessante Arbeit Dietrichson’s noch so
wenig bekannt ist. Denn eine wirkliche Nachlässigkeit
wäre es, auch von dem nicht norwegischen Kunstfreunde,
dieses gemeinsame Werk zweier Norweger zu übersehen,
deren Namen einen so guten Klang hat wie Gude und
Dietrichson, und die durch das, was sie hier zu sagen
haben, dem Leser — welcher kunstpolitischen Farbe er
auch angehöre — einige Stunden angenehmster Art be¬
reiten.
Das Buch handelt von einem ausserordentlich reichen
und thätigen Künstlerleben, das, in innigster Berührung
mit der grossen Kunstwelt Europas verlebt, wichtige Seiten
des allgemeinen künstlerischen Lebens im 19. Jahrhundert
abspiegelt, und daher reich an weitschauenden Ansichten
ist, die ich gern hier schildern möchte, wenn es nicht der
Mangel an Platz verböte. Das Buch enthält ausserdem
viele Bemerkungen über aktuelle Kunstfragen sowohl von
seiten des Verfassers der Einleitung als des Autobiographen,
die zu einer Diskussion einladen — ich meinerseits
meine kaum zur Kritik — was doch hier zu weitläufig
würde. Ich werde mich daher begnügen, kurz den Inhalt
des Buches anzugeben, um dem eventuellen Leser anzu¬
deuten, was er zu erwarten habe.
Der erste Teil der Arbeit besteht aus einer verhältnis¬
mässig kurz gefassten Erzählung von Gude’s Künstlerleben
aus Dietrichson’s Feder. Der Verfasser selbst nennt sie
ganz anspruchslos eine »ergänzende biographische Skizze«.
Sie enthält aber in der That eine recht vollständige und
in das Wesen des Gegenstandes tief eindringende Dar¬
legung der ganzen Thätigkeit Gude’s, durchdrungen von
der wärmsten Bewunderung und Sympathie für den
Künstler, eine Sympathie, die wiederum in der vieljährigen
und intimen persönlichen Bekanntschaft des Verfassers mit
dem Künstler wurzelt.
Ich brauche kaum zuzufügen, dass diese Einleitung in
Dietrichson’s gewohnter, lebhafter, warmherziger und
geistreicher Weise geschrieben ist — ein Stil, der immer
etwas von dem reichen Satzbau, von dem lebhaften Tempo
und rhythmischen Tonfall des enthusiastischen Redners be¬
sitzt, und der diesen als Vorleser und Schriftsteller so
hinreissend und leicht verständlich gemacht hat. Glück¬
licherweise hat das heranrückende Alter nicht vermocht,
sein Gemüt zu kühlen oder seine Feder abzustumpfen.
Trotz des grossen Interesses, das die Einleitung weckt.
1) Wir benutzen gern gerade den gegenwärtigen Zeit¬
punkt, wo Gude nach reichgesegneter Lehrthätigkeit von
seiner Stellung an der Berliner Akademie zurückgetreten
ist, um durch obigen Aufsatz auf des Künstlers Schaffen
hinzuweisen. Gude ist am 13. März 1825 in Christiania
geboren, studierte in Düsseldorf bei Achenbach und
Schirmer, wirkte dann seit 1854 dort und später an der
Karlsruher Akademie als Lehrer, bis er im Jahre 1880 nach
Berlin übersiedelte; hier leitete er das Meisteratelier für
Landschaftsmalerei an der Hochschule der bildenden
Künste. D. R.
ist aber doch der bedeutendste Teil des Buches — und
niemand kann eifriger sein dies hervorzuheben, als der
Einleiter selbst — Gude’s eigene »Lebenserinnerungen ,
die Selbstbiographie, die der grosse Künstler in den Tagen
seines Alters geschrieben hat, und die sein mannigfaltig
abwechselndes Leben umfasst von der Kindheit an in
Christiania, wo er 1825 geboren wurde, bis zu den Fest¬
lichkeiten in derselben Stadt 1895, als dem 70 jährigen
Meister enthusiastisch und mit seltener Einstimmigkeit von
seinen Landsleuten in und ausser der Kunstwelt gehuldigt
wurde.
* *
*
Diese Lebenserinnerungen sind nicht geschrieben, um
veröffentlicht zu werden — nur widerstrebend und nach
vieler Überredung ist Gude dazu gebracht worden, seine
Einwilligung zu deren Veröffentlichung zu geben. Sie
treten also nicht als »litterarisches« Produkt eines »Ver¬
fassers« hervor, sondern sind bloss die Aufzeichnungen
eines alten Mannes aus seinem Leben, zum Vergnügen
für ihn selbst und seine Familie geschrieben. Daher sind
sie auch in ihrer Abfassung sehr uneben, und die Schilde¬
rung der persönlichen Erlebnisse oder der Begebenheiten
des Familienlebens, auch reiner Nebensächlichkeiten,
nehmen oft einen grossen Platz ein, während wichtige
Begebenheiten in seinem Künstlerleben, vor allem seine
eigenen Kunstwerke, als Bagatelle abgefertigt oder gar
nicht erwähnt werden. Eben in dieser ihrer unberechen¬
baren Unmittelbarkeit besitzen sie aber einen Zauber, der
von nichts anderem ersetzt werden kann. Denn sie setzen
uns in direkte Verbindung mit einer äusserst liebens¬
würdigen und reich begabten Persönlichkeit, in welcher
Mensch und Künstler zusammenschmelzen. Gude’s liebens¬
würdige Bonhomie äussert sich nicht am wenigsten in
der bescheidenen Art, wie er von seiner eigenen Kunst
spricht.
Gude ist, was man einen »glücklichen« Menschen
nennt, gewesen. Er hat ein ungewöhnlich glückliches
Familienleben genossen, und äussere günstige Verhältnisse
haben ihn umgeben und ihm erlaubt sich zu entwickeln,
erfolgreich in seinem Berufe zu arbeiten und reichliche
Anerkennung zu gewinnen.
Nicht, dass er ohne Widerwärtigkeiten gewesen wäre,
keineswegs; sie haben ihn aber nicht übermannt, noch
ihn bitter gemacht, ebensowenig als der Erfolg ihn ge¬
blendet oder seine Selbstkritik vermindert hätte. »Ich
will« • — schreibt Gude selbst — »mit Dankbarkeit er¬
kennen, dass mein Künstlerleben eines der glücklichsten
gewesen ist; denn das Lichte und Erfreuliche in der An¬
erkennung und der Nachsicht, die mir so reichlich zuteil
geworden, ist stärker gewesen, als der Missmut über den
eigenen und anderer berechtigten Tadel.« Dass seine
Arbeiten noch so spät, 1864, bei der akademischen Aus¬
stellung in London zurückgewiesen wurden, kann als
Kuriosität erwähnt werden.
Dieser kleine Unfall spielt aber keine Rolle im Ver¬
gleich mit den Mühseligkeiten anderer, und auch grösserer
Künstler, deren Bahn einen ernstlichen Abbruch gelitten
durch das Refusieren von Arbeiten, die dem herrschenden
Geschmack der betreffenden Personen nicht zugesagt haben.
Gude ist als Künstler auch in ganz spezieller Be-
72
HANS GUDE'S LEBENSERINNERUNGEN
dciiluno- eine Uiickliche- Natur. Es giebt Künstler einer
mehr rezeptiv^.' .'I' e.riginal schaffenden Art, die so stark
von den Tr.^ r'itionen einer vergangenen Kunst oder von dem
Voib::d e!.;:,'. voocheiiiachenden Meisters gebunden werden,
dass ihre igen.' Individualität nie die notwendige Freiheit
erlangt, sich nach Vermögen geltend zu machen — viele
soiciie :..i und für sich recht schätzbare Talente finden sich
:nni ifeispiel in der Umgebung von Raffael, Rubens oder
Rembrandt, sie umkreisend wie Monde dieser — sit venia
verbo — selbstleuchtenden Planeten, Gegenstücke dazu
finden sich aber noch heute zahlreich in allen Schulen,
auch den modernsten. Andere haben eine so scharf aus¬
geprägte Individualität und einen so unwiderstehlichen
Drang diese geltend zu machen, dass sie vor keiner
Konsequenz zurückweichen, dadurch aber Gefahr laufen,
das Gleichgewicht zu verlieren und sich den Hals zu
brechen. Gude wiederum gehört zu den in Gleichgewicht
ruhenden Naturen, die so harmonisch gebildet sind, dass
sie immer sie selbst bleiben, wie viel sie auch von andern
lernen, und immer besonnen, mutig, aber nie übermütig
vorwärts gehen, ihrer Zeit, nicht aber deren Modelaunen
folgen und die Traditionen, gleichzeitig aber die individuelle
Freiheit respektieren.
Es ist, im grossen gesehen, eine selten schöne Ent¬
wickelungsreihe, die uns Gude’s unzählige Landschaften
zeigen, von den etwas schwerfälligen »romantischen«
Hochgebirgskompositionen aus seiner ersten Düsseldorfer
Periode in den vierziger Jahren bis zu den licht- und
luftgesättigten Küstenbildern seiner letzten Zeit, »realistisch
so zu sagen, aber von persönlichem Leben durchweht und
von der seelenvollen Stimmung getragen, die Dietrichson
mit Recht musikalisch nennt.
Diese Auffassung von dem Rechte einerseits der Tra¬
dition und der ererbten Kenntnis, andererseits der Origi¬
nalität ist bei Gude vollständig bewusst, wie man aus
seinen eigenen Äusserungen in dem Rückblick ersieht,
den er am Schlüsse der Biographie auf seine künstlerische
Thätigkeit wirft. Und man kann verstehen, welche wohl-
thätige Rolle sie in seiner Lehrwirksanikeit gespielt hat,
die ja einen so grossen Platz in seinem Leben eingenom¬
men — er ist ein halbes Jahrhundert damit beschäftigt ge¬
wesen — und von so unermesslicher Bedeutung für die
Ausbildung Hunderter jüngerer Landschafsmaler in seiner
nordischen Heimat, wie in Deutschland gewesen ist. Gar
nicht alle grossen Künstler sind gute Lehrer. Gude ist
aber, laut vielstimmigem Urteil, als solcher ganz vortrefflich.
In der Regel - schreibt Gude - darf der Lehrer
seine Hand nicht auf die Arbeit des Schülers setzen, das
führt nur zu Selbstbetrug und Betrug dem Publikum gegen¬
über. Meine Schüler haben an den grossen Austeilungen
teilnehmen und Auszeichnungen gewinnen können, weil
es ihre eigenen Arbeiten waren, die sie ausgestellt haben.
Sie sind nur von meiner Kritik, nicht von meinem Pinsel
beeinflusst gewesen. Da ich nie versucht habe, den Schü¬
lern etwas von dem Meinlgen, die Kenntnisse ausgenom¬
men, beizubiingen, ja sie im Gegenteile davor gewarnt,
habe ich erlangt, dass sie selbständige Künstler mit eigener
Persönlichkeit geworden sind, und ich wage es zu glauben,
keine Schule in dem Sinne einer geistlosen Imitation meiner
persönlichen Eigenheit gebildet zu haben. Mein Verhält¬
nis zu den Schülern war immer das des Kameraden, und
die Bilder auf meiner Staffelei standen der Kritik der Schü¬
ler ebenso offen wie ihre Bilder der meinigen. Der Unter¬
schied war oft nur der — fügt Gude mit gutmütiger Ironie
hinzu - dass ihr Interesse und ihre Teilnahme für meine
Arbeiten sehr schwach war oder ganz fehlte und zwar oft
bei denen, für die ich mich am meisten interessierte. Ich
habe nicht wenige Schüler gehabt, die keinen Blick darauf
warfen, was ich in Arbeit hatte . . . und zwar waren es
dieselben Schüler, die mit Begierde meine Kritik empfingen,
und oft die tüchtigsten Künstler wurden.« — Wahrhaftig
ein ungewöhnlicher Lehrer!
»Einen leichten Wehmutsschleier,« sagt Dietrichson,
»haben doch das Leben und die Verhältnisse in der nor¬
wegischen Heimat über das lichte und edle Bild der Lebens¬
arbeit Gude’s geworfen. Den nämlich, dass dieser enthu¬
siastische Anbeter der Natur Norwegens, der auch am
liebsten und am besten die heimatlichen Motive schilderte,
und der sie, so oft er es konnte, selbst aufsuchte, in der
Fremde wohnte und dort seine Siege gewann.
J. C. C. Dahl, Gude’s genialer Vorgänger, und Gude
selbst gehörten den zwei ältesten Generationen der nor¬
wegischen Malerei an, als Norwegen noch keine eigene
künstlerische Produktion in seinen Grenzen zu unterhalten
vermochte, die Emigration also eine Notwendigkeit und
eine Rückkehr eine Unmöglichkeit wurde. Kurz »das Glück
Hans Skala, München. Blcistiftstudie
Hans Oude. Frische Brise. Gemälde (1886)
74
KLEINE NOTIZEN. -- NEUE KUNSTBLÄTTER
wurde nie Norwegen vergönnt, Ues reiche Leben sich ganz
im heimatlichen Schoss en^'.' '-'e: zu sehen, und nur
Gude’s eigene wari’.n* izbc Va lande, dessen Natur
und Volk hat dafür , lass • <' t^ns nicht fremd ge¬
genübersteht. ni.s ■sa te aber Dietrichson
Recht geben müsse n a.i.'.s - -rh aie hntwickelung des
echten und ■ i^ir 'hc Schönheit der nor¬
wegischen - andsci i • .1 ^jgen war, wurde Gude
für die Nnr»- ( v .1 - -worden ist; und eben indem
sie von dian - ist, was sie in Gude’s Schule
für die nen, :, f ■ s.i, reiche diese Zeit stellt, gelernt.
hat die jüngere (dritte) Generation ihren freien und unab¬
hängigen Standpunkt erreicht.«
Ich füge zuletzt hinzu, dass das Gude’sche Buch aufs
reichste illustriert ist, mit nicht weniger als 121 Bildern im
Text oder auf besonderen Blättern, teils Porträts von im
Texte erwähnten Personen und Orten, teils und vor allem
Abbildungen der eigenen Werke des Künstlers, wodurch
das Lesen der unterhaltenden Arbeit doppelt interessant
wird. LInsere beigefügten Proben geben eine Vorstel¬
lung davon.
Stockholm. GEORG GÖTHE.
KLEINE NOTIZEN
Hans Neumann, mit dem wir durch das anmutige
Schabkunstblatt »Am Klavier die Leser der Zeitschrift
für bildende Kunst bekannt machen, ist ein junger, seit
einigen Jahren in München ansässiger Künstler, der sich
schon auf graphischen Ausstellungen mehrfach bemerkbar
gemacht hat. Wie die beigefügte Arbeit erkennen lässt,
ist es ihm im wesentlichen um das Festhalten einer ge¬
wissen Stimmung zu thun, um das Dekorative, wogegen
das rein Zeichnerische, die Schärfe der Linienführung, die
Impression der Bewegung für ihn weniger erstrebenswert
zu sein scheint. Neumann ist reiner Graphiker und ver¬
sucht, für seine Absichten sich die verschiedensten Aus¬
drucksmittel dienstbar zu machen; seine Platten, deren
wir eine ganze Reihe gesehen haben, zeigen die mannig¬
faltigsten Techniken gemischt und vereinigt, daneben ver¬
sucht er sich im modernen, farbigen Linienholzschnitt und
dem grossflächigen Plakat. Auch dekorative Entwürfe für
das Kunstgewerbe sind sein Arbeitsfeld. Hans Neumann
ist im Jahre 1873 in Kassel geboren, wo sein Vater als
Akademieprofessor wirkt, und hat sich nach der üblichen
Vorbildung im Jahre 1899 in München niedergelassen.
Noch einen zweiten Namen haben wir heute zum
erstenmale zu nennen: Hans Skala. Skala ist insofern
das Gegenstück zu dem ebengenannten Künstler, als seine
Stärke eine bestechende, zeichnerische Fertigkeit ist; davon
geben die beigefügten zwei Proben seines Skizzenbuches
einen erfreulichen Beweis. Blättert man seine Studien,
zumal die farbigen, durch, so erkennt man, dass er ernst¬
lich danach strebt, Luft und Licht in ihrer malerischen
Wirkung auf den menschlichen Körper zu studieren, und
dass er auf dem Wege ist, die gestellten Probleme künst¬
lerisch zu lösen. Auch Skala, der 1875 'i Berlin geboren
ist, lebt gegenwärtig in München.
NEUE KUNSTBLÄTTER
Ein neuer Earbcnliolzschnitt von Albert Krüger darf für
Sammler von Kunstblättern immer als ein Ereignis gelten,
deshalb sei auch das soeben bei der G. Grote’schen Ver¬
lagsbuchhandlung in Berlin erschienene Blatt hier sogleich
signalisiert Es giebt jenes bekannte Profilbildnis in der
Ambrosiana wieder, das unter dem Namen des Lionardo
geht, dessen behauptete Urheberschaft aber ebenso, wie
die Frage nach der dai gestellten Person zu lebhaften
Meinungsverschiedenheiten unter den Kunstgelehrten An¬
lass gegeben hat. Vorjahren ist in dieser Zeitschrift, wie
erinnerlich, dies Thema schon ausführlich erörtert worden
(N. F. V. 1894). Aber auch dem Kunstfreunde, der jen-
seit des gelehrten Streites sich in die Betrachtung von
Krüger’s farbiger Übersetzung des Meisterswerkes ver¬
senkt, werden Rätsel aufgegeben : denn hinter den adeligen
Linien des Antlitzes spürt man eine Seele, deren Geheimnis
der prüfende Blick des Beschauers immer und wieder zu
erraten sucht.
Der Holzschnitt hat eine Fläche von 37X22 cm; die
Ausführung ist in jeder Beziehung meisterhaft, der
Zusammenklang des leuchtend blauen Gewandes mit dem
rotbraunen Haar und dem reichen Perlenschmuck ist
geradezu prachtvoll. k.
Die grosse farbige Nachbildung des y>Zinsgrosclieii«-
(Bildfläche 25:33 cm) von Tizian, welche E. A. Seemann
auf Grund der direkten Aufnahme des Originals in Drei¬
farbendruck mit der grössten Sorgfalt hat anfertigen lassen,
giebt das berühmte Gemälde in Bezug auf die Zeichnung
und die ganze Technik, also in Bezug auf sein Wesen
und seinen jetzigen Zustand so treu wieder, wie es bis¬
her nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte. Auch
die Earbe kommt hier nicht mehr als je zu ihrem Recht
und die Wirkung ist daher eine so überraschende, dass
mancher Kenner die schöne Reproduktion für würdig
erachten wird, auch in einem vornehmen Zimmer als
Wandschmuck zu dienen. (Preis 2 M., in Passepartout 3 M.)
Alte Meister, Verlag von E. A. Seemann. — Den beiden
Erstlingslieferungen dieser glänzenden Veröffentlichung
sind inzwischen drei weitere gefolgt, so dass der erste
Jahrgang abgeschlossen ist (zum Abonnementspreis von
25 Mark), ln den 40 Tafeln ist Dürer dreimal (die beiden
Apostelpaare und das Porträt Holzschuhers), Velazquez
zweimal, jeder der anderen flämischen, holländischen, fran¬
zösischen, spanischen, italienischen Meister nur einmal
vertreten, so dass bereits eine grosse Mannigfaltigkeit vor¬
liegt wie der Darstellungen so der Auffassungen und
Behandlungsweisen, ein Studienmaterial, wie es abseits
von den Originalen sonst nicht geboten werden kann.
Die meisten Tafeln geben das Original seinem Wesen wie
seiner Färbung nach in einer ganz frappanten Aehnlichkeit
wieder, die zugleich von dem Zustande desselben Kenntnis
verschafft. Möge die Anerkennung, die das Werk in den
Fachkreisen auch des Auslandes gefunden hat, sich be¬
haupten und steigern! A. Schnntgen {Köln).
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
Hans Skala, München
Bleistiftstadie
SOMMERNACHT
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F.
XIII
GEHEIMNIS. ORIGINALRADIERUNO VON G. v. KEMPF IN WIEN
EIN MEISTERWERK DES SPERANDIO
IM SOUTH KENSINOTON -MUSEUM ZU LONDON
Von W. Bode
Beim Durchblättem von Photographien nach
Gegenständen, diedem Berliner Museum gelegent¬
lich zum Kauf angeboten wurden, fiel mir die
Photographie einer Madonnenstatue in die Hände,
die sich seit etwa sieben oder acht Jahren im South
Kensington- Museum befindet. Sie wurde erworben
vom Kunsthändler Bardini, der sie verschiedene Jahre
besass, da es eines seiner »cavalli di bataglia« war,
die damals im Kunsthandel selbst bei den grössten
Antiquaren schon recht selten zu werden begannen.
Die Gruppe zeigt Maria mit dem Kinde auf dem
Schoss, nicht viel unter Lebensgrösse. Sie ist in Thon
modelliert; die ursprüngliche Farbe war durch spätere
rohe Anstriche bedeckt, nach deren Abnahme nur
noch dürftige Reste der alten Bemalung zu Tage ge¬
kommen sind. Beim Abwaschen hat, infolge zu
scharfen Putzes, die Oberfläche zum Teil ziemlich
stark gelitten, so dass die Formen vielfach unscharf
und verwaschen erscheinen; dies hat vielleicht auch
darin seinen Grund, dass der Künstler erst in der
(jetzt beinahe ganz fehlenden) dünnen Stuckschicht,
mit der die Thonbildwerke regelmässig behufs der
Bemalung überzogen wurden, die letzten Feinheiten
der Modellierung anbrachte.
Die Gruppe befand sich früher in einer Privat¬
kirche der Mark Ancona; Bardini glaubte daher ein
Jugendwerk des Benedetto da Majano darin zu er¬
blicken, der hier ja wiederholt, namentlich in seiner
früheren Zeit, beschäftigt war. Allein, der schlichte
Realismus dieser Figuren, dem alle feineren künst¬
lerischen Ausdrucksmittel: jedes Arrangement der
Falten, jedes Suchen nach freier Gruppierung, fern
liegen, hat mit Benedetto’s Art nichts gemein; das
beweisen namentlich die verschiedenen Gruppen des
gleichen Motivs, grosse und kleine, die uns von ihm
erhalten sind, ln Florenz dürfen wir den Künstler
überhaupt nicht suchen; die in ihrer lebenswahren,
intimen Auffassung von Mutter und Kind allerdings
verwandten Arbeiten der Florentiner Thonbildner,
zeigen noch weit mehr gotische Traditionen in der
Formengebung, in der Durchbildung und schwung¬
volleren Komposition. Der Künstler dieser Gruppe
ist offenbar schon um eine oder zwei Generationen
jünger als die Meister jener Florentiner Madonnen¬
kompositionen. Er ist schon ein echtes Kind der Früh¬
renaissance und zwar augenscheinlich bereits aus einer
etwas vorgeschritteneren Zeit derselben; immerhin aber
aus einer Zeit, in der die Marken noch nicht von
venezianischen Künstlern beeinflusst und selbst bedient
waren. Eigene Künstler von einiger Bedeutung hat
aber die Mark Ancona damals fast gar nicht gehabt,
wenigstens keine Bildhauer; wir müssen daher den
Zeitschrift für bildende Kunst. N. E. XIII. H. 4.
Verfertiger der Madonnenstatue des South Kensington-
Museums doch ausserhalb suchen. Da Florenz und
Venedig ausgeschlossen sind, liegt es am nächsten,
an Bologna zu denken, dessen Hinterland ja die
Marken sind.
Freilich hat Bologna eingesessene Bildhauer erst
um die Wende des fünfzehnten zum sechzehnten
Jahrhundert aufzuweisen, also in einer schon etwas
weiter vorgeschrittenen Zeit; aber im Quattrocento
waren hier mehrere hervorragende Bildhauer aus ver¬
schiedenen Teilen Italiens nacheinander lange thätig,
wurden zum Teil zu Bolognesern und prägten der
Bologneser Plastik ihren Charakter auf: der Sienese
Giacomo della Quercia, Niccolö dalF Area aus Bari
und der Mantuaner Sperandio. An Quercia’s gross¬
artige Schöpfungen erinnert die Gruppe freilich gar
nicht; ist sie doch auch erst ein halbes Jahrhundert
nach dessen Tode entstanden. Niccolö’s grosszügige
Behandlung steht gleichfalls in vollem Gegensätze zu
dem schlichten, fast schüchternen, aber empfindungs¬
vollen Naturalismus dieses Stückes. Wohl aber
scheint mir Sperandio in Betracht zu kommen, der
jüngste dieser drei Künstler, der seit 1478 bis in die
neunziger Jahre in Bologna lebte. Sperandio ist lange
bekannt und gefeiert als Medaillenbildner, von seiner
Persönlichkeit haben wir aber erst vor etwa zwölf
Jahren durch Venturi’s Forschungen ein, noch etwas
unbestimmtes Bild erhalten, eine grössere plastische
Arbeit glaubte damals derselbe Forscher ihm noch
nicht auch nur mit Wahrscheinlichkeit zuschreiben zu
dürfen. Inzwischen hat gleichfalls Venturi auf ein
paar hervorragende Bologneser Büsten aufmerksam
gemacht, die zweifellos Sperandio’s Werke sind, und
durch einen glücklichen Urkundenfund haben wir er¬
fahren, dass das Grabmal Alexander’s V. in San
Francesco zu Bologna nicht eine Arbeit aus dem
Anfang des Quattrocento ist, wie man früher annahm,
sondern von Sperandio ausgeführt wurde, der 1482
die Restzahlung darauf erhielt. Durch den Vergleich
mit den Thonbildwerken an diesem Monument haben
die Fassaden der kleinen Kirche S. Caterina und
einige andere unbedeutendere dekorative Thonarbeiten
in Bologna ihm zugeschrieben werden können; der
Louvre erwarb ein bezeichnetes Marmorrelief mit dem
Profilportrait des Herzogs Ercole 1. d’Este, seines
langjährigen Gönners, und aus der Übereinstimmung
mit der Madonnenstatue auf jenem Grabmal habe ich
ein paar grosse Madonnenreliefs in bemaltem Thon,
die auch aus Bologna stammen (die eine jetzt im
Berliner Museum), dem Künstler zugewiesen.
Mit diesen Madonnen hat auch unsere Gruppe im
South Kensington-Museum die grösste Verwandtschaft.
n
78
EIN MEISTERWERK DES SPERANDIO
Ganz individuelle, unbedeutende Formen, in beiden
Figuren so übereinstimmend, dass der Knabe sofort
als das Kind der Mutter zu erkennen ist, ganz natu¬
ralistische, aber zufällige und wenig geschmackvolle
oder gar charaktervolle Anordnung der Gewänder
und Behandlung der Falten, knochen- und gelenklose
Modellierung der Hände und Finger, die müden
Augen, die starken Augendeckel, die etwas skrofulösen
aufgeworfenen Lippen des leicht geöffneten Mundes
finden sich in der Gruppe gerade wie in jenen Reliefs
den Kopf des Kindes in träumerischem Sinnen hinaus¬
schaut, das ist so wahr und zart beobachtet, mit einer
Einfachheit und Treue wiedergegeben, dass sich die
Figuren wie von selbst zur Gruppe abrunden, und
dass diese ganz unmittelbar und eindringlich auf den
Beschauer wirkt. Für die Urheberschaft des Sperandio,
dessen Meisterwerk unter seinen Kompositionen sie
jedenfalls ist, spricht auch der Umstand, dass sie aus
den Marken, und zwar aus der Nähe von Faenza
stammt, wo der Künstler vom Sommer 1477 bis zum
Sperandio. Figuren vom Grabmal Alexander' s V. in S. Francesco zu Bologna
und in den Figuren auf dem Papstmonument. Gemein¬
sam ist ihnen aber auch die feine Schilderung des
zarten Verhältnisses von Mutter und Kind, die gerade
in ihrer ganz ungesuchten Weise von besonders
wahrer und intimer Wirkung ist. Dies gilt vorzugs¬
weise von der grossen Londoner Gruppe, in der
die Art der Anordnung auch die Schwächen des
Meisters im Aufbau, in der Faltenbildung und Formen-
gebung weit weniger auffallen lässt. Wie das kleine
schüchterne Kind im Schoss der Mutter sitzt, wo es sich
sicher und wohl fühlt, wie die Mutter es mit beiden
Händen behutsam und liebevoll an sich drückt, und über
Sommer 1478 durch die Tyrannen von Faenza be¬
schäftigt war. Auf diesen Aufenthalt Sperandio’s in
Faenza führt A. Venturi ein mittelgrosses Thonrelief
der Verkündigung zurück, das sich noch im Dom zu
Faenza befindet. Es erscheint für unseren Künstler
ungewöhnlich gross in der Formengebung und Be¬
wegung; freilich kennen wir ihn in grösseren Kom¬
positionen bisher noch nicht. Ein ganz ähnliches
Verkündigungsrelief in Thon besitzt Herr Adolf von
Beckerath in Berlin, das sich 1898 in der Renaissance-
Ausstellung befand; es wurde in Florenz erworben,
stammt aber gleichfalls aus der Mark Ancona.
SPERANDIO SCULPS.
LONDON, SOUTH KENSINGTON-MUSEUM
1 1 *
i.
•s . ..
: \ - -‘.:|
STUDIENKOPF VON KÄTHE KOLLWITZ IN BERLIN
ZEICHNENDE KÜNSTE
VIERTE AUSSTELLUNG DER BERLINER SECESSION
Von Ludwig Kaemmerer
Als der Glanz der holländischen Malerei verblichen war,
die Hals, Rembrandt, Vermeer ihre Augen geschlossen
hatten, da begann man von Amsterdam nach Paris zu
schielen und über die »Grondlegginge der Teekenkonst
akademisch zu meditieren. Was dem fünfzehnten Jahr¬
hundert handwerkliche Überlieferung gewesen, was im
sechzehnten als Grundlage aller Malerei noch mehr be¬
wundert als ehrlich geübt, von den vorwärtsstürmenden
Genies des siebzehnten aber über den Haufen gerannt war,
das wurde von dem holländischen Poussin Gerard Lairesse
»met vorbeeiden uyt de besten konststukken der oude en
nieuwe Puyk-Schilders bevestigd.« Schon 1769 erörtert
man mit einem schier an die italienische Frührenaissance
erinnernden Eifer, inwiefern die Zeichnung den Vorrang
vor der Färbung behaupte. Die zweite Renaissance der
Antike rankte sich an der Zeichnung empor: das Empire
ist schlechthin plastisch-zeichnerisch. Man denke an Goethe,
die Kartonkunst und seine Ansichten darüber, an die Nach¬
blüte der Grabstichelkunst etc.
Dieses Etcetera bedarf keiner historischen Auffrischung;
es ragt mit dürren Zweigen noch immer hie und da in
unsere Tage hinein.
Edouard Manet’s Schaffen, das die formale und zeich¬
nerische Beherrschung des Naturbilds mit bewusster Rücksichtslosigkeit der freifarbigen Wiedergabe sinnlich¬
optischer Eindrücke opferte, wird von seinem jüngsten Biographen als »die letzte Etappe in der malerischen
Bewältigung der farbigen Erscheinung der Natur als Befreiungsthat gefeiert.
Trotzdem erschienen 1895 Max Klinger’s Antithese von »Malerei und Zeichnung« und 1897 Adolf
Hildebrand’s »Problem der Form' bereits in zweiter Auflage als Menetekel an der stets kalkbleichen
deutschen Wand künstlerischer Abstraktion. Heinrich Woelfflin pries die vorbildliche Kompositionsklarheit
und Linienreinheit des klassischen Stils. Toroop und van de Velde suchten die blühende Kunst der Farbe
durch Symbolik der Linien und Logik der Formen auszitlaugen. Die Kunsterzieher dekretieren eine Reform
des Zeichenunterrichts als wichtigste Grundlage aller künstlerischen Bildung. Und nun eröffnet gar die
Berliner Secession eine Ausstellung unter dem beängstigend altväterischen Namen: Zeichnende Künste.
Kein Grund zu Beklemmungen! Im Schatten Manet’s und Hokusai’s wird auch in Deutschland
noch eine Weile die Farbe gedeihen, bis ihr Reiz — den Augen der Minderbemittelten andemonstriert —
wieder einer Reaktion weicht. Vielleicht hat dann die Linie und Form schon wieder mehr — und vor
allem Neues — zu sagen gelernt. Dass aber der frisch erschlossene Quell, der über das unverwüstliche
Hochgebirgsgestein Velazquez und Goya in unsere Niederungen geleitet wurde, gar zu schnell versiegen
könnte, davor braucht auch der keine Furcht zu haben, der aus dem Prospekt der in Frage stehenden Aus¬
stellung mit heimlicher Sorge vernimmt, dass hier nur die deutsche Kunst zu Wort kommen soll.
Die »zeichnenden Künste« — nicht Deutschlands, sondern vor allem der Mitglieder der Berliner Secession
— auf einem Flächenraum von etwa hundert Quadratmetern ausgebreitet, werden sie die von heute zu
morgen schwankende Gunst des Publikums zu gewinnen, zu fesseln wissen? Ein Wagnis, eine Demonstration!
Vor allem aber eine Mut bezeugende That! Und, wer unbefangen, mit wachsverstopften Ohren und
freiem Blick die Säle der secessionistischen Burg in der Kantstrasse mustert, wird sich gern des alten
Spruchs erinnern: fortes fortuna adjuvat.
Die öffentliche Kritik aber darf sich mit der Glücksgöttin nicht ohne weiteres identifizieren. Ihre
Bedenken zurückzuhalten, läge nur dann Grund vor, wenn die Bewegung, die hier sich so kräftig geltend
macht, ihr noch aufmunterungsbedürftig erschiene. Heute aber dürfte viel eher ein klug retardierendes
Wort auch Freunden gestattet sein.
Zunächst sei der Gesamteindruck der Ausstellung festgestellt. Es überwiegt bei weitem die farbige Studie,
die Skizze, die Karikatur. Die Schwarz-weisstechnik — die seriöse Graphik im alten Sinn tritt durchaus
82
ZEICHNENDE KÜNSTE
zurück. Das graphische Handwerk der Reproduktion
ist fast ganz ausgeschlossen. Die Ellbogenfreiheit, die
sich der moderne Künstler im harten Kampf gegen
die Zunft — nicht nur der Schaffenden, sondern auch
der Geniesser i^n errungen hat, wird in vollen
Zügtn gerosscn. Die Skizze, früher mehr dem in¬
timen .\;.ci:erfreund und Fachgenossen bestimmt, ist
lange sciion ausstellungsfähig geworden, ja, sie hat
von ihrer gröberen und gefallsüchtigeren Schwester,
der Affiche, vieles angenommen, was sie völlig aus
riem siiüen Bezirk der zarten Portefeuillekunst, aus
der Sammlerkiause des ancien regime verbannt.
Diese Übermacht des Plakatstils verkündet auch
die Illustration unserer deutschen Witzblätter in
Format und Mache. Ihre Mitarbeiter bilden das Gros
der Aussteller in der Kantstrasse. Das ist die Stärke
und auch die Schwäche dieser Veranstaltung. Allzu¬
viele Karikaturen auf einem Platz wecken bei dem
von der Überbrettelei unserer Tage ohnehin degoutier-
ten Besucher leicht ein Gefühl des Unbehagens.
Stärker als irgendwo drängt sich in der Karikatur das
Stoffliche, das Gegenständliche an den Geniessenden
heran. Es ist niemals ganz neutraler Boden, den
man da vor sich hat, und den künstlerischen Kern
jedesmal wieder aus seiner Umhüllung herausschälen
zu müssen, macht auf die Länge der Zeit mehr Plage
als Freude. Dazu kommt, dass die grosse Berliner
in diesen Gewässern — wenn auch ihre Netze er¬
heblich weitere Maschen hatten — bereits mehrmals
mit Erfolg gefischt hat.
München ist die eigentliche Heimstätte jenes ge¬
legentlich etwas grobschlächtigen, künstlerisch bramar¬
basierenden Humors, dem wir ein in Deutschland
neues, der modernen Malerei ebenbürtiges graphisches
Genre verdanken. Die zinkotypische Reproduktions¬
technik hat zweifellos das ihre dazu beigetragen, diesen
Jugend- und Sirnplizissimusstil — lucus a non lu-
cendo — zu erzeugen und zu vergröbern. Bruno Paul,
Rudolf Wilkc, Adolf Münzer, Walther Oeorgl, Tliöny
(Abb. 4) und Reznicek arbeiten direkt für Zinkotypie.
Sie interessieren trotzdem nicht sowohl als Graphiker,
vielmehr als Künstler. Unter dem »tachisme«, dem
sie huldigen, steckt oft tiefes Gefühl, feine Beobachtung,
nervöse Beweglichkeit, die auch den fesseln, der sich
von der Klobigkeit ihrer Ausdrucksweise anfangs be¬
leidigt fühlte. Die grelle Art der Übertreibung —
hier hat Japan, oder vielmehr der missverstandene
Japanismus, sicherlich nicht zur Verfeinerung west¬
lichen Empfindens mitgewirkt — kann zarter organi¬
sierten Gemütern oft den künstlerischen Spass ver¬
derben, zumal die Verzerrung allzuklar als angelerntes
Mittel zum Zweck erscheint. Wenn Thomas Theodor
Heine, einer der begabtesten und feinsten der Gruppe,
der sehr ausgiebig hier vertreten ist, für sich, und
nicht für den Simplizissimus arbeitet, erscheint er dem
Kunstfreund stets in sympathischerem Licht, wie jeder
Schriftsteller, der für eine Tageszeitung schreibt, nie¬
mals den Eindruck völliger Unbefangenheit machen
wird. Trotzdem wollen wir froh sein, dass in Deutsch¬
land die künstlerische Kraft so dem grossen Publikum
— wenn auch in einer nicht immer lieblichen Um¬
wicklung — zu Gemüte geführt wird.
Von Talenten, die als Volkserzieher dieser Art
Schätzung verdienen, kommen in dieser Ausstellung
Abb. 2. Studie von Max Liebermann
LUDWIG V. HOFMANN
Abb. 3.
STUDIE ZUM FRÜHLINQSSTURM
84
ZEICHNENDE KÜNSTE
ausser den genannten noch folgende in Betracht: der
derbgesunde Wiener Ferdinand Andri, die Jugend-
Bicden
cier Diez, Feldbauer, Eicliler und Angela Jank,
1 Oi'a'anisierie Eugen Kifchner, der bizarre
‘ -.{Innann und die Berliner lustigen Sitten-
: rDiiemann, Schnebel, Feininger, Edel und
Juiger. Von der Originalität eines Beardsley,
,t;‘odon, Nicholson oder Lautrec ist zwar
csei Gruppe
— t feine vielleicht
ausgenommen —
aber immerhin ist
der künstlerische Ge¬
halt unserer moder¬
nen Karikatur doch
erheblich kräftiger
als der früherer Ge¬
nerationen und wird
noch eine Weile Vor¬
halten, die breiten
Bettelsuppen des Ta¬
geswitzes schmack¬
haft zu machen.
Die Farce zn ba¬
lancieren , hat die
Berliner Secession
sich bemüht, indem
sie Max KUnger,
Otto Greiner, Hans
Thorna und seinen
Knappen H. von
Volkmann, Matthäus
Schiestl, Walter
Leistikow (dessen
Radierung »Wald¬
see diesen Aufsatz
ziert), Peter Behrens,
Melchior Lechter,
F. Erler, L. von
Hofmann in gemes¬
senem Zuge auf¬
marschieren Hess.
Stattlicher noch —
wenn auch nicht so
feierlich drapiert —
wirkt das naturalis¬
tische Fähnlein um
Max Liebermann :
Skarbina, Kaethe
Kollwitz , O. H.
Engel, Gurt Her¬
mann, Emil Orlik, Alberts, Kühl, Olde, Hübner,
Corinth, Slevogt, Frenzei, Baliischek etc.
Die Karlsruher und Stuttgarter Lithographen
kommen nur in einigen mit berechtigter Vorsicht aus¬
gewählten Proben zu Wort: Leopold von Kulckreuth,
der sehr talentvolle E. R. Weiss, Heine Rath. Die
Dresdner Graphik fällt — bis auf die oben genannten
Pastelle von G. Kühl — ganz aus. Hier, wie auch
sonst fühlt man Lücken, die nur kurz durch einige
markante Namen näher bezeichnet seien: Leibi, Stadler,
Abb. 4. Zeichnung von E. Thöny, München
Ernst Neumann, Richard Müller, Eitner, lllies, H. Otto,
Rasch, Gleichen -Russwurm, Hollenberg, Ferdinand
Schmutzer, Heinrich Wolff. Sie alle, die in der mo¬
dernen deutschen Graphik ein gewiss ebenso beach¬
tenswertes Kapital repräsentieren, wie die robusten
Spassmacher des Tages, fehlen.
Aber, was man den grossen Ausstellungen am
Lehrter Bahnhof mit Recht zum Vorwurf gemacht
und, wogegen die
Secession mit fana¬
tischem Eifer anzu¬
kämpfen bemüht
war: die allzugrosse
Zahl von Einzelob¬
jekten wird trotz
solcher Lücken auch
dieser graphischen
A usstel 1 un g z u m Ver¬
hängnis. Den Künst¬
lern, die sich hier
vor dem Publikum
mit dem Besten, was
sie können, zeigen,
würde man ohne
Zweifel zu nahe tre¬
ten mit dem Grund¬
satz, ein kleineres
Gemäss künstleri¬
scher Arbeit verlange
weniger Aufmerk¬
samkeit und weniger
eindringliche Be¬
trachtung. Diese
Blätter und Blättchen
sollen ja eben be¬
weisen, dass die
Kunst nicht nach
der Elle gemessen
werden kann. Wie
will, wie kann man
aber nahezu 700 Ar¬
beiten auf einerWan-
derung durch sieben
Säle oder in einer
kürzeren Besprech¬
ung, wie dieser,
gerecht werden ? Be¬
gnügen wir uns dar¬
um, unbesorgt um
tiefsinnige Gruppie¬
rung und eingehende
Begründung des Urteils, mit einer knappen Aufzäh¬
lung dessen, was zu einer intimen Ausstellung ver¬
einigt, einen gewiss noch grösseren Genuss gewähren
würde, als das derzeitige Meeting.
Da sind einige Aktzeichnungen von Max Klms^r
von grosser Schönheit und immer wieder der Be¬
trachtung wert, wenn sie uns auch über ihren Schöpfer
nichts wesentlich Neues zu sagen haben, so wenig,
wie die raumsperrend ausgebreiteten Drucke seiner
Brahmsphantasie und der Radierungsfolge: vom Tode.
ZEICHNENDE KÜNSTE
85
Ludwig von Hofmann' s Studien dagegen öffnen unsern
Blick für eine Seite seines Talents, die in seinen Bil¬
dern oft hinter dem starken Eindruck ekstatischer
Earbigkeit zurücktritt. Manches erinnert schlechtweg
an die Naturalisten strenger Observanz, anderes ent¬
zückt durch den Schwung der Bewegung und die
Sicherheit des Formengefühls. Eine Studie zu Hof-
mann’s bekanntem Bilde: Frühlingssturm, haben wir
hier abgebildet (Abb. 3).
Kciethe Kollwitz, eine Schülerin Stauffer- Berns, die
durch ihre ergreifende Schilderung des Weberaufstands
in einer Reihe von Radierungen und Lithographien
i8g8 zuerst die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihr
ungewöhnliches Talent lenkte, arbeitet mit zäher Energie
an dessen Weiterbildung. Die Skizzen und Studien
zu dem im Sommer bereits in der Secession ausge¬
stellten 'Tanz um die Guillotine« zeugen von einer
Art verbissenen Ingrimms, sich der einzelnen Motive
zu bemächtigen, zugleich aber auch von einer plas¬
tischen Kraft und Entschlossenheit, wie sie selten bei
Frauen anzutreffen sind. Am erstaunlichsten treten
diese Eigenheiten wohl in dem herben Frauenkopf
in Clairobskurzeichnung hervor, den wir an der Spitze
dieses Aufsatzes abbilden. Beachtenswert, wenn auch
an künstlerischer Vollkraft den ebengenannten Arbeiten
nicht zu vergleichen, sind die Federzeichnungen von
Giistava //äg^r-Berlin, in flotter Parallelschraffierung
wiedergegebene Impressionen von oft überraschender
Treffsicherheit (Abb. 1).
Liebermann spricht in seinen zahlreichen kleinen
Kreide-Skizzen die überlegene nonchalante Sprache ziel¬
gewisser Meisterschaft. Es sind mehr Notizen, als Mittei¬
lungen an das Publikum. Die Pastelle des Berliner Seces-
sionsführers mögen als Belege für seine unablässige
Weiterarbeit besonderer Beachtung empfohlen sein
(Abb. 2). Max Slevogfs Tierstudien erinnern von weitem
an Rembrandt’s Stenogramme ähnlichen Inhalts, aber
bedeuten für die eigentliche Stärke seines Talents nicht
allzuviel (Abb. s. S. 93). Wenig erfreulich sind die ge¬
spreizten und gewaltsamen Radierungen von Louis Co-
rinth, die keine rechte Liebe und auch kaum erhebliches
Verständnis für die graphischen Mittel verraten, wogegen
Jacob Alberts in der Kreidezeichnung sich mit mehr
Energie auszudrücken versteht, als in der Malerei. Eine
bisher noch wenig bekannte Erscheinung ist Theodor
Eifert, dessen Federzeichnung eines Hamburger Fleets
mit viel Überlegung und Feingefühl gemacht ist. Als
Homo novus begegnet man auf dieser Ausstellung
ferner Heinrich Zille, einem Geistesverwandten von
Baluschek und Friedrich Latendorf, der gleich diesen
Schilderern von Berlin N. sich im breitesten Berliner
Proletarierdialekt gefällt, ohne tieferes Interesse wecken
zu können. Er bleibt zu sehr im Stofflichen stecken,
ihm fehlt der Humor, der über den Dingen steht,
aber auch die erschütternde Tragik, wie sie z. B. aus
Käthe Kollwitz’ Arbeiten zornig aufflammt. Paul
Baum, der seinen Wohnsitz von Dresden nach Berlin
verlegt hat, aquarelliert in zarten Tönen und spär¬
lichen Formen Landschaften, die oft etwas blutleer
wirken, aber durch einen Hauch freundlicher Lyrik
den Beschauer gewinnen.
Aus dem Schwarm der Idealisten, die die Schwarz¬
weisskunst von rechtswegen als ihr besonderes Revier
in Anspruch nehmen, tauchen nicht gerade viel neue
Lichter auf. Melchior Lechter, Fritz Frier, Peter
Behrens rechnen wir zu den älteren, wenn auch ihre
kunstgewerbliche Stilaffektation von künstlerischer
Reife und Tiefe noch recht weit entfernt ist. Ernster
zu nehmen ist E. R. Weiss, der aus seinen naturalis¬
tischen Anfängen sich zu einem kraft- und tempera¬
mentvollen Buchillustrator im derben Holzschnittstil
entwickelt hat und auch da zu fesseln weiss, wo die
Verstiegenheit seiner Ideen anfangs nur Schütteln des
Kopfes erregt. Emil Orlik, der technische Tausend¬
künstler aus Prag, befindet sich zur Zeit im Purgatorio
der japanischen Kunst, die er an Ort und Stelle mit
einer Gründlichkeit studiert und nachgeahmt hat, wie
wenige andere, die ihren Blick nach dem lichtbringen¬
den Osten wandten. Seine japanischen Holzschnitte,
ein Gegenstück zu Yoshio Markino’s Schilderungen
des Londoner Volkslebens, bleiben — bei aller An¬
passungsfähigkeit ihres Schöpfers — , doch hybride
Bildungen, denen gegenüber der Beschauer nur schwer
naive Freude empfinden kann. Hoffentlich wird das
reiche Talent Orlik's in diesem tiefen Schacht fremd¬
sprachlichen Studiums nicht verschüttet werden. Er
wird dabei übrigens, wenn nicht mehr, so doch Das
gelernt haben, dass das Gute und Grosse, was wir
an ostasiatischer Kultur und Kunst bestaunen, im
wesentlichen darauf beruht, dass dort die handwerk¬
liche Überlieferung ein festes Ferment aller künst¬
lerischen Bildung darstellt; und dass gerade die Ab¬
schliessung gegen fremde Elemente den Quell nationalen
Schaffens fast bis in unsere Tage rein erhalten hat.
Damit soll keine schutzzöllnerische Kunstpolitik ge¬
predigt sein — es giebt Nationen, die im Freihandel
nur profitieren können — aber wirklich ausschlag¬
gebend für ihre Stellung als künstlerische Weltmacht
wird nicht sowohl der Import, als vielmehr seine
Verwertung in nationalem Sinne sein. Und auf diese
kunstwirtschaftliche Frage hat die Ausstellung in
Charlottenburg, die sich auf die einheimische Pro¬
duktion in den »zeichnenden Künsten« beschränkte,
eine Antwort gegeben, die alles in allem genommen,
eher pessimistische Gedanken weckt, als dass sie
unsere Hoffnungen in Zuversicht wandelte.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 4.
12
Die Erzählung der Alten
Abb. 1
AMOR UND PSYCHE
EIN FRESKENCYKLUS AUS DER SCHULE RAFFAEL’S IN DER ENGELSBURG
ZU ROM
Von Ernst Steinmann
BIS heute hat man dem Märchen von Amor und
Psyche, welches Raffael in der Farnesina er¬
zählt hat, in Rom keinen Gemäldecyklus ähn¬
lichen Inhalts an die Seite stellen können. Es wurde
immer nur jene Reihenfolge von zweiunddreissig
Stichen aufgeführt, in welchen Michael Coxcyen in
den dreissiger Jahren des Cinquecento die Fabel des
Apulejus illustriert hat, die aber, wie heute mit Recht
angenommen wird, mit den Kompositionen Raffael’s
in keinem inneren Zusammenhänge stehen^).
Die Ausgrabungen und Restaurationen, welche seit
kurzem in der Engelsburg vorgenommen werden, haben
die Aufmerksamkeit auch auf die dort noch erhaltenen
Freskenreste gelenkt, über deren Entstehungsgeschichte
uns zur Zeit nichts anderes erhalten ist, als eine Notiz
bei Vasari, im Leben des Perino del Vaga. -) Hier
wird der Kastellan der Festung, Tiberio Crispo, welcher
1) Die ältere Litteratiir über die Farnesina hat Förster
vollständig bis auf Cugnoni’s bedeutsame Arbeit über
Agostino Chigi zusamniengestellt (Farnesina-Studien, Rostock
1880). Seitdem haben über den Freskenschmuck der Far¬
nesina gehandelt: Venturi, La Farnesina, Roma 1890 und
A. Weese, Baldassare Peruzzi’s Anteil an dem malerischen
Schmucke der Villa Farnesina. Leipzig 1894. Besonders
beachtenswert ist der kleine Aufsatz von Ad. Michaelis,
Zu Raffael’s Psychebildern in der Farnesina (Kunstchronik
1889, p. 2), auf welchen sich ein Teil der folgenden Aus¬
führungen stützt.
2) Ed. Milanesi V, p. 628.
am ig. Dezember 1544 von Paul III. den roten Hut
erhielt, als Unternehmer der Restaurationen im Castel
St. Angelo gepriesen und von den Malereien heisst
es am Schluss: »die Säle und die übrigen haupt¬
sächlichsten Gemächer malte Perino aus, zum Teil
mit eigener Hand, zum Teil mit Hilfe seiner Schüler
nach seinen Kartons . Dem Hauptsaal, der noch in
seiner ganzen Pracht erhalten ist, schenkt der Biograph
noch einige besondere Bemerkungen; in den übrigen
Räumen erwähnt er nur im allgemeinen die »Fregia-
ture bellissime«. Diese gerade erregen heute beson¬
deres Interesse, einerseits wegen der ausgezeichneten
Erhaltung, andererseits wegen der Eigenart des Dar¬
gestellten. Im ersten Gemach rechts, neben dem
Hauptsaal, sind die Thaten des Perseus verherrlicht;
im Zimmer daneben ist die Geschichte von Amor
und Psyche erzählt.
Ein einziges Fenster erhellt das geräumige Gemach;
die holzgetäfelte Decke ist reich gegliedert und mit
zierlichen Malereien auf goldenem Grunde geschmückt,
ähnlich wie Pinturicchio’s Holzdecken im Palast der
Penitenzieri. Um das Lilienwappen des Farnesepapstes
gruppiert sich die übrige Dekoration, aus welcher sich
das Einhorn heraushebt, das Wappentier des Tiberio
Crispo. 1) Der Fries, welcher rings unter der Decke
entlang läuft, ist kaum 1,50 m hoch; die kleinen
Bilder sind von üppigster Ornamentik umrahmt. Unter
1) Ciaconi, Vitae Pontificum III, p. 706.
AMOR UND PSYCHE
87
Das Orakel des Gottes Abb. 2
dem Friese, welcher selbst wie ein Teppich oben
aufgehängt erscheint, sind noch fast alle Nägel für
die Arazzi an den Wänden erhalten.
Wie weit Perino selbst Hand an diese Fresken
gelegt hat, soll hier nicht erörtert werden. Es gilt
vor allem die Publikation der Dokumente abzuwarten,
nach welchen zur Zeit in den Archiven Roms eifrig
geforscht wird. Jedenfalls sind die hier gebotenen
Leistungen sehr erfreuliche: die Kompositionen sind
meistenteils anmutig und zwanglos entworfen, die
Farben etwas blass, aber sehr einheitlich gestimmt,
der Gesamteindruck ist heiter und prächtig, nachdem
eine sorgfältige Reinigung allen Staub und Schmutz
von den Bildern entfernt hat.‘^)
An der Eingangswand, links in der Ecke, beginnt die
Erzählung. Hier sieht man vor einer künstlichen Grotte
eine hässliche Alte und ein schönes, trauerndes, völlig
unbekleidetes Mädchen sitzen (Abb. 1). Rechts, zu den
Füssen der Alten, schläft ein riesiger Hund, links
steht ein Esel mit hochgespitzten Ohren, den auf¬
merksamen Blick auf die beiden Frauen gerichtet.
Die Alte erzählt, das Gespräch mit heftigen Gesten
begleitend; die junge Frau hört ihr zu, das Haupt
ein wenig über die aufs Knie gestützte Linke erhoben.
Man merkt ihr an, dass sie trotz ihres Herzenskummers
der spannenden Erzählung ihre Teilnahme nicht ver¬
sagen kann. Die Erklärung des Dargestellten ist bald
gefunden. Apulejus erzählt in seinen Metamorphosen
die Abenteuer eines jungen Griechen, Namens Lucius,
welcher auszog die Zauberei zu lernen und dabei
selbst in einen Esel verwandelt wurde. Doch behielt
1) Die Leitung der Ausgrabungen in der Engelsburg
liegt in den Händen des Maggiore Mariano Borgatti, der
auch eine neue wissenschaftliche Publikation über die Ge¬
schichte des Kastells vorbereitet.
2) Die hier reproduzierten Photographien sind nach
den jüngsten vortrefflichen Aufnahmen von Domenico An¬
derson hergestellt.
3) Vgl. Pauly-Wissowa, Real-Encyklopädie unter Appule-
jus und Apulejus, ed. Hildebrand, Lipsiae 1842, 1, p. 280 11.485.
er auch als solcher sein menschliches Bewusstsein bei,
und als er später die menschliche Gestalt wiedererlangt
hatte, beschrieb er seine Erlebnisse. Als Esel be¬
lauschte er auch die Alte, welche einem von Räubern
entführten Mädchen zum Trost und Zeitvertreib das
Märchen von Amor und Psyche erzählte.
Mit der Schilderung dieses Vorganges hat der
Maler seine Erzählung eingeleitet. Die Alte, welche
der trauernden Gefangenen mit solchem Eifer das
Märchen erzählt, deutet mit der ausgestreckten Linken
auf die folgende Bilderreihe hin, welche ihre Rede
illustriert. Der Esel aber hinter der Schönen hört
der Erzählung so eifrig zu wie diese selbst; seiner
Aufmerksamkeit verdanken wir ja die Überlieferung
der Fabel, welche uns in den folgenden neun Bildern
so anmutig erzählt wird, je zwei Darstellungen
schmücken die Schmalwände, je drei die Langwände,
nur schneidet an der Aussenwand das Fenster tief in
den Gemäldecyklus ein, so dass die Fortsetzung der
Fabel hier in der Fensterlaibung Platz finden musste.
Zwei Scenen füllen die Fläche des ersten Bildes
aus (Abb. 2). Rechts im Hintergründe erscheinen Venus
und Amor in den Wolken, und die Mutter zeigt ihrem
Sohn die völlig unbekleidete Psyche, welche eben,
von ihren Dienerinnen geführt, unter einem Baldachin
erscheint und von der knieenden Menge göttliche
Verehrung empfängt. Links im Vordergründe kniet
mit betend erhobenen Händen der greise König und
erfleht von dem milesischen Gott eine Antwort auf
die Frage, wer der Gemahl der ungefreiten Jungfrau
sein würde, der die Menschen nur mit göttlichen
Ehrenbezeugungen zu nahen wagten. So werden wir
aufs beste in die Erzählung eingeführt. Wir erraten,
dass Psyche’s Schönheit die Anbetung des Volkes
und zugleich den Neid der Venus hervorgerufen hat,
und dass der geängstigte Vater Apoll’s Orakelspruch
begehrt, um den Zorn der Götter von seinem Hause
abzuwenden.
In dem folgenden Gemälde links vom Fenster
sehen wir die trauernden Eltern, dem Befehl Apollo’s
12
88
AMOR UND PSYCHE
Ungehorsam der Psyche
Abb. 3
gehorchend, dem unbekannten Gott, »vor welchem
Jupiter zittert, den alle Götter fürchten ^), die Tochter
als Opfer darbringen. Die züchtige Braut liegt auf
einer Bahre ausgestreckt, Posaunenbläser ziehen dem
Zuge voraus, es folgen in faltenreichen Trauergewän¬
dern die Eltern, denen Pagen die langen Schleppen
tragen. Psyche aber wartet gelassen und thränenlos
der kommenden Dinge und von den ihrigen auf ein¬
samer Bergeshöhe allein gelassen, fällt sie sofort in
einen erquickenden Schlummer.
So ist sie in dem kleinen Gemälde der Eenster-
laibung dargestellt, auf dessen Hintergründe ein
Tempelchen sichtbar wird, mit einem Springbrunnen
davor. Rechts daneben sehen wir Psyche schon in
seliger Vereinigung mit dem Geliebten an einem rosen¬
bestreuten Tische ruhen, welchen Dienerinnen eben
mit Speisen besetzen, während sich gegenüber drei
Musikanten aufgestellt haben. Hier allerdings musste
sich der bildende Künstler arg gegen den Sinn der
Eabel vergehen und von der Erzählung des Apulejus
abweichen. Denn unsichtbar nahte sich der Gott der
Psyche, unsichtbar wollte er von ihr geliebt sein und
darum verbot er ihr nach seinem Aussehen zu forschen,
glaubte sich doch Psyche mit einem Ungeheuer ver¬
mählt, als sie sich anschickte den Gott auf ihrem
Lager umzubringen.
Psyche’sUngehorsam, derHöhepunkt und der tragi¬
sche Konflikt der ganzen Erzählung, wird im folgen¬
den Bilde in drei engverbundenen Scenen dargestellt
(Abb. 3): Psyche, welche sich mit scharfem Messer und
brennender Öllampe über den schlummernden Amor
1) Quo tremit ipse Jovis, quo numina terrificantur. Vgl.
Apuleii Psyche et Cupido, ed. O. Jahn, p. 6 (Leipzig 1856).
beugt, Psyche, welche sich den Einger mit dem Pfeil
des Gottes verletzt, Psyche, welche den fliehenden Gatten
vergebens zurückzuhalten sucht, indem sie ihn an den
Eüssen ergreift. Natürlich nimmt die Entdeckung
des schönen Liebesgottes, welcher, von seinen mächtigen
Schwingen beschattet, friedlich schlummernd auf dem
Lager ruht, den vornehmsten Platz in der Schilderung
ein. Eben beugt sich die neugierige Gattin, leise auf den
Knieen heranschleichend, über ihn, das spitze Messer
in der Rechten, mit der Linken die brennende Öl¬
lampe emporhaltend, aus welcher im nächsten Augen¬
blick der verhängnisvolle Tropfen auf den schlum¬
mernden Gott herniederfallen wird. Dieser Vorgang
erscheint allein im hellsten Licht, während rechts und
links die ungehorsame Psyche vom Dunkel der Nacht
fast ganz verdeckt wird.
Venus hat inzwischen erfahren, wie Amor, statt
die Ehre der Mutter an Psyche zu rächen, der Neben¬
buhlerin seine Liebe geschenkt hat. Erzürnt steigt
sie aus dem Ocean empor und findet den Sohn krank
an der durch Psyche’s Unvorsichtigkeit erhaltenen Brand¬
wunde in dem eigenen goldenen Gemache darnieder¬
liegen. Wir sehen im folgenden Gemälde (Abb. 4), wie
die Göttin mit zürnender Rede dem Sohn seine zahl¬
reichen Vergehungen vorhält und wie sie sich bitter
bei den schadenfrohen Göttinnen Ceres und Juno
über den Ungehorsam des mutwilligen Knaben be¬
klagt. Psyche aber sucht den Tod, ohne ihn finden
zu können und liefert sich endlich freiwillig der be¬
leidigten Venus aus. Aber sie erlangt weder Gnade
noch Verzeihung, und so sehen wir die Prüfungen der
Unglücklichen in den folgenden zwei Eresken dargestellt.
Wir sehen (Abb. 5), wie Sollicitudo und Tristitia,
die Mägde der Göttin, sich der Gefangenen bemäch-
AMOR UND PSYCHE
89
Venus schilt den kranken Amor Abb. 4
tigen und mit Geissein über sie herfallen, während
Venus ungerührt von den Bitten der Gequälten auf
schwellendem Pfühl daneben sitzt, mit dem Finger
sich das rechte Ohr kratzend i) mit der linken Hand
nach unten weisend auf das Gemach, wo der kleine
Amor krank und liebessehnsüchtig schmachtet. Rechts
im Hintergründe setzen sich die Prüfungen Psyche’s
fort, genau in der Weise wie sie Apulejus schildert.
Wir sehen die Gattin Amor’s vor einem Haufen ver¬
mischten Getreides und Gemüses knieen; vor ihr
steht Venus, ihr befehlend, die Kornarten zu sichten
und zu scheiden und bis zum Abend die ganze Ar¬
beit verrichtet zu haben.
Bekanntlich lässt Apulejus die Ameisen das der
Psyche aufgetragene Werk verrichten, und ebenso
hilfreiche Diener stellen sich ihr bei der letzten und
schwersten Aufgabe zur Verfügung; sie soll im Orkus
eine Büchse mit der Schönheitssalbe der Proserpina füllen
(Abb. 6). Links im Vordergründe sehen wir Psyche,
welche knieend den Auftrag von der Liebesgöttin
empfängt und schon die Büchse in der Hand hält,
welche sie füllen soll. Im Hintergründe erscheint sie
wieder, mit der Büchse umherirrend, bis eine freund¬
liche Stimme ihr den Weg zum Hades zeigt, einem
turmartigen Bau, aus welchem die Flammen empor¬
schlagen. Mit einem Kuchen besänftigt sie den Höllen¬
hund und führt den schweren Auftrag glücklich aus.
Aber noch einmal wird sie von Neugierde bezwungen;
sie öffnet trotz des Verbotes die Büchse, um sich ein
wenig von der Schönheitssalbe zu eigen zu machen
und fällt in einen tiefen Schlaf, aus welchem sie erst
der inzwischen genesene Amor erweckt, der auch die
Büchse sorgfältig wieder schliesst. Ganz flüchtig ist
1) »Ascalpens aurem dexteram«. Jahn p. 45.
die Erweckung Psyche’s durch Amor rechts im Hinter¬
gründe dargestellt; im Vordergründe aber sehen wir
die Vielgeprüfte, welche knieend der Venus das Ge¬
schenk der Proserpina überreicht.
Der freundliche Schluss der sinnigen Fabel, bei
welchem Raffael in der Farnesina besonders lange ver¬
weilt, ist von Perino del Vaga ziemlich abgekürzt
worden. Das letzte Bild schildert schon das Hoch¬
zeitsmahl der Neuvermählten, zu welchem Psyche
auf Befehl des Jupiter von Merkur emporgeleitet wird,
wie man es unten links in der Ecke flüchtig ange¬
deutet sieht. Ausser der Venus, welche mit einem
Putto rechts in der Ecke erscheint, dem glücklichen
Paar selbst in ihrer Nähe, und dem laubbekränzten
Bacchus, der die Rechte auf sein Pantherfell gestützt
hat, ist keiner der Himmlischen besonders charakteri¬
siert. Amor selbst erscheint wie immer als ein schlan¬
ker Knabe mit mächtigem Flügelpaar, welcher die
schüchterne Psyche stürmisch umarmt. Neben ihm
in der Mitte der Tafel dürfte Jupiter mit der Juno
thronen und das zärtliche Götterpaar, welches dann
folgt, mag man Neptun und Amphitrite nennen. Wie
in der Farnesina, streuen auch hier die Horen Blumen
über die Hochzeitsgäste aus, aber es fehlen die Gra¬
zien und die Musen und bei dem Mangel an Raum
ist die Zahl der Teilnehmer aufs äusserste beschränkt.
Hätte nicht Raffael schon früher in der Farnesina
der Fabel des Apulejus durch seinen Pinsel aufs
neue Leben und Gestalt verliehen, die Fresken in der
Engelsburg würden nur als eine der zierlichsten Deko¬
rationsarbeiten der Spätrenaissance Bedeutung für uns
besitzen. Weil hier aber von einem Schüler des Ur-
binaten derselbe Stoff behandelt worden ist, den der
Meister kaum zwei Jahrzehnte früher bearbeitet hatte,
so darf es wohl versucht werden, aus der späteren
AMOR UND PSYCHE
Prüfungen der Psyche Abb. 5
Schöpfung die frühere zu ergänzen und zu erklären,
ln der That, der Freskencyklus in der Engelsburg
wirft merkwürdige Schlaglichter auf die berühmten
Gemälde der Farnesina. Perino del Vaga — wenn
er wirklich selbst die Kompositionen entworfen hat
- erzählt die Fabel genau so wie es die Erzählung
des Apulejus erwarten lässt: Der Zorn der Venus
wird durch die göttliche Verehrung erregt, die das
Volk der überirdischen Schönheit der Psyche erzeigt.
Amor, ihr Sohn, will sie rächen, aber er wird von
seinen eigenen Fiebespfeilen getroffen und beglückt
die Rivalin der Mutter durch seine Umarmungen.
Nur die Gestalt des Geliebten soll Psyche nicht er¬
kennen, aber sie überrascht den schlummernden Gott
und zitternd ob seiner Schönheit giesst sie ihm das
siedende Öl der Lampe auf den zarten Leib. Amor
entflieht, und Venus übernimmt nun selbst die Rache
an der verhassten Geliebten des Sohnes. Diese aber
überstellt die Prüfungen und Jupiter, durch Amor’s
Bitten besiegt, nimmt das sterbliche Mädchen unter
die Schaar der unsterblichen Götter auf. So hat Perino
del Vaga leicht verständlich für jeden Beschauer die
Fabel geschildert, indem er allerdings dem unsicht¬
baren Gott sichtbare Gestalt verleihen musste. Wie
anders Raffael! Hier beginnt wohl die Darstellung
gleichfalls mit der Scene, wie Venus dem Amor die
Psyche zeigt, aber diese selbst erblicken wir nicht.
Hier erfahren wir nichts von den Freuden des Lie¬
bespaares, vom Ungehorsam der Psyche, von den
Schmerzen Amor’s und von den Prüfungen seiner
Geliebten. Er zeigt seine Erwählte den Frauen, welche
sie bedienen sollen, aber wir sehen sie nicht, Venus
klagt ihren Schwestern ihr Leid, aber wir wissen
nicht warum; sie erscheint als Hilfeflehende vor Ju¬
piter, aber da Psyche überhaupt noch nicht aufgetreten
ist, können wir das Anliegen der Göttin nicht erraten.
Dann stürmt Merkur mit dem Haftbefehl Jupiter’s vom
Himmel hernieder, und dann erst tritt Psyche auf —
am ersten Bogenzwickel der Aussenwand der Loggia —
von Putten getragen aus dem Orkus emporschwebend,
die Schönheitssalbe im Krystallgefäss, welches sie trium¬
phierend emporhält. Erst jetzt gelingt es dem Beschauer
überhaupt, den Faden der Erzählung zu verfolgen.
Knieend überreicht Psyche der Venus das Geschenk der
Proserpina, während Amor von Jupiter ihre Erhöhung
erwirkt. Dann trägt Merkur das glückselige Mädchen
zum Himmel und zur Hochzeit mit dem Geliebten empor.
Schon Michaelis’) hat die Vermutung ausgesprochen,
dass die Malereien in der Farnesina nur einen Teil
des Planes bedeuteten, den Raffael für die Ausschmück¬
ung der Loggia entworfen hatte. Aber seine Behaup¬
tung Hess sich aus den Werken Raffael ’s selbst nicht
begründen, da sich keine einzige echte Handzeichnung
erhalten hat, die uns über die unausgeführten Teile
des Cyklus irgend welche Aufschlüsse geben könnte.
Wie beschäftigt Raffael gerade damals war, als er die
Psychebilder malte, ist bekannt; dass er sich entschloss,
die Gemälde der Decke allein aufzudecken, kann nicht
Wunder nehmen. Auffallender ist es schon, dass
Leonardo Sellajo, welcher dies Ereignis an Michel¬
angelo mit Hohn berichtete, nicht auch die Unvoll¬
ständigkeit des Werkes getadelt hat.")
1) Zu Raffael’s Psychebildern in der Farnesina« in
der Kunstchronik i88q p. 2.
2) Sammlung ausgewählter Briefe an Michelagniolo
Buonarroti, ed. Frey, (Berlin 1899), p. 132.
AMOR UND PSYCHE
Ql
Prüfungen der Psyche
Abb. 6
Die Fresken in der Engelsburg sind nun gleich¬
sam der Spiegel, in welchem Raffael ’s Absichten klar
zu lesen sind. Hier, wo doch der ganze Stoff in
zehn Darstellungen abgethan werden musste, sehen
wir alle die Bilder gemalt, welche wir in der Farne-
sina vermissen: Psyche als Göttin verehrt, der Orakel¬
spruch des Gottes, das Opfer der Psyche und ihr
Liebesglück mit Amor; ihr Ungehorsam endlich und
ihre Züchtigung durch Venus. Erst mit den zwei
letzten Bildern finden sich die Darstellungen in Engels¬
burg und Farnesina zusammen: Psyche überreicht der
Venus die Schönheitssalbe Proserpina’s, und Merkur
trägt die Erwählte Amor’s zum Himmel empor, wo
das Hochzeitsmahl bereitet ist.
Wie aber hatte sich Raffael die Ausschmückung
der Loggia gedacht, welche Scenen hatte er etwa noch
hinzufügen und wo sie malen wollen? Wiederum
hat schon Michaelis die Behauptung Förster’s erweitert
und angenommen, dass alle Darstellungen in den
Bogenzwickeln der Loggia im Himmel spielen oder
in der Luft. Man braucht ja nur in die Loggia neben¬
an zu gehen, um zu beobachten, dass Peruzzi und
Sebastiano del Piombo bei der Auswahl ihrer Bilder
ganz dieselben Gesetze beobachtet haben ; und diese
Behandlung der Decke als Himmelsgewölbe ist ja den
Malern der Renaissance stets geläufig gewesen. So
hat auch Raffael an die Decke alles das gemalt, was
in den Lüften oder im Olymp vor sich ging; die
irdischen Vorgänge aber hatte er, vielleicht in ähn¬
lichen Verhältnissen wie die Meerfahrt der Galatea
nebenan, an den Wänden anbringen wollen, die erst
mehr als hundert Jahre nach Raffael ihre hässliche
Dekoration von Maratta erhalten haben. Und deutet
nicht Venus selbst im ersten Gemälde auf eine Dar¬
stellung hin, die wir an der Wand vergebens suchen?
Weist nicht auch Amor im nächsten Bilde nach unten
auf eine schlummernde Psyche, die nicht vorhanden ist?
Man versuche einmal an den Wänden die Fabel
zu ergänzen, und man wird überrascht sein wie zwang¬
los sich dort alle Bilder einfügen, die Raffael’s
Schüler in der Engelsburg ausgeführt hat. Es kommen
im ganzen, wenn man mit Raffael links vom Ein¬
gang an der Schmalwand der Loggia die Schilderung
beginnen will, acht Wandflächen in Betracht: vier an
den Schmalseiten, vier an der Langwand, die in der
Mitte durch ein mächtiges Portal gegliedert sind. Denn,
wie bekannt, ist die Aussenwand modern und die
Loggia öffnete sich nach dem Garten zu in hohen
Arkadenbögen. Hier also mussten dem Beschauer
von vornherein die Darstellungen in den Bogen¬
zwickeln genügen, und wir sahen bereits, dass Psyche
sofort im ersten Gemälde über der Arkadenreihe er¬
scheint, und dass sich von jetzt an der Faden der Er¬
zählung ohne jede Unterbrechung bis zu den Decken¬
bildern fortsetzt.
Über die erste Komposition für die Schmalwand
links kann kein Zweifel herrschen. Venus weist ja
selbst mit dem Zeigefinger der Linken auf den Vor¬
gang unten hinab, und dieser kann kein anderer sein,
als der, welchen wir in der Engelsburg sehen: Psyche
AMOR UND PSYCHE
vom Volk als Liebesgöttin verehrt. Daneben würde
dar 'i, ganz wie im Cyklus der Engelsburg, der Hoch¬
zeitszug der Psyche zu denken sein, der das zweite
Fell; der Schmalwand ausfüllen würde. Die Darstel¬
lung im ersten Felde der Langwand wird wiederum
durch das Gemälde im Bogenzwickel rechts darüber
bestimmt, welches bisher als Amor erklärt worden
ist, welcher den drei Grazien die Geliebte zeigt. Da
aber bei Apulejus dieser Zug überhaupt nicht vor¬
kommt, so dürfte man das Bild vielmehr so erklären
müssen, dass Amor hier den Dienerinnen seines Pa¬
lastes befiehlt, die Geliebte zu bedienen, auf die er
mit dem Finger hinweist, wie sie von den Ihrigen
verlassen auf dem Felsen eingeschlummert ist.^) Diese
Scene sieht man in der Engelsburg in der Fenster¬
nische dargestellt, die folgende, das Liebesglück der
Neuvermählten, hätte notwendig auch in der Farne-
sina das zweite Feld der Langwand füllen müssen.
Ebenso selbstverständlich schliesst sich an das Glück
der Beiden der Ungehorsam Psyche’s an, der Höhe¬
punkt des tragischen Konfliktes in dem ganzen Mär¬
chen, den man rechts neben dem Portal in der
Mitte erblickt haben würde. Amor’s Krankheit
würde weiter, wie auch in der Engelsburg, im
folgenden , dem vierten Gemälde der Langwand
der Farnesinaloggia geschildert worden sein, und
daran hätten sich endlich in den zwei letzten Feldern
die Prüfungen Psyche’s geschlossen. Erst wenn man
sich diese an der Schmalwand rechts dargestellt denkt,
wird das siegreiche Emporschweben Psyche’s am
ersten Bogenzwickel der Aussenwand begreiflich. Man
mache sich nur klar, welch eine klaffende Lücke
heute vorhanden ist zwischen diesem Bilde und der
Botschaft des Merkur zur Linken, und wie folgerichtig
sich dagegen die Erzählung nach rechts hin fortsetzt,
wo Psyche der Venus die Krystallbüchse überreicht.
Die Vorgänge dagegen, welche Raffael über der in¬
neren Langwand der Loggia an den Bogenzwickeln
gemalt hat, sind im Freskencyklus der Engelsburg mit
Recht als unwesentlich für das Verständnis des Zu¬
sammenhanges überhaupt fortgefallen, oder in den
Hintergrund verdrängt. Das gilt von der Begegnung
der Venus mit Ceres und Juno, von ihrem Fluge
durch die Luft, von ihrem Besuch bei Jupiter und
endlich von dem Auftrag des Merkur, die Vermisste
zu suchen. Man erkennt gerade, wenn man die Haupt¬
züge der Fabel an den Wänden einschiebt, wie Raffael
in seinen Kompositionen der Bogenzwickel vor allem
darauf Bedacht nahm, das Reich der Lüfte nicht zu
verlassen und wie er hier die Erzählung möglichst
auszuspinnen suchte. Man möchte sagen, die Bilder
hier oben bedeuten nur die Begleitung des Liedes;
unten an den Wänden hätte man die Melodie ver¬
folgen können, wenn Raffael und Chigi länger ge¬
lebt hätten. Auf eine chronologische Folge der pro¬
jektierten Wandgemälde und der ausgeführten Male-
i) Die falsche Bezeichnung der drei Frauen als
Grazien, welcher alle späteren gefolgt sind, stammt von
Vasari (ed. Milanesi IV, p. 367), der die Fresken in der
Farnesina überhaupt aufs flüchtigste beschrieben hat.
reien in den Bogenzwickeln ist dabei, soweit es irgend
anging, Bedacht genommen und wäre des Meisters
Plan vollständig zur Ausführung gelangt, so hätte der
Besucher der Loggia die anmutige Fabel des Apulejus
fast ohne jeden Kommentar aus den Gemälden selbst
verstanden.
Die zwanzig Gemälde der Farnesinaloggia würden
also folgendermassen angeordnet gewesen sein:
1. Psyche als Göttin verehrt (Wandgemälde),
2. Venus zeigt ihrem Sohne die als Göttin ver¬
ehrte Psyche (Bogenzwickel),
3. Psyche’s Hochzeitszug (Wandgemälde),
4. Psyche schlafend vor Amor’s Palast (Wand¬
gemälde),
5. Amor zeigt seinen Dienerinnen die schlum¬
mernde Psyche (Bogenzwickel),
6. Amor und Psyche’s Liebesglück (Wand¬
gemälde),
7. Klage der Venus vor Juno und Ceres (Bogen¬
zwickel),
8. Venus begiebt sich zu Jupiter (Bogenzwickel),
g. Psyche’s Ungehorsam (Wandgemälde),
10. Venus Hilfe flehend vor Jupiter (Bogenzwickel),
11. Amor liegt verwundet im Palast der Venus
(Wandgemälde),
1 2. Prüfung der Psyche (Wandgemälde),
13. Merkur verkündet die Botschaft des Jupiter
(Bogenzwickel),
14. Letzte Prüfung der Psyche (Wandgemälde),
1 5. Psyche steigt aus dem Orkus empor (Bogen¬
zwickel),
16. Psyche bietet der Venus die Schönheitssalbe
dar (Bogenzwickel),
17. Jupiter gewährt Amor’s Bitte (Bogenzwickel),
18. Merkur trägt Psyche zum Himmel empor
(Bogenzwickel),
ig. Das Göttergericht (Deckengemälde),
20. Die Hochzeit von Amor und Psyche (Decken¬
gemälde).
Man sieht, wenn die ausgeführten Fresken Raffael’s
durch die Gemälde in der Engelsburg ergänzt wer¬
den, wie klar und folgerichtig Raffael sein Märchen
für die Loggia Chigi’s entworfen hatte. Unten links
sollte der Cyklus beginnen, oben mit den zwei grossen
Deckengemälden glanzvoll abschliessen. So sind die
ausgeführten Malereien nichts als ein herrliches Frag¬
ment. Man stelle sich vor, was der Freskencyklus in
dieser Loggia bedeuten würde, wenn Raffael Zeit ge¬
funden hätte, auch die Wandgemälde auszuführen,
wie nebenan das wunderbare Bild der Galatea.
Geben die Fresken in der Engelsburg über Raffael’s
Kompositionen in der Farnesina die merkwürdigsten
Aufschlüsse, so ist auch ihr Verhältnis zu den
32 Stichen nicht uninteressant, mit welchen Michael
Coxcyen die Fabel von Amor und Psyche während
seines römischen Aufenthaltes, etwa im Jahre 1532,
illustriert hat. ^) Die Restaurationen in der Engelsburg
1) Ich habe ein Exemplar dieser Stiche benutzt, welches
mir im Oabinetto delle Stampe im Palazzo Corsini von Herrn
Dr. Hermanin freundlichst zur Verfügung gestellt worden
ist. Vgl. Förster, Farnesinastudien. Rostock 1880.
AMOR UND PSYCHE
93
wurden von Tiberio Crispo erst im Jahre 1535 be¬
gonnen, 1) und so ergiebt es sich von selbst, dass die
Kompositionen Coxcyen’s älter sind als die des Perino
del Vaga oder seiner Schüler. Thatsächlich stehen
denn auch die Fresken der Engelsburg in einem
starken Abhängigkeitsverhältnis zu den Stichen des
Flamländers, dessen Beziehungen zur Schule Raffael’s
auch Vasari bezeugt.
Schon im ersten Fresko erkennen wir deutlich,
dass dem Maler die Komposition des Stiches vorge¬
schwebt hat. Man vergleiche vor allem den schlafenden
Hund zu den Füssen der Alten und die Haltung der
erhobenen Hand des Mädchens, das im Fresko nackt,
im Stich bekleidet erscheint. Freier ist das Gemälde
des orakelflehenden Königs entworfen; sehr verwandt
sind dagegen wieder die Kompositionen des Opfers
der Psyche und ihres Liebesmahles mit Amor. Am
auffallendsten aber zeigt sich die Abhängigkeit des
Malers vom Stecher in den Nebenscenen im -Unge¬
horsam der Psyche«. Hier hat er Amor’s Flucht aus
dem Fenster, sowohl wie Psyche’s Verletzung, fast
Zug für Zug nach dem Stich kopiert. Erst in den
letzten Fresken zeigt sich der Raffael-Schüler etwas
1) M. Borgatti, Castel Sant’angelo in Roma. Roma 1890.
selbständiger. Hier hat er sich meist damit begnügt,
die Kompositionen des Hintergrundes den Stichen zu
entnehmen: wie Psyche den Höllenhund speist und
wie sie von Amor aus dem Schlaf erweckt wird. Im
Qöttermahl endlich ist die Venus mit dem Putto rechts
im Gemälde ziemlich genau nach dem Stich kopiert
worden.
Die Fabel des Apulejus ist in der Renaissance
zuerst von Raffael künstlerisch gestaltet worden. Perino
del Vaga hat die Geschichte von Amor und Psyche
ausser in der Engelsburg auch im Palazzo Doria in
Genua gemalt. Seitdem aber scheinen die Maler,
das anmutige, fruchtbare Thema ganz vergessen zu
haben. Die Freskencyklen Perino’s sind rein deko¬
rative Feistungen und konnten die Phantasie späterer
Geschlechter nicht befruchten. Wie aber würde Raffael
die Mit- und Nachwelt gefesselt haben, wenn seiner
Hand nicht der Pinsel entfallen wäre, ehe er noch
die Hauptgemälde seines Freskencyklus entworfen halte!
1) Cicerone (7. Auflage), p. 802. Leider war mir ein
Vergleich mit den Darstellungen in der Engelsburg nicht
möglich, da von diesen Fresken im Palazzo Doria keine
Aufnahmen existieren und mir die Darstellungen selbst
nicht mehr gegenwärtig waren.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 4.
>3
Aus dem Pergamon- Museum in Berlin. Westseite des Altars in der Wiederherstellung
DAS PERGAMON -MUSEUM IN BERLIN
Von Hermann Winnefeld
Auf dem Grundstück, das von der den Platz der
Nationalgalerie umschliessenden Säulenhalle bis
zur Stadtbahn sich erstreckt und bis vor wenig
Jahren den Fahrgästen des hier vorüberflutenden Bahn¬
verkehrs als ein Stück weltverlassener Wildnis mitten
im Fierzen Berlins auffiel, erhebt sich jetzt, umgeben
von freundlichen Oartenanlagen, im Hintergrund die
sorgfältig geschonten grossen alten Bäume, ein schlichter
heller Sandsteinbau, der den kunstgeschichtlich wich¬
tigsten und zugleich eigenartigsten Teil der Berliner
Antikensammlungen umschliesst, die Funde aus Per¬
gamon, denen die verwandten aus Magnesia am Mä¬
ander und aus Priene angegliedert sind.
Die von C. Humann Ende der sechziger Jahre
zuerst bemerkten Reste vom Fries des pergamenischen
Prachtaltars wurden der Ausgangspunkt für die von
den königlichen Museen veranstalteten und von Hu¬
mann geleiteten Ausgrabungen, die bald über den
Rahmen der ursprünglichen Aufgabe, eben diese Reste
möglichst vollständig zu sammeln, weit hinausgreifend,
die ganze Königsburg der Attaliden zu umfassen
strebten, dann nach dem vorläufigen Abschluss der
Arbeit in Pergamon ihre Fortsetzung in ähnlichen
Unternehmungen in Magnesia und Priene fanden.
Ebenso ist die Absicht, den über Erwarten vollstän¬
digen Resten jenes Altars eine angemessene, der ur¬
sprünglichen Wirkung möglichst nahekommende Auf¬
stellung zu geben, allein bestimmend gewesen für die
Grundrissanordnung und architektonische Ausgestaltung
des neuen Museums, das die Ergebnisse jener Aus¬
grabungen beherbergen sollte. Die Aufgabe, die
E. Wolff zu lösen hatte, war nicht die, einen Mo¬
numentalbau zu schaffen, in dem die pergamenischen
Schätze untergebracht werden könnten, sondern dem
in seinem ursprünglichen Verhältnis wieder aufzu¬
stellenden Eries eine möglichst bescheidene Umhüllung
zu geben, deren er bei seiner Zerstörung und zudem
in unserem Klima nun einmal nicht entbehren kann,
die ihn rein und unbeeinträchtigt zur selbständigen
Geltung kommen Hesse, und die zugleich Raum ge¬
währte für die anderen Fundstücke, die in den Ma¬
gazinen ihrer Aufstellung harrten. Dem Altar sollte
im modernen Museum dieselbe beherrschende Stellung
wieder werden, die er einst auf der luftigen Terrasse
hoch oben am Burgberg von Pergamon hatte. Der
Bau musste so angelegt werden, dass der über 30 m
im Geviert messende Altar als einheitliches Ganze den
Kern bildet; reichlichstes zerstreutes Licht musste ge¬
schafft und eine Gestaltung der Umfassungswände
gefunden werden derart, dass sie weder durch ihre
Gliederung noch durch Schmuck oder lebhafte Fär¬
bung den Raum unnötig beengen oder die Aufmerk¬
samkeit des Besuchers auf sich und vom Altar ab¬
lenken. Und diesem Charakter des Inneren musste
auch das Äussere des Baues sich anpassen, das eben¬
falls auf alle selbständige primkhafte Dekoration ver¬
zichtet, die Gliederung des Inneren einfach und deutlich
zum Ausdruck bringt und in der Anordnung der
Wandquadern wie in den wenigen Profilen und
Schmuckgliedern sich dem Stil der Bauten anpasst,
deren Reste zu bergen das Haus bestimmt ist.
So giebt das Museum denn auch einen passenden
stilgerechten Hintergrund ab für die halbkreisförmige
Exedra König Attalos’ 11., die im Bezirk des perga¬
menischen Traianstempels in seltener Vollständigkeit
aufgefunden und nach Berlin überführt, nun im Ereien
neben der Vorhalle des Museums mit Ergänzung der
wenigen fehlenden Werkstücke in Sandstein wieder auf¬
gebaut ist, freilich ihres schönsten Schmuckes, der
einst auf der Rückwand aufgestellten Bronzestatuen
beraubt, aber auch so noch imposant durch ihre
glücklich abgewogenen Verhältnisse und die kräftige
straffe Profilierung von Sockel und Deckgesims.
An der Exedra vorbei gelangt man zur Vorhalle;
in ihr führt eine zweiarmige Treppe zum Hauptraum
empor, der nach der Vorhalle in deren ganzer Breite
mit mächtigen Glasscheiben abgeschlossen ist, so dass
schon beim Hinaufsteigen der Blick ins Innere sich
öffnet. Man tritt hier durch die Mitte seiner einen
Langseite in einen etwa 50 m langen und 17 m
breiten Saal, der mit einem flachgewölbten Glasdach
überspannt ist und ausserdem durch dicht nebenein¬
ander gereihte Fenster im oberen Teile der Eingangs¬
wand und der beiden Schmalseiten ein reichliches
hohes Seitenlicht empfängt. Hier ist vor der dem
Eingang gegenüberliegenden Langwand die Westseite
des grossen Altars in ihrem gesamten architektonischen
Aufbau unter Verwendung der ins Museum gelangten
Bauglieder genau in den ursprünglichen Abmessungen
wieder aufgerichtet; wo die Originalstücke nicht aus¬
reichten, ist zur Erzielung einer vollen Gesamtwirkung
ihre Vervielfältigung in gestampftem Gement zu Hilfe
genommen. Über drei Stufen erhebt sich der mächtige
Unterbau, an dem über hohem Sockel, von einem
weitausladenden Deckgesims beschattet, der grosse Fries
angebracht ist, am nördlichen Teil dieser Seite in
einer Vollständigkeit erhalten wie nirgends sonst am
Bau. Darüber steht die trotz der auffallend kurzen
Proportionen der Säulen leicht und luftig wirkende
Säulenhalle, die das Ganze krönte und deren Rück¬
wand die Umfassung des Opferplatzes auf der Platt¬
form des Unterbaues bildete. Eine gewaltige Frei-
13
DAS PERGAMON-MUSEUM IN BERLIN
96
treppe führte an dieser Seite zur Höhe der Plattform
empor; sie konnte nicht in ihrer ganzen Breite nach¬
gebildet werden; denn hier war der Zugang zu
schaffen zu einem Oberlichtsaal, der im Museum an
Stelle des massiven Kerns des Altarunterbaues getreten
ist. Doch sind die Ansätze der Treppe an beiden
Wangen in solcher Breite wiederhergestellt, dass der
volle Eindruck erzielt wird vom Einschneiden der
Stufen in den Unterbau und von der Art, wie der
Erics beiderseits an ihnen endigt und sie gewissermassen
mit in die Darstellung hereinzieht. Zwischen diesen
Treppenläufen trägt eine moderne Säulenstellung mit
Durchblicken nach dem Innensaal ein Podest, über
dem die Nachbildung der antiken Säulensteihmg sich
erhebt, die quer vor dem oberen Ende der Treppe
die über den Treppenwangen vorspringenden Elügel der
krönenden Hallen verband. Leider musste sie dicht vor
die geschlossene Langwand des
Saales gestellt werden, während
am ursprünglichen Bau erst
1,50 m weiter rückwärts eine
von vielen Thüren durchbrochene
Wand als vordere Begrenzung
des — im Museum nicht nach¬
gebildeten - Opferplatzes sich
erhob. Dem Mangel suchte
man einigermassen abzuhelfen
durch dunklere Eärbung der
Hinterwand, so dass sich die
Säulen ähnlich von ihr loslösen
wie sie sich von der weiter zu¬
rück im Schatten liegenden
Hallenrückwand abhoben.
Biegt man links oder rechts
um die Enden der Westseite
des Altars um, so begleiten
einen die Stufen des Unterbaues
und oben die Halle so weit,
als die Breite des überwölb¬
ten Saales reicht; dann tritt an
Stelle der Säulenreihe über dem Deckgesims des mit
seinem Sockel und seinem oberen Abschluss ununter¬
brochen weiterlaufenden Erieses eine etwas niedrigere
glatte Wand, und die Unterstufen verschwinden im
Fussboden, da der Umgang um die drei anderen
Seiten des Altars von hier an eben um die Höhe
dieser Stufen gehoben ist. Dieser Umgang öffnet sich
mit seiner vollen Breite von etwa g m nach dem
ersten Saal und setzt im oberen Teil seiner Aussen-
wand dessen Fensterreihe in gleicher Höhe und An¬
ordnung fort, so dass die Trennung der Räume sich
nur durch die zum erhöhten Fussboden emporführenden
Stufen und durch die veränderte Deckenkonstruktion
ausspricht: der Umgang hat ein flaches Glasdach.
Hier ist der Fries mit seiner unmittelbaren Umrahmung
dem Auge näher gerückt und das architektonische
Gesamtbild aufgegeben; demgemäss sind die Abmes¬
sungen des Raumes nach Höhe und Breite etwas
verringert.
Der grosse Fries des Altarunterbaues mit seiner
viel bewunderten Darstellung des Kampfes der Götter
und Giganten ist in der geschilderten Weise genau
wie am ursprünglichen Bau wieder aufgestellt und
damit der wichtigste Teil eines der grossartigsten
Denkmäler des Altertums in seiner Gesamtwirkung
wieder zur Anschauung gebracht. Neben den grossen
Platten, die in der Hauptsache leidlich vollständig er¬
halten sind, haben Tausende von losen Bruchstücken
untereinander wieder zusammengefügt und an die
grösseren Reste angepasst werden müssen, eine Auf¬
gabe, die von den Bildhauern Freres und Possenti
in mehr als zwanzigjähriger Arbeit bewältigt worden
ist. Auch so war eine ununterbrochene Abfolge nur
streckenweise zu erreichen; grosse Lücken sind vielfach
geblieben und es ist keine Hoffnung, dass sie sich
je noch füllen werden: zahlreiche Kalköfen, die auf
der Burg von Pergamon bis kurz vor Beginn der
Ausgrabung in Thätigkeit waren, verraten nur zu
deutlich die Art der gänzlichen
Vernichtung, der das nicht mehr
Auffindbare anheimgefallen ist.
Dass trotz dieser Lückenhaftig¬
keit die Anordnung im wesent¬
lichen mit voller Sicherheit
wiederhergestellt werden konnte,
verdankt man hauptsächlich den
in grosser Zahl erhaltenen Ge¬
simsblöcken, die sämtlich nach
der Stelle, die sie am Bau ein¬
nehmen sollten, mit eingehauenen
Zeichen numeriert sind und
zum grossen Teil auch die
Namen der Götter, über denen
sie angebracht waren, eingehauen
tragen — mit diesen Hilfsmitteln
hat O. Puchstein die Grundzüge
der Anordnung wieder zu er¬
kennen vermocht, und seine Er¬
gebnisse sind der Aufstellung im
Museum zu Grunde gelegt wor¬
den. Dabei hat man auf jede Er¬
gänzung der Figuren verzichtet; nur der Reliefgrund ist,
wo er bei einzelnen Platten unvollständig erhalten war
oder wo die ganzen Platten verloren sind, ergänzt
worden, um eine ruhige zusammenhängende Fläche,
von der das Erhaltene sich abhebt, zu gewinnen und
die Zusammengehörigkeit und das architektonische
Gefüge unmittelbar zum Ausdruck zu bringen.
Die Wirkung, die so erzielt wird, ist geradezu
überraschend für jeden, der die Trümmer des Frieses
notdürftig aneinandergereiht im pergamenischen Saal
des Alten Museums am Boden liegen gesehen hat.
Nicht nur, dass jetzt erst die Möglichkeit eines Über¬
blickes über die ganze grossartige Komposition sich
erschliesst, die einzelnen Gruppen in der Entfernung
und unter dem Gesichtswinkel betrachtet werden
können, auf den sie berechnet sind — der ganze
Formcharakter erscheint verändert, man kann sagen
klassischer geworden; das Kolossale, Gewaltsame,
Übertriebene, was früher den Beschauer befremdete,
ist verschwunden, und er sieht ein unendlich bewegtes
und belebtes, von überquellender Kraft durchdrungenes.
O rundriss des Pergamon- Musen ms
Aus dem Lichthofe des Pergamon- Museums in Berlin
DAS PERGAMON-MUSEUM IN BERLIN
38
aber doch harmonisches und massvolles Ganzes. Kein
Muskel, keine Gewandfalte ist stärker bewegt, als dem
vom Künstler gewählten Motiv angepasst ist, und kein
Motiv ist gewaltsamer, als dem Zusammenhang der
Handlung entspricht — übermenschlich sind ja die
Mächte, deren Ringen auf Leben und Tod den er¬
habenen Gegenstand der Darstellung bildet: das bringen
diese Formen auch dem unmittelbar zum Bewusstsein,
dem jede gelehrte Kenntnis der Sage abgeht. Dabei
ist alles bis ins Einzelnste so ausdrucksvoll, so sehr
aus dem Ganzen heraus empfunden, dass selbst wenige
Reste genügen, um eine Figur oder eine Gruppe im
Rahmen ihrer Umgebung lebendig wieder vor dem
inneren Auge erstehen zu lassen. Daraus erklärt sich,
dass wenigstens die zahlreichen kleineren Lücken den
Gesamteindruck lange nicht in dem Masse stören, wie
werken sind in die Reihe der Statuen eingeschoben.
Die zur Aufstellung an dieser Stelle ausgewählten In¬
schriften haben meist auch kunstgeschichtliche Bedeu¬
tung als Zeugen der massenhaften Verwendung von
Bronzefiguren zum Schmuck der Heiligtümer der
Burg, nachdem die Statuen selbst wegen ihres kost¬
baren, zur Wiederverwendung reizenden Materials
längst eingeschmolzen sind: Inschriften von den Posta¬
menten der zahlreichen Denkmäler, durch die Atta-
los 1. das Gedächtnis seiner Ruhmesthaten verewigte
oder seine Söldner ihren siegreichen Herrn ehrten,
ferner von Statuen, die der kunstliebende König als
Kriegsbeute aus Griechenland entführte und in seiner
Burg wieder aufstellte; Inschriften von gleichartigen
Denkmälern aus der Zeit seines Sohnes EumeneslI. ;
Inschriften von den Postamenten der Statuen berühmter
Aas dem Pergamon- Museum: Fries an der Nordseite des Altars
man erwarten sollte. Wie eine neue Offenbarung
wirken jetzt die lange bekannten Gestalten, und das
Gewirr der über mehr als 100 m sich erstreckenden
Komposition, in dem man sich früher auch mit ein¬
gehendem Studium kaum zurechtfinden konnte, er¬
scheint wie ein klares durchsichtiges Gefüge, dessen
Grundzüge sich jedem leicht einprägen werden.
Die Umfassungswände des Umgangs gegenüber
dem Friese sind völlig glatt und in der Farbe und
dem aufgemalten Fugenschnilt der äusseren Sandstein¬
verkleidung des Museums nachgebildet; sie mögen
so einigermassen ähnlich sein den Stütz- und Um¬
fassungsmauern, die mindestens an zwei Seiten den
Altarplatz in Pergamon umgaben, und dem ent¬
sprechend sind sie benutzt als Hintergrund für Statuen
und Reste von solchen, die ihrer Mehrzahl nach in
der Umgebung des Altars gefunden sind. Dazwischen
sind Reliefs und Inschriften an der Wand befestigt,
und künstlerisch hervorragende Einzelglieder von Bau-
Schriftsteller, die unter Eumenes II. in der pergame-
nischen Bibliothek aufgestellt wurden. Daneben haben
auch Inschriften von lediglich historischem Interesse
aus der pergamenischen Königszeit Platz gefunden und
als einzige der römischen Zeit die Inschrift vom Posta¬
ment einer Statue, die von den Pergamenern dem
Quintilius Varus errichtet wurde, der später im Teuto¬
burger Wald seinen Untergang fand. Nur diese und
eine der Inschriften aus der Zeit Eumenes’ II., des Er¬
bauers des grossen Altars, waren bisher ausgestellt
gewesen. Ebenso sind die Reliefs, darunter mytho¬
logische von besonderem inhaltlichen Interesse, wie zum
Beispiel die Erbauung des trojanischen Pferdes, und
die kleineren dekorativen Friese von teilweise vorzüg¬
licher Ausführung, bis auf wenige bisher im Magazin
verborgen gewesen. Dasselbe gilt von der Mehrzahl
der meist sehr zerstörten, weit überlebensgrossen
Statuen, die unter sich von sehr verschiedenem Werte,
das Bild pergamenischer Kunstübung ganz wesentlich
DAS PERGAMON-MUSEUM IN BERLIN
99
vervollständigen. Während diese sich zum Teil ganz
überraschend günstig in ihrer jetzigen Aufstellung
zeigen, haben sich die Beleuchtungsverhältnisse, die
ja ganz auf den Altarfries berechnet sind, für einige
der bekanntesten, schon seit langem im Alten Museum
ausgestellten Einzelfunde weniger vorteilhaft erwiesen;
die beiden attische Vorbilder wiedergebenden Statuen
der Athena und einer unbekannten Göttin aus der Bi¬
bliothek und der berühmte weibliche Kopf hatten dort
geeigneteres Licht, das in gleicher Weise ihnen im
Neubau nicht geschaffen werden konnte.
Ganz neu für alle nicht fachmännischen Besucher
wird der Telephosfries sein, der ursprünglich an der
Rückseite der Hallenrückwand auf dem Altarunterbau
angebracht, in derselben Höhe wie dort über dem
Fussboden des Opferplatzes jetzt der Westseite des
Altarbaues gegenüber im ersten Hauptsaal zu beiden
Seiten der Eingangsthüren aufgestellt ist. Von der
ziemlich genau zu berechnenden Zahl der Platten ist
nur ungefähr ein Drittel erhalten, und auch dieses
so zerrissen, dass nur ganz selten zwei oder mehr
Platten aneinander passen. So hat hier auch eine
Wiedergabe des ursprünglichen Zusammenhangs nicht
versucht werden können; die Anordnung der Reste
ist über einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit
nicht hinauszubringen und die Ergänzung der ein¬
zelnen Platten beschränkt sich darauf, den Reliefgrund
so weit wieder herzustellen, dass die sicher zur gleichen
Platte gehörigen Bruchstücke in ihr richtiges Verhält-
niss gebracht und aufgestellt werden konnten. Der
schlechte Erhaltungszustand und die stellenweise ganz
unfertige Ausführung der Arbeit lassen die hohe kunst¬
geschichtliche Bedeutung dieses Frieses nicht unmittel¬
bar zum Bewusstsein kommen. Dargestellt war die
Sage von Telephos, dem mythischen Gründer von
Pergamon, in einer von allem bisherigen, auch im
grossen Gigantomachiefries noch festgehaltenen grie¬
chischen Reliefstil abweichenden Gestalt; unter reich¬
lichen Luftraum, in den Pfeiler, Bäume und andere
landschaftliche Zuthaten hineinragen, spielt sich die
Handlung ab, stellenweise mit deutlich unterschiedenem
Vorder- und Hintergrund, in verschiedener Höhe, ein¬
geteilt ln äusserlich kaum getrennte Scenen, in denen
dieselben Personen sich wiederholen, wie auf den
römischen Sarkophagen und den grossen Reliefbändern
der römischen Monumentalsäulen. Gleichwohl ist
nach den äusseren Umständen wie nach dem Stil der
Figuren kein Zweifel daran möglich, dass dieser Fries
der Gigantomachie gleichzeitig ist, der er an künst¬
lerischem Werte nicht nachgestanden hat.
