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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR 

BILDENDE  KUNST 

MIT  DEM  BEIBLATT  KUNSTCHRONIK 

NEUE  FOLGE 

DREIZEHNTER  JAHRGANG 


LEIPZIG 

VERLACi  VON  E.  A.  SEEMANN 


IQO'Z 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi37unse 


Inlialt  des  dreizehnten  Jahrgangs 


Malerei 

Henri  Fantin-Latoiir.  Von  Georgen  /?/(iM»aris.  Mit 

1  Originallilhographie  und  8  Ahbildntigen 

Das  Bildnis  des  Oiuvanni  Bicci  de’  Medici  in  den 
Uffizien.  Von  /:.  SthaeJJir.  Mit  2  Abbildungen  . 
Die  vlainisclien  nnd  niederländischen  Meister  in  der 
Ermitage  zu  St.  I*etersburg.  Von  Max  Roosfs- 
Antwerpen.  Mit  12  Abbildungen  .  ,  .  .  43, 

Hans  üude’s  Lebenserinnerungen.  Von  ü.  Göthi'- 
Stockholm.  Mit  1  Radierung  und  2  Abbildungen 
Amor  und  Psyche.  Ein  Freskeneyklus  aus  der  Schule 
Kaffael’s  in  der  Engelsburg  zu  Rom.  Von  E.  Stein¬ 
mann.  Mit  b  Abbildungen . 

Ein  vergessener  Velazipiez.  Von  Dr.  A.  Bredtus- 

Haag.  Mit  1  Abbildung . 

Paul  Neuenborn.  Von  K-  Mayr.  Mit  1  Lithographie 

und  1 1  Abbildungen . 

Das  gute  Regiment,  Fresko  von  Ambrogio  Lorenzetti 
in  Siena.  Von  Paul  Schubring.  Mit  5  Abbildungen 
Ein  Qemälde  des  Matthias  Orünewald.  Von  tranz 

RieJJel.  Mit  2  Abbildungen . 

Französische  Meister  in  der  Mesdag’schen  Sammlung 
im  Haag.  Von  Walter  Gensei.  Mit  10  Abbildungen 
Konrad  Witz.  Von  G.  Dehio.  Mit  1  Farbendruck 

und  2  Abbildungen . 

Qemälde  des  XIV.  bis  XVI.  Jahrhunderts  in  der 
Sammlung  R.  v.  Kaufmann.  Von  AdolJ  Goläsehmidt. 

Mit  4  Abbildungen . 

Rudolf  von  Alt  zum  neunzigsten  Geburtstage.  Von 
Ludwig  Hevesi.  Mit  3  Farbendrucken  und  20  Ab¬ 
bildungen  . 

Walter  Leistikow.  Von  Werner  Weisbaeh.  Mit 

tb  Abbildungen . 

Ein  Bildnis  von  Pietro  Luzzi  da  Feltre.  Von  Ih.  r. 
Erimmel.  Mit  2  Abbildungen . 

Plastik 

Ein  Florentiner  Tonbildner  vom  Anfang  der  Hoch¬ 
renaissance.  Von  Wilhelm  Bode.  Mit  4  Abbildungen 
Ein  Meisterwerk  des  Sperandio  im  South-Kensington- 
Museum  zu  London.  Von  Wilhelm  Bode.  Mit 

2  Abbildungen . 

Disiecta  membra.  Von  Walter  Amelang-Rom.  Mit 

20  Abbildungen . i^o, 

Max  Klinger’s  Beethoven.  Von  Paul  Mongr/.  Mit 
2  Heliogravüren,  1  Photographie  und  2  Abbildungen 
Die  Monstranz  des  Hans  Ryssenberg  vom  Jahre  1474 
in  der  Ermitage  zu  Petersburg.  Von  Richard 
Hausmann.  Mit  2  Abbildungen . 


Seile 


Franz  Zelezny,  ein  Wiener  Holzbildner.  Von  Lud¬ 
wig  Abels.  Mit  12  Abbildungen  ...  235 

Ein  neues  Buch  über  Michel  Colombe.  Von  Wilhelm 

Bode.  Mit  4  Abbildungen . 243 

Die  Kaiser  Wilhelm -Brücke  in  Braunschweig.  Von 
G.  V.  Graevenitz.  Mit  3  Abbildungen . 248 


Architektur 

Die  neuentdeckte  Pracht-Katakombe  von  Alexandria. 

Von  Josef  Strzyy^owski.  Mit  3  Abbildungen  .  112 

Arabisches  aus  Toledo.  Von  G.  Barth.  Mit  14  Ab¬ 
bildungen  . '57 

Graphische  Künste 

Bruno  Heroux.  Mit  4  Abbildungen . 23 

Graphische  Arbeiten  von  Hans  Skala-München.  Mit 

2  Abbildungen . 74 

Zeichnende  Künste.  Vierte  Ausstellung  der  Berliner 
Secession.  Von  L.  Kaemmerer.  Mit  6  Abbildungen  81 
Felicien  Rops.  Von  Rudolf  Lothar-\f/\*ta.  Mit  5  Ab¬ 
bildungen  .  ....  146 


Allgemeines 

Kunst  und  Leben  in  England.  Von  Hermann  Muthesius- 

London.  Mit  ib  Abbildungen . 13,  49 

Friedrich  Lippmann.  Zum  6.  November  1901.  Von 

Jaro  Springer.  Mit  1  Abbildung . 25 

Die  Ausstellung  älterer  Kunstwerke  in  München. 

Von  Dr.  Max  J.  Eriedldnder.  Mit  ö  Abbildungen  27 
Die  neuen  Erwerbungen  der  Berliner  National-Qalerie. 

Mit  9  Abbildungen . 33 

Das  Pergamon-Museum  in  Berlin.  Von  H.  Winnefeld. 

Mit  5  Abbildungen . 95 

Charakter  und  Schönheit.  Betrachtungen  über  Kunst 
und  Künstler  von  J.  t.  Raffaelli.  Mit  1  Dreifarben¬ 
druck  und  9  Abbildungen . lot 

Die  ästhetische  Bildung  der  Kinder.  Von  Artur  See¬ 
mann  . 129 

Eindrücke  von  der  fünften  Ausstellung  der  Berliner 
Secession  1902.  Von  Ludwig  Kaemmerer.  Mit 

19  Abbildungen . 191 

Petrarca’s  Einfluss  auf  die  Kunst.  Von  C.  de  Man- 

dach.  Mit  4  Abbildungen . 212 

Die  Karlsruher  Jubiläums-Ausstellung.  Von  Ernst 

f'u/ufzcA-Strassburg . 250 

Die  Wallace-Sammlung  in  London.  Von  J.  P.  Richter. 

Mit  8  Abbildungen . 295 


Seile 

5 

40 

•  •7 

7' 

8b 

1 10 

•25 

•38 

205 

215 

229 

239 

259 

281 

302 

1 

77 

171 

181 

225 


IV 


INHALTSVERZEICHNIS 


Kunstbeilagen 


Originale  Arbeiten 

Rrnno  Hdroux,  Alim'h,  Stichradierung  .  .  .  . 

zu 

23' 

//  f  nnlin-l  ntour-Pat\s,  Paradies  und  Peri  (Rob. 
Schumann)  Originallithographie . 

zu 

5  . 

Hfinrich  ICnZ/y  Miinchen,  Lesende  Frau.  Original¬ 
radierung  . .  .  .  . 

vor 

4Q 

Hnns  München,  Am  Klavier.  Schab- 

knnstblatt . 

zu 

74. 

()  von  Knnpf  Geheimnis.  Originalradierung  . 

vor 

77 

W'nlfrr  l.rislikow,  Waldsee,  Originalradierung  . 

zu 

84  . 

I  rnnz  -  Karlsruhe,  Der  Winter.  Original¬ 
lithographie  . 

nach 

124, 

/*«///  Nriicnhoni,  Originallitlinpraphie  .  zu  125 

Rudolf  Jrttmar-yN'x^n,  Dichtertraum.  Original- 

radicrimg . . nach  180 , 

Uttn$  von  Karlsruhe,  Der  Frühling. 

Originallithographie . vor  205. 

H.  Rriffrmrhrid,  An  Adalbert  Stifter.  Radierung  vor  253  ^ 
I  r.  KoHmorfrrn -HcxWn,  Der  Sommer.  Original¬ 
lithographie  .  nach  256 

f/. /:>//’r-Dresden, Ährensammlerin.  Schabkunstblatt  vor  281  n 
A.  //f7//mrr/- Karlsruhe,  Der  Herbst  Original¬ 
lithographie  .  vor  297 

M.  / Vj/tmw-Berlin,  Lithographiertes  Bildnis  .  .  nach  304 

Künstlerische  Reproduktionen 

Jiiliw;  Nordhorn,  Sommernacht.  Radierung  nach 

einem  Gemälde  von  Professor  Hans  Gude  zu  71 


Seile 

r.  Fiusr/i/ofT,  Cafe  Boulevard.  Radierung  nach 


E.  Degas . zu  t5b 

IP.  VC'ocnilr,  Frauenkopf.  Radierung  nach  einem 
Gemälde  von  Llans  Makart . vor  157 


Photomechanische  Reproduktionen 


Hans  Tltonta,  Sehnsucht.  Dreifarbendruck  nach 

einem  Tempera-Gemälde . zu  24 

Frn.sl  Moritz  Florenz,  Silberner  Hand¬ 
spiegel.  Heliogravüre . zu  36 

J.  F.  Rn ffarili  Paris,  Die  Strasse  von  Argenteuil 

in  Paris.  Dreifarbendruck . zu  tot 

Ma.v  Ktinfier,  Sitzender  Beethoven.  Brustbild, 

Vorderansicht.  Photographie . zu  183 

Thronrückwand  von  Klinger's  t^eethoven.  Helio¬ 
gravüre  .  zu  183 

Tantalidengruppc  von  Klinger’s  Beethoven.  Helio¬ 
gravüre  .  zn  183 

Konrad  WHz,  Die  heilige  Magdaiena  und  Katharina 

(Strassburg,  Museum).  Dreifarbendruck  .  .  zu  229 

Rudolf  von  /1//-Wien,  Selbstbildnis.  Dreifarben¬ 
druck  .  zu  259 

Rudolf  von  /1//-Wicn,  Aquarell  von  1843.  Drei- 

farbendnick  zu  259 

Rudolf  von  zl/AWicn,  Bergwand  in  Gastein.  Drei¬ 
farbendruck  zu  259 


Abb.  1.  Johannesbiiste 


EIN  FLORENTINER  THONBILDNER  VOM  ANFANG  DER 

HOCHRENAISSANCE 

Von  Wilhelm  Bode 


IM  Florentiner  Kunsthandel  begegnete  man  in  den 
letzten  Jahrzehnten  und  begegnet  man  noch  jetzt 
gelegentlich  Thonfigürchen  des  jugendlichen  Jo¬ 
hannes,  regelmässig  in  ganzer  Figur  und  sitzend  dar¬ 
gestellt,  die  durch  ihre  übereinstimmende  Bildung  der 
schlanken  Formen  und  des  holden  Köpfchens,  wde  durch 
die  sehr  verwandte  Haltung  auf  die  Hand  eines  und 
desselben  Künstlers  hinweisen.  Im  Handel  pflegten 
sie  —  nach  der  alten  Florentiner  Sitte,  alle  un¬ 
bestimmten  Bildwerke  der  Renaissance,  die  nicht 
augenscheinlich  der  Richtung  Michelangelo’s  angehören, 
Donatello  zuzuschreiben  unter  dem  Namen  dieses 
heute  noch  neben  Michelangelo  gefeiertesten  Floren¬ 
tiner  Bildhauers  zu  gehen.  Selbst  eine  im  vorigen 
Jahre  in  Florenz  aufgetauchte  beinahe  lebensgrosse 
Johannesbüste,  deren  Abbild  ich  hier  gebe  (Abb.  i), 
ist  wieder  von  ein  paar  namhaften  Florentiner  Künst- 

Zeitschritt  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  i. 


lern  als  Werk  Donatello’s  bestimmt  und  dabei  auf 
hunderttausend  Francs  bewertet  worden.  Diese  Be¬ 
stimmung  brauchen  wir,  da  wir  die  Abbildung  geben, 
nicht  weiter  zurückzuweisen.  Mit  dem  charakter¬ 
vollen,  herben  Naturalismus  Donatello’s  steht  diese 
Büste  in  direktem  Widerspruch.  Dasselbe  gilt  noch 
in  höherem  Grade  von  den  Statuetten  des  sitzenden 
Johannes. 

Die  Mehrzahl  dieser  Statuetten  ist,  wie  die  in  der 
Berliner  Sammlung,  etwa  einen  halben  Meter  hoch,  ein¬ 
zelne  sind  noch  kleiner;  das  einzige  grössere  (etwa 
8o  cm  hohe)  Exemplar  ist  im  Besitz  von  Stefano 
Bardini  in  Florenz  und  befand  sich  in  seiner  Sonder¬ 
ausstellung  in  der  Pariser  Weltausstellung  des  vorigen 
Jahres.  Da  es  die  bedeutendste  und  feinste  unter  allen 
diesenjohannesstatuetten  ist,  gebe  icheinetrefflicheNach- 
bildung  davon,  neben  die  ich  eine  kleine  Hochätzung 


1 


2 


EIN  FLORENTINER  THONBILDNER  VOM  ANFANG  DER  HOCHRENAISSANCE 


des  Berliner  Stückes  (Abb.  2j  sU  !e,  um  zu  zeigen, 
wie  ähnlich  diese  verschiedencii  'r  iederholungen  i'es- 
selben  Alotiv^  unter  sich  sind.  Johannes  ist  v.iar- 
gestellt  als  hüi;  eher  .e!i!u:;  .c  '  Kral  c,  dem  ,ui'£!T'h;S- 
alter  nahe,  w!--  er  auf  schiefriger;  Feiger,  sitzt,  das  eine 
Bein  lierabliängeiid,  flas  andere  hoch  gesetzt,  und 
wie  er  begeistert  narh  o-'n  -n  blickt,  v/ährend  er  einen 
Arm  auf  die  drust  legi  und  in  der  Hand  des  andern, 
herabhäiigenden  Anms  eine  Scliale  oder  eine  Sclirift- 
n.lle  hält.  Nur  das  saubi;re  Schafsfell,  das  er  wie 
einen  Rock  angc  -r  g-M'  liat,  und  der  felsige  Boden 
deuten  darauf,  das;-  der  Künstler  in  der  wohlgebil¬ 
deten,  anmutige  !  Knabengestalt  den  jungen  Täufer 
wiedergebi'u  wollte. 

Die  übrigi-n  Johannes- Statuetten,  deren  mir  etwa 
ein  Dutzend  aus  dem  Florentiner  Kunsthandel  und 
im  Brivatbesitz  bekannt  ist,  glei¬ 
chen  dieser  grösseren  Figur  der 
Bardini’schen  Sammlung  so  sehr, 
dass  sie  in  der  Erinnerung  wie 
Wiederholungen  derselben  erschei¬ 
nen;  bei  näherer  Vergleichung 
stellen  sich  aber  nur  einige  wenige 
kleine  E.xemplare  als  eigentliche 
Wiederholungen  derselben,  wohl 
von  dritter  Hand  oder  aus  der 
Werkstatt,  heraus;  die  übrigen 
weisen  innerhalb  ihrer  grossen  Ver¬ 
wandtschaft  doch  in  Haltung,  Be¬ 
wegung  und  Ausdruck  wie  in  den 
Nebensachen  so  starke  Abweich¬ 
ungen  unter  einander  auf,  dass 
sie  nur  als  eigenhändige  Arbeiten 
eines  und  desselben  wenig  erfin¬ 
dungsreichen  Künstlers  betrachtet 
werden  können.  Die  elegante 
Pose,  die  gewählten  Wendungen 
im  Körper,  die  Opposition  in  der 
Haltung  der  Arme  und  Beine,  die 
Freude  an  den  schönen  Formen  in 
allen  diesen  Arbeiten  sind  lauter 
Merkmale  der  Florentiner  Hoch¬ 
renaissance,  wie  sie  uns  Heinrich 
Wölfflin  in  der  Klassischen  Kunst 
in  seiner  klaren,  eindringlichen  Weise  aufgezählt  hat.  Die 
befangene  Art,  wie  sie  zur  Geltung  kommen,  beweist 
aber,  dass  der  Künstler  den  ersten  Jahrzehnten  des  Cin¬ 
quecento  an  gehört  und  mit  seinen  Anfängen  wohl  noch 
im  Quattrocento  stand.  Der  halb  schüchterne,  halb  pathe¬ 
tische  Ausdruck,  die  schlanken  Verhältnisse,  die  Tracht 
erinnern  noch  an  den  etwa  gleichaltrigen  Johannes, 
den  Benedetto  da  Majano  1480  für  die  Thür  der 
Sala  dell’Udienza  im  Palazzo  Vecchio  arbeitete,  ln  dem 
geschmeidigen  Fluss  der  Glieder  können  diese  Figuren 
wohl  kaum  ohne  den  Einfluss  des  Giovannino  von 
Michelangelo  entstanden  sein,  dem  gegenüber  sie 
sich  als  die  jüngeren  schon  dadurch  bekunden,  dass 
Johannes  regelmässig  sitzend  gegeben  ist,  was  Wölfflin 
als  ein  Charakteristikum  für  die  Darstellung  des  Knaben 
Johannes  im  Cinquecento  nachgewiesen  hat.  Auch 
die  starke  Betonung  der  Gelenke,  die  Haarbehandlung, 


der  steinige  Boden  verraten  den  Einfluss  der  Jugend¬ 
werke  Michelangelo ’s,  neben  dem  der  Künstler  freilich 
oberflächlich  und  leer  erscheint.  In  der  Pose  er¬ 
innern  diese  Johannes- Statuetten  an  den  durch  die 
zahlreichen  Wiederholungen  bekannten  jugendlichen 
Johannes  von  Raphael;  doch  da  ihnen  der  visionäre 
Ausdruck  und  das  Pathos  dieser  Gestalt  ganz  ab¬ 
geht,  so  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dass  sie  nach 
dieser  berühmten  Komposition  entstanden  sind. 

Das  Streben  nach  dem  Anmutigen,  Grazilen  in 
Formenbildung  und  Bewegung,  das  sich  in  diesen 
Johannes-Statuetten  besonders  stark  ausspricht,  ist  über¬ 
haupt  charakteristisch  für  die  Florentiner  Plastik  aus 
der  Zeit  des  Überganges  vom  Quattrocento  zum  Cin¬ 
quecento,  ehe  Michelangelo  seinen  Stil  voll  ausbildete 
und  dadurch  der  Hochrenaissance  in  Mittelitalien  eine 
neue,  ausgeprägte  Richtung  ab. 
Andrea  Ferrucci  und  Benedetto  da 
Rovezzano  entwickeln  diesen  gra¬ 
ziösen  Stil  in  ihren  reichen  Deko¬ 
rationen,  und  selbst  Andrea  San- 
sovino  ist  er  eigentümlich,  bis  er 
unter  den  Einfluss  Michelangelo’s 
kam.  Leonardo  del  Tasso’s  Sebas¬ 
tiansfiguren  in  San  Ambrogio  und 
Santa  Maria  Maddalena  dei  Pazzi, 
die  marmorne  Sebastiansstatuette 
des  Michele  Maini  in  der  Minerva 
zu  Rom,  selbst  noch  der  Bacchus 
des  Jacopo  Sansovino  verraten  die 
gleiche  Richtung  auf  das  Gefällige 
und  Graziöse,  die  auch  schon  in 
der  Wahl  der  Motive,  namentlich 
in  der  Vorliebe  für  die  Darstellung 
des  jugendlichen  Johannes  und 
des  jungen  Sebastian  sich  bekun¬ 
det.  Zahlreiche  Florentiner  Statuetten 
dieser  Heiligen,  meist  in  bemaltem 
Thon,  die  den  gleichen  Charakter 
tragen ,  aber  bei  ihrer  meist 
handwerklichen  Auffassung  aut 
keine  bestimmten  Künstler  sich 
zurückführen  lassen,  sind  das 
lebendige  Zeugnis  für  die  Freude, 
die  die  Florentiner  um  die  Wende  des  Jahr¬ 
hunderts  an  solchen  anmutigen  Jünglingsgestalten 
hatten. 

Auch  für  unsere  Johannes -Statuetten  weiss  ich 
noch  keinen  Künstlernamen  zu  nennen.  Sie  erinnern 
wohl  an  Tasso  und  sind  auch  den  Jugendwerken  des 
Jacopo  Sansovino  verwandt,  aber  doch  nicht  so  stark, 
dass  sie  deshalb  einem  dieser  Meister  zugeschrieben 
werden  könnten.  Für  Jacopo,  dessen  tüchtigste  Werke 
gerade  seiner  Jugend  angehören,  sind  sie  vor  allem 
zu  gleichmässig  und  zu  leer;  sein,  freilich  später, 
sitzender  Johannes  in  den  Frari  zu  Venedig  (vergl. 
Abb.  in  Wölfflin,  Klass.  Kunst,  S.  259)  bietet  den 
besten  Anhalt  zu  einem  Vergleich,  bei  dem  sich  wohl 
die  meisten  zu  Gunsten  der  lieblichen  Thonfigur  im 
Bardini’schen  Besitz  erklären  werden,  obgleich  sie  in 
künstlerischer  Qualität  hinter  Sansovino’s  Arbeit 


Abb.  2.  Johannesstatiiette 
Berlin,  Kgl-  Museen  Nr.  22g 


JOHANNES-STATUETTE  (etwa  8o  cm  hoch)  IM  BESITZE  VON  STEFANO  BARDINI  IN  FLORENZ 


1 


4 


EIN  FLORENTINER  THONBILDNER  VOM  ANFANG  DER  HOCHRENAISSANCE 


zuriicksteht.  Auch  an  Giovanni  della  Robbia  kann 
man  bei  diesen  Figuren  nicht  denken. 

Ausser  jenen  Statuetten  und  der  eingangs  ge¬ 
nannten  fast  iebensgrossen  Büste  des  jungen  Johannes, 
iin  Besitz  der  Marchesa  Serafini  zu  Florenz,  kann 
man  unserem  Meister  mit  Wahrscheinlichkeit  noch 
ein  paar  ähnliche  Thonstatiictten  des  hl.  Hieronymus 
zuschreiben,  von  denen  ich  die  einzige,  deren  ich 
mich  im  öffentlichem  Besitz  erinnere,  nebenstehend 
wiedergebe:  den  Hieronymus  vor  dem  Kruzifix  knieend 
und  sich  kasteiend,  im  Berliner  Museum  (Abb.  3).  Wie 
der  Künstler  das  herbe  Motiv  ganz  gemässigt  auf¬ 
fasst,  wie  er  den  heiligen  Dulder  als  Mann  in  mitt¬ 
leren  Jahren  und  von  schönen  vollen  Formen  bildet. 


wie  er  das  lockige  Haar  stilisiert,  wie  er  die  grossen 
Extremitäten  wenig  durchführt,  wie  er  die  Figur 
stellt  und  bewegt,  wie  er  den  geschichteten  Schiefer¬ 
boden  bildet,  alles  das  stimmt  mit  der  Eigenart  unsres 
Meisters  der  Johannes-Statuetten.  Auch  die  tiefbraune 
Farbe,  mit  der  der  gebrannte  Thon  dieser  und  ein 
paar  ganz  ähnlicher  Hieronymus-Figuren ,  die  ich  ge¬ 
legentlich  im  Handel  sah,  angestrichen  ist,  findet  sich 
bei  den  Johannes-Figürchen,  wenn  diese  nicht  —  wie 
es  meist  der  Fall  ist  —  abgewaschen  sind  und  da¬ 
her  die  rohe  Thonfarbe  zeigen.  Auch  dass  die  Farbig¬ 
keit  verschmäht  wird,  ist  ein  Zeichen  dafür,  dass  der 
Künstler  dieser  Thonfiguren  schon  dem  Anfang  der 
Hochrenaissance  angehört. 


Abb.  2-  Hl.  Hieronymus.  Berlin,  Kgl-  Museen  Nr.  129 


Fantin-Latoiir.  Selbstbildnis.  Florenz,  Uffizien 


HENRI  FANTIN-LATOUR 

Von  Georges  Riat  in  Paris 


Henri  Fantin -Latour  ist  im  Jahre  1836  in  Grenoble  geboren, 
in  jener  Stadt,  welche  sich  rühmen  kann,  einen  Stendhal 
(Henri  Beyle)  und  Berlioz  hervorgebracht  zn  haben.  Seine 
Mutter  war  eine  Russin;  sein  Vater,  Theodor  Fantin-Latonr,  von  Metz 
gebürtig,  Hess  sich  in  der  Hauptstadt  der  Dauphine  nieder  und  schuf 
hier  eine  ganze  Anzahl  von  Bildnissen,  religiösen  Gemälden  und 
Pastellen,  die  ihm  ein  ehrenvolles  Ansehen  verschafften. 

Der  Sohn  kam  zn  rechter  Stunde  nach  Paris,  um  sich  dem  Studium 
der  Malerei  zn  widmen,  nach  der  es  ihn  besonders  drängte.  Er  trat 
bei  Lecoct]|  de  Boisbeandrand  an  der  Ecole  des  beaux-arts  ein  und 
später  in  das  Atelier  von  Conrbet.  Das  war  1863.  Lecocq  de 
Boisbeandrand  war  kein  grosser  Meister  und  doch  ein  hervorragender 
Lehrer.  Andre  Michel,  der  Konservator  des  Louvre,  hat  erst  im 
vorigen  Jahre,  als  er  die  Centenalansstellnng  in  der  Gazette  des 
beaux-arts  besprach,  auf  den  grossen  Einfluss  hingewiesen,  den  dieser 
bescheidene  Mann  auf  die  Entwickelung  der  französischen  Kunst 
unseres  Jahrhunderts  durch  seine  Fähigkeit,  die  besonderen  Talente 
jedes  seiner  Schüler  auszubilden,  genommen  hat. 

Zwischen  der  gesunden  Discipliu  dieses  Lehrers  und  dem  unge¬ 
stümen  Einfluss  Courbet’s  genoss  aber  unser  junger  Künstler  noch 
einen  anderen  Unterricht,  nämlich  den  der  alten  Meister  im 
Louvre;  dort  hat  er  in  jenen  Jahren  die  Fülle  von  Kopien  ausgeführt, 
welche  noch  heute  sein  Atelier  mit  feierlichem  Ernste  zieren.  ln  cliesem  Studium  der  Alten,  in  diesem 


Huldigung  für  Berlioz  f 


1)  Copyright  iQOO  by  Manzi,  Joyant  &  Cie. 


6 


HENRI  FANTIN-LATOUR 


H.  Fanfin-Latoiir.  Bildnis.  Salon  1884 


heissen  Bemühen,  in  ihren  Geist  und  ihre  Technik 
einzudringen,  traf  er  sich  damals  mit  den  Besten  der 
jungen  Generation:  mit  Bracqueniond,  mit  Manet  und 
Degas,  mit  Francois  Millet.  Noch  heute  liebt  es 
Fantin,  von  seinen  Gesprächen  mit  dem  Meister  von 
Barbizon  zu  erzählen:  Er  wirkte  ein  wenig  kalt  und 
brüsk,  aber  ich  hatte  die  Kühnheit,  ihn  anzusprechen, 
und  wir  haben  manchmal  miteinander  geplaudert. 
Jung  wie  ich  war,  hatte  ich  meine  bestimmten  Vor¬ 
urteile,  was  Millet  in  seiner  feinen  Art  bemerkt  hatte. 
Eines  Tages  führte  er  mich  vor  den  hl.  Michael: 
Betrachten  Sie,  sagte  er,  betrachten  Sie  nur  dieses  Ge¬ 
mälde  und  lernen  Sie  Raphael  begreifen.  Sehen  Sie 
doch  dieses  Blitzartige  der  Bewegung!  welch  eine 
Kraft  muss  der  Mann  gehabt  haben,  der  das  erfasst 
hat!  Und  die  grauenerregende  Landschaft,  diese 
Felsen,  diese  Flammen  ....  ein  Bild,  das  augenschein¬ 
lich  durch  den  Unverstand  der  späteren  Zeit  gelitten 
hat  und  doch,  wie  ist  es  unantastbar  und  mächtig 
geblieben!  ....  Ich  versichere  Sie,  mit  ein  oder  zwei 
solcher  Worte  von  Millet  habe  ich  Raphael  begriffen; 
so  merkwürdig  war  seine  Art,  ein  Bild  zu  zeigen.« 

*  * 

* 

Das  Jahr  1861  wurde  von  besonderer  Bedeutung 
für  unseren  Meister.  Die  Kunsthändler  Cadart  und 
Chevalier,  in  deren  Laden  regelmässig  Manet,  Legros, 


Bracqueniond,  Vollon,  Jacqemard  und  Fantin  ein- 
nnd  ausgingen,  veranlassten  die  jungen  Leute  zur  ge¬ 
meinsamen  Herausgabe  einer  Reihe  von  Lithographien, 
die  wir  heute  fast  noch  höher  schätzen ,  als  es  da¬ 
mals  die  Künstler  und  ihre  Freunde  thaten.  Manet 
gab  den  »Ballon  ,  Legros  die  »Steinhauer  von  Mon¬ 
trouge'  ,  Bracqueniond  die  »Chevaliers  ,  Ribot  die 
Lektüre  und  Fantin  steuerte  gleich  vier  Blätter  bei: 
»Tannhäuser  im  Venusberg  ,  »Die  entwaffnete  Venus«, 
Die  Erziehung  des  Amor«  und  Die  Stickerinnen«. 
Nach  diesem  Debüt  begegnen  wir  unserem  Meister 
nahezu  alljährlich  im  Salon  und  die  Aufzählung  aller 
seiner  Porträts,  Phantasien,  Pastelle  und  Lithographien 
würde  einen  ganzen  Katalog  erfordern,  wie  ihn  übrigens 
Hediard  im  Jahre  1892  in  vorzüglicher  Weise  ge¬ 
geben  hat.  Für  unsere  Betrachtung  hätte  eine  solche 
Titelaufzählung  umso  weniger  Wert,  als  des  Künstlers 
Schaffen  nicht  in  verschiedene  Manieren  zn  teilen  ist. 
Betrachtet  man  sein  Lebenswerk,  so  hat  man  den 
Eindruck  eines  schönen,  in  ruhiger  Majestät  dahin- 
fliessenden  Stromes.  Zu  erwähnen  bliebe  höchstens, 
dass  er  1875  mit  dem  Porträt  des  Ehepaares  Edwards 
eine  Medaille  erhielt  und  1879  RhKr  der  Ehrenlegion 
wurde.  Aber  diese  offiziellen  Anerkennungen  gelten 
wenig  im  Vergleich  zu  der  Verehrung  und  Bewun¬ 
derung,  mit  denen  ihn  weite  Kreise  seines  Landes 
umgeben  haben. 


Bonnier  Blcmont  Aicard 


Fantin- Latour.  Eine  Tischecke.  Salon  iSj2 


HENRI  FANTIN- LATOUR 


b 


Oamif  ist  er,  glaube  ich,  stolz;  aber  er  ist  nie¬ 
mals  danach  ausgegangen.  Man  kann  sich  wirklicli 
keinen  bescheideneren  und  geräuschloser  lebenden 
Künstler  vorstellen  als  Fantin -Latour.  Sein  Dasein 
spielt  sich  in  dem  einfachen  Atelier  der  Rne  des 
beanx-arts  ab,  in  ruhiger,  einsamer  Arbeit,  fern  von 
Stürmen  und  Kabalen.  Wer  die  Hallen  kennt,  wo 
unsere  Modemaler  sich  mit  dem  pathetischen  Kram 
einer  Theaterdekoration  umgeben,  würde  nicht  wenig 
erstaunt  sein,  wenn  er  Fantiu’s  Atelier  betritt.  Zu 
ebener  Erde  hinten  auf  dem  Hofe,  niedrig,  zum  Teil 
sogar  dunkel,  über  und  über  voll  gestellt  von  Kopien, 
von  angefangenen  Gemälden,  von  Abgüssen,  dick¬ 
leibigen  Mappen,  wo  der  Meister  seine  Sammlungen 
von  Kunstblättern  aufbewahrt,  durch  deren  Studium 
er  seinen  aussergewöhulicheu  Schatz  von  künstle¬ 
rischer  Kultur  ständig  vermehrt.  Nirgends  eine  ge¬ 
suchte  Eleganz,  keine  überflüssigen  Schnurrpfeifereien, 
keine  Pose.  Das  ist  kein  Atelier,  wo  man  Empfänge 
giebt,  das  ist  ein  Laboratorium,  ein  Arbeitsraum.  Mau 
getraut  sich  gar  nicht,  ein  leeres  Ateliergeschwätz  zu 
beginnen;  der  Meister  würde  sich  auch  gar  nicht 
darauf  einlassen. 


Arseue  Alexandre  hat  in  der  Monde  moderne 
(Dezember  1895)  eine  wunderhübsche  Beschreibung 
von  Fautin  als  Hausherr  gegeben:  Nach  all  diesen 
Erzählungen  werden  Sie  sich  ihn  wohl  als  eine 
finstere,  brummige  Persönlichkeit  vorstellen.  Und 
doch  kennt  mancher  einen  Fantin  von  bezauberndem 
Entgegenkommen,  einen  Fantin,  über  dessen  Gesicht 
plötzlich  ein  feines,  anmutiges  Lächeln  leuchtet,  einen 
Fautin,  der  als  echter  Causeur  aus  der  Fülle  seiner 
Erinnerungen  schöpft,  vor  Begeisterung  sprudelt  und 
mit  seiner  Abneigung  nicht  hinter  dem  Berge  hält. 
Dann  veilieren  diese  stolzen  durchdringenden  Augen, 
welche  Sie  in  dem  Selbstbildnis  seines  reifen  Alters 
in  den  Uffizien  sehen,  ihre  Strenge,  wenn  sie  auch 
etwas  ewig  aufmerksam  Fragendes  behalten,  dann 
schwindet  der  bittere  Zug  dieses  willensstarken  Mundes, 
der  sich  leicht  verächtlich  kräuseln  kann,  und  die  merk¬ 
würdigen  Furchen  auf  seiner  Stirn,  um  die  etwas  von 
Sorge,  Erstaunen  und  Ironie  schwebt,  lassen  seine 
Augen  blauer,  grösser,  gerader  erscheinen . 

*  * 


Conlii’r  Lrgros  Whistler  (Delacroix’  Porträt)  Manet  Braeqnenwnd  Ballcroy 


Duranty  Fantin-Latour  Champfleury  Baudelaire 

H.  Fantin-Latoiir.  Die  Huldigung  für  Delacroix.  Salon  1864 


HENRI  FANTIN- LATOUR 


9 


Es  wäre  hier  noch  ein  Wort  über  die  Litho¬ 
graphietechnik  Fantin’s  zu  sagen.  Der  Künstler 
arbeitet  nicht  direkt  auf  dem  Stein,  sondern  zeichnet 
mit  lithographischer  Kreide  auf  ein  eigentümlich  prä¬ 
pariertes  Papier,  das  er  über  eine  gekörnte  Platte 
spannt;  und  zwar  hat  er  verschiedene  Grade  solcher 
Unterlagen  zur  Hand,  je  nach  dem  beabsichtigten 
Effekt.  Die  Zeichnung  wird  dann  auf  den  Stein  um¬ 
gedruckt  und  empfängt  dort  gewöhnlich  noch  einige 
letzte  Retouchen.  Dies  Verfahren  ist  auch  in  Deutsch¬ 
land  bekannt,  doch  hat  Fantin’s  Arbeitsweise  ihre  Be¬ 
sonderheiten,  die  seine  Blätter  vor  anderen  sofort 
kenntlich  machen.  Weil  er  sich  von  dem  schwer¬ 
fälligen  Hantieren  mit  dem  Stein  befreit  hat,  weil  er 
in  der  Lage  ist,  seinen  Einfällen  und  Empfindungen 
ohne  technische  Vorbereitung  jeden  Augenblick  litho¬ 
graphisch  Ausdruck  geben  zu  können,  deshalb  haben 
seine  Blätter  jene  Frische  und  Unmittelbarkeit,  die  wir 
an  ihnen  schätzen. 

Aber  wesentlich  bemerkenswerter  als  die  Technik 
ist  der  Inhalt  von  Fantin’s  lithographiertem  Oeuvre. 
Fast  alle  seine  Blätter  sind  nämlich  von  musikalischen 
Themen  inspiriert  und  zwar  in  der  Hauptsache  durch 
die  Schöpfungen  von  Richard  Wagner  und  Hektor 
Berlioz;  nur  muss  man  sich  nicht  etwa  diese  Litho¬ 
graphien  im  Stile  von  Illustrationen  zu  den  Text¬ 
büchern  oder  gar  von  Theaterdekorationen  vorstellen; 
es  sind  Traumesblüten,  gepflückt  im  Garten  der  Sage. 
Fantin  vergöttert  die  Musik,  ohne  selbst  ausübender 
Musiker  zu  sein.  Besonders  Richard  Wagner  ist  sein 
erklärter  Liebling.  Fantin  war  einer  der  frühesten 
Wagnerianer  Frankreichs;  trotzdem  musste  ihm  das 
Missgeschick  passieren,  dass  er  1861  nicht  dazu  ge¬ 
langte,  den  Tannhäuser  zu  hören;  sein  Billet  lautete  erst 
auf  die  vierte  Vorstellung,  zu  der  es  bekanntlich  nicht 
mehr  kam.  So  schuf  er  damals  den  Venusberg«, 
ohne  die  Oper  auf  der  Bühne  gehört  zu  haben. 
Aber  1876  war  er  einer  der  ersten,  die  die  Pilger¬ 
fahrt  nach  Bayreuth  antraten  und  von  da  ab  giebt 
es  kein  Jahr  mehr,  wo  er  nicht  den  Wundern,  die 
sich  dort  den  Sinnen  bieten,  neue  Eingebungen  ver¬ 
dankt  hätte.  Persönlich  ist  er  Wagner  niemals  näher 
getreten,  was  als  Zug  seines  zurückhaltenden  Charak¬ 
ters  nicht  unerwähnt  bleiben  mag. 

So  finden  wir  die  hauptsächlichsten  Scenen  aus 
Wagner’s  Werken  bei  Fantin  wieder;  alle  diese  Sym¬ 
phonien  der  Träumerei,  der  Phantasie,  der  Grazie, 
der  glühenden  Leidenschaft  und  des  Schmerzes;  da 
finden  wir  Elsa,  Isolde,  Evchen,  Sieglinde,  Brünhilde, 
Kundry;  Walter  Stolzing,  Tannhäuser,  Tristan,  Sieg¬ 
fried,  Parsifal  leben  in  diesem  einzigartigen  Werke, 
als  wenn  sie  wirklich  existiert  hätten. 

Daran  reihen  sich  die  von  Berlioz  angeregten 
Blätter:  die  Symphonie  phantastique,  Harald  in  Italien, 
Benvenuto  Cellini,  Romeo  und  Julie  und  viele  andere. 
Auch  eine  Apotheose  des  so  lange  verkannten  Meisters 
sei  hier  aufgezählt. 

Viele  dieser  Blätter  nach  Wagner  und  Berlioz 
wurden  ursprünglich  für  Adolphe  Jullien’s  Werk  über 
beide  Musiker  komponiert. 

Dann  aber  haben  noch  zwei  deutsche  Genies  in 


Fantin’s  Seele  eine  verwandte  Saite  erklingen  lassen: 
Schumann  und  Brahms.  Und  von  Robert  Schu- 
mann’s  »Paradies  und  Peri«  ist  auch  das  Blatt  in¬ 
spiriert,  das  der  Meister  für  diesen  Aufsatz  der  »Zeit¬ 
schrift  für  bildende  Kunst«  geschaffen  hat.  An¬ 
scheinend  hat  Fantin  an  jene  Anfangsscene  des  Ora¬ 
toriums  gedacht,  da  die  wegen  ihres  Fehltrittes  aus 
dem  Himmel  verbannte  Peri  im  Morgengrauen  auf 
die  Gärten  Indiens  niederblickt  und  wehklagt,  dass 
alle  Wonnen  der  Natur  nicht  das  verlorene  Paradies 
aufwiegen  - 

Der  hehre  Engel,  der  die  Pforte 

Des  Lichts  bewacht,  vernimmt  die  Worte, 

Und  wie  er  lauscht  und  näher  schleicht 
Dem  sanften  Lied,  entsinkt  ihm  eine  Thräne; 

Er  sprach: 

Dir,  Kind  des  Stamms,  schön,  doch  voll  Sünden 
Kann  eine  frohe  Hoffnung  ich  noch  künden. 

Im  Schicksalsbuche  stehn  die  Worte: 

Es  sei  der  Schuld  die  Peri  bar. 

Die  bringt  zu  dieser  ewgen  Pforte 
Des  Himmels  liebste  Gabe  dar;  — 

Geh,  suche  sie  und  werde  rein: 

Gern  lass  ich  die  Entsühnten  ein!  — 

*  * 

Die  Mehrzahl  aller  dieser  Gegenstände  ist  vom 
Künstler  noch  ein  zweites  Mal  aufgenommen  und  als 
Gemälde  ausgeführt  worden;  man  möchte  fast  meinen, 
dass  das  zart  verhüllte  seiner  Figuren  im  Stile  von 
Girodet  und  Diaz  dabei  durch  die  Farbe  noch  ver¬ 
schönt  und  gehoben  ist.  Gerade  dieses  auf  allen 
Bildern  Fantin’s  wiederkehrende  »Enveloppieren«  ist 
eine  der  grössten  handwerklichen  Schwierigkeiten,  die 
Fantin  mit  einer  geradezu  pittoresken  Fertigkeit  be¬ 
herrscht. 

Neben  solchen  nach  Lithographien  entstandenen 
Gemälden  steht  aber  eine  andere  Gruppe,  die  nach 
der  Meinung  mancher  sogar  den  Gipfel  seiner  Kunst 
bedeutet:  das  sind  seine  Porträts.  Von  seinem  Selbst¬ 
bildnis  haben  wir  schon  oben  gesprochen;  sein  Manet 
im  Cylinderhut  und  Spazierstock  ist  das  bekannteste 
und  am  häufigsten  wiedergegebene  Porträt  dieses 
Künstlers.  Die  lange,  lange  Reihe  der  anderen  auf¬ 
zuzählen  erübrigt  sich.  Das  hier  abgebildete  köstliche 
Damenbild,  dessen  glückliche  Besitzerin  die  König¬ 
liche  Nationalgalerie  in  Berlin  seit  einigen  Jahren  ist, 
erzählt  von  dem  Porträtisten  Fantin  mehr  als  alle 
Worte.  Nicht  unerwähnt  aber  dürfen  einige  Gruppen¬ 
bilder  bleiben,  die  schon  wegen  der  dargestellten 
Persönlichkeiten  noch  in  späten  Zeiten  historisches 
Interesse  beanspruchen  werden.  »Die  Huldigung  für 
Delacroix«  (1864),  »Das  Atelier  von  Batignolles« 
(1870),  Das  Musikzimmer<  (1885)  und  die  »Tisch¬ 
ecke«  (1872)  können  als  Dokumente  aus  der  Maienblüte 
unserer  modernen  Kunst  betrachtet  werden.  Unter 
die  gleiche  Klasse  fällt  auch  noch  der  »Toast  auf  die 
Wahrheit«,  ein  Bild,  das  die  Personen  der  Huldigung 
für  Delacroix  vereinigte;  leider  hat  es  der  Meister 
später  vernichtet.  Schliesslich  wäre  noch  der  »Familie 
D....  zu  gedenken,  die  1878  auf  dem  Salon  ein 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  i. 


2 


UN,  KGL.  NATIONALOALERIE 


H.  FANTIN-LATOUR 
DAMENBILDNIS 


HENRI  FANTIN-LATOUR 


1 1 


allgemeines  Entzücken  hervorrief,  das  man  noch  heute 
vor  dem  Bilde,  welches  das  Atelier  des  Künstlers 
schmückt,  würdigt  und  begreift;  es  ist  ein  Wunder¬ 
werk  von  Ruhe,  Natürlichkeit  und  intimem  Leben, 
ausgesprochen  in  der  bezauberndsten  Farbengebung. 

Betrachte  icii,  sagt  Arsene  Alexandre  so  schön, 
betrachte  ich  diese  ernsten,  treuen  Bilder,  diese 
Männer  der  Kunst  und  des  Geistes,  die  so  verständ¬ 
nisvoll  gemalt,  so  freimütig  hingestellt  sind  in  ihrer 
wahren  Haltung,  in  ihrem  gewöhnlichen  Auftreten, 
so  denke  ich,  dass  in  diesen  Gemälden  rechte  Ver¬ 
teidiger  vorbereitet  sind  für  die  Zukunft  eines  Zeit¬ 
alters,  das  sich  selbst  vielfach  geschmäht  hat,  eines 
Zeitalters,  das  viele  Hanswurste  und  Gimpel  hat  Vor¬ 
beigehen  sehen ,  das  aber  im  edlen  und  festen  Kern 
der  französischen  Rasse  nicht  entartet  ist.  Und  sehe 
ich  dann  diese  schönen  Familienporträts,  diese  Frauen¬ 
bildnisse  an  —  sind  sie  nicht  bewundernswürdige 
Plaidoyers  zu  gunsten  unserer  Sitten,  von  denen  man 
so  geringschätzig  reden  möchte?  Vor  diesen  Bildern 
fühlt  man:  das  sind  die  wahren  französischen  Frauen, 
nicht  jene,  von  welchen  uns  die  geschwätzige  Chronik 
täglich  zu  berichten  weiss.' 


Ernst,  Adel,  Feierlichkeit,  Wohlklang,  Empfindung 
—  sind  die  Worte,  die  man  am  häufigsten  an¬ 
wenden  hört,  wenn  davon  die  Rede  ist,  das  Lebens¬ 
werk  Henri  Fantin-Latours  zu  charakterisieren.  Man 
sagt  von  ihm,  dass  er  einfach,  gut,  nachdenklich, 
arbeitsam,  sorglich  mit  dem  Streben  nach  Unabhängig¬ 
keit  ist;  er  hat  es  immer  abgelehnt,  in  die  Riege 
einer  bestimmten  Klasse  eingereiht  zu  werden.  Die 
einen  nennen  ihn  Realisten,  die  anderen  Idealisten  — 
er  ist  beides,  ln  seinen  Werken  aus  der  Welt  der 
Träume  haben  die  Gestalten  Muskeln  und  wirkliches 
Leben,  sind  sie  Mann  und  Weib,  ln  seinen  Porträts, 
wo  die  Ähnlichkeit  packend  ist  bis  auf  die  Toilette, 
fühlt  man  hinter  den  ernsten  Gesichtern  eine  ver¬ 
träumte  Seele,  einen  weltfremden  Zug  in  das  Reich 
des  Unbekannten.  Sein  Lebenswerk  ist  ohnegleichen 
in  der  zeitgenössischen  Kunst  Frankreichs,  ja  es  ist 
eines  der  stärksten,  gesündesten  und  bedeutendsten 
unserer  Zeit  überhaupt,  eine  Quelle  des  Genusses 
für  das  Auge  und  für  die  Gedanken ;  weil  sie  Ver¬ 
stand  und  Einbildungskraft  gleichermassen  befriedigen, 
bleibt  den  Werken  Fantin  -  Latours  eine  ruhmvolle 
Unsterblichkeit  gesichert. 


Schotdercr  Renoir  Zola  Maitre  Bazille  Monet 


Manet  Astrnc 

H.  Fantin-Latoiir.  Das  Atelier  in  Batigiwltes.  Paris,  Luxembourg- Museum.  (Salon  1870) 


2 


Wolfram  hält  Tannhäiiser  zurück 
Nach  einer  Lithographie  von  H.  Fantin-Latonr 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 

Von  Hermann  Muthesius  in  London 


WER  in  irgend  einem  Zusammenhänge  über 
englisches  Wesen  schreibt,  der  sollte  an  die 
Spitze  setzen:  England  ist  ein  Inselreich. 
Als  solches  hat  es  seine,  von  dem  Festlande  ver¬ 
schiedene,  in  hohem  Masse  selbständige  Entwickelung 
eingeschlagen;  auf  welches  Gebiet  wir  auch  blicken, 
sehen  wir  knorrige  Eigenart  und  ausgesprochenen 
Charakter.  Wer  die  wenigen  Seemeilen  von  Calais 
nach  Dover  auf  dem  Schiff  zurückgelegt  hat,  befindet 
sich  in  einer  neuen  Welt,  die  von  der  kontinentalen 
weit  verschiedener  ist,  als  innerhalb  dieser  Frankreich 
von  Deutschland,  Italien  von  Schweden.  Nicht  bloss 
im  Charakter  der  weichen,  baumbekränzten  Wiesen¬ 
landschaft  prägt  sich  die  Verschiedenheit  aus,  sondern 
auch  im  Wesen  der  Menschen  und  hier  mehr  als 
in  jeder  andern  Beziehung.  Sie  drängt  sich  dem 
flüchtigen  Besucher  noch  nicht  einmal  in  dem  Masse 
auf,  als  dem  länger  Ansässigen,  der  der  Eigenart  der 
Bevölkerung  näher  zu  treten  versucht  hat.  Welcher 
Unterschied  im  Fühlen  und  Denken,  in  Sitten  und 
Staatseinrichtungen,  in  Gesellschaftsbegriffen  und 
Lebensidealen ! 

Und  daneben,  welche  scheinbaren  Widersprüche 
treten  innerhalb  dieser  Eigenart  in  sich  auf,  welche 
Verwachsenheit  verschiedenartiger  Ansätze!  Man  merkt 
es  bald:  hier  handelt  es  sich  um  eine  alte,  aber  frei 
und  unbeschnitten  gewachsene  Kultur,  wo  jedem 
Einzelnen  und  jedem  Stande  erlaubt  war  zu  leben 
wie  er  wollte,  sich  nach  Belieben  zu  entfalten.  Ein 
früh  entwickelter  Unabhängigkeitssinn  und  ein  hohes 
Gefühl  persönlicher  Freiheit,  beides  Eigenschaften  der 
Bewohner  natürlich  geschützter  Gebiete  (wie  Gebirge 
und  Inseln)  sind  die  Grundbedingungen  dieser  Ent¬ 
wickelung  gewesen.  England  gleicht  einem  wilden 
Garten,  in  welchem  jede  Pflanze  wächst  wie  sie  will, 
strotzende  Sträucher  erheben  sich  über  weit  ausge¬ 
dehntem  Kleingewächs  und  prächtige  Blumen  ge¬ 
deihen  über  Flächen  von  Unkraut. 

Blicken  wir  auf  das  Gebiet  der  Kunst,  so  ist 
diese  Buntheit  der  Erscheinungen  vielleicht  noch  mehr 
zu  bemerken,  als  auf  irgend  einem  andern.  In  den 
kontinentalen  Hauptstädten  hält  sich  z.  B.  das  Stadtbild 
trotz  aller  architektonischer  Verirrungen  auf  einem  im 
ganzen  noch  erträglichen  Mittelniveau.  In  den  Strassen 
Londons  ist  die  Architektur  einfach  unter  aller  Kritik. 
Trotzdem  aber  finden  sich  hier  und  da  eingestreut 
ganz  hervorragende  Leistungen,  die  das  Urteil  sofort 
bis  zur  Grenze  der  allerbesten  Wertbemessung  empor¬ 
schnellen  lassen.  Ähnliches  bemerken  wir  auf  allen 
Kunstgebieten.  Und  man  muss  wohl  in  dem  neulich 
geäusserten  Urteil  eines  englischen  Redners  auch  in 
seiner  Übertragung  auf  die  Kunst  viel  Wahres  erblicken, 
dass  in  England  die  Dinge  entweder  sehr  schlecht 
oder  sehr  gut  seien.  Dass  die  Leistungen  Englands 
in  der  Kunst  im  allgemeinen  mehr  in  die  Klasse  des 
sehr  Schlechten  fallen,  dass  England  als  Nation  über¬ 


haupt  wenig  Befähigung  für  Kunst  habe,  hat  in  der 
ganzen  Welt  lange  als  eine  Art  stilles  Übereinkommen 
gegolten  und  entspricht  der  volkstümlichen  Vorstellung 
noch  heute,  selbst  derjenigen  in  England.  Napoleon 
nannte  die  Engländer  ein  Volk  von  Krämern,  und  kein 
Urteil  scheint  das  Herz  dieser  Nation  in  gleichem 
Masse  berührt  zu  haben,  denn  es  wird  noch  heute 
in  fast  jeder  Tafelrede  citiert. 

Eine  Thatsache  liegt  vielleicht  vor,  die  den 
Mangel  an  künstlerischer  Befähigung  zu  bestätigen 
scheint.  In  keinem  Lande  haben  sich  seit  alters  so  viele 
fremde  Künstler  ansässig  gemacht  wie  in  England,  von 
Holbein  dem  Jüngern,  van  Dyck,  Lely,  Antony  Mor, 
Kneller  und  Verrio  geschichtlicher  Zeit  bis  auf  Her- 
komer,  Tadema  und  Legros  von  heute.  Pugin,  der 
die  neuere  Baukunst  begründete,  war  der  Sohn  fran¬ 
zösischer,  nach  England  geflüchteter  Eltern,  Rossetti, 
der  Schöpfer  der  modernen  Malerei  der  Gefühls¬ 
werte,  der  Sohn  eines  nach  England  geflüchteten 
Italieners,  Whistler  und  Sargent,  die  beiden  leuch¬ 
tendsten  Sterne  am  heutigen  englischen  Kunst¬ 
himmel,  sind  Amerikaner.  In  der  Musik,  in  welcher 
sich  England  bis  in  die  neueste  Zeit  als  vollkommen 
steriler  Boden  erwiesen  hat,  ist  die  Abhängigkeit  vom 
Auslande  noch  viel  augenscheinlicher.  Und  so  bleibt 
unter  den  Künsten  als  von  aussen  her  unangetastetes 
Gebiet  eigentlich  nur  die  Litteratur  übrig,  wo  das 
sprachliche  Handwerkszeug  von  selbst  Fremdes  aus¬ 
schloss.  Hier  allerdings  ist  die  Ernte  eine  so  glän¬ 
zende  und  reiche,  wie  sie  kaum  gedacht  werden 
kann. 

Scheint  es  demnach,  als  ob  die  Musen  in  der 
That  spärlich  an  der  Wiege  des  englischen  Volkes 
gestanden  hätten,  so  ist  die  Thatsache,  auf  die  zuerst 
neuere  deutsche  Kunstgelehrte  hingewiesen  haben, 
dass  von  England  aus  eine  Reihe  wichtigster  neuer 
Ausgänge  in  der  bildenden  Kunst  ihren  Ursprung 
nahmen,  um  so  erstaunlicher.  Das  Inselreich  wurde  im 
achtzehnten  Jahrhundert  das  Ursprungsland  der  auf- 
spriessenden  Romantik  und  öffnete  damit  nordischem 
Empfinden,  das  durch  Jahrhunderte  durch  die  blind 
angebetete  Antike  in  Fesseln  gehalten  worden  war, 
zuerst  wieder  die  Schleusen.  In  der  Malerei  wurde 
es  durch  die  grossen  Meister  Reynolds  und  Gains- 
borough,  die  sich  seit  den  Holländern  zuerst  wieder 
ihrem  Gegenstand  unbefangen  gegenüber  stellten, 
das  Ursprungsland  einer  neuen  Kunst.  In  der  im 
i8.  Jahrhundert  so  wichtigen  Gartenkunst  zog  es 
durch  die  Einführung  der  landschaftlichen  statt  der 
geometrischen  Anlage  die  ganze  Welt  in  seine  Bahnen. 
In  der  häuslichen  Kunst  entwickelte  es  schon  am 
Ende  des  i8.  Jahrhunderts  die  Grundlagen  der 
bürgerlichen  Wohnungsausstattung  durch  die  Möbel 
Chippendale’s  und  Sheraton’s.  Drei  mächtige  Strö¬ 
mungen,  die  im  ig.  Jahrhundert  von  höchster  Be¬ 
deutung  wurden.  Und  wenn  wir  in  dieses  Jahr- 


\ 


14 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Erker  in  einem  Wohnzimmer 
Architekt  W.  A.  S.  Benson 


luiiuiert  selbst  eintreten,  so  war  es  wiederum  ein 
Engländer,  Constable,  welcher  im  ersten  Viertel  des¬ 
selben  eine  durchaus  neue  Auffassung  der  Landschaft 
einleitete  und  dadurch  der  Vater  der  romantischen 
Landschaftsmalerei  wurde.  Und  um  die  Mitte  desselben 
Jahrhunderts  war  es  wiederum  in  England,  wo  zu¬ 
erst  eine  neue  Macht  emporwuchs,  die  ihren  Einfluss 
erst  langsam  und  auf  England  beschränkt  und  dann 
immer  kräftiger  auch  nach  dem  Kontinent  hin  entfaltete: 
die  Kunst  der  Gefühlswerte  und  der  dekorativen 
Linie,  die  zuerst  F^ossetti  einschlug  und  die  das  Wesen 
der  Präraffaelitenschule  ausmacht.  Die  Richtung 
blieb  nicht  auf  die  Malerei  beschränkt,  sondern  griff 
auf  ein  weiteres  Gebiet  über,  dasjenige  der  soge¬ 
nannten  dekorativen  Künste.  Hier  entfachte  es  eine 
Bewegung,  unter  deren  Zeichen  unsere  ganze  heutige 
Kunstlage  aufgefasst  werden  muss:  die  sogenannte 
neue  Kunstbewegung  in  den  Kleinkünsten,  dem 
Kinde  des  englischen  Präraffaelitismus. 

Erst  seitdem  die  Flutwelle  dieser  neuen  Kunst 
auch  den  Kontinent  überschwemmt  hat,  blickt  die  Welt 
mit  künstlerisch  gläubigeren  Augen  nach  England, 
und  die  alte  Volksanschauung,  dass  England  ein  un¬ 
künstlerisches  Land  sei,  weicht  rasch  einer  andern 
Auffassung,  ja,  man  muss  heute  bereits  Schritte 
thun,  vor  einer  künstlerischen  f/öe/'schätzung  Eng¬ 
lands  zu  warnen.  Ein  Urteil  über  das  künstlerische 
England  in  zwei  Worte  zu  fassen,  ist  weit  schwerer, 
als  wenn  es  sich  z.  B.  um  ein  Land  wie  Frankreich 
handelte.  Im  Grunde  trifft  man  gerade  in  England 
oft  die  brutalste  Nichtbeachtung  künstlerischer  Ge¬ 
sichtspunkte  an,  die  englischen  Städte  sind  die  un¬ 
architektonischsten  der  Welt,  die  englische  Malerei 
hat  sich,  von  einigen  Einzelerscheinungen  abgesehen, 
bis  heute  noch  nicht  über  den  Bannkreis  des  lehr¬ 
haften  oder  moralischen  Gedankens  oder  der  Anekdote 


hinweg  zum  rein  Malerischen  empor¬ 
zuschwingen  vermocht,  von  einer  eng¬ 
lischen  Skulptur  kann  man  überhaupt  nur 
in  beschränktem  Masse  reden.  Keine  Ge¬ 
mäldeausstellung  der  Welt  macht  durch 
die  förmlichen  Wucherungen  der  flachen 
Mittel mässigkeit,  wenn  nicht  der  blanken 
Unfähigkeit,  einen  so  niederschlagenden 
Eindruck  als  die  Ausstellungen  der  Royal 
Academy  in  London.  —  Wo  liegt  die  Er¬ 
klärung  für  dieses  widerspruchsvolle  Bild? 
Wie  ist  es  vor  allem  zu  erklären,  dass 
England  dabei  auf  so  vielen  Gebieten 
künstlerisch  führend  für  die  Welt  werden 
konnte? 

Die  Erklärung  dafür  ist  vor  allem  in 
der  englischen  Charakterbildung  zu  finden, 
ln  England  ist  jedem  Menschen  erlaubt, 
was  er  auch  thut  auf  seine  Weise  zu 
thun,  und  von  dieser  Freiheit  macht  jeder 
ausgiebigen  Gebrauch,  ja  sie  ist  ihm  Wesens¬ 
bedingung.  Die  Erziehung  fängt  schon 
in  der  Kinderstube  mit  der  Entwickelung 
der  Selbständigkeit  an.  Auf  der  Schule  wird 
diese  auf  alle  mögliche  Weise,  vor  allem 
auch  durch  Sport  und  Spiele,  eifrig  weiter  ausge¬ 
bildet,  im  spätem  Leben  findet  der  Engländer  alle 
seine  Landeseinrichtungen  auf  die  Selbständigkeit 
des  Individuums  zugeschnitten.  Die  Geschichte  er¬ 
zählt  von  der  Selbständigkeit  durch  die  frühe  Ent¬ 
wickelung  der  parlamentarischen  Verfassung,  in  der 
Religion  äussert  sie  sich  in  dem  Vorhandensein  der 
vielen  Sekten,  in  der  Politik  im  Geltenlassen  jeder 
beliebigen  Meinung. 

Von  ganz  besonderer  Bedeutung  muss  dieses 
Selbständigkeitsgefühl  aber  in  der  Kunst  sein.  Denn 
hier  kommt  es  vor  allem  darauf  an,  dass  der  Pro¬ 
duzierende  selbständig  sei,  dass  er  sich  frei  von  Ein¬ 
flüssen  halte,  die  seine  Individualität  unterdrücken, 
dass  er  auf  seine  Weise  sehe  und  bilde.  Der  Künstler 
ist  nichts,  wenn  er  nicht  er  selbst  ist.  Gainsborough 
und  Constable  sahen  auf  ihre  Weise  die  Natur,  die 
Präraffacliten  und  in  ihrem  Gefolge  die  englischen 
Kleinkünstler  traten  auf  ihre  Weise  der  Kunst  gegen¬ 
über,  ganz  unbekümmert  um  das,  was  um  sie  herum 
geschah.  Und  sie  wurden  die  Gründer  von  Schulen. 
Denn  in  der  Kunst  kommt  es  vor  allem  auf  Selb¬ 
ständigkeit  und  Charakter  an,  Kunst  ist  der  Ausdruck 
der  F’ersöulichkeit. 

In  der  ausgeprägten  Charaktereigenschaft,  in  der 
Abwesenheit  von  Vorurteil,  mit  der  der  englische 
Künstler  an  seine  Aufgabe  herantritt,  liegt  das  Eigen¬ 
tümliche  der  englischen  Kunst,  wenn  man  sie  als 
Gesamtheit  betrachtet.  Die  Einzelerscheinungen  mögen 
so  vielgestaltig  sein  wie  sie  wollen,  man  erkennt  doch 
ein  englisches  Bild  schon  von  weitem  als  solches, 
und  alle  Leistungen  der  bildenden  Kunst  umschlingt 
ein  gemeinsames  Band  des  Englischnationalen.  Hierin 
liegt  ihre  Stärke.  Und  mehr  noch,  hierin  liegt  ihre 
Fähigkeit,  Einfluss  auszuüben,  denn  diese  Fähigkeit 
besitzt  nur  das  eigentlich  Originale.  Und  so  ist  es 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


15 


gekommen,  dass  England  nicht  nur  gelegentlich  dem 
Kontinent  künstlerische  Anregungen  gegeben  hat, 
sondern  dass  eigentlich  unsere  ganze  moderne  Kunst 
auf  Englands  Schultern  ruht,  ganz  besonders  aber 
die  heutige  umgestalteude  Bewegung  im  Kunstgewerbe, 
in  der  Kunst  des  Hauses  und  der  Architektur. 

Und  nicht  nur  in  der  Kunst  ist  neuerdings  der 
englische  Einfluss  massgebend  gewesen,  sondern  er 
wird  es  immer  mehr  in  Bezug  auf  unsere  Lebens¬ 
formen.  Hier  stehen  wir  klar  vor  der  Thatsache 
der  allmählichen  Verdrängung  des  französischen 
EinfI  usses  durch  den  englischen.  Es  ist  bezeich¬ 
nend,  dass  England  in  dieser  Beziehung  gerade  von 
dem  Zeitpunkte  an  einflussfähig  wurde,  als  eine 
gewisse  neue  Schichtung  der  Gesellschaft  au  die  Ober¬ 
fläche  gelangte,  nämlich  das  Bürgertum.  England  hat 
die  Grundsätze  des  Bürgertums  um  Jahrhunderte 
früher  entwickelt  als  andere  Länder  und  war  daher 
ungemein  weit  voraus,  als  die  kontinentalen  Länder 
einsetzten.  Als  die  Frage  des  dritten  Standes  in 
Frankreich  durch  Feuer  und  Schaffot  gelöst  wurde, 
war  sie  in  England  längst  auf  friedlichem  Wege  er¬ 
ledigt.  Und  England  wandte  sich  einem  neuen, 
eigentlich  bürgerlichen  Erwerbszweig,  der  industriellen 
Fabrikation,  reichlicli  fünfzig  Jahre  früher  zu,  als 
irgend  ein  anderes  Land.  Rechnet  man  dazu,  dass 
das  Land  in  ruhiger  Entwickelung  seinen  Reich¬ 
tum  seit  der  glorreichen  Regierung  der  Königin 
Elisabeth  ständig  auch  in  bürgerlichen  Kreisen,  und 
gerade  in  diesen,  hatte  vermehren  können,  so  nimmt 
es  nicht  Wunder,  dass  die  modernen  Lebensformen, 
die  man  als  recht  eigentlich  bürgerlich  bezeichnen  kann, 
in  England  am  frühesten  und  reinsten  entwickelt  werden 
mussten,  und  von  da  auf  den  Kontinent  übergingen. 
Es  kommt  noch  hinzu,  dass  die  englischen  Charakter¬ 
eigenschaften  diesem  bürgerlichen  Lebensideal  beson¬ 
ders  angepasst  waren.  Ein  gesunder  Nütz¬ 
lichkeitssinn  ist  neben  seinem  Selbständig¬ 
keitsgefühl  das  Typische  am  Engländer. 

Und  dieser  Nützlichkeitssinn  ist  es,  durch 
den  er  zunächst  auch  in  den  Künsten  des 
täglichen  Lebens,  in  der  Kleidung,  in  der 
Wohnung,  in  den  gewerblichen  Künsten 
und  in  der  Architektur  massgebend  und 
vorbildlich  wurde. 

ln  der  Kleidungsfrage  haben  Zweck¬ 
mässigkeitssinn  und  Vorurteilsfreiheit  die 
Normen  geschaffen,  die  England  heute  der 
Welt  diktiert.  Die  Richtung  ist  eine  streng 
sachliche  und  Bequemlichkeitsrücksichten 
die  allein  bestimmenden,  wobei  noch  stets 
ein  gesunder  Sinn  für  das  Ungekünstelte 
mitspricht.  Der  auf  Taille  geschnittene,  eng 
anliegende  Überzieher  musste  dem  weiten, 
bequemen  weichen,  Sport  und  Spiel  im 
Freien  entwickelte  die  verschiedenen,  rein 
aus  dem  Bedürfnis  entstandenen  Sportan¬ 
züge,  Strümpfe  und  Kniehosen  werden 
umfänglich  und  bei  allen  Gelegenheiten  ge¬ 
tragen,  wo  das  untere  Cylinderstück  unserer 
Beinbekleidung  unbequem  ist.  Der  Aufent¬ 


halt  in  den  Tropen  entwickelte  sofort  die  passenden 
Anzüge  dafür.  Für  den  F^eiter  sind  die  am  Knie 
eng  angepressten,  sich  oben  aber  pumphosenartig  er¬ 
weiternden  breeches  allgemein  geworden  und  statt 
der  langen  Stiefel  ist  man  ganz  allgemein  zu  einer 
weit  praktischeren  Bekleidung,  den  riemengeschnürten 
Schuhen  mit  darüber  sitzenden  besonderen  Leder¬ 
hüllen  für  die  Waden,  übergegangen.  Der  Einfluss 
auf  dem  Gebiete  der  Kleidung,  den  England  aus¬ 
geübt  hat,  Hesse  sich  ins  Weite  verfolgen,  er  kann 
aber  hier  nur  augedeutet  werden.  Er  würde  im  vor¬ 
liegenden  Zusammenhänge  überhaupt  nicht  inter¬ 
essieren,  wenn  sich  nicht  mit  der  praktischen  Seite 
eine  stark  ausgesprochene  ästhetische  verbände.  Das 
Merkwürdige  an  allen  den  angeführten  Dingen  ist 
nämlich,  dass  sie  gefallen.  Der  weite  Überzieher, 
die  Beinbekleidung  des  Reiters,  sie  werden  heute  von 
der  ganzen  Welt  nicht  nur  praktisch  gefunden  und 
an  Stelle  der  früheren  Form  angenommen,  sondern  sie 
erfüllen  auch  unsere  ästhetischen  Ansprüche,  obgleich 
sie  den  früher  von  Frankreich  aus  diktierten  wider¬ 
sprechen.  Wo  die  Nützlichkeitsformen  anfänglich  in 
Widerstreit  mit  unseren  alten  Anschauungen  gerieten, 
erlebten  wir  das  Merkwürdige,  dass  wir  uns  binnen 
kurzem  daran  gewöhnten  und  sie  schön  fanden.  Der 
jetzt  in  Südafrika  getragene  Kriegsanzug  ist  ein  Muster 
au  Zweckmässigkeit  und  —  viele  werden  diesem  Urteil 
beistimmen  —  Schönheit.  Es  ist  offenbar,  dass  jetzt  eine 
Umbildung  unserer  ästhetischen  Wertung  vor  sich  geht, 
die  sich  eben  gerade  an  der  Kleiderfrage  am  über¬ 
zeugendsten  verfolgen  lässt:  die  reine  Zweckmässig¬ 
keit  erobert  sich  das  Urteil  der  Schönheit.  England 
ist  das  Geburtsland  dieser  neuen  ästhetischen  An¬ 
schauungen.  Alle  zu  nichts  tauglichen  Ansätze  (auch 
solche,  die  früher  aus  Schönheitsrücksichteu  ange¬ 
bracht  wurden)  geraten  in  Misskredit,  wir  scheuen 


Vorraiun  eines  Herrenhauses 
Architekt  R.  Norman  Shaw 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


i6 

uns  nicht  mehr,  der  rein  zweckmässigen  Form  ins 
Gesicht  zu  sehen,  ja  sie  gefällt  uns.  Dies  zeigä  sich 
sogar  an  der  Frauenkleidung,  in  welcher  England 
den  männerartigen  Schnitt,  dasjenige,  was  wir  auch 
in  Deutschland  tailor-made  nennen,  eingeführt  hat 
und  in  dem  glatten  Rock  mit  Binse  und  Gürtel 
nebst  Matrosenhut  einen  von  allen  Klassen  getragenen 
weiblichen  Alltagsanzug  geschaffen  hat,  an  dem  eigent¬ 
lich  alles  die  reine  Nützlichkeitsform,  ohne  weiblich¬ 
phantastischen  Aufputz,  verkörpert.  Nur  zwei  Gebiete 
sind  noch  der  phantasievollen  Ausschmückung  über¬ 
lassen:  der  Gesellschaftsanzug  der  Frau  und  der 
Kinderanzug.  Im  ersteren  hängt  auch  England  noch 
ganz  lind  gar  von  Paris  ab,  es  ist  ein  Stück  alter 
Kultur,  das  hier  in  die  Gegenwart  herüberreicht.  Auf 
letzteren  verwendet  man,  bis  in  die  untersten  Klassen 
herab,  umsomehr  die  grösste  Sorgfalt  und  ist  zu 
Opfern  bereit,  als  der  Kinderanzug  in  das  Gebiet 
der  Kinderpflege,  d.  h.  in  dasjenige  Gebiet  fällt,  das 
als  das  wichtigste  im  ganzen  englischen  häuslichen 
Leben  betrachtet  wird,  ln  den  Kinderanzügen  hat 
England  die  allerreizvollsten  Formen  entwickelt.  In 
Bezug  auf  den  Frauenanzug  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  vor  etwa  fünfzehn  Jahren  eine  der  heutigen 
deutschen  Bewegung  sehr  ähnliche  Bewegung  zur 
künstlerischen  Umgestaltung  des  Frauenanzuges  ein¬ 
setzte.  Die  Bewegung  hat  nicht  gehalten,  was  sie 
versprach.  Aber  sie  hat  wenigstens  für  jede  Frau 
die  Freiheit  hinterlassen,  sich  vollkommen  so  zu 
kleiden,  wie  es  ihr  beliebt,  so  dass  nirgends  eine 
solche  Vielgestaltigkeit  des  weiblichen  Gesellschafts¬ 
anzuges  zu  bemerken  ist,  als  heute  in  England. 

Solche  kleinen  Streiflichter  aus  dem  Alltagsleben 
helfen  sicherlich  auch  in  den  grösseren  Kunstfragen 
vieles  aufklären.  Vom  Anzug  zur  Wohnung  ist  nur 
ein  kleiner  Schritt,  beide  sind  unsere  nächste  körper¬ 
liche  Umgebung,  für  die  unser  Geist,  lange  noch 
bevor  er  das  Gebiet  der  höheren  Kunstleistung  be¬ 
schreitet,  Formen  zu  finden  hat.  Und  wie  im  Anzug, 
so  finden  wir  auch  in  der  Wohnung  in  England 
einen  ganz  bestimmten  Zug  ausgeprägt,  der  die 
spezifisch  englische  Auffassung  des  vor  allen  anderen 
Dingen  Zweckmässigen  kennzeichnet. 

Das  Gebiet  des  englischen  Hauses  ist  wiederum 
so  ausgedehnt,  dass  hier  eine  Beschränkung  auf 
einige  Andeutungen  allgemeiner  Art  eintreten  muss, 
um  den  Rahmen  dieser  Arbeit  nicht  zu  überschreiten. 
Es  ist  klar,  dass  man  von  einer  Kunst  der  Wohnung 
eigentlich  nur  in  einem  Lande  reden  kann,  das  am 
Wohnen  im  Einzelhause  festgehalten  hat.  Das  Leben 
in  der  Etage  mit  der  Aussicht,  im  nächsten  Viertel¬ 
jahr  hinausgewiesen  zu  werden,  unterscheidet  sich 
nicht  wesentlich  vom  Hotelleben.  Das  Zusammen¬ 
wachsen  des  Bewohners  mit  der  Wohnung  ist  nur 
in  langen  Zeiträumen  und  bei  der  Aussicht  auf  etwas 
ähnliches  wie  dauernden  Aufenthalt  möglich,  Be¬ 
dingungen,  die  eigentlich  sogar  nur  im  eigenen  Hause 
gegeben  sind.  Nur  das  eigene  Haus  kann  der  Spiegel 
der  Individualität  des  Bewohners  werden  und  damit 
die  Grundbedingung  für  das  künstlerische  Haus  er¬ 
füllen. 


Diese  Bedingung  ist  in  England  gegeben,  England 
ist  das  einzige  Land,  das  grundsätzlich  am  Wohnen 
im  Einzel-,  wenn  nicht  im  eigenen  Hause  festgehalten 
hat.  Und  so  ist  das  Kapitel  des  englischen  Hauses 
eines  der  interessantesten,  ja  das  eigentlich  wesent¬ 
liche  in  einer  Betrachtung  über  Kunst  und  Leben  in 
England. 

Aus  jahrhundertelanger  Entwickelung,  die  durch 
äussere  Einwirkungen  so  wenig  unterbrochen  wurde, 
wie  dies  nur  auf  einer  Insel  möglich  ist,  ist  der  Organis¬ 
mus  des  heutigen  englischen  Hauses  hervorgegangen. 
Eine  ausgesprochene  Vorliebe  zum  häuslichen  Leben, 
die  den  Grundzug  des  englischen  Wesens  bildet,  der 
Jahrhunderte  alte  Reichtum  des  Landes  und  die  Liebe 
zur  Natur  sind  die  Stützen,  auf  denen  er  sich  auf¬ 
gebaut  hat.  In  der  Anlage  des  Hauses  fallen  zwei 
Eigentümlichkeiten  auf,  das  gänzliche  Verwachsensein 
desselben  mit  dem  Garten  und  mit  der  natürlichen  Um¬ 
gebung  und  in  Bezug  auf  seine  Bestandteile  die  un¬ 
gemeine  Bedeutung,  welche  den  Wirtschafts-,  Diener¬ 
und  Nebenräumen  gegenüber  dem  eigentlichen  Wohn- 
teil  eingeräunit  ist.  Beides  sind  alte  kennzeichnende 
Eigenschaften,  sie  liegen  im  Hause  des  i6.  Jahr¬ 
hunderts  bereits  in  demselben  Masse  ausgeprägt  vor, 
wie  im  heutigen. 

Die  besondere  Form  des  heutigen  Hauses  hat 
sich  seit  dem  letzten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  ent¬ 
wickelt.  Und  gegenüber  dem  alten  Landhause,  das 
wir  künstlerisch  meist  nur  in  seiner  grösseren  Form, 
dem  Landsitze,  kennen,  spielt  im  heutigen  Hausbau 
auch  das  kleinere,  bürgerliche  Haus  eine  Hauptrolle, 
und  gerade  diesem  hat  sich  die  Vorliebe  der  häus¬ 
lichen  Kunst  heute  zugewandt.  Zu  dem  Ergebnis 
des  heutigen  Hauses  haben  zwei  Bewegungen  bei¬ 
getragen,  die  beide  ihren  Ursprung  in  den  sechziger 
Jahren  haben.  Die  eine  war  die  kunstgewerbliche, 
die  von  William  Morris  ausging  und  sich  auf  das 
Innere  des  Hauses  bezog,  die  andere  eine  architek¬ 
tonische,  die  man  damals  mit  dem  Namen  Queen- 
Anne-Richtung  bezeichnete.  Auf  die  erstere,  die  im 
Anschluss  an  die  Malerei  erfolgte,  wird  im  weiteren 
Verlaufe  dieses  Aufsatzes  noch  zurückzukommen  sein. 
Die  letztere,  die  rein  architektonische,  war  ihrem 
Wesen  nach  vielmehr  ein  Kampf  gegen  die  Stil¬ 
bestrebungen  in  der  Architektur,  als  etwa  das  Ein¬ 
führen  eines  neuen  historischen  Stils  im  Sinne 
unserer  deutschen  Renaissance,  wie  der  Name  hätte 
andeuten  können.  Die  äusserliche  Stihnacherei,  in 
der  die  Architektur  des  ig.  Jahrhunderts  befangen 
gewesen  ist,  hat  sich  zwar  auch  in  England  kräftig 
genug  geäussert,  aber  sie  wurde  hier  weit  früher 
lächerlich  und  drückend  gefunden  als  in  anderen 
Ländern.  Schon  Dickens  erfand  für  die  formalistisch¬ 
bombastischen  Aufmachungen  der  Architekten  das 
Scherzwort  architectooral-looral.  Die  Queen -Anne- 
Leute  unternahmen  es  in  England,  mit  der  archäo¬ 
logischen  Architektur  aufzuräumen.  Sie  kämpften 
gegen  zwei  Dinge  an,  die  im  Hausbau  damals  das 
Feld  beherrschten:  gegen  die  italienische  Villa  mit 
ihren  ölfarbengestrichenen  Putzwänden  und  der  Prä¬ 
tension  des  fürstlichen  Palazzo,  und  gegen  das  aus 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


17 


der  Burg  und  missverstandenen  Kirchenformen  zurecht¬ 
gemachte  Hausgebilde,  das  man  unter  den  Begriff 
Profangotik  registrierte.  Gegen  beide  gleich  unechten 
Gebilde  hoben  sie  das  einfache  Bürgerhaus  des 
18.  und  17.  Jahrhunderts  auf  den  Schild,  mit  kurzen 
Worten  das  Maurermeisterhaus,  das  die  durch  Jahr¬ 
hunderte  gültig  gewesenen,  in  natürlicher  Entwickelung 
weitergewachsenen  und  von  den  importierten  Idealen 
der  Architekten  unbeeinflusst  gebliebenen  örtlichen 
Bautraditionen  verkörperte.  Dort  fand  man  alles,  was 
man  wünschte,  Natürlichkeit,  Sachlichkeit,  Schlichtheit, 
werkmässig  richtigen  Gebrauch  der  örtlichen  Materialien, 
Anpassung  an  Lebensbedingungen,  Klima  und  Ört¬ 
lichkeit.  Diese  einfachen  Häuser  aus  jener  Zeit  hatten 
die  archäologisch  rückwärts  blickenden  Architekten 
und  Kunsthistoriker  bisher  nicht  ihres  Interesses  für 
würdig  gehalten. 

Drei  Männer  begründeten  in  diesem  Sinne  da¬ 
mals  die  neue  Hausbaukunst:  Philip  Webb,  Eden 
Nesfield  und  Norman  Shaw.  Des  letzteren  Lebens¬ 
werk  ist  ausschlaggebend  für  die  moderne  englische 
Hausbaukunst  geworden.  Er  hat  sich  damit  als  einer 
der  grössten  englischen  Architekten  aller  Zeiten  er¬ 
wiesen.  Jedes  seiner  zahlreichen  Werke  wirkte  wie 
eine  Erfrischung  und  die  jüngere  Welt  jauchzte  ihm 
zu.  Inzwischen  ist  diese  jüngere  Welt  selbst  ans 
Ruder  gekommen,  nachdem  der  den  Weg  bahnende 
Meister  sich  vom  Schauplatz  seiner  Thätigkeit  zurück¬ 
gezogen  hat.  Von  den  jüngeren,  im  Hausbau  thätigen 
Architekten  seien  hier  nur  dem  Namen  nach  auf¬ 
geführt:  Ernest  Newton,  Leonard  Stokes,  Lethaby, 
Voysey,  Baillie  Scott,  Prior,  Prentice,  Edgar  Wood, 
May,  George  Walton,  Charles  Mackintosh,  von  dem 
etwas  älteren  Geschlecht  ragen  noch  herein:  Th. 
Collcutt,  J.  Douglas  und  vor  allem  Ernest  George. 

Die  Entwickelung  ist  im  Hausbau  von  den  in 
den  Bürgerhäusern  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
gegebenen  Anregungen  aus  mit  immer  grösserer  Ent¬ 
schiedenheit  in  das  ganz  Einfache  und  baumässig 
Schlichte  übergegangen.  Man  möchte  sagen,  es  sind 
allmählich  auch  noch  die  letzten  Reste  der  dortigen 
Ornament-  und  Architekturanwendung  abgestossen 
worden.  Die  Schlichtheit  dieser  Vorbilder  gab  den 
Ausgang,  aber  sie  wurde  noch  gesteigert.  Einige 
Architekten  verfolgen  vollkommen  puritanische  Ziele 
und  stimmen  heute  die  äussere  Erscheinung  des 
Hauses  bis  auf  das  Bäuerische  herab.  Die  Echtheit 
des  Materials  ist  dabei  Grundbedingung.  East  über 
ganz  England,  mit  alleiniger  Ausnahme  einiger  stein¬ 
reicher  Gegenden,  wird  der  Ziegelstein  angewendet, 
von  dem  Gebrauch  des  Fachwerks,  das  früher  in  ganz 
Mittel-  und  Südengland  verbreitet  war,  kommen  ernste 
.Architekten  immer  mehr  ab,  da  sie  mit  Recht  der 
Ansicht  sind,  dass  es  bei  seinem  zweifelhaften  Bau¬ 
gefüge  in  der  Gegenwart  nur  noch  aus  romantischen 
Gründen  beliebt  ist. 

Die  allgemeine  Form  des  Hauses  wird,  wo  es 
nur  immer  angeht,  breit  und  niedrig  gehalten,  in 
seiner  äusseren  Erscheinung  spricht  vor  allem  die 
Farbe  kräftig  mit,  die  durch  weissen  Anstrich  von 
Fenstern  und  Holzwerk  oder  durch  weissen  Putz 


herangezogen  wird  und  mit  dem  roten  Ziegeldach 
oder  den  roten  Ziegelwänden  innerhalb  der  saftigen 
grünen  Landschaft  ein  ausserordentlich  frisches  Gegen¬ 
satzbild  liefert,  ln  diesem  streng  ländlichen  Gepräge 
sind  selbst  vornehme  Landsitze  gehalten.  Irgend  ein 
architektonischer  oder  ornamentaler  Aufwand,  selbst 
eine  nach  malerischen  Gesichtspunkten  vorgenommene 
Gruppierung  der  Baumasse,  ist  heute  unbeliebt.  Man 
empfindet  diese  Dinge  als  unsachlich  und  darum 
verwerflich.  Und  nichts  ist  in  dieser  Beziehung  merk¬ 
würdiger  zu  beobachten,  als  der  Gegensatz  zwischen 
dem  wirklichen  englischen  Hause  und  jenen  Wahn¬ 
gebilden,  die  man  unter  der  Spitzmarke  der  »eng¬ 
lischen  Villa«  heute  auf  dem  Kontinent  allenthalben 
auftauchen  sieht  und  die  in  ihrer  gespreizten  Affek¬ 
tiertheit  und  gesuchten  Nachäfferei  eines  noch  dazu 
gar  nicht  vorhandenen  Urbildes  zumeist  wahre  Ver¬ 
höhnungen  des  guten  Geschmackes  darstellen. 

Durch  reiche  Entfaltungen  zu  prunken  oder 
überhaupt  seinen  Reichtum  zu  zeigen,  daran  denkt 
der  Engländer  beim  Bau  seines  Hauses  ebenso¬ 
wenig,  wie  er  dies  in  seinem  Anzuge  thun  würde. 
Das  Bestreben,  seinen  Nebenmenschen  zu  imponieren, 
liegt  ihm  vollkommen  fern.  England  ist  das  reichste 
Land  der  Welt,  aber  sein  Reichtum  ist  mit  einer  Vor¬ 
nehmheit  gepaart,  die  ihn  alles  Auffälligen  entkleidet. 

Jedes  englische  Haus  liegt  nach  Möglichkeit  in 
seinem  eigenen  Garten.  Ohne  sich  um  die  Strasse, 
von  der  es  zumeist  gar  nicht  sichtbar  ist,  im  min¬ 
desten  zu  kümmern,  erschliesst  es  seine  beste  Seite 
nach  dem  rückliegenden  Gelände.  —  ln  Bezug 
auf  die  Anlage  des  Gartens  ist  in  den  letzten  Jahr¬ 
zehnten  eine  Wendung  eingetreten:  man  hat  den  geo¬ 
metrischen  Garten  wieder  aufgenommen.  Der  Land¬ 
schaftsgarten,  das,  was  wir  in  Deutschland  »englischen 
Garten«  nennen,  ist  heute  nicht  mehr  englisch  im 
modernen,  sondern  nur  noch  im  historischen  Sinne. 
Die  nächste  Umgebung  des  Hauses  wird  wieder  in 
der  alten  Weise  in  regelmässiger  Anlage,  mit  Terrassen, 
Blumen-  und  Zierbeeten,  beschnittenen  Hecken  u.  s.  w. 
angelegt,  selbst  in  kleinen  Häusern  gewinnt  der  bis  vor 
kurzem  nur  noch  als  Bauerngarten  vorhandene  Blumen¬ 
beet-Garten  wieder  seine  Bedeutung.  Von  der  theatra- 
lisch-coulissenartigen  Nachahmung  der  »Natur«  in  ein 
Zehntel  der  natürlichen  Grösse,  dem,  was  unsere 
Landschaftsgärtner  zumeist  anstreben,  kommt  man, 
als  von  etwas  gänzlich  »Unnatürlichem«,  immer  mehr 
zurück. 

ln  der  Anlage  des  Planes  giebt  die  Himmels¬ 
richtung  in  Verbindung  mit  der  Lage  und  Form  des 
Grundstückes  allein  den  Ausschlag.  Nach  englischer, 
allgemein  feststehender  Anschauung  kommt  jedem 
Zimmer  je  nach  der  Art  seiner  Benutzung  eine  bestimmte 
Lage  zur  Sonne  als  die  geeignetste  zu,  und  diese 
Idealforderungen  zu  verwirklichen,  sie  mit  den  Be¬ 
dingungen  des  Geländes,  der  Hausordnung,  den  be¬ 
sonderen  Anforderungen  des  Hausherrn  zu  vereinigen, 
das  ist  im  wesentlichen  die  Thätigkeit  des  Entwerfers. 
Im  Programm  des  Hauses  spielt  selbst  bei  Familien, 
welche  etwa  dreissigtausend  Mark  und  mehr  ausgeben, 
die  Rücksicht  auf  zu  gebende  »Diners«  oder  Gesell- 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  i. 


3 


:8 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Wohnhaus  in  London 
Architekt  R.  Norman  Shaw 


schäften  nicht  die  geringste  Rolle,  das  Familienleben 
allein  ist  ausschlaggebend.  Die  Gastfreundschaft  des 
Hauses  ist  aber  in  der  Anlage  einer  Reihe  von 
Fremdenzimmern  ausgedrückt.  Die  Küche  und  die 
zugehörigen  zahlreichen  Nebenräume  in  ein  Unter¬ 
geschoss  zu  legen,  gilt  als  ein  nur  beim  Stadthause 
zulässiger  Notbehelf.  Der  Dachboden  des  Hauses  ist 
indessen  stets  vollkommen  ausgebaut,  eine  Gewohn¬ 
heit,  die  nicht  nur  wirtschaftlich  von  Wichtigkeit, 
sondern  auch  deshalb  beliebt  ist,  weil  sie  zu  male¬ 
rischen  und  traulichen  Raumanordnungen  Gelegenheit 
giebt. 

Die  Geslaltung  der  Zimmer  ist  im  heutigen  eng¬ 
lischen  Hause  durchaus  auf  das  Traute  und  Gemütliche 
und  nicht  etwa  auf  das  Stattliche  und  Imponierende  ge¬ 
stimmt.  Man  bildet  die  Zimmer  so  niedrig  als  nur  irgend 
möglich,  ln  der  Grundrissgestalt  liebt  man  erweiternde 
Ausbauten,  die  sich  von  aussen  als  Erker  zu  erkennen 
geben.  Es  ist  hierbei  jedoch  zu  bemerken,  dass  der 
englische  Erker  stets  als  innere  Anordnung,  die  dem 
Raum  zugehört,  aufgefasst  wird,  nicht  als  äusseres 
-Architekturmotiv«,  eine  Thatsache,  auf  die  schon  der 
englische  Name  baywindow  (erweitertes  Fenster)  hin¬ 
weist.  Die  gewöhnlichen  Fenster  treten  heute  nicht 
in  architektonischen  Achsen,  sondern  in  Gruppen 
vereint  auf. 

Die  Ausstattung  des  Zimmers  hängt  von  seiner 
Bestimmung  ab,  wobei  wiederum  ganz  feststehende 
und  einheitliche  Anschauungen  massgeblich  sind. 


Das  Speisezimmer,  die  Bibliothek  und  die  Haushalle 
haben  wohl  noch  einen  dunkleren  Charakter,  dagegen 
werden  die  Wohnzimmer  und  ganz  besonders  die 
Schlafzimmer  immer  heller  und  heller  gestaltet.  Wo 
in  den  ersteren  Holzverkleidung  der  Wände  auftritt 
(diese  wird  immer  erstrebt),  da  wird  sie  weiss  ge¬ 
strichen.  Die  Schlafzimmer  sind  zumeist  ganz  weiss 
gehalten.  Der  Gedanke,  ein  Schlafzimmer  schwarz 
anszustatten,  der  in  einem  der  Häuser  der  diesjährigen 
Darmstädter  Ausstellung  durchgeführt  war,  würde  jedem 
Engländer  himmelschreiend  erscheinen.  Die  Wand¬ 
teilung  zeigt  immer  den  Wandfries,  der  heute  mit 
Vorliebe  ein  Schablonenmuster  trägt.  Die  Trennungs¬ 
leiste  dient  zugleich  als  Träger  für  die  Bilder,  die 
hier  mit  lose  aufsitzenden  Haken  aufgehängt  werden. 

Das  Mobiliar  des  englischen  Hauses  ist  heute  das 
wiederbelebte  Chippendale-  und  besonders  das  Sheraton- 
Möbel,  zierliche,  aus  Mahagoniholz  mit  Bandeinlagen 
gestaltete,  aber  sonst  schmucklose  Möbel,  die  recht  eigent¬ 
lich  das  Gepräge  einer  vornehmen  Bürgerlichkeit  tragen. 
Nur  das  Schlafzimmer  hat  neuartige,  aber  zumeist  auch 
dem  Sheraton-Charakter  angepasste  Möbel ;  die  Messing¬ 
bettstelle  weicht  jetzt  wieder  der  hölzernen.  Die 
modernen«  Anläufe  im  Möbel  haben  in  England  zu 
keinem  wesentlichen  Ergebnisse  geführt,  und  was 
jetzt  noch  Neuartiges  hervorgebracht  wird,  bewegt 
sich  meist  in  der  Tonlage  des  Bäuerischen. 

Dies  führt  auf  eine  wichtige  Bemerkung.  England 
hat  zwar  seit  den  sechziger  Jahren  im  langsamen 
Werdegange  die  Grundlagen  für  unsere  heutige 
moderne  Kunst  geschaffen,  wer  aber  heute  mit  den 
Vorstellungen  der  kontinentalen  Moderne«  nach 
England  kommt,  der  findet  zu  seiner  Überraschung 
einen  ganz  auffallenden  Mangel  an  »Modernem«.  Wir 
verknüpfen  mit  diesem  Begriff  augenblicklich  allzusehr 
die  geschwungene  Stimmungslinie  und  jene  lyrischen 
Verbiegungen  alles  Geraden,  mit  denen  uns  Belgien 
beschenkt  hat,  um  an  der  schlichten  Sachlichkeit  des 
englischen  Hauses  und  seines  Inhaltes  Gefallen  zu 
finden.  Beides  hat  sich  durchaus  auf  dem  Boden  der 
Tradition  und  nicht  etwa  im  Gegensätze  zu  dieser 
entwickelt.  Bereits  sind  verurteilende  Schlagwörter  wie 
dürftig,  phantasielos  u.  s.  w.  auf  dem  kunstschrift¬ 
stellerischen  Markte  im  Umlauf,  um  das  Englische 
zu  kennzeichnen.  Die  Jagd  nach  dem  Sensationellen 
findet  in  der  heutigen  englischen  Hausbaukunst  frei¬ 
lich  wenig  Beute.  Aber  wenn  wir  einst  aus  unserem 
jetzigen  Rausch  der  Verkrümmungen  erwachen  werden, 
werden  wir  uns  hoffentlich  einer  ähnlichen  schlichten 
Sachlichkeit  zuwenden,  wie  sie  im  englischen  Hause 
vorwaltet.  Nur  in  einer  solchen  kann  bei  der  heutigen 
Lebensauffassung  das  wirklich  Moderne  gefunden 
werden,  selbst  wenn  die  augenblickliche  »Mode« 
anderer  Meinung  sein  sollte. 

Die  Sachlichkeit,  Wohnlichkeit  und  Behaglichkeit 
(den  letzteren  Begriff  vornehmlich  in  dem  heutigen 
Sinne  des  Gesunden,  Hellen,  Reinlichen  gedacht)  sind 
die  ausgesprochenen  Merkmale  der  heutigen  häus¬ 
lichen  Kunst  in  England.  Als  Ausgangspunkt  und 
reinstes  Beispiel  für  diese  gilt  nur  das  (grössere  oder 
kleinere)  freiliegende  Landhaus,  mit  Beispielen  davon 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


IQ 


ist  ganz  England  übersät.  Das  Stadtwohnhaus  ist 
nur  ein  Notbehelf,  bei  welchem  die  eingekeilte  Lage 
mehr  oder  weniger  drückend  empfundene  Opfer  mit 
sich  bringt.  Das  Etagenmietshaus  ist  im  eigentlichen 
England  erst  seit  etwa  zehn  Jahren  vereinzelt  aufge¬ 
taucht.  Es  leitet  seine  Daseinsberechtigung  ganz  vor¬ 
wiegend  aus  dem  bei  Vielen  vorliegendem  Bedürfnis 
her,  sich  einzuschränken,  wozu  die  leidige  Dienst¬ 
botenfrage  das  ihrige  beiträgt. 

*  * 

Die  häusliche  Baukunst  ist  in  England  nicht  nur 
ihrem  Umfange  nach  die  bedeutendste  und  bestimmt 
damit  das  Gesamtbild  der  architektonischen  Leistungen 
des  Landes,  sondern  sie  beeinflusst  auch  die  öffent¬ 
liche  Baukunst  in  ganz  ausgesprochenem  Masse  in 
ihrem  Charakter.  Es  findet  also  genau  das  Gegen¬ 
teil  vom  Kontinent  statt,  wo  die  öffentliche  Baukunst 
stets  die  massgebende  war  und  die  häusliche  Baukunst, 
besonders  heute,  lediglich  ein  Wiederaufguss  der  öffent¬ 
lichen  ist.  Die  öffentliche  Baukunst  hat  sich  in  Eng¬ 
land  fast  zu  allen  Zeiten  mit  einem  Scheindasein  zu 
begnügen  gehabt.  Die  stark  ausgeprägten  häuslichen 
Eigenschaften  des  Engländers  haben  einen  verschwindend 
geringen  öffentlichen  Bausinn  im  Gefolge,  eine  That- 
sache,  die  sich  durch  die  ganze  englische  Geschichte 
verfolgen  lässt.  England  besitzt  keine  Rathäuser, 
Börsen,  Staatsresidenzen  aus  alter  Zeit,  aber  das  ganze 
Land  ist  dicht  besetzt  mit  Landhäusern  aus  allen 
Perioden.  Noch  heute  ist  für  Strassenanlagen,  Stadt¬ 
verbesserungen,  öffentliche  Gebäude  nur  ein  ver¬ 
schwindend  geringer  Sinn  vorhanden,  woher  es  denn 
kommt,  dass  englische  Grossstädte  und  vor  allem  die 
grösste  Stadt  der  Welt,  London,  ins  Riesenhafte  ge¬ 
steigerten  Dörfern  gleichen.  Es 
giebt  in  ganz  England,  dem  Lande 
des  grössten  Eisenbahnverkehrs, 
keinen  Bahnhof  von  einigermassen 
anständiger  architektonischer  Aus¬ 
bildung.  Derselbe  englische  Architekt, 
der  sich  im  Plan  des  Wohnhauses 
von  grosser  Ueberlegenheit  zeigt, 
produziert  Grundrisse  für  öffentliche 
Gebäude,  die  von  unserem  Stand¬ 
punkte  aus  unzulänglich  sind.  Und 
auch  in  der  äusseren  Architektur 
derselben  bewegt  er  sich  meist 
schwerfällig.  Ein  wirklich  hervor¬ 
ragendes  öffentliches  Gebäude  im 
besten  Sinne  hat  in  neuerer  Zeit 
nur  Norman  Shaw  in  seinem  Haupt¬ 
polizeigebäude  in  London  ge¬ 
schaffen. 

Indessen  sind  gerade  in  neuester 
Zeit  die  Anforderungen  an  die  eng¬ 
lischen  Architekten  in  Bezugauf  öffent¬ 
liche  Baukunst  ganz  beträchtlich  ge¬ 
wachsen  und  zwar  vorwiegend  durch 
die  notwendig  werdende  Lösung  sol¬ 
cher  Aufgaben,  welche  sich  aus  der 


weit  vorwärts  geschrittenen  sozialen  Bewegung  ergeben. 
Volksinstitute ,  Volksbildungsanstalten ,  Volksbiblio¬ 
theken,  technische  Mittelschulen,  öffentliche  Bäder 
und  Waschhäuser,  Arbeiterkasernen  spriessen  allent¬ 
halben  aus  der  Erde  hervor.  Neuerdings  spielen  in 
London  auch  der  Bau  einer  Reihe  von  Riesen- 
Ministerialgebäuden,  der  Neubau  des  Southkensington- 
Museums  und  andere  grössere  Architekturfragen  eine 
Hauptrolle.  Die  beabsichtigte  Errichtung  einer  Denk¬ 
malsanlage  für  die  Königin  Victoria  fordert  augen¬ 
blicklich  sogar  höchstes  architektonisch -bildnerisches 
Können  in  die  Schranken.  Gerade  in  der  Gegen¬ 
wart  ist  also  wieder  ein  Auftrieb  auch  in  der  öffent¬ 
lichen  Baukunst  vorhanden,  der  etwa  dem  zu  ver¬ 
gleichen  ist,  der  in  der  ersten  Hälfte  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  für  einige  Zeit  vorlag  und  unter  anderem 
das  Parlamentsgebäude  in  London  und  die  St.  Georgs¬ 
halle  in  Liverpool  entstehen  liess. 

Die  Art,  wie  man  in  formaler  Hinsicht  solche  Auf¬ 
gaben  zu  lösen  sucht,  ist  in  England  in  den  letzten 
hundert  Jahren  fast  noch  schwankender  gewesen,  wie 
auf  dem  Kontinent.  Denn  in  England  hat  die  Neugotik 
auch  in  der  Profanbaukunst  eine  Zeitlang  das  Feld  völlig 
beherrscht,  wozu  sie  sich  bekanntlich  auf  dem  Festlande 
nicht  hat  emporschwingen  können.  Ihre  Lebenszeit 
war  aber  dennoch  von  nicht  allzulanger  Dauer.  Street’s 
Gerichtsgebäude  in  Fleet  Street  in  London  wurde  all¬ 
gemein  als  das  letzte  gothische  Profangebäude  betrachtet 
und  ist  es  geblieben.  Ähnlich  wie  in  Deutschland  sind 
gleichzeitig  und  nachher  noch  eine  Reihe  anderer 
Versuche  unternommen  worden,  allerhand  Stile  der 
vergangenen  Zeiten  wieder  zu  beleben,  doch  vermochte 
keiner  derselben  in  weiterem  Masse  Fuss  zu  fassen,  als 
es  etwa  bei  uns  geschah.  Die  geschilderte  Wiederauf¬ 
nahme  der  bürgerlichen  Bauweise  des  achtzehnten  Jahr- 


Haiiptpolizeigebäude  in  London 
Architekt  R.  Norman  Shaw 


3* 


20 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


liunderis,  die  man  damals  als  Queen-Anne- Stil  bezeich- 
nete,  erstreckte  sich  zunächst  nur  auf  die  Hausarchitektur. 
Ihr  grosser  Erfolg  musste  aber  zu  dem  Wunsche 
führen,  sie  auch  auf  grössere  Bauten  zu  übertragen. 
Allein  hierfür  fehlte  es  an  Vorbildern.  Vielleicht  war 
es  das  zeitliche  Zusammenfallen  der  in  England  von 
Inigo  Jones  eingeleiteten  Stilperiode,  die  dieses 
Land  für  i  50  Jahre  vollkommen  beherrschte,  mit  der¬ 
jenigen  Phase  kleinbürgerlicher  Baukunst,  auf  die  die 
sogenannte  Queen-Anne-Richtung  zurückgriff,  welches 
im  Laufe  der  Zeit  auch  zur  Wiederaufnahme  dieser 
Inigo  Jones’schen  Bauweise  veranlasste.  Inigo  Jones 
hatte  palladionische  Architekturauffassung  nach  Eng¬ 
land  übertragen,  wobei  er  bestrebt  war,  die  Kunst  des 
Italieners  möglichst  echt  wiederzugeben,  im  Gegen¬ 
sätze  zu  Christopher  Wren,  welcher  die  italienischen 
Formen  auf  seine  Weise  handhabte.  Schon  Ende 
der  achtziger  Jahre  tauchten  Versuche  auf,  grössere 
Aufgaben  wieder  in  der  strengen  und  wuchtigen  Art 
Palladio’s  zu  lösen.  Seitdem  ist  sie  die  herrschende 
Bauweise  in  England  geworden,  die  gesamte  öffent¬ 
liche  Baukunst  Englands  steht  heute  unter  dem  Zei¬ 
chen  der  Kunst  Inigo  Jones’-Palladio’s. 

Für  den  vollen  Sieg  dieser  Richtung  war  ein 
Gebäude  massgebend,  das  von  dem  Londoner  Archi¬ 
tekten  John  Beicher  zu  Anfang  der  neunziger  Jahre 
als  Gesellschaftshaus  der  Vereidigten  Bücherrevisoren« 
in  London  errichtet  wurde.  Es  wirkte  so  durch¬ 
schlagend,  dass  eigentlich  sofort  die  ganze  englische 
Architektenschaft  in  diese  Bahnen  einlenkte.  Bei 
Wettbewerben  trifft  man  heute  demgemäss  nur  noch 
Entwürfe  in  Barockformen  an.  Hierbei  nennt  man 
als  historisches  Vorbild  lediglich  Inigo  Jones,  nicht 
Palladio.  Eine  riesige  Begeisterung  hat  sich  für 
diesen  Meister  erhoben,  der  seiner  Zeit  das  so 
sachliche  England  für  anderthalb  Jahrhunderte  in  den 
Bannkreis  italienischer  Symmetrie- Ideale  fesselte  und 
den  so  sachlichen  englischen  Landsitz  zum  Vorwände 
einer  Theater-  und  Kulissenarchitektur  gemacht  hatte. 
Bücher  über  Bücher  erscheinen  über  ihn.  Ganz 
England  jauchzt  wieder  den  italienisch -aniken  Schön¬ 
heitsidealen  zu. 

Das  Merkwürdigste  ist  aber,  dass  man  diesen 
Geist  noch  nicht  wieder  auf  das  Landhaus,  nament¬ 
lich  noch  nicht  auf  das  kleine  Haus  zu  übertragen 
gewagt  hat.  Er  würde  hier  sogleich  in  klaffenden 
Widerspruch  mit  den  bisher  gepflegten  Idealen  ge¬ 
raten  und  zum  Aufgeben  aller  guten  Errungenschaften 
der  letzten  dreissig  Jahre  zwingen.  Wird  man  diesen 
Schritt  wagen?  Es  ist  vorderhand  nicht  anzunehmen, 
wenigstens  liefert  das  heutige  Bild  der  häuslichen 
Baukunst  dafür  noch  keine  Anhaltpunkte.  Zwar  sind 
Versuche  gemacht,  auch  dem  Hause  wieder  das 
symmetrische  Kleid  aufzunötigen.  Aber  diese  ver¬ 
schwinden  in  ihrer  Bedeutung  doch  dem  Wirken  von 
Männern  gegenüber,  die  vor  allem  den  Wahlspruch  auf 
ihre  Fahne  geschrieben  haben:  genug  der  Stiltreibereien, 
statt  deren  sei  Unbefangenheit  der  Gestaltung,  Aufrich¬ 
tigkeit  und  persönliches  Empfinden  die  Losung.  Die 
Arbeiten  von  Baillie  Scott,  Voysey,  George  Walton, 
Heniy  Wilson,  C.  Harrison  Townsend,  Chas.  R.  Mackin¬ 


tosh,  Ernest  Newton,  Leonard  Stokes  und  einer 
Reihe  anderer  wiegen  in  ihrer  Bedeutung,  selbst  wenn 
sie  in  der  Minderzahl  sind,  die  Stilarchitektur  ganzer 
Architektenverbände  auf.  In  den  Werken  der  genannten 
Männer  tritt  uns  heute  das  beste  entgegen,  was  Eng¬ 
land  architektonisch  leistet.  Baillie  Scott,  der  poe¬ 
tische,  in  seiner  geschlossenen  Formenwelt  unerschöpf¬ 
liche  Innenkünstler,  Voysey,  der  mehr  verstandesmässig 
schaffende,  aber  immer  durch  Klarheit  und  schlichte 
Durchsichtigkeit  erfreuende  Meister  (der  daneben  der 
erste  Vertreter  des  heutigen  englischen  Flachmusters 
ist),  der  puritanische,  aber  in  seiner  Einfachheit  bis 
zur  höchsten  Möglichkeit  verfeinerte  Ernest  Newton 
und  der  vorwiegend  der  Zimmerausstattung  zuge¬ 
wandte,  einen  eleganten  Sachlichkeitsstil  pflegende 
George  Walton  beschränken  ihre  Thätigkeit  aus¬ 
schliesslich  auf  den  Hausbau.  Henry  Wilson,  viel¬ 
leicht  der  phantasievollste  architektonische  Kopf,  den 
England  heute  aufweist,  und  der  stets  durch  Wucht 
und  Verfeinerung  zugleich  imponierende  Leonard 
Stokes  sind  vorwiegend  im  Kirchenbau  thätig,  ohne 
indes  in  die  dort  übliche  gotische  Schule  zu  fallen. 
C.  Harrison  Townsend  entzückt  an  jedem  seiner 
Bauten  wieder  durch  eine  durchaus  persönliche  Ge¬ 
staltung  bei  vollendetster  künstlerischer  Durchbildung 
und  Chas.  R.  Mackintosh,  der  jüngste  von  allen,  ent¬ 
hüllt  in  seinen  inneren  Dekorationen  eine  Persön¬ 
lichkeit  von  einer  Fülle  und  geheimnisvollen  Über¬ 
zeugungsmacht,  dass  er  in  Glasgow  geradezu  einen 
neuen  Lokalstil  geschaffen  hat. 

Ein  ganz  besonderes  Kapitel  bildet  die  englische 
kirchliche  Baukunst,  in  welcher  sich  im  Verlaufe  des 
19.  Jahrhunderts  die  ganze,  in  England  so  mächtig 
auftretende  neugotische  Bewegung  abgespielt  hat. 
England  hat  bis  in  die  achtziger  Jahre  hinein  die 
beste  architektonische  Kraft  an  seine  Kirchen  verwendet. 
Die  Leistungen  auf  diesem  Gebiete  sind  aber  ebenso 
eigenartig  rückblickend  und  dem  Aussenstehenden,  der 
den  Fortschritt  sucht,  ebenso  wenig  ansprechend,  als 
die  ganze  mystisch -ritualistische  Richtung  des  neueren 
kirchlichen  Lebens  in  England,  mit  der  sie  in  Ver¬ 
bindung  stehen.  Die  mystische  Stimmung  ist  das 
Ziel  dieser  Kunst  und  die  Brücke  dazu  das  kirchen¬ 
bauliche  Rüstzeug  des  Mittelalters,  dem  man  einen 
mystischen  Sinn  künstlich  unterschiebt.  Denn  dass 
diese  in  ihrer  Zeit  durchaus  fortschrittliche  und 
frische  mittelalterliche  Baukunst  an  sich  frei  von  jedem 
Nebengedanken  gehandhabt  wurde,  bedarf  keiner 
Erläuterung.  Erst  der  heutige  Gedanke  trägt  die 
Mystik  hinein.  Und  so  spricht  für  uns  aus  dem 
ganzen  Kirchenbau  der  englischen  Staatskirche  nichts 
Lebendiges.  Nur  die  Sekten  schaffen  in  ihren  aus 
einer  Verbindung  von  Predigtsaal  und  Gemeindehaus 
bestehenden  Bauten  unbefangen  und  gegenwartsfreudig 
und  es  liegt  vielleicht  in  ihnen,  bei  augenblicklich 
freilich  noch  wenig  entwickelter  Form,  der  Ent¬ 
wickelungskeim  einer  neuartigen  kirchlichen  Kunst 
verborgen. 

Aber  der  riesige  Aufwand,  den  England  im  Ver¬ 
lauf  der  letzten  hundert  Jahre  an  die  Wiederbelebung 
der  Gotik  gesetzt  hat,  ist  dennoch  nicht  als  verloren 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


21 


ZU  betrachten.  Denn  diese  durch  Jahrzehnte  herrschen¬ 
den  gotischen  Schulen  haben  ein  treffliches  Erziehungs¬ 
werk  im  Sinne  des  Werkmässigen,  Echten,  Kon- 
struktionsmässigen,  Sachlichen  verrichtet,  dessen  Früchte 
in  der  heutigen  englischen  Baukunst  noch  offen  zu 
Tage  treten,  selbst  noch  unter  der  Decke  des  neuen 
Palladianismus.  Der  Sinn  für  echtes  Material,  Schlicht¬ 
heit  der  Erscheinung  und  Einfachheit  der  Kompo¬ 
sition  zeichnet  die  englische  Baukunst  in  ihrer  Ge¬ 
samtheit  aus.  Billiger  Prunk  und  prätentiöse  Eleganz, 
die  das  Stadtbild  der  Berliner  neuen  Häuserviertel 
beherrschen,  sind  in  England  gänzlich  abwesend  und 
es  ist  in  dieser  Hinsicht  vielleicht  nichts  so  bezeich¬ 
nend,  als  der  Umstand,  dass  dort  weder  der  auf 
Eleganz  ausgehende  Verblendstein,  noch  die  Stuck¬ 
fassade  jemals  hat  Boden  gewinnen  können.  Auch 
die  unecht -architektonischen  Aufmachungen  kleiner 
Architekturaufgaben,  mit  denen  uns  die  gewesenen 
Zöglinge  unsrer  Baugewerkenschulen  beglücken,  fehlen 
in  England.  Der  Akademismus  in  jeder  Form  ist 
in  der  englischen  Architektur  vielleicht  deshalb  noch 
nicht  in  dem  Masse  vorhanden  wie  bei  uns,  weil  es 
dort  keine  Architektur-Akademien  giebt,  die  Aus¬ 
bildung  des  Architekten  vielmehr  noch  in  der  alten 
Weise,  nämlich  im  Lehrlingsverhältnis  sich  abspielt. 

Sucht  man  »Modernes«  im  neuesten  Sinne  in  der 
heutigen  englischen  Architektur,  so  ist  die  Ausbeute 
nicht  sehr  gross.  Auf  die  Abwesenheit  desselben  in 
der  englischen  Wohnung  ist  schon  aufmerksam  ge¬ 
macht.  ln  der  Architektur  gehen  eigentlich  nur  zwei 
oder  drei  Künstler  darauf  aus,  die  historischen  Formen 
grundsätzlich  zu  umgehen,  nämlich  die  schon  ge¬ 
nannten  Townsend,  Mackintosh  und  etwa  noch  Doysey. 


Man  muss  gestehen,  dass  sie  es  mit  Glück  thun,  aber 
der  Bauten,  die  in  diesem  Sinne  errichtet  sind,  sind 
verschwindend  wenige.  Mit  wachsender  Erkenntnis  der 
eigentlichen  Werte  und  Triebkräfte  in  der  Architektur 
gelangen  wir  indes  heute  immer  mehr  dazu,  dem  eigent¬ 
lich  Formalen  eine  verhältnismässig  geringe  Rolle  beizu¬ 
messen.  Sucht  man  das  Moderne  weniger  in  der  grund¬ 
sätzlichen  Vermeidung  der  von  unseren  Vorfahren 
gebrauchten  Formen  als  in  vorurteilsfreier,  durch  die 
Gegenwartsumstände  diktierter  Gestaltung,  so  dürfte 
in  dem  heutigen  englischen  Hause  ein  durchaus 
modernes  Erzeugnis  gefunden  werden,  in  demselben 
Sinne  modern,  wie  die  englische  Kleidung  modern 
ist.  Wie  diese  allgemein  getragen  und  nicht  indivi¬ 
dualistischen  Künstlerlaunen  entsprungen  ist,  so  wird 
dieses  englische  Haus  allgemein  und  in  grösster  Aus¬ 
dehnung  gebaut  und  bewohnt.  Es  ist  kein  erfundenes, 
sondern  ein  gewachsenes  modernes  Erzeugnis.  Ein 
moderner  Niederschlag  statt  moderner  Aufwallungen. 
Seine  angebliche  Nüchternheit  wird  durch  die  un¬ 
scheinbare  aber  gesunde  Vernünftigkeit  aufgewogen, 
die  durch  das  Ganze  weht,  und  für  seinen  etwaigen 
Mangel  an  »künstlerischen  Stimmungen«  entschädigt 
vielleicht  die  Gewissheit,  dass  es  der  im  ganzen 
kühl  denkende  und  vor  allem  fleissig  arbeitende 
Gegenwartsmensch  in  seinen  Räumen  auf  die  Dauer 
ohne  Beklemmung  aushalten  und  sich  unbedingt 
glücklich  fühlen  kann. 

Im  englischen  Hause  ist  das  Vorbildliche  und 
Massgebliche  der  englischen  Architektur  zu  erblicken, 
die  eigentliche  englische  Kulturleistung,  und  gewiss 
eine  solche  von  nicht  geringer  Bedeutung. 


Wohnzimmer  des  Architekten  Sidney  Mitchell,  Onllane 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  OKTOBER  iQoi 


ORIGINAL-HOLZSCHNITT  VON  BRUNO  HEROUX  IN  LEIPZIG 


BRUNO  HEROUX 


Am  graphischen  Him¬ 
mel  ist  ein  neuer 
Stern  aufgegangen : 
Bruno  Heroux.  Der  Name 
täuscht;  es  ist  kein  Franzose, 
der  diesen  kernigen  Holz¬ 
schnitt,  diese  subtile  Radie¬ 
rung  geschaffen  hat,  sondern 
ein  Deutscher,  ein  beschei¬ 
dener  Leipziger  junger  Mann, 
dessen  Verdienste  bisher  in 
der  Stille  der  Illustrierung 
technischer  und  wissenschaft¬ 
licher  Bücher  geblieben 
waren.  Der  Ursprung  seiner 
Familie  reicht  hinauf  bis  zu 
den  Hugenotten,  und  so  ist 
der  heutige  unverfälschte 
Sachse  zu  dem  fremdlän¬ 
dischen  Namen  gekommen. 

Der  Lebensgang  ist 
rasch  erzählt. Schon 
der  Vater  unseres 
Künstlers  war  im 
graphischen  Ge¬ 
werbe  thätig;  er 
gab  den  Sohn,  der 
jetzt  im  32.  Jahre  steht,  frühe  in  die  Leip¬ 
ziger  Kunstakademie,  um  ihn  in  der  Klasse 
des  Professor  Berthold  zum  Holzschneider  aus¬ 
bilden  zu  lassen.  Fast  vier  Jahre  genoss 
Heroux  den  Unterricht  dieses  ausgezeichneten 
Lehrers,  dann  zwang  ihn  des  Lebens  Not, 
eine  kaufmännische  Thätigkeit  zu  ergreifen; 
aber  bald  trat  er  wieder  in  die  Schule  ein, 
diesmal  bei  Professor  Nieper,  wo  streng 
formal  nach  Gips  gezeichnet  wurde,  und 
später  bei  Professor  J.  R.  Wehle,  der  dem 
jungen  Künstler  die  Augen  für  das  male¬ 
rische  Sehen  öffnete. 

Seit  1892  steht  Heroux  als  vielbeschäftigter 
Illustrator  auf  eigenen  Füssen.  Zumeist  für 
Verleger  seiner  Vaterstadt  zeichnete  er  bald 
Tierbilder  für  den  Holzschnitt,  bald  Aquarelle 
aus  dem  Kinderleben  für  den  Dreifarben¬ 
druck,  grosse  lithographische  Wandtafeln,  die 
dem  Anschauungsunterrichte  der  Schule  dienen, 
Federzeichnungen  in  malerischer  Technik  für 
das  Buch  der  Erfindungen,  und  ähnliches. 

Aber  das  war  alles  »bestellte  Arbeit«,  be¬ 
schwert  mit  all  den  Misslichkeiten,  die  sie  für 
eine  nach  freier  Bethätigung  drängende  Künstler¬ 
natur  im  Gefolge  zu  haben  pflegt.  Besonders 
die  mangelhafte  Wiedergabe  des  ursprüng¬ 
lichen  Entwurfes,  das  Scheitern  der  künstle¬ 
rischen  Intention  an  der  Unfähigkeit  der  repro¬ 
duzierenden  Techniker  spielt  unter  diesen 


Miseren  eine  Rolle.  Gerade  dies  aber  wurde  unseres 
Künstlers  Glück;  denn  es  drängte  ihn  dazu,  selbst 
alle  technischen  Verfahren  zu  erlernen,  um  die  eigene 
Hand  vervielfältigen  zu  lassen,  was  das  Ingenium  er¬ 
sonnen  hatte.  Und  noch  ein  bedeutungsvoller  Zufall 
hat  über  Heroux’  Beschäftigung  als  Illustrator  ge¬ 
waltet:  ihm  wurde  der  Auftrag,  die  Tuschzeichnungen 
zu  dem  bei  S.  Hirzel  in  Leipzig  erschienenen  Ana¬ 
tomischen  Atlas  des  Professor  Spalteholz  auszuführen. 
Die  Arbeit  an  diesem  Atlas,  nebenbei  bemerkt  einem 
der  originellsten  und  schönsten  Werke,  das  die  medi¬ 
zinische  Litteratur  des  letzten  Jahrzehnts  aufzuweisen 
hat,  wurde  für  Heroux  zur  vollendeten  Schule  der 
Anatomie,  zum  Studium  des  menschlichen  Körpers 
unter  kundigster  Leitung,  in  einer  Genauigkeit  und 
in  einem  Umfange,  wie  sie  wohl  unter  gewöhnlichen 
Umständen  kein  Künstler  aufwendet.  Jedes  der  hun¬ 
derte  von  Bildern  wurde  direkt  nach  der  Leiche,  aber 
auf  Grund  einer  Reihe  von  Präparaten ,  also  als 
Typus  gezeichnet. 

Inzwischen  hatte  sich  aber  unser  Künstler  auf 


Bruno  Heroux.  Selbstbildnis.  Bleistiftzeichnung 


24 


BRUNO  HEROUX 


eigene  Faust  versucht.  Mit  merkwürdiger  Schnelle 
und,  wie  er  selbst  gesteht,  spielender  Leichtigkeit  hatte 
er  sich  bald  die  Radierung,  die  Kaltnadelarbeit,  Litho¬ 
graphie  mit  Kreide  und  Feder  unterworfen  —  vom 
Flolzschnitt,  der  ja  sein  ursprüngliches  Fach  war, 
ganz  zu 
schweigen. 

Und  mm 
begann  er 
sich  frei  zu 
entfalten, 
schuf  in 
buntem 
Wechsel 
eine  Fülle 
von  Blät¬ 
tern,  bald 
als  leicht 
hingewor¬ 
fene  Stu¬ 
dien,  bald 
in  raffinier¬ 
ter  Klein¬ 
arbeit. 

Schliess¬ 
lich  bot 
sich  ihm 
Gelegen¬ 
heit,  seine 
Arbeiten 
Max  Klin- 
ger’s  Urteil 
zu  uuter- 
breiteu,  der 
uns  dann 
auf  das 
ueueTalent 
aufmerk¬ 
sam  ge¬ 
macht  hat. 

So  danken 
wir  es  Mei¬ 
ster  Klin- 
ger ,  dass 
wir  Bruno 
Heroux 
heute  vor¬ 
stellen  kön¬ 
nen. 

Ueber 
die  hier 

beigefügten  Arbeiten  ist  wenig  zu  sagen  nötig. 
Sie  sprechen  für  sich  selbst.  Der  Holzschnitt  für 
Lehnsmann  hat  bisher  jedes  Künstlers  lebhaften 
Beifall  hervorgerufen,  dem  wir  ihn  zu  zeigen  Ge¬ 
legenheit  hatten.  Dass  diese  heute  so  tief  im  Kurse 


gesunkene  Technik  ihre  eigenen  Reize  hat,  die  ihr 
kein  anderes  Verfahren  streitig  machen  kann,  wird 
hier  schlagend  bewiesen.  Die  Ausdrucksfähigkeit 
des  Striches  ist  geradezu  packend.  —  Und  dann 
die  '>Almeh«.  Warmes,  pulsierendes  Lebens  hat  der 

Künstler 
durch  eine 
unermüd¬ 
liche  Tech¬ 
nik  auf  die 
Platte  ge¬ 
bannt.  Die 
Mundwin¬ 
kel,  diePar- 
tie  unter 
dem  rech¬ 
ten  Auge 
reizen  im¬ 
mer  und 
immerwie- 
der  zur 
schärfsten 
Betrach¬ 
tung.  Von 
hervorra¬ 
gend  feiner 
Erfindung 
ist  auch  die 
Remarque, 
ein  kleines 
Meister¬ 
stück  für 
sich. 

Ausser 
dem,  was 
wir  hier 
veröffent¬ 
lichen,  hat 
uns  He¬ 
roux  noch 
eine  Reihe 
trefflicher 
Blätter  vor¬ 
gelegt,  dar¬ 
unter  eine 
so  unge¬ 
mein  tem¬ 
perament¬ 
volle,  breite 
Radierung 
»Vor  dem 

Spiegel«,  dass  man  darin  den  »Kläubler  gar  nicht 
wiedererkennt.  Als  der  junge  Künstler  kürzlich  seine 
Arbeiten  Adolf  Menzel  sandte,  schrieb  der  ihm:  »Ich 
bewundere  Ihre  technische  Ausdauer  und  Ihre  Fein¬ 
heit  .  Das  ist  auch  ein  Orden  pour  le  merite. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


SEHNSUCHT 

TEMPERA-GEMÄLDE  VON  HANS  THOMA  IN  KARLSRUHE 


ZEITSCHRIFT  FÜR 
BILDENDE  KUNST 
*  OKTOBER  1901  • 
NEUE  FOLGE  XIII 


DREIFARBENDRUCK  VON  FÖRSTER  &  BORRIES 
.  -  IN  ZWICKAU  ■- - - -  "  — 


3HUH8JHA>s  V\\  AMOHT  8I4AH  MOV  3aJÄM30-A5l3^MaT 


,,  ^ri€n  Reize  hat,  die  ihr 
,’;'^  ’arig  machen  kann,  wird 
Die  Ausdriicksfähigkeit 
))ackend.  —  Und  dann 
iiiilsierendes  Lebens  hat  der 
Künstler 
durch  eine 
unermüd¬ 
liche  Tech¬ 
nik  auf  die 
Platte  ge¬ 
bannt.  Die 
Mundwin¬ 
kel,  die  Par¬ 
tie  unter 
dem  rech- 
u;n  Auge 
reizen  im- 
•■!er  und 
i:,!  ;ierwie- 
dev  .uu" 
schärfsten 
Betrach-  • 
tu  :g  Von  . 

Ol  vorra¬ 
gend  feiner 
Erfindung 
ist  auch  die 
Remarque, 
ein  kleines 
Meister; 
stück  für 
sich. 

Ausser 
dem,  was 
wir  hier 
veröffent¬ 
lichen,  hat 

^  5K;l'h 

Reihe 
:;c-irlicher 
Blätter  vor¬ 
gelegt,  dar¬ 
unter  eine 
so  unge¬ 
mein  tem- 
perainent- 
volle,  bre^ 
Raßieruitg 
dVot  dem 

dass  man  darin  den  ■KjäuMVr  gar  nidrt 
Als  der  junge  Künstler  kdalicf»  St;r*«5 
.  .  1  M.ruzel  sandte,  schrieb  tkf 

-•.iHHterc  Ihu:  technische  Ausdauer.wd  1^ 

.  hhvs  inch  ein  Orden  pour  Ic 


Llthographu: 


ziw5\Äoa  -a  5Q'vz5\cr\  vvou 

■  -  \3tCAOV''«S.  V\\  ... 


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T8Vi.u>i  aapiaajia 
.  roQi  R380T)10  • 
IIIX  30J03  3U3V1 


FFilEDRiCH  LiPPMANN 

ZI'S  11.  NOVEMBEK  itjoi 


Dem  iVuii'iM.iin'^direktor  tr 

Beannen  die  Pfü'ht,  aar.^.  ■ 
Leistun«’  eine  slArksie 
hat  Die  cIcü  bewährtesten  Direktorfr 
Museen  zeigen  in  Auswahl,  Haltut^ 
des  AusgestelUen  deutlich  Widert? 
des  Leiters  und  doch  nicht  den  - 
Privätsai\ui  i;  rs.  ’n  seiner 
Sammlung  setzt  sich  der 
Museumsdirektor  durch 
Vermehrung  und  Verwal¬ 
tung  selbn-!  rühmende 
Denkms!  -i.'’  ■:  fhätigkeit. 


vor  Mfigercn 


.  .s  Wie  es  in  einer 

'  'v  ’•  ■ VZ-,' 


■  V  ;g  von 
l-i^'Ang  schon 
Kabinetts 


Wenn  J: 


u;'s  gegen¬ 


wärtigen  l'tircfktors  des 
Berliner  Kupfersiichkabi- 
netts,  der  vor  25  Jahren, 
am  6.  November  1876,  in 
seine  Steilung  berufen 
wurde,  güickwünschend 
gedacht  wird,  so  geschieht' 
es  in  einem  V'ermeh rungs¬ 
berichte  dos  Kupferstich¬ 
kabinetts  während  der  letz¬ 
ten  25  Jahre,  der  sich  mit 
der  Schilderung  der  Amts- 
liiätigkeit  ihres  Direktors 
während  einer  für  die 
Museumsentwicklung  al- 
lerwärts  wichtigsten  Zeit 
deckt. 

europäischen 
ibinetten  ist 


Unter  d 
Kupferstie; 
das  1831  * 
liner  das  • . 
der  neue 


ne  Der- 
zsw',  .\ises 
>:rcktor  An- 
fangNovember  1 876  über¬ 
nahm,  war  der  Charakter 
der  '  i-r^ch jeden en  Privat- 
sanitnimt,.  ,  aus  denen 
es  vor  45  ehren  entstanden 
war,  noch  nicht  verwischt 
Namentlich  w'ar  die  Sammelart  des  Gene -aioostmeister? 
von  Nagler,  dessen  1835  gekaufte  Kupferstich;-  i  .-w 
lung  den  eigentlichen  Orundsh  ck  de?  Berliner  ' 'abi- 
netts  bildete,  deutlich  und  nicht  immer  erfreulich  zu 
verspüren.  Denn  die  Zeit,  in  der  Herr  von  Nagler 
sammelte,  kannte  noch  nicht  das  heutige  berechtigte 
Raffinement  in  der  einzigen  Schätzung' der  Kupfer¬ 
stiche  nach  .frühen  und  frischen  Abdrücken.  Die 
sogenannten  Etats  oder  Plattenzustände  wurden  schon 
beachtet,  bei  etailrscn  Meistern  aber,  wie  Dürer,  weide 
damals  mehr  darauf  gesehen,  dass  ein  Blatt  überhaupt, 

Zeilschrifl  ffir  bildende  Kunst,  h'.  F.  Xlll.  H.  a. 


■  orawe 
-’o  i'breii 


■'.Tiiand”:'  ••  V. 

Nagler  .i.-si' 

mscln.  .,;m 

und  'd-  ■ 

vertvoli  "■■nd,  Tl;  Zo 
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AiappeodjMi  j  1 
F!iätigkei'.des;n 
fors  sogleich  -in  und  n? 
blieb  dauernd  sein;  v:n- 
nehmste  Sorge,  Jen 
Werken  namcido!!  :r 

wie!  -  nistcr  ; 

schlechten  E-Keuiplais 
durch  gute  und  wieder  bes¬ 
sere  bi:  zur  möglichsten 
zu  ersetzen. 
Anderes  seines  Wirkens 
'  "bannter  geworden 
re  Th at  aber 


Fried "ici^  Liur-Hmr 

rioorl  isJsrnrfnaD 


25  jjnn:-! 

führen  gelang;  ria-s 
heut  .SL'  n  Festtage  zun; 
zu  sagen.  Dem  Pe:  f 
siciiender:  mag  es  oft  s;,'-- 
erscheinen,  wenn  ;  . 
Bericht  über  die  Lr- 
O'ggeo  des  Kupfer- 
o  s.o-.  -bs,  der  vierlel- 
jäio  0  gecruck'Twird,  z.  B. 
ein  g. ’\r  laekarnterKupfer- 
Schoiigauer  al;  seiicr  Ank.auf  an- 
O  ;  ist  es  gelungen,  wied:'?  ein  ocssese' 

-  bisher  besessene  ovo.  uOoo'rcibc::, 
'Die  knappe  /'■i'"vi!:.ing  des  Vieileiviln'-oo^rj.  nie:!  ;  ,  .nevv 
nicht  denrlic!;  Wenn  gelegen  wivii-  ^^ass  eine  ;  - 
dterung  von  * Jiribrandt,  eine  Zcuoinortg  vo 
erworben  vv  .  'ie,  wird  Tiicht  verständlich, 

Mühe  und  .\tbeit  voiangcgwgtii  ist.  bevor  die 
Ankaufsnotiz  .  eröffentlicht  werden  konnte,  h 
wohl  von  einem  iMuseiimsdircktor,  dass  er  J'  v  o 
Gelegenheiten  geschickt  zu  bcnuizcr  -.vi  se. 


sttcn  von 


M 


geführt  wiru 
Exemplar  al^- 


nr 


45  Centiraeter  hoch 


BERLIN,  KÖNIOL.  NATIONALQALERIE 


SILBERNER  HANDSPIEGEL  VON  ERNST  MORITZ  OEYGER  IN  FLORENZ 


FRIEDRICH  LIPPMANN 

ZUM  6.  NOVEMBER  1901 


Dem  Museumsdirektor  mehrt  es  vor  anderen 
Beamten  die  Pflicht,  dass  seine  öffentliche 
Leistung  eine  stärkste  persönliche  Prägung 
hat.  Die  den  bewährtesten  Direktoren  unterstehenden 
Museen  zeigen  in  Auswahl,  Haltung  und  Ordnung 
des  Ausgestellten  deutlich  Willen  und  Meinung 
des  Leiters  und  doch  nicht  den  Geschmack  des 
Privatsammlers,  ln  seiner 
Sammlung  setzt  sich  der 
Museumsdirektor  durch 
Vermehrung  und  Verwal¬ 
tung  selbst  das  rühmende 
Denkmal  seiner  Thätigkeit. 

Wenn  hier  des  gegen¬ 
wärtigen  Direktors  des 
Berliner  Kupferstichkabi¬ 
netts,  der  vor  25  Jahren, 
am  6.  November  1876,  in 
seine  Stellung  berufen 
wurde,  glückwünschend 
gedacht  wird,  so  geschieht 
es  in  einem  Vermehrungs¬ 
berichte  des  Kupferstich¬ 
kabinetts  während  der  letz¬ 
ten  25  Jahre,  der  sich  mit 
der  Schilderung  der  Amts- 
thätigkeit  ihres  Direktors 
während  einer  für  die 
Museumsentwicklung  al- 
lerwärts  wichtigsten  Zeit 
deckt. 

Unterden  europäischen 
Kupferstichkabinetten  ist 
das  1831  begründete  Ber¬ 
liner  das  jüngste.  Als  es 
der  neue  Direktor  An- 
fangNovember  1 876  über¬ 
nahm,  war  der  Charakter 
der  verschiedenen  Privat¬ 
sammlungen,  aus  denen 
es  vor  4 5 Jahren  entstanden 
war,  noch  nicht  verwischt. 

Namentlich  war  die  Sammelart  des  Generalpostmeisters 
von  Nagler,  dessen  1835  gekaufte  Kupferstichsamm¬ 
lung  den  eigentlichen  Grundstock  des  Berliner  Kabi¬ 
netts  bildete,  deutlich  und  nicht  immer  erfreulich  zu 
verspüren.  Denn  die  Zeit,  in  der  Herr  von  Nagler 
sammelte,  kannte  noch  nicht  das  heutige  berechtigte 
Raffinement  in  der  einzigen  Schätzung  der  Kupfer¬ 
stiche  nach  frühen  und  frischen  Abdrücken.  Die 
sogenannten  Etats  oder  Plattenzustände  wurden  schon 
beachtet,  bei  etatlosen  Meistern  aber,  wie  Dürer,  wurde 
damals  mehr  darauf  gesehen,  dass  ein  Blatt  überhaupt, 

ZeilschrifI  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  II.  2. 


als  wie  es  in  einer  Sammlung  vorhanden  war.  Trotz¬ 
dem  darf  die  Sammlung  von  Nagler  nicht  unter 
schätzt  werden,  ihr  Umfang  schon  machte  sie  zum 
wichtigsten  Teil  des  neuen  Kabinetts  und  sie  enthielt 
Stücke,  die  noch  heute  wertvoll  sind.  Eür  ihre  Zeit 
trefflich  und  gut  gemeint  gab  sie  freilich  vieles  in 
den  öffentlichen  Besitz,  was  heute  nicht  mehr  so 

bewertet  wird.  Bei  dieser 
mangelhaft  gewordenen 
Mappenfüllung  setzte  die 
Thätigkeit  des  neuen  Direk¬ 
tors  sogleich  ein  und  es 
blieb  dauernd  seine  vor¬ 
nehmste  Sorge,  in  den 
Werken  namentlich  der 
wichtigsten  Meister  die 
schlechten  Exemplare 
durch  gute  und  wieder  bes¬ 
sere  bis  zur  möglichsten 
Steigerung  zu  ersetzen. 
Anderes  seines  Wirkens 
mag  bekannter  geworden 
sein,  diese  stillereThat  aber 
bildet  den  besten  Teil 
seiner  bisherigen  Lebens¬ 
arbeit. 

Wenn  es  möglich  wäre, 
zu  zeigen  wie  das  Werk 
Schongauer’s,  Dürer’s, 
Rembrandt’simjahre  1 876 
aussah  und  zu  welcher 
Höhe  es  in  25  Jahren  zu 
führen  gelang:  das  wäre 
heut  zum  Eesttage  zunächst 
zu  sagen.  Dem  Fern¬ 
stehenden  mag  es  oft  selt¬ 
sam  erscheinen,  wenn  in 
dem  Bericht  über  die  Er¬ 
werbungen  des  Kupfer¬ 
stichkabinetts,  der  viertel¬ 
jährlich  gedruckt  wird,  z.  B. 
ein  ganz  bekannter  Kupfer¬ 
stich  von  Martin  Schongauer  als  neuer  Ankauf  an¬ 
geführt  wird.  Dann  ist  es  gelungen,  wieder  ein  besseres 
Exemplar,  als  das  bisher  besessene  war,  aufzutreiben. 
Die  knappe  Mitteilung  des  Vierteljahresberichtes  spricht 
nicht  deutlich.  Wenn  gelesen  wird,  dass  eine  Ra¬ 
dierung  von  Rembrandt,  eine  Zeichnung  von  Dürer 
erworben  wurde,  so  wird  nicht  verständlich,  welche 
Mühe  und  Arbeit  vorangegangen  ist,  bevor  die  kurze 
Ankaufsnotiz  veröffentlicht  werden  konnte.  Man  rühmt 
wohl  von  einem  Museumsdirektor,  dass  er  die  gebotenen 
Gelegenheiten  geschickt  zu  benutzen  wisse.  Mehr  zu 


Friedrich  Lippmann 


26 


FRIEDRICH  LIPPMANN 


rühmen  ist,  was  öffentlicher  Kenntnis  sich  freilich 
meist  entziehen  wird,  wenn  er  die  günstige  Kanf- 
gelegenheit  selbst  schafft. 

Recht  altväterisch  war  auch  der  Zustand,  in  dem 
sich  die  Sammlung  der  Handzeichnungen  1876  be¬ 
fand.  Die  berühmtesten  Namen  trugen  eine  reiche 
Anzahl  von  Blättern,  die  jetzt  vergessen  und  aus  den 
Mappen  der  Meisterzeichnungen  ganz  verschwunden 
sind.  Wiederum  belastet  das  die  frühere  Verwaltung 
wenig,  denn  diese  Zeichnungen  trugen  ihre  grossen 
Namen  meist  mit  Zustimmung  der  Gelehrten  und 
sicher  mit  der  der  Künstler.  Es  traf  sich  gut,  dass 
die  neue  Leitung  des  Kupferstichkabinetts  einsetzte, 
als  die  kunstkritische  Neuwertung  der  Handzeichnungen 
alter  Meister,  die  sich  seitdem  so  sehr  verfeinert  hat, 
begann.  Es  wurde  nicht  gezögert,  eine  gründliche 
Siclitung  der  Zeichnungsmappen  vorzunehmen,  die 
dabei  freilich  bedenklich  leer  wurden.  Es  gehörte  Mut 
dazu,  Zeichnungen  von  lokaler  Berühmtheit  als  wertlos 
hinzustellen,  umso  grösserer,  als  sich  die  Gelegenheiten, 
Zeichnungen  zu  erwerben,  seltener  bieten  und  sich 
für  Werke  der  grössten  Meister  der  italienischen  Re¬ 
naissance  auch  bis  heute  noch  nicht  in  gewünschter 
Weise  gefunden  haben. 

ln  den  Beginn  der  neuen  Direktion  fällt  die  Er¬ 
werbung  der  Dürer- Sammlung  Posonyi-Hulot  in  Paris, 
ein  überaus  reichhaltiges  Werk  der  Stiche  und  Holz¬ 
schnitte  des  Meisters  in  vortrefflichen  Abdrücken  und 
über  vierzig  echte  Zeichnungen  umfassend.  Dürer 
blieb  der  besondere  Pflegling.  An  seinem  Ehrentag 
mag  mit  gerechtem  Stolz,  der  es  geschaffen  hat,  sich 
sagen:  ich  habe  das  beste  Dürerwerk  der  Welt 
zusammengebracht.  Die  Berliner  Sammlung  von 
Zeichnungen  Dürer’s,  vermehrt  durch  Ankäufe  aus 
den  Sammlungen  Didot,  Mitchell,  Klinkosch  u.  a., 
ist  nächst  der  der  Albertina  jetzt  die  bedeutendste. 

Die  Erwerbung  der  Handschriftensammlung  des 
Herzogs  von  Hamilton  im  Jahre  1882  ist  die  be¬ 
kannteste  That  des  Kabinettsdirektors.  Mit  ihr  wurden 
die  Illustrationen  Botticelli’s  zur  Divina  Comedia  er¬ 
worben,  der  jetzt  wohl  populärste  Besitz  des  Berliner 
Kupferstichkabinetts.  Ausserdem  kamen  durch  die 
Sammlung  Hamilton  mehrere  niederländische  Gebet¬ 
bücher  aus  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  mit 
Miniaturen  ersten  Wertes  und  einige  Handschriften 
mit  vorzüglichen  Beispielen  der  blühenden  italienischen 
Illuminierkunst  vom  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  hinzu. 

Von  der  Sammlung  Eelix  in  Leipzig  gelang  es, 
den  wertvollsten  Teil,  die  Kupferstiche  Martin  Schon- 
gauer’s  und  anderer  primitiver  deutscher  Meister,  für 
das  Kabinett  anzukaufen.  Die  Erwerbung  der  Orna¬ 
mentstichsammlung  Destailleur  in  Paris  kam  nach 
der  Auseinandersetzung  mit  dem  Kunstgewerbemuseum 
meist  dem  letzteren  zu  gut. 

Eür  ein  Kupferstichkabinett  von  einem  beträcht¬ 
lichen  Grundstock  sind  die  Erwerbungen  ganzer 
Sammlungen  selten  thunlich.  Die  Erwerbungen  müssen 
meist  einzeln,  seltener  im  freihändigen  Kunsthandel, 
häufiger  auf  Versteigerungen  gemacht  werden.  Auf 
den  grossen  internationalen  Kupferstichauktionen  ist 
der  Direktor  des  Berliner  Kupferstichkabinetts  der  ge¬ 


schätzteste  Käufer  geworden.  Es  ist  zu  rühmen,  dass 
es  im  kargen  Staat  Preussen  einem  Mutigen  vergönnt 
war,  für  Kupferstiche  und  Zeichnungen  Preise  zu 
zahlen,  für  deren  Höhe  die  Anerkennung  erst  er¬ 
kämpft  werden  musste.  Auf  den  berühmtesten 
Kupferstichauktionen  konnten  oft  beträchtliche  Erwer¬ 
bungen  für  das  Kabinett  gemacht  werden.  Für  An¬ 
käufe  auf  der  Auktion  der  Sammlung  des  Herzogs 
von  Buccleugh  hatte  ein  vornehmer  Kunstfreund  reiche 
Mittel  zur  Verfügung  gestellt,  die  gestatteten,  bei  einem 
ersten  Zustand  von  Rembrandt’s  Hundertguldenblatt 
und  vielen  anderen  Radierungen  Rembrandt’s  in  ersten 
Abdrücken  alle  Steigerer  zu  überbieten.  Die  Samm¬ 
lung  des  Dr.  A.  Sträter  in  Aachen  gab  wichtige  Er¬ 
gänzungen  der  kleineren  niederländischen  Radierer  des 
17.  Jahrhunderts  her.  Bei  der  Vermehrung  der  Holz¬ 
schnittbücher  konnte  der  Sammlungsleiter  einer  alten 
eigenen  Liebhaberei  folgen.  Kein  anderes  Kabinett  ver¬ 
fügt  über  eine  so  notwendige  Ergänzung  der  Holzschnitt¬ 
einzelblätter.  Von  italienischen  Holzschnittbüchern  des 
1  5.  Jahrhunderts  fehlt  kein  künstlerisch  hervorragendes 
Werk,  das  noch  zu  beschaffen  möglich  war. 

Neuerdings  werden  auch,  nachdem  diese  Abteilung 
von  der  Nationalgalerie  dem  Kupferstich kabinett  über¬ 
wiesen  wurde,  hier  graphische  Arbeiten  moderner 
Künstler  gesammelt,  deren  Ergänzung  und  Vermeh¬ 
rung  besondere  Umsicht  und  Sorgfalt  erheischt. 

Die  Sammlung  von  Photographien  nach  Gemälden 
und  Zeichnungen  alter  Meister  steht  in  ihrer  Reich¬ 
haltigkeit  und  wissenschaftlichen  Ordnung  vielleicht 
einzig  da.  Sie  ist  ein  ungewöhnlich  viel  benutzter 
Apparat  für  kunstwissenschaftliche  Studien  geworden. 

Die  steigende  Benutzung  der  Sammlung  legte  die 
Pflicht  für  besondere  Schutzvorrichtungen  auf,  um 
Kunstwerke  zartester  Art  im  Zustande  ihrer  Erhaltung 
möglichst  lange  zu  bewahren.  Viele  Betrachter  sind 
leider  Abnutzer.  Die  technische  Aufstellung  der  Stiche 
und  Zeichnungen,  wie  sie  für  das  Berliner  Kabinett 
gewählt  wurde,  erreicht  wohl  das  Mögliche.  Die 
Berliner  Art,  die  Blätter  zu  bearbeiten  und  zu  sichern, 
wurde  für  viele  auswärtige  Sammlungen  das  Vorbild. 

Die  rasche  und  stetige  Vermehrung  der  Sammlung 
gebot  sorgfältigere  Eührung  der  Kataloge,  als  sie 
früher  im  Brauch  war.  Es  gilt  nicht  nur,  die  einzelnen 
Objekte  inventarmässig  festzulegen,  sondern  mehr  noch 
müssen  sie  nach  verschiedenen  praktischen  und  wissen¬ 
schaftlichen  Gesichtspunkten  verzeichnet  werden.  Der 
modernen  Vorliebe  für  historische  Illustration  kam 
diese  Katalogisierungsarbeit  vorzüglich  zu  gute.  Ohne 
sie  wäre  für  manches  derartige  Werk  der  künstlerische 
Schmuck  nicht  zu  besorgen  gewesen. 

Eünfundzwanzig  Jahre  Schaffen  in  diesem  um¬ 
fassenden  und  vielfältigen  Thun  ist  ein  schweres,  aber 
ein  wirkendes  und  nützliches  Teil  guter  Arbeit  ge¬ 
wesen.  ln  wichtigster  Zeit,  in  der  reiche  Erwerbungen 
noch  möglich  waren,  konnte  das  Kabinett  unter  kräftiger 
Leitung  emporwachsen.  Nach  langem  Beharren  in 
der  Ruhe  wurde  das  Berliner  Kupferstichkabinett  zum 
Ansehen,  zur  Grösse  und  Bedeutung  geführt.  Das 
ist  das  persönlichste  Werk  seines  Direktors  Friedrich 
Lippmann.  JARO  SPRINGER. 


DIE  AUSSTELLUNG  ÄLTERER  KUNSTWERKE 

IN  MÜNCHEN 

Von  Max  J.  Friedländer 


Die  »Ausstellung  von  Meisterwerken  der  Renais¬ 
sance  aus  Privatbesitz«,  mit  der  die  Münchner 
»Secession«  in  diesem  Sommer  ihre  Räume 
im  Königl.  Kunstausstellungsgebäude  gefüllt  hatte, 
errang,  wenn  keinen  materiellen,  so  doch  einen 
beträchtlichen  moralischen 
Erfolg.  Das  mit  feinem 
Geschmack  arrangierte  Bei¬ 
einander  älterer  Kunst¬ 
werke  in  den  mässig  gros¬ 
sen,  gut  beleuchteten  und 
mit  schönen  Stoffen  be¬ 
kleideten  Oberlichtsälen 
war  überraschend  gefällig 
und  überaus  reich  an  Ab¬ 
wechslung.  Zum  Glück 
herrschte  nicht  die  »ma¬ 
lerische«  Willkür,  die, 
als  dem  Münchner  Ate¬ 
liergeschmack  eigentüm¬ 
lich,  etwa  erwartet  wor¬ 
den  war.  Und  auch  in 
den  anderen  Eehler,  den 
der  museologischen  Nüch¬ 
ternheit,  waren  die  Ver¬ 
anstalter  nicht  verfallen. 

Der  Glanzpunkt  war  das 
Zimmer,  das  Freiherr 
Heinrich  von  Tücher  aus 
der  Fülle  seines  Besitzes 
in  ähnlicher  Weise  wie 
seine  römischen  Wohn- 
räume  im  Palazzo  Borg¬ 
hese  ausgestattet  hatte. 

Hier  vereinigten  sich  Mö¬ 
bel,  Gemälde  in  herr¬ 
lichen  Rahmen,  Bildwir¬ 
kereien,  Brokatstücke  und 
der  alte  rote  Sammet,  mit 
dem  die  Wände  vollstän¬ 
dig  bekleidet  waren,  zu 
einem  unvergesslichen  Eindruck  von  schwerer  Fest¬ 
pracht,  von  veredeltem  Luxus. 

Einwendungen  gegen  den  Titel  der  Ausstellung 
klingen  vielleicht  pedantisch.  Elfenbeinschnitzereien 
aus  dem  14.  Jahrhundert,  Gemälde  von  Snyders  oder 
Tiepolo  sind  schliesslich  überall  willkommen,  selbst 
auf  einer  Renaissance-Ausstellung.  Es  waren  aber 


Dinge  zu  sehen,  die  nicht  nur  keine  »Meisterwerke 
der  Renaissance«,  sondern  überhaupt  keine  Meister¬ 
werke  waren,  minderwertige  und  selbst  falsche  Stücke. 
Allein,  wer  da  weiss,  wie  solche  Leihausstellungen 
entstehen,  wie  mühsam  der  natürliche  Widerstand  der 

Privatsammler  überwun¬ 
den  wird,  macht  die  Ver¬ 
anstalter  nicht  ohne  wei¬ 
teres  für  die  angedeuteten 
Mängel  verantwortlich. 
Hundert  Rücksichten  be¬ 
schränken  die  freie  Wahl, 
und  wenn  es  gilt,  einen 
Privatsammler  für  das  Un¬ 
ternehmen  zu  gewinnen, 
geht  es  oft  nicht  an,  eine 
kritische  Auslese  zu  wagen 
unter  den  Gegenständen, 
die  er  freundlich  zur 
Verfügung  stellt. 

Aus  der  natürlichen, 
freilich  nicht  mehr  stark 
fliessenden  Quelle,  dem 
bayerischen  Privatbesitze, 
hatten  die  Veranstalter  er¬ 
folgreich  geschöpft.  Mit 
wenigen  Ausnahmen  — 
so  fehlten  die  Stücke,  die 
Herr  von  Hefner-AIteneck 
besitzt  -  war  alles  Wür¬ 
dige  und  Geeignete  ans 
München  selbst  gewon¬ 
nen  worden.  Einige  her¬ 
vorragende  Kostbarkeiten 
aus  den  Kirchenschätzen 
von  Augsburg  und  Eich¬ 
städt,  und  aus  dem  Stadt¬ 
schatz  von  Regensburg 
drei  Stoffbehänge  m it figür¬ 
lichen  Darstellungen,  Ar¬ 
beiten  des  1 4.  Jahrhunderts, 
Darleihungen,  die  kaum  zu  erhoffen  gewesen  waren, 
erhöhten  die  Bedeutung  der  Ausstellung.  Die  Herren 
vom  bayerischen  Adel,  Fürst  Fugger,  Fürst  Oettingen, 
die  Grafen  Toering-Jettenbach  und  Arco  auf  Walley 
hatten  wenige,  aber  höchst  bedeutende,  zum  Teil 
fast  unbekannte  Kunstwerke  zur  Verfügung  gestellt. 
Und  das  Münchener  Sammlerwesen  präsentierte  sich 


Abb.  1.  Bildnis  eines  Mannes  von  Foiiqiiet 
Besitzer  Graf  Wilczek  in  Wien 


4 


28 


DIE  AUSSTELLUNG  ÄLTERER  KUNSTWERKE  IN  MÜNCHEN 


recht  stattlich,  da  die  Herrn  Prof.  Lenbach,  Prof.  Prings- 
heim,  Wilhelm  Clemens,  Dr.  von  Pannwitz  und  Greb 
mit  grosser  Opferwilligkeit  alles  in  den  Rahmen  der 
Aiisstellimg  Passende  dargeliehen  hatten.  Von  den 
jüngeren  Münchner  Sammlern  folgt  Herr  Clemens 
heimischen  Traditionen  mit  Glück  und  Geschmack, 
indem  er  das  Interesse  namentlich  süddeutschen  Ar¬ 
beiten  des  15.  und  1 6.  Jahrhunderts  zuwendet.  Seine 
höchst  reizvollen  farbigen  Schnitzwerke  wahrten 
dem  Ganzen  zusammen  mit  ähnlichen  Stücken  aus 
von  Miller’schem, 

Greb’schem  Besitz 
und  aus  anderen 
Quellen  den  Lokal¬ 
charakter.  Herr 
Prof.  Pringsheim, 
der  Zahl  der  Ob¬ 
jekte  nach  der  be¬ 
deutendste  Ausstel¬ 
ler,  besitzt  eine 
reiche  Sammlung 
von  mehr  internatio¬ 
nalem  Gepräge. 

Seine  italienischen 
Majoliken,  sein  deut¬ 
sches  Silberzeug, 
seine  Bronzen,  seine 
französischen  Email¬ 
platten,  überall  hoch- 
geschätzte,  markt¬ 
gängige  Dinge,  tra¬ 
ten  in  geschlossenen 
Gruppen  wirkungs¬ 
voll  auf  und  füll¬ 
ten  beinahe  zwei 
Räume.  Herr  Dr. 
von  Pannwitz  hatte 
weit  wenigerGegen- 
stände  ausgestellt, 
darunter  aber  meh¬ 
rere,  die  ganz  be¬ 
sondere  Beachtung 
verdienen.  Ihm  ge¬ 
hört  das  hier  ab¬ 
gebildete  Holzrelief 
—  das  Wunder  des 
heil.  Eligius  — , 
wohl  eine  fränki¬ 
sche  Arbeit  von  1510  etwa,  die  mit  ihrer  sicheren 
Erzählung  im  Volkston  eigentümlich  anziehend 
wirkt,  wiewohl  das  Holz  der  Earbe  beraubt  ist.  Und 
ihm  gehören  die  beiden  besten  Bronzen,  die  auf 
der  Ausstellung  zu  sehen  waren,  ein  Herkules  als 
Knabe,  die  Schlangen  würgend,  eine  geistvolle  italie¬ 
nische  Erfindung,  die  in  drei  oder  vier  Exemplaren  be¬ 
kannt  ist,  und  ein  Herkules,  der  den  Löwen  tötet,  eine 
italienische  Arbeit  vom  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
in  einem  Guss  von  herrlicher  Patina. 

Der  Fürst  von  Hohenzollern- Sigmaringen  hatte 
ausser  dem  wahrhaft  königlichen  Silberschatz  portu- 
gisischer  Herkunft,  Arbeiten  im  spanischen  Renaissance¬ 


stil,  von  1530  etwa,  das  zierlich  durchgeführte 
Madonnenrelief  von  Hans  Daucher  ausgestellt,  das 
hier  abgebildet  ist.  Das  in  Kehlheimer  Stein  ge¬ 
arbeitete  Stück  ist  von  1520  datiert,  mit  dem  Namen 
des  Meisters  (-Daher«)  bezeichnet  und  teilt  mit  den 
besten  sonst  bekannten  Arbeiten  Daucher’s  die  Accura- 
tesse,  Schärfe  und  Trockenheit.  Die  Erfindungsgabe 
dieses  geschickten  Meisters  war  recht  beschränkt. 
Unser  Relief  ist  in  ängstlicher  Anlehnung  an  Dürer’s 
Holzschnitt  der  Madonna  mit  den  vielen  Engeln« 

(von  1518)  entstan¬ 
den. 

Aus  Wien  hatte 
Graf  Wilczeck 
einige  interessante 
Gemälde  und  Herr 
Dr.  Figdor  meh¬ 
rere  prächtige  ober¬ 
deutsche  Holzbild¬ 
werkegesandt.  Vom 
Rheinland  her  war 
leider  fast  nichts  zu 
erhalten  gewesen, 
abgesehen  davon, 
dass  der  Grossher¬ 
zog  von  Hessen  aus 
seinem  Privatbesitze 
die  beiden  hübschen 
Knabenbildnisse 
von  Lucas  Cranach 
und  das  Nürnber- 
gische  Porträt  eines 
jungen  Mannes  ge¬ 
sandt  hatte,  das  den 
frühen  Dürerporträts 
nah  verwandt,  als 
beunruhigendes  Rät¬ 
sel  die  Studieren¬ 
den  beschäftigte. 
Kurz  vor  dem 
Schlüsse  der  Aus¬ 
stellung  kamen  noch 
zwei  gute  Bildnisse 
von  Frans  Hals 
aus  dem  Besitze 
des  Freiherrn  von 
Heyl  aus  Worms 
an. 

Die  Hamburger  Sammler  hatten  sich  nicht  gerade 
glücklich  beteiligt.  Herr  Konsul  Weber,  der  eine 
grosse  Zahl  deutscher  und  italienischer  Bilder  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  besitzt,  die  sich  in  den 
Rahmen  der  Münchner  Ausstellung  vortrefflich  ein¬ 
gefügt  hätten,  hatte  nur  holländische  und  vlämische 
Gemälde  des  17.  Jahrhunderts  geschickt,  dabei  auch 
solche,  durch  die  seine  reichhaltige  und  schöne 
Galerie  nicht  würdig  repräsentiert  wurde. 

Der  Berliner  Besitz  war  nur  sehr  unvollkommen 
vertreten,  da  die  grossen  Sammlungen  von  Beckerath, 
Hainauer,  von  Kaufmann,  J.  Simon,  von  Carstanjen 
ganz  fehlten.  Doch  bedeutete  die  Teilnahme  der 


Abb.  2.  Das  Wunder  des  heil.  Eligius. 
Holzrelief.  Besitzer  Dr.  v.  Pannwitz  in  München 


DIE  AUSSTELLUNG  ÄLTERER  KUNSTWERKE  IN  MÜNCHEN 


29 


Berliner  Herren  Dr.  Weisbach,  Eugen  Schweitzer  und 
G.  Salomon  immerhin  einen  erheblichen  Gewinn, 
weil  dadurch  die  schwächste  Position  verstärkt  wurde. 
Von  Berlin  aus  wurden  Werke  der  italienischen  Renais¬ 
sance  beigesteuert,  an  denen  der  süddeutsche  Privat¬ 
besitz  auffällig  arm  ist.  Die  von  Herrn  Dr.  Weis¬ 
bach  ausgestellten  Stücke,  das  mit  Recht  viel  bewun¬ 
derte  Flachrelief  der  thronenden  Madonna  in  zart  be¬ 
maltem  Stuck  von 
Donatello  und  zwei 
höchst  interessante 
Gemälde,  die  diesem 
Meisterwerke  zeit¬ 
lich  und  örtlich  nahe 
stehen,  waren  neben 
einigen  Stücken  in 
dem  Tücher- Raum 
die  einzigen  gewissen 
Boten  vonderfloren- 
tinischen  Frührenais¬ 
sance.  Herr  Schweit¬ 
zerzeigte  eine  kleine 
Gruppe  lombar¬ 
discher  Gemälde 
vom  Anfang  des 
]6.  Jahrhunderts, 
dabei  einige  reizende 
braun  in  braun  ge- 
malteEngelgestalten, 

Teile  einer  Predella, 
von  Gaudenzio  Fer¬ 
rari,  und  Herr  Gus¬ 
tav  Salomon  trug 
zu  der  reichen  De¬ 
korationswirkung 
mit  einer  Reihe  statt¬ 
licher  Bronzefiguren 
der  italienischen 
Hoch-  und  Spät¬ 
renaissance  bei. 

Von  dem  vielen 
Guten,  das  an  deut¬ 
schen  Bildern  und 
Schnitz  werken  in 
Berliner  Privathäu¬ 
sern  zu  finden  ist, 
war  nichts  nach 
München  gekom¬ 
men,  mit  Ausnahme 
der  sehr  hübschen 
Holzstatue  einer  weiblichen  Heiligen,  im  Stile  Riemen- 
schneider’s,  die  Herrn  Wilhelm  Gumprecht  gehört. 

Herr  Zöllner  aus  Leipzig  vertrat  den  sächsischen 
Privatbesitz  allein  und  brachte  als  Kenner  und  Sammler 
seine  Spezialität  kräftig  zur  Geltung,  indem  er  eine 
Auswahl  namentlich  historisch  bedeutsamer  Zinn¬ 
arbeiten  belehrend  zusamnienstellte. 

Um  die  dankenswerte  Veranstaltung  in  der  Er¬ 
innerung  festzuhalten,  zähle  ich  einige  ihrer  besten 
Gaben  auf.  Durch  das  freundliche  Entgegenkommen 
der  Ausstellungsleitung  und  der  Aussteller  sind  wir 


in  den  Stand  gesetzt  mehrere  Werke  hier  in  Abbil¬ 
dungen  zu  zeigen. 

Wenn  der  Glanz  der  italienischen  Hochrenaissance 
weniger  von  einzelnen  Meisterwerken  aus  erstrahlte 
als  von  dem  Beieinander  her,  das  Herr  von  Tücher 
geschaffen  hatte,  so  fehlte  es  doch  nicht  ganz  an 
Gemälden,  die  auch  ausserhalb  des  Dekorations¬ 
zusammenhanges  und  abgesehen  vom  kunsthistorischen 

Interesse  vollen  Ge¬ 
nuss  zu  gewähren 
geeignet  sind.  Das 
eine  der  Tizianpor¬ 
träts  in  Lenbachs  Be¬ 
sitz,  das  auf  der  Aus¬ 
stellung  war,  das  Pro¬ 
filbildnis  Franz’  1., 
steht  an  Schärfe  der 
Charakteristik  wohl, 
nicht  aber  an  Farben¬ 
reiz  hinter  dem  im 
Louvre  aufgestellten 
entsprechenden  Ge¬ 
mälde  zurück.  Das 
Frauenporträt  von 
Bronzino,  das  Herrn 
Hermann  Mumm 
in  Frankfurt  a.  M. 
gehört,  ist  ein  un¬ 
gewöhnlich  gesun¬ 
des  und  befriedi¬ 
gendes  Werk  der 
florentiner  Spät¬ 
renaissance.  Schade, 
dass  die  goldblonde 
Färbung  dieses  übri¬ 
gens  wohl  erhal¬ 
tenen  Bildes  unter 
einem  trüben  Firnis 
verborgen  liegt.  Die 
charakteristische 
Schöpfung  des  Dos- 
so  Dossi,  ein  tief¬ 
glühendes  Frauen¬ 
bildnis,  und  das  sig¬ 
nierte,  in  den  Formen 
etwas  weichliche 
Madonnenbild  von 
Caroto  im  Tucher- 
Zimmer,  das  Brust¬ 
bild  eines  Feldherrn, 
veronesisch,  wie  viele  Kenner  meinten,  und  1 520 
etwa  entstanden,  von  derbem  Effekt,  aber  sehr  ein¬ 
drucksvoll,  das  Herr  Böhler  als  >Giorgione  zeigte, 
endlich  die  grosse  in  gelber,  satter,  einheitlicher 
Tönung  breit  gemalte,  etwas  wüst  gezeichnete  Kom¬ 
position  von  Tintoretto,  Venus  und  Vulkan,  aus  dem 
Besitz  des  Herrn  Fr.  Aug.  von  Kaulbach,  vertraten  die 
grosse  Zeit  der  italienischen  Malerei,  wenn  nicht 
glänzend,  so  doch  würdig. 

Unter  den  altniederländischen  Tafeln  erschienen 
viele  interessant  und  boten  Überraschungen,  wie  die 


Abb.  3.  Madonnenrelief  von  Hans  Daiicher. 
Besitzer  Fürst  zu  Hohenlohe-Sigmaringen 


30 


DIE  AUSSTELLUNG  ÄLTERER  KUNSTWERKE  IN  MÜNCHEN 


Abb.  4.  Madonna.  Tiroler  tiolzschnitzarbeit. 

Besitzer  Dr.  Figdor  in  Wien 

genaue  Wiederholung  des  Münchener  Lucasbildes  von 
Roger  van  der  Weyden,  die  Graf  Wilczek  besitzt  und 
die  besser  erhalten  ist  als  das  Original.  Abgesehen  von 
der  kleinen  vernachlässigten  und  im  jetzigen  Zustand 
schwer  zu  beurteilenden  Memling-Tafel,  die  Herr  Cle¬ 
mens  in  Spanien  erworben  hat,  war  eigentlich  nur  ein 
Meisterwerk  bei  den  altniederländischen  Bildern  und  das 
gehört  schon  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  an, 
nämlich  die  Madonna  mit  fünf  weiblichen  Heiligen 
von  der  Hand  des  Pseudo  -  Mostaert.  Eine  weit 
schwächere  Wiederholung  dieses  dem  Grafen  Arco  auf 
Walley  gehörigen  Gemäldes  wird  in  der  römischen 
Galerie  St.  Luca  bewahrt,  ln  der  Münchener  Tafel, 
die  eine  köstliche  Landschaft,  die  leichteste  Grazie 
der  Gestalten  und  das  schönste  Verhältnis  zwischen 
Landschaft  und  Eiguren  aufweist,  erscheint  der  milde 
Kleinmeister  fast  wie  ein  Nachfolger  des  Stephan 
Lochner. 

Wohl  das  merkwürdigste  Bild  unter  denen,  die 
auf  dieser  Ausstellung  erst  im  weiteren  bekannt 
wurden,  ist  das  unter  der  Titulatur  »Art  des  van 
Eyck«  katalogisierte  Brustbild  eines  charaktervoll 
hässlichen  Mannes.  Ohne  eigentlichen  Farbenreiz, 
mit  dunkler  einfacher  Gewandung  und  schwerer 
bräunlicher  Fleischfarbe,  ist  das  Bildnis,  wie  unsere 
Abbildung  noch  erkennen  lässt,  ungewöhnlich  ziel¬ 


bewusst  angelegt  und  drastisch  in  der  Erscheinung. 
Zwischen  der  Eyck’schen  Porträtierkunst  und  der 
florentinischen  Bildnismalerei  des  15.  Jahrhunderts 
hält  diese  Tafel  im  Grade  der  Durchführung  etwa 
die  Mitte.  Die  Hände  sind  relativ  schwach,  knochen¬ 
los  und  unfleischig.  Bode  hat  den  Namen  »Fouquet« 
vor  der  Tafel ,  die  dem  Grafen  Wilczek  gehört, 
zuerst  ausgesprochen.  Ihr  zunächst  steht,  wie  mir 
scheint,  das  schöne,  dem  französischen  Meister  zu¬ 
geschriebene  Porträt  von  1476  in  der  Liechtenstein- 
Galerie. 

Reicher  natürlich  als  die  italienische  und  alt¬ 
niederländische  Malkunst  war  die  oberdeutsche  ver¬ 
treten,  die  schwäbische  weit  besser  als  die  fränkische. 
Der  ältere  Hans  Holbein  und  Amberger  wahrten  die 
Ehre  der  deutschen  Kunst.  Von  den  beiden  aus 
Eichstädt  gesandten  Holbein-Tafeln  ist  die  »Krönung 
Mariä«  erfreulich,  die  doppelt  so  breite,  von  dem¬ 
selben  Altar  stammende  »Bestattung  der  hl.  Afra« 
aber  durch  eine  arge  Restaurierung«  fast  aller  Reize 
beraubt.  Während  die  ganze  Kirchenmalerei  des 
älteren  Holbein  handwerklich  ist,  und  seine  grossen 
Gaben  nur  hie  und  da  in  einer  farbig  reizvollen 
Partie,  in  einem  individuellen  Kopf  oasenartig 
aufblühen,  ist  er  als  Porträtist  stets  geistreich,  ganz 
bei  der  Sache  und  merkwürdig  frei.  Das  gut  er¬ 
haltene,  aber  vernachlässigte  und  unscheinbar  ge¬ 
wordene  Votivbild  des  schlimmen  Bürgermeisters 
Schwarz,  aus  dem  Besitz  des  Herrn  von  Stetten,  das 
im  Jahre  1508  entstanden  ist,  bietet  in  der  glieder¬ 
reichen  Stifterfamilie  eine  lange  Reihe  entzückender 
Bildnisköpfe. 

Die  als  »Schäufelein«  ausgestellte  Kreuzigung, 
die  jetzt  Herrn  Dr.  Soltmann  gehört,  ist,  wie  ich 
schon  vor  zehn  Jahren  gesagt  habe,  ein  charakteris¬ 
tisches  Werk  des  Ulmer  Meisters  Martin  Schaffner, 
stark  restauriert,  im  Kopf  der  knieenden  Magdalena 
und  auch  sonst  an  vielen  Stellen.  Weit  bedeutender 
als  diese  Tafel,  die  Herr  Hamminger  in  Regensburg 
früher  besass,  und  überhaupt  eines  der  hervorragenden 
Stücke  der  Ausstellung,  war  das  von  Herrn  von 
Habermann  unter  dem  Namen  Schaffner«  ausgestellte 
Frauenporträt.  Ich  kenne  kein  Porträt  des  Ulmer 
Meisters,  das  so  fest  und  ohne  Manier  gezeichnet,  so 
einfach  und  stattlich  aufgefasst  ist,  wie  dieses  von 
1529  datierte,  angeblich  die  Ulmer  Patrizierin  Schad 
von  Mittelbiberach  darstellende  Porträt,  und  halte  die 
Autorschaft  Schaffner’s  für  zweifelhaft. 

Von  den  vier  ausgestellten  Amberger  Porträts 
sind  die  beiden  aus  dem  Augsburger  Maximilians¬ 
museum,  die  W.  Moerz  und  seine  Gattin  Afra  dar¬ 
stellen,  schlecht  erhalten.  Die  Fleischpartien  sind 
überarbeitet  und  undurchsichtig  geworden.  Hingegen 
sind  die  beiden  Bildnisse  aus  dem  Besitz  des  Fürsten 
Fugger  einwandfrei  in  jeder  Beziehung,  und  das 
grössere  davon,  die  1541  gemalte  Halbfigur  eines 
20jährigen  Jünglings,  kann  wohl  als  das  schönste 
Werk  gelten,  das  dem  Meister  gelungen  ist.  ln 
der  vornehmen  Haltung  erinnert  die  Figur  an  Bron- 
zino,  und  auch  die  in  Amberger’s  Porträts  kaum 
wiederzufindende  Weise  des  Abschlusses  und  des 


DIE  AUSSTELLUNG  ÄLTERER  KUNSTWERKE  IN  MÜNCHEN 


31 


Beiwerkes  erinnert  an  den  florentinischen  Hofporträ- 
tisten.  Die  Malweise  aber  ist  nicht  etwa  glasig,  in 
Nachahmung  des  Italieners,  vielmehr  so  weich  und 
flaumig  im  Fleisch  und  so  leicht  gleitend  und 
glänzend  in  der  Gewandung  wie  sonst,  in  Am- 
berger’s  besten  Arbeiten.  Das  Porträt  ist  ebenso 
weit  von  altertümlicher  Gebundenheit  entfernt,  wie 
von  Pose  und  Prätension. 

Aus  der  grossen  Zahl  zum  Teil  unerfreulicher 
vlämischer  und  holländischer  Bilder  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  hebe  ich  die  wenigen  heraus,  die  ihre  An¬ 
wesenheit  rechtfertigen  konnten.  Das  reiche  sorg¬ 
fältig  durchgebildete,  in  der  Färbung  etwas  scharfe 
Stillleben  von  j.  D.  de  Heem,  das  dem  Freiherrn 
von  Schacky  gehört,  ist  echt  signiert,  tadellos  erhalten 
und  teilt  diese  Eigenschaften  mit  dem  schlichteren 
Stillleben  des  Pieter  Claesz  aus  Lenbach’s  Besitz,  das 
sonderbarer  Weise  trotz  des  Monogramms  als  vlämisch 
von  1644«  katalogisiert  war.  Weit  bedeutender  und 
ein  Werk  hohen  Ranges  ist  das  breite  Fruchtstück 
von  Snyders,  das  vor  kurzem  in  den  Besitz  des 
Grafen  Ernst  von  Moy  gelangt  ist  und  schon  auf 
einer  früheren  Münchner  Ausstellung  gerechte  Be¬ 
wunderung  mit  der  geistvollen  Lebendigkeit  des  Mal¬ 
werkes  und  der  milde  glühenden  Farbenpracht  ge¬ 
weckt  hatte. 

Das  schönste  holländische  Gemälde  war  der 
»Pieter  de  Hooch  ,  den  Herr  Dr.  Weisbach  geliehen 
hatte,  eine  freundliche  Familienscene  in  eleganter, 
traulicher  Räumlichkeit.  Der  koloristische  Effekt  ist 
ungewöhnlich  und  ruht  vornehmlich  auf  dem  Orange¬ 
gelb  des  Kinderkleides. 

In  seiner  Art,  einer  heute  etwas  missachteten  Art, 
ein  vortreffliches  Werk  ist  die  Nachtlandschaft  von 
van  der  Neer,  die  dem  Grafen  Arco  gehört.  Dieses 
Bild  weist  mehr  Naturstudium  und  Feinheit  der 
Durchführung  auf,  als  der  Meister  gewöhnlich  für 
das  Motiv  aufwendete,  an  dem  er  sich  stumpf  malte. 

Der  Gruppe  der  oberdeutschen  Holzbildwerke 
durfte  man  sich  füglich  mit  hoch  gespannten  Er¬ 
wartungen  nähern.  Ist  doch  München  seit  langem 
der  Hauptmarkt  für  diese  früher  vernachlässigte,  seit 
kurzem  auch  im  internationalen  Handel  zu  Ehren 
gekommene  Kunst. 

Einige  erquickliche  Überraschungen  bot  die  Aus¬ 
stellung  den  Freunden  der  altdeutschen  Schnitzkimst. 
Herr  Dr.  Figdor,  der  ein  ganz  besonders  feines  Ver¬ 
ständnis  für  den  farbigen  Reiz  der  süddeutschen  Holz¬ 
bildwerke  besitzt,  hatte  aus  seinem  reichen  Schatze 
mehrere  Stücke  gesandt,  vier  flache  Relieffiguren 
weiblicher  Heiliger,  in  den  Formen  etwas  plump  und 
nur  mittelgute  Arbeiten  von  1490  etwa,  aber  so 
prächtig  erhalten  mit  der  originalen  Vergoldung  und 
Bemalung,  wie  es  uns  leider  ganz  selten  beschert 
wird.  Die  fast  lebensgrosse  knieende  Madonna  aus 
einer  Altargruppe,  einer  Anbetung  des  Christkindes, 
kaum  minder  gut  erhalten,  wenn  auch  die  Farbe  des 
Antlitzes  nicht  die  ursprüngliche  zu  sein  scheint, 
gehört  mit  ihrer  herben,  urwüchsigen  Kraft  und  ein¬ 
drucksvollen  Bewegung  zu  dem  höchsten,  was  die 
Tiroler  Schnitzkunst  hervorgebracht  hat.  Die  Figur 


ist  hier  abgebildet.  Mir  scheint,  sie  ist  von  derselben 
Hand,  wie  die  beiden  bekannten  Statuen  Leonhard 
und  Stephan  im  Germanischen  Museum.  Den  Jo¬ 
seph,  der  zu  der  Madonna  des  Herrn  Figdor  gehört, 
besitzt  Herr  Ad.  Thiem  in  San  Remo.  Schade,  dass 
die  beiden  Figuren  nicht  auf  der  Ausstellung  ver¬ 
einigt  werden  konnten. 

Einen  üblen  Eindruck  machte  die  Blutenburger 
Madonna,  die  man  in  bester  Absicht  auf  die  Aus¬ 
stellung  gebracht  hatte.  Diese  Figur,  wie  leider  auch 
die  Hauptstücke  in  Nürnberg,  hat  man  beachtet,  be¬ 
wundert  und  —  neu  angestrichen.  Es  wäre  wohl 
zu  empfehlen,  dass  die  Blutenburger  Figuren  und 
auch  die  »Nürnberger  Madonna«,  die  ihre  vorzeitige 
Berühmtheit  mit  einem  widerwärtigen  grünlichen  An¬ 
strich  abbüsst,  gereinigt  würden.  Das  nackte  Holz 
ist  der  modernen  Färbung  bei  weitem  vorzuziehen. 

Die  beiden  Werke,  die  auf  der  Ausstellung  mit 
vollem  Recht  dem  Tilmann  Riemenschneider  zuge¬ 
schrieben  waren,  machten  trotz  ihrer  schlichten  Farb¬ 
losigkeit  den  besten  Eindruck.  Vor  Arbeiten  dieses 


Abb.  5.  Ehepaar  aus  einer  Darstellung  der  hl.  Sippe. 
Holzschnitzerei  von  Tilman  Riemenschneider. 
Besitzer  Fürst  Oettingen-Oettingen 


32 


DIE  AUSSTELLUNG  ÄLTERER  KUNSTWERKE  IN  MÜNCHEN 


subtilen  Schnitzers  hat  man  öfters  das  Gefühl,  dass  die 
Vergoldung  und  Bemalung  die  Wirkung  eher  ge¬ 
mindert  als  gesteigert  haben  möchte.  Zu  unserer 
freudigen  Überraschung  lehrte  die  Ausstellung  das 
Gegenstück  kennen  der  oft  erwähnten  und  hoch 
gerühmten  Gruppe  des  Ehepaares  im  BetstuhT  ,  die 
das  South  Kensington- Museum  besitzt,  das  andere 
Eckstück  von  der  grossen  Sippendarstellung.  Die 
vom  Fürsten  Oettingen-Oettingen  ausgestellte  Gruppe 
entspricht  in  jeder  Beziehung  der  Londoner  und 
steht  ihr  an  Qualität  nicht  nach.  Nahezu  ebenso 
vortrefflich  und  gewiss  auch  eine  Arbeit  des 
fränkischen  Meisters  ist  das  kleine,  im  Anato¬ 
mischen  erstaunlich  durchgebildete  Crucifix,  das  Herr 
Prof.  Piloty  aus  Würzbiirg  nach  München  geschickt 
hatte. 

An  hübschen  Arbeiten  der  Kleinkunst,  in  Holz 
geschnitzten  Statuetten  und  Altärchen  fehlte  es  nicht. 
Am  meisten  bewundert  wurde  die  reizende,  wenn 
auch  etwas  spielerische  Madonna,  die  auf  einem  von 


Engeln  getragenen  Kissen  steht,  in  originaler  Ver¬ 
goldung  und  Bemalung,  ein  schwäbisches  Werk  von 
1500  etwa,  ganz  mit  Unrecht  dem  Veit  Stoss  zuge¬ 
schrieben.  Der  Besitzer  dieses  Stückes  ist  der  Mün¬ 
chener  Sammler  Greb,  der  übrigens  ausser  alten 
Schmuckstücken,  Anhängern  und  dergl.  noch  ein  sehr 
gutes  Leuchterweibchen  im  Stile  Riemenschneider’s 
zeigte.  Alle  die  kleinen  in  Holz  gearbeiteten  Figuren 
überragte  eine  in  Silber  getriebene  Statuette,  die  Ma¬ 
donna  aus  dem  Augsburger  Dommuseum,  die  — 
nicht  nur  im  Sinne  des  Kunsthandels  -  das  kost¬ 
barste  Stück  auf  der  Ausstellung  war. 

