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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR 

BILDENDE  KUNST 

MIT  DEM  BEIBLATT  KUNSTCHRONIK 


NEUE  FOLGE 

VIERZEHNTER  JAHRGANG 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  E.  A.  SEEMANN 


1903 


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Inhalt  des  vierzehnten  Jahrgangs 


Jan  Veth.  Von  Andre  Jolles.  Mit  i  Lithographie  und 

5  Abbildungen .  i 

Adolf  Menzel.  Von  Jan  Veth.  Mit  i  Lithographie  .  1 1 


Die  vlämischen  und  die  niederländischen  Meister  in 
der  Ermitage  zu  St.  Petersburg  (Fortsetzung  aus 
Jahrgang  XIII).  Von  Max  Rooses.  Mit  i  Abbildung  13 
Ein  Bild  von  Karel  Fabritius  in  Rom.  Von  Sigurd 


Müller.  Mit  2  Abbildungen . 44 

Rembrandt’s  Gemälde  des  Paulus  im  Nachdenken  im 
Germanischen  Museum  zu  Nürnberg.  Von  Wilhelm 

Bode . 48 

Die  Ausstellung  altniederländischer  Meister  in  Brügge. 

Von  Franz  Dillberg.  Mit  6  Abbildungen .  .  49,  135 

G.  H.  Breitner.  Von  W.  Vogelsang.  Mit  5  Abbildungen  58 
Carel  Fabritius  oder  Pieter  de  Hoch  ?  Von  Wilhelm  Bode  85 
Theodor  Rocholl.  Von  Eduard  Daelen.  Mit  1  Farben¬ 
tafel  . 87 

Otto  Heinrich  Engel.  Von  Max  Osborn.  Mit  1  Farben¬ 
tafel  und  10  Abbildungen . 159 

Eugene  Carriere.  Von  August  Marguillier.  Mit  8  Ab¬ 
bildungen  . 183 

Der  Brunnen  des  Lebens  von  Hans  Holbein.  Von 
Artur  Seemann.  Mit  1  Farbentafel  und  15  Ab¬ 
bildungen  . 197 

Karl  Mediz  —  Emilie  Mediz- Pelikan.  Von  Ludwig 

Hevesi.  Mit  9  Abbildungen . 207 

Die  Ludwig  Richter -Ausstellung  in  Dresden.  Von 
Karl  Woermann.  Mit  7  Abbildungen  .....  225 
Constantin  Somoff.  Von  Igor  Grabar.  Mit  8  Ab¬ 
bildungen  . 23g 


James  Marshall.  Von  Julius  Gensei.  Mit  8  Abbildungen  256 
Drei  verschollene,  kürzlich' wiedergefundene  Meister¬ 
werke.  Von  Louise  M.  Richter.  Mit  3  Abbildungen  263 
Leonardo’s  Bildnis  der  Ginevra  dei  Bend.  Von  Wil¬ 


helm  Bode.  Mit  4  Abbildungen . 274 

Kunstausstellungen  in  Japan.  Von  A.  von  Janson. 

Mit  3  Abbildungen . 277 

Willroider’s  Landschaften.  Von  H.  E.  von  Berlepsch. 

Mit  2  Abbildungen  . . 286 

Albert  Belleroche.  Von  Karl  Eugen  Schmidt.  Mit 
2  Originallithographien  und  g  Abbildungen  .  .  .  287 


Seite 


Die  jüngsten  Strömungen  der  dänischen  Kunst.  Von 

Emil  Hannover.  .  . 299 

Das  Skizzenbuch  des  van  Dyck.  Von  Georg  Gronau. 

Mit  3  Abbildungen . 320 


Plastik 

Florentiner  Bildhauer  der  Renaissance.  Von  Alfred 

G.  Meyer.  Mit  1  Abbildung . 70 

Max  Klinger’s  »Schlafende«.  Von  Julius  Vogel.  Mit 

1  Abbildung . go 

Zwei  Selbstbildnisse  des  Niccoia  Pisano.  Von  Ernst 

Polaczek.  Mit  6  Abbildungen . 143 

Michele  Marini.  Von  Ernst  Steinmann.  Mit  10  Ab¬ 
bildungen  . 147 


Der  Farnesische  Stier  und  die  Dirkegruppe  des 
Apollonios  und  Tauriskos.  Ein  Brief  an  Georg 
Treu  in  Dresden  zu  seinem  sechzigsten  Geburtstag 
am  29.  März  1903.  Von  Franz  Studniczka.  Mit 


13  Abbildungen  . 171 

Max  Klinger’s  Entwurf  zu  einem  Brahmsdenkmal. 

Von  Ludwig  Hevesi.  Mit  2  Abbildungen  .  .  .  236 

Theodor  von  Gosen.  Von  Felix  Becker.  Mit  6  Ab¬ 
bildungen  . . 267 


Architektur 

Der  Ursprung  der  »romanischen«  Kunst.  Von  Josef 
Strzygowski.  Mit  3  Abbildungen . 295 

Graphische  Künste 

Ein  Nachtrag  zum  Houbraken- Kataloge,  Bildnis  der 
Tochter  des  Kurfürsten  Moritz  zu  Sachsen.  Von 
Theodor  Distel.  Mit  1  Abbildung . 22 

Heinrich  Reifferscheid.  Von  Gustav  Kirstein.  Mit 
2  Originalradierungen  und  4  Abbildungen  .  .  .  271 

Allgemeines 

Ein  Porträt  Friedrich’s  11.  von  Hohenstaufen.  Von 
Richard  Delbrück.  Mit  7  Abbildungen  (Erwide¬ 
rungen  S.  86  u.  246) .  17 

Kunst  und  Leben  in  England  (Fortsetzung  und  Schluss). 

Von  Hermann  Muthesius.  Mit  31  Abbildungen  25,  73 


IV 


INHALTSVERZEICHNIS 


Seite 

[j\c  Ausstellung  von  Kunstwerken  aus  Privatbesitz 
in  Baden-Baden  igü2.  Von  /ra/iz  Rkj'fel.  Mit 

25  Abbildungen . . ^3 

Das  Porträt  Kaiser  Friedrich’s  11.  V'on  F .  Philippt. 

iWit  2  Abbildungen . . 

Die  rheinische  und  die  westfälische  Kunst  auf  der 
kunsthistorischcn  Ausstellung  zu  Düsseldorf  1Q02. 

Von  Faul  (Jemen.  Mit  Farbentafel  und  37  Ab¬ 


bildungen  . . . 95 

Otto  Fischer.  V'on  f‘aul  Sc/iumann.  Mit  1  Original¬ 
steinzeichnung  .  ‘5h 


Seite 

San  Miniato  al  Tedesco.  Von  Hans  Mackowsky. 

Mit  15  Abbildungen . 166,  215 

Thorvaldsen  und  Zoega.  Von  Adolf  Michaelis.  Mit 

6  Abbildungen . 193 

Das  Porträt  Kaiser  Friedrich’s  II.  von  Hohenstaufen. 

Von  fitliüs  Reinhard  Dieterich.  Mit  16  Abbildungen  246 
Qriiuewald’s  Isenheimer  Altar  (ein  Rekonstruktions¬ 
versuch).  Von  Fritz  Baaingarten.  Mit  6  Abbildungen  282 
Mittelalterliche  Flechtgevvebe.  Von  E.  Kumsch.  Mit 
1  Dreifarbendrucktafel  und  12  Abbildungen  ...  311 


Kunstbeilagen 


Alherl  Belleroche,  Mädchenküpfe.  Originallitho¬ 
graphie  . 

Alhert  Belleroche,  Stillleben.  Originallithographie 
Heinrich  Fickmann,  Gespräch  über  das  Wetter. 

Originalradieriing . 

F.duard  F.inschlag,  Russischer  E5auer.  r^adierung, 

nach  einer  Skizze  von  Fr.  Koch . 

Otto  H.  Fngel,  Morgensonne.  Dreifarbendruck 
Otto  Fischer,  Am  Abeiul.  Originalsteinzeichnung 
Mittelalterliches  Flechtgewebe  im  Königlichen 
Kunstgewerbemuseum  in  Dresden.  Dreifarben¬ 
drucktafel  . . 

Oskar  üraf  Die  Stadtbrücke  in  Salzburg.  Ori- 

ginalrailierung . 

fiermann  llirzel,  Sommertag.  Originalradierung 
Hans  Holbcin,  Der  Brunnen  des  Lebens.  Drei¬ 
farbendruck  . .  .  .  .  . 

(icorg  von  Kempf  Eltcrnglück.  Radierung  .  . 


Seile 

L.  Kühn,  Paulus  im  Gemache.  Radierung  nach 

Seite 

ZU 

287 

Rembrandt . 

zu 

48 

zu 

2S7 

Hilde  L.ott,  König  Drosselbart.  Aquarelldruck  . 
Adolf  von  Menzel,  Von  der  Pariser  Weltausstel- 

zu 

24 

nach 

214 

hing  1867.  Dreifarbendruck . 

zu 

46 

Hans  Neiimann  jun  ,  Empire.  Originalradierung  nach 

182 

vor 

183 

Max  Pietschmann,  Männerkopf.  Schabkunstblatt 

nach 

238 

ZU 

159 

Heinrich  Reifferscheid,  Erntefeld.  Originalradierung 

zu 

271 

zu 

158 

Heinrich  Reifferscheid,  Bischof  Weber.  Original¬ 
radierung  . 

Theodor  Rocholl,  Türkische  Reiter.  Dreifarben- 

zu 

271/ 

zu 

3" 

druck  nach  einem  Aquarell . 

Schrein  des  hl.  Andreas,  gestiftet  vom  Erzbischof 

zu 

87  \ 

zu 

72 

Egbert,  im  Domschatz  zu  Trier.  Dreifarbendruck 

ZU 

95  t 

zu 

72 

Franz  Skarbina,  Weihnachten.  Dreifarbendruck 

zu 

72 

Eduard  Stiefel,  Im  Atelier.  Originalradierung  . 

zu 

238 

zu 

197 

Jan  Veth,  Adolf  von  Menzel.  Originallithographie 

zu 

1 

zu 

142 

Ludwig  Willroider,  Landschaft.  Studienblatt  .  . 

zu 

286 

Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi38unse 


ADOLF  V.  MENZEL 


ORIGINALLITHOGRAPHIE  VON  JAN  VETH 


JAN  VETH 


I. 

Auch  wenn  er  nicht  vor  kurzer  Zeit  eine  zün¬ 
dende  Verteidigungsrede  für  einen  von  kurz¬ 
sichtigen  Grossstadtsneigungen  und  Parvenu- 
Verkehrseitelkeit  zum  Tode  verurteilten  Altamster- 
damschen  »gracht«  gehalten  hätte  und  mit  dem 
Feldgeschrei  »Städteschändung«  für  den  eigenen 
holländischen  Charakter  seiner  Umgebung  eingetreten 
wäre;  auch  wenn  er  nicht  nun  schon  fünfzehn  Jahre 
mit  zäher  selbstbewusster  Ausdauer  auf  alle  denkbare 
und  undenkbare  Weise  versucht  hätte,  dem  schönsten 
Kunstwerk  seines  Vaterlandes  einen  würdigeren  Platz 
in  dem  Gebäude  zu  verschaffen,  das  trotz  seiner 
architektonischen  Verdienste  ohne  Verständnis  gerade 
für  dieses  Kunstwerk  gebaut  wurde  —  so  könnte 
man  doch  aus  Veth’s  Arbeit  und  mehr  noch  aus  seiner 
Karriere  beweisen,  wie  sehr  das  Ureigene  Hollands 
und  der  holländischen  Kunst  sein  Leben  gestützt, 
seine  Malerei  beeinflusst  hat. 

Nicht  wie  bei  den  Brüdern  Jakob  und  Willem 
Maris  mit  ihren  saftigen  Wiesen,  auf  denen  die 
Sonne  smaragden  funkelt  oder  ihren  Städtebildern,  über 
welchen  die  gigantischen  Wolkenungeheuer  hintaumeln 
und  gleiten,  spricht  bei  ihm  aus  jedem  Pinselstrich 
die  leidenschaftliche  Liebe  für  das  Land,  wo  das  lustige 
Frühlingsfeld  immer  an  die  einsame  Finsternis  der 
Dünen  angrenzt  und  die  Übergänge  von  goldener 
Sonne  zu  dumpfem  Nebel  zu  den  täglichen  Erschei¬ 
nungen  gehören.  Nicht  wie  bei  Israels  ist  jedes  Bild 
vollgesogen  von  dieser  wehmütigen  Kenntnis  der 
Menschenrasse,  die  in  Hütten  am  Strand  oder  in 
Höhlen  der  Stadt  wohnt.  Ebensowenig  lodert  hier 
die  Brunst  eines  Breitner,  der  die  Stadt,  welche  er 
liebt,  zu  befruchten  scheint,  so  dass  jede  Leinwand 
sowohl  ihr  als  auch  sein  Kind  wird.  Auch  wird, 
bezeichnet  man  die  Kunst  des  17.  Jahrhunderts  als 
die  holländische  par  excellence,  für  den  ober¬ 
flächlichen  Beschauer  nur  wenig  von  ihr  in  Veth’s 
Malerei  zu  finden  sein  und  man  würde  bei  einem 
Vergleich  mit  den  Doelenstukken  mehr  an  Dirk  jacobsz, 
Teunissen  oder  Dirk  Barentsz  als  an  Van  der  Heist, 
Bol  oder  Hals  denken,  während  man  bei  den  einzelnen 
Porträts  eher  auf  die  Kreuzfahrer  eines  Jan  van 
Scorel  oder  die  Bilder  des  Antonis  Mor  van  Dashorst 
als  auf  van  Dyck  oder  Miereveit  kommen  würde.  Für 
den  hochherzigen  Utrechter,  dessen  kühle  Grandezza 
in  einem  späteren  Jahrhundert  nur  von  der  göttlichen 
Wärme  des  Rembrandt  übertroffen  wurde,  und  dem  das 
Universelle  einer  in  Spanien  und  unter  italienischen 
Einflüssen  erworbenen  Kultur  manchmal  etwas  Kosmo¬ 
politisches  zu  geben  scheint,  gerade  für  ihn,  der  trotz 
Hofetikette  und  Renaissance  ein  so  charakteristischer 
Typus  des  selbständigen  Nordniederländers  geblieben 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  i. 


ist,  scheint  Veth  eine  ziemlich  ausgesprochene  Vor¬ 
liebe  zu  haben.  Aber  wir  wiederholen:  eine  zu 
scharfe  Trennung  zwischen  den  früheren  Jahrhun¬ 
derten  und  dem  siebzehnten  zu  machen  zeugt  von 
Oberflächlichkeit;  denn  die  Kunst  des  letzteren  hatte 
ebensowenig  als  alle  anderen  holländischen  Kunst¬ 
bewegungen  eine  spontane  Genesis;  sie  war  eine 
fortgesetzte  Tradition,  undenkbar  ohne  alles  Vorher¬ 
gegangene.  Daher  gehört  Veth,  wenngleich  er  an¬ 
scheinend  seine  Meister  mehr  bei  den  früheren  als 
bei  den  späteren  gesucht  hat,  in  Wirklichkeit  in  diese 
lange  Kette  holländischer  Künstler,  die  sich  mit  nur 
kleinen  Unterbrechungen  schon  so  viele  Jahrhunderte 
fortgliedert  und  noch  lange  kein  Ende  haben  wird. 

Jeder  Holländer  wird  dies  fast  instinktiv  verstehen, 
aber  im  kunstgeschichtlich  gebildeten  Deutschland 
bedarf  es  einer  Erklärung.  Das  Verhältnis  zur  früheren 
Kunst  ist  nun  einmal  bei  uns  Holländern  ein  anderes 
als  dort,  und  ich  brauche  nur,  um  dem  Verdacht 
chauvinistischen  Stolzes  zu  entgehen,  an  die  Worte  zu 
erinnern,  die  Liebermann  an  dieser  Stelle  just  schrieb: 
»Die  modernen  Holländer  haben  von  ihren  Vorfahren 
eine  gewisse  malerische  Kultur  geerbt,  die  selbst 
unsern  bedeutendsten  Meistern  wie  Menzel  oder  Böck- 
lin  fehlt«.  Diese  Kultur  ist  es,  welche  unsere  Liebe 
und  unsern  Umgang  mit  den  Malern  vergangener 
Zeiten  beherrscht.  Sie  sind  für  uns  ebensowenig  die 
Objekte  kunstgeschichtlicher  Studien  als  blosse  Erinne¬ 
rungen  an  eine  ruhmreiche  aber  verflossene  Zeit. 
Wir  sind  jetzt  noch  Fleisch  von  ihrem  Fleisch,  Blut 
von  ihrem  Blut,  sie  gehören  zu  unserer  Familie,  denn  wir 
betrachten  sie  als  unsere  Grossväter  und  Onkel.  Wir 
stammen  von  ihnen  ab,  wir  haben  sie  fast  noch  ge¬ 
kannt;  ihre  Sprachweise,  ihre  kleinen  typischen  Be¬ 
wegungen  kehren,  ohne  dass  wir  es  wissen,  bei  uns 
wieder  —  eine  Eigenart  überspringt  ja  oft  ganze  Gene¬ 
rationen  —  und  das  bringt  sie  uns  näher  als  die  aller¬ 
tiefsten  Studien  und  lässt  sie  uns  besser  lieben  als  blosser 
Nationalstolz  es  vermöchte.  Wir  sind  von  derselben 
Rasse,  sie  und  wir,  wenn  wir  auch  in  vieler  Beziehung 
degenerirt  sind  und  ihre  Geschicklichkeit  und  Ein¬ 
fachheit  nicht  mehr  besitzen.  Wir  sind  ihrer  insoweit 
würdig,  als  unser  Verständnis  für  sie  nichts  an  Klar¬ 
heit  verloren  hat  und  wir  sie  lieben  als  unsern 
schönsten  Besitz. 

Wie  mögen  die  Schatten  der  Alten  auf  einen 
jungen  Burschen  gewirkt  haben,  wenn  er  durch  die 
Geburtsstadt  der  Kuyp  irrte,  durch  Dordrecht,  das  van 
Goyen’s  gelbe  Nebel  schöner  als  ein  greller  Heiligen¬ 
schein  geweiht  —  wenn  er  abends  die  strenge  Dunkelheit 
stattlich  wie  einen  alten  Sammetmantel  über  die  er¬ 
grauten  Wasser  der  Mervede  gleiten  sah,  während  er 
unter  den  langästigen  Ulmen  vom  Groothoofd 
träumte  oder  beobachtete,  wie  die  tanzende  Morgen- 


1 


2 


JAN  VETH 


Jan  Veth,  Amsterdam.  Drei  Schwestern  (Jugendarbeit) 


sonne  den  alten  viereckigen  Grootekerksturm  mit 
(jold  bekrcänzte,  einer  jungen  Nymphe  gleich,  die 
frisch  lachend  den  Kopf  eines  alten  Dichters  mit 
Friihlingsblumen  krönt,  -  wenn  er  nach  althollän¬ 
dischem  Brauch  auf  dem  altertümlichen  Bagynhof 
een  puisje  ving  oder  in  der  Dämmerung  an  jenem 
1  lause  vorbeiging,  das  die  ältesten  Erinnerungen  Hol¬ 
lands  birgt,  und  wo  der  erste  Raubritter,  der  sich  Graf 
von  Holland  zu  nennen  wagte,  erschossen  wurde  — 
wenn  der  Sommer  ihn  unter  den  schattigen  Bäumen  von 
Eykendonck  oder  im  molligen  Gras  vom  groenen  dyk 
liegen  oder  der  Winter  ihn  auf  gekrümmtem  Eisen 
über  das  überschwemmte  Galgenfeld  bei  Zwyndrecht 
dahingleiten  sah,  immer  mit  der  holländischen  Land¬ 
schaft,  der  alten  Stadt  und  dem  wechselnden  Wasser 
als  unvergesslichen  Hintergrund.  Konnten  diese  Schatten 
auch  nicht  verhüten,  dass  der  wilde  Knabe,  in  einen 
Räuberroman  vertieft,  aus  einem  knorrigen  Apfel¬ 
baum  auf  die  Erde  purzelte,  wobei  jeder,  der  keine 
Wassergeusen  unter  seine  Ahnen  zählte,  sich  zwei¬ 
felsohne  den  Hals  gebrochen  hätte,  während  er, 
in  einer  Schiebkarre  voll  Kalk  versinkend,  nur  einen 
unfreiwilligen  Anfang  der  ^Schwarz -Weiss  -  Kunst' 
mit  seinem  neuen  Anzug  machte,  so  fehlten  sie 


dafür  keineswegs  im  Hause  und  Hofe  seines  Vaters, 
weder  in  der  Erinnerung  noch  in  Wirklichkeit. 
Denn  die  Erinnerung  an  den  Verwandten  mütter¬ 
licherseits,  der  im  schlaffen,  kunstlosen  Beginn  des 
ig.  Jahrhunderts  wenigstens  versucht  hatte,  durch 
gewissenhaftes  Zeichnen  und  freimütige  Naturbetrach- 
timg  etwas  von  der  grossen  Tradition  zu  bewahren, 
lebte  fort  im  Hause  des  Mannes,  der  morgens  den 
Bauern  ihre  Pflüge  verkaufte,  mittags  im  Rat  die 
Interessen  der  Stadt  klaren  Sinnes  erwog,  aber  sich 
abends  mit  Vorliebe  der  ruhmreichen  Geschichte  seiner 
Stadt  widmete  und  die  Schicksale  ihrer  berühmten  Ein¬ 
wohner  mit  treuherziger  Genauigkeit  durchforschte. 
Aber  die  Liebe  zur  Vergangenheit  ging  Hand  in  Hand 
mit  der  Freude  an  dem  frischen  Leben  der  Gegen¬ 
wart;  dem  Eisenhändler  verbot  keine  falsche  Pietät, 
anstatt  der  alten  Landbaugeräte  neue  einzuführen,  der 
Gelehrte  und  seine  Hausgenossen  nahmen  trotz  ihrer 
Studien  des  Vergangenen  von  neuen  1  itterarischen  Tages¬ 
erscheinungen  Kenntnis  und  der  Magistrat  war  frei  von 
allem  Konservatismus.  Die  liberale  Partei  erlebte  in 
jenen  Tagen  ihre  goldene  Zeit;  die  Litteratur  versuchte, 
so  gut  es  ging,  eine  Fortsetzung  früherer  Jahrhunderte 
zu  finden;  die  Theologie  zerbrach  die  Fesseln  eines 


JAN  VETH 


3 


düsteren  Kalvinismus,  um  nach  freudevolleren  aber 
vielleicht  skeptischeren  Ländern  dichterischer  Modernität 
zu  entfliehen.  Die  Politik  des  Ministers  Thorbecke, 
Prosa  und  Poesie  des  Dichters  Potgieter  und  seiner 
Zeitschrift  »De  Gids«  und  die  Theologie  des  de 
Oenestet  und  Thiele  waren  das  beste,  was  die  Mitte 
des  vorigen  Jahrhunderts  in  Holland  geben  konnte, 
und  sie  wurden  im  Hause  des  alten  Herrn  Veth 
herzlich  willkommen  geheissen  —  ebenso  willkommen 
als  1864  das  fünfte  Kind  Jan  Pieter. 

Was  Wunder,  dass  seine  ersten  malerischen  Ver¬ 
suche,  die,  wäre  er  kein  Maler  geworden,  kaum  unserer 
Aufmerksamkeit  wert  wären,  aber  in  denen  wir  jetzt 
doch  die  Vorzeichen  einer  wahrhaftigen  Begabung  sehen 
dürfen,  in  historischer  Richtung  gingen,  und  dass  längere 
Zeit  auf  einer  der  weissen  Mauern  des  elterlichen  Unter¬ 
hauses  eine  riesige  in  Kohle  skizzierte  Darstellung 
prangte,  auf  welcher  der  Statthalter  Willem  III.  die  ver¬ 
feindeten  grössten  niederländischen  Seehelden  de  Ruyter 
und  Tromp  wieder  miteinander  versöhnte.  Was  Wun¬ 
der,  dass  Veth  der  Mann  in  Holland  geworden  ist,  der 
mit  unermüdlichem  Eifer  für  alle  holländischen  Tradi¬ 
tionen  eintritt,  wo  und  wann  sie  seiner  Verteidigung 
bedürfen;  dass  er  nicht  nur  zum  Künstler,  sondern  auch 
zum  Kritiker,  besser  zum  Kenner  erwuchs,  der  vor  allem 
das  echt  Holländische,  in  welcher  Form  es  sich  demon¬ 
striert,  zu  schätzen,  zu  geniessen  weiss  und  der  mit 
Leidenschaft  gegen  alles  ins  Feld  zieht,  was,  unecht 
oder  pervers,  die  alte  Kultur  stört  oder  schändet. 
Denn  wie  fast  bei  allen,  welche  viel  tadeln,  ohne  dabei 
cynisch  oder  blasiert  zu  sein,  ist  bei  ihm  der  Tadel 
nur  die  Rückseite  einer  grossen  Liebe,  und  wenn  es 
in  dem  kleinen  Land,  das  sich  rühmt  die  Wahrheit 
nicht  zu  vertuschen  und  eine  ausgesuchte  Litanei 
von  Schimpfworten  für  Feinde  zu  besitzen,  nur 
wenige  giebt,  die  so  deutlich  und  unverblümt  ihre 
Meinung  sagen  wie  er  und  in  so  krassen  Ausdrücken 
ihrem  Hass  Luft  machen,  so  giebt  es  deren  noch 
weniger,  die  in  so  hohem  Masse  die  Gabe  des  Be- 
wunderns  besitzen,  denen  es  so  gegeben  ist,  ihre 
Seele  allen  schönen  Seelen,  die  leben  oder  gelebt 
haben,  anzupassen,  die  so  frei  von  jedem  engen 
Parteistandpunkt  sind  und  mit  so  klarer  Gerechtig¬ 
keit  das  Schöne  an  sich  zu  erkennen  wissen. 

Die  holländischen  Gesandten  aus  dem  17.  Jahr¬ 
hundert  verdanken  ihren  staatsmännischen  Ruhm  wohl 
grösstenteils  der  Thatsache,  dass  sie  keine  Diplomaten 
waren,  keine  geheimen  Intriguen  spannen,  aber  ehrlich 
und  nüchtern  jede  Sache  für  sich  recht  und  schlecht 
beurteilten  oder  ausführten,  und  auch  diese  Eigen¬ 
schaft,  ins  Ästhetische  übertragen,  hat  der  Sohn  des 
alten  Dordt  von  seinen  Ahnen  geerbt. 

II. 

Wenn  die  Besprechung  der  Jugend  des  Malers  eine 
Erinnerung  an  die  Traditionen  war,  welche  das  alte  Hol¬ 
land  mit  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  verbinden, 
so  kann  man  von  seinen  Lehrjahren  auf  der  Akademie 
zu  Amsterdam,  wo  er  1880  als  Schüler  eingeschrieben 
wurde  und  von  der  ersten  Zeit  selbständiger  Arbeit 
nicht  sprechen,  ohne  die  Wiedergeburt  der  ganzen 


holländischen  Kunst  zu  erwähnen,  jene  Revolution 
der  Jüngeren,  die  alles,  was  von  geistiger  Bildung 
träumte,  aus  dem  Schlafe  rüttelte. 

Seit  den  Tagen  der  Bilderstürmer  hatte  der  Boden 
des  niederen  Landes  am  wilden  Meer  nicht  von  so 
leidenschaftlichen  Tritten  gedröhnt,  und  seit  der  Dros- 
saert  Hooft  in  seinem  väterlichen  Schloss  zu  Muiden 
alles  um  sich  versammelt  hatte,  was  seine  Zeit  an 
grossen  und  kleinen  Talenten  nur  aufbringen  konnte, 
war  auf  einem  so  kleinen  Fleckchen  Erde  niemals  eine 
grössere  Anzahl  bedeutender  Männer  gegen  die  Un¬ 
sterblichkeit  Sturm  gelaufen. 

In  der  Litteratur  begann  es  mit  dem  jungen  Jacques 
Perk,  der  wie  ein  Herold  vor  dem  Thor  der  ewigen 
Poesie  stand  und  laut  um  Einlass  rief.  Hinter  ihm 
kamen  sie  alle  in  gedrängten  Horden,  die  vom  Geist 
der  Schönheit  Erfüllten  und  von  flammender  Kunst 
Berauschten,  und  sie  peitschten  da,  wo  ihre  Väter 
mit  Geissein  gegeisselt  hatten,  jetzt  die  holländische 
Mittelmässigkeit  und  Flauheit  mit  Skorpionen.  Wenn 
die  stolzen  Seefahrer  früher  das  Recht  hatten,  den 
Besen  an  den  Mast  zu  binden,  weil  sie  das  Meer 
von  Unrat  rein  kehrten,  so  stand  er  den  Dichtern  von 
damals  auf  dem  Schreibtisch.  Laut,  prophetisch  laut 
schallten  die  Stimmen  durch  das  Land,  die  gegen  das 
Niedrige  und  Gemeine  mit  brennenden  Worten  pre¬ 
digten,  aber  zu  gleicher  Zeit  das  Dogma,  dass  Kunst 
keine  kleine  Liebhaberei,  keine  Erholung  für  stille 
Sonntagnachmittage ,  kein  harmloser  Zeitvertreib 
für  aufgeregte  Backfische,  keine  prickelnde  Sensation 
für  ermüdete  Börsenjobber  sei,  in  einem  Lenz  von 
Poesie  verkündeten.  Durch  jede  Lieferung  ihres 
»Nieuwen  Gids«  ging  die  schönste  und  ernsteste 
Dichtkunst  wie  ein  Strom  von  glühendem  Erz,  aus 
dem  jene  Glocke  werden  sollte,  die  Hollands  Sprache 
heute  ist.  Der  Egoismus  dieser  jungen  Dichterschaft  führte 
nicht  zu  jener  Überhebung,  die  eine  weitere  Kultur 
ausschliesst;  denn  mit  leidenschaftlicher  Demut  wurde 
alles  Schöne  anderer  Länder  und  Zeiten  studiert.  Wie 
einstens  die  mächtigen  Flotten  ausgesegelt  waren,  um 
aus  allen  Weltteilen  Produkte  nach  Amsterdams  Hafen 
zu  bringen,  so  wurden  jetzt  aus  Deutschland,  England 
und  Frankreich,  aus  Klassizismus  und  Romantik  die 
Kunstbeispiele  herbeigeschleppt,  nicht  zur  Nachahmung, 
sondern  zur  Bildung  und  Erbauung.  Es  war  ein 
Fest  der  Schönheit,  ein  Siegesfest  nach  einem  wohl¬ 
gelungenen  Kreuzzug  in  das  heilige  Land  der  Muse; 
die  Barbaren  und  Ungläubigen  waren  vertrieben, 
ein  neuer  Einfall  ihrerseits  unmöglich  gemacht.  Die 
Deutschen,  bei  denen  die  Kunst  kränkelt,  weil  ihr 
eine  organisierte  Kritik  fehlt,  die  ihr  gutes  Recht 
beweist,  indem  sie  selbst  ein  bewusstes  Kunstwerk 
ist,  sie  werden  es  kaum  begreifen,  wie  vollkommen 
diese  Männer,  jeder  auf  seinem  Gebiet,  die  Mittel¬ 
mässigkeit  und  das  Hässliche  zu  verbannen  wussten 
und  wie  der  Ruhm,  dass  sie  schlechte  Verse  ver¬ 
dammten,  kein  geringerer  war,  als  der  ihrer  eigenen 
guten. 

Auch  in  der  Malerei  rührte  sich  neues  Leben, 
war  gleich  der  Streit  ein  anderer.  Nicht  nur  schlaffen 
Zeitgenossen  galt  hier  der  Angriff,  nicht  nur  das 


1 


4 


JAN  VETH 


Recht  auf  eigene  Kunst  ward  hier  erfochten,  sondern 
ein  Publikum,  das  bereits  existierende  Schönheiten  weder 
kannte  noch  würdigte,  wollte  oft  mit  dem  Schwerte 
bekehrt  sein.  Ebenso  wie  die  Dichter  standen  die 
Künstler  einer  geistlosen  iinj^otenten  Zeitungskritik 
gegenüber,  die  ein  Jahr  nach  dem  anderen  urteilslos, 
immer  nach  demselben  kleinbürgerlichen  Massstabe 
die  Ausstellungen  mit  kindlichem  Geschwätz  beurteilte. 
Der  Malerei  fehlte  keineswegs  das  positive  Können, 
aber  die  Haagsche  Schule,  Mauve  und  Israels,  Bos- 
boom  und  die  Brü¬ 
der  Maris  lebten  und 
arbeiteten  in  fast 
gänzlicher  Verges¬ 
senheit.  Es  waren 
nicht  die  leichtesten 
Siege,  welche  die 
Jüngeren  für  jene 
Alteren  errangen, 
die  damals  ihr  Er¬ 
scheinen  kaum  mit 
Sympathie  begrüss- 
ten.  Indem  die 
Maler  also  durch 
Bewunderung  und 
Not  gezwungen 
wurden,  mit  der 
Feder  zu  hantieren 
und  durch  bindende 
Freundschaft  mit  den 
Schriftstellern  die 
Prosatechnik  wie 
von  selbst  lernten, 
entstand  auch  hier 
eine  fachmännische 
Beurteilungsweise, 
die  nicht  bloss  den 
Laien  die  Augen  für 
das  Schöne  in  eige¬ 
ner  und  fremder 
Arbeit  öffnete,  son¬ 
dern  auch  an  sich 
nicht  geringen  litte- 
rarischen  Wert  hatte. 