In dem Ausschnitt aus der grossen Treppe des
Altarbaues ist vor einer von Brütt modellierten Mar¬
morbüste Huinann’s, dessen Finderglück und nie ver¬
sagender Energie all diese Schätze verdankt werden,
in den Fussboden ein bisher nur in den auseinander¬
gesägten Stücken unzugänglich aufbewahrtes vorzüg¬
liches Mosaik aus einem Zimmer des pergamenischen
Königspalastes eingelassen, ein Werk des Hephaestion,
der seinen Namen auf einer scheinbar mit Wachs
aufgeklebten Karte ebenfalls in feinem Mosaik auf dem
Innenfeld des Bodens verewigt hat. Das grösste Inter¬
esse erregt hier ein mit wundervoller Freiheit und
Erfindungsgabe komponierter Rankenfries auf schwar¬
zem Grunde mit allerlei Blumen, Früchten und kleinen
Flügelwesen, den man nach Zeichnung und Farben¬
gebung getrost als die höchste uns bekannte Leistung
rein dekorativer Kunst aus dem zweiten Jahrhundert
vor Christi Geburt bezeichnen darf.
Die grösste Überraschung aber bietet wohl für
jeden, der einen für architektonische Formen empfäng¬
lichen Sinn besitzt, der Lichthof im Innern des Altar¬
kerns, zu dem man auf Treppen hinter dem Mosaik
hinabsteigt. Fast alles, was hier aufgestellt ist, ist neu,
und ebenso neu ist die Art, wie es aufgestellt ist:
es ist hier zum erstenmal in grösserem Umfange
der Versuch gemacht, die Reste antiker Bauten nicht
als einzelne Architekturglieder ihrer Ornamente wegen,
sondern im ursprünglichen Zusammenhang in ihrer
gesamten architektonischen Wirkung vorzuführen. Es
ist freilich nur ein eng umgrenzter Ausschnitt aus
der Entwickelung der griechischen Baukunst, den das
vorhandene Material so zu veranschaulichen gestattet,
vom vierten zum zweiten Jahrhundert vor Christo und
dazu einige Bauten traianischer und noch späterer
Zeit — die älteren Stufen fehlen in den hellenistischen
Städten, denen die Grabungen der Berliner Museen
galten — aber es sind doch zum Teil recht eigen¬
tümliche Werke, die hier in Ausschnitten wieder auf¬
geführt sind, und darunter eines von ganz besonderem
allgemein kunstgeschichtlichen Werte. Die beiden
Langseiten des grossen rechteckigen Saales sind den
Resten aus Pergamon, die Schmalseiten denen aus
Priene und Magnesia eingeräumt.
Dem Eingang gegenüber steht vor der Mitte der
Langwand die kolossale Nachbildung der Athena
Parthenos des Phidias, die einst in einem Saale der
pergamenischen Bibliothek aufgestellt, jetzt hier das
Ganze beherrscht. Daneben erheben sich über ihren
Stufen zwei Säulen mit zugehörigem Gebälk vom
Tempel der Athena in Pergamon, ein schlichter Bau
aus bescheidenem, einst mit Marmorstuck überzogenem
Material, ein Überrest der Zeit vor der Attalidenherrschaft.
Die Bauthätigkeit der Könige wird vertreten ausser
durch kleinere Aufbauten durch das überaus reich
und zierlich durchgebildete Gebälk vom Opferherd,
der auf der Plattform des grossen Altarbaues stand,
und durch einen drei Joche umfassenden Ausschnitt
aus der zweigeschossigen Marmorhalle, mit der Eume-
nes II. den heiligen Bezirk des alten Athenatempels
an zwei Seiten umgab; Einzelheiten aus dem Innern
des Baues sind daneben aufgestellt; von dem eigen¬
tümlichsten Schmuck, den in flachem Relief mit wirr
übereinander gehäuften Trophäen verzierten Balustra¬
den, sind die besterhaltenen Exemplare wieder in die
Zwischenräume der Säulen des Obergeschosses ein¬
gefügt und gelangen hier in der Höhe zu einer un¬
geahnten malerischen, fast farbigen Wirkung. Nächst
der Königszeit ist die spätere römische Kaiserzeit von
Traian bis Caracalla unter den pergamenischen Bauten
am besten vertreten; die Ecken vom korinthischen
Traianstempel und von dem dem Caracalla geweihten
Umbau eines älteren ionischen Tempels auf der Theater-
100
DAS PERGAMON-MUSEUM IN BERLIN
terrasse mit ihren von reicliem Rankenwerke gebil¬
deten Akroterien, aus denen Niken lieraussch weben,
füllen als Gegenstüeke zwei Ecken des Lichthofs,
charakteristische Beispiele des schwülstigen asiatischen
Geschmacks, wie er im Osten des Römerreichs die
Architektur beherrschte und von da aus immer mehr
nach dem Westen vordrang.
ln vornehmer Schlichtheit erhebt sich vor der
einen Schmalseite inmitten kleiner Bauten aus Priene
eine Säule vom Tempel der Athena Polias — leider
mit Rücksicht auf die Höhe des verfügbaren Raumes
verkürzt, — bekrönt von einer Nachbildung des Ge¬
bälks, dessen Originalstücke daneben zu ebener Erde
aufgebaut sind. Ein Werk des schon am Mausoleum
zu Halikarnass hervorragend beteiligten Architekten und
Bildhauers Pythios, wahrte der Tempel bei feinster
Ausführung aller Einzelheiten noch den strengen
schweren Charakter der älteren ionischen Bauweise;
ohne Zwischentreten eines Frieses ruht der mächtige
Zahnschnitt unmittelbar über dem von einem kräf¬
tigen Eierstab abgeschlossenen Architrav, die Polster
des Kapitells zeigen nur eine fast unmerkliche Ein¬
ziehung. Aber trotz solcher uns altertümlich anmuten¬
den Eigenheiten fand der Bau bei seinen Zeitgenossen
so hohen Beifall, das Alexander der Grosse es für
seiner würdig erachtete, den Tempel durch eine In¬
schrift auf einer der Anten als von ihm der Göttin
geweiht zu bezeichnen.
Die uns geläufigere jüngere Form des ionischen
Baustils zeigen an der gegenüberliegenden Schmal¬
wand die Bauglieder vom Tempel der Artemis Leuko-
phryene zu Magnesia, in deren Mitte in gleicher Weise
die Säule mit der Nachbildung des Gebälks emporragt.
Reicher gegliedert, mannigfaltiger in den Formen, deko¬
rativer in der Ausführung steht dieser Bau des Hermo-
genes da, dessen vom Baumeister selbst verfasste Beschrei¬
bung für Vitruv und durch ihn für die ganze neuere
Zeit die Quelle der Lehre von den kanonischen Formen
der ionischen Architektur geworden ist und bis auf
den heutigen Tag noch ihre Wirkung auf die Bau¬
praxis ausübt. Hermogenes hat den figürlichen Fries
aufgenommen, aber bescheiden in den Abmessungen,
als niedriges Schmuckband fast verschwindend im
tiefen Schlagschatten des weit darüber auskragenden
kolossalen Zahnsehn ittes. Der auch hier fühlbare
Mangel, dass die Säule fast um die Hälfte ihrer Höhe
verkürzt werden musste, wird eiuigermassen dadurch
ausgeglichen, dass ganz in der Nähe eine Eeke vom
Tempelehen des Zeus Sosipolis auf dem Markte von
Magnesia, in dem die Formen und Verhältnisse des
Artemisions verkleinert nachgebildet waren, in der ur¬
sprünglichen Höhe hat wieder aufgerichtet werden
können, wie ein Modell für die Zusammenfügung
der Riesenglieder des gewaltigen Haupttempels.
Reiehes Material für dessen eingehendere Kennt¬
nis enthält die Studiensannnlung, die in einem an
drei Seiten den Lichthof umgebenden Sockelgeschoss
noch in der Einrichtung begriffen ist und an Archi¬
tektur, Skulptur und Inschriften aus Pergamon, Mag¬
nesia und Priene übersichtlich geordnet alles umfassen
soll, was von wiehtigeren Stüeken in den Haupt¬
räumen nicht hat aufgenommen werden können. Für
das Magazin im Keller bleiben vor allem die zahl¬
losen kleinen Bruchstücke, deren Anfügung an die
grossen Zusammenhänge noch nicht gelungen ist und
für die überwiegende Mehrzahl auch nie wird zu er¬
möglichen sein.
Es ist ein nach Anlage und Einrichtung ganz
eigenartiges Museum, das hier im abgesehiedenen
Winkel hinter den übrigen am Lustgarten gelegenen
Museumsbauten entstanden ist. Ob der Versuch als
gelungen bezeichnet werden darf, ob er für Förderung
des allgemeinen Verständnisses antiker Kunst und für
das um ihre Einzelheiten bemühte Studium sich so
fruchtbringend erweisen wird, wie man hofft, ob er
anderwärts Nachfolge finden wird — diese Fragen
zu beantworten bleibt der Zukunft Vorbehalten.
Aus dem Pergamon- Museum: Altertümer aus Magnesia in der
Studiensammlung
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. ni. b. H., Leipzig.
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ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIII ' ORIGINALRADIERUNO VON WALTER LEISTIKOW
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RAFFAELLI, PARIS, DIE STRASSE VON ARQENTEUIL verlao von e. a. seemann
LEIPZIG 1902 .
' '‘SW
Nach einer farbigen Radierung von J. F. Raffaelli in Paris
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
BETRACHTUNGEN ÜBER KUNST UND KÜNSTLER
Von J. F. Raffaelli in Paris
Die nachfolgenden Seiten sind die Bruchstücke einer Studie, die Jean-Frangois Raffaelli im Jahre
1884 niederschrieb. Das ganze zu veröffentlichen, verboten die räumlichen Qrenzen. Aber bei dem Interesse,
das man gegenwärtig solchen künstlerischen Bekenntnissen entgegenbringt, werden die temperamentvollen
Aeusserungen auch in dieser etwas abgerissenen Form fesseln; hie und da wird man sich besonders erinnern
müssen, dass die Abhandlung schon vor bald 20 Jahren verfasst wurde und im Original französisch ist.
Die Redaktion.
Man pflegt im gewöhnlichen Leben häufig
Charakter und Karikatur durcheinander zu
werfen, aber Charakter kommt von dem
griechischen Worte charasso, ich grabe, präge, drücke
ein; Karikatur von dem italienischen caricare, be¬
lasten, übertreiben. Der moralische oder physische
Charakter bedeutet alles, was ein Individuum von dem
anderen unterscheidet.
Es giebt National-Charaktere; aber diese verwischen
sich heute mehr und mehr. Dahingegen zeigen die
individuellen Charaktere im Gegenteil das Bestreben,
sich in dem Masse zu vervielfältigen, als wir an persön¬
licher Freiheit gewinnen. Im Mittelalter wollte man
die wesenlose Gottheit nachahmen. Zur Zeit unserer
grossen Könige von Gottes Gnaden sah man in diesen
den höchsten Ausdruck der Menschlichkeit. Ihre
Noblesse, ihre Würde, das Repräsentative an ihnen
Zeitsclirilt für bildende Kuiibt. N. F. XIII. H. 5.
war das Ideal des Charakters, eines dekorativen Cha¬
rakters. Dagegen heute strebt jeder in seinem kleinen
Bezirke, so wie es der Individualist Humboldt ge-
than hat, Noten zu sammeln, zu arbeiten, zu suchen,
um sein eigenes Ich zur höchsten Entwickelung, zur
höchsten Schönheit zu bringen.
Von diesem wechselvollen Ideal haben die Künste
gelebt: die Gotik wollte Gott erreichen. Unsere fran¬
zösische Kunst des 17. und 1 8. Jahrhunderts erstrebte
die Majestät und erhabene Erziehung eines Ludwig XIV.
oder die weibischen Laster seines Nachfolgers. Die
Revolution und das erste Kaiserreich haben gleich Em¬
porkömmlingen das grosse römische Zeitalter nachgeäfft.
Dann kommt die Kunst eines Gros, der Chauvinismus
eines Charlet und Raffet, eines Beranger, im Stil des
»petit caporal.« Das ist zwar noch eine Kunst der
Anbeterei, aber doch schon in einer gewissen Ab-
'4
' 02
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
scV-v/ächurig; sie befasst sich schon mit dem Volk,
das liier nur als Grenadier verkleidet auftritt.
Der romantische Coup unter der Bürger-Monarchie
bedeutet endlich die moralische Erschütterung von
89; diese starke Epoche hatte das Ereiheitslied ge¬
sungen, nun ist die Kette der Tradition gebrochen,
aber die Romantiker waren eben nichts, als Ketten¬
brecher, etwas Neues geschaffen haben sie nicht.
1830 ist der Sohn von 178g, aber weiter nichts. -
Heute, wo wir in der Kunst nicht mehr ausschliess¬
lich die Könige bewundern, ist zwar die Kunst nahezu
frei geworden, aber es fehlt ihr noch an Kritik und
unsern Künstlern an philosophischer Erziehung. Wir
sehen sie alle Tage scharenweis, verloren, ohne Ideen,
mitten in unserer modernen Revolution, sich an den
zerbrochenen Zweigen einer fruchtlosen Tradition an¬
klammern.
Der letzte dieser Streiter für Gott, König und die
Griechen war Ingres, aber das war die Agonie. —
Naiv und gewaltthätig, ein grosser Künstler in seinen
bewunderungswürdigen Karikaturen des Herzogs von
Orleans und von Berlin; ein ehrgeiziger Künstler in
seiner Madame Moitessier (der Kopf eine Cybele, das
Kleid ein Lyoner Seideiimagazin); ein Schüler David’s
und ein Römer in dem Porträt von Bartholini; ab¬
geschmackt in der Erfindung, in den Proportionen
und in der Mache bei dem Bildnis von Cherubini;
ein wackerer Grieche in seiner Apotheose Homer’s; ein
Davidschüler in seinem heiligen Symphorian; ein
griechischer Bildhauer in seiner Quelle; ein Akade¬
miker in seinem Gelübde Ludwig’s Xlll.; ein uner¬
träglicher Mensch in seiner Angelika mit dem Kropf
- - Das ist Ingres! Wie ein echter Provinziale hatte
er sich vollgestopft mit Überlieferungen und an seiner
ganzen Kunst ist nicht ein Stück, das wirklich fran¬
zösisch ist. Man denkt an ihn als an einen Menschen,
der leidenschaftlich seine Kunst liebte und Porträts mit
bleiernen Gesichtern malte.
Endlich, als unter Louis-Philipp die Bourgeoisie
die ganze Macht in die Hand bekam, musste eine
neue Kunstart beinahe erst erfunden werden: die Intel¬
ligenz, wütend, sich noch in zweiter Reihe zu sehen
und im Gefühle der aufgeblasenen Dummheit, des
Mangels an Erziehung und der physischen und mora¬
lischen Hässlichkeit der neuen Herren, griff zur Kari¬
katur. Aber heute hat sich das Blatt gewendet. Die
Bourgeoisie hat sich Söhne erzogen, die wir schön
finden; sie sind es, unter denen wir zu Hunderten die
Gelehrten, die Industriellen, die klugen Kaufleute fin¬
den; die Karikatur, die Charge muss dem Studium
der Charaktere den Platz räumen, wenigstens gegen¬
über der Klasse, welche die zahlreichste unter unserer
gebildeten Gesellschaft ist.
Courbet, der sich mit seinem Realismus brüstete,
war ein Klassiker, ein geringer Eortschrittler in seiner
Kunst, ausgenommen als Landschafter (da marschierte
er mit der schönen Truppe von Paysagisten der
jüngsten Epoche), und er behauptet heute im Louvre
grade den Platz, den er dort einnehmen musste als
Erbe der besten Traditionen in seiner Kunst des
dicken verliebten Kerls aus der Franche-Comte. Als
Maler vernünftiger Ideen war er immer unzulänglich,
mit Ausnahme seiner »Steinklopfer« und seinem » Apres-
diner zu Omans«, zwei vollendeten Meisterwerken;
ich spreche, wie gesagt, nicht von seinen Landschaften.
- ln seinem »Begräbnis zu Omans zeigt er die
bewunderungswürdigsten künstlerischen Absichten ; die
weinenden Frauen, der Hund, ebenso schön und
schöner wie ein Hund von Desportes, der Priester
mit den wunderbar unter dem schweren und steifen
Messgewand bewegten Armen, und andere Gruppen
sind vollendet schön. Leider konnte er in der Gruppe
der Sänger nicht die beabsichtigte komische Wirkung
erzielen; die Träger sind zu vornehm; allerdings
nehmen Männer, wenn sie zusammen einen schweren
Gegenstand tragen, immer eine allgemein schöne
Haltung an. Das Terrain stellt keinen Friedhof,
sondern wohl irgend ein schönes Plateau von Hoch¬
burgund vor; der Hintergrund hat keine Perspektive;
die Gestalten stehen in Atelierlicht und zeigen falsche
Proportionen, mit denen er übrigens eine schöne ein¬
heitliche Gesamtwirkung erzielt. Am Boden sieht
man in der Nähe der Gruft Schienbeine, Totenköpfe
und andere Stücke eines etwas zweifelhaften sym-
Nach einer farbigen Radierung
von J. F. Raffaelli in Paris
14*
Die Invalidenesplanade
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
i :,4
bo'iischen Melodramas. - Davon abgesehen ist dieses
irisierwerk ein prächtiges Gemälde, eine Mischung
von naiver Bewunderung, Beobachtung, Wahrheit und
iroiiie. — Das Bild bleibt das grossartige Denkmal
einer starken Kraftanstrengung.
Vor seiner Trau mit dem Papagei , weiss ich
nicht, was diese Frau soll, noch was sie sagen will;
sie ist eine allzu klassische Erinnerung, sie ist nicht
mehr als ein bewundernswerter Akt. — Seine Ba¬
dende ist famos; das ist die ganze Bourgeoisie von
damals, von der Kehrseite gesehen.
Sein Atelier ist eine Zusammenstellung von
Glanzstücken, die keine Bezeichnung tragen, weil sie
dadurch noch mehr bezeichnet sein wollen, und von
Ungleichheiten, welche unsere Malerei, der Einheit ein
Haupterfordernis ist, nicht vertragen kann. Seine
Ringer stehen nicht in dem
rechten Milieu und verursachen
auch nicht jene Freude, die man
empfindet, wenn man Menschen
oder Tiere schwer miteinander
ringen sieht; dazu kommt die
Ironie diesen Kerlen gegenüber,
die sich aus Beruf, auf Tagelohn,
zu diesem Metier hergeben; dann
das unangenehme Gefühl, wel¬
ches wir über die Immoralität
des Nackten in freier Luft em¬
pfinden, ausserdem die Beleidi¬
gung der Augen durch diesen
roten Tricot, ein verwünschtes
Rot, das geradezu ordinär wirkt.
Man kann auch den Umfang
seiner Bilder verurteilen, der mehr
aufsehenerregend wie überlegt ist;
wir müssen uns an unsere ein¬
sichtigen Bürger wenden, Leute,
die nicht sehr reich sind und
nur über beschränkte Räumlich¬
keiten verfügen; wir brauchen
weder Schlösser auszuschmücken
noch grosse Herren zu um¬
schmeicheln; das Museum kommt erst später in
Betracht. - Courbet stellt nur Gemälde für das
Museum her, auch eine Wiedererinnerung an die
Dekorationskünstler. — Und Rousseau, Corot, Millet,
haben sie jemals grosse Gemälde geschaffen? Und
scheinen sie uns deshalb weniger gross? Der Angelus
misst fünfzig Centimeter und der Hafen von Rochelle
sechzig. Rousseau hat häufig Landschaften ge¬
malt, die nicht mehr als handgross und doch
wahre Wunderwerke sind; von den Massen der
Gemälde eines Meissonnier, dessen »Kugelspieler<
neunmal vier Centimeter gross sind, ganz zu ge-
schweigen.
Aber ich will nicht eine ausgedehnte Kritik über
das Werk Courbet’s geben. Es genügt mir zu sagen:
er verfügte nicht über ein hinreichend sicheres Können,
über einen vielseitigen Geist und eine zielbewusste
Kühnheit, die stark genug für seine anspruchsvolle
Kunst gewesen wäre, auch hatten in seinem Leben
Brutalität und Nachlässigkeit eine allzu grosse Herr¬
schaft über ihn; seine Malerei war zu klassisch. Mehr
noch, er war als Philosoph nicht scharfsinnig genug,
die erste unerlässliche Eigenschaft, um eine revolu¬
tionäre Gesellschaft wie die unsrige zu malen.
Und das war der sogenannte Realismus! — ein
Wort, gross und falsch wie ein Theaterfelsen ; — »der
Kerl, der es aufbrachte, hatte wenig Verständnis für
den Feingehalt der Worte, er pflegte sie gern mit
Scheffeln zu messen« - sagt uns Theophile Sylvestre.
— Wir müssen eine hohe Bewunderung für die
Leistungen des Realismus haben, aber heimlich können
wir lachen über seine scharlachrote Fahne, eine Art
von Vogelscheuche. Der Realismus, beim Wort ge¬
nommen, würde nichts anderes als eine Verneinung
der Kunst selbst sein.
Was ist denn Wirklichkeit?
— Die Wirklichkeit ist die kör¬
perliche Existenz der Welt, wie
sie sich unabhängig zeigt von
den Sinneseindrücken, welche sie
verursacht und die sie wiederum
erkennen lassen. Es ist das
abstrakte Sein. Die Wirklichkeit
malen würde also nichts anderes
sein als die Thätigkeit der photo¬
graphischen Linse. Aber die Kunst
lebt vom Objektiven und vom
Subjektiven, von der Vernunft
und der Persönlichkeit. Bis zu
einem gewissen Grade würde sie
ohne den Boden der Wirklich¬
keit körperlos sein, wie die
Musik es zu sein scheint; aber
vom Objekt erhebt sie sich zu
Launen der Phantasie, Stellungen,
die sich mehr oder weniger
von der Wahrheit entfernen.
Ohne das Subjektive, ein Fall,
der eintritt, wenn der Künstler
sinnlos die Natur anschauen
und wiedergäbe, was er nicht
kann, würde die Natur ihm in ihrer Wirklich¬
keit hässlich erscheinen und ihn zu nichts anregen,
denn ohne Gedanken giebt es keine höheren Ziele,
keine Phantasie und kein Ideal, weil Ideal und das
Schöne identisch sind. Die Natur darf also, wenn
sie in einem Kunstwerk verkörpert werden soll, ohne
das Objektive und Subjektive nicht beobachtet werden.
Abgesehen von aller Metaphysik, hassen wir das Rea¬
listische im Gegensatz zum Idealistischen, dass heisst
ohne Ideal — so wie es Plato gemeint hat.
Delacroix hat das in seiner Studie »Das Ideal und
der Realismus« so auseinandergesetzt: »Die Frage des
Realismus bedeutet nichts anderes als: man braucht
eine scheinbare Wirklichkeit. Der buchstäbliche Realis¬
mus ist eine Thorheit. Holbein scheint in seinen Por¬
träts die Wirklichkeit selbst zu sein und er ist doch
vergeistigt. Die Hand des Mannes mit dem Barett
.||
R ; j]\
m lu
Skizze von J. F. Raffaelli
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
105
von Raphael ist ein ähnliches Beispiel. Es ist das
Empfinden des Malers, welches ihnen dieses Gepräge
giebt. Man wird den Beweis hierfür in einem Ver¬
gleich dieser naiven und doch idealen Werke mit den
meisten Figuren von David finden, der nachahmt, so
viel er kann, doch wenn er auch alles dabei ver¬
schönert, nur selten zum Ideal gelangt. Es ist un¬
möglich die Nachahmung weiter zu treiben, wie zum
Beispiel in dem Gemälde der Horatier. Das Bein,
der Fuss des Horatius sind von sklavischer Nach¬
ahmung: die Absicht zu verschönern äussert sich den¬
noch in der Wahl der Formen, und diese Arme,
ihr darangeht, Marinen zu malen, nennt man euch »Herr
Admiral wie einst Gudin; der Soldatenmaler wird als
ein Stück Generalstäbler betrachtet, so etwa wie
Meissonnier im Jahre 70, und malt ihr die Ausge-
stossenen der Gesellschaft, so seid ihr es auch. Ist
aber das Schildern von Göttern, Gesandten und
Königen eure gewöhnliche Beschäftigung, so ladet
euch das Staatsoberhaupt zur Jagd ein. — Das ist die
landläufige Ästhetik, die Ästhetik der Salons. —
Courbet hatte, wie wir alle, viel darunter zu leiden.
Seht ihr, wie bequem das ist? Zola ist als laster¬
haft bis auf die Knochen, als gemeines Subjekt, und
J. F. Raffaelli. An der Madeleine (farbige Originalradierung)
dieses Bein machen durchaus keinen Eindruck auf
die Einbildungskraft.«
Courbet sagie übrigens, als er seine bewunderten
Steinklopfer schuf: Bis zu den Steinen soll alles
Gedanken wecken , er war also ein toller Ideen¬
mensch — und alles, was ich schreibe, macht ihm
daraus keinen Vorwurf. Allein in Frankreich beurteilt
man leider die Person des Künstlers nach dem Vor¬
wurfe, welchen er gewöhnlich behandelt, und dies hat
nicht wenig dazu beigetragen, ein Missverstehen seines
Talentes zu verursachen : Malt ihr Frauen, so geltet
ihr für parfümierte Idealisten und galante Männer;
malt ihr Rassepferde, so habt ihr vornehme Passionen
und alle Kreise stehen euch offen. Wenn ihr Arbeiter
malt, seid ihr Anhänger der Kommune, seid anar-
chistisch-soziaiistisch-realistisch-revolutionär; aber wenn
so recht teuflisch als Schleusenräumer hingestellt wor¬
den, alles dies, weil er die Laster ausmalte und Men¬
schen der niedrigsten Berufsarten. —
Ich habe eben den Namen Emile Zola genannt;
damit komme ich zum Naturalismus.
Sk
Naturalismus ist das jüngste Schlagwort auf
dem Gebiete der Malerei. Es erfreut sich einer
grossen Beliebtheit. Allein, sehen wir etwas näher
zu, wie dieser Ausdruck Naturalismus von uns
Malern aufgenommen wurde. Wenn der Realis¬
mus albern ist und alle Kunst aufhebt, so liebe
ich den Naturalismus zunächst nicht wegen seiner
Farbentheorie: Die ist für uns zu rein wissen¬
schaftlich.
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
Freilich, die Litteratur
kann sich ini Gebiete der
Wissenschaft ergehen, und wir raten ihr durchaus
nicht davon ab, wir erkennen selbst vollkommen ihre
Macht an, wenn sie sich über seelische Zustände,
geistige Vorgänge und Leidenschaften verbreitet, daraus
folgt jedoch nicht, dass auch die Malerei dieses kann
und ihr darin folgen muss.
Kurzum, mit diesem Naturalismus war man sehr
voreilig, die meisten fanden so etwas sehr einfach;
so hatten wir von heute auf morgen vier- oder fünf¬
tausend Naturalisten.
Worum handelte es sich nun unter diesen Malern?
Wie! — Sagt das Wort es nicht ganz deutlich? —
Selbstverständlich um die Natur! Man malte junge
Damen in Treibhäusern, auf dem Rasen, unter Felsen,
auf dem Trottoir . . . ganz nach Belieben. — Man
malte Bauern, von vorne, von hinten, ebenso Bäuerinnen;
man konnte Herren im Gehrock und Cylinder
sehen, - - welche Dreistigkeit — kurz man kopierte
unerschütterlich die Natur, alles, was man gerade vor
sich sah, ohne Auswahl!
Gut, allein an welchem Punkte stehen wir heute?
Man merkt sehr wohl, dass das Publikum schlaff,
überdrüssig und gleichgültig geworden ist, allein
warum?
Die sechstausend Naturalisten sagen sich wohl
selbst: Es scheint doch auf diese Art nicht weiter zu
gehen? — Aber weshalb eigentlich? — Ist der Na¬
turalismus nicht die neueste Mode? — Mache ich
nicht in Naturalismus? — Die Bilder, um mich herum,
ist das kein Naturalismus? — Aber natürlich, und
was für einer! Im gröbsten Sinne des Wortes.
Die Kunst hat einen Ausdruck,
der niemals wechselt, so lange
Kunst Kunst sein wird, dieser Aus¬
druck ist: das Schöne.
Ohne das Schöne ist keine
Kunst denkbar, denn ohne das
Schöne würde unsere Thätigkeit
keinen Wert haben. Der Naturalis¬
mus wäre ohne das Schöne eine
Thorheit. Die Schriftsteller wissen
das sehr wohl; die stärksten dieser
in der Litteratur bewunderten
Strömung, der so einflussreiche
und gewandte Zola, Huysman, der
geschätzte und grosse Litterat,
Ceard mit seiner kritischen Stärke
und gewählten Psychologie, der
bewunderungswürdige Maupassant,
Hennique, sie alle beweisen dies
durch ihre Werke, jedoch auf Grund ihrer
gänzlich verschiedenen Anlagen. Aber die
Maler, welche über keine Gymnastik des Den¬
kens verfügen, wissen das nicht, und deshalb
ist das, was sie schaffen, in den meisten Fällen
ohne Wert, weil es jeder Philosophie ermangelt;
daher erschlaffen sie, daher jammern und beklagen
sich sechstausend Naturalisten wie Dienstmänner, denen
man eine falsche Adresse angegeben hat.
Indessen wenn der Ausdruck Schön auch unwan¬
delbar ist, so kann die bewusste Idee dieses Schönen,
kurz das Ideal, mannigfache Gestaltung annehmen und
gänzlich anders werden mit den Sitten, die sich ändern.
Nun, meine sechstausend Naturalisten thuen sich
zusammen, wie die Mitglieder einer Liedertafel, und
singen: Die schöne Natur! — Die Natur allein ist
schön! Dabei ist das Schöne — ich habe hinreichend
versucht es auseinander zu setzen — gleichermassen
objektiv, da wir doch ohne Objekt keine Vorstellung
davon haben können, wie subjektiv, da ohne unsern
Verstand, der über die Schönheiten reflektiert und
ihre Ursachen, ihre Wohlthaten, ihre Ausdrucksweise
und die allgemeine Wirkung, welche sie auf uns aus¬
üben, begreift, alles das, was sichtbar uns vor Augen
steht, toter Buchstabe sein würde! Das was man
liebt, wofür man sich begeistert, ist die Idee und
immer wieder die Idee. — Man geht in den Tod
für eine Idee, — hat man jemals einen Menschen für
die Natur sich den Tod geben sehen? — Man
schwärmt umsomehr von Schönheit, als man ein An¬
hänger der Ideenlehre ist, das steht vollkommen fest.
Angesichts des Meeres, immerhin ein Gemeinplatz
des Schönen, sagte mein Dienstmädchen, als sie es
zum erstenmal sah: Wieviel Wasser! — Nicht übel;
aber wir sagen: Wie schön ist dies! Und wir häufen
Bücher, Gemälde, Gedichte aller Art über dieses
ewige Thema auf. — Von Notre-Dame sagte die
gleiche Gewährsmännin: »Weiss Gott, das ist schöner
wie bei uns zu Hause.« — Auch nicht übel, aber
wir sagen: Das ist bewunderungswürdig! — Schliess¬
lich, um mich deutlich auszudrücken, wir hegen um
so mehr Bewunderung für alles, je grösser unser
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
107
Verständnis und unser Urteil ist. An einem Kopfe
vom Parthenon, der an der Erde liegt, kratzt der
Hund mit seiner Pfote; — das Kind bemächtigt sich
seiner mit Vorliebe und spielt damit; — der Mann
hebt ihn vorsorglich auf und bringt ihn in ein Mu¬
seum: er besitzt ein vertieftes Empfinden für die be¬
wunderungswürdige Schönheit, die sich in diesem
bearbeiteten Marmor verkörpert.
Ich besitze ein kostbares Fragment dieser Art; es
ist das Stück eines Frieses, ein Profilkopf in weissem,
vielleicht parischem Marmor, der einen kahlköpfigen
Mann darstellt; — ich
finde ihn vollendet schön;
aber dasselbe Mädchen
riet mir nach kurzer Zeit
im Vertrauen, ein solches
Zerrbild dem Gesichts¬
kreise meiner schwangeren
Frau zu entziehen!
Nein: Das Schöne ist
nicht in der Natur. —
Naturalismus, Natur sagt
nicht alles, nicht einmal
die Hälfte, und bedeutet
für die Kunst nur soviel,
wie das Objektive dem
Subjektiven.
Was fängt man mit
abgelegten Damenhand¬
schuhen an? Man wirft
sie weg. — Allein, wenn
sie von der Angebeteten
unseres Herzens sind,
heben wir sie sorgfältig
auf. — Wie? — Macht
das sie schön? — Nein!
Aber sie erzählen uns so¬
viel von der Schönheit
der Geliebten, dass diese
zerknüllten Andenken uns
die reizendsten Poesien
einflüstern können
dies ist die Idee, die Idee
von Ihr, welche sie uns
lieb und wert machen.
Berge, die dem Landmann
hoch und beschwerlich
scheinen, sind für uns
majestätisch und angenehm. Hierin liegt alles. — Das
Schöne beruht in der bewussten Liebe oder in dem
Charakter, denn in ihm wird das Bewusstsein sicher
das Merkmal eines eigentümlichen Vergnügens ent¬
decken, welches es alsbald für würdig seiner Liebe
erachtet.
Sk Sk
Sk
Was soll aber inmitten unseres sozialen Staates
aus den dekorativen Künsten werden? Man fühlt,
dass die Form dieser Kunst im Niedergang begriffen
ist, obgleich die bedeutendsten unserer Künstler sich
auf diesen Zweig geworfen haben; man ermutigt leb¬
haft die Talente, welche sich der dekorativen Kunst
weihen wollen, man öffnet ihnen ein Museum, zehn
Museen, Schulen, das Publikum klatscht, der Wetteifer
entbrennt. — Thorheit! nichts als Thorheit ist das
alles! Schon das ist übrigens bemerkenswert, dass,
wenn die Regierung heute einen Kunstzweig ermutigt,
das sicher ein absterbender Zweig ist, den die Nation,
das Volk, nicht mehr will, für den man sich nicht
mehr interessiert, und so wird der Staat der gebildete
Bewunderer der Vergangenheit, der grosse Konser¬
vative, zum Agitator. Nein, wir haben um uns herum
keine Idealmenschen mehr
als Modelle für diese
Künste; wir haben keine
grossartigen Schauspiele
vor unseren Augen; wo
sollen wir also die Vor¬
bilder hernehmen? Nicht
die dekorativen Künste
sterben, sondern ihre Mo¬
delle. Glaubt man denn,
dass eine Kunst sich aus
sich selbst heraus erhält,
nur durch die Macht der
Gewohnheit?
Welchen geistigen Lohn
soll denn auch ein
Künstler finden, der The¬
ater oder Verwaltungsge¬
bäude ausschmückt? Alle
Theater brennen ab; fragt
nur die Statistik, sie wird
euch sagen in wieviel
Jahren. Und die Verwal¬
tungsgebäude? Was sind
sie denn für uns? Stätten
einer unangenehmen Not¬
wendigkeit, wo wir rasch
hingehen, eilig, brummig
(ich spreche allerdings nicht
von der Civiltrauung),
hässliche Gebäude, alle
über einen Leisten geschla¬
gen, die einzelnen Bureaux
so eine Art Mausefalle,
wo es nach Karbol
riecht, wie in der Morgue
oder im Leihhause. Die
Angestellten, die man da findet, scheinen nur die
Rolle zu haben, niemals die Auskunft geben zu
können, die man haben will, und die Passanten haben
unglückliche Gesichter — ein nettes Publikum! —
Und da will man, dass eine grosse, stolze Künstler¬
seele die Frucht von zwei, drei, vier, fünf Jahren
ehrgeiziger Arbeit auf den Mauern solch einer Mairie
verewigt?
* *
Nun müssen wir uns aber fragen, wo steckt
denn das Schöne in dieser Gesellschaft? — ln seinem
Luxus? Er ist zu berechnet, während doch die
Skizze von J. F. Raffaelli in Paris
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
chr'raläeristische Schönheit des Luxus die Verschwen¬
dung ist. Wir aber haben nach und nach uns ans
Sparen gewöhnt, denn das Geld ist heute die grosse
Scliöpferkraft geworden, die wir Zusammenhalten
müssen, selbst wenn wir zu einem grossen Reichtum
gelangt sind, und dieses scharfe Meistern des Geldes
hemmt jeden Trieb zum Luxus und zur Verschwendung.
Aber vielleicht ist das Schöne in der Armee? -
Einzigartige Armee!
Die Menschen kom¬
men sich vor, wie
in der Galeere und
sehnen sich den
ganzen Tag nach
ihrer Frau, ihrem
Stückchen Acker,
ihrer Heimat und
ihren persönlichen
Neigungen.
Oder in den
Königen und Gros¬
sen? ln Frank¬
reich giebt es keine
Könige mehr und
die, die ihm der
Himmel noch be¬
scheren könnte, wer¬
den so wenig König
sein und so kurze
Zeit!
ln der Aristo¬
kratie? — Wo sieht
man sie? — Mischt
sie sich unter uns?
— Mischen wir uns
unter sie? — Wo
ist sie? — Wo sitzt
der französische
Adel? In den Par¬
lamenten? In den
Wissenschaften? ln
den Künsten? —
Nein, er ist auf der
Jagd und kümmert
sich um Hunde und
Pferde. Seine Frauen
sind niedliche bijoux
in eleganter Fassung,
wohlerzogen in jener
Kunst der Konver¬
sation, die zwischen
der vollendeten Höflichkeit und der ausgesuchtesten
Impertinenz einherschwebt. — Aber wozu das alles,
wo es doch gar keine »Gesellschaft« und keine
»Salons« mehr giebt, heute, wo sich die Individuen
durch ihre Ideen und ihre Ideale vereinzeln.
Wo ist denn also das Schauspiel, dessen wir be¬
dürfen? — In unsern grossen nationalen Empfin¬
dungen? Was sind die Staatengebilde von gestern
anderes als der letzte notwendige Zustand für das
vereinigte Europa von morgen, ja, in ein paar hundert
Jahren für die geeinigte Welt, erobert von den Bruder¬
staaten Europa und Amerika!
Sind die Götter das Schöne in unserer Gesell¬
schaft? - - Freigeister sind wir an den Stätten der
Intelligenz.
Wo ist denn endlich das Schöne?
Das Schöne beruht in dem individuellen Charakter
der Menschen, die allmählich ihre Vernunft zu ge¬
brauchen gelernt ha¬
ben - - inmitten der
Verirrungen der
Furcht, welche alle
Interessierten ihnen
vorschrieben, der
Furcht, die immer
so leicht einzuflössen
ist — jener Men¬
schen, die nach einer
Anzahl vonjahrhun-
derten des Elends,
der Quälerei und
trauriger Irrtümer,
in denen der Stär¬
kere den Schwä¬
cheren unterdrückte,
ihre Freiheit zu er¬
werben wussten !
Hier liegt das Schöne
bei uns! — Wir
müssen die Züge
dieser Individuen
eingraben, aller, von
den ersten bis zu
den letzten, weil alle
sich um die Huma¬
nität wohl verdient
gemacht haben.
Wer, um die
Grösse des Men¬
schen zu bemerken,
grossen Menschen
gegenüber stehen
muss, mag sich an
unsere Lesseps, Edi¬
son und Pasteur
oder auch an un¬
sere Staatsmänner,
Generäle, Schrift¬
steller, Künstler, un¬
sere grossen Kauf¬
leute, unsere be¬
rühmten Industriellen und an die Philosophen wenden;
diejenigen jedoch, welche ihre Seele entbrennen und
ihr Herz schlagen fühlen für die höchste Schönheit un¬
seres Geschlechtes, mögen ihre Zuneigung den Nie¬
deren, den Barfüsslern und den Letzten des armen
Volkes schenken! — Alle haben gekämpft, alle haben
sich angestrengt — alle sind Sieger, mögen sie nun
durch Ideen oder durch Gewalt gekämpft haben,
ohne es wohl zu wissen, je nach ihren Mitteln, be¬
wundern wir sie! Vor meinem Blick erhebt sich
Bei der Toilette. (Nach einer farbigen Radierung
von J. F. Roffaelli in Paris)
CHARAKTER UND SCHÖNHEIT
1 og
nur Eines: Der Mensch, gross, rechtschaffen und frei!
und die bewunderungswürdige Idee, welche wir
uns schon heute davon machen können.
Durch welche Kunst erreichen wir also soviel
Schönheit? sprecht es aus, ihr Naturalisten! — Indem
wir diese Menschen nachahmen? — Also vorwärts!
Nein, wir müssen uns von Leidenschaft berauschen!
— Wir müssen uns berauschen an dieser wunder¬
baren Idee vom ganzen Menschen! — Aber die Leiden¬
schaft ahmt man nicht in der Natur nach, sie hat
ihren Ursprung im Herzen, und ihr seid gleichgültig,
eure Kunstweise legt davon Zeugnis ab.
Mögen die Begeisterten zu den Niedrigsten hinab¬
steigen, um uns ihre Schönheit zu zeigen und ihr
Elend, dem geholfen werden soll, oder die Gefahr,
in die sie unsere Gesellschaft stürzen; die vom Glück
Begünstigten mögen uns ihre Freunde zeigen, wie sie
sie lieben und kennen, die auf dem Lande wohnen,
sollen uns ihre Nachbarn schildern, mit allem Ernste;
und überall möge sich ein brennender, leidenschaftlicher
Eifer entspinnen, der durchdrungen ist von allen diesen
Charakteren und in dieser Idee, unter diesem Ideal vom
freien Menschen, oder in der Kritik des Individuums
sich bethätigt. — Hier darf uns kein individueller Zug
entschlüpfen, weder in seinem Innern, noch auf seinem
Acker, den er bebaut, den er so sorgsam pflegt oder
in der Kritik seiner öffentlichen Sitten und seiner
Lebensweise. Wozu denn alles dies, wenn es nicht
der Gegenstand eines leidenschaftlichen Studium sein
soll, um den Nachkommen das Porträt dieser Menschen,
welches sie verehren werden, zum Erbe zu geben;
denn unsere Zeit ist eine grosse Zeit!
/. C Raffaclli. Die Sonntagspromenade. (Farbige Radiei nng)
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H 5
15
EIN VERGESSENER VELAZQUEZ
Von Dr. A. Bredius im Haag
Als ich diesen Sommer nach vielen, vielen Jahren
die Wiener Sammlungen wieder durchwanderte,
führte mich mein Weg auch wieder die enge
Treppe hinauf zu der Harrach’schen Galerie. Ich
fand die Bilder anders aufgestellt, einen neuen Kata¬
log, der vielen der alten Irrtümer den Garaus gemacht
hatte und einige früher nicht ausgestellte Gemälde.
Wie ich schliesslich in dem letzten Gemach an¬
gelangt war, wo mehrere spanische Bilder hängen,
wurde mein Auge gebannt durch die stechenden
dunkeln Augen eines jungen, interessanten Spaniers,
in grauem Anzug, mit weissem, mit Spitzen umrän¬
derten Kragen. Es ist ein Brustbild ohne Hände.
Unmittelbar weilten meine Gedanken wieder bei
jenem herrlichen Bildnis, welches diesen Sommer in
London in der Guildhall ausgestellt war: dem Un¬
bekannten von Velazquez aus der Sammlung des
Herzogs von Wellington.^) Nicht, dass ich hier den¬
selben Kopf zu erkennen meinte; aber dieselbe Meister¬
schaft fand ich hier vor, den Augen eine Kraft im
Ausdruck zu verleihen, dass sie einen durch und
durch ansehen.
Schon hatte ich den Namen Velazquez auf den
Lippen, als ich etwas enttäuscht im Katalog nach¬
schlug: Nr. 333 Carl Scrcta. (Ritter Szotnowsky von
Zaworzic.) Männliches, lebensgrosses Brustbild in
grauem Wams und umgeschlagenem Spitzenkragen.
Leinwand. 0,5g m h., 0,48 m br.
Hat denn der Screta bisweilen so trefflich gemalt,
und so in dem Stile des grossen Spaniers? musste
1) S. m. Besprechung der Ausstellung im Nederl.
Spectator, 1891, Nr. 22, 23.
ich dann fragen. Nein, das kann doch kaum sein.
Dann besann ich mich darauf, dass der Gründer der
Harrach’schen Galerie, Graf Ferdinand Bonaventura von
Harrach zwischen 1661 — 1697 mehrfach als kaiser¬
licher Botschafter nach Madrid entsendet wurde.
Nein, das kann nur ein Velazquez sein - das feine
Grau des Wamses, der einfache Hintergrund, gleich¬
falls in dunklem Grau, der breit gemalte Kragen, die
unglaubliche Einfachheit und doch das Eebensvolle,
die grossartige Charakterdarbildimg mit fast nichts
erreicht, alles deutete nur auf ihn, den ich in der
Londoner Spanischen Ausstellung aufs neue wieder
bewundert, angestaunt hatte.
Aber . . . das Bild ist in dem herrlichen Buche
justi’s, dem schönsten Monumente, das Velazquez ge¬
schaffen werden konnte, nicht erwähnt! Schnell dem
grossen Kenner des Meisters geschrieben; sah ich
denn wohl richtig?
Die Antwort lautete in günstigem Sinne, justi
hatte 1876 schon notiert: »Scheint mir Velazquez!«
hatte es nur vorsichtshalber, oder weil ihm Notizen
fehlten, in seinem Werke nicht aufgenonnnen. Nun
aber eine Photographie gemacht wurde (wofür ich
hier Sr. Erlaucht dem Grafen Johann von Harrach
meinen herzlichsten Dank ausspreche), welche ich Justi
zur Ansicht schickte, schrieb dieser mir: Der Ein¬
druck des Spanischen und insbesondere Velazquez
Handschrift hat sich mir aufs neue bestätigt. Nach
dem Stile möchte ich das Gemälde in die mittlere
Zeit setzen, obwohl der Kragen (valona) ungew^öhn-
lich wäre (statt der einfachen golilla).« Dabei er¬
mutigte mich der grosse Velazquez-Forscher, das Bild
zu publizieren. Die Reproduktion macht eine weitere
Beschreibung des Kunstwerkes hier überflüssig.
MÄNNLICHES BILDNIS IN DER GALERIE HARRACH IN WIEN
DIE NEUENTDECKTE PRACHT-KATAKOMBE
VON ALEXANDRIA
V( N Josef Stkzyoowski
Alexandria, das bisher von den Nilreisenden
gern überschlagen wurde, hat endlich einen
Anziehungspunkt allerersten Ranges gewonnen.
Nahe dem alten Wahrzeichen der Stadt, der sogenannten
Pompejus-Säule, wurde eine Grabanlange entdeckt, die
mit den Königsgrüften von Theben und den Apis¬
gräbern von Sakkara wetteifert, ja diese in ihrem
reichen Organismus fast übertrifft. Schinkel’s Phan¬
tasie hätte keinen wiikungsvolleren Schauplatz einer
altägyptischen Opernfeerie ersinnen können. Und das
bestand im europäischen Centrum Ägyptens, ohne
dass man davon eine Ah¬
nung hatte!
Zur Herstellung von
Kaibauten im Hafen von
Alexandria werden seit
Jahren all die kleinen Fels¬
hügel abgetragen, die von
der Stadt westlich bis
gegen Meks zu liegen.
Dabei sind die interessante¬
sten Gräberanlagen auf-
gedeckt und zerstört wor¬
den. Der verdiente Direk¬
tor des Museums von
Alexandria und die Leip¬
ziger Sieglin - Expedition
haben daher mit Recht ihr
Augenmerk auf alles das
gerichtet, was bei dieser
Gelegenheit zu Tage
kommt und ohne ihr Ein¬
greifen für immer verloren wäre. Nachdem man Ga-
bari verwüstet hatte, schritt man auch an den grossen,
Kom es-Schugafa genannten Hügel. Da stiessen die
Arbeiter eines Tages auf die Decke eines Zimmers.
Museumsdirektor Botti wurde gerufen und betrat als
erster Fachmann die grossartige Anlage, mit der ich
den Leserkreis dieser Zeitschrift kurz bekannt machen
möchte. Der Grundriss, der von der Verlagsbuch¬
handlung Baedeker aus ihrem soeben in neuer Auf¬
lage erschienenen »Ägypten ^ freundlichst zur Ver¬
fügung gestellt wurde, ist von einem Mitgliede der
Sieglin-Expedition, Herrn Fiechter, aufgenommen, die
beiden Ansichten sind dem Werke der archäologischen
Gesellschaft von Alexandria entnommen, die auf Anre¬
gung von Alfred Schiff den Zeichner Gillieron berief
und dann Dr. von Bissing zur Abfassung eines kurzen
Textes einlud*). Eine umfassende Monographie bereitet
die Sieglin-Expedition vor**).
Das Zimmer, auf das man zuerst stiess, ist im
Plane mit M bezeichnet. Verlässt man es durch den
einzigen Zugang, so kommt man in einen Gang L
und stösst auf einen Felsen, den man zunächst für
massiv hält. Umgeht man ihn aber, und kommt in
den Raum H, so bietet sich — das Municipium von
Alexandria hat inzwischen für glänzende elektrische
Beleuchtung gesorgt — der überraschendste Anblick.
Der Fels umschliesst eine Grabkammer und deren Vor¬
halle, beide auf das präch¬
tigste architektonisch und
mit Statuen und Reliefs aus¬
gestattet. Man hat zunächst
eine Fassade mit Anten und
zwei Säulen vor sich, die
altägyptische Kapitelle tra¬
gen ; es folgt ein Archi-
trav mit der Sonnen¬
scheibe und Sperbern,
darüber ein Zahnschnitt,
über dem sich eine Lünette
wölbt. In der Vorhalle
selbst stehen rechts und
links in tiefen Nischen
Statuen in der Haltung der
Pharaonenkunst mit sehr
guten Porträtköpfen, links
eine weibliche, rechts eine
männliche Figur, wohl
die Bilder eines Paares,
das einst im Besitz des Grabes war. Die Ein¬
gangswand der Kammer selbst zeigt eine Pylonen¬
thür, darüber in der steilen Hohlkehle die Sonnen¬
scheibe und einen Aufsatz des Uräusfrieses. Zu
beiden Seiten sieht man auf Postamenten mächtige
*) Societe archeologiqiie d’Alexandrie, Les bas-reliefs
de Kom ei Chougafa. Dr. W. de Bissing, La catacombe
noiiveliement decouverte de Kom ei Chougafa. Die Archäo-
iogische Geseiisciiaft hat mir durch Heinrich Bindernagel
frermdlicli gestattet, zwei der Tafeln hier reproduzieren zu
dürfen.
2) Sie ist nach Mitteilungen des Leiters, Prof. Theodor
Schreiber, sehr weit vorgeschritten. Es ist ein grosses
Verdienst des bekannten Leipziger Gelelirten die wissen-
schaftliche Bearbeitung des Fundes der deutschen Wissen¬
schaft gesichert zu haben.
A Wendeltreppe — B Eingang ziini oberen Stock — C Ro¬
tunde - D, E Nebenrdnnic E grosser Saal - G Treppe
H Eingang zani unteren Geschoss - J Vorhalle — K Grab¬
kapelle mit Nischen a, b, c - L Galerie — M—Q später
angelegte Sale - R Saikophagkaininer
Gesamtansicht des Innern der Prachtkatakombe von Korn cs-Schiigafa bei Alexandria
DIE NEUENTDECKTE PRACHT-KATAKOMBE VON ALEXANDRIA
1 14
Schlangen, die sich aufrichten und die Krone Ägyptens
tragen, hinter ihnen Thyrsus und Caduceus, darüber
(Jorgonenschilde.
Der Grabraiun K selbst ist quadratisch, erweitert
sich aber in drei Nischen, die von Pilastern mit Pa¬
pyrus- und Lotos- Kapitellen flankiert und durch einen
Eierstabarchitrav und eine Lünette mit der Uräusscheibe
oben abgeschlossen werden, ln jeder Nische steht
ein Sarkophag, alle drei sind massiv, haben also nicht
zur Aufnahme von Toten gedient. Sie sind mit Stier-
Wir sehen den Apis auf einem Postament, davor einen
Pharao und einen Altar, rechts Isis. Römisch-ägyp¬
tische Mischbildungen zeigen nur die Reliefs der Ein¬
gangswand, Anubis und Set-Typhon in der Kleidung
römischer Legionäre. Sie belegen auf das deutlichste,
dass die Katakombe nicht der ptolomäischen, sondern
der römischen Zeit angehört, Hr. von Bissing datiert
sie zwischen Vespasian und Hadrian etwa.
Verlässt man die Grabkammer wieder, so stösst
man auf eine Treppenanlage H, die nach abwärts, und
Einer der Sarkophage in der Prachtkatakombe von Koni es-Schugafa bei Alexandria
Schädeln geschmückt, von denen je zwei Guirlanden
ausgehen. Daran hängen schwere Trauben, während
der Bogen durch Medusenhäupter gefüllt wird. Am
oberen Rande ein laufender Hund und Eckakroterien,
dazu stellenweise Farbspuren. Die Wände über diesen
Sarkophagen tragen Reliefs, je ein breiteres an der
Rückwand, zwei schmälere an der Seite. Inschriften
fehlen leider. Dargestellt sind, wie ein Blick auf
nebenstehende Abbildung lehrt, Scenen durchaus
altägyptischen Stiles und mit Figuren, die fast durch¬
weg dem Pantheon der Pharaonen entnommen sind,
ich beschreibe nur das in obigem Bilde gegebene Relief.
G, die nach aufwärts zu einer grossen Rotunde C
führt, von der aus seitlich Grabräume D und ein
Saal F abgehen, während der Treppe gegenüber ein
Gang B zu dem alten Eingang A der ganzen Anlage
führt. Es ist das sonderbarste, was man sehen kann:
Oben im Rücken des Hügels öffnet sich ein grosser
Trichter, dessen Wände entlang eine Treppe in die
Tiefe führt. Botticelli könnte die Idee seiner Hölle,
wie er sie nach Dante gestaltet, von einer solchen
Anlage genommen haben.
Ich glaube, der Leser wird nach dieser kurzen
Vorführung begreifen, wenn die Alexandriner jubeln
DIE NEUENTDECKTE PRACHT-KATAKOMBE VON ALEXANDRIA
115
über die Bescherung, die ihnen die Jahrhundertwende
gebracht hat und die Gelehrten erstaunt die Köpfe
schütteln. Dieser grossartige Fund will gar nicht
recht passen in die Erwartungen, die wir bei Nach¬
forschungen nach der in Alexandria heimischen Kunst
hegen. Die Metropole des Hellenismus sollte auf
Schritt und Tritt Zeugen griechischer Kunst, die ihr
Gründer Alexander an den Nil verpflanzte, liefern.
Dafür ein Grab im Pharaonenstil mit sehr beschei¬
denen Motiven aus der Antike! Es giebt einen Trost:
Kann es nicht ein Ägypter in römischen Diensten ge¬
wesen sein, der sich hier nach der Väter Sitte be¬
graben Hess? Doch auch diesen Strohhalm schlagen
uns die übrigen im Vorjahre gemachten Funde aus
den Händen. Nicht dass sie die Existenz der grossen
griechisch-alexandrinischen Kunst leugnen. Im Gegen¬
teil: es sind Gräber in schönster hellenistischer Archi¬
tektur und mit trefflichen Wandmalereien gleich denen
der entwickelten pompejanischen Dekorationskunst
gefunden worden. Aber über diesen Farbschichten
lagen andere, die wieder durchaus altägyptisch waren,
wie die Reliefs von Kom es-Schugafa. Das ist der
klarste Beweis für eine Thatsache, die ich tausendfach
beweisen, aber bisher nicht zur Anerkennung bringen
kann: Hellas, das mit Alexander d. Gr. in den
Orient tritt, zieht diesen nicht zu sich herüber.
Es wird von ihm aufgenommen, erstickt aber in seiner
Umarmung. Wohin wir im Orient — und in Rom
— den Fuss setzen, überall bröckelt die hellenische
Tünche ab und was immer deutlicher hervortritt, das
sind die Züge des alten Ahasver, des Orients, dessen
zähe Rassenkraft nicht stirbt und überall wieder zur
Geltung kommt. In der Strömung, die ich die byzan¬
tinische nenne, tritt er nach Empfang der Taufe mit
antiken Allüren wieder auf und setzt dem siechen
Rom den Fuss auf die Brust. Kom es-Schugafa ist
ein Vorbote dieses Endes in der Siegesstadt Alexander’s
des Grossen selbst.
Nachschrift: Während der Drucklegung geht mir
ein Brief von Herrn Heinrich Bindernagel zu, der
meldet: Bei den Kaibauten in der Aufouchy-Bay
ist eine sehr interessante Grabanlage aufgefunden
worden mit vortrefflich erhaltenen Malereien (Scenen
aus dem ägyptischen Totenkultus). Die archäologische
Gesellschaft wird sie veröffentlichen.« Also ein neuer
Beleg für die Verbreitung des Altägyptischen in
Alexandria!
Ahb. I. David Teniers d. J. Die Scliiifzeiigilde in Antwerpen. Petersburg, Pnnitage
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
IN DER ERMITAGE ZU ST. PETERSBURG
Von Max Rooses in Antwerpen
(Fortsetzung)
DAVID TENIERS.
ENIERS ist derjenige vlämische Meister, an
dessen Werken die Ermitage am reichsten ist,
am reichsten auch im Vergleich mit allen an¬
deren Museen. Die 38 Bilder stammen aus der
Sammlung von Malmaison, für welche sie unter den
besten aus dem Kasseler Museum geraubten Bildern
ausgesucht waren, aus der Galerie Walpole, aus den
Kabinetten der grossen französischen Liebhaber des
18. Jahrhunderts: Crozat, Choiseul, Live de joly,
Baudouin. Als sie noch in Paris waren, stach Lebas
acht davon; infolgedessen wurden sie weltbekannt.
Die meisten Motive, welche Teniers mit Vorliebe
behandelte, sind hier in einer oder mehreren Aus¬
führungen zu finden. Von seinen Bauernkirmessen
sind sechs vorhanden, worunter vier grosse, eine mit
1648 bezeichnet, eine andere mit 1652; eine
Bauernhochzeit von 1650 kann zu derselben Reihe
gerechnet werden. Dann folgen neun Bilder mit
lustigen Bauern; Männern, die Karten spielen, rauchen
und trinken. Ferner ebensoviel Bilder aus dem ge¬
wöhnlichen Dorfleben; Bauern, die einen Kauf ab-
schliessen, oder Musik machen, freien, oder Kugel
werfen; ein Arzt und eine Gruppe Zigeuner. Dann
sechs Landschaften mit Figuren, teils mit, teils ohne
Gebäude, wovon eine 1640, eine andere 1644 be¬
zeichnet ist. Von den selteneren Vorwürfen finden
wir eine »Versuchung des Antonius«, ein »Corps de
garde«, eine »Küche , bezeichnet 1646, eine »Küche
durch Affen geplündert«, ein »Seehafen^ , eine »Fami¬
liengruppe von Geistlichen« und endlich »Die Büchsen¬
schützen und Gilden auf dem grossen Markt von
Antwerpen«.
Dieses letztgenannte (Abb. 1) ist das bedeutendste
Werk von Teniers, das wir hier finden, und eins der be¬
deutendsten des Meisters überhaupt. Es ist schwierig
einzureihen und mit seinen übrigen Werken zu ver¬
gleichen, weil es ganz andere Menschen und That-
sachen bringt, wie seine Darstellungen aus dem täg¬
lichen Leben; es ist eigentlich ein historisches Ge¬
mälde, in des Meisters gemütlicher Manier und in
bescheidener Grösse behandelt. Es steht jedoch nicht
allein unter seinen Werken: Der Einzug der Erz-
Zeitsclirüt für bildende Kunst. N. F. XIII. II, 5.
herzogin Isabella zu Brüssel und zu Vilvoorde, im
Museum zu Cassel, und das Vogelschiessen des Erz¬
herzog Leopold-Wilhelm zu Brüssel, gehören zu der¬
selben Art von Bildern, welche grosse Volksfeste und
öffentliche Feierlichkeiten darstellen; auch der Floren¬
tiner Markt in der Pinakothek zu München kann
dazu gerechnet werden.
Um sich vom Volksmaler zum Historienmaler
umzubilden, brauchte sich unser Künstler keine be¬
sondere Gewalt anzuthun; an Stelle der Bauern malte
er Herren, statt der Wirtsstuben Paläste oder Bürger¬
wohnungen. Waren es vornehme oder lustige Gesell¬
schaften, er gab sie nach dem Leben wieder, mit
demselben Geschick und derselben Vorliebe für ge¬
sunde und glückliche Menschen. Das Bild in der
Ermitage veranschaulicht die Begegnung der Dekane
und des dienenden Eides- der bewaffneten Gilden
von Antwerpen auf dem grossen Markt. Das Stück
ist 1643 bezeichnet, ln diesem Jahre feierte Gode-
vaart Snyders, Dekan des Ouden Voetboogs (Armbrust),
sein Jubiläum. Das Gildehaus lag auf dem grossen
Markt; es ist das turmhohe Gebäude an der äussersten
rechten Seite des Gemäldes. Vor diesem Hause haben
sich die Hauptleute der Gilde aufgestellt und halten
mit der einen Hand die Paradelanze und in der
anderen den Federhut; hinter ihnen der Fahnen¬
träger, ein mächtiger Körper in buntem hellfarbigen
Gewände, und die Gildeboten, ihre Brust voll
Ehrenzeichen, mit köstlicher Schenkkanne und reich¬
geziertem Pokal in den Händen. Einen einzelnen
Armbrnstträger sieht man rechts; zwei der Würden¬
träger verbeugen sich ehrerbietig vor dem Jubilar,
einem schönen Greise, der mit Rührung den Glück¬
wunsch entgegenninnnt. Hinter ihm steht in langer
Reihe die Obrigkeit der Schwestergilde der Büchsen¬
schützen mit ihrem Trommler; einige Brüder feuern
ihre Gewehre ab. Weiter nach hinten drängt sich
die Volksmenge, welche das Schauspiel zu gemessen
herbeigeeilt ist. Im Hintergrund sieht man die Häuser
des Grossen Marktes, ein Stückchen der Zilversmid-
straat, das Eckhaus der Gildekamerstraat, wo der
»Jonge Voetboog« sein Zimmer hatte, und das Rat¬
haus. Durch alle Fenster sehen Zuschauer. Das
Gildezimmer des »Ouden Voetboogs ist an einem
16
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
Abb. 2. Tcniers. Die Wachtstiibe. Ermitage
der unteren Stockwerke mit farbigen Schildern geziert
und aus den Fenstern darüber werden Frendenscliüsse
abgefeuert.
Das Ganze macht einen festlichen Eindruck. In
der Mitte die würdige Schar der Dekane in Schwarz
mit weissem, glatten oder gekräuselten Halskiagen;
zur Seite rechts der Herold des »Onden Voetboogs«
in Rot, der Fahnenträger in Gelb und am änssersten
Ende vor einer Gruppe vornehmer Bürger ein Paar
allerliebste Knäbchen in Gran; der Himmel lichtblau
mit schweren weissen Wolken, die Häuser des Grossen
Marktes und der Zilversmidstraat in ruhigem Licht,
auf dem Zimmer des »Jongen Voetboogs« Schilder
auf einer roten Draperie, das Rathaus in halbem
Schatten; alles in feinem Ton, ruhig mit einigen
farbigen Flecken. Die Figuren sind sorgfältig ge¬
malt und scheinen wohl Porträts der würdigen Bürger¬
schaft zu sein; ihre Ausführung zeugt von einer
flotten, sicheren Hand.
Teniers, der Maler von Bauer und Feld, bewahrt
in diesem Historiengemälde die Gaben, die ihn in
all seinen Werken auszeichnen und seine Eigen¬
tümlichkeit ausmachen. Was er mit seinen Zeit¬
genossen und Vorgängern gemein hat, lässt sich am
besten in diesem Saale der Ermitage, wo er so vor-
züglicli und vielseitig vertreten ist, feststellen. In
den letzten Jahren hat man wiederholt versucht, ihn
für einen Schüler von Adriaan Brouwer auszugeben.
Dieser halb vlämische, halb holländische Maler war
zu lange misskannt. jetzt, als sein Malergenie zu
seinem Rechte kam, wollte man ihn auch mit einer
Schar Tributpflichtiger umgeben und an erster Stelle
wurde Teniers aufgerufen, um in dieser Reihe der
Schüler Brouwer’s Platz zu nehmen. Ein Blick auf
seine Begegnung der Gildebrüder' beweist sofort,
welch unermesslicher Abstand zwischen beiden Künst¬
lern liegt. Und in der Ermitage hängen noch so
viele andere seiner Meisterwerke, die ebenso kräftig
dafür sprechen und uns Gelegenheit geben, ihn mit
mehr Sicherheit zu beurteilen. Es befinden sich da¬
selbst auch drei Bilder, welche seinem Vater, David
Teniers den älterem zugeschrieben werden. Wir
wollen sie aber mit in Betracht ziehen.
Sie veransehaulichen einen Maler in seinem Atelier,
eine Landschaft mit arbeitenden und eine mit trin¬
kenden Bauern; im Grunde genommen unterscheiden
sie sich nicht von den Werken des jüngeren David;
solche Vorwürfe behandelte auch er und gab sie in
gleicher Auffassung und Ausstattung. Der einzige
Unterschied zwischen seinen Bildern und denjenigen,
welche unter seines Vaters Namen gehen, besteht
darin, dass die letzteren dunkler im Ton, schwer¬
fälliger in der Ausführung und geistig unbedeuten¬
der sind. Kein Handzeichen, kein Datum oder Ur¬
kunde, die uns dazu dienen könnten, den wahren
Meister zu erkennen. Man trifft ähnliche Bilder
unter dem Namen des älteren Teniers noch in an¬
deren Museen an; überall findet man dieselbe Über¬
einstimmung und dieselben Abweichungen wieder.
Hat David der ältere sie gemalt, so ist ihm sein
Sohn gefolgt und hat seine Manier aufgehellt und
verbessert. Die Zuschreibung ruht jedoch auf zu
schwacher und willkürlicher Grundlage, als dass wir
sie. ohne „weiteres, annehmen .‘i können. Teniers’ Vater
malte vielerlei Dinge; das wissen wir mit voller
Sicherheit: religiöse Bilder, Darstellungen aus dem
Volksleben, die Versuchung des heiligen Antonius
u. s. w. und sein Ton ist in diesen Bildern wirklich
grauer und seine Technik gröber. Im Dulwich-
College bei London befinden sich fünfzehn Bilder,
die ihm zugeschrieben werden. Einige davon schei¬
nen in der That von ihm ausgeführt zu sein; so
eine Landschaft mit Zigeunern, worin die Natur noch
ganz so dargestellt wird, wie Momper sie sah; Felsen,
die steil aufragen mit scharf abstechenden Farbentönen.
Das ist die Landschaft alter Schule. Der junge
Teniers wurde ihr Neuschöpfer; er machte sie na¬
türlicher, verbannte die Felsen fremder Abkunft,
ersetzte sie durch üppig gewachsene Bäume mit
mächtiger Krone und breitem Geäst, zwischen deren
Laub die Luft strömt und ein Licht spielt, das im
Vordergründe überreich ist und weiter hinten zarter
und dunstiger wird und doch ebenso wie die Farbe
dabei stets klar und weich bleibt. Er liess seine
Natur gerade so froh lachen wie seine Menschen.
Er war in seinen früheren Bildern noch dunkel und
schwer; später wurde er, mit seiner Zeit fortschreitend,
heller, sonniger und fröhlicher. Die grossen Bauern¬
kirmessen (Nr. 674 und 675), wovon die zweite vom
Jahre 1648 datiert, haben, obschon noch etwas kreide¬
artig, bereits einen viel helleren und harmonischeren
Ton als die seinem Vater zugeschriebenen Land¬
schaften (Nr. 66g und 670), worauf das starke Licht
noch scharf absticht gegen einen dunkleren Hinter¬
grund, und die wahrscheinlich Werke des Sohnes aus
seiner früheren Zeit sind. Die grosse »Bauernhochzeit«
(Nr. 677) von 1650 (Abb. 4) ist feiner und grauer
iniTon, noch etwas blassblau; die »Fröhliche Mahlzeit«
(Nr. 676) von 1654 ist in vollkommen lichtem Grau
sehr fein, sehr dünn gemalt, wie auf die Leinwand ge¬
blasen (Abb. 3). Jetzt hat der junge Teniers seine Meister¬
schaft über den Pinsel erworben und lässt dieses helle,
silberne Licht über seine Werke scheinen, das ihm
eigen ist und seine Bauernmotive so anziehend veredelt.
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
IIQ
Wer wies ihm den Weg, den er hiermit ein¬
schlug? War es Adriaan Brouwer? Gewiss nicht.
Der Maler der Bauernschänken versinnlicht mehr
Visionen als die Wirklichkeit; in schwülem, von
goldenem Dunst durchschimmerten Dämmerlicht stellt
er seine Bauernburschen dar in ihrem schläfrigen
oder wild auffahrenden Wesen. Teniers ist ganz
und gar Luft und Sonne und Frohsinn, ohne ge¬
heimnisvolle Tiefe, ohne Schwermut oder Wildheit.
Niemand that es ihm darin vor. Niemand that es
ihm nach. Er lernte vielleicht weniger von seinem
Vater als von seinem Schwiegervater, Jan Breughel,
dem Sammet- Breughel; auch dieser war ein Meister
des Pinsels, ein Feinnialer ersten Ranges; er liebt
die schöne, blühende Natur, er vertieft sich in die
Darstellung der Blumen, Waffenrüstungen und Tier¬
chen, in alles, was Farbe, Glanz und reiche Reflexe
bietet.
Vornehmlich in der Wachtstubex , 1642 be¬
zeichnet (Abb. 2), finden wir den Nachhall von
Breughel’s Kunst. Soldaten sitzen und spielen Kar¬
ten, andere Mannschaften schlagen, jede auf ihre
Weise, ihre Zeit tot, ein schöner Offizier hält
sich fein beiseite; vorne und als Hauptgegenstand
des grossen Gemäldes liegt ein ganzes Arsenal:
Waffen aller Art, ein Harnisch und eine Fahne.
So etwas würde der Schwiegervater auch gerne ge¬
malt haben, aber er hätte es netter und schärfer aus¬
geführt. Der Schwiegersohn ist weicher, geschmei¬
diger und blonder, obschon er in früheren Jahren
die kräftigen Farbentöne mehr liebte als später.
Die Zeit der Miniaturmalerei war denn auch
vorüber. Rubens war aufgetreten, durch seine Farben¬
glut und seinen Lichtglanz alles beherrschend, alles
mit sich fortreissend; van Dyck hatte gelebt und
bewiesen, wie köstlich schön das bescheidene Grau
wirkt, wie vornehm dieser stille Ton sein kann und
wie der lichte Frühling und das blasse Herbstlicht
ihre durchdringende Herrlichkeit neben der macht¬
vollen Sommerpracht behaupten. Teniers hat das
Gold des Einen und das Silber des Anderen be¬
wundert und sich zu eigen gemacht; er hat nicht
nur aus diesem Teile ihres Kunstvermögens Vorteil
gezogen, er sah von beiden ab, wie man auch in
Bildern kleinerer Dimensionen breit bleiben kann,
wie dehnbar und elastisch der menschliche Körper
ist, wie zierlich die natürlichen Gebärden in ihrer
Wahrheit und wie grossartig schön sie in ihrer
Einfalt sind; wie das Leben und die Bewegung
wahrgenommen und wiedergegeben wird. Und
Teniers ist ein Maler des Lebens; seine Bauern,
die tanzen oder rauchen und freien, sowohl wie
seine Herren, welche die Kirmess besuchen oder
einander vor dem Antwerpener Rathaus begrüssen,
leben, ihre Arme und Beine drehen sich ohne Schar¬
niere, ihre Augen strahlen, man hört ihr Lachen und
teilt ihre Freude. Die Steifheit von früher ist ver¬
schwunden, aus der Natur wie aus dem Leben; me¬
tallartig scheinen und glitzern die Menschen und
Dinge in den Bildchen von Jan Breughel und von
Hendrik van Baelen; bei Teniers und ebenso bei
Rubens und van Dyck sind die Menschen Fleisch
geworden, ist Saft ins Laub gekommen und Zittern
in die Luft. Die Kunst sich auszudrücken und die
Meisterschaft über Pinsel und Farbe sind voraus¬
gegangen. Die zwei grossen Vorgänger malen ge¬
wandt, mit Überfluss, mit Genauigkeit, alles kommt
von selbst auf seinen Platz und in seinen ent¬
sprechenden Ton; und so ist es auch bei Teniers:
das Komponieren geht ihm mühelos von der Hand
und das Malen ebenfalls. Die Figuren stehen, han¬
deln und bewegen sich, eine jede nach ihrer Art
und ihrem Sinn, dabei alle mit Schicklichkeit und
Wahrheit, einige Tüpfchen mit einem feinen Pinsel
und ihre Züge sind mit der ihnen eigentümlichen
Farbe, dem Licht und dem Leben auf die Leinwand
gezaubert. Es ist so wenig Anstrengung, so wenig
Suchen, Umhertasten und Verbessern in Teniers’
Malerei zu entdecken, dass man sie fast für ober¬
flächlich halten würde, wenn nicht die geringe Ar¬
beit, die er anwendet, die Bewunderung über die
erzielten grossen Erfolge verdoppeln würde.
Wir leugneten, dass Teniers seine Manier grössten¬
teils von Brouwer abgesehen haben soll; wir leugnen
dagegen nicht, dass er ihm wohl etwas schuldig war.
Erstens kann er den dünnen, durchscheinenden Farben¬
auftrag seines Zeitgenossen, den wir in seinen eigenen
Werken wiederfinden, bewundert und angenommen
haben. Dann das Absetzen gegen die ruhigen,
feinen Töne durch eine starke, klingende Note.
Eine rote Mütze, eine blaue Kappe, oder ein weisser
Hemdsärmel bringen in Brouwer’s Schlummer Auf¬
gewecktheit und Licht hinein; dies ist auch bei
Teniers der Fall und seine »Dorfherberge« von 1644
(Nr. 70g) ist ein Beispiel dafür. In der ruhigen,
sanft graugrünen Landschaft steht eine Schenke, vor
welcher eine Bäuerin und vier Bauern rund um einen
Tisch sitzen, die Wirtin geht in ihre Wohnung
hinein. Eine der Personen trägt eine blaugrüne
Jacke, eine andere ein weisses Hemd, eine dritte hat
eine rote Mütze in der Hand und eine vierte eine
rote Kappe auf dem Kopf; all diese leuchtenden Töne
auf dem einfachen und doch köstlichen Hintergrund
machen das fröhlichste Farbenspiel aus, welches man
sich wünschen kann und das mit wenig Stoff, aber
Abb. 3. Teniers. Vlämische Freuden. Ermitage
16*
; 20
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
viel Oesclimack und Geschicklichkeit erlangt worden
üt. Tcniers konnte ebenso bei Broiiwer die ver-
•ch"';mpelten Bäuerlein, die er öfter in seine Wirts-
siubcn setzt, kennen gelernt haben. Die gesunden.
Sehnigen, durch Sonne und Luft gebräunten Dorf¬
bewohner, mit dem breiten roten Wollenhemd um
die Lenden und der Kappe schief und keck auf dem
Kopf, unermüdlich im Tanzen, unersättlich im Trin¬
ken und unbezwinglich im Liebkosen gehören ihm;
dagegen kann er wohl die gedrückten, geknickten
und beengten Stümper, die schweigend und zitternd
an ihrem Pfeifchen schmauchen und aus ihrem
Glase schlürfen, von Brouwer übernommen haben.
den wahnwitzigen Darstellungen eines Hieronymus
Bosch und Peter Breughel. Man sieht; die Sonne
ist aufgegangen und hat den nächtlichen Spuk ver¬
scheucht. Zu dem Phantastischen in Teniers’ Wer¬
ken gehört auch Die Affenküche« (Nr. öqq), die
wir hier antreffen, ein Vorwurf, den er öfter behan¬
delte, der seinem Erfindungsvermögen entsprach und
den er mit flinker Hand und witzigem Humor
malte (Abb. 6).
Teniers hat also von vielen gelernt, er ist jedoch
in niemandes Eusstapfen bestimmt getreten; er war
ein Kind seiner Zeit, aber auch ein geborener Künst¬
ler; er wusste sich aus dem, was vor ihm geschaffen
Abb. 4. David Teniers d. J. Das Hochzeitsnuüil. Petersburg, bnnifage
Er war kein Träumer kein Schöpfer phantastischen
Lebens, wenn er auch wiederholt die Versuchung des
hl. Antonius malte. Die Ermitage besitzt auch eine
solche, (Nr. 671), sie verrät jedoch keine übergrosse
Neigung zu Phantasterei. Der Eremit sitzt betend an
einem Tisch, ein gehörntes Tierchen zeigt ihm eine
junge Dame, die auf ihn zukommt und unter deren
sammetnen Puffärmeln ein Vogelfuss und ein Schwanz
zum Vorschein kommen. Verführerisch sieht sie
nicht aus, ebenso wenig wie der Frosch, der auf
dem Skelett eines Ungeheuers reitet und die Untiere,
die einen Besen halten oder auf der Klarinette
spielen, schauerlich sind. Es ist ein unschädlicher,
fast anständiger kleiner Spuk, stark abstechend von
war, zu vervollkommnen, aber er war und blieb
originell: der gewandte Maler und reiche Kolorist,
der Neuschöpfer des Lichtes, der Sänger frohen Land¬
lebens und lustigen Getriebes - wo es auch sei -
der Bewunderer der Natur und der Verherrlicher der
Genüsse vaterländischen Bodens in all seiner Einfalt,
mit seinem Grün, seinem Licht und seiner Luft, wie
sie uns täglich erscheinen. Er war ein Bauernmaler
und doch kein bäuerischer Künstler, sondern im
Gegenteil ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle,
in seinem Leben und in seinen Werken; seine Men¬
schen sowohl wie seine Landschaften, seine Farbe und
seine Technik sind vornehm. Die Thaten, von welchen
er erzählt, sind nicht besonders nobel, aber er erzählt
Petersburg, Ermitage Teniers d. J.
Abb. 5 Pic Küche
BÜCHERSCHAU
i? ; iiik. ohne auf Anstössiges besonderen Naclidruck
zu leuer, er verschleiert sie mit dem Adel seines
'O >
CeiiU-.s und macht sie zu Äusserungen des Naturlebens,
jede Unanständigkeit auschliesst.
i/'üssten wir ein Bild in der Ermitge bezeichnen,
wo alle seine Gaben und Eigentümlichkeiten zusammen¬
gefasst sind, wir wählten seine '>Grosse Küche«
(Nr. 6g8), datiert 1646 und hier (Abb. 5) abgebildet.
Der Herr ist von der Jagd zurückgekehrt; rund um
ihn her sieht man seine Hunde, das Wild liegt noch
zerstreut auf der Erde, links kleine Vögel und Ge-
müsse mitten zwischen Töpfen und Pfannen; rechts
bieten drei Fischer ihre Ware an; einer von ihnen
ist blind und wird durch einen Koch und einen
jüngeren Gesellen zum Herrn des Hauses geleitet.
Sie bilden zu dreien eine schöne Gruppe, welche
die beiden Teile der Darstellung miteinander ver¬
bindet. Im Hintergrund hängt der Kessel über dem
Feuer und die Köche sind an ihrer Arbeit. Es ist
eins der früheren Werke des Meisters (Teniers wurde
im Jahre 1610 geboren und starb 1690), aber er
ist bereits vollständig gereift; er malt alles, was
er will, mit unübertroffener Gewandtheit; Fische,
Vögel, Küchengerät, die Menschen und die Räume,
worin sie sich bewegen, worin sie leben und handeln,
alles natürlich und geschickt. Der weite Raum hat
lichtgraue Farbentöne; in kühler, aber fein silbriger
Helligkeit schwimmt die ganze Darstellung, ein Paar
weisse Glanzlichter, einige helle, fröhliche Lichtpunkte,
eine rote Jacke und ein blaues Wams als lebendige
Töne. Herr und Knecht sind zusammen abgebildet,
alle genau gesehen und alle vornehm; die tote Natur
und die lebenden Personen nehmen jeder seinen
Teil im Bilde ein. Weder beeinträchtigt die schöne
Ausführung des Leblosen den höheren Rang, den
die Menschen behalten müssen, noch schadet der
Trieb, dekorativ zu arbeiten der Forderung, wahr zu
bleiben.
Abb. 6. David Teniers d. J. Die Affenkiiche. Petersburg, Ermitage
BUCHERSCHAU
Adolf Philippi, Kunstgeschichtliche Einzeldarstel¬
lungen. 5. und 6. Band. E. A. Seemann, Berlin und
Leipzig. iQOo/iQoi.
Von den Kunstgeschichtliclien Einzeldarstellungen«
habe ich hier gesprochen, als die vier ersten Bände er¬
schienen waren. Erstaunlich schnell sind zwei — eigent¬
lich drei -- Bände hinzugekommen. Das Werk ninfasst
jetzt ziemlich das ganze Gebiet, dem die kunstgeschicht¬
liche Teilnahme weiterer Kreise zngewendet ist. Im
5. Bande wird von Rubens, van Dyck und den anderen
vlämischen Malern des 17. Jahrhunderts gesprochen. Der
6. Band, der die holländische Malerei schildert, zerfällt in
zwei Bücher, von denen das erste den beiden grössten,
Erans Hals und Rembrandt gewidmet ist, das zweite den
»Landschaftern und Kabinettsmalern«. Die Kunst des
klaren Disponierens, die auf der freiesten Uebersicht über
das vielfältige Material beruht, bewährt der Verfasser
namentlich in diesem 6. Bande, indem er die vielen Per¬
sönlichkeiten der holländischen Maler ohne Ängstlich¬
keit lind Pedanterie, doch in wohlgeordnetem Zuge auf-
treten lässt. Das überragende Genie Rembrandt’s und die
weithin Leben spendende Kraft des Frans Hals helfen zu
BUCHERSCHAU
123
der erwünschten Gliederung. Die kleineren Meister er¬
scheinen ast- und zweigartig an den Hauptstämmen. Das
Gewimmel der relativ unabhängigen Maler in dem 2. Buche
zu schildern, war besonders schwierig. Bald den Orts¬
zusammenhang betonend, bald nach den Darstellungsgat¬
tungen gruppierend, wahrt Philippi auch hier die schönste
Übersichtlichkeit.
Zum Lobe des Textes müsste fast alles wiederholt
werden, was hier über die vier ersten Bände gesagt wurde.
Viel ist überall der sorgfältig benutzten Litteratur ent¬
nommen, aber niemals ist das Urteil direktes, verschleiertes
oder unbewusstes Citat, sondern stets unmittelbar aus
der Betrachtung der Kunstwerke geschöpft. Nicht ad
hoc während der Arbeit zusammengeraffte Galerienotizen,
sondern behagliche Studien in den Gemäldesammlungen,
die sich Selbstzweck waren, haben dem Verfasser die um¬
fassende Anschauung verschafft, die er mit pädagogischer
und schriftstellerischer Gewandtheit dem Leser niitteilt.
Da eigenes Urteil überall den Verfasser leitet, so werden
auch die wenigen Lücken in seiner Vorstellung deutlich
bemerkbar. Was ein Kompilator gesehen hat an Kunst¬
werken und was er nicht gesehen hat, ist ziemlich gleich¬
gültig. Philippi, der durchaus kein Kompilator ist, kennt
die englischen Sammlungen nicht so gut wie die deutschen.
Wohl weiss er vortrefflich Bescheid und citiert die Schätze
der englischen Galerien (übrigens die schönste Landschaft
Brouwer’s und die bedeutendste Landschaft Rembrandt’s
nicht), aber man merkt sogleich, wo er citiert und wo er
mit dem Bilde vor Augen spricht. Soweit die Galerie-
studien des Verfassers reichen, das heisst im wesentlichen,
soweit der reiche Bestand an niederländischen Gemälden
in deutschen und niederländischen Galerien reicht, ist sein
Urteil ebenso warm wie streng, ebenso anpassungsfähig
wie sicher. Wie klar wird zum Beispiel unterschieden
zwischen der reichen Kunst Brouwer’s und der geringen
Gestaltungskraft des berühmten Teniers. Die Schilderung
ist überall voll von treffenden Ausdrücken, die Gesehenes
deutlich bezeichnen. Ich glaube nicht, dass es eine ebenso
angenehm und sicher belehrende, auf das Wesentliche
im Kunstwerk hinweisende kunstgeschichtliche Darstellung
giebt wie Philippi’s Werk. M.J. F.
Paul Weber, Beiträge zu Dürer’s Weltanschauung.
Heft 23 der »Studien zur deutschen Kunstgeschichte«.
Strassburg bei E. Heitz, igoo. Mit 4 Lichtdrucktafeln
und 7 Textbildern.
Weber’s interessante und vielfach überzeugende Studie
ist jenen drei berühmtesten Kupferstichen Dürer’s ge¬
widmet, die als »Ritter, Tod und Teufel«, als »Melancholie«
und als »Hieronymus im Gehäus« ebenso allgemein be¬
kannt und gefeiert als schwierig zu deuten sind. Die letzte
Auslegung, die inzwischen viel Beifall gefunden hat, gab
vor acht Jahren F. Lippmann: darnach soll Dürer bei der
Konzeption dieser Stiche von jener scholastischen Drei¬
teilung der menschlichen Tugenden in verstandesmässige,
moralische und theologische ausgegangen sein, einer Drei¬
teilung, welche durch die Margaritha philosophica des
Freiburger Kartäuserpriors Gregorius Reisch eine fast
kanonische Geltung erlangte und diese bis in die Neuzeit
behauptet hat. Dass diese Lippmann’sche Deutung den
Vorzug verdient vor jener älteren, die in den (3) Stichen
die (4) Temperamente erkennen wollte, leuchtet ohne
weiteres ein. Aber Weber weist nach, dass zwar die
meisten Beigaben auf der »Melancholie« sich vortrefflich
aus der Charakterisierung der intellektuellen Tugenden,
wie sie bei Reisch gegeben wird, deuten lassen, dass aber
zwischen den zwei anderen Stichen und den virtutes
morales und Iheologicales Reisch’s ein wirklich zwingender
Parallelismus nicht auffindbar ist. Dazu kommt, dass Dürer
selbst, wie Weber überzeugend darthut, die drei Stiche gar
nicht als eine zusammengehörige Einheit betrachtet wissen
wollte: Hieronymus und Melancholie sind ihm allerdings
Pendants, aber der »Reiter« geht für sich.
Was nun ferner die Idee dieses christlichen Ritters
betrifft, so soll sie Dürer bekanntlich nach H. Grimm’s
ansprechender Vermutung dem Enchiridion militis christiani
des Erasmus verdanken. Aber Weber weiss es im höchsten
Grade wahrscheinlich zu machen, dass dieser Gedanke
schon lange vor Erasmus ein weitverbreiteter war, dass die
deutsche Mystik ihn längst volkstümlich gemacht hatte,
ehe Dürer und Erasmus, jeder in seiner Weise, ihm seine
klassische Gestaltung gaben. Es gereicht dieser Darlegung
zu einer kräftigen Bestätigung, dass Weber auch künst¬
lerische (nicht bloss litterarische) Vorläufer des Dürerstiches
nachzuweisen vermag. Die eine dieser Darstellungen, in
einer Schrift von 1494, betitelt »der Fusspfadt tzuo der
ewigen seligkeyt«, zeigt in der That eine überraschende
Ähnlichkeit mit Dürer’s Reiter. Die andere, ein Holzschnitt
von 1488, ist dem Gedanken, nicht der Komposition nach,
mit dem Reiter nahe verwandt. (Der Holzschnitt führt
sich selbst als »Spiegel der Vernunft« ein; warn 1 Weber
sich an eine Pilgerflasche und nicht vielmehr an einen
runden, an Schnüren hängenden Spiegel dabei erinnert
fühlt, ist mir unverständlich geblieben.)
Die Melancholie und den Hieronymus hat wie gesagt
Dürer selbst als Gegenstände aufgefasst und nicht weniger
wie sechsmal zusammen verschenkt. Dass er auf den
beiden Stichen den uralten Gegensatz zwischen geistlichem
und weltlichem Wissen, zwischen Theologie und profaner
Gelehrsamkeit hat darstellen wollen, daran wird nach
Weber’s Darlegungen kaum mehr zu zweifeln sein. Trotz¬
dem bereitet die Melancholie der Deutung im einzelnen
noch erhebliche Schwierigkeiten. Sehr richtig bemerkt
Weber, dass die Geräte, die auf dem Stiche die sinnende
Frau umgeben, als Abzeichen der sieben artes liberales
allein sich nicht befriedigend erklären lassen. Offenbar
sind ausserdem noch die sieben mechanischen Künste, die
das hohe Mittelalter zur Ergänzung den freien Künsten an
die Seite stellte, in Betracht gezogen worden. So weit
kann man Weber’s Beweisgang nur gutheissen. Aber wenn
er nun versucht, diese 14 verschiedenen menschlichen Thä-
tigkeiten samt und sonders in den Attributen der Melan¬
cholie wiederzuerkennen, so geht es dabei ohne erhebliche
Gewaltsamkeit nicht ab. Warum z. B. die eine Glocke
nicht die Musik soll bezeichnen können, sehe ich nicht
ein; auch die Frau Musika in der Vorhalle des Freiburger
Münsters begnügt sich mit einer einzigen Glocke. Aber
Weber hat auch eine Erklärung für dies Fehlen der Musik
bereit: sie kann unter den Attributen der Melancholie seines
Erachtens schon deshalb nicht aufgeführt werden, weil sie
nach Dürer’s eigensten Worten das beste Mittel gegen die
Melancholie ist. Ich gestehe, dass mir dies zu fein ist,
um es zu glauben. Dagegen wird der schreibende Engel¬
bub sehr glücklich von Weber mit der Grammatika in
Zusammenhang gebracht. Ob freilich das Tuch, das der
Engel sich auf den Mühlstein gebreitet hat, die Kunst der
Weberei zu bedeuten habe, ist mir dann wieder zweifel¬
haft. Und soll denn wirklich der kleine Gegenstand, der
rechts vorn neben den Nägeln am Boden liegt und am
ehesten ein Bohrer sein könnte, eine Klistierspritze und
somit die Medicin vorstellen? Dürer war doch nicht
zimperlich, der hätte dies Gerät, wenn er es brauchte,
gewiss in leibhaftiger Grösse und unzweideutig dargestellt.
Den grossen »Krystallkörper« endlich, der so preislich die
linke Bildhälfte beherrscht, möchte Weber mit der von
124
BÜCHERSCHAU
Dürer so Iiocl’goschälzten Kunst der Perspektive in Zii-
sainmei-' '' ■■g bringen. : 4e;- iisik also soll er ansgelassen
und il. ■: nei e Ke lot, die unter den 14 kanonischen sich
^n-.' : eingeschaltet haben! Wer mag, wo
-<: '.V ;ii- ib liclik- i:.-n Zutritt haben, noch an Diirer’s
ä; = . !i- ' . i b vv'bisenbsiUgkcit glauben? Er war eben hier
b nrij . spaltender Malerpoet. Auf tadellose
: V ■ ' A.iiibute kam es ihm sicher nicht an,
- n ■ ■:'-e r profanen Gelehrsamkeit schuf: er
. r. s ;Im' n / Uributen an, was ihm passte und gut ins
ki nni ^echr war hilligerweise von einem Künstler
vcii; -gen.
i.u dem Krystallkörper , der sich auf dem Stich so
’ireit macht, sei noch eine Bemerkung gestattet. Peter Apiatnis
in seinem Instnimcntenbnch von 1533 stellt auf dem Titel¬
blatt zwei Astronomen dar, die Himmelsbeobachtimgen an¬
stellen (s. dieAbb.); neben dem einen steht ein regulärer
Ikosaeder, neben dem andern ein Dodekaeder. Die beiden
Körper haben die Höhe eines Tisches, sind also von der¬
selben Monumentalität wie der Rhomboeder auf Diirer’s
Stich. Zunächst hat es den Anschein, als dienten die
Körper den Astronomen als Messtische zum Einzeiclinen
ihrer astronomischen Messungen. Aber wir wissen nicht,
dass man dafür solche Polyeder verwendete, und es hält
auch schwer, einen vernünftigen Zweck auszusinnen, den
das gehabt haben könnte. In dem Instiumentenbuch
Apian’s wird, so weit ich sehe, nirgends auf diese Polyeder
des Titelblattes Bezug genommen. Sie sind also wohl
weiter nichts als Embleme und wollen nur den mathe¬
matischen Charakter des Buches gleich auf dem Titel ver¬
künden helfen. Und dieselbe Bedeutung wird auch für
Dürer’s abgestumpften Rhomboeder in Anspruch zu
nehmen sein.
Aber wie kam man dazu, gerade solche Polyeder als
mathematische Embleme zu verwenden und in so an¬
spruchsvoller Grösse aufzupflanzen, wie Dürer und Apian
es thun? Die Antwort darauf muss die Geschichte der
Mathematik uns geben. Wie mein hiesiger Kollege Ber¬
gold mir versichert, spielte das Problem der regelmässigen
Polyeder im 16. Jahrhundert eine erhebliche Rolle. Dürer
selbst hat in seiner Underweysung der Messung« die
Netze zu fünf regulären Körpern gegeben, desgleichen zu
acht anderen, so alle »in einer holen kugel mit all iren
ecken anrüren«. Er hat darauf ausserordentlich viel
schönen Platz in seinem Buche verwendet: die Sache war
damals offenbar von aktuellem Interesse.
Wenn Dürer nicht einen regulären Körper, sondern
das sehr komplizierte Gebilde eines Rhomboeders mit ab¬
geflachten Polen in seinen Stich aufnahm, so mag bei
dieser Wahl allerdings die Schwierigkeit, die ein solcher
Körper für das perspektivische Zeichnen bietet, mitbestim¬
mend gewesen sein. Aber in erster Linie wird das Em¬
blem wie bei Apian ein mathematisches sein sollen, und
jedenfalls bietet das Titelblatt des letzteren ein lehrreiches
Analogon zu der uns Heutigen so auffallenden Grosse des
Dürer’schen Polyeders dar.
Ich kehre zu Weber’s Studie zurück. So wenig mich
manche Einzelheit in seiner Schrift befriedigt, so vollständig
hat er mich in allen Hauptsachen überzeugt. Vor allem
scheint er mir erwiesen zu haben, dass Dürer in seiner
Melancholie mit ihrem Kranz von weltschmerzlichem
Bittersüss ganz modern jene Schwermut darstellen wollte,
die uns erfasst, wenn alle weltlichen Künste und Fertig¬
keiten uns doch nicht befriedigen können. »Es ist uns
von Natur eingegossen,« sagt Dürer selbst an einer Stelle
seiner theoretischen Schriften, »dass wir gern viel wüssten,
dadurch zu bekennen eine rechte Wahrheit aller Dinge.
Aber unser blöd Gemüt kann zu solcher Vollkommenheit
aller Kunst, Wahrheit und Weisheit nicht konrnren.«
Zunr Schluss noch eine persönliche Bemerkung. Weber
ist so gütig, einen Aufsatz, den ich über »die sieben freien
Künste in der Vorhalle des Freiburger Münsters« in der
Zeitschrift des Breisgauvereins Schauinsland veröffentlicht
habe, wiederholt zu eitleren; aber wenn er auf S. 52 an¬
lässlich eines Blattes aus dem Hortus deliciarum der
Herrad von Landsperg bemerkt: »Es ist eine ansprechende
Vermutung Baumgarteir’s, dass in dieser Federzeichnung
vielleicht die Nachbildung eines bemalten runden Tisches
erhalten ist, wie sie in karolingischer Zeit beliebt waren,«
so thut er mir damit entschieden der Ehre zu viel an.
Nicht von mir stammt dieser Vorschlag, sondern von
j. von Schlosser. Ich billige ihn übrigens auch nicht, halte
es vielmehr mit Straub, der sich durch das Bild der Herrad
an ein romanisches Rundfenster erinnert fühlte.
Freiburg i. B. FrUz Baumgarten.
Titelblatt za Apian’s Instramentenlnich
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von ERNST Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
\
DER WINTER. ORIOINALLITHOQRAPHIE
VON FRANZ HEIN IN KARLSRUHE O O
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST.
N. F. XIII. FEBRUAR O o O O O
1
V
m-
PAUL NEU EN BORN
der Kunst an sich vertieft. Wäre der Eifer weniger
stark, so könnte man wohl erwarten, dass sich einmal
ein Beflissener der Kunsthistorie auch der Frage zu¬
wenden werde, welchen Einfluss die jeweiligen all¬
gemeinen Anschauungen auf die Darstellung und
Verwendung der Tiere ausgeübt haben. Es ist nicht
ohne Reiz zu sehen, wie weit oft die künstlerische
Tierdarstellung der Wissenschaft an Objektivität der
Schilderung vorausgeilt ist oder wie eine kindliche ,
unreale Anschauung ein phantastisches Schalten mit
den Tierformen begünstigt; religiöse wie dekorative
Überlieferung begünstigten die Typenbildung; bald
stecken in den Tieren Götter, bald haben sich in sie
Dämonen geflüchtet. Bewusstes und Unbewusstes
wirkt hier, oft recht schwer unterscheidbar, ein. Selbst
in subjektiven, jüngeren Zeiten sind die Strömungen
deutlich zu unterscheiden. Merkwürdig lange hat
sich die Rousseau’sche Sentimentalität forterhalten.
Der englische Tiermaler Landseer giebt dafür ein
Beispiel. Sein Stern stand am höchsten, als der
Darwinismus bereits die Welt eroberte und mit ihm '
die Erforschung und Beobachtung der Tiere eine
zuvor nicht geahnte Genauigkeit, Ruhe und Vor¬
urteilslosigkeit erlangte. Während die Wissenschaft
sich befreite, blieb die Kunst vorerst dabei, die Tiere
vorzugsweise für rührende Erzählungen zu gebrauchen ;
während die Biologen bemüht waren, alle anthropo-
halten, schwelgte die bil¬
dende Kunst — allerdings
mit einigen recht beträcht¬
lichen Ausnahmen, wie etwa
Menzel — noch darin, den
Tieren recht viele mensch¬
liche Tugenden und Laster
unterzulegen. Das scheint
sich bei derTierbildnerei auf
allen Gebieten endlich in
neuerer Zeit ändern zu wol¬
len. Kann auch die bil¬
dende Kunst nie darauf ver-
126
PAUL NEUENBORN
7
»i-
'7^~
'‘^7.
zichten, Tiere als Symbole
zu gebrauclien oder durch
sie menscliliche Schwächen
zu verspotten, so bemerkt
man doch deutlicher da und
dort ein Streben nach Unter¬
drückung aller subjektiven
Absichten, nach rein thatsäch-
licher Schilderung des Tieres.
Diese Richtung erfasst das
Tier als Individuum in seiner
eigentümlichen Bildung inner¬
halb seiner Art, unterscheidet es von den Genossen nach Bau,
Zufälligkeit, Farbe. Die Richtigkeit nimmt zu, wie man z. B. an
Fremiet’s Arbeiten sehen kann. Aber auch darüber hinaus wird
die Darstellung zum Träger künstlerischen Ausdrucks wie etwa
bei den herrlichen, von Leben zuckenden Zeichnungen Swan’s.
Dabei tritt ein Umstand hervor: die exotischen Tiere überwiegen
vor den einheimischen, und darauf sind sicherlich die Zeitumständc,
wie die erleichterte Beschaffung schöner Exemplare aus fernen
Ländern, das allgemeine Interesse für die überseeische Wunderwelt
u. a. nicht ohne Einfluss gewesen.
V^on den Arbeiten eines deutschen Künstlers, der auf eignen
Pfaden sein Ziel gefunden, zeigt dieses Heft einige Proben und
verkleinerte Abbildungen farbiger Blätter. Paul Neiienborn ist
in Stolberg (Rheinland) im Jahre i866 geboren und studierte in
Düsseldorf. Die schöne Gartenstadt besitzt zwar auch einen
seit alters berühmten Tiergarten. Aber die Richtung der dortigen
Akademie war zu keiner Zeit so geartet, dass sie junge Künstler
auf das reiche Feld hingewiesen hätte, das sich den Studierenden
gerade im Tiergarten bietet. Deshalb hat auch Neuenborn sich
während seiner Studienjahre nicht mehr als irgend ein anderer
zum Zoologischen« hingezogen gefühlt. Er erlernte in Düssel¬
dorf die Subtilitäten des Handwerks, erwarb sich ein beträcht¬
liches anatomisches Wissen, zeichnete und bemühte sich um
das Malen, soweit dies die Einrichtungen der Akademie nicht
erschwerten. Ein offener Sinn für das Grosse und Tragische
machte ihn nicht bloss zum schwärmerischen Verehrer des
Klassischen, sondern führte ihn auch zu erhabenen Stoffen
und man sollte es kaum glauben: die erste grössere, selb¬
ständige Arbeit dieses prädestinierten Tierschilderers war eine
Erweckung des Lazarus. Ja, dieses religiöse Bild besass
doch so viele Qualitäten, dass sich ein Engländer fand, der
das Bild nach Liverpool entführte, um einem Saale seines
Schlosses erhöhte Weihe zu geben. Aber zum Malen von
Heiligenbildern war Neuenborn doch nicht der rechte Mann.