Die  Aufzählung  wirkt  auflösend,  sie  wird  viel¬ 
leicht  die  Vorstellung  vermitteln,  dass  allerlei  schöne 
und  gute  Dinge  zu  sehen  waren,  dem  besten,  was 
in  München  geboten  wurde,  dem  Eindrücke  des 
Ganzen  wird  sie  nicht  gerecht.  Der  Dank  für  das 
Gelingen  der  Veranstaltung  kommt  zuerst  Herrn 
Benno  Becker  zu,  dessen  Urteil  und  Geschmack  vor 
der  ungewohnten  Aufgabe  nicht  versagten. 


Abb.  6.  Bildnis  eines  jungen  Mannes  von  Christoph  Amberger. 
Besitzer  Fürst  Fugger  in  Augsburg 


Abb,  1.  Max  KJiinger.  Dekorative  Wandfällung 


DIE  NEUEN  ERWERBUNGEN  DER  BERLINER 
NATIONAL-OALERIE 


Die  National  -  Galerie  ist  kein  Durchgangspunkt  wie  das 
Pariser  Luxembourg-Museum,  aus  dem  nur  die  besten 
Kunstwerke  und  auch  diese  frühestens  zehn  Jahre  nach 
dem  Tode  ihrer  Schöpfer,  in  das  grosse  National-Museum  des 
Louvre  wandern.  Alles,  was  für  sie  erworben  wird,  geht  in  ihren 
dauernden,  unveräusserlichen  Besitz  über.  Deshalb  ist  die  Ver¬ 
antwortlichkeit  ihres  Leiters  so  gross  und  sind  die  Angriffe,  die 
er  erfährt,  so  begreiflich.  Den  dauernden  Wert  eines  Kunstwerkes 
zur  Evidenz  darzulegen,  ist  nicht  möglich,  und  Volksabstimmungen 
kann  man  auch  nicht  darüber  veranstalten.  Der  persönliche  Ge¬ 
schmack  wird  hier  immer  eine  wichtige  Rolle  spielen,  und  was 
wir  verlangen  können,  ist  nur,  dass  er  durch  umfassende  Kennt¬ 
nisse,  reiche  Erfahrung  und  Besonnenheit  geleitet  werde.  Und 
dass  dies  hier  der  Eall  ist,  beweist  der  von  Tag  zu  Tag  sich 
mehrende  Beifall,  der  der  Umgestaltung  und  den  neuen  Erwer¬ 
bungen  der  Galerie  gezollt  wird. 

Die  Ausstellung  der  in  den  letzten  zwei  Jahren  erworbenen 
Werke,  die  vor  kurzem  im  zweiten  Corneliussaale  eröffnet  worden 
ist,  wirkt  ganz  überraschend  reichhaltig;  nicht  allein  durch  die 
Zahl,  die  allerdings,  hauptsächlich  infolge  der  grossherzigen 
Schenkung  der  Erben  des  feinsinnigen  Sammlers  Eelix  Königs, 
aussergewöhnlich  gross  ist,  sondern  auch  durch  die  Mannig¬ 
faltigkeit  der  in  ihr  vertretenen  Schulen  und  Richtungen.  Von 
der  herben  Strenge  eines  Eeuerbach  werden  wir  bis  zu  dem  kecken 
Plakatstil  der  Wiener  und  Münchner  Jugend,  von  dem  schlichten 
Kolorit  eines  Sperl  zu  den  kühnsten  Schöpfungen  der  Ereilicht- 
malerei  geführt;  neben  dem  deutschesten  aller  deutschen  Meister, 
Schwind,  finden  wir  Eranzosen  und  Italiener. 

Bei  der  Betrachtung  der  eigentlichen  Erwerbungen,  d.  h.  der 
Ankäufe,  fallen  zunächst  zwei  Bestrebungen  ins  Auge:  die  Zahl 
der  ausgeprägt  deutschen  Bilder  zu  vermehren  und  eine  wertvolle 
Sammlung  von  der  neuerdings  erfreulich  erstarkenden  deutschen 
Abb.  2.  Troubetzkoj.  Porträtbüste  von  Segantini.  Kleinplastik  anzulegen.  Von  Schwind,  von  dem  die  Sammlung 
^Bronze  bisher  nur  ein  grösseres  Bild  besass,  sind  drei  seiner  um  das 

Jahr  1860  gemalten  »Gelegenheitsgedichte«  —  so  nannte  er  selbst 
diese  anspruchslosen  Bildchen  —  erworben  worden.  Auf  zwei 
von  ihnen  hat  sich  der  Künstler  selbst  dargestellt,  auf  dem  einen,  wie  er,  das  Ränzel  auf  dem  Rücken,  im 
Morgengrauen  an  der  Hofthür  vom  väterlichen  Hause  Abschied  nimmt,  auf  dem  andern,  wie  ihm  die  junge 
Herzogin  von  Orleans  in  eins  seiner  Wartburgbilder  ein  Blümchen  hineinmalt.  Das  dritte  Bild  illustriert  das 
Herzenserlebnis  eines  Freundes,  »Abenteuer  des  Malers  Binder«.  Diese  persönlichen  Beziehungen  und  die  Innig- 

Zeitschritt  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XI il.  H.  2. 


\ 


5 


34 


DIE  NEUEN  ERWERBUNGEN  DER  BERLINER  NATIONAL-GALERIE 


Abb.  2-  Giovanni  Segantini.  Rückkehr  zur  Heimat 


keit  des  Empfindens  geben  den  Werken  einen  Wert,  der 
ihren  malerischen  Eigenschaften  allein  nicht  zukommen 
würde.  Von  den  gleichzeitig  erworbenen  Zeichnungen 
Schwind’s  möchte  ich  den  frühsten,  der  schlichten 
Studie  zum  »Spaziergang«  (Abb.  6)  und  der  »Land¬ 
partie  den  Preis  zuerkennen.  Ganz  deutsch  sind  auch 
die  Bildchen  des  jüngst  verstorbenen  Erankfnrter  Meisters 
Louis  Eysen.  Das  eine  stellt  weiter  nichts  als  einen 
mit  Obstbäumen  bestandenen  Rasenhang  mit  einer 
Hecke  im  Vordergründe  vor;  das  andere  zeigt  uns 
sein  Mütterchen  bei  der  Häkelarbeit  in  einem  freund¬ 
lich  hellen  altmodischen  Stübchen.  Sie  haben  nichts 
Blendendes;  aber  die  Feinheit  der  Farbenstim¬ 
mung,  die  schlichte  Natürlichkeit  des  Vortrags  und  die 
Herzensgüte,  die  aus  ihnen  spricht,  sichern  ihrem 
Schöpfer  einen  ehrenvollen  Platz  in  der  deutschen 
Kunstgeschichte.  Eysen  musste  sterben,  ehe  er  in 
weiteren  Kreisen  bekannt  wurde,  und  auch  Johannes 
Sperl  ist  alt  geworden,  ehe  sich  ihm  die  deutschen 
Museen  öffneten.  Wie  wohlthuend  berührten  dies 
Jahr  seine  Bilder  auf  der  Münchner  Ausstellung, 
aber  von  wie  wenigen  wurden  sie  bemerkt!  Ausser 
dem  Frühling«,  einem  freundlichen  Bauerngarten, 
unter  dessen  blütenbedeckten  Apfelbäumen  ein  Mäd¬ 
chen  seine  Ziege  füttert,  wurden  von  ihm  zwei  fast 
noch  schlichtere  Bildchen,  das  Äussere  eines  Bauern¬ 
hauses  und  eine  Bauernstube  erworben,  bei  denen  sich 
vornehmster  Farbengeschmack  mit  feinster  Lichtbehand¬ 
lung  paart  (s.  d.  Abb.). 

Und  nicht  minder  deutsch  ist  auch  des  Stuttgarter 
Grafen  von  Kalchreuth  »Schloss  Klein-Oels«,  bei  dem 
man  höchstens  das  ein  wenig  zn  grosse  Format  als 
störend  empfinden  könnte  (Abb.  5).  Das  Gelbgrün  der 
hellbeschienenen  Baumkronen,  das  tiefe  Grün  des  im 


Schatten  liegenden  Laubes  und  das  wundervolle  Rot 
des  sich  am  Schlosse  emporrankenden  wilden  Weins 
ergeben  einen  herrlichen  milden  und  doch  kräftigen 
Accord.  Die  auf  dem  Wege  unter  den  Bäumen 
lesend  auf  den  Beschauer  zukommende  Frauengestalt 
ist  vermutlich  ein  Porträt.  Bei  Robert  Haug's 
»Freiwilligen  Jägern«  kommen  auch  die  auf  ihre 
Rechnung,  die  vom  Künstler  nicht  nur  deutsches 
Empfinden,  sondern  auch  patriotische  Stoffe  verlangen. 
Die  Scene,  die  Haug  darstellt  —  einer  der  Jäger 
stürzt,  von  einer  feindlichen  Kugel  getroffen,  zu¬ 
sammen  erscheint  auf  den  ersten  Blick  ein  wenig 
theatralisch,  aber  das  vergisst  man  bald  über  der 
wundervollen  Lichtbehandlung.  Unvergleichlich  schön 
ist  insbesondere  die  Morgenstimmung  über  dem  ab¬ 
ziehenden  Feinde  und  den  dahinter  liegenden  bewal¬ 
deten  Bergen  (Abb.  7). 

Von  Hans  von  Marees  besass  die  Galerie  bisher 
nur  ein  kleines  Bildchen  »Der  heilige  Georg«.  Ma¬ 
rees  gehört  zn  den  Künstlern,  die  mehr  als  durch 
ihre  Werke  durch  ihre  Persönlichkeit,  durch  das  edle 
Feuer  wirken,  mit  dem  sie  ihre  Ideen  über  das  Wesen 
der  Kunst  vortragen.  Die  hohe  Vorstellung,  die  man 
von  ihm  aus  den  Erzählungen  seiner  Freunde  und 
Schüler  gewinnt,  wird  durch  die  Bilder  meist  ein 
wenig  enttäuscht.  Das  jetzt  erworbene  »Bildnis  des 
Malers  Häger«  aber  ist  ein  völlig  abgeschlossenes 
Kunstwerk;  es  erinnert  in  seiner  kraftvollen  Einfach¬ 
heit  an  die  besten  Franzosen. 

Nachdem  die  Verhandlungen  über  ihren  Ankauf 
lange  in  der  Schwebe  geblieben  waren,  konnte  nun 
nachträglich  auch  noch  die  neueste  kostbare  Erwer¬ 
bung  ausgestellt  werden.  Man  erinnert  sich,  dass  im 
verflossenen  Winter  bei  Schulte  in  Berlin  ein  Cyklns 


BERLIN,  KGL  NATIONAL-GALERIE 


JOHANNES  SPERL,  IM  FRÜHLING 


\ 


5 


36 


DIE  NEUEN  ERWERBUNGEN  DER  BERLINER  NATIONAL-GALERIE 


Abb.  4.  Charles  Daiibigny.  Landschaft 


von  vier  heroischen  Landschaften  und  zehn  kleinen 
mythologischen  Scenen  von  Max  Kl'mger  zu  sehen  war, 
der  ursprünglich  den  einheitlichen  Schmuck  der  Ein¬ 
gangshalle  in  einer  inzwischen  abgebrochenen  Villa  in 
Steglitz  gebildet  hatte.  Die  Hälfte  dieser  Schöpfungen 
—  leider  nicht  das  Ganze  -  durfte  die  National- 
Galerie  sich  auswählen.  Die  Arbeiten  sind  anfangs  der 
achtziger  Jahre  geschaffen.  Im  Spiel  der  Wellen«,  so 
könnte  man  nach  Böcklin  die  humorvollen  Scenen 
nennen,  auf  denen  Kentauren  und  Nymphen  im 
Wasser  herumplantschen  und  sich  necken  oder  sich 
auf  leichten  Wagen  durch  die  Wogen  ziehen  lassen, 
und  doch  sind  sie  ganz  anders  als  die  Böcklin’schen 
Bilder  (Abb.  1).  Klinger  ging  damals  dem  Problem  der 
Ereilichtmalerei  zu  Leibe,  er  malte  ganz  hell  und  ganz 
impressionistisch  flott.  Es  sind  kecke  Erzeugnisse 
heiterer  Künstlerlaune.  Die  Landschaften  bilden  da¬ 
zwischen  feierliche  Ruhepunkte. 

Neben  den  reifen  und  berühmten  Künstlern  ist 
aber  auch,  wie  schon  erwähnt,  die  Jugend  vertreten, 
vor  allem  Ferdinand  Andri,  das  frischeste  und  ge¬ 
sündeste  Mitglied  der  Wiener  Secession,  mit  einem 
famosen  Pastell  Die  Heuernte«  und  Walter  Qeorgi 
mit  einem  in  ganz  wenigen  Earben  gehaltenen,  eben¬ 
falls  mit  dem  Pastellstift  gezeichneten  Herbstbilde 
Gelbe  Linden«. 

Unter  den  Bildhauerarbeiten  gehören  nur  zwei  der 
grossen  Plastik  an,  die  liebliche  Büste  eines  jungen 
Mädchens  und  der  energische  Kopf  einer  alten  Erau 
von  dem  vor  einigen  Jahren  verstorbenen  Professor 
Nikolaus  Geiger.  Alle  anderen  Werke  sind  der,  wie  uns 
die  Dresdner  Ausstellung  beweist,  mächtig  aufblühenden 
Kleinplastik  zuzuzählen.  Ernst  Moritz  Oeyger’s  »Hand¬ 


spiegel«  (s.  d.  Heliogravüre),  Peter Pöppelmann’sdeamwWg 
kecker  »Reigen  ,  Hermann  Hosäus’  trotz  ihrer  kleinen 
Dimensionen  monumental  wirkende  Bronzegruppe 
»Nach  dem  Kampfe«,  Fritz  KHmsch’s  sprühend  leben¬ 
dige  »Tänzerin«  Theodor  von  Goseu’s  »Geigenspieler« 
sind  hier  hervorzuheben;  Arbeiten  von  Freese,  Cauer, 
Felderhoff,  Stark  schliessen  sich  ihnen  an.  August 
GauTs  bedeutsames  Talent  kommt  in  den  »Pelikanen« 
nicht  so  zur  Geltung,  wie  man  wünschen  möchte. 
Die  meisten  dieser  Künstler  sind  eben  erst  dreissig 
Jahre,  manche  noch  nicht  einmal  so  alt;  das  erweckt 
frohe  Hoffnungen  für  die  Zukunft.  Merkwürdig  ist 
es,  wie  gut  eine  vor  nunmehr  fünfzig  Jahren  ge¬ 
schaffene  Bronzestatuette  des  Malers  Lessing  von  Bläser 
in  diese  Reihe  hineinpasst;  ein  Beweis  dafür,  dass 
man  auch  hier  den  Zusammenhang  mit  der  älteren 
deutschen  Kunst  nicht  verloren  hat. 

Schliesslich  sei  des  schönen  und  reichen  Zu¬ 
wachses  gedacht,  den  das  Handzeichnungs  -  Kabinett 
der  Galerie  durch  die  Blätter  von  Knaus,  Amberg, 
Klette  und  Rene  Reinecke  —  Schwind  wurde  schon 
genannt  —  erfahren  hat. 

Sind  bei  den  Ankäufen  ausschliesslich  deutsche 
Künstler  berücksichtigt  worden,  so  kommt  bei  den 
Schenkungen  auch  das  Ausland  in  einigen  seiner  besten 
Vertreter  zu  Worte.  Es  ist  das  ganz  im  Sinne  des  ur¬ 
sprünglichen  Stifters  der  Sammlung,  Konsul  Wagner,  der 
neben  den  Deutschen  auch  eine  ganze  Anzahl  von  Werken 
der  damals  beliebtesten  Eranzosen,  Holländer,  Belgier, 
Italiener  erworben  hatte.  Wohl  das  schönste  neue  aus¬ 
ländische  Bild  ist  die  grosse  Landschaft  des  Eranzosen 
Daubigny,  die  wir  der  Ereigebigkeit  einiger  Berliner 
Kunstfreunde  verdanken  (Abb.  4).  Mag  man  die  letzten 


37 


die  Zeit,  in  der  die  Hoffnungen  zu  Grabe 
getragen  werden.  Die  Hauptsache  auf 
dem  Bilde  ist  aber  nicht  der  trübselige 
Zug  im  Vordergründe,  sondern  die  im 
letzten  Abendschein  erstrahlende  Alpen¬ 
kette  mit  den  rosa  und  violettroten,  vom 
Winde  zerrissenen  Wolken  darüber.  Kein 
Künstler  vor  Segantini  hat  das  Hoch¬ 
gebirge  so  grossartig  gemalt.  Wirken 
die  Bilder  der  anderen  wie  heitere  Deko¬ 
rationen,  so  fühlt  man  hier  die  ganze 
Struktur  der  Berge,  dass  sie  aus  hartem 
Gestein  bestehen  und  nicht  aus  Zucker¬ 
kand.  Daubigny’s  Landschaft  schliesst 
sich  an  Corot  an,  der  den  über  den 
Dingen  liegenden  Duft  malen  wollte, 
Segantini  ist  ein  Schüler  Millet’s,  dem 
es  vor  allem  darauf  ankam,  das,  was  er 
zu  sagen  hatte,  kraftvoll  und  eindring¬ 
lich  auszudrücken. 

Hat  der  einsame  Gebirgssohn  Se¬ 
gantini  wirklich  so  ausgesehen,  wie  ihn 
Troubetzkoj,  von  dem  übrigens  noch 
zwei  kleinere  Werke  ans  der  Königs’schen 
Sammlung  in  den  Besitz  der  Galerie 
übergegangen  sind,  in  Bronze  dargestellt 
hat?  (Abb.  2.)  Wie  haben  die  beiden 
überhaupt  zu  einander  gestanden,  der  rus¬ 
sische  Graf,  der  die  berückende  Grazie 
kapriziöserW eltdamen  so  suggestiv  wieder¬ 
zugeben  weiss,  und  der  schlichte  Bauer, 
der  die  Ärmsten  unter  den  Armen  sich  als 


Abb.  5.  Graf  L.  v.  Kßlckreath.  Schloss  Klein-Oels 

dunkleren  Bilder  dieses  Malers,  dessen  hohe  Bedeu¬ 
tung  für  die  Entwicklung  der  Landschaftsmalerei  noch 
immer  nicht  genug  gewürdigt  wird,  noch  gewaltiger 
finden,  den  unmittelbarsten  Genuss  gewähren  doch 
seine  Frühlingsbilder.  Er  ist  der  Maler  des  saftigen 
Wiesengrüns,  der  knospenden  Bäume  und  des  leicht 
bewölkten  Himmels.  Unser  Bild,  das  einige  Jahre 
später  als  der  berühmte  »Printemps«  des  Louvre  ent¬ 
standen  ist  (1861),  übertrifft  diesen  an  Grösse  und  ist 
auch  malerisch  noch  reifer. 

Es  lässt  sich  kaum  ein  grösserer  Gegensatz 
denken  als  zwischen  diesem  Daubigny  und  dem 
neuen  grossen  Segantini,  »Rückkehr  zur  Heimat«, 
der  im  Mittelpunkt  der  Königs’schen  Sammlung  steht 
(Abb.  3).  Legt  dort  die  von  leichtem  Dunste  er¬ 
füllte  Luft  der  nordfranzösischen  Tiefebene  über  alles 
einen  duftigen  Schleier,  so  strömt  uns  hier  die  klare 
scharfe  Alpenluft  entgegen,  die  alle  Konturen  deut¬ 
lich  hervortreten  lässt.  Paart  sich  dort  ein  ganz 
zartes  Grün  mit  einem  noch  zarteren  Graublau,  so 
herrschen  hier  rötliche  Töne  vor.  Sind  Daubigny’s 
Hügel  mit  ganz  weichem  Pinsel  hingestrichen,  so 
sind  Segantini’s  Berge  wie  aufgemauert.  Dort  der 
Frühling,  die  Zeit  des  Höffens  und  des  Werdens, 
verkörpert  in  einem  jungen  Liebespaar,  hier  der  Herbst, 


Abb.  6.  Moritz  von  Schwindt.  Studie  zum  > Spaziergang 


38 


DIE  NEUEN  ERWERBUNGEN  DER  BERLINER  NATIONAL-OALERIE 


Modelle  auserkoren  hat?  Troiibetzkoj’s  Bronze  ist  ein 
geistreiches  und  virtuoses  Werk,  aber  die  heraus¬ 
fordernde  Haltung  mit  den  in  die  Ärmelöffnungen 
der  Weste  gesteckten  Daumen  will  nicht  recht  zu  dem 
Bilde  stimmen,  das  wir  aus  den  Werken  Segantini’s 
von  ihrem  Schöpfer  gewinnen.  Vielleicht  wäre  es 
besser,  es  ginge  unter  keinem  Namen. 

Man  muss  den  tiefen  Eindruck  des  Segantini’schen 
Bildes  zu  vergessen  suchen,  wenn  man  den  übrigen 
ausländischen  Werken  gerecht  werden  will.  Selbst 
der  heitere  und  sonnige  »Februarmorgen«  des  belgi¬ 
schen  Impressionisten  Clans  wirkt  daneben  ein  wenig  flau. 
Am  wenigsten  Eintrag  thut  es  dem  von  der  vorjäh¬ 
rigen  Secessions  -  Ausstellung  her  bekannten  kecken 
Frauenbilde  (  Maja  )  von  Zorn,  das  eine  willkommene 
Ergänzung  zu  dessen  schon  in  der  Galerie  vorhandenem 
Bilde  darstellt.  Die  kühne,  früher  so  gefürchtete  Zu¬ 
sammenstellung  von  Blau  und  Grün  —  das  rötliche 
Haar  hebt  sich  von  einem  ultramarinblauen  Hintergründe 
ab,  während  das  Kleid  aus  hellgrüner  Seide  besteht 
—  und  die  ungemein  virtuose,  dabei  völlig  gesunde 
Mache  sind  für  den  berühmten  schwedischen  Maler 
höchst  charakteristisch  (Abb.  8). 

Auch  unter  den  deutschen  Malern  hatte  Königs 
besonders  den  Impressionisten  seine  Aufmerksamkeit 
zugewandt.  Zügel  ist  mit  einem  prächtigen  kleinen 
Bilde  -Knabe  und  Stier  ,  Hans  Olde  mit  einer  wuch¬ 
tigen  ganz  auf  einen  graurosa  Ton  gestimmten  Winter¬ 
sonnenlandschaft  mit  einer  Schafherde  im  Vorder¬ 
gründe,  Landenberger  mit  der  lebensvollen  Studie 
eines  badenden  Knaben,  auf  dessen  sich  im  Wasser 
spiegelnden  Körper  gelbe  und  grüne  Sonnenreflexe 


ein  mutwilliges  Spiel  treiben,  der  Münchner  Holzel 
mit  einer  kleinen  Landschaft  »Vor  Sonnenuntergang' 
vertreten,  ln  ausgesprochenem  Gegensätze  zu  diesen 
pastös  gemalten  farbenfrohen  Bildern  steht  das  in 
ganz  diskreten  Tönen  gehaltene,  mit  grösster  Liebe 
und  Sorgfalt  gemalte  Bildnis  des  Kammersängers 
Wallenreiter  von  Böcklin,  das  die  schon  so  reiche 
und  doch  noch  immer  empfindliche  Lücken  auf¬ 
weisende  Böcklin-Sammlung  der  Galerie  auf  das  wert¬ 
vollste  ergänzt  und  hier  in  dem  Leibl’schm  »Amt¬ 
mann«  ein  schönes,  wenn  auch  nicht  ganz  ebenbürtiges 
Gegenstück  hat,  und  die  ebenso  ungemein  edle  und 
kräftige  Landschaftsstudie  von  Feiierbach,  eine  schroffe 
Felspartie  mit  weidenden  Kühen.  Endlich  enthält  die 
Sammlung  zwei  Bilder  eines  jung  verstorbenen  und 
wenig  bekannten  Berliner  Künstlers,  Paul  KlHte,  der 
zwar  kein  Genius  ersten  Ranges  zu  werden  versprach, 
aber  es  vollauf  verdient,  in  der  Galerie  seiner  Vater¬ 
stadt  vertreten  zu  sein. 

Die  wichtigste  Bereicherung  der  Skulpturen- Ab¬ 
teilung  ist  Klinger’s  » Amphitrite«.  Der  grosse  Leip¬ 
ziger  Künstler,  dessen  Namen  der  Galerie-Katalog  von 
igoi  überhaupt  noch  nicht  aufweist,  wird  also  auch 
hier  endlich  vertreten  sein.  Der  herrliche  Körper 
dieser  in  ihrer  majestätischen  Ruhe  an  die  Antike 
erinnernden  und  doch  durchaus  modernen  und  in¬ 
dividuellen  Gestalt  ist  schon  häufig  abgebildet 
worden^);  wundervoll  ist  die  bläuliche  und  meer¬ 
grüne  Tönung  der  edlen  Gewandung. 


i)  Siehe  Georg  Treu,  Max  Klinger  als  Bildhauer 
Leipzig  1899.  Mit  30  Abb.  u.  4  Lichtdrucktafeln.  6  Mark. 


DIE  NEUEN  ERWERBUNGEN  DER  BERLINER  NATIONAL-GALERIE 


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Von  dem  Eranzosen  Rodin  besass  die  Galerie 
bisher  nur  zwei  seiner  an  Charakterisierungsvermögen 
fast  alle  gleichzeitigen  Schöpfungen  überragenden 
Bronzebüsten.  Das  Marmorwerk  »Der  Mensch  und 
sein  Gedanke«  ist  vortrefflich  geeignet,  in  den  Kreis 
seiner  ganz  impressionistisch  gehaltenen  Gruppen  ein¬ 
zuführen,  die  oft  abstrakte  Begriffe  in  seltsam  sym¬ 


bolischer  Weise  zu  versinnlichen  trachten.  Dazu 
kommt  die  schöne  Bronzebüste  eines  seeländischen 
Mädchens  von  dem  berühmten  Belgier  van  derStappen 
und  eine  bemalte  weibliche  Terrakottabüste  von  dem 
wenig  bekannten  deutschen  Bildhauer  Gottlieb  Elster. 
Den  Kunstfreund  Königs  selbst  hat  Seeböck  in  Bronze 
porträtiert.  w.  G. 


\ 


Abb.  8.  Anders  Zorn.  Maja 


DAS  BILDNIS  DES  GIOVANNI  BICCI  DE'  MEDICI  IN  DEN  UFFIZIEN 


IM  ersten  Korridor  der  Uffizien  hängt  ein  Porträt, 
das,  in  Tempera  auf  Holz  gemalt,  Giovanni  Bicci 
de’  Medici  darstellt.  *)  Giovanni  Bicci,  der  Vater 
Cosimo’s  war  gleichsam  der  Wegbaumeister«  für 
seine  Familie,  er  bahnte  die  Pfade,  auf  denen  sein 
Sohn  nnd  dessen  Enkel  zur  Macht  und  Herrlichkeit 
emporsteigen  sollten.  Im  Jahre  1407  ward  Giovanni 
Podestä  zu  Pistoja,  im  Jahre  1421  bekleidete  er,  aus 
verhältnismässig  kleinen  Anfängen  rastlos  sich  herauf¬ 
arbeitend,  bereits  die  höchste  Würde  der  Republik, 
das  Amt  eines  Gonfaloniere  und  als  er  acht  Jahre 
später  im  Alter  von  68  Jahren  starb,  folgten  seinem 

1)  Katalog  der  Uffizien  von  1897,  Nr.  43.  Uölic  0,73  ni, 
Breite  0,75  ni. 


Sarge  alle  Gesandten  des  Kaisers,  der  Könige,  der 
Venezianer  und  der  anderen  Mächte  i).«  Giovannis 
Ruhm  erlosch  nicht  mit  seinem  Leben.  Die  Medici 
betrachteten  ihn  als  Gründer  ihrer  Dynastie  und  hielten 
sein  Andenken  in  höchsten  Ehren.  Eür  Gourmets 
einer  historischen  Bild- Anschauung  wird  es  darum 
stets  verlockend  sein,  in  den  »stillredenden  Zügen  des 
Ahnherrn«  die  typischen  Wesenseigentümlichkeiten  der 
berühmten  Enkel  zu  erspähen.  Von  jener  schlauen 
Zähigkeit,  die  Cosimo  vom  Vater  erbte,  kündet  im 
Porträt  der  Uffizien  Giovannis  seltsam  eingekniffener 
Mund  mit  den  dünnen  blutleeren  Lippen;  die  rück- 


1)  Scipione  Animirato;  Istorie  fiorentine.  Firenze 
1848,  Bei.  IV,  lib.  XIX,  p.  379. 


DAS  BILDNIS  DES  GIOVANNI  BICCl  DE’  MEDICI  IN  DEN  UEEIZIEN 


41 


sichtslose  Energie  der  breiten  Stirne  wiederum,  die 
grossen  Augen,  die  von  innerem  Leben  leuchten,  — 
all’  dies  ist,  ebenso  wie  die  geistvolle  Hässlichkeit 
des  Ahnherrn,  auch  seinem  Urenkel,  dem  prunkenden 
Lorenzo  eigen. 

Das  Porträt  selbst  galt  immer  als  authentisch,  und 
die  Kopien  1)  von  Bronzino,  Alessandro  Allori,  Al- 
tissimo  und  Allegrini,  denen  allen  es  als  Vorlage 
diente,  zeugen  von  der  hohen  Achtung,  deren  sich 
dies  früheste  Medicäer- Bildnis  erfreute.  Natürlich 
dankte  es  sein  Ansehen  zunächst  der  Person  des  Dar¬ 
gestellten,  vielleicht  aber  auch  seinen  künstlerischen 
Vorzügen.  Die  Zeit  hat  dem  Gemälde  viel  Schaden 
zugefügt;  dann  hat  ein  ziemlich  plumper  Restaurator 
das  Rot  des  Gewandes  anfgefrischt,  den  Hintergrund 
mit  grünlich -grauen  Tonen  übermalt,  im  Antlitz  ge¬ 
wahrt  man  deutlich  Spuren  von  Verputzungen  und 
trotz  alledem  verrät  dies  Porträt,  das  ersichtlich  der 
ersten  Hälfte  des  Quattrocento  gehört,  auch  heute  noch 
die  Hand  eines  Meisters  von  erstem  Range.  Mit  einer 
prachtvoll  breiten  Behandlung  des  Ganzen,  einer 
grossen  Eormgebung,  die  auf  einen  Beherrscher  des 
Eresko  als  Autor  hinweist,  geht  eine  Kunst  der  Charak¬ 
teristik  Hand  in  Hand,  so  eindringlich  und  grausam, 
dass  mit  der  Struktur  der  Knochen  gleichsam  auch 
die  Seele  blossgelegt  ist. 

Der  Katalog  weist  das  Porträt  Giovanni  Bicci’s 
dem  Zanobi  Strozzi-)  zu,  einem  höchst  mittehnässigen 
Schüler  Era  Angelico’s,  dessen  Stärke  auf  dem  Gebiete 
der  Miniaturmalerei  lag.  Man  betrachte  mir  einmal  seinen 
»hl.  Laurentius«’^)  (s.  d.  Abb.):  konnte  einem  Künstler, 
der  eine  so  herzlich  unbedeutende  Gestalt  geschaffen, 
je  ein  Haupt,  wie  das  Giovanni  Bicci’s,  gelingen? 
Und,  Zanobi’s  Autorschaft  einmal  angenommen,  könnte 
es  sich  überdies  nur  um  eine  Kopie  handeln,  denn 
Zanobi  zählte  im  Todesjahr  des  Giovanni  Bicci  erst 
17  Jahre!  Vor  diesem  Gemälde  jedoch  wird  niemand 
wohl  den  Eindruck  einer  Kopistenarbeit  gewinnen. 
Die  Zuweisung  des  Porträts  an  Zanobi  Strozzi  geht 
auf  eine  Stelle  des  Vasari^)  zurück,  steht  und  fällt 


1)  Kopien:  Bronzino:  s.  Vasari  (ed.  Milanesi)  VII, 
p.  603.  Diese  Miniaturbildnisse,  die  einst  das  stndiolo 
Cosimos  I.  schmückten,  befinden  sich  heute  in  den  Uffizien 
(Kat.  Nr.  3363).  Ebendaselbst  die  anderen  Kopien.  — 
Alessandro  Allori:  s.  R.  Archivio  di  Stato.  Firenze:  Guar- 
daroba.  Filza  in,  Inserto  11,  Bl.  210.  Am  2g.  Juli  dieses 
Jahres  1586  werden  Allori  25  Scudi  für  die  Kopie  an¬ 
gewiesen,  er  erhält  aber  dann  30.  Am  26.  Dezember 
wird  die  Kopie  der  Galerie  überwiesen.  Altissinio:  s. 
Vasari  VII,  p.  608  u.  Kenner:  Die  Porträtsammlung  des 
Erzherzogs  Ferdinand  von  Tirol  im  Jahrbuch  der  kunst- 
hist.  Sammlungen  des  allerh.  Kaiserhauses  .  Wien  1897, 
p.  i44f.  R.  Archivio  di  Stato:  Guardaroba.  Filza  45, 
Bl.  29  wird  anno  1560  una  testa  di  giovanni  di  bicci  de’ 
medici  senz’  ornamento  di  man  di  Luigi  fiamingo  erwähnt. 
Ich  konnte  ihn  leider  nicht  nachweisen. 

2)  Über  Zanobi  Strozzi  s.  Crowe  e  Cavalcaselle:  Storia 
della  pittura  in  Italia.«  Vol.  II,  p.  420  und  neuerdings 
Langton  Douglas:  »Fra  Angelico.«  London  igoo,  p.  lyyf. 

3)  Kat.  der  Uff.  Nr.  44. 

4)  Vasari:  Le  vite  etc.  In  Fiorenza  1568,  T.  I,  p.  363. 
In  Milanesi’s  Ausgabe  vol.  II,  p.  521  u.  Anm.  1. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  2. 


mit  der  Notiz  des  Aretiners.  In  der  zweiten  Auflage 
seiner  »vite«,  d.  h.  im  Jahre  1568,  schreibt  Vasari: 
»Und  in  der  Guardaroba  des  Herzogs,«  d.  h. 
Cosimo’s  1.  —  »befindet  sich  von  Zanobi  Strozzi’s 
Hand  gemalt,  in  einem  und  demselben  Rahmen  das 
Bildnis  des  Giovanni  Bicci  de’  Medici  und  das  des 
Bartolornmeo  Valori«.  Das  Uffizien-Porträt  war  ur¬ 
sprünglich  nun  ein  Doppelbildnis.  Noch  heute  ge¬ 
wahrt  man  zur  Linken  des  Medici,  vom  Restaurator 
nahezu  schwarz  getönt,  einen  Teil  vom  Mantel  des 
Valori.  Als  Folge  der  Verstümmelung  des  Gemäldes 
ergab  sich  auch  jene  spitzbogenartige  Form,  die  seltsam 
genug  bei  einem  Porträt  anmntet.  Ferner  muss 
der  erste  Rahmen  beseitigt  worden  sein,  denn  der 
goldene  Rahmen,  der  mit  seinen  schnppenartigen  Orna¬ 
menten  heilte  das  Bild  einschliesst,  gehört  wohl  dem 
Cinquecento.  Die  Tafel,  die  in  goldenen  Lettern  auf 
blauem  Grunde  die  Inschrift 


42 


DAS  BILDNIS  DES  GIOVANNI  BICCI  DE’  MEDICI  IN  DEN  UFFIZIEN 


lOHANES  BICCI  DE  MEDICIS 
trägt,  wurde  ebenfalls  erst  ini  i6.  Jahrhundert  dem 
Bilde  angefügd,  denn  ihr  Holz  scheint  jünger  und 
von  anderer  Qualität  als  das  des  Porträts.  Es  lag 
sehr  nahe,  Vasari’s  Bemerkung  auf  dieses  Gemälde 
zu  beziehen.  Aber  nicht  nur  der  künstlerische  Wert 
des  Bildes,  sondern  auch  Dokumente  sprechen  dagegen. 
Kein  einziges  Inventar  der  mediceischen  Guardaroba 
nämlich  kennt  ein  Doppelporträt  des  Giovanni  Bicci 
und  des  Bartolommeo  Valori.  Das  Uffizien-Porträt 
jedoch  wird  bereits  im  Jahre  1553,  also  volle  15  Jahre, 
bevor  Vasari  jene  Notiz  drucken  liess,  als  Einzelbildnis 
in  einem  Inventar  des  Palazzo  Vecchio  erwähnt;  *) 
auch  von  einem  Porträt  Baccio  Valori’s  ist  die  Rede, 
—  aber  dies  war  auf  Stein  gemalt.  Beide  Bildnisse 
werden  nun  öfters  in  den  Inventaren  genannt,'^)  von 
einem  Doppelporträt  wird  jedoch  ebensowenig  wie 
von  Zanobi  Strozzi  gesprochen.  Seine  Autorschaft 
erscheint  nach  jeder  Richtung  hin  unbeglaubigt,  hält 
weder  der  historischen  Forschung  noch  der  Stilkritik 
Stand.  Wer  aber  ist  der  Maler  dieses  Porträts? 

Am  19.  April  des  Jahres  1422  wurde  vom  Erz¬ 
bischof  Amerigo  Corsini  durch  eine  feierliche  Pro¬ 
zession  die  Kirche  St.  Maria  del  Carmine  zu  Florenz 
eingeweiht.  Masaccio  schilderte  in  einem  längst  zu 
Grunde  gegangenem  Fresko  diese  Scene,  die  »sagra'< 
und  zwar  oberhalb  der  Pforte,  die  ins  Kloster  führt. 
In  den  festlichen  Aufzug  reihte  er  »eine  sehr  grosse 
Menge  von  Bürgern«  ein;  Vasari  nennt  mehrere, 
darunter  »Niccolo  da  Uzanno,  Oiovanni  Bicci  de’ 
Medici,  Bartolommeo  Valori  und  diese  beiden  ;  — 
heisst  es  weiter  —  sind,  von  seiner  Hand  gemalt, 
auch  im  Hause  des  Simon  Corsi,  eines  Florentiner 
Edelmannes,  zu  seheu'i.  J  Dieser  Wortlaut  schliesst 
den  Gedanken  an  ein  Doppelbildnis  nicht  im  Ent¬ 
ferntesten  aus  und  die  künstlerischen  Qualitäten  des 
Medici-Porträts  sind  so  bedeutend,  dass  man  selbst 
an  einen  Masaccio  als  Autor  denken  darf.  Hat  er 
dies  Porträt  gemalt,  so  Hesse  es  sich  ziemlich  genau 
datieren;  denn  Bartolommeo  Valori  starb  bereits  im 
Jahre  1427  und  Masaccio  wieder  verbrachte  sein  letztes 
Lebensjahr  in  Rom.  Das  Gemälde  müsste  also  ums 
Jahr  1525  oder  1526  entstanden  sein.  Vergleicht 
man  nun  das  letzte  Werk,  das  Masaccio  in  Florenz 
schuf,  die  Gruppe  des  »Petrus  in  Kathedra«  der 
Brancacci-Kapelle  mit  dem  Bildnis  der  Uffizien,  so 
werden  sich,  —  insofern  man  überhaupt  Tafelbilder 
und  noch  dazu  Porträts  mit  Fresken  vergleichen  kann,  — 
gemeinsame  Züge  herausfinden  lassen,  nicht  nur  in 
Bezug  auf  die  Grösse  der  Auffassung  und  die  be¬ 
deutende  Charakteristik,  die  Art,  wie  mit  sparsamsten 
Mitteln  das  Höchste  erzielt  wird,  sondern  auch  in  der 


1)  Conti:  La  prima  reggia  di  Cosimo  I.  Firenze  1893. 
In  dem  dort  mitgeteilten  Inventar  vom  Jahre  1563  heisst 
es  p.  139:  Uno  niezzo  tondo  pittovi  Giovanni  de’  Medici 
con  cornice  dorata  und  auf  p.  96:  Un  ritratto  di  Baccio 
Valori  in  su  la  pietra  alto  braccie  1  Va- 

2)  S.  die  Auszüge  aus  den  Inventaren  am  Schlüsse  des 
Aufsatzes. 

3)  Vasari  (ed.  Milanesi)  II,  p.  295. 


Behandlung  von  Details,  z.  B.  in  der  starken  Accen- 
tuierung  der  Kinnpartie,  in  dem  breiten  Nasenrücken 
und  der  Bildung  des  Auges.  Vasari  bezeichnet  Simone 
Corsi  als  Besitzer  des  Porträts.  Vielleicht  irrt  der 
Aretiner,  wie  so  oft,  auch  hierin;  vielleicht  überliess 
es  Simone  Corsi  dem  Herzog,  der  ja  darauf  ausging, 
die  Porträts  seiner  Ahnen  zu  sammeln.  Im  Jahre 
1553  erwähnen  die  mediceischen  Inventare,  wie  gesagt, 
zum  erstenmal  das  Bild.  Gerade  um  diese  Zeit  aber 
begann  der  Herzog  seine  Porträt-Kollektion  anzulegen, 
und  man  kann  leicht  folgern,  dass  just  ciamals  das 
Gemälde  seinen  Eigentümer  wechselte.  Doch  dies 
sind  Hypothesen.  Die  Inventare  geben  keine  Auskunft 
darüber,  wo  das  Bild  vor  dem  Jahre  1  553  sich  befand. 
Aber  die  blosse  Thatsache,  dass  Masaccio  ein  Bildnis 
des  Giovanni  de’  Medici  und  des  Bartolommeo  Valori 
gemalt,  genügt  vielleicht,  um  ein  vorzügliches  Porträt 
aus  der  ersten  Hälfte  des  Quattrocento,  das  einstens 
diese  beiden  darstellte,  dem  oeuvre  dieses  Grossen 
vermutungsweise  einzureihen. 

Florenz.  em/L  SCHA  EFF  ER. 

ANHANG. 

Reale  Archivio  di  Stato.  Firenze:  Quardarobax. 

Ricordi.  Filza  26,  Bl.  29.  -  11.  November  1553. 

Fö’cordo  adi  detto  come  il  barigiel  hebe  2  (sic!)  quadri  - 
(hier  ist  das  ursprüngliche  o  in  i  verbessert)  -  dentrovi 
Joanni  de  bicci  de  medici  per  ricavarlo  .  Diese  Stelle,  die 
einzig  in  den  Inventaren  dasteht,  ist  ebenso  dunkel  wie  in¬ 
teressant.  Ricavare,  die  Verstärkung  von  cavare«  kann 
herausnehnien  und  kopieren  bedeuten.  Das  Letzte  scheint 
insofern  schwer  anzunehmen,  als  barigiel  ein  Eigenname 
und  gar  kein  Künstler  dieses  Namens  bekannt  ist.  Cosimo  1. 
aber  liess  Kopien  nach  anderen  Bildern,  besonders  nach 
Porträts  stets  von  Künstlern  ersten  Ranges  anfertigen  und 
ihre  Namen  werden  in  den  Inventaren  auch  genannt.  Die 
Bedeutung  Herausnehmen  für  ricavare  hat,  in  Verbin¬ 
dung  mit  dem  ausgestrichenen  un  und  der  darüber  ge¬ 
schriebenen  2  mehr  Wahrscheinlichkeit.  Dieser  barigiel 
bekam  ein  Bild,  nahm  den  Medici  heraus  und  lieferte  2  ab, 
d.  h.  die  Bilder  des  Medici  und  des  Valori.  Vielleicht 
findet  sich  das  Porträt  des  Letzteren  noch  in  den  Depots 
der  Uffizien. 

Andere  Erwähnungen  des  Porträts:  Inventar  von  1553 
s.  oben.  -  Inventario  generale  .  Anno  1574.  Eilza 
107  bis.  Bl.  48.  Quadro  di  Oiovanni  Bicci  de’  Medici  sopra 
tondo  e  antico.  Anno  1596.  Eilza  190,  Bl.  40.  Quadro 
in  mezzo  tondo  alto  braccie  i^/-,  entrovj  Oiovanni  Bicci 
ed  ornamento  messo  a  oro.  Anno  1609.  Eilza  261,  Bl.  82. 
Quadro  mezzo  acuato  in  tavola  in  cornice  messo  a  oro 
con  il  ritratto  di  giovannj  bicci  de’  Medici. 

Die  Erwähnungen  des  Valori-Porträts :  Inventar  von 
1553  s.  oben.  Anno  1560.  Eilza  45,  Bl.  61.  Un  quadro 
di  tela  dipintovj  anzi  di  pietra  ed  ornamento  di  Legnio 
ritrattovi  baccio  valori.  Porträts  des  Valori  ohne  nähere 
Bezeichnung  Eilza  65,  Bl.  62  u.  Eilza  107  bis.  Bl.  94.  Mög¬ 
licherweise  beziehen  sich  all’  diese  Bildnisse  auf  den  jüngeren 
Valori,  obschon  es  auch  vom  älteren  einige  Porträts  ge¬ 
geben  haben  muss:  s.  Vita  di  Bartolommeo  di  Niccolo  di 
Taldo  di  Valore  Rustichelli,  scritta  in  lingua  latina  da  Euca 
di  Simone  della  Robbia  e  fatta  volgare  da  Messer 
Piero  della  Stufa  im  Arch.  stör.  it.  IV.  Eirenze  1843,  P-  238. 
Eins,«  —  d.  h.  Bart.  Valoris  -  >dtnago  a  miütis  expressa, 
miroque  fuit  artificio  . 


P.  P.  Rubens.  Maria  verleiht  dem  heil,  lldefonso  ein  geistliches  Gewand.  Petersburg,  Ermitage 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 
IN  DER  ERMITAGE  ZU  ST.  PETERSBURG 

Von  Max  Rooses  in  Antwerpen 


WENN  man  den  lebhaften  Newski- Prospekt 
verlassen  hat  und  rechter  Hand  über  den 
Alexandergarten  und  den  Schlossplatz  schreitet, 
erreicht  man  im  Anfänge  der  Millionaja  und  neben 
dem  Winterpalais  den  bescheideneren  Palast  der 
Ermitage,  welcher  mit  seinen  feinen,  edeln  Linien 
griechischen  Stils  günstig  von  dem  Barockprunk 
seines  grossen  Nachbars  absticht.  Der  Eingetretene 
befindet  sich  in  einem  wahrhaften  Palast;  Säulen, 
Statuen,  Treppen,  Marmorgänge,  seidene  Tapeten  an 
den  Wänden,  vergoldete  Sitzbänke  und  Diener  in 
fürstlicher  Livree;  man  glaubt  sich  in  den  Gemächern 
des  Kaisers  zu  befinden  und  es  ist  auch  in  der  That 
so.  Das  überreich  ausgestattete  Kaiserliche  Museum 
in  Wien  ausgenommen,  ist  keine  Gemäldegalerie  der 
Pracht  dieses  Gebäudes  ebenbürtig. 

Durch  den  Inhalt  kann  die  Ermitage  mit  den 
grössten  und  berühmtesten  Museen  um  den  Preis 
ringen.  Es  giebt  in  der  Welt  weder  ein  Museum, 
wo  die  holländische  Schule  des  grossen  Jahrhunderts 


so  vorzüglich  vertreten  ist  wie  hier,  noch  ausser 
Madrid  ein  solches,  wo  die  spanische  Schule  so  reich 
auftritt  und  ausser  Paris  keines,  das  über  so  aus¬ 
gezeichnete  Exemplare  verfügt.  Und  auch  von  den 
grössten  Meistern  vlämischer  und  italienischer  Schule 
sind  prächtige  Werke  im  Überfluss  vorhanden. 

Dass  alle  diese  Herrlichkeiten  soweit  von  der  grossen 
Strasse  abgekommen  sind,  dass  es  nur  wenigen  ver¬ 
gönnt  ist,  sie  aufzusuchen,  ist  sicher  beklagenswert; 
dass  sie  andererseits  die  Mühe  der  langen  Reise  lohnen, 
ist  ebenso  gewiss.  Sie  sind  dorthin  gekommen  dank 
dem  erlauchten  Kunstsinn  der  Fürsten  des  Landes; 
Peter  der  Grosse,  Katharina  II.  und  ihre  Nachfolger 
haben  wetteifernd  mitgewirkt  zur  Bereicherung  der 
grossen  Sammlung.  An  Geld  fehlte  es  ihnen  nicht 
und  glücklicherweise  ebensowenig  an  gutem  Geschmack 
und  Rat  durch  befugte  Mitarbeiter.  Im  i8.  Jahr¬ 
hundert,  einer  Zeit,  in  der  Holland  und  Flandern 
die  Verkaufssäle  für  ihre  Kunstschätze  geworden 
waren,  bereicherten  sich  Frankreich,  Deutschland  und 


6 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


auch  Russland  mit  Dingen,  für  welche  dem  heimat¬ 
lichen  Nationalstolze  das  Gefühl  fehlte,  um  sie  für  das 
Land  anzukaufen,  und  die  der  Bürgerschaft  gleich¬ 
gültiger  waren  als  gewebte  Taj^eten  und  gemünztes 
Gold.  Der  grösste  Teil  dieser  Perlen  aus  Hollands 
Krone  ist  zu  Geld  gemacht  und  für  immer  dem  Vater¬ 
land  verloren,  nur  ein  Trost  blieb  uns  Niederländern, 
nämlich  dass  diese  Verbannten  die  Verbreitung  des 
guten  Namens  unserer  Schule  durch  die  ganze  Welt 
befördern  halfen. 

Seltsam  genug,  Katharina  und  ihre  Nachfolger 
kauften  die  meisten  und  schönsten  der  holländischen 
und  vlämischen  Gemälde 
nicht  am  Ursprungsorte, 
sondern  in  Erankreich, 

England  und  Deutsch¬ 
land.  In  Paris  war  der 
grösste  Kunstmarkt  des 
i8.  Jahrhunderts,  und 
aus  den  weltberühmten 
und  fabelhaft  reichen 
Sammlungen  Crozat, 

Choiseul,  Randon  de 
Boisset  und  Conti  gingen 
Schiffsladungen  mit 
Meisterwerken  nach  St. 

Petersburg.  Hierzu  kam 
das  Museum  vonMalmai- 
son  —  von  der  Kaiserin 
Josephine  durch  die  Ge¬ 
mälde  begründet,  welche 
aus  Kassel  entführt  wor¬ 
den  waren  —,  die  Galerie 
Brühl  in  Dresden,  das 
Kabinett  von  Lord  Wal¬ 
pole  und  verschiedene 
andere,  worunter  auch 
das  von  Wilhelm  II., 

König  von  Holland,  ver¬ 
meldet  zu  werden  ver¬ 
dient,  welche  ganz  oder 
teilweise  nach  dem  Nor¬ 
den  zogen.  Die  spani¬ 
schen  Gemälde  wurden 
hauptsächlich  gekauft 
auf  den  Auktionen  des 
Prinzen  des  Eriedens, 

Manoel  Godoy,  von  Gessler,  dem  russischen  Konsul  zu 
Cadix,  von  Paez  de  la  Cadena,  dem  spanischen  Minister 
zu  St.  Petersburg,  und  des  Marschalls  Soult,  welch 
letzterer  einen  langen  Eeld-  und  Raubzug  in  Spanien 
hinter  sich  hatte. 

Die  alte  vlämische  und  holländische  Schule  ist 
nur  kärglich  vertreten.  Abgesehen  von  der  Wer- 
kündigung'  von  Jan  van  Eyck,  sowie  von  zwei  ihm 
zugeschriebenen  Flügelstücken  und  dem  Triptychon 
von  Lucas  van  Leyden,  der  >Genesung  des  Blinden 
von  Jericho  -  sind  keine  bedeutenderen  Werke  zu 
melden.  Mit  Ausnahme  des  letztgenannten  Meisters 
wollen  wir  unsere  Übersicht  denn  auch  auf  die 
Meister  des  17.  Jahrhunderts  beschränken,  die 


wie  wir  bereits  erwähnten  —  eine  wahrhaft  glänzende 
Stellung  im  Kaiserlichen  Museum  einnehmen. 

DIE  VLÄMISCHE  SCHULE. 

Petrus  Paulus  Rubens. 

Von  Rubens  sind  54  Gemälde  in  dem  Katalog 
angegeben,  wozu  noch  fünf  alte  Kopien  kommen. 
Sechs  dieser  Werke  sind  ihm  irrtümlich  zugeschrieben, 
dagegen  sind  zwei,  die  schönsten  Porträts,  welche 

das  .Museum  von  ihm 
besitzt,  unter  van  Dyck 
vermerkt.  Die  Gesamt¬ 
zahl  beträgt  also  50 
Werke  des  grossen  Vla- 
men.  Eine  ungeheure 
Zahl,  jedoch  nur  eine 
Ziffer,  die  noch  kein 
genaues  Bild  zu  geben 
vermag  von  der  Bedeu¬ 
tung  der  persönlichen 
Beteiligung  des  Meisters 
an  seinen  Werken. 

In  diese  Zahl  sind 
übrigens  zwanzig  Skizzen 
inbegriffen,  welche  in 
ihrer  Art  sehr  bemerkens¬ 
wert  sind,  andererseits 
aber  den  vollendeten  Ge¬ 
mälden  nicht  an  die 
Seite  gestellt  werden 
können.  Unter  den  Por¬ 
träts  befindet  sich  ein 
halbes  Dutzend  von  mit- 
telmässigem  Werte  und 
unter  den  übrigen  Bil¬ 
dern  sind  noch  fünf  von 
untergeordnetem  Range, 
so  dass  schliesslich  neun¬ 
zehn  Bilder  von  hervor¬ 
ragendster  Bedeutung 
übrig  bleiben;  immerhin 
ist  diese  Gruppe  an 
Umfang  und  Beschaf¬ 
fenheit  so  gross,  dass 
jedes  Museum  der  Welt  sich  ihrer  rühmen  würde. 

Die  religiösen  Bilder  haben  ungleichen  Wert. 
Eine  Anbetung  der  Könige«  und  eine  »Maria, 
welche  den  Rosenkranz  dem  hl.  Dominicus  über¬ 
reicht«,  sind  grosse,  dekorativ  behandelte  Bilder,  die 
Rubens  durch  seine  Schüler  malen  Hess  zur  Aus¬ 
stattung  von  weniger  begüterten  oder  abgelegenen 
Kirchen,  und  die  er  übermalte.  Ein  »Christus  bei 
Simon  dem  Pharisäer«  und  eine  »Kreuzabnahme«, 
aus  der  Kapuzinerkirche  von  Lier  stammend,  sind  da¬ 
gegen  Werke,  die  dem  Meister  Ehre  machen.  Das 
erste  lacht  uns  entgegen  mit  jenen  reichen  Farben, 
die  er  seinen  festlichen  Darstellungen  verlieh,  während 
seine  dramatische  Kraft  aus  den  missgünstigen  Ge- 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


Sichtszügen  und  den  neiderfüllten  Gebärden  der 
Priester  und  Pharisäer  spricht.  Die  »Kreuzabnahme« 
steht  weit  unter  derjenigen  der  Hauptkirche  von 
Antwerpen;  jedoch  unter  dem  halben  Dutzend  jener 
Auffassungen  desselben  Themas,  welche  Rubens  kurz 
nach  der  Vollendung  seines 
Meisterwerks  vom  Jahre  1612 
lieferte,  ist  diese  wohl  die 
beste.  Sie  beweist  ebenso 
wie  die  anderen  Kreuzab¬ 
nahmen,  dass  die  erste  den 
Vorwurf  auf  so  vollkommene 
Weise  zum  Ausdruck  ge¬ 
bracht  hat,  dass  sie  jede  an¬ 
dere  dieser  Darstellungen,  von 
Rubens  oder  von  welchem 
Meister  auch,  übertrifft.  Zu¬ 
gleich  bezeugt  sie  die  uner¬ 
schöpfliche  Eruchtbarkeit  sei¬ 
ner  Schaffenskraft,  die  ein 
und  denselben  Gedanken  auf 
so  verschiedene  Weise  aus¬ 
zusprechen  vermochte,  stets 
neu,  stets  bewunderungs¬ 
würdig. 

Reicher  ist  der  Eabel- 
erzähler  vertreten.  Ein  kleiner 
Silenenzug  aus  der  Reihe  jener 
Aufzüge,  in  denen  der  Meister 
so  ausgesucht  gute  Typen  der 
ausschweifenden  Geniesser 
gab;  »Venus  und  Adonis  , 
wovon  das  Mauritshans  ein 
zweites,  weniger  bedeuten¬ 
des  Exemplar  besitzt  und 
das  an  eine  der  lieb¬ 
lichsten  Gruppen  von  Tizian 
erinnert;  »Perseus  und  An¬ 
dromeda«,  flach  wie  eine 
Wandmalerei;  und  dann  auf 
Leinwand  eine  Wiederholung 
der  Darstellungen,  mit  wel¬ 
chen  Rubens  das  Innere 
seines  Hauses  bemalte;  end¬ 
lich  »Bachus  auf  dem  Pass«, 
eines  seiner  letzten  Werke, 
leuchtend,  von  saftiger  Earbe 
und  spielendem  Licht;  sie 
alle  gehören  zu  Rubens 
Meisterwerken.  Die  Statue 
der  Ceres  in  einer  Nische,  um¬ 
ringt  von  schalkhaften  Liebes- 
götterchen,  ist  eins  der  rei¬ 
zendsten  Bildchen  des  grossen  Kindermalers  (Abb.  S.  46). 

Zwei  Landschaften  sind  dort:  eine,  der  Regen¬ 
bogen«,  wovon  der  Louvre  eine  mittel mässige  Wieder¬ 
holung  besitzt,  aus  des  Meisters  früherer  Zeit,  als  er 
sich  noch  der  Werke  des  Annibale  Caracci  erinnerte 
und  idyllische  Landschaftsdarstellungen  malte;  und 
eine  andere,  »die  festgefahrene  Karre«,  aus  seinen 
letzten  Jahren  stammend,  als  er  draussen  wohnte  und 


dort  das  Land  und  seine  Bewohner  malte,  sowie  er 
sie  vor  Augen  hatte. 

Die  Skizzen  nehmen  in  der  Ermitage  unter  den 
Werken  von  Rubens  einen  ansehnlichen  Platz  ein. 
Nirgendwo,  selbst  nicht  einmal  in  der  Pinakothek 

in  München,  welche  die  Ent¬ 
würfe  der  Medici-Galerie  be¬ 
sitzt,  noch  in  Madrid,  wo 
sich  diejenigen  der  Eiguren 
lind  Triumphe  des  hl.  Sacra- 
ments«  befinden,  trifft  man 
so  viele  und  bedeutende  an : 
sieben  Stück  für  den  Einzug 
des  Kardinal -Infant  in  Ant¬ 
werpen,  fünf  für  die  Medici- 
Galerie,  zwei  für  die  Pla¬ 
fonds  von  Whitehall,  eins 
für  die  -Geschichte  Constan- 
tin’s  des  Grossen  ,  und  dann 
noch  fünf  für  besondere 
Bilder.  Die  Skizzen  für  den 
Einzug  des  Eerdinandus  sind 
weitaus  am  bedeutendsten. 
Sie  zeigen  uns,  mit  welch 
leichter  verschwenderischer 
Hand  Rubens  die  grossen 
Reihen  schuf,  mit  denen  er 
eine  ganze  Stadt  zierte,  und 
die  unter  seiner  Leitung  durch 
alle  hervorragenden  Künstler, 
welche  Antwerpen  damals 
besass,  ausgeführt  wurden 
(Abbildung  Seite  48).  Die 
Skizzen  der  Medici-Galerie 
sind  leicht  hingeworfene 
Entwürfe  der  ersten  Auffas¬ 
sung  einiger  der  grossen  Zu¬ 
sammenstellungen,  welche 
später  in  den  zweiten  Skizzen 
bestimmter  werden  sollten. 
Diejenigen  für  Whitehall  ge¬ 
hören  zu  den  unzähligen 
und  meistens  prächtig  ge¬ 
malten  Stücken  eines  Wer¬ 
kes,  das  in  seiner  Gesamt¬ 
heit  zu  den  wenigst  bedeu¬ 
tenden  von  Rubens  gehört. 

Unter  den  Skizzen  für 
besondere  Gemälde  verdient 
diejenige  für  das  Mirakel 
des  hl.  Ildefons  besonders 
genannt  zu  werden.  Das  Bild 
(in  der  Wiener  Gemälde¬ 
galerie)  gehört  zu  den  herrlichsten  Schöpfungen  von 
Rubens  und  der  Malerei  überhaupt,  es  veranschaulicht  in 
einem  dreiteiligen  Bild  in  der  Mitte  die  Mutter  Gottes, 
welche  dem  hl.  Ildefons  die  Casel  überreicht  und 
auf  den  Seitenflügeln  die  Erzherzöge  Albrecht  und 
Isabella  in  betender  Haltung.  Auf  der  Skizze  sind 
die  drei  Teile  in  einen  zusammengeschmolzen,  die 
Erzherzöge  wohnen  dem  Wunder  bei;  der  Schauplatz 


P.  P.  Rubens.  Bildnis  seiner  zweiten  Frau, 
Helene  Founnent.  Petersburg,  Ermitage 


46 


DIE  VLAMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


P.  P.  Rubens.  Statue  der  Ceres 
Petersburg,  Ermitage 


ist  ausserhalb  der  Kirche  verlegt,  was  nicht  in  Über¬ 
einstimmung  ist  mit  der  Legende  und  der  späteren 
Bearbeitung  (Abb.  S.  43). 

Gerade  in  seinen  Skizzen  verrät  Rubens  die  ihm 
eigentümliche  Begabung;  er  malt  sie  ohne  weiteres 
Zögern  in  breiten  Zügen,  überzeugt  von  der  Sicher¬ 
heit  seiner  Hand  und  kaum  imstande,  den  überfliessen- 
den  Reichtum  seiner  Ideen  schnell  genug  auf  die 
Leinwand  zu  bringen.  Die  Earben  deutet  er  mit 
einigen  Strichen  an,  stets  heller  und  blasser  wie  in 
dem  Gemälde,  denn  seine  erste  Sorge  ist,  licht  zu 
bleiben.  Alle  seine  Skizzen  waren  Improvisationen, 
die  er  bei  näherer  Überlegung  verbesserte,  aber  in 
den  grossen  Zügen  beibehielt. 

Die  Porträts  sind  der  wichtigste  Teil  der  Werke 
von  Rubens,  welche  die  Ermitage  besitzt.  Die  ihm 
irrtümlich  zugeschriebenen  ausgenommen,  bleiben  noch 
zehn  ersten  Ranges  übrig.  Eins,  dasjenige  des  Herzogs 
von  Bucquoy,  ist  nur  eine  Skizze  in  Graumalerei 
mit  einigen  Farbenstrichen.  Es  zeigt  uns  das  Bildnis 
des  Feldobersten  in  einer  reichen,  sinnbildlichen  Um¬ 
rahmung,  wie  Rubens  drei  derartige  zu  Ehren  grosser 
Persönlichkeiten  malte.  Ein  anderes  ist  das  frische, 
liebe  Gesichtchen  einer  Kammerjungfer  der  Infantin 
Isabella,  die  wir  aus  der  meisterlichen  Zeichnung, 
welche  Rubens  von  ihr  machte,  näher  kennen  lernen 


und  worauf  einer  seiner  Bedienten  mit  ungeübter 
Hand  schrieb:  »Zaeldochter  der  infante.«  Dann 
kommt  die  herrliche,  triumphierende  Helene  Fourment, 
seine  zweite  Frau,  mit  dem  Federfächer  in  der  Hand. 
Ferner  Susanne  Fourment,  ihre  Schwester,  der  Lieb¬ 
ling  von  Rubens,  und  endlich  Isabella  Braut,  seine 
erste  Gattin:  die  drei  Frauen,  welche  ihm  das  Liebste 
auf  Erden  -  für  ihn  die  Personifizierung  der  Schön¬ 
heit,  des  Geistes  und  der  Güte  waren  (Abb.  S.  44  u.  45). 

Diese  Susanna  Fourment  und  Isabella  Braut  haben 
in  den  letzten  Jahren  hier  und  da  zu  Meinungs¬ 
verschiedenheiten 'Anlass  gegeben.  Früher  wurde  die 
erstere  van  Dyck  zugeschrieben  und  für  das  Porträt 
einer  unbekannten  Dame  mit  ihrer  Tochter  gehalten; 
bei  meinem  ersten  Besuch  der  Ermitage  erkannte  ich 
in  ihr  ein  Werk  von  Rubens  und  das  Porträt  von  Susanne 
Fourment;  es  ist  dieselbe  Person,  wie  jene  Frau  mit  dem 
Strohhut  in  der  National  Gallery  von  London,  und 
die  Dame  aus  der  Familie  Boonen  im  Louvre,  ln 
dem  Katalog  von  1895  erhielt  das  Modell  seinen 
richtigen  Namen,  blieb  jedoch  van  Dyck  zugeschrieben. 
Schlimmer  noch,  Isabella  Brant,  die  immer  für  ein 
Werk  von  Rubens  durchgegangen  war,  wurde  nun 
wegen  der  offenbaren  Übereinstimmung  der  Be¬ 
handlung  mit  derjenigen  der  Susanna  Fourment  und 
infolge  einer  Bemerkung  von  Wilhelm  Bode,  der  am 
liebsten  alle  von  Rubens  gegen  1620  vollendeten 
Porträts  van  Dyck  zugeschrieben  hätte,  auch  unter 
den  Namen  dieses  letzteren  gesetzt.  Ich  habe  damals 
die  Unhaltbarkeit  dieser  Ansicht  auseinandergesetzt 
und  bei  meinem  letzten  Besuch  zu  St.  Petersburg 
sah  ich  mit  Vergnügen,  dass  alles  in  Ordnung  ge¬ 
bracht  war  und  Rubens  zwei  seiner  Meisterwerke 
wiedergegeben  worden  waren. 

Über  Isabella  Brant,  deren  Abbildung  beigefügt 
ist,  noch  einige  Worte.  Sie  war  die  älteste  Tochter 
von  Jan  Brant,  Amtsschreiber  und  später  Schöffe  von 
Antwerpen  und  wurde  getauft  in  der  Liebfrauenkirche 
am  20.  Oktober  1591.  Rubens  verheiratete  sich  mit 
ihr  am  3.  Oktober  1609.  Sie  schenkte  ihm  drei 
Kinder:  Clara  Serena,  die  früh  starb.  Albert  und 
Nicolaus.  Sie  verschied  den  20.  Juni  1626.  Lob¬ 
spendend  und  rührend  war  das  Zeugnis,  welches 
Rubens  in  einem  Brief  an  seinen  Pariser  Korrespon¬ 
denten  Pierre  Dupuy  wenige  Tage  nach  ihrem  Tode 
von  ihrem  Charakter  ablegte:  »Ich  habe  wahrlich 
eine  vortreffliche  Lebensgefährtin  verloren,  die  man 
liebhaben  mochte  und  musste  aus  dem  guten  Grunde, 
weil  sie  keins  von  den  Gebrechen  ihres  Geschlechts 
besass;  in  ihr  war  weder  Unwilligkeit  noch  irgend 
ein  andres  weibliches  Gebrechen;  sie  war  lauter  Güte 
und  Lieblichkeit  und  wurde  in  ihrem  Leben  wegen 
ihrer  Tugenden  verehrt  und  nach  ihrem  Tode  durch 
jeden  betrauert.« 

Rubens  malte  sie  wiederholt:  das  erste  Mal  in 
der  lieblichen^  Gruppe,  welche  die  Pinakothek  in 
München  hat,  wo  das  junge  Paar  nebeneinander  sitzt 
im  Glück  der  Flitterwochen  und  im  festlichen  Hoch¬ 
zeitsschmuck;  sie,  vertraulich  die  Hand  in  die  seine 
schmiegend,  stolz  auf  ihren  Mann ;  er,  sich  innig  und 
gütig  zu  ihr  neigend,  glücklich  im  Besitze  seines 


DIE  VLAMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


47 


jungen  lieben  Weibchens.  In  späteren  Jahren  malte 
er  sie  verschiedene  Male  als  Brustbild;  das  Maurits- 
haus  im  Haag,  die  Königliche  Sammlung  zu  Windsor- 
Castle,  die  Uffizien  in  Florenz,  das  Wallace-Museum 
in  London  und  verschiedene  andere  Sammlungen 
besitzen  dergleichen  Bildnisse. 

Die  Ermitage  besitzt  das  vollendetste  und  schönste 
ihrer  Porträts.  Sie  sitzt  in  einem  Lehnstuhl  bis  über 
die  Kniee  nach  unten  im  Bilde;  die  eine  ihrer  Hände 
ruht  in  ihrem  Schoss  und  hält  einen  Rosenzweig,  die 
andere  liegt  auf  dem  Arm  des  Sessels  und  hält  einen 
Fächer  von  Straussenfedern.  Sie  trägt  einen  rot  und 
gold  gestreiften  Rock,  ein  goldfarbiges  Leibchen  und 
darüber  eine  schwarzseidene  Mantille,  einen  Hals¬ 
kragen  mit  Spitzenläppchen,  eine  doppelte  Perlen¬ 
schnur,  eine  goldene,  emaillierte  Kette,  die  dreimal 
doppelt  auf  die  Brust  fällt  und  die  auch  von  Susanna 
und  Helene  Fourment  getragen  wurde,  wenn  sie 
Rubens  malte.  Rechter  Hand  sieht  man  das  Portal, 
welches  den  Binnenhof  des  Rubenshauses  von  dem 
Garten  trennte,  darüber  der  blaue,  leicht  bewölkte 
Himmel;  links  eine  rote  Gardine. 

Dieses  Bild  ist  wohl  das  beste,  das  die  Ermitage 
von  Rubens  besitzt.  Es  ist  eine  Pracht  —  dieses  Ge¬ 
mälde.  Der  Hintergrund  ist  zusammengehalten  durch 
das  graue  Gebäude  und  den  blaugrauen  Himmel; 
die  rote  Gardine  ist  tief  in  der  Farbe,  jedoch 
fast  ohne  Glanz,  nur  einige  mattleuchtende  Reflexe 
auf  den  Faltenbrechungen.  Die  Frauenfigur  kommt 
auf  diesem  gemässigten  Tone  in  voller  Kraft  zum 
Ausdruck.  Es  ist  nicht  mehr  die  achtzehnjährige 
Braut,  die  wir  hier  sehen;  fünfzehn  oder  sechzehn 
Winter  müssen  vergangen  sein,  seitdem  Rubens  sie 
zum  erstenmal  malte.  Die  Frische  des  Gesichts  hat 
nachgelassen,  die  Hautfarbe  ist  gebräunt  und  das  Rot 
der  Wangen  ist  stärker  geworden,  die  Familien¬ 
züge  sind  ausgesprochener,  die  dünnen  Brauen  gehen 
schräger  in  die  Höhe,  die  Kinnbacken  treten  mehr 
heraus  und  das  Kinn  ist  spitz  geworden;  wir  sehen 
eine  Frau  von  vierunddreissig  Jahren  vor  uns,  die  zu 
früh  gealtert  ist.  Sie  ist  kostbar  gekleidet,  ihr  Aus¬ 
druck  verrät  jedoch  nicht  das  Gefühl  des  Behagens; 
möglichst  einfach  ist  das  dunkelbraune  Haar  gehalten, 
unregelmässig  über  die  Stirne  und  ganz  glatt  nach 
hinten  gestrichen. 

Isabella  Brant  zeichnet  sich  nicht  durch  besondere 
Schönheit  aus;  sie  ist  eine  Frau  des  höheren  Bürger¬ 
standes,  nicht  stolz  auf  die  fürstliche  Pracht  ihrer 
Gewandung  und  ihrer  Umgebung,  im  Gegenteil  gütig 
und  anmutig.  Ihre  Lippen  haben  sich  zu  sanftem 
Lächeln  verzogen,  ihr  Blick  ist  verständig  und  klar. 
Ruhig  sitzt  sie  da,  mit  demselben  stillen  Blick  und 
voll  Vertrauen  schaut  sie  ihren  Mann  an,  wie  sie 
fünfzehn  Jahre  früher  an  seiner  Seite  in  die  Welt 
blickte.  Aber  damals  war  das  Zittern  freudiger 
Hoffnung  und  jugendlicher  Erwartung  in  ihrem  Auge 
zu  lesen,  heute  ist  es  Zufriedenheit  über  ihr  Los  und 
Frieden  mit  der  Welt.  Und  ihr  Porträt  trägt  den 
Stempel  des  grossen  Meisters,  ihre  Haltung  ist  lose 
und  gefällig,  ihre  stille,  sanfte  Seele  spricht  aus  jedem 
Zug,  aus  jedem  Fältchen  ihres  ganzen  Wesens,  sie 


lebt  fort  in  der  vollen  Wahrheit  und  in  dem  unver- 
welklichen  Farbenglanz  dieser  Verewigung. 

Das  Bild  ist  unumstritten  ein  Prachtporträt.  Es 
wurde  gegen  Ende  des  kurzen  Daseins  der  ersten 
Gattin  des  Meisters  gemalt  und  ohne  Zweifel  hing 
es  einige  Jahre  nach  der  Vollendung  in  seinem 
Zimmer  zum  Andenken  an  die  innig  verehrte  Mutter 
seiner  Kinder.  Es  ist  eins  der  naturgetreusten  Porträts, 
die  Rubens  jemals  gemalt  hat.  Das  britische  Museum 
besitzt  eine  Zeichnung  in  schwarzer  Kreide  nach  dem 
Leben,  in  aller  Einfachheit  und  ohne  Schmuck,  die 
in  dieser  Malerei  unverändert  wiedergegeben  ist. 

Es  gehört  zu  den  Werken  aus  der  Mitte  der  Lauf¬ 
bahn  des  Künstlers  und  ist  ein  treffendes  Zeugnis 
für  die  Weise,  wie  er  um  1625  das  Porträt  auffasste, 
ln  dieser  wie  in  jeder  anderen  Gattung  seiner  Kunst 
besserte  er  stets  seine  Technik.  In  seinen  ältesten 
bekannten  Bildnissen,  dem  Herzog  und  der  Herzogin 
von  Mantua,  in  den  Jahren  1604  — 1606  gemalt  und 
jetzt  im  Museum  von  Mantua,  liebt  er  das  Stattliche, 
Majestätische  und  verfällt  leicht  ins  Romantische. 
Nach  seiner  Rückkehr  nach  Antwerpen  wird  er  ruhiger, 
sittsamer,  wie  in  seinem  Bildnis  von  Nicolas  Rochox 
in  dem  Museum  von  Antwerpen,  gezeichnet  1613 
bis  1615,  stattlich  und  steif  in  der  Haltung,  flach 
und  poliert  in  der  Farbe.  Einige  Jahre  später,  1618 
bis  1620  ist  er  blühender  und  farbiger,  wie  wir  in 


P.  P.  Rubens.  Skizze.  Petersburg,  Ermitage 


48 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


den  Porträts  von  Jean  Charles  de  Cordes  und 
Jacqueline  van  Caestre,  iin  Museum  zu  Brüssel,  sehen, 
ebenso  in  dem  von  Theodoor  van  Thulden  zu 
München  und  in  dem  der  Snsanna  Fourment  in  der 
National  Gallery.  Wieder  vergehen  einige  Jahre  und 
er  gewinnt  an  Geschick  in  der  Wiedergabe  des 
Seelenlebens,  und  der  Natürlichkeit  und  Eleganz  in 
der  Gebärde,  an  Weichheit  und  Glanz,  wie  in  der 
Gruppe  seiner  zwei  Söhne  in  der  Liechtenstein- 
Galerie.  In  dieser  Richtung  geht  er  weiter,  stets 
leichter,  geschmeidiger  und  glänzender,  wie  in  der 


Reihe  seiner  herrlichen  Porträts  von  Helene  Fourment 
und  von  Jan  Braut  zu  München.  Die  Isabella  Braut 
malt  er  zur  selben  Zeit  wie  die  Gruppe  seiner  zwei 
Söhne,  während  des  Wendepunktes  von  der  zweiten 
zu  seiner  letzten  Manier.  Das  Bild  erreicht  den 
höchsten  Grad  von  Ehrlichkeit  in  der  Wiedergabe, 
in  der  Leichtigkeit  und  Lebendigkeit  der  Haltung 
ohne  Zugeständnisse  zu  machen  an  die  Sucht  durch 
Äusserliches  zu  glänzen  und  ohne  durch  die  Zauber¬ 
macht  des  Lichtes  und  der  Farbe  zu  verführen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XHI 


ORIOINALRADIERUNG  VON  HEINRICH  WOLFF-MÜNCHEN 


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ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIII  AM  KLAVIER.  SCHABKUNSTBLATT  VON  FIANS  NEUMANN,  MÜNCHEN 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 

Von  Hermann  Mutmesius  in  London 
(f'oii  Setzung) 


Abb.  1.  E.  A.  Abbey.  Die  Kreuzfahrer  beim  Anblick  Jerusalems 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  tl.  3 


Das  bedeutendste  Ereignis  in  der  Ge- 
scliiclite  der  neueren  englischen  Ma¬ 
lerei  und  eines  der  bedeutendsten  in 
der  modernen  Kunstentwickelung  überhaupt 
ist  das  Auftreten  der  englischen  Präraffael iten. 
Nicht  dass  sie,  wie  etwa  die  romantischen 
Landschafter  oder  die  französischen  Realisten, 
neue  Werte  rein  malerischer  Art  in  die  Kunst 
unserer  Zeit  eingeführt  hätten;  aber  die 
von  ihnen  verursachte  Bewegung  war  den¬ 
noch  eine  der  tiefsten  und  im  allgemein 
künstlerischen  Sinne  bedeutendsten,  die  sich 
je  abgespielt  haben.  Überblickt  man  die 
Entwickelungsreihe  der  Kunstproduktionen 
des  ig.  Jahrhunderts,  so  bleibt  das  Auge 
mit  gesteigertem  Anteil  auf  den  Bildern  der 
Präraffael  iten  haften.  Hier  spriessen  plötzlich 
Blumen  von  saftigster  Farbenpracht  und  be¬ 
rauschendem,  fast  exotischen  Dufte  empor. 
Aber  trotz  des  Seltsamen,  das  aus  der  Erschei¬ 
nung  spricht,  mutet  uns  ihr  Geist  merk¬ 
würdig  fesselnd  an,  wir  fühlen  es,  hier 
weht  uns  der  Hauch  eines  innersten  Geheim¬ 
nisses  unseres  modernen  Empfindens  ent¬ 
gegen,  hier  werden  Gefühlswerte  in  die  That 
umgesetzt,  die  sich  unbemerkt  in  unserer 
Brust  angesammelt  hatten  und  der  Auslösung 
harrten. 

Wie  kam  es,  dass  sie  in  England  zuerst 
ausgelöst  werden  sollten,  in  jenem  Lande  des 
kühlen  Geschäftsgeistes,  der  abgeklärten,  lei¬ 
denschaftslosen  Verstandesmenschen?  Und 
wie  konnte  der  Ausbruch  einer  romantischen 
Gefühls-  und  Empfindungskunst,  wie  sie  das 
Präraffael itentum  darstellt,  gerade  hier  Boden 
gewinnen,  wo  sich  die  ganze  Lebensauffas¬ 
sung  durch  das  rücksichtslose  Bekennen  zum 
rein  Zweckmässigen,  Ungekünstelten,  Nüch¬ 
ternen  ausgezeichnet,  in  einem  Lande,  das 
sich  gerade  damit  zur  Führerin  in  der  Ent¬ 
wickelung  einer  neuen  Art  von  Lebensformen 
gemacht  hatte?  Wie  verträgt  sich  eine  reine 
Stimmungskunst,  wie  die  präraffaelitische,  mit 
jener  Realistik,  deren  Vorwalten  sich,  wie 
früher  bemerkt,  in  den  Künsten  des  täglichen 
Lebens,  in  der  Kleidung,  im  Hausbau,  in 
Architektur  und  Kleinkunst  in  England  so 
klar  ausspricht? 

Wir  befinden  unshiersogleich  mitten  in  dem 
seltsamen  Widerstreit,  der  in  der  modernen 


7 


50 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Kunst  überhaupt  zwischen  Realistik  und  Stimmungs¬ 
bestrebungen  obwaltet.  Augenblicklich  lässt  sich 
dieser  Streit  wohl  am  auffallendsten  in  der  neuesten 
kontinentalen  Kleinkunst  beobachten,  wo  die  Wogen 
beider  Gebiete  hoch  gehen.  Man  behauptet  dort 
in  mathematischer  Schärfe  rationalistisch  zu  bilden, 
man  versteigt  sich  bis  zur  Forderung  der  'Ausschal¬ 
tung  der  Phantasie«  aus  der  Tektonik  und  steckt  im 
tiefsten  Banne  stimmungmachender  Phantastik.  Die 
Verquickung,  man  möchte  sagen  Vermählung  beider 
Elemente  ist  indessen  nicht  so  ungewöhnlich,  wie  sie 
im  ersten  Augenblicke  erscheint.  Ja  man  kann  sagen, 
sie  ist  stets  das  Charakteristische  der  nordischen 
(germanischen,  im  Gegensatz  zur  klassischen)  Kunst¬ 
übung  gewesen,  wo  diese  unbeeinflusst  auftrat. 
Das  Klassische  ist  der  Gegenpol  dazu,  hier  gilt  die 
reine,  sinnfällige  "Schöne  Form«.  Aber  der  nordische 
Geist  liebt  die  Verschmelzung  von  Wahrheit  und 
Dichtung,  von  Realistik  und  Phantastik,  wir  begegnen 
ihr  bei  den  Romantikern,  in  klar  ausgesprochener 
Weise  bei  den  altdeutschen  Meistern,  in  überzeugender 
Form  in  der  Gotik  selbst.  Dadurch,  dass  die  mo¬ 
derne  Kunst  beide  Elemente  in  so  seltsamer  Ver¬ 
mischung  zeigt,  bekundet  sie  eben  gerade  ihre  Her¬ 
kunft  am  deutlichsten,  sie  trägt  den  Stempel  des  nor¬ 
dischen  Ursprungs  klar  aufgeprägt. 

Wird  so  schon  der  Umstand,  dass  gerade  aus  dem 
Lande  der  ausgesprochensten  Zweckmässigkeit  die 
stärkste  Gefühlswelle  in  die  moderne  Kunst  gesandt  wer¬ 
den  konnte,  seiner  Seltsamkeit  entkleidet,  so  macht  ein 
Blick  auf  die  allgemeine  Geistesbewegung,  die  England 
im  ig.  Jahrhundert  eingeschlagen  hat,  den  Vorgang 
noch  besonders  erklärlich.  Diese  Bewegung  ist  eine 
sehr  merkwürdige  gewesen.  Man  braucht  heute  nur 
die  im  Lichte  rationalistischen  Denkens  mit  sieghafter 
Klarheit  vorgetragenen  Freiheitsbetrachtungen  Macau- 
lay’s  und  Buckle’s  zu  lesen,  wie  sie  in  England 
in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  das  Feld 
beherrschten,  und  damit  die  heutige  Geistesrichtung 
vergleichen,  um  sich  des  inzwischen  eingetretenen 
Wandels  bewusst  zu  werden!  Dort  wird  die  wissen¬ 
schaftliche  Erkenntnis,  die  Befreiung  von  jeder  Art 
religiösem,  als  Aberglauben  bezeichneten  Mysticismus 
als  die  Quelle  wirklichen  Kulturfortschrittes,  von 
Civilisation  und  Wohlstand  bezeichnet,  und  heute 
schwelgt  die  bessere  englische  Gesellschaft  förmlich 
in  Mysticismus  und  kirchlichem  Ritualwesen,  und  eine 
starke  kirchlich-reaktionäre  Partei  begrüsst  jeden  Ver¬ 
such  mit  Hohngelächter,  dem  Sturmschritte,  mit  dem 
sie  sich  dem  römisch-katholischen  Ziele  nähert,  Ein¬ 
halt  zu  thun.  Die  Frauen  der  heutigen  englischen 
Gesellschaft  belagern  die  Wahrsagerinnen,  die  in  den 
besten  Vierteln  Londons  flotte  Geschäftsbetriebe  unter¬ 
halten,  und  unter  der  Bezeichnung  Christian  Science 
ist  eine  förmliche  Wiederbelebung  des  Besprechungs«- 
oder  Sympathieheilschwindels  eingeführt  und  in  hohem 
Schwünge.  Vor  einigen  Jahren  unterhielt  die  »Times« 
ihre  Leser  den  ganzen  Sommer  hindurch  mit  einem  mit 
der  Miene  tiefsten  Ernstes  geführten  Briefwechsel  über 
Geisterspuk.  Auf  sozialem  Gebiete  haben  die  Ansichten 
Englands  ebenfalls  eine  volle  Umkehr  erfahren.  Buckle 


behandelt  in  einem  besonderen  Abschnitte  seines  Buches 
über  die  Civilisation  die  >Beschützungspolitik«  der 
kontinentalen  Staaten  und  weist  es  von  dem  damaligen 
englischen  Standpunkte  aus  mit  Verachtung  zurück, 
dass  einem  englischen  Bürger  Zwangsmassregeln  über 
die  Erziehung  seiner  Kinder  zugemutet,  der  englische 
Arbeiter  durch  Regierungsschutz  entmündigt  werden 
sollte.  Und  1870  führte  das  Parlament  den  Schul¬ 
zwang  nach  kontinentalem  Muster  ein,  fünfundzwanzig 
Jahre  später  kopierte  es  sogar  unsere  deutschen  Ar¬ 
beiterschutzgesetze!  Auf  wirtschaftlichem,  national¬ 
ökonomischem  Gebiete  dieselbe  Erscheinung,  fast 
überall  sehen  wir  im  Verlaufe  des  ig.  Jahrhunderts 
eine  völlige  Umkehr  von  den  früheren  Zielen  in 
England  eintreten. 

In  der  Kunst  äusserte  sich  seit  den  fünfziger 
Jahren  das  Überhandnehmen  von  Stimmungselementen 
in  derselben  auffallenden  Weise  wie  in  der  Religion 
und  zwar  in  der  Litteratur  nicht  minder  wie  in  der 
bildenden  Kunst.  Die  künstlerische  und  die  religiöse 
Bewegung  sind  in  dieser  Beziehung  als  Parallel- 
Strömungen  nach  demselben  Zielpunkt  hin  aufzu¬ 
fassen.  Die  Malerei  war  es,  die  durch  die  Persön¬ 
lichkeit  Rossetti’s,  der  ein  Dichter  mit  dem  Worte 
und  dem  Pinsel  zugleich  war,  der  Krystallisations- 
kern  für  eine  ganze,  zu  Zeiten  hochgehende  »ästhe¬ 
tische«  Bewegung  wurde,  die  die  weitesten  Kreise 
erfasste,  und  die  in  der  Folge  für  England  künstlerisch 
von  der  allerweitreichendsten  Bedeutung  werden  sollte. 
An  dem  Präraffaelismus  hat  sich  das  Kunstverständnis 
breiterer  Kreise  in  England  emporgerankt,  im  An¬ 
schluss  an  ihn  trat  das  merkwürdige  Ereignis  ein, 
dass  England  im  letzten  Viertel  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  fast  künstlerisch  führend  und  tonangebend 
wurde. 

Eigentlich  wollten  die  Präraffael iten  etwas  ganz 
anderes,  als  jene  Gefühlswellen  heraufbeschwören, 
in  denen  sich  ihr  Einfluss  am  kräftigsten  äusserte. 
Das  Ziel  der  Vereinigung  der  jungen  Männer,  die 
sich  damals  zu  der  »Präraffaelischen  Brüderschaft« 
verbanden,  war  der  Protest  gegen  jene  Verbindung 
von  Schematismus  und  Anmaassung,  die  der  Begriff 
»Akademie«  für  sie  ausmachte.  Ähnliches  haben  wir 
im  letzten  Jahrhundert  in  allen  Ländern  erlebt.  Die 
wirklich  massgebende  Kunst  des  ganzen  Jahrhunderts 
ist  eigentlich  ein  beständiger  Kampf  gegen  die  Akademien 
gewesen,  ein  Kampf  des  individuellen  Kunstempfindens 
gegen  den  staatlich  sanktionierten  Kunstkodex,  ein 
Kampf  der  echten,  d.  h.  persönlichen  Kunst  gegen 
die  durch  Kommissionsbeschluss  festgesetzte  und 
durch  äusseres  Ansehen  aufrecht  erhaltene  Kunst  der 
Akademien.  Hier  kam  als  Angriffsgegenstand  der  ganze 
verstaubte  Apparat  der  alten,  auf  Raffael  und  der  Antike 
fussenden  Ästhetik  in  Betracht,  die  durch  die  Aka¬ 
demie  künstlich  aufrecht  erhalten  wurde.  Gegen  alles 
das  verschworen  sich  die  drei  erst  am  Eingang  in  die 
Zwanziger  stehenden  jungen  Leute  Rossetti,  Holman 
Hunt  und  Millais.  Ihr  Anreger  war  der  seine  eigenen 
Wege  gehende  grosse  Einsame  Ford  Maddox  Brown 
gewesen,  eine  jener  Naturen,  die  von  ihrer  Zeit  uner¬ 
kannt,  ja  verlacht,  dennoch  die  ihnen  vom  Geschick 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


51 


zugeteilte  Aufgabe  standhaft  erfüllten,  der  Welt  neue 
Wege  zu  zeigen,  unbekümmert  darum,  dass  erst  die 
Nachwelt  sie  in  breiterem  Strome  wandeln  würde. 
Ford  Maddox  Brown  wird  einst  als  einer  der  Heroen 
der  Malerei  des  ig.  Jahrhunderts  dastehen. 

Die  Präraffael iten  betonten  in  ihrem  Programm 
»Rückkehr  zur  Natur«  —  den  in  den  kunstgeschicht¬ 
lichen  Entwickelungen  so  oft  ausgeworfenen  Rettungs¬ 
anker.  Ein  Vorbild  für  die  liebevolle  Anlehnung  an 
die  Natur  sahen  sie  in  den  frühen  Italienern,  von 
deren  Werken  ihnen  einige  schlechte  Kupferstiche 
Auskunft  gaben.  Daher  der  Name,  den  sie  sich  zu¬ 
legten.  Er  ist  so  beziehungslos  zu  dem,  was  er 
heute  bezeichnet,  wie  der  Name  Gotik  zur  mittel¬ 
alterlichen  Baukunst,  der  Name  Queen-Anne-Richtung 
zu  der  weiter  vorn  geschilderten  Architekturbewegung 
ist.  Er  ist  vor  allem  nicht  für  das  naturalistische 
Element  in  der  Bewegung  gültig  geblieben,  sonst 
hätte  weder  Rossetti,  noch  später  Burne-jones  zu  den 
Präraffael  iten  gerechnet  werden  dürfen,  die  die  heutige 
Volksmeinung  doch  als  ihre  Führer  erkennt.  Einige 
englische  Knnstschriftsteller  machen  freilich  noch  einen 
Unterschied  zwischen  den  eigentlichen,  d.  h.  den 
naturalistischen  Präraffael  iten  und  der  Rossetti-Gruppe. 
Aber  dies  ist  der  allgemeinen  Meinung  gegenüber 
bedeutungslos.  Nach  dem  heutigen  Sprachgebrauche 
verbindet  man  mit  den  Präraffaelitentum  die  Vorstellung 
der  eigentümlichen  dekorativen  Linie  und  der  Ge¬ 
fühlswerte,  die  Rossetti  in  seine  Gemälde  legte  und 
in  denen  ihm  eine  ganze  Schule  anderer  Künstler 
folgte.  Wen  man  zu  dieser  Schule  im  einzelnen 
rechnen  soll  und  wen  nicht,  darüber  sind  die 
Meinungen  verschieden,  darüber  kann  auch  nur  die 
persönliche  Auffassung  und  diese  selbst  mit  Ansehung 
desjenigen  Umstandes  entscheiden,  ob  die  betreffenden 
Künstler  selbst  zu  der  Schule  gehören  wollen  oder 
nicht.  So  wird  man  den  grossen  Künstler  Watts 
zur  Präraffaelitengruppe  rechnen,  obgleich  er  sich 
dagegen  verwahrt,  zu  ihr  zu  gehören. 

Die  naturalistischen  Absichten  der  Präraffael  iten 
sind  in  einer  eigentümlichen  Befangenheit  stecken  ge¬ 
blieben.  Entgegen  dem  kraftvollen  Ernst  der  kon¬ 
tinentalen  Realisten,  welche  der  Natur  mit  gross¬ 
zügigem  Empfinden  auf  den  Leib  rückten,  hielten  sich 
die  englischen  an  das  kleine  Detail,  das  sie  in  einer 
mikroskopisch  genauen  Art  nachbildeten.  Wohl  haben 
Holman  Hunt,  der  diese  Richtung  am  schärfsten  ver¬ 
tritt,  Ford  Maddox  Brown  und  einige  andere,  wie 
Arthur  Hughes,  W.  L.  Windus,  Ch.  A.  Collins, 
John  Brett,  den  eigenartigen  Wirkungen  des  freien 
Lichts  auf  den  Grund  zu  kommen  versucht,  Holman 
Hunt  unternahm  sogar  eine  eigene  Reise  nach  Palästina, 
um  für  seine  biblischen  Bilder  die  richtige  örtliche 
Beleuchtung  zu  studieren,  allein  sie  vermögen  da¬ 
durch,  dass  sie  ein  haarscharfes  Detail  alles  beherrschen 
lassen,  nicht  überzeugend  zu  wirken.  Und  so  sind 
sie  zu  dem,  was  sie  eigentlich  erstrebten,  dem  tieferen 
Eindringen  in  die  Natur,  nicht  gelangt.  Dieses  Ein¬ 
dringen  in  die  Natur,  das  malerische  Erfassen  der¬ 
selben  hat  sich  im  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts 
immer  schärfer  als  das  Problem  der  Beleuchtung,  der 


atmosphärischen  Stimmung,  der  Nüancen,  die  Luft 
und  Licht  in  der  Erscheinung  des  Gegenstandes  aus¬ 
machen,  zu  erkennen  gegeben.  Die  Lösung  dieser 
Probleme  blieb  dem  Impressionismus  Vorbehalten  und 
das  Präraffaelitentum  hat  hierzu  nichts  beigesteuert. 
Der  eigentliche  Wert  der  Bilder  auch  dieser  natura¬ 
listischen  Gruppe  der  Präraffael  iten  liegt  auf  einem 
ganz  andern  Gebiete:  dem  der  innigen  Versenkung 
in  ihren  Gegenstand,  gegenüber  der  damals  herrschen¬ 
den  Äusserlichkeit  und  Oberflächlichkeit,  in  der  warmen 
Aufrichtigkeit,  mit  dem  sie  sich  ihm  näherten,  der 
Liebe,  mit  der  sie  der  Natur  beizukommen  suchten. 
Mit  dem  jetzt  74jährigen  Holman  Hunt  wird  sich 
dieser  Detail -Naturalismus  wohl,  ohne  wesentliche 
Spuren  zu  hinterlassen,  aus  der  Malerei  der  Gegen¬ 
wart  entfernen. 

Ganz  anders  steht  es  mit  der  Richtung,  die  die 
Rossettigruppe  vertrat.  Sie  ist  die  eigentliche  lebendige 
geblieben,  und  von  ihr  strahlten  die  grossen  Werke 
aus,  die  einer  neuen  Kunstrichtung  das  Gepräge  auf- 
drückten.  Zwar  hat  auch  sie  zunächst  manche 
Schwankungen  durchgemacht.  Die  saftige  sinnliche 
Glut  Rossetti ’s  hatte  sich  schon  bei  dem  Künstler, 
den  man  wohl  als  den  Erben  des  Meisters  betrachten 
kann,  Burne-jones,  in  eine  zwar  noch  farbentiefe,  aber 
in  Bezug  auf  Empfindung  stark  asketische  Richtung 
umgewandelt.  Aus  dem  Liebesdurst,  von  dem  uns 
die  Rossetti’schen  Lippen  und  der  verlangende  Blick 
seiner  Frauen  erzählen,  war  eine  himmlische  Sehn¬ 
sucht  geworden,  die  sich  in  den  mageren  Gesichtern 
und  den  schweigsam  blickenden,  tiefliegenden  Augen 
seiner  Ritter  und  Frauen  ausspricht.  Aber  trotz  allem 
tritt  uns  doch  eine  starke  Macht  aus  den  Werken 
dieses  Meisters  entgegen.  Machtvoll  war  vor  allem 
auch  sein  Einfluss  auf  das  Volk,  er  ist  in  England 
populärer  als  irgend  ein  anderer  Maler  geworden. 
Reproduktionen  nach  seinen  Werken  sind  heute  in 
jedem  Hause,  selbst  in  der  Hütte  des  Arbeiters,  zu 
finden,  während  der  reiche  Sammler  seine  Gemälde 
oder  Zeichnungen  zu  den  Glanzstücken  seines  Be¬ 
standes  rechnet.  In  dieser  Beziehung  bedeutet  sein 
Tod  einen  Abschnitt  in  der  englischen  Kunst,  denn 
es  ist  kein  Ersatz  für  ihn  vorhanden.  Stimmung  und 
vor  allem  auch  ein  grossartiger  Farbensinn,  nicht  zu¬ 
letzt  aber  die  grosse  dekorative  Linie  in  seinen  Bildern 
machen  ihn  zu  einem  grossen  Meister  aller  Zeiten. 

Aber  ein  gewisser,  dem  Leben  abgewandter 
kranker  Zug  ist  an  ihnen  nicht  minder  zu  beobachten. 
Er  tritt  bei  den  Schülern  und  Nachahmern  Burne- 
jones’  noch  mehr  hervor  wie  bei  dem  Meister,  weil 
er  dort  nicht  die  starken  Gegenwerte  zur  Seite  hat. 
Evelyn  de  Morgan,  J.  M.  Strudwick,  Marie  S.  Still- 
man  sind  dahin  zu  rechnen,  auch  Spencer  Stan- 
hope,  der  sich  vorwiegend  in  kirchlicher  Wand¬ 
malerei  bethätigt,  geht  in  den  Geleisen  der  Burne- 
Jones’schen  Kunst  weiter.  Soweit  der  kränkliche, 
dumpf-mystische  Zug  dieser  Richtung  in  Betracht 
gezogen  wird,  ist  auch  sie  heute  in  England  sicher¬ 
lich  dem  Erlöschen  nahe.  Die  Schwächlichkeit  und 
Gebrechlichkeit,  das  Charakteristische  dieses  Gefolges 
Burne-jones’  kann  dem  frischen  Hauch  der  Gegen- 


7 


52 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


wart  auf  die  Dauer  nicht  melir  Stand  halten.  Da¬ 
gegen  leben  die  Werte,  die  Burne-Jones  mit  Rossetti 
gemein  hatte:  die  dekorative  Linie,  die  Glut  der 
Farbe,  die  Romantik  der  Gedankenwelt  in  einer 
jüngeren  Malerscluile  weiter,  mit  der  wir  uns 
noch  zu  beschäftigen  haben  werden.  Ihie  An¬ 
hänger  sind  vielfach  als  Neu-Präraffaeliten  bezeichnet 
worden.  Sie  haben  die  Rossetti-Tradition  über  die 
Burne-Jones’sche  mimosenhafte  Empfindsamkeit  und 
den  Holman  Hunt’schen  Detail-Naturalismus  hinweg 
von  neuem  aufgenommen  und  führen  sie  als  kräftige 
Phantasiekunst  auf  romantisch-dekorativer  Grundlage 
weiter. 

Indessen  bildet  diese  Gruppe  doch  nur  einen  ganz 
kleinen  Prozentsatz  des  Künstlertums,  das  heute  in 
England  malerisch  jiroduziert.  Sieht  man  sich  den 
grossen  Rest  näher  an,  so  nimmt  natürlich  auch  heute 
noch  wie  früher  die  offizielle  Akademiekunst  den 
allergrössten  Raum  ein.  Wenn  nun  auch  der  eng¬ 
lische  Präraffael ismus  das  erste  Beispiel  dafür  bildet, 
dass  es  einer  ausserhalb  der  Akademie  entsprungenen 
Kunst  gelang,  sich  selbständig  zu  erheben  und 
breitere  Kreise  für  sich  zu  gewinnen,  so  bleibt 
docli  die  Akademiekunst  die  grosse  Versorgerin  der 
Massen  und  steht  mit  ihren  Produktionen  in  inniger 
Wechselbeziehung  zum  Geschmack  der  letzteren.  Und 
zu  diesen  Massen  gehören  in  England  gerade  so  wie 
in  anderen  Ländern  keineswegs  nur  die  mittleren  und 
unteren  Volksschichten.  Im  Gegenteil,  gerade  an  die 
Mittelklasse  hat  sich  hier  der  Präraffaelismus  mit  dem 
grössten  Erfolge  gewendet  und  ist  von  ihr  am  besten 
verstanden.  Spricht  man  in  England  von  einer  »na¬ 
tionalen  Kunst,  so  ist  es  die  präraffaelitische,  nicht 
die  mit  gewaltigen  Massen  operierende  Akademie¬ 
kunst.  Denn  um  die  erstere  scharen  sich  alle  künstlerisch 
Bekehrten,  die  wahren  und  überzeugten  Bekenner  der 
neuen  künstlerischen  Religion,  deren  machtvoller  Pro¬ 
phet  in  England  Ruskin  war,  zur  letzteren  gehören  die 
Haufen  von  künstlerisch  Wilden  ,  jene  naiven  Leute, 
die  in  einem  Bilde  gerade  so  wie  in  einem  Theater¬ 
stück  oder  Roman  nichts  anderes  als  die  Anekdote 
sehen  und  das  Gebotene  um  so  mehr  bewundern,  je 
sensationeller  diese  ist. 

Dieses  Publikum  tritt  in  England  auffallender  an 
die  Oberfläche  als  in  andern  Ländern.  Unter  dem 
halben  Hundert  von  Londoner  Theatern  ist  für  den, 
der  einen  ernsten  dramatischen  Genuss  sucht,  zu¬ 
weilen  kaum  eins  zu  finden,  das  ihn  gewährt  oder 
auch  nur  zu  gewähren  willens  wäre.  Seichte  Farcen, 
Schauerstücke,  Ausstattungskram,  Tingeltangel;  nur 
hin  und  wieder  hat  man  Gelegenheit,  ein  annehm¬ 
bares  modernes  Lustspiel  zu  sehen,  dann  und  wann 
auch  ein  Stück  von  Shakespeare,  das  dann  aber  durch 
die  Betonung  von  Äusserlichkeiten  stark  an  das  Aus¬ 
stattungsstück  streift.  Zu  einer  Oper  hat  man  es  im 
ganzen  Lande  England  überhaupt  noch  nicht  ge¬ 
bracht.  Das  Publikum,  das  man  im  Theater  trifft, 
steht  auf  dem  Standpunkte,  dass  es  den  Bösewicht¬ 
darsteller  auspfeift  und  den  Tugendhelden  beklatscht, 
ln  Gesellschaften  wird  mit  grosser  Vorliebe  musiziert, 
aber  das  Niveau  der  Musik  ist  niederdrückend.  Es 


blüht  besonders  eine  Sorte  englischer  Gesangslitteratur 
(man  nennt  sie  Drawing  room  songs«),  die  unerhört 
trivial  und  eigentlich  musikalisch  unmöglich  ist,  aber 
trotzdem  viel  geliebt  und  viel  geübt  wird.  Gerade 
angesichts  solcher  Erfahrungen  kommt  man  immer 
wieder  dahin,  an  der  innigeren  Berührung  des  eng¬ 
lischen  Volkes  mit  dem  Hauche  der  Kunst  zu  zweifeln. 

Dasselbe  Publikum  in  seinem  Verhältnis  zur  bil¬ 
denden  Kunst  betrachtet,  bildet  das  Publikum  der 
englischen  Akademie.  Zu  der  offiziellen  Kunst  kann 
man  wohl  ausser  den  Vorführungen  der  Royal  Aca¬ 
demy  auch  noch  diejenigen  der  andern  beiden  mit 
dem  Titel  Royal  beehrten  Gesellschaften  rechnen, 
nämlich  der  Royal  Society  und  des  Royal  Institute  of 
Painters  in  Watercolours,  obgleich  deren  Beisteuer  im 
Vergleich  zu  der  der  Akademie  an  Umfang  gering 
ist.  Die  Ausstellungen  der  drei  Gesellschaften  und 
die  einiger  anderen  finden  während  der  Season  in 
London  statt  und  besonders  die  Royal  Academy  ist 
in  der  Regel  vom  Publikum  derart  belagert,  dass  man 
nur  früh  am  Morgen  Aussicht  hat,  sich  der  Betrach¬ 
tung  der  Bilder  widmen  zu  können,  ln  den  übrigen 
Stunden  drängt  sich  ein  dichter  Strom  von  Besuchern, 
besonders  die  vornehmste  Damenwelt,  in  den  Gängen 
und  Sälen,  die  Lieblingsbilder  sind  förmlich  um¬ 
lagert  und  es  ist  häufig  dagewesen,  dass  vor  gewissen 
Bildern  Schutzleute  aufgestellt  werden  mussten,  um 
Verkehrsstörungen  zu  verhindern.  Das  Akademie¬ 
publikum  hat  seine  festen  Lieblinge  unter  den  regel¬ 
mässigen  Ausstellern,  die  es  mit  grosser  Beharrlich¬ 
keit  von  Jahr  zu  Jahr  wieder  bewundert,  mögen  die 
Leistungen  auch  noch  so  mangelhaft  sein.  Hat 
ein  Künstler  überhaupt  durch  die  Aufnahme  in  die 
Akademie  die  offizielle  Prägung  des  »Academician« 
erhalten,  so  kann  er  fast  schalten  und  walten  wie  er 
will;  nicht  nur  bescheint  seinen  ganzen  übrigen  Lebens¬ 
weg  die  Sonne  der  Gunst  des  Publikums,  sondern 
es  fliessen  ihm  auch  die  goldenen  Sovereigns  un¬ 
unterbrochen  zu.  Der  Bedarf  an  Bildern  ist  eben  in 
England,  worunter  hier  nicht  nur  das  Mutterland, 
sondern  das  weite  britische  Weltreich  zu  verstehen 
ist,  ein  gewaltiger.  Um  ihn  richtig  abzuschätzen, 
muss  man  überdies  wissen,  dass  im  englischen  Hause 
als  einzig  zulässiger  Wandschmuck  das  Original¬ 
gemälde  gilt.  Dies  bezieht  sich  selbst  auf  das  klein¬ 
bürgerliche  Haus.  Es  gehört  zu  den  Überraschungen, 
die  der  Fremde  in  England  erlebt,  dass  hier  selbst 
»kleine  Leute<  nur  echte  Bilder  in  ihrem  Besuchs¬ 
und  Speisezimmer  aufgehängt  haben ;  Stiche,  Photo¬ 
graphien,  Radierungen  gehören  höchstens  auf  Vor¬ 
raum  und  Treppenhaus.  Aus  dem  Massenbedarf  an 
Bildern,  der  sich  daraus  ergiebt,  erklärt  sich  nicht  nur 
die  grosse  Kunstproduktion,  sondern  auch  die  breite 
Schicht  mittelmässiger  Künstler,  vor  allem  aber  auch 
die  privilegierte  Stellung  der  Akademie  -  Mitglieder. 
Denn  wer  es  bezahlen  kann,  und  das  sind  in  Eng¬ 
land  viele,  der  will  natürlich  etwas  Gutes  haben,  und 
dieses  glaubt  er  mangels  eigenen  Urteils  in  erster 
Linie  von  den  geprägten  Vertretern  der  Kunst,  den 
Akademiemitgliedern,  erwarten  zu  können.  Ein  ein¬ 
mal  etablierter  Ruf  wird  in  England  durch  dick  und 


Mit  Erlaubnis  des  Herrn  A.  Werlheimer,  London. 


).  S.  SAKOENT,  l,()NI)ON 
DOPI’ELBILDNIS 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Mit  Erlaubnis  des  Künstlers 

Abb.  3.  J.  W.  Waterhoiise,  London.  Die  heilige  Cäcilie 


dünn  liochgehalten,  und  eine  erlangte  soziale  Stellung 
vollends  deckt  jede  spätere  Unzulänglichkeit  zu. 

Aus  diesen  Zuständen  heraus  wird  es  erklärlich, 
warum  die  Ausstellungen  der  Londoner  Akademie  es 
zu  dem  Rufe  gebracht  haben,  die  schlechtesten  der 
Welt  zu  sein.  Die  Akademiemitglieder  brauchen 
sich  zur  Aufrechterhaltung  ihres  Rufes  und  ihrer  Ein¬ 
nahmen  nicht  weiter  anzustrengen.  Was  liegt  näher, 
als  dass  viele  derselben  verflachen?  Hat  man  nicht 
ähnliches  selbst  an  dem  grössten  der  bisherigen  Aka¬ 
demiemitglieder  und,  vom  Standpunkte  des  rein  ma¬ 
lerischen  Könnens  aus  betrachtet,  dem  grössten  male¬ 
rischen  Genie,  das  England  im  ig.  Jahrhundert 
hervorgebracht  hat,  an  Millais  bemerkt?  Man 
betrachte  seine  bewundernswürdigen  Jugendwerke,  die 
er  malte,  als  er  noch  zu  den  Präraffael iten  gehörte. 
Gleich  sein  erstes  Ausstellungsbild,  Lorenzo  und  lsa¬ 
bel  la,  birgt  eine  Hoffnung  auf  die  Zukunft  in  sich, 
wie  sie  selten  in  der  Kunstgeschichte  bei  einem  Maier 
berechtigt  gewesen  ist.  Und  dann  durchmustere  man 
die  vielen  in  der  Tate  Gallery  in  London  aufgehäng¬ 
ten  Werke  aus  seiner  Glanzzeit,  als  er  der  erste  Stern 
der  Akademie  war.  Sie  lassen  bei  grossem  male¬ 
rischen  Können  gleichgültig.  Die  Höhe  seines  Lebens¬ 
werkes  bezeichnet  der  seifenblasende  Junge,  den  er 
für  44  000  Mark  an  die  Pears-Soap-Eirma  verkaufte 
und  der  als  sehr  mittelmässiges  Plakat  heute  alle  eng¬ 
lischen  Bretterzäune  bedeckt.  Schlimmer  noch  als  bei 
diesen  Grossen  äussert  sich  das  in  der  Akademie 
herrschende  einlullende  Wohlbefinden  natürlich  bei 
den  Kleinen.  Durchschreitet  man  die  Säle  der  Aka¬ 
demie,  so  ist  man  über  die  Plattheit  derjenigen  Bil¬ 


der,  die  vielfach  gerade  die  besten  Plätze  der  Wände 
bedecken,  erstaunt.  Wie  kommen  derartige  Bilder  an 
diese  Stellen?  Die  Antwort  giebt  der  Katalog,  hinter 
den  Namen  der  Urheber  stehen  die  bedeutungsvollen 
Buchstaben  R.  A.  »Royal  Academician  .  Es  handelt 
sich  um  ein  offizielles  Anrecht,  das  hier  behauptet 
wird.  Gerade  dass  sich  diese  Leistungen  genau  in 
Gesichtshöhe  breit  machen,  drückt  das  Niveau  der 
Akademie-Vorführungen  so  unglaublich  herab.  Würde 
jemand  dem  Rate  folgen,  bei  seinem  ersten  Besuche 
der  Akademie  nur  die  oberste,  unmittelbar  unter  der 
Decke  hängende  Bilderreihe  anzusehen,  so  würde  er 
einen  weit  besseren  Eindruck  bekommen:  dort  hängen 
die  Bilder  der  jungen  Talente,  unter  denen  mancher 
strebsame  Künstler  Tüchtiges  und  Eigenartiges  vor¬ 
führt. 

Es  braucht  indessen  kaum  hervorgehoben  zu 
werden,  dass  eine  Akademie  nicht  lediglich  aus  mittel- 
mässigen  Künstlern  bestehen  kann.  Und  in  der  That 
haben  auch  der  englischen  Akademie  nicht  nur  früher  die 
hervorragendsten  Künstler  angehört,  sondern  gehören 
ihr  im  grossen  und  ganzen  auch  heute  noch  an.  ln  der 
letzten  Vergangenheit  deckte  Millais  mit  seinem  breiten 
Rücken  durch  Jahrzehnte  jeden  Schaden  im  Rufe  der 
Akademie  zu  und  Lord  Leighton  stand  ihr  als  ebenso 
hoch  gebildete  wie  vornehme  Persönlichkeit  mit  aus¬ 
gesprochenem  Anstande  beinahe  zwanzig  Jahre  lang 
vor.  Unter  den  heutigen  Mitgliedern  zeichnen  sich 
W.  Q.  Orchardson,  J.  W.  Waterhoiise,  Erank  Dicksee 
und  der  Präsident  Sir  Edward  J.  Poynter  als  bedeu¬ 
tende  Künstler  rein  englischer  Nationalität  aus.  Die 
beiden  Hauptzierden  der  Akademie,  Herkomer  und 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


55 


Sargent,  und  weiter  die  tüchtigen  Kräfte  Alma- 
Tadema  und  E.  A.  Abbey  müssen  als  in  England  le¬ 
bende  Ausländer  aufgefasst  werden.  Aus  der  Reihe 
der  »Associates«  (mit  welchem  Ausdrucke  eine  Vor¬ 
stufe  zur  Vollmitgliedschaft  bezeichnet  wird)  ragen  die 
Ereilichtgenre-Maler  Ei.  H.  La  Thangue,  G.  Clausen 
und  Stanhope  A.  Forbes,  sowie  die  Seemaler  V.  L. 
Wyllie,  Chas.  N.  Hemy  und  der  impressionistische 
Tiermaler  John  M.  Swan  hervor  und  eine  Reihe  von 
anderen  jüngeren  verspricht  guten  Nachwuchs  zu 
liefern.  Gerade  an  den  letztgenannten  Künstlern  lässt 
sich  aber  auch  verfolgen,  wie  die  Akademie  jetzt  mit 
einiger  Nervosität  tüchtige  jüngere  Kräfte  heranzu¬ 
holen  bestrebt  ist,  auch  wenn  diese  eine  Eigenart 
zeigen,  vor  der  man  sich  früher  dreimal  bekreuzt 
hätte.  Man  hat  sich  veranlasst  gesehen,  seine  Politik 
zu  ändern,  so  dass  das  früher  sehr  einheitliche  Aka¬ 
demiebild  augenblicklich  durch  Künstlerpersönlich¬ 
keiten,  die  eigentlich  nicht  dahin  gehören,  etwas  ge¬ 
stört  ist. 

Drei  Gebiete  sind  es,  die  die  Akademiekunst  seit 
alters  her  mit  Vorliebe  gepflegt  hat  und  heute  noch 
pflegt:  das  Genre,  die  Landschaft  und  das  Porträt. 
Das  breiteste  Feld  behauptete  stets  das  Genre  (in  den 
letzten  Jahrzehnten  mit  dem  Nebenzweige  des  altklas¬ 
sischen  Genres,  heute  am  deutlichsten  durch  Alma- 
Tadema  und  Poynter  vertreten).  England  ist  das 
eigentliche  Land  der  neueren  Genremalerei,  die  hier 
diejenige  Vervollkommnung  bis  in  alle  Einzelheiten 
gefunden  hat,  die  nur  durch  die  Ausübung  im  grossen 
Maassstabe  und  aus  einer  langen  Tradition  heraus  zu 
erklären  ist.  Der  Anfang  der  englischen  Malerei  zeigt 
gleich  einen  Genremaler  ausgeprägtester  englischer 
Art:  Elogarth.  Die  aufdringlich  ausgearbeitete  Anek¬ 
dote  mit  der  dick  unterstrichenen  Moral  hat  sich  von 
Hogarth  über  Mulready  und  Leslie  hinweg  bis  auf 
die  neuesten  englischen  Vertreter  des  Genres  ver¬ 


pflanzt,  in  deren  jedem  auch  unter  der  heutigen 
feineren  Decke  noch  ein  Stück  moralisierender  Ho¬ 
garth  zu  bemerken  ist.  Der  Schotte  David  Wilkie 
führte  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  zuerst  eine 
intimer  durchgebildete  Art  Genre  in  England  ein 
und  begründete  recht  eigentlich  die  grosse  eng¬ 
lische  Genre  -  Schule  des  1 9.  Jahrhunderts,  die  sich 
durch  spannende  Schilderung,  liebevolle  Detail¬ 
durchbildung  und  eine  minutiös-feine  Ausführung 
auszeichnet.  Ch.  R.  Leslie  war  der  ausgeprägteste 
und  fruchtreichste  Vertreter  desselben  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts.  Um  dieselbe  Zeit  gründete  der 
Schotte  Robert  Scott  Lander  eine  neue,  mit  erweiter¬ 
ten  malerischen  Mitteln  arbeitende  schottische  Schule 
in  Edinburg,  aus  der  neben  W.  F.  Douglas  der  treff¬ 
liche  1893  gestorbene  John  Pettie  und  der  jetzt  im 
Zenith  seines  Wirkens  stehende  William  Quiller  Or- 
chardson,  beide  in  London  thätig,  hervorgegangen 
sind.  Der  letztere  Künstler  vertritt  ohne  Zweifel  die 
eigentliche  Genremalerei  heute  am  besten,  er  erhebt 
sich  zu  einer  Höhe  des  sprechenden  Ausdrucks,  die 
keiner  seiner  Vorgänger  und  Mitlebenden  erreicht 
hat  und  die  ihn  zu  einem  grossen  Künstler  stem¬ 
pelt.  Unter  seinen  Kollegen  englischer  Nationalität 
herrscht  zumeist  noch  die  glatte,  hübsche  Aus¬ 
führung  von  früher,  mit  der  meist  lieblichen  und 
tröstlichen  Moral;  es  wird  nichts  das  Auge  Verletzen¬ 
des  und  das  Wohlbehagen  Störendes,  wie  Armut  und 
Elend  zugelassen,  auch  das,  womit  sich  der  Engländer 
als  Tagesarbeit  beschäftigt,  Handel  und  Industrie, 
Fabrikbetrieb  nnd  Verkehr  bleibt  ausgeschlossen.  Von 
solchen  Dingen  ist  bisher  keine  Spur  jemals  in  einen 
der  Goldrahmen  gedrungen,  welche  an  den  Wänden 
der  Akademie  glänzen.  Das  Akademiepublikum  will 
nur  die  gefällige  Seite  des  Lebens  sehen  und  nimmt 
selbst  mit  nicht  sehr  lebenswahren  Aufmachungen 
vorlieb,  wenn  sie  nur  angenehm  und  lieblich  sind. 


Mit  Erlaubnis  des  Künstlers 

Abb.  4.  J.  W.  Waterhouse,  London.  Ulysses  und  die  Sirenen 


Die  Musik.  Farbiges  Tonrcliej 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


57 


Vor  einem  Werke  wie  Millet’s  Ährenleserinnen  oder 
Menzel’s  Walzwerk  würde  dieses  Publikum  ratlos 
stehen. 

Die  alte  Schule  der  Genremalerei  vertreten  von 
den  jetzigen  Akademiemitgliedern  die  hauptsäch¬ 
lich  im  Kostümgenre  arbeitenden  Marcus  Stone  und 
Seymor  Lucas,  der  in  venezianische  Typen  verliebte 
Luke  Fildes,  der  jetzt  beinahe  achtzigjährige,  viel 
orientalische  Sujets  verarbeitende  Frederic  Goodall,  der 
durch  tüchtige  sorgfältigste  Ausführung  bekannte,  dem 
Militärbild  eine  gewisse  Vorliebe  entgegenbringende 
Andrew  C.  Gow,  und  die  das  gewöhnliche  histo¬ 
rische  Genre  pflegenden  Ernest  Crofts  und  W.  F. 
Yeames.  Von  der  eben  dahingegangenen  Generation, 
die  noch  lebhaft  in  der  Erinnerung  der  Lebenden 
ist,  müssen  der  früh  verstorbene  Frank  Holl,  der 
das  sensationelle  Tagesgenre  vertrat,  der  sehr  beliebte 
Ph.  H.  Calderon  und  der  zu  enormer  Popularität  ge¬ 
langte  Edwin  Long,  der  Vertreter  gewisser  trivial¬ 
sensationeller,  figurenreicher  Darstellungen  aus  dem 
Orient,  Erwähnung  finden.  Alma-Tadema,  der  das 
in  archäologisch  erstaunlich  treuer  Art  gemalte  Genre 
aus  dem  Altertum  vertritt,  vermittelt  nach  der  klassi¬ 
schen  Gruppe  Leighton-Poynter  hin,  die  in  Poynter 
jetzt  ihren  letzten  Vertreter  hat. 

Diese  alte,  ganz  wesentlich  im  Atelier  arbeitende 
Genre -Schule  ist  nun  neuerdings  durch  eine  neuere 
Schule  durchbrochen  worden,  in  der  sich  vor  allem 
das  Verlangen  ausprägte,  aus  dem  Atelier  heraus  in 
die  Natur  zu  kommen  und  das  verkleidete  Modell  zu 
gunsten  des  im  Leben  studierten  Originals  aufzugeben. 
Als  Begründer  dieser  Schule  muss  wohl  Stanhope  A. 
Forbes  betrachtet  werden,  von  dem  man  sagen  kann, 
dass  er  sie  durch  sein  im  Jahie  1885  in  der  Akademie 
ausgestelltes  Bdd  »Fischmarkt  an  der  Küste  von 
Cornwall«  ins  Leben  rief,  obgleich  der  Aquarell¬ 
maler  Walter  Langley  schon  früher  ähnliche  Wege 
beschriften  hatte.  Das  Bild  stellt  eine  im  Freien 
beobachtete  und  gemalte  Scene  am  Strande  vor,  ein 
Stück  aus  dem  wirklichen  Leben,  voller  Wahrheit  und 
Überzeugungsfähigkeit  mit  gleich  sorgfältiger  Beobach¬ 
tung  der  Landschaft  wie  der  Figuren.  Einige  Jahre 
später  liess  er  das  treffliche,  jetzt  in  der  Tate  Gallery 
hängende  Bild  »Der  Toast  auf  die  Braut«  folgen, 
ebenso  naturwahr  in  der  Beobachtung  wie  der  Fisch¬ 
markt,  eine  Glanzleistung  der  englischen  Kunst.  Das 
neue,  das  diese  Bilder  für  England  brachten,  war 
das  naturalistische  Element.  Es  kam  von  Frank¬ 
reich  her  nach  England,  denn  die  jüngeren  Leute 
hatten  jetzt  angefangen  ihre  Studien  in  Paris  zu 
machen,  Forbes  selber  hatte  bei  Bonnat  studiert. 
Um  sich  mit  der  Natur  in  innigster  Berührung  zu 
halten,  liess  sich  Forbes  in  dem  Fischerdorfe  New- 
lyn  bei  Pensance  in  Cornwall  nieder  und  ist  jetzt 
daselbst  der  Mittelpunkt  einer  zahlreichen  Anhänger¬ 
schaft.  Die  Newlyn-Schule  spielt  so  in  der  heutigen 
englischen  Malerei  etwa  dieselbe  Rolle,  wie  die  Dachauer 
oder  Worpsweder  in  Deutschland.  Zu  ihren  hervor¬ 
ragenderen  Mitgliedern  im  Genre  sind  noch  Cheva¬ 
lier  Tayler  und  Frank  Bramley  zu  rechnen,  obgleich 
diese  Künstler  jetzt  Newlyn  wieder  den  Rücken  ge- 

Zeitschritt  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  3. 


kehrt  haben,  Fred  Hall,  Percy  Craft  sind  Newlyn  treu 
geblieben.  Einer  intimen  Naturbeobachtung  hat  sich, 
unabhängig  von  Newlyn,  auch  der  bedeutende  Genre¬ 
maler  H.  H.  La  Thangue  hingegeben,  er  sowohl  wie 
die  in  seinen  Fusstapfen  gehenden  G.  Clausen  und 
James  Charles  wohnen  und  arbeiten  auf  dem  Lande 
und  in  ihren  Darstellungen  steht  ihnen  die  Lebens¬ 
beobachtung  höher  als  die  Anekdote,  sie  malen  grund¬ 
sätzlich  jedes  Bild  vor  der  Natur  fertig.  Die  hervor¬ 
ragendsten  der  hier  zuletzt  genannten,  das  Freilicht¬ 
genre  vertretenden  Künstler  sind  in  der  Akademie 
erst  bis  zur  Klasse  der  Associates  vorgedrungen.  Sie 
haben  alle  in  Paris  studiert  und  das  hat  für  die  Auf¬ 
fassung  des  richtigen  Akademikers  eigentlich  etwas  Be¬ 
denkliches,  der  in  seiner  Selbstgefälligkeit  auch  in 
der  Malerei  auf  das  Französische  wie  auf  etwas  Un¬ 
gediegenes,  Frivoles  herabsieht.  Dass  man  sie  über¬ 
haupt  in  die  Akademie  einliess,  bedeutet  eigentlich 
schon  einen  Bruch  mit  der  Tradition. 

Nächst  dem  Genre  ist  es  die  Landschaft,  freilich 
nur  die  alten  Stiles,  sowie  die  Darstellung  der  See, 
die  in  der  Akademie  heute  eine  hervorragende  Rolle 
spielen.  Robert  de  la  Sizeranne  behauptet  in  seinem 
Buche  La  peinture  anglaise  contemporaine,  dass  es 
eine  englische  Landschaft  »nicht,  oder  vielmehr  nicht 
mehr«  gäbe:  ein  fundamentaler  Irrtum,  der  ihm  von 
der  englischen  Kritik  mit  Recht  sehr  übel  angerechnet 
worden  ist.  Die  Geschichte  der  englischen  Land¬ 
schaft  muss  freilich  erst  noch  geschrieben  werden; 
es  wäre  eine  höchst  dankbare  Aufgabe  dies  einmal 
zu  thun  und  diese  Geschichte  würde  zum  grossen 
Teil  gleichzeitig  eine  Geschichte  der  englischen 
Aquarellmalerei  werden.  In  keinem  Lande  ist  das 
Aquarell,  das  sich  ja  recht  eigentlich  an  der  Land¬ 
schaftsdarstellung  entwickelt  hat,  eingehender  gepflegt 
worden  als  in  England.  Der  Gebrauch  der  Wasser¬ 
farben  hat  sich  hier  aus  der  alten  Miniaturmalerei 
entwickelt,  in  der  England  schon  in  früheren  Jahr¬ 
hunderten  sich  einen  gewissen  Namen  erworben 
hatte,  als  von  einer  englischen  Malerei  im  übrigen 
noch  keine  Rede  sein  konnte.  Im  i8.  Jahrhundeif 
bereitete  sich  das  moderne  Aquarell  aus  der  kolorier¬ 
ten  Federzeichnung  allmählig  vor,  am  Beginn  des 
neunzehnten  fand  es  in  Girtin  und  Turner  seine 
vollendete  Ausbildung.  Turner  entwickelte  im  wesent¬ 
lichen  die  gesamte  Technik  der  als  Lasur  gebrauchten 
Wasserfarben,  wie  sie  in  den  drei  ersten  Vierteln  des 
ig.  Jahrhunderts  üblich  war.  Er  lebte  so  sehr  in 
dem  leichtflüssigen,  buntschillernden  Element  der 
Wasserfarbe,  dass  er  auch  seine  Ölgemälde  im 
Charakter  des  Aquarells  behandelte,  was  ihnen  für 
das  nicht  an  Turner  gewöhnte  Auge  jenes  eigen¬ 
tümlich-seltsame  Gepräge  verleiht.  Schon  1805 
wurde  die  eine  der  Königlichen  Gesellschaften  für 
Wasserfarbenmaler,  die  Society,  1832  das  Royal  In¬ 
stitute  of  Painters  in  Water  Colours  gegründet.  Von 
da  an  ist  das  Aquarell  in  England  stets  in  der 
breitesten  Ausdehnung  zur  Darstellung  der  Land¬ 
schaft  verwandt  und  ausgeübt  worden,  eine  eigent¬ 
lich  nationale  Kunst.  Für  Aquarelle  liegt  auch  auf 
dem  englischen  Kunstmarkte  die  grösste  Nach- 

8 


58 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


iTa-^e  voi%  denn  sie  bilden  ein  wichtiges  Element  in 
der  Aujdattung  des  Hauses.  In  dieser  Beziehung 
liat  sich  gerade  in  neuerer  Zeit  die  Nachfrage  noch 
dadurch  vermehrt,  dass  das  Wasserfarbenbild  auch 
in  den  Haupträumen  des  Hauses,  besonders  dem 
Empfangszimmer,  immer  herrschender,  ja  jetzt  so 
ziemlich  alleinherrschend  geworden  ist,  was  mit  der 
früher  an  dieser  Stelle  erwähnten  Zeitrichtung  zu¬ 
sammenhängt,  die  Räume  des  Hauses  heller  und 
heller  zu  gestalten.  Kein  Wunder  also,  wenn  die 
stets  mit  Vorliebe  gepflegte  Landschaft  in  Wasser¬ 
farben  auch  heute  noch  ihren  breiten  Boden  hat. 

Aber  die  Landschaft  ist  keineswegs  auf  die  Dar¬ 
stellung  in  Wasserfarben  beschränkt  geblieben.  Nach 
Turner  war  es  Constable,  der  sie  auf  der  Leinwand  voll¬ 
kommen  heimisch  machte.  Constable  beobachtete 
in  der  still  eindringenden,  sich  genau  an  das  Gegebene 
haltenden,  aber  für  das  romantische  Element  empfäng¬ 
lichen  Art,  mit  der  schon  Gainsborough  in  seinen 
Landschaften  hervorgetreten  war,  in  unermüdlicher 
Arbeit  die  Natur  und  errichtete  so  durch  seine  Lebens¬ 
arbeit  jenes  Bollwerk  gegen  die  auf  dem  Kontinent 
herrschende  klassische  Landschaft  ,  an  das  sich  die 
französische  romantische  Schule  anlehnen  konnte,  als 
sie  in  Barbizon  die  Grundlagen  für  die  gesamte 
moderne  Landschaft  entwickelte,  ln  England  wurden 
diese  Konsequenzen  aus  der  Constable’schen  Kunst 
damals  noch  nicht  gezogen,  die  moderne  Landschaft, 
deren  Pflege  heute  vorwiegend  in  der  Hand  der 
Glasgowschule  liegt,  zog  hier  erst  fünfzig  Jahre 
später  wieder  über  Holland  und  Frankreich  herein, 
nachdem  ihr  Whistler  in  einem  engeren  Kreise  die 
Wege  geebnet  hatte.  Die  Akademiekunst  hat  dieser 
neueren  Landschaft  bisher  fremd  gegenübergestanden 
und  verschliesst  ihr  bis  heute  standhaft  die  Thore. 
Sie  hat  kein  Verständnis  für  impressionistische  Auf¬ 
fassung,  die  für  sie  den  Beigeschmack  des  Rohen 
hat.  It  is  only  the  disease  of  the  unskilfui  to  think 
rüde  things  greater  than  polished<q  druckte  sie  als 
sehr  bezeichnendes  Motto  auf  einem  ihrer  letzten 
Kataloge  ab.  In  der  That  ist  es  das  Polierte,  was 
die  Akademiewände  vor  allem  zeigen  und  was  das 
Akademiepublikum  wünscht.  So  kommt  es,  dass 
man  daselbst  nur  Landschaften  der  alten  »gediegenen«, 
d.  h.  sauber  durchgearbeiteten  Art  erblickt.  In  dieser 
Art  ist  in  England  seit  Constable  keineswegs  Geringes 
geleistet  worden,  im  Gegenteil,  es  sind  ganze  Berge 
trefflicher  Leistungen  aufgetürmt.  Nach  Constable 
erwarb  sich  David  Cox  mit  Recht  die  grösste  Popu¬ 
larität,  P.  de  Wint,  Copley  Fielding,  William  j.  Müller, 
Clarkson  Stanfeild,  die  Architekturmaler  Sam.  Prout, 
und  David  Roberts  und  die  Maler  venezianischer  und 
anderer  italienischer  Landschaften  James  Holland  und 
J.  B.  Pyne,  ferner  Birket  Foster,  Sam.  Bough,  Vicat  Cole 
und  der  grossartige  Darsteller  der  See  Henry  Moore 
werden  alle  ihren  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  der 
englischen  Landschaft  einnehmen,  während  Schott¬ 
land  mit  Namen  wie  Alex.  Nasmyth,  Horatio  Maccul- 
loch,  Paul  Chalmers,  William  Mc.  Taggart  glänzt, 
ja  mit  seinen  Künstlern  wiederholt  geradezu  be¬ 
fruchtend  auf  die  englische  Landschaft  eingewirkt 


hat.  Eine  ganz  besondere  Stellung  nimmt  der 
stimmungsvolle  Cicil  Lawson  in  der  Geschichte  der 
neueren  englischen  Landschaft  ein,  dessen  Tradition 
heute  nur  von  John  W.  North  noch  weitergeführt 
wird.  Unter  den  heutigen  Akademie-Mitgliedern  ist 
B.  W.  Leader  entschieden  der  populärste  Landschafter, 
ein  erklärter  Liebling  des  Publikums.  Sidney  Cooper, 
Peter  Graham,  J.  MacWhirter,  J.  C.Hook  folgen  in  der 
Gunst  des  Publikums  dicht  hinter  ihm,  enttäuschen  aber 
nicht  selten  durch  das,  was  sie  heute  bieten  um  diese 
Gunst  zu  rechtfertigen.  Unter  den  Associates  ist  der  vor¬ 
zügliche  Künstler  John  Brett,  der  früher  zu  den  Präraffae- 
liten  gehörte,  besonders  hervorzuheben,  Alfred  East,  David 
Murray,  J.  Faquharson  wirken  in  der  Landschaft,  wie 
Chas.  N.  Hemy,  Colin  Hunter  und  William  Wyllie 
im  Seestück  mit  ausgezeichnetem  Erfolg  schaffen. 
Aber  alles  in  allem  wird  man,  wenn  man  von  der  heuti¬ 
gen  englischen  Landschaft  redet,  nicht  allein  oder  in 
erster  Linie  an  die  Landschaft  der  Akademie- Aus¬ 
stellungen  denken,  vielmehr  gerade  an  die  der  ausser¬ 
halb  stehenden  Künstlergruppen,  und  so  wird  sich 
auch  die  Gelegenheit  für  die  Betrachtung  derselben 
in  späterem  Zusammenhänge  ergeben. 

Welche  Rolle  das  Porträt  zu  allen  Zeiten  in  der 
englischen  Kunst  gespielt  hat  und  ein  wie  grosser 
Teil  der  Kunstproduktion  auf  dasselbe  verwendet 
worden  ist,  zeigt  am  besten  ein  Gang  durch  das 
sehr  nachahmenswerte  Institut  der  National  Portrait 
Gallery  in  London.  Hier  finden  sich  die  herrlichsten 
englischen  Bildnisse  aus  allen  Zeiten,  besonders  auch  aus 
der  Glanzperiode  englischer  Porträtkunst  unter  Reynolds 
und  Gainsborough.  Und  welche  Rolle  das  Porträt  heute 
noch  spielt,  das  zeigt  das  Vorwalten  von  Bildnissen 
in  den  Ausstellungen  der  Akademie,  wo  es  einen 
wesentlichen  Bruchteil  des  Vorgeführten  überhaupt 
ausmacht.  In  Bezug  auf  die  Bildniskunst  gebührt 
England  ein  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  der  neueren 
Malerei.  Nicht  nur  werden  hier  mehr  Bildnisse  ge¬ 
schaffen,  als  anderswo,  was  vor  allem  auf  Rechnung 
des  grossen  Reichtums  des  Landes  zu  setzen  ist, 
sondern  es  trägt  auch  die  dem  Schaffen  des  Engländers 
besonders  naheliegende  Art,  auf  die  nackten  Thatsachen 
loszugehen,  hier  ihre  besten  Früchte.  Fast  alle  eng¬ 
lischen  Maler  haben  neben  ihrem  Spezialgebiet  stets 
auch  noch  das  Porträt  gepflegt,  und  häufig  sind 
sie  uns  dort  am  verständlichsten  und  sympathischsten, 
jedenfalls  erheben  sie  sich  dort  über  alle  Schwan¬ 
kungen  von  Geschmack  und  Kunstmode  hinweg. 
Wer  aus  dem  Watts- Saale  der  Tate  Gallery  her¬ 
ausgeht,  ohne  die  ganze  Grösse  der  Kunst  dieses 
englischen  Meisters  erkannt  zu  haben,  der  wandere 
in  die  National  Portrait  Gallery  und  sehe  sich  die 
27  Bildnisse  an,  die  er  dort  beigesteuert  hat,  und  er 
wird  Watts  als  Künstler  begreifen.  Auch  heute  noch 
glänzt  England  im  Porträt  und  hier  finden  sich  auch 
innerhalb  der  Akademie  vorzügliche  Leistungen,  man 
braucht  nur  an  die  weltbekannten  Erfolge  Herkomer’s 
zu  erinnern.  Ouless,  der  Porträtmaler  altetablierten 
Rufes,  beschickt  jede  Ausstellung  mit  ganzen  Reihen 
von  Porträts,  ohne  sich  indes  überall  auf  der  bei 
ihm  gern  vorausgesetzten  Höhe  zu  halten.  Alles 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


59 


übrige  verdunkelnd  hat  aber  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  John  S.  Sargent  im  Porträt  gewirkt. 

Sargent  zählt  zu  den  drei  oder  vier  Künstlern,  die 
nicht  nur  ihrer  Nationalität  nach  Eremde  in  England  sind 
(er  ist  in  Amerika  geboren),  sondern  von  denen  man 
sagen  kann,  dass  sie  eigentlich  weder  nach  England, 
noch  in  die  englische  Akademie  gehören.  Die  spielende 
Bravour,  mit  der  arbeitet,  ist  durchaus  unenglisch, 
die  Flottheit  seiner  Darstellung  müsste  eigentlich  in 
dem  Lande  Ruskin’scher  Kunstlehre,  die  die  sorg¬ 
fältige  Durchbildung  verschreibt,  sogar  Anstoss  er¬ 
regen.  Sargent  malt  mit  der  sicheren  Schlagfertigkeit 
Boldini’s,  mit  dem  er  grosse  Ähnlichkeit  hat  und  in 
hellen  silberigen  Tönen,  die  etwas  an  die  Zeit  Tie- 
polo’s  erinnern.  Seine  Bildnisse  haben  stets  einen 
sprechenden,  sehr  lebhaften  Ausdruck.  Sie  sind 
Äugenblicksbilder,  aber  der  Augenblick,  in  welchem 
die  Dargestellten  festgehalten  sind,  ist  der  ihres  be¬ 
zeichnendsten  Ausdruckes.  Er  hat  einen  Instinkt  für 
das  Charakteristische  eines  Gesichts,  der  zu  seinen 
glücklichsten  Gaben  gehört,  und  es  liegt  ihm  fern, 
dieses  Charakteristische  irgendwie  zu  verschönen,  er 
liebt  es  vielmehr  zu  verschärfen,  wodurch  er  oft  bei¬ 
nahe  grausam  gegen  sein  Modell  wird.  Der  Trumpf 
seiner  Porträts  auf  der  letzten  Akademie- Ausstellung 
war  das  grosse  Doppelbildnis  der  Töchter  des 
Kunsthändlers  A.  Wertheimer  in  London,  das  hier 
wiedergegeben  ist,  eine  seiner  bezeichnendsten  Leis¬ 
tungen  (s.  S.  53). 

Von  sonstigen  Vertretern  des  Bildnisses  in  der 
Akademie  verdient  vor  allem  noch  der  Amerikaner 
J.  J.  Shannon  hervorgehoben  zu  werden,  ein  sehr 
fruchtbarer  Künstler,  dessen  Leistungen  sich  stets  auf 
guter  Mittelhöhe  halten,  übrigens  in  Ton  und  Linie 
hier  und  da  an  Reynolds  erinnern  wollen.  Von  den 
übrigen  Akademie-Mitgliedern  widmen  A.  S.  Cope, 
Solomon  J.  Solomon,  Arthur  Hacker,  H.  S.  Tuke, 
Frank  Dicksee,  einen  grossen  Teil  ihrer  Zeit  dem 
Bildnis,  zum  Teil  mit  sehr  gutem  Erfolg.  Abgesehen 
von  Sargent  und  Herkomer  sind  jedoch  die  bedeu¬ 
tendsten  englischen  Bildnismaler  heute  nicht  in  der 
Akademie,  sondern  bei  den  Schotten  zu  suchen. 

Noch  ein  anderes  Gebiet  ist  zu  erwähnen,  das  in 
der  Akademie  stets  eine  bevorzugte  Pflege  gefunden 
hat:  das  Tierbild.  Die  ungeheure  Popularität  der 
Bilder  von  Landseer,  der  von  den  dreissiger  bis  in 
die  siebziger  Jahre  wirkte,  ist  bekannt.  Er  verband 
mit  der  Darstellung  des  Tieres  bei  grosser  Meister¬ 
schaft  in  der  Beobachtung  meist  etwas  Anekdoten¬ 
haftes,  womit  er  dem  Geschmack  der  Menge  ent¬ 
gegenkam.  Hierin  unterscheidet  sich  der  grosszügige 
Briton  Riviere  von  ihm,  der  seine  Bilder  zu  mäch¬ 
tigen,  stimmungsvollen  Grosslandschaften  erweitert, 
in  die  er  seine  Tiere  handelnd  setzt  und  in  ihrer 
ganzen,  mit  wissenschaftlicher  Schärfe  studierten  Eigen¬ 
art  sich  bewegen  lässt.  Noch  einen  Schritt  weiter  ist 
der  seit  1894  zu  den  Associates  der  Akademie  ge¬ 
hörende  J.  M.  Swan  in  der  Beobachtung  und  Dar¬ 
stellung  gegangen.  Er  nähert  sich  dem  Tier  —  be¬ 
sonders  die  wilden  Tiere  hat  er  zum  Gegenstand 
seiner  Studien  gemacht  —  in  impressionistischer  Auf¬ 


fassung  und  sucht  vor  allem  dessen  hastige  Bewegungen 
festzuhalten.  Das  Gierige,  Schleichende,  Heimtückische 
der  wilden  Bestie  hat  keiner  bisher  so  zu  schildern 
vermocht,  wie  er  (Abb.  9).  Seine  Darstellung  ist 
leicht  hingeworfen,  skizzenhaft.  Aber  mit  erstaun¬ 
licher  Sicherheit  versteht  er  durch  wenige  Striche  das 
Charakteristische  nicht  nur  der  Bewegung  und  des 
Umrisses,  sondern  auch  der  Textur  des  Felles,  des 
Ausdruckes  des  Auges  u.  s.  w.  festzuhalten.  Swan 
stellt  das  Tier  nicht  nur  als  Maler,  sondern  auch  als 
Bildhauer  dar.  Seine  Skulpturen  (Abb.  10)  zeigen 
dieselbe  Eigenart,  wie  seine  bildlichen  Darstellungen: 
raschestes  und  sicherstes  Erfassen  des  Charakteristischen, 
skizzenhafte,  flotte  Darstellung.  Er  hat  in  Paris  bei 
Gerome,  Bastien-Lepage  und  Fremiet  studiert  und  auf 
dem  Kontinent  alle  möglichen  Ehren  eingeheimst. 
Seine  Wahl  in  die  Akademie  bezeichnet  vielleicht 
deutlicher  als  die  irgend  eines  anderen  Künstlers  jene 
schon  mehrfach  erwähnte  Änderung  des  Kurses,  die 
seit  einigen  Jahren  daselbst  zu  bemerken  ist.  Man 
zwingt  sich,  wenigstens  die  Anerkanntesten  der  neuen 
Generation  aufzunehmen,  um  nicht  gänzlich  aufs 
Trockne  zu  gelangen.  Man  thut  es  mit  Widerstreben 
und  nicht  ganz  mit  ehrlicher  Überzeugung,  denn  Er¬ 
scheinungen  wie  Sargent  und  Swan  müssen  von 
dem  überzeugten  Akademiker  als  heterogene  Elemente 
empfunden  werden. 

Dies  ungefähr  ist  ein  Bild  der  englischen  Akademie 
und  ihrer  Kunst,  die,  wie  gesagt,  auch  heute  noch 
für  das  grosse  englische  Publikum  die  Allgemein- 
Versorgerin  ist.  Überblickt  man  die  wirklichen  Thaten 
in  der  englischen  Malerei  der  letzten  fünfzig  Jahre,  so 
bemerkt  man,  dass  sie  mit  grosser  Einheitlichkeit 
ausserhalb  der  Akademie  liegen.  Ford  Maddox  Brown 
und  Holman  Hunt,  Rossetti  und  Burne  Jones, 
Whistler  und  die  neueren  schottischen  Künstler  wussten 
und  wissen  nichts  von  der  Akademie.  Die  Akademie 
gab  ihrerseits  vor,  nichts  von  ihnen  zu  wissen.  Die 
neuere  englische  Kunstbewegung  in  den  dekorativen 
Künsten  hat  mit  der  Akademie  auch  nicht  das  mindeste 
zu  thun  gehabt.  Die  Akademiker  behaupten  noch  heute, 
das  »Studio- ,  jene  Zeitschrift,  die  den  Ruhm  der 
neueren  englischen  Kunst  über  die  ganze  Welt  ver¬ 
breitet  hat,  überhaupt  nicht  zu  kennen.  Dafür  ist 
denn  auch  im  ganzen  Lager  der  »Neuen«  der  Name 
Akademie  der  Inbegriff  künstlerischer  Hoffnungslosig¬ 
keit,  ein  Institut,  von  dem  man  nichts  weiter  zu  er¬ 
warten  braucht  und  dem  man  seine  volle  Verachtung 
angedeihen  lassen  kann.  Beide  Lager  stehen  sich  mit 
einer  Geringschätzung  gegenüber,  die  in  beiden  Fällen 
gewiss  ungerecht,  aber  von  der  Seite  der  Nicht¬ 
akademiker  wenigstens  mehr  zu  verstehen  ist,  als 
von  der  anderen. 

Zur  Zeit,  als  sich  die  Präraffael iten  zuerst  im 
scharfen  Winkel  von  der  Akademie  abwendeten, 
mussten  sie  ausserhalb  derselben  ein  ziemlich  un¬ 
scheinbares  Dasein  fristen  und  mit  Ausstellungen 
in  kleinen  Privatgalerien  vorlieb  nehmen,  oder  sich 
überhaupt,  ohne  ihre  Bilder  auszustellen,  an  einen 
kleinen  Kreis  von  sympathisierenden  Kunstfreunden 
wenden.  Das  letztere  that  z.  B.  Rossetti,  der  so 


6o 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


gut  wie  nie  öffentlich  ausgestellt  hat.  Kein  Wunder 
also,  wenn  selbst  die  Kenntnis  des  Vorhandenseins 
dieser  Bewegung  lange  auf  Wenige  beschränkt  blieb. 
Das  was  Rossetti,  Burne -Jones  und  deren  Anhänger 
wollten,  war  inzwischen  von  einer  andern  Gruppe 
in  weniger  schroffer  und  daher  leichter  verständlichen 
Form  dem  Publikum  näher  gebracht  worden,  näm¬ 
lich  durch  die  Schule  Fred,  Walkers.  Dieser  Künstler 
veriritt  um  die  siebziger  Jahre  herum  zusammen  mit 
den  gai.z  geistesverwandten  G.  H.  Mason,  Cecil 
G.  Lawson  und  G.  J.  Pinwell  eine  Kunstrichtung, 
die  ihr  Ziel  in  einer  stimmungsvollen  Figurenkom¬ 
position  meist  ländlichen  Charakters  inmitten  einer 
liarmonischen  Landschaft  erblickt.  Das  Ganze  hat 
durchaus  den  dekorativen,  graziösen  Charakter  in  der 
Linie  und  ist  verbunden  mit  einer  Weichheit  der 
Farbe  und  Stimmung  und  einer  einschmeichelnden 
sentimentalen  Empfindung,  die  das  englische  Publikum 
unmittelbar  ansprechen  musste.  Diese  höchst  in¬ 
teressante  Gruppe,  deren  Entstehungsgeschichte,  Ar¬ 
beitsgebiet  und  Einfluss  auf  die  Allgemeinentwick¬ 
lung  einmal  näher  zu  untersuchen  eine  dankbare 
Aufgabe  für  den  Kunsthistoriker  sein  würde,  bildet 
ein  Mittelglied  zwischen  den  ersten,  vom  Publikum 
nicht  gekannten  Präraffael iten  und  den  zweiten,  von 
breiteren  Schichten  verstandenen. 

Diese  zweite  Periode  begann  1877,  und  zwar 
mit  der  Eröffnung  eines  neuen  Ausstellungshauses, 
der  Grosvenor-Galerie,  die  von  da  an  für  eine  Reihe 
von  Jahren  der  Sammelpunkt  der  nichtakademischen 
Kunst  in  England  wurde.  Ein  Maler,  Sir  Coutts 
Lindsay,  hatte  sie  eingerichtet,  man  führte  eine  künst¬ 
lerischere  Art  der  Aufhängung  ein,  man  gab  jedem 
Talente  die  freieste  Gelegenheit  zur  Entfaltung  und 
errichtete  so  neben  der  Hochburg  der  Akademie 
eine  freie  Ansiedelung  unabhängiger  Kunst,  die  den 
Erfolg  hatte,  sich  sofort  auch  der  Gunst  des  grösseren 
Publikums  zu  erfreuen.  Die  Grosvenor-Galerie  war  die 
Vorläuferin  der  jetzigen  eigentlichen  Secessions- 
Galerie,  der  seit  1888  bestehenden  New  Gallery  in 
Regent  Street.  Hier  erlangte  zuerst  Burne-Jones,  der 
bis  dahin  ein  Unbekannter  war,  seine  Popularität, 
hier  trat  zuerst  der  damals  noch  nicht  einmal  dem 
Namen  nach  bekannte  Whistler  vor  das  englische 
Publikum.  In  den  Werken  beider  und  einer  Reihe 
anderer  Künstler,  wie  G.  F.  Watts,  Holman  Hunt, 
Albert  Moore,  C.  G.  Lawson,  W.  B.  Richm.ond,  Wal¬ 
ter  Grane  brachte  diese  Galerie  nun  von  Jahr  zu 
Jahr  Anziehungspunkte  allererster  Art,  denn  alle  diese 
Künstlerpersönlichkeiten  boten  reifste  Werke,  nicht 
Versuchsobjekte.  Ein  Publikum  für  die  der  Prä¬ 
raffael  itenauffassung  sich  nähernden  Werke  war  auch 
bereits  vorhanden  in  dem  stets  sich  erweiternden 
Kreise  von  Ästheten,  die  sich  um  die  Kunst  Rossetti ’s 
zu  scharen  begonnen  hatten,  sowie  in  dem  weiten  Leser¬ 
kreise  der  zu  immer  grösserer  Popularität  gelangenden 
Ruskin’schen  Bücher.  Das  Verständnis  dieses  Publi¬ 
kums  musste  freilich  zunächst  vor  einer  für  England 
völlig  neuen  Erscheinung  wie  Whistler  versagen. 
Der  bekannte  Prozess,  den  dieser  Künstler  gegen 
Ruskin  im  Anschluss  an  dessen  Kritik  über  seine 


Bilder  führte,  beleuchtet  die  damalige  Situation 
schlagend. 

Indessen  auch  hierin  änderten  sich  die  Verhält¬ 
nisse,  und  zwar  vorwiegend  durch  Eröffnung  einer 
Art  künstlerischen  Verkehrs  mit  Frankreich.  Der 
französische  Künstler  Alphonse  Legros,  seit  1876 
siebzehn  Jahre  lang  Leiter  der  als  künstlerische  Er¬ 
ziehungsstätte  wichtigen  Slade  School  in  London 
trug  die  aufs  rein  Malerische  losgehenden  Anschau¬ 
ungen  der  Pariser  Ateliers  in  die  englische  Jugend. 
Viele  seiner  Schüler  gingen  auf  diese  Anregung  hin 
zu  ihrer  weiteren  Ausbildung  nach  Paris,  zum  Teil 
in  die  Ecole  des  Beaux-Arts.  Daraus  wieder  bildete 
sich  für  viele  die  Gewohnheit  aus,  in  Paris  auszu¬ 
stellen,  wobei  sich  das  Merkwürdige  ereignete,  dass 
Künstler,  die  von  der  englischen  Akademie  hochmütig 
abgewiesen  worden  waren,  in  Paris  Preise  davon¬ 
trugen  und  sogar  durchschlagende  Erfolge  erzielten. 
Nichts  musste  dem  sonst  trotz  allem  bombenfesten 
Vertrauen  des  Engländers  in  seine  Akademie  ver¬ 
hängnisvoller  werden,  als  solche  Vorkommnisse; 
denn  dass  Paris  die  eigentliche  Kunststadt  der  Welt 
sei,  daran  wagt  kein  auch  noch  so  sehr  von  den 
Vorzügen  seiner  Nation  überzeugter  Engländer  zu 
zweifeln. 

Auf  der  anderen  Seite  gelangten  aber  auch  fran¬ 
zösische  Kunstwerke  von  den  achtziger  Jahren  ab 
häufiger  in  London  zur  Ausstellung.  Die  Akademie- 
Ausstellungen  verschliessen  bekanntlich  ausländischer 
Kunst  ihre  Pforten,  wie  man  denn  in  England  stets 
verschwindend  geringe  Neigung  zeigt,  sich  über  das, 
was  ausserhalb  der  Insel  vorgeht,  zu  unterrichten. 
Wie  es  unmöglich  ist,  an  einem  Londoner  Zeitungs¬ 
stande  eine  deutsche  oder  französische  Zeitung  zu 
erwerben,  so  ist  es  im  allgemeinen  unmöglich,  in 
einer  englischen  Gemäldeausstellung  jemals  ein  nicht¬ 
englisches  Bild  zu  sehen.  Und  so  war,  wie  so  vieles 
andere,  auch  die  Kunstfrage  in  England  bisher  eine 
rein  insulare  gewesen,  die  man  mit  der  ganzen  Be¬ 
schränktheit  beurteilte,  die  sich  aus  solcher  Ab¬ 
schliessung  ergeben  musste.  Trotzdem  wagten  es  von 
den  achtziger  Jahren  ab  einige  Privatgalerien,  dem 
englischen  Publikum  kleine  Sammelausstellungen  aus¬ 
ländischer,  zumeist  französischer  Kunst  vorzuführen, 
und  zwar  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  wenigstens  in 
dem  kleineren  Kreise  von  Kunstverständigen.  So 
wirkte  namentlich  die  1883  in  der  alten  Dowdeswell 
Gallery  vor  sich  gehende  Sonderausstellung  der  fran¬ 
zösischen  Impressionisten  Manet,  Renoir,  Degas,  Monet, 
Pissaro,  Sisley,  Boudin  u.  s.  w.  wie  ein  Sauerteig 
auf  die  englische  Kunst  ein.  Gleichzeitig  schufen 
nach  England  übergesiedelte  flotte  amerikanische  Künst¬ 
ler,  neben  Whistler  noch  Sargent,  Abbey  u.  a.  in  der 
leichtflüssigen,  geistreich -impressionistischen  Weise, 
zu  der  die  Pariser  Kunst  in  amerikanischen  Händen 
sich  umzubilden  pflegt.  Und  schliesslich  wurden 
von  jetzt  an  auch  die  französischen  romantischen  Land¬ 
schafter  aus  der  Barbizonschule:  Corot,  Daubigny, 
Dupre,  Rousseau,  Diaz,  Lhermitte,  Harpignies,  Troyon, 
neben  diesen  auch  Millet,  und  von  den  Holländern 
die  Brüder  Maris,  Mesdag,  Bosboom,  Israels  in 


Mit  Erlaubnis  des  Künstlers 


Frank  Brangwyn 


Skizze  zu  einem  Wandgemälde 
für  die  Börse  in  London 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


63 


grösserer  Anzahl  nach  England  eingeführt  und  fanden 
in  gewissen  Kreisen  grossen  Anklang.  Ihnen  war 
eine  Sonderausstellung  1886  in  Edinburg  und  eine 
solche  188g  in  London  gewidmet,  und  einige  Kunst¬ 
händler  Englands  und  Schottlands  haben  es  sich  seit¬ 
dem  fast  zur  Lebensaufgabe  gemacht,  die  Werke 
dieser  Schulen  in  England  zu  vertreiben.  Eine  wie 
reiche  Ausbeute  jetzt  bereits  in  England  vorliegt,  das 
zeigte  die  internationale  Ausstellung  in  Glasgow  1901, 
auf  der  weit  über  zwei  Hundert  derartige  Bilder, 
meist  aus  schottischem  Besitz,  zusammengebracht  und 
ausgestellt  waren. 

Alle  diese  Einflüsse  brachten  das  seit  1880  in 
England  vor  sich  gehende  Ereignis  mit  sich,  das 
Land  künstlerisch  aufzuschliessen.  Der  Akademie 
wurde  dadurch  ihre  alles  beherrschende  Autorität 
mehr  und  mehr  beschnitten,  und  neben  der  in  alt¬ 
modisch-gravitätischem  Gange  weiterschreitenden  Aka¬ 
demiekunst  alten  Stiles  wurde  eine  neue,  von  ihr  unab¬ 
hängige  Kunst  immer  sicherer  etabliert.  Im  Jahre  1885 
thaten  sich  in  London  eine  Anzahl  meist  jüngerer  Künst¬ 
ler,  »welche  fühlten,  dass  ihre  Arbeiten  mit  der  Art  von 
Vorführungen  in  andern  Ausstellungen  nicht  im  Ein¬ 
klang  ständen«  zu  dem  »New  English  Art  Club«  zu¬ 
sammen,  der  seitdem  jährlich  zweimal  Ausstellungen 
von  Werken  seiner  Mitglieder  veranstaltet.  In  Glasgow 
schlossen  sich  im  selben  Jahre  die  jungen  schottischen 
Künstler  dichter  zusammen,  welche  seitdem  auf  dem 
Kontinent  so  grosse,  von  ihnen  selbst  kaum  geträumte 
Erfolge  errangen.  Seit  dem  Jahre  i8g8  finden  sogar 
»Internationale  Kunstausstellungen«  in  London  statt, 
eine  Künstlervereinigung  unter  der  Präsidentschaft 
Whistler’s,  die  »International  Society  of  Sculptors, 
Painters  and  Gravers«,  hat  es  auf  sich  genommen, 
dem  englischen  Publikum  alljährlich  (nur  im  Jahre  1900 
fiel  die  Ausstellung  aus)  die  besten  Kunsterzeugnisse 
aus  allen  Ländern  vorzuführen.  Ist  nun  auch  die  Inter¬ 
nationalität  im  Laufe  der  Veranstaltungen  dieser  Ge¬ 
sellschaft  etwas  zusammengeschrumpft,  so  dass  dieser 
Anspruch  z.  B.  bei  der  im  Herbst  1901  stattgefundenen 
Ausstellung  nur  noch  in  beschränktem  Maasse  aufrecht 
erhalten  werden  konnte,  so  lässt  sich  doch  nicht  leugnen, 
dass  das  ganze  englische  Kunstleben  heute  bereits  in 
das  Stadium  eines  gewissen  internationalen  Aus¬ 
tausches  eingetreten  ist.  Dadurch  hat  es  einen  neuen 
mächtigen  Impuls  erhalten.  Seit  der  Eröffnung  der 
Grosverior-Galerie  ist  die  Kunst  in  das  Tagesinteresse 
des  englischen  Bürgers  eingerückt,  sie  spielt  heute 
im  gesellschaftlichen  Leben  eine  Rolle,  die  sie  früher 
nie  auch  nur  im  entferntesten  gespielt  hat.  Es  ge¬ 
hört  heute  auch  in  England  zum  guten  Ton,  die 
Galerien  zu  durchstreifen,  seine  Ansichten  über  Kunst 
zu  haben,  über  die  Vorgänge  in  den  Ateliers  Be¬ 
scheid  zu  wissen,  die  Auktionsräume  zu  besuchen, 
Kunstwerke  zu  sammeln. 

Mit  diesem  Steigen  des  allgemeinen  Interesses  ist 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  das  Verständnis 
für  die  Bestrebungen  der  Jüngeren  gewachsen,  der 
ihnen  gewährte  Spielraum  vergrössert  worden.  Über¬ 
blickt  man  deren  Wirken  heute,  so  lassen  sich  aus 
der  Vielheit  der  Erscheinungen  zwei  ihrem  Wesen 


nach  grundverschiedene  Richtungen  deutlich  hervor- 
tretend  erkennen,  eine  solche,  welche  der  Natur  nach¬ 
geht  und  eine  solche,  welche  in  symbolischen  oder 
dekorativen  Grundbestrebungen  romantischen  Träumen 
von  der  Art  der  Rossettiauffassung  folgt.  Richtungen 
ähnlicher  Art  sind  jetzt  wohl  in  allen  Ländern  neben¬ 
einander  zu  finden.  In  England  tragen  aber  beide 
ein  besonderes  Gepräge.  Die  naturalistische  Rich¬ 
tung  folgte  im  wesentlichen  den  Anregungen,  die 
Whistler  nach  England  gebracht  hatte.  Er  war,  von 
ausserhalb  nach  England  gekommen,  der  erste,  welcher 
das  Eigentümliche  der  englischen  Luft,  die  Weichheit, 
mit  der  sie  schon  die  nächste  Umgebung  abschwächend 
umhüllt,  wobei  sie  ganz  bestimmte,  abgetönt-einheit¬ 
liche  Earbenwerte  erzeugt,  künstlerisch  erkannt  und 
dargestellt  hat.  Diese  atmosphärische  Weichheit 
wurde  von  da  an  das  Ziel  eines  ausgebreiteten  neue¬ 
ren  englischen  Naturalismus  (wenn  man  diese  Be¬ 
wegung  überhaupt  so  nennen  kann)  impressionistischer 
Art,  der  von  dem  Naturalismus  der  ersten  Präraffae- 
liten  so  grundverschieden  ist.  Whistler,  die  Barbizon- 
Schule  und  die  modernen  Holländer,  zusammen  mit 
einem  weiter  hinten  zu  erwähnenden  eigenartigen 
Einfluss,  der  von  den  Bildern  Monticelli’s  herrührte, 
machten  die  Schotten.  Eine,  allerdings  schwächere. 
Parallel -Bewegung  zu  der  neueren  schottischen  findet 
sich  aber  auch  bei  der  englischen  jüngeren  Generation. 
In  dieser  vorwiegend  von  den  Schotten  vertretenen 
naturalistisch-impressionistischen  Bewegung  haben  wir 
eine  ausgesprochene  englische  Nationalschule  vor  uns. 
Neben  diesem  Naturalismus  läuft  indes  noch  ein 
andrer,  direkt  von  Paris  importierter  her,  in  dessen 
Mittelpunkt  der  schon  erwähnte  Stanhope  Eorbes  in 
Newlyn  steht,  und  den  man  als  den  englischen  Erei- 
licht- Naturalismus  bezeichnen  könnte.  Er  bietet  dem 
kontinentalen  Beobachter  nichts  wesentlich  Neues,  ob¬ 
gleich  die  tüchtigen  Leistungen  dieser  Schule  immer 
erfreuen. 

Viel  mächtiger  als  in  andern  Ländern  hat  sich  aber 
gerade  die  phantastisch-dekorative  Richtung  über  die 
naturalistischen  Einflüsse  hinweg  in  England  behauptet. 
Und  das  ist  kein  Wunder,  denn  England  ist  das  Ge¬ 
burtsland  dieser  Richtung.  Rossetti,  Burne -Jones, 
G.  E.  Watts,  Albert  Moore  waren  die  erklärten  Lieb¬ 
linge  des  künstlerisch  empfindenden  England  ge¬ 
worden  und  die  von  ihnen  geschaffene  Tradition 
musste  daher  mächtig  weiter  klingen,  auch  nachdem 
die  Mehrzahl  dieser  Meister  vom  Schauplatz  abge- 
getreten  war.  Aber  noch  ein  anderer  Umstand  ist  für 
die  Beurteilung  dieser  englischen  Richtung  von  Wich¬ 
tigkeit.  Es  war  das  Eigentümliche  der  Rossetti-Burne- 
Jones’schen  Kunst,  dass  sie  sich  von  Anbeginn  mit 
kunstgewerblichen  Bestrebungen  vermählte.  Der  grosse 
Vermittler  nach  diesem  Gebiete  hin  war  William 
Morris,  seit  den  sechziger  Jahren  über  drei  Jahrzehnte 
unvermeidlich  mit  seiner  grossen  Persönlichkeit  wir¬ 
kend.  Er  verknüpfte  instinktiv  das  Gebiet  der  deko¬ 
rativen  Künste  mit  dem  malerischen  der  Rossetti- 
gruppe.  Vermöge  seiner  dichterischen  Gaben  nährte 
er  dazu  beide  mit  jenem  stofflichen  Untergründe 
der  altenglischen  Sagenwelt,  die  von  Anbeginn 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


,,:i ,  ,  :  ria  Schule  gewesen  ist.  Burne- 

i  .  ..:d.io\  Brown,  Walter  Grane  stellten 
..  .  :  ;;i  !  i.i  den  Dienst  der  Morris’schen  Werk- 

u  i'erren  Entwürfe  für  Kirchenfenster, 

. jp.drin  ,  rhidiillnstrationen,  dekorative  Zwecke 

..'.ler  Art.  Musste  schon  diese  stete  Berührung  mit 
dem  lektonischen  Gebiet  der  Schule  ihr  strenges  archi- 
iektonisches  Rückgrat  erhalten  und  stärken,  und  musste 


für  kunstgewerbliche  Entwürfe  wie  in  der  figürlichen 
Komposition  im  Sinne  der  Rossetti 'sehen  Gemälde  zu 
verwirklichen  suchten.  Ein  mit  besonderer  Vorliebe  ge¬ 
pflegtes  Gebiet,  die  Buchillustration,  bildete  die  Brücke 
nach  der  Malerei  hin.  Von  diesen  Schulen  des  Landes, 
einer  Verbindung  von  Kunst-  und  Knnstgewerbe- 
schulen,  hat  besonders  diejenige  in  Birmingham  die 
reichsten  Früchte  getragen.  Hier  ging  von  der  Knnst- 


Abb.  7.  Byam  Shaw.  Die  Wahrheit 


Mit  Erlaubnis  des  Künstlers 


die  eintretende  rasche  Entwicklung  des  kunstgewerb¬ 
lichen  Schaffensgebietes  für  einen  gewissen  breiteren 
Nachwuchs  in  der  jüngeren  Welt  sorgen,  so  kam 
noch  hinzu,  dass  infolge  eines  frnchtreichen  Er¬ 
ziehungsplanes,  der  vorwiegend  von  dem  Sonthken- 
sington- Museum  entwickelt  und  verwirklicht  wurde, 
Kunstschulen  über  das  ganze  Land  entstanden  waren, 
die  alle  eine  künstlerische  Erziehung  auf  einer  tek¬ 
tonisch-kunstgewerblichen  Basis  anstrebten.  Dort  wur¬ 
den  die  Schüler  mit  der  dekorativen  Linie  erfüllt, 
die  sie  in  gleicher  Weise  beim  Stilisieren  der  Pflanze 


schule  geradezu  eine  örtliche  Kunsttradition  ans,  die 
das  eigentümlich  Dekorative,  um  das  es  sich  hier 
handelt,  besonders  einheitlich  verkörpert  und  in  Namen 
wie  Arthur  Gaskin,  J.  E.  Southall,  C.  M.  Gere, 
L.  F.  Muckley,  H.  Payne  u.  s.  w.  ihre  besten  Ver¬ 
treter  hat. 

Aus  der  Vermählung  der  präraffaelitischen  Kunst¬ 
richtung  mit  dem  Kunstgewerbe  ist  in  England  auf 
der  einen  Seite  das  entstanden,  was  wir  im  Knnst- 
gewerbe  den  englischen  Stil  nennen,  auf  der  andern 
Seite  erhielt  diejenige  englische  Schule  in  der  Malerei 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  3, 


9 


Byam  Shaw  Liebes-Tand 


66 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Mit  hrl.iubnis  i.ies  Künstlers 


Abb.  g.  Durst.  Gemälde  von  J.  M.  Swan 


durcli  das  Medium  der  Unterrichtsanstalten  einen 
kräftigen  Zufluss,  die  heute  die  Rossetti-Tradition  auf 
einer  freieren,  ganz  allgemein-dekorativen  Grundlage 
weiter  pflegt  und  deren  Anhänger  als  Neupräraffaeliten 
bezeichnet  werden  können.  Sie  stehen  alle  mehr  oder 
weniger  an  der  kunstgewerblichen  Grenze,  viele  von 
ihnen  sind  unmittelbar  aus  den  Kunstgewerbeschulen 
hervorgegangen.  Auf  sie  hat  keine  Art  Pariser  oder 
sonstwie  fremder  Einfluss  stattgefunden,  sie  sind  ganz 
und  gar  auf  englisch  nationalem  Boden  gewachsen. 
Eben  deshalb  aber  verdienen  sie  vielleicht  unsere  be¬ 
sondere  Beachtung. 

Die  Ziele  dieser  Schule  sind  in  allererster  Linie 
solche  dekorativer  Art,  nnd  zwar  in  der  Komposition 
wie  in  der  Farbe,  ln  der  Komposition  sind  ihre 
Leistungen  am  einheitlichsten,  hier  herrscht  die  elegante, 
volle,  schwunghafte  und  nicht  selten  etwas  ins  Gezierte 
getriebene  Linienführung,  die  der  Welt  durch  das  Prä- 
raffaelitentum  enthüllt  worden  ist.  ln  der  Farbe  wird 
eine  reiche  satte  Teppichwirkung  angestrebt,  wobei 
Kontraste  keineswegs  vermieden,  aber  die  Einzeltöne 
nach  einer  bestimmten  Farbenabsicht  aufgereiht  und 
gegeneinander  abgestimmt  werden.  Als  Vorwurf, 
man  möchte  sagen  Vorwand,  für  diese  Linien-  und 
Farbenphantasien  dienten  nicht  mehr  allein,  wie  das  bei 
den  Präraffael iten  der  Fall  war,  der  Arthurlegenden¬ 
kreis  und  die  Gestalten  des  Dantezeitalters,  aber  doch 
stets  ein  von  der  Gegenwart  und  Wirklichkeit  mög¬ 
lichst  weit  abliegender  Gegenstand,  mit  Vorliebe  aus 
den  Dichtungen  und  Sagen,  die  dem  englischen  Volke 
aus  seiner  Litteratur  bekannt  sind.  Deshalb  ist  es 
eigentlich  nötig,  den  Stoffkreis  der  englischen  schönen 
Litteratur  zu  kennen,  um  die  Bilder  dieser  Schule  zu 
verstehen,  gerade  so  wie  die  Bilder  von  Rossetti  und 
Burne -Jones  nur  mit  Malory’s  »Morte  d’Arthur«  in 
der  Hand  verstanden  werden  können.  Eine  andre 
Gattung  von  Bildern  sucht  symbolisch  eine  moralische 
Idee  oder  eine  Lebensweisheit  zu  verkörpern  nach 
der  Art  der  Kunst  Watt’s,  der  das  Symbolische  ge¬ 
radezu  als  den  Anfang  aller  Kunst  bezeichnet  und 
noch  heute  als  Forderung  an  das  Kunstwerk  hinstellt. 
Immer  aber  liegt  als  erste  Absicht  die  dekorative 
Wirkung  zu  Grunde.  Deshalb  erzeugt  diese  Schule 
recht  eigentlich  bildmässige  Werke,  Gemälde,  die  man 
als  architektonischen  Schmuck  betrachten  und  als  treff¬ 


lich  wirksame  Wandbilder  aufhängen  kann.  Damit  be¬ 
rührt  sie  die  Grundprinzipien  jeder  frühen  Kunst, 
mag  sich  diese  nun  in  gotischen  Altarbildern,  ja¬ 
panischen  Farbenholzschnitten  oder  frühitalienischen 
Wandmalereien  äussern,  die  alle  den  architektonischen 
Aufbau  mit  der  teppichmässigen  Wirkung  vereinen 
und  im  wahren  Sinne  dekorativ«  sind. 

Man  kann  nicht  sagen,  dass  die  junge  Generation, 
die  jetzt  in  England  diese  Richtung  vertritt,  sich  direkt 
an  den  bis  vor  kurzem  noch  unter  den  Lebenden 
wirkenden  Burne -Jones  anlehnte.  Sie  ist  frischer, 
lebensfroher,  heiterer  als  dieser,  übrigens  vielleicht  auch 
etwas  leichter  im  Gewicht.  Dagegen  hat  ein  andrer 
Meister  den  grössten  Einfluss  auf  sie  ausgeübt,  der 
allerdings  nur  in  gewisser  Beziehung  in  derselben 
Richtung  arbeitet,  nämlich  John  W.  Waterhouse. 

Waterhouse,  jetzt  ein  beginnender  Fünfziger,  hat 
sich  erst  allmählich  zu  seiner  heutigen  Individualität, 
der  poetischen  Farbenkomposition  entwickelt.  Zwei 
treffliche  Bilder  in  der  Tate  Gallery  »die  Befragung 
des  Orakels  und  »der  Märtyrertod  der  heiligen  Eu¬ 
lalia^  zeigen  ihn  noch  auf  dem  von  Alma-Tadema 
gepflegten  Gebiete  des  klassischen  Genres,  verraten 
aber  seinen  ausgesprochenen  Sinn  für  aparte  Farben¬ 
gebung  schon  damals.  Mit  seinem  i8gi  gemalten 
Bilde  »Ulysses  und  die  Syrenen«  (Abb.  4)  steuerte  er 
nach  seinem  eigentlichen  Fahrwasser  hin,  in  dem  er 
sich  seit  zehn  Jahren  bewegt,  nicht  ohne  zunächst  an 
der  Klippe  Burne-Jones  alle  Aufmerksamkeit  gegen  die 
von  dort  drohende  Gefahr  einer  allzugrossen  Beein¬ 
flussung  aufbieten  zu  müssen.  Das  Bild  »die  heilige 
Cäcilie«  (Abb.  3)  zeigt  ihn  noch  etwas  in  Abhängigkeit 
von  diesem  Meister,  später  hat  er  sich  von  ihm  ganz 
losgemacht.  Waterhouse  lebt  und  schafft  ganz  in 
einer  Welt  des  Märchens,  die  mit  der  Wirklichkeit 
nichts  gemein  hat,  sein  Ziel  ist  die  Farbenkompo¬ 
sition.  Er  liebt  es,  entschiedene  Farben  nebeneinander 
zu  setzen,  wobei  er  gewisse  blaue,  grüne  und  violette 
Töne  bevorzugt.  Er  schafft  so,  ohne  die  Stilisierung 
irgend  wie  zuweit  nach  dem  Kunstgewerblichen  hin 
zu  treiben,  satte  teppichartige  Wirkungen  hohen  Reizes. 
Immer  spricht  aus  seinen  Bildern  eine  schlichte  Anmut 
und  aufrichtige  künstlerische  Empfindung,  die  ihn  zu 
einer  der  sympathischsten  Erscheinungen  unter  den 
heutigen  englischen  Malern  machen.  Waterhouse  ist  seit 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


67 


1895  Vollmitglied  der  Akademie,  nachdem  er  schon 
1885,  noch  in  seiner  klassischen  Periode,  zum  Associate 
gemacht  worden  war.  Seiner  ganzen  Individualität 
nach  fällt  er  durchaus  aus  dem  Rahmen  der  Akademie 
heraus. 

WaterhoLise  gehört  nur  halb  zu  den  Neupräraffae- 
liten,  denn  seine  Linie  hält  sich  frei  von  jedem  künst¬ 
lichen  Schwung.  Er  hat  durch  seine  Farbe  aber  trotz¬ 
dem  den  grössten  Einfluss  auf  diejenige  junge  Gene¬ 
ration  ausgeübt,  die  heute  diese  Schule  rein  präsentiert. 
Unter  ihr  ist  der  glänzendste  Vertreter  unstreitbar  der 
heute  erst  neunundzwanzigjährige  Byam  Shaw.  Die 
Laufbahn  dieses  Künstlers  ist  von  Anbeginn  eine 
der  glänzendsten  gewesen.  Seine  Erfolge  als  junger 
Zwanziger  erinnern  fast  an  die  von  Millais.  Mit 
fünfundzwanzig  Jahren  stellte  er  jenes  Gemälde  aus, 
das  bis  heutigen  Tages  sein  bestes  und  vielleicht  das 
beste  der  ganzen  Schule  geblieben  ist  und  seinen 
Ruf  sofort  unzweifelhaft  etablierte:  das  Bild  mit 
dem  Titel  Liebes-Tand  (Love’s  baubles).  Es  wurde  von 
der  Liverpooler  Gemäldegalerie  erworben  (Abb.  S.  65) 
und  bildet  heute  neben  Rossetti’s  Dantetraum  den 
Glanzpunkt  dieser  Sammlung.  Der  Vorwurf  ist  einem 
Rossetti 'sehen  Gedichte  aus  dessen  Sammlung  House 
of  Life«  entnommen.  Ein  Knabe,  die  Liebe  dar¬ 
stellend,  trägt  eine  Schale  mit  verlockenden  Früchten, 
nach  denen  ein  Gefolge  von  schönen  Frauen  begierig 
hascht.  Über  dem  ganzen  Bilde,  das  in  den  lebhaf¬ 
testen  Farben  gehalten  ist  und  dessen  Komposition 
ein  Meisterstück  der  Linie  darstellt,  schwebt  eine  köst¬ 
liche  Lebensfreude,  die  sich  unmittelbar  dem  Be¬ 
schauer  mitteilt.  Es  ist  die  Äusserung  eines  bedeu¬ 
tenden  rein  menschlichen  wie  grossen  malerischen 
Talentes,  an  das  sich  die  schönsten  Erwartungen 
knüpfen  müssen.  Ein  andres  Bild,  benannt  »Wahr¬ 


heit«  (Abb.  7)  zeigt  des  Malers  Stoffkreis  von  derselben 
symbolisierenden  Seite,  sein  Kompositions-  und  Farben¬ 
talent  in  kaum  minder  glücklichem  Lichte.  Aber  als 
das  Repräsentationsbild  der  neuen  Schule  muss  der 
Liebes-Tand  bezeichnet  werden. 