Auch  hier  also  die 
innerliche  Einheit, 
die  allein  ermög¬ 
licht,  dass  Kritik  auf 
Publikum  und  Künst¬ 
ler  veredelnd  wirkt.  Die  grössten  Beweise  von  Unver¬ 
mögen  wurden  der  jüngeren  Generation  von  den 
wohlweisen  Kritikern  selbst  in  die  Hände  gespielt,  als 
kurz  nach  der  Gründung  der  neuen  Zeitschrift  ein  Büch¬ 
lein  unter  dem  Titel  Julia,  eine  Geschichte  auf  Sicilien 
von  Guido'  erschien,  das  die  heftigsten  Gegner  der 
neuen  Richtung  bis  in  den  Himmel  erhoben,  ja  der 
sogenanten  Extravaganz  der  Jüngeren  als  Muster  vor¬ 
hielten.  Was  ergab  sich?  Dieses  Poem  war  ein  frecher 
Witz,  von  den  Hauptredakteuren  der  nieuwen  Gids«, 
den  Dichtern  Willem  Kloos  und  Albert  Verwey,  mit 
wenigen  Freunden  ersonnen  und  ausgeführt  in  einer 


Jan  Veth,  Amsterdam.  Bildnis  eines  Staatsrates  (i8q6) 


übermütigen  Laune,  eigens  um  die  antiquierten  Herren 
critici  hereinfallen  zu  lassen.  Das  Ganze  war  eine 
Mischung  blödsinniger  Romantik,  hohler  Phrasen  mit 
oberflächlichem  Klingklang  und  die  am  meisten  gelobte 
Stelle  bestand  aus  Versen,  die  den  Dichtern  zu  un¬ 
bedeutend  für  ihre  eigene  Zeitschrift  erschienen  waren. 

Unter  den  bösen  Buben ,  deren  mit  Pulver 
gestopfte  Pfeife  den  miserabcln  Schulmeister  der 
holländischen  Kritik  also  in  die  Luft  fliegen  Hess, 
war  einer,  der  sich  unter  dem  Pseudonym  Henrik 

van  Goyen  verbarg 
und  es  scheint  nach 
so  vielen  Jahren  eine 
verzeihliche  Indis¬ 
kretion,  wenn  wir 
verraten,  dass  der¬ 
jenige,  der  sich  auf 
diese  Weise  zum 
geistigen  Nachkom¬ 
men  des  so  wun¬ 
derlichen  Malers  der 
Dordtschen  Visionen 
bekannte,  derselbe 
war,  auf  dessen  per¬ 
sönliche  Entwicke¬ 
lung  wir  jetzt  zu¬ 
rückkommen. 

Im  eigentlichen 
Maler-Ceuacle,  dem 
er  während  seiner 
fünf  Akademiejahre 
und  später  noch 
angehörte,  wurden 
die  jetzt  nach  allen 
Richtungen  ausein¬ 
andergestobenen 
Elemente  damals 
noch  durch  das 
gemeinsame  Band 
der  Genossenschaft 
Sint  Lucas  zusam¬ 
mengehalten.  Da 
war  Valck,  der  zu¬ 
erst  die  Feder  er¬ 
griff  und  der  so¬ 
wohl  in  seinen 
impressionistischen 
Farbenstudien  als 
auch  in  seinen 
hellklingenden  Aufsätzen  des  selbst  gewählten  Na¬ 
mens  Jan  Stemming«  (Hans  Stininumg)  sich  würdig 
zu  erweisen  suchte;  Jacobus  van  Looy,  der  besser 
ein  Schüler  des  Hals  als  einer  der  Amsterdam- 
scheu  Akademie  vom  Ende  des  ig.  Jahrhunderts 
gewesen  wäre,  dessen  Prosa  zu  dem  Herrlichsten 
gehört,  was  unsere  Litteratur  kennt  und  dessen  Ge¬ 
dichte  duften  und  glühen  wie  ein  Wald  bei  unter¬ 
gehender  Herbstsonne;  dann  Karsen,  der  noch  immer 
die  alten  Strassen  und  Häuser  von  Amsterdam  in  der 
Dämmerung  dichtergleich  auf  seine  Leinwand  träumt; 
Witsen,  der  düstere  Seher  der  trüben  Stadt,  dem  der 


JAN  VETH,  AMSTERDAM.  DES  KÜNSTLERS  VATER  (1900) 


6 


JAN  VETH 


göttliche  Sonnettencyklus  Das  Passionspiel  von  Kind 
und  Gott'  von  dem  nicht  weniger  düsteren  Dichter 
gewidmet  wurde;  Derkinderen,  dem  damals  schon 
jene  unendlich  zarten  und  doch  so  streng  dogmatischen 
Visionen  erschienen,  die  später  Wände  und  Fenster 
der  Häuser  schmücken  sollten.  Er  stritt  gegen  einen 
allzu  unbändigen  Naturalismus,  da  er  lieber  auf  eine 
Kunst  bauen  wollte,  wie  sie  aus  der  Gemeinschaft 
eines  an  Ideale  glaubenden  Volkes  entsteht,  als  sich 
für  jene  andern  begeistern,  die  dem  inspirierten  Tem¬ 
perament  des  Einzelnen  entspringt. 

Nichts  von  seiner  Ursprünglichkeit  unter  all  diesen 
meist  etwas  älteren  Zeitgenossen  zu  verlieren  und 
unter  all  den  verschiedenen  Einflüssen  einen  bestimmten 
Kunstzweck,  der  bei  zwanzigjährigen  Künstlern  gewöhn¬ 
lich  mehr  instinktiv  gefühlt  als  bewussterstrebt  wird,  im 
Auge  zu  behalten,  wäre  für  Jan  Veth  eine  unmögliche 
Aufgabe  gewesen.  Vielleicht  auch  eine  überflüssige; 
denn  es  ist  dem  sich  zum  Manne  entwickelnden 
Jünglinge  oft  besser,  vielseitig  zu  geniessen  als  starr 
seine  eigene  Individualität  auf  Kosten  des  Verständ¬ 
nisses  für  das  Wollen  anderer  durchzuführen.  Wenn 
das,  was  er  später  mit  eisernem  Eifer  von  seiner  Kunst 
verlangte;  die  reine  Wiedergabe  der  abstrakten  Seelen¬ 
eigenschaften  bei  seinen  damaligen  Arbeiten  nicht 
immer  so  unvermischt  in  den  Vordergrund  trat,  so 
errang  er  in  jener  Zeit  wenigstens  die  grosse  Kenntnis 
von  Menschen  und  Büchern,  jene  erstaunliche  all¬ 
gemeine  Bildung,  jene  feinfühlige  Einsicht  in  Cha¬ 
raktere,  die  es  dem  Porträtisten  später  nicht  nur 
ermöglichte,  die  verschiedensten  Individuen,  in  ihrer 
eigenen  Sphäre  zu  verstehen,  sondern  ihn  auch  be¬ 
fähigte,  immer  wieder  einen  Anknüpfungspunkt 
zu  finden,  wodurch  jeder  sich  ihm  zugleich  am 
allervorteilhaftesten  zeigte.  Last  not  least  den  Kultus 
der  Arbeit.  Gearbeitet  wurde  mit  unermüdlicher 
Kraft.  Trotz  des  erschlaffenden  Abendlebens  der 
Grossstadt,  trotz  endloser  Gespräche  und  feuriger 
Debatten,  trotz  l^oheme-Festen  und  aller  Ausgelassen¬ 
heit  wurden  doch  nur  wenige  Momente  vergeudet. 
Der  Drang  sich  zu  vertiefen  —  mehr  noch  die  Un¬ 
möglichkeit,  je  mit  arbeiten  aufzuhören  —  wurden 
ihm,  obschon  sie  in  seinem  Temperament  lagen,  da¬ 
mals  erst  durch  Anstrengung  und  Übung  zur  zweiten 
Natur. 

im  Jahre  1886  und  1887  machte  er  in  seiner 
Geburtsstadt  zwei  Ausstellungen.  Hier  suchten  alle 
Gemälde  den  innerlichen  Wert  des  Dargestellten  so 
nachdrücklich  herauszuarbeiten,  dass  es  den  Beschauer 
manchmal  bedünkte,  als  ob  darüber  der  äusserliche 
Schein  ein  wenig  vernachlässigt  wäre.  Technisch 
aber  waren  sie  sehr  scharf  in  zwei  Gruppen  zu 
scheiden,  und  es  ist  die  Frage,  ob  diese  Zeit  am 
deutlichsten  durch  jene  Mehrzahl  der  Bilder  charak¬ 
terisiert  wird,  welche  ausschliesslich  in  jenen  Tagen 
so  und  nicht  anders  von  ihm  gemalt  werden  konnte, 
oder  durch  die  kleine  Minderheit,  welche  uns  als  Vor¬ 
studien  für  ein  tieferes  Stadium  erscheinen.  Im  ersten 
Fall  würde  das  brüsk  gemalte,  aber  schneidend  ähnliche 
Porträt  des  Dichters  Verwey  am  meisten  die  Aufmerk¬ 
samkeit  auf  sich  ziehen,  während  wir  uns  im  zweiten 


das  helle,  fast  tastend  vorsichtig  gemalte  alte  Damen¬ 
porträt  in  Erinnerung  rufen.  Wie  anders  war  dieses 
und  doch  wie  verwandt  dem  schon  1884  ge¬ 
malten  Porträt  der  drei  Schwestern,  das  vielleicht 
jungenhaft  wirken  mochte,  aber  gerade  in  seiner  Un¬ 
befangenheit  die  kernigsten  Qualitäten  des  Künstlers 
deutlich  zeigte,  und  das  in  seiner  frischen  Selbstän¬ 
digkeit  wie  ein  Spiegel  jener  wachsenden  Künstlerseele 
ist,  in  der  noch  wenig  Phantasie  aber  um  so  mehr  uner¬ 
schrockene  Ehrlichkeit  lebte  (Abb.  S.  2).  In  eine  seiner 
wenigen  Landschaften  stellte  er  eine  Ziege:  armes 
kleines  Tier,  du  warst  ein  so  freundliches  Beispiel 
natürlichster  Naturbeobachtung  jener  Zeit;  dein 
Meister  hat  dich  zum  Tode  verdammt  und  dein  treuer 
Bewunderer  hat  hier  nicht  einmal  Platz  genug,  um 
dir  eine  kleine  Leichenrede  zu  halten. 

Wollte  man  einen  Vorgang  aus  jener  Zeit 
erwähnen ,  der  gleichfalls  den  Übergang  zur  jetzi¬ 
gen  Periode  vorbereitet  hat,  so  müsste  es  die  Er¬ 
richtung  des  Ets-Club  (Radierervereins)  1885  sein, 
der  Ausstellungen  von  allem  veranstaltete,  was  Neues  auf 
dem  Gebiete  der  blanc-et-noir- Kunst  geleistet  wurde. 
Diese  Ausstellungen  waren  im  besten  Sinne  belehrend; 
hier  machten  wir  Bekanntschaft  mit  Odilon  Redon 
und  Seymour  Haden,  mit  Meryon  und  Klinger,  Rops 
und  Thoma,  Bracquemont  und  Puvis  de  Chavannes, 
während  Mappen,  die  jährlich  erschienen,  die  Arbeiten 
der  Mitglieder  brachten.  So  entwickelte  sich  eine 
graphische  Technik,  wie  sie  momentan  in  keinem 
anderen  Lande  gefunden  wird  und  deren  sich  Lucas 
van  Leyden,  wenn  er  zu  den  Lebenden  wiederkehrte, 
nicht  zu  schämen  brauchte.  Solcher  Art  vergingen  die 
ersten  Jahre  selbständiger  Arbeit  und  wer  die  Seelenphase 
kennen  möchte,  in  welcher  der  Maler  sich  nach  all 
diesem  Wühlen  und  Ringen,  diesem  Hass  und  Genuss 
am  Ende  der  achtziger  Jahre  befindet,  —  wer  ein 
specimen  eruditionis  jenes  beweglichen  scharfsinnig 
suchenden  Geistes  verlangt  und  ausserdem  eine 
Probe  geniessen  will  seines  durchgreifenden  Schreib¬ 
talents,  das  oft  Worte  und  Sätze  zu  vergewaltigen 
scheint,  um  sie  zu  zwingen,  das  auszudrücken,  was 
das  klare  Auge  gesehen  hat,  den  weisen  wir  auf  die 
1889  erschienene  Broschüre  über  Josef  Israels  hin, 
wo  er  mit  kühlem  Verstand  versuchte,  theoretisch 
das  Wollen  und  Können  des  empfindsamsten  der 
holländischen  Intuitiven  zu  beschreiben  und  zu  er¬ 
klären,  die  Broschüre,  in  der  die  Liebe  des  Jungen 
so  warmen  Herzens  den  älteren  Vorgänger  feiert. 

III. 

Nicht  in  den  gemalten  Porträts  hat  sich  die  Eigenart 
von  Veth’s  späterer  Malerei  am  stärksten  gezeigt.  Der¬ 
selbe  Redakteur,  Doktor  de  Koo,  der  schon  früher  sein 
Tag-  und  Wochenblatt  allem,  was  jung  war  und  eine 
eigene  Meinung  besass,  mit  grosser  Liberalität  offen¬ 
gehalten  hatte,  beauftragte  ihn  1892,  eine  Reihe  »be¬ 
kannte  Zeitgenossen«  für  den  »Amsterdamer«  zu  litho¬ 
graphieren.  Der  Zufall  wollte,  dass  die  beiden  zuerst 
erscheinenden  Porträts  die  von  Künstlern  waren,  welche 
die  neue  Generation  nicht  gerade  mit  allzuviel  Liebens¬ 
würdigkeit  behandelt  hatte:  ein  Romanschreiber,  dessen 


JAN  VETH 


7 


spätere,  wenig  ursprüngliche  Romane  keineswegs  im 
Stande  waren,  seine  früheren  hochtrabenden,  lächerlich 
patriotischen  Dramen  vergessen  zu  machen  und  ein 
Dichter,  der  in  seiner  Jugend  geistreiche,  echt  hollän¬ 
dische  Skizzen  geliefert,  aber  in  seinem  reiferen  Alter 
als  Professor  der  Theologie  sich  unverzeihlich 
fade  romantische  Gedichte  hatte  zu  Schulden  kommen 
lassen  und  jetzt  als  freundlicher  Litteraturonkel  seinen 
Ruhm  überlebte.  Da  sich  weder  der  Litterat  noch 
der  Maler  in  Veth  für  diese  etwas  mumifizierten  Modelle 
mit  ihrem  wenig  bedeutenden  Äusseren  interessieren 


oft  gegen  die  naturalistische  Schule  erhoben  wurde. 
Bald  aber  folgten  anziehendere  Modelle  und  ein  grösserer 
Erfolg.  Jakob  Maris,  so  wie  er  in  der  Grandezza 
seiner  Zwergengestalt  vor  seiner  Staffelei  sitzt,  —  der 
vergeistigte  Hieronymuskopf  des  Baumeisters  Cuypers, 
—  das  berechnende  intelligente  Gesicht  des  Gross¬ 
industriellen  van  Marken,  die  sammtene  Wesenlosigkeit 
des  Schriftstellers  Couperus,  —  sie  alle  nähern  sich  dem, 
was  überhaupt  erreicht  werden  konnte  und  Veth  zuerst 
in  dem  adligen  Porträt  von  Josef  Israels  bot,  das  die 
Feinheiten  einer  Federzeichnung  mit  den  energischen 


Jan  Veth,  Amsterdam.  Bildnis.  (Nach  Photographie  Verslays  in  Utrecht) 


konnte,  so  fehlt  dadurch  vieles,  was  frühere  oder 
spätere  Porträts  so  anziehend  macht;  ein  sentimentales 
Publikum  aber,  das  sich  in  Gedanken  die  Köpfe  jener 
Herren  nach  der  Süsse  ihrer  Produktion  konstruiert 
hatte,  erblickte  in  diesen  ersten  Proben,  die  zugleich 
ein  Ringen  mit  der  widerspenstigen  Technik  und 
der  Antipathie  bedeuteten,  zudem  durch  überan¬ 
strengtes  Streben  nach  Charakteristik  Karikaturen  ähnel¬ 
ten,  eine  der  älteren  Litteratur  angethane  Schmach,  und 
der  Porträtist  kam  alsbald  in  den  Geruch,  alles  ab¬ 
sichtlich  zu  verhässlichen;  ein  Vorwurf,  der  damals 
(ebenso  grundlos  übrigens)  allerorten  zum  Übel  werden 


Kerben  des  Holzschnitts  verbindet;  dann  in  dem  allmäch¬ 
tigen  Cäsarenkopf  des  Prosatitans  van  Deyssel,  mit  seiner 
hochherzigen  Ironie  und  genialen  Kunstherrschsucht. 
Wenn  seine  Menschenkenntnis,  seine  Gewandtheit  im 
Umgang  und  seine  Fähigkeit,  die  Modelle  zu  zwingen 
im  geistigen  Sinne  nackt  mit  all  ihren  Fehlern  und 
Schönheiten  vor  ihm  zu  stehen,  noch  Übung  brauchten, 
so  erlangte  er  diese  mehr  wie  genügend  in  jener  Zeit, 
als  er  jeden  Monat  ein  neues  Porträt  von  so  unendlich 
verschiedenen  Leuten  zu  liefern  hatte,  die  alle  etwas 
bedeuteten  oder  wenigstens  in  dem  Rufe  standen.  Es 
waren  nur  wenige,  die  ihn  nicht  mit  einer  gewissen 


8 


JAN  VETH 


Angst  kommen  sahen;  denn  viele,  die  ihn  nicht  kannten, 
glaubten  nach  seiner  Schriftstellerei  einen  wüsten 
rücksichtslosen  Gesellen  erwarten  zu  müssen,  mit  dem 
jeder  intime  Verkehr  eine  Unmöglichkeit  wäre;  ja,  es 
ist  vorgekommen,  dass  die  Tochter  des  Hauses,  wo 
er  zum  Frühstück  blieb,  mit  Erstaunen  wahruahm, 
dass  er  Messer  und  Gabel  zu  handhaben  wusste  und 
nicht  sein  Beefsteak  raubtierhaft  mit  Händen  und 
Zähnen  zerriss.  Aber  noch  seltener  waren  jene,  die 
er  nicht  als  Freund  verliess,  und  die  er  nicht  in  langen 
Gesprächen  dazu  gebracht  hätte,  vieles  anzuerkennen 
von  dem,  was  er  selbst  für  gut,  recht  und  schön 
hielt. 

ln  der  holländischen  Kultur  hatte  sich  die  Strömung 
etwas  geändert.  Vielleicht  blieb  eine  in  Belgien  und 
Frankreich  aufkommende  und  mit  Recht  oder  Unrecht 
symbolistisch  oder  mystisch  genannte  Richtung  auch 
bei  uns  nicht  ohne  Einfluss,  jedenfalls  fing  man  an, 
das  Allgemeinere  und  Abstraktere,  was  in  älteren 
idealistischen  Traditionen  liegt,  dem  forciert  Ursprüng¬ 
lichen  und  Neuen  schärfer  gegenüber  zu  stellen  und 
man  suchte  mehr  nach  dem,  was  nur  jedem  einzelnen 
individualistischen  Temperament  eigen  war.  Von  den 
Gefahren  jener  Richtung,  entweder  die  anziehenden 
aber  leichtsinnigen  und  ziemlich  zwecklosen  Kapriolen 
einer  Anzahl  heissköpfiger  Ausländer  mitzumachen 
oder  in  eine  wiedererwachende  überempfindliche 
Romantik  zu  verfallen,  braucht,  weil  sie  im  nüchternen 
Holland  nur  vorübergehend  auftraten,  hier  kaum  die 
Rede  zu  sein.  Ebensowenig  von  den  Verwirrungen, 
welche  die  neue  Art  in  den  grünen  Gehirnen  einiger 
halbwüchsiger  Knaben  anrichtete.  Reaktionär  gegen  das 
Vorhergehende  konnte  sie  durch  das  geringere  Talent 
ihrer  jüngsten  Anhänger  nur  in  den  wenigsten  Fällen 
sein ;  bei  ernsten  Künstlern  hatte  sie  höchstens  zur 
Folge,  dass  die  impressionistische  Technik  nicht  mehr 
als  die  alleinseligmachende  angesehen  wurde;  dass 
auch  Kunstrichtungen  wie  die  von  Rossetti  oder 
William  Morris  genauer  als  bis  jetzt  studiert  wurden; 
dass  ein  Kunstwerk  nicht  mehr  als  l’art  pour  l’art 
aufgefasst  wurde,  sondern  auch  die  angewandte 
Kunst  ihre  Rechte  wieder  geltend  machte  und  dass 
man  schliesslich,  ohne  etwas  von  der  Bewunderung 
für  die  grossen  Haagschen  einzubüssen,  lächelnd  über 
die  Thorheiten  einer  kränklichen  Mystik  sich  trotz- 
alledem  fragte,  ob  nicht  von  den  Brüdern  Maris  der 
dritte,  der  in  London  seine  märchenhaften  Erzählungen 
in  verträumten  Farben  der  krassen  Realität  der  andern 
vorzog,  —  der  allergrösste  wäre. 

Wie  für  alles  Junge  hat  Veth  auch  dafür  in 
den  letzten  zehn  Jahren  mit  Wärme  gestritten,  sei 
es,  dass  er  Derkinderens  dekorative  Wandgemälde  in 
einer  geistreichen  Broschüre  verteidigte  oder  dass  er  in 
einer  Reihe  von  Notizen  und  Kritiken,  die  seit  1885 
im  Amsterdamer  und  seit  1895  in  der  Kroniek  er¬ 
schienen,  immer  wieder  die  allgemeine  Aufmerksam¬ 
keit  auf  neue  Schöpfungen  in  allen  Gebieten  des  Kunst 
gewerbes  lenkte.  Auch  hier  wurden  mit  ungealterter 
Streitlust  und  Frische  die  Böcke  von  den  Schafen, 
Ernst  von  Humbug  getrennt.  Aber  am  stärksten  zeigt 
sich  bei  ihm  das  Neue,  wenn  wir  1893  ein  Gemälde 


sehen,  in  dem  zum  erstenmal  technisch  ganz  mit  dem 
Einfluss  seiner  älteren  impressionistischen  Zeitgenossen 
gebrochen  ist.  Es  ist  ein  einfach  hingesetztes  Mädchen 
im  Kostüm  der  Fischerfrauen  von  Huisen  am  Zuidersee 
—  die  langen  weissen  Hände  im  Schoss  gefaltet  —  ein 
durchsichtiges  blasses  Gesicht,  in  dem  sich  Weltangst 
und  Lebensüberdruss  zugleich  einen.  Giebt  es  einen 
grösseren  Gegensatz  als  zwischen  diesem  ruhigen,  fast 
leidenschaftslos  glatt  gemalten  Bilde  und  den  rastlos 
von  Farben  durchwühlten  und  durchstrichelten  Arbeiten 
älterer  Künstler?  Auch  Israels  hat  uns  den  Schmerz 
gemalt  in  Bildern,  wo  jeder  Pinselstrich  und  jeder  dar¬ 
gestellte  Gegenstand  von  Trübsal  durchsogen  scheint. 
Wir  erinnern  an  die  alte  Frau  an  der  Leiche  ihres 
Mannes.  Nicht  nur  die  ärmliche,  hingekrümmte  Ge¬ 
stalt,  der  welke,  in  die  Schürze  gedrückte  Kopf  und 
jene  starre  kaum  angedeutete  Form  auf  dem  dürftigen 
Bett  lassen  uns  die  armselige  Trauer  empfinden,  son¬ 
dern  das  Ganze,  —  die  trostlose  Spelunke,  in  die  das 
matte  Licht  furchtsam  und  schüchtern  nur  hineinzu¬ 
schlüpfen  wagt,  die  gruseligen  Ecken,  in  welchen  die 
Verlassenheit  wie  ein  verlottertes  Gespenst  hockt,  die  ab¬ 
geflauten  Umrisse  des  schäbigen  Mobiliars,  das  Mulsche 
der  mühsam  durcheinander  wimmelnden  Farben,  — 
alles  zusammen  ist  eineStimmung  pauverenjammers  und 
elender  Einsamkeit.  Und  nun  derGegensatz.  Das  sitzende 
Mädchen  in  den  fast  übergrellen  Farben.  Mit  mitleids¬ 
loser  Rauheit  sind  das  Rot  der  Jacke,  das  Blau  der 
Schürze,  das  Gelb  der  Stuhllehne  neben  einander  gesetzt. 
Der  schattenlose  Hintergrund  grüner  Eichenblätter 
wirkt  beinah  dekorativ;  es  ist  eine  strenge  asketische 
Zurückhaltung  in  allem  Beiwerk,  die  Absicht  des 
Malers  konzentriert  sich  lediglich  auf  das  Antlitz.  Hier 
liegt  das  Seelenproblem,  das  er  sich  selbst  zu  lösen 
gegeben  hat,  hier  liest  man  von  einer  Wehmut,  nicht 
weniger  brennend  als  das  Leid  der  alten  Frau,  hier 
haust  eine  Einsamkeit,  unheimlicher  als  der  Tod  selbst 
vom  letzten  und  liebsten,  was  wir  besessen,  sie  hinter¬ 
lässt.  ln  diesen  starren  Augen,  den  schwindsüchtigen 
Zügen,  in  diesem  Ausdruck  ratloser  Mutlosigkeit  von 
danteskem  Weh  sehen  wir,  was  den  Maler  dazu 
brachte,  diesem  Mädchen  den  Namen  jenes  andern  aus 
Hans  Christian’s  Märchen  »die  roten  Schuhe«  zu  geben. 

Und  doch  ist  es  nicht  ohne  Absicht,  dass  der 
Name  des  Dekans  der  niederländischen  Malerzunft  so 
oft  in  diesem  Versuch,  seinen  jüngeren  Bewunderer 
zu  charakterisieren,  vorkommt.  Das  Reife  Israels’  und 
das  Jugendliche  Veth’s  ausser  Betracht  gelassen,  sind 
sie  in  diesen  Arbeiten  trotz  der  verschiedenen  Mittel, 
wodurch  sie  auf  den  Beschauer  wirken,  miteinander  zu 
vergleichen,  weil  beide  mit  dem  Ernst  und  der  Kraft 
ihres  arbeitsamen  Lebens  etwas  von  dem  Innerlichen, 
das  die  äusserlichen  Formen  bestimmt,  von  den  see¬ 
lischen  Rührungen,  welche  das  sichtbare  Wesen  be¬ 
herrschen,  zu  erfassen  und  wiederzugeben  versuchen; 
zu  vergleichen  in  ihrer  Verschiedenheit,  wie  man 
Ähnlichkeiten  im  Gesicht  eines  jungen  übermütig 
tanzenden  Mädchens  mit  dem  ihres  alten  strenggläu¬ 
bigen  Grossvaters  entdecken  kann;  wie  der  Ausdruck 
eines  Kindes,  das  in  der  Sonne  Schmetterlinge  jagt, 
an  den  seiner  trauernden  Mutter  erinnern  kann;  zu 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst. 


N.  F.  XIV.  H.  1 


2 


JAN  VETH  PINX.  BILDNIS  EINES  VERLEGERS 


10 


JAN  VETH 


vergleichen,  weil  es  sich  hier  um  eine  unvermischte 
gemeinsame  Herkunft  handelt,  ln  die  Regierungs¬ 
kommission,  die  wegen  des  Platzes  der  Nachtwache 
zu  Rate  sitzt,  sind  diese  zwei  gewählt  und  man  stellt 
sie  sich  unwillkürlich  in  der  Gruppe,  die  am  radi¬ 
kalsten  für  eine  Änderung  eifert,  in  der  äussersten 
Linken  sitzend  vor.  Der  kleine  bissige  Alte  mit  der 
blitzenden  Beweglichkeit  seiner  klaren  Augen,  mit  der 
geistreichen  Abruptheit  seiner  Bewegungen  und  der 
launischen  Frische  seiner  jugendlichen  Vernunft,  die 
sich  durch  keine  Machtsprüche  der  Welt  imponieren 
lässt,  und  neben  ihm  der  lange  Hagere,  dessen  rötlicher 
Spitzbart  hartnäckig  in  eine  Richtung  zeigt,  dessen 
gelenkige  Glieder  noch  immer  an  einen  Gassenjungen 
erinnern,  aber  dessen  wohlüberlegte  Worte  in  ihrer 
jäh  festgehaltenen  Logik  den  Gegner,  der  sich  nur 
einen  Moment  bloss  stellt,  augenblicklich  zu  treffen 
wissen.  Fast  könnte  man  sich  dazudenken,  dass  dieser 
Grösste,  um  dessen  Meisterwerk  sie  als  Kameraden 
streiten,  sich  freuend  über  so  verschiedenartige  Enkel 
in  die  Sitzung  kommt  und  mit  wenigen  Strichen  die 
zwei  ausgeprägten  Köpfe  in  eine  Kupferplatte  ätzt. 

IV. 

Ohne  dass  von  einem  spiessbürgerlich-schneidigen 
Es  ist  erreicht  die  Rede  sein  kann,  trat  doch 
bald  eine  Zeit  ein,  in  der  von  eigentlichem  Streit 
mit  dem  Publikum  nicht  mehr  gesprochen  wurde. 
Die  Chance  oder  die  Gefahr  je  populär  zu  werden, 
wird  für  Veth  wohl  immer  gering  bleiben,  aber  der 
Kreis  von  denen,  die  ihn  schätzen  und  verstehen,  war 
schon  bald  nach  dem  Beginn  der  neuen  Periode  ein 
ziemlich  grosser.  1893  wurde  zu  Amsterdam  ein 
Damenporträt  ausgestellt,  in  dem  das  Beste  jener  Zeit 
und  vielleicht  nicht  nur  jener  Zeit  sich  zeigte,  das, 
wie  zehn  Jahre  früher  das  Bild  der  Schwestern,  deut¬ 
licher  vom  neuen  Ziel  sprach,  als  dies  viele  spätere  Bilder 
thaten.  Beim  ersten  Anblick  fast  trocken  und  dürr  in 
der  Behandlung,  für  den  oberflächlichen  Beschauer  eine 
farbige  Zeichnung,  bekommt  es  für  jeden,  der  sich  die 
Mühe  giebt,  schärfer  hinzusehen,  die  höhere  Einfachheit, 
die  tiefere  spirituelle  Einsicht,  und  so  erinnert  es,  wie 
Veth’s  beste  Arbeiten  überhaupt,  an  die  Bilder  jenes  wun¬ 
derlichen  Malers,  von  dem  uns  Hawthorne  erzählt,  der 
das  menschliche  Gemüt  so  zu  ergründen  verstand,  dass 
seine  Porträts  schliesslich  Prophezeihungen  wurden 
und  er,  ohne  es  zu  wollen,  die  Menschen  in  jenen  zu¬ 
künftigen  Momenten  darstellen  musste,  in  denen  das 
Tiefste  ihres  Wesens  sich  in  der  entscheidenden  That 
ihres  Lebens  herauskehrte.  Bald  folgte  das  vergeistigt¬ 


suggestive  Bild  eines  Stadtrats;  die  gelähmte  Dame,  in 
deren  Augen  die  verlorene  Körperkraft  nunmehr  zu 
wohnen  scheint,  der  vollblütige  Kopf  des  Diplo¬ 
maten,  der  vielleicht  etwas  an  Luther,  aber  sicher  sehr 
an  den  gefrässigen  Vitellins  erinnert;  das  schlanke 
Kniestück  der  zierlichen  Frau  im  schwarzen  Spitzen¬ 
kleid  mit  glitzerndem  Jet.  Aber  eine  Aufzählung  des 
ganzen  gemalten  Oeuvre  ist  nicht  meine  Absicht;  eine 
bewundernde  Beschreibung  jedes  einzelnen  Bildes 
möchte  übrigens  den  Maler,  der  über  alles  lieber  als 
über  sich  selbst  sprechen  hört,  keineswegs  freundlich 
oder  dankbar  stimmen.  Es  würde  ausserdem  keinen 
Sinn  haben,  zwischen  dem,  was  er  gegeben  hat  und 
dem,  was  er  noch  leisten  wird,  gerade  jetzt  eine  Tren¬ 
nung  zu  machen.  Mitten  in  einer  Entwickelung,  die 
im  allgemeinen  bis  jetzt  eine  fortwährende  Steigerung 
aufwies,  hat  man  keinen  stärkeren  Grund  anzunehmen, 
dass  die  nächste  Zukunft  einen  Stillstand  bringen  wird, 
als  zu  glauben,  dass  jetzt  alle  Schwierigkeiten  über¬ 
wunden  sind  und  der  Wagen  endgültig  im  Rollen  ist. 

»Man  sitzt  vor  jedem  neuen  Gemälde  immer  wieder 
so  ungeschickt,  als  ob  man  noch  nie  eins  gemalt  hätte« 
ist  ein  Ausspruch,  den  man  oft  von  dem  ausdauernden 
Arbeiter  hören  kann  und  dies  wird  er  wohl  noch 
manchmal  sagen. 

Mögen  seine  Freunde  bisweilen  fürchten,  dass  seine 
Tugenden  zu  viel  Ähnlichkeit  mit  Fehlern  bekommen, 
dass  er,  zu  sehr  vertieft  in  die  guten  Eigenschaften 
seiner  Modelle,  auf  die  Dauer  die  schlechten  nicht 
mehr  mit  überlegener  Ruhe  zu  beobachten  wissen 
wird,  dass,  wie  ein  zu  angestrengtes  Streben  bei  nicht 
ganz  gesunden  Menschen  das  Seelische  in  den  Vor¬ 
dergrund  rückt,  auch  in  seine  Malerei  etwas  Kränk¬ 
liches  kommen  könnte;  mögen  sie  ihm  als  besten  Auf¬ 
trag  das  Porträt  seines  verhasstesten  Feindes  gönnen, 
damit  seinen  Bildern  nicht  jener  heilige  Oppositions¬ 
geist  verloren  gehe,  der  seine  Schriften  noch  immer  kenn¬ 
zeichnet  und  damit  das  nicht  in  seine  Kunst  dringe, 
was  man  eine  Allerweltsfreundschaft  nennt;  mögen  sie 
ihm  in  der  Zeit  der  Überraschungen  beim  althollän¬ 
dischen  Sint  Nikiaasfest  eine  schöne  Reproduktion 
der  Haarlemschen  Hexe  Hille  Bobbe  sehicken,  damit 
der  Kritiker,  der  Hals  als  Porträtmaler  nicht  am  mei¬ 
sten  schätzt,  trotzdem  in  seiner  eigenen  Arbeit  den 
Humor  nicht  vernachlässige  —  sie  vertrauen  nichts¬ 
destoweniger  fest  auf  jene  zweite  Lebenshälfte,  die 
wie  bei  vielen  holländischen  Künstlern,  die  gute  erste 
noch  weit  übertreffen  wird. 