Ein scharfer Beobachter menschlicher Thorheiten, drängte es
ihn, sich teils mit gutherzigem Humor, teils in bitterer
Ironie über die Dummheit und prahlerische Rechthaberei,
die Selbsttäuschungen und Modenarrheiten in einer Reihe
von Zeichnungen auszusprechen. Meist aber lacht aus diesen
parodistischen Blättern ein behaglicher Witz, der sich oft
nicht gleich auf den ersten
Blick verrät. Da dabei häufig
Tiere eine Rolle spielten, sah
sich Neuenborn veranlasst,
ernsthafte Studien nach diesen
zu machen und nachdem
er einmal im zoologischen
Garten zu Düsseldorf stu¬
dierend vor den Affen, Ma¬
rabus und Tigern, Flamin¬
gos, Straussen und Peli-
kauen gesessen, hatte ihn diese
) Welt in Besitz genommen.
'' Mit einem wahren Feuereifer
warf er sich auf das neue
Feld, auf dem der im Jahre
\ 1
Ni”
! -
Nach einer Lithographie von Paul Neuenborn
'28
l’AUL NEUENBORN
iSgfi nach München übergcsicdelte Künstler nunmehr
seine eigenlliche Thätigkeit gefunden hat. Wie ein
anderer Wiesen und Wälder nach neuen Motiven
durchstreift, so sieht mau ihn in den Tiergärten von
Käfig zu Käfig wandern und mit Kohle oder farbigem
Stift vor diesen merkwürdigen Geschöpfen Studien
machen. Eine fast naturwissenschaftliche Genauigkeit
gilt ihm als Vorbedingung, aber nicht als Ziel. Wie
traurig wäre auch eine Tierbildnerei, deren grösste
Ereude die Richtigkeit ist! Es liegt Nenenborn weit
mehr daran den malerischen Reiz, den so leicht zu
verfehlenden Ausdruck der Tiere in Ruhe und Leiden¬
schaft, das Spiel ihrer Muskeln, das Glänzen eines
Felles, den Zauber eines Gefieders und ähnliches fest-
znhalten. Noch ist das Zeichnerische bei ihm über¬
wiegend, aber in seinen späteren Blättern sucht er
bereits mit Absicht das Malerische in den Vorder¬
grund zu stellen. Nenenborn hat nur wenige Tier¬
bilder in Öl gemalt. Die Lithographie ist gegen¬
wärtigsein bevorzugtes Ansdrucksmittel. Erbeherrscht
ihre Technik in trefflicher Weise und bekundet inseinen
Blättern feinen Geschmack und einen Sinn für gewisse
grosszügige dekorative Anordnung, durch welche seine
Lithographien mit Recht eine grosse Beliebtheit als
vornehmer Zimmerschmnck erreicht haben. Dekorativ«
natürlich nicht im altmodischen Sinne eines schlude¬
rigen oberflächlichen Hinwühlens, sondern im Sinne
einer einheitlichen wirksamen Linienführung und ein¬
drucksvoller Fleckwirkung. Nenenborn liebt es, in
der Mitte seiner Blätter das dargestellte Tier in seiner
Umgebung oder in einem besonderen Momente als
Hauptbild zu zeigen und dieses mit einem Rahmen
von Studien des nämlichen Tieres in allen möglichen
charakteristischen Wendungen und Einzelheiten zu
geben. Mag sein, dass dadurch der Eindruck des
Hanptbildes zuweilen gestört wird; sicher aber ist,
dass man hierdurch von dem Individuum des Mittel¬
bildes aufs genaueste unterrichtet wird und - was
künstlerisch weit wichtiger ist - dass wir auf diese
Weise einen Blick in die Art von NenenboriTs Stndien-
art erlangen und bemerken, dass der Künstler nicht
bloss blitzschnell vorübergehende Bewegungen zu er¬
fassen versteht, sondern auch über einen Strich von
zuweilen entzückender Frische gebietet. Um die
Raschheit dieses Blickes und Striches könnte unseren
Künstler oft ein Japaner beneiden. Nenenborn’s Litho¬
graphien exotischer Tiere gehören zu den charakte¬
ristischen Erscheinungen der zeitgenössischen Tier¬
bildnerei, in die Reihe der Zeichnungen SwaiTs und
der Plastiken eines E. M. Geyger, Fremiet und Gaul.
K. MAYR.
Nach einer Lithographie von Paul Nenenborn in München
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
Die Berichte des in Dresden abgehaltenen soge¬
nannten Kunsterziehungstages sind erschienen,
ein kleiner handlicher Band von 217 Seiten,
der die hauptsächlichen Äusserungen der Sprecher der
Versammlung enthält. Es scheint den Aufgaben dieser
Zeitschrift entsprechend, auf die Erörterung der be¬
handelten Frage einzugehen. Vorab möchten wir
bemerken, dass das Wort Kunsterziehung, das jetzt
allenthalben sich einnistet, uns undeutlich und un¬
richtig dünkt. Zwar dass nicht etwa die Kunst er¬
zogen werden solle, fühlt jeder sogleich: aber dass
durch Kunstwerke eine Erziehung bewirkt werden
solle, ist doch nicht ohne weiteres offensichtlich. Man
könnte an eine Naturerziehung im Sinne RousseaiTs
als Gegensatz zur Kunsterziehung denken. Warum
sagt man denn nicht einfach, wie vor mehr als hun¬
dert Jahren Schiller, ästhetische Erziehung? ja, so!
Die Menschen von heute, die das Dokumentarische
über alles lieben, wollen mit der Ästhetik nichts zu
thun haben; es ist ein diskreditierter Begriff. Aber
Konrad Lange betont in seinem an jenem Tage vor¬
getragenen Bericht über die Vorbildung der Lehrer auf
den Universitäten man möge die Professur der Kunst¬
geschichte nicht mit historischen, philosophischen (?)
oder mathematischen Professuren verquicken, sondern
es sei die Kunstgeschichte mit der Ästhetik zu ver¬
binden — was ja neuerdings geschieht durch Schmar-
sow, Wölfflin u. a. Also nehme man nur das alte
bezeichnende, wenn auch fremdartige Wort wieder
auf: was wir wollen, ist ästhetische Bildung, insofern
unter ästhetisch die geschulte Empfindung und unter
Bildung die Förderung der geistigen Funktionen, die
keine Anlage vernachlässigt, verstanden wird. Wir
wollen wieder einmal dasselbe, was der Philosoph
Friedrich Schiller für die Menschheit als höchstes
Ziel aufstellte: Totalität, Vielseitigkeit, modernes Grie¬
chentum, weil nur durch diese Glückseligkeit, soweit
sie auf Erden denkbar ist, herbeigeführt werden kann.
Dass der ästhetische Mensch zugleich auch der mora¬
lische sei, zeigt Schiller fein und tief. Sein Name,
seine Schrift wurde meines Wissens auf dem Kunst¬
erziehungstage gar nicht erwähnt. Warum nicht? Ist
er überholt? Gewiss nicht; aber wer liest heute
Schiller! Man braucht nur ein paar Seiten, etwa nur
den Schlussbrief zu lesen und dann in dem Bericht
der Dresdner Tagung ein paar Stichproben aufzu¬
nehmen, um sofort inne zu werden, welch ein Ab¬
stand sich hier zeigt. Die Besten der deutschen Nation
waren vor hundert Jahren theoretisch viel weiter, als
die Kunsterzieher von heute. Die Seelen waren da¬
mals viel reicher, vielseitiger, elastischer als heute; der
Gesichtskreis war zwar im ganzen etwas beschränkt,
aber es war doch fast ein Kreis, der noch von fern
an den griechischen Götterkreis erinnerte. Wir Heutigen
haben weit mehr Schnelligkeit und Fernwirkung,
aber — leider! nur nach einer Seite, nach einem
Achtel oder Zwölftel des Bildungskreises. Nur das,
was mit dem Broterwerb zusammenhängt, wird mit
Energie betrieben; alle anderen Gebiete können wir
nur eben berühren. So muss man die Menschheit,
wenn man sie ganz vor sich haben will, mehr noch
als zu Schiller’s Zeiten aus lauter Bruchstücken zu¬
sammensetzen.
Es ist ganz natürlich , dass man an die Kinder
denkt, wenn man nun wieder ganze oder wenigstens
halbe Menschheit statt Achtels- oder Zwölftelsmenschen
haben will. Denn was einmal verkümmert und ver¬
trocknet ist, lässt sich schwer wieder mit Saft und
Leben füllen: und im Alter lernt man ungern mehr,
weil man das Gehorchen aufgiebt. Das Kind aber
ist bestimmbar nach allen Richtungen und was wäre
der ganzen Menschheitsidee förderlicher, als die Be¬
schäftigung mit Kunstwerken, die ja stets eine geistige
Einheit, eine Persönlichkeit voraussetzt, mögen diese
Werke nun hervorgebracht oder nur genossen werden?
Die ästhetische Bildung würde weit rascher ge¬
fördert werden können, wenn bei dieser Bewegung
nicht allerhand Unterströnumgen vorhanden wären,
die kleinere oder grössere Wirbel erzeugen und die
Kraft des Stromes an verschiedenen Punkten hemmen.
Ja, wäre jeder Einzelne von der Idee durchdrungen,
den Nebenmenschen, besonders den Werdenden, die
reine Freude an der bildenden Kunst zu vermitteln,
etwa in dem Sinne Schillers! Aber da mischen sich
so mancherlei Egoismen hinein, die der Aufhorchende
wie einen Beigeschmack, wie einen dumpfen Nebenton
spürt. Der Eine möchte sein persönlich erworbenes
Kunstideal als Kanon aufstellen; der Andere will un-
1 '-iü
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
bec|iieiiie Beeinflussungen mit dem Ellenbogen be¬
seitigen, der Dritte will sich bemerklich machen um
äusserlidien Lohnes willen; wo bliebe das ans bei
grossen Versammlungen! Es hemmt aber sehr die
reine Erkenntnis dessen, was zu thun ist.
Die erste Frage, die bei der Diskussion über die
ästhetische Bildung der Kinder anftaucht, ist die: Sollen
wir die Lust am Schönen bei den Kindern wecken?
Ist es nicht zu früh für die keimenden Seelen, wenn
wir neben das leichte Kinderspiel gleich das ernste,
das ganze Ich in Anspruch nehmende Kunstspiel auf¬
pflanzen? Wird dadurch nicht Zerstreuung befördert,
Arbeits- und Denklust, Stetigkeit der logischen Be¬
schäftigung vermindert? Jeder Erzieher weiss, dass es
Genüsse giebt, die man Kindern vorenthalten soll.
Alle Rauschmittel, die die Nerven reizen, das Blut
erhitzen, sind verpönt; sie schädigen das Wachstum
und hemmen die normale Entwickelung der Nerven-
thätigkeit. Der Mensch, mitten hineingestellt zwischen
Tierheit und Gottheit, zwischen Arbeit und Genuss,
dem nur Regen und Sonnenschein, Tag und Nacht,
nicht eins allein, frommt, soll er schon als Knospe
den dionysischen Rausch, den jedes Kunstwerk er¬
zeugen kann, empfinden lernen? Geschieht das nicht
etwa auf Kosten seiner Arbeitslust, seiner späteren
Konzentrationsfähigkeit, seiner Genusskraft? Wird der,
der vorzeitig ins Allerheiligste der Kunst geführt wird,
nicht die Inbrunst, die Andacht, die Sehnsucht ver¬
lieren, die das Entstehen jedes echten Kunstwerkes
begleiten muss und die die Voraussetzung des echten
Kunstgenusses ist? Ist nicht Gefahr vorhanden, dass
der allzubec|uem dargebotene Kunstgenuss die Wesen
vor der Zeit seelisch reift, ehe sie körperlich reif sind,
dass sie später stumpf und blasiert werden und als
Erwachsene mit den Nerven eines Greises die kreisen¬
den Erscheinungen betrachten? Man hat Exempel,
dass Kinder, denen in früher Jugend alle Freuden
des Lebens offen stehen, die Konzerte, Theater
eifrig besuchen, Gelage veranstalten und dergleichen,
die den Sinnenreiz, die Wollust des Daseins früh¬
zeitig durchkosten, später von einem schrecklichen
Pessimismus, ja Cynismus befallen werden, dass sie
nicht mehr geniessen können, weil ihnen die Sehn¬
sucht abhanden gekommen, verflogen ist und die als¬
dann wunderliche perverse Genüsse aufsuchen, nur
um das Gefühl der Leere zu betäuben, jene entsetz¬
liche Öde, die wir in Zeiten allzu üppiger Kultur auf-
treten sehen? Denn darüber ist kein Zweifel, dass
nie ein dauernd wirkendes Kunstwerk entstand ohne
jene tiefe Sehnsucht nach Verkörperung, ohne den
Rausch der endlich befriedigten Gestaltungslust, und
dass ohne jene Sehnsucht im Beschauer das Kunst¬
werk nie im Sinne des Schöpfers wirken kann.
Diese Fragen wurden bei Gelegenheit des Kunst¬
erziehungstages kaum gestreift; alle schienen damit
einverstanden, dass den Kindern der Kunstgenuss
fromme und daher darzubieten sei. Nicht spartanische,
sondern athenische Erziehung scheint angemessen, und
eine mässige Lust am Schönen, am Wohlgeschmack,
soll den Kindern gegönnt werden.
Darüber aber war man sich auch klar, dass nicht
jede Art und jedes Mass von Kunst den Menschen¬
knospen angemessen sei. Hier treten nun die Fragen
auf: Wieviel und welche Kunst sind dienlich? Da
heisst es dann zuerst: Die moderne Kunst, die noch
um Anerkennung ringt, sollte nicht in die Schulklasse
eingeführt werden. Nur die anerkannten Meister des
19. Jahrhunderts dürfen die Freunde der modernen
Kunst für die Schule fordern; zu weiterem haben sie
kein Recht, das wurde von Professor Lichtwark, dem
Führer der Bewegung, ausdrücklich betont.
Einer der trefflichsten und massvollsten Berichte
jener Tage war die Erörterung des Lehrers R. Ross
aus Hamburg über das Kinderzimmer. Was hier über
den Zusammenhang des Spiels mit der Kunst gesagt
wird, die Warnungen vor Überspannung, der vor¬
sichtige Hinweis auf die echte Kinderkunst, die im
guten Bilderbuche niedergelegt ist, verriet den tüch¬
tigen Pädagogen, der die Frage auf Grund der besten
Autoren geprüft und reiflich erwogen hatte. Allein
der Bericht brach gerade da ab, wo das Interessan¬
teste kommen, wo aus dem Allgemeinen das Beson¬
dere herausgehoben werden sollte: die rechte Wahl
der Bilder, die dem Kindesalter frommen. Der Re¬
ferent empfahl zwar ausser den Wiener Bilderbogen
die Meisterbilder des Kunstwart-Verlags und die Stein¬
zeichnungen der Firmen Voigtländer und Teubner.
Die ersteren dürften kaum auf Kinder unter sieben
Jahren irgend welche Wirkung machen ; und die letz¬
teren sind, zumeist an sich vortrefflich, vielfach ganz
unkindlich. Nicht was der Künstler träumt, sondern
was das Kind träumt, soll hier aufgepflanzt werden ;
ja eigentliche, hohe, reife Kunst ist hier gar nicht am
Platze. Hierüber später mehreres. Überdies sind ja
die Blätter der Karlsruher Künstler auch von diesen
selbst für die Schulräume gedacht, mehr auf Fern¬
wirkung berechnet. Uns will scheinen, als ob hier
gerade die praktischen Engländer das Richtige ge¬
troffen haben. Ihre Friese und halb der blossen An¬
schauung dienenden Blätter mit der kräftigen Kontur
den lebhaften Lokalfarben, die nichts weniger sind als
Abschriften der Natur, scheinen uns als Schmuck des
Kinderzimmers mehr geeignet als Farbenprobleme, die
den reifen Künstler interessieren und schummrige Im¬
pressionen, wie die Franzosen sie darbieten.
Nach dieser Introduktion war man auf das Haupt¬
thema der Symphonie, nämlich die Herbeiführung des
Kunstgenusses in der oder durch die Schule, gespannt.
Dies Thema war, wie billig, der ersten Violine zu¬
gewiesen: allein, statt sich in breitem Wurfe einzu¬
führen, erschien an Stelle des Hauptgedankens ein
Seitenthema: das Schulgebäude als ästhetisches Hilfs¬
mittel; hierüber liess Bauamtmann Professor Th. Fischer
sich in längerem, sehr anregendem Vortrage aus. Der
Redner schöpfte aus dem Vollen, das fühlte man bei
jedem Satze und der nachfolgende Widerspruch in
der Diskussion hob nur durch den Kontrast die Wich¬
tigkeit seiner Bemerkungen hervor. Dass bei der Lage,
Einrichtung und Ausstattung des Schulhauses nicht alles
lediglich nach künstlerischen Gesichtspunkten entschie¬
den werden kann, ist klar. Allein so weit es irgend
möglich ist, sollten die lichtvollen, offenbar auf lang-
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
131
jähriger Beobachtung und Erfahrung beruhenden
Mitteilungen des Redners Berücksichtigung finden.
Hier setzt in der That die Geschinacksbildung ein.
Warum denn baute die katholische Kirche so präch¬
tige Gotteshäuser, warum hob sie die Stimmung
durch allerlei stimulierende Mittel, warum stattete sie
die Bauten mit Earben- und Eormenreiz aus? Weil
das Individuum sich gefangen geben, weil es Ehr¬
furcht empfinden, die gemeine Deutlichkeit der Dinge
abthun sollte. Es war die Suggestionskraft der Kunst,
die sich auch in den Bauten kleineren Kalibers be-
merklich machte und die noch heute auf die Nach¬
lebenden ihren Zauber übt, wenn wir die geweihten
Räume eines solchen Kirchleins betreten. Wenn man
den Korridor einer neuen Schule entlang geht und
eines ihrer Zimmer betritt, wo die Jugend den halben
Tag zubringt: an ein Gefängnis wird man stets
erinnert; nur das Allernötigste ist gethan. Das sind
nur Schülerfutterale mit Licht- und Luftlöchern, in
dem jedes Eingesperrte den Moment ersehnt, wo sich
die Thür öffnet. Die Sache ist die: man betrachtet
die Schulhäuser als reine Nutzbauten und überträgt
sie dem angestellten Stadtarchitekten, der in seiner
Thätigkeit von allerlei Haken und Häkchen gehemmt
ist, ganz abgesehen davon, dass sich hier oftmals gar
nicht der Meister in der Beschränkung zeigen kann,
weil er sich nicht als Meisterer der Aufgabe bethätigt,
weil die gleiche Aufgabe mehrfach an ihn herantritt
und es ja so bequem ist, ein Schema zu wiederholen.
Die Kunstgeschichte, die bei Gelegenheit des Kunst¬
erziehungstages manchen Hieb abbekam, den sie gar
nicht verdient hat, muss man befragen, wenn man
wissen will, wie eine Idealschule beschaffen sein soll.
Wer jemals einen Kreuzgang eines Klosterhofs, der
leidlich in Stand gesetzt war, hin und her gewandelt
ist, weiss, was Natur und Kunst vereint bewirken
können. Die Mönche lehren uns, trotz ihrer Askese,
wie man den Boden und das Haus, das mau bewohnt,
zu schmücken habe.
Der dritte Vortrag, von Geh. Rat Dr. v. Scidlitz,
befasste sich mit dem Wandschmucke; und hier haben
wir mancherlei zu erinnern. Wir knüpfen an die
Bemerkungen des Referenten über Photographien,
über Verkleinerungen, über Volkskunst, über Litho¬
graphie jeweilig ein paar Bemerkungen zur Klärung
dieser wichtigen Tragen.
Dass man die Photographien nach Gemälden aus
der Schulstube verbannen solle, ist eine Eorderung,
die nicht als ausgemacht gelten kann. Max Lieber¬
mann, gewiss ein Mann von Begabung und von Ur¬
teil in Kunstdingen, sagt, dass die Bilder der Düssel¬
dorfer Schule photographiert koloristischer wirken, als
die farbigen Originale, weil für diese Schöpfungen
die Earbe nicht Lebensbedingung sei'). Wenn man
also, wie dies Professor Lichtwark thut, ein solches
Bild, etwa Vautier’s Heimkehr des verlorenen Sohnes,
zu ästhetischen Erörterungen benutzt-), thäte man,
dafern man Liebermann ’s Urteil nicht durchstreichen
1) Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. XII. S. 151.
2) Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken.
will, besser, eine Photographie des Bildes aufzuhängen
an Stelle des Originals, weil eben die Nachbildung
koloristischer wirkt, als das Urbild. Sehr zu wünschen
ist ja, dass der Sinn für Earbe gepflegt wird, aber
zur ausschliessenden Doktrin darf diese Absicht nicht
erhoben werden, sonst müssten alle Zeichnungen,
Stiche, Radierungen auch der alten Meister wegfallen.
Die Kunstgeschichte lehrt, wenn man sie hören will,
dass die Earbe nicht ein integrierender Bestandteil der
malerischen Kunst ist ; wir können hier auf Max
Klinger’s Essay Malerei und Zeichnung verweisen.
Unter allen Umständen aber kann die Nachbildung
nach plastischen Werken und Bauten sehr wohl ohne
Earbe geschehen; Plastik oder Architektur, also weisse
Marmorstatuen oder altersgraue Gebäude erfordern
eine farbige Wiedergabe nicht. Die Earbe kann
hier allerdings als Kontrastmittel ihre Triumphe
feiern: ein Bauwerk im Sonnenglanze auf grünbewal¬
deter Bergeshöhe wird einen ästhetisch wirksameren
Eindruck machen, als eine einfarbige Photographie.
Hier kann und mag die Künstlerhand eintreten. Bei
der Reproduktion von Plastik ist die Anwendung der
Earbe schon weit bedenklicher. Man würde hier den
Bildhauer um seine Absichten bringen, wollte man
die Zufälligkeiten des Hintergrundes in Earbe wieder¬
geben. Die Greifbarkeit ist nicht wichtig: denn Ein¬
äugige geniessen das Kunstwerk nicht weniger intensiv
als Doppelseher.
Ein paar Worte verdienen die Bemerkungen über
die Grösse des Wandschmuckes. Die Abmessungen
eines malerischen Kunstwerks hängen von zweierlei ab:
von der Zahl der Beschauer, die sie zugleich wahr¬
nehmen sollen, also von der Grösse des Raumes,
worin es hängt, und von dem Formenreichtum der
Darstellung. Eine Wandmalerei hat demnach die
grössten Masstäbe; das Altarbild, das Galeriegemälde
ist schon kleiner; was aber in Wohnräume kommt,
kann bis zur Kleinheit der Miniatur hinabsinken. Auch
hier giebt die Kunstgeschichte Beispiele in Masse.
Das Schulzimmer ist ein Raum, der sich der Wohn¬
stube mehr nähert, als der Kirche. Die Kunstwerke,
sofern sie nicht zu Demonstrationszwecken gebraucht
werden, wenden sich nicht an vierzig Personen auf
einmal, sondern an jeden einzeln. Altarbilder, Decken,
Fresken sind für eine Gemeinde da; nicht jeder kann
herantreten. Der Wandschmuck im Sinne der ästhe¬
tischen Bildung hält Zwiesprache mit dem Beschauer,
keine Ansprache; jeder darf sich dem Bilde nähern.
Die Holländer, die mässige Wohngelasse hatten, malten
oft ganz kleine, spannenlange Bildchen, Teniers der
ältere, Caspar Netscher, der Sammtbreughel seien nur
genannt. Man glaube doch ja nicht, dass Bilder kleinen
Formats keine Wirkung übten; diese stellt sich nur
etwas später ein. Wer Pompeji durchwandert hat,
weiss, dass der Wandschmuck, wo er zum Bilde wird,
oft ganz kleine, vignettenartige Stückchen aufweist.
Das Schulzimmer ist meist grösser als jene Räume,
darum kann, besonders bei figuren- oder detailreicheu
Darstellungen, das Blatt grösseres Format haben, aber
nicht so gross wie eine Schultafel, die auf zehn Meter
Entfernung noch deutlich das darauf Befindliche er-
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
1 32
kennen lassen soll. Es ist zulässig, aber gar niclit
notwendig, dass der Wandschmuck grosses Format
habe. Allerdings, wenn man das ganze Auditorium
davor versammelt, um Übungen damit zu veranstalten,
wenn man also Demonstrationen damit verbindet,
das Kunstwerk logisch auseinandernimmt und wieder
zusammenfügt, dann ist ein grosses Blatt nötig. Das
aber ist Anschauungsunterricht, keine Anleitung zum
Kunstgenuss. Denn nur im Herzen, nicht im Kopfe
fühlen wir die ästhetische Lust und was von der
intellektuellen Auffassung nicht bis zum Gemüt hinab¬
gesunken ist, wird höchstens kalt staunend bewundert,
nie aber geliebt. Nur das geheime Zwiegespräch von
Seele zu Seele zwischen Kunstwerk und Beschauer
ohne alle logischen Gitter und Siebe fesselt den Ge¬
niessenden; der warme Pulsschlag des Kunstwerks ist
es, der ihn vibrieren macht. Hier heisst es:
»Verwandte Seelen knüpft ein Augenblick
Des ersten Selms mit dianiantnen Banden«.
Noch ein Wort über Volkskunst. Wer das Volk
zum Schauen, zum Zuhören bringen will, muss sich
in seinem Bilderkreis bewegen, muss seine Sprache
sprechen. Das empfahl Luther, das that Hutten,
Walther von der Vogel weide, Peter Hebel, Fritz
Reuter, Dürer, Chodowiecki, L. Richter, F. Mendelssohn,
Johann Strauss. Das echt Volkstümliche breitet sich
rasch ans und ist als solches kurzlebig. Heute kann
man mit Walther von der Vogelweide, mit Abraham
a Santa Clara, mit Dürer nicht mehr die gleiche Wirkung
erzielen wie vor Hunderten von Jahren. Wenigstens
in der Volksschule nicht. Was anderes ist es, wenn
man langsam, retrospektiv sich ihnen nähert. Die
Zwischenstufen müssen aber dann sehr sorglich ge¬
wählt werden. Die alte Kunstsprache muss alsdann
so gelernt werden, wie die Muttersprache, nicht wie
ein fremdes Idiom in der Schule. Übung, Selbstübung
ist alles.
Die Anschauung, dass eine Verkleinerung mecha¬
nischer Art dem Kunstwerk allzuviel von seinem Duft
raube, scheint uns nicht hinreichend begründet. Inner¬
halb gewisser Grenzen müssen die mechanischen
Nachbildungen zugelassen werden, sonst rauben wir
der Kunstpädagogik ihre wesentlichsten Hilfsmittel.
Bei sehr starken mechanischen Verkleinerungen freilich
stossen sich die Details und die Farbenkontraste wer¬
den leicht grell. Die Details in der Zeiehnung lassen
sich nicht einfach ausschneiden und die Farbe lässt
sich auch ohne Zwischenkunstkopie dämpfen. Aber
heutzutage will ja jeder dokumentarische Treue um
jeden Preis, und die Ansicht, dass die Farbe voll¬
ständig umgesetzt werden müsse, damit das Abbild
eine treue Vorstellung vom Original gebe, dürfte des¬
halb einstweilen noch vielfachem Widerspruch be¬
gegnen. Denn bei dieser Destillation entweichen sehr
leicht jene flüchtigen, ätherischen Bestandteile, die die
Blume« des Kunstwerkes ausmachen. Ästhetische Wir¬
kungen von gleicher Intensität wird kein billigDenkender
von der verkleinerten Nachbildung fordern. Was die
meisten wünschen, ist ein billiger Preis, der mit kleineren
Formaten schier unzertrennlich verbunden ist. Aber
es wäre doch unrecht, zu sagen: lieber gar keine Ab¬
bildung, als eine kleine. Den David des Michelangelo
stellen sich die meisten Menschen, die das Original
oder den Gipsabguss nicht gesehen haben, als eine
höchstens lebensgrosse Statue vor. Es giebt keine
künstlerische Behandlung, die verraten könnte, wie
gross das Werk in Wirklichkeit ist. Die Monumen¬
talität des Werkes ist, wenn sie überhaupt empfunden
wird, vom Metermass unabhängig und wird in der
mechanischen Nachbildung leichter herausgefühlt als
in der Handkopie. Die Handkopie auch des leiden¬
schaftslosesten Künsters bringt stets neue Elemente,
Auffassungswürze hinzu.
Was endlich die Lithographie anlangt, von der
man sich nach der Erfindung Senefelders so grosse
Umwälzungen versprach, so hat diese bis zur Erfin¬
dung der Photographie eine grosse Rolle gespielt, die
aber durch die mechanische Buchdrucktechnik einer¬
seits, durch die Lichtdruck- und Lichtätzungsverfahren
andererseits wieder stark eingeschränkt wurde. Neuer¬
dings haben lithographische Virtuosen besonders in
Frankreich technische .Meisterstücke hervorgebracht,
die manchen Künstler elektrisiert haben und nun bricht,
wie es scheint, ein Johannistrieb der Steindrucktechnik
hervor. Vielleicht hält diese Nachblüte an. Da aber
alle Manieren ihre Zeit haben und die Grenzen der
Ausdrucksfähigkeit auch einer subtilen Technik bald
erschöpft sind, so wird im Orchester der graphischen
Technik auch die Lust an dem einen Instrument, der
Steinzeichmmg, ihre Zeit haben. Etwas von der
Schwere des Steines, das Irdene des Tons wird der
lithographischen Technik immer anhaften; und je
breiter, dekorativer die Flächen behandelt sind, um so
rascher verdunstet der lusterweckende Duft dieser
Technik für den Beschauer.
-I:
Die Diskussion über den Wandschmuck war in¬
teressant und vielgestaltig. Ein Lehrer namens Weih-
raiich erklärte die Reproduktionen plastischer Werke
(Gipsabgüsse) als für die künstlerische Erziehung un¬
zulänglich; der Grund — seine eigene »Kaltblütig¬
keit« diesen Dingen gegenüber, ist aber nicht beweis¬
kräftig. Ebenso verwarf der Herr die Reproduktion
von Bauten, weil an ihnen die hohe Bedeutung von
Material und Farbe nicht zu erkennen sei, noch sei
an ihnen zu lernen, wie der Gedanke der Zweck¬
mässigkeit Ausdruck gefunden hat. Diese Begründung
zeigt den Doktrinär. Alsdann wies Geheimrat Roscher
auf Ludwig Richter hin; mit vollem Recht. Professor
Lichtwark äusserte hiernach ein paar ebenso knappe als
treffende Bemerkungen über die Kunst, die in dem
Wandschmuck erscheinen soll. Er erwies sich hier
als ein sehr guter Theoretiker, indem er vor der
Massenproduktion von Wandschmuck warnte, indem
er empfahl, die Entwürfe solcher Wandbilder vor der
Ausführung zu prüfen, indem er an die Qualitäten
erinnerte, die die für das Kind bestimmte Kunst haben
muss, indem er darauf hinwies, dass man die Bilder
zu Zeiten wechseln müsse und das ne quid nimis
aussprach. Nunmehr verwandte sich Dr. Spanier für
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
133
die Reproduktionen von Kunstwerken und gab der
Ansicht Ausdruck, dass der Lehrer zum Sehen und
zum Eühlen anleiten müsse. Professor Matthaei ver¬
wies auf die (übrigens nur aus Versehen vom Refe¬
renten nicht erwähnten) Meister des 19. Jahrhunderts;
Rektor Koehler warf ein paar praktische Eragen auf
und brachte der neuen Materie gegenüber die Skepsis
des erfahrenen Pädagogen zum Ausdruck. Stadt¬
schulrat Dr. Wehrhahn plädierte für äusserste Wohl¬
feilheit des Wandschmucks; hierzu ist zu sagen, dass
diese vom dem Bedarf abhängt. Würde es gelingen, die
widersprechenden Meinungen zu vereinen, so würden
die Leiter der Schulen, wenn sie die Energie hätten,
die Sache zu organisieren, ihren Wandschmuck für
eine Mark für das Blatt bekommen, statt dass sie jetzt
sechs Mark und mehr bezahlen. Einigkeit macht hier
- billig. Daher müssten die Lehrer und Direktoren
sich beraten und dann angeben, was sie brauchen
können. Lehrer Oötze erwiderte auf die Eragen des
Rektors Köhler und verneinte die Eorderung einer
methodischen lehrhaften Behandlung der Bilder; Dr.
Cornelius warnte davor, den Kunstwert erklären zu
wollen; Schuldirektor Dr. Rohrbach meinte ebenfalls,
die Bilder müssten für sich selbst sprechen und liess
sich über das Eormat der Bilder aus; Dr. Deneken
wies auf die verwandten Bestrebungen in Schweden
hin, die Schulen mit Wandbildern auszustatten; er
betonte nebenbei den erzieherischen Wert der Plastik,
worin ihm später von Professor Dr. A. O. Meyer sekun¬
diert wurde. Zwei praktische Hinweise gaben Ober¬
lehrer Breal und Professor Dr. Rein-, jener verwies
auf die Ausschmückung der 35 Zimmer der IX. Bürger¬
schule Dresdens, dieser sprach von den Versuchen
und Erfolgen der Übungsschule in Jena, an der päda¬
gogische Experimente angestellt werden. Es ist nicht
möglich, innerhalb des hier gebotenen Raumes alle
geäusserten Ideen zu berühren; wir müssen auf den
Bericht selbst, der nur eine Mark kostet (Verlag von
R. Voigtländer, Leizig) verweisen.
Nach der Erledigung dieser Hauptnummer der
Tagung hielt Dr. Pauli, Direktor der Kunsthalle in
Bremen, einen fesselnden Vortrag über das Bilderbuch.
Es war dem Herrn Referenten wohl nicht deutlich
bewusst, dass eine gewisse Zwiespältigkeit der Auf¬
fassung bei der Bilderbuchfrage platzgreift. Die Erage
ist erstlich die: Wie soll das Bilderbuch beschaffen
sein, damit es dem Kinde gefällt? Diese Erage wurde
auch ganz richtig beantwortet. Nötig sind drei Dinge:
fesselnder Inhalt, Anschaulichkeit und Einfachheit des
Ausdrucks. Kunstwert verlangt das Kind unter sieben
Jahren nicht. Die zweite Erage dagegen ist: Wie soll
das Bilderbuch beschaffen sein, damit es auch dem
Erwachsenen gefällt? Hier lautet die Antwort: es muss
Kunstwert haben, ein Künstler von echter Art muss
es gemacht haben. Ein solcher Künstler war Dr. Hof¬
mann , der Verfasser und Zeichner des Struwelpeter,
nicht; er gesteht es selber ein und auf die Bemerkung,
dass ein Bilderbuch Kunstwert haben müsse, erwidert
er spöttisch: nun gut, so erziehe man den Säugling
in Gemäldegalerien und in Kabinetten mit antiken Gips¬
abgüssen. Dr. Hofmann meinte nämlich, ein Bilder-
Zcitschrilt für bildende Kunst. N. F. XIII. Fl. 6.
buch brauche nur dem Kinde zu gefallen; dass es
auch noch dem Erwachsenen gefalle, sei eine unbillige
Eorderung. Verkehrt aber seien alle Bilderbuch¬
entwürfe, die nur darauf ausgehen, ästhetische Wir¬
kungen zu erzielen, d. h. nur den Erwachsenen Ver¬
gnügen zu bereiten, nicht den kleinen Kindern.
Nun werden alle Bildungsschwärmer wie ein
Mann aufstehen und rufen: Ei, das lässt sich doch
vereinigen! Worauf die Antwort zu geben wäre: es
ist unnötig, und die Eorderung ist zu hoch geschraubt.
Ein Bilderbuch, das zugleich Kindern und Grossen
gefällt, muss beschaffen sein wie eine Amphibie. Es
führt zwei Lebensarten zugleich. Hierüber geben uns
die alten Pädagogen hinreichend Belege.
Die alten Griechen waren gewiss ein kunstfrohes
Volk und wo sie konnten, prägten sie jeder Lebens¬
form Einheit in der Vielheit, lebende Gestalt, d. h.
Kunstform auf. Sie thaten das nicht etwa reflektierend
auf Grund von Deduktionen, von Unterweisungen,
von Kunsterziehungstagen: sondern naiv, aus dem
Unbewussten heraus, aus jenem Lebensgefühl, das
aller Logik Mutter ist. Wie aber waren denn die
für Kinder bestimmten Thonpuppen beschaffen, die
man am Eusse der Akropolis fand? Waren es etwa
Göttergestalten in Miniaturformat? O nein! Diese
Puppen sind genau ebenso rohe Gliedermänner, wie
sie heute fürs Volk fabriziert werden. Warum formten
denn aber die Griechen keine Statuetten für die Kinder,
warum gaben sie den Kleinen nicht Tanagrafiguren
zum Spielen? Einfach darum, weil mit solchen Ei-
guren kaum kindlich gespielt werden kann. Je mehr
Leben nämlich der Künstler dem Werke verleiht, um
so mehr entrückt er es der Kindersphäre. Je mehr
Odem er seinen Gestalten mitgiebt, um so mehr ver¬
leidet er dem Kind das Spiel. Denn Spiel ist Selbst¬
schaffen, Belebung des Toten. Thut das der Künstler
schon, so bleibt dem Kind nichts mehr und das
individuelle Spielzeug wird, weil es allzu sehr beseelt
worden ist, für das Kind unbrauchbar. Die Probe
auf das Exempel kann jeder machen, dem ein Kind
zur Verfügung steht. Nur das Spielzeug wird wieder¬
holt vorgenommen, mit dem sich allerlei machen lässt;
das erste Spielzeug ist Idol, ist ein Belebungsobjekt,
ist eine Prometheusfigur; das Kind übernimmt die
Rolle der Pallas Athene.
Jean Paul hat in seinem krausen Buche Levana
oder Erziehlehre, das eine Menge feiner pädagogischer
Bemerkungen enthält, eine sehr lehrreiche Geschichte
erzählt. Ein kleines Mädchen, das gewöhnt war, einen
Stiefelknecht durch bunte Lappen zu einer Puppe
nnizuschaffen, bekam einst eine Staatsdame mit wirk¬
lichen Gliedern, WachskojT, natürlichem Elachshaar,
und eleganten Kleidern geschenkt. Der erste Eindruck
war überwältigend — allein nachdem das vornehme
Spielzeug ein paar mal an- und ausgekleidet worden
war, kehrte das wunderliche Kind zu dem alten Stiefel¬
knecht zurück. Man frage nur eine beliebige Mutter,
zu welchen Spielsachen die Kinder am liebsten greifen
— ob es nicht die sind, die am gestaltlosesten sind;
man frage die Mutter, ob nicht die durchgebildetsten
i8
134
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
Spielsachen die stärkste Neigung haben, sich in ihre
Bestandteile aufzulösen?
Direktor Dr Tauli betonte ganz richtig, dass das
Bilderbuch in .v ir Linie ein Spielzeug sei. Ist es
aber ein Sniei:-. ig, so niiiss es dessen Bedingungen
r'rfülicn, i ;r- - or+ragtnde sagte ferner sehr richtig,
:lass -..-r btruu üprter in gewissem Sinne ein Kern-
. u r-^e', Cb . sei; er meint nur, es hätte bei seiner
n c ■! ■ ,g iielir hohe Kunst hinzutreten müssen. Das
ijc unriciitig: das Buch wäre, mit mehr Kunst
v. r'-_nickt, nicht noch mehr Kernschuss gewesen, son¬
dern höchstens noch ebenso sehr, wahrscheinlich aber
weniger. Allerdings hätte ja der Struwelpeter mehr
Kunst vertragen können, aber es wäre kaum zu seinem
Vorteil, sondern eher zu seinem Nachteil gewesen; zum
Nachteil nämlich seiner Allgemeingültigkeit in Kinder¬
kreisen . Der Struwelpeter und das Kaspartheater
entsprechen einander: Das eine stellt die Gemälde¬
galerie, das andere das Drama der Kinderstube vor.
Sobald mehr Kunstwert hinzutritt, gerät das Ob¬
jekt in Gefahr, der Kindersphäre entrückt zu werden.
Beide Dinge haben noch einen dritten Genossen:
das Märchen; dies ist das Epos der Kinderstube.
Was die Mutter den Kindern erzählt, ist schmucklos
und schlicht: man sehe daraufhin Grimm’s Märchen
durch. Welche Roheiten kommen darin vor! Die
böse Stiefmutter muss in glühenden Schuhen tanzen,
bis sie tot umfällt: solche drakonische Strafe entspricht
dem Gefühl des Kindes, das sich vorher entsetzt
und geängstigt hat über die Schlechtigkeit der Stief¬
mutter. Dem Kind malt man das Gute silberweiss,
das Böse pechschwarz: Das ist also Silhoucttierkunst,
keine Malerei.
Gleich heisst ihm alles schändlich oder würdig,
Bös oder gut: und was die Einbildung
Phantastisch nennt mit diesen dunklen Namen,
Das bürdet sie den Sachen auf und Wesen.
Wie roh und gewaltthätig benimmt sich Kasperle
auf seiner Bühne! Er schlägt alles tot, veas sich ihm
entgegenstellt, und lässt sogar den Teufel nach seiner
Pfeife tanzen. Das Kind aber lacht und bewundert
seines Helden lustige Tapferkeit. Wer die Probe
machen will, führe den Kindern eine Scene vor,
worin der Teufel vom Kasperle nicht geprellt, sondern
bezwungen, und seine Seele geholt wird. Das ganze
Auditorium, das gespannt allen Siegen seines Helden
innerlich jubelnd folgte, wird alsbald in ein lautes
Geheul ausbrechen, denn mit diesem einen burlesken
Vertreter fährt die ganze Menschheit zum Teufel, und
blasses Entsetzen ergreift das versammelte Parterre.
Man wende, was sich aus diesen Betrachtungen er-
giebt, aufs Bilderbuch an. Glückliche Wahl des Stoffs
und höchste Simplicität in der Behandlung sind die
notwendigen Erfordernisse der Kinderbilderbücher.
Wohl dem schöpferischen Genie, das ausserdem noch
dem ekeln Geschmack des Kenners« Genüge zu
leisten versteht! Es wird dadurch dem Augenblicks¬
erzeugnis Dauer verleihen.
Mit den Vorgängen auf geistigem Gebiete verhält
es sich genau ebenso wie mit der leiblichen Nahrung:
das zu Geniessende muss sogleich assimilierbar sein.
Kinderbilderbücher erscheinen dem Erwachsenen oft
ärmlich, dem Kinde dagegen spannend; das Kaspar¬
theater hat ein niedriges geistiges Niveau, in das der
Kinderkopf eben noch hineinreicht; die kleine schlichte
Erzählung ist für den Erwachsenen reizlos, für das
Kind passt sie gerade. Nun kann man ja der
geistigen Speise, die bisher den Sechsjährigen behagte,
Kunstwürze hinzusetzen. Jakob und Wilhelm Grimm
haben die Hausmärchen mit jener höchsten Kunst
erzählt, die Natur scheint; Andersen hat seinen Haus¬
märchen fast stets noch einen tieferen Sinn beigegeben;
Ludwig Richter erfüllte ausser der Forderung des
schlichten Vortrags noch nebenbei die der hohen
Kunstmässigkeit. Diese Doppelqualität nützt ihm nur
im Auge der Erwachsenen, nicht aber der kleinen
Kinder. Denn entweder empfinden wir naiv oder
sentimental, nicht beides zugleich, wie Schiller lehrt;
wir sind entweder Natur oder wir müssen die ver¬
lorene suchen. Man glaube darum nicht, dass das
Kind im stände sei, im Bilderbuche die zeichnerische
Qualität Ludwig Richter’s, im Hausmärchen die Er¬
zählungskunst Jakob Grimm’s, im AnderseiTschen die
zu Grunde gelegte Symbolik zu würdigen. Diese
Qualität ist für das Kind eine qualitas occulta; sie
ist seinem Köpfchen nicht assimilierbar, und daher
für dieses so gut wie nicht vorhanden. Der Kunst¬
genuss ist wie der Apfel, der vom Baum der Erkenntnis
gepflückt wird: hat man ihn gekostet, so ist es mit
dem Paradies der Kindheit vorbei.
Eins der wichtigsten Hilfsmittel der ästhetischen
Bildung, ja das vornehmste schlechtweg ist das Zeichnen.
Zeichnen lernen, könnte für den Menschen fast ebenso¬
viel bedeuten, wie seine Sprache lernen. Es ist dem
Lesen, Schreiben und Rechnen durchaus gleichwertig,
es paralysiert die Abstraktion und führt zur In¬
dividuation. Dem Vortrage des Herrn Qoetze über
das Zeichnen und Formen kann man Satz für Satz
zustimmen; hoffentlich machen sich alle Schulleiter
und die dem Schulwesen Vorgesetzten das Gewicht
der Gründe des Redners klar. Der Wert seiner Aus¬
führungen trat durch die nachfolgenden Wechsel¬
reden noch deutlicher hervor. Mitten hinein klang
aber auch ein Widerspruch, ein Protest von einem
Künstler, Hermann Obrist, der kein schulmässiges
Zeichnenlehren, sondern ein freies künstlerisches Bilden
durch besonders Begabte, durch bildende Künstler
forderte. Er erklärte das Unterrichten im Zeichnen,
die schablonenmässige Massenunterweisung für be¬
denklich, sah darin höchstens eine Vertiefung des
Anschauungsunterrichts, nicht aber einen Versuch
künstlerischer Bildung. Der Hinweis auf die Kunst¬
gewerbeschulen, die 30 Jahre lang Zeichenunterricht
erteilten und die von ihnen gewonnenen Erziehungs¬
resultate machten sichtlich Eindruck auf die Ver¬
sammlung. Des Künstlers Forderungen waren die
folgenden: Bildende Künstler statt der Zeichenlehrer,
Werkstattunterricht statt des Massenunterrichts. Der
Referent stimmte diesen Ausführungen im allgemeinen
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
135
zu; gemässigt wurden die Protestworte des Münchener
Künstlers durch Inspektor Elinzer, der darauf hinwies,
dass die Volksschule in der Hauptsache dem Hand¬
werker dienen müsse, und dass man nicht zu weit
gehen dürfe, wenn man Kunstbildung verlange. Wir
fügen hinzu: Atelierunterricht ist sehr schön, aber
die grosse Frage: Wer trägt die Kosten? liegt nahe.
Schwerlich wird Herr Obrist Freude am Atelierunter¬
richt haben, wenn er nicht vorher unter den ange¬
meldeten Schülern einer Klasse die Befähigungen
prüfen und die Unbrauchbaren d. h. Unbildbaren
ausscheiden dürfte. Was sollte dann aber mit den
Ausgeschiedenen werden? Sollen sie, die weniger
begabt sind für zeichnerische Darstellung, nun gar
keinen Unterricht im Zeichnen erhalten? Oder sollen
sie doch noch einem Zeichenlehrer überantwortet
werden?
Als Berichterstatter in der Handfertigkeitsfrage trat
Direktor Dr. P. Jessen auf. Er wies auf die hand¬
werkliche Grundlage der Kunst hin, empfahl Ver¬
wertung echter Stoffe, werkgerechter Formen und
forderte ehrliche Arbeit. Im einzelnen ging der
Redner etwas zu weit in der Verallgemeinerung.
Dem Kinde ein Stück Holz und Werkzeuge dazu
zur Herstellung eines schlichten Geräts in die Hand
zu geben, ist nicht unbedenklich. Ein acht- oder
zehnjähriges Kind wird mit Hobel und Säge nicht viel
beginnen können; es ist zu schwach an körperlichen
Kräften. Gegen die Spielereien, die in Dilettanten-
kreisen so viel Unheil angerichtet und den Dilettantis¬
mus in der Kunst lächerlich gemacht haben, wandte
sich der Sprecher energisch und verwarf dabei auch
die vermeintlichen Surrogattechniken, von denen er
das Bemalen, den Holzbrand, die Kleineisenarbeit u. s. w.
namhaft machte. Mit Verlaub: das sind gar keine
Surrogattechniken. Unsere Altvorderen bemalten ihre
Stühle und Truhen, ihre Öfen, ja ihr Schmiedeeisen;
sie brannten und schnitzten ihr Holz und bildeten
Kleines und Grosses aus allerlei Metallen. So wie
sie früher selbst spannen und webten, schnitzten sie
und malten sie, ohne berufsmässig Spinner, Weber,
Schnitzer oder Maler zu sein. Holzbrand und Klein¬
eisenarbeit sind vortrefflich an sich, durchaus nicht
lügnerische oder lächerliche Techniken; wer gute
Arbeiten sehen will, besuche einmal die Fachschule
in Cortina d’Ampezzo. Lächerlich ist nur der Zwerg,
der sich duckt, wenn er durchs Stadtthor geht, sagt
Lermolieff-Morelli. Was den Dilettantismus lächer¬
lich gemacht hat, ist nie die Technik, sondern immer
nur die Eitelkeit gewesen. Wer einen schlechten
Stuhl baut und darauf stolz ist, verdient denselben
Spott wie einer, der einen liederlich ausgeführten
Holzbrand ausstellt. Wer den Brennstift nimmt, um
eine von fremder Hand vorgezeichnete Darstellung
sklavisch nachzuziehen, betrügt sich und andere: wer
freihändig arbeitet, schafft redlich. Der Berichterstatter
meinte weiter; Nicht die schlichte, schmucklose Werk¬
arbeit sei unkünstlerisch, sondern das Ornamentmachen
ohne voraufgehende Werkarbeit, die Beschäftigung
mit dem abstrakten Zierrat, einerlei ob auf dem
Papier, dem Thon und dem Holz. Hier müssen wir
denn doch ein kleines Veto einlegen. Es ist sehr die
Frage, ob die Jamunder Bauernstühle von denselben
Personen gezimmert sind, die sie bemalt haben; es
ist durchaus nicht erwiesen, dass die alten Mangel¬
hölzer, die so zierlich mit Kerbschnitt versehen sind,
nicht vom Tischler roh geliefert, und erst von den
Bestellern verziert worden sind; und man kann als
sicher annehmen, dass die Grobschmiede das Schmiede¬
eisen unbemalt geliefert haben, dass die Farbe viel¬
mehr später, vielleicht um das begonnene Rosten
fernerhin zu verhüten, aufgestrichen worden ist. ln
Immermann’s Oberhof erzählt der wackere alte Dorf¬
schulze, der selbst die Axt führt und so den Zimmer¬
mann spart, dass er zu seiner eignen Warnung einen
missratenen Schrank, den er einmal selbst zu tischlern
versucht, auf dem Boden stehen habe. Der Dilettantis¬
mus, der schlechte Geräte herstellt, ist ebenso wenig
tauglich, als der, welcher schlechten Zierrat aufmalt
oder brennt. Nein, der springende Punkt liegt
anderswo. Der Dilettant ergötzt sich selbst, nicht
andere. Sobald er aber sein Produkt ausstellt, oder
gar verkauft, erhebt er die Prätension der Künstler¬
schaft. Konrad Lange unterscheidet in dem Vortrage
über das Wesen der künstlerischen Erziehung richtig
zwischen dem echten und dem falschen Dilettantismus.
Der echte ist keusch: er ist nichts als eine Schulung
auf eigene Faust; Technik, Material, Leistung ist hier
ganz gleichgültig. Der falsche Dilettantismus ist ver¬
kappte Eitelkeit ohne Ernst; er wird nicht um der
Sache willen, sondern um der Schmeichelei willen
betrieben; er jagt das Wild nicht, sondern kauft es
im Laden. Der echte Dilettant arbeitet, um fort-
zuschreiten; der falsche, um mit dem Produkt zu
prunken. Konstruktive Arbeiten aber begehre man
doch nicht von der Jugend. Laubsägearbeit, Kerb¬
schnitt, Papparbeit, das macht die Hand geschickt,
und Holzbrennen ist dem Zeichnen sehr nah ver¬
wandt. Die Frage der Konstruktion, die Statik des
Geräts verbleibe dem Meister oder dem Altgesellen;
dem Lehrling kommt ihre Lösung nicht zu. Denn
was wird der Lehrling auch hier nur thun? Nach¬
ahmen, nicht schaffen.
Über die Anleitung zum Genuss der Kunstwerke
gab Professor Lichtwork einige Aphorismen. Die
Auffassung des Berichterstatters ist durch mehrere
Schriften hinlänglich bekannt. Er schwärmt für
Originale und verwirft für den Anfang alle Kopien ;
das geht zu weit: das Umgekehrte scheint uns rich¬
tiger. Eine gute Kopie eines verlorenen Originals
ist doch einem schlechten Original vorzuziehen. Wo
bliebe denn unsere Anschauung von der Antike, wenn
wir alle römischen Kopien griechischer Originale ver¬
werfen wollten! Erst Nachbildungen machen die
Originale populär.
Es ist ein Beweis dafür, wie tief wir im Litte-
rarischen stecken, dass man uns jetzt die Musik und
die bildende Kunst durch Erläuterungen nahe bringen
will. Das ist ein grässlich ermüdender Umweg, und
in den meisten Fällen ein Versuch mit untauglichen
Mitteln. Diese Erläuterungen ziehen stets Erschöpfungen
nach sich und hat man die Schönheiten hervorgehoben.
136
DIE ÄSTHETISCHE Bll DUNG DER KINDER
so heisst es doch: Zum Teufel ist der Spiritus, das
Phlegma ist geblieben. Wer vermag es, den Kunst¬
gehalt einer Beethoven 'scheu Sinfonie zu erklären!
Wer, die Scliönheit der Sixtina zu berechnen! An¬
leitung zum Genuss des Kunstwerks - ist das nicht
wie Anleitung zum Genuss des Schlittschuhlaufens
oder des Fliegens? In den Kunstwerken, die alle
lebende Gestalt sind, erscheint der lebendige Geist
tlcm lebendigen Geiste. Musikalischer Kunstgenuss
ist nur durch Töne, poetischer nur durch Worte,
bildnerischer nur durch Bilder vermittelbar; die
Symbole lassen sich nicht austauschen. Das Kunst¬
werk, welches sich nicht selbst erläutert, schweigt
dem Beschauer, weil dessen Seele halb blind und taub
ist. Es ruft höchstens: Du gleichst dem Geist, den
du begreifst, nicht mir!
Wie kommt es denn, dass wir so viele heimliche
Trauerspieldichter auf den Gymnasien haben, aber viel
weniger heimliche Maler? Daher, dass der Schüler
Schiller und Shakespeare kennen lernt, und dass sein
Gemüt sich daran entzündet, so dass es mit heller
Flamme brennt. Und das Lesedrama ist doch nur
ein schwaches Abbild des im Theater aufgeführten.
Wollen wir nun die Seelen für bildende Kunst ent¬
zünden, was ist hiernach nötig? Gute Abbilder hoher
Kunst. Die Zeit, die man mit Erläuterungen sonst
vertrödelt, diene allein der immer wiederholten, immer
mehr vertieften Anschauung. Aber man wähle die
rechten Kunstwerke! So gewiss kein Lehrer den
Primanern Ibsen und Maeterlinck empfehlen wird, so
gewiss wird auch kein Einsichtiger den Werdenden
Manet und L. von Hofmann vorführen. Zur raschen
Förderung der ästhetischen Erziehung, zum raschen
Wachstum der Genusskraft ist technische Uebung,
Malen, Modellieren, Musizieren sehr dienlich. Hier
beim Erlernen des Technischen darf Zwang herrschen,
aber bei der reinen Anschauung nicht, weil da Ermüdung
der Todfeind des Fortschritts ist. Herr Obrist, der
bei dieser Gelegenheit nochmals das Wort ergriff,
hat von seinem Standpunkt durchaus Recht. Er
möchte Atelierunterricht, weil dieser am raschesten
bildet. Denn nicht nur Lehre und Anschauung reizt,
sondern am meisten das Beispiel. Kunstwerke ent¬
stehen zu sehen, bedeutet noch mehr, als die fertigen
betrachten. Aber wohin soll das führen, wie soll man
das ermöglichen! Wenn man einen raschen Versuch
machen wollte, der Ereude an der Erscheinung mehr
Raum zu gönnen, das viele Lernen von Worten, Be¬
griffen, Vokabeln zurückzudrängen und dafür das Er¬
fassen der substanziellen Eormen zu begünstigen: das
würde beträchtliche Erschütterungen unseres Erziehungs¬
wesens herbeiführen. Solche Transformierung könnte
nur ganz allmählich geschehen, wenn sie sich ohne
Reibungen und Erhitzungen abspielen soll, und sie
nimmt daher zweckmässig ihren Anfang in den Se¬
minaren, wo die Eührer und Leiter der Jugend ge¬
bildet werden.
Was Seminarlehrer über die Ausbildung
der Seminaristen äusserte, ist fast durchweg höchst
beachtlich. Er wünschte, dass von der heimatlichen
Kunst, wo es thunlich sei, ausgegangen werde (was
Lichtwark schon betont hat), dass man die Grösse
der vaterländischen Kunst kennen lernen solle; einige
theoretische Ausbildung schien dem Redner wünschens¬
wert, Elementarkunstlehre, Elementarästhetik, kunst-
historische Orientierung, Vermehrung des Zeichen¬
unterrichts, kurz alles, was die Entwickelung der
ästhetischen Lust beflügelt.
Endlich trat noch Ihofessor Dr. K. Lange auf die
Rednertribüne, um einige Leitsätze über die Vor¬
bildung der Lehrer auf den Universitäten vorzutragen.
Er empfahl Verbindung der Kunstgeschichte mit der
Ästhetik, Lösung der Ästhetik von der Philosophie
und Umgestaltnng zu einer wirklichen Kunstlehre,
Bereicherung der kunsthistorischen Sammlungen, wech¬
selnde Ausstellung von Kunstblättern, verbunden mit
Führungen und Vorträgen, und zwar neben histo¬
rischen auch systematische, Übungen im Betrachten,
Erklären und Beurteilen von Kunstwerken, Erhaltung
des akademischen Zeichenlehrers. Es gebricht uns
an r^auni, auf diese Eorderungen, die an dieser Stelle
(der Universität) alle sehr berechtigt sind, näher ein¬
zugehen. Eine Ergänzung zu den Thesen, die der
kenntnisreiche Kunstlehrer aufstellte, bildete sein am
nächsten Tage gehaltener Vortrag über das Wesen
der künstlerischen Erziehung. Er fasste darin zu¬
sammen, was die Redner des Tags vorher einzeln
geäussert hatten. Erziehung zur Genussfähigkeit lautete
das Leitmotiv. Über die Einzelheiten in den Aus¬
führungen uns mit dem Redner an dieser Stelle aus¬
einanderzusetzen, würde eine längere Erörterung nötig
machen; zum Teil findet der Leser unsere Einwürfe
in dem Voranfgegangenen angedeutet.
Zu erwähnen sind noch die beiden rednerischen
Zugaben, womit Professor Lichtwark manchen Hörer
in Enthusiasmus versetzte: Über den Deutschen der
Zukunft und die Aufklärung über den Holbein’schen
Totenbilderkreis. Was den Deutschen der Zukunft
anlangt, so konnte der Vortragende keine deutliche
Vorstellung davon erwecken, zumal er erklärte, sich
noch kein rechtes Bild von ihm gemacht zu haben.
Er schien aber zu wünschen, dass eine Verschmel¬
zung des deutschen Offiziers und des englischen
Gentleman sich im zukünftigen Deutschen zeigen
möge. Er besprach das Parallelogramm der Kräfte,
die von Schule und Heeresleitung, von der Trias
Lehrer, Universitätsprofessor und Offizier ausgehen.
Uns will bedünken, dass der Deutsche der Zukunft
nicht nötig habe, nach dem Vaterlande Joe Chamber-
lain’s hinüberzuschielen; es genügt, wenn ersieh nur
an dem Deutschen der Vergangenheit ein Vorbild
nimmt. Ihre Lehre und ihr Beispiel wird ihm Halt
lind Besonnenheit genug verleihen. Wir denken hier
an Luther, Dürer, Lessing, Friedrich den Grossen,
Bach und Händel, Schiller und Goethe, die beiden
Humboldt’s, die beiden Brüder Grimm, Bismarck und
Moltke, Menzel, anderer nicht zu gedenken. Diese
Aufrechten, wie Gottfried Keller die Unerschrockenen
zu nennen pflegt, bilden den wahren Adel der Nation;
und wenn ein Volk sich solchen Adels rühmen darf,
so ist es das deutsche. Denn diese Vorbilder ver¬
leihen uns die von Lichtwark vermisste nationale
DIE ÄSTHETISCHE BILDUNG DER KINDER
137
Grundlage und erwecken in uns die ebenfalls ver¬
misste gestaltende Kraft, befreien uns vom Lakaiensinn
lind helfen uns, in freier SelbsEändigkeit den Lebens¬
wirbeln zu widerstehen.
Über den Holbein’schen Totentanz wusste der
Verkündiger altdeutscher Kraft und Tiefe manche
treffende Bemerkung zu äussern, blieb jedoch im
ganzen hinter dem, was Woltmann über Totentänze,
und den Holbein’schen insbesondere, vor etwa dreissig
Jahren geschrieben hat, zurück. Vor allem fehlte
bei den Erläuterungen die Erörterung des Kultur¬
historisch-Wichtigen; wahrscheinlich bestimmten den
Redner gewisse Rücksichten, auf das Teufeichen hin¬
zuweisen, das auf die Seele des Papstes lauert und
dergleichen mehr. Die Erläuterungen trugen vielfach
den Charakter der Improvisation. Unserer Ansicht
nach ist gerade der grossartige Cyklus HoIbeiiTs für
pädagogische Zwecke ganz ungeeignet; wie viel besser
wären die Illustrationen Holbein’s zum alten Testa¬
ment verwendbar! Dort ist das Meiste den Kindern
unmittelbar verständlich, wenn sie die biblische Ge¬
schichte hinter sich haben. Aber mit dem Todes¬
gedanken, mit der Darstellung von lebendigen, handeln¬
den Gerippen sollte man kleine und grosse Kinder
verschonen. In der Zeit, wo das Recht Not litt, wo
Seuchen wüteten, wo der Klerus in Wollust und
Üppigkeit verkam, spielte diese bittere Bilderarznei
eine heilsame, fermentierende Rolle. Heute gebrauche
man sie mit Vorsicht; Kinder insbesondere sollen
zur Ehrfurcht, nicht zur blossen Eurcht erzogen
werden. Was Kinder aber bei Bildern zuerst fesselt,
ist der reale Vorgang; und bei dem starken Auf¬
nahmevermögen der Jugend sind bildliche Darstel¬
lungen fast Erlebnissen gieichzuachten. So lange die
Kinder vom Tode nichts wissen, werden die Toten¬
bilder Holbein’s zwar nicht schreckhaft wirken. Sie
werden die Bilder nicht verstehen, woraus sich von
selbst ergiebt, dass sie auch keinen ästhetischen
Genuss davon haben können. Sobald sie erst einmal
die Rolle des klapperdürren Mannes begriffen haben
und ihnen deutlich geworden ist, dass und warum
sie diesem erbarmungslosen Würger nicht entrinnen
können, wird das Grausen alle ästhetischen Gefühle
ersticken. ARTUR SEEMANN.
P. Ncuenboni fcc.
DAS GUTE REGIMENT
FRESKO VON AMBROGIO LORENZETTl IN SIENA
I.
Der traurige Zustand, in welchem sich die
politischen Fresken Ambrogio Lorenzetti’s in
der Sala della Pace des Palazzo pubblico von
Siena befinden, hat den Professor Giuseppe Catani
veranlasst, in einer verkleinerten Kopie den ehemaligen
Zustand der Eingangswand zu rekonstruieren. Die
Wiederherstellung gerade dieses Freskos war möglich;
das des schlechten Regiments ist unrettbar verloren,
während die Stirnwand mit dem Titelbild noch leid¬
lich erhalten ist und der Rekonstruktion nicht bedarf.
Ich habe im vorigen März einen Vergleich des Ori¬
ginals mit Catani’s Blättern, die ins South Kensington-
Museum gewandert sind, mit Hilfe der Photograpie
vorgenommen und mich von der Zuverlässigkeit
der letzteren überzeugt. Obwohl das »Museum« be¬
reits die eine Hälfte dieses Freskos in der Rekon¬
struktion gebracht hat, glaubte ich die Reihe hier noch
einmal vollständig vorlegen zu sollen. Denn diese
Fresken sind nicht nur ihrem Stoff und moralischem
Pathos nach ungeheuer lehrreich, kulturhistorisch
wichtig und in ihrer Art einzigartig in Toskana,
sondern sie sind schlechthin das für die Entwickelung
bedeutendste Fresko, das Siena aus dem Trecento
aufzuweisen hat. Duccio’s Altarblatt war gerade um
seiner ehrwürdigen Hieratik willen der Hemmschuh
für die Weiterführung der mobilen Tafel; wir müssen
von vornherein Sienas neue Vorstösse im Fresko suchen.
Und da sind Simone Martini’s und Fippo Memmi’s
Maestä in Siena und S. Gimignano, da sind des
ersteren Martinusfresken in Assisi ebenso wie die
evangelischen Novellen Bartolo’s di Fredi und Barna’s
in S. Gimignano nicht ausschlaggebend gewesen.
DAS GUTE REGIMENT
139
Die Martinslegencle hätte es sein können, wenn sie
nicht in Assisi zu versteckt gewesen wäre; die andern
Fresken entbehren alle der Frische einer neuen Con-
ception. Während die Majestätsbilder ganz im Stil
der feierlichen Repräsentation stecken bleiben, während
die biblischen Chronisten bei allen kleinen Einfällen
treu im Gefolge der grösseren Meister bleiben, hat
sich Ambrogio in diesen Fresken, die, obwohl stark
allegorisch angelegt, hier zur epischen Chronik um¬
gearbeitet sind , ganz persönlich frei aussprechen
können. In der Anlage des Ganzen wie im Detail
hat er sich so ungezwungen ausgesprochen, wie in
Siena es ihm keiner nachmachen konnte, wie es in
Florenz niemand zu thun willens war. Leider fehlt
uns für das Verständnis Ambrogio’s das wichtige
Dokument der Fresken in S. Procolo-Florenz, die er
hier seit 1332 ausführte und die gleichzeitigen durch
Ghiberti und den Anonymus Magliabecchiaims gegen
Vasari gesicherten Chorfresken in S. Spirito. Während
seine bedeutenden, beiden Altarbilder, die fast antike
Madonna de’ Donzelli von 1344 der Sieneser Akademie
(II, 33) und die 1342 für das Spedaletto der Mona
Agnese gemalte presentazione al tempio (heute in der
Florentiner Akademie, Cimabuesaal) uns für Ambrogio’s
Eigenart zum Unterschied von Simone’s Tafeln sowohl
wie denen seines älteren, lange nicht so begabten
Bruders Pietro einen klaren Begriff geben, sind wir
im Fresko trotz der Reste in San Francesco durchaus
auf diese politischen Allegorien angewiesen.
Aber nicht nur mit Hinsicht auf Ambrogio sind
diese Allegorien überaus wichtig. Sie sind auch
inhaltlich durchaus Unica in Toskana. Florenz hat
ihm nichts an die Seite zu stellen. Lag es für Giotto
nicht nahe, als er die Kapelle der Bargello ausmalte,
ein politisch Lied zu singen? Der Meister der
religiösen Allegorie (Assisi, Unterkirche, Padua, Arena)
hat uns keinen bürgerlichen Lobgesang hinterlassen.
Es ist, als ob die Klöster von S. Maria novella und
von S. Spirito, diese beiden Hochschulen der Scholastik,
alles systematische Denken in Florenz gepachtet hätten.
Wohl wird die Vertreibung des Walther von Brienne,
duca d’Atene, von Giottino u. a. zum mahnenden
Gedächtnis an das Thor des Stadthauses gemalt; aber
dies Fresko war eine lokal-historische, ironische Notiz.
Selbst das sonst so rückständige Venedig feiert im
Trecento schon seine Vergangenheit, seinen Sieg über
den Franken Pipin, die Steigbügelscene zwischen
Barbarossa und Alexander 111. , die Schlacht von
’) Die kleinen Predellen in der Florentiner Aka¬
demie (Cimabuesaal), die aus S. Procolo stammen, mit
der Legende des Procolo und Niccolö sind das einzige,
was uns von Ambrogio’s Thätigkeit in Florenz, die nament¬
lich für Bernardo da Firenze so wichtig wurde, übrig ge¬
blieben ist. Das Flauptbild des Altars wird die Madonna,
auf den Flügeln Procolo und Niccolö als stehende Einzel-
heilige, enthalten haben; es ist gleichfalls verschollen. Er¬
wähnt sei hierbei, dass das Berliner Museum eine Replik
der einen Nikolauspredella (Nr. 1097) von der Hand eines
Malers aus dem Kreise Era Angelicos besitzt, bei der aber
statt Nikolaus die heilige Helene ihr ähnliches Wunder
verrichtet.
Spoleto, im breit entwickelten Stil an den Quadern
des Rialto. Siena war es Vorbehalten, die begriffliche
Diskussion vom kirchlich -religiösen auf das bürger¬
liche Gebiet hinüberzuspielen. Und dieser Wechsel
des Themas erwies sich als ungemein fruchtbar.
Denn Ambrogio durchbrach in diesem Cyklus, nach¬
dem er den Begriffen der Scholastik an der Stirnwand
ihr feierliches Thronrecht eingeräumt hatte, instinktiv
das körperlose Begriffsalphabet und drang zur an¬
schaulichen Schilderung durch. Doch lassen wir die
Fresken selbst reden.
II.
Dass die Stadt, deren Handel und Wandel ge¬
schildert und gepriesen werden soll, Siena selber
ist, bedarf keines Hinweises. Wir erfahren es nicht
nur aus der Silhouette der Domkuppel und des frei
nach oben sich lichtenden Zebra - Campanile, der
bei der Ansicht von Südost links von der Kuppel
erscheinen muss; wir sehen nicht nur die siene-
sische Lupa, die hier vor der stark nach Westen
zurückgerückten Porta Pispini wacht; sondern der
Künstler hat seine Cittä« auch ganz präcis porträtiert.
Die hinter dem Palazzo Pubblico tiefgelegene Piazza
del Mercato, noch heute der Gemüsemarkt Sienas, ist
der Schauplatz. Rechts führt die Via del Salicotto,
links die heute nach Giovanni Dupre umgetaufte Gasse
aus der südlichen Contrade zum Centrum der Piazza
del Campo. Die tiefe Lage des Mercato bringt es
mit sich, dass er von einem ganzen Häusermeer ge¬
schlossen wird. Die stolzen zinnenbekrönten Paläste
trugen im 14. Jahrhundert noch jene massiv -vier¬
eckigen, in ihrer Höhe aber doch schlanken Türme,
mit denen Familienstolz und Geschlechterneid gern
prunkten; später sind sie abgetragen, als ihre Höhe
ebenso wie in Gimignano ins Ungemessene stieg und
mehr als ein Einsturz die Sienesen erschreckt hatte.
Das ghibellinische Siena hat durchweg ungekerbte
Zinnen, im Gegensatz zu den Guelfenstädten Tos¬
kanas. Die Paläste sind in einer zierlich-schlanken
Gotik ohne viel Profil, ohne Dekor aufgeführt, jedes
grössere Fenster hat Anspruch auf eine Säule, deren
heller Ton gegen das Dunkel lebendig absticht. Fast
überall zieht sich ein Gestänge vor die Fenster; hier
werden Blumenkörbchen aufgehangen, hier Tücher
ausgehängt, bei Festen Teppiche angebracht, auf
deren Polster dann die Arme der herausschauenden
Schönen ruhten.
Alle diese Häuser beginnen eigentlich mit dem
ersten Stock. Das Parterre enthält Lagerräume,
Bottegen, einen Ausschank, oder wird vom breiten
Portone verbraucht. Solche Vorsicht mag in Zeiten
der Strassenkämpfe notwendig gewesen sein; nicht
ohne Grund lag zudem unmittelbar neben dem Haupt¬
thor die Guardia, deren Fenster so hoch waren, dass
die sitzenden oder schlafenden Wächter von keinem
heimlichen Pfeil getroffen werden konnten. Der
Oberstock springt in Siena wie im Norden gern vor.
Man gewann so Platz, ohne die Strasse zu verengen;
ja in Zeiten des Angriffs boten diese Vorbauten einen
Ambrogio Lorcnzctti, Das gute Regiment Linke Hälfte: La cittä. Siena, Palazzo pubblico
DAS GUTE REGIMENT
141
guten Stand für die Verteidigung mit Öl und Pech.
Das Eckhaus an der linken Strasse zeigt solche Vor¬
kragung. Ganz eigenartig sind dabei die kleinen
Öffnungen unter den Eckfenstern, die gewiss auch
mit der Verteidigung Zusammenhängen.
Siena liegt auf schmalen steilen Felsgraten und
muss seine Häuser arg zusammenschachteln. Daher
ist der Garten innerhalb der Stadtmauer ein unbe¬
kannter Luxus. So flüchtet der Bürger am Abend
auf die hochragende Loggia, die immer eine kleine
Brise hat und immer etwas sehen lässt. Neben dem
flachen Astrico die Pergoleta mit den vier aufge¬
mauerten Eckpfeilern. Oder man begnügt sich —
wie bei dem Haus unterhalb des Neubaues — mit
einem Balkon, über den das Hauptdach herüber¬
schattet, das dann von Säulen auf dem Umlaufe ge¬
stützt wird. Die schrägen Dächer kommen nur ver¬
einzelt vor; das schneelose Italien braucht sich nicht
durch einen steilen Dachwinkel zu schützen und weiss
den Regen auch von dem flachen Estrich abzufangen.
— Interessant ist das Treiben beim Neubau zu be¬
obachten. Es fehlen die Leitern und die senkrechten
Stangen; nur ein wagerechtes Gerüst ist in den
fertigen Mauerteil eingekeilt. Überraschen muss das
Fehlen von Schornsteinen allerorts.
Zu diesen Strassenhäussern und Palazzi tritt nun
der eigenartige Bau mitten auf der Piazza des Vorder¬
grundes. Es ist eine Art öffentlicher Halle, mit stark
entwickeltem Parterre, kleinem Piano und einem drei¬
stöckigen Turm; an die Südseite hat der Magistrat
dann noch eine offene Bottega mit Oberstock an¬
bauen lassen. Die Halle sollte wohl vor allem den
öffentlichen Marktinteressen dienen: wie sie ander¬
weitig benutzt wurde, werden wir gleich sehen.
Das hohe Thor mit der Stadtmauer ist wie ge¬
sagt die Porta Pispina mit der Dogana, der Barriera.
Hochbepackte Esel haben die Grenze eben passiert.
Ihr festgewickelter Ballen soll wohl an die stemma
der mercanzia erinnern, wie sie sich z. B. an der
Rückwand der Bank Urbano’s da Cortona in der
Loggia de’ Nobili und sonst häufig findet. Die
Grautiere trollen rechts am Barbier, der sich mit vier
Becken und dem Fransenhandtuch verrät, links an
dem Schneider vorbei, der natürlich Tisch, Tuchbock
und die Cornice da ricamo auf die Strasse gerückt
hat, um besser zuschneiden und sehen zu können.
Der Sticker scheint einen grossen Ballen vorzuhaben,
dessen schwere Enden sich am Boden zusammenrollen.
Man liebte in Siena wie in Lucca noch heute be¬
sonders die feinen schmiegsamen Gewebe. Wunder¬
bar flutet das weisse Festkleid der Pax um ihre Glieder
auf dem ersten Fresko Ambrogio’s. Noch im 15. Jahr¬
hundert trugen die Madonnen Sienas jenes feine
Vielgefältel, an dem geradezu sienesische Arbeiten von
Florentinern, z. B. den Marmorreliefs, sich unter¬
scheiden lassen. Ein sehr schönes Beispiel bietet das
Madonnenrelief Nr. 154 der Berliner Sammlung, das
Vecchietta wohl am nächsten steht.
Der Markthalle darf natürlich die Schenke nicht
fehlen. Ein dicker Wirt hat seine beiden Theken
herausgerückt; am Querholz baumeln verlockend
Zeitsclirift für bildende Kunst. N. F. XUI. H. 6.
presciutto, cagiocavallo, ricotta fumicata und wie die
Herrlichkeiten alle heissen. Auf der credenza Wein-
und Essigkrüge. Der Schenke nähert sich ein Esel¬
treiber, um die Eier »vom Land« abzuliefern; der
Wirt scheint dem regelmässigen Kunden und Liefe¬
ranten zuzuwinken. Dagegen geht das junge Mädchen
an der Stadtmauer mit den Eiern und dem sicher
auf dem Kopf balancierten Korbe stolz an der be¬
scheidenen pizzicheria vorüber; auch die hinter ihr
herkommende Bäuerin mit der fetten Henne scheint
weiterzugehen. Den beiden Frauen begegnet der
Schafhirt mit dem getreuen Phylax; die enggedrängte
Tierschar droht die ängstliche Frau umzurenuen.
ln der zweiten Bottega wohnt der calzolaio.
Die fertigen Meisterstücke hängen am Querholz. Mit
dem laugelockten Bäuerchen wird eben um ein neues
Paar verhandelt. Geduldig steht das Grautier dabei
und erfüllt seine Mutterpflichten am Füllen der last¬
leeren Eselin«. Natürlich wird gefeilscht, disputiert,
renommiert, dazu die blökende Herde, die Reden der
Zecher, weiter links (wie wir sehen werden) Tamburin
und Mädchengesang; kurz so ganz still geht es auf
der Piazza nicht zu.
Davon aber lässt sich magister praeceptor nicht
stören. Er hat das Auditorium maximum bezogen,
hat das hohe Katheder erklettert und dociert jetzt die
Summa. Au engen Bänkchen sitzen vor ihm die
staunenden Zuhörer; nicht etwa Schulbuben, sondern
ernste Männer, die die Humanitas erlernen wollen.
So viel sich sehen lässt, sitzt unter den Kommilitonen
auch eine Frau; ebenso wie bei Cellinos Grabrelief
Cino’s im Dom von Pistoia. Der Raum ist hoch,
kahl und luftig. Die Theke neben dem Eingang
zeigt, dass hier zu andern Stunden der Kaufmann
residiert.
Unmittelbar neben dem ernsten Studium kommt
der Reigentanz zu seinem Recht. Zehn Freundinnen,
vornehme Mädchen, führen ihn ungescheut auf dem
Markt auf; und das fällt so wenig auf, dass niemand
ihnen zusieht und lauscht ausser uns. Ein Tamburin
und die Kehle muss genügen, um den Rhythmus für
diesen »langsamen Schritt« in der Art der griechischen
panegirici anzugeben. Die Kette der Tanzenden zieht
sich unter den Armen des ersten Paares her. Wie
poetisch zart sind diese feinen Gestalten und Linien!
Die schlanken, von keinem Gürtel entstellten Figuren
wiegen sich in ruhigem Spiel. Blumen prangen im
Haar; das Kleid liegt oben eng an und bedeckt die
Brust, der Rock weitet sich faltig nach unten, ist aber
kurz genug, dass die zieren Knöchel sichtbar werden.
Schlanke weisse Finger suchen sich, glatte junge Ge¬
sichter leuchten in zufriedener Heiterkeit. Wieder
überraschen diese kostbaren feinen Stoffe. Am kost¬
barsten erscheint der Musselin des letzten Fräuleins, der
mit Sammetschlangen besetzt scheint. Welcher Kontrast
zwischen diesem Andante der Jugend und der ernsten
Schule mit den erwachsenen Schülern! Und nun
kommt als drittes die lärmende Kneipe dazu.
In ihrem grossen offenen Thorbogen sitzen die Män¬
ner und spielen Karten. Zwischen den Bänken wiseln
Kinder herum, der Wirt steht dahinter und giebt
19
Atnbrogio Lorenzetti, Das gute Regiment. Rechte Hälfte, In campagna. Siena, Pal. pnbblico
DAS GUTE REGIMENT
143
seinen Rat zum Spiel. Die Trattoria liegt im Erd¬
geschoss eines vornehmen Palastes, dessen Herrin oder
Tochter eben von einem Ritt vor den Thoren heim¬
kehrt. Ihr stolzer weisser Zelter hält vor dem Portone,
der Knecht hält die Zügel, zwei Dienerinnen eilen,
der Herrin behilflich zu sein, herbei; die beiden Be¬
gleiter halten, bis die Dame abgestiegen ist. Zwei
Bübchen schauen staunend auf den vornehmen Zug;
vom Balkon, unter dem das Rotkehlchen sein Nest hat,
schauen zwei Hausgenossen dem Abstieg zu.
Am Eckhaus au der Gasse ward unterdes eben¬
falls wacker gehandelt. Eine Erau hält Stoffe feil,
die ein Kauflustiger prüft. Dahinter wird das Schau¬
fenster eines Goldschmieds in rundschliessender Nische
mit Prunk- und Probestücken sichtbar. Endlich halten
zwei Reiter hinter dem Markthaus. Ich zählte im
ganzen 62 Menschen , etwa 30 Tiere und gegen
40 Häuser auf diesem buntbewegten Stadtbild. Alles
ist in emsiger Thätigkeit; Körper und Geist üben sich
in Pflicht und Müsse. Das Edelfräulein neben dem
Landmädchen, der Krämer neben dem Kavalier. Un¬
willkürlich fragt man: welche Tagesstunde? Welche
Jahreszeit?
Neben den engen Strassen der hochgetürmten
Stadt breitet sich das weite Gefilde der Campagna
doppelt mächtig aus. Wer je durch die Porta Pis-
pina heraus nach dem riesigen Blachfeld der Schlacht
von Montaperti an der Arbia gefahren ist, wo Eari-
nata degli Uberti mit Hülfe der deutschen Truppen
König Manfred’s 1260 die Guelfen Toskanas, vor
allem die verhassten Florentiner in blutigster Schlacht
aufs Haupt schlug, der kennt das weite Panorama
dieser »hügeligen Ebene« mit dem Schmuck ihrer
Kastelle, namentlich dem Talamone, den Staketen
der Weinberge, den schmalen Wasserpfaden, und
muss es lieben. Nicht so romantisch wie die Fahrt
zur Osservanza, bietet diese Tour, die uns nach Pietro
Lorenzetti’s Meisterwerk in Sant Ansano in Dofana
führt, dem ruhig verweilenden Auge doch ein viel
entwickelteres Panorama.
Die Schlichtheit der Motive, das Verschmähen
aller pikanten und romantischen Überraschungen, vor
allen aber der grosse Zusammenhang dieser Ebene,
muss um so mehr überraschen, als wir hier das erste
Landschaftsbild der neueren Kunst vor uns sehen. Mag
die erste Veranlassung eine patriotische gewesen sein
— Sienas stolzer Sohn wollte natürlich den Satz:
»Dies alles ist Dir unterthänig« illustrieren — so
wächst der Gedanke sich zu einer künstlerischen That
aus. Man suche in Florenz bei Giotto, bei Taddeo
Gaddi, bei Orcagna nach der Landschaft! Selbst
Szenen wie die Vogelpredigt, der Durstige am Quell
und die Stigmata der Kreuzlegende geben keine
grösseren Prospekte. Der Versuch in den Chor¬
fresken von Santa Croce, die zudem später als diese
sienesischen Fresken sind, misslang auch noch. Wie
hat hier die Ausdehnung der Wand dieser grandiosen
Sala den Meister befeuert und zu kühnen Maassen
geführt! Gewiss, die Figuren verlieren sich darin;
aber thun sie es nicht auch in der Wirklichkeit? Wie
dort auf dem ersten Bild das Häusermeer die Haupt¬
sache war, vor dem ein paar Menschen feilschten, zech¬
ten, stickten und tanzten, so bricht hier ein latifun-
darischer Fanatismus aus; zum Inventar gehörte auch
das Proletariat. Mit grosser Gebärde hält der nackte
geflügelte weibliche Genius seinen Spruch über diese
weite Flur:
Senza paura ognuno franco camini
E lavorando semiiii ciascuno
Menlre che tal communo
Manterrä questa donna in Signoria
Ch’ella ha levata arei ogni balia.
Wie ernst dieses Gebot, die Securitas zu wahren, ge¬
meint ist, zeigt der Galgen mit dem aufgeknüpften
Störenfried. Auch dieser Galgen ist wohl ein Uni¬
kum im Trecento. Im Quattrocento faucht er zuerst
bei Pisanello wieder auf; aber nicht, wie man wohl
vermutet hat, im Sinne eines Monogramms. Wenig¬
stens lässt sich, wie Ambrogio’s Bild beweist, sein
Vorkommen nicht gegen den toskanischen Ursprung
des vielumstrittenen Tondos der Berliner Galerie
Nr. 95 a pro Pisanello ausschlachten. Auch Andrea
del Castagna trug seinen Beinamen degli Impiccati ge¬
rade von solchen Strangul ierungstableaus.
Doch nun auf die breite Thorstrasse, auf der noch
heute die Räder rollen. Vornehme Herren und Damen
reiten am Stadtthor aus und ein. Vor allem fällt uns
die Edeldame mit dem spitzen Krempenhut auf edlem
tänzelnden Rassenpferd mit der jagdkoppel zur Seite
auf, welcher der Falkonier und der Diener zu Fuss
mit dem Esskorbe folgen. Die sorgsam geordnete
Haartracht der Dame kehrt ganz ähnlich in den
Incoronatafresken zu Neapel wieder, die zehn Jahre
später als diese Bilder entstanden und ebenfalls
der Schule Ambrogio Lorenzetti’s angehören. Der
spitze Krempenhut war nicht das Eigentum der
Männer; einige Damen des Jagdzuges auf dem Tri-
onfo della morte im Pisaner Camposanto (um 1350
gemalt) tragen ihn ebenfalls.
Dem Jagdzug begegnet das Landvolk, das seine
Schätze zur Stadt treibt. Ein Schweinehirt hat sein
Tier am Hinterbein festgebunden und ermuntert es
auf dem Todesgange mit dem Stock. Schwer be¬
packte Esel tragen Säcke mit Korn, wobei einer ge¬
mütlich Halt macht und die Strasse quer versperrt.
Auch der kauernde Krüppel fehlt nicht. Dann eine
glückliche Familie, Eltern und zwei Kinder; letztere
auf den einen der beiden Esel gepackt, während der
andere einen hohen Posten neuer Waren schleppt.
Der Mann, dem der breitkrämpige Strohhut am
Rücken hängt, schlägt in die Hände, um die Tiere
anzusporenen und wir hören förmlich seinen Alarm¬
ruf. Dann folgt ein munteres Treiben vor der
schmalen Brücke über die Arbia, mit störrigen Tieren,
welche die Passage sperren. Reizend schlängelt sich
der Fluss nach hinten zu einer zweiten Brücke und
einer Mühle, zu der die Esel mit dem ungemahlenen
Korn hintrotten. Links und rechts vom Fluss wird
eifrig gepflügt und gesät, in den Stoppeln davor
19*
144
DAS GUTE REGIMENT
spreiige.i «ae jn^^endeii Reiter her, denen die Hunde
v-ru: ;iSrIir.üffeln. Weiter zurück liegt eine Ökonomie,
V. .t,(>rn gedi oschen und Garben gebunden werden.
liijfer ;i,i Hintergrund eine Schenke an der
i ar.iMias^c nach Poggibonsi und ringsherum Wein-
l'C'gv-, -.vie sie auch vorn an der Stadtmauer sich
iTiti.a.g zid'.cii, wo die Vogeljäger ihre Bogen spannen,
wir zählen 55 Menschen, 57 Tiere und 23 Kastelle
odar i läuser. Alles deutet hier auf die Zeit der Ernte,
des Einsammelns und Ausbeutens. Überall herrscht
Eülle, Ereudigkeit, Reichtum; Eortuna’s volles Horn
scheint sich über die Rura paterna ausgeleert zu haben.
Die lange, unter beiden Bildern sich hinziehende
Inschrift soll die
Richter zu steter
Gerechtigkeit und
Strenge auffordern.
Sie ist ein Lob der
Securitas.
Volgite gli occhi a
liniirar
Costei voi, che reg-
giete,
Che qiii figurata
E per siia eccellenzia
corronata
La qua sempre cias-
cuii siio dritte
rende
Giiardate qiianti ben
vengan da lei o
come e dolce vita
riposata
Quella della cittä
ove servata
Questa virtü che piii
d’altra risplende
Ellaguardae difende
Chi lei onora e lor
nutrisca e pasce ;
Dalle sua lucie nasce
El meritar color
ch’operan bene
Ed agl’ iniqui dar
debite pene.
Zu deutsch etwa:
Schaut und bestaunt,
Ihr, die Ihr richtet
Die hier Gemalte
ln eigner Herrlichheit Strahlende,
Dort, wo stets jedes Recht gewahrt.
— Wie fährt man gut im süssen Erieden
Der Stadt, wo diese Tugend
Heller als irgendwo erstrahlt.
Sie führt und beschützt
Den, der sie ehrt; den nährt und sättigt sie.
Mit ihrem Glanz auch leuchtet das Verdienst
Der Richter, die sich ehrlich mühten
Und auch die schuldige Strafe verhängten.
III.
Es ist leider bisher nicht gelungen, eine litterarische
Vorlage für diesen Cyklus nachzuweisen. Dass sie
Vorgelegen hat, scheint mir namentlich wegen des
komplizierten Bildes der Stirnwand ganz zweifellos.
Wir haben für den Trionfo della morte im pisaner
Camposanto die Vorlage in dem ursprünglich fran¬
zösischen, aber längst übersetzten und umgearbeiteten
Roman von den drei Königen und drei Gerippen
mit dem Motto: quod fuimus, estis, quod sumus,
eritis gesichert, dessen orientalischer Ursprung sogar
bis zur Buddhalegende zurückführt. Ebenso darf als
begründet gelten, dass für die Thebäis in derselben
Halle ein Traktat des pisaner Dominikanermönches
Domenico Cavalca (um 1270 — 1342) die Unterlage
bot. Dieser gelehrte Mönch hat ebenso wie sein
Ordensbruder Gi-
ordano da Rivalto
(1266 — 131 1) und
Era Bartolomeo da
San Concordio
in seinen Predig¬
ten, Traktaten, Dis-
ciplinen, Specchi
und Eioretti die
Gedanken zusam¬
mengestellt, die in
lehrhafter Vollstän¬
digkeit als abge¬
schlossene Weis¬
heit formuliert,
bald ein fast kano¬
nisches Ansehen
genossen und auch
den Malern eine
erwünschte Unter¬
lage boten. Auf
solche Schriften
stützte sich Am-
brogio, wenn er an
die Decke des Ka¬
pitels von Sant
Agostino in Siena
die zwölf Apostel
mit Spruchbän¬
dern malte, die
den ihnen jedes¬
mal zufallenden Satz des Credo enthielten?-) Auch
der grosse Mappamondo von 1344, eine Kosmo-
graphie in der Art wie die von Pietro da Puccio im
pisaner Camposanto, die Ambrogio gleichfalls für
den Palazzo Pubblico gemalt hat, hatte eine schola¬
stische Grundlage. Dass gerade Ambrogio mit solcher
Buchgelehrsamkeit vertraut war, wird uns von seinen
Biographen bestätigt. Vasari sagt I. c. p. 524 aus¬
drücklich , dass Ambrogio avendo dato opera nella
giovanezza alle lettere . . . ., praticö semper con
letterati e virtuos! uomini .... Er nennt ihn gerade¬
zu einen filosofo. Ghiberti, der Ambrogio an erster
Stelle unter den Sienesen vor Simone erwähnt, sagt
(ed. Erey, p. 41); Fu molto perito nella teorica di
1) Vgl. Wiese-Percopo, Ital. FJteratiirgescliichte S. ii6f.
2) Vasari ed Mil I, 522.
Ambrogio Lorenzetti, Wunder des hl. Nikolaus. Aus S. Procolo.
Florenz, Accademia
DAS GUTE REGIMENT
>45
detta arte; und bei Siiiione’s Vita: tengono i pittori
Sanesi, fosse i miglor; a me pare molto miglore
Ambrugio Lorenqetti et altrimenti dotto che nessuno
. . . Solche Gelehrsamkeit und Begabung muss sich
bei Ambrogio zu jener inneren Ausreifung um¬
gewandelt haben, welche es seinem Empfinden und
Auge ermöglichte, über das Einzelne hinweg zu
sehen und zur Gesamtheit der Erscheinungen durch¬
zudringen. Solche Synopse ist ja im Grunde die
Vorbedingung für alle Koloristen; Ambrogio aber war
mehr als Kolorist, ln jener Tafel der Florentiner
Akademie von 1342 hat er uns gewiss ein malerisches
Geheimnis von leuchtender Kraft enthüllt. Duccio’s
fein berechnete, wirksam kontrastierende und doch nie
massiv sich bekämpfende Töne haben unter seiner
Hand erst die volle Glut einer prangenden Herrlich¬
keit erworben. Aber mehr noch als diese Farben¬
symphonien wirkt das malerische Arrangement, die
Einheit seiner Bilder. Jene strenge Scheidung zwischen
Mensch und Umgebung, die Giotto gepredigt hatte
und Florenz so treu befolgte, weicht hier einer viel¬
leicht weniger wirksamen, aber schöneren und tieferen
Einsicht vom Zusammenkiang alles Bestehenden.
Giotto ist der Biograph des heiligen Franz geworden;
aber den Naturpantheismus, der aus Franz’ Sonnen¬
sang herausklingt, konnte der Florentiner nicht malen.
Hier setzt die sienesische Kunst mit zartem , be¬
scheidenem Klang ein. Thode hat einmal das Ver¬
hältnis von Siena und Florenz mit dem von Köln
und Nürnberg verglichen; und die Verwandtschaft
zwischen Siena und Köln besteht nicht nur bei diesem
Vergleich. Das specifisch Eigenartige der sienesischen
Kunst aber vertritt nicht Duccio’s heilige Tafel oder
Simone Martini’s romantische Ritterlegende, sondern
Ambrogio Lorenzetti. PAUL SCHUBRING.
Art Fra Angelicos, Wunder der hl. Helena. Berlin, Altes Museum
F. Rops, Der Skandal. Kolorierter Stich.
FELICIEN ROPS
Von I^udoi i’ii Lothar in Wien
Von einem Manfred der
Kunst will ich liier einiges
erzählen, von einem Mei¬
ster, der in seinen Werken mit
wunderbarer Deutlichkeit ein
Abbild der krankhaft entarteten
Psyche gegeben hat, der kein
Sittenschi Iderer war im Sinne
wie diese Bezeichnung ge¬
wöhnlich auf Dichter und
Maler angewendet wird und
dessen Werk doch ein Doku¬
ment ist für die Kulturge¬
schichte unserer Zeit: Felicien F^ops.
Rops hat Weib und Mann, Tod und Teufel paro-
distisch und travestierend behandelt. Denn er war
seinem innersten Wesen nach Satiriker. Er begann
seine Laufbahn als Karikaturenzeichner 1854 in
Brüssel, wo er ein Witzblättchen »Uylenspiegel« be¬
gründet. Als Chargenzeichner berührt er sich viel¬
fach mit Daumier, Gavarni und Henry Monnier.
Und doch konnte Rops, der bissige, gallige, bos¬
hafte, teuflische Rops, auch heiter und lustig, fast
hätte ich gesagt harmlos sein. Diese seine heitere Art
offenbart sich am stärksten in seinen Scenen aus dem
vlämischen Volksleben. Er beobachtet und schildert
sein Land und seine Leute so gut wie Tod und
Teufel.
Ja, sein Land! Das war das flandrische Land.
Wenn er auch als Wallone (in Namur am 10. Juli
1831)^) geboren wurde, wenn auch iii seinen Adern
ungarisches Blut floss — sein Grossvater lebte in
Alföld in Flandern war seine Familie vor Jahr¬
hunderten schon zu Hause. Und das Germanische
seines Stammes erkennt man bald in seinen Werken.
Rembrandt und Dürer waren seine Lehrer, jener in
der Technik und in den Kombinationen der Technik,
dieser im philosophischen Gerüst der Komposition.
Aber auch andere Meister hat er eifrig und lernbe¬
gierig studiert den Höllenbreughel, Goya, Callot.
Mit Rubens teilt er die Vorliebe für üppige, volle
Formen. Aber nirgends ist bei ihm eine Anlehnung,
eine Nachahmung zu finden. Er verarbeitete innerlich
das Gelernte und Erschaute. Er suchte seinen eigenen
Weg. Und er ist ihn gegangen.
Er schrieb einmal in einem Briefe: »Ich suche
eine neue Formel der Kunst; ich finde, dass unsere
Künstler das Nackte nicht modern genug behandeln.
Was sie bieten, ist immer wieder eine Nachbildung
der Antike. Ich suche eine intensivere Nacktheit,
1) Gest. 22. August 1898.
FELICIEN ROPS
147
F. Raps, Das Glück im Verbrechen.
RacHentng.
deren Anblick uns mit nnbekanntein Schauern packen
müsste. Im Gebiete der Kunst muss diese Nacktheit
liegen, und ich werde sie finden!
Rops hat sie gefunden. Wenn man seine Blätter
durchgeht und zu ergründen sucht, was uns darin
so seltsam ergreift, so mächtig erregt, so kann
man dem Geheimnis seiner Kunst auf die Spur
kommen. Diese Körper gehorchen den Sinnen, die sie
zerwühlen; auf diesen Nerven laufen die elektrischen
Eunken aus dem Gehirn des Künstlers. Er zeigt uns
die Entartungen, die Laster der Kultur nicht im Bilde
der That, sondern im Bilde des Thäters, im Bilde
seiner elenden Nacktheit. Wie das Drama der letzten
Jahre nicht Handlungen, sondern Charaktere darzu¬
stellen suchte, so war auch Rops ein Charakteristiken
Er hob das Laster in der abschreckendsten Gestalt
aus der Pfütze und gab es preis — nicht unserer
Begier, sondern unserem Absehen. »Aus jedem Stein,«
sagte er einmal, auch wenn er noch so beschmutzt
in der Gosse des Lebens liegt, vermag man den gött¬
lichen Eunken zu schlagen. Alles, auch das Ab¬
scheulichste verklärt seine Kunst. Und er hat des
Abscheulichen genug gethan. Alles, auch das Ge¬
meinste, hob sein gewaltiger Humor in das Gebiet
der Kunst. Und seine Satire bestand darin, das Weh
der Welt aus der Geschlechtsperspektive zu betrachten.
Auch Rops war ein Walirheitssucher. Er suchte
sie in der Natur, deren getreuer Schüler er immer
blieb. Er hat alles, alles nach Modell gezeichnet. Und
er war ein vorzüglicher Zeichner. Sein Kontur ist
tadellos. Aus seiner Linie sieht man, wie er die
Natur liebte. Er sah den Tod und den Teufel
sonst hätte er sie nicht zeichnen können.
Rops sah im Weibe das Schicksal. Er sah das
Weib als Opfer und als Henker. Er sah den Mann
als Spielzeug in den Händen des Weibes und das
Weib selbst als Werkzeug einer furchtbaren Macht.
Und dieser Macht gab er die Züge Satans.
Rops, den man einen Satanisten und Erotiker
nennt, mag diese beiden Titel als treffenden Witz em¬
pfunden haben. Er - der Erotiker hat unbarm¬
herzig und mit Spott und Ironie die Abgründe und
Schrecken der sinnlichen Liebe gezeigt.
Rops war Don Juan und Laust zugleich. Das Ver¬
schmelzen dieser beiden Naturen gab seinem Wesen
das Gepräge. Keiner ist noch so weit vorgedrungen
in die verborgensten, grauenvollsten Tiefen mensch¬
lichen Empfindens wie er. Er sah die heissen
Schlangen der Lüsternheit sich in feuchten Ringen
um die Leiber schlingen, er sah die Glieder
sich winden in Krämpfen. Er sah das Kreuz er¬
richtet, an das der Mensch das Göttliche, die
Liebe geschlagen mit grausamen, wütenden Hammer¬
schlägen. Und er sah alle Martern, die der Mensch
ersonnen, um dieses Göttliche zu schänden. Aber
er war auch ein Ernster, ein Strenger. Er wollte
als Moralist wirken, als solcher genommen wer-
F. Rops, Das Weib mit dem Harlekin.
Railicrnng.
148
FELICIEN ROPS
den. Er ^ei,:. :C uie Sünde, um von ilir abzu-
schrevKon, er '■ihrl- in die Eiölle, um den Weg zum
S üni 'J zu ' i\ Er veraclitete und verfluclite die
i iii'i ■. :il '.it- in ‘X'eibideal schändet. Auf seinem
'enn . - . n E!.u ■’ ^a femme au cochon folgt mit
^ ..i’.dc!':- e V' ;ki., Weib dem Schwein, das sie
;)a? ■ [ . ;r.c wilde uiul groteske Anklage. Kops
.v:;:u.-a'0:Wi-
i -r I
' U'i 'Uid
i;er f'ieisicr
des i )bscö-
ncn. Aber
bei ihm ist
das Lascive
grotesk, das
Obscöne
grandios.
Keiner liat
noch so die
Lhizuclit ge¬
brandmarkt
wie Rops,
der sie zu
schildern
wagte. Er
warein grim¬
mer, ankla¬
gender Ero¬
tiker; er klag¬
te an: die
Gesellschaft
und den
Mann, das
Weib und
das Easter.
Rops
schildert den
Kampf zwi¬
schen Mann
und Weib,
zwischen
Laster und
Gesellschaft.
Er zeigt den
Mann als
Verführer
und Ausbeu¬
ter, er kennt
den Alp des
entarteten
Weibes, der auf den Männern lastet. — Aber er
hat nicht nur den Satan im Weibe gezeigt, sondern
auch den Himmelsboten in ihr. Kein Meister des
1 8. Jahrhunderts hat einen Mädchenkörperchen mit so
viel knospender Anmut, mit so zartem Reiz dar¬
zustellen gewusst wie er.
Und mit dem Teufel zeichnet Rops den Tod, der
hinter ihm lauert. Einen Totentanz der Sinne bedeuten
seine Blätter. Der Tod entkorkt den Champagner des
Genusses, sitzt hinter Rosen und Veilchen, hebt die
F. Rops, Alles ruhig in
Vorhänge des Schlafgemaches, ist Kuppler und Zu¬
hälter. Aber Holbeins alter Knochenmann ist heute
durchaus modern geworden. Er trägt den Erack, und
eine Blume ziert sein Knopfloch. Nur sein böses,
triumphierendes Eächelu ist das gleiche geblieben.