Ein  ungefährer  Altersgenosse  Byam  Shaw’s,  G. 
E.  Moira,  ist  nächst  diesem  jetzt  der  hervorragendste 
Vertreter  der  dekorativen  Schule.  Obgleich  schon 
seit  Anfang  der  neunziger  Jahre  ein  regelmässiger 
Aussteller,  ist  er  doch  erst  durch  einen  Wandfries  im 
Trocadero  -  Restaurant  in  London  allgemein  bekannt 
geworden.  Dieser  Fries  verwirklichte  eine  technische 
Neuerung  zum  erstenmale  in  wirklich  effektvoller  und 
überzeugender  Weise:  das  farbige  Relief.  Rings  um 
die  vier  Wände  des  Vestibüls  ziehen  sich  dicht  unter 
der  Decke  entlang  Friese  mit  ungefähr  lebensgrossen 
Figuren,  die  im  Flachrelief  herausgearbeitet  und  so¬ 
dann  mit  nichtöligen  Pigmenten  gefärbt  sind.  Die 
Farbentöne  sind  keineswegs  in  abgeschwächter  Form 
gehandhabt,  aber  auf  den  Reliefflächen  so  verrieben, 
dass  sie  in  den  Vertiefungen  dichter  sitzen  als  auf 
den  Höhen.  Einzelteile  des  Reliefs  erhalten  dabei 
Metallauflagen,  um  die  eigenartig  schimmernde  Wir¬ 
kung  noch  zu  erhöhen.  Nach  dieser  sehr  erfolg¬ 
reichen  Arbeit  ist  der  Künstler  fortgesetzt  mit  der 
Lösung  ähnlicher  Aufgaben  beschäftigt  gewesen,  zu¬ 
letzt  mit  dem  figürlichen  Schmuck  des  schönen 
Pavillons  der  Peninsular  and  Oriental  Steamship  Com¬ 
pany  auf  der  letztjährigen  Pariser  Weltausstellung, 
ln  allen  Fällen  besorgte  Moira  die  Kartons  und  färbte 
das  fertige  Relief,  während  die  Herstellung  des  letzteren 
der  Bildhauer  Lynn  Jenkins  übernahm.  Diese  farbigen 
Reliefs  haben  Moira’s  Namen  allbekannt  gemacht,  sein 
berechtigter  Ruf  gründet  sich  jedoch  nicht  auf  sie 
allein.  Er  ist  ein  grosses  Kompositionstalent  mit  nie 


Abb.  10.  Puma  und  Macaw.  Gruppe  von  J.  M.  Swau 


9 


68 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


versagendem  Schwung  der  Linie  und  grosser  Kraft  iin 
dekorativem  Aufbau,  dazu  ein  virtuoser  Figurenzeichner. 
Seine  Individualität  wiUde  nach  der  Qrosskunst  im 
Sinne  von  Cornelius  hindräugen,  wenn  nicht  die 
weiche  präraffaclitische  Linie  gleichzeitig  das  Liebliche 
in  seinen  Kompositionen  aufrecht  erhielte.  Von  seiner 
kürzlich  erfolgten  Berufung  als  Lehrer  an  die  South- 
kensington- Schule  kauri  nur  der  günstigste  Einfluss 
erwartet  werden. 

Steht  Moira,  der  sich  auch  in  Entwürfen  für  Glas¬ 
fenster  ausgezeichnet  hat,  mit  einem  Fusse  im  Kunst¬ 
gewerbe,  so  bewegt  sich  Miss  Eleanor  Fortescue 
Brickdale,  eine  fernere  Vertreterin  der  Schule,  ähnlich 
wie  Byam  Sliaw  auf  rein  malerischer  Grundlage. 
Eine  kürzlich  in  der  Dowdeswell  Gallery  veranstal¬ 
tete  Sonderausstellung  enthüllte  ein  ganz  merkwür¬ 
diges  Talent  dieser  jungen  Künstlerin.  Hier  sind 
unmittelbare  starke  Rossetti  -  Einflüsse  zu  erkennen, 
wie  sie  schon  auf  der  beigefügten  Abbildung  hervor¬ 
treten  (S.  6g).  Kühne,  aber  wohl  verarbeitete  Farbenzu¬ 
sammenstellungen  geben  dem  Bilde  eine  prächtig  reiche 
Wirkung,  die  an  den  Glanz  der  alten  Venezianer  er¬ 
innert.  Die  Künstlerin  hat  sich  auch  in  der  Buch¬ 
illustration  glänzend  bethätigt.  Eine  andre  an  dieser 
Stelle  zu  nennende  Künstlerin  ist  Miss  Catherine 
Cameron,  ebenfalls  in  den  Bahnen  weitergehend,  die 
Rossetti  vorzeichnete,  an  den  sie  ganz  besonders  durch 
den  Reichtum  ihrer  Farbe  erinnert. 

Eine  Sonderstellung  nimmt  der  ebenfalls  in  diese 
Gruppe  einznreihende  F.  Caley  Robinson  ein.  Er 
lebt  zwar  in  der  romantischen  Empfindnngswelt  wie 
die  andern  Künstler,  aber  seine  Werke  sind  weder 
so  saftig  in  der  Farbe,  noch  so  schwungvoll  in  der 
Linie  wie  die  jener.  Dafür  haucht  er  ihnen  einen 
Reiz  ganz  besonderer  Intimität  ein,  sie  sind  in  hohem 
Grade  inhaltvoll  durch  den  Reichtum  an  Empfindung, 
durch  die  Menge  künstlerischer  Einzelzüge  und  durch 
die  grosse  Sorgfalt  der  Ausarbeitung.  Ein  strenger, 
fast  primitiver  Zug  geht  durch  seine  Linienführung. 
Der  Ausdruck  seiner  Kunst  ist  der  einer  aus  dem 
tiefsten  Innern  schöpfenden,  bewundernden  Künstler¬ 
seele,  die  sich  zwar  zunächst  nur  an  wenige  wenden 
kann,  deren  Äusserungen  aber  für  denjenigen,  der 
ihnen  näher  getreten  ist,  mehr  bedeuten,  als  manches 
mit  sieghafter  Gewissheit  auftretendes  Kunstwerk. 

Einige  andere  jüngere  Mitglieder  dieser  Gruppe 
sind  noch  der  durch  sein  treffliches  Bild  in  der  Tate 
Gallery:  My  Lady ’s  Garden  allgemeiner  bekannt  ge¬ 
wordene  J.  Young  Hunter  (eine  Dame  in  reichem 
romantischen  Anzuge  füttert  im  Garten  einen  Pfau 
mit  prächtigem  grossen  Rad),  der  viel  versprechende 
Harold  Speed  und  John  da  Costa;  in  gewisser  Be¬ 
ziehung  gehört  auch  der  Glasgower  Künstler  E. 
A.  Hornel  mit  seinen  phantastischen,  ganz  teppich¬ 
artig  wirkenden  Bildern  hierher. 

Ein  viel  breiteres  Bethätignngsgebiet  als  in  der 
Malerei,  hat  diese  Gruppe  stets  in  der  Buchillustration 
gefunden.  Hier  wirkte  der  geniale  aber  seine  Eigen¬ 
art  fast  bis  ins  Krankhafte  steigernde  Aubrey  Beards- 
ley  auf  die  jüngere  Generation  mächtig  ein.  Daneben 
regte  der  stets  liebenswürdige  Zeichner  und  Maler 


Anning  Bell,  weltbekannt  durch  seine  Umschlag¬ 
zeichnung  für  das  »Studio«,  in  mehr  kunstgewerblich- 
dekorativer  Richtung  an.  Auch  er  hat  sich  übrigens 
viel  mit  den  weiter  vorn  erwähnten  farbigen  Reliefs 
beschäftigt  und  seine  beiden  grossen  Friese  Musik 
und  Tanz,  von  denen  das  eine  in  Abb.  S.  56  vorgeführt 
wird,  gehören  zu  den  reizendsten  Erzeugnissen  der 
Schule.  Auch  Walter  Crane  muss  durchaus  hierher 
gezählt  werden,  seine  massenhaft  verbreiteten  Kinder¬ 
bücher  haben  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  den 
Geist  der  dekorativen  Zeichnung  im  Volke  heimisch 
zu  machen,  ja  sie  haben  diese  englischen  dekorativen 
Ideen  sogar  als  erste  Sendboten  hinaus  in  die  weitere 
Welt  getragen.  Andere  bekannte  dekorative  Buch¬ 
illustratoren  sind  der  vortreffliche  C.  H.  Shannon  (nicht 
zu  verwechseln  mit  dem  Porträtmaler  j.j.  Shannon),  der 
Dichter-Zeichner  Laurence  Housman,  ferner  die  schon 
genannte  Gruppe  der  Birminghamer  Künstler,  sowie 
Charles  Ricketts,  Selwyn  Image,  Charles  Robinson, 
j.  D.  Batten,  Patten  Nilson,  Fairfax  Muckley,  nicht  zu 
reden  von  einem  ganzen  Heere  weiterer  weniger  be¬ 
kannter  Künstler,  die  alle  in  der  erwähnten  Richtung 
treffliche  Beiträge  zur  Buchillustration  geliefert  haben. 
In  den  letzten  Jahren  haben  sich  vor  allem  noch  zwei 
Künstler  hervorgethan ,  die  anfangs  unter  dem  Pseu¬ 
donym  Beggarstaff  Brothers  zusammenarbeiteten  und 
die  Welt  durch  ihre  ebenso  phantasievollen  als  straffen 
und  grosszügigen  Illustrationen  entzückten.  Später 
trennten  sie  sich  und  traten  als  W.  Nicholson  und 
James  Pryde  mit  ihren  wahren  Namen  hervor.  Nament¬ 
lich  W.  Nicholson  hat,  nachdem  er  sich  durch  sein 
in  der  New  Review  erschienenes  Porträt  der  Königin 
Viktoria  einen  Weltruf  erworben  hatte,  durch  eine 
Reihe  vortrefflicher  illustrierter  Bücher  in  seiner 
drastischen  Wiedergabe  von  Personen  und  Typen 
bahnbrechend  für  diese  Schule  gewirkt. 

Wie  sehr  das  dekorative  Element  gelegentlich  auch 
in  Künstlern  zum  Vorschein  kommt,  die  nicht  gerade 
auf  die  neupräraffaelilische  Fahne  schwören,  das  zeigte 
das  grosse,  in  seinem  Aufbau  und  seiner  Farbe  gleich 
treffliche  Bild  des  schon  weiter  vorn  erwähnten 
E.  A.  Abbey  auf  der  letztjährigen  Akademie- Ausstel¬ 
lung:  Kreuzfahrer  beim  Anblick  Jerusalems  (Abb.  1). 
Und  in  ähnlicher  Weise  schlagen  die  Bilder  des  be¬ 
kannten  Künstlers  Maurice  Greiffenhagen  zuweilen 
Töne  kraftvollsten  dekorativen  Schwunges  in  der  Linie 
wie  in  der  Farbe  an,  die  einen  veranlassen  möchten, 
auch  diesen  Künstler  der  neupräraffaelitischen  Gruppe 
einzureihen. 

Neben  dieser  jetzt  in  freudiger  Blüte  stehenden 
dekorativ  -  romantischen  Richtung  hat  die  alte  prä- 
raffaelitische  Kunst  noch  einen  andern  Abzweig  in 
die  englische  Malerei  der  Gegenwart  gesandt:  eine 
archaistisch-religiös-dekorative  Schule,  die  heute  vor¬ 
wiegend  der  in  Newlyn  thätige  T.  C.  Gotch  vertritt. 
Gotch  malte  früher  Freilichtbilder  und  hat  sich  erst 
vor  einigen  Jahren  plötzlich  zu  seiner  jetzigen  Spe¬ 
zialität  bekehrt,  für  die  ihm  sein  Aufenthalt  in  Newlyn 
kaum  etwas  helfen  kann.  Am  bekanntesten  ist  sein 
Bild  in  der  Tate  Gallery  »Hallelujah«  geworden, 
welches  zwei  Reihen  singender  kleiner  Mädchen,  in 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


6g 


Goldbrokat  gekleidet,  darstellt.  Die  Anlehnung  im 
Kompositionsgedanken  an  die  frühitalienische  Wand¬ 
malerei  ist  unverkennbar,  aber  die  Gesichter  und  Fri¬ 
suren  sind  ganz  modern,  wodurch  ein  gewisser  ge¬ 
mischter  und  nicht  durchaus  erfreulicher  Eindruck 
erzeugt  wird.  Das  Goldbrokat  spielt  stets  eine 
Hauptrolle  in  seinen  Bildern,  häufig  greift  er  sogar 
zum  Goldhintergrund.  Verwandt  in  der  Auffassung 
und  Durchführung  sind  die  Bilder  von  Marianne 
Stokes,  der  Gattin  des  Malers  Adrian  Stokes.  Auch 
hier  die  biblischen  Sujets  in  primitiv-dekorativem  Ge¬ 
wände,  die  Brokatstoffe,  Schriftbänder,  Goldauflagen 
für  Heiligenscheine  u.  s.  w.  In  der  Empfindungstiefe 
erscheinen  Marianne  Stokes’  Bilder  jedoch  inniger  als 
die  von  Gotch. 

Die  dekorativen  Neigungen  sind,  wenn  man  das 
Bodenwüchsige  in  der  heutigen  englischen  Malerei 
heraussucht,  vielleicht  die  am  stärksten  hervortretenden 
Werte  der  englischen  Schule.  Die  grosse  Tradition 
der  Rossetti’schen  Kunst  wirkt  hier  auf  alle  ein,  die 
sich  ihr  volles  nationales  Empfinden  gewahrt  haben. 
Sie  tritt  auch  plötzlich  wieder  bei  Künstlern  hervor,  die 
eigentlich  auf  anderm  Boden  stehen  und  mit  der 
Gruppe  Waterhouse-Shaw  nicht  das  Geringste  gemein 
haben.  So  muss  man  unbedingt  einen  der  genialsten 


unter  den  jüngeren  englischen  Künstlern,  Frank  Brang- 
wyn  in  diesem  Zusammenhänge  nennen.  Brangwyn 
fand,  nachdem  er  vorher  Landschaften  gemalt  hatte, 
auf  einer  Orientreise  seine  Individualität;  die  im¬ 
pressionistische  Malweise  verbunden  mit  der  satten 
vollen  Farbe  und  einer  durchaus  aufs  Dekorative  ge¬ 
richteten  Komposition.  Seine  Bilder  strotzen  von 
übersprudelnder  Kraft.  Sie  zeigen  scharfe  Beleuch¬ 
tungskontraste,  die  den  prächtigen  Aufbau  der  Massen 
noch  mehr  hervorheben.  Eines  seiner  Bilder  »Gold, 
Weihrauch  und  Myrrhen«  wurde  vom  Musee  de 
Luxembourg  angekauft,  wie  denn  der  Künstler  über¬ 
haupt  seine  grössten  Erfolge  auf  dem  Kontinent  er¬ 
kämpft  hat.  Neuerdings  hat  er  sich  neben  dem  eigent¬ 
lichen  Tafelbilde  auch  mit  der  rein  dekorativen  Kom¬ 
position  für  kunstgewerbliche  Zwecke  beschäftigt,  ja 
sogar  rein  tektonisch-kunstgewerbliche  Entwürfe  ge¬ 
liefert.  In  Abbildung  S.  6i  wird  der  bisher  noch  nicht 
veröffentlichte  Entwurf  für  ein  in  der  Ausführung 
begriffenes  Wandgemälde  für  die  Börse  in  London 
wiedergegeben,  das  Handel  und  Schiffahrt  darstellt. 

Brangwyn  berührt  sich  dicht  mit  einem  andern 
ungemein  originellen  Künstler,  A.  Melville,  der  die 
Brücke  nach  der  im  nächsten  Aufsatze  zu  behan¬ 
delnden  schottischen  Künstlergruppe  darstellt. 


Mit  Genehmigung  des  Herrn  Edwin  Tate 

Abb.  n.  Die  Falschheit  des  Reichtums.  Von  Miss  Eleanor  Fortesciic  Brickdale 


Hans  Gilde.  Brieflesende  Dame.  Zeichnung 


HANS  OUDE’S  LEBENSERINNERUNOEN 


Af  Hans  Gudes  Liv  og  Vaerker.  Kunstnerens  Livserin- 
dringer,  udgivne  og  forsynede  med  en  biografisk  Ind- 
ledning  af  L.  Dietrichson.  Det  norske  Aktieforlag, 
Kristiania  1899.  Pris  15  KrA) 

Es  hat  den  Verfasser  dieser  Zeilen  gewundert,  dass 
diese  schöne  und  interessante  Arbeit  Dietrichson’s  noch  so 
wenig  bekannt  ist.  Denn  eine  wirkliche  Nachlässigkeit 
wäre  es,  auch  von  dem  nicht  norwegischen  Kunstfreunde, 
dieses  gemeinsame  Werk  zweier  Norweger  zu  übersehen, 
deren  Namen  einen  so  guten  Klang  hat  wie  Gude  und 
Dietrichson,  und  die  durch  das,  was  sie  hier  zu  sagen 
haben,  dem  Leser  —  welcher  kunstpolitischen  Farbe  er 
auch  angehöre  —  einige  Stunden  angenehmster  Art  be¬ 
reiten. 

Das  Buch  handelt  von  einem  ausserordentlich  reichen 
und  thätigen  Künstlerleben,  das,  in  innigster  Berührung 
mit  der  grossen  Kunstwelt  Europas  verlebt,  wichtige  Seiten 
des  allgemeinen  künstlerischen  Lebens  im  19.  Jahrhundert 
abspiegelt,  und  daher  reich  an  weitschauenden  Ansichten 
ist,  die  ich  gern  hier  schildern  möchte,  wenn  es  nicht  der 
Mangel  an  Platz  verböte.  Das  Buch  enthält  ausserdem 
viele  Bemerkungen  über  aktuelle  Kunstfragen  sowohl  von 
seiten  des  Verfassers  der  Einleitung  als  des  Autobiographen, 
die  zu  einer  Diskussion  einladen  —  ich  meinerseits 
meine  kaum  zur  Kritik  —  was  doch  hier  zu  weitläufig 
würde.  Ich  werde  mich  daher  begnügen,  kurz  den  Inhalt 
des  Buches  anzugeben,  um  dem  eventuellen  Leser  anzu¬ 
deuten,  was  er  zu  erwarten  habe. 

Der  erste  Teil  der  Arbeit  besteht  aus  einer  verhältnis¬ 
mässig  kurz  gefassten  Erzählung  von  Gude’s  Künstlerleben 
aus  Dietrichson’s  Feder.  Der  Verfasser  selbst  nennt  sie 
ganz  anspruchslos  eine  »ergänzende  biographische  Skizze«. 
Sie  enthält  aber  in  der  That  eine  recht  vollständige  und 
in  das  Wesen  des  Gegenstandes  tief  eindringende  Dar¬ 
legung  der  ganzen  Thätigkeit  Gude’s,  durchdrungen  von 
der  wärmsten  Bewunderung  und  Sympathie  für  den 
Künstler,  eine  Sympathie,  die  wiederum  in  der  vieljährigen 
und  intimen  persönlichen  Bekanntschaft  des  Verfassers  mit 
dem  Künstler  wurzelt. 

Ich  brauche  kaum  zuzufügen,  dass  diese  Einleitung  in 
Dietrichson’s  gewohnter,  lebhafter,  warmherziger  und 
geistreicher  Weise  geschrieben  ist  —  ein  Stil,  der  immer 
etwas  von  dem  reichen  Satzbau,  von  dem  lebhaften  Tempo 
und  rhythmischen  Tonfall  des  enthusiastischen  Redners  be¬ 
sitzt,  und  der  diesen  als  Vorleser  und  Schriftsteller  so 
hinreissend  und  leicht  verständlich  gemacht  hat.  Glück¬ 
licherweise  hat  das  heranrückende  Alter  nicht  vermocht, 
sein  Gemüt  zu  kühlen  oder  seine  Feder  abzustumpfen. 

Trotz  des  grossen  Interesses,  das  die  Einleitung  weckt. 


1)  Wir  benutzen  gern  gerade  den  gegenwärtigen  Zeit¬ 
punkt,  wo  Gude  nach  reichgesegneter  Lehrthätigkeit  von 
seiner  Stellung  an  der  Berliner  Akademie  zurückgetreten 
ist,  um  durch  obigen  Aufsatz  auf  des  Künstlers  Schaffen 
hinzuweisen.  Gude  ist  am  13.  März  1825  in  Christiania 
geboren,  studierte  in  Düsseldorf  bei  Achenbach  und 
Schirmer,  wirkte  dann  seit  1854  dort  und  später  an  der 
Karlsruher  Akademie  als  Lehrer,  bis  er  im  Jahre  1880  nach 
Berlin  übersiedelte;  hier  leitete  er  das  Meisteratelier  für 
Landschaftsmalerei  an  der  Hochschule  der  bildenden 
Künste.  D.  R. 


ist  aber  doch  der  bedeutendste  Teil  des  Buches  —  und 
niemand  kann  eifriger  sein  dies  hervorzuheben,  als  der 
Einleiter  selbst  —  Gude’s  eigene  »Lebenserinnerungen  , 
die  Selbstbiographie,  die  der  grosse  Künstler  in  den  Tagen 
seines  Alters  geschrieben  hat,  und  die  sein  mannigfaltig 
abwechselndes  Leben  umfasst  von  der  Kindheit  an  in 
Christiania,  wo  er  1825  geboren  wurde,  bis  zu  den  Fest¬ 
lichkeiten  in  derselben  Stadt  1895,  als  dem  70  jährigen 
Meister  enthusiastisch  und  mit  seltener  Einstimmigkeit  von 
seinen  Landsleuten  in  und  ausser  der  Kunstwelt  gehuldigt 
wurde. 

*  * 

* 

Diese  Lebenserinnerungen  sind  nicht  geschrieben,  um 
veröffentlicht  zu  werden  —  nur  widerstrebend  und  nach 
vieler  Überredung  ist  Gude  dazu  gebracht  worden,  seine 
Einwilligung  zu  deren  Veröffentlichung  zu  geben.  Sie 
treten  also  nicht  als  »litterarisches«  Produkt  eines  »Ver¬ 
fassers«  hervor,  sondern  sind  bloss  die  Aufzeichnungen 
eines  alten  Mannes  aus  seinem  Leben,  zum  Vergnügen 
für  ihn  selbst  und  seine  Familie  geschrieben.  Daher  sind 
sie  auch  in  ihrer  Abfassung  sehr  uneben,  und  die  Schilde¬ 
rung  der  persönlichen  Erlebnisse  oder  der  Begebenheiten 
des  Familienlebens,  auch  reiner  Nebensächlichkeiten, 
nehmen  oft  einen  grossen  Platz  ein,  während  wichtige 
Begebenheiten  in  seinem  Künstlerleben,  vor  allem  seine 
eigenen  Kunstwerke,  als  Bagatelle  abgefertigt  oder  gar 
nicht  erwähnt  werden.  Eben  in  dieser  ihrer  unberechen¬ 
baren  Unmittelbarkeit  besitzen  sie  aber  einen  Zauber,  der 
von  nichts  anderem  ersetzt  werden  kann.  Denn  sie  setzen 
uns  in  direkte  Verbindung  mit  einer  äusserst  liebens¬ 
würdigen  und  reich  begabten  Persönlichkeit,  in  welcher 
Mensch  und  Künstler  zusammenschmelzen.  Gude’s  liebens¬ 
würdige  Bonhomie  äussert  sich  nicht  am  wenigsten  in 
der  bescheidenen  Art,  wie  er  von  seiner  eigenen  Kunst 
spricht. 

Gude  ist,  was  man  einen  »glücklichen«  Menschen 
nennt,  gewesen.  Er  hat  ein  ungewöhnlich  glückliches 
Familienleben  genossen,  und  äussere  günstige  Verhältnisse 
haben  ihn  umgeben  und  ihm  erlaubt  sich  zu  entwickeln, 
erfolgreich  in  seinem  Berufe  zu  arbeiten  und  reichliche 
Anerkennung  zu  gewinnen. 

Nicht,  dass  er  ohne  Widerwärtigkeiten  gewesen  wäre, 
keineswegs;  sie  haben  ihn  aber  nicht  übermannt,  noch 
ihn  bitter  gemacht,  ebensowenig  als  der  Erfolg  ihn  ge¬ 
blendet  oder  seine  Selbstkritik  vermindert  hätte.  »Ich 
will«  • —  schreibt  Gude  selbst  —  »mit  Dankbarkeit  er¬ 
kennen,  dass  mein  Künstlerleben  eines  der  glücklichsten 
gewesen  ist;  denn  das  Lichte  und  Erfreuliche  in  der  An¬ 
erkennung  und  der  Nachsicht,  die  mir  so  reichlich  zuteil 
geworden,  ist  stärker  gewesen,  als  der  Missmut  über  den 
eigenen  und  anderer  berechtigten  Tadel.«  Dass  seine 
Arbeiten  noch  so  spät,  1864,  bei  der  akademischen  Aus¬ 
stellung  in  London  zurückgewiesen  wurden,  kann  als 
Kuriosität  erwähnt  werden. 

Dieser  kleine  Unfall  spielt  aber  keine  Rolle  im  Ver¬ 
gleich  mit  den  Mühseligkeiten  anderer,  und  auch  grösserer 
Künstler,  deren  Bahn  einen  ernstlichen  Abbruch  gelitten 
durch  das  Refusieren  von  Arbeiten,  die  dem  herrschenden 
Geschmack  der  betreffenden  Personen  nicht  zugesagt  haben. 

Gude  ist  als  Künstler  auch  in  ganz  spezieller  Be- 


72 


HANS  GUDE'S  LEBENSERINNERUNGEN 


dciiluno-  eine  Uiickliche-  Natur.  Es  giebt  Künstler  einer 
mehr  rezeptiv^.'  .'I'  e.riginal  schaffenden  Art,  die  so  stark 
von  den  Tr.^  r'itionen  einer  vergangenen  Kunst  oder  von  dem 
Voib::d  e!.;:,'.  voocheiiiachenden  Meisters  gebunden  werden, 
dass  ihre  igen.'  Individualität  nie  die  notwendige  Freiheit 
erlangt,  sich  nach  Vermögen  geltend  zu  machen  —  viele 
soiciie  :..i  und  für  sich  recht  schätzbare  Talente  finden  sich 
:nni  ifeispiel  in  der  Umgebung  von  Raffael,  Rubens  oder 
Rembrandt,  sie  umkreisend  wie  Monde  dieser  —  sit  venia 
verbo  —  selbstleuchtenden  Planeten,  Gegenstücke  dazu 
finden  sich  aber  noch  heute  zahlreich  in  allen  Schulen, 
auch  den  modernsten.  Andere  haben  eine  so  scharf  aus¬ 
geprägte  Individualität  und  einen  so  unwiderstehlichen 
Drang  diese  geltend  zu  machen,  dass  sie  vor  keiner 
Konsequenz  zurückweichen,  dadurch  aber  Gefahr  laufen, 
das  Gleichgewicht  zu  verlieren  und  sich  den  Hals  zu 
brechen.  Gude  wiederum  gehört  zu  den  in  Gleichgewicht 
ruhenden  Naturen,  die  so  harmonisch  gebildet  sind,  dass 
sie  immer  sie  selbst  bleiben,  wie  viel  sie  auch  von  andern 
lernen,  und  immer  besonnen,  mutig,  aber  nie  übermütig 
vorwärts  gehen,  ihrer  Zeit,  nicht  aber  deren  Modelaunen 
folgen  und  die  Traditionen,  gleichzeitig  aber  die  individuelle 
Freiheit  respektieren. 

Es  ist,  im  grossen  gesehen,  eine  selten  schöne  Ent¬ 
wickelungsreihe,  die  uns  Gude’s  unzählige  Landschaften 
zeigen,  von  den  etwas  schwerfälligen  »romantischen« 
Hochgebirgskompositionen  aus  seiner  ersten  Düsseldorfer 
Periode  in  den  vierziger  Jahren  bis  zu  den  licht-  und 
luftgesättigten  Küstenbildern  seiner  letzten  Zeit,  »realistisch 
so  zu  sagen,  aber  von  persönlichem  Leben  durchweht  und 
von  der  seelenvollen  Stimmung  getragen,  die  Dietrichson 
mit  Recht  musikalisch  nennt. 


Diese  Auffassung  von  dem  Rechte  einerseits  der  Tra¬ 
dition  und  der  ererbten  Kenntnis,  andererseits  der  Origi¬ 
nalität  ist  bei  Gude  vollständig  bewusst,  wie  man  aus 
seinen  eigenen  Äusserungen  in  dem  Rückblick  ersieht, 
den  er  am  Schlüsse  der  Biographie  auf  seine  künstlerische 
Thätigkeit  wirft.  Und  man  kann  verstehen,  welche  wohl- 
thätige  Rolle  sie  in  seiner  Lehrwirksanikeit  gespielt  hat, 
die  ja  einen  so  grossen  Platz  in  seinem  Leben  eingenom¬ 
men  —  er  ist  ein  halbes  Jahrhundert  damit  beschäftigt  ge¬ 
wesen  —  und  von  so  unermesslicher  Bedeutung  für  die 


Ausbildung  Hunderter  jüngerer  Landschafsmaler  in  seiner 
nordischen  Heimat,  wie  in  Deutschland  gewesen  ist.  Gar 
nicht  alle  grossen  Künstler  sind  gute  Lehrer.  Gude  ist 
aber,  laut  vielstimmigem  Urteil,  als  solcher  ganz  vortrefflich. 

In  der  Regel  -  schreibt  Gude  -  darf  der  Lehrer 
seine  Hand  nicht  auf  die  Arbeit  des  Schülers  setzen,  das 
führt  nur  zu  Selbstbetrug  und  Betrug  dem  Publikum  gegen¬ 
über.  Meine  Schüler  haben  an  den  grossen  Austeilungen 
teilnehmen  und  Auszeichnungen  gewinnen  können,  weil 
es  ihre  eigenen  Arbeiten  waren,  die  sie  ausgestellt  haben. 
Sie  sind  nur  von  meiner  Kritik,  nicht  von  meinem  Pinsel 
beeinflusst  gewesen.  Da  ich  nie  versucht  habe,  den  Schü¬ 
lern  etwas  von  dem  Meinlgen,  die  Kenntnisse  ausgenom¬ 
men,  beizubiingen,  ja  sie  im  Gegenteile  davor  gewarnt, 
habe  ich  erlangt,  dass  sie  selbständige  Künstler  mit  eigener 
Persönlichkeit  geworden  sind,  und  ich  wage  es  zu  glauben, 
keine  Schule  in  dem  Sinne  einer  geistlosen  Imitation  meiner 
persönlichen  Eigenheit  gebildet  zu  haben.  Mein  Verhält¬ 
nis  zu  den  Schülern  war  immer  das  des  Kameraden,  und 
die  Bilder  auf  meiner  Staffelei  standen  der  Kritik  der  Schü¬ 
ler  ebenso  offen  wie  ihre  Bilder  der  meinigen.  Der  Unter¬ 
schied  war  oft  nur  der  —  fügt  Gude  mit  gutmütiger  Ironie 
hinzu  -  dass  ihr  Interesse  und  ihre  Teilnahme  für  meine 
Arbeiten  sehr  schwach  war  oder  ganz  fehlte  und  zwar  oft 
bei  denen,  für  die  ich  mich  am  meisten  interessierte.  Ich 
habe  nicht  wenige  Schüler  gehabt,  die  keinen  Blick  darauf 
warfen,  was  ich  in  Arbeit  hatte  .  .  .  und  zwar  waren  es 
dieselben  Schüler,  die  mit  Begierde  meine  Kritik  empfingen, 
und  oft  die  tüchtigsten  Künstler  wurden.«  —  Wahrhaftig 
ein  ungewöhnlicher  Lehrer! 

»Einen  leichten  Wehmutsschleier,«  sagt  Dietrichson, 
»haben  doch  das  Leben  und  die  Verhältnisse  in  der  nor¬ 
wegischen  Heimat  über  das  lichte  und  edle  Bild  der  Lebens¬ 
arbeit  Gude’s  geworfen.  Den  nämlich,  dass  dieser  enthu¬ 
siastische  Anbeter  der  Natur  Norwegens,  der  auch  am 
liebsten  und  am  besten  die  heimatlichen  Motive  schilderte, 
und  der  sie,  so  oft  er  es  konnte,  selbst  aufsuchte,  in  der 
Fremde  wohnte  und  dort  seine  Siege  gewann. 

J.  C.  C.  Dahl,  Gude’s  genialer  Vorgänger,  und  Gude 
selbst  gehörten  den  zwei  ältesten  Generationen  der  nor¬ 
wegischen  Malerei  an,  als  Norwegen  noch  keine  eigene 
künstlerische  Produktion  in  seinen  Grenzen  zu  unterhalten 
vermochte,  die  Emigration  also  eine  Notwendigkeit  und 
eine  Rückkehr  eine  Unmöglichkeit  wurde.  Kurz  »das  Glück 


Hans  Skala,  München.  Blcistiftstudie 


Hans  Oude.  Frische  Brise.  Gemälde  (1886) 


74 


KLEINE  NOTIZEN.  --  NEUE  KUNSTBLÄTTER 


wurde  nie  Norwegen  vergönnt,  Ues  reiche  Leben  sich  ganz 
im  heimatlichen  Schoss  en^'.'  '-'e:  zu  sehen,  und  nur 
Gude’s  eigene  wari’.n*  izbc  Va  lande,  dessen  Natur 
und  Volk  hat  dafür  ,  lass  •  <'  t^ns  nicht  fremd  ge¬ 
genübersteht.  ni.s  ■sa  te  aber  Dietrichson 

Recht  geben  müsse  n  a.i.'.s  -  -rh  aie  hntwickelung  des 

echten  und  ■  i^ir  'hc  Schönheit  der  nor¬ 
wegischen  -  andsci  i  •  .1  ^jgen  war,  wurde  Gude 

für  die  Nnr»- ( v  .1  -  -worden  ist;  und  eben  indem 
sie  von  dian  -  ist,  was  sie  in  Gude’s  Schule 

für  die  nen,  :,  f  ■  s.i,  reiche  diese  Zeit  stellt,  gelernt. 


hat  die  jüngere  (dritte)  Generation  ihren  freien  und  unab¬ 
hängigen  Standpunkt  erreicht.« 

Ich  füge  zuletzt  hinzu,  dass  das  Gude’sche  Buch  aufs 
reichste  illustriert  ist,  mit  nicht  weniger  als  121  Bildern  im 
Text  oder  auf  besonderen  Blättern,  teils  Porträts  von  im 
Texte  erwähnten  Personen  und  Orten,  teils  und  vor  allem 
Abbildungen  der  eigenen  Werke  des  Künstlers,  wodurch 
das  Lesen  der  unterhaltenden  Arbeit  doppelt  interessant 
wird.  LInsere  beigefügten  Proben  geben  eine  Vorstel¬ 
lung  davon. 

Stockholm.  GEORG  GÖTHE. 


KLEINE  NOTIZEN 


Hans  Neumann,  mit  dem  wir  durch  das  anmutige 
Schabkunstblatt  »Am  Klavier  die  Leser  der  Zeitschrift 
für  bildende  Kunst  bekannt  machen,  ist  ein  junger,  seit 
einigen  Jahren  in  München  ansässiger  Künstler,  der  sich 
schon  auf  graphischen  Ausstellungen  mehrfach  bemerkbar 
gemacht  hat.  Wie  die  beigefügte  Arbeit  erkennen  lässt, 
ist  es  ihm  im  wesentlichen  um  das  Festhalten  einer  ge¬ 
wissen  Stimmung  zu  thun,  um  das  Dekorative,  wogegen 
das  rein  Zeichnerische,  die  Schärfe  der  Linienführung,  die 
Impression  der  Bewegung  für  ihn  weniger  erstrebenswert 
zu  sein  scheint.  Neumann  ist  reiner  Graphiker  und  ver¬ 
sucht,  für  seine  Absichten  sich  die  verschiedensten  Aus¬ 
drucksmittel  dienstbar  zu  machen;  seine  Platten,  deren 
wir  eine  ganze  Reihe  gesehen  haben,  zeigen  die  mannig¬ 
faltigsten  Techniken  gemischt  und  vereinigt,  daneben  ver¬ 
sucht  er  sich  im  modernen,  farbigen  Linienholzschnitt  und 
dem  grossflächigen  Plakat.  Auch  dekorative  Entwürfe  für 


das  Kunstgewerbe  sind  sein  Arbeitsfeld.  Hans  Neumann 
ist  im  Jahre  1873  in  Kassel  geboren,  wo  sein  Vater  als 
Akademieprofessor  wirkt,  und  hat  sich  nach  der  üblichen 
Vorbildung  im  Jahre  1899  in  München  niedergelassen. 

Noch  einen  zweiten  Namen  haben  wir  heute  zum 
erstenmale  zu  nennen:  Hans  Skala.  Skala  ist  insofern 
das  Gegenstück  zu  dem  ebengenannten  Künstler,  als  seine 
Stärke  eine  bestechende,  zeichnerische  Fertigkeit  ist;  davon 
geben  die  beigefügten  zwei  Proben  seines  Skizzenbuches 
einen  erfreulichen  Beweis.  Blättert  man  seine  Studien, 
zumal  die  farbigen,  durch,  so  erkennt  man,  dass  er  ernst¬ 
lich  danach  strebt,  Luft  und  Licht  in  ihrer  malerischen 
Wirkung  auf  den  menschlichen  Körper  zu  studieren,  und 
dass  er  auf  dem  Wege  ist,  die  gestellten  Probleme  künst¬ 
lerisch  zu  lösen.  Auch  Skala,  der  1875  'i  Berlin  geboren 
ist,  lebt  gegenwärtig  in  München. 


NEUE  KUNSTBLÄTTER 


Ein  neuer  Earbcnliolzschnitt  von  Albert  Krüger  darf  für 
Sammler  von  Kunstblättern  immer  als  ein  Ereignis  gelten, 
deshalb  sei  auch  das  soeben  bei  der  G.  Grote’schen  Ver¬ 
lagsbuchhandlung  in  Berlin  erschienene  Blatt  hier  sogleich 
signalisiert  Es  giebt  jenes  bekannte  Profilbildnis  in  der 
Ambrosiana  wieder,  das  unter  dem  Namen  des  Lionardo 
geht,  dessen  behauptete  Urheberschaft  aber  ebenso,  wie 
die  Frage  nach  der  dai  gestellten  Person  zu  lebhaften 
Meinungsverschiedenheiten  unter  den  Kunstgelehrten  An¬ 
lass  gegeben  hat.  Vorjahren  ist  in  dieser  Zeitschrift,  wie 
erinnerlich,  dies  Thema  schon  ausführlich  erörtert  worden 
(N.  F.  V.  1894).  Aber  auch  dem  Kunstfreunde,  der  jen- 
seit  des  gelehrten  Streites  sich  in  die  Betrachtung  von 
Krüger’s  farbiger  Übersetzung  des  Meisterswerkes  ver¬ 
senkt,  werden  Rätsel  aufgegeben :  denn  hinter  den  adeligen 
Linien  des  Antlitzes  spürt  man  eine  Seele,  deren  Geheimnis 
der  prüfende  Blick  des  Beschauers  immer  und  wieder  zu 
erraten  sucht. 

Der  Holzschnitt  hat  eine  Fläche  von  37X22  cm;  die 
Ausführung  ist  in  jeder  Beziehung  meisterhaft,  der 
Zusammenklang  des  leuchtend  blauen  Gewandes  mit  dem 
rotbraunen  Haar  und  dem  reichen  Perlenschmuck  ist 
geradezu  prachtvoll.  k. 


Die  grosse  farbige  Nachbildung  des  y>Zinsgrosclieii«- 
(Bildfläche  25:33  cm)  von  Tizian,  welche  E.  A.  Seemann 
auf  Grund  der  direkten  Aufnahme  des  Originals  in  Drei¬ 


farbendruck  mit  der  grössten  Sorgfalt  hat  anfertigen  lassen, 
giebt  das  berühmte  Gemälde  in  Bezug  auf  die  Zeichnung 
und  die  ganze  Technik,  also  in  Bezug  auf  sein  Wesen 
und  seinen  jetzigen  Zustand  so  treu  wieder,  wie  es  bis¬ 
her  nicht  gelungen  ist  und  nicht  gelingen  konnte.  Auch 
die  Earbe  kommt  hier  nicht  mehr  als  je  zu  ihrem  Recht 
und  die  Wirkung  ist  daher  eine  so  überraschende,  dass 
mancher  Kenner  die  schöne  Reproduktion  für  würdig 
erachten  wird,  auch  in  einem  vornehmen  Zimmer  als 
Wandschmuck  zu  dienen.  (Preis  2  M.,  in  Passepartout  3  M.) 

Alte  Meister,  Verlag  von  E.  A.  Seemann.  —  Den  beiden 
Erstlingslieferungen  dieser  glänzenden  Veröffentlichung 
sind  inzwischen  drei  weitere  gefolgt,  so  dass  der  erste 
Jahrgang  abgeschlossen  ist  (zum  Abonnementspreis  von 
25  Mark),  ln  den  40  Tafeln  ist  Dürer  dreimal  (die  beiden 
Apostelpaare  und  das  Porträt  Holzschuhers),  Velazquez 
zweimal,  jeder  der  anderen  flämischen,  holländischen,  fran¬ 
zösischen,  spanischen,  italienischen  Meister  nur  einmal 
vertreten,  so  dass  bereits  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  vor¬ 
liegt  wie  der  Darstellungen  so  der  Auffassungen  und 
Behandlungsweisen,  ein  Studienmaterial,  wie  es  abseits 
von  den  Originalen  sonst  nicht  geboten  werden  kann. 
Die  meisten  Tafeln  geben  das  Original  seinem  Wesen  wie 
seiner  Färbung  nach  in  einer  ganz  frappanten  Aehnlichkeit 
wieder,  die  zugleich  von  dem  Zustande  desselben  Kenntnis 
verschafft.  Möge  die  Anerkennung,  die  das  Werk  in  den 
Fachkreisen  auch  des  Auslandes  gefunden  hat,  sich  be¬ 
haupten  und  steigern!  A.  Schnntgen  {Köln). 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


Hans  Skala,  München 


Bleistiftstadie 


SOMMERNACHT 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F. 


XIII 


GEHEIMNIS.  ORIGINALRADIERUNO  VON  G.  v.  KEMPF  IN  WIEN 


EIN  MEISTERWERK  DES  SPERANDIO 
IM  SOUTH  KENSINOTON -MUSEUM  ZU  LONDON 

Von  W.  Bode 


Beim  Durchblättem  von  Photographien  nach 
Gegenständen,  diedem  Berliner  Museum  gelegent¬ 
lich  zum  Kauf  angeboten  wurden,  fiel  mir  die 
Photographie  einer  Madonnenstatue  in  die  Hände, 
die  sich  seit  etwa  sieben  oder  acht  Jahren  im  South 
Kensington- Museum  befindet.  Sie  wurde  erworben 
vom  Kunsthändler  Bardini,  der  sie  verschiedene  Jahre 
besass,  da  es  eines  seiner  »cavalli  di  bataglia«  war, 
die  damals  im  Kunsthandel  selbst  bei  den  grössten 
Antiquaren  schon  recht  selten  zu  werden  begannen. 
Die  Gruppe  zeigt  Maria  mit  dem  Kinde  auf  dem 
Schoss,  nicht  viel  unter  Lebensgrösse.  Sie  ist  in  Thon 
modelliert;  die  ursprüngliche  Farbe  war  durch  spätere 
rohe  Anstriche  bedeckt,  nach  deren  Abnahme  nur 
noch  dürftige  Reste  der  alten  Bemalung  zu  Tage  ge¬ 
kommen  sind.  Beim  Abwaschen  hat,  infolge  zu 
scharfen  Putzes,  die  Oberfläche  zum  Teil  ziemlich 
stark  gelitten,  so  dass  die  Formen  vielfach  unscharf 
und  verwaschen  erscheinen;  dies  hat  vielleicht  auch 
darin  seinen  Grund,  dass  der  Künstler  erst  in  der 
(jetzt  beinahe  ganz  fehlenden)  dünnen  Stuckschicht, 
mit  der  die  Thonbildwerke  regelmässig  behufs  der 
Bemalung  überzogen  wurden,  die  letzten  Feinheiten 
der  Modellierung  anbrachte. 

Die  Gruppe  befand  sich  früher  in  einer  Privat¬ 
kirche  der  Mark  Ancona;  Bardini  glaubte  daher  ein 
Jugendwerk  des  Benedetto  da  Majano  darin  zu  er¬ 
blicken,  der  hier  ja  wiederholt,  namentlich  in  seiner 
früheren  Zeit,  beschäftigt  war.  Allein,  der  schlichte 
Realismus  dieser  Figuren,  dem  alle  feineren  künst¬ 
lerischen  Ausdrucksmittel:  jedes  Arrangement  der 
Falten,  jedes  Suchen  nach  freier  Gruppierung,  fern 
liegen,  hat  mit  Benedetto’s  Art  nichts  gemein;  das 
beweisen  namentlich  die  verschiedenen  Gruppen  des 
gleichen  Motivs,  grosse  und  kleine,  die  uns  von  ihm 
erhalten  sind,  ln  Florenz  dürfen  wir  den  Künstler 
überhaupt  nicht  suchen;  die  in  ihrer  lebenswahren, 
intimen  Auffassung  von  Mutter  und  Kind  allerdings 
verwandten  Arbeiten  der  Florentiner  Thonbildner, 
zeigen  noch  weit  mehr  gotische  Traditionen  in  der 
Formengebung,  in  der  Durchbildung  und  schwung¬ 
volleren  Komposition.  Der  Künstler  dieser  Gruppe 
ist  offenbar  schon  um  eine  oder  zwei  Generationen 
jünger  als  die  Meister  jener  Florentiner  Madonnen¬ 
kompositionen.  Er  ist  schon  ein  echtes  Kind  der  Früh¬ 
renaissance  und  zwar  augenscheinlich  bereits  aus  einer 
etwas  vorgeschritteneren  Zeit  derselben;  immerhin  aber 
aus  einer  Zeit,  in  der  die  Marken  noch  nicht  von 
venezianischen  Künstlern  beeinflusst  und  selbst  bedient 
waren.  Eigene  Künstler  von  einiger  Bedeutung  hat 
aber  die  Mark  Ancona  damals  fast  gar  nicht  gehabt, 
wenigstens  keine  Bildhauer;  wir  müssen  daher  den 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  E.  XIII.  H.  4. 


Verfertiger  der  Madonnenstatue  des  South  Kensington- 
Museums  doch  ausserhalb  suchen.  Da  Florenz  und 
Venedig  ausgeschlossen  sind,  liegt  es  am  nächsten, 
an  Bologna  zu  denken,  dessen  Hinterland  ja  die 
Marken  sind. 

Freilich  hat  Bologna  eingesessene  Bildhauer  erst 
um  die  Wende  des  fünfzehnten  zum  sechzehnten 
Jahrhundert  aufzuweisen,  also  in  einer  schon  etwas 
weiter  vorgeschrittenen  Zeit;  aber  im  Quattrocento 
waren  hier  mehrere  hervorragende  Bildhauer  aus  ver¬ 
schiedenen  Teilen  Italiens  nacheinander  lange  thätig, 
wurden  zum  Teil  zu  Bolognesern  und  prägten  der 
Bologneser  Plastik  ihren  Charakter  auf:  der  Sienese 
Giacomo  della  Quercia,  Niccolö  dalF  Area  aus  Bari 
und  der  Mantuaner  Sperandio.  An  Quercia’s  gross¬ 
artige  Schöpfungen  erinnert  die  Gruppe  freilich  gar 
nicht;  ist  sie  doch  auch  erst  ein  halbes  Jahrhundert 
nach  dessen  Tode  entstanden.  Niccolö’s  grosszügige 
Behandlung  steht  gleichfalls  in  vollem  Gegensätze  zu 
dem  schlichten,  fast  schüchternen,  aber  empfindungs¬ 
vollen  Naturalismus  dieses  Stückes.  Wohl  aber 
scheint  mir  Sperandio  in  Betracht  zu  kommen,  der 
jüngste  dieser  drei  Künstler,  der  seit  1478  bis  in  die 
neunziger  Jahre  in  Bologna  lebte.  Sperandio  ist  lange 
bekannt  und  gefeiert  als  Medaillenbildner,  von  seiner 
Persönlichkeit  haben  wir  aber  erst  vor  etwa  zwölf 
Jahren  durch  Venturi’s  Forschungen  ein,  noch  etwas 
unbestimmtes  Bild  erhalten,  eine  grössere  plastische 
Arbeit  glaubte  damals  derselbe  Forscher  ihm  noch 
nicht  auch  nur  mit  Wahrscheinlichkeit  zuschreiben  zu 
dürfen.  Inzwischen  hat  gleichfalls  Venturi  auf  ein 
paar  hervorragende  Bologneser  Büsten  aufmerksam 
gemacht,  die  zweifellos  Sperandio’s  Werke  sind,  und 
durch  einen  glücklichen  Urkundenfund  haben  wir  er¬ 
fahren,  dass  das  Grabmal  Alexander’s  V.  in  San 
Francesco  zu  Bologna  nicht  eine  Arbeit  aus  dem 
Anfang  des  Quattrocento  ist,  wie  man  früher  annahm, 
sondern  von  Sperandio  ausgeführt  wurde,  der  1482 
die  Restzahlung  darauf  erhielt.  Durch  den  Vergleich 
mit  den  Thonbildwerken  an  diesem  Monument  haben 
die  Fassaden  der  kleinen  Kirche  S.  Caterina  und 
einige  andere  unbedeutendere  dekorative  Thonarbeiten 
in  Bologna  ihm  zugeschrieben  werden  können;  der 
Louvre  erwarb  ein  bezeichnetes  Marmorrelief  mit  dem 
Profilportrait  des  Herzogs  Ercole  1.  d’Este,  seines 
langjährigen  Gönners,  und  aus  der  Übereinstimmung 
mit  der  Madonnenstatue  auf  jenem  Grabmal  habe  ich 
ein  paar  grosse  Madonnenreliefs  in  bemaltem  Thon, 
die  auch  aus  Bologna  stammen  (die  eine  jetzt  im 
Berliner  Museum),  dem  Künstler  zugewiesen. 

Mit  diesen  Madonnen  hat  auch  unsere  Gruppe  im 
South  Kensington-Museum  die  grösste  Verwandtschaft. 

n 


78 


EIN  MEISTERWERK  DES  SPERANDIO 


Ganz  individuelle,  unbedeutende  Formen,  in  beiden 
Figuren  so  übereinstimmend,  dass  der  Knabe  sofort 
als  das  Kind  der  Mutter  zu  erkennen  ist,  ganz  natu¬ 
ralistische,  aber  zufällige  und  wenig  geschmackvolle 
oder  gar  charaktervolle  Anordnung  der  Gewänder 
und  Behandlung  der  Falten,  knochen-  und  gelenklose 
Modellierung  der  Hände  und  Finger,  die  müden 
Augen,  die  starken  Augendeckel,  die  etwas  skrofulösen 
aufgeworfenen  Lippen  des  leicht  geöffneten  Mundes 
finden  sich  in  der  Gruppe  gerade  wie  in  jenen  Reliefs 


den  Kopf  des  Kindes  in  träumerischem  Sinnen  hinaus¬ 
schaut,  das  ist  so  wahr  und  zart  beobachtet,  mit  einer 
Einfachheit  und  Treue  wiedergegeben,  dass  sich  die 
Figuren  wie  von  selbst  zur  Gruppe  abrunden,  und 
dass  diese  ganz  unmittelbar  und  eindringlich  auf  den 
Beschauer  wirkt.  Für  die  Urheberschaft  des  Sperandio, 
dessen  Meisterwerk  unter  seinen  Kompositionen  sie 
jedenfalls  ist,  spricht  auch  der  Umstand,  dass  sie  aus 
den  Marken,  und  zwar  aus  der  Nähe  von  Faenza 
stammt,  wo  der  Künstler  vom  Sommer  1477  bis  zum 


Sperandio.  Figuren  vom  Grabmal  Alexander' s  V.  in  S.  Francesco  zu  Bologna 


und  in  den  Figuren  auf  dem  Papstmonument.  Gemein¬ 
sam  ist  ihnen  aber  auch  die  feine  Schilderung  des 
zarten  Verhältnisses  von  Mutter  und  Kind,  die  gerade 
in  ihrer  ganz  ungesuchten  Weise  von  besonders 
wahrer  und  intimer  Wirkung  ist.  Dies  gilt  vorzugs¬ 
weise  von  der  grossen  Londoner  Gruppe,  in  der 
die  Art  der  Anordnung  auch  die  Schwächen  des 
Meisters  im  Aufbau,  in  der  Faltenbildung  und  Formen- 
gebung  weit  weniger  auffallen  lässt.  Wie  das  kleine 
schüchterne  Kind  im  Schoss  der  Mutter  sitzt,  wo  es  sich 
sicher  und  wohl  fühlt,  wie  die  Mutter  es  mit  beiden 
Händen  behutsam  und  liebevoll  an  sich  drückt,  und  über 


Sommer  1478  durch  die  Tyrannen  von  Faenza  be¬ 
schäftigt  war.  Auf  diesen  Aufenthalt  Sperandio’s  in 
Faenza  führt  A.  Venturi  ein  mittelgrosses  Thonrelief 
der  Verkündigung  zurück,  das  sich  noch  im  Dom  zu 
Faenza  befindet.  Es  erscheint  für  unseren  Künstler 
ungewöhnlich  gross  in  der  Formengebung  und  Be¬ 
wegung;  freilich  kennen  wir  ihn  in  grösseren  Kom¬ 
positionen  bisher  noch  nicht.  Ein  ganz  ähnliches 
Verkündigungsrelief  in  Thon  besitzt  Herr  Adolf  von 
Beckerath  in  Berlin,  das  sich  1898  in  der  Renaissance- 
Ausstellung  befand;  es  wurde  in  Florenz  erworben, 
stammt  aber  gleichfalls  aus  der  Mark  Ancona. 


SPERANDIO  SCULPS. 


LONDON,  SOUTH  KENSINGTON-MUSEUM 

1 1  * 


i. 


•s  .  .. 

:  \  -  -‘.:| 


STUDIENKOPF  VON  KÄTHE  KOLLWITZ  IN  BERLIN 


ZEICHNENDE  KÜNSTE 

VIERTE  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SECESSION 

Von  Ludwig  Kaemmerer 


Als  der  Glanz  der  holländischen  Malerei  verblichen  war, 
die  Hals,  Rembrandt,  Vermeer  ihre  Augen  geschlossen 
hatten,  da  begann  man  von  Amsterdam  nach  Paris  zu 
schielen  und  über  die  »Grondlegginge  der  Teekenkonst 
akademisch  zu  meditieren.  Was  dem  fünfzehnten  Jahr¬ 
hundert  handwerkliche  Überlieferung  gewesen,  was  im 
sechzehnten  als  Grundlage  aller  Malerei  noch  mehr  be¬ 
wundert  als  ehrlich  geübt,  von  den  vorwärtsstürmenden 
Genies  des  siebzehnten  aber  über  den  Haufen  gerannt  war, 
das  wurde  von  dem  holländischen  Poussin  Gerard  Lairesse 
»met  vorbeeiden  uyt  de  besten  konststukken  der  oude  en 
nieuwe  Puyk-Schilders  bevestigd.«  Schon  1769  erörtert 
man  mit  einem  schier  an  die  italienische  Frührenaissance 
erinnernden  Eifer,  inwiefern  die  Zeichnung  den  Vorrang 
vor  der  Färbung  behaupte.  Die  zweite  Renaissance  der 
Antike  rankte  sich  an  der  Zeichnung  empor:  das  Empire 
ist  schlechthin  plastisch-zeichnerisch.  Man  denke  an  Goethe, 
die  Kartonkunst  und  seine  Ansichten  darüber,  an  die  Nach¬ 
blüte  der  Grabstichelkunst  etc. 

Dieses  Etcetera  bedarf  keiner  historischen  Auffrischung; 
es  ragt  mit  dürren  Zweigen  noch  immer  hie  und  da  in 
unsere  Tage  hinein. 

Edouard  Manet’s  Schaffen,  das  die  formale  und  zeich¬ 
nerische  Beherrschung  des  Naturbilds  mit  bewusster  Rücksichtslosigkeit  der  freifarbigen  Wiedergabe  sinnlich¬ 
optischer  Eindrücke  opferte,  wird  von  seinem  jüngsten  Biographen  als  »die  letzte  Etappe  in  der  malerischen 
Bewältigung  der  farbigen  Erscheinung  der  Natur als  Befreiungsthat  gefeiert. 

Trotzdem  erschienen  1895  Max  Klinger’s  Antithese  von  »Malerei  und  Zeichnung«  und  1897  Adolf 

Hildebrand’s  »Problem  der  Form'  bereits  in  zweiter  Auflage  als  Menetekel  an  der  stets  kalkbleichen 

deutschen  Wand  künstlerischer  Abstraktion.  Heinrich  Woelfflin  pries  die  vorbildliche  Kompositionsklarheit 
und  Linienreinheit  des  klassischen  Stils.  Toroop  und  van  de  Velde  suchten  die  blühende  Kunst  der  Farbe 
durch  Symbolik  der  Linien  und  Logik  der  Formen  auszitlaugen.  Die  Kunsterzieher  dekretieren  eine  Reform 
des  Zeichenunterrichts  als  wichtigste  Grundlage  aller  künstlerischen  Bildung.  Und  nun  eröffnet  gar  die 
Berliner  Secession  eine  Ausstellung  unter  dem  beängstigend  altväterischen  Namen:  Zeichnende  Künste. 

Kein  Grund  zu  Beklemmungen!  Im  Schatten  Manet’s  und  Hokusai’s  wird  auch  in  Deutschland 
noch  eine  Weile  die  Farbe  gedeihen,  bis  ihr  Reiz  —  den  Augen  der  Minderbemittelten  andemonstriert  — 
wieder  einer  Reaktion  weicht.  Vielleicht  hat  dann  die  Linie  und  Form  schon  wieder  mehr  —  und  vor 

allem  Neues  —  zu  sagen  gelernt.  Dass  aber  der  frisch  erschlossene  Quell,  der  über  das  unverwüstliche 

Hochgebirgsgestein  Velazquez  und  Goya  in  unsere  Niederungen  geleitet  wurde,  gar  zu  schnell  versiegen 
könnte,  davor  braucht  auch  der  keine  Furcht  zu  haben,  der  aus  dem  Prospekt  der  in  Frage  stehenden  Aus¬ 
stellung  mit  heimlicher  Sorge  vernimmt,  dass  hier  nur  die  deutsche  Kunst  zu  Wort  kommen  soll. 

Die  »zeichnenden  Künste«  —  nicht  Deutschlands,  sondern  vor  allem  der  Mitglieder  der  Berliner  Secession 
—  auf  einem  Flächenraum  von  etwa  hundert  Quadratmetern  ausgebreitet,  werden  sie  die  von  heute  zu 
morgen  schwankende  Gunst  des  Publikums  zu  gewinnen,  zu  fesseln  wissen?  Ein  Wagnis,  eine  Demonstration! 
Vor  allem  aber  eine  Mut  bezeugende  That!  Und,  wer  unbefangen,  mit  wachsverstopften  Ohren  und 

freiem  Blick  die  Säle  der  secessionistischen  Burg  in  der  Kantstrasse  mustert,  wird  sich  gern  des  alten 

Spruchs  erinnern:  fortes  fortuna  adjuvat. 

Die  öffentliche  Kritik  aber  darf  sich  mit  der  Glücksgöttin  nicht  ohne  weiteres  identifizieren.  Ihre 
Bedenken  zurückzuhalten,  läge  nur  dann  Grund  vor,  wenn  die  Bewegung,  die  hier  sich  so  kräftig  geltend 
macht,  ihr  noch  aufmunterungsbedürftig  erschiene.  Heute  aber  dürfte  viel  eher  ein  klug  retardierendes 
Wort  auch  Freunden  gestattet  sein. 

Zunächst  sei  der  Gesamteindruck  der  Ausstellung  festgestellt.  Es  überwiegt  bei  weitem  die  farbige  Studie, 
die  Skizze,  die  Karikatur.  Die  Schwarz-weisstechnik  —  die  seriöse  Graphik  im  alten  Sinn  tritt  durchaus 


82 


ZEICHNENDE  KÜNSTE 


zurück.  Das  graphische  Handwerk  der  Reproduktion 
ist  fast  ganz  ausgeschlossen.  Die  Ellbogenfreiheit,  die 
sich  der  moderne  Künstler  im  harten  Kampf  gegen 
die  Zunft  —  nicht  nur  der  Schaffenden,  sondern  auch 
der  Geniesser  i^n  errungen  hat,  wird  in  vollen 
Zügtn  gerosscn.  Die  Skizze,  früher  mehr  dem  in¬ 
timen  .\;.ci:erfreund  und  Fachgenossen  bestimmt,  ist 
lange  sciion  ausstellungsfähig  geworden,  ja,  sie  hat 
von  ihrer  gröberen  und  gefallsüchtigeren  Schwester, 
der  Affiche,  vieles  angenommen,  was  sie  völlig  aus 
riem  siiüen  Bezirk  der  zarten  Portefeuillekunst,  aus 
der  Sammlerkiause  des  ancien  regime  verbannt. 

Diese  Übermacht  des  Plakatstils  verkündet  auch 
die  Illustration  unserer  deutschen  Witzblätter  in 
Format  und  Mache.  Ihre  Mitarbeiter  bilden  das  Gros 
der  Aussteller  in  der  Kantstrasse.  Das  ist  die  Stärke 
und  auch  die  Schwäche  dieser  Veranstaltung.  Allzu¬ 
viele  Karikaturen  auf  einem  Platz  wecken  bei  dem 
von  der  Überbrettelei  unserer  Tage  ohnehin  degoutier- 
ten  Besucher  leicht  ein  Gefühl  des  Unbehagens. 
Stärker  als  irgendwo  drängt  sich  in  der  Karikatur  das 
Stoffliche,  das  Gegenständliche  an  den  Geniessenden 
heran.  Es  ist  niemals  ganz  neutraler  Boden,  den 
man  da  vor  sich  hat,  und  den  künstlerischen  Kern 
jedesmal  wieder  aus  seiner  Umhüllung  herausschälen 
zu  müssen,  macht  auf  die  Länge  der  Zeit  mehr  Plage 
als  Freude.  Dazu  kommt,  dass  die  grosse  Berliner 
in  diesen  Gewässern  —  wenn  auch  ihre  Netze  er¬ 
heblich  weitere  Maschen  hatten  —  bereits  mehrmals 
mit  Erfolg  gefischt  hat. 

München  ist  die  eigentliche  Heimstätte  jenes  ge¬ 
legentlich  etwas  grobschlächtigen,  künstlerisch  bramar¬ 


basierenden  Humors,  dem  wir  ein  in  Deutschland 
neues,  der  modernen  Malerei  ebenbürtiges  graphisches 
Genre  verdanken.  Die  zinkotypische  Reproduktions¬ 
technik  hat  zweifellos  das  ihre  dazu  beigetragen,  diesen 
Jugend-  und  Sirnplizissimusstil  —  lucus  a  non  lu- 
cendo  —  zu  erzeugen  und  zu  vergröbern.  Bruno  Paul, 
Rudolf  Wilkc,  Adolf  Münzer,  Walther  Oeorgl,  Tliöny 
(Abb.  4)  und  Reznicek  arbeiten  direkt  für  Zinkotypie. 
Sie  interessieren  trotzdem  nicht  sowohl  als  Graphiker, 
vielmehr  als  Künstler.  Unter  dem  »tachisme«,  dem 
sie  huldigen,  steckt  oft  tiefes  Gefühl,  feine  Beobachtung, 
nervöse  Beweglichkeit,  die  auch  den  fesseln,  der  sich 
von  der  Klobigkeit  ihrer  Ausdrucksweise  anfangs  be¬ 
leidigt  fühlte.  Die  grelle  Art  der  Übertreibung  — 
hier  hat  Japan,  oder  vielmehr  der  missverstandene 
Japanismus,  sicherlich  nicht  zur  Verfeinerung  west¬ 
lichen  Empfindens  mitgewirkt  —  kann  zarter  organi¬ 
sierten  Gemütern  oft  den  künstlerischen  Spass  ver¬ 
derben,  zumal  die  Verzerrung  allzuklar  als  angelerntes 
Mittel  zum  Zweck  erscheint.  Wenn  Thomas  Theodor 
Heine,  einer  der  begabtesten  und  feinsten  der  Gruppe, 
der  sehr  ausgiebig  hier  vertreten  ist,  für  sich,  und 
nicht  für  den  Simplizissimus  arbeitet,  erscheint  er  dem 
Kunstfreund  stets  in  sympathischerem  Licht,  wie  jeder 
Schriftsteller,  der  für  eine  Tageszeitung  schreibt,  nie¬ 
mals  den  Eindruck  völliger  Unbefangenheit  machen 
wird.  Trotzdem  wollen  wir  froh  sein,  dass  in  Deutsch¬ 
land  die  künstlerische  Kraft  so  dem  grossen  Publikum 
—  wenn  auch  in  einer  nicht  immer  lieblichen  Um¬ 
wicklung  —  zu  Gemüte  geführt  wird. 

Von  Talenten,  die  als  Volkserzieher  dieser  Art 
Schätzung  verdienen,  kommen  in  dieser  Ausstellung 


Abb.  2.  Studie  von  Max  Liebermann 


LUDWIG  V.  HOFMANN 


Abb.  3. 


STUDIE  ZUM  FRÜHLINQSSTURM 


84 


ZEICHNENDE  KÜNSTE 


ausser  den  genannten  noch  folgende  in  Betracht:  der 
derbgesunde  Wiener  Ferdinand  Andri,  die  Jugend- 


Bicden 


cier  Diez,  Feldbauer,  Eicliler  und  Angela  Jank, 
1  Oi'a'anisierie  Eugen  Kifchner,  der  bizarre 
‘  -.{Innann  und  die  Berliner  lustigen  Sitten- 
:  rDiiemann,  Schnebel,  Feininger,  Edel  und 
Juiger.  Von  der  Originalität  eines  Beardsley, 
,t;‘odon,  Nicholson  oder  Lautrec  ist  zwar 
csei  Gruppe 


—  t  feine  vielleicht 
ausgenommen  — 
aber  immerhin  ist 
der  künstlerische  Ge¬ 
halt  unserer  moder¬ 
nen  Karikatur  doch 
erheblich  kräftiger 
als  der  früherer  Ge¬ 
nerationen  und  wird 
noch  eine  Weile  Vor¬ 
halten,  die  breiten 
Bettelsuppen  des  Ta¬ 
geswitzes  schmack¬ 
haft  zu  machen. 

Die  Farce  zn  ba¬ 
lancieren  ,  hat  die 
Berliner  Secession 
sich  bemüht,  indem 
sie  Max  KUnger, 

Otto  Greiner,  Hans 
Thorna  und  seinen 
Knappen  H.  von 
Volkmann, Matthäus 
Schiestl,  Walter 
Leistikow  (dessen 
Radierung  »Wald¬ 
see  diesen  Aufsatz 
ziert),  Peter  Behrens, 

Melchior  Lechter, 

F.  Erler,  L.  von 
Hofmann  in  gemes¬ 
senem  Zuge  auf¬ 
marschieren  Hess. 

Stattlicher  noch  — 
wenn  auch  nicht  so 
feierlich  drapiert  — 
wirkt  das  naturalis¬ 
tische  Fähnlein  um 
Max  Liebermann : 

Skarbina,  Kaethe 
Kollwitz ,  O.  H. 

Engel,  Gurt  Her¬ 
mann,  Emil  Orlik,  Alberts,  Kühl,  Olde,  Hübner, 
Corinth,  Slevogt,  Frenzei,  Baliischek  etc. 

Die  Karlsruher  und  Stuttgarter  Lithographen 
kommen  nur  in  einigen  mit  berechtigter  Vorsicht  aus¬ 
gewählten  Proben  zu  Wort:  Leopold  von  Kulckreuth, 
der  sehr  talentvolle  E.  R.  Weiss,  Heine  Rath.  Die 
Dresdner  Graphik  fällt  —  bis  auf  die  oben  genannten 
Pastelle  von  G.  Kühl  —  ganz  aus.  Hier,  wie  auch 
sonst  fühlt  man  Lücken,  die  nur  kurz  durch  einige 
markante  Namen  näher  bezeichnet  seien:  Leibi,  Stadler, 


Abb.  4.  Zeichnung  von  E.  Thöny,  München 


Ernst  Neumann,  Richard  Müller,  Eitner,  lllies,  H.  Otto, 
Rasch,  Gleichen -Russwurm,  Hollenberg,  Ferdinand 
Schmutzer,  Heinrich  Wolff.  Sie  alle,  die  in  der  mo¬ 
dernen  deutschen  Graphik  ein  gewiss  ebenso  beach¬ 
tenswertes  Kapital  repräsentieren,  wie  die  robusten 
Spassmacher  des  Tages,  fehlen. 

Aber,  was  man  den  grossen  Ausstellungen  am 
Lehrter  Bahnhof  mit  Recht  zum  Vorwurf  gemacht 

und,  wogegen  die 
Secession  mit  fana¬ 
tischem  Eifer  anzu¬ 
kämpfen  bemüht 
war:  die  allzugrosse 
Zahl  von  Einzelob¬ 
jekten  wird  trotz 
solcher  Lücken  auch 
dieser  graphischen 
A  usstel  1  un  g  z  u  m  Ver¬ 
hängnis.  Den  Künst¬ 
lern,  die  sich  hier 
vor  dem  Publikum 
mit  dem  Besten,  was 
sie  können,  zeigen, 
würde  man  ohne 
Zweifel  zu  nahe  tre¬ 
ten  mit  dem  Grund¬ 
satz,  ein  kleineres 
Gemäss  künstleri¬ 
scher  Arbeit  verlange 
weniger  Aufmerk¬ 
samkeit  und  weniger 
eindringliche  Be¬ 
trachtung.  Diese 
Blätter  und  Blättchen 
sollen  ja  eben  be¬ 
weisen,  dass  die 
Kunst  nicht  nach 
der  Elle  gemessen 
werden  kann.  Wie 
will,  wie  kann  man 
aber  nahezu  700  Ar¬ 
beiten  auf  einerWan- 
derung  durch  sieben 
Säle  oder  in  einer 
kürzeren  Besprech¬ 
ung,  wie  dieser, 
gerecht  werden  ?  Be¬ 
gnügen  wir  uns  dar¬ 
um,  unbesorgt  um 
tiefsinnige  Gruppie¬ 
rung  und  eingehende 
Begründung  des  Urteils,  mit  einer  knappen  Aufzäh¬ 
lung  dessen,  was  zu  einer  intimen  Ausstellung  ver¬ 
einigt,  einen  gewiss  noch  grösseren  Genuss  gewähren 
würde,  als  das  derzeitige  Meeting. 

Da  sind  einige  Aktzeichnungen  von  Max  Klms^r 
von  grosser  Schönheit  und  immer  wieder  der  Be¬ 
trachtung  wert,  wenn  sie  uns  auch  über  ihren  Schöpfer 
nichts  wesentlich  Neues  zu  sagen  haben,  so  wenig, 
wie  die  raumsperrend  ausgebreiteten  Drucke  seiner 
Brahmsphantasie  und  der  Radierungsfolge:  vom  Tode. 


ZEICHNENDE  KÜNSTE 


85 


Ludwig  von  Hofmann' s  Studien  dagegen  öffnen  unsern 
Blick  für  eine  Seite  seines  Talents,  die  in  seinen  Bil¬ 
dern  oft  hinter  dem  starken  Eindruck  ekstatischer 
Earbigkeit  zurücktritt.  Manches  erinnert  schlechtweg 
an  die  Naturalisten  strenger  Observanz,  anderes  ent¬ 
zückt  durch  den  Schwung  der  Bewegung  und  die 
Sicherheit  des  Formengefühls.  Eine  Studie  zu  Hof- 
mann’s  bekanntem  Bilde:  Frühlingssturm,  haben  wir 
hier  abgebildet  (Abb.  3). 

Kciethe  Kollwitz,  eine  Schülerin  Stauffer- Berns,  die 
durch  ihre  ergreifende  Schilderung  des  Weberaufstands 
in  einer  Reihe  von  Radierungen  und  Lithographien 
i8g8  zuerst  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  ihr 
ungewöhnliches  Talent  lenkte,  arbeitet  mit  zäher  Energie 
an  dessen  Weiterbildung.  Die  Skizzen  und  Studien 
zu  dem  im  Sommer  bereits  in  der  Secession  ausge¬ 
stellten  'Tanz  um  die  Guillotine«  zeugen  von  einer 
Art  verbissenen  Ingrimms,  sich  der  einzelnen  Motive 
zu  bemächtigen,  zugleich  aber  auch  von  einer  plas¬ 
tischen  Kraft  und  Entschlossenheit,  wie  sie  selten  bei 
Frauen  anzutreffen  sind.  Am  erstaunlichsten  treten 
diese  Eigenheiten  wohl  in  dem  herben  Frauenkopf 
in  Clairobskurzeichnung  hervor,  den  wir  an  der  Spitze 
dieses  Aufsatzes  abbilden.  Beachtenswert,  wenn  auch 
an  künstlerischer  Vollkraft  den  ebengenannten  Arbeiten 
nicht  zu  vergleichen,  sind  die  Federzeichnungen  von 
Giistava  //äg^r-Berlin,  in  flotter  Parallelschraffierung 
wiedergegebene  Impressionen  von  oft  überraschender 
Treffsicherheit  (Abb.  1). 

Liebermann  spricht  in  seinen  zahlreichen  kleinen 
Kreide-Skizzen  die  überlegene  nonchalante  Sprache  ziel¬ 
gewisser  Meisterschaft.  Es  sind  mehr  Notizen,  als  Mittei¬ 
lungen  an  das  Publikum.  Die  Pastelle  des  Berliner  Seces- 
sionsführers  mögen  als  Belege  für  seine  unablässige 
Weiterarbeit  besonderer  Beachtung  empfohlen  sein 
(Abb.  2).  Max  Slevogfs  Tierstudien  erinnern  von  weitem 
an  Rembrandt’s  Stenogramme  ähnlichen  Inhalts,  aber 
bedeuten  für  die  eigentliche  Stärke  seines  Talents  nicht 
allzuviel  (Abb.  s.  S.  93).  Wenig  erfreulich  sind  die  ge¬ 
spreizten  und  gewaltsamen  Radierungen  von  Louis  Co- 
rinth,  die  keine  rechte  Liebe  und  auch  kaum  erhebliches 
Verständnis  für  die  graphischen  Mittel  verraten,  wogegen 
Jacob  Alberts  in  der  Kreidezeichnung  sich  mit  mehr 
Energie  auszudrücken  versteht,  als  in  der  Malerei.  Eine 
bisher  noch  wenig  bekannte  Erscheinung  ist  Theodor 
Eifert,  dessen  Federzeichnung  eines  Hamburger  Fleets 
mit  viel  Überlegung  und  Feingefühl  gemacht  ist.  Als 
Homo  novus  begegnet  man  auf  dieser  Ausstellung 
ferner  Heinrich  Zille,  einem  Geistesverwandten  von 
Baluschek  und  Friedrich  Latendorf,  der  gleich  diesen 
Schilderern  von  Berlin  N.  sich  im  breitesten  Berliner 
Proletarierdialekt  gefällt,  ohne  tieferes  Interesse  wecken 
zu  können.  Er  bleibt  zu  sehr  im  Stofflichen  stecken, 


ihm  fehlt  der  Humor,  der  über  den  Dingen  steht, 
aber  auch  die  erschütternde  Tragik,  wie  sie  z.  B.  aus 
Käthe  Kollwitz’  Arbeiten  zornig  aufflammt.  Paul 
Baum,  der  seinen  Wohnsitz  von  Dresden  nach  Berlin 
verlegt  hat,  aquarelliert  in  zarten  Tönen  und  spär¬ 
lichen  Formen  Landschaften,  die  oft  etwas  blutleer 
wirken,  aber  durch  einen  Hauch  freundlicher  Lyrik 
den  Beschauer  gewinnen. 

Aus  dem  Schwarm  der  Idealisten,  die  die  Schwarz¬ 
weisskunst  von  rechtswegen  als  ihr  besonderes  Revier 
in  Anspruch  nehmen,  tauchen  nicht  gerade  viel  neue 
Lichter  auf.  Melchior  Lechter,  Fritz  Frier,  Peter 
Behrens  rechnen  wir  zu  den  älteren,  wenn  auch  ihre 
kunstgewerbliche  Stilaffektation  von  künstlerischer 
Reife  und  Tiefe  noch  recht  weit  entfernt  ist.  Ernster 
zu  nehmen  ist  E.  R.  Weiss,  der  aus  seinen  naturalis¬ 
tischen  Anfängen  sich  zu  einem  kraft-  und  tempera¬ 
mentvollen  Buchillustrator  im  derben  Holzschnittstil 
entwickelt  hat  und  auch  da  zu  fesseln  weiss,  wo  die 
Verstiegenheit  seiner  Ideen  anfangs  nur  Schütteln  des 
Kopfes  erregt.  Emil  Orlik,  der  technische  Tausend¬ 
künstler  aus  Prag,  befindet  sich  zur  Zeit  im  Purgatorio 
der  japanischen  Kunst,  die  er  an  Ort  und  Stelle  mit 
einer  Gründlichkeit  studiert  und  nachgeahmt  hat,  wie 
wenige  andere,  die  ihren  Blick  nach  dem  lichtbringen¬ 
den  Osten  wandten.  Seine  japanischen  Holzschnitte, 
ein  Gegenstück  zu  Yoshio  Markino’s  Schilderungen 
des  Londoner  Volkslebens,  bleiben  —  bei  aller  An¬ 
passungsfähigkeit  ihres  Schöpfers  — ,  doch  hybride 
Bildungen,  denen  gegenüber  der  Beschauer  nur  schwer 
naive  Freude  empfinden  kann.  Hoffentlich  wird  das 
reiche  Talent  Orlik's  in  diesem  tiefen  Schacht  fremd¬ 
sprachlichen  Studiums  nicht  verschüttet  werden.  Er 
wird  dabei  übrigens,  wenn  nicht  mehr,  so  doch  Das 
gelernt  haben,  dass  das  Gute  und  Grosse,  was  wir 
an  ostasiatischer  Kultur  und  Kunst  bestaunen,  im 
wesentlichen  darauf  beruht,  dass  dort  die  handwerk¬ 
liche  Überlieferung  ein  festes  Ferment  aller  künst¬ 
lerischen  Bildung  darstellt;  und  dass  gerade  die  Ab¬ 
schliessung  gegen  fremde  Elemente  den  Quell  nationalen 
Schaffens  fast  bis  in  unsere  Tage  rein  erhalten  hat. 
Damit  soll  keine  schutzzöllnerische  Kunstpolitik  ge¬ 
predigt  sein  —  es  giebt  Nationen,  die  im  Freihandel 
nur  profitieren  können  —  aber  wirklich  ausschlag¬ 
gebend  für  ihre  Stellung  als  künstlerische  Weltmacht 
wird  nicht  sowohl  der  Import,  als  vielmehr  seine 
Verwertung  in  nationalem  Sinne  sein.  Und  auf  diese 
kunstwirtschaftliche  Frage  hat  die  Ausstellung  in 
Charlottenburg,  die  sich  auf  die  einheimische  Pro¬ 
duktion  in  den  »zeichnenden  Künsten«  beschränkte, 
eine  Antwort  gegeben,  die  alles  in  allem  genommen, 
eher  pessimistische  Gedanken  weckt,  als  dass  sie 
unsere  Hoffnungen  in  Zuversicht  wandelte. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  4. 


12 


Die  Erzählung  der  Alten 


Abb.  1 


AMOR  UND  PSYCHE 

EIN  FRESKENCYKLUS  AUS  DER  SCHULE  RAFFAEL’S  IN  DER  ENGELSBURG 

ZU  ROM 

Von  Ernst  Steinmann 


BIS  heute  hat  man  dem  Märchen  von  Amor  und 
Psyche,  welches  Raffael  in  der  Farnesina  er¬ 
zählt  hat,  in  Rom  keinen  Gemäldecyklus  ähn¬ 
lichen  Inhalts  an  die  Seite  stellen  können.  Es  wurde 
immer  nur  jene  Reihenfolge  von  zweiunddreissig 
Stichen  aufgeführt,  in  welchen  Michael  Coxcyen  in 
den  dreissiger  Jahren  des  Cinquecento  die  Fabel  des 
Apulejus  illustriert  hat,  die  aber,  wie  heute  mit  Recht 
angenommen  wird,  mit  den  Kompositionen  Raffael’s 
in  keinem  inneren  Zusammenhänge  stehen^). 

Die  Ausgrabungen  und  Restaurationen,  welche  seit 
kurzem  in  der  Engelsburg  vorgenommen  werden,  haben 
die  Aufmerksamkeit  auch  auf  die  dort  noch  erhaltenen 
Freskenreste  gelenkt,  über  deren  Entstehungsgeschichte 
uns  zur  Zeit  nichts  anderes  erhalten  ist,  als  eine  Notiz 
bei  Vasari,  im  Leben  des  Perino  del  Vaga. -)  Hier 
wird  der  Kastellan  der  Festung,  Tiberio  Crispo,  welcher 


1)  Die  ältere  Litteratiir  über  die  Farnesina  hat  Förster 
vollständig  bis  auf  Cugnoni’s  bedeutsame  Arbeit  über 
Agostino  Chigi  zusamniengestellt  (Farnesina-Studien,  Rostock 
1880).  Seitdem  haben  über  den  Freskenschmuck  der  Far¬ 
nesina  gehandelt:  Venturi,  La  Farnesina,  Roma  1890  und 
A.  Weese,  Baldassare  Peruzzi’s  Anteil  an  dem  malerischen 
Schmucke  der  Villa  Farnesina.  Leipzig  1894.  Besonders 
beachtenswert  ist  der  kleine  Aufsatz  von  Ad.  Michaelis, 
Zu  Raffael’s  Psychebildern  in  der  Farnesina  (Kunstchronik 
1889,  p.  2),  auf  welchen  sich  ein  Teil  der  folgenden  Aus¬ 
führungen  stützt. 

2)  Ed.  Milanesi  V,  p.  628. 


am  ig.  Dezember  1544  von  Paul  III.  den  roten  Hut 
erhielt,  als  Unternehmer  der  Restaurationen  im  Castel 
St.  Angelo  gepriesen  und  von  den  Malereien  heisst 
es  am  Schluss:  »die  Säle  und  die  übrigen  haupt¬ 
sächlichsten  Gemächer  malte  Perino  aus,  zum  Teil 
mit  eigener  Hand,  zum  Teil  mit  Hilfe  seiner  Schüler 
nach  seinen  Kartons  .  Dem  Hauptsaal,  der  noch  in 
seiner  ganzen  Pracht  erhalten  ist,  schenkt  der  Biograph 
noch  einige  besondere  Bemerkungen;  in  den  übrigen 
Räumen  erwähnt  er  nur  im  allgemeinen  die  »Fregia- 
ture  bellissime«.  Diese  gerade  erregen  heute  beson¬ 
deres  Interesse,  einerseits  wegen  der  ausgezeichneten 
Erhaltung,  andererseits  wegen  der  Eigenart  des  Dar¬ 
gestellten.  Im  ersten  Gemach  rechts,  neben  dem 
Hauptsaal,  sind  die  Thaten  des  Perseus  verherrlicht; 
im  Zimmer  daneben  ist  die  Geschichte  von  Amor 
und  Psyche  erzählt. 

Ein  einziges  Fenster  erhellt  das  geräumige  Gemach; 
die  holzgetäfelte  Decke  ist  reich  gegliedert  und  mit 
zierlichen  Malereien  auf  goldenem  Grunde  geschmückt, 
ähnlich  wie  Pinturicchio’s  Holzdecken  im  Palast  der 
Penitenzieri.  Um  das  Lilienwappen  des  Farnesepapstes 
gruppiert  sich  die  übrige  Dekoration,  aus  welcher  sich 
das  Einhorn  heraushebt,  das  Wappentier  des  Tiberio 
Crispo.  1)  Der  Fries,  welcher  rings  unter  der  Decke 
entlang  läuft,  ist  kaum  1,50  m  hoch;  die  kleinen 
Bilder  sind  von  üppigster  Ornamentik  umrahmt.  Unter 


1)  Ciaconi,  Vitae  Pontificum  III,  p.  706. 


AMOR  UND  PSYCHE 


87 


Das  Orakel  des  Gottes  Abb.  2 


dem  Friese,  welcher  selbst  wie  ein  Teppich  oben 
aufgehängt  erscheint,  sind  noch  fast  alle  Nägel  für 
die  Arazzi  an  den  Wänden  erhalten. 

Wie  weit  Perino  selbst  Hand  an  diese  Fresken 
gelegt  hat,  soll  hier  nicht  erörtert  werden.  Es  gilt 
vor  allem  die  Publikation  der  Dokumente  abzuwarten, 
nach  welchen  zur  Zeit  in  den  Archiven  Roms  eifrig 
geforscht  wird.  Jedenfalls  sind  die  hier  gebotenen 
Leistungen  sehr  erfreuliche:  die  Kompositionen  sind 
meistenteils  anmutig  und  zwanglos  entworfen,  die 
Farben  etwas  blass,  aber  sehr  einheitlich  gestimmt, 
der  Gesamteindruck  ist  heiter  und  prächtig,  nachdem 
eine  sorgfältige  Reinigung  allen  Staub  und  Schmutz 
von  den  Bildern  entfernt  hat.‘^) 

An  der  Eingangswand,  links  in  der  Ecke,  beginnt  die 
Erzählung.  Hier  sieht  man  vor  einer  künstlichen  Grotte 
eine  hässliche  Alte  und  ein  schönes,  trauerndes,  völlig 
unbekleidetes  Mädchen  sitzen  (Abb.  1).  Rechts,  zu  den 
Füssen  der  Alten,  schläft  ein  riesiger  Hund,  links 
steht  ein  Esel  mit  hochgespitzten  Ohren,  den  auf¬ 
merksamen  Blick  auf  die  beiden  Frauen  gerichtet. 
Die  Alte  erzählt,  das  Gespräch  mit  heftigen  Gesten 
begleitend;  die  junge  Frau  hört  ihr  zu,  das  Haupt 
ein  wenig  über  die  aufs  Knie  gestützte  Linke  erhoben. 
Man  merkt  ihr  an,  dass  sie  trotz  ihres  Herzenskummers 
der  spannenden  Erzählung  ihre  Teilnahme  nicht  ver¬ 
sagen  kann.  Die  Erklärung  des  Dargestellten  ist  bald 
gefunden.  Apulejus  erzählt  in  seinen  Metamorphosen 
die  Abenteuer  eines  jungen  Griechen,  Namens  Lucius, 
welcher  auszog  die  Zauberei  zu  lernen  und  dabei 
selbst  in  einen  Esel  verwandelt  wurde. Doch  behielt 


1)  Die  Leitung  der  Ausgrabungen  in  der  Engelsburg 
liegt  in  den  Händen  des  Maggiore  Mariano  Borgatti,  der 
auch  eine  neue  wissenschaftliche  Publikation  über  die  Ge¬ 
schichte  des  Kastells  vorbereitet. 

2)  Die  hier  reproduzierten  Photographien  sind  nach 
den  jüngsten  vortrefflichen  Aufnahmen  von  Domenico  An¬ 
derson  hergestellt. 

3)  Vgl.  Pauly-Wissowa,  Real-Encyklopädie  unter  Appule- 
jus  und  Apulejus,  ed.  Hildebrand,  Lipsiae  1842, 1,  p.  280  11.485. 


er  auch  als  solcher  sein  menschliches  Bewusstsein  bei, 
und  als  er  später  die  menschliche  Gestalt  wiedererlangt 
hatte,  beschrieb  er  seine  Erlebnisse.  Als  Esel  be¬ 
lauschte  er  auch  die  Alte,  welche  einem  von  Räubern 
entführten  Mädchen  zum  Trost  und  Zeitvertreib  das 
Märchen  von  Amor  und  Psyche  erzählte. 

Mit  der  Schilderung  dieses  Vorganges  hat  der 
Maler  seine  Erzählung  eingeleitet.  Die  Alte,  welche 
der  trauernden  Gefangenen  mit  solchem  Eifer  das 
Märchen  erzählt,  deutet  mit  der  ausgestreckten  Linken 
auf  die  folgende  Bilderreihe  hin,  welche  ihre  Rede 
illustriert.  Der  Esel  aber  hinter  der  Schönen  hört 
der  Erzählung  so  eifrig  zu  wie  diese  selbst;  seiner 
Aufmerksamkeit  verdanken  wir  ja  die  Überlieferung 
der  Fabel,  welche  uns  in  den  folgenden  neun  Bildern 
so  anmutig  erzählt  wird,  je  zwei  Darstellungen 
schmücken  die  Schmalwände,  je  drei  die  Langwände, 
nur  schneidet  an  der  Aussenwand  das  Fenster  tief  in 
den  Gemäldecyklus  ein,  so  dass  die  Fortsetzung  der 
Fabel  hier  in  der  Fensterlaibung  Platz  finden  musste. 

Zwei  Scenen  füllen  die  Fläche  des  ersten  Bildes 
aus  (Abb.  2).  Rechts  im  Hintergründe  erscheinen  Venus 
und  Amor  in  den  Wolken,  und  die  Mutter  zeigt  ihrem 
Sohn  die  völlig  unbekleidete  Psyche,  welche  eben, 
von  ihren  Dienerinnen  geführt,  unter  einem  Baldachin 
erscheint  und  von  der  knieenden  Menge  göttliche 
Verehrung  empfängt.  Links  im  Vordergründe  kniet 
mit  betend  erhobenen  Händen  der  greise  König  und 
erfleht  von  dem  milesischen  Gott  eine  Antwort  auf 
die  Frage,  wer  der  Gemahl  der  ungefreiten  Jungfrau 
sein  würde,  der  die  Menschen  nur  mit  göttlichen 
Ehrenbezeugungen  zu  nahen  wagten.  So  werden  wir 
aufs  beste  in  die  Erzählung  eingeführt.  Wir  erraten, 
dass  Psyche’s  Schönheit  die  Anbetung  des  Volkes 
und  zugleich  den  Neid  der  Venus  hervorgerufen  hat, 
und  dass  der  geängstigte  Vater  Apoll’s  Orakelspruch 
begehrt,  um  den  Zorn  der  Götter  von  seinem  Hause 
abzuwenden. 

In  dem  folgenden  Gemälde  links  vom  Fenster 
sehen  wir  die  trauernden  Eltern,  dem  Befehl  Apollo’s 


12 


88 


AMOR  UND  PSYCHE 


Ungehorsam  der  Psyche 


Abb.  3 


gehorchend,  dem  unbekannten  Gott,  »vor  welchem 
Jupiter  zittert,  den  alle  Götter  fürchten  ^),  die  Tochter 
als  Opfer  darbringen.  Die  züchtige  Braut  liegt  auf 
einer  Bahre  ausgestreckt,  Posaunenbläser  ziehen  dem 
Zuge  voraus,  es  folgen  in  faltenreichen  Trauergewän¬ 
dern  die  Eltern,  denen  Pagen  die  langen  Schleppen 
tragen.  Psyche  aber  wartet  gelassen  und  thränenlos 
der  kommenden  Dinge  und  von  den  ihrigen  auf  ein¬ 
samer  Bergeshöhe  allein  gelassen,  fällt  sie  sofort  in 
einen  erquickenden  Schlummer. 

So  ist  sie  in  dem  kleinen  Gemälde  der  Eenster- 
laibung  dargestellt,  auf  dessen  Hintergründe  ein 
Tempelchen  sichtbar  wird,  mit  einem  Springbrunnen 
davor.  Rechts  daneben  sehen  wir  Psyche  schon  in 
seliger  Vereinigung  mit  dem  Geliebten  an  einem  rosen¬ 
bestreuten  Tische  ruhen,  welchen  Dienerinnen  eben 
mit  Speisen  besetzen,  während  sich  gegenüber  drei 
Musikanten  aufgestellt  haben.  Hier  allerdings  musste 
sich  der  bildende  Künstler  arg  gegen  den  Sinn  der 
Eabel  vergehen  und  von  der  Erzählung  des  Apulejus 
abweichen.  Denn  unsichtbar  nahte  sich  der  Gott  der 
Psyche,  unsichtbar  wollte  er  von  ihr  geliebt  sein  und 
darum  verbot  er  ihr  nach  seinem  Aussehen  zu  forschen, 
glaubte  sich  doch  Psyche  mit  einem  Ungeheuer  ver¬ 
mählt,  als  sie  sich  anschickte  den  Gott  auf  ihrem 
Lager  umzubringen. 

Psyche’sUngehorsam,  derHöhepunkt  und  der  tragi¬ 
sche  Konflikt  der  ganzen  Erzählung,  wird  im  folgen¬ 
den  Bilde  in  drei  engverbundenen  Scenen  dargestellt 
(Abb.  3):  Psyche,  welche  sich  mit  scharfem  Messer  und 
brennender  Öllampe  über  den  schlummernden  Amor 

1)  Quo  tremit  ipse  Jovis,  quo  numina  terrificantur.  Vgl. 
Apuleii  Psyche  et  Cupido,  ed.  O.  Jahn,  p.  6  (Leipzig  1856). 


beugt,  Psyche,  welche  sich  den  Einger  mit  dem  Pfeil 
des  Gottes  verletzt,  Psyche,  welche  den  fliehenden  Gatten 
vergebens  zurückzuhalten  sucht,  indem  sie  ihn  an  den 
Eüssen  ergreift.  Natürlich  nimmt  die  Entdeckung 
des  schönen  Liebesgottes,  welcher,  von  seinen  mächtigen 
Schwingen  beschattet,  friedlich  schlummernd  auf  dem 
Lager  ruht,  den  vornehmsten  Platz  in  der  Schilderung 
ein.  Eben  beugt  sich  die  neugierige  Gattin,  leise  auf  den 
Knieen  heranschleichend,  über  ihn,  das  spitze  Messer 
in  der  Rechten,  mit  der  Linken  die  brennende  Öl¬ 
lampe  emporhaltend,  aus  welcher  im  nächsten  Augen¬ 
blick  der  verhängnisvolle  Tropfen  auf  den  schlum¬ 
mernden  Gott  herniederfallen  wird.  Dieser  Vorgang 
erscheint  allein  im  hellsten  Licht,  während  rechts  und 
links  die  ungehorsame  Psyche  vom  Dunkel  der  Nacht 
fast  ganz  verdeckt  wird. 

Venus  hat  inzwischen  erfahren,  wie  Amor,  statt 
die  Ehre  der  Mutter  an  Psyche  zu  rächen,  der  Neben¬ 
buhlerin  seine  Liebe  geschenkt  hat.  Erzürnt  steigt 
sie  aus  dem  Ocean  empor  und  findet  den  Sohn  krank 
an  der  durch  Psyche’s  Unvorsichtigkeit  erhaltenen  Brand¬ 
wunde  in  dem  eigenen  goldenen  Gemache  darnieder¬ 
liegen.  Wir  sehen  im  folgenden  Gemälde  (Abb.  4),  wie 
die  Göttin  mit  zürnender  Rede  dem  Sohn  seine  zahl¬ 
reichen  Vergehungen  vorhält  und  wie  sie  sich  bitter 
bei  den  schadenfrohen  Göttinnen  Ceres  und  Juno 
über  den  Ungehorsam  des  mutwilligen  Knaben  be¬ 
klagt.  Psyche  aber  sucht  den  Tod,  ohne  ihn  finden 
zu  können  und  liefert  sich  endlich  freiwillig  der  be¬ 
leidigten  Venus  aus.  Aber  sie  erlangt  weder  Gnade 
noch  Verzeihung,  und  so  sehen  wir  die  Prüfungen  der 
Unglücklichen  in  den  folgenden  zwei  Eresken  dargestellt. 
Wir  sehen  (Abb.  5),  wie  Sollicitudo  und  Tristitia, 
die  Mägde  der  Göttin,  sich  der  Gefangenen  bemäch- 


AMOR  UND  PSYCHE 


89 


Venus  schilt  den  kranken  Amor  Abb.  4 


tigen  und  mit  Geissein  über  sie  herfallen,  während 
Venus  ungerührt  von  den  Bitten  der  Gequälten  auf 
schwellendem  Pfühl  daneben  sitzt,  mit  dem  Finger 
sich  das  rechte  Ohr  kratzend  i)  mit  der  linken  Hand 
nach  unten  weisend  auf  das  Gemach,  wo  der  kleine 
Amor  krank  und  liebessehnsüchtig  schmachtet.  Rechts 
im  Hintergründe  setzen  sich  die  Prüfungen  Psyche’s 
fort,  genau  in  der  Weise  wie  sie  Apulejus  schildert. 
Wir  sehen  die  Gattin  Amor’s  vor  einem  Haufen  ver¬ 
mischten  Getreides  und  Gemüses  knieen;  vor  ihr 
steht  Venus,  ihr  befehlend,  die  Kornarten  zu  sichten 
und  zu  scheiden  und  bis  zum  Abend  die  ganze  Ar¬ 
beit  verrichtet  zu  haben. 

Bekanntlich  lässt  Apulejus  die  Ameisen  das  der 
Psyche  aufgetragene  Werk  verrichten,  und  ebenso 
hilfreiche  Diener  stellen  sich  ihr  bei  der  letzten  und 
schwersten  Aufgabe  zur  Verfügung;  sie  soll  im  Orkus 
eine  Büchse  mit  der  Schönheitssalbe  der  Proserpina  füllen 
(Abb.  6).  Links  im  Vordergründe  sehen  wir  Psyche, 
welche  knieend  den  Auftrag  von  der  Liebesgöttin 
empfängt  und  schon  die  Büchse  in  der  Hand  hält, 
welche  sie  füllen  soll.  Im  Hintergründe  erscheint  sie 
wieder,  mit  der  Büchse  umherirrend,  bis  eine  freund¬ 
liche  Stimme  ihr  den  Weg  zum  Hades  zeigt,  einem 
turmartigen  Bau,  aus  welchem  die  Flammen  empor¬ 
schlagen.  Mit  einem  Kuchen  besänftigt  sie  den  Höllen¬ 
hund  und  führt  den  schweren  Auftrag  glücklich  aus. 
Aber  noch  einmal  wird  sie  von  Neugierde  bezwungen; 
sie  öffnet  trotz  des  Verbotes  die  Büchse,  um  sich  ein 
wenig  von  der  Schönheitssalbe  zu  eigen  zu  machen 
und  fällt  in  einen  tiefen  Schlaf,  aus  welchem  sie  erst 
der  inzwischen  genesene  Amor  erweckt,  der  auch  die 
Büchse  sorgfältig  wieder  schliesst.  Ganz  flüchtig  ist 


1)  »Ascalpens  aurem  dexteram«.  Jahn  p.  45. 


die  Erweckung  Psyche’s  durch  Amor  rechts  im  Hinter¬ 
gründe  dargestellt;  im  Vordergründe  aber  sehen  wir 
die  Vielgeprüfte,  welche  knieend  der  Venus  das  Ge¬ 
schenk  der  Proserpina  überreicht. 

Der  freundliche  Schluss  der  sinnigen  Fabel,  bei 
welchem  Raffael  in  der  Farnesina  besonders  lange  ver¬ 
weilt,  ist  von  Perino  del  Vaga  ziemlich  abgekürzt 
worden.  Das  letzte  Bild  schildert  schon  das  Hoch¬ 
zeitsmahl  der  Neuvermählten,  zu  welchem  Psyche 
auf  Befehl  des  Jupiter  von  Merkur  emporgeleitet  wird, 
wie  man  es  unten  links  in  der  Ecke  flüchtig  ange¬ 
deutet  sieht.  Ausser  der  Venus,  welche  mit  einem 
Putto  rechts  in  der  Ecke  erscheint,  dem  glücklichen 
Paar  selbst  in  ihrer  Nähe,  und  dem  laubbekränzten 
Bacchus,  der  die  Rechte  auf  sein  Pantherfell  gestützt 
hat,  ist  keiner  der  Himmlischen  besonders  charakteri¬ 
siert.  Amor  selbst  erscheint  wie  immer  als  ein  schlan¬ 
ker  Knabe  mit  mächtigem  Flügelpaar,  welcher  die 
schüchterne  Psyche  stürmisch  umarmt.  Neben  ihm 
in  der  Mitte  der  Tafel  dürfte  Jupiter  mit  der  Juno 
thronen  und  das  zärtliche  Götterpaar,  welches  dann 
folgt,  mag  man  Neptun  und  Amphitrite  nennen.  Wie 
in  der  Farnesina,  streuen  auch  hier  die  Horen  Blumen 
über  die  Hochzeitsgäste  aus,  aber  es  fehlen  die  Gra¬ 
zien  und  die  Musen  und  bei  dem  Mangel  an  Raum 
ist  die  Zahl  der  Teilnehmer  aufs  äusserste  beschränkt. 

Hätte  nicht  Raffael  schon  früher  in  der  Farnesina 
der  Fabel  des  Apulejus  durch  seinen  Pinsel  aufs 
neue  Leben  und  Gestalt  verliehen,  die  Fresken  in  der 
Engelsburg  würden  nur  als  eine  der  zierlichsten  Deko¬ 
rationsarbeiten  der  Spätrenaissance  Bedeutung  für  uns 
besitzen.  Weil  hier  aber  von  einem  Schüler  des  Ur- 
binaten  derselbe  Stoff  behandelt  worden  ist,  den  der 
Meister  kaum  zwei  Jahrzehnte  früher  bearbeitet  hatte, 
so  darf  es  wohl  versucht  werden,  aus  der  späteren 


AMOR  UND  PSYCHE 


Prüfungen  der  Psyche  Abb.  5 


Schöpfung  die  frühere  zu  ergänzen  und  zu  erklären, 
ln  der  That,  der  Freskencyklus  in  der  Engelsburg 
wirft  merkwürdige  Schlaglichter  auf  die  berühmten 
Gemälde  der  Farnesina.  Perino  del  Vaga  —  wenn 
er  wirklich  selbst  die  Kompositionen  entworfen  hat 
-  erzählt  die  Fabel  genau  so  wie  es  die  Erzählung 
des  Apulejus  erwarten  lässt:  Der  Zorn  der  Venus 
wird  durch  die  göttliche  Verehrung  erregt,  die  das 
Volk  der  überirdischen  Schönheit  der  Psyche  erzeigt. 
Amor,  ihr  Sohn,  will  sie  rächen,  aber  er  wird  von 
seinen  eigenen  Fiebespfeilen  getroffen  und  beglückt 
die  Rivalin  der  Mutter  durch  seine  Umarmungen. 
Nur  die  Gestalt  des  Geliebten  soll  Psyche  nicht  er¬ 
kennen,  aber  sie  überrascht  den  schlummernden  Gott 
und  zitternd  ob  seiner  Schönheit  giesst  sie  ihm  das 
siedende  Öl  der  Lampe  auf  den  zarten  Leib.  Amor 
entflieht,  und  Venus  übernimmt  nun  selbst  die  Rache 
an  der  verhassten  Geliebten  des  Sohnes.  Diese  aber 
überstellt  die  Prüfungen  und  Jupiter,  durch  Amor’s 
Bitten  besiegt,  nimmt  das  sterbliche  Mädchen  unter 
die  Schaar  der  unsterblichen  Götter  auf.  So  hat  Perino 
del  Vaga  leicht  verständlich  für  jeden  Beschauer  die 
Fabel  geschildert,  indem  er  allerdings  dem  unsicht¬ 
baren  Gott  sichtbare  Gestalt  verleihen  musste.  Wie 
anders  Raffael!  Hier  beginnt  wohl  die  Darstellung 
gleichfalls  mit  der  Scene,  wie  Venus  dem  Amor  die 
Psyche  zeigt,  aber  diese  selbst  erblicken  wir  nicht. 
Hier  erfahren  wir  nichts  von  den  Freuden  des  Lie¬ 
bespaares,  vom  Ungehorsam  der  Psyche,  von  den 
Schmerzen  Amor’s  und  von  den  Prüfungen  seiner 
Geliebten.  Er  zeigt  seine  Erwählte  den  Frauen,  welche 
sie  bedienen  sollen,  aber  wir  sehen  sie  nicht,  Venus 
klagt  ihren  Schwestern  ihr  Leid,  aber  wir  wissen 


nicht  warum;  sie  erscheint  als  Hilfeflehende  vor  Ju¬ 
piter,  aber  da  Psyche  überhaupt  noch  nicht  aufgetreten 
ist,  können  wir  das  Anliegen  der  Göttin  nicht  erraten. 
Dann  stürmt  Merkur  mit  dem  Haftbefehl  Jupiter’s  vom 
Himmel  hernieder,  und  dann  erst  tritt  Psyche  auf  — 
am  ersten  Bogenzwickel  der  Aussenwand  der  Loggia  — 
von  Putten  getragen  aus  dem  Orkus  emporschwebend, 
die  Schönheitssalbe  im  Krystallgefäss,  welches  sie  trium¬ 
phierend  emporhält.  Erst  jetzt  gelingt  es  dem  Beschauer 
überhaupt,  den  Faden  der  Erzählung  zu  verfolgen. 
Knieend  überreicht  Psyche  der  Venus  das  Geschenk  der 
Proserpina,  während  Amor  von  Jupiter  ihre  Erhöhung 
erwirkt.  Dann  trägt  Merkur  das  glückselige  Mädchen 
zum  Himmel  und  zur  Hochzeit  mit  dem  Geliebten  empor. 

Schon  Michaelis’)  hat  die  Vermutung  ausgesprochen, 
dass  die  Malereien  in  der  Farnesina  nur  einen  Teil 
des  Planes  bedeuteten,  den  Raffael  für  die  Ausschmück¬ 
ung  der  Loggia  entworfen  hatte.  Aber  seine  Behaup¬ 
tung  Hess  sich  aus  den  Werken  Raffael ’s  selbst  nicht 
begründen,  da  sich  keine  einzige  echte  Handzeichnung 
erhalten  hat,  die  uns  über  die  unausgeführten  Teile 
des  Cyklus  irgend  welche  Aufschlüsse  geben  könnte. 
Wie  beschäftigt  Raffael  gerade  damals  war,  als  er  die 
Psychebilder  malte,  ist  bekannt;  dass  er  sich  entschloss, 
die  Gemälde  der  Decke  allein  aufzudecken,  kann  nicht 
Wunder  nehmen.  Auffallender  ist  es  schon,  dass 
Leonardo  Sellajo,  welcher  dies  Ereignis  an  Michel¬ 
angelo  mit  Hohn  berichtete,  nicht  auch  die  Unvoll¬ 
ständigkeit  des  Werkes  getadelt  hat.") 

1)  Zu  Raffael’s  Psychebildern  in  der  Farnesina«  in 
der  Kunstchronik  i88q  p.  2. 

2)  Sammlung  ausgewählter  Briefe  an  Michelagniolo 
Buonarroti,  ed.  Frey,  (Berlin  1899),  p.  132. 


AMOR  UND  PSYCHE 


Ql 


Prüfungen  der  Psyche 


Abb.  6 


Die  Fresken  in  der  Engelsburg  sind  nun  gleich¬ 
sam  der  Spiegel,  in  welchem  Raffael ’s  Absichten  klar 
zu  lesen  sind.  Hier,  wo  doch  der  ganze  Stoff  in 
zehn  Darstellungen  abgethan  werden  musste,  sehen 
wir  alle  die  Bilder  gemalt,  welche  wir  in  der  Farne- 
sina  vermissen:  Psyche  als  Göttin  verehrt,  der  Orakel¬ 
spruch  des  Gottes,  das  Opfer  der  Psyche  und  ihr 
Liebesglück  mit  Amor;  ihr  Ungehorsam  endlich  und 
ihre  Züchtigung  durch  Venus.  Erst  mit  den  zwei 
letzten  Bildern  finden  sich  die  Darstellungen  in  Engels¬ 
burg  und  Farnesina  zusammen:  Psyche  überreicht  der 
Venus  die  Schönheitssalbe  Proserpina’s,  und  Merkur 
trägt  die  Erwählte  Amor’s  zum  Himmel  empor,  wo 
das  Hochzeitsmahl  bereitet  ist. 

Wie  aber  hatte  sich  Raffael  die  Ausschmückung 
der  Loggia  gedacht,  welche  Scenen  hatte  er  etwa  noch 
hinzufügen  und  wo  sie  malen  wollen?  Wiederum 
hat  schon  Michaelis  die  Behauptung  Förster’s  erweitert 
und  angenommen,  dass  alle  Darstellungen  in  den 
Bogenzwickeln  der  Loggia  im  Himmel  spielen  oder 
in  der  Luft.  Man  braucht  ja  nur  in  die  Loggia  neben¬ 
an  zu  gehen,  um  zu  beobachten,  dass  Peruzzi  und 
Sebastiano  del  Piombo  bei  der  Auswahl  ihrer  Bilder 
ganz  dieselben  Gesetze  beobachtet  haben ;  und  diese 
Behandlung  der  Decke  als  Himmelsgewölbe  ist  ja  den 
Malern  der  Renaissance  stets  geläufig  gewesen.  So 
hat  auch  Raffael  an  die  Decke  alles  das  gemalt,  was 
in  den  Lüften  oder  im  Olymp  vor  sich  ging;  die 
irdischen  Vorgänge  aber  hatte  er,  vielleicht  in  ähn¬ 
lichen  Verhältnissen  wie  die  Meerfahrt  der  Galatea 


nebenan,  an  den  Wänden  anbringen  wollen,  die  erst 
mehr  als  hundert  Jahre  nach  Raffael  ihre  hässliche 
Dekoration  von  Maratta  erhalten  haben.  Und  deutet 
nicht  Venus  selbst  im  ersten  Gemälde  auf  eine  Dar¬ 
stellung  hin,  die  wir  an  der  Wand  vergebens  suchen? 
Weist  nicht  auch  Amor  im  nächsten  Bilde  nach  unten 
auf  eine  schlummernde  Psyche,  die  nicht  vorhanden  ist? 

Man  versuche  einmal  an  den  Wänden  die  Fabel 
zu  ergänzen,  und  man  wird  überrascht  sein  wie  zwang¬ 
los  sich  dort  alle  Bilder  einfügen,  die  Raffael’s 
Schüler  in  der  Engelsburg  ausgeführt  hat.  Es  kommen 
im  ganzen,  wenn  man  mit  Raffael  links  vom  Ein¬ 
gang  an  der  Schmalwand  der  Loggia  die  Schilderung 
beginnen  will,  acht  Wandflächen  in  Betracht:  vier  an 
den  Schmalseiten,  vier  an  der  Langwand,  die  in  der 
Mitte  durch  ein  mächtiges  Portal  gegliedert  sind.  Denn, 
wie  bekannt,  ist  die  Aussenwand  modern  und  die 
Loggia  öffnete  sich  nach  dem  Garten  zu  in  hohen 
Arkadenbögen.  Hier  also  mussten  dem  Beschauer 
von  vornherein  die  Darstellungen  in  den  Bogen¬ 
zwickeln  genügen,  und  wir  sahen  bereits,  dass  Psyche 
sofort  im  ersten  Gemälde  über  der  Arkadenreihe  er¬ 
scheint,  und  dass  sich  von  jetzt  an  der  Faden  der  Er¬ 
zählung  ohne  jede  Unterbrechung  bis  zu  den  Decken¬ 
bildern  fortsetzt. 

Über  die  erste  Komposition  für  die  Schmalwand 
links  kann  kein  Zweifel  herrschen.  Venus  weist  ja 
selbst  mit  dem  Zeigefinger  der  Linken  auf  den  Vor¬ 
gang  unten  hinab,  und  dieser  kann  kein  anderer  sein, 
als  der,  welchen  wir  in  der  Engelsburg  sehen:  Psyche 


AMOR  UND  PSYCHE 


vom  Volk  als  Liebesgöttin  verehrt.  Daneben  würde 
dar 'i,  ganz  wie  im  Cyklus  der  Engelsburg,  der  Hoch¬ 
zeitszug  der  Psyche  zu  denken  sein,  der  das  zweite 
Fell;  der  Schmalwand  ausfüllen  würde.  Die  Darstel¬ 
lung  im  ersten  Felde  der  Langwand  wird  wiederum 
durch  das  Gemälde  im  Bogenzwickel  rechts  darüber 
bestimmt,  welches  bisher  als  Amor  erklärt  worden 
ist,  welcher  den  drei  Grazien  die  Geliebte  zeigt.  Da 
aber  bei  Apulejus  dieser  Zug  überhaupt  nicht  vor¬ 
kommt,  so  dürfte  man  das  Bild  vielmehr  so  erklären 
müssen,  dass  Amor  hier  den  Dienerinnen  seines  Pa¬ 
lastes  befiehlt,  die  Geliebte  zu  bedienen,  auf  die  er 
mit  dem  Finger  hinweist,  wie  sie  von  den  Ihrigen 
verlassen  auf  dem  Felsen  eingeschlummert  ist.^)  Diese 
Scene  sieht  man  in  der  Engelsburg  in  der  Fenster¬ 
nische  dargestellt,  die  folgende,  das  Liebesglück  der 
Neuvermählten,  hätte  notwendig  auch  in  der  Farne- 
sina  das  zweite  Feld  der  Langwand  füllen  müssen. 
Ebenso  selbstverständlich  schliesst  sich  an  das  Glück 
der  Beiden  der  Ungehorsam  Psyche’s  an,  der  Höhe¬ 
punkt  des  tragischen  Konfliktes  in  dem  ganzen  Mär¬ 
chen,  den  man  rechts  neben  dem  Portal  in  der 
Mitte  erblickt  haben  würde.  Amor’s  Krankheit 
würde  weiter,  wie  auch  in  der  Engelsburg,  im 
folgenden ,  dem  vierten  Gemälde  der  Langwand 
der  Farnesinaloggia  geschildert  worden  sein,  und 
daran  hätten  sich  endlich  in  den  zwei  letzten  Feldern 
die  Prüfungen  Psyche’s  geschlossen.  Erst  wenn  man 
sich  diese  an  der  Schmalwand  rechts  dargestellt  denkt, 
wird  das  siegreiche  Emporschweben  Psyche’s  am 
ersten  Bogenzwickel  der  Aussenwand  begreiflich.  Man 
mache  sich  nur  klar,  welch  eine  klaffende  Lücke 
heute  vorhanden  ist  zwischen  diesem  Bilde  und  der 
Botschaft  des  Merkur  zur  Linken,  und  wie  folgerichtig 
sich  dagegen  die  Erzählung  nach  rechts  hin  fortsetzt, 
wo  Psyche  der  Venus  die  Krystallbüchse  überreicht. 
Die  Vorgänge  dagegen,  welche  Raffael  über  der  in¬ 
neren  Langwand  der  Loggia  an  den  Bogenzwickeln 
gemalt  hat,  sind  im  Freskencyklus  der  Engelsburg  mit 
Recht  als  unwesentlich  für  das  Verständnis  des  Zu¬ 
sammenhanges  überhaupt  fortgefallen,  oder  in  den 
Hintergrund  verdrängt.  Das  gilt  von  der  Begegnung 
der  Venus  mit  Ceres  und  Juno,  von  ihrem  Fluge 
durch  die  Luft,  von  ihrem  Besuch  bei  Jupiter  und 
endlich  von  dem  Auftrag  des  Merkur,  die  Vermisste 
zu  suchen.  Man  erkennt  gerade,  wenn  man  die  Haupt¬ 
züge  der  Fabel  an  den  Wänden  einschiebt,  wie  Raffael 
in  seinen  Kompositionen  der  Bogenzwickel  vor  allem 
darauf  Bedacht  nahm,  das  Reich  der  Lüfte  nicht  zu 
verlassen  und  wie  er  hier  die  Erzählung  möglichst 
auszuspinnen  suchte.  Man  möchte  sagen,  die  Bilder 
hier  oben  bedeuten  nur  die  Begleitung  des  Liedes; 
unten  an  den  Wänden  hätte  man  die  Melodie  ver¬ 
folgen  können,  wenn  Raffael  und  Chigi  länger  ge¬ 
lebt  hätten.  Auf  eine  chronologische  Folge  der  pro¬ 
jektierten  Wandgemälde  und  der  ausgeführten  Male- 


i)  Die  falsche  Bezeichnung  der  drei  Frauen  als 
Grazien,  welcher  alle  späteren  gefolgt  sind,  stammt  von 
Vasari  (ed.  Milanesi  IV,  p.  367),  der  die  Fresken  in  der 
Farnesina  überhaupt  aufs  flüchtigste  beschrieben  hat. 


reien  in  den  Bogenzwickeln  ist  dabei,  soweit  es  irgend 
anging,  Bedacht  genommen  und  wäre  des  Meisters 
Plan  vollständig  zur  Ausführung  gelangt,  so  hätte  der 
Besucher  der  Loggia  die  anmutige  Fabel  des  Apulejus 
fast  ohne  jeden  Kommentar  aus  den  Gemälden  selbst 
verstanden. 

Die  zwanzig  Gemälde  der  Farnesinaloggia  würden 
also  folgendermassen  angeordnet  gewesen  sein: 

1.  Psyche  als  Göttin  verehrt  (Wandgemälde), 

2.  Venus  zeigt  ihrem  Sohne  die  als  Göttin  ver¬ 
ehrte  Psyche  (Bogenzwickel), 

3.  Psyche’s  Hochzeitszug  (Wandgemälde), 

4.  Psyche  schlafend  vor  Amor’s  Palast  (Wand¬ 
gemälde), 

5.  Amor  zeigt  seinen  Dienerinnen  die  schlum¬ 
mernde  Psyche  (Bogenzwickel), 

6.  Amor  und  Psyche’s  Liebesglück  (Wand¬ 
gemälde), 

7.  Klage  der  Venus  vor  Juno  und  Ceres  (Bogen¬ 
zwickel), 

8.  Venus  begiebt  sich  zu  Jupiter  (Bogenzwickel), 

g.  Psyche’s  Ungehorsam  (Wandgemälde), 

10.  Venus  Hilfe  flehend  vor  Jupiter  (Bogenzwickel), 

11.  Amor  liegt  verwundet  im  Palast  der  Venus 
(Wandgemälde), 

1 2.  Prüfung  der  Psyche  (Wandgemälde), 

13.  Merkur  verkündet  die  Botschaft  des  Jupiter 
(Bogenzwickel), 

14.  Letzte  Prüfung  der  Psyche  (Wandgemälde), 

1 5.  Psyche  steigt  aus  dem  Orkus  empor  (Bogen¬ 
zwickel), 

16.  Psyche  bietet  der  Venus  die  Schönheitssalbe 
dar  (Bogenzwickel), 

17.  Jupiter  gewährt  Amor’s  Bitte  (Bogenzwickel), 

18.  Merkur  trägt  Psyche  zum  Himmel  empor 
(Bogenzwickel), 

ig.  Das  Göttergericht  (Deckengemälde), 

20.  Die  Hochzeit  von  Amor  und  Psyche  (Decken¬ 
gemälde). 

Man  sieht,  wenn  die  ausgeführten  Fresken  Raffael’s 
durch  die  Gemälde  in  der  Engelsburg  ergänzt  wer¬ 
den,  wie  klar  und  folgerichtig  Raffael  sein  Märchen 
für  die  Loggia  Chigi’s  entworfen  hatte.  Unten  links 
sollte  der  Cyklus  beginnen,  oben  mit  den  zwei  grossen 
Deckengemälden  glanzvoll  abschliessen.  So  sind  die 
ausgeführten  Malereien  nichts  als  ein  herrliches  Frag¬ 
ment.  Man  stelle  sich  vor,  was  der  Freskencyklus  in 
dieser  Loggia  bedeuten  würde,  wenn  Raffael  Zeit  ge¬ 
funden  hätte,  auch  die  Wandgemälde  auszuführen, 
wie  nebenan  das  wunderbare  Bild  der  Galatea. 

Geben  die  Fresken  in  der  Engelsburg  über  Raffael’s 
Kompositionen  in  der  Farnesina  die  merkwürdigsten 
Aufschlüsse,  so  ist  auch  ihr  Verhältnis  zu  den 
32  Stichen  nicht  uninteressant,  mit  welchen  Michael 
Coxcyen  die  Fabel  von  Amor  und  Psyche  während 
seines  römischen  Aufenthaltes,  etwa  im  Jahre  1532, 
illustriert  hat.  ^)  Die  Restaurationen  in  der  Engelsburg 

1)  Ich  habe  ein  Exemplar  dieser  Stiche  benutzt,  welches 
mir  im  Oabinetto  delle  Stampe  im  Palazzo  Corsini  von  Herrn 
Dr.  Hermanin  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt  worden 
ist.  Vgl.  Förster,  Farnesinastudien.  Rostock  1880. 


AMOR  UND  PSYCHE 


93 


wurden  von  Tiberio  Crispo  erst  im  Jahre  1535  be¬ 
gonnen,  1)  und  so  ergiebt  es  sich  von  selbst,  dass  die 
Kompositionen  Coxcyen’s  älter  sind  als  die  des  Perino 
del  Vaga  oder  seiner  Schüler.  Thatsächlich  stehen 
denn  auch  die  Fresken  der  Engelsburg  in  einem 
starken  Abhängigkeitsverhältnis  zu  den  Stichen  des 
Flamländers,  dessen  Beziehungen  zur  Schule  Raffael’s 
auch  Vasari  bezeugt. 

Schon  im  ersten  Fresko  erkennen  wir  deutlich, 
dass  dem  Maler  die  Komposition  des  Stiches  vorge¬ 
schwebt  hat.  Man  vergleiche  vor  allem  den  schlafenden 
Hund  zu  den  Füssen  der  Alten  und  die  Haltung  der 
erhobenen  Hand  des  Mädchens,  das  im  Fresko  nackt, 
im  Stich  bekleidet  erscheint.  Freier  ist  das  Gemälde 
des  orakelflehenden  Königs  entworfen;  sehr  verwandt 
sind  dagegen  wieder  die  Kompositionen  des  Opfers 
der  Psyche  und  ihres  Liebesmahles  mit  Amor.  Am 
auffallendsten  aber  zeigt  sich  die  Abhängigkeit  des 
Malers  vom  Stecher  in  den  Nebenscenen  im  -Unge¬ 
horsam  der  Psyche«.  Hier  hat  er  Amor’s  Flucht  aus 
dem  Fenster,  sowohl  wie  Psyche’s  Verletzung,  fast 
Zug  für  Zug  nach  dem  Stich  kopiert.  Erst  in  den 
letzten  Fresken  zeigt  sich  der  Raffael-Schüler  etwas 


1)  M.  Borgatti,  Castel  Sant’angelo  in  Roma.  Roma  1890. 


selbständiger.  Hier  hat  er  sich  meist  damit  begnügt, 
die  Kompositionen  des  Hintergrundes  den  Stichen  zu 
entnehmen:  wie  Psyche  den  Höllenhund  speist  und 
wie  sie  von  Amor  aus  dem  Schlaf  erweckt  wird.  Im 
Qöttermahl  endlich  ist  die  Venus  mit  dem  Putto  rechts 
im  Gemälde  ziemlich  genau  nach  dem  Stich  kopiert 
worden. 

Die  Fabel  des  Apulejus  ist  in  der  Renaissance 
zuerst  von  Raffael  künstlerisch  gestaltet  worden.  Perino 
del  Vaga  hat  die  Geschichte  von  Amor  und  Psyche 
ausser  in  der  Engelsburg  auch  im  Palazzo  Doria  in 
Genua  gemalt.  Seitdem  aber  scheinen  die  Maler, 
das  anmutige,  fruchtbare  Thema  ganz  vergessen  zu 
haben.  Die  Freskencyklen  Perino’s  sind  rein  deko¬ 
rative  Feistungen  und  konnten  die  Phantasie  späterer 
Geschlechter  nicht  befruchten.  Wie  aber  würde  Raffael 
die  Mit-  und  Nachwelt  gefesselt  haben,  wenn  seiner 
Hand  nicht  der  Pinsel  entfallen  wäre,  ehe  er  noch 
die  Hauptgemälde  seines  Freskencyklus  entworfen  halte! 


1)  Cicerone  (7.  Auflage),  p.  802.  Leider  war  mir  ein 
Vergleich  mit  den  Darstellungen  in  der  Engelsburg  nicht 
möglich,  da  von  diesen  Fresken  im  Palazzo  Doria  keine 
Aufnahmen  existieren  und  mir  die  Darstellungen  selbst 
nicht  mehr  gegenwärtig  waren. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  4. 


>3 


Aus  dem  Pergamon- Museum  in  Berlin.  Westseite  des  Altars  in  der  Wiederherstellung 


DAS  PERGAMON -MUSEUM  IN  BERLIN 

Von  Hermann  Winnefeld 


Auf  dem  Grundstück,  das  von  der  den  Platz  der 
Nationalgalerie  umschliessenden  Säulenhalle  bis 
zur  Stadtbahn  sich  erstreckt  und  bis  vor  wenig 
Jahren  den  Fahrgästen  des  hier  vorüberflutenden  Bahn¬ 
verkehrs  als  ein  Stück  weltverlassener  Wildnis  mitten 
im  Fierzen  Berlins  auffiel,  erhebt  sich  jetzt,  umgeben 
von  freundlichen  Oartenanlagen,  im  Hintergrund  die 
sorgfältig  geschonten  grossen  alten  Bäume,  ein  schlichter 
heller  Sandsteinbau,  der  den  kunstgeschichtlich  wich¬ 
tigsten  und  zugleich  eigenartigsten  Teil  der  Berliner 
Antikensammlungen  umschliesst,  die  Funde  aus  Per¬ 
gamon,  denen  die  verwandten  aus  Magnesia  am  Mä¬ 
ander  und  aus  Priene  angegliedert  sind. 

Die  von  C.  Humann  Ende  der  sechziger  Jahre 
zuerst  bemerkten  Reste  vom  Fries  des  pergamenischen 
Prachtaltars  wurden  der  Ausgangspunkt  für  die  von 
den  königlichen  Museen  veranstalteten  und  von  Hu¬ 
mann  geleiteten  Ausgrabungen,  die  bald  über  den 
Rahmen  der  ursprünglichen  Aufgabe,  eben  diese  Reste 
möglichst  vollständig  zu  sammeln,  weit  hinausgreifend, 
die  ganze  Königsburg  der  Attaliden  zu  umfassen 
strebten,  dann  nach  dem  vorläufigen  Abschluss  der 
Arbeit  in  Pergamon  ihre  Fortsetzung  in  ähnlichen 
Unternehmungen  in  Magnesia  und  Priene  fanden. 
Ebenso  ist  die  Absicht,  den  über  Erwarten  vollstän¬ 
digen  Resten  jenes  Altars  eine  angemessene,  der  ur¬ 
sprünglichen  Wirkung  möglichst  nahekommende  Auf¬ 
stellung  zu  geben,  allein  bestimmend  gewesen  für  die 
Grundrissanordnung  und  architektonische  Ausgestaltung 
des  neuen  Museums,  das  die  Ergebnisse  jener  Aus¬ 
grabungen  beherbergen  sollte.  Die  Aufgabe,  die 
E.  Wolff  zu  lösen  hatte,  war  nicht  die,  einen  Mo¬ 
numentalbau  zu  schaffen,  in  dem  die  pergamenischen 
Schätze  untergebracht  werden  könnten,  sondern  dem 
in  seinem  ursprünglichen  Verhältnis  wieder  aufzu¬ 
stellenden  Eries  eine  möglichst  bescheidene  Umhüllung 
zu  geben,  deren  er  bei  seiner  Zerstörung  und  zudem 
in  unserem  Klima  nun  einmal  nicht  entbehren  kann, 
die  ihn  rein  und  unbeeinträchtigt  zur  selbständigen 
Geltung  kommen  Hesse,  und  die  zugleich  Raum  ge¬ 
währte  für  die  anderen  Fundstücke,  die  in  den  Ma¬ 
gazinen  ihrer  Aufstellung  harrten.  Dem  Altar  sollte 
im  modernen  Museum  dieselbe  beherrschende  Stellung 
wieder  werden,  die  er  einst  auf  der  luftigen  Terrasse 
hoch  oben  am  Burgberg  von  Pergamon  hatte.  Der 
Bau  musste  so  angelegt  werden,  dass  der  über  30  m 
im  Geviert  messende  Altar  als  einheitliches  Ganze  den 
Kern  bildet;  reichlichstes  zerstreutes  Licht  musste  ge¬ 
schafft  und  eine  Gestaltung  der  Umfassungswände 
gefunden  werden  derart,  dass  sie  weder  durch  ihre 
Gliederung  noch  durch  Schmuck  oder  lebhafte  Fär¬ 


bung  den  Raum  unnötig  beengen  oder  die  Aufmerk¬ 
samkeit  des  Besuchers  auf  sich  und  vom  Altar  ab¬ 
lenken.  Und  diesem  Charakter  des  Inneren  musste 
auch  das  Äussere  des  Baues  sich  anpassen,  das  eben¬ 
falls  auf  alle  selbständige  primkhafte  Dekoration  ver¬ 
zichtet,  die  Gliederung  des  Inneren  einfach  und  deutlich 
zum  Ausdruck  bringt  und  in  der  Anordnung  der 
Wandquadern  wie  in  den  wenigen  Profilen  und 
Schmuckgliedern  sich  dem  Stil  der  Bauten  anpasst, 
deren  Reste  zu  bergen  das  Haus  bestimmt  ist. 

So  giebt  das  Museum  denn  auch  einen  passenden 
stilgerechten  Hintergrund  ab  für  die  halbkreisförmige 
Exedra  König  Attalos’  11.,  die  im  Bezirk  des  perga¬ 
menischen  Traianstempels  in  seltener  Vollständigkeit 
aufgefunden  und  nach  Berlin  überführt,  nun  im  Ereien 
neben  der  Vorhalle  des  Museums  mit  Ergänzung  der 
wenigen  fehlenden  Werkstücke  in  Sandstein  wieder  auf¬ 
gebaut  ist,  freilich  ihres  schönsten  Schmuckes,  der 
einst  auf  der  Rückwand  aufgestellten  Bronzestatuen 
beraubt,  aber  auch  so  noch  imposant  durch  ihre 
glücklich  abgewogenen  Verhältnisse  und  die  kräftige 
straffe  Profilierung  von  Sockel  und  Deckgesims. 

An  der  Exedra  vorbei  gelangt  man  zur  Vorhalle; 
in  ihr  führt  eine  zweiarmige  Treppe  zum  Hauptraum 
empor,  der  nach  der  Vorhalle  in  deren  ganzer  Breite 
mit  mächtigen  Glasscheiben  abgeschlossen  ist,  so  dass 
schon  beim  Hinaufsteigen  der  Blick  ins  Innere  sich 
öffnet.  Man  tritt  hier  durch  die  Mitte  seiner  einen 
Langseite  in  einen  etwa  50  m  langen  und  17  m 
breiten  Saal,  der  mit  einem  flachgewölbten  Glasdach 
überspannt  ist  und  ausserdem  durch  dicht  nebenein¬ 
ander  gereihte  Fenster  im  oberen  Teile  der  Eingangs¬ 
wand  und  der  beiden  Schmalseiten  ein  reichliches 
hohes  Seitenlicht  empfängt.  Hier  ist  vor  der  dem 
Eingang  gegenüberliegenden  Langwand  die  Westseite 
des  grossen  Altars  in  ihrem  gesamten  architektonischen 
Aufbau  unter  Verwendung  der  ins  Museum  gelangten 
Bauglieder  genau  in  den  ursprünglichen  Abmessungen 
wieder  aufgerichtet;  wo  die  Originalstücke  nicht  aus¬ 
reichten,  ist  zur  Erzielung  einer  vollen  Gesamtwirkung 
ihre  Vervielfältigung  in  gestampftem  Gement  zu  Hilfe 
genommen.  Über  drei  Stufen  erhebt  sich  der  mächtige 
Unterbau,  an  dem  über  hohem  Sockel,  von  einem 
weitausladenden  Deckgesims  beschattet,  der  grosse  Fries 
angebracht  ist,  am  nördlichen  Teil  dieser  Seite  in 
einer  Vollständigkeit  erhalten  wie  nirgends  sonst  am 
Bau.  Darüber  steht  die  trotz  der  auffallend  kurzen 
Proportionen  der  Säulen  leicht  und  luftig  wirkende 
Säulenhalle,  die  das  Ganze  krönte  und  deren  Rück¬ 
wand  die  Umfassung  des  Opferplatzes  auf  der  Platt¬ 
form  des  Unterbaues  bildete.  Eine  gewaltige  Frei- 


13 


DAS  PERGAMON-MUSEUM  IN  BERLIN 


96 


treppe  führte  an  dieser  Seite  zur  Höhe  der  Plattform 
empor;  sie  konnte  nicht  in  ihrer  ganzen  Breite  nach¬ 
gebildet  werden;  denn  hier  war  der  Zugang  zu 
schaffen  zu  einem  Oberlichtsaal,  der  im  Museum  an 
Stelle  des  massiven  Kerns  des  Altarunterbaues  getreten 
ist.  Doch  sind  die  Ansätze  der  Treppe  an  beiden 
Wangen  in  solcher  Breite  wiederhergestellt,  dass  der 
volle  Eindruck  erzielt  wird  vom  Einschneiden  der 
Stufen  in  den  Unterbau  und  von  der  Art,  wie  der 
Erics  beiderseits  an  ihnen  endigt  und  sie  gewissermassen 
mit  in  die  Darstellung  hereinzieht.  Zwischen  diesen 
Treppenläufen  trägt  eine  moderne  Säulenstellung  mit 
Durchblicken  nach  dem  Innensaal  ein  Podest,  über 
dem  die  Nachbildung  der  antiken  Säulensteihmg  sich 
erhebt,  die  quer  vor  dem  oberen  Ende  der  Treppe 
die  über  den  Treppenwangen  vorspringenden  Elügel  der 
krönenden  Hallen  verband.  Leider  musste  sie  dicht  vor 
die  geschlossene  Langwand  des 
Saales  gestellt  werden,  während 
am  ursprünglichen  Bau  erst 
1,50  m  weiter  rückwärts  eine 
von  vielen  Thüren  durchbrochene 
Wand  als  vordere  Begrenzung 
des  —  im  Museum  nicht  nach¬ 
gebildeten  -  Opferplatzes  sich 
erhob.  Dem  Mangel  suchte 
man  einigermassen  abzuhelfen 
durch  dunklere  Eärbung  der 
Hinterwand,  so  dass  sich  die 
Säulen  ähnlich  von  ihr  loslösen 
wie  sie  sich  von  der  weiter  zu¬ 
rück  im  Schatten  liegenden 
Hallenrückwand  abhoben. 

Biegt  man  links  oder  rechts 
um  die  Enden  der  Westseite 
des  Altars  um,  so  begleiten 
einen  die  Stufen  des  Unterbaues 
und  oben  die  Halle  so  weit, 
als  die  Breite  des  überwölb¬ 
ten  Saales  reicht;  dann  tritt  an 
Stelle  der  Säulenreihe  über  dem  Deckgesims  des  mit 
seinem  Sockel  und  seinem  oberen  Abschluss  ununter¬ 
brochen  weiterlaufenden  Erieses  eine  etwas  niedrigere 
glatte  Wand,  und  die  Unterstufen  verschwinden  im 
Fussboden,  da  der  Umgang  um  die  drei  anderen 
Seiten  des  Altars  von  hier  an  eben  um  die  Höhe 
dieser  Stufen  gehoben  ist.  Dieser  Umgang  öffnet  sich 
mit  seiner  vollen  Breite  von  etwa  g  m  nach  dem 
ersten  Saal  und  setzt  im  oberen  Teil  seiner  Aussen- 
wand  dessen  Fensterreihe  in  gleicher  Höhe  und  An¬ 
ordnung  fort,  so  dass  die  Trennung  der  Räume  sich 
nur  durch  die  zum  erhöhten  Fussboden  emporführenden 
Stufen  und  durch  die  veränderte  Deckenkonstruktion 
ausspricht:  der  Umgang  hat  ein  flaches  Glasdach. 
Hier  ist  der  Fries  mit  seiner  unmittelbaren  Umrahmung 
dem  Auge  näher  gerückt  und  das  architektonische 
Gesamtbild  aufgegeben;  demgemäss  sind  die  Abmes¬ 
sungen  des  Raumes  nach  Höhe  und  Breite  etwas 
verringert. 

Der  grosse  Fries  des  Altarunterbaues  mit  seiner 
viel  bewunderten  Darstellung  des  Kampfes  der  Götter 


und  Giganten  ist  in  der  geschilderten  Weise  genau 
wie  am  ursprünglichen  Bau  wieder  aufgestellt  und 
damit  der  wichtigste  Teil  eines  der  grossartigsten 
Denkmäler  des  Altertums  in  seiner  Gesamtwirkung 
wieder  zur  Anschauung  gebracht.  Neben  den  grossen 
Platten,  die  in  der  Hauptsache  leidlich  vollständig  er¬ 
halten  sind,  haben  Tausende  von  losen  Bruchstücken 
untereinander  wieder  zusammengefügt  und  an  die 
grösseren  Reste  angepasst  werden  müssen,  eine  Auf¬ 
gabe,  die  von  den  Bildhauern  Freres  und  Possenti 
in  mehr  als  zwanzigjähriger  Arbeit  bewältigt  worden 
ist.  Auch  so  war  eine  ununterbrochene  Abfolge  nur 
streckenweise  zu  erreichen;  grosse  Lücken  sind  vielfach 
geblieben  und  es  ist  keine  Hoffnung,  dass  sie  sich 
je  noch  füllen  werden:  zahlreiche  Kalköfen,  die  auf 
der  Burg  von  Pergamon  bis  kurz  vor  Beginn  der 
Ausgrabung  in  Thätigkeit  waren,  verraten  nur  zu 
deutlich  die  Art  der  gänzlichen 
Vernichtung,  der  das  nicht  mehr 
Auffindbare  anheimgefallen  ist. 
Dass  trotz  dieser  Lückenhaftig¬ 
keit  die  Anordnung  im  wesent¬ 
lichen  mit  voller  Sicherheit 
wiederhergestellt  werden  konnte, 
verdankt  man  hauptsächlich  den 
in  grosser  Zahl  erhaltenen  Ge¬ 
simsblöcken,  die  sämtlich  nach 
der  Stelle,  die  sie  am  Bau  ein¬ 
nehmen  sollten,  mit  eingehauenen 
Zeichen  numeriert  sind  und 
zum  grossen  Teil  auch  die 
Namen  der  Götter,  über  denen 
sie  angebracht  waren,  eingehauen 
tragen  —  mit  diesen  Hilfsmitteln 
hat  O.  Puchstein  die  Grundzüge 
der  Anordnung  wieder  zu  er¬ 
kennen  vermocht,  und  seine  Er¬ 
gebnisse  sind  der  Aufstellung  im 
Museum  zu  Grunde  gelegt  wor¬ 
den.  Dabei  hat  man  auf  jede  Er¬ 
gänzung  der  Figuren  verzichtet;  nur  der  Reliefgrund  ist, 
wo  er  bei  einzelnen  Platten  unvollständig  erhalten  war 
oder  wo  die  ganzen  Platten  verloren  sind,  ergänzt 
worden,  um  eine  ruhige  zusammenhängende  Fläche, 
von  der  das  Erhaltene  sich  abhebt,  zu  gewinnen  und 
die  Zusammengehörigkeit  und  das  architektonische 
Gefüge  unmittelbar  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Die  Wirkung,  die  so  erzielt  wird,  ist  geradezu 
überraschend  für  jeden,  der  die  Trümmer  des  Frieses 
notdürftig  aneinandergereiht  im  pergamenischen  Saal 
des  Alten  Museums  am  Boden  liegen  gesehen  hat. 
Nicht  nur,  dass  jetzt  erst  die  Möglichkeit  eines  Über¬ 
blickes  über  die  ganze  grossartige  Komposition  sich 
erschliesst,  die  einzelnen  Gruppen  in  der  Entfernung 
und  unter  dem  Gesichtswinkel  betrachtet  werden 
können,  auf  den  sie  berechnet  sind  —  der  ganze 
Formcharakter  erscheint  verändert,  man  kann  sagen 
klassischer  geworden;  das  Kolossale,  Gewaltsame, 
Übertriebene,  was  früher  den  Beschauer  befremdete, 
ist  verschwunden,  und  er  sieht  ein  unendlich  bewegtes 
und  belebtes,  von  überquellender  Kraft  durchdrungenes. 


O  rundriss  des  Pergamon- Musen  ms 


Aus  dem  Lichthofe  des  Pergamon- Museums  in  Berlin 


DAS  PERGAMON-MUSEUM  IN  BERLIN 


38 

aber  doch  harmonisches  und  massvolles  Ganzes.  Kein 
Muskel,  keine  Gewandfalte  ist  stärker  bewegt,  als  dem 
vom  Künstler  gewählten  Motiv  angepasst  ist,  und  kein 
Motiv  ist  gewaltsamer,  als  dem  Zusammenhang  der 
Handlung  entspricht  —  übermenschlich  sind  ja  die 
Mächte,  deren  Ringen  auf  Leben  und  Tod  den  er¬ 
habenen  Gegenstand  der  Darstellung  bildet:  das  bringen 
diese  Formen  auch  dem  unmittelbar  zum  Bewusstsein, 
dem  jede  gelehrte  Kenntnis  der  Sage  abgeht.  Dabei 
ist  alles  bis  ins  Einzelnste  so  ausdrucksvoll,  so  sehr 
aus  dem  Ganzen  heraus  empfunden,  dass  selbst  wenige 
Reste  genügen,  um  eine  Figur  oder  eine  Gruppe  im 
Rahmen  ihrer  Umgebung  lebendig  wieder  vor  dem 
inneren  Auge  erstehen  zu  lassen.  Daraus  erklärt  sich, 
dass  wenigstens  die  zahlreichen  kleineren  Lücken  den 
Gesamteindruck  lange  nicht  in  dem  Masse  stören,  wie 


werken  sind  in  die  Reihe  der  Statuen  eingeschoben. 
Die  zur  Aufstellung  an  dieser  Stelle  ausgewählten  In¬ 
schriften  haben  meist  auch  kunstgeschichtliche  Bedeu¬ 
tung  als  Zeugen  der  massenhaften  Verwendung  von 
Bronzefiguren  zum  Schmuck  der  Heiligtümer  der 
Burg,  nachdem  die  Statuen  selbst  wegen  ihres  kost¬ 
baren,  zur  Wiederverwendung  reizenden  Materials 
längst  eingeschmolzen  sind:  Inschriften  von  den  Posta¬ 
menten  der  zahlreichen  Denkmäler,  durch  die  Atta- 
los  1.  das  Gedächtnis  seiner  Ruhmesthaten  verewigte 
oder  seine  Söldner  ihren  siegreichen  Herrn  ehrten, 
ferner  von  Statuen,  die  der  kunstliebende  König  als 
Kriegsbeute  aus  Griechenland  entführte  und  in  seiner 
Burg  wieder  aufstellte;  Inschriften  von  gleichartigen 
Denkmälern  aus  der  Zeit  seines  Sohnes  EumeneslI. ; 
Inschriften  von  den  Postamenten  der  Statuen  berühmter 


Aas  dem  Pergamon- Museum:  Fries  an  der  Nordseite  des  Altars 


man  erwarten  sollte.  Wie  eine  neue  Offenbarung 
wirken  jetzt  die  lange  bekannten  Gestalten,  und  das 
Gewirr  der  über  mehr  als  100  m  sich  erstreckenden 
Komposition,  in  dem  man  sich  früher  auch  mit  ein¬ 
gehendem  Studium  kaum  zurechtfinden  konnte,  er¬ 
scheint  wie  ein  klares  durchsichtiges  Gefüge,  dessen 
Grundzüge  sich  jedem  leicht  einprägen  werden. 

Die  Umfassungswände  des  Umgangs  gegenüber 
dem  Friese  sind  völlig  glatt  und  in  der  Farbe  und 
dem  aufgemalten  Fugenschnilt  der  äusseren  Sandstein¬ 
verkleidung  des  Museums  nachgebildet;  sie  mögen 
so  einigermassen  ähnlich  sein  den  Stütz-  und  Um¬ 
fassungsmauern,  die  mindestens  an  zwei  Seiten  den 
Altarplatz  in  Pergamon  umgaben,  und  dem  ent¬ 
sprechend  sind  sie  benutzt  als  Hintergrund  für  Statuen 
und  Reste  von  solchen,  die  ihrer  Mehrzahl  nach  in 
der  Umgebung  des  Altars  gefunden  sind.  Dazwischen 
sind  Reliefs  und  Inschriften  an  der  Wand  befestigt, 
und  künstlerisch  hervorragende  Einzelglieder  von  Bau- 


Schriftsteller,  die  unter  Eumenes  II.  in  der  pergame- 
nischen  Bibliothek  aufgestellt  wurden.  Daneben  haben 
auch  Inschriften  von  lediglich  historischem  Interesse 
aus  der  pergamenischen  Königszeit  Platz  gefunden  und 
als  einzige  der  römischen  Zeit  die  Inschrift  vom  Posta¬ 
ment  einer  Statue,  die  von  den  Pergamenern  dem 
Quintilius  Varus  errichtet  wurde,  der  später  im  Teuto¬ 
burger  Wald  seinen  Untergang  fand.  Nur  diese  und 
eine  der  Inschriften  aus  der  Zeit  Eumenes’  II.,  des  Er¬ 
bauers  des  grossen  Altars,  waren  bisher  ausgestellt 
gewesen.  Ebenso  sind  die  Reliefs,  darunter  mytho¬ 
logische  von  besonderem  inhaltlichen  Interesse,  wie  zum 
Beispiel  die  Erbauung  des  trojanischen  Pferdes,  und 
die  kleineren  dekorativen  Friese  von  teilweise  vorzüg¬ 
licher  Ausführung,  bis  auf  wenige  bisher  im  Magazin 
verborgen  gewesen.  Dasselbe  gilt  von  der  Mehrzahl 
der  meist  sehr  zerstörten,  weit  überlebensgrossen 
Statuen,  die  unter  sich  von  sehr  verschiedenem  Werte, 
das  Bild  pergamenischer  Kunstübung  ganz  wesentlich 


DAS  PERGAMON-MUSEUM  IN  BERLIN 


99 


vervollständigen.  Während  diese  sich  zum  Teil  ganz 
überraschend  günstig  in  ihrer  jetzigen  Aufstellung 
zeigen,  haben  sich  die  Beleuchtungsverhältnisse,  die 
ja  ganz  auf  den  Altarfries  berechnet  sind,  für  einige 
der  bekanntesten,  schon  seit  langem  im  Alten  Museum 
ausgestellten  Einzelfunde  weniger  vorteilhaft  erwiesen; 
die  beiden  attische  Vorbilder  wiedergebenden  Statuen 
der  Athena  und  einer  unbekannten  Göttin  aus  der  Bi¬ 
bliothek  und  der  berühmte  weibliche  Kopf  hatten  dort 
geeigneteres  Licht,  das  in  gleicher  Weise  ihnen  im 
Neubau  nicht  geschaffen  werden  konnte. 

Ganz  neu  für  alle  nicht  fachmännischen  Besucher 
wird  der  Telephosfries  sein,  der  ursprünglich  an  der 
Rückseite  der  Hallenrückwand  auf  dem  Altarunterbau 
angebracht,  in  derselben  Höhe  wie  dort  über  dem 
Fussboden  des  Opferplatzes  jetzt  der  Westseite  des 
Altarbaues  gegenüber  im  ersten  Hauptsaal  zu  beiden 
Seiten  der  Eingangsthüren  aufgestellt  ist.  Von  der 
ziemlich  genau  zu  berechnenden  Zahl  der  Platten  ist 
nur  ungefähr  ein  Drittel  erhalten,  und  auch  dieses 
so  zerrissen,  dass  nur  ganz  selten  zwei  oder  mehr 
Platten  aneinander  passen.  So  hat  hier  auch  eine 
Wiedergabe  des  ursprünglichen  Zusammenhangs  nicht 
versucht  werden  können;  die  Anordnung  der  Reste 
ist  über  einen  gewissen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit 
nicht  hinauszubringen  und  die  Ergänzung  der  ein¬ 
zelnen  Platten  beschränkt  sich  darauf,  den  Reliefgrund 
so  weit  wieder  herzustellen,  dass  die  sicher  zur  gleichen 
Platte  gehörigen  Bruchstücke  in  ihr  richtiges  Verhält- 
niss  gebracht  und  aufgestellt  werden  konnten.  Der 
schlechte  Erhaltungszustand  und  die  stellenweise  ganz 
unfertige  Ausführung  der  Arbeit  lassen  die  hohe  kunst¬ 
geschichtliche  Bedeutung  dieses  Frieses  nicht  unmittel¬ 
bar  zum  Bewusstsein  kommen.  Dargestellt  war  die 
Sage  von  Telephos,  dem  mythischen  Gründer  von 
Pergamon,  in  einer  von  allem  bisherigen,  auch  im 
grossen  Gigantomachiefries  noch  festgehaltenen  grie¬ 
chischen  Reliefstil  abweichenden  Gestalt;  unter  reich¬ 
lichen  Luftraum,  in  den  Pfeiler,  Bäume  und  andere 
landschaftliche  Zuthaten  hineinragen,  spielt  sich  die 
Handlung  ab,  stellenweise  mit  deutlich  unterschiedenem 
Vorder-  und  Hintergrund,  in  verschiedener  Höhe,  ein¬ 
geteilt  ln  äusserlich  kaum  getrennte  Scenen,  in  denen 
dieselben  Personen  sich  wiederholen,  wie  auf  den 
römischen  Sarkophagen  und  den  grossen  Reliefbändern 
der  römischen  Monumentalsäulen.  Gleichwohl  ist 
nach  den  äusseren  Umständen  wie  nach  dem  Stil  der 
Figuren  kein  Zweifel  daran  möglich,  dass  dieser  Fries 
der  Gigantomachie  gleichzeitig  ist,  der  er  an  künst¬ 
lerischem  Werte  nicht  nachgestanden  hat. 

In  dem  Ausschnitt  aus  der  grossen  Treppe  des 
Altarbaues  ist  vor  einer  von  Brütt  modellierten  Mar¬ 
morbüste  Huinann’s,  dessen  Finderglück  und  nie  ver¬ 
sagender  Energie  all  diese  Schätze  verdankt  werden, 
in  den  Fussboden  ein  bisher  nur  in  den  auseinander¬ 
gesägten  Stücken  unzugänglich  aufbewahrtes  vorzüg¬ 
liches  Mosaik  aus  einem  Zimmer  des  pergamenischen 
Königspalastes  eingelassen,  ein  Werk  des  Hephaestion, 
der  seinen  Namen  auf  einer  scheinbar  mit  Wachs 
aufgeklebten  Karte  ebenfalls  in  feinem  Mosaik  auf  dem 
Innenfeld  des  Bodens  verewigt  hat.  Das  grösste  Inter¬ 


esse  erregt  hier  ein  mit  wundervoller  Freiheit  und 
Erfindungsgabe  komponierter  Rankenfries  auf  schwar¬ 
zem  Grunde  mit  allerlei  Blumen,  Früchten  und  kleinen 
Flügelwesen,  den  man  nach  Zeichnung  und  Farben¬ 
gebung  getrost  als  die  höchste  uns  bekannte  Leistung 
rein  dekorativer  Kunst  aus  dem  zweiten  Jahrhundert 
vor  Christi  Geburt  bezeichnen  darf. 

Die  grösste  Überraschung  aber  bietet  wohl  für 
jeden,  der  einen  für  architektonische  Formen  empfäng¬ 
lichen  Sinn  besitzt,  der  Lichthof  im  Innern  des  Altar¬ 
kerns,  zu  dem  man  auf  Treppen  hinter  dem  Mosaik 
hinabsteigt.  Fast  alles,  was  hier  aufgestellt  ist,  ist  neu, 
und  ebenso  neu  ist  die  Art,  wie  es  aufgestellt  ist: 
es  ist  hier  zum  erstenmal  in  grösserem  Umfange 
der  Versuch  gemacht,  die  Reste  antiker  Bauten  nicht 
als  einzelne  Architekturglieder  ihrer  Ornamente  wegen, 
sondern  im  ursprünglichen  Zusammenhang  in  ihrer 
gesamten  architektonischen  Wirkung  vorzuführen.  Es 
ist  freilich  nur  ein  eng  umgrenzter  Ausschnitt  aus 
der  Entwickelung  der  griechischen  Baukunst,  den  das 
vorhandene  Material  so  zu  veranschaulichen  gestattet, 
vom  vierten  zum  zweiten  Jahrhundert  vor  Christo  und 
dazu  einige  Bauten  traianischer  und  noch  späterer 
Zeit  —  die  älteren  Stufen  fehlen  in  den  hellenistischen 
Städten,  denen  die  Grabungen  der  Berliner  Museen 
galten  —  aber  es  sind  doch  zum  Teil  recht  eigen¬ 
tümliche  Werke,  die  hier  in  Ausschnitten  wieder  auf¬ 
geführt  sind,  und  darunter  eines  von  ganz  besonderem 
allgemein  kunstgeschichtlichen  Werte.  Die  beiden 
Langseiten  des  grossen  rechteckigen  Saales  sind  den 
Resten  aus  Pergamon,  die  Schmalseiten  denen  aus 
Priene  und  Magnesia  eingeräumt. 

Dem  Eingang  gegenüber  steht  vor  der  Mitte  der 
Langwand  die  kolossale  Nachbildung  der  Athena 
Parthenos  des  Phidias,  die  einst  in  einem  Saale  der 
pergamenischen  Bibliothek  aufgestellt,  jetzt  hier  das 
Ganze  beherrscht.  Daneben  erheben  sich  über  ihren 
Stufen  zwei  Säulen  mit  zugehörigem  Gebälk  vom 
Tempel  der  Athena  in  Pergamon,  ein  schlichter  Bau 
aus  bescheidenem,  einst  mit  Marmorstuck  überzogenem 
Material,  ein  Überrest  der  Zeit  vor  der  Attalidenherrschaft. 
Die  Bauthätigkeit  der  Könige  wird  vertreten  ausser 
durch  kleinere  Aufbauten  durch  das  überaus  reich 
und  zierlich  durchgebildete  Gebälk  vom  Opferherd, 
der  auf  der  Plattform  des  grossen  Altarbaues  stand, 
und  durch  einen  drei  Joche  umfassenden  Ausschnitt 
aus  der  zweigeschossigen  Marmorhalle,  mit  der  Eume- 
nes  II.  den  heiligen  Bezirk  des  alten  Athenatempels 
an  zwei  Seiten  umgab;  Einzelheiten  aus  dem  Innern 
des  Baues  sind  daneben  aufgestellt;  von  dem  eigen¬ 
tümlichsten  Schmuck,  den  in  flachem  Relief  mit  wirr 
übereinander  gehäuften  Trophäen  verzierten  Balustra¬ 
den,  sind  die  besterhaltenen  Exemplare  wieder  in  die 
Zwischenräume  der  Säulen  des  Obergeschosses  ein¬ 
gefügt  und  gelangen  hier  in  der  Höhe  zu  einer  un¬ 
geahnten  malerischen,  fast  farbigen  Wirkung.  Nächst 
der  Königszeit  ist  die  spätere  römische  Kaiserzeit  von 
Traian  bis  Caracalla  unter  den  pergamenischen  Bauten 
am  besten  vertreten;  die  Ecken  vom  korinthischen 
Traianstempel  und  von  dem  dem  Caracalla  geweihten 
Umbau  eines  älteren  ionischen  Tempels  auf  der  Theater- 


100 


DAS  PERGAMON-MUSEUM  IN  BERLIN 


terrasse  mit  ihren  von  reicliem  Rankenwerke  gebil¬ 
deten  Akroterien,  aus  denen  Niken  lieraussch weben, 
füllen  als  Gegenstüeke  zwei  Ecken  des  Lichthofs, 
charakteristische  Beispiele  des  schwülstigen  asiatischen 
Geschmacks,  wie  er  im  Osten  des  Römerreichs  die 
Architektur  beherrschte  und  von  da  aus  immer  mehr 
nach  dem  Westen  vordrang. 

ln  vornehmer  Schlichtheit  erhebt  sich  vor  der 
einen  Schmalseite  inmitten  kleiner  Bauten  aus  Priene 
eine  Säule  vom  Tempel  der  Athena  Polias  —  leider 
mit  Rücksicht  auf  die  Höhe  des  verfügbaren  Raumes 
verkürzt,  —  bekrönt  von  einer  Nachbildung  des  Ge¬ 
bälks,  dessen  Originalstücke  daneben  zu  ebener  Erde 
aufgebaut  sind.  Ein  Werk  des  schon  am  Mausoleum 
zu  Halikarnass  hervorragend  beteiligten  Architekten  und 
Bildhauers  Pythios,  wahrte  der  Tempel  bei  feinster 
Ausführung  aller  Einzelheiten  noch  den  strengen 
schweren  Charakter  der  älteren  ionischen  Bauweise; 
ohne  Zwischentreten  eines  Frieses  ruht  der  mächtige 
Zahnschnitt  unmittelbar  über  dem  von  einem  kräf¬ 
tigen  Eierstab  abgeschlossenen  Architrav,  die  Polster 
des  Kapitells  zeigen  nur  eine  fast  unmerkliche  Ein¬ 
ziehung.  Aber  trotz  solcher  uns  altertümlich  anmuten¬ 
den  Eigenheiten  fand  der  Bau  bei  seinen  Zeitgenossen 
so  hohen  Beifall,  das  Alexander  der  Grosse  es  für 
seiner  würdig  erachtete,  den  Tempel  durch  eine  In¬ 
schrift  auf  einer  der  Anten  als  von  ihm  der  Göttin 
geweiht  zu  bezeichnen. 

Die  uns  geläufigere  jüngere  Form  des  ionischen 
Baustils  zeigen  an  der  gegenüberliegenden  Schmal¬ 
wand  die  Bauglieder  vom  Tempel  der  Artemis  Leuko- 
phryene  zu  Magnesia,  in  deren  Mitte  in  gleicher  Weise 
die  Säule  mit  der  Nachbildung  des  Gebälks  emporragt. 
Reicher  gegliedert,  mannigfaltiger  in  den  Formen,  deko¬ 
rativer  in  der  Ausführung  steht  dieser  Bau  des  Hermo- 
genes  da,  dessen  vom  Baumeister  selbst  verfasste  Beschrei¬ 
bung  für  Vitruv  und  durch  ihn  für  die  ganze  neuere 
Zeit  die  Quelle  der  Lehre  von  den  kanonischen  Formen 
der  ionischen  Architektur  geworden  ist  und  bis  auf 


den  heutigen  Tag  noch  ihre  Wirkung  auf  die  Bau¬ 
praxis  ausübt.  Hermogenes  hat  den  figürlichen  Fries 
aufgenommen,  aber  bescheiden  in  den  Abmessungen, 
als  niedriges  Schmuckband  fast  verschwindend  im 
tiefen  Schlagschatten  des  weit  darüber  auskragenden 
kolossalen  Zahnsehn ittes.  Der  auch  hier  fühlbare 
Mangel,  dass  die  Säule  fast  um  die  Hälfte  ihrer  Höhe 
verkürzt  werden  musste,  wird  eiuigermassen  dadurch 
ausgeglichen,  dass  ganz  in  der  Nähe  eine  Eeke  vom 
Tempelehen  des  Zeus  Sosipolis  auf  dem  Markte  von 
Magnesia,  in  dem  die  Formen  und  Verhältnisse  des 
Artemisions  verkleinert  nachgebildet  waren,  in  der  ur¬ 
sprünglichen  Höhe  hat  wieder  aufgerichtet  werden 
können,  wie  ein  Modell  für  die  Zusammenfügung 
der  Riesenglieder  des  gewaltigen  Haupttempels. 

Reiehes  Material  für  dessen  eingehendere  Kennt¬ 
nis  enthält  die  Studiensannnlung,  die  in  einem  an 
drei  Seiten  den  Lichthof  umgebenden  Sockelgeschoss 
noch  in  der  Einrichtung  begriffen  ist  und  an  Archi¬ 
tektur,  Skulptur  und  Inschriften  aus  Pergamon,  Mag¬ 
nesia  und  Priene  übersichtlich  geordnet  alles  umfassen 
soll,  was  von  wiehtigeren  Stüeken  in  den  Haupt¬ 
räumen  nicht  hat  aufgenommen  werden  können.  Für 
das  Magazin  im  Keller  bleiben  vor  allem  die  zahl¬ 
losen  kleinen  Bruchstücke,  deren  Anfügung  an  die 
grossen  Zusammenhänge  noch  nicht  gelungen  ist  und 
für  die  überwiegende  Mehrzahl  auch  nie  wird  zu  er¬ 
möglichen  sein. 

Es  ist  ein  nach  Anlage  und  Einrichtung  ganz 
eigenartiges  Museum,  das  hier  im  abgesehiedenen 
Winkel  hinter  den  übrigen  am  Lustgarten  gelegenen 
Museumsbauten  entstanden  ist.  Ob  der  Versuch  als 
gelungen  bezeichnet  werden  darf,  ob  er  für  Förderung 
des  allgemeinen  Verständnisses  antiker  Kunst  und  für 
das  um  ihre  Einzelheiten  bemühte  Studium  sich  so 
fruchtbringend  erweisen  wird,  wie  man  hofft,  ob  er 
anderwärts  Nachfolge  finden  wird  —  diese  Fragen 
zu  beantworten  bleibt  der  Zukunft  Vorbehalten. 


Aus  dem  Pergamon- Museum:  Altertümer  aus  Magnesia  in  der 
Studiensammlung 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  ni.  b.  H.,  Leipzig. 


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ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIII  '  ORIGINALRADIERUNO  VON  WALTER  LEISTIKOW 


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RAFFAELLI,  PARIS,  DIE  STRASSE  VON  ARQENTEUIL  verlao  von  e.  a.  seemann 

LEIPZIG  1902 . 


'  '‘SW 


Nach  einer  farbigen  Radierung  von  J.  F.  Raffaelli  in  Paris 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 

BETRACHTUNGEN  ÜBER  KUNST  UND  KÜNSTLER 

Von  J.  F.  Raffaelli  in  Paris 


Die  nachfolgenden  Seiten  sind  die  Bruchstücke  einer  Studie,  die  Jean-Frangois  Raffaelli  im  Jahre 
1884  niederschrieb.  Das  ganze  zu  veröffentlichen,  verboten  die  räumlichen  Qrenzen.  Aber  bei  dem  Interesse, 
das  man  gegenwärtig  solchen  künstlerischen  Bekenntnissen  entgegenbringt,  werden  die  temperamentvollen 
Aeusserungen  auch  in  dieser  etwas  abgerissenen  Form  fesseln;  hie  und  da  wird  man  sich  besonders  erinnern 
müssen,  dass  die  Abhandlung  schon  vor  bald  20  Jahren  verfasst  wurde  und  im  Original  französisch  ist. 

Die  Redaktion. 


Man  pflegt  im  gewöhnlichen  Leben  häufig 
Charakter  und  Karikatur  durcheinander  zu 
werfen,  aber  Charakter  kommt  von  dem 
griechischen  Worte  charasso,  ich  grabe,  präge,  drücke 
ein;  Karikatur  von  dem  italienischen  caricare,  be¬ 
lasten,  übertreiben.  Der  moralische  oder  physische 
Charakter  bedeutet  alles,  was  ein  Individuum  von  dem 
anderen  unterscheidet. 

Es  giebt  National-Charaktere;  aber  diese  verwischen 
sich  heute  mehr  und  mehr.  Dahingegen  zeigen  die 
individuellen  Charaktere  im  Gegenteil  das  Bestreben, 
sich  in  dem  Masse  zu  vervielfältigen,  als  wir  an  persön¬ 
licher  Freiheit  gewinnen.  Im  Mittelalter  wollte  man 
die  wesenlose  Gottheit  nachahmen.  Zur  Zeit  unserer 
grossen  Könige  von  Gottes  Gnaden  sah  man  in  diesen 
den  höchsten  Ausdruck  der  Menschlichkeit.  Ihre 
Noblesse,  ihre  Würde,  das  Repräsentative  an  ihnen 

Zeitsclirilt  für  bildende  Kuiibt.  N.  F.  XIII.  H.  5. 


war  das  Ideal  des  Charakters,  eines  dekorativen  Cha¬ 
rakters.  Dagegen  heute  strebt  jeder  in  seinem  kleinen 
Bezirke,  so  wie  es  der  Individualist  Humboldt  ge- 
than  hat,  Noten  zu  sammeln,  zu  arbeiten,  zu  suchen, 
um  sein  eigenes  Ich  zur  höchsten  Entwickelung,  zur 
höchsten  Schönheit  zu  bringen. 

Von  diesem  wechselvollen  Ideal  haben  die  Künste 
gelebt:  die  Gotik  wollte  Gott  erreichen.  Unsere  fran¬ 
zösische  Kunst  des  17.  und  1 8.  Jahrhunderts  erstrebte 
die  Majestät  und  erhabene  Erziehung  eines  Ludwig  XIV. 
oder  die  weibischen  Laster  seines  Nachfolgers.  Die 
Revolution  und  das  erste  Kaiserreich  haben  gleich  Em¬ 
porkömmlingen  das  grosse  römische  Zeitalter  nachgeäfft. 
Dann  kommt  die  Kunst  eines  Gros,  der  Chauvinismus 
eines  Charlet  und  Raffet,  eines  Beranger,  im  Stil  des 
»petit  caporal.«  Das  ist  zwar  noch  eine  Kunst  der 
Anbeterei,  aber  doch  schon  in  einer  gewissen  Ab- 

'4 


'  02 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


scV-v/ächurig;  sie  befasst  sich  schon  mit  dem  Volk, 
das  liier  nur  als  Grenadier  verkleidet  auftritt. 

Der  romantische  Coup  unter  der  Bürger-Monarchie 
bedeutet  endlich  die  moralische  Erschütterung  von 
89;  diese  starke  Epoche  hatte  das  Ereiheitslied  ge¬ 
sungen,  nun  ist  die  Kette  der  Tradition  gebrochen, 
aber  die  Romantiker  waren  eben  nichts,  als  Ketten¬ 
brecher,  etwas  Neues  geschaffen  haben  sie  nicht. 
1830  ist  der  Sohn  von  178g,  aber  weiter  nichts.  - 
Heute,  wo  wir  in  der  Kunst  nicht  mehr  ausschliess¬ 
lich  die  Könige  bewundern,  ist  zwar  die  Kunst  nahezu 
frei  geworden,  aber  es  fehlt  ihr  noch  an  Kritik  und 
unsern  Künstlern  an  philosophischer  Erziehung.  Wir 
sehen  sie  alle  Tage  scharenweis,  verloren,  ohne  Ideen, 
mitten  in  unserer  modernen  Revolution,  sich  an  den 
zerbrochenen  Zweigen  einer  fruchtlosen  Tradition  an¬ 
klammern. 

Der  letzte  dieser  Streiter  für  Gott,  König  und  die 
Griechen  war  Ingres,  aber  das  war  die  Agonie.  — 
Naiv  und  gewaltthätig,  ein  grosser  Künstler  in  seinen 
bewunderungswürdigen  Karikaturen  des  Herzogs  von 
Orleans  und  von  Berlin;  ein  ehrgeiziger  Künstler  in 
seiner  Madame  Moitessier  (der  Kopf  eine  Cybele,  das 
Kleid  ein  Lyoner  Seideiimagazin);  ein  Schüler  David’s 
und  ein  Römer  in  dem  Porträt  von  Bartholini;  ab¬ 


geschmackt  in  der  Erfindung,  in  den  Proportionen 
und  in  der  Mache  bei  dem  Bildnis  von  Cherubini; 
ein  wackerer  Grieche  in  seiner  Apotheose  Homer’s;  ein 
Davidschüler  in  seinem  heiligen  Symphorian;  ein 
griechischer  Bildhauer  in  seiner  Quelle;  ein  Akade¬ 
miker  in  seinem  Gelübde  Ludwig’s  Xlll.;  ein  uner¬ 
träglicher  Mensch  in  seiner  Angelika  mit  dem  Kropf 
-  -  Das  ist  Ingres!  Wie  ein  echter  Provinziale  hatte 
er  sich  vollgestopft  mit  Überlieferungen  und  an  seiner 
ganzen  Kunst  ist  nicht  ein  Stück,  das  wirklich  fran¬ 
zösisch  ist.  Man  denkt  an  ihn  als  an  einen  Menschen, 
der  leidenschaftlich  seine  Kunst  liebte  und  Porträts  mit 
bleiernen  Gesichtern  malte. 

Endlich,  als  unter  Louis-Philipp  die  Bourgeoisie 
die  ganze  Macht  in  die  Hand  bekam,  musste  eine 
neue  Kunstart  beinahe  erst  erfunden  werden:  die  Intel¬ 
ligenz,  wütend,  sich  noch  in  zweiter  Reihe  zu  sehen 
und  im  Gefühle  der  aufgeblasenen  Dummheit,  des 
Mangels  an  Erziehung  und  der  physischen  und  mora¬ 
lischen  Hässlichkeit  der  neuen  Herren,  griff  zur  Kari¬ 
katur.  Aber  heute  hat  sich  das  Blatt  gewendet.  Die 
Bourgeoisie  hat  sich  Söhne  erzogen,  die  wir  schön 
finden;  sie  sind  es,  unter  denen  wir  zu  Hunderten  die 
Gelehrten,  die  Industriellen,  die  klugen  Kaufleute  fin¬ 
den;  die  Karikatur,  die  Charge  muss  dem  Studium 
der  Charaktere  den  Platz  räumen,  wenigstens  gegen¬ 
über  der  Klasse,  welche  die  zahlreichste  unter  unserer 
gebildeten  Gesellschaft  ist. 


Courbet,  der  sich  mit  seinem  Realismus  brüstete, 
war  ein  Klassiker,  ein  geringer  Eortschrittler  in  seiner 
Kunst,  ausgenommen  als  Landschafter  (da  marschierte 
er  mit  der  schönen  Truppe  von  Paysagisten  der 
jüngsten  Epoche),  und  er  behauptet  heute  im  Louvre 
grade  den  Platz,  den  er  dort  einnehmen  musste  als 
Erbe  der  besten  Traditionen  in  seiner  Kunst  des 
dicken  verliebten  Kerls  aus  der  Franche-Comte.  Als 
Maler  vernünftiger  Ideen  war  er  immer  unzulänglich, 
mit  Ausnahme  seiner  »Steinklopfer«  und  seinem  »  Apres- 
diner  zu  Omans«,  zwei  vollendeten  Meisterwerken; 
ich  spreche,  wie  gesagt,  nicht  von  seinen  Landschaften. 
-  ln  seinem  »Begräbnis  zu  Omans  zeigt  er  die 
bewunderungswürdigsten  künstlerischen  Absichten ;  die 
weinenden  Frauen,  der  Hund,  ebenso  schön  und 
schöner  wie  ein  Hund  von  Desportes,  der  Priester 
mit  den  wunderbar  unter  dem  schweren  und  steifen 
Messgewand  bewegten  Armen,  und  andere  Gruppen 
sind  vollendet  schön.  Leider  konnte  er  in  der  Gruppe 
der  Sänger  nicht  die  beabsichtigte  komische  Wirkung 
erzielen;  die  Träger  sind  zu  vornehm;  allerdings 
nehmen  Männer,  wenn  sie  zusammen  einen  schweren 
Gegenstand  tragen,  immer  eine  allgemein  schöne 
Haltung  an.  Das  Terrain  stellt  keinen  Friedhof, 
sondern  wohl  irgend  ein  schönes  Plateau  von  Hoch¬ 
burgund  vor;  der  Hintergrund  hat  keine  Perspektive; 
die  Gestalten  stehen  in  Atelierlicht  und  zeigen  falsche 
Proportionen,  mit  denen  er  übrigens  eine  schöne  ein¬ 
heitliche  Gesamtwirkung  erzielt.  Am  Boden  sieht 
man  in  der  Nähe  der  Gruft  Schienbeine,  Totenköpfe 
und  andere  Stücke  eines  etwas  zweifelhaften  sym- 


Nach  einer  farbigen  Radierung 
von  J.  F.  Raffaelli  in  Paris 
14* 


Die  Invalidenesplanade 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


i  :,4 


bo'iischen  Melodramas.  -  Davon  abgesehen  ist  dieses 
irisierwerk  ein  prächtiges  Gemälde,  eine  Mischung 
von  naiver  Bewunderung,  Beobachtung,  Wahrheit  und 
iroiiie.  —  Das  Bild  bleibt  das  grossartige  Denkmal 
einer  starken  Kraftanstrengung. 

Vor  seiner  Trau  mit  dem  Papagei  ,  weiss  ich 
nicht,  was  diese  Frau  soll,  noch  was  sie  sagen  will; 
sie  ist  eine  allzu  klassische  Erinnerung,  sie  ist  nicht 
mehr  als  ein  bewundernswerter  Akt.  —  Seine  Ba¬ 
dende  ist  famos;  das  ist  die  ganze  Bourgeoisie  von 
damals,  von  der  Kehrseite  gesehen. 

Sein  Atelier  ist  eine  Zusammenstellung  von 
Glanzstücken,  die  keine  Bezeichnung  tragen,  weil  sie 
dadurch  noch  mehr  bezeichnet  sein  wollen,  und  von 
Ungleichheiten,  welche  unsere  Malerei,  der  Einheit  ein 
Haupterfordernis  ist,  nicht  vertragen  kann.  Seine 
Ringer  stehen  nicht  in  dem 

rechten  Milieu  und  verursachen 
auch  nicht  jene  Freude,  die  man 
empfindet,  wenn  man  Menschen 
oder  Tiere  schwer  miteinander 
ringen  sieht;  dazu  kommt  die 
Ironie  diesen  Kerlen  gegenüber, 
die  sich  aus  Beruf,  auf  Tagelohn, 
zu  diesem  Metier  hergeben;  dann 
das  unangenehme  Gefühl,  wel¬ 
ches  wir  über  die  Immoralität 
des  Nackten  in  freier  Luft  em¬ 
pfinden,  ausserdem  die  Beleidi¬ 
gung  der  Augen  durch  diesen 
roten  Tricot,  ein  verwünschtes 
Rot,  das  geradezu  ordinär  wirkt. 

Man  kann  auch  den  Umfang 
seiner  Bilder  verurteilen,  der  mehr 
aufsehenerregend  wie  überlegt  ist; 
wir  müssen  uns  an  unsere  ein¬ 
sichtigen  Bürger  wenden,  Leute, 
die  nicht  sehr  reich  sind  und 
nur  über  beschränkte  Räumlich¬ 
keiten  verfügen;  wir  brauchen 
weder  Schlösser  auszuschmücken 
noch  grosse  Herren  zu  um¬ 
schmeicheln;  das  Museum  kommt  erst  später  in 
Betracht.  -  Courbet  stellt  nur  Gemälde  für  das 
Museum  her,  auch  eine  Wiedererinnerung  an  die 
Dekorationskünstler.  —  Und  Rousseau,  Corot,  Millet, 
haben  sie  jemals  grosse  Gemälde  geschaffen?  Und 
scheinen  sie  uns  deshalb  weniger  gross?  Der  Angelus 
misst  fünfzig  Centimeter  und  der  Hafen  von  Rochelle 
sechzig.  Rousseau  hat  häufig  Landschaften  ge¬ 
malt,  die  nicht  mehr  als  handgross  und  doch 
wahre  Wunderwerke  sind;  von  den  Massen  der 
Gemälde  eines  Meissonnier,  dessen  »Kugelspieler< 
neunmal  vier  Centimeter  gross  sind,  ganz  zu  ge- 
schweigen. 

Aber  ich  will  nicht  eine  ausgedehnte  Kritik  über 
das  Werk  Courbet’s  geben.  Es  genügt  mir  zu  sagen: 
er  verfügte  nicht  über  ein  hinreichend  sicheres  Können, 
über  einen  vielseitigen  Geist  und  eine  zielbewusste 
Kühnheit,  die  stark  genug  für  seine  anspruchsvolle 
Kunst  gewesen  wäre,  auch  hatten  in  seinem  Leben 


Brutalität  und  Nachlässigkeit  eine  allzu  grosse  Herr¬ 
schaft  über  ihn;  seine  Malerei  war  zu  klassisch.  Mehr 
noch,  er  war  als  Philosoph  nicht  scharfsinnig  genug, 
die  erste  unerlässliche  Eigenschaft,  um  eine  revolu¬ 
tionäre  Gesellschaft  wie  die  unsrige  zu  malen. 

Und  das  war  der  sogenannte  Realismus!  —  ein 
Wort,  gross  und  falsch  wie  ein  Theaterfelsen  ;  —  »der 
Kerl,  der  es  aufbrachte,  hatte  wenig  Verständnis  für 
den  Feingehalt  der  Worte,  er  pflegte  sie  gern  mit 
Scheffeln  zu  messen«  -  sagt  uns  Theophile  Sylvestre. 
—  Wir  müssen  eine  hohe  Bewunderung  für  die 
Leistungen  des  Realismus  haben,  aber  heimlich  können 
wir  lachen  über  seine  scharlachrote  Fahne,  eine  Art 
von  Vogelscheuche.  Der  Realismus,  beim  Wort  ge¬ 
nommen,  würde  nichts  anderes  als  eine  Verneinung 
der  Kunst  selbst  sein. 

Was  ist  denn  Wirklichkeit? 
—  Die  Wirklichkeit  ist  die  kör¬ 
perliche  Existenz  der  Welt,  wie 
sie  sich  unabhängig  zeigt  von 
den  Sinneseindrücken,  welche  sie 
verursacht  und  die  sie  wiederum 
erkennen  lassen.  Es  ist  das 
abstrakte  Sein.  Die  Wirklichkeit 
malen  würde  also  nichts  anderes 
sein  als  die  Thätigkeit  der  photo¬ 
graphischen  Linse.  Aber  die  Kunst 
lebt  vom  Objektiven  und  vom 
Subjektiven,  von  der  Vernunft 
und  der  Persönlichkeit.  Bis  zu 
einem  gewissen  Grade  würde  sie 
ohne  den  Boden  der  Wirklich¬ 
keit  körperlos  sein,  wie  die 
Musik  es  zu  sein  scheint;  aber 
vom  Objekt  erhebt  sie  sich  zu 
Launen  der  Phantasie,  Stellungen, 
die  sich  mehr  oder  weniger 
von  der  Wahrheit  entfernen. 
Ohne  das  Subjektive,  ein  Fall, 
der  eintritt,  wenn  der  Künstler 
sinnlos  die  Natur  anschauen 
und  wiedergäbe,  was  er  nicht 
kann,  würde  die  Natur  ihm  in  ihrer  Wirklich¬ 
keit  hässlich  erscheinen  und  ihn  zu  nichts  anregen, 
denn  ohne  Gedanken  giebt  es  keine  höheren  Ziele, 
keine  Phantasie  und  kein  Ideal,  weil  Ideal  und  das 
Schöne  identisch  sind.  Die  Natur  darf  also,  wenn 
sie  in  einem  Kunstwerk  verkörpert  werden  soll,  ohne 
das  Objektive  und  Subjektive  nicht  beobachtet  werden. 
Abgesehen  von  aller  Metaphysik,  hassen  wir  das  Rea¬ 
listische  im  Gegensatz  zum  Idealistischen,  dass  heisst 
ohne  Ideal  —  so  wie  es  Plato  gemeint  hat. 

Delacroix  hat  das  in  seiner  Studie  »Das  Ideal  und 
der  Realismus«  so  auseinandergesetzt:  »Die  Frage  des 
Realismus  bedeutet  nichts  anderes  als:  man  braucht 
eine  scheinbare  Wirklichkeit.  Der  buchstäbliche  Realis¬ 
mus  ist  eine  Thorheit.  Holbein  scheint  in  seinen  Por¬ 
träts  die  Wirklichkeit  selbst  zu  sein  und  er  ist  doch 
vergeistigt.  Die  Hand  des  Mannes  mit  dem  Barett 


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Skizze  von  J.  F.  Raffaelli 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


105 


von  Raphael  ist  ein  ähnliches  Beispiel.  Es  ist  das 
Empfinden  des  Malers,  welches  ihnen  dieses  Gepräge 
giebt.  Man  wird  den  Beweis  hierfür  in  einem  Ver¬ 
gleich  dieser  naiven  und  doch  idealen  Werke  mit  den 
meisten  Figuren  von  David  finden,  der  nachahmt,  so 
viel  er  kann,  doch  wenn  er  auch  alles  dabei  ver¬ 
schönert,  nur  selten  zum  Ideal  gelangt.  Es  ist  un¬ 
möglich  die  Nachahmung  weiter  zu  treiben,  wie  zum 
Beispiel  in  dem  Gemälde  der  Horatier.  Das  Bein, 
der  Fuss  des  Horatius  sind  von  sklavischer  Nach¬ 
ahmung:  die  Absicht  zu  verschönern  äussert  sich  den¬ 
noch  in  der  Wahl  der  Formen,  und  diese  Arme, 


ihr  darangeht,  Marinen  zu  malen,  nennt  man  euch  »Herr 
Admiral  wie  einst  Gudin;  der  Soldatenmaler  wird  als 
ein  Stück  Generalstäbler  betrachtet,  so  etwa  wie 
Meissonnier  im  Jahre  70,  und  malt  ihr  die  Ausge- 
stossenen  der  Gesellschaft,  so  seid  ihr  es  auch.  Ist 
aber  das  Schildern  von  Göttern,  Gesandten  und 
Königen  eure  gewöhnliche  Beschäftigung,  so  ladet 
euch  das  Staatsoberhaupt  zur  Jagd  ein.  —  Das  ist  die 
landläufige  Ästhetik,  die  Ästhetik  der  Salons.  — 
Courbet  hatte,  wie  wir  alle,  viel  darunter  zu  leiden. 