ANDRE  JOLLES. 


ADOLF  MENZEL 

Von  Jan  Veth 


WENN  man  unter  urdeutscher  Kunst  ein  Geistes¬ 
produkt  verstehen  wollte,  das  von  dem  Duft 
deutscher  Wälder  durchzogen  wäre,  eins,  in 
welchem  die  Waldvögel  singen,  die  Veilchen  duften 
und  die  deutsche  Minne  kost,  in  dem  altgermanische 
Erinnerungen  spuken  und  zugleich  schmucke  Ritter¬ 
lichkeit  und  jungfräuliche  Unschuld  sich  spiegeln, 
eine  Kunst,  deren  Märchengemüt  uns  lockend  zu¬ 
flüstern  kann,  dann  würde  es  schwer  fallen,  sich 
einen  weniger  urdeutschen  Künstler  als  Adolf  Menzel 
vorzustellen.  Singen,  duften,  minniglich  kosen,  spuken, 
locken  oder  bethören,  dessen  war  in  der  That  die 
Muse  von  Menzel  niemals  fähig  und  wenn  man  in 
seiner  Kunst  eigentlich,  selbst  figürlich  gesprochen, 
von  solcher  beseelenden  Dame  sprechen  kann,  so  ist 
es  sicher  eine,  die  dem  Gemüt  kein  unnützes  Thränchen 
nachweint. 

So  »drög«  wirklich  manchmal  wie  Hafergrütze,  so 
schwer  beinah  wie  Wurst  und  nicht  selten  nahezu 
so  nüchtern  wie  ein  Hausstandsbuch  ist  viel  von  der 
Arbeit  seiner  geschickten  Hände  und  doch  muss  dieser 
zähe  Pütjerer  als  ein  ausserordentlicher  Künstler  und 
in  gewissem  Sinne  als  ein  typisch  deutscher  Künstler 
betrachtet  werden.  Ich  gebe  zu,  dass  das  Adjektiv 
»deutsch«  vielleicht  zu  breit  und  zu  unbestimmt  für 
einen  Mann  mit  so  scharf  umgrenztem  Geist  klingt  und 
obschon  ich  offen  bekenne,  dass  ich  in  der  Genea¬ 
logie  der  germanischen  Volksstämme  schlecht  bewan¬ 
dert  bin,  würde  ich  es  dann  noch  eher  wagen,  Menzel 
als  einen  echten  Preussen  zu  charakterisieren.  Aber 
nicht  als  einen  Preussen  nach  70:  einen  preussischen 
Leutnant  mit  frisiertem  Schnurrbart  und  Korsett  —  nein, 
als  einen  altmodischen,  rechtschaffenen  Preussen,  der 
ein  vortrefflicher  Beamter,  ein  vielleicht  noch  vortreff¬ 
licherer  Geschichtsforscher  oder  Naturwissenschafter 
und  jedenfalls  am  allerwenigsten  ein  Parvenü  ist. 

Menzel  veranschaulicht  uns  den  Typus  eines 
scharfdenkenden ,  hartnäckigen  Spiessbürgers,  mit  be¬ 
schränktem  Horizont  vielleicht,  aber  gross  in  hart 
durchgeführter  Ehrlichkeit.  Niemandem  ist  fester  zu 
vertrauen,  keiner  ist  schwerer  abzulenken  als  er.  Durch 
kein  Missgeschick  und  keinen  Ruhm,  durch  keine 
Schwierigkeiten  und  keine  Verführung  hat  er  sich 
einen  Einger  breit  von  seinem  Weg  abbringen  lassen. 
Das  Komplizierteste  und  scheinbar  Unausführbarste 
packt  er  ganz  kalt  in  Gemütsruhe  an.  Obgleich 
man  behauptet,  dass  der  alte  Herr  in  jungen  Jahren 
schwere  gesundheitliche  Krisen  durchgemacht  hat, 
kennt  man  keine  Nerven  an  ihm.  Jetzt  noch  in 
seinem  87.  Jahre  mit  einem  staunenerweckenden 
Oeuvre  hinter  sich,  von  Lob  und  Ehrenbezeugungen 
belästigt  wie  kein  andrer,  spricht  er  überzeugt  von 
der  Mission,  welche  er  an  der  deutschen  Kunst  noch 
zu  erfüllen  hat,  beklagt  die  Zeit,  die  er  durch  Getrödel 


verloren  und  arbeitet  inzwischen  von  morgens  bis 
abends  an  Wochen-  und  Feiertagen  an  der  Vollendung 
seiner  Aufgabe  mit  einer  Beharrlichkeit,  die  an  das 
Feuer  der  Jugend  erinnert. 

Wer  den  fast  säuerlich  ernst  aussehenden  Greis 
betrachtet,  erstaunt  sich  über  die  Erscheinung  eines 
so  wunderlichen  Kobolds,  der  bei  so  seltsam  unter¬ 
setzter  Gestalt  doch  imponiert  und  trotz  einer  gewissen 
Komik  in  seinen  Bewegungen  doch  so  ehrfurcht¬ 
gebietend  auftritt.  Wie  bei  den  meisten  Zwergen 
steckt  seine  Kleinheit  vor  allem  in  dem  fast  gänzlichen 
Mangel  an  Bauch  und  Schenkeln,  seine  Beine  .«ind 
kräftig,  seine  Schultern  eher  breit  und  bei  den  possier¬ 
lichen  Verhältnissen  scheint  der  Schädel  um  so  schwerer 
und  das  Durchdringende  seines  Blickes  um  so  mäch¬ 
tiger. 

Wenn  der  rüstige  alte  Herr  in  seiner  grossen 
unheimlichen  Werkstatt  auf  und  nieder  stapft  und  ein 
bestürztes  Modell  oder  einen  durch  die  Schranken 
seiner  Unzugänglichkeit  hindurchgebrochenen  Besucher 
anschnauzt,  ist  etwas  so  Stolzes,  Imponierendes  in 
seinem  Gang,  als  inspizierte  er  eine  grosse  Parade  und 
aus  den  Gebärden  seiner  kleinen  Hände  spricht  eine 
Entschiedenheit  als  ob  er  gewöhnt  wäre,  über  Scharen 
zu  befehlen. 

Als  ich  mich  genauer  in  den  Ecken  des  einsam 
über  die  Wohnungen  der  Menschen  hinaussehenden 
Ateliers  umblickte,  wo  jahrelanger  Staub  den  sonder¬ 
baren  Gegenständen  an  den  Wänden  durch  gräulichen 
Russ  einen  grimmigen  Anstrich  gegeben  hatte,  war  es 
mir,  als  ob  ich  die  Geister  in  den  grauen  Ecken 
scharren  hörte  und  es  wurde  mir  in  meiner  Verlegen¬ 
heit  zu  Mute,  als  hätte  ich  mich  bei  einem  Zwergen- 
könig  verirrt,  der  von  einem  Gnomenheer  Gehorsam 
verlangen  konnte. 

Seine  Vertieftheit  gleicht  dem  stillen  Ernst  jener 
Unterthanen,  sein  Witz  ist  wie  ihr  knirschendes  Spott¬ 
lachen.  Seine  Fingerfertigkeit  erinnert  an  ihre  Alchy- 
misterei.  Ganz  erfüllt  von  seiner  Kunst  steht  er  dem 
Herzensleben  der  Menschen  fast  feindlich  gegenüber. 
Seine  Augen  sind  scharf  geschliffene  Optikerspiegel, 
seine  Hände  bilden  den  vollkommensten  Zeichenapparat 
—  ebenso  wie  Lionardo  zeichnet  er  mit  der  linken 
Hand  ebenso  gern  wie  mit  der  rechten,  mit  der 
rechten  ebenso  sicher  wie  mit  der  linken.  Um  sein 
Ziel  zu  erreichen,  setzt  er  alle  Hebel  in  Bewegung, 
keine  Träumerei  leitet  ihn  ab,  er  zeichnet  um  zu 
zeichnen,  nicht  aus  Liebe  zu  dem,  was  er  zeichnet. 
Die  Welt  fasst  er  wie  eine  Vorratskammer  von  Mo¬ 
tiven  auf,  die  Natur  und  die  Menschen  beobachtet  er 
mit  der  Mitleidslosigkeit  des  Forschers.  Man  hält  ihn 
für  fähig,  das  Leben  so  sehr  bis  ins  äusserste  zu  zer¬ 
gliedern,  dass  er  zur  Not  seine  Beute  tötlich  verletzen 


ADOLF  MENZEL 


1  2 

könnte,  käme  dies  nur  dem  Leben  seiner  Kunst  zu 
gute.  Darin  ist  er  immer  auch  von  der  Rasse  jenes 
Ejalar  und  jenes  Galar,  die  den  verjüngenden  Götter¬ 
trank  zu  brauen  wussten,  wenn  sie  dazu  aucli  das 
Blut  des  weisen  Kwasir  brauchten. 

Man  verlangt  vielleicht  eine  voller  atmende  Kunst, 
Schöpfungen,  die  erhebender,  erfrischender,  heroischer 
sein  sollen  als  die,  welche  wir  von  Menzel  haben. 
Nur  dies  werfe  ich  dagegen  ein,  dass  die  Ritter  des 
Idealismus,  wenn  sie  auch  nach  einem  unwiderleglich 
höheren  Ziel  streben,  es  nur  zu  oft  auf  Ikarusweise 
zu  erreichen  versuchen.  Und  wenn  man  es  mir  zu 
gute  halten  will,  dass  ich  dabei  bleibe,  unsern 
preussischen  Positivisten  gerade  mit  mythologischen 
Gleichnissen  etwas  zu  charakterisieren,  so  möchte  ich 
bemerken,  dass  auch  die  Äsen  der  Macht  der  Erd¬ 
geister  Rechnung  trugen  und  dass  der  Lybische  Riese 
Antaeus  nur  aus  der  Berührung  mit  der  Erde  jedes¬ 
mal  die  Kraft  schöpfte,  um  Herkules  zu  widerstehen. 

Wenn  ein  jüngeres  Geschlecht  von  Deutschen  einer 
Kunst  nachzustreben  verlangt,  die  sonniger,  stolzer 
und  vielleicht  poetischer  ist,  als  die,  mit  welcher  der 
kleine  solide  Mann  ihnen  voran  ging,  wenn  sie  einen 
heldenhafteren  Kampf  mit  einem  Ideal  zu  streiten  be¬ 
gehrten,  wie  es  die  Geduld  und  die  Ehrwürdig¬ 
keit  Menzel’s  thaten,  dann  möchte  ich  sie  darauf  hin- 
weisen,  was  die  Weisheit  der  Väter  ihnen  in  ihrer 
Schätzung  des  Gnomengeschlechts  zur  Lehre  hinter¬ 
lassen.  Ihnen,  hiess  es  immer,  sind  die  lebenskräftigen 
Kenntnisse  und  fabelhaften  Kunstgriffe  vertraut,  die 
uns  verborgen  bleiben.  Sie  verstehen  Mischungen 
zu  brauen,  Risse  zu  löten  und  Waffen  zu  schmieden, 
von  denen  weder  Götter  noch  Menschen  eine  Ahnung 
haben  und  diejenigen  erringen  den  grössten  Sieg, 
die  die  Waffen  aus  ihren  Händen  beziehen. 

Lacht  nicht  über  die  dickköpfigen  alten  Graubärte 
mit  ihrer  falben  Gesichtsfarbe.  Die  Macht  der  Gnomen 
zu  verkennen,  kommt  einem  teuer  zu  stehen.  Haltet 
die  scharfsinnigen  emsigen  kleinen  Weisen  in  Ehren; 
ihre  Kunstweise  wie  ihre  Geschicklichkeit  machen  sie 
zu  vortrefflichen  Lehrmeistern,  für  junge  Heldensöhne 
geeignet. 

Ich  würde  an  meinem  Ziel  vorbeigeschossen  haben, 
hätte  ich  hier  zu  einer  Auffassung  Anleitung  gegeben, 
als  sollte  man  in  Menzel  nur  einen  Weisen,  einen 
Meister,  ein  Vorbild  sehen,  dessen  thatsächliche  Produk¬ 
tionen  nur  einen  mässigen  Genuss  zu  bereiten  ver¬ 
mögen.  Die  Sache  ist  die,  dass  es  ungewöhnlich 
viele  Schwierigkeiten  bietet,  Menzel’s  Arbeit  etwas 
ausführlich  richtig  zu  charakterisieren.  Die  Gefahr 
liegt  vor  allem  darin,  dass  man  das  abstrahieren  will, 
was  doch  nur  konkret  aufgefasst  werden  kann.  Doch 
selbst  dann  eine  Beschreibung  seiner  Arbeit  -  ich 
bitte  Sie,  wo  würde  der  Anfang,  wo  das  Ende  von 
solch  einer  Riesenaufgabe  sein ! 

Ich  bin  zu  meiner  Ereude  mit  einem  deutschen 
Künstler  befreundet,  der  mit  einer  grossen  Erische 
von  produktivem  Können  eine  seltene  Einsicht  in  die 
Arbeit  vieler  andrer  Maler  vereinigt.  Jahraus,  jahr¬ 


ein  haben  wir  immer  wieder  über  Menzel  das  Blaue 
vom  Himmel  geredet  und  oft  ergab  es  sich,  dass  wir 
seine  Kraft  selbst  nicht  annähernd  definieren  konnten, 
ohne  uns  genau  Rechenschaft  zu  geben,  wo  sie  an 
seine  Eehler  grenzt.  Etwas  kommt  hier  noch  dazu: 
Der  grosse  Ruhm  von  Menzel  ist  durch  unklare  Ver¬ 
hältnisse  allmählich  masslos  auf  die  Spitze  getrieben. 
Die  zur  Reichsresidenz  erhobene  Hauptstadt  Preussens 
hat  das  Bedürfnis  verspürt,  einen  Kaiser  auch  der 
Malerei  zu  proklamieren;  die  familienstolzen  Hohen- 
zollern  wollten  den  plastischen  Geschichtsschreiber 
des  grossen  Eritz  und  seiner  Heldenthaten  auffällig 
ehren  und  des  seltsamen  Mannes  hohes  Alter  lässt 
das  Interesse  an  seiner  bedeutenden  Persönlichkeit  noch 
fortwährend  zunehmen.  Dies  alles  weckt  bei  vorsich¬ 
tigen  Leuten  -  nichts  stimmt  so  sehr  zur  Kritik  als 
das  Beobachten  einer  kunstmässigen  Überschätzung 
—  die  Lust,  auch  die  schwachen  Seiten  eines  grossen 
Künstlers  ans  Licht  zu  kehren.  Mein  deutscher  Ereund 
befindet  sich  in  einer  Lage,  die  ihm  in  jeder  Hinsicht 
zu  solcher  Kritik  an  Menzel  Veranlassung  genug  giebt. 
Seine  Bemerkungen  bleiben  nicht  immer  ganz  respekt¬ 
voll  und  manches  Mal  werden  sie  selbst  unartig.  Doch 
merkwürdigerweise  war  dies  nur  der  Eall,  wenn  wir 
von  weitem  über  Menzel’s  Bedeutung  theorisierten, 
nicht  wenn  wir  mit  den  Blättern  in  der  Hand  uns 
mit  seinen  Produktionen  familiär  fühlten.  Der  Maler, 
den  ich  meine,  hat  bei  seinen  andern  grossen  Ver¬ 
diensten  nämlich  auch  dieses,  dass  er  ein  äusserst  ge¬ 
schmackvoller  Sammler  ist.  Und  jedesmal,  wenn  ich 
ihn  in  seinem  Hause  besuchte,  war  es  nicht  der 
Menzel -Nörgler,  sondern  der  Menzel-Enthusiast,  der 
mich  —  die  schönsten  Sachen  von  Menzel  kenne  ich 
aus  diesem  künstlerischen  Hause  —  vor  ein  neu  er¬ 
worbenes  Werk  des  Meisters  führte.  Dies  scheint  mir 
bezeichnend.  Man  kann  über  diese  Eigur  in  ihrem 
Verhältnis  zur  Kunst  im  allgemeinen  denken  was  man 
will,  aber  auch  die  nicht  bereitwillig  Gläubigen  können 
eine  grosse  Anzahl  von  Zeichnungen  nur  hoch¬ 
achten  und  oft  nur  lieben.  Nicht  dadurch,  dass  man 
an  ihn  denkt,  sondern  seine  besten  Produktionen  be¬ 
sieht,  bewundert  man  ihn  am  meisten.  Ich  weiss 
nicht,  ob  er  mit  all  seinen  Versuchen,  all  seinen 
Grübeleien,  all  seinem  Eorschen  und  all  seinem  Können 
der  Kunst  dieser  Zeit  viel  Neues  gebracht  hat,  ich 
weiss  nicht,  ob  man  seine  Stellung  immer  für  so  wich¬ 
tig  und  bedeutungsvoll  halten  wird,  wie  sie  uns  jetzt 
erscheint.  Aber  sein  grosser  Wert  liegt  auch  weniger 
in  seinen  Konzeptionen  selbst,  als  in  der  krassen 
Art,  wie  er  sie  zu  verfleischlichen  wusste.  Ich  kenne 
Künstler  von  höheren  Idealen,  aber  wenige,  die  ihr 
Wort  so  treu  gehalten  haben.  Und  deshalb:  wo  die 
Geschichte  ihn  auch  hinstellen  wird,  ausser  Erage 
scheint  es  mir,  dass  ausgewählte  Werke  Menzel’s,  so 
lange  Zeichnen  Zeichnen,  Redlichkeit  Redlichkeit  und 
Kraft  Kraft  bleibt,  nur  mit  entschiedener  Bewunderung 
betrachtet  werden  können.  Mit  einem  so  ehrwürdigen 
Gepäck  wie  das  seine  richtet  man  sichern  Kurs  nach 
der  Unsterblichkeit. 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 
IN  DER  ERMITAGE  ZU  ST.  PETERSBURG 

Von  Max  Rooses  in  Antwerpen 
(Fortsetzung  aus  Jahrgang  XHI,  Heft  2  und  5) 


LUCAS  VAN  LEIDEN 

Ein  höchst  merkwürdiger  Meister!  Er  gehört 
zu  den  ersten  in  der  Reihe  der  grossen  hol¬ 
ländischen  Künstler.  Vor  ihm  hatte  die  nieder¬ 
ländische  Kunst  ihre  Bannerträger  hohen  Ranges  in 
den  südlichen  Provinzen  gefunden,  zuerst  in  Flandern, 
später  in  Brabant;  jetzt  kam  die  Reihe  an  Holland. 
Und  schon  gleich  brachte  der  neu  auftretende  Land¬ 
strich  eine  Morgengabe  mit,  die  den  gesamten  Schatz 
der  Weltkunst  bereicherte:  es  war  der  Widerschein 
des  Volkslebens  in  seiner  Einfalt  und  Gemütstiefe. 
Der  Bürger,  der  geringe  Mann  wird  zum  Gegenstand 
des  Studiums,  ein  Held,  dessen  Thaten  wenn 
auch  noch  so  bescheiden  der  Mühe  der  Betrach¬ 
tung  und  Aufzeichnung  für  wert  erachtet  werden. 

Liicas  van  Leiden  brach  mit  der  mittelalterlichen 
Kunst,  die  allein  für  das  Seelenleben  ein  Auge  hatte 
und  ausser  den  Auserwählten,  den  Himmlischen  und 
ihren  Vertretern  niemanden  für  darstellenswürdig 
hielt.  Höchstens  wurden  neben  jenen  die  Fürsten 
und  Grossen  der  Erde,  die  Weltbeherrscher,  zuge¬ 
lassen.  In  der  neueren  Zeit  bekam  das  Leben  auf 
der  Erde  ebenfalls  Interesse  und  der  Bürger  erhielt 
Bürgerrecht  in  der  Kunst.  Lucas  van  Leiden  war 
der  Anführer  dieser  durchgreifenden  Umwandlung. 

Hierdurch  legte  er  den  Grund  zu  allen  späteren 
charakteristischen  Äusserungen  vaterländischer  Kunst. 
Während  die  übergrosse  Mehrheit  der  Maler  des 
16.  Jahrhunderts  der  alten  Kunstrichtung  den  Rücken 
gekehrt  hatte,  zur  italienischen  Manier  überlief  und 
sich  durch  akademische  Lockungen  verleiten  liess, 
blieb  er  treu  niederländisch.  Er  suchte  in  der 
nächsten  Umgebung  das  Eigenartige  und  dasjenige, 
was  verewigt  zu  werden  verdiente.  Er  war  der 
Hauptmann  der  glorreichen  Schar,  die  in  den  Tagen 
der  Eingenommenheit  für  die  fremde  Lehre  und  der 
Verleugnung  der  nationalen  Art,  Treue  der  eigenen 
Auffassung  predigte  und  deutlich  zeigte,  welche  Kraft 
die  holländischen  Sitten  ursprünglich  besitzen  und 
welche  Art  die  Kunst  seines  Landes  auszeichnen  muss. 
Hieronymus  Bosch,  Pieter  Breughel,  Pieter  Aertsen 
und  viele  andere  folgten  im  1 6.  Jahrhundert  auf  dem 
Wege,  den  er  gebahnt  hatte;  im  17.  Jahrhundert 
wurde  der  Ton,  den  er  angeschlagen  hatte,  zu  dem 
Grundton  der  holländischen  Kunst. 

Lucas  van  Leiden  war  ein  Wunderkind.  Was 
uns  van  Mander  von  seiner  frühzeitigen  Reife  erzählt, 
grenzt  ans  Unwahrscheinliche  und  würde  nicht  zu 
glauben  sein,  wenn  nicht  alle  vorhandenen  Urkunden 


damit  übereinstimmten.  Der  alte  Geschichtsschreiber, 
der  ein  Bewunderer  unseres  Meisters  war  und  über 
ihn  ausführlicher  geschrieben  hat,  als  über  irgend 
einen  anderen  holländischen  Künstler,  weiss  uns  zu 
erzählen,  dass  Lucas  im  Jahre  1494  um  den  letzten 
Mai  oder  Anfang  Juni  in  Leiden  geboren  wurde,  und 
dass  er  als  Kind  von  neun  Jahren  Kupferpiatten  nach 
eigener  Erfindung  bearbeitete.  Seine  erste  gezeichnete 
Platte  trägt  die  Jahreszahl  1 508,  als  er  vierzehn  Jahre 
alt  war;  ihre  Komposition  und  Ausführung  ist  be¬ 
wunderungswürdig.  Zwei  Jahre  später  war  er  Meister 
in  seiner  Kunst.  Er  starb  1533;  in  seinem  kurzen 
Leben  stach  er  174  Kupferplatten,  gravierte  auf  Glas 
und  fertigte  eine  Anzahl  von  Gemälden. 

Als  Stecher  nach  eigenen  Schöpfungen  ist  er  am 
meisten  bekannt  und  verdient  er  auch  das  grösste 
Lob.  Unter  seinen  allerersten  Bildern,  die  er  von 
seinem  neunten  bis  vierzehnten  Jahre  verfertigte,  sind 
bereits  einige  erstaunlich  schön  ausgeführt.  Mit 
sechzehn  Jahren  vollendete  er  einige  seiner  voll¬ 
kommensten  Bilder:  seine  »Taufe  Christi«,  seinen 
»Christus  dem  Volke  gezeigt«  und  seinen  »Verlorenen 
Sohn«.  Alle  diese  Bilder  sind  durch  die  Feinheit 
der  Ausführung  bemerkenswert;  er  grub  nicht  tief 
in  das  Kupfer,  er  kratzt  mit  ganz  zarten  Linien 
leicht  auf  die  glatte  Fläche  und  erzielt  nichtsdesto¬ 
weniger  herrliche  Wirkungen  von  Licht  und  Farbe. 
Die  wolligen  Falten,  die  leuchtenden  Widerscheine 
des  Kleides,  den  Glanz  von  dem  Laub  der  Bäume, 
die  allgemeine  Erscheinung  der  Dinge  wie  das  ge¬ 
ringste  Untergeordnete  bringt  er  in  wenigen  Zügen 
mit  seinem  Stift.  Ein  Bildchen  kann  noch  so  ein¬ 
fach  sein,  er  weiss  es  durch  sein  Geschick  köstlich 
und  anziehend  zu  machen.  Sein  Können  vermag  das 
Besondere  ausfindig  zu  machen  und  seine  Liebe  zur 
Sache  weiss  das  Geringste  zu  schmücken.  Er  hatte 
sehr  wahrscheinlich  die  ersten  Werke  Albrecht  Dürer’s 
gesehen,  als  er  seine  frühesten  Platten  stach,  und  die 
Technik  des  grossen  Meisters  hatte  er  sich  zum  Vor¬ 
bild  genommen.  Seine  eigene  Stifttechnik  war  nicht 
weniger  bewunderungswürdig  als  diejenige  seines 
Vorgängers,  aber  sie  war  anders:  Dürer  war  forscher, 
männlicher  in  seinen  glänzenden  Kupferstichen;  Lucas 
war  weicher,  feiner,  grauer;  seine  Kunst  ist  mehr 
diejenige  jenes  schwachen  Männleins,  wovon  Dürer 
spricht,  als  die  des  mächtigen  Schöpfers  aus  Nürnberg. 

ln  der  Auffassung  seiner  Motive  ist  er  in  der 
That  eigenartig  und  holländisch.  Was  ihn  in  der 
Welt  berührt,  ist  nicht  die  That  seines  Helden  oder 
das  mehr  oder  weniger  gewichtige  Ereignis,  das  er 


14 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


darzustellen  hat,  sondern  der  Eindruck,  welchen  sie 
auf  die  Menge  machen,  die  Teilnahme  des  Publikums 
an  ihnen;  der  gewöhnliche  Mensch  mit  seinen  All¬ 
tagsgefühlen  und  seinen  Naturäusserungen  ziehen  ihn 
am  meisten  an,  ihn  studiert  und  schildert  er  mit 
Vorliebe.  Dadurch  wird  das  Leben  in  seinen  Werken 
nicht  an  einem  einzelnen  Punkte  vorherrschend,  son¬ 
dern  es  durchdringt  alle  Teile,  jede  Person;  seine 
Wahrheit  ist  ungekünstelt,  ein  jeder  begreift  sie  und 
geniesst  sie.  Im  Gegensatz  zu  den  akademischen 
Künstlern  fasst  er  weder  zusammen,  noch  vereinfacht 
er,  sondern  er  ist  ein  Analytiker  und  Zergliederer 
der  Handlung. 

Saulus  ist  durch  ein  übernatürliches  Ereignis  von 
seinem  Pferd  geschleudert:  der  Zustand  ist  tragisch, 
der  Körper  gebrochen  und  der  Geist  gewaltig  er¬ 
schüttert.  Die  Heldemnaler  bilden  den  Betroffenen 
ab  wie  er  von  seinem  bäumenden  Pferde  fort¬ 
geschleift  wird,  die  Eüsse  haken  im  Steigbügel,  das 
Haupt  hängt  zur  Erde,  der  Blick  ist  gen  Himmel 
gerichtet  und  erfleht  Gnade.  Lucas  fasst  die  Sache 
anders  auf.  Ein  f^eiter,  ein  bejahrter  Mann,  ist  von 
seinem  Pferde  gefallen;  das  Tier  ist  verwirrt  über 
den  Unfall  und  sieht  mitleidig  nach  seinem  Herrn. 
Dieser  ist  verletzt,  er  hat  jedoch  seine  Glieder  auf¬ 
gerafft  und  humpelt  hinkend  weiter,  gestützt  auf  zwei 
dienstwillige  Kameraden.  Lebe  wohl,  Mirakel  und 
Drama;  es  bleibt  ein  Uiiglückchen  übrig  für  die  ver¬ 
mischten  Neuigkeiten  der  städtischen  Zeitung.  Adam 
und  Eva  sind  aus  dem  Paradies  verbannt:  kein  Engel 
mit  dem  flammenden  Schwert,  keine  machtvolle  Gott¬ 
heit  und  kein  von  Angst  und  Reue  niedergeschmettertes 
Menschenpaar;  es  ist  nur  ein  Tagelöhner  mit  seinem 
Spaten  auf  der  Schulter  und  seiner  Erau  mit  dem 
Kind  auf  dem  Arm,  die  das  Landgut  verlassen,  wo 
man  ihnen  den  Dienst  aufgesagt  hat.  ln  Esther  vor 
Ahasverus<  berührt  ihn  nicht  die  Person  und  die 
That  des  mächtigen  Pürsten,  und  auch  seine  Personen 
empfinden  nicht  den  Eindruck;  Esther  ist  ein  Bürger¬ 
mädchen  und  verwundert  sich  sehr  darüber,  sich  in 
solch  reicher  Mitte  zu  befinden,  und  Hauptpersonen 
sind  zwei  ihrer  Gefährtinnen,  die  grosse,  erstaunte 
Augen  machen  bei  dem  Anblick  der  fremden  Gesell¬ 
schaft,  wo  sie  hineingeraten  sind.  In  der  Kreuzigung 
Christi  ist  es  wiederum  nicht  das  mächtige  Drama, 
das  welterneuernde  Selbstopfer  des  Gottmenschen, 
das  ihn  anzieht;  es  sind  die  Gruppen  der  Zuschauer 
auf  dem  Wege  nach  Golgatha,  die  sich  über  das 
Geschehnis  des  Tages  unterhalten,  die  bettelnden 
Krüppel,  die  paradierenden  Reiter,  die  würfelnden 
Söldner.  Das  Gemütliche  beherrscht  alles,  der  Bürger 
spielt  die  grosse  Rolle. 

Seine  Kunst  ist  deshalb  doch  nicht  nüchtern;  er 
ist  auf  seine  Weise  Dichter  und  im  gewöhnlichen 
Leben  ist  ein  inniges  Gefühl  und  ein  freimütiger  Ans¬ 
druck  bei  ihm  nicht  ausgeschlossen.  In  Marias 
Besuch  bei  Elisabeth  begegnen  sich  die  beiden 
Erauen:  keine  Vorstellung  der  Überraschung  über 
das  erfreuliche  Neue,  kein  Bewillkommnen  auf  der 
Schwelle;  nichts  als  eine  Umarmung,  aber  so  innig, 
so  herzlich,  dass  von  den  beiden  nichts  weiter  zu 


sehen  bleibt,  als  diese  eine  Gebärde.  »Maria  in  einer 
Landschaft  ihr  Kind  säugend«;  echt  mütterlich  sitzt 
die  Bürgersfrau  da,  nur  darauf  bedacht,  ihren  Liebling 
zu  laben  und  ihm  ein  bequemes  Nestchen  zwischen 
ihren  gespreizten,  etwas  angezogenen  Knieen  zu  be¬ 
reiten;  die  Blumen  am  Boden  jedoch,  die  Kräuter, 
welche  die  Felsblöcke  umranken,  verleihen  diesem 
Idyll  die  Poesie. 

Nein,  Lucas  war  weit  davon  entfernt,  nüchtern  die 
Wirklichkeit  abzumalen,  in  die  Winkel  seines  Geistes 
versteckte  sich  eine  gute  Dosis  Phantasie.  Er  muss  die 
Menschen  wohl  so  nehmen,  wie  sie  sind,  er  malt  sie 
jedoch  gerne  nach  mittelalterlicher  Weise,  schlank  und 
aufgeschossen;  die  Gewandung  und  das  Beiwerk  er¬ 
setzt  das  hingegen  wieder.  Was  für  eine  Pracht  und 
Grossartigkeit  der  Mäntel  und  Draperien,  was  für  ein 
Suchen  und  sich  Vertiefen  in  allerlei  grillenhafte 
Fältchen  und  dann,  welch  eine  grenzenlose  Auswahl 
von  Kopfbedeckungen.  Wir  müssen  bis  zu  Rembrandt 
gehen,  um  ein  derartiges  reiches  Sortiment  zu  finden: 
Mützen,  Helme,  Hüte,  Turbane  von  hundert  ver¬ 
schiedenen  Formen;  nicht  zweimal  dieselben,  und 
seltsame  Ränder  um  die  Hüte;  Federn  auf  den 
Mützen  und  Federbüsche  auf  den  Helmen.  Eine 
seiner  geliebkosten  Figuren  ist  ein  Mann,  dessen 
Haupt  mit  Laubwerk  umrankt  ist;  warum  diese  merk¬ 
würdige  Kopfbedeckung?  Nichts  beantwortet  die 
Frage.  Es  scheint  wohl  possierlich,  und  doch  ist  es 
das  eigentlich  nicht.  Lucas  van  Leiden  lacht  und 
spottet  nicht;  erst  ein  folgendes  Geschlecht  wird 
dieses  andere  Element  in  die  Kunst  hineinbringen. 
Sein  Humor,  wenn  man  das  so  nennen  darf,  ist 
trocken;  Blödsinn  schildert  er  in  vollem  Ernst,  ln 
seiner  »Festfeiernden  Magdalena«  ist  die  Tanzmusik 
aus  einem  die  Querpfeife  blasenden  Landsknecht 
und  einem  Trommel  schlagenden  Herrn  mit  hohem 
Hute  und  langem  Rocke  zusammengestellt.  Der 
hohe  Hut  und  der  lange  Rock  passen  bei  dieser 
Trommelei  ebensogut,  wie  ein  Frack  mit  seidenem 
Cylinder  für  einen  Spielmann  auf  der  Dorfkirmess, 
und  doch  steht  dieser  seltsame  Musikus  in  vollem 
Ernste  da,  kühl  bis  ans  Herz,  ohne  irgend  welchen 
Schein  oder  das  Vermuten  zu  erwecken,  dass  er  sich 
komisch  anstellen  möchte. 