Keiner hat es besser als Rops verstanden, in ein Lächeln
alles Böse, alles Perverse zu legen. Der Gedanke an den
Tod liess
Rops niemals
los. In al¬
len Vermum¬
mungen
kehrt er wie¬
der. Bei al¬
len tollen
Ausflügen
seiner Phan¬
tasie in die
entlegensten
philosophi¬
schen Ge¬
biete ist er
der treue Be¬
gleiter. Rops
vermag, so
scheint es,
gar nicht zu
philosophie¬
ren, ohne an
den Tod zu
denken. Man
könnte sa¬
gen, Rops
schiebt Ke¬
gel nach
Ideen mit
einemToten-
kopf als Ku¬
gel. Nicht
immer trifft
er das Ziel.
Manches sei¬
ner allegori¬
schen und
symbolisti¬
schen Blätter
ist abstrus
und verwor-
Warschaii. Lithographie
verständlich,
wie es dunk¬
le Träume sind, über deren Bedeutung man be¬
klommen sinnt.
Rops ist Realist und Idealist, Experimentator na¬
turalistischer Observanz und Mystiker. Rops hat das
Hässliche und das Schöne im Weib geschildert, das
Hässliche mit der rücksichtslosen Hand, dem unerbitt¬
lichen Auge des Eorschers, das Schöne mit dem ver¬
klärenden Pinsel des Romantikers. So berührt er sich
denn in seltsamer Weise mit allen unseren grossen
Realidealisten: Mit Stuck, mit Klinger, dessen
FELICIEN ROPS
149
Salome« ganz ropsisch ist - mit Böcklin, mit Rodin.
— Aber Rops ist eigentlich ganz nur verständlich,
wenn man die Eitteratur seiner Zeit verfolgt und
kennt. Er, der Jesuitenschüler, ist als bildender
Künstler eigentlich immer Eitterat geblieben. Er war
ein Bücherwurm und ein Gelehrter, ein Eyriker und
ein Satyriker. Rabelais, Poe, Baudelaire, Barbey
d’Aurevilly haben seinen Geist gemodelt und be¬
fruchtet. Sein Satanismus war vor allem ein litte-
rarisches Gewächs, dem
Beete der »Eleurs du
mal« von Baudelaire
entsprossen. Und wie
er von der Eitteratur
seine Anregungen em¬
pfing, so hat auch er
wieder auf das Schrift¬
tum der Gegenwart
durch seine Phantasie
eingewirkt. Mancher ist
ihrem Zauber verfallen
zu seinem Verderben,
mancher hat von ihr
tiefe und grosse Ein¬
drücke erfahren.
Ereilich, die Zahl
der Kenner ist nicht
übergross. Die besten
Blätter kann man nicht
öffentlich ausstellen.
Rops selbst liebte es, als
der Einsame zu gelten,
als der Aristokrat, der
seinen Umgang wählt.
Octave Mirbeau erzählt
von ihm eine kenn¬
zeichnende Anekdote.
Rops trifft in einem
Salon einen sehr rei¬
chen, sehr eitlen, sehr
hochmütigen soge¬
nannten »Mäcen , einen
jener impertinenten
Beschützer der Kün¬
ste, die da glauben,
für ihr gutes Geld die
Künstler wie Eakaien
behandeln zu dürfen.
Der Gönner also wen¬
det sich an Rops mit
den Worten: Sie sind sehr talentiert, Herr Rops,
aber Ihre Blätter sind verteufelt schwer zu haben!
Wie kommt das? Seit fünf Jahren gebe ich dem
Kunsthändler C . den Auftrag, mir einige Ihrer
Serien zu beschaffen, und seit fünf Jahren — , >d<önnen
Sie keine kriegen!« fiel ihm der Meister ins Wort.
Das ist sehr einfach zu erklären. Ich habe eben dem
Kunsthändler C . verboten. Ihnen ein Blatt
von mir zu verkaufen. Entschuldigen Sie, mein Herr,
aber ich bin wählerisch — auch bezüglich meiner
Käufer! Sprachs und ging davon.
ZeitsclinfI für bildende Kunst. N. F. Xlll, U. 6
Und Rops that wohl daran, wählerisch zu sein,
wenn die Umstände es ihm erlaubten. Seine Blätter
sind nicht für jedermann. Sie sind ein Genuss für
den Reifen, der ihren Sinn versteht, sie sind Gift für
den Neugierigen, der das Curiose an ihnen beschnüffelt.
Rops beherrschte jede Technik. Er hat in Öl und
Aquarell gemalt, er hat radiert und geätzt, Bleistift,
Eeder und Röthel benutzt. Die Steinplatte und die
Kupfertafel behandelte er mit gleicher Meisterschaft.
Aber als Radierer hat
er doch den Gipfel
seines Könnens erreicht.
Er war zweifelsohne
einer der interessante¬
sten Stecher aller Zei¬
ten.
Eür einen Band
Gedichte Tonte la
lyre von Stefan Mal¬
larme hat Rops das
Titelblatt entworfen.
Ein Mädchen von wun¬
derbarer Keuschheit
sitzt auf einem Thron
und hält eine Eeier,
deren Saiten in den
Himmel, ins Unend¬
liche reichen. Zwei
Hände, die Hände des
Dichters, greifen in die
Saiten. Und es ist, als
seien sie losgelöst von
aller Körperlichkeit,
Hände der Seele! Von
überall her aber recken
sich andere Hände,
Geisterhände empor zur
Leier. Als ob das ganze
Heer der Geister, die
um uns weben, mit¬
spielen wollte! Die
feinen Eüsse des Mäd¬
chens ruhen auf blö¬
den , lorbeergekrönten
Schädeln und Eratzen.
In das Postament des
Thrones ist ein F^elief
eingelassen, das den
alten, zum Skelett ab¬
gemagerten Pegasus
zeigt, wie er mit dem Gespenst des Dichters, das
seinen Hals umklammert ad astra! strebt. Das
ist der Eormpoet , der Epigone. Und die Schädel
und Eratzen sind die Reste der Philister, die Rops
sein Leben lang gründlich hasste und dementsprechend
höhnte. Zu den Sternen empor aber steigt das Lied
von der göttlichen Leier, die das reine Weib festhält
mit ihren liebegeweihten Händen.
Und dieses herrliche Blatt möchte man den ge¬
sammelten Werken Eelicien Rops’ voransetzen!
20
DISIECTA MEMBRA
Von Waltufr Amelung in Rom
CEiT der griechische Boden begonnen Iiat — und
mm wetteifert mit iinn aucli das Meer - seine
gelieinmisvollen Tiefen aufzntluin und Schätze
über Schätze dem goldenen Sonnenlichte und den
schönheitsdnrstigen Blicken der dankbaren Menschen
wiederzngeben, Schätze, die vor Jahrhunderten und
Jahrtausenden seinen
gesegneten Scheitel mit
ihrer vornehmen Pracht
gekrönt, seitdem ist die
Freude an dem ganzen
gedrängten, wild durch¬
einander gewürfelten
Reichtum der Museen,
die ihre Fülle zum
grössten Teile dem
italienischen Boden
verdanken, nm ein Be¬
trächtliches gesunken.
Wiegt doch ein Fund,
wie der Hermes des
Praxiteles in Olympia,
die ganze Masse von
antiken Werken auf, die
der Vatikan in seinen
stolzen Sälen birgt;
und sind es auch oft
nur Trümmer, die das
Schicksal bewahrt hat,
so ist doch ihr Anblick
wie ein Trunk unge¬
mischten Götterweines,
in den menschliche
Unzulänglichkeit kei¬
nen Tropfen ernüch¬
ternden Wassers ge¬
gossen.
Und das ist bei
fast all jenen Funden
italienischen Bodens
der Fall. Auch er hat
einst Wunderwerke
der antiken Kunst getragen, neben den eigenen römi¬
schen Schöpfungen den ganzen Raub , den seine
siegreichen Feldherren aus dem tiefgebeugten Griechen¬
lande heimschleppten; aber es ist, als ob die Wut
der Zerstörer sich vornehmlich gegen diesen kost¬
barsten Besitz gerichtet habe, denn selten giebt uns
der italienische Boden eines jener Original¬
werke wieder, das dann in dem Gewirr der Museen
aus der Masse des Aufgehäuften mit sieghafter Schön¬
heit hervorleuchtet, aus der Masse der Skulpturen, in
denen die im besten Falle geschickte oder gewissen¬
hafte, meist aber gedankenlose Hand des römischen
Kopisten gesucht hat, die mit genialer, sprühender
Leichtigkeit geschaffe¬
nen Kompositionen der
griechischen Meister
ängstlich nachzuahmen.
Wie ganz erstorben
die Erfindungskraft in
jenen Zeiten war, wie
alle, die den Meissei
führten, darauf ange¬
wiesen waren , das
Überkommene zu wie¬
derholen — römisches
Porträt und erzählen¬
des Relief lassen wir
bei Seite — das er¬
kennt man recht deut¬
lich vor den unend¬
lichen Listen von Ko¬
pien ein- und dessel¬
ben Werkes, von dem
oft die einzelnen Exem¬
plare in allen verschie¬
denen Winkeln des
römischen Weltreichs
zu Tage gekommen
sind. Nur eben soviel
Selbständigkeit hat sich
der Kopist gewahrt,
nm die Figur den spe¬
ziellen Bedingungen
seiner Bestellung ent¬
sprechend auszuführen ;
denn es war ihm natür¬
lich nicht gleichgültig,
ob sein Werk im Saal
eines reichen Kunstlieb¬
habers den Blicken nahe stehen oder auf dem Dache
eines Gebäudes nur zur Dekoration dienen sollte; in
unseren Museen aber stehen all diese verschieden¬
artigen Stücke friedlich nebeneinander.
Und dennoch - hat man Auge und Herz ge¬
sättigt an der Freude über die griechischen Funde,
so fliegen die wissbegierigen Gedanken immer und
Abb. I. Weiblicher Kopf aus Pergamon.
Ergänzt von Harro Magnussen
DISIECTA MEMBRA
151
immer wieder zurück zu den altbekannten Museen
und suchen, wo sie dort anknüpfen können, um in
der grossen Entwickelungskette der griechischen Kunst¬
geschichte Glied an Glied zu fügen. Und das kann
uns niemals die kleine Anzahl der dem heimischen
Boden entstiegenen Werke leisten; hier muss ein ent¬
sagungsvolles Studium all jener nüchternen Nach¬
ahmungen ergänzend eintreten und mit strenger Kritik
sondern und sichten. Ist uns doch auch in ihnen
ein so reiches Kapital an Schönheit erhalten, dass nur
blasierte Gedankenlosigkeit sie ganz verwerfen könnte;
und ist uns auch in manchen Eällen nur noch das
Gerüst der Kom¬
position geniess-
bar erhalten, so
ist es eben doch
erhalten und thut
nach wie vor
seine Wirkung.
Hier treten
jedoch andere
Thatsachen hin¬
dernd, dem Eor-
schenden aber
zugleich spor¬
nend, in den Weg.
Den ganzen
Reichtum der an¬
tiken Skulpturen
Italiens haben die
Sturmfluten der
Völkerwande¬
rung zerschla¬
gen ; was an
Trümmern sich
erhalten hatte,
wanderte in die
Kalköfen oder
versank unter die
Erde , aus dem
es nach Jahr¬
hunderten der
Zufall wieder
hervorzuziehen
begann, und das
zu einer Zeit,
als man für die Schönheit dieser Reste vollste Em¬
pfindung hatte, aber von ehrfurchtsvoller, historischer
Wertschätzung weit entfernt war. Die Künstler der
Renaissance und der Folgezeit waren viel zu selbst¬
ständig und naiv, als dass sie sich nicht ohne weiteres
die Berechtigung zuerkannt hätten, jene antiken Reste
nach ihrem Sinne zu vervollständigen, wozu der
fragmentarische Zustand sie ganz natürlich reizen
musste. Das, was von der ursprünglichen Kom¬
position geblieben, ward aber nur insoweit berück¬
sichtigt, als es der eigenen Phantasie Anhalt gab zu
einer neuen Schöpfung, die häufig unter Beseitigung
etwa entgegenstehender Reste ausgeführt wurde. So
entstanden seit dieser Zeit all jene mehr oder minder
geschmackvollen oder gedankenlosen Ergänzungen,
die unserem heutigen Empfinden so unerträglich ge¬
worden sind, mögen sie von der genialen Hand
Benvenuto Celiini’s stammen oder von der sorgfäl¬
tigen Hand Thorwaldsen’s, der in Wahrheit dem
innersten Kerne der antiken Kunst noch fremder gegen¬
überstand, als seine Vorgänger.') Noch schlimmer
aber als die Ergänzungen sind die Zusammenfügungen
antiker Teile, wobei die vollkommene Unkenntnis all
der vielseitigen Entwickelungsstadien, die die antike
Kunst durchlaufen hat, zu den ungeheuerlichsten
Konsequenzen führte. Man denke sich eine Madonna
des Trecento ausgestattet mit einem Kopfe des
Bernini! — eben¬
so aber gab man
Torsen der phi-
diasischen Zeit
Köpfederhelleni-
stischen oder rö¬
mischen Epoche
und umgekehrt.
»Die Antike war
ein fester, ein¬
heitlicher Begriff,
und erst Winckel-
mann’s Genius
erkannte auch
in ihr die Wan¬
delungen des
Werdens und
Vergehens , wie
sie allem Men¬
schenwerk be-
schieden sind, in
nebelhaften Um¬
rissen.
Diesen gan¬
zen Karnevals¬
wirrwarr der Mu¬
seen alten Stils
muss entwirren,
wem es damit
Ernst ist, die kost¬
baren Elemente
antiker Darstel¬
lungen reinlich
herauszuschälen.
Und noch ein Hindernis: wie schon im Altertum
die Wiederholungen ein und desselben Originales
1) Wie unendlich schwer gute Ergänzungen herzu¬
stellen sind, haben die Misserfolge der Berliner Konkurrenzen
bewiesen. An dem bekannten Frauenkopf aus Pergamon
war fast nur ein Stück der Nase und der Haare zu er¬
gänzen. Die beiden preisgekrönten Arbeiten von Begas
und Felderhoff, die im Berliner Gipsmuseum ausgestellt
sind, genügen durchaus nicht; sie geben dem Kopf mit
seinen runden weichen Formen eine ziemlich spitze Nase,
deren Löcher zu weit nach vorn geführt sind. Auch im
Leben haben Menschen mit einem so weichen Formen¬
charakter eine rundliche Nase mit kleinen runden Löchern;
aus der Antike hätten zum Muster dienen können die etwa
gleichzeitigen Nasen des Anytos aus Lykosura und eines
20*
Abb. 2. Weiblicher Kopf aus Pergamon. Ergänzt von Harro Magnussen
DISIECTA MEMBRA
über alle Teile des Reiches zerstreut waren, so sind
sie es heute über alle Museen der Welt; ja es kommt
vor, dass sich Teile eines Werkes an verschiedenen
Orten befinden. Aus all diesen in verschiedenster
Weise erhaltenen Resten muss versucht werden, ein
Bild wieder zu gewinnen, das dem einstigen, gemein¬
samen Originale möglichst genau entspricht. Deshalb
liat man in unserer Zeit, in der diesen Studien mit
der Photographie eine unschätzbare Hilfe geschaffen
wurde, begonnen, all jene weit verstreuten Eragmente,
auch das unscheinbarste, den Forschenden, auch dem
an die Scholle Gebannten, bekannt zu geben ; Vor¬
arbeiten, die, vereint mit jenen Entwirrungsarbeiten in
den alten Museen, alle einem gemeinsamen Ziele zu¬
drängen: es muss in absehbarer Zeit gelingen, was
von so umhergeschleuderten Teilen einer Komposition
erhalten ist, als zueinander gehörig zu erkennen und
auf diese Weise immer mehr antike Schöpfungen so
vollkommen wie möglich wiederzugewinnen, die
disiecta membra wieder zu einem Körper zu ver¬
einigen. Und weiter und höher hinaus liegt ein
anderes Ziel: wie die Erkenntnis, so muss auch die
thatsächliche Wiedervereinigung gelingen; nicht im
Marmor — das ist undenkbar — , sondern im ge¬
fügigeren Gips oder besser Marmorstuck. Es kann
uns auf die Länge nicht genügen , nur immer zu
wiederholen: Dieser Kopf gehört zu jenem Körper.
Wir müssen die Vereinigung mit Augen sehen und
geniessen können, und — noch ein wichtiger Schritt
den Figuren, die im Original in Bronze gearbeitet
waren, müssen die plumpen, nur dem Marmor zur
Stütze notwendigen Stämme weggeschnitten und die
dunkle, glänzende Farbe des Metalls mit all ihren
Lichtern und Reflexen gegeben werden. ')
Aber der Leser wird mit bedenklichem Kopfschütteln
meinen, all das seien phantastische Forderungen, im
besten Falle interessante Spielereien, die von vorn¬
herein in den wenigsten Fällen ausführbar sein und,
wenn auch, der Anschauung dessen, was die Antike
geleistet, kaum wesentliche Förderung bringen dürften.
Hier einige Proben vom Gegenteil.
Auf dem Boden des antiken Ortes Bovillae am
nördlichen Fusse der Albanerberge war in einer
weiblichen Kolossalkopfes im kapitolinischen Museum. Es
freut mich an dieser Stelle eine meiner Meinung nach
weit gelungenere Ergänzung des Kopfes von Harro Mag¬
nussen veröffentlichen zu können; s. Abb. i u. 2.
Eine hervorragende und in allen wesentlichen Punkten
unanfechtbare Restauration ist die Wiederherstellung der
Giebel des Zeustempels von Olympia im Dresdener Alber¬
tinum (Olympia 111, T. XVllI — XXI); ebendort hat man bei
der Ergänzung der antiken Skulpturen des Museums Ab¬
güsse besser erhaltener Wiederholungen verwendet; ein
vortreffliches Prinzip, das aber bisher an anderen Orten
kaum in einzelnen Eällen nachgeahmt worden ist.
1) ln Köln ist von der Kunstanstalt A. Gerber eine
Reihe derartiger Restaurationen hergestellt worden, von
denen einige zur Dekoration der pompejanischen Zimnrer
im Wallraf-Richartz-Museum ebenda verwendet sind. Eine
von ihnen bilden wir im nächsten Hefte bei der Eort-
setzung des Aufsatzes ab.
Temita der Familie Colonna das Fragment eines
Frieses gefunden worden, auf dem dargestellt ist, wie
der Leichnam eines jugendlichen Heros von zwei
Genossen ans der Schlacht nach Hause getragen wird;
neben dem Leichnam sieht man einen alten Mann
gebeugt am Stabe einherschreiten. Die Arbeit des
Stückes, das sich heute im Palazzo Colonna zu Rom
befindet, ist dekorativ, die Komposition sehr ansdrncks-
voll. Da wurde es Mitte des vorigen Jahrhunderts
bekannt, dass sich in dem Kloster der griechischen
Mönche zu Grottaferrata ein weiteres Stück der glei¬
chen Darstellung befinde, das unweit der Fundstelle
des ersten zn Tage gekommen sei; ja, es ergab sich,
dass dieses Stück unmittelbar an jenes, d. h. an seiner
linken Seite anpasse; und damit wurde die Darstel¬
lung fast vollständig. Leider war das Fragment in
Grottaferrata ergänzt worden, so dass eine direkte
Vereinigung der Gipsabgüsse bisher unmöglich ge¬
wesen ist. Unsere Abbildung (3) giebt den Versuch
einer Rekonstruktion mittels zweier Photographien,
der notwendig unvollkommen ausfallen musste, aber
doch eine Ahnung von der Schönheit des Ganzen
giebt. Links kommen hinzu: die Figur des Tragen¬
den, zwei Waffengefährten, von denen der eine Helm
und Schild des Gefallenen trägt, der andere trauernd
das Haupt neigt, vor allem aber jene rührende alte
mütterliche Gestalt, die dem gebückten Greise be¬
scheiden mit kummervollem Antlitz folgt. Die Dar¬
stellung giebt augenscheinlich ein Ereignis aus der
Heroendichtung wieder und der Tote wird Meleager
zn nennen sein; dann wären die beiden Alten nicht
- - was man sonst geneigt wäre anzunehmen — Vater
und Mutter, sondern Pädagog und Amme, die beiden
Pfleger der Kindheit des Erschlagenen, die beim
Herannahen des Trauerzuges aus dem Hause geeilt
sind und ihn nun in stummem Schmerze geleiten;
die Verzweiflung der Eltern und der jugendlichen
Gattin wäre dann auf einer zweiten Reliefplatte dar¬
gestellt gewesen; das Ganze aber hätte einen fort¬
laufenden, vielleicht durch Pilaster in einzelne Felder
geteilten Fries gebildet. Bleibt all das nur An¬
nahme, so ist doch die Hauptsache durch die Zu¬
sammensetzung auch für uns wiedergewonnen:
eine fest in sich verschlungene Gruppe, voll des
wahrsten Ausdruckes einfachster Handlung und tief¬
ster Gefühle, alles beherrscht von der einen düsteren
Stimmung ergreifender menschlicher Teilnahme und
Trauer^).
Die Besucher des lateranensischen Museums erinnern
sich eines schönen römischen Reliefs im ersten Zim¬
mer, das eine Prozession verschiedener Togati und
Lictoren darstellt (s. Abb. 4); Thorwaldsen soll die
zwei fehlenden Köpfe ergänzt haben, und die Haupt¬
figur hat bei dieser Gelegenheit den Kopf des Kai¬
sers Trajan erhalten. Im Hintergründe sieht man in
flachem Relief die kannelierten Säulen eines Tempels;
sie gaben den ersten Anlass zu der Entdeckung der Fort¬
setzung des Reliefs nach oben, auf der die Säulen-
1) Braun, Bullettino dell’ Istituto 1838, p. 22ff. ; Anie-
Inng bei Amdt-Anielung, Einzelaiihiahnien, Text zu Nr. 1 162
DISIECTA MEMBRA
'53
Abb. 3. Heiinbringiing der Leiche eines jugendlichen Ijriegers
Rechte Llülfte im Palazzo Colonna in Rom, linke in Orotfaferrata
halse mit den Kapitellen, dem Gesims und der linken
Hälfte eines Giebels dargestellt sind'). Dieses Frag¬
ment war nach mannigfachen Irrfahrten ins Thermen-
Mnseum gelangt. Man hatte schon längst erkannt,
dass auf ihm die dem Forum zngekehrte Seite des
Tempels der Venns und Roma wiedergegeben sei,
eines Gebäudes, mit dem der Kaiser Hadrian die
Höhe zwischen Forum und Kolosseum gekrönt hatte;
seinen Kopf also, nicht den des Trajan, müsste jene
Figur auf dem unteren Fragment tragen, wenn es
nicht durch den Vergleich mit analogen Darstellungen
sicher wäre, dass sich die Gestalt des Kaisers erst
weiter rechts auf einem jetzt verlorenen oder noch
nicht wiedergefundenen Teile der Komposition befand.
Durch die Zusammensetzung der beiden Fragmente
ist es klar geworden, dass eine feierliche Funktion
vor der Front des Tempels im Beisein des kaiser¬
lichen Erbauers dargestellt war.
Liegt in diesem Falle der Gewinn mehr in der
Aufklärung über die historische Stellung des Werkes
und der deutlicheren Erkenntnis des Gegenständ¬
lichen als in der Erhöhung des künstlerischen Ge¬
nusses, so kam dieser allein auf seine Rechnung bei
1) Petersen, Römische Mitteilungen 1895, p. 244 ff. T. V.
In dem Giebel rechts die schlummernde Rhea Silvia, zu der
Mars herabschwebt (nur seine Beine sind noch sichtbar);
links die Gruppe der Wölfin mit den Zwillingen und zwei
erstaunt entweichende Hirten; ganz in der Ecke zwei
Widder.
der Vereinigung von zwei anderen Relieffragmenten.
Auf dem Palatin hatte man Teile eines Reliefs
gefunden, das zwar durch seine geringwertige Arbeit
verriet, dass es lediglich zur Dekoration eines der
stolzen Kaiserpaläste bestimmt gewesen, in dessen
Komposition sich aber ein edles Vorbild ans der Zeit
des peloponnesischen Krieges kundgab, so dass es
die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen musste
trotz seines trümmerhaften Zustandes (s. Abb. 5). Drei
Frauen stehen nebeneinander; ein intimes Verhältnis
waltet zwischen den beiden links stehenden, während
die rechte im Begriffe scheint, sich abzuwenden:
augenscheinlich eine jener stillen Darstellungen, die
alle unter dem Zeichen des phidiasischen Einflusses
stehen — ich erinnere an das Relief mit Orpheus,
Eurydike und Hermes in denen sich ein bedeut¬
samer, für das ganze Dasein entscheidender Augen¬
blick eben vorbereitet; die Figuren — es sind immer
nur drei sind ganz eingesponnen in tiefes Sinnen
lind zartes, übermächtiges Empfinden, so dass auch
wir widerstandslos hineingezogen werden in die ernste
Stimmung, die aus den Darstellungen herausklingt
lind uns umzieht wie die sanften Tonwellen einer
schwermütigen Melodie. Ein anderes derartiges Werk
soll uns nachher beschäftigen.
Es war demnach ein bestechender Einfall, als in
dem palatinischen Relief eine Darstellung aus der
Niobe-Sage vermutet wurde. Niobe mul Leto waren
einst verbunden in Freundschaft, die erst der Übermut
154
DISIECTA MEMBRA
der Niobe zerstörte. Eber sei min der beginnende
Brucli zwischen den Erenndinnen und der Versuch
seitens einer dritten Genossin, noch eine Versöhming
herbeizuführen dargestellt; die Mittelfigur wurde
Niobe, die rechte Leto, die linke nach einer anderen
Darstellung des gleichen Gegenstandes Phoibe ge¬
nannt. Damals war nichts erhalten als der (3berl<örper
der linken mit Kopf, die Körpermitte der mittleren
und der grösste Teil des Körpers der dritten; da die
mittlere ihre Rechte wie bittend zum Kinn der linken
erhebt, dachte man sich auch die Köpfe der beiden
einander zugewendet und meinte, Niobe bitte die
Phoibe, versöhnend einzugreifen. Da fand sich an
einem selten besuchten Orte, im Giardino della Pigna
des Vatikans, die Büste der mittleren mit dem Kopfe;
Bruch passte auf Bruch, und im Thermen-Museuin,
wo sich jetzt das palatinische Relief befindet, wurde
ein Abguss des neuen Eragments an seiner Stelle ein-
gefügt 1) Vor langer Zeit muss jenes Stück vom Pa¬
latin in den Vatikan gelangt sein. Hier sieht man
nun den Kopf der mittleren diademgeschmückt und
stolz nach der rechten Seite gewendet; deutlicher als
vorher wurde es, dass eine Entscheidung sich voll¬
zieht zwischen der mittleren Eran und der rechten;
aber unmöglich scheint es, noch daran festznhalten,
dass die linke bestimmt sei, eine Vermittelung herbei-
i) Anieliing, Römische Mitteilungen iSpy, p. 3tf. T. I.
zuführen. Lösen kann uns das f^ätsel einst der Eund
einer anderen Wiederholung oder wer wird an
der Möglichkeit zweifeln? die Entdeckung des
fehlenden Teiles mit dem Kopfe der rechten Figur, in
dessen Wendung und Ausdruck schon die Lösung
liegen könnte.
Nun zu jenem anderen F^elief verwandter Art
(Abb. 6). Dargestellt ist ein Vorgang in den
schauerlichen nächtlichen Klüften der Unterwelt. Hera¬
kles wir sehen ihn links auf dem Relief ist
hinabgestiegen, um den Kerberos, den hütenden
Wächterhund jenes Reiches, emporzutragen; da trifft
er in fürchterlicher Gefangenschaft zwei seiner Helden¬
genossen lebend zwischen den Schattenbildern der
Toten: Theseus und Peirithoos. Sie waren frevent¬
lich hinuntergezogen um eines kostbaren Raubes
willen, um die schöne Königin jener stillen Welt,
Persephone, selber zu entführen. Da werden sie zur
Strafe festgebannt auf felsigem Sitz. Herakles erfasst
tiefes Mitleiden mit den Unglücklichen, und er er¬
reicht durch sein Bitten, dass wenigstens Theseus mit
ihm zum Sonnenlicht zurückkehren kann. Hm sehen
wir auf dem Relief rechts stehen, schon gelöst vom
Zauber und bereit, dem Befreier zu folgen, ln der
Mitte sitzt der Arme, der nun allein znrückbleibt;
noch scheint er sein Schicksal nicht zu ahnen, denn
lebhaft wendet er sich um nach Herakles, als erwarte
nun auch er gelöst zu werden; voller Mitleid und
stiller Trauer neigen sich
zu ihm die Blicke der bei¬
den Freunde. Die ganze
Schwemmt, die das bange
Zögern vor dem letzten
Abschied zu langer Tren¬
nung nmdüstert, lagert
drückend über dieser Grup¬
pe. Zwar von dieser Stim¬
mung ist in den Köpfen,
die auf der vollständigsten
Wiederholung im Museo
Torion ia in Rom der Er-
gänzer dem Peirithoos und
Theseus gegeben hat, nichts
zu spüren; doch ist es ge¬
lungen, den Kopf des
Theseus mit seiner antiken
Beischrift - er muss ur¬
sprünglich zu einer anderen
Wiederholung gehört ha¬
ben — im Berliner Museum
nachzuweisen i) Eine Ein-
i) Helbig, Monumenti dei
Liiicei 1892, p. 673 ff. T. Nr. 2.
Vergl. von demselben Ver¬
fasser »Führerdnrcli dieSamm-
lungen klassischer Altertümer
in Rom« Nr. 870. Dass He¬
rakles versuche, den Peirithoos
loszureissen, ist durch seine
Stellung ausgeschlossen; er
müsste ja ausserdem mit der
Abb. 5. Relief mit drei Frauen. Die Büste der mittleren im Vatikan,
das Übrige im Thermenmuseum in Rom
Abb. 4. Prozession vor einem Tetnpel. Untere Hälfte im Mnsco Lateranense,
obere im Thermcnmiiseiim zn Rom
E. EINSCHLAG
1 56
Abb. 6. Herakles, Peirithoos und Theseiis in der Unterwelt.
Kopf des Theseus (r.) im Königlichen Museum zu Berlin,
das Übrige im Museo Torion ia zu Rom
fügimg dieses Kopfes in die
Darstellung des Reliefs war
bislier nur in einer Zeichnung
versucht worden; wir geben
statt dessen den Versuch einer
Zusammensetzung mittels
zweier Photographien. Auch
hier ist zu hoffen und nicht
daran zu verzweifeln, dass
uns ein glücklicher Fund
den einzig noch fehlenden
Bestandteil, den Kopf des Pei¬
rithoos wiederschenken werde.
Darin, dass alles in dieser
Darstellung nur Stimmungs¬
ausdruck ist und Stimmung
erregen will, tritt das Relief,
und die anderen, die ihm
nahe stehen, in engste Bezie¬
hung zu den Grabreliefs, auf
denen einzelne Figuren in
Sinnen verloren oder Fami¬
liengruppen in stillem liebe¬
vollen Beisammensein den
Trauernden an den Gräbern
die holdesten Bilder des Le¬
bens wie in dem ruhigen Licht
einer sanfteren Sonne zeigten.
(Fortsetzung folgt.)
flechten zufassen, und endlich
trägt der linke Arm das Löwen¬
fell lose iibergeworfen ; dadurch
allein ist jeder Gedanke daran
ausgeschlossen, dass er etwa mit
dem Versuch beschäftigt wäre,
den Peirithoos zu befreien.
E. EINSCHLAG
Der junge Künstler, der sich liier zum ersten-
male den Lesern der Zeitschrift für bildende
Kunst vorstellt, führt sich aufs vorteilhafteste
ein. Denn das flackernde, wilde Boulevard-Bild von
Degas (Paris, Luxembourg), das er mit feinem Ver¬
ständnis und glücklichem Anpassungsvermögen an
die Technik mit der Radiernadel wiedergegeben hat,
wird kein Beschauer so leicht vergessen.
Einschlag ist erst 23 Jahre alt; er ist in Leipzig
geboren, besuchte die dortige, später die Münchner
Akademie, wo er Scliüler von Peter Halm wurde.
Seine Leistungen wurden bald bemerkt, igoo erhielt
er eine silberne Medaille, und einige Kabinette er¬
warben seine Blätter. — Unter den Originalradie¬
rungen, die wir von ihm sahen, ist eine Dämme¬
rung' betitelte weibliche Aktstudie durch die tonige,
konturlose Behandlung besonders erwähnenswert. —
Gegenwärtig arbeitet der Künstler an einer sehr
grossen Platte nach Ferd. Goetz; wir hoffen, ihm
noch später auf fortschreitendem Wege zu begegnen.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
Cafe Boulevard auf dem Moiifmaifre von E. Degas. Radiert von E.Emschla;
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIII
NACH EINEM GEMÄLDE VON HANS MAKART RADIERT VON W. WOERNLE^
ft
El Bafio de la Cava Puente de San Martin
Gesamtansicht von Toledo
ARABISCHES AUS TOLEDO
Toledos Lage ersclieint uns als ein Beweis
für die Willkür, mit der Mutter Natur oft bei
ihren Schöpfungen vorzugehen pflegt. Was
zwang den Tajo seine alte Richtung zu verlassen und,
statt sich mühelos durch die Vega, die fruchtbare Ebene,
zu bohren, in weitem Kreise seinen Weg durch die
harten Felsen zu brechen? So wurde eine Art Halb¬
insel aus dem öden
Gebirge herausgeschält,
auf drei Seiten vom
Wasser umspült, eine
natürliche Festung.
Auf diesem sieben¬
hügeligen Granitblock
erhebt sich — grau in
grau — die uralte, einst
so lebensvolle, jetzt so
totenstille Stadt, ein
Protest des Orients ge¬
gen das Abendland.
Ihre Strassen düster
und menschenleer, mit
holperigem Pflaster, in
ewigem bergauf bergab
ein wirres Durchein¬
ander von tausend
Ecken und Winkeln,
nirgends einen freien
Ausblick, aber überall
Schatten bietend ; dabei
so eng, dass nur in
den wenigsten ein Wa¬
gen fahren kann. Und
auch dort mussten
manchmal für die vor¬
springenden Naben der
Karren erst tiefe Rillen
in die Mauern gehauen
werden. Die Häuser
aussen kahl, fensterlos, unfreundlich, oft mit schweren,
eisenbeschlagenen Portalen, die man selten offen sieht.
Aber hat man das Gitter des Vorplatzes, des Zagiian,
hinter sich, so umgeben drinnen luftig und hell die
Gemächer den kühlen, fliesenbelegten Hof, auf dem
sich in der warmen Jahreszeit das ganze häusliche
Leben abspielt, während die oberen Stockwerke mit
ihren Galerieen als
Winterwohnung die¬
nen.
Es ist nicht zu viel
gesagt, wenn man To¬
ledo die arabischste
aller spanischen Städte
nennt.
Von dem, was die
Römer im alten Tole-
tum geschaffen, sind
nur dürftige Trümmer
erhalten, ganz zu ge-
schweigen von den
Goten, an die eigent¬
lich kaum noch etwas
anderes als ein Teil der
Stadtmauer erinnert;
und das christlich-casti-
lianische Leben er¬
starrte, als Philipp 11.
die Residenz nach Ma¬
drid verlegte. Den
Spuren der Muslimen
aber begegnet der Rei¬
sende auf Schritt und
Tritt; ihr Geist umweht
uns noch heute, obwohl
wir von so vielen und
vielleicht den besten
ihrer Werke kaum mehr
die Stätte wissen.
Hof eines Wohnhauses in Toledo
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 7.
21
158
ARABISCHES AUS TOLEDO
Uüd dieses Aufgehen einer längst entschwundenen
i'reinclen Welt vor unseren Augen, das ist es gerade,
was einen Besuch der verwunschenen Stadt so über¬
aus iuhnend macht.
Nach mehrjähriger Belagerung zog am 25. Mai
1085 Alfons Vl. durch die alte Puerta de Visagra in
Toledo ein. Als der Zug der Sieger nun die zweite
Befestigung mit der Puerta de Valmardones passiert
hatte, da kniete — so berichten die alten Chronisten
christlichen Dienste geweiht worden war, durch Bi¬
schof Bernhard bereits gründlich restauriert werden
musste. Genau hundert Jahre später schenkte sie
Alfons VIII., der Gute, den Johannitern, und um diese
Zeit muss das jetzige schmale Querschiff im Osten
angelegt worden sein. Wenigstens entdeckte man im
Jahre 1871 in einigen seit langem vermauerten Nischen
desselben mehrere Wandgemälde, die etwa dem Ende
des 12. Jahrhunderts angehören könnten. Gegen
Ausgang des 15. Jahrhunderts erwiesen sich dann
abermalige umfassende Reparaturen als nötig, bei
welcher Gelegenheit eine nochmalige Erweiterung
das Pferd des Cid nieder, ohne dass der Reiter
es vom Platze zu bringen vermocht hätte, was an¬
geblich den König bewog, alsbald die erste Messe
in einer nahen kleinen Moschee zu hören. Es ist
die heutige Ermita del Cristo de la Luz, oder, wie
der genaue Name lautet, »del Santo Cristo de la Cruz
y Nuestra Senora de la Luz«, und der Schild, den
König Alfons dort zur Erinnerung stiftete, hängt heute
noch an seiner Stelle.
Der Boden ist seit alter Zeit geheiligt. Denn wenn
die Toledaner Überlieferung Recht hat, so bestand
am selben Orte bereits in der Mitte des sechsten
Jahrhunderts ein Gotteshaus, von dem die Legende
mancherlei zu erzählen weiss. Verbürgt ist jedoch
erst, dass die Moschee, nachdem sie, wie gesagt, dem
nach Osten stattfand in Gestalt der polygonalen Apsis,
die Kardinal Mendoza im Mudejarstil ausführte. Ich
komme auf dieses Wort noch zurück. Noch später kam
schliesslich ein in die Strasse hineinragendes Vestibül
hinzu, hinter dessen Putz bis zum April i8gg die alte
Eassade mit ihrer aus Ziegelsteinen zusammengesetzten
Inschrift verborgen lag, so viel ich weiss der einzigen
ihrer Art in Spanien. Seit im Jahre 1857 der letzte
Komthur verstarb, hat sich die Comision de monii-
mentos histöricos y arti'sticos der Kapelle angenommen.
Doch nun hinein in den heiligen Raum, zu dem
der fremde Kunstfreund zuerst den Schritt in Toledo
lenken sollte!
Da beobachten wir den Sohn der Wüste, noch
unfähig eigene Formen zu erfinden, wie er in ge-
ARABISCHES AUS TOLEDO
159
wohnter Weise nicht nur wahllos die Banmateralien,
die er am Orte antrifft, sondern auch ohne weiteres
die Eormensprache sich aneignet, welche schon durch
die Goten in Spanien heimisch geworden war. Es
ist ganz der arabisch-byzantinische Stil der Omejjaden,
den uns leider bloss noch sehr wenige Bauten lehren.
Der heutige Vorranm, die ehemalige Moschee, misst
nur etwa 6'/^ Meter im Quadrat. Auf vier verschie¬
den starke und nicht sehr hohe Marmorsäulen, mög¬
lichen Ealls noch vom Ban der alten Kirche stam¬
mend, stützen sich strahlenförmig ausgehend zwölf
ganz glatte Hufeisenbogen'): das Ganze bildet also
gewissermassen drei
Schiffe, welche durch
drei andere rechtwinklig
geschnitten werden, im
Prinzip genau wie bei
der Kathedrale von
Cordoba. Erst bei der
Tieferlegung des Euss-
bodens im Eriijahr 1 89g
kamen die Basen der
Säulen wieder ans Licht.
Die Kapitäle, zwei ko¬
rinthische, ein dorisches
und ein ausgesprochen
christliches, wurden
offenbar einstmals von
verschiedenen Gebäu¬
den zusammengesucht
und in einer stellen¬
weise recht barbari¬
schen Weise für ihren
Zweck passend ge¬
macht; wie gewöhnlich
ruhen die Anfänger
der Bogen noch auf
trapezartigen Vorsprün¬
gen, die den byzan¬
tinischen Polsterstei¬
nen entsprechen. Die
oberen Scheidewände
der Räume sind wei¬
ter mittels einer Reihe
von Arkaden durch¬
brochen, um Leichtig¬
keit und Licht in die Konstruktion zu bringen, im
mittelsten Viereck Ajimeces“) mit Kleeblattbogen und
Holzsäulen, deren Kapitäle bis auf eines verschwunden
sind, im übrigen jedoch einfache oder doppelte Luken
derselben Wölbung. Der erstere Raum geht schliess¬
lich in ein Achteck über und ist ausserdem etliche
Euss höher als die übrigen, was zur Anlage eines
nochmaligen, rein ornamentalen Bogenkranzes Veran-
1) Girault de Prangey (Essai sur l’architecture des
Arabes et des Mores en Espagne . . .) hat ganz recht, wenn
er dem Ausdruck arc en plein cintre ontrc-passe den Vor¬
zug vor arc en fer ä cheval giebt. Letzterer lässt in der
That nicht die richtige Vorstellung zu.
2) Ajiniez = rundes oder spitzes Bogenfenster in der
Mitte durch eine Säule geteilt (Acad.).
lassung gab. Die neun Kuppeln endlich, welche
nach echt byzantinischer Art den Raum überdecken,
sind sämtlich verschieden gestaltet; dicke Rippen in
Gestalt von runden und spitzen Hufeisenbogen und
anderen von Kleeblattform vereinigen und schneiden
sich zu einem lebendigen Spiel von allerlei Eiguren.
Den beiden Endkuppeln des mittleren Langschiffes
sicht man es ausserdem an, dass einst durch Öff¬
nungen in ihrem Scheitel das Licht hereinfiel, und
auch die Hauptkuppel wurde damals wohl durch
mehrere Lenster erhellt. Jetzt ist droben alles wie
von Rauch geschwärzt, und doch bekommt man hier
eine leise Ahnung von
dem, was wir in Cor¬
doba verloren haben.
— Die Umfassungs¬
wände zeigen dagegen
nur noch geringen
Schmuck; das beste ist
an der Südostwand des
mittleren Querschiffes
eine niedliche Ver¬
knüpfung runder und
dreizackiger Bogen auf
glasierten Terrakotta-
säulchen ruhend.
Die nordwestliche
Langwand liegt frei
nach dem Garten des
Pförtners; man erkennt
auch dort genau, was
zur ersten Anlage und
was zu den späteren
Anbauten gehört. Nur
das Querschiff tritt
allerdings nicht beson¬
ders hervor, da man es
bei der Renovierung
im 1 5. Jahrhundert des
einheitlichen Aussehens
halber mit einer neuen,
der Apsis gleichen
Passadenmauer umklei¬
dete. Die dagegen
aussen scharf markier¬
ten Hufeisenbogen der
Moschee lassen ihrerseits wiederum die Vermutung
nicht unberechtigt erscheinen, sie seien ehemals nach
arabischer Art überhaupt offen gewesen. Dann hätte
auch die Achse des Gebäudes jedenfalls entgegen¬
gesetzt zu der jetzigen Richtung nach Südosten, nach
Mekka, gezeigt. Vielleicht auch sehen wir in dem
kleinen Brunnen dort draussen noch ein Überbleibsel
islamitischen Kultus’.
Das Baumaterial sind überall lange Ziegel mit oft
unverhältnismässig dicken Eugen. Aus Ziegeln be¬
stehen auch die Rippen der Kuppeln, die Plächen
derselben ans hochkantig gestellten Steinen. Sicher¬
lich ist aber das jetzige Dach nicht das ursprüngliche;
nach den weiter oben erwähnten Durchbrüchen in
mehreren Kuppeln kann man sogar annehmen, dass
El Cristo de la Liiz. Inneres
21
i6o
ARABISCHES AUS TOLEDO
Piierta de Visagra in Toledo
ehedem jede der letzteren nach aussen hin gesondert
auftrat. —
Auch die schon genannte Puerta de Visagra ist
uns erhalten geblieben. Sie wird bereits im Jahre 838
geschichtlich erwähnt und müsste somit als das älteste
der bestehenden arabischen Bauwerke in Toledo an¬
gesehen werden, wenn nicht die beiden Spitzbogen
an der Vorderfront des schwerfälligen Turmes dagegen
sprächen. Wir werden weiter unten sehen, wann
diese Art der Überwölbung zuerst vorkommt und
woher sie stammt. Zum mindesten müssen wir daher
mit einem späteren bedeutenden Umbau rechnen.
Den Namen Visagra (oder Bisagra) leiten einige,
welche annehmen, dass bereits in vorarabischer Zeit
ein Durchgang an derselben Stelle bestanden habe,
von via sacra ab, so z. B. auf einer Inschrift am
inneren Bogen der jetzigen Thoranlage, andere vom
arabischen bab schara (Feldthor) oder bab schakra
(rotes Thor).
Nach Fertigstellung des benachbarten neuen Thores
gleichen Namens im Jahre 1575 ward das alte ver¬
mauert. Heute liegt es in einer Art Grube mehrere
Meter tief unter dem Niveau der nahe vorbeiführenden
Chaussee. —
Was sonst von Schöpfungen arabisch-byzantinischer
Baukunst in Toledo auf uns gekommen, ist kaum der
Rede wert.
Trotz feierlicher Zusicherung König Alfons’ erlag
schon ein Jahr nach der Einnahme der Stadt die
dschämia, die Hauptmoschee, dem Fanatismus der
Reconquistadoren. Nach dem Zeugnis des Jesuiten
Mariana war sie zwar de edificio ni grande ni her-
moso«, doch steht dies mit allem in offenem Wider¬
spruch, was wir sonst von der Prunksucht arabischer
Herrscher wissen ^).
ln der hochgelegenen Parochialkirche von San
Roman sehen wir ebenfalls eine ursprüngliche Moschee,
die auch nach der Eroberung der Stadt noch längere
Zeit dem Islam gedient haben muss, da sich ehemals
arabisclie Grabsteine in derselben befanden, die nach
dem uns erhaltenen Inhalte ihrer Inschriften auf die
Mitte des 1 2. Jahrhunderts zu datieren sind. An den
ehemaligen Ban gemahnen jedoch mir noch die vier
Hufeisenbogen des Mittelschiffes. Auch der viereckige
Glockenturm, eine Nachahmung arabischer Minarets,
der wir in Toledo häufig begegnen, entstammt einer
späteren Zeit.
Noch einige andere frühere Moscheeen, so nament¬
lich die fast bis zur Unkenntlichkeit verbaute Casa de
LAS Tornerias, und auch etliche Privathäuser könnte
man hier nennen, z. B. das angebliche ehemalige
Ordenshaus der Templer, in welchem sich interessante
arabische Inschriften fanden. Von dem dnrch den
Khalifen Jahja almamün billäh in der Mitte des 11.
Jahrhunderts erbauten, einst vielgepriesenen Alcäzar,
dessen Stätte heute wahrscheinlich das sogenannte
Hospital de Santa Cruz, jetzt Kadettenschule für die
1) Der einzige karge Rest, der uns geblieben, ist leider
nur ein Brnnnenkranz von weisseni Marmor, der bis vor
etwa dreissig Jahren im Hofe des Waisenhauses von San
Pedro Märtir stand und sich heute im Provinzial-Museum
befindet. Um den oberen Rand zieht sich, durch einen
schmalen Ring von Flechtwerk geteilt, in zwei Zeilen
eine historisch wichtige kufische Inschrift folgenden Sinnes;
»Im Namen des allbarmherzigen Gottes: der siegreiche
zweifache Herrscher [d. h. der Civil- und der Militärgewalt]
Abu Muhammed, Ismail ibn Abdurrahmän, ibn Dzu-n-nim
(Gott möge seine Tage verlängern!) befahl den Brunnen
in der Moschee von Tolaitola (Gott möge sie behüten!)
zu erbauen im ersten Monat Djumäda des Jahres 423«;
[14. April bis 13. Mai 1032 unserer Rechnung].
Inneres der Synagoge Santa Maria la Bianca in Toledo
ARABISCHES AUS TOLEDO
1 62
Infanterie, einnimmt, ist aber überhaupt kein Stein
erlialten geblieben.
Das Ende des 1 1. Jahrhunderts bedeutet in melirals
einer Hinsiclit einen Wendepunkt in der Geschiclite
spaniscli-arabischer Kunst. Seit langem schon waren die
Eundgruben für Säulen, Kapitäle u. s. w. in den alt-
römischen Häusern und Tempeln erschöpft, die reichen
Sendungen an kostbaren Baumaterialien blieben aus,
welche die oströmischen Kaiser den Omejjaden für
ihre Prachtbauten gespendet hatten ; dasselbe geschah
mit den byzantinischen Architekten und Handwerkern,
so dass sich der Araber endlich ganz auf die eigenen
Füsse gestellt sah. Als dann ferner die bedräng-ten
Herrscher des Südens den mächtigen Ahnoraviden
jussuf ibn Taschfin aus Marokko gegen die Christen
herbeiriefen (1085), da brachten die Berber, nament¬
lich etwas später die Almohaden, einen frischen Zug
und neue Motive aus Afrika mit. Der Spitzbogen
gelangte neben dem Rundbogen zu Ehren, statt der
Mosaiken brauchte man fast nur noch die einfacher
zn verarbeitenden azulejos^), glasierte Kacheln, die
sogar bald ein bedeutendes Ausfuhrgut nach dem
Orient wurden, die Wände bedeckten sich mit üppigen
Stuckornamenten, und neben den Inschriften aus
schwerfälligen kufischen Zeichen, welche der Araber
frühzeitig unter seine ornamentalen Elemente aufge¬
nommen hatte, kommen nach und nach die Neski-
Buchstaben auf, rund, graziös, oft von Blumen durch¬
wunden.
In Toledo aber trat, wie in den übrigen eroberten
Gegenden, das christliche Spanien das Erbe der Feinde
an, jetzt selbst ein mehr im Kriegshandwerk als in den
Künsten des Friedens geübtes Volk. Freilich verging
ein Jahrhundert darüber, bis mit dem wachsenden
Gefühl der eigenen Stärke bei der neuen herrschen¬
den Rasse der alte Religions- und Nationalitätenhass
sich legte, und auch dann noch bedurfte es des Vor¬
bildes weiser Regenten, wie des zehnten Alfons, um
endlich die beispiellose Verschmelzung des Ostens
und des Westens herbeizuführen, welche Spanien
durch mehrere Jahrhunderte einen höchst eigenartigen
Stempel aufdrücken sollte. So entstand jene Stilnuance,
welche die Spanier Mudejarstil -) nennen. Die Be¬
rührung der Toledaner Baumeister natürlich immer
noch ausschliesslich Araber - mit ihren freien Kol¬
legen des Südens war zwar einerseits nicht stark ge¬
nug, um erstere ganz unbeeinträchtigt von den
Traditionen ihrer neuen Nachbarn ihre künstlerischen
Ideen ausleben zu lassen, aber andererseits doch nicht
so schwach, als dass sich in den rückerorberten Lan¬
den der ursprüngliche byzantinische Stil ohne Beein-
]) Ce mot (azul = blau) semble etre une alteration de
l’arabe-persan Idzoiiwerd »lapis laziili«. De azul« les Es-
pagnols out fait leur »azulejo«, mot qui est retourne dans
I’arabe sous la forme de zulaidj. (Dozy et Engelmaim,
Qlossaire des mots espagnols et portugais derives de
I’arabe.)
2) Miidejares, vom arabischen mudädjan, wurden die
unter der Christenherrschaft lebenden Mauren genannt.
flussuug durch die neuen afrikanischen Elemente er¬
halten hätte.
Da haben wir sogleich eines der hervorragendsten
Werke, gewissermassen das Wahrzeichen des alten
Toledo - ich meine die Puef^ta del Sol.
Am Orte erzählte man mir, unser Kronprinz
Friedrich Wilhelm habe sogar, als er seiner Zeit
Toledo einen Besuch abstattete, das Thor in sein
Notizbuch skizziert. Mag sein! Kein anderes arabisches
Gebäude ist jedenfalls so gut erhalten geblieben oder
ei-halten worden. Da fehlt auch kein Steinchen an
seinem Fleck.
Zwischen stai'ken, zinnenbewehrten Türmen aus
grobem Gussmauerwerk, einem viereckigen und einem
halbrunden, um die sich hoch oben ein Kranz von
Fenstern und Erkern zieht, öffnet sich, von schmächtigen
Säulen getragen, ein majestätischer Spitzbogen, hinter
dem der Weg durch eine Reihe von niedrigen, ab¬
wechselnd runden und spitzen Bogen führt. Alle
diese sind hufeisenförmig eingezogen. Über dem
Scheitel des Hauptbogens aber bringen am Mittelbau
zwei Reihen ineinander geflochtener Ziegelarkaden
Bewegung in die schweren Massen, die unteren glatt
hufeisenförmig, die oberen ausgezackt und spitz.
Angesichts dieser Zusammenstellung all der ver¬
schiedenartigsten Formen müssen wir, wie gesagt,
einer Zeit des Überganges, also etwa dem zwölften
Jahrhundert, die Schöpfung des Werkes zusprechen.
Die zwischen den beiden Bogen an der Aussen-
seite entstehende Fläche schmückt ein rundes Madaillon
mit eingeschriebenem Dreieck, in welchem wir das
Wappen der Kathedrale erkennen mit der Verleihung
der Kasel an den hl. Ildefons — ein späteres An¬
hängsel — und weiter oben gewahren wir noch halb¬
versteckt zwischen den Pfeilern der Arkaden ein
kleines, roh gearbeitetes Marmorbild, zwei Frauen, die
in einer Schale einen menschlichen Kopf tragen.
Man sagt, dass Ferdinand der Heilige dem Alguacil
Fernando Gonzalez, welcher zwei edle Donas be¬
leidigt hatte, das Haupt abschlagen, seine Güter ein¬
ziehen und zum warnenden Exempel das Bild am
Thore anbringen Hess. -
Nicht zum geringsten war bei dem Entstehen des
Mudejarstils aber ein Faktor massgebend, der an sich
schon eine starke Hinneigung zum Orient bedeutete,
nämlich die Juden. Römer und Goten, Araber und
Castilianer zogen ins Land, seit alters her aber waren
die Juden schon da; sie waren das eigentlich bleibende
Element dui'ch alle Stürme der Jahrhunderte.
»Wir andern sind von heut’, sie aber reichen
Bis an der Schöpfung Wiege, — — — «
Sie leisteten, so sagt man, den Streitern des Pro¬
pheten bei ihrem Siegesfluge durch die Halbinsel allen
möglichen Vorschub. Dafür hatten sich dann unter
dem toleranten Regiment der Khalifen ihre Gemeinden
zu sonst nie gesehener Bedeutung entwickeln können,
und noch lange nachher beherrschten sie trotz aller
Unterdrückungen nicht nur den Handel, weshalb sie
in Toledo zu ihrem und ihrer Habe Schutze eine
ARABISCHES AUS TOLEDO
163
eigene Burg gründeten, sondern auch von ihren Aka-
demieen aus die gesamten Wissenschaften. Eine eigene
Architektur aber hatten natürlich die spanischen Juden
noch weniger als die Castilianer; auch sie waren also
fast ganz auf ihre maurischen Nachbarn angewiesen.
Gerade zwei ehemalige Synagogen, die beide ihre
Erhaltung zunächst wohl dem Umstande danken, dass
sie später zu Kirchen umgewandelt wurden, geben
uns daher heute vor anderen Kunde vom Werden
und Blühen des neuen Stils.
Im äussersten Westen der Stadt, der ehemaligen
»juderia«, führt eine schlichte Pforte zu einem duften¬
den Gärtchen, aus dem wir sogleich in die blendend
weisse Halle von Santa Maria la Blanca treten; denn
wie bei fast allen arabischen Bauten brauchen wir
uns bei der öden Aussen-
seite nicht aufzuhalten,
ganz abgesehen davon,
dass es den Anschein hat,
als sei die Frontwand
überhaupt nicht die ur¬
sprüngliche, sondern eine
spätere Konstruktion, mit
der man das Gebäude aus
irgend einem Grunde
kürzte. Auch die Ein¬
gangsthür steht in keinem
künstlerischen Zusammen¬
hänge mit dem übrigen
Bauwerk.
Dies Haus trägt seine
Geschichte buchstäblich
an der Stirn geschrieben;
eine Tafel nahe dem Ein¬
gänge verkündet uns:
»DiesesGebäude warSyna-
goge bis zum Jahre 1405,
in welchem es infolge der
Predigt des hl. Vincenz
Ferrer zur Kirche geweiht
wurde mit dem Namen
Santa Maria de la Bianca.
Der Kardinal Sih'ceo grün¬
dete im Jahre 1500 in ihm ein Kloster für Büsse-
rinnen. Im Jahre 1600 wurde dieses wieder aufge¬
hoben und die Kirche in eine Ermita oder Bethaus
verwandelt, welchem Zwecke sie bis zum Jahre 1791
diente, in welchem sie verweltlicht und aus Mangel
an Häusern zur Kaserne umgewandelt wurde. Im
Jahre 1798 aber, da man erkannte, dass ihr baldiger
Einsturz drohte, verfügte der Herr Don Vicente Do-
minguez de Prado, Intendant des königlichen Heeres
und General dieser Provinz, ihre Reparatur, um ein
so altes und für die Nachwelt denkwürdiges Bauwerk
zu erhalten, indem er es gleichzeitig als Speicher für
die königlichen Güter einrichten liess, damit demselben
nicht etwa späterhin ein noch weniger entsprechendes
Los zu teil würde.« Dieser Wunsch ging dann frei¬
lich doch nicht so bald in Erfüllung. Noch 1846
beschwert sich Amador de los Rios, dass wie zum
Hohn auf jene Inschrift und trotz aller Bemühungen
der Comision de monumentos die Kirche noch immer
eine »asquerosa piscina« darstelle. Nun: wohl uns,
dass wir Enkel sind! Auch in Spanien hat man ja
inzwischen angefangen, die Kunst der Vorfahren zu
schätzen, und seit Ende der sechziger Jahre steht das
Gebäude unter der besonderen Aufsicht der genannten
Gesellschaft.
Bei der Beantwortung der Frage, wann denn aber
die alte Synagoge selbst entstand, kann allerdings nur
der Vergleich mit anderen Bauten einigen Anhalt ge¬
währen. D. Manuel de Assas^) nimmt wegen der
dicken, wenig eleganten Pfeiler und der einfachen
Bogen jedenfalls mit Recht an, dass die ursprüngliche
Anlage selbst wohl noch unter dem Schutze der
Khalifen entstand, während der ganze künstlerische
Schmuck zweifellos einer
späteren Periode der Ruhe,
vielleicht der Regierungs¬
zeit Alfons’ des Weisen
(1252 — 84), angehört.
Der von Osten nach
Westen sich erstreckende
vollständig ungleichseitige
Raum") wird durch vier
Reihen von Pfeilern in
fünf Schiffe geteilt, von
denen das mittlere 1 2,5 m
hoch und 4,4 m breit, die
beiden nebenan liegenden
9,95 m hoch und 3,75 m
breit, die Seitenschiffe
7,0 m hoch, das süd¬
liche 3,24 m und das
nördliche, bei welchem
der Ausgleich der schiefen
Gestalt des Ganzen zu
dem rechteckigen Grund¬
riss der Schiffe stattfindet,
1,2 bis 3,68 m breit ist.
Das ist aber nicht mehr
und nicht weniger als
die altchristliche Basilika.
Die 32 achteckigen Ziegel¬
pfeiler stehen auf niedrigen Plinthen mit Kacheln be¬
kleidet; an den Stuckkapitälen, welche an ähnliche
Arbeiten in Ravenna und Venedig erinnern, wachsen
Pinienäpfel zwischen spitzigem, gewundenem Blattwerk
mit ineinander geflochtenen langen Stielen hervor.
Darüber spannen sich in der Längsrichtung 28 stark
vorgekragte glatte Rundbogen mit gebrochenen Kanten.
Medaillons mit Bandwerk von gefälliger Abwechselung
füllen die Bogenfelder aus, umrahmt von Blattstengeln,
die sich zu Kreisen zusammenwinden und in immer
kleineren Zirkeln sich bis nahe an die Bogenrücken
fortsetzen; die Mittelpunkte sind durch frei schwebende
Rauten bezeichnet. Über die Bogen dehnt sich dann
1) Monumentos arquitcctönicos de Espana , denen
auch die folgenden Zahlen entnommen sind.
2) Ostseite 21,92, Nord 26,04, West i8,g6, Süd 28,52 m
lang.
Paerta del Sol in Toledo
164
ARABISCHES AUS TOLEDO
— allerdings nur im Mittelschiff — ein dreiteiliger
Eries, dessen mittleres, breites Glied ein zu tausend
geometrischen Figuren verschlungenes Muster darstellt,
während die beiden anderen, schmäleren Streifen nur
über den Pfeilern kleine Sterne zeigen, auf denen bei
dem unteren offene Muscheln liegen. Dies alles ist
aus dem leichtesten Material, aus Stuck, hergestellt,
den man nur noch durch eiserne Nägel festzuhalten
pflegte, und es scheint fast ein Wunder, dass über¬
haupt eine Spur davon auf uns gekommen ist. Man
hat der Araber doch angefangen, daneben eigene
Gebilde zu concipieren.
Die drei Apsiden, in welche im Osten die mitt¬
leren Schiffe ausklingen, sind Werke eines späteren
Jahrhunderts; ihre Beschreibung fällt daher trotz ihrer
schönen Muscheldecken ausserhalb der hier gesteckten
Grenzen. Hoch über der Nische des Mittelschiffes
sehen wir noch zwei eigenartig überwölbte Fenster
und zwischen denselben zwei dekorative Doppelbogen,
und zwar je einen Hufeisen-Spitzbogen von einem
)J
r ) {
Ans El Transite in Toledo
(Nach Monumenios arqnitectönicos de Espaha.)
kann bei diesen Arbeiten eben lediglich an ein aus¬
gesucht dauerhaftes Bindemittel glauben, Eiweiss oder
Leim, wie Murphy angiebt. Weiter hinauf folgt
eine Reihe von fünffach ausgezackten Blendarkaden,
deren Widerlager auf Bündeln ruhen, die sich aus zwei
schlanken Halbsäulchen und einem Halbpfeiler zu¬
sammensetzen. jeder einzelne Zahn der Bogen ist
noch durch herabhängendes Blattwerk geziert, atanriqiie,
wie es die Spanier nennen. Eine starke Doppellinie
leitet schliesslich zu der altersschwarzen Decke aus
Lärchenholz über.
Man sieht, die Formen der alten byzantinischen
Lehrmeister sind noch nicht abgestreift, aber schon
Zackenbogen umrahmt. Im übrigen bringen einfache
runde Öffnungen in den Längswänden und an der
Westseite Licht in den bis auf die Säulenkapitäle nach
heutiger Toledaner Mode weiss getünchten Raum.
Das Ganze ist in seinem unteren Teile aus Cyklop-
mauerwerk mit lang durchgehenden dünnen Schichten
von Ziegeln, höher hinauf aber nur aus letzteren
erbaut. —
■Y-
Im Jahre 1366 liess Samuel Levi, der unglück¬
selige Schatzmeister König Peters des Grausamen,
ARABISCHES AUS TOLEDO
165
durch Meir Abdeli im Judenviertel die schon er¬
wähnte zweite Synagoge erbauen.
Welcher Unterschied bloss gegenüber Santa Maria!
Ereilich: damals entstanden gerade auf dem Burg¬
berge von Granada jene Gemächer von unerhörter
Pracht und Grazie der Ausstattung, die sich um den
Löwenhof gruppieren, das glänzende Abendrot, mit
dem der Tag der Mauren auf der Halbinsel schliessen
sollte, und zu gleicher Zeit war der grosse Umbau,
den Don Pedro durch arabische Künstler an dem
Palaste von Sevilla vorgenommen hatte, vollendet
worden.
Die Kirche de Nuestra Senora del Transito oder
kurz EL Transito, wie die alte Synagoge heute all¬
gemein genannt wird^), besteht aus einem einzigen
etwa 18 zu 9 Meter grossen Schiffe. Man betritt
dasselbe jetzt von der Wohnung des Aufsehers aus
durch eine in der südlichen Langwand befindliche
niedrige Thür.
Ein breiter Eries mit filigranartigem Stucknetz
— ataurique — , über das sich wie eine kostbare
Stickerei stilisierte Ranken mit Weinlaub und Eich¬
blättern legen, zieht sich an den oberen Seitenwänden
hin, eingefasst und mehrfach durchschlungen von
schmalen Bändern mit kaum mehr erkennbarer ara¬
bischer Schrift. Kräftiger treten oben und unten je
eine Borte mit hebräischer Inschrift hervor — diesen
eigenartigen Schmuck haben also die Juden inzwischen
den Mauren abgelernt — an der Evangelienseite der
84., an der Epistelseite der 100. Psalm. Darüber ein
Kranz traulicher Nischen, paarweise geordnete Halb¬
säulen mit mannigfaltigen Kapitälen, über welche sich
siebenfach ausgezackte Rundbogen spannen; hier und
dort in denselben vergitterte Fensterchen - man
muss diese sternförmigen Stuckgitter kennen! — von
zwiebelförmiger Abwölbung und mit Schnecken von
Laubwerk umsponnen, in jedem Zacken des Blendbogens
ein Pinienapfel. Auch die Zwickel zwischen den
einzelnen Bogen sind durch capriciös geschnitzte
Rosetten und Blattgewinde belebt. Darüber nochmals
eine etwas breitere hebräische Schriftleiste. In ähn¬
licher Weise schmücken die Westseite drei grössere
Fenster, das mittlere mit einem Spitzbogen überwölbt,
der sich aus elf Halbkreisen zusammensetzt, während
die beiden seitlichen den runden Hufeisenbogen zeigen.
Die gegenüber liegende Wand indessen, in welcher
sich die Altarnische öffnet, ist wie mit Velarien Über¬
hängen mit den herrlichsten almocärabes’), welche
ein Karnies von Stalaktitenbogen krönt. Eine ganz
wunderbare Harmonie und Eleganz herrscht in allen
Teilen. Wappenschildchen mit dem Schloss und dem
Löwen von Castilien und Leon sind überall geschickt
verteilt. Der Dachstuhl ist offen, und durch die
Balkenlage hindurch leuchten Elfenbeinsterne aus der
dunklen Cedernholzverschalung hervor.
An der Altarnische finden sich noch einige in
Stein gehauene hebräische Inschriften, welche auf die
1) Vom Tode (transire) der hl. Jungfrau.
2) Vom arab. al-niukärbes ~ adorno de lazos, Band¬
schmuck (Acad.).
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 7.
Gründung und Erbauung des Gotteshauses Bezug
haben. In überschwänglichen Worten wird dort das
Lob des Stifters und des Baumeisters gesungen, und
zwischendurch auch mit einer geradezu verblüffenden
Verehrung des Königs gedacht: »Gott helfe ihm, ver¬
mehre seine Staaten, segne und erhöhe ihn und setze
seinen Thron über alle Fürsten. Gott sei mit ihm
und seinem ganzen Hause, und jedermann beuge
sich vor ihm; und die Grossen, die es auf Erden
giebt, sollen ihn anerkennen, und alle die, welche
seinen Namen hören, sollen sich freuen ihn zu ver¬
nehmen in allen ihren Reichen, und es möge kund
werden, dass er Israel ein Schutz und Verteidiger
war! . . . Friede sei mit ihm und seinem ganzen
Geschlechte, und Segen all seiner Arbeit! Jetzt hat
Gott uns aus der Gewalt unseres Feindes befreit, und
seit dem Tage unserer Gefangennahme hatten wir
keine solche Zufluchtstätte.« War das bloss eine
Schmeichelei des damals noch mächtigen Samuel, oder
ist es VOX populi, das den »grausamen« König lieber
»el Justiciero«, den Gerichtsherrn, nannte?
Zwei Jahre nach der Vertreibung der Juden aus
Spanien (1492) überliessen die katholischen Könige
die auf den Namen des hl. Benito neugeweihte Kirche
den Calatravarittern , welche natürlich in der Folge
das Innere für ihre Zwecke umänderten, mehrere
Altäre aufstellten und einen Chor an der Westwand
anlegten, dessen Beseitigung seit langem der Wunsch
jedes Besuchers war. Auch als Begräbnisstätte wurde
die Kirche zeitweilig benutzt.
Noch zwei Gebäude von ursprünglich gleicher
oder ähnlicher Schönheit und aus nicht viel späterer
Zeit birgt Toledo: el Taller del Moro und la Casa
DE Mesa.
Dem ersteren, der »Werkstatt des Mauren« hat
das Geschick übel mitgespielt: Ursprünglich ohne
Zweifel die Wohnung irgend eines Granden, wurde
es später zum Nonnenkloster eingerichtet, diente dann
lange den am Bau der Kathedrale arbeitenden Stein¬
metzen als Werkstätte bezw. Lagerplatz, woher sich
der Name schreibt, und ist schliesslich jetzt zur
Wagenremise eines Fuhrmannes degradiert - zur
Schande für ganz Toledo.
Was uns von der Herrlichkeit früherer Tage er¬
halten geblieben ist, beschränkt sich daher nur auf
einen etwa 15 zu 6 Meter grossen Saal, den man
von einem Garten aus von Süden betritt, und an
den sich im Osten und Westen zwei kleinere und
niedrigere Räume von etwa 6^/^ Meter im Geviert
anschliessen. Das Ganze ist teils aus Ziegeln erbaut,
teils in der in Spanien seit ältester Zeit üblichen
Art von Gusswerk, bestehend aus einer Mischung von
Lehm, Kalk, Sand und Steinen^) und, nachdem das
Domkapitel ein vom Kardinal Mendoza angelegtes
1) Für diese noch lieute in Spanien auf dem Lande
üblichen Wände hat man die Bezeichnung tapia. Die
Mauren besassen eine besondere Geschicklichkeit in der
Herstellung derselben, die meist steinhart sind. Zur Ver¬
stärkung wurden oft Bohlen und dergleichen mit ein¬
gemauert.
22
Inneres von El Toller del Moro in Toledo
(Nach einem Gemälde von Ric. de Madrazo. Photographie Laurent.)
ARABISCHES AUS TOLEDO
1 67
gotisches Portal weniger aus Kunstsinn als aus Hass
gegen den Erbauer wieder hat entfernen lassen, äusser-
lich vollständig schmucklos. Doch im Inneren ist
der Araber ganz in seinem Element.
Über und neben dem Haupteingange, den ein
Rundbogen von drei Meter Spannweite überwölbt, haften
Tafeln abwechselungsreicher, spitzenartiger Stuccatur,
aus der sich oben fünf kleine Fenster abheben.
Lhid auf Säulen, Kuppel,
Wänden
Zieh’n von oben sich bis
unten
Des Korans arab’sche
Sprüche,
Klug und blumenhaft ver¬
schlungen .
Ähnlichen Zierat im
kleinen weisen zwei Fen¬
steröffnungen an den Sei¬
ten des Portals auf. Ein
über meterhoher Sims mit
allerliebsten Sternmustern
von sinnverwirrendem Li¬
nienspiel und darüber eine
breite Leiste mit lateini¬
scher Inschrift bilden
rings den Übergang zu
einer reichen Holzdecke,
einst um so prächtiger,
da sie im Glanze des
Goldes und der Farben
erstrahlte. Aber wie? An
derselben Wand sehen wir
stilvolle arabische Zeichen
und lateinische Buchsta¬
ben, Koränsprüche und
Psalmenverse friedlich
nebeneinander? Möglich,
ja sogar wahrscheinlich ist
es zwar, dass das lateini¬
sche Schriftband hiereiner
späteren Zeit entstammt;
es ist anderseits aber er¬
wiesen, dass die arabischen
Architekten von ihren
altgewohnten schönen
Zeichen selbst dann nicht
Hessen, wenn sie für Christen bauten. Castilianische
Könige Hessen Münzen mit spanischer und arabischer
Legende prägen, und im Alcäzar von Sevilla wird
der Sultan D. Pedro el Cruel in arabischen In¬
schriften gepriesen. Erst dem Jahrhunderte Philipp’s II.
war es Vorbehalten, gegen solche Ketzerei zu wüten.
Zwei Hufeisenbogen, nicht ganz so gross als der¬
jenige, durch welchen wir eingetreten sind, führen
seitlich zu den kleineren Gemächern, während ein
gleicher Durchgang an der Nordwand vermauert
ist. Dieser letztere ist ganz kahl, an den beiden anderen
aber bethätigt sich wieder die glühende Phantasie der
Orientalen. Ebenso standen auch einst die Neben¬
säle an Pracht der Ausstattung in nichts der grossen
Halle nach. Leider ist der westliche jetzt fast voll¬
ständig verwüstet, während man an den steinernen
Teppichbekleidungen des anderen noch die ver¬
blichenen Spuren der Malerei entdecken kann. Es
ist nicht das einzige Mal, dass, wie auf dem Bilde
Ricardo de Madrazo’s, der Taller del Moro einem
Künstler als Vorlage gedient hätte. —
Über die Casa de
Mesa, so genannt nach
der Familie, in deren Be¬
sitz sich das Haus seit
längerer Zeit befindet,
hat hingegen ein gütiger
Gott seine Hand gebreitet:
In der calle de la
Misericordia, nahe der
plazuela de Padilla, steigt
man über eine saubere
Steintreppe zu einem Hofe
empor. Zur Linken öffnet
man uns eine Pforte,
durch die wir in ein
kleines Vestibül gelangen
gegenüber ein pom¬
pöser Rundbogen mit
prächtiger Einfassung —
ein grüner Vorhang wird
zurückgezogen — und
dann stehen wir staunen¬
den Auges in einem
grossen, rechteckigen Saal,
ungewiss wohin zuerst die
Blicke senden, ob nach dem
wunderfeinen Schmuck
der Wände oder nach
der unvergleichlichen
Decke. Kein Laut des
Lebens dringt herein, ja,
wenn draussen die glühen¬
de Sonnenhitze über den
grauen Dächern zittert,
in dem kühlen Raume
eine Stunde zu verträu¬
men ! Dann ahnt man
etwas von dem Geiste des
Volkes, das diese Wunder
schuf.
Nun Hegt ja freilich es muss doch einmal
gesagt werden - nicht in der Höchstentfaltung der
Dekoration das Geheimnis wahrer Kunst verborgen.
Aber eines sollte auch, um sich vor Enttäuschungen
zu bewahren, jeder Reisende, der zuerst an die ara¬
bischen Bauten herantritt, sich vorher klar machen:
Wir dürfen diese nicht bloss kaltblütig mit kritischem
Blicke messen, sonst werden wir für dies krampfhafte
Bemühen halbverstandene fremde Elemente zu ver¬
arbeiten, namentlich aber für diesen ganzen liebens¬
würdigen Stnckschwindel nur ein Lächeln übrig haben.
Heidelberg ist an sich zehnmal höher einzuschätzen
als selbst die Alhambra. Wir müssen eben jene.
Ornament ans der Casa de Mesa in Toledo
22
ARABISCHES AUS TOLEDO
i6S
Santiago del Arrabal in Toledo
ich möchte sagen, poetischen Werke, nach denen uns
von Kindheit auf die echt deutsche Sehnsucht zieht,
liinnehmen auf Treu und Glauben wie eine fromme
Legende oder wie ein Märchen. Dann werden wir
uns auch ihrem Zauber nicht entziehen können.
Ich mag nun hier nicht wiederholen, wovon ich
schon beim Transito gesprochen, von den zierlichen,
vielfach gewundenen Reben, die sich von durch¬
schimmernder getüpfelter Ataurique abheben. Zwei
Muster übereinander! Und doch, es ist nichts Über¬
ladenes daran; das Ganze mit seinen rhythmischen
Wiederholungen wirkt ungemein ruhig. Wie beim
Taller del Moro, so beschränkte man sich ausserdem
darauf, allen Formenreichtum auf die Armbaes, wie
man heute noch in Spanien die halben Umfassungen
und Bekrönungen der Thür- und Fensteröffnungen
nennt, zu vereinigen. Freilich von den einstigen
leuchtenden Farben ist auch hier kaum ein Hauch
geblieben, und ein fahler Kreideton überzieht das
Ganze. Glücklich, wem die Phantasie den einstigen
Schmuck der Teppiche an den Wänden vorzuzaubern
vermag. Nur der etwa 1,20 Meter hohe Sockel von
bunten Azulejos strahlt in unvergänglichem Glanze;
nach den verschiedenen Wappen und Figuren zu
schliessen, die sich an der obersten Kachelreihe fin¬
den, ist er aber nicht ganz so alt wie der übrige
Schmuck des Saales. Über einer
Eichblattborte, die alle vier Wände
umzieht, steigt endlich fast tonnen¬
artig die imposante Artesonado-
Holzdeckei) empor, deren tiefe
Kassetten zu sternförmigen Mustern
ineinandergreifen. Von byzantini¬
schem Stil ist kaum mehr etwas zu
merken. Im Westen sch li esst
sich noch ein kleineres Gemach
an, von dessen ursprünglicher De¬
koration aber nur noch die Decke
erhalten ist.
Aller Wahrscheinlichkeit nach
haben wir es hier ebenso wie
beim Taller del Moro mit dem
Prunksaal eines Palastes zu thun.
Das Monogramm Christi am Kapitäl
der Säule eines graziösen Ajimez-
balkons hoch oben an der West¬
wand lässt darauf schliessen, dass
das Haus von vorne herein von
Christen bewohnt, wenn auch je¬
denfalls von einem Araber erbaut
wurde. Es war damals die Zeit,
da die castilianischen Grossen, die
auf den Kriegszügen im Süden den
künstlerischen Luxus maurischer
Paläste kennen gelernt hatten, da¬
nach strebten, die eigenen Sitze
mit dem gleichen Komfort aus¬
zustatten, und »zur Ausschmückung
kleinerer, dem Sinnengenuss und
orientalischer Behaglichkeit gewid¬
meter Räume ist kein geschmack¬
vollerer Baustil zu finden, als dieser altmaurische«.
Den Dank aller Zeiten aber noch an dieser Stelle
dem unbekannten Kunstfreunde, welcher, wie D. Jose
Amador de los Rios erzählt, im Anfänge des vorigen
Jahrhunderts dem damaligen Besitzer des Hauses die
Absicht auszureden wusste, das für baufällig und
unbewohnbar erklärte Haus niederzureissen.
Gegenwärtig dient der Saal der Sociedad de los
a/nigos del pais als Versammlungsort. —
Es würde weit über den Rahmen der hier ge¬
stellten Aufgabe hinausgehen, wollte ich mich gleich
lange bei jedem einzelnen der unzähligen steinernen
Zeugen arabischer Kultur aufhalten, die sich vielfach
unter Ruinen versteckt finden, hier eine Marmorsäule,
dort eine ganze Galerie, anderswo eine Inschrift, ein
Ajimez oder eine Kuppeldecke. Eilen wir daher
zum Ende!
1) Artesön = grosser Trog, nennt man auch die vier¬
eckigen oder polygonalen Kassetten, meist mit einer
Rosette in der Mitte, mit denen man in Spanien nach dem
Vorbilde der Araber das Gewölbeinnere und die Laibungen
der Bogen schmückte.
ARABISCHES AUS TOLEDO
Das Äussere der in nächster Nähe des Visagra-
thores gelegenen Kirche von Santiago del Arrabal,
die drei bogengeschmückten Apsiden, das jetzt ver¬
mauerte Hufeisenportal der Südfront, dessen Bekrönung
von ineinander geschlungenen Zackenarkaden an die
Puerta del Sol anklingt, und der minaretartige
Glockenturm zeigen deutlich, wie der Mudejarstil
auch dort Verwendung fand, wo es sich geradezu
um den Neubau christlicher Kirchen handelte. Der
Grundriss lässt dabei ganz die der christlichen Tradition
entsprechende Kreuzform erkennen. Im Inneren stützt
sich das Mittelschiff auf vier riesige Hufeisen -Spitz¬
bogen; die alte gemalte Holzdecke mit den ebenfalls
gemalten arabischen Inschriftleisten ist aber der Ver¬
schönerungswut des achtzehnten Jahrhunderts zum
Opfer gefallen und harrt über den elenden modernen
Gewölben ihrer Auferstehung. Allerdings soll nach
D. Rodrigo Amador de los Rios, der dieselbe zuletzt
untersuchte, nur noch das Mittelschiff einigermassen
intakt sein. Die Kirche wurde nachweislich gegen
Ende des dreizehnten Jahrhunderts erbaut; man schreibt
ihre Gründung auch dem unglücklichen Könige
Sancho II. von Portugal zu, der nach seiner Ent¬
thronung in Toledo ein Asyl fand. — Hier wären
auch zu nennen: die Apsis der legendenreichen
Kapelle del Cristo de la Vega (Santa Leocadia) mit
ihrer vierfachen Reihe doppelter Zierbogen, ferner
Santa Fe, Santa Ursula, San Bartolome und andere.
Eine mehr als flüchtige Erwähnung verdienen
noch die beiden Brücken, die sich über die ewig
rauschende Tajoschlucht spannen, von Alcäntara (zu
deutsch »die Brücke«) und San Martin: erstere ein
Werk von ganz besonders kühner Anlage und in
der Mitte des neunten Jahrhunderts
entstanden, wenn auch nachher
mehrfach zerstört und umgebaut,
letztere 'ZU Anfang des dreizehnten
Jahrhunderts an Stelle eines durch
Hochwasser eingestürzten, etwas
weiter flussabwärts gelegenen Über¬
ganges errichtet. Beide werden
durch starke Thortürme verteidigt,
die ein echt arabisches Gepräge
tragen. Um den stehengebliebenen
Endpfeiler der erwähnten einge¬
fallenen Brücke aber hat Frau Sage
ihr Netz gewoben, und so ward
er zum Bafio de la Cava, dem
Bade, in dem König Roderich die
schöne Florinde belauschte und
damit den Anstoss zum Zusam¬
menbruche seines Reiches gab i). —
Das kurz nach der Erobe¬
rung der Stadt von Alfons VI.
angelegte Kastell von San Ser-
VANDO (San Cervantes), malerisch
auf steilen Felsen als Wächter
1 6()
der Alcäntara sowie eines ehemaligen Cluniacenser-
Klosters hingesetzt, der Zeuge so vieler blutiger
Kämpfe zwischen Halbmond und Kreuz, ist natürlich
ebenfalls noch ganz im arabischen Stil gehalten, den
es durch allen Wandel der Zeiten bewahrt hat. Eine
Zigeunerfamilie mit ihren Schweinen und Hühnern
bilden heute die ganze Besatzung der verwahrlosten
Burg, an der übrigens zuletzt noch die Franzosen zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts ihr Mütchen in ähn¬
licher Weise kühlten wie an der -Festung« Alhambra.
Nicht besser sieht es mit dem unter dem Namen
Palacio de Galiana bekannten Gemäuer am Tajo,
etv/as oberhalb von der Stadt aus, der Sage nach
vom Khalifen Galafre^) für seine Tochter, die Ge¬
liebte Karls des Grossen, erbaut. Von diesem Palaste
und den ehemals dort befindlichen Wasseruhren
sprechen arabische Schriftsteller wie von Wunder¬
dingen, und in der Kapitulationsurkunde der Stadt
vom Jahre 1085 wird er daher nebst der angrenzen¬
den »huerta del rey ausdrücklich dem Könige zu
eigen erklärt. In späteren Jahrhunderten ohne Frage
mehrfach umgebaut, zeigen die wenigen erhalten ge¬
bliebenen Ruinen die Formen der Blütezeit maurischer
Kunst. Ich habe dort am Orte immer lebhaft an
Grillparzer’s Jüdin von Toledo denken müssen. —
Im südlichen Stadtteil endlich, an einem unregel¬
mässigen Platze, weist man dem Fremden den an¬
geblichen Alcäzar König Peter’s des Grausamen, zum
Teil in Trümmern liegend, der Rest seit langem zum
Nonnenkloster der hl. Elisabeth umgebaut. Das
1) Alfahri ibn Jussuf, empörte sich 761 gegen Abdur-
ralimän I. von Cordoba.
1) »Puente de San Martin« und _ i' ' _ _ _ ^
»Bafio de la Cava« siehe auf unserer
ersten Abbildung. Palast Don Pedro’ s des Grausamen in Toledo
170
ARABISCHES AUS TOLEDO
leidlicb. erhaltene wappengeschmückte Portal gehört
der letzten Periode des Mudejarstiles an. —
Und noch als der grosse Kardinal Jinienez in
den Jahren 1 504 bis 1 2 den neuen Kapitelsaal der
Kathedrale erbaute, wusste er oder sein künstlerischer
Berater für die Eingangsthür keinen besseren Schmuck
als eine allerdings sehr gelungene Nachahmung jener
exotischen Vorbilder. Es war ein letzter Hauch, der
von dem gefallenen Granada durchs Land ging.
So können wir zwar die Zuckungen des sterben¬
den Körpers noch Jahrhunderte lang verfolgen; mit
der eigentlichen maurischen Kunst aber war es vor¬
bei, als am 2. Januar 1492 Kardinal Mendoza seine
Kreuzstandarte auf die Torre de la Vela der Alhambra
pflanzte. Was sollte wohl nach dem Saale der zwei
Schwestern und (Xtm Mirador de Daraja von Menschen¬
händen in dieser Art noch geschaffen werden? —
G. BARTH.
Kapitelsaal der Kathedrale in Toledo
DISIECTA MEMBRA
Von Walther Amelunq in Rom
Ein Grabrelief ist das vierte unserer Beispiele: es
stellte eine Frau dar, die auf ihrem Sessel, unter
dem wir den Wollkorb der arbeitsamen Haus¬
mutterbemerken, mit übereinander geschlagenen Beinen
sitzt, den rechten Ellenbogen aufs linke Knie stützt, und
den Kopf auf den Fingern der erhobenen Rechten
ruhen lässt (Abb. 7). Ein
weiter Mantel ist um die
mit dem Chiton beklei¬
dete Gestalt gezogen und
über den geneigten Kopf
geschlagen, um dessen
Mund ein leises, beschei¬
denes Lächeln spielt. Aber
diese Vereinigung von
Körper und Kopf wird
den meisten der Leser
etwas Neues, Fremdes sein.
Wer den Vatikan besucht
hat, kennt in der Galleria
delle Statue eine Wieder¬
holung der Figur, der man
einen antiken Knabenkopf
aufgesetzt hat, den Kopf
eines siegreichen, mit der
Tänie geschmückten, jun¬
gen Athleten — eines
der vielen Beispiele ge¬
dankenloser Flickarbeit in
unseren Museen. Zudem
sitzt die Figur dort auf
einem fast ganz moder¬
nen Felsen, dessen ober¬
sten Teil man aus dem
Sitzbrett des Sessels zu¬
rechtgehauen hat , und
das Ganze ist nicht als
Relief, sondern als Statue
gearbeitet, die nun der
Ordner des Museums
nicht etwa mit der brei¬
ten Rückseite, sondern
mit der einen Schmalseite gegen die Wand gestellt
hat. Das aber hätte ihm wenigstens klar werden
müssen, dass die Gestalt nur als Relieffigur entstanden
sein kann, und dass das Werk, wenn auch der römische
Kopist sich aus Bequemlichkeit die Ausführung des
Reliefgrundes erspart hat, auf jeden Fall so gestellt
werden muss, dass die Fläche der Mauer den fehlen¬
den Grund ersetzt. Thatsächlich ist ja die Figur wie
eingepresst zwischen die Fläche des Grundes und die
ideale Oberfläche; man sieht, der Künstler war noch
nicht im stände, seiner Figur, trotz der Einfügung in
jene Flächen, eine lebendige, natürlich wirkende Hal¬
tung zu geben. Nicht darin allein bezeugt er sich
als ein Kind der Epoche, die dem Wirken des Phi-
dias voraus lag. Was
für ein tief empfindender
Meister er aber gewesen,
konnte uns der Torso
seiner Schöpfung nicht
lehren; das zeigte uns
erst dessen Vereinigung
mit dem Kopfe, die eine
der glücklichsten Ent-
deekungen auf unserem
Gebiete ermöglichte^). Nun
erst fühlen wir wieder die
wundervoll zarte Stim¬
mung, die dieses Bild der
sinnend in sich versun¬
kenen Gattin erfüllt. Der
Gattin — das Wort stellt
sich vor diesem Werke
unwillkürlich ein; und
dass uns darin keine sub¬
jektive Phantasie täuscht,
zeigt uns die Thatsache,
dass das Werk schon
im Altertum zu Darstel¬
lungen des von Homer
besungenen Ideals einer
treuen Gattin, der Pene¬
lope, benutzt worden ist.
Unter diesem Namen wird
denn auch das Werk
den meisten Lesern be¬
kannt gewesen sein. Die
Benennung beruht auf
dem Vergleich mit jenen
Darstellungen; doch lässt
sich nicht ausdenken, wie
man in jener frühen Zeit dazu hätte kommen sollen,
1) Stiidniczka, Antike Denkmäler, heransgegeben vom
archäologischen Institut 1S88, p. lyf. T. XXXI. LJnsere
Abbildung ist hergestellt nach einem Gips, bei dem die
beste Wiederholung des Kopfes auf den Torso einer
Wiederholung im Museo Chiaramonti des Vaticans gesetzt
ist, der einzigen, die als Relief gearbeitet war. Sie und die
auffallende Einpressinig der Figur zwischen zwei Flächen,
Abb. 7. Sogenannte trauernde Penelope
Torso im Museo Chiaramonti des Vatikan
Kopf ini Königlichen Maseam in Berlin
DISIECTA MEMBRA
Abb. 8 und g. Weibliche Staiiie. Kopf (sogenannte Äspasia) und Körper getrennt
im KönisUchen Museum in Berlin
ein monumentales Relief mit einer Einzeldarstellung
der Penelope aufzustellen, weährend andererseits das
die sich sonst durch Nichts erklären liesse, beweist, dass
das Original als Relief geschaffen war. Für eine Rnnd-
figur würde auch die Komposition in ihrem unteren Teil
Bild der sinnenden Frau sich in immer neuen Varia¬
tionen auf den Grabreliefs der späteren Zeit wieder-
zuviel Löcher gehabt haben. Wir können nicht wissen,
wie bei 'den übrigen Kopien dem Fehlen der Rückwand
abgeholfen war. jedenfalls standen sie mit der breiten
DISIECTA MEMBRA
173
findet; niemals aber ist es wieder einem Künstler
gelungen, dieses Bild so anspruchslos und doch so
innerlich ergreifend zu gestalten, so ganz einer keusch
in sich verschlossenen Knospe gleich.
Noch ein anderes Frauenbild der gleichen Epoche
ist in letzter Zeit auf ähnliche Weise unserer freu¬
digen Bewunderung wiedergewonnen worden. Während
aber dort alle Züge weich, zart und innig sind,
packt uns hier der monumentale Ausdruck einer
harten, herben und strengen Natur (Abb. 8 und 9).
Die beiden Teile der Komposition, Kopf und Körper,
waren längst bekannt und hatten das allgemeine In¬
teresse erregt. Da tauchte im römischen Kunsthandel
eine weitere Wiederholung
der Figur auf und diesmal
mit ungebrochenem Kopfe;
allerdings zeigte das Antlitz
die Züge einer römischen
Dame — die Fälle sind ja
nicht selten, dass Römer
und Römerinnen sich auf
solche Weise mit Benutzung
eines griechischen Idealbildes
haben porträtieren lassen ,
aber alles übrige am Kopfe
zeigte deutliche Übereinstim¬
mung mit einem archaischen
Kopftypus, der am schönsten
durch eine Wiederholung im
Berliner Museum bekannt
war; man konnte im Abguss
beide Teile miteinander ver¬
einigen, und nun war mit
einem Schlage aus der steifen,
vom weiten Mantel wie mit
geometrischen Flächen um¬
schlossenen Figur das über¬
aus charaktervolle Bild eines
strengen, mit herbem Ernst
in sich verschlossenen, weib¬
lichen Wesens geworden.
Alles, die schmucklose Ein¬
fachheit im Wurf des Man¬
tels, die schlichte, sorgfältige
Tracht der Haare, die abwei¬
sende Härte im Ausdruck des
regelmässigen Gesichtes — alles klingt nun harmonisch
zusammen^). Dem so gewonnenen Bilde gegenüber
bleibt nur ein Wunsch noch zu erfüllen: trotzdem
die Figur sich in einer geschlossenen Masse darstellt,
so dass man versucht sein könnte, sich das Original
Rückseite gegen eine Wand, vielleicht in einer rechteckigen
Nische.
Hatte das Original eine Umrahmung? Fast möchte
man es voraussetzen. Die Wirkung der Figur würde ent¬
schieden gesteigert werden, wenn sie in einer Art Naiskos,
wie die späteren Grabreliefs, auch räumlich gegen die
Aussenwelt abgeschlossen wäre. Aber bisher fehlen Bei¬
spiele für ein so frühes Auftreten derartiger Umrahmung.
1) Amehmg, Römische Mitteilungen 1900, p. 181 ff.
T. III, IV.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 7
in Marmor zu denken, ist wahrscheinlicher, dass es
vielmehr in Bronze gearbeitet war, wofür die draht¬
artig gesträhnten Haare und die scharfen Kanten
sprechen, in denen alle Flächen aneinander stossen;
und zweifellos würde jener ernste Charakter durch
die dunkle Farbe des Metalls noch weit energischer
zum Ausdruck kommen.
Dieser Wunsch bleibt bei einer anderen Figur
nicht mehr zu erfüllen: bei dem myronischen Disko¬
bolen. Alle kennen jene geniale Meisterschöpfung
des in äusserster Kraftanspannung zusammengebogenen
Athleten mit dem mächtig nach rückwärts empor¬
gerissenen Arm; ein unvergessliches Bild voll sprühen¬
den Lebens, das man mit
einem gespannten Bogen
verglichen hat, von dessen
Sehne der Pfeil im nächsten
Augenblick dahinfliegen wird;
denn auch der Athlet kann
in der Stellung der Statue
nur einen Augenblick ver¬
weilen; im nächsten wird
der Arm mit äusserster Kraft
nach vorn geschwungen, die
ganze Figur schnellt empor
und vorwärts und der Diskos
saust zum Ziele. Wie aber
konnte man bisher eine ge¬
nügende Vorstellung von
diesem Werk erhalten? waren
doch die sichtbaren Wieder¬
holungen vielfach und schlecht
ergänzt, trugen sie doch flaue,
moderne und falsch gewen¬
dete Köpfe, die mit dieser
Wendung das ganze Motiv
durchbrachen; die einzige
Wiederholung aber, die den
wundervollen ursprünglichen
Kopf ungebrochen trägt, wird
dauernd von seinem missgün¬
stigen Besitzer verschlossen
gehalten. Wenigstens waren
Vorjahren Photographien von
der Statue genommen wor¬
den, auf denen man die Züge
des Kopfes erkennen konnte, und mit ihrer Hilfe war
es möglich, Kopien des Kopfes und vor kurzem in
dem neu eingerichteten Qipsmuseum des Louvre einen
Abguss des Kopfes selbst zu entdecken, von dem so¬
fort weitere Abgüsse verbreitet wurden’). So hat
man nun im Münchner Museum der Abgüsse diesen
Kopf in der richtigen Wendung auf einen Abguss
der leidlichen Wiederholung des Körpers im Vatikan
aufgesetzt und, um nicht auf halbem Wege stehen
zu bleiben, den Stamm wegschneiden lassen. Un¬
mittelbar wird einem jeden klar werden, wie erst jetzt die
Bewegung der Beine zur vollen Geltung gelangt; erst
1) Furtwängler, Sitzungsberichte der Königlich Bay¬
rischen Akademie der Wissenschaften igoo, p. 705 ff.
23
Abb. 10. Nike des Paionios. Ergänzter
Gipsabguss im Albertinum in Dresden
174
DISIECTA MEMBFU
Abb. n. Antike Marmorkopie nach dem Diskobolos des Myron im
Pal. Massimi-Lanceloiti in Rom
jetzt kommt es dem Beschauer deutlich zum Bewusst¬
sein, wie die ganze Figur allein auf dem rechten
Fusse lastet, während der linke Fuss mit umgebogenen
Zehen am Boden leicht dahingeschleift wird. Und
endlich hat man die Figur in diesem Zustand bron¬
zieren lassen; unsere Abbildungen (ii — 13) zeigen
den Marmor, den richtig ergänzten und bronzierten
Gips nebeneinander 1). Es ist
ganz erstaunlich, wie viel
schlanker und beweglicher die
ganze Figur durch die dunkle
Farbe des Metalles wird, wie
sich der Eindruck der Masse
verringert und die Komposition
von der Basis leicht zu lösen
scheint. Kein anderes Beispiel
kann uns eindringlicher die
Notwendigkeit vor Augen füh¬
ren, eine für Bronze vom
Künstler berechnete Figur auch
in diesem Material ausgeführt
zu sehen, und ich dächte, dass
derartige Versuche auch für die
lebende Kunst nicht ohne Be¬
deutung seien. Da unsere Künst¬
ler nicht mehr handwerksmässig
mit dem Material umgehen ler¬
nen, wird der starke Unterschied,
den es für die ganze Kompo¬
sition eines Werkes bedingt, zu
sehr vernachlässigt, und, was
wir heute sehen, ist nur allzu
oft nichts anderes als eine Pla¬
stik, die ihren Formencharakter
vom Arbeiten in nassem Ton
erhält, kopiert in Marmor oder
Bronze. Nicht alle können
einem Flildebrand ebenbürtig
sein; aber es wäre zu wünschen,
dass wenigstens die einfache
Einsicht in die wesentliche Be¬
deutung des Stoffes in der bil¬
denden Kunst wieder so allge¬
mein und selbstverständlich
werde, wie sie im Altertum
und zur Zeit der Renaissance
zum Segen der Kunst gewesen ist.
Auch ein Bild der Athena,
aus der gleichen Epoche stam¬
mend, hat uns die Forschung
wieder aus zerstreuten Teilen
hergestellt“). Im Museum zu
Dresden standen zwei im Torso
übereinstimmende Figuren der
Göttin mit verschiedenen Kö¬
pfen, von denen der eine sicher
nicht zu seinem Körper ge¬
hörte, während man bei dem
anderen schwankte. An ihm
fehlte wieder der Oberkopf,
den man mit einem hässlichen
modernen Helm ergänzt hatte. Zunächst wurde man
nun darauf aufmerksam, dass dieser Kopf die ge-
1) Vergleiche Riezier in Helbing’s Monatsberichten über
Kunstwissenschaft und Kunsthandel 1Q02.
2) Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik,
p. 4ff. T. I- III.
Mb. ,2. RestUuHcn des Diskobolos in Oips Mb- ’3- ResHüMon des Diskobohs in bronziertem Gips
176
DISIECTA MEMBRA
ringere Replik eines herrlichen, mit dem Bruststück
vollkommen erhaltenen und zum Einsetzen in eine
Statue bestimmten Kopfes im Museo civico zu Bo¬
logna sei. Da man diesen für den Kopf einer Ama¬
zone erklärt hatte, schien es entschieden, dass der
Kopf in Dresden nicht zu dem Athena-Torso gehören
könne. Er wurde abgenommen, von seinem Helm
befreit und mit Hilfe eines Abgusses des Bologneser
Kopfes ergänzt. Da kam ein Gelehrter, der frisch
an die Sache herantrat, auf anderem Wege zu der
Erkenntnis, jener Kopf müsse doch zu dem Athena-
Körper gehören und bei er¬
neuter Untersuchung ergab
es sich, dass nicht nur der
Marmor an Kopf und Figur
identisch sei, sondern dass
im Kern des Halses geradezu
Bruch auf Bruch passe; so
kam diese Athena wieder zu
ihrem rechtmässigen Kopfe
(s. Abb. 14). Man entfernte
nun von der zweiten Kopie
des Körpers im gleichen Mu¬
seum den fremden Kopf mit
dem modernen Bruststück
beides war hier ursprünglich
besonders gearbeitet gewesen
-- und setzte in die leere Ein¬
lassung einen Abguss des
Bologneser Kopfes. »Bei die¬
ser Zusammenfügung passte
die Bologneser Büste so ge¬
nau in jene Einlassung, als
ob beide für einander gear¬
beitet worden wären ; am
Kontur der Büste brauchte
auch nicht ein Millimeter
weder zugesetzt noch abge¬
schnitten zu werden.«
Der linke Arm war erhoben ;
er muss die Lanze gehalten
haben. Für die Rechte Hess
sich von vornherein schliessen,
ergab sich durch denVergleich
mit Gemmen aber noch be¬
stimmt, dass sie den Helm
trug. So hat man die ganze Fi¬
gur in Köln in der Kunstanstalt
von A. Gerber ergänzt und bronziert; von dieser Restau¬
ration steht ein Exemplar heute im Wallraf-Richartz-
Museum ^). Dass das Original dieser wundervollen
Schöpfung, die man dem Phidias selber zugeschrieben
hat, wirklich in Bronze gearbeitet war, erkennt man an
der ganzen scharfkantigen Formenbehandlung und vor
allem an dem prachtvollen Gewirr der stark gelockten
Haare. Hat man zudem mit jener Rückführung auf
Phidias Recht, dann kann das Original nur eine
Athena gewesen sein, die der Meister für die Lemnier
1) Leider wurden wir mit der Photographie, die wir
gern abgebildet hätten, ini Stiche gelassen.
gearbeitet hat, ein im Alterthum besonders hoch¬
bewundertes Werk, und diese war, wie uns die Über¬
lieferung sagt, aus Bronze. Wie stark auch hier
wieder der Eindruck des Werkes durch die Bron¬
zierung beeinflusst wird, braucht nicht wiederholt zu
werden ').
Als die Deutschen nach der Gründung des
Reiches ihre erste gemeinsame wissenschaftliche Aktion,
die Ausgrabungen von Olympia, unternahmen, wurde
es mit freudigem Jubel begrüsst, als eine Statue der
Siegesgöttin zu Tage kam, die dort in der Epoche des
Phidias von den Messeniern
errichtet worden war, ein in
seiner Konception durchaus
eigenartiges, kühnes Werk,
dessen Meister Paionios war.
Vor der Front des Zeustem¬
pels erhob sich ein hoher,
dreieckiger Pfeiler, die Basis
des Bildes, das die Göttin
mit mächtig ausgebreiteten
Fittichen herabschwebend dar¬
stellte; aber ihre Füsse be¬
rührten nicht etwa den Pfeiler
selbst, über dem wir zunächst
links den Kopf eines Adlers
bemerken, der hier aus einer
formlosen Masse ragt, auf der
dann die Gewandsäume an¬
setzen ; und zwar fliegt das
Tier nicht etwa in der glei¬
chen Richtung, wie die Göt¬
tin; während diese gerade
auf den Beschauer zu gerichtet
sich herabsenkt, fliegt der
Adler horizontal an ihm vor¬
bei nach links. Durch dieses
Mittel löste der Künstler die
schwebende Figur für die
Vorstellung des Betrachtens
vollkommen von ihrer Basis.