Seht  ihr,  wie  bequem  das  ist?  Zola  ist  als  laster¬ 
haft  bis  auf  die  Knochen,  als  gemeines  Subjekt,  und 


J.  F.  Raffaelli.  An  der  Madeleine  (farbige  Originalradierung) 


dieses  Bein  machen  durchaus  keinen  Eindruck  auf 
die  Einbildungskraft.« 

Courbet  sagie  übrigens,  als  er  seine  bewunderten 
Steinklopfer  schuf:  Bis  zu  den  Steinen  soll  alles 
Gedanken  wecken  ,  er  war  also  ein  toller  Ideen¬ 
mensch  —  und  alles,  was  ich  schreibe,  macht  ihm 
daraus  keinen  Vorwurf.  Allein  in  Frankreich  beurteilt 
man  leider  die  Person  des  Künstlers  nach  dem  Vor¬ 
wurfe,  welchen  er  gewöhnlich  behandelt,  und  dies  hat 
nicht  wenig  dazu  beigetragen,  ein  Missverstehen  seines 
Talentes  zu  verursachen :  Malt  ihr  Frauen,  so  geltet 
ihr  für  parfümierte  Idealisten  und  galante  Männer; 
malt  ihr  Rassepferde,  so  habt  ihr  vornehme  Passionen 
und  alle  Kreise  stehen  euch  offen.  Wenn  ihr  Arbeiter 
malt,  seid  ihr  Anhänger  der  Kommune,  seid  anar- 
chistisch-soziaiistisch-realistisch-revolutionär;  aber  wenn 


so  recht  teuflisch  als  Schleusenräumer  hingestellt  wor¬ 
den,  alles  dies,  weil  er  die  Laster  ausmalte  und  Men¬ 
schen  der  niedrigsten  Berufsarten.  — 

Ich  habe  eben  den  Namen  Emile  Zola  genannt; 
damit  komme  ich  zum  Naturalismus. 

Sk 

Naturalismus  ist  das  jüngste  Schlagwort  auf 
dem  Gebiete  der  Malerei.  Es  erfreut  sich  einer 
grossen  Beliebtheit.  Allein,  sehen  wir  etwas  näher 
zu,  wie  dieser  Ausdruck  Naturalismus  von  uns 
Malern  aufgenommen  wurde.  Wenn  der  Realis¬ 
mus  albern  ist  und  alle  Kunst  aufhebt,  so  liebe 
ich  den  Naturalismus  zunächst  nicht  wegen  seiner 
Farbentheorie:  Die  ist  für  uns  zu  rein  wissen¬ 
schaftlich. 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


Freilich,  die  Litteratur 
kann  sich  ini  Gebiete  der 
Wissenschaft  ergehen,  und  wir  raten  ihr  durchaus 
nicht  davon  ab,  wir  erkennen  selbst  vollkommen  ihre 
Macht  an,  wenn  sie  sich  über  seelische  Zustände, 
geistige  Vorgänge  und  Leidenschaften  verbreitet,  daraus 
folgt  jedoch  nicht,  dass  auch  die  Malerei  dieses  kann 
und  ihr  darin  folgen  muss. 

Kurzum,  mit  diesem  Naturalismus  war  man  sehr 
voreilig,  die  meisten  fanden  so  etwas  sehr  einfach; 
so  hatten  wir  von  heute  auf  morgen  vier-  oder  fünf¬ 
tausend  Naturalisten. 

Worum  handelte  es  sich  nun  unter  diesen  Malern? 
Wie!  —  Sagt  das  Wort  es  nicht  ganz  deutlich?  — 
Selbstverständlich  um  die  Natur!  Man  malte  junge 
Damen  in  Treibhäusern,  auf  dem  Rasen,  unter  Felsen, 
auf  dem  Trottoir  .  .  .  ganz  nach  Belieben.  —  Man 
malte  Bauern,  von  vorne,  von  hinten,  ebenso  Bäuerinnen; 

man  konnte  Herren  im  Gehrock  und  Cylinder 
sehen,  -  -  welche  Dreistigkeit  —  kurz  man  kopierte 
unerschütterlich  die  Natur,  alles,  was  man  gerade  vor 
sich  sah,  ohne  Auswahl! 

Gut,  allein  an  welchem  Punkte  stehen  wir  heute? 
Man  merkt  sehr  wohl,  dass  das  Publikum  schlaff, 
überdrüssig  und  gleichgültig  geworden  ist,  allein 
warum? 

Die  sechstausend  Naturalisten  sagen  sich  wohl 
selbst:  Es  scheint  doch  auf  diese  Art  nicht  weiter  zu 
gehen?  —  Aber  weshalb  eigentlich?  —  Ist  der  Na¬ 
turalismus  nicht  die  neueste  Mode?  —  Mache  ich 
nicht  in  Naturalismus?  —  Die  Bilder,  um  mich  herum, 
ist  das  kein  Naturalismus?  —  Aber  natürlich,  und 
was  für  einer!  Im  gröbsten  Sinne  des  Wortes. 


Die  Kunst  hat  einen  Ausdruck, 
der  niemals  wechselt,  so  lange 
Kunst  Kunst  sein  wird,  dieser  Aus¬ 
druck  ist:  das  Schöne. 

Ohne  das  Schöne  ist  keine 
Kunst  denkbar,  denn  ohne  das 
Schöne  würde  unsere  Thätigkeit 
keinen  Wert  haben.  Der  Naturalis¬ 
mus  wäre  ohne  das  Schöne  eine 
Thorheit.  Die  Schriftsteller  wissen 
das  sehr  wohl;  die  stärksten  dieser 
in  der  Litteratur  bewunderten 
Strömung,  der  so  einflussreiche 
und  gewandte  Zola,  Huysman,  der 
geschätzte  und  grosse  Litterat, 
Ceard  mit  seiner  kritischen  Stärke 
und  gewählten  Psychologie,  der 
bewunderungswürdige  Maupassant, 
Hennique,  sie  alle  beweisen  dies 
durch  ihre  Werke,  jedoch  auf  Grund  ihrer 
gänzlich  verschiedenen  Anlagen.  Aber  die 
Maler,  welche  über  keine  Gymnastik  des  Den¬ 
kens  verfügen,  wissen  das  nicht,  und  deshalb 
ist  das,  was  sie  schaffen,  in  den  meisten  Fällen 
ohne  Wert,  weil  es  jeder  Philosophie  ermangelt; 
daher  erschlaffen  sie,  daher  jammern  und  beklagen 
sich  sechstausend  Naturalisten  wie  Dienstmänner,  denen 
man  eine  falsche  Adresse  angegeben  hat. 

Indessen  wenn  der  Ausdruck  Schön  auch  unwan¬ 
delbar  ist,  so  kann  die  bewusste  Idee  dieses  Schönen, 
kurz  das  Ideal,  mannigfache  Gestaltung  annehmen  und 
gänzlich  anders  werden  mit  den  Sitten,  die  sich  ändern. 

Nun,  meine  sechstausend  Naturalisten  thuen  sich 
zusammen,  wie  die  Mitglieder  einer  Liedertafel,  und 
singen:  Die  schöne  Natur!  —  Die  Natur  allein  ist 
schön!  Dabei  ist  das  Schöne  —  ich  habe  hinreichend 
versucht  es  auseinander  zu  setzen  —  gleichermassen 
objektiv,  da  wir  doch  ohne  Objekt  keine  Vorstellung 
davon  haben  können,  wie  subjektiv,  da  ohne  unsern 
Verstand,  der  über  die  Schönheiten  reflektiert  und 
ihre  Ursachen,  ihre  Wohlthaten,  ihre  Ausdrucksweise 
und  die  allgemeine  Wirkung,  welche  sie  auf  uns  aus¬ 
üben,  begreift,  alles  das,  was  sichtbar  uns  vor  Augen 
steht,  toter  Buchstabe  sein  würde!  Das  was  man 
liebt,  wofür  man  sich  begeistert,  ist  die  Idee  und 
immer  wieder  die  Idee.  —  Man  geht  in  den  Tod 
für  eine  Idee,  —  hat  man  jemals  einen  Menschen  für 
die  Natur  sich  den  Tod  geben  sehen?  —  Man 
schwärmt  umsomehr  von  Schönheit,  als  man  ein  An¬ 
hänger  der  Ideenlehre  ist,  das  steht  vollkommen  fest. 

Angesichts  des  Meeres,  immerhin  ein  Gemeinplatz 
des  Schönen,  sagte  mein  Dienstmädchen,  als  sie  es 
zum  erstenmal  sah:  Wieviel  Wasser!  —  Nicht  übel; 
aber  wir  sagen:  Wie  schön  ist  dies!  Und  wir  häufen 
Bücher,  Gemälde,  Gedichte  aller  Art  über  dieses 
ewige  Thema  auf.  —  Von  Notre-Dame  sagte  die 
gleiche  Gewährsmännin:  »Weiss  Gott,  das  ist  schöner 
wie  bei  uns  zu  Hause.«  —  Auch  nicht  übel,  aber 
wir  sagen:  Das  ist  bewunderungswürdig!  —  Schliess¬ 
lich,  um  mich  deutlich  auszudrücken,  wir  hegen  um 
so  mehr  Bewunderung  für  alles,  je  grösser  unser 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


107 


Verständnis  und  unser  Urteil  ist.  An  einem  Kopfe 
vom  Parthenon,  der  an  der  Erde  liegt,  kratzt  der 
Hund  mit  seiner  Pfote;  —  das  Kind  bemächtigt  sich 
seiner  mit  Vorliebe  und  spielt  damit;  —  der  Mann 
hebt  ihn  vorsorglich  auf  und  bringt  ihn  in  ein  Mu¬ 
seum:  er  besitzt  ein  vertieftes  Empfinden  für  die  be¬ 
wunderungswürdige  Schönheit,  die  sich  in  diesem 
bearbeiteten  Marmor  verkörpert. 

Ich  besitze  ein  kostbares  Fragment  dieser  Art;  es 
ist  das  Stück  eines  Frieses,  ein  Profilkopf  in  weissem, 
vielleicht  parischem  Marmor,  der  einen  kahlköpfigen 
Mann  darstellt;  —  ich 
finde  ihn  vollendet  schön; 
aber  dasselbe  Mädchen 
riet  mir  nach  kurzer  Zeit 
im  Vertrauen,  ein  solches 
Zerrbild  dem  Gesichts¬ 
kreise  meiner  schwangeren 
Frau  zu  entziehen! 

Nein:  Das  Schöne  ist 
nicht  in  der  Natur.  — 

Naturalismus,  Natur  sagt 
nicht  alles,  nicht  einmal 
die  Hälfte,  und  bedeutet 
für  die  Kunst  nur  soviel, 
wie  das  Objektive  dem 
Subjektiven. 

Was  fängt  man  mit 
abgelegten  Damenhand¬ 
schuhen  an?  Man  wirft 
sie  weg.  —  Allein,  wenn 
sie  von  der  Angebeteten 
unseres  Herzens  sind, 
heben  wir  sie  sorgfältig 
auf.  —  Wie?  —  Macht 
das  sie  schön?  —  Nein! 

Aber  sie  erzählen  uns  so¬ 
viel  von  der  Schönheit 
der  Geliebten,  dass  diese 
zerknüllten  Andenken  uns 
die  reizendsten  Poesien 
einflüstern  können 
dies  ist  die  Idee,  die  Idee 
von  Ihr,  welche  sie  uns 
lieb  und  wert  machen. 

Berge,  die  dem  Landmann 
hoch  und  beschwerlich 
scheinen,  sind  für  uns 
majestätisch  und  angenehm.  Hierin  liegt  alles.  —  Das 
Schöne  beruht  in  der  bewussten  Liebe  oder  in  dem 
Charakter,  denn  in  ihm  wird  das  Bewusstsein  sicher 
das  Merkmal  eines  eigentümlichen  Vergnügens  ent¬ 
decken,  welches  es  alsbald  für  würdig  seiner  Liebe 
erachtet. 

Sk  Sk 

Sk 

Was  soll  aber  inmitten  unseres  sozialen  Staates 
aus  den  dekorativen  Künsten  werden?  Man  fühlt, 
dass  die  Form  dieser  Kunst  im  Niedergang  begriffen 
ist,  obgleich  die  bedeutendsten  unserer  Künstler  sich 
auf  diesen  Zweig  geworfen  haben;  man  ermutigt  leb¬ 


haft  die  Talente,  welche  sich  der  dekorativen  Kunst 
weihen  wollen,  man  öffnet  ihnen  ein  Museum,  zehn 
Museen,  Schulen,  das  Publikum  klatscht,  der  Wetteifer 
entbrennt.  —  Thorheit!  nichts  als  Thorheit  ist  das 
alles!  Schon  das  ist  übrigens  bemerkenswert,  dass, 
wenn  die  Regierung  heute  einen  Kunstzweig  ermutigt, 
das  sicher  ein  absterbender  Zweig  ist,  den  die  Nation, 
das  Volk,  nicht  mehr  will,  für  den  man  sich  nicht 
mehr  interessiert,  und  so  wird  der  Staat  der  gebildete 
Bewunderer  der  Vergangenheit,  der  grosse  Konser¬ 
vative,  zum  Agitator.  Nein,  wir  haben  um  uns  herum 

keine  Idealmenschen  mehr 
als  Modelle  für  diese 
Künste;  wir  haben  keine 
grossartigen  Schauspiele 
vor  unseren  Augen;  wo 
sollen  wir  also  die  Vor¬ 
bilder  hernehmen?  Nicht 
die  dekorativen  Künste 
sterben,  sondern  ihre  Mo¬ 
delle.  Glaubt  man  denn, 
dass  eine  Kunst  sich  aus 
sich  selbst  heraus  erhält, 
nur  durch  die  Macht  der 
Gewohnheit? 

Welchen  geistigen  Lohn 
soll  denn  auch  ein 
Künstler  finden,  der  The¬ 
ater  oder  Verwaltungsge¬ 
bäude  ausschmückt?  Alle 
Theater  brennen  ab;  fragt 
nur  die  Statistik,  sie  wird 
euch  sagen  in  wieviel 
Jahren.  Und  die  Verwal¬ 
tungsgebäude?  Was  sind 
sie  denn  für  uns?  Stätten 
einer  unangenehmen  Not¬ 
wendigkeit,  wo  wir  rasch 
hingehen,  eilig,  brummig 
(ich  spreche  allerdings  nicht 
von  der  Civiltrauung), 
hässliche  Gebäude,  alle 
über  einen  Leisten  geschla¬ 
gen,  die  einzelnen  Bureaux 
so  eine  Art  Mausefalle, 
wo  es  nach  Karbol 
riecht,  wie  in  der  Morgue 
oder  im  Leihhause.  Die 
Angestellten,  die  man  da  findet,  scheinen  nur  die 
Rolle  zu  haben,  niemals  die  Auskunft  geben  zu 
können,  die  man  haben  will,  und  die  Passanten  haben 
unglückliche  Gesichter  —  ein  nettes  Publikum!  — 
Und  da  will  man,  dass  eine  grosse,  stolze  Künstler¬ 
seele  die  Frucht  von  zwei,  drei,  vier,  fünf  Jahren 
ehrgeiziger  Arbeit  auf  den  Mauern  solch  einer  Mairie 
verewigt? 

*  * 

Nun  müssen  wir  uns  aber  fragen,  wo  steckt 
denn  das  Schöne  in  dieser  Gesellschaft?  —  ln  seinem 
Luxus?  Er  ist  zu  berechnet,  während  doch  die 


Skizze  von  J.  F.  Raffaelli  in  Paris 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


chr'raläeristische  Schönheit  des  Luxus  die  Verschwen¬ 
dung  ist.  Wir  aber  haben  nach  und  nach  uns  ans 
Sparen  gewöhnt,  denn  das  Geld  ist  heute  die  grosse 
Scliöpferkraft  geworden,  die  wir  Zusammenhalten 
müssen,  selbst  wenn  wir  zu  einem  grossen  Reichtum 
gelangt  sind,  und  dieses  scharfe  Meistern  des  Geldes 
hemmt  jeden  Trieb  zum  Luxus  und  zur  Verschwendung. 

Aber  vielleicht  ist  das  Schöne  in  der  Armee?  - 
Einzigartige  Armee! 

Die  Menschen  kom¬ 
men  sich  vor,  wie 
in  der  Galeere  und 
sehnen  sich  den 
ganzen  Tag  nach 
ihrer  Frau,  ihrem 
Stückchen  Acker, 
ihrer  Heimat  und 
ihren  persönlichen 
Neigungen. 

Oder  in  den 
Königen  und  Gros¬ 
sen?  ln  Frank¬ 
reich  giebt  es  keine 
Könige  mehr  und 
die,  die  ihm  der 
Himmel  noch  be¬ 
scheren  könnte,  wer¬ 
den  so  wenig  König 
sein  und  so  kurze 
Zeit! 

ln  der  Aristo¬ 
kratie?  —  Wo  sieht 
man  sie?  —  Mischt 
sie  sich  unter  uns? 

—  Mischen  wir  uns 
unter  sie?  —  Wo 
ist  sie?  —  Wo  sitzt 
der  französische 
Adel?  In  den  Par¬ 
lamenten?  In  den 
Wissenschaften?  ln 
den  Künsten?  — 

Nein,  er  ist  auf  der 
Jagd  und  kümmert 
sich  um  Hunde  und 
Pferde.  Seine  Frauen 
sind  niedliche bijoux 
in  eleganter  Fassung, 
wohlerzogen  in  jener 
Kunst  der  Konver¬ 
sation,  die  zwischen 
der  vollendeten  Höflichkeit  und  der  ausgesuchtesten 
Impertinenz  einherschwebt.  —  Aber  wozu  das  alles, 
wo  es  doch  gar  keine  »Gesellschaft«  und  keine 
»Salons«  mehr  giebt,  heute,  wo  sich  die  Individuen 
durch  ihre  Ideen  und  ihre  Ideale  vereinzeln. 

Wo  ist  denn  also  das  Schauspiel,  dessen  wir  be¬ 
dürfen?  —  In  unsern  grossen  nationalen  Empfin¬ 
dungen?  Was  sind  die  Staatengebilde  von  gestern 
anderes  als  der  letzte  notwendige  Zustand  für  das 
vereinigte  Europa  von  morgen,  ja,  in  ein  paar  hundert 


Jahren  für  die  geeinigte  Welt,  erobert  von  den  Bruder¬ 
staaten  Europa  und  Amerika! 

Sind  die  Götter  das  Schöne  in  unserer  Gesell¬ 
schaft?  -  -  Freigeister  sind  wir  an  den  Stätten  der 
Intelligenz. 

Wo  ist  denn  endlich  das  Schöne? 

Das  Schöne  beruht  in  dem  individuellen  Charakter 
der  Menschen,  die  allmählich  ihre  Vernunft  zu  ge¬ 
brauchen  gelernt  ha¬ 
ben  -  -  inmitten  der 
Verirrungen  der 
Furcht,  welche  alle 
Interessierten  ihnen 
vorschrieben,  der 
Furcht,  die  immer 
so  leicht  einzuflössen 
ist  —  jener  Men¬ 
schen,  die  nach  einer 
Anzahl  vonjahrhun- 
derten  des  Elends, 
der  Quälerei  und 
trauriger  Irrtümer, 
in  denen  der  Stär¬ 
kere  den  Schwä¬ 
cheren  unterdrückte, 
ihre  Freiheit  zu  er¬ 
werben  wussten ! 
Hier  liegt  das  Schöne 
bei  uns!  —  Wir 
müssen  die  Züge 
dieser  Individuen 
eingraben,  aller,  von 
den  ersten  bis  zu 
den  letzten,  weil  alle 
sich  um  die  Huma¬ 
nität  wohl  verdient 
gemacht  haben. 

Wer,  um  die 
Grösse  des  Men¬ 
schen  zu  bemerken, 
grossen  Menschen 
gegenüber  stehen 
muss,  mag  sich  an 
unsere  Lesseps,  Edi¬ 
son  und  Pasteur 
oder  auch  an  un¬ 
sere  Staatsmänner, 
Generäle,  Schrift¬ 
steller,  Künstler,  un¬ 
sere  grossen  Kauf¬ 
leute,  unsere  be¬ 
rühmten  Industriellen  und  an  die  Philosophen  wenden; 
diejenigen  jedoch,  welche  ihre  Seele  entbrennen  und 
ihr  Herz  schlagen  fühlen  für  die  höchste  Schönheit  un¬ 
seres  Geschlechtes,  mögen  ihre  Zuneigung  den  Nie¬ 
deren,  den  Barfüsslern  und  den  Letzten  des  armen 
Volkes  schenken!  —  Alle  haben  gekämpft,  alle  haben 
sich  angestrengt  —  alle  sind  Sieger,  mögen  sie  nun 
durch  Ideen  oder  durch  Gewalt  gekämpft  haben, 
ohne  es  wohl  zu  wissen,  je  nach  ihren  Mitteln,  be¬ 
wundern  wir  sie!  Vor  meinem  Blick  erhebt  sich 


Bei  der  Toilette.  (Nach  einer  farbigen  Radierung 
von  J.  F.  Roffaelli  in  Paris) 


CHARAKTER  UND  SCHÖNHEIT 


1  og 


nur  Eines:  Der  Mensch,  gross,  rechtschaffen  und  frei! 

und  die  bewunderungswürdige  Idee,  welche  wir 
uns  schon  heute  davon  machen  können. 


Durch  welche  Kunst  erreichen  wir  also  soviel 
Schönheit?  sprecht  es  aus,  ihr  Naturalisten!  —  Indem 
wir  diese  Menschen  nachahmen?  —  Also  vorwärts! 
Nein,  wir  müssen  uns  von  Leidenschaft  berauschen! 
—  Wir  müssen  uns  berauschen  an  dieser  wunder¬ 
baren  Idee  vom  ganzen  Menschen!  —  Aber  die  Leiden¬ 
schaft  ahmt  man  nicht  in  der  Natur  nach,  sie  hat 
ihren  Ursprung  im  Herzen,  und  ihr  seid  gleichgültig, 
eure  Kunstweise  legt  davon  Zeugnis  ab. 

Mögen  die  Begeisterten  zu  den  Niedrigsten  hinab¬ 
steigen,  um  uns  ihre  Schönheit  zu  zeigen  und  ihr 
Elend,  dem  geholfen  werden  soll,  oder  die  Gefahr, 


in  die  sie  unsere  Gesellschaft  stürzen;  die  vom  Glück 
Begünstigten  mögen  uns  ihre  Freunde  zeigen,  wie  sie 
sie  lieben  und  kennen,  die  auf  dem  Lande  wohnen, 
sollen  uns  ihre  Nachbarn  schildern,  mit  allem  Ernste; 
und  überall  möge  sich  ein  brennender,  leidenschaftlicher 
Eifer  entspinnen,  der  durchdrungen  ist  von  allen  diesen 
Charakteren  und  in  dieser  Idee,  unter  diesem  Ideal  vom 
freien  Menschen,  oder  in  der  Kritik  des  Individuums 
sich  bethätigt.  —  Hier  darf  uns  kein  individueller  Zug 
entschlüpfen,  weder  in  seinem  Innern,  noch  auf  seinem 
Acker,  den  er  bebaut,  den  er  so  sorgsam  pflegt  oder 
in  der  Kritik  seiner  öffentlichen  Sitten  und  seiner 
Lebensweise.  Wozu  denn  alles  dies,  wenn  es  nicht 
der  Gegenstand  eines  leidenschaftlichen  Studium  sein 
soll,  um  den  Nachkommen  das  Porträt  dieser  Menschen, 
welches  sie  verehren  werden,  zum  Erbe  zu  geben; 
denn  unsere  Zeit  ist  eine  grosse  Zeit! 


/.  C  Raffaclli.  Die  Sonntagspromenade.  (Farbige  Radiei  nng) 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H  5 


15 


EIN  VERGESSENER  VELAZQUEZ 

Von  Dr.  A.  Bredius  im  Haag 


Als  ich  diesen  Sommer  nach  vielen,  vielen  Jahren 
die  Wiener  Sammlungen  wieder  durchwanderte, 
führte  mich  mein  Weg  auch  wieder  die  enge 
Treppe  hinauf  zu  der  Harrach’schen  Galerie.  Ich 
fand  die  Bilder  anders  aufgestellt,  einen  neuen  Kata¬ 
log,  der  vielen  der  alten  Irrtümer  den  Garaus  gemacht 
hatte  und  einige  früher  nicht  ausgestellte  Gemälde. 

Wie  ich  schliesslich  in  dem  letzten  Gemach  an¬ 
gelangt  war,  wo  mehrere  spanische  Bilder  hängen, 
wurde  mein  Auge  gebannt  durch  die  stechenden 
dunkeln  Augen  eines  jungen,  interessanten  Spaniers, 
in  grauem  Anzug,  mit  weissem,  mit  Spitzen  umrän¬ 
derten  Kragen.  Es  ist  ein  Brustbild  ohne  Hände. 

Unmittelbar  weilten  meine  Gedanken  wieder  bei 
jenem  herrlichen  Bildnis,  welches  diesen  Sommer  in 
London  in  der  Guildhall  ausgestellt  war:  dem  Un¬ 
bekannten  von  Velazquez  aus  der  Sammlung  des 
Herzogs  von  Wellington.^)  Nicht,  dass  ich  hier  den¬ 
selben  Kopf  zu  erkennen  meinte;  aber  dieselbe  Meister¬ 
schaft  fand  ich  hier  vor,  den  Augen  eine  Kraft  im 
Ausdruck  zu  verleihen,  dass  sie  einen  durch  und 
durch  ansehen. 

Schon  hatte  ich  den  Namen  Velazquez  auf  den 
Lippen,  als  ich  etwas  enttäuscht  im  Katalog  nach¬ 
schlug:  Nr.  333  Carl  Scrcta.  (Ritter  Szotnowsky  von 
Zaworzic.)  Männliches,  lebensgrosses  Brustbild  in 
grauem  Wams  und  umgeschlagenem  Spitzenkragen. 
Leinwand.  0,5g  m  h.,  0,48  m  br. 

Hat  denn  der  Screta  bisweilen  so  trefflich  gemalt, 
und  so  in  dem  Stile  des  grossen  Spaniers?  musste 


1)  S.  m.  Besprechung  der  Ausstellung  im  Nederl. 
Spectator,  1891,  Nr.  22,  23. 


ich  dann  fragen.  Nein,  das  kann  doch  kaum  sein. 
Dann  besann  ich  mich  darauf,  dass  der  Gründer  der 
Harrach’schen  Galerie,  Graf  Ferdinand  Bonaventura  von 
Harrach  zwischen  1661  — 1697  mehrfach  als  kaiser¬ 
licher  Botschafter  nach  Madrid  entsendet  wurde. 
Nein,  das  kann  nur  ein  Velazquez  sein  -  das  feine 
Grau  des  Wamses,  der  einfache  Hintergrund,  gleich¬ 
falls  in  dunklem  Grau,  der  breit  gemalte  Kragen,  die 
unglaubliche  Einfachheit  und  doch  das  Eebensvolle, 
die  grossartige  Charakterdarbildimg  mit  fast  nichts 
erreicht,  alles  deutete  nur  auf  ihn,  den  ich  in  der 
Londoner  Spanischen  Ausstellung  aufs  neue  wieder 
bewundert,  angestaunt  hatte. 

Aber  .  .  .  das  Bild  ist  in  dem  herrlichen  Buche 
justi’s,  dem  schönsten  Monumente,  das  Velazquez  ge¬ 
schaffen  werden  konnte,  nicht  erwähnt!  Schnell  dem 
grossen  Kenner  des  Meisters  geschrieben;  sah  ich 
denn  wohl  richtig? 

Die  Antwort  lautete  in  günstigem  Sinne,  justi 
hatte  1876  schon  notiert:  »Scheint  mir  Velazquez!« 
hatte  es  nur  vorsichtshalber,  oder  weil  ihm  Notizen 
fehlten,  in  seinem  Werke  nicht  aufgenonnnen.  Nun 
aber  eine  Photographie  gemacht  wurde  (wofür  ich 
hier  Sr.  Erlaucht  dem  Grafen  Johann  von  Harrach 
meinen  herzlichsten  Dank  ausspreche),  welche  ich  Justi 
zur  Ansicht  schickte,  schrieb  dieser  mir:  Der  Ein¬ 

druck  des  Spanischen  und  insbesondere  Velazquez 
Handschrift  hat  sich  mir  aufs  neue  bestätigt.  Nach 
dem  Stile  möchte  ich  das  Gemälde  in  die  mittlere 
Zeit  setzen,  obwohl  der  Kragen  (valona)  ungew^öhn- 
lich  wäre  (statt  der  einfachen  golilla).«  Dabei  er¬ 
mutigte  mich  der  grosse  Velazquez-Forscher,  das  Bild 
zu  publizieren.  Die  Reproduktion  macht  eine  weitere 
Beschreibung  des  Kunstwerkes  hier  überflüssig. 


MÄNNLICHES  BILDNIS  IN  DER  GALERIE  HARRACH  IN  WIEN 


DIE  NEUENTDECKTE  PRACHT-KATAKOMBE 

VON  ALEXANDRIA 

V(  N  Josef  Stkzyoowski 


Alexandria,  das  bisher  von  den  Nilreisenden 
gern  überschlagen  wurde,  hat  endlich  einen 
Anziehungspunkt  allerersten  Ranges  gewonnen. 
Nahe  dem  alten  Wahrzeichen  der  Stadt,  der  sogenannten 
Pompejus-Säule,  wurde  eine  Grabanlange  entdeckt,  die 
mit  den  Königsgrüften  von  Theben  und  den  Apis¬ 
gräbern  von  Sakkara  wetteifert,  ja  diese  in  ihrem 
reichen  Organismus  fast  übertrifft.  Schinkel’s  Phan¬ 
tasie  hätte  keinen  wiikungsvolleren  Schauplatz  einer 
altägyptischen  Opernfeerie  ersinnen  können.  Und  das 
bestand  im  europäischen  Centrum  Ägyptens,  ohne 
dass  man  davon  eine  Ah¬ 
nung  hatte! 

Zur  Herstellung  von 
Kaibauten  im  Hafen  von 
Alexandria  werden  seit 
Jahren  all  die  kleinen  Fels¬ 
hügel  abgetragen,  die  von 
der  Stadt  westlich  bis 
gegen  Meks  zu  liegen. 

Dabei  sind  die  interessante¬ 
sten  Gräberanlagen  auf- 
gedeckt  und  zerstört  wor¬ 
den.  Der  verdiente  Direk¬ 
tor  des  Museums  von 
Alexandria  und  die  Leip¬ 
ziger  Sieglin  -  Expedition 
haben  daher  mit  Recht  ihr 
Augenmerk  auf  alles  das 
gerichtet,  was  bei  dieser 
Gelegenheit  zu  Tage 
kommt  und  ohne  ihr  Ein¬ 
greifen  für  immer  verloren  wäre.  Nachdem  man  Ga- 
bari  verwüstet  hatte,  schritt  man  auch  an  den  grossen, 
Kom  es-Schugafa  genannten  Hügel.  Da  stiessen  die 
Arbeiter  eines  Tages  auf  die  Decke  eines  Zimmers. 
Museumsdirektor  Botti  wurde  gerufen  und  betrat  als 
erster  Fachmann  die  grossartige  Anlage,  mit  der  ich 
den  Leserkreis  dieser  Zeitschrift  kurz  bekannt  machen 
möchte.  Der  Grundriss,  der  von  der  Verlagsbuch¬ 
handlung  Baedeker  aus  ihrem  soeben  in  neuer  Auf¬ 
lage  erschienenen  Ȁgypten ^  freundlichst  zur  Ver 
fügung  gestellt  wurde,  ist  von  einem  Mitgliede  der 
Sieglin-Expedition,  Herrn  Fiechter,  aufgenommen,  die 
beiden  Ansichten  sind  dem  Werke  der  archäologischen 
Gesellschaft  von  Alexandria  entnommen,  die  auf  Anre¬ 
gung  von  Alfred  Schiff  den  Zeichner  Gillieron  berief 
und  dann  Dr.  von  Bissing  zur  Abfassung  eines  kurzen 


Textes  einlud*).  Eine  umfassende  Monographie  bereitet 
die  Sieglin-Expedition  vor**). 

Das  Zimmer,  auf  das  man  zuerst  stiess,  ist  im 
Plane  mit  M  bezeichnet.  Verlässt  man  es  durch  den 
einzigen  Zugang,  so  kommt  man  in  einen  Gang  L 
und  stösst  auf  einen  Felsen,  den  man  zunächst  für 
massiv  hält.  Umgeht  man  ihn  aber,  und  kommt  in 
den  Raum  H,  so  bietet  sich  —  das  Municipium  von 
Alexandria  hat  inzwischen  für  glänzende  elektrische 
Beleuchtung  gesorgt  —  der  überraschendste  Anblick. 
Der  Fels  umschliesst  eine  Grabkammer  und  deren  Vor¬ 
halle,  beide  auf  das  präch¬ 
tigste  architektonisch  und 
mit  Statuen  und  Reliefs  aus¬ 
gestattet.  Man  hat  zunächst 
eine  Fassade  mit  Anten  und 
zwei  Säulen  vor  sich,  die 
altägyptische  Kapitelle  tra¬ 
gen  ;  es  folgt  ein  Archi- 
trav  mit  der  Sonnen¬ 
scheibe  und  Sperbern, 
darüber  ein  Zahnschnitt, 
über  dem  sich  eine  Lünette 
wölbt.  In  der  Vorhalle 
selbst  stehen  rechts  und 
links  in  tiefen  Nischen 
Statuen  in  der  Haltung  der 
Pharaonenkunst  mit  sehr 
guten  Porträtköpfen,  links 
eine  weibliche,  rechts  eine 
männliche  Figur,  wohl 
die  Bilder  eines  Paares, 
das  einst  im  Besitz  des  Grabes  war.  Die  Ein¬ 
gangswand  der  Kammer  selbst  zeigt  eine  Pylonen¬ 
thür,  darüber  in  der  steilen  Hohlkehle  die  Sonnen¬ 
scheibe  und  einen  Aufsatz  des  Uräusfrieses.  Zu 
beiden  Seiten  sieht  man  auf  Postamenten  mächtige 


*)  Societe  archeologiqiie  d’Alexandrie,  Les  bas-reliefs 
de  Kom  ei  Chougafa.  Dr.  W.  de  Bissing,  La  catacombe 
noiiveliement  decouverte  de  Kom  ei  Chougafa.  Die  Archäo- 
iogische  Geseiisciiaft  hat  mir  durch  Heinrich  Bindernagel 
frermdlicli  gestattet,  zwei  der  Tafeln  hier  reproduzieren  zu 
dürfen. 

2)  Sie  ist  nach  Mitteilungen  des  Leiters,  Prof.  Theodor 
Schreiber,  sehr  weit  vorgeschritten.  Es  ist  ein  grosses 
Verdienst  des  bekannten  Leipziger  Gelelirten  die  wissen- 
schaftliche  Bearbeitung  des  Fundes  der  deutschen  Wissen¬ 
schaft  gesichert  zu  haben. 


A  Wendeltreppe  —  B  Eingang  ziini  oberen  Stock  —  C  Ro¬ 
tunde  -  D,  E  Nebenrdnnic  E  grosser  Saal  -  G  Treppe 
H  Eingang  zani  unteren  Geschoss  -  J  Vorhalle  —  K  Grab¬ 
kapelle  mit  Nischen  a,  b,  c  -  L  Galerie  —  M—Q  später 
angelegte  Sale  -  R  Saikophagkaininer 


Gesamtansicht  des  Innern  der  Prachtkatakombe  von  Korn  cs-Schiigafa  bei  Alexandria 


DIE  NEUENTDECKTE  PRACHT-KATAKOMBE  VON  ALEXANDRIA 


1 14 


Schlangen,  die  sich  aufrichten  und  die  Krone  Ägyptens 
tragen,  hinter  ihnen  Thyrsus  und  Caduceus,  darüber 
(Jorgonenschilde. 

Der  Grabraiun  K  selbst  ist  quadratisch,  erweitert 
sich  aber  in  drei  Nischen,  die  von  Pilastern  mit  Pa¬ 
pyrus-  und  Lotos- Kapitellen  flankiert  und  durch  einen 
Eierstabarchitrav  und  eine  Lünette  mit  der  Uräusscheibe 
oben  abgeschlossen  werden,  ln  jeder  Nische  steht 
ein  Sarkophag,  alle  drei  sind  massiv,  haben  also  nicht 
zur  Aufnahme  von  Toten  gedient.  Sie  sind  mit  Stier- 


Wir  sehen  den  Apis  auf  einem  Postament,  davor  einen 
Pharao  und  einen  Altar,  rechts  Isis.  Römisch-ägyp¬ 
tische  Mischbildungen  zeigen  nur  die  Reliefs  der  Ein¬ 
gangswand,  Anubis  und  Set-Typhon  in  der  Kleidung 
römischer  Legionäre.  Sie  belegen  auf  das  deutlichste, 
dass  die  Katakombe  nicht  der  ptolomäischen,  sondern 
der  römischen  Zeit  angehört,  Hr.  von  Bissing  datiert 
sie  zwischen  Vespasian  und  Hadrian  etwa. 

Verlässt  man  die  Grabkammer  wieder,  so  stösst 
man  auf  eine  Treppenanlage  H,  die  nach  abwärts,  und 


Einer  der  Sarkophage  in  der  Prachtkatakombe  von  Koni  es-Schugafa  bei  Alexandria 


Schädeln  geschmückt,  von  denen  je  zwei  Guirlanden 
ausgehen.  Daran  hängen  schwere  Trauben,  während 
der  Bogen  durch  Medusenhäupter  gefüllt  wird.  Am 
oberen  Rande  ein  laufender  Hund  und  Eckakroterien, 
dazu  stellenweise  Farbspuren.  Die  Wände  über  diesen 
Sarkophagen  tragen  Reliefs,  je  ein  breiteres  an  der 
Rückwand,  zwei  schmälere  an  der  Seite.  Inschriften 
fehlen  leider.  Dargestellt  sind,  wie  ein  Blick  auf 
nebenstehende  Abbildung  lehrt,  Scenen  durchaus 
altägyptischen  Stiles  und  mit  Figuren,  die  fast  durch¬ 
weg  dem  Pantheon  der  Pharaonen  entnommen  sind, 
ich  beschreibe  nur  das  in  obigem  Bilde  gegebene  Relief. 


G,  die  nach  aufwärts  zu  einer  grossen  Rotunde  C 
führt,  von  der  aus  seitlich  Grabräume  D  und  ein 
Saal  F  abgehen,  während  der  Treppe  gegenüber  ein 
Gang  B  zu  dem  alten  Eingang  A  der  ganzen  Anlage 
führt.  Es  ist  das  sonderbarste,  was  man  sehen  kann: 
Oben  im  Rücken  des  Hügels  öffnet  sich  ein  grosser 
Trichter,  dessen  Wände  entlang  eine  Treppe  in  die 
Tiefe  führt.  Botticelli  könnte  die  Idee  seiner  Hölle, 
wie  er  sie  nach  Dante  gestaltet,  von  einer  solchen 
Anlage  genommen  haben. 

Ich  glaube,  der  Leser  wird  nach  dieser  kurzen 
Vorführung  begreifen,  wenn  die  Alexandriner  jubeln 


DIE  NEUENTDECKTE  PRACHT-KATAKOMBE  VON  ALEXANDRIA 


115 


über  die  Bescherung,  die  ihnen  die  Jahrhundertwende 
gebracht  hat  und  die  Gelehrten  erstaunt  die  Köpfe 
schütteln.  Dieser  grossartige  Fund  will  gar  nicht 
recht  passen  in  die  Erwartungen,  die  wir  bei  Nach¬ 
forschungen  nach  der  in  Alexandria  heimischen  Kunst 
hegen.  Die  Metropole  des  Hellenismus  sollte  auf 
Schritt  und  Tritt  Zeugen  griechischer  Kunst,  die  ihr 
Gründer  Alexander  an  den  Nil  verpflanzte,  liefern. 
Dafür  ein  Grab  im  Pharaonenstil  mit  sehr  beschei¬ 
denen  Motiven  aus  der  Antike!  Es  giebt  einen  Trost: 
Kann  es  nicht  ein  Ägypter  in  römischen  Diensten  ge¬ 
wesen  sein,  der  sich  hier  nach  der  Väter  Sitte  be¬ 
graben  Hess?  Doch  auch  diesen  Strohhalm  schlagen 
uns  die  übrigen  im  Vorjahre  gemachten  Funde  aus 
den  Händen.  Nicht  dass  sie  die  Existenz  der  grossen 
griechisch-alexandrinischen  Kunst  leugnen.  Im  Gegen¬ 
teil:  es  sind  Gräber  in  schönster  hellenistischer  Archi¬ 
tektur  und  mit  trefflichen  Wandmalereien  gleich  denen 
der  entwickelten  pompejanischen  Dekorationskunst 
gefunden  worden.  Aber  über  diesen  Farbschichten 
lagen  andere,  die  wieder  durchaus  altägyptisch  waren, 
wie  die  Reliefs  von  Kom  es-Schugafa.  Das  ist  der 
klarste  Beweis  für  eine  Thatsache,  die  ich  tausendfach 
beweisen,  aber  bisher  nicht  zur  Anerkennung  bringen 


kann:  Hellas,  das  mit  Alexander  d.  Gr.  in  den 
Orient  tritt,  zieht  diesen  nicht  zu  sich  herüber. 
Es  wird  von  ihm  aufgenommen,  erstickt  aber  in  seiner 
Umarmung.  Wohin  wir  im  Orient  —  und  in  Rom 
—  den  Fuss  setzen,  überall  bröckelt  die  hellenische 
Tünche  ab  und  was  immer  deutlicher  hervortritt,  das 
sind  die  Züge  des  alten  Ahasver,  des  Orients,  dessen 
zähe  Rassenkraft  nicht  stirbt  und  überall  wieder  zur 
Geltung  kommt.  In  der  Strömung,  die  ich  die  byzan¬ 
tinische  nenne,  tritt  er  nach  Empfang  der  Taufe  mit 
antiken  Allüren  wieder  auf  und  setzt  dem  siechen 
Rom  den  Fuss  auf  die  Brust.  Kom  es-Schugafa  ist 
ein  Vorbote  dieses  Endes  in  der  Siegesstadt  Alexander’s 
des  Grossen  selbst. 

Nachschrift:  Während  der  Drucklegung  geht  mir 
ein  Brief  von  Herrn  Heinrich  Bindernagel  zu,  der 
meldet:  Bei  den  Kaibauten  in  der  Aufouchy-Bay 
ist  eine  sehr  interessante  Grabanlage  aufgefunden 
worden  mit  vortrefflich  erhaltenen  Malereien  (Scenen 
aus  dem  ägyptischen  Totenkultus).  Die  archäologische 
Gesellschaft  wird  sie  veröffentlichen.«  Also  ein  neuer 
Beleg  für  die  Verbreitung  des  Altägyptischen  in 
Alexandria! 


Ahb.  I.  David  Teniers  d.  J.  Die  Scliiifzeiigilde  in  Antwerpen.  Petersburg,  Pnnitage 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 
IN  DER  ERMITAGE  ZU  ST.  PETERSBURG 

Von  Max  Rooses  in  Antwerpen 
(Fortsetzung) 


DAVID  TENIERS. 

ENIERS  ist  derjenige  vlämische  Meister,  an 
dessen  Werken  die  Ermitage  am  reichsten  ist, 
am  reichsten  auch  im  Vergleich  mit  allen  an¬ 
deren  Museen.  Die  38  Bilder  stammen  aus  der 
Sammlung  von  Malmaison,  für  welche  sie  unter  den 
besten  aus  dem  Kasseler  Museum  geraubten  Bildern 
ausgesucht  waren,  aus  der  Galerie  Walpole,  aus  den 
Kabinetten  der  grossen  französischen  Liebhaber  des 
18.  Jahrhunderts:  Crozat,  Choiseul,  Live  de  joly, 
Baudouin.  Als  sie  noch  in  Paris  waren,  stach  Lebas 
acht  davon;  infolgedessen  wurden  sie  weltbekannt. 

Die  meisten  Motive,  welche  Teniers  mit  Vorliebe 
behandelte,  sind  hier  in  einer  oder  mehreren  Aus¬ 
führungen  zu  finden.  Von  seinen  Bauernkirmessen 
sind  sechs  vorhanden,  worunter  vier  grosse,  eine  mit 
1648  bezeichnet,  eine  andere  mit  1652;  eine 
Bauernhochzeit  von  1650  kann  zu  derselben  Reihe 
gerechnet  werden.  Dann  folgen  neun  Bilder  mit 
lustigen  Bauern;  Männern,  die  Karten  spielen,  rauchen 
und  trinken.  Ferner  ebensoviel  Bilder  aus  dem  ge¬ 
wöhnlichen  Dorfleben;  Bauern,  die  einen  Kauf  ab- 
schliessen,  oder  Musik  machen,  freien,  oder  Kugel 
werfen;  ein  Arzt  und  eine  Gruppe  Zigeuner.  Dann 
sechs  Landschaften  mit  Figuren,  teils  mit,  teils  ohne 
Gebäude,  wovon  eine  1640,  eine  andere  1644  be¬ 
zeichnet  ist.  Von  den  selteneren  Vorwürfen  finden 
wir  eine  »Versuchung  des  Antonius«,  ein  »Corps  de 
garde«,  eine  »Küche  ,  bezeichnet  1646,  eine  »Küche 
durch  Affen  geplündert«,  ein  »Seehafen^ ,  eine  »Fami¬ 
liengruppe  von  Geistlichen«  und  endlich  »Die  Büchsen¬ 
schützen  und  Gilden  auf  dem  grossen  Markt  von 
Antwerpen«. 

Dieses  letztgenannte  (Abb.  1)  ist  das  bedeutendste 
Werk  von  Teniers,  das  wir  hier  finden,  und  eins  der  be¬ 
deutendsten  des  Meisters  überhaupt.  Es  ist  schwierig 
einzureihen  und  mit  seinen  übrigen  Werken  zu  ver¬ 
gleichen,  weil  es  ganz  andere  Menschen  und  That- 
sachen  bringt,  wie  seine  Darstellungen  aus  dem  täg¬ 
lichen  Leben;  es  ist  eigentlich  ein  historisches  Ge¬ 
mälde,  in  des  Meisters  gemütlicher  Manier  und  in 
bescheidener  Grösse  behandelt.  Es  steht  jedoch  nicht 
allein  unter  seinen  Werken:  Der  Einzug  der  Erz- 

Zeitsclirüt  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  II,  5. 


herzogin  Isabella  zu  Brüssel  und  zu  Vilvoorde,  im 
Museum  zu  Cassel,  und  das  Vogelschiessen  des  Erz¬ 
herzog  Leopold-Wilhelm  zu  Brüssel,  gehören  zu  der¬ 
selben  Art  von  Bildern,  welche  grosse  Volksfeste  und 
öffentliche  Feierlichkeiten  darstellen;  auch  der  Floren¬ 
tiner  Markt  in  der  Pinakothek  zu  München  kann 
dazu  gerechnet  werden. 

Um  sich  vom  Volksmaler  zum  Historienmaler 
umzubilden,  brauchte  sich  unser  Künstler  keine  be¬ 
sondere  Gewalt  anzuthun;  an  Stelle  der  Bauern  malte 
er  Herren,  statt  der  Wirtsstuben  Paläste  oder  Bürger¬ 
wohnungen.  Waren  es  vornehme  oder  lustige  Gesell¬ 
schaften,  er  gab  sie  nach  dem  Leben  wieder,  mit 
demselben  Geschick  und  derselben  Vorliebe  für  ge¬ 
sunde  und  glückliche  Menschen.  Das  Bild  in  der 
Ermitage  veranschaulicht  die  Begegnung  der  Dekane 
und  des  dienenden  Eides-  der  bewaffneten  Gilden 
von  Antwerpen  auf  dem  grossen  Markt.  Das  Stück 
ist  1643  bezeichnet,  ln  diesem  Jahre  feierte  Gode- 
vaart  Snyders,  Dekan  des  Ouden  Voetboogs  (Armbrust), 
sein  Jubiläum.  Das  Gildehaus  lag  auf  dem  grossen 
Markt;  es  ist  das  turmhohe  Gebäude  an  der  äussersten 
rechten  Seite  des  Gemäldes.  Vor  diesem  Hause  haben 
sich  die  Hauptleute  der  Gilde  aufgestellt  und  halten 
mit  der  einen  Hand  die  Paradelanze  und  in  der 
anderen  den  Federhut;  hinter  ihnen  der  Fahnen¬ 
träger,  ein  mächtiger  Körper  in  buntem  hellfarbigen 
Gewände,  und  die  Gildeboten,  ihre  Brust  voll 
Ehrenzeichen,  mit  köstlicher  Schenkkanne  und  reich¬ 
geziertem  Pokal  in  den  Händen.  Einen  einzelnen 
Armbrnstträger  sieht  man  rechts;  zwei  der  Würden¬ 
träger  verbeugen  sich  ehrerbietig  vor  dem  Jubilar, 
einem  schönen  Greise,  der  mit  Rührung  den  Glück¬ 
wunsch  entgegenninnnt.  Hinter  ihm  steht  in  langer 
Reihe  die  Obrigkeit  der  Schwestergilde  der  Büchsen¬ 
schützen  mit  ihrem  Trommler;  einige  Brüder  feuern 
ihre  Gewehre  ab.  Weiter  nach  hinten  drängt  sich 
die  Volksmenge,  welche  das  Schauspiel  zu  gemessen 
herbeigeeilt  ist.  Im  Hintergrund  sieht  man  die  Häuser 
des  Grossen  Marktes,  ein  Stückchen  der  Zilversmid- 
straat,  das  Eckhaus  der  Gildekamerstraat,  wo  der 
»Jonge  Voetboog«  sein  Zimmer  hatte,  und  das  Rat¬ 
haus.  Durch  alle  Fenster  sehen  Zuschauer.  Das 
Gildezimmer  des  »Ouden  Voetboogs  ist  an  einem 

16 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


Abb.  2.  Tcniers.  Die  Wachtstiibe.  Ermitage 


der  unteren  Stockwerke  mit  farbigen  Schildern  geziert 
und  aus  den  Fenstern  darüber  werden  Frendenscliüsse 
abgefeuert. 

Das  Ganze  macht  einen  festlichen  Eindruck.  In 
der  Mitte  die  würdige  Schar  der  Dekane  in  Schwarz 
mit  weissem,  glatten  oder  gekräuselten  Halskiagen; 
zur  Seite  rechts  der  Herold  des  »Onden  Voetboogs« 
in  Rot,  der  Fahnenträger  in  Gelb  und  am  änssersten 
Ende  vor  einer  Gruppe  vornehmer  Bürger  ein  Paar 
allerliebste  Knäbchen  in  Gran;  der  Himmel  lichtblau 
mit  schweren  weissen  Wolken,  die  Häuser  des  Grossen 
Marktes  und  der  Zilversmidstraat  in  ruhigem  Licht, 
auf  dem  Zimmer  des  »Jongen  Voetboogs«  Schilder 
auf  einer  roten  Draperie,  das  Rathaus  in  halbem 
Schatten;  alles  in  feinem  Ton,  ruhig  mit  einigen 
farbigen  Flecken.  Die  Figuren  sind  sorgfältig  ge¬ 
malt  und  scheinen  wohl  Porträts  der  würdigen  Bürger¬ 
schaft  zu  sein;  ihre  Ausführung  zeugt  von  einer 
flotten,  sicheren  Hand. 

Teniers,  der  Maler  von  Bauer  und  Feld,  bewahrt 
in  diesem  Historiengemälde  die  Gaben,  die  ihn  in 
all  seinen  Werken  auszeichnen  und  seine  Eigen¬ 
tümlichkeit  ausmachen.  Was  er  mit  seinen  Zeit¬ 
genossen  und  Vorgängern  gemein  hat,  lässt  sich  am 
besten  in  diesem  Saale  der  Ermitage,  wo  er  so  vor- 
züglicli  und  vielseitig  vertreten  ist,  feststellen.  In 
den  letzten  Jahren  hat  man  wiederholt  versucht,  ihn 
für  einen  Schüler  von  Adriaan  Brouwer  auszugeben. 
Dieser  halb  vlämische,  halb  holländische  Maler  war 
zu  lange  misskannt.  jetzt,  als  sein  Malergenie  zu 
seinem  Rechte  kam,  wollte  man  ihn  auch  mit  einer 
Schar  Tributpflichtiger  umgeben  und  an  erster  Stelle 
wurde  Teniers  aufgerufen,  um  in  dieser  Reihe  der 
Schüler  Brouwer’s  Platz  zu  nehmen.  Ein  Blick  auf 
seine  Begegnung  der  Gildebrüder'  beweist  sofort, 
welch  unermesslicher  Abstand  zwischen  beiden  Künst¬ 
lern  liegt.  Und  in  der  Ermitage  hängen  noch  so 
viele  andere  seiner  Meisterwerke,  die  ebenso  kräftig 
dafür  sprechen  und  uns  Gelegenheit  geben,  ihn  mit 
mehr  Sicherheit  zu  beurteilen.  Es  befinden  sich  da¬ 
selbst  auch  drei  Bilder,  welche  seinem  Vater,  David 
Teniers  den  älterem  zugeschrieben  werden.  Wir 
wollen  sie  aber  mit  in  Betracht  ziehen. 


Sie  veransehaulichen  einen  Maler  in  seinem  Atelier, 
eine  Landschaft  mit  arbeitenden  und  eine  mit  trin¬ 
kenden  Bauern;  im  Grunde  genommen  unterscheiden 
sie  sich  nicht  von  den  Werken  des  jüngeren  David; 
solche  Vorwürfe  behandelte  auch  er  und  gab  sie  in 
gleicher  Auffassung  und  Ausstattung.  Der  einzige 
Unterschied  zwischen  seinen  Bildern  und  denjenigen, 
welche  unter  seines  Vaters  Namen  gehen,  besteht 
darin,  dass  die  letzteren  dunkler  im  Ton,  schwer¬ 
fälliger  in  der  Ausführung  und  geistig  unbedeuten¬ 
der  sind.  Kein  Handzeichen,  kein  Datum  oder  Ur¬ 
kunde,  die  uns  dazu  dienen  könnten,  den  wahren 
Meister  zu  erkennen.  Man  trifft  ähnliche  Bilder 
unter  dem  Namen  des  älteren  Teniers  noch  in  an¬ 
deren  Museen  an;  überall  findet  man  dieselbe  Über¬ 
einstimmung  und  dieselben  Abweichungen  wieder. 
Hat  David  der  ältere  sie  gemalt,  so  ist  ihm  sein 
Sohn  gefolgt  und  hat  seine  Manier  aufgehellt  und 
verbessert.  Die  Zuschreibung  ruht  jedoch  auf  zu 
schwacher  und  willkürlicher  Grundlage,  als  dass  wir 
sie. ohne  „weiteres,  annehmen .‘i können.  Teniers’  Vater 
malte  vielerlei  Dinge;  das  wissen  wir  mit  voller 
Sicherheit:  religiöse  Bilder,  Darstellungen  aus  dem 
Volksleben,  die  Versuchung  des  heiligen  Antonius 
u.  s.  w.  und  sein  Ton  ist  in  diesen  Bildern  wirklich 
grauer  und  seine  Technik  gröber.  Im  Dulwich- 
College  bei  London  befinden  sich  fünfzehn  Bilder, 
die  ihm  zugeschrieben  werden.  Einige  davon  schei¬ 
nen  in  der  That  von  ihm  ausgeführt  zu  sein;  so 
eine  Landschaft  mit  Zigeunern,  worin  die  Natur  noch 
ganz  so  dargestellt  wird,  wie  Momper  sie  sah;  Felsen, 
die  steil  aufragen  mit  scharf  abstechenden  Farbentönen. 
Das  ist  die  Landschaft  alter  Schule.  Der  junge 
Teniers  wurde  ihr  Neuschöpfer;  er  machte  sie  na¬ 
türlicher,  verbannte  die  Felsen  fremder  Abkunft, 
ersetzte  sie  durch  üppig  gewachsene  Bäume  mit 
mächtiger  Krone  und  breitem  Geäst,  zwischen  deren 
Laub  die  Luft  strömt  und  ein  Licht  spielt,  das  im 
Vordergründe  überreich  ist  und  weiter  hinten  zarter 
und  dunstiger  wird  und  doch  ebenso  wie  die  Farbe 
dabei  stets  klar  und  weich  bleibt.  Er  liess  seine 
Natur  gerade  so  froh  lachen  wie  seine  Menschen. 
Er  war  in  seinen  früheren  Bildern  noch  dunkel  und 
schwer;  später  wurde  er,  mit  seiner  Zeit  fortschreitend, 
heller,  sonniger  und  fröhlicher.  Die  grossen  Bauern¬ 
kirmessen  (Nr.  674  und  675),  wovon  die  zweite  vom 
Jahre  1648  datiert,  haben,  obschon  noch  etwas  kreide¬ 
artig,  bereits  einen  viel  helleren  und  harmonischeren 
Ton  als  die  seinem  Vater  zugeschriebenen  Land¬ 
schaften  (Nr.  66g  und  670),  worauf  das  starke  Licht 
noch  scharf  absticht  gegen  einen  dunkleren  Hinter¬ 
grund,  und  die  wahrscheinlich  Werke  des  Sohnes  aus 
seiner  früheren  Zeit  sind.  Die  grosse  »Bauernhochzeit« 
(Nr.  677)  von  1650  (Abb.  4)  ist  feiner  und  grauer 
iniTon,  noch  etwas  blassblau;  die  »Fröhliche  Mahlzeit« 
(Nr.  676)  von  1654  ist  in  vollkommen  lichtem  Grau 
sehr  fein,  sehr  dünn  gemalt,  wie  auf  die  Leinwand  ge¬ 
blasen  (Abb.  3).  Jetzt  hat  der  junge  Teniers  seine  Meister¬ 
schaft  über  den  Pinsel  erworben  und  lässt  dieses  helle, 
silberne  Licht  über  seine  Werke  scheinen,  das  ihm 
eigen  ist  und  seine  Bauernmotive  so  anziehend  veredelt. 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


IIQ 


Wer  wies  ihm  den  Weg,  den  er  hiermit  ein¬ 
schlug?  War  es  Adriaan  Brouwer?  Gewiss  nicht. 
Der  Maler  der  Bauernschänken  versinnlicht  mehr 
Visionen  als  die  Wirklichkeit;  in  schwülem,  von 
goldenem  Dunst  durchschimmerten  Dämmerlicht  stellt 
er  seine  Bauernburschen  dar  in  ihrem  schläfrigen 
oder  wild  auffahrenden  Wesen.  Teniers  ist  ganz 
und  gar  Luft  und  Sonne  und  Frohsinn,  ohne  ge¬ 
heimnisvolle  Tiefe,  ohne  Schwermut  oder  Wildheit. 
Niemand  that  es  ihm  darin  vor.  Niemand  that  es 
ihm  nach.  Er  lernte  vielleicht  weniger  von  seinem 
Vater  als  von  seinem  Schwiegervater,  Jan  Breughel, 
dem  Sammet- Breughel;  auch  dieser  war  ein  Meister 
des  Pinsels,  ein  Feinnialer  ersten  Ranges;  er  liebt 
die  schöne,  blühende  Natur,  er  vertieft  sich  in  die 
Darstellung  der  Blumen,  Waffenrüstungen  und  Tier¬ 
chen,  in  alles,  was  Farbe,  Glanz  und  reiche  Reflexe 
bietet. 

Vornehmlich  in  der  Wachtstubex ,  1642  be¬ 

zeichnet  (Abb.  2),  finden  wir  den  Nachhall  von 
Breughel’s  Kunst.  Soldaten  sitzen  und  spielen  Kar¬ 
ten,  andere  Mannschaften  schlagen,  jede  auf  ihre 
Weise,  ihre  Zeit  tot,  ein  schöner  Offizier  hält 
sich  fein  beiseite;  vorne  und  als  Hauptgegenstand 
des  grossen  Gemäldes  liegt  ein  ganzes  Arsenal: 
Waffen  aller  Art,  ein  Harnisch  und  eine  Fahne. 
So  etwas  würde  der  Schwiegervater  auch  gerne  ge¬ 
malt  haben,  aber  er  hätte  es  netter  und  schärfer  aus¬ 
geführt.  Der  Schwiegersohn  ist  weicher,  geschmei¬ 
diger  und  blonder,  obschon  er  in  früheren  Jahren 
die  kräftigen  Farbentöne  mehr  liebte  als  später. 

Die  Zeit  der  Miniaturmalerei  war  denn  auch 
vorüber.  Rubens  war  aufgetreten,  durch  seine  Farben¬ 
glut  und  seinen  Lichtglanz  alles  beherrschend,  alles 
mit  sich  fortreissend;  van  Dyck  hatte  gelebt  und 
bewiesen,  wie  köstlich  schön  das  bescheidene  Grau 
wirkt,  wie  vornehm  dieser  stille  Ton  sein  kann  und 
wie  der  lichte  Frühling  und  das  blasse  Herbstlicht 
ihre  durchdringende  Herrlichkeit  neben  der  macht¬ 
vollen  Sommerpracht  behaupten.  Teniers  hat  das 
Gold  des  Einen  und  das  Silber  des  Anderen  be¬ 
wundert  und  sich  zu  eigen  gemacht;  er  hat  nicht 
nur  aus  diesem  Teile  ihres  Kunstvermögens  Vorteil 
gezogen,  er  sah  von  beiden  ab,  wie  man  auch  in 
Bildern  kleinerer  Dimensionen  breit  bleiben  kann, 
wie  dehnbar  und  elastisch  der  menschliche  Körper 
ist,  wie  zierlich  die  natürlichen  Gebärden  in  ihrer 
Wahrheit  und  wie  grossartig  schön  sie  in  ihrer 
Einfalt  sind;  wie  das  Leben  und  die  Bewegung 
wahrgenommen  und  wiedergegeben  wird.  Und 
Teniers  ist  ein  Maler  des  Lebens;  seine  Bauern, 
die  tanzen  oder  rauchen  und  freien,  sowohl  wie 
seine  Herren,  welche  die  Kirmess  besuchen  oder 
einander  vor  dem  Antwerpener  Rathaus  begrüssen, 
leben,  ihre  Arme  und  Beine  drehen  sich  ohne  Schar¬ 
niere,  ihre  Augen  strahlen,  man  hört  ihr  Lachen  und 
teilt  ihre  Freude.  Die  Steifheit  von  früher  ist  ver¬ 
schwunden,  aus  der  Natur  wie  aus  dem  Leben;  me¬ 
tallartig  scheinen  und  glitzern  die  Menschen  und 
Dinge  in  den  Bildchen  von  Jan  Breughel  und  von 
Hendrik  van  Baelen;  bei  Teniers  und  ebenso  bei 


Rubens  und  van  Dyck  sind  die  Menschen  Fleisch 
geworden,  ist  Saft  ins  Laub  gekommen  und  Zittern 
in  die  Luft.  Die  Kunst  sich  auszudrücken  und  die 
Meisterschaft  über  Pinsel  und  Farbe  sind  voraus¬ 
gegangen.  Die  zwei  grossen  Vorgänger  malen  ge¬ 
wandt,  mit  Überfluss,  mit  Genauigkeit,  alles  kommt 
von  selbst  auf  seinen  Platz  und  in  seinen  ent¬ 
sprechenden  Ton;  und  so  ist  es  auch  bei  Teniers: 
das  Komponieren  geht  ihm  mühelos  von  der  Hand 
und  das  Malen  ebenfalls.  Die  Figuren  stehen,  han¬ 
deln  und  bewegen  sich,  eine  jede  nach  ihrer  Art 
und  ihrem  Sinn,  dabei  alle  mit  Schicklichkeit  und 
Wahrheit,  einige  Tüpfchen  mit  einem  feinen  Pinsel 
und  ihre  Züge  sind  mit  der  ihnen  eigentümlichen 
Farbe,  dem  Licht  und  dem  Leben  auf  die  Leinwand 
gezaubert.  Es  ist  so  wenig  Anstrengung,  so  wenig 
Suchen,  Umhertasten  und  Verbessern  in  Teniers’ 
Malerei  zu  entdecken,  dass  man  sie  fast  für  ober¬ 
flächlich  halten  würde,  wenn  nicht  die  geringe  Ar¬ 
beit,  die  er  anwendet,  die  Bewunderung  über  die 
erzielten  grossen  Erfolge  verdoppeln  würde. 

Wir  leugneten,  dass  Teniers  seine  Manier  grössten¬ 
teils  von  Brouwer  abgesehen  haben  soll;  wir  leugnen 
dagegen  nicht,  dass  er  ihm  wohl  etwas  schuldig  war. 
Erstens  kann  er  den  dünnen,  durchscheinenden  Farben¬ 
auftrag  seines  Zeitgenossen,  den  wir  in  seinen  eigenen 
Werken  wiederfinden,  bewundert  und  angenommen 
haben.  Dann  das  Absetzen  gegen  die  ruhigen, 
feinen  Töne  durch  eine  starke,  klingende  Note. 
Eine  rote  Mütze,  eine  blaue  Kappe,  oder  ein  weisser 
Hemdsärmel  bringen  in  Brouwer’s  Schlummer  Auf¬ 
gewecktheit  und  Licht  hinein;  dies  ist  auch  bei 
Teniers  der  Fall  und  seine  »Dorfherberge«  von  1644 
(Nr.  70g)  ist  ein  Beispiel  dafür.  In  der  ruhigen, 
sanft  graugrünen  Landschaft  steht  eine  Schenke,  vor 
welcher  eine  Bäuerin  und  vier  Bauern  rund  um  einen 
Tisch  sitzen,  die  Wirtin  geht  in  ihre  Wohnung 
hinein.  Eine  der  Personen  trägt  eine  blaugrüne 
Jacke,  eine  andere  ein  weisses  Hemd,  eine  dritte  hat 
eine  rote  Mütze  in  der  Hand  und  eine  vierte  eine 
rote  Kappe  auf  dem  Kopf;  all  diese  leuchtenden  Töne 
auf  dem  einfachen  und  doch  köstlichen  Hintergrund 
machen  das  fröhlichste  Farbenspiel  aus,  welches  man 
sich  wünschen  kann  und  das  mit  wenig  Stoff,  aber 


Abb.  3.  Teniers.  Vlämische  Freuden.  Ermitage 

16* 


;  20 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


viel  Oesclimack  und  Geschicklichkeit  erlangt  worden 
üt.  Tcniers  konnte  ebenso  bei  Broiiwer  die  ver- 
•ch"';mpelten  Bäuerlein,  die  er  öfter  in  seine  Wirts- 
siubcn  setzt,  kennen  gelernt  haben.  Die  gesunden. 
Sehnigen,  durch  Sonne  und  Luft  gebräunten  Dorf¬ 
bewohner,  mit  dem  breiten  roten  Wollenhemd  um 
die  Lenden  und  der  Kappe  schief  und  keck  auf  dem 
Kopf,  unermüdlich  im  Tanzen,  unersättlich  im  Trin¬ 
ken  und  unbezwinglich  im  Liebkosen  gehören  ihm; 
dagegen  kann  er  wohl  die  gedrückten,  geknickten 
und  beengten  Stümper,  die  schweigend  und  zitternd 
an  ihrem  Pfeifchen  schmauchen  und  aus  ihrem 
Glase  schlürfen,  von  Brouwer  übernommen  haben. 


den  wahnwitzigen  Darstellungen  eines  Hieronymus 
Bosch  und  Peter  Breughel.  Man  sieht;  die  Sonne 
ist  aufgegangen  und  hat  den  nächtlichen  Spuk  ver¬ 
scheucht.  Zu  dem  Phantastischen  in  Teniers’  Wer¬ 
ken  gehört  auch  Die  Affenküche«  (Nr.  öqq),  die 
wir  hier  antreffen,  ein  Vorwurf,  den  er  öfter  behan¬ 
delte,  der  seinem  Erfindungsvermögen  entsprach  und 
den  er  mit  flinker  Hand  und  witzigem  Humor 
malte  (Abb.  6). 

Teniers  hat  also  von  vielen  gelernt,  er  ist  jedoch 
in  niemandes  Eusstapfen  bestimmt  getreten;  er  war 
ein  Kind  seiner  Zeit,  aber  auch  ein  geborener  Künst¬ 
ler;  er  wusste  sich  aus  dem,  was  vor  ihm  geschaffen 


Abb.  4.  David  Teniers  d.  J.  Das  Hochzeitsnuüil.  Petersburg,  bnnifage 


Er  war  kein  Träumer  kein  Schöpfer  phantastischen 
Lebens,  wenn  er  auch  wiederholt  die  Versuchung  des 
hl.  Antonius  malte.  Die  Ermitage  besitzt  auch  eine 
solche,  (Nr.  671),  sie  verrät  jedoch  keine  übergrosse 
Neigung  zu  Phantasterei.  Der  Eremit  sitzt  betend  an 
einem  Tisch,  ein  gehörntes  Tierchen  zeigt  ihm  eine 
junge  Dame,  die  auf  ihn  zukommt  und  unter  deren 
sammetnen  Puffärmeln  ein  Vogelfuss  und  ein  Schwanz 
zum  Vorschein  kommen.  Verführerisch  sieht  sie 
nicht  aus,  ebenso  wenig  wie  der  Frosch,  der  auf 
dem  Skelett  eines  Ungeheuers  reitet  und  die  Untiere, 
die  einen  Besen  halten  oder  auf  der  Klarinette 
spielen,  schauerlich  sind.  Es  ist  ein  unschädlicher, 
fast  anständiger  kleiner  Spuk,  stark  abstechend  von 


war,  zu  vervollkommnen,  aber  er  war  und  blieb 
originell:  der  gewandte  Maler  und  reiche  Kolorist, 
der  Neuschöpfer  des  Lichtes,  der  Sänger  frohen  Land¬ 
lebens  und  lustigen  Getriebes  -  wo  es  auch  sei  - 
der  Bewunderer  der  Natur  und  der  Verherrlicher  der 
Genüsse  vaterländischen  Bodens  in  all  seiner  Einfalt, 
mit  seinem  Grün,  seinem  Licht  und  seiner  Luft,  wie 
sie  uns  täglich  erscheinen.  Er  war  ein  Bauernmaler 
und  doch  kein  bäuerischer  Künstler,  sondern  im 
Gegenteil  ein  Aristokrat  vom  Scheitel  bis  zur  Sohle, 
in  seinem  Leben  und  in  seinen  Werken;  seine  Men¬ 
schen  sowohl  wie  seine  Landschaften,  seine  Farbe  und 
seine  Technik  sind  vornehm.  Die  Thaten,  von  welchen 
er  erzählt,  sind  nicht  besonders  nobel,  aber  er  erzählt 


Petersburg,  Ermitage  Teniers  d.  J. 

Abb.  5  Pic  Küche 


BÜCHERSCHAU 


i?  ;  iiik.  ohne  auf  Anstössiges  besonderen  Naclidruck 
zu  leuer,  er  verschleiert  sie  mit  dem  Adel  seines 

'O  > 

CeiiU-.s  und  macht  sie  zu  Äusserungen  des  Naturlebens, 
jede  Unanständigkeit  auschliesst. 
i/'üssten  wir  ein  Bild  in  der  Ermitge  bezeichnen, 
wo  alle  seine  Gaben  und  Eigentümlichkeiten  zusammen¬ 
gefasst  sind,  wir  wählten  seine  '>Grosse  Küche« 
(Nr.  6g8),  datiert  1646  und  hier  (Abb.  5)  abgebildet. 
Der  Herr  ist  von  der  Jagd  zurückgekehrt;  rund  um 
ihn  her  sieht  man  seine  Hunde,  das  Wild  liegt  noch 
zerstreut  auf  der  Erde,  links  kleine  Vögel  und  Ge- 
müsse  mitten  zwischen  Töpfen  und  Pfannen;  rechts 
bieten  drei  Fischer  ihre  Ware  an;  einer  von  ihnen 
ist  blind  und  wird  durch  einen  Koch  und  einen 
jüngeren  Gesellen  zum  Herrn  des  Hauses  geleitet. 
Sie  bilden  zu  dreien  eine  schöne  Gruppe,  welche 
die  beiden  Teile  der  Darstellung  miteinander  ver¬ 
bindet.  Im  Hintergrund  hängt  der  Kessel  über  dem 
Feuer  und  die  Köche  sind  an  ihrer  Arbeit.  Es  ist 


eins  der  früheren  Werke  des  Meisters  (Teniers  wurde 
im  Jahre  1610  geboren  und  starb  1690),  aber  er 
ist  bereits  vollständig  gereift;  er  malt  alles,  was 
er  will,  mit  unübertroffener  Gewandtheit;  Fische, 
Vögel,  Küchengerät,  die  Menschen  und  die  Räume, 
worin  sie  sich  bewegen,  worin  sie  leben  und  handeln, 
alles  natürlich  und  geschickt.  Der  weite  Raum  hat 
lichtgraue  Farbentöne;  in  kühler,  aber  fein  silbriger 
Helligkeit  schwimmt  die  ganze  Darstellung,  ein  Paar 
weisse  Glanzlichter,  einige  helle,  fröhliche  Lichtpunkte, 
eine  rote  Jacke  und  ein  blaues  Wams  als  lebendige 
Töne.  Herr  und  Knecht  sind  zusammen  abgebildet, 
alle  genau  gesehen  und  alle  vornehm;  die  tote  Natur 
und  die  lebenden  Personen  nehmen  jeder  seinen 
Teil  im  Bilde  ein.  Weder  beeinträchtigt  die  schöne 
Ausführung  des  Leblosen  den  höheren  Rang,  den 
die  Menschen  behalten  müssen,  noch  schadet  der 
Trieb,  dekorativ  zu  arbeiten  der  Forderung,  wahr  zu 
bleiben. 


Abb.  6.  David  Teniers  d.  J.  Die  Affenkiiche.  Petersburg,  Ermitage 


BUCHERSCHAU 


Adolf  Philippi,  Kunstgeschichtliche  Einzeldarstel¬ 
lungen.  5.  und  6.  Band.  E.  A.  Seemann,  Berlin  und 
Leipzig.  iQOo/iQoi. 

Von  den  Kunstgeschichtliclien  Einzeldarstellungen« 
habe  ich  hier  gesprochen,  als  die  vier  ersten  Bände  er¬ 
schienen  waren.  Erstaunlich  schnell  sind  zwei  —  eigent¬ 
lich  drei  --  Bände  hinzugekommen.  Das  Werk  ninfasst 
jetzt  ziemlich  das  ganze  Gebiet,  dem  die  kunstgeschicht¬ 
liche  Teilnahme  weiterer  Kreise  zngewendet  ist.  Im 
5.  Bande  wird  von  Rubens,  van  Dyck  und  den  anderen 
vlämischen  Malern  des  17.  Jahrhunderts  gesprochen.  Der 


6.  Band,  der  die  holländische  Malerei  schildert,  zerfällt  in 
zwei  Bücher,  von  denen  das  erste  den  beiden  grössten, 
Erans  Hals  und  Rembrandt  gewidmet  ist,  das  zweite  den 
»Landschaftern  und  Kabinettsmalern«.  Die  Kunst  des 
klaren  Disponierens,  die  auf  der  freiesten  Uebersicht  über 
das  vielfältige  Material  beruht,  bewährt  der  Verfasser 
namentlich  in  diesem  6.  Bande,  indem  er  die  vielen  Per¬ 
sönlichkeiten  der  holländischen  Maler  ohne  Ängstlich¬ 
keit  lind  Pedanterie,  doch  in  wohlgeordnetem  Zuge  auf- 
treten  lässt.  Das  überragende  Genie  Rembrandt’s  und  die 
weithin  Leben  spendende  Kraft  des  Frans  Hals  helfen  zu 


BUCHERSCHAU 


123 


der  erwünschten  Gliederung.  Die  kleineren  Meister  er¬ 
scheinen  ast-  und  zweigartig  an  den  Hauptstämmen.  Das 
Gewimmel  der  relativ  unabhängigen  Maler  in  dem  2.  Buche 
zu  schildern,  war  besonders  schwierig.  Bald  den  Orts¬ 
zusammenhang  betonend,  bald  nach  den  Darstellungsgat¬ 
tungen  gruppierend,  wahrt  Philippi  auch  hier  die  schönste 
Übersichtlichkeit. 

Zum  Lobe  des  Textes  müsste  fast  alles  wiederholt 
werden,  was  hier  über  die  vier  ersten  Bände  gesagt  wurde. 
Viel  ist  überall  der  sorgfältig  benutzten  Litteratur  ent¬ 
nommen,  aber  niemals  ist  das  Urteil  direktes,  verschleiertes 
oder  unbewusstes  Citat,  sondern  stets  unmittelbar  aus 
der  Betrachtung  der  Kunstwerke  geschöpft.  Nicht  ad 
hoc  während  der  Arbeit  zusammengeraffte  Galerienotizen, 
sondern  behagliche  Studien  in  den  Gemäldesammlungen, 
die  sich  Selbstzweck  waren,  haben  dem  Verfasser  die  um¬ 
fassende  Anschauung  verschafft,  die  er  mit  pädagogischer 
und  schriftstellerischer  Gewandtheit  dem  Leser  niitteilt. 
Da  eigenes  Urteil  überall  den  Verfasser  leitet,  so  werden 
auch  die  wenigen  Lücken  in  seiner  Vorstellung  deutlich 
bemerkbar.  Was  ein  Kompilator  gesehen  hat  an  Kunst¬ 
werken  und  was  er  nicht  gesehen  hat,  ist  ziemlich  gleich¬ 
gültig.  Philippi,  der  durchaus  kein  Kompilator  ist,  kennt 
die  englischen  Sammlungen  nicht  so  gut  wie  die  deutschen. 
Wohl  weiss  er  vortrefflich  Bescheid  und  citiert  die  Schätze 
der  englischen  Galerien  (übrigens  die  schönste  Landschaft 
Brouwer’s  und  die  bedeutendste  Landschaft  Rembrandt’s 
nicht),  aber  man  merkt  sogleich,  wo  er  citiert  und  wo  er 
mit  dem  Bilde  vor  Augen  spricht.  Soweit  die  Galerie- 
studien  des  Verfassers  reichen,  das  heisst  im  wesentlichen, 
soweit  der  reiche  Bestand  an  niederländischen  Gemälden 
in  deutschen  und  niederländischen  Galerien  reicht,  ist  sein 
Urteil  ebenso  warm  wie  streng,  ebenso  anpassungsfähig 
wie  sicher.  Wie  klar  wird  zum  Beispiel  unterschieden 
zwischen  der  reichen  Kunst  Brouwer’s  und  der  geringen 
Gestaltungskraft  des  berühmten  Teniers.  Die  Schilderung 
ist  überall  voll  von  treffenden  Ausdrücken,  die  Gesehenes 
deutlich  bezeichnen.  Ich  glaube  nicht,  dass  es  eine  ebenso 
angenehm  und  sicher  belehrende,  auf  das  Wesentliche 
im  Kunstwerk  hinweisende  kunstgeschichtliche  Darstellung 
giebt  wie  Philippi’s  Werk.  M.J.  F. 

Paul  Weber,  Beiträge  zu  Dürer’s  Weltanschauung. 

Heft  23  der  »Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte«. 

Strassburg  bei  E.  Heitz,  igoo.  Mit  4  Lichtdrucktafeln 

und  7  Textbildern. 

Weber’s  interessante  und  vielfach  überzeugende  Studie 
ist  jenen  drei  berühmtesten  Kupferstichen  Dürer’s  ge¬ 
widmet,  die  als  »Ritter,  Tod  und  Teufel«,  als  »Melancholie« 
und  als  »Hieronymus  im  Gehäus«  ebenso  allgemein  be¬ 
kannt  und  gefeiert  als  schwierig  zu  deuten  sind.  Die  letzte 
Auslegung,  die  inzwischen  viel  Beifall  gefunden  hat,  gab 
vor  acht  Jahren  F.  Lippmann:  darnach  soll  Dürer  bei  der 
Konzeption  dieser  Stiche  von  jener  scholastischen  Drei¬ 
teilung  der  menschlichen  Tugenden  in  verstandesmässige, 
moralische  und  theologische  ausgegangen  sein,  einer  Drei¬ 
teilung,  welche  durch  die  Margaritha  philosophica  des 
Freiburger  Kartäuserpriors  Gregorius  Reisch  eine  fast 
kanonische  Geltung  erlangte  und  diese  bis  in  die  Neuzeit 
behauptet  hat.  Dass  diese  Lippmann’sche  Deutung  den 
Vorzug  verdient  vor  jener  älteren,  die  in  den  (3)  Stichen 
die  (4)  Temperamente  erkennen  wollte,  leuchtet  ohne 
weiteres  ein.  Aber  Weber  weist  nach,  dass  zwar  die 
meisten  Beigaben  auf  der  »Melancholie«  sich  vortrefflich 
aus  der  Charakterisierung  der  intellektuellen  Tugenden, 
wie  sie  bei  Reisch  gegeben  wird,  deuten  lassen,  dass  aber 
zwischen  den  zwei  anderen  Stichen  und  den  virtutes 
morales  und  Iheologicales  Reisch’s  ein  wirklich  zwingender 


Parallelismus  nicht  auffindbar  ist.  Dazu  kommt,  dass  Dürer 
selbst,  wie  Weber  überzeugend  darthut,  die  drei  Stiche  gar 
nicht  als  eine  zusammengehörige  Einheit  betrachtet  wissen 
wollte:  Hieronymus  und  Melancholie  sind  ihm  allerdings 
Pendants,  aber  der  »Reiter«  geht  für  sich. 

Was  nun  ferner  die  Idee  dieses  christlichen  Ritters 
betrifft,  so  soll  sie  Dürer  bekanntlich  nach  H.  Grimm’s 
ansprechender  Vermutung  dem  Enchiridion  militis  christiani 
des  Erasmus  verdanken.  Aber  Weber  weiss  es  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich  zu  machen,  dass  dieser  Gedanke 
schon  lange  vor  Erasmus  ein  weitverbreiteter  war,  dass  die 
deutsche  Mystik  ihn  längst  volkstümlich  gemacht  hatte, 
ehe  Dürer  und  Erasmus,  jeder  in  seiner  Weise,  ihm  seine 
klassische  Gestaltung  gaben.  Es  gereicht  dieser  Darlegung 
zu  einer  kräftigen  Bestätigung,  dass  Weber  auch  künst¬ 
lerische  (nicht  bloss  litterarische)  Vorläufer  des  Dürerstiches 
nachzuweisen  vermag.  Die  eine  dieser  Darstellungen,  in 
einer  Schrift  von  1494,  betitelt  »der  Fusspfadt  tzuo  der 
ewigen  seligkeyt«,  zeigt  in  der  That  eine  überraschende 
Ähnlichkeit  mit  Dürer’s  Reiter.  Die  andere,  ein  Holzschnitt 
von  1488,  ist  dem  Gedanken,  nicht  der  Komposition  nach, 
mit  dem  Reiter  nahe  verwandt.  (Der  Holzschnitt  führt 
sich  selbst  als  »Spiegel  der  Vernunft«  ein;  warn  1  Weber 
sich  an  eine  Pilgerflasche  und  nicht  vielmehr  an  einen 
runden,  an  Schnüren  hängenden  Spiegel  dabei  erinnert 
fühlt,  ist  mir  unverständlich  geblieben.) 

Die  Melancholie  und  den  Hieronymus  hat  wie  gesagt 
Dürer  selbst  als  Gegenstände  aufgefasst  und  nicht  weniger 
wie  sechsmal  zusammen  verschenkt.  Dass  er  auf  den 
beiden  Stichen  den  uralten  Gegensatz  zwischen  geistlichem 
und  weltlichem  Wissen,  zwischen  Theologie  und  profaner 
Gelehrsamkeit  hat  darstellen  wollen,  daran  wird  nach 
Weber’s  Darlegungen  kaum  mehr  zu  zweifeln  sein.  Trotz¬ 
dem  bereitet  die  Melancholie  der  Deutung  im  einzelnen 
noch  erhebliche  Schwierigkeiten.  Sehr  richtig  bemerkt 
Weber,  dass  die  Geräte,  die  auf  dem  Stiche  die  sinnende 
Frau  umgeben,  als  Abzeichen  der  sieben  artes  liberales 
allein  sich  nicht  befriedigend  erklären  lassen.  Offenbar 
sind  ausserdem  noch  die  sieben  mechanischen  Künste,  die 
das  hohe  Mittelalter  zur  Ergänzung  den  freien  Künsten  an 
die  Seite  stellte,  in  Betracht  gezogen  worden.  So  weit 
kann  man  Weber’s  Beweisgang  nur  gutheissen.  Aber  wenn 
er  nun  versucht,  diese  14  verschiedenen  menschlichen  Thä- 
tigkeiten  samt  und  sonders  in  den  Attributen  der  Melan¬ 
cholie  wiederzuerkennen,  so  geht  es  dabei  ohne  erhebliche 
Gewaltsamkeit  nicht  ab.  Warum  z.  B.  die  eine  Glocke 
nicht  die  Musik  soll  bezeichnen  können,  sehe  ich  nicht 
ein;  auch  die  Frau  Musika  in  der  Vorhalle  des  Freiburger 
Münsters  begnügt  sich  mit  einer  einzigen  Glocke.  Aber 
Weber  hat  auch  eine  Erklärung  für  dies  Fehlen  der  Musik 
bereit:  sie  kann  unter  den  Attributen  der  Melancholie  seines 
Erachtens  schon  deshalb  nicht  aufgeführt  werden,  weil  sie 
nach  Dürer’s  eigensten  Worten  das  beste  Mittel  gegen  die 
Melancholie  ist.  Ich  gestehe,  dass  mir  dies  zu  fein  ist, 
um  es  zu  glauben.  Dagegen  wird  der  schreibende  Engel¬ 
bub  sehr  glücklich  von  Weber  mit  der  Grammatika  in 
Zusammenhang  gebracht.  Ob  freilich  das  Tuch,  das  der 
Engel  sich  auf  den  Mühlstein  gebreitet  hat,  die  Kunst  der 
Weberei  zu  bedeuten  habe,  ist  mir  dann  wieder  zweifel¬ 
haft.  Und  soll  denn  wirklich  der  kleine  Gegenstand,  der 
rechts  vorn  neben  den  Nägeln  am  Boden  liegt  und  am 
ehesten  ein  Bohrer  sein  könnte,  eine  Klistierspritze  und 
somit  die  Medicin  vorstellen?  Dürer  war  doch  nicht 
zimperlich,  der  hätte  dies  Gerät,  wenn  er  es  brauchte, 
gewiss  in  leibhaftiger  Grösse  und  unzweideutig  dargestellt. 
Den  grossen  »Krystallkörper«  endlich,  der  so  preislich  die 
linke  Bildhälfte  beherrscht,  möchte  Weber  mit  der  von 


124 


BÜCHERSCHAU 


Dürer  so  Iiocl’goschälzten  Kunst  der  Perspektive  in  Zii- 
sainmei-' ''  ■■g  bringen.  :  4e;-  iisik  also  soll  er  ansgelassen 
und  il.  ■:  nei  e  Ke  lot,  die  unter  den  14  kanonischen  sich 
^n-.' :  eingeschaltet  haben!  Wer  mag,  wo 

-<:  '.V  ;ii- ib  liclik- i:.-n  Zutritt  haben,  noch  an  Diirer’s 

ä;  =  .  !i- '  .  i  b  vv'bisenbsiUgkcit  glauben?  Er  war  eben  hier 
b  nrij  . spaltender  Malerpoet.  Auf  tadellose 
: V  ■  '  A.iiibute  kam  es  ihm  sicher  nicht  an, 

-  n  ■  ■:'-e  r  profanen  Gelehrsamkeit  schuf:  er 

.  r.  s  ;Im'  n  /  Uributen  an,  was  ihm  passte  und  gut  ins 
ki  nni  ^echr  war  hilligerweise  von  einem  Künstler 
vcii;  -gen. 

i.u  dem  Krystallkörper  ,  der  sich  auf  dem  Stich  so 
’ireit  macht,  sei  noch  eine  Bemerkung  gestattet.  Peter  Apiatnis 
in  seinem  Instnimcntenbnch  von  1533  stellt  auf  dem  Titel¬ 
blatt  zwei  Astronomen  dar,  die  Himmelsbeobachtimgen  an¬ 
stellen  (s.  dieAbb.);  neben  dem  einen  steht  ein  regulärer 
Ikosaeder,  neben  dem  andern  ein  Dodekaeder.  Die  beiden 
Körper  haben  die  Höhe  eines  Tisches,  sind  also  von  der¬ 
selben  Monumentalität  wie  der  Rhomboeder  auf  Diirer’s 
Stich.  Zunächst  hat  es  den  Anschein,  als  dienten  die 
Körper  den  Astronomen  als  Messtische  zum  Einzeiclinen 
ihrer  astronomischen  Messungen.  Aber  wir  wissen  nicht, 
dass  man  dafür  solche  Polyeder  verwendete,  und  es  hält 
auch  schwer,  einen  vernünftigen  Zweck  auszusinnen,  den 
das  gehabt  haben  könnte.  In  dem  Instiumentenbuch 
Apian’s  wird,  so  weit  ich  sehe,  nirgends  auf  diese  Polyeder 
des  Titelblattes  Bezug  genommen.  Sie  sind  also  wohl 
weiter  nichts  als  Embleme  und  wollen  nur  den  mathe¬ 
matischen  Charakter  des  Buches  gleich  auf  dem  Titel  ver¬ 
künden  helfen.  Und  dieselbe  Bedeutung  wird  auch  für 
Dürer’s  abgestumpften  Rhomboeder  in  Anspruch  zu 
nehmen  sein. 

Aber  wie  kam  man  dazu,  gerade  solche  Polyeder  als 
mathematische  Embleme  zu  verwenden  und  in  so  an¬ 
spruchsvoller  Grösse  aufzupflanzen,  wie  Dürer  und  Apian 
es  thun?  Die  Antwort  darauf  muss  die  Geschichte  der 
Mathematik  uns  geben.  Wie  mein  hiesiger  Kollege  Ber¬ 
gold  mir  versichert,  spielte  das  Problem  der  regelmässigen 
Polyeder  im  16.  Jahrhundert  eine  erhebliche  Rolle.  Dürer 
selbst  hat  in  seiner  Underweysung  der  Messung«  die 
Netze  zu  fünf  regulären  Körpern  gegeben,  desgleichen  zu 
acht  anderen,  so  alle  »in  einer  holen  kugel  mit  all  iren 


ecken  anrüren«.  Er  hat  darauf  ausserordentlich  viel 
schönen  Platz  in  seinem  Buche  verwendet:  die  Sache  war 
damals  offenbar  von  aktuellem  Interesse. 

Wenn  Dürer  nicht  einen  regulären  Körper,  sondern 
das  sehr  komplizierte  Gebilde  eines  Rhomboeders  mit  ab¬ 
geflachten  Polen  in  seinen  Stich  aufnahm,  so  mag  bei 
dieser  Wahl  allerdings  die  Schwierigkeit,  die  ein  solcher 
Körper  für  das  perspektivische  Zeichnen  bietet,  mitbestim¬ 
mend  gewesen  sein.  Aber  in  erster  Linie  wird  das  Em¬ 
blem  wie  bei  Apian  ein  mathematisches  sein  sollen,  und 
jedenfalls  bietet  das  Titelblatt  des  letzteren  ein  lehrreiches 
Analogon  zu  der  uns  Heutigen  so  auffallenden  Grosse  des 
Dürer’schen  Polyeders  dar. 

Ich  kehre  zu  Weber’s  Studie  zurück.  So  wenig  mich 
manche  Einzelheit  in  seiner  Schrift  befriedigt,  so  vollständig 
hat  er  mich  in  allen  Hauptsachen  überzeugt.  Vor  allem 
scheint  er  mir  erwiesen  zu  haben,  dass  Dürer  in  seiner 
Melancholie  mit  ihrem  Kranz  von  weltschmerzlichem 
Bittersüss  ganz  modern  jene  Schwermut  darstellen  wollte, 
die  uns  erfasst,  wenn  alle  weltlichen  Künste  und  Fertig¬ 
keiten  uns  doch  nicht  befriedigen  können.  »Es  ist  uns 
von  Natur  eingegossen,«  sagt  Dürer  selbst  an  einer  Stelle 
seiner  theoretischen  Schriften,  »dass  wir  gern  viel  wüssten, 
dadurch  zu  bekennen  eine  rechte  Wahrheit  aller  Dinge. 
Aber  unser  blöd  Gemüt  kann  zu  solcher  Vollkommenheit 
aller  Kunst,  Wahrheit  und  Weisheit  nicht  konrnren.« 

Zunr  Schluss  noch  eine  persönliche  Bemerkung.  Weber 
ist  so  gütig,  einen  Aufsatz,  den  ich  über  »die  sieben  freien 
Künste  in  der  Vorhalle  des  Freiburger  Münsters«  in  der 
Zeitschrift  des  Breisgauvereins  Schauinsland  veröffentlicht 
habe,  wiederholt  zu  eitleren;  aber  wenn  er  auf  S.  52  an¬ 
lässlich  eines  Blattes  aus  dem  Hortus  deliciarum  der 
Herrad  von  Landsperg  bemerkt:  »Es  ist  eine  ansprechende 
Vermutung  Baumgarteir’s,  dass  in  dieser  Federzeichnung 
vielleicht  die  Nachbildung  eines  bemalten  runden  Tisches 
erhalten  ist,  wie  sie  in  karolingischer  Zeit  beliebt  waren,« 
so  thut  er  mir  damit  entschieden  der  Ehre  zu  viel  an. 
Nicht  von  mir  stammt  dieser  Vorschlag,  sondern  von 
j.  von  Schlosser.  Ich  billige  ihn  übrigens  auch  nicht,  halte 
es  vielmehr  mit  Straub,  der  sich  durch  das  Bild  der  Herrad 
an  ein  romanisches  Rundfenster  erinnert  fühlte. 

Freiburg  i.  B.  FrUz  Baumgarten. 


Titelblatt  za  Apian’s  Instramentenlnich 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  ERNST  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


\ 

DER  WINTER.  ORIOINALLITHOQRAPHIE 
VON  FRANZ  HEIN  IN  KARLSRUHE  O  O 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST. 
N.  F.  XIII.  FEBRUAR  O  o  O  O  O 


1 


V 


m- 


PAUL  NEU EN BORN 


der  Kunst  an  sich  vertieft.  Wäre  der  Eifer  weniger 
stark,  so  könnte  man  wohl  erwarten,  dass  sich  einmal 
ein  Beflissener  der  Kunsthistorie  auch  der  Frage  zu¬ 
wenden  werde,  welchen  Einfluss  die  jeweiligen  all¬ 
gemeinen  Anschauungen  auf  die  Darstellung  und 
Verwendung  der  Tiere  ausgeübt  haben.  Es  ist  nicht 
ohne  Reiz  zu  sehen,  wie  weit  oft  die  künstlerische 
Tierdarstellung  der  Wissenschaft  an  Objektivität  der 
Schilderung  vorausgeilt  ist  oder  wie  eine  kindliche  , 
unreale  Anschauung  ein  phantastisches  Schalten  mit 
den  Tierformen  begünstigt;  religiöse  wie  dekorative 
Überlieferung  begünstigten  die  Typenbildung;  bald 
stecken  in  den  Tieren  Götter,  bald  haben  sich  in  sie 
Dämonen  geflüchtet.  Bewusstes  und  Unbewusstes 
wirkt  hier,  oft  recht  schwer  unterscheidbar,  ein.  Selbst 
in  subjektiven,  jüngeren  Zeiten  sind  die  Strömungen 
deutlich  zu  unterscheiden.  Merkwürdig  lange  hat 
sich  die  Rousseau’sche  Sentimentalität  forterhalten. 
Der  englische  Tiermaler  Landseer  giebt  dafür  ein 
Beispiel.  Sein  Stern  stand  am  höchsten,  als  der 
Darwinismus  bereits  die  Welt  eroberte  und  mit  ihm  ' 
die  Erforschung  und  Beobachtung  der  Tiere  eine 
zuvor  nicht  geahnte  Genauigkeit,  Ruhe  und  Vor¬ 
urteilslosigkeit  erlangte.  Während  die  Wissenschaft 
sich  befreite,  blieb  die  Kunst  vorerst  dabei,  die  Tiere 
vorzugsweise  für  rührende  Erzählungen  zu  gebrauchen ; 
während  die  Biologen  bemüht  waren,  alle  anthropo- 


halten,  schwelgte  die  bil¬ 
dende  Kunst  —  allerdings 
mit  einigen  recht  beträcht¬ 
lichen  Ausnahmen,  wie  etwa 
Menzel  —  noch  darin,  den 
Tieren  recht  viele  mensch¬ 
liche  Tugenden  und  Laster 
unterzulegen.  Das  scheint 
sich  bei  derTierbildnerei  auf 
allen  Gebieten  endlich  in 
neuerer  Zeit  ändern  zu  wol¬ 
len.  Kann  auch  die  bil¬ 
dende  Kunst  nie  darauf  ver- 


126 


PAUL  NEUENBORN 


7 


»i- 


'7^~ 


'‘^7. 


zichten,  Tiere  als  Symbole 
zu  gebrauclien  oder  durch 
sie  menscliliche  Schwächen 
zu  verspotten,  so  bemerkt 
man  doch  deutlicher  da  und 
dort  ein  Streben  nach  Unter¬ 
drückung  aller  subjektiven 
Absichten,  nach  rein  thatsäch- 
licher  Schilderung  des  Tieres. 

Diese  Richtung  erfasst  das 
Tier  als  Individuum  in  seiner 
eigentümlichen  Bildung  inner¬ 
halb  seiner  Art,  unterscheidet  es  von  den  Genossen  nach  Bau, 
Zufälligkeit,  Farbe.  Die  Richtigkeit  nimmt  zu,  wie  man  z.  B.  an 
Fremiet’s  Arbeiten  sehen  kann.  Aber  auch  darüber  hinaus  wird 
die  Darstellung  zum  Träger  künstlerischen  Ausdrucks  wie  etwa 
bei  den  herrlichen,  von  Leben  zuckenden  Zeichnungen  Swan’s. 
Dabei  tritt  ein  Umstand  hervor:  die  exotischen  Tiere  überwiegen 
vor  den  einheimischen,  und  darauf  sind  sicherlich  die  Zeitumständc, 
wie  die  erleichterte  Beschaffung  schöner  Exemplare  aus  fernen 
Ländern,  das  allgemeine  Interesse  für  die  überseeische  Wunderwelt 
u.  a.  nicht  ohne  Einfluss  gewesen. 

V^on  den  Arbeiten  eines  deutschen  Künstlers,  der  auf  eignen 
Pfaden  sein  Ziel  gefunden,  zeigt  dieses  Heft  einige  Proben  und 
verkleinerte  Abbildungen  farbiger  Blätter.  Paul  Neiienborn  ist 
in  Stolberg  (Rheinland)  im  Jahre  i866  geboren  und  studierte  in 
Düsseldorf.  Die  schöne  Gartenstadt  besitzt  zwar  auch  einen 
seit  alters  berühmten  Tiergarten.  Aber  die  Richtung  der  dortigen 
Akademie  war  zu  keiner  Zeit  so  geartet,  dass  sie  junge  Künstler 
auf  das  reiche  Feld  hingewiesen  hätte,  das  sich  den  Studierenden 
gerade  im  Tiergarten  bietet.  Deshalb  hat  auch  Neuenborn  sich 
während  seiner  Studienjahre  nicht  mehr  als  irgend  ein  anderer 
zum  Zoologischen«  hingezogen  gefühlt.  Er  erlernte  in  Düssel¬ 
dorf  die  Subtilitäten  des  Handwerks,  erwarb  sich  ein  beträcht¬ 


liches  anatomisches  Wissen,  zeichnete  und  bemühte  sich  um 
das  Malen,  soweit  dies  die  Einrichtungen  der  Akademie  nicht 
erschwerten.  Ein  offener  Sinn  für  das  Grosse  und  Tragische 
machte  ihn  nicht  bloss  zum  schwärmerischen  Verehrer  des 
Klassischen,  sondern  führte  ihn  auch  zu  erhabenen  Stoffen 
und  man  sollte  es  kaum  glauben:  die  erste  grössere,  selb¬ 
ständige  Arbeit  dieses  prädestinierten  Tierschilderers  war  eine 
Erweckung  des  Lazarus.  Ja,  dieses  religiöse  Bild  besass 
doch  so  viele  Qualitäten,  dass  sich  ein  Engländer  fand,  der 
das  Bild  nach  Liverpool  entführte,  um  einem  Saale  seines 
Schlosses  erhöhte  Weihe  zu  geben.  Aber  zum  Malen  von 
Heiligenbildern  war  Neuenborn  doch  nicht  der  rechte  Mann. 
Ein  scharfer  Beobachter  menschlicher  Thorheiten,  drängte  es 
ihn,  sich  teils  mit  gutherzigem  Humor,  teils  in  bitterer 
Ironie  über  die  Dummheit  und  prahlerische  Rechthaberei, 
die  Selbsttäuschungen  und  Modenarrheiten  in  einer  Reihe 
von  Zeichnungen  auszusprechen.  Meist  aber  lacht  aus  diesen 
parodistischen  Blättern  ein  behaglicher  Witz,  der  sich  oft 

nicht  gleich  auf  den  ersten 
Blick  verrät.  Da  dabei  häufig 
Tiere  eine  Rolle  spielten,  sah 
sich  Neuenborn  veranlasst, 
ernsthafte  Studien  nach  diesen 
zu  machen  und  nachdem 
er  einmal  im  zoologischen 
Garten  zu  Düsseldorf  stu¬ 
dierend  vor  den  Affen,  Ma¬ 
rabus  und  Tigern,  Flamin¬ 
gos,  Straussen  und  Peli- 
kauen  gesessen,  hatte  ihn  diese 
)  Welt  in  Besitz  genommen. 
''  Mit  einem  wahren  Feuereifer 
warf  er  sich  auf  das  neue 
Feld,  auf  dem  der  im  Jahre 


\  1 


Ni” 


!  - 


Nach  einer  Lithographie  von  Paul  Neuenborn 


'28 


l’AUL  NEUENBORN 


iSgfi  nach  München  übergcsicdelte  Künstler  nunmehr 
seine  eigenlliche  Thätigkeit  gefunden  hat.  Wie  ein 
anderer  Wiesen  und  Wälder  nach  neuen  Motiven 
durchstreift,  so  sieht  mau  ihn  in  den  Tiergärten  von 
Käfig  zu  Käfig  wandern  und  mit  Kohle  oder  farbigem 
Stift  vor  diesen  merkwürdigen  Geschöpfen  Studien 
machen.  Eine  fast  naturwissenschaftliche  Genauigkeit 
gilt  ihm  als  Vorbedingung,  aber  nicht  als  Ziel.  Wie 
traurig  wäre  auch  eine  Tierbildnerei,  deren  grösste 
Ereude  die  Richtigkeit  ist!  Es  liegt  Nenenborn  weit 
mehr  daran  den  malerischen  Reiz,  den  so  leicht  zu 
verfehlenden  Ausdruck  der  Tiere  in  Ruhe  und  Leiden¬ 
schaft,  das  Spiel  ihrer  Muskeln,  das  Glänzen  eines 
Felles,  den  Zauber  eines  Gefieders  und  ähnliches  fest- 
znhalten.  Noch  ist  das  Zeichnerische  bei  ihm  über¬ 
wiegend,  aber  in  seinen  späteren  Blättern  sucht  er 
bereits  mit  Absicht  das  Malerische  in  den  Vorder¬ 
grund  zu  stellen.  Nenenborn  hat  nur  wenige  Tier¬ 
bilder  in  Öl  gemalt.  Die  Lithographie  ist  gegen¬ 
wärtigsein  bevorzugtes  Ansdrucksmittel.  Erbeherrscht 
ihre  Technik  in  trefflicher  Weise  und  bekundet  inseinen 
Blättern  feinen  Geschmack  und  einen  Sinn  für  gewisse 
grosszügige  dekorative  Anordnung,  durch  welche  seine 
Lithographien  mit  Recht  eine  grosse  Beliebtheit  als 
vornehmer  Zimmerschmnck  erreicht  haben.  Dekorativ« 


natürlich  nicht  im  altmodischen  Sinne  eines  schlude¬ 
rigen  oberflächlichen  Hinwühlens,  sondern  im  Sinne 
einer  einheitlichen  wirksamen  Linienführung  und  ein¬ 
drucksvoller  Fleckwirkung.  Nenenborn  liebt  es,  in 
der  Mitte  seiner  Blätter  das  dargestellte  Tier  in  seiner 
Umgebung  oder  in  einem  besonderen  Momente  als 
Hauptbild  zu  zeigen  und  dieses  mit  einem  Rahmen 
von  Studien  des  nämlichen  Tieres  in  allen  möglichen 
charakteristischen  Wendungen  und  Einzelheiten  zu 
geben.  Mag  sein,  dass  dadurch  der  Eindruck  des 
Hanptbildes  zuweilen  gestört  wird;  sicher  aber  ist, 
dass  man  hierdurch  von  dem  Individuum  des  Mittel¬ 
bildes  aufs  genaueste  unterrichtet  wird  und  -  was 
künstlerisch  weit  wichtiger  ist  -  dass  wir  auf  diese 
Weise  einen  Blick  in  die  Art  von  NenenboriTs  Stndien- 
art  erlangen  und  bemerken,  dass  der  Künstler  nicht 
bloss  blitzschnell  vorübergehende  Bewegungen  zu  er¬ 
fassen  versteht,  sondern  auch  über  einen  Strich  von 
zuweilen  entzückender  Frische  gebietet.  Um  die 
Raschheit  dieses  Blickes  und  Striches  könnte  unseren 
Künstler  oft  ein  Japaner  beneiden.  Nenenborn’s  Litho¬ 
graphien  exotischer  Tiere  gehören  zu  den  charakte¬ 
ristischen  Erscheinungen  der  zeitgenössischen  Tier¬ 
bildnerei,  in  die  Reihe  der  Zeichnungen  SwaiTs  und 
der  Plastiken  eines  E.  M.  Geyger,  Fremiet  und  Gaul. 

K.  MAYR. 


Nach  einer  Lithographie  von  Paul  Nenenborn  in  München 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


Die  Berichte  des  in  Dresden  abgehaltenen  soge¬ 
nannten  Kunsterziehungstages  sind  erschienen, 
ein  kleiner  handlicher  Band  von  217  Seiten, 
der  die  hauptsächlichen  Äusserungen  der  Sprecher  der 
Versammlung  enthält.  Es  scheint  den  Aufgaben  dieser 
Zeitschrift  entsprechend,  auf  die  Erörterung  der  be¬ 
handelten  Frage  einzugehen.  Vorab  möchten  wir 
bemerken,  dass  das  Wort  Kunsterziehung,  das  jetzt 
allenthalben  sich  einnistet,  uns  undeutlich  und  un¬ 
richtig  dünkt.  Zwar  dass  nicht  etwa  die  Kunst  er¬ 
zogen  werden  solle,  fühlt  jeder  sogleich:  aber  dass 
durch  Kunstwerke  eine  Erziehung  bewirkt  werden 
solle,  ist  doch  nicht  ohne  weiteres  offensichtlich.  Man 
könnte  an  eine  Naturerziehung  im  Sinne  RousseaiTs 
als  Gegensatz  zur  Kunsterziehung  denken.  Warum 
sagt  man  denn  nicht  einfach,  wie  vor  mehr  als  hun¬ 
dert  Jahren  Schiller,  ästhetische  Erziehung?  ja,  so! 
Die  Menschen  von  heute,  die  das  Dokumentarische 
über  alles  lieben,  wollen  mit  der  Ästhetik  nichts  zu 
thun  haben;  es  ist  ein  diskreditierter  Begriff.  Aber 
Konrad  Lange  betont  in  seinem  an  jenem  Tage  vor¬ 
getragenen  Bericht  über  die  Vorbildung  der  Lehrer  auf 
den  Universitäten  man  möge  die  Professur  der  Kunst¬ 
geschichte  nicht  mit  historischen,  philosophischen  (?) 
oder  mathematischen  Professuren  verquicken,  sondern 
es  sei  die  Kunstgeschichte  mit  der  Ästhetik  zu  ver¬ 
binden  —  was  ja  neuerdings  geschieht  durch  Schmar- 
sow,  Wölfflin  u.  a.  Also  nehme  man  nur  das  alte 
bezeichnende,  wenn  auch  fremdartige  Wort  wieder 
auf:  was  wir  wollen,  ist  ästhetische  Bildung,  insofern 
unter  ästhetisch  die  geschulte  Empfindung  und  unter 
Bildung  die  Förderung  der  geistigen  Funktionen,  die 
keine  Anlage  vernachlässigt,  verstanden  wird.  Wir 
wollen  wieder  einmal  dasselbe,  was  der  Philosoph 
Friedrich  Schiller  für  die  Menschheit  als  höchstes 
Ziel  aufstellte:  Totalität,  Vielseitigkeit,  modernes  Grie¬ 
chentum,  weil  nur  durch  diese  Glückseligkeit,  soweit 
sie  auf  Erden  denkbar  ist,  herbeigeführt  werden  kann. 
Dass  der  ästhetische  Mensch  zugleich  auch  der  mora¬ 
lische  sei,  zeigt  Schiller  fein  und  tief.  Sein  Name, 
seine  Schrift  wurde  meines  Wissens  auf  dem  Kunst¬ 
erziehungstage  gar  nicht  erwähnt.  Warum  nicht?  Ist 
er  überholt?  Gewiss  nicht;  aber  wer  liest  heute 
Schiller!  Man  braucht  nur  ein  paar  Seiten,  etwa  nur 


den  Schlussbrief  zu  lesen  und  dann  in  dem  Bericht 
der  Dresdner  Tagung  ein  paar  Stichproben  aufzu¬ 
nehmen,  um  sofort  inne  zu  werden,  welch  ein  Ab¬ 
stand  sich  hier  zeigt.  Die  Besten  der  deutschen  Nation 
waren  vor  hundert  Jahren  theoretisch  viel  weiter,  als 
die  Kunsterzieher  von  heute.  Die  Seelen  waren  da¬ 
mals  viel  reicher,  vielseitiger,  elastischer  als  heute;  der 
Gesichtskreis  war  zwar  im  ganzen  etwas  beschränkt, 
aber  es  war  doch  fast  ein  Kreis,  der  noch  von  fern 
an  den  griechischen  Götterkreis  erinnerte.  Wir  Heutigen 
haben  weit  mehr  Schnelligkeit  und  Fernwirkung, 
aber  —  leider!  nur  nach  einer  Seite,  nach  einem 
Achtel  oder  Zwölftel  des  Bildungskreises.  Nur  das, 
was  mit  dem  Broterwerb  zusammenhängt,  wird  mit 
Energie  betrieben;  alle  anderen  Gebiete  können  wir 
nur  eben  berühren.  So  muss  man  die  Menschheit, 
wenn  man  sie  ganz  vor  sich  haben  will,  mehr  noch 
als  zu  Schiller’s  Zeiten  aus  lauter  Bruchstücken  zu¬ 
sammensetzen. 

Es  ist  ganz  natürlich ,  dass  man  an  die  Kinder 
denkt,  wenn  man  nun  wieder  ganze  oder  wenigstens 
halbe  Menschheit  statt  Achtels-  oder  Zwölftelsmenschen 
haben  will.  Denn  was  einmal  verkümmert  und  ver¬ 
trocknet  ist,  lässt  sich  schwer  wieder  mit  Saft  und 
Leben  füllen:  und  im  Alter  lernt  man  ungern  mehr, 
weil  man  das  Gehorchen  aufgiebt.  Das  Kind  aber 
ist  bestimmbar  nach  allen  Richtungen  und  was  wäre 
der  ganzen  Menschheitsidee  förderlicher,  als  die  Be¬ 
schäftigung  mit  Kunstwerken,  die  ja  stets  eine  geistige 
Einheit,  eine  Persönlichkeit  voraussetzt,  mögen  diese 
Werke  nun  hervorgebracht  oder  nur  genossen  werden? 

Die  ästhetische  Bildung  würde  weit  rascher  ge¬ 
fördert  werden  können,  wenn  bei  dieser  Bewegung 
nicht  allerhand  Unterströnumgen  vorhanden  wären, 
die  kleinere  oder  grössere  Wirbel  erzeugen  und  die 
Kraft  des  Stromes  an  verschiedenen  Punkten  hemmen. 
Ja,  wäre  jeder  Einzelne  von  der  Idee  durchdrungen, 
den  Nebenmenschen,  besonders  den  Werdenden,  die 
reine  Freude  an  der  bildenden  Kunst  zu  vermitteln, 
etwa  in  dem  Sinne  Schillers!  Aber  da  mischen  sich 
so  mancherlei  Egoismen  hinein,  die  der  Aufhorchende 
wie  einen  Beigeschmack,  wie  einen  dumpfen  Nebenton 
spürt.  Der  Eine  möchte  sein  persönlich  erworbenes 
Kunstideal  als  Kanon  aufstellen;  der  Andere  will  un- 


1  '-iü 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


bec|iieiiie  Beeinflussungen  mit  dem  Ellenbogen  be¬ 
seitigen,  der  Dritte  will  sich  bemerklich  machen  um 
äusserlidien  Lohnes  willen;  wo  bliebe  das  ans  bei 
grossen  Versammlungen!  Es  hemmt  aber  sehr  die 
reine  Erkenntnis  dessen,  was  zu  thun  ist. 

Die  erste  Frage,  die  bei  der  Diskussion  über  die 
ästhetische  Bildung  der  Kinder  anftaucht,  ist  die:  Sollen 
wir  die  Lust  am  Schönen  bei  den  Kindern  wecken? 
Ist  es  nicht  zu  früh  für  die  keimenden  Seelen,  wenn 
wir  neben  das  leichte  Kinderspiel  gleich  das  ernste, 
das  ganze  Ich  in  Anspruch  nehmende  Kunstspiel  auf¬ 
pflanzen?  Wird  dadurch  nicht  Zerstreuung  befördert, 
Arbeits-  und  Denklust,  Stetigkeit  der  logischen  Be¬ 
schäftigung  vermindert?  Jeder  Erzieher  weiss,  dass  es 
Genüsse  giebt,  die  man  Kindern  vorenthalten  soll. 
Alle  Rauschmittel,  die  die  Nerven  reizen,  das  Blut 
erhitzen,  sind  verpönt;  sie  schädigen  das  Wachstum 
und  hemmen  die  normale  Entwickelung  der  Nerven- 
thätigkeit.  Der  Mensch,  mitten  hineingestellt  zwischen 
Tierheit  und  Gottheit,  zwischen  Arbeit  und  Genuss, 
dem  nur  Regen  und  Sonnenschein,  Tag  und  Nacht, 
nicht  eins  allein,  frommt,  soll  er  schon  als  Knospe 
den  dionysischen  Rausch,  den  jedes  Kunstwerk  er¬ 
zeugen  kann,  empfinden  lernen?  Geschieht  das  nicht 
etwa  auf  Kosten  seiner  Arbeitslust,  seiner  späteren 
Konzentrationsfähigkeit,  seiner  Genusskraft?  Wird  der, 
der  vorzeitig  ins  Allerheiligste  der  Kunst  geführt  wird, 
nicht  die  Inbrunst,  die  Andacht,  die  Sehnsucht  ver¬ 
lieren,  die  das  Entstehen  jedes  echten  Kunstwerkes 
begleiten  muss  und  die  die  Voraussetzung  des  echten 
Kunstgenusses  ist?  Ist  nicht  Gefahr  vorhanden,  dass 
der  allzubec|uem  dargebotene  Kunstgenuss  die  Wesen 
vor  der  Zeit  seelisch  reift,  ehe  sie  körperlich  reif  sind, 
dass  sie  später  stumpf  und  blasiert  werden  und  als 
Erwachsene  mit  den  Nerven  eines  Greises  die  kreisen¬ 
den  Erscheinungen  betrachten?  Man  hat  Exempel, 
dass  Kinder,  denen  in  früher  Jugend  alle  Freuden 
des  Lebens  offen  stehen,  die  Konzerte,  Theater 
eifrig  besuchen,  Gelage  veranstalten  und  dergleichen, 
die  den  Sinnenreiz,  die  Wollust  des  Daseins  früh¬ 
zeitig  durchkosten,  später  von  einem  schrecklichen 
Pessimismus,  ja  Cynismus  befallen  werden,  dass  sie 
nicht  mehr  geniessen  können,  weil  ihnen  die  Sehn¬ 
sucht  abhanden  gekommen,  verflogen  ist  und  die  als¬ 
dann  wunderliche  perverse  Genüsse  aufsuchen,  nur 
um  das  Gefühl  der  Leere  zu  betäuben,  jene  entsetz¬ 
liche  Öde,  die  wir  in  Zeiten  allzu  üppiger  Kultur  auf- 
treten  sehen?  Denn  darüber  ist  kein  Zweifel,  dass 
nie  ein  dauernd  wirkendes  Kunstwerk  entstand  ohne 
jene  tiefe  Sehnsucht  nach  Verkörperung,  ohne  den 
Rausch  der  endlich  befriedigten  Gestaltungslust,  und 
dass  ohne  jene  Sehnsucht  im  Beschauer  das  Kunst¬ 
werk  nie  im  Sinne  des  Schöpfers  wirken  kann. 

Diese  Fragen  wurden  bei  Gelegenheit  des  Kunst¬ 
erziehungstages  kaum  gestreift;  alle  schienen  damit 
einverstanden,  dass  den  Kindern  der  Kunstgenuss 
fromme  und  daher  darzubieten  sei.  Nicht  spartanische, 
sondern  athenische  Erziehung  scheint  angemessen,  und 
eine  mässige  Lust  am  Schönen,  am  Wohlgeschmack, 
soll  den  Kindern  gegönnt  werden. 

Darüber  aber  war  man  sich  auch  klar,  dass  nicht 


jede  Art  und  jedes  Mass  von  Kunst  den  Menschen¬ 
knospen  angemessen  sei.  Hier  treten  nun  die  Fragen 
auf:  Wieviel  und  welche  Kunst  sind  dienlich?  Da 
heisst  es  dann  zuerst:  Die  moderne  Kunst,  die  noch 
um  Anerkennung  ringt,  sollte  nicht  in  die  Schulklasse 
eingeführt  werden.  Nur  die  anerkannten  Meister  des 
19.  Jahrhunderts  dürfen  die  Freunde  der  modernen 
Kunst  für  die  Schule  fordern;  zu  weiterem  haben  sie 
kein  Recht,  das  wurde  von  Professor  Lichtwark,  dem 
Führer  der  Bewegung,  ausdrücklich  betont. 

Einer  der  trefflichsten  und  massvollsten  Berichte 
jener  Tage  war  die  Erörterung  des  Lehrers  R.  Ross 
aus  Hamburg  über  das  Kinderzimmer.  Was  hier  über 
den  Zusammenhang  des  Spiels  mit  der  Kunst  gesagt 
wird,  die  Warnungen  vor  Überspannung,  der  vor¬ 
sichtige  Hinweis  auf  die  echte  Kinderkunst,  die  im 
guten  Bilderbuche  niedergelegt  ist,  verriet  den  tüch¬ 
tigen  Pädagogen,  der  die  Frage  auf  Grund  der  besten 
Autoren  geprüft  und  reiflich  erwogen  hatte.  Allein 
der  Bericht  brach  gerade  da  ab,  wo  das  Interessan¬ 
teste  kommen,  wo  aus  dem  Allgemeinen  das  Beson¬ 
dere  herausgehoben  werden  sollte:  die  rechte  Wahl 
der  Bilder,  die  dem  Kindesalter  frommen.  Der  Re¬ 
ferent  empfahl  zwar  ausser  den  Wiener  Bilderbogen 
die  Meisterbilder  des  Kunstwart-Verlags  und  die  Stein¬ 
zeichnungen  der  Firmen  Voigtländer  und  Teubner. 
Die  ersteren  dürften  kaum  auf  Kinder  unter  sieben 
Jahren  irgend  welche  Wirkung  machen ;  und  die  letz¬ 
teren  sind,  zumeist  an  sich  vortrefflich,  vielfach  ganz 
unkindlich.  Nicht  was  der  Künstler  träumt,  sondern 
was  das  Kind  träumt,  soll  hier  aufgepflanzt  werden ; 
ja  eigentliche,  hohe,  reife  Kunst  ist  hier  gar  nicht  am 
Platze.  Hierüber  später  mehreres.  Überdies  sind  ja 
die  Blätter  der  Karlsruher  Künstler  auch  von  diesen 
selbst  für  die  Schulräume  gedacht,  mehr  auf  Fern¬ 
wirkung  berechnet.  Uns  will  scheinen,  als  ob  hier 
gerade  die  praktischen  Engländer  das  Richtige  ge¬ 
troffen  haben.  Ihre  Friese  und  halb  der  blossen  An¬ 
schauung  dienenden  Blätter  mit  der  kräftigen  Kontur 
den  lebhaften  Lokalfarben,  die  nichts  weniger  sind  als 
Abschriften  der  Natur,  scheinen  uns  als  Schmuck  des 
Kinderzimmers  mehr  geeignet  als  Farbenprobleme,  die 
den  reifen  Künstler  interessieren  und  schummrige  Im¬ 
pressionen,  wie  die  Franzosen  sie  darbieten. 

Nach  dieser  Introduktion  war  man  auf  das  Haupt¬ 
thema  der  Symphonie,  nämlich  die  Herbeiführung  des 
Kunstgenusses  in  der  oder  durch  die  Schule,  gespannt. 
Dies  Thema  war,  wie  billig,  der  ersten  Violine  zu¬ 
gewiesen:  allein,  statt  sich  in  breitem  Wurfe  einzu¬ 
führen,  erschien  an  Stelle  des  Hauptgedankens  ein 
Seitenthema:  das  Schulgebäude  als  ästhetisches  Hilfs¬ 
mittel;  hierüber  liess  Bauamtmann  Professor  Th.  Fischer 
sich  in  längerem,  sehr  anregendem  Vortrage  aus.  Der 
Redner  schöpfte  aus  dem  Vollen,  das  fühlte  man  bei 
jedem  Satze  und  der  nachfolgende  Widerspruch  in 
der  Diskussion  hob  nur  durch  den  Kontrast  die  Wich¬ 
tigkeit  seiner  Bemerkungen  hervor.  Dass  bei  der  Lage, 
Einrichtung  und  Ausstattung  des  Schulhauses  nicht  alles 
lediglich  nach  künstlerischen  Gesichtspunkten  entschie¬ 
den  werden  kann,  ist  klar.  Allein  so  weit  es  irgend 
möglich  ist,  sollten  die  lichtvollen,  offenbar  auf  lang- 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


131 


jähriger  Beobachtung  und  Erfahrung  beruhenden 
Mitteilungen  des  Redners  Berücksichtigung  finden. 
Hier  setzt  in  der  That  die  Geschinacksbildung  ein. 
Warum  denn  baute  die  katholische  Kirche  so  präch¬ 
tige  Gotteshäuser,  warum  hob  sie  die  Stimmung 
durch  allerlei  stimulierende  Mittel,  warum  stattete  sie 
die  Bauten  mit  Earben-  und  Eormenreiz  aus?  Weil 
das  Individuum  sich  gefangen  geben,  weil  es  Ehr¬ 
furcht  empfinden,  die  gemeine  Deutlichkeit  der  Dinge 
abthun  sollte.  Es  war  die  Suggestionskraft  der  Kunst, 
die  sich  auch  in  den  Bauten  kleineren  Kalibers  be- 
merklich  machte  und  die  noch  heute  auf  die  Nach¬ 
lebenden  ihren  Zauber  übt,  wenn  wir  die  geweihten 
Räume  eines  solchen  Kirchleins  betreten.  Wenn  man 
den  Korridor  einer  neuen  Schule  entlang  geht  und 
eines  ihrer  Zimmer  betritt,  wo  die  Jugend  den  halben 
Tag  zubringt:  an  ein  Gefängnis  wird  man  stets 
erinnert;  nur  das  Allernötigste  ist  gethan.  Das  sind 
nur  Schülerfutterale  mit  Licht-  und  Luftlöchern,  in 
dem  jedes  Eingesperrte  den  Moment  ersehnt,  wo  sich 
die  Thür  öffnet.  Die  Sache  ist  die:  man  betrachtet 
die  Schulhäuser  als  reine  Nutzbauten  und  überträgt 
sie  dem  angestellten  Stadtarchitekten,  der  in  seiner 
Thätigkeit  von  allerlei  Haken  und  Häkchen  gehemmt 
ist,  ganz  abgesehen  davon,  dass  sich  hier  oftmals  gar 
nicht  der  Meister  in  der  Beschränkung  zeigen  kann, 
weil  er  sich  nicht  als  Meisterer  der  Aufgabe  bethätigt, 
weil  die  gleiche  Aufgabe  mehrfach  an  ihn  herantritt 
und  es  ja  so  bequem  ist,  ein  Schema  zu  wiederholen. 

Die  Kunstgeschichte,  die  bei  Gelegenheit  des  Kunst¬ 
erziehungstages  manchen  Hieb  abbekam,  den  sie  gar 
nicht  verdient  hat,  muss  man  befragen,  wenn  man 
wissen  will,  wie  eine  Idealschule  beschaffen  sein  soll. 
Wer  jemals  einen  Kreuzgang  eines  Klosterhofs,  der 
leidlich  in  Stand  gesetzt  war,  hin  und  her  gewandelt 
ist,  weiss,  was  Natur  und  Kunst  vereint  bewirken 
können.  Die  Mönche  lehren  uns,  trotz  ihrer  Askese, 
wie  man  den  Boden  und  das  Haus,  das  mau  bewohnt, 
zu  schmücken  habe. 

Der  dritte  Vortrag,  von  Geh.  Rat  Dr.  v.  Scidlitz, 
befasste  sich  mit  dem  Wandschmucke;  und  hier  haben 
wir  mancherlei  zu  erinnern.  Wir  knüpfen  an  die 
Bemerkungen  des  Referenten  über  Photographien, 
über  Verkleinerungen,  über  Volkskunst,  über  Litho¬ 
graphie  jeweilig  ein  paar  Bemerkungen  zur  Klärung 
dieser  wichtigen  Tragen. 

Dass  man  die  Photographien  nach  Gemälden  aus 
der  Schulstube  verbannen  solle,  ist  eine  Eorderung, 
die  nicht  als  ausgemacht  gelten  kann.  Max  Lieber¬ 
mann,  gewiss  ein  Mann  von  Begabung  und  von  Ur¬ 
teil  in  Kunstdingen,  sagt,  dass  die  Bilder  der  Düssel¬ 
dorfer  Schule  photographiert  koloristischer  wirken,  als 
die  farbigen  Originale,  weil  für  diese  Schöpfungen 
die  Earbe  nicht  Lebensbedingung  sei').  Wenn  man 
also,  wie  dies  Professor  Lichtwark  thut,  ein  solches 
Bild,  etwa  Vautier’s  Heimkehr  des  verlorenen  Sohnes, 
zu  ästhetischen  Erörterungen  benutzt-),  thäte  man, 
dafern  man  Liebermann ’s  Urteil  nicht  durchstreichen 


1)  Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  F.  XII.  S.  151. 

2)  Übungen  in  der  Betrachtung  von  Kunstwerken. 


will,  besser,  eine  Photographie  des  Bildes  aufzuhängen 
an  Stelle  des  Originals,  weil  eben  die  Nachbildung 
koloristischer  wirkt,  als  das  Urbild.  Sehr  zu  wünschen 
ist  ja,  dass  der  Sinn  für  Earbe  gepflegt  wird,  aber 
zur  ausschliessenden  Doktrin  darf  diese  Absicht  nicht 
erhoben  werden,  sonst  müssten  alle  Zeichnungen, 
Stiche,  Radierungen  auch  der  alten  Meister  wegfallen. 
Die  Kunstgeschichte  lehrt,  wenn  man  sie  hören  will, 
dass  die  Earbe  nicht  ein  integrierender  Bestandteil  der 
malerischen  Kunst  ist ;  wir  können  hier  auf  Max 
Klinger’s  Essay  Malerei  und  Zeichnung  verweisen. 

Unter  allen  Umständen  aber  kann  die  Nachbildung 
nach  plastischen  Werken  und  Bauten  sehr  wohl  ohne 
Earbe  geschehen;  Plastik  oder  Architektur,  also  weisse 
Marmorstatuen  oder  altersgraue  Gebäude  erfordern 
eine  farbige  Wiedergabe  nicht.  Die  Earbe  kann 
hier  allerdings  als  Kontrastmittel  ihre  Triumphe 
feiern:  ein  Bauwerk  im  Sonnenglanze  auf  grünbewal¬ 
deter  Bergeshöhe  wird  einen  ästhetisch  wirksameren 
Eindruck  machen,  als  eine  einfarbige  Photographie. 
Hier  kann  und  mag  die  Künstlerhand  eintreten.  Bei 
der  Reproduktion  von  Plastik  ist  die  Anwendung  der 
Earbe  schon  weit  bedenklicher.  Man  würde  hier  den 
Bildhauer  um  seine  Absichten  bringen,  wollte  man 
die  Zufälligkeiten  des  Hintergrundes  in  Earbe  wieder¬ 
geben.  Die  Greifbarkeit  ist  nicht  wichtig:  denn  Ein¬ 
äugige  geniessen  das  Kunstwerk  nicht  weniger  intensiv 
als  Doppelseher. 

Ein  paar  Worte  verdienen  die  Bemerkungen  über 
die  Grösse  des  Wandschmuckes.  Die  Abmessungen 
eines  malerischen  Kunstwerks  hängen  von  zweierlei  ab: 
von  der  Zahl  der  Beschauer,  die  sie  zugleich  wahr¬ 
nehmen  sollen,  also  von  der  Grösse  des  Raumes, 
worin  es  hängt,  und  von  dem  Formenreichtum  der 
Darstellung.  Eine  Wandmalerei  hat  demnach  die 
grössten  Masstäbe;  das  Altarbild,  das  Galeriegemälde 
ist  schon  kleiner;  was  aber  in  Wohnräume  kommt, 
kann  bis  zur  Kleinheit  der  Miniatur  hinabsinken.  Auch 
hier  giebt  die  Kunstgeschichte  Beispiele  in  Masse. 
Das  Schulzimmer  ist  ein  Raum,  der  sich  der  Wohn¬ 
stube  mehr  nähert,  als  der  Kirche.  Die  Kunstwerke, 
sofern  sie  nicht  zu  Demonstrationszwecken  gebraucht 
werden,  wenden  sich  nicht  an  vierzig  Personen  auf 
einmal,  sondern  an  jeden  einzeln.  Altarbilder,  Decken, 
Fresken  sind  für  eine  Gemeinde  da;  nicht  jeder  kann 
herantreten.  Der  Wandschmuck  im  Sinne  der  ästhe¬ 
tischen  Bildung  hält  Zwiesprache  mit  dem  Beschauer, 
keine  Ansprache;  jeder  darf  sich  dem  Bilde  nähern. 
Die  Holländer,  die  mässige  Wohngelasse  hatten,  malten 
oft  ganz  kleine,  spannenlange  Bildchen,  Teniers  der 
ältere,  Caspar  Netscher,  der  Sammtbreughel  seien  nur 
genannt.  Man  glaube  doch  ja  nicht,  dass  Bilder  kleinen 
Formats  keine  Wirkung  übten;  diese  stellt  sich  nur 
etwas  später  ein.  Wer  Pompeji  durchwandert  hat, 
weiss,  dass  der  Wandschmuck,  wo  er  zum  Bilde  wird, 
oft  ganz  kleine,  vignettenartige  Stückchen  aufweist. 
Das  Schulzimmer  ist  meist  grösser  als  jene  Räume, 
darum  kann,  besonders  bei  figuren-  oder  detailreicheu 
Darstellungen,  das  Blatt  grösseres  Format  haben,  aber 
nicht  so  gross  wie  eine  Schultafel,  die  auf  zehn  Meter 
Entfernung  noch  deutlich  das  darauf  Befindliche  er- 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


1  32 


kennen  lassen  soll.  Es  ist  zulässig,  aber  gar  niclit 
notwendig,  dass  der  Wandschmuck  grosses  Format 
habe.  Allerdings,  wenn  man  das  ganze  Auditorium 
davor  versammelt,  um  Übungen  damit  zu  veranstalten, 
wenn  man  also  Demonstrationen  damit  verbindet, 
das  Kunstwerk  logisch  auseinandernimmt  und  wieder 
zusammenfügt,  dann  ist  ein  grosses  Blatt  nötig.  Das 
aber  ist  Anschauungsunterricht,  keine  Anleitung  zum 
Kunstgenuss.  Denn  nur  im  Herzen,  nicht  im  Kopfe 
fühlen  wir  die  ästhetische  Lust  und  was  von  der 
intellektuellen  Auffassung  nicht  bis  zum  Gemüt  hinab¬ 
gesunken  ist,  wird  höchstens  kalt  staunend  bewundert, 
nie  aber  geliebt.  Nur  das  geheime  Zwiegespräch  von 
Seele  zu  Seele  zwischen  Kunstwerk  und  Beschauer 
ohne  alle  logischen  Gitter  und  Siebe  fesselt  den  Ge¬ 
niessenden;  der  warme  Pulsschlag  des  Kunstwerks  ist 
es,  der  ihn  vibrieren  macht.  Hier  heisst  es: 

»Verwandte  Seelen  knüpft  ein  Augenblick 

Des  ersten  Selms  mit  dianiantnen  Banden«. 

Noch  ein  Wort  über  Volkskunst.  Wer  das  Volk 
zum  Schauen,  zum  Zuhören  bringen  will,  muss  sich 
in  seinem  Bilderkreis  bewegen,  muss  seine  Sprache 
sprechen.  Das  empfahl  Luther,  das  that  Hutten, 
Walther  von  der  Vogel  weide,  Peter  Hebel,  Fritz 
Reuter,  Dürer,  Chodowiecki,  L.  Richter,  F.  Mendelssohn, 
Johann  Strauss.  Das  echt  Volkstümliche  breitet  sich 
rasch  ans  und  ist  als  solches  kurzlebig.  Heute  kann 
man  mit  Walther  von  der  Vogelweide,  mit  Abraham 
a  Santa  Clara,  mit  Dürer  nicht  mehr  die  gleiche  Wirkung 
erzielen  wie  vor  Hunderten  von  Jahren.  Wenigstens 
in  der  Volksschule  nicht.  Was  anderes  ist  es,  wenn 
man  langsam,  retrospektiv  sich  ihnen  nähert.  Die 
Zwischenstufen  müssen  aber  dann  sehr  sorglich  ge¬ 
wählt  werden.  Die  alte  Kunstsprache  muss  alsdann 
so  gelernt  werden,  wie  die  Muttersprache,  nicht  wie 
ein  fremdes  Idiom  in  der  Schule.  Übung,  Selbstübung 
ist  alles. 

Die  Anschauung,  dass  eine  Verkleinerung  mecha¬ 
nischer  Art  dem  Kunstwerk  allzuviel  von  seinem  Duft 
raube,  scheint  uns  nicht  hinreichend  begründet.  Inner¬ 
halb  gewisser  Grenzen  müssen  die  mechanischen 
Nachbildungen  zugelassen  werden,  sonst  rauben  wir 
der  Kunstpädagogik  ihre  wesentlichsten  Hilfsmittel. 
Bei  sehr  starken  mechanischen  Verkleinerungen  freilich 
stossen  sich  die  Details  und  die  Farbenkontraste  wer¬ 
den  leicht  grell.  Die  Details  in  der  Zeiehnung  lassen 
sich  nicht  einfach  ausschneiden  und  die  Farbe  lässt 
sich  auch  ohne  Zwischenkunstkopie  dämpfen.  Aber 
heutzutage  will  ja  jeder  dokumentarische  Treue  um 
jeden  Preis,  und  die  Ansicht,  dass  die  Farbe  voll¬ 
ständig  umgesetzt  werden  müsse,  damit  das  Abbild 
eine  treue  Vorstellung  vom  Original  gebe,  dürfte  des¬ 
halb  einstweilen  noch  vielfachem  Widerspruch  be¬ 
gegnen.  Denn  bei  dieser  Destillation  entweichen  sehr 
leicht  jene  flüchtigen,  ätherischen  Bestandteile,  die  die 
Blume«  des  Kunstwerkes  ausmachen.  Ästhetische  Wir¬ 
kungen  von  gleicher  Intensität  wird  kein  billigDenkender 
von  der  verkleinerten  Nachbildung  fordern.  Was  die 
meisten  wünschen,  ist  ein  billiger  Preis,  der  mit  kleineren 
Formaten  schier  unzertrennlich  verbunden  ist.  Aber 


es  wäre  doch  unrecht,  zu  sagen:  lieber  gar  keine  Ab¬ 
bildung,  als  eine  kleine.  Den  David  des  Michelangelo 
stellen  sich  die  meisten  Menschen,  die  das  Original 
oder  den  Gipsabguss  nicht  gesehen  haben,  als  eine 
höchstens  lebensgrosse  Statue  vor.  Es  giebt  keine 
künstlerische  Behandlung,  die  verraten  könnte,  wie 
gross  das  Werk  in  Wirklichkeit  ist.  Die  Monumen¬ 
talität  des  Werkes  ist,  wenn  sie  überhaupt  empfunden 
wird,  vom  Metermass  unabhängig  und  wird  in  der 
mechanischen  Nachbildung  leichter  herausgefühlt  als 
in  der  Handkopie.  Die  Handkopie  auch  des  leiden¬ 
schaftslosesten  Künsters  bringt  stets  neue  Elemente, 
Auffassungswürze  hinzu. 

Was  endlich  die  Lithographie  anlangt,  von  der 
man  sich  nach  der  Erfindung  Senefelders  so  grosse 
Umwälzungen  versprach,  so  hat  diese  bis  zur  Erfin¬ 
dung  der  Photographie  eine  grosse  Rolle  gespielt,  die 
aber  durch  die  mechanische  Buchdrucktechnik  einer¬ 
seits,  durch  die  Lichtdruck-  und  Lichtätzungsverfahren 
andererseits  wieder  stark  eingeschränkt  wurde.  Neuer¬ 
dings  haben  lithographische  Virtuosen  besonders  in 
Frankreich  technische  .Meisterstücke  hervorgebracht, 
die  manchen  Künstler  elektrisiert  haben  und  nun  bricht, 
wie  es  scheint,  ein  Johannistrieb  der  Steindrucktechnik 
hervor.  Vielleicht  hält  diese  Nachblüte  an.  Da  aber 
alle  Manieren  ihre  Zeit  haben  und  die  Grenzen  der 
Ausdrucksfähigkeit  auch  einer  subtilen  Technik  bald 
erschöpft  sind,  so  wird  im  Orchester  der  graphischen 
Technik  auch  die  Lust  an  dem  einen  Instrument,  der 
Steinzeichmmg,  ihre  Zeit  haben.  Etwas  von  der 
Schwere  des  Steines,  das  Irdene  des  Tons  wird  der 
lithographischen  Technik  immer  anhaften;  und  je 
breiter,  dekorativer  die  Flächen  behandelt  sind,  um  so 
rascher  verdunstet  der  lusterweckende  Duft  dieser 
Technik  für  den  Beschauer. 

-I: 

Die  Diskussion  über  den  Wandschmuck  war  in¬ 
teressant  und  vielgestaltig.  Ein  Lehrer  namens  Weih- 
raiich  erklärte  die  Reproduktionen  plastischer  Werke 
(Gipsabgüsse)  als  für  die  künstlerische  Erziehung  un¬ 
zulänglich;  der  Grund  —  seine  eigene  »Kaltblütig¬ 
keit«  diesen  Dingen  gegenüber,  ist  aber  nicht  beweis¬ 
kräftig.  Ebenso  verwarf  der  Herr  die  Reproduktion 
von  Bauten,  weil  an  ihnen  die  hohe  Bedeutung  von 
Material  und  Farbe  nicht  zu  erkennen  sei,  noch  sei 
an  ihnen  zu  lernen,  wie  der  Gedanke  der  Zweck¬ 
mässigkeit  Ausdruck  gefunden  hat.  Diese  Begründung 
zeigt  den  Doktrinär.  Alsdann  wies  Geheimrat  Roscher 
auf  Ludwig  Richter  hin;  mit  vollem  Recht.  Professor 
Lichtwark  äusserte  hiernach  ein  paar  ebenso  knappe  als 
treffende  Bemerkungen  über  die  Kunst,  die  in  dem 
Wandschmuck  erscheinen  soll.  Er  erwies  sich  hier 
als  ein  sehr  guter  Theoretiker,  indem  er  vor  der 
Massenproduktion  von  Wandschmuck  warnte,  indem 
er  empfahl,  die  Entwürfe  solcher  Wandbilder  vor  der 
Ausführung  zu  prüfen,  indem  er  an  die  Qualitäten 
erinnerte,  die  die  für  das  Kind  bestimmte  Kunst  haben 
muss,  indem  er  darauf  hinwies,  dass  man  die  Bilder 
zu  Zeiten  wechseln  müsse  und  das  ne  quid  nimis 
aussprach.  Nunmehr  verwandte  sich  Dr.  Spanier  für 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


133 


die  Reproduktionen  von  Kunstwerken  und  gab  der 
Ansicht  Ausdruck,  dass  der  Lehrer  zum  Sehen  und 
zum  Eühlen  anleiten  müsse.  Professor  Matthaei  ver¬ 
wies  auf  die  (übrigens  nur  aus  Versehen  vom  Refe¬ 
renten  nicht  erwähnten)  Meister  des  19.  Jahrhunderts; 
Rektor  Koehler  warf  ein  paar  praktische  Eragen  auf 
und  brachte  der  neuen  Materie  gegenüber  die  Skepsis 
des  erfahrenen  Pädagogen  zum  Ausdruck.  Stadt¬ 
schulrat  Dr.  Wehrhahn  plädierte  für  äusserste  Wohl¬ 
feilheit  des  Wandschmucks;  hierzu  ist  zu  sagen,  dass 
diese  vom  dem  Bedarf  abhängt.  Würde  es  gelingen,  die 
widersprechenden  Meinungen  zu  vereinen,  so  würden 
die  Leiter  der  Schulen,  wenn  sie  die  Energie  hätten, 
die  Sache  zu  organisieren,  ihren  Wandschmuck  für 
eine  Mark  für  das  Blatt  bekommen,  statt  dass  sie  jetzt 
sechs  Mark  und  mehr  bezahlen.  Einigkeit  macht  hier 
-  billig.  Daher  müssten  die  Lehrer  und  Direktoren 
sich  beraten  und  dann  angeben,  was  sie  brauchen 
können.  Lehrer  Oötze  erwiderte  auf  die  Eragen  des 
Rektors  Köhler  und  verneinte  die  Eorderung  einer 
methodischen  lehrhaften  Behandlung  der  Bilder;  Dr. 
Cornelius  warnte  davor,  den  Kunstwert  erklären  zu 
wollen;  Schuldirektor  Dr.  Rohrbach  meinte  ebenfalls, 
die  Bilder  müssten  für  sich  selbst  sprechen  und  liess 
sich  über  das  Eormat  der  Bilder  aus;  Dr.  Deneken 
wies  auf  die  verwandten  Bestrebungen  in  Schweden 
hin,  die  Schulen  mit  Wandbildern  auszustatten;  er 
betonte  nebenbei  den  erzieherischen  Wert  der  Plastik, 
worin  ihm  später  von  Professor  Dr.  A.  O.  Meyer  sekun¬ 
diert  wurde.  Zwei  praktische  Hinweise  gaben  Ober¬ 
lehrer  Breal  und  Professor  Dr.  Rein-,  jener  verwies 
auf  die  Ausschmückung  der  35  Zimmer  der  IX.  Bürger¬ 
schule  Dresdens,  dieser  sprach  von  den  Versuchen 
und  Erfolgen  der  Übungsschule  in  Jena,  an  der  päda¬ 
gogische  Experimente  angestellt  werden.  Es  ist  nicht 
möglich,  innerhalb  des  hier  gebotenen  Raumes  alle 
geäusserten  Ideen  zu  berühren;  wir  müssen  auf  den 
Bericht  selbst,  der  nur  eine  Mark  kostet  (Verlag  von 
R.  Voigtländer,  Leizig)  verweisen. 

Nach  der  Erledigung  dieser  Hauptnummer  der 
Tagung  hielt  Dr.  Pauli,  Direktor  der  Kunsthalle  in 
Bremen,  einen  fesselnden  Vortrag  über  das  Bilderbuch. 
Es  war  dem  Herrn  Referenten  wohl  nicht  deutlich 
bewusst,  dass  eine  gewisse  Zwiespältigkeit  der  Auf¬ 
fassung  bei  der  Bilderbuchfrage  platzgreift.  Die  Erage 
ist  erstlich  die:  Wie  soll  das  Bilderbuch  beschaffen 
sein,  damit  es  dem  Kinde  gefällt?  Diese  Erage  wurde 
auch  ganz  richtig  beantwortet.  Nötig  sind  drei  Dinge: 
fesselnder  Inhalt,  Anschaulichkeit  und  Einfachheit  des 
Ausdrucks.  Kunstwert  verlangt  das  Kind  unter  sieben 
Jahren  nicht.  Die  zweite  Erage  dagegen  ist:  Wie  soll 
das  Bilderbuch  beschaffen  sein,  damit  es  auch  dem 
Erwachsenen  gefällt?  Hier  lautet  die  Antwort:  es  muss 
Kunstwert  haben,  ein  Künstler  von  echter  Art  muss 
es  gemacht  haben.  Ein  solcher  Künstler  war  Dr.  Hof¬ 
mann  ,  der  Verfasser  und  Zeichner  des  Struwelpeter, 
nicht;  er  gesteht  es  selber  ein  und  auf  die  Bemerkung, 
dass  ein  Bilderbuch  Kunstwert  haben  müsse,  erwidert 
er  spöttisch:  nun  gut,  so  erziehe  man  den  Säugling 
in  Gemäldegalerien  und  in  Kabinetten  mit  antiken  Gips¬ 
abgüssen.  Dr.  Hofmann  meinte  nämlich,  ein  Bilder- 

Zcitschrilt  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  Fl.  6. 


buch  brauche  nur  dem  Kinde  zu  gefallen;  dass  es 
auch  noch  dem  Erwachsenen  gefalle,  sei  eine  unbillige 
Eorderung.  Verkehrt  aber  seien  alle  Bilderbuch¬ 
entwürfe,  die  nur  darauf  ausgehen,  ästhetische  Wir¬ 
kungen  zu  erzielen,  d.  h.  nur  den  Erwachsenen  Ver¬ 
gnügen  zu  bereiten,  nicht  den  kleinen  Kindern. 

Nun  werden  alle  Bildungsschwärmer  wie  ein 
Mann  aufstehen  und  rufen:  Ei,  das  lässt  sich  doch 
vereinigen!  Worauf  die  Antwort  zu  geben  wäre:  es 
ist  unnötig,  und  die  Eorderung  ist  zu  hoch  geschraubt. 
Ein  Bilderbuch,  das  zugleich  Kindern  und  Grossen 
gefällt,  muss  beschaffen  sein  wie  eine  Amphibie.  Es 
führt  zwei  Lebensarten  zugleich.  Hierüber  geben  uns 
die  alten  Pädagogen  hinreichend  Belege. 

Die  alten  Griechen  waren  gewiss  ein  kunstfrohes 
Volk  und  wo  sie  konnten,  prägten  sie  jeder  Lebens¬ 
form  Einheit  in  der  Vielheit,  lebende  Gestalt,  d.  h. 
Kunstform  auf.  Sie  thaten  das  nicht  etwa  reflektierend 
auf  Grund  von  Deduktionen,  von  Unterweisungen, 
von  Kunsterziehungstagen:  sondern  naiv,  aus  dem 
Unbewussten  heraus,  aus  jenem  Lebensgefühl,  das 
aller  Logik  Mutter  ist.  Wie  aber  waren  denn  die 
für  Kinder  bestimmten  Thonpuppen  beschaffen,  die 
man  am  Eusse  der  Akropolis  fand?  Waren  es  etwa 
Göttergestalten  in  Miniaturformat?  O  nein!  Diese 
Puppen  sind  genau  ebenso  rohe  Gliedermänner,  wie 
sie  heute  fürs  Volk  fabriziert  werden.  Warum  formten 
denn  aber  die  Griechen  keine  Statuetten  für  die  Kinder, 
warum  gaben  sie  den  Kleinen  nicht  Tanagrafiguren 
zum  Spielen?  Einfach  darum,  weil  mit  solchen  Ei- 
guren  kaum  kindlich  gespielt  werden  kann.  Je  mehr 
Leben  nämlich  der  Künstler  dem  Werke  verleiht,  um 
so  mehr  entrückt  er  es  der  Kindersphäre.  Je  mehr 
Odem  er  seinen  Gestalten  mitgiebt,  um  so  mehr  ver¬ 
leidet  er  dem  Kind  das  Spiel.  Denn  Spiel  ist  Selbst¬ 
schaffen,  Belebung  des  Toten.  Thut  das  der  Künstler 
schon,  so  bleibt  dem  Kind  nichts  mehr  und  das 
individuelle  Spielzeug  wird,  weil  es  allzu  sehr  beseelt 
worden  ist,  für  das  Kind  unbrauchbar.  Die  Probe 
auf  das  Exempel  kann  jeder  machen,  dem  ein  Kind 
zur  Verfügung  steht.  Nur  das  Spielzeug  wird  wieder¬ 
holt  vorgenommen,  mit  dem  sich  allerlei  machen  lässt; 
das  erste  Spielzeug  ist  Idol,  ist  ein  Belebungsobjekt, 
ist  eine  Prometheusfigur;  das  Kind  übernimmt  die 
Rolle  der  Pallas  Athene. 

Jean  Paul  hat  in  seinem  krausen  Buche  Levana 
oder  Erziehlehre,  das  eine  Menge  feiner  pädagogischer 
Bemerkungen  enthält,  eine  sehr  lehrreiche  Geschichte 
erzählt.  Ein  kleines  Mädchen,  das  gewöhnt  war,  einen 
Stiefelknecht  durch  bunte  Lappen  zu  einer  Puppe 
nnizuschaffen,  bekam  einst  eine  Staatsdame  mit  wirk¬ 
lichen  Gliedern,  WachskojT,  natürlichem  Elachshaar, 
und  eleganten  Kleidern  geschenkt.  Der  erste  Eindruck 
war  überwältigend  —  allein  nachdem  das  vornehme 
Spielzeug  ein  paar  mal  an-  und  ausgekleidet  worden 
war,  kehrte  das  wunderliche  Kind  zu  dem  alten  Stiefel¬ 
knecht  zurück.  Man  frage  nur  eine  beliebige  Mutter, 
zu  welchen  Spielsachen  die  Kinder  am  liebsten  greifen 
—  ob  es  nicht  die  sind,  die  am  gestaltlosesten  sind; 
man  frage  die  Mutter,  ob  nicht  die  durchgebildetsten 

i8 


134 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


Spielsachen  die  stärkste  Neigung  haben,  sich  in  ihre 
Bestandteile  aufzulösen? 

Direktor  Dr  Tauli  betonte  ganz  richtig,  dass  das 
Bilderbuch  in  .v  ir  Linie  ein  Spielzeug  sei.  Ist  es 
aber  ein  Sniei:-.  ig,  so  niiiss  es  dessen  Bedingungen 
r'rfülicn,  i  ;r-  -  or+ragtnde  sagte  ferner  sehr  richtig, 
:lass  -..-r  btruu  üprter  in  gewissem  Sinne  ein  Kern- 
.  u  r-^e', Cb  .  sei;  er  meint  nur,  es  hätte  bei  seiner 
n  c  ■!  ■  ,g  iielir  hohe  Kunst  hinzutreten  müssen.  Das 
ijc  unriciitig:  das  Buch  wäre,  mit  mehr  Kunst 
v.  r'-_nickt,  nicht  noch  mehr  Kernschuss  gewesen,  son¬ 
dern  höchstens  noch  ebenso  sehr,  wahrscheinlich  aber 
weniger.  Allerdings  hätte  ja  der  Struwelpeter  mehr 
Kunst  vertragen  können,  aber  es  wäre  kaum  zu  seinem 
Vorteil,  sondern  eher  zu  seinem  Nachteil  gewesen;  zum 
Nachteil  nämlich  seiner  Allgemeingültigkeit  in  Kinder¬ 
kreisen  .  Der  Struwelpeter  und  das  Kaspartheater 
entsprechen  einander:  Das  eine  stellt  die  Gemälde¬ 
galerie,  das  andere  das  Drama  der  Kinderstube  vor. 

Sobald  mehr  Kunstwert  hinzutritt,  gerät  das  Ob¬ 
jekt  in  Gefahr,  der  Kindersphäre  entrückt  zu  werden. 
Beide  Dinge  haben  noch  einen  dritten  Genossen: 
das  Märchen;  dies  ist  das  Epos  der  Kinderstube. 
Was  die  Mutter  den  Kindern  erzählt,  ist  schmucklos 
und  schlicht:  man  sehe  daraufhin  Grimm’s  Märchen 
durch.  Welche  Roheiten  kommen  darin  vor!  Die 
böse  Stiefmutter  muss  in  glühenden  Schuhen  tanzen, 
bis  sie  tot  umfällt:  solche  drakonische  Strafe  entspricht 
dem  Gefühl  des  Kindes,  das  sich  vorher  entsetzt 
und  geängstigt  hat  über  die  Schlechtigkeit  der  Stief¬ 
mutter.  Dem  Kind  malt  man  das  Gute  silberweiss, 
das  Böse  pechschwarz:  Das  ist  also  Silhoucttierkunst, 
keine  Malerei. 

Gleich  heisst  ihm  alles  schändlich  oder  würdig, 

Bös  oder  gut:  und  was  die  Einbildung 
Phantastisch  nennt  mit  diesen  dunklen  Namen, 

Das  bürdet  sie  den  Sachen  auf  und  Wesen. 

Wie  roh  und  gewaltthätig  benimmt  sich  Kasperle 
auf  seiner  Bühne!  Er  schlägt  alles  tot,  veas  sich  ihm 
entgegenstellt,  und  lässt  sogar  den  Teufel  nach  seiner 
Pfeife  tanzen.  Das  Kind  aber  lacht  und  bewundert 
seines  Helden  lustige  Tapferkeit.  Wer  die  Probe 
machen  will,  führe  den  Kindern  eine  Scene  vor, 
worin  der  Teufel  vom  Kasperle  nicht  geprellt,  sondern 
bezwungen,  und  seine  Seele  geholt  wird.  Das  ganze 
Auditorium,  das  gespannt  allen  Siegen  seines  Helden 
innerlich  jubelnd  folgte,  wird  alsbald  in  ein  lautes 
Geheul  ausbrechen,  denn  mit  diesem  einen  burlesken 
Vertreter  fährt  die  ganze  Menschheit  zum  Teufel,  und 
blasses  Entsetzen  ergreift  das  versammelte  Parterre. 
Man  wende,  was  sich  aus  diesen  Betrachtungen  er- 
giebt,  aufs  Bilderbuch  an.  Glückliche  Wahl  des  Stoffs 
und  höchste  Simplicität  in  der  Behandlung  sind  die 
notwendigen  Erfordernisse  der  Kinderbilderbücher. 
Wohl  dem  schöpferischen  Genie,  das  ausserdem  noch 
dem  ekeln  Geschmack  des  Kenners«  Genüge  zu 
leisten  versteht!  Es  wird  dadurch  dem  Augenblicks¬ 
erzeugnis  Dauer  verleihen. 

Mit  den  Vorgängen  auf  geistigem  Gebiete  verhält 
es  sich  genau  ebenso  wie  mit  der  leiblichen  Nahrung: 


das  zu  Geniessende  muss  sogleich  assimilierbar  sein. 
Kinderbilderbücher  erscheinen  dem  Erwachsenen  oft 
ärmlich,  dem  Kinde  dagegen  spannend;  das  Kaspar¬ 
theater  hat  ein  niedriges  geistiges  Niveau,  in  das  der 
Kinderkopf  eben  noch  hineinreicht;  die  kleine  schlichte 
Erzählung  ist  für  den  Erwachsenen  reizlos,  für  das 
Kind  passt  sie  gerade.  Nun  kann  man  ja  der 
geistigen  Speise,  die  bisher  den  Sechsjährigen  behagte, 
Kunstwürze  hinzusetzen.  Jakob  und  Wilhelm  Grimm 
haben  die  Hausmärchen  mit  jener  höchsten  Kunst 
erzählt,  die  Natur  scheint;  Andersen  hat  seinen  Haus¬ 
märchen  fast  stets  noch  einen  tieferen  Sinn  beigegeben; 
Ludwig  Richter  erfüllte  ausser  der  Forderung  des 
schlichten  Vortrags  noch  nebenbei  die  der  hohen 
Kunstmässigkeit.  Diese  Doppelqualität  nützt  ihm  nur 
im  Auge  der  Erwachsenen,  nicht  aber  der  kleinen 
Kinder.  Denn  entweder  empfinden  wir  naiv  oder 
sentimental,  nicht  beides  zugleich,  wie  Schiller  lehrt; 
wir  sind  entweder  Natur  oder  wir  müssen  die  ver¬ 
lorene  suchen.  Man  glaube  darum  nicht,  dass  das 
Kind  im  stände  sei,  im  Bilderbuche  die  zeichnerische 
Qualität  Ludwig  Richter’s,  im  Hausmärchen  die  Er¬ 
zählungskunst  Jakob  Grimm’s,  im  AnderseiTschen  die 
zu  Grunde  gelegte  Symbolik  zu  würdigen.  Diese 
Qualität  ist  für  das  Kind  eine  qualitas  occulta;  sie 
ist  seinem  Köpfchen  nicht  assimilierbar,  und  daher 
für  dieses  so  gut  wie  nicht  vorhanden.  Der  Kunst¬ 
genuss  ist  wie  der  Apfel,  der  vom  Baum  der  Erkenntnis 
gepflückt  wird:  hat  man  ihn  gekostet,  so  ist  es  mit 
dem  Paradies  der  Kindheit  vorbei. 

Eins  der  wichtigsten  Hilfsmittel  der  ästhetischen 
Bildung,  ja  das  vornehmste  schlechtweg  ist  das  Zeichnen. 
Zeichnen  lernen,  könnte  für  den  Menschen  fast  ebenso¬ 
viel  bedeuten,  wie  seine  Sprache  lernen.  Es  ist  dem 
Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  durchaus  gleichwertig, 
es  paralysiert  die  Abstraktion  und  führt  zur  In¬ 
dividuation.  Dem  Vortrage  des  Herrn  Qoetze  über 
das  Zeichnen  und  Formen  kann  man  Satz  für  Satz 
zustimmen;  hoffentlich  machen  sich  alle  Schulleiter 
und  die  dem  Schulwesen  Vorgesetzten  das  Gewicht 
der  Gründe  des  Redners  klar.  Der  Wert  seiner  Aus¬ 
führungen  trat  durch  die  nachfolgenden  Wechsel¬ 
reden  noch  deutlicher  hervor.  Mitten  hinein  klang 
aber  auch  ein  Widerspruch,  ein  Protest  von  einem 
Künstler,  Hermann  Obrist,  der  kein  schulmässiges 
Zeichnenlehren,  sondern  ein  freies  künstlerisches  Bilden 
durch  besonders  Begabte,  durch  bildende  Künstler 
forderte.  Er  erklärte  das  Unterrichten  im  Zeichnen, 
die  schablonenmässige  Massenunterweisung  für  be¬ 
denklich,  sah  darin  höchstens  eine  Vertiefung  des 
Anschauungsunterrichts,  nicht  aber  einen  Versuch 
künstlerischer  Bildung.  Der  Hinweis  auf  die  Kunst¬ 
gewerbeschulen,  die  30  Jahre  lang  Zeichenunterricht 
erteilten  und  die  von  ihnen  gewonnenen  Erziehungs¬ 
resultate  machten  sichtlich  Eindruck  auf  die  Ver¬ 
sammlung.  Des  Künstlers  Forderungen  waren  die 
folgenden:  Bildende  Künstler  statt  der  Zeichenlehrer, 
Werkstattunterricht  statt  des  Massenunterrichts.  Der 
Referent  stimmte  diesen  Ausführungen  im  allgemeinen 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


135 


zu;  gemässigt  wurden  die  Protestworte  des  Münchener 
Künstlers  durch  Inspektor  Elinzer,  der  darauf  hinwies, 
dass  die  Volksschule  in  der  Hauptsache  dem  Hand¬ 
werker  dienen  müsse,  und  dass  man  nicht  zu  weit 
gehen  dürfe,  wenn  man  Kunstbildung  verlange.  Wir 
fügen  hinzu:  Atelierunterricht  ist  sehr  schön,  aber 
die  grosse  Frage:  Wer  trägt  die  Kosten?  liegt  nahe. 
Schwerlich  wird  Herr  Obrist  Freude  am  Atelierunter¬ 
richt  haben,  wenn  er  nicht  vorher  unter  den  ange¬ 
meldeten  Schülern  einer  Klasse  die  Befähigungen 
prüfen  und  die  Unbrauchbaren  d.  h.  Unbildbaren 
ausscheiden  dürfte.  Was  sollte  dann  aber  mit  den 
Ausgeschiedenen  werden?  Sollen  sie,  die  weniger 
begabt  sind  für  zeichnerische  Darstellung,  nun  gar 
keinen  Unterricht  im  Zeichnen  erhalten?  Oder  sollen 
sie  doch  noch  einem  Zeichenlehrer  überantwortet 
werden? 

Als  Berichterstatter  in  der  Handfertigkeitsfrage  trat 
Direktor  Dr.  P.  Jessen  auf.  Er  wies  auf  die  hand¬ 
werkliche  Grundlage  der  Kunst  hin,  empfahl  Ver¬ 
wertung  echter  Stoffe,  werkgerechter  Formen  und 
forderte  ehrliche  Arbeit.  Im  einzelnen  ging  der 
Redner  etwas  zu  weit  in  der  Verallgemeinerung. 
Dem  Kinde  ein  Stück  Holz  und  Werkzeuge  dazu 
zur  Herstellung  eines  schlichten  Geräts  in  die  Hand 
zu  geben,  ist  nicht  unbedenklich.  Ein  acht-  oder 
zehnjähriges  Kind  wird  mit  Hobel  und  Säge  nicht  viel 
beginnen  können;  es  ist  zu  schwach  an  körperlichen 
Kräften.  Gegen  die  Spielereien,  die  in  Dilettanten- 
kreisen  so  viel  Unheil  angerichtet  und  den  Dilettantis¬ 
mus  in  der  Kunst  lächerlich  gemacht  haben,  wandte 
sich  der  Sprecher  energisch  und  verwarf  dabei  auch 
die  vermeintlichen  Surrogattechniken,  von  denen  er 
das  Bemalen,  den  Holzbrand,  die  Kleineisenarbeit  u.  s.  w. 
namhaft  machte.  Mit  Verlaub:  das  sind  gar  keine 
Surrogattechniken.  Unsere  Altvorderen  bemalten  ihre 
Stühle  und  Truhen,  ihre  Öfen,  ja  ihr  Schmiedeeisen; 
sie  brannten  und  schnitzten  ihr  Holz  und  bildeten 
Kleines  und  Grosses  aus  allerlei  Metallen.  So  wie 
sie  früher  selbst  spannen  und  webten,  schnitzten  sie 
und  malten  sie,  ohne  berufsmässig  Spinner,  Weber, 
Schnitzer  oder  Maler  zu  sein.  Holzbrand  und  Klein¬ 
eisenarbeit  sind  vortrefflich  an  sich,  durchaus  nicht 
lügnerische  oder  lächerliche  Techniken;  wer  gute 
Arbeiten  sehen  will,  besuche  einmal  die  Fachschule 
in  Cortina  d’Ampezzo.  Lächerlich  ist  nur  der  Zwerg, 
der  sich  duckt,  wenn  er  durchs  Stadtthor  geht,  sagt 
Lermolieff-Morelli.  Was  den  Dilettantismus  lächer¬ 
lich  gemacht  hat,  ist  nie  die  Technik,  sondern  immer 
nur  die  Eitelkeit  gewesen.  Wer  einen  schlechten 
Stuhl  baut  und  darauf  stolz  ist,  verdient  denselben 
Spott  wie  einer,  der  einen  liederlich  ausgeführten 
Holzbrand  ausstellt.  Wer  den  Brennstift  nimmt,  um 
eine  von  fremder  Hand  vorgezeichnete  Darstellung 
sklavisch  nachzuziehen,  betrügt  sich  und  andere:  wer 
freihändig  arbeitet,  schafft  redlich.  Der  Berichterstatter 
meinte  weiter;  Nicht  die  schlichte,  schmucklose  Werk¬ 
arbeit  sei  unkünstlerisch,  sondern  das  Ornamentmachen 
ohne  voraufgehende  Werkarbeit,  die  Beschäftigung 
mit  dem  abstrakten  Zierrat,  einerlei  ob  auf  dem 
Papier,  dem  Thon  und  dem  Holz.  Hier  müssen  wir 


denn  doch  ein  kleines  Veto  einlegen.  Es  ist  sehr  die 
Frage,  ob  die  Jamunder  Bauernstühle  von  denselben 
Personen  gezimmert  sind,  die  sie  bemalt  haben;  es 
ist  durchaus  nicht  erwiesen,  dass  die  alten  Mangel¬ 
hölzer,  die  so  zierlich  mit  Kerbschnitt  versehen  sind, 
nicht  vom  Tischler  roh  geliefert,  und  erst  von  den 
Bestellern  verziert  worden  sind;  und  man  kann  als 
sicher  annehmen,  dass  die  Grobschmiede  das  Schmiede¬ 
eisen  unbemalt  geliefert  haben,  dass  die  Farbe  viel¬ 
mehr  später,  vielleicht  um  das  begonnene  Rosten 
fernerhin  zu  verhüten,  aufgestrichen  worden  ist.  ln 
Immermann’s  Oberhof  erzählt  der  wackere  alte  Dorf¬ 
schulze,  der  selbst  die  Axt  führt  und  so  den  Zimmer¬ 
mann  spart,  dass  er  zu  seiner  eignen  Warnung  einen 
missratenen  Schrank,  den  er  einmal  selbst  zu  tischlern 
versucht,  auf  dem  Boden  stehen  habe.  Der  Dilettantis¬ 
mus,  der  schlechte  Geräte  herstellt,  ist  ebenso  wenig 
tauglich,  als  der,  welcher  schlechten  Zierrat  aufmalt 
oder  brennt.  Nein,  der  springende  Punkt  liegt 
anderswo.  Der  Dilettant  ergötzt  sich  selbst,  nicht 
andere.  Sobald  er  aber  sein  Produkt  ausstellt,  oder 
gar  verkauft,  erhebt  er  die  Prätension  der  Künstler¬ 
schaft.  Konrad  Lange  unterscheidet  in  dem  Vortrage 
über  das  Wesen  der  künstlerischen  Erziehung  richtig 
zwischen  dem  echten  und  dem  falschen  Dilettantismus. 
Der  echte  ist  keusch:  er  ist  nichts  als  eine  Schulung 
auf  eigene  Faust;  Technik,  Material,  Leistung  ist  hier 
ganz  gleichgültig.  Der  falsche  Dilettantismus  ist  ver¬ 
kappte  Eitelkeit  ohne  Ernst;  er  wird  nicht  um  der 
Sache  willen,  sondern  um  der  Schmeichelei  willen 
betrieben;  er  jagt  das  Wild  nicht,  sondern  kauft  es 
im  Laden.  Der  echte  Dilettant  arbeitet,  um  fort- 
zuschreiten;  der  falsche,  um  mit  dem  Produkt  zu 
prunken.  Konstruktive  Arbeiten  aber  begehre  man 
doch  nicht  von  der  Jugend.  Laubsägearbeit,  Kerb¬ 
schnitt,  Papparbeit,  das  macht  die  Hand  geschickt, 
und  Holzbrennen  ist  dem  Zeichnen  sehr  nah  ver¬ 
wandt.  Die  Frage  der  Konstruktion,  die  Statik  des 
Geräts  verbleibe  dem  Meister  oder  dem  Altgesellen; 
dem  Lehrling  kommt  ihre  Lösung  nicht  zu.  Denn 
was  wird  der  Lehrling  auch  hier  nur  thun?  Nach¬ 
ahmen,  nicht  schaffen. 

Über  die  Anleitung  zum  Genuss  der  Kunstwerke 
gab  Professor  Lichtwork  einige  Aphorismen.  Die 
Auffassung  des  Berichterstatters  ist  durch  mehrere 
Schriften  hinlänglich  bekannt.  Er  schwärmt  für 
Originale  und  verwirft  für  den  Anfang  alle  Kopien ; 
das  geht  zu  weit:  das  Umgekehrte  scheint  uns  rich¬ 
tiger.  Eine  gute  Kopie  eines  verlorenen  Originals 
ist  doch  einem  schlechten  Original  vorzuziehen.  Wo 
bliebe  denn  unsere  Anschauung  von  der  Antike,  wenn 
wir  alle  römischen  Kopien  griechischer  Originale  ver¬ 
werfen  wollten!  Erst  Nachbildungen  machen  die 
Originale  populär. 

Es  ist  ein  Beweis  dafür,  wie  tief  wir  im  Litte- 
rarischen  stecken,  dass  man  uns  jetzt  die  Musik  und 
die  bildende  Kunst  durch  Erläuterungen  nahe  bringen 
will.  Das  ist  ein  grässlich  ermüdender  Umweg,  und 
in  den  meisten  Fällen  ein  Versuch  mit  untauglichen 
Mitteln.  Diese  Erläuterungen  ziehen  stets  Erschöpfungen 
nach  sich  und  hat  man  die  Schönheiten  hervorgehoben. 


136 


DIE  ÄSTHETISCHE  Bll  DUNG  DER  KINDER 


so  heisst  es  doch:  Zum  Teufel  ist  der  Spiritus,  das 
Phlegma  ist  geblieben.  Wer  vermag  es,  den  Kunst¬ 
gehalt  einer  Beethoven 'scheu  Sinfonie  zu  erklären! 
Wer,  die  Scliönheit  der  Sixtina  zu  berechnen!  An¬ 
leitung  zum  Genuss  des  Kunstwerks  -  ist  das  nicht 
wie  Anleitung  zum  Genuss  des  Schlittschuhlaufens 
oder  des  Fliegens?  In  den  Kunstwerken,  die  alle 
lebende  Gestalt  sind,  erscheint  der  lebendige  Geist 
tlcm  lebendigen  Geiste.  Musikalischer  Kunstgenuss 
ist  nur  durch  Töne,  poetischer  nur  durch  Worte, 
bildnerischer  nur  durch  Bilder  vermittelbar;  die 
Symbole  lassen  sich  nicht  austauschen.  Das  Kunst¬ 
werk,  welches  sich  nicht  selbst  erläutert,  schweigt 
dem  Beschauer,  weil  dessen  Seele  halb  blind  und  taub 
ist.  Es  ruft  höchstens:  Du  gleichst  dem  Geist,  den 
du  begreifst,  nicht  mir! 

Wie  kommt  es  denn,  dass  wir  so  viele  heimliche 
Trauerspieldichter  auf  den  Gymnasien  haben,  aber  viel 
weniger  heimliche  Maler?  Daher,  dass  der  Schüler 
Schiller  und  Shakespeare  kennen  lernt,  und  dass  sein 
Gemüt  sich  daran  entzündet,  so  dass  es  mit  heller 
Flamme  brennt.  Und  das  Lesedrama  ist  doch  nur 
ein  schwaches  Abbild  des  im  Theater  aufgeführten. 
Wollen  wir  nun  die  Seelen  für  bildende  Kunst  ent¬ 
zünden,  was  ist  hiernach  nötig?  Gute  Abbilder  hoher 
Kunst.  Die  Zeit,  die  man  mit  Erläuterungen  sonst 
vertrödelt,  diene  allein  der  immer  wiederholten,  immer 
mehr  vertieften  Anschauung.  Aber  man  wähle  die 
rechten  Kunstwerke!  So  gewiss  kein  Lehrer  den 
Primanern  Ibsen  und  Maeterlinck  empfehlen  wird,  so 
gewiss  wird  auch  kein  Einsichtiger  den  Werdenden 
Manet  und  L.  von  Hofmann  vorführen.  Zur  raschen 
Förderung  der  ästhetischen  Erziehung,  zum  raschen 
Wachstum  der  Genusskraft  ist  technische  Uebung, 
Malen,  Modellieren,  Musizieren  sehr  dienlich.  Hier 
beim  Erlernen  des  Technischen  darf  Zwang  herrschen, 
aber  bei  der  reinen  Anschauung  nicht,  weil  da  Ermüdung 
der  Todfeind  des  Fortschritts  ist.  Herr  Obrist,  der 
bei  dieser  Gelegenheit  nochmals  das  Wort  ergriff, 
hat  von  seinem  Standpunkt  durchaus  Recht.  Er 
möchte  Atelierunterricht,  weil  dieser  am  raschesten 
bildet.  Denn  nicht  nur  Lehre  und  Anschauung  reizt, 
sondern  am  meisten  das  Beispiel.  Kunstwerke  ent¬ 
stehen  zu  sehen,  bedeutet  noch  mehr,  als  die  fertigen 
betrachten.  Aber  wohin  soll  das  führen,  wie  soll  man 
das  ermöglichen!  Wenn  man  einen  raschen  Versuch 
machen  wollte,  der  Ereude  an  der  Erscheinung  mehr 
Raum  zu  gönnen,  das  viele  Lernen  von  Worten,  Be¬ 
griffen,  Vokabeln  zurückzudrängen  und  dafür  das  Er¬ 
fassen  der  substanziellen  Eormen  zu  begünstigen:  das 
würde  beträchtliche  Erschütterungen  unseres  Erziehungs¬ 
wesens  herbeiführen.  Solche  Transformierung  könnte 
nur  ganz  allmählich  geschehen,  wenn  sie  sich  ohne 
Reibungen  und  Erhitzungen  abspielen  soll,  und  sie 
nimmt  daher  zweckmässig  ihren  Anfang  in  den  Se¬ 
minaren,  wo  die  Eührer  und  Leiter  der  Jugend  ge¬ 
bildet  werden. 

Was  Seminarlehrer  über  die  Ausbildung 

der  Seminaristen  äusserte,  ist  fast  durchweg  höchst 
beachtlich.  Er  wünschte,  dass  von  der  heimatlichen 
Kunst,  wo  es  thunlich  sei,  ausgegangen  werde  (was 


Lichtwark  schon  betont  hat),  dass  man  die  Grösse 
der  vaterländischen  Kunst  kennen  lernen  solle;  einige 
theoretische  Ausbildung  schien  dem  Redner  wünschens¬ 
wert,  Elementarkunstlehre,  Elementarästhetik,  kunst- 
historische  Orientierung,  Vermehrung  des  Zeichen¬ 
unterrichts,  kurz  alles,  was  die  Entwickelung  der 
ästhetischen  Lust  beflügelt. 

Endlich  trat  noch  Ihofessor  Dr.  K.  Lange  auf  die 
Rednertribüne,  um  einige  Leitsätze  über  die  Vor¬ 
bildung  der  Lehrer  auf  den  Universitäten  vorzutragen. 
Er  empfahl  Verbindung  der  Kunstgeschichte  mit  der 
Ästhetik,  Lösung  der  Ästhetik  von  der  Philosophie 
und  Umgestaltnng  zu  einer  wirklichen  Kunstlehre, 
Bereicherung  der  kunsthistorischen  Sammlungen,  wech¬ 
selnde  Ausstellung  von  Kunstblättern,  verbunden  mit 
Führungen  und  Vorträgen,  und  zwar  neben  histo¬ 
rischen  auch  systematische,  Übungen  im  Betrachten, 
Erklären  und  Beurteilen  von  Kunstwerken,  Erhaltung 
des  akademischen  Zeichenlehrers.  Es  gebricht  uns 
an  r^auni,  auf  diese  Eorderungen,  die  an  dieser  Stelle 
(der  Universität)  alle  sehr  berechtigt  sind,  näher  ein¬ 
zugehen.  Eine  Ergänzung  zu  den  Thesen,  die  der 
kenntnisreiche  Kunstlehrer  aufstellte,  bildete  sein  am 
nächsten  Tage  gehaltener  Vortrag  über  das  Wesen 
der  künstlerischen  Erziehung.  Er  fasste  darin  zu¬ 
sammen,  was  die  Redner  des  Tags  vorher  einzeln 
geäussert  hatten.  Erziehung  zur  Genussfähigkeit  lautete 
das  Leitmotiv.  Über  die  Einzelheiten  in  den  Aus¬ 
führungen  uns  mit  dem  Redner  an  dieser  Stelle  aus¬ 
einanderzusetzen,  würde  eine  längere  Erörterung  nötig 
machen;  zum  Teil  findet  der  Leser  unsere  Einwürfe 
in  dem  Voranfgegangenen  angedeutet. 

Zu  erwähnen  sind  noch  die  beiden  rednerischen 
Zugaben,  womit  Professor  Lichtwark  manchen  Hörer 
in  Enthusiasmus  versetzte:  Über  den  Deutschen  der 
Zukunft  und  die  Aufklärung  über  den  Holbein’schen 
Totenbilderkreis.  Was  den  Deutschen  der  Zukunft 
anlangt,  so  konnte  der  Vortragende  keine  deutliche 
Vorstellung  davon  erwecken,  zumal  er  erklärte,  sich 
noch  kein  rechtes  Bild  von  ihm  gemacht  zu  haben. 
Er  schien  aber  zu  wünschen,  dass  eine  Verschmel¬ 
zung  des  deutschen  Offiziers  und  des  englischen 
Gentleman  sich  im  zukünftigen  Deutschen  zeigen 
möge.  Er  besprach  das  Parallelogramm  der  Kräfte, 
die  von  Schule  und  Heeresleitung,  von  der  Trias 
Lehrer,  Universitätsprofessor  und  Offizier  ausgehen. 
Uns  will  bedünken,  dass  der  Deutsche  der  Zukunft 
nicht  nötig  habe,  nach  dem  Vaterlande  Joe  Chamber- 
lain’s  hinüberzuschielen;  es  genügt,  wenn  ersieh  nur 
an  dem  Deutschen  der  Vergangenheit  ein  Vorbild 
nimmt.  Ihre  Lehre  und  ihr  Beispiel  wird  ihm  Halt 
lind  Besonnenheit  genug  verleihen.  Wir  denken  hier 
an  Luther,  Dürer,  Lessing,  Friedrich  den  Grossen, 
Bach  und  Händel,  Schiller  und  Goethe,  die  beiden 
Humboldt’s,  die  beiden  Brüder  Grimm,  Bismarck  und 
Moltke,  Menzel,  anderer  nicht  zu  gedenken.  Diese 
Aufrechten,  wie  Gottfried  Keller  die  Unerschrockenen 
zu  nennen  pflegt,  bilden  den  wahren  Adel  der  Nation; 
und  wenn  ein  Volk  sich  solchen  Adels  rühmen  darf, 
so  ist  es  das  deutsche.  Denn  diese  Vorbilder  ver¬ 
leihen  uns  die  von  Lichtwark  vermisste  nationale 


DIE  ÄSTHETISCHE  BILDUNG  DER  KINDER 


137 


Grundlage  und  erwecken  in  uns  die  ebenfalls  ver¬ 
misste  gestaltende  Kraft,  befreien  uns  vom  Lakaiensinn 
lind  helfen  uns,  in  freier  SelbsEändigkeit  den  Lebens¬ 
wirbeln  zu  widerstehen. 