Den  grössten  Teil  seines  Lebens  blieb  Lucas 
dieser  eigenartigen  Kunstauffassung  treu  und  behielt 
seine  hohe,  ehrenvolle  Ursprünglichkeit;  in  seinen  aller¬ 
letzten  Jahren  erst  wurde  auch  er  von  der  ällmächtigen 
Zauberkraft  der  italienischen  Kunst  ergriffen.  Ver- 
schiedeneseinerBilder,gezeichnet  1 530,  tragen  in  unleug¬ 
barer  Weise  den  Stempel  akademischen  Einflusses.  Er 
muss  damals  Stiche  von  Marc  Antonio,  dem  Kupferstecher 
von  Raffaels  Werken,  gesehen  und  zum  Vorbild  ge¬ 
nommen  haben.  Ein  »Adam  und  Eva«,  ein  »Loth  durch 
seine  Töchter  betrunken  gemacht« ,  ein  Cyklus  der 
-Sieben  Tugenden«,  ein  »Mars  und  Venus«  sind  ganz  in 
dem  bildhauerartigen  Stil  der  italienischen  Schule  ge¬ 
halten.  1527  fand  er  Mabuse  in  Middelburg  und  reiste 
mit  ihm  in  Flandern;  aus  diesem  Jahre  stammen  einige 
seiner  Werke,  worin  die  sehr  edlen  Formen  der 
Renaissanceverzierungen  —  worauf  Mabuse  erpicht 


LUCAS  VAN  LEIDEN  DIE  HEILUNG  DES  BLINDEN  PETERSBURG,  ERMITAGE 


i6 


DIE  VLÄMISCHEN  UND  NIEDERLÄNDISCHEN  MEISTER 


war  —  eine  Hauptrolle  spielen.  Der  flämische  Maler 
kann  den  holländischen  wohl  zu  der  fremden  Kunst 
bekehrt  haben. 

Lucas  van  Leiden  muss  zur  Einkehr  gekommen 
sein  und  Reue  gefühlt  haben  über  die  Sünden 
früherer  Jahre  gegen  die  heilige  Zeichenkunst.  Und 
in  der  That,  sein  Sündenregister  war  sehr  beladen 
und  er  sah  in  den  ersten  Zeiten  nichts  darin,  Kopf 
und  Leib  gegen  die  Gesetze  der  Anatomie  zu  ver¬ 
ändern.  Nach  der  Erkenntnis  der  Irrungen  seiner 
Jugend  legte  er  sich  auf  das  Zeichnen  von  schönen 
nackten  Eiguren,  so  wie  hundert  andere  sie  zeich¬ 
neten;  er  verlor  seine  erwähnten  Gebrechen,  aber  zu¬ 
gleich  auch  seine  unschätzbare  Ursprünglichkeit. 

Als  Maler  produzierte  Lucas  van  Leiden  viel  weniger 
wie  als  Graveur  und  auch  der  Kunstwert  seiner  Ge¬ 
mälde  ist  weniger  bedeutend.  Er  gebraucht  manch¬ 
mal  Wasserfarbe,  dann  wieder  Ölfarbe,  aber  er  ist 
eigentlich  weniger  ein  Maler,  der  die  Natur  in  Farben 
wiedergiebt,  als  ein  Graveur,  der  seine  Zeichnungen 
koloriert.  Er  behält  alle  seine  guten  Eigenschaften 
als  Beobachter  des  Lebens;  seine  Personen  handeln 
und  bewegen  sich  wahrheitsgetreu;  ihr  Ausdruck  ist 
sprechend,  aber  die  Farbe  ist  unharmonisch,  einmal 
blass,  dann  wieder  braun  und  öfter  schwarz;  der 
Widerschein  ist  gekünstelt,  die  Konturen  scharf  ab¬ 
geschnitten.  Van  Mander,  der  die  Gemälde  von 
Lucas  van  Leiden  ebenso  preist,  wie  seine  Kupfer¬ 
stiche,  beschreibt  verschiedene  von  ihnen,  unter 
anderen  auch  das  Bild,  welches  die  Ermitage  von 
Lucas  besitzt  und  welches  nach  dem  alten  Geschichts¬ 
schreiber  het  uijtnemenste  en  schoonste«  ist.  Das 
Bild  gehörte  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  Hend¬ 
rik  Goltzius  und  in  dem  folgenden  Jahrhundert  Crozat 
und  kam  von  da  nach  St.  Petersburg.  Es  war  damals 
ein  dreiteiliges  Gemälde  mit  Flügeln,  welche  geschlossen 
werden  konnten,  auf  der  Aussenseite  trugen  sie  die 
Jahreszahl  1531.  Die  Innenseiten  der  Flügel  sind 
jetzt  mit  dem  Mittelstück  zusammengefügt,  die  Aussen- 
seiten  der  Laden  sind  abgesägt  und  absonderlich 
eingerahmt.  Alle  Teile  sind  von  den  Holztafeln  auf 
die  Leinwand  gebracht.  Die  Aussenseiten  der  Flügel 
stellen  einen  Mann  und  eine  Frau  dar,  welche  Wappen¬ 
schilder  halten;  das  Mittelstück  und  die  Innenseiten 
stellen  die  »Heilung  der  Blinden  von  Jericho«  dar. 

Das  Bild  ist  eins  der  letzten  Werke  des  Meisters. 
Er  bleibt  seinem  Prinzip  der  früheren  Jahre  treu  und 
überlässt  in  der  Darstellung  des  wundersamen  Ereig¬ 
nisses  der  bunten  Menge  der  Zuschauer  eine  ansehn¬ 
liche  Rolle.  Rechts  und  links  bilden  sich  dichte 
Gruppen,  welche  das  Wunder  beobachten  und  be¬ 
sprechen.  Die  Neugierde,  Rührung  und  Zweifelsucht 
ist  in  lebendigen  Zügen  wiedergegeben,  eine  Näherung 
an  klassische  Behandlung  ist  jedoch  auch  zu  merken. 
Christus  und  der  Blinde  stehen  ganz  in  der  Mitte  und 
im  Vordergrund  der  Komposition,  auf  ihn  richtet  sich 
die  Aufmerksamkeit  der  Umstehenden  und  auch  die 


unsrige.  Die  Handlung  ist  einheitlicher,  es  ist  ein 
merklicher  Schritt  zur  modernen,  zur  akademischen 
Auffassung  gethan. 

Der  gemütlichen  Auffassung  ist  er  auch  in  seinen 
Personen  teilweise  treu  geblieben;  das  Kind,  welches 
den  Blinden  leitet  und  Christi  Hilfe  voll  Vertrauen 
und  Andrang  anruft,  der  mitleidige  Heiland  und  der 
klagende  Blinde,  der  misstrauisch  blickende  Apostel, 
der  Knabe,  welcher  auf  der  Erde  sitzt  und  nach  der 
Hauptgruppe  hinweist,  die  Mutter,  die  links  sitzt  und 
nach  dem  Wunder  hinschaut  und  die  bewegten  Figuren 
rechts  sind  alle  Menschen,  die  auf  frischer  Lebensthat 
ertappt  sind.  Aber  in  sie  selbst  und  die  übrigen  Per¬ 
sonen  ist  mehr  Stil  gekommen;  die  Hauptgruppe  ist 
vornehm  und  würdig,  die  Figur  links  mit  dem  Rücken 
nach  uns  zugekehrt,  ist  vollkommen  akademisch  drapiert, 
es  ist  ein  grosser  Versuch  gemacht,  das  wirkliche  Leben 
klassischer  Ordination  einzufügen.  Der  kräftig  spru¬ 
delnde  Geist  des  Meisters  späht  noch  nach  allen  Seiten 
aus,  und  es  giebt  noch  Leben  und  Wahrheit  in  Über¬ 
fluss,  aber  es  ist  mehr  eingezäumte  Überlegung,  mehr 
vernünftige  Einteilung  hinzugekommen. 

Ein  aussergewöhnlich  grosser  Anteil  ist  auch  der 
Landschaft  zuerteilt  worden.  Der  Hintergrund  ist  ganz 
durch  dieselbe  eingenommen.  Nach  der  veralteten 
Manier  sind  in  der  Ferne  die  Berge  und  Felsen  blau¬ 
grün,  links  erheben  sich  graugetönte  Gebäude  mit  zart¬ 
roten  Dächern,  mehr  nach  dem  Vordergründe  hin 
steigt  ein  Schirm  von  dunklen  Baumgruppen  in  die 
Höhe,  wovor  sich  die  Scene  entfaltet.  Die  Farbe  ist 
bunt  und  hoch  im  Ton  mit  launischen  Reflexen. 
Christus  trägt  ein  dunkelblaues  Gewand,  der  Blinde 
ein  dunkel  braungelbes  mit  leuchtenden  Widerscheinen, 
der  kleine  Junge,  der  ihn  leitet,  ein  lichtblaues  mit 
weissen  Tönen!  Rechts  sieht  man  viele  rote  Draperien, 
einige  mit  weissen  oder  gelben  Widerspiegelungen. 
Links  trägt  der  von  hinten  gesehene  Mann  einen  weissen 
Mantel  mit  blauen  Reflexen,  ein  anderer  ist  in  eine 
voll  rote  Draperie  gehüllt,  die  sitzende  Frau  trägt  ein 
weisses  Übergewand  mit  safranartigen  Tönen;  wieder 
andere  sind  in  gelber,  rosiger,  dunkel-  oder  lichtblauer 
Kleidung.  Es  ist  eine  ganze  Ausstellung  von  hohem 
Farbenprunk  und  dabei  noch  wohl  schwer  und  fest 
aufgelegt;  die  Technik  besitzt  nicht  mehr  die  Feinheit 
der  früheren  Schule,  auch  nicht  die  porzellanartige 
Manier  einiger  später  kommenden,  es  liegt  etwas 
Solides  und  Breites  in  seiner  Art.  Aber  Leben,  Be¬ 
wegung  und  Wahrheit  herrschen  in  allen  Teilen  und 
Unterteilen.  Eine  neue  Kunst  hat  sich  Bahn  gebrochen, 
welche  die  Bescheidenheit  und  das  Hölzerne  des  Mittel¬ 
alterlichen  abgelegt  hat,  die  vollauf  menschlich  ge¬ 
worden  ist  und  die  aus  der  Natur  und  Wahrheit  ihren 
Lebenssaft  schöpfen  wird,  die  Kunst  der  vaterländischen 
Renaissance,  deren  Laufbahn  eine  Zeit  lang  noch  durch 
fremden  Einfluss  gehemmt  werden  wird,  die  jedoch 
dazu  berufen  ist,  im  folgenden  Jahrhundert  den  Ruhm 
der  holländischen  Malerschule  für  immer  zu  befestigen. 


Abb.  1.  Büste  Fried  rieh’ s  II.  von  Hohenstaufen  (?)  in  Acerenza 
Nach  Photographie  Moscioni,  Rom 


EIN  PORTRÄT  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 

Von  Richard  Delbrück 


Eine  Büste,  die  anscheinend  Friedrich  II.  von 
Hohenstaufen  darstellt,  befindet  sich  auf  dem 
Fassadenfirst  der  Kathedrale  von  Acerenza  in 
Süditalien. 

Die  Büste  ist  lebensgross,  nur  an  der  Vorderseite 
voll  ausgearbeitet,  unten  wagerecht  abgeschnitten,  kurz 
über  den  Ellenbogen  der  herabhängenden  Arme.  Das 
Material  soll  nach  der  Aussage  des  römischen  Photo¬ 
graphen  Moscioni,  welcher  die  Büste  aus  der  Nähe 
gesehen  hat,  harter  Kalkstein  sein,  der  verwittert,  aber 
sonst  nicht  beschädigt  ist. 

Der  Kopf  ist  schroff  nach  links  gedreht  und 
schaut  nach  dort  geradeaus;  er  hat  kurzes  Haar  und 
kurzen  Bart,  im  Haare  einen  glatt  anliegenden  Lorbeer¬ 
kranz.  Das  Alter  des  Mannes  werden  40  bis  50 
Jahre  sein.  Der  Rumpf  ist  bekleidet  mit  einem 
Schuppenpanzer,  der  den  Hals  frei  lässt  und  die 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  i. 


Schultern  bedeckt.  Um  beide  Oberarme  hängen 
schmale  glatte  Schutzstreifen.  Über  dem  Panzer  liegt 
ein  Paludamentum  aus  schwerem  Stoff,  das  unter 
der  rechten  Achsel  hindurchgeht  und  über  der  linken 
Schulter  von  einer  runden  Schliesse  zusammen¬ 
gehalten  wird. 

Der  Kopf  ist  ein  ausgesprochener  Langkopf,  dessen 
Schädelkontur  oben  lang  hinläuft  und  dann  in 
kurzem  vollen  Bogen  nach  dem  Nacken  herabfällt. 
Der  Gesichtswinkel  ist  beträchtlich,  das  Gesicht 
lang,  mit  steiler,  hoher  Stirn,  ziemlich  kurzer,  leicht 
gebogener  Nase,  hoher  Oberlippe  und  starkem  eckigen 
Kinn,  unter  dem  ein  breites  Doppelkinn  liegt.  Die 
Züge  sind  nach  der  Mitte  versammelt,  so  dass  das 
Gesicht  von  vorn  klein  aussieht;  die  Augen  sind 
ganz  offen,  nicht  gross,  in  den  inneren  Winkeln 
durch  die  vorgebauten  Brauenbogen  stark  beschattet. 


3 


i8 


EIN' PORTRÄT  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


Abb.  2  und  j.  Büste  Fried r ich’ s  II.  von  Hohen¬ 
staufen  (?)  in  Acerenza 


die  Nase  scharf  und  schmal  mit  knappen  Flügeln, 
der  Mund  klein  und  einfach  geformt,  mit  dünnen 
Lippen;  die  Mundwinkel  sind  herabgezogen.  Das 
untere  Ohrläppchen  ist  angewachsen,  die  Muschel 
breit  und  eckig,  die  Öffnung  gross  und  lang.  Das 
Kopfhaar  ist  kurz  geschnitten,  von  Natur  etwas  gelockt 
und  fällt  in  kleinen  Wischen  rings  in  die  Stirn,  in 
der  Mitte  in  ein  paar  längeren  Ringeln.  Der  kurze 
Vollbart  lockt  sich  stärker  als  das  Kopfhaar,  der  Schnurr¬ 
bart  ist  sehr  knapp  geschnitten. 

Die  Ikauen  sind  ständig  gerunzelt,  es  ist  die  Falte 
da,  die  das  Zucken  der  Nasenflügel  den  Wangen 
einprägt,  die  Mundwinkel  hängen  herab,  wie  bei 
Menschen,  deren  Leben  ernsthaft  ist,  die  offenen 
Augen  schauen  hart  geradeaus,  die  scharfe  einfache 
Drehung  des  Kopfes  ist  eine  stolze  Geberde;  die 
(jesamterscheinung  des  Kopfes  ist  ernst  und  herrisch, 
dabei  intensiv  lebendig.  Weiter  wird  man  noch 
sagen  dürfen,  dass  der  Mann  vornehm,  und  dass  er 
von  feiner  Rasse  ist;  ja  die  schmalen  Knochen  und 
das  kleine  Gesicht  geben  ihm  etwas  Spätes,  zu  hoch 
gezüchtetes.  Seinem  Volke  nach  scheint  er  ein  Süd¬ 
deutscher,  Franzose  oder  Norditaliener  zu  sein. 

Der  [Bildhauer,  der  diese  Büste  gemacht  hat,  war 
nicht  im  stände,  die  Form  im  grossen  zu  beherrschen; 
die  Auffassung  der  Silhouette  ist  plump  und  locker, 
die  Flächen  des  Fleisches,  besonders  am  Halse,  leer 


und  nicht  durchfühlt;  anatomische  Kenntnisse  be- 
sass  er  augenscheinlich  keine.  Die  Stilisierung  des 
Paludamentum  ist  einfach  und  fast  grandios,  aber 
unlogisch  und  wenig  sicher.  Um  so  sicherer  und 
liebreicher  sind  die  kleinen  Formen  eingehend  aus¬ 
geführt  und  individualisiert,  die  der  Künstler  völlig 
erfassen  konnte;  die  Lorbeerblätter  des  Kranzes,  die 
vielen  verschiedenen  Löckchen  in  Haupthaar  und 
Bart,  die  Augen,  die  Nasenwurzel.  Das  Gesicht  ist 
viel  mehr  durchgearbeitet  als  der  Hals;  anscheinend 
galt  das  Interesse  vorwiegend  der  Physiognomie,  dem 
Porträthaften  im  modernen  Sinne;  auch  die  Drehung 
des  Kopfes  giebt  ja  Ausdruck  Und  als  Porträtist 
stand  der  Meister  der  Büste  sehr  hoch,  nicht  gar  zu 
weit  unter  den  grössten  aller  Zeiten,  die  man  ver¬ 
gleichen  mag. 

Wann  lebte  nun  dieser  Bildhauer?  Wann  wurde 
die  Büste  gemacht?  Antik  scheint  sie  aus  mehrfachen 
Gründen  nicht  zu  sein.  Zunächst  wäre  das  unedle 
Material  in  römischer  Zeit,  und  nur  diese  käme  ja 
in  Betracht,  recht  auffällig,  dann  ist  der  Schuppen¬ 
panzer,  der  die  Schultern  mit  bedeckt,  meines  Wissens 
an  römischen  Denkmälern  nicht  nachzuweisen,  und 
endlich  ist  die  ganze  Form  der  Büste  mit  horizontalem 
unteren  Abschluss  nicht  antik;  bei  römischen  Büsten 
verläuft  diese  Grenzlinie  vielmehr  immer  geschwungen. 


Abb.  3 


EIN  PORTRÄT  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


19 


Wie  verschieden  Formauffassung  und  Strich  von 
der  Antike  sind,  lässt  sich  nicht  auseinandersetzen; 
bei  den  römischen  Büsten  erscheinen  sie  reif  und 
sicher,  bei  dem  Kopfe  von  Acerenza  steif,  unbefreit, 
aber  von  archaischer  Frische.  Wer  von  der  Beschäf¬ 
tigung  mit  der  Antike  herkommt,  wird  in  diesem 
Kunstwerk  die  Art  einer  völlig  anderen  Zeit  erkennen. 

Seine  nächsten  Analogien  findet  es  in  der  süd¬ 
italienischen  Plastik  des  13.  Jahrhunderts;  besonders 
an  den  Werken,  die  Friedrich  II.  von  Hohenstaufen 
arbeiten  liess. 

Das  Porträt  des  sogenannten  Petrus  de  Vinea  vom 
capuanischen  Brücken¬ 
thor  i)  ähnelt  dem  Porträt 
von  Acerenza  in  allem 
Vergleichbaren,  dem  Stirn¬ 
haar,  der  Form  der  Augen 
mit  der  rund  eingebohrten 
Pupille,  dem  archaisch 
stilisierten  Gewände,  in 
der  Art  die  Natur  aufzu¬ 
fassen  und  das  Indivi- 
duellezu  empfinden.  Wenn 
die  Formen  der  capuaner 
Büste  in  der  Abbildung- 
härter  erscheinen,  so  liegt 
es  daran,  dass  sie  nach 
einem  hellen  Gipsabguss 
photographiert  ist.  Die 
Büste  von  Capua  ist  aller¬ 
dings  unten  rund  abge¬ 
schnitten;  hier  treten  zur 
Ergänzung  die  zwei  hori¬ 
zontal  abgeschnittenen 
Büsten  der  Sigelgaita  auf 
der  Kanzel  im  Dome  von 
Ravello  und  einer  unbe¬ 
kannten  Dame  aus  Scala 
ein,  beides  unteritalische 
Skulpturen  des  13.  Jahr¬ 
hunderts  und  im  Charakter 
den  fridericianischen  nahe 
verwandt-). 

Die  Einweisung  der 
Büste  von  Acerenza  in  das 
13.  Jahrhundert  und  in  den  staufischen  Kunstkreis 
scheint  mir  notwendig  zu  sein.  Dabei  muss  aber 
betont  werden,  dass  der  Panzer,  wie  ihn  die  Büste 


1)  Die  capuanischen  Skulpturen  wurden  teilweise  .ver¬ 
öffentlicht  von  Fabriczy  im  XIV.  Jahrgange dieser  Zeit¬ 
schrift  S.  180,  214,  236.  Er  erkannte  als  staufisch  den 
Torso  der  Kaiserstatue,  den  Kopf  der  »Capua«,  die  Büsten 
des  »Petras  de  Vinea«  und  »Thaddaeus  von  Suessula«. 
Es  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass  das  Material 
jetzt  viel  reicher  ist;  im  Museo  Campano  zu  Capua  vetere 
befindet  sich  jetzt  ein  weiterer  männlicher  Kolossalkopf 
aus  Marmor,  ein  marmorner  Löwe  und  eine  grössere  An¬ 
zahl  figürlich  verzierter  Marmorzinnen,  alles  sicher  staufisch, 
aber  vielleicht  bisher  für  antik  gehalten.  Gegenüber  der 
manchmal  auftauchenden  Behauptung,  die  Skulpturen  von 
Capua  seien  spätantik,  glaubt  der  Verfasser,  der  Archäolog 


trägt,  in  dieser  Zeit  in  Süditalien  bisher  meines 
Wissens  nicht  zu  belegen  ist. 

Um  nun  den  Namen  des  dargestellten  Mannes 
zu  ermitteln,  könnte  man  zunächst  von  der  Thatsache 
ausgehen,  dass  die  Büste  auf  dem  First  der  Kathe¬ 
drale  von  Acerenza  steht  und  könnte  in  ihr  das  Bild 
eines  Lokalheiligen  oder  eines  Stifters  sehen  wollen. 
Aber  es  ist  fraglich,  ob  die  Büste  für  ihren  jetzigen 
Standort  ursprünglich  bestimmt  war.  Mit  dem  unter 
ihr  liegenden  Mauerwerk  steht  sie  in  keinerlei  Ver¬ 
bindung,  so  dass  sie  für  die  photographische  Auf¬ 
nahme  von  der  Stelle  gerückt  werden  konnte,  und 

es  ist  auch  zu  bedenken, 
dass  der  fein  gearbeitete 
Kopf  in  seiner  heutigen 
Aufteilung  nicht  zur  Gel¬ 
tung  kommt.  Selbst  das 
steht  nicht  fest,  ob  die 
Büste  und  die  Kathedrale 
gleichzeitig  sind;  Schultz 
setzt  die  Kathedrale  aller¬ 
dings  in  das  13.  Jahr¬ 
hundert,  aber  Mothes  in 
langobardische  Zeit.  Be¬ 
vor  eine  erneute  Unter¬ 
suchung  der  Kathedrale 
von  fachmännischer  Seite 
stattgefunden  hat,  wird 
man  also  die  Frage,  ob 
Büste  und  Kirche  gleich¬ 
zeitig  sind,  zum  mindesten 
nicht  bejahen  dürfen. 

Unter  diesen  Umstän¬ 
den  thut  man  besser,  die 
jetzige  Aufstellung  der 
Büste  bei  ihrer  Benennung 
nicht  zu  berücksichtigen. 

Es  wurde  bereits  oben 
ausgesprochen,  dass  sie 
wahrscheinlich  ein  Porträt 
Friedrich’s  II.  ist. 

Darauf  führt  zunächst 
die  Thatsache,  dass  der 
Mann  gepanzert,  also  ein 
Krieger  ist,  und  den  Lor¬ 
beerkranz  im  Haare  hat.  Den  Lorbeerkranz  haben 
in  nachrömischer  Zeit  noch  die  Karolinger  getragen, 
wie  man  an  ihren  Münzen  sieht,  späterhin  aber 
nur  noch  Friedrich  II.  auf  den  Augustalen ^);  der 
übliche  Kopfschmuck  des  Herrschers  ist  im  Mittel¬ 


ist, 'mit  Zuversicht  sagen  zu  dürfen,  dass  in  der  Ent¬ 
wickelung  der  antiken  Kunst  kein  Platz  für  dieselben  zu 
finden  ist. 

Vergleiche  ferner  Kraus,  Geschichte  der  christlichen 
Kunst  II,  2.  S.  85  F.  3,  4,  mit  der  weiteren  Litteratur. 

2)  Sigelgai'ta:  vergleiche  Kraus,  Geschichte  der  christ¬ 
lichen  Kunst  II,  2.  S.  89,  F.  8.  Büste  aus  Scala  ebenda 
F.  9,  jetzt  im  Berliner  Museum. 

i)  Vergleiche  den  Aufsatz  von  Winkelmann  in  den 
Mitteilungen  des  Institutes  für  österreichische  Geschichts¬ 
forschung  XV.  S.  401  f,  mit  Münztafel. 


Abb.  4.  Büste  des  Petras  de  Vinea  (?)  im  Museo 
Campano  zu  Capua.  Nach  Gips 
(Nach  Photographie  Moscioni,  Rpm) 


3 


20 


EIN  PORTRÄT  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


alter  sonst  vielmehr 
nur  die  Krone.  Es 
ist  darum  wahr¬ 
scheinlich,  dass  eine 
Panzerbüste,  die 
ihrem  Stile  nach  in 
die  fridericianische 
Zeit  gehört  und  den 
Lorbeerkranz  trägt, 
eben  den  Kaiser 
Friedrich  selbst  dar- 
itellt.  Auch  auf 
den  Augustalen  trägt 
der  Kaiser  übrigens 
das  Paludainentum, 
darunter  allerdings 
keinen  Panzer,  son¬ 
dern  einen  Ärrnel- 
rock,  wie  auch  seine 
Statue  in  Capua; 
diese  Übereinstim¬ 
mung  und  dieser 
Unterschied  werden 
für  die  Lösung  der 
behandelten  Frage 
aber  kaum  von  Be¬ 
deutung  sein. 

Recht  günstig 
ist  hingegen  der 
liier  vertretenen  An¬ 
nahme,  dass  die 
physiognornische 
Übereinstimmung 
der  Köpfe  auf  den 
individueller  gehal¬ 
tenen  Augustalen 
und  des  Profilbil¬ 
des  der  Büste  von 
Acerenza  ziemlich 
weit  geht,  wie  ein  Vergleich  der  Abbildungen  klar 
macht.  Der  einzige  stärkere  Unterschied  besteht 
darin,  dass  der  Kaiser  auf  den  Augustalen  bartlos 
ist;  aber  dieser  Unterschied  kann  nicht  als  sehr  wichtig 
betrachtet  werden;  er  erklärt  sich  ungezwungen,  wenn 
man  annimmt,  dass  beim  Beginn  der  Augustalen- 
prägung  (1232)  Friedrich  keinen  Bart  trug,  ihn  sich 
aber  später  wachsen  liess,  weshalb  jedoch  die  Münz¬ 
stempel  nicht  geändert  wurden;  am  Hofe  Friedrich’s 
wurde  ja  Vollbart  getragen,  wie  man  an  den  Büsten 
des  Thaddäus  de  Suessa«  und  Petrus  de  Vinea«  vom 
capuaner  Brücken- 
thore  sieht. 

Die  Augustalen 
wurden  von  1231 
ab  für  das  sicilische 
Reich  geprägt;  sie 
geben  das  authen¬ 
tische,  gleichzeitige 
Porträt  des  Kaisers, 
sind  somit  das  beste 
ikonographische  Ma¬ 


terial,  das  man  den¬ 
ken  kann,  und  die 
Übereinstimmung 
zwischen  ihnen  und 
der  Büste  ist  von 
Bedeutung. 

Neben  den  Gold¬ 
münzen  kommt  eine 
Gemme  in  Betracht, 
die  im  18.  Jahrhun¬ 
dert  nach  dem 
Kopfe  der  capuani- 
schen  Porträtstatue 
des  Kaisers  ge¬ 
schnitten  wurde  *), 
der  damals  noch 
vorhanden  war.  Der 
Kaiser  trägt  hier  die 
Zackenkrone,  ist 
bartlos,  und  seine 
Züge  gleichen  etwa 
denen  der  typischer 
gehaltenen  Augusta¬ 
len;  diese  Gemme, 
deren  Treue  sich 
nicht  mehr  kontrol¬ 
lieren  lässt,  hat  als 
Zeugnis  natürlich 
nur  geringen  Wert. 

Endlich  ist  noch 
auf  Friedrich’s  Sie¬ 
gel  hinzuweisen^). 
Auf  dem  bisher  am 
besten  abgebildeten 
Exemplar  sind  die 
Züge  des  in  Vor¬ 
deransicht  sitzend 
dargestellten  Kaisers 
recht  wohl  kenntlich 
und  enthalten  nichts,  was  sie  von  dem  Kopfe  von 
Acerenza  wesentlich  unterschiede;  zwingende  Ähnlich¬ 
keit  ist  allerdings  auch  nicht  vorhanden. 

Den  Schriftquellen  ist  nichts  zu  entnehmen,  was 
die  hier  vorgetragene  Vermutung  bestätigen  oder 
widerlegen  könnte.  Der  Geschichtsschreiber  Salim- 
bene  sah  Friedrich  1238  und  sagt  von  ihm:  »pulcher 


1)  Vergleiche  Winkelmann  a.  a.  O.  Die  Gemme  be¬ 
fand  sich  später  in  Raunier’s  Besitz ;  jetzt  scheint  sie  ver¬ 
schollen  zu  sein.  Abb. :  Huillard  Hist.  dipl.  Frid.  II.  1 

Titelblatt,  danach 
Winkelmann  a.  a.  O. 
S.  401.  Raumer,  Ge¬ 
schichte  der  Hohen¬ 
staufen  111.  Buch  VI. 
Schlussvignette. 

2)  Mitteilung  des 
Institutes  für  öster¬ 
reichische  Geschichts¬ 
forschung  XV.  1894, 
S.  485  ff.  Winkel¬ 
mann. 


Abb.  5.  Kflthedrale  in  Acerenza;  auf  dem  First  die  Büste 
(Nach  Photographie  Moscioni,  Rom) 


EIN  PORTRÄT  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


homo  et  bene  formatus,  sed  mediae  staturae  fuit«. 
Den  Eindruck  wird  man  haben,  dass  zu  dem  Kopfe 
von  Acerenza  kein  sehr  grosser  Körper  gehört,  und 
einen  »schönen  Mann«  kann  man  den  Dargestellten 
zur  Not  nennen;  aber  diese  Übereinstimmungen  ent¬ 
scheiden  nichts. 

Von  den  Zeugnissen  abendländischer  Geschichts¬ 
schreiber,  die  später  lebten  als  Friedrich,  darf  man 
absehen;  auch  sie  enthalten  übrigens  nichts,  was  sich 
mit  dem  Typus  der  Büste  von  Acerenza  nicht  leicht 
vereinigen  liesse.  (Winkelmann  a.  a.  O.  S.  408.) 

Durchaus  widersprechend  sind  hingegen  die  An¬ 
gaben,  die  sich  im  Pseudo-Yäfi'i,  einem  Pariser  arabi¬ 
schen  Manuskript  historischen  Inhaltes,  finden.  Danach 
soll  das  Personal  der  Moschee  Omars  in  Jerusalem, 
die  der  Kaiser  122g  besuchte,  ihn  folgendermassen 
geschildert  haben:  »  .  .  .  L’imperatore  era  rosso,  calvo, 
debole  di  vista:  s’egii  fosse  stato  schiavo  non  sarebbe 
arrivato  al  prezzo  di  dugento  dirham«.  (80  — 100  Mark) 
Diese  Äusserungen  machen  an  sich  keinen  sehr  unpar¬ 
teiischen  Eindruck;  alles  Gewicht  wird  ihnen  aber  durch 
den  Umstand  genommen,  dass  das  Pariser  Manuskript  erst 
im  15.  Jahrhundert  abgefasst  ist  und  man  seinen  Autor 
nicht  kennt;  die  ihm  gegebenen  Namen  des  »Yafei« 
und  des  »Hassan  Ibn  Ibrahim«  trägt  es  zu  Unrecht^). 

1)  Bibliotheque  nationale,  manuscrits  arabes  Nr.  1543 
(Suppl.  757).  Übersetzt  bei  Amari  Biblioteca  arabo-sicula 
II.  S.  245!,  danach  bei  Röhricht,  Beiträge  zur  Geschichte 
der  Kreuzzüge  S.  88  — Qi.  Der  jetzige  Titel  schreibt  das  Werk 
einem  Yafei  zu,  der  in  Friedrich’s  Zeit  lebte,  während  es 


2  1 

Die  vorstehenden  Erörterungen  lassen  sich  dahin 
zusammenfassen,  dass  die  Büste  von  Acerenza  sicher 
in  den  Kreis  der  staufischen  Skulpturen  von  Capua 
gehört  und  wahrscheinlich  Friedrich  II.  darstellt. 
Schliesst  man  sich  dieser  Ansicht  an,  so  tritt  man  in 
Widerspruch  zu  dem  eigentlichen  Entdecker  und  ersten 
Herausgeber  der  Büste,  Salomon  Reinach,  der  in  ihr 
ein  Bildnis  Julian’s  des  Abtrünnigen  zu  erkennen 
vorschlägt ^),  sie  also  für  römisch  hält.  Ich  gestehe, 
dass  mir  ein  so  früher  Zeitansatz  stilistisch  vollkommen 
unmöglich  scheint,  und  dass  ich  sogar  hoffe,  meinen 
Gegner  zu  überzeugen,  wenn  einmal  die  staufischen 
Skulpturen  so  gut  veröffentlicht  sein  werden,  dass 
man  sie  auch  ausserhalb  des  Museo  Campano  in 
Capua  kennen  lernen  und  sehen  kann,  wie  mittelalter¬ 
lich  frisch  sie  erscheinen  neben  der  grossen,  überreifen 
Kunst  der  konstantinischen  Periode. 


nach  Defremery  im  Journal  asiatique  S.  IV.  T.  8.  1846. 
S.  535  erst  im  15.  Jahrhundert  abgefasst  wurde.  Michaud, 
Histoire  des  Croisades  VII.  S.  810  citiert  augenscheinlich 
dasselbe  Manuskript  unter  dem  Namen  »Hassan  Ibn  Ibra¬ 
him«.  Winkelmann  a.  a.  O.  S.  408,  hält  das  Manuskript 
noch  für  ein  echtes  Werk  des  Yafei  und  citiert  den  »Hassan 
Ibn  Ibrahim«  daneben  als  unabhängige  Quelle.  (Auskunft 
über  diesen  Sachverhalt  verdanke  ich  Herrn  Professor  Völlers 
in  Jena.) 

i)  Revue  archeologique  XXXVIII.  S.  337ff.  Tafel  IX ff., 
a.  a.  O.  XXXIX  S.  259!!.,  Michon,  der  Reinach’s  Ansichten 
ebenfalls  widerspricht.  A.  a.  O.  XL  S.  288  ff.,  Babelon 
und  Reinach. 