Die Figur wurde in sehr
trümmerhaftem Zustande ge¬
funden; sorgfältig sammelte
man alle Reste und setzte sie
sowohl in Marmor in Olym¬
pia wie im Abguss in Dres¬
den zusammen; leider aber
war von dem Kopfe nur ein Fragment des Ober¬
schädels zu Tage gekommen. Da fand sich in rö¬
mischem Privatbesitz ein weiblicher Kopf von hervor¬
ragender Schönheit, an dem die betreffenden Partien so
vollkommen mit dem Fragment des Nike-Kopfes über¬
einstimmten, dass man nur zweifeln konnte, ob hier
eine Kopie — denn um eine solche handelt es sich
nach einem anderen Werk des gleichen Meisters
2) Abb. 15 giebt einen in Dresden hergestellten Bronze-
nachguss des Bologneser Kopfes wieder. Wir verdanken
die Erlaubnis zur Veröffentlichung dem Besitzer des Nach¬
gusses, Herrn Prof, von Wilaniowitz-Möllendorff.
Abb. 14. Statue der Athena in Dresden
Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik
DISIECTA MEMBRA
177
oder nach der Nike selber vorliege’). In jedem Falle
konnte man den römischen Kopf mit bestem Ge¬
wissen benutzen, um die Erscheinung der Nike mit
einem der wesentlichsten Teile, dem Gesichte, auszu¬
statten, und das ist in Dresden im Albertinum ge¬
schehen (Abb. 10), wo man zudem alle fehlenden
Teile durch den Bildhauer Rühm hat ergänzen lassen.
Die Probe ist glänzend
gelungen; dasselbe Gefühl
für feierlichen Ernst und
einfache Grösse, wie es sich
in dem einheitlichen Zuge
der mächtig zurückgewehten
Falten, in den ruhig beweg¬
ten, breiten Formen der Ge¬
stalt ausspricht, ist auch
lebendig in den einfachen,
ernsten Zügen des jung¬
fräulichen Gesichtes.
Etwas ähnliches wie
Bronzierung bleibt hier zu
wünschen übrig. Wir wis¬
sen, dass alle antiken Skulp¬
turen im reichsten Farben¬
schmucke prangten. Wer
im Süden und besonders
in Griechenland gewesen
ist, sieht es ohne weiteres
ein, wodurch eine der¬
artige Tönung des weissen
Marmorsteines notwendig
wurde, um so mehr, wenn
eine Figur, wie die Nike,
hoch erhoben gegen den
Fhrnmel gesehen werden
sollte. In Athen stehen heute
moderne weisse Marmorsta¬
tuen auf hohen Säulen; so¬
bald die Sonne scheint,
werden diese Statuen zu
blendenden weissen Flecken,
in denen jede Modellie¬
rung verschwindet, dop¬
pelt störend in einer Natur,
die so voll leuchtender
Farbenpracht ist, wie die
griechische. Wie besonders
stark gerade Paionios auf
die Mitwirkung der Be¬
malung rechnete, zeigt Abb. 15.
mehr als vieles andere
die Behandlung jener Partie
zwischen dem Pfeiler und dem Gewand der Nike;
erst wenn hier, was vom Adler sichtbar wurde,
schwarz erschien, das andere etwa in der grauen
Farbe eines wolkenartigen Gebildes, wurde die Inten¬
tion des Künstlers, die Figur ganz von ihrer Basis
zu lösen, erreicht; waren die Säume des Gewandes
1) Amelung, Römische Mitteilungen, 1894, p. 162 ff.
T. VII.
markiert, so musste sich auch dort alles deutlicher
sondern; die goldbraunen Haare waren durchzogen
von buntfarbigen breiten Binden; zu beiden Seiten
ragten die dunklen Flügel auf; die Gestalt der Göttin
mit dem zarten durchscheinenden Gewände hob sich
hell ab von dem dunklen Purpur des segelartig ge¬
bauschten Mantels und die ganze Darstellung in voller
Farbenprachtund plastischer
Fülle von dem unendlichen
Plan des tiefblauen Him¬
mels.
Bei denselben olympi¬
schen Ausgrabungen kam
ein Meisterwerk des Praxi¬
teles zu Tage, die Statue
des Hermes, der den klei¬
nen Dionysos auf dem
Arme hält, ein herrliches
Bild jugendlicher, liebens¬
würdigster Eleganz. Es
war nicht uninteressant, mit
diesem Werk die Kopie
eines älteren zu vergleichen,
in dem eine ähnliche Gruppe
zur Darstellung gelangt
war, die Eirene, die Frie¬
densgöttin, die den kleinen
Plutos, den Gott des Reich¬
tums, wie eine mütterliche
Wärterin auf dem Arme
hält; freundlich neigt sich
ihr edles Antlitz dem Kinde
zu, das kosend mit dem
Händchen nach dem Kinn
der Göttin greift: ein
rührendes, durch und durch
menschliches Bild, das
sich in seiner Verbindung
von Würde und Innigkeit
jeder christlichen Madonna
mit dem Kinde an die
Seite stellen kann. Der
Vergleich mit jenem praxite-
lischen Werke war um so
natürlicher, als man weiss,
dass die Eirene eine Schö¬
pfung des Kephisodot war,
des Vaters oder älteren
Bruders des Praxiteles.
Die Beziehungen und Un¬
terschiede waren gleich
deutlich.
Von der Eirene existiert die vollständigste Kopie
in der Münchener Glyptothek; nur trägt — abgesehen
von anderen kleinen Beschädigungen — der Knabe
einen antiken, ihm aber ursprünglich nicht gehörigen
Kopf. Da kam eine vollständige Replik des Knaben
im Piräus zu Tage. Man benuzte das und stellte
eine richtige Restauration der Figur her, die man
dann in Kupfer treiben liess, da auch hier über¬
liefert war, dass das Original in Metall gearbeitet
Bronzenachgiiss des Kopfes der Athena
in Berlin
DISIECTA MEMBRA
1 78
war. Wir geben dieses Werk in Abbildung 16
wieder’).
Vielleicht ist uns noch ein anderes Werk des glei¬
chen Meisters durch Kom¬
bination der disiecta mem-
bra wiedergewonnen, ein
Werk, das dem des Pra¬
xiteles noch näher steht,
da es den gleichen Ge¬
genstand behandelt. Die
Eigur des Hermes ist in
einer Statue des Madrider
Museums erhalten ; dass
sie einst auf der ergänzten
Linken den kleinen Dio¬
nysos gehalten habe, er-
giebt sich aus dem Stich
einer jetzt verschollenen
Gruppe, die einst im Pa¬
lazzo Earnese in Rom
gestanden hat (sie giebt
ihr Vorbild nur in der
Umkehrung wieder); da
sehen wir in der That
unverkennbar den glei¬
chen Hermes gruppiert
mit dem kleinen Dionysos,
der, wie der Plutosknabe,
das eine Händchen zum
Kinn des Pflegers erhebt.
Und nun ist auch eine
Kopie dieses Knaben mit
der Hand des Hermes, auf
der er sitzt, bekannt ge¬
worden: dies Pragment
befindet sich im römischen
Thermen-Museum. Leider
ist es noch nicht möglich
gewesen, die beiden Teile
— sie stammen nicht von
der gleichen Kopie — im
Gips miteinander zu ver¬
einen; es wäre auf diese
Weise wiederum ein Mei¬
sterwerk eigenartiger Be¬
deutung nicht nur dem
Bewusstsein, sondern auch
dem Auge zurückgewon¬
nen -).
Und nun als letztes
Beispiel noch die reinste
1) Das Exemplar befin¬
det sich in Berlin im Besitz
des Herrn V. Benary; ans¬
geführt wurde es im Atelier
des Prof. Eberle in München
von dem jetzigen Prof. Wadere unter Leitung Brunn’s und
des Herrn Prof. Fränkel, dessen Vermittelung es der Ver¬
fasser dankt, dass ihm eine Photographie der Statue zur
Verfügung gestellt wurde.
2) Klein, Praxiteles, p. 402ff, Fig. 81 -84.
Abb. 16. Eirene des Kt’pbisodot. In Kupfer
getriebene Restitution in Berlin
Verkörperung weiblicher Schönheit, die Figur der
Aphrodite, wie sie Praxiteles für das Heiligtum der
Göttin am knidischen Meeresstrande geschaffen
(Abb. 18). Er hatte sie
dargestellt, wie sie zum
Bade entkleidet das letzte
Gewandstück auf ein Ge-
fäss an ihrer Seite sinken
lässt; während die Rechte
in unbewusster Scheu die
Scham bedeckt, wendet
die Göttin den Blick mit
selig schimmernden Augen
zur Seile. Die bedeu¬
tendste Wiederholung be¬
sitzt das vatikanische Mu¬
seum, doch ein geschmack¬
loses Blechgewand ver¬
hüllt barbarisch den Unter¬
körper und ein gefühlloser
Ergänzer hat den Kopf
nicht weit genug zur Seite
gewendet. ln München
hat man nun dem Ab¬
guss des vatikanischen
Körpers den eines wun¬
dervollen, mit dem Halse
erhaltenen Kopfes im Ber¬
liner Privalbesitz aufgesetzt
und damit erst eine Ah¬
nung davon ermöglicht,
welche Fülle von Liebreiz
Praxiteles dieserSchöpfung
verliehen ’). Wie aus¬
drucksvoll ist diese Be¬
wegung des Halses und
die Stellung des Kopfes
auf dem Halse! Wie
herrlich äussert sich ge¬
rade darin die ganze hin-
gebende Schmiegsamkeit
des zur Liebe geschaffenen
Weibes! Erst jetzt können
auch wir die Bewunde¬
rung begreifen, die das
ganze Altertum diesem
Werk und seinem Bildner
gezollt hat.
Einer kleinen Schrift
des Professors Michaelis
in Strassburg entnehme
ich, dass auch im dor¬
tigen Gipsmuseum der
Universität verschiedene
Versuche der oben ge¬
schilderten Art unter¬
nommen worden sind;
besonders ausdrucksvoll ist die Gruppe der Tyrannen-
]) Fiirtwängler in Helbing’s Monatsberichten über
Kunstwissenschaft und Kunsthandel igoi. Die Finger der
R. müssten gestreckt sein.
DISIECTA MEMBRA
179
Abb. 77. Niobide. Ergänzung in Prag: der Körper
im Vatikan, der Kopf in den Uffizien in Florenz
mörder in richtiger Gruppierung und Ergänzung und
ohne die klotzigen Stämme des Marmors (wir dürfen
die Abbildung mit gütiger Erlaubnis des Professor
Michaelis hier wiederholen). Wieviel bedeutender noch
würde sie wirken, wenn man sie nicht mit der toten
Farbe des weissen Gipses, sondern in glänzender
Bronzierung sähe!
Ähnliche Versuche sind in den Universitäts-Museen
zu Bonn und Prag gemacht worden. Aus letzterem
kann ich hier eine interessante Ergänzung abbilden
(Abb. 1 7). Von der einen flüchtenden Tochter der Niobe
giebt es zwei im allgemeinen Motiv übereinstimmende,
in Einzelheiten verschiedene Darstellungen, eine in
Florenz, die andere im Museo Chiaramonti des Va¬
tikan. Diese weit grossartiger in Bewegung und
Durchführung des Gewandes, jene besser erhalten,
vor allem mit dem sehr reizvollen Kopfe. Einen Ab¬
guss von diesem hat man nun in Prag dem Abguss
des Torso aus dem Museo Chiaramonti aufgesetzt
und dadurch zweifelsohne die Wirkung des Torso
um ein Erhebliches gesteigert. Es wäre für einen
Künstler keine allzu schwierige Aufgabe mehr, jetzt
auch noch die Linke, den rechten Arm und den
segelförmig geblähten Teil des Mantels zu ergänzen, und
die Figur stünde vollkommen wieder vor unseren Augen.
Aber man muss zugestehen, dass es kaum zu ver¬
langen ist, ein Universitäts-Museum, das berufen ist,
dem Studium und nicht dem Genuss zu dienen, solle
seine beschränkten Mittel in ausgiebigerem Masse
für derartige Versuche verwenden. Hat man aber ein¬
mal eingesehen, dass es nicht aussichtslos ist, sie zu
unternehmen, ja, dass sie notwendig unternommen
werden müssen, um eine reinere Anschauung der
Abb. 78. Aphrodite des Praxiteles. Restitution in
München: der Körper im Vatikan, der Kopf in Berlin
iSü
DISIECTA MEMBRA
antiken Schönheitswelt
zu ermöglichen’), so
ist zu hoffen, dass
sich auch alsbald am
rechten Ort die rechten
Männer und die nötigen
Mittel finden werden,
um die Begründung
eines besonderen Mu¬
seums zu ermöglichen,
in dem im grössten Um¬
fange und mit allen er¬
denklichen Hilfsmitteln
gearbeitet werden könn¬
te, in dem in ursprüng¬
licher Form erstehe,
was von den Schätzen
der antiken Kunst uns
die begeisterte Arbeit
der Forschenden wie¬
dererobert.
Abb. IQ. Die Tyrannenmörder des Kritios und Nesiotes.
Restitution in Strassburg i. E.
1) Es ist sicher kein zufälliges Zusaniinentreffen, dass soeben ein Aufsatz S. Reinach’s über das gleiche Thema
in der Gazette des beaux aits (igo2, p. 13g ff.) erschienen ist.
Nach einem Aquarell von Rudolf Jettmar in Wien
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIII
DICHTERTRAUM. ORIOINALRADIERUNO VON R. JETTMAR IN WIEN
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ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIII
MAX KLINGERS
BEETHOVEN
VON
PAUL MONGRE
Gesamtansicht von KHager's Beethoven in der Aufstellung der Wiener Secession
MAX KLINQERS BEETHOVEN VON PAUL MONGRE
IN den Ostertagen dieses Jahres wurde ein künstlerisches Fest von säkularer Seltenheit und Bedeutung
gefeiert. Klinger’s Beethoven enthüllte sich den Blicken der Öffentlichkeit, fast genau um die 75. Wieder¬
kehr von Beethoven’s Todestage. Et resurrexit . . . Gläubige und Ungläubige, Zöllner und Pharisäer,
stumpfe Neugier und wissende Bewunderung strömten sechs Tage lang im weltberühmten Atelier zu Leipzig-
Plagwitz zusammen, das Wunder des auferstandenen Zauberers zu schauen. Am siebenten Tage wurde abgebaut,
zerlegt, transportiert, und augenblicklich bildet das wieder zusammengefügte Riesenwerk den Mittelpunkt
und das Ereignis der Wiener Secession. Um den Ankauf bemühen sich Klinger’s Vaterstadt und Beethoven’s
zweite Heimat; nach Zeitpunkt, Geldmitteln und Begeisterung scheint Wien den Vorsprung zu haben. Nach¬
dem das Parisurteil, die Kreuzigung, Christus im Olymp nach Österreich gewandert sind, dürften wir uns
den Beethoven unter keinen Umständen entgehen lassen: das ist Ehrensache, Idealismus und überdies eine
gute Kapitalsanlage. Der »Thatenleib« des grössten lebenden deutschen Künstlers soll seinen Schwerpunkt
nicht ausserhalb der deutschen Reichsgrenzen haben.
Ja, was hilft es: vor einem solchen Ungetüm von Kunstwerk muss man schon einmal hyperbolisch
reden und alle wohlerwogene nüancierte Bewunderung mit Vorbehalten zum Teufel schicken. Con brio,
wie Beethoven’s Lieblingstempo war: statt des üblichen allegro moderato oder allegro, ma non troppo.
Das heutige Geschlecht ist ja sonst so freigebig in der Errichtung von »Marksteinen« und Datierung neuer
Epochen: nun, hier ist etwas wirklich, nicht nur redensartlich Monumentales geschaffen, ein neues leibhaftes
Weltwunder, das miterlebt zu haben uns ein unauslöschliches Glücks- und Dankgefühl bedeutet. Es giebt
eine Kunst, die zu nichts verpflichtet, die glatt abfliessend weder fragt noch antwortet, die genossen wird,
aber nicht mitgeschaffen — vor ihr wie nach ihr ist man derselbe Mensch. Und es giebt Künstler, die
uns die Gefühlsessenz einer ausgelebten Vergangenheit zu kredenzen wissen oder einer so hochmodernen
Gegenwart, dass sie im Handumdrehen schon zur Vergangenheit abgeblüht ist: es giebt Kunstwerke, die
einen an zeitliche und konventionelle Bedingungen gebundenen Seelenzustand im Augenblicke höchster
Intensität aussprechen und schon im nächsten uns nichts mehr angehen. Dann aber giebt es auch zeit¬
überragende Kunstwerke, die den Rahmen der formalen und historischen und artistischen Kunst sprengen,
die mit uns von grossen Menschheitsdingen reden und »ewig« sind in dem Sinne, in dem ein Mensch
überhaupt dies Wort in den Mund nehmen darf; Werke, an denen man nicht vorbei kann, wenn man nicht
vorbeigelebt haben und als trüber Gast auf der dunklen Erde bloss vegetieren will; Werke, in denen die
Seele untergeht und sich erneuert, aus denen eine Kraft der Umwandlung wie ein läuterndes Feuer heraus¬
flammt; Werke, in denen sich nicht mehr das Individuum, sondern die Menschheit manifestiert, mit denen
geradezu die tellurische Brüderschaft sich gegen andere Planetenvölker abzeichnet und ihre Parole abgiebt.
Aber hier fängt vielleicht die Metaphysik an. Nun, solch ein Menschheitsgenius und representative man
war Beethoven, und solch ein Schlüsselwort zum Menschheitsrätsel ist Klinger’s Werk.
Neben der fertigen Beethovenstatue stand im Atelier das aus dem Jahre 1886 stammende Gips¬
modell, Klinger’s erstes plastisches Versprechen, nun nach anderthalb Jahrzehnten »in Überlebensgrösse«
eingelöst. Was liegt nicht alles dazwischen? die Wunderwelt der radierten Cyklen, die grossen Gemälde,
vor allem der ganze Entwickelungsgang des Bildhauers. Ein kühngewölbter unsichtbarer Brückenbogen
spannt sich zwischen jenem bemalten Entwurf und dem heutigen polychromen Bildwerk aus Marmor, Bronze
und Elfenbein. Wer unter uns Zeitgemässen vermag einen solchen Bogen zu wölben, eine so langfristige
Verheissung in sich auszutragen? Wer hat diese Kraft der inneren Vision über Zwischenakte hinweg, diesen
stählernen Willen , der nicht nur gleich dem Marmorbohrer über hartes Material, sondern mehr noch über
183
eigene Ablenkungen und Verzögerungen Herr wird, diesen ausliarrenden Künstlerfleiss eines Dante oder
Zola, der sich nicht in feuilletonistischen Augenblicksinspirationen verpufft, sondern gemächlich Stein auf
Stein türmend seine cyklopischen Bauten errichtet? Seit Richard Wagner in gewaltigsten Dimensionen sein
Lebenswerk hinstellte und darüber Zeit und Ruhm au sich vorüberbrausen Hess, ist der Typus des unbeirrten,
sich selbst getreuen Künstlers nicht so prachtvoll wieder verkörpert worden wie in dem anderen obstinaten
Leipziger, in Max Klinger. Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht den hohen
Menschen, heisst es irgendwo bei Nietzsche. Nun, diejenige Empfindung Klinger’s, die auf den Namen
Beethoven’s getauft ist, ist keine aufglühende und verlöschende Stimmung, sondern ein tief eingesenktes
Grundgefühl, ein aufbauendes und mitbestimmendes Element im Gefüge der Klinger’schen Persönlichkeit.
Erühzeitig muss BeethoveiTs Antlitz, das trotz seinen Pockennarben und seiner »Garstigkeit« die Wiener
Aristokratinnen fascinieren konnte, den Künstler in seinen Bann gezwungen haben. Hat er sich nun davon
entlastet und seine innere Beethoven-Anschauung zum letztenmale exteriorisiert? oder wird noch eine spätere
Menschengestalt den ungeheuerlich seelenvollen Beethovenkopf tragen wie der Jünger Johannes auf der
Dresdner Pieta und der Kreuzigung? Zwei Totenmasken, Nietzsche und Brahms, lagen dieser Tage in
Klinger’s Werkstatt: werden auch sie in langer schöpferischer Erregung Wellenringe ausbreiten und Kreise
ziehen, wie jene Beethovenmaske von 1812, die Eranz Klein vom lebenden Gesicht geformt, und aus der
durch tiefe organische Umbildungsprozesse Klinger’s marmorner Beethovenkopf erwachsen ist?
Aber wir träumen schon von künftigen Bildwerken, die noch ungemeisselt im Stein und vielleicht
ungestaltet in des Künstlers Gehirn schlafen, und haben noch nicht ein Wort über die sinnenfällige Erschei¬
nung der gegenwärtigen, glorreich vollendeten Kunstschöpfung gesagt. Ich könnte mir einen Beschauer
denken, dem diese sinnliche Aussenseite gar nicht ins Blickfeld des Bewusstseins träte, der sich von der
packenden Seelensprache und erschütternden Innerlichkeit des Werkes völlig gefangen nehmen Hesse; ich
könnte mir aber auch, namentlich bei Eeinschmeckern des Gesichtssinnes und Eachmännern der bildenden
Kunst, das absolute Gegenteil vorstellen: dass die prachtvolle Erscheinung den geistigen Gehalt abblendete
und unter der Bewusstseinsschwelle hielte. Wer das Werk in seiner ganzen Umfänglichkeit geniessen will,
muss sich beides nahe gehen lassen: die hohe Gedankenkunst und Gefühlswelt nicht minder als die brau¬
sende Eormen- und Farbenpracht, die sich vor dem schwelgenden Auge aufthut. Klinger hat hier alle
einzeln entwickelten Elemente seiner plastischen Vergangenheit^) in eine beispiellose Gesamtoffenbarung
konzentriert: die Freude am philosophischen Tiefsinn und an ausdrucksvoller Seelenkündigung, die Freude
am leuchtenden nackten Menschenleib, die Freude am Farbenzauber kostbaren Materials, die Freude an tech¬
nischen Schwierigkeiten und versucherischen Wagnissen. Der Grübler, der die Kassandra aus dem Stein
hieb, der unheimliche Psychologe, dem die Salome gelang, der Schönheitsanbeter, der den wonnigen
Frauenleib der Amphitrite und das reizvolle Gliederspiel des badenden Mädchens schuf, der Experimentator,
der in eine Treppenstufe die Verschlingung Leda’s mit dem Schwan hineinbannte und wie Michelangelo
dem widerspenstigen Material unerhörte Möglichkeiten abtrotzt, der malerisch empfindende Plastiker, der nicht
beim schwächlichen Kompromiss der Bemalung stehen bleibt, sondern die leuchtende Naturfarbe bunter
Gesteine wirken lässt und damit das missverstandene klassizistische Ideal der antikisierenden Bildhauerei
endgültig ablehnt — : alle diese Komponenten in Klinger’s umfassender Gesamtpersönlichkeit mussten sich
vereinen, den Beethoven zu schaffen.
1) Vergleiche Georg Treu, Max Klinger als Bildhauer.
Drei gewaltige Marmorstufen tragen das halb felsenartige halb wolkige Postament aus dunkelbraun¬
violettem Pyrenäenmarmor, auf dem der Thron des Olympiers steht. Die Faustworte »Der Einsamkeiten
tiefste schauend unter meinem Fuss« sind als Sockel Inschrift gedacht. Zeus-Beethoven thront mit vorgebeugtem
nacktem Oberkörper; das rechte Bein ist über das linke geschlagen, auf dem heraufgezogenen Oberschenkel
ruhen die geballten Fäuste, die rechte vor der linken. Die nackten Teile sind aus Syramarmor, dessen Weiss,
mit einem unmerklichen Stich ins Bläuliche, kreidig erloschen und geisterhaft schimmert wie Firnschnee
nach Sonnenuntergang. Über die Beine breitet sich in feierlichem Faltenwurf ein Gewand aus gelbbraun
gebändertem tiroler Onyx: das Gipsmodell hatte statt dessen rote Bemalung. Zu Füssen des Olympiers kauert
gesträubt, mit kaum gebändigtem Flügelschlage, der Adler aus schwarzem zartgeädertem Marmor (ursprünglich
sollte er aus Ebenholz geschnitzt werden), die glühenden Bernsteinaugen auf den düster schweigenden Gott
geheftet. Eine ungeheure Spannung und atemraubende explosive Bereitschaft zittert in dieser scheinbaren
Ruhe: noch ein Augenblick, und mit dem auffliegenden Adler schmettert der Blitz aus Kronions geballten
Eäusten. Wenn die homerischen Verse vom Schütteln der Locken, das den Olymp erbeben macht:
Also sprach und winkte mit schwärzlichen Brauen Kronion,
Und die ambrosischen Locken des Herrschers fluteten vorwärts
Von dem unsterblichen Haupt: es erbebten die Höhn des Olympos,
— wenn diese Vorstellung aktueller Bewegungsgewalt den Pheidias zu seiner Zeusstatue inspiriert haben
soll, so ist es bei Klinger umgekehrt die latente Energie, die angesammelte, verdichtete, auf Entladung
wartende Machtfülle, die der Gruppe von Gott und Tier eine gesteigerte und leidenschaftlich erregte Leben¬
digkeit einhaucht. Das ist nicht jene olympische Ruhe, die nebst der stillen Einfalt, der heiteren Harmonie,
der goldenen Mitte und ähnlichen philiströsen Missverständnissen aus der Winckelmannzeit unseren Gym¬
nasialbegriff von Griechen und Griechengöttern ausmacht. Nietzsche’s Worte
Wer viel einst zu verkünden hat.
Schweigt viel in sich hinein.
Wer einst den Blitz zu zünden hat.
Muss lange — Wolke sein
geben eine verwandte Stimmung. Klinger’s Beethoven schweigt viel in sich hinein. Die Lippen sind
zusammengepresst, der Unterkiefer etwas vorgeschoben, die Augen starr ins Unendliche gerichtet. Äusserst
reizvoll wäre eine genaue Analyse des Kopfes, namentlich im Vergleich mit dem alten Modell und mit der
Klein’schen Maske. Über Beethoven’s wirkliche Erscheinung sind ja, wie ErimmeFs eingehende Unter¬
suchung gezeigt hat, viele konventionelle Irrtümer verbreitet. Des Meisters Ungebärdigkeit bei den Sitzungen,
die mangelnde Beobachtungstreue und überschüssige Phantasie der damaligen Porträtisten , zuletzt noch die
irreführende, erst nach der Schädelobduktion abgenommene Danhauser’sche Totenmaske: kein Wunder, dass
unter solchen erschwerenden Umständen sich eine ideale, glatt verzierlichte oder genial dämonisierte
Beethovenphysiognomie über die wirkliche schob. Zu den zuverlässigeren Urkunden gehört immer noch
jene Maske von 1812 und die danach fast unverändert ausgeführte Klein’sche Büste. Vielleicht aus über¬
empfindlicher Scheu vor jener konventionellen Auffassung zeigt Klinger’s Modell von 1886 die charakter¬
volle Hässlichkeit des wirklichen Beethoven noch in seltsamer Heftigkeit accentuiert: keine hohe, sondern
eine breite vorgewölbte Stirn (»kugelig« nennt sie ein Zeitgenosse, während Bettina sie »himmlisch« findet),
und darunter ein stier brütendes Antlitz von halb wahnsinnigem, halb tierischem Ausdruck — so düster
und gespenstisch wie jenes Largo aus dem D-dur-Trio, das Beethoven’s Freunde für seinen Geisteszustand
fürchten machte. Das ist noch nicht der Olympier, der die Titanen zu bändigen weiss; das ist der »kraupete
Musikant«, dem man in den Strassen Wiens mit scheuer Verwunderung nachblickt, der durch seine Taubheit
185
schauerlich Vereinsamte, Verwilderte, unsinnig Misstrauische. Welcher Aufstieg seelischer Befreiung und
technischer Ausdrucksbeherrschung von diesem Modellkopf zum marmornen Beethovenhaupte! Auch hier
glüht noch Düsterkeit, Schicksalstrotz: aber nicht mehr die dumpfe ratlose persönliche Befangenheit, der
Raubtierblick hinter Qitterstäben, sondern universelle Leidenstiefe, zermalmende und erhebende Erkenntnis
des Notwendigen, Tragik des innersten Weltgrundes. Beethoven leidet nicht mehr an sich, er leidet an der
Menschheit; er hat sein Selbst zu ihrem Selbst erweitert; er hat die Neunte Symphonie geschaffen. Zeus
ist ja nicht allmächtig — zu einer so unvollziehbaren gehirnverrenkenden Begriffsbildung waren die Griechen
zu gesund: über den Göttern thront Moira. Der Olympier starrt ins Unabänderliche . . .
Beethoven als Träger des Schicksals der Menschheit: diese Umdeutung des Individuums zum »Erd-
geist<' ist das Thema der Thronreliefs. Aus Einem Stück hat der Pariser Erzgiesser P. Bingen den ge¬
waltigen Thronsessel gegossen ; die Details der Flachbilder sind so zart herausgekommen wie die feinsten
Töne einer Radierung. Man hört, dass ein neues, noch unerprobtes Verfahren zur Herstellung der Guss¬
form gedient habe. Eine wunderbare Kombination aus ornamentalen Motiven ist der Götterthron, kühn
genug, um wie Böcklin’s Kentauren und Tritonen das »morphologisch gebildete Auge eines Dubois-Reymond
zu verletzen; auf hufartigen Vorderstützen ruhend, die etwas vorweltlich Archaistisches haben, im Grund¬
gerüst aus Palmenstämmen und Palmenzweigen entwickelt, das Ganze in düsterem, stumpfbraunem Bronzeton,
aus dem die phantastisch geschwungenen Armlehnen in glänzendem Goldschliff herausklingen. Die Innen¬
seite der hochragenden Rückenlehne trägt einen Kranz von fünf liebreizenden, elfenbeinernen Engelsköpfen;
der mittlere zeigt in den Haaren Bemahingsversuche, dem äussersten rechts wächst noch ein fingerweisendes
Händchen hervor, das mit beredtem Ecce Homo auf den thronenden Gottmenschen deutet. Die Engels¬
flügel sind mit bunten Halbedelsteinen und antiken Millefiorigläsern, der Grund mit blauen ungarischen
Opalen inkrustiert: wunderbar, in fast körperloser Zartheit, schwebt vor dieser farbenreichen Folie der astral-
weisse marmorne Oberleib, dessen vorgebeugte Haltung gutberechnete Durchblicke nach den inneren Putten¬
köpfchen offen lässt. Vielleicht hat dieser geisterhafte Farben kontrast den Künstler bestimmt, von einer
inkarnierenden Tönung des schneebleichen Marmors vorläufig abzusehen: das wäre kein Rückfall in den ge¬
frorenen Zuckerstil der Psendoantike, sondern eine wohlerwogene Feinheit und gerade ein Reiz mehr in der
polychromen Pracht des Ganzen. Auf den Aussenflächen des Thrones hat nun Klinger in drei grossen
Reliefs das Seelenleben der Menschheit zusammengefasst. An der rechten Seite der Sündenfall: Adam, dessen
lüsterne Scheu in einer merkwürdigen Kopf- und Armhaltung Ausdruck findet, nimmt von Eva den Apfel.
Links zwei Tantaliden: ein hoch aufgereckter Mann greift nach zurückweichenden Früchten, ein knieendes
Weib schöpft aus versiegender Quelle, beide fassen statt des qualvoll ersehnten Genusses ein maskenartiges
grinsendes Phantom. Auf der mächtigen Rückenfläche des Thrones aber lässt Klinger, wie im »Christus
im Olymp< , noch einmal die weltgeschichtlichen Kontraste aufeinander prallen: nazarenische Weltflucht und
heidnische Sinnenfreude. Im Vordergründe die auffauchende Aphrodite, von einer bärtigen Meergottheit auf
der Muschel getragen, vor ihr eine Nereide, die zwischen den zum Sprachrohr gewölbten Händen gellende
Worte in den Hintergrund hineinruft. Nach vorn schreitend, furienhaft, mit wehendem Mantel, wind¬
gepeitschtem Haar der Apokalyptiker Johannes, die linke Hand in unbeherrschtem Ingrimm zur Kralle ver¬
zerrt, die rechte mit anklagender Gebärde auf die Schönheitsgöttin gerichtet. Ganz fern die Schädelstätte,
Christus mit den beiden Schächern am Kreuz, Maria die Mutter und Maria die Magdalenerin. Das Griechen¬
meer umschäumt den Golgatha-Felsen, und am Horizont geht die Sonne auf: die Sonne des Christentums?
Leuchtet sie der sterbenden Antike und dem Siege des Galiläers? Aber der Ewigkeitsaccent über dieser
Scene und Klinger’s künstlerischer Glaube verbieten eine so engherzige Deutung, eine so bedingungslose
Ergebung in das historische Faktum. Erst die Synthese der Gegensätze vollendet den dialektischen Prozess:
aus der Versöhnung hellenischer und christlicher Kultur wird das »dritte Reich« kommen, von dem Ibsen
seinen julianus Apostata träumen lässt, das dritte Reich, dessen Sonne dort am Himmelsrande aufflammt.
186
Der dramatische Kern dieses leidenschaftlich bewegten Gesamtbildes ist zweifellos die verdammende Liebes-
fluchgebärde des Jüngers, von der sich Anadyomene in göttlicher Gleichgültigkeit abwendet: auf dem Gips¬
modell ist noch ein Spruchzettel zu erkennen, der die Anklage in eine Wortformel übersetzt. Klinger’s
Philosophie der Liebe ist ja keineswegs unbedingt optimistisch, er sieht tiefer als Künstler zu sehen pflegen:
der Kampf der Geschlechter, die Sinnlichkeit als zerrüttende Illusion, die das Individuum der Gattung auf¬
opfert, Eros als Feind der aufstrebenden Menschheit — das sind ihm keine fremden Vorstellungen. In den
radierten Cyklen »Eva und die Zukunft«, »ein Leben«, »eine Liebe« hat er die Geschlechtlichkeit als grau¬
same Zerstörerin geschildert, und nicht nur im Bunde mit sozialen Zufälligkeiten und Vorurteilen, sondern
ihrem inneren Wesen nach. Eva, der die Schlange den Spiegel vorhält, erwacht zum Bewusstsein ihres
Körpers: das ist der psychologische Moment des Sündenfalles. Und auf einem Blatte der »Brahmsphantasie«
erscheint Aphrodite im Ausbruche zügellosen Machtgefühls, wälirend Menschenleiber, Menschenschicksale wie
Trümmer im Wellenspiel geschaukelt werden: unberechenbar, unverantwortlich, gewissenlos wie jede Natur¬
kraft schaltet die Liebe mit den ohnmächtigen Individuen. Phobos und Deimos, Schrecken und Furcht ent¬
keimen dem Schoss der Liebesgöttin . . . Vielleicht ist es ein Symptom moderner Willensschwäche, dass
wir die Liebe so tragisch empfinden; selbstsichere, disziplinierte Zeitalter mögen zu einer idyllischen Auf¬
fassung, zu Galanterie und Gauloiserie neigen. Für unser Gefühl, das man darob zwiespältig schelten mag,
hat jedenfalls der gewaltig zürnende Apostel nicht minder Recht als die im eigenen Schönheitsrausche
schwelgende Göttin; es ist eben ein vollendeter »Dialog zweier Prinzipien < (so bezeichnet Beethoven ge¬
legentlich das Programm zweier Klaviersonaten) und keine Partei besitzt die volle, endgültige Wahrheit.
Eine Weltgeschichte mit ihren gegensätzlichen Triebkräften ist in diese Bronzereliefs gebannt: verlorenes
Paradies und ungestilltes Glückverlangen, Selbstgenuss und Selbstaufopferung, Sensualismus und Spiritualismus,
Kypros und Golgatha — aus diesem Spiel sich kreuzender Kontraste, aus Kette und Einschlag webt sich
der Teppich des Lebens. Klinger’s Raumkunst wagt hier das Höchste: sie überträgt Beethoven’s tönende
Hieroglyphen in sichtbare Symbolik, sie redet vom Schicksal der Menschheit.
Noch ist von dieser überströmenden Bilderwelt nicht alles gesagt: den oberen Rand der Rückenlehne
kränzen fünf liegende Menschenfiguren, sozusagen simple »Geschöpfe des Prometheus«, denen Beethoven
einmal eine Balletmusik gemacht hat, individuell besonderte und ins eigene Schicksal eingesperrte Pygmäen
neben der Überlebensgrösse des Tonschöpfers, dem der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen zufiel. Ob
ein schärfer zugespitzter Gedanke in diesen Gestalten ausgedrückt ist, die wegen ihrer erschwerten Sicht¬
barkeit hauptsächlich dekorativ wirken, vermag ich nicht anzugeben.
»Hol’ Sie der Teufel, ich mag nichts von Ihrer ganzen Moral wissen, Kraft ist die Moral der
Menschen, die sich vor anderen auszeichnen, und sie ist auch die meinige,« so steht auf einem der Zettel,
auf denen sich Beethoven’s grimmiger Humor zu entladen pflegte. »Eine ganz ungebändigte Persönlich¬
keit«, klagt Goethe, und Bettina berichtet: »Kein Kaiser und König hat so das Bewusstsein seiner Macht,
und dass alle Kraft von ihm ausgehe, wie dieser Beethoven«. Dem jungen Moscheies, der unter eine Noten¬
abschrift »fine mit Gottes Hülfe« setzt, schreibt Beethoven die Replik: o Mensch, hilf dir selber! Und
dieser Empörer voll titanischer Hybris thront nun selbst als der Sieger über Titanen und Giganten, als Zeus
Horkios, der über Eide und Verträge, Ordnung und Gesetzmässigkeit in seiner Welt wacht? Der
»Generalissimus in Donner und Blitz«, aufbrausend und rasch besänftigt wie ein Kind, als der unerschütter¬
lich machtbewusste Olympier, der in Milde und Groll langmütige Göttervater, wie ihn die Büste von Otricoli
ahnen lässt? Und selbst Beethoven als Musiker: der Dichter der Sehnsucht, die an lauter Unmöglichem
und Unaussprechlichem leidet, der schwärmerischen weichgewordenen Empfindung, in der alle Dinge ihren
187
Stachel zurücklassen, oder, im anderen Falle, der trotzigen hohnlachenden Männlichkeit, die ohne Sieges¬
hoffnung den Kampf mit dem Schicksal aufnimmt und nur in ekstatischen Ausbrüchen einer schmerzlich¬
gewaltsamen Heiterkeit über das Schwerste hinwegkommt: darf man solch einen ringenden Menschen, die
Seele voll unausgeglichener Dissonanzen, der im Aufblick zur Vorsehung, zu einem gütigen Vater über den
Sternen Trost suchen muss und dessen höchste musikalische Kundgebung mit demütiger Inbrunst in eine
»Bitte um inneren und äusseren Frieden < ausklingt — darf man ihn auf olympisches Gewölk setzen, ohne
dass ihm bei seiner Gottähnlichkeit bange wird? Es ist schülerleicht, solche Widersprüche und noch ober¬
flächlichere zusammenzusuchen; Widersprüche, die - wenn es wirklich welche sind — nicht in der lebendigen
Gegenwart des Kunstwerkes ins Bewusstsein treten, sondern hinterher aus der Kollision abstrakter Kenntnisse
und Bildungsbegriffe entstehen. Wer sein Schulwissen nicht einen Augenblick vergessen kann, mag an dem
bartlosen Zeus Anstoss nehmen und sich gegen die olympische Apotheose eines Wiener Komponisten aus
der Kongresszeit verwahren: ihm wird ein kostümierter Beethoven besser Zusagen, im blauen Frack mit
Messingknöpfen, Hörrohr und Konversationsheft in der Tasche, auf einem Sockel sitzend, der aus den Bänden
der kritischen Gesamtausgabe von Breitkopf & Härtel geschichtet ist. Der »Olympier« ist nun einmal für
einen Anderen in Beschlag genommen, für Goethe: hier decken sich zufällig zwei erlernte Begriffe,
wie sie im anderen Falle sich ebenso zufällig gegen die Vermischung sträuben. An sich ist die Ideenver¬
bindung Goethe-Zeus um kein Haar vernünftiger als die andere Beethoven-Zeus; sie ist nur stereotyp ge¬
worden, ein Einfall Bettina’s, aus dem die deutsche Bildung ein Gliche gemacht hat. »Für Goethe weisen
wir das Symbol des Olympiers zurück. Das ist nicht der Goethe, den wir kennen, nicht der Mann der
,grenzenlosen Thränen*, nicht der, den noch als beinahe Achtzigjährigen eine Leidenschaft wehrlos, fieber¬
krank auf das Lager warf«, so schreibt H. von Stein, und wenn wir die Inkongruenz mehr im Äusserlichen
suchen wollen; die diplomatische Kühle und konziliante Höflichkeit des Weimarer Geheimen Rates associiert
sich auch nicht ganz mühelos mit dem überlieferten Bilde des Donnerers Kronion. Aber zu guter
Letzt ist das alles ein Eederballspiel mit Worten. Über die Unterschiede (oder Ähnlichkeiten) zwischen
Zeus und Beethoven lässt sich trefflich streiten: als Paarung blosser Begriffe bleibt das so unfruchtbar
wie die tausend mehr oder minder sachgemässen Ideenverknüpfungen und Wortkomplexe, die täglich
geredet, geschrieben, gedruckt und wieder vergessen werden. Das Wesentliche ist, dass Klinger’s neue
Synthese leibhaft und überzeugend vor unserem Auge lebt, eine anschauliche Ideenvermählung, die
nicht mehr geschieden werden kann, während nichts sich leichter verbindet und leichter trennt als
Worte. ln der erhöhten Temperatur der Künstlerphantasie sind die beiden Symbole Beethoven und
Zeus, mit Abstossung des Unvereinbaren, glühend unlösbar verschmolzen; »kein Engel trennte geeinte
Zwienatur der innigen Beiden -. Wir werden von diesem Zeugma, dieser machtvoll zwingenden Verknüpfung
zweier Vorstellungsreihen nun nicht wieder loskommen, und das ist ganz in der Ordnung. Wer in aller Welt
will gerade die bildende Kunst dahin einschränken, poetisch überlieferte Typen unverändert zu stabilisieren?
ihr verbieten, Empfindungswerte umzuwerten und von der Netzhaut her dem Gehirn neue Erregungen
mitzuteilen? Wenn schon die griechischen Bildhauer es wagen durften, einfach der in ihnen drängenden
plastischen Entwickelungstendenz, ihrem nisus formativus folgend die traditionellen Götterbilder umzubilden
und aus dem ursprünglichen Harnisch und dem »übersittlichen Faltenhemd« der Liebesgöttin den nackten
schönen Frauenkörper hervorzuholen — um wieviel freier darf ein moderner Künstler mit dem verblassten
Erinnerungsbilde eines alten Göttervaters und mit der doch immerhin nebensächlichen Leiblichkeit eines
seelenbezwingenden Tondichters schalten? Wenn seine neue Vision nur lebt und mit suggestiver Gewalt
in die empfangenden Seelen überströmt! Denkt euch immerhin den Beethoven anders: aber lasst es auf
die Kraftprobe ankommen und stellt eure innere Anschauung dem Klinger’schen Bildwerke gegenüber —
welches von beiden wird das andere auslöschen? Klinger ist der psychisch Stärkere; wie jene indischen
Magier kann er euch zwingen zu sehen, was er will, nicht was ihr wollt oder was die realistische Wirklichkeit
i88
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIII
KLINOERS BEETHOVEN. THRONRÜCKWAND.
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vorschreibt. Auch seine Bildhauerei ist eine Griffelkunst, und die Seele muss so willig wie die Kupferplatte
die Spuren aufnehmen, welche der Meister ihr einätzt. Darin, wie in vielen anderen Dingen, ist Klinger
seinem Heros Beethoven verwandt, dass er in einer neuen Sprache den zwingenden Ausdruck findet, ohne
erstarrte Symbole und gewohnheitsmässige Associationen dennoch Eindeutiges und Bestimmtes hervorruft,
ohne eingefahrene Geleise immer geradlinig ans Ziel kommt. Er hat Taine’s Blick für das Wesentliche und
lässt sich davon nicht durch eine gebildete Technik, die für ihn dichtet und denkt, abbringen, sondern denkt
und dichtet selber. Wenn man sieht, wie sich alle modernen Menschen in Lebensstil und Kunstschaffen um
Originalität abquälen und dabei die Sicherheit der Mitteilung ihres persönlichen Innenlebens immer mehr
einbüssen, wenn man auf der anderen Seite bei epigonenhafter Virtuosität in der Beherrschung der Dar¬
stellungsmittel den Mangel jedes darstellenswerten Inhalts spürt, so muss man, zwischen Verschrobenheit und
Banalität, unaussprechlicher Eigenart und glatter Nichtssäglichkeit, pathologischer Isolation und physiognomie¬
losem Normalmenschentum, zwischen Stefan George und Berliner Siegesallee einem Manne wie Klinger ein¬
fach zujubeln: der nicht nur 'was zu sagen hat, sondern es auch ohne hysterisches Schlingen und Würgen
wirklich sagt. Bei Klinger fehlen die toten Stellen, die Gedankenstriche und Punktreihen moderner Gedicht¬
bücher, die Momente versagenden Atems und priesterlicher Katalepsie; dieser Mensch mit dem heissen
Herzen und klaren Kopfe, diese kaltblütige Feuerseele ist von einer herausfordernden Sicherheit im Was und
Wie. Ganz wie Beethoven, der die konturenlos verschwimmende »Mondscheinsonate« nicht übermässig
hochstellt und Künstlerthränen verabscheut, ja der manchmal wie ein Pythagoräer sich an Mass und Zahl
klammert und in einer (später freilich widerrufenen) Briefstelle den glänzenden Erfolg der Neunten Symphonie
in Berlin grossenteils der — Metronomisierung zuschreibt. Heute ist »Stimmung« unser drittes Wort, ein
Bekenntnis der Passivität, die mit weichen Fischflossen im Gallert herumfährt und amorphe Symbole der
eigenen Unzulänglichkeit knetet: vergebens mühen sich die Lieder, vergebens quälen sie den Stein. Aber
ein Höheres ist »Gestaltung«, innerlich Geschautes mit derb zupackenden Händen in hartem Material ab¬
geformt: Manneswille quantum satis, der dem Chaos einen Kosmos abtrotzt. Solch ein Gestaltetes ist
Klinger’s Beethoven, aus Stein und Metall heraufgeholt wie die geordnete Welt aus dem »Grenzenlosen«
des Anaximander, wie die Zeusherrschaft aus Titanenkämpfen, wie Beethoven’s scharfumschriebene Ton¬
charaktere aus labyrinthischem Gefühlswirrsal, wie jedes beseelte Kunstwerk aus den ungeschieden wirbelnden,
sinnlos durcheinander brausenden Elementen der Wirklichkeit. Wie hier Marmor- und Erzatome in einen
neuen Reigentanz gezaubert sind, dessen Figuren und Verschlingungen dem Auge zu geistbezeugenden Offen¬
barungen werden, so ist unserer modernen Seele, in ihrer chaotisch fiebernden halbtraumhaften Übergangs¬
unruhe, eine klare Signatur, eine weithinragende Lichtgestalt und Bestimmtheit gewonnen: »der grosse ge¬
sammelte Ausdruck unserer Lebensanschauung«.
Oberer Rand von Beethoven' s Thron
8g
L. CORINTH, BERLIN
SELBSTBILDNIS MIT MODELL
EINDRÜCKE VON DER FÜNFTEN AUSSTELLUNG
DER BERLINER SECESSION
»Our Stern alarums changed
to merry meetings.«
Klassisch gebildete Helssspome mochten
sich wohl darüber entrüsten, dass die
Berliner Secession nicht schnurstracks den
steilen Weg zum Gipfel des heiligen Kunstbergs
nahm. Sie vergassen, dass es sich um keine
secessio plebis im alten Rom handelte, obwohl
auch hier gut begründete Rechte erobert wurden,
sondern viel mehr um eine Krystallisation des
Berliner Kunstausstellungswirrwarrs. Seither hat
sich eine weitere reinliche Scheidung innerhalb
der Secession vollzogen, und so durfte man der
diesjährigen Sommerausstellung als einem Sublimat
mit besonderer Spannung entgegensehen.
Da kam die Nachricht, dass Klinger’s Beet¬
hoven im Original nicht Berlin, sondern Wien zu¬
erst gezeigt werden würde: eine Enttäuschung
blöder Neugier, die im Publikum stets stärker
ist als geduldig zuwartende Kunstliebe. Die um
eine Sensation betrogene Menge rächt sich durch
Grausamkeit: die einfache Thatsache, dass auch
in diesem Jahre an einer Stelle der Reichshaupt¬
stadt gute, gewählte Kunst zu sehen ist, scheint
kaum noch der Rede, die an diesen Zweck ge¬
wandte Mühe nur kärglichen Dankes wert. Die
Secession fängt an, selbstverständlich zu werden,
einzelne Beurteiler lenken bereits aus der Kampf¬
stellung in die ebenso bekannte wie unmög¬
liche »historische Objektivität« ein, was immer
als bedenkliches Anzeichen gelten muss. Doch
die Vorrede des Ausstellungskatalogs erklärt —
eingedenk des Grundsatzes: die beste Parade ist
der Hieb — : »Es wäre der Ruin der Kunst, aus
der Anschauung vorhandener Kunstwerke Neues
schaffen zu wollen«.
An fragwürdige Sentenzen darf ein eiliger Bericht¬
erstatter nicht viel Zeit verschwenden. Man will von
ihm ja nicht hören, was er gedacht, sondern was er
gesehen hat. Darum: more matter with less art.
Wer gelernt hat, auch am Selbstverständlichen
Freude zu empfinden mit dem Augenblick, wo er
es rückschauend mit dem Selbstverständlichen früherer
Generationen vergleicht, wird in dieser Ausstellung
Vieles sehen, was ihn erfreut. Ebenso wenig fehlt
es an deutlichen Wegweisern in die Zukunft. Die
Kritik, die nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, muss
nun einmal einen januskopf haben. Da wird sie aus
den hier vereinigten Bildern zunächst konstatieren,
dass manche secessionistische Maler der neuesten
Zeit, wie sie hier zu Worte kommen, »aus der An¬
schauung vorhandener Kunstwerke«, das heisst von
der Malweise der Pariser Impressionisten der sieb¬
ziger Jahre viel, sehr viel und sehr Gutes gelernt
haben. Sechs Bilder von Edouard Manet und ein
L. Tuaillon, Berlin. Herkules mit dem Eber
meisterhaftes grosses Interieur von Claude Monet er¬
lauben den Vergleich mit den Gemälden von Haber¬
mann, Hummel, Gustava Haeger, Ulrich Hübner,
Ereiherr von König, Linde -Walther, Joseph Oppen¬
heimer, Schlittgen, Slevogt, Mosson, Triibner und
anderen. Diese haben bei solchem Studium an ihrer
Künstlerseele keinen Schaden gelitten, es wäre lächerlich,
sie als denkfaule Epigonen abthun zu wollen. Werteilte
nicht mit Wilhelm Triibner die Freude, mit der er
seine Pferde und Menschen gleichsam herausmeisselt
und bei jedem breiten Pinselhieb ein neues Stück Natur
in urwüchsiger Kraft entstehen sieht? Werden Erich
Hancke’s Porträts darum schlechter, weil sie fast ebenso
gut sind, wie die Auguste Renoir’s? — Wir vergeben
uns nichts mit dem Eingeständnis, von Anderen etwas
gelernt zu haben, sobald wir mit dem Erlernten und
Übernommenen nur nicht selbstgefällig uns brüsten,
sondern den Antrieb zu ähnlichen oder gar besseren
Leistungen daraus empfangen. Und jede Ausstellung
der Secession hat bisher, Künstlern und Betrachtern
zum Nutzen, Werke vorgeführt, die das Urteil zu
25
192
EINDRÜCKE VON DER FÜNFTEN AUSSTELLUNG DER BERLINER SECESSION
schärfen, das Nachstreben zu wecken in gleichem
Masse geeignet sind. So auch diesmal, und daher
ihr grosser erziehlicher Wert.
Was lässt sich nicht alles — rein handwerklich
- lernen aus den Bildern eines James Whistler,
Anders Zorn, John Sargent, Aman Jean, Jacqnes
Emile Blanche, John Lavery, Wilhelm Leibi, Francisque
Raffaelli, Abel Trachet, Isaac Israels und wie die
Virtuosen des Pinsels immer heissen mögen. Trotz¬
dem wird der deutsche Besucher der Ausstellung sich
weit lieber verankern vor denjenigen Bildern, die ihn
durch Temperament und Empfindung fesseln. Auch
deren giebt es viele.
Die Überraschung, den Clou der diesjährigen Aus¬
stellung, bildet Liebermann’s »Delila«. Wer sich
durch die Spannung nicht irritieren lässt, die eine
solche Darstellung von der Hand Liebermann’s un¬
willkürlich erzeugt, seit dem Jesus im Tempel hat
er die Sphäre der biblischen Malerei meines Wissens
ängstlich gemieden — wird zugeben, dass die Fähig¬
keit, Leben und Leidenschaft zu verkörpern, auch hier
wunderbare Triumphe feiert. Den irreleitenden Ver¬
gleich mit Rembrandt’s Genie möchte ich ihm und
mir gern ersparen. Trotzdem ist in der Gebärde der
Delila ein Zug, den ich nicht besser zu charakteri¬
sieren wüsste, als mit den Worten: so, oder doch
ähnlich würde Rembrandt sich vielleicht mit der
Sache abgefunden haben, wenn er, — ja, wenn er
Liebermann gewesen wäre. Die Art, in der dem ent¬
scheidenden Motiv alle andern Rücksichten geopfert
werden, verrät eine Lebhaftigkeit des Temperaments, die
umsomehr überrascht, wenn wir hören, dass der Künstler
an diesem Stoff sich seit einem Jahrzehnt abgequält hat.
Er wollte eine »Fanfare« darstellen, und es ist ihm
gelungen, so trefflich gelungen, dass man darüber
manches Allzumenschliche leicht vergisst, was nament¬
lich der Gestalt des jüdischen Herkules anhaftet. So
sehr der fanatische Wille, der aus dieser Arbeit heraus¬
schlägt, uns mitreisst, so lebhaft der ausübende Künstler
immer wieder den Akt der abgezehrten Delila mit
seiner raffinierten und dennoch zügigen Behandlung
bewundern muss — wir stehen vor einem Experiment,
dessen Gewagtheit und Einseitigkeit uns nicht leicht
zum richtigen Genuss kommen lässt. Das Bild wird
unstreitig für alle Zeit eines der interessantesten Do¬
kumente der Malerei unserer Tage bleiben, eine der
kostbarsten Raritäten des Marktes, aber ob es genügt,
um Liebermanns Können gewissermassen im Zenith
seines Ruhmes zu fixieren, ob es jemals als »der«
klassische Liebermann gelten wird, das heute zu pro¬
phezeien fehlt mir die enthusiastische Seherzuversicht.
Das weit anspruchslosere und kleinere Bild am Meer«,
eine Variante der vorjährigen Reiterstudie, besitzt
Eigenschaften, auf die nach meinem Gefühl der Maler
weit stolzer sein darf, als auf die alttestamentarische
Kraftprobe.
Ein zweites Ausstellungsbild par excellence, das
aufregt und verblüfft, mitreisst und zum Widerspruch
herausfordert, ist Max Slevogt's d’Andrade als Don
Juan. Champagner, Theaterlicht, Mozart, d’Andrade
und Slevogt’s Virtuosität vereinigen sich zu einer
sinneberauschenden Stretta, deren Augenblickswirkung
sich niemand entziehen kann. Der Maler selbst scheint
den Pinsel wie im Champagnerrausch geführt zu
haben. Doch wie Mozart’s Komposition und d’An-
drade’s Darstellung nicht allein aus Temperament und
Laune zu erklären sind, so steckt auch in Slevogt’s
Malerei viel kluge Ueberlegung, der unsere Bewun¬
derung ebenso gilt, wie seiner Fähigkeit, die Künste
des Regisseurs zu verbergen. Das beste aber bleibt
dennoch das Temperament. Das erkennt man, wenn
man ein anderes Bild Slevogt’s, den -- bereits von
einer Ausstellung bei Cassierer bekannten - Sommer¬
morgen daneben sieht: das gleiche Geschick, ja
Raffinement der Mache, aber wo bleibt die Empfin¬
dung? Dramatische Lebhaftigkeit, selbst Kulissen¬
leidenschaft liegen dem jungen Maler offenbar mehr
im Blut als der Hang zu träumerischer Beschaulichkeit.
Neben solcher sprühenden Beweglichkeit erscheint
selbst ein Znloaga schwerfällig und tot. Das aus¬
gestellte Gesellschaftsbild des grossen Goyaverehrers
hat technische Qualitäten, wie sie nur ganz wenige
Bilder unserer Zeit aufweisen können; aber die wun¬
derliche Mischung von Gravität und Heissblütigkeit,
wie sie seinen Gestalten anhaftet, die spanische Gran-
deza, giebt auch seiner Malerei etwas Starres und
Selbstgefällig-Äusserliches, das dem Deutschen den
Genuss erschwert. Die harten, nach unserem Gefühl
groben Farbengegensätze, in denen sich Zuloaga
gefällt, wecken unwillkürlich die Sehnsucht nach
einem Ausgleich, einer Vermittlung, Zusammenschluss,
so kostbar die stofflichen Einzelheiten sein mögen.
Weniger Seide und Schminke und mehr Menschlich¬
keit verlangt der Nichtspanier von diesen Bildern,
zumal er sich bei solcher Forderung auf einen Goya
und Velazquez berufen kann.
Neben den Deutschen und den Spanier stellen
wir zwei Holländer: Isaac Israels, der indes mit
seiner hellen, lichten Farbengebung mehr nach Frank¬
reich gravitiert, und George Hendrik Breitner. Breit-
ner’s Malwerk ist urholländisch, obwohl es den Pariser
Impressionismus immerhin merken lässt. Wie kräftig
muss doch eine Wurzel sein, die so viele gleichstarke
aber verschiedenartige Schösslinge treibt! Breitner hat
nichts von dem Erbe der heimischen Altvordern
fahren lassen, ja, er outriert deren Pinselführung und
Farbenwahl, aber er weiss dennoch Stimmungen zu
geben und Eindrücke festzuhalten, wie sie nur unsere
Zeit seit Manet wahrnimmt. Seine Ansicht einer
Amsterdamer Gracht hat bei aller scheinbaren Fahrig¬
keit der Mache eine suggestive Kraft, der sich schwer¬
lich ein kunstgeübtes Auge entziehen wird.
Marie Slavona, Vassily Kandnisky und Olga Boz-
nanska seien nur genannt, um den internationalen
Sieg der impressionistischen Richtung zu markieren,
der das Schicksal der Malerei im neuen Jahrhundert
zu bestimmen scheint. Doch nein! Die rigorosen
Naturalisten, als die man in Berlin die Secessionsmaler
gerne denunziert, haben einem Edvard Manch, Max
KJii^ger und anderen Nebulisten Einlass gewährt. Aus
Instinkt oder Überlegung?
An den Malereien Munch's, die das ganze Leben
BERLINER SECESSION igo2
Max Liebermann, Berlin. Im Meer
H. Breitner, Amsterdam. Holländisches Strassenbild
94
EINDRÜCKE VON DER FÜNFTEN AUSSTELLUNG DER BERLINER SECESSION
?.is einer Perspektive betrachten und darstellen, die
. i ^d nur neuro -pathologisch sich ganz befriedigend
“rklären lässt, meine kunstkritische Anpassungsfähigkeit
zu erproben, muss ich mir versagen. Nicht, dass
"’ir durchaus jedes Verständnis fehlte für die Ziele
ur-J Wege solcher subjektiven Mystik, der die Kon-
venienz des natürlichen Sehens ohne Besinnen geopfert
wird, und der man ja bei mehreren Künstlern, wie
Willumsen, Toroop, Gauguin, M. Denis, Emil R. Weiss
— in der Litteratur
bei Maeterlink, Ste¬
fan George und an¬
deren begegnet; nur
der Genuss, die Freu¬
de an diesem ge¬
künstelten Stammeln
und Lallen will sich
bisher nicht einstel¬
len. Ich meine,
diese Künstler wei¬
chen der normalen
Naturanschaiumg
aus, ohne sich über
sie zu erheben oder
sie zu vertiefen, sie
töten ihr naives
künstlerisches Em¬
pfinden, um desto
leichter zu den ver¬
meintlichen Höhen
ihrer in sich un¬
künstlerischen we¬
senlosen Sehnsucht
emporschweben zu
können. Diese Selbst¬
befriedigung scheint
mir durch den Ver¬
lust allen seelischen
und künstlerischen
Gleichgewichtsallzu
teuer erkauft. Es
mag indes geeigne¬
tere Medien geben,
die leichter in trance
zu setzen sind.
Max Kliuger, der
sicherlich Einspruch
erheben würde, mit
diesen Verehrern
oder Opfern der
Astralkunst in eine Reihe gestellt zu werden, sucht den
Gipfel der Kunst auch in jenen ausserweltlichen
Sphären, aber möchte sich ihnen mehr auf rein geistigem
Wege nähern ; eine gewisse nervöse Sinnenlust stellt
sich ihm dabei oft in den Weg. Gern verzichte ich
darauf, seinen Beethoven, dessen hier ausgestelltes
älteres Gipshilfsmodell durchaus versagt, kritisch zu
würdigen. Ihm gerecht zu werden, wird dem naiven
Kunstfreund und Beethovenverehrer kaum gelingen,
ihn zu verherrlichen, mag Klingerenthusiasten Vor¬
behalten bleiben. Ohne ein solcher zu sein, möchte
ich meiner Bewunderung für den grosszügigen Lisztkopf,
der in Marmor bereits auf der vorjährigen Ausstellung in
Dresden zu sehen war und für die eben daher bekannte
Porträtbüste der russischen Schriftstellerin Asenjeff un¬
verhohlen Ausdruck geben. Die Delikatesse im Stoff¬
lichen, die psychologische Treffsicherheit und Raffiniert¬
heit der letzteren Arbeit fesseln auch den, der Klinger
eigentlich plastischesGefühl absprechen zu müssen glaubt.
Der Belgier George Minne, dessen Stilisierungs¬
versuche gewaltsam
— um nicht zu
sagen verschroben
— anmuten, besitzt
solches Gpfühl in
weit höherem Masse
als Klinger, aber er
opfert es gelegentl ich
jenem auch von Wil¬
lumsen und Munch
geteilten Wunsch,
die ganze Kunst der
Vergangenheit aus
seinem Bewusstsein
zu tilgen, und noch
einmal von vorne
anzufangen. Dass
dabei vielfach Un¬
gereimtheit zu Tage
kommt, ist nicht zu
leugnen, aber Inter¬
esse weckt eine sol¬
che leidenschaftliche
Auflehnung gegen
alle Überlieferung
immerhin. Rodin
ist nicht minder
radikal in entgegen¬
gesetzter Richtung,
indem er die Zu¬
kunft aller plas¬
tischen Kunst vor¬
wegzunehmen sich
bemüht, einen im¬
pressionistischen Stil
in der Bildnerei fest¬
zuhalten sucht,
schliesslich das Ma¬
terial vergewaltigt,an
dem er sich zum Vir¬
tuosen ausgebildet
hat. All solchen Excentricitäten, die von den einen als
Anzeichen überschäumender Kraft und eiligen Fort¬
schrittes, von andern als Merkmal der Krankheit und
des Verfalles angesehen werden, ein Ventil zu schaffen,
sie ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, das
schliesslich über ihr Wachstum oder ihre Rück¬
bildung trotz alledem entscheidet, ist eine dankens¬
werte Aufgabe der secessionistischen Ausstellungen.
Lebhaftes Interesse an der bildenden Kunst wird sich
weit eher an einer Diskussion über gewagte Versuche
entzünden, als es durch verdünnte, für den Aller-
E. Haneke, Berlin. Der Schriftsteller Holländer
BERLINER SECESSION igo2
M. SLEVOGT, BERLIN
SOMMERMORGEN
EINDRÜCKE VON DER FÜNFTEN AUSSTELLUNG DER BERLINER SECESSION
196
Robert Breyer, Berlin. Beim Thee
Habermann, Schlittgen, Schramm, Becker,
Stralitmann, Tooby hier zu erörtern,
wäre Missbrauch. Dass Leopold Graf
von Kalckreiith , Hans Tlioma , H.
von Volckmann treffliche Maler sind,
hat nicht erst diese Ausstellung be¬
wiesen, ganz zu schweigen von den
Gewaltigen, die es waren, Böcklin, Leibi,
Victor Müller, Manet, an die auch mit
unzulänglichen Proben ihrer Meisterschaft
erinnert zu werden, stets eine Freude ist.
Auf unserer eiligen Wanderung durch
den Limbus der Ausstellung stellt sich
uns indes breitspurig der Schweizer
Ferdinand Hodler in den Weg. Seiner
dekorativen Malerei: »Wilhelm Teil nach
dem Tode Gessler’s« wünschte man
lieber in einer Schutzhütte des Alpen¬
vereins als hier in der Kantstrasse Char-
lottenburgs ein Unterkommen. Die Qua¬
litäten älterer Arbeiten, die für Hodler
ein günstiges Vorurteil weckten, besitzt
dieser ebenso wüste, wie leere Teil kaum.
Laden Simon überrascht mit seinem
feinfühligen Porträt einer älteren Dame
wohl nur die, die bisher derbe Cirkus-,
Markt- und Prozessionsbilder für seine
ausschliessliche Domäne hielten, nicht
aber seine Bildnisse der Witwe Aubry-
Lecomtes oder des greisen Ehepaares
gesehen haben. Der Russe Constantin
Somoff passt seine Malweise der Bieder¬
meierzeit, in deren Kostüm er sein Mo¬
dell gekleidet, geschickt an. Die elfen¬
beinerne Glätte des Vortrages macht
einen zwar erklügelten, aber keineswegs
weUsgeschmack zurechtgemachte Darbie¬
tungen erweckt wird.
Doch neben den Vorläufern ihres
eigenen Ruhmes dürfen auch die
nicht unberücksichtigt bleiben, die
wackere Arbeit gethan, um jenen Platz
zu schaffen. Das ist das Schöne an
der ganzen Bewegung, dass jeder gern
in erster Reihe kämpfen möchte, wenn
nicht für sich, so doch für die Ziele
der grösseren Genossen, denen er soviel
Förderung verdankt. Es sei ferne von
uns, Rangklassen der secessionistischen
Armee aufstellen zu wollen, wenn wir
zum Schluss dieser notwendig fragmen¬
tarischen Würdigung einige Namen derer
verzeichnen, die nach unserem Gefühle
zur Zeit im zweiten Gliede kämpfen.
Das will heissen, dass sie uns nichts
wesentlich Neues von ihrem an sich
immer wieder löblichen Thun zu sagen,
wie daher auch kaum etwas Neues da¬
von vor diesem Leserkreise zu berichten
haben. Die Vorzüge und Schwächen
der Werke von Uhde, Zügel, Heine,
Paul Baum, Berlin. Landschaft
BERLINER SECESSION 1902
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Xllf. II. S,
26
MAX LIEBERMANN SIMSON UND DELILA
EINDRÜCKE VON DER EÜNFTEN AUSSTELLUNG DER BERLINER SECESSION
198
unerfreulichen Eindruck, zumal der Blick der Dame
ebenso wie ihre nervöse, blaugeäderte Hand uns
verraten, dass unser Seelenleben und unsere Fähig¬
keit, es zu schildern, seit 1830 doch vorgeschritten
sind.
Kälter lässt in dieser Umgebung die rein tech¬
nische Virtuosität und Feinnervigkeit, wie sie in den
Arbeiten eines Whistler, Zorn, Sargenf, Lavery und
anderer Ausländer brilliert. Den Bildern haftet bereits
heute etwas Unpersönliches an, so sehr sie beim ersten
Eindruck entzückten.
[:)()ch man wird auch gern von den Berliner Se-
cessioiiisten hören wollen, die bei ihrer Gastfreiheit
schliesslich Gefahr laufen, übersehen zu werden, zu¬
mal das Gros der Besucher alte Bekanntschaften nicht
allzu hoch schätzt. Und doch ist hier so manches
Erfreuliche zu melden: Ulrich Hübner hat in seinem
durch den französischen Impressionismus stark be¬
einflussten Schaffen einen gewaltigen Schritt vorwärts
gethan, wie namentlich die Wiesbadener Strassenvedute,
ein Damenbildnis und die Balkonloge des Metropol¬
theaters lehren, Ludwig von Hofmann stellte eine seiner
reizvollsten und feinsinnigsten Arbeiten, die badenden
Mädchen aus, Leisükow holt nach seinen stilistischen
Versuchen wieder einmal Atem in der ihm stets
neue, intime Reize enthüllenden märkischen Wald-
und Seelandschaft. Louis Corinth, dessen Charakter¬
bild in der modernen Kunstgeschichte noch immer
schwankend bleibt, zeigi seine derbe Vollnatur in
einem Selbstporträt, seine Sehnsucht nach höheren
Sphären - weniger glücklich — in den drei Grazien
und einem biblischen Bilde; die Fähigkeit, tiefer zu
charakterisieren, erprobt er an dem Porträt des wunder¬
lichen Peter Hille, mit mehr Erfolg schlägt Joseph
Block den gleichen Weg in seinem Träumer ein.
Sehr kraftvoll markieren sich auch Robert Breyer,
Gustava Haeger, H. E. Linde -Waither und Joseph
Oppenheimer, während Martin Brandenburg, Hans
Baiuschek und Friedrich Latendorf meinem persön¬
lichen Geschmack durch ihre neuesten Leistungen
nicht näher gekommen sind. Curt Herrmann hat die
Grundlagen des neoimpressionistischen Malverfahrens
eines Seurat und Luce zum Feld seines Studiums er¬
koren, ein Gebiet, auf dem auch Pani Baum sich mit
vielem Eifer bemüht.
Als neue Stützen der Secession notieren wir neben
dem schon erwähnten Erich Haneke Rari Waiser, Fritz
Rhein und Ernst Bischoff-Cuim. Doch damit sei der
konventionellen Aufzählung von Namen ein Ziel
gesetzt. Stünde uns mehr Zeit und Raum zur Ver¬
fügung, so würden wir schwerlich an vielen Bildern
der Ausstellung ohne Gruss vorübergehen, da fast
alle zu einem solchen auffordern, wenn auch die
Ehrerbietung, die wir ihnen schulden, begreiflicher¬
weise mancherlei Abstufungen unterliegt.
Nach gleich schlechter alter Sitte sei schliesslich
Edouard Manet. Der Stier
EINDRÜCKE VON DER FÜNFTEN AUSSTELLUNG DER BERLINER SECESSION
199
J. Ziiloaga, Madrid. Spanische Geseiischaft
den bildnerischen Talenten nur flüchtig Reverenz er¬
wiesen. Da sind August OauFs zierliche Tierbronzen,
Hugo Kaufmann’ s versilberte Sirene, Kiiuisch’s vor¬
trefflicher Porträtkopf des Dr. Thoma, August Kraus'
empireartig glatte Sandalenbinderin, Ignaz Taschner's
bizarre Holzschnitzerei »Wanderer« im Nippescharakter
und Voikmann’s klassizistisches Satyrtanzrelief vor
anderen zu nennen. Anspruchsvoll, aber ein wenig
nüchtern wirkt neben älteren Arbeiten Tuaiiion's für
Bremen bestimmter grosser Pferdebändiger. Vor
Adoif Hiidebrand’s Marmorbüste Wilhelm Bode’s wird
jeder Kunstfreund länger festgehalten werden, selbst
dann, wenn er sich sagen muss, dass das^ Wesen des
Dargestellten in dieser überaus delikaten und vor¬
nehmen Arbeit nicht mit voller Schärfe zur Geltung
kommt. Doch, allen hier gegebenen Anregungen
krititisch zu folgen, verbietet sich bei einem orien¬
tierenden Bericht von selbst. Für die versuchte
flüchtige Andeutung der ersten Eindrücke, die ich
von der glänzenden secessionistischen Heerschau dieses
Jahres empfing, kann ich mich entschuldigend nur
auf die Rechte des Impressionismus berufen, die, wie
ich glaube, durch diese Ausstellung von neuem be¬
festigt worden sind. LUDWIG KAEMMERER.
26*
GUSTAVA HAEQER, BERLIN
INTERIEUR
BERLINER SECESSION igo2
Edvard Munch, Berlin. Dorfslrasse
Curl Hermann, Berlin. Morgenstimmiino
iriiitli, Bcilin. Dichter Peter Hille Ulrieh Hübner, Berlin. Bildnis
BERLINER SECESSION 1902
BERLINER SECESSION igo
Philipp Franck, Berlin. Feldarbeit
Walther Leistikow, Berlin. Landschaft
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., O. m. b. H., Leipzig.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST. N. F. XIM
KLINOERS BEETHOVEN.
TANTALIDENGRURPE
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DER FRÜHLING o o o o o
ORIGINALLITHOGRAPHIE VON
HANS V. VOLKMANN, KARLSRUHE
EIN OEMALDE DES MATTHIAS ORUNEWALD
ES ist vielleicht an der Zeit, ein Gemälde Qrüne-
wald’s, das sich im Privatbesitz befindet, in die
Litteratur einzuführen. Adolf Bayersdorfer hat
es 1897 in Freiburg entdeckt. Im selben Jahre war
W. von Seidlitz so gütig, dem Berichterstatter Kennt¬
nis davon zu geben. O. Eisenmann, der es kurze
Zeit darauf sah und davon zu reden gedachte, hat die
Aufgabe später mir zugeschoben.
Die Tafel (Kiefernholz) ist 1,76 Meter hoch,
0,88 Meter breit. Sie stellt auf der Vorderseite die
Gründung der Kirche S. Maria Maggiore durch den
Papst Liberins, auf der Rückseite die Anbetung der
Könige dar.
Die Legende sagt, dass dem römischen Patrizius
Johannes, der eine Kirche bauen wollte, und dem
Papst Liberius in derselben Nacht (vom 3. auf den
4. August 352) träumte, frisch gefallener Schnee
würde auf dem Esquilin die richtige Stelle für das
künftige Gotteshaus bezeichnen. Und als Johannes
mit seiner Ehefrau und der Papst mit dem Klerus
anderen Tages zum Esquilin kamen, lag in der That
an einer Stelle Schnee und die Kirche, die spätere
S. Maria Maggiore (S. Maria ad nives) wurde auf
diesen Platz hingebaut.
Die Vorderseite zeigt nun einen freien Platz mit
dem Palast des Papstes im Hintergrund links. Nach
der Mitte und nach rechts vertieft sich der Raum und
schliesst mit der Fassade einer Kirche (der späteren
Fassade von S. Maria Maggiore?) und einem Strassen-
prospekt ab. Der Papst in roter Dalmatika und rotem
Chormantel und die Tiara auf dem Haupte steht auf
dem mit Schnee bedeckten Fleck und erhebt mit
beiden Händen die Hacke. Etwas hinter ihm nach
der linken Seite des Bildes zu kniet Johannes mit
seiner Frau, jener mit einem dunkelblauen pelzver¬
brämten Mantel angethan, diese in weisse Tücher ge¬
hüllt. Den Saum des päpstlichen Gewandes tragen
zwei Diakonen, hinter ihnen folgt eine Prozession
von Kardinälen, Bischöfen, Priestern und eine un¬
absehbare Volksmenge, die sich nach dem Hintergrund
zu verliert. Dort sind noch zwei andere Vorgänge
geschildert. Der päpstliche Palast auf der linken Seite
des Bildes steht dem Beschauer offen. Man sieht in
das Schlafgemach des Papstes und diesen im Bett
liegen. Was ihn beschäftigt, das zeigt die andere
Scene. Über der Kirche erscheint in Wolken Maria
mit dem Kind; die auf den Kirchenstufen und auf
dem Platz vor der Kirche sich Herumdrängenden
machen sich mit lebhaften Gebärden auf die Er¬
scheinung aufmerksam.
Auf der Rückseite knien unter dem Thorbogen
eines verfallenen Gebäudes, das den Blick in eine
durch steile Bergzüge eng abgeschlossene Landschaft
frei lässt, anbetend die drei Könige; zuvörderst ein
bärtiger Greis, etwas zurück der jugendliche Mohren¬
fürst, der letzte in kräftigem Mannesalter. Sie tragen
Kronen aus dünnem Goldblech und führen Scepter.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Xlll. fl. g.
Da die Darstellung der Mutter mit dem Kind
fehlt, ist anzunehmen, dass uns nur eine von zwei
Tafeln erhalten ist.
W. von Seidlitz hatte mir das Bild genannt als
Stütze für meine unbestimmte Vermutung, Grünewald
könne in Italien gewesen sein. Ich glaube aller¬
dings auch, dass das Gemälde für einen Aufenthalt
Grünewald’s in Italien, insbesondere in Rom spricht.
Die Strassenphysiognomie im Hintergrund rechts
konnte er nur in Italien so kennen gelernt haben.
Spezifisch römisch aber scheint mir der plastische
Schmuck des päpstlichen Palastes. Dieser selbst, eine
architektonische oder vielmehr höchst unarchitektonische
Missgeburt, ist gewiss freies Erzeugnis der Grüne-
wald’schen Phantasie, die Motive der italienischen
Frührenaissance mit spätgotischer Burgarchitektur —
Erinnerungen an die Mainzer Martinsburg, die Re¬
sidenz der Kurfürsten — friedlich zusammenschirrt.
Von der Blässe der Überlegung ist Grünewald nie
angekränkelt. Er ist eine der naivsten Künstlernaturen,
die je gelebt haben und auch darin von dem etwas
pedantischen Dürer mit der grossen echt deutschen
Hochachtung vor Wissen und Gelehrsamkeit grund¬
verschieden. Wie gemütsam lässt er uns hier von
der Strasse aus den Papst im Schlafzimmer sehen
und zeigt er uns sogar den Pontifex mit der Tiara im
Bett mit einer warmen gesteppten seidenen Decke
zugedeckt! Wie wenig kümmert er sich um einige
überschüssige Beine (auf dem Münchner Mauritius-
und Erasmus-Bild) oder darum, ob der Daumen an
einer Hand fehlt (bei dem Diakon zu äusserst rechts
auf unserem Bild)! Bei einem Medaillonfries am
Palast des Papstes mangelt der Raum für das äusserste
Medaillon. Da hilft er geradezu genial. Er schneidet
das überlästige letzte Drittel des widerspenstigen
Zierats wie mit dem Messer fein säuberlich ab.
Was mir nun echt römisch am Palast vorkommt,
sind die Heiligengestalten in oben halbrund ab¬
schliessenden Muschelnischen. Mino da Fiesoie und
Andrea Bregno wiederholen dies Motiv in ihren
Tabernakeln und Grabdenkmälern ohne Unterlass, so
dass es ordentlich zu einem Kennzeichen des rö¬
mischen Grabdenkmaltypus geworden ist. Es genügt,
auf die Beispiele in S. Maria del Popolo, S. Maria in
Araceli, S. Maria Maggiore hinzudeuten. Ich glaube,
dass die Kenntnis dieser Dekorationsweise dem Maler
damals kaum anders als durch eigene Anschauung
vermittelt werden konnte. Zweierlei festzustellen wäre
hier noch interessant: erstens, ob die zwei Heiligen¬
gestalten unserer Tafel nicht von einem konkreten
Denkmal entlehnt sind; zweitens, ob die Kirchenfassade
im Hintergrund Anklänge an S. Maria Maggiore hat,
so wie die Basilika zu Anfang des 16. Jahrhunderts
aussah. Das Material dazu fehlt mir eben. Es ist
auch schade, dass wir so wenig von dem jetzt ver¬
schollenen hl. Johannes wissen, den Sandrart in Rom
sah und als Werk Grünewald’s erkannt hat. Wer
27
Matthias Gränewald, Die Gründung der Kirche Santa Maria Maggiore
Freibiirg, Privatbesitz
Fränkisch (Wolf Traut?). Die Anbetung der Könige (Bruchstück)
Freiburg, Privatbesitz
208
EIN GEMÄLDE DES MATTHIAS GRÜNEWALD
mag ihn bestellt haben und für welche Kirche mag
er bestimmt gewesen sein?
Unser Bild nimmt in Grünewald’s Werk eine
besondere Stelle ein. Ausser dem Engelständchen in
Kolmar hat er nichts so Eigurenreiches gemalt. Auch
nichts so Unrhythmisches; obwohl Grünewald sich
ja nie durch Sinn für Rhythmus auszeichnet. Es
wirkt moderner, impressionistischer und selbst kolo¬
ristischer -- trotz, richtiger wegen der geringeren
Farbenenergie — als seine anderen Schöpfungen.
Die Gruppe der fahnetragenden Kleriker könnte gestern
entstanden sein. Das Problem der weissen Farbe hat
ihn, wie anderwärts, auch hier besonders gereizt: die
Gewänder der Kleriker, die Alba des Papstes, die
verhüllte Patrizierin und der schneebedeckte Boden
markieren die Durchführung des Themas. Im Ringen
mit dem Weiss, das stofflich unter anderem die Ent¬
deckung der Winterlandschaft für die Malerei zur Folge
haben musste, ging Grünewald den Kunstgenossen
seiner Zeit, besonders Kulmbach und Baidung, wohl
voran. Sandrart rühmt die Landschaft mit dem zu¬
gefrorenen Rhein auf einem der Mainzer Dombilder.
Was möchte man alles gern entbehren, wenn man
diese Herrlichkeiten unversehrt von der Ostsee zurück¬
kaufen könnte! Wundervoll und ganz individuell ist
die Erregung des Volkes im Hintergrund durch die
himmlische Erscheinung geschildert. Bei Grünewald
giebt es eben immer nur Einzelpersönlichkeiten und
keine Massenaktion. Der bereits greise Patrizius Jo¬
hannes trägt, worauf O. Eisenmann mich aufmerksam
machte, als ich das Bild zum erstenmal mit ihm be¬
trachtete, ganz unverkennbar Grünewald’s »melan¬
cholische« Züge. Ob die Patrizierin deshalb als das
Ebenbild seiner Frau in Anspruch zu nehmen sei,
lasse ich dahingestellt. An sich würde deren Aus¬
sehen den Bericht Sandrart’s, der Maler sei »übel
verheuratet« gewesen und habe — propter hoc? —
ein melancholisches Leben geführt, nicht Lügen strafen.
Die stoffliche Wahrheit in der Darstellung der welken
Gesichter des Papstes und des Johannes ist Grüne¬
wald’s unbestrittener Meisterschaft gerade auf diesem
Feld (vergl. den alten Kleriker des Münchner Bildes)
vollkommen wert.
Es kann mir nicht einfallen, bei einem so gut
empfohlenen Bilde den Nachweis der Urheberschaft
Grünewald’s noch einmal eigens zu führen. Allmäh¬
lich drängt sich mir die Ansicht auf, dass die soge¬
nannten stilkritischen Nachweise regelmässig überflüssig
sind. Man überzeugt sich vor dem Gegenstand selbst
oder überhaupt nicht.
Die Geschichte des Bildes lässt sich nicht sehr
weit zurückverfolgen. Der Vorbesitzer war Dom¬
kapitular Haiz in Freiburg, aus dessen Nachlass es
1872 erworben wurde. Ob es früher in der Samm¬
lung des 1865 verstorbenen Domkapitulars Hirscher
war, ist bis jetzt nicht ermittelt.
Unabhängig von einander sind O. Eisenmann und
ich auf den Gedanken gekommen, das Bild müsse
einen Teil des verschollenen (angeblich verbrannten)
Altars der Schneekapelle in der Aschaffenburger Stifts¬
kirche ausgemacht haben. Die Schneekapelle ist am
12. November 1516 von dem Mainzer Kurfürsten
Albrecht von Brandenburg konsekriert worden. Der
alte Rahmen oder wenigstens ein Teil davon mit
der alten Inschrift ist noch erhalten. Diese lautet:
Ad honorem festi nivis deiparae Virginis Hen-
ricus Retzmann huius Aedis custos et Canonicus ac
Gaspar Schantz Canonicus eiusdem FC 1519
Der Rahmen umschliesst jetzt eine Anbetung der
Könige aus dem letzten Viertel des 1 6. Jahrhunderts,
wohl in Wiederholung des Gegenstandes des ver¬
lorenen Bildes. Also die Darstellungen beider Seiten
des Freiburger f^ildes würden sich in die Hypothese
schicken. Eine Schwierigkeit erhebt sich: Die inneren
Masse des Rahmens sind 1,88 Meter in der Höhe,
1,96 Meter in der Breite, der Freiburger Flügel misst
1,76 Meter in der Höhe und 0,88 Meter (demnach
der doppelte Flügel 1,76 Meter) in der Breite. Er
zeigt keine Spuren davon, dass er verkürzt worden
sei, weder an den Rändern, noch der Komposition
nach. Die Dimensionen des jetzigen Rahmens könnten
allerdings am Ende dem Ersatzbild zu lieb etwas
vergrössert worden sein. Das Datum, das der Aschaffen¬
burger Rahmen trägt, 1519, würde zu dem Bild in
Freiburg passen.
Einen neu auftauchenden Grünewald wird man vor
allem darauf ansehen, ob er unserer Kenntnis von
den Anfängen und von der Entwickelung des Meisters
etwas hinzufügt. Das ist bei dem Freiburger Bild
nicht der Fall. Es gehört seiner reifen, typischen Zeit
an und weist nicht nach vor-, nicht nach rückwärts.
Die Grünewaldfrage ist seit einigen Jahren aufgerollt
und sie wird sobald die Freunde der deutschen Kunst
nicht aus ihren Zwingen lassen. Dass Grünewald,
wenn auch nicht der grösste Künstler, aber gewiss
der grösste Maler, das stärkste Temperament der
älteren deutschen Kunst war, wird doch wohl nicht
mehr bestritten. Er ist so superlativisch deutsch, dass
eigentlich nur Deutsche ein richtiges Verhältnis zu
seiner Kunst finden, die in ihren tiefsten Tiefen und
in ihrer Wirkung schon beinahe Musik ist. Mit
Rembrandt, der nach der Filiation des Kunstunter¬
richts sein Ururenkel ist, mit E. T. A. Hoffmann, mit
Wagner und mit Böcklin hat Grünewald Stimmungen
und Klänge gemein. Es ist darum nicht zu ver¬
wundern, wenn Grünewald’s künstlerische Persönlich¬
keit heute besonderes Interesse erregt. Nacheinander
haben sich H. A. Schmid, der Berichterstatter, H.
Thode und R. Kautzsch geäussert: Das Ergebnis ist
leider noch recht geringfügig. Am vorsichtigsten,
deshalb auch am erfolgreichsten war der erste von
den genannten. Mit den Hypothesen des zweiten bin
ich schon seit einigen Jahren nicht mehr ganz ein¬
verstanden; er hat Dürer zu sehr ins Fleisch ge¬
schnitten und ich freue mich, dass sich hier die Ge¬
legenheit findet, H. Thode’s Zuweisung der sieben
Schmerzen Mariä in Dresden an Dürer vor ver¬
sammeltem Kriegsvolke offen zuzustimmen. Kleine
Geschwüre soll man beizeiten aufstechen. Dennoch
scheint mir der Berichterstatter damals nicht völlig auf
dem Holzweg gewesen zu sein, wenn er eine Stelle suchte,
wo die Bahn Dürer’s und Grünewald’s sich kreuzen.
2og
EIN GEMÄLDE DES MATTHIAS QRUNEWALD
Wann und wo die Kreuzung stattgefunden hat,
ist fraglich, wie ja auch die künstlerische Heimat
Grünewald’s fraglich bleibt. Auch die Passions- und
die Dominikusbilder in Darmstadt, mögen sie von
ihm selbst oder aus seiner nächsten Umgebung sein,
geben geringe Auskunft darüber. Mir scheinen sie
durchaus nicht so sehr abhängig von Schongauer
selbst, wie man meist will, sondern eher allgemein
rheinischer Art. Enger kommt mir auch jetzt noch
die stilistische Verwandtschaft mit dem sogenannten
Meister der Bergmann’schen Offizin vor, also meinet¬
wegen mit Dürer. Auf die Verwandtschaft des Christus¬
kopfes in der Darmstädter Gefangennahme mit dem
auf dem Christus vor dem Hohenpriester des Haus¬
buch-Meisters (bei Frau Hutter in Freiburg) möchte
ich wenigstens hin weisen.
Unter den Faktoren, die zur Entwickelung des
Stils beitragen, wird, glaube ich, die Bedeutung des
Lehrers oder Vorbildes bisweilen überschätzt, oft wohl
infolge davon, dass fast der einzige uns erhaltene
Repräsentant einer Schule eben jener Lehrer ist. Man
hält dann den in seiner Person verkörperten Schultypus
für die Person selbst, sieht als deren Wirkung an,
was die Kunstschule, die Physiognomie der Umgebung
mit Land und Leuten, Sitten und Gebräuchen, Kunst¬
denkmälern und Kunstübung bewirkt, zum mindesten
in der Seele des Lernenden vorbereitet hat. Ein
Künstler muss noch sehr jung oder sehr persönlich¬
keitslos sein, wenn er sich der Art eines anderen so
unbedingt hingeben soll. Unser Wissen von den
älteren deutschen Schulen ist freilich immer noch ge¬
ring. Ganze Schulen kennen wir kaum. Wie wenig
z. B. noch die Schulen des Mittel- und Oberrheins,
etwa von Mainz bis Basel, Ende des 1 5. Jahrhunderts.
Die eigentümliche und feine Blüte der Strassburger
Malerei lässt sich fast nur ahnen aus der reichen und
vielgestaltigen Bücherillustration, die uns von dorther
erhalten ist. Die Mainzer Illustration ist von Strass¬
burg nicht bloss zu einem grossen Teil abhängig,
sondern die Zeichner Grüninger’s arbeiten sogar un¬
mittelbar für die Mainzer Druckwerke, so dass ich
schon hieraus auf einen gewissen künstlerischen Primat
Strassburgs über Mainz schliessen zu dürfen meine.
Den Bestrebungen, den Meister E S und den Haus¬
buchmeister gerade in Mainz zu lokalisieren, stehe
ich aus allgemeinen und aus besonderen Gründen
nicht ohne einige Skepsis gegenüber. Bei dem Haus¬
buchmeister ist freilich auch Frankfurt neben Mainz
als vorübergehendes Domizil vorgeschlagen worden,
mit ebensoviel, wenn nicht mit mehr Berechtigung.
Der Meister E S mag nicht bloss als Glied der Fa¬
milie Ribisen aus Strassburg stammen, wofür Max
Geisberg vor kurzem gute Gründe vorgebracht hat
(Jahrbücher der Königlich Preussischen Kunstsamm¬
lungen igoi, S. 56), sondern auch dort thätig gewesen
sein. Vielleicht war er ein Wandermeister. Dass er die
Einsiedler Engelweihe wiederholt gestochen hat, giebt
trotz der Beliebtheit des Wallfahrtsortes zu denken.
Im Pfarrhaus zu Pfullendorf, nahe dem Bodensee,
befinden sich interessante Bilderfragmente von einem
jüngsten Gericht, die auf ihre Beziehungen zn E S
einmal näher untersucht zu werden verdienten (Ab¬
bildung im ersten Band der Kunstdenkmäler des
Grossherzogtums Baden. Freiburg 1887, nach S. 448).
Die Sprachproben auf dem Spruchband gehören dem
schwäbischen Dialekt an.
Auch der Einfluss Schongauers auf die Kunst
seiner Zeit scheint mir in den letzten Jahren überall
doch zu rasch gesehen und zu stark hervorgehoben
zu werden. Euere fortes ante Agamemnona multi.
Aber Schongauer hat das Geschick, aus einem weiten
und an Kunstübung einst sehr reichen Landstrich der
einzige grosse Meister, beinahe der einzige Meister
überhaupt zu sein, von dem wir wissen. Er gilt jetzt
als eine Art praeceptor Germaniae und namentlich
als der eigentliche künstlerische Ahn Dürer’s. Sollte
der Eindruck seiner Werke, von denen Dürer doch
gewiss auch in Nürnberg und vor I4g2 vieles kennen
gelernt hatte oder der noch nicht völlig verflüchtigte
geistige Dunstkreis seiner nachgelassenen Werkstatt
Dürern, als er im Eisass war, auf einmal so einzig
und übermächtig bestimmt haben?
Seit Daniel Burckhardt’s wertvollem Buch über
Dürer’s Aufenthalt in Basel ist die Thatsache, dass
für das Jahr I4g4 die längere Anwesenheit Dürer’s
in Strassbnrg durch eine Angabe des Imhof’schen
Inventars bezeugt wird, ziemlich in den Hintergrund
getreten. Dort heisst es: »Ein alter man In ein
tefelein Ist zu Straspurg sein Meister gewest - auf
pergamen 4 fl. Ein weibspild auch in ein tefelein
olifarb so darzu gehoertt gemalt zu Straspurg I4g4,
fl. 3.« Wir erfahren also zweierlei: Dürer hat sich
I4g4 so lange in Strassburg aufgehalten, dass er dort
mindestens ein weibliches Bildnis (eher aber die beiden
erwähnten) malen konnte, und er hat in der Werk¬
statt eines Strassburger Malers gearbeitet. Ob I4g4
oder schon früher, wird nicht gesagt. An sich würde
ein zweimaliger Aufenthalt in Strassburg möglich sein.
Denn nach Scheurl ist Dürer I4g2 peragrata Germania
nach Kolmar und bald darauf nach Basel gekommen.
Dass er auf dem Weg nach Kolmar sich länger oder
kürzer in Strassburg aufhielt, ist doch nicht unwahr¬
scheinlich. Als Gegenargument wird angeführt, dass
ihm dann der Tod Martin Schongauer’s (gestorben
am 2. Februar i4gi in Breisach) nicht hätte verborgen
bleiben können. Aber dass Dürer I4g2 in der
Meinung, den Martin in Kolmar und lebend zu
finden, dorthin gereist sei, sagt Scheurl nicht, sondern
nur, Dürer habe sehr bedauert, ihn nicht mehr kennen
gelernt zu haben (ne vidisse quidem, attamen videre
desiderasse vehementer). Dürer wäre übrigens, wenn
er den Martin Schongauer aufzusuchen beabsichtigt
hätte, nicht nach Kolmar, sondern eher nach Breisach
gewandert, wo dieser schon seit Ende der achtziger
Jahre lebte. In einer von Max Bach (Schongauer-
studien Rep. f. Kw. XVIll, S. 264) mitgeteilten Basler
Urkunde vom 15. Juni 148g wird Martin »burger zu
Breisach« genannt. Ein Aufenthalt Dürer’s in Strass¬
burg vor der Reise nach Kolmar würde auch erklären,
warum die Werke der Basler Zeit, selbst die Terenz-
zeichnungen, in ihrer Drastik so ganz an die Strass¬
burger Illustrationsweise anklingen. An Schongauer
210
EIN GEMÄLDE DES MATTHIAS GRÜNEWALD
gemahnen doch nur die Typen einigermassen, über¬
haupt das Figurale. Der Strassburger Zeit entstammen
wohl die künstlerischen und persönlichen Beziehungen
Dürer’s zu Hans Baidung, wie schon Janitschek an¬
genommen hat, und seine künstlerischen Beziehungen
zu Hans Wechtlin, wie ich hinzufügen möchte.
Auch Grünewald denke ich mir am ehesten einer
Strassburger Schule entbürtig. Es handelt sich natür¬
lich bis jetzt nur um nicht viel mehr als eine Phantasie¬
vorstellung, die aus Spinnenfäden gewoben ist, und
ich werde sie mit Freuden aufgeben, wenn ich Be¬
lehrung finde. Dass Grünewald sich an den Haus¬
buchmeister angeschlossen habe, soll mir nicht unrecht
sein. Besonderes Vergnügen würde es mir bereiten,
wenn jemand ihn als zeitweiligen Werkstattsgenossen
des Hieronymus Bosch nachwiese, und in diesem
Sinn wäre es als Förderung der Grünewaldfrage zu
begrüssen, wenn man nicht dem Mathes von Aschaffen¬
burg, aber seinem Lehrmeister das stark übermalte,
ganz niederdeutsche, durch die fast burleske Dar¬
stellung und die reife Landschaft überaus bemerkens¬
werte Altarbild im Aschaffenburger Schloss (Nr. 270,
271, 273, 275 — 277) zuschreiben könnte. Es stellt
innen die Anbetung des Kindes, auf den Flügeln
Hieronymus und Johannes und aussen vier Heilige
auf je zwei Flügeln dar. Von Flechsig (Z. f. b. K.
N. F. VIII, S. 70) ist es mit leisen Vorbehalten dem
Hausbuchmeister, von Thode (Jahrb. d. K. pr. K.-S.
XXI, S. 130) frageweise dem Grünewald oder seinem
Vater zugeschrieben worden. Dem letzteren Forscher
sind die niederdeutschen Züge darin wohl aufgefallen.
Ich kenne das Altarwerk seit schier zwanzig Jahren,
weiss aber bis jetzt nicht, es mit Sicherheit unter¬
zubringen, ausser dass mich eben stets viel Nieder¬
deutsches daraus ansprach. Wird es jetzt auch in
Aschaffenburg aufbewahrt, so wäre der Schluss, es
sei dort oder in der Nähe gemalt worden, etwas
rasch. Eine ähnliche Raschheit der Entschliessung
hat ehemals zur Etablierung der »Aschaffenburger
Schule« beigetragen und vor kurzem ist ein aus acht
Bildern bestehender Sebastianscyklus im Bischöflichen
Haus in Mainz der Schule des Hausbuchmeisters zu¬
gewiesen worden in der Voraussetzung, die Bilder
seien in der Stadt entstanden, die sie nun beherbergt.
Aber der Bischof Josef Vitus Burg (geb. zu Offen¬
burg 1768, der Reihe nach thätig in Überlingen,
Mainau und Kappel bei Freiburg i. Br., Bischof seit
1830) hat sie aus seinem oberländischen Wirkungs¬
kreis nach Mainz gebracht. Vor mehr als einem
Jahrzehnt hat Friedrich Schneider in Mainz mir die
interessanten Tafeln zum erstenmal gezeigt und seiner
eminenten Sachkenntnis verdanke ich die Nachricht
über ihre Herkunft. Sie sehen auch ziemlich schwäbisch
aus, ungefähr als ob sie von einem Vorfahren des
Bernhard Strigel herrührten.
Den Mainzer Dreikönigsaltar, bei dem Thode auch
an Grünewald (Jahrb. d. K. Pr. K.-S. XXI, S. 134)
denkt, habe ich früher zum Teil für Baidung, zum
Teil für Schäuffelein in Anspruch genommen, eine
Ansicht, die ich schon lange, auch in der Litteratur
aufgegeben habe. Bayersdorfer schreibt ihn ebenso
wie die Darstellung im Tempel des Frankfurter
Historischen Museums und andere Bilder einem un¬
genannten Schüler Dürer’s zu. Daran, dass er den
Kreisen der Strassburger Schule entstamme, halte ich
immer noch fest; er ist vielleicht und zwar einschliess¬
lich des Flügels und der Rückseiten von Wechtlin
gemalt und von demselben die Frankfurter Darstellung
im Tempel. Allerdings verraten beide Gemälde die
engste Beziehung zu dem jugendlichen Dürer. Die
Zeichnung Dürer’s bei Bonnat (Lippmann 348) liegt
wohl dem Dürer’schen Holzschnitt der Anbetung der
Könige im Marienleben ebenso, wie dem Mainzer
Bild zu Grunde. Grünewald’s Urheberschaft würde
ich bei dem letzteren in stärksten Zweifel ziehen.
Von dem gebahnten Weg ab habe ich mich auf
schattigen Seitenpfaden in das Waldesdickicht locken
lassen. Ich kehre auf die Chaussee zurück.
Die Rückseite der Freiburger Tafel mit dem Bruch¬
stück der drei anbetenden Könige giebt wieder ein
Rätsel auf. Ich sehe so gut wie gar nichts von
Grünewald darin, vielmehr eher Nürnberger Art, und
ich möchte es einem Nürnberger Maler zuschreiben.
Es müht mich nicht, den Grund aufzufinden, warum
zwei verschiedene Maler die verschiedenen Seiten der¬
selben Tafel bemalt haben; über den Augenschein,
der mir zwei in der That heterogene Stile zeigt,
komme ich nicht hinaus. Wer der Künstler der
Rückseite ist, zu entscheiden, wage ich nicht. Eine
Prüfung auf Wolf Traut als Urheber Hesse sich mit
einigem Fug anstellen. Man kann sich zuvörderst
daran erinnern — falls das Bild aus der Schnee¬
kapelle stammt — , dass dieser auch sonst für Albrecht
von Brandenburg gearbeitet hat, z. B. bei dem
Hallischen Heiligtumsbuch.
Wolf Traut war kein bezwingender Meister, aber
ein angenehmes Talent. Er verstand es, grösseren
geschickt nachzuempfinden. Heiter, nett, bisweilen
anmutig, bisweilen nur von etwas flacher Hübschheit
und preziös geziert, tritt er unter günstigen Sternen
hin und wieder als täuschender Doppelgänger Kulm¬
bach ’s auf (vergleiche schon Thode, Malerschule von
Nürnberg, S. 273). Kulmbach, der in seiner lichten
Koloristik und in seinen gestreckten Figuren sowohl
mit Hans, als mit Wolf Traut zusammengeht, mag
ein Schüler des Hans gewesen sein. Wolf ist aber
hagerer, dürftiger, fader als Kulmbach. Er starb
1520. G. von Terey hat sich mit ihm in seiner
Studie über Kardinal Albrecht von Brandenburg und
das Hallesche Heiligtumsbuch eingehend beschäftigt
(S. 85 — 107). Die dort aufgeführten Werke, nament¬
lich ausser dem bezeichneten und 1514 datierten
Artelshofener Altar des Münchner Nationalmuseums,
eine grössere Anzahl von Holzschnitten des Halleschen
Heiligtumsbuchs und anderer Bücher wird man mit
geringen Modifikationen gelten lassen müssen. Einige
andere möchte ich noch anschliessen.