Über  den  Holbein’schen  Totentanz  wusste  der 
Verkündiger  altdeutscher  Kraft  und  Tiefe  manche 
treffende  Bemerkung  zu  äussern,  blieb  jedoch  im 
ganzen  hinter  dem,  was  Woltmann  über  Totentänze, 
und  den  Holbein’schen  insbesondere,  vor  etwa  dreissig 
Jahren  geschrieben  hat,  zurück.  Vor  allem  fehlte 
bei  den  Erläuterungen  die  Erörterung  des  Kultur¬ 
historisch-Wichtigen;  wahrscheinlich  bestimmten  den 
Redner  gewisse  Rücksichten,  auf  das  Teufeichen  hin¬ 
zuweisen,  das  auf  die  Seele  des  Papstes  lauert  und 
dergleichen  mehr.  Die  Erläuterungen  trugen  vielfach 
den  Charakter  der  Improvisation.  Unserer  Ansicht 
nach  ist  gerade  der  grossartige  Cyklus  HoIbeiiTs  für 
pädagogische  Zwecke  ganz  ungeeignet;  wie  viel  besser 
wären  die  Illustrationen  Holbein’s  zum  alten  Testa¬ 
ment  verwendbar!  Dort  ist  das  Meiste  den  Kindern 
unmittelbar  verständlich,  wenn  sie  die  biblische  Ge¬ 
schichte  hinter  sich  haben.  Aber  mit  dem  Todes¬ 


gedanken,  mit  der  Darstellung  von  lebendigen,  handeln¬ 
den  Gerippen  sollte  man  kleine  und  grosse  Kinder 
verschonen.  In  der  Zeit,  wo  das  Recht  Not  litt,  wo 
Seuchen  wüteten,  wo  der  Klerus  in  Wollust  und 
Üppigkeit  verkam,  spielte  diese  bittere  Bilderarznei 
eine  heilsame,  fermentierende  Rolle.  Heute  gebrauche 
man  sie  mit  Vorsicht;  Kinder  insbesondere  sollen 
zur  Ehrfurcht,  nicht  zur  blossen  Eurcht  erzogen 
werden.  Was  Kinder  aber  bei  Bildern  zuerst  fesselt, 
ist  der  reale  Vorgang;  und  bei  dem  starken  Auf¬ 
nahmevermögen  der  Jugend  sind  bildliche  Darstel¬ 
lungen  fast  Erlebnissen  gieichzuachten.  So  lange  die 
Kinder  vom  Tode  nichts  wissen,  werden  die  Toten¬ 
bilder  Holbein’s  zwar  nicht  schreckhaft  wirken.  Sie 
werden  die  Bilder  nicht  verstehen,  woraus  sich  von 
selbst  ergiebt,  dass  sie  auch  keinen  ästhetischen 
Genuss  davon  haben  können.  Sobald  sie  erst  einmal 
die  Rolle  des  klapperdürren  Mannes  begriffen  haben 
und  ihnen  deutlich  geworden  ist,  dass  und  warum 
sie  diesem  erbarmungslosen  Würger  nicht  entrinnen 
können,  wird  das  Grausen  alle  ästhetischen  Gefühle 
ersticken.  ARTUR  SEEMANN. 


P.  Ncuenboni  fcc. 


DAS  GUTE  REGIMENT 

FRESKO  VON  AMBROGIO  LORENZETTl  IN  SIENA 


I. 

Der  traurige  Zustand,  in  welchem  sich  die 
politischen  Fresken  Ambrogio  Lorenzetti’s  in 
der  Sala  della  Pace  des  Palazzo  pubblico  von 
Siena  befinden,  hat  den  Professor  Giuseppe  Catani 
veranlasst,  in  einer  verkleinerten  Kopie  den  ehemaligen 
Zustand  der  Eingangswand  zu  rekonstruieren.  Die 
Wiederherstellung  gerade  dieses  Freskos  war  möglich; 
das  des  schlechten  Regiments  ist  unrettbar  verloren, 
während  die  Stirnwand  mit  dem  Titelbild  noch  leid¬ 
lich  erhalten  ist  und  der  Rekonstruktion  nicht  bedarf. 
Ich  habe  im  vorigen  März  einen  Vergleich  des  Ori¬ 
ginals  mit  Catani’s  Blättern,  die  ins  South  Kensington- 
Museum  gewandert  sind,  mit  Hilfe  der  Photograpie 
vorgenommen  und  mich  von  der  Zuverlässigkeit 
der  letzteren  überzeugt.  Obwohl  das  »Museum«  be¬ 


reits  die  eine  Hälfte  dieses  Freskos  in  der  Rekon¬ 
struktion  gebracht  hat,  glaubte  ich  die  Reihe  hier  noch 
einmal  vollständig  vorlegen  zu  sollen.  Denn  diese 
Fresken  sind  nicht  nur  ihrem  Stoff  und  moralischem 
Pathos  nach  ungeheuer  lehrreich,  kulturhistorisch 
wichtig  und  in  ihrer  Art  einzigartig  in  Toskana, 
sondern  sie  sind  schlechthin  das  für  die  Entwickelung 
bedeutendste  Fresko,  das  Siena  aus  dem  Trecento 
aufzuweisen  hat.  Duccio’s  Altarblatt  war  gerade  um 
seiner  ehrwürdigen  Hieratik  willen  der  Hemmschuh 
für  die  Weiterführung  der  mobilen  Tafel;  wir  müssen 
von  vornherein  Sienas  neue  Vorstösse  im  Fresko  suchen. 
Und  da  sind  Simone  Martini’s  und  Fippo  Memmi’s 
Maestä  in  Siena  und  S.  Gimignano,  da  sind  des 
ersteren  Martinusfresken  in  Assisi  ebenso  wie  die 
evangelischen  Novellen  Bartolo’s  di  Fredi  und  Barna’s 
in  S.  Gimignano  nicht  ausschlaggebend  gewesen. 


DAS  GUTE  REGIMENT 


139 


Die  Martinslegencle  hätte  es  sein  können,  wenn  sie 
nicht  in  Assisi  zu  versteckt  gewesen  wäre;  die  andern 
Fresken  entbehren  alle  der  Frische  einer  neuen  Con- 
ception.  Während  die  Majestätsbilder  ganz  im  Stil 
der  feierlichen  Repräsentation  stecken  bleiben,  während 
die  biblischen  Chronisten  bei  allen  kleinen  Einfällen 
treu  im  Gefolge  der  grösseren  Meister  bleiben,  hat 
sich  Ambrogio  in  diesen  Fresken,  die,  obwohl  stark 
allegorisch  angelegt,  hier  zur  epischen  Chronik  um¬ 
gearbeitet  sind ,  ganz  persönlich  frei  aussprechen 
können.  In  der  Anlage  des  Ganzen  wie  im  Detail 
hat  er  sich  so  ungezwungen  ausgesprochen,  wie  in 
Siena  es  ihm  keiner  nachmachen  konnte,  wie  es  in 
Florenz  niemand  zu  thun  willens  war.  Leider  fehlt 
uns  für  das  Verständnis  Ambrogio’s  das  wichtige 
Dokument  der  Fresken  in  S.  Procolo-Florenz,  die  er 
hier  seit  1332  ausführte  und  die  gleichzeitigen  durch 
Ghiberti  und  den  Anonymus  Magliabecchiaims  gegen 
Vasari  gesicherten  Chorfresken  in  S.  Spirito.  Während 
seine  bedeutenden,  beiden  Altarbilder,  die  fast  antike 
Madonna  de’  Donzelli  von  1344  der  Sieneser  Akademie 
(II,  33)  und  die  1342  für  das  Spedaletto  der  Mona 
Agnese  gemalte  presentazione  al  tempio  (heute  in  der 
Florentiner  Akademie,  Cimabuesaal)  uns  für  Ambrogio’s 
Eigenart  zum  Unterschied  von  Simone’s  Tafeln  sowohl 
wie  denen  seines  älteren,  lange  nicht  so  begabten 
Bruders  Pietro  einen  klaren  Begriff  geben,  sind  wir 
im  Fresko  trotz  der  Reste  in  San  Francesco  durchaus 
auf  diese  politischen  Allegorien  angewiesen. 

Aber  nicht  nur  mit  Hinsicht  auf  Ambrogio  sind 
diese  Allegorien  überaus  wichtig.  Sie  sind  auch 
inhaltlich  durchaus  Unica  in  Toskana.  Florenz  hat 
ihm  nichts  an  die  Seite  zu  stellen.  Lag  es  für  Giotto 
nicht  nahe,  als  er  die  Kapelle  der  Bargello  ausmalte, 
ein  politisch  Lied  zu  singen?  Der  Meister  der 
religiösen  Allegorie  (Assisi,  Unterkirche,  Padua,  Arena) 
hat  uns  keinen  bürgerlichen  Lobgesang  hinterlassen. 
Es  ist,  als  ob  die  Klöster  von  S.  Maria  novella  und 
von  S.  Spirito,  diese  beiden  Hochschulen  der  Scholastik, 
alles  systematische  Denken  in  Florenz  gepachtet  hätten. 
Wohl  wird  die  Vertreibung  des  Walther  von  Brienne, 
duca  d’Atene,  von  Giottino  u.  a.  zum  mahnenden 
Gedächtnis  an  das  Thor  des  Stadthauses  gemalt;  aber 
dies  Fresko  war  eine  lokal-historische,  ironische  Notiz. 
Selbst  das  sonst  so  rückständige  Venedig  feiert  im 
Trecento  schon  seine  Vergangenheit,  seinen  Sieg  über 
den  Franken  Pipin,  die  Steigbügelscene  zwischen 
Barbarossa  und  Alexander  111. ,  die  Schlacht  von 


’)  Die  kleinen  Predellen  in  der  Florentiner  Aka¬ 
demie  (Cimabuesaal),  die  aus  S.  Procolo  stammen,  mit 
der  Legende  des  Procolo  und  Niccolö  sind  das  einzige, 
was  uns  von  Ambrogio’s  Thätigkeit  in  Florenz,  die  nament¬ 
lich  für  Bernardo  da  Firenze  so  wichtig  wurde,  übrig  ge¬ 
blieben  ist.  Das  Flauptbild  des  Altars  wird  die  Madonna, 
auf  den  Flügeln  Procolo  und  Niccolö  als  stehende  Einzel- 
heilige,  enthalten  haben;  es  ist  gleichfalls  verschollen.  Er¬ 
wähnt  sei  hierbei,  dass  das  Berliner  Museum  eine  Replik 
der  einen  Nikolauspredella  (Nr.  1097)  von  der  Hand  eines 
Malers  aus  dem  Kreise  Era  Angelicos  besitzt,  bei  der  aber 
statt  Nikolaus  die  heilige  Helene  ihr  ähnliches  Wunder 
verrichtet. 


Spoleto,  im  breit  entwickelten  Stil  an  den  Quadern 
des  Rialto.  Siena  war  es  Vorbehalten,  die  begriffliche 
Diskussion  vom  kirchlich -religiösen  auf  das  bürger¬ 
liche  Gebiet  hinüberzuspielen.  Und  dieser  Wechsel 
des  Themas  erwies  sich  als  ungemein  fruchtbar. 
Denn  Ambrogio  durchbrach  in  diesem  Cyklus,  nach¬ 
dem  er  den  Begriffen  der  Scholastik  an  der  Stirnwand 
ihr  feierliches  Thronrecht  eingeräumt  hatte,  instinktiv 
das  körperlose  Begriffsalphabet  und  drang  zur  an¬ 
schaulichen  Schilderung  durch.  Doch  lassen  wir  die 
Fresken  selbst  reden. 

II. 

Dass  die  Stadt,  deren  Handel  und  Wandel  ge¬ 
schildert  und  gepriesen  werden  soll,  Siena  selber 
ist,  bedarf  keines  Hinweises.  Wir  erfahren  es  nicht 
nur  aus  der  Silhouette  der  Domkuppel  und  des  frei 
nach  oben  sich  lichtenden  Zebra  -  Campanile,  der 
bei  der  Ansicht  von  Südost  links  von  der  Kuppel 
erscheinen  muss;  wir  sehen  nicht  nur  die  siene- 
sische  Lupa,  die  hier  vor  der  stark  nach  Westen 
zurückgerückten  Porta  Pispini  wacht;  sondern  der 
Künstler  hat  seine  Cittä«  auch  ganz  präcis  porträtiert. 
Die  hinter  dem  Palazzo  Pubblico  tiefgelegene  Piazza 
del  Mercato,  noch  heute  der  Gemüsemarkt  Sienas,  ist 
der  Schauplatz.  Rechts  führt  die  Via  del  Salicotto, 
links  die  heute  nach  Giovanni  Dupre  umgetaufte  Gasse 
aus  der  südlichen  Contrade  zum  Centrum  der  Piazza 
del  Campo.  Die  tiefe  Lage  des  Mercato  bringt  es 
mit  sich,  dass  er  von  einem  ganzen  Häusermeer  ge¬ 
schlossen  wird.  Die  stolzen  zinnenbekrönten  Paläste 
trugen  im  14.  Jahrhundert  noch  jene  massiv -vier¬ 
eckigen,  in  ihrer  Höhe  aber  doch  schlanken  Türme, 
mit  denen  Familienstolz  und  Geschlechterneid  gern 
prunkten;  später  sind  sie  abgetragen,  als  ihre  Höhe 
ebenso  wie  in  Gimignano  ins  Ungemessene  stieg  und 
mehr  als  ein  Einsturz  die  Sienesen  erschreckt  hatte. 

Das  ghibellinische  Siena  hat  durchweg  ungekerbte 
Zinnen,  im  Gegensatz  zu  den  Guelfenstädten  Tos¬ 
kanas.  Die  Paläste  sind  in  einer  zierlich-schlanken 
Gotik  ohne  viel  Profil,  ohne  Dekor  aufgeführt,  jedes 
grössere  Fenster  hat  Anspruch  auf  eine  Säule,  deren 
heller  Ton  gegen  das  Dunkel  lebendig  absticht.  Fast 
überall  zieht  sich  ein  Gestänge  vor  die  Fenster;  hier 
werden  Blumenkörbchen  aufgehangen,  hier  Tücher 
ausgehängt,  bei  Festen  Teppiche  angebracht,  auf 
deren  Polster  dann  die  Arme  der  herausschauenden 
Schönen  ruhten. 

Alle  diese  Häuser  beginnen  eigentlich  mit  dem 
ersten  Stock.  Das  Parterre  enthält  Lagerräume, 
Bottegen,  einen  Ausschank,  oder  wird  vom  breiten 
Portone  verbraucht.  Solche  Vorsicht  mag  in  Zeiten 
der  Strassenkämpfe  notwendig  gewesen  sein;  nicht 
ohne  Grund  lag  zudem  unmittelbar  neben  dem  Haupt¬ 
thor  die  Guardia,  deren  Fenster  so  hoch  waren,  dass 
die  sitzenden  oder  schlafenden  Wächter  von  keinem 
heimlichen  Pfeil  getroffen  werden  konnten.  Der 
Oberstock  springt  in  Siena  wie  im  Norden  gern  vor. 
Man  gewann  so  Platz,  ohne  die  Strasse  zu  verengen; 
ja  in  Zeiten  des  Angriffs  boten  diese  Vorbauten  einen 


Ambrogio  Lorcnzctti,  Das  gute  Regiment  Linke  Hälfte:  La  cittä.  Siena,  Palazzo  pubblico 


DAS  GUTE  REGIMENT 


141 


guten  Stand  für  die  Verteidigung  mit  Öl  und  Pech. 
Das  Eckhaus  an  der  linken  Strasse  zeigt  solche  Vor¬ 
kragung.  Ganz  eigenartig  sind  dabei  die  kleinen 
Öffnungen  unter  den  Eckfenstern,  die  gewiss  auch 
mit  der  Verteidigung  Zusammenhängen. 

Siena  liegt  auf  schmalen  steilen  Felsgraten  und 
muss  seine  Häuser  arg  zusammenschachteln.  Daher 
ist  der  Garten  innerhalb  der  Stadtmauer  ein  unbe¬ 
kannter  Luxus.  So  flüchtet  der  Bürger  am  Abend 
auf  die  hochragende  Loggia,  die  immer  eine  kleine 
Brise  hat  und  immer  etwas  sehen  lässt.  Neben  dem 
flachen  Astrico  die  Pergoleta  mit  den  vier  aufge¬ 
mauerten  Eckpfeilern.  Oder  man  begnügt  sich  — 
wie  bei  dem  Haus  unterhalb  des  Neubaues  —  mit 
einem  Balkon,  über  den  das  Hauptdach  herüber¬ 
schattet,  das  dann  von  Säulen  auf  dem  Umlaufe  ge¬ 
stützt  wird.  Die  schrägen  Dächer  kommen  nur  ver¬ 
einzelt  vor;  das  schneelose  Italien  braucht  sich  nicht 
durch  einen  steilen  Dachwinkel  zu  schützen  und  weiss 
den  Regen  auch  von  dem  flachen  Estrich  abzufangen. 
—  Interessant  ist  das  Treiben  beim  Neubau  zu  be¬ 
obachten.  Es  fehlen  die  Leitern  und  die  senkrechten 
Stangen;  nur  ein  wagerechtes  Gerüst  ist  in  den 
fertigen  Mauerteil  eingekeilt.  Überraschen  muss  das 
Fehlen  von  Schornsteinen  allerorts. 

Zu  diesen  Strassenhäussern  und  Palazzi  tritt  nun 
der  eigenartige  Bau  mitten  auf  der  Piazza  des  Vorder¬ 
grundes.  Es  ist  eine  Art  öffentlicher  Halle,  mit  stark 
entwickeltem  Parterre,  kleinem  Piano  und  einem  drei¬ 
stöckigen  Turm;  an  die  Südseite  hat  der  Magistrat 
dann  noch  eine  offene  Bottega  mit  Oberstock  an¬ 
bauen  lassen.  Die  Halle  sollte  wohl  vor  allem  den 
öffentlichen  Marktinteressen  dienen:  wie  sie  ander¬ 
weitig  benutzt  wurde,  werden  wir  gleich  sehen. 

Das  hohe  Thor  mit  der  Stadtmauer  ist  wie  ge¬ 
sagt  die  Porta  Pispina  mit  der  Dogana,  der  Barriera. 
Hochbepackte  Esel  haben  die  Grenze  eben  passiert. 
Ihr  festgewickelter  Ballen  soll  wohl  an  die  stemma 
der  mercanzia  erinnern,  wie  sie  sich  z.  B.  an  der 
Rückwand  der  Bank  Urbano’s  da  Cortona  in  der 
Loggia  de’  Nobili  und  sonst  häufig  findet.  Die 
Grautiere  trollen  rechts  am  Barbier,  der  sich  mit  vier 
Becken  und  dem  Fransenhandtuch  verrät,  links  an 
dem  Schneider  vorbei,  der  natürlich  Tisch,  Tuchbock 
und  die  Cornice  da  ricamo  auf  die  Strasse  gerückt 
hat,  um  besser  zuschneiden  und  sehen  zu  können. 
Der  Sticker  scheint  einen  grossen  Ballen  vorzuhaben, 
dessen  schwere  Enden  sich  am  Boden  zusammenrollen. 
Man  liebte  in  Siena  wie  in  Lucca  noch  heute  be¬ 
sonders  die  feinen  schmiegsamen  Gewebe.  Wunder¬ 
bar  flutet  das  weisse  Festkleid  der  Pax  um  ihre  Glieder 
auf  dem  ersten  Fresko  Ambrogio’s.  Noch  im  15.  Jahr¬ 
hundert  trugen  die  Madonnen  Sienas  jenes  feine 
Vielgefältel,  an  dem  geradezu  sienesische  Arbeiten  von 
Florentinern,  z.  B.  den  Marmorreliefs,  sich  unter¬ 
scheiden  lassen.  Ein  sehr  schönes  Beispiel  bietet  das 
Madonnenrelief  Nr.  154  der  Berliner  Sammlung,  das 
Vecchietta  wohl  am  nächsten  steht. 

Der  Markthalle  darf  natürlich  die  Schenke  nicht 
fehlen.  Ein  dicker  Wirt  hat  seine  beiden  Theken 
herausgerückt;  am  Querholz  baumeln  verlockend 

Zeitsclirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XUI.  H.  6. 


presciutto,  cagiocavallo,  ricotta  fumicata  und  wie  die 
Herrlichkeiten  alle  heissen.  Auf  der  credenza  Wein- 
und  Essigkrüge.  Der  Schenke  nähert  sich  ein  Esel¬ 
treiber,  um  die  Eier  »vom  Land«  abzuliefern;  der 
Wirt  scheint  dem  regelmässigen  Kunden  und  Liefe¬ 
ranten  zuzuwinken.  Dagegen  geht  das  junge  Mädchen 
an  der  Stadtmauer  mit  den  Eiern  und  dem  sicher 
auf  dem  Kopf  balancierten  Korbe  stolz  an  der  be¬ 
scheidenen  pizzicheria  vorüber;  auch  die  hinter  ihr 
herkommende  Bäuerin  mit  der  fetten  Henne  scheint 
weiterzugehen.  Den  beiden  Frauen  begegnet  der 
Schafhirt  mit  dem  getreuen  Phylax;  die  enggedrängte 
Tierschar  droht  die  ängstliche  Frau  umzurenuen. 

ln  der  zweiten  Bottega  wohnt  der  calzolaio. 
Die  fertigen  Meisterstücke  hängen  am  Querholz.  Mit 
dem  laugelockten  Bäuerchen  wird  eben  um  ein  neues 
Paar  verhandelt.  Geduldig  steht  das  Grautier  dabei 
und  erfüllt  seine  Mutterpflichten  am  Füllen  der  last¬ 
leeren  Eselin«.  Natürlich  wird  gefeilscht,  disputiert, 
renommiert,  dazu  die  blökende  Herde,  die  Reden  der 
Zecher,  weiter  links  (wie  wir  sehen  werden)  Tamburin 
und  Mädchengesang;  kurz  so  ganz  still  geht  es  auf 
der  Piazza  nicht  zu. 

Davon  aber  lässt  sich  magister  praeceptor  nicht 
stören.  Er  hat  das  Auditorium  maximum  bezogen, 
hat  das  hohe  Katheder  erklettert  und  dociert  jetzt  die 
Summa.  Au  engen  Bänkchen  sitzen  vor  ihm  die 
staunenden  Zuhörer;  nicht  etwa  Schulbuben,  sondern 
ernste  Männer,  die  die  Humanitas  erlernen  wollen. 
So  viel  sich  sehen  lässt,  sitzt  unter  den  Kommilitonen 
auch  eine  Frau;  ebenso  wie  bei  Cellinos  Grabrelief 
Cino’s  im  Dom  von  Pistoia.  Der  Raum  ist  hoch, 
kahl  und  luftig.  Die  Theke  neben  dem  Eingang 
zeigt,  dass  hier  zu  andern  Stunden  der  Kaufmann 
residiert. 

Unmittelbar  neben  dem  ernsten  Studium  kommt 
der  Reigentanz  zu  seinem  Recht.  Zehn  Freundinnen, 
vornehme  Mädchen,  führen  ihn  ungescheut  auf  dem 
Markt  auf;  und  das  fällt  so  wenig  auf,  dass  niemand 
ihnen  zusieht  und  lauscht  ausser  uns.  Ein  Tamburin 
und  die  Kehle  muss  genügen,  um  den  Rhythmus  für 
diesen  »langsamen  Schritt«  in  der  Art  der  griechischen 
panegirici  anzugeben.  Die  Kette  der  Tanzenden  zieht 
sich  unter  den  Armen  des  ersten  Paares  her.  Wie 
poetisch  zart  sind  diese  feinen  Gestalten  und  Linien! 
Die  schlanken,  von  keinem  Gürtel  entstellten  Figuren 
wiegen  sich  in  ruhigem  Spiel.  Blumen  prangen  im 
Haar;  das  Kleid  liegt  oben  eng  an  und  bedeckt  die 
Brust,  der  Rock  weitet  sich  faltig  nach  unten,  ist  aber 
kurz  genug,  dass  die  zieren  Knöchel  sichtbar  werden. 
Schlanke  weisse  Finger  suchen  sich,  glatte  junge  Ge¬ 
sichter  leuchten  in  zufriedener  Heiterkeit.  Wieder 
überraschen  diese  kostbaren  feinen  Stoffe.  Am  kost¬ 
barsten  erscheint  der  Musselin  des  letzten  Fräuleins,  der 
mit  Sammetschlangen  besetzt  scheint.  Welcher  Kontrast 
zwischen  diesem  Andante  der  Jugend  und  der  ernsten 
Schule  mit  den  erwachsenen  Schülern!  Und  nun 
kommt  als  drittes  die  lärmende  Kneipe  dazu. 

In  ihrem  grossen  offenen  Thorbogen  sitzen  die  Män¬ 
ner  und  spielen  Karten.  Zwischen  den  Bänken  wiseln 
Kinder  herum,  der  Wirt  steht  dahinter  und  giebt 

19 


Atnbrogio  Lorenzetti,  Das  gute  Regiment.  Rechte  Hälfte,  In  campagna.  Siena,  Pal.  pnbblico 


DAS  GUTE  REGIMENT 


143 


seinen  Rat  zum  Spiel.  Die  Trattoria  liegt  im  Erd¬ 
geschoss  eines  vornehmen  Palastes,  dessen  Herrin  oder 
Tochter  eben  von  einem  Ritt  vor  den  Thoren  heim¬ 
kehrt.  Ihr  stolzer  weisser  Zelter  hält  vor  dem  Portone, 
der  Knecht  hält  die  Zügel,  zwei  Dienerinnen  eilen, 
der  Herrin  behilflich  zu  sein,  herbei;  die  beiden  Be¬ 
gleiter  halten,  bis  die  Dame  abgestiegen  ist.  Zwei 
Bübchen  schauen  staunend  auf  den  vornehmen  Zug; 
vom  Balkon,  unter  dem  das  Rotkehlchen  sein  Nest  hat, 
schauen  zwei  Hausgenossen  dem  Abstieg  zu. 

Am  Eckhaus  au  der  Gasse  ward  unterdes  eben¬ 
falls  wacker  gehandelt.  Eine  Erau  hält  Stoffe  feil, 
die  ein  Kauflustiger  prüft.  Dahinter  wird  das  Schau¬ 
fenster  eines  Goldschmieds  in  rundschliessender  Nische 
mit  Prunk-  und  Probestücken  sichtbar.  Endlich  halten 
zwei  Reiter  hinter  dem  Markthaus.  Ich  zählte  im 
ganzen  62  Menschen ,  etwa  30  Tiere  und  gegen 
40  Häuser  auf  diesem  buntbewegten  Stadtbild.  Alles 
ist  in  emsiger  Thätigkeit;  Körper  und  Geist  üben  sich 
in  Pflicht  und  Müsse.  Das  Edelfräulein  neben  dem 
Landmädchen,  der  Krämer  neben  dem  Kavalier.  Un¬ 
willkürlich  fragt  man:  welche  Tagesstunde?  Welche 
Jahreszeit? 


Neben  den  engen  Strassen  der  hochgetürmten 
Stadt  breitet  sich  das  weite  Gefilde  der  Campagna 
doppelt  mächtig  aus.  Wer  je  durch  die  Porta  Pis- 
pina  heraus  nach  dem  riesigen  Blachfeld  der  Schlacht 
von  Montaperti  an  der  Arbia  gefahren  ist,  wo  Eari- 
nata  degli  Uberti  mit  Hülfe  der  deutschen  Truppen 
König  Manfred’s  1260  die  Guelfen  Toskanas,  vor 
allem  die  verhassten  Florentiner  in  blutigster  Schlacht 
aufs  Haupt  schlug,  der  kennt  das  weite  Panorama 
dieser  »hügeligen  Ebene«  mit  dem  Schmuck  ihrer 
Kastelle,  namentlich  dem  Talamone,  den  Staketen 
der  Weinberge,  den  schmalen  Wasserpfaden,  und 
muss  es  lieben.  Nicht  so  romantisch  wie  die  Fahrt 
zur  Osservanza,  bietet  diese  Tour,  die  uns  nach  Pietro 
Lorenzetti’s  Meisterwerk  in  Sant  Ansano  in  Dofana 
führt,  dem  ruhig  verweilenden  Auge  doch  ein  viel 
entwickelteres  Panorama. 

Die  Schlichtheit  der  Motive,  das  Verschmähen 
aller  pikanten  und  romantischen  Überraschungen,  vor 
allen  aber  der  grosse  Zusammenhang  dieser  Ebene, 
muss  um  so  mehr  überraschen,  als  wir  hier  das  erste 
Landschaftsbild  der  neueren  Kunst  vor  uns  sehen.  Mag 
die  erste  Veranlassung  eine  patriotische  gewesen  sein 
—  Sienas  stolzer  Sohn  wollte  natürlich  den  Satz: 
»Dies  alles  ist  Dir  unterthänig«  illustrieren  —  so 
wächst  der  Gedanke  sich  zu  einer  künstlerischen  That 
aus.  Man  suche  in  Florenz  bei  Giotto,  bei  Taddeo 
Gaddi,  bei  Orcagna  nach  der  Landschaft!  Selbst 
Szenen  wie  die  Vogelpredigt,  der  Durstige  am  Quell 
und  die  Stigmata  der  Kreuzlegende  geben  keine 
grösseren  Prospekte.  Der  Versuch  in  den  Chor¬ 
fresken  von  Santa  Croce,  die  zudem  später  als  diese 
sienesischen  Fresken  sind,  misslang  auch  noch.  Wie 
hat  hier  die  Ausdehnung  der  Wand  dieser  grandiosen 
Sala  den  Meister  befeuert  und  zu  kühnen  Maassen 
geführt!  Gewiss,  die  Figuren  verlieren  sich  darin; 


aber  thun  sie  es  nicht  auch  in  der  Wirklichkeit?  Wie 
dort  auf  dem  ersten  Bild  das  Häusermeer  die  Haupt¬ 
sache  war,  vor  dem  ein  paar  Menschen  feilschten,  zech¬ 
ten,  stickten  und  tanzten,  so  bricht  hier  ein  latifun- 
darischer  Fanatismus  aus;  zum  Inventar  gehörte  auch 
das  Proletariat.  Mit  grosser  Gebärde  hält  der  nackte 
geflügelte  weibliche  Genius  seinen  Spruch  über  diese 
weite  Flur: 

Senza  paura  ognuno  franco  camini 
E  lavorando  semiiii  ciascuno 
Menlre  che  tal  communo 
Manterrä  questa  donna  in  Signoria 
Ch’ella  ha  levata  arei  ogni  balia. 

Wie  ernst  dieses  Gebot,  die  Securitas  zu  wahren,  ge¬ 
meint  ist,  zeigt  der  Galgen  mit  dem  aufgeknüpften 
Störenfried.  Auch  dieser  Galgen  ist  wohl  ein  Uni¬ 
kum  im  Trecento.  Im  Quattrocento  faucht  er  zuerst 
bei  Pisanello  wieder  auf;  aber  nicht,  wie  man  wohl 
vermutet  hat,  im  Sinne  eines  Monogramms.  Wenig¬ 
stens  lässt  sich,  wie  Ambrogio’s  Bild  beweist,  sein 
Vorkommen  nicht  gegen  den  toskanischen  Ursprung 
des  vielumstrittenen  Tondos  der  Berliner  Galerie 
Nr.  95 a  pro  Pisanello  ausschlachten.  Auch  Andrea 
del  Castagna  trug  seinen  Beinamen  degli  Impiccati  ge¬ 
rade  von  solchen  Strangul ierungstableaus. 

Doch  nun  auf  die  breite  Thorstrasse,  auf  der  noch 
heute  die  Räder  rollen.  Vornehme  Herren  und  Damen 
reiten  am  Stadtthor  aus  und  ein.  Vor  allem  fällt  uns 
die  Edeldame  mit  dem  spitzen  Krempenhut  auf  edlem 
tänzelnden  Rassenpferd  mit  der  jagdkoppel  zur  Seite 
auf,  welcher  der  Falkonier  und  der  Diener  zu  Fuss 
mit  dem  Esskorbe  folgen.  Die  sorgsam  geordnete 
Haartracht  der  Dame  kehrt  ganz  ähnlich  in  den 
Incoronatafresken  zu  Neapel  wieder,  die  zehn  Jahre 
später  als  diese  Bilder  entstanden  und  ebenfalls 
der  Schule  Ambrogio  Lorenzetti’s  angehören.  Der 
spitze  Krempenhut  war  nicht  das  Eigentum  der 
Männer;  einige  Damen  des  Jagdzuges  auf  dem  Tri- 
onfo  della  morte  im  Pisaner  Camposanto  (um  1350 
gemalt)  tragen  ihn  ebenfalls. 

Dem  Jagdzug  begegnet  das  Landvolk,  das  seine 
Schätze  zur  Stadt  treibt.  Ein  Schweinehirt  hat  sein 
Tier  am  Hinterbein  festgebunden  und  ermuntert  es 
auf  dem  Todesgange  mit  dem  Stock.  Schwer  be¬ 
packte  Esel  tragen  Säcke  mit  Korn,  wobei  einer  ge¬ 
mütlich  Halt  macht  und  die  Strasse  quer  versperrt. 
Auch  der  kauernde  Krüppel  fehlt  nicht.  Dann  eine 
glückliche  Familie,  Eltern  und  zwei  Kinder;  letztere 
auf  den  einen  der  beiden  Esel  gepackt,  während  der 
andere  einen  hohen  Posten  neuer  Waren  schleppt. 
Der  Mann,  dem  der  breitkrämpige  Strohhut  am 

Rücken  hängt,  schlägt  in  die  Hände,  um  die  Tiere 
anzusporenen  und  wir  hören  förmlich  seinen  Alarm¬ 
ruf.  Dann  folgt  ein  munteres  Treiben  vor  der 

schmalen  Brücke  über  die  Arbia,  mit  störrigen  Tieren, 
welche  die  Passage  sperren.  Reizend  schlängelt  sich 
der  Fluss  nach  hinten  zu  einer  zweiten  Brücke  und 
einer  Mühle,  zu  der  die  Esel  mit  dem  ungemahlenen 
Korn  hintrotten.  Links  und  rechts  vom  Fluss  wird 
eifrig  gepflügt  und  gesät,  in  den  Stoppeln  davor 

19* 


144 


DAS  GUTE  REGIMENT 


spreiige.i  «ae  jn^^endeii  Reiter  her,  denen  die  Hunde 
v-ru:  ;iSrIir.üffeln.  Weiter  zurück  liegt  eine  Ökonomie, 
V. .t,(>rn  gedi  oschen  und  Garben  gebunden  werden. 

liijfer  ;i,i  Hintergrund  eine  Schenke  an  der 
i  ar.iMias^c  nach  Poggibonsi  und  ringsherum  Wein- 
l'C'gv-,  -.vie  sie  auch  vorn  an  der  Stadtmauer  sich 
iTiti.a.g  zid'.cii,  wo  die  Vogeljäger  ihre  Bogen  spannen, 
wir  zählen  55  Menschen,  57  Tiere  und  23  Kastelle 
odar  i  läuser.  Alles  deutet  hier  auf  die  Zeit  der  Ernte, 
des  Einsammelns  und  Ausbeutens.  Überall  herrscht 
Eülle,  Ereudigkeit,  Reichtum;  Eortuna’s  volles  Horn 
scheint  sich  über  die  Rura  paterna  ausgeleert  zu  haben. 

Die  lange,  unter  beiden  Bildern  sich  hinziehende 
Inschrift  soll  die 
Richter  zu  steter 
Gerechtigkeit  und 
Strenge  auffordern. 

Sie  ist  ein  Lob  der 
Securitas. 

Volgite  gli  occhi  a 
liniirar 

Costei  voi,  che  reg- 
giete, 

Che  qiii  figurata 
E  per  siia  eccellenzia 
corronata 

La  qua  sempre  cias- 
cuii  siio  dritte 
rende 

Giiardate  qiianti  ben 
vengan  da  lei  o 
come  e  dolce  vita 
riposata 

Quella  della  cittä 
ove  servata 
Questa  virtü  che  piii 
d’altra  risplende 
Ellaguardae  difende 
Chi  lei  onora  e  lor 
nutrisca  e  pasce ; 

Dalle  sua  lucie  nasce 
El  meritar  color 
ch’operan  bene 
Ed  agl’  iniqui  dar 
debite  pene. 

Zu  deutsch  etwa: 

Schaut  und  bestaunt, 

Ihr,  die  Ihr  richtet 

Die  hier  Gemalte 

ln  eigner  Herrlichheit  Strahlende, 

Dort,  wo  stets  jedes  Recht  gewahrt. 

—  Wie  fährt  man  gut  im  süssen  Erieden 
Der  Stadt,  wo  diese  Tugend 
Heller  als  irgendwo  erstrahlt. 

Sie  führt  und  beschützt 

Den,  der  sie  ehrt;  den  nährt  und  sättigt  sie. 

Mit  ihrem  Glanz  auch  leuchtet  das  Verdienst 
Der  Richter,  die  sich  ehrlich  mühten 
Und  auch  die  schuldige  Strafe  verhängten. 

III. 

Es  ist  leider  bisher  nicht  gelungen,  eine  litterarische 
Vorlage  für  diesen  Cyklus  nachzuweisen.  Dass  sie 


Vorgelegen  hat,  scheint  mir  namentlich  wegen  des 
komplizierten  Bildes  der  Stirnwand  ganz  zweifellos. 
Wir  haben  für  den  Trionfo  della  morte  im  pisaner 
Camposanto  die  Vorlage  in  dem  ursprünglich  fran¬ 
zösischen,  aber  längst  übersetzten  und  umgearbeiteten 
Roman  von  den  drei  Königen  und  drei  Gerippen 
mit  dem  Motto:  quod  fuimus,  estis,  quod  sumus, 
eritis  gesichert,  dessen  orientalischer  Ursprung  sogar 
bis  zur  Buddhalegende  zurückführt.  Ebenso  darf  als 
begründet  gelten,  dass  für  die  Thebäis  in  derselben 
Halle  ein  Traktat  des  pisaner  Dominikanermönches 
Domenico  Cavalca  (um  1270 — 1342)  die  Unterlage 
bot.  Dieser  gelehrte  Mönch  hat  ebenso  wie  sein 

Ordensbruder  Gi- 
ordano  da  Rivalto 
(1266  — 131 1)  und 
Era  Bartolomeo  da 
San  Concordio 
in  seinen  Predig¬ 
ten,  Traktaten,  Dis- 
ciplinen,  Specchi 
und  Eioretti  die 
Gedanken  zusam¬ 
mengestellt,  die  in 
lehrhafter  Vollstän¬ 
digkeit  als  abge¬ 
schlossene  Weis¬ 
heit  formuliert, 
bald  ein  fast  kano¬ 
nisches  Ansehen 
genossen  und  auch 
den  Malern  eine 
erwünschte  Unter¬ 
lage  boten.  Auf 
solche  Schriften 
stützte  sich  Am- 
brogio,  wenn  er  an 
die  Decke  des  Ka¬ 
pitels  von  Sant 
Agostino  in  Siena 
die  zwölf  Apostel 
mit  Spruchbän¬ 
dern  malte,  die 
den  ihnen  jedes¬ 
mal  zufallenden  Satz  des  Credo  enthielten?-)  Auch 
der  grosse  Mappamondo  von  1344,  eine  Kosmo- 
graphie  in  der  Art  wie  die  von  Pietro  da  Puccio  im 
pisaner  Camposanto,  die  Ambrogio  gleichfalls  für 
den  Palazzo  Pubblico  gemalt  hat,  hatte  eine  schola¬ 
stische  Grundlage.  Dass  gerade  Ambrogio  mit  solcher 
Buchgelehrsamkeit  vertraut  war,  wird  uns  von  seinen 
Biographen  bestätigt.  Vasari  sagt  I.  c.  p.  524  aus¬ 
drücklich  ,  dass  Ambrogio  avendo  dato  opera  nella 
giovanezza  alle  lettere  .  .  .  .,  praticö  semper  con 
letterati  e  virtuos!  uomini  ....  Er  nennt  ihn  gerade¬ 
zu  einen  filosofo.  Ghiberti,  der  Ambrogio  an  erster 
Stelle  unter  den  Sienesen  vor  Simone  erwähnt,  sagt 
(ed.  Erey,  p.  41);  Fu  molto  perito  nella  teorica  di 


1)  Vgl.  Wiese-Percopo,  Ital.  FJteratiirgescliichte  S.  ii6f. 

2)  Vasari  ed  Mil  I,  522. 


Ambrogio  Lorenzetti,  Wunder  des  hl.  Nikolaus.  Aus  S.  Procolo. 
Florenz,  Accademia 


DAS  GUTE  REGIMENT 


>45 


detta  arte;  und  bei  Siiiione’s  Vita:  tengono  i  pittori 
Sanesi,  fosse  i  miglor;  a  me  pare  molto  miglore 
Ambrugio  Lorenqetti  et  altrimenti  dotto  che  nessuno 
.  .  .  Solche  Gelehrsamkeit  und  Begabung  muss  sich 
bei  Ambrogio  zu  jener  inneren  Ausreifung  um¬ 
gewandelt  haben,  welche  es  seinem  Empfinden  und 
Auge  ermöglichte,  über  das  Einzelne  hinweg  zu 
sehen  und  zur  Gesamtheit  der  Erscheinungen  durch¬ 
zudringen.  Solche  Synopse  ist  ja  im  Grunde  die 
Vorbedingung  für  alle  Koloristen;  Ambrogio  aber  war 
mehr  als  Kolorist,  ln  jener  Tafel  der  Florentiner 
Akademie  von  1342  hat  er  uns  gewiss  ein  malerisches 
Geheimnis  von  leuchtender  Kraft  enthüllt.  Duccio’s 
fein  berechnete,  wirksam  kontrastierende  und  doch  nie 
massiv  sich  bekämpfende  Töne  haben  unter  seiner 
Hand  erst  die  volle  Glut  einer  prangenden  Herrlich¬ 
keit  erworben.  Aber  mehr  noch  als  diese  Farben¬ 
symphonien  wirkt  das  malerische  Arrangement,  die 


Einheit  seiner  Bilder.  Jene  strenge  Scheidung  zwischen 
Mensch  und  Umgebung,  die  Giotto  gepredigt  hatte 
und  Florenz  so  treu  befolgte,  weicht  hier  einer  viel¬ 
leicht  weniger  wirksamen,  aber  schöneren  und  tieferen 
Einsicht  vom  Zusammenkiang  alles  Bestehenden. 
Giotto  ist  der  Biograph  des  heiligen  Franz  geworden; 
aber  den  Naturpantheismus,  der  aus  Franz’  Sonnen¬ 
sang  herausklingt,  konnte  der  Florentiner  nicht  malen. 
Hier  setzt  die  sienesische  Kunst  mit  zartem ,  be¬ 
scheidenem  Klang  ein.  Thode  hat  einmal  das  Ver¬ 
hältnis  von  Siena  und  Florenz  mit  dem  von  Köln 
und  Nürnberg  verglichen;  und  die  Verwandtschaft 
zwischen  Siena  und  Köln  besteht  nicht  nur  bei  diesem 
Vergleich.  Das  specifisch  Eigenartige  der  sienesischen 
Kunst  aber  vertritt  nicht  Duccio’s  heilige  Tafel  oder 
Simone  Martini’s  romantische  Ritterlegende,  sondern 
Ambrogio  Lorenzetti.  PAUL  SCHUBRING. 


Art  Fra  Angelicos,  Wunder  der  hl.  Helena.  Berlin,  Altes  Museum 


F.  Rops,  Der  Skandal.  Kolorierter  Stich. 


FELICIEN  ROPS 

Von  I^udoi  i’ii  Lothar  in  Wien 


Von  einem  Manfred  der 
Kunst  will  ich  liier  einiges 
erzählen,  von  einem  Mei¬ 
ster,  der  in  seinen  Werken  mit 
wunderbarer  Deutlichkeit  ein 
Abbild  der  krankhaft  entarteten 
Psyche  gegeben  hat,  der  kein 
Sittenschi Iderer  war  im  Sinne 

wie  diese  Bezeichnung  ge¬ 
wöhnlich  auf  Dichter  und 
Maler  angewendet  wird  und 
dessen  Werk  doch  ein  Doku¬ 
ment  ist  für  die  Kulturge¬ 
schichte  unserer  Zeit:  Felicien  F^ops. 

Rops  hat  Weib  und  Mann,  Tod  und  Teufel  paro- 
distisch  und  travestierend  behandelt.  Denn  er  war 
seinem  innersten  Wesen  nach  Satiriker.  Er  begann 
seine  Laufbahn  als  Karikaturenzeichner  1854  in 

Brüssel,  wo  er  ein  Witzblättchen  »Uylenspiegel«  be¬ 
gründet.  Als  Chargenzeichner  berührt  er  sich  viel¬ 
fach  mit  Daumier,  Gavarni  und  Henry  Monnier. 

Und  doch  konnte  Rops,  der  bissige,  gallige,  bos¬ 
hafte,  teuflische  Rops,  auch  heiter  und  lustig,  fast 
hätte  ich  gesagt  harmlos  sein.  Diese  seine  heitere  Art 
offenbart  sich  am  stärksten  in  seinen  Scenen  aus  dem 
vlämischen  Volksleben.  Er  beobachtet  und  schildert 


sein  Land  und  seine  Leute  so  gut  wie  Tod  und 
Teufel. 

Ja,  sein  Land!  Das  war  das  flandrische  Land. 
Wenn  er  auch  als  Wallone  (in  Namur  am  10.  Juli 
1831)^)  geboren  wurde,  wenn  auch  iii  seinen  Adern 
ungarisches  Blut  floss  —  sein  Grossvater  lebte  in 
Alföld  in  Flandern  war  seine  Familie  vor  Jahr¬ 
hunderten  schon  zu  Hause.  Und  das  Germanische 
seines  Stammes  erkennt  man  bald  in  seinen  Werken. 
Rembrandt  und  Dürer  waren  seine  Lehrer,  jener  in 
der  Technik  und  in  den  Kombinationen  der  Technik, 
dieser  im  philosophischen  Gerüst  der  Komposition. 
Aber  auch  andere  Meister  hat  er  eifrig  und  lernbe¬ 
gierig  studiert  den  Höllenbreughel,  Goya,  Callot. 
Mit  Rubens  teilt  er  die  Vorliebe  für  üppige,  volle 
Formen.  Aber  nirgends  ist  bei  ihm  eine  Anlehnung, 
eine  Nachahmung  zu  finden.  Er  verarbeitete  innerlich 
das  Gelernte  und  Erschaute.  Er  suchte  seinen  eigenen 
Weg.  Und  er  ist  ihn  gegangen. 

Er  schrieb  einmal  in  einem  Briefe:  »Ich  suche 
eine  neue  Formel  der  Kunst;  ich  finde,  dass  unsere 
Künstler  das  Nackte  nicht  modern  genug  behandeln. 
Was  sie  bieten,  ist  immer  wieder  eine  Nachbildung 
der  Antike.  Ich  suche  eine  intensivere  Nacktheit, 


1)  Gest.  22.  August  1898. 


FELICIEN  ROPS 


147 


F.  Raps,  Das  Glück  im  Verbrechen. 
RacHentng. 


deren  Anblick  uns  mit  nnbekanntein  Schauern  packen 
müsste.  Im  Gebiete  der  Kunst  muss  diese  Nacktheit 
liegen,  und  ich  werde  sie  finden! 

Rops  hat  sie  gefunden.  Wenn  man  seine  Blätter 
durchgeht  und  zu  ergründen  sucht,  was  uns  darin 
so  seltsam  ergreift,  so  mächtig  erregt,  so  kann 
man  dem  Geheimnis  seiner  Kunst  auf  die  Spur 
kommen.  Diese  Körper  gehorchen  den  Sinnen,  die  sie 
zerwühlen;  auf  diesen  Nerven  laufen  die  elektrischen 
Eunken  aus  dem  Gehirn  des  Künstlers.  Er  zeigt  uns 
die  Entartungen,  die  Laster  der  Kultur  nicht  im  Bilde 
der  That,  sondern  im  Bilde  des  Thäters,  im  Bilde 
seiner  elenden  Nacktheit.  Wie  das  Drama  der  letzten 
Jahre  nicht  Handlungen,  sondern  Charaktere  darzu¬ 
stellen  suchte,  so  war  auch  Rops  ein  Charakteristiken 
Er  hob  das  Laster  in  der  abschreckendsten  Gestalt 
aus  der  Pfütze  und  gab  es  preis  —  nicht  unserer 
Begier,  sondern  unserem  Absehen.  »Aus  jedem  Stein,« 
sagte  er  einmal,  auch  wenn  er  noch  so  beschmutzt 
in  der  Gosse  des  Lebens  liegt,  vermag  man  den  gött¬ 
lichen  Eunken  zu  schlagen.  Alles,  auch  das  Ab¬ 
scheulichste  verklärt  seine  Kunst.  Und  er  hat  des 
Abscheulichen  genug  gethan.  Alles,  auch  das  Ge¬ 
meinste,  hob  sein  gewaltiger  Humor  in  das  Gebiet 
der  Kunst.  Und  seine  Satire  bestand  darin,  das  Weh 
der  Welt  aus  der  Geschlechtsperspektive  zu  betrachten. 

Auch  Rops  war  ein  Walirheitssucher.  Er  suchte 
sie  in  der  Natur,  deren  getreuer  Schüler  er  immer 


blieb.  Er  hat  alles,  alles  nach  Modell  gezeichnet.  Und 
er  war  ein  vorzüglicher  Zeichner.  Sein  Kontur  ist 
tadellos.  Aus  seiner  Linie  sieht  man,  wie  er  die 
Natur  liebte.  Er  sah  den  Tod  und  den  Teufel 
sonst  hätte  er  sie  nicht  zeichnen  können. 

Rops  sah  im  Weibe  das  Schicksal.  Er  sah  das 
Weib  als  Opfer  und  als  Henker.  Er  sah  den  Mann 
als  Spielzeug  in  den  Händen  des  Weibes  und  das 
Weib  selbst  als  Werkzeug  einer  furchtbaren  Macht. 
Und  dieser  Macht  gab  er  die  Züge  Satans. 

Rops,  den  man  einen  Satanisten  und  Erotiker 
nennt,  mag  diese  beiden  Titel  als  treffenden  Witz  em¬ 
pfunden  haben.  Er  -  der  Erotiker  hat  unbarm¬ 
herzig  und  mit  Spott  und  Ironie  die  Abgründe  und 
Schrecken  der  sinnlichen  Liebe  gezeigt. 

Rops  war  Don  Juan  und  Laust  zugleich.  Das  Ver¬ 
schmelzen  dieser  beiden  Naturen  gab  seinem  Wesen 
das  Gepräge.  Keiner  ist  noch  so  weit  vorgedrungen 
in  die  verborgensten,  grauenvollsten  Tiefen  mensch¬ 
lichen  Empfindens  wie  er.  Er  sah  die  heissen 
Schlangen  der  Lüsternheit  sich  in  feuchten  Ringen 
um  die  Leiber  schlingen,  er  sah  die  Glieder 
sich  winden  in  Krämpfen.  Er  sah  das  Kreuz  er¬ 
richtet,  an  das  der  Mensch  das  Göttliche,  die 
Liebe  geschlagen  mit  grausamen,  wütenden  Hammer¬ 
schlägen.  Und  er  sah  alle  Martern,  die  der  Mensch 
ersonnen,  um  dieses  Göttliche  zu  schänden.  Aber 
er  war  auch  ein  Ernster,  ein  Strenger.  Er  wollte 
als  Moralist  wirken,  als  solcher  genommen  wer- 


F.  Rops,  Das  Weib  mit  dem  Harlekin. 
Railicrnng. 


148 


FELICIEN  ROPS 


den.  Er  ^ei,:.  :C  uie  Sünde,  um  von  ilir  abzu- 
schrevKon,  er  '■ihrl-  in  die  Eiölle,  um  den  Weg  zum 
S  üni  'J  zu  '  i\  Er  veraclitete  und  verfluclite  die 
i  iii'i  ■.  :il  '.it-  in  ‘X'eibideal  schändet.  Auf  seinem 
'enn  .  -  .  n  E!.u  ■’  ^a  femme  au  cochon  folgt  mit 
^  ..i’.dc!':- e  V'  ;ki.,  Weib  dem  Schwein,  das  sie 

;)a?  ■  [  .  ;r.c  wilde  uiul  groteske  Anklage.  Kops 
.v:;:u.-a'0:Wi- 
i  -r  I 
'  U'i  'Uid 

i;er  f'ieisicr 
des  i  )bscö- 
ncn.  Aber 
bei  ihm  ist 
das  Lascive 
grotesk,  das 
Obscöne 
grandios. 

Keiner  liat 
noch  so  die 
Lhizuclit  ge¬ 
brandmarkt 
wie  Rops, 
der  sie  zu 
schildern 
wagte.  Er 
warein  grim¬ 
mer,  ankla¬ 
gender  Ero¬ 
tiker;  er  klag¬ 
te  an:  die 
Gesellschaft 
und  den 
Mann,  das 
Weib  und 
das  Easter. 

Rops 

schildert  den 
Kampf  zwi¬ 
schen  Mann 
und  Weib, 
zwischen 
Laster  und 
Gesellschaft. 

Er  zeigt  den 
Mann  als 
Verführer 
und  Ausbeu¬ 
ter,  er  kennt 
den  Alp  des 
entarteten 

Weibes,  der  auf  den  Männern  lastet.  —  Aber  er 
hat  nicht  nur  den  Satan  im  Weibe  gezeigt,  sondern 
auch  den  Himmelsboten  in  ihr.  Kein  Meister  des 
1 8.  Jahrhunderts  hat  einen  Mädchenkörperchen  mit  so 
viel  knospender  Anmut,  mit  so  zartem  Reiz  dar¬ 
zustellen  gewusst  wie  er. 

Und  mit  dem  Teufel  zeichnet  Rops  den  Tod,  der 
hinter  ihm  lauert.  Einen  Totentanz  der  Sinne  bedeuten 
seine  Blätter.  Der  Tod  entkorkt  den  Champagner  des 
Genusses,  sitzt  hinter  Rosen  und  Veilchen,  hebt  die 


F.  Rops,  Alles  ruhig  in 


Vorhänge  des  Schlafgemaches,  ist  Kuppler  und  Zu¬ 
hälter.  Aber  Holbeins  alter  Knochenmann  ist  heute 
durchaus  modern  geworden.  Er  trägt  den  Erack,  und 
eine  Blume  ziert  sein  Knopfloch.  Nur  sein  böses, 
triumphierendes  Eächelu  ist  das  gleiche  geblieben. 
Keiner  hat  es  besser  als  Rops  verstanden,  in  ein  Lächeln 
alles  Böse,  alles  Perverse  zu  legen.  Der  Gedanke  an  den 

Tod  liess 
Rops  niemals 
los.  In  al¬ 
len  Vermum¬ 
mungen 
kehrt  er  wie¬ 
der.  Bei  al¬ 
len  tollen 
Ausflügen 
seiner  Phan¬ 
tasie  in  die 
entlegensten 
philosophi¬ 
schen  Ge¬ 
biete  ist  er 
der  treue  Be¬ 
gleiter.  Rops 
vermag,  so 
scheint  es, 
gar  nicht  zu 
philosophie¬ 
ren,  ohne  an 
den  Tod  zu 
denken.  Man 
könnte  sa¬ 
gen,  Rops 
schiebt  Ke¬ 
gel  nach 
Ideen  mit 
einemToten- 
kopf  als  Ku¬ 
gel.  Nicht 
immer  trifft 
er  das  Ziel. 
Manches  sei¬ 
ner  allegori¬ 
schen  und 
symbolisti¬ 
schen  Blätter 
ist  abstrus 
und  verwor- 

Warschaii.  Lithographie 

verständlich, 
wie  es  dunk¬ 
le  Träume  sind,  über  deren  Bedeutung  man  be¬ 
klommen  sinnt. 

Rops  ist  Realist  und  Idealist,  Experimentator  na¬ 
turalistischer  Observanz  und  Mystiker.  Rops  hat  das 
Hässliche  und  das  Schöne  im  Weib  geschildert,  das 
Hässliche  mit  der  rücksichtslosen  Hand,  dem  unerbitt¬ 
lichen  Auge  des  Eorschers,  das  Schöne  mit  dem  ver¬ 
klärenden  Pinsel  des  Romantikers.  So  berührt  er  sich 
denn  in  seltsamer  Weise  mit  allen  unseren  grossen 
Realidealisten:  Mit  Stuck,  mit  Klinger,  dessen 


FELICIEN  ROPS 


149 


Salome«  ganz  ropsisch  ist  -  mit  Böcklin,  mit  Rodin. 
—  Aber  Rops  ist  eigentlich  ganz  nur  verständlich, 
wenn  man  die  Eitteratur  seiner  Zeit  verfolgt  und 
kennt.  Er,  der  Jesuitenschüler,  ist  als  bildender 
Künstler  eigentlich  immer  Eitterat  geblieben.  Er  war 
ein  Bücherwurm  und  ein  Gelehrter,  ein  Eyriker  und 
ein  Satyriker.  Rabelais,  Poe,  Baudelaire,  Barbey 
d’Aurevilly  haben  seinen  Geist  gemodelt  und  be¬ 
fruchtet.  Sein  Satanismus  war  vor  allem  ein  litte- 
rarisches  Gewächs,  dem 
Beete  der  »Eleurs  du 
mal«  von  Baudelaire 
entsprossen.  Und  wie 
er  von  der  Eitteratur 
seine  Anregungen  em¬ 
pfing,  so  hat  auch  er 
wieder  auf  das  Schrift¬ 
tum  der  Gegenwart 
durch  seine  Phantasie 
eingewirkt.  Mancher  ist 
ihrem  Zauber  verfallen 
zu  seinem  Verderben, 
mancher  hat  von  ihr 
tiefe  und  grosse  Ein¬ 
drücke  erfahren. 

Ereilich,  die  Zahl 
der  Kenner  ist  nicht 
übergross.  Die  besten 
Blätter  kann  man  nicht 
öffentlich  ausstellen. 

Rops  selbst  liebte  es,  als 
der  Einsame  zu  gelten, 
als  der  Aristokrat,  der 
seinen  Umgang  wählt. 

Octave  Mirbeau  erzählt 
von  ihm  eine  kenn¬ 
zeichnende  Anekdote. 

Rops  trifft  in  einem 
Salon  einen  sehr  rei¬ 
chen,  sehr  eitlen,  sehr 
hochmütigen  soge¬ 
nannten  »Mäcen  , einen 
jener  impertinenten 
Beschützer  der  Kün¬ 
ste,  die  da  glauben, 
für  ihr  gutes  Geld  die 
Künstler  wie  Eakaien 
behandeln  zu  dürfen. 

Der  Gönner  also  wen¬ 
det  sich  an  Rops  mit 
den  Worten:  Sie  sind  sehr  talentiert,  Herr  Rops, 
aber  Ihre  Blätter  sind  verteufelt  schwer  zu  haben! 
Wie  kommt  das?  Seit  fünf  Jahren  gebe  ich  dem 

Kunsthändler  C . den  Auftrag,  mir  einige  Ihrer 

Serien  zu  beschaffen,  und  seit  fünf  Jahren  —  ,  >d<önnen 
Sie  keine  kriegen!«  fiel  ihm  der  Meister  ins  Wort. 
Das  ist  sehr  einfach  zu  erklären.  Ich  habe  eben  dem 

Kunsthändler  C . verboten.  Ihnen  ein  Blatt 

von  mir  zu  verkaufen.  Entschuldigen  Sie,  mein  Herr, 
aber  ich  bin  wählerisch  —  auch  bezüglich  meiner 
Käufer!  Sprachs  und  ging  davon. 

ZeitsclinfI  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Xlll,  U.  6 


Und  Rops  that  wohl  daran,  wählerisch  zu  sein, 
wenn  die  Umstände  es  ihm  erlaubten.  Seine  Blätter 
sind  nicht  für  jedermann.  Sie  sind  ein  Genuss  für 
den  Reifen,  der  ihren  Sinn  versteht,  sie  sind  Gift  für 
den  Neugierigen,  der  das  Curiose  an  ihnen  beschnüffelt. 

Rops  beherrschte  jede  Technik.  Er  hat  in  Öl  und 
Aquarell  gemalt,  er  hat  radiert  und  geätzt,  Bleistift, 
Eeder  und  Röthel  benutzt.  Die  Steinplatte  und  die 
Kupfertafel  behandelte  er  mit  gleicher  Meisterschaft. 

Aber  als  Radierer  hat 
er  doch  den  Gipfel 
seines  Könnens  erreicht. 
Er  war  zweifelsohne 
einer  der  interessante¬ 
sten  Stecher  aller  Zei¬ 
ten. 

Eür  einen  Band 
Gedichte  Tonte  la 
lyre  von  Stefan  Mal¬ 
larme  hat  Rops  das 
Titelblatt  entworfen. 
Ein  Mädchen  von  wun¬ 
derbarer  Keuschheit 
sitzt  auf  einem  Thron 
und  hält  eine  Eeier, 
deren  Saiten  in  den 
Himmel,  ins  Unend¬ 
liche  reichen.  Zwei 
Hände,  die  Hände  des 
Dichters,  greifen  in  die 
Saiten.  Und  es  ist,  als 
seien  sie  losgelöst  von 
aller  Körperlichkeit, 
Hände  der  Seele!  Von 
überall  her  aber  recken 
sich  andere  Hände, 
Geisterhände  empor  zur 
Leier.  Als  ob  das  ganze 
Heer  der  Geister,  die 
um  uns  weben,  mit¬ 
spielen  wollte!  Die 
feinen  Eüsse  des  Mäd¬ 
chens  ruhen  auf  blö¬ 
den  ,  lorbeergekrönten 
Schädeln  und  Eratzen. 
In  das  Postament  des 
Thrones  ist  ein  F^elief 
eingelassen,  das  den 
alten,  zum  Skelett  ab¬ 
gemagerten  Pegasus 
zeigt,  wie  er  mit  dem  Gespenst  des  Dichters,  das 
seinen  Hals  umklammert  ad  astra!  strebt.  Das 
ist  der  Eormpoet  ,  der  Epigone.  Und  die  Schädel 
und  Eratzen  sind  die  Reste  der  Philister,  die  Rops 
sein  Leben  lang  gründlich  hasste  und  dementsprechend 
höhnte.  Zu  den  Sternen  empor  aber  steigt  das  Lied 
von  der  göttlichen  Leier,  die  das  reine  Weib  festhält 
mit  ihren  liebegeweihten  Händen. 

Und  dieses  herrliche  Blatt  möchte  man  den  ge¬ 
sammelten  Werken  Eelicien  Rops’  voransetzen! 


20 


DISIECTA  MEMBRA 

Von  Waltufr  Amelung  in  Rom 


CEiT  der  griechische  Boden  begonnen  Iiat  —  und 
mm  wetteifert  mit  iinn  aucli  das  Meer  -  seine 
gelieinmisvollen  Tiefen  aufzntluin  und  Schätze 
über  Schätze  dem  goldenen  Sonnenlichte  und  den 
schönheitsdnrstigen  Blicken  der  dankbaren  Menschen 
wiederzngeben,  Schätze,  die  vor  Jahrhunderten  und 
Jahrtausenden  seinen 
gesegneten  Scheitel  mit 
ihrer  vornehmen  Pracht 
gekrönt,  seitdem  ist  die 
Freude  an  dem  ganzen 
gedrängten,  wild  durch¬ 
einander  gewürfelten 
Reichtum  der  Museen, 
die  ihre  Fülle  zum 
grössten  Teile  dem 
italienischen  Boden 
verdanken,  nm  ein  Be¬ 
trächtliches  gesunken. 

Wiegt  doch  ein  Fund, 
wie  der  Hermes  des 
Praxiteles  in  Olympia, 
die  ganze  Masse  von 
antiken  Werken  auf,  die 
der  Vatikan  in  seinen 
stolzen  Sälen  birgt; 
und  sind  es  auch  oft 
nur  Trümmer,  die  das 
Schicksal  bewahrt  hat, 
so  ist  doch  ihr  Anblick 
wie  ein  Trunk  unge¬ 
mischten  Götterweines, 
in  den  menschliche 
Unzulänglichkeit  kei¬ 
nen  Tropfen  ernüch¬ 
ternden  Wassers  ge¬ 
gossen. 

Und  das  ist  bei 
fast  all  jenen  Funden 
italienischen  Bodens 
der  Fall.  Auch  er  hat 
einst  Wunderwerke 
der  antiken  Kunst  getragen,  neben  den  eigenen  römi¬ 
schen  Schöpfungen  den  ganzen  Raub ,  den  seine 
siegreichen  Feldherren  aus  dem  tiefgebeugten  Griechen¬ 
lande  heimschleppten;  aber  es  ist,  als  ob  die  Wut 
der  Zerstörer  sich  vornehmlich  gegen  diesen  kost¬ 
barsten  Besitz  gerichtet  habe,  denn  selten  giebt  uns 
der  italienische  Boden  eines  jener Original¬ 


werke  wieder,  das  dann  in  dem  Gewirr  der  Museen 
aus  der  Masse  des  Aufgehäuften  mit  sieghafter  Schön¬ 
heit  hervorleuchtet,  aus  der  Masse  der  Skulpturen,  in 
denen  die  im  besten  Falle  geschickte  oder  gewissen¬ 
hafte,  meist  aber  gedankenlose  Hand  des  römischen 
Kopisten  gesucht  hat,  die  mit  genialer,  sprühender 

Leichtigkeit  geschaffe¬ 
nen  Kompositionen  der 
griechischen  Meister 
ängstlich  nachzuahmen. 
Wie  ganz  erstorben 
die  Erfindungskraft  in 
jenen  Zeiten  war,  wie 
alle,  die  den  Meissei 
führten,  darauf  ange¬ 
wiesen  waren ,  das 
Überkommene  zu  wie¬ 
derholen  —  römisches 
Porträt  und  erzählen¬ 
des  Relief  lassen  wir 
bei  Seite  —  das  er¬ 
kennt  man  recht  deut¬ 
lich  vor  den  unend¬ 
lichen  Listen  von  Ko¬ 
pien  ein-  und  dessel¬ 
ben  Werkes,  von  dem 
oft  die  einzelnen  Exem¬ 
plare  in  allen  verschie¬ 
denen  Winkeln  des 
römischen  Weltreichs 
zu  Tage  gekommen 
sind.  Nur  eben  soviel 
Selbständigkeit  hat  sich 
der  Kopist  gewahrt, 
nm  die  Figur  den  spe¬ 
ziellen  Bedingungen 
seiner  Bestellung  ent¬ 
sprechend  auszuführen ; 
denn  es  war  ihm  natür¬ 
lich  nicht  gleichgültig, 
ob  sein  Werk  im  Saal 
eines  reichen  Kunstlieb¬ 
habers  den  Blicken  nahe  stehen  oder  auf  dem  Dache 
eines  Gebäudes  nur  zur  Dekoration  dienen  sollte;  in 
unseren  Museen  aber  stehen  all  diese  verschieden¬ 
artigen  Stücke  friedlich  nebeneinander. 

Und  dennoch  -  hat  man  Auge  und  Herz  ge¬ 
sättigt  an  der  Freude  über  die  griechischen  Funde, 
so  fliegen  die  wissbegierigen  Gedanken  immer  und 


Abb.  I.  Weiblicher  Kopf  aus  Pergamon. 
Ergänzt  von  Harro  Magnussen 


DISIECTA  MEMBRA 


151 


immer  wieder  zurück  zu  den  altbekannten  Museen 
und  suchen,  wo  sie  dort  anknüpfen  können,  um  in 
der  grossen  Entwickelungskette  der  griechischen  Kunst¬ 
geschichte  Glied  an  Glied  zu  fügen.  Und  das  kann 
uns  niemals  die  kleine  Anzahl  der  dem  heimischen 
Boden  entstiegenen  Werke  leisten;  hier  muss  ein  ent¬ 
sagungsvolles  Studium  all  jener  nüchternen  Nach¬ 
ahmungen  ergänzend  eintreten  und  mit  strenger  Kritik 
sondern  und  sichten.  Ist  uns  doch  auch  in  ihnen 
ein  so  reiches  Kapital  an  Schönheit  erhalten,  dass  nur 
blasierte  Gedankenlosigkeit  sie  ganz  verwerfen  könnte; 
und  ist  uns  auch  in  manchen  Eällen  nur  noch  das 
Gerüst  der  Kom¬ 
position  geniess- 
bar  erhalten,  so 
ist  es  eben  doch 
erhalten  und  thut 
nach  wie  vor 
seine  Wirkung. 

Hier  treten 
jedoch  andere 
Thatsachen  hin¬ 
dernd,  dem  Eor- 
schenden  aber 
zugleich  spor¬ 
nend,  in  den  Weg. 

Den  ganzen 
Reichtum  der  an¬ 
tiken  Skulpturen 
Italiens  haben  die 
Sturmfluten  der 
Völkerwande¬ 
rung  zerschla¬ 
gen  ;  was  an 
Trümmern  sich 
erhalten  hatte, 
wanderte  in  die 
Kalköfen  oder 
versank  unter  die 
Erde ,  aus  dem 
es  nach  Jahr¬ 
hunderten  der 
Zufall  wieder 
hervorzuziehen 
begann,  und  das 
zu  einer  Zeit, 
als  man  für  die  Schönheit  dieser  Reste  vollste  Em¬ 
pfindung  hatte,  aber  von  ehrfurchtsvoller,  historischer 
Wertschätzung  weit  entfernt  war.  Die  Künstler  der 
Renaissance  und  der  Folgezeit  waren  viel  zu  selbst¬ 
ständig  und  naiv,  als  dass  sie  sich  nicht  ohne  weiteres 
die  Berechtigung  zuerkannt  hätten,  jene  antiken  Reste 
nach  ihrem  Sinne  zu  vervollständigen,  wozu  der 
fragmentarische  Zustand  sie  ganz  natürlich  reizen 
musste.  Das,  was  von  der  ursprünglichen  Kom¬ 
position  geblieben,  ward  aber  nur  insoweit  berück¬ 
sichtigt,  als  es  der  eigenen  Phantasie  Anhalt  gab  zu 
einer  neuen  Schöpfung,  die  häufig  unter  Beseitigung 
etwa  entgegenstehender  Reste  ausgeführt  wurde.  So 
entstanden  seit  dieser  Zeit  all  jene  mehr  oder  minder 
geschmackvollen  oder  gedankenlosen  Ergänzungen, 


die  unserem  heutigen  Empfinden  so  unerträglich  ge¬ 
worden  sind,  mögen  sie  von  der  genialen  Hand 
Benvenuto  Celiini’s  stammen  oder  von  der  sorgfäl¬ 
tigen  Hand  Thorwaldsen’s,  der  in  Wahrheit  dem 
innersten  Kerne  der  antiken  Kunst  noch  fremder  gegen¬ 
überstand,  als  seine  Vorgänger.')  Noch  schlimmer 
aber  als  die  Ergänzungen  sind  die  Zusammenfügungen 
antiker  Teile,  wobei  die  vollkommene  Unkenntnis  all 
der  vielseitigen  Entwickelungsstadien,  die  die  antike 
Kunst  durchlaufen  hat,  zu  den  ungeheuerlichsten 
Konsequenzen  führte.  Man  denke  sich  eine  Madonna 
des  Trecento  ausgestattet  mit  einem  Kopfe  des 

Bernini!  —  eben¬ 
so  aber  gab  man 
Torsen  der  phi- 
diasischen  Zeit 
Köpfederhelleni- 
stischen  oder  rö¬ 
mischen  Epoche 
und  umgekehrt. 
»Die  Antike  war 
ein  fester,  ein¬ 
heitlicher  Begriff, 
und  erst  Winckel- 
mann’s  Genius 
erkannte  auch 
in  ihr  die  Wan¬ 
delungen  des 
Werdens  und 
Vergehens ,  wie 
sie  allem  Men¬ 
schenwerk  be- 
schieden  sind,  in 
nebelhaften  Um¬ 
rissen. 

Diesen  gan¬ 
zen  Karnevals¬ 
wirrwarr  der  Mu¬ 
seen  alten  Stils 
muss  entwirren, 
wem  es  damit 
Ernst  ist, die  kost¬ 
baren  Elemente 
antiker  Darstel¬ 
lungen  reinlich 
herauszuschälen. 

Und  noch  ein  Hindernis:  wie  schon  im  Altertum 
die  Wiederholungen  ein  und  desselben  Originales 


1)  Wie  unendlich  schwer  gute  Ergänzungen  herzu¬ 
stellen  sind,  haben  die  Misserfolge  der  Berliner  Konkurrenzen 
bewiesen.  An  dem  bekannten  Frauenkopf  aus  Pergamon 
war  fast  nur  ein  Stück  der  Nase  und  der  Haare  zu  er¬ 
gänzen.  Die  beiden  preisgekrönten  Arbeiten  von  Begas 
und  Felderhoff,  die  im  Berliner  Gipsmuseum  ausgestellt 
sind,  genügen  durchaus  nicht;  sie  geben  dem  Kopf  mit 
seinen  runden  weichen  Formen  eine  ziemlich  spitze  Nase, 
deren  Löcher  zu  weit  nach  vorn  geführt  sind.  Auch  im 
Leben  haben  Menschen  mit  einem  so  weichen  Formen¬ 
charakter  eine  rundliche  Nase  mit  kleinen  runden  Löchern; 
aus  der  Antike  hätten  zum  Muster  dienen  können  die  etwa 
gleichzeitigen  Nasen  des  Anytos  aus  Lykosura  und  eines 

20* 


Abb.  2.  Weiblicher  Kopf  aus  Pergamon.  Ergänzt  von  Harro  Magnussen 


DISIECTA  MEMBRA 


über  alle  Teile  des  Reiches  zerstreut  waren,  so  sind 
sie  es  heute  über  alle  Museen  der  Welt;  ja  es  kommt 
vor,  dass  sich  Teile  eines  Werkes  an  verschiedenen 
Orten  befinden.  Aus  all  diesen  in  verschiedenster 
Weise  erhaltenen  Resten  muss  versucht  werden,  ein 
Bild  wieder  zu  gewinnen,  das  dem  einstigen,  gemein¬ 
samen  Originale  möglichst  genau  entspricht.  Deshalb 
liat  man  in  unserer  Zeit,  in  der  diesen  Studien  mit 
der  Photographie  eine  unschätzbare  Hilfe  geschaffen 
wurde,  begonnen,  all  jene  weit  verstreuten  Eragmente, 
auch  das  unscheinbarste,  den  Forschenden,  auch  dem 
an  die  Scholle  Gebannten,  bekannt  zu  geben ;  Vor¬ 
arbeiten,  die,  vereint  mit  jenen  Entwirrungsarbeiten  in 
den  alten  Museen,  alle  einem  gemeinsamen  Ziele  zu¬ 
drängen:  es  muss  in  absehbarer  Zeit  gelingen,  was 
von  so  umhergeschleuderten  Teilen  einer  Komposition 
erhalten  ist,  als  zueinander  gehörig  zu  erkennen  und 
auf  diese  Weise  immer  mehr  antike  Schöpfungen  so 
vollkommen  wie  möglich  wiederzugewinnen,  die 
disiecta  membra  wieder  zu  einem  Körper  zu  ver¬ 
einigen.  Und  weiter  und  höher  hinaus  liegt  ein 
anderes  Ziel:  wie  die  Erkenntnis,  so  muss  auch  die 
thatsächliche  Wiedervereinigung  gelingen;  nicht  im 
Marmor  —  das  ist  undenkbar  — ,  sondern  im  ge¬ 
fügigeren  Gips  oder  besser  Marmorstuck.  Es  kann 
uns  auf  die  Länge  nicht  genügen ,  nur  immer  zu 
wiederholen:  Dieser  Kopf  gehört  zu  jenem  Körper. 
Wir  müssen  die  Vereinigung  mit  Augen  sehen  und 
geniessen  können,  und  —  noch  ein  wichtiger  Schritt 
den  Figuren,  die  im  Original  in  Bronze  gearbeitet 
waren,  müssen  die  plumpen,  nur  dem  Marmor  zur 
Stütze  notwendigen  Stämme  weggeschnitten  und  die 
dunkle,  glänzende  Farbe  des  Metalls  mit  all  ihren 
Lichtern  und  Reflexen  gegeben  werden. ') 

Aber  der  Leser  wird  mit  bedenklichem  Kopfschütteln 
meinen,  all  das  seien  phantastische  Forderungen,  im 
besten  Falle  interessante  Spielereien,  die  von  vorn¬ 
herein  in  den  wenigsten  Fällen  ausführbar  sein  und, 
wenn  auch,  der  Anschauung  dessen,  was  die  Antike 
geleistet,  kaum  wesentliche  Förderung  bringen  dürften. 
Hier  einige  Proben  vom  Gegenteil. 

Auf  dem  Boden  des  antiken  Ortes  Bovillae  am 
nördlichen  Fusse  der  Albanerberge  war  in  einer 


weiblichen  Kolossalkopfes  im  kapitolinischen  Museum.  Es 
freut  mich  an  dieser  Stelle  eine  meiner  Meinung  nach 
weit  gelungenere  Ergänzung  des  Kopfes  von  Harro  Mag¬ 
nussen  veröffentlichen  zu  können;  s.  Abb.  i  u.  2. 

Eine  hervorragende  und  in  allen  wesentlichen  Punkten 
unanfechtbare  Restauration  ist  die  Wiederherstellung  der 
Giebel  des  Zeustempels  von  Olympia  im  Dresdener  Alber¬ 
tinum  (Olympia  111,  T.  XVllI  — XXI);  ebendort  hat  man  bei 
der  Ergänzung  der  antiken  Skulpturen  des  Museums  Ab¬ 
güsse  besser  erhaltener  Wiederholungen  verwendet;  ein 
vortreffliches  Prinzip,  das  aber  bisher  an  anderen  Orten 
kaum  in  einzelnen  Eällen  nachgeahmt  worden  ist. 

1)  ln  Köln  ist  von  der  Kunstanstalt  A.  Gerber  eine 
Reihe  derartiger  Restaurationen  hergestellt  worden,  von 
denen  einige  zur  Dekoration  der  pompejanischen  Zimnrer 
im  Wallraf-Richartz-Museum  ebenda  verwendet  sind.  Eine 
von  ihnen  bilden  wir  im  nächsten  Hefte  bei  der  Eort- 
setzung  des  Aufsatzes  ab. 


Temita  der  Familie  Colonna  das  Fragment  eines 
Frieses  gefunden  worden,  auf  dem  dargestellt  ist,  wie 
der  Leichnam  eines  jugendlichen  Heros  von  zwei 
Genossen  ans  der  Schlacht  nach  Hause  getragen  wird; 
neben  dem  Leichnam  sieht  man  einen  alten  Mann 
gebeugt  am  Stabe  einherschreiten.  Die  Arbeit  des 
Stückes,  das  sich  heute  im  Palazzo  Colonna  zu  Rom 
befindet,  ist  dekorativ,  die  Komposition  sehr  ansdrncks- 
voll.  Da  wurde  es  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
bekannt,  dass  sich  in  dem  Kloster  der  griechischen 
Mönche  zu  Grottaferrata  ein  weiteres  Stück  der  glei¬ 
chen  Darstellung  befinde,  das  unweit  der  Fundstelle 
des  ersten  zn  Tage  gekommen  sei;  ja,  es  ergab  sich, 
dass  dieses  Stück  unmittelbar  an  jenes,  d.  h.  an  seiner 
linken  Seite  anpasse;  und  damit  wurde  die  Darstel¬ 
lung  fast  vollständig.  Leider  war  das  Fragment  in 
Grottaferrata  ergänzt  worden,  so  dass  eine  direkte 
Vereinigung  der  Gipsabgüsse  bisher  unmöglich  ge¬ 
wesen  ist.  Unsere  Abbildung  (3)  giebt  den  Versuch 
einer  Rekonstruktion  mittels  zweier  Photographien, 
der  notwendig  unvollkommen  ausfallen  musste,  aber 
doch  eine  Ahnung  von  der  Schönheit  des  Ganzen 
giebt.  Links  kommen  hinzu:  die  Figur  des  Tragen¬ 
den,  zwei  Waffengefährten,  von  denen  der  eine  Helm 
und  Schild  des  Gefallenen  trägt,  der  andere  trauernd 
das  Haupt  neigt,  vor  allem  aber  jene  rührende  alte 
mütterliche  Gestalt,  die  dem  gebückten  Greise  be¬ 
scheiden  mit  kummervollem  Antlitz  folgt.  Die  Dar¬ 
stellung  giebt  augenscheinlich  ein  Ereignis  aus  der 
Heroendichtung  wieder  und  der  Tote  wird  Meleager 
zn  nennen  sein;  dann  wären  die  beiden  Alten  nicht 
-  -  was  man  sonst  geneigt  wäre  anzunehmen  —  Vater 
und  Mutter,  sondern  Pädagog  und  Amme,  die  beiden 
Pfleger  der  Kindheit  des  Erschlagenen,  die  beim 
Herannahen  des  Trauerzuges  aus  dem  Hause  geeilt 
sind  und  ihn  nun  in  stummem  Schmerze  geleiten; 
die  Verzweiflung  der  Eltern  und  der  jugendlichen 
Gattin  wäre  dann  auf  einer  zweiten  Reliefplatte  dar¬ 
gestellt  gewesen;  das  Ganze  aber  hätte  einen  fort¬ 
laufenden,  vielleicht  durch  Pilaster  in  einzelne  Felder 
geteilten  Fries  gebildet.  Bleibt  all  das  nur  An¬ 
nahme,  so  ist  doch  die  Hauptsache  durch  die  Zu¬ 
sammensetzung  auch  für  uns  wiedergewonnen: 
eine  fest  in  sich  verschlungene  Gruppe,  voll  des 
wahrsten  Ausdruckes  einfachster  Handlung  und  tief¬ 
ster  Gefühle,  alles  beherrscht  von  der  einen  düsteren 
Stimmung  ergreifender  menschlicher  Teilnahme  und 
Trauer^). 

Die  Besucher  des  lateranensischen  Museums  erinnern 
sich  eines  schönen  römischen  Reliefs  im  ersten  Zim¬ 
mer,  das  eine  Prozession  verschiedener  Togati  und 
Lictoren  darstellt  (s.  Abb.  4);  Thorwaldsen  soll  die 
zwei  fehlenden  Köpfe  ergänzt  haben,  und  die  Haupt¬ 
figur  hat  bei  dieser  Gelegenheit  den  Kopf  des  Kai¬ 
sers  Trajan  erhalten.  Im  Hintergründe  sieht  man  in 
flachem  Relief  die  kannelierten  Säulen  eines  Tempels; 
sie  gaben  den  ersten  Anlass  zu  der  Entdeckung  der  Fort¬ 
setzung  des  Reliefs  nach  oben,  auf  der  die  Säulen- 


1)  Braun,  Bullettino  dell’  Istituto  1838,  p.  22ff. ;  Anie- 
Inng  bei  Amdt-Anielung,  Einzelaiihiahnien,  Text  zu  Nr.  1 162 


DISIECTA  MEMBRA 


'53 


Abb.  3.  Heiinbringiing  der  Leiche  eines  jugendlichen  Ijriegers 
Rechte  Llülfte  im  Palazzo  Colonna  in  Rom,  linke  in  Orotfaferrata 


halse  mit  den  Kapitellen,  dem  Gesims  und  der  linken 
Hälfte  eines  Giebels  dargestellt  sind').  Dieses  Frag¬ 
ment  war  nach  mannigfachen  Irrfahrten  ins  Thermen- 
Mnseum  gelangt.  Man  hatte  schon  längst  erkannt, 
dass  auf  ihm  die  dem  Forum  zngekehrte  Seite  des 
Tempels  der  Venns  und  Roma  wiedergegeben  sei, 
eines  Gebäudes,  mit  dem  der  Kaiser  Hadrian  die 
Höhe  zwischen  Forum  und  Kolosseum  gekrönt  hatte; 
seinen  Kopf  also,  nicht  den  des  Trajan,  müsste  jene 
Figur  auf  dem  unteren  Fragment  tragen,  wenn  es 
nicht  durch  den  Vergleich  mit  analogen  Darstellungen 
sicher  wäre,  dass  sich  die  Gestalt  des  Kaisers  erst 
weiter  rechts  auf  einem  jetzt  verlorenen  oder  noch 
nicht  wiedergefundenen  Teile  der  Komposition  befand. 
Durch  die  Zusammensetzung  der  beiden  Fragmente 
ist  es  klar  geworden,  dass  eine  feierliche  Funktion 
vor  der  Front  des  Tempels  im  Beisein  des  kaiser¬ 
lichen  Erbauers  dargestellt  war. 

Liegt  in  diesem  Falle  der  Gewinn  mehr  in  der 
Aufklärung  über  die  historische  Stellung  des  Werkes 
und  der  deutlicheren  Erkenntnis  des  Gegenständ¬ 
lichen  als  in  der  Erhöhung  des  künstlerischen  Ge¬ 
nusses,  so  kam  dieser  allein  auf  seine  Rechnung  bei 

1)  Petersen,  Römische  Mitteilungen  1895,  p.  244 ff.  T.  V. 
In  dem  Giebel  rechts  die  schlummernde  Rhea  Silvia,  zu  der 
Mars  herabschwebt  (nur  seine  Beine  sind  noch  sichtbar); 
links  die  Gruppe  der  Wölfin  mit  den  Zwillingen  und  zwei 
erstaunt  entweichende  Hirten;  ganz  in  der  Ecke  zwei 
Widder. 


der  Vereinigung  von  zwei  anderen  Relieffragmenten. 

Auf  dem  Palatin  hatte  man  Teile  eines  Reliefs 
gefunden,  das  zwar  durch  seine  geringwertige  Arbeit 
verriet,  dass  es  lediglich  zur  Dekoration  eines  der 
stolzen  Kaiserpaläste  bestimmt  gewesen,  in  dessen 
Komposition  sich  aber  ein  edles  Vorbild  ans  der  Zeit 
des  peloponnesischen  Krieges  kundgab,  so  dass  es 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen  musste 
trotz  seines  trümmerhaften  Zustandes  (s.  Abb.  5).  Drei 
Frauen  stehen  nebeneinander;  ein  intimes  Verhältnis 
waltet  zwischen  den  beiden  links  stehenden,  während 
die  rechte  im  Begriffe  scheint,  sich  abzuwenden: 
augenscheinlich  eine  jener  stillen  Darstellungen,  die 
alle  unter  dem  Zeichen  des  phidiasischen  Einflusses 
stehen  —  ich  erinnere  an  das  Relief  mit  Orpheus, 
Eurydike  und  Hermes  in  denen  sich  ein  bedeut¬ 
samer,  für  das  ganze  Dasein  entscheidender  Augen¬ 
blick  eben  vorbereitet;  die  Figuren  —  es  sind  immer 
nur  drei  sind  ganz  eingesponnen  in  tiefes  Sinnen 
lind  zartes,  übermächtiges  Empfinden,  so  dass  auch 
wir  widerstandslos  hineingezogen  werden  in  die  ernste 
Stimmung,  die  aus  den  Darstellungen  herausklingt 
lind  uns  umzieht  wie  die  sanften  Tonwellen  einer 
schwermütigen  Melodie.  Ein  anderes  derartiges  Werk 
soll  uns  nachher  beschäftigen. 

Es  war  demnach  ein  bestechender  Einfall,  als  in 
dem  palatinischen  Relief  eine  Darstellung  aus  der 
Niobe-Sage  vermutet  wurde.  Niobe  mul  Leto  waren 
einst  verbunden  in  Freundschaft,  die  erst  der  Übermut 


154 


DISIECTA  MEMBRA 


der  Niobe  zerstörte.  Eber  sei  min  der  beginnende 
Brucli  zwischen  den  Erenndinnen  und  der  Versuch 
seitens  einer  dritten  Genossin,  noch  eine  Versöhming 
herbeizuführen  dargestellt;  die  Mittelfigur  wurde 
Niobe,  die  rechte  Leto,  die  linke  nach  einer  anderen 
Darstellung  des  gleichen  Gegenstandes  Phoibe  ge¬ 
nannt.  Damals  war  nichts  erhalten  als  der  (3berl<örper 
der  linken  mit  Kopf,  die  Körpermitte  der  mittleren 
und  der  grösste  Teil  des  Körpers  der  dritten;  da  die 
mittlere  ihre  Rechte  wie  bittend  zum  Kinn  der  linken 
erhebt,  dachte  man  sich  auch  die  Köpfe  der  beiden 
einander  zugewendet  und  meinte,  Niobe  bitte  die 
Phoibe,  versöhnend  einzugreifen.  Da  fand  sich  an 
einem  selten  besuchten  Orte,  im  Giardino  della  Pigna 
des  Vatikans,  die  Büste  der  mittleren  mit  dem  Kopfe; 
Bruch  passte  auf  Bruch,  und  im  Thermen-Museuin, 
wo  sich  jetzt  das  palatinische  Relief  befindet,  wurde 
ein  Abguss  des  neuen  Eragments  an  seiner  Stelle  ein- 
gefügt  1)  Vor  langer  Zeit  muss  jenes  Stück  vom  Pa¬ 
latin  in  den  Vatikan  gelangt  sein.  Hier  sieht  man 
nun  den  Kopf  der  mittleren  diademgeschmückt  und 
stolz  nach  der  rechten  Seite  gewendet;  deutlicher  als 
vorher  wurde  es,  dass  eine  Entscheidung  sich  voll¬ 
zieht  zwischen  der  mittleren  Eran  und  der  rechten; 
aber  unmöglich  scheint  es,  noch  daran  festznhalten, 
dass  die  linke  bestimmt  sei,  eine  Vermittelung  herbei- 

i)  Anieliing,  Römische  Mitteilungen  iSpy,  p.  3tf.  T.  I. 


zuführen.  Lösen  kann  uns  das  f^ätsel  einst  der  Eund 
einer  anderen  Wiederholung  oder  wer  wird  an 
der  Möglichkeit  zweifeln?  die  Entdeckung  des 
fehlenden  Teiles  mit  dem  Kopfe  der  rechten  Figur,  in 
dessen  Wendung  und  Ausdruck  schon  die  Lösung 
liegen  könnte. 

Nun  zu  jenem  anderen  F^elief  verwandter  Art 
(Abb.  6).  Dargestellt  ist  ein  Vorgang  in  den 
schauerlichen  nächtlichen  Klüften  der  Unterwelt.  Hera¬ 
kles  wir  sehen  ihn  links  auf  dem  Relief  ist 
hinabgestiegen,  um  den  Kerberos,  den  hütenden 
Wächterhund  jenes  Reiches,  emporzutragen;  da  trifft 
er  in  fürchterlicher  Gefangenschaft  zwei  seiner  Helden¬ 
genossen  lebend  zwischen  den  Schattenbildern  der 
Toten:  Theseus  und  Peirithoos.  Sie  waren  frevent¬ 
lich  hinuntergezogen  um  eines  kostbaren  Raubes 
willen,  um  die  schöne  Königin  jener  stillen  Welt, 
Persephone,  selber  zu  entführen.  Da  werden  sie  zur 
Strafe  festgebannt  auf  felsigem  Sitz.  Herakles  erfasst 
tiefes  Mitleiden  mit  den  Unglücklichen,  und  er  er¬ 
reicht  durch  sein  Bitten,  dass  wenigstens  Theseus  mit 
ihm  zum  Sonnenlicht  zurückkehren  kann.  Hm  sehen 
wir  auf  dem  Relief  rechts  stehen,  schon  gelöst  vom 
Zauber  und  bereit,  dem  Befreier  zu  folgen,  ln  der 
Mitte  sitzt  der  Arme,  der  nun  allein  znrückbleibt; 
noch  scheint  er  sein  Schicksal  nicht  zu  ahnen,  denn 
lebhaft  wendet  er  sich  um  nach  Herakles,  als  erwarte 
nun  auch  er  gelöst  zu  werden;  voller  Mitleid  und 

stiller  Trauer  neigen  sich 
zu  ihm  die  Blicke  der  bei¬ 
den  Freunde.  Die  ganze 
Schwemmt,  die  das  bange 
Zögern  vor  dem  letzten 
Abschied  zu  langer  Tren¬ 
nung  nmdüstert,  lagert 
drückend  über  dieser  Grup¬ 
pe.  Zwar  von  dieser  Stim¬ 
mung  ist  in  den  Köpfen, 
die  auf  der  vollständigsten 
Wiederholung  im  Museo 
Torion ia  in  Rom  der  Er- 
gänzer  dem  Peirithoos  und 
Theseus  gegeben  hat,  nichts 
zu  spüren;  doch  ist  es  ge¬ 
lungen,  den  Kopf  des 
Theseus  mit  seiner  antiken 
Beischrift  -  er  muss  ur¬ 
sprünglich  zu  einer  anderen 
Wiederholung  gehört  ha¬ 
ben  —  im  Berliner  Museum 
nachzuweisen  i)  Eine  Ein- 

i)  Helbig,  Monumenti  dei 
Liiicei  1892,  p.  673  ff.  T.  Nr.  2. 
Vergl.  von  demselben  Ver¬ 
fasser  »Führerdnrcli  dieSamm- 
lungen  klassischer  Altertümer 
in  Rom«  Nr.  870.  Dass  He¬ 
rakles  versuche,  den  Peirithoos 
loszureissen,  ist  durch  seine 
Stellung  ausgeschlossen;  er 
müsste  ja  ausserdem  mit  der 


Abb.  5.  Relief  mit  drei  Frauen.  Die  Büste  der  mittleren  im  Vatikan, 
das  Übrige  im  Thermenmuseum  in  Rom 


Abb.  4.  Prozession  vor  einem  Tetnpel.  Untere  Hälfte  im  Mnsco  Lateranense, 
obere  im  Thermcnmiiseiim  zn  Rom 


E.  EINSCHLAG 


1  56 


Abb.  6.  Herakles,  Peirithoos  und  Theseiis  in  der  Unterwelt. 
Kopf  des  Theseus  (r.)  im  Königlichen  Museum  zu  Berlin, 
das  Übrige  im  Museo  Torion ia  zu  Rom 


fügimg  dieses  Kopfes  in  die 
Darstellung  des  Reliefs  war 
bislier  nur  in  einer  Zeichnung 
versucht  worden;  wir  geben 
statt  dessen  den  Versuch  einer 
Zusammensetzung  mittels 
zweier  Photographien.  Auch 
hier  ist  zu  hoffen  und  nicht 
daran  zu  verzweifeln,  dass 
uns  ein  glücklicher  Fund 
den  einzig  noch  fehlenden 
Bestandteil,  den  Kopf  des  Pei¬ 
rithoos  wiederschenken  werde. 

Darin,  dass  alles  in  dieser 
Darstellung  nur  Stimmungs¬ 
ausdruck  ist  und  Stimmung 
erregen  will,  tritt  das  Relief, 
und  die  anderen,  die  ihm 
nahe  stehen,  in  engste  Bezie¬ 
hung  zu  den  Grabreliefs,  auf 
denen  einzelne  Figuren  in 
Sinnen  verloren  oder  Fami¬ 
liengruppen  in  stillem  liebe¬ 
vollen  Beisammensein  den 
Trauernden  an  den  Gräbern 
die  holdesten  Bilder  des  Le¬ 
bens  wie  in  dem  ruhigen  Licht 
einer  sanfteren  Sonne  zeigten. 

(Fortsetzung  folgt.) 

flechten  zufassen,  und  endlich 
trägt  der  linke  Arm  das  Löwen¬ 
fell  lose  iibergeworfen ;  dadurch 
allein  ist  jeder  Gedanke  daran 
ausgeschlossen, dass  er  etwa  mit 
dem  Versuch  beschäftigt  wäre, 
den  Peirithoos  zu  befreien. 


E.  EINSCHLAG 


Der  junge  Künstler,  der  sich  liier  zum  ersten- 
male  den  Lesern  der  Zeitschrift  für  bildende 
Kunst  vorstellt,  führt  sich  aufs  vorteilhafteste 
ein.  Denn  das  flackernde,  wilde  Boulevard-Bild  von 
Degas  (Paris,  Luxembourg),  das  er  mit  feinem  Ver¬ 
ständnis  und  glücklichem  Anpassungsvermögen  an 
die  Technik  mit  der  Radiernadel  wiedergegeben  hat, 
wird  kein  Beschauer  so  leicht  vergessen. 

Einschlag  ist  erst  23  Jahre  alt;  er  ist  in  Leipzig 
geboren,  besuchte  die  dortige,  später  die  Münchner 


Akademie,  wo  er  Scliüler  von  Peter  Halm  wurde. 
Seine  Leistungen  wurden  bald  bemerkt,  igoo  erhielt 
er  eine  silberne  Medaille,  und  einige  Kabinette  er¬ 
warben  seine  Blätter.  —  Unter  den  Originalradie¬ 
rungen,  die  wir  von  ihm  sahen,  ist  eine  Dämme¬ 
rung'  betitelte  weibliche  Aktstudie  durch  die  tonige, 
konturlose  Behandlung  besonders  erwähnenswert.  — 
Gegenwärtig  arbeitet  der  Künstler  an  einer  sehr 
grossen  Platte  nach  Ferd.  Goetz;  wir  hoffen,  ihm 
noch  später  auf  fortschreitendem  Wege  zu  begegnen. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


Cafe  Boulevard  auf  dem  Moiifmaifre  von  E.  Degas.  Radiert  von  E.Emschla; 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIII 


NACH  EINEM  GEMÄLDE  VON  HANS  MAKART  RADIERT  VON  W.  WOERNLE^ 

ft 


El  Bafio  de  la  Cava  Puente  de  San  Martin 

Gesamtansicht  von  Toledo 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


Toledos  Lage  ersclieint  uns  als  ein  Beweis 
für  die  Willkür,  mit  der  Mutter  Natur  oft  bei 
ihren  Schöpfungen  vorzugehen  pflegt.  Was 
zwang  den  Tajo  seine  alte  Richtung  zu  verlassen  und, 
statt  sich  mühelos  durch  die  Vega,  die  fruchtbare  Ebene, 
zu  bohren,  in  weitem  Kreise  seinen  Weg  durch  die 
harten  Felsen  zu  brechen?  So  wurde  eine  Art  Halb¬ 
insel  aus  dem  öden 
Gebirge  herausgeschält, 
auf  drei  Seiten  vom 
Wasser  umspült,  eine 
natürliche  Festung. 

Auf  diesem  sieben¬ 
hügeligen  Granitblock 
erhebt  sich  —  grau  in 
grau  —  die  uralte,  einst 
so  lebensvolle,  jetzt  so 
totenstille  Stadt,  ein 
Protest  des  Orients  ge¬ 
gen  das  Abendland. 

Ihre  Strassen  düster 
und  menschenleer,  mit 
holperigem  Pflaster,  in 
ewigem  bergauf  bergab 
ein  wirres  Durchein¬ 
ander  von  tausend 
Ecken  und  Winkeln, 
nirgends  einen  freien 
Ausblick,  aber  überall 
Schatten  bietend ;  dabei 
so  eng,  dass  nur  in 
den  wenigsten  ein  Wa¬ 
gen  fahren  kann.  Und 
auch  dort  mussten 
manchmal  für  die  vor¬ 
springenden  Naben  der 
Karren  erst  tiefe  Rillen 
in  die  Mauern  gehauen 
werden.  Die  Häuser 


aussen  kahl,  fensterlos,  unfreundlich,  oft  mit  schweren, 
eisenbeschlagenen  Portalen,  die  man  selten  offen  sieht. 
Aber  hat  man  das  Gitter  des  Vorplatzes,  des  Zagiian, 
hinter  sich,  so  umgeben  drinnen  luftig  und  hell  die 
Gemächer  den  kühlen,  fliesenbelegten  Hof,  auf  dem 
sich  in  der  warmen  Jahreszeit  das  ganze  häusliche 
Leben  abspielt,  während  die  oberen  Stockwerke  mit 

ihren  Galerieen  als 
Winterwohnung  die¬ 
nen. 

Es  ist  nicht  zu  viel 
gesagt,  wenn  man  To¬ 
ledo  die  arabischste 
aller  spanischen  Städte 
nennt. 

Von  dem,  was  die 
Römer  im  alten  Tole- 
tum  geschaffen,  sind 
nur  dürftige  Trümmer 
erhalten,  ganz  zu  ge- 
schweigen  von  den 
Goten,  an  die  eigent¬ 
lich  kaum  noch  etwas 
anderes  als  ein  Teil  der 
Stadtmauer  erinnert; 
und  das  christlich-casti- 
lianische  Leben  er¬ 
starrte,  als  Philipp  11. 
die  Residenz  nach  Ma¬ 
drid  verlegte.  Den 
Spuren  der  Muslimen 
aber  begegnet  der  Rei¬ 
sende  auf  Schritt  und 
Tritt;  ihr  Geist  umweht 
uns  noch  heute,  obwohl 
wir  von  so  vielen  und 
vielleicht  den  besten 
ihrer  Werke  kaum  mehr 
die  Stätte  wissen. 


Hof  eines  Wohnhauses  in  Toledo 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  7. 


21 


158 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


Uüd  dieses  Aufgehen  einer  längst  entschwundenen 
i'reinclen  Welt  vor  unseren  Augen,  das  ist  es  gerade, 
was  einen  Besuch  der  verwunschenen  Stadt  so  über¬ 
aus  iuhnend  macht. 


Nach  mehrjähriger  Belagerung  zog  am  25.  Mai 
1085  Alfons  Vl.  durch  die  alte  Puerta  de  Visagra  in 
Toledo  ein.  Als  der  Zug  der  Sieger  nun  die  zweite 
Befestigung  mit  der  Puerta  de  Valmardones  passiert 
hatte,  da  kniete  —  so  berichten  die  alten  Chronisten 


christlichen  Dienste  geweiht  worden  war,  durch  Bi¬ 
schof  Bernhard  bereits  gründlich  restauriert  werden 
musste.  Genau  hundert  Jahre  später  schenkte  sie 
Alfons  VIII.,  der  Gute,  den  Johannitern,  und  um  diese 
Zeit  muss  das  jetzige  schmale  Querschiff  im  Osten 
angelegt  worden  sein.  Wenigstens  entdeckte  man  im 
Jahre  1871  in  einigen  seit  langem  vermauerten  Nischen 
desselben  mehrere  Wandgemälde,  die  etwa  dem  Ende 
des  12.  Jahrhunderts  angehören  könnten.  Gegen 
Ausgang  des  15.  Jahrhunderts  erwiesen  sich  dann 
abermalige  umfassende  Reparaturen  als  nötig,  bei 
welcher  Gelegenheit  eine  nochmalige  Erweiterung 


das  Pferd  des  Cid  nieder,  ohne  dass  der  Reiter 
es  vom  Platze  zu  bringen  vermocht  hätte,  was  an¬ 
geblich  den  König  bewog,  alsbald  die  erste  Messe 
in  einer  nahen  kleinen  Moschee  zu  hören.  Es  ist 
die  heutige  Ermita  del  Cristo  de  la  Luz,  oder,  wie 
der  genaue  Name  lautet,  »del  Santo  Cristo  de  la  Cruz 
y  Nuestra  Senora  de  la  Luz«,  und  der  Schild,  den 
König  Alfons  dort  zur  Erinnerung  stiftete,  hängt  heute 
noch  an  seiner  Stelle. 

Der  Boden  ist  seit  alter  Zeit  geheiligt.  Denn  wenn 
die  Toledaner  Überlieferung  Recht  hat,  so  bestand 
am  selben  Orte  bereits  in  der  Mitte  des  sechsten 
Jahrhunderts  ein  Gotteshaus,  von  dem  die  Legende 
mancherlei  zu  erzählen  weiss.  Verbürgt  ist  jedoch 
erst,  dass  die  Moschee,  nachdem  sie,  wie  gesagt,  dem 


nach  Osten  stattfand  in  Gestalt  der  polygonalen  Apsis, 
die  Kardinal  Mendoza  im  Mudejarstil  ausführte.  Ich 
komme  auf  dieses  Wort  noch  zurück.  Noch  später  kam 
schliesslich  ein  in  die  Strasse  hineinragendes  Vestibül 
hinzu,  hinter  dessen  Putz  bis  zum  April  i8gg  die  alte 
Eassade  mit  ihrer  aus  Ziegelsteinen  zusammengesetzten 
Inschrift  verborgen  lag,  so  viel  ich  weiss  der  einzigen 
ihrer  Art  in  Spanien.  Seit  im  Jahre  1857  der  letzte 
Komthur  verstarb,  hat  sich  die  Comision  de  monii- 
mentos  histöricos  y  arti'sticos  der  Kapelle  angenommen. 

Doch  nun  hinein  in  den  heiligen  Raum,  zu  dem 
der  fremde  Kunstfreund  zuerst  den  Schritt  in  Toledo 
lenken  sollte! 

Da  beobachten  wir  den  Sohn  der  Wüste,  noch 
unfähig  eigene  Formen  zu  erfinden,  wie  er  in  ge- 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


159 


wohnter  Weise  nicht  nur  wahllos  die  Banmateralien, 
die  er  am  Orte  antrifft,  sondern  auch  ohne  weiteres 
die  Eormensprache  sich  aneignet,  welche  schon  durch 
die  Goten  in  Spanien  heimisch  geworden  war.  Es 
ist  ganz  der  arabisch-byzantinische  Stil  der  Omejjaden, 
den  uns  leider  bloss  noch  sehr  wenige  Bauten  lehren. 

Der  heutige  Vorranm,  die  ehemalige  Moschee,  misst 
nur  etwa  6'/^  Meter  im  Quadrat.  Auf  vier  verschie¬ 
den  starke  und  nicht  sehr  hohe  Marmorsäulen,  mög¬ 
lichen  Ealls  noch  vom  Ban  der  alten  Kirche  stam¬ 
mend,  stützen  sich  strahlenförmig  ausgehend  zwölf 
ganz  glatte  Hufeisenbogen'):  das  Ganze  bildet  also 
gewissermassen  drei 
Schiffe,  welche  durch 
drei  andere  rechtwinklig 
geschnitten  werden,  im 
Prinzip  genau  wie  bei 
der  Kathedrale  von 
Cordoba.  Erst  bei  der 
Tieferlegung  des  Euss- 
bodens  im  Eriijahr  1 89g 
kamen  die  Basen  der 
Säulen  wieder  ans  Licht. 

Die  Kapitäle,  zwei  ko¬ 
rinthische,  ein  dorisches 
und  ein  ausgesprochen 
christliches,  wurden 
offenbar  einstmals  von 
verschiedenen  Gebäu¬ 
den  zusammengesucht 
und  in  einer  stellen¬ 
weise  recht  barbari¬ 
schen  Weise  für  ihren 
Zweck  passend  ge¬ 
macht;  wie  gewöhnlich 
ruhen  die  Anfänger 
der  Bogen  noch  auf 
trapezartigen  Vorsprün¬ 
gen,  die  den  byzan¬ 
tinischen  Polsterstei¬ 
nen  entsprechen.  Die 
oberen  Scheidewände 
der  Räume  sind  wei¬ 
ter  mittels  einer  Reihe 
von  Arkaden  durch¬ 
brochen,  um  Leichtig¬ 
keit  und  Licht  in  die  Konstruktion  zu  bringen,  im 
mittelsten  Viereck  Ajimeces“)  mit  Kleeblattbogen  und 
Holzsäulen,  deren  Kapitäle  bis  auf  eines  verschwunden 
sind,  im  übrigen  jedoch  einfache  oder  doppelte  Luken 
derselben  Wölbung.  Der  erstere  Raum  geht  schliess¬ 
lich  in  ein  Achteck  über  und  ist  ausserdem  etliche 
Euss  höher  als  die  übrigen,  was  zur  Anlage  eines 
nochmaligen,  rein  ornamentalen  Bogenkranzes  Veran- 

1)  Girault  de  Prangey  (Essai  sur  l’architecture  des 
Arabes  et  des  Mores  en  Espagne  . . .)  hat  ganz  recht,  wenn 
er  dem  Ausdruck  arc  en  plein  cintre  ontrc-passe  den  Vor¬ 
zug  vor  arc  en  fer  ä  cheval  giebt.  Letzterer  lässt  in  der 
That  nicht  die  richtige  Vorstellung  zu. 

2)  Ajiniez  =  rundes  oder  spitzes  Bogenfenster  in  der 
Mitte  durch  eine  Säule  geteilt  (Acad.). 


lassung  gab.  Die  neun  Kuppeln  endlich,  welche 
nach  echt  byzantinischer  Art  den  Raum  überdecken, 
sind  sämtlich  verschieden  gestaltet;  dicke  Rippen  in 
Gestalt  von  runden  und  spitzen  Hufeisenbogen  und 
anderen  von  Kleeblattform  vereinigen  und  schneiden 
sich  zu  einem  lebendigen  Spiel  von  allerlei  Eiguren. 
Den  beiden  Endkuppeln  des  mittleren  Langschiffes 
sicht  man  es  ausserdem  an,  dass  einst  durch  Öff¬ 
nungen  in  ihrem  Scheitel  das  Licht  hereinfiel,  und 
auch  die  Hauptkuppel  wurde  damals  wohl  durch 
mehrere  Lenster  erhellt.  Jetzt  ist  droben  alles  wie 
von  Rauch  geschwärzt,  und  doch  bekommt  man  hier 

eine  leise  Ahnung  von 
dem,  was  wir  in  Cor¬ 
doba  verloren  haben. 
—  Die  Umfassungs¬ 
wände  zeigen  dagegen 
nur  noch  geringen 
Schmuck;  das  beste  ist 
an  der  Südostwand  des 
mittleren  Querschiffes 
eine  niedliche  Ver¬ 
knüpfung  runder  und 
dreizackiger  Bogen  auf 
glasierten  Terrakotta- 
säulchen  ruhend. 

Die  nordwestliche 
Langwand  liegt  frei 
nach  dem  Garten  des 
Pförtners;  man  erkennt 
auch  dort  genau,  was 
zur  ersten  Anlage  und 
was  zu  den  späteren 
Anbauten  gehört.  Nur 
das  Querschiff  tritt 
allerdings  nicht  beson¬ 
ders  hervor,  da  man  es 
bei  der  Renovierung 
im  1 5.  Jahrhundert  des 
einheitlichen  Aussehens 
halber  mit  einer  neuen, 
der  Apsis  gleichen 
Passadenmauer  umklei¬ 
dete.  Die  dagegen 
aussen  scharf  markier¬ 
ten  Hufeisenbogen  der 
Moschee  lassen  ihrerseits  wiederum  die  Vermutung 
nicht  unberechtigt  erscheinen,  sie  seien  ehemals  nach 
arabischer  Art  überhaupt  offen  gewesen.  Dann  hätte 
auch  die  Achse  des  Gebäudes  jedenfalls  entgegen¬ 
gesetzt  zu  der  jetzigen  Richtung  nach  Südosten,  nach 
Mekka,  gezeigt.  Vielleicht  auch  sehen  wir  in  dem 
kleinen  Brunnen  dort  draussen  noch  ein  Überbleibsel 
islamitischen  Kultus’. 

Das  Baumaterial  sind  überall  lange  Ziegel  mit  oft 
unverhältnismässig  dicken  Eugen.  Aus  Ziegeln  be¬ 
stehen  auch  die  Rippen  der  Kuppeln,  die  Plächen 
derselben  ans  hochkantig  gestellten  Steinen.  Sicher¬ 
lich  ist  aber  das  jetzige  Dach  nicht  das  ursprüngliche; 
nach  den  weiter  oben  erwähnten  Durchbrüchen  in 
mehreren  Kuppeln  kann  man  sogar  annehmen,  dass 


El  Cristo  de  la  Liiz.  Inneres 


21 


i6o 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


Piierta  de  Visagra  in  Toledo 

ehedem  jede  der  letzteren  nach  aussen  hin  gesondert 
auftrat.  — 

Auch  die  schon  genannte  Puerta  de  Visagra  ist 
uns  erhalten  geblieben.  Sie  wird  bereits  im  Jahre  838 
geschichtlich  erwähnt  und  müsste  somit  als  das  älteste 
der  bestehenden  arabischen  Bauwerke  in  Toledo  an¬ 
gesehen  werden,  wenn  nicht  die  beiden  Spitzbogen 
an  der  Vorderfront  des  schwerfälligen  Turmes  dagegen 
sprächen.  Wir  werden  weiter  unten  sehen,  wann 
diese  Art  der  Überwölbung  zuerst  vorkommt  und 
woher  sie  stammt.  Zum  mindesten  müssen  wir  daher 
mit  einem  späteren  bedeutenden  Umbau  rechnen. 

Den  Namen  Visagra  (oder  Bisagra)  leiten  einige, 
welche  annehmen,  dass  bereits  in  vorarabischer  Zeit 
ein  Durchgang  an  derselben  Stelle  bestanden  habe, 
von  via  sacra  ab,  so  z.  B.  auf  einer  Inschrift  am 
inneren  Bogen  der  jetzigen  Thoranlage,  andere  vom 
arabischen  bab  schara  (Feldthor)  oder  bab  schakra 
(rotes  Thor). 

Nach  Fertigstellung  des  benachbarten  neuen  Thores 
gleichen  Namens  im  Jahre  1575  ward  das  alte  ver¬ 
mauert.  Heute  liegt  es  in  einer  Art  Grube  mehrere 
Meter  tief  unter  dem  Niveau  der  nahe  vorbeiführenden 
Chaussee.  — 

Was  sonst  von  Schöpfungen  arabisch-byzantinischer 
Baukunst  in  Toledo  auf  uns  gekommen,  ist  kaum  der 
Rede  wert. 

Trotz  feierlicher  Zusicherung  König  Alfons’  erlag 
schon  ein  Jahr  nach  der  Einnahme  der  Stadt  die 
dschämia,  die  Hauptmoschee,  dem  Fanatismus  der 
Reconquistadoren.  Nach  dem  Zeugnis  des  Jesuiten 


Mariana  war  sie  zwar  de  edificio  ni  grande  ni  her- 
moso«,  doch  steht  dies  mit  allem  in  offenem  Wider¬ 
spruch,  was  wir  sonst  von  der  Prunksucht  arabischer 
Herrscher  wissen  ^). 

ln  der  hochgelegenen  Parochialkirche  von  San 
Roman  sehen  wir  ebenfalls  eine  ursprüngliche  Moschee, 
die  auch  nach  der  Eroberung  der  Stadt  noch  längere 
Zeit  dem  Islam  gedient  haben  muss,  da  sich  ehemals 
arabisclie  Grabsteine  in  derselben  befanden,  die  nach 
dem  uns  erhaltenen  Inhalte  ihrer  Inschriften  auf  die 
Mitte  des  1 2.  Jahrhunderts  zu  datieren  sind.  An  den 
ehemaligen  Ban  gemahnen  jedoch  mir  noch  die  vier 
Hufeisenbogen  des  Mittelschiffes.  Auch  der  viereckige 
Glockenturm,  eine  Nachahmung  arabischer  Minarets, 
der  wir  in  Toledo  häufig  begegnen,  entstammt  einer 
späteren  Zeit. 

Noch  einige  andere  frühere  Moscheeen,  so  nament¬ 
lich  die  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  verbaute  Casa  de 
LAS  Tornerias,  und  auch  etliche  Privathäuser  könnte 
man  hier  nennen,  z.  B.  das  angebliche  ehemalige 
Ordenshaus  der  Templer,  in  welchem  sich  interessante 
arabische  Inschriften  fanden.  Von  dem  dnrch  den 
Khalifen  Jahja  almamün  billäh  in  der  Mitte  des  11. 
Jahrhunderts  erbauten,  einst  vielgepriesenen  Alcäzar, 
dessen  Stätte  heute  wahrscheinlich  das  sogenannte 
Hospital  de  Santa  Cruz,  jetzt  Kadettenschule  für  die 


1)  Der  einzige  karge  Rest,  der  uns  geblieben,  ist  leider 
nur  ein  Brnnnenkranz  von  weisseni  Marmor,  der  bis  vor 
etwa  dreissig  Jahren  im  Hofe  des  Waisenhauses  von  San 
Pedro  Märtir  stand  und  sich  heute  im  Provinzial-Museum 
befindet.  Um  den  oberen  Rand  zieht  sich,  durch  einen 
schmalen  Ring  von  Flechtwerk  geteilt,  in  zwei  Zeilen 
eine  historisch  wichtige  kufische  Inschrift  folgenden  Sinnes; 
»Im  Namen  des  allbarmherzigen  Gottes:  der  siegreiche 
zweifache  Herrscher  [d.  h.  der  Civil-  und  der  Militärgewalt] 
Abu  Muhammed,  Ismail  ibn  Abdurrahmän,  ibn  Dzu-n-nim 
(Gott  möge  seine  Tage  verlängern!)  befahl  den  Brunnen 
in  der  Moschee  von  Tolaitola  (Gott  möge  sie  behüten!) 
zu  erbauen  im  ersten  Monat  Djumäda  des  Jahres  423«; 
[14.  April  bis  13.  Mai  1032  unserer  Rechnung]. 


Inneres  der  Synagoge  Santa  Maria  la  Bianca  in  Toledo 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


1 62 

Infanterie,  einnimmt,  ist  aber  überhaupt  kein  Stein 
erlialten  geblieben. 

Das  Ende  des  1 1.  Jahrhunderts  bedeutet  in  melirals 
einer  Hinsiclit  einen  Wendepunkt  in  der  Geschiclite 
spaniscli-arabischer  Kunst.  Seit  langem  schon  waren  die 
Eundgruben  für  Säulen,  Kapitäle  u.  s.  w.  in  den  alt- 
römischen  Häusern  und  Tempeln  erschöpft,  die  reichen 
Sendungen  an  kostbaren  Baumaterialien  blieben  aus, 
welche  die  oströmischen  Kaiser  den  Omejjaden  für 
ihre  Prachtbauten  gespendet  hatten ;  dasselbe  geschah 
mit  den  byzantinischen  Architekten  und  Handwerkern, 
so  dass  sich  der  Araber  endlich  ganz  auf  die  eigenen 
Füsse  gestellt  sah.  Als  dann  ferner  die  bedräng-ten 
Herrscher  des  Südens  den  mächtigen  Ahnoraviden 
jussuf  ibn  Taschfin  aus  Marokko  gegen  die  Christen 
herbeiriefen  (1085),  da  brachten  die  Berber,  nament¬ 
lich  etwas  später  die  Almohaden,  einen  frischen  Zug 
und  neue  Motive  aus  Afrika  mit.  Der  Spitzbogen 
gelangte  neben  dem  Rundbogen  zu  Ehren,  statt  der 
Mosaiken  brauchte  man  fast  nur  noch  die  einfacher 
zn  verarbeitenden  azulejos^),  glasierte  Kacheln,  die 
sogar  bald  ein  bedeutendes  Ausfuhrgut  nach  dem 
Orient  wurden,  die  Wände  bedeckten  sich  mit  üppigen 
Stuckornamenten,  und  neben  den  Inschriften  aus 
schwerfälligen  kufischen  Zeichen,  welche  der  Araber 
frühzeitig  unter  seine  ornamentalen  Elemente  aufge¬ 
nommen  hatte,  kommen  nach  und  nach  die  Neski- 
Buchstaben  auf,  rund,  graziös,  oft  von  Blumen  durch¬ 
wunden. 

In  Toledo  aber  trat,  wie  in  den  übrigen  eroberten 
Gegenden,  das  christliche  Spanien  das  Erbe  der  Feinde 
an,  jetzt  selbst  ein  mehr  im  Kriegshandwerk  als  in  den 
Künsten  des  Friedens  geübtes  Volk.  Freilich  verging 
ein  Jahrhundert  darüber,  bis  mit  dem  wachsenden 
Gefühl  der  eigenen  Stärke  bei  der  neuen  herrschen¬ 
den  Rasse  der  alte  Religions-  und  Nationalitätenhass 
sich  legte,  und  auch  dann  noch  bedurfte  es  des  Vor¬ 
bildes  weiser  Regenten,  wie  des  zehnten  Alfons,  um 
endlich  die  beispiellose  Verschmelzung  des  Ostens 
und  des  Westens  herbeizuführen,  welche  Spanien 
durch  mehrere  Jahrhunderte  einen  höchst  eigenartigen 
Stempel  aufdrücken  sollte.  So  entstand  jene  Stilnuance, 
welche  die  Spanier  Mudejarstil -)  nennen.  Die  Be¬ 
rührung  der  Toledaner  Baumeister  natürlich  immer 
noch  ausschliesslich  Araber  -  mit  ihren  freien  Kol¬ 
legen  des  Südens  war  zwar  einerseits  nicht  stark  ge¬ 
nug,  um  erstere  ganz  unbeeinträchtigt  von  den 
Traditionen  ihrer  neuen  Nachbarn  ihre  künstlerischen 
Ideen  ausleben  zu  lassen,  aber  andererseits  doch  nicht 
so  schwach,  als  dass  sich  in  den  rückerorberten  Lan¬ 
den  der  ursprüngliche  byzantinische  Stil  ohne  Beein- 

])  Ce  mot  (azul  =  blau)  semble  etre  une  alteration  de 
l’arabe-persan  Idzoiiwerd  »lapis  laziili«.  De  azul«  les  Es- 
pagnols  out  fait  leur  »azulejo«,  mot  qui  est  retourne  dans 
I’arabe  sous  la  forme  de  zulaidj.  (Dozy  et  Engelmaim, 
Qlossaire  des  mots  espagnols  et  portugais  derives  de 
I’arabe.) 

2)  Miidejares,  vom  arabischen  mudädjan,  wurden  die 
unter  der  Christenherrschaft  lebenden  Mauren  genannt. 


flussuug  durch  die  neuen  afrikanischen  Elemente  er¬ 
halten  hätte. 

Da  haben  wir  sogleich  eines  der  hervorragendsten 
Werke,  gewissermassen  das  Wahrzeichen  des  alten 
Toledo  -  ich  meine  die  Puef^ta  del  Sol. 

Am  Orte  erzählte  man  mir,  unser  Kronprinz 
Friedrich  Wilhelm  habe  sogar,  als  er  seiner  Zeit 
Toledo  einen  Besuch  abstattete,  das  Thor  in  sein 
Notizbuch  skizziert.  Mag  sein!  Kein  anderes  arabisches 
Gebäude  ist  jedenfalls  so  gut  erhalten  geblieben  oder 
ei-halten  worden.  Da  fehlt  auch  kein  Steinchen  an 
seinem  Fleck. 

Zwischen  stai'ken,  zinnenbewehrten  Türmen  aus 
grobem  Gussmauerwerk,  einem  viereckigen  und  einem 
halbrunden,  um  die  sich  hoch  oben  ein  Kranz  von 
Fenstern  und  Erkern  zieht,  öffnet  sich,  von  schmächtigen 
Säulen  getragen,  ein  majestätischer  Spitzbogen,  hinter 
dem  der  Weg  durch  eine  Reihe  von  niedrigen,  ab¬ 
wechselnd  runden  und  spitzen  Bogen  führt.  Alle 
diese  sind  hufeisenförmig  eingezogen.  Über  dem 
Scheitel  des  Hauptbogens  aber  bringen  am  Mittelbau 
zwei  Reihen  ineinander  geflochtener  Ziegelarkaden 
Bewegung  in  die  schweren  Massen,  die  unteren  glatt 
hufeisenförmig,  die  oberen  ausgezackt  und  spitz. 
Angesichts  dieser  Zusammenstellung  all  der  ver¬ 
schiedenartigsten  Formen  müssen  wir,  wie  gesagt, 
einer  Zeit  des  Überganges,  also  etwa  dem  zwölften 
Jahrhundert,  die  Schöpfung  des  Werkes  zusprechen. 

Die  zwischen  den  beiden  Bogen  an  der  Aussen- 
seite  entstehende  Fläche  schmückt  ein  rundes  Madaillon 
mit  eingeschriebenem  Dreieck,  in  welchem  wir  das 
Wappen  der  Kathedrale  erkennen  mit  der  Verleihung 
der  Kasel  an  den  hl.  Ildefons  —  ein  späteres  An¬ 
hängsel  —  und  weiter  oben  gewahren  wir  noch  halb¬ 
versteckt  zwischen  den  Pfeilern  der  Arkaden  ein 
kleines,  roh  gearbeitetes  Marmorbild,  zwei  Frauen,  die 
in  einer  Schale  einen  menschlichen  Kopf  tragen. 
Man  sagt,  dass  Ferdinand  der  Heilige  dem  Alguacil 
Fernando  Gonzalez,  welcher  zwei  edle  Donas  be¬ 
leidigt  hatte,  das  Haupt  abschlagen,  seine  Güter  ein¬ 
ziehen  und  zum  warnenden  Exempel  das  Bild  am 
Thore  anbringen  Hess. - 

Nicht  zum  geringsten  war  bei  dem  Entstehen  des 
Mudejarstils  aber  ein  Faktor  massgebend,  der  an  sich 
schon  eine  starke  Hinneigung  zum  Orient  bedeutete, 
nämlich  die  Juden.  Römer  und  Goten,  Araber  und 
Castilianer  zogen  ins  Land,  seit  alters  her  aber  waren 
die  Juden  schon  da;  sie  waren  das  eigentlich  bleibende 
Element  dui'ch  alle  Stürme  der  Jahrhunderte. 

»Wir  andern  sind  von  heut’,  sie  aber  reichen 

Bis  an  der  Schöpfung  Wiege,  —  —  — « 

Sie  leisteten,  so  sagt  man,  den  Streitern  des  Pro¬ 
pheten  bei  ihrem  Siegesfluge  durch  die  Halbinsel  allen 
möglichen  Vorschub.  Dafür  hatten  sich  dann  unter 
dem  toleranten  Regiment  der  Khalifen  ihre  Gemeinden 
zu  sonst  nie  gesehener  Bedeutung  entwickeln  können, 
und  noch  lange  nachher  beherrschten  sie  trotz  aller 
Unterdrückungen  nicht  nur  den  Handel,  weshalb  sie 
in  Toledo  zu  ihrem  und  ihrer  Habe  Schutze  eine 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


163 


eigene  Burg  gründeten,  sondern  auch  von  ihren  Aka- 
demieen  aus  die  gesamten  Wissenschaften.  Eine  eigene 
Architektur  aber  hatten  natürlich  die  spanischen  Juden 
noch  weniger  als  die  Castilianer;  auch  sie  waren  also 
fast  ganz  auf  ihre  maurischen  Nachbarn  angewiesen. 

Gerade  zwei  ehemalige  Synagogen,  die  beide  ihre 
Erhaltung  zunächst  wohl  dem  Umstande  danken,  dass 
sie  später  zu  Kirchen  umgewandelt  wurden,  geben 
uns  daher  heute  vor  anderen  Kunde  vom  Werden 
und  Blühen  des  neuen  Stils. 

Im  äussersten  Westen  der  Stadt,  der  ehemaligen 
»juderia«,  führt  eine  schlichte  Pforte  zu  einem  duften¬ 
den  Gärtchen,  aus  dem  wir  sogleich  in  die  blendend 
weisse  Halle  von  Santa  Maria  la  Blanca  treten;  denn 
wie  bei  fast  allen  arabischen  Bauten  brauchen  wir 
uns  bei  der  öden  Aussen- 
seite  nicht  aufzuhalten, 
ganz  abgesehen  davon, 
dass  es  den  Anschein  hat, 
als  sei  die  Frontwand 
überhaupt  nicht  die  ur¬ 
sprüngliche,  sondern  eine 
spätere  Konstruktion,  mit 
der  man  das  Gebäude  aus 
irgend  einem  Grunde 
kürzte.  Auch  die  Ein¬ 
gangsthür  steht  in  keinem 
künstlerischen  Zusammen¬ 
hänge  mit  dem  übrigen 
Bauwerk. 

Dies  Haus  trägt  seine 
Geschichte  buchstäblich 
an  der  Stirn  geschrieben; 
eine  Tafel  nahe  dem  Ein¬ 
gänge  verkündet  uns: 

»DiesesGebäude  warSyna- 
goge  bis  zum  Jahre  1405, 
in  welchem  es  infolge  der 
Predigt  des  hl.  Vincenz 
Ferrer  zur  Kirche  geweiht 
wurde  mit  dem  Namen 
Santa  Maria  de  la  Bianca. 

Der  Kardinal  Sih'ceo  grün¬ 
dete  im  Jahre  1500  in  ihm  ein  Kloster  für  Büsse- 
rinnen.  Im  Jahre  1600  wurde  dieses  wieder  aufge¬ 
hoben  und  die  Kirche  in  eine  Ermita  oder  Bethaus 
verwandelt,  welchem  Zwecke  sie  bis  zum  Jahre  1791 
diente,  in  welchem  sie  verweltlicht  und  aus  Mangel 
an  Häusern  zur  Kaserne  umgewandelt  wurde.  Im 
Jahre  1798  aber,  da  man  erkannte,  dass  ihr  baldiger 
Einsturz  drohte,  verfügte  der  Herr  Don  Vicente  Do- 
minguez  de  Prado,  Intendant  des  königlichen  Heeres 
und  General  dieser  Provinz,  ihre  Reparatur,  um  ein 
so  altes  und  für  die  Nachwelt  denkwürdiges  Bauwerk 
zu  erhalten,  indem  er  es  gleichzeitig  als  Speicher  für 
die  königlichen  Güter  einrichten  liess,  damit  demselben 
nicht  etwa  späterhin  ein  noch  weniger  entsprechendes 
Los  zu  teil  würde.«  Dieser  Wunsch  ging  dann  frei¬ 
lich  doch  nicht  so  bald  in  Erfüllung.  Noch  1846 
beschwert  sich  Amador  de  los  Rios,  dass  wie  zum 
Hohn  auf  jene  Inschrift  und  trotz  aller  Bemühungen 


der  Comision  de  monumentos  die  Kirche  noch  immer 
eine  »asquerosa  piscina«  darstelle.  Nun:  wohl  uns, 
dass  wir  Enkel  sind!  Auch  in  Spanien  hat  man  ja 
inzwischen  angefangen,  die  Kunst  der  Vorfahren  zu 
schätzen,  und  seit  Ende  der  sechziger  Jahre  steht  das 
Gebäude  unter  der  besonderen  Aufsicht  der  genannten 
Gesellschaft. 

Bei  der  Beantwortung  der  Frage,  wann  denn  aber 
die  alte  Synagoge  selbst  entstand,  kann  allerdings  nur 
der  Vergleich  mit  anderen  Bauten  einigen  Anhalt  ge¬ 
währen.  D.  Manuel  de  Assas^)  nimmt  wegen  der 
dicken,  wenig  eleganten  Pfeiler  und  der  einfachen 
Bogen  jedenfalls  mit  Recht  an,  dass  die  ursprüngliche 

Anlage  selbst  wohl  noch  unter  dem  Schutze  der 

Khalifen  entstand,  während  der  ganze  künstlerische 

Schmuck  zweifellos  einer 
späteren  Periode  der  Ruhe, 
vielleicht  der  Regierungs¬ 
zeit  Alfons’  des  Weisen 

(1252 — 84),  angehört. 

Der  von  Osten  nach 
Westen  sich  erstreckende 
vollständig  ungleichseitige 
Raum")  wird  durch  vier 
Reihen  von  Pfeilern  in 
fünf  Schiffe  geteilt,  von 

denen  das  mittlere  1 2,5  m 
hoch  und  4,4  m  breit,  die 
beiden  nebenan  liegenden 
9,95  m  hoch  und  3,75  m 
breit,  die  Seitenschiffe 
7,0  m  hoch,  das  süd¬ 
liche  3,24  m  und  das 
nördliche,  bei  welchem 
der  Ausgleich  der  schiefen 
Gestalt  des  Ganzen  zu 
dem  rechteckigen  Grund¬ 
riss  der  Schiffe  stattfindet, 
1,2  bis  3,68  m  breit  ist. 
Das  ist  aber  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als 
die  altchristliche  Basilika. 
Die  32  achteckigen  Ziegel¬ 
pfeiler  stehen  auf  niedrigen  Plinthen  mit  Kacheln  be¬ 
kleidet;  an  den  Stuckkapitälen,  welche  an  ähnliche 

Arbeiten  in  Ravenna  und  Venedig  erinnern,  wachsen 

Pinienäpfel  zwischen  spitzigem,  gewundenem  Blattwerk 
mit  ineinander  geflochtenen  langen  Stielen  hervor. 
Darüber  spannen  sich  in  der  Längsrichtung  28  stark 
vorgekragte  glatte  Rundbogen  mit  gebrochenen  Kanten. 
Medaillons  mit  Bandwerk  von  gefälliger  Abwechselung 
füllen  die  Bogenfelder  aus,  umrahmt  von  Blattstengeln, 
die  sich  zu  Kreisen  zusammenwinden  und  in  immer 
kleineren  Zirkeln  sich  bis  nahe  an  die  Bogenrücken 
fortsetzen;  die  Mittelpunkte  sind  durch  frei  schwebende 
Rauten  bezeichnet.  Über  die  Bogen  dehnt  sich  dann 


1)  Monumentos  arquitcctönicos  de  Espana ,  denen 
auch  die  folgenden  Zahlen  entnommen  sind. 

2)  Ostseite  21,92,  Nord  26,04,  West  i8,g6,  Süd  28,52  m 
lang. 


Paerta  del  Sol  in  Toledo 


164 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


—  allerdings  nur  im  Mittelschiff  —  ein  dreiteiliger 
Eries,  dessen  mittleres,  breites  Glied  ein  zu  tausend 
geometrischen  Figuren  verschlungenes  Muster  darstellt, 
während  die  beiden  anderen,  schmäleren  Streifen  nur 
über  den  Pfeilern  kleine  Sterne  zeigen,  auf  denen  bei 
dem  unteren  offene  Muscheln  liegen.  Dies  alles  ist 
aus  dem  leichtesten  Material,  aus  Stuck,  hergestellt, 
den  man  nur  noch  durch  eiserne  Nägel  festzuhalten 
pflegte,  und  es  scheint  fast  ein  Wunder,  dass  über¬ 
haupt  eine  Spur  davon  auf  uns  gekommen  ist.  Man 


hat  der  Araber  doch  angefangen,  daneben  eigene 
Gebilde  zu  concipieren. 

Die  drei  Apsiden,  in  welche  im  Osten  die  mitt¬ 
leren  Schiffe  ausklingen,  sind  Werke  eines  späteren 
Jahrhunderts;  ihre  Beschreibung  fällt  daher  trotz  ihrer 
schönen  Muscheldecken  ausserhalb  der  hier  gesteckten 
Grenzen.  Hoch  über  der  Nische  des  Mittelschiffes 
sehen  wir  noch  zwei  eigenartig  überwölbte  Fenster 
und  zwischen  denselben  zwei  dekorative  Doppelbogen, 
und  zwar  je  einen  Hufeisen-Spitzbogen  von  einem 


)J 

r  )  { 

Ans  El  Transite  in  Toledo 
(Nach  Monumenios  arqnitectönicos  de  Espaha.) 


kann  bei  diesen  Arbeiten  eben  lediglich  an  ein  aus¬ 
gesucht  dauerhaftes  Bindemittel  glauben,  Eiweiss  oder 
Leim,  wie  Murphy  angiebt.  Weiter  hinauf  folgt 
eine  Reihe  von  fünffach  ausgezackten  Blendarkaden, 
deren  Widerlager  auf  Bündeln  ruhen,  die  sich  aus  zwei 
schlanken  Halbsäulchen  und  einem  Halbpfeiler  zu¬ 
sammensetzen.  jeder  einzelne  Zahn  der  Bogen  ist 
noch  durch  herabhängendes  Blattwerk  geziert,  atanriqiie, 
wie  es  die  Spanier  nennen.  Eine  starke  Doppellinie 
leitet  schliesslich  zu  der  altersschwarzen  Decke  aus 
Lärchenholz  über. 

Man  sieht,  die  Formen  der  alten  byzantinischen 
Lehrmeister  sind  noch  nicht  abgestreift,  aber  schon 


Zackenbogen  umrahmt.  Im  übrigen  bringen  einfache 
runde  Öffnungen  in  den  Längswänden  und  an  der 
Westseite  Licht  in  den  bis  auf  die  Säulenkapitäle  nach 
heutiger  Toledaner  Mode  weiss  getünchten  Raum. 

Das  Ganze  ist  in  seinem  unteren  Teile  aus  Cyklop- 
mauerwerk  mit  lang  durchgehenden  dünnen  Schichten 
von  Ziegeln,  höher  hinauf  aber  nur  aus  letzteren 
erbaut.  — 

■Y- 

Im  Jahre  1366  liess  Samuel  Levi,  der  unglück¬ 
selige  Schatzmeister  König  Peters  des  Grausamen, 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


165 


durch  Meir  Abdeli  im  Judenviertel  die  schon  er¬ 
wähnte  zweite  Synagoge  erbauen. 

Welcher  Unterschied  bloss  gegenüber  Santa  Maria! 
Ereilich:  damals  entstanden  gerade  auf  dem  Burg¬ 
berge  von  Granada  jene  Gemächer  von  unerhörter 
Pracht  und  Grazie  der  Ausstattung,  die  sich  um  den 
Löwenhof  gruppieren,  das  glänzende  Abendrot,  mit 
dem  der  Tag  der  Mauren  auf  der  Halbinsel  schliessen 
sollte,  und  zu  gleicher  Zeit  war  der  grosse  Umbau, 
den  Don  Pedro  durch  arabische  Künstler  an  dem 
Palaste  von  Sevilla  vorgenommen  hatte,  vollendet 
worden. 

Die  Kirche  de  Nuestra  Senora  del  Transito  oder 
kurz  EL  Transito,  wie  die  alte  Synagoge  heute  all¬ 
gemein  genannt  wird^),  besteht  aus  einem  einzigen 
etwa  18  zu  9  Meter  grossen  Schiffe.  Man  betritt 
dasselbe  jetzt  von  der  Wohnung  des  Aufsehers  aus 
durch  eine  in  der  südlichen  Langwand  befindliche 
niedrige  Thür. 

Ein  breiter  Eries  mit  filigranartigem  Stucknetz 
—  ataurique  — ,  über  das  sich  wie  eine  kostbare 
Stickerei  stilisierte  Ranken  mit  Weinlaub  und  Eich¬ 
blättern  legen,  zieht  sich  an  den  oberen  Seitenwänden 
hin,  eingefasst  und  mehrfach  durchschlungen  von 
schmalen  Bändern  mit  kaum  mehr  erkennbarer  ara¬ 
bischer  Schrift.  Kräftiger  treten  oben  und  unten  je 
eine  Borte  mit  hebräischer  Inschrift  hervor  —  diesen 
eigenartigen  Schmuck  haben  also  die  Juden  inzwischen 
den  Mauren  abgelernt  —  an  der  Evangelienseite  der 
84.,  an  der  Epistelseite  der  100.  Psalm.  Darüber  ein 
Kranz  traulicher  Nischen,  paarweise  geordnete  Halb¬ 
säulen  mit  mannigfaltigen  Kapitälen,  über  welche  sich 
siebenfach  ausgezackte  Rundbogen  spannen;  hier  und 
dort  in  denselben  vergitterte  Fensterchen  -  man 
muss  diese  sternförmigen  Stuckgitter  kennen!  —  von 
zwiebelförmiger  Abwölbung  und  mit  Schnecken  von 
Laubwerk  umsponnen,  in  jedem  Zacken  des  Blendbogens 
ein  Pinienapfel.  Auch  die  Zwickel  zwischen  den 
einzelnen  Bogen  sind  durch  capriciös  geschnitzte 
Rosetten  und  Blattgewinde  belebt.  Darüber  nochmals 
eine  etwas  breitere  hebräische  Schriftleiste.  In  ähn¬ 
licher  Weise  schmücken  die  Westseite  drei  grössere 
Fenster,  das  mittlere  mit  einem  Spitzbogen  überwölbt, 
der  sich  aus  elf  Halbkreisen  zusammensetzt,  während 
die  beiden  seitlichen  den  runden  Hufeisenbogen  zeigen. 
Die  gegenüber  liegende  Wand  indessen,  in  welcher 
sich  die  Altarnische  öffnet,  ist  wie  mit  Velarien  Über¬ 
hängen  mit  den  herrlichsten  almocärabes’),  welche 
ein  Karnies  von  Stalaktitenbogen  krönt.  Eine  ganz 
wunderbare  Harmonie  und  Eleganz  herrscht  in  allen 
Teilen.  Wappenschildchen  mit  dem  Schloss  und  dem 
Löwen  von  Castilien  und  Leon  sind  überall  geschickt 
verteilt.  Der  Dachstuhl  ist  offen,  und  durch  die 
Balkenlage  hindurch  leuchten  Elfenbeinsterne  aus  der 
dunklen  Cedernholzverschalung  hervor. 

An  der  Altarnische  finden  sich  noch  einige  in 
Stein  gehauene  hebräische  Inschriften,  welche  auf  die 

1)  Vom  Tode  (transire)  der  hl.  Jungfrau. 

2)  Vom  arab.  al-niukärbes  ~  adorno  de  lazos,  Band¬ 
schmuck  (Acad.). 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  7. 


Gründung  und  Erbauung  des  Gotteshauses  Bezug 
haben.  In  überschwänglichen  Worten  wird  dort  das 
Lob  des  Stifters  und  des  Baumeisters  gesungen,  und 
zwischendurch  auch  mit  einer  geradezu  verblüffenden 
Verehrung  des  Königs  gedacht:  »Gott  helfe  ihm,  ver¬ 
mehre  seine  Staaten,  segne  und  erhöhe  ihn  und  setze 
seinen  Thron  über  alle  Fürsten.  Gott  sei  mit  ihm 
und  seinem  ganzen  Hause,  und  jedermann  beuge 
sich  vor  ihm;  und  die  Grossen,  die  es  auf  Erden 
giebt,  sollen  ihn  anerkennen,  und  alle  die,  welche 
seinen  Namen  hören,  sollen  sich  freuen  ihn  zu  ver¬ 
nehmen  in  allen  ihren  Reichen,  und  es  möge  kund 
werden,  dass  er  Israel  ein  Schutz  und  Verteidiger 
war!  .  .  .  Friede  sei  mit  ihm  und  seinem  ganzen 
Geschlechte,  und  Segen  all  seiner  Arbeit!  Jetzt  hat 
Gott  uns  aus  der  Gewalt  unseres  Feindes  befreit,  und 
seit  dem  Tage  unserer  Gefangennahme  hatten  wir 
keine  solche  Zufluchtstätte.«  War  das  bloss  eine 
Schmeichelei  des  damals  noch  mächtigen  Samuel,  oder 
ist  es  VOX  populi,  das  den  »grausamen«  König  lieber 
»el  Justiciero«,  den  Gerichtsherrn,  nannte? 

Zwei  Jahre  nach  der  Vertreibung  der  Juden  aus 
Spanien  (1492)  überliessen  die  katholischen  Könige 
die  auf  den  Namen  des  hl.  Benito  neugeweihte  Kirche 
den  Calatravarittern ,  welche  natürlich  in  der  Folge 
das  Innere  für  ihre  Zwecke  umänderten,  mehrere 
Altäre  aufstellten  und  einen  Chor  an  der  Westwand 
anlegten,  dessen  Beseitigung  seit  langem  der  Wunsch 
jedes  Besuchers  war.  Auch  als  Begräbnisstätte  wurde 
die  Kirche  zeitweilig  benutzt. 

Noch  zwei  Gebäude  von  ursprünglich  gleicher 
oder  ähnlicher  Schönheit  und  aus  nicht  viel  späterer 
Zeit  birgt  Toledo:  el  Taller  del  Moro  und  la  Casa 
DE  Mesa. 

Dem  ersteren,  der  »Werkstatt  des  Mauren«  hat 
das  Geschick  übel  mitgespielt:  Ursprünglich  ohne 
Zweifel  die  Wohnung  irgend  eines  Granden,  wurde 
es  später  zum  Nonnenkloster  eingerichtet,  diente  dann 
lange  den  am  Bau  der  Kathedrale  arbeitenden  Stein¬ 
metzen  als  Werkstätte  bezw.  Lagerplatz,  woher  sich 
der  Name  schreibt,  und  ist  schliesslich  jetzt  zur 
Wagenremise  eines  Fuhrmannes  degradiert  -  zur 
Schande  für  ganz  Toledo. 

Was  uns  von  der  Herrlichkeit  früherer  Tage  er¬ 
halten  geblieben  ist,  beschränkt  sich  daher  nur  auf 
einen  etwa  15  zu  6  Meter  grossen  Saal,  den  man 
von  einem  Garten  aus  von  Süden  betritt,  und  an 
den  sich  im  Osten  und  Westen  zwei  kleinere  und 
niedrigere  Räume  von  etwa  6^/^  Meter  im  Geviert 
anschliessen.  Das  Ganze  ist  teils  aus  Ziegeln  erbaut, 
teils  in  der  in  Spanien  seit  ältester  Zeit  üblichen 
Art  von  Gusswerk,  bestehend  aus  einer  Mischung  von 
Lehm,  Kalk,  Sand  und  Steinen^)  und,  nachdem  das 
Domkapitel  ein  vom  Kardinal  Mendoza  angelegtes 


1)  Für  diese  noch  lieute  in  Spanien  auf  dem  Lande 
üblichen  Wände  hat  man  die  Bezeichnung  tapia.  Die 
Mauren  besassen  eine  besondere  Geschicklichkeit  in  der 
Herstellung  derselben,  die  meist  steinhart  sind.  Zur  Ver¬ 
stärkung  wurden  oft  Bohlen  und  dergleichen  mit  ein¬ 
gemauert. 


22 


Inneres  von  El  Toller  del  Moro  in  Toledo 

(Nach  einem  Gemälde  von  Ric.  de  Madrazo.  Photographie  Laurent.) 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


1 67 


gotisches  Portal  weniger  aus  Kunstsinn  als  aus  Hass 
gegen  den  Erbauer  wieder  hat  entfernen  lassen,  äusser- 
lich  vollständig  schmucklos.  Doch  im  Inneren  ist 
der  Araber  ganz  in  seinem  Element. 

Über  und  neben  dem  Haupteingange,  den  ein 
Rundbogen  von  drei  Meter  Spannweite  überwölbt,  haften 
Tafeln  abwechselungsreicher,  spitzenartiger  Stuccatur, 
aus  der  sich  oben  fünf  kleine  Fenster  abheben. 

Lhid  auf  Säulen,  Kuppel, 

Wänden 

Zieh’n  von  oben  sich  bis 
unten 

Des  Korans  arab’sche 
Sprüche, 

Klug  und  blumenhaft  ver¬ 
schlungen  . 

Ähnlichen  Zierat  im 
kleinen  weisen  zwei  Fen¬ 
steröffnungen  an  den  Sei¬ 
ten  des  Portals  auf.  Ein 
über  meterhoher  Sims  mit 
allerliebsten  Sternmustern 
von  sinnverwirrendem  Li¬ 
nienspiel  und  darüber  eine 
breite  Leiste  mit  lateini¬ 
scher  Inschrift  bilden 
rings  den  Übergang  zu 
einer  reichen  Holzdecke, 
einst  um  so  prächtiger, 
da  sie  im  Glanze  des 
Goldes  und  der  Farben 
erstrahlte.  Aber  wie?  An 
derselben  Wand  sehen  wir 
stilvolle  arabische  Zeichen 
und  lateinische  Buchsta¬ 
ben,  Koränsprüche  und 
Psalmenverse  friedlich 
nebeneinander?  Möglich, 
ja  sogar  wahrscheinlich  ist 
es  zwar,  dass  das  lateini¬ 
sche  Schriftband  hiereiner 
späteren  Zeit  entstammt; 
es  ist  anderseits  aber  er¬ 
wiesen,  dass  die  arabischen 
Architekten  von  ihren 
altgewohnten  schönen 
Zeichen  selbst  dann  nicht 
Hessen,  wenn  sie  für  Christen  bauten.  Castilianische 
Könige  Hessen  Münzen  mit  spanischer  und  arabischer 
Legende  prägen,  und  im  Alcäzar  von  Sevilla  wird 
der  Sultan  D.  Pedro  el  Cruel  in  arabischen  In¬ 
schriften  gepriesen.  Erst  dem  Jahrhunderte  Philipp’s  II. 
war  es  Vorbehalten,  gegen  solche  Ketzerei  zu  wüten. 

Zwei  Hufeisenbogen,  nicht  ganz  so  gross  als  der¬ 
jenige,  durch  welchen  wir  eingetreten  sind,  führen 
seitlich  zu  den  kleineren  Gemächern,  während  ein 
gleicher  Durchgang  an  der  Nordwand  vermauert 
ist.  Dieser  letztere  ist  ganz  kahl,  an  den  beiden  anderen 
aber  bethätigt  sich  wieder  die  glühende  Phantasie  der 
Orientalen.  Ebenso  standen  auch  einst  die  Neben¬ 


säle  an  Pracht  der  Ausstattung  in  nichts  der  grossen 
Halle  nach.  Leider  ist  der  westliche  jetzt  fast  voll¬ 
ständig  verwüstet,  während  man  an  den  steinernen 
Teppichbekleidungen  des  anderen  noch  die  ver¬ 
blichenen  Spuren  der  Malerei  entdecken  kann.  Es 
ist  nicht  das  einzige  Mal,  dass,  wie  auf  dem  Bilde 
Ricardo  de  Madrazo’s,  der  Taller  del  Moro  einem 
Künstler  als  Vorlage  gedient  hätte.  — 

Über  die  Casa  de 
Mesa,  so  genannt  nach 
der  Familie,  in  deren  Be¬ 
sitz  sich  das  Haus  seit 
längerer  Zeit  befindet, 
hat  hingegen  ein  gütiger 
Gott  seine  Hand  gebreitet: 

In  der  calle  de  la 
Misericordia,  nahe  der 
plazuela  de  Padilla,  steigt 
man  über  eine  saubere 
Steintreppe  zu  einem  Hofe 
empor.  Zur  Linken  öffnet 
man  uns  eine  Pforte, 
durch  die  wir  in  ein 
kleines  Vestibül  gelangen 
gegenüber  ein  pom¬ 
pöser  Rundbogen  mit 
prächtiger  Einfassung  — 
ein  grüner  Vorhang  wird 
zurückgezogen  —  und 
dann  stehen  wir  staunen¬ 
den  Auges  in  einem 
grossen,  rechteckigen  Saal, 
ungewiss  wohin  zuerst  die 
Blicke  senden, ob  nach  dem 
wunderfeinen  Schmuck 
der  Wände  oder  nach 
der  unvergleichlichen 
Decke.  Kein  Laut  des 
Lebens  dringt  herein,  ja, 
wenn  draussen  die  glühen¬ 
de  Sonnenhitze  über  den 
grauen  Dächern  zittert, 
in  dem  kühlen  Raume 
eine  Stunde  zu  verträu¬ 
men  !  Dann  ahnt  man 
etwas  von  dem  Geiste  des 
Volkes,  das  diese  Wunder 
schuf. 

Nun  Hegt  ja  freilich  es  muss  doch  einmal 
gesagt  werden  -  nicht  in  der  Höchstentfaltung  der 
Dekoration  das  Geheimnis  wahrer  Kunst  verborgen. 
Aber  eines  sollte  auch,  um  sich  vor  Enttäuschungen 
zu  bewahren,  jeder  Reisende,  der  zuerst  an  die  ara¬ 
bischen  Bauten  herantritt,  sich  vorher  klar  machen: 
Wir  dürfen  diese  nicht  bloss  kaltblütig  mit  kritischem 
Blicke  messen,  sonst  werden  wir  für  dies  krampfhafte 
Bemühen  halbverstandene  fremde  Elemente  zu  ver¬ 
arbeiten,  namentlich  aber  für  diesen  ganzen  liebens¬ 
würdigen  Stnckschwindel  nur  ein  Lächeln  übrig  haben. 
Heidelberg  ist  an  sich  zehnmal  höher  einzuschätzen 
als  selbst  die  Alhambra.  Wir  müssen  eben  jene. 


Ornament  ans  der  Casa  de  Mesa  in  Toledo 


22 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


i6S 


Santiago  del  Arrabal  in  Toledo 

ich  möchte  sagen,  poetischen  Werke,  nach  denen  uns 
von  Kindheit  auf  die  echt  deutsche  Sehnsucht  zieht, 
liinnehmen  auf  Treu  und  Glauben  wie  eine  fromme 
Legende  oder  wie  ein  Märchen.  Dann  werden  wir 
uns  auch  ihrem  Zauber  nicht  entziehen  können. 

Ich  mag  nun  hier  nicht  wiederholen,  wovon  ich 
schon  beim  Transito  gesprochen,  von  den  zierlichen, 
vielfach  gewundenen  Reben,  die  sich  von  durch¬ 
schimmernder  getüpfelter  Ataurique  abheben.  Zwei 
Muster  übereinander!  Und  doch,  es  ist  nichts  Über¬ 
ladenes  daran;  das  Ganze  mit  seinen  rhythmischen 
Wiederholungen  wirkt  ungemein  ruhig.  Wie  beim 
Taller  del  Moro,  so  beschränkte  man  sich  ausserdem 
darauf,  allen  Formenreichtum  auf  die  Armbaes,  wie 
man  heute  noch  in  Spanien  die  halben  Umfassungen 
und  Bekrönungen  der  Thür-  und  Fensteröffnungen 
nennt,  zu  vereinigen.  Freilich  von  den  einstigen 
leuchtenden  Farben  ist  auch  hier  kaum  ein  Hauch 
geblieben,  und  ein  fahler  Kreideton  überzieht  das 
Ganze.  Glücklich,  wem  die  Phantasie  den  einstigen 
Schmuck  der  Teppiche  an  den  Wänden  vorzuzaubern 
vermag.  Nur  der  etwa  1,20  Meter  hohe  Sockel  von 
bunten  Azulejos  strahlt  in  unvergänglichem  Glanze; 
nach  den  verschiedenen  Wappen  und  Figuren  zu 
schliessen,  die  sich  an  der  obersten  Kachelreihe  fin¬ 
den,  ist  er  aber  nicht  ganz  so  alt  wie  der  übrige 


Schmuck  des  Saales.  Über  einer 
Eichblattborte,  die  alle  vier  Wände 
umzieht,  steigt  endlich  fast  tonnen¬ 
artig  die  imposante  Artesonado- 
Holzdeckei)  empor,  deren  tiefe 
Kassetten  zu  sternförmigen  Mustern 
ineinandergreifen.  Von  byzantini¬ 
schem  Stil  ist  kaum  mehr  etwas  zu 
merken.  Im  Westen  sch li esst 
sich  noch  ein  kleineres  Gemach 
an,  von  dessen  ursprünglicher  De¬ 
koration  aber  nur  noch  die  Decke 
erhalten  ist. 

Aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
haben  wir  es  hier  ebenso  wie 
beim  Taller  del  Moro  mit  dem 
Prunksaal  eines  Palastes  zu  thun. 
Das  Monogramm  Christi  am  Kapitäl 
der  Säule  eines  graziösen  Ajimez- 
balkons  hoch  oben  an  der  West¬ 
wand  lässt  darauf  schliessen,  dass 
das  Haus  von  vorne  herein  von 
Christen  bewohnt,  wenn  auch  je¬ 
denfalls  von  einem  Araber  erbaut 
wurde.  Es  war  damals  die  Zeit, 
da  die  castilianischen  Grossen,  die 
auf  den  Kriegszügen  im  Süden  den 
künstlerischen  Luxus  maurischer 
Paläste  kennen  gelernt  hatten,  da¬ 
nach  strebten,  die  eigenen  Sitze 
mit  dem  gleichen  Komfort  aus¬ 
zustatten,  und  »zur  Ausschmückung 
kleinerer,  dem  Sinnengenuss  und 
orientalischer  Behaglichkeit  gewid¬ 
meter  Räume  ist  kein  geschmack¬ 
vollerer  Baustil  zu  finden,  als  dieser  altmaurische«. 

Den  Dank  aller  Zeiten  aber  noch  an  dieser  Stelle 
dem  unbekannten  Kunstfreunde,  welcher,  wie  D.  Jose 
Amador  de  los  Rios  erzählt,  im  Anfänge  des  vorigen 
Jahrhunderts  dem  damaligen  Besitzer  des  Hauses  die 
Absicht  auszureden  wusste,  das  für  baufällig  und 
unbewohnbar  erklärte  Haus  niederzureissen. 

Gegenwärtig  dient  der  Saal  der  Sociedad  de  los 
a/nigos  del  pais  als  Versammlungsort.  — 


Es  würde  weit  über  den  Rahmen  der  hier  ge¬ 
stellten  Aufgabe  hinausgehen,  wollte  ich  mich  gleich 
lange  bei  jedem  einzelnen  der  unzähligen  steinernen 
Zeugen  arabischer  Kultur  aufhalten,  die  sich  vielfach 
unter  Ruinen  versteckt  finden,  hier  eine  Marmorsäule, 
dort  eine  ganze  Galerie,  anderswo  eine  Inschrift,  ein 
Ajimez  oder  eine  Kuppeldecke.  Eilen  wir  daher 
zum  Ende! 


1)  Artesön  =  grosser  Trog,  nennt  man  auch  die  vier¬ 
eckigen  oder  polygonalen  Kassetten,  meist  mit  einer 
Rosette  in  der  Mitte,  mit  denen  man  in  Spanien  nach  dem 
Vorbilde  der  Araber  das  Gewölbeinnere  und  die  Laibungen 
der  Bogen  schmückte. 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


Das  Äussere  der  in  nächster  Nähe  des  Visagra- 
thores  gelegenen  Kirche  von  Santiago  del  Arrabal, 
die  drei  bogengeschmückten  Apsiden,  das  jetzt  ver¬ 
mauerte  Hufeisenportal  der  Südfront,  dessen  Bekrönung 
von  ineinander  geschlungenen  Zackenarkaden  an  die 
Puerta  del  Sol  anklingt,  und  der  minaretartige 
Glockenturm  zeigen  deutlich,  wie  der  Mudejarstil 
auch  dort  Verwendung  fand,  wo  es  sich  geradezu 
um  den  Neubau  christlicher  Kirchen  handelte.  Der 
Grundriss  lässt  dabei  ganz  die  der  christlichen  Tradition 
entsprechende  Kreuzform  erkennen.  Im  Inneren  stützt 
sich  das  Mittelschiff  auf  vier  riesige  Hufeisen -Spitz¬ 
bogen;  die  alte  gemalte  Holzdecke  mit  den  ebenfalls 
gemalten  arabischen  Inschriftleisten  ist  aber  der  Ver¬ 
schönerungswut  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zum 
Opfer  gefallen  und  harrt  über  den  elenden  modernen 
Gewölben  ihrer  Auferstehung.  Allerdings  soll  nach 
D.  Rodrigo  Amador  de  los  Rios,  der  dieselbe  zuletzt 
untersuchte,  nur  noch  das  Mittelschiff  einigermassen 
intakt  sein.  Die  Kirche  wurde  nachweislich  gegen 
Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  erbaut;  man  schreibt 
ihre  Gründung  auch  dem  unglücklichen  Könige 
Sancho  II.  von  Portugal  zu,  der  nach  seiner  Ent¬ 
thronung  in  Toledo  ein  Asyl  fand.  —  Hier  wären 
auch  zu  nennen:  die  Apsis  der  legendenreichen 
Kapelle  del  Cristo  de  la  Vega  (Santa  Leocadia)  mit 
ihrer  vierfachen  Reihe  doppelter  Zierbogen,  ferner 
Santa  Fe,  Santa  Ursula,  San  Bartolome  und  andere. 

Eine  mehr  als  flüchtige  Erwähnung  verdienen 
noch  die  beiden  Brücken,  die  sich  über  die  ewig 
rauschende  Tajoschlucht  spannen,  von  Alcäntara  (zu 
deutsch  »die  Brücke«)  und  San  Martin:  erstere  ein 
Werk  von  ganz  besonders  kühner  Anlage  und  in 
der  Mitte  des  neunten  Jahrhunderts 
entstanden,  wenn  auch  nachher 
mehrfach  zerstört  und  umgebaut, 
letztere 'ZU  Anfang  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  an  Stelle  eines  durch 
Hochwasser  eingestürzten,  etwas 
weiter  flussabwärts  gelegenen  Über¬ 
ganges  errichtet.  Beide  werden 
durch  starke  Thortürme  verteidigt, 
die  ein  echt  arabisches  Gepräge 
tragen.  Um  den  stehengebliebenen 
Endpfeiler  der  erwähnten  einge¬ 
fallenen  Brücke  aber  hat  Frau  Sage 
ihr  Netz  gewoben,  und  so  ward 
er  zum  Bafio  de  la  Cava,  dem 
Bade,  in  dem  König  Roderich  die 
schöne  Florinde  belauschte  und 
damit  den  Anstoss  zum  Zusam¬ 
menbruche  seines  Reiches  gab  i).  — 

Das  kurz  nach  der  Erobe¬ 
rung  der  Stadt  von  Alfons  VI. 
angelegte  Kastell  von  San  Ser- 
VANDO  (San  Cervantes),  malerisch 
auf  steilen  Felsen  als  Wächter 


1 6() 

der  Alcäntara  sowie  eines  ehemaligen  Cluniacenser- 
Klosters  hingesetzt,  der  Zeuge  so  vieler  blutiger 
Kämpfe  zwischen  Halbmond  und  Kreuz,  ist  natürlich 
ebenfalls  noch  ganz  im  arabischen  Stil  gehalten,  den 
es  durch  allen  Wandel  der  Zeiten  bewahrt  hat.  Eine 
Zigeunerfamilie  mit  ihren  Schweinen  und  Hühnern 
bilden  heute  die  ganze  Besatzung  der  verwahrlosten 
Burg,  an  der  übrigens  zuletzt  noch  die  Franzosen  zu 
Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  ihr  Mütchen  in  ähn¬ 
licher  Weise  kühlten  wie  an  der  -Festung«  Alhambra. 

Nicht  besser  sieht  es  mit  dem  unter  dem  Namen 
Palacio  de  Galiana  bekannten  Gemäuer  am  Tajo, 
etv/as  oberhalb  von  der  Stadt  aus,  der  Sage  nach 
vom  Khalifen  Galafre^)  für  seine  Tochter,  die  Ge¬ 
liebte  Karls  des  Grossen,  erbaut.  Von  diesem  Palaste 
und  den  ehemals  dort  befindlichen  Wasseruhren 
sprechen  arabische  Schriftsteller  wie  von  Wunder¬ 
dingen,  und  in  der  Kapitulationsurkunde  der  Stadt 
vom  Jahre  1085  wird  er  daher  nebst  der  angrenzen¬ 
den  »huerta  del  rey  ausdrücklich  dem  Könige  zu 
eigen  erklärt.  In  späteren  Jahrhunderten  ohne  Frage 
mehrfach  umgebaut,  zeigen  die  wenigen  erhalten  ge¬ 
bliebenen  Ruinen  die  Formen  der  Blütezeit  maurischer 
Kunst.  Ich  habe  dort  am  Orte  immer  lebhaft  an 
Grillparzer’s  Jüdin  von  Toledo  denken  müssen.  — 

Im  südlichen  Stadtteil  endlich,  an  einem  unregel¬ 
mässigen  Platze,  weist  man  dem  Fremden  den  an¬ 
geblichen  Alcäzar  König  Peter’s  des  Grausamen,  zum 
Teil  in  Trümmern  liegend,  der  Rest  seit  langem  zum 
Nonnenkloster  der  hl.  Elisabeth  umgebaut.  Das 


1)  Alfahri  ibn  Jussuf,  empörte  sich  761  gegen  Abdur- 
ralimän  I.  von  Cordoba. 


1)  »Puente  de  San  Martin«  und  _ i'  '  _ _ _ ^ 

»Bafio  de  la  Cava«  siehe  auf  unserer 

ersten  Abbildung.  Palast  Don  Pedro’ s  des  Grausamen  in  Toledo 


170 


ARABISCHES  AUS  TOLEDO 


leidlicb.  erhaltene  wappengeschmückte  Portal  gehört 
der  letzten  Periode  des  Mudejarstiles  an.  — 

Und  noch  als  der  grosse  Kardinal  Jinienez  in 
den  Jahren  1 504  bis  1 2  den  neuen  Kapitelsaal  der 
Kathedrale  erbaute,  wusste  er  oder  sein  künstlerischer 
Berater  für  die  Eingangsthür  keinen  besseren  Schmuck 
als  eine  allerdings  sehr  gelungene  Nachahmung  jener 
exotischen  Vorbilder.  Es  war  ein  letzter  Hauch,  der 
von  dem  gefallenen  Granada  durchs  Land  ging. 


So  können  wir  zwar  die  Zuckungen  des  sterben¬ 
den  Körpers  noch  Jahrhunderte  lang  verfolgen;  mit 
der  eigentlichen  maurischen  Kunst  aber  war  es  vor¬ 
bei,  als  am  2.  Januar  1492  Kardinal  Mendoza  seine 
Kreuzstandarte  auf  die  Torre  de  la  Vela  der  Alhambra 
pflanzte.  Was  sollte  wohl  nach  dem  Saale  der  zwei 
Schwestern  und  (Xtm  Mirador  de  Daraja  von  Menschen¬ 
händen  in  dieser  Art  noch  geschaffen  werden?  — 

G.  BARTH. 


Kapitelsaal  der  Kathedrale  in  Toledo 


DISIECTA  MEMBRA 

Von  Walther  Amelunq  in  Rom 


Ein  Grabrelief  ist  das  vierte  unserer  Beispiele:  es 
stellte  eine  Frau  dar,  die  auf  ihrem  Sessel,  unter 
dem  wir  den  Wollkorb  der  arbeitsamen  Haus¬ 
mutterbemerken,  mit  übereinander  geschlagenen  Beinen 
sitzt,  den  rechten  Ellenbogen  aufs  linke  Knie  stützt,  und 
den  Kopf  auf  den  Fingern  der  erhobenen  Rechten 
ruhen  lässt  (Abb.  7).  Ein 
weiter  Mantel  ist  um  die 
mit  dem  Chiton  beklei¬ 
dete  Gestalt  gezogen  und 
über  den  geneigten  Kopf 
geschlagen,  um  dessen 
Mund  ein  leises,  beschei¬ 
denes  Lächeln  spielt.  Aber 
diese  Vereinigung  von 
Körper  und  Kopf  wird 
den  meisten  der  Leser 

etwas  Neues,  Fremdes  sein. 

Wer  den  Vatikan  besucht 
hat,  kennt  in  der  Galleria 
delle  Statue  eine  Wieder¬ 
holung  der  Figur,  der  man 
einen  antiken  Knabenkopf 
aufgesetzt  hat,  den  Kopf 
eines  siegreichen,  mit  der 
Tänie  geschmückten,  jun¬ 
gen  Athleten  —  eines 

der  vielen  Beispiele  ge¬ 
dankenloser  Flickarbeit  in 
unseren  Museen.  Zudem 
sitzt  die  Figur  dort  auf 
einem  fast  ganz  moder¬ 
nen  Felsen,  dessen  ober¬ 
sten  Teil  man  aus  dem 
Sitzbrett  des  Sessels  zu¬ 
rechtgehauen  hat ,  und 

das  Ganze  ist  nicht  als 
Relief,  sondern  als  Statue 
gearbeitet,  die  nun  der 
Ordner  des  Museums 
nicht  etwa  mit  der  brei¬ 
ten  Rückseite,  sondern 
mit  der  einen  Schmalseite  gegen  die  Wand  gestellt 
hat.  Das  aber  hätte  ihm  wenigstens  klar  werden 
müssen,  dass  die  Gestalt  nur  als  Relieffigur  entstanden 
sein  kann,  und  dass  das  Werk,  wenn  auch  der  römische 
Kopist  sich  aus  Bequemlichkeit  die  Ausführung  des 
Reliefgrundes  erspart  hat,  auf  jeden  Fall  so  gestellt 
werden  muss,  dass  die  Fläche  der  Mauer  den  fehlen¬ 
den  Grund  ersetzt.  Thatsächlich  ist  ja  die  Figur  wie 


eingepresst  zwischen  die  Fläche  des  Grundes  und  die 
ideale  Oberfläche;  man  sieht,  der  Künstler  war  noch 
nicht  im  stände,  seiner  Figur,  trotz  der  Einfügung  in 
jene  Flächen,  eine  lebendige,  natürlich  wirkende  Hal¬ 
tung  zu  geben.  Nicht  darin  allein  bezeugt  er  sich 
als  ein  Kind  der  Epoche,  die  dem  Wirken  des  Phi- 

dias  voraus  lag.  Was 
für  ein  tief  empfindender 
Meister  er  aber  gewesen, 
konnte  uns  der  Torso 
seiner  Schöpfung  nicht 
lehren;  das  zeigte  uns 
erst  dessen  Vereinigung 
mit  dem  Kopfe,  die  eine 
der  glücklichsten  Ent- 
deekungen  auf  unserem 
Gebiete  ermöglichte^).  Nun 
erst  fühlen  wir  wieder  die 
wundervoll  zarte  Stim¬ 
mung,  die  dieses  Bild  der 
sinnend  in  sich  versun¬ 
kenen  Gattin  erfüllt.  Der 
Gattin  —  das  Wort  stellt 
sich  vor  diesem  Werke 
unwillkürlich  ein;  und 
dass  uns  darin  keine  sub¬ 
jektive  Phantasie  täuscht, 
zeigt  uns  die  Thatsache, 
dass  das  Werk  schon 
im  Altertum  zu  Darstel¬ 
lungen  des  von  Homer 
besungenen  Ideals  einer 
treuen  Gattin,  der  Pene¬ 
lope,  benutzt  worden  ist. 
Unter  diesem  Namen  wird 
denn  auch  das  Werk 
den  meisten  Lesern  be¬ 
kannt  gewesen  sein.  Die 
Benennung  beruht  auf 
dem  Vergleich  mit  jenen 
Darstellungen;  doch  lässt 
sich  nicht  ausdenken,  wie 
man  in  jener  frühen  Zeit  dazu  hätte  kommen  sollen, 

1)  Stiidniczka,  Antike  Denkmäler,  heransgegeben  vom 
archäologischen  Institut  1S88,  p.  lyf.  T.  XXXI.  LJnsere 
Abbildung  ist  hergestellt  nach  einem  Gips,  bei  dem  die 
beste  Wiederholung  des  Kopfes  auf  den  Torso  einer 
Wiederholung  im  Museo  Chiaramonti  des  Vaticans  gesetzt 
ist,  der  einzigen,  die  als  Relief  gearbeitet  war.  Sie  und  die 
auffallende  Einpressinig  der  Figur  zwischen  zwei  Flächen, 


Abb.  7.  Sogenannte  trauernde  Penelope 
Torso  im  Museo  Chiaramonti  des  Vatikan 
Kopf  ini  Königlichen  Maseam  in  Berlin 


DISIECTA  MEMBRA 


Abb.  8  und  g.  Weibliche  Staiiie.  Kopf  (sogenannte  Äspasia)  und  Körper  getrennt 

im  KönisUchen  Museum  in  Berlin 


ein  monumentales  Relief  mit  einer  Einzeldarstellung 
der  Penelope  aufzustellen,  weährend  andererseits  das 


die  sich  sonst  durch  Nichts  erklären  liesse,  beweist,  dass 
das  Original  als  Relief  geschaffen  war.  Für  eine  Rnnd- 
figur  würde  auch  die  Komposition  in  ihrem  unteren  Teil 


Bild  der  sinnenden  Frau  sich  in  immer  neuen  Varia¬ 
tionen  auf  den  Grabreliefs  der  späteren  Zeit  wieder- 


zuviel  Löcher  gehabt  haben.  Wir  können  nicht  wissen, 
wie  bei  'den  übrigen  Kopien  dem  Fehlen  der  Rückwand 
abgeholfen  war.  jedenfalls  standen  sie  mit  der  breiten 


DISIECTA  MEMBRA 


173 


findet;  niemals  aber  ist  es  wieder  einem  Künstler 
gelungen,  dieses  Bild  so  anspruchslos  und  doch  so 
innerlich  ergreifend  zu  gestalten,  so  ganz  einer  keusch 
in  sich  verschlossenen  Knospe  gleich. 

Noch  ein  anderes  Frauenbild  der  gleichen  Epoche 
ist  in  letzter  Zeit  auf  ähnliche  Weise  unserer  freu¬ 
digen  Bewunderung  wiedergewonnen  worden.  Während 
aber  dort  alle  Züge  weich,  zart  und  innig  sind, 
packt  uns  hier  der  monumentale  Ausdruck  einer 
harten,  herben  und  strengen  Natur  (Abb.  8  und  9). 
Die  beiden  Teile  der  Komposition,  Kopf  und  Körper, 
waren  längst  bekannt  und  hatten  das  allgemeine  In¬ 
teresse  erregt.  Da  tauchte  im  römischen  Kunsthandel 
eine  weitere  Wiederholung 
der  Figur  auf  und  diesmal 
mit  ungebrochenem  Kopfe; 
allerdings  zeigte  das  Antlitz 
die  Züge  einer  römischen 
Dame  —  die  Fälle  sind  ja 
nicht  selten,  dass  Römer 
und  Römerinnen  sich  auf 
solche  Weise  mit  Benutzung 
eines  griechischen  Idealbildes 
haben  porträtieren  lassen  , 
aber  alles  übrige  am  Kopfe 
zeigte  deutliche  Übereinstim¬ 
mung  mit  einem  archaischen 
Kopftypus,  der  am  schönsten 
durch  eine  Wiederholung  im 
Berliner  Museum  bekannt 
war;  man  konnte  im  Abguss 
beide  Teile  miteinander  ver¬ 
einigen,  und  nun  war  mit 
einem  Schlage  aus  der  steifen, 
vom  weiten  Mantel  wie  mit 
geometrischen  Flächen  um¬ 
schlossenen  Figur  das  über¬ 
aus  charaktervolle  Bild  eines 
strengen,  mit  herbem  Ernst 
in  sich  verschlossenen,  weib¬ 
lichen  Wesens  geworden. 

Alles,  die  schmucklose  Ein¬ 
fachheit  im  Wurf  des  Man¬ 
tels,  die  schlichte,  sorgfältige 
Tracht  der  Haare,  die  abwei¬ 
sende  Härte  im  Ausdruck  des 
regelmässigen  Gesichtes  —  alles  klingt  nun  harmonisch 
zusammen^).  Dem  so  gewonnenen  Bilde  gegenüber 
bleibt  nur  ein  Wunsch  noch  zu  erfüllen:  trotzdem 
die  Figur  sich  in  einer  geschlossenen  Masse  darstellt, 
so  dass  man  versucht  sein  könnte,  sich  das  Original 


Rückseite  gegen  eine  Wand,  vielleicht  in  einer  rechteckigen 
Nische. 

Hatte  das  Original  eine  Umrahmung?  Fast  möchte 
man  es  voraussetzen.  Die  Wirkung  der  Figur  würde  ent¬ 
schieden  gesteigert  werden,  wenn  sie  in  einer  Art  Naiskos, 
wie  die  späteren  Grabreliefs,  auch  räumlich  gegen  die 
Aussenwelt  abgeschlossen  wäre.  Aber  bisher  fehlen  Bei¬ 
spiele  für  ein  so  frühes  Auftreten  derartiger  Umrahmung. 

1)  Amehmg,  Römische  Mitteilungen  1900,  p.  181  ff. 
T.  III,  IV. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  7 


in  Marmor  zu  denken,  ist  wahrscheinlicher,  dass  es 
vielmehr  in  Bronze  gearbeitet  war,  wofür  die  draht¬ 
artig  gesträhnten  Haare  und  die  scharfen  Kanten 
sprechen,  in  denen  alle  Flächen  aneinander  stossen; 
und  zweifellos  würde  jener  ernste  Charakter  durch 
die  dunkle  Farbe  des  Metalls  noch  weit  energischer 
zum  Ausdruck  kommen. 

Dieser  Wunsch  bleibt  bei  einer  anderen  Figur 
nicht  mehr  zu  erfüllen:  bei  dem  myronischen  Disko¬ 
bolen.  Alle  kennen  jene  geniale  Meisterschöpfung 
des  in  äusserster  Kraftanspannung  zusammengebogenen 
Athleten  mit  dem  mächtig  nach  rückwärts  empor¬ 
gerissenen  Arm;  ein  unvergessliches  Bild  voll  sprühen¬ 
den  Lebens,  das  man  mit 
einem  gespannten  Bogen 
verglichen  hat,  von  dessen 
Sehne  der  Pfeil  im  nächsten 
Augenblick  dahinfliegen  wird; 
denn  auch  der  Athlet  kann 
in  der  Stellung  der  Statue 
nur  einen  Augenblick  ver¬ 
weilen;  im  nächsten  wird 
der  Arm  mit  äusserster  Kraft 
nach  vorn  geschwungen,  die 
ganze  Figur  schnellt  empor 
und  vorwärts  und  der  Diskos 
saust  zum  Ziele.  Wie  aber 
konnte  man  bisher  eine  ge¬ 
nügende  Vorstellung  von 
diesem  Werk  erhalten?  waren 
doch  die  sichtbaren  Wieder¬ 
holungen  vielfach  und  schlecht 
ergänzt,  trugen  sie  doch  flaue, 
moderne  und  falsch  gewen¬ 
dete  Köpfe,  die  mit  dieser 
Wendung  das  ganze  Motiv 
durchbrachen;  die  einzige 
Wiederholung  aber,  die  den 
wundervollen  ursprünglichen 
Kopf  ungebrochen  trägt,  wird 
dauernd  von  seinem  missgün¬ 
stigen  Besitzer  verschlossen 
gehalten.  Wenigstens  waren 
Vorjahren  Photographien  von 
der  Statue  genommen  wor¬ 
den,  auf  denen  man  die  Züge 
des  Kopfes  erkennen  konnte,  und  mit  ihrer  Hilfe  war 
es  möglich,  Kopien  des  Kopfes  und  vor  kurzem  in 
dem  neu  eingerichteten  Qipsmuseum  des  Louvre  einen 
Abguss  des  Kopfes  selbst  zu  entdecken,  von  dem  so¬ 
fort  weitere  Abgüsse  verbreitet  wurden’).  So  hat 
man  nun  im  Münchner  Museum  der  Abgüsse  diesen 
Kopf  in  der  richtigen  Wendung  auf  einen  Abguss 
der  leidlichen  Wiederholung  des  Körpers  im  Vatikan 
aufgesetzt  und,  um  nicht  auf  halbem  Wege  stehen 
zu  bleiben,  den  Stamm  wegschneiden  lassen.  Un¬ 
mittelbar  wird  einem  jeden  klar  werden,  wie  erst  jetzt  die 
Bewegung  der  Beine  zur  vollen  Geltung  gelangt;  erst 


1)  Furtwängler,  Sitzungsberichte  der  Königlich  Bay¬ 
rischen  Akademie  der  Wissenschaften  igoo,  p.  705  ff. 