Abb.  7.  Siegel  Friedrich's  //. 

Nach  Mitt.  d.  Inst.  /.  öst.  Geschichtsforschung  XV. 


EIN  NACHTRAG  ZUM  HOUBRAKEN-KATALOOE 

BILDNIS  DER  TOCHTER  DES  KURFÜRSTEN  MORITZ  ZU  SACHSEN 


N  Driigalin’s  I^orträtwc'rke,  nicht  in  A  Ver  Huell’s 
t  lonbraken-Kataloge  ist  der,  mir  endlich! 
ans  den  NiederlancleiG)  zngegangene  Stich  Anna’s, 
des  hinterlassenen  Kindes  eines  Moritz  zu  Sachsen, 
der  zweiten  Geinalilin  WiUuim’s  I.  (des  Schweigers) 
der  Mutter  unter  anderem  eines  Moritz  von  Oranien-) 
verzeichnet.  1561  wurde  die  sechzehnjährige  Prin¬ 
zessin  vermählt,  1577  ist  sie  (im  Gewahrsam  ihres 
Oheims,  des  Kurfürsten  August  zu  Sachsen)  geistes¬ 
krank  gestorben.  Einem  Anton  Moor  hat,  wie  das 
Blatt  angiebt,  Anna  gesessen  oder  gestanden.  Das  Ge- 


1)  Das  K.  Kiipferstichkabinett  zu  Dresden  hat  das 
Blatt  von  mir  zugewiesen  erhalten. 

2)  In  der  Kunstchronik«  N.  F.  XII,  516 f.  erscheint 
sie  -  irrtümlich  —  als  dessen  dritte  Gemahlin;  man  ver¬ 
gleiche  über  sie  Archiv  für  die  sächsische  Geschichte 
II.  (1864),  264!.  und  N.  F.  VI.  (1880),  137  öl. 


mäkle  konnte  mir,  obwohl  selbst  S.  K.  H.  Prinz  Hein¬ 
rich  der  Niederlande  meine  Nachforschungen  zu 
fördern  geruhte,  nicht  nachgewiesen  werden.  Die 
Originalplatte  ist  355  mm  hoch.  Ich  führe  diese 
Anna  hier  vor^)  und  bemerke,  dass  ich  eine  ver¬ 
kleinerte  (?)  photographische  Nachbildung  einer  frag¬ 
würdigen  (»DIE  EDEL  .  .  .’^)«),  im  Prenten-Kabinett 
zu  Amsterdam  aufbewahrten  (Kniestück,  Kupferstich, 
Graveur  angeblich  Abraham  Bruin),  dem  Museum 
des  Königlich  Sächsischen  Altertumsvereins  zugeführt 
habe  •^). 

Blasewitz.  THEODOR  DISTEL. 


1)  Das  darauf  angebrachte  sächsische  Wappen  bedarf 
der  Ergänzung. 

2)  Man  vergleiche  das  »Repertorium  für  Kunstwissen¬ 
schaft«  XXIV.  (igoi/2),  463. 

3)  Dort  ist  das  sächsische  Wappen  noch  mangelhafter. 


BÜCHERSCHAU 


Katalog  der  Handzeichnungen,  Aquarelle  und  Öl¬ 
studien  in  der  Königl.  Nationalgalerie.  Bearbeitet 
von  Lionel  von  Donop.  Berlin,  E.  S.  Mittler  &  Sohn,  1Q02. 

Uber  die  umfangreiche  Sammlung  moderner  Hand- 
zeichniingen  in  der  Berliner  Nationalgalerie  giebt  dieser 
Katalog  alle  erforderliche  Auskunft.  Geringere  Arbeit  als 
die  Zeichnungen  alter  Meister  geben  die  der  neueren,  weil 
die  Frage  nach  dem  Urheber  immer  schon  beantwortet  ist 
und  wenn  sie  noch  gestellt  wird,  meist  an  den  Urheber 
persönlich  gerichtet  werden  kann.  Als  wissenschaftliche 
Arbeit  im  Sinne  der  heutigen  Kunstgeschichte,  die  im 
Attribuieren  ihr  Ziel  sucht,  kann  der  Katalog  sonach  nicht 
gelten.  Doch  wird  als  solche  das  sorgfältige  Zusammen¬ 
tragen  der  Kimstierdaten,  bei  Lebenden  oft  umständlich, 
gerühmt  werden  dürfen.  Seine  praktische  Einrichtung  macht 
dies  Verzeichnis  zu  einem  guten  Vorbild  für  ähnliche 
Arbeiten.  Von  einer  umständlichen  Beschreibung  der  ein¬ 
zelnen  Blätter  ist  löblicherweise  ganz  abgesehen  worden, 
die  Beschreibung  ist  kaum  mehr  als  ein  kurzer  Titel.  Be¬ 
zeichnung,  Datum,  Technik  und  Maasse  sind  ausführlich 
und  genau  angegeben. 

Aus  diesem  Katalog  ist  der  überraschend  grosse  Um¬ 
fang  der  Zeichnungsannnlung  der  Nationalgalerie  zu  er¬ 
kennen.  Sie  ist  hervorgegangen  aus  den  Zeichnungen 
moderner  Meister  des  Kupferstichkabinetts,  1878  über¬ 
wiesen  und  aus  dem  Vermächtnis  des  Dr.  Theodor  Wagener 
vom  Jahre  1891.  In  beiden  Teilen  aber  waren  zumeist 
nur  die  älteren  deutschen  Künstler  vertreten.  Wert  bekam 
die  Sammlung  doch  wohl  erst  durch  die  jährlichen  Ankäufe. 
Im  Vorwort  heisst  es  darüber  sehr  bescheiden:  3>ln  syste¬ 
matischer  Weise  wurde  durch  Einzelankauf  gesucht,  die 
Sammlung  zu  erweitern  und  zu  ergänzen.«  Damit  wurde 
sie  erst  zu  ihrer  jetzigen  Bedeutung  gehoben.  Entsprechend 
dem  Sammlungsgebiet  der  Nationalgalerie  überwiegen  auch 
im  Handzeichnungskabinett  die  deutschen  Meister.  Aber 
unvertreten  ist  das  Ausland  nicht,  Blätter  sehr  wichtiger 
Künstler  finden  sich  vor:  Constable  (33  Nummern),  Coignet, 
Couture,  Cham,  Charlet,  Cruikshank,  Gavarni,  Degas. 
Adolf  Menzel  ist  mit  1712  Nummern  der  umfangreichste, 
vom  prächtigen  Franz  Krüger  besitzt  die  Nationalgalerie 
522  Zeichnungen,  meist  Porträts,  diese,  wie  der  ganze  Künstler 
noch  viel  zu  wenig  bekannt  und  geschätzt.  Der  Katalog 
ist  wohl  zunächst  für  die  Benutzung  vor  den  Blättern  be¬ 
stimmt  und  gewiss  geeignet,  das  Interesse  für  die  Samm¬ 
lung  der  Zeichnungen  in  der  Königlichen  Nationalgalerie 
zu  vermehren.  /.  s. 

Rom  in  der  Renaissance  von  Nikolaus  V.  bis  auf 
Leo  X.  von  E.  Steinniann.  Zweite  umgearbeitete  und  ver¬ 
mehrte  Auflage.  Leipzig,  E.  A.  Seemann  1902.  8**.  XVI, 
215  S.  (Berühmte  Kunststätten  Nr.  3.) 

Der  Verfasser  dieser  Monographie  vergleicht  sein 
Werk  mit  Albertini’s  Mirabilienbiich.  In  der  That  führt 
er  uns  den  wunderbaren  üppigen  Blütenflor  einer  überaus 
hochgesteigerten  Kulturperiode,  dessen  halberloschene 
Farbenglut  und  dessen  edle  Formen  noch  heute  Hundert¬ 
tausende  alljährlich  zu  bezaubern  wissen,  darin  vor,  in  einer 
Sprache  von  vornehmer  Einfachheit,  von  feingestimmter 
Empfindung  und  von  tiefem  Eindringen  in  die  komplizierten 
Probleme  der  Renaissancekunst  und  -Kultur.  Es  war  voraus¬ 
zusehen,  dass  dieses  schöne  Buch  in  den  weitesten  Kreisen 
Anklang  finden  werde.  Nach  nicht  viel  über  zwei  Jahren 
ist  denn  auch  schon  eine  zweite  Auflage  notwendig  ge¬ 


worden.  Sie  giebt  sich  als  eine  Umarbeitung  und  Erweite¬ 
rung  der  ersten  in  mehrfacher  Hinsicht  aus,  namentlich 
im  zweiten  Kapitel  versuchte  der  Verfasser  eine  andere  An¬ 
ordnung  des  Inhaltes;  auch  die  Illustrationen  sind  vielfach 
umgestellt  und  mehr  in  die  Nähe  des  zugehörigen  Textes 
gerückt.  Eine  Anzahl  Abbildungen  sind  neu  aufgenommen 
worden,  so  das  interessante  Kreuzigungsrelief  aus  Mino’s 
Schule  in  Santa  Balbina,  Mino’s  Madonna  in  Maria  Maggiore, 
Melozzo’s  da  Forli  Himmelfahrt  Christi,  die  sich  im  Quirinal 
befindet,  Rosselli’s  Porträt  des  Prinzen  Ludwig  von  Savoyen 
und  der  Charlotte  Lusignan,  sowie  die  Madonna  im 
Appartamento  Borgia,  die  man  oft  als  Bildnis  der  Giulia 
Farnese  ausgiebt.  Dankbar  müssen  wir  besonders  für  die 
Aufnahme  des  alten  Stiches  sein,  der  uns  wenigstens  einen 
Schatten  von  der  Gesamtwirkung  des  herrlichen  Grabmales 
Paul’s  II.  giebt,  dessen  Fragmente  den  Hauptschmuck  der 
Grotten  von  St.  Peter  bilden.  Die  wichtigste  Neuerung  in 
der  vorliegenden  Auflage  aber  ist  die  Einfügung  des  letzten 
Kapitels,  das  der  Kunst  unter  Leo  X.  gewidmet  ist.  Die 
erste  Auflage  schloss  etwas  unmotiviert  mit  Julius  II.  ab, 
so  blieben  uns  die  köstlich  frischen  Schöpfungen  Raffael’s 
in  der  Farnesina,  die  Werke  der  Prunkkapelle  von  St.  Maria 
del  Popolo,  Raffael’s  herrliche  Sibyllen,  dessen  Kom¬ 
positionen  in  den  Stanzen  und  Loggien  des  Vatikans,  so¬ 
wie  für  die  berühmten  Arrazzi  und  endlich  seine  letzte  wie 
von  überirdischem  Licht  schon  übergossene  Offenbarung 
in  dem  Verklärungsbilde,  aber  auch  Michelangelo’s  götter¬ 
gleicher  Salvator  in  S.  Maria  sopra  Minerva  vorenthalten. 
All  diese  Werke  behandelt  Steinmann  mit  der  gewohnten 
Feinheit  und  Meisterhaftigkeit  des  Urteils;  die  Lebendigkeit 
und  Anschaulichkeit  seiner  Darstellung  lässt  uns  das  Kunst¬ 
werk  unmittelbar  selbst  schauen.  Vielleicht  geht  er  bei 
einer  künftigen  Auflage  noch  über  die  jetzige  obere  Zeit¬ 
grenze  hinaus  und  giebt  uns  aus  der  auf  Leo  X.  folgenden 
Pontifikaten  noch  die  eine  oder  andere  grosse  Schöpfung, 
wenigstens  noch  Michelangelo’s  jüngstes  Gericht;  sehr  viel 
kommt  ja  aus  dieser  Zeit  nicht  mehr  in  Betracht,  was  sich 
auf  der  Höhe  dessen  hält,  was  Steinmann’s  Buch  uns  heute 
vorführt;  die  Berücksichtigung  dieses  Wenigen  aber  würde 
den  Inhalt  des  hübschen  Werkchens  vollkommener  noch 
abrunden.  Die  Brauchbarkeit  der  jetzigen  Auflage  ist  gegen¬ 
über  der  ersten  durch  Aufnahme  eines  Litteraturverzeich- 
nisses,  eines  Verzeichnisses  der  Abbildungen  und  der  be¬ 
handelten  Künstler  in  dankenswerter  Weise  erhöht  worden. 
Franz  Xaver  Kraus,  Die  Wandgemälde  der  St.  Sylvester- 
Kapelle  za  Goldbach  am  Bodensee.  München  1902,  Ver¬ 
lagsanstalt  von  F.  Bruckmann  A.-G. 

Die  letzte  grössere  Arbeit  des  so  vor  der  Zeit  dahin¬ 
gegangenen  grossen  Gelehrten  ist  dem  Grossherzog 
Friedrich  von  Baden  zu  seinem  fünfzigjährigen  Regierungs¬ 
jubiläum  gewidmet,  und  damit  ist  auf  dies  schöne  Ver¬ 
hältnis  eines  hochsinnigen  Fürsten  zu  einem  unserer  ersten 
Kunstgelehrten  das  Siegel  gedrückt  worden.  Die  vorliegende 
prächtige  Publikation,  welche  im  Aufträge  des  badischen 
Unterrichtsministeriums  erschienen  ist,  schliesst  die  Reihe 
der  Veröffentlichungen  über  die  Bilderschätze  des  Reichenau 
würdig  ab,  welche  Kraus  selbst  im  Jahre  1884  mit  der 
Herausgabe  der  Wandgemälde  der  St.  Georgskirche  in 
Oberzell  begonnen  hatte.  Wer  sich  einen  Begriff  von  der 
Vervollkonmung  unserer  Reproduktionstechnik  machen 
will,  vergleiche  die  Tafeln  und  Abbildungen  beider  Werke. 
Allerdings  war  der  Waiulschmuck  der  kleinen  Sylvester- 


24 


zu  DEM  AQUARELLDRUCK 


Kapelle  zu  Goldbach  ein  recht  bescheidener:  Christus  mit 
den  zwölf  Aposteln  in  Vollfiguren,  rings  an  den  Wänden 
zwischen  den  Fenstern  gemalt  —  und  es  sind  eigentlich 
nur  noch  Fragmente  erhalten.  Aber  sie  bilden  mit  den 
gleichzeitig  entstandenen  Wandgemälden  in  Oberzell  das 
älteste  Denkmal  der  monumentalen  Malerei  in  Deutsch¬ 
land,  deren  Mittelpunkt  die  Reichenau  im  lo.  Jahrhundert 
gewesen  ist.  Durch  die  Feder  von  Franz  Xaver  Kraus  ist 
diesen  Fresken  nun  eine  glänzende  Würdigung  zu  teil 
geworden,  und  es  ist  ihnen  für  alle  Zeit  ihr  Platz  in  der 
Kunstgeschichte  des  frühen  Mittelalters  bestimmt.  Die 
Ergebnisse  seiner  Forschungen  fasst  Kraus  am  Schluss 
der  Studie  in  kurze,  klare  Worte  zusammen.  Er  nimmt 
in  ihnen  noch  einmal  Stellung  zu  Prinzipienfragen  der 
christlichen  Kunst,  und  sie  klingen  wie  ein  Testament  des 
hochbegabten  Mannes,  dem  die  Kultur-  und  Kunst¬ 
geschichte  Deutschlands  und  Italiens  so  unendlich  viel 
zu  verdanken  hat.  E.  St. 

l)r.  Ing.  E.  Vetterlein.  Die  Aufnahme  des  frühgotischen 
Chores  zu  Hirzenach  am  Rhein.  Darmstädter  Habili¬ 
tationsarbeit  Strassburg  1Q02. 

Die  Erwartung,  dass  durch  die  Zulassung  der  Doktor¬ 
promotion  an  den  technischen  Hochschulen  die  wissen¬ 
schaftliche  Mitarbeit  der  Architekten  an  baugeschichtlicher 
Forschung  stärker  angeregt  wird,  erfüllt  sich  jetzt  schon 
in  erfreulicher  Weise.  So  hatte  Architekt  E.  Vetterlein  an 
der  Technischen  Hochschule  zu  Darmstadt  mit  einer  vor¬ 
trefflichen  Dissertation  über  das  Auftreten  der  Gotik  am 
Dom  zu  Mainz  die  Würde  eines  Dr.  Ing.  errungen,  jetzt 
liegt  bereits  eine  zweite  Arbeit  dieses  strebsamen  Ar¬ 
chitekten  vor,  die  als  Habilitationsarbeit  an  derselben 
Hochschule  angenommen  ist.  Es  ist  eine  sorgfältige  Auf¬ 
nahme  des  frühgotischeTi  Chores  der  romanischen  Kloster¬ 
kirche  zu  Hirzenach  am  Rhein.  Im  Text  sucht  Vetterlein 
nachziiweisen,  dass  im  Anschluss  an  die  südliche  Vorhalle 
(1224)  der  Klosterkirche  sogleich  der  Chorbau  ausgeführt 
wurde.  Er  vermutet,  dass  der  Architekt  ein  deutscher 
Meister  war,  der  zuvor  in  Rheims  arbeitete,  von  dort  aus 
Soissons  und  Laon  kennen  lernte  und  vermutlich  nach 
Vollendung  des  Hirzenacher  Anbaues  die  Elisabethkirche 
zu  Marburg  errichtete. 

Der  Nachweis  ist  im  wesentlichen  stilkritisch  begründet. 
Doch  hat  Vetterlein  auch  die  einschlägigen  litterarischen 
Quellen  mit  Geschick  benutzt  und  sich  dabei  einer  erfreu¬ 
lichen  Kürze  und  Klarheit  in  seinen  Ausführungen  be- 
fleissigt.  Die  Arbeit  ist  in  ihrer  methodischen  Durch¬ 
führung  für  Dissertationen  an  technischen  Hochschulen 
mustergültig.  Sc/i. 

Die  Meisterwerke  der  National  Gallery  zu  London. 
222  Kunstdrucke  nach  den  Originaigeniälden ,  mit  ein¬ 
leitendem  Text  von  Dr.  Karl  Voll.  Verlag  von  F.  Hanf- 
staengl  in  München.  Elegant  gebunden  M.  12. — . 

Die  Firma  Hanfstaengl  ist  unermüdlich  bestrebt  die 
Schätze  der  grossen  Galerien  für  das  kunstsinnige  Publikum 


zu  heben  und  sie  ihm  in  den  verschiedensten  Formen  zu¬ 
gänglich  zu  machen.  Hier  liegt  wieder  ein  Rundgang 
durch  eine  der  reichsten  Galerien  Europas  vor;  es  ist  ein 
Kunstbrevier,  das  zur  andächtigen  Verehrung  der  Heroen 
der  Malerei  reizt  und  allen  denen,  die  den  Kunsttempel 
einst  durchpilgert  haben,  lebendige  Erinnerung  an  unver¬ 
gessliche  Stunden  reichen  Genusses  weckt.  Von  Cimabue, 
Duccio,  Vittore  Pisano  an,  die  den  Boden  für  den  späteren 
mächtigen  A'laiwuchs  der  Frührenaissance  durch  emsige 
Arbeit  vorbereiteten  bis  zu  Dante  Gabriel  Rossetti  ist 
ein  weiter,  durch  die  verschiedenartigsten  Ausblicke  unter¬ 
brochener  Spaziergang  in  der  Geschichte  der  Malerei. 
Das  Durchblättern  dieses  prächtig  ausgestatteten,  so  sorg¬ 
fältig  gedruckten  Bandes  ist  dem  Lustwandeln  durch  einen 
botanischen  Garten  zu  vergleichen,  in  dem  die  bunten 
Orchideen  sich  in  unerschöpflicher  Fülle  drängen  und 
jede  ihren  eigenen  holden  Duft  verhaucht.  Welch  eine 
Fülle  von  Empfindung  von  der  leisesten  Regung  bis  zur 
stürmischen  Wucht,  welch  ein  holder  Zauber  der  Linie, 
welcher  Reichtum  des  kräftigsten  Lebens  wirkt  in  diesen 
Gestaltungen  und  Gruppierungen,  welche  Summe  von 
liebevoller  Arbeit  ist  hier  beschlossen,  um  vom  empfindungs¬ 
vollen  Auge  wieder  erschlossen  zu  werden!  Möchte  doch 
das  so  trefflich  gewählte  Werk  die  passendsten  Betrachter 
finden,  die  für  die  zarten  Formenharmonien  der  grossen 
Meister  Sinn  und  Fühlung  gewonnen  haben.  Eine 
schätzenswerte  Beigabe  ist  der  Text  von  Dr.  Karl  Voll, 
der  es  trefflich  versteht,  Fingerzeige  zu  geben,  den  Blut¬ 
kreislauf  innerhalb  der  Malerei,  die  Seelenwanderung  der 
künstlerischen  Motive,  die  leisen  Ausstrahlungen  der  Gross¬ 
meister  anzudeuten. 

Un’  Iscrizione  che  non  e  un’  Iscrizione.  Ricerche 
d’arte  per  Liiigi  Manzoni.  Perugia,  LInione  tipografica 
cooperativa,  igo2. 

In  einer  kleinen,  vornehm  ausgestatteten  Gelegenheits¬ 
schrift  bringt  der  unermüdliche  umbrische  Forscher  einen 
wertvollen  Beitrag  zum  Jugendleben  Perugino’s.  Er  han¬ 
delt  von  den  Fresken  in  Cerqueto  und  publiziert  eine  bis 
dahin  unverstandene  Inschrift,  die  unter  den  heute  zu 
Grunde  gegangenen  Heiligen,  Sebastian  und  Maria  Magda¬ 
lena,  von  Perugino  gemalt  war.  Der  Verfasser  weist  diese 
Inschrift  scharfsinnig  als  ein  Volkslied  —  una  laude  popo- 
lare  —  zu  Ehren  von  S.  Maria  Magdalena  nach,  der  die 
Kapelle  Perugino’s  im  Jahre  1478  geweiht  worden  war, 
weil  sie  das  Volk  vor  Pestilenzgefahr  errettet  hatte.  Wenn 
es  nun  Manzoni  ausserdem  noch  gelungen  ist,  aufs  zwang¬ 
loseste  die  Reime  wieder  herzustellen  und  sogar  den  Ton¬ 
fall  nachzuweisen,  in  welchem  dies  Lied  vom  Volk  und 
wohl  auch  vom  jugendlichen  Perugino  gesungen  worden 
ist,  so  verdanken  wir  dem  trefflichen  Manne  ein  neues 
willkommenes  Zeugnis  für  die  enge  Verbindung  der  Musik 
und  der  bildenden  Kunst  im  Zeitalter  der  Renaissance. 

E.  Si. 


ZU  DEM  AQUARELLDRUCK 


ln  Fräulein  Hilde  Lott  stellen  wir  ein  liebens¬ 
würdiges  Wiener  Talent  vor,  das  mit  Grazie  in  den 
Lefler  -  Urban’schen  Bahnen  der  Märchenillustration 
wandelt.  Die  Künstlerin  ist  22  Jahre  alt  und  hat  sich 


unter  Karger  an  der  Wiener  Kunstgewerbeschule  ge¬ 
bildet.  Gegenwärtig  ist  sie  Schülerin  von  William 
Unger,  der  uns  auf  sie  aufmerksam  gemacht  hat. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


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KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 

Von  Hermann  Muthesius  in  London 
(Fortsetzung) 


Kein  Zweig  der  englischen  Malerei  ist  in  Deutsch¬ 
land  auch  nur  annähernd  so  bekannt  gewor¬ 
den  wie  die  Werke  der  Glasgower  Malerschule. 
Will  man  sich  über  das  Wirken,  die  Eigenart,  den 
Unterschied  der  Einzelpersönlichkeiten  der  Schule  eine 
Vorstellung  machen,  so  hat  man  die  Ausstellungen 
Deutschlands,  nicht  die  Grossbrilanniens  zu  durch¬ 
mustern.  Im  letzten  Jahre  gab  allein  schon  die  kleine 
Sammelausstellung  schottischer  Werke  in  Dresden 
einen  besseren  Überblick  über  die  schottischen  Künst¬ 
ler,  als  beispielsweise  die  mit  der  Glasgower  Welt¬ 
ausstellung  verbundene,  sonst  sehr  bedeutende  Kunst¬ 
ausstellung  in  ihrer  Vaterstadt,  ln  England  und  ins¬ 
besondere  in  London  hat  man  kaum  Gelegenheit,  die 
Schotten  kennen  zu  lernen  (obgleich  viele  derselben  in 
der  Hauptstadt  wohnen),  die  Masse  der  Akademiekunst 
mit  ihrem  offiziellen  und  populären  Anhänge  wirkt 
hier  erdrückend  für  jede  andere  Kunstauffassung. 
Die  der  Akademie  fernstehenden,  wirklich  ästhetisch 
empfindenden  Kreise  aber  sind  noch  zu  vollständig  in 
ihrem  halb  1  itterarischen  Rossetti-ldeal  befangen,  um 
einer  im  Grunde  ihres  Wesens  lediglich  malerischen 
Malerei  ihr  Interesse  entgegenzubringen.  Als  daher 
im  Januar  dieses  Jahres  in  der  kürzlich  eröffneten 
Volks-Gemäldegalerie  in  Whitechapel  eine  Sonder¬ 
ausstellung  älterer  und  neuerer  schottischer  Gemälde 
veranstaltet  wurde,  musste  dies  mit  Recht  in  London 
als  ein  künstlerisches  Ereignis  ersten  Ranges  betrach¬ 
tet  werden,  und  die  Presse  hob  durchweg  die  Bedeu¬ 
tung  dieses  Vorkommnisses  ausdrücklich  hervor. 

Es  ist  nicht  zuviel  behauptet,  dass  die  schottischen 
Maler,  ganz  besonders  aber  die  Landschafter,  zum 
grossen  Teil  für  den  deutschen  Kunstmarkt  arbeiten. 
Sie  können  fast  mit  vollkommener  Sicherheit  darauf 
rechnen,  jedes  Bild,  das  sie  auf  eine  deutsche  Aus¬ 
stellung  schicken,  zu  verkaufen.  Die  deutsche  An¬ 
erkennung  hat  sich  in  der  Verleihung  von  grossen 
und  kleinen  Medaillen  fast  jedem  einzelnen  derselben 
gegenüber  geäussert,  unsere  Galerien  haben  ihre  Bil¬ 
der  angekauft.  Es  ist  daher  auch  nur  erklärlich,  wenn 
über  sie  im  deutschen  Publikum  verhältnismässig  mehr 
bekannt  ist,  als  über  irgend  eine  andere  ausländische 
Schule.  Auch  im  Schrifttum  sind  sie  ausführlich  be¬ 
handelt  worden.  Cornelius  Gurlitt  widmete  der  schot¬ 
tischen  Malerei  mit  Einschluss  der  Glasgowschule 
schon  1893  eine  eingehende  Schilderung  in  Wester¬ 
mann ’s  Monatsheften,  und  Richard  Muther  behandelte 
in  seiner  1894  erschienenen  Malerei  des  19.  Jahrhun¬ 
derts  die  neuen  schottischen  Künstler  mit  besonderer 


Vorliebe.  Unzählige  Kritiken  in  der  Tages-  und  Zeit¬ 
schriftenpresse  haben  sich  seitdem  mit  ihnen  beschäftigt. 

Schottland  hat  in  der  Geschichte  der  britischen 
Malerei  eine  eigenartige  Rolle  gespielt.  Ohne  alles- 
beherrschende  Persönlichkeiten  hervorgebracht  zu 
haben,  wie  die  im  engeren  Sinne  englische  Kunst  in 
Reynolds,  Turner,  Maddox  Brown,  Rossetti  und  Millais 
aufzuweisen  hat,  steht  sie  in  ihrem  Durchschnitt  auf 
grosser  Höhe  und  atmet  in  ihrer  Gesamtleistung  eine 
kernige  Tüchtigkeit,  verbunden  mit  besonderer  Schärfe 
der  Auffassung.  Die  technische  Stärke  ist  stets  auffallend 
an  den  Schotten  gewesen.  Ein  grosser  Sinn  für  Farbe 
und  eine  innige  Hingabe  an  die  Natur,  an  deren  Busen 
der  schottische  Maler  stets  näher  gelebt  hat  als  sein 
englischer  Bruder,  hat  die  schottische  Malerei  von  je¬ 
herausgezeichnet.  Wie  sich  schon  das  äusserliche  Wesen 
des  Schotten  von  dem  des  Engländers  durch  grössere 
Vertraulichkeit,  durch  geringere  Gebundenheit,  unter 
anderem  auch  durch  eine  rauhere  und  eckigere  Aus¬ 
sprache  des  Englischen  auszeichnet,  so  steht  auch  die 
schottische  Malerei,  ganz  allgemein  betrachtet,  mehr  auf 
dem  Boden  des  Natürlichen,  sie  ist  stets  rauher  und 
schärfer,  weniger  akademisch  und  mehr  ausgesprochen 
beobachtend  und  sachlich  gewesen  als  die  englische. 
Daneben  hat  sie  vor  jener  noch  stets  den  Hang 
zum  Romantischen  voraus  gehabt,  der  mit  Schottland, 
dem  Lande  der  nebelverschleierten  Figur  Ossians  und 
des  ganz  Europa  mit  Romantik  fütternden  Walter 
Scott  stets  unzertrennlich  verbunden  gewesen  ist. 
Die  romantische  Neigung  kommt  vorzugsweise  auf 
Rechnung  der  keltischen  Abstammung  der  Bevöl¬ 
kerung,  denn  die  Kelten  sind  ihrer  Natur  nach 
die  Träger  der  Phantastik,  Ritterlichkeit,  hochfliegen¬ 
den  Sehnsucht  und  glühenden  Märchenempfindung, 
die  Verehrer  des  Wunderbaren  und  Tiefsinnigen; 
sie  sind  die  geborenen  Künstler  unter  den  Germanen. 
Unter  den  Briten  haben  sie  die  Bedeutung,  die  Vertreter 
des  künstlerischen  Elements  zu  sein,  hat  man  doch 
herausgefunden,  dass  neun  Zehntel  aller  englischen 
Künstler  keltischer  Abstammung  sind,  das  heisst  aus 
Schottland,  Wales  oder  Irland  stammen. 

Die  englische  Kunst  ist  von  Schottland  aus  wieder¬ 
holt  und  in  der  verschiedensten  Weise  beeinflusst 
worden.  David  Wilkie,  der  Begründer  der  grossen 
englischen  Genreschule  des  19.  Jahrhunderts,  kam  von 
Edinburg  nach  England  und  machte  in  London  eine 
Karriere  ersten  Ranges.  Seitdem  ist  es  für  den  schot¬ 
tischen  Maler  fast  typisch  geworden,  dass  er  sich 
in  London  niederlässt.  Daniel  Roberts,  John  Phillip, 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  2. 


4 


26 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Abb.  1.  Fischerboote.  Von  W.  McTaggort 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


Alexander  Nasinyth,  William  Dyce,  David  Maclise, 
John  Pettie  besclilossen  ihr  Leben  in  der  Weltstadt 
London  und  von  lebenden  Malern  sind  W.  Q.  Orchard- 
son,  j.  McWhirter,  David  Murray,  Collin  Hunter, 
Thomas  und  Peter  Graham,  Arthur  Melville,  David 
Farquharson,  R.  W.  Allan,  Schotten,  die  den  Ruhm 
Londons  als  Kunststadt  hochhalten  helfen,  ja  selbst 
von  den  boys  of  Glasgow  pflegen  John  Lavery, 
E.  A.  Walton,  George  Henry,  Grosvenor  Thomas, 
Harrington  Mann  den  Glasgower  Ortsstil  in  ihren 
Londoner  Ateliers  und  James  Guthrie  ist  eben  erst 
wieder  an  den  Geburtsort  seiner  Kunst  zurückgekehrt. 
Die  Riesenstadt  zieht  die  geistigen  Kräfte  an  sich  und 
verspricht  ihnen  für  das  Aufgeben  ihrer  Ortsluft  und 
vieler  damit  zusammenhängender  geistiger  Werte  einen 
grösseren  Zufluss  an  weltlichen  Mitteln.  Dass  diese 
schottische  Einwanderung  nicht  ohne  Einfluss  auf 
das  Bild  der  englischen  Kunst  bleiben  konnte,  leuch¬ 
tet  ein,  denn  fast  alle  die  genannten  Namen  nehmen 
Ehrenplätze  in  der  englischen  Kunstgeschichte  ein. 
Die  Schotten  brachten  neues  Leben  auch  dadurch 
nach  England,  dass  sie  bei  ihrer  mehr  entwickelten, 
der  deutschen  ähnlichen  Wanderlust  vom  Kontinent 
her  Anregungen  und  neue  Werte  einführten,  die  sie 
dort  durch  oft  vieljähriges  Studium  sich  angeeignet 
hatten.  Auch  dieser  ihr  offener  Sinn  unterscheidet 
sie  wesentlich  von  dem  englischen  Maler.  Deutsch¬ 
land  war  zur  Zeit  unserer  grossen  Geschichtsmalerei 
vielfach  ihr  Wanderziel,  der  seit  Jahrhunderten  be¬ 
stehende  freundliche  Zusammenhang  zwischen  Schott¬ 
land  und  Frankreich  führte  sie  in  gleicher  Weise  nach 
Paris,  und  schon  von  der  Mitte  des  letzten  Jahrhun¬ 
derts  an  war  ihnen  auch  Spanien  als  Kunstland  er¬ 
schlossen,  seitdem  John  Phillip  (nach  seiner  grossen 
Vorliebe  für  spanische  Vorwürfe  Phillip  of  Spain  ge¬ 


nannt)  die  Begeisterung  von 
seiner  ersten  1851  dahin 
unternommenen  Reise  nach 
England  zurückbrachte.  Der 
deutsche  Einfluss  äusserte 
sich  in  dem  kurzen  Auf¬ 
flackern  der  Monumental- 
Geschichtsmalerei,  die  in 
England  in  den  vierziger 
Jahren  gelegentlich  der  Aus¬ 
schmückung  des  Parla¬ 
mentshauses  mit  Wand¬ 
gemälden  zu  verzeichnen 
ist  und  in  der  der  Schotte 
Dyce  und  der  Sohn  schot¬ 
tischer  Eltern  Maclise  die 
Hauptrolle  spielten.  Die 
von  den  Schotten  offen  ge¬ 
haltene  Verbindung  mit 
Frankreich  und  Spanien 
erlangte  ihre  auffallendste 
Bedeutung  aber  erst  mit 
dem  Auftreten  der  Glas¬ 
gower  Schule. 