Zunächst die Kreuzauffindung des Germanischen
Museums (Kat. 216, »Richtung des Hans v. Kulm¬
bach«). Thode, der die dem »Meister von Heilsbronn«
gehörige Bildergruppe mit ungewöhnlich scharfem
Blick gesichtet hat, schreibt es vermutungsweise diesem,
EIN GEMÄLDE DES MATTHIAS GRÜNEWALD
21 1
also dem Hans Traut, Wolf’s Vater (oder Oheim?) zu.
Dass Wolf übrigens an der Ausführung des Heils-
bronner Hochaltarbildes (1502/3) durch Hans teilnahm,
ist wahrscheinlich. Die herrliche alte Klosterkirche
von Heilsbronn enthält nebenbei gesagt viel beachtens¬
werte Denkmäler der fränkischen Kunst; unter anderen
noch Bilder vom sogenannten Meister Berthold, von
Deig, Erhard Schön, ja vielleicht auch einen frühen
(dann wohl den frühesten bekannten) Kulmbach (Pho¬
tographien bei Karl Herberth, Rothenburg ob der
Tauber). Nicht viel später als die Kreuzerfindung,
ich meine noch vor 1504, sind die Blätter der Do¬
minikuslegende in Berlin, München, Darmstadt, Braun¬
schweig, London, Paris entstanden. (Das Darmstädter
Blatt ist als Nr. 551 in den »Handzeichnuungen«
von Schönbrunner und Meder publiziert).
Vielleicht gebührt dem Wolf Traut auch die Ur¬
heberschaft an den zwei 1 504 datierten Zeichnungen
in Basel mit Maria und dem Kinde und mit dem
hl. Bartholomäus. Mit G. v. Terey (Baidungzeich¬
nungen als Nr. 5 und 8 reproduziert) habe ich sie früher
dem Baidung zugeschrieben, bin aber später durch
die Vergleichung mit stilverwandten Holzschnitten im
»beschlossenen Gart des Rosenkranz Mariä« (Nürn¬
berg 1505) bedenklich geworden. H. A. Schmid
(Rep. f. Kw. XXI, S. 310) schreibt beide Blätter dem¬
selben Zeichner zu, wie den Schmerzensmann in
Budapest (162 der »Alten Handzeichnungen«) und
eine wappenhaltende Frau in Dresden (III, 8 der
Woermann’schen Publikation). M. J. Friedländer (Rep.
f. Kw. XX, S. 75) erkennt wenigstens in den beiden
letzten Blättern (162 und III, 8) dieselbe Hand. In
Anbetracht der Dresdner Zeichnung lassen mich Ge¬
dächtnis und Notizen im Stich. Das Blatt in Buda¬
pest scheint mir, nach der Reproduktion zu urteilen,
einerseits mit den zwei Basler Blättern verwandt,
andrerseits auch dem Wolf Traut zuzutrauen, ohne
dass ich ein sicheres Urteil darüber fällen könnte.
Wenn die zwei Zeichnungen von 1504 von Wolf
Traut herrühren, dann hat er um diese Zeit einen
Stilwechsel durchgemacht und ist ganz unter Dürer’s
Bann geraten. Aber es bleiben mir leise Zweifel
zurück.
Ganz ohne Zweifel bin ich dagegen bei den
Heiligen Barbara und Katharina vom Altar der elf¬
tausend Jungfrauen in Heilsbronn (Phot. Karl Herberth,
Rothenburg ob der Tauber). Sie sind 1513 datiert.
Lange waren sie auf Grünewald’s Namen getauft.
Thode, der mit Recht ihre Verwandtschaft mit Kulm-
bach’s Art hervorhebt, hat sie dem Meister von Heils¬
bronn, also dem Hans zugeschrieben. Sie gehören
zu den kräftigsten und reifsten Proben der Kunst des
Wolf Traut. Chronologisch nahe stehen ihnen die
Heiligen Katharina und Barbara der Rosenthaler Ka¬
pelle in der Stadtkirche zu Schwabach. Namentlich
die hl. Barbara ist von einer Anmut und einer ge¬
wissen seelischen Fülle, die sonst dem Wolf abgeht.
Man könnte hier gleichfalls versucht sein, an Kulm¬
bach zu denken, von dem ein wenigstens teilweise
wohl eigenhändiges, mehrteiliges Werk aus 1520 in
derselben Kapelle wie zum Vergleich aufgestellt ist.
Das ist auch die Zeit des Artelshofener Altars mit
der hl. Sippe (1514). (Das Bild leidet etwas Not;
bei meiner letzten Besichtigung im Sommer iQoi
begann die Farbenfläche sich stellenweise in Blasen
von dem Holz zu heben). Eine interessante Vor¬
arbeit zu dem Mittelbild des Altars ist erst durch die
Publikation der »alten Handzeichnungen« (Nr. 669)
in die Litteratur eingeführt worden. Es ist eine
Zeichnung in Budapest. Durch G. v. Terey habe ich
das höchst charakteristische Blatt vor einer Reihe von
Jahren kennen gelernt als eine der erfreulichen Zeich¬
nungen, bei deren Bestimmung einem kein kleinster
Bodensatz von Bedenken übrig bleibt. Endlich scheinen
mir die zwei wilden Männer als Wappenhalter im
Germanischen Museum (Kat. 233. »Schule von Nürn¬
berg 1520 — 30«; Phot. Hoefle, Augsburg) von Wolf
Traut herzurühren. Hat er die Rückseite des Frei¬
burger Bildes wirklich gemalt, so würde sie sich hier
einfügen. Ich will aber die Frage darnach nur ge¬
stellt, nicht bejaht haben.
Als ich igoi in der Aschaffenburger Schnee¬
kapelle noch einmal Umschau hielt, konnte ich die
beiden schwer misshandelten Seitenbilder mit dem
hl. Martinus und dem hl. Georg auf einer Leiter und
bei dem Schein einer Laterne betrachten. Ich glaube
jetzt, an Grünewald’s Vaterschaft nicht mehr zweifeln
zu dürfen. Verdächtig ist dabei freilich etwas, dass
die Bilder auf Leinwand gemalt und nur auf Holz
aufgezogen sind. Trotz der Übermalung und aller
anderen Unbilden, die sie erlitten haben, verlohnte
es sich, sie zu reproduzieren. Es wäre eine Sache
für die Kunsthistorische Gesellschaft für photo¬
graphische Reproduktion, die unter anderem ihr Ver¬
sprechen, das Ansbacher Bild mit Christus in der
Kelter, eine der schmerzlichsten Fragen, die die Malerei
der Dürer’schen Zeit an uns richtet, aufzunehmen, nicht
eingelöst, uns dagegen 1901 eine Anzahl im Handel
zu erlangender Aufnahmen aus der Liechtensteiner
Galerie (darunter wenig wichtige Bilder des Mess-
kircher Meisters) und aus Dinkelsbühl (eine Art von
Daniel Hopfer) beschert hat.
Der Freiburger Grünewald hat bereits seinen Hafen
gefunden. Er wird einst der Städtischen Galerie in
Freiburg zufallen. Diese hat dann drei der merk¬
würdigsten Bilder rheinischer Kunst: die grosse
Kreuzigung des Hausbuchmeisters ^), den Christus als
Schmerzensmann von Baidung (einst bei M. Rosen¬
berg), eines der edelsten und schönsten Werke dieses
ungleichen Malers, und unseren Grünewald.
FRANZ RIEF FEL.
1) Zwei andere Gemälde desselben Meisters sind be¬
kanntlich in Freiburger Privatbesitz; das eine davon, Christus
vor dem Hohenpriester mit einer vorzeitigen den Dirk
Bouts fast noch übertreffenden Verwegenheit des Beleuch-
tiingsproblerns : Fackeln, Feuer und Mondlicht zugleich.
PETRARCA’S EINFLUSS AUF DIE KUNST')
Dem Vater des Humanismus', mit dem sich
in jüngster Zeit die Litteratur so viel be¬
schäftigt hat, haben der Prinz d’Essling, in
Kunstkreisen unter dem Namen Duc de Rivoli be¬
kannt, und Eugene Müntz ein Prachtwerk gewidmet.
Mit einer Menge Abbildungen, darunter Lichtdrucke,
bereichert, stellt sich dieses Werk als ein erwünschter
Beitrag zur Kunstgeschichte vor unsere Augen und
bietet ein Interesse allgemeinen Charakters als Forschung
über eine Reihe von Wechselbeziehungen zwischen
Litteratur und Kunst.
Um den Einfluss Petrarca’s auf die Kunst zu er¬
messen, haben die Verfasser
die meisten Sammlungen
Europas und Amerikas be¬
reist und dabei alle auf
Petrarca’sSchriften bezügliche
Kunstwerke untersucht. Wäh¬
rend ihre Vorgänger, Wast-
1er und Dr. Graus, bloss
eine kleine Zahl von Illustra¬
tionen nach den Trionfi an¬
geführt hatten, verzeichnen
die beiden französischen For¬
scher mehr denn hundert¬
fünfzig Darstellungen, welche
zu Petrarca in Beziehung
stehen. Im ganzen über¬
trifft ihr Kunstwert denjenigen
der vom unvergesslichen
E. X. Kraus in seinem mo¬
numentalen Werk über Dante
besprochenen Bilder.
Dieser Band knüpft so¬
mit an die für unser Fach
wertvolle Reihe der ikono-
graphischen Studien an,
welche Thode mit seinem
Franz von Assisi, Dobbert
mit dem Abendmahl, I/055
mit dem jüngsten Gericht
eröffnet haben. Derartige
Forschungen , bei denen
das Material weit schwieriger zu sammeln ist als bei
Künstlermonographien, geben einen tiefen Einblick
in den Gehalt der Kunstwerke; sie werden ihren
litterarischen Quellen näher gerückt und der per¬
sönliche Anteil, welchen der Künstler an der Ori¬
ginalität seines Werkes hat, kann somit scharf beur¬
teilt werden. Auch erscheint der Wert einer graphischen
oder plastischen Schöpfung viel deutlicher aus dem
Vergleich mit anderen Darstellungen desselben Themas,
1) Prince d'Essling et Eugene Müntz, Petrarque, ses
etudes d’art, son influence sur les artistes, ses portraits et
ceux de Laure, l’illustration de ses ecrits. 21 Lichtdrucke
und 191 Abbild, im Text. — Paris, Gazette des Beaux-
Arts, 1Q02, VIII— 291 pp., 4®.
als im Zusammenhang mit Werken desselben Meisters,
aber verschiedenen Inhaltes. Die ikonographischen
Studien füllen somit die Lücken der Lebensbe¬
schreibungen und Monographien aus und sind für
die bekannteren Gebiete der Kunstgeschichte beson¬
ders schätzenswert.
Andernteils haben d’Essling und Müntz dem grossen
Dichter einen neuen Kranz geflochten, indem sie einen
Bildercyklus, der sich bis auf unsere Zeit hinauszieht,
auf seinen ursprünglichen Schöpfer zurückgeführt haben.
Verdanken wir doch eine entfaltete Blüte vor allem
demjenigen, der den Samen dazu ausgestreut hat.
Der erste Abschnitt des
Bandes behandelt die künst¬
lerische Thätigkeit Petrarca’s.
Während seines Aufenthaltes
in Avignon verbindet ihn in¬
nige Freundschaft — wovon
zwei Sonette Zeugnis ablegen
- mit Simone Martini, dem
er die Ausschmückung seines
Virgil’s überträgt (die Hand¬
schrift befindet sich zur Zeit
in der Ambrosiana). Bald
verlässt der Dichter die lär¬
mende und von äusserem
Glanz strotzende Burg der
Päpste und flüchtet sich in
das einsame Vaucluze. Hier
lebt er ganz der malerischen
Umgebung. Zum erstenmal
in dieser Zeitperiode findet
sich ein Mensch, der die
Schönheit der Natur empfin¬
det und in seinen Versen
preist. Hernach erreicht er
die Tiberstadt, wo er sich für
die Bauten der Römerzeit
begeistert und der barbari¬
schen Verstümmelung dieser
ehrwürdigen Überreste einer
vergangenen Kultur mit Ent¬
rüstung entgegentritt. Er
sammelt dort Münzen und beteiligt sich mit Cola
di Rienzi an der Wiederherstellung des alten Roms,
ln Mailand, Pavia und Verona ermutigt er die Für¬
sten zur Förderung der Kunst. Dem in Padua
regierenden Carrara empfiehlt er, seinen Palast mit
Bildern von zwölf römischen Kaisern auszuschmücken
und liefert selbst die Lebensskizzen, welche unter die
Porträts zu stehen kommen.
Petrarca hat also persönlich auf die Kunst einge¬
wirkt, indem er das verschollene Altertum aus der
Dunkelheit hervorzog und die Natur in seinen Strophen
besang. Er gehört somit zur Reihe der grossen Ent¬
decker, welche unsere Kultur geschaffen haben.
An Hand von zahlreichen Abbildungen geben
Porträt Petrarca' s
(Nationalbibliothek in Paris, fonds latin, Nr. 606g f.)
PETRARCA’S EINFLUSS AUF DIE KUNST
213
die Verfasser im zweiten Kapitel eine ausführliche
und entgültige Besprechung der Porträts Petrarca’s
und Laura’s. Schon de Nolhac^) hatte die Echtheit
der berühmten Miniaturen der Laurenziana bestritten
und das authentische Porträt des Dichters in einem
Manuskript der Pariser Nationalbibliothek entdeckt.
Dieses bezeichnende Bild, in dem sich eine gewisse
Strenge der Züge mit einem wohlwollenden, teilnahms¬
vollen Ausdruck verbindet, wirkt sehr anziehend.
Was aber Laura betrifft, welche die Ehre hatte zu
ihren Lebzeiten von Simone Martini gemalt zu werden,
so sind ihre noch erhaltenen Bilder spätem Ursprungs
und zweifelhafter Identität.
Sebastian Brandt 1496 eine deutsche Übersetzung ge¬
liefert hatte, bemächtigte sich dieses Stoffes der
reichbegabte Hans Burckmair und erntete mit seiner
über zweihundertfünfzig Stiche zählenden Ausgabe
grossen Beifall.
Die Trionß in vita e niorte di Madonna Laura
haben selbstverständlich einen viel stärkeren und all¬
gemeineren Widerhall in der Kunst gefunden als das
eben erwähnte Traktat. Das Thema der Canzoni und
Sonetten wieder aufnehmend, bewegt sich diese Dich¬
tung im Kreise Laura’s, wie die Divina Comedia
in demjenigen der Beatrix. Eine Reihe von Kämpfen,
welche mit einem Siege enden, führt uns darin
rr>n»r-
E: cn cccy pour vray aifümcnt pouuos voir,
Qucnul ncpcultfuiralamortcntnincllc, iij.
C-Luitoujoursno'’ tallona.&mücrcfopouuoir,
Alors ci nous pcfons bien cftrc clloi^nez d'clle.
Acropos, Lachcfis.Clöto pareilicmciu,
Troisfocursqno’ dilons les Parqucs filädncrcs
Font mourir Cliaftcte.cognoiffanc clairemcnt
Quelle tendparvieillefTeälcs heur.i dcrnicres.
Triumph des Todes
Französischer Stich des 16. Jahrhunderts aus den Figures de la Bible
Früh begannen die Dichtungen Petrarca’s die
Phantasie der Künstler anzuregen und eine Menge
Darstellungen hervorzurufen. d’Essling und Müntz
haben daher mit Recht den Hauptteil ihres Buches auf
die Illustrationen seiner Werke bezogen.
Merkwürdiger Weise ist gerade die Schöpfung
Petrarca’s, welche ihrem Inhalte nach am wenigsten
geeignet war, die Kunst anzuregen, am frühesten
illustriert worden, und zwar in Frankreich. Die am
Ende des 14. Jahrhunderts verfasste Übersetzung des
Tractatus de Remediis utriusque Fortunae hat diese
Schrift dort verbreitet und zum Thema einer beträcht¬
lichen Anzahl Miniaturen erhoben. Später, nachdem
Petrarca vor. In jedem wird der Held durch eine
höhere Macht überwunden. Allegorische Begriffe
sind mit historischen Gestalten verflochten, deren
Schilderung in sehnsuchtsvolle Ausrufe an Laura
übergeht. Amor besiegt die Welt, um hernach durch
die Keuschheit überwunden zu werden; da erscheint
der Tod, der allen Menschen ein jähes Ende bereitet.
Der Ruhm aber überlebt den Tod und unterliegt
schliesslich der Zeit. Bloss die Gottheit bleibt ewig.
Aus einer derartigen Folge ergiebt sich in gewissem
Sinn ein Drama in sechs Akten, welches sich natur-
gemäss zur künstlerischen Bearbeitung bietet.
Die Verfasser stellen zuerst die Wandlungen fest,
welche das Thema in seinem Übergang von der
Litteratiir zur Kunst erfährt und konstatieren das
1) Petrarque et l’Hiinianisme, Paris 1892.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XISI. H. 9.
28
214
PETRARCA’S EINFLUSS AUF DIE KUNST
Triumph der Keuschheit
Florentiner Miniatur des 75. Jahrhunderts
(Nationalbibliothek in Paris. Fonds italien Nr. ^48)
Vorhandensein einer vom ursprünglichen Text ab¬
weichenden Überlieferung, welcher sich von Anfang
an alle Künstler unterwerfen. Während nämlich bei
Petrarca ein Triumphwagen nur im ersten Gesang
erscheint, führen die Künstler einen solchen in jeden
Triumph ein. Sie schaffen somit eine symmetrische
Anordnung, welche fern von dem Gedanken des
Poeten lag, und da kein Kommentar des Gedichtes,
der älter wäre als das Ende des 1 5. Jahrhunderts,
bekannt ist, wird man wohl auf die eigenmächtige
Auslegung eines bedeutenden Künstlers schliessen
müssen, dessen Beispiel von den anderen befolgt
worden ist. Übrigens spielte bei den zahlreichen
und glänzenden Triumphzügen, welche damals in
Italien gefeiert wurden, der Wagen die Hauptrolle,
und es lässt sich denken, dass die Künstler die Gegen¬
wart eines Gespannes als das besondere Merkmal
eines Triumphzuges ansahen und der Deutlichkeit
wegen in ihre Bilder aufnahmen. Ihre Selbständigkeit
gegenüber dem Text Petrarca’s ist im allgemeinen
sehr bemerkenswert. Was ihnen nicht passt, lassen
sie unbeachtet. Dagegen knüpfen sie an ihre Dar¬
stellungen Episoden wie Simson und Delila, Aristoteles
und die Geliebte Alexander’s, Pyramus und Thisbe,
welche bei Petrarca kaum erwähnt, durch die Über¬
lieferung aber ihrem Thema nahe geführt werden.
Im 1 5. Jahrhundert erfreuen sich die Trionfi einer
grossen Beliebtheit in Itatien, weil ihr Stoff sich dem
nationalen festlichen Leben eng anschliesst, und sich
zugleich mit einer Menge bekannter Episoden aus
anderen Dichtungen, wie der Roman de la Rose, durch¬
kreuzt und oft verschmilzt.
Wir müssen hier darauf verzichten, die Verfasser
in ihrer glänzenden Musterung der Triumphgemälde
zu begleiten. Unter den weniger bekannten Werken
des Quattrocento begegnet der Leser den in Licht¬
druck wiedergegebenen Tafeln der Sammlung Gardner
in Boston, welche der Schule des Peselliuo zuge¬
schrieben sind. Matteo de’ Pasti, Botticelli, Lorenzo
Costa haben das ihrige zur Verherrlichung der Trionfi
beigetragen. Im 16. Jahrhundert, unter dem Einfluss
der Neuausgabe des Canzoniere durch den Kardinal
Bembo, erneuert sich diesseits der Alpen der den
Werken Petrarca’s zugewandte Kunstsinn, während er
in Italien erstirbt. Die engen Schranken, welche das
noch etwas schüchterne Quattrocento den Petrarca¬
darstellungen zugewiesen hatte, erweitern sich hier
und lassen Raum für bewegte, reich ausgestattete,
selbständig empfundene Kompositionen. In pracht¬
vollen Abbildungen entrollen uns d’Essling und Müntz
flämische Teppiche und lassen sie wetteifern mit einer
Reihe von Miniaturen, in denen sich die Künstler ihrer
Erfindungsgabe ungehindert überlassen.
ln Deutschland liefert Georg Pencz das Gegen¬
stück zu Burckmair’s Illustrationen. Seine etwas kalt
empfundenen, in italienisierendcm Stile gehaltenen
Darstellungen stehen aber nicht auf der Höhe der¬
jenigen seines Augsburger Nachbarn.
ln einem wahrhaft kunstvollen Band haben d’Essling
und Müntz einen der anziehendsten Bildercyklen,
welche die Dichtung des Mittelalters hervorgerufen
hat, ans Licht gezogen. Das hiermit erreichte Resultat
wird der Wissenschaft nicht entgehen und unsere
Fachgenossen zur Übernahme ähnlicher Aufgaben an¬
regen. C. DE MAN DACH.
Der Gesang
Stich ans dem Tractatiis de Reniediis (Augsburg 1532)
Ahb. 1. C. Corot. Landschaft
FRANZÖSISCHE MEISTER
IN DER MESDAO’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
Von Walther Gensel
Die grossartige Schenkung des jüngst verstor¬
benen Kunstfreundes Thomy Thiery an das
Louvre-Museum ist von allen Seiten mit auf¬
richtiger Freude begrüsst worden. Binnen kurzem
wird es nun also jedem möglich sein, von den Haupt¬
meistern der »Schule von 1830« je etwa ein Dutzend
hervorragender Werke zu sehen und zu geniessen,
ohne die Pforten eifersüchtiger Privatsammler auf oft
weitläufigen Umwegen erzwingen zu müssen. Wer
freilich diese Meister dann wahrhaft lieben gelernt hat
und zu der Überzeugung gekommen ist, dass sie
einen Höhepunkt nicht nur in der modernen fran¬
zösischen Kunst, sondern in der allgemeinen Kunst¬
geschichte bedeuten, der wird sich daran nicht ge¬
nügen lassen. Für ihn kommen in erster Linie noch
zwei Sammlungen in Betracht, die des greisen Begrün¬
ders der Magasins du Louvre zu Paris, Chauchard, die,
augenblicklich nur wenigen Begünstigten zugänglich,
hoffentlich dereinst ebenfalls in öffentlichen Besitz
übergehen wird, und die des grossen Marinemalers
H. W. Mesdag im Haag. Es lässt sich kaum ein
grösserer Unterschied denken als zwischen diesen
beiden Sammlungen. Bei Chauchard sehen wir eine
Galerie mit lauter durchgefeilten, für die Ausstellung
fertig gemachten Werken, bei Mesdag glauben wir
einen Blick in die Werkstatt der Künstler zu thun,
haben wir zum grossen Teil flüchtige Skizzen, kühne
Entwürfe, grossartige Untermalungen vor uns. Dort
hat der ungeheuer reiche Kunstfreund gesammelt, der
die Bilder oftmals nicht trotz, sondern wegen ihrer
ans Fabelhafte grenzenden Preise erworben hat, hier
der Maler, der zu jedem Meister in einem persön¬
lichen Verhältnis steht, für den jede Erwerbung ein
inneres Erlebnis bedeutet hat. Die Mesdag’sche
Sammlung ist kein Museum für jedermann, vielen
wird sie ein verschlossenes Buch bleiben. Wer aber
ein geübtes Auge, wahrhafte Kunstempfindung und
ein gewisses Talent zum Nachschaffen mitbringt, wird
in dem schönen Hause der stillen Laan van Meer-
dervoort Stunden unvergesslichen Genusses verleben.
Es soll hier nicht Mesdag’s Ruhm aufs neue ver¬
kündet werden. Wer sich für die Lebensschicksale
des Malers der Nordsee«, der bis zu seinem fünfund-
dreissigsten Lebensjahre im Bankhause seines Vaters
thätig, erst spät zur Kunst gekommen ist, interessiert,
mag das in drei Sprachen (holländisch, englisch und
französisch) erschienene Buch seines Freundes Zücken
lesen, und Bilder von ihm findet man in fast allen
grösseren Sammlungen. Nur eins sei aufs neue be¬
tont. Sieht man immer nur einzelne Werke des
Meisters, so bekommt man leicht den Eindruck einer
gewissen Eintönigkeit. Man muss, wie vor einigen
Jahren bei Durand-Ruel in Paris, viele und in guter
Auswahl beisammen sehen, um den Reichtum in der
Beschränkung voll zu empfinden. Freilich malt er
immer das Meer und immer in dem nahe gelegenen
Scheveningen. Aber er malt es zu allen Zeiten und
in allen Stimmungen, ruhig und vom Sturm auf¬
gewühlt, im Nebel und in der Klarheit, bei Sonnen-
und Mondschein, in der Morgendämmerung und bei
sinkender Nacht. Licht und Wasser, oder das Wasser
im Licht könnte man über das Werk seines Lebens
setzen. Und immer finden wir dieselbe Liebe für
den Gegenstand, dieselbe Ehrlichkeit und dieselbe
schlichte Kraft in der Wiedergabe.
Liebe, Ehrlichkeit und Kraft müssen auch die
28*
21 6 FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
Abb. 2. J. F. Milkt. Stillleben
Werke zeigen, die er in sein Miisenm aiifnimmt.
Gewiss er hat nicht nur Gemälde erworben, sondern
auch viele kunstgewerbliche Gegenstände, vor allem
Keramik. So sehen wir bei ihm herrliches Porzellan
und eine grosse Kollektion Rozenburg - Fayencen.
Und dass auch die Japan-Begeisterung nicht spurlos au
ihm vorüber gegangen ist, beweisen die wundervollen
alten Satsuma-Waren. Nicht minder bedeutend ist
die Zahl der Seidenwebereien und Gobelins. Allein
den Haupteindruck bestimmen doch die Bilder. An
die Wohnräume, die einige der allerschönsten bergen,
schliesst sich das Museum, zwei Stockwerke mit je
einer ganzen Flucht von Zimmern , deren Wände
über und über mit köstlichen Malereien behängt sind.
Man kann sie in zwei Hauptgruppen scheiden; in
Werke derjenigen französisehen Meister der älteren
Generation, deren Werke die neuere holländische
Kunst hauptsächlich beeinflusst haben, und in Werke
derjenigen liollündisehen Maler, die zusammen mit
Mesdag die Erneuerung der Kunst ihres Landes in
heissem Kampfe errungen haben. Nur von der
ersteren Gruppe soll in diesen Zeilen die Rede sein.
Von allen französischen Meistern verehrt Mesdag
wohl Milkt am meisten. Wie ein kleines Heiligtum
hat er in seinem Atelier den unscheinbaren Zettel
eingerahmt, auf dem ihm Millet seine
erste Auszeichnung im Pariser Salon (für
das Bild »Nordsee-Brandung«) mit dem
einzigen Worte vermeldet: Medaille!
Nicht weit davon, im Musikzimmer,
hängt eins der gewaltigsten Pastelle des
grossen Barbizoners, der »Ruhende Win¬
zer«. Wer kennt sie nicht, diese »bete
humaine« mit den schwieligen Händen
und Füssen und dem stumpfen, fast
tierisch blöden Gesichtsausdruck, die da
in der Mittagszeit zwischen den Reb¬
stöcken am Boden hockt! Und doch
wirkt das Bild im Original fast voll¬
kommen überraschend. Nach den Ab¬
bildungen denkt man an eine ziemlich
farblose graue Malerei, allein es ist ganz
hell und sonnig, ein kühnes Freilichtbild.
Wie wunderbar ist der goldige Staub
gegeben, in den die Gestalt gehüllt ist,
der um die grünen Blätter spielt! Kaum
minder bedeutend ist das gegenüber
hängende grosse Pastell »Die Getreide¬
schober«, in dem die wunderbare Kunst
des Meisters, das lebendige Durchein¬
ander einer Schafherde darzustellen, aufs
schönste zur Geltung kommt. Und in
demselben Zimmer finden wir auch
einige von Millet’s allerschönsten Hand¬
zeichnungen. Vor allen anderen zwei:
»die Reisigsammlerinnen« und »die bei
der Öllampe nähenden Frauen«. Von
der ersteren giebt es eine gute Nachbil¬
dung in den Chefs d’oeuvre de l’Art au
XIX siede. »Alles durch nichts«, an
dieses Wort eines französischen Kritikers
wird man immer und immer vor diesen Zeichnungen
erinnert. Es ist in der That erstaunlich, mit wie ge¬
ringen Mitteln hier eine völlig bildnisartige Wirkung
erreicht ist. Die beiden hinteren Reisigsammlerinnen
könnte man in der Nähe und für sich betrachtet
ebenso gut für Strohbündel halten, und doch ist alles
Nötige vorhanden, die charakteristische Haltung, die
Bewegung und die plastische Form. Das Bewunderns¬
würdigste an Millet’s Zeichnungen aber ist doch
immer die Intensität der Lichtwirkung.
Das sind alles Bilder, die man kennt oder bei
denen man wenigstens Ähnliches gesehen zu haben
glaubt. Die grössten Überraschungen erwarten uns
im oberen Stockwerk. Dort nimmt fast die ganze
Wand des einen Zimmers eine lebensgrosse Dar¬
stellung »Hagar und Ismael« ein, die früher voll¬
ständig verschollen war, ja, von der besonders kundige
Leute behaupteten, sie sei vom Künstler selbst zerstört
worden (Abb. 7). Millet’s Entwickelung erscheint hier
mit einem Male in einem ganz neuen Lichte. Glaubte
man doch sonst, er habe in seiner Pariser Zeit nur
niedliche Nuditäten im Geschmack des achtzehnten
Jahrhunderts geschaffen. Und nun diese gewaltige
Auffassung des Nackten in dieser hingestreckten weib¬
lichen Gestalt! Jetzt erst begreift man jenes Wort
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
217
aus seinem Briefwechsel, man solle die Ausstellung
einmal fünf Jahre schliessen und dann von jedem
Künstler nur einen einzigen Akt zulassen; dann werde
man erkennen, dass »der Mangel an Können die
Wunde unserer Zeit ist '. Im vorigen Jahre sind vom
Art Journal einige andere bisher fast unbekannte Dar¬
stellungen des Nackten von Millet, leider in sehr
mangelhaften Nachbildungen, veröffentlicht worden,
die dieselbe fast an Michelangelo gemahnende Mo¬
numentalität zeigen. Wie wundervoll ist aber auch
die seelische Gestalt des tragischen Ereignisses bis in
seine innersten Tiefen in dieser Figur erschöpft!
Eine andere Überraschung bildet das kleine Ge¬
mälde »die Fischerin«; eine Skizze von einer an De¬
lacroix erinnernden Farbenglut. Die Zeitgenossen
Millet’s haben sich über die Feierlichkeit aufgehalten, die
er seinen Bäuerinnen verleihe. Auch hier könnte man
über das arme Fischerweib in der Attitüde der del¬
phischen Sibylle spotten. Aber wer denkt denn an
das Fischerweib: eine weibliche Gestalt im tiefsten
Sinnen und dieses Sinnen zugleich ganz in einen
vollen und schweren Farbenaccord umgesetzt. Und
von einer ganz ungewohnten Seite zeigt sich der Meister
endlich auch in dem »Stillleben« (Abb. 2). Ein echt
bäuerliches Bild; statt der Hummern und Austern,
die sonst die Stilllebenmaler lieben, eine
grosse Kruke, ein Einmachetopf, Porree
und Rettiche. Das giebt keine Gelegen¬
heit zu virtuosen Farbenspielen, aber
einen sehr vornehmen Zusammenklang
von grauen und grünen Tönen.
Von den Landschaftern von 1830
hat der Ruhm Corot's den der andern
ein wenig verdunkelt. Wer die grossen
Versteigerungen der letzten Jahre im
Hotel Drouot zu Paris miterlebt hat, der
weiss, wie beim Namen Corot eine
freudige Bewegung durch die ganze Ver¬
sammlung geht und dass die für seine
Bilder gezahlten Preise alle die weit hinter
sich lassen, die je ein Werk von Hob-
bema oder Ruysciael erzielt hat. Es ist,
als fiele ein Sonnenstrahl in den Raum
oder wehe ein Hauch von Frühlingsluft
durch das Fenster herein, so zauberhaft
wirkt der Meister mit seiner Tonigkeit
und seiner reizenden Lichtbehandlung.
Sein Lebenswerk ist ein unaufhörlicher
Lobgesang auf das Rauschen der Bäume,
das Blühen der Blumen, das Zwitschern
der Vögel, die Sonnenaufgänge und
Sonnenuntergänge. Mesdag besitzt eine
ganze Reihe meist skizzenhafter kleiner,
aber auch ein paar grössere Gemälde von
diesem liebenswürdigsten unter allen ma¬
lenden Poeten. Am lebhaftesten in der
Erinnerung steht mir eine 1844 gezeich¬
nete Felspartie mit Cypressen und Epheu,
ein wenig schwer im Farbenauftrag gegen
den späteren Corot, aber gross in der
Auffassung und voller Leben (Abb. 3).
Dann eins seiner vielen »Souvenirs d’Italie«, In der
Mitte, hell beleuchtet, ein italienisches Städtchen mit
Festung, dahinter der See und im Dufte verschwim¬
mend das jenseitige Ufer mit kleinen Hügeln , vorn
rechts eine sanfte Erhebung, links ein echtester Corot-
Baum und Italiener als Staffage. Dann ein ent¬
zückendes, äusserst helles und zartes Strandbild mit
hohen Klippen, die sich nach dem Hintergründe
herumziehen, und gewaltigen Steinblöcken. Auf dem
Meere ein kleines Segel, am Strande ein paar mensch¬
liche Figuren. Dann eine kleine Mondscheinlandschaft
mit Nymphen. Endlich ein reizender mit Sonnen¬
flecken übersäeter Waldweg. Auch unsere Abb. 1
mit dem lieblichen Ausblick über das Wasser hin
gehört hierher.
Wie schon gesagt, nimmt Corot in der Gunst der
Liebhaber unter den Landschaftern den ersten Rang
ein, trotz seiner gewaltigen und gegen seinen Lebens¬
abend hin zuweilen denn doch etwas hastigen Pro¬
duktion. Wenn zuweilen ein Th. Rousseau oder
Dupre einen ebenso hohen oder noch höheren Preis
erzielt hat, so ist dies sicherlich auf die verhältnis¬
mässig viel grössere Seltenheit dieser Künstler zu
schieben. Aber gerade im Mesdag- Museum erkennt
man doch recht deutlich, dass Corot nur einer unter
Abb. 3. C. Corot. Landschaft in Italien
218
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
mehreren ist, ja dass die anderen ihn zuweilen noch
überragen. Es ist eine schöne Anschauung, die am
farbigen /.bglanz- das Leben hat, die den Schein in
voller Zügen geniesst, weil der Kern unergründlich
bleibt. Ciösser und tiefer ist aber doch der Geist,
der trotz allem und allem in der Wesen Tiefe trachtet,
.'i ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lässt mich meine FUüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Diese Verse könnte man auf Rousseaii’s Grab¬
stein und als Motto über sein Lebenswerk setzen.
Ein Stück von dem gewaltigen faustisch -goethischen
Pantheismus lebte in ihm. Die Bäume waren seine
Brüder, mit denen er Zwiesprach hielt, über deren
Tod er trauerte wie über den lebendiger Wesen. Er
hatte nicht genug am Schein, sondern hätte am lieb¬
sten jede Faser des Baumes wiedergeben mögen.
Hier bei Rousseau zeigen sich so recht die Vorzüge
der Mesdag’schen Sammlung. Sie enthält nämlich,
abgesehen von einigen kleineren Werken, zwei für
das Verständnis des Meisters ungemein wichtige Werke,
die aber niemals in einer öffentlichen Sammlung Platz
finden würden, weil das eine vollständig verdorben
und das andere nur ein Entwurf ist. Der »Abstieg der
Kühe im Jura« (Abb. 6), den Mesdag von Ary Scheffer’s
Tochter in Dordrecht erworben hat, ist in der That
nur noch eine Ruine, da die ganze mittlere Partie
des über drei Meter hohen Bildes wegen der allzu
reichlichen Verwendung von Asphalt zu einzelnen
schwarzen Klumpen zusannnengelaufen ist. Aber was
für eine Ruine! Niemals hat Rousseau wohl wieder
eine solche Farbigkeit, eine solche Kraft und eine
solche Freiheit erreicht. Unten ein Gewoge von roten,
schwarzen, weissen und braunen Tönen, die Köpfe
und Rücken der prächtigen Tiere, ciann darüber das
geheimnisvolle Dunkel des von Riesenfichten be¬
schatteten Abhanges und ganz oben, durch die Baum¬
wipfel hindurch, blinkende Schneeberge und ein win¬
ziges Stück blauen Himmels. Man kann sich wohl
vorstellen, dass diese gewaltige Impression, diese
Ebauche grössten Stiles bei der Jury des Salons höch-
lichen Unwillen erregte. In so grossem Eormat, mit
solchen Sudeleien« waren die anderen Revolutionäre
denn doch nicht gekommen. Die -Descente des
vaches» eröffnete also für Rousseau die lange Reihe
der zurückgewiesenen Bilder. Bei Mesdag hängt
übrigens auch die erste Skizze zu dem Bilde, ein
schönes Werk in freundlicheren helleren Farben ohne
die grosse epische Kraft. Rousseau ist einer der frühest¬
reifen Künstler des neunzehnten Jahrhunderts. Die
Werke, die er mit achtzehn Jahren schuf, behaupten
sich in jedem Museum; als er den Abstieg« malte,
war er dreiundzwanzig, also in einem Alter, in dem
Corot noch Kaufmann war und Millet kaum seine
ersten schüchternen Versuche als Maler gemacht hatte.
Das andere Bild, die Holzfäller auf der Insel
Croissy« ist eigentlich nur eine Untermalung (Abb. 4).
Auf einem Spaziergang war er »zu solch einem trüben
Schlachtfelde gekommen, wo die siegreichen Holz¬
hacker die Leichname plündern < , wie er sich seinem
Freunde Thore gegenüber einmal ausgedrückt hat.
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
2ig
Dieses seiner Meinung nach barbarische Schauspiel
wollte er in seinem Bilde wiedergeben. »Ich möchte
Gewissensbisse in denen erwecken, die so thöricht die
Bäume niederschlagen.« In nur zwei Tagen warf er
seinen Eindruck auf die Leinwand. In diesem Zu¬
stande blieb das Bild dann bis zu seinem Lebensende
im Atelier hängen. Er selbst bezeichnete es wohl als
»Le Massacre des Innocents , die Niedermetzlung der
Unschuldigen (im Französischen zugleich der Aus¬
druck für den betlehemitischen Kindermord). Vieles
ist nur angedeutet, so vor allem die menschlichen
Zwerglein, die um die Kronen der uralten Baumriesen
nicht, welcher Gattung er angehört, sondern em¬
pfindet nur, dass es gut ist, in seinem Schatten aus¬
zuruhen, dass der Morgenwind durch seine Blätter
rauscht und die Vögel auf seinen Zweigen zwitschern.
Für Rousseau ist jeder Baum eine Persönlichkeit, die
es gilt mit ihren individuellen Eigenschaften abzu¬
konterfeien.
Wird unsere Kenntnis von dem künstlerischen
Wesen der genannten Meister in der Mesdag’schen
Sammlung in der willkommensten Weise bereichert,
so kann man einen andern Landschafter in seiner
ganzen Grösse überhaupt nur hier kennen lernen.
Abb. 'i. G. Courbet. Das Erwachen
ihre Seile legen oder an diesen ziehen. Alles Wesent¬
liche aber ist vorhanden. Wie wundervoll ist der
Himmel gemalt, wie spielt das Licht um die Blätter
und Stämme des jungfräulichen Forstes! »Bäume im
Lichte zu malen«, das bezeichnete er ja selbst als
eines der Hauptziele seiner Kunst. Das Licht, das
über ein Werk gebreitet ist, ist das allgemeine Leben,
ist die Gesamtheit einer Welt . . . Ohne Licht giebt’s
keine Schöpfung... Wer Leben schafft, ist ein Gott.«
Diese Worte sind Briefen des Künstlers aus sehr ver¬
schiedener Zeit entnommen, sie zeigen, wie treu er
dem einmal gewählten Ideale nachging. Und nun
vergleiche man noch einmal die Bäume Rousseau’s
mit denen Corot’s. Der letztere giebt nur gewisser-
massen die Idee des Baumes. Man weiss oft gar
Charles Francois Daubigny. Daubigny ist 1817 ge¬
boren, steht also den anderen zeitlich sehr nahe.
Aber sein Talent ist erst später zu voller Entfaltung
gekommen, in einer dem Realismus huldigenden Zeit.
Er verhält sich zu dem Romantiker Rousseau etwa
wie Courbet zu Millet. Seine Naturausschnitte sind
oft sehr unscheinbar. Die meisten kleinen Bilder, die
von ihm auf den Versteigerungen erscheinen, sind
höchst einfache Motive von den Ufern der Oise, auf
der er sozusagen in seinem Kahne lebte. Starke
Lichteffekte sind selten, meist ist der Himmel leicht
bewölkt. Der Nachdruck liegt auf den zarten Ab¬
stufungen verschiedener Grün, die mit der bläulichen
Ferne und dem Graublau des Himmels eine äusserst
diskrete Harmonie geben. Kaum, dass ein paar
2 0
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
liineinbringen. Besonders liebt er
den Frühling, blühende Obstbäume,
schlanke knospende Birkenstämme.
Die beiden grossen Bilder, die der
Luxembourg und die National -Ga¬
lerie besitzen, sind treffliche Bei¬
spiele dafür. Wohl durch sie ist
es gekommen, dass Daubigny recht
eigentlich als der Maler des Früh¬
lings bekannt ist. Auch Mesdag
besitzt einige Bilder dieser Art, vor
allem einen wundervollen Wald¬
durchblick mit einem zwischen
hohen Bäumen dahin plätschernden
Bächlein. Allein, wer nur diese
Seite von des Meisters Schaffen
kennt, kennt ihn nur halb. Ein
viel gewaltigerer Geist spricht aus
den ernsteren farbigeren Werken
seiner Spätzeit. Früher stand man
diesen Bildern, die allerdings zum
Teil nicht vollendet sind und aus
der Versteigerung seines Nachlasses
stammen, mit ihrer rücksichtslosen,
wuchtigen Betonung des Wesent¬
lichen ratlos gegenüber. Es sind
mächtige Ergüsse einer gewaltig er¬
regten Künstlerseele, gegen die die
vorher erwähnten, die an und für
sich unsere höchste Bewunderung
verdienen, fast wie harmlose Amüse¬
ments erscheinen. Vor allem wurde
Daubigny in seiner Spätzeit zu einem
grandiosen Maler der Sonne und
des Mondes. Photographieren lassen
sich diese Bilder mit ihrer souveränen
Verachtung aller Details eigentlich
nicht; wenigstens kann man aus der
Nachbildung (Abb. lo) nur ahnen,
was ihre Schönheit ausmacht. Da
ist z. B. ein Sonnenaufgang. Weiss
mit grellgelber Glorie ist die Sonne,
tiefgrün die Erde, braunrot zwei
mächtige Kühe im Vordergründe.
Welcher Photograph könnte diese
Sonne wiedergeben? Und wie nichts¬
sagend würde auf der Nachbildung
die Landschaft erscheinen, diese
Ebene, die zuerst ganz kahl und
leer aussieht und auf der wir erst
nach und nach, genau wie beim
Sonnenaufgang in der Natur, Ort¬
schaften, Gehöfte, einen Fluss mehr
ahnen als erkennen, dieser Himmel
mit seinen in den zartesten Abstu¬
fungen von Grau und Rosa schim¬
mernden Wolken! Gegenüber hängt
ein Sonnenuntergang mit hellblauem
Himmel und einer orangegelben
Blumen im Vordergründe oder die Staffagefiguren, Sonne über dem glitzernden Meere. Daneben ein
Fischer, Wäscherinnen, Kühe, ein paar bunte Flecken Nachtbild. Schwarzgrau ist der Himmel, an dem die
Abb. 6. Th. Rousseau. Der Abstieg der Kühe
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIll. H. 9
2i)
MILLET Abb. 7. HAGAR UND ISMAEL
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
Mondsichel ihr fahles Licht ausgiesst, tiefdunkelblau
;iie Erde, die Felder und Bäume, das einzelne Ge¬
höft, aus dessen Esse Rauchwolken aufsteigen und in
dem ein rötliches Licht glänzt. In einem anderen
Raume finden wir zwei Vollmondbilder einander
gegenüber, beide 1875 gemalt, in einem der frucht¬
barsten Jahre, das eine ganz silbern, das andere
zitronengelb, ins Rötliche gehend, mit braunen Bäumen
und blauem sich in einem Bach spiegelnden Himmel.
Immer wieder erstaunen wir über die Mannigfaltig¬
keit. Ein Bild ist hellgrün, eins auf Grau, eins auf
Blau gestimmt, und
dazwischen kommen
wieder solche, bei
denen zwei oder
drei Farben einen
mächtigen Accord
ergeben. Die Zahl
dieser zum Teil sehr
umfangreichen, mit
breitestem Pinsel
heruntergemalten
»Skizzen dürfte mit
fünfzehn nicht zu
hoch gegriffen sein.
Lauter Wunder ,
wie ihr Besitzer zu
sagen pflegt, der ge¬
rade auf sie den aller¬
höchsten Wert legt.
Von den ausge-
führteren Bildern ist
Villerville - sur - Mer
am bekanntesten,
dasDaubigny bereits
im Salon des Jahres
1864 ausgestellt,
aber dann noch ein¬
mal vorgenommen
hatte, so dass es jetzt
das Datum 1872
trägt. Es ist eine
ernste und kräftige
Harmonie von Grau
und einem ins
Grüne spielenden
Graubraun. Ein
stürmischer Tag;
dunkel, dicht bewölkt der Himmel. Links das
Meer in fahler Beleuchtung, jenseits der Bucht grün
schimmernde Ufer. Rechts liegt auf steilen Klippen
der Ort, zu dem sich vom Strande aus ein Weg hin¬
zieht. Eine Frau und eine Ziege steigen ihn mit
Tragkörben hinan. Daneben seien die »Segelschiffe ,
ein kleines Wunderwerk in Braun und Grau aus des
Meisters holländischer Zeit genannt. Endlich enthüllt
sich Daubigny hier auch als ein grosser Tiermaler.
Da finden wir z. B. ein grosses Bild mit Schafen,
das sich getrost neben Troyon sehen lassen kann, ja
ihn an Wucht noch übertrifft, und ein Bild aus etwas
früherer Zeit (1861), das im Gegenstand und der Auf¬
fassung manches mit Millet’s berühmtem Hammel¬
park gemeinsam hat.
Nicht ganz so reich wie Daubigny aber ebenfalls
vortrefflich sind Diaz und Dupre vertreten. Ein kleines
Waldinneres' mit grossen Felsblöcken und eine im
Grünen sitzende Frauengestalt mit nacktem Ober¬
körper und reichem Gewand zeigen uns Diaz von
seinen bekanntesten Seiten, als den liebevollen Beob¬
achter der auf dem Unterholz glitzernden Sonnen¬
strahlen und den Verherrlicher zarter und doch voller
Frauenschönheit. Ganz neu aber war für mich sein
» Sturm ' . Eigentlich
nur eine Himmels¬
studie, in ganz dicken
Farben mit breitem
Pinsel hingesetzt.
Das rumort da oben
herum, das flackert
hin und her, das zer-
reisst und schliesst
sich zusammen, wie
ich es kaum je auf
einem Bilde gesehen
habe. Unten ist
eigentlich weiter
nichts als eine braune
Masse zu sehen, nur
unterbrochen von
einer Wasserlache, in
der sich der Kampf
der himmlischen
Elemente im Kleinen
wiederholt. Der ly¬
rische Schilderer der
anmutigen Natur
konnte also gelegent¬
lich auch als hehrer
Dramatiker auftre-
ten. Nicht vergessen
seien übrigens auch
des Meisters gross
und frei behandelte
Blumenstücke.
Bilden solche
Bilder wie das eben
geschilderte in Diaz’
Lebenswerk nur eine
Ausnahme, so gilt
Dupre recht eigentlich als der Maler des Sturmes der
Elemente. Diese Seite seines Wesens kommt in der
Mesdag’schen Sammlung vor allem in einem von
ganz fahlem Lichte erfüllten Bilde zum Ausdruck,
auf dem sich mächtige kahle Bäume von einem ge¬
witterschweren Himmel abheben, und in dem auf
Abb. 9 wiedergegebenen Strandstück mit den wunder¬
voll gemalten regenschwangeren Wolken. Aber es
ist eben doch nur die eine Seite. Ebenso liebte der
Meister den vollen milden Glanz des ganz von der
Sonne durchleuchteten Himmels. Aber allerdings war
ihm der Himmel stets die Hauptsache, die Erde ge-
wissermassen nur »repoussoir«, Kontrastmittel. Ein
Abb. 8. Eugene Delacroix. Selbstportrüt
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
223
sanft ansteigender Rasenhang, ein strohgedecktes Häus¬
chen, ein kleiner Bach mit einem hölzernen Steg, vor
allem aber ein mit grösster Sorgfalt durchmodellierter
lichtdurchtränkter Baum ergeben eins der Motive, wie
er sie immer und immer wieder variiert hat. Die
Gegenstände scheinen sich ganz voll Sonne gesogen
zu haben und das Zuviel in den leuchtenden Äther
zurückzustrahlen. Um den Glanz des Himmels nun
so intensiv wie möglich zu erhalten, sann Dupre auf
immer neue Rezepte. Er war einer der unermüd¬
lichsten Farbenköche der neueren französischen Kunst.
deutenden Landschaften erschöpft. Vor allem steht
mir noch ein Bild »Windmühlen auf einem Hügel
von Georges Michel in der Erinnerung, dem bedeu¬
tendsten noch nicht lange in seinem vollen Werte er¬
kannten Vorläufer der ganzen Richtung; dann eine
schöne ernste Winterlandschaft mit aufsteigenden
Krähenschwärmen und ein prächtiges Nachtstück von
Emile Breton, dem Bruder des in Deutschland be¬
kannteren Bauernmalers; endlich ein paar Skizzen des
Farbenhexenmeisters Monticelli.
Nächst den Landschaften scheint Mesdag eine be-
Abb. g. Jules Dupre. Strand
Zuweilen trug er die Farben fast fingerdick auf, so
dass es sich wohl ereignete, dass sie ineinander flössen,
und nicht immer gelang es ihm dann den Schaden
durch Verkehrthängen des Bildes wieder gut zu
machen. Von den Zeitgenossen wetteifert hauptsäch¬
lich Decamps mit ihm in dieser Hinsicht. Gemein¬
schaftliche Freunde wissen manch heiteres Stücklein
davon zu erzählen, wie die beiden sich ihre Geheim¬
nisse abzulisten suchten. Eine Waldlandschaft mit
einem Teich in ganz starken leuchtenden, südlichen
Farben bietet in der Sammlung ein gutes Beispiel für
die Art des grossen Orientmalers.
Damit ist noch nicht einmal die Reihe der be¬
sondere Vorliebe für das Tierbild zu besitzen. Von
den Tierstücken Millet’s, Rousseau’s und Daubigny’s
ist schon die Rede gewesen. Troyon ist vor allem
durch eine nicht vollendete äusserst duftige Variante
oder Vorstudie seines berühmten Auf dem Wege
zum Markt' mit der vor ihren Schafen und Kühen
auf dem vollbepackten Esel einherreitenden jungen
Bäuerin vertreten. Die taufeuchte Morgenstimmung
ist dem Meister gerade auf diesem Bilde ganz be¬
sonders gut gelungen. Von Decamps finden wir
Hunde bei einem Ententeich innerhalb eines grossen
Bauernhofes, von Millet’s Freunde Jacque, der nach
einer Periode etwas übertriebener Wertschätzung jetzt
29*
FRANZÖSISCHE MEISTER IN DER MESDAG’SCHEN SAMMLUNG IM HAAG
einer unverdienten Vergessenheit anheimzufallen droht,
ein reizendes kleines Bild mit unter grossen Eichen
weidenden Schafen. Auch Coiirbet ix\ii in der Sammlung
in erster Linie als Tiermaler hervor mit seinem wunder¬
vollen verendeten Hirsch, von dem leider keine genügende
photographische Aufnahme möglich war. Das eine in der
Schlinge gefangene Bein ist nach oben gestreckt, das
Hinterteil ist aufgerissen. Unvergleichlich ist der Pelz
des Tieres gemalt, nicht minder grossartig der sumpfige
Waldgrund. Bei Courbet erleben wir jetzt eine völlige
Wandlung des Urteils. Seit seinem Tode sind nahezu
fünfundzwanzig, seit seinen lärmmachenden Tendenz¬
bildern nahezu die doppelte Anzahl Jahre verflossen,
er ist in den Bereich der Geschichtsschreibung ein¬
getreten, die sich
nicht mehr durch
Tagesstreitigkeiten
irre machen lässt.
Dieältere Generation
erzürnte sich über
seinen trivialen
Naturalismus , seine
»schmutzigen Stof¬
fe , seine ausge¬
zogenen Dirnen ,
die jüngere spottet
bereits über die
braune Sauce < in
seinen Bildern. Dazu
muss der grenzenlos
eitle Plebejer, der
seine breite Person
überall in den Vor¬
dergrund stellte und
überall Fenster und
Thüren einrennen
wollte, für feiner
organisierte Naturen
etwas äusserst Un¬
sympathisches ge¬
habt haben. Jetzt beginnt man das zu vergessen oder
jedenfalls nicht mehr in Anrechnung zu bringen. Die
allzu aufdringlichen Tendenzbilder treten hinter die rein
malerischen Werke zurück. Ganz besonders fiel dies
auf bei der Versteigerung seines grossen Ateliers«.
Wie empört war man darüber gewesen, dass der
Meister hier sich, sein Modell und alle Trivialitäten
seiner Malerlaufbahn lebensgross dargestellt hatte!
Jetzt vergass man ganz diese Beziehungen und den
ominösen Untertitel: Sieben Jahre meines Lebens, und
erstaunte nur über den grossen Zug und die ausser¬
ordentliche Tonschönheit des Ganzen und die packen¬
den Einzelheiten. Bei der Mittelgruppe kommen
einem die allergrössten Malernamen aller Zeiten auf
die Lippen. Courbet war ein grosser Tiermaler, ein
ausgezeichneter Landschafter, ein wundervoller Marine¬
maler, ein vortrefflicher Figurenmaler und — last
not least — ein ganz hervorragender Maler des
Nackten. Die Akademiker mochten diese fleischigen,
gesimdheitstrotzenden Weiber »gemein« finden, wir
freuen uns über diese kräftige Sinnlichkeit, wie sie
aus unserer Abb. 5 spricht. Wie wundervoll steht
der Fleischton zu dem weissen Laken und wie ist
dieses wieder mit dem braunen Kissen und dem
grünen Vorhang zusammen gestimmt! Das Bild ist
die Wiederholung eines Teiles des grossen — übrigens
lange nicht so geschlossen und vornehm wirkenden
— Bildes Le Reveil , auf dem noch die Figur einer
Dienerin erscheint.
Und nun zum Schlüsse noch Einer, einer der
grössten: Eugene Delacroix. Der einstige »Sudler«,
der »Maler mit dem betrunkenen Besen« wird seit
langem als unter
den bedeutendsten
Künstlern des ig.
Jahrhunderts aner¬
kannt. Aber Dela¬
croix war nicht nur
ein ganz von seinem
Handwerk einge¬
nommener Maler,
sondern einer der am
reichsten und tiefsten
gebildeten Männer
seiner Zeit. Erst
heute beginnt man
die Schätze recht
zu würdigen, die in
seinen Briefen und
seinen Tagebüchern
enthalten sind. Über
technische und ästhe¬
tische Fragen, Kunst¬
geschichtliches, Mu¬
sik und Litteratur fin¬
den wir da eine Fülle
geistreicher und an¬
regender Bemerkun¬
gen. In dem Katalog seiner Werke ist nur ein Selbst¬
porträt erwähnt, das sich jetzt im Louvre befindet. Das
aus seinen letzten Lebensjahren stammende der Mesdag-
schen Sammlung bildet eine höchst wertvolle Ergän¬
zung dazu (Abb. 8). Es ist nur eine Skizze, aber eine
Skizze von ausserordentlicher Wucht und nachhaltig¬
ster Wirkung. Nicht der geistreiche und liebens¬
würdige Gesellschafter steht hier vor uns, sondern
der vereinsamte Mann, dem ein langwieriges Magen¬
leiden das Leben vergällt. Aber welcher Ausdruck
liegt in diesen Augen, die fast immer halb geschlossen
waren, um den farbigen Eindruck der Umgebung in
seinen malerischen Werten deutlicher aufzunehmen,
in diesen zusammengekniffenen Lippen! Wer sich in
dieses Bild einmal versenkt hat, kommt nicht so leicht
wieder davon los. — Über Mesdag’s Schätze an hol¬
ländischer Kunst findet sich vielleicht später einmal
Gelegenheit zu berichten.
Abb. 10. Ch. Daiibigny. Sonnenaufgang
DIE MONSTRANZ DES HANS RYSSENBERCH
VOM JAHRE 1474 IN DER ERMITAGE ZU PETERSBURG
Von Rich. Hausmann in Dorpat
IN die berühmte Kunstsammlung der kaiserlichen
Ermitage zu St. Petersburg ist vor wenigen Jahren
ein Werk mittelalterlichen Kunstgewerbes gelangt,
das, obgleich nachweisbar an der äussersten Grenze
deutscher Kultur entstanden, sich doch durch hervor¬
ragende Schönheit auszeichnet und daher das Inter¬
esse weiter Kreise beanspruchen darf. Dazu lassen
sich Entstehung und spätere Schicksale bei ihm so
genau verfolgen, wie wohl nicht häufig bei ähnlichen
Arbeiten i).
Die Monstranz ist ein tragbares Gefäss, welches
in der katholischen Kirche dazu dient, Reliquien oder
die Hostie zur Verehrung sichtbar auszustellen. Vor
allem bei den seit dem 14. Jahrhundert üblich wer¬
denden Fronleichnamsprozessionen bildete die Mon¬
stranz mit der Hostie den Mittelpunkt der Eeier.
Schon bei den älteren Monstranzen für Reliquien waren
letztere in der Regel in einem Glasgefäss geborgen,
das architektonisch gegliederte Seitenflügel umschliessen
und eine stilisierte Bedachung krönt. An diese ältere
Form lehnt sich die Monstranz der späteren Zeit, sie
gewann die Gestalt eines tragbaren , turmartigen Sa¬
kramentshäuschens. Da sie sich seit dem 14. Jahr¬
hundert entwickelt, schliesst sie sich dem herrschen¬
den gotischen Stil an und folgt auch den Phasen
seiner späteren Ausgestaltung. Der breite, einen festen
Stand sichernde Fuss ist, ähnlich dem gotischen Kelch-
fusse, meist als Sechseck konstruiert und zieht sich
zu einem schmalen Schaft zusammen, der in der Mitte
von einem für die tragende Hand vorgesehenen Knauf
umfasst wird und über diesem sich zum Untersatz
des Sakramentshäuschens erweitert. Der Raum für
das Allerheiligste wird durch Säulchen oder kleine
Eckpfeiler als Schrein gebildet, in dessen Mitte die
Hostie aufrecht steht, die an ihrem unteren Rande
von einer Zwinge in Gestalt einer schmalen halbmond¬
förmigen Scheibe gehalten und durch einen Glas-
cylinder geschützt wird. Wie dieser Mittelraum wird
auch der über ihn aufsteigende, in einem polygonen
Turmhelm auslaufende und mit einem kleinen Kreuze
gekrönte Baldachin an seinen beiden Seiten von Strebe¬
pfeilern getragen, welche sich auf Konsolen aufbauen
und in offenen Nischen Statuetten von Heiligen oder
Engeln bergen.
Das ist der herrschende Typus der Monstranz
gegen Ende des Mittelalters. Zu ihrer Ausführung
wurde je nach den Mitteln Gold und Silber, aber
auch Kupfer und Messing gewählt. Die Grösse steigt
von 0,3 — 1,5 m. Sie haben sich noch zahlreich er¬
halten, auf der Ausstellung in Münster 187g waren
1) Ausführliche Nachrichten mit allen Quellenbelegen
habe ich über diese Monstranz gegeben in den Mitteilungen
aus der iivländischen Geschichte. Bd. 17. Riga, igoo.
über vierzig zu sehen. Auffallend viele werden aus
dem preussischen Ordenslande genannt. Als vor¬
zügliches Beispiel gilt die Monstranz von Basel, die
in ihrem schlanken Aufbau zeigt, mit welcher Anmut
die gotische Goldschmiedekunst derartige für Stein
erfundene Formen in Metall umzusetzen verstand ').
Sehr viel reicher als das Basler erscheint das vor¬
stehende Petersburger Kunstwerk; der gegen Ende
des Mittelalters herrschende Typus der Monstranz tritt
hier in besonders glänzender Weise auf. Besser als
eine Beschreibung lehren die beistehenden Abbildun¬
gen, welche sie in der Vorder- und in der Seiten¬
ansicht zeigen, ihre hohe Schönheit.
Die in Silber gearbeitete, aussen vergoldete Peters¬
burger Monstranz ist 112 cm (= 3 Fuss 8 Zoll russisch)
hoch, also von bedeutender Grösse. Sie steht auf
breitem Fuss, dessen Basis 30 cm Durchmesser hat
und als Sechseck (Sechspass) konstruiert ist. Die sechs
Seiten steigen sich verjüngend empor und haben, wo
sie zum Schaff übergehen, einen gotisch stilisierten,
mit Fialen verzierten, durchbrochenen Abschluss.
Über diesem, in der Mitte des Schafts, folgt ein sechs¬
seitiger Knauf, auf dessen Aussenfeidern die Buch¬
staben des Namens iliesiis stehen. Der ganze 38 cm
hohe Fuss ist sehr kräftig gebaut, wie das bei dem
hoch aufragenden Gerät notwendig war. An der Basis
sind zwei starke Ösen angebracht, durch welche eine
Schnur gezogen wurde, um die schwere Monstranz
besser tragen zu können.
Der Hauptteil ist das Sakramentshäuschen, es zeigt
darum auch den meisten Schmuck. Es ist ein streng
architektonisch gehaltener gotischer Turm, an der
Grundfläche 26 cm breit. In drei Stockwerken steigt
er 74 cm in die Höhe: das untere enthält den Schrein
für die Glasglocke, in welcher sich die auf einer
Säule stehende, scheinbar von zwei Engeln getragene,
gespaltene Lunula für die Hostie befindet; im zweiten
Stock erblickt man unter Baldachin eine gekrönte
Maria in der Sonne; im dritten Stock, dem Turm¬
helm, steht ein Ritter, wohl der heilige Georg. Die
Spitze des Turmes bildet ein Kreuz, dessen eine Seite
Christus, die andere Maria zeigt. Das zweite und
dritte Stockwerk ist mit reichem Schmuck flankiert:
zahlreiche Strebepfeiler, die auf Konsolen ruhen, bilden
fensterartige Nischen, die von Baldachinen überdeckt
sind und Statuetten von Heiligen bergen.
Das ganze Sakramentshäuschen zeigt den Stil der
späteren Gotik des ausgehenden 1 5. Jahrhunderts, der
Spitzbogen hat bereits die nach innen geschweifte
Form (sogenannter Eselrückenbogen). Die architek¬
tonische Strenge hat sogar Wasserspeier nachgebildet.
Zum Schmuck der Flächen sind mehrfach Edel-
2) Lessing, Gold und Silber. 1892. Seite 41.
226 DIE MONSTRANZ DES HANS RYSSENBERCH IN DER ERMITAGE ZU PETERSBURG
steine verwandt. Auch Schmelz oder Email ist vielfach in Ge¬
brauch genommen. In den Nischen waren Apostelfiguren ange¬
bracht, vorn wahrscheinlich Peter und Paul, zu erkennen sind
weiter Bartholomäus mit dem Messer, Andreas mit dem Kreuz.
Die Komposition des Ganzen, die Korrektheit des Stils zeigt
hohes künstlerisches Können. Die Ornamentierung ist reich, aber
nicht überladen, die Linien werden nicht schnörkelhaft, laufen nicht
tot aus. Mag Zeichnung oder Modell Vorlage gewesen sein, jeden¬
falls war sie von guter, schönheitskundiger Hand entworfen.
Ihr Gewicht giebt die Monstranz selbst im Innern des Fusses
an: 37\'.j Mark lodig 4 Lot. Die Mark zu 16 Lot gerechnet,
wäre die Monstranz 604 Lot schwer. Heute wiegt sie 20 Pfund
64 Solotnik russisch 8463,64 Gramm.
Der Gehalt des Silbers, aus welchem sie gearbeitet wurde, ist
nach fachmännischer Untersuchung die achtundachtzigste Probe
nach russischer Rechnung, das heisst in g6 Teilen (1 Pfund russisch
^^96 Solotnik) sind 88 Teile rein Silber. Dieser Gehalt in mittel¬
alterliche Mark- und Lotrechnung umgesetzt, giebt i4“/.j lötiges
Silber. Es ist das ein Feingehalt, wie er im 1 5. Jahrhundert
mehrfach gefordert wird, so im Goldschmiedeschragen von Reval
aus dem Jahre 1453.
Auf dem breit ausgelagerten, als Sechspass geformten Fuss
sind drei Flächen mit Gravierungen bedeckt: das erste Feld zeigt
einen Bischof auf dem Throne sitzend; das dritte eine männliche
Figur, durch ein Spruchband als 5. Johann bezeichnet; auf dem
fünften Felde steht der Christusknabe inmitten der Marterwerk¬
zeuge. Auch über dieses Feld geht ein Spruchband, und dieses
trägt die Inschrift: Int jar iinses heren MCCCCLXXIHl. Das Jahr
der Entstehung des Kunstwerkes ist also 1474. Es stimmt das
gut überein mit dem Stil der Arbeit, der, wie bemerkt, in das
ausgehende 15. Jahrhundert weist.
Eine weitere wichtige Angabe über die Entstehung der Monstranz
ist in die Innenseite des Fusses eingeritzt: Hans ryssenberch heuet
dusse manstrancyge gemaket niyt der godes hiilpe amen, got geiie
uns alte dat euyge teuen. Diese niederdeutsche Inschrift weist auf
einen Meister im Gebiet der niederdeutschen Zunge.
Zahlreiche Mitglieder der Familie Ryssenberch sind im 14. und
15. Jahrhundert in Lübeck nachweisbar. Desgleichen kommt der
Name im 1 4. Jahrhundert in Dorpat vor. Hier wie dort steht das
Geschlecht in hohem Ansehen seine Söhne sitzen wiederholt im
Ratsstuhl. Auch in Reval findet sich dieser Name, und hier taucht
im 15. Jahrhundert ein Goldschmied Hans Ryssenberch auf. Er
wird im Jahre 1450 Bürger der Stadt und ist bis 1497 nachweis¬
bar. Der Ruf seiner Geschicklichkeit drang weit hinaus, der Gross¬
fürst von Moskau wollte ihn 1488 in seine Dienste ziehen, doch
ist der Meister dieser Ladung nicht gefolgt. Geschäft und Ruhm
erbte sein gleichnamiger Sohn, der noch im Jahre 1522 eine Mon¬
stranz nach Finland liefert. Auch dessen Sohn Simon war bis in
die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts Goldschmied in Reval.
Durch drei Geschlechter hat hier also eine Goldschmiedefamilie
Ryssenberch geblüht. Von dem älteren Hans Ryssenberch ist 1474
unsere Monstranz gearbeitet worden.
Reval darf sich mit Recht dieses Meisters rühmen. Es liegt hier
ein glänzendes Zeugnis vor für die hohe Entwickelung, die das
Kunsthandwerk im 15. Jahrhundert in diesen äussersten Gebieten
abendländischer Christenheit und deutscher Kultur gewonnen hat.
Und in Reval konnte die Kunst wohl in Blüte sein, erfreute sich
doch die Stadt eines mächtigen Handels und fast ununterbrochenen
Friedens. So gewann man die Mittel, schöne und kostbare
Kunstwerke herstellen zu lassen. Denn diese Monstranz ist nicht
nur in, sie ist auch für Reval gearbeitet worden. Den Beweis
DIE MONSTRANZ DES HANS RYSSENBERCH IN DER ERMITAGE ZU PETERSBURG 227
hierfür bietet ein reiches archivalisches Material, das über die
Entstehung dieser Monstranz vorliegt.
Reval hat das Glück, in seinem Stadtarchiv, dessen reiche Be¬
stände bis in die früheste Zeit der Stadt, das 13. Jahrhundert
zurückreichen, eine unerschöpfliche Fundgrube für die Geschichte
nicht nur des eigenen Landes zu besitzen, sondern auch für
weite andere Gebiete, so der Hansa. Daneben haben sich hier
in nicht unbeträchtlichem Umfange noch andere archivalische
Materialien erhalten, so bei der aus dem 14. Jahrhundert stam¬
menden St. Nikolaus-Kirche ein umfangreiches Buch über Ein¬
nahmen und Ausgaben der Kirche, das bereits mit dem Jahre 1465
beginnt, ln den baltischen Landen ist es das älteste vorhandene
Kirchenbuch, auch in deutschen dürften ältere selten sein.
Der erste grosse Silberschmuck, von dem dieses Kirchen¬
buch redet, ist die Monstranz des Hans Ryssenberch. Es ist vor
allem das Verdienst des damaligen Kirchenvorstehers Evert Smit,
dass sie gefertigt wurde. Die Vorbereitungen für ein so schönes
und kostbares Werk mögen längere Zeit gedauert haben.
Wahrscheinlich wurde es nach einer Vorlage, einer Zeichnung
oder einem Modell gearbeitet, wie wir später bei ähnlichen
Bestellungen von solchen hören. Ein bestimmter Preis
wurde offenbar nicht festgesetzt, da der Meister das Gewicht
nicht zum voraus genau angeben konnte. Es wurde, wie die
späteren Abrechnungen lehren, zwischen dem Kirchenvormund
und Meister vereinbart, dass diesem für die gemäss dem damals
in Reval herrschenden Gesetz in i4-/3lötigem Silber herzustel¬
lende unvergoldete Monstranz der Wert des Silber-Rohmaterials
ersetzt werde und er ausserdem einen Macherlohn erhalte, der
mindestens 150 Mark betrug. Die Vergoldung ist dann nach¬
träglich unter besonderer Abrechnung erfolgt.
Seit dem Jahre 1471 hatte man in der Gemeinde für die
Monstranz zu sammeln begonnen. Im ganzen sind für sie in den
Jahren 1471 — 1476 über 114 Mark eingekommen, eine nicht un¬
beträchtliche Summe, aber lange nicht genug für ein so teures
Werk, der Kirchensäckel musste einen bedeutenden Rest zu-
schiessen. Seit dem Jahre 1473 beginnen die Ausgaben und im
folgenden Jahre am heiligen Kreuzabend, am 13. September 1474
war die Silberarbeit fertig, konnte Meister Hans Ryssenberch die
Monstranz den Kirchenvormündern zuwiegen. Sie bezahlen
ihm das Silber, sowie 150 Mark Macherlohn. Nachträglich ist
dann durch Meister Hans auch die Vergoldung erfolgt, so dass
erst in der Karwoche 1477 die Arbeit wirklich fertig war und
voll bezahlt wurde. Im ganzen hat diese für die Nikolaikirche in
Reval 1474 von Hans Ryssenberch gearbeitete Monstranz 761
Mark rigisch gekostet. Versucht man nach im Kirchenbuch
sich findenden Preisangaben, besonders für Wachs und Salz,
diese Summen in heutige Währung umzurechnen, so entsprechen
jene 751 Mark etwa 5000 Reichsmark. Der kunsthistorische Wert
der Monstranz ist natürlich heute unvergleichlich höher.
Um das Kirchengerät im Gottesdienst brauchen zu dürfen,
musste es geweiht werden. Da der Bischofsstuhl in Reval damals
erledigt war, wurde der Halbmond, welcher die Hostie fassen
sollte, nach Dorpat gesandt, wo der Bischof die Weihe vollzog.
Jetzt erst war das Kunstwerk Kirchengerät, res sacra, wurde es
dem Kustos übergeben. Um sie noch besser zu schätzen, ist im
Jahre 1 503 für die Monstranz in Brügge ein Koffer gefertigt wor¬
den, der sich gut bewährt hat, sie ist noch heute wohl erhalten.
Das 15. Jahrhundert ist eine Zeit heftiger Gärung sowohl auf
staatlichem wie auf kirchlichem Gebiet. Was war, genügt nicht.
Lebhaft sucht man in mannigfachen Formen und Genossen¬
schaften Befriedigung des geistlichen Bedürfnisses. Wie zu kaum
228 DIE MONSTRANZ DES HANS RYSSENBERCH IN DER ERMITAGE ZU PETERSBURG
einer anderen Zeit fliessen Darbringungen, Geschenke,
Stiftungen zahlreich den Kirchen und Klausen zu;
immer reicher, immer prächtiger werden diese da¬
durch ausgestattet. Diese Erscheinung können wir
aucli im Kirchenbuch von St. Nikolaus verfolgen.
Ein reiches Inventar an Kelchen, Schalen, vergoldeten
Fibeln und anderem wird hier im Jahre 1488 auf-
gefiihrt, als der eifrige Kirchenvormund joh. Rotgers
ins Amt trat. Ununterbrochen ist unter seiner Ver¬
waltung in den folgenden dreissig Jahren dieser Schatz
vermehrt worden, bald durch Schenkungen aus der
Gemeinde, mehr aber noch durch Neuanschaffungen
des Vormundes selbst, namentlich bestellt er auch
prächtige Priestergewänder, lässt einen Pavellun
(= Baldachin) aus Goldbrokat anfertigen u.s. w. Vor
allem aber trachtet er nach neuem grossen Silber¬
schmuck: 1503 erhielt die Kirche ein grosses Bild
der heiligen Jungfrau, bald darauf wurde in Holland
eine Silberstatue des heiligen Nikolaus für diese seine
Kirche hergestellt, 150g wurde aus Lübeck von Meister
Andr. Soteflesch eine besonders kostbare Monstranz
gesandt, die der Kirchenvorsteher bestellt hatte. Als
im Jahre 1526 der der Kirche S. Nicolai gehörige
Silberschatz inventarisiert wurde, wog er fast 300 Mark
lötig, nach heutigem Gewicht etwa 61 Kilo {150 Pfund
russisch).
Aber es traten Zeiten ein, die einem so kostbaren,
für den katholischen Gottesdienst bestimmten Kirchen¬
schatz gefährlich wurden. Seit dem Jahre 1523 findet
in den livländischen Städten die neue reformatorische
Lehre Eingang. Wie an so vielen Orten entstanden
auch hier tumultuarische Volksbewegungen: am heiligen
Kreuzabend = 13. September 1524 brach in Reval
ein Bildersturm aus. Wohl wurde der Rat rasch
wieder der Massen Herr, und die Nikolaikirche hatten
deren Vormünder vor Plünderung zu schützen ver¬
standen. Aber die neue Lehre drang durch, der
katholische Gottesdienst hörte in den Städten auf.
Damit verloren die Kirchenkleinodien ihren grössten
Schutz, sie wurden unnütz, waren nicht mehr gottes¬
dienstliche Geräte, sondern nur noch schöner, aber
entbehrlicher Schmuck. Sollte auch, so vereinbarten
die Städte, was der Kirche gehörte, ihr ungeschmälert
bleiben, wurde ihr eigentliches Vermögen auch nicht
angetastet, so ist doch der Kirchenschatz bald zu¬
sammengeschmolzen.
Im Jahre 1558 brachen in furchtbaren Verwüstungs¬
zügen die Heere des Zaren Iwan des Schrecklichen
in Livland ein. Über zwanzig Jahre haben sie hier
gehaust. Gegen sie wurden in grossen Scharen Söldner
angeworben. Um diese zu löhnen, wanderten bald
im ganzen Lande die Kirchenschätze in die Münze.
So forderte im Jahre 1 560 der Rat von Reval auch
die Kleinodien von St. Nikolaus. Die beiden schönen
Monstranzen, die Arbeiten von Ryssenberch und
Soteflesch, vermochten die treuen Kirchenvorsteher
noch vor dem Untergang zu retten, indem sie ihren
Silberwert, auf 1 800 Mark hatte sie der Münzmeister
geschätzt, bar erlegten. Die anderen grossen Kunst¬
werke, das Marienbild, das Nikolaibild, ein grosses
silbernes Kreuz kamen in den Schmelztiegel. Und
als der Krieg immer länger dauerte, der Wohlstand
der Stadt immer tiefer sank, da hat auch die zweite
kleinere Monstranz, die einst Meister Soteflesch in
Lübeck gefertigt hatte, geopfert werden müssen, 1576
wurde sie zerbrochen, Gold und Silber geschieden
und verkauft, um die Prädikanten an der Kirche zu
besolden.
So war seit dem Ende des 16. Jahrhunderts von
dem reichen Silberschatz von St. Nikolaus nur noch
die »grosse« Monstranz des Hans Ryssenberch erhalten,
ln einer Nisc|ie der Sakristei wurde durch das folgende
17. Jahrhundert dieser letzte Zeuge entschwundener
Pracht aufbewahrt.
Da brach mit dem neuen 18. Jahrhundert wieder
schwere Kriegsnot im grossen nordischen Krieg über
das Land herein. Nachdem er zehn Jahre gedauert,
war der Widerstand der durch die Pest, die in Reval
in wenigen Monaten vier Bürgermeister und fünfzehn
Ratsherren dahinraffte, verödeten Stadt gebrochen.
Im September 1710 kam Reval durch Kapitulation
in die Gewalt Peter’s des Grossen. Hatte sich auch
die Stadt vom russischen General Recht und Besitz,
darunter auch das Eigentum der Kirchen bestätigen
lassen, die Kapitulation bedurfte doch noch der Be¬
kräftigung des Zaren, ln seinem Auftrag erschien
im Februar 1711 zu weiteren Verhandlungen mit der
Stadt sein mächtiger Günstling Fürst Menschikow.
Es schien von grösster Bedeutung, die Zuneigung des
Fürsten zu gewinnen. Es ist bekannt, wie sehr er
Schmuck und Kleinodien liebte. Solche jetzt neu
herstellen zu lassen, fehlten Zeit und Mittel. Da griff
man zu der Monstranz Ryssenberch ’s. Wohl verlangte
die Bürgerschaft, sie solle ihm erst übergeben werden,
wenn die Wünsche der Stadt erfüllt seien, aber da
Menschikow von dem Plan bereits früher Kunde er¬
halten hatte, wurde ihm das Kunstwerk vorher über¬
liefert. Er hat sich dann später der Stadt dankbar
bewiesen.
Aus der Hand Menschikow’s ist die Monstranz
an den Zaren Peter übergegangen. Nach dessen Tode
kam sie 1725 in die von ihm gegründete und ge¬
pflegte Kunstkammer, in deren gedrucktem lateinischen
Katalog vom Jahre 1741 sie bereits verzeichnet ist,
merkwürdigerweise mit dem Zusatz, dass sie zur
Beute gehört habe, die der Zar Iwan der Schreckliche
im 16. Jahrhundert aus Dorpat fortgeschleppt habe.
Wie dieser Irrtum entstand, ist heute nicht mehr
sicher festzustellen. Aus der Kunstkammer ist dann
die Monstranz vor wenigen Jahren in die grosse
Sammlung der Petersburger Ermitage übergeführt
worden, wo ich sie kennen lernte.
Das ist in Kürze die Historie der stolzen Mon¬
stranz, die in Reval für die St. Nikolauskirche im
Jahre 1474 der kunstfertige Meister Hans Ryssenberch
gearbeitet hat. Wie laut legt sie dafür Zeugnis ab,
dass die deutsche Kolonie im fernen Nordosten am
Ende des Mittelalters aut der vollen Höhe abend¬
ländischer Kultur stand, — wie deutlich lassen sich
aber auch an der Geschichte dieser Monstranz die
herben Geschicke verfolgen, welche im Lauf der
Jahrhunderte diese baltischen Lande getroffen haben.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
KON RAD WITZ
Von O. Dehio
Das Altarbild mit den Heiligen Katharina und
Maria Magdalena, dessen farbige Nachbildung
diesem Hefte beigegeben ist, kam aus dem
Nachlass des Kanonikus Straub in die städtische Ge¬
mäldesammlung zu Strassburg. Woher der Vorbe¬
sitzer es erworben hat, ist nicht zu ermitteln gewesen.
Der Öffentlichkeit bekannt wurde es zuerst im Jahre
1895 durch die Ausstellung elsässischer Kunstalter¬
tümer im Orangeriegebäude. Die Kenner standen
vor ihm in Verwunderung und Ratlosigkeit. Einige
dachten an einen holländischen, andere an einen
tirolischen Meister, alle aber schätzten die Entstehung
um ein Menschenalter zu spät ein. Die Lösung des
Rätsels erfolgte jedoch schon bald — ich weiss nicht
mit Sicherheit anzugeben, durch wen zuerst — mit
der Entdeckung, dass das Strassburger Bild offenbar
von derselben Hand herrühre, wie die bis dahin
wenig beachteten Reste eines Altaraufsatzes aus der
Makkabäerkapelle des Domes von Genf (jetzt im
Kellergeschoss der dortigen Universität schlecht auf¬
gestellt). Nun konnte auch der gleiche Ursprung der
Baseler Tafeln, die zuletzt als Werke des Gerrit von
St. Jans gegolten hatten, nicht mehr zweifelhaft sein.
Auf dem Genfer Altar aber fand sich die In¬
schrift: »hoc opus pinxit magister conradus sapientis
de basilea MOCCCCOX Llllio.«
Die Aufgabe, dem neuentdeckten Meister weiter
nachzugehen, fiel wie von selbst dem auf sie treff-
lichst vorbereiteten Baseler Forscher Dr. Daniel Burck-
hardt zu. Das Ergebnis liegt jetzt der Öffentlichkeit
vor als Teil der »Festschrift zum vierhundertsten
Jahrestage des ewigen Bundes zwischen Basel und
den Eidgenossen, 13. Juli igoi«. Es ist in Kürze
das folgende:
Der Conradus Sapientis der Genfer Tafel hiess
zu deutsch Konrad Witz. Er stammte aus Rottweil
in Oberschwaben. Dort ist eine direkte Spur von
ihm zwar nicht aufgefunden worden, vielleicht aber
dürfen wir ihn als ein Glied des seit dem 14. Jahr¬
hundert nachweisbaren Bürgergeschlechts der Witz¬
mann ansehen (vgl. auch die Genitivform sapientis).
Im Jahre 1434 wurde er in die Basler Zunft zum
Himmel aufgenommen. 1435 leistete er den Bürger¬
eid. In einer gerichtlichen Zeugeneintragung zu 1442
erscheint er verschwägert mit dem angesehensten der
älteren Basler Maler, Nikolaus Rüsch, genannt Lawelin
aus Tübingen. 1443 kaufte er das Haus zum Pflug
an der Freienstrasse. 1444 signierte er den Genfer
Altar. 1447 und 1448 wurde seine Ehefrau als
Witwe, seine Kinder als Waisen bezeichnet.
Das ist nun zwar keine Lebensgeschichte, rund
und lebendig wie eine von Vasari erzählte, aber für
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Xlll. H. 70
den Kunsthistoriker bedeutet sie doch viel: nichts ge¬
ringeres als die Nötigung, für eines der wichtigsten
Kapitel der deutschen Kunstgeschichte, die Wende
vom Mittelalter zur Neuzeit, nach neuen Grundlinien
zu suchen. Und gleichzeitig hat sich ja auch an
anderen Punkten der Nebel zu lichten begonnen.
Lukas Moser! Hans Multscher! Sie im Verein mit
unserem Konrad Witz, diese plötzlich und in sehr
unerwarteter Gestalt vor uns aufgetauchte Trias
schwäbischer Meister (der noch Stephan Lochner, der
aus Meersburg am Bodensee kommende Maler des
Kölner Dombildes beizugesellen wäre) sagt uns, dass
wir bis dahin allzu bescheiden gewesen sind, wenn
wir vermeinten, die deutsche Kunst hätte in das neue
Weltalter allein durch das von den Niederländern
aufgestossene Thor als Nachzüglerin unsicheren
Schrittes ihren Weg finden können. Man beachte nur
diese Daten nach Gebühr: 1431 der Tiefenbronner
Altar Moser’s, 1434 der Beginn der Baseler Thätig-
keit Witzen’s, 1437 der kürzlich aus England nach
Berlin gekommene Cyklus Multscher’s. Das ist alles
nach dem Masse der Zeit modernste Kunst und als
die am weitesten fortgeschrittenen in Deutschland er¬
scheinen nicht mehr die Nachbarn der Niederländer,
die Kölner, sondern die Schwaben. Niemanden wird
es einfallen, unsere wackeren Schwabenmeister den
van Eyck und Masaccio gleichzustellen. Aber doch
schwimmen sie mit diesen im selben Strom. Wir
beginnen zu ahnen und hoffen es nach und nach
deutlicher zu sehen, dass der grosse Umschwung des
1 5. Jahrhunderts gar nicht das Werk einiger einsamer
Genies gewesen ist, die die Laune des Schicksals am
Arno oder an der Maas geboren werden liess, sondern
dass ein allgemein verbreiteter Drang ihn empor¬
genötigt hat.
Unter den drei uns jetzt bekannt gewordenen
Initiatoren des »Realismus« in Oberdeutschland steht
Konrad Witz durch umfassende Einsicht in das Wesen
des neuen Prinzips obenan. Ich will versuchen, sein
künstlerisches Wollen und Können an dem Beispiel
des Strassburger Bildes, das uns dasselbe, wo nicht
in vollem Umfange, so doch in voller Intensität vor¬
führt, zu erläutern.
Die Tafel hat die ansehnliche Grösse von
1,61 : 1,30 m. Sie gehört in die in Deutschland um
diese Zeit nicht häufig vorkommende Klasse einfacher
Altaraufsätze, ohne Teilung der Bildfläche, ohne Bei¬
gabe von Flügeln, wie ein solcher auch auf dem
Bilde selbst zur Darstellung gebracht ist; war also
vermutlich, gleich diesem, für einen Seitenaltar be¬
stimmt. Dass man sich hinsichtlich der Entstehungs¬
zeit anfänglich um ein reichliches Menschcnalter ge-
30
"et'-i Befreiung aus dem Kerker. Vom Genfer Altar des Konrad Witz
KONRAD WITZ
231
täuscht hat, ist ganz begreiflich: so neu ist alles darin
empfunden und gegeben. Mit der Kompositions¬
weise des Mittelalters ist restlos aufgeräumt. Keiner¬
lei Rücksicht wird mehr auf das architektonisch-deko¬
rative Ensemble genommen: das Bild trägt sein
Stilgesetz in sich selbst, es will allein einen der Wirk¬
lichkeit entnommenen optischen Thatbestand in un¬
befangenster, überzeugendster Wiedergabe zur Er¬
scheinung bringen. Was den Maler an der neuge¬
wonnenen Betrachtungsweise der Dinge um ihn her
am meisten interessiert, ist erstens die Auffassung des
Raumes in voller Tiefenwirkung und zweitens der
Einfluss des Lichtes auf der Erscheinung der Körper.
So sehr ist dies beides das Hauptthema des Bildes
geworden, dass die sachliche Bedeutung der darge¬
stellten Heiligen darüber fast vergessen ist. Den
Schauplatz bildet eine langgestreckte Bogenhalle, etwa
der Flügel eines Kreuzganges; wir sehen ihn in seiner
ganzen Tiefe vor uns sich entwickeln, der Horizont
ist hochgenommen, der Augenpunkt an die seitliche
Bildgrenze geschoben. Das ist schon malerischer ge¬
dacht als die meisten perspektivischen Konstruktionen
bei den zeitgenössischen Italienern. Viel bedeutsamer
aber ist es, wie der Lichtfaktor hier herangezogen
wird, um unsere Vorstellung von der Räumlichkeit
über die Bildgrenze hinaus zu erweitern: wir können
zwischen den sich eng zusammenschliessenden Säulen
nicht hinaussehen ins Freie, aber die einfallenden
Lichter und Schatten lassen uns die Bogenöffnungen
ahnen: wir fühlen mit, was jenseits des Rahmens
liegt. Wiederum echt malerisch gedacht ist nach
der linken Seite hin die Erweiterung des Bogenganges
durch ein Nebenschiff. Die hier vorkommende
doppelte Überschneidung des Wandaltares durch die
vor ihm stehende Deckenstütze und durch den Schlag¬
schatten des darauf folgenden Säulenbündels ist von
frappantester Wirkung, — nach dem Massstabe der
historischen Entwickelung der malerischen Darstellungs¬
mittel eine Kühnheit ersten Ranges. Die Reproduktion
giebt doch nur eine unvollkommene Vorstellung da¬
von, wie frei auf dem Gemälde hier alles in der Luft
steht, wie klar die Gegenstände vor- und zurück¬
treten. Mit diesem teilweisen Verdecken wird viel
mehr gesagt, als die in solchen Fällen scheinbar
grössere »Deutlichkeit« des mittelalterlichen Stiles
jemals es konnte. Von köstlicher Naivetät ist dann
die Behandlung des an der unteren Bildecke rechts
einbrechenden Schlagschattens; ihn über das vielfach
gebrochene Gewand Katharinen’s hinzuführen schien
unserem Meister noch unmöglich; so lässt er die
Heilige einfach auf dem Schatten sitzen! Ihr Kleid
aber ist wieder sorglich so gelegt, dass sich sein
Schattenbild sauber und scharf auf dem Boden ab¬
zeichnet. — Zu der Entdeckung der Schlagschatten
macht Witz die andere des zurückgeworfenen Lichtes.
Ich wüsste keinen Niederländer dieser Zeit, bei dem
etwas ähnliches vorkäme, wie auf unserem Bilde der
von Katharinen’s Gebetbuch abprallende, die dunkle
Seite von Wange und Nasenspitze mit einem hellen
Rande auflichtende Reflex (in der Reproduktion
wieder nicht zu voller Wirkung gekommen). — Noch
aber ist Witz mit seinen Mitteln nicht zu Ende. Er
hat an der Tiefe des Kreuzganges nicht genug, er
lockt uns zur Thür hinaus auf die Strasse, wo eine
höchst belebte Scene, ein Bild im Bilde gleichsam,
sich aufthut. Demonstrativ ist es auf der Fläche des
Gemäldes dicht neben den Kopf Katharinen’s gestellt.
Dort soll ein jeder Betrachter an diesem abmessen
können, wie sehr die Entfernung die Gegenstände
verkleinert — eine Thatsache, die als malerisch dar¬
zustellende ebenso neu war wie die andere, dass ein
beleuchteter Körper Schlagschatten und Reflexlichter
aussendet und mit ihnen in den ihn umgebenden
Raum übergreift. Aber auch inhaltlich ist die Strassen-
scene höchst unterhaltend. Wir sehen an der Ecke
des ganz individuell dargestellten Hauses — Burck-
hardt meint, es könne das eigene des Meisters sein
— einen Verkaufsladen, in dem Mal- und Schnitz¬
ware feilgeboten wird; ein Kleriker steht davor und
prüft sie; ein Knabe tummelt sein Steckenpferd; ein
paar Stutzer begrüssen sich — und es fehlt auch
nicht eine Pfütze, in der die Figuren sich spiegeln.
Sehet her! so scheint der Maler den Betrachtern
seines Bildes, den Menschen vom Jahre 1440, zurufen
zu wollen, dies alles dringt täglich und stündlich in
euer Auge ein, und doch habt ihr es noch nie be¬
merkt! es ist auch gleichgültig in der Wirklichkeit,
aber indem ich es zum Bilde mache, wird es inter¬
essant! bringt es in euch Empfindungen hervor, von
denen ihr noch nie etwas gewusst habt.
Und wie schildert er die Heiligen, die allein ihm
eigentlich zu malen aufgegeben waren? Auch sie
werden derselben Betrachtungsweise unterworfen. Sie
sollen exemplifizieren, wie sich auf einer ebenen
Fläche plastischer Schein hervorrufen lässt. Damit
ist das Interesse des Künstlers an ihnen zu Ende.
Feierlicher, inniger, stärker zum Gemüte sprechend
waren sie von der älteren Kunst oft gegeben worden;
diese hier bedeuten als geistige Wesen wenig, die
Köpfe sind trivial in der Form und leer im Ausdruck,
über die Leiber erhalten wir nur geringen Aufschluss;
um so ausführlicheren über Gewand und Schmuck.
Witzen’s Werke in Basel und Genf vervollständigen
sein künstlerisches Charakterbild nach mehreren Seiten,
ohne es zu verändern. Auf sie näher einzugehen
verbietet uns der diesem Aufsatz zugemessene
Raum; wir verweisen auf die Analysen von Burck-
hardt und die dessen Text begleitenden ausgezeichneten
Nachbildungen. Nur den zwei beistehend in Zink¬
ätzung wiedergegebenen Tafeln des Genfer Altars
müssen wir ein paar Worte noch widmen. — Auf
ihnen war und waren zusammengesetzte Scenen
darzustellen. Nichts Leichtes gewiss, diese Aufgabe
mit derjenigen Auffassung des Realismus, die wir
vom Strassburger Bilde her kennen, in Einklang zu
bringen. Von Komposition nach Rücksichten der
Symetrie, des zusammenhängenden Linienflusses u. s. w.
ist nicht die Rede; die Schilderung der räumlichen
Umgebung behält einen sehr breiten Raum; die
Gewissenhaftigkeit in der Wiedergabe der Schlag¬
schatten geht bis zur Pedanterie; die Figuren sind
dieselben gedrungenen, starkknochigen, wie auf seinen
30*
Petri Fischzag. Vom Genfer Altar des Konrad Witz
KONRAD WITZ
233
älteren Bildern; an Fähigkeit zu seelischem Ausdruck
in den Qesichtszügen hat er kaum zugenommen.
Bedeutsam ist dagegen das Streben, seine Menschen
durch Haltung und Gebärde ihr Inneres verraten zu
lassen. Der wie ein Träumender aus dem Gefängnis
geführte Petrus wirkt in seiner Unbeholfenheit doch
wahrhaft ergreifend und nicht minder der schwung¬
voll bewegte himmlische Bote. Hier kommt noch das
spezielle Interesse an den Verkürzungen hinzu. Beim
Engel sind sie wohlgelungen, das Wagnis mit der
verwickelten Bewegung des Kriegsknechtes geht über
Witzen ’s Kraft. Nun aber zeigt sie sich in ihrem
eigensten Elemente und auf einer staunenerregenden
Höhe in der Landschaft auf Petri Eischzug. Diese
geht über alles hinaus, was gleichzeitige Italiener oder
Niederländer erreicht oder überhaupt nur gewollt haben;
in der deutschen Kunst bis zum Schluss des 15. Jahr¬
hunderts kommt ihr nichts auch nur von ferne gleich.
Die Landschaft auf dem Genfer Altar der van Eycks
ist poetischer in ihrer Earbenschönheit; in der
strengen, grossartigen Sachlichkeit erinnert Witz un¬
mittelbar an die Aquarellstudien Dürer’s. Wie ist
die grosse Wasserfläche belebt und doch durchaus
in ihrem Charakter als ebener Spiegel festgehalten!
Vorn scheinen die Steine des Grundes dunkelgrün
aus dem durchsichtigen Elemente horvor; weiter
treten Luftreflexe und Windstreifen ein; das vorwärts
geruderte Boot regt leichte Wellenkreise auf; und am
jenseitigen Ufer erhebt sich hügelichtes Gelände mit
Wiesen, Strassen, Bäumen und Häusern, Schneeberge
am Horizont, alles in grösster Deutlichkeit, dabei doch
immer als Masse empfunden, ln der That ist es
auch keine Phantasielandschaft, sondern ein genaues
Landschaftsporträt; die Ansicht des Genfer Sees nahe
dem Dorfe Pregny aufgenommen. Zu vergleichen ist
der architektonische Hintergrund auf dem Bilde des
Museums von Neapel (zuerst von Bayersdorfer für
Witz reklamiert), insofern wieder eine bestimmte
Örtlichkeit, die Innenansicht des Basler Münsters,
zur Darstellung kommt. Soviel ich weiss, sind der¬
artige genaue Individualisierungen von Landschaft
oder Architektur bei den Niederländern nicht nach¬
gewiesen. — —
Ich versuche zum Schluss, Witzen’s geschichtliche
Stellung zu bestimmen. Dass er über den in der
Entwickelung der oberdeutschen Malerei Vorgefundenen
Punkt weit hinausgekommen ist, leuchtet sofort ein;
zu fragen bleibt, wieviel davon er etwa schon vor¬
handenen Ansätzen, wieviel sich selbst, wieviel mög¬
licherweise dem Auslande als welches natürlich nur
die Niederlande in Betracht kommen können ver¬
dankt? Eine genaue Bilanz lässt sich solange nicht
ziehen, als wir die jugendwerke Witzen’s nicht kennen.
Die von Burckhardt umsichtig und sachkundig an-
gestellten Erwägungen führen aber mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss, dass er die nieder¬
ländische Kunst nicht in den Niederlanden selbst,
sondern erst in Basel kennen gelernt hat, wo für die
Konzilszeit die Anwesenheit niederländischer Händler
und Handwerker historisch nachgewiesen ist. Es ist
ja auch schon die Hypothese ausgesprochen worden,
dass der Meister von Elemalle sich damals dort auf¬
gehalten habe; gerade an diesen erinnert wirklich
manches in Witzen’s Art; leider ist die Voraussetzung
recht unsicher. Will man hingegen an eine nieder¬
ländische Reise denken, so müsste sie vor 1430 statt¬
gefunden haben. Damals aber war der Genfer Altar
noch nicht aufgestellt, war der Ruhm der van Eycks
noch nicht in alle Welt gegangen. Was Witz dort¬
hin gezogen haben möchte, welche Bilder der neuen
Richtung er gesehen haben könnte, entzieht sich jeder
Berechnung. Entscheidend ist nur, dass auch aus
inneren Gründen eine solche Reise eher unwahr¬
scheinlich ist. Hätte es erst der Niederländer be¬
durft, um Witz zum Realisten zu machen, so wäre
entweder die Abhängigkeit von jenen eine vollständigere
geworden, oder es hätte sich das Erworbene mit
Archaismen und Suabismen äusserlich vermengt.
Weder das eine noch das andere liegt vor. Witz ist
ein ganzer und entschlossener Realist, er hat das neue
Prinzip in seinem innersten Wesen erfasst, aber er
stellt es selbständig dar. Die Zahl der unmittelbar an
Niederländisches erinnernden Züge ist gar nicht gross
und sie gehören nur seinen späteren Werken an;
noch der Basler Altar, der etwa zehn Jahre vor dem
Genfer entstanden ist, ist, wie mir scheint, frei von
ihnen. Seitdem wir neben Witz nicht nur Moser,
sondern jetzt auch Multscher als Zeitgenossen kennen,
ist es das Einfachste und daher Empfehlenswerteste,
einen selbständigen Herd der neuen Kunstrichtung
in Schwaben anzunehmen. Das will sagen: die Ent¬
stehung ist nicht an diesen oder jenen Ort gebunden
gewesen, sie trat ins Leben, wo immer tüchtige Künstler¬
kraft der überallhin durch die Luft getragenen Keime
sich bemächtigte.
234
Uandtiichhaltcr
Arbeiten des Holzbildners Franz Zelezny in Wien
235
Böhmische Musikanten von Franz Zelezny
EIN WIENER HOLZBILDNER
Der Mann, von dem
ich heute erzählen
will, ist im Ausland
noch wenig bekannt. Das
kommt daher, dass seine
Werke — so modern sie in
der Auffassung sind — doch
nicht auf der Oberfläche des
Modestromes schwimmen,
wie etwa die Bühnenwerke,
die für den Tagesbedarf der
Theater in allen Grossstädten das beste tägliche Futter
bilden, eben weil sie ohne Charakter und Tiefe sind.
Die Arbeiten des Wiener Bildhauers Franz Zelezny sind
eher mit jenen eigenartigen, meist im Dialekt ver¬
fassten Werken zu vergleichen, die zwar nur schwer
zu internationaler Geltung sich durchringen, dann
aber auf die neurasthenische und dekadente Generation
wie ein erfrischendes Bad wirken. Zelezny’s Plastik
spricht österreichischen Dialekt wie die Dichtung
Ludwig Anzengruber’s. Aber wie diese bleibt sie
nicht eine lokale Kunst. Die starken Kunstkämpfe
der Gegenwart haben in der Brust des volkstümlichen
Künstlers starken Wiederhall gefunden und die höchsten
geistigen Probleme eines Max Klinger, so wie die
zarteste Delikatesse französischer Zierkünstler finden
unter seinen Werken ihre Parallelen.
Franz Zelezny ist als Sohn eines geschätzten Bild¬
hauers von früher Jugend an in dem schwierigen
Fache thätig gewesen. Früh schon hat er die Vor¬
liebe für dasjenige Material empfunden, das im öster¬
reichischen Volksstamm schon vor Jahrhunderten die
besten Meister gefunden hat: das Holz. Vielleicht
hat diese Entschiedenheit viel zu der kraftvollen Ent¬
wickelung zu Echtheit und Originalität beigetragen.
Denn so hat der junge Künstler nicht nur die grosse
Übung, die sichere Beherrschung des Materials er¬
rungen, sondern er hat in einem Alter, in dem andere
Bildhauer in Ermangelung von Marmorblöcken im
Thon und Plastellin herumbasteln, bereits sich in
fortwährendem Arbeitskampf mit so einem eigen¬
sinnigen Naturwesen, wie es das Holz ist, auseinander-
236
EIN WIENER HOLZBILDNER
setzen müssen. Da erlernt und übt man Eeinheiten Art der Bildhauertliätigkeit ganz erstaunlich. Ohne
der Technik, Drucker< von individueller Prägung, Punktierung und sonstige Hilfskunst, als höchstens
die den Künstler davor bewahren, banalen oder un- die Herstellung eines Thonmodells, schnitzt Zelezny
erreichbaren Aufgaben nachzugehen. mit souveräner Sicherheit aus dem Holzklotz die
Es ist ganz merkwürdig zu sehen, wie dieser wohlgetroffenen Züge. Ein Schnitt zu viel und die
kräftige und von allen Sa¬
lon -Erfolg- Gelüsten freie
Mann doch bei aller
Handwerksarbeit für Mö¬
beltischler und Kleinkrä¬
mer sich die Elugkraft der
Seele bewahrt hat, wie er
in freien Stunden, die er
sich als Eamilienvater mit
Mühe abringt, bemüht ist,
mit allen geistigen und
Kunstströnumgen seiner
Zeit in verständnisvoller
Eühlung zu bleiben. Ja,
er hat sich aus mannig¬
fachen Enttäuschungen
und Ärgernissen eine Zart¬
heit des Gemütes gerettet,
die an Lyriker wie Shelley
oder Lenau gemahnt.