23 


Abb.  10.  Nike  des  Paionios.  Ergänzter 
Gipsabguss  im  Albertinum  in  Dresden 


174 


DISIECTA  MEMBFU 


Abb.  n.  Antike  Marmorkopie  nach  dem  Diskobolos  des  Myron  im 
Pal.  Massimi-Lanceloiti  in  Rom 


jetzt  kommt  es  dem  Beschauer  deutlich  zum  Bewusst¬ 
sein,  wie  die  ganze  Figur  allein  auf  dem  rechten 
Fusse  lastet,  während  der  linke  Fuss  mit  umgebogenen 
Zehen  am  Boden  leicht  dahingeschleift  wird.  Und 
endlich  hat  man  die  Figur  in  diesem  Zustand  bron¬ 
zieren  lassen;  unsere  Abbildungen  (ii  — 13)  zeigen 
den  Marmor,  den  richtig  ergänzten  und  bronzierten 


Gips  nebeneinander  1).  Es  ist 
ganz  erstaunlich,  wie  viel 
schlanker  und  beweglicher  die 
ganze  Figur  durch  die  dunkle 
Farbe  des  Metalles  wird,  wie 
sich  der  Eindruck  der  Masse 
verringert  und  die  Komposition 
von  der  Basis  leicht  zu  lösen 
scheint.  Kein  anderes  Beispiel 
kann  uns  eindringlicher  die 
Notwendigkeit  vor  Augen  füh¬ 
ren,  eine  für  Bronze  vom 
Künstler  berechnete  Figur  auch 
in  diesem  Material  ausgeführt 
zu  sehen,  und  ich  dächte,  dass 
derartige  Versuche  auch  für  die 
lebende  Kunst  nicht  ohne  Be¬ 
deutung  seien.  Da  unsere  Künst¬ 
ler  nicht  mehr  handwerksmässig 
mit  dem  Material  umgehen  ler¬ 
nen,  wird  der  starke  Unterschied, 
den  es  für  die  ganze  Kompo¬ 
sition  eines  Werkes  bedingt,  zu 
sehr  vernachlässigt,  und,  was 
wir  heute  sehen,  ist  nur  allzu 
oft  nichts  anderes  als  eine  Pla¬ 
stik,  die  ihren  Formencharakter 
vom  Arbeiten  in  nassem  Ton 
erhält,  kopiert  in  Marmor  oder 
Bronze.  Nicht  alle  können 
einem  Flildebrand  ebenbürtig 
sein;  aber  es  wäre  zu  wünschen, 
dass  wenigstens  die  einfache 
Einsicht  in  die  wesentliche  Be¬ 
deutung  des  Stoffes  in  der  bil¬ 
denden  Kunst  wieder  so  allge¬ 
mein  und  selbstverständlich 
werde,  wie  sie  im  Altertum 
und  zur  Zeit  der  Renaissance 
zum  Segen  der  Kunst  gewesen  ist. 

Auch  ein  Bild  der  Athena, 
aus  der  gleichen  Epoche  stam¬ 
mend,  hat  uns  die  Forschung 
wieder  aus  zerstreuten  Teilen 
hergestellt“).  Im  Museum  zu 
Dresden  standen  zwei  im  Torso 
übereinstimmende  Figuren  der 
Göttin  mit  verschiedenen  Kö¬ 
pfen,  von  denen  der  eine  sicher 
nicht  zu  seinem  Körper  ge¬ 
hörte,  während  man  bei  dem 
anderen  schwankte.  An  ihm 
fehlte  wieder  der  Oberkopf, 
den  man  mit  einem  hässlichen 
modernen  Helm  ergänzt  hatte.  Zunächst  wurde  man 
nun  darauf  aufmerksam,  dass  dieser  Kopf  die  ge- 


1)  Vergleiche  Riezier  in  Helbing’s  Monatsberichten  über 
Kunstwissenschaft  und  Kunsthandel  1Q02. 

2)  Furtwängler,  Meisterwerke  der  griechischen  Plastik, 
p.  4ff.  T.  I-  III. 


Mb.  ,2.  RestUuHcn  des  Diskobolos  in  Oips  Mb-  ’3-  ResHüMon  des  Diskobohs  in  bronziertem  Gips 


176 


DISIECTA  MEMBRA 


ringere  Replik  eines  herrlichen,  mit  dem  Bruststück 
vollkommen  erhaltenen  und  zum  Einsetzen  in  eine 
Statue  bestimmten  Kopfes  im  Museo  civico  zu  Bo¬ 
logna  sei.  Da  man  diesen  für  den  Kopf  einer  Ama¬ 
zone  erklärt  hatte,  schien  es  entschieden,  dass  der 
Kopf  in  Dresden  nicht  zu  dem  Athena-Torso  gehören 
könne.  Er  wurde  abgenommen,  von  seinem  Helm 
befreit  und  mit  Hilfe  eines  Abgusses  des  Bologneser 
Kopfes  ergänzt.  Da  kam  ein  Gelehrter,  der  frisch 
an  die  Sache  herantrat,  auf  anderem  Wege  zu  der 
Erkenntnis,  jener  Kopf  müsse  doch  zu  dem  Athena- 
Körper  gehören  und  bei  er¬ 
neuter  Untersuchung  ergab 
es  sich,  dass  nicht  nur  der 
Marmor  an  Kopf  und  Figur 
identisch  sei,  sondern  dass 
im  Kern  des  Halses  geradezu 
Bruch  auf  Bruch  passe;  so 
kam  diese  Athena  wieder  zu 
ihrem  rechtmässigen  Kopfe 
(s.  Abb.  14).  Man  entfernte 
nun  von  der  zweiten  Kopie 
des  Körpers  im  gleichen  Mu¬ 
seum  den  fremden  Kopf  mit 
dem  modernen  Bruststück 
beides  war  hier  ursprünglich 
besonders  gearbeitet  gewesen 
--  und  setzte  in  die  leere  Ein¬ 
lassung  einen  Abguss  des 
Bologneser  Kopfes.  »Bei  die¬ 
ser  Zusammenfügung  passte 
die  Bologneser  Büste  so  ge¬ 
nau  in  jene  Einlassung,  als 
ob  beide  für  einander  gear¬ 
beitet  worden  wären ;  am 
Kontur  der  Büste  brauchte 
auch  nicht  ein  Millimeter 
weder  zugesetzt  noch  abge¬ 
schnitten  zu  werden.« 

Der  linke  Arm  war  erhoben ; 
er  muss  die  Lanze  gehalten 
haben.  Für  die  Rechte  Hess 
sich  von  vornherein  schliessen, 
ergab  sich  durch  denVergleich 
mit  Gemmen  aber  noch  be¬ 
stimmt,  dass  sie  den  Helm 
trug.  So  hat  man  die  ganze  Fi¬ 
gur  in  Köln  in  der  Kunstanstalt 
von  A.  Gerber  ergänzt  und  bronziert;  von  dieser  Restau¬ 
ration  steht  ein  Exemplar  heute  im  Wallraf-Richartz- 
Museum  ^).  Dass  das  Original  dieser  wundervollen 
Schöpfung,  die  man  dem  Phidias  selber  zugeschrieben 
hat,  wirklich  in  Bronze  gearbeitet  war,  erkennt  man  an 
der  ganzen  scharfkantigen  Formenbehandlung  und  vor 
allem  an  dem  prachtvollen  Gewirr  der  stark  gelockten 
Haare.  Hat  man  zudem  mit  jener  Rückführung  auf 
Phidias  Recht,  dann  kann  das  Original  nur  eine 
Athena  gewesen  sein,  die  der  Meister  für  die  Lemnier 


1)  Leider  wurden  wir  mit  der  Photographie,  die  wir 
gern  abgebildet  hätten,  ini  Stiche  gelassen. 


gearbeitet  hat,  ein  im  Alterthum  besonders  hoch¬ 
bewundertes  Werk,  und  diese  war,  wie  uns  die  Über¬ 
lieferung  sagt,  aus  Bronze.  Wie  stark  auch  hier 
wieder  der  Eindruck  des  Werkes  durch  die  Bron¬ 
zierung  beeinflusst  wird,  braucht  nicht  wiederholt  zu 
werden '). 

Als  die  Deutschen  nach  der  Gründung  des 
Reiches  ihre  erste  gemeinsame  wissenschaftliche  Aktion, 
die  Ausgrabungen  von  Olympia,  unternahmen,  wurde 
es  mit  freudigem  Jubel  begrüsst,  als  eine  Statue  der 
Siegesgöttin  zu  Tage  kam,  die  dort  in  der  Epoche  des 

Phidias  von  den  Messeniern 
errichtet  worden  war,  ein  in 
seiner  Konception  durchaus 
eigenartiges,  kühnes  Werk, 
dessen  Meister  Paionios  war. 
Vor  der  Front  des  Zeustem¬ 
pels  erhob  sich  ein  hoher, 
dreieckiger  Pfeiler,  die  Basis 
des  Bildes,  das  die  Göttin 
mit  mächtig  ausgebreiteten 
Fittichen  herabschwebend  dar¬ 
stellte;  aber  ihre  Füsse  be¬ 
rührten  nicht  etwa  den  Pfeiler 
selbst,  über  dem  wir  zunächst 
links  den  Kopf  eines  Adlers 
bemerken,  der  hier  aus  einer 
formlosen  Masse  ragt,  auf  der 
dann  die  Gewandsäume  an¬ 
setzen  ;  und  zwar  fliegt  das 
Tier  nicht  etwa  in  der  glei¬ 
chen  Richtung,  wie  die  Göt¬ 
tin;  während  diese  gerade 
auf  den  Beschauer  zu  gerichtet 
sich  herabsenkt,  fliegt  der 
Adler  horizontal  an  ihm  vor¬ 
bei  nach  links.  Durch  dieses 
Mittel  löste  der  Künstler  die 
schwebende  Figur  für  die 
Vorstellung  des  Betrachtens 
vollkommen  von  ihrer  Basis. 
Die  Figur  wurde  in  sehr 
trümmerhaftem  Zustande  ge¬ 
funden;  sorgfältig  sammelte 
man  alle  Reste  und  setzte  sie 
sowohl  in  Marmor  in  Olym¬ 
pia  wie  im  Abguss  in  Dres¬ 
den  zusammen;  leider  aber 
war  von  dem  Kopfe  nur  ein  Fragment  des  Ober¬ 
schädels  zu  Tage  gekommen.  Da  fand  sich  in  rö¬ 
mischem  Privatbesitz  ein  weiblicher  Kopf  von  hervor¬ 
ragender  Schönheit,  an  dem  die  betreffenden  Partien  so 
vollkommen  mit  dem  Fragment  des  Nike-Kopfes  über¬ 
einstimmten,  dass  man  nur  zweifeln  konnte,  ob  hier 
eine  Kopie  —  denn  um  eine  solche  handelt  es  sich 
nach  einem  anderen  Werk  des  gleichen  Meisters 


2)  Abb.  15  giebt  einen  in  Dresden  hergestellten  Bronze- 
nachguss  des  Bologneser  Kopfes  wieder.  Wir  verdanken 
die  Erlaubnis  zur  Veröffentlichung  dem  Besitzer  des  Nach¬ 
gusses,  Herrn  Prof,  von  Wilaniowitz-Möllendorff. 


Abb.  14.  Statue  der  Athena  in  Dresden 
Furtwängler,  Meisterwerke  der  griechischen  Plastik 


DISIECTA  MEMBRA 


177 


oder  nach  der  Nike  selber  vorliege’).  In  jedem  Falle 
konnte  man  den  römischen  Kopf  mit  bestem  Ge¬ 
wissen  benutzen,  um  die  Erscheinung  der  Nike  mit 
einem  der  wesentlichsten  Teile,  dem  Gesichte,  auszu¬ 
statten,  und  das  ist  in  Dresden  im  Albertinum  ge¬ 
schehen  (Abb.  10),  wo  man  zudem  alle  fehlenden 
Teile  durch  den  Bildhauer  Rühm  hat  ergänzen  lassen. 
Die  Probe  ist  glänzend 
gelungen;  dasselbe  Gefühl 
für  feierlichen  Ernst  und 
einfache  Grösse,  wie  es  sich 
in  dem  einheitlichen  Zuge 
der  mächtig  zurückgewehten 
Falten,  in  den  ruhig  beweg¬ 
ten,  breiten  Formen  der  Ge¬ 
stalt  ausspricht,  ist  auch 
lebendig  in  den  einfachen, 
ernsten  Zügen  des  jung¬ 
fräulichen  Gesichtes. 

Etwas  ähnliches  wie 
Bronzierung  bleibt  hier  zu 
wünschen  übrig.  Wir  wis¬ 
sen,  dass  alle  antiken  Skulp¬ 
turen  im  reichsten  Farben¬ 
schmucke  prangten.  Wer 
im  Süden  und  besonders 
in  Griechenland  gewesen 
ist,  sieht  es  ohne  weiteres 
ein,  wodurch  eine  der¬ 
artige  Tönung  des  weissen 
Marmorsteines  notwendig 
wurde,  um  so  mehr,  wenn 
eine  Figur,  wie  die  Nike, 
hoch  erhoben  gegen  den 
Fhrnmel  gesehen  werden 
sollte.  In  Athen  stehen  heute 
moderne  weisse  Marmorsta¬ 
tuen  auf  hohen  Säulen;  so¬ 
bald  die  Sonne  scheint, 
werden  diese  Statuen  zu 
blendenden  weissen  Flecken, 
in  denen  jede  Modellie¬ 
rung  verschwindet,  dop¬ 
pelt  störend  in  einer  Natur, 
die  so  voll  leuchtender 
Farbenpracht  ist,  wie  die 
griechische.  Wie  besonders 
stark  gerade  Paionios  auf 
die  Mitwirkung  der  Be¬ 
malung  rechnete,  zeigt  Abb.  15. 
mehr  als  vieles  andere 
die  Behandlung  jener  Partie 
zwischen  dem  Pfeiler  und  dem  Gewand  der  Nike; 
erst  wenn  hier,  was  vom  Adler  sichtbar  wurde, 
schwarz  erschien,  das  andere  etwa  in  der  grauen 
Farbe  eines  wolkenartigen  Gebildes,  wurde  die  Inten¬ 
tion  des  Künstlers,  die  Figur  ganz  von  ihrer  Basis 
zu  lösen,  erreicht;  waren  die  Säume  des  Gewandes 


1)  Amelung,  Römische  Mitteilungen,  1894,  p.  162 ff. 
T.  VII. 


markiert,  so  musste  sich  auch  dort  alles  deutlicher 
sondern;  die  goldbraunen  Haare  waren  durchzogen 
von  buntfarbigen  breiten  Binden;  zu  beiden  Seiten 
ragten  die  dunklen  Flügel  auf;  die  Gestalt  der  Göttin 
mit  dem  zarten  durchscheinenden  Gewände  hob  sich 
hell  ab  von  dem  dunklen  Purpur  des  segelartig  ge¬ 
bauschten  Mantels  und  die  ganze  Darstellung  in  voller 

Farbenprachtund  plastischer 
Fülle  von  dem  unendlichen 
Plan  des  tiefblauen  Him¬ 
mels. 

Bei  denselben  olympi¬ 
schen  Ausgrabungen  kam 
ein  Meisterwerk  des  Praxi¬ 
teles  zu  Tage,  die  Statue 
des  Hermes,  der  den  klei¬ 
nen  Dionysos  auf  dem 
Arme  hält,  ein  herrliches 
Bild  jugendlicher,  liebens¬ 
würdigster  Eleganz.  Es 
war  nicht  uninteressant,  mit 
diesem  Werk  die  Kopie 
eines  älteren  zu  vergleichen, 
in  dem  eine  ähnliche  Gruppe 
zur  Darstellung  gelangt 
war,  die  Eirene,  die  Frie¬ 
densgöttin,  die  den  kleinen 
Plutos,  den  Gott  des  Reich¬ 
tums,  wie  eine  mütterliche 
Wärterin  auf  dem  Arme 
hält;  freundlich  neigt  sich 
ihr  edles  Antlitz  dem  Kinde 
zu,  das  kosend  mit  dem 
Händchen  nach  dem  Kinn 
der  Göttin  greift:  ein 
rührendes,  durch  und  durch 
menschliches  Bild,  das 
sich  in  seiner  Verbindung 
von  Würde  und  Innigkeit 
jeder  christlichen  Madonna 
mit  dem  Kinde  an  die 
Seite  stellen  kann.  Der 
Vergleich  mit  jenem  praxite- 
lischen  Werke  war  um  so 
natürlicher,  als  man  weiss, 
dass  die  Eirene  eine  Schö¬ 
pfung  des  Kephisodot  war, 
des  Vaters  oder  älteren 
Bruders  des  Praxiteles. 
Die  Beziehungen  und  Un¬ 
terschiede  waren  gleich 
deutlich. 

Von  der  Eirene  existiert  die  vollständigste  Kopie 
in  der  Münchener  Glyptothek;  nur  trägt  —  abgesehen 
von  anderen  kleinen  Beschädigungen  —  der  Knabe 
einen  antiken,  ihm  aber  ursprünglich  nicht  gehörigen 
Kopf.  Da  kam  eine  vollständige  Replik  des  Knaben 
im  Piräus  zu  Tage.  Man  benuzte  das  und  stellte 
eine  richtige  Restauration  der  Figur  her,  die  man 
dann  in  Kupfer  treiben  liess,  da  auch  hier  über¬ 
liefert  war,  dass  das  Original  in  Metall  gearbeitet 


Bronzenachgiiss  des  Kopfes  der  Athena 
in  Berlin 


DISIECTA  MEMBRA 


1 78 


war.  Wir  geben  dieses  Werk  in  Abbildung  16 
wieder’). 

Vielleicht  ist  uns  noch  ein  anderes  Werk  des  glei¬ 
chen  Meisters  durch  Kom¬ 
bination  der  disiecta  mem- 
bra  wiedergewonnen,  ein 
Werk,  das  dem  des  Pra¬ 
xiteles  noch  näher  steht, 
da  es  den  gleichen  Ge¬ 
genstand  behandelt.  Die 
Eigur  des  Hermes  ist  in 
einer  Statue  des  Madrider 
Museums  erhalten ;  dass 
sie  einst  auf  der  ergänzten 
Linken  den  kleinen  Dio¬ 
nysos  gehalten  habe,  er- 
giebt  sich  aus  dem  Stich 
einer  jetzt  verschollenen 
Gruppe,  die  einst  im  Pa¬ 
lazzo  Earnese  in  Rom 
gestanden  hat  (sie  giebt 
ihr  Vorbild  nur  in  der 
Umkehrung  wieder);  da 
sehen  wir  in  der  That 
unverkennbar  den  glei¬ 
chen  Hermes  gruppiert 
mit  dem  kleinen  Dionysos, 
der,  wie  der  Plutosknabe, 
das  eine  Händchen  zum 
Kinn  des  Pflegers  erhebt. 

Und  nun  ist  auch  eine 
Kopie  dieses  Knaben  mit 
der  Hand  des  Hermes,  auf 
der  er  sitzt,  bekannt  ge¬ 
worden:  dies  Pragment 
befindet  sich  im  römischen 
Thermen-Museum.  Leider 
ist  es  noch  nicht  möglich 
gewesen,  die  beiden  Teile 
—  sie  stammen  nicht  von 
der  gleichen  Kopie  —  im 
Gips  miteinander  zu  ver¬ 
einen;  es  wäre  auf  diese 
Weise  wiederum  ein  Mei¬ 
sterwerk  eigenartiger  Be¬ 
deutung  nicht  nur  dem 
Bewusstsein,  sondern  auch 
dem  Auge  zurückgewon¬ 
nen  -). 

Und  nun  als  letztes 
Beispiel  noch  die  reinste 


1)  Das  Exemplar  befin¬ 
det  sich  in  Berlin  im  Besitz 
des  Herrn  V.  Benary;  ans¬ 
geführt  wurde  es  im  Atelier 
des  Prof.  Eberle  in  München 

von  dem  jetzigen  Prof.  Wadere  unter  Leitung  Brunn’s  und 
des  Herrn  Prof.  Fränkel,  dessen  Vermittelung  es  der  Ver¬ 
fasser  dankt,  dass  ihm  eine  Photographie  der  Statue  zur 
Verfügung  gestellt  wurde. 

2)  Klein,  Praxiteles,  p.  402ff,  Fig.  81  -84. 


Abb.  16.  Eirene  des  Kt’pbisodot.  In  Kupfer 
getriebene  Restitution  in  Berlin 


Verkörperung  weiblicher  Schönheit,  die  Figur  der 

Aphrodite,  wie  sie  Praxiteles  für  das  Heiligtum  der 
Göttin  am  knidischen  Meeresstrande  geschaffen 

(Abb.  18).  Er  hatte  sie 
dargestellt,  wie  sie  zum 
Bade  entkleidet  das  letzte 
Gewandstück  auf  ein  Ge- 
fäss  an  ihrer  Seite  sinken 
lässt;  während  die  Rechte 
in  unbewusster  Scheu  die 
Scham  bedeckt,  wendet 
die  Göttin  den  Blick  mit 
selig  schimmernden  Augen 
zur  Seile.  Die  bedeu¬ 
tendste  Wiederholung  be¬ 
sitzt  das  vatikanische  Mu¬ 
seum,  doch  ein  geschmack¬ 
loses  Blechgewand  ver¬ 
hüllt  barbarisch  den  Unter¬ 
körper  und  ein  gefühlloser 
Ergänzer  hat  den  Kopf 
nicht  weit  genug  zur  Seite 
gewendet.  ln  München 
hat  man  nun  dem  Ab¬ 
guss  des  vatikanischen 
Körpers  den  eines  wun¬ 
dervollen,  mit  dem  Halse 
erhaltenen  Kopfes  im  Ber¬ 
liner  Privalbesitz  aufgesetzt 
und  damit  erst  eine  Ah¬ 
nung  davon  ermöglicht, 
welche  Fülle  von  Liebreiz 
Praxiteles  dieserSchöpfung 
verliehen  ’).  Wie  aus¬ 
drucksvoll  ist  diese  Be¬ 
wegung  des  Halses  und 
die  Stellung  des  Kopfes 
auf  dem  Halse!  Wie 
herrlich  äussert  sich  ge¬ 
rade  darin  die  ganze  hin- 
gebende  Schmiegsamkeit 
des  zur  Liebe  geschaffenen 
Weibes!  Erst  jetzt  können 
auch  wir  die  Bewunde¬ 
rung  begreifen,  die  das 
ganze  Altertum  diesem 
Werk  und  seinem  Bildner 
gezollt  hat. 

Einer  kleinen  Schrift 
des  Professors  Michaelis 
in  Strassburg  entnehme 
ich,  dass  auch  im  dor¬ 
tigen  Gipsmuseum  der 
Universität  verschiedene 
Versuche  der  oben  ge¬ 
schilderten  Art  unter¬ 
nommen  worden  sind; 
besonders  ausdrucksvoll  ist  die  Gruppe  der  Tyrannen- 


])  Fiirtwängler  in  Helbing’s  Monatsberichten  über 
Kunstwissenschaft  und  Kunsthandel  igoi.  Die  Finger  der 
R.  müssten  gestreckt  sein. 


DISIECTA  MEMBRA 


179 


Abb.  77.  Niobide.  Ergänzung  in  Prag:  der  Körper 
im  Vatikan,  der  Kopf  in  den  Uffizien  in  Florenz 

mörder  in  richtiger  Gruppierung  und  Ergänzung  und 
ohne  die  klotzigen  Stämme  des  Marmors  (wir  dürfen 
die  Abbildung  mit  gütiger  Erlaubnis  des  Professor 
Michaelis  hier  wiederholen).  Wieviel  bedeutender  noch 
würde  sie  wirken,  wenn  man  sie  nicht  mit  der  toten 
Farbe  des  weissen  Gipses,  sondern  in  glänzender 
Bronzierung  sähe! 

Ähnliche  Versuche  sind  in  den  Universitäts-Museen 
zu  Bonn  und  Prag  gemacht  worden.  Aus  letzterem 
kann  ich  hier  eine  interessante  Ergänzung  abbilden 
(Abb.  1 7).  Von  der  einen  flüchtenden  Tochter  der  Niobe 
giebt  es  zwei  im  allgemeinen  Motiv  übereinstimmende, 
in  Einzelheiten  verschiedene  Darstellungen,  eine  in 
Florenz,  die  andere  im  Museo  Chiaramonti  des  Va¬ 
tikan.  Diese  weit  grossartiger  in  Bewegung  und 
Durchführung  des  Gewandes,  jene  besser  erhalten, 
vor  allem  mit  dem  sehr  reizvollen  Kopfe.  Einen  Ab¬ 
guss  von  diesem  hat  man  nun  in  Prag  dem  Abguss 


des  Torso  aus  dem  Museo  Chiaramonti  aufgesetzt 
und  dadurch  zweifelsohne  die  Wirkung  des  Torso 
um  ein  Erhebliches  gesteigert.  Es  wäre  für  einen 
Künstler  keine  allzu  schwierige  Aufgabe  mehr,  jetzt 
auch  noch  die  Linke,  den  rechten  Arm  und  den 
segelförmig  geblähten  Teil  des  Mantels  zu  ergänzen,  und 
die  Figur  stünde  vollkommen  wieder  vor  unseren  Augen. 

Aber  man  muss  zugestehen,  dass  es  kaum  zu  ver¬ 
langen  ist,  ein  Universitäts-Museum,  das  berufen  ist, 
dem  Studium  und  nicht  dem  Genuss  zu  dienen,  solle 
seine  beschränkten  Mittel  in  ausgiebigerem  Masse 
für  derartige  Versuche  verwenden.  Hat  man  aber  ein¬ 
mal  eingesehen,  dass  es  nicht  aussichtslos  ist,  sie  zu 
unternehmen,  ja,  dass  sie  notwendig  unternommen 
werden  müssen,  um  eine  reinere  Anschauung  der 


Abb.  78.  Aphrodite  des  Praxiteles.  Restitution  in 
München:  der  Körper  im  Vatikan,  der  Kopf  in  Berlin 


iSü 


DISIECTA  MEMBRA 


antiken  Schönheitswelt 
zu  ermöglichen’),  so 
ist  zu  hoffen,  dass 
sich  auch  alsbald  am 
rechten  Ort  die  rechten 
Männer  und  die  nötigen 
Mittel  finden  werden, 
um  die  Begründung 
eines  besonderen  Mu¬ 
seums  zu  ermöglichen, 
in  dem  im  grössten  Um¬ 
fange  und  mit  allen  er¬ 
denklichen  Hilfsmitteln 
gearbeitet  werden  könn¬ 
te,  in  dem  in  ursprüng¬ 
licher  Form  erstehe, 
was  von  den  Schätzen 
der  antiken  Kunst  uns 
die  begeisterte  Arbeit 
der  Forschenden  wie¬ 
dererobert. 


Abb.  IQ.  Die  Tyrannenmörder  des  Kritios  und  Nesiotes. 


Restitution  in  Strassburg  i.  E. 


1)  Es  ist  sicher  kein  zufälliges  Zusaniinentreffen,  dass  soeben  ein  Aufsatz  S.  Reinach’s  über  das  gleiche  Thema 
in  der  Gazette  des  beaux  aits  (igo2,  p.  13g  ff.)  erschienen  ist. 


Nach  einem  Aquarell  von  Rudolf  Jettmar  in  Wien 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIII 


DICHTERTRAUM.  ORIOINALRADIERUNO  VON  R.  JETTMAR  IN  WIEN 


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ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIII 


MAX  KLINGERS 

BEETHOVEN 


VON 

PAUL  MONGRE 


Gesamtansicht  von  KHager's  Beethoven  in  der  Aufstellung  der  Wiener  Secession 


MAX  KLINQERS  BEETHOVEN  VON  PAUL  MONGRE 


IN  den  Ostertagen  dieses  Jahres  wurde  ein  künstlerisches  Fest  von  säkularer  Seltenheit  und  Bedeutung 
gefeiert.  Klinger’s  Beethoven  enthüllte  sich  den  Blicken  der  Öffentlichkeit,  fast  genau  um  die  75.  Wieder¬ 
kehr  von  Beethoven’s  Todestage.  Et  resurrexit  .  .  .  Gläubige  und  Ungläubige,  Zöllner  und  Pharisäer, 
stumpfe  Neugier  und  wissende  Bewunderung  strömten  sechs  Tage  lang  im  weltberühmten  Atelier  zu  Leipzig- 
Plagwitz  zusammen,  das  Wunder  des  auferstandenen  Zauberers  zu  schauen.  Am  siebenten  Tage  wurde  abgebaut, 
zerlegt,  transportiert,  und  augenblicklich  bildet  das  wieder  zusammengefügte  Riesenwerk  den  Mittelpunkt 
und  das  Ereignis  der  Wiener  Secession.  Um  den  Ankauf  bemühen  sich  Klinger’s  Vaterstadt  und  Beethoven’s 
zweite  Heimat;  nach  Zeitpunkt,  Geldmitteln  und  Begeisterung  scheint  Wien  den  Vorsprung  zu  haben.  Nach¬ 
dem  das  Parisurteil,  die  Kreuzigung,  Christus  im  Olymp  nach  Österreich  gewandert  sind,  dürften  wir  uns 
den  Beethoven  unter  keinen  Umständen  entgehen  lassen:  das  ist  Ehrensache,  Idealismus  und  überdies  eine 
gute  Kapitalsanlage.  Der  »Thatenleib«  des  grössten  lebenden  deutschen  Künstlers  soll  seinen  Schwerpunkt 
nicht  ausserhalb  der  deutschen  Reichsgrenzen  haben. 

Ja,  was  hilft  es:  vor  einem  solchen  Ungetüm  von  Kunstwerk  muss  man  schon  einmal  hyperbolisch 
reden  und  alle  wohlerwogene  nüancierte  Bewunderung  mit  Vorbehalten  zum  Teufel  schicken.  Con  brio, 
wie  Beethoven’s  Lieblingstempo  war:  statt  des  üblichen  allegro  moderato  oder  allegro,  ma  non  troppo. 
Das  heutige  Geschlecht  ist  ja  sonst  so  freigebig  in  der  Errichtung  von  »Marksteinen«  und  Datierung  neuer 
Epochen:  nun,  hier  ist  etwas  wirklich,  nicht  nur  redensartlich  Monumentales  geschaffen,  ein  neues  leibhaftes 
Weltwunder,  das  miterlebt  zu  haben  uns  ein  unauslöschliches  Glücks-  und  Dankgefühl  bedeutet.  Es  giebt 
eine  Kunst,  die  zu  nichts  verpflichtet,  die  glatt  abfliessend  weder  fragt  noch  antwortet,  die  genossen  wird, 
aber  nicht  mitgeschaffen  —  vor  ihr  wie  nach  ihr  ist  man  derselbe  Mensch.  Und  es  giebt  Künstler,  die 
uns  die  Gefühlsessenz  einer  ausgelebten  Vergangenheit  zu  kredenzen  wissen  oder  einer  so  hochmodernen 
Gegenwart,  dass  sie  im  Handumdrehen  schon  zur  Vergangenheit  abgeblüht  ist:  es  giebt  Kunstwerke,  die 
einen  an  zeitliche  und  konventionelle  Bedingungen  gebundenen  Seelenzustand  im  Augenblicke  höchster 
Intensität  aussprechen  und  schon  im  nächsten  uns  nichts  mehr  angehen.  Dann  aber  giebt  es  auch  zeit¬ 
überragende  Kunstwerke,  die  den  Rahmen  der  formalen  und  historischen  und  artistischen  Kunst  sprengen, 
die  mit  uns  von  grossen  Menschheitsdingen  reden  und  »ewig«  sind  in  dem  Sinne,  in  dem  ein  Mensch 
überhaupt  dies  Wort  in  den  Mund  nehmen  darf;  Werke,  an  denen  man  nicht  vorbei  kann,  wenn  man  nicht 
vorbeigelebt  haben  und  als  trüber  Gast  auf  der  dunklen  Erde  bloss  vegetieren  will;  Werke,  in  denen  die 
Seele  untergeht  und  sich  erneuert,  aus  denen  eine  Kraft  der  Umwandlung  wie  ein  läuterndes  Feuer  heraus¬ 
flammt;  Werke,  in  denen  sich  nicht  mehr  das  Individuum,  sondern  die  Menschheit  manifestiert,  mit  denen 
geradezu  die  tellurische  Brüderschaft  sich  gegen  andere  Planetenvölker  abzeichnet  und  ihre  Parole  abgiebt. 
Aber  hier  fängt  vielleicht  die  Metaphysik  an.  Nun,  solch  ein  Menschheitsgenius  und  representative  man 
war  Beethoven,  und  solch  ein  Schlüsselwort  zum  Menschheitsrätsel  ist  Klinger’s  Werk. 

Neben  der  fertigen  Beethovenstatue  stand  im  Atelier  das  aus  dem  Jahre  1886  stammende  Gips¬ 
modell,  Klinger’s  erstes  plastisches  Versprechen,  nun  nach  anderthalb  Jahrzehnten  »in  Überlebensgrösse« 
eingelöst.  Was  liegt  nicht  alles  dazwischen?  die  Wunderwelt  der  radierten  Cyklen,  die  grossen  Gemälde, 
vor  allem  der  ganze  Entwickelungsgang  des  Bildhauers.  Ein  kühngewölbter  unsichtbarer  Brückenbogen 
spannt  sich  zwischen  jenem  bemalten  Entwurf  und  dem  heutigen  polychromen  Bildwerk  aus  Marmor,  Bronze 
und  Elfenbein.  Wer  unter  uns  Zeitgemässen  vermag  einen  solchen  Bogen  zu  wölben,  eine  so  langfristige 
Verheissung  in  sich  auszutragen?  Wer  hat  diese  Kraft  der  inneren  Vision  über  Zwischenakte  hinweg,  diesen 
stählernen  Willen ,  der  nicht  nur  gleich  dem  Marmorbohrer  über  hartes  Material,  sondern  mehr  noch  über 


183 


eigene  Ablenkungen  und  Verzögerungen  Herr  wird,  diesen  ausliarrenden  Künstlerfleiss  eines  Dante  oder 
Zola,  der  sich  nicht  in  feuilletonistischen  Augenblicksinspirationen  verpufft,  sondern  gemächlich  Stein  auf 
Stein  türmend  seine  cyklopischen  Bauten  errichtet?  Seit  Richard  Wagner  in  gewaltigsten  Dimensionen  sein 
Lebenswerk  hinstellte  und  darüber  Zeit  und  Ruhm  au  sich  vorüberbrausen  Hess,  ist  der  Typus  des  unbeirrten, 
sich  selbst  getreuen  Künstlers  nicht  so  prachtvoll  wieder  verkörpert  worden  wie  in  dem  anderen  obstinaten 
Leipziger,  in  Max  Klinger.  Nicht  die  Stärke,  sondern  die  Dauer  der  hohen  Empfindung  macht  den  hohen 
Menschen,  heisst  es  irgendwo  bei  Nietzsche.  Nun,  diejenige  Empfindung  Klinger’s,  die  auf  den  Namen 
Beethoven’s  getauft  ist,  ist  keine  aufglühende  und  verlöschende  Stimmung,  sondern  ein  tief  eingesenktes 
Grundgefühl,  ein  aufbauendes  und  mitbestimmendes  Element  im  Gefüge  der  Klinger’schen  Persönlichkeit. 
Erühzeitig  muss  BeethoveiTs  Antlitz,  das  trotz  seinen  Pockennarben  und  seiner  »Garstigkeit«  die  Wiener 
Aristokratinnen  fascinieren  konnte,  den  Künstler  in  seinen  Bann  gezwungen  haben.  Hat  er  sich  nun  davon 
entlastet  und  seine  innere  Beethoven-Anschauung  zum  letztenmale  exteriorisiert?  oder  wird  noch  eine  spätere 
Menschengestalt  den  ungeheuerlich  seelenvollen  Beethovenkopf  tragen  wie  der  Jünger  Johannes  auf  der 
Dresdner  Pieta  und  der  Kreuzigung?  Zwei  Totenmasken,  Nietzsche  und  Brahms,  lagen  dieser  Tage  in 
Klinger’s  Werkstatt:  werden  auch  sie  in  langer  schöpferischer  Erregung  Wellenringe  ausbreiten  und  Kreise 
ziehen,  wie  jene  Beethovenmaske  von  1812,  die  Eranz  Klein  vom  lebenden  Gesicht  geformt,  und  aus  der 
durch  tiefe  organische  Umbildungsprozesse  Klinger’s  marmorner  Beethovenkopf  erwachsen  ist? 


Aber  wir  träumen  schon  von  künftigen  Bildwerken,  die  noch  ungemeisselt  im  Stein  und  vielleicht 
ungestaltet  in  des  Künstlers  Gehirn  schlafen,  und  haben  noch  nicht  ein  Wort  über  die  sinnenfällige  Erschei¬ 
nung  der  gegenwärtigen,  glorreich  vollendeten  Kunstschöpfung  gesagt.  Ich  könnte  mir  einen  Beschauer 
denken,  dem  diese  sinnliche  Aussenseite  gar  nicht  ins  Blickfeld  des  Bewusstseins  träte,  der  sich  von  der 
packenden  Seelensprache  und  erschütternden  Innerlichkeit  des  Werkes  völlig  gefangen  nehmen  Hesse;  ich 
könnte  mir  aber  auch,  namentlich  bei  Eeinschmeckern  des  Gesichtssinnes  und  Eachmännern  der  bildenden 
Kunst,  das  absolute  Gegenteil  vorstellen:  dass  die  prachtvolle  Erscheinung  den  geistigen  Gehalt  abblendete 
und  unter  der  Bewusstseinsschwelle  hielte.  Wer  das  Werk  in  seiner  ganzen  Umfänglichkeit  geniessen  will, 
muss  sich  beides  nahe  gehen  lassen:  die  hohe  Gedankenkunst  und  Gefühlswelt  nicht  minder  als  die  brau¬ 
sende  Eormen-  und  Farbenpracht,  die  sich  vor  dem  schwelgenden  Auge  aufthut.  Klinger  hat  hier  alle 
einzeln  entwickelten  Elemente  seiner  plastischen  Vergangenheit^)  in  eine  beispiellose  Gesamtoffenbarung 
konzentriert:  die  Freude  am  philosophischen  Tiefsinn  und  an  ausdrucksvoller  Seelenkündigung,  die  Freude 
am  leuchtenden  nackten  Menschenleib,  die  Freude  am  Farbenzauber  kostbaren  Materials,  die  Freude  an  tech¬ 
nischen  Schwierigkeiten  und  versucherischen  Wagnissen.  Der  Grübler,  der  die  Kassandra  aus  dem  Stein 
hieb,  der  unheimliche  Psychologe,  dem  die  Salome  gelang,  der  Schönheitsanbeter,  der  den  wonnigen 
Frauenleib  der  Amphitrite  und  das  reizvolle  Gliederspiel  des  badenden  Mädchens  schuf,  der  Experimentator, 
der  in  eine  Treppenstufe  die  Verschlingung  Leda’s  mit  dem  Schwan  hineinbannte  und  wie  Michelangelo 
dem  widerspenstigen  Material  unerhörte  Möglichkeiten  abtrotzt,  der  malerisch  empfindende  Plastiker,  der  nicht 
beim  schwächlichen  Kompromiss  der  Bemalung  stehen  bleibt,  sondern  die  leuchtende  Naturfarbe  bunter 
Gesteine  wirken  lässt  und  damit  das  missverstandene  klassizistische  Ideal  der  antikisierenden  Bildhauerei 
endgültig  ablehnt  — :  alle  diese  Komponenten  in  Klinger’s  umfassender  Gesamtpersönlichkeit  mussten  sich 
vereinen,  den  Beethoven  zu  schaffen. 


1)  Vergleiche  Georg  Treu,  Max  Klinger  als  Bildhauer. 


Drei  gewaltige  Marmorstufen  tragen  das  halb  felsenartige  halb  wolkige  Postament  aus  dunkelbraun¬ 
violettem  Pyrenäenmarmor,  auf  dem  der  Thron  des  Olympiers  steht.  Die  Faustworte  »Der  Einsamkeiten 

tiefste  schauend  unter  meinem  Fuss«  sind  als  Sockel  Inschrift  gedacht.  Zeus-Beethoven  thront  mit  vorgebeugtem 
nacktem  Oberkörper;  das  rechte  Bein  ist  über  das  linke  geschlagen,  auf  dem  heraufgezogenen  Oberschenkel 

ruhen  die  geballten  Fäuste,  die  rechte  vor  der  linken.  Die  nackten  Teile  sind  aus  Syramarmor,  dessen  Weiss, 

mit  einem  unmerklichen  Stich  ins  Bläuliche,  kreidig  erloschen  und  geisterhaft  schimmert  wie  Firnschnee 
nach  Sonnenuntergang.  Über  die  Beine  breitet  sich  in  feierlichem  Faltenwurf  ein  Gewand  aus  gelbbraun 
gebändertem  tiroler  Onyx:  das  Gipsmodell  hatte  statt  dessen  rote  Bemalung.  Zu  Füssen  des  Olympiers  kauert 
gesträubt,  mit  kaum  gebändigtem  Flügelschlage,  der  Adler  aus  schwarzem  zartgeädertem  Marmor  (ursprünglich 
sollte  er  aus  Ebenholz  geschnitzt  werden),  die  glühenden  Bernsteinaugen  auf  den  düster  schweigenden  Gott 
geheftet.  Eine  ungeheure  Spannung  und  atemraubende  explosive  Bereitschaft  zittert  in  dieser  scheinbaren 
Ruhe:  noch  ein  Augenblick,  und  mit  dem  auffliegenden  Adler  schmettert  der  Blitz  aus  Kronions  geballten 
Eäusten.  Wenn  die  homerischen  Verse  vom  Schütteln  der  Locken,  das  den  Olymp  erbeben  macht: 

Also  sprach  und  winkte  mit  schwärzlichen  Brauen  Kronion, 

Und  die  ambrosischen  Locken  des  Herrschers  fluteten  vorwärts 
Von  dem  unsterblichen  Haupt:  es  erbebten  die  Höhn  des  Olympos, 

—  wenn  diese  Vorstellung  aktueller  Bewegungsgewalt  den  Pheidias  zu  seiner  Zeusstatue  inspiriert  haben 
soll,  so  ist  es  bei  Klinger  umgekehrt  die  latente  Energie,  die  angesammelte,  verdichtete,  auf  Entladung 
wartende  Machtfülle,  die  der  Gruppe  von  Gott  und  Tier  eine  gesteigerte  und  leidenschaftlich  erregte  Leben¬ 
digkeit  einhaucht.  Das  ist  nicht  jene  olympische  Ruhe,  die  nebst  der  stillen  Einfalt,  der  heiteren  Harmonie, 
der  goldenen  Mitte  und  ähnlichen  philiströsen  Missverständnissen  aus  der  Winckelmannzeit  unseren  Gym¬ 
nasialbegriff  von  Griechen  und  Griechengöttern  ausmacht.  Nietzsche’s  Worte 

Wer  viel  einst  zu  verkünden  hat. 

Schweigt  viel  in  sich  hinein. 

Wer  einst  den  Blitz  zu  zünden  hat. 

Muss  lange  —  Wolke  sein 

geben  eine  verwandte  Stimmung.  Klinger’s  Beethoven  schweigt  viel  in  sich  hinein.  Die  Lippen  sind 
zusammengepresst,  der  Unterkiefer  etwas  vorgeschoben,  die  Augen  starr  ins  Unendliche  gerichtet.  Äusserst 
reizvoll  wäre  eine  genaue  Analyse  des  Kopfes,  namentlich  im  Vergleich  mit  dem  alten  Modell  und  mit  der 
Klein’schen  Maske.  Über  Beethoven’s  wirkliche  Erscheinung  sind  ja,  wie  ErimmeFs  eingehende  Unter¬ 
suchung  gezeigt  hat,  viele  konventionelle  Irrtümer  verbreitet.  Des  Meisters  Ungebärdigkeit  bei  den  Sitzungen, 
die  mangelnde  Beobachtungstreue  und  überschüssige  Phantasie  der  damaligen  Porträtisten ,  zuletzt  noch  die 
irreführende,  erst  nach  der  Schädelobduktion  abgenommene  Danhauser’sche  Totenmaske:  kein  Wunder,  dass 
unter  solchen  erschwerenden  Umständen  sich  eine  ideale,  glatt  verzierlichte  oder  genial  dämonisierte 
Beethovenphysiognomie  über  die  wirkliche  schob.  Zu  den  zuverlässigeren  Urkunden  gehört  immer  noch 
jene  Maske  von  1812  und  die  danach  fast  unverändert  ausgeführte  Klein’sche  Büste.  Vielleicht  aus  über¬ 
empfindlicher  Scheu  vor  jener  konventionellen  Auffassung  zeigt  Klinger’s  Modell  von  1886  die  charakter¬ 
volle  Hässlichkeit  des  wirklichen  Beethoven  noch  in  seltsamer  Heftigkeit  accentuiert:  keine  hohe,  sondern 
eine  breite  vorgewölbte  Stirn  (»kugelig«  nennt  sie  ein  Zeitgenosse,  während  Bettina  sie  »himmlisch«  findet), 
und  darunter  ein  stier  brütendes  Antlitz  von  halb  wahnsinnigem,  halb  tierischem  Ausdruck  —  so  düster 
und  gespenstisch  wie  jenes  Largo  aus  dem  D-dur-Trio,  das  Beethoven’s  Freunde  für  seinen  Geisteszustand 
fürchten  machte.  Das  ist  noch  nicht  der  Olympier,  der  die  Titanen  zu  bändigen  weiss;  das  ist  der  »kraupete 
Musikant«,  dem  man  in  den  Strassen  Wiens  mit  scheuer  Verwunderung  nachblickt,  der  durch  seine  Taubheit 


185 


schauerlich  Vereinsamte,  Verwilderte,  unsinnig  Misstrauische.  Welcher  Aufstieg  seelischer  Befreiung  und 
technischer  Ausdrucksbeherrschung  von  diesem  Modellkopf  zum  marmornen  Beethovenhaupte!  Auch  hier 
glüht  noch  Düsterkeit,  Schicksalstrotz:  aber  nicht  mehr  die  dumpfe  ratlose  persönliche  Befangenheit,  der 
Raubtierblick  hinter  Qitterstäben,  sondern  universelle  Leidenstiefe,  zermalmende  und  erhebende  Erkenntnis 
des  Notwendigen,  Tragik  des  innersten  Weltgrundes.  Beethoven  leidet  nicht  mehr  an  sich,  er  leidet  an  der 
Menschheit;  er  hat  sein  Selbst  zu  ihrem  Selbst  erweitert;  er  hat  die  Neunte  Symphonie  geschaffen.  Zeus 
ist  ja  nicht  allmächtig  —  zu  einer  so  unvollziehbaren  gehirnverrenkenden  Begriffsbildung  waren  die  Griechen 
zu  gesund:  über  den  Göttern  thront  Moira.  Der  Olympier  starrt  ins  Unabänderliche  .  .  . 

Beethoven  als  Träger  des  Schicksals  der  Menschheit:  diese  Umdeutung  des  Individuums  zum  »Erd- 
geist<'  ist  das  Thema  der  Thronreliefs.  Aus  Einem  Stück  hat  der  Pariser  Erzgiesser  P.  Bingen  den  ge¬ 
waltigen  Thronsessel  gegossen ;  die  Details  der  Flachbilder  sind  so  zart  herausgekommen  wie  die  feinsten 
Töne  einer  Radierung.  Man  hört,  dass  ein  neues,  noch  unerprobtes  Verfahren  zur  Herstellung  der  Guss¬ 
form  gedient  habe.  Eine  wunderbare  Kombination  aus  ornamentalen  Motiven  ist  der  Götterthron,  kühn 
genug,  um  wie  Böcklin’s  Kentauren  und  Tritonen  das  »morphologisch  gebildete  Auge  eines  Dubois-Reymond 
zu  verletzen;  auf  hufartigen  Vorderstützen  ruhend,  die  etwas  vorweltlich  Archaistisches  haben,  im  Grund¬ 
gerüst  aus  Palmenstämmen  und  Palmenzweigen  entwickelt,  das  Ganze  in  düsterem,  stumpfbraunem  Bronzeton, 
aus  dem  die  phantastisch  geschwungenen  Armlehnen  in  glänzendem  Goldschliff  herausklingen.  Die  Innen¬ 
seite  der  hochragenden  Rückenlehne  trägt  einen  Kranz  von  fünf  liebreizenden,  elfenbeinernen  Engelsköpfen; 
der  mittlere  zeigt  in  den  Haaren  Bemahingsversuche,  dem  äussersten  rechts  wächst  noch  ein  fingerweisendes 
Händchen  hervor,  das  mit  beredtem  Ecce  Homo  auf  den  thronenden  Gottmenschen  deutet.  Die  Engels¬ 
flügel  sind  mit  bunten  Halbedelsteinen  und  antiken  Millefiorigläsern,  der  Grund  mit  blauen  ungarischen 
Opalen  inkrustiert:  wunderbar,  in  fast  körperloser  Zartheit,  schwebt  vor  dieser  farbenreichen  Folie  der  astral- 
weisse  marmorne  Oberleib,  dessen  vorgebeugte  Haltung  gutberechnete  Durchblicke  nach  den  inneren  Putten¬ 
köpfchen  offen  lässt.  Vielleicht  hat  dieser  geisterhafte  Farben kontrast  den  Künstler  bestimmt,  von  einer 
inkarnierenden  Tönung  des  schneebleichen  Marmors  vorläufig  abzusehen:  das  wäre  kein  Rückfall  in  den  ge¬ 
frorenen  Zuckerstil  der  Psendoantike,  sondern  eine  wohlerwogene  Feinheit  und  gerade  ein  Reiz  mehr  in  der 
polychromen  Pracht  des  Ganzen.  Auf  den  Aussenflächen  des  Thrones  hat  nun  Klinger  in  drei  grossen 

Reliefs  das  Seelenleben  der  Menschheit  zusammengefasst.  An  der  rechten  Seite  der  Sündenfall:  Adam,  dessen 
lüsterne  Scheu  in  einer  merkwürdigen  Kopf-  und  Armhaltung  Ausdruck  findet,  nimmt  von  Eva  den  Apfel. 
Links  zwei  Tantaliden:  ein  hoch  aufgereckter  Mann  greift  nach  zurückweichenden  Früchten,  ein  knieendes 
Weib  schöpft  aus  versiegender  Quelle,  beide  fassen  statt  des  qualvoll  ersehnten  Genusses  ein  maskenartiges 
grinsendes  Phantom.  Auf  der  mächtigen  Rückenfläche  des  Thrones  aber  lässt  Klinger,  wie  im  »Christus 
im  Olymp< ,  noch  einmal  die  weltgeschichtlichen  Kontraste  aufeinander  prallen:  nazarenische  Weltflucht  und 
heidnische  Sinnenfreude.  Im  Vordergründe  die  auffauchende  Aphrodite,  von  einer  bärtigen  Meergottheit  auf 
der  Muschel  getragen,  vor  ihr  eine  Nereide,  die  zwischen  den  zum  Sprachrohr  gewölbten  Händen  gellende 
Worte  in  den  Hintergrund  hineinruft.  Nach  vorn  schreitend,  furienhaft,  mit  wehendem  Mantel,  wind¬ 
gepeitschtem  Haar  der  Apokalyptiker  Johannes,  die  linke  Hand  in  unbeherrschtem  Ingrimm  zur  Kralle  ver¬ 
zerrt,  die  rechte  mit  anklagender  Gebärde  auf  die  Schönheitsgöttin  gerichtet.  Ganz  fern  die  Schädelstätte, 
Christus  mit  den  beiden  Schächern  am  Kreuz,  Maria  die  Mutter  und  Maria  die  Magdalenerin.  Das  Griechen¬ 
meer  umschäumt  den  Golgatha-Felsen,  und  am  Horizont  geht  die  Sonne  auf:  die  Sonne  des  Christentums? 
Leuchtet  sie  der  sterbenden  Antike  und  dem  Siege  des  Galiläers?  Aber  der  Ewigkeitsaccent  über  dieser 
Scene  und  Klinger’s  künstlerischer  Glaube  verbieten  eine  so  engherzige  Deutung,  eine  so  bedingungslose 
Ergebung  in  das  historische  Faktum.  Erst  die  Synthese  der  Gegensätze  vollendet  den  dialektischen  Prozess: 
aus  der  Versöhnung  hellenischer  und  christlicher  Kultur  wird  das  »dritte  Reich«  kommen,  von  dem  Ibsen 
seinen  julianus  Apostata  träumen  lässt,  das  dritte  Reich,  dessen  Sonne  dort  am  Himmelsrande  aufflammt. 


186 


Der  dramatische  Kern  dieses  leidenschaftlich  bewegten  Gesamtbildes  ist  zweifellos  die  verdammende  Liebes- 
fluchgebärde  des  Jüngers,  von  der  sich  Anadyomene  in  göttlicher  Gleichgültigkeit  abwendet:  auf  dem  Gips¬ 
modell  ist  noch  ein  Spruchzettel  zu  erkennen,  der  die  Anklage  in  eine  Wortformel  übersetzt.  Klinger’s 
Philosophie  der  Liebe  ist  ja  keineswegs  unbedingt  optimistisch,  er  sieht  tiefer  als  Künstler  zu  sehen  pflegen: 
der  Kampf  der  Geschlechter,  die  Sinnlichkeit  als  zerrüttende  Illusion,  die  das  Individuum  der  Gattung  auf¬ 
opfert,  Eros  als  Feind  der  aufstrebenden  Menschheit  —  das  sind  ihm  keine  fremden  Vorstellungen.  In  den 
radierten  Cyklen  »Eva  und  die  Zukunft«,  »ein  Leben«,  »eine  Liebe«  hat  er  die  Geschlechtlichkeit  als  grau¬ 
same  Zerstörerin  geschildert,  und  nicht  nur  im  Bunde  mit  sozialen  Zufälligkeiten  und  Vorurteilen,  sondern 
ihrem  inneren  Wesen  nach.  Eva,  der  die  Schlange  den  Spiegel  vorhält,  erwacht  zum  Bewusstsein  ihres 
Körpers:  das  ist  der  psychologische  Moment  des  Sündenfalles.  Und  auf  einem  Blatte  der  »Brahmsphantasie« 
erscheint  Aphrodite  im  Ausbruche  zügellosen  Machtgefühls,  wälirend  Menschenleiber,  Menschenschicksale  wie 
Trümmer  im  Wellenspiel  geschaukelt  werden:  unberechenbar,  unverantwortlich,  gewissenlos  wie  jede  Natur¬ 
kraft  schaltet  die  Liebe  mit  den  ohnmächtigen  Individuen.  Phobos  und  Deimos,  Schrecken  und  Furcht  ent¬ 
keimen  dem  Schoss  der  Liebesgöttin  .  .  .  Vielleicht  ist  es  ein  Symptom  moderner  Willensschwäche,  dass 
wir  die  Liebe  so  tragisch  empfinden;  selbstsichere,  disziplinierte  Zeitalter  mögen  zu  einer  idyllischen  Auf¬ 
fassung,  zu  Galanterie  und  Gauloiserie  neigen.  Für  unser  Gefühl,  das  man  darob  zwiespältig  schelten  mag, 
hat  jedenfalls  der  gewaltig  zürnende  Apostel  nicht  minder  Recht  als  die  im  eigenen  Schönheitsrausche 
schwelgende  Göttin;  es  ist  eben  ein  vollendeter  »Dialog  zweier  Prinzipien <  (so  bezeichnet  Beethoven  ge¬ 
legentlich  das  Programm  zweier  Klaviersonaten)  und  keine  Partei  besitzt  die  volle,  endgültige  Wahrheit. 
Eine  Weltgeschichte  mit  ihren  gegensätzlichen  Triebkräften  ist  in  diese  Bronzereliefs  gebannt:  verlorenes 
Paradies  und  ungestilltes  Glückverlangen,  Selbstgenuss  und  Selbstaufopferung,  Sensualismus  und  Spiritualismus, 
Kypros  und  Golgatha  —  aus  diesem  Spiel  sich  kreuzender  Kontraste,  aus  Kette  und  Einschlag  webt  sich 
der  Teppich  des  Lebens.  Klinger’s  Raumkunst  wagt  hier  das  Höchste:  sie  überträgt  Beethoven’s  tönende 
Hieroglyphen  in  sichtbare  Symbolik,  sie  redet  vom  Schicksal  der  Menschheit. 

Noch  ist  von  dieser  überströmenden  Bilderwelt  nicht  alles  gesagt:  den  oberen  Rand  der  Rückenlehne 
kränzen  fünf  liegende  Menschenfiguren,  sozusagen  simple  »Geschöpfe  des  Prometheus«,  denen  Beethoven 
einmal  eine  Balletmusik  gemacht  hat,  individuell  besonderte  und  ins  eigene  Schicksal  eingesperrte  Pygmäen 
neben  der  Überlebensgrösse  des  Tonschöpfers,  dem  der  Erde  Weh,  der  Erde  Glück  zu  tragen  zufiel.  Ob 
ein  schärfer  zugespitzter  Gedanke  in  diesen  Gestalten  ausgedrückt  ist,  die  wegen  ihrer  erschwerten  Sicht¬ 
barkeit  hauptsächlich  dekorativ  wirken,  vermag  ich  nicht  anzugeben. 


»Hol’  Sie  der  Teufel,  ich  mag  nichts  von  Ihrer  ganzen  Moral  wissen,  Kraft  ist  die  Moral  der 
Menschen,  die  sich  vor  anderen  auszeichnen,  und  sie  ist  auch  die  meinige,«  so  steht  auf  einem  der  Zettel, 
auf  denen  sich  Beethoven’s  grimmiger  Humor  zu  entladen  pflegte.  »Eine  ganz  ungebändigte  Persönlich¬ 
keit«,  klagt  Goethe,  und  Bettina  berichtet:  »Kein  Kaiser  und  König  hat  so  das  Bewusstsein  seiner  Macht, 
und  dass  alle  Kraft  von  ihm  ausgehe,  wie  dieser  Beethoven«.  Dem  jungen  Moscheies,  der  unter  eine  Noten¬ 
abschrift  »fine  mit  Gottes  Hülfe«  setzt,  schreibt  Beethoven  die  Replik:  o  Mensch,  hilf  dir  selber!  Und 
dieser  Empörer  voll  titanischer  Hybris  thront  nun  selbst  als  der  Sieger  über  Titanen  und  Giganten,  als  Zeus 
Horkios,  der  über  Eide  und  Verträge,  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  in  seiner  Welt  wacht?  Der 
»Generalissimus  in  Donner  und  Blitz«,  aufbrausend  und  rasch  besänftigt  wie  ein  Kind,  als  der  unerschütter¬ 
lich  machtbewusste  Olympier,  der  in  Milde  und  Groll  langmütige  Göttervater,  wie  ihn  die  Büste  von  Otricoli 
ahnen  lässt?  Und  selbst  Beethoven  als  Musiker:  der  Dichter  der  Sehnsucht,  die  an  lauter  Unmöglichem 
und  Unaussprechlichem  leidet,  der  schwärmerischen  weichgewordenen  Empfindung,  in  der  alle  Dinge  ihren 


187 


Stachel  zurücklassen,  oder,  im  anderen  Falle,  der  trotzigen  hohnlachenden  Männlichkeit,  die  ohne  Sieges¬ 
hoffnung  den  Kampf  mit  dem  Schicksal  aufnimmt  und  nur  in  ekstatischen  Ausbrüchen  einer  schmerzlich¬ 
gewaltsamen  Heiterkeit  über  das  Schwerste  hinwegkommt:  darf  man  solch  einen  ringenden  Menschen,  die 
Seele  voll  unausgeglichener  Dissonanzen,  der  im  Aufblick  zur  Vorsehung,  zu  einem  gütigen  Vater  über  den 
Sternen  Trost  suchen  muss  und  dessen  höchste  musikalische  Kundgebung  mit  demütiger  Inbrunst  in  eine 
»Bitte  um  inneren  und  äusseren  Frieden <  ausklingt  —  darf  man  ihn  auf  olympisches  Gewölk  setzen,  ohne 
dass  ihm  bei  seiner  Gottähnlichkeit  bange  wird?  Es  ist  schülerleicht,  solche  Widersprüche  und  noch  ober¬ 
flächlichere  zusammenzusuchen;  Widersprüche,  die  -  wenn  es  wirklich  welche  sind  —  nicht  in  der  lebendigen 
Gegenwart  des  Kunstwerkes  ins  Bewusstsein  treten,  sondern  hinterher  aus  der  Kollision  abstrakter  Kenntnisse 
und  Bildungsbegriffe  entstehen.  Wer  sein  Schulwissen  nicht  einen  Augenblick  vergessen  kann,  mag  an  dem 
bartlosen  Zeus  Anstoss  nehmen  und  sich  gegen  die  olympische  Apotheose  eines  Wiener  Komponisten  aus 
der  Kongresszeit  verwahren:  ihm  wird  ein  kostümierter  Beethoven  besser  Zusagen,  im  blauen  Frack  mit 
Messingknöpfen,  Hörrohr  und  Konversationsheft  in  der  Tasche,  auf  einem  Sockel  sitzend,  der  aus  den  Bänden 
der  kritischen  Gesamtausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel  geschichtet  ist.  Der  »Olympier«  ist  nun  einmal  für 
einen  Anderen  in  Beschlag  genommen,  für  Goethe:  hier  decken  sich  zufällig  zwei  erlernte  Begriffe, 
wie  sie  im  anderen  Falle  sich  ebenso  zufällig  gegen  die  Vermischung  sträuben.  An  sich  ist  die  Ideenver¬ 
bindung  Goethe-Zeus  um  kein  Haar  vernünftiger  als  die  andere  Beethoven-Zeus;  sie  ist  nur  stereotyp  ge¬ 
worden,  ein  Einfall  Bettina’s,  aus  dem  die  deutsche  Bildung  ein  Gliche  gemacht  hat.  »Für  Goethe  weisen 
wir  das  Symbol  des  Olympiers  zurück.  Das  ist  nicht  der  Goethe,  den  wir  kennen,  nicht  der  Mann  der 
,grenzenlosen  Thränen*,  nicht  der,  den  noch  als  beinahe  Achtzigjährigen  eine  Leidenschaft  wehrlos,  fieber¬ 
krank  auf  das  Lager  warf«,  so  schreibt  H.  von  Stein,  und  wenn  wir  die  Inkongruenz  mehr  im  Äusserlichen 
suchen  wollen;  die  diplomatische  Kühle  und  konziliante  Höflichkeit  des  Weimarer  Geheimen  Rates  associiert 
sich  auch  nicht  ganz  mühelos  mit  dem  überlieferten  Bilde  des  Donnerers  Kronion.  Aber  zu  guter 
Letzt  ist  das  alles  ein  Eederballspiel  mit  Worten.  Über  die  Unterschiede  (oder  Ähnlichkeiten)  zwischen 
Zeus  und  Beethoven  lässt  sich  trefflich  streiten:  als  Paarung  blosser  Begriffe  bleibt  das  so  unfruchtbar 
wie  die  tausend  mehr  oder  minder  sachgemässen  Ideenverknüpfungen  und  Wortkomplexe,  die  täglich 
geredet,  geschrieben,  gedruckt  und  wieder  vergessen  werden.  Das  Wesentliche  ist,  dass  Klinger’s  neue 
Synthese  leibhaft  und  überzeugend  vor  unserem  Auge  lebt,  eine  anschauliche  Ideenvermählung,  die 
nicht  mehr  geschieden  werden  kann,  während  nichts  sich  leichter  verbindet  und  leichter  trennt  als 
Worte.  ln  der  erhöhten  Temperatur  der  Künstlerphantasie  sind  die  beiden  Symbole  Beethoven  und 
Zeus,  mit  Abstossung  des  Unvereinbaren,  glühend  unlösbar  verschmolzen;  »kein  Engel  trennte  geeinte 
Zwienatur  der  innigen  Beiden  -.  Wir  werden  von  diesem  Zeugma,  dieser  machtvoll  zwingenden  Verknüpfung 
zweier  Vorstellungsreihen  nun  nicht  wieder  loskommen,  und  das  ist  ganz  in  der  Ordnung.  Wer  in  aller  Welt 
will  gerade  die  bildende  Kunst  dahin  einschränken,  poetisch  überlieferte  Typen  unverändert  zu  stabilisieren? 
ihr  verbieten,  Empfindungswerte  umzuwerten  und  von  der  Netzhaut  her  dem  Gehirn  neue  Erregungen 
mitzuteilen?  Wenn  schon  die  griechischen  Bildhauer  es  wagen  durften,  einfach  der  in  ihnen  drängenden 
plastischen  Entwickelungstendenz,  ihrem  nisus  formativus  folgend  die  traditionellen  Götterbilder  umzubilden 
und  aus  dem  ursprünglichen  Harnisch  und  dem  »übersittlichen  Faltenhemd«  der  Liebesgöttin  den  nackten 
schönen  Frauenkörper  hervorzuholen  —  um  wieviel  freier  darf  ein  moderner  Künstler  mit  dem  verblassten 
Erinnerungsbilde  eines  alten  Göttervaters  und  mit  der  doch  immerhin  nebensächlichen  Leiblichkeit  eines 
seelenbezwingenden  Tondichters  schalten?  Wenn  seine  neue  Vision  nur  lebt  und  mit  suggestiver  Gewalt 
in  die  empfangenden  Seelen  überströmt!  Denkt  euch  immerhin  den  Beethoven  anders:  aber  lasst  es  auf 
die  Kraftprobe  ankommen  und  stellt  eure  innere  Anschauung  dem  Klinger’schen  Bildwerke  gegenüber  — 
welches  von  beiden  wird  das  andere  auslöschen?  Klinger  ist  der  psychisch  Stärkere;  wie  jene  indischen 
Magier  kann  er  euch  zwingen  zu  sehen,  was  er  will,  nicht  was  ihr  wollt  oder  was  die  realistische  Wirklichkeit 


i88 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIII 


KLINOERS  BEETHOVEN.  THRONRÜCKWAND. 


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vorschreibt.  Auch  seine  Bildhauerei  ist  eine  Griffelkunst,  und  die  Seele  muss  so  willig  wie  die  Kupferplatte 
die  Spuren  aufnehmen,  welche  der  Meister  ihr  einätzt.  Darin,  wie  in  vielen  anderen  Dingen,  ist  Klinger 
seinem  Heros  Beethoven  verwandt,  dass  er  in  einer  neuen  Sprache  den  zwingenden  Ausdruck  findet,  ohne 
erstarrte  Symbole  und  gewohnheitsmässige  Associationen  dennoch  Eindeutiges  und  Bestimmtes  hervorruft, 
ohne  eingefahrene  Geleise  immer  geradlinig  ans  Ziel  kommt.  Er  hat  Taine’s  Blick  für  das  Wesentliche  und 
lässt  sich  davon  nicht  durch  eine  gebildete  Technik,  die  für  ihn  dichtet  und  denkt,  abbringen,  sondern  denkt 
und  dichtet  selber.  Wenn  man  sieht,  wie  sich  alle  modernen  Menschen  in  Lebensstil  und  Kunstschaffen  um 
Originalität  abquälen  und  dabei  die  Sicherheit  der  Mitteilung  ihres  persönlichen  Innenlebens  immer  mehr 
einbüssen,  wenn  man  auf  der  anderen  Seite  bei  epigonenhafter  Virtuosität  in  der  Beherrschung  der  Dar¬ 
stellungsmittel  den  Mangel  jedes  darstellenswerten  Inhalts  spürt,  so  muss  man,  zwischen  Verschrobenheit  und 
Banalität,  unaussprechlicher  Eigenart  und  glatter  Nichtssäglichkeit,  pathologischer  Isolation  und  physiognomie¬ 
losem  Normalmenschentum,  zwischen  Stefan  George  und  Berliner  Siegesallee  einem  Manne  wie  Klinger  ein¬ 
fach  zujubeln:  der  nicht  nur  'was  zu  sagen  hat,  sondern  es  auch  ohne  hysterisches  Schlingen  und  Würgen 
wirklich  sagt.  Bei  Klinger  fehlen  die  toten  Stellen,  die  Gedankenstriche  und  Punktreihen  moderner  Gedicht¬ 
bücher,  die  Momente  versagenden  Atems  und  priesterlicher  Katalepsie;  dieser  Mensch  mit  dem  heissen 
Herzen  und  klaren  Kopfe,  diese  kaltblütige  Feuerseele  ist  von  einer  herausfordernden  Sicherheit  im  Was  und 
Wie.  Ganz  wie  Beethoven,  der  die  konturenlos  verschwimmende  »Mondscheinsonate«  nicht  übermässig 
hochstellt  und  Künstlerthränen  verabscheut,  ja  der  manchmal  wie  ein  Pythagoräer  sich  an  Mass  und  Zahl 
klammert  und  in  einer  (später  freilich  widerrufenen)  Briefstelle  den  glänzenden  Erfolg  der  Neunten  Symphonie 
in  Berlin  grossenteils  der  —  Metronomisierung  zuschreibt.  Heute  ist  »Stimmung«  unser  drittes  Wort,  ein 
Bekenntnis  der  Passivität,  die  mit  weichen  Fischflossen  im  Gallert  herumfährt  und  amorphe  Symbole  der 
eigenen  Unzulänglichkeit  knetet:  vergebens  mühen  sich  die  Lieder,  vergebens  quälen  sie  den  Stein.  Aber 
ein  Höheres  ist  »Gestaltung«,  innerlich  Geschautes  mit  derb  zupackenden  Händen  in  hartem  Material  ab¬ 
geformt:  Manneswille  quantum  satis,  der  dem  Chaos  einen  Kosmos  abtrotzt.  Solch  ein  Gestaltetes  ist 
Klinger’s  Beethoven,  aus  Stein  und  Metall  heraufgeholt  wie  die  geordnete  Welt  aus  dem  »Grenzenlosen« 
des  Anaximander,  wie  die  Zeusherrschaft  aus  Titanenkämpfen,  wie  Beethoven’s  scharfumschriebene  Ton¬ 
charaktere  aus  labyrinthischem  Gefühlswirrsal,  wie  jedes  beseelte  Kunstwerk  aus  den  ungeschieden  wirbelnden, 
sinnlos  durcheinander  brausenden  Elementen  der  Wirklichkeit.  Wie  hier  Marmor-  und  Erzatome  in  einen 
neuen  Reigentanz  gezaubert  sind,  dessen  Figuren  und  Verschlingungen  dem  Auge  zu  geistbezeugenden  Offen¬ 
barungen  werden,  so  ist  unserer  modernen  Seele,  in  ihrer  chaotisch  fiebernden  halbtraumhaften  Übergangs¬ 
unruhe,  eine  klare  Signatur,  eine  weithinragende  Lichtgestalt  und  Bestimmtheit  gewonnen:  »der  grosse  ge¬ 
sammelte  Ausdruck  unserer  Lebensanschauung«. 


Oberer  Rand  von  Beethoven' s  Thron 


8g 


L.  CORINTH,  BERLIN 


SELBSTBILDNIS  MIT  MODELL 


EINDRÜCKE  VON  DER  FÜNFTEN  AUSSTELLUNG 
DER  BERLINER  SECESSION 


»Our  Stern  alarums  changed 
to  merry  meetings.« 

Klassisch  gebildete  Helssspome  mochten 
sich  wohl  darüber  entrüsten,  dass  die 
Berliner  Secession  nicht  schnurstracks  den 
steilen  Weg  zum  Gipfel  des  heiligen  Kunstbergs 
nahm.  Sie  vergassen,  dass  es  sich  um  keine 
secessio  plebis  im  alten  Rom  handelte,  obwohl 
auch  hier  gut  begründete  Rechte  erobert  wurden, 
sondern  viel  mehr  um  eine  Krystallisation  des 
Berliner  Kunstausstellungswirrwarrs.  Seither  hat 
sich  eine  weitere  reinliche  Scheidung  innerhalb 
der  Secession  vollzogen,  und  so  durfte  man  der 
diesjährigen  Sommerausstellung  als  einem  Sublimat 
mit  besonderer  Spannung  entgegensehen. 

Da  kam  die  Nachricht,  dass  Klinger’s  Beet¬ 
hoven  im  Original  nicht  Berlin,  sondern  Wien  zu¬ 
erst  gezeigt  werden  würde:  eine  Enttäuschung 
blöder  Neugier,  die  im  Publikum  stets  stärker 
ist  als  geduldig  zuwartende  Kunstliebe.  Die  um 
eine  Sensation  betrogene  Menge  rächt  sich  durch 
Grausamkeit:  die  einfache  Thatsache,  dass  auch 
in  diesem  Jahre  an  einer  Stelle  der  Reichshaupt¬ 
stadt  gute,  gewählte  Kunst  zu  sehen  ist,  scheint 
kaum  noch  der  Rede,  die  an  diesen  Zweck  ge¬ 
wandte  Mühe  nur  kärglichen  Dankes  wert.  Die 
Secession  fängt  an,  selbstverständlich  zu  werden, 
einzelne  Beurteiler  lenken  bereits  aus  der  Kampf¬ 
stellung  in  die  ebenso  bekannte  wie  unmög¬ 
liche  »historische  Objektivität«  ein,  was  immer 
als  bedenkliches  Anzeichen  gelten  muss.  Doch 
die  Vorrede  des  Ausstellungskatalogs  erklärt  — 
eingedenk  des  Grundsatzes:  die  beste  Parade  ist 
der  Hieb  — :  »Es  wäre  der  Ruin  der  Kunst,  aus 
der  Anschauung  vorhandener  Kunstwerke  Neues 
schaffen  zu  wollen«. 

An  fragwürdige  Sentenzen  darf  ein  eiliger  Bericht¬ 
erstatter  nicht  viel  Zeit  verschwenden.  Man  will  von 
ihm  ja  nicht  hören,  was  er  gedacht,  sondern  was  er 
gesehen  hat.  Darum:  more  matter  with  less  art. 

Wer  gelernt  hat,  auch  am  Selbstverständlichen 
Freude  zu  empfinden  mit  dem  Augenblick,  wo  er 
es  rückschauend  mit  dem  Selbstverständlichen  früherer 
Generationen  vergleicht,  wird  in  dieser  Ausstellung 
Vieles  sehen,  was  ihn  erfreut.  Ebenso  wenig  fehlt 
es  an  deutlichen  Wegweisern  in  die  Zukunft.  Die 
Kritik,  die  nicht  ganz  auf  den  Kopf  gefallen  ist,  muss 
nun  einmal  einen  januskopf  haben.  Da  wird  sie  aus 
den  hier  vereinigten  Bildern  zunächst  konstatieren, 
dass  manche  secessionistische  Maler  der  neuesten 
Zeit,  wie  sie  hier  zu  Worte  kommen,  »aus  der  An¬ 
schauung  vorhandener  Kunstwerke«,  das  heisst  von 
der  Malweise  der  Pariser  Impressionisten  der  sieb¬ 
ziger  Jahre  viel,  sehr  viel  und  sehr  Gutes  gelernt 
haben.  Sechs  Bilder  von  Edouard  Manet  und  ein 


L.  Tuaillon,  Berlin.  Herkules  mit  dem  Eber 

meisterhaftes  grosses  Interieur  von  Claude  Monet  er¬ 
lauben  den  Vergleich  mit  den  Gemälden  von  Haber¬ 
mann,  Hummel,  Gustava  Haeger,  Ulrich  Hübner, 
Ereiherr  von  König,  Linde -Walther,  Joseph  Oppen¬ 
heimer,  Schlittgen,  Slevogt,  Mosson,  Triibner  und 
anderen.  Diese  haben  bei  solchem  Studium  an  ihrer 
Künstlerseele  keinen  Schaden  gelitten,  es  wäre  lächerlich, 
sie  als  denkfaule  Epigonen  abthun  zu  wollen.  Werteilte 
nicht  mit  Wilhelm  Triibner  die  Freude,  mit  der  er 
seine  Pferde  und  Menschen  gleichsam  herausmeisselt 
und  bei  jedem  breiten  Pinselhieb  ein  neues  Stück  Natur 
in  urwüchsiger  Kraft  entstehen  sieht?  Werden  Erich 
Hancke’s  Porträts  darum  schlechter,  weil  sie  fast  ebenso 
gut  sind,  wie  die  Auguste  Renoir’s?  —  Wir  vergeben 
uns  nichts  mit  dem  Eingeständnis,  von  Anderen  etwas 
gelernt  zu  haben,  sobald  wir  mit  dem  Erlernten  und 
Übernommenen  nur  nicht  selbstgefällig  uns  brüsten, 
sondern  den  Antrieb  zu  ähnlichen  oder  gar  besseren 
Leistungen  daraus  empfangen.  Und  jede  Ausstellung 
der  Secession  hat  bisher,  Künstlern  und  Betrachtern 
zum  Nutzen,  Werke  vorgeführt,  die  das  Urteil  zu 


25 


192 


EINDRÜCKE  VON  DER  FÜNFTEN  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SECESSION 


schärfen,  das  Nachstreben  zu  wecken  in  gleichem 
Masse  geeignet  sind.  So  auch  diesmal,  und  daher 
ihr  grosser  erziehlicher  Wert. 

Was  lässt  sich  nicht  alles  —  rein  handwerklich 
-  lernen  aus  den  Bildern  eines  James  Whistler, 
Anders  Zorn,  John  Sargent,  Aman  Jean,  Jacqnes 
Emile  Blanche,  John  Lavery,  Wilhelm  Leibi,  Francisque 
Raffaelli,  Abel  Trachet,  Isaac  Israels  und  wie  die 
Virtuosen  des  Pinsels  immer  heissen  mögen.  Trotz¬ 
dem  wird  der  deutsche  Besucher  der  Ausstellung  sich 
weit  lieber  verankern  vor  denjenigen  Bildern,  die  ihn 
durch  Temperament  und  Empfindung  fesseln.  Auch 
deren  giebt  es  viele. 

Die  Überraschung,  den  Clou  der  diesjährigen  Aus¬ 
stellung,  bildet  Liebermann’s  »Delila«.  Wer  sich 
durch  die  Spannung  nicht  irritieren  lässt,  die  eine 
solche  Darstellung  von  der  Hand  Liebermann’s  un¬ 
willkürlich  erzeugt,  seit  dem  Jesus  im  Tempel  hat 
er  die  Sphäre  der  biblischen  Malerei  meines  Wissens 
ängstlich  gemieden  —  wird  zugeben,  dass  die  Fähig¬ 
keit,  Leben  und  Leidenschaft  zu  verkörpern,  auch  hier 
wunderbare  Triumphe  feiert.  Den  irreleitenden  Ver¬ 
gleich  mit  Rembrandt’s  Genie  möchte  ich  ihm  und 
mir  gern  ersparen.  Trotzdem  ist  in  der  Gebärde  der 
Delila  ein  Zug,  den  ich  nicht  besser  zu  charakteri¬ 
sieren  wüsste,  als  mit  den  Worten:  so,  oder  doch 
ähnlich  würde  Rembrandt  sich  vielleicht  mit  der 
Sache  abgefunden  haben,  wenn  er,  —  ja,  wenn  er 
Liebermann  gewesen  wäre.  Die  Art,  in  der  dem  ent¬ 
scheidenden  Motiv  alle  andern  Rücksichten  geopfert 
werden,  verrät  eine  Lebhaftigkeit  des  Temperaments,  die 
umsomehr  überrascht,  wenn  wir  hören,  dass  der  Künstler 
an  diesem  Stoff  sich  seit  einem  Jahrzehnt  abgequält  hat. 
Er  wollte  eine  »Fanfare«  darstellen,  und  es  ist  ihm 
gelungen,  so  trefflich  gelungen,  dass  man  darüber 
manches  Allzumenschliche  leicht  vergisst,  was  nament¬ 
lich  der  Gestalt  des  jüdischen  Herkules  anhaftet.  So 
sehr  der  fanatische  Wille,  der  aus  dieser  Arbeit  heraus¬ 
schlägt,  uns  mitreisst,  so  lebhaft  der  ausübende  Künstler 
immer  wieder  den  Akt  der  abgezehrten  Delila  mit 
seiner  raffinierten  und  dennoch  zügigen  Behandlung 
bewundern  muss  —  wir  stehen  vor  einem  Experiment, 
dessen  Gewagtheit  und  Einseitigkeit  uns  nicht  leicht 
zum  richtigen  Genuss  kommen  lässt.  Das  Bild  wird 
unstreitig  für  alle  Zeit  eines  der  interessantesten  Do¬ 
kumente  der  Malerei  unserer  Tage  bleiben,  eine  der 
kostbarsten  Raritäten  des  Marktes,  aber  ob  es  genügt, 
um  Liebermanns  Können  gewissermassen  im  Zenith 
seines  Ruhmes  zu  fixieren,  ob  es  jemals  als  »der« 
klassische  Liebermann  gelten  wird,  das  heute  zu  pro¬ 
phezeien  fehlt  mir  die  enthusiastische  Seherzuversicht. 
Das  weit  anspruchslosere  und  kleinere  Bild  am  Meer«, 
eine  Variante  der  vorjährigen  Reiterstudie,  besitzt 
Eigenschaften,  auf  die  nach  meinem  Gefühl  der  Maler 
weit  stolzer  sein  darf,  als  auf  die  alttestamentarische 
Kraftprobe. 

Ein  zweites  Ausstellungsbild  par  excellence,  das 
aufregt  und  verblüfft,  mitreisst  und  zum  Widerspruch 
herausfordert,  ist  Max  Slevogt's  d’Andrade  als  Don 
Juan.  Champagner,  Theaterlicht,  Mozart,  d’Andrade 
und  Slevogt’s  Virtuosität  vereinigen  sich  zu  einer 


sinneberauschenden  Stretta,  deren  Augenblickswirkung 
sich  niemand  entziehen  kann.  Der  Maler  selbst  scheint 
den  Pinsel  wie  im  Champagnerrausch  geführt  zu 
haben.  Doch  wie  Mozart’s  Komposition  und  d’An- 
drade’s  Darstellung  nicht  allein  aus  Temperament  und 
Laune  zu  erklären  sind,  so  steckt  auch  in  Slevogt’s 
Malerei  viel  kluge  Ueberlegung,  der  unsere  Bewun¬ 
derung  ebenso  gilt,  wie  seiner  Fähigkeit,  die  Künste 
des  Regisseurs  zu  verbergen.  Das  beste  aber  bleibt 
dennoch  das  Temperament.  Das  erkennt  man,  wenn 
man  ein  anderes  Bild  Slevogt’s,  den  --  bereits  von 
einer  Ausstellung  bei  Cassierer  bekannten  -  Sommer¬ 
morgen  daneben  sieht:  das  gleiche  Geschick,  ja 
Raffinement  der  Mache,  aber  wo  bleibt  die  Empfin¬ 
dung?  Dramatische  Lebhaftigkeit,  selbst  Kulissen¬ 
leidenschaft  liegen  dem  jungen  Maler  offenbar  mehr 
im  Blut  als  der  Hang  zu  träumerischer  Beschaulichkeit. 

Neben  solcher  sprühenden  Beweglichkeit  erscheint 
selbst  ein  Znloaga  schwerfällig  und  tot.  Das  aus¬ 
gestellte  Gesellschaftsbild  des  grossen  Goyaverehrers 
hat  technische  Qualitäten,  wie  sie  nur  ganz  wenige 
Bilder  unserer  Zeit  aufweisen  können;  aber  die  wun¬ 
derliche  Mischung  von  Gravität  und  Heissblütigkeit, 
wie  sie  seinen  Gestalten  anhaftet,  die  spanische  Gran- 
deza,  giebt  auch  seiner  Malerei  etwas  Starres  und 
Selbstgefällig-Äusserliches,  das  dem  Deutschen  den 
Genuss  erschwert.  Die  harten,  nach  unserem  Gefühl 
groben  Farbengegensätze,  in  denen  sich  Zuloaga 
gefällt,  wecken  unwillkürlich  die  Sehnsucht  nach 
einem  Ausgleich,  einer  Vermittlung,  Zusammenschluss, 
so  kostbar  die  stofflichen  Einzelheiten  sein  mögen. 
Weniger  Seide  und  Schminke  und  mehr  Menschlich¬ 
keit  verlangt  der  Nichtspanier  von  diesen  Bildern, 
zumal  er  sich  bei  solcher  Forderung  auf  einen  Goya 
und  Velazquez  berufen  kann. 

Neben  den  Deutschen  und  den  Spanier  stellen 
wir  zwei  Holländer:  Isaac  Israels,  der  indes  mit 
seiner  hellen,  lichten  Farbengebung  mehr  nach  Frank¬ 
reich  gravitiert,  und  George  Hendrik  Breitner.  Breit- 
ner’s  Malwerk  ist  urholländisch,  obwohl  es  den  Pariser 
Impressionismus  immerhin  merken  lässt.  Wie  kräftig 
muss  doch  eine  Wurzel  sein,  die  so  viele  gleichstarke 
aber  verschiedenartige  Schösslinge  treibt!  Breitner  hat 
nichts  von  dem  Erbe  der  heimischen  Altvordern 
fahren  lassen,  ja,  er  outriert  deren  Pinselführung  und 
Farbenwahl,  aber  er  weiss  dennoch  Stimmungen  zu 
geben  und  Eindrücke  festzuhalten,  wie  sie  nur  unsere 
Zeit  seit  Manet  wahrnimmt.  Seine  Ansicht  einer 
Amsterdamer  Gracht  hat  bei  aller  scheinbaren  Fahrig¬ 
keit  der  Mache  eine  suggestive  Kraft,  der  sich  schwer¬ 
lich  ein  kunstgeübtes  Auge  entziehen  wird. 

Marie  Slavona,  Vassily  Kandnisky  und  Olga  Boz- 
nanska  seien  nur  genannt,  um  den  internationalen 
Sieg  der  impressionistischen  Richtung  zu  markieren, 
der  das  Schicksal  der  Malerei  im  neuen  Jahrhundert 
zu  bestimmen  scheint.  Doch  nein!  Die  rigorosen 
Naturalisten,  als  die  man  in  Berlin  die  Secessionsmaler 
gerne  denunziert,  haben  einem  Edvard  Manch,  Max 
KJii^ger  und  anderen  Nebulisten  Einlass  gewährt.  Aus 
Instinkt  oder  Überlegung? 

An  den  Malereien  Munch's,  die  das  ganze  Leben 


BERLINER  SECESSION  igo2 


Max  Liebermann,  Berlin.  Im  Meer 


H.  Breitner,  Amsterdam.  Holländisches  Strassenbild 


94 


EINDRÜCKE  VON  DER  FÜNFTEN  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SECESSION 


?.is  einer  Perspektive  betrachten  und  darstellen,  die 
.  i  ^d  nur  neuro -pathologisch  sich  ganz  befriedigend 
“rklären  lässt,  meine  kunstkritische  Anpassungsfähigkeit 
zu  erproben,  muss  ich  mir  versagen.  Nicht,  dass 
"’ir  durchaus  jedes  Verständnis  fehlte  für  die  Ziele 
ur-J  Wege  solcher  subjektiven  Mystik,  der  die  Kon- 
venienz  des  natürlichen  Sehens  ohne  Besinnen  geopfert 
wird,  und  der  man  ja  bei  mehreren  Künstlern,  wie 
Willumsen,  Toroop,  Gauguin,  M.  Denis,  Emil  R.  Weiss 
—  in  der  Litteratur 
bei  Maeterlink,  Ste¬ 
fan  George  und  an¬ 
deren  begegnet;  nur 
der  Genuss,  die  Freu¬ 
de  an  diesem  ge¬ 
künstelten  Stammeln 
und  Lallen  will  sich 
bisher  nicht  einstel¬ 
len.  Ich  meine, 
diese  Künstler  wei¬ 
chen  der  normalen 
Naturanschaiumg 
aus,  ohne  sich  über 
sie  zu  erheben  oder 
sie  zu  vertiefen,  sie 
töten  ihr  naives 
künstlerisches  Em¬ 
pfinden,  um  desto 
leichter  zu  den  ver¬ 
meintlichen  Höhen 
ihrer  in  sich  un¬ 
künstlerischen  we¬ 
senlosen  Sehnsucht 
emporschweben  zu 
können.  Diese  Selbst¬ 
befriedigung  scheint 
mir  durch  den  Ver¬ 
lust  allen  seelischen 
und  künstlerischen 
Gleichgewichtsallzu 
teuer  erkauft.  Es 
mag  indes  geeigne¬ 
tere  Medien  geben, 
die  leichter  in  trance 
zu  setzen  sind. 

Max  Kliuger,  der 
sicherlich  Einspruch 
erheben  würde,  mit 
diesen  Verehrern 
oder  Opfern  der 
Astralkunst  in  eine  Reihe  gestellt  zu  werden,  sucht  den 
Gipfel  der  Kunst  auch  in  jenen  ausserweltlichen 
Sphären,  aber  möchte  sich  ihnen  mehr  auf  rein  geistigem 
Wege  nähern ;  eine  gewisse  nervöse  Sinnenlust  stellt 
sich  ihm  dabei  oft  in  den  Weg.  Gern  verzichte  ich 
darauf,  seinen  Beethoven,  dessen  hier  ausgestelltes 
älteres  Gipshilfsmodell  durchaus  versagt,  kritisch  zu 
würdigen.  Ihm  gerecht  zu  werden,  wird  dem  naiven 
Kunstfreund  und  Beethovenverehrer  kaum  gelingen, 
ihn  zu  verherrlichen,  mag  Klingerenthusiasten  Vor¬ 
behalten  bleiben.  Ohne  ein  solcher  zu  sein,  möchte 


ich  meiner  Bewunderung  für  den  grosszügigen  Lisztkopf, 
der  in  Marmor  bereits  auf  der  vorjährigen  Ausstellung  in 
Dresden  zu  sehen  war  und  für  die  eben  daher  bekannte 
Porträtbüste  der  russischen  Schriftstellerin  Asenjeff  un¬ 
verhohlen  Ausdruck  geben.  Die  Delikatesse  im  Stoff¬ 
lichen,  die  psychologische  Treffsicherheit  und  Raffiniert¬ 
heit  der  letzteren  Arbeit  fesseln  auch  den,  der  Klinger 
eigentlich  plastischesGefühl  absprechen  zu  müssen  glaubt. 

Der  Belgier  George  Minne,  dessen  Stilisierungs¬ 
versuche  gewaltsam 

—  um  nicht  zu 
sagen  verschroben 

—  anmuten,  besitzt 
solches  Gpfühl  in 
weit  höherem  Masse 
als  Klinger,  aber  er 
opfert  es  gelegentl  ich 
jenem  auch  von  Wil¬ 
lumsen  und  Munch 
geteilten  Wunsch, 
die  ganze  Kunst  der 
Vergangenheit  aus 
seinem  Bewusstsein 
zu  tilgen,  und  noch 
einmal  von  vorne 
anzufangen.  Dass 
dabei  vielfach  Un¬ 
gereimtheit  zu  Tage 
kommt,  ist  nicht  zu 
leugnen,  aber  Inter¬ 
esse  weckt  eine  sol¬ 
che  leidenschaftliche 
Auflehnung  gegen 
alle  Überlieferung 
immerhin.  Rodin 
ist  nicht  minder 
radikal  in  entgegen¬ 
gesetzter  Richtung, 
indem  er  die  Zu¬ 
kunft  aller  plas¬ 
tischen  Kunst  vor¬ 
wegzunehmen  sich 
bemüht,  einen  im¬ 
pressionistischen  Stil 
in  der  Bildnerei  fest¬ 
zuhalten  sucht, 

schliesslich  das  Ma¬ 
terial  vergewaltigt,an 
dem  er  sich  zum  Vir¬ 
tuosen  ausgebildet 
hat.  All  solchen  Excentricitäten,  die  von  den  einen  als 
Anzeichen  überschäumender  Kraft  und  eiligen  Fort¬ 
schrittes,  von  andern  als  Merkmal  der  Krankheit  und 
des  Verfalles  angesehen  werden,  ein  Ventil  zu  schaffen, 
sie  ans  Licht  der  Öffentlichkeit  zu  bringen,  das 
schliesslich  über  ihr  Wachstum  oder  ihre  Rück¬ 
bildung  trotz  alledem  entscheidet,  ist  eine  dankens¬ 
werte  Aufgabe  der  secessionistischen  Ausstellungen. 
Lebhaftes  Interesse  an  der  bildenden  Kunst  wird  sich 
weit  eher  an  einer  Diskussion  über  gewagte  Versuche 
entzünden,  als  es  durch  verdünnte,  für  den  Aller- 


E.  Haneke,  Berlin.  Der  Schriftsteller  Holländer 


BERLINER  SECESSION  igo2 


M.  SLEVOGT,  BERLIN 


SOMMERMORGEN 


EINDRÜCKE  VON  DER  FÜNFTEN  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SECESSION 


196 


Robert  Breyer,  Berlin.  Beim  Thee 


Habermann,  Schlittgen,  Schramm,  Becker, 
Stralitmann,  Tooby  hier  zu  erörtern, 
wäre  Missbrauch.  Dass  Leopold  Graf 
von  Kalckreiith ,  Hans  Tlioma ,  H. 
von  Volckmann  treffliche  Maler  sind, 
hat  nicht  erst  diese  Ausstellung  be¬ 
wiesen,  ganz  zu  schweigen  von  den 
Gewaltigen,  die  es  waren,  Böcklin,  Leibi, 
Victor  Müller,  Manet,  an  die  auch  mit 
unzulänglichen  Proben  ihrer  Meisterschaft 
erinnert  zu  werden,  stets  eine  Freude  ist. 
Auf  unserer  eiligen  Wanderung  durch 
den  Limbus  der  Ausstellung  stellt  sich 
uns  indes  breitspurig  der  Schweizer 
Ferdinand  Hodler  in  den  Weg.  Seiner 
dekorativen  Malerei:  »Wilhelm  Teil  nach 
dem  Tode  Gessler’s«  wünschte  man 
lieber  in  einer  Schutzhütte  des  Alpen¬ 
vereins  als  hier  in  der  Kantstrasse  Char- 
lottenburgs  ein  Unterkommen.  Die  Qua¬ 
litäten  älterer  Arbeiten,  die  für  Hodler 
ein  günstiges  Vorurteil  weckten,  besitzt 
dieser  ebenso  wüste,  wie  leere  Teil  kaum. 
Laden  Simon  überrascht  mit  seinem 
feinfühligen  Porträt  einer  älteren  Dame 
wohl  nur  die,  die  bisher  derbe  Cirkus-, 
Markt-  und  Prozessionsbilder  für  seine 
ausschliessliche  Domäne  hielten,  nicht 
aber  seine  Bildnisse  der  Witwe  Aubry- 
Lecomtes  oder  des  greisen  Ehepaares 
gesehen  haben.  Der  Russe  Constantin 
Somoff  passt  seine  Malweise  der  Bieder¬ 
meierzeit,  in  deren  Kostüm  er  sein  Mo¬ 
dell  gekleidet,  geschickt  an.  Die  elfen¬ 
beinerne  Glätte  des  Vortrages  macht 
einen  zwar  erklügelten,  aber  keineswegs 


weUsgeschmack  zurechtgemachte  Darbie¬ 
tungen  erweckt  wird. 

Doch  neben  den  Vorläufern  ihres 
eigenen  Ruhmes  dürfen  auch  die 
nicht  unberücksichtigt  bleiben,  die 
wackere  Arbeit  gethan,  um  jenen  Platz 
zu  schaffen.  Das  ist  das  Schöne  an 
der  ganzen  Bewegung,  dass  jeder  gern 
in  erster  Reihe  kämpfen  möchte,  wenn 
nicht  für  sich,  so  doch  für  die  Ziele 
der  grösseren  Genossen,  denen  er  soviel 
Förderung  verdankt.  Es  sei  ferne  von 
uns,  Rangklassen  der  secessionistischen 
Armee  aufstellen  zu  wollen,  wenn  wir 
zum  Schluss  dieser  notwendig  fragmen¬ 
tarischen  Würdigung  einige  Namen  derer 
verzeichnen,  die  nach  unserem  Gefühle 
zur  Zeit  im  zweiten  Gliede  kämpfen. 
Das  will  heissen,  dass  sie  uns  nichts 
wesentlich  Neues  von  ihrem  an  sich 
immer  wieder  löblichen  Thun  zu  sagen, 
wie  daher  auch  kaum  etwas  Neues  da¬ 
von  vor  diesem  Leserkreise  zu  berichten 
haben.  Die  Vorzüge  und  Schwächen 
der  Werke  von  Uhde,  Zügel,  Heine, 


Paul  Baum,  Berlin.  Landschaft 


BERLINER  SECESSION  1902 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Xllf.  II.  S, 


26 


MAX  LIEBERMANN  SIMSON  UND  DELILA 


EINDRÜCKE  VON  DER  EÜNFTEN  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SECESSION 


198 

unerfreulichen  Eindruck,  zumal  der  Blick  der  Dame 
ebenso  wie  ihre  nervöse,  blaugeäderte  Hand  uns 
verraten,  dass  unser  Seelenleben  und  unsere  Fähig¬ 
keit,  es  zu  schildern,  seit  1830  doch  vorgeschritten 
sind. 

Kälter  lässt  in  dieser  Umgebung  die  rein  tech¬ 
nische  Virtuosität  und  Feinnervigkeit,  wie  sie  in  den 
Arbeiten  eines  Whistler,  Zorn,  Sargenf,  Lavery  und 
anderer  Ausländer  brilliert.  Den  Bildern  haftet  bereits 
heute  etwas  Unpersönliches  an,  so  sehr  sie  beim  ersten 
Eindruck  entzückten. 

[:)()ch  man  wird  auch  gern  von  den  Berliner  Se- 
cessioiiisten  hören  wollen,  die  bei  ihrer  Gastfreiheit 
schliesslich  Gefahr  laufen,  übersehen  zu  werden,  zu¬ 
mal  das  Gros  der  Besucher  alte  Bekanntschaften  nicht 
allzu  hoch  schätzt.  Und  doch  ist  hier  so  manches 
Erfreuliche  zu  melden:  Ulrich  Hübner  hat  in  seinem 
durch  den  französischen  Impressionismus  stark  be¬ 
einflussten  Schaffen  einen  gewaltigen  Schritt  vorwärts 
gethan,  wie  namentlich  die  Wiesbadener  Strassenvedute, 
ein  Damenbildnis  und  die  Balkonloge  des  Metropol¬ 
theaters  lehren,  Ludwig  von  Hofmann  stellte  eine  seiner 
reizvollsten  und  feinsinnigsten  Arbeiten,  die  badenden 
Mädchen  aus,  Leisükow  holt  nach  seinen  stilistischen 
Versuchen  wieder  einmal  Atem  in  der  ihm  stets 
neue,  intime  Reize  enthüllenden  märkischen  Wald- 
und  Seelandschaft.  Louis  Corinth,  dessen  Charakter¬ 
bild  in  der  modernen  Kunstgeschichte  noch  immer 


schwankend  bleibt,  zeigi  seine  derbe  Vollnatur  in 
einem  Selbstporträt,  seine  Sehnsucht  nach  höheren 
Sphären  -  weniger  glücklich  —  in  den  drei  Grazien 
und  einem  biblischen  Bilde;  die  Fähigkeit,  tiefer  zu 
charakterisieren,  erprobt  er  an  dem  Porträt  des  wunder¬ 
lichen  Peter  Hille,  mit  mehr  Erfolg  schlägt  Joseph 
Block  den  gleichen  Weg  in  seinem  Träumer  ein. 
Sehr  kraftvoll  markieren  sich  auch  Robert  Breyer, 
Gustava  Haeger,  H.  E.  Linde -Waither  und  Joseph 
Oppenheimer,  während  Martin  Brandenburg,  Hans 
Baiuschek  und  Friedrich  Latendorf  meinem  persön¬ 
lichen  Geschmack  durch  ihre  neuesten  Leistungen 
nicht  näher  gekommen  sind.  Curt  Herrmann  hat  die 
Grundlagen  des  neoimpressionistischen  Malverfahrens 
eines  Seurat  und  Luce  zum  Feld  seines  Studiums  er¬ 
koren,  ein  Gebiet,  auf  dem  auch  Pani  Baum  sich  mit 
vielem  Eifer  bemüht. 

Als  neue  Stützen  der  Secession  notieren  wir  neben 
dem  schon  erwähnten  Erich  Haneke  Rari  Waiser,  Fritz 
Rhein  und  Ernst  Bischoff-Cuim.  Doch  damit  sei  der 
konventionellen  Aufzählung  von  Namen  ein  Ziel 
gesetzt.  Stünde  uns  mehr  Zeit  und  Raum  zur  Ver¬ 
fügung,  so  würden  wir  schwerlich  an  vielen  Bildern 
der  Ausstellung  ohne  Gruss  vorübergehen,  da  fast 
alle  zu  einem  solchen  auffordern,  wenn  auch  die 
Ehrerbietung,  die  wir  ihnen  schulden,  begreiflicher¬ 
weise  mancherlei  Abstufungen  unterliegt. 

Nach  gleich  schlechter  alter  Sitte  sei  schliesslich 


Edouard  Manet.  Der  Stier 


EINDRÜCKE  VON  DER  FÜNFTEN  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SECESSION 


199 


J.  Ziiloaga,  Madrid.  Spanische  Geseiischaft 


den  bildnerischen  Talenten  nur  flüchtig  Reverenz  er¬ 
wiesen.  Da  sind  August  OauFs  zierliche  Tierbronzen, 
Hugo  Kaufmann’ s  versilberte  Sirene,  Kiiuisch’s  vor¬ 
trefflicher  Porträtkopf  des  Dr.  Thoma,  August  Kraus' 
empireartig  glatte  Sandalenbinderin,  Ignaz  Taschner's 
bizarre  Holzschnitzerei  »Wanderer«  im  Nippescharakter 
und  Voikmann’s  klassizistisches  Satyrtanzrelief  vor 
anderen  zu  nennen.  Anspruchsvoll,  aber  ein  wenig 
nüchtern  wirkt  neben  älteren  Arbeiten  Tuaiiion's  für 
Bremen  bestimmter  grosser  Pferdebändiger.  Vor 
Adoif  Hiidebrand’s  Marmorbüste  Wilhelm  Bode’s  wird 
jeder  Kunstfreund  länger  festgehalten  werden,  selbst 


dann,  wenn  er  sich  sagen  muss,  dass  das^ Wesen  des 
Dargestellten  in  dieser  überaus  delikaten  und  vor¬ 
nehmen  Arbeit  nicht  mit  voller  Schärfe  zur  Geltung 
kommt.  Doch,  allen  hier  gegebenen  Anregungen 
krititisch  zu  folgen,  verbietet  sich  bei  einem  orien¬ 
tierenden  Bericht  von  selbst.  Für  die  versuchte 
flüchtige  Andeutung  der  ersten  Eindrücke,  die  ich 
von  der  glänzenden  secessionistischen  Heerschau  dieses 
Jahres  empfing,  kann  ich  mich  entschuldigend  nur 
auf  die  Rechte  des  Impressionismus  berufen,  die,  wie 
ich  glaube,  durch  diese  Ausstellung  von  neuem  be¬ 
festigt  worden  sind.  LUDWIG  KAEMMERER. 


26* 


GUSTAVA  HAEQER,  BERLIN 


INTERIEUR 


BERLINER  SECESSION  igo2 


Edvard  Munch,  Berlin.  Dorfslrasse 


Curl  Hermann,  Berlin.  Morgenstimmiino 


iriiitli,  Bcilin.  Dichter  Peter  Hille  Ulrieh  Hübner,  Berlin.  Bildnis 


BERLINER  SECESSION  1902 


BERLINER  SECESSION  igo 


Philipp  Franck,  Berlin.  Feldarbeit 


Walther  Leistikow,  Berlin.  Landschaft 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  O.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST.  N.  F.  XIM 


KLINOERS  BEETHOVEN. 


TANTALIDENGRURPE 


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DER  FRÜHLING  o  o  o  o  o 

ORIGINALLITHOGRAPHIE  VON 
HANS  V.  VOLKMANN,  KARLSRUHE 


EIN  OEMALDE  DES  MATTHIAS  ORUNEWALD 


ES  ist  vielleicht  an  der  Zeit,  ein  Gemälde  Qrüne- 
wald’s,  das  sich  im  Privatbesitz  befindet,  in  die 
Litteratur  einzuführen.  Adolf  Bayersdorfer  hat 
es  1897  in  Freiburg  entdeckt.  Im  selben  Jahre  war 
W.  von  Seidlitz  so  gütig,  dem  Berichterstatter  Kennt¬ 
nis  davon  zu  geben.  O.  Eisenmann,  der  es  kurze 
Zeit  darauf  sah  und  davon  zu  reden  gedachte,  hat  die 
Aufgabe  später  mir  zugeschoben. 

Die  Tafel  (Kiefernholz)  ist  1,76  Meter  hoch, 
0,88  Meter  breit.  Sie  stellt  auf  der  Vorderseite  die 
Gründung  der  Kirche  S.  Maria  Maggiore  durch  den 
Papst  Liberins,  auf  der  Rückseite  die  Anbetung  der 
Könige  dar. 

Die  Legende  sagt,  dass  dem  römischen  Patrizius 
Johannes,  der  eine  Kirche  bauen  wollte,  und  dem 
Papst  Liberius  in  derselben  Nacht  (vom  3.  auf  den 
4.  August  352)  träumte,  frisch  gefallener  Schnee 
würde  auf  dem  Esquilin  die  richtige  Stelle  für  das 
künftige  Gotteshaus  bezeichnen.  Und  als  Johannes 
mit  seiner  Ehefrau  und  der  Papst  mit  dem  Klerus 
anderen  Tages  zum  Esquilin  kamen,  lag  in  der  That 
an  einer  Stelle  Schnee  und  die  Kirche,  die  spätere 
S.  Maria  Maggiore  (S.  Maria  ad  nives)  wurde  auf 
diesen  Platz  hingebaut. 

Die  Vorderseite  zeigt  nun  einen  freien  Platz  mit 
dem  Palast  des  Papstes  im  Hintergrund  links.  Nach 
der  Mitte  und  nach  rechts  vertieft  sich  der  Raum  und 
schliesst  mit  der  Fassade  einer  Kirche  (der  späteren 
Fassade  von  S.  Maria  Maggiore?)  und  einem  Strassen- 
prospekt  ab.  Der  Papst  in  roter  Dalmatika  und  rotem 
Chormantel  und  die  Tiara  auf  dem  Haupte  steht  auf 
dem  mit  Schnee  bedeckten  Fleck  und  erhebt  mit 
beiden  Händen  die  Hacke.  Etwas  hinter  ihm  nach 
der  linken  Seite  des  Bildes  zu  kniet  Johannes  mit 
seiner  Frau,  jener  mit  einem  dunkelblauen  pelzver¬ 
brämten  Mantel  angethan,  diese  in  weisse  Tücher  ge¬ 
hüllt.  Den  Saum  des  päpstlichen  Gewandes  tragen 
zwei  Diakonen,  hinter  ihnen  folgt  eine  Prozession 
von  Kardinälen,  Bischöfen,  Priestern  und  eine  un¬ 
absehbare  Volksmenge,  die  sich  nach  dem  Hintergrund 
zu  verliert.  Dort  sind  noch  zwei  andere  Vorgänge 
geschildert.  Der  päpstliche  Palast  auf  der  linken  Seite 
des  Bildes  steht  dem  Beschauer  offen.  Man  sieht  in 
das  Schlafgemach  des  Papstes  und  diesen  im  Bett 
liegen.  Was  ihn  beschäftigt,  das  zeigt  die  andere 
Scene.  Über  der  Kirche  erscheint  in  Wolken  Maria 
mit  dem  Kind;  die  auf  den  Kirchenstufen  und  auf 
dem  Platz  vor  der  Kirche  sich  Herumdrängenden 
machen  sich  mit  lebhaften  Gebärden  auf  die  Er¬ 
scheinung  aufmerksam. 

Auf  der  Rückseite  knien  unter  dem  Thorbogen 
eines  verfallenen  Gebäudes,  das  den  Blick  in  eine 
durch  steile  Bergzüge  eng  abgeschlossene  Landschaft 
frei  lässt,  anbetend  die  drei  Könige;  zuvörderst  ein 
bärtiger  Greis,  etwas  zurück  der  jugendliche  Mohren¬ 
fürst,  der  letzte  in  kräftigem  Mannesalter.  Sie  tragen 
Kronen  aus  dünnem  Goldblech  und  führen  Scepter. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Xlll.  fl.  g. 


Da  die  Darstellung  der  Mutter  mit  dem  Kind 
fehlt,  ist  anzunehmen,  dass  uns  nur  eine  von  zwei 
Tafeln  erhalten  ist. 

W.  von  Seidlitz  hatte  mir  das  Bild  genannt  als 
Stütze  für  meine  unbestimmte  Vermutung,  Grünewald 
könne  in  Italien  gewesen  sein.  Ich  glaube  aller¬ 
dings  auch,  dass  das  Gemälde  für  einen  Aufenthalt 
Grünewald’s  in  Italien,  insbesondere  in  Rom  spricht. 
Die  Strassenphysiognomie  im  Hintergrund  rechts 
konnte  er  nur  in  Italien  so  kennen  gelernt  haben. 
Spezifisch  römisch  aber  scheint  mir  der  plastische 
Schmuck  des  päpstlichen  Palastes.  Dieser  selbst,  eine 
architektonische  oder  vielmehr  höchst  unarchitektonische 
Missgeburt,  ist  gewiss  freies  Erzeugnis  der  Grüne- 
wald’schen  Phantasie,  die  Motive  der  italienischen 
Frührenaissance  mit  spätgotischer  Burgarchitektur  — 
Erinnerungen  an  die  Mainzer  Martinsburg,  die  Re¬ 
sidenz  der  Kurfürsten  —  friedlich  zusammenschirrt. 
Von  der  Blässe  der  Überlegung  ist  Grünewald  nie 
angekränkelt.  Er  ist  eine  der  naivsten  Künstlernaturen, 
die  je  gelebt  haben  und  auch  darin  von  dem  etwas 
pedantischen  Dürer  mit  der  grossen  echt  deutschen 
Hochachtung  vor  Wissen  und  Gelehrsamkeit  grund¬ 
verschieden.  Wie  gemütsam  lässt  er  uns  hier  von 
der  Strasse  aus  den  Papst  im  Schlafzimmer  sehen 
und  zeigt  er  uns  sogar  den  Pontifex  mit  der  Tiara  im 
Bett  mit  einer  warmen  gesteppten  seidenen  Decke 
zugedeckt!  Wie  wenig  kümmert  er  sich  um  einige 
überschüssige  Beine  (auf  dem  Münchner  Mauritius- 
und  Erasmus-Bild)  oder  darum,  ob  der  Daumen  an 
einer  Hand  fehlt  (bei  dem  Diakon  zu  äusserst  rechts 
auf  unserem  Bild)!  Bei  einem  Medaillonfries  am 
Palast  des  Papstes  mangelt  der  Raum  für  das  äusserste 
Medaillon.  Da  hilft  er  geradezu  genial.  Er  schneidet 
das  überlästige  letzte  Drittel  des  widerspenstigen 
Zierats  wie  mit  dem  Messer  fein  säuberlich  ab. 

Was  mir  nun  echt  römisch  am  Palast  vorkommt, 
sind  die  Heiligengestalten  in  oben  halbrund  ab¬ 
schliessenden  Muschelnischen.  Mino  da  Fiesoie  und 
Andrea  Bregno  wiederholen  dies  Motiv  in  ihren 
Tabernakeln  und  Grabdenkmälern  ohne  Unterlass,  so 
dass  es  ordentlich  zu  einem  Kennzeichen  des  rö¬ 
mischen  Grabdenkmaltypus  geworden  ist.  Es  genügt, 
auf  die  Beispiele  in  S.  Maria  del  Popolo,  S.  Maria  in 
Araceli,  S.  Maria  Maggiore  hinzudeuten.  Ich  glaube, 
dass  die  Kenntnis  dieser  Dekorationsweise  dem  Maler 
damals  kaum  anders  als  durch  eigene  Anschauung 
vermittelt  werden  konnte.  Zweierlei  festzustellen  wäre 
hier  noch  interessant:  erstens,  ob  die  zwei  Heiligen¬ 
gestalten  unserer  Tafel  nicht  von  einem  konkreten 
Denkmal  entlehnt  sind;  zweitens,  ob  die  Kirchenfassade 
im  Hintergrund  Anklänge  an  S.  Maria  Maggiore  hat, 
so  wie  die  Basilika  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
aussah.  Das  Material  dazu  fehlt  mir  eben.  Es  ist 
auch  schade,  dass  wir  so  wenig  von  dem  jetzt  ver¬ 
schollenen  hl.  Johannes  wissen,  den  Sandrart  in  Rom 
sah  und  als  Werk  Grünewald’s  erkannt  hat.  Wer 


27 


Matthias  Gränewald,  Die  Gründung  der  Kirche  Santa  Maria  Maggiore 

Freibiirg,  Privatbesitz 


Fränkisch  (Wolf  Traut?).  Die  Anbetung  der  Könige  (Bruchstück) 
Freiburg,  Privatbesitz 


208 


EIN  GEMÄLDE  DES  MATTHIAS  GRÜNEWALD 


mag  ihn  bestellt  haben  und  für  welche  Kirche  mag 
er  bestimmt  gewesen  sein? 

Unser  Bild  nimmt  in  Grünewald’s  Werk  eine 
besondere  Stelle  ein.  Ausser  dem  Engelständchen  in 
Kolmar  hat  er  nichts  so  Eigurenreiches  gemalt.  Auch 
nichts  so  Unrhythmisches;  obwohl  Grünewald  sich 
ja  nie  durch  Sinn  für  Rhythmus  auszeichnet.  Es 
wirkt  moderner,  impressionistischer  und  selbst  kolo¬ 
ristischer  --  trotz,  richtiger  wegen  der  geringeren 
Farbenenergie  —  als  seine  anderen  Schöpfungen. 
Die  Gruppe  der  fahnetragenden  Kleriker  könnte  gestern 
entstanden  sein.  Das  Problem  der  weissen  Farbe  hat 
ihn,  wie  anderwärts,  auch  hier  besonders  gereizt:  die 
Gewänder  der  Kleriker,  die  Alba  des  Papstes,  die 
verhüllte  Patrizierin  und  der  schneebedeckte  Boden 
markieren  die  Durchführung  des  Themas.  Im  Ringen 
mit  dem  Weiss,  das  stofflich  unter  anderem  die  Ent¬ 
deckung  der  Winterlandschaft  für  die  Malerei  zur  Folge 
haben  musste,  ging  Grünewald  den  Kunstgenossen 
seiner  Zeit,  besonders  Kulmbach  und  Baidung,  wohl 
voran.  Sandrart  rühmt  die  Landschaft  mit  dem  zu¬ 
gefrorenen  Rhein  auf  einem  der  Mainzer  Dombilder. 
Was  möchte  man  alles  gern  entbehren,  wenn  man 
diese  Herrlichkeiten  unversehrt  von  der  Ostsee  zurück¬ 
kaufen  könnte!  Wundervoll  und  ganz  individuell  ist 
die  Erregung  des  Volkes  im  Hintergrund  durch  die 
himmlische  Erscheinung  geschildert.  Bei  Grünewald 
giebt  es  eben  immer  nur  Einzelpersönlichkeiten  und 
keine  Massenaktion.  Der  bereits  greise  Patrizius  Jo¬ 
hannes  trägt,  worauf  O.  Eisenmann  mich  aufmerksam 
machte,  als  ich  das  Bild  zum  erstenmal  mit  ihm  be¬ 
trachtete,  ganz  unverkennbar  Grünewald’s  »melan¬ 
cholische«  Züge.  Ob  die  Patrizierin  deshalb  als  das 
Ebenbild  seiner  Frau  in  Anspruch  zu  nehmen  sei, 
lasse  ich  dahingestellt.  An  sich  würde  deren  Aus¬ 
sehen  den  Bericht  Sandrart’s,  der  Maler  sei  »übel 
verheuratet«  gewesen  und  habe  —  propter  hoc?  — 
ein  melancholisches  Leben  geführt,  nicht  Lügen  strafen. 
Die  stoffliche  Wahrheit  in  der  Darstellung  der  welken 
Gesichter  des  Papstes  und  des  Johannes  ist  Grüne¬ 
wald’s  unbestrittener  Meisterschaft  gerade  auf  diesem 
Feld  (vergl.  den  alten  Kleriker  des  Münchner  Bildes) 
vollkommen  wert. 

Es  kann  mir  nicht  einfallen,  bei  einem  so  gut 
empfohlenen  Bilde  den  Nachweis  der  Urheberschaft 
Grünewald’s  noch  einmal  eigens  zu  führen.  Allmäh¬ 
lich  drängt  sich  mir  die  Ansicht  auf,  dass  die  soge¬ 
nannten  stilkritischen  Nachweise  regelmässig  überflüssig 
sind.  Man  überzeugt  sich  vor  dem  Gegenstand  selbst 
oder  überhaupt  nicht. 

Die  Geschichte  des  Bildes  lässt  sich  nicht  sehr 
weit  zurückverfolgen.  Der  Vorbesitzer  war  Dom¬ 
kapitular  Haiz  in  Freiburg,  aus  dessen  Nachlass  es 
1872  erworben  wurde.  Ob  es  früher  in  der  Samm¬ 
lung  des  1865  verstorbenen  Domkapitulars  Hirscher 
war,  ist  bis  jetzt  nicht  ermittelt. 

Unabhängig  von  einander  sind  O.  Eisenmann  und 
ich  auf  den  Gedanken  gekommen,  das  Bild  müsse 
einen  Teil  des  verschollenen  (angeblich  verbrannten) 
Altars  der  Schneekapelle  in  der  Aschaffenburger  Stifts¬ 
kirche  ausgemacht  haben.  Die  Schneekapelle  ist  am 


12.  November  1516  von  dem  Mainzer  Kurfürsten 
Albrecht  von  Brandenburg  konsekriert  worden.  Der 
alte  Rahmen  oder  wenigstens  ein  Teil  davon  mit 
der  alten  Inschrift  ist  noch  erhalten.  Diese  lautet: 

Ad  honorem  festi  nivis  deiparae  Virginis  Hen- 
ricus  Retzmann  huius  Aedis  custos  et  Canonicus  ac 
Gaspar  Schantz  Canonicus  eiusdem  FC  1519 

Der  Rahmen  umschliesst  jetzt  eine  Anbetung  der 
Könige  aus  dem  letzten  Viertel  des  1 6.  Jahrhunderts, 
wohl  in  Wiederholung  des  Gegenstandes  des  ver¬ 
lorenen  Bildes.  Also  die  Darstellungen  beider  Seiten 
des  Freiburger  f^ildes  würden  sich  in  die  Hypothese 
schicken.  Eine  Schwierigkeit  erhebt  sich:  Die  inneren 
Masse  des  Rahmens  sind  1,88  Meter  in  der  Höhe, 
1,96  Meter  in  der  Breite,  der  Freiburger  Flügel  misst 
1,76  Meter  in  der  Höhe  und  0,88  Meter  (demnach 
der  doppelte  Flügel  1,76  Meter)  in  der  Breite.  Er 
zeigt  keine  Spuren  davon,  dass  er  verkürzt  worden 
sei,  weder  an  den  Rändern,  noch  der  Komposition 
nach.  Die  Dimensionen  des  jetzigen  Rahmens  könnten 
allerdings  am  Ende  dem  Ersatzbild  zu  lieb  etwas 
vergrössert  worden  sein.  Das  Datum,  das  der  Aschaffen¬ 
burger  Rahmen  trägt,  1519,  würde  zu  dem  Bild  in 
Freiburg  passen. 

Einen  neu  auftauchenden  Grünewald  wird  man  vor 
allem  darauf  ansehen,  ob  er  unserer  Kenntnis  von 
den  Anfängen  und  von  der  Entwickelung  des  Meisters 
etwas  hinzufügt.  Das  ist  bei  dem  Freiburger  Bild 
nicht  der  Fall.  Es  gehört  seiner  reifen,  typischen  Zeit 
an  und  weist  nicht  nach  vor-,  nicht  nach  rückwärts. 
Die  Grünewaldfrage  ist  seit  einigen  Jahren  aufgerollt 
und  sie  wird  sobald  die  Freunde  der  deutschen  Kunst 
nicht  aus  ihren  Zwingen  lassen.  Dass  Grünewald, 
wenn  auch  nicht  der  grösste  Künstler,  aber  gewiss 
der  grösste  Maler,  das  stärkste  Temperament  der 
älteren  deutschen  Kunst  war,  wird  doch  wohl  nicht 
mehr  bestritten.  Er  ist  so  superlativisch  deutsch,  dass 
eigentlich  nur  Deutsche  ein  richtiges  Verhältnis  zu 
seiner  Kunst  finden,  die  in  ihren  tiefsten  Tiefen  und 
in  ihrer  Wirkung  schon  beinahe  Musik  ist.  Mit 
Rembrandt,  der  nach  der  Filiation  des  Kunstunter¬ 
richts  sein  Ururenkel  ist,  mit  E.  T.  A.  Hoffmann,  mit 
Wagner  und  mit  Böcklin  hat  Grünewald  Stimmungen 
und  Klänge  gemein.  Es  ist  darum  nicht  zu  ver¬ 
wundern,  wenn  Grünewald’s  künstlerische  Persönlich¬ 
keit  heute  besonderes  Interesse  erregt.  Nacheinander 
haben  sich  H.  A.  Schmid,  der  Berichterstatter,  H. 
Thode  und  R.  Kautzsch  geäussert:  Das  Ergebnis  ist 
leider  noch  recht  geringfügig.  Am  vorsichtigsten, 
deshalb  auch  am  erfolgreichsten  war  der  erste  von 
den  genannten.  Mit  den  Hypothesen  des  zweiten  bin 
ich  schon  seit  einigen  Jahren  nicht  mehr  ganz  ein¬ 
verstanden;  er  hat  Dürer  zu  sehr  ins  Fleisch  ge¬ 
schnitten  und  ich  freue  mich,  dass  sich  hier  die  Ge¬ 
legenheit  findet,  H.  Thode’s  Zuweisung  der  sieben 
Schmerzen  Mariä  in  Dresden  an  Dürer  vor  ver¬ 
sammeltem  Kriegsvolke  offen  zuzustimmen.  Kleine 
Geschwüre  soll  man  beizeiten  aufstechen.  Dennoch 
scheint  mir  der  Berichterstatter  damals  nicht  völlig  auf 
dem  Holzweg  gewesen  zu  sein,  wenn  er  eine  Stelle  suchte, 
wo  die  Bahn  Dürer’s  und  Grünewald’s  sich  kreuzen. 


2og 


EIN  GEMÄLDE  DES  MATTHIAS  QRUNEWALD 


Wann  und  wo  die  Kreuzung  stattgefunden  hat, 
ist  fraglich,  wie  ja  auch  die  künstlerische  Heimat 
Grünewald’s  fraglich  bleibt.  Auch  die  Passions-  und 
die  Dominikusbilder  in  Darmstadt,  mögen  sie  von 
ihm  selbst  oder  aus  seiner  nächsten  Umgebung  sein, 
geben  geringe  Auskunft  darüber.  Mir  scheinen  sie 
durchaus  nicht  so  sehr  abhängig  von  Schongauer 
selbst,  wie  man  meist  will,  sondern  eher  allgemein 
rheinischer  Art.  Enger  kommt  mir  auch  jetzt  noch 
die  stilistische  Verwandtschaft  mit  dem  sogenannten 
Meister  der  Bergmann’schen  Offizin  vor,  also  meinet¬ 
wegen  mit  Dürer.  Auf  die  Verwandtschaft  des  Christus¬ 
kopfes  in  der  Darmstädter  Gefangennahme  mit  dem 
auf  dem  Christus  vor  dem  Hohenpriester  des  Haus¬ 
buch-Meisters  (bei  Frau  Hutter  in  Freiburg)  möchte 
ich  wenigstens  hin  weisen. 

Unter  den  Faktoren,  die  zur  Entwickelung  des 
Stils  beitragen,  wird,  glaube  ich,  die  Bedeutung  des 
Lehrers  oder  Vorbildes  bisweilen  überschätzt,  oft  wohl 
infolge  davon,  dass  fast  der  einzige  uns  erhaltene 
Repräsentant  einer  Schule  eben  jener  Lehrer  ist.  Man 
hält  dann  den  in  seiner  Person  verkörperten  Schultypus 
für  die  Person  selbst,  sieht  als  deren  Wirkung  an, 
was  die  Kunstschule,  die  Physiognomie  der  Umgebung 
mit  Land  und  Leuten,  Sitten  und  Gebräuchen,  Kunst¬ 
denkmälern  und  Kunstübung  bewirkt,  zum  mindesten 
in  der  Seele  des  Lernenden  vorbereitet  hat.  Ein 
Künstler  muss  noch  sehr  jung  oder  sehr  persönlich¬ 
keitslos  sein,  wenn  er  sich  der  Art  eines  anderen  so 
unbedingt  hingeben  soll.  Unser  Wissen  von  den 
älteren  deutschen  Schulen  ist  freilich  immer  noch  ge¬ 
ring.  Ganze  Schulen  kennen  wir  kaum.  Wie  wenig 
z.  B.  noch  die  Schulen  des  Mittel-  und  Oberrheins, 
etwa  von  Mainz  bis  Basel,  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts. 
Die  eigentümliche  und  feine  Blüte  der  Strassburger 
Malerei  lässt  sich  fast  nur  ahnen  aus  der  reichen  und 
vielgestaltigen  Bücherillustration,  die  uns  von  dorther 
erhalten  ist.  Die  Mainzer  Illustration  ist  von  Strass¬ 
burg  nicht  bloss  zu  einem  grossen  Teil  abhängig, 
sondern  die  Zeichner  Grüninger’s  arbeiten  sogar  un¬ 
mittelbar  für  die  Mainzer  Druckwerke,  so  dass  ich 
schon  hieraus  auf  einen  gewissen  künstlerischen  Primat 
Strassburgs  über  Mainz  schliessen  zu  dürfen  meine. 
Den  Bestrebungen,  den  Meister  E  S  und  den  Haus¬ 
buchmeister  gerade  in  Mainz  zu  lokalisieren,  stehe 
ich  aus  allgemeinen  und  aus  besonderen  Gründen 
nicht  ohne  einige  Skepsis  gegenüber.  Bei  dem  Haus¬ 
buchmeister  ist  freilich  auch  Frankfurt  neben  Mainz 
als  vorübergehendes  Domizil  vorgeschlagen  worden, 
mit  ebensoviel,  wenn  nicht  mit  mehr  Berechtigung. 
Der  Meister  E  S  mag  nicht  bloss  als  Glied  der  Fa¬ 
milie  Ribisen  aus  Strassburg  stammen,  wofür  Max 
Geisberg  vor  kurzem  gute  Gründe  vorgebracht  hat 
(Jahrbücher  der  Königlich  Preussischen  Kunstsamm¬ 
lungen  igoi,  S.  56),  sondern  auch  dort  thätig  gewesen 
sein.  Vielleicht  war  er  ein  Wandermeister.  Dass  er  die 
Einsiedler  Engelweihe  wiederholt  gestochen  hat,  giebt 
trotz  der  Beliebtheit  des  Wallfahrtsortes  zu  denken. 
Im  Pfarrhaus  zu  Pfullendorf,  nahe  dem  Bodensee, 
befinden  sich  interessante  Bilderfragmente  von  einem 
jüngsten  Gericht,  die  auf  ihre  Beziehungen  zn  E  S 


einmal  näher  untersucht  zu  werden  verdienten  (Ab¬ 
bildung  im  ersten  Band  der  Kunstdenkmäler  des 
Grossherzogtums  Baden.  Freiburg  1887,  nach  S.  448). 
Die  Sprachproben  auf  dem  Spruchband  gehören  dem 
schwäbischen  Dialekt  an. 

Auch  der  Einfluss  Schongauers  auf  die  Kunst 
seiner  Zeit  scheint  mir  in  den  letzten  Jahren  überall 
doch  zu  rasch  gesehen  und  zu  stark  hervorgehoben 
zu  werden.  Euere  fortes  ante  Agamemnona  multi. 
Aber  Schongauer  hat  das  Geschick,  aus  einem  weiten 
und  an  Kunstübung  einst  sehr  reichen  Landstrich  der 
einzige  grosse  Meister,  beinahe  der  einzige  Meister 
überhaupt  zu  sein,  von  dem  wir  wissen.  Er  gilt  jetzt 
als  eine  Art  praeceptor  Germaniae  und  namentlich 
als  der  eigentliche  künstlerische  Ahn  Dürer’s.  Sollte 
der  Eindruck  seiner  Werke,  von  denen  Dürer  doch 
gewiss  auch  in  Nürnberg  und  vor  I4g2  vieles  kennen 
gelernt  hatte  oder  der  noch  nicht  völlig  verflüchtigte 
geistige  Dunstkreis  seiner  nachgelassenen  Werkstatt 
Dürern,  als  er  im  Eisass  war,  auf  einmal  so  einzig 
und  übermächtig  bestimmt  haben? 

Seit  Daniel  Burckhardt’s  wertvollem  Buch  über 
Dürer’s  Aufenthalt  in  Basel  ist  die  Thatsache,  dass 
für  das  Jahr  I4g4  die  längere  Anwesenheit  Dürer’s 
in  Strassbnrg  durch  eine  Angabe  des  Imhof’schen 
Inventars  bezeugt  wird,  ziemlich  in  den  Hintergrund 
getreten.  Dort  heisst  es:  »Ein  alter  man  In  ein 
tefelein  Ist  zu  Straspurg  sein  Meister  gewest  -  auf 
pergamen  4  fl.  Ein  weibspild  auch  in  ein  tefelein 
olifarb  so  darzu  gehoertt  gemalt  zu  Straspurg  I4g4, 
fl.  3.«  Wir  erfahren  also  zweierlei:  Dürer  hat  sich 
I4g4  so  lange  in  Strassburg  aufgehalten,  dass  er  dort 
mindestens  ein  weibliches  Bildnis  (eher  aber  die  beiden 
erwähnten)  malen  konnte,  und  er  hat  in  der  Werk¬ 
statt  eines  Strassburger  Malers  gearbeitet.  Ob  I4g4 
oder  schon  früher,  wird  nicht  gesagt.  An  sich  würde 
ein  zweimaliger  Aufenthalt  in  Strassburg  möglich  sein. 
Denn  nach  Scheurl  ist  Dürer  I4g2  peragrata  Germania 
nach  Kolmar  und  bald  darauf  nach  Basel  gekommen. 
Dass  er  auf  dem  Weg  nach  Kolmar  sich  länger  oder 
kürzer  in  Strassburg  aufhielt,  ist  doch  nicht  unwahr¬ 
scheinlich.  Als  Gegenargument  wird  angeführt,  dass 
ihm  dann  der  Tod  Martin  Schongauer’s  (gestorben 
am  2.  Februar  i4gi  in  Breisach)  nicht  hätte  verborgen 
bleiben  können.  Aber  dass  Dürer  I4g2  in  der 
Meinung,  den  Martin  in  Kolmar  und  lebend  zu 
finden,  dorthin  gereist  sei,  sagt  Scheurl  nicht,  sondern 
nur,  Dürer  habe  sehr  bedauert,  ihn  nicht  mehr  kennen 
gelernt  zu  haben  (ne  vidisse  quidem,  attamen  videre 
desiderasse  vehementer).  Dürer  wäre  übrigens,  wenn 
er  den  Martin  Schongauer  aufzusuchen  beabsichtigt 
hätte,  nicht  nach  Kolmar,  sondern  eher  nach  Breisach 
gewandert,  wo  dieser  schon  seit  Ende  der  achtziger 
Jahre  lebte.  In  einer  von  Max  Bach  (Schongauer- 
studien  Rep.  f.  Kw.  XVIll,  S.  264)  mitgeteilten  Basler 
Urkunde  vom  15.  Juni  148g  wird  Martin  »burger  zu 
Breisach«  genannt.  Ein  Aufenthalt  Dürer’s  in  Strass¬ 
burg  vor  der  Reise  nach  Kolmar  würde  auch  erklären, 
warum  die  Werke  der  Basler  Zeit,  selbst  die  Terenz- 
zeichnungen,  in  ihrer  Drastik  so  ganz  an  die  Strass¬ 
burger  Illustrationsweise  anklingen.  An  Schongauer 


210 


EIN  GEMÄLDE  DES  MATTHIAS  GRÜNEWALD 


gemahnen  doch  nur  die  Typen  einigermassen,  über¬ 
haupt  das  Figurale.  Der  Strassburger  Zeit  entstammen 
wohl  die  künstlerischen  und  persönlichen  Beziehungen 
Dürer’s  zu  Hans  Baidung,  wie  schon  Janitschek  an¬ 
genommen  hat,  und  seine  künstlerischen  Beziehungen 
zu  Hans  Wechtlin,  wie  ich  hinzufügen  möchte. 

Auch  Grünewald  denke  ich  mir  am  ehesten  einer 
Strassburger  Schule  entbürtig.  Es  handelt  sich  natür¬ 
lich  bis  jetzt  nur  um  nicht  viel  mehr  als  eine  Phantasie¬ 
vorstellung,  die  aus  Spinnenfäden  gewoben  ist,  und 
ich  werde  sie  mit  Freuden  aufgeben,  wenn  ich  Be¬ 
lehrung  finde.  Dass  Grünewald  sich  an  den  Haus¬ 
buchmeister  angeschlossen  habe,  soll  mir  nicht  unrecht 
sein.  Besonderes  Vergnügen  würde  es  mir  bereiten, 
wenn  jemand  ihn  als  zeitweiligen  Werkstattsgenossen 
des  Hieronymus  Bosch  nachwiese,  und  in  diesem 
Sinn  wäre  es  als  Förderung  der  Grünewaldfrage  zu 
begrüssen,  wenn  man  nicht  dem  Mathes  von  Aschaffen¬ 
burg,  aber  seinem  Lehrmeister  das  stark  übermalte, 
ganz  niederdeutsche,  durch  die  fast  burleske  Dar¬ 
stellung  und  die  reife  Landschaft  überaus  bemerkens¬ 
werte  Altarbild  im  Aschaffenburger  Schloss  (Nr.  270, 
271,  273,  275 — 277)  zuschreiben  könnte.  Es  stellt 
innen  die  Anbetung  des  Kindes,  auf  den  Flügeln 
Hieronymus  und  Johannes  und  aussen  vier  Heilige 
auf  je  zwei  Flügeln  dar.  Von  Flechsig  (Z.  f.  b.  K. 
N.  F.  VIII,  S.  70)  ist  es  mit  leisen  Vorbehalten  dem 
Hausbuchmeister,  von  Thode  (Jahrb.  d.  K.  pr.  K.-S. 
XXI,  S.  130)  frageweise  dem  Grünewald  oder  seinem 
Vater  zugeschrieben  worden.  Dem  letzteren  Forscher 
sind  die  niederdeutschen  Züge  darin  wohl  aufgefallen. 
Ich  kenne  das  Altarwerk  seit  schier  zwanzig  Jahren, 
weiss  aber  bis  jetzt  nicht,  es  mit  Sicherheit  unter¬ 
zubringen,  ausser  dass  mich  eben  stets  viel  Nieder¬ 
deutsches  daraus  ansprach.  Wird  es  jetzt  auch  in 
Aschaffenburg  aufbewahrt,  so  wäre  der  Schluss,  es 
sei  dort  oder  in  der  Nähe  gemalt  worden,  etwas 
rasch.  Eine  ähnliche  Raschheit  der  Entschliessung 
hat  ehemals  zur  Etablierung  der  »Aschaffenburger 
Schule«  beigetragen  und  vor  kurzem  ist  ein  aus  acht 
Bildern  bestehender  Sebastianscyklus  im  Bischöflichen 
Haus  in  Mainz  der  Schule  des  Hausbuchmeisters  zu¬ 
gewiesen  worden  in  der  Voraussetzung,  die  Bilder 
seien  in  der  Stadt  entstanden,  die  sie  nun  beherbergt. 
Aber  der  Bischof  Josef  Vitus  Burg  (geb.  zu  Offen¬ 
burg  1768,  der  Reihe  nach  thätig  in  Überlingen, 
Mainau  und  Kappel  bei  Freiburg  i.  Br.,  Bischof  seit 
1830)  hat  sie  aus  seinem  oberländischen  Wirkungs¬ 
kreis  nach  Mainz  gebracht.  Vor  mehr  als  einem 
Jahrzehnt  hat  Friedrich  Schneider  in  Mainz  mir  die 
interessanten  Tafeln  zum  erstenmal  gezeigt  und  seiner 
eminenten  Sachkenntnis  verdanke  ich  die  Nachricht 
über  ihre  Herkunft.  Sie  sehen  auch  ziemlich  schwäbisch 
aus,  ungefähr  als  ob  sie  von  einem  Vorfahren  des 
Bernhard  Strigel  herrührten. 

Den  Mainzer  Dreikönigsaltar,  bei  dem  Thode  auch 
an  Grünewald  (Jahrb.  d.  K.  Pr.  K.-S.  XXI,  S.  134) 
denkt,  habe  ich  früher  zum  Teil  für  Baidung,  zum 
Teil  für  Schäuffelein  in  Anspruch  genommen,  eine 
Ansicht,  die  ich  schon  lange,  auch  in  der  Litteratur 
aufgegeben  habe.  Bayersdorfer  schreibt  ihn  ebenso 


wie  die  Darstellung  im  Tempel  des  Frankfurter 
Historischen  Museums  und  andere  Bilder  einem  un¬ 
genannten  Schüler  Dürer’s  zu.  Daran,  dass  er  den 
Kreisen  der  Strassburger  Schule  entstamme,  halte  ich 
immer  noch  fest;  er  ist  vielleicht  und  zwar  einschliess¬ 
lich  des  Flügels  und  der  Rückseiten  von  Wechtlin 
gemalt  und  von  demselben  die  Frankfurter  Darstellung 
im  Tempel.  Allerdings  verraten  beide  Gemälde  die 
engste  Beziehung  zu  dem  jugendlichen  Dürer.  Die 
Zeichnung  Dürer’s  bei  Bonnat  (Lippmann  348)  liegt 
wohl  dem  Dürer’schen  Holzschnitt  der  Anbetung  der 
Könige  im  Marienleben  ebenso,  wie  dem  Mainzer 
Bild  zu  Grunde.  Grünewald’s  Urheberschaft  würde 
ich  bei  dem  letzteren  in  stärksten  Zweifel  ziehen. 

Von  dem  gebahnten  Weg  ab  habe  ich  mich  auf 
schattigen  Seitenpfaden  in  das  Waldesdickicht  locken 
lassen.  Ich  kehre  auf  die  Chaussee  zurück. 

Die  Rückseite  der  Freiburger  Tafel  mit  dem  Bruch¬ 
stück  der  drei  anbetenden  Könige  giebt  wieder  ein 
Rätsel  auf.  Ich  sehe  so  gut  wie  gar  nichts  von 
Grünewald  darin,  vielmehr  eher  Nürnberger  Art,  und 
ich  möchte  es  einem  Nürnberger  Maler  zuschreiben. 
Es  müht  mich  nicht,  den  Grund  aufzufinden,  warum 
zwei  verschiedene  Maler  die  verschiedenen  Seiten  der¬ 
selben  Tafel  bemalt  haben;  über  den  Augenschein, 
der  mir  zwei  in  der  That  heterogene  Stile  zeigt, 
komme  ich  nicht  hinaus.  Wer  der  Künstler  der 
Rückseite  ist,  zu  entscheiden,  wage  ich  nicht.  Eine 
Prüfung  auf  Wolf  Traut  als  Urheber  Hesse  sich  mit 
einigem  Fug  anstellen.  Man  kann  sich  zuvörderst 
daran  erinnern  —  falls  das  Bild  aus  der  Schnee¬ 
kapelle  stammt  — ,  dass  dieser  auch  sonst  für  Albrecht 
von  Brandenburg  gearbeitet  hat,  z.  B.  bei  dem 
Hallischen  Heiligtumsbuch. 

Wolf  Traut  war  kein  bezwingender  Meister,  aber 
ein  angenehmes  Talent.  Er  verstand  es,  grösseren 
geschickt  nachzuempfinden.  Heiter,  nett,  bisweilen 
anmutig,  bisweilen  nur  von  etwas  flacher  Hübschheit 
und  preziös  geziert,  tritt  er  unter  günstigen  Sternen 
hin  und  wieder  als  täuschender  Doppelgänger  Kulm¬ 
bach ’s  auf  (vergleiche  schon  Thode,  Malerschule  von 
Nürnberg,  S.  273).  Kulmbach,  der  in  seiner  lichten 
Koloristik  und  in  seinen  gestreckten  Figuren  sowohl 
mit  Hans,  als  mit  Wolf  Traut  zusammengeht,  mag 
ein  Schüler  des  Hans  gewesen  sein.  Wolf  ist  aber 
hagerer,  dürftiger,  fader  als  Kulmbach.  Er  starb 
1520.  G.  von  Terey  hat  sich  mit  ihm  in  seiner 
Studie  über  Kardinal  Albrecht  von  Brandenburg  und 
das  Hallesche  Heiligtumsbuch  eingehend  beschäftigt 
(S.  85 — 107).  Die  dort  aufgeführten  Werke,  nament¬ 
lich  ausser  dem  bezeichneten  und  1514  datierten 
Artelshofener  Altar  des  Münchner  Nationalmuseums, 
eine  grössere  Anzahl  von  Holzschnitten  des  Halleschen 
Heiligtumsbuchs  und  anderer  Bücher  wird  man  mit 
geringen  Modifikationen  gelten  lassen  müssen.  Einige 
andere  möchte  ich  noch  anschliessen. 

Zunächst  die  Kreuzauffindung  des  Germanischen 
Museums  (Kat.  216,  »Richtung  des  Hans  v.  Kulm¬ 
bach«).  Thode,  der  die  dem  »Meister  von  Heilsbronn« 
gehörige  Bildergruppe  mit  ungewöhnlich  scharfem 
Blick  gesichtet  hat,  schreibt  es  vermutungsweise  diesem, 


EIN  GEMÄLDE  DES  MATTHIAS  GRÜNEWALD 


21  1 


also  dem  Hans  Traut,  Wolf’s  Vater  (oder  Oheim?)  zu. 
Dass  Wolf  übrigens  an  der  Ausführung  des  Heils- 
bronner  Hochaltarbildes  (1502/3)  durch  Hans  teilnahm, 
ist  wahrscheinlich.  Die  herrliche  alte  Klosterkirche 
von  Heilsbronn  enthält  nebenbei  gesagt  viel  beachtens¬ 
werte  Denkmäler  der  fränkischen  Kunst;  unter  anderen 
noch  Bilder  vom  sogenannten  Meister  Berthold,  von 
Deig,  Erhard  Schön,  ja  vielleicht  auch  einen  frühen 
(dann  wohl  den  frühesten  bekannten)  Kulmbach  (Pho¬ 
tographien  bei  Karl  Herberth,  Rothenburg  ob  der 
Tauber).  Nicht  viel  später  als  die  Kreuzerfindung, 
ich  meine  noch  vor  1504,  sind  die  Blätter  der  Do¬ 
minikuslegende  in  Berlin,  München,  Darmstadt,  Braun¬ 
schweig,  London,  Paris  entstanden.  (Das  Darmstädter 
Blatt  ist  als  Nr.  551  in  den  »Handzeichnuungen« 
von  Schönbrunner  und  Meder  publiziert). 

Vielleicht  gebührt  dem  Wolf  Traut  auch  die  Ur¬ 
heberschaft  an  den  zwei  1 504  datierten  Zeichnungen 
in  Basel  mit  Maria  und  dem  Kinde  und  mit  dem 
hl.  Bartholomäus.  Mit  G.  v.  Terey  (Baidungzeich¬ 
nungen  als  Nr.  5  und  8  reproduziert)  habe  ich  sie  früher 
dem  Baidung  zugeschrieben,  bin  aber  später  durch 
die  Vergleichung  mit  stilverwandten  Holzschnitten  im 
»beschlossenen  Gart  des  Rosenkranz  Mariä«  (Nürn¬ 
berg  1505)  bedenklich  geworden.  H.  A.  Schmid 
(Rep.  f.  Kw.  XXI,  S.  310)  schreibt  beide  Blätter  dem¬ 
selben  Zeichner  zu,  wie  den  Schmerzensmann  in 
Budapest  (162  der  »Alten  Handzeichnungen«)  und 
eine  wappenhaltende  Frau  in  Dresden  (III,  8  der 
Woermann’schen  Publikation).  M.  J.  Friedländer  (Rep. 
f.  Kw.  XX,  S.  75)  erkennt  wenigstens  in  den  beiden 
letzten  Blättern  (162  und  III,  8)  dieselbe  Hand.  In 
Anbetracht  der  Dresdner  Zeichnung  lassen  mich  Ge¬ 
dächtnis  und  Notizen  im  Stich.  Das  Blatt  in  Buda¬ 
pest  scheint  mir,  nach  der  Reproduktion  zu  urteilen, 
einerseits  mit  den  zwei  Basler  Blättern  verwandt, 
andrerseits  auch  dem  Wolf  Traut  zuzutrauen,  ohne 
dass  ich  ein  sicheres  Urteil  darüber  fällen  könnte. 
Wenn  die  zwei  Zeichnungen  von  1504  von  Wolf 
Traut  herrühren,  dann  hat  er  um  diese  Zeit  einen 
Stilwechsel  durchgemacht  und  ist  ganz  unter  Dürer’s 
Bann  geraten.  Aber  es  bleiben  mir  leise  Zweifel 
zurück. 

Ganz  ohne  Zweifel  bin  ich  dagegen  bei  den 
Heiligen  Barbara  und  Katharina  vom  Altar  der  elf¬ 
tausend  Jungfrauen  in  Heilsbronn  (Phot.  Karl  Herberth, 
Rothenburg  ob  der  Tauber).  Sie  sind  1513  datiert. 
Lange  waren  sie  auf  Grünewald’s  Namen  getauft. 
Thode,  der  mit  Recht  ihre  Verwandtschaft  mit  Kulm- 
bach’s  Art  hervorhebt,  hat  sie  dem  Meister  von  Heils¬ 
bronn,  also  dem  Hans  zugeschrieben.  Sie  gehören 
zu  den  kräftigsten  und  reifsten  Proben  der  Kunst  des 
Wolf  Traut.  Chronologisch  nahe  stehen  ihnen  die 
Heiligen  Katharina  und  Barbara  der  Rosenthaler  Ka¬ 
pelle  in  der  Stadtkirche  zu  Schwabach.  Namentlich 
die  hl.  Barbara  ist  von  einer  Anmut  und  einer  ge¬ 
wissen  seelischen  Fülle,  die  sonst  dem  Wolf  abgeht. 
Man  könnte  hier  gleichfalls  versucht  sein,  an  Kulm¬ 


bach  zu  denken,  von  dem  ein  wenigstens  teilweise 
wohl  eigenhändiges,  mehrteiliges  Werk  aus  1520  in 
derselben  Kapelle  wie  zum  Vergleich  aufgestellt  ist. 
Das  ist  auch  die  Zeit  des  Artelshofener  Altars  mit 
der  hl.  Sippe  (1514).  (Das  Bild  leidet  etwas  Not; 
bei  meiner  letzten  Besichtigung  im  Sommer  iQoi 
begann  die  Farbenfläche  sich  stellenweise  in  Blasen 
von  dem  Holz  zu  heben).  Eine  interessante  Vor¬ 
arbeit  zu  dem  Mittelbild  des  Altars  ist  erst  durch  die 
Publikation  der  »alten  Handzeichnungen«  (Nr.  669) 
in  die  Litteratur  eingeführt  worden.  Es  ist  eine 
Zeichnung  in  Budapest.  Durch  G.  v.  Terey  habe  ich 
das  höchst  charakteristische  Blatt  vor  einer  Reihe  von 
Jahren  kennen  gelernt  als  eine  der  erfreulichen  Zeich¬ 
nungen,  bei  deren  Bestimmung  einem  kein  kleinster 
Bodensatz  von  Bedenken  übrig  bleibt.  Endlich  scheinen 
mir  die  zwei  wilden  Männer  als  Wappenhalter  im 
Germanischen  Museum  (Kat.  233.  »Schule  von  Nürn¬ 
berg  1520 — 30«;  Phot.  Hoefle,  Augsburg)  von  Wolf 
Traut  herzurühren.  Hat  er  die  Rückseite  des  Frei¬ 
burger  Bildes  wirklich  gemalt,  so  würde  sie  sich  hier 
einfügen.  Ich  will  aber  die  Frage  darnach  nur  ge¬ 
stellt,  nicht  bejaht  haben. 

Als  ich  igoi  in  der  Aschaffenburger  Schnee¬ 
kapelle  noch  einmal  Umschau  hielt,  konnte  ich  die 
beiden  schwer  misshandelten  Seitenbilder  mit  dem 
hl.  Martinus  und  dem  hl.  Georg  auf  einer  Leiter  und 
bei  dem  Schein  einer  Laterne  betrachten.  Ich  glaube 
jetzt,  an  Grünewald’s  Vaterschaft  nicht  mehr  zweifeln 
zu  dürfen.  Verdächtig  ist  dabei  freilich  etwas,  dass 
die  Bilder  auf  Leinwand  gemalt  und  nur  auf  Holz 
aufgezogen  sind.  Trotz  der  Übermalung  und  aller 
anderen  Unbilden,  die  sie  erlitten  haben,  verlohnte 
es  sich,  sie  zu  reproduzieren.  Es  wäre  eine  Sache 
für  die  Kunsthistorische  Gesellschaft  für  photo¬ 
graphische  Reproduktion,  die  unter  anderem  ihr  Ver¬ 
sprechen,  das  Ansbacher  Bild  mit  Christus  in  der 
Kelter,  eine  der  schmerzlichsten  Fragen,  die  die  Malerei 
der  Dürer’schen  Zeit  an  uns  richtet,  aufzunehmen,  nicht 
eingelöst,  uns  dagegen  1901  eine  Anzahl  im  Handel 
zu  erlangender  Aufnahmen  aus  der  Liechtensteiner 
Galerie  (darunter  wenig  wichtige  Bilder  des  Mess- 
kircher  Meisters)  und  aus  Dinkelsbühl  (eine  Art  von 
Daniel  Hopfer)  beschert  hat. 

Der  Freiburger  Grünewald  hat  bereits  seinen  Hafen 
gefunden.  Er  wird  einst  der  Städtischen  Galerie  in 
Freiburg  zufallen.  Diese  hat  dann  drei  der  merk¬ 
würdigsten  Bilder  rheinischer  Kunst:  die  grosse 
Kreuzigung  des  Hausbuchmeisters  ^),  den  Christus  als 
Schmerzensmann  von  Baidung  (einst  bei  M.  Rosen¬ 
berg),  eines  der  edelsten  und  schönsten  Werke  dieses 
ungleichen  Malers,  und  unseren  Grünewald. 

FRANZ  RIEF  FEL. 

1)  Zwei  andere  Gemälde  desselben  Meisters  sind  be¬ 
kanntlich  in  Freiburger  Privatbesitz;  das  eine  davon,  Christus 
vor  dem  Hohenpriester  mit  einer  vorzeitigen  den  Dirk 
Bouts  fast  noch  übertreffenden  Verwegenheit  des  Beleuch- 
tiingsproblerns :  Fackeln,  Feuer  und  Mondlicht  zugleich. 


PETRARCA’S  EINFLUSS  AUF  DIE  KUNST') 


Dem  Vater  des  Humanismus',  mit  dem  sich 
in  jüngster  Zeit  die  Litteratur  so  viel  be¬ 
schäftigt  hat,  haben  der  Prinz  d’Essling,  in 
Kunstkreisen  unter  dem  Namen  Duc  de  Rivoli  be¬ 
kannt,  und  Eugene  Müntz  ein  Prachtwerk  gewidmet. 
Mit  einer  Menge  Abbildungen,  darunter  Lichtdrucke, 
bereichert,  stellt  sich  dieses  Werk  als  ein  erwünschter 
Beitrag  zur  Kunstgeschichte  vor  unsere  Augen  und 
bietet  ein  Interesse  allgemeinen  Charakters  als  Forschung 
über  eine  Reihe  von  Wechselbeziehungen  zwischen 
Litteratur  und  Kunst. 

Um  den  Einfluss  Petrarca’s  auf  die  Kunst  zu  er¬ 
messen,  haben  die  Verfasser 
die  meisten  Sammlungen 
Europas  und  Amerikas  be¬ 
reist  und  dabei  alle  auf 
Petrarca’sSchriften  bezügliche 
Kunstwerke  untersucht.  Wäh¬ 
rend  ihre  Vorgänger,  Wast- 
1er  und  Dr.  Graus,  bloss 
eine  kleine  Zahl  von  Illustra¬ 
tionen  nach  den  Trionfi  an¬ 
geführt  hatten,  verzeichnen 
die  beiden  französischen  For¬ 
scher  mehr  denn  hundert¬ 
fünfzig  Darstellungen,  welche 
zu  Petrarca  in  Beziehung 
stehen.  Im  ganzen  über¬ 
trifft  ihr  Kunstwert  denjenigen 
der  vom  unvergesslichen 
E.  X.  Kraus  in  seinem  mo¬ 
numentalen  Werk  über  Dante 
besprochenen  Bilder. 

Dieser  Band  knüpft  so¬ 
mit  an  die  für  unser  Fach 
wertvolle  Reihe  der  ikono- 
graphischen  Studien  an, 
welche  Thode  mit  seinem 
Franz  von  Assisi,  Dobbert 
mit  dem  Abendmahl,  I/055 
mit  dem  jüngsten  Gericht 
eröffnet  haben.  Derartige 
Forschungen ,  bei  denen 
das  Material  weit  schwieriger  zu  sammeln  ist  als  bei 
Künstlermonographien,  geben  einen  tiefen  Einblick 
in  den  Gehalt  der  Kunstwerke;  sie  werden  ihren 
litterarischen  Quellen  näher  gerückt  und  der  per¬ 
sönliche  Anteil,  welchen  der  Künstler  an  der  Ori¬ 
ginalität  seines  Werkes  hat,  kann  somit  scharf  beur¬ 
teilt  werden.  Auch  erscheint  der  Wert  einer  graphischen 
oder  plastischen  Schöpfung  viel  deutlicher  aus  dem 
Vergleich  mit  anderen  Darstellungen  desselben  Themas, 

1)  Prince  d'Essling  et  Eugene  Müntz,  Petrarque,  ses 
etudes  d’art,  son  influence  sur  les  artistes,  ses  portraits  et 
ceux  de  Laure,  l’illustration  de  ses  ecrits.  21  Lichtdrucke 
und  191  Abbild,  im  Text.  —  Paris,  Gazette  des  Beaux- 
Arts,  1Q02,  VIII— 291  pp.,  4®. 


als  im  Zusammenhang  mit  Werken  desselben  Meisters, 
aber  verschiedenen  Inhaltes.  Die  ikonographischen 
Studien  füllen  somit  die  Lücken  der  Lebensbe¬ 
schreibungen  und  Monographien  aus  und  sind  für 
die  bekannteren  Gebiete  der  Kunstgeschichte  beson¬ 
ders  schätzenswert. 

Andernteils  haben  d’Essling  und  Müntz  dem  grossen 
Dichter  einen  neuen  Kranz  geflochten,  indem  sie  einen 
Bildercyklus,  der  sich  bis  auf  unsere  Zeit  hinauszieht, 
auf  seinen  ursprünglichen  Schöpfer  zurückgeführt  haben. 
Verdanken  wir  doch  eine  entfaltete  Blüte  vor  allem 
demjenigen,  der  den  Samen  dazu  ausgestreut  hat. 

Der  erste  Abschnitt  des 
Bandes  behandelt  die  künst¬ 
lerische  Thätigkeit  Petrarca’s. 
Während  seines  Aufenthaltes 
in  Avignon  verbindet  ihn  in¬ 
nige  Freundschaft  —  wovon 
zwei  Sonette  Zeugnis  ablegen 
-  mit  Simone  Martini,  dem 
er  die  Ausschmückung  seines 
Virgil’s  überträgt  (die  Hand¬ 
schrift  befindet  sich  zur  Zeit 
in  der  Ambrosiana).  Bald 
verlässt  der  Dichter  die  lär¬ 
mende  und  von  äusserem 
Glanz  strotzende  Burg  der 
Päpste  und  flüchtet  sich  in 
das  einsame  Vaucluze.  Hier 
lebt  er  ganz  der  malerischen 
Umgebung.  Zum  erstenmal 
in  dieser  Zeitperiode  findet 

sich  ein  Mensch,  der  die 

Schönheit  der  Natur  empfin¬ 
det  und  in  seinen  Versen 
preist.  Hernach  erreicht  er 
die  Tiberstadt,  wo  er  sich  für 
die  Bauten  der  Römerzeit 
begeistert  und  der  barbari¬ 
schen  Verstümmelung  dieser 
ehrwürdigen  Überreste  einer 
vergangenen  Kultur  mit  Ent¬ 
rüstung  entgegentritt.  Er 
sammelt  dort  Münzen  und  beteiligt  sich  mit  Cola 
di  Rienzi  an  der  Wiederherstellung  des  alten  Roms, 
ln  Mailand,  Pavia  und  Verona  ermutigt  er  die  Für¬ 
sten  zur  Förderung  der  Kunst.  Dem  in  Padua 
regierenden  Carrara  empfiehlt  er,  seinen  Palast  mit 

Bildern  von  zwölf  römischen  Kaisern  auszuschmücken 
und  liefert  selbst  die  Lebensskizzen,  welche  unter  die 
Porträts  zu  stehen  kommen. 

Petrarca  hat  also  persönlich  auf  die  Kunst  einge¬ 
wirkt,  indem  er  das  verschollene  Altertum  aus  der 
Dunkelheit  hervorzog  und  die  Natur  in  seinen  Strophen 
besang.  Er  gehört  somit  zur  Reihe  der  grossen  Ent¬ 
decker,  welche  unsere  Kultur  geschaffen  haben. 

An  Hand  von  zahlreichen  Abbildungen  geben 


Porträt  Petrarca' s 

(Nationalbibliothek  in  Paris,  fonds  latin,  Nr.  606g  f.) 


PETRARCA’S  EINFLUSS  AUF  DIE  KUNST 


213 


die  Verfasser  im  zweiten  Kapitel  eine  ausführliche 
und  entgültige  Besprechung  der  Porträts  Petrarca’s 
und  Laura’s.  Schon  de  Nolhac^)  hatte  die  Echtheit 
der  berühmten  Miniaturen  der  Laurenziana  bestritten 
und  das  authentische  Porträt  des  Dichters  in  einem 
Manuskript  der  Pariser  Nationalbibliothek  entdeckt. 
Dieses  bezeichnende  Bild,  in  dem  sich  eine  gewisse 
Strenge  der  Züge  mit  einem  wohlwollenden,  teilnahms¬ 
vollen  Ausdruck  verbindet,  wirkt  sehr  anziehend. 
Was  aber  Laura  betrifft,  welche  die  Ehre  hatte  zu 
ihren  Lebzeiten  von  Simone  Martini  gemalt  zu  werden, 
so  sind  ihre  noch  erhaltenen  Bilder  spätem  Ursprungs 
und  zweifelhafter  Identität. 


Sebastian  Brandt  1496  eine  deutsche  Übersetzung  ge¬ 
liefert  hatte,  bemächtigte  sich  dieses  Stoffes  der 
reichbegabte  Hans  Burckmair  und  erntete  mit  seiner 
über  zweihundertfünfzig  Stiche  zählenden  Ausgabe 
grossen  Beifall. 

Die  Trionß  in  vita  e  niorte  di  Madonna  Laura 
haben  selbstverständlich  einen  viel  stärkeren  und  all¬ 
gemeineren  Widerhall  in  der  Kunst  gefunden  als  das 
eben  erwähnte  Traktat.  Das  Thema  der  Canzoni  und 
Sonetten  wieder  aufnehmend,  bewegt  sich  diese  Dich¬ 
tung  im  Kreise  Laura’s,  wie  die  Divina  Comedia 
in  demjenigen  der  Beatrix.  Eine  Reihe  von  Kämpfen, 
welche  mit  einem  Siege  enden,  führt  uns  darin 


rr>n»r- 


E:  cn  cccy  pour  vray  aifümcnt  pouuos  voir, 
Qucnul  ncpcultfuiralamortcntnincllc,  iij. 
C-Luitoujoursno'’  tallona.&mücrcfopouuoir, 
Alors  ci  nous  pcfons  bien  cftrc  clloi^nez  d'clle. 


Acropos,  Lachcfis.Clöto  pareilicmciu, 
Troisfocursqno’  dilons  les  Parqucs  filädncrcs 
Font  mourir  Cliaftcte.cognoiffanc  clairemcnt 
Quelle  tendparvieillefTeälcs  heur.i  dcrnicres. 


Triumph  des  Todes 

Französischer  Stich  des  16.  Jahrhunderts  aus  den  Figures  de  la  Bible 


Früh  begannen  die  Dichtungen  Petrarca’s  die 
Phantasie  der  Künstler  anzuregen  und  eine  Menge 
Darstellungen  hervorzurufen.  d’Essling  und  Müntz 
haben  daher  mit  Recht  den  Hauptteil  ihres  Buches  auf 
die  Illustrationen  seiner  Werke  bezogen. 

Merkwürdiger  Weise  ist  gerade  die  Schöpfung 
Petrarca’s,  welche  ihrem  Inhalte  nach  am  wenigsten 
geeignet  war,  die  Kunst  anzuregen,  am  frühesten 
illustriert  worden,  und  zwar  in  Frankreich.  Die  am 
Ende  des  14.  Jahrhunderts  verfasste  Übersetzung  des 
Tractatus  de  Remediis  utriusque  Fortunae  hat  diese 
Schrift  dort  verbreitet  und  zum  Thema  einer  beträcht¬ 
lichen  Anzahl  Miniaturen  erhoben.  Später,  nachdem 


Petrarca  vor.  In  jedem  wird  der  Held  durch  eine 
höhere  Macht  überwunden.  Allegorische  Begriffe 
sind  mit  historischen  Gestalten  verflochten,  deren 
Schilderung  in  sehnsuchtsvolle  Ausrufe  an  Laura 
übergeht.  Amor  besiegt  die  Welt,  um  hernach  durch 
die  Keuschheit  überwunden  zu  werden;  da  erscheint 
der  Tod,  der  allen  Menschen  ein  jähes  Ende  bereitet. 
Der  Ruhm  aber  überlebt  den  Tod  und  unterliegt 
schliesslich  der  Zeit.  Bloss  die  Gottheit  bleibt  ewig. 
Aus  einer  derartigen  Folge  ergiebt  sich  in  gewissem 
Sinn  ein  Drama  in  sechs  Akten,  welches  sich  natur- 
gemäss  zur  künstlerischen  Bearbeitung  bietet. 

Die  Verfasser  stellen  zuerst  die  Wandlungen  fest, 
welche  das  Thema  in  seinem  Übergang  von  der 
Litteratiir  zur  Kunst  erfährt  und  konstatieren  das 


1)  Petrarque  et  l’Hiinianisme,  Paris  1892. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XISI.  H.  9. 


28 


214 


PETRARCA’S  EINFLUSS  AUF  DIE  KUNST 


Triumph  der  Keuschheit 
Florentiner  Miniatur  des  75.  Jahrhunderts 
(Nationalbibliothek  in  Paris.  Fonds  italien  Nr.  ^48) 

Vorhandensein  einer  vom  ursprünglichen  Text  ab¬ 
weichenden  Überlieferung,  welcher  sich  von  Anfang 
an  alle  Künstler  unterwerfen.  Während  nämlich  bei 
Petrarca  ein  Triumphwagen  nur  im  ersten  Gesang 
erscheint,  führen  die  Künstler  einen  solchen  in  jeden 
Triumph  ein.  Sie  schaffen  somit  eine  symmetrische 
Anordnung,  welche  fern  von  dem  Gedanken  des 
Poeten  lag,  und  da  kein  Kommentar  des  Gedichtes, 
der  älter  wäre  als  das  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts, 
bekannt  ist,  wird  man  wohl  auf  die  eigenmächtige 
Auslegung  eines  bedeutenden  Künstlers  schliessen 
müssen,  dessen  Beispiel  von  den  anderen  befolgt 
worden  ist.  Übrigens  spielte  bei  den  zahlreichen 
und  glänzenden  Triumphzügen,  welche  damals  in 
Italien  gefeiert  wurden,  der  Wagen  die  Hauptrolle, 
und  es  lässt  sich  denken,  dass  die  Künstler  die  Gegen¬ 
wart  eines  Gespannes  als  das  besondere  Merkmal 
eines  Triumphzuges  ansahen  und  der  Deutlichkeit 
wegen  in  ihre  Bilder  aufnahmen.  Ihre  Selbständigkeit 
gegenüber  dem  Text  Petrarca’s  ist  im  allgemeinen 
sehr  bemerkenswert.  Was  ihnen  nicht  passt,  lassen 
sie  unbeachtet.  Dagegen  knüpfen  sie  an  ihre  Dar¬ 


stellungen  Episoden  wie  Simson  und  Delila,  Aristoteles 
und  die  Geliebte  Alexander’s,  Pyramus  und  Thisbe, 
welche  bei  Petrarca  kaum  erwähnt,  durch  die  Über¬ 
lieferung  aber  ihrem  Thema  nahe  geführt  werden. 

Im  1  5.  Jahrhundert  erfreuen  sich  die  Trionfi  einer 
grossen  Beliebtheit  in  Itatien,  weil  ihr  Stoff  sich  dem 
nationalen  festlichen  Leben  eng  anschliesst,  und  sich 
zugleich  mit  einer  Menge  bekannter  Episoden  aus 
anderen  Dichtungen,  wie  der  Roman  de  la  Rose,  durch¬ 
kreuzt  und  oft  verschmilzt. 

Wir  müssen  hier  darauf  verzichten,  die  Verfasser 
in  ihrer  glänzenden  Musterung  der  Triumphgemälde 
zu  begleiten.  Unter  den  weniger  bekannten  Werken 
des  Quattrocento  begegnet  der  Leser  den  in  Licht¬ 
druck  wiedergegebenen  Tafeln  der  Sammlung  Gardner 
in  Boston,  welche  der  Schule  des  Peselliuo  zuge¬ 
schrieben  sind.  Matteo  de’  Pasti,  Botticelli,  Lorenzo 
Costa  haben  das  ihrige  zur  Verherrlichung  der  Trionfi 
beigetragen.  Im  16.  Jahrhundert,  unter  dem  Einfluss 
der  Neuausgabe  des  Canzoniere  durch  den  Kardinal 
Bembo,  erneuert  sich  diesseits  der  Alpen  der  den 
Werken  Petrarca’s  zugewandte  Kunstsinn,  während  er 
in  Italien  erstirbt.  Die  engen  Schranken,  welche  das 
noch  etwas  schüchterne  Quattrocento  den  Petrarca¬ 
darstellungen  zugewiesen  hatte,  erweitern  sich  hier 
und  lassen  Raum  für  bewegte,  reich  ausgestattete, 
selbständig  empfundene  Kompositionen.  In  pracht¬ 
vollen  Abbildungen  entrollen  uns  d’Essling  und  Müntz 
flämische  Teppiche  und  lassen  sie  wetteifern  mit  einer 
Reihe  von  Miniaturen,  in  denen  sich  die  Künstler  ihrer 
Erfindungsgabe  ungehindert  überlassen. 

ln  Deutschland  liefert  Georg  Pencz  das  Gegen¬ 
stück  zu  Burckmair’s  Illustrationen.  Seine  etwas  kalt 
empfundenen,  in  italienisierendcm  Stile  gehaltenen 
Darstellungen  stehen  aber  nicht  auf  der  Höhe  der¬ 
jenigen  seines  Augsburger  Nachbarn. 

ln  einem  wahrhaft  kunstvollen  Band  haben  d’Essling 
und  Müntz  einen  der  anziehendsten  Bildercyklen, 
welche  die  Dichtung  des  Mittelalters  hervorgerufen 
hat,  ans  Licht  gezogen.  Das  hiermit  erreichte  Resultat 
wird  der  Wissenschaft  nicht  entgehen  und  unsere 
Fachgenossen  zur  Übernahme  ähnlicher  Aufgaben  an¬ 
regen.  C.  DE  MAN  DACH. 


Der  Gesang 

Stich  ans  dem  Tractatiis  de  Reniediis  (Augsburg  1532) 


Ahb.  1.  C.  Corot.  Landschaft 


FRANZÖSISCHE  MEISTER 
IN  DER  MESDAO’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 

Von  Walther  Gensel 


Die  grossartige  Schenkung  des  jüngst  verstor¬ 
benen  Kunstfreundes  Thomy  Thiery  an  das 
Louvre-Museum  ist  von  allen  Seiten  mit  auf¬ 
richtiger  Freude  begrüsst  worden.  Binnen  kurzem 
wird  es  nun  also  jedem  möglich  sein,  von  den  Haupt¬ 
meistern  der  »Schule  von  1830«  je  etwa  ein  Dutzend 
hervorragender  Werke  zu  sehen  und  zu  geniessen, 
ohne  die  Pforten  eifersüchtiger  Privatsammler  auf  oft 
weitläufigen  Umwegen  erzwingen  zu  müssen.  Wer 
freilich  diese  Meister  dann  wahrhaft  lieben  gelernt  hat 
und  zu  der  Überzeugung  gekommen  ist,  dass  sie 
einen  Höhepunkt  nicht  nur  in  der  modernen  fran¬ 
zösischen  Kunst,  sondern  in  der  allgemeinen  Kunst¬ 
geschichte  bedeuten,  der  wird  sich  daran  nicht  ge¬ 
nügen  lassen.  Für  ihn  kommen  in  erster  Linie  noch 
zwei  Sammlungen  in  Betracht,  die  des  greisen  Begrün¬ 
ders  der  Magasins  du  Louvre  zu  Paris,  Chauchard,  die, 
augenblicklich  nur  wenigen  Begünstigten  zugänglich, 
hoffentlich  dereinst  ebenfalls  in  öffentlichen  Besitz 
übergehen  wird,  und  die  des  grossen  Marinemalers 
H.  W.  Mesdag  im  Haag.  Es  lässt  sich  kaum  ein 
grösserer  Unterschied  denken  als  zwischen  diesen 
beiden  Sammlungen.  Bei  Chauchard  sehen  wir  eine 
Galerie  mit  lauter  durchgefeilten,  für  die  Ausstellung 
fertig  gemachten  Werken,  bei  Mesdag  glauben  wir 
einen  Blick  in  die  Werkstatt  der  Künstler  zu  thun, 
haben  wir  zum  grossen  Teil  flüchtige  Skizzen,  kühne 
Entwürfe,  grossartige  Untermalungen  vor  uns.  Dort 
hat  der  ungeheuer  reiche  Kunstfreund  gesammelt,  der 
die  Bilder  oftmals  nicht  trotz,  sondern  wegen  ihrer 
ans  Fabelhafte  grenzenden  Preise  erworben  hat,  hier 
der  Maler,  der  zu  jedem  Meister  in  einem  persön¬ 
lichen  Verhältnis  steht,  für  den  jede  Erwerbung  ein 


inneres  Erlebnis  bedeutet  hat.  Die  Mesdag’sche 
Sammlung  ist  kein  Museum  für  jedermann,  vielen 
wird  sie  ein  verschlossenes  Buch  bleiben.  Wer  aber 
ein  geübtes  Auge,  wahrhafte  Kunstempfindung  und 
ein  gewisses  Talent  zum  Nachschaffen  mitbringt,  wird 
in  dem  schönen  Hause  der  stillen  Laan  van  Meer- 
dervoort  Stunden  unvergesslichen  Genusses  verleben. 

Es  soll  hier  nicht  Mesdag’s  Ruhm  aufs  neue  ver¬ 
kündet  werden.  Wer  sich  für  die  Lebensschicksale 
des  Malers  der  Nordsee«,  der  bis  zu  seinem  fünfund- 
dreissigsten  Lebensjahre  im  Bankhause  seines  Vaters 
thätig,  erst  spät  zur  Kunst  gekommen  ist,  interessiert, 
mag  das  in  drei  Sprachen  (holländisch,  englisch  und 
französisch)  erschienene  Buch  seines  Freundes  Zücken 
lesen,  und  Bilder  von  ihm  findet  man  in  fast  allen 
grösseren  Sammlungen.  Nur  eins  sei  aufs  neue  be¬ 
tont.  Sieht  man  immer  nur  einzelne  Werke  des 
Meisters,  so  bekommt  man  leicht  den  Eindruck  einer 
gewissen  Eintönigkeit.  Man  muss,  wie  vor  einigen 
Jahren  bei  Durand-Ruel  in  Paris,  viele  und  in  guter 
Auswahl  beisammen  sehen,  um  den  Reichtum  in  der 
Beschränkung  voll  zu  empfinden.  Freilich  malt  er 
immer  das  Meer  und  immer  in  dem  nahe  gelegenen 
Scheveningen.  Aber  er  malt  es  zu  allen  Zeiten  und 
in  allen  Stimmungen,  ruhig  und  vom  Sturm  auf¬ 
gewühlt,  im  Nebel  und  in  der  Klarheit,  bei  Sonnen- 
und  Mondschein,  in  der  Morgendämmerung  und  bei 
sinkender  Nacht.  Licht  und  Wasser,  oder  das  Wasser 
im  Licht  könnte  man  über  das  Werk  seines  Lebens 
setzen.  Und  immer  finden  wir  dieselbe  Liebe  für 
den  Gegenstand,  dieselbe  Ehrlichkeit  und  dieselbe 
schlichte  Kraft  in  der  Wiedergabe. 

Liebe,  Ehrlichkeit  und  Kraft  müssen  auch  die 

28* 


21 6  FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


Abb.  2.  J.  F.  Milkt.  Stillleben 


Werke  zeigen,  die  er  in  sein  Miisenm  aiifnimmt. 
Gewiss  er  hat  nicht  nur  Gemälde  erworben,  sondern 
auch  viele  kunstgewerbliche  Gegenstände,  vor  allem 
Keramik.  So  sehen  wir  bei  ihm  herrliches  Porzellan 
und  eine  grosse  Kollektion  Rozenburg  -  Fayencen. 
Und  dass  auch  die  Japan-Begeisterung  nicht  spurlos  au 
ihm  vorüber  gegangen  ist,  beweisen  die  wundervollen 
alten  Satsuma-Waren.  Nicht  minder  bedeutend  ist 
die  Zahl  der  Seidenwebereien  und  Gobelins.  Allein 
den  Haupteindruck  bestimmen  doch  die  Bilder.  An 
die  Wohnräume,  die  einige  der  allerschönsten  bergen, 
schliesst  sich  das  Museum,  zwei  Stockwerke  mit  je 
einer  ganzen  Flucht  von  Zimmern ,  deren  Wände 
über  und  über  mit  köstlichen  Malereien  behängt  sind. 
Man  kann  sie  in  zwei  Hauptgruppen  scheiden;  in 
Werke  derjenigen  französisehen  Meister  der  älteren 
Generation,  deren  Werke  die  neuere  holländische 
Kunst  hauptsächlich  beeinflusst  haben,  und  in  Werke 
derjenigen  liollündisehen  Maler,  die  zusammen  mit 
Mesdag  die  Erneuerung  der  Kunst  ihres  Landes  in 
heissem  Kampfe  errungen  haben.  Nur  von  der 
ersteren  Gruppe  soll  in  diesen  Zeilen  die  Rede  sein. 

Von  allen  französischen  Meistern  verehrt  Mesdag 
wohl  Milkt  am  meisten.  Wie  ein  kleines  Heiligtum 
hat  er  in  seinem  Atelier  den  unscheinbaren  Zettel 


eingerahmt,  auf  dem  ihm  Millet  seine 
erste  Auszeichnung  im  Pariser  Salon  (für 
das  Bild  »Nordsee-Brandung«)  mit  dem 
einzigen  Worte  vermeldet:  Medaille! 
Nicht  weit  davon,  im  Musikzimmer, 
hängt  eins  der  gewaltigsten  Pastelle  des 
grossen  Barbizoners,  der  »Ruhende  Win¬ 
zer«.  Wer  kennt  sie  nicht,  diese  »bete 
humaine«  mit  den  schwieligen  Händen 
und  Füssen  und  dem  stumpfen,  fast 
tierisch  blöden  Gesichtsausdruck,  die  da 
in  der  Mittagszeit  zwischen  den  Reb¬ 
stöcken  am  Boden  hockt!  Und  doch 
wirkt  das  Bild  im  Original  fast  voll¬ 
kommen  überraschend.  Nach  den  Ab¬ 
bildungen  denkt  man  an  eine  ziemlich 
farblose  graue  Malerei,  allein  es  ist  ganz 
hell  und  sonnig,  ein  kühnes  Freilichtbild. 
Wie  wunderbar  ist  der  goldige  Staub 
gegeben,  in  den  die  Gestalt  gehüllt  ist, 
der  um  die  grünen  Blätter  spielt!  Kaum 
minder  bedeutend  ist  das  gegenüber 
hängende  grosse  Pastell  »Die  Getreide¬ 
schober«,  in  dem  die  wunderbare  Kunst 
des  Meisters,  das  lebendige  Durchein¬ 
ander  einer  Schafherde  darzustellen,  aufs 
schönste  zur  Geltung  kommt.  Und  in 
demselben  Zimmer  finden  wir  auch 
einige  von  Millet’s  allerschönsten  Hand¬ 
zeichnungen.  Vor  allen  anderen  zwei: 
»die  Reisigsammlerinnen«  und  »die  bei 
der  Öllampe  nähenden  Frauen«.  Von 
der  ersteren  giebt  es  eine  gute  Nachbil¬ 
dung  in  den  Chefs  d’oeuvre  de  l’Art  au 
XIX siede.  »Alles  durch  nichts«,  an 
dieses  Wort  eines  französischen  Kritikers 
wird  man  immer  und  immer  vor  diesen  Zeichnungen 
erinnert.  Es  ist  in  der  That  erstaunlich,  mit  wie  ge¬ 
ringen  Mitteln  hier  eine  völlig  bildnisartige  Wirkung 
erreicht  ist.  Die  beiden  hinteren  Reisigsammlerinnen 
könnte  man  in  der  Nähe  und  für  sich  betrachtet 
ebenso  gut  für  Strohbündel  halten,  und  doch  ist  alles 
Nötige  vorhanden,  die  charakteristische  Haltung,  die 
Bewegung  und  die  plastische  Form.  Das  Bewunderns¬ 
würdigste  an  Millet’s  Zeichnungen  aber  ist  doch 
immer  die  Intensität  der  Lichtwirkung. 

Das  sind  alles  Bilder,  die  man  kennt  oder  bei 
denen  man  wenigstens  Ähnliches  gesehen  zu  haben 
glaubt.  Die  grössten  Überraschungen  erwarten  uns 
im  oberen  Stockwerk.  Dort  nimmt  fast  die  ganze 
Wand  des  einen  Zimmers  eine  lebensgrosse  Dar¬ 
stellung  »Hagar  und  Ismael«  ein,  die  früher  voll¬ 
ständig  verschollen  war,  ja,  von  der  besonders  kundige 
Leute  behaupteten,  sie  sei  vom  Künstler  selbst  zerstört 
worden  (Abb.  7).  Millet’s  Entwickelung  erscheint  hier 
mit  einem  Male  in  einem  ganz  neuen  Lichte.  Glaubte 
man  doch  sonst,  er  habe  in  seiner  Pariser  Zeit  nur 
niedliche  Nuditäten  im  Geschmack  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  geschaffen.  Und  nun  diese  gewaltige 
Auffassung  des  Nackten  in  dieser  hingestreckten  weib¬ 
lichen  Gestalt!  Jetzt  erst  begreift  man  jenes  Wort 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


217 


aus  seinem  Briefwechsel,  man  solle  die  Ausstellung 
einmal  fünf  Jahre  schliessen  und  dann  von  jedem 
Künstler  nur  einen  einzigen  Akt  zulassen;  dann  werde 
man  erkennen,  dass  »der  Mangel  an  Können  die 
Wunde  unserer  Zeit  ist  '.  Im  vorigen  Jahre  sind  vom 
Art  Journal  einige  andere  bisher  fast  unbekannte  Dar¬ 
stellungen  des  Nackten  von  Millet,  leider  in  sehr 
mangelhaften  Nachbildungen,  veröffentlicht  worden, 
die  dieselbe  fast  an  Michelangelo  gemahnende  Mo¬ 
numentalität  zeigen.  Wie  wundervoll  ist  aber  auch 
die  seelische  Gestalt  des  tragischen  Ereignisses  bis  in 
seine  innersten  Tiefen  in  dieser  Figur  erschöpft! 