Aber  auch  mit  dem 
Einfluss,  den  die  Schotten 
direkt  aus  ihrer  Heimat  nach  London  brachten, 
traten  sie  hier  bahnbrechend  auf.  Das  ganze,  in 
feinem  Detail  ein  allzubreites  Genüge  findende  Genre 
der  Engländer  wurde  in  den  Schatten  gestellt  durch 
die  breitere  Art  der  beiden  Schotten  Pettie  und 
Ochardson,  deren  Kunst  auf  die  (kontinental  beein¬ 
flusste)  Schule  R.  S.  Lauder’s  in  Edinburg  zurückzu¬ 
führen  ist,  dieselbe  Stelle,  von  der  auch  ein  so 
reiches  neues  Leben  in  der  Landschaftsmalerei  aus¬ 
strömte,  das  durch  Lauder’s  Schüler  McWhirter  und 
Peter  Graham  nach  London  gelangte.  Der  grosse 
Begründer  dieser  schottischen  Landschaft  war  Horatio 
Macculloch,  den  man  häufig  als  den  dritten  Stern 
in  der  schottischen  Malerei  neben  Raeburn  und 
Wilkie  nennen  hört.  In  London  bildet  die  Land¬ 
schaft,  die  diese  Schotten  mitbrachten,  von  da  an  den 
Hauptbestandteil  der  vorzugsweise  in  der  Akademie 
gepflegten  guten  englischen  Landschaft  älterer  Schule. 
Der  schottische  Anteil  an  ihr  ist  gross,  was  sich 
schon  aus  der  Anzahl  der  schottischen  Namen  unter 
den  Akademie- Landschaftern  zu  erkennen  giebt.  Er 
hat  sich  mit  dem  englischen  Anteil  verschmolzen,  so 
dass  er  heute  kaum  mehr  von  ihm  getrennt  werden 
kann.  Das  Wesen  dieser  Landschaftsmalerei  ist  eine 
Art  Porträtierung  der  Natur  mit  dem  Bestreben,  die 
gelegentlichen  Stimmungsbilder  derselben  festzuhalten. 
Sie  prangt  mit  vielen  tüchtigen  Leistungen,  aber  sie 
enthält  weder  einen  subjektiven  Stimmungsanteil  des 
Künstlers  selbst,  noch  zeichnet  sie  sich  durch  örtliche 
Intimität  aus  und  unterscheidet  sich  dadurch  grund¬ 
sätzlich  von  der  Landschaft  der  französischen  Roman¬ 
tiker,  der  Holländer  und  der  neueren  Glasgow-Schule. 

Der  Übergang  zu  der  intimeren  Auffassung  ist  be¬ 
zeichnend:  es  handelt  sich  in  jeder  Entwickelung  um 
das  Durchringen  aus  dem  Allgemeinen  zum  Beson- 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


27 


dem.  Die  heroische  Landschaft  kommt  vor  dem 
subjektiven  Kleinstimmungsbild.  Man  berauscht  sich 
an  der  Gesamtwirkung,  ehe  man  das  Einzelne  würdigt, 
man  malt  Gebirgsreihen,  ehe  man  die  Schönheit  eines 
verlorenen  Landwinkels  sieht.  Das  stellte  sich  auch 
bei  den  Malern  ein,  die  vor  die  schottische  Natur  ge¬ 
setzt  wurden. 

Unter  ihnen  nimmt  der  1835  geborene  M’Taggart 
die  ganz  eigene  Stellung  ein,  das  Bindeglied  der 
alten  und  der  jungen  schottischen  Generation  zu 
bilden,  er  wird  nicht  selten  direkt  als  der  Begründer 
der  Glasgow -Schule  bezeichnet.  Wenn  man  seine 
heutigen  Bilder  sieht,  hält  man  dies  kaum  für  mög¬ 
lich;  wer  aber  Gelegenheit  hatte,  seine  Werke  aus  den 
sechziger  und  siebziger  Jahren  zu  sehen,  der  bemerkt 
auf  der  Stelle,  wie  sehr  er  sich  aus  seiner  damaligen  Um¬ 
gebung  heraushebt,  durch  seine  neue  Auffassung  auffällt. 
Man  hat  die  Empfindung,  dass  dieser  Mann  ohne  jeden 
Zusammenhang  mit  der  Kunstmode  und  der  Kunst¬ 
beurteilung  seiner  Zeit  malte  und  nur  das  eine  Bestreben 
hatte,  der  Natur  auf  den  Grund  zu  kommen.  Bei 
vollkommener  Abwesenheit  irgend  einer  bewussten 
Technik  sind  die  Bilder  eiligst,  mit  ganz  unberech¬ 
netem  Pinselstrich  vor  der  Natur  hingemalt,  wodurch 
sie  aber  gerade  den  Stempel  des  Genialen  tragen. 
Die  atmosphärischen  Werte  und  Stimmungen  sind 
scharf  erfasst,  sie  waren  das  eigentliche  Ziel  seines  Malens. 
Die  Bilder  sind,  wie  die  Beispiele  (Abb.  1  und  2) 
zeigen,  zumeist  Seestücke  mit  etwas  Küstenland  und 
Fischerbooten,  fast  nie  fehlen  Kindergruppen  auf  ihnen. 
Das  Figürliche  interessiert  ihn  aber  dabei  so  wenig, 
dass  man  häufig  nur  Schemen  ohne  Körperlichkeit 
zu  sehen  glaubt,  die  in  den  sonst  so  scharf  erfassten 
atmosphären  Werten  des  Bildes  fast  störend  wirken. 
Wasser  und  Luft  sind  auf 
seinen  Bildern  wunderbar 
überzeugend,  von  Wirklich¬ 
keit  erstrahlend.  M’Taggart 
ist  der  bedeutendste  Im¬ 
pressionist,  der  auf  bri¬ 
tischem  Boden  geboren  ist. 

Die  jüngeren  mussten  an 
ihm  zuerst  sehen,  was  eigent¬ 
lich  Malen  heisst.  Hier  war 
nichts  Erlerntes,  kein  er¬ 
probtes  Rezept  zu  sehen, 
keine  Spur  von  jener  Bra¬ 
vour,  in  die  kleinere  Geister 
durch  Übung  gelangen. 

Hier  war  das  Können  des 
Meisters,  das  man  nicht 
nachrechnen  kann,  das  sich 
auf  jedem  Bilde  selbst¬ 
verjüngt  wieder  zeigt. 

Neben  diesem  Beispiele, 
das  sie  vor  sich  sahen, 
wirkten  fremde  Einflüsse 
mächtig  ein.  Auf  den 
Wanderzügen  der  Väter 
nach  dem  Kontinent  waren 
Eindrücke  der  dortigen 


Kunst  haften  geblieben  und  Zeugen  derselben  mit 
nach  Schottland  gebracht  worden.  Nicht  der  alten 
Kunst,  sondern  der  modernen,  die  ebenfalls  durch 
ihre  impressionistische  Art  anregte.  Die  französi¬ 
schen  Landschaften  der  Barbizon  -  Schule  und  viele 
holländischen  Bilder  gelangten  nach  Schottland  und 
fanden  hier  Bewunderung.  Ein  flotter  Kunsthandel 
führte  bald  beide  in  grösserer  Anzahl  ein  und 
durch  die  besondere  Pflege,  die  das  Bildergeschäft 
von  Craibe  Angus  in  Glasgow  dem  Gebiete  zu¬ 
wandte,  wurden  sie  geradezu  die  Lieblingsbilder 
der  schottischen  Sammler.  Der  schottische  Privat¬ 
besitz  ist  heule  völlig  getränkt  mit  solchen  Bildern, 
schon  in  einer  den  Franzosen  und  Holländern 
gewidmeten  Ausstellung  in  Edinburg  im  Jahre  1886 
war  dies  ersichtlich,  noch  mehr  aber  auf  der  Welt¬ 
ausstellung  in  Glasgow  igoi.  Millet,  Corot,  Diaz, 
Daubigny,  Dupre,  Rousseau,  Lhermitte,  Harpignies, 
Troyon,  Israels,  die  Brüder  Maris,  Mesdag,  Bosboom 
sind  in  Schottland  ganz  geläufige  Namen  und  seit 
zwanzig  Jahren  die  alles  verdrängenden  Lieblinge  des 
bilderkaufenden  Publikums.  War  es  das  romantische 
Element,  was  hier  anzog?  War  es  die  aus  den  Bil¬ 
dern  sprechende  Empfindungsgemeinschaft? 

Jedenfalls  zündeten  diese  Bilder  in  Schottland  in 
einer  ganz  merkwürdigen  Weise,  nicht  unähnlich  der  Art, 
in  welcher  später  die  Bilder  der  Schotten  in  Deutsch¬ 
land  einschl Ligen.  Noch  ein  anderer  Franzose  wurde 
reichlich  importiert  und  übte  seine  Wirkung  aus: 
Monticelli.  Diesem  zu  Lebzeiten  nie  recht  zur  Gel¬ 
tung  gekommenen  Meister  war  nach  seinem  Tode  in 
Schottland  eine  zweite  Laufbahn  des  Ruhmes  beschert; 
während  er  in  seiner  Zeit  und  in  seiner  Heimat 
als  Einzelerscheinung  dastand,  blieb  ihm  jetzt  sogar 


Abb.  2.  Nebel  auf  Arsan  Hills.  Von  IV.  McTaggart 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


4 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


2Ö 


ein^'  .Ule  :‘nd  Liankbare  Einflusssphäre  Vorbehalten. 
.■.1...:  i.ann  sich  walus^t  heinlich  heute  nirgends  eine  so 
vor  Monticelli’s  Kunst  machen  als 
^  U;  auf  der  Weltausstellung  igoi 
.  :  ,  :  -'UiZvnd  Bilder  von  ihm  nebenein- 

anilc  zu  .s:r-n.  Ein  Vollblutromantiker  und  doch 
so  gru.:a..  oscliieden  von  den  Romantikern  in  seiner 
Farben-  und  Lebensfreude,  ein  alter  Venetianer  in 
seinen  üppigen  Earbenzusammenstellungen  und  doch 
ein  Moderner  in  der  impressionistischen  Art,  die  Earben 
auf  die  Leinwand  zu  werfen,  verwandt  mit  Rossetti 
in  seiner  Stimmungsglut  und  doch  so  grundverschie¬ 
den  von  ihm  in  dem  Eehlen  jedes  lilterarischen  An¬ 
klanges.  Die  Bilder  stellen  zumeist  Eeste  im  Ereien 
der  Watteau’schen  Art  dar,  aber  mit  üppigeren,  in 
phantastischen  Kostümen  sich  bewegenden  Eiguren¬ 
gruppen  und  mit 
heilleuchtendem 
Earbenauftrag  ge¬ 
geben.  Eine  Zu¬ 
sammenstellung 
von  Earbenflecken, 
nur  zum  Zwecke 
der  Farbenzusam- 
menstelhmg  vor¬ 
genommen  und 
mit  Vernachlässi¬ 
gung  jeder  andern 
Rücksicht.  Aber 
diese  Earben  sitzen. 

Es  sind  berau¬ 
schende  Klänge, 
die  gehört  werden 
und  ein  Earben- 
genie  ersten  Ran¬ 
ges  hat  sie  kom¬ 
poniert. 

Man  kann  sich 
in  gewisser  Weise 
keinen  grösseren 
Gegensatz  denken 
als  zwischen  Mon- 
ticelli  und  Whist¬ 
ler,  und  doch  wirkten  hier  in  Glasgow  beider  Ein¬ 
flüsse  zusammen.  Whistler,  der  grosse  Bahnbrecher 
in  der  Erkennung  abgetönter  Earbenwerte,  mit  dem 
ins  Nervöseste  gesteigerten  Tonempfinden  für  zarte, 
in  vornehmster  Zurückhaltung  sich  haltende  Earben- 
harmonien  —  und  der  stets  farbentrunkene,  in  stärksten 
Effekten  schwelgende  Monticelli!  Das  Gemeinsame, 
was  beide  verbindet,  ist,  dass  sie  beide  reine  Earben- 
künstler  sind,  die  die  Malerei  vor  allem  für  eine 
Kunst  der  Earbenbethätigung  halten,  dass  sie  keine 
Litteratur  und  keine  Anekdote  in  die  Kunst  des 
Pinsels  tragen,  dass  sie  weder  die  Geschichte  illustrieren 
noch  Moral  predigen,  noch  Geographie  illustrieren, 
noch  die  Welt  zum  Guten  erziehen  wollen,  sondern 
dass  sie  eben  einfach  malen.  In  der  wachsenden 
Erkenntnis  der  schottischen  Jugend,  dass  das  eigent¬ 
lich  das  Ziel  sei,  auf  das  sie  losgehen  müssten,  konnte 
sich  ihre  Begeisterung  an  beide  Meister  heften.  Aber 


sie  hoben  noch  einen  dritten  Meister  auf  ihren  Schild 
und  zwar  einen  alten  und  einen  der  grössten,  den 
die  Kunst  aller  Zeiten  hervorgebracht  hat:  Velasquez. 
Velasquez  wurde  das  Losungswort.  Man  kannte 
und  bewunderte  ihn  von  den  spanischen  Studien¬ 
reisen  her,  die  jetzt  allgemein  geworden  waren,  ausser¬ 
dem  fanden  sich  eine  Reihe  seiner  Werke  in  schot¬ 
tischem  Besitz.  Auch  an  Velasquez  bewunderte  man 
sein  abgeklärtes  Earbenempfinden,  besonders  seine 
Bevorzugung  neutraler,  in  vollkommener,  ruhiger  Har¬ 
monie  gehaltener  Allgemeintöne,  auf  denen  sich  kleine 
Farbenflecke  um  so  wirkungsvoller  aufbauen.  Aber 
vor  allem  bewunderte  man  seine  schier  unbegreifliche 
Technik,  die  Leichtigkeit,  mit  der  hier  die  schwie¬ 
rigsten  malerischen  Probleme  überwunden  waren, 

diese  Meisterschaft,  mit  der  in  der  denkbar  einfachsten 

Weise  die  höchsten 
Wirkungen  er¬ 
reicht  waren.  Hier 
sah  man  einen  Ma¬ 
ler,  der  malen 
konnte,  wie  es 
nie  einer  gekonnt 
hatte. 

Die  französi¬ 
schen  Impressio¬ 
nisten  und  Land¬ 
schafter,  die  neuen 
Holländer,  Whist¬ 
ler,  Monticelli  und 
Velasquez,  sie  wa¬ 
ren  es,  deren  Ein¬ 
fluss  die  Kunst 
Glasgows  begrün¬ 
den  half.  So  ver¬ 
schiedenartig  auch 
diese  Einfluss¬ 
quellen  waren, 
eins  war  ihnen 
allen  gemein:  sie 
verkörperten  alle 
das  rein  Maleri¬ 
sche  ohne  irgend 
welche  Nebenzwecke,  sie  bedeuteten,  maltechnisch 
betrachtet,  höchste  Gipfelpunkte  und  sie  machten  alle 
ein  besonderes  Geschäft  aus  der  planmässig  verwen¬ 
deten  Farbe.  Aus  diesen  Einflüssen  entstand  in  Schott¬ 
land  etwas  Neues,  von  der  bisherigen  schottischen 
Tradition  Verschiedenes,  und  es  war  dafür  von  höch¬ 
ster  Wichtigkeit,  dass  es  in  Glasgow  und  nicht  in 
Edinburg,  der  alten  schottischen  Kunstcentrale,  ent¬ 
stehen  konnte.  Glasgow  war  eine  künstlerisch  ganz 
neue,  an  amerikanische  Verhältnisse  erinnernde  Stadt, 
hier  hemmte  keine  Tradition  die  aufkeimende  Kunst, 
hier  bestand  keine  Akademie,  die  eine  etablierte  Kunst¬ 
meinung  vertrat  und  sich  rührende  Talente  eindämmte. 
Hier  konnte  sich  die  Jugend  aufs  Freieste  entfalten. 
Die  bisherige  schottische  Kunst  hatte  sich  um  die 
königliche  schottische  Akademie  in  Edinburg  geglie¬ 
dert,  die  neue  Glasgower  Kunst  entstand  ganz  unab¬ 
hängig  von  ihr,  sie  wurde  anfangs  von  dieser  auch 


Abb.  j.  Romantische  Landschaft  von  James  Paterson 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


JOHN  LAVERY 


Ab!)  6 


BILDNIS  IN  SCHWARZ  UND  GRAU 


30 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


weder  anerkannt  noch  beachtet.  Erst  in  neuerer  Zeit 
zieht  die  schottische  Akademie  die  boys  of  Glasgow  an 
ihren  Busen,  sie  hat  sogar  mehrere  derselben  bereits 
zu  Vollmitgliedern  gemacht,  die  meisten  befinden  sich 
aber  noch  im  Stadium  der  Associates. 

Die  Kunst  der  Glasgow-Schule  ist  in  einem  1897 
erschienenen  Bändchen  von  David  Martin  geschildert, 
zu  dem  der  Direktor  der  Glasgower  Kunstschule 
F.  H.  Newbery  ein  Vorwort  geschrieben  hat.  Es 
gleicht  einem  Siegesgesange.  Glasgow  ist,  so  heisst 
es,  zum  Kunstcentrum  geworden  und  sein  Name  ist 
als  Kunststätte  ersten  Ranges  neben  die  grossen  ge- 


herrschung  der  Technik  erstrebt,  dem  rein  malerischen 
Können  eine  grosse  Aufmerksamkeit  zugewendet  wurde. 
Dies  that  man  aber  wohlbedachter  Weise  nicht  durch 
Kopieren  von  Meisterwerken,  sondern  indem  man  sich 
vor  der  Natur  selbst  versuchte.  Die  schottischen 
Maler  sind  durch  keine  Antikenklassen  von  Akade¬ 
mien  gegangen,  und  das  war  ihr  Glück.  Aus  dem 
Mut,  alle  Rezepte  beiseite  zu  lassen  und  vor  die  Natur 
zu  treten,  aus  dem  unablässigen  Eifer  ihr  beizukom¬ 
men,  ergab  sich  ihr  Erfolg.  Sie  lernten  malen  auf 
dem  geraden  Wege,  den  sich  jedes  Talent  selbst  sucht, 
in  Abgeschlossenheit  in  Landwinkeln  des  Hochlandes, 


-^1 


Abb.  5.  Hafen  von  Burnmoiith.  Von  J.  Whitelaw  Hamilton 

(Mit  Erlnabnis  des  Künstlers) 


schichtlichen  Kunststätten  des  Kontinents  gestellt.  Und 
das  alles  durch  eine  Reihe  von  Künstlern,  die  nichts 
weiter  vorhatten,  als  ohne  jede  Nebenansicht  zu  malen. 
Sie  wollten,  so  sagt  er,  niemand  bekehren,  aber  sie 
glaubten  von  Anbeginn  fest  an  eins;  dass  es  für  die 
Kunst  ganz  genug  sei,  Kunst  zu  sein,  dass  die  Malerei 
weder  Religionsunterricht  zu  erteilen,  noch  im  Dienste 
der  Litteratur  zu  stehen  brauche.  Statt  dessen  wolle 
man  die  Tradition  der  alten  Meister  wieder  aufnehmen, 
indem  man  deren  Arbeitsweise  studiere  und  fort¬ 
setze.  —  Dieses  Aufnehmen  der  Arbeitsweise  der 
alten  Meister  hat  hier  glücklicherweise  zu  keiner  Nach¬ 
ahmung,  sondern  zu  einer  ganz  modernen  Kunst  ge¬ 
führt.  Was  es  bewirkt  hat,  und  wie  es  in  dem  an¬ 
geführten  Sinne  zu  verstehen  ist,  ist,  dass  die  volle  Be- 


dort  sich  selbst  anfeuernd  und  gegenseitig  helfend, 
wie  es  die  Maler  in  Barbizon  gethan  hatten.  Zu 
Beginn  der  achtziger  Jahre  war  es,  als  die  Einzel¬ 
mitglieder  der  jungen  Gesellschaft  sich  zusammen¬ 
fanden,  sie  waren  damals  alle  beginnende  Zwanziger, 
wie  das  Durchschnittsalter  derMitglieder  heute  etwa  fünf¬ 
undvierzig  ist.  Im  Atelier  des  etwa  zehn  Jahre  älteren 
W.  Y.  Macgregor,  der  aus  der  Slade  School  in  Lon¬ 
don  zurückgekehrt  und  von  Legros  die  herrlichste 
künstlerische  Anregung  mitbringend,  eine  Aktklasse 
eingerichtet  hatte,  schlossen  sich  die  jungen  Leute 
wohl  zuerst  zusammen.  Der  grosse  Zug,  der  Mac¬ 
gregor  eigen  ist,  die  Art,  immer  auf  die  rein  male¬ 
rischen  Werte  loszugehen  und  das  Ganze  scharf  ins 
Auge  zu  fassen,  wirkte  auf  sie  höchst  fruchtbringend. 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


31 


Anfang  der  achtziger  Jahre  finden  wir  in  einem  Dörf¬ 
chen  in  den  schottischen  Bergen  Walton,  Guthrie, 
Henry  und  Crawhall  in  eifrigstem  Studium  vor  der 
Natur  vereinigt.  Man  malte  alles:  Landschaften,  Fi¬ 
guren,  Tiere.  Crawhall,  der  für  Technik  den  aus¬ 
geprägtesten  Sinn  hatte,  zog  die  andern  mit  sich  auf 
den  Bahnen  flottesten  Gebrauches  des  Pinsels.  Ähn¬ 
liches  Zusammenstudieren  fand  an  andern  Orten  statt, 
in  Kirkcudbright  in  Südschottland  trafen  sich  später 
in  ähnlicher  Weise  die  jüngeren  Mitglieder  der  Ge¬ 


er  muss  das,  was  er  malen  will,  eben  können.  In  der 
Bravour  mussten  die  Japaner  den  Schotten  so  vor¬ 
bildlich  sein,  wie  es  sonst  nur  Velasquez  sein  konnte. 
Dieser  Einfluss  Japans  ist  auf  verschiedene  Mitglieder 
der  denkbar  stärkste  gewesen,  am  meisten  ist  er  wohl 
bei  Crawhall  zu  beobachten. 

Die  meisten  Mitglieder  der  Schotten  Hessen  es 
aber  nicht  bei  dem  Selbststudium  in  Schottland  be¬ 
wenden,  sie  gingen  nach  Paris,  um  sich  dort,  nach¬ 
dem  sie  bereits  im  gewissen  Sinne  eine  fertige  In- 


Abb.  4.  Landschaft.  Von  R.  Macaulay  Stevenson 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


meinschaft,  George  Henry  und  E.  A.  Hornel  zu  ge¬ 
meinsamem  Studium.  Diese  beiden  Künstler  machten 
auch  Anfang  der  neunziger  Jahre  eine  gemeinsame 
Studienreise  nach  Japan,  von  der  sie  mit  reichster 
Ernte  zurückkehrten.  Japan  musste  selbstverständlich 
das  ersehnte  Ziel  der  Wünsche  einer  Künstlergemeinde 
sein,  die  die  Bravourmalerei  so  sehr  auf  ihre  Fahne 
geschrieben  hatte.  Die  japanische  Malerei  ist  im 
Grunde  ihres  Wesens  Bravour,  der  japanische  Maler 
erstrebt  in  jedem  Gegenstände,  den  er  malt,  eine 
Bravourleistung,  die  eine  absolute  Treffsicherheit  auf 
den  ersten  Anhieb  zum  Ziele  hat.  Es  giebt  kein 
Versuchen  (das  liegt  in  langer  Lehrzeit  hinter  ihm). 


dividualität  besassen,  zu  vervollkommnen.  Wie  die 
Schotten,  bei  aller  Verschiedenheit,  doch  durchaus 
einen  gemeinsamen  Grundzug  tragen,  so  gehört  dieser 
Durchgang  durch  die  Pariser  Ateliers  fast  zu  ihrer 
Sonderheit.  Wir  sehen  Lavery,  Guthrie,  Paterson, 
Crawhall,  Whitelaw  Hamilton,  Kennedy,  Gauld  und 
Roche  in  Paris  studieren,  Hornel  ging  zu  Verlat  nach 
Antwerpen.  Die  programmmässigen  Reisen  nach 
Spanien,  die  gern  nach  Marokko  und  Algerien  aus¬ 
gedehnt  wurden,  sind  schon  erwähnt,  die  Darstellung 
des  Stierkampfes  wurde  ein  Lieblingsgegenstand. 
Aber  alle  diese  Reisen  nach  dem  Auslande  raubten 
ihnen  nicht  ihre  heimische  Art.  Sie  bildeten  keinen 


(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


JOHN  LAVERY 


Ahh.  7 


DIE  VIOLINSPIELERIN 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


33 


von  ihnen  zu  neuen  Idealen  um,  sondern  dienten 
nur  dazu,  sie  in  den  ihrigen  zu  befestigen,  den  Schritt 
zur  Erlangung  ihrer  Ziele  zu  beschleunigen.  Sie 
kehrten  alle  als  boys  of  Glasgow  zurück,  nur  als 


auch  irrtümlich,  gewöhnlich  als  erster  der  Glasgow¬ 
leute  angeführt  wird,  war  nur  Arthur  Melville.  Er 
machte  ausgedehnte  Reisen  in  den  Orient  und  be¬ 
rauschte  die  Welt  durch  seine  von  dort  mitgebrachten 


Abb.  8.  Bildnis  seiner  Mutter.  Von  James  Guthrie 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


vervollkommnete.  Das  Beispiel  ist  lehrreich  und  sollte 
in  der  Kunsterziehung  zu  denken  geben :  ausländische 
Einflüsse  sind  nur  dann  zuzuführen,  wenn  sich  der 
Künstler  in  seiner  Eigenart  schon  entwickelt  hat. 

Ein  echter  Zug-  und  Wandervogel,  der,  wenn 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  2. 


Aquarelle.  Eür  diese  hatte  er  technisch  eine  ganz 
neue  Art  entwickelt,  die  er  mit  geradezu  schwindeln¬ 
der  Virtuosität  handhabte.  Er  kennt  keine  Kontur 
sondern  setzt  nur  Farbenflecke  nebeneinander,  alles  im¬ 
pressionistisch  und  zumeist  nass  in  nass  gemalt.  In 


5 


34 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Äbb.  10.  Die  Fähre.  Von  F.  Fl.  Newbery 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


der  Nähe  sieht  man  nur  ein  unentwirrbares  Durch¬ 
einander,  in  einiger  Entfernung  tritt  das  Bild  plastisch 
heraus.  Am  erstaunlichsten  sind  in  dieser  Beziehung 
seine  indischen  Aquarelle,  in  ihnen  zeigt  er  sich  als 
unübertrefflicher  Meister.  Wie  die  blendende  Sonne 
dort  alles  Farbige  und  Plastische  aufzehrt  und  dem 
Auge  die  Welt  eigentlich  nur  als  eine  ungeheure 
weissgliihende  Fläche  erscheinen  lässt,  das  giebt  Mel- 
ville  trefflich  wieder,  indem  er  auf  der  weissen  Papier¬ 
fläche  nur  kleine  Farbenpunkte  andeutet,  aber  dadurch 
alles  erreicht,  was  darzustellen  ist.  —  Melville  gehört 
nicht  zu  den  Glasgowleuten,  er  ist  Edinburger  und 
verliess  seine  Vaterstadt  früh,  um  in  Paris  zu  studieren 
und  im  Orient  zu  malen;  seit  seiner  Rückkehr  lebt 
er  in  London.  Aber  er  hat  auf  die  Glasgower,  so¬ 
wie  überhaupt  auf  die  englische  künstlerische  Jugend 
den  grössten  Einfluss  ausgeübt.  Er  ist  künstlerisch 
eine  Einzelerscheinung,  an  die  die  Nachahmung  nicht 
leicht  heranreichen  kann.  Er  musste  aber  gerade  auf 
die  Schotten,  die  so  sehr  nach  Technik  strebten,  den 
stärksten  Eindruck  machen. 

Das  Darstellungsgebiet  der  Glasgower  ist  das  man¬ 
nigfaltigste,  verdichtet  sich  aber  für  die  meisten  in  der 
Landschaft  und  im  Porträt.  Alle  haben  wohl  ein  Stadium 
der  Landschaftsmalerei  durchgemacht,  die  Mehrzahl  ist 


aber  im  Laufe  der  Zeit,  wohl  aus  praktischen  Gründen, 
zum  Porträt  übergegangen.  In  der  Landschaft  ist 
der  Einfluss  der  Holländer  und  der  Barbizonschule 
nicht  abzuleugnen,  dem  sie  das  romantische  Element, 
das  Intime  und  Stimmungsvolle  verdanken,  und  doch 
ist  das  Ergebnis  ein  ganz  anderes  geworden.  Am 
meisten  zu  ihm  hat  wohl  das  Wirken  Whistler’s  bei¬ 
getragen.  Whistler  entdeckte  für  England  die  atmo¬ 
sphärischen  Werte  der  feuchten ,  nebligen  Luft.  Es 
ist  merkwürdig,  dass  man  sie  vorher  noch  nicht  ge¬ 
sehen  hatte,  und  die  Thatsache,  dass  dieses  hier  so 
naheliegende  Gebiet  erst  von  einem  Fremden  ent¬ 
deckt  werden  musste,  giebt  zu  denken.  Sie  zeigt, 
wie  sehr  wir  auch  in  unserem  »Sehen«  und  in  der 
ästhetischen  Abschätzung  unserer  Umwelt  von  der  Ge¬ 
wohnheit  abhängen.  Man  malte  schon  seit  hundert 
Jahren  Landschaften  in  England  und  schon  Constable 
hatte  darauf  bestanden,  diese  lediglich  vor  der  Natur 
fertig  zu  malen.  Aber  offenbar  hielt  man  den  Nebel 
nicht  für  darstellungswürdig,  man  malte  nur  bei  klarer 
Luft.  Einem  Künstler  mit  so  feinen  Farbenempfin¬ 
dungsnerven  wie  Whistler,  dessen  vornehmer  Ge¬ 
schmack  nicht  die  strahlende  Farbigkeit,  sondern  die 
Harmonie  in  der  weitgehendsten  Verallgemeinerung 
der  Farben  suchte,  in  der  Abstraktion  auf  ge¬ 
wisse,  dem  modern  -  verfeinerten  Empfinden  entspre¬ 
chende  Abtönungen  zu  einem  ruhigen  Grundaccord, 
musste  die  englische  feuchte  Luft  mit  ihrer  alles  in 
graublaue  Verallgemeinerung  hüllenden  Eigenschaft 
gerade  das  Willkommene  sein.  Dazu  zog  er  die 
Dämmerung  als  Gegenstand  der  malerischen  Darstel¬ 
lung  heran,  die  das,  was  er  wollte,  noch  viel  voll¬ 
kommener  ausdrückte,  sie  wurde  sein  Lieblingsvorwurf. 

Das  Eintreten  Whistler’s  in  die  englische  Kunst 
ist  von  der  allerweitgehendsten  Bedeutung  gewesen. 
Alles  wurde  weicher,  feiner,  luftiger.  Die  Kontur 
löste  sich  auf,  der  Umriss  verschwand,  eine  Allgemein- 
Farbenstimmung  wurde  zwingend.  Keiner  der  nach 
ihm  in  die  Arena  Tretenden  konnte  sich  dem  mehr 
entziehen,  er  führte  neue  Werte  ein,  die  nicht  mehr 
vernachlässigt  werden  konnten. 

Am  auffallendsten  bekannten  sich  zunächst  die 
Glasgowleute  zur  Pflege  dieser  Werte.  Die  Dämmer¬ 
stimmung  ist  ihr  grosses  Lieblingsthema.  Vereinigt  man 
zwanzig  zufällig  zusammengebrachte  schottische  Land¬ 
schaften  zu  einer  Ausstellung,  so  kann  es  Vorkommen, 
dass  alle  zwanzig  Dämmerungsbilder  sind.  Der  Be¬ 
trachter,  der  sich  langsam  in  diese  Stimmung  hat 
einwiegen  lassen,  hat  dann  beim  Verlassen  des  Saales 
die  Empfindung,  als  wenn  er  aus  einer  Versenkung 
käme,  aus  dem  Dunkeln  ins  Helle  einträte.  Wo  nicht 
Dämmerung  gemalt  ist,  hängen  schwere  Wolken  über 
der  Landschaft  und  stimmen  alle  Farbenwerte  herunter. 
Die  Bilder  erscheinen  alle  in  graugrün  -  braunem 
Grundton.  —  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  solche 
Bilder  immer  stimmungsvoll  wirken.  Aber  anderer¬ 
seits  lässt  sich  bei  einer  grösseren  Vorführung  der¬ 
selben  der  Eindruck  nicht  vermeiden,  dass  der  Effekt 
zu  häufig  verwendet  und  etwas  billig  sei.  Schliesslich 
bestehen  doch  auch  die  schottischen  Tage  nicht  ledig¬ 
lich  aus  Dämmerstunden. 