Diesen Eigenschaften
des Mannes entsprechen
auch die Züge der Werke.
Arbeiten wie die »Böh¬
mischen Musikanten , die
Maske Zahnschmerz«, der
'Drahrer und ähnliche
geben den urwüchsigen
Humor des seine Umge¬
bung mit Behagen betrach¬
tenden Wieners zu erken¬
nen. Mit der starken
unproblematischen Sinn¬
lichkeit des Österreichers
bildet er die Reize des
Frauenleibes nach, und
bei diesen Arbeiten über¬
rascht schon die Zartheit,
mit der oft eine mystische
Stilisierung sich verbindet.
In der Behandlung von
Blumenmotiven ist er un¬
erschöpflich. Die Kränze
von Rosen und Blättern,
die er um seine Bilder¬
rahmen windet, sind in
einer so schmiegsamen
Technik gehalten, die nur
ein grosser Künstler dem
Holz abringen kann.
Wenn derartige Arbeiten sich glücklich den kunst¬
gewerblichen Zwecken der Gegenwart, als Füllungen,
Rahmen, Uhren, Beleuchtungsfiguren u. s. w. anpassen,
so führen zahlreiche Porträtleistungen auf die Fähig¬
keit Zelezny’s, Menschen zu erkennen und darzustellen.
Die Freiheit seiner Materialbehandlung ist bei dieser
Holzgriippe für die Pariser Weitaiissteiiiing
Von Franz Zeiezny
Ähnlichkeit ist zum Teu¬
fel. Das erreicht der
Künstler nur auf dem
Wege, dass er immer die
noch fragliche Partie be¬
deckt lässt, und dann
erst die Detailzüge heraus¬
holt. Wer mit den Schwie¬
rigkeiten dieser Technik
vertraut ist, wird die Vor¬
züge seiner Arbeiten zu
ermessen wissen. Von
den Porträtköpfen und
Statuen erhebt sich der
Künstler dann ab und zu
im idealen Sinne zu Lei¬
stungen wie sein Beet¬
hovenkopf, wie sein kürz¬
lich vom Ministerium für
Kultus und Unterricht
preisgekröntes Reliquiar
des Papstes Urban II. (für
den St. Stephansdom in
Wien).
Über diese Fühlung¬
nahme mit der kirchlichen
Kunst kann ein Kenner
der Verhältnisse nur er¬
freut sein. Denn noch
immer ist das Interesse
des Laienpublikums an
individueller Bildhauer¬
arbeit allzu schwach.
Charakterlose Gipsabgüsse
nach allbekannten besseren
oder schlechteren Origina¬
len sind als Schmuck der
Wohnungen vielfach ver¬
breitet. Aber die Freude
an der Eigenart einer
Plastik ist höchstens in
Paris oder England zu
finden. Und die Öffent¬
lichkeit hinwiederum will
nur Plastiken sehen, die
als Denkmäler an irgend
eine die betreffende Stadt
ehrende Leistung von
verstorbenen Persönlich¬
keiten erinnert. Dagegen
hat die Kirche sowohl in Österreich als in Mittel¬
deutschland die Fähigkeiten der Holzbildhauer stark für
sich in Anspruch genommen; bei einem Besuch des
Nürnberger germanischen Museums oder des Münchner
Nationalmuseums ist man ganz verblüfft von dieser
überreichen Fülle zum Teil vorzüglicher Holzplastiken.
Arbeiten des Holzbildners Franz Zelezny in Wien
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. lo.
3'
238
EIN WIENER HOLZBILDNER
Aber freilich spielt die Kirche in unseren Tagen
nicht mehr diese Rolle, wie damals, als der Öster¬
reicher Pacher den Altar zu St. Wolfgang schuf. Auch
wird der moderne Künstlergeist in einer ausschliess¬
lichen Beschäftigung mit kirchlicher Kunst nicht mehr
vollständige Befriedigung finden. Die Ereude am
Beobachten und an der Wiedergabe des Erschauten,
ein beinahe heidnischer Zug der Lebensfreude geht
durch die Werke Eranz Zelezny’s. — Es wäre zu
wünschen, dass sein Wirkungskreis sich durch würdige
Aufträge vergrössern und seine Schaffensart Schule
machen möchte. LUDWIG ABELS.
Zahnschmerzen« . Schnitzerei von F. Zelezny
GEMÄLDE DES XIV. BIS XVI. JAHRHUNDERTS
AUS DER SAMMLUNG VON RICHARD VON KAUFMANN')
JE gründlicher die Kunstgeschichte sich den Gegen¬
stand ihrer Forschung zu erobern und je ein¬
dringlicher sie sich von verschiedenen Seiten dem
Kern zu nähern sucht, desto mehr bemüht sie sich
auch, das erhaltene Material in möglichster Vollstän¬
digkeit an das Licht zu ziehen. Wer einem Künstler
oder einer Kunstrichtung nachgeht, kann sich mit dem
Studium der öffentlichen
Galerien und Kirchen nicht
mehr begnügen, gar man¬
cher Schlüssel zu verbor¬
genen Dingen ruht in
den Sammlungen Privater,
und in dem Entgegen¬
kommen der Sammler
gegenüber den Kunst¬
freunden und Studieren¬
den, dem Abbilden und
Veröffentlichen ihrer
Schätze wird dem Studium
eine nicht zu unter¬
schätzende Hilfe geleistet.
Eine der jüngsten der¬
artigen Publikationen ist
die der Gemäldesammlung
des Herrn Geheimrates
Richard von Kaufmann in
Berlin. 67 Lichtdrucktafeln
geben eine Auswahl der
besten Stücke, und ihnen
beigefügt ist ein kurzer
sachlicher Katalog der
sämtlichen Gemälde der
Sammlung.
Die Grundlage des¬
selben, ein handschrift¬
liches Verzeichnis Max
J. Friedländer’s , giebt
uns die Gewähr, dass
seine Angaben auf sorg¬
fältigster Kritik und ein¬
gehender Bilderkenntnis beruhen. Das Hauptinteresse
der Sammlung liegt für die meisten Besucher in
den niederländischen und deutschen Werken des
15. und lö. Jahrhunderts, die in besonders reicher
Zahl vorhanden sind, sie geben eine in gewisser
Weise geschlossene Vorstellung der ganzen pri¬
mitiven niederländisch - deutschen Kunst, während
die italienischen Bilder, wenn auch schon mit dem
Trecento (Lippo Memmi) beginnend, eine Reihe mehr
zufällig sich zusammenfindender Stücke bilden. Kunst¬
historiker und Kunstliebhaber werden vielleicht nicht
1) Berlin 190!. Verlag von A. Asher & Co.
ganz in gleicher Weise auf ihre Rechnung kommen,
es neigt sich die Wage, wohl schon durch das Vor¬
wiegen der älteren Zeit etwas mehr zu Gunsten des
Kunsthistorikers. Auch der Besitzer ist offenbar zu¬
weilen mit Vorliebe kunstgeschichtlichen Interessen
gefolgt. Ein Beispiel geben vier Bilder, die zu ganz
verschiedenen Zeiten erworben sind und eine Geburt
Christi mit besonderem
Lichteffekt darstellen (Taf.
XV, XXI, XXXlll). Das
früheste derselben ist ein
Geertgen van St. Jans. Die
nicht grosse Reihe der
bisher von diesem althol¬
ländischen Meister be¬
kannten Bilder wird durch
die kleine Tafel um ein
wichtiges Stück erweitert.
Wir begegnen hier zum
erstenmal einem sorgfältig
durchgearbeiteten Licht¬
effekt, und es ist charak¬
teristisch, dass es auf
holländischem Boden ge¬
schieht, wo gerade dieses
Problem später seine glän¬
zendste Behandlung er¬
fuhr. ln den südlichen
Niederlanden, bei Roger
van der Weyden, tritt
Josef wohl mit einer bren¬
nenden Kerze oder La¬
terne zum neugebornen
Kinde, um anzudeuten,
dass es Nacht sei, aber
in Wirklichkeit herrscht
Tageslicht, gegen das
die künstliche Leuchtkraft
versiegt. Hier bei Geert¬
gen ist es wirklich Nacht,
ln dichte Schatten ist
der ganze Raum gehüllt, nur schwach geben sich
die Fugen des alten Gemäuers und die Konturen der
Tiere zu erkennen. Das Christkind vorne in der
Krippe ist die Lichtquelle. Als selbstleuchteuder
Körper hat es nur die zur Formengcbung allernot¬
wendigsten Schattenandeutungen erhalten. Voll be¬
strahlt werden Kopf und Hände der knienden Maria
und die Engelschar, die sich links anbeiend naht.
Die Wirkung ist eine völlig überzeugende, man sieht,
dass der Künstler sorgfältige Naturbeobachtungen ge¬
macht und nicht etwa nur einen hellgehaltenen Kopf
auf einen dunklen Grund gesetzt hat. Die Augenlider
und die Nase des echt holländischen Gesichtes zeigen
Oeertgen van St. Jans. Heilige Nacht
Berlin, Sammlung R. v. Kaufmann
3*
GEMÄLDE DES XIV. BIS XVI. JAHRHUNDERTS
;ieutlich, wie die Beleuchtung von unten kommt, im
vollen grellen Schein verlieren sich die zarteren For¬
men, während auf das Licht schnell der Schatten
folgt, ohne Härte. Kleine zerstreute Lichter erreichen
auch noch das Gesicht des entfernten Josef, der rechts
zur Thür hereintritt, ln voller Kraft dagegen strahlt
draussen in der Landschaft die Erscheinung des Engels,
der den Hirten die Geburt verkündet, und streift mit
seinem Glanz Herde und Hirten, wobei ihm ein
kleines Holzfeuer nur schwache Konkurrenz bereitet.
Aus einem tiefen warmen bräunlichen Schattenton
heben sich die hellen Par¬
tien leuchtend heraus. Auch
Ochs und Esel müssten
nach optischen Gesetzen
etwas von dem Lichte be¬
kommen, der Künstler aber
hat sie in den Schatten
getaucht, wohl nicht nur
als Teilnehmer unteren
Ranges, sondern auch,
um den Lichteffekt nicht
allzu breit werden zu lassen,
wodurch er an Intensität
verlieren würde.
Das zweite und dritte
Bild, deren Schöpfer im
Katalog als Niederlän¬
discher Meister um 1510
(Nr. 20) und als Barthel
Bruyn der Ältere (Nr. 48,
datiert 1516) angeführt
werden, sind in der Kom¬
position von dem Geertgen
van St. Jan’s abweichend,
unter sich aber so sehr
übereinstimmend, dass sie
im Verhältnis von Kopien
zu einander oder zu einem
gemeinsamen dritten ste¬
hen. Die Krippe mit dem
Kinde steht in der Mitte.
Links kniet die Madonna
mit ähnlicher Gewand¬
drapierung und ganz glei¬
cher Handbewegung auf
beiden, fast die ganze
Breite hinter der Krippe
nimmt ein sehr symmetrisch gezeichneter in voller
Vorderansicht gesehener Engel ein, der die Hände
betend aneinanderlegt. Dann schliesst sich der Kreis
der Engel weiter herum bis zum letzten, der in halber
Rückenansicht die vordere rechte Krippenecke über¬
deckt. Auch die Hauptkulisse des Hintergrundes
ist auf beiden Bildern ganz ähnlich, ein durch eine
Säule geteiltes Fenster und zwei Pfeiler mit Kämpfern
links daneben. Zwei Hirten blicken neugierig herein.
Die Komposition ist auf dem Bilde des Barthel Bruyn
mehr in die Breite gezogen, die Engelschar lockerer,
der Josef, dessen Kopftypus dem auf dem anderen
Bilde ähnlich ist, mehr zur Seite geschoben, und vorne
knien rechts und links, dies wohl der Grund zum
Breitformat vor ihren Betpulten der Stifter und
die Stifterin. Oben in der Luft musizieren die Engel
und singen ein Terzett, auf dem schmäleren Bilde ein
Quartett.
Ist nun das Bild von Barthel Bruyn eine Nach¬
ahmung des älter erscheinenden anonymen Bildes?
Man muss dies schon aus dem Grunde verneinen,
dass gerade das Hauptmotiv, eben der Lichteffekt,
auf dem Bruyn’schen Bild so viel lebendiger und
wahrheitsgetreuer durchgeführt ist, als auf dem andern,
dass das Verhältnis höch¬
stens umgekehrt sein
könnte. Der anonyme
Meister hat sich gescheut,
die Beleuchtung der Köpfe
von unten streng durch¬
zuführen, er vermied das
Entstellende, was eine dar¬
aus folgende Schattenwir¬
kung den menschlichen
Köpfen für unser anders
gewöhntes Auge verleiht
und suchte eine Vermitt¬
lung mit der gewöhn¬
lichen Erscheinung der
Gesichter. So wirken die
nächsten Gestalten mehr
durchglüht als intensiv
beleuchtet. Sein Schön¬
heitsideal ist ausserdem
ein ganz anderes als bei
Barthel Bruyn, ein viel
weniger holländisches.
Man vergleiche nur die
Engelsköpfe miteinander.
Ist nun das anonyme
Bild wirklich älter, wie es
der etwas härteren Form
wegen scheint, so bleibt
nur die Möglichkeit offen,
dass beide aus einem ge¬
meinsamen Original Teile
der Komposition entlehnt
haben, und dass dieses
Original in der malerischen
Behandlung dem Werk
von Bruyn näher gestanden
hat. Für das letztere spricht auch, dass die Bruyn’sche
Tafel dem Geertgen van St. Jans viel enger verwandt
ist, als das andere Bild. Nicht nur die Lichtbehand¬
lung ist hier dieselbe, sondern auch der Kopf der
Madonna ist vollständig dem gleichen Typus ent¬
wachsen, während auf dem anonymen Bild die For¬
men ganz andere sind. Der Katalog der Sammlung
vermutet ein gemeinsames Original von Jan Joest von
Haarlem, dem Maler, der für den Calcarer Dom ge¬
arbeitet hat, vielleicht könnte man auch in diesem
Fall auf Geertgen van St. Jans zurückgehen, dessen
Komposition ja zweifellos manche Verwandtschaft
zeigt, und zwar in der Anordnung der Madonna
Unbekannter Niederländer. Heilige Nacht
Berlin, Sammlung R. v. Kaufmann
GEMÄLDE DES XIV. BIS XVI. JAHRHUNDERTS
241
und der Engelgruppe mehr mit dem anonymen
Bilde, so dass wir uns das Original in dem
Format wohl näher dem anonymen Bilde als dem
Barthel Bruyn mit seinen Verbreiterungen zu denken
haben. Sei aber Jan Joest oder Qeertgen der Schöpfer,
wir kommen wieder auf Haarlem, und treffen dort
offenbar auf ein Centrum für die Behandlung dieses
Lichtproblems.
Zu gleicher Zeit hat man auch in Deutschland
versucht, eine ähnliche Aufgabe zu lösen, aber der
Effekt war ein weit geringerer. Auch hierfür besitzt
die Sammlung von Kaufmann ein Beispiel in dem
Gemälde des Lukas Cranach, welches der Katalog
bis 1516, sein Bild in Aschaffenburg von 1520, ein
ähnliches in Frankfurt a. M. und Fragmente von 1539
in Karlsruhe und Berliner Privatbesitz gehen alle dar¬
auf aus, das Kind als leuchtenden Körper wieder¬
zugeben und die Bestrahlung auf die benachbarten
Figuren in ganz naturalistischer Weise deutlich zu
machen. Aber hinter den Holländern bleibt er doch
weit zurück. Das Kind erhält eine kreidigweisse
leichenhafte Farbe, die Konturen bleiben hart und es
fehlt das Helldunkel. Einen überzeugenden Eindruck
machen diese Bilder nicht.
Bei vielen Malern in Deutschland und den Nieder¬
landen bemerken wir also zu gleicher Zeit in den
Barthel Bruyn d. Ä. Heilige Naeht. Berlin, Sammlung R. v. Kaufmann
(Nr. 68) um das Jahr 1515 datiert. Aber hier sind
die Lichteffekte viel mehr äusserlicher Natur, es fehlt
an dem durchgeführten Studium, nur eine gewisse in
die Augen fallende Wirkung ist durch hellere Flecken
im Dunkel zuwege gebracht. Auch Altdorfer sucht
ähnliche Effekte, ein kleines Wiener Bild mit der
Geburt Christi zeigt das Bestreben, phantastische Licht-
und Farbenwirkungeh in der Landschaft hervorzurufen.
Die grosse Himmelsglorie ist es hier, die ihre Strahlen
auf Maria und das Kind wirft, das Licht Josef’s spielt
nur eine Nebenrolle, und das Kind selbst bildet keine
Lichtquelle. Eine märchenhafte Zauberstimmung
herrscht, aber kein umhütetes Strahlenkind wie auf
den niederländischen Bildern. Diesen nähert sich
unter den Deutschen in seinem Wollen am meisten
Hans Baidung Grien. Sein Freiburger Altar 1511
ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunders bei Gelegen¬
heit der Darstellung der Geburt Christi die Versuche,
eine künstliche Lichtquelle und ihre Wirkung wieder¬
zugeben, nirgends aber sehen wir die Aufgabe so
wahrheitsgetreu und malerisch gelöst wie in der Haar-
lemer Gruppe, denn nirgends war man schon in jener
Zeit für die Beobachtung des Lichtes so begabt wie
im Lande Rembrandt’s.
Es war dies ein Beispiel für die Wichtigkeit man¬
cher Bilder der Kaufmann’schen Sammlung für kunst¬
historische Fragen. Von einzelnen nach dieser Rich¬
tung hin interessanten Stücken erwähne ich nur eine
trauernde Magdalena vom Meister von Flemalle, eine
Darbringung im Tempel des niederländischen Meisters
des hl. Ägidius mit italienischer Renaissance-Archi¬
tektur im Hintergründe, eine Wiederholung des be-
2.;, 2
GEMÄLDE DES XIV. BIS XVI. JAHRHUNDERTS
.('HnJen Mabuse’schen Triptychons in Palermo von
■ er ‘ land des Waagen’schen Mostaert, ein Bild aus
der Frühzeit Gerard David’s, ein offenbar unter dem
Eidfluss Lionardo’s stehendes Abendmahl des Herri
-let de Bles, seltene französische Meister des i 5. Jahr¬
hunderts, deutsch-venezianische Mischbilder wie die
Madonna von Jörg Breu 1521, ferner die früher ein¬
mal als Bellini-Dürer, im Katalog als oberitalienisch
bezeichnete Madonna von 1523, oder die nach Gior-
gione oder Tizian kopierte Figur eines Ritters von
Georg Pencz. Die Reihe wäre nicht schwer zu ver¬
längern. Nicht minder aber wird dem einfachen
Genuss ohne historische Reflexion in der Sammlung
eine grosse Fülle geboten. Ein männliches Porträt
Rogers van der Weyden, eine kleine späte Pieta Gerard
David’s, ein Triptychon von Patinir mit reicher Land¬
schaft, zwei kleine Heilige in der Art Stephan Lochner’s,
eine Madonna des älteren Holbein, die bekannten
kleinen buntfarbigen vier Tafeln eines oberdeutschen
Meisters, die von einigen dem Matthias Grünewald,
von andern dem Lukas Cranach, vom Katalog der
Augsburger Schule zugeschrieben werden, ein hervor¬
ragend gutes Porträt von Cranach, eine kleine Ma¬
donna mit zwei weiblichen Heiligen von einem Ferra-
resen um 1 500, eine venetianische Predella vom Ende
des 1 5. Jahrhunderts. Bekannte Namen wie Memling,
Engelbrechtsen, Lukas van Leyden, Hans von Kulm¬
bach, Schiavone, Basaiti, Tintoretto u. s. w. führt der
Katalog mit Recht. Giebt auch die Publikation die
wichtigsten Sachen in sehr guter Reproduktion wieder,
so wird dem Besucher der Sammlung doch auch
unter dem übrigen noch manche Überraschung zuteil.
ADOLPH GOLDSCHMIDT.
Lukas Cranach. Heilige Nacht. Berlin, Sammlung R. v. Kaufmann
M. Colomhe, Grabmal Franz' II. von Bretagne in der Kathedrale zu Nantes
EIN NEUES BUCH ÜBER MICHEL COLOMBE
Kein Land ausser Italien ist so reich an plasti¬
schen Denkmälern älterer Zeit wie Frankreich,
trotz den systematischen Zerstörungen, die sie
hier in den Religionskriegen und während der grossen
Revolution zu erdulden hatten. Zum Teil verdankt
Frankreich dies einem einzelnen Manne, dem Alexandre
Lenoir, der während der Revolution eine ganze Reihe
hervorragender Denkmäler oder Bruchstücke derselben
zu retten wusste, aus denen er unter Napoleon und
in dessen Aufträge das grossartige Musee frangais
bildete, ein nationales Skulpturenmuseum wie die
Welt kein zweites besitzt oder je besessen hat. Diese
einzige Sammlung ist, schon als sie noch nicht ganz
fertig aufgestellt war, dem politischen Unverstand
zum Opfer gefallen. Die Bourbonen sahen eine Er¬
innerung an Napoleon darin und lösten das Museum
gleich in den ersten Jahren nach der Restauration
wieder auf; Teile der Sammlung kamen in das
Louvre und nach St. Denis, andere wurden als De¬
koration im Hofe der Akademie eingemauert, wo sie
meist stark beschädigt wurden oder verkamen, noch
andere verschwanden oder gingen zu Grunde. Wer
interessierte sich auch damals für die nationale Kunst!
Erst die Zeit der Romantik brachte mit der Be¬
geisterung für die gotische Baukunst auch wieder
das Interesse an der heimischen Plastik. Mit den
dreissiger Jahren begann die Forschung nach der
Geschichte der Bauwerke und Monumente. Nament¬
lich in den Provinzen war man unermüdlich in der
Durchsuchung der Archive; der rastlosen Arbeit von
Jahrzehnten gelang es, eine Fülle von Dokumenten
über die Zeit der Entstehung und teilweise auch
über die Künstler der französischen Monumente ans
Tageslicht zu bringen. Aber eine neue Richtung in
der Kunst und Kunstanschauung unterbrach diese
Arbeiten und verhinderte namentlich ihre gründliche
Verwertung für die Geschichte der französischen Kunst:
das erwachende Interesse an der Kunst der Renaissance
liess auch in Frankreich die italienische Kunst in den
Vordergrund treten. Seit den sechziger Jahren war
das Streben der Sammler vor allem auf italienische
Plastik der Renaissance gerichtet, und die gleiche
Richtung verfolgte die Forschung in Frankreich. Eugene
Piot, der als Sammler, Händler und Kritiker gleich
anregend wirkte, folgte eine Reihe jüngerer Forscher,
an der Spitze Louis Courajod und Eugene Müntz,
deren Arbeiten für die kritische Monumentenkunde
und die wissenschaftliche Forschung in den Archiven
epochemachend wurden. Durch Courajod selbst ent¬
stand gegen diese italienische Richtung der französi¬
schen Kunstforschung vor etwa fünfzehn Jahren eine
nationale Gegenströmung. An dem Studium der ihm
unterstellten Monumente der französischen Plastik im
Louvre, deren Geschichte er mit der ihm eigenen
Gründlichkeit und feinem Scharfsinn verfolgte, ge¬
wann er immer lebhafteres Interesse für die nationale
Plastik. Indem er dieser auf zahlreichen gründlichen
Studienreisen durch ganz Frankreich nachging, kam
er zu der Überzeugung, dass die Renaissance in
Frankreich nicht um die Wende des 15. zum 16. Jahr-
244
EIN NEUES BUCH ÜBER MICHEL COLOMBE
Schule M. Colombe’s, Madonna im Schloss de la Carte
hundert, also nicht in der Zeit zu suchen sei, in der
die italienische Kunst übermässig auf die französische
einzuwirken begann, sondern schon im 14. und An¬
fang des 1 5. Jahrhunderts, wo sie eine ganz autochthone,
nationale war. ln zahlreichen kleineren und grösseren
Aufsätzen trat er aufs lebhafteste für diese seine
Meinung ein, und in seinen Vorträgen an der Ecole
du Louvre übertrug er auf eine Reihe begabter Schüler
seine eigentümlich fesselnde Begeisterung, die seinem
Wesen verbunden mit der Reinheit seines Charakters
und den melancholischen Zug über dem herben
Widerspruch zwischen seinen hohen Ideen und der
Brutalität des Lebens eine so ausserordentliche An¬
ziehung verlieh. Die Begründung des grossen Ab¬
gussmuseums im Trocadero, zu der Courajod nicht am
wenigsten mit beitrug, hat diese Richtung des Kunst¬
studiums in Frankreich noch wesentlich verstärkt.
Courajod’s Schüler haben, nach dem allzufrühen Hin¬
gang ihres Meisters und Freundes, seine Forschungen
mit einer Gewissenhaftigkeit und einem Eifer, mit
einem Ernst der Kritik fortgesetzt, durch den sie
ihrem Lehrer das schönste Monument gesetzt haben.
Stand früher das 12. und 13. Jahrhundert im Vor¬
dergründe des Studiums der französischen Plastik,
so ist jetzt das 15. und der Anfang des 16. Jahr¬
hunderts die Zeit, auf die sich das Hauptinteresse
richtet. Nach zahlreichen kleineren Aufsätzen in
französischen Zeitschriften folgen jetzt rasch umfang¬
reiche Arbeiten, die in systematischer Weise einzelne
Provinzen oder bestimmte Zeitabschnitte dieser Kunst
behandeln. Vor uns liegt die neueste Publikation
dieser Art, Paul Vitry’s »Michel Colombe et la sculpture
frangaise de son temps y ein stattlicher Band von
532 Seiten mit trefflichen Lichtdrucken und Text¬
abbildungen. (Paris, Libr. centrale des beaux arts,
E. Levy.)
Wie seine gleichgesinnten Mitarbeiter bei diesen
Studien, Andre Michel, Marquet de Vasselot, R. Koechlin,
Charles und Louis de Grandmaison, De Granges de
Surgeres, G. Durand u. a. m., so sucht Vitry durch
eine sorgfältige Kritik der zahlreichen von ihm selbst
geprüften und vielfach entdeckten Monumente, die in
das Bereich seines Themas gehören, die Basis zu
einer Beurteilung seines Künstlers zu gewinnen. Da
er nur die urkundlich ganz gesicherten Werke zu¬
lässt, die sich bei Michel Colombe, ausser der kleinen
Medaille Ludwig’s XL, auf das grosse Georgsrelief
von Chateau de Gaillon im Louvre und das Grab¬
mal Franz’ 11. von Bretagne in der Kathedrale zu
Nantes, beides Arbeiten aus dem hohen Alter des
Künstlers, beschränken, so zieht er die Arbeiten der
Werkstatt, speziell seiner unter ihm arbeitenden Ver¬
wandten und Nachfolger mit in das Bereich seiner
Betrachtung und sucht vor allem in der Kunst der
Loire in der zweiten Hälfte des 1 5. Jahrhunderts die
Vorläufer Colombe’s und den Charakter seiner eigenen
Kunst in seiner früheren Zeit festzustellen. Dabei ist
ein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, die nationale
Eigenartigkeit dieser Kunst der Loire vor und zur
Zeit Michel Colombe’s und vor allem von diesem
selbst überzeugend nachzuweisen. Drei ausführliche
Kapitel sind der burgundischen, der italienischen und
der flandrischen Plastik in Frankreich gewidmet, um
den Leser durch eine kritische Übersicht aller irgend
wichtigen Monumente dieser Art, namentlich solcher
von italienischen Künstlern, zu überzeugen, dass die
Loire- Kunst zur Zeit des M. Colombe von solchen
Einflüssen frei war. Diese hatte vielmehr gleichzeitig
eine ganz eigenartige echt nationale Entwickelung,
von deren Thätigkeit vor dem grossen Meister in so
ausgezeichneten Arbeiten wie in dem Portalschmuck
der Kathedrale von Nantes, in den Statuen des
Schlosses von Chateaux, in dem heiligen Grabe zu
Solesmes und in anderen Bildwerken noch die Über¬
reste erhalten sind.
Dem Verfasser bei diesen Ausführungen ins Ein¬
zelne zu folgen, fehlt es uns an Platz und vor allem
an Beruf; wir verweisen dafür auf Vitry’s Ausfüh-
EIN NEUES BUCH UBER MICHEL COLOMBE
245
rungen, von dessen klarer und fesselnder Darstellung
jeder sich gern leiten lassen wird. Zum richtigeren Ver¬
ständnisse der französischen Plastik der Renaissance¬
zeit wird das Buch gerade bei uns in Deutschland von
besonderem Wert sein. Eür uns hat ein Werk wie
dieses und die ganze umfangreiche französische Littera-
tur über das gleiche Thema zugleich noch die eigene
Bedeutung, dass wir uns daran klar werden, wie
wenig für die Geschichte unserer eigenen nationalen
Plastik bisher geschehen ist. Mit der Inventarisierung
der Kunstdenkmäler ist eine wichtige Vorarbeit be¬
gonnen; aber auch diese ist leider gerade da, wo
sie für unsere Plastik am wichtigsten ist, in Bayern und
Württemberg, bedenklich ins Stocken geraten, und in
Deutsch -Österreich ist sie noch gar nicht begonnen.
Eine wissenschaftliche Bearbeitung des auch bei uns
so reichhaltigen Materials ist aber bisher über ver¬
einzelte Aufsätze und Abhandlungen nicht hinaus¬
gekommen; nicht eine unserer deutschen Bildhauer¬
schulen, nicht einer der grossen Meister hat eine mehr
als populäre oder kompilatorische Behandlung erfahren,
und die Veröffentlichung ihrer Denkmäler ist eine
unvollständige oder ganz ungenügende. Unser Blick
ist noch immer hypnotisch von Italien, von Rom an¬
gezogen; für eine Prachtpublikation der Schätze der
Sixtinischen Kapelle, deren Veröffentlichung eine
Ehrenpflicht des Vatikans gewesen wäre, stellte der
deutsche Reichstag einstimmig ungemessene Gelder zur
Verfügung, dass aber die Werke eines Albrecht Dürer,
eines Hans Holbein, eines Peter Vischer noch heute
nur vereinzelt und ungenügend veröffentlicht worden
sind, ist dabei, scheint’s, keinem der deutschen Volks¬
vertreter eingefallen!
Auf diese nationale Bedeutung der modernsten
französischen Kunstforschung kann, wie ich glaube,
bei uns gar nicht genug hingewiesen werden, damit
wir uns ein Vorbild daran nehmen. Unverständlich
muss uns aber die geradezu fanatische Erbitterung
bleiben, mit der diese jungen, trefflichen Forscher
ihre nationale Richtung gegen die italienischen Stu¬
dien älterer Forscher, namentlich gegen den hochver¬
dienten Eugene Müntz, durchkämpfen, dessen wissen¬
schaftliches Streben auch diese neue Schule, wenn
auch unbewusst, in sich aufgenommen hat, und auf
der sie fusst. Gewiss hat Vitry und haben seine
Mitstreiter Recht, wenn sie die Blüte der französischen
Plastik während der Renaissance in die Zeit vor dem
Eindringen des italienischen Einflusses setzen, und
wenn sie diesen Einfluss nur als ungünstig für die
Entwicklung der französischen Skulptur kennzeichnen.
Bei uns in Deutschland war ähnliches der Fall: die
erste Berührung weckte die latenten Kräfte und brachte
die höchste Blüte der deutschen Kunst; das Über¬
handnehmen des italienischen Einflusses führte in
Deutschland, wenn auch durch andere Umstände mit
veranlasst, in kürzester Zeit zum Verfall, ja zur Ver¬
nichtung der hohen Kunst. Aber wir haben deshalb
noch keinen Grund, mit dem Gefühl von Hass über
dieses Eindringen italienischer Kunst zu klagen, denn
aus sich heraus hätte sich weder in Deutschland noch
auch in Frankreich die Kunst und ganz besonders
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 10.
die Plastik in günstiger Weise weiter entwickelt; dazu
fehlte das Element, das in Italien das Vorbild der
Antike zur Renaissance hinzugebracht hatte. Ebenso¬
wenig scheint es mir berechtigt, wenn Vitry und seine
Gesinnungsgenossen in gerechter Bewunderung der
nationalen gotischen Kunst in Frankreich auch die
Kunst eines M. Colombe noch als gotisch bezeichnen
wollen; sie ist volle Renaissancekunst, da sie alle Ele¬
mente derselben hat ausser dem direkten Einfluss der
Antike, der keineswegs der wichtigste für den Be¬
griff der Renaissancekunst ist. Es scheint mir dies
ebenso verfehlt wie die entgegengesetzte Ansicht
Courajod’s, die Renaissance im Norden schon mit
dem 14. Jahrhundert beginnen zu wollen.
Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen in Be¬
zug auf eines der einleitenden Kapitel, über das Ein¬
dringen der italienischen Kunst, worin Vitry eine
treffliche Übersicht über die italienischen Renaissance¬
bildwerke in Frankreich giebt. Vitry giebt die Nach¬
bildung eines Stiches von Ducerceau nach einer Fon¬
täne im Hof von Schloss Gaillon, die er für italienisch
hält. Dann müsste sie darin aber in ganz freier,
echt nordischer Umgestaltung gegeben sein; der ganze
Aufsatz mit seinen puppenhaften Figürchen hat mit
der italienischen Kunst nichts zu thun. Die kleine,
aus Gaillon stammende Fontäne im Louvre halte ich
für wesentlich früher als Ende des 15. Jahrhunderts;
sie ist ganz verwandt mit der grossen Fontäne aus
der Villa di Castello
im Treppenhause des
Palazzo Pitti, welche
man jetzt Ant. Ros-
sellino oder Francesco
di Simone, ganz irr¬
tümlich auch noch
dem Donatello zu¬
schreibt. Für die
Thonbüste KarLsVlII.
im Bargello schlägt
Vitry den Guido Maz-
zoni als Verfertiger
vor; bei den Bezie¬
hungen dieses Künst¬
lers zum französi¬
schen König und
bei der Vorliebe des¬
selben für die Arbeit
in Thon ist dies je¬
denfalls viel wahr¬
scheinlicher als M.
Reymond’s Bestim¬
mung auf Antonio
Pollajuolo, dessen
grosszügiger Kunst¬
weise der nüchterne
Naturalismus dieser
Büste gerade entgegen -
gesetzt ist. Aus ganz
andereiiGründen wird
Reymond’s Zuschrei- Der hl. Bonavcntiira
billig des schönsten Troycs, NUwlaskirche
32
246
EIN NEUES BUCH ÜBER MICHEL COLOMBE
italienischen Grabmals in Erankreich, des erst nach
Pollajuolo’sTodebestelltenGrabesderKinderKarrsVlII.
in der Kathedrale zu Tours, von Vitry selbst als »legere-
ment aventuree gekennzeichnet. Dass die tüchtige
Bronzebüste von Eerdinand von Arragon im Museum
zu Neapel nicht von Mazzoni, sondern vielmehr von
Adriano Eiorentino herrührt, der Bronzegiesser am
Hofe von Neapel war, hat C. von Fabriczy als wahr¬
scheinlich nachgewiesen. In dem Bestreben, Reste
der langen Thätigkeit Mazzoni’s in Frankreich iiach-
zuweisen, schreibt ihm Vitry verschiedene Arbeiten
zu, die ihm entschieden fernstehen. So die Marmor¬
medaillons mit römischen Kaisern aus Gailion im
Louvre, ebenda die Stifterfiguren des Philippe de
Commines und seiner Frau, deren sehr gehaltene,
ernste Kunstweise doch wohl französisch ist. Das¬
selbe scheint mir auch der Fall bei dem schönen
Marmorrelief des Todes der Maria im Louvre, das
trotz seines stark italienisierenden Charakters nicht ita¬
lienisch sein kann. Beide Stücke hielt noch Courajod
für französisch. Dem Mazzoni verwandt erscheint
dagegen in der That die grosse Gruppe mit dem
Tode der Maria in Fecamp. Ebenso können wir
Vitry nur beistimmen, wenn er das Grabmal des
Guy de Blanchefort in Ferrieres dem Antoine Juste
abspricht und für französisch erklärt.
lU. BODE.
Schule M. Colombe’s, Vierge d'Ecoiien im Louvre
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32
Des Reiches Schwert Erinnerung an Kaiser Wilhelm
DIE KAISER WILHELM-BRÜCKE IN BRAUNSCHWEIG
Den vornehmsten künstlerischen Ruhmestitel der
alten Weifenstadt Braimschweig bildet der wohl¬
erhaltene bauliche Charakter des ausgehenden
Mittelalters und der Renaissance, den die Altstadt trägt.
Umschlossen wird dieser Kern der Stadt, dem auch
plastische Denkmäler von hohem Wert nicht fehlen,
durch einen Promenadenring von einer Schönheit,
wie ihn wenige Städte Deutschlands besitzen. Jenseits
dieses grünen Ringes ist die Kunst in Architektur
und Plastik noch kaum zu Worte gekommen. Jetzt
rüstet sich aber die Stadt, am kommenden Sedantage
den reichen monumentalen Schmuck einer Brücke
einzuweihen, die hinter dem Hoftheater über die grün¬
umbuschte Oker zu neuen, eleganten Stadtteilen führt,
lind die auch in künstlerischer Beziehung zwischen
alter und neuer Stadt eine Brücke schlagen wird.
Die Bekrönung ihrer acht Postamente wird den
Namen erst ganz rechtfertigen, den sie seit ihrer Er¬
bauung führt, den der Kaiser Wilhelmbrücke. Die
städtische Verwaltung Braunschweigs hat seiner Zeit von
einem Reiterdenkmal für den Begründer des Reiches,
wie es in zahllosen aber einander recht ähnlichen und
schliesslich eintönig wirkendenVariationen unsereGross-
städte ziert, abgesehen: dagegen sollte in dem Figuren¬
schmuck einer Brücke die Erinnerung an die ge¬
waltige Periode des ersten grossen Kaisers und der
Reichsgründung fernen Geschlechtern überliefert wer¬
den. Die Aufgabe ist durch einen Sohn der Stadt, den
Bildhauer Ernst /Wf/Z/er-Charlottenburg, trefflich gelöst.
Drei weibliche Gestalten doppelter Lebensgrösse ver¬
sinnbildlichen als Trägerinnen der vornehmsten Reichs¬
insignien, von Schwert, Krone und Scepter mit
Reichsapfel, die unerschütterliche Kraft, die Hoheit
und Würde des neuen Reiches, während eine vierte,
die Erinnerung an Wilhelm I.« die Chronik der
grossen Zeit liest, die unter dem Zeichen des grossen
ersten Kaisers stand. Vier Brannschweiger Löwen
halten über eroberten Fahnen an den Eckpostamenten
Wacht, auch sie an die Einigkeit und Wehrkraft des
Reiches gemahnend. Wir führen unseren Lesern
drei der weiblichen Figuren vor, die einen Begriff
von der Grösse und Geschlossenheit des Müller’schen
Stiles geben.
Dieser Stil ist die Frucht jahrzehntelanger ernster
künstlerischer Selbsterziehung, die sich gewöhnt hat,
wenig von äusseren Einflüssen und Anregungen zu
erwarten, sondern die Keime schöpferischer Thätigkeit
in sich selbst zu suchen und zu finden. Ursprünglich
Kaufmann, musste Ernst Müller als Dreissigjähriger
eines Gehörleidens halber seinen Beruf aufgeben.
Aus einer Liebhaberei, an deren Kultivierung ihn
vorher der Kampf ums Dasein abgehalten hatte, ward
unter Ringen und Streben ein neuer Beruf, der des
Bildhauers. Auf rein technische Studien im Kunst¬
gewerbemuseum, auf anatomische Studien bei Virchow
folgten Lehrzeiten bei zwei Meistern: sie liessen in
dem zum Schüler gewordenen Mann die Überzeugung
reif werden, dass ihm niemand helfen könne, dass
er die Verantwortung für seine Entwickelung und
sein Schaffen selbst tragen müsse. Kunstwerke aller
Zeiten von der Antike an, die ihm namentlich Studien¬
reisen nach Italien nahegebracht haben, bis zu den
Gipfelwerken der heutigen Zeit, die Deutschland,
Wien und Paris bewahren, namentlich aber die Natur,
die unablässige Arbeit nach dem Modell sind seitdem
seine Lehrmeister gewesen. Eine grosse Reihe von
Monumental- und Grabdenkmälern, Genrekomposi¬
tionen, Porträtbüsten und -reliefs, die meist in
Privatbesitz übergegangen sind, sprechen von Viel¬
seitigkeit des Könnens, das sich aber nie zersplittert,
sondern auch für die kleinste Aufgabe die grösste
Kraft einsetzt und so lange mit dem Stoff ringt, bis
der zur Klarheit durchgedrungene Gedanke ihn be¬
herrscht. Ernst Müller gehört seinem Entwickelungs¬
gange und seiner künstlerischen Überzeugung nach
keiner Schule, keiner Clique, keiner Gruppe an: er wird,
dessen sind wir überzeugt, auch weiter allein seinen
Weg finden, und dieser Weg wird aufwärts führen.
G. V. GRAEVENITZ.
Von der Kaiser Wilhelm-Briicke in Broiinschweig. Des Reiches Krone
Bildhauer Ernst Müller in Charlottenbiirg
DIE KARLSRUHER JUBILÄUMS AUSSTELLUNG
Von Ernst Rolaczek-Strassburg
Trotz ihrer ziemlich allen Akademie und Kimst-
gewerbeschule besitzt die badische Residenz doch
erst seit wenigen Jahren ein eigenes triebkräftig sich
entfaltendes Kunstleben. Der erste Eindruck der vortreff¬
lich gehaltenen Stadt mit ihren breiten regelmässigen
Strassen, den weiten Park- und Qartenflächen war
bis vor kurzem der eines gewissen Übermasses an
Behagen und Zufriedenheit; eine Mauer schien aufge¬
richtet, die Karlsruhe von den unangenehmen Kämpfen
da draussen schied. Gut, dass endlich Bresche ge¬
schossen ward. Heute dürfen wir uns der unbe-
zweifelbaren Thatsache freuen, dass eigenes künst¬
lerisches Leben — und es scheint kein Treibhausleben
zu sein hier wach geworden ist. Auch äusserlich
prägt sich das aus. Die seltsame, zu gar wunder¬
lichen Häusergrundrissen nötigende sternförmige An¬
lage der Stadt um das Schloss als Mittelpunkt ist
zwar, von einigen Freiheiten an der Peripherie abge¬
sehen, in Geltung geblieben, aber an vielen Stellen
hat sich doch eine vorteilhaft von der Art der vor¬
letzten Jahrzehnte abweichende Bauthätigkeit entfalten
dürfen, und wir wollen uns auch nicht grämen, wenn
der graugelbe Gesamtton des Stadtbildes mit seinen
lang dahinlaufenden Geraden zuweilen von den ver¬
wegenen Farben und Formen modernster Architektur
durchbrochen wird. Freilich, ein lustiges Kapitel
Hesse sich darüber schreiben, wie hier stellenweise
Romanisches, Spätgotisches und Zopfiges, Festung,
Bauernhaus und Ruine zu einem selbstverständlich
funkelnagelneuen Stil sich vereinigt haben. Doch
davon vielleicht ein anderes Mal; heute nur ein paar
Worte über die Kunstausstellung, die Staat und Stadt
zum Jubiläum ihres Grossherzogs veranstaltet haben.
Friedrich Ratzel hat ihr einen besonderen Bau
errichtet, in augenblendendem Weiss verputzt und
mit vergoldeten Flachornamenten und Sphinxen —
was mögen sie wohl hier bedeuten? — verziert. Das
Talent des Architekten, das sich am Kunstvereins¬
gebäude schon bewährt hatte, zeigt sich, stärker noch
als am Äusseren, im Inneren des Baues, in seiner
Raumverteilung und Dekoration. Nirgends eine Spur
von Materialheuchelei, ln der Hauptachse folgen
einander nach dem Vorhof, der einige Skulpturen in
freier Aufstellung enthält, das Vestibül, der Kuppel¬
raum — dieser dank seiner Einfachheit von über¬
raschend weiter Wirkung — , der grosse deutsche Saal
und am Ende der französische Hauptraum. Links
und rechts von dieser Hauptreihe Nebenräume von
angenehmster Abwechslung in den Maassen, in der
Höhenlage des Bodens, in der Deckengestaltung.
Ebenso in der Dekoration, die bescheiden nur den
Kunstwerken dienen, nicht sich selbst zur Schau
stellen will. So aus grossen in kleine, aus niederen
in hohe Räume, über Stufen aufwärts und wieder ab¬
wärts geleitet, wird der Beschauer nicht so leicht er¬
müdet, wie sonst in Ausstellungen, wo der Weg
meist nur aus einem Magazin ins andere führt, ln
der Anordnung der Kunstwerke hat ein sicherer Ge¬
schmack gewaltet. Die Skulpturen sind zwischen den
Bildern verteilt, und überall ist versucht, der Absicht
des Künstlers gerecht zu werden. Es giebt keine
Totenkammern.
Wer will, möge nun mit Dill, dem Präsidenten,
und seinen Helfern rechten, dass sie weder eine
historische badische, noch eine deutsche, noch eine
internationale Ausstellung jeden dieser Begriffe in
idealer Reinheit genommen zu stände gebracht
haben. Einiges Schwanken ist allerdings nicht zu
verkennen. Die wenigen Bilder von Feuerbach mit
ein paar alten Sachen von Thoma, Schönleber, Karl
Hoff — dies die schwachen Ansätze zu einer retro¬
spektiven Ausstellung — erläutern ja gewiss nicht
die Entwickelung während der halbhundertjährigen
Regierungszeit des Grossherzogs, aber auch mit
Schirmer und Lessing hätte man höchstens eine Reihe,
keine Entwickelung darstellen können. Immerhin
verdanken wir diesen paar Stücken doch manche lehr¬
reiche Kontrastwirkung. Es wäre auch zu viel, wollte
man behaupten, dass die Ausstellung ein vollständiges
Bild der modernen Kunst giebt; das kann eine Aus¬
stellung nicht, in der — von Architektur und Kunst¬
handwerk ganz abgesehen - - die Worpsweder, Geb¬
hardt, Liebermann, Ludwig v. Hofmann, Slevogt fehlen,
in der von auswärtigen Staaten Dänemark gar nicht,
Spanien, Holland, Amerika nur ganz unzureichend
vertreten sind. Aber das Mögliche ist — dank der
ausserordentlichen, nach allen Seiten hin greifenden
Thätigkeit des Komitees, dank der kritischen Strenge,
mit der es über die im ^ Ländle« besonders kräftigen
lokalpatriotischen Ansprüche mitleidlos hinwegschritt, —
erreicht: Man bekommt eine vollständige Vorstellung
von der Eigenart und der Vielfältigkeit der gegen¬
wärtig im Lande wirksamen künstlerischen Kräfte und
sieht ausserdem eine vortreffliche Auswahl des Besten,
was die europäische Kunst in den letzten Jahren ge¬
schaffen hat. Die durchschnittliche Güte ist bei
DIE KARLSRUHER JUBILÄUMS-AUSSTELLUNQ
251
weitem grösser als auf irgend einer anderen Aus¬
stellung des vergangenen Jahrzehnts. Wir in der
südwestdeutschen Ecke haben alle Ursache, uns des
Werkes zu freuen.
* --k
Sk
Von allen am stärksten und eindringlichsten spricht
Segantini zu uns. Tiefe Schwermut, für die kein
Hoffen mehr lebt, lagert über den drei Riesenbildern,
die das feierlichste Triptychon hätten bilden sollen,
»Werden, Sein, Vergehen«. Mit gebeugten Häuptern,
erdrückt von der Härte ihres Daseinskampfes, von
dem Bewusstsein ihrer Kleinheit ziehen die Menschen
ihres Weges. Erste Sonnenstrahlen kämpfen im
»Werden« mit den letzten Schatten der Nacht. Wunder¬
bar klar breitet sich im »Sein« die tiefgrüne Halde,
und in stärkster Körperlichkeit lösen sich von ihr
und voneinander die Eelsenzüge des Grundes. Was
muss für ein Idealismus in diesem Manne gelebt
haben, der über eine kleinlich erscheinende Arbeits¬
weise (von der das unvollendete »Vergehen« eine
deutliche Vorstellung giebt) hinweg doch den Weg
zu einer so grossen, wahrhaft monumentalen Eormen-
sprache fand! Die drei grossen Bilder und mit ihnen
ein paar kleinere von strahlender Sonnigkeit, die
»Erucht der Liebe« und die »Hirtin« zeigen, wie
gross die von ihm auch theoretisch geforderte Eein-
heit und Reinheit der Sinne- in ihm gewesen, dank
der sein Geist mit gleichmässig anhaltender Energie
dem flüchtigen Eindruck die festeste Eorm zu geben
vermochte.
Über manches andere, dem Leserkreise dieser
Zeitschrift bereits Bekannte darf mit ein paar re¬
gistrierenden Worten hinweggegangen werden. In
der belgischen Abteilung ist leider viel aus der Zeit,
in der man nicht Bilder, sondern Anekdoten und
Kostüme malte. Wie seltsam muten heute — nicht
nur durch das Gegenständliche, sondern auch durch
den Mangel an malerischer Haltung, an Zusammen¬
fassung durch Luft und Ton — die Historien von Henri
Leys, die Hunde-Anekdoten von Josef Stevens an!
Und gar die Zusammenstellungen von nicht zusammen¬
gesehenen Stoffmustern, wie sie Henri Brackeleer
Schade, dass die moderne belgische Kunst diesen
Antiquitäten zwar vortreffliche Skulpturen, aber ver¬
hältnismässig wenige gute Bilder — das Beste viel¬
leicht der sehr charaktervolle Blinde« von Laernians,
ein Kk nopff 'schtr »Blauer Elügel von grosser male¬
rischer und zeichnerischer Eeinheit, aber auch von
gewohnter Unverständlichkeit, endlich der »Pferde¬
kampf« von Delvin, wo mit dem farbigen Stift Wir¬
kungen von ungewöhnlicher Tiefe erreicht sind,
gegenüberzustellen vermochte, ln der englisch-ameri¬
kanischen Abteilung sind das Anziehendste die Por¬
träts. John Lavery entzückt ausser durch seine »Stein¬
brücke« — eine grosse in reichen Reflexen schimmernde
Wasserfläche mit einem Kahn und ein paar Brücken¬
bogen — durch ein paar Bildnisse wahrhaft könig¬
licher Frauen. Grosse Farbenflächen sind gegen¬
einander gestellt, und die Umrisse haben monumentale
Einfachheit. Es sind nicht nur Bildnisse, sondern
zugleich auch Bilder. So auch Shannon mit seinem
ungemein vornehmen »Mann im schwarzen Mantel-
und dem »Eine Blüte genannten duftigen Damen¬
bildnis. Brown-Morison giebt unter der Bezeichnung
»Ruhestunden« einen liegenden weiblichen Halbakt
von einer sehr gedämpften Farbenharmonie, William
Chase hat ein sehr fein zusammengestimmtes Doppel¬
bildnis, Maurice Qreifjenhagen seine stark und selb¬
ständig erfundene »Verkündigung , Neven du Mont
ein kleines Damenporträt gesandt, ausgezeichnet durch
die Lebendigkeit der Haltung und verblüffend durch die
Keckheit, mit der auf ein paar knallrote Blumen der
Hauptaccent gelegt ist. Die englische Landschafts¬
malerei ist durch gute, aber nichts erheblich Neues
lehrende Stücke von Orosvenor Thomas, Whitclaw
Hamilton, Priestman, Paterson, Muhrman, Withers
und anderen charakteristisch vertreten.
Auch die französische Kunst glänzt, wie voriges
Jahr in Dresden, durch die Bildnisse. Allen voran
steht an Lebendigkeit Besnard's »Madame Rejane«,
prickelnd, wie Champagner bester Marke, geistreich,
höchst lebendig in Bewegung und Ausdruck, dazu,
rein koloristisch betrachtet, ein wahres Wunderwerk.
Wie matt ist daneben Mae Ewen’s Schönheit von
1810 , wie glatt und wie posiert selbst Garrido’s
vortrefflich gemalte »Pariserin« und Conrtois’ »Bild¬
nis der Frau Kreisman« trotz grosser Feinheit in Farbe
und Zeichnung. Von Caroliis-Diiran nenne ich das
sprechende Bildnis Albert Wolff’s und seinen kleinen
in köstlich bramarbasierender Pose hingestellten Fecht¬
meister von 1873 . Den Wettkampf mit Besnard ver¬
möchte höchstens J. Blanche und der sehr französische
Spanier Gandara aufzunehmen. Ersterer namentlich
mit seinem Erwachen , wo er nicht, wie Besnard,
bloss das flüchtige Vorüberrauschen einer Bühnen¬
gestalt, sondern mit grosser malerischer Kraft gegebenen
Körperlichen auch das Psychische eines Theaterkindes
mit seiner Beobachtung darstellt. Gandara hat,
wie manche Engländer, den Reiz des Einfachen
erfasst; wie sie scheint er vor allem auf bild-
mässige Gestaltung, erst in zweiter Linie auf Ähn¬
lichkeit auszugehen. Sein Damenbildnis in ganzer
Figur, mit wenigen unter stärkster Benutzung
des braunen Grundes gegeneinander gesetzten Tönen
ist ein gutes Beispiel für seine Art; vielleicht ist aber
der Künstler, um der Eleganz der Erscheinung und
um der Schaustellung malerischer Bravour willen, in
der Entkörperung des Körpers etwas zu weit gegangen,
ln Raffaelli’s Brautführerin einigt sich der sehr be¬
stimmt gezeichnete Kopf nicht völlig mit der im¬
pressionistisch gegebenen Gestalt und der ebenso be¬
handelten Scenerie. Alles Einzelne ist vortrefflich.
Der Ausdruck der Augen, die bald versuchen werden,
in bisher unbekannte Welten einzudringen, ist unge¬
mein charakteristisch. Das Weiss des Kleides bildet
mit dem rosafarbenen Teppich, dem Rot des Stuhles
und dem Weiss des als Grund dienenden Bodens
eine Harmonie delikatester Art. Der schwarzblaue
Federhut giebt einen höchst pikanten Kontrast dazu.
Dass auch sonst die Franzosen technisch auf
grosser Höhe stehen, ist fast selbstverständlich. Schade
252
DIE KARLSRUHER JUBILÄUMS-AUSSTELLUNQ
nur, dass Seele und Phantasie nicht immer mit dabei
sind, wenn der Pinsel so über die Fläche fliegt.
George Berges’ Besichtigung eines Hüttenwerkes nach
einer Soiree beim Direktor- ist solch seelenloses Pinsel¬
machwerk, der Absicht nach eine sozialistische Brand¬
rede, aber ohne starkes Gefühl und ohne rhetorische
Kraft. Da packt Luden Simon in seinem »Cirkus-
bild doch Hs Schilderer und Kolorist ganz anders.
Oaston Latouche’s Bilder haben mindestens Anspruch,
als sehr persönliche Farbenvisionen des Künstlers ge¬
schätzt zu werden. Von Melchers ist ein sehr über¬
zeugendes Herrenbildnis und eine Kindergruppe zu
sehen, die durch ihre Farbe zwar verletzt, aber psycho¬
logisch und physiognomisch aufs stärkste anzieht.
Charles Cottefs Trauer« ist ein tief, beinahe religiös
empfundenes Bild. Menard’s Parisurteil« wirkt wie
ein lyrisches Gedicht.
Von den wenigen Holländern nenne ich nur
Therese Schwartze. Aber weder das etwas nüchterne
Waisenhausbild, noch das an sich ja kraftvolle Por¬
trät des Boerengenerals Joubert zeigen sie auf voller
Höhe. Ernst Oppler, der doch eigentlich nicht mit
ganzem Recht hierher gezählt wird, giebt in seinen
Bäuerinnen von Bückeburg« zwar die Stimmung des
Innenraumes sehr fein, aber die Köpfe gehen mit dem
Übrigen im Ton nicht ganz zusammen, und in den
Figuren selbst ist das Modellmässige nicht völlig über¬
wunden. Österreich und Ungarn sind eben nicht
glänzend repräsentiert. Karl von Firenczy’s alttesta-
mentliche Scene imponiert wenigstens durch die ernste
Absicht. Laszlo zeigt sich hier als blosser Routinier.
Für Gustav KTwit’s hysterische Art, wie sie in der
»Musik zu Tage tritt, freue ich mich nicht das ge¬
ringste Verständnis zu haben. Unter den übrigen
Österreichern ist manches Feine, aber nichts Starkes.
Von den Russen hat Maliavine eine mit brutaler
Kraft sich aufdrängende »Alte« ausgestellt und
Kustodieff t\n Herrenbildnis von vortrefflicher Charak¬
terisierung und ausgezeichneter malerischer Haltung.
Unter den schwedischen Bildern sind die besten das
in der Darstellung der Tanzbewegung sehr feine
»Scherzo« von Otto Sinding und WerenskiolcVs »Zehn
Jahre , ein kleines Mädchen am Klavier; dieses nicht
nur ausgezeichnet in der farbigen Zusammenstimmung,
sondern vor allem in der Beobachtung der Bewegung.
Die Hände tasten ganz schüchtern, und die Ängstlich¬
keit wirkt noch in den Beinchen weiter.
>fc :t:
*
Den weitaus grössten Raum der Ausstellung
nimmt jedoch Deutschland und innerhalb Deutsch¬
lands wieder Karlsruhe ein. Das Gesamtbild ist er¬
freulich, denn wenn auch die eigentlichen Genies
heute noch ebenso selten sind wie ehedem, so ist
doch die Zahl der ansehnlichen Talente auch in
Deutschland recht gross. Vor einigen Jahren noch
hätte man angesichts der Stoffe und Formate vieler
Bilder wohl sagen dürfen, die Modernen könnten
zwar malen, aber sie wüssten nicht mehr, was sie
malen sollten. Hatte man ehedem durch den in¬
teressanten Stoff zu wirken gesucht, so suchte man
nun den Reiz im Reizlosen. Beide Extreme sind
heute überwunden, das Geschichts- und Anekdoten¬
bild ist eine Seltenheit, hinzugewonnen aber ist —
und dies gerade durch den Naturalismus — das ein¬
fache landschaftliche Motiv in der unendlichen Viel¬
fältigkeit und Abwandlungsfähigkeit, die ihm durch
die subjektive, im eigentlichsten Sinne poetische Auf¬
fassung zu teil wird. Die Ausstellung liefert einen
sehr starken Beweis für den so errungenen Gewinn
an innerer Tüchtigkeit.
Von München war für Deutschland die Lehre
vom Naturalismus ausgegangen; aber auch die Be¬
ruhigung hatte sich nach den Sturmjahren von hier
aus über die heftige Bewegung zu breiten begonnen.
Heute darf man nicht mehr von einer gegen Format
und Stoff gleichgültigen Kunst sprechen. Sage und
Märchen hat wieder Eingang gefunden, lebensgrosse
Figuren sind im ganzen selten, aber etwas Neigung
zu grösseren Bildformaten ist geblieben. Uhde hat
ausser seinem nicht eben anziehenden »Kind mit
Hund« und einer sehr lebendigen »Heiligen Nacht«
von goldigwarmem Ton seine riesige »Atelierpause«
ausgestellt. Man rede hier nur ja nicht von Natur¬
ausschnitt, sondern man versuche lieber, sich klar zu
machen, wie und mit welchen Absichten die Figuren
im Raume verteilt sind, wie vortrefflich sie sich von
einander trennen, wie fein das Koloristische, wie
schlicht und sachlich der Vortrag des Ganzen ist.
Benno Becker, Bürgel, Fahre du Faiire, Flabermann,
Herterich, Hubert v. Heyden, Palniie, Scluamm-Zittau,
Zügel und viele andere zeigen sich in altgewohnter
Tüchtigkeit. Von Karl Haider, dem festen Schrittes
seinen Weg Gehenden, sind ein paar Landschaften
von wirklich grossem Stil zu sehen, von Hierl-Deronco
ausser einem wirkungsvollen Damenbildnis sein —
man verzeihe! — entsetzlicher Liebesgarten«, eine
Übersetzung von Botticelli’s Frühling aus dem Knospen¬
haften, Keuschen ins Greisenhafte, Lüsterne. Der¬
gleichen geniessbar zu machen, reicht das bischen
koloristischer Verdienst nicht aus. Exter’s »Nixensee«
wird schwerlich etwas anderes nachzurühmen sein,
als eine ziemlich brutale Kraft der malerischen Auf¬
fassung. Langhammer, der viel zu früh Gestorbene,
zeigt sich in den unfertigen Sachen, die der bayrische
Staat hergeliehen, als Tonmaler von grosser Feinheit;
schade, dass er des schottischen Einflusses nicht mehr
Herr geworden ist. Das Verdienst von Schuster-
Woldan’s »Rattenfänger«, eines der wenigen Geschichts¬
bilder, liegt nicht nur in der sehr vornehmen Har¬
monie des Gesamttones; auch das Unwiderstehliche
der Lockung ist ganz ausgezeichnet veranschaulicht
durch den unaufhaltsamen Zug der Bewegung, in
den doch wieder durch das angstvolle Zurückhalten
der Einen, das nichts ahnende Vorstürmen der An¬
deren reiches Leben gebracht wird. Warum aber
sind die Kinder so unkindlich, fast aus makartischem
Geschlecht? Von Lenbach ist eine nicht in allen
Teilen gleichwertige Auswahl zu sehen, ein mächtiger
Bismarck, zwei gleichgültige Kaiserbilder, ein paar
Frauenporträts von prachtvoller Farbigkeit und mehrere
AN-ADALBEKT-STIFTEK
DIE KARLSRUHER JUBILÄUMS-AUSSTELLUNG
253
andere. Besonders erfreulich ist es dann, dass eine
ganze Reihe von Werken Lcibl’s zu einer Kollektion
vereinigt sind. Zum grossen Teil sind es Eindrucks¬
wiedergaben von verblüffender Schärfe, wie im Sturm
auf die Leinwand gehauen; aber auch zwei seiner
durchgeführtesten Werke: »Der Jäger« und »ln der
Dorfkirche« werden wieder gezeigt, ln dem jäger-
bildnis hat der Widerspruch zwischen dem Momen¬
tanen der gewählten Stellung und der scharfen
Durchbildung für den Beschauer etwas Quälendes.
Uneingeschränkt aber darf man die mit tiefer herz¬
licher Liebe in das Wesen der Dinge eindringende
Art der Beobachtung bewundern, wie sie sich in dem
Kirchenbilde offenbart. Farbenkomposition, stoffliche
Charakterisierung, Zeichnung, Modellierung sind
schlechthin erstaunlich, und wenn sonst das Charak¬
terisierungsvermögen selbst grosser Künstler an jungen
Frauenköpfen zuweilen scheitert, so hat Leibi gerade
im Kopfe des vornesitzenden Mädchens — noch mehr
als in den Köpfen der Alten — seine hohe Meister¬
schaft erwiesen. Solcher Nachbarschaft gegenüber
kommt Triibner mit seinen Bildnissen trotz hoher
Lebendigkeit nicht auf, vielleicht wird man eher noch
der Kraft des malerischen Vortrags, wie sie sich im
»Reitpferd« und in einigen landschaftlichen Studien
bekundet, gerecht.
Von den Künstlergruppen, die sich in den letzten
Jahren in München gebildet haben, tritt hier nur die
»Scholle« mit einiger Geschlossenheit auf. Wie ziem¬
lich viele andere Bilder, zeigen auch die beiden grossen
Triptycha, die »Pest« von Fritz Frier und »Saure
Wochen, frohe Feste« von Walter Georgi die Ab¬
sicht, ausser durch rein malerische Mittel auch durch
stoffliche und gedankliche Anregung zu wirken (was
bekanntlich vor wenigen Jahren noch als höchst un¬
künstlerisch strenge verpönt war). Erler’s Porträts
haben , trotzdem sie auf eigentliche Farbigkeit ver¬
zichten, einen grossen dekorativen Zug. Sonst sind
von den Mitgliedern der -Scholle« noch Eichler,
Frier - Samaden, Felbauer (dieser mit prächtigen tief¬
farbigen Zeichnungen aus Rothenburg), Münzer mit
seinen Pariser Ammen, die doch kaum mehr sind
als eine viel zu gross geratene Illustration, Vogt und
Weise (mit einem sehr feinen Kinderbild) vertreten.
Ausserdem seien von Münchnern noch Angelo Jank mit
seinem urkräftigen »Feierabend«, Herterich mit seinem
durch Behandlung von Licht und Farbe anziehenden Im
Spiegel« genannt. Wenn vieles andere, was genannt
zu werden verdiente, hier nicht genannt wird, so
möge es die Knappheit des Raumes entschuldigen.
Berlin ist schwach vertreten. Ich nenne von Land¬
schaften Biisse’s »Frühling in der sicilianischen Ein¬
öde«, zwei vortreffliche Seestücke von Hamacher, ein
Hafenbild von Walter Leistikow, die grossstilisierten
Saaleburgen von Schultze-Haumhuxg-, an Strassen-
bildern mehrere hübsche, aber nicht viel sagende
Kleinigkeiten von Skarbina und ein grösseres Bild
von Ulrich Hübner. Unter den Porträts sei das Kaiser¬
bild Max Koner’s und ein vortreffliches Damenbildnis
von erwähnt, das die Geschichteeines ganzen
Lebens erzählt. Düsseldorfs ältere Figurenmalerei zeigt
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 10.
in ihrer charaktervollen Tüchtigkeit Klaus Meyet’s
»In der Schenke«, seine neuere Landschaftskunst ist
sehr vorteilhaft durch Julius Bergmann, Eugen KcitnpJ
und Erich Nikutowski vertreten. Von den Stuttgartern
sind nur wenige erschienen. Reiniger und Pötzelberger
zeigen sich lediglich in der Sammlung Knorr, die über¬
haupt nicht nur reich an berühmten Namen, sondern
auch an wirklich guten Bildern ist. Der immer sehr
feine und poetische Robert Hang hat eine in Licht und
Farbe sehr schöne Soldaten -Einkehr und ein etwas
süssliches grossfiguriges Bild »Glückliche Stunden
gesandt. Von Graf Kalckreuth’s ernster Kunst giebt der
am Boden kauernde Knabe eine gute, aber nicht
nach allen Richtungen ausreichende Probe.
Am stattlichsten tritt innerhalb der deutschen Ab¬
teilung natürlich die badische Gruppe auf, die etwa
zweihundert Werke umfasst. Fünf Kollektivaus¬
stellungen — sehr ungleich freilich an Umfang und
Wert — sind ihr eingegliedert. Die grösste Über¬
raschung war für mich Ferdinand Roller mit seinen
zehn Bildern Landschaften und Porträts — und
einem Relief. Wer Böcklin kennt, dem mochte wohl
hier zunächst allerlei bekannt scheinen: Felsen, Wasser,
Bäume in ähnlicher Verbindung wie bei ihm, Tempel,
Ruinen, melancholische Frauen, und sogar ein reitender
Tod fehlt nicht. Aber bei näherem Zusehen erweist
sich, dass von einer inneren Verwandtschaft der beiden,
selbst von einer Verwandtschaft entferntester Art nicht
die Rede sein kann. Ein geschickter Regisseur hat
einige von den Dingen, mit denen jener seine grössten
poetischen Wirkungen erzielte, für Theater-Requisiten
gehalten und sie — sämtlich im Frühjahr IQ02 —
zu Bühnendekorationen unter Titeln wie »Unheim¬
liches Schloss«, Heiligtum am See verarbeitet.
Anderswo als im fälschenden Lichte der Bühnenlampen
aber würden diese unter Verzicht auf alle stoffliche
Charakteristik durchweg aus der gleichen gallertartigen
Masse geformten Felsen, Bäume u. s. w. schlechthin
unerträglich wirken. Auch die Porträts sind — mit
einer Ausnahme — ebenfalls nur Erzeugnisse einer
handfertigen, aber seelenlosen Repräsentationsmalerei.
In solcher Nachbarschaft gewinnt jeder an Wert,
der einfach und schlicht sagt, was in ihm ist. Von
Hans Thoma sind ungefähr vierzig Bilder, grossen-
teils aus Privatbesitz, vereinigt. Einige ältere
Werke, von 1867 an zeigen ihn noch auf dem
Wege zu seiner eigenen Art, an der er dann,
anfangs gegen die Mode, bis zum heutigen Tage
festgehalten hat. Poetische Naturauffassung mit herz¬
licher Naturliebe verbunden, ist eine Grundlage
seines Schaffens; aber auch viel ehrliche künst¬
lerische Arbeit steckt in diesen Bildern. Trotzdem
wird man sich gerade in dieser Ausstellung zum
Widerspruch gegen die bedingungslose Bewunderung
des Künstlers gereizt fühlen. Bei aller redlichen Be¬
mühung im einzelnen ist es ihm doch sehr oft nicht
geglückt, den Zusammenhang zwischen den Teilen
des Bildes, zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen
33
254
DIE KARLSRUHER JUBILAUMS-AUSSTELLUNG
Figuren und Landschaft herzustellen. Sehr zu seinem
Nachteil unterscheidet sich gerade hierin Thoma von
Böcklin, dessen Fabelwesen immer naturnotwendig
im Bildganzen stehen. Thoma’s Stärke ist die reine Land¬
schaft, insbesondere die Mittelgebirgslandschaft, die er
malt, wie man nur etwas malen kann, was man nicht nur
kennt, sondern auch liebt. Ausgezeichnete Leistungen
dieser Art sind die beiden einzigen figurenlosen
Bilder Bernau Oberlehn , wo die Bodenform mit
wirklich nachfühlender Seele wiedergegeben ist, und
die Regenbogenlandschaft , wo ein leiser Tonunter¬
schied den breiten Rücken des Vordergrundes von
dem abschliessenden steileren Hange trennt.
Durch einen kleinen Raum, in dem einige
koloristisch und zeichnerisch sehr feine Porträts von
Kaspar Ritter hängen, gelangen wir zu der Kollektiv¬
ausstellung von Werken Qiistav Schönleber’s. Eine
venezianische Vedute aus dem Jahre 1886, dunkel
und stark komponiert, lässt im Vergleiche mit den
jüngeren Werken erkennen, um wieviel heller und
natürlicher der Meister — wohl unter dem Einflüsse der
Strömungen der achtziger Jahre — geworden ist. ln
vielen Bildern spielt das interessante Motiv oder eine
interessante Beleuchtung eine Rolle; besonders schön
ein Felsennest an der Riviera, gesehen gegen den
ganz durchleuchteten Dunst des Mittelgrundes, und
das kleinere >Tellaro«. Dann aber sind Bilder aus
der schwäbischen Heimat des Künstlers ausgestellt,
wo aus an sich einfachen Motiven eine Fülle feinster
malerischer Reize herausgeholt ist.
Für die grosse Mehrzahl der Karlsruher Land¬
schaftsmaler aber ist charakteristisch, dass sie ihre
Gegenstände ausschliesslich oder fast ausschliesslich
aus dem heimischen Mittelgebirge, noch lieber viel¬
leicht aus dem Hügellande nehmen. Man sagt gewöhn¬
lich, für die Schule von Barbizon sei der Wald von
Barbizon von grösster Bedeutung gewesen ; ich glaube,
dass die Karlsruher Landschafterschule in noch höherem
Grade ihre Kraft und Eigenart aus der heimatlichen
Landschaft schöpft. Für den Stil dieser Künstler ist
es ferner wesentlich, dass sie gewöhnt sind, für den
lithographischen Stein zu arbeiten. Aus der in dieser
Technik liegenden Nötigung, mit verhältnismässig
wenigen Mitteln das Wesentliche auszudrücken, fliesst,
auch wo sie auf Leinwand, nicht für die Verviel¬
fältigung durch den Druck, schaffen, die Anregung
zu einer stilisierenden Vereinfachung der Ausdrucks¬
weise. Ich fürchte, sie haben dieser Anregung bis¬
weilen zu bereitwillig nachgegeben. Hans von Volk¬
mann’ s bestes, aber trotzdem frühere Leistungen nicht
ganz erreichendes Bild ist wohl die Dockweiler Mühle,
ein einsames Gehöft an einem Waldende, hinter dem
ein ackerbedeckter Hang weit und langsam ansteigt.
Die »Eifelberge zeigen des feinen Künstlers Fähigkeit,
Form und Bewegung des Bodens in grosse Fernen
hinein darzustellen. Seine »Sommerschwüle« aber
scheint mir im Format vergriffen, und auch der
Stimmungsausdruck ist hier keineswegs überzeugend.
Von den Steindrucken Volkmann’s sind die reizvollsten
Weltentlegen« und das »Bachbett«, von denen Biese's,
der auch als Maler, jedoch nicht besonders glücklich
auftritt, das »Schlösschen im Schnee«. Daur’s »Spät¬
herbst giebt den Blick quer über ein weites Thal
auf den gegenüber liegenden Berghang, Kampmann' s
>Gutshof« eine trotz aller Einfachheit des Motivs
sehr reich gesehene und kraftvoll dargestellte Morgen¬
stimmung auf einem Sturzacker, Nagel’ s »Weiden
im Winter« einen Bach, nicht so fein, wie die eben¬
genannten, aber kraftvoller und mit sicherster Per¬
spektive, Petzet endlich, wohl ein Schüler Schönleber’s
und diesem in der Neigung für das Motiv« nahe¬
stehend, eine sehr schöne Abendstimmung mit letztem
Sonnenglanz auf einem Thorturm und regungslos
liegendem Gewässer. Es wäre zwecklos, in dieser
kurzen Überschau, die nur die Hauptwerke und Haupt¬
richtungen hervorzuheben wünscht, die ganze Reihe
der Karlsruher Landschafter herzuzählen. Auch unter
den nicht genannten Werken ist manche vortreffliche
Leistung. Nur Ludwig Dill’s sei hier noch mit
einigen Worten gedacht. Er scheint mir unter den
Landschaftern eine ähnliche Stellung einzunehmen,
wie Langhammer unter den Figurenmalern. Seine
Stimmungsskala ist nicht sehr gross, aber dafür von
intensivstem poetischen Reichtum. Das schönste von
den Bildern, die er gesandt hat, sind wohl die
»Blühenden Weiden an der Brenta , wo der Blick
aus dem Vordergründe auf hellgrünende Wiesen ge¬
leitet wird. Dem Abend am Po mit einer Salbei¬
wiese fehlt es an bildmässiger Geschlossenheit. Die
sechs anderen Bilder behandeln in einer engen Skala
von gelben, grauen, braunen Tönen Dachauer Motive
mit träumerischer Weichheit. Franz Hoch, ein Schüler
Schönleber’s, noch mehr aber Oscar Gra/- Freiburg
scheinen sich Dill anzuschliessen. Von letzterem sei
auch noch ein Märchenbild mit wirklicher Märchen¬
stimmung und eine riesige radierte Pieta von grosser
malerischer Kraft genannt.
Überhaupt klingt vielfach auch in der badischen
Gruppe ein poetischer Grundton durch. So beispiels¬
weise bei Friedrich Feiir, den man nicht warm genug
zu der Wandlung, die er seit seinen Münchner
Jahren durchgemacht hat, beglückwünschen kann.
Seine »Dämmerung« mit den beiden, von den Schatten
der herniedersinkenden Nacht märchenhaft umschleierten
Kindern an dem Gewässer des Vordergrundes, dem
Gehöft mit dem einsamen Licht in der Ferne zeigt
ihn als einen Stimmungslandschafter eigener Art,
während er sich in den »Schachspielern« als aus¬
gezeichneter Figurenmaler bewährt. Seine Farbe ist
tief und reich, der Ausdruck der Bewegung und des
Physiognomischen von grösster Feinheit. Man be¬
trachte nur die ungemein charakteristisch gegebene
Bewegung der ziehenden Dame und die gespannte
Aufmerksamkeit ihres Gegenspielers. In die Klasse
der Poeten gehören auch die verstorbenen Wilhelm
Volz und Wilhelm Dürr. Von Dürr sind nur Skizzen
ausgestellt, in denen sich seine originelle Auffassung
biblischer und legendarischer Stoffe bekundet, von
Volz ausser einigen Skizzen und den Entwürfen für
eine Kirchendekoration auch ein paar grosse Bilder.
Wie freute ich mich, die unentweihte Anmut seiner
»Madonna im Grünen« wieder zu begrüssen! Das Bild
DIE KARLSRUHER JUBILÄUMS-AUSSTELLUNQ
255
ist zwölf Jahre alt; wie wenige, auf den ersten Blick
bestechende Bilder könnten wohl die Probe solchen
Wiedersehens bestehen! Höchst reizvoll in Earbe
und Bewegung ist seine »Badende«; sehr selbständig
in der Komposition und sehr stark in der Empfin¬
dung seine Bilder des Leidens Christi. Franz Hein-
Grötzingen ist nicht nur Märchen maler, sondern auch
Märchenerfinder. Ausser einer sehr feinen, mit ganz
wenigen Tönen wirkenden Lithographie, der es je¬
doch an räumlicher Klarheit gebricht, hat er ein
Märchenbild mit beinahe lebensgrossen Figuren aus¬
gestellt. Mag ihm auch die Anregung zu seinen
»Königskerzen« aus dem Namen der Blume ge¬
kommen sein, so ist es ihm doch geglückt, das
Litterarische in malerische Anschauung umzusetzen.
Zwischen den riesenhaften Königskerzen, von denen
ein starkes Leuchten ausgeht, treten einem gehar¬
nischten Ritter drei Jungfrauen entgegen, Märchen¬
prinzessinnen oder dergleichen. Es ist vieles sehr
schön in dem Bilde; der warme goldige Ton des
Ganzen, das Zaghafte, Zurückhaltende der Gebärde
bringen wirkliche echte Märchenstimmung hervor.
Immerhin möchte etwas mehr Sorgfalt in der Zeich¬
nung, etwas mehr Konsequenz in der Raumgestaltung
nicht schaden, da es doch wohl auf mehr als bloss
dekorative Wirkung abgesehen ist.
Von den wenigen Porträts wecken die an sich
geschmackvollen Arbeiten Otto Propheter’s den Wunsch,
seine Begabung einmal anderen Aufgaben als denen
des Salonbildes gegenüber zu sehen, ln dem von
Hermann Janker ausgestellten Bilde eines im Früh¬
sonnenschein über das Feld reitenden Offiziers ist
nicht nur der Reiter sehr lebendig geworden, auch
die Bewegung des Tieres ist sehr fein, die Wirkung
des in ganzer Breite auftreffenden Sonnenlichtes sehr
interessant gegeben. Unter den Tiermalern steht hier
Viktor Weishaupt voran. Der »Wilde Stier« aus
dem Besitze des Münchner Kunstvereins zeigt, von
wo er ausging: Vom stofflich Interessanten und vom
braunen Ton. Seine Entwickelung hat sich dann im
Sinne des Pleinairismus vollzogen, und es ist höchst
lehrreich, jenes alte Bild etwa mit seiner »Viehherde
im Wasser« zu vergleichen, wo er in hellsten Tönen
eine ausgezeichnete Charakterschilderung der sehr be¬
schaulich, ganz undramatisch ablaufenden Existenz
dieser vortrefflichen Tiergattung bietet.
*
*
Zu den organisatorischen Vorzügen der Ausstel¬
lung gehört auch die sehr glückliche Verteilung der
plastischen Werke über sämtliche Räume. Von
den Auslandstaaten hat sich nur Belgien in hervor¬
ragender Weise beteiligt. Meanier hat ausser den
bekannten Kleinbronzen auch die halblebensgrosse
Statue eines Hafenarbeiters ausgestellt, eine in ihrer
Einfachheit ungemein eindrucksvolle Darstellung des
Mannes, der sich der Kraft seiner Klasse bewusst ist.
»Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es
will.« Von Jef Lanibeaux sieht man die in der Be¬
wegung vortreffliche, aber von Kraftprotzerei nicht
ganz freie Ringergruppe in Gips und eine Bronze
»Gewissensqualen«, ln der Gruppe Vergebung
von Pieter Braecke bebt eine sehr tiefe Empfindung
durch Mutter und Sohn. Jules Lagae hat eine
sehr behagliche Doppelbüste von »Vader en Moeder«,
die grosse, sehr tief gefühlte Gruppe der vSühne ,
die ausdrucksvolle Büste eines Philosophen und
einen etwas zu florentinischen Johannes ausge¬
stellt. Auch Dillens und ViiiQotte sind gut ver¬
treten. Frankreich zeigt ausser zwei Gipsstatuen von
Bartholome, die nicht gerade etwas Neues sagen, fast
nur Kleinplastik: die vergoldete Reiterstatuette des
Drachentöters von Fremiet, Plaketten und Medaillen
von Charpentier und Ponscarme ; von Vallgren ausser
einer Reihe der bekannten Kleinbronzen auch einen
lustig bewegten Fries tanzender Kinder und die fein¬
getönte Doppelbüste zweier Mädchen. Die vortreff¬
lichen Kleinbronzen von Laporte-Blairsy, eine Brügger
Milchfrau, eine Menuet-Tänzerin, eine Büste und eine
Klavierlampe seien ausdrücklich hervorgehoben. Trou-
betzkofs stehende Dame frappiert durch Lebendigkeit
und Eleganz.
Von deutschen Bildhauern sind insbesondere Ber-
mann und Flossmann durch ganze Kollektionen ver¬
treten. Von Bermann’s Werken, beispielsweise von
seinem weiblichen Akt, so kraft- und empfindungs¬
reich er ist, von der sterbenden Sphinx des Vorhofs
habe ich den Eindruck, als habe der Künstler nicht
ganz herausgebracht, was er sagen wollte; es bleibt
ein ungelöster Rest. Aber auch die Porträts leiden
an der etwas gewaltsamen Lebendigkeit. Flossmann
hat ausser der bekannten Gruppe der Mutter ebenfalls
eine Reihe von Bildnisbüsten in sehr beruhigter, ge¬
dämpft realistischer Auffassung ausgestellt. Von
Hildebrand sind drei Porträts da, darunter die be¬
sonders reizvolle Terrakottabüste eines Mädchens und
die dem Naturbild gegenüber stark vereinfachte Döl-
linger’s. Man mache einmal, wozu hier Gelegenheit
ist, den Vergleich mit dem Döllinger JoseJ von KopJ’s;
vielleicht wird man sich dann des Unterschieds
zweier Stile bewusst. Max KUng^r imponiert vor
allem durch seinen grossartigen Liszt; für die
Bizarrerie der halben Frauenbüste aber fehlt mir
jedes Verständnis. Arthur Volkmann’s Reliefs »Jüng¬
ling mit Stier« und Amazone mit Pferd« haben
doch wohl gar zu viel Stil. Der »Kuss« von
Fritz Fylimsch erfreut auch hier durch die Feinheit
der Gruppenbildung, dann durch die sehr anmutige
Formenbehandlung; unter seinen kleineren Arbeiten
ist die Bronzestatuette der »Otero« vortrefflich bewegt.
Theodor v. Oosen’s »Geiger« ist eine wirklich in
allen Gliedern musikalische Figur; des Künstlers bestes
Werk ist vielleicht das in der Bewegung, wie in der
Vergoldung reizende Aktfigürchen Nach dem Bade«.
Seine lebensgrosse Perseusstatue aber scheint mir
genau das zu sein, was man im Reich der Töne
Kapellmeistermusik nennt. Rudolf Wrba erweist sich
in seinen beiden kleinen Bronzegruppen als ein feiner
Künstler; der Aufgabe, die er sich in dem Relief gestellt,
scheint er jedoch einstweilen noch nicht gewachsen
zu sein. Ignatius Taschner's Versuche zur Wieder¬
erweckung der farbigen Holzplastik sind sehr dankens-
33
256
DIE KARLSRUHER JUBILAUMS-AUSSTELLUNO
wert; sein Rauhbein ' und sein »Wanderer< erfreuen
durch einen kräftigen, stellenweise sich freilich der Kari¬
katur gefährlich nähernden Realismus. Josef Limburg
hat eine von Humor und ausgezeichneter Beobach¬
tungsgabe zeugende Statuette eines jungen Klerikers,
dann eine lebensgrosse Büste und eine Porträtstatuette
ausgestellt, die beide den feinen Prälatenkopf des
Strassburger Yi^eihbischofs vortrefflich wiedergeben.
Von badischen Bildhauern sei Hermann Volz mit
einigen Büsten und einer Darstellung der »Reue«,
Hermann Binz mit der Bronestatue eines betenden
Mädchens und Ferdinand Dietsche genannt, der für
einen von Friedrich Ratzel entworfenen Brunnen sehr
lustige Schildkröten und Salamander, wie sie an den
Brunnenwänden hinaufkriechen, gearbeitet hat.
Ein Wort noch über das Kunstgewerbe. Zwei
Wohnräume sind ausgestellt, der eine von Hermann
Billing, der andere von Max Länger, dem Keramiker
entworfen. Billing’s Möbel zeigen die Absicht, um
jeden Preis originell zu sein. Und originell sind sie
auch, diese Lehnstühle mit dem weissen Lederbezug,
der am Rücken noch dazu mit vielfachem Geriemsel
über grauen Plüseh gespannt ist. Ein paar Sitze
sind in tiefen Schranknischen angebracht. Es fehlt
die Aufschrift : Nur für Kinder! Denn grossgewachsene
Leute können beim Aufstehen bestenfalls knapp am
oberen Nischenrand vorbeikommen. Uhr und Lampen
sind von der bizarrsten Erfindung.
Sehr fein, von vornehmer Behaglichkeit ist hin¬
gegen der andere Wohnraum mit ruhig wirkendem
Getäfel. Alles ist einfach, fast zu einfach sogar;
das meiste auch sinn- und gebrauchsgemäss. Welchem
Zwecke aber dient wohl ein Tisch, an dem man un¬
möglich sitzen kann?
*
Zwischen den Modernsten hängen im grossen
badischen Saal vier Bilder von Feuerbach: Eine Land¬
schaft heroischen Stils, eine Frau am Meere (übrigens
nicht die beste von den verschiedenen Gestaltungen
des gleichen Motivs) und zwei Porträts der bekannten
Römerin. Sie wirken hier, als ob über vielfältiges
Stimmengewirr ein einzelner Ton, rein und stark,
sich siegreich erhöbe. Nur von einem Punkte der
Ausstellung noch geht eine ähnliche Wirkung aus:
von den Bildern Segantini’s. Es ist die Einfachheit
der Formensprache, die diese beiden Grossen ge¬
meinsam haben, so ferne sie einander sonst stehen.
Holzschnitzerei von Franz Zelezny in Wien
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., Q. m. b. H., Leipzig.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST
JULI 1902
DER SOMMER 000
ORIOINALLITHOORAPHIE
VON FR. KALLMORQEN
>•
RUDOLF von flLC
zum neunziGsien seBURCscHse
von IiUDWi6 BGVeSi c>3c^5C?'3Cf'3Cf>3Cf4
RUDOLF VON ALT
259
Rudolf von Alt. Sonnenfinsternis in Wien 1842
ZEFIN Jahre sind es her, da feierten sie im
Wiener Künstlerhanse den achtzigsten Geburts¬
tag Rudolf Alt’s (damals noch ohne »von ). Da
hing ein Aquarell von ihm, das war etwas ganz Unge¬
wöhnliches, denn es trug den Vermerk: »28. August
1892 . Er hatte es an seinem achtzigsten Geburts¬
tage vollendet. Es stellte den Platz Am Hof vor,
mit dem Radetzkydenkmal vor dem Kriegsgebäude.
Die Häuserreihen und das Gewühl weisser Zeltschirme
flimmernd von Sonne, vor dem ruhigen grauen
Hintergründe, in den sich rechts die Bognergasse
tief hineinsenkte. Diese kühn verkürzte Gasse, mit
der Kraft ihres Reliefs, mit dem lebendigen Puls ihrer
Körperlichkeit, war erstaunlich. So tief und satt in ihrer
Tonigkeit und im Gegensatz zu den hellen Strecken
des Bildes. Das war er ganz, noch immer, der alte
Alt. Einige Verehrer kauften das Bild und stifteten
es der modernen Galerie. Das war überhaupt eine
merkwürdige Ausstellung. Man hatte eine ganze Rudolf
Alt- Ausstellung veranstaltet, eine Heerschau (eine
Schmelz« sagt man in Wien) von 522 Alt, aus allen
Stadien seines Lebens. Ich suche den Katalog heraus,
der ganz vollgekritzelt ist mit meinen Notizen. Es
war wirklich ein besonderer Anblick. Da waren
Inkunabeln seiner Kunst von 1 829 (Klosterneuburg
und der Salzburger Petrikirchhof, aus der akademischen
Galerie), zierlich gezeichnet und dünn angefärbelt.
Ein Aquarell von 1830 (Eigentum des Erzherzogs Karl
Ludwig) zeigte den Niederblick vom Kapnzinerberg
auf Salzburg, die ganze Stadt in steiler Draufsicht
gegeben. Dach für Dach förmlich niedergeschrieben
mit der reinlichsten aller Handschriften. Diese Bilder
aus den dreissiger Jahren sind das zierlichste, was
man sich auf Papier denken kann. Ein Ausblick auf
die Weilburg in Baden bei Wien, vom Eenster ans
gezeichnet, macht den Eindruck, als sei jede Baum¬
krone einzeln eingetragen. Das sind schon eher
Miniaturmalereien, oder auch Miniaturzeichnungen.
An einem Stephansturm von 1839 erscheint das ganze
gotische Spitzenwerk Masche für Masche und Zacke
für Zacke wie mit der Eederspitze nachgeklöppelt.
Auch in Italien, wo er 1833 zum erstenmal auftaucht,
arbeitet er sich so durch Venedig, Verona, Mailand,
aber das farbige Land weckt auch seine Earbe auf.
Da ist ein Hof des Dogenpalastes (1839), der sieht
aus wie ein glühender Ziem, ins Mikroskopische ver¬
kleinert. Damals waren alle Maler zunächst Zeichner;
die Earbe ging über Europa auf, wie ein langsames
Morgenrot, von Westen her. Ein köstlicher Hradschin
mit Karlsbrücke (1 840) gleicht einem fein kolorierten
Stahlstich. Anderes ist schlechtweg aquarellierte Eeder-
zeichnimg. Aber wie verstand auch dieser junge
Mann zu zeiclmen, mit einem angeborenen Vednten-
geist, der mit einem Nichts einen Charakter umriss.
34
200
RUDOLF VON ALT
Unvergesslich bleiben die klei¬
nen Wiener Bleistiftzeichnungen
aus der Sammlung Lobmeyr,
jedes wie ein Notizbuchblättchen,
mit einem der alten Wiener
Barockpaläste, in grauen spinn¬
webdünnen Slrichelchen aufge¬
zeichnet, und nur die Portale,
Baikone, Fenstergiebel und Ge¬
simse kräftig, fast schwarz hiu-
eiligesetzt. Die
Monumentalität
des Qesamtein-
druckes ist auf
einem solchen Pa¬
pierschnitzel wie
in eine mathema¬
tische Formel ge¬
fasst. Sechs Gulden, sagte mir einst der alte Flerr,
zahlte ihm seiner Zeit der
altwiener Kunsthändler
Heinrich Friedrich Mül¬
ler am Graben für so
ein Blatt. So stenogra¬
phierte er seine Ein¬
drücke, teils für eigenen,
teils für fremden Ge¬
brauch. Und unter seiner
Hand wurde alles inter¬
essant. Wenn er es sah,
sah es sehenswürdig aus.
Ich weiss nicht mehr,
wem ein gewisses kleines
Aquarell gehört, das eine
Seite des Burghofes dar¬
stellt, die mit der Haupt¬
wache. Eine lange öde
Fronte, mit einem langen
öden Dache, in natura
das Ideal der Langweile. Rudolf Alt machte dar¬
aus ein Kabinettstück, ein malerisches Kuriosum.
Nichts Wohligeres als das mannigfach angewitlerte
Grau jener uralten Putzfassade, das durch nichts
Architekturales gestört ist. Und nichts Amüsanteres
als jenes langweilige Dach, das die Regen von
Jahrzehnten mit zahllosen senkrechten Streifen in
allen Farben bemalt haben, mit langen und kurzen,
verschieden dicht gruppierten, dass man ein unge¬
heures Sonnenspektrum zu sehen glaubt. Und dieses
Dach ist obendrein mit ganzen Scharen von Rauchfängen,
Kaminen, Schloten und Schlötchen bedeckt, von allen
Formen und in allen Gruppierungen; das ist doch noch
unterhaltender als das angeblich langweilige Dach.
Mit solchem Auge sieht Rudolf Alt die Dinge an.
ln vormärzlicher Zeit staken viele Maler tief in
der Lithographie. Auch Pettenkofen, auf dessen Palette
sich später so viel buntes Feuer sammelte, litho¬
graphierte damals in grossen Werken die österreichische
Armee und die Heldenthaten ihrer Subalternen und
Gemeinen. Auch ihr erster Kolorismus hatte dann
diesen lithographischen Ton und besonders den Ton¬
Studien (Schiilmädcl, Bauernhaus, Fürst Metternich 1852)
druckton. Kelheim war die Hauptstadt der mittel¬
europäischen Farbe. Bei Rudolf Alt fand sich zu¬
nächst ein reizvoller, schummriger Schatten ein, und
zwar kein brauner, sondern ein schwärzlicher, noch
geradeswegs von der Feder her. Wie er eine solche
Schattenmasse in seine Veduten hineinlegte und ihr
einen phantastisch ausgezackten Umriss gab, aber
auch innerhalb dieses Schattens ein Wimmeln von
feinem Leben vor sich gehen liess, das gab seinen
Scenerien so viel räumliche Gliederung. (Siehe unser
Pantheonbild, wo man etwas davon merkt.) Die Farbe
fand sich mit den Jahren ganz nach Bedarf ein, bald
trüber, bald glänzender, beeinflusst von Strömungen,
von Pettenkofen, von Makart, aber immer so altisch,
dass man ihn auf den ersten Blick erkennt. Daran
und an dem eigentümlichen Gewimmel, dem Ge-
wurl«, um es wienerisch zu sagen, das die Natur
immer und immer hat. Sich in eine Unabsehbarkeit
von Detail hinein zu stürzen, auf Nimmerherauskommen,
das war von jeher seine
Hauptpassion. So eine
ganze Thalwand von
Gastein, mit all ihrem
Gewühl von Fels- und
Baumformen. Oder das
ganze kraus - gotische
Kirchengestühl im Chore
von St. Stephan. Oder
ein Saal wie in Schloss
Rosenberg, mit Haut
und Haar, mit dem Ta¬
petenmuster sogar. Oder
ein Fleckchen im Ge¬
stein mit einer ganzen
Alpenflora; der »letzte
Baum im Wienbett« mit
seinen sämtlichen Blät¬
tern, die er rein gezählt
haben muss; die alten
mit sämtlichen Launen
Marmore der Markuskirche
ihrer Äderungen,
Beklecksungen
und Zwiebeldurch¬
schnitte; sämtliche
Bogen des Kolos¬
seums, Reihe für
Reihe, jeder mit
einem anderen
Ausschnitt von Na¬
tur in seinem Rah¬
men. Und der¬
gleichen mehr.
Und dabei war er
nie ein Abschrei¬
ber, noch weniger
ein Fabrikant. Den
Stephansturm, den
er anno 1832 zum
erstenmal, und
dann noch, er
weiss selber nicht
RUDOLF VON ALT
WALDMOTIV
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RUDOLF VON ALT
263
Riidolj von Alt. Hradek
wie oft malte, hat er jedes einzelne Mal nach
der Natur gemalt. Ein Altwiener wird doch den
anderen nicht betrügen. Am liebsten malt er ihn
aus einem Fenster des alten Leinwandgeschäftes
Kranner am Stephansplatz, im ersten Stock oben, unter
dem Geplauder der arbeitenden Mädchen; das erinnert
ihn an seine zehn »Kanari- in dem grossen, von
Herbeck ererbten Vogelhause, das in seiner eigenen
Stube neben dem Zeichentisch steht. Und der
Stephansturm ist sein ältester Freund, den er kennt
wie sich selber. Er sieht ihm alle seine Gemüts¬
stimmungen an. Wie er tiefdüster in einen gelang¬
weilten Novemberhimmel emporstarrt, oder sich ge¬
spenstisch als turmhohes bleiches Skelett von schwarzen
Wetterwolken abhebt. Einmal löst er sich dunkel
vom Boden und wird im Aufsteigen immer heller,
er verklärt sich zusehends, bis er hoch oben mit
einem goldenen Blitz endet. Einmal kehrt er das
Geometrische hervor und summiert sich, spitzt sich
zu wie ein Rechenexempel. Ein andermal wächst er
wie ein lebender Baum vor unseren Augen auf,
treibt Zweig um Zweig, Blatt um Blatt und ist
schliesslich mit zahllosen weissen Blüten bedeckt.
Andere Maler von Stephanstürmen legen lieber eine
Photographie vor sich hin und linderen die Sache
hübsch sauber herunter.
Gewimmel ist Bewegung, und Bewegung reizt.
Das Auge spielt mit ihr, wie die Katze mit dem Woll-
knäuel. Rudolf Alt wohnt (seit 61 Jahren!) Skoda¬
gasse Nr. 18 im zweiten Stock. Er malt gern zum
Fenster hinaus, und so malte er einst seine Gasse,
wie sie sachte abwärts streicht und in die Alserstrasse
hineinschwenkt. Und daran reizte ihn hauptsächlich
das Pflaster mit den unzähligen Pflastersteinen, die
da unter ihm- in unregelmässigen Reihen vorüber¬
wimmelten. Von diesem Fenster blickt er jenseits
auf den Hof des Eisenfabrikanten Kitschelt, mit einer
Schmiedeesse und unabsehbarem Gerümpel von altem
Eisen in alten Rostfarben. Auch das malte er einmal,
als er gerade 85 Jahre alt geworden, so in seiner
Weise, und es wurde ein gefeiertes Bild, ln der
Ausstellung fand man es eines Tages mit Lorbeer
und Blumen bekränzt von den jungen Leuten, die
heute die Secession bilden und ihn als Ehren¬
obmann an der Spitze haben. Wenn er sich an
solches Malen macht, folgt er auch nur dem Augen¬
reiz. Er beginnt an der Stelle, die ihn besonders
gepackt hat und malt weiter, schreibt mit dem Pinsel
weiter, so weit der »Whatman« reicht, und noch
weiter, denn er stückelt nach Bedarf neue Zipfel an.
(Mein Gott, die Welt hat gar so viele Zipfel.) Ich
habe ihn auch auf der Strasse so malen sehen, stehend,
wie im Vorübergehen, ein winziges Malzeug in der
Hand; man kann ja aus dem kleinsten Tintenfass das
grösste Heldengedicht schreiben. Er kann sich das
leisten, schon weil er den mechanischen Apparat der
Perspektiviker nicht braucht. Er hat sich seine kühnen
Perspektiven nie mit dem Lineal konstruiert und war
nie auf der Jagd nach enteilenden Eluchtpunkten.
Ihm war das perspektivische Fühlen schon angeboren,
ehe Mariano Fortuny geboren wurde, um der Welt
zu zeigen, dass das geometrische Konstruieren solche
Dinge eher verdirbt als fördert. Und es ist noch
nichts eingestürzt, was er so mit dem Pinsel unmittel¬
bar aus dem Auge heraus hinperspektiviert hat. Ich
denke da an den Arkadenhof im alten Renaissance¬
palast der Fürsten Porcia in Spital an der Drau, mit
den mächtigen dunklen Rundbogen vorne und dem
264
RUDOLF VON ALT
steilen Gegeneinander der dahinter zurückfliehenden
Linien. Und an die gotische Franziskanerkirche in
Salzburg mit ihrer einzelnen Mittelsäule, auf deren
Flaupt die eleganten Bogen von allen Seiten kon-
zentriscli niedersteigen. Und an die Treppenhalle
des Belvedere, mit dem Weiss-in-Weiss ihrer gross¬
zügigen Rokokostuccaturen und den seltsamen Ver¬
schiebungen der Treppenarme und Brüstungen, die
gleichzeitig in die Lüfte und unter die Erde steigen.
Und an die gewaltigen Bücherpaläste der Barockzeit,
die goldstarrenden, farbenschwimmenden Säulensäle
der Bibliotheken in der Hofburg oder im Stift Admont.
Und an die lange enge Wipplingerstrasse, in deren
felsspaltartiger Kluft er die lange Barockfassade des
alten Rathauses mit allen ihren symmetrischen Krümmen
und Schrägen so musterhaft flach und dennoch deut¬
lich unterzubringeu weiss. Dieses mul noch manches
andere grosse Blatt sind Bravourstücke der Gattung.
Während im Gegenteil der sonst ganz treffliche Alois
Schönn in seiner Ansicht der Freiung den Turm
der Schottenkirche trotz alles geometrischen Kon-
struierens nicht standfest herausgebracht hat. Ini Mu¬
seum der Stadt Wien kann man bequem diese Ver¬
gleiche ziehen.
Zu den augenehmsten Gewimmeln gehören ihm
von jeher die Interieurs. Einen malerischen Innen¬
raum mit seinem endlosen Kleinzeug von Nutz- und
Zierwerk so von A bis Z hinzuschnörkeln und hin¬
zusprenkeln war ihm stets willkommene Leibesübung.
Das erste solche Bild, sagte er mir, war der Billard¬
saat des berühmten Klinikers Professor Skoda, seines
Nachbars in der Skodagasse, die damals noch Reiter¬
gasse und noch früher Kaserngasse hiess, wegen der
nahen Kavalleriekaserne. So ist Rudolf Alt im Laufe
der erwähnten einundsechzig Jahre aus der Kasern¬
gasse in die F^eitergasse und aus dieser in die
Skodagasse gezogen, ohne auszuziehen. Er hat seit¬
her an die dreihundert Interieurs gemalt und, wie er
sagt, daran eigentlich seine Aquarellteclmik ausgebildet.