Eine  andere  Überraschung  bildet  das  kleine  Ge¬ 
mälde  »die  Fischerin«;  eine  Skizze  von  einer  an  De¬ 
lacroix  erinnernden  Farbenglut.  Die  Zeitgenossen 
Millet’s  haben  sich  über  die  Feierlichkeit  aufgehalten,  die 
er  seinen  Bäuerinnen  verleihe.  Auch  hier  könnte  man 
über  das  arme  Fischerweib  in  der  Attitüde  der  del¬ 
phischen  Sibylle  spotten.  Aber  wer  denkt  denn  an 
das  Fischerweib:  eine  weibliche  Gestalt  im  tiefsten 
Sinnen  und  dieses  Sinnen  zugleich  ganz  in  einen 
vollen  und  schweren  Farbenaccord  umgesetzt.  Und 
von  einer  ganz  ungewohnten  Seite  zeigt  sich  der  Meister 
endlich  auch  in  dem  »Stillleben«  (Abb.  2).  Ein  echt 
bäuerliches  Bild;  statt  der  Hummern  und  Austern, 
die  sonst  die  Stilllebenmaler  lieben,  eine 
grosse  Kruke,  ein  Einmachetopf,  Porree 
und  Rettiche.  Das  giebt  keine  Gelegen¬ 
heit  zu  virtuosen  Farbenspielen,  aber 
einen  sehr  vornehmen  Zusammenklang 
von  grauen  und  grünen  Tönen. 

Von  den  Landschaftern  von  1830 
hat  der  Ruhm  Corot's  den  der  andern 
ein  wenig  verdunkelt.  Wer  die  grossen 
Versteigerungen  der  letzten  Jahre  im 
Hotel  Drouot  zu  Paris  miterlebt  hat,  der 
weiss,  wie  beim  Namen  Corot  eine 
freudige  Bewegung  durch  die  ganze  Ver¬ 
sammlung  geht  und  dass  die  für  seine 
Bilder  gezahlten  Preise  alle  die  weit  hinter 
sich  lassen,  die  je  ein  Werk  von  Hob- 
bema  oder  Ruysciael  erzielt  hat.  Es  ist, 
als  fiele  ein  Sonnenstrahl  in  den  Raum 
oder  wehe  ein  Hauch  von  Frühlingsluft 
durch  das  Fenster  herein,  so  zauberhaft 
wirkt  der  Meister  mit  seiner  Tonigkeit 
und  seiner  reizenden  Lichtbehandlung. 

Sein  Lebenswerk  ist  ein  unaufhörlicher 
Lobgesang  auf  das  Rauschen  der  Bäume, 
das  Blühen  der  Blumen,  das  Zwitschern 
der  Vögel,  die  Sonnenaufgänge  und 
Sonnenuntergänge.  Mesdag  besitzt  eine 
ganze  Reihe  meist  skizzenhafter  kleiner, 
aber  auch  ein  paar  grössere  Gemälde  von 
diesem  liebenswürdigsten  unter  allen  ma¬ 
lenden  Poeten.  Am  lebhaftesten  in  der 
Erinnerung  steht  mir  eine  1844  gezeich¬ 
nete  Felspartie  mit  Cypressen  und  Epheu, 
ein  wenig  schwer  im  Farbenauftrag  gegen 
den  späteren  Corot,  aber  gross  in  der 
Auffassung  und  voller  Leben  (Abb.  3). 


Dann  eins  seiner  vielen  »Souvenirs  d’Italie«,  In  der 
Mitte,  hell  beleuchtet,  ein  italienisches  Städtchen  mit 
Festung,  dahinter  der  See  und  im  Dufte  verschwim¬ 
mend  das  jenseitige  Ufer  mit  kleinen  Hügeln ,  vorn 
rechts  eine  sanfte  Erhebung,  links  ein  echtester  Corot- 
Baum  und  Italiener  als  Staffage.  Dann  ein  ent¬ 
zückendes,  äusserst  helles  und  zartes  Strandbild  mit 
hohen  Klippen,  die  sich  nach  dem  Hintergründe 
herumziehen,  und  gewaltigen  Steinblöcken.  Auf  dem 
Meere  ein  kleines  Segel,  am  Strande  ein  paar  mensch¬ 
liche  Figuren.  Dann  eine  kleine  Mondscheinlandschaft 
mit  Nymphen.  Endlich  ein  reizender  mit  Sonnen¬ 
flecken  übersäeter  Waldweg.  Auch  unsere  Abb.  1 
mit  dem  lieblichen  Ausblick  über  das  Wasser  hin 
gehört  hierher. 

Wie  schon  gesagt,  nimmt  Corot  in  der  Gunst  der 
Liebhaber  unter  den  Landschaftern  den  ersten  Rang 
ein,  trotz  seiner  gewaltigen  und  gegen  seinen  Lebens¬ 
abend  hin  zuweilen  denn  doch  etwas  hastigen  Pro¬ 
duktion.  Wenn  zuweilen  ein  Th.  Rousseau  oder 
Dupre  einen  ebenso  hohen  oder  noch  höheren  Preis 
erzielt  hat,  so  ist  dies  sicherlich  auf  die  verhältnis¬ 
mässig  viel  grössere  Seltenheit  dieser  Künstler  zu 
schieben.  Aber  gerade  im  Mesdag- Museum  erkennt 
man  doch  recht  deutlich,  dass  Corot  nur  einer  unter 


Abb.  3.  C.  Corot.  Landschaft  in  Italien 


218 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


mehreren  ist,  ja  dass  die  anderen  ihn  zuweilen  noch 
überragen.  Es  ist  eine  schöne  Anschauung,  die  am 
farbigen  /.bglanz-  das  Leben  hat,  die  den  Schein  in 
voller  Zügen  geniesst,  weil  der  Kern  unergründlich 
bleibt.  Ciösser  und  tiefer  ist  aber  doch  der  Geist, 
der  trotz  allem  und  allem  in  der  Wesen  Tiefe  trachtet, 

.'i  ihre  tiefe  Brust 

Wie  in  den  Busen  eines  Freunds  zu  schauen. 

Du  führst  die  Reihe  der  Lebendigen 

Vor  mir  vorbei  und  lässt  mich  meine  FUüder 

Im  stillen  Busch,  in  Luft  und  Wasser  kennen. 

Diese  Verse  könnte  man  auf  Rousseaii’s  Grab¬ 
stein  und  als  Motto  über  sein  Lebenswerk  setzen. 
Ein  Stück  von  dem  gewaltigen  faustisch -goethischen 


Pantheismus  lebte  in  ihm.  Die  Bäume  waren  seine 
Brüder,  mit  denen  er  Zwiesprach  hielt,  über  deren 
Tod  er  trauerte  wie  über  den  lebendiger  Wesen.  Er 
hatte  nicht  genug  am  Schein,  sondern  hätte  am  lieb¬ 
sten  jede  Faser  des  Baumes  wiedergeben  mögen. 
Hier  bei  Rousseau  zeigen  sich  so  recht  die  Vorzüge 
der  Mesdag’schen  Sammlung.  Sie  enthält  nämlich, 
abgesehen  von  einigen  kleineren  Werken,  zwei  für 
das  Verständnis  des  Meisters  ungemein  wichtige  Werke, 
die  aber  niemals  in  einer  öffentlichen  Sammlung  Platz 
finden  würden,  weil  das  eine  vollständig  verdorben 
und  das  andere  nur  ein  Entwurf  ist.  Der  »Abstieg  der 
Kühe  im  Jura«  (Abb.  6),  den  Mesdag  von  Ary  Scheffer’s 
Tochter  in  Dordrecht  erworben  hat,  ist  in  der  That 
nur  noch  eine  Ruine,  da  die  ganze  mittlere  Partie 
des  über  drei  Meter  hohen  Bildes  wegen  der  allzu 
reichlichen  Verwendung  von  Asphalt  zu  einzelnen 


schwarzen  Klumpen  zusannnengelaufen  ist.  Aber  was 
für  eine  Ruine!  Niemals  hat  Rousseau  wohl  wieder 
eine  solche  Farbigkeit,  eine  solche  Kraft  und  eine 
solche  Freiheit  erreicht.  Unten  ein  Gewoge  von  roten, 
schwarzen,  weissen  und  braunen  Tönen,  die  Köpfe 
und  Rücken  der  prächtigen  Tiere,  ciann  darüber  das 
geheimnisvolle  Dunkel  des  von  Riesenfichten  be¬ 
schatteten  Abhanges  und  ganz  oben,  durch  die  Baum¬ 
wipfel  hindurch,  blinkende  Schneeberge  und  ein  win¬ 
ziges  Stück  blauen  Himmels.  Man  kann  sich  wohl 
vorstellen,  dass  diese  gewaltige  Impression,  diese 
Ebauche  grössten  Stiles  bei  der  Jury  des  Salons  höch- 
lichen  Unwillen  erregte.  In  so  grossem  Eormat,  mit 
solchen  Sudeleien«  waren  die  anderen  Revolutionäre 
denn  doch  nicht  gekommen.  Die  -Descente  des 


vaches»  eröffnete  also  für  Rousseau  die  lange  Reihe 
der  zurückgewiesenen  Bilder.  Bei  Mesdag  hängt 
übrigens  auch  die  erste  Skizze  zu  dem  Bilde,  ein 
schönes  Werk  in  freundlicheren  helleren  Farben  ohne 
die  grosse  epische  Kraft.  Rousseau  ist  einer  der  frühest¬ 
reifen  Künstler  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Die 
Werke,  die  er  mit  achtzehn  Jahren  schuf,  behaupten 
sich  in  jedem  Museum;  als  er  den  Abstieg«  malte, 
war  er  dreiundzwanzig,  also  in  einem  Alter,  in  dem 
Corot  noch  Kaufmann  war  und  Millet  kaum  seine 
ersten  schüchternen  Versuche  als  Maler  gemacht  hatte. 

Das  andere  Bild,  die  Holzfäller  auf  der  Insel 
Croissy«  ist  eigentlich  nur  eine  Untermalung  (Abb.  4). 
Auf  einem  Spaziergang  war  er  »zu  solch  einem  trüben 
Schlachtfelde  gekommen,  wo  die  siegreichen  Holz¬ 
hacker  die  Leichname  plündern  <  ,  wie  er  sich  seinem 
Freunde  Thore  gegenüber  einmal  ausgedrückt  hat. 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


2ig 


Dieses  seiner  Meinung  nach  barbarische  Schauspiel 
wollte  er  in  seinem  Bilde  wiedergeben.  »Ich  möchte 
Gewissensbisse  in  denen  erwecken,  die  so  thöricht  die 
Bäume  niederschlagen.«  In  nur  zwei  Tagen  warf  er 
seinen  Eindruck  auf  die  Leinwand.  In  diesem  Zu¬ 
stande  blieb  das  Bild  dann  bis  zu  seinem  Lebensende 
im  Atelier  hängen.  Er  selbst  bezeichnete  es  wohl  als 
»Le  Massacre  des  Innocents  ,  die  Niedermetzlung  der 
Unschuldigen  (im  Französischen  zugleich  der  Aus¬ 
druck  für  den  betlehemitischen  Kindermord).  Vieles 
ist  nur  angedeutet,  so  vor  allem  die  menschlichen 
Zwerglein,  die  um  die  Kronen  der  uralten  Baumriesen 


nicht,  welcher  Gattung  er  angehört,  sondern  em¬ 
pfindet  nur,  dass  es  gut  ist,  in  seinem  Schatten  aus¬ 
zuruhen,  dass  der  Morgenwind  durch  seine  Blätter 
rauscht  und  die  Vögel  auf  seinen  Zweigen  zwitschern. 
Für  Rousseau  ist  jeder  Baum  eine  Persönlichkeit,  die 
es  gilt  mit  ihren  individuellen  Eigenschaften  abzu¬ 
konterfeien. 

Wird  unsere  Kenntnis  von  dem  künstlerischen 
Wesen  der  genannten  Meister  in  der  Mesdag’schen 
Sammlung  in  der  willkommensten  Weise  bereichert, 
so  kann  man  einen  andern  Landschafter  in  seiner 
ganzen  Grösse  überhaupt  nur  hier  kennen  lernen. 


Abb.  'i.  G.  Courbet.  Das  Erwachen 


ihre  Seile  legen  oder  an  diesen  ziehen.  Alles  Wesent¬ 
liche  aber  ist  vorhanden.  Wie  wundervoll  ist  der 
Himmel  gemalt,  wie  spielt  das  Licht  um  die  Blätter 
und  Stämme  des  jungfräulichen  Forstes!  »Bäume  im 
Lichte  zu  malen«,  das  bezeichnete  er  ja  selbst  als 
eines  der  Hauptziele  seiner  Kunst.  Das  Licht,  das 
über  ein  Werk  gebreitet  ist,  ist  das  allgemeine  Leben, 
ist  die  Gesamtheit  einer  Welt  .  .  .  Ohne  Licht  giebt’s 
keine  Schöpfung...  Wer  Leben  schafft,  ist  ein  Gott.« 
Diese  Worte  sind  Briefen  des  Künstlers  aus  sehr  ver¬ 
schiedener  Zeit  entnommen,  sie  zeigen,  wie  treu  er 
dem  einmal  gewählten  Ideale  nachging.  Und  nun 
vergleiche  man  noch  einmal  die  Bäume  Rousseau’s 
mit  denen  Corot’s.  Der  letztere  giebt  nur  gewisser- 
massen  die  Idee  des  Baumes.  Man  weiss  oft  gar 


Charles  Francois  Daubigny.  Daubigny  ist  1817  ge¬ 
boren,  steht  also  den  anderen  zeitlich  sehr  nahe. 
Aber  sein  Talent  ist  erst  später  zu  voller  Entfaltung 
gekommen,  in  einer  dem  Realismus  huldigenden  Zeit. 
Er  verhält  sich  zu  dem  Romantiker  Rousseau  etwa 
wie  Courbet  zu  Millet.  Seine  Naturausschnitte  sind 
oft  sehr  unscheinbar.  Die  meisten  kleinen  Bilder,  die 
von  ihm  auf  den  Versteigerungen  erscheinen,  sind 
höchst  einfache  Motive  von  den  Ufern  der  Oise,  auf 
der  er  sozusagen  in  seinem  Kahne  lebte.  Starke 
Lichteffekte  sind  selten,  meist  ist  der  Himmel  leicht 
bewölkt.  Der  Nachdruck  liegt  auf  den  zarten  Ab¬ 
stufungen  verschiedener  Grün,  die  mit  der  bläulichen 
Ferne  und  dem  Graublau  des  Himmels  eine  äusserst 
diskrete  Harmonie  geben.  Kaum,  dass  ein  paar 


2  0 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


liineinbringen.  Besonders  liebt  er 
den  Frühling,  blühende  Obstbäume, 
schlanke  knospende  Birkenstämme. 
Die  beiden  grossen  Bilder,  die  der 
Luxembourg  und  die  National -Ga¬ 
lerie  besitzen,  sind  treffliche  Bei¬ 
spiele  dafür.  Wohl  durch  sie  ist 
es  gekommen,  dass  Daubigny  recht 
eigentlich  als  der  Maler  des  Früh¬ 
lings  bekannt  ist.  Auch  Mesdag 
besitzt  einige  Bilder  dieser  Art,  vor 
allem  einen  wundervollen  Wald¬ 
durchblick  mit  einem  zwischen 
hohen  Bäumen  dahin  plätschernden 
Bächlein.  Allein,  wer  nur  diese 
Seite  von  des  Meisters  Schaffen 
kennt,  kennt  ihn  nur  halb.  Ein 
viel  gewaltigerer  Geist  spricht  aus 
den  ernsteren  farbigeren  Werken 
seiner  Spätzeit.  Früher  stand  man 
diesen  Bildern,  die  allerdings  zum 
Teil  nicht  vollendet  sind  und  aus 
der  Versteigerung  seines  Nachlasses 
stammen,  mit  ihrer  rücksichtslosen, 
wuchtigen  Betonung  des  Wesent¬ 
lichen  ratlos  gegenüber.  Es  sind 
mächtige  Ergüsse  einer  gewaltig  er¬ 
regten  Künstlerseele,  gegen  die  die 
vorher  erwähnten,  die  an  und  für 
sich  unsere  höchste  Bewunderung 
verdienen,  fast  wie  harmlose  Amüse¬ 
ments  erscheinen.  Vor  allem  wurde 
Daubigny  in  seiner  Spätzeit  zu  einem 
grandiosen  Maler  der  Sonne  und 
des  Mondes.  Photographieren  lassen 
sich  diese  Bilder  mit  ihrer  souveränen 
Verachtung  aller  Details  eigentlich 
nicht;  wenigstens  kann  man  aus  der 
Nachbildung  (Abb.  lo)  nur  ahnen, 
was  ihre  Schönheit  ausmacht.  Da 
ist  z.  B.  ein  Sonnenaufgang.  Weiss 
mit  grellgelber  Glorie  ist  die  Sonne, 
tiefgrün  die  Erde,  braunrot  zwei 
mächtige  Kühe  im  Vordergründe. 
Welcher  Photograph  könnte  diese 
Sonne  wiedergeben?  Und  wie  nichts¬ 
sagend  würde  auf  der  Nachbildung 
die  Landschaft  erscheinen,  diese 
Ebene,  die  zuerst  ganz  kahl  und 
leer  aussieht  und  auf  der  wir  erst 
nach  und  nach,  genau  wie  beim 
Sonnenaufgang  in  der  Natur,  Ort¬ 
schaften,  Gehöfte,  einen  Fluss  mehr 
ahnen  als  erkennen,  dieser  Himmel 
mit  seinen  in  den  zartesten  Abstu¬ 
fungen  von  Grau  und  Rosa  schim¬ 
mernden  Wolken!  Gegenüber  hängt 
ein  Sonnenuntergang  mit  hellblauem 
Himmel  und  einer  orangegelben 
Blumen  im  Vordergründe  oder  die  Staffagefiguren,  Sonne  über  dem  glitzernden  Meere.  Daneben  ein 
Fischer,  Wäscherinnen,  Kühe,  ein  paar  bunte  Flecken  Nachtbild.  Schwarzgrau  ist  der  Himmel,  an  dem  die 


Abb.  6.  Th.  Rousseau.  Der  Abstieg  der  Kühe 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIll.  H.  9 


2i) 


MILLET  Abb.  7.  HAGAR  UND  ISMAEL 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


Mondsichel  ihr  fahles  Licht  ausgiesst,  tiefdunkelblau 
;iie  Erde,  die  Felder  und  Bäume,  das  einzelne  Ge¬ 
höft,  aus  dessen  Esse  Rauchwolken  aufsteigen  und  in 
dem  ein  rötliches  Licht  glänzt.  In  einem  anderen 
Raume  finden  wir  zwei  Vollmondbilder  einander 
gegenüber,  beide  1875  gemalt,  in  einem  der  frucht¬ 
barsten  Jahre,  das  eine  ganz  silbern,  das  andere 

zitronengelb,  ins  Rötliche  gehend,  mit  braunen  Bäumen 
und  blauem  sich  in  einem  Bach  spiegelnden  Himmel. 
Immer  wieder  erstaunen  wir  über  die  Mannigfaltig¬ 
keit.  Ein  Bild  ist  hellgrün,  eins  auf  Grau,  eins  auf 
Blau  gestimmt,  und 
dazwischen  kommen 
wieder  solche,  bei 
denen  zwei  oder 
drei  Farben  einen 
mächtigen  Accord 
ergeben.  Die  Zahl 
dieser  zum  Teil  sehr 
umfangreichen,  mit 
breitestem  Pinsel 
heruntergemalten 
»Skizzen  dürfte  mit 
fünfzehn  nicht  zu 
hoch  gegriffen  sein. 

Lauter  Wunder  , 
wie  ihr  Besitzer  zu 
sagen  pflegt,  der  ge¬ 
rade  auf  sie  den  aller¬ 
höchsten  Wert  legt. 

Von  den  ausge- 
führteren  Bildern  ist 
Villerville  -  sur  -  Mer 
am  bekanntesten, 
dasDaubigny  bereits 
im  Salon  des  Jahres 
1864  ausgestellt, 
aber  dann  noch  ein¬ 
mal  vorgenommen 
hatte,  so  dass  es  jetzt 
das  Datum  1872 
trägt.  Es  ist  eine 
ernste  und  kräftige 
Harmonie  von  Grau 
und  einem  ins 
Grüne  spielenden 
Graubraun.  Ein 
stürmischer  Tag; 

dunkel,  dicht  bewölkt  der  Himmel.  Links  das 
Meer  in  fahler  Beleuchtung,  jenseits  der  Bucht  grün 
schimmernde  Ufer.  Rechts  liegt  auf  steilen  Klippen 
der  Ort,  zu  dem  sich  vom  Strande  aus  ein  Weg  hin¬ 
zieht.  Eine  Frau  und  eine  Ziege  steigen  ihn  mit 
Tragkörben  hinan.  Daneben  seien  die  »Segelschiffe  , 
ein  kleines  Wunderwerk  in  Braun  und  Grau  aus  des 
Meisters  holländischer  Zeit  genannt.  Endlich  enthüllt 
sich  Daubigny  hier  auch  als  ein  grosser  Tiermaler. 
Da  finden  wir  z.  B.  ein  grosses  Bild  mit  Schafen, 
das  sich  getrost  neben  Troyon  sehen  lassen  kann,  ja 
ihn  an  Wucht  noch  übertrifft,  und  ein  Bild  aus  etwas 
früherer  Zeit  (1861),  das  im  Gegenstand  und  der  Auf¬ 


fassung  manches  mit  Millet’s  berühmtem  Hammel¬ 
park  gemeinsam  hat. 

Nicht  ganz  so  reich  wie  Daubigny  aber  ebenfalls 
vortrefflich  sind  Diaz  und  Dupre  vertreten.  Ein  kleines 
Waldinneres'  mit  grossen  Felsblöcken  und  eine  im 
Grünen  sitzende  Frauengestalt  mit  nacktem  Ober¬ 
körper  und  reichem  Gewand  zeigen  uns  Diaz  von 
seinen  bekanntesten  Seiten,  als  den  liebevollen  Beob¬ 
achter  der  auf  dem  Unterholz  glitzernden  Sonnen¬ 
strahlen  und  den  Verherrlicher  zarter  und  doch  voller 
Frauenschönheit.  Ganz  neu  aber  war  für  mich  sein 

» Sturm '  .  Eigentlich 
nur  eine  Himmels¬ 
studie,  in  ganz  dicken 
Farben  mit  breitem 
Pinsel  hingesetzt. 
Das  rumort  da  oben 
herum,  das  flackert 
hin  und  her,  das  zer- 
reisst  und  schliesst 
sich  zusammen,  wie 
ich  es  kaum  je  auf 
einem  Bilde  gesehen 
habe.  Unten  ist 
eigentlich  weiter 
nichts  als  eine  braune 
Masse  zu  sehen,  nur 
unterbrochen  von 
einer  Wasserlache,  in 
der  sich  der  Kampf 
der  himmlischen 
Elemente  im  Kleinen 
wiederholt.  Der  ly¬ 
rische  Schilderer  der 
anmutigen  Natur 
konnte  also  gelegent¬ 
lich  auch  als  hehrer 
Dramatiker  auftre- 
ten.  Nicht  vergessen 
seien  übrigens  auch 
des  Meisters  gross 
und  frei  behandelte 
Blumenstücke. 

Bilden  solche 
Bilder  wie  das  eben 
geschilderte  in  Diaz’ 
Lebenswerk  nur  eine 
Ausnahme,  so  gilt 
Dupre  recht  eigentlich  als  der  Maler  des  Sturmes  der 
Elemente.  Diese  Seite  seines  Wesens  kommt  in  der 
Mesdag’schen  Sammlung  vor  allem  in  einem  von 
ganz  fahlem  Lichte  erfüllten  Bilde  zum  Ausdruck, 
auf  dem  sich  mächtige  kahle  Bäume  von  einem  ge¬ 
witterschweren  Himmel  abheben,  und  in  dem  auf 
Abb.  9  wiedergegebenen  Strandstück  mit  den  wunder¬ 
voll  gemalten  regenschwangeren  Wolken.  Aber  es 
ist  eben  doch  nur  die  eine  Seite.  Ebenso  liebte  der 
Meister  den  vollen  milden  Glanz  des  ganz  von  der 
Sonne  durchleuchteten  Himmels.  Aber  allerdings  war 
ihm  der  Himmel  stets  die  Hauptsache,  die  Erde  ge- 
wissermassen  nur  »repoussoir«,  Kontrastmittel.  Ein 


Abb.  8.  Eugene  Delacroix.  Selbstportrüt 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


223 


sanft  ansteigender  Rasenhang,  ein  strohgedecktes  Häus¬ 
chen,  ein  kleiner  Bach  mit  einem  hölzernen  Steg,  vor 
allem  aber  ein  mit  grösster  Sorgfalt  durchmodellierter 
lichtdurchtränkter  Baum  ergeben  eins  der  Motive,  wie 
er  sie  immer  und  immer  wieder  variiert  hat.  Die 
Gegenstände  scheinen  sich  ganz  voll  Sonne  gesogen 
zu  haben  und  das  Zuviel  in  den  leuchtenden  Äther 
zurückzustrahlen.  Um  den  Glanz  des  Himmels  nun 
so  intensiv  wie  möglich  zu  erhalten,  sann  Dupre  auf 
immer  neue  Rezepte.  Er  war  einer  der  unermüd¬ 
lichsten  Farbenköche  der  neueren  französischen  Kunst. 


deutenden  Landschaften  erschöpft.  Vor  allem  steht 
mir  noch  ein  Bild  »Windmühlen  auf  einem  Hügel 
von  Georges  Michel  in  der  Erinnerung,  dem  bedeu¬ 
tendsten  noch  nicht  lange  in  seinem  vollen  Werte  er¬ 
kannten  Vorläufer  der  ganzen  Richtung;  dann  eine 
schöne  ernste  Winterlandschaft  mit  aufsteigenden 
Krähenschwärmen  und  ein  prächtiges  Nachtstück  von 
Emile  Breton,  dem  Bruder  des  in  Deutschland  be¬ 
kannteren  Bauernmalers;  endlich  ein  paar  Skizzen  des 
Farbenhexenmeisters  Monticelli. 

Nächst  den  Landschaften  scheint  Mesdag  eine  be- 


Abb.  g.  Jules  Dupre.  Strand 


Zuweilen  trug  er  die  Farben  fast  fingerdick  auf,  so 
dass  es  sich  wohl  ereignete,  dass  sie  ineinander  flössen, 
und  nicht  immer  gelang  es  ihm  dann  den  Schaden 
durch  Verkehrthängen  des  Bildes  wieder  gut  zu 
machen.  Von  den  Zeitgenossen  wetteifert  hauptsäch¬ 
lich  Decamps  mit  ihm  in  dieser  Hinsicht.  Gemein¬ 
schaftliche  Freunde  wissen  manch  heiteres  Stücklein 
davon  zu  erzählen,  wie  die  beiden  sich  ihre  Geheim¬ 
nisse  abzulisten  suchten.  Eine  Waldlandschaft  mit 
einem  Teich  in  ganz  starken  leuchtenden,  südlichen 
Farben  bietet  in  der  Sammlung  ein  gutes  Beispiel  für 
die  Art  des  grossen  Orientmalers. 

Damit  ist  noch  nicht  einmal  die  Reihe  der  be¬ 


sondere  Vorliebe  für  das  Tierbild  zu  besitzen.  Von 
den  Tierstücken  Millet’s,  Rousseau’s  und  Daubigny’s 
ist  schon  die  Rede  gewesen.  Troyon  ist  vor  allem 
durch  eine  nicht  vollendete  äusserst  duftige  Variante 
oder  Vorstudie  seines  berühmten  Auf  dem  Wege 
zum  Markt'  mit  der  vor  ihren  Schafen  und  Kühen 
auf  dem  vollbepackten  Esel  einherreitenden  jungen 
Bäuerin  vertreten.  Die  taufeuchte  Morgenstimmung 
ist  dem  Meister  gerade  auf  diesem  Bilde  ganz  be¬ 
sonders  gut  gelungen.  Von  Decamps  finden  wir 
Hunde  bei  einem  Ententeich  innerhalb  eines  grossen 
Bauernhofes,  von  Millet’s  Freunde  Jacque,  der  nach 
einer  Periode  etwas  übertriebener  Wertschätzung  jetzt 

29* 


FRANZÖSISCHE  MEISTER  IN  DER  MESDAG’SCHEN  SAMMLUNG  IM  HAAG 


einer  unverdienten  Vergessenheit  anheimzufallen  droht, 
ein  reizendes  kleines  Bild  mit  unter  grossen  Eichen 
weidenden  Schafen.  Auch  Coiirbet  ix\ii  in  der  Sammlung 
in  erster  Linie  als  Tiermaler  hervor  mit  seinem  wunder¬ 
vollen  verendeten  Hirsch,  von  dem  leider  keine  genügende 
photographische  Aufnahme  möglich  war.  Das  eine  in  der 
Schlinge  gefangene  Bein  ist  nach  oben  gestreckt,  das 
Hinterteil  ist  aufgerissen.  Unvergleichlich  ist  der  Pelz 
des  Tieres  gemalt,  nicht  minder  grossartig  der  sumpfige 
Waldgrund.  Bei  Courbet  erleben  wir  jetzt  eine  völlige 
Wandlung  des  Urteils.  Seit  seinem  Tode  sind  nahezu 
fünfundzwanzig,  seit  seinen  lärmmachenden  Tendenz¬ 
bildern  nahezu  die  doppelte  Anzahl  Jahre  verflossen, 
er  ist  in  den  Bereich  der  Geschichtsschreibung  ein¬ 
getreten,  die  sich 
nicht  mehr  durch 
Tagesstreitigkeiten 
irre  machen  lässt. 

Dieältere  Generation 
erzürnte  sich  über 
seinen  trivialen 
Naturalismus  , seine 
»schmutzigen  Stof¬ 
fe  ,  seine  ausge¬ 
zogenen  Dirnen  , 
die  jüngere  spottet 
bereits  über  die 
braune  Sauce <  in 
seinen  Bildern.  Dazu 
muss  der  grenzenlos 
eitle  Plebejer,  der 
seine  breite  Person 
überall  in  den  Vor¬ 
dergrund  stellte  und 
überall  Fenster  und 
Thüren  einrennen 
wollte,  für  feiner 
organisierte  Naturen 
etwas  äusserst  Un¬ 
sympathisches  ge¬ 
habt  haben.  Jetzt  beginnt  man  das  zu  vergessen  oder 
jedenfalls  nicht  mehr  in  Anrechnung  zu  bringen.  Die 
allzu  aufdringlichen  Tendenzbilder  treten  hinter  die  rein 
malerischen  Werke  zurück.  Ganz  besonders  fiel  dies 
auf  bei  der  Versteigerung  seines  grossen  Ateliers«. 
Wie  empört  war  man  darüber  gewesen,  dass  der 
Meister  hier  sich,  sein  Modell  und  alle  Trivialitäten 
seiner  Malerlaufbahn  lebensgross  dargestellt  hatte! 
Jetzt  vergass  man  ganz  diese  Beziehungen  und  den 
ominösen  Untertitel:  Sieben  Jahre  meines  Lebens,  und 
erstaunte  nur  über  den  grossen  Zug  und  die  ausser¬ 
ordentliche  Tonschönheit  des  Ganzen  und  die  packen¬ 
den  Einzelheiten.  Bei  der  Mittelgruppe  kommen 

einem  die  allergrössten  Malernamen  aller  Zeiten  auf 
die  Lippen.  Courbet  war  ein  grosser  Tiermaler,  ein 
ausgezeichneter  Landschafter,  ein  wundervoller  Marine¬ 
maler,  ein  vortrefflicher  Figurenmaler  und  —  last 
not  least  —  ein  ganz  hervorragender  Maler  des 


Nackten.  Die  Akademiker  mochten  diese  fleischigen, 
gesimdheitstrotzenden  Weiber  »gemein«  finden,  wir 
freuen  uns  über  diese  kräftige  Sinnlichkeit,  wie  sie 
aus  unserer  Abb.  5  spricht.  Wie  wundervoll  steht 
der  Fleischton  zu  dem  weissen  Laken  und  wie  ist 
dieses  wieder  mit  dem  braunen  Kissen  und  dem 
grünen  Vorhang  zusammen  gestimmt!  Das  Bild  ist 
die  Wiederholung  eines  Teiles  des  grossen  —  übrigens 
lange  nicht  so  geschlossen  und  vornehm  wirkenden 
—  Bildes  Le  Reveil  ,  auf  dem  noch  die  Figur  einer 
Dienerin  erscheint. 

Und  nun  zum  Schlüsse  noch  Einer,  einer  der 
grössten:  Eugene  Delacroix.  Der  einstige  »Sudler«, 
der  »Maler  mit  dem  betrunkenen  Besen«  wird  seit 

langem  als  unter 
den  bedeutendsten 
Künstlern  des  ig. 
Jahrhunderts  aner¬ 
kannt.  Aber  Dela¬ 
croix  war  nicht  nur 
ein  ganz  von  seinem 
Handwerk  einge¬ 
nommener  Maler, 
sondern  einer  der  am 
reichsten  und  tiefsten 
gebildeten  Männer 
seiner  Zeit.  Erst 
heute  beginnt  man 
die  Schätze  recht 
zu  würdigen,  die  in 
seinen  Briefen  und 
seinen  Tagebüchern 
enthalten  sind.  Über 
technische  und  ästhe¬ 
tische  Fragen,  Kunst¬ 
geschichtliches,  Mu¬ 
sik  und  Litteratur  fin¬ 
den  wir  da  eine  Fülle 
geistreicher  und  an¬ 
regender  Bemerkun¬ 
gen.  In  dem  Katalog  seiner  Werke  ist  nur  ein  Selbst¬ 
porträt  erwähnt,  das  sich  jetzt  im  Louvre  befindet.  Das 
aus  seinen  letzten  Lebensjahren  stammende  der  Mesdag- 
schen  Sammlung  bildet  eine  höchst  wertvolle  Ergän¬ 
zung  dazu  (Abb.  8).  Es  ist  nur  eine  Skizze,  aber  eine 
Skizze  von  ausserordentlicher  Wucht  und  nachhaltig¬ 
ster  Wirkung.  Nicht  der  geistreiche  und  liebens¬ 
würdige  Gesellschafter  steht  hier  vor  uns,  sondern 
der  vereinsamte  Mann,  dem  ein  langwieriges  Magen¬ 
leiden  das  Leben  vergällt.  Aber  welcher  Ausdruck 
liegt  in  diesen  Augen,  die  fast  immer  halb  geschlossen 
waren,  um  den  farbigen  Eindruck  der  Umgebung  in 
seinen  malerischen  Werten  deutlicher  aufzunehmen, 
in  diesen  zusammengekniffenen  Lippen!  Wer  sich  in 
dieses  Bild  einmal  versenkt  hat,  kommt  nicht  so  leicht 
wieder  davon  los.  —  Über  Mesdag’s  Schätze  an  hol¬ 
ländischer  Kunst  findet  sich  vielleicht  später  einmal 
Gelegenheit  zu  berichten. 


Abb.  10.  Ch.  Daiibigny.  Sonnenaufgang 


DIE  MONSTRANZ  DES  HANS  RYSSENBERCH 
VOM  JAHRE  1474  IN  DER  ERMITAGE  ZU  PETERSBURG 

Von  Rich.  Hausmann  in  Dorpat 


IN  die  berühmte  Kunstsammlung  der  kaiserlichen 
Ermitage  zu  St.  Petersburg  ist  vor  wenigen  Jahren 
ein  Werk  mittelalterlichen  Kunstgewerbes  gelangt, 
das,  obgleich  nachweisbar  an  der  äussersten  Grenze 
deutscher  Kultur  entstanden,  sich  doch  durch  hervor¬ 
ragende  Schönheit  auszeichnet  und  daher  das  Inter¬ 
esse  weiter  Kreise  beanspruchen  darf.  Dazu  lassen 
sich  Entstehung  und  spätere  Schicksale  bei  ihm  so 
genau  verfolgen,  wie  wohl  nicht  häufig  bei  ähnlichen 
Arbeiten  i). 

Die  Monstranz  ist  ein  tragbares  Gefäss,  welches 
in  der  katholischen  Kirche  dazu  dient,  Reliquien  oder 
die  Hostie  zur  Verehrung  sichtbar  auszustellen.  Vor 
allem  bei  den  seit  dem  14.  Jahrhundert  üblich  wer¬ 
denden  Fronleichnamsprozessionen  bildete  die  Mon¬ 
stranz  mit  der  Hostie  den  Mittelpunkt  der  Eeier. 
Schon  bei  den  älteren  Monstranzen  für  Reliquien  waren 
letztere  in  der  Regel  in  einem  Glasgefäss  geborgen, 
das  architektonisch  gegliederte  Seitenflügel  umschliessen 
und  eine  stilisierte  Bedachung  krönt.  An  diese  ältere 
Form  lehnt  sich  die  Monstranz  der  späteren  Zeit,  sie 
gewann  die  Gestalt  eines  tragbaren ,  turmartigen  Sa¬ 
kramentshäuschens.  Da  sie  sich  seit  dem  14.  Jahr¬ 
hundert  entwickelt,  schliesst  sie  sich  dem  herrschen¬ 
den  gotischen  Stil  an  und  folgt  auch  den  Phasen 
seiner  späteren  Ausgestaltung.  Der  breite,  einen  festen 
Stand  sichernde  Fuss  ist,  ähnlich  dem  gotischen  Kelch- 
fusse,  meist  als  Sechseck  konstruiert  und  zieht  sich 
zu  einem  schmalen  Schaft  zusammen,  der  in  der  Mitte 
von  einem  für  die  tragende  Hand  vorgesehenen  Knauf 
umfasst  wird  und  über  diesem  sich  zum  Untersatz 
des  Sakramentshäuschens  erweitert.  Der  Raum  für 
das  Allerheiligste  wird  durch  Säulchen  oder  kleine 
Eckpfeiler  als  Schrein  gebildet,  in  dessen  Mitte  die 
Hostie  aufrecht  steht,  die  an  ihrem  unteren  Rande 
von  einer  Zwinge  in  Gestalt  einer  schmalen  halbmond¬ 
förmigen  Scheibe  gehalten  und  durch  einen  Glas- 
cylinder  geschützt  wird.  Wie  dieser  Mittelraum  wird 
auch  der  über  ihn  aufsteigende,  in  einem  polygonen 
Turmhelm  auslaufende  und  mit  einem  kleinen  Kreuze 
gekrönte  Baldachin  an  seinen  beiden  Seiten  von  Strebe¬ 
pfeilern  getragen,  welche  sich  auf  Konsolen  aufbauen 
und  in  offenen  Nischen  Statuetten  von  Heiligen  oder 
Engeln  bergen. 

Das  ist  der  herrschende  Typus  der  Monstranz 
gegen  Ende  des  Mittelalters.  Zu  ihrer  Ausführung 
wurde  je  nach  den  Mitteln  Gold  und  Silber,  aber 
auch  Kupfer  und  Messing  gewählt.  Die  Grösse  steigt 
von  0,3 — 1,5  m.  Sie  haben  sich  noch  zahlreich  er¬ 
halten,  auf  der  Ausstellung  in  Münster  187g  waren 


1)  Ausführliche  Nachrichten  mit  allen  Quellenbelegen 
habe  ich  über  diese  Monstranz  gegeben  in  den  Mitteilungen 
aus  der  iivländischen  Geschichte.  Bd.  17.  Riga,  igoo. 


über  vierzig  zu  sehen.  Auffallend  viele  werden  aus 
dem  preussischen  Ordenslande  genannt.  Als  vor¬ 
zügliches  Beispiel  gilt  die  Monstranz  von  Basel,  die 
in  ihrem  schlanken  Aufbau  zeigt,  mit  welcher  Anmut 
die  gotische  Goldschmiedekunst  derartige  für  Stein 
erfundene  Formen  in  Metall  umzusetzen  verstand '). 
Sehr  viel  reicher  als  das  Basler  erscheint  das  vor¬ 
stehende  Petersburger  Kunstwerk;  der  gegen  Ende 
des  Mittelalters  herrschende  Typus  der  Monstranz  tritt 
hier  in  besonders  glänzender  Weise  auf.  Besser  als 
eine  Beschreibung  lehren  die  beistehenden  Abbildun¬ 
gen,  welche  sie  in  der  Vorder-  und  in  der  Seiten¬ 
ansicht  zeigen,  ihre  hohe  Schönheit. 

Die  in  Silber  gearbeitete,  aussen  vergoldete  Peters¬ 
burger  Monstranz  ist  112  cm  (=  3  Fuss  8  Zoll  russisch) 
hoch,  also  von  bedeutender  Grösse.  Sie  steht  auf 
breitem  Fuss,  dessen  Basis  30  cm  Durchmesser  hat 
und  als  Sechseck  (Sechspass)  konstruiert  ist.  Die  sechs 
Seiten  steigen  sich  verjüngend  empor  und  haben,  wo 
sie  zum  Schaff  übergehen,  einen  gotisch  stilisierten, 
mit  Fialen  verzierten,  durchbrochenen  Abschluss. 
Über  diesem,  in  der  Mitte  des  Schafts,  folgt  ein  sechs¬ 
seitiger  Knauf,  auf  dessen  Aussenfeidern  die  Buch¬ 
staben  des  Namens  iliesiis  stehen.  Der  ganze  38  cm 
hohe  Fuss  ist  sehr  kräftig  gebaut,  wie  das  bei  dem 
hoch  aufragenden  Gerät  notwendig  war.  An  der  Basis 
sind  zwei  starke  Ösen  angebracht,  durch  welche  eine 
Schnur  gezogen  wurde,  um  die  schwere  Monstranz 
besser  tragen  zu  können. 

Der  Hauptteil  ist  das  Sakramentshäuschen,  es  zeigt 
darum  auch  den  meisten  Schmuck.  Es  ist  ein  streng 
architektonisch  gehaltener  gotischer  Turm,  an  der 
Grundfläche  26  cm  breit.  In  drei  Stockwerken  steigt 
er  74  cm  in  die  Höhe:  das  untere  enthält  den  Schrein 
für  die  Glasglocke,  in  welcher  sich  die  auf  einer 
Säule  stehende,  scheinbar  von  zwei  Engeln  getragene, 
gespaltene  Lunula  für  die  Hostie  befindet;  im  zweiten 
Stock  erblickt  man  unter  Baldachin  eine  gekrönte 
Maria  in  der  Sonne;  im  dritten  Stock,  dem  Turm¬ 
helm,  steht  ein  Ritter,  wohl  der  heilige  Georg.  Die 
Spitze  des  Turmes  bildet  ein  Kreuz,  dessen  eine  Seite 
Christus,  die  andere  Maria  zeigt.  Das  zweite  und 
dritte  Stockwerk  ist  mit  reichem  Schmuck  flankiert: 
zahlreiche  Strebepfeiler,  die  auf  Konsolen  ruhen,  bilden 
fensterartige  Nischen,  die  von  Baldachinen  überdeckt 
sind  und  Statuetten  von  Heiligen  bergen. 

Das  ganze  Sakramentshäuschen  zeigt  den  Stil  der 
späteren  Gotik  des  ausgehenden  1 5.  Jahrhunderts,  der 
Spitzbogen  hat  bereits  die  nach  innen  geschweifte 
Form  (sogenannter  Eselrückenbogen).  Die  architek¬ 
tonische  Strenge  hat  sogar  Wasserspeier  nachgebildet. 

Zum  Schmuck  der  Flächen  sind  mehrfach  Edel- 


2)  Lessing,  Gold  und  Silber.  1892.  Seite  41. 


226  DIE  MONSTRANZ  DES  HANS  RYSSENBERCH  IN  DER  ERMITAGE  ZU  PETERSBURG 


steine  verwandt.  Auch  Schmelz  oder  Email  ist  vielfach  in  Ge¬ 
brauch  genommen.  In  den  Nischen  waren  Apostelfiguren  ange¬ 
bracht,  vorn  wahrscheinlich  Peter  und  Paul,  zu  erkennen  sind 
weiter  Bartholomäus  mit  dem  Messer,  Andreas  mit  dem  Kreuz. 

Die  Komposition  des  Ganzen,  die  Korrektheit  des  Stils  zeigt 
hohes  künstlerisches  Können.  Die  Ornamentierung  ist  reich,  aber 
nicht  überladen,  die  Linien  werden  nicht  schnörkelhaft,  laufen  nicht 
tot  aus.  Mag  Zeichnung  oder  Modell  Vorlage  gewesen  sein,  jeden¬ 
falls  war  sie  von  guter,  schönheitskundiger  Hand  entworfen. 

Ihr  Gewicht  giebt  die  Monstranz  selbst  im  Innern  des  Fusses 
an:  37\'.j  Mark  lodig  4  Lot.  Die  Mark  zu  16  Lot  gerechnet, 
wäre  die  Monstranz  604  Lot  schwer.  Heute  wiegt  sie  20  Pfund 
64  Solotnik  russisch  8463,64  Gramm. 

Der  Gehalt  des  Silbers,  aus  welchem  sie  gearbeitet  wurde,  ist 
nach  fachmännischer  Untersuchung  die  achtundachtzigste  Probe 
nach  russischer  Rechnung,  das  heisst  in  g6  Teilen  (1  Pfund  russisch 
^^96  Solotnik)  sind  88  Teile  rein  Silber.  Dieser  Gehalt  in  mittel¬ 
alterliche  Mark-  und  Lotrechnung  umgesetzt,  giebt  i4“/.j  lötiges 
Silber.  Es  ist  das  ein  Feingehalt,  wie  er  im  1 5.  Jahrhundert 
mehrfach  gefordert  wird,  so  im  Goldschmiedeschragen  von  Reval 
aus  dem  Jahre  1453. 

Auf  dem  breit  ausgelagerten,  als  Sechspass  geformten  Fuss 
sind  drei  Flächen  mit  Gravierungen  bedeckt:  das  erste  Feld  zeigt 
einen  Bischof  auf  dem  Throne  sitzend;  das  dritte  eine  männliche 
Figur,  durch  ein  Spruchband  als  5.  Johann  bezeichnet;  auf  dem 
fünften  Felde  steht  der  Christusknabe  inmitten  der  Marterwerk¬ 
zeuge.  Auch  über  dieses  Feld  geht  ein  Spruchband,  und  dieses 
trägt  die  Inschrift:  Int  jar  iinses  heren  MCCCCLXXIHl.  Das  Jahr 
der  Entstehung  des  Kunstwerkes  ist  also  1474.  Es  stimmt  das 
gut  überein  mit  dem  Stil  der  Arbeit,  der,  wie  bemerkt,  in  das 
ausgehende  15.  Jahrhundert  weist. 

Eine  weitere  wichtige  Angabe  über  die  Entstehung  der  Monstranz 
ist  in  die  Innenseite  des  Fusses  eingeritzt:  Hans  ryssenberch  heuet 
dusse  manstrancyge  gemaket  niyt  der  godes  hiilpe  amen,  got  geiie 
uns  alte  dat  euyge  teuen.  Diese  niederdeutsche  Inschrift  weist  auf 
einen  Meister  im  Gebiet  der  niederdeutschen  Zunge. 

Zahlreiche  Mitglieder  der  Familie  Ryssenberch  sind  im  14.  und 
15.  Jahrhundert  in  Lübeck  nachweisbar.  Desgleichen  kommt  der 
Name  im  1 4.  Jahrhundert  in  Dorpat  vor.  Hier  wie  dort  steht  das 
Geschlecht  in  hohem  Ansehen  seine  Söhne  sitzen  wiederholt  im 
Ratsstuhl.  Auch  in  Reval  findet  sich  dieser  Name,  und  hier  taucht 
im  15.  Jahrhundert  ein  Goldschmied  Hans  Ryssenberch  auf.  Er 
wird  im  Jahre  1450  Bürger  der  Stadt  und  ist  bis  1497  nachweis¬ 
bar.  Der  Ruf  seiner  Geschicklichkeit  drang  weit  hinaus,  der  Gross¬ 
fürst  von  Moskau  wollte  ihn  1488  in  seine  Dienste  ziehen,  doch 
ist  der  Meister  dieser  Ladung  nicht  gefolgt.  Geschäft  und  Ruhm 
erbte  sein  gleichnamiger  Sohn,  der  noch  im  Jahre  1522  eine  Mon¬ 
stranz  nach  Finland  liefert.  Auch  dessen  Sohn  Simon  war  bis  in 
die  zweite  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  Goldschmied  in  Reval. 
Durch  drei  Geschlechter  hat  hier  also  eine  Goldschmiedefamilie 
Ryssenberch  geblüht.  Von  dem  älteren  Hans  Ryssenberch  ist  1474 
unsere  Monstranz  gearbeitet  worden. 

Reval  darf  sich  mit  Recht  dieses  Meisters  rühmen.  Es  liegt  hier 
ein  glänzendes  Zeugnis  vor  für  die  hohe  Entwickelung,  die  das 
Kunsthandwerk  im  15.  Jahrhundert  in  diesen  äussersten  Gebieten 
abendländischer  Christenheit  und  deutscher  Kultur  gewonnen  hat. 
Und  in  Reval  konnte  die  Kunst  wohl  in  Blüte  sein,  erfreute  sich 
doch  die  Stadt  eines  mächtigen  Handels  und  fast  ununterbrochenen 
Friedens.  So  gewann  man  die  Mittel,  schöne  und  kostbare 
Kunstwerke  herstellen  zu  lassen.  Denn  diese  Monstranz  ist  nicht 
nur  in,  sie  ist  auch  für  Reval  gearbeitet  worden.  Den  Beweis 


DIE  MONSTRANZ  DES  HANS  RYSSENBERCH  IN  DER  ERMITAGE  ZU  PETERSBURG  227 


hierfür  bietet  ein  reiches  archivalisches  Material,  das  über  die 
Entstehung  dieser  Monstranz  vorliegt. 

Reval  hat  das  Glück,  in  seinem  Stadtarchiv,  dessen  reiche  Be¬ 
stände  bis  in  die  früheste  Zeit  der  Stadt,  das  13.  Jahrhundert 
zurückreichen,  eine  unerschöpfliche  Fundgrube  für  die  Geschichte 
nicht  nur  des  eigenen  Landes  zu  besitzen,  sondern  auch  für 
weite  andere  Gebiete,  so  der  Hansa.  Daneben  haben  sich  hier 
in  nicht  unbeträchtlichem  Umfange  noch  andere  archivalische 
Materialien  erhalten,  so  bei  der  aus  dem  14.  Jahrhundert  stam¬ 
menden  St.  Nikolaus-Kirche  ein  umfangreiches  Buch  über  Ein¬ 
nahmen  und  Ausgaben  der  Kirche,  das  bereits  mit  dem  Jahre  1465 
beginnt,  ln  den  baltischen  Landen  ist  es  das  älteste  vorhandene 
Kirchenbuch,  auch  in  deutschen  dürften  ältere  selten  sein. 

Der  erste  grosse  Silberschmuck,  von  dem  dieses  Kirchen¬ 
buch  redet,  ist  die  Monstranz  des  Hans  Ryssenberch.  Es  ist  vor 
allem  das  Verdienst  des  damaligen  Kirchenvorstehers  Evert  Smit, 
dass  sie  gefertigt  wurde.  Die  Vorbereitungen  für  ein  so  schönes 
und  kostbares  Werk  mögen  längere  Zeit  gedauert  haben. 
Wahrscheinlich  wurde  es  nach  einer  Vorlage,  einer  Zeichnung 
oder  einem  Modell  gearbeitet,  wie  wir  später  bei  ähnlichen 
Bestellungen  von  solchen  hören.  Ein  bestimmter  Preis 
wurde  offenbar  nicht  festgesetzt,  da  der  Meister  das  Gewicht 
nicht  zum  voraus  genau  angeben  konnte.  Es  wurde,  wie  die 
späteren  Abrechnungen  lehren,  zwischen  dem  Kirchenvormund 
und  Meister  vereinbart,  dass  diesem  für  die  gemäss  dem  damals 
in  Reval  herrschenden  Gesetz  in  i4-/3lötigem  Silber  herzustel¬ 
lende  unvergoldete  Monstranz  der  Wert  des  Silber-Rohmaterials 
ersetzt  werde  und  er  ausserdem  einen  Macherlohn  erhalte,  der 
mindestens  150  Mark  betrug.  Die  Vergoldung  ist  dann  nach¬ 
träglich  unter  besonderer  Abrechnung  erfolgt. 

Seit  dem  Jahre  1471  hatte  man  in  der  Gemeinde  für  die 
Monstranz  zu  sammeln  begonnen.  Im  ganzen  sind  für  sie  in  den 
Jahren  1471  — 1476  über  114  Mark  eingekommen,  eine  nicht  un¬ 
beträchtliche  Summe,  aber  lange  nicht  genug  für  ein  so  teures 
Werk,  der  Kirchensäckel  musste  einen  bedeutenden  Rest  zu- 
schiessen.  Seit  dem  Jahre  1473  beginnen  die  Ausgaben  und  im 
folgenden  Jahre  am  heiligen  Kreuzabend,  am  13.  September  1474 
war  die  Silberarbeit  fertig,  konnte  Meister  Hans  Ryssenberch  die 
Monstranz  den  Kirchenvormündern  zuwiegen.  Sie  bezahlen 
ihm  das  Silber,  sowie  150  Mark  Macherlohn.  Nachträglich  ist 
dann  durch  Meister  Hans  auch  die  Vergoldung  erfolgt,  so  dass 
erst  in  der  Karwoche  1477  die  Arbeit  wirklich  fertig  war  und 
voll  bezahlt  wurde.  Im  ganzen  hat  diese  für  die  Nikolaikirche  in 
Reval  1474  von  Hans  Ryssenberch  gearbeitete  Monstranz  761 
Mark  rigisch  gekostet.  Versucht  man  nach  im  Kirchenbuch 
sich  findenden  Preisangaben,  besonders  für  Wachs  und  Salz, 
diese  Summen  in  heutige  Währung  umzurechnen,  so  entsprechen 
jene  751  Mark  etwa  5000  Reichsmark.  Der  kunsthistorische  Wert 
der  Monstranz  ist  natürlich  heute  unvergleichlich  höher. 

Um  das  Kirchengerät  im  Gottesdienst  brauchen  zu  dürfen, 
musste  es  geweiht  werden.  Da  der  Bischofsstuhl  in  Reval  damals 
erledigt  war,  wurde  der  Halbmond,  welcher  die  Hostie  fassen 
sollte,  nach  Dorpat  gesandt,  wo  der  Bischof  die  Weihe  vollzog. 
Jetzt  erst  war  das  Kunstwerk  Kirchengerät,  res  sacra,  wurde  es 
dem  Kustos  übergeben.  Um  sie  noch  besser  zu  schätzen,  ist  im 
Jahre  1 503  für  die  Monstranz  in  Brügge  ein  Koffer  gefertigt  wor¬ 
den,  der  sich  gut  bewährt  hat,  sie  ist  noch  heute  wohl  erhalten. 

Das  15.  Jahrhundert  ist  eine  Zeit  heftiger  Gärung  sowohl  auf 
staatlichem  wie  auf  kirchlichem  Gebiet.  Was  war,  genügt  nicht. 
Lebhaft  sucht  man  in  mannigfachen  Formen  und  Genossen¬ 
schaften  Befriedigung  des  geistlichen  Bedürfnisses.  Wie  zu  kaum 


228  DIE  MONSTRANZ  DES  HANS  RYSSENBERCH  IN  DER  ERMITAGE  ZU  PETERSBURG 


einer  anderen  Zeit  fliessen  Darbringungen,  Geschenke, 
Stiftungen  zahlreich  den  Kirchen  und  Klausen  zu; 
immer  reicher,  immer  prächtiger  werden  diese  da¬ 
durch  ausgestattet.  Diese  Erscheinung  können  wir 
aucli  im  Kirchenbuch  von  St.  Nikolaus  verfolgen. 
Ein  reiches  Inventar  an  Kelchen,  Schalen,  vergoldeten 
Fibeln  und  anderem  wird  hier  im  Jahre  1488  auf- 
gefiihrt,  als  der  eifrige  Kirchenvormund  joh.  Rotgers 
ins  Amt  trat.  Ununterbrochen  ist  unter  seiner  Ver¬ 
waltung  in  den  folgenden  dreissig  Jahren  dieser  Schatz 
vermehrt  worden,  bald  durch  Schenkungen  aus  der 
Gemeinde,  mehr  aber  noch  durch  Neuanschaffungen 
des  Vormundes  selbst,  namentlich  bestellt  er  auch 
prächtige  Priestergewänder,  lässt  einen  Pavellun 
(=  Baldachin)  aus  Goldbrokat  anfertigen  u.s.  w.  Vor 
allem  aber  trachtet  er  nach  neuem  grossen  Silber¬ 
schmuck:  1503  erhielt  die  Kirche  ein  grosses  Bild 
der  heiligen  Jungfrau,  bald  darauf  wurde  in  Holland 
eine  Silberstatue  des  heiligen  Nikolaus  für  diese  seine 
Kirche  hergestellt,  150g  wurde  aus  Lübeck  von  Meister 
Andr.  Soteflesch  eine  besonders  kostbare  Monstranz 
gesandt,  die  der  Kirchenvorsteher  bestellt  hatte.  Als 
im  Jahre  1526  der  der  Kirche  S.  Nicolai  gehörige 
Silberschatz  inventarisiert  wurde,  wog  er  fast  300  Mark 
lötig,  nach  heutigem  Gewicht  etwa  61  Kilo  {150  Pfund 
russisch). 

Aber  es  traten  Zeiten  ein,  die  einem  so  kostbaren, 
für  den  katholischen  Gottesdienst  bestimmten  Kirchen¬ 
schatz  gefährlich  wurden.  Seit  dem  Jahre  1523  findet 
in  den  livländischen  Städten  die  neue  reformatorische 
Lehre  Eingang.  Wie  an  so  vielen  Orten  entstanden 
auch  hier tumultuarische Volksbewegungen:  am  heiligen 
Kreuzabend  =  13.  September  1524  brach  in  Reval 
ein  Bildersturm  aus.  Wohl  wurde  der  Rat  rasch 
wieder  der  Massen  Herr,  und  die  Nikolaikirche  hatten 
deren  Vormünder  vor  Plünderung  zu  schützen  ver¬ 
standen.  Aber  die  neue  Lehre  drang  durch,  der 
katholische  Gottesdienst  hörte  in  den  Städten  auf. 
Damit  verloren  die  Kirchenkleinodien  ihren  grössten 
Schutz,  sie  wurden  unnütz,  waren  nicht  mehr  gottes¬ 
dienstliche  Geräte,  sondern  nur  noch  schöner,  aber 
entbehrlicher  Schmuck.  Sollte  auch,  so  vereinbarten 
die  Städte,  was  der  Kirche  gehörte,  ihr  ungeschmälert 
bleiben,  wurde  ihr  eigentliches  Vermögen  auch  nicht 
angetastet,  so  ist  doch  der  Kirchenschatz  bald  zu¬ 
sammengeschmolzen. 

Im  Jahre  1558  brachen  in  furchtbaren  Verwüstungs¬ 
zügen  die  Heere  des  Zaren  Iwan  des  Schrecklichen 
in  Livland  ein.  Über  zwanzig  Jahre  haben  sie  hier 
gehaust.  Gegen  sie  wurden  in  grossen  Scharen  Söldner 
angeworben.  Um  diese  zu  löhnen,  wanderten  bald 
im  ganzen  Lande  die  Kirchenschätze  in  die  Münze. 
So  forderte  im  Jahre  1 560  der  Rat  von  Reval  auch 
die  Kleinodien  von  St.  Nikolaus.  Die  beiden  schönen 
Monstranzen,  die  Arbeiten  von  Ryssenberch  und 
Soteflesch,  vermochten  die  treuen  Kirchenvorsteher 
noch  vor  dem  Untergang  zu  retten,  indem  sie  ihren 
Silberwert,  auf  1 800  Mark  hatte  sie  der  Münzmeister 
geschätzt,  bar  erlegten.  Die  anderen  grossen  Kunst¬ 
werke,  das  Marienbild,  das  Nikolaibild,  ein  grosses 
silbernes  Kreuz  kamen  in  den  Schmelztiegel.  Und 


als  der  Krieg  immer  länger  dauerte,  der  Wohlstand 
der  Stadt  immer  tiefer  sank,  da  hat  auch  die  zweite 
kleinere  Monstranz,  die  einst  Meister  Soteflesch  in 
Lübeck  gefertigt  hatte,  geopfert  werden  müssen,  1576 
wurde  sie  zerbrochen,  Gold  und  Silber  geschieden 
und  verkauft,  um  die  Prädikanten  an  der  Kirche  zu 
besolden. 

So  war  seit  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts  von 
dem  reichen  Silberschatz  von  St.  Nikolaus  nur  noch 
die  »grosse«  Monstranz  des  Hans  Ryssenberch  erhalten, 
ln  einer  Nisc|ie  der  Sakristei  wurde  durch  das  folgende 
17.  Jahrhundert  dieser  letzte  Zeuge  entschwundener 
Pracht  aufbewahrt. 

Da  brach  mit  dem  neuen  18.  Jahrhundert  wieder 
schwere  Kriegsnot  im  grossen  nordischen  Krieg  über 
das  Land  herein.  Nachdem  er  zehn  Jahre  gedauert, 
war  der  Widerstand  der  durch  die  Pest,  die  in  Reval 
in  wenigen  Monaten  vier  Bürgermeister  und  fünfzehn 
Ratsherren  dahinraffte,  verödeten  Stadt  gebrochen. 
Im  September  1710  kam  Reval  durch  Kapitulation 
in  die  Gewalt  Peter’s  des  Grossen.  Hatte  sich  auch 
die  Stadt  vom  russischen  General  Recht  und  Besitz, 
darunter  auch  das  Eigentum  der  Kirchen  bestätigen 
lassen,  die  Kapitulation  bedurfte  doch  noch  der  Be¬ 
kräftigung  des  Zaren,  ln  seinem  Auftrag  erschien 
im  Februar  1711  zu  weiteren  Verhandlungen  mit  der 
Stadt  sein  mächtiger  Günstling  Fürst  Menschikow. 
Es  schien  von  grösster  Bedeutung,  die  Zuneigung  des 
Fürsten  zu  gewinnen.  Es  ist  bekannt,  wie  sehr  er 
Schmuck  und  Kleinodien  liebte.  Solche  jetzt  neu 
herstellen  zu  lassen,  fehlten  Zeit  und  Mittel.  Da  griff 
man  zu  der  Monstranz  Ryssenberch ’s.  Wohl  verlangte 
die  Bürgerschaft,  sie  solle  ihm  erst  übergeben  werden, 
wenn  die  Wünsche  der  Stadt  erfüllt  seien,  aber  da 
Menschikow  von  dem  Plan  bereits  früher  Kunde  er¬ 
halten  hatte,  wurde  ihm  das  Kunstwerk  vorher  über¬ 
liefert.  Er  hat  sich  dann  später  der  Stadt  dankbar 
bewiesen. 

Aus  der  Hand  Menschikow’s  ist  die  Monstranz 
an  den  Zaren  Peter  übergegangen.  Nach  dessen  Tode 
kam  sie  1725  in  die  von  ihm  gegründete  und  ge¬ 
pflegte  Kunstkammer,  in  deren  gedrucktem  lateinischen 
Katalog  vom  Jahre  1741  sie  bereits  verzeichnet  ist, 
merkwürdigerweise  mit  dem  Zusatz,  dass  sie  zur 
Beute  gehört  habe,  die  der  Zar  Iwan  der  Schreckliche 
im  16.  Jahrhundert  aus  Dorpat  fortgeschleppt  habe. 
Wie  dieser  Irrtum  entstand,  ist  heute  nicht  mehr 
sicher  festzustellen.  Aus  der  Kunstkammer  ist  dann 
die  Monstranz  vor  wenigen  Jahren  in  die  grosse 
Sammlung  der  Petersburger  Ermitage  übergeführt 
worden,  wo  ich  sie  kennen  lernte. 

Das  ist  in  Kürze  die  Historie  der  stolzen  Mon¬ 
stranz,  die  in  Reval  für  die  St.  Nikolauskirche  im 
Jahre  1474  der  kunstfertige  Meister  Hans  Ryssenberch 
gearbeitet  hat.  Wie  laut  legt  sie  dafür  Zeugnis  ab, 
dass  die  deutsche  Kolonie  im  fernen  Nordosten  am 
Ende  des  Mittelalters  aut  der  vollen  Höhe  abend¬ 
ländischer  Kultur  stand,  —  wie  deutlich  lassen  sich 
aber  auch  an  der  Geschichte  dieser  Monstranz  die 
herben  Geschicke  verfolgen,  welche  im  Lauf  der 
Jahrhunderte  diese  baltischen  Lande  getroffen  haben. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


KON  RAD  WITZ 

Von  O.  Dehio 


Das  Altarbild  mit  den  Heiligen  Katharina  und 
Maria  Magdalena,  dessen  farbige  Nachbildung 
diesem  Hefte  beigegeben  ist,  kam  aus  dem 
Nachlass  des  Kanonikus  Straub  in  die  städtische  Ge¬ 
mäldesammlung  zu  Strassburg.  Woher  der  Vorbe¬ 
sitzer  es  erworben  hat,  ist  nicht  zu  ermitteln  gewesen. 
Der  Öffentlichkeit  bekannt  wurde  es  zuerst  im  Jahre 
1895  durch  die  Ausstellung  elsässischer  Kunstalter¬ 
tümer  im  Orangeriegebäude.  Die  Kenner  standen 
vor  ihm  in  Verwunderung  und  Ratlosigkeit.  Einige 
dachten  an  einen  holländischen,  andere  an  einen 
tirolischen  Meister,  alle  aber  schätzten  die  Entstehung 
um  ein  Menschenalter  zu  spät  ein.  Die  Lösung  des 
Rätsels  erfolgte  jedoch  schon  bald  —  ich  weiss  nicht 
mit  Sicherheit  anzugeben,  durch  wen  zuerst  —  mit 
der  Entdeckung,  dass  das  Strassburger  Bild  offenbar 
von  derselben  Hand  herrühre,  wie  die  bis  dahin 
wenig  beachteten  Reste  eines  Altaraufsatzes  aus  der 
Makkabäerkapelle  des  Domes  von  Genf  (jetzt  im 
Kellergeschoss  der  dortigen  Universität  schlecht  auf¬ 
gestellt).  Nun  konnte  auch  der  gleiche  Ursprung  der 
Baseler  Tafeln,  die  zuletzt  als  Werke  des  Gerrit  von 
St.  Jans  gegolten  hatten,  nicht  mehr  zweifelhaft  sein. 
Auf  dem  Genfer  Altar  aber  fand  sich  die  In¬ 
schrift:  »hoc  opus  pinxit  magister  conradus  sapientis 
de  basilea  MOCCCCOX  Llllio.« 

Die  Aufgabe,  dem  neuentdeckten  Meister  weiter 
nachzugehen,  fiel  wie  von  selbst  dem  auf  sie  treff- 
lichst  vorbereiteten  Baseler  Forscher  Dr.  Daniel  Burck- 
hardt  zu.  Das  Ergebnis  liegt  jetzt  der  Öffentlichkeit 
vor  als  Teil  der  »Festschrift  zum  vierhundertsten 
Jahrestage  des  ewigen  Bundes  zwischen  Basel  und 
den  Eidgenossen,  13.  Juli  igoi«.  Es  ist  in  Kürze 
das  folgende: 

Der  Conradus  Sapientis  der  Genfer  Tafel  hiess 
zu  deutsch  Konrad  Witz.  Er  stammte  aus  Rottweil 
in  Oberschwaben.  Dort  ist  eine  direkte  Spur  von 
ihm  zwar  nicht  aufgefunden  worden,  vielleicht  aber 
dürfen  wir  ihn  als  ein  Glied  des  seit  dem  14.  Jahr¬ 
hundert  nachweisbaren  Bürgergeschlechts  der  Witz¬ 
mann  ansehen  (vgl.  auch  die  Genitivform  sapientis). 
Im  Jahre  1434  wurde  er  in  die  Basler  Zunft  zum 
Himmel  aufgenommen.  1435  leistete  er  den  Bürger¬ 
eid.  In  einer  gerichtlichen  Zeugeneintragung  zu  1442 
erscheint  er  verschwägert  mit  dem  angesehensten  der 
älteren  Basler  Maler,  Nikolaus  Rüsch,  genannt  Lawelin 
aus  Tübingen.  1443  kaufte  er  das  Haus  zum  Pflug 
an  der  Freienstrasse.  1444  signierte  er  den  Genfer 
Altar.  1447  und  1448  wurde  seine  Ehefrau  als 
Witwe,  seine  Kinder  als  Waisen  bezeichnet. 

Das  ist  nun  zwar  keine  Lebensgeschichte,  rund 
und  lebendig  wie  eine  von  Vasari  erzählte,  aber  für 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Xlll.  H.  70 


den  Kunsthistoriker  bedeutet  sie  doch  viel:  nichts  ge¬ 
ringeres  als  die  Nötigung,  für  eines  der  wichtigsten 
Kapitel  der  deutschen  Kunstgeschichte,  die  Wende 
vom  Mittelalter  zur  Neuzeit,  nach  neuen  Grundlinien 
zu  suchen.  Und  gleichzeitig  hat  sich  ja  auch  an 
anderen  Punkten  der  Nebel  zu  lichten  begonnen. 
Lukas  Moser!  Hans  Multscher!  Sie  im  Verein  mit 
unserem  Konrad  Witz,  diese  plötzlich  und  in  sehr 
unerwarteter  Gestalt  vor  uns  aufgetauchte  Trias 
schwäbischer  Meister  (der  noch  Stephan  Lochner,  der 
aus  Meersburg  am  Bodensee  kommende  Maler  des 
Kölner  Dombildes  beizugesellen  wäre)  sagt  uns,  dass 
wir  bis  dahin  allzu  bescheiden  gewesen  sind,  wenn 
wir  vermeinten,  die  deutsche  Kunst  hätte  in  das  neue 
Weltalter  allein  durch  das  von  den  Niederländern 
aufgestossene  Thor  als  Nachzüglerin  unsicheren 
Schrittes  ihren  Weg  finden  können.  Man  beachte  nur 
diese  Daten  nach  Gebühr:  1431  der  Tiefenbronner 
Altar  Moser’s,  1434  der  Beginn  der  Baseler  Thätig- 
keit  Witzen’s,  1437  der  kürzlich  aus  England  nach 
Berlin  gekommene  Cyklus  Multscher’s.  Das  ist  alles 
nach  dem  Masse  der  Zeit  modernste  Kunst  und  als 
die  am  weitesten  fortgeschrittenen  in  Deutschland  er¬ 
scheinen  nicht  mehr  die  Nachbarn  der  Niederländer, 
die  Kölner,  sondern  die  Schwaben.  Niemanden  wird 
es  einfallen,  unsere  wackeren  Schwabenmeister  den 
van  Eyck  und  Masaccio  gleichzustellen.  Aber  doch 
schwimmen  sie  mit  diesen  im  selben  Strom.  Wir 
beginnen  zu  ahnen  und  hoffen  es  nach  und  nach 
deutlicher  zu  sehen,  dass  der  grosse  Umschwung  des 
1 5.  Jahrhunderts  gar  nicht  das  Werk  einiger  einsamer 
Genies  gewesen  ist,  die  die  Laune  des  Schicksals  am 
Arno  oder  an  der  Maas  geboren  werden  liess,  sondern 
dass  ein  allgemein  verbreiteter  Drang  ihn  empor¬ 
genötigt  hat. 

Unter  den  drei  uns  jetzt  bekannt  gewordenen 
Initiatoren  des  »Realismus«  in  Oberdeutschland  steht 
Konrad  Witz  durch  umfassende  Einsicht  in  das  Wesen 
des  neuen  Prinzips  obenan.  Ich  will  versuchen,  sein 
künstlerisches  Wollen  und  Können  an  dem  Beispiel 
des  Strassburger  Bildes,  das  uns  dasselbe,  wo  nicht 
in  vollem  Umfange,  so  doch  in  voller  Intensität  vor¬ 
führt,  zu  erläutern. 

Die  Tafel  hat  die  ansehnliche  Grösse  von 
1,61  :  1,30  m.  Sie  gehört  in  die  in  Deutschland  um 
diese  Zeit  nicht  häufig  vorkommende  Klasse  einfacher 
Altaraufsätze,  ohne  Teilung  der  Bildfläche,  ohne  Bei¬ 
gabe  von  Flügeln,  wie  ein  solcher  auch  auf  dem 
Bilde  selbst  zur  Darstellung  gebracht  ist;  war  also 
vermutlich,  gleich  diesem,  für  einen  Seitenaltar  be¬ 
stimmt.  Dass  man  sich  hinsichtlich  der  Entstehungs¬ 
zeit  anfänglich  um  ein  reichliches  Menschcnalter  ge- 


30 


"et'-i  Befreiung  aus  dem  Kerker.  Vom  Genfer  Altar  des  Konrad  Witz 


KONRAD  WITZ 


231 


täuscht  hat,  ist  ganz  begreiflich:  so  neu  ist  alles  darin 
empfunden  und  gegeben.  Mit  der  Kompositions¬ 
weise  des  Mittelalters  ist  restlos  aufgeräumt.  Keiner¬ 
lei  Rücksicht  wird  mehr  auf  das  architektonisch-deko¬ 
rative  Ensemble  genommen:  das  Bild  trägt  sein 
Stilgesetz  in  sich  selbst,  es  will  allein  einen  der  Wirk¬ 
lichkeit  entnommenen  optischen  Thatbestand  in  un¬ 
befangenster,  überzeugendster  Wiedergabe  zur  Er¬ 
scheinung  bringen.  Was  den  Maler  an  der  neuge¬ 
wonnenen  Betrachtungsweise  der  Dinge  um  ihn  her 
am  meisten  interessiert,  ist  erstens  die  Auffassung  des 
Raumes  in  voller  Tiefenwirkung  und  zweitens  der 
Einfluss  des  Lichtes  auf  der  Erscheinung  der  Körper. 
So  sehr  ist  dies  beides  das  Hauptthema  des  Bildes 
geworden,  dass  die  sachliche  Bedeutung  der  darge¬ 
stellten  Heiligen  darüber  fast  vergessen  ist.  Den 
Schauplatz  bildet  eine  langgestreckte  Bogenhalle,  etwa 
der  Flügel  eines  Kreuzganges;  wir  sehen  ihn  in  seiner 
ganzen  Tiefe  vor  uns  sich  entwickeln,  der  Horizont 
ist  hochgenommen,  der  Augenpunkt  an  die  seitliche 
Bildgrenze  geschoben.  Das  ist  schon  malerischer  ge¬ 
dacht  als  die  meisten  perspektivischen  Konstruktionen 
bei  den  zeitgenössischen  Italienern.  Viel  bedeutsamer 
aber  ist  es,  wie  der  Lichtfaktor  hier  herangezogen 
wird,  um  unsere  Vorstellung  von  der  Räumlichkeit 
über  die  Bildgrenze  hinaus  zu  erweitern:  wir  können 
zwischen  den  sich  eng  zusammenschliessenden  Säulen 
nicht  hinaussehen  ins  Freie,  aber  die  einfallenden 
Lichter  und  Schatten  lassen  uns  die  Bogenöffnungen 
ahnen:  wir  fühlen  mit,  was  jenseits  des  Rahmens 
liegt.  Wiederum  echt  malerisch  gedacht  ist  nach 
der  linken  Seite  hin  die  Erweiterung  des  Bogenganges 
durch  ein  Nebenschiff.  Die  hier  vorkommende 
doppelte  Überschneidung  des  Wandaltares  durch  die 
vor  ihm  stehende  Deckenstütze  und  durch  den  Schlag¬ 
schatten  des  darauf  folgenden  Säulenbündels  ist  von 
frappantester  Wirkung,  —  nach  dem  Massstabe  der 
historischen  Entwickelung  der  malerischen  Darstellungs¬ 
mittel  eine  Kühnheit  ersten  Ranges.  Die  Reproduktion 
giebt  doch  nur  eine  unvollkommene  Vorstellung  da¬ 
von,  wie  frei  auf  dem  Gemälde  hier  alles  in  der  Luft 
steht,  wie  klar  die  Gegenstände  vor-  und  zurück¬ 
treten.  Mit  diesem  teilweisen  Verdecken  wird  viel 
mehr  gesagt,  als  die  in  solchen  Fällen  scheinbar 
grössere  »Deutlichkeit«  des  mittelalterlichen  Stiles 
jemals  es  konnte.  Von  köstlicher  Naivetät  ist  dann 
die  Behandlung  des  an  der  unteren  Bildecke  rechts 
einbrechenden  Schlagschattens;  ihn  über  das  vielfach 
gebrochene  Gewand  Katharinen’s  hinzuführen  schien 
unserem  Meister  noch  unmöglich;  so  lässt  er  die 
Heilige  einfach  auf  dem  Schatten  sitzen!  Ihr  Kleid 
aber  ist  wieder  sorglich  so  gelegt,  dass  sich  sein 
Schattenbild  sauber  und  scharf  auf  dem  Boden  ab¬ 
zeichnet.  —  Zu  der  Entdeckung  der  Schlagschatten 
macht  Witz  die  andere  des  zurückgeworfenen  Lichtes. 
Ich  wüsste  keinen  Niederländer  dieser  Zeit,  bei  dem 
etwas  ähnliches  vorkäme,  wie  auf  unserem  Bilde  der 
von  Katharinen’s  Gebetbuch  abprallende,  die  dunkle 
Seite  von  Wange  und  Nasenspitze  mit  einem  hellen 
Rande  auflichtende  Reflex  (in  der  Reproduktion 
wieder  nicht  zu  voller  Wirkung  gekommen).  —  Noch 


aber  ist  Witz  mit  seinen  Mitteln  nicht  zu  Ende.  Er 
hat  an  der  Tiefe  des  Kreuzganges  nicht  genug,  er 
lockt  uns  zur  Thür  hinaus  auf  die  Strasse,  wo  eine 
höchst  belebte  Scene,  ein  Bild  im  Bilde  gleichsam, 
sich  aufthut.  Demonstrativ  ist  es  auf  der  Fläche  des 
Gemäldes  dicht  neben  den  Kopf  Katharinen’s  gestellt. 
Dort  soll  ein  jeder  Betrachter  an  diesem  abmessen 
können,  wie  sehr  die  Entfernung  die  Gegenstände 
verkleinert  —  eine  Thatsache,  die  als  malerisch  dar¬ 
zustellende  ebenso  neu  war  wie  die  andere,  dass  ein 
beleuchteter  Körper  Schlagschatten  und  Reflexlichter 
aussendet  und  mit  ihnen  in  den  ihn  umgebenden 
Raum  übergreift.  Aber  auch  inhaltlich  ist  die  Strassen- 
scene  höchst  unterhaltend.  Wir  sehen  an  der  Ecke 
des  ganz  individuell  dargestellten  Hauses  —  Burck- 
hardt  meint,  es  könne  das  eigene  des  Meisters  sein 
—  einen  Verkaufsladen,  in  dem  Mal-  und  Schnitz¬ 
ware  feilgeboten  wird;  ein  Kleriker  steht  davor  und 
prüft  sie;  ein  Knabe  tummelt  sein  Steckenpferd;  ein 
paar  Stutzer  begrüssen  sich  —  und  es  fehlt  auch 
nicht  eine  Pfütze,  in  der  die  Figuren  sich  spiegeln. 

Sehet  her!  so  scheint  der  Maler  den  Betrachtern 
seines  Bildes,  den  Menschen  vom  Jahre  1440,  zurufen 
zu  wollen,  dies  alles  dringt  täglich  und  stündlich  in 
euer  Auge  ein,  und  doch  habt  ihr  es  noch  nie  be¬ 
merkt!  es  ist  auch  gleichgültig  in  der  Wirklichkeit, 
aber  indem  ich  es  zum  Bilde  mache,  wird  es  inter¬ 
essant!  bringt  es  in  euch  Empfindungen  hervor,  von 
denen  ihr  noch  nie  etwas  gewusst  habt. 

Und  wie  schildert  er  die  Heiligen,  die  allein  ihm 
eigentlich  zu  malen  aufgegeben  waren?  Auch  sie 
werden  derselben  Betrachtungsweise  unterworfen.  Sie 
sollen  exemplifizieren,  wie  sich  auf  einer  ebenen 
Fläche  plastischer  Schein  hervorrufen  lässt.  Damit 
ist  das  Interesse  des  Künstlers  an  ihnen  zu  Ende. 
Feierlicher,  inniger,  stärker  zum  Gemüte  sprechend 
waren  sie  von  der  älteren  Kunst  oft  gegeben  worden; 
diese  hier  bedeuten  als  geistige  Wesen  wenig,  die 
Köpfe  sind  trivial  in  der  Form  und  leer  im  Ausdruck, 
über  die  Leiber  erhalten  wir  nur  geringen  Aufschluss; 
um  so  ausführlicheren  über  Gewand  und  Schmuck. 

Witzen’s  Werke  in  Basel  und  Genf  vervollständigen 
sein  künstlerisches  Charakterbild  nach  mehreren  Seiten, 
ohne  es  zu  verändern.  Auf  sie  näher  einzugehen 
verbietet  uns  der  diesem  Aufsatz  zugemessene 
Raum;  wir  verweisen  auf  die  Analysen  von  Burck- 
hardt  und  die  dessen  Text  begleitenden  ausgezeichneten 
Nachbildungen.  Nur  den  zwei  beistehend  in  Zink¬ 
ätzung  wiedergegebenen  Tafeln  des  Genfer  Altars 
müssen  wir  ein  paar  Worte  noch  widmen.  —  Auf 
ihnen  war  und  waren  zusammengesetzte  Scenen 
darzustellen.  Nichts  Leichtes  gewiss,  diese  Aufgabe 
mit  derjenigen  Auffassung  des  Realismus,  die  wir 
vom  Strassburger  Bilde  her  kennen,  in  Einklang  zu 
bringen.  Von  Komposition  nach  Rücksichten  der 
Symetrie,  des  zusammenhängenden  Linienflusses  u.  s.  w. 
ist  nicht  die  Rede;  die  Schilderung  der  räumlichen 
Umgebung  behält  einen  sehr  breiten  Raum;  die 
Gewissenhaftigkeit  in  der  Wiedergabe  der  Schlag¬ 
schatten  geht  bis  zur  Pedanterie;  die  Figuren  sind 
dieselben  gedrungenen,  starkknochigen,  wie  auf  seinen 

30* 


Petri  Fischzag.  Vom  Genfer  Altar  des  Konrad  Witz 


KONRAD  WITZ 


233 


älteren  Bildern;  an  Fähigkeit  zu  seelischem  Ausdruck 
in  den  Qesichtszügen  hat  er  kaum  zugenommen. 
Bedeutsam  ist  dagegen  das  Streben,  seine  Menschen 
durch  Haltung  und  Gebärde  ihr  Inneres  verraten  zu 
lassen.  Der  wie  ein  Träumender  aus  dem  Gefängnis 
geführte  Petrus  wirkt  in  seiner  Unbeholfenheit  doch 
wahrhaft  ergreifend  und  nicht  minder  der  schwung¬ 
voll  bewegte  himmlische  Bote.  Hier  kommt  noch  das 
spezielle  Interesse  an  den  Verkürzungen  hinzu.  Beim 
Engel  sind  sie  wohlgelungen,  das  Wagnis  mit  der 
verwickelten  Bewegung  des  Kriegsknechtes  geht  über 
Witzen ’s  Kraft.  Nun  aber  zeigt  sie  sich  in  ihrem 
eigensten  Elemente  und  auf  einer  staunenerregenden 
Höhe  in  der  Landschaft  auf  Petri  Eischzug.  Diese 
geht  über  alles  hinaus,  was  gleichzeitige  Italiener  oder 
Niederländer  erreicht  oder  überhaupt  nur  gewollt  haben; 
in  der  deutschen  Kunst  bis  zum  Schluss  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  kommt  ihr  nichts  auch  nur  von  ferne  gleich. 
Die  Landschaft  auf  dem  Genfer  Altar  der  van  Eycks 
ist  poetischer  in  ihrer  Earbenschönheit;  in  der 
strengen,  grossartigen  Sachlichkeit  erinnert  Witz  un¬ 
mittelbar  an  die  Aquarellstudien  Dürer’s.  Wie  ist 
die  grosse  Wasserfläche  belebt  und  doch  durchaus 
in  ihrem  Charakter  als  ebener  Spiegel  festgehalten! 
Vorn  scheinen  die  Steine  des  Grundes  dunkelgrün 
aus  dem  durchsichtigen  Elemente  horvor;  weiter 
treten  Luftreflexe  und  Windstreifen  ein;  das  vorwärts 
geruderte  Boot  regt  leichte  Wellenkreise  auf;  und  am 
jenseitigen  Ufer  erhebt  sich  hügelichtes  Gelände  mit 
Wiesen,  Strassen,  Bäumen  und  Häusern,  Schneeberge 
am  Horizont,  alles  in  grösster  Deutlichkeit,  dabei  doch 
immer  als  Masse  empfunden,  ln  der  That  ist  es 
auch  keine  Phantasielandschaft,  sondern  ein  genaues 
Landschaftsporträt;  die  Ansicht  des  Genfer  Sees  nahe 
dem  Dorfe  Pregny  aufgenommen.  Zu  vergleichen  ist 
der  architektonische  Hintergrund  auf  dem  Bilde  des 
Museums  von  Neapel  (zuerst  von  Bayersdorfer  für 
Witz  reklamiert),  insofern  wieder  eine  bestimmte 
Örtlichkeit,  die  Innenansicht  des  Basler  Münsters, 
zur  Darstellung  kommt.  Soviel  ich  weiss,  sind  der¬ 
artige  genaue  Individualisierungen  von  Landschaft 
oder  Architektur  bei  den  Niederländern  nicht  nach¬ 
gewiesen.  —  — 

Ich  versuche  zum  Schluss,  Witzen’s  geschichtliche 
Stellung  zu  bestimmen.  Dass  er  über  den  in  der 
Entwickelung  der  oberdeutschen  Malerei  Vorgefundenen 
Punkt  weit  hinausgekommen  ist,  leuchtet  sofort  ein; 
zu  fragen  bleibt,  wieviel  davon  er  etwa  schon  vor¬ 


handenen  Ansätzen,  wieviel  sich  selbst,  wieviel  mög¬ 
licherweise  dem  Auslande  als  welches  natürlich  nur 
die  Niederlande  in  Betracht  kommen  können  ver¬ 
dankt?  Eine  genaue  Bilanz  lässt  sich  solange  nicht 
ziehen,  als  wir  die  jugendwerke  Witzen’s  nicht  kennen. 
Die  von  Burckhardt  umsichtig  und  sachkundig  an- 
gestellten  Erwägungen  führen  aber  mit  ziemlicher 
Wahrscheinlichkeit  zu  dem  Schluss,  dass  er  die  nieder¬ 
ländische  Kunst  nicht  in  den  Niederlanden  selbst, 
sondern  erst  in  Basel  kennen  gelernt  hat,  wo  für  die 
Konzilszeit  die  Anwesenheit  niederländischer  Händler 
und  Handwerker  historisch  nachgewiesen  ist.  Es  ist 
ja  auch  schon  die  Hypothese  ausgesprochen  worden, 
dass  der  Meister  von  Elemalle  sich  damals  dort  auf¬ 
gehalten  habe;  gerade  an  diesen  erinnert  wirklich 
manches  in  Witzen’s  Art;  leider  ist  die  Voraussetzung 
recht  unsicher.  Will  man  hingegen  an  eine  nieder¬ 
ländische  Reise  denken,  so  müsste  sie  vor  1430  statt¬ 
gefunden  haben.  Damals  aber  war  der  Genfer  Altar 
noch  nicht  aufgestellt,  war  der  Ruhm  der  van  Eycks 
noch  nicht  in  alle  Welt  gegangen.  Was  Witz  dort¬ 
hin  gezogen  haben  möchte,  welche  Bilder  der  neuen 
Richtung  er  gesehen  haben  könnte,  entzieht  sich  jeder 
Berechnung.  Entscheidend  ist  nur,  dass  auch  aus 
inneren  Gründen  eine  solche  Reise  eher  unwahr¬ 
scheinlich  ist.  Hätte  es  erst  der  Niederländer  be¬ 
durft,  um  Witz  zum  Realisten  zu  machen,  so  wäre 
entweder  die  Abhängigkeit  von  jenen  eine  vollständigere 
geworden,  oder  es  hätte  sich  das  Erworbene  mit 
Archaismen  und  Suabismen  äusserlich  vermengt. 
Weder  das  eine  noch  das  andere  liegt  vor.  Witz  ist 
ein  ganzer  und  entschlossener  Realist,  er  hat  das  neue 
Prinzip  in  seinem  innersten  Wesen  erfasst,  aber  er 
stellt  es  selbständig  dar.  Die  Zahl  der  unmittelbar  an 
Niederländisches  erinnernden  Züge  ist  gar  nicht  gross 
und  sie  gehören  nur  seinen  späteren  Werken  an; 
noch  der  Basler  Altar,  der  etwa  zehn  Jahre  vor  dem 
Genfer  entstanden  ist,  ist,  wie  mir  scheint,  frei  von 
ihnen.  Seitdem  wir  neben  Witz  nicht  nur  Moser, 
sondern  jetzt  auch  Multscher  als  Zeitgenossen  kennen, 
ist  es  das  Einfachste  und  daher  Empfehlenswerteste, 
einen  selbständigen  Herd  der  neuen  Kunstrichtung 
in  Schwaben  anzunehmen.  Das  will  sagen:  die  Ent¬ 
stehung  ist  nicht  an  diesen  oder  jenen  Ort  gebunden 
gewesen,  sie  trat  ins  Leben,  wo  immer  tüchtige  Künstler¬ 
kraft  der  überallhin  durch  die  Luft  getragenen  Keime 
sich  bemächtigte. 


234 


Uandtiichhaltcr 


Arbeiten  des  Holzbildners  Franz  Zelezny  in  Wien 


235 


Böhmische  Musikanten  von  Franz  Zelezny 


EIN  WIENER  HOLZBILDNER 


Der  Mann,  von  dem 
ich  heute  erzählen 
will,  ist  im  Ausland 
noch  wenig  bekannt.  Das 
kommt  daher,  dass  seine 
Werke  —  so  modern  sie  in 
der  Auffassung  sind  —  doch 
nicht  auf  der  Oberfläche  des 
Modestromes  schwimmen, 
wie  etwa  die  Bühnenwerke, 
die  für  den  Tagesbedarf  der 
Theater  in  allen  Grossstädten  das  beste  tägliche  Futter 
bilden,  eben  weil  sie  ohne  Charakter  und  Tiefe  sind. 
Die  Arbeiten  des  Wiener  Bildhauers  Franz  Zelezny  sind 
eher  mit  jenen  eigenartigen,  meist  im  Dialekt  ver¬ 
fassten  Werken  zu  vergleichen,  die  zwar  nur  schwer 
zu  internationaler  Geltung  sich  durchringen,  dann 
aber  auf  die  neurasthenische  und  dekadente  Generation 
wie  ein  erfrischendes  Bad  wirken.  Zelezny’s  Plastik 
spricht  österreichischen  Dialekt  wie  die  Dichtung 
Ludwig  Anzengruber’s.  Aber  wie  diese  bleibt  sie 


nicht  eine  lokale  Kunst.  Die  starken  Kunstkämpfe 
der  Gegenwart  haben  in  der  Brust  des  volkstümlichen 
Künstlers  starken  Wiederhall  gefunden  und  die  höchsten 
geistigen  Probleme  eines  Max  Klinger,  so  wie  die 
zarteste  Delikatesse  französischer  Zierkünstler  finden 
unter  seinen  Werken  ihre  Parallelen. 

Franz  Zelezny  ist  als  Sohn  eines  geschätzten  Bild¬ 
hauers  von  früher  Jugend  an  in  dem  schwierigen 
Fache  thätig  gewesen.  Früh  schon  hat  er  die  Vor¬ 
liebe  für  dasjenige  Material  empfunden,  das  im  öster¬ 
reichischen  Volksstamm  schon  vor  Jahrhunderten  die 
besten  Meister  gefunden  hat:  das  Holz.  Vielleicht 
hat  diese  Entschiedenheit  viel  zu  der  kraftvollen  Ent¬ 
wickelung  zu  Echtheit  und  Originalität  beigetragen. 
Denn  so  hat  der  junge  Künstler  nicht  nur  die  grosse 
Übung,  die  sichere  Beherrschung  des  Materials  er¬ 
rungen,  sondern  er  hat  in  einem  Alter,  in  dem  andere 
Bildhauer  in  Ermangelung  von  Marmorblöcken  im 
Thon  und  Plastellin  herumbasteln,  bereits  sich  in 
fortwährendem  Arbeitskampf  mit  so  einem  eigen¬ 
sinnigen  Naturwesen,  wie  es  das  Holz  ist,  auseinander- 


236 


EIN  WIENER  HOLZBILDNER 


setzen  müssen.  Da  erlernt  und  übt  man  Eeinheiten  Art  der  Bildhauertliätigkeit  ganz  erstaunlich.  Ohne 

der  Technik,  Drucker<  von  individueller  Prägung,  Punktierung  und  sonstige  Hilfskunst,  als  höchstens 

die  den  Künstler  davor  bewahren,  banalen  oder  un-  die  Herstellung  eines  Thonmodells,  schnitzt  Zelezny 

erreichbaren  Aufgaben  nachzugehen.  mit  souveräner  Sicherheit  aus  dem  Holzklotz  die 

Es  ist  ganz  merkwürdig  zu  sehen,  wie  dieser  wohlgetroffenen  Züge.  Ein  Schnitt  zu  viel  und  die 


kräftige  und  von  allen  Sa¬ 
lon -Erfolg- Gelüsten  freie 
Mann  doch  bei  aller 
Handwerksarbeit  für  Mö¬ 
beltischler  und  Kleinkrä¬ 
mer  sich  die  Elugkraft  der 
Seele  bewahrt  hat,  wie  er 
in  freien  Stunden,  die  er 
sich  als  Eamilienvater  mit 
Mühe  abringt,  bemüht  ist, 
mit  allen  geistigen  und 
Kunstströnumgen  seiner 
Zeit  in  verständnisvoller 
Eühlung  zu  bleiben.  Ja, 
er  hat  sich  aus  mannig¬ 
fachen  Enttäuschungen 
und  Ärgernissen  eine  Zart¬ 
heit  des  Gemütes  gerettet, 
die  an  Lyriker  wie  Shelley 
oder  Lenau  gemahnt. 

Diesen  Eigenschaften 
des  Mannes  entsprechen 
auch  die  Züge  der  Werke. 

Arbeiten  wie  die  »Böh¬ 
mischen  Musikanten  ,  die 
Maske  Zahnschmerz«, der 
'Drahrer  und  ähnliche 
geben  den  urwüchsigen 
Humor  des  seine  Umge¬ 
bung  mit  Behagen  betrach¬ 
tenden  Wieners  zu  erken¬ 
nen.  Mit  der  starken 
unproblematischen  Sinn¬ 
lichkeit  des  Österreichers 
bildet  er  die  Reize  des 
Frauenleibes  nach,  und 
bei  diesen  Arbeiten  über¬ 
rascht  schon  die  Zartheit, 
mit  der  oft  eine  mystische 
Stilisierung  sich  verbindet. 

In  der  Behandlung  von 
Blumenmotiven  ist  er  un¬ 
erschöpflich.  Die  Kränze 
von  Rosen  und  Blättern, 
die  er  um  seine  Bilder¬ 
rahmen  windet,  sind  in 
einer  so  schmiegsamen 
Technik  gehalten,  die  nur 
ein  grosser  Künstler  dem 
Holz  abringen  kann. 

Wenn  derartige  Arbeiten  sich  glücklich  den  kunst¬ 
gewerblichen  Zwecken  der  Gegenwart,  als  Füllungen, 
Rahmen,  Uhren,  Beleuchtungsfiguren  u.  s.  w.  anpassen, 
so  führen  zahlreiche  Porträtleistungen  auf  die  Fähig¬ 
keit  Zelezny’s,  Menschen  zu  erkennen  und  darzustellen. 
Die  Freiheit  seiner  Materialbehandlung  ist  bei  dieser 


Holzgriippe  für  die  Pariser  Weitaiissteiiiing 
Von  Franz  Zeiezny 


Ähnlichkeit  ist  zum  Teu¬ 
fel.  Das  erreicht  der 
Künstler  nur  auf  dem 
Wege,  dass  er  immer  die 
noch  fragliche  Partie  be¬ 
deckt  lässt,  und  dann 
erst  die  Detailzüge  heraus¬ 
holt.  Wer  mit  den  Schwie¬ 
rigkeiten  dieser  Technik 
vertraut  ist,  wird  die  Vor¬ 
züge  seiner  Arbeiten  zu 
ermessen  wissen.  Von 
den  Porträtköpfen  und 
Statuen  erhebt  sich  der 
Künstler  dann  ab  und  zu 
im  idealen  Sinne  zu  Lei¬ 
stungen  wie  sein  Beet¬ 
hovenkopf,  wie  sein  kürz¬ 
lich  vom  Ministerium  für 
Kultus  und  Unterricht 
preisgekröntes  Reliquiar 
des  Papstes  Urban  II.  (für 
den  St.  Stephansdom  in 
Wien). 

Über  diese  Fühlung¬ 
nahme  mit  der  kirchlichen 
Kunst  kann  ein  Kenner 
der  Verhältnisse  nur  er¬ 
freut  sein.  Denn  noch 
immer  ist  das  Interesse 
des  Laienpublikums  an 
individueller  Bildhauer¬ 
arbeit  allzu  schwach. 
Charakterlose  Gipsabgüsse 
nach  allbekannten  besseren 
oder  schlechteren  Origina¬ 
len  sind  als  Schmuck  der 
Wohnungen  vielfach  ver¬ 
breitet.  Aber  die  Freude 
an  der  Eigenart  einer 
Plastik  ist  höchstens  in 
Paris  oder  England  zu 
finden.  Und  die  Öffent¬ 
lichkeit  hinwiederum  will 
nur  Plastiken  sehen,  die 
als  Denkmäler  an  irgend 
eine  die  betreffende  Stadt 
ehrende  Leistung  von 
verstorbenen  Persönlich¬ 
keiten  erinnert.  Dagegen 
hat  die  Kirche  sowohl  in  Österreich  als  in  Mittel¬ 
deutschland  die  Fähigkeiten  der  Holzbildhauer  stark  für 
sich  in  Anspruch  genommen;  bei  einem  Besuch  des 
Nürnberger  germanischen  Museums  oder  des  Münchner 
Nationalmuseums  ist  man  ganz  verblüfft  von  dieser 
überreichen  Fülle  zum  Teil  vorzüglicher  Holzplastiken. 


Arbeiten  des  Holzbildners  Franz  Zelezny  in  Wien 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  lo. 


3' 


238 


EIN  WIENER  HOLZBILDNER 


Aber  freilich  spielt  die  Kirche  in  unseren  Tagen 
nicht  mehr  diese  Rolle,  wie  damals,  als  der  Öster¬ 
reicher  Pacher  den  Altar  zu  St.  Wolfgang  schuf.  Auch 
wird  der  moderne  Künstlergeist  in  einer  ausschliess¬ 
lichen  Beschäftigung  mit  kirchlicher  Kunst  nicht  mehr 
vollständige  Befriedigung  finden.  Die  Ereude  am 


Beobachten  und  an  der  Wiedergabe  des  Erschauten, 
ein  beinahe  heidnischer  Zug  der  Lebensfreude  geht 
durch  die  Werke  Eranz  Zelezny’s.  —  Es  wäre  zu 
wünschen,  dass  sein  Wirkungskreis  sich  durch  würdige 
Aufträge  vergrössern  und  seine  Schaffensart  Schule 
machen  möchte.  LUDWIG  ABELS. 


Zahnschmerzen« .  Schnitzerei  von  F.  Zelezny 


GEMÄLDE  DES  XIV.  BIS  XVI.  JAHRHUNDERTS 

AUS  DER  SAMMLUNG  VON  RICHARD  VON  KAUFMANN') 


JE  gründlicher  die  Kunstgeschichte  sich  den  Gegen¬ 
stand  ihrer  Forschung  zu  erobern  und  je  ein¬ 
dringlicher  sie  sich  von  verschiedenen  Seiten  dem 
Kern  zu  nähern  sucht,  desto  mehr  bemüht  sie  sich 
auch,  das  erhaltene  Material  in  möglichster  Vollstän¬ 
digkeit  an  das  Licht  zu  ziehen.  Wer  einem  Künstler 
oder  einer  Kunstrichtung  nachgeht,  kann  sich  mit  dem 
Studium  der  öffentlichen 
Galerien  und  Kirchen  nicht 
mehr  begnügen,  gar  man¬ 
cher  Schlüssel  zu  verbor¬ 
genen  Dingen  ruht  in 
den  Sammlungen  Privater, 
und  in  dem  Entgegen¬ 
kommen  der  Sammler 
gegenüber  den  Kunst¬ 
freunden  und  Studieren¬ 
den,  dem  Abbilden  und 
Veröffentlichen  ihrer 
Schätze  wird  dem  Studium 
eine  nicht  zu  unter¬ 
schätzende  Hilfe  geleistet. 

Eine  der  jüngsten  der¬ 
artigen  Publikationen  ist 
die  der  Gemäldesammlung 
des  Herrn  Geheimrates 
Richard  von  Kaufmann  in 
Berlin.  67  Lichtdrucktafeln 
geben  eine  Auswahl  der 
besten  Stücke,  und  ihnen 
beigefügt  ist  ein  kurzer 
sachlicher  Katalog  der 
sämtlichen  Gemälde  der 
Sammlung. 

Die  Grundlage  des¬ 
selben,  ein  handschrift¬ 
liches  Verzeichnis  Max 
J.  Friedländer’s ,  giebt 
uns  die  Gewähr,  dass 
seine  Angaben  auf  sorg¬ 
fältigster  Kritik  und  ein¬ 
gehender  Bilderkenntnis  beruhen.  Das  Hauptinteresse 
der  Sammlung  liegt  für  die  meisten  Besucher  in 
den  niederländischen  und  deutschen  Werken  des 
15.  und  lö.  Jahrhunderts,  die  in  besonders  reicher 
Zahl  vorhanden  sind,  sie  geben  eine  in  gewisser 
Weise  geschlossene  Vorstellung  der  ganzen  pri¬ 
mitiven  niederländisch  -  deutschen  Kunst,  während 
die  italienischen  Bilder,  wenn  auch  schon  mit  dem 
Trecento  (Lippo  Memmi)  beginnend,  eine  Reihe  mehr 
zufällig  sich  zusammenfindender  Stücke  bilden.  Kunst¬ 
historiker  und  Kunstliebhaber  werden  vielleicht  nicht 


1)  Berlin  190!.  Verlag  von  A.  Asher  &  Co. 


ganz  in  gleicher  Weise  auf  ihre  Rechnung  kommen, 
es  neigt  sich  die  Wage,  wohl  schon  durch  das  Vor¬ 
wiegen  der  älteren  Zeit  etwas  mehr  zu  Gunsten  des 
Kunsthistorikers.  Auch  der  Besitzer  ist  offenbar  zu¬ 
weilen  mit  Vorliebe  kunstgeschichtlichen  Interessen 
gefolgt.  Ein  Beispiel  geben  vier  Bilder,  die  zu  ganz 
verschiedenen  Zeiten  erworben  sind  und  eine  Geburt 

Christi  mit  besonderem 
Lichteffekt  darstellen  (Taf. 
XV,  XXI,  XXXlll).  Das 
früheste  derselben  ist  ein 
Geertgen  van  St.  Jans.  Die 
nicht  grosse  Reihe  der 
bisher  von  diesem  althol¬ 
ländischen  Meister  be¬ 
kannten  Bilder  wird  durch 
die  kleine  Tafel  um  ein 
wichtiges  Stück  erweitert. 
Wir  begegnen  hier  zum 
erstenmal  einem  sorgfältig 
durchgearbeiteten  Licht¬ 
effekt,  und  es  ist  charak¬ 
teristisch,  dass  es  auf 
holländischem  Boden  ge¬ 
schieht,  wo  gerade  dieses 
Problem  später  seine  glän¬ 
zendste  Behandlung  er¬ 
fuhr.  ln  den  südlichen 
Niederlanden,  bei  Roger 
van  der  Weyden,  tritt 
Josef  wohl  mit  einer  bren¬ 
nenden  Kerze  oder  La¬ 
terne  zum  neugebornen 
Kinde,  um  anzudeuten, 
dass  es  Nacht  sei,  aber 
in  Wirklichkeit  herrscht 
Tageslicht,  gegen  das 
die  künstliche  Leuchtkraft 
versiegt.  Hier  bei  Geert¬ 
gen  ist  es  wirklich  Nacht, 
ln  dichte  Schatten  ist 
der  ganze  Raum  gehüllt,  nur  schwach  geben  sich 
die  Fugen  des  alten  Gemäuers  und  die  Konturen  der 
Tiere  zu  erkennen.  Das  Christkind  vorne  in  der 
Krippe  ist  die  Lichtquelle.  Als  selbstleuchteuder 
Körper  hat  es  nur  die  zur  Formengcbung  allernot¬ 
wendigsten  Schattenandeutungen  erhalten.  Voll  be¬ 
strahlt  werden  Kopf  und  Hände  der  knienden  Maria 
und  die  Engelschar,  die  sich  links  anbeiend  naht. 
Die  Wirkung  ist  eine  völlig  überzeugende,  man  sieht, 
dass  der  Künstler  sorgfältige  Naturbeobachtungen  ge¬ 
macht  und  nicht  etwa  nur  einen  hellgehaltenen  Kopf 
auf  einen  dunklen  Grund  gesetzt  hat.  Die  Augenlider 
und  die  Nase  des  echt  holländischen  Gesichtes  zeigen 


Oeertgen  van  St.  Jans.  Heilige  Nacht 
Berlin,  Sammlung  R.  v.  Kaufmann 


3* 


GEMÄLDE  DES  XIV.  BIS  XVI.  JAHRHUNDERTS 


;ieutlich,  wie  die  Beleuchtung  von  unten  kommt,  im 
vollen  grellen  Schein  verlieren  sich  die  zarteren  For¬ 
men,  während  auf  das  Licht  schnell  der  Schatten 
folgt,  ohne  Härte.  Kleine  zerstreute  Lichter  erreichen 
auch  noch  das  Gesicht  des  entfernten  Josef,  der  rechts 
zur  Thür  hereintritt,  ln  voller  Kraft  dagegen  strahlt 
draussen  in  der  Landschaft  die  Erscheinung  des  Engels, 
der  den  Hirten  die  Geburt  verkündet,  und  streift  mit 
seinem  Glanz  Herde  und  Hirten,  wobei  ihm  ein 
kleines  Holzfeuer  nur  schwache  Konkurrenz  bereitet. 
Aus  einem  tiefen  warmen  bräunlichen  Schattenton 
heben  sich  die  hellen  Par¬ 
tien  leuchtend  heraus.  Auch 
Ochs  und  Esel  müssten 
nach  optischen  Gesetzen 
etwas  von  dem  Lichte  be¬ 
kommen,  der  Künstler  aber 
hat  sie  in  den  Schatten 
getaucht,  wohl  nicht  nur 
als  Teilnehmer  unteren 
Ranges,  sondern  auch, 
um  den  Lichteffekt  nicht 
allzu  breit  werden  zu  lassen, 
wodurch  er  an  Intensität 
verlieren  würde. 

Das  zweite  und  dritte 
Bild,  deren  Schöpfer  im 
Katalog  als  Niederlän¬ 
discher  Meister  um  1510 
(Nr.  20)  und  als  Barthel 
Bruyn  der  Ältere  (Nr.  48, 
datiert  1516)  angeführt 
werden,  sind  in  der  Kom¬ 
position  von  dem  Geertgen 
van  St.  Jan’s  abweichend, 
unter  sich  aber  so  sehr 
übereinstimmend,  dass  sie 
im  Verhältnis  von  Kopien 
zu  einander  oder  zu  einem 
gemeinsamen  dritten  ste¬ 
hen.  Die  Krippe  mit  dem 
Kinde  steht  in  der  Mitte. 

Links  kniet  die  Madonna 
mit  ähnlicher  Gewand¬ 
drapierung  und  ganz  glei¬ 
cher  Handbewegung  auf 
beiden,  fast  die  ganze 
Breite  hinter  der  Krippe 
nimmt  ein  sehr  symmetrisch  gezeichneter  in  voller 
Vorderansicht  gesehener  Engel  ein,  der  die  Hände 
betend  aneinanderlegt.  Dann  schliesst  sich  der  Kreis 
der  Engel  weiter  herum  bis  zum  letzten,  der  in  halber 
Rückenansicht  die  vordere  rechte  Krippenecke  über¬ 
deckt.  Auch  die  Hauptkulisse  des  Hintergrundes 
ist  auf  beiden  Bildern  ganz  ähnlich,  ein  durch  eine 
Säule  geteiltes  Fenster  und  zwei  Pfeiler  mit  Kämpfern 
links  daneben.  Zwei  Hirten  blicken  neugierig  herein. 
Die  Komposition  ist  auf  dem  Bilde  des  Barthel  Bruyn 
mehr  in  die  Breite  gezogen,  die  Engelschar  lockerer, 
der  Josef,  dessen  Kopftypus  dem  auf  dem  anderen 
Bilde  ähnlich  ist,  mehr  zur  Seite  geschoben,  und  vorne 


knien  rechts  und  links,  dies  wohl  der  Grund  zum 
Breitformat  vor  ihren  Betpulten  der  Stifter  und 
die  Stifterin.  Oben  in  der  Luft  musizieren  die  Engel 
und  singen  ein  Terzett,  auf  dem  schmäleren  Bilde  ein 
Quartett. 

Ist  nun  das  Bild  von  Barthel  Bruyn  eine  Nach¬ 
ahmung  des  älter  erscheinenden  anonymen  Bildes? 
Man  muss  dies  schon  aus  dem  Grunde  verneinen, 
dass  gerade  das  Hauptmotiv,  eben  der  Lichteffekt, 
auf  dem  Bruyn’schen  Bild  so  viel  lebendiger  und 
wahrheitsgetreuer  durchgeführt  ist,  als  auf  dem  andern, 

dass  das  Verhältnis  höch¬ 
stens  umgekehrt  sein 
könnte.  Der  anonyme 
Meister  hat  sich  gescheut, 
die  Beleuchtung  der  Köpfe 
von  unten  streng  durch¬ 
zuführen,  er  vermied  das 
Entstellende,  was  eine  dar¬ 
aus  folgende  Schattenwir¬ 
kung  den  menschlichen 
Köpfen  für  unser  anders 
gewöhntes  Auge  verleiht 
und  suchte  eine  Vermitt¬ 
lung  mit  der  gewöhn¬ 
lichen  Erscheinung  der 
Gesichter.  So  wirken  die 
nächsten  Gestalten  mehr 
durchglüht  als  intensiv 
beleuchtet.  Sein  Schön¬ 
heitsideal  ist  ausserdem 
ein  ganz  anderes  als  bei 
Barthel  Bruyn,  ein  viel 
weniger  holländisches. 
Man  vergleiche  nur  die 
Engelsköpfe  miteinander. 

Ist  nun  das  anonyme 
Bild  wirklich  älter,  wie  es 
der  etwas  härteren  Form 
wegen  scheint,  so  bleibt 
nur  die  Möglichkeit  offen, 
dass  beide  aus  einem  ge¬ 
meinsamen  Original  Teile 
der  Komposition  entlehnt 
haben,  und  dass  dieses 
Original  in  der  malerischen 
Behandlung  dem  Werk 
von  Bruyn  näher  gestanden 
hat.  Für  das  letztere  spricht  auch,  dass  die  Bruyn’sche 
Tafel  dem  Geertgen  van  St.  Jans  viel  enger  verwandt 
ist,  als  das  andere  Bild.  Nicht  nur  die  Lichtbehand¬ 
lung  ist  hier  dieselbe,  sondern  auch  der  Kopf  der 
Madonna  ist  vollständig  dem  gleichen  Typus  ent¬ 
wachsen,  während  auf  dem  anonymen  Bild  die  For¬ 
men  ganz  andere  sind.  Der  Katalog  der  Sammlung 
vermutet  ein  gemeinsames  Original  von  Jan  Joest  von 
Haarlem,  dem  Maler,  der  für  den  Calcarer  Dom  ge¬ 
arbeitet  hat,  vielleicht  könnte  man  auch  in  diesem 
Fall  auf  Geertgen  van  St.  Jans  zurückgehen,  dessen 
Komposition  ja  zweifellos  manche  Verwandtschaft 
zeigt,  und  zwar  in  der  Anordnung  der  Madonna 


Unbekannter  Niederländer.  Heilige  Nacht 
Berlin,  Sammlung  R.  v.  Kaufmann 


GEMÄLDE  DES  XIV.  BIS  XVI.  JAHRHUNDERTS 


241 


und  der  Engelgruppe  mehr  mit  dem  anonymen 
Bilde,  so  dass  wir  uns  das  Original  in  dem 
Format  wohl  näher  dem  anonymen  Bilde  als  dem 
Barthel  Bruyn  mit  seinen  Verbreiterungen  zu  denken 
haben.  Sei  aber  Jan  Joest  oder  Qeertgen  der  Schöpfer, 
wir  kommen  wieder  auf  Haarlem,  und  treffen  dort 
offenbar  auf  ein  Centrum  für  die  Behandlung  dieses 
Lichtproblems. 

Zu  gleicher  Zeit  hat  man  auch  in  Deutschland 
versucht,  eine  ähnliche  Aufgabe  zu  lösen,  aber  der 
Effekt  war  ein  weit  geringerer.  Auch  hierfür  besitzt 
die  Sammlung  von  Kaufmann  ein  Beispiel  in  dem 
Gemälde  des  Lukas  Cranach,  welches  der  Katalog 


bis  1516,  sein  Bild  in  Aschaffenburg  von  1520,  ein 
ähnliches  in  Frankfurt  a.  M.  und  Fragmente  von  1539 
in  Karlsruhe  und  Berliner  Privatbesitz  gehen  alle  dar¬ 
auf  aus,  das  Kind  als  leuchtenden  Körper  wieder¬ 
zugeben  und  die  Bestrahlung  auf  die  benachbarten 
Figuren  in  ganz  naturalistischer  Weise  deutlich  zu 
machen.  Aber  hinter  den  Holländern  bleibt  er  doch 
weit  zurück.  Das  Kind  erhält  eine  kreidigweisse 
leichenhafte  Farbe,  die  Konturen  bleiben  hart  und  es 
fehlt  das  Helldunkel.  Einen  überzeugenden  Eindruck 
machen  diese  Bilder  nicht. 

Bei  vielen  Malern  in  Deutschland  und  den  Nieder¬ 
landen  bemerken  wir  also  zu  gleicher  Zeit  in  den 


Barthel  Bruyn  d.  Ä.  Heilige  Naeht.  Berlin,  Sammlung  R.  v.  Kaufmann 


(Nr.  68)  um  das  Jahr  1515  datiert.  Aber  hier  sind 
die  Lichteffekte  viel  mehr  äusserlicher  Natur,  es  fehlt 
an  dem  durchgeführten  Studium,  nur  eine  gewisse  in 
die  Augen  fallende  Wirkung  ist  durch  hellere  Flecken 
im  Dunkel  zuwege  gebracht.  Auch  Altdorfer  sucht 
ähnliche  Effekte,  ein  kleines  Wiener  Bild  mit  der 
Geburt  Christi  zeigt  das  Bestreben,  phantastische  Licht- 
und  Farbenwirkungeh  in  der  Landschaft  hervorzurufen. 
Die  grosse  Himmelsglorie  ist  es  hier,  die  ihre  Strahlen 
auf  Maria  und  das  Kind  wirft,  das  Licht  Josef’s  spielt 
nur  eine  Nebenrolle,  und  das  Kind  selbst  bildet  keine 
Lichtquelle.  Eine  märchenhafte  Zauberstimmung 
herrscht,  aber  kein  umhütetes  Strahlenkind  wie  auf 
den  niederländischen  Bildern.  Diesen  nähert  sich 
unter  den  Deutschen  in  seinem  Wollen  am  meisten 
Hans  Baidung  Grien.  Sein  Freiburger  Altar  1511 


ersten  Jahrzehnten  des  16.  Jahrhunders  bei  Gelegen¬ 
heit  der  Darstellung  der  Geburt  Christi  die  Versuche, 
eine  künstliche  Lichtquelle  und  ihre  Wirkung  wieder¬ 
zugeben,  nirgends  aber  sehen  wir  die  Aufgabe  so 
wahrheitsgetreu  und  malerisch  gelöst  wie  in  der  Haar- 
lemer  Gruppe,  denn  nirgends  war  man  schon  in  jener 
Zeit  für  die  Beobachtung  des  Lichtes  so  begabt  wie 
im  Lande  Rembrandt’s. 

Es  war  dies  ein  Beispiel  für  die  Wichtigkeit  man¬ 
cher  Bilder  der  Kaufmann’schen  Sammlung  für  kunst¬ 
historische  Fragen.  Von  einzelnen  nach  dieser  Rich¬ 
tung  hin  interessanten  Stücken  erwähne  ich  nur  eine 
trauernde  Magdalena  vom  Meister  von  Flemalle,  eine 
Darbringung  im  Tempel  des  niederländischen  Meisters 
des  hl.  Ägidius  mit  italienischer  Renaissance-Archi¬ 
tektur  im  Hintergründe,  eine  Wiederholung  des  be- 


2.;,  2 


GEMÄLDE  DES  XIV.  BIS  XVI.  JAHRHUNDERTS 


.('HnJen  Mabuse’schen  Triptychons  in  Palermo  von 
■  er  ‘  land  des  Waagen’schen  Mostaert,  ein  Bild  aus 
der  Frühzeit  Gerard  David’s,  ein  offenbar  unter  dem 
Eidfluss  Lionardo’s  stehendes  Abendmahl  des  Herri 
-let  de  Bles,  seltene  französische  Meister  des  i  5.  Jahr¬ 
hunderts,  deutsch-venezianische  Mischbilder  wie  die 
Madonna  von  Jörg  Breu  1521,  ferner  die  früher  ein¬ 
mal  als  Bellini-Dürer,  im  Katalog  als  oberitalienisch 
bezeichnete  Madonna  von  1523,  oder  die  nach  Gior- 
gione  oder  Tizian  kopierte  Figur  eines  Ritters  von 
Georg  Pencz.  Die  Reihe  wäre  nicht  schwer  zu  ver¬ 
längern.  Nicht  minder  aber  wird  dem  einfachen 
Genuss  ohne  historische  Reflexion  in  der  Sammlung 
eine  grosse  Fülle  geboten.  Ein  männliches  Porträt 
Rogers  van  der  Weyden,  eine  kleine  späte  Pieta  Gerard 
David’s,  ein  Triptychon  von  Patinir  mit  reicher  Land¬ 


schaft,  zwei  kleine  Heilige  in  der  Art  Stephan  Lochner’s, 
eine  Madonna  des  älteren  Holbein,  die  bekannten 
kleinen  buntfarbigen  vier  Tafeln  eines  oberdeutschen 
Meisters,  die  von  einigen  dem  Matthias  Grünewald, 
von  andern  dem  Lukas  Cranach,  vom  Katalog  der 
Augsburger  Schule  zugeschrieben  werden,  ein  hervor¬ 
ragend  gutes  Porträt  von  Cranach,  eine  kleine  Ma¬ 
donna  mit  zwei  weiblichen  Heiligen  von  einem  Ferra- 
resen  um  1  500,  eine  venetianische  Predella  vom  Ende 
des  1 5.  Jahrhunderts.  Bekannte  Namen  wie  Memling, 
Engelbrechtsen,  Lukas  van  Leyden,  Hans  von  Kulm¬ 
bach,  Schiavone,  Basaiti,  Tintoretto  u.  s.  w.  führt  der 
Katalog  mit  Recht.  Giebt  auch  die  Publikation  die 
wichtigsten  Sachen  in  sehr  guter  Reproduktion  wieder, 
so  wird  dem  Besucher  der  Sammlung  doch  auch 
unter  dem  übrigen  noch  manche  Überraschung  zuteil. 

ADOLPH  GOLDSCHMIDT. 


Lukas  Cranach.  Heilige  Nacht.  Berlin,  Sammlung  R.  v.  Kaufmann 


M.  Colomhe,  Grabmal  Franz'  II.  von  Bretagne  in  der  Kathedrale  zu  Nantes 


EIN  NEUES  BUCH  ÜBER  MICHEL  COLOMBE 


Kein  Land  ausser  Italien  ist  so  reich  an  plasti¬ 
schen  Denkmälern  älterer  Zeit  wie  Frankreich, 
trotz  den  systematischen  Zerstörungen,  die  sie 
hier  in  den  Religionskriegen  und  während  der  grossen 
Revolution  zu  erdulden  hatten.  Zum  Teil  verdankt 
Frankreich  dies  einem  einzelnen  Manne,  dem  Alexandre 
Lenoir,  der  während  der  Revolution  eine  ganze  Reihe 
hervorragender  Denkmäler  oder  Bruchstücke  derselben 
zu  retten  wusste,  aus  denen  er  unter  Napoleon  und 
in  dessen  Aufträge  das  grossartige  Musee  frangais 
bildete,  ein  nationales  Skulpturenmuseum  wie  die 
Welt  kein  zweites  besitzt  oder  je  besessen  hat.  Diese 
einzige  Sammlung  ist,  schon  als  sie  noch  nicht  ganz 
fertig  aufgestellt  war,  dem  politischen  Unverstand 
zum  Opfer  gefallen.  Die  Bourbonen  sahen  eine  Er¬ 
innerung  an  Napoleon  darin  und  lösten  das  Museum 
gleich  in  den  ersten  Jahren  nach  der  Restauration 
wieder  auf;  Teile  der  Sammlung  kamen  in  das 
Louvre  und  nach  St.  Denis,  andere  wurden  als  De¬ 
koration  im  Hofe  der  Akademie  eingemauert,  wo  sie 
meist  stark  beschädigt  wurden  oder  verkamen,  noch 
andere  verschwanden  oder  gingen  zu  Grunde.  Wer 
interessierte  sich  auch  damals  für  die  nationale  Kunst! 
Erst  die  Zeit  der  Romantik  brachte  mit  der  Be¬ 
geisterung  für  die  gotische  Baukunst  auch  wieder 
das  Interesse  an  der  heimischen  Plastik.  Mit  den 
dreissiger  Jahren  begann  die  Forschung  nach  der 
Geschichte  der  Bauwerke  und  Monumente.  Nament¬ 
lich  in  den  Provinzen  war  man  unermüdlich  in  der 
Durchsuchung  der  Archive;  der  rastlosen  Arbeit  von 


Jahrzehnten  gelang  es,  eine  Fülle  von  Dokumenten 
über  die  Zeit  der  Entstehung  und  teilweise  auch 
über  die  Künstler  der  französischen  Monumente  ans 
Tageslicht  zu  bringen.  Aber  eine  neue  Richtung  in 
der  Kunst  und  Kunstanschauung  unterbrach  diese 
Arbeiten  und  verhinderte  namentlich  ihre  gründliche 
Verwertung  für  die  Geschichte  der  französischen  Kunst: 
das  erwachende  Interesse  an  der  Kunst  der  Renaissance 
liess  auch  in  Frankreich  die  italienische  Kunst  in  den 
Vordergrund  treten.  Seit  den  sechziger  Jahren  war 
das  Streben  der  Sammler  vor  allem  auf  italienische 
Plastik  der  Renaissance  gerichtet,  und  die  gleiche 
Richtung  verfolgte  die  Forschung  in  Frankreich.  Eugene 
Piot,  der  als  Sammler,  Händler  und  Kritiker  gleich 
anregend  wirkte,  folgte  eine  Reihe  jüngerer  Forscher, 
an  der  Spitze  Louis  Courajod  und  Eugene  Müntz, 
deren  Arbeiten  für  die  kritische  Monumentenkunde 
und  die  wissenschaftliche  Forschung  in  den  Archiven 
epochemachend  wurden.  Durch  Courajod  selbst  ent¬ 
stand  gegen  diese  italienische  Richtung  der  französi¬ 
schen  Kunstforschung  vor  etwa  fünfzehn  Jahren  eine 
nationale  Gegenströmung.  An  dem  Studium  der  ihm 
unterstellten  Monumente  der  französischen  Plastik  im 
Louvre,  deren  Geschichte  er  mit  der  ihm  eigenen 
Gründlichkeit  und  feinem  Scharfsinn  verfolgte,  ge¬ 
wann  er  immer  lebhafteres  Interesse  für  die  nationale 
Plastik.  Indem  er  dieser  auf  zahlreichen  gründlichen 
Studienreisen  durch  ganz  Frankreich  nachging,  kam 
er  zu  der  Überzeugung,  dass  die  Renaissance  in 
Frankreich  nicht  um  die  Wende  des  15.  zum  16.  Jahr- 


244 


EIN  NEUES  BUCH  ÜBER  MICHEL  COLOMBE 


Schule  M.  Colombe’s,  Madonna  im  Schloss  de  la  Carte 

hundert,  also  nicht  in  der  Zeit  zu  suchen  sei,  in  der 
die  italienische  Kunst  übermässig  auf  die  französische 
einzuwirken  begann,  sondern  schon  im  14.  und  An¬ 
fang  des  1  5.  Jahrhunderts,  wo  sie  eine  ganz  autochthone, 
nationale  war.  ln  zahlreichen  kleineren  und  grösseren 
Aufsätzen  trat  er  aufs  lebhafteste  für  diese  seine 
Meinung  ein,  und  in  seinen  Vorträgen  an  der  Ecole 
du  Louvre  übertrug  er  auf  eine  Reihe  begabter  Schüler 
seine  eigentümlich  fesselnde  Begeisterung,  die  seinem 
Wesen  verbunden  mit  der  Reinheit  seines  Charakters 
und  den  melancholischen  Zug  über  dem  herben 
Widerspruch  zwischen  seinen  hohen  Ideen  und  der 
Brutalität  des  Lebens  eine  so  ausserordentliche  An¬ 
ziehung  verlieh.  Die  Begründung  des  grossen  Ab¬ 
gussmuseums  im  Trocadero,  zu  der  Courajod  nicht  am 
wenigsten  mit  beitrug,  hat  diese  Richtung  des  Kunst¬ 
studiums  in  Frankreich  noch  wesentlich  verstärkt. 


Courajod’s  Schüler  haben,  nach  dem  allzufrühen  Hin¬ 
gang  ihres  Meisters  und  Freundes,  seine  Forschungen 
mit  einer  Gewissenhaftigkeit  und  einem  Eifer,  mit 
einem  Ernst  der  Kritik  fortgesetzt,  durch  den  sie 
ihrem  Lehrer  das  schönste  Monument  gesetzt  haben. 
Stand  früher  das  12.  und  13.  Jahrhundert  im  Vor¬ 
dergründe  des  Studiums  der  französischen  Plastik, 
so  ist  jetzt  das  15.  und  der  Anfang  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  die  Zeit,  auf  die  sich  das  Hauptinteresse 
richtet.  Nach  zahlreichen  kleineren  Aufsätzen  in 
französischen  Zeitschriften  folgen  jetzt  rasch  umfang¬ 
reiche  Arbeiten,  die  in  systematischer  Weise  einzelne 
Provinzen  oder  bestimmte  Zeitabschnitte  dieser  Kunst 
behandeln.  Vor  uns  liegt  die  neueste  Publikation 
dieser  Art,  Paul  Vitry’s  »Michel  Colombe  et  la  sculpture 
frangaise  de  son  temps  y  ein  stattlicher  Band  von 
532  Seiten  mit  trefflichen  Lichtdrucken  und  Text¬ 
abbildungen.  (Paris,  Libr.  centrale  des  beaux  arts, 
E.  Levy.) 

Wie  seine  gleichgesinnten  Mitarbeiter  bei  diesen 
Studien,  Andre  Michel,  Marquet  de  Vasselot,  R.  Koechlin, 
Charles  und  Louis  de  Grandmaison,  De  Granges  de 
Surgeres,  G.  Durand  u.  a.  m.,  so  sucht  Vitry  durch 
eine  sorgfältige  Kritik  der  zahlreichen  von  ihm  selbst 
geprüften  und  vielfach  entdeckten  Monumente,  die  in 
das  Bereich  seines  Themas  gehören,  die  Basis  zu 
einer  Beurteilung  seines  Künstlers  zu  gewinnen.  Da 
er  nur  die  urkundlich  ganz  gesicherten  Werke  zu¬ 
lässt,  die  sich  bei  Michel  Colombe,  ausser  der  kleinen 
Medaille  Ludwig’s  XL,  auf  das  grosse  Georgsrelief 
von  Chateau  de  Gaillon  im  Louvre  und  das  Grab¬ 
mal  Franz’  11.  von  Bretagne  in  der  Kathedrale  zu 
Nantes,  beides  Arbeiten  aus  dem  hohen  Alter  des 
Künstlers,  beschränken,  so  zieht  er  die  Arbeiten  der 
Werkstatt,  speziell  seiner  unter  ihm  arbeitenden  Ver¬ 
wandten  und  Nachfolger  mit  in  das  Bereich  seiner 
Betrachtung  und  sucht  vor  allem  in  der  Kunst  der 
Loire  in  der  zweiten  Hälfte  des  1 5.  Jahrhunderts  die 
Vorläufer  Colombe’s  und  den  Charakter  seiner  eigenen 
Kunst  in  seiner  früheren  Zeit  festzustellen.  Dabei  ist 
ein  Hauptaugenmerk  darauf  gerichtet,  die  nationale 
Eigenartigkeit  dieser  Kunst  der  Loire  vor  und  zur 
Zeit  Michel  Colombe’s  und  vor  allem  von  diesem 
selbst  überzeugend  nachzuweisen.  Drei  ausführliche 
Kapitel  sind  der  burgundischen,  der  italienischen  und 
der  flandrischen  Plastik  in  Frankreich  gewidmet,  um 
den  Leser  durch  eine  kritische  Übersicht  aller  irgend 
wichtigen  Monumente  dieser  Art,  namentlich  solcher 
von  italienischen  Künstlern,  zu  überzeugen,  dass  die 
Loire- Kunst  zur  Zeit  des  M.  Colombe  von  solchen 
Einflüssen  frei  war.  Diese  hatte  vielmehr  gleichzeitig 
eine  ganz  eigenartige  echt  nationale  Entwickelung, 
von  deren  Thätigkeit  vor  dem  grossen  Meister  in  so 
ausgezeichneten  Arbeiten  wie  in  dem  Portalschmuck 
der  Kathedrale  von  Nantes,  in  den  Statuen  des 
Schlosses  von  Chateaux,  in  dem  heiligen  Grabe  zu 
Solesmes  und  in  anderen  Bildwerken  noch  die  Über¬ 
reste  erhalten  sind. 

Dem  Verfasser  bei  diesen  Ausführungen  ins  Ein¬ 
zelne  zu  folgen,  fehlt  es  uns  an  Platz  und  vor  allem 
an  Beruf;  wir  verweisen  dafür  auf  Vitry’s  Ausfüh- 


EIN  NEUES  BUCH  UBER  MICHEL  COLOMBE 


245 


rungen,  von  dessen  klarer  und  fesselnder  Darstellung 
jeder  sich  gern  leiten  lassen  wird.  Zum  richtigeren  Ver¬ 
ständnisse  der  französischen  Plastik  der  Renaissance¬ 
zeit  wird  das  Buch  gerade  bei  uns  in  Deutschland  von 
besonderem  Wert  sein.  Eür  uns  hat  ein  Werk  wie 
dieses  und  die  ganze  umfangreiche  französische  Littera- 
tur  über  das  gleiche  Thema  zugleich  noch  die  eigene 
Bedeutung,  dass  wir  uns  daran  klar  werden,  wie 
wenig  für  die  Geschichte  unserer  eigenen  nationalen 
Plastik  bisher  geschehen  ist.  Mit  der  Inventarisierung 
der  Kunstdenkmäler  ist  eine  wichtige  Vorarbeit  be¬ 
gonnen;  aber  auch  diese  ist  leider  gerade  da,  wo 
sie  für  unsere  Plastik  am  wichtigsten  ist,  in  Bayern  und 
Württemberg,  bedenklich  ins  Stocken  geraten,  und  in 
Deutsch -Österreich  ist  sie  noch  gar  nicht  begonnen. 
Eine  wissenschaftliche  Bearbeitung  des  auch  bei  uns 
so  reichhaltigen  Materials  ist  aber  bisher  über  ver¬ 
einzelte  Aufsätze  und  Abhandlungen  nicht  hinaus¬ 
gekommen;  nicht  eine  unserer  deutschen  Bildhauer¬ 
schulen,  nicht  einer  der  grossen  Meister  hat  eine  mehr 
als  populäre  oder  kompilatorische  Behandlung  erfahren, 
und  die  Veröffentlichung  ihrer  Denkmäler  ist  eine 
unvollständige  oder  ganz  ungenügende.  Unser  Blick 
ist  noch  immer  hypnotisch  von  Italien,  von  Rom  an¬ 
gezogen;  für  eine  Prachtpublikation  der  Schätze  der 
Sixtinischen  Kapelle,  deren  Veröffentlichung  eine 
Ehrenpflicht  des  Vatikans  gewesen  wäre,  stellte  der 
deutsche  Reichstag  einstimmig  ungemessene  Gelder  zur 
Verfügung,  dass  aber  die  Werke  eines  Albrecht  Dürer, 
eines  Hans  Holbein,  eines  Peter  Vischer  noch  heute 
nur  vereinzelt  und  ungenügend  veröffentlicht  worden 
sind,  ist  dabei,  scheint’s,  keinem  der  deutschen  Volks¬ 
vertreter  eingefallen! 

Auf  diese  nationale  Bedeutung  der  modernsten 
französischen  Kunstforschung  kann,  wie  ich  glaube, 
bei  uns  gar  nicht  genug  hingewiesen  werden,  damit 
wir  uns  ein  Vorbild  daran  nehmen.  Unverständlich 
muss  uns  aber  die  geradezu  fanatische  Erbitterung 
bleiben,  mit  der  diese  jungen,  trefflichen  Forscher 
ihre  nationale  Richtung  gegen  die  italienischen  Stu¬ 
dien  älterer  Forscher,  namentlich  gegen  den  hochver¬ 
dienten  Eugene  Müntz,  durchkämpfen,  dessen  wissen¬ 
schaftliches  Streben  auch  diese  neue  Schule,  wenn 
auch  unbewusst,  in  sich  aufgenommen  hat,  und  auf 
der  sie  fusst.  Gewiss  hat  Vitry  und  haben  seine 
Mitstreiter  Recht,  wenn  sie  die  Blüte  der  französischen 
Plastik  während  der  Renaissance  in  die  Zeit  vor  dem 
Eindringen  des  italienischen  Einflusses  setzen,  und 
wenn  sie  diesen  Einfluss  nur  als  ungünstig  für  die 
Entwicklung  der  französischen  Skulptur  kennzeichnen. 
Bei  uns  in  Deutschland  war  ähnliches  der  Fall:  die 
erste  Berührung  weckte  die  latenten  Kräfte  und  brachte 
die  höchste  Blüte  der  deutschen  Kunst;  das  Über¬ 
handnehmen  des  italienischen  Einflusses  führte  in 
Deutschland,  wenn  auch  durch  andere  Umstände  mit 
veranlasst,  in  kürzester  Zeit  zum  Verfall,  ja  zur  Ver¬ 
nichtung  der  hohen  Kunst.  Aber  wir  haben  deshalb 
noch  keinen  Grund,  mit  dem  Gefühl  von  Hass  über 
dieses  Eindringen  italienischer  Kunst  zu  klagen,  denn 
aus  sich  heraus  hätte  sich  weder  in  Deutschland  noch 
auch  in  Frankreich  die  Kunst  und  ganz  besonders 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  10. 


die  Plastik  in  günstiger  Weise  weiter  entwickelt;  dazu 
fehlte  das  Element,  das  in  Italien  das  Vorbild  der 
Antike  zur  Renaissance  hinzugebracht  hatte.  Ebenso¬ 
wenig  scheint  es  mir  berechtigt,  wenn  Vitry  und  seine 
Gesinnungsgenossen  in  gerechter  Bewunderung  der 
nationalen  gotischen  Kunst  in  Frankreich  auch  die 
Kunst  eines  M.  Colombe  noch  als  gotisch  bezeichnen 
wollen;  sie  ist  volle  Renaissancekunst,  da  sie  alle  Ele¬ 
mente  derselben  hat  ausser  dem  direkten  Einfluss  der 
Antike,  der  keineswegs  der  wichtigste  für  den  Be¬ 
griff  der  Renaissancekunst  ist.  Es  scheint  mir  dies 
ebenso  verfehlt  wie  die  entgegengesetzte  Ansicht 
Courajod’s,  die  Renaissance  im  Norden  schon  mit 
dem  14.  Jahrhundert  beginnen  zu  wollen. 

Zum  Schluss  noch  ein  paar  Bemerkungen  in  Be¬ 
zug  auf  eines  der  einleitenden  Kapitel,  über  das  Ein¬ 
dringen  der  italienischen  Kunst,  worin  Vitry  eine 
treffliche  Übersicht  über  die  italienischen  Renaissance¬ 
bildwerke  in  Frankreich  giebt.  Vitry  giebt  die  Nach¬ 
bildung  eines  Stiches  von  Ducerceau  nach  einer  Fon¬ 
täne  im  Hof  von  Schloss  Gaillon,  die  er  für  italienisch 
hält.  Dann  müsste  sie  darin  aber  in  ganz  freier, 
echt  nordischer  Umgestaltung  gegeben  sein;  der  ganze 
Aufsatz  mit  seinen  puppenhaften  Figürchen  hat  mit 
der  italienischen  Kunst  nichts  zu  thun.  Die  kleine, 
aus  Gaillon  stammende  Fontäne  im  Louvre  halte  ich 
für  wesentlich  früher  als  Ende  des  15.  Jahrhunderts; 
sie  ist  ganz  verwandt  mit  der  grossen  Fontäne  aus 
der  Villa  di  Castello 
im  Treppenhause  des 
Palazzo  Pitti,  welche 
man  jetzt  Ant.  Ros- 
sellino  oder  Francesco 
di  Simone,  ganz  irr¬ 
tümlich  auch  noch 
dem  Donatello  zu¬ 
schreibt.  Für  die 
Thonbüste  KarLsVlII. 
im  Bargello  schlägt 
Vitry  den  Guido  Maz- 
zoni  als  Verfertiger 
vor;  bei  den  Bezie¬ 
hungen  dieses  Künst¬ 
lers  zum  französi¬ 
schen  König  und 
bei  der  Vorliebe  des¬ 
selben  für  die  Arbeit 
in  Thon  ist  dies  je¬ 
denfalls  viel  wahr¬ 
scheinlicher  als  M. 

Reymond’s  Bestim¬ 
mung  auf  Antonio 
Pollajuolo,  dessen 
grosszügiger  Kunst¬ 
weise  der  nüchterne 
Naturalismus  dieser 
Büste  gerade  entgegen  - 
gesetzt  ist.  Aus  ganz 
andereiiGründen  wird 

Reymond’s  Zuschrei-  Der  hl.  Bonavcntiira 

billig  des  schönsten  Troycs,  NUwlaskirche 


32 


246 


EIN  NEUES  BUCH  ÜBER  MICHEL  COLOMBE 


italienischen  Grabmals  in  Erankreich,  des  erst  nach 
Pollajuolo’sTodebestelltenGrabesderKinderKarrsVlII. 
in  der  Kathedrale  zu  Tours,  von  Vitry  selbst  als  »legere- 
ment  aventuree  gekennzeichnet.  Dass  die  tüchtige 
Bronzebüste  von  Eerdinand  von  Arragon  im  Museum 
zu  Neapel  nicht  von  Mazzoni,  sondern  vielmehr  von 
Adriano  Eiorentino  herrührt,  der  Bronzegiesser  am 
Hofe  von  Neapel  war,  hat  C.  von  Fabriczy  als  wahr¬ 
scheinlich  nachgewiesen.  In  dem  Bestreben,  Reste 
der  langen  Thätigkeit  Mazzoni’s  in  Frankreich  iiach- 
zuweisen,  schreibt  ihm  Vitry  verschiedene  Arbeiten 
zu,  die  ihm  entschieden  fernstehen.  So  die  Marmor¬ 
medaillons  mit  römischen  Kaisern  aus  Gailion  im 


Louvre,  ebenda  die  Stifterfiguren  des  Philippe  de 
Commines  und  seiner  Frau,  deren  sehr  gehaltene, 
ernste  Kunstweise  doch  wohl  französisch  ist.  Das¬ 
selbe  scheint  mir  auch  der  Fall  bei  dem  schönen 
Marmorrelief  des  Todes  der  Maria  im  Louvre,  das 
trotz  seines  stark  italienisierenden  Charakters  nicht  ita¬ 
lienisch  sein  kann.  Beide  Stücke  hielt  noch  Courajod 
für  französisch.  Dem  Mazzoni  verwandt  erscheint 
dagegen  in  der  That  die  grosse  Gruppe  mit  dem 
Tode  der  Maria  in  Fecamp.  Ebenso  können  wir 
Vitry  nur  beistimmen,  wenn  er  das  Grabmal  des 
Guy  de  Blanchefort  in  Ferrieres  dem  Antoine  Juste 
abspricht  und  für  französisch  erklärt. 

lU.  BODE. 


Schule  M.  Colombe’s,  Vierge  d'Ecoiien  im  Louvre 


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Des  Reiches  Schwert  Erinnerung  an  Kaiser  Wilhelm 


DIE  KAISER  WILHELM-BRÜCKE  IN  BRAUNSCHWEIG 


Den  vornehmsten  künstlerischen  Ruhmestitel  der 
alten  Weifenstadt  Braimschweig  bildet  der  wohl¬ 
erhaltene  bauliche  Charakter  des  ausgehenden 
Mittelalters  und  der  Renaissance,  den  die  Altstadt  trägt. 
Umschlossen  wird  dieser  Kern  der  Stadt,  dem  auch 
plastische  Denkmäler  von  hohem  Wert  nicht  fehlen, 
durch  einen  Promenadenring  von  einer  Schönheit, 
wie  ihn  wenige  Städte  Deutschlands  besitzen.  Jenseits 
dieses  grünen  Ringes  ist  die  Kunst  in  Architektur 
und  Plastik  noch  kaum  zu  Worte  gekommen.  Jetzt 
rüstet  sich  aber  die  Stadt,  am  kommenden  Sedantage 
den  reichen  monumentalen  Schmuck  einer  Brücke 
einzuweihen,  die  hinter  dem  Hoftheater  über  die  grün¬ 
umbuschte  Oker  zu  neuen,  eleganten  Stadtteilen  führt, 
lind  die  auch  in  künstlerischer  Beziehung  zwischen 
alter  und  neuer  Stadt  eine  Brücke  schlagen  wird. 
Die  Bekrönung  ihrer  acht  Postamente  wird  den 
Namen  erst  ganz  rechtfertigen,  den  sie  seit  ihrer  Er¬ 
bauung  führt,  den  der  Kaiser  Wilhelmbrücke.  Die 
städtische  Verwaltung  Braunschweigs  hat  seiner  Zeit  von 
einem  Reiterdenkmal  für  den  Begründer  des  Reiches, 
wie  es  in  zahllosen  aber  einander  recht  ähnlichen  und 
schliesslich  eintönig  wirkendenVariationen  unsereGross- 
städte  ziert,  abgesehen:  dagegen  sollte  in  dem  Figuren¬ 
schmuck  einer  Brücke  die  Erinnerung  an  die  ge¬ 
waltige  Periode  des  ersten  grossen  Kaisers  und  der 
Reichsgründung  fernen  Geschlechtern  überliefert  wer¬ 
den.  Die  Aufgabe  ist  durch  einen  Sohn  der  Stadt,  den 
Bildhauer  Ernst  /Wf/Z/er-Charlottenburg,  trefflich  gelöst. 
Drei  weibliche  Gestalten  doppelter  Lebensgrösse  ver¬ 
sinnbildlichen  als  Trägerinnen  der  vornehmsten  Reichs¬ 
insignien,  von  Schwert,  Krone  und  Scepter  mit 
Reichsapfel,  die  unerschütterliche  Kraft,  die  Hoheit 
und  Würde  des  neuen  Reiches,  während  eine  vierte, 
die  Erinnerung  an  Wilhelm  I.«  die  Chronik  der 
grossen  Zeit  liest,  die  unter  dem  Zeichen  des  grossen 
ersten  Kaisers  stand.  Vier  Brannschweiger  Löwen 
halten  über  eroberten  Fahnen  an  den  Eckpostamenten 
Wacht,  auch  sie  an  die  Einigkeit  und  Wehrkraft  des 


Reiches  gemahnend.  Wir  führen  unseren  Lesern 
drei  der  weiblichen  Figuren  vor,  die  einen  Begriff 
von  der  Grösse  und  Geschlossenheit  des  Müller’schen 
Stiles  geben. 

Dieser  Stil  ist  die  Frucht  jahrzehntelanger  ernster 
künstlerischer  Selbsterziehung,  die  sich  gewöhnt  hat, 
wenig  von  äusseren  Einflüssen  und  Anregungen  zu 
erwarten,  sondern  die  Keime  schöpferischer  Thätigkeit 
in  sich  selbst  zu  suchen  und  zu  finden.  Ursprünglich 
Kaufmann,  musste  Ernst  Müller  als  Dreissigjähriger 
eines  Gehörleidens  halber  seinen  Beruf  aufgeben. 
Aus  einer  Liebhaberei,  an  deren  Kultivierung  ihn 
vorher  der  Kampf  ums  Dasein  abgehalten  hatte,  ward 
unter  Ringen  und  Streben  ein  neuer  Beruf,  der  des 
Bildhauers.  Auf  rein  technische  Studien  im  Kunst¬ 
gewerbemuseum,  auf  anatomische  Studien  bei  Virchow 
folgten  Lehrzeiten  bei  zwei  Meistern:  sie  liessen  in 
dem  zum  Schüler  gewordenen  Mann  die  Überzeugung 
reif  werden,  dass  ihm  niemand  helfen  könne,  dass 
er  die  Verantwortung  für  seine  Entwickelung  und 
sein  Schaffen  selbst  tragen  müsse.  Kunstwerke  aller 
Zeiten  von  der  Antike  an,  die  ihm  namentlich  Studien¬ 
reisen  nach  Italien  nahegebracht  haben,  bis  zu  den 
Gipfelwerken  der  heutigen  Zeit,  die  Deutschland, 
Wien  und  Paris  bewahren,  namentlich  aber  die  Natur, 
die  unablässige  Arbeit  nach  dem  Modell  sind  seitdem 
seine  Lehrmeister  gewesen.  Eine  grosse  Reihe  von 
Monumental-  und  Grabdenkmälern,  Genrekomposi¬ 
tionen,  Porträtbüsten  und  -reliefs,  die  meist  in 
Privatbesitz  übergegangen  sind,  sprechen  von  Viel¬ 
seitigkeit  des  Könnens,  das  sich  aber  nie  zersplittert, 
sondern  auch  für  die  kleinste  Aufgabe  die  grösste 
Kraft  einsetzt  und  so  lange  mit  dem  Stoff  ringt,  bis 
der  zur  Klarheit  durchgedrungene  Gedanke  ihn  be¬ 
herrscht.  Ernst  Müller  gehört  seinem  Entwickelungs¬ 
gange  und  seiner  künstlerischen  Überzeugung  nach 
keiner  Schule,  keiner  Clique,  keiner  Gruppe  an:  er  wird, 
dessen  sind  wir  überzeugt,  auch  weiter  allein  seinen 
Weg  finden,  und  dieser  Weg  wird  aufwärts  führen. 

G.  V.  GRAEVENITZ. 


Von  der  Kaiser  Wilhelm-Briicke  in  Broiinschweig.  Des  Reiches  Krone 
Bildhauer  Ernst  Müller  in  Charlottenbiirg 


DIE  KARLSRUHER  JUBILÄUMS  AUSSTELLUNG 

Von  Ernst  Rolaczek-Strassburg 


Trotz  ihrer  ziemlich  allen  Akademie  und  Kimst- 
gewerbeschule  besitzt  die  badische  Residenz  doch 
erst  seit  wenigen  Jahren  ein  eigenes  triebkräftig  sich 
entfaltendes  Kunstleben.  Der  erste  Eindruck  der  vortreff¬ 
lich  gehaltenen  Stadt  mit  ihren  breiten  regelmässigen 
Strassen,  den  weiten  Park-  und  Qartenflächen  war 
bis  vor  kurzem  der  eines  gewissen  Übermasses  an 
Behagen  und  Zufriedenheit;  eine  Mauer  schien  aufge¬ 
richtet,  die  Karlsruhe  von  den  unangenehmen  Kämpfen 
da  draussen  schied.  Gut,  dass  endlich  Bresche  ge¬ 
schossen  ward.  Heute  dürfen  wir  uns  der  unbe- 
zweifelbaren  Thatsache  freuen,  dass  eigenes  künst¬ 
lerisches  Leben  —  und  es  scheint  kein  Treibhausleben 
zu  sein  hier  wach  geworden  ist.  Auch  äusserlich 
prägt  sich  das  aus.  Die  seltsame,  zu  gar  wunder¬ 
lichen  Häusergrundrissen  nötigende  sternförmige  An¬ 
lage  der  Stadt  um  das  Schloss  als  Mittelpunkt  ist 
zwar,  von  einigen  Freiheiten  an  der  Peripherie  abge¬ 
sehen,  in  Geltung  geblieben,  aber  an  vielen  Stellen 
hat  sich  doch  eine  vorteilhaft  von  der  Art  der  vor¬ 
letzten  Jahrzehnte  abweichende  Bauthätigkeit  entfalten 
dürfen,  und  wir  wollen  uns  auch  nicht  grämen,  wenn 
der  graugelbe  Gesamtton  des  Stadtbildes  mit  seinen 
lang  dahinlaufenden  Geraden  zuweilen  von  den  ver¬ 
wegenen  Farben  und  Formen  modernster  Architektur 
durchbrochen  wird.  Freilich,  ein  lustiges  Kapitel 
Hesse  sich  darüber  schreiben,  wie  hier  stellenweise 
Romanisches,  Spätgotisches  und  Zopfiges,  Festung, 
Bauernhaus  und  Ruine  zu  einem  selbstverständlich 
funkelnagelneuen  Stil  sich  vereinigt  haben.  Doch 
davon  vielleicht  ein  anderes  Mal;  heute  nur  ein  paar 
Worte  über  die  Kunstausstellung,  die  Staat  und  Stadt 
zum  Jubiläum  ihres  Grossherzogs  veranstaltet  haben. 

Friedrich  Ratzel  hat  ihr  einen  besonderen  Bau 
errichtet,  in  augenblendendem  Weiss  verputzt  und 
mit  vergoldeten  Flachornamenten  und  Sphinxen  — 
was  mögen  sie  wohl  hier  bedeuten?  —  verziert.  Das 
Talent  des  Architekten,  das  sich  am  Kunstvereins¬ 
gebäude  schon  bewährt  hatte,  zeigt  sich,  stärker  noch 
als  am  Äusseren,  im  Inneren  des  Baues,  in  seiner 
Raumverteilung  und  Dekoration.  Nirgends  eine  Spur 
von  Materialheuchelei,  ln  der  Hauptachse  folgen 
einander  nach  dem  Vorhof,  der  einige  Skulpturen  in 
freier  Aufstellung  enthält,  das  Vestibül,  der  Kuppel¬ 
raum  —  dieser  dank  seiner  Einfachheit  von  über¬ 
raschend  weiter  Wirkung  — ,  der  grosse  deutsche  Saal 
und  am  Ende  der  französische  Hauptraum.  Links 
und  rechts  von  dieser  Hauptreihe  Nebenräume  von 


angenehmster  Abwechslung  in  den  Maassen,  in  der 
Höhenlage  des  Bodens,  in  der  Deckengestaltung. 
Ebenso  in  der  Dekoration,  die  bescheiden  nur  den 
Kunstwerken  dienen,  nicht  sich  selbst  zur  Schau 
stellen  will.  So  aus  grossen  in  kleine,  aus  niederen 
in  hohe  Räume,  über  Stufen  aufwärts  und  wieder  ab¬ 
wärts  geleitet,  wird  der  Beschauer  nicht  so  leicht  er¬ 
müdet,  wie  sonst  in  Ausstellungen,  wo  der  Weg 
meist  nur  aus  einem  Magazin  ins  andere  führt,  ln 
der  Anordnung  der  Kunstwerke  hat  ein  sicherer  Ge¬ 
schmack  gewaltet.  Die  Skulpturen  sind  zwischen  den 
Bildern  verteilt,  und  überall  ist  versucht,  der  Absicht 
des  Künstlers  gerecht  zu  werden.  Es  giebt  keine 
Totenkammern. 

Wer  will,  möge  nun  mit  Dill,  dem  Präsidenten, 
und  seinen  Helfern  rechten,  dass  sie  weder  eine 
historische  badische,  noch  eine  deutsche,  noch  eine 
internationale  Ausstellung  jeden  dieser  Begriffe  in 
idealer  Reinheit  genommen  zu  stände  gebracht 
haben.  Einiges  Schwanken  ist  allerdings  nicht  zu 
verkennen.  Die  wenigen  Bilder  von  Feuerbach  mit 
ein  paar  alten  Sachen  von  Thoma,  Schönleber,  Karl 
Hoff  —  dies  die  schwachen  Ansätze  zu  einer  retro¬ 
spektiven  Ausstellung  —  erläutern  ja  gewiss  nicht 
die  Entwickelung  während  der  halbhundertjährigen 
Regierungszeit  des  Grossherzogs,  aber  auch  mit 
Schirmer  und  Lessing  hätte  man  höchstens  eine  Reihe, 
keine  Entwickelung  darstellen  können.  Immerhin 
verdanken  wir  diesen  paar  Stücken  doch  manche  lehr¬ 
reiche  Kontrastwirkung.  Es  wäre  auch  zu  viel,  wollte 
man  behaupten,  dass  die  Ausstellung  ein  vollständiges 
Bild  der  modernen  Kunst  giebt;  das  kann  eine  Aus¬ 
stellung  nicht,  in  der  —  von  Architektur  und  Kunst¬ 
handwerk  ganz  abgesehen  -  -  die  Worpsweder,  Geb¬ 
hardt,  Liebermann,  Ludwig  v.  Hofmann,  Slevogt  fehlen, 
in  der  von  auswärtigen  Staaten  Dänemark  gar  nicht, 
Spanien,  Holland,  Amerika  nur  ganz  unzureichend 
vertreten  sind.  Aber  das  Mögliche  ist  —  dank  der 
ausserordentlichen,  nach  allen  Seiten  hin  greifenden 
Thätigkeit  des  Komitees,  dank  der  kritischen  Strenge, 
mit  der  es  über  die  im  ^ Ländle«  besonders  kräftigen 
lokalpatriotischen  Ansprüche  mitleidlos  hinwegschritt, — 
erreicht:  Man  bekommt  eine  vollständige  Vorstellung 
von  der  Eigenart  und  der  Vielfältigkeit  der  gegen¬ 
wärtig  im  Lande  wirksamen  künstlerischen  Kräfte  und 
sieht  ausserdem  eine  vortreffliche  Auswahl  des  Besten, 
was  die  europäische  Kunst  in  den  letzten  Jahren  ge¬ 
schaffen  hat.  Die  durchschnittliche  Güte  ist  bei 


DIE  KARLSRUHER  JUBILÄUMS-AUSSTELLUNQ 


251 


weitem  grösser  als  auf  irgend  einer  anderen  Aus¬ 
stellung  des  vergangenen  Jahrzehnts.  Wir  in  der 
südwestdeutschen  Ecke  haben  alle  Ursache,  uns  des 
Werkes  zu  freuen. 

*  --k 

Sk 

Von  allen  am  stärksten  und  eindringlichsten  spricht 
Segantini  zu  uns.  Tiefe  Schwermut,  für  die  kein 
Hoffen  mehr  lebt,  lagert  über  den  drei  Riesenbildern, 
die  das  feierlichste  Triptychon  hätten  bilden  sollen, 
»Werden,  Sein,  Vergehen«.  Mit  gebeugten  Häuptern, 
erdrückt  von  der  Härte  ihres  Daseinskampfes,  von 
dem  Bewusstsein  ihrer  Kleinheit  ziehen  die  Menschen 
ihres  Weges.  Erste  Sonnenstrahlen  kämpfen  im 
»Werden«  mit  den  letzten  Schatten  der  Nacht.  Wunder¬ 
bar  klar  breitet  sich  im  »Sein«  die  tiefgrüne  Halde, 
und  in  stärkster  Körperlichkeit  lösen  sich  von  ihr 
und  voneinander  die  Eelsenzüge  des  Grundes.  Was 
muss  für  ein  Idealismus  in  diesem  Manne  gelebt 
haben,  der  über  eine  kleinlich  erscheinende  Arbeits¬ 
weise  (von  der  das  unvollendete  »Vergehen«  eine 
deutliche  Vorstellung  giebt)  hinweg  doch  den  Weg 
zu  einer  so  grossen,  wahrhaft  monumentalen  Eormen- 
sprache  fand!  Die  drei  grossen  Bilder  und  mit  ihnen 
ein  paar  kleinere  von  strahlender  Sonnigkeit,  die 
»Erucht  der  Liebe«  und  die  »Hirtin«  zeigen,  wie 
gross  die  von  ihm  auch  theoretisch  geforderte  Eein- 
heit  und  Reinheit  der  Sinne-  in  ihm  gewesen,  dank 
der  sein  Geist  mit  gleichmässig  anhaltender  Energie 
dem  flüchtigen  Eindruck  die  festeste  Eorm  zu  geben 
vermochte. 

Über  manches  andere,  dem  Leserkreise  dieser 
Zeitschrift  bereits  Bekannte  darf  mit  ein  paar  re¬ 
gistrierenden  Worten  hinweggegangen  werden.  In 
der  belgischen  Abteilung  ist  leider  viel  aus  der  Zeit, 
in  der  man  nicht  Bilder,  sondern  Anekdoten  und 
Kostüme  malte.  Wie  seltsam  muten  heute  —  nicht 
nur  durch  das  Gegenständliche,  sondern  auch  durch 
den  Mangel  an  malerischer  Haltung,  an  Zusammen¬ 
fassung  durch  Luft  und  Ton  —  die  Historien  von  Henri 
Leys,  die  Hunde-Anekdoten  von  Josef  Stevens  an! 
Und  gar  die  Zusammenstellungen  von  nicht  zusammen¬ 
gesehenen  Stoffmustern,  wie  sie  Henri  Brackeleer 
Schade,  dass  die  moderne  belgische  Kunst  diesen 
Antiquitäten  zwar  vortreffliche  Skulpturen,  aber  ver¬ 
hältnismässig  wenige  gute  Bilder  —  das  Beste  viel¬ 
leicht  der  sehr  charaktervolle  Blinde«  von  Laernians, 
ein  Kk nopff 'schtr  »Blauer  Elügel  von  grosser  male¬ 
rischer  und  zeichnerischer  Eeinheit,  aber  auch  von 
gewohnter  Unverständlichkeit,  endlich  der  »Pferde¬ 
kampf«  von  Delvin,  wo  mit  dem  farbigen  Stift  Wir¬ 
kungen  von  ungewöhnlicher  Tiefe  erreicht  sind, 
gegenüberzustellen  vermochte,  ln  der  englisch-ameri¬ 
kanischen  Abteilung  sind  das  Anziehendste  die  Por¬ 
träts.  John  Lavery  entzückt  ausser  durch  seine  »Stein¬ 
brücke«  —  eine  grosse  in  reichen  Reflexen  schimmernde 
Wasserfläche  mit  einem  Kahn  und  ein  paar  Brücken¬ 
bogen  —  durch  ein  paar  Bildnisse  wahrhaft  könig¬ 
licher  Frauen.  Grosse  Farbenflächen  sind  gegen¬ 
einander  gestellt,  und  die  Umrisse  haben  monumentale 
Einfachheit.  Es  sind  nicht  nur  Bildnisse,  sondern 


zugleich  auch  Bilder.  So  auch  Shannon  mit  seinem 
ungemein  vornehmen  »Mann  im  schwarzen  Mantel- 
und  dem  »Eine  Blüte  genannten  duftigen  Damen¬ 
bildnis.  Brown-Morison  giebt  unter  der  Bezeichnung 
»Ruhestunden«  einen  liegenden  weiblichen  Halbakt 
von  einer  sehr  gedämpften  Farbenharmonie,  William 
Chase  hat  ein  sehr  fein  zusammengestimmtes  Doppel¬ 
bildnis,  Maurice  Qreifjenhagen  seine  stark  und  selb¬ 
ständig  erfundene  »Verkündigung  ,  Neven  du  Mont 
ein  kleines  Damenporträt  gesandt,  ausgezeichnet  durch 
die  Lebendigkeit  der  Haltung  und  verblüffend  durch  die 
Keckheit,  mit  der  auf  ein  paar  knallrote  Blumen  der 
Hauptaccent  gelegt  ist.  Die  englische  Landschafts¬ 
malerei  ist  durch  gute,  aber  nichts  erheblich  Neues 
lehrende  Stücke  von  Orosvenor  Thomas,  Whitclaw 
Hamilton,  Priestman,  Paterson,  Muhrman,  Withers 
und  anderen  charakteristisch  vertreten. 

Auch  die  französische  Kunst  glänzt,  wie  voriges 
Jahr  in  Dresden,  durch  die  Bildnisse.  Allen  voran 
steht  an  Lebendigkeit  Besnard's  »Madame  Rejane«, 
prickelnd,  wie  Champagner  bester  Marke,  geistreich, 
höchst  lebendig  in  Bewegung  und  Ausdruck,  dazu, 
rein  koloristisch  betrachtet,  ein  wahres  Wunderwerk. 
Wie  matt  ist  daneben  Mae  Ewen’s  Schönheit  von 
1810  ,  wie  glatt  und  wie  posiert  selbst  Garrido’s 
vortrefflich  gemalte  »Pariserin«  und  Conrtois’  »Bild¬ 
nis  der  Frau  Kreisman«  trotz  grosser  Feinheit  in  Farbe 
und  Zeichnung.  Von  Caroliis-Diiran  nenne  ich  das 
sprechende  Bildnis  Albert  Wolff’s  und  seinen  kleinen 
in  köstlich  bramarbasierender  Pose  hingestellten  Fecht¬ 
meister  von  1873  .  Den  Wettkampf  mit  Besnard  ver¬ 
möchte  höchstens  J.  Blanche  und  der  sehr  französische 
Spanier  Gandara  aufzunehmen.  Ersterer  namentlich 
mit  seinem  Erwachen  ,  wo  er  nicht,  wie  Besnard, 
bloss  das  flüchtige  Vorüberrauschen  einer  Bühnen¬ 
gestalt,  sondern  mit  grosser  malerischer  Kraft  gegebenen 
Körperlichen  auch  das  Psychische  eines  Theaterkindes 
mit  seiner  Beobachtung  darstellt.  Gandara  hat, 
wie  manche  Engländer,  den  Reiz  des  Einfachen 
erfasst;  wie  sie  scheint  er  vor  allem  auf  bild- 
mässige  Gestaltung,  erst  in  zweiter  Linie  auf  Ähn¬ 
lichkeit  auszugehen.  Sein  Damenbildnis  in  ganzer 
Figur,  mit  wenigen  unter  stärkster  Benutzung 
des  braunen  Grundes  gegeneinander  gesetzten  Tönen 
ist  ein  gutes  Beispiel  für  seine  Art;  vielleicht  ist  aber 
der  Künstler,  um  der  Eleganz  der  Erscheinung  und 
um  der  Schaustellung  malerischer  Bravour  willen,  in 
der  Entkörperung  des  Körpers  etwas  zu  weit  gegangen, 
ln  Raffaelli’s  Brautführerin  einigt  sich  der  sehr  be¬ 
stimmt  gezeichnete  Kopf  nicht  völlig  mit  der  im¬ 
pressionistisch  gegebenen  Gestalt  und  der  ebenso  be¬ 
handelten  Scenerie.  Alles  Einzelne  ist  vortrefflich. 
Der  Ausdruck  der  Augen,  die  bald  versuchen  werden, 
in  bisher  unbekannte  Welten  einzudringen,  ist  unge¬ 
mein  charakteristisch.  Das  Weiss  des  Kleides  bildet 
mit  dem  rosafarbenen  Teppich,  dem  Rot  des  Stuhles 
und  dem  Weiss  des  als  Grund  dienenden  Bodens 
eine  Harmonie  delikatester  Art.  Der  schwarzblaue 
Federhut  giebt  einen  höchst  pikanten  Kontrast  dazu. 

Dass  auch  sonst  die  Franzosen  technisch  auf 
grosser  Höhe  stehen,  ist  fast  selbstverständlich.  Schade 


252 


DIE  KARLSRUHER  JUBILÄUMS-AUSSTELLUNQ 


nur,  dass  Seele  und  Phantasie  nicht  immer  mit  dabei 
sind,  wenn  der  Pinsel  so  über  die  Fläche  fliegt. 
George  Berges’  Besichtigung  eines  Hüttenwerkes  nach 
einer  Soiree  beim  Direktor-  ist  solch  seelenloses  Pinsel¬ 
machwerk,  der  Absicht  nach  eine  sozialistische  Brand¬ 
rede,  aber  ohne  starkes  Gefühl  und  ohne  rhetorische 
Kraft.  Da  packt  Luden  Simon  in  seinem  »Cirkus- 
bild  doch  Hs  Schilderer  und  Kolorist  ganz  anders. 
Oaston  Latouche’s  Bilder  haben  mindestens  Anspruch, 
als  sehr  persönliche  Farbenvisionen  des  Künstlers  ge¬ 
schätzt  zu  werden.  Von  Melchers  ist  ein  sehr  über¬ 
zeugendes  Herrenbildnis  und  eine  Kindergruppe  zu 
sehen,  die  durch  ihre  Farbe  zwar  verletzt,  aber  psycho¬ 
logisch  und  physiognomisch  aufs  stärkste  anzieht. 
Charles  Cottefs  Trauer«  ist  ein  tief,  beinahe  religiös 
empfundenes  Bild.  Menard’s  Parisurteil«  wirkt  wie 
ein  lyrisches  Gedicht. 

Von  den  wenigen  Holländern  nenne  ich  nur 
Therese  Schwartze.  Aber  weder  das  etwas  nüchterne 
Waisenhausbild,  noch  das  an  sich  ja  kraftvolle  Por¬ 
trät  des  Boerengenerals  Joubert  zeigen  sie  auf  voller 
Höhe.  Ernst  Oppler,  der  doch  eigentlich  nicht  mit 
ganzem  Recht  hierher  gezählt  wird,  giebt  in  seinen 
Bäuerinnen  von  Bückeburg«  zwar  die  Stimmung  des 
Innenraumes  sehr  fein,  aber  die  Köpfe  gehen  mit  dem 
Übrigen  im  Ton  nicht  ganz  zusammen,  und  in  den 
Figuren  selbst  ist  das  Modellmässige  nicht  völlig  über¬ 
wunden.  Österreich  und  Ungarn  sind  eben  nicht 
glänzend  repräsentiert.  Karl  von  Firenczy’s  alttesta- 
mentliche  Scene  imponiert  wenigstens  durch  die  ernste 
Absicht.  Laszlo  zeigt  sich  hier  als  blosser  Routinier. 
Für  Gustav  KTwit’s  hysterische  Art,  wie  sie  in  der 
»Musik  zu  Tage  tritt,  freue  ich  mich  nicht  das  ge¬ 
ringste  Verständnis  zu  haben.  Unter  den  übrigen 
Österreichern  ist  manches  Feine,  aber  nichts  Starkes. 
Von  den  Russen  hat  Maliavine  eine  mit  brutaler 
Kraft  sich  aufdrängende  »Alte«  ausgestellt  und 
Kustodieff  t\n  Herrenbildnis  von  vortrefflicher  Charak¬ 
terisierung  und  ausgezeichneter  malerischer  Haltung. 
Unter  den  schwedischen  Bildern  sind  die  besten  das 
in  der  Darstellung  der  Tanzbewegung  sehr  feine 
»Scherzo«  von  Otto  Sinding  und  WerenskiolcVs  »Zehn 
Jahre  ,  ein  kleines  Mädchen  am  Klavier;  dieses  nicht 
nur  ausgezeichnet  in  der  farbigen  Zusammenstimmung, 
sondern  vor  allem  in  der  Beobachtung  der  Bewegung. 
Die  Hände  tasten  ganz  schüchtern,  und  die  Ängstlich¬ 
keit  wirkt  noch  in  den  Beinchen  weiter. 

>fc  :t: 

* 

Den  weitaus  grössten  Raum  der  Ausstellung 
nimmt  jedoch  Deutschland  und  innerhalb  Deutsch¬ 
lands  wieder  Karlsruhe  ein.  Das  Gesamtbild  ist  er¬ 
freulich,  denn  wenn  auch  die  eigentlichen  Genies 
heute  noch  ebenso  selten  sind  wie  ehedem,  so  ist 
doch  die  Zahl  der  ansehnlichen  Talente  auch  in 
Deutschland  recht  gross.  Vor  einigen  Jahren  noch 
hätte  man  angesichts  der  Stoffe  und  Formate  vieler 
Bilder  wohl  sagen  dürfen,  die  Modernen  könnten 
zwar  malen,  aber  sie  wüssten  nicht  mehr,  was  sie 
malen  sollten.  Hatte  man  ehedem  durch  den  in¬ 


teressanten  Stoff  zu  wirken  gesucht,  so  suchte  man 
nun  den  Reiz  im  Reizlosen.  Beide  Extreme  sind 
heute  überwunden,  das  Geschichts-  und  Anekdoten¬ 
bild  ist  eine  Seltenheit,  hinzugewonnen  aber  ist  — 
und  dies  gerade  durch  den  Naturalismus  —  das  ein¬ 
fache  landschaftliche  Motiv  in  der  unendlichen  Viel¬ 
fältigkeit  und  Abwandlungsfähigkeit,  die  ihm  durch 
die  subjektive,  im  eigentlichsten  Sinne  poetische  Auf¬ 
fassung  zu  teil  wird.  Die  Ausstellung  liefert  einen 
sehr  starken  Beweis  für  den  so  errungenen  Gewinn 
an  innerer  Tüchtigkeit. 

Von  München  war  für  Deutschland  die  Lehre 
vom  Naturalismus  ausgegangen;  aber  auch  die  Be¬ 
ruhigung  hatte  sich  nach  den  Sturmjahren  von  hier 
aus  über  die  heftige  Bewegung  zu  breiten  begonnen. 
Heute  darf  man  nicht  mehr  von  einer  gegen  Format 
und  Stoff  gleichgültigen  Kunst  sprechen.  Sage  und 
Märchen  hat  wieder  Eingang  gefunden,  lebensgrosse 
Figuren  sind  im  ganzen  selten,  aber  etwas  Neigung 
zu  grösseren  Bildformaten  ist  geblieben.  Uhde  hat 
ausser  seinem  nicht  eben  anziehenden  »Kind  mit 
Hund«  und  einer  sehr  lebendigen  »Heiligen  Nacht« 
von  goldigwarmem  Ton  seine  riesige  »Atelierpause« 
ausgestellt.  Man  rede  hier  nur  ja  nicht  von  Natur¬ 
ausschnitt,  sondern  man  versuche  lieber,  sich  klar  zu 
machen,  wie  und  mit  welchen  Absichten  die  Figuren 
im  Raume  verteilt  sind,  wie  vortrefflich  sie  sich  von 
einander  trennen,  wie  fein  das  Koloristische,  wie 
schlicht  und  sachlich  der  Vortrag  des  Ganzen  ist. 
Benno  Becker,  Bürgel,  Fahre  du  Faiire,  Flabermann, 
Herterich,  Hubert  v.  Heyden,  Palniie,  Scluamm-Zittau, 
Zügel  und  viele  andere  zeigen  sich  in  altgewohnter 
Tüchtigkeit.  Von  Karl  Haider,  dem  festen  Schrittes 
seinen  Weg  Gehenden,  sind  ein  paar  Landschaften 
von  wirklich  grossem  Stil  zu  sehen,  von  Hierl-Deronco 
ausser  einem  wirkungsvollen  Damenbildnis  sein  — 
man  verzeihe!  —  entsetzlicher  Liebesgarten«,  eine 
Übersetzung  von  Botticelli’s  Frühling  aus  dem  Knospen¬ 
haften,  Keuschen  ins  Greisenhafte,  Lüsterne.  Der¬ 
gleichen  geniessbar  zu  machen,  reicht  das  bischen 
koloristischer  Verdienst  nicht  aus.  Exter’s  »Nixensee« 
wird  schwerlich  etwas  anderes  nachzurühmen  sein, 
als  eine  ziemlich  brutale  Kraft  der  malerischen  Auf¬ 
fassung.  Langhammer,  der  viel  zu  früh  Gestorbene, 
zeigt  sich  in  den  unfertigen  Sachen,  die  der  bayrische 
Staat  hergeliehen,  als  Tonmaler  von  grosser  Feinheit; 
schade,  dass  er  des  schottischen  Einflusses  nicht  mehr 
Herr  geworden  ist.  Das  Verdienst  von  Schuster- 
Woldan’s  »Rattenfänger«,  eines  der  wenigen  Geschichts¬ 
bilder,  liegt  nicht  nur  in  der  sehr  vornehmen  Har¬ 
monie  des  Gesamttones;  auch  das  Unwiderstehliche 
der  Lockung  ist  ganz  ausgezeichnet  veranschaulicht 
durch  den  unaufhaltsamen  Zug  der  Bewegung,  in 
den  doch  wieder  durch  das  angstvolle  Zurückhalten 
der  Einen,  das  nichts  ahnende  Vorstürmen  der  An¬ 
deren  reiches  Leben  gebracht  wird.  Warum  aber 
sind  die  Kinder  so  unkindlich,  fast  aus  makartischem 
Geschlecht?  Von  Lenbach  ist  eine  nicht  in  allen 
Teilen  gleichwertige  Auswahl  zu  sehen,  ein  mächtiger 
Bismarck,  zwei  gleichgültige  Kaiserbilder,  ein  paar 
Frauenporträts  von  prachtvoller  Farbigkeit  und  mehrere 


AN-ADALBEKT-STIFTEK 


DIE  KARLSRUHER  JUBILÄUMS-AUSSTELLUNG 


253 


andere.  Besonders  erfreulich  ist  es  dann,  dass  eine 
ganze  Reihe  von  Werken  Lcibl’s  zu  einer  Kollektion 
vereinigt  sind.  Zum  grossen  Teil  sind  es  Eindrucks¬ 
wiedergaben  von  verblüffender  Schärfe,  wie  im  Sturm 
auf  die  Leinwand  gehauen;  aber  auch  zwei  seiner 
durchgeführtesten  Werke:  »Der  Jäger«  und  »ln  der 
Dorfkirche«  werden  wieder  gezeigt,  ln  dem  jäger- 
bildnis  hat  der  Widerspruch  zwischen  dem  Momen¬ 
tanen  der  gewählten  Stellung  und  der  scharfen 
Durchbildung  für  den  Beschauer  etwas  Quälendes. 
Uneingeschränkt  aber  darf  man  die  mit  tiefer  herz¬ 
licher  Liebe  in  das  Wesen  der  Dinge  eindringende 
Art  der  Beobachtung  bewundern,  wie  sie  sich  in  dem 
Kirchenbilde  offenbart.  Farbenkomposition,  stoffliche 
Charakterisierung,  Zeichnung,  Modellierung  sind 
schlechthin  erstaunlich,  und  wenn  sonst  das  Charak¬ 
terisierungsvermögen  selbst  grosser  Künstler  an  jungen 
Frauenköpfen  zuweilen  scheitert,  so  hat  Leibi  gerade 
im  Kopfe  des  vornesitzenden  Mädchens  —  noch  mehr 
als  in  den  Köpfen  der  Alten  —  seine  hohe  Meister¬ 
schaft  erwiesen.  Solcher  Nachbarschaft  gegenüber 
kommt  Triibner  mit  seinen  Bildnissen  trotz  hoher 
Lebendigkeit  nicht  auf,  vielleicht  wird  man  eher  noch 
der  Kraft  des  malerischen  Vortrags,  wie  sie  sich  im 
»Reitpferd«  und  in  einigen  landschaftlichen  Studien 
bekundet,  gerecht. 

Von  den  Künstlergruppen,  die  sich  in  den  letzten 
Jahren  in  München  gebildet  haben,  tritt  hier  nur  die 
»Scholle«  mit  einiger  Geschlossenheit  auf.  Wie  ziem¬ 
lich  viele  andere  Bilder,  zeigen  auch  die  beiden  grossen 
Triptycha,  die  »Pest«  von  Fritz  Frier  und  »Saure 
Wochen,  frohe  Feste«  von  Walter  Georgi  die  Ab¬ 
sicht,  ausser  durch  rein  malerische  Mittel  auch  durch 
stoffliche  und  gedankliche  Anregung  zu  wirken  (was 
bekanntlich  vor  wenigen  Jahren  noch  als  höchst  un¬ 
künstlerisch  strenge  verpönt  war).  Erler’s  Porträts 
haben ,  trotzdem  sie  auf  eigentliche  Farbigkeit  ver¬ 
zichten,  einen  grossen  dekorativen  Zug.  Sonst  sind 
von  den  Mitgliedern  der  -Scholle«  noch  Eichler, 
Frier  -  Samaden,  Felbauer  (dieser  mit  prächtigen  tief¬ 
farbigen  Zeichnungen  aus  Rothenburg),  Münzer  mit 
seinen  Pariser  Ammen,  die  doch  kaum  mehr  sind 
als  eine  viel  zu  gross  geratene  Illustration,  Vogt  und 
Weise  (mit  einem  sehr  feinen  Kinderbild)  vertreten. 
Ausserdem  seien  von  Münchnern  noch  Angelo  Jank  mit 
seinem  urkräftigen  »Feierabend«,  Herterich  mit  seinem 
durch  Behandlung  von  Licht  und  Farbe  anziehenden  Im 
Spiegel«  genannt.  Wenn  vieles  andere,  was  genannt 
zu  werden  verdiente,  hier  nicht  genannt  wird,  so 
möge  es  die  Knappheit  des  Raumes  entschuldigen. 