(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


E.  A.  WALTON 


Abb.  g 


DIE  SONNENUHR 

5* 


36 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Allerdings  haben  die  Glasgower  auch  einige  sonnige 
Bilder,  und  zwar  sehr  gute,  gemalt.  Lavery’s  be¬ 
rühmtes  in  München  hängendes  Bild  Eine  Lawn- 
termispartie  ,  noch  mehr  sein  Bild  Croquet<  ist  ganz 
Sonne  und  Helligkeit.  i’-!ur  die  feine  Abtönung  alles 
Farbigen  verrät  die  schottische  Luft.  Auch  andere 
Meister  wagen  sich  in  die  Tageshelligkeit.  Aber  am 
wohlsten  fühlen  sich  alle  Glasgower  Landschafter  in 
der  schummerigen,  düstern  Dumpfheit.  Auch  in  der 
Wahl  des  Gegenstandes  hält  sich  die  Landschaft  in 
den  Grenzen  des  Intimen  und  Stimmungsvollen.  Man 
malt  Kleinbilder,  zufällige  Landwinkel,  einen  Waldes¬ 
rand,  einen  Steinbruch,  ein  Haus,  das  sich  in  einem 
Teiche  spiegelt.  Immer  kommt  es  nicht  darauf  an, 
was  gemalt  wird,  sondern  wie  es  gemalt  wird  und 
was  für  eine  Stimmung  der  Maler  hineinlegt.  Diese 
ist  ein  Teil  seiner  Seele,  dasjenige,  was  er  menschlich 
gestaltend  zu  dem  von  der  Natur  Gegebenen  hinzu¬ 
fügt. 

Fast  alle  Glasgower  malen  Landschaften,  W.  J. 
Macgregor  in  der  grossen  Auffassung,  mit  der  er 
vorbildlich  wurde,  John  Lavery  in  der  seinem  ver¬ 
feinerten  Empfinden  entsprechenden,  dabei  flotten  und 
breiten  Art,  James  Guthrie  in  der  ihm  eignen  ungemein 
kernigen  Virtuosität,  E.  A.  Walton  am  liebsten  roman¬ 
tisch  verklärt  und  meist  stark  abgetönt,  der  haupt¬ 
sächlich  als  Radierer  bekannte  D.  Y.  Cameron  mit 
starker  Anlehnung  an  die  Holländer.  Landschafter 
im  eigentlichen  Sinne,  das  heisst  solche,  die  sich  nur 
der  Landschaft  widmen,  sind  James  Paterson,  Macaulay 
Stevenson,  Grosvenor  Thomas,  Whitelaw  Hamilton. 
James  Paterson  bevorzugt  die  weite  stimmungsvolle 
Ebene  mit  weiter  Himmelsfläche  (Abb.  3).  Er  hat  eine 


besondere  Gabe,  das  Poetische  und  Grosse  darin  zu 
erkennen  und  darzustellen.  Neuerdings  hat  er  eine 
Serie  von  Aquarellen  in  Teneriffa  gemalt  und  in  einer 
Sonderausstellung  in  London  vorgeführt.  Macaulay 
Stevenson,  nicht  minder  poetisch,  hält  sich  mehr  an 
Einzelzüge  in  der  Natur.  Hochstämmige  Birken  stehen 
vor  breiten  Laubmassen  und  spiegeln  sich  in  einem 
Teiche.  Oder  der  Mond  geht  hinter  der  Wald¬ 
lichtung  im  fahlen  Grau  der  Wolken  auf.  Seine 
Farben  sind  abgetönt,  graugrün  (Abb.  4).  Grosvenor 
Thomas  malt  die  einsamen  Hügel  mit  dem  verlorenen 
Hause  im  Hintergründe,  umgeben  von  Buschwerk, 
das  sich  trübe  im  Wasser  spiegelt.  Whitelaw 
Hamilton  widmet  sich  der  Landschaft  wie  dem  See¬ 
stück  mit  gleichem  Glück,  meist  aber  den  grauen 
Himmel  oder  die  blaue  Abenddämmerung  bevor¬ 
zugend  (Abb.  5). 

Obwohl  die  Landschaft  das  Lieblingsthema  der 
Schotten  ist,  das  Gebiet,  auf  dem  sie  eigentlich  ihre 
Berühmtheit  errungen  haben,  so  ist  man  bei  näherer 
Bekanntschaft  mit  ihrem  Wirken  doch  zweifelhaft,  ob 
man  ihnen  nicht  die  Palme  auf  dem  Gebiete  des 
Porträts  zuerteilen  soll.  Hier  treten  sie  glänzend  auf. 
Lavery  und  Guthrie  gehören  wohl  überhaupt  zu  den 
besten  lebenden  Porträtmalern,  E.  A  Walton,  George 
Henry,  David  Gauld,  Alexander  Roche,  Harrington 
Mann  folgen  in  der  Reihe  dicht  hinter  ihnen.  Auch 
im  Porträt  wird  die  abgetönte  Farbe  bevorzugt,  auch 
hier  erscheinen  nicht  Lokaltöne,  sondern  Variationen 
eines  Grundstimmungstones.  Und  doch  ist  gerade 
hier  der  Monticelli-Einfluss  am  auffallendsten.  Über 
dem  Ganzen  ist  aber  eine  Weichheit  ausgebreitet,  die 
von  vornherein  angenehm  berührt.  Die  Charakte- 


Abb.  11.  Der  runde  Tisch.  Von  F.  H.  Newbery 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


37 


Abb.  12.  Pferdemarkt  in  Barnet.  Von  Joseph  Crawhall 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


ristik  der  Züge  kann  auf  ihr  weitgehend  verstärkt 
werden,  ohne  den  Anschein  des  Übertriebenen  anzu¬ 
nehmen.  Dabei  ist  flotteste  Malweise  die  unerläss¬ 
liche  Bedingung.  Man  sieht  überall  noch  die  Pinsel¬ 
striche  der  ersten  Anlage  durchscheinen,  alles  er¬ 
scheint  wie  auf  den  ersten  Hieb  richtig  hingesetzt, 
hier  und  da  schaut  noch  die  Leinwand  durch.  Gerade 
diese  flotte  Malweise  war  es  ja,  die  beim  ersten  Auf¬ 
treten  der  Schotten  in  Deutschland  so  sehr  imponierte, 
sie  wirkte  wie  eine  Offenbarung  und  hat  wohl  nicht 
verfehlt,  ihren  Einfluss  auf  unsere  jüngeren  Künstler 
auszuüben.  Lavery,  der  alles  kann,  ist  hier  wohl 
wieder  der  stärkste  unter  den  Schotten.  Seine  Lieb¬ 
lingsfigur  ist  die  moderne  englische  Frau,  die  Welt- 
und  Gesellschaftsdame,  die  er  in  der  Sicherheit  ihres 
selbstbewussten  Auftretens,  in  ihrer  fehlerlosen  Ele¬ 
ganz,  aber  auch  in  ihrer  entsetzlichen  Oberflächlich¬ 
keit  und  herzlosen,  stupiden  Selbstsucht  trefflich  zu 
schildern  weiss.  Der  Typus  ist  amerikanisch,  ist  aber 
in  den  letzten  zehn  Jahren  in  England  ganz  heimisch 
geworden  —  that  dreadful  society-woman,  mit  welcher 
Ueberschrift  er  in  einer  Monographie  in  Blackwood’s 
Magazine  kürzlich  trefflich  gekennzeichnet  wurde. 
Lavery  ist  der  Maler,  der  diesen  Typus  für  die  künst¬ 
lerische  Darstellung  erfasst  und  festgenagelt  hat,  und 
er  feiert  mit  ihm  in  jeder  neuen  Arbeit  wieder  neue 
Triumphe.  Lavery  ist  von  allen  Schotten  wohl  am 
meisten  von  Whistler  beeinflusst,  er  geht  so  weit,  den 
Meister  in  der  Benennung  seiner  Bilder  nach  Farben- 
accorden,  z.  B.  Schwarz  und  Grau,  wie  in  Abbil¬ 
dung  6  geschehen,  nachzuahmen. 

Neben  Lavery  überrascht  Guthrie  durch  die  Kraft 
und  Sicherheit  seiner  Darstellung.  Auch  er  stimmt 
auf  Farbenaccorde  ab,  so  dass  man  auf  den  ersten 


Blick  weiss,  um  welches  Problem  es  sich  bei  einem 
Bilde  handelt.  Seine  Porträts  sind  Muster  in  ihrer 
Art,  kräftig,  einfach  und  ausserordentlich  flott  und 
sicher  hingesetzt  (Abb.  8).  George  Henry,  den  auf 
dem  Gebiete  des  Porträts  sein  1895  ausgestelltes  Bild: 
Die  Federboa  berühmt  machte,  geht  tiefer  und  kräf¬ 
tiger  in  die  Farbe  als  viele  andere  Schotten.  E.  A. 
Walton  arbeitet  gern  in  dunkleren  Farbenstimnumgen 
auch  im  Porträt.  Er  weiss  seinen  Bildern  neben 
ihrer  technischen  Anziehungskraft  auch  noch  einen 
ganz  besonderen  romantischen  und  dekorativen  Reiz 
zu  verleihen,  durch  den  er  unter  den  Schotten  allein 
dasteht  (Abb.  g).  Ein  Porträt  von  Walton  erhebt 
sich  dadurch  immer  auf  die  Stufe  eines  von  dem 
Personalinteresse  des  Dargestellten  unabhängigen, 
eigenartig  anziehenden  Schmuckstücke  in  dekorativem 
Sinne.  Auch  die  Frau  des  Künstlers,  Helen  Walton, 
hat  sich  durch  vorzügliche  Bildnisse  vorteilhaft  be¬ 
kannt  gemacht. 

Alle  Porträts  der  Schotten  sind  auf  den  ersten 
Blick  als  solche  zu  erkennen,  vor  allem  durch  die 
kecke  und  sichere  Art  der  Vorführung,  in  der  sie 
immer  den  Eindruck  der  spielenden  Leichtigkeit  des 
Schaffens  hervorrufen,  bekanntlich  ein  ungemein  wich¬ 
tiger  Umstand  bei  der  Beurteilung  eines  Kunstwerkes. 

Nächst  der  Landschaft  und  dem  Porträt  spielt  das 
Bild  aus  dem  Leben  eine  mehr  oder  weniger  grosse 
Rolle.  Es  interessiert  aber  hier  nicht  die  Anekdote 
oder  die  Moral  der  Geschichte,  wie  bei  den  Bildern  der 
englischen  Maler  und  der  älteren  schottischen  Generation, 
sondern  lediglich  das  rein  malerische  Problem.  Lavery 
und  Guthrie  haben  hier  wiederum  das  Interessanteste  ge¬ 
liefert,  der  erstere  namentlich  in  seinen  schon  genannten 
Bildern  der  Tennispartie  und  des  Croquetspiels  und 
in  seinem  berühmten  grossen  Bilde,  in  welchem  er 
die  Eröffnung  der  Glasgower  Ausstellung  1 887  durch 
die  Königin  Viktoria  darstellt.  Auf  der  letzten  so¬ 
genannten  Internationalen  Ausstellung  in  London  zeigte 
er  von  neuem  seine  Meisterschaft  in  einem  »La  Toi¬ 
lette«  betitelten,  gegen  das  Licht  gesehenen  weiblichen 
Akt,  auf  dem  sich  alle  möglichen  Reflexfarben  in  der 
Besnard’schen  Art  spiegelten.  Guthrie  ist  wohl  der 
eigentliche  Meister  in  dem  Bilde  aus  dem  Leben.  Er 
stellt  alles  dar,  was  ihm  als  malerisch  in  den  Weg 
tritt.  Henry  und  Hornel  haben  seit  ihrer  japanischen 
Reise  Japan,  besonders  in  dessen  Kinderwelt,  in  die 
Malerei  eingeführt.  William  Kennedy  hat  sich  neuer¬ 
dings  dem  Soldaten-  und  Schlachtenbilde  mit  grossem 
Erfolg  zugewandt,  Harrington  Mann,  F.  Newberry 
haben  gute  Bilder  aus  dem  Leben  geschaffen.  Der 
letztere  Maler,  Direktor  der  Glasgower  Kunstschule, 
ist  eigentlich  ein  eingewanderter  Engländer,  reiht  sich 
aber  in  seinen  Werken  der  Eigenart  der  Schotten  an. 
Das  flott  vor  der  Natur  hingemalte  Bild  »Die  Fähre« 
(eine  Scene  aus  dem  Malerort  Walberswick  in  Suffolk) 
und  das  reizende  Genrebild  »Der  runde  Tisch«  (Ab¬ 
bildung  11)  sind  zwei  bezeichnende  Werke  von  ihm. 

Das  Tierstück  ist  ein  weiteres  beliebtes  Gebiet  der 
Schotten.  Hier  leistet  Joseph  Crawhall  ganz  Vorzüg¬ 
liches,  wieder  vorwiegend  in  der  Richtung  des  tech¬ 
nischen  Bravourstückes.  Er  wendet  mit  Vorliebe 


38 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Wasserfarben,  häufig  nur  schwarze  Tusche  an  und 
malt  zumeist,  wie  die  Japaner,  auf  Seide.  Wie  dipe 
trifft  er  das  Charakteristische  auf  den  ersten  Strich 
und  seine  Darstellungen  haben  bei  grösster  Flottheit 
und  Skizzenhaftigkeit  die  grösste  Lebenswirkung.  Am 
meisten  bewundert  man  ihn  vielleicht  in  seinen  Bil¬ 
dern  von  Pferden,  von  denen  Der  Pferdemarkt  in 
Barnet  ,  Abbildung  12,  ein  im  vorigen  Jahre  gezeigtes 
Beispiel  vorführt. 

Die  häufig  gesehenen  Bilder  von  Blumen,  in  denen 


der  Ferne  lösen  sich  Kinderköpfe  los  und  man  er¬ 
kennt,  dass  es  sich  hier  um  spielende  Kinder  im 
Walde  oder  am  Fluss  oder  sonst  eine  Darstellung 
aus  dem  Leben  der  Kleinen  handelt.  Das  in  Abbil¬ 
dung  13  vorgeführte,  im  städtischen  Museum  in 
Glasgow  hängende  Bild  zeigt  ein  Beispiel  seiner 
früheren,  noch  gemässigteren  Malweise. 

Über  die  Stellung  der  Schotten  in  der  modernen 
Kunstgeschichte  wird  es  vorläufig  nicht  leicht  sein, 
ein  endgültiges  Urteil  abzugeben.  Unzweifelhaft  haben 


Abb.  13.  Schöne  Kinder  des  Februars.  Von  E.  A.  Hornel 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


sich  namentlich  Stuart  Park  bethätigt,  interessieren  von 
allen  Leistungen  der  Glasgower  vielleicht  am  wenig¬ 
sten.  Dagegen  muss  noch  auf  eine  Eigenart  hin¬ 
gewiesen  werden,  die  einer  der  Glasgower,  nämlich 
E.  A.  Hornel,  vertritt  und  die  man  vielleicht  als  das 
Teppichbild  bezeichnen  könnte.  Er  steigert  die 
Gruppierung  und  Farbengebung  seiner  Bilder  so  sehr 
ins  Dekorative,  dass  sie  auf  ein  Haar  einem  Teppich 
gleichen  und  direkt  in  Weberei  umgesetzt  werden 
könnten.  In  der  Nähe  ist  kaum  etwas  zu  erkennen, 
man  sieht  nur  Farben-  und  Lichtflecke  nebeneinander 
gesetzt,  die  in  dicker  Ölfarbe  aufgetragen  sind.  In 


sie  durch  scharfes  Insaugefassen  der  rein  malerischen 
Aufgaben  die  Malerei  aus  den  verschlungenen  Seiten¬ 
wegen,  in  die  sie  im  ig.  Jahrhundert  allerorten,  be¬ 
sonders  aber  in  England  geraten  war,  wieder  auf  den 
geraden  Weg  gebracht.  Sie  haben  nicht  nur  durch 
bewundernswürdiges  technisches  Können,  sondern 
auch  durch  gewisse  moderne  Grundsätze,  wie  die 
Einhaltung  von  Tonwerten,  durch  Beobachtung  der 
atmosphärischen  Wirkungen  und  schliesslich  durch 
einen  gewissen  Stimmungsgehalt  erfrischend  auf  die 
moderne  Kunst  eingewirkt.  Und  doch  kann  die  Be¬ 
fürchtung  nicht  zurückgehalten  werden,  dass  sie  auf 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


39 


ihrem  Siegeszuge  über  den  Kontinent  vielleicht  etwas 
allzusehr  gefeiert  worden  sind.  Ob  sie  den  höchsten 
Gipfel  der  Kunst  wirklich  erreicht  haben,  ob  sie  vor 
allem  neue  Werte  von  Gewicht  zu  dem  künstlerischen 
Vermögen  der  Welt  gefügt  haben,  wie  wir  dies  bei 
einigen  anderen  Schulen  des  i  g.  Jahrhunderts  beobachten 
können,  ist  noch  nicht  ganz  sicher.  Wirkliche  Neue¬ 
rungen  in  der  Kunst,  umwälzende  Thatsachen  pflegen 
sich  zudem  langsam  durchzuringen  und  es  erscheint 
fast  ein  Naturgesetz,  dass  ihnen  die  Anerkennung  schwer 
gemacht  wird.  Der  Sieg  der  Schotten  war  leicht,  fast 
augenblicklich,  wie  jene  grossen  Erfolge,  die  sich  in 
allen  Kunstzweigen  gelegentlich  einfanden,  ohne 
aber  von  geschichtlicher  Bedeutung  zu  werden.  Viel¬ 
leicht  ist  der  Hauptanteil  des  Erfolges  der  Schotten 
viel  mehr  ihrer  Virtuosität  zuzuschreiben  als  ihrer 
wirklichen  Bedeutung,  mit  der  die  Virtuosität  der 
Technik  zunächst  nicht  notwendigerweise  etwas  zu 
thun  hat. 

Aber  es  hiesse  ihnen  doch  Unrecht  thun,  wollte 
man  deshalb  ihr  Verdienst,  wie  es  sich  im  Rahmen 
der  neueren  britischen  Kunst  darstellt,  für  geschmälert 
hatten.  Hier  berührt  ihr  Auftreten  wie  eine  wirk¬ 
liche  Wohlthat.  Wie  ein  Hauch  frischen  künstle¬ 
rischen  Lebens  strömt  es  uns  aus  ihren  Werken  an¬ 
gesichts  der  Massenkunst,  welche  dem  Akademie¬ 
lager  eigen  ist,  entgegen.  Sie  bilden  in  der  That 
eine  der  feinsten  Künstlercliquen,  die  je  in  der 
Kunstgeschichte  ihren  Standpunkt  geltend  gemacht 
haben.  Wie  ein  Mann  vereinigt  halten  sie  ihre  Grund¬ 
sätze  hoch  und  spotten  der  Welt,  die  ihnen  wirklich 
in  ihrem  Vaterlande  das  Leben  nicht  leicht  gemacht 
hat.  Ihre  wunderbare  Einmütigkeit  in  dem,  was  ihre 
künstlerische  Überzeugung  ausmacht,  steht  einzig  da. 
Und  darin  liegt  ihre  Macht,  darin  liegt  das  Gewicht 
ihres  Auftretens. 

Wenden  wir  uns  nach  England  zurück,  um  die 
neuesten  Strömungen  hier  weiter  zu  verfolgen,  so  liegen 
hier  die  Verhältnisse  ganz  und  gar  anders.  Wir  sehen 
keine  Einheit  vor  uns,  sondern  die  vielseitigste  Vielheit, 
ein  wahres  Kaleidoskop  an  künstlerischen  Tendenzen  und 
Individualitäten.  Wie  schon  früher  erwähnt,  vereinigt 
hier  der  seit  1885  bestehende  New  English  Art  Club 
die  künstlerisch  Unabhängigen  und  solche  die  eigene 
Wege  suchen.  Er  hält  zweimal  jährlich  Ausstellungen, 
meist  nur  mässigen  Umfanges,  ab,  vorwiegend  von 
Werken  seiner  Mitglieder,  doch  lässt  er  auch  Aussen- 
stehende  zu.  Das  Interesse  des  Londoner  Publikums 
an  diesen  Ausstellungen  ist  gering,  um  so  mehr  fin¬ 
den  sie  die  Beachtung  eines  kleinen  gewählten  Kunst¬ 
kreises,  vor  allem  auch  eines  Teiles  desjenigen  Publi¬ 
kums,  das  sich  um  die  Zeitschrift  »The  Studio«  schart. 
Im  grossen  Publikum  herrscht  die  Ansicht,  dass  es 
sich  in  den  Ausstellungen  um  verrückte  Sachen  han¬ 
dele,  woraus  man  ja,  wie  es  oft  der  Fall  ist,  von  vorn¬ 
herein  schliessen  könnte,  dass  das  dort  Gebotene  sich 
über  das  Gewöhnliche  erhebt,  vielleicht  sogar  bedeu¬ 
tend  ist.  Was  die  Mitglieder  des  New  English  Art  Club 
wollen,  ist  etwa  dasselbe  als  was  die  Schotten  wollen: 
sie  wollen  malen  ohne  jede  Nebenabsicht.  Sie  machen 
keine  Konzessionen  und  buhlen  nicht  um  die  Gunst 


des  grossen  künstlerischen  Pöbels.  Wie  sie  es  aber 
thun,  ist  grundverschieden  von  der  Weise  der  Schotten, 
jedes  Mitglied  scheint  seine  eigenen  Wege  zu  gehen. 
Man  verlässt  die  Ausstellungen  des  New  English  Art 
Club  zumeist  mit  dem  Gegenteil  von  einem  Gesamt¬ 
eindruck.  Dafür  sieht  man  die  mannigfachsten 
künstlerischen  Anläufe,  fast  überall  ein  ehrliches  Ringen, 
hier  und  da  eine  glänzende  Leistung.  Freilich 
fehlt  das  Mittelmässige  nicht,  mancher  kleinere  Geist 
windet  sich  in  seinen  Versuchen,  eine  Individualität 
zu  entwickeln,  die  er  nicht  hat.  Viele  verfallen  in 
Nachahmungen  alter  Meister,  man  sieht  da  falsche 
Watteaus,  Reynolds,  Constables  und  Turners.  Aber 
das  halbe  Dutzend  bis  Dutzend  wirklich  guter  Sachen, 
das  jede  Ausstellung  schliesslich  doch  enthält,  ent¬ 
schädigt  für  vieles. 

Unter  den  Mitgliedern  des  Clubs  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  P.  Wilson  Steer  immer  mehr  als  der 
Führer  der  Gesellschaft  herausgehoben.  Er  malt  kraft¬ 
volle  Landschaften,  Figuren  (wie  die  trefflich  breit  hin¬ 
gesetzte  Aktstudie  Abb.  14),  Bilder  aus  dem  Leben, 
alles  was  ihm  in  den  Weg  tritt.  Professor  Brown 
(der  jetzige  Leiter  der  Slade  School),  Moffat  Lindner, 
James  Henry  bieten  zum  Teil  prächtige  Landschaftstudien, 
Bernard  Sickert  malt  zumeist  holländische  Landschaften, 
G.  Thomson  erfreut  durch  seine  in  kraftvollen  Deck¬ 
farben  ausgeführten  Aquarelle,  H.  B.  Brabazon  ist 
ein  Impressionist  der  leichtempfänglichsten  Art. 
Charles  Conder,  der  sich  durch  seine  Malereien  auf 
seidene  Fächer  einen  bedeutenden  Ruf  erworben  hat, 
lehnt  sich  in  seinen  Bildern  etwas  an  Watteau  an.  In 
letzter  Zeit  sind  zwei  jüngere  vielversprechende  Künst¬ 
ler  aufgetreten:  William  Orpen  mit  gut  studierten 
Innenbildern  und  A.  A.  McEvoy.  —  Man  hat  von 
dem  New  English  Art  Club  im  allgemeinen  eine  ge¬ 
deihlichere  Entwickelung  erwartet,  als  er  bisher  ein¬ 
geschlagen  hat.  Bis  jetzt  hat  er  sich  kaum  zu  etwas 
anderem  herausgebildet  als  zu  einer  interessanten  Ver¬ 
suchsanstalt  für  neue  Malmethoden. 

Fast  möchte  es  scheinen,  als  ob  ein  anderes  neu¬ 
zeitiges  Unternehmen,  welches  vor  vier  Jahren  zuerst 
auftauchte  und  eines  der  bedeutendsten  künstlerischen 
Ereignisse  der  letzten  Jahrzehnte  in  England  war,  in 
seiner  Fortsetzung  einem  ähnlichen  Schicksale  ver¬ 
fallen  sollte:  die  Ausstellungen  der  sogenannten  Inter¬ 
nationalen  Gesellschaft  der  Bildhauer,  Maler  und  Ra¬ 
dierer.  Die  erste  Ausstellung,  in  jeder  Beziehung 
glänzend  beschickt,  fand  1 8g8  statt.  Es  war  eine  im¬ 
ponierende  Vorführung  nicht  nur  der  besten  neueren 
englischen  Kunst,  sondern  auch  gut  ausgewählter 
Werke  der  kontinentalen  Kunst.  Man  konnte  Meister¬ 
werke  der  französischen,  und  was  für  England  noch 
viel  seltener  war,  der  deutschen  Kunst  sehen,  eine 
Ausstellung,  wie  sie  in  England  noch  nicht  dage¬ 
wesen  war.  Whistler  war  der  Präsident  der  Gesell¬ 
schaft,  Lavery  der  Vizepräsident,  von  Deutschen  waren 
Böcklin,  Klinger,  Liebermann,  Uhde,  Stuck,  Thoma, 
von  Franzosen  Aman-Jean,  Puvis  de  Chavannes,  Ro¬ 
din  zu  Ehrenmitgliedern  ernannt,  alle  Vorwärtsstreben¬ 
den  waren  vereinigt.  Es  waren  nicht  nur  die  besten 
Bilder  moderner  Richtung  des  Jahres  zusammen- 


40 


K.JNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


gebracht,  sondern  man  hatte  bekannte  Meisterwerke 
von  Besitzern  entliehen  und  ausgestellt,  kurz  es  han¬ 
delte  sich  um  eine  glänzende  künstlerische  That.  Es 
ist  merkwürdig,  aber  /löcl  u  1/=  zeichnen^!,  wie  sich 
uie  englische  offiziü  k.".:!;  ;i:izu  v  rhiei.:  abwartend, 
lau,  zurr  I  -:i  ■  delnd.  Keines'./egs  war  man  in  der 

Lage,  die  I'-dcutung  der  Sache  abzuschätzen,  man 
beurteiil  in  Engla.i;  m  ;  ^  as  i-iit,,  was  man  kennt, 
und  hier  v/ar  ja  .o  •;::1  Unuekc.  Utes  vorhanden.  Um 
si;  erfrischvndr  -  \.  ;rktp  abvr  dir  Ausstellung  in  den 
intimeren  Ku.istkreisen  i.ondons.  Die  zweite  Aus- 

stellun.i:  fam'  im  folgenden  Jahre  in  etwas  engerem 

Räumen  statt.  Als  Motto  hatte  man  auf  den  Katalog 
Keck  das  i/rteil  der  in 
England  als  sehr  ge- 

',,'ichtiv;  betrachteten  kri¬ 
tischen  Zritschrift  Athe¬ 
näum  über  die  erste 

Ausstellung  gesetzt:  A 
large  and  not  particu- 
lariy  pleasant  gallery  . 

Man  glaubte  sich  in  der 
Lage,  diesem  Stumpfsinn 
der  offiziellen  Kunst¬ 
kritik  Trotz  bieten  zu 
können.  Die  dritte  Aus¬ 
stellung  war  das  Ereignis 
des  letzten  Herbstes.  Der 
Rahmen  war  wieder  viel 
enger  geworden ,  aus 
Deutschland  war  kaum 
ein  Dutzend  Bilder  da, 
aus  Frankreich  nicht 
viel  mehr  und  nicht  die 
besten.  Selbst  was  Whist¬ 
ler  sandte  (seine  früheren 
Bilder  waren  die  An¬ 
ziehungspunkte  der  Aus¬ 
stellung  gewesen),  war 
wenig  und  enttäuschend. 

Von  dem  Eindrücke  der 
Internationalität  konnte 
kaum  die  Rede  sein. 

Und  trotzdem  bot  die 
Ausstellung  sehr  viel 
Interessantes.  Denn  abgesehen  von  den  Schotten, 
welche  sich  fast  alle  als  Mitglieder  der  Gesell¬ 
schaft  eingefunden  hatten,  wurden  auch  recht  gute 
Sachen  der  in  neueren  Bahnen  wandelnden  Lon¬ 
doner  Künstler,  wie  Bertram  Priestman,  Henry  Muhr¬ 
mann,  C.  H.  Shannon,  William  Nicholson  und  an¬ 
derer  vorgeführt.  Sie  war  daher  gewiss  eine  sehr  gute 
englische  Ausstellung,  aber  kaum  eine  internationale 
zu  nennen. 

Man  bedauert  dies  vor  allem  im  deutschen  Inter¬ 
esse.  Man  ist  sich  in  Deutschland  schwerlich  bewusst, 
wie  wenig  man  heute  in  England  von  deutscher 
Kunst  weiss  und  hält.  Während  man  in  gewissen 
Kreisen  jeden  Pinselstrich,  den  ein  französischer  Maler 
führt,  bewundert,  kennt  man  aus  Deutschland  nicht 
die  allerbekanntesten  Namen.  Böcklin,  Klinger,  Lenbach 


sind  dem  weiteren  englischen  Publikum  unbekannte 
Grössen,  von  anderen  Künstlernamen  ganz  zu  schwei¬ 
gen.  Und  mehr  als  das,  man  hält  es  für  ein  still¬ 
schweigendes  Übereinkommen,  dass  in  Deutschland 
künstlerisch  überhaupt  nichts  zu  holen  sei.  Es  gab 
eine  Zeit,  wo  dies  anders  war.  Vor  fünfzig  Jahren 
hatte  man  die  respektvollste  Vorstellung  von  der 
deutschen  Kunst,  unsere  grossen  Geschichtsmaler  waren 
allbekannt,  man  ging  nach  München  und  Düsseldorf, 
um  bei  ihnen  zu  studieren,  man  brachte  aus  Deutsch¬ 
land  Ideen  für  die  Umgestaltung  des  künstlerischen 
Unterrichts  mit,  München  lieferte  die  Glasfenster  für 
die  englischen  Kathedralen.  Der  damalige  Zustand 

hat  sich  jetzt  in  das 
Gegenteil  verwandelt. 
Man  hält  die  deutsche 
Kunstproduktion  für  eine 
durchaus  zu  vernach¬ 
lässigende  Grösse.  In 
Glasgow,  wo  man  im 
vorigen  Jahre  den  An¬ 
spruch  machte,  eine  inter¬ 
nationale  Gemälde -Aus¬ 
stellung  zu  haben,  waren 
neben  mindestens  zwei¬ 
hundert  französischen 
zwei  deutsche  Bilder 
vorhanden.  Wohlge¬ 
merkt  :  die  ausländischen 
Bilder  waren  aus  eng¬ 
lischem  Privatbesitz  ent¬ 
liehen  und  man  hatte 
wahrscheinlich  mit  dem 
besten  Willen  nicht  mehr 
auftreiben  können.  Die 
englischen  Bildersamm¬ 
ler  kaufen  keine  deut¬ 
schen  Bilder,  man  kann 
noch  so  viele  moderne 
Gemäldesammlungen 
durchstreifen ,  ohne  je 
auf  ein  deutsches  Bild 
zu  stossen.  Zweifellos 
trägt  zu  diesem  augen¬ 
blicklichen  Zustande  die 
englische  insulare  Abgeschlossenheit,  nicht  des  Landes, 
sondern  der  Köpfe,  das  ihre  bei.  Die  glückliche 
Entwickelung  aller  Verhältnisse  in  den  letzten  fünfzig 
Jahren  hat  England  in  einen  Zustand  hoher  Selbst¬ 
zufriedenheit,  um  nicht  zu  sagen  Selbstbewunderung, 
versetzt,  der  sich  ganz  von  selbst  auf  alle  Gebiete, 
auch  auf  das  der  Kunst,  erstreckt.  Es  ist  weiter  vorn 
geschildert  worden,  wie  erst  seit  den  achtziger  Jahren 
die  französische  Kunst  hier  eingedrungen  ist  und  den 
insularen  Ring  gesprengt  hat.  Sie  ist  jetzt  in  Mode; 
man  könnte  sich  aus  dem  vorhandenen  Bestände  in 
den  englischen  Kunsthandlungen  an  einem  einzigen 
Tage  eine  Sammlung  von  hundert  französischen 
Landschaften  auswählen  —  aber  man  würde  vergeblich 
nach  einem  einzigen  deutschen  Bilde  fragen.  —  Die  in 
Rede  stehenden  sogenannten  internationalen  Ausstel- 


Abb.  14.  Aktstudie.  Von  P.  Wilson  Steer 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


41 


lungen  böten  ein  Mittel,  die  deutsche  Kunst  etwas 
heimischer  in  England  zu  machen,  zumal  die  Ge¬ 
schäfte  des  Vereins  von  einem  hier  ansässigen  ver¬ 
dienten  deutschen  Maler,  Professor  G.  Sauter,  geführt 
werden,  der  den  besten  Willen  hat,  hier  fördernd 
einzugreifen. 