Und welche Prachtstücke sind darunter, z. B. aus der
Makartzeit, wo I^racht ja das tägliche Brot war. Voran
gleich Makart’s Atelier, diese Vision, dieser Superlativ
von irgend etwas, das gar keinen rechten Namen hat,
aber damals in der Wiener Luft lag, in der Luft des
berüchtigten volkswirtschaftlichen Aufschwungs , dem
der Krach folgte. Der Geldkrach und . . . der Earben-
krach. Dann das Makartzimmer Nikolaus Dumba’s,
ein Arbeitszimmer in dunkelbraunem Eichenholz, die
Wandtäfelung mittelst vieler Säulchen in Bücherfächer
aufgelöst, die oberen Wandflächen und die Decke
mit Makartscenen bedeckt, mit üppigen Allegorien auf
Künste und Gewerbe, in der damaligen ersten furia
veneziana dieses »Bruder Rausch«. Und wie viele
andere aparte Wiener Gemächer sind so gemalt, be¬
sonders bei Kunstfreunden, wo viel schönes Menschen¬
werk dabei mit zu konterfeien ist. Im Schlösschen
des Malers Amerling z. B., das ein ganzes Museum
voll rarer Dinge war. Man muss nur etwa sehen,
wie er eine Wand voll Bücherrücken, von schichten¬
weise hingelagerten Mappen- und Albumwerken mit
Rudolf von Alt. Bei Mödling (Studie)
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST
V'-'
m
ä*I^SI
RUDOLF VON ALT. AQUARELL. 1843
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. u
35
RUDOLF VON ALT DAS PANTHEON {1873)
RUDOLF VON ALT
267
all ihrer Goldzier leicht und breit hindetailliert. Un¬
willkürlich erinnert es an die grosse innere Verwandt¬
schaft mit jenem anderen uralten Allseher und All¬
maler, Menzel. In den Palästen Wiens stehen und
hängen viele solche Ansichten aus fernen Schlössern
der Besitzer. Im Palais Auersperg, im Palais des
Grafen Karl Lanckoronski. Fürst Liechtenstein hat
viele; bloss die Ansichten aus seinem Schloss Hollenegg
in Steiermark tragen Daten von 1866 bis i8go.
Wie schön ist z. B. der Schlosshof (1866) mit seinen
prachtvollen Epheugehängen, starrend von Blumen¬
schmuck und ganz in Sonne gebadet. Fürst Lon-
gueval-Bouquoy in Gratzen besitzt eine lange Reihe
Alt’scher Interieurs; aus
Schloss Rosenberg allein
sah ich zwölf (bezeichnet
1853 bis 1857); das
Maximiliansgemach, das
Ferdinandsgemach u. s. f.
Damals sah man diese
Sachen noch romantisch
an; Alt malte eine ganz
ritterliche Ansicht der
Burg, im Abenddämmer,
mit der Mondsichel am
Himmel. Und damals
hatte er noch die ganze
vormärzliche Sauberkeit.
In den Ansichten aus
Schönbrunn (Erzherzog
Karl Ludwig, 1853 bis
1856) sieht das Aquarell
wie die feinste Litho¬
graphie aus. Der alte
Herr hat mir gelegent¬
lich manches aus so
früher und noch früherer
Zeit erzählt. Vom Eürsten
Klemens Metternich etwa,
dem allmächtigen Staats¬
kanzler, den er anno
1852 mit seiner ganzen
Eamilieim Wohngemach
zu malen hatte. 1852,
das ist das Jahr des
Staatsstreiches in Paris. Der Eürst sass und las in
der Zeitung die Berichte über die Missethaten Louis
Napoleon’s, über dessen Schlechtigkeit er nicht wenig
loszog. (Wir geben die kleine Bleistiftstudie, in der
er sich damals den Eürsten auf einem losen Papier¬
schnitzel »notiert« hat.) Bei Hofe war die Maler¬
familie Alt schon viel früher bekannt. Der Vater,
Jakob, und die Söhne, Rudolf und Eranz, sämtlich
solche Vedutentalente. Und da komme ich auf die
sogenannten Guckkastenbilder des Kaisers Eerdinand,
über die noch immer von Zeit zu Zeit irgend eine
neue Version auflaucht. Am Michaeler]üatz, Ecke
der Herrengasse, ist das uralte Delikatessengeschäft
»zu den drei Laufern«. Das gehörte in den vierziger
Jahren dem Vater des später berühmten Architekten
van der Nüll. Der Hess sich für sein Schaufenster
Die Zuckerbäckerin
einen Guckkasten machen, mit einem Hohlspiegel,
durch den man das eingeschobene Bild vergrössert
sah. Der geschickte Gurk, einst Hofmaler des Eeld-
marschalls Eürsten Schwarzenberg, malte die Ansichten
dazu. Der damalige Kronprinz Eerdinand kaufte den
Kasten, den Spiegel aber bekam er nicht mehr, den
hatte der Apotheker Moser aus der Josefstadt erworben.
Der Kronprinz Hess sich durch Plössl, den welt¬
berühmten Optiker des damaligen Wien (die Plössl-
gasse ist nach ihm benannt), einen neuen Spiegel
machen und bestellte bei Jakob Alt Ansichten. Jeden
Monat wurden vier abgeliefert und das Stück mit
zwanzig Gulden bezahlt; später monatlich nur zwei,
aber zu dreissig Gulden.
Das ging lange so fort
und Rudolf teilte sich
mit dem Vater in die
Arbeit. Jahrzehnte später
sah er in der Hofburg
ganze Mappen voll dieser
Veduten und traute sei¬
nen Augen nicht, dass
er diese Dinge gemalt
haben sollte.
Altwien im Spiegel
Rudolf Alt’s gesehen,
hat einen eigenen Reiz.
Jener erste Stephansturm
von 1 832, in kaiserlichem
Besitz, ist noch in Öl
gemalt. Das Aquarell
galt damals für etwas
Minderwertiges. Und ge¬
rade im Aquarell hat Alt
den vollen Reiz seiner
Earbe und seiner raschen
Hand gefunden. Dennoch
sieht man auch jene alten,
etwas schweren Ölbilder
gern. Mich hat immer
auch die Staffage angezo¬
gen, dieses viele Publi¬
kum in seiner vollen Dazu-
voni Alsergrund maligkeit, diese Bieder¬
meierbevölkerung in der
altklugen Putzigkeit ihrer Tracht. Eine Zeit lang ge¬
hörte es zu den Stichwörtern punkto Alt, dass er
»leider« mit seinen Eiguren die Strassenbilder ver¬
derbe. Wie ungerecht! Er verstand sich auf seine
alten Wiener ganz vorzüglich und sie laufen noch
heule ganz lebendig in seinen Bildern herum. Ab¬
sichtlich geben wir ein paar solche Figürchen wieder
(die farbige sieht allerdings im Original unvergleich¬
lich lustiger aus), denn sie haben ihr eigenes Gepräge
und eine ganz liebenswürdige Typik. Auch ziehen
wir eines der Selbstbildnisse dieses Landschaften- und
Städtemalers (aus dem Besitze seiner Tochter Luise)
irgend einem von fremder Hand vor. Er sieht sein
Gesicht an, wie eine andere interessante Gegend,
Ruinengegend, würde er in seiner scherzhaften Weise
sagen. Die Familie besitzt noch sein Bild aus dem
208
RUDOLF VON ALT
isien Lebensjahr. Sie werden mich schwerlich er¬
kennen, meinte er, als er es mir zeigte. Aber das
goldblonde Büblein auf dem Schosse seiner Mutter
schaut bereits mit dem nämlichen hellen Blau der
Augen in die Welt, wie der Neunzigjährige. Er hat
noch jetzt ein merkwürdig scharfes Auge. Von
seinem Maltisch aus, in der Nähe des Fensters, sah
er deutlich, welche Blätter wir im Flintergrunde des
Zimmers aus den ungeheuren Mappen holten, und
knüpfte an jedes seine Bemerkungen. Auch auf dem
Fächer, den wir abbilden (Eigentum seiner Tochter),
hat er unter anderen Kuriositäten sein Porträt gemalt.
Das schwarze, kraus verschnörkelte Ding in der Mitte
ist der alte Brunnen in Bruck an der Mur, mit dem
prächtigen eisernen Renaissancegitter. Er ist ein alter
Freund von solchen alten Gittern. Zu Klosterneu¬
burg ist der berühmte Verduner Altar, diese pala
d’oro aus vergoldeter Bronze mit 5g biblischen
Scenen in farbigem Grubenschmelz. Man sieht es
nur durch ein feines eisernes Schnörkelgitter, wie
durch einen schwarzen Schleier mit sehr grossen
Maschen. Das ist auch so ein Gitter, dessen Schwarz
auf Gold den Künstler wiederholt gereizt hat.
Ich gerate aus dem Flundertsten ins Tausendste,
ungefähr wie er aus dem Ersten ins Neunzigste ge¬
raten ist. Ich zeichne sein Leben, wie er seinen
Stephansplatz, indem er an einer beliebigen hübschen
Stelle beginnt und immer weiter geht, bis er schliess¬
lich auf allen Seiten anstückeln muss. An äusseren
Ereignissen ist bei ihm eigentlich weiter nichts zu
vermerken. Ein ruhiges, fruchtbares Leben liegt
weithin ansgebreitet. Ein schlichtes österreichisches
Künstlerleben, das nur die Kunst und die Eamilie
kannte. Schätze waren natürlich auch nicht zu sam¬
meln, Ehren fanden sich irgendwie ein, auffallend
spät: der Professortitel, der österreichische Ritterstand.
Er lebte nie nach aussen; nur so für sich und die
Seinen. Es ist bezeichnend, dass er nie in Paris
war, das hätte zu viel gekostet. So oft es die Mittel
erlaubten, ging er nach Italien. Er schickte auch nie
etwas ins Ausland, das Bilderverpacken war ihm ein
Greuel und das Zeug wäre ja doch wieder znrück-
gekommen, meint er. Von einer Pariser Weltausstel¬
lung kam ihm einmal ein Ehrendiplom ins Elans.
Im allgemeinen aber blieb er für das Ausland in
eine dichte Wolke des Inkognitos gehüllt. Auch die
löbliche deutsche Kunstgeschichte nahm von seiner
Existenz keine Notiz. Bei alledem war er nichts
weniger als ein Stubenhocker und ein Kirchturm¬
maler (wie es Kirchturmpolitiker giebt); wenn auch
sein Kirchturm der hohe bei Sankt Stephan gewesen
wäre. Seine freizügige und freizüngige Natur steckte
sich immer alle Schranken so weit als möglich. Ich
finde unter seinen Blättern welche aus Nürnberg (der
-schöne Brunnen« war stets einer seiner Lieblinge,
den er schon in seiner frühen Ölzeit liebevoll gemalt
hat) und aus Luzern, aus Krakau, aus Szegedin an
der Theiss, ja selbst aus Odessa und der Krim (1863),
wo er das kaiserliche Lustschloss Livadia, aber auch
allerlei bunte Tatarendörfer um Yalta und Baktschi-
Sarai, und sogar das Innere eines Harems malte.
Italien wurde eine zweite Heimat. Auf dem Mar-
knsplatze liess er noch österreichisches Militär in da¬
maligen weissen Waffenröcken bummeln. Wie oft
hat er das römische Forum gemalt; ich sehe es bei
ihm 1835 beginnen und 1873 aufhören; noch ganz
als Campo Vaccino, imausgegraben, ein Stück Cam-
pagna mitten in die steinerne Stadt versetzt, mit
weidenden Büffeln bei jenen wahrzeichenhaften drei
Tempelsäulen. Wenn ich sein Forum vom Jahre 1866
hätte, dessen Wasserfarbe eine Ausgiebigkeit von
Sonnenwärme hat, dass man eher an Sonnenblumenöl
als an Wasser denkt, ich würde es über meinen
Schreibtisch hängen, um mich beim Schreiben an
diesem gemalten Klima zu stärken.
In Wien hat Rudolf Alt eine Stellung, wie noch
kein Wiener vor ihm. Er ist der lebendige Chronist
dieser Residenz. -Saget, Steine, mir an . . .« Was
diese Steine sagen, und wovon sie schweigen und
träumen, das hat er alles drei Menschenalter hindurch
treulich gemalt. Ihre Erinnerungen und Hoffnungen,
ihr Absterben und Neuerblühen. Er hat ein demo¬
liertes Wien gemalt, von dem kein Stein mehr zu
sehen, und ein langsam nachwachsendes, eine Ver¬
jüngung nach der anderen. An seinen Bildern sahen
die Wiener erst, wie malerisch ihre alten krummen
Gassen und verzwickten Mauerwinkel waren. Wie
bildhaft, motivmässig die mittelalterlich steilen, hohen
Dinge sich oft gruppierten, und welch auserlesene
feine Töne der alte Mauerputz der breitgestirnten
Barockhäuser nachgerade spielen gelernt. Diese Patina
des Putzes war an sich eine feine koloristische Schule,
die das Auge empfindlich machte für Sechzehntel¬
und Zweiunddreissigsteltöne von Gelbgrau und Grau¬
braun. Viele Wiener Aquarellisten gehen seitdem in
diese Schule. Alles in dieser gemauerten Welt wurde
ihm Phänomen, malerische Naturerscheinung. Der
Alltag überraschte ihn fortwährend mit kleinen und
grossen Wundern. Wie sollte er also eine Sonnen¬
finsternis »auslassen«, wenn der liebe Gott die Wiener
mit einer erfreute, wie am 8. Juli 1842? (Wir geben
diese Studie auch eigens, wie er sie auf der Türken¬
schanze bei Wien sah und gewissenhaft in Öl malte.)
So früh schon hatte er diese atmosphärischen Pas¬
sionen. Überhaupt melden sich bei ihm von jeher
allerlei moderne Züge. Unsere kleine Landschaft von
Hradek, gewiss kein Effektmotiv, das Gegenteil von
»pittoresk' , hat in der leisen Bodenbewegung und
in der Empfindung für die Natur der Ackerkrume
ein so intimes Leben, wie es erst Emil Schindler viel
später zu malen verstand. Man denke sich aber zu diesem
Blatte die Earbe; das Schwarzgrün der fernen Baum¬
gruppen, die blendenden Pointen der Gebäude, das
quer hindurchfliessende Sonnenlicht hinter der ersten
Bodenfalte und die feinen Tonunterschiede zwischen
den Hügelzügen des Hintergrundes. In der kleinen
Mödlinger Studie, mit den künstlichen Ruinen auf
den Hügeln , sieht man den uralten Wiener Land¬
partiengeist an der Arbeit, die Ereude an jener
Mannigfaltigkeit im engsten Erdenwinkel, die den
Wiener Wald auszeichnet. Dabei ist gerade diese
Studie, wie sie da in der Sommersonne schwimmt.
RUDOLF VON ALT
DER STEPHANSTURM (1893)
RUDOLF VON ALT
271
mit einer flotten Sicherheit wie zum Sonntags¬
vergnügen hingewaschen, dass man sie fast einem
anderen zuschreiben würde. Dagegen zeigt unser
farbiges Gasteiner Bild, wie auch die beiden anderen
grossen Waldbilder, den Rudolf Alt des letzten Jahr¬
zehnts mit seiner vollkommen durchgereiften Tüpfel¬
technik. Diesen Pointillismus hat er keineswegs den
Franzosen nachgepünktelt, sondern er lässt sich bei
ihm schon in den sechziger Jahren nachweisen. Später,
als seine Hand zu zittern begann, so dass seine Schrift¬
züge einer halb ausgedehnten Spiralfeder gleichen,
machte er sich aus jenem punktweisen, scharf zielenden
Hintreffen mit der Pinselspitze ein eigenes System,
Herbst in der Secession ausgestellt war, ging eine
Art Rührung durch das Publikum. Wie die Sonne
durch diese Baumkrone scheint und das Laub in
feurigen Dunst auflöst, der in breitem Streifen nieder¬
trieft das ist ein förmlich secessionistisches Ex¬
periment. Dieser Patriarch hat noch Lust zum Pro¬
blematischen. Gleichzeitig war auch unsere Ansicht
des Pantheons ausgestellt, von 1873, noch mit den
Eselsohren des Bernini über dem antiken Giebel¬
dreieck. Darin ist sein ganzes meisterhaftes Können
von damals. Die schwungvolle Freihändigkeit seines
Zeichnens und die schon erwähnte Kunst des Wirt-
schaftens mit grossen Schattenmassen. Unser Stephans-
Rüdolf von Alt. Der schöne Brunnen in Trient. 1873
ja eine eigene Virtuosität. Die Abbildungen geben
die Bilder natürlich verkleinert, und das lässt den
Vortrag kleinkörniger erscheinen, als er in der That
ist. In der Originalgrösse hat er Saft und Kraft in
ganz erstaunlichem Grade. Und gerade heute, in
neo-impressionistischer, divisionistischer Zeit, ist das
von selbst hochmodern geworden. Die eine dieser
Landschaften, die mit der Sonnenscheibe in der Laub¬
krone rechts, ist im Sommer igoi gemalt (!). Von
einer neunundachtzigjährigen Hand. Es ist der Aus¬
blick von seiner Veranda in Goisern bei Ischl, oder
vielmehr in Lasern bei Goisern, wo er schon den
vierten Sommer verbringt. Vielleicht sitzt er auch
gerade jetzt auf dieser Veranda und malt diese Wiese
mit den grossen Bäumen und dahinter einen Buckel
des Ramsauer Gebirges. Als dieses Bild vorigen
türm ist vom Jahre 1893. In ernster, fast etwas
düsterer Majestät ragt er auf, in die historische Farbe
eines Denkmals der Zeiten getaucht. Das grosse,
fast schwarze Haus rechts ist das altehrwürdige Kur¬
priesterhaus; dahinter sieht man in hellerem Grau
einen Flügel des .Deutschen Hauses^ (vom deutschen
Ritterorden). Und das schiefwinkelige Stück alter
Stephansplatz, das sich zwischen diese vierschrötigen
alten Gebäude hineinschiebt, mit seinen verschieden¬
artigen Pflastern und dem Fiakerstandplatz rechts, und
dem schiefstehenden Schimmelgespann vor dem Omni¬
bus links, und mit all den Leuten und Toiletten und
Strassenlaternen (jede anders), kurz all dem Zeugs ,
. . . das spricht für sich. Und für Rudolf Alt, der
den Stephaiisplalz zu einem Rudolf Altplatz gemacht
hat.
Aus Ver sacrum
RUDOLF VON ALT
DIE KANZEL IM STEPHANSDOM
Zeitschrilt für bildejule Kunst. N. F. XIII. II. ii.
30
RUDOLF VON ALT AUS GOlSERN. 190t
[RUDOLF VON ALT
Original in der k. u. k, Genuildegaleric in Wien
DOGENPALAST
RUDOLF VON ALT
DER STEPHANSPLATZ
Aus Ver sacrum
RUDOLF VON ALT
AQUARELL
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BUCHERSCHAU
Seit dem vorigen Jahre ist in Wien der Versuch ge¬
macht worden, etwa in der Art des Figaro-Salon, das
Beste, was die jährlichen Ausstellungen zusammenführen
und nach kurzer Frist auseinander flattern lassen, in guten
Illustrationen festzuhalten. Aber das Wiener Unter¬
nehmen, dass sich Ars nova betitelt und im Verlage von
Max Herzig erscheint, zeichnet sich vor dem französischen
Werke zunächst schon dadurch aus, dass es sich auf eine
kleine Zahl von Kunstwerken beschränkt, diese aber in
der edelsten Reproduktionsart, nämlich in Heliogravüre,
mustergültig wiedergiebt.
Der äussere Eindruck des schweren Orossfoliobandes
ist ein geradezu überraschender. Eine Decke von so
künstlerischer Wirkung, ein solcher Prachtband im besten
Sinne ist selbst Kolo Moser, dem wir ihm verdanken, nicht
oft gelungen. Auch das Vorsatzpapier ist von einem, wir
möchten sagen beneidenswerten Geschmacke, der aller¬
dings den Künstler bei der Druckumrahmung des Textes
für unser Empfinden leider verlassen hat. Dieser Text
ist für den Jahrgang tqoi von Julius Meier-Gräfe in Paris
abgefasst und will in der Form eines Essays eine Wertung
des augenblicklichen Standes der Kunstproduktion, wie sie
sich in den Ausstellungen des verflossenen Jahres doku¬
mentiert hat, geben. Die nun folgenden Bildertafeln
(diesmal sind es 45) sind mit feinem Empfinden für
das Interessante und Bleibende aus der Masse des
im In- und Auslande zur Schau gestellten von Felicieit
Freiherrn von Myrbach ausgewählt, dem Herausgeber des
ganzen Unternehmens. Die Auswahl, die alphabetisch
geordnet ist, beschränkt sich in diesem ersten Bande nur
auf Malerei und Plastik; für die Folge sollen auch Archi¬
tektur und Kunstgewerbe in den Kreis des Werkes ge¬
zogen werden. Die Heliogravüren sind allen Lobes würdig
und der Preis von 100 Mark ist für das Gebotene eigent¬
lich wohlfeil. Eine Aufzählung der Bilder erübrigt sich:
wer die hauptsächlichsten Jahresausstellungen 1901 besucht
hat, wird hier das meiste wiederfinden, was ihm be¬
sonderen Eindruck gemacht hat. Ars nova soll nun all¬
jährlich wiederkehren. Wir werden also bald Anlass
haben, einen neuen Band zu begrüssen.
Als der Berliner Bildnismaler Max Koner am 7. Juli
1900, kaum 46 Jahre alt, seiner Kunst und seinen zahl¬
reichen Freunden durch einen jähen Tod entrissen wurde,
empfand man wohl die Schwere des Verlustes, aber seinen
ganzen Umfang erkannte man erst, als fast sein ganzes
künstlerisches Schaffen in einer Sonderausstellung zu¬
sammengefasst wurde. Damit sollte aber sein Gedächtnis
nicht aus den Herzen der Lebenden schwinden. Jetzt hat
ihm Max Jordan, der frühere Direktor der Berliner National-
galerie, ein Ehrendenkma! in einer mit warmer Begeiste¬
rung geschriebenen Biographie gesetzt, die als 56. Band
der bekannten von H. Knackfuss herausgegebenen Künstler-
Monographien (mit 75 Abbildungen, Bielefeld und Leipzig,
Velhagen & Klasing, Preis 3 M.) erschienen ist. In treff¬
lichen Abbildungen werden uns Staatsmänner, Parlamen¬
tarier, Gelehrte, Künstler, Grössen der Industrie und der
Handelswelt vorgeführt, und daran schliesst sich ein Kranz
schöner und interessanter Frauen, in deren Wiedergabe
der Künstler, ohne in fade Schmeichelei zu verfallen, den
ganzen Zauber und die volle Anmut seiner Kunst ent¬
faltet hat.
Von Emile Mäle’s Werk l’art religieux du XIII. siede
en france, über dessen ausserordentliche Bedeutung für
die Geschichte der mittelalterlichen Kunst vor wenigen
Monaten hier gesprochen worden ist, ist bereits eine neue
Auflage erschienen (Verlag von Armand Colin in Paris),
die sich vor der früheren durch vergrössertes Format und
reichere Illustration schon äusserlich auszeichnet. Das
Buch sei hier nochmals empfohlen.
Der Kunstsammler Jul ius Unger in Cannstatt hat die
Bilder seiner Galerie in guten photographischen Aufnahmen
zu einem Album vereinigt. Er besitzt alte Meister der
niederländischen Blütezeit und auch eine Reihe moderner
Bilder. Manches Stück scheint vortrefflich zu sein.
Rethel’s berühmter Totentanz in den alten Dresdner
Holzschnitten und mit den Versen von Robert Reinick ist
bei B. Elischer Nachfolger in Leipzig in einer neuen bil¬
ligen, vorzüglich gedruckten Ausgabe erschienen. Wir
weisen nur darauf hin, da zum Lobe dieser Meisterschöpfung
nichts mehr zu sagen ist.
Die Arche Noah (Teubner, Leipzig) betitelt sich ein
modernes Bilderbuch, das aus den Bestrebungen, die
unter dem Zeichen »Kunst im Leben des Kindes« bekannt
sind, hervorgegangen ist. Die Verse haben Fritz und
Emily Kögel niedlich verfasst, die Bilder sind von den
bekannten Karlsruher Lithographiekünstlern , vor allem
Hein, Volkinann und Eichrodt, geschaffen worden. Mit
leuchtenden Farben, mit wenigen starken Strichen, so wie
Kinder sie sehen, ist die Landschaft gezeichnet: grüne
Wiesen und Wälder, blauer Himmel, rote Dächer. Auch
das Figürliche ist derb, lustig und klar ausgedrückt.
Eine Mappe mit 16 Kunstblättern ist unter dem Titel
»Freie Vereinigung Darmstädter Künstler« erschienen.
Die Teilnehmer scheinen sich nur nach ihrer Zugehörigkeit
als geborene Hessen zusammengefunden zu haben, da
man Namen wie L. von Hofmann, Peter Halm, Küstner,
Ubbelohde darunter findet. Das Gebotene setzt sich aus
Lithographien, Lichtdrucken und Radierungen zusammen,
die eine ziemlich gleichniässig gute Qualität aufweisen.
Die letzte Jahresmappe der Gesellschaft für ver¬
vielfältigende Kunst in Wien (1901) ist wieder Blatt für
Blatt vortrefflich und interessant. Die Glanzpunkte der
diesmaligen Sammlung sind ein ausserordentlich amüsanter
Farbenholzschnitt von Lepere und eine Tigerfamilie von
Paul Neuenborn.
Dekorative und monumentale Malereien zeitgenössi¬
scher Meister, herausgegeben von Egon Hessling, Ver¬
lag von Bruno Hessling, Berlin.
Die uns vorliegenden ersten zwei Mappen der Hessling-
schen Publikation lassen diese als ein in jeder Beziehung em¬
pfehlenswertes Unternehmen erscheinen, das auch für
den Kunsthistoriker interessantes Studienmaterial enthält,
wenn auch die Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse
des Dekorationsmalers den Anlass zur Herausgabe ge¬
geben haben mag. Eingeleitet wird die erste Mappe in
der schönsten Weise durch einige ganz vorzügliche Karton¬
skizzen von Geselschap, es folgen dann ausgeführte Ar¬
beiten von Seliger, A. von Werner, Prell, Friedrich, Koch,
Lugo, Sascha Schneider u. s. w. Auch Thoma’s einst von
den Frankfurtern so lächerlich verkannte Wandbilder im
dortigen »Cafe Bauer« sind aufgenommen. Die Auswahl
ist geschmackvoll und reich, und zeugt vom Verständnis
des Herausgebers, der selbst Maler ist.
Rudolf von AH. Zimmer mit Blumen
hn Hintergründe des Künstlers Enkelin
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Berlin SW., Dessauerstrasse 13.
Druck vou Ernst Hedrich Nachf., O. m. b. H., Leipzig.
ZEITSCHRIFT FÜR KUNST
RUDOLF VON ALT. BEROWAND IN O ASTEIN
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■ '
/.
WALTER LEISTIKOW
Von Werner Weisbach
Ein Landschaftsmaler, der wie Walter Leistikow gegen Ende des ig. Jahr¬
hunderts geboren ist, wurde in eine künstlerisch bewegte Zeit gestellt.
Alle die Kämpfe um eine neue Kunst, die sich in den verschiedenen
Ländern seit dem Anfänge des Jahrhunderts entspannen, kamen in seiner zweiten
Hälfte zum Austrag. Wohl auf keinem anderen Kunstgebiete hat sich im
Laufe dieser Ära eine so ständige, die mannigfaltigsten Phasen durchlaufende
Entwickelung vollzogen wie in der Landschaftsmalerei. Während das 1 8. Jahr¬
hundert in seinen künstlerischen Tendenzen der Landschaft ziemlich kühl gegen¬
über stand, erfolgt im 19. ein gewaltiges Ringen um das Problem ihrer bildlichen
Wiedergabe. Dass die moderne Landschaftsmalerei in England geboren wurde,
darf heute als historische Thatsache gelten. Dort trat der geniale Constable
in ein inniges Verhältnis zur Natur und liess sich von ihr und von ihr allein
zu den gewaltigsten Schöpfungen inspirieren. Doch er, Turner und Bonington
blieben nur vereinzelte Erscheinungen. Der Klassizismus brach auch nach Eng¬
land übermächtig hinein, wie er Erankreich und Deutschland eroberte.
In seinem Gefolge trat die klassisch -heroische Malerei auf, die sich in Deutschland weit aus¬
breitete. Sie wollte einen gewissen, dem klassischen Ideal entsprechenden Linienrhythmus in der Landschaft
zum Ausdruck bringen. Da man einen solchen im Mutterlande nicht fand, so suchte man ihn im Süden.
Die südliche Landschaft erwies sich zu einer Stilisierung in dem angegebenen Sinn als besonders geeignet. Sie
zeigt die Eorm in möglichster Reinheit und bietet schwungvollere Linienzüge als die Gegenden nördlich der
Alpen. Licht und Farbe wurden weniger auf ihre natürlichen Erscheinungen hin betrachtet, als im Bilde
zur Steigerung bestimmter von vornherein gewollter Effekte verwendet. Man wollte so sehen, wie man
glaubte, dass die Alten gesehen hätten.
Zu malen was man sah und wie man sah, das wurde in Frankreich bei den Meistern von Barbizon
das einzige Bestreben in ihrem künstlerischen Schaffen. Der heimatliche Boden zog sie an. Ihrer persönlichen
Stimmung gemäss suchten sie jede Landschaft bildlich darzustellen, so wie sie sie in einer bestimmten
seelischen Verfassung geschaut hatten. An die Natur traten sie mit einer heiligen Andacht heran und gaben
sich ganz dem Zauber ihrer vielgestaltigen Erscheinung hin, dabei ihre ganze Seele erschliessend. Der folgende
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 12.
37
282
WALTER LEISTIKOW
Walter Leistikow. Motiv aus Schweden
Impressionismus bedeutet einen Fortschritt nur in
technischer Beziehung. Das Sehen verfeinert sich ;
die Empfindungsfähigkeit für Farbeneindrücke in der
Landschaft steigert sich. Neue Mittel zur Bewältigung
neuer Probleme werden gesucht und gefunden. Man
trachtet danach, dem Momentanen, Variablen zu einer
künstlerischen Wirkung zu verhelfen. Jede Natur¬
erscheinung als solche, auch ohne stimmungerregenden
Gehalt, wird Objekt der Darstellung.
In Deutschland waren bis gegen Ende des 19. Jahr¬
hunderts in der Ausbildung einer realistischen Land¬
schaftsmalerei verhältnismässig geringe Fortschritte
gemacht worden. Die Düsseldorfer Schule übte einen
weitgehenden Einfluss aus. Von einem in Düssel¬
dorf bei Schirmer und Andreas Achenbach geschulten
Norweger genoss Leistikow seinen ersten künstlerischen
Unterricht an der Berliner Akademie. Hans Gude
malte mit Vorliebe das Meer mit einem Stück felsiger
Küste in goldigem Abendglanz, stets ähnliche Motive,
immer kühl, aber auch immer geschmackvoll. Die
Achenbach -Gude’sche Richtung, die in Gegensatz zu
der klassisch -heroischen Landschaftsmalerei stehen
wollte, war ihrer Tendenz nach realistisch, legte auf
die Form weniger Wert als auf die Farbe, ohne sich
von dem konventionellen Kolorismus los zu machen.
Ihr Zusammenhang mit der Romantik sprach sich
zum Teil in der Wahl von Motiven und Stim¬
mungen aus.
Leistikow schloss sich mit seinen landschaftlichen
Motiven zunächst an seinen Lehrer Gude an. Auch
er malte Ufer- und Küstenbilder — ohne besonderen
poetischen Stimmungsreiz. Ziemlich nüchtern be¬
trachtete er die Natur wie ein echter Niederdeutscher.
Was ihn besonders anzog, das waren Farben- und
Luftprobleme: zusammengeballte Wolkenmassen, deren
Tinten von Schwarz bis zu einem hellen Grau
spielen, Wasserspiegelungen mit ihren koloristischen
Reizen. Der bräunliche Ton, der den Gude’schen
Bildern anhaftet, fehlte bei ihm völlig. Die sei-
nigen waren hell und freundlich. Ängstlich suchte
er den Erscheinungen der Natur gerecht zu wer¬
den. Nicht selten verfiel er dabei in Kleinlich¬
keit. Er wählte meist umfangreiche Landschaftsaus¬
schnitte, gab weite Übersichten. Hinter dem Wasser,
fern am Horizont ist zuweilen noch einmal Land zu
sehen. Dort ist das einzelne dem Auge nicht mehr
wahrnehmbar. Die Objekte wirken nur noch als Sil¬
houetten. Die reine Form kommt ganz zu ihrer Gel¬
tung. Da offenbart sich zuerst des Künstlers feines
Stilgefühl.
Als Leistikow an der Akademie studierte, war in
Berlin bereits eine neue Ära für die Kunst ange-
WALTER LEISTIKOW
283
brochen, ganz in der Stille. Max Liebermann hatte
den Mut, die Natur nicht unter Vermittelung irgend¬
welcher vorhergehender Künstler oder Kunstanschauun¬
gen zu betrachten, sondern die Natur selbst als einziges
Vorbild anzusehen für die Wirkungen, die er er¬
zielen wollte. Er war viel umhergekommen, hatte
in Paris und in Holland gearbeitet, wo es Maler gab,
die sich der Natur mit freierem Blick gegenüber¬
stellten als damals die meisten Deutschen. So trat
er mit einem ganz persönlichen Stil in Berlin auf.
Alle Erscheinungen der Wirklichkeit wurden Gegen¬
stand seiner Kunst. Er suchte nicht die gesteigerten
Effekte, die die Natur in aussergewöhnlichen Mo¬
menten unter gewissen Bedingungen hervorbringt.
Ein grauer, trüber Tag besass für ihn einen
gleichen künstlerischen Reiz wie das mittägliche, un¬
gebrochene Sonnenlicht. Jede Stunde wusste sein
feines Künstlerauge anzuziehen. Und da er die Natur
meistens hell sah, so suchte er die Bedingungen da¬
für, sie auch hell malen zu können, festzustellen.
Während die akademischen Kreise sich seiner so
wenig schönfärbenden, urwüchsigen Kunst gegenüber
ablehnend verhielten, erkannten die jüngeren, die ge¬
wöhnt waren, nicht voreingenommen, mit eigenen
sehenden Augen in die Natur zu schauen, den
grossen Wert und die epochemachende Bedeutung
seiner Malweise und begrüssten ihn als ihren Eührer
und Meister. Die Anregungen, die er gab, wirkten
weithin und teilweise im Verborgenen.
Auch Leistikow wandte sich der Hellmalerei zu.
Es bedeutete keinen grossen Umschwung für seine
Kunst. Er hatte die Natur niemals braun in braun
gesehen. Sein Auge schärfte sich seit dem Ende der
achtziger Jahre immer mehr für Valeurs. Wirken
seine ersten Bilder schwer und hart, so ging er
nun immer mehr auf einen verfeinerten Kolorismus
aus. Neue Kräfte, neue Anregungen schöpfte er stets
aus dem Verkehre mit der Natur selbst, ln jedem
Sommer zog er aufs Land hinaus und füllte seine
Skizzenbücher mit Studien. Seine Motive wurden
die denkbar einfachsten: eine Wiese mit Bauern¬
häusern im Hintergründe, vorn Enten an einem Tüm¬
pel, Getreide- und Kartoffelfelder mit arbeitenden
Bauern; auch an den flachen, schilfigen Ufern der
Binnenseen Hess er sich gern nieder. Diese letzten
Motive bevorzugte er namentlich in den ausgeführten
Ölgemälden, ln diesen Jahren verwendet er auch
noch Menschen als Staffage, am liebsten Kinder oder
halbwüchsige Mädchen, wovon er später ganz ab¬
kommt. Interessant für seine frühe Zeit ist die
'Strandpromenade von Helgoland«, vom Jahre 1892,
mit Aussicht auf das Eelseneiland, dazwischen die
brandende See. Einzelne Partien sind hell von der
Sonne beleuchtet, die durch weisse Wolken, welche
andere Partien in Schatten hüllen, auf die Landschaft
herabscheint. Eine vortreffliche Freilichtstudie, von
ausserordentlich wahrer Wirkung, in Liebermann’schem
Sinne, nur noch etwas schwer und ängstlich gemalt.
Als Leistikow 188g das Meisteratelier Gude’s ver¬
lassen hatte, erhielt er gleich im folgenden Jahre eine
Anstellung als Lehrer an der Kunstschule in Berlin
und wirkte hier bis zum Jahre 1893. Die Sommer¬
monate brachte er in Friedrichshagen am Müggelsee
zu. Dieser Ort war damals ein Mittelpunkt für die
modernen Dichter und Litteraten. Hier fanden sich
Max Halbe, Wilhelm Bölsche, Bruno Wille, Holz,
Schlaf, die beiden Harts zusammen; Gerhart Haupt¬
mann lebte in dem benachbarten Erkner. Hier mag
Leistikow wohl die ersten Anregungen zu eigener
schriftstellerischer Thätigkeit empfangen haben; ein
Walter Leistikow. Düne von Helgoland. i8q2
37
284
WALTER LEISTIKOW
Gebiet, auf dem er ausser einer Reihe von Auf¬
sätzen über Zeitfragen auch einen Roman: Auf
der Schwelle (Berlin, Schuster & Löffler 1896) ge¬
schaffen hat. ln Friedrichshagen lernte er auch seine
Gattin, eine Dänin, kennen, die der Wunsch, mit dem
jungen litterarischen Deutschland in Berührung zu
treten, dorthin geführt hatte.
ln der Mitte der neunziger Jahre kam Leistikow’s
Kunst zu ihrer eigentlichen Reife. Es war nicht seine
Sache auf ausgetretenen Bahnen weiterzuwandeln.
Er rang mit der Aufgabe, neue, seiner Individualität
entsprechende Ausdrucksformen für die Schöpfungen
der Natur zu finden. Dass Liebermann, die modernen
Franzosen mit ihrem Naturalismus auf der rechten Spur
wären, hatte er erkannt. Von der Kunst, die er im
Meisteratelier Gude’s gesehen hatte, fühlte er sich weit
getrennt. Und als sich unter Führung Liebermann’s
im Anfänge des Jahres 1892 eine Vereinigung von
einigen Künstlern, die alle mit den Juryverhältnissen
der offiziellen Ausstellungen unzufrieden waren, bildete,
um eigene, selbständige Ausstellungen zu veranstalten,
war auch Leistikow darunter. Diese »Vereinigung
der XL hatte kein bestimmtes künstlerisches Pro¬
gramm, wie wohl schon aus der Teilnahme so ver¬
schieden gearteter Maler wie Liebermann, Ludwig
von Hofmann, Leistikow, Skarbina hervorgeht. Sie
verfolgte nur den Zweck, ihren Mitgliedern Gelegen¬
heit zu geben, ihre Arbeiten in kleineren Ausstellun¬
gen dem Publikum möglichst vorteilhaft vor Augen
zu stellen. Man mochte nicht mehr darunter leiden,
dass von den massgebenden Berliner Künstlern alles
Neue, das sich nicht in altgewohnten Geleisen be¬
wegte, mit Misstrauen angesehen und nach Möglich¬
keit unterdrückt wurde. Wie sehr man Grund hatte,
auf der Hut zu sein, zeigte das Schicksal, das im
folgenden Jahre dem norwegischen Maler Munch zu
teil wurde. Auf eine Einladung des Künstlerverems
hin hatte er in dessen Räumen eine Reihe von Bil¬
dern ausgestellt. Da diese mit ihrer krassen Eigen¬
art das liebe Publikum zum Widerspruche reizten, so
wurde in einer Sitzung des Künstlervereins mit ge¬
ringer Majorität die Schliessung der Ausstellung
proklamiert. Leistikow, der dem, was er auf dem
Herzen hat, gern öffentlich Ausdruck verleiht, geisselte
unter dem Pseudonym Walter Selber solches Vorgehen
in einem Aufsatz in der Freien Bühne, dem Organ
der Friedrichshagener Litteraten.
Wer die Ausstellungen der XI mit Aufmerksam¬
keit verfolgte, dem vermochte sich Leistikow’s Ent¬
wickelungsgang Schritt für Schritt zu offenbaren. Er
trat in die Vereinigung ein als ein noch durchaus
suchender und ringender. Verschiedenartige starke
Anregungen trugen dazu bei, einer ganz neuen und
rein persönlichen Art der Naturanschauung bei ihm
zum Durchbruch zu verhelfen.
Etwa zu gleicher Zeit wie der französische Na¬
turalismus in Berlin bekannt wurde, erhielt man von
einer anderen, aussereuropäischen Kunst nähere Kennt¬
nis: der japanischen, die in Paris schon längst ihre
Triumphe gefeiert und auf Kunst und Gewerbe ihren
Einfluss ausgeübt hatte. Künstler wie Liebermann
sammelten japanische Kunsterzeugnisse. Von Zeit zu
Zeit besuchten Eingeweihte den kleinen Laden des
Kunsthändlers Pächter, um sich an dem Farbenzauber
japanischer Holzschnitte zu berauschen. Die japa¬
nische Flächenkunst verband in der Wiedergabe der
Landschaft starke koloristische Effekte mit einer an¬
deutend skizzierenden Darstellungsweise. Die reine
Form gewann unter den Händen der japanischen
Künstler eine wunderbare Ausdrucksfähigkeit. Ihre
Silhouetten redeten eine eigene, märchenhafte Sprache
und zeugten von feinster künstlerischer Sensitivität.
Die lachende, jubelnde Farbenpracht musste die an
die braunen Töne der Galeriebilder gewöhnten Augen
europäischer Beschauer verblüffen. An Leistikow, der
schon im Anfänge der neunziger Jahre sich aus dem
blossen Naturalismus herauszuarbeiten trachtete, konnten
die im höchsten Grade dekorativen japanischen Kunst¬
werke nicht spurlos vorübergehen.
Andere weitgehende Anregungen empfing er auf
einer Reise nach Paris im Frühjahr 1893. Er hat
diese Eindrücke im Juliheft der »Freien Bühne« ge¬
schildert. Hauptsächlich die grossen dekorativen Ar¬
beiten von Besnard und Puvis de Chavannes be¬
geisterten ihn. ln Puvis de Chavannes besonders fand
er einen Meister, dessen Art der Naturanschauung
der seinigen verwandt war. Bei Puvis gaben die
Landschaften nur einen stimmungsvollen Schauplatz
ab für seine dekorativen Figurenbilder. Er trachtete
bei Wiedergabe der Natur nach deren grossen, ruhigen
Formen. Die Landschaft erscheint bei ihm als ein
harmonisches, weitflächiges Gebilde mit starker For¬
menausprägung.
Solchen Einflüssen, die ihn auf den dekorativen
Wert der Naturformen hinwiesen, zeigte sich Leisti¬
kow, dessen Streben aus dem Naturalismus und über
den Naturalismus hinausdrängte, durchaus zugänglich.
Seine künstlerische Veranlagung wies ihn auf eine
gleiche Bahn. Als er um die Mitte der neunziger
Jahre mit seinen neuen Schöpfungen an die Öffent¬
lichkeit trat, sagte man teils vorwurfsvoll, teils be¬
wundernd, er stilisiere jetzt die Natur. Er stilisierte
auch, aber die Art seines Stilisierens war ganz etwas
anderes als das, was die deutschen Maler der klassischen
und heroischen Landschaften gethan hatten. Von ihren
Zielen waren die seinigen weit entfernt. Durch seine na¬
turalistische Ausbildung hatte er einen zu guten Grund
gelegt, um der Natur ausser ihr liegende Gesetze vor¬
schreiben zu wollen. Er sehnte sich nicht jenseits
der Berge, um ihm entsprechende Motive zu finden.
Alles bot ihm der Boden der Heimat. Was Böcklin
einmal nach den von Schick geführten Tagebüchern
ausgesprochen hat: »man müsse nur nicht seine Ideen
in die Natur hineintragen wollen, sondern sich von
der Gegend selbst anregen lassen«, das diente auch
ihm als Prinzip. Er prägt der Natur nicht einen
Stil auf, sondern die Natur enthüllt ihm ihren Stil.
Das Verhältnis des Menschen zur Landschaft
ist je nach seiner Individualität und Veranlagung
verschieden. Ebenso ist das künstlerische Sehen der
Natur bei den einzelnen Individuen ein höchst wech¬
selndes. Der eine fühlt sich durch die temporären,
WALTER LEISTIKOW HAFEN MIT WOLKENSPIEGELUNG
WALTER LEISTIKOW
•-■..iablen Reize der Landschaft besonders angezogen
■ ;id bemüht sich, seine Augenblicksimpressionen in
Jner dem empfangenen Eindruck möglichst nahe
Kommenden Weise wiederzugeben. Bei anderen
spielen bei der Betrachtung der Landschaft mehr
i.jchologisch-associative Momente mit. Sie werden
angeregt, den Naturerscheinungen menschliche Eigen¬
schaften beizumessen, sie in einem gewissen Sinne
zu anthropomorphisieren und glauben, in ihrem Ver¬
halten psychische Zustände, die den unsrigen ver¬
wandt sind, zu erkennen. Nun recken sich Eelsen
bedeutend- und Uninteressantmachen aller Neben¬
sachen . Jedes Komponieren bedingt ein gewisses
Stilisieren. Das Stilisieren hat F. Th. Vischer in seinen
nachgelassenen Vorträgen: >Das Schöne und die
Kunst« mit ähnlichen Worten wie Böckliri erklärt:
»Ein Künstler, der Stil hat, erfasst einen Gegenstand
in seinem Mittelpunkt und legt in ihn die Gewaltig¬
keit, die in ihm selber lebt; er scheidet das Un¬
wesentliche, Kleine, Zufällige aus und stellt die wesent¬
lichen Züge in grossem Rahmen und mit festen,
markigen Zügen vor Augen.«
Walter Leistikow. Nordische Landschaft
wie Riesen in die Lüfte, Bäume erheben stolz ihr
Haupt, eine Ebene breitet sich in ruhigem Frieden
aus, Wolken irren rastlos am Himmel entlang. In
dieser Weise wirken die Naturobjekte, wenn der Blick
mehr auf die Totalität ihrer Erscheinung gerichtet ist
und über das Momentane und Zufällige hinwegsieht.
Auf ihre einfachen Formen zurückgeführt gewinnen
sie auch eine besondere dekorative Bedeutung. Orna¬
mente entstehen aus Naturerscheinungen durch Ver¬
einfachung, Konzentrierung ihrer Formen. Das ganze
Komponieren besteht, wie Böcklin es einmal treffend
ausgedrückt hat, in nichts anderem als im Bedeutend¬
machen eines Stoffes durch Unterordnung und Un-
Leistikow’s Stilisieren ist ein Unterdrücken des
Nebensächlichen. Die Natur verändert er nicht will¬
kürlich, einer vorgefassten Idee zu Liebe, sondern ver¬
einfacht sie. Er stilisiert aus der Natur heraus, nicht
in sie hinein. Indem er ihr ihre dekorativen Reize
entlockt, verlässt er doch niemals den Boden realer
Naturanschauung.
Er ist nichts weniger als ein einseitiger Form¬
stilist. Die Form ist für ihn nicht etwas Absolutes,
etwa wie die Verkörperung einer platonischen Idee,
sondern gewinnt ihren Wert erst durch ihre momen¬
tane farbige Erscheinung. Von dieser geht er stets
in erster Linie aus. Indem er die Form durch eine
Walter Leistikow. In den Dänen. Pastell
Walter Leistikow. Griinewaldsee. (Verlag der Photogr. Gesellsch. Berlin)
288
WALTER LEISTIKOW
Walter Lei st i ko w. Hafen
farbige Behandlung zur Geltung und zu voller Wir¬
kung bringen will, fasst er mehr die grossen Earben-
komplexe ins Auge, als dass er sich, wie dies von
vielen Modernen geschieht, auf eine zu weit gehende
Auflösung, Zerlegung und Spaltung der Earben ein¬
lässt. Seine Bilder sind alle von vornherein in Far¬
ben und für Farben gedacht, auf breite Flächen hin
angelegt. Nichts Zeichnerisches haftet ihnen an. Im
Kolorismus liegt seine eigentliche Bedeutung. Weniger
Hervorragendes leistet er in der Radierung. Er hat
auch nur verhältnismässig selten das Bedürfnis ge¬
fühlt sich in ihr auszusprechen, und dann meist bei
besonderen Anlässen und auf bestimmte Aufforde¬
rungen hin. Die Skizzen, die er vor der Natur
schafft, sind fast immer in Farben (Aquarell und
Gouache) ausgeführt. Hat
er ja einmal eine Zeich¬
nung, wie die abgebildete
Kohlenskizze, entworfen, so
ist sie ganz breit und
grosszügig gehalten , von
grandioser Wirkung.
Den eigentlichen Reizen
der Aquarelltechnik, wie sie
z. B. die modernen Hollän¬
der in so hohem Grade zu
enthüllen vermochten, ist er
in seiner ersten Periode mehr
gerecht geworden als später¬
hin. Seine frühen Aquarelle
haben etwas von dem Feuch¬
ten, Schimmerigen, Duftigen,
das gerade diese Technik
hervorzubringen gestattet.
Später werden sie effektvoller,
mehr auf starke Farbigkeit
und Kontrastwirkungen hin
angelegt. Die Gouache¬
farben sprechen bedeutungs¬
voll mit. Es werden glän¬
zende Wirkungen, beinahe
wie mit Ölfarben, erzielt.
ln seiner Jugend hat Leistikow starke kolo¬
ristische Effekte bei seinen Bildern eher ver¬
mieden. Seitdem er sich um die Mitte der
neunziger Jahre seinen neuen Stil geschaffen,
reizte es ihn auch die Natur in besonderen
Weihestunden zu belauschen. Sein bevor¬
zugtes Gebiet wurden die Fichtenwälder in
der Nähe von Berlin. Er liebte es die stäm¬
migen Waldriesen zu malen, wenn gegen
Sonnenuntergang ihre Farben zu höchster
Intensität gesteigert sind. Dann glühen die
Stämme und Äste in brennendem. Rot, und
über den Stämmen lagern in tiefem dunklem
Grün die Baumkronen, zu einer festen Masse
sich zusammenschliessend. Es tritt gleichsam
das Gerippe der Bäume klar zu Tage; ihre
Formen ergeben eine prachtvolle Silhouette.
Oft breitet sich im Vordergründe die spiegel¬
glatte Fläche eines Sees ans, eines jener
dunklen märkischen Binnenseen, über denen ein ge¬
heimnisvoller Zauber zu walten scheint. Ein reiz¬
voller Kontrast bildet sich heraus, wenn sich, wie im
ersten Frühling, neben den hochragenden Kiefern,
die so streng und begehrlich ihre vereinzelten Äste
recken, zarte Bäumchen mit flockigem Laub und
Blüten vor einem Walde, der wie eine Mauer den
Hintergrund abschliesst, bescheiden und duftig er¬
heben.
ln seinen Motiven ist der Künstler schier uner¬
schöpflich. Immer neue Reize weiss er dem Walde
abzugewinnen. Ob er nun, mitten im Dickicht
stehend, die Bäume gleichwie die ragenden Säulen
eines Domes ernst und eindrucksvoll emporführt, in¬
dem er die Kronen durch den oberen Bildrand ab-
Walter Leistikow. Haus im Orunewald
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Xlll. H. 12.
38
WALTER LEISTIKOW FLUSSLANDSCHAFT
2go
WALTER LEISTIKOW
Walter Leistikow. Wisby. Dekoratives Gemälde
schneidet, ob er den Blick des Beschauers über eine
weite, öde, herbstliche Fläche schweifen lässt, über
der sich schweres Gewölk zusammenballt, oder sein
Auge auf einen lauschigen Park am Rande des Wal¬
des lenkt, über dessen Mauer sich hängendes Grün
zum Wasser niederneigt — über dem Wasser eine ein¬
same, gewölbte Brücke.
Als Maler des Grunewaldes ist Leistikow zuerst
weiter bekannt und berühmt geworden. Man hatte
früher kaum geahnt, dass der bescheidenen Gegend
in der Nähe von Berlin so reizvolle Effekte zu ent¬
locken wären, dass auch hier eine Grossartigkeit zu
finden ist, sobald ein sensibles künstlerisches Auge
sie zu suchen versteht. Die früheren Maler, die Rom¬
pilger, hatten dafür keinen Blick gehabt. Über die arme,
verachtete Mark breitete sich am Ende des ig. Jahr¬
hunderts ein zwiefacher künstlerischer Glanz. Ein
Dichter erstand ihr in Theodor Fontane, ein Maler
in Walter Leistikow.
Seit einigen Jahren wohnt Leistikow allsommerlich
in seinem geliebten Walde, in einem kleinen, lau¬
schigen Häuschen. Aber nicht den ganzen Sommer
hält es ihn dort, denn noch eine andere Liebe hat
der Künstler, die Liebe seiner frühesten Jugend, der
er auch später treu geblieben ist: das Meer.
So zieht er denn in jedem Jahre, wenn die heisse
Zeit herankommt, an die Küste, nach Dänemark, Nor¬
wegen oder Schweden, um seine Sehnsucht nach dem
Meere zu stillen. Am liebsten malt er die See, wenn
sie still und regungslos in ruhiger Majestät daliegt.
Er nimmt gewöhnlich seinen Standpunkt nicht so,
dass er nur das offene Meer vor sich hat, sondern
dass noch Stücke Landes sichtbar sind, die für die
Bildwirkung bedeutend mitsprechen. Manchmal er¬
scheint ganz in der Ferne wieder ein Stück Küste,
auf dem sich vereinzelte Bäume erheben, fast aller
Materialität entkleidet und gespensterhaften Schatten
gleichend. Von eigenartigstem Reize sind seine Däm¬
merungs- und Nachtbilder, wenn sich zwischen dunkle,
wie Silhouetten wirkende Landstriche das spiegelglatte
Meer als einzige leuchtende Fläche schiebt.
Eine besondere Spezialität bilden die Hafenbilder.
Da war es das Problem der Spiegelung im ruhigen
und leicht bewegten Wasser, das ihn reizte. Die
Schiffe mit ihrem bunten Anstrich, ihren Segeln,
Masten und Tauen bieten dem Auge ein Schauspiel
von leuchtender Farbenpracht. Sanfter und gedämpf¬
ter erscheinen die Farben in der klaren Flut. Von
besonderer Schönheit und Eigenart sind die Wolken¬
spiegelungen, wenn der blaue Himmel mit weissen
Wolkenmassen in mattem Glanze aus dem feuchten
Elemente auftaucht. Einige der Hafenbilder gehören
zu den glücklichsten Schöpfungen des Künstlers. Da
sind Schiffe, Wasser und Land in wunderbaren Farben¬
symphonien vereinigt.
WALTER LEISTIKOW
291
Walter Leistikow. Norwegisches Gebirge
Im Laufe seiner Entwickelung hat Leistikow
sein Darstellungsgebiet immer mehr erweitert. Neben
dem Meer hat er dessen Umgebung, die Dünen,
in das Bereich seiner künstlerischen Beobachtungen
gezogen. Er giebt entweder einen kleinen Aus¬
schnitt aus der Landschaft und sucht dann die
Stimmung der Öde, die über solch einem sandigen,
gestrüppreichen Dünenwinkel lagert, zum Ausdruck
zu bringen. Oder aber sein Blick richtet sich auf
eine ganze Reihe der hügeligen Erhebungen; dann
weiss er eine wunderbare harmonische Zügigkeit im
Verlaufe dieser Sandberge zu entdecken. Mit Wohl¬
gefallen schmiegt sich das Auge des Beschauers dem
melodischen Auf- und Absteigen der Linien an und
sieht hier und da über den Senkungen der Hügel
einen Streifen schimmernden Meeres aufleuchten.
Die Reichhaltigkeit der Motive Leistikow’s im
Rahmen dieser kurzen Betrachtung zu schildern, ist
nicht möglich. Er hat sich vor Einseitigkeit zu be¬
wahren gewusst und durchmisst mit offenem künst¬
lerischem Blick die verschiedensten landschaftlichen
Gebiete. Jeder Gegend weiss er einen besonderen
für sie charakteristischen Reiz abzugewinnen, den er
in ihrer koloristischen und dekorativen Wirkung findet.
Das nordische Hochgebirge hat in ihm besonders in
der letzten Zeit einen feinfühligen Schilderer gefunden.
Und er hat die Wiedergabe majestätischer Schnee¬
berge, die einem durch phantasielose Vedutenmaler
verleidet war, wieder zu Ansehen gebracht.
Noch einer besonderen Gattung von Bildern wäre
zu gedenken, der rein dekorativen Landschaften. Hier
hat der Künstler in der Abstraktion von allem Zu¬
fälligen den letzten Schritt gethan. Die Form, befreit
von allem Nebensächlichen und durch intensive Farbe zu
höchsterWirkung gesteigert, kommt in ihrer reinen, maje¬
stätischen Schönheit zur Geltung. Diese Gattung von
Werken beansprucht nichts weiter als eine dekorative
Bedeutung. Es war nur natürlich, dass sie auch kunst¬
gewerblich verwertet wurde, ln den Entwürfen für
Wandteppiche ist er besonders glücklich gewesen.
Er hat der erst vor kurzem zu neuem Leben er¬
weckten Handweberei höchst zweckentsprechende und
wirkungsvolle künstlerische Vorwürfe geliefert und
diesem Gebiete die dekorative Landschaft, indem er
sie auf breite Flächen und starke Farbengegensätze
hin anlegte, in geeigneter Weise zugänglich gemacht.
38*
2Q2
WALTER LEISTIKOW
Auch sonst hat er sich in verschiedenen kunst-
t;(\verblichen Zweigen bethätigt. Seine sehr spär¬
lichen Möbelentwürfe gehören nicht zu seinen ge¬
lungenen Schöpfungen. Er hat das wohl selbst ein¬
gesehen; denn wie wenige ist er sich der Grenzen
seiner Begabung bewusst. Und es war ein Glück
für ihn, dass er sich nicht von dem Strudel der
modernen kunstgewerblichen Bewegung mit fortreissen
liess, der so manche Maler verschlungen hat.
Nur einer Beschäftigung für das Kimstgewerbe ist
er auf die Dauer treu geblieben: dem Entwerfen von
Eriesen schliesst er eine grössere Fülle von Motiven
zu einer fortlaufenden, bunt bewegten Reihe zusammen.
Leistikow’s Tapeten haben ebenso wie seine Bilder
etwas Strenges, nichts Einschmeichelndes. An grosser,
für sich sprechender dekorativer Wirkung kommen
ihnen in Deutschland nur wenige Leistungen auf
diesem Gebiete gleich.
In jeder Arbeit Leistikow’s spricht sich eine un¬
gewöhnlich kräftige, voll entwickelte Individualität aus.
Er hat sich niemals von anderen ins Schlepptau
nehmen lassen, niemals seine künstlerische Über-
Walter Leistikow. Kohleskizze
Tapetenmustern. Die Firma Adolf Burchardt Söhne
in Berlin hat es verstanden, seine Fähigkeiten für
dieses Gebiet auszunutzen. Er zeigt sich dafür
in hohem Masse geeignet. Welche Prinzipien ihn
leiten, darüber hat er sich selbst einmal im kunst¬
gewerblichen Beiblatt dieser Zeitschrift ausgesprochen.
Die Dekorierung der Fläche, die Stilisierung der
Form ist ja sein eigenstes Gebiet. Seine Muster
setzen sich aus phantastischen oder Pflanzenmotiven
zusammen. Er verteilt immer nur wenige Ornamente
auf die Fläche, so dass das Gesamtbild ein sehr
klares, ruhig wirkendes ist. Nur in den oberen
Zeugung auf Anregungen hin aufgegeben, die von
aussen an ihn herantraten. Dass er sich, als er sich
in einer Gärungsperiode befand, mit offenem Auge
in die neuen Errungenschaften seiner Zeitgenossen
vertiefte, that seiner Originalität niemals Abbruch.
Er hat nicht wie Liebermann oder Puvis gemalt, sich
nicht dem Japonismus in die Arme geworfen. Er ist
auch nicht dem Impressionismus verfallen, der damals,
als sich Leistikow in der Entwickelung befand, von
vielen und ihm Nahestehenden als die allein selig¬
machende »Richtung« gepriesen wurde. Der Stil, zu
dem er durch eine Reihe von Jugend versuchen hin-
WALTER LEISTIKOW
293
durch gelangte, ist ein ganz persönlicher Ausdruck
seiner Individualität. Er ist durch ihn und von innen
heraus entstanden, durch keinerlei äussere Einflüsse
bedingt.
Seine Kunst vermeidet alles Raffinierte, alle starken,
die Bestimmtheit der Eorm aufhebenden Farben¬
differenzierungen. Ihn beherrscht jener der germa¬
nischen Kunst seit Dürer und noch früher eigene
Drang nach Klarheit und Bestimmtheit. Er betrachtet
die Natur nicht als ein Objekt für spitzfindige Be¬
obachtungen; er lässt sich von ihr rühren und hin¬
stellt. So ist ein fertiges Bild die künstlerische Ver¬
arbeitung empfangener Natureindrücke und wirkt des¬
halb wahr. Künstlerische Wahrheit ist aber dann
vorhanden, wenn ein Künstler uns durch zielbewusste
Anwendung seiner Mittel in seinen Bann zu zwingen
weiss, wenn seine Idee zu reinem künstlerischem Aus¬
druck kommt, wenn dem Kunstwerk eine dieser Idee
entsprechende innere Gesetzmässigkeit anzuhaften
scheint. Leistikow’s Werke sind im besonderen von
der Idee getragen, ihren Bestimmungsort zu schmücken.
Sie schlagen vielfach einen feierlichen, festlichen Ton
Walter Leistikow. Dekorative Landsehaft. Für ein Speisezimmer
reissen, klagt und jauchzt mit ihr, denn er ist ein
Dichter in Farben und durch Farben. Niemals wird
er zum Sklaven der Natur; er unterwirft sich ihr
nicht, gleichsam willenlos, sondern stellt ihr gegen¬
über immer sein persönliches Ich in den Vordergrund.
Studien, die er vor der Natur entworfen, dienen ihm
nur als Unterlage für auszuführende Gemälde, in denen
er nach einer geschlossenen Bildwirkung trachtet. Sie
sind für ihn Material, weiter nichts. Im Atelier folgt
erst die umfassende künstlerische Arbeit. Hier über¬
nimmt die Phantasie die Führung. Das ganze wird
in den Dienst einer künstlerischen Berechnung ge-
an. Er ist sich darin mit Böcklin einig, dass das
Bild eine dekorative Bedeutung haben soll. Soll eine
Landschaft in gewisser Weise dekorativ wirken, so
muss sie monumental sein, muss Stil haben. Zarte
lyrische Stimmungen kommen bei ihm kaum zum
Vorschein. Seine Arbeiten geben weniger Kunde von
augenblicklichen subjektiven Gefühlen, als dass sie
Offenbarungen eines starken Eigenwillens sind, der ein
ganz bestimmtes allgemeines Verhältnis zur Natur
und ihren Erscheinungen gewonnen hat und dem in
überzeugender Weise Ausdruck zu verleihen weiss.
Dieses Verhältnis braucht deshalb kein kühles, objek-
294
WALTER LEISTIKOW
tives zu sein; es äussert sich nur mehr in einer Hin¬
gabe an das ganze, als an die vorübergehende Er¬
scheinung. Ein Hang zum Grossen, Erhabenen
charakterisiert seine Kunst. Dieser Zug ins Grosse
befähigt ihn besonders zur monumentalen Malerei,
die ja von allen Zufälligkeiten absehen und fest und
bestimmt wie eine geschlossene Weltanschauung aiif-
treten muss. Er hat von der Natur eine monumen¬
tale Vorstellung und weiss mit seinen malerischen
Mitteln, die alle auf ein Ziel gerichtet sind, dieser
Vorstellung einen bedeutungsvollen künstlerischen
Ausdruck zu verleihen. Seine Kunst schreit nach
grossen Elächen. Möchte man in seiner Heimat
diesen Schrei vernehmen, ihm Wände zur Bemalung
überweisen und ihn so vor eine grosse monumentale
Aufgabe stellen. Staat und Kommunen thäten besser
daran, solch eine Persönlichkeit mit so ausgesprochener
dekorativer Begabung für die Elächendekoration grosser
Räume heranzuziehen, als sie wie gewöhnlich durch
Historien- oder Genremaler auspinseln zu lassen.
Vielleicht würde uns dann der Künstler, der jetzt in
der Blüte seiner Jahre steht, noch manche neuen
Offenbarungen in Bezug auf die dekorative Land¬
schaftsmalerei zu machen haben.
Abb. 1. Rembrandt, Der undankbare Knecht
DAS WALLACE- MUSEUM IN LONDON
Von J. P. Richter in London
Die Menschen in Disraeli’s Romanen sind alle
ausserordentliche Menschen; sie haben welt¬
umfassende Pläne, sind aussergewöhnlich be¬
gabt und meist auch grenzenlos reich. Als Disraeli
bei einem Besuche von Hertford House seinen Namen
in das Fremdenbuch einzutragen von Sir Richard
Wallace aufgefordert wurde, that er es mit dem be¬
zeichnenden Zusatze »Beaconsfield in this palace of
fancy, beauty and taste«. Seine hochgespannten Er¬
wartungen waren übertroffen, und dieselbe Erfahrung
mit sich wird jeder kunstverständige oder auch nur
kunstsinnige Besucher machen. Es ist das nicht nur
ein erster Eindruck; ein noch so häufiger Besuch
kann ihn nicht abmindern. Von wie wenig Museen
kann ein Gleiches gesagt werden! Der Gründer der
Sammlung, der vierte Markgraf von Hertford, war in
erster Linie ein Mann des guten Geschmackes, dem
unter den schönen Dingen nur die besten gut genug
waren, und der darum alle Sturmangriffe der Kunst¬
händler abschlug, welche ihm die festgezogene Grenz¬
linie zwischen dem Schönen und dem nur Interessanten,
zwischen Kunstwerken und Kuriositäten verwischen
wollten. Er hatte England den Rücken gekehrt und
lebte ein Einsiedlerleben in Paris, umgeben von seinen
Kunstschätzen in einem Palast der Rue Lafitte. Die
Bereicherung und Vermehrung der Sammlung war sein
selbstgestecktes Lebensziel. Sir Richard Wallace war
dabei seine rechte Hand. Er ist auch sein Erbe ge¬
worden, und bei der stark ausgeprägten französischen
Gesinnung beider wären die kostbaren Kunstschätze
wohl nie nach England gekommen, wenn nicht un¬
mittelbar nach dem deutsch-französischen Kriege die
Unsicherheit der Lage in Frankreich eine Bergung
der ganzen Sammlung jenseits des Kanals notwendig
gemacht hätte. Der Boulevard Richard Wallace beim
Bois de Boulogne ist eine Ehrung, welche ihm die
Stadt erwiesen hat für thätige Hilfeleistung durch
Proviantzufiihr, als Paris sich nicht mehr gegen das
deutsche Heer halten konnte. Ein Teil der Samm¬
lungen befand sich damals im Schloss Bagatelle beim
Bois de Boulogne. So lange das deutsche Heer vor
Paris lag, blieb Bagatelle, obwohl in der Schusslinie
der Angreifenden, ganz unversehrt, wahrscheinlich
auf höheren Befehl deutscherseits. Als aber die fran¬
zösischen Mobilgarden die deutschen Stellungen ein-
nahmen, um in Paris die Herrschaft der Kommune
zu brechen, wurde von ersteren Bagatelle arg ver¬
wüstet. Der Schmerz darüber war gross. Diese
rücksichtslose Undankbarkeit gegen einen verdienst¬
vollen Freund und Parteigänger der neuen Regierung
war für Sir R. Wallace das Signal zur Überführung
der Sammlung nach England. Aber in London war
-96
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
kein Haus zu finden, in dem sie eine würdige Auf¬
hellung hätte finden können. Hertford House wurde
7H dem Zwecke umgebaut und erweitert. Erst um
:S75 begann dort die Aufstellung. Seit Juni 1872
v.ar die Sammlung in dem damals neugegründeten
rk-ihnal Green-Museum ausgestellt gewesen, ein Mu¬
seum, welches als Monumentalbau ungefähr auf dem
Niveau einer Jahrmarktsbude steht. Das Übrige in
der Herabsetzung der Sammlung that die Umgebung
— Bethnal Green ist einer der elendesten und
schmutzigsten Stadt¬
teile Londons, und
von den fashionab-
len Stadtteilen aus
schwerer zu er¬
reichen , als etwa
Brighton oder sonst
ein gern besuchter
Ort an der Küste.
Es war ein Exil,
und die englische
Regierung, welche
dieses Verbannungs¬
urteil über die ihr
für volle drei Jahre
übergebene Samm¬
lung verhängte, war
in ihrer Wertschätz¬
ung der Wallace-
Sammlung nur kon¬
sequent, als sie nach
dem Tode des Soh¬
nes, eines französi¬
schen Offiziers, das
Angebot des Sir
Richard Wallace ab¬
wies, Hertford
House nach seinem
Tode als National¬
museum zu über¬
nehmen. Man ant¬
wortete ihm, das
neuerrichtete Palais
sei nicht dazu ge¬
eignet. Nach ein
paar Menschenaltern
müsse sein Miet¬
vertrag erneuert
werden, auf Staatskosten? — welche Zumutung für
ein englisches Schatzamt!
Die berechtigten Erben der Markgrafschaft Hert¬
ford haben natürlich seiner Zeit ihre Ansprüche geltend
gemacht. Soviel wir wissen, sind sie alsbald ander¬
weitig abgefunden worden.
Sir Richard Wallace genoss die Gunst des Prinzen
von Wales, des jetzigen englischen Königs, und sein
englischer Patriotismus hat ihm nicht erlaubt, einen
mehr als formellen Akt der Rache zu üben gegen¬
über der unverantwortlichen Ablehnung des gross-
mütigen Geschenkes. Bei seinem Tode im Jahre i8go
trat seine Witwe das ganze Erbe an, die bei ihrer
Abb. 2. Boucher, Der Sonnenuntergang
Wallace-Sammlung London
gestrengen Majestät der Königin Viktoria nichts weniger
als beliebte Lady Wallace. Als diese Dame im Jahre
1897 starb sie war Französin — , fand man in
ihrem Testament die Bestimmung: »Ich vermache der
britischen Nation alle meine Gemälde, meine Bronzen,
meine Waffensammlimg und sonstigen Kunstwerke
u. s. w. in Hertford House, jedoch unter der Be¬
dingung, dass die Sammlung nicht verzettelt wird,
sondern als Wallace-Sammlung in einem besonderen
Museum im Centrum von London aufgestellt wird«.
Mit der Ausfüh¬
rung dieser testa¬
mentarischen Be¬
stimmung durfte
nicht gezögert wer¬
den. Das Testament
verlangte, dass in
vier Jahren das Wal¬
lace- Museum fertig
dastehen sollte. Die
Regierung war ge¬
scheit genug, mit
dem Grundeigen¬
tümer des Palais ein
Übereinkommen zu
treffen, und das er¬
lauchte Parlament
hat die verhältnis¬
mässig geringe
Summe, welche die
Regierung für den
Erwerb des Grund¬
stückes verlangte, auf
dem Hertford House
steht, schnell bewil¬
ligt, so dass der
Regierung für den
Antritt der Erbschaft
nicht viel mehr zu
thun übrig blieb, als
das Palais, so wie es
stand, zum Wallace-
Museum zu dekre¬
tieren. Und niemand
wird bestreiten, dass
sie nichts besseres
hätte thun können.
Eine Klausel des
Testamentes bestimmte, dass die schmiedeeiserne Trep¬
penrampe des Palais auch in dem projektierten Museum
nicht fehlen dürfe. Das hätte auch einen ganz besonderen
Treppenbau bedingt, den man sich nun schenken konnte.
An dieser Rampe hing Sir Richard Wallace mit be¬
sonderer Anhänglichkeit. Von ihrer Erwerbung pflegte
er immer wieder mit triumphierender Miene zu er¬
zählen, dass diese Rampe des alten Palais Mazarin,
jetzt Bibliotheque Nationale in Paris, bei einem der
vielen Umbauten als altes Eisen von der französischen
Regierung verkauft und von ihm erworben wurde.
Vor der Eröffnung des Museums galt es einer Prin¬
zipienfrage gegenüber Stellung zu nehmen: Sollte die
ZElTSCHKIf-T FÜR BILDENDE KUNST I902
HERBST. ORIUINALLITHOORARI üE
VON A. HAUEISEN IN KARLSRUHE
i
-i >«'
Ülr'll
■• ^■. 3,
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
297
Palasteinrichtung beibehalten werden oder sollte eine
Neuaufstellung unternommen werden nach dem Vor¬
bilde der Industrie- und Kunstmuseen? Man ent¬
schied sich für ersteres, und hat wohl daran gethan.
Nur wenig bauliche Abänderungen sind gemacht
worden zum Zweck der Raumgewinnung. Die
früheren Stallungen gaben Raum ab für das Waffen¬
museum. Die gemachten Umstellungen von Möbeln
sind kaum von Belang. Dagegen glaube ich nicht,
dass man wohl daran gethan hat, Bilder umzuhängen.
Die frühere Ver¬
teilung derselben
war, wie die ganze
Einrichtung, das
persönliche Werk
des Sir Richard
Wallace, eines Man¬
nes von feinstem
Geschmack in die¬
sen Dingen und
dazu von lebens¬
langer Erfahrung.
Ich glaube, dass
gerade da, wo man
seinen Geschmack
hat korrigieren
wollen, man ent¬
schieden fehlgegrif¬
fen hat. Um nur
eines anzuführen:
Das Gleichnis vom
Schalksknecht,
Rembrandt’s
Hauptbild, und
wohl auch die
Perle dieser ganzen
Sammlung(Abb. 1 ),
ein grosses dunkles
Bild aus später Zeit,
hing früher auf der
am besten beleuch¬
teten Wand der
Galerie, und jetzt
auf der entgegen¬
gesetzten. Man
wollte den Bildern
der englischen
Schule das beste
Licht geben, beson¬
ders den Porträts von Reynolds und Gainsborough,
und hat sie darum alle dort in scharfes Licht gestellt,
nicht gerade, wie mir scheint, zum Vorteil derselben,
denn da sie alle sehr hell im Ton sind, würde ihnen
das Helldunkel, in dem sie früher hingen, besser
stehen. Dazu kommt, dass unmittelbar neben solchen
blassen Damenköpfen mit weissgepudertem Haar
und weissen Gewändern Rembrandt’s Porträt seines
Sohnes Titus und verschiedene Murillos hängen, lauter
dunkle Bilder, welche solche Gesellschaft gar nicht
vertragen, ganz abgesehen davon, dass ein Reynolds
mit einem Rembrandt auf die Dauer nicht konkurrieren
kann. Die Meinungen hierüber sind freilich geteilt,
und Einmütigkeit ist gar nicht zu erwarten, wenn
man bedenkt, dass die Bilder der grossen englischen
Maler lauter vornehme edle und bestrickend schöne
Frauen vorstellen, Rembrandt aber nüchternes Bürger¬
volk oder die eigene Gambrinusphysiognomie uns
vorführt. Die sämtlichen Bilder Murillo’s — es sind
deren dreizehn — sind in einer Weise mit heterogenen
Gemälden zusammengestellt, dass sie nirgends zur
Geltung kommen. Freilich halten manche, und so
wohl auch das
Direktorium der
Wallace- Samm¬
lung, den grossen
Spanier für nicht
mehr recht zeit-
gemäss.
Doch wir dür¬
fen nicht verges¬
sen, dass die Wal¬
lace -Sammlung
keine Gemälde¬
galerie im landläu¬
figen Sinne des
Wortes ist. Die
Gemälde dienen
neben vielem ande¬
ren zum Schmucke
des Palastes, und
darin liegt natürlich
eine grosse Schran¬
ke für die richtige
Aufstellung. Der
Überfluss an Mei¬
sterwerken kom¬
pliziert natürlich
die Aufgabe.
Nächst der Na¬
tional Gallery ist
dieWallace-Samm-
lung unstreitig die
erste Gemälde¬
galerie Englands,
aber das ist nicht
ihre erste und
hervorragendste
Eigentümlichkeit.
Es ist der Pa¬
last eines Grand
Seigneur, wie ihn kein Millionär, kein Nouveau Riehe
je sich wird schaffen können. Selbst wo die Mittel
vorhanden sind, und wo, was mehr sagen will, auch
der Geschmack das Richtige träfe, — wo wollte man
das Material für ein solches Ensemble hernehmen?
Das oben angeführte Urteil des Lord Beaconsfield
beruht keineswegs auf dem Eindrücke allein der Ge¬
mälde. Sie sind wohl für niemand die Hauptnote
in dem Accord des Gesamteindruckes. Das Porzellan,
die Kandelaber und Pendulen, die Bronzen, die Dosen
und Miniaturen, vor allem aber das Mobiliar, das
alles findet ja nirgends seinesgleichen. Das in fast
Abb. 3. Joshua Reynolds, Miss Nelly O' Brien
Wallace-Sammlung London
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIII. H. 12.
39
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
vgS
zahllosen Exemplaren hier vereinigte und fast auf
.die Räume des Palastes verteilte Luxusmobiliar trägt
zum grössten Teil das Gepräge der Werkstätten von
Boulle, Gouthiere und Riesener, jener unübertroffenen
Meister aus der Zeit Ludwig’s des XIV. und Ludwig’s
des XV.
Als im Jahre 1793 die republikanischen Gewalt¬
haber Frankreichs die beweglichen Krongüter öffent¬
lich versteigern liessen mit alleiniger Ausnahme der
in den königlichen Schlössern befindlichen Gemälde,
welche in den Louvre überführt wurden, erwarb der
sailler Königsschlosses wandert, kann sich dessen
Vergangenheit rekonstruieren, indem er sich vorstellt,
dass die Prachtstücke des Mobiliars der Wallace-
Sammlung dereinst jenen Räumen den Reiz intimer
Wohnlichkeit verliehen. So wird es begreiflich, dass
der Eindruck, welchen die Räume des Londoner
Palais auf jeden Besucher machen, ein überwältigender
ist, dass es auch keinem späteren Sammler nie mög¬
lich sein wird, ähnliches zu erreichen.
Nach seiner äusseren Erscheinung kann der
Palast der Wallace - Sammlung in der nüchternen
Abb. 4. Tisch im Stile Louis’ XV.
Wallace-Sammlung London
damals in Paris weilende russische Graf Koutscheleff
einen grossen Teil des von den Zeitgenossen natürlich
missachteten Mobiliares von Versailles und anderen
Königsschlössern. Seine kostbaren Erwerbungen
sandte er auf seine Schlösser in Russland, und dort
verblieben sie, bis vor etwa vierzig Jahren Sir Richard
Wallace von dem Marquis of Hertford nach Russland
geschickt wurde, dort die ganze Sammlung zu er¬
werben 1). Wer jetzt durch die öden Säle des Ver-
1) Ich verdanke diese Mitteilung dem verstorbenen
französischen Diplomaten Marquis Melchior de Vogue, in
dessen Familienbesitz sich ebenfalls einige sehr wertvolle
Stücke befinden.
Einfachheit mehr an holländische, als an französische
Vorbilder gemahnen; ein Freibau aus Ziegelstein in
drei Geschossen, mit der Fassade nach Manchester
Square. Schon beim Eintritt in das Vestibül fesselt
den Blick das geräumige, durch eine Glaskuppel er¬
leuchtete Treppenhaus mit der oben erwähnten Rampe.
Wir befinden uns zwei ungewöhnlich grossen fran¬
zösischen Gemälden gegenüber. Der zarte Farbton,
die breite, der lokalen Verwendung entsprechende
dekorative Behandlung, die leidenschaftlich bewegte,
aber doch klar disponierte Komposition, die Wahl
des Sujets und vor allem die Meisterschaft der Aus¬
führung verleihen diesen Bildern einen ungewöhn¬
lichen Zauber. Frangois Boucher schildert hier in
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
299
mythologisch -symbolischen Gruppen mit zahlreichen
fast lebensgrossen Figuren den Aufgang und den
Niedergang der Sonne. (Abb. 2’).
Auf dem einen Gemälde sieht man Apollo in be¬
geisterter Haltung auf den smaragdgrünen Meeres¬
fluten. Eine Nymphe reicht ihm die Leier empor,
eine andere bindet ihm die Sandalen. Eine dritte
dem Pendant. Der Wagen des Sonnengottes ist
am Ziele angelangt. Neckische Genien sind ge¬
schäftig, ihn zu erklettern. Apollo, welcher die Leier
auf dem Sitz niedergelegt hat, verlässt den Wagen,
während Thetis, auf einer Muschel ruhend, dem Gott
verlangend entgegen sich wendet.
Freilich hat die Schilderung nichts Heroisches.
Abb. 5. Kommode im Stile Louis’ XVI.
Wallace-Sammlung London
schwebt ihm gegenüber über der Flut, die Zügel des
schnaubenden Viergespannes in Bereitschaft haltend.
Oben in dem nebelerfüllten Äther erscheint Aurora,
dem Sonnenwagen vorauseilend und Rosen im Schoss
haltend, während über Apollo ein fackelhaltender
Genius aufsteigt.
Leicht bewegte See bildet die Scenerie auch auf
1) Die Abbildungen 1, 2, 3, 6 und 7 sind nach Photo¬
graphien von W. A. Mansell & Co. in London hergestellt.
Das Elegante, und mehr noch das Galante, ist und
bleibt die Sphäre der künstlerischen Vorstellungen
Boncher’s. Schmachtende Sehnsucht liegt in den
Blicken der gliederweichen Götter, während oberhalb
in Wolken graziös schwebende Genien ein weit¬
flatterndes blaues Tuch — wohl eine Andeutung des
Nachthimmels - wie eine Bettgardine aufraffen. Die
dnnkelglühende Sonnenscheibe taucht rechts hinter
Gewölk in die Finten. Im Vordergrund sieht man
hier wie im ersten Bilde schlanke, schöngestaltete
39
300
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
Abb. 6. Rembrandt, Bildnis seines Sohnes Titus
Wallace-Sammlnng London
Nymphen, die Wasser durchstreichend, dabei den Reiz
ihrer Glieder enthüllend.
Die beiden Gemälde sind auch in historischer
Beziehung merkwürdig. Im Jahre 1753 hatte Boucher
nach dem Livret des Pariser Salons diese grossen
Kompositionen zur Ausstelinng gebracht, und es wird
darin ausdrücklich bemerkt, dass sie bestimmt waren,
von Cozette und Audran in der Gobelinfabrik als
Vorbilder zu Tapeten zu dienen. Dies geschah indes
nicht. Auf die Gemälde war die Marquise de Pom¬
padour aufmerksam geworden. Sie erwarb dieselben.
Pierre Remy, der Verfasser des Catalogue des Tableaux
de feu Madame la Marquise de Pompadour (1766)
sagt von ihnen: Ich habe öfter den Künstler sagen
hören, dass sie zu den Bildern gehören, die ihm am
besten gelungen seien. Das Urteil eines so beschei¬
denen und so wenig von sich eingenommenen
Künstlers, wie es Monsieur Boucher ist, verdient
Glauben. Übrigens Leute von Urteil und ohne vor¬
gefasste Meinung bestätigen das.« Als ebendiese
Gemälde im Jahre 1866 am Boulevard des Italiens
ausgestellt waren, schrieb darüber Thore (Burger) in
der Gazette des Beaux Arts«: »Zwar ist Phoebus
schrecklich manieriert. Das männliche Geschlecht ist
nicht Boucher’s Stärke. Aber die jungen Mädchen
sind mehr oder minder götterhaft und entzückend,
zumal die blonden Nymphen, auf Wellen sich schau¬
kelnd, den Blick auf den lichtstrahlenden Gott heftend,
während er zu seiner Reise um die Welt sich an¬
schickt
Wir haben bei diesen Bildern länger verweilt,
denn sie sind ein Brennpunkt des Gesamteindruckes
der Räumlichkeiten überhaupt. Auch die übrige
Dekoration des Treppenhauses mit Gemälden ist paar¬
weise korrespondierend in gegenseitige Beziehung
gesetzt, doch die Gemälde selbst sind von geringerer
Bedeutung.
Es ist eine charakteristische Eigentümlichkeit des
Palastes, dass das Treppenhaus mit dem Vorraum der
Gemächer des ersten Stockwerkes nicht ein Sammel¬
platz von Minderwertigem ist. Das Niveau künst¬
lerischer Qualitäten ist wie auf allen Gebieten, so
auch in allen Räumlichkeiten das gleiche. Vestibül
und Treppenhaus sind nicht wie anderwärts in der
Ausstattung als die Region der Bedienten und Passanten
gekennzeichnet, als Vorhof zum Sanctuarium. Man
hat diesen tonangebenden ursprünglichen Charakter
des Palastes jetzt dadurch beeinträchtigt, dass man
an Stelle der kostbaren »Pendule de Lyon-, einem
einzigartigen Kunstwerke von drei Meter Höhe unter¬
halb der genannten Bilder Boucher’s, die Büste der
Lady Wallace und über derselben eine geschmack¬
widrige Inschrifttafel angebracht hat, welche ihre Ver¬
dienste preist, flankiert von der gleich schlechten Büste
des Sir Richard Wallace und der des Marquis of
Hertford, wie zweier stummer Zeugen. Man wird
zugeben, dass diese Gruppierung ihr Bedenkliches
hat, so lange die Geschichte dieser reichsten und
bedeutendsten Privatsammiung der Welt ein unge¬
schriebenes Buch ist.
Wir müssen selbstverständlich darauf verzichten,
bei der Beschränkung des Raumes ein Gesamtbild
Abb. 7. George Roniney. Mrs. Robinson (Perdita)
Wallace-Sammlang London
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
301
der Sammlung dem Leser vorzuführen. Mit einer
katalogartigen Aufzählung auch nur der Hauptwerke
ist den meisten wenig geboten. Wir beschränken
uns daher auf einige Bemerkungen über die Samm¬
lung der Gemälde,
doch nicht ohne
vorher auf einige
Hauptstücke des
Mobiliars hinzuwei¬
sen, über dessen
Geschichte wir be¬
reits das Nötige ge¬
sagt haben. Die bei¬
folgende Abbildung
8 veranschaulicht
einen der grössten
Schränke in dem
Palast, ein Meister¬
werk des Stiles Lud-
wig’s des XIV. von
Andre Charles Boul-
le. Die zwei Meter
lange und drei Meter
zehn Centimeter
hohe Frontfläche,
welche ein dach¬
förmiger Aufsatz be¬
krönt, wird von
einem pilasterartig
vortretenden Mittel¬
bau durchschnitten,
welcher als Uhr¬
schrank dient. Das
Zifferblatt ist als
Bekrönung in einen
schildförmigen Rah¬
men gesetzt, um den
drei Genien grup¬
piert sind. Dem
links am tiefsten
sitzenden ist ein
Hahn beigegeben
mit aufwärts nach
dem Zifferblatt ge¬
wandtem Kopf. Ein
Köcher mit Pfeilen
liegt neben dem zur
Rechten. Der oben
schwebende dritte
wirft dem zweiten
Blumen in den
Schoss. Im übrigen
beschränken sich die
plastischen figür¬
lichen Dekorationen
auf den strengen
Janus- oder Saturnkopf mit aufgesetztem Stundenglas,
den Mittelpunkt der Schrankfläche bildend, und auf
die ebenfalls in or moulu ausgeführten schwebenden
Genien im oberen Flächenschmuck der Flügelthüren.
Die Gesetzmässigkeit in dem komplizierten Aufbau der
Flächendekoration, bei der natürlich die Inkrustationen
überwiegen, und die Originalität in dem phantasti¬
schen Spiele der Ornamentik sind charakteristische
Eigentümlichkeiten der Boulle’schen Arbeiten. Von
der Delikatesse und
Präzision der Aus¬
führung vermag die
Abbildung kaum
eine Vorstellung zu
geben.
Einen ähnlichen,
einfacher gestalteten
Schrank sieht man
im Hintergrund der
Abbildung 4. Der
davor stehendeTisch
von zwei Meter acht-
unddreissig Centi¬
meter Länge und ein
Meter zwölf Centi¬
meter Breite zeigt
Stilformen aus dem
Beginne der Regie¬
rung Ludwig’s des
XV. Die Füsse und
Wandungen des
Tisches aus Birn¬
baumholz sind unter
anderem verziert mit
herabhängenden
Guirlanden aus ver¬
goldeter Bronze,
Lorbeergewinde
imitierend, und aufs
feinste ciseliert. Auf
derTischplatte stehen
drei kostbare Sevres-
vasen; die mittlere
derselben ist eines
der seltenen Exem¬
plare des Vaisseau
ä mat«. Die beiden
ähnlichen zu den
Seiten stehenden
Vasen mit Elefaiiten-
köpfen an Stelle der
Henkel haben oben
Leuchteraufsätze.
Nicht minder be¬
achtenswert sind
die an den Enden
aufgestellten drei¬
armigen Leuchter
mit einer Urne als
oberem Abschluss,
wegen der harmo¬
nischen Komposition in weichem Linienfluss. Am
Leuchterfuss leisten drei Hermen von Genien den
Dienst der Karyatiden. Unterhalb sind Löwenköpfe
angebracht.
Ein Prachtstück ans derZeitKönigLndwig’s desXVl.
Abh. 8. Schrank von Ch. A. Bonllc
Wallace-Sammliing London
302
EIN BILDNIS VON PIETRO LUZZl DA FELTRE
ist die Kommode (Abb. 5), welche die Bestimmung
eines Coffre de Mariage gehabt hat und der Königin
Marie Antoinette gehört haben soll. Den Untergrund
der Seitenwandungen bildet eine Täfelung aus japa-
nesischen lackierten Hölzern, von dem sich die ver¬
goldeten, in Gitterwerk und figürlichen Bildungen
bestehenden Bronzereliefs plastisch abheben. So er¬
scheinen in dem mittleren Medaillon die auf dem
Köcher des Liebesgottes sich schnäbelnden Tauben
auf der Folie kompakter Wolken, wie sie das japa-
nesische Kunsthandwerk besonders wirkungsvoll dar¬
zustellen versteht. Neben den Nymphen, welche in
den blumenurnrankten Nischen scheinbar die Deck¬
platte stützen, findet die geschmackvolle Komposition
der Fläche ihren Abschluss in der scheinbar frei
herabhängenden Blumenguirlande, welche wie zu
festlichem Schmuck von der unteren Leiste der Kom¬
mode frei schwebend angebracht ist. In Bronzeguss
hergestellt, ist sie mit staunenswerter Präzision in
Ciselierarbcit vollendet.
(Ein zweiter Aufsatz folgt.)
EIN BILDNIS VON PIETRO LUZZl DA FELTRE
IM Sommer 1889 wurde einem engen Wiener Kreise
ein kleines künstlerisch bedeutendes italienisches
Bildnis bekannt, auf das man keinen Reim wusste.
Man kam über das allgemeine Urteil nicht hinaus:
venetianisch, aber von keinem der Meister, die uns
aus den Galerien bekannt sind, ln ähnlich unbe¬
stimmter Weise äusserte sich mündlich auch Morelli-
Lermolieff, der damals Wien besucht hatte, über das
Bildchen. Es gehörte
dem Grafen Franz von
Falkenhayn, war im
Schloss Walpersdorf
vorgefunden worden
und nur für kurze Zeit
behufs Restaurierung
und Begutachtung nach
Wien gekommen. Ich
gab mir damals viele
Mühe, eine Benennung
zu ermitteln. Lag doch
eine ganz bestimmte
Anregung dazu vor.
Denn in unzweifelhaft
alten Zügen trägt das
Täfelchen auf der Hin¬
terseite eine Inschrift,
die augenscheinlich den
Namen des Künstlers
durch Kürzungen an¬
deutet und ein bestimm¬
tes Datum enthält. Inner¬
halb eines geschweiften
Schildchens finden wir
nämlich in sicheren
Strichen hingesetzt, fol¬
gendes: »DIE PRIMO
MENSISSEPTENBRIS
MCCCCCVilll po .D'.
F.«, das, soweit es
möglich ist, hierneben
nach einer Photogra¬
phie wiedergegeben ist.
Der letzte Strich in der Jahreszahl ist unscheinbar
geworden. Unter den Schriftzeilen gewahrt man
noch ein kleines Zeichen, wohl ein Monogramm.
Man könnte es für einen Fisch halten, der gegen
rechts in der Bildfläche schwimmt. Auch anderes
kann gemeint sein und ich will erst später eine Deu¬
tung dieses Zeichens versuchen.
Nach der alten Inschrift musste der Künstler P — o
DA F heissen. Ich
durchsuchte so und so
viele Listen von italieni¬
schen Künstlern des
frühen 1 6. Jahrhunderts,
studierte namentlich die
Gruppe venetianischer
Maler, aus der das
Bildchen ohne Zweifel
hervorgegangen ist und
kam dabei auf den
Namen Pietro da Feltre
und nur auf diesen
allein. Eine kurze Nach¬
richt über das inter¬
essante Bildnis wurde
an die Öffentlichkeit
gebracht und zwar im
»Monatsblatt des Wie¬
ner Altertumsvereins«
(1889, Seite 48), das
in jenen Jahren, als
das kleine Gemälde
nach Wien gekommen
war, gerade einen vor¬
übergehenden Auf¬
schwung genommen
und überdies schon in
aller Kürze von dem
Vorhandensein des klei¬
nen Stückes Notiz ge¬
nommen hatte. Das
Bildchen ging bald
von Wien auf seinen
Pietro da Feltre, Bildnis
Wien, Sammlung Figdor
EIN BILDNIS VON PIETRO LUZZI DA FELTRE
303
Landsitz nach Walpersdorf zurück und kam da¬
durch der Kunstforschung gänzlich ausser Sicht.
Ich selbst vergass es so weit, dass ich vor einiger
Zeit mit einer Erinnerungsvergleichung bei einem
italienischen Bildnis der Wiener Akademie keinen
Erfolg mehr haben konnte. (Hierzu meine Geschichte
der Wiener Gemäldesammlungen, Liefg. VI. Seite 106.)
Das fragliche Porträt mitsamt den Notizen im Monats¬
blatt des Wiener Altertumsvereins wäre wohl noch
lange vergessen geblieben, hätte man nicht im Februar
1902 die Falkenhayn’sche Sammlung versteigert, bei
welcher Gelegenheit man das Täfelchen des Pietro
da Feltre wieder zu sehen bekam. Es wurde von
der Sammlung der Herren Brüder Figdor erworben
und Herrn Dr. Albert Figdor verdanke ich die grosse
photographische Nachbildung des Bildnisses selbst
und der Inschrift auf der Rückseite. Im Katalog der
Versteigerung, die im Wiener k. k. Versteigerungs¬
amte abgehalten wurde, steht unser Bildchen als
Nr. 567 verzeichnet, ohne Namen und nur ungefähr
dem Antonello da Messina genähert. Die Inschrift der
Kehrseite war zwar gelesen, aber nicht gedeutet worden.
Deshalb erlaube ich mir, nach Jahren nochmals auf
meine Vermutung aufmerksam zu machen, dass wir
in dem kleinen Porträt ein Werk des Pietro da Feltre
vor uns haben.
Nun möchte ich sogleich von dem undeutlichen
Zeichen sprechen, das nach unten die Inschrift ab-
schliesst. Die Ähnlichkeit mit einem plump gezeichneten
Fische führte mich auf den Deutungsversuch, in dem
Zeichen einen Luzzo zu erblicken. Luzzo bedeutet
im venetianischen Dialekt den Hecht (esox lucius des
Finne). Sollte mit dem Zeichen wirklich ein Hecht
gemeint sein, so hätten wir es mit einem redenden
Monogramm zu thun, das uns in der venetianischen
Kunst nicht sonderlich überraschen kann. Von den
zahlreichen redenden Wappen venetianischer Familien
(z. B. Gradenigo, Cappello, Colleoni) zu den redenden
Monogrammen ist es ja kein weiter Schritt. Der freilich
später lebende Paolo Farinato bediente sich eines
redenden Monogrammes. Indes will ich mit dem
Fischmonogramm nichts beweisen. Es läge nur so
Kehrseite des Bildnisses von Pietro da Feltre
Wien, Sammlung Figdor
304
ZU UNSEREN KUNSTBLÄTTERN
nahe, das Künstlerzeichen des Pietro Luzzi da Feltre
als Luzzo zu deuten.
Weit grössere Aussichten auf Zustimniung, als die
Auslegung des Monogrammes hat wohl die Benennung
Pietro da Feltre, die ich vorschlage. Die Buchstaben
sind vollkommen leserlich, auch das kleine " und
der Kürzungen.
Die Abbildung anbei und die ihr beigegebenen
Zeilen wollen lediglich das zweifellos interessante
Stück den Fachgenossen vorführen als ein Werk, das
wohl einmal einen Ausgangspunkt für die Bestimmung
der Tafelbilder des Pietro Luzzi da Feltre abgeben
dürfte. Eine Studie über Pietro da Feltre ist dabei
nicht beabsichtigt. Ich konnte das reiche Material,
das Crowe und Cavalcaselle über diesen Künstler zu¬
sammengestellt, wie es mir scheinen will, etwas bunt
zusammengewürfelt haben, nicht in allen Fällen kritisch
durchprüfen. Doch darf ich andeuten, dass mir bis¬
her nichts bekannt geworden ist, was meiner Vermutung
1) Vergleiche Vasari (Milanesi’s Ausgabe V, 201 ff),
Ridolfi, Maraviglie 1, 8S (zweite Ausgabe 1, 137). Die An¬
gaben bei Sandrart und Felibien sind abgeleitet. Siehe auch
Woltmann-Woerniann : Geschichte der Malerei 11, 678 und
den Berliner Katalog, ferner Repertorium für Kunstwissen¬
schaft XVII I, Seite 284. Nur weniges in den Künstler-
lexicis.
irgendwie wesentlich widerspräche. Was uns wichtig
sein muss, die Frage nach dem Namen des Künstlers,
das lässt sich ja mit Sicherheit beantworten. Es hat
einen Maler Pietro Luzzi da Feltre gegeben, der zur
Zeit, als unser Bild entstanden ist, thätig war. Crowe
und Cavalcaselle teilen nach den urkundlichen Angaben
Zanghellini’s (im Messagiere tirolese di Rovereto vom
10. April 1862, einem Jahrgang, der mir leider nicht
zugänglich ist, der betreffende Band ist in der Wiener
Hofbibliothek nicht zu finden) mit, dass Luzzi in Feltre
1474 geboren ist. 1476 dürfte Pietro’s Vater nach
Zara ausgewandert sein. Wie es scheint, ist Pietro
Luzzi da Feltre derselbe Maler, der bei Vasari als
Morto da Feltre mit Giorgione in Verbindung ge¬
bracht wird. Das Geschichtchen, das Ridolfi erzählt,
ist augenscheinlich erfunden^).
Einige beschreibende Angaben mögen schliesslich
den Eindruck der Abbildung beleben. Die Kleidung
ist dunkel, wie gewöhnlich beschrieben wird »schwarz«.
Über die linke Schulter scheint der umgelegte Rand
eines Mantels zu reichen. Das bauschig getragene
Haar, die Zazzera, ist hellbraun und das wohl künst¬
lich so gefärbt, denn die Brauen sind auffallend dunkel¬
braun. Augen braun. Abmessungen des weichen
Brettchens: Höhe 0,292 m, Breite 0,22 m.
DR. THEODOR v. FRIMMEL.
ZU UNSEREN KUNSTBLÄTTERN
Georg Erler, dem wir das wunderschöne Schab¬
kunstblatt Ȁhrensammlerin- unseres heutigen Heftes
verdanken, hat sich auf der vorjährigen Dresdner
internationalen Ausstellung zuerst in einem grösseren
Kreise bekannt gemacht. Seine dort ausgestellte Folge
von Radierungen, die ihm später eine goldene Medaille
eintrug, zeigt ihn als einen Künstler, bei dem sich
feines malerisches Empfinden mit einer ungewöhnlichen
Beherrschung der graphischen Ausdrucksmittel aufs
Glücklichste verbindet. Neben der von uns veröffent¬
lichten Platte hat eine andere grössere, auf der eine
alte Frau eine Ziege füttert, wohl das meiste Lob ge¬
erntet. Vortrefflich war auch eine Pariser Kaiansicht. —
Erler ist 1871 in Dresden geboren und hat auf der
dortigen Akademie unter Bürkner und besonders Kühl
seine Ausbildung erfahren.
Max Fabian, der zweite von den heute vorgestellten
Künstlern, ist erst kürzlich aus Artur Kampf’s Schule
an der Berliner Akademie hervorgegangen. Er ist
1873 geboren und hat sich in Berlin ansässig gemacht.
Auf der diesjährigen Berliner Ausstellung ist er mit
einem Bilde vertreten, das vielen Beifall gefunden hat,
es heisst Feierabend auf der Spree« und ist in einer
gesunden realistischen Art gesehen. Neuerdings hat
der Künstler angefangen, auf dem lithographischen
Stein zu porträtieren, wie unser Kinderkopf zeigt.
Auch auf dem Gebiete des Buchschmuckes und der
dekorativen Graphik ist Max Fabian mit Erfolg thätig.
»Der Herbst« von Albert Haueisen schliesst die
Reihe der vier Jahreszeitenbilder, welche wir in diesem
Bande der Zeitschrift für bildende Kunst veröffentlicht
haben; während die drei anderen Künstler dieses
Cyklus — Kallmorgen, Volkmann, Hein schon zu
den bekanntesten Vertretern der deutschen Original¬
lithographie zählen, ist Haueisen dem grösseren
Publikum noch weniger bekannt. Erst sein in der
Teubner - Voigtländer’schen Sammlung erschienener
»Pfälzischer Bauernhof« hat seinen Namen in weitere
Kreise getragen. Der Künstler ist 1872 in Stuttgart
geboren, hat sich in Karlsruhe und München gebildet
und sich dauernd in Karlsruhe niedergelassen, wo er
bei dem dortigen Künstlerbunde sich eifrig bethätigt.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., O. m. b. H., Leipzig.
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