Berlin  ist  schwach  vertreten.  Ich  nenne  von  Land¬ 
schaften  Biisse’s  »Frühling  in  der  sicilianischen  Ein¬ 
öde«,  zwei  vortreffliche  Seestücke  von  Hamacher,  ein 
Hafenbild  von  Walter  Leistikow,  die  grossstilisierten 
Saaleburgen  von  Schultze-Haumhuxg-,  an  Strassen- 
bildern  mehrere  hübsche,  aber  nicht  viel  sagende 
Kleinigkeiten  von  Skarbina  und  ein  grösseres  Bild 
von  Ulrich  Hübner.  Unter  den  Porträts  sei  das  Kaiser¬ 
bild  Max  Koner’s  und  ein  vortreffliches  Damenbildnis 
von  erwähnt,  das  die  Geschichteeines ganzen 

Lebens  erzählt.  Düsseldorfs  ältere  Figurenmalerei  zeigt 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  10. 


in  ihrer  charaktervollen  Tüchtigkeit  Klaus  Meyet’s 
»In  der  Schenke«,  seine  neuere  Landschaftskunst  ist 
sehr  vorteilhaft  durch  Julius  Bergmann,  Eugen  KcitnpJ 
und  Erich  Nikutowski  vertreten.  Von  den  Stuttgartern 
sind  nur  wenige  erschienen.  Reiniger  und  Pötzelberger 
zeigen  sich  lediglich  in  der  Sammlung  Knorr,  die  über¬ 
haupt  nicht  nur  reich  an  berühmten  Namen,  sondern 
auch  an  wirklich  guten  Bildern  ist.  Der  immer  sehr 
feine  und  poetische  Robert  Hang  hat  eine  in  Licht  und 
Farbe  sehr  schöne  Soldaten -Einkehr  und  ein  etwas 
süssliches  grossfiguriges  Bild  »Glückliche  Stunden 
gesandt.  Von  Graf  Kalckreuth’s  ernster  Kunst  giebt  der 
am  Boden  kauernde  Knabe  eine  gute,  aber  nicht 
nach  allen  Richtungen  ausreichende  Probe. 


Am  stattlichsten  tritt  innerhalb  der  deutschen  Ab¬ 
teilung  natürlich  die  badische  Gruppe  auf,  die  etwa 
zweihundert  Werke  umfasst.  Fünf  Kollektivaus¬ 
stellungen  —  sehr  ungleich  freilich  an  Umfang  und 
Wert  —  sind  ihr  eingegliedert.  Die  grösste  Über¬ 
raschung  war  für  mich  Ferdinand  Roller  mit  seinen 
zehn  Bildern  Landschaften  und  Porträts  —  und 
einem  Relief.  Wer  Böcklin  kennt,  dem  mochte  wohl 
hier  zunächst  allerlei  bekannt  scheinen:  Felsen,  Wasser, 
Bäume  in  ähnlicher  Verbindung  wie  bei  ihm,  Tempel, 
Ruinen,  melancholische  Frauen,  und  sogar  ein  reitender 
Tod  fehlt  nicht.  Aber  bei  näherem  Zusehen  erweist 
sich,  dass  von  einer  inneren  Verwandtschaft  der  beiden, 
selbst  von  einer  Verwandtschaft  entferntester  Art  nicht 
die  Rede  sein  kann.  Ein  geschickter  Regisseur  hat 
einige  von  den  Dingen,  mit  denen  jener  seine  grössten 
poetischen  Wirkungen  erzielte,  für  Theater-Requisiten 
gehalten  und  sie  —  sämtlich  im  Frühjahr  IQ02  — 
zu  Bühnendekorationen  unter  Titeln  wie  »Unheim¬ 
liches  Schloss«,  Heiligtum  am  See  verarbeitet. 
Anderswo  als  im  fälschenden  Lichte  der  Bühnenlampen 
aber  würden  diese  unter  Verzicht  auf  alle  stoffliche 
Charakteristik  durchweg  aus  der  gleichen  gallertartigen 
Masse  geformten  Felsen,  Bäume  u.  s.  w.  schlechthin 
unerträglich  wirken.  Auch  die  Porträts  sind  —  mit 
einer  Ausnahme  —  ebenfalls  nur  Erzeugnisse  einer 
handfertigen,  aber  seelenlosen  Repräsentationsmalerei. 

In  solcher  Nachbarschaft  gewinnt  jeder  an  Wert, 
der  einfach  und  schlicht  sagt,  was  in  ihm  ist.  Von 
Hans  Thoma  sind  ungefähr  vierzig  Bilder,  grossen- 
teils  aus  Privatbesitz,  vereinigt.  Einige  ältere 
Werke,  von  1867  an  zeigen  ihn  noch  auf  dem 
Wege  zu  seiner  eigenen  Art,  an  der  er  dann, 
anfangs  gegen  die  Mode,  bis  zum  heutigen  Tage 
festgehalten  hat.  Poetische  Naturauffassung  mit  herz¬ 
licher  Naturliebe  verbunden,  ist  eine  Grundlage 
seines  Schaffens;  aber  auch  viel  ehrliche  künst¬ 
lerische  Arbeit  steckt  in  diesen  Bildern.  Trotzdem 
wird  man  sich  gerade  in  dieser  Ausstellung  zum 
Widerspruch  gegen  die  bedingungslose  Bewunderung 
des  Künstlers  gereizt  fühlen.  Bei  aller  redlichen  Be¬ 
mühung  im  einzelnen  ist  es  ihm  doch  sehr  oft  nicht 
geglückt,  den  Zusammenhang  zwischen  den  Teilen 
des  Bildes,  zwischen  Vorder-  und  Hintergrund,  zwischen 


33 


254 


DIE  KARLSRUHER  JUBILAUMS-AUSSTELLUNG 


Figuren  und  Landschaft  herzustellen.  Sehr  zu  seinem 
Nachteil  unterscheidet  sich  gerade  hierin  Thoma  von 
Böcklin,  dessen  Fabelwesen  immer  naturnotwendig 
im  Bildganzen  stehen.  Thoma’s  Stärke  ist  die  reine  Land¬ 
schaft,  insbesondere  die  Mittelgebirgslandschaft,  die  er 
malt,  wie  man  nur  etwas  malen  kann,  was  man  nicht  nur 
kennt,  sondern  auch  liebt.  Ausgezeichnete  Leistungen 
dieser  Art  sind  die  beiden  einzigen  figurenlosen 
Bilder  Bernau  Oberlehn  ,  wo  die  Bodenform  mit 
wirklich  nachfühlender  Seele  wiedergegeben  ist,  und 
die  Regenbogenlandschaft  ,  wo  ein  leiser  Tonunter¬ 
schied  den  breiten  Rücken  des  Vordergrundes  von 
dem  abschliessenden  steileren  Hange  trennt. 

Durch  einen  kleinen  Raum,  in  dem  einige 
koloristisch  und  zeichnerisch  sehr  feine  Porträts  von 
Kaspar  Ritter  hängen,  gelangen  wir  zu  der  Kollektiv¬ 
ausstellung  von  Werken  Qiistav  Schönleber’s.  Eine 
venezianische  Vedute  aus  dem  Jahre  1886,  dunkel 
und  stark  komponiert,  lässt  im  Vergleiche  mit  den 
jüngeren  Werken  erkennen,  um  wieviel  heller  und 
natürlicher  der  Meister  —  wohl  unter  dem  Einflüsse  der 
Strömungen  der  achtziger  Jahre  —  geworden  ist.  ln 
vielen  Bildern  spielt  das  interessante  Motiv  oder  eine 
interessante  Beleuchtung  eine  Rolle;  besonders  schön 
ein  Felsennest  an  der  Riviera,  gesehen  gegen  den 
ganz  durchleuchteten  Dunst  des  Mittelgrundes,  und 
das  kleinere  >Tellaro«.  Dann  aber  sind  Bilder  aus 
der  schwäbischen  Heimat  des  Künstlers  ausgestellt, 
wo  aus  an  sich  einfachen  Motiven  eine  Fülle  feinster 
malerischer  Reize  herausgeholt  ist. 

Für  die  grosse  Mehrzahl  der  Karlsruher  Land¬ 
schaftsmaler  aber  ist  charakteristisch,  dass  sie  ihre 
Gegenstände  ausschliesslich  oder  fast  ausschliesslich 
aus  dem  heimischen  Mittelgebirge,  noch  lieber  viel¬ 
leicht  aus  dem  Hügellande  nehmen.  Man  sagt  gewöhn¬ 
lich,  für  die  Schule  von  Barbizon  sei  der  Wald  von 
Barbizon  von  grösster  Bedeutung  gewesen ;  ich  glaube, 
dass  die  Karlsruher  Landschafterschule  in  noch  höherem 
Grade  ihre  Kraft  und  Eigenart  aus  der  heimatlichen 
Landschaft  schöpft.  Für  den  Stil  dieser  Künstler  ist 
es  ferner  wesentlich,  dass  sie  gewöhnt  sind,  für  den 
lithographischen  Stein  zu  arbeiten.  Aus  der  in  dieser 
Technik  liegenden  Nötigung,  mit  verhältnismässig 
wenigen  Mitteln  das  Wesentliche  auszudrücken,  fliesst, 
auch  wo  sie  auf  Leinwand,  nicht  für  die  Verviel¬ 
fältigung  durch  den  Druck,  schaffen,  die  Anregung 
zu  einer  stilisierenden  Vereinfachung  der  Ausdrucks¬ 
weise.  Ich  fürchte,  sie  haben  dieser  Anregung  bis¬ 
weilen  zu  bereitwillig  nachgegeben.  Hans  von  Volk¬ 
mann’ s  bestes,  aber  trotzdem  frühere  Leistungen  nicht 
ganz  erreichendes  Bild  ist  wohl  die  Dockweiler  Mühle, 
ein  einsames  Gehöft  an  einem  Waldende,  hinter  dem 
ein  ackerbedeckter  Hang  weit  und  langsam  ansteigt. 
Die  »Eifelberge  zeigen  des  feinen  Künstlers  Fähigkeit, 
Form  und  Bewegung  des  Bodens  in  grosse  Fernen 
hinein  darzustellen.  Seine  »Sommerschwüle«  aber 
scheint  mir  im  Format  vergriffen,  und  auch  der 
Stimmungsausdruck  ist  hier  keineswegs  überzeugend. 
Von  den  Steindrucken  Volkmann’s  sind  die  reizvollsten 
Weltentlegen«  und  das  »Bachbett«,  von  denen  Biese's, 
der  auch  als  Maler,  jedoch  nicht  besonders  glücklich 


auftritt,  das  »Schlösschen  im  Schnee«.  Daur’s  »Spät¬ 
herbst  giebt  den  Blick  quer  über  ein  weites  Thal 
auf  den  gegenüber  liegenden  Berghang,  Kampmann' s 
>Gutshof«  eine  trotz  aller  Einfachheit  des  Motivs 
sehr  reich  gesehene  und  kraftvoll  dargestellte  Morgen¬ 
stimmung  auf  einem  Sturzacker,  Nagel’ s  »Weiden 
im  Winter«  einen  Bach,  nicht  so  fein,  wie  die  eben¬ 
genannten,  aber  kraftvoller  und  mit  sicherster  Per¬ 
spektive,  Petzet  endlich,  wohl  ein  Schüler  Schönleber’s 
und  diesem  in  der  Neigung  für  das  Motiv«  nahe¬ 
stehend,  eine  sehr  schöne  Abendstimmung  mit  letztem 
Sonnenglanz  auf  einem  Thorturm  und  regungslos 
liegendem  Gewässer.  Es  wäre  zwecklos,  in  dieser 
kurzen  Überschau,  die  nur  die  Hauptwerke  und  Haupt¬ 
richtungen  hervorzuheben  wünscht,  die  ganze  Reihe 
der  Karlsruher  Landschafter  herzuzählen.  Auch  unter 
den  nicht  genannten  Werken  ist  manche  vortreffliche 
Leistung.  Nur  Ludwig  Dill’s  sei  hier  noch  mit 
einigen  Worten  gedacht.  Er  scheint  mir  unter  den 
Landschaftern  eine  ähnliche  Stellung  einzunehmen, 
wie  Langhammer  unter  den  Figurenmalern.  Seine 
Stimmungsskala  ist  nicht  sehr  gross,  aber  dafür  von 
intensivstem  poetischen  Reichtum.  Das  schönste  von 
den  Bildern,  die  er  gesandt  hat,  sind  wohl  die 
»Blühenden  Weiden  an  der  Brenta  ,  wo  der  Blick 
aus  dem  Vordergründe  auf  hellgrünende  Wiesen  ge¬ 
leitet  wird.  Dem  Abend  am  Po  mit  einer  Salbei¬ 
wiese  fehlt  es  an  bildmässiger  Geschlossenheit.  Die 
sechs  anderen  Bilder  behandeln  in  einer  engen  Skala 
von  gelben,  grauen,  braunen  Tönen  Dachauer  Motive 
mit  träumerischer  Weichheit.  Franz  Hoch,  ein  Schüler 
Schönleber’s,  noch  mehr  aber  Oscar  Gra/- Freiburg 
scheinen  sich  Dill  anzuschliessen.  Von  letzterem  sei 
auch  noch  ein  Märchenbild  mit  wirklicher  Märchen¬ 
stimmung  und  eine  riesige  radierte  Pieta  von  grosser 
malerischer  Kraft  genannt. 

Überhaupt  klingt  vielfach  auch  in  der  badischen 
Gruppe  ein  poetischer  Grundton  durch.  So  beispiels¬ 
weise  bei  Friedrich  Feiir,  den  man  nicht  warm  genug 
zu  der  Wandlung,  die  er  seit  seinen  Münchner 
Jahren  durchgemacht  hat,  beglückwünschen  kann. 
Seine  »Dämmerung«  mit  den  beiden,  von  den  Schatten 
der  herniedersinkenden  Nacht  märchenhaft  umschleierten 
Kindern  an  dem  Gewässer  des  Vordergrundes,  dem 
Gehöft  mit  dem  einsamen  Licht  in  der  Ferne  zeigt 
ihn  als  einen  Stimmungslandschafter  eigener  Art, 
während  er  sich  in  den  »Schachspielern«  als  aus¬ 
gezeichneter  Figurenmaler  bewährt.  Seine  Farbe  ist 
tief  und  reich,  der  Ausdruck  der  Bewegung  und  des 
Physiognomischen  von  grösster  Feinheit.  Man  be¬ 
trachte  nur  die  ungemein  charakteristisch  gegebene 
Bewegung  der  ziehenden  Dame  und  die  gespannte 
Aufmerksamkeit  ihres  Gegenspielers.  In  die  Klasse 
der  Poeten  gehören  auch  die  verstorbenen  Wilhelm 
Volz  und  Wilhelm  Dürr.  Von  Dürr  sind  nur  Skizzen 
ausgestellt,  in  denen  sich  seine  originelle  Auffassung 
biblischer  und  legendarischer  Stoffe  bekundet,  von 
Volz  ausser  einigen  Skizzen  und  den  Entwürfen  für 
eine  Kirchendekoration  auch  ein  paar  grosse  Bilder. 
Wie  freute  ich  mich,  die  unentweihte  Anmut  seiner 
»Madonna  im  Grünen«  wieder  zu  begrüssen!  Das  Bild 


DIE  KARLSRUHER  JUBILÄUMS-AUSSTELLUNQ 


255 


ist  zwölf  Jahre  alt;  wie  wenige,  auf  den  ersten  Blick 
bestechende  Bilder  könnten  wohl  die  Probe  solchen 
Wiedersehens  bestehen!  Höchst  reizvoll  in  Earbe 
und  Bewegung  ist  seine  »Badende«;  sehr  selbständig 
in  der  Komposition  und  sehr  stark  in  der  Empfin¬ 
dung  seine  Bilder  des  Leidens  Christi.  Franz  Hein- 
Grötzingen  ist  nicht  nur  Märchen maler,  sondern  auch 
Märchenerfinder.  Ausser  einer  sehr  feinen,  mit  ganz 
wenigen  Tönen  wirkenden  Lithographie,  der  es  je¬ 
doch  an  räumlicher  Klarheit  gebricht,  hat  er  ein 
Märchenbild  mit  beinahe  lebensgrossen  Figuren  aus¬ 
gestellt.  Mag  ihm  auch  die  Anregung  zu  seinen 
»Königskerzen«  aus  dem  Namen  der  Blume  ge¬ 
kommen  sein,  so  ist  es  ihm  doch  geglückt,  das 
Litterarische  in  malerische  Anschauung  umzusetzen. 
Zwischen  den  riesenhaften  Königskerzen,  von  denen 
ein  starkes  Leuchten  ausgeht,  treten  einem  gehar¬ 
nischten  Ritter  drei  Jungfrauen  entgegen,  Märchen¬ 
prinzessinnen  oder  dergleichen.  Es  ist  vieles  sehr 
schön  in  dem  Bilde;  der  warme  goldige  Ton  des 
Ganzen,  das  Zaghafte,  Zurückhaltende  der  Gebärde 
bringen  wirkliche  echte  Märchenstimmung  hervor. 
Immerhin  möchte  etwas  mehr  Sorgfalt  in  der  Zeich¬ 
nung,  etwas  mehr  Konsequenz  in  der  Raumgestaltung 
nicht  schaden,  da  es  doch  wohl  auf  mehr  als  bloss 
dekorative  Wirkung  abgesehen  ist. 

Von  den  wenigen  Porträts  wecken  die  an  sich 
geschmackvollen  Arbeiten  Otto  Propheter’s  den  Wunsch, 
seine  Begabung  einmal  anderen  Aufgaben  als  denen 
des  Salonbildes  gegenüber  zu  sehen,  ln  dem  von 
Hermann  Janker  ausgestellten  Bilde  eines  im  Früh¬ 
sonnenschein  über  das  Feld  reitenden  Offiziers  ist 
nicht  nur  der  Reiter  sehr  lebendig  geworden,  auch 
die  Bewegung  des  Tieres  ist  sehr  fein,  die  Wirkung 
des  in  ganzer  Breite  auftreffenden  Sonnenlichtes  sehr 
interessant  gegeben.  Unter  den  Tiermalern  steht  hier 
Viktor  Weishaupt  voran.  Der  »Wilde  Stier«  aus 
dem  Besitze  des  Münchner  Kunstvereins  zeigt,  von 
wo  er  ausging:  Vom  stofflich  Interessanten  und  vom 
braunen  Ton.  Seine  Entwickelung  hat  sich  dann  im 
Sinne  des  Pleinairismus  vollzogen,  und  es  ist  höchst 
lehrreich,  jenes  alte  Bild  etwa  mit  seiner  »Viehherde 
im  Wasser«  zu  vergleichen,  wo  er  in  hellsten  Tönen 
eine  ausgezeichnete  Charakterschilderung  der  sehr  be¬ 
schaulich,  ganz  undramatisch  ablaufenden  Existenz 
dieser  vortrefflichen  Tiergattung  bietet. 

* 

* 

Zu  den  organisatorischen  Vorzügen  der  Ausstel¬ 
lung  gehört  auch  die  sehr  glückliche  Verteilung  der 
plastischen  Werke  über  sämtliche  Räume.  Von 
den  Auslandstaaten  hat  sich  nur  Belgien  in  hervor¬ 
ragender  Weise  beteiligt.  Meanier  hat  ausser  den 
bekannten  Kleinbronzen  auch  die  halblebensgrosse 
Statue  eines  Hafenarbeiters  ausgestellt,  eine  in  ihrer 
Einfachheit  ungemein  eindrucksvolle  Darstellung  des 
Mannes,  der  sich  der  Kraft  seiner  Klasse  bewusst  ist. 
»Alle  Räder  stehen  still,  wenn  mein  starker  Arm  es 
will.«  Von  Jef  Lanibeaux  sieht  man  die  in  der  Be¬ 
wegung  vortreffliche,  aber  von  Kraftprotzerei  nicht 
ganz  freie  Ringergruppe  in  Gips  und  eine  Bronze 


»Gewissensqualen«,  ln  der  Gruppe  Vergebung 
von  Pieter  Braecke  bebt  eine  sehr  tiefe  Empfindung 
durch  Mutter  und  Sohn.  Jules  Lagae  hat  eine 

sehr  behagliche  Doppelbüste  von  »Vader  en  Moeder«, 
die  grosse,  sehr  tief  gefühlte  Gruppe  der  vSühne  , 
die  ausdrucksvolle  Büste  eines  Philosophen  und 
einen  etwas  zu  florentinischen  Johannes  ausge¬ 
stellt.  Auch  Dillens  und  ViiiQotte  sind  gut  ver¬ 
treten.  Frankreich  zeigt  ausser  zwei  Gipsstatuen  von 
Bartholome,  die  nicht  gerade  etwas  Neues  sagen,  fast 
nur  Kleinplastik:  die  vergoldete  Reiterstatuette  des 
Drachentöters  von  Fremiet,  Plaketten  und  Medaillen 
von  Charpentier  und  Ponscarme ;  von  Vallgren  ausser 
einer  Reihe  der  bekannten  Kleinbronzen  auch  einen 
lustig  bewegten  Fries  tanzender  Kinder  und  die  fein¬ 
getönte  Doppelbüste  zweier  Mädchen.  Die  vortreff¬ 
lichen  Kleinbronzen  von  Laporte-Blairsy,  eine  Brügger 
Milchfrau,  eine  Menuet-Tänzerin,  eine  Büste  und  eine 
Klavierlampe  seien  ausdrücklich  hervorgehoben.  Trou- 
betzkofs  stehende  Dame  frappiert  durch  Lebendigkeit 
und  Eleganz. 

Von  deutschen  Bildhauern  sind  insbesondere  Ber- 
mann  und  Flossmann  durch  ganze  Kollektionen  ver¬ 
treten.  Von  Bermann’s  Werken,  beispielsweise  von 
seinem  weiblichen  Akt,  so  kraft-  und  empfindungs¬ 
reich  er  ist,  von  der  sterbenden  Sphinx  des  Vorhofs 
habe  ich  den  Eindruck,  als  habe  der  Künstler  nicht 
ganz  herausgebracht,  was  er  sagen  wollte;  es  bleibt 
ein  ungelöster  Rest.  Aber  auch  die  Porträts  leiden 
an  der  etwas  gewaltsamen  Lebendigkeit.  Flossmann 
hat  ausser  der  bekannten  Gruppe  der  Mutter  ebenfalls 
eine  Reihe  von  Bildnisbüsten  in  sehr  beruhigter,  ge¬ 
dämpft  realistischer  Auffassung  ausgestellt.  Von 
Hildebrand  sind  drei  Porträts  da,  darunter  die  be¬ 
sonders  reizvolle  Terrakottabüste  eines  Mädchens  und 
die  dem  Naturbild  gegenüber  stark  vereinfachte  Döl- 
linger’s.  Man  mache  einmal,  wozu  hier  Gelegenheit 
ist,  den  Vergleich  mit  dem  Döllinger  JoseJ  von  KopJ’s; 
vielleicht  wird  man  sich  dann  des  Unterschieds 
zweier  Stile  bewusst.  Max  KUng^r  imponiert  vor 
allem  durch  seinen  grossartigen  Liszt;  für  die 
Bizarrerie  der  halben  Frauenbüste  aber  fehlt  mir 
jedes  Verständnis.  Arthur  Volkmann’s  Reliefs  »Jüng¬ 
ling  mit  Stier«  und  Amazone  mit  Pferd«  haben 
doch  wohl  gar  zu  viel  Stil.  Der  »Kuss«  von 
Fritz  Fylimsch  erfreut  auch  hier  durch  die  Feinheit 
der  Gruppenbildung,  dann  durch  die  sehr  anmutige 
Formenbehandlung;  unter  seinen  kleineren  Arbeiten 
ist  die  Bronzestatuette  der  »Otero«  vortrefflich  bewegt. 
Theodor  v.  Oosen’s  »Geiger«  ist  eine  wirklich  in 
allen  Gliedern  musikalische  Figur;  des  Künstlers  bestes 
Werk  ist  vielleicht  das  in  der  Bewegung,  wie  in  der 
Vergoldung  reizende  Aktfigürchen  Nach  dem  Bade«. 
Seine  lebensgrosse  Perseusstatue  aber  scheint  mir 
genau  das  zu  sein,  was  man  im  Reich  der  Töne 
Kapellmeistermusik  nennt.  Rudolf  Wrba  erweist  sich 
in  seinen  beiden  kleinen  Bronzegruppen  als  ein  feiner 
Künstler;  der  Aufgabe,  die  er  sich  in  dem  Relief  gestellt, 
scheint  er  jedoch  einstweilen  noch  nicht  gewachsen 
zu  sein.  Ignatius  Taschner's  Versuche  zur  Wieder¬ 
erweckung  der  farbigen  Holzplastik  sind  sehr  dankens- 


33 


256 


DIE  KARLSRUHER  JUBILAUMS-AUSSTELLUNO 


wert;  sein  Rauhbein '  und  sein  »Wanderer<  erfreuen 
durch  einen  kräftigen,  stellenweise  sich  freilich  der  Kari¬ 
katur  gefährlich  nähernden  Realismus.  Josef  Limburg 
hat  eine  von  Humor  und  ausgezeichneter  Beobach¬ 
tungsgabe  zeugende  Statuette  eines  jungen  Klerikers, 
dann  eine  lebensgrosse  Büste  und  eine  Porträtstatuette 
ausgestellt,  die  beide  den  feinen  Prälatenkopf  des 
Strassburger  Yi^eihbischofs  vortrefflich  wiedergeben. 
Von  badischen  Bildhauern  sei  Hermann  Volz  mit 
einigen  Büsten  und  einer  Darstellung  der  »Reue«, 
Hermann  Binz  mit  der  Bronestatue  eines  betenden 
Mädchens  und  Ferdinand  Dietsche  genannt,  der  für 
einen  von  Friedrich  Ratzel  entworfenen  Brunnen  sehr 
lustige  Schildkröten  und  Salamander,  wie  sie  an  den 
Brunnenwänden  hinaufkriechen,  gearbeitet  hat. 

Ein  Wort  noch  über  das  Kunstgewerbe.  Zwei 
Wohnräume  sind  ausgestellt,  der  eine  von  Hermann 
Billing,  der  andere  von  Max  Länger,  dem  Keramiker 
entworfen.  Billing’s  Möbel  zeigen  die  Absicht,  um 
jeden  Preis  originell  zu  sein.  Und  originell  sind  sie 
auch,  diese  Lehnstühle  mit  dem  weissen  Lederbezug, 
der  am  Rücken  noch  dazu  mit  vielfachem  Geriemsel 
über  grauen  Plüseh  gespannt  ist.  Ein  paar  Sitze 
sind  in  tiefen  Schranknischen  angebracht.  Es  fehlt 


die  Aufschrift :  Nur  für  Kinder!  Denn  grossgewachsene 
Leute  können  beim  Aufstehen  bestenfalls  knapp  am 
oberen  Nischenrand  vorbeikommen.  Uhr  und  Lampen 
sind  von  der  bizarrsten  Erfindung. 

Sehr  fein,  von  vornehmer  Behaglichkeit  ist  hin¬ 
gegen  der  andere  Wohnraum  mit  ruhig  wirkendem 
Getäfel.  Alles  ist  einfach,  fast  zu  einfach  sogar; 
das  meiste  auch  sinn-  und  gebrauchsgemäss.  Welchem 
Zwecke  aber  dient  wohl  ein  Tisch,  an  dem  man  un¬ 
möglich  sitzen  kann? 

* 

Zwischen  den  Modernsten  hängen  im  grossen 
badischen  Saal  vier  Bilder  von  Feuerbach:  Eine  Land¬ 
schaft  heroischen  Stils,  eine  Frau  am  Meere  (übrigens 
nicht  die  beste  von  den  verschiedenen  Gestaltungen 
des  gleichen  Motivs)  und  zwei  Porträts  der  bekannten 
Römerin.  Sie  wirken  hier,  als  ob  über  vielfältiges 
Stimmengewirr  ein  einzelner  Ton,  rein  und  stark, 
sich  siegreich  erhöbe.  Nur  von  einem  Punkte  der 
Ausstellung  noch  geht  eine  ähnliche  Wirkung  aus: 
von  den  Bildern  Segantini’s.  Es  ist  die  Einfachheit 
der  Formensprache,  die  diese  beiden  Grossen  ge¬ 
meinsam  haben,  so  ferne  sie  einander  sonst  stehen. 


Holzschnitzerei  von  Franz  Zelezny  in  Wien 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  Q.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST 
JULI  1902 


DER  SOMMER  000 

ORIOINALLITHOORAPHIE 
VON  FR.  KALLMORQEN 


>• 


RUDOLF  von  flLC 

zum  neunziGsien  seBURCscHse 

von  IiUDWi6  BGVeSi  c>3c^5C?'3Cf'3Cf>3Cf4 


RUDOLF  VON  ALT 


259 


Rudolf  von  Alt.  Sonnenfinsternis  in  Wien  1842 


ZEFIN  Jahre  sind  es  her,  da  feierten  sie  im 
Wiener  Künstlerhanse  den  achtzigsten  Geburts¬ 
tag  Rudolf  Alt’s  (damals  noch  ohne  »von  ).  Da 
hing  ein  Aquarell  von  ihm,  das  war  etwas  ganz  Unge¬ 
wöhnliches,  denn  es  trug  den  Vermerk:  »28.  August 
1892  .  Er  hatte  es  an  seinem  achtzigsten  Geburts¬ 
tage  vollendet.  Es  stellte  den  Platz  Am  Hof  vor, 
mit  dem  Radetzkydenkmal  vor  dem  Kriegsgebäude. 
Die  Häuserreihen  und  das  Gewühl  weisser  Zeltschirme 
flimmernd  von  Sonne,  vor  dem  ruhigen  grauen 
Hintergründe,  in  den  sich  rechts  die  Bognergasse 
tief  hineinsenkte.  Diese  kühn  verkürzte  Gasse,  mit 
der  Kraft  ihres  Reliefs,  mit  dem  lebendigen  Puls  ihrer 
Körperlichkeit,  war  erstaunlich.  So  tief  und  satt  in  ihrer 
Tonigkeit  und  im  Gegensatz  zu  den  hellen  Strecken 
des  Bildes.  Das  war  er  ganz,  noch  immer,  der  alte 
Alt.  Einige  Verehrer  kauften  das  Bild  und  stifteten 
es  der  modernen  Galerie.  Das  war  überhaupt  eine 
merkwürdige  Ausstellung.  Man  hatte  eine  ganze  Rudolf 
Alt- Ausstellung  veranstaltet,  eine  Heerschau  (eine 
Schmelz«  sagt  man  in  Wien)  von  522  Alt,  aus  allen 
Stadien  seines  Lebens.  Ich  suche  den  Katalog  heraus, 
der  ganz  vollgekritzelt  ist  mit  meinen  Notizen.  Es 
war  wirklich  ein  besonderer  Anblick.  Da  waren 
Inkunabeln  seiner  Kunst  von  1 829  (Klosterneuburg 
und  der  Salzburger  Petrikirchhof,  aus  der  akademischen 
Galerie),  zierlich  gezeichnet  und  dünn  angefärbelt. 


Ein  Aquarell  von  1830  (Eigentum  des  Erzherzogs  Karl 
Ludwig)  zeigte  den  Niederblick  vom  Kapnzinerberg 
auf  Salzburg,  die  ganze  Stadt  in  steiler  Draufsicht 
gegeben.  Dach  für  Dach  förmlich  niedergeschrieben 
mit  der  reinlichsten  aller  Handschriften.  Diese  Bilder 
aus  den  dreissiger  Jahren  sind  das  zierlichste,  was 
man  sich  auf  Papier  denken  kann.  Ein  Ausblick  auf 
die  Weilburg  in  Baden  bei  Wien,  vom  Eenster  ans 
gezeichnet,  macht  den  Eindruck,  als  sei  jede  Baum¬ 
krone  einzeln  eingetragen.  Das  sind  schon  eher 
Miniaturmalereien,  oder  auch  Miniaturzeichnungen. 
An  einem  Stephansturm  von  1839  erscheint  das  ganze 
gotische  Spitzenwerk  Masche  für  Masche  und  Zacke 
für  Zacke  wie  mit  der  Eederspitze  nachgeklöppelt. 
Auch  in  Italien,  wo  er  1833  zum  erstenmal  auftaucht, 
arbeitet  er  sich  so  durch  Venedig,  Verona,  Mailand, 
aber  das  farbige  Land  weckt  auch  seine  Earbe  auf. 
Da  ist  ein  Hof  des  Dogenpalastes  (1839),  der  sieht 
aus  wie  ein  glühender  Ziem,  ins  Mikroskopische  ver¬ 
kleinert.  Damals  waren  alle  Maler  zunächst  Zeichner; 
die  Earbe  ging  über  Europa  auf,  wie  ein  langsames 
Morgenrot,  von  Westen  her.  Ein  köstlicher  Hradschin 
mit  Karlsbrücke  (1 840)  gleicht  einem  fein  kolorierten 
Stahlstich.  Anderes  ist  schlechtweg  aquarellierte  Eeder- 
zeichnimg.  Aber  wie  verstand  auch  dieser  junge 
Mann  zu  zeiclmen,  mit  einem  angeborenen  Vednten- 
geist,  der  mit  einem  Nichts  einen  Charakter  umriss. 


34 


200 


RUDOLF  VON  ALT 


Unvergesslich  bleiben  die  klei¬ 
nen  Wiener  Bleistiftzeichnungen 
aus  der  Sammlung  Lobmeyr, 
jedes  wie  ein  Notizbuchblättchen, 
mit  einem  der  alten  Wiener 
Barockpaläste,  in  grauen  spinn¬ 
webdünnen  Slrichelchen  aufge¬ 
zeichnet,  und  nur  die  Portale, 
Baikone,  Fenstergiebel  und  Ge¬ 
simse  kräftig,  fast  schwarz  hiu- 
eiligesetzt.  Die 
Monumentalität 
des  Qesamtein- 
druckes  ist  auf 
einem  solchen  Pa¬ 
pierschnitzel  wie 
in  eine  mathema¬ 
tische  Formel  ge¬ 
fasst.  Sechs  Gulden,  sagte  mir  einst  der  alte  Flerr, 
zahlte  ihm  seiner  Zeit  der 
altwiener  Kunsthändler 
Heinrich  Friedrich  Mül¬ 
ler  am  Graben  für  so 
ein  Blatt.  So  stenogra¬ 
phierte  er  seine  Ein¬ 
drücke,  teils  für  eigenen, 
teils  für  fremden  Ge¬ 
brauch.  Und  unter  seiner 
Hand  wurde  alles  inter¬ 
essant.  Wenn  er  es  sah, 
sah  es  sehenswürdig  aus. 

Ich  weiss  nicht  mehr, 
wem  ein  gewisses  kleines 
Aquarell  gehört,  das  eine 
Seite  des  Burghofes  dar¬ 
stellt,  die  mit  der  Haupt¬ 
wache.  Eine  lange  öde 
Fronte,  mit  einem  langen 
öden  Dache,  in  natura 

das  Ideal  der  Langweile.  Rudolf  Alt  machte  dar¬ 
aus  ein  Kabinettstück,  ein  malerisches  Kuriosum. 
Nichts  Wohligeres  als  das  mannigfach  angewitlerte 
Grau  jener  uralten  Putzfassade,  das  durch  nichts 
Architekturales  gestört  ist.  Und  nichts  Amüsanteres 
als  jenes  langweilige  Dach,  das  die  Regen  von 
Jahrzehnten  mit  zahllosen  senkrechten  Streifen  in 
allen  Farben  bemalt  haben,  mit  langen  und  kurzen, 
verschieden  dicht  gruppierten,  dass  man  ein  unge¬ 
heures  Sonnenspektrum  zu  sehen  glaubt.  Und  dieses 
Dach  ist  obendrein  mit  ganzen  Scharen  von  Rauchfängen, 
Kaminen,  Schloten  und  Schlötchen  bedeckt,  von  allen 
Formen  und  in  allen  Gruppierungen;  das  ist  doch  noch 
unterhaltender  als  das  angeblich  langweilige  Dach. 
Mit  solchem  Auge  sieht  Rudolf  Alt  die  Dinge  an. 

ln  vormärzlicher  Zeit  staken  viele  Maler  tief  in 
der  Lithographie.  Auch  Pettenkofen,  auf  dessen  Palette 
sich  später  so  viel  buntes  Feuer  sammelte,  litho¬ 
graphierte  damals  in  grossen  Werken  die  österreichische 
Armee  und  die  Heldenthaten  ihrer  Subalternen  und 
Gemeinen.  Auch  ihr  erster  Kolorismus  hatte  dann 
diesen  lithographischen  Ton  und  besonders  den  Ton¬ 


Studien  (Schiilmädcl,  Bauernhaus,  Fürst  Metternich  1852) 


druckton.  Kelheim  war  die  Hauptstadt  der  mittel¬ 
europäischen  Farbe.  Bei  Rudolf  Alt  fand  sich  zu¬ 
nächst  ein  reizvoller,  schummriger  Schatten  ein,  und 
zwar  kein  brauner,  sondern  ein  schwärzlicher,  noch 
geradeswegs  von  der  Feder  her.  Wie  er  eine  solche 
Schattenmasse  in  seine  Veduten  hineinlegte  und  ihr 
einen  phantastisch  ausgezackten  Umriss  gab,  aber 
auch  innerhalb  dieses  Schattens  ein  Wimmeln  von 
feinem  Leben  vor  sich  gehen  liess,  das  gab  seinen 
Scenerien  so  viel  räumliche  Gliederung.  (Siehe  unser 
Pantheonbild,  wo  man  etwas  davon  merkt.)  Die  Farbe 
fand  sich  mit  den  Jahren  ganz  nach  Bedarf  ein,  bald 
trüber,  bald  glänzender,  beeinflusst  von  Strömungen, 
von  Pettenkofen,  von  Makart,  aber  immer  so  altisch, 
dass  man  ihn  auf  den  ersten  Blick  erkennt.  Daran 
und  an  dem  eigentümlichen  Gewimmel,  dem  Ge- 
wurl«,  um  es  wienerisch  zu  sagen,  das  die  Natur 
immer  und  immer  hat.  Sich  in  eine  Unabsehbarkeit 
von  Detail  hinein  zu  stürzen,  auf  Nimmerherauskommen, 

das  war  von  jeher  seine 
Hauptpassion.  So  eine 
ganze  Thalwand  von 
Gastein,  mit  all  ihrem 
Gewühl  von  Fels-  und 
Baumformen.  Oder  das 
ganze  kraus  -  gotische 
Kirchengestühl  im  Chore 
von  St.  Stephan.  Oder 
ein  Saal  wie  in  Schloss 
Rosenberg,  mit  Haut 
und  Haar,  mit  dem  Ta¬ 
petenmuster  sogar.  Oder 
ein  Fleckchen  im  Ge¬ 
stein  mit  einer  ganzen 
Alpenflora;  der  »letzte 
Baum  im  Wienbett«  mit 
seinen  sämtlichen  Blät¬ 
tern,  die  er  rein  gezählt 
haben  muss;  die  alten 
mit  sämtlichen  Launen 


Marmore  der  Markuskirche 
ihrer  Äderungen, 
Beklecksungen 
und  Zwiebeldurch¬ 
schnitte;  sämtliche 
Bogen  des  Kolos¬ 
seums,  Reihe  für 
Reihe,  jeder  mit 
einem  anderen 
Ausschnitt  von  Na¬ 
tur  in  seinem  Rah¬ 
men.  Und  der¬ 
gleichen  mehr. 

Und  dabei  war  er 
nie  ein  Abschrei¬ 
ber,  noch  weniger 
ein  Fabrikant.  Den 
Stephansturm,  den 
er  anno  1832  zum 
erstenmal,  und 
dann  noch,  er 
weiss  selber  nicht 


RUDOLF  VON  ALT 


WALDMOTIV 


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RUDOLF  VON  ALT 


263 


Riidolj  von  Alt.  Hradek 


wie  oft  malte,  hat  er  jedes  einzelne  Mal  nach 
der  Natur  gemalt.  Ein  Altwiener  wird  doch  den 
anderen  nicht  betrügen.  Am  liebsten  malt  er  ihn 
aus  einem  Fenster  des  alten  Leinwandgeschäftes 
Kranner  am  Stephansplatz,  im  ersten  Stock  oben,  unter 
dem  Geplauder  der  arbeitenden  Mädchen;  das  erinnert 
ihn  an  seine  zehn  »Kanari-  in  dem  grossen,  von 
Herbeck  ererbten  Vogelhause,  das  in  seiner  eigenen 
Stube  neben  dem  Zeichentisch  steht.  Und  der 
Stephansturm  ist  sein  ältester  Freund,  den  er  kennt 
wie  sich  selber.  Er  sieht  ihm  alle  seine  Gemüts¬ 
stimmungen  an.  Wie  er  tiefdüster  in  einen  gelang¬ 
weilten  Novemberhimmel  emporstarrt,  oder  sich  ge¬ 
spenstisch  als  turmhohes  bleiches  Skelett  von  schwarzen 
Wetterwolken  abhebt.  Einmal  löst  er  sich  dunkel 
vom  Boden  und  wird  im  Aufsteigen  immer  heller, 
er  verklärt  sich  zusehends,  bis  er  hoch  oben  mit 
einem  goldenen  Blitz  endet.  Einmal  kehrt  er  das 
Geometrische  hervor  und  summiert  sich,  spitzt  sich 
zu  wie  ein  Rechenexempel.  Ein  andermal  wächst  er 
wie  ein  lebender  Baum  vor  unseren  Augen  auf, 
treibt  Zweig  um  Zweig,  Blatt  um  Blatt  und  ist 
schliesslich  mit  zahllosen  weissen  Blüten  bedeckt. 
Andere  Maler  von  Stephanstürmen  legen  lieber  eine 
Photographie  vor  sich  hin  und  linderen  die  Sache 
hübsch  sauber  herunter. 

Gewimmel  ist  Bewegung,  und  Bewegung  reizt. 
Das  Auge  spielt  mit  ihr,  wie  die  Katze  mit  dem  Woll- 
knäuel.  Rudolf  Alt  wohnt  (seit  61  Jahren!)  Skoda¬ 
gasse  Nr.  18  im  zweiten  Stock.  Er  malt  gern  zum 
Fenster  hinaus,  und  so  malte  er  einst  seine  Gasse, 
wie  sie  sachte  abwärts  streicht  und  in  die  Alserstrasse 
hineinschwenkt.  Und  daran  reizte  ihn  hauptsächlich 
das  Pflaster  mit  den  unzähligen  Pflastersteinen,  die 


da  unter  ihm-  in  unregelmässigen  Reihen  vorüber¬ 
wimmelten.  Von  diesem  Fenster  blickt  er  jenseits 
auf  den  Hof  des  Eisenfabrikanten  Kitschelt,  mit  einer 
Schmiedeesse  und  unabsehbarem  Gerümpel  von  altem 
Eisen  in  alten  Rostfarben.  Auch  das  malte  er  einmal, 
als  er  gerade  85  Jahre  alt  geworden,  so  in  seiner 
Weise,  und  es  wurde  ein  gefeiertes  Bild,  ln  der 
Ausstellung  fand  man  es  eines  Tages  mit  Lorbeer 
und  Blumen  bekränzt  von  den  jungen  Leuten,  die 
heute  die  Secession  bilden  und  ihn  als  Ehren¬ 
obmann  an  der  Spitze  haben.  Wenn  er  sich  an 
solches  Malen  macht,  folgt  er  auch  nur  dem  Augen¬ 
reiz.  Er  beginnt  an  der  Stelle,  die  ihn  besonders 
gepackt  hat  und  malt  weiter,  schreibt  mit  dem  Pinsel 
weiter,  so  weit  der  »Whatman«  reicht,  und  noch 
weiter,  denn  er  stückelt  nach  Bedarf  neue  Zipfel  an. 
(Mein  Gott,  die  Welt  hat  gar  so  viele  Zipfel.)  Ich 
habe  ihn  auch  auf  der  Strasse  so  malen  sehen,  stehend, 
wie  im  Vorübergehen,  ein  winziges  Malzeug  in  der 
Hand;  man  kann  ja  aus  dem  kleinsten  Tintenfass  das 
grösste  Heldengedicht  schreiben.  Er  kann  sich  das 
leisten,  schon  weil  er  den  mechanischen  Apparat  der 
Perspektiviker  nicht  braucht.  Er  hat  sich  seine  kühnen 
Perspektiven  nie  mit  dem  Lineal  konstruiert  und  war 
nie  auf  der  Jagd  nach  enteilenden  Eluchtpunkten. 
Ihm  war  das  perspektivische  Fühlen  schon  angeboren, 
ehe  Mariano  Fortuny  geboren  wurde,  um  der  Welt 
zu  zeigen,  dass  das  geometrische  Konstruieren  solche 
Dinge  eher  verdirbt  als  fördert.  Und  es  ist  noch 
nichts  eingestürzt,  was  er  so  mit  dem  Pinsel  unmittel¬ 
bar  aus  dem  Auge  heraus  hinperspektiviert  hat.  Ich 
denke  da  an  den  Arkadenhof  im  alten  Renaissance¬ 
palast  der  Fürsten  Porcia  in  Spital  an  der  Drau,  mit 
den  mächtigen  dunklen  Rundbogen  vorne  und  dem 


264 


RUDOLF  VON  ALT 


steilen  Gegeneinander  der  dahinter  zurückfliehenden 
Linien.  Und  an  die  gotische  Franziskanerkirche  in 
Salzburg  mit  ihrer  einzelnen  Mittelsäule,  auf  deren 
Flaupt  die  eleganten  Bogen  von  allen  Seiten  kon- 
zentriscli  niedersteigen.  Und  an  die  Treppenhalle 
des  Belvedere,  mit  dem  Weiss-in-Weiss  ihrer  gross¬ 
zügigen  Rokokostuccaturen  und  den  seltsamen  Ver¬ 
schiebungen  der  Treppenarme  und  Brüstungen,  die 
gleichzeitig  in  die  Lüfte  und  unter  die  Erde  steigen. 
Und  an  die  gewaltigen  Bücherpaläste  der  Barockzeit, 
die  goldstarrenden,  farbenschwimmenden  Säulensäle 
der  Bibliotheken  in  der  Hofburg  oder  im  Stift  Admont. 
Und  an  die  lange  enge  Wipplingerstrasse,  in  deren 
felsspaltartiger  Kluft  er  die  lange  Barockfassade  des 
alten  Rathauses  mit  allen  ihren  symmetrischen  Krümmen 
und  Schrägen  so  musterhaft  flach  und  dennoch  deut¬ 
lich  unterzubringeu  weiss.  Dieses  mul  noch  manches 
andere  grosse  Blatt  sind  Bravourstücke  der  Gattung. 
Während  im  Gegenteil  der  sonst  ganz  treffliche  Alois 
Schönn  in  seiner  Ansicht  der  Freiung  den  Turm 
der  Schottenkirche  trotz  alles  geometrischen  Kon- 
struierens  nicht  standfest  herausgebracht  hat.  Ini  Mu¬ 
seum  der  Stadt  Wien  kann  man  bequem  diese  Ver¬ 
gleiche  ziehen. 

Zu  den  augenehmsten  Gewimmeln  gehören  ihm 
von  jeher  die  Interieurs.  Einen  malerischen  Innen¬ 
raum  mit  seinem  endlosen  Kleinzeug  von  Nutz-  und 
Zierwerk  so  von  A  bis  Z  hinzuschnörkeln  und  hin¬ 
zusprenkeln  war  ihm  stets  willkommene  Leibesübung. 
Das  erste  solche  Bild,  sagte  er  mir,  war  der  Billard¬ 


saat  des  berühmten  Klinikers  Professor  Skoda,  seines 
Nachbars  in  der  Skodagasse,  die  damals  noch  Reiter¬ 
gasse  und  noch  früher  Kaserngasse  hiess,  wegen  der 
nahen  Kavalleriekaserne.  So  ist  Rudolf  Alt  im  Laufe 
der  erwähnten  einundsechzig  Jahre  aus  der  Kasern¬ 
gasse  in  die  F^eitergasse  und  aus  dieser  in  die 
Skodagasse  gezogen,  ohne  auszuziehen.  Er  hat  seit¬ 
her  an  die  dreihundert  Interieurs  gemalt  und,  wie  er 
sagt,  daran  eigentlich  seine  Aquarellteclmik  ausgebildet. 
Und  welche  Prachtstücke  sind  darunter,  z.  B.  aus  der 
Makartzeit,  wo  I^racht  ja  das  tägliche  Brot  war.  Voran 
gleich  Makart’s  Atelier,  diese  Vision,  dieser  Superlativ 
von  irgend  etwas,  das  gar  keinen  rechten  Namen  hat, 
aber  damals  in  der  Wiener  Luft  lag,  in  der  Luft  des 
berüchtigten  volkswirtschaftlichen  Aufschwungs  ,  dem 
der  Krach  folgte.  Der  Geldkrach  und  .  .  .  der  Earben- 
krach.  Dann  das  Makartzimmer  Nikolaus  Dumba’s, 
ein  Arbeitszimmer  in  dunkelbraunem  Eichenholz,  die 
Wandtäfelung  mittelst  vieler  Säulchen  in  Bücherfächer 
aufgelöst,  die  oberen  Wandflächen  und  die  Decke 
mit  Makartscenen  bedeckt,  mit  üppigen  Allegorien  auf 
Künste  und  Gewerbe,  in  der  damaligen  ersten  furia 
veneziana  dieses  »Bruder  Rausch«.  Und  wie  viele 
andere  aparte  Wiener  Gemächer  sind  so  gemalt,  be¬ 
sonders  bei  Kunstfreunden,  wo  viel  schönes  Menschen¬ 
werk  dabei  mit  zu  konterfeien  ist.  Im  Schlösschen 
des  Malers  Amerling  z.  B.,  das  ein  ganzes  Museum 
voll  rarer  Dinge  war.  Man  muss  nur  etwa  sehen, 
wie  er  eine  Wand  voll  Bücherrücken,  von  schichten¬ 
weise  hingelagerten  Mappen-  und  Albumwerken  mit 


Rudolf  von  Alt.  Bei  Mödling  (Studie) 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST 


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RUDOLF  VON  ALT.  AQUARELL.  1843 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  u 


35 


RUDOLF  VON  ALT  DAS  PANTHEON  {1873) 


RUDOLF  VON  ALT 


267 


all  ihrer  Goldzier  leicht  und  breit  hindetailliert.  Un¬ 
willkürlich  erinnert  es  an  die  grosse  innere  Verwandt¬ 
schaft  mit  jenem  anderen  uralten  Allseher  und  All¬ 
maler,  Menzel.  In  den  Palästen  Wiens  stehen  und 
hängen  viele  solche  Ansichten  aus  fernen  Schlössern 
der  Besitzer.  Im  Palais  Auersperg,  im  Palais  des 
Grafen  Karl  Lanckoronski.  Fürst  Liechtenstein  hat 
viele;  bloss  die  Ansichten  aus  seinem  Schloss  Hollenegg 
in  Steiermark  tragen  Daten  von  1866  bis  i8go. 
Wie  schön  ist  z.  B.  der  Schlosshof  (1866)  mit  seinen 
prachtvollen  Epheugehängen,  starrend  von  Blumen¬ 
schmuck  und  ganz  in  Sonne  gebadet.  Fürst  Lon- 
gueval-Bouquoy  in  Gratzen  besitzt  eine  lange  Reihe 
Alt’scher  Interieurs;  aus 
Schloss  Rosenberg  allein 
sah  ich  zwölf  (bezeichnet 
1853  bis  1857);  das 
Maximiliansgemach,  das 
Ferdinandsgemach  u.  s.  f. 

Damals  sah  man  diese 
Sachen  noch  romantisch 
an;  Alt  malte  eine  ganz 
ritterliche  Ansicht  der 
Burg,  im  Abenddämmer, 
mit  der  Mondsichel  am 
Himmel.  Und  damals 
hatte  er  noch  die  ganze 
vormärzliche  Sauberkeit. 

In  den  Ansichten  aus 
Schönbrunn  (Erzherzog 
Karl  Ludwig,  1853  bis 
1856)  sieht  das  Aquarell 
wie  die  feinste  Litho¬ 
graphie  aus.  Der  alte 
Herr  hat  mir  gelegent¬ 
lich  manches  aus  so 
früher  und  noch  früherer 
Zeit  erzählt.  Vom  Eürsten 
Klemens  Metternich  etwa, 
dem  allmächtigen  Staats¬ 
kanzler,  den  er  anno 
1852  mit  seiner  ganzen 
Eamilieim  Wohngemach 
zu  malen  hatte.  1852, 
das  ist  das  Jahr  des 

Staatsstreiches  in  Paris.  Der  Eürst  sass  und  las  in 
der  Zeitung  die  Berichte  über  die  Missethaten  Louis 
Napoleon’s,  über  dessen  Schlechtigkeit  er  nicht  wenig 
loszog.  (Wir  geben  die  kleine  Bleistiftstudie,  in  der 
er  sich  damals  den  Eürsten  auf  einem  losen  Papier¬ 
schnitzel  »notiert«  hat.)  Bei  Hofe  war  die  Maler¬ 
familie  Alt  schon  viel  früher  bekannt.  Der  Vater, 
Jakob,  und  die  Söhne,  Rudolf  und  Eranz,  sämtlich 
solche  Vedutentalente.  Und  da  komme  ich  auf  die 
sogenannten  Guckkastenbilder  des  Kaisers  Eerdinand, 
über  die  noch  immer  von  Zeit  zu  Zeit  irgend  eine 
neue  Version  auflaucht.  Am  Michaeler]üatz,  Ecke 
der  Herrengasse,  ist  das  uralte  Delikatessengeschäft 
»zu  den  drei  Laufern«.  Das  gehörte  in  den  vierziger 
Jahren  dem  Vater  des  später  berühmten  Architekten 
van  der  Nüll.  Der  Hess  sich  für  sein  Schaufenster 


Die  Zuckerbäckerin 


einen  Guckkasten  machen,  mit  einem  Hohlspiegel, 
durch  den  man  das  eingeschobene  Bild  vergrössert 
sah.  Der  geschickte  Gurk,  einst  Hofmaler  des  Eeld- 
marschalls  Eürsten  Schwarzenberg,  malte  die  Ansichten 
dazu.  Der  damalige  Kronprinz  Eerdinand  kaufte  den 
Kasten,  den  Spiegel  aber  bekam  er  nicht  mehr,  den 
hatte  der  Apotheker  Moser  aus  der  Josefstadt  erworben. 
Der  Kronprinz  Hess  sich  durch  Plössl,  den  welt¬ 
berühmten  Optiker  des  damaligen  Wien  (die  Plössl- 
gasse  ist  nach  ihm  benannt),  einen  neuen  Spiegel 
machen  und  bestellte  bei  Jakob  Alt  Ansichten.  Jeden 
Monat  wurden  vier  abgeliefert  und  das  Stück  mit 
zwanzig  Gulden  bezahlt;  später  monatlich  nur  zwei, 

aber  zu  dreissig  Gulden. 
Das  ging  lange  so  fort 
und  Rudolf  teilte  sich 
mit  dem  Vater  in  die 
Arbeit.  Jahrzehnte  später 
sah  er  in  der  Hofburg 
ganze  Mappen  voll  dieser 
Veduten  und  traute  sei¬ 
nen  Augen  nicht,  dass 
er  diese  Dinge  gemalt 
haben  sollte. 

Altwien  im  Spiegel 
Rudolf  Alt’s  gesehen, 
hat  einen  eigenen  Reiz. 
Jener  erste  Stephansturm 
von  1 832,  in  kaiserlichem 
Besitz,  ist  noch  in  Öl 
gemalt.  Das  Aquarell 
galt  damals  für  etwas 
Minderwertiges.  Und  ge¬ 
rade  im  Aquarell  hat  Alt 
den  vollen  Reiz  seiner 
Earbe  und  seiner  raschen 
Hand  gefunden.  Dennoch 
sieht  man  auch  jene  alten, 
etwas  schweren  Ölbilder 
gern.  Mich  hat  immer 
auch  die  Staffage  angezo¬ 
gen,  dieses  viele  Publi¬ 
kum  in  seiner  vollen  Dazu- 
voni  Alsergrund  maligkeit,  diese  Bieder¬ 

meierbevölkerung  in  der 
altklugen  Putzigkeit  ihrer  Tracht.  Eine  Zeit  lang  ge¬ 
hörte  es  zu  den  Stichwörtern  punkto  Alt,  dass  er 
»leider«  mit  seinen  Eiguren  die  Strassenbilder  ver¬ 
derbe.  Wie  ungerecht!  Er  verstand  sich  auf  seine 
alten  Wiener  ganz  vorzüglich  und  sie  laufen  noch 
heule  ganz  lebendig  in  seinen  Bildern  herum.  Ab¬ 
sichtlich  geben  wir  ein  paar  solche  Figürchen  wieder 
(die  farbige  sieht  allerdings  im  Original  unvergleich¬ 
lich  lustiger  aus),  denn  sie  haben  ihr  eigenes  Gepräge 
und  eine  ganz  liebenswürdige  Typik.  Auch  ziehen 
wir  eines  der  Selbstbildnisse  dieses  Landschaften-  und 
Städtemalers  (aus  dem  Besitze  seiner  Tochter  Luise) 
irgend  einem  von  fremder  Hand  vor.  Er  sieht  sein 
Gesicht  an,  wie  eine  andere  interessante  Gegend, 
Ruinengegend,  würde  er  in  seiner  scherzhaften  Weise 
sagen.  Die  Familie  besitzt  noch  sein  Bild  aus  dem 


208 


RUDOLF  VON  ALT 


isien  Lebensjahr.  Sie  werden  mich  schwerlich  er¬ 
kennen,  meinte  er,  als  er  es  mir  zeigte.  Aber  das 
goldblonde  Büblein  auf  dem  Schosse  seiner  Mutter 
schaut  bereits  mit  dem  nämlichen  hellen  Blau  der 
Augen  in  die  Welt,  wie  der  Neunzigjährige.  Er  hat 
noch  jetzt  ein  merkwürdig  scharfes  Auge.  Von 
seinem  Maltisch  aus,  in  der  Nähe  des  Fensters,  sah 
er  deutlich,  welche  Blätter  wir  im  Flintergrunde  des 
Zimmers  aus  den  ungeheuren  Mappen  holten,  und 
knüpfte  an  jedes  seine  Bemerkungen.  Auch  auf  dem 
Fächer,  den  wir  abbilden  (Eigentum  seiner  Tochter), 
hat  er  unter  anderen  Kuriositäten  sein  Porträt  gemalt. 
Das  schwarze,  kraus  verschnörkelte  Ding  in  der  Mitte 
ist  der  alte  Brunnen  in  Bruck  an  der  Mur,  mit  dem 
prächtigen  eisernen  Renaissancegitter.  Er  ist  ein  alter 
Freund  von  solchen  alten  Gittern.  Zu  Klosterneu¬ 
burg  ist  der  berühmte  Verduner  Altar,  diese  pala 
d’oro  aus  vergoldeter  Bronze  mit  5g  biblischen 
Scenen  in  farbigem  Grubenschmelz.  Man  sieht  es 
nur  durch  ein  feines  eisernes  Schnörkelgitter,  wie 
durch  einen  schwarzen  Schleier  mit  sehr  grossen 
Maschen.  Das  ist  auch  so  ein  Gitter,  dessen  Schwarz 
auf  Gold  den  Künstler  wiederholt  gereizt  hat. 

Ich  gerate  aus  dem  Flundertsten  ins  Tausendste, 
ungefähr  wie  er  aus  dem  Ersten  ins  Neunzigste  ge¬ 
raten  ist.  Ich  zeichne  sein  Leben,  wie  er  seinen 
Stephansplatz,  indem  er  an  einer  beliebigen  hübschen 
Stelle  beginnt  und  immer  weiter  geht,  bis  er  schliess¬ 
lich  auf  allen  Seiten  anstückeln  muss.  An  äusseren 
Ereignissen  ist  bei  ihm  eigentlich  weiter  nichts  zu 
vermerken.  Ein  ruhiges,  fruchtbares  Leben  liegt 
weithin  ansgebreitet.  Ein  schlichtes  österreichisches 
Künstlerleben,  das  nur  die  Kunst  und  die  Eamilie 
kannte.  Schätze  waren  natürlich  auch  nicht  zu  sam¬ 
meln,  Ehren  fanden  sich  irgendwie  ein,  auffallend 
spät:  der  Professortitel,  der  österreichische  Ritterstand. 
Er  lebte  nie  nach  aussen;  nur  so  für  sich  und  die 
Seinen.  Es  ist  bezeichnend,  dass  er  nie  in  Paris 
war,  das  hätte  zu  viel  gekostet.  So  oft  es  die  Mittel 
erlaubten,  ging  er  nach  Italien.  Er  schickte  auch  nie 
etwas  ins  Ausland,  das  Bilderverpacken  war  ihm  ein 
Greuel  und  das  Zeug  wäre  ja  doch  wieder  znrück- 
gekommen,  meint  er.  Von  einer  Pariser  Weltausstel¬ 
lung  kam  ihm  einmal  ein  Ehrendiplom  ins  Elans. 
Im  allgemeinen  aber  blieb  er  für  das  Ausland  in 
eine  dichte  Wolke  des  Inkognitos  gehüllt.  Auch  die 
löbliche  deutsche  Kunstgeschichte  nahm  von  seiner 
Existenz  keine  Notiz.  Bei  alledem  war  er  nichts 
weniger  als  ein  Stubenhocker  und  ein  Kirchturm¬ 
maler  (wie  es  Kirchturmpolitiker  giebt);  wenn  auch 
sein  Kirchturm  der  hohe  bei  Sankt  Stephan  gewesen 
wäre.  Seine  freizügige  und  freizüngige  Natur  steckte 
sich  immer  alle  Schranken  so  weit  als  möglich.  Ich 
finde  unter  seinen  Blättern  welche  aus  Nürnberg  (der 
-schöne  Brunnen«  war  stets  einer  seiner  Lieblinge, 
den  er  schon  in  seiner  frühen  Ölzeit  liebevoll  gemalt 
hat)  und  aus  Luzern,  aus  Krakau,  aus  Szegedin  an 
der  Theiss,  ja  selbst  aus  Odessa  und  der  Krim  (1863), 
wo  er  das  kaiserliche  Lustschloss  Livadia,  aber  auch 
allerlei  bunte  Tatarendörfer  um  Yalta  und  Baktschi- 
Sarai,  und  sogar  das  Innere  eines  Harems  malte. 


Italien  wurde  eine  zweite  Heimat.  Auf  dem  Mar- 
knsplatze  liess  er  noch  österreichisches  Militär  in  da¬ 
maligen  weissen  Waffenröcken  bummeln.  Wie  oft 
hat  er  das  römische  Forum  gemalt;  ich  sehe  es  bei 
ihm  1835  beginnen  und  1873  aufhören;  noch  ganz 
als  Campo  Vaccino,  imausgegraben,  ein  Stück  Cam- 
pagna  mitten  in  die  steinerne  Stadt  versetzt,  mit 
weidenden  Büffeln  bei  jenen  wahrzeichenhaften  drei 
Tempelsäulen.  Wenn  ich  sein  Forum  vom  Jahre  1866 
hätte,  dessen  Wasserfarbe  eine  Ausgiebigkeit  von 
Sonnenwärme  hat,  dass  man  eher  an  Sonnenblumenöl 
als  an  Wasser  denkt,  ich  würde  es  über  meinen 
Schreibtisch  hängen,  um  mich  beim  Schreiben  an 
diesem  gemalten  Klima  zu  stärken. 

In  Wien  hat  Rudolf  Alt  eine  Stellung,  wie  noch 
kein  Wiener  vor  ihm.  Er  ist  der  lebendige  Chronist 
dieser  Residenz.  -Saget,  Steine,  mir  an  .  .  .«  Was 
diese  Steine  sagen,  und  wovon  sie  schweigen  und 
träumen,  das  hat  er  alles  drei  Menschenalter  hindurch 
treulich  gemalt.  Ihre  Erinnerungen  und  Hoffnungen, 
ihr  Absterben  und  Neuerblühen.  Er  hat  ein  demo¬ 
liertes  Wien  gemalt,  von  dem  kein  Stein  mehr  zu 
sehen,  und  ein  langsam  nachwachsendes,  eine  Ver¬ 
jüngung  nach  der  anderen.  An  seinen  Bildern  sahen 
die  Wiener  erst,  wie  malerisch  ihre  alten  krummen 
Gassen  und  verzwickten  Mauerwinkel  waren.  Wie 
bildhaft,  motivmässig  die  mittelalterlich  steilen,  hohen 
Dinge  sich  oft  gruppierten,  und  welch  auserlesene 
feine  Töne  der  alte  Mauerputz  der  breitgestirnten 
Barockhäuser  nachgerade  spielen  gelernt.  Diese  Patina 
des  Putzes  war  an  sich  eine  feine  koloristische  Schule, 
die  das  Auge  empfindlich  machte  für  Sechzehntel¬ 
und  Zweiunddreissigsteltöne  von  Gelbgrau  und  Grau¬ 
braun.  Viele  Wiener  Aquarellisten  gehen  seitdem  in 
diese  Schule.  Alles  in  dieser  gemauerten  Welt  wurde 
ihm  Phänomen,  malerische  Naturerscheinung.  Der 
Alltag  überraschte  ihn  fortwährend  mit  kleinen  und 
grossen  Wundern.  Wie  sollte  er  also  eine  Sonnen¬ 
finsternis  »auslassen«,  wenn  der  liebe  Gott  die  Wiener 
mit  einer  erfreute,  wie  am  8.  Juli  1842?  (Wir  geben 
diese  Studie  auch  eigens,  wie  er  sie  auf  der  Türken¬ 
schanze  bei  Wien  sah  und  gewissenhaft  in  Öl  malte.) 
So  früh  schon  hatte  er  diese  atmosphärischen  Pas¬ 
sionen.  Überhaupt  melden  sich  bei  ihm  von  jeher 
allerlei  moderne  Züge.  Unsere  kleine  Landschaft  von 
Hradek,  gewiss  kein  Effektmotiv,  das  Gegenteil  von 
»pittoresk'  ,  hat  in  der  leisen  Bodenbewegung  und 
in  der  Empfindung  für  die  Natur  der  Ackerkrume 
ein  so  intimes  Leben,  wie  es  erst  Emil  Schindler  viel 
später  zu  malen  verstand.  Man  denke  sich  aber  zu  diesem 
Blatte  die  Earbe;  das  Schwarzgrün  der  fernen  Baum¬ 
gruppen,  die  blendenden  Pointen  der  Gebäude,  das 
quer  hindurchfliessende  Sonnenlicht  hinter  der  ersten 
Bodenfalte  und  die  feinen  Tonunterschiede  zwischen 
den  Hügelzügen  des  Hintergrundes.  In  der  kleinen 
Mödlinger  Studie,  mit  den  künstlichen  Ruinen  auf 
den  Hügeln ,  sieht  man  den  uralten  Wiener  Land¬ 
partiengeist  an  der  Arbeit,  die  Ereude  an  jener 
Mannigfaltigkeit  im  engsten  Erdenwinkel,  die  den 
Wiener  Wald  auszeichnet.  Dabei  ist  gerade  diese 
Studie,  wie  sie  da  in  der  Sommersonne  schwimmt. 


RUDOLF  VON  ALT 


DER  STEPHANSTURM  (1893) 


RUDOLF  VON  ALT 


271 


mit  einer  flotten  Sicherheit  wie  zum  Sonntags¬ 
vergnügen  hingewaschen,  dass  man  sie  fast  einem 
anderen  zuschreiben  würde.  Dagegen  zeigt  unser 
farbiges  Gasteiner  Bild,  wie  auch  die  beiden  anderen 
grossen  Waldbilder,  den  Rudolf  Alt  des  letzten  Jahr¬ 
zehnts  mit  seiner  vollkommen  durchgereiften  Tüpfel¬ 
technik.  Diesen  Pointillismus  hat  er  keineswegs  den 
Franzosen  nachgepünktelt,  sondern  er  lässt  sich  bei 
ihm  schon  in  den  sechziger  Jahren  nachweisen.  Später, 
als  seine  Hand  zu  zittern  begann,  so  dass  seine  Schrift¬ 
züge  einer  halb  ausgedehnten  Spiralfeder  gleichen, 
machte  er  sich  aus  jenem  punktweisen,  scharf  zielenden 
Hintreffen  mit  der  Pinselspitze  ein  eigenes  System, 


Herbst  in  der  Secession  ausgestellt  war,  ging  eine 
Art  Rührung  durch  das  Publikum.  Wie  die  Sonne 
durch  diese  Baumkrone  scheint  und  das  Laub  in 
feurigen  Dunst  auflöst,  der  in  breitem  Streifen  nieder¬ 
trieft  das  ist  ein  förmlich  secessionistisches  Ex¬ 
periment.  Dieser  Patriarch  hat  noch  Lust  zum  Pro¬ 
blematischen.  Gleichzeitig  war  auch  unsere  Ansicht 
des  Pantheons  ausgestellt,  von  1873,  noch  mit  den 
Eselsohren  des  Bernini  über  dem  antiken  Giebel¬ 
dreieck.  Darin  ist  sein  ganzes  meisterhaftes  Können 
von  damals.  Die  schwungvolle  Freihändigkeit  seines 
Zeichnens  und  die  schon  erwähnte  Kunst  des  Wirt- 
schaftens  mit  grossen  Schattenmassen.  Unser  Stephans- 


Rüdolf  von  Alt.  Der  schöne  Brunnen  in  Trient.  1873 


ja  eine  eigene  Virtuosität.  Die  Abbildungen  geben 
die  Bilder  natürlich  verkleinert,  und  das  lässt  den 
Vortrag  kleinkörniger  erscheinen,  als  er  in  der  That 
ist.  In  der  Originalgrösse  hat  er  Saft  und  Kraft  in 
ganz  erstaunlichem  Grade.  Und  gerade  heute,  in 
neo-impressionistischer,  divisionistischer  Zeit,  ist  das 
von  selbst  hochmodern  geworden.  Die  eine  dieser 
Landschaften,  die  mit  der  Sonnenscheibe  in  der  Laub¬ 
krone  rechts,  ist  im  Sommer  igoi  gemalt  (!).  Von 
einer  neunundachtzigjährigen  Hand.  Es  ist  der  Aus¬ 
blick  von  seiner  Veranda  in  Goisern  bei  Ischl,  oder 
vielmehr  in  Lasern  bei  Goisern,  wo  er  schon  den 
vierten  Sommer  verbringt.  Vielleicht  sitzt  er  auch 
gerade  jetzt  auf  dieser  Veranda  und  malt  diese  Wiese 
mit  den  grossen  Bäumen  und  dahinter  einen  Buckel 
des  Ramsauer  Gebirges.  Als  dieses  Bild  vorigen 


türm  ist  vom  Jahre  1893.  In  ernster,  fast  etwas 
düsterer  Majestät  ragt  er  auf,  in  die  historische  Farbe 
eines  Denkmals  der  Zeiten  getaucht.  Das  grosse, 
fast  schwarze  Haus  rechts  ist  das  altehrwürdige  Kur¬ 
priesterhaus;  dahinter  sieht  man  in  hellerem  Grau 
einen  Flügel  des  .Deutschen  Hauses^  (vom  deutschen 
Ritterorden).  Und  das  schiefwinkelige  Stück  alter 
Stephansplatz,  das  sich  zwischen  diese  vierschrötigen 
alten  Gebäude  hineinschiebt,  mit  seinen  verschieden¬ 
artigen  Pflastern  und  dem  Fiakerstandplatz  rechts,  und 
dem  schiefstehenden  Schimmelgespann  vor  dem  Omni¬ 
bus  links,  und  mit  all  den  Leuten  und  Toiletten  und 
Strassenlaternen  (jede  anders),  kurz  all  dem  Zeugs  , 
.  .  .  das  spricht  für  sich.  Und  für  Rudolf  Alt,  der 
den  Stephaiisplalz  zu  einem  Rudolf  Altplatz  gemacht 
hat. 


Aus  Ver  sacrum 


RUDOLF  VON  ALT 


DIE  KANZEL  IM  STEPHANSDOM 


Zeitschrilt  für  bildejule  Kunst.  N.  F.  XIII.  II.  ii. 


30 


RUDOLF  VON  ALT  AUS  GOlSERN.  190t 


[RUDOLF  VON  ALT 


Original  in  der  k.  u.  k,  Genuildegaleric  in  Wien 


DOGENPALAST 


RUDOLF  VON  ALT 


DER  STEPHANSPLATZ 


Aus  Ver  sacrum 


RUDOLF  VON  ALT 


AQUARELL 


MIT!?'' 


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BUCHERSCHAU 


Seit  dem  vorigen  Jahre  ist  in  Wien  der  Versuch  ge¬ 
macht  worden,  etwa  in  der  Art  des  Figaro-Salon,  das 
Beste,  was  die  jährlichen  Ausstellungen  zusammenführen 
und  nach  kurzer  Frist  auseinander  flattern  lassen,  in  guten 
Illustrationen  festzuhalten.  Aber  das  Wiener  Unter¬ 
nehmen,  dass  sich  Ars  nova  betitelt  und  im  Verlage  von 
Max  Herzig  erscheint,  zeichnet  sich  vor  dem  französischen 
Werke  zunächst  schon  dadurch  aus,  dass  es  sich  auf  eine 
kleine  Zahl  von  Kunstwerken  beschränkt,  diese  aber  in 
der  edelsten  Reproduktionsart,  nämlich  in  Heliogravüre, 
mustergültig  wiedergiebt. 

Der  äussere  Eindruck  des  schweren  Orossfoliobandes 
ist  ein  geradezu  überraschender.  Eine  Decke  von  so 
künstlerischer  Wirkung,  ein  solcher  Prachtband  im  besten 
Sinne  ist  selbst  Kolo  Moser,  dem  wir  ihm  verdanken,  nicht 
oft  gelungen.  Auch  das  Vorsatzpapier  ist  von  einem,  wir 
möchten  sagen  beneidenswerten  Geschmacke,  der  aller¬ 
dings  den  Künstler  bei  der  Druckumrahmung  des  Textes 
für  unser  Empfinden  leider  verlassen  hat.  Dieser  Text 
ist  für  den  Jahrgang  tqoi  von  Julius  Meier-Gräfe  in  Paris 
abgefasst  und  will  in  der  Form  eines  Essays  eine  Wertung 
des  augenblicklichen  Standes  der  Kunstproduktion,  wie  sie 
sich  in  den  Ausstellungen  des  verflossenen  Jahres  doku¬ 
mentiert  hat,  geben.  Die  nun  folgenden  Bildertafeln 
(diesmal  sind  es  45)  sind  mit  feinem  Empfinden  für 
das  Interessante  und  Bleibende  aus  der  Masse  des 
im  In-  und  Auslande  zur  Schau  gestellten  von  Felicieit 
Freiherrn  von  Myrbach  ausgewählt,  dem  Herausgeber  des 
ganzen  Unternehmens.  Die  Auswahl,  die  alphabetisch 
geordnet  ist,  beschränkt  sich  in  diesem  ersten  Bande  nur 
auf  Malerei  und  Plastik;  für  die  Folge  sollen  auch  Archi¬ 
tektur  und  Kunstgewerbe  in  den  Kreis  des  Werkes  ge¬ 
zogen  werden.  Die  Heliogravüren  sind  allen  Lobes  würdig 
und  der  Preis  von  100  Mark  ist  für  das  Gebotene  eigent¬ 
lich  wohlfeil.  Eine  Aufzählung  der  Bilder  erübrigt  sich: 
wer  die  hauptsächlichsten  Jahresausstellungen  1901  besucht 
hat,  wird  hier  das  meiste  wiederfinden,  was  ihm  be¬ 
sonderen  Eindruck  gemacht  hat.  Ars  nova  soll  nun  all¬ 
jährlich  wiederkehren.  Wir  werden  also  bald  Anlass 
haben,  einen  neuen  Band  zu  begrüssen. 

Als  der  Berliner  Bildnismaler  Max  Koner  am  7.  Juli 
1900,  kaum  46  Jahre  alt,  seiner  Kunst  und  seinen  zahl¬ 
reichen  Freunden  durch  einen  jähen  Tod  entrissen  wurde, 
empfand  man  wohl  die  Schwere  des  Verlustes,  aber  seinen 
ganzen  Umfang  erkannte  man  erst,  als  fast  sein  ganzes 
künstlerisches  Schaffen  in  einer  Sonderausstellung  zu¬ 
sammengefasst  wurde.  Damit  sollte  aber  sein  Gedächtnis 
nicht  aus  den  Herzen  der  Lebenden  schwinden.  Jetzt  hat 
ihm  Max  Jordan,  der  frühere  Direktor  der  Berliner  National- 
galerie,  ein  Ehrendenkma!  in  einer  mit  warmer  Begeiste¬ 
rung  geschriebenen  Biographie  gesetzt,  die  als  56.  Band 
der  bekannten  von  H.  Knackfuss  herausgegebenen  Künstler- 
Monographien  (mit  75  Abbildungen,  Bielefeld  und  Leipzig, 
Velhagen  &  Klasing,  Preis  3  M.)  erschienen  ist.  In  treff¬ 
lichen  Abbildungen  werden  uns  Staatsmänner,  Parlamen¬ 
tarier,  Gelehrte,  Künstler,  Grössen  der  Industrie  und  der 
Handelswelt  vorgeführt,  und  daran  schliesst  sich  ein  Kranz 
schöner  und  interessanter  Frauen,  in  deren  Wiedergabe 
der  Künstler,  ohne  in  fade  Schmeichelei  zu  verfallen,  den 
ganzen  Zauber  und  die  volle  Anmut  seiner  Kunst  ent¬ 
faltet  hat. 


Von  Emile  Mäle’s  Werk  l’art  religieux  du  XIII.  siede 
en  france,  über  dessen  ausserordentliche  Bedeutung  für 
die  Geschichte  der  mittelalterlichen  Kunst  vor  wenigen 
Monaten  hier  gesprochen  worden  ist,  ist  bereits  eine  neue 
Auflage  erschienen  (Verlag  von  Armand  Colin  in  Paris), 
die  sich  vor  der  früheren  durch  vergrössertes  Format  und 
reichere  Illustration  schon  äusserlich  auszeichnet.  Das 
Buch  sei  hier  nochmals  empfohlen. 

Der  Kunstsammler  Jul  ius  Unger  in  Cannstatt  hat  die 
Bilder  seiner  Galerie  in  guten  photographischen  Aufnahmen 
zu  einem  Album  vereinigt.  Er  besitzt  alte  Meister  der 
niederländischen  Blütezeit  und  auch  eine  Reihe  moderner 
Bilder.  Manches  Stück  scheint  vortrefflich  zu  sein. 

Rethel’s  berühmter  Totentanz  in  den  alten  Dresdner 
Holzschnitten  und  mit  den  Versen  von  Robert  Reinick  ist 
bei  B.  Elischer  Nachfolger  in  Leipzig  in  einer  neuen  bil¬ 
ligen,  vorzüglich  gedruckten  Ausgabe  erschienen.  Wir 
weisen  nur  darauf  hin,  da  zum  Lobe  dieser  Meisterschöpfung 
nichts  mehr  zu  sagen  ist. 

Die  Arche  Noah  (Teubner,  Leipzig)  betitelt  sich  ein 
modernes  Bilderbuch,  das  aus  den  Bestrebungen,  die 
unter  dem  Zeichen  »Kunst  im  Leben  des  Kindes«  bekannt 
sind,  hervorgegangen  ist.  Die  Verse  haben  Fritz  und 
Emily  Kögel  niedlich  verfasst,  die  Bilder  sind  von  den 
bekannten  Karlsruher  Lithographiekünstlern ,  vor  allem 
Hein,  Volkinann  und  Eichrodt,  geschaffen  worden.  Mit 
leuchtenden  Farben,  mit  wenigen  starken  Strichen,  so  wie 
Kinder  sie  sehen,  ist  die  Landschaft  gezeichnet:  grüne 
Wiesen  und  Wälder,  blauer  Himmel,  rote  Dächer.  Auch 
das  Figürliche  ist  derb,  lustig  und  klar  ausgedrückt. 

Eine  Mappe  mit  16  Kunstblättern  ist  unter  dem  Titel 
»Freie  Vereinigung  Darmstädter  Künstler«  erschienen. 
Die  Teilnehmer  scheinen  sich  nur  nach  ihrer  Zugehörigkeit 
als  geborene  Hessen  zusammengefunden  zu  haben,  da 
man  Namen  wie  L.  von  Hofmann,  Peter  Halm,  Küstner, 
Ubbelohde  darunter  findet.  Das  Gebotene  setzt  sich  aus 
Lithographien,  Lichtdrucken  und  Radierungen  zusammen, 
die  eine  ziemlich  gleichniässig  gute  Qualität  aufweisen. 

Die  letzte  Jahresmappe  der  Gesellschaft  für  ver¬ 
vielfältigende  Kunst  in  Wien  (1901)  ist  wieder  Blatt  für 
Blatt  vortrefflich  und  interessant.  Die  Glanzpunkte  der 
diesmaligen  Sammlung  sind  ein  ausserordentlich  amüsanter 
Farbenholzschnitt  von  Lepere  und  eine  Tigerfamilie  von 
Paul  Neuenborn. 

Dekorative  und  monumentale  Malereien  zeitgenössi¬ 
scher  Meister,  herausgegeben  von  Egon  Hessling,  Ver¬ 
lag  von  Bruno  Hessling,  Berlin. 

Die  uns  vorliegenden  ersten  zwei  Mappen  der  Hessling- 
schen  Publikation  lassen  diese  als  ein  in  jeder  Beziehung  em¬ 
pfehlenswertes  Unternehmen  erscheinen,  das  auch  für 
den  Kunsthistoriker  interessantes  Studienmaterial  enthält, 
wenn  auch  die  Rücksicht  auf  die  praktischen  Bedürfnisse 
des  Dekorationsmalers  den  Anlass  zur  Herausgabe  ge¬ 
geben  haben  mag.  Eingeleitet  wird  die  erste  Mappe  in 
der  schönsten  Weise  durch  einige  ganz  vorzügliche  Karton¬ 
skizzen  von  Geselschap,  es  folgen  dann  ausgeführte  Ar¬ 
beiten  von  Seliger,  A.  von  Werner,  Prell,  Friedrich,  Koch, 
Lugo,  Sascha  Schneider  u.  s.  w.  Auch  Thoma’s  einst  von 
den  Frankfurtern  so  lächerlich  verkannte  Wandbilder  im 
dortigen  »Cafe  Bauer«  sind  aufgenommen.  Die  Auswahl 
ist  geschmackvoll  und  reich,  und  zeugt  vom  Verständnis 
des  Herausgebers,  der  selbst  Maler  ist. 


Rudolf  von  AH.  Zimmer  mit  Blumen 
hn  Hintergründe  des  Künstlers  Enkelin 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Berlin  SW.,  Dessauerstrasse  13. 
Druck  vou  Ernst  Hedrich  Nachf.,  O.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  KUNST 


RUDOLF  VON  ALT.  BEROWAND  IN  O ASTEIN 


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WALTER  LEISTIKOW 

Von  Werner  Weisbach 


Ein  Landschaftsmaler,  der  wie  Walter  Leistikow  gegen  Ende  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  geboren  ist,  wurde  in  eine  künstlerisch  bewegte  Zeit  gestellt. 
Alle  die  Kämpfe  um  eine  neue  Kunst,  die  sich  in  den  verschiedenen 
Ländern  seit  dem  Anfänge  des  Jahrhunderts  entspannen,  kamen  in  seiner  zweiten 
Hälfte  zum  Austrag.  Wohl  auf  keinem  anderen  Kunstgebiete  hat  sich  im 
Laufe  dieser  Ära  eine  so  ständige,  die  mannigfaltigsten  Phasen  durchlaufende 
Entwickelung  vollzogen  wie  in  der  Landschaftsmalerei.  Während  das  1 8.  Jahr¬ 
hundert  in  seinen  künstlerischen  Tendenzen  der  Landschaft  ziemlich  kühl  gegen¬ 
über  stand,  erfolgt  im  19.  ein  gewaltiges  Ringen  um  das  Problem  ihrer  bildlichen 
Wiedergabe.  Dass  die  moderne  Landschaftsmalerei  in  England  geboren  wurde, 
darf  heute  als  historische  Thatsache  gelten.  Dort  trat  der  geniale  Constable 
in  ein  inniges  Verhältnis  zur  Natur  und  liess  sich  von  ihr  und  von  ihr  allein 

zu  den  gewaltigsten  Schöpfungen  inspirieren.  Doch  er,  Turner  und  Bonington 

blieben  nur  vereinzelte  Erscheinungen.  Der  Klassizismus  brach  auch  nach  Eng¬ 
land  übermächtig  hinein,  wie  er  Erankreich  und  Deutschland  eroberte. 

In  seinem  Gefolge  trat  die  klassisch -heroische  Malerei  auf,  die  sich  in  Deutschland  weit  aus¬ 
breitete.  Sie  wollte  einen  gewissen,  dem  klassischen  Ideal  entsprechenden  Linienrhythmus  in  der  Landschaft 
zum  Ausdruck  bringen.  Da  man  einen  solchen  im  Mutterlande  nicht  fand,  so  suchte  man  ihn  im  Süden. 
Die  südliche  Landschaft  erwies  sich  zu  einer  Stilisierung  in  dem  angegebenen  Sinn  als  besonders  geeignet.  Sie 
zeigt  die  Eorm  in  möglichster  Reinheit  und  bietet  schwungvollere  Linienzüge  als  die  Gegenden  nördlich  der 

Alpen.  Licht  und  Farbe  wurden  weniger  auf  ihre  natürlichen  Erscheinungen  hin  betrachtet,  als  im  Bilde 

zur  Steigerung  bestimmter  von  vornherein  gewollter  Effekte  verwendet.  Man  wollte  so  sehen,  wie  man 
glaubte,  dass  die  Alten  gesehen  hätten. 

Zu  malen  was  man  sah  und  wie  man  sah,  das  wurde  in  Frankreich  bei  den  Meistern  von  Barbizon 
das  einzige  Bestreben  in  ihrem  künstlerischen  Schaffen.  Der  heimatliche  Boden  zog  sie  an.  Ihrer  persönlichen 
Stimmung  gemäss  suchten  sie  jede  Landschaft  bildlich  darzustellen,  so  wie  sie  sie  in  einer  bestimmten 
seelischen  Verfassung  geschaut  hatten.  An  die  Natur  traten  sie  mit  einer  heiligen  Andacht  heran  und  gaben 
sich  ganz  dem  Zauber  ihrer  vielgestaltigen  Erscheinung  hin,  dabei  ihre  ganze  Seele  erschliessend.  Der  folgende 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  12. 


37 


282 


WALTER  LEISTIKOW 


Walter  Leistikow.  Motiv  aus  Schweden 


Impressionismus  bedeutet  einen  Fortschritt  nur  in 
technischer  Beziehung.  Das  Sehen  verfeinert  sich ; 
die  Empfindungsfähigkeit  für  Farbeneindrücke  in  der 
Landschaft  steigert  sich.  Neue  Mittel  zur  Bewältigung 
neuer  Probleme  werden  gesucht  und  gefunden.  Man 
trachtet  danach,  dem  Momentanen,  Variablen  zu  einer 
künstlerischen  Wirkung  zu  verhelfen.  Jede  Natur¬ 
erscheinung  als  solche,  auch  ohne  stimmungerregenden 
Gehalt,  wird  Objekt  der  Darstellung. 

In  Deutschland  waren  bis  gegen  Ende  des  19.  Jahr¬ 
hunderts  in  der  Ausbildung  einer  realistischen  Land¬ 
schaftsmalerei  verhältnismässig  geringe  Fortschritte 
gemacht  worden.  Die  Düsseldorfer  Schule  übte  einen 
weitgehenden  Einfluss  aus.  Von  einem  in  Düssel¬ 
dorf  bei  Schirmer  und  Andreas  Achenbach  geschulten 
Norweger  genoss  Leistikow  seinen  ersten  künstlerischen 
Unterricht  an  der  Berliner  Akademie.  Hans  Gude 
malte  mit  Vorliebe  das  Meer  mit  einem  Stück  felsiger 
Küste  in  goldigem  Abendglanz,  stets  ähnliche  Motive, 
immer  kühl,  aber  auch  immer  geschmackvoll.  Die 
Achenbach -Gude’sche  Richtung,  die  in  Gegensatz  zu 
der  klassisch -heroischen  Landschaftsmalerei  stehen 
wollte,  war  ihrer  Tendenz  nach  realistisch,  legte  auf 
die  Form  weniger  Wert  als  auf  die  Farbe,  ohne  sich 
von  dem  konventionellen  Kolorismus  los  zu  machen. 
Ihr  Zusammenhang  mit  der  Romantik  sprach  sich 


zum  Teil  in  der  Wahl  von  Motiven  und  Stim¬ 
mungen  aus. 

Leistikow  schloss  sich  mit  seinen  landschaftlichen 
Motiven  zunächst  an  seinen  Lehrer  Gude  an.  Auch 
er  malte  Ufer-  und  Küstenbilder  —  ohne  besonderen 
poetischen  Stimmungsreiz.  Ziemlich  nüchtern  be¬ 
trachtete  er  die  Natur  wie  ein  echter  Niederdeutscher. 
Was  ihn  besonders  anzog,  das  waren  Farben-  und 
Luftprobleme:  zusammengeballte  Wolkenmassen,  deren 
Tinten  von  Schwarz  bis  zu  einem  hellen  Grau 
spielen,  Wasserspiegelungen  mit  ihren  koloristischen 
Reizen.  Der  bräunliche  Ton,  der  den  Gude’schen 
Bildern  anhaftet,  fehlte  bei  ihm  völlig.  Die  sei- 
nigen  waren  hell  und  freundlich.  Ängstlich  suchte 
er  den  Erscheinungen  der  Natur  gerecht  zu  wer¬ 
den.  Nicht  selten  verfiel  er  dabei  in  Kleinlich¬ 
keit.  Er  wählte  meist  umfangreiche  Landschaftsaus¬ 
schnitte,  gab  weite  Übersichten.  Hinter  dem  Wasser, 
fern  am  Horizont  ist  zuweilen  noch  einmal  Land  zu 
sehen.  Dort  ist  das  einzelne  dem  Auge  nicht  mehr 
wahrnehmbar.  Die  Objekte  wirken  nur  noch  als  Sil¬ 
houetten.  Die  reine  Form  kommt  ganz  zu  ihrer  Gel¬ 
tung.  Da  offenbart  sich  zuerst  des  Künstlers  feines 
Stilgefühl. 

Als  Leistikow  an  der  Akademie  studierte,  war  in 
Berlin  bereits  eine  neue  Ära  für  die  Kunst  ange- 


WALTER  LEISTIKOW 


283 


brochen,  ganz  in  der  Stille.  Max  Liebermann  hatte 
den  Mut,  die  Natur  nicht  unter  Vermittelung  irgend¬ 
welcher  vorhergehender  Künstler  oder  Kunstanschauun¬ 
gen  zu  betrachten,  sondern  die  Natur  selbst  als  einziges 
Vorbild  anzusehen  für  die  Wirkungen,  die  er  er¬ 
zielen  wollte.  Er  war  viel  umhergekommen,  hatte 
in  Paris  und  in  Holland  gearbeitet,  wo  es  Maler  gab, 
die  sich  der  Natur  mit  freierem  Blick  gegenüber¬ 
stellten  als  damals  die  meisten  Deutschen.  So  trat 
er  mit  einem  ganz  persönlichen  Stil  in  Berlin  auf. 
Alle  Erscheinungen  der  Wirklichkeit  wurden  Gegen¬ 
stand  seiner  Kunst.  Er  suchte  nicht  die  gesteigerten 
Effekte,  die  die  Natur  in  aussergewöhnlichen  Mo¬ 
menten  unter  gewissen  Bedingungen  hervorbringt. 
Ein  grauer,  trüber  Tag  besass  für  ihn  einen 
gleichen  künstlerischen  Reiz  wie  das  mittägliche,  un¬ 
gebrochene  Sonnenlicht.  Jede  Stunde  wusste  sein 
feines  Künstlerauge  anzuziehen.  Und  da  er  die  Natur 
meistens  hell  sah,  so  suchte  er  die  Bedingungen  da¬ 
für,  sie  auch  hell  malen  zu  können,  festzustellen. 

Während  die  akademischen  Kreise  sich  seiner  so 
wenig  schönfärbenden,  urwüchsigen  Kunst  gegenüber 
ablehnend  verhielten,  erkannten  die  jüngeren,  die  ge¬ 
wöhnt  waren,  nicht  voreingenommen,  mit  eigenen 
sehenden  Augen  in  die  Natur  zu  schauen,  den 
grossen  Wert  und  die  epochemachende  Bedeutung 
seiner  Malweise  und  begrüssten  ihn  als  ihren  Eührer 
und  Meister.  Die  Anregungen,  die  er  gab,  wirkten 
weithin  und  teilweise  im  Verborgenen. 

Auch  Leistikow  wandte  sich  der  Hellmalerei  zu. 
Es  bedeutete  keinen  grossen  Umschwung  für  seine 
Kunst.  Er  hatte  die  Natur  niemals  braun  in  braun 
gesehen.  Sein  Auge  schärfte  sich  seit  dem  Ende  der 
achtziger  Jahre  immer  mehr  für  Valeurs.  Wirken 
seine  ersten  Bilder  schwer  und  hart,  so  ging  er 


nun  immer  mehr  auf  einen  verfeinerten  Kolorismus 
aus.  Neue  Kräfte,  neue  Anregungen  schöpfte  er  stets 
aus  dem  Verkehre  mit  der  Natur  selbst,  ln  jedem 
Sommer  zog  er  aufs  Land  hinaus  und  füllte  seine 
Skizzenbücher  mit  Studien.  Seine  Motive  wurden 
die  denkbar  einfachsten:  eine  Wiese  mit  Bauern¬ 
häusern  im  Hintergründe,  vorn  Enten  an  einem  Tüm¬ 
pel,  Getreide-  und  Kartoffelfelder  mit  arbeitenden 
Bauern;  auch  an  den  flachen,  schilfigen  Ufern  der 
Binnenseen  Hess  er  sich  gern  nieder.  Diese  letzten 
Motive  bevorzugte  er  namentlich  in  den  ausgeführten 
Ölgemälden,  ln  diesen  Jahren  verwendet  er  auch 
noch  Menschen  als  Staffage,  am  liebsten  Kinder  oder 
halbwüchsige  Mädchen,  wovon  er  später  ganz  ab¬ 
kommt.  Interessant  für  seine  frühe  Zeit  ist  die 
'Strandpromenade  von  Helgoland«,  vom  Jahre  1892, 
mit  Aussicht  auf  das  Eelseneiland,  dazwischen  die 
brandende  See.  Einzelne  Partien  sind  hell  von  der 
Sonne  beleuchtet,  die  durch  weisse  Wolken,  welche 
andere  Partien  in  Schatten  hüllen,  auf  die  Landschaft 
herabscheint.  Eine  vortreffliche  Freilichtstudie,  von 
ausserordentlich  wahrer  Wirkung,  in  Liebermann’schem 
Sinne,  nur  noch  etwas  schwer  und  ängstlich  gemalt. 

Als  Leistikow  188g  das  Meisteratelier  Gude’s  ver¬ 
lassen  hatte,  erhielt  er  gleich  im  folgenden  Jahre  eine 
Anstellung  als  Lehrer  an  der  Kunstschule  in  Berlin 
und  wirkte  hier  bis  zum  Jahre  1893.  Die  Sommer¬ 
monate  brachte  er  in  Friedrichshagen  am  Müggelsee 
zu.  Dieser  Ort  war  damals  ein  Mittelpunkt  für  die 
modernen  Dichter  und  Litteraten.  Hier  fanden  sich 
Max  Halbe,  Wilhelm  Bölsche,  Bruno  Wille,  Holz, 
Schlaf,  die  beiden  Harts  zusammen;  Gerhart  Haupt¬ 
mann  lebte  in  dem  benachbarten  Erkner.  Hier  mag 
Leistikow  wohl  die  ersten  Anregungen  zu  eigener 
schriftstellerischer  Thätigkeit  empfangen  haben;  ein 


Walter  Leistikow.  Düne  von  Helgoland.  i8q2 


37 


284 


WALTER  LEISTIKOW 


Gebiet,  auf  dem  er  ausser  einer  Reihe  von  Auf¬ 
sätzen  über  Zeitfragen  auch  einen  Roman:  Auf 
der  Schwelle  (Berlin,  Schuster  &  Löffler  1896)  ge¬ 
schaffen  hat.  ln  Friedrichshagen  lernte  er  auch  seine 
Gattin,  eine  Dänin,  kennen,  die  der  Wunsch,  mit  dem 
jungen  litterarischen  Deutschland  in  Berührung  zu 
treten,  dorthin  geführt  hatte. 

ln  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  kam  Leistikow’s 
Kunst  zu  ihrer  eigentlichen  Reife.  Es  war  nicht  seine 
Sache  auf  ausgetretenen  Bahnen  weiterzuwandeln. 
Er  rang  mit  der  Aufgabe,  neue,  seiner  Individualität 
entsprechende  Ausdrucksformen  für  die  Schöpfungen 
der  Natur  zu  finden.  Dass  Liebermann,  die  modernen 
Franzosen  mit  ihrem  Naturalismus  auf  der  rechten  Spur 
wären,  hatte  er  erkannt.  Von  der  Kunst,  die  er  im 
Meisteratelier  Gude’s  gesehen  hatte,  fühlte  er  sich  weit 
getrennt.  Und  als  sich  unter  Führung  Liebermann’s 
im  Anfänge  des  Jahres  1892  eine  Vereinigung  von 
einigen  Künstlern,  die  alle  mit  den  Juryverhältnissen 
der  offiziellen  Ausstellungen  unzufrieden  waren,  bildete, 
um  eigene,  selbständige  Ausstellungen  zu  veranstalten, 
war  auch  Leistikow  darunter.  Diese  »Vereinigung 
der  XL  hatte  kein  bestimmtes  künstlerisches  Pro¬ 
gramm,  wie  wohl  schon  aus  der  Teilnahme  so  ver¬ 
schieden  gearteter  Maler  wie  Liebermann,  Ludwig 
von  Hofmann,  Leistikow,  Skarbina  hervorgeht.  Sie 
verfolgte  nur  den  Zweck,  ihren  Mitgliedern  Gelegen¬ 
heit  zu  geben,  ihre  Arbeiten  in  kleineren  Ausstellun¬ 
gen  dem  Publikum  möglichst  vorteilhaft  vor  Augen 
zu  stellen.  Man  mochte  nicht  mehr  darunter  leiden, 
dass  von  den  massgebenden  Berliner  Künstlern  alles 
Neue,  das  sich  nicht  in  altgewohnten  Geleisen  be¬ 
wegte,  mit  Misstrauen  angesehen  und  nach  Möglich¬ 
keit  unterdrückt  wurde.  Wie  sehr  man  Grund  hatte, 
auf  der  Hut  zu  sein,  zeigte  das  Schicksal,  das  im 
folgenden  Jahre  dem  norwegischen  Maler  Munch  zu 
teil  wurde.  Auf  eine  Einladung  des  Künstlerverems 
hin  hatte  er  in  dessen  Räumen  eine  Reihe  von  Bil¬ 
dern  ausgestellt.  Da  diese  mit  ihrer  krassen  Eigen¬ 
art  das  liebe  Publikum  zum  Widerspruche  reizten,  so 
wurde  in  einer  Sitzung  des  Künstlervereins  mit  ge¬ 
ringer  Majorität  die  Schliessung  der  Ausstellung 
proklamiert.  Leistikow,  der  dem,  was  er  auf  dem 
Herzen  hat,  gern  öffentlich  Ausdruck  verleiht,  geisselte 
unter  dem  Pseudonym  Walter  Selber  solches  Vorgehen 
in  einem  Aufsatz  in  der  Freien  Bühne,  dem  Organ 
der  Friedrichshagener  Litteraten. 

Wer  die  Ausstellungen  der  XI  mit  Aufmerksam¬ 
keit  verfolgte,  dem  vermochte  sich  Leistikow’s  Ent¬ 
wickelungsgang  Schritt  für  Schritt  zu  offenbaren.  Er 
trat  in  die  Vereinigung  ein  als  ein  noch  durchaus 
suchender  und  ringender.  Verschiedenartige  starke 
Anregungen  trugen  dazu  bei,  einer  ganz  neuen  und 
rein  persönlichen  Art  der  Naturanschauung  bei  ihm 
zum  Durchbruch  zu  verhelfen. 

Etwa  zu  gleicher  Zeit  wie  der  französische  Na¬ 
turalismus  in  Berlin  bekannt  wurde,  erhielt  man  von 
einer  anderen,  aussereuropäischen  Kunst  nähere  Kennt¬ 
nis:  der  japanischen,  die  in  Paris  schon  längst  ihre 
Triumphe  gefeiert  und  auf  Kunst  und  Gewerbe  ihren 
Einfluss  ausgeübt  hatte.  Künstler  wie  Liebermann 


sammelten  japanische  Kunsterzeugnisse.  Von  Zeit  zu 
Zeit  besuchten  Eingeweihte  den  kleinen  Laden  des 
Kunsthändlers  Pächter,  um  sich  an  dem  Farbenzauber 
japanischer  Holzschnitte  zu  berauschen.  Die  japa¬ 
nische  Flächenkunst  verband  in  der  Wiedergabe  der 
Landschaft  starke  koloristische  Effekte  mit  einer  an¬ 
deutend  skizzierenden  Darstellungsweise.  Die  reine 
Form  gewann  unter  den  Händen  der  japanischen 
Künstler  eine  wunderbare  Ausdrucksfähigkeit.  Ihre 
Silhouetten  redeten  eine  eigene,  märchenhafte  Sprache 
und  zeugten  von  feinster  künstlerischer  Sensitivität. 
Die  lachende,  jubelnde  Farbenpracht  musste  die  an 
die  braunen  Töne  der  Galeriebilder  gewöhnten  Augen 
europäischer  Beschauer  verblüffen.  An  Leistikow,  der 
schon  im  Anfänge  der  neunziger  Jahre  sich  aus  dem 
blossen  Naturalismus  herauszuarbeiten  trachtete,  konnten 
die  im  höchsten  Grade  dekorativen  japanischen  Kunst¬ 
werke  nicht  spurlos  vorübergehen. 

Andere  weitgehende  Anregungen  empfing  er  auf 
einer  Reise  nach  Paris  im  Frühjahr  1893.  Er  hat 
diese  Eindrücke  im  Juliheft  der  »Freien  Bühne«  ge¬ 
schildert.  Hauptsächlich  die  grossen  dekorativen  Ar¬ 
beiten  von  Besnard  und  Puvis  de  Chavannes  be¬ 
geisterten  ihn.  ln  Puvis  de  Chavannes  besonders  fand 
er  einen  Meister,  dessen  Art  der  Naturanschauung 
der  seinigen  verwandt  war.  Bei  Puvis  gaben  die 
Landschaften  nur  einen  stimmungsvollen  Schauplatz 
ab  für  seine  dekorativen  Figurenbilder.  Er  trachtete 
bei  Wiedergabe  der  Natur  nach  deren  grossen,  ruhigen 
Formen.  Die  Landschaft  erscheint  bei  ihm  als  ein 
harmonisches,  weitflächiges  Gebilde  mit  starker  For¬ 
menausprägung. 

Solchen  Einflüssen,  die  ihn  auf  den  dekorativen 
Wert  der  Naturformen  hinwiesen,  zeigte  sich  Leisti¬ 
kow,  dessen  Streben  aus  dem  Naturalismus  und  über 
den  Naturalismus  hinausdrängte,  durchaus  zugänglich. 
Seine  künstlerische  Veranlagung  wies  ihn  auf  eine 
gleiche  Bahn.  Als  er  um  die  Mitte  der  neunziger 
Jahre  mit  seinen  neuen  Schöpfungen  an  die  Öffent¬ 
lichkeit  trat,  sagte  man  teils  vorwurfsvoll,  teils  be¬ 
wundernd,  er  stilisiere  jetzt  die  Natur.  Er  stilisierte 
auch,  aber  die  Art  seines  Stilisierens  war  ganz  etwas 
anderes  als  das,  was  die  deutschen  Maler  der  klassischen 
und  heroischen  Landschaften  gethan  hatten.  Von  ihren 
Zielen  waren  die  seinigen  weit  entfernt.  Durch  seine  na¬ 
turalistische  Ausbildung  hatte  er  einen  zu  guten  Grund 
gelegt,  um  der  Natur  ausser  ihr  liegende  Gesetze  vor¬ 
schreiben  zu  wollen.  Er  sehnte  sich  nicht  jenseits 
der  Berge,  um  ihm  entsprechende  Motive  zu  finden. 
Alles  bot  ihm  der  Boden  der  Heimat.  Was  Böcklin 
einmal  nach  den  von  Schick  geführten  Tagebüchern 
ausgesprochen  hat:  »man  müsse  nur  nicht  seine  Ideen 
in  die  Natur  hineintragen  wollen,  sondern  sich  von 
der  Gegend  selbst  anregen  lassen«,  das  diente  auch 
ihm  als  Prinzip.  Er  prägt  der  Natur  nicht  einen 
Stil  auf,  sondern  die  Natur  enthüllt  ihm  ihren  Stil. 

Das  Verhältnis  des  Menschen  zur  Landschaft 
ist  je  nach  seiner  Individualität  und  Veranlagung 
verschieden.  Ebenso  ist  das  künstlerische  Sehen  der 
Natur  bei  den  einzelnen  Individuen  ein  höchst  wech¬ 
selndes.  Der  eine  fühlt  sich  durch  die  temporären, 


WALTER  LEISTIKOW  HAFEN  MIT  WOLKENSPIEGELUNG 


WALTER  LEISTIKOW 


•-■..iablen  Reize  der  Landschaft  besonders  angezogen 
■  ;id  bemüht  sich,  seine  Augenblicksimpressionen  in 
Jner  dem  empfangenen  Eindruck  möglichst  nahe 
Kommenden  Weise  wiederzugeben.  Bei  anderen 
spielen  bei  der  Betrachtung  der  Landschaft  mehr 
i.jchologisch-associative  Momente  mit.  Sie  werden 
angeregt,  den  Naturerscheinungen  menschliche  Eigen¬ 
schaften  beizumessen,  sie  in  einem  gewissen  Sinne 
zu  anthropomorphisieren  und  glauben,  in  ihrem  Ver¬ 
halten  psychische  Zustände,  die  den  unsrigen  ver¬ 
wandt  sind,  zu  erkennen.  Nun  recken  sich  Eelsen 


bedeutend-  und  Uninteressantmachen  aller  Neben¬ 
sachen  .  Jedes  Komponieren  bedingt  ein  gewisses 
Stilisieren.  Das  Stilisieren  hat  F.  Th.  Vischer  in  seinen 
nachgelassenen  Vorträgen:  >Das  Schöne  und  die 
Kunst«  mit  ähnlichen  Worten  wie  Böckliri  erklärt: 
»Ein  Künstler,  der  Stil  hat,  erfasst  einen  Gegenstand 
in  seinem  Mittelpunkt  und  legt  in  ihn  die  Gewaltig¬ 
keit,  die  in  ihm  selber  lebt;  er  scheidet  das  Un¬ 
wesentliche,  Kleine,  Zufällige  aus  und  stellt  die  wesent¬ 
lichen  Züge  in  grossem  Rahmen  und  mit  festen, 
markigen  Zügen  vor  Augen.« 


Walter  Leistikow.  Nordische  Landschaft 


wie  Riesen  in  die  Lüfte,  Bäume  erheben  stolz  ihr 
Haupt,  eine  Ebene  breitet  sich  in  ruhigem  Frieden 
aus,  Wolken  irren  rastlos  am  Himmel  entlang.  In 
dieser  Weise  wirken  die  Naturobjekte,  wenn  der  Blick 
mehr  auf  die  Totalität  ihrer  Erscheinung  gerichtet  ist 
und  über  das  Momentane  und  Zufällige  hinwegsieht. 
Auf  ihre  einfachen  Formen  zurückgeführt  gewinnen 
sie  auch  eine  besondere  dekorative  Bedeutung.  Orna¬ 
mente  entstehen  aus  Naturerscheinungen  durch  Ver¬ 
einfachung,  Konzentrierung  ihrer  Formen.  Das  ganze 
Komponieren  besteht,  wie  Böcklin  es  einmal  treffend 
ausgedrückt  hat,  in  nichts  anderem  als  im  Bedeutend¬ 
machen  eines  Stoffes  durch  Unterordnung  und  Un- 


Leistikow’s  Stilisieren  ist  ein  Unterdrücken  des 
Nebensächlichen.  Die  Natur  verändert  er  nicht  will¬ 
kürlich,  einer  vorgefassten  Idee  zu  Liebe,  sondern  ver¬ 
einfacht  sie.  Er  stilisiert  aus  der  Natur  heraus,  nicht 
in  sie  hinein.  Indem  er  ihr  ihre  dekorativen  Reize 
entlockt,  verlässt  er  doch  niemals  den  Boden  realer 
Naturanschauung. 

Er  ist  nichts  weniger  als  ein  einseitiger  Form¬ 
stilist.  Die  Form  ist  für  ihn  nicht  etwas  Absolutes, 
etwa  wie  die  Verkörperung  einer  platonischen  Idee, 
sondern  gewinnt  ihren  Wert  erst  durch  ihre  momen¬ 
tane  farbige  Erscheinung.  Von  dieser  geht  er  stets 
in  erster  Linie  aus.  Indem  er  die  Form  durch  eine 


Walter  Leistikow.  In  den  Dänen.  Pastell 


Walter  Leistikow.  Griinewaldsee.  (Verlag  der  Photogr.  Gesellsch.  Berlin) 


288 


WALTER  LEISTIKOW 


Walter  Lei  st  i ko  w.  Hafen 


farbige  Behandlung  zur  Geltung  und  zu  voller  Wir¬ 
kung  bringen  will,  fasst  er  mehr  die  grossen  Earben- 
komplexe  ins  Auge,  als  dass  er  sich,  wie  dies  von 
vielen  Modernen  geschieht,  auf  eine  zu  weit  gehende 
Auflösung,  Zerlegung  und  Spaltung  der  Earben  ein¬ 
lässt.  Seine  Bilder  sind  alle  von  vornherein  in  Far¬ 
ben  und  für  Farben  gedacht,  auf  breite  Flächen  hin 
angelegt.  Nichts  Zeichnerisches  haftet  ihnen  an.  Im 
Kolorismus  liegt  seine  eigentliche  Bedeutung.  Weniger 
Hervorragendes  leistet  er  in  der  Radierung.  Er  hat 
auch  nur  verhältnismässig  selten  das  Bedürfnis  ge¬ 
fühlt  sich  in  ihr  auszusprechen,  und  dann  meist  bei 
besonderen  Anlässen  und  auf  bestimmte  Aufforde¬ 
rungen  hin.  Die  Skizzen,  die  er  vor  der  Natur 
schafft,  sind  fast  immer  in  Farben  (Aquarell  und 
Gouache)  ausgeführt.  Hat 
er  ja  einmal  eine  Zeich¬ 
nung,  wie  die  abgebildete 
Kohlenskizze,  entworfen,  so 
ist  sie  ganz  breit  und 
grosszügig  gehalten ,  von 
grandioser  Wirkung. 

Den  eigentlichen  Reizen 
der  Aquarelltechnik,  wie  sie 
z.  B.  die  modernen  Hollän¬ 
der  in  so  hohem  Grade  zu 
enthüllen  vermochten,  ist  er 
in  seiner  ersten  Periode  mehr 
gerecht  geworden  als  später¬ 
hin.  Seine  frühen  Aquarelle 
haben  etwas  von  dem  Feuch¬ 
ten,  Schimmerigen,  Duftigen, 
das  gerade  diese  Technik 
hervorzubringen  gestattet. 

Später  werden  sie  effektvoller, 
mehr  auf  starke  Farbigkeit 
und  Kontrastwirkungen  hin 
angelegt.  Die  Gouache¬ 
farben  sprechen  bedeutungs¬ 
voll  mit.  Es  werden  glän¬ 
zende  Wirkungen,  beinahe 
wie  mit  Ölfarben,  erzielt. 


ln  seiner  Jugend  hat  Leistikow  starke  kolo¬ 
ristische  Effekte  bei  seinen  Bildern  eher  ver¬ 
mieden.  Seitdem  er  sich  um  die  Mitte  der 
neunziger  Jahre  seinen  neuen  Stil  geschaffen, 
reizte  es  ihn  auch  die  Natur  in  besonderen 
Weihestunden  zu  belauschen.  Sein  bevor¬ 
zugtes  Gebiet  wurden  die  Fichtenwälder  in 
der  Nähe  von  Berlin.  Er  liebte  es  die  stäm¬ 
migen  Waldriesen  zu  malen,  wenn  gegen 
Sonnenuntergang  ihre  Farben  zu  höchster 
Intensität  gesteigert  sind.  Dann  glühen  die 
Stämme  und  Äste  in  brennendem.  Rot,  und 
über  den  Stämmen  lagern  in  tiefem  dunklem 
Grün  die  Baumkronen,  zu  einer  festen  Masse 
sich  zusammenschliessend.  Es  tritt  gleichsam 
das  Gerippe  der  Bäume  klar  zu  Tage;  ihre 
Formen  ergeben  eine  prachtvolle  Silhouette. 
Oft  breitet  sich  im  Vordergründe  die  spiegel¬ 
glatte  Fläche  eines  Sees  ans,  eines  jener 
dunklen  märkischen  Binnenseen,  über  denen  ein  ge¬ 
heimnisvoller  Zauber  zu  walten  scheint.  Ein  reiz¬ 
voller  Kontrast  bildet  sich  heraus,  wenn  sich,  wie  im 
ersten  Frühling,  neben  den  hochragenden  Kiefern, 
die  so  streng  und  begehrlich  ihre  vereinzelten  Äste 
recken,  zarte  Bäumchen  mit  flockigem  Laub  und 
Blüten  vor  einem  Walde,  der  wie  eine  Mauer  den 
Hintergrund  abschliesst,  bescheiden  und  duftig  er¬ 
heben. 

ln  seinen  Motiven  ist  der  Künstler  schier  uner¬ 
schöpflich.  Immer  neue  Reize  weiss  er  dem  Walde 
abzugewinnen.  Ob  er  nun,  mitten  im  Dickicht 
stehend,  die  Bäume  gleichwie  die  ragenden  Säulen 
eines  Domes  ernst  und  eindrucksvoll  emporführt,  in¬ 
dem  er  die  Kronen  durch  den  oberen  Bildrand  ab- 


Walter  Leistikow.  Haus  im  Orunewald 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Xlll.  H.  12. 


38 


WALTER  LEISTIKOW  FLUSSLANDSCHAFT 


2go 


WALTER  LEISTIKOW 


Walter  Leistikow.  Wisby.  Dekoratives  Gemälde 


schneidet,  ob  er  den  Blick  des  Beschauers  über  eine 
weite,  öde,  herbstliche  Fläche  schweifen  lässt,  über 
der  sich  schweres  Gewölk  zusammenballt,  oder  sein 
Auge  auf  einen  lauschigen  Park  am  Rande  des  Wal¬ 
des  lenkt,  über  dessen  Mauer  sich  hängendes  Grün 
zum  Wasser  niederneigt  —  über  dem  Wasser  eine  ein¬ 
same,  gewölbte  Brücke. 

Als  Maler  des  Grunewaldes  ist  Leistikow  zuerst 
weiter  bekannt  und  berühmt  geworden.  Man  hatte 
früher  kaum  geahnt,  dass  der  bescheidenen  Gegend 
in  der  Nähe  von  Berlin  so  reizvolle  Effekte  zu  ent¬ 
locken  wären,  dass  auch  hier  eine  Grossartigkeit  zu 
finden  ist,  sobald  ein  sensibles  künstlerisches  Auge 
sie  zu  suchen  versteht.  Die  früheren  Maler,  die  Rom¬ 
pilger,  hatten  dafür  keinen  Blick  gehabt.  Über  die  arme, 
verachtete  Mark  breitete  sich  am  Ende  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  ein  zwiefacher  künstlerischer  Glanz.  Ein 
Dichter  erstand  ihr  in  Theodor  Fontane,  ein  Maler 
in  Walter  Leistikow. 

Seit  einigen  Jahren  wohnt  Leistikow  allsommerlich 
in  seinem  geliebten  Walde,  in  einem  kleinen,  lau¬ 
schigen  Häuschen.  Aber  nicht  den  ganzen  Sommer 
hält  es  ihn  dort,  denn  noch  eine  andere  Liebe  hat 
der  Künstler,  die  Liebe  seiner  frühesten  Jugend,  der 
er  auch  später  treu  geblieben  ist:  das  Meer. 

So  zieht  er  denn  in  jedem  Jahre,  wenn  die  heisse 
Zeit  herankommt,  an  die  Küste,  nach  Dänemark,  Nor¬ 


wegen  oder  Schweden,  um  seine  Sehnsucht  nach  dem 
Meere  zu  stillen.  Am  liebsten  malt  er  die  See,  wenn 
sie  still  und  regungslos  in  ruhiger  Majestät  daliegt. 
Er  nimmt  gewöhnlich  seinen  Standpunkt  nicht  so, 
dass  er  nur  das  offene  Meer  vor  sich  hat,  sondern 
dass  noch  Stücke  Landes  sichtbar  sind,  die  für  die 
Bildwirkung  bedeutend  mitsprechen.  Manchmal  er¬ 
scheint  ganz  in  der  Ferne  wieder  ein  Stück  Küste, 
auf  dem  sich  vereinzelte  Bäume  erheben,  fast  aller 
Materialität  entkleidet  und  gespensterhaften  Schatten 
gleichend.  Von  eigenartigstem  Reize  sind  seine  Däm¬ 
merungs-  und  Nachtbilder,  wenn  sich  zwischen  dunkle, 
wie  Silhouetten  wirkende  Landstriche  das  spiegelglatte 
Meer  als  einzige  leuchtende  Fläche  schiebt. 

Eine  besondere  Spezialität  bilden  die  Hafenbilder. 
Da  war  es  das  Problem  der  Spiegelung  im  ruhigen 
und  leicht  bewegten  Wasser,  das  ihn  reizte.  Die 
Schiffe  mit  ihrem  bunten  Anstrich,  ihren  Segeln, 
Masten  und  Tauen  bieten  dem  Auge  ein  Schauspiel 
von  leuchtender  Farbenpracht.  Sanfter  und  gedämpf¬ 
ter  erscheinen  die  Farben  in  der  klaren  Flut.  Von 
besonderer  Schönheit  und  Eigenart  sind  die  Wolken¬ 
spiegelungen,  wenn  der  blaue  Himmel  mit  weissen 
Wolkenmassen  in  mattem  Glanze  aus  dem  feuchten 
Elemente  auftaucht.  Einige  der  Hafenbilder  gehören 
zu  den  glücklichsten  Schöpfungen  des  Künstlers.  Da 
sind  Schiffe,  Wasser  und  Land  in  wunderbaren  Farben¬ 
symphonien  vereinigt. 


WALTER  LEISTIKOW 


291 


Walter  Leistikow.  Norwegisches  Gebirge 


Im  Laufe  seiner  Entwickelung  hat  Leistikow 
sein  Darstellungsgebiet  immer  mehr  erweitert.  Neben 
dem  Meer  hat  er  dessen  Umgebung,  die  Dünen, 
in  das  Bereich  seiner  künstlerischen  Beobachtungen 
gezogen.  Er  giebt  entweder  einen  kleinen  Aus¬ 
schnitt  aus  der  Landschaft  und  sucht  dann  die 
Stimmung  der  Öde,  die  über  solch  einem  sandigen, 
gestrüppreichen  Dünenwinkel  lagert,  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  Oder  aber  sein  Blick  richtet  sich  auf 
eine  ganze  Reihe  der  hügeligen  Erhebungen;  dann 
weiss  er  eine  wunderbare  harmonische  Zügigkeit  im 
Verlaufe  dieser  Sandberge  zu  entdecken.  Mit  Wohl¬ 
gefallen  schmiegt  sich  das  Auge  des  Beschauers  dem 
melodischen  Auf-  und  Absteigen  der  Linien  an  und 
sieht  hier  und  da  über  den  Senkungen  der  Hügel 
einen  Streifen  schimmernden  Meeres  aufleuchten. 

Die  Reichhaltigkeit  der  Motive  Leistikow’s  im 
Rahmen  dieser  kurzen  Betrachtung  zu  schildern,  ist 
nicht  möglich.  Er  hat  sich  vor  Einseitigkeit  zu  be¬ 
wahren  gewusst  und  durchmisst  mit  offenem  künst¬ 
lerischem  Blick  die  verschiedensten  landschaftlichen 
Gebiete.  Jeder  Gegend  weiss  er  einen  besonderen 
für  sie  charakteristischen  Reiz  abzugewinnen,  den  er 


in  ihrer  koloristischen  und  dekorativen  Wirkung  findet. 
Das  nordische  Hochgebirge  hat  in  ihm  besonders  in 
der  letzten  Zeit  einen  feinfühligen  Schilderer  gefunden. 
Und  er  hat  die  Wiedergabe  majestätischer  Schnee¬ 
berge,  die  einem  durch  phantasielose  Vedutenmaler 
verleidet  war,  wieder  zu  Ansehen  gebracht. 

Noch  einer  besonderen  Gattung  von  Bildern  wäre 
zu  gedenken,  der  rein  dekorativen  Landschaften.  Hier 
hat  der  Künstler  in  der  Abstraktion  von  allem  Zu¬ 
fälligen  den  letzten  Schritt  gethan.  Die  Form,  befreit 
von  allem  Nebensächlichen  und  durch  intensive  Farbe  zu 
höchsterWirkung  gesteigert, kommt  in  ihrer  reinen,  maje¬ 
stätischen  Schönheit  zur  Geltung.  Diese  Gattung  von 
Werken  beansprucht  nichts  weiter  als  eine  dekorative 
Bedeutung.  Es  war  nur  natürlich,  dass  sie  auch  kunst¬ 
gewerblich  verwertet  wurde,  ln  den  Entwürfen  für 
Wandteppiche  ist  er  besonders  glücklich  gewesen. 
Er  hat  der  erst  vor  kurzem  zu  neuem  Leben  er¬ 
weckten  Handweberei  höchst  zweckentsprechende  und 
wirkungsvolle  künstlerische  Vorwürfe  geliefert  und 
diesem  Gebiete  die  dekorative  Landschaft,  indem  er 
sie  auf  breite  Flächen  und  starke  Farbengegensätze 
hin  anlegte,  in  geeigneter  Weise  zugänglich  gemacht. 

38* 


2Q2 


WALTER  LEISTIKOW 


Auch  sonst  hat  er  sich  in  verschiedenen  kunst- 
t;(\verblichen  Zweigen  bethätigt.  Seine  sehr  spär¬ 
lichen  Möbelentwürfe  gehören  nicht  zu  seinen  ge¬ 
lungenen  Schöpfungen.  Er  hat  das  wohl  selbst  ein¬ 
gesehen;  denn  wie  wenige  ist  er  sich  der  Grenzen 
seiner  Begabung  bewusst.  Und  es  war  ein  Glück 
für  ihn,  dass  er  sich  nicht  von  dem  Strudel  der 
modernen  kunstgewerblichen  Bewegung  mit  fortreissen 
liess,  der  so  manche  Maler  verschlungen  hat. 

Nur  einer  Beschäftigung  für  das  Kimstgewerbe  ist 
er  auf  die  Dauer  treu  geblieben:  dem  Entwerfen  von 


Eriesen  schliesst  er  eine  grössere  Fülle  von  Motiven 
zu  einer  fortlaufenden,  bunt  bewegten  Reihe  zusammen. 
Leistikow’s  Tapeten  haben  ebenso  wie  seine  Bilder 
etwas  Strenges,  nichts  Einschmeichelndes.  An  grosser, 
für  sich  sprechender  dekorativer  Wirkung  kommen 
ihnen  in  Deutschland  nur  wenige  Leistungen  auf 
diesem  Gebiete  gleich. 

In  jeder  Arbeit  Leistikow’s  spricht  sich  eine  un¬ 
gewöhnlich  kräftige,  voll  entwickelte  Individualität  aus. 
Er  hat  sich  niemals  von  anderen  ins  Schlepptau 
nehmen  lassen,  niemals  seine  künstlerische  Über- 


Walter  Leistikow.  Kohleskizze 


Tapetenmustern.  Die  Firma  Adolf  Burchardt  Söhne 
in  Berlin  hat  es  verstanden,  seine  Fähigkeiten  für 
dieses  Gebiet  auszunutzen.  Er  zeigt  sich  dafür 
in  hohem  Masse  geeignet.  Welche  Prinzipien  ihn 
leiten,  darüber  hat  er  sich  selbst  einmal  im  kunst¬ 
gewerblichen  Beiblatt  dieser  Zeitschrift  ausgesprochen. 
Die  Dekorierung  der  Fläche,  die  Stilisierung  der 
Form  ist  ja  sein  eigenstes  Gebiet.  Seine  Muster 
setzen  sich  aus  phantastischen  oder  Pflanzenmotiven 
zusammen.  Er  verteilt  immer  nur  wenige  Ornamente 
auf  die  Fläche,  so  dass  das  Gesamtbild  ein  sehr 
klares,  ruhig  wirkendes  ist.  Nur  in  den  oberen 


Zeugung  auf  Anregungen  hin  aufgegeben,  die  von 
aussen  an  ihn  herantraten.  Dass  er  sich,  als  er  sich 
in  einer  Gärungsperiode  befand,  mit  offenem  Auge 
in  die  neuen  Errungenschaften  seiner  Zeitgenossen 
vertiefte,  that  seiner  Originalität  niemals  Abbruch. 
Er  hat  nicht  wie  Liebermann  oder  Puvis  gemalt,  sich 
nicht  dem  Japonismus  in  die  Arme  geworfen.  Er  ist 
auch  nicht  dem  Impressionismus  verfallen,  der  damals, 
als  sich  Leistikow  in  der  Entwickelung  befand,  von 
vielen  und  ihm  Nahestehenden  als  die  allein  selig¬ 
machende  »Richtung«  gepriesen  wurde.  Der  Stil,  zu 
dem  er  durch  eine  Reihe  von  Jugend  versuchen  hin- 


WALTER  LEISTIKOW 


293 


durch  gelangte,  ist  ein  ganz  persönlicher  Ausdruck 
seiner  Individualität.  Er  ist  durch  ihn  und  von  innen 
heraus  entstanden,  durch  keinerlei  äussere  Einflüsse 
bedingt. 

Seine  Kunst  vermeidet  alles  Raffinierte,  alle  starken, 
die  Bestimmtheit  der  Eorm  aufhebenden  Farben¬ 
differenzierungen.  Ihn  beherrscht  jener  der  germa¬ 
nischen  Kunst  seit  Dürer  und  noch  früher  eigene 
Drang  nach  Klarheit  und  Bestimmtheit.  Er  betrachtet 
die  Natur  nicht  als  ein  Objekt  für  spitzfindige  Be¬ 
obachtungen;  er  lässt  sich  von  ihr  rühren  und  hin¬ 


stellt.  So  ist  ein  fertiges  Bild  die  künstlerische  Ver¬ 
arbeitung  empfangener  Natureindrücke  und  wirkt  des¬ 
halb  wahr.  Künstlerische  Wahrheit  ist  aber  dann 
vorhanden,  wenn  ein  Künstler  uns  durch  zielbewusste 
Anwendung  seiner  Mittel  in  seinen  Bann  zu  zwingen 
weiss,  wenn  seine  Idee  zu  reinem  künstlerischem  Aus¬ 
druck  kommt,  wenn  dem  Kunstwerk  eine  dieser  Idee 
entsprechende  innere  Gesetzmässigkeit  anzuhaften 
scheint.  Leistikow’s  Werke  sind  im  besonderen  von 
der  Idee  getragen,  ihren  Bestimmungsort  zu  schmücken. 
Sie  schlagen  vielfach  einen  feierlichen,  festlichen  Ton 


Walter  Leistikow.  Dekorative  Landsehaft.  Für  ein  Speisezimmer 


reissen,  klagt  und  jauchzt  mit  ihr,  denn  er  ist  ein 
Dichter  in  Farben  und  durch  Farben.  Niemals  wird 
er  zum  Sklaven  der  Natur;  er  unterwirft  sich  ihr 
nicht,  gleichsam  willenlos,  sondern  stellt  ihr  gegen¬ 
über  immer  sein  persönliches  Ich  in  den  Vordergrund. 
Studien,  die  er  vor  der  Natur  entworfen,  dienen  ihm 
nur  als  Unterlage  für  auszuführende  Gemälde,  in  denen 
er  nach  einer  geschlossenen  Bildwirkung  trachtet.  Sie 
sind  für  ihn  Material,  weiter  nichts.  Im  Atelier  folgt 
erst  die  umfassende  künstlerische  Arbeit.  Hier  über¬ 
nimmt  die  Phantasie  die  Führung.  Das  ganze  wird 
in  den  Dienst  einer  künstlerischen  Berechnung  ge- 


an.  Er  ist  sich  darin  mit  Böcklin  einig,  dass  das 
Bild  eine  dekorative  Bedeutung  haben  soll.  Soll  eine 
Landschaft  in  gewisser  Weise  dekorativ  wirken,  so 
muss  sie  monumental  sein,  muss  Stil  haben.  Zarte 
lyrische  Stimmungen  kommen  bei  ihm  kaum  zum 
Vorschein.  Seine  Arbeiten  geben  weniger  Kunde  von 
augenblicklichen  subjektiven  Gefühlen,  als  dass  sie 
Offenbarungen  eines  starken  Eigenwillens  sind,  der  ein 
ganz  bestimmtes  allgemeines  Verhältnis  zur  Natur 
und  ihren  Erscheinungen  gewonnen  hat  und  dem  in 
überzeugender  Weise  Ausdruck  zu  verleihen  weiss. 
Dieses  Verhältnis  braucht  deshalb  kein  kühles,  objek- 


294 


WALTER  LEISTIKOW 


tives  zu  sein;  es  äussert  sich  nur  mehr  in  einer  Hin¬ 
gabe  an  das  ganze,  als  an  die  vorübergehende  Er¬ 
scheinung.  Ein  Hang  zum  Grossen,  Erhabenen 
charakterisiert  seine  Kunst.  Dieser  Zug  ins  Grosse 
befähigt  ihn  besonders  zur  monumentalen  Malerei, 
die  ja  von  allen  Zufälligkeiten  absehen  und  fest  und 
bestimmt  wie  eine  geschlossene  Weltanschauung  aiif- 
treten  muss.  Er  hat  von  der  Natur  eine  monumen¬ 
tale  Vorstellung  und  weiss  mit  seinen  malerischen 
Mitteln,  die  alle  auf  ein  Ziel  gerichtet  sind,  dieser 
Vorstellung  einen  bedeutungsvollen  künstlerischen 
Ausdruck  zu  verleihen.  Seine  Kunst  schreit  nach 


grossen  Elächen.  Möchte  man  in  seiner  Heimat 
diesen  Schrei  vernehmen,  ihm  Wände  zur  Bemalung 
überweisen  und  ihn  so  vor  eine  grosse  monumentale 
Aufgabe  stellen.  Staat  und  Kommunen  thäten  besser 
daran,  solch  eine  Persönlichkeit  mit  so  ausgesprochener 
dekorativer  Begabung  für  die  Elächendekoration  grosser 
Räume  heranzuziehen,  als  sie  wie  gewöhnlich  durch 
Historien-  oder  Genremaler  auspinseln  zu  lassen. 
Vielleicht  würde  uns  dann  der  Künstler,  der  jetzt  in 
der  Blüte  seiner  Jahre  steht,  noch  manche  neuen 
Offenbarungen  in  Bezug  auf  die  dekorative  Land¬ 
schaftsmalerei  zu  machen  haben. 


Abb.  1.  Rembrandt,  Der  undankbare  Knecht 


DAS  WALLACE- MUSEUM  IN  LONDON 

Von  J.  P.  Richter  in  London 


Die  Menschen  in  Disraeli’s  Romanen  sind  alle 
ausserordentliche  Menschen;  sie  haben  welt¬ 
umfassende  Pläne,  sind  aussergewöhnlich  be¬ 
gabt  und  meist  auch  grenzenlos  reich.  Als  Disraeli 
bei  einem  Besuche  von  Hertford  House  seinen  Namen 
in  das  Fremdenbuch  einzutragen  von  Sir  Richard 
Wallace  aufgefordert  wurde,  that  er  es  mit  dem  be¬ 
zeichnenden  Zusatze  »Beaconsfield  in  this  palace  of 
fancy,  beauty  and  taste«.  Seine  hochgespannten  Er¬ 
wartungen  waren  übertroffen,  und  dieselbe  Erfahrung 
mit  sich  wird  jeder  kunstverständige  oder  auch  nur 
kunstsinnige  Besucher  machen.  Es  ist  das  nicht  nur 
ein  erster  Eindruck;  ein  noch  so  häufiger  Besuch 
kann  ihn  nicht  abmindern.  Von  wie  wenig  Museen 
kann  ein  Gleiches  gesagt  werden!  Der  Gründer  der 
Sammlung,  der  vierte  Markgraf  von  Hertford,  war  in 
erster  Linie  ein  Mann  des  guten  Geschmackes,  dem 
unter  den  schönen  Dingen  nur  die  besten  gut  genug 
waren,  und  der  darum  alle  Sturmangriffe  der  Kunst¬ 
händler  abschlug,  welche  ihm  die  festgezogene  Grenz¬ 
linie  zwischen  dem  Schönen  und  dem  nur  Interessanten, 
zwischen  Kunstwerken  und  Kuriositäten  verwischen 
wollten.  Er  hatte  England  den  Rücken  gekehrt  und 
lebte  ein  Einsiedlerleben  in  Paris,  umgeben  von  seinen 
Kunstschätzen  in  einem  Palast  der  Rue  Lafitte.  Die 
Bereicherung  und  Vermehrung  der  Sammlung  war  sein 


selbstgestecktes  Lebensziel.  Sir  Richard  Wallace  war 
dabei  seine  rechte  Hand.  Er  ist  auch  sein  Erbe  ge¬ 
worden,  und  bei  der  stark  ausgeprägten  französischen 
Gesinnung  beider  wären  die  kostbaren  Kunstschätze 
wohl  nie  nach  England  gekommen,  wenn  nicht  un¬ 
mittelbar  nach  dem  deutsch-französischen  Kriege  die 
Unsicherheit  der  Lage  in  Frankreich  eine  Bergung 
der  ganzen  Sammlung  jenseits  des  Kanals  notwendig 
gemacht  hätte.  Der  Boulevard  Richard  Wallace  beim 
Bois  de  Boulogne  ist  eine  Ehrung,  welche  ihm  die 
Stadt  erwiesen  hat  für  thätige  Hilfeleistung  durch 
Proviantzufiihr,  als  Paris  sich  nicht  mehr  gegen  das 
deutsche  Heer  halten  konnte.  Ein  Teil  der  Samm¬ 
lungen  befand  sich  damals  im  Schloss  Bagatelle  beim 
Bois  de  Boulogne.  So  lange  das  deutsche  Heer  vor 
Paris  lag,  blieb  Bagatelle,  obwohl  in  der  Schusslinie 
der  Angreifenden,  ganz  unversehrt,  wahrscheinlich 
auf  höheren  Befehl  deutscherseits.  Als  aber  die  fran¬ 
zösischen  Mobilgarden  die  deutschen  Stellungen  ein- 
nahmen,  um  in  Paris  die  Herrschaft  der  Kommune 
zu  brechen,  wurde  von  ersteren  Bagatelle  arg  ver¬ 
wüstet.  Der  Schmerz  darüber  war  gross.  Diese 
rücksichtslose  Undankbarkeit  gegen  einen  verdienst¬ 
vollen  Freund  und  Parteigänger  der  neuen  Regierung 
war  für  Sir  R.  Wallace  das  Signal  zur  Überführung 
der  Sammlung  nach  England.  Aber  in  London  war 


-96 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


kein  Haus  zu  finden,  in  dem  sie  eine  würdige  Auf¬ 
hellung  hätte  finden  können.  Hertford  House  wurde 
7H  dem  Zwecke  umgebaut  und  erweitert.  Erst  um 
:S75  begann  dort  die  Aufstellung.  Seit  Juni  1872 
v.ar  die  Sammlung  in  dem  damals  neugegründeten 
rk-ihnal  Green-Museum  ausgestellt  gewesen,  ein  Mu¬ 
seum,  welches  als  Monumentalbau  ungefähr  auf  dem 
Niveau  einer  Jahrmarktsbude  steht.  Das  Übrige  in 
der  Herabsetzung  der  Sammlung  that  die  Umgebung 
—  Bethnal  Green  ist  einer  der  elendesten  und 
schmutzigsten  Stadt¬ 
teile  Londons,  und 
von  den  fashionab- 
len  Stadtteilen  aus 
schwerer  zu  er¬ 
reichen  ,  als  etwa 
Brighton  oder  sonst 
ein  gern  besuchter 
Ort  an  der  Küste. 

Es  war  ein  Exil, 
und  die  englische 
Regierung,  welche 
dieses  Verbannungs¬ 
urteil  über  die  ihr 
für  volle  drei  Jahre 
übergebene  Samm¬ 
lung  verhängte,  war 
in  ihrer  Wertschätz¬ 
ung  der  Wallace- 
Sammlung  nur  kon¬ 
sequent,  als  sie  nach 
dem  Tode  des  Soh¬ 
nes,  eines  französi¬ 
schen  Offiziers,  das 
Angebot  des  Sir 
Richard  Wallace  ab¬ 
wies,  Hertford 
House  nach  seinem 
Tode  als  National¬ 
museum  zu  über¬ 
nehmen.  Man  ant¬ 
wortete  ihm,  das 
neuerrichtete  Palais 
sei  nicht  dazu  ge¬ 
eignet.  Nach  ein 
paar  Menschenaltern 
müsse  sein  Miet¬ 
vertrag  erneuert 

werden,  auf  Staatskosten?  —  welche  Zumutung  für 
ein  englisches  Schatzamt! 

Die  berechtigten  Erben  der  Markgrafschaft  Hert¬ 
ford  haben  natürlich  seiner  Zeit  ihre  Ansprüche  geltend 
gemacht.  Soviel  wir  wissen,  sind  sie  alsbald  ander¬ 
weitig  abgefunden  worden. 

Sir  Richard  Wallace  genoss  die  Gunst  des  Prinzen 
von  Wales,  des  jetzigen  englischen  Königs,  und  sein 
englischer  Patriotismus  hat  ihm  nicht  erlaubt,  einen 
mehr  als  formellen  Akt  der  Rache  zu  üben  gegen¬ 
über  der  unverantwortlichen  Ablehnung  des  gross- 
mütigen  Geschenkes.  Bei  seinem  Tode  im  Jahre  i8go 
trat  seine  Witwe  das  ganze  Erbe  an,  die  bei  ihrer 


Abb.  2.  Boucher,  Der  Sonnenuntergang 
Wallace-Sammlung  London 


gestrengen  Majestät  der  Königin  Viktoria  nichts  weniger 
als  beliebte  Lady  Wallace.  Als  diese  Dame  im  Jahre 
1897  starb  sie  war  Französin  — ,  fand  man  in 
ihrem  Testament  die  Bestimmung:  »Ich  vermache  der 
britischen  Nation  alle  meine  Gemälde,  meine  Bronzen, 
meine  Waffensammlimg  und  sonstigen  Kunstwerke 
u.  s.  w.  in  Hertford  House,  jedoch  unter  der  Be¬ 
dingung,  dass  die  Sammlung  nicht  verzettelt  wird, 
sondern  als  Wallace-Sammlung  in  einem  besonderen 
Museum  im  Centrum  von  London  aufgestellt  wird«. 

Mit  der  Ausfüh¬ 
rung  dieser  testa¬ 
mentarischen  Be¬ 
stimmung  durfte 
nicht  gezögert  wer¬ 
den.  Das  Testament 
verlangte,  dass  in 
vier  Jahren  das  Wal¬ 
lace- Museum  fertig 
dastehen  sollte.  Die 
Regierung  war  ge¬ 
scheit  genug,  mit 
dem  Grundeigen¬ 
tümer  des  Palais  ein 
Übereinkommen  zu 
treffen,  und  das  er¬ 
lauchte  Parlament 
hat  die  verhältnis¬ 
mässig  geringe 
Summe,  welche  die 
Regierung  für  den 
Erwerb  des  Grund¬ 
stückes  verlangte,  auf 
dem  Hertford  House 
steht,  schnell  bewil¬ 
ligt,  so  dass  der 
Regierung  für  den 
Antritt  der  Erbschaft 
nicht  viel  mehr  zu 
thun  übrig  blieb,  als 
das  Palais,  so  wie  es 
stand,  zum  Wallace- 
Museum  zu  dekre¬ 
tieren.  Und  niemand 
wird  bestreiten,  dass 
sie  nichts  besseres 
hätte  thun  können. 

Eine  Klausel  des 
Testamentes  bestimmte,  dass  die  schmiedeeiserne  Trep¬ 
penrampe  des  Palais  auch  in  dem  projektierten  Museum 
nicht  fehlen  dürfe.  Das  hätte  auch  einen  ganz  besonderen 
Treppenbau  bedingt,  den  man  sich  nun  schenken  konnte. 
An  dieser  Rampe  hing  Sir  Richard  Wallace  mit  be¬ 
sonderer  Anhänglichkeit.  Von  ihrer  Erwerbung  pflegte 
er  immer  wieder  mit  triumphierender  Miene  zu  er¬ 
zählen,  dass  diese  Rampe  des  alten  Palais  Mazarin, 
jetzt  Bibliotheque  Nationale  in  Paris,  bei  einem  der 
vielen  Umbauten  als  altes  Eisen  von  der  französischen 
Regierung  verkauft  und  von  ihm  erworben  wurde. 
Vor  der  Eröffnung  des  Museums  galt  es  einer  Prin¬ 
zipienfrage  gegenüber  Stellung  zu  nehmen:  Sollte  die 


ZElTSCHKIf-T  FÜR  BILDENDE  KUNST  I902 


HERBST.  ORIUINALLITHOORARI  üE 
VON  A.  HAUEISEN  IN  KARLSRUHE 


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■•  ^■.  3, 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


297 


Palasteinrichtung  beibehalten  werden  oder  sollte  eine 
Neuaufstellung  unternommen  werden  nach  dem  Vor¬ 
bilde  der  Industrie-  und  Kunstmuseen?  Man  ent¬ 
schied  sich  für  ersteres,  und  hat  wohl  daran  gethan. 
Nur  wenig  bauliche  Abänderungen  sind  gemacht 
worden  zum  Zweck  der  Raumgewinnung.  Die 
früheren  Stallungen  gaben  Raum  ab  für  das  Waffen¬ 
museum.  Die  gemachten  Umstellungen  von  Möbeln 
sind  kaum  von  Belang.  Dagegen  glaube  ich  nicht, 
dass  man  wohl  daran  gethan  hat,  Bilder  umzuhängen. 
Die  frühere  Ver¬ 
teilung  derselben 
war,  wie  die  ganze 
Einrichtung,  das 
persönliche  Werk 
des  Sir  Richard 
Wallace,  eines  Man¬ 
nes  von  feinstem 
Geschmack  in  die¬ 
sen  Dingen  und 
dazu  von  lebens¬ 
langer  Erfahrung. 

Ich  glaube,  dass 
gerade  da,  wo  man 
seinen  Geschmack 
hat  korrigieren 
wollen,  man  ent¬ 
schieden  fehlgegrif¬ 
fen  hat.  Um  nur 
eines  anzuführen: 

Das  Gleichnis  vom 
Schalksknecht, 

Rembrandt’s 
Hauptbild,  und 
wohl  auch  die 
Perle  dieser  ganzen 
Sammlung(Abb.  1 ), 
ein  grosses  dunkles 
Bild  aus  später  Zeit, 
hing  früher  auf  der 
am  besten  beleuch¬ 
teten  Wand  der 
Galerie,  und  jetzt 
auf  der  entgegen¬ 
gesetzten.  Man 
wollte  den  Bildern 
der  englischen 
Schule  das  beste 
Licht  geben, beson¬ 
ders  den  Porträts  von  Reynolds  und  Gainsborough, 
und  hat  sie  darum  alle  dort  in  scharfes  Licht  gestellt, 
nicht  gerade,  wie  mir  scheint,  zum  Vorteil  derselben, 
denn  da  sie  alle  sehr  hell  im  Ton  sind,  würde  ihnen 
das  Helldunkel,  in  dem  sie  früher  hingen,  besser 
stehen.  Dazu  kommt,  dass  unmittelbar  neben  solchen 
blassen  Damenköpfen  mit  weissgepudertem  Haar 
und  weissen  Gewändern  Rembrandt’s  Porträt  seines 
Sohnes  Titus  und  verschiedene  Murillos  hängen,  lauter 
dunkle  Bilder,  welche  solche  Gesellschaft  gar  nicht 
vertragen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  ein  Reynolds 
mit  einem  Rembrandt  auf  die  Dauer  nicht  konkurrieren 


kann.  Die  Meinungen  hierüber  sind  freilich  geteilt, 
und  Einmütigkeit  ist  gar  nicht  zu  erwarten,  wenn 
man  bedenkt,  dass  die  Bilder  der  grossen  englischen 
Maler  lauter  vornehme  edle  und  bestrickend  schöne 
Frauen  vorstellen,  Rembrandt  aber  nüchternes  Bürger¬ 
volk  oder  die  eigene  Gambrinusphysiognomie  uns 
vorführt.  Die  sämtlichen  Bilder  Murillo’s  —  es  sind 
deren  dreizehn  —  sind  in  einer  Weise  mit  heterogenen 
Gemälden  zusammengestellt,  dass  sie  nirgends  zur 
Geltung  kommen.  Freilich  halten  manche,  und  so 

wohl  auch  das 
Direktorium  der 
Wallace- Samm¬ 
lung,  den  grossen 
Spanier  für  nicht 
mehr  recht  zeit- 
gemäss. 

Doch  wir  dür¬ 
fen  nicht  verges¬ 
sen,  dass  die  Wal¬ 
lace -Sammlung 
keine  Gemälde¬ 
galerie  im  landläu¬ 
figen  Sinne  des 
Wortes  ist.  Die 
Gemälde  dienen 
neben  vielem  ande¬ 
ren  zum  Schmucke 
des  Palastes,  und 
darin  liegt  natürlich 
eine  grosse  Schran¬ 
ke  für  die  richtige 
Aufstellung.  Der 
Überfluss  an  Mei¬ 
sterwerken  kom¬ 
pliziert  natürlich 
die  Aufgabe. 

Nächst  der  Na¬ 
tional  Gallery  ist 
dieWallace-Samm- 
lung  unstreitig  die 
erste  Gemälde¬ 
galerie  Englands, 
aber  das  ist  nicht 
ihre  erste  und 
hervorragendste 
Eigentümlichkeit. 
Es  ist  der  Pa¬ 
last  eines  Grand 
Seigneur,  wie  ihn  kein  Millionär,  kein  Nouveau  Riehe 
je  sich  wird  schaffen  können.  Selbst  wo  die  Mittel 
vorhanden  sind,  und  wo,  was  mehr  sagen  will,  auch 
der  Geschmack  das  Richtige  träfe,  —  wo  wollte  man 
das  Material  für  ein  solches  Ensemble  hernehmen? 
Das  oben  angeführte  Urteil  des  Lord  Beaconsfield 
beruht  keineswegs  auf  dem  Eindrücke  allein  der  Ge¬ 
mälde.  Sie  sind  wohl  für  niemand  die  Hauptnote 
in  dem  Accord  des  Gesamteindruckes.  Das  Porzellan, 
die  Kandelaber  und  Pendulen,  die  Bronzen,  die  Dosen 
und  Miniaturen,  vor  allem  aber  das  Mobiliar,  das 
alles  findet  ja  nirgends  seinesgleichen.  Das  in  fast 


Abb.  3.  Joshua  Reynolds,  Miss  Nelly  O' Brien 
Wallace-Sammlung  London 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIII.  H.  12. 


39 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


vgS 


zahllosen  Exemplaren  hier  vereinigte  und  fast  auf 
.die  Räume  des  Palastes  verteilte  Luxusmobiliar  trägt 
zum  grössten  Teil  das  Gepräge  der  Werkstätten  von 
Boulle,  Gouthiere  und  Riesener,  jener  unübertroffenen 
Meister  aus  der  Zeit  Ludwig’s  des  XIV.  und  Ludwig’s 
des  XV. 

Als  im  Jahre  1793  die  republikanischen  Gewalt¬ 
haber  Frankreichs  die  beweglichen  Krongüter  öffent¬ 
lich  versteigern  liessen  mit  alleiniger  Ausnahme  der 
in  den  königlichen  Schlössern  befindlichen  Gemälde, 
welche  in  den  Louvre  überführt  wurden,  erwarb  der 


sailler  Königsschlosses  wandert,  kann  sich  dessen 
Vergangenheit  rekonstruieren,  indem  er  sich  vorstellt, 
dass  die  Prachtstücke  des  Mobiliars  der  Wallace- 
Sammlung  dereinst  jenen  Räumen  den  Reiz  intimer 
Wohnlichkeit  verliehen.  So  wird  es  begreiflich,  dass 
der  Eindruck,  welchen  die  Räume  des  Londoner 
Palais  auf  jeden  Besucher  machen,  ein  überwältigender 
ist,  dass  es  auch  keinem  späteren  Sammler  nie  mög¬ 
lich  sein  wird,  ähnliches  zu  erreichen. 

Nach  seiner  äusseren  Erscheinung  kann  der 
Palast  der  Wallace  -  Sammlung  in  der  nüchternen 


Abb.  4.  Tisch  im  Stile  Louis’  XV. 
Wallace-Sammlung  London 


damals  in  Paris  weilende  russische  Graf  Koutscheleff 
einen  grossen  Teil  des  von  den  Zeitgenossen  natürlich 
missachteten  Mobiliares  von  Versailles  und  anderen 
Königsschlössern.  Seine  kostbaren  Erwerbungen 
sandte  er  auf  seine  Schlösser  in  Russland,  und  dort 
verblieben  sie,  bis  vor  etwa  vierzig  Jahren  Sir  Richard 
Wallace  von  dem  Marquis  of  Hertford  nach  Russland 
geschickt  wurde,  dort  die  ganze  Sammlung  zu  er¬ 
werben  1).  Wer  jetzt  durch  die  öden  Säle  des  Ver- 


1)  Ich  verdanke  diese  Mitteilung  dem  verstorbenen 
französischen  Diplomaten  Marquis  Melchior  de  Vogue,  in 
dessen  Familienbesitz  sich  ebenfalls  einige  sehr  wertvolle 
Stücke  befinden. 


Einfachheit  mehr  an  holländische,  als  an  französische 
Vorbilder  gemahnen;  ein  Freibau  aus  Ziegelstein  in 
drei  Geschossen,  mit  der  Fassade  nach  Manchester 
Square.  Schon  beim  Eintritt  in  das  Vestibül  fesselt 
den  Blick  das  geräumige,  durch  eine  Glaskuppel  er¬ 
leuchtete  Treppenhaus  mit  der  oben  erwähnten  Rampe. 
Wir  befinden  uns  zwei  ungewöhnlich  grossen  fran¬ 
zösischen  Gemälden  gegenüber.  Der  zarte  Farbton, 
die  breite,  der  lokalen  Verwendung  entsprechende 
dekorative  Behandlung,  die  leidenschaftlich  bewegte, 
aber  doch  klar  disponierte  Komposition,  die  Wahl 
des  Sujets  und  vor  allem  die  Meisterschaft  der  Aus¬ 
führung  verleihen  diesen  Bildern  einen  ungewöhn¬ 
lichen  Zauber.  Frangois  Boucher  schildert  hier  in 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


299 


mythologisch -symbolischen  Gruppen  mit  zahlreichen 
fast  lebensgrossen  Figuren  den  Aufgang  und  den 
Niedergang  der  Sonne.  (Abb.  2’). 

Auf  dem  einen  Gemälde  sieht  man  Apollo  in  be¬ 
geisterter  Haltung  auf  den  smaragdgrünen  Meeres¬ 
fluten.  Eine  Nymphe  reicht  ihm  die  Leier  empor, 
eine  andere  bindet  ihm  die  Sandalen.  Eine  dritte 


dem  Pendant.  Der  Wagen  des  Sonnengottes  ist 
am  Ziele  angelangt.  Neckische  Genien  sind  ge¬ 
schäftig,  ihn  zu  erklettern.  Apollo,  welcher  die  Leier 
auf  dem  Sitz  niedergelegt  hat,  verlässt  den  Wagen, 
während  Thetis,  auf  einer  Muschel  ruhend,  dem  Gott 
verlangend  entgegen  sich  wendet. 

Freilich  hat  die  Schilderung  nichts  Heroisches. 


Abb.  5.  Kommode  im  Stile  Louis’  XVI. 
Wallace-Sammlung  London 


schwebt  ihm  gegenüber  über  der  Flut,  die  Zügel  des 
schnaubenden  Viergespannes  in  Bereitschaft  haltend. 
Oben  in  dem  nebelerfüllten  Äther  erscheint  Aurora, 
dem  Sonnenwagen  vorauseilend  und  Rosen  im  Schoss 
haltend,  während  über  Apollo  ein  fackelhaltender 
Genius  aufsteigt. 

Leicht  bewegte  See  bildet  die  Scenerie  auch  auf 

1)  Die  Abbildungen  1,  2,  3,  6  und  7  sind  nach  Photo¬ 
graphien  von  W.  A.  Mansell  &  Co.  in  London  hergestellt. 


Das  Elegante,  und  mehr  noch  das  Galante,  ist  und 
bleibt  die  Sphäre  der  künstlerischen  Vorstellungen 
Boncher’s.  Schmachtende  Sehnsucht  liegt  in  den 
Blicken  der  gliederweichen  Götter,  während  oberhalb 
in  Wolken  graziös  schwebende  Genien  ein  weit¬ 
flatterndes  blaues  Tuch  —  wohl  eine  Andeutung  des 
Nachthimmels  -  wie  eine  Bettgardine  aufraffen.  Die 
dnnkelglühende  Sonnenscheibe  taucht  rechts  hinter 
Gewölk  in  die  Finten.  Im  Vordergrund  sieht  man 
hier  wie  im  ersten  Bilde  schlanke,  schöngestaltete 


39 


300 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


Abb.  6.  Rembrandt,  Bildnis  seines  Sohnes  Titus 
Wallace-Sammlnng  London 


Nymphen,  die  Wasser  durchstreichend,  dabei  den  Reiz 
ihrer  Glieder  enthüllend. 

Die  beiden  Gemälde  sind  auch  in  historischer 
Beziehung  merkwürdig.  Im  Jahre  1753  hatte  Boucher 
nach  dem  Livret  des  Pariser  Salons  diese  grossen 
Kompositionen  zur  Ausstelinng  gebracht,  und  es  wird 
darin  ausdrücklich  bemerkt,  dass  sie  bestimmt  waren, 
von  Cozette  und  Audran  in  der  Gobelinfabrik  als 
Vorbilder  zu  Tapeten  zu  dienen.  Dies  geschah  indes 
nicht.  Auf  die  Gemälde  war  die  Marquise  de  Pom¬ 
padour  aufmerksam  geworden.  Sie  erwarb  dieselben. 
Pierre  Remy,  der  Verfasser  des  Catalogue  des  Tableaux 
de  feu  Madame  la  Marquise  de  Pompadour  (1766) 
sagt  von  ihnen:  Ich  habe  öfter  den  Künstler  sagen 
hören,  dass  sie  zu  den  Bildern  gehören,  die  ihm  am 
besten  gelungen  seien.  Das  Urteil  eines  so  beschei¬ 
denen  und  so  wenig  von  sich  eingenommenen 
Künstlers,  wie  es  Monsieur  Boucher  ist,  verdient 
Glauben.  Übrigens  Leute  von  Urteil  und  ohne  vor¬ 
gefasste  Meinung  bestätigen  das.«  Als  ebendiese 
Gemälde  im  Jahre  1866  am  Boulevard  des  Italiens 
ausgestellt  waren,  schrieb  darüber  Thore  (Burger)  in 
der  Gazette  des  Beaux  Arts«:  »Zwar  ist  Phoebus 
schrecklich  manieriert.  Das  männliche  Geschlecht  ist 
nicht  Boucher’s  Stärke.  Aber  die  jungen  Mädchen 
sind  mehr  oder  minder  götterhaft  und  entzückend, 
zumal  die  blonden  Nymphen,  auf  Wellen  sich  schau¬ 
kelnd,  den  Blick  auf  den  lichtstrahlenden  Gott  heftend, 
während  er  zu  seiner  Reise  um  die  Welt  sich  an¬ 
schickt 

Wir  haben  bei  diesen  Bildern  länger  verweilt, 
denn  sie  sind  ein  Brennpunkt  des  Gesamteindruckes 


der  Räumlichkeiten  überhaupt.  Auch  die  übrige 
Dekoration  des  Treppenhauses  mit  Gemälden  ist  paar¬ 
weise  korrespondierend  in  gegenseitige  Beziehung 
gesetzt,  doch  die  Gemälde  selbst  sind  von  geringerer 
Bedeutung. 

Es  ist  eine  charakteristische  Eigentümlichkeit  des 
Palastes,  dass  das  Treppenhaus  mit  dem  Vorraum  der 
Gemächer  des  ersten  Stockwerkes  nicht  ein  Sammel¬ 
platz  von  Minderwertigem  ist.  Das  Niveau  künst¬ 
lerischer  Qualitäten  ist  wie  auf  allen  Gebieten,  so 
auch  in  allen  Räumlichkeiten  das  gleiche.  Vestibül 
und  Treppenhaus  sind  nicht  wie  anderwärts  in  der 
Ausstattung  als  die  Region  der  Bedienten  und  Passanten 
gekennzeichnet,  als  Vorhof  zum  Sanctuarium.  Man 
hat  diesen  tonangebenden  ursprünglichen  Charakter 
des  Palastes  jetzt  dadurch  beeinträchtigt,  dass  man 
an  Stelle  der  kostbaren  »Pendule  de  Lyon-,  einem 
einzigartigen  Kunstwerke  von  drei  Meter  Höhe  unter¬ 
halb  der  genannten  Bilder  Boucher’s,  die  Büste  der 
Lady  Wallace  und  über  derselben  eine  geschmack¬ 
widrige  Inschrifttafel  angebracht  hat,  welche  ihre  Ver¬ 
dienste  preist,  flankiert  von  der  gleich  schlechten  Büste 
des  Sir  Richard  Wallace  und  der  des  Marquis  of 
Hertford,  wie  zweier  stummer  Zeugen.  Man  wird 
zugeben,  dass  diese  Gruppierung  ihr  Bedenkliches 
hat,  so  lange  die  Geschichte  dieser  reichsten  und 
bedeutendsten  Privatsammiung  der  Welt  ein  unge¬ 
schriebenes  Buch  ist. 

Wir  müssen  selbstverständlich  darauf  verzichten, 
bei  der  Beschränkung  des  Raumes  ein  Gesamtbild 


Abb.  7.  George  Roniney.  Mrs.  Robinson  (Perdita) 
Wallace-Sammlang  London 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


301 


der  Sammlung  dem  Leser  vorzuführen.  Mit  einer 
katalogartigen  Aufzählung  auch  nur  der  Hauptwerke 
ist  den  meisten  wenig  geboten.  Wir  beschränken 
uns  daher  auf  einige  Bemerkungen  über  die  Samm¬ 
lung  der  Gemälde, 
doch  nicht  ohne 
vorher  auf  einige 
Hauptstücke  des 
Mobiliars  hinzuwei¬ 
sen,  über  dessen 
Geschichte  wir  be¬ 
reits  das  Nötige  ge¬ 
sagt  haben.  Die  bei¬ 
folgende  Abbildung 
8  veranschaulicht 
einen  der  grössten 
Schränke  in  dem 
Palast,  ein  Meister¬ 
werk  des  Stiles  Lud- 
wig’s  des  XIV.  von 
Andre  Charles  Boul- 
le.  Die  zwei  Meter 
lange  und  drei  Meter 
zehn  Centimeter 
hohe  Frontfläche, 
welche  ein  dach¬ 
förmiger  Aufsatz  be¬ 
krönt,  wird  von 
einem  pilasterartig 
vortretenden  Mittel¬ 
bau  durchschnitten, 
welcher  als  Uhr¬ 
schrank  dient.  Das 
Zifferblatt  ist  als 
Bekrönung  in  einen 
schildförmigen  Rah¬ 
men  gesetzt,  um  den 
drei  Genien  grup¬ 
piert  sind.  Dem 
links  am  tiefsten 
sitzenden  ist  ein 
Hahn  beigegeben 
mit  aufwärts  nach 
dem  Zifferblatt  ge¬ 
wandtem  Kopf.  Ein 
Köcher  mit  Pfeilen 
liegt  neben  dem  zur 
Rechten.  Der  oben 
schwebende  dritte 
wirft  dem  zweiten 
Blumen  in  den 
Schoss.  Im  übrigen 
beschränken  sich  die 
plastischen  figür¬ 
lichen  Dekorationen 
auf  den  strengen 
Janus-  oder  Saturnkopf  mit  aufgesetztem  Stundenglas, 
den  Mittelpunkt  der  Schrankfläche  bildend,  und  auf 
die  ebenfalls  in  or  moulu  ausgeführten  schwebenden 
Genien  im  oberen  Flächenschmuck  der  Flügelthüren. 
Die  Gesetzmässigkeit  in  dem  komplizierten  Aufbau  der 


Flächendekoration,  bei  der  natürlich  die  Inkrustationen 
überwiegen,  und  die  Originalität  in  dem  phantasti¬ 
schen  Spiele  der  Ornamentik  sind  charakteristische 
Eigentümlichkeiten  der  Boulle’schen  Arbeiten.  Von 

der  Delikatesse  und 
Präzision  der  Aus¬ 
führung  vermag  die 
Abbildung  kaum 
eine  Vorstellung  zu 
geben. 

Einen  ähnlichen, 
einfacher  gestalteten 
Schrank  sieht  man 
im  Hintergrund  der 
Abbildung  4.  Der 
davor  stehendeTisch 
von  zwei  Meter  acht- 
unddreissig  Centi¬ 
meter  Länge  und  ein 
Meter  zwölf  Centi¬ 
meter  Breite  zeigt 
Stilformen  aus  dem 
Beginne  der  Regie¬ 
rung  Ludwig’s  des 
XV.  Die  Füsse  und 
Wandungen  des 
Tisches  aus  Birn¬ 
baumholz  sind  unter 
anderem  verziert  mit 
herabhängenden 
Guirlanden  aus  ver¬ 
goldeter  Bronze, 
Lorbeergewinde 
imitierend,  und  aufs 
feinste  ciseliert.  Auf 
derTischplatte  stehen 
drei  kostbare  Sevres- 
vasen;  die  mittlere 
derselben  ist  eines 
der  seltenen  Exem¬ 
plare  des  Vaisseau 
ä  mat«.  Die  beiden 
ähnlichen  zu  den 
Seiten  stehenden 
Vasen  mit  Elefaiiten- 
köpfen  an  Stelle  der 
Henkel  haben  oben 
Leuchteraufsätze. 
Nicht  minder  be¬ 
achtenswert  sind 
die  an  den  Enden 
aufgestellten  drei¬ 
armigen  Leuchter 
mit  einer  Urne  als 
oberem  Abschluss, 
wegen  der  harmo¬ 
nischen  Komposition  in  weichem  Linienfluss.  Am 
Leuchterfuss  leisten  drei  Hermen  von  Genien  den 
Dienst  der  Karyatiden.  Unterhalb  sind  Löwenköpfe 
angebracht. 

Ein  Prachtstück  ans  derZeitKönigLndwig’s  desXVl. 


Abh.  8.  Schrank  von  Ch.  A.  Bonllc 
Wallace-Sammliing  London 


302 


EIN  BILDNIS  VON  PIETRO  LUZZl  DA  FELTRE 


ist  die  Kommode  (Abb.  5),  welche  die  Bestimmung 
eines  Coffre  de  Mariage  gehabt  hat  und  der  Königin 
Marie  Antoinette  gehört  haben  soll.  Den  Untergrund 
der  Seitenwandungen  bildet  eine  Täfelung  aus  japa- 
nesischen  lackierten  Hölzern,  von  dem  sich  die  ver¬ 
goldeten,  in  Gitterwerk  und  figürlichen  Bildungen 
bestehenden  Bronzereliefs  plastisch  abheben.  So  er¬ 
scheinen  in  dem  mittleren  Medaillon  die  auf  dem 
Köcher  des  Liebesgottes  sich  schnäbelnden  Tauben 
auf  der  Folie  kompakter  Wolken,  wie  sie  das  japa- 


nesische  Kunsthandwerk  besonders  wirkungsvoll  dar¬ 
zustellen  versteht.  Neben  den  Nymphen,  welche  in 
den  blumenurnrankten  Nischen  scheinbar  die  Deck¬ 
platte  stützen,  findet  die  geschmackvolle  Komposition 
der  Fläche  ihren  Abschluss  in  der  scheinbar  frei 
herabhängenden  Blumenguirlande,  welche  wie  zu 
festlichem  Schmuck  von  der  unteren  Leiste  der  Kom¬ 
mode  frei  schwebend  angebracht  ist.  In  Bronzeguss 
hergestellt,  ist  sie  mit  staunenswerter  Präzision  in 
Ciselierarbcit  vollendet. 

(Ein  zweiter  Aufsatz  folgt.) 


EIN  BILDNIS  VON  PIETRO  LUZZl  DA  FELTRE 


IM  Sommer  1889  wurde  einem  engen  Wiener  Kreise 
ein  kleines  künstlerisch  bedeutendes  italienisches 
Bildnis  bekannt,  auf  das  man  keinen  Reim  wusste. 
Man  kam  über  das  allgemeine  Urteil  nicht  hinaus: 
venetianisch,  aber  von  keinem  der  Meister,  die  uns 
aus  den  Galerien  bekannt  sind,  ln  ähnlich  unbe¬ 
stimmter  Weise  äusserte  sich  mündlich  auch  Morelli- 
Lermolieff,  der  damals  Wien  besucht  hatte,  über  das 
Bildchen.  Es  gehörte 
dem  Grafen  Franz  von 
Falkenhayn,  war  im 
Schloss  Walpersdorf 
vorgefunden  worden 
und  nur  für  kurze  Zeit 
behufs  Restaurierung 
und  Begutachtung  nach 
Wien  gekommen.  Ich 
gab  mir  damals  viele 
Mühe,  eine  Benennung 
zu  ermitteln.  Lag  doch 
eine  ganz  bestimmte 
Anregung  dazu  vor. 

Denn  in  unzweifelhaft 
alten  Zügen  trägt  das 
Täfelchen  auf  der  Hin¬ 
terseite  eine  Inschrift, 
die  augenscheinlich  den 
Namen  des  Künstlers 
durch  Kürzungen  an¬ 
deutet  und  ein  bestimm¬ 
tes  Datum  enthält.  Inner¬ 
halb  eines  geschweiften 
Schildchens  finden  wir 
nämlich  in  sicheren 
Strichen  hingesetzt,  fol¬ 
gendes:  »DIE  PRIMO 
MENSISSEPTENBRIS 
MCCCCCVilll  po  .D'. 

F.«,  das,  soweit  es 
möglich  ist,  hierneben 
nach  einer  Photogra¬ 
phie  wiedergegeben  ist. 


Der  letzte  Strich  in  der  Jahreszahl  ist  unscheinbar 
geworden.  Unter  den  Schriftzeilen  gewahrt  man 
noch  ein  kleines  Zeichen,  wohl  ein  Monogramm. 
Man  könnte  es  für  einen  Fisch  halten,  der  gegen 
rechts  in  der  Bildfläche  schwimmt.  Auch  anderes 
kann  gemeint  sein  und  ich  will  erst  später  eine  Deu¬ 
tung  dieses  Zeichens  versuchen. 

Nach  der  alten  Inschrift  musste  der  Künstler  P — o 

DA  F  heissen.  Ich 
durchsuchte  so  und  so 
viele  Listen  von  italieni¬ 
schen  Künstlern  des 
frühen  1 6.  Jahrhunderts, 
studierte  namentlich  die 
Gruppe  venetianischer 
Maler,  aus  der  das 
Bildchen  ohne  Zweifel 
hervorgegangen  ist  und 
kam  dabei  auf  den 
Namen  Pietro  da  Feltre 
und  nur  auf  diesen 
allein.  Eine  kurze  Nach¬ 
richt  über  das  inter¬ 
essante  Bildnis  wurde 
an  die  Öffentlichkeit 
gebracht  und  zwar  im 
»Monatsblatt  des  Wie¬ 
ner  Altertumsvereins« 
(1889,  Seite  48),  das 
in  jenen  Jahren,  als 
das  kleine  Gemälde 
nach  Wien  gekommen 
war,  gerade  einen  vor¬ 
übergehenden  Auf¬ 
schwung  genommen 
und  überdies  schon  in 
aller  Kürze  von  dem 
Vorhandensein  des  klei¬ 
nen  Stückes  Notiz  ge¬ 
nommen  hatte.  Das 
Bildchen  ging  bald 
von  Wien  auf  seinen 


Pietro  da  Feltre,  Bildnis 
Wien,  Sammlung  Figdor 


EIN  BILDNIS  VON  PIETRO  LUZZI  DA  FELTRE 


303 


Landsitz  nach  Walpersdorf  zurück  und  kam  da¬ 
durch  der  Kunstforschung  gänzlich  ausser  Sicht. 
Ich  selbst  vergass  es  so  weit,  dass  ich  vor  einiger 
Zeit  mit  einer  Erinnerungsvergleichung  bei  einem 
italienischen  Bildnis  der  Wiener  Akademie  keinen 
Erfolg  mehr  haben  konnte.  (Hierzu  meine  Geschichte 
der  Wiener  Gemäldesammlungen,  Liefg.  VI.  Seite  106.) 
Das  fragliche  Porträt  mitsamt  den  Notizen  im  Monats¬ 
blatt  des  Wiener  Altertumsvereins  wäre  wohl  noch 
lange  vergessen  geblieben,  hätte  man  nicht  im  Februar 
1902  die  Falkenhayn’sche  Sammlung  versteigert,  bei 
welcher  Gelegenheit  man  das  Täfelchen  des  Pietro 
da  Feltre  wieder  zu  sehen  bekam.  Es  wurde  von 
der  Sammlung  der  Herren  Brüder  Figdor  erworben 
und  Herrn  Dr.  Albert  Figdor  verdanke  ich  die  grosse 
photographische  Nachbildung  des  Bildnisses  selbst 
und  der  Inschrift  auf  der  Rückseite.  Im  Katalog  der 
Versteigerung,  die  im  Wiener  k.  k.  Versteigerungs¬ 
amte  abgehalten  wurde,  steht  unser  Bildchen  als 
Nr.  567  verzeichnet,  ohne  Namen  und  nur  ungefähr 
dem  Antonello  da  Messina  genähert.  Die  Inschrift  der 


Kehrseite  war  zwar  gelesen,  aber  nicht  gedeutet  worden. 
Deshalb  erlaube  ich  mir,  nach  Jahren  nochmals  auf 
meine  Vermutung  aufmerksam  zu  machen,  dass  wir 
in  dem  kleinen  Porträt  ein  Werk  des  Pietro  da  Feltre 
vor  uns  haben. 

Nun  möchte  ich  sogleich  von  dem  undeutlichen 
Zeichen  sprechen,  das  nach  unten  die  Inschrift  ab- 
schliesst.  Die  Ähnlichkeit  mit  einem  plump  gezeichneten 
Fische  führte  mich  auf  den  Deutungsversuch,  in  dem 
Zeichen  einen  Luzzo  zu  erblicken.  Luzzo  bedeutet 
im  venetianischen  Dialekt  den  Hecht  (esox  lucius  des 
Finne).  Sollte  mit  dem  Zeichen  wirklich  ein  Hecht 
gemeint  sein,  so  hätten  wir  es  mit  einem  redenden 
Monogramm  zu  thun,  das  uns  in  der  venetianischen 
Kunst  nicht  sonderlich  überraschen  kann.  Von  den 
zahlreichen  redenden  Wappen  venetianischer  Familien 
(z.  B.  Gradenigo,  Cappello,  Colleoni)  zu  den  redenden 
Monogrammen  ist  es  ja  kein  weiter  Schritt.  Der  freilich 
später  lebende  Paolo  Farinato  bediente  sich  eines 
redenden  Monogrammes.  Indes  will  ich  mit  dem 
Fischmonogramm  nichts  beweisen.  Es  läge  nur  so 


Kehrseite  des  Bildnisses  von  Pietro  da  Feltre 
Wien,  Sammlung  Figdor 


304 


ZU  UNSEREN  KUNSTBLÄTTERN 


nahe,  das  Künstlerzeichen  des  Pietro  Luzzi  da  Feltre 
als  Luzzo  zu  deuten. 

Weit  grössere  Aussichten  auf  Zustimniung,  als  die 
Auslegung  des  Monogrammes  hat  wohl  die  Benennung 
Pietro  da  Feltre,  die  ich  vorschlage.  Die  Buchstaben 
sind  vollkommen  leserlich,  auch  das  kleine  "  und 
der  Kürzungen. 

Die  Abbildung  anbei  und  die  ihr  beigegebenen 
Zeilen  wollen  lediglich  das  zweifellos  interessante 
Stück  den  Fachgenossen  vorführen  als  ein  Werk,  das 
wohl  einmal  einen  Ausgangspunkt  für  die  Bestimmung 
der  Tafelbilder  des  Pietro  Luzzi  da  Feltre  abgeben 
dürfte.  Eine  Studie  über  Pietro  da  Feltre  ist  dabei 
nicht  beabsichtigt.  Ich  konnte  das  reiche  Material, 
das  Crowe  und  Cavalcaselle  über  diesen  Künstler  zu¬ 
sammengestellt,  wie  es  mir  scheinen  will,  etwas  bunt 
zusammengewürfelt  haben,  nicht  in  allen  Fällen  kritisch 
durchprüfen.  Doch  darf  ich  andeuten,  dass  mir  bis¬ 
her  nichts  bekannt  geworden  ist,  was  meiner  Vermutung 

1)  Vergleiche  Vasari  (Milanesi’s  Ausgabe  V,  201  ff), 
Ridolfi,  Maraviglie  1,  8S  (zweite  Ausgabe  1,  137).  Die  An¬ 
gaben  bei  Sandrart  und  Felibien  sind  abgeleitet.  Siehe  auch 
Woltmann-Woerniann :  Geschichte  der  Malerei  11,  678  und 
den  Berliner  Katalog,  ferner  Repertorium  für  Kunstwissen¬ 
schaft  XVII I,  Seite  284.  Nur  weniges  in  den  Künstler- 
lexicis. 


irgendwie  wesentlich  widerspräche.  Was  uns  wichtig 
sein  muss,  die  Frage  nach  dem  Namen  des  Künstlers, 
das  lässt  sich  ja  mit  Sicherheit  beantworten.  Es  hat 
einen  Maler  Pietro  Luzzi  da  Feltre  gegeben,  der  zur 
Zeit,  als  unser  Bild  entstanden  ist,  thätig  war.  Crowe 
und  Cavalcaselle  teilen  nach  den  urkundlichen  Angaben 
Zanghellini’s  (im  Messagiere  tirolese  di  Rovereto  vom 
10.  April  1862,  einem  Jahrgang,  der  mir  leider  nicht 
zugänglich  ist,  der  betreffende  Band  ist  in  der  Wiener 
Hofbibliothek  nicht  zu  finden)  mit,  dass  Luzzi  in  Feltre 
1474  geboren  ist.  1476  dürfte  Pietro’s  Vater  nach 
Zara  ausgewandert  sein.  Wie  es  scheint,  ist  Pietro 
Luzzi  da  Feltre  derselbe  Maler,  der  bei  Vasari  als 
Morto  da  Feltre  mit  Giorgione  in  Verbindung  ge¬ 
bracht  wird.  Das  Geschichtchen,  das  Ridolfi  erzählt, 
ist  augenscheinlich  erfunden^). 

Einige  beschreibende  Angaben  mögen  schliesslich 
den  Eindruck  der  Abbildung  beleben.  Die  Kleidung 
ist  dunkel,  wie  gewöhnlich  beschrieben  wird  »schwarz«. 
Über  die  linke  Schulter  scheint  der  umgelegte  Rand 
eines  Mantels  zu  reichen.  Das  bauschig  getragene 
Haar,  die  Zazzera,  ist  hellbraun  und  das  wohl  künst¬ 
lich  so  gefärbt,  denn  die  Brauen  sind  auffallend  dunkel¬ 
braun.  Augen  braun.  Abmessungen  des  weichen 
Brettchens:  Höhe  0,292  m,  Breite  0,22  m. 

DR.  THEODOR  v.  FRIMMEL. 


ZU  UNSEREN  KUNSTBLÄTTERN 


Georg  Erler,  dem  wir  das  wunderschöne  Schab¬ 
kunstblatt  Ȁhrensammlerin-  unseres  heutigen  Heftes 
verdanken,  hat  sich  auf  der  vorjährigen  Dresdner 
internationalen  Ausstellung  zuerst  in  einem  grösseren 
Kreise  bekannt  gemacht.  Seine  dort  ausgestellte  Folge 
von  Radierungen,  die  ihm  später  eine  goldene  Medaille 
eintrug,  zeigt  ihn  als  einen  Künstler,  bei  dem  sich 
feines  malerisches  Empfinden  mit  einer  ungewöhnlichen 
Beherrschung  der  graphischen  Ausdrucksmittel  aufs 
Glücklichste  verbindet.  Neben  der  von  uns  veröffent¬ 
lichten  Platte  hat  eine  andere  grössere,  auf  der  eine 
alte  Frau  eine  Ziege  füttert,  wohl  das  meiste  Lob  ge¬ 
erntet.  Vortrefflich  war  auch  eine  Pariser  Kaiansicht.  — 
Erler  ist  1871  in  Dresden  geboren  und  hat  auf  der 
dortigen  Akademie  unter  Bürkner  und  besonders  Kühl 
seine  Ausbildung  erfahren. 

Max  Fabian,  der  zweite  von  den  heute  vorgestellten 
Künstlern,  ist  erst  kürzlich  aus  Artur  Kampf’s  Schule 
an  der  Berliner  Akademie  hervorgegangen.  Er  ist 
1873  geboren  und  hat  sich  in  Berlin  ansässig  gemacht. 
Auf  der  diesjährigen  Berliner  Ausstellung  ist  er  mit 


einem  Bilde  vertreten,  das  vielen  Beifall  gefunden  hat, 
es  heisst  Feierabend  auf  der  Spree«  und  ist  in  einer 
gesunden  realistischen  Art  gesehen.  Neuerdings  hat 
der  Künstler  angefangen,  auf  dem  lithographischen 
Stein  zu  porträtieren,  wie  unser  Kinderkopf  zeigt. 
Auch  auf  dem  Gebiete  des  Buchschmuckes  und  der 
dekorativen  Graphik  ist  Max  Fabian  mit  Erfolg  thätig. 

»Der  Herbst«  von  Albert  Haueisen  schliesst  die 
Reihe  der  vier  Jahreszeitenbilder,  welche  wir  in  diesem 
Bande  der  Zeitschrift  für  bildende  Kunst  veröffentlicht 
haben;  während  die  drei  anderen  Künstler  dieses 
Cyklus  —  Kallmorgen,  Volkmann,  Hein  schon  zu 
den  bekanntesten  Vertretern  der  deutschen  Original¬ 
lithographie  zählen,  ist  Haueisen  dem  grösseren 
Publikum  noch  weniger  bekannt.  Erst  sein  in  der 
Teubner  -  Voigtländer’schen  Sammlung  erschienener 
»Pfälzischer  Bauernhof«  hat  seinen  Namen  in  weitere 
Kreise  getragen.  Der  Künstler  ist  1872  in  Stuttgart 
geboren,  hat  sich  in  Karlsruhe  und  München  gebildet 
und  sich  dauernd  in  Karlsruhe  niedergelassen,  wo  er 
bei  dem  dortigen  Künstlerbunde  sich  eifrig  bethätigt. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  O.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


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