Von  den  moderneren  englischen  Künstlern,  die 
man  auf  diesen  Ausstellungen  sehen  kann,  sind 
zunächst  einige  Landschafter  zu  nennen ,  vor  allem 
Bertram  Priestman  und  Henry  Muhrmann.  Beide 
malen  dunkle,  düstre  Bilder,  wie  die  Mehrzahl  der 
Schotten.  Muhrmann  malt  oft  geradezu  die  Nacht, 
welche  Bilder  dann  selbstverständlich  ein  Höchst- 
mass  von  Stimmung  haben.  Aber  er  ist  ein  kraft¬ 
voller,  tieffühlender  Künstler.  Priestman,  von  dessen 
Bildern  die  Abbildung  15  eine  Vorstellung  giebt, 
malt  ebenfalls  lediglich  trübe  Tage,  mit  schwer 


und  vereinigt  mit  ihr  die  Weichheit  der  Farbe  in 
einer  merkwürdig  glücklichen  Weise.  Das  über¬ 
raschendste  Talent  aber,  das  sich  in  den  letzten  Jahren 
bemerkbar  gemacht  hat,  ist  der  schon  früher  in  Ge¬ 
meinschaft  mit  James  Pryde,  mit  dem  zusammen  er 
unter  dem  Künstlernamen  Brothers  Beggarstaff  zuerst 
die  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenkte,  genannte  William 
Nicholson.  Seine  erste  That  war  der  1897  in  der 
»New  Review«  erschienene  farbige  Holzschnitt  der 
Königin  Viktoria,  eine  in  wenigen  urkräftigen  Strichen 
gezeichnete,  höchst  charakteristische,  lebensvolle  Figur 
der  Königin,  deren  Realismus  gegenüber  den  sonst 
üblichen  »Verschönerungen  eine  wahre  Wohlthat 
war.  Er  war  mit  einem  Schlage  ein  gemachter 
Mann.  Bei  Heinemann  erschienen  seine  bekannten 
Bücher  mit  Bildern  in  derselben  Manier,  die  in 
Mode  kamen  und  reissenden  Absatz  fanden.  Viele 


Abb.  75.  Fliisskrümmiing.  Von  Bertram  Priestmann 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


herabhängenden  Wolken,  melancholischen  grossen 
Erd-,  Wasser-  und  Baumflächen,  alles  breit  und 
dabei  flott  hingesetzt.  Die  Bilder  sind  meist  auf 
einen  grüngrauen  Ton  gestimmt,  der  sich  selbst  in 
der  Luft  zu  erkennen  giebt.  Grosse  melancholische 
Dämmerstimmung  auch  hier.  Neben  diesen  Land¬ 
schaftern  sind  noch  einige  Figurenmaler  zu  nennen, 
die  sich  meist  mit  Porträts  beschäftigen  und  dann 
auch  in  den  Jahresausstellungen  eines  anderen  Ver¬ 
eins,  der  Gesellschaft  der  Porträtmaler,  wiederzufinden 
sind.  Dahin  gehört  vor  allem  der  schon  genannte 
C.  H.  Shannon,  ein  Künstler,  der  die  Rossetti’sche 
Linie  mit  der  abgetönteren  modernen  Farbengebung 
vereinigt.  Seine  Bilder  sind  immer  ungemein  an¬ 
ziehend  durch  ihre  Empfindungsfülle  und  den  aparten 
Geschmack  des  Künstlers,  dessen  Berühmtheit  in 
gleicher  Weise  auf  dem  Gebiete  der  graphischen 
Kunst  liegt  wie  auf  dem  der  Malerei.  Wie  er  strebt 
auch  der  junge,  vielversprechende  Künstler  Robert 
Brough  vor  allem  nach  der  ausdrucksvollen  Linie 

ZeilsclirifI  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  2 


näherten  sich  der  Vortrefflichkeit  des  Viktoriabildes, 
andere  blieben  weit  zurück,  alle  aber  zeigten  die  grosse 
Kraft  der  Auffassung  und  Darstellung,  die  ihm  eigen 
blieb,  auch  wenn  der  Gesamteindruck  der  Vorfüh¬ 
rungen  ein  gemischter  war.  Um  so  mehr  mussten 
seine  neuerlichen  Ölbilder  überraschen,  die  sofort 
wieder  Treffer  ersten  Ranges  waren.  Namentlich  ein 
Kinderporträt,  genannt  Rosemary,  war  geradezu  eine 
Meisterleistung.  Andere  Bilder,  wie  das  hier  vor¬ 
geführte  des  Schriftstellers  Henley  (Abb.  17),  zeigten 
in  gleicher  Weise  seinen  sicheren  künstlerischen  Griff 
und  die  Leichtigkeit  seines  künstlerischen  Schaffens. 
Wenn  Nicholson  nicht  im  Schlepptau  der  Mode  krank 
geschleift  wird,  ist  noch  viel  von  ihm  zu  erwarten. 

Es  konnte  sich  in  diesem  Überblick  nur  um  die 
Erwähnung  der  allerhervorragendsten  Namen  handeln, 
solcher,  die  durch  die  Eigenart  des  Gebotenen  ein 
ganz  besonderes  Interesse  erregen.  Sonst  wäre  man 
versucht,  bei  Namen  von  Porträtmalern  wie  William 
Strang,  W.  Rothenstein,  R.  Jack,  dem  kürzlich  zur 

6 


42 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


allgemeinen  Anerkennung  gekommenen  Holländer 
Nico  W.  Jungmann  und  anderen,  bei  den  vorzüglichen 
graphischen  Künstlern  Charles  Riketis,  Lucien  Pissarro 
und  Josef  Pennell,  und  bei  den  vorwiegend  in  der 
alten  WasserfarbcngeSeiLUiaft  autiretenden  Malern  Ro¬ 
bert  W.  Allan,  Herbert  Marshall  und  Walter  West 
noch  etwas  länger  verweilen,  nicht  zu  reden  von  einer 
ganzen  Reihe  hervorragender  Buchillustratoren  wie 
A.  Garth  Jones,  Edmund  J.  Sullivan,  Eaurence  Hous- 
man,  Hugh  Thompson,  Harold  Nelson,  deren  Wirken 
wohl  eine  eingehende  Würdigung  verdiente.  Sie  hier 
zu  versuchen,  würde  den  Rahmen  dieser  Arbeit  weit 
überschreiten. 


tung  streift  das  Kunstgewerbe,  die  letztere  ist  rein 
malerisch,  in  die  erstere  ragen  die  Bestrebungen  der 
zahlreichen  Kunstschulen  und  Kunstgewerbeschulen 
des  Landes  herein,  die  insgesamt  »die  neue  Kunst¬ 
bewegung«  pflegen,  die  letztere  hat  so  wenig  mit 
dieser  Kunstbewegung  zu  thun,  dass  die  sie  vertre¬ 
tenden  Maler  z.  B.  im  stände  sind,  die  scheusslichsten 
Rahmen  für  ihre  Bilder  zu  wählen,  ein  Beweis,  dass 
der  umgehende  Geist  der  Verallgemeinerung  unseres 
Schönheitsbegehrens  bis  zur  breitesten  Basis  des  ge¬ 
samten  menschlichen  Schaffens  und  Empfindens  sie 
noch  nicht  berührt  hat.  Beide  Richtungen  sind  aber 
spezifisch  englisch.  Die  eine  ist  innerlich-örtlich  die 


Abb.  i6.  Dame  mit  chineschem  Fächer.  Von  C.  H.  Shannon 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


Sucht  man  einen  Gesamtüberblick  über  das  neuere 
Schaffen  in  der  englischen  Malerei,  wie  es  sich  ausser¬ 
halb  der  altväterischen  Akademiewände  abspielt,  zu 
erlangen,  so  lösen  sich  als  besonders  bezeichnend  zwei 
Richtungen  ab:  eine  dekorative  und  eine  impressio¬ 
nistische.  Die  erste  sieht  auf  Rossetti  als  ihren 
Gründer  zurück,  sie  hat  sich  von  ihm  über  Burne- 
Jones  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  und 
nimmt  im  englischen  allgemeinen  Kunstleben  einen 
breiten  Boden  ein.  Die  letztere  hat  Whistler  zum 
Vater  und  unterscheidet  sich  von  dem  kontinen¬ 
talen  Impressionismus  durch  die  von  Whistler  in  die 
Kunst  eingeführten  abgetönten,  auf  einheitliche  Grund¬ 
töne  gestimmten  Farbenwerte.  Die  erstere  Rich- 


andere  äusserlich-örtlich  begründet,  die  erstere  durch 
die  nun  schon  fünfzigjährige  Tradition  der  dem 
englischen  Wesen  so  sehr  gefallenden  dekorativen 
Linie,  die  letztere  durch  die  Eigenart  der  eng¬ 
lischen  Luft,  welche  die  spezifisch  heruntertönenden 
und  einhüllenden  Einflüsse  auf  alles  in  ihr  befindliche 
Feste  ausübt. 

Das  Übergewicht  liegt  bei  der  dekorativen  Rich¬ 
tung,  die  geradezu  zu  einem  Teile  des  englischen 
Wesens  geworden  ist  und  die  englische  bildende 
Kunst  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  Malerei,  son¬ 
dern  in  ihrer  gesamten  Ausdehnung  mit  Beschlag 
belegt  hat.  Hier  liegt  eine  ausgesprochene  Kultur¬ 
leistung,  die  Verdichtung  eines  Kunstideals  zu  einem 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


43 


Nationalstil,  vor.  Das  Dekorative  beherrscht  die  Ma¬ 
lerei,  die  Skulptur  und  die  Kleinkunst  in  England  in 
einer  so  einheitlichen  Weise,  dass  es  der  Kunst  des 
letzten  halben  Jahrhunderts  das  Gepräge  giebt.  Von  dem 
Genie  Rossetti’s  in  der  Malerei  entwickelt,  dehnte  es 
sich  von  da  aus  auf  die  Kleinkünste  und  die  gesamte 
künstlerische  Lebensauffassung  aus,  und  aus  dieser 


Allgemeinheit  erhoben  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten 
des  alten  Jahrhunderts  die  neuen  Schösslinge  der 
neupräraffaelitischen  Malerschule,  die  wir  schon  ken¬ 
nen  gelernt  haben  und  die  heutige  im  wesentlichen 
auf  das  Dekorative  auslaufende  englische  Skulptur, 
von  der  weiterhin  die  Rede  sein  wird. 


Abb.  ij.  Bildnis  des  Schriftstellers  W.  E.  Henley 
Von  William  Nicholson 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


6* 


EIN  BILD  VON  KAREL  FABRITIUS  IN  ROM 


WÄHREND  meinem  letzten  Aufenthaltes  in  Rom 
im  Winter  1901  — 1902  wurde  mir  die  un¬ 
erwartete  Freude  zu  teil,  in  der  Galleria 
nazionale  einen  g-  uz  unzweifelhaften  Karel  Fabritius 
zu  entdecken.  Bekanntlich  ist  die  betreffende  GetUcälde- 
sammlung  durch  Vereinigung  der  ehemaligen  Galleria 
Corsini  und  der  dem  Staate  vor  wenigen  Jahren  ge- 


vorkommenden  als  trefflichen  Rembrandtschülers  — 
von  der  ganzen  Schar  wohl  derjenige,  welcher  von 
dem  Unterricht  des  Meisters  die  reichste  Ausbeute 
gewonnen,  ohne  gleichzeitig  seine  Künstlerindividua¬ 
lität  einzLibüssen  —  in  Erinnerung  bringen;  für  die 
beiden  Bilder  ist,  wie  es  scheint,  dasselbe  Modell  be¬ 
nutzt,  die  Kostümierung  zeigt  auffallende  Überein- 


Die  (kleine)  Schildwache  von  Kcirel  Fabritius.  Rom,  Oaleria  Nazionale 


schenkten  Galleria  Torlonia  entstanden;  mit  der  letzt¬ 
genannten  ist  unter  mehreren  holländischen  Bildern 
von  Wert  auch  das  hier  zu  erwähnende  in  die  Galleria 
nazionale  gekommen.  Es  hängt  da  als  Nr.  401  und 
ist  in  dem  Verzeichnis  als  »Pieter  de  Hooch:  Caserna 
con  soldati,  che  giuocano  aufgeführt. 

Schon  der  erste  Blick  auf  das  besonders  schön 
erhaltene  Kunstwerk  wird  denjenigen  Beschauer, 
welcher  mit  anderen  Leistungen  des  Karel  Fabritius, 
besonders  mit  der  Schildwache"  in  Schwerin,  einiger- 
inassen  vertraut  ist,  den  Namen  des  eben  so  selten 


Stimmungen  —  man  merke  sich  z.  B.  die  eiserne 
Sturmhaube  — ,  und  von  den  architektonischen  Um¬ 
gebungen  gilt  etwas  Ähnliches.  —  Schreitet  man  je¬ 
doch  zu  einer  genaueren  Prüfung,  so  bestätigt  sich 
der  erste  unmittelbare  Eindruck  bis  zur  vollkommen¬ 
sten  Überzeugung.  Das  feingestimmte  und  doch  mit 
ebenso  grosser  Kraft  als  Harmonie  wirkende  Kolorit, 
die  Weise,  wie  das  Helldunkel  beherrscht  ist,  die 
ganze  Mache,  die  eine  beinahe  völlig  Rembrandt’sche 
Wirkung  durch  die  leichteste  Handhabung  des 
Pinsels  und  den  elegantesten  Vortrag  hervorbringt. 


EIN  BILD  VON  KAREL  FABRlTlüS  IN  ROM 


45 


lässt  keinen  Zweifel  übrig.  Von  hoch  ausgebildeter 
Virtuosität  zeigt  die  Kühnheit  und  die  fein  empfin¬ 
dende  Sicherheit,  womit  das  klare  Rot  des  über  die 
Knie  der  Hauptfigur  gebreiteteten  Mantels  mit  der 
fahlen  Farbe  der  Jacke  zusammenstimmt,  und  prächtig 
hebt  sich  die  ganze  Gestalt  des  frischen,  braunhaarigen 
Buben,  der  während  der  Wache  behaglich  seine  Pfeife 
raucht,  auf  dem  teilweise  sonnenbeschienenen  Hinter¬ 
gründe  heraus.  Der  Ton  des  Stückchen  Luft,  auf 
welchem  sich  ein  Kirchenturm  zeichnet,  hat  einen 
beinahe  van  Qoyen’schen  Charakter. 


Formgebung  ist  das  Bild  als  ein  Meisterwerk  zu  be¬ 
zeichnen. 

Bekanntlich  ist  das  Schweriner  Bild  im  Todesjahre 
des  Karel  Fabritius  (1654)  vollendet.  Das  kleinere 
Gemälde  trägt  keine  Signatur.  Sehr  wahrscheinlich 
kommt  es  mir  doch  vor,  dass  es  etwas  früher  als  das 
grössere  entstanden  ist;  allerdings  scheint  es  durch 
Unmittelbarkeit  des  Gefühles  und  der  Auffassung  so¬ 
wie  durch  reizende  Frische  der  Ausführung  vor  dem 
längst  bekannten  Schweriner  Hauptwerk  einen  Vor¬ 
zug  zu  haben. 


Die  Schildwache  von  Karel  Fabritius.  Schwerin,  Museum 


Das  Bild  ist  55  cm  hoch,  46'/2  breit.  Die 
Hauptfigur,  sowie  auch  der  ganze  Vorder-  und  Mittel¬ 
grund  des  Bildes,  ist  mit  ausserordentlicher  Delikatesse 
durchgeführt,  die  im  Hintergründe  beschäftigten  Per¬ 
sonen,  von  denen  die  zwei  einem  Brettspiele  obzu¬ 
liegen  scheinen,  während  der  dritte  am  Wachtfeuer 
(Küchenherd?)  steht,  sind  mit  leichtem,  flüchtigem 
Pinsel  hingesetzt  und  lassen  sich,  so  wie  sie  im  Hell¬ 
dunkel  angebracht  sind,  in  den  Einzelheiten  schwer¬ 
lich  erkennen  —  am  allerwenigsten  in  einer  photo¬ 
graphischen  Wiedergabe.  Auch  in  Beziehung  auf 


Hätte  ich  nicht  das  Schweriner  Bild  gekannt 
würde  ich  vielleicht  den  römischen  Fabritius  für  ein 
jugendwerk  Rembrandt’s  gehalten  haben.  Als  ein 
Pieter  de  Hooch  wird  es  wohl  schwerlich  irgend  einen 
Kenner  holländischer  Kabinettskunst  anmuten.  Die 
unrichtige  Benennung  könnte  vielleicht  dadurch  einiger- 
massen  erklärt  werden,  dass  der  mit  P.  de  Hooch  oft¬ 
mals  verwechselte  Jan  van  der  Neer  van  Delft  notorisch 
ein  Schüler  von  Karel  Fabritius  war. 

Kopenhagen,  Oktober  igo2 

SIGURD  MÜLLER 


BÜCHERSCHAU 


Hundert  Meister  der  Gegenwart.  20  Lieferungen  mit 
je  5  Tafeln  in  Faksimilefarbendruck  nach  Gemälden 
moderner  Meister.  (Ladenpreis  M.  40.—  ;  Verlag  von 
E.  A.  Seemann  in  Leipzig.) 

Das  vornehme  Lieferungswerk,  von  dem  die  drei 
ersten  Hefte  (Einzelpreis  je  M.  3. — ;  Subskriptionspreis  je 
M.  2. — )  erschienen  sind,  stellt  einen  bis  dahin  nicht  er¬ 
reichten  Höhepunkt  in  der  Entwickelung  der  Technik  des 
Farbendruckes  vor.  Was  die  Kunsttechniker  seit  Jahrhun¬ 
derten  gesucht  haben,  ein  Verfahren,  auf  mechanische 
Weise  eine  würdige  Reproduktion  von  Gemälden  in  Farben 
herzustellen,  was  zuerst  auf  Grund  der  Schabkunst  der 
Frankfurter  Le  Blon  versuchte,  der  drei  Platten  für  Gelb, 
Rot,  Blau  anwandte,  die  Zwischentöne  durch  Übereinander¬ 
drucken  der  Pigmente  erzielte  und  so  der  Erfinder  des 
Prinzips  des  Dreifarbendruckes  wurde,  was  nach  Erfindung 
der  Lithographie  der  Steinfarbendruck,  was  dann  weiter 
der  Farbenholzschnitt  erstrebte  und  was  in  neuester  Zeit 
als  Problem  der  Farbenphotographie  verheissungsvoll  auf¬ 
getaucht  ist,  hat  hier  eine  ungeahnte  Stufe  der  Vollendung 
erreicht,  die  uns  eine  grossartige  Perspektive  für  die  ästhe¬ 
tische  Bildung  der  breiten  Schichten  unseres  Volkes  eröffnet. 
Das  kategorische  Urteil,  das  erst  kürzlich  auf  dem  Dresdner 
Kunsterziehungstage  bei  Erwähnung  der  englischen  Farben¬ 
drucke  der  Arundel-Society  gefällt  wurde,  dass  es  der  Tech¬ 
nik  bisher  nicht  gelungen  sei,  wirklich  gute,  billige  Nach¬ 
bildungen  farbiger  Meisterwerke  der  Malerei  herzustellen, 
war  in  demselben  Augenblicke,  wo  es  gesprochen  wurde, 
bereits  hinter  den  Ereignissen  zurückgeblieben:  Die  Samm¬ 
lung  »Alte  Meister  ,  die  von  Blatt  zu  Blatt  einen  erstaunlichen 
Fortschritt  bekundete,  war  in  die  Erscheinung  getreten.  Welch 
eine  Aussicht  für  die  künstlerische  Bildung,  freilich  nicht  für 
den  ästhetischen  Gourmand,  der  Müsse  und  Geld  genug 
besitzt,  die  Originale  durchzukosten,  für  die  hyperästhe¬ 
tischen  Virtuosen  des  Genusses,  die  mit  dem  mitleidigen 
Lächeln  ihres  Spottes  dem  Hungrigen  seine  ersehnte 
Speise  vergällen,  beides  Feinde  jeder  wahren  Volkskunst, 
sondern  für  die  Tausende,  die  den  Anblick  eines  Originals 
nur  ein  paarmal,  nur  einmal  erleben  und  die  doch  den 
Wunsch  haben,  sich  auf  diesen  Moment  so  gut  wie  mög¬ 
lich  vorzubereiten,  nachdem  derselbe  aber  vorübergegangen 
ist,  sich  den  Eindruck,  so  oft  sie  wollen,  mit  sinnlicher 
Gewalt  zurückzurufen,  für  die  Abertausende,  die  den 
Originalen  ewig  fern  bleiben  werden  und  die  sich  bei 
ihrem  Hunger  nach  Kunst  bisher  mit  einfarbigen  Repro¬ 
duktionen  behelfen  mussten.  Sind  schon  die  »Alten  Meister« 
im  stände,  denen,  die  bisher  zur  Farbenblindheit  im  ästhe¬ 
tischen  Sinne  verdammt  waren,  die  Augen  zu  öffnen,  so 
tragen  die  »Meister  der  Gegenwart«,  wenn  die  versprochenen 
Hundert  in  Ausführung  und  Auswahl  die  gleiche  Höhe 
zu  behaupten  fähig  sind,  die  Möglichkeit  einer  völligen 
Umwälzung  der  allgemeinen  Geschmacksbildung  in  sich. 
Und  bereits  das,  was  die  ersten  beiden  Hefte  zeigen  und 
was  sich  im  dritten  hinter  der  Öffentlichkeit  vorbereitet, 
ist  mit  besonderer  Freude  zu  begrüssen.  Alle  Richtungen 
sind  vertreten,  und  es  geht  in  kühnem  Sprunge  von  Menzel 
und  Lenbach,  die  ja  beinahe  schon  Klassiker  sind,  zu  den 
Allermodernsten. 

Ich  kann  den  rein  ästhetischen  und  erziehlichen  Wert 
der  Blätter  nicht  besser  charakterisieren,  als  indem  ich 
etwas  von  den  Proben  mitteile,  die  ich  in  Bezug  auf  die 
Wirkungsfähigkeit  derselben  vor  einer  Anzahl  jüngerer  und 
älterer  Kunstfreunde  gemacht  habe.  Dass  Darstellungen 
wie  Hinter  den  Kulissen«  von  Knaus  und  »Die  Mena¬ 


gerie«  von  Meyerheim,  wo  der  reizvolle  Gegenstand  ganz 
allein  genügt,  um  Auge  und  Gemüt  zu  entzücken,  in  erster 
Linie  mit  Freude  begrüsst  wurden,  ist  selbstverständlich, 
aber  gerade  hier  erschloss  sich  am  leichtesten  und  fast 
instinktiv  das  volle  Verständnis  für  den  Wert  der  Farben. 
Kinder,  die  den  Knaus  von  einer  schwarz-weissen  Repro¬ 
duktion  her  kannten  und  liebten,  meinten  diese  nun  nicht 
mehr  ansehen  zu  können.  Fanden  sie  doch  jeden  Zug  in 
den  Gesichtern  ihrer  Lieblinge  in  voller  Treue  wieder  und 
bewunderten  dazu  den  Reiz  der  Farben,  nicht  so  als  ob 
diese  als  ein  neues  Element  hinzugetreten  wären,  nein,  sie 
fühlten  den  Einklang  von  Form  und  Farbe,  sie  sahen  in 
dem  Bild  nicht  eine  kolorierte  Darstellung,  sondern  ein 
Abbild  der  farbenfrohen  Wirklichkeit.  Ebenso  wurde  vor 
dem  köstlichen  Meyerheim  das  Malerische  in  dem  von 
hinten  hereinfallenden  kalten  Tageslicht  und  in  der  fein 
abgetönten  Aufhellung  des  Vordergrundes  durch  eine  un¬ 
sichtbare  Lichtquelle  empfunden.  Thoma’s  »Kinderreigen« 
in  dem  in  Vorbereitung  befindlichen  dritten  Heft  giebt  dem, 
der  kein  Original  des  Künstlers  gesehen  hat,  erst  den 
richtigen  Aufschluss  über  das  intime  Verhältnis,  in  dem  die 
satten,  glänzenden  Farben  zu  den  Gesichtern  und  Figuren 
seiner  Menschen  stehen.  Von  den  Porträtdarstellungen 
fand  Lenbach’s  Bismarck  ungeteilte  Bewunderung.  Die 
das  Glück  gehabt  hatten,  den  grossen  Kanzler  im  Leben 
zu  sehen,  wiesen  sofort  auf  die  rosige  Frische  des  Teints 
hin;  Kunstverständige  meinten,  die  unnachahmliche  Kunst 
der  Palette  und  der  Pinselführung  des  Meisters  sei  hier 
täuschend  nachgeahmt.  Einen  unfreiwilligen  Beweis  für 
diese  den  Blättern  eigene  hohe  Vollendung  in  der  Nach¬ 
ahmung  der  Originale  erbrachten  einige,  zwar  an  scharfe 
Auffassung  der  Naturwirklichkeit  gewöhnte,  aber  dem 
modernen  Kunstschaffen  fernstehende  Personen,  indem  sie 
vor  der  Schönleber’schen,  mit  derbem  Impasto  behandelten 
Hafenskizze  behaupteten,  dass  man  in  der  Natur  keine 
Pinselstriche  sehe.  Ihre  Kritik  wandte  sich  also  nicht  gegen 
die  Reproduktion,  sondern  gegen  die  künstlerische  Auf¬ 
fassung  des  Originals,  das  sie  sofort  an  Stelle  jener  er¬ 
blickten.  Damit  kamen  die  für  den  stumpferen  Blick  des 
grossen  Publikums  so  oft  nichtssagenden,  manchmal  auch 
zu  viel  sagenden  Darstellungen,  in  denen  der  Inhalt  fast 
nichts,  die  Art,  wie  die  Dinge  in  Licht,  Luft  und  Raum 
gesehen  und  wiedergegeben  werden,  fast  alles  ausmacht. 
Hier  zog  Menzel’s  »Restaurant  auf  der  Pariser  Weltaus¬ 
stellung«  in  seiner  genialen  Vorwegnahme  impressionisti¬ 
scher  Theorien  ohne  weiteres,  ebenso  Hans  Herrmann’s 
»An  der  Scheldemündung«,  das  in  Himmel,  Meer  und 
Menschen  auf  wasserglänzendem  Pflaster  die  echteste  See¬ 
stimmung  atmet.  Skarbina’s  »Winterabend  am  Lützowplatz 
in  Berlin«  schien  ein  längeres  und  öfteres  Verweilen  nötig 
zu  machen.  Leibl’s  »Zeitungsleser«  erweckte  eine  Ahnung 
von  der  ungeheuren  Treffsicherheit  des  Künstlers,  wenn 
auch  die  Gartenlaube  noch  als  Farbenchaos  empfunden 
wurde.  Dagegen  errang  Hans  von  Bartels’  »Holländische 
Mädchen  in  den  Dünen«,  wo  die  sonnenglühenden  Farben 
so  schön  in  der  Luft  stehen,  einen  ganzen  Erfolg,  besonders 
als  die  Beschauer  weit  genug  weggetreten  waren.  Dem 
grössten  Widerstand  begegneten  Liebermann’s  »Schul¬ 
mädchen«.  Vielleicht  kommt  der  grosse  Freilichtmaler  mit 
einem  ferneren  Bilde  zu  grösserem  Rechte,  als  es  mit  dieser 
Studie  möglich  war.  Es  braucht  ja  nicht  alles  auf  einmal 
zu  kommen.  Das  Überhasten  würde  mehr  schaden  als 
nützen;  die  Blätter  wollen  erziehen,  und  eine  gute  Er¬ 
ziehung  braucht  die  heilende  und  reifende  Zeit.  Und  so 


BÜCHERSCHAU 


47 


rufen  wir  in  froher  Erwartung  des  Kommenden  den  hundert 
Meistern  der  Gegenwart  aus  vollem  Herzen  Glückauf  ent¬ 
gegen.  Georg  Warneckc. 

Alexander  Amersdorffer,  Kritische  Studien  Uber  das 
venetianische  Skizzenbuch.  Mit  drei  Tafeln  und  drei  Ab¬ 
bildungen  im  Text.  Berlin  1901,  Mayer  &  Müller. 

ln  die  seit  mehreren  Jahren  etwas  stagnierende  Raffael- 
Forschung  sollte  ein  Buch  wieder  Fluss  bringen,  das 
einen  vielumstrittenen  Punkt  zum  Gegenstand  gewissen¬ 
haftester  Untersuchung  macht.  So  kühn  seinerzeit  Morelli’s 
Angriff  auf  den  raffaelischen  Ursprung  des  Skizzenbuchs 
war,  so  suggestiv  und  lähmend  hat  er  gewirkt.  Man  war 
froh,  das  vielgeliebte  Buch  unter  einem  so  ansprechenden 
Namen,  wie  dem  Pinturicchio’s  weiter  verehren  zu  dürfen 
und  die  Beschäftigung  damit  galt  seitdem  als  eine  Art 
Privileg,  das  man  gern  den  kunstgeschichtlichen  Seminaren 
überliess.  Damit  war  wohl  die  Raffael -Forschung  von 
einer  unbequemen  Aufgabe  befreit,  nicht  aber  die  kunst- 
geschichtliche  Kritik. 

Der  an  sich  scheinbar  sehr  undankbaren  Aufgabe,  zu 
untersuchen,  von  wessen  Hand  das  Skizzenbuch  herrührt, 
hat  sich  nun  Amersdorffer  mit  unermüdlicher  Sorgfalt  und 
scharfer  Kritik  unterzogen. 

Von  seinen  Vorgängern  konnte  er  nur  Robert  Kahl’s 
Schriftchen  brauchen;  es  hat  das  Verdienst  eine  grosse 
Zahl  von  Beziehungen  aufgedeckt  zu  haben,  die  zwischen 
den  Skizzenbuchblättern  und  gleichzeitigen  Kunstwerken 
bestehen.  Aber  von  allen,  die  vor  ihm  über  das  Skizzen¬ 
buch  schrieben  oder  schwiegen,  unterscheidet  sich  Aniers- 
dorffer  dadurch,  dass  er  zum  erstenmal  energisch  dem 
Gedanken  Ausdruck  giebt,  das  Skizzenbuch  rühre  nicht  von 
einem  einzigen  Künstler  her,  sondern  mehrere  Hände  hätten 
daran  gearbeitet,  eine  Ansicht  übrigens,  die  schon  irgendwie 
in  der  Luft  lag,  aber  hier  erst  so  konsequent  zum  Ausgang 
und  Endziel  der  Untersuchung  gemacht  wird. 

Nach  einer  ebenso  mühsamen  wie  dankenswerten 
idealen  Rekonstruktion  des  Skizzenbuchs  in  der  ursprüng¬ 
lichen  Reihenfolge  seiner  Blätter  sucht  der  Verfasser  die 
verschiedenen  Gruppen,  aus  denen  sich  das  Ganze  für  ihn 
zusammensetzt,  scharf  stilisiert  zu  umgrenzen.  Eine  »peru- 
gineske«  Gruppe  umfasst  vor  allem  die  bekannten  Draperie¬ 
studien,  die  Morelli  mit  den  Sixtinafresken  Pinturicchio’s 
in  Beziehung  setzte,  die  Philosophenporträts,  die  Land¬ 
schaften.  Zur  »Pollajuologruppe«  gehören  z.  B.  die  lavierte 
Zeichnung  des  Herakles  mit  dem  Löwen,  eine  Anzahl  spitz- 
umrissener  Aktstudien  —  auf  ihren  Zusammenhang  mit 
z.  T.  erhaltenen  Blättern  Pollajuolo’s  war  schon  früher 
hingewiesen  — ,  einem  Flötenspieler  und  auch  die  lavierte 
Zeichnung  zweier  Reiter.  Die  »signorelleske«  Gruppe 
schliesslich  bestand  aus  der  Rückenfigur  eines  Kriegers, 
eines  kahlköpfigen  Flötenspielers  und  der  Mutter  mit  dem 
Henker  aus  einem  Kindermord. 

Der  Autor  der  auf  die  Sixtinafresken  bezüglichen  Ge¬ 
wandfiguren  ist  nicht  Pinturicchio  selbst.  Amersdorffer 
beweist  es  durch  einfache  Gegenüberstellung  der  sitzenden 
Frau  in  Zeichnung  und  Bild.  Von  manchen  unverstandenen 
Partien  in  der  Gewandung  abgesehen,  bleibt  die  Gestalt 
auch  im  Ausdruck  hinter  der  in  der  Sixtina  zurück,  deren 
Köpfchen  den  anmutigsten  Typus  Pinturicchio’s  zeigt.  Da¬ 
mit  bekommt  Morelli’s  Pinturicchio-Theorie  einen  empfind¬ 
lichen  Stoss.  Denn  entweder  eine  grosse,  ja  die  ausschlag¬ 
gebende  Gruppe  ist  nicht  von  ihm  oder  —  wenn  man  an 
der  Einheitlichkeit  der  Handschrift  festhält  —  das  ganze 
Buch  nicht.  Gegen  diese  Einheitlichkeit  hält  Amersdorffer 
als  stärksten  Beweis  die  Pollajuologruppe  bereit.  Sie  er¬ 
scheint  ihm  wie  ein  ganz  fremder  Körper  in  diesem  umbri- 
schen  oder  umbroflorentinischen  Ganzen. 


Aber  man  weiss,  dass  auch  sie  Kopien  sind,  wie  das 
meiste  im  Skizzenbuch.  In  den  Vorbildern  dieser  Kopien 
liegt  der  ganze  Unterschied  der  einzelnen  Gruppen.  Sieht 
man  schärfer  auf  das  »Wie«  als  auf  das  »Was«  dieser 
Zeichnungen,  so  kommt  man  doch  wieder  zu  der  Erkenntnis, 
dass  hier  nicht  verschiedene  Hände  gearbeitet  haben  und 
dass  die  einzelnen  Gruppen,  wenn  man  sie  auf  ihre  »Hand¬ 
schrift«  betrachtet,  ineinander  fliessen.  Denn  die  Handschrift 
ist  nicht  anders  in  dem  Kindermord  nach  Signorelli  und 
in  den  Draperien  nach  Perugino  oder  Pinturicchio,  nur 
diese  Draperien  sind  verschieden,  nicht  der  Zug  des  Strich¬ 
systems;  der  einzelne  Fuss  neben  dem  peruginesken  Heiligen 
ist  zwar  mit  den  gleichen  Strichen  modelliert  wie  der 
einzelne  Fuss  neben  dem  pollajuolesken  Flötenspieler,  und 
dieser  im  Profil  schreitende  Flötenspieler  ist  nach  derselben 
Bronze  Pollajuolo’s  oder  eines  Oberitalieners  (ein  Exemplar 
befindet  sich  in  Modena,  die  gleiche  Figur  steht  auf  dem 
Fresko  der  Geburt  Mariä  in  S.  Francesco  zu  Padua  von 
Girolamo  da  Santa  Croce  über  einer  Thür)  kopiert,  wie 
die  Rückenfigur  seines  »signorellesken«  Kameraden. 

Gewiss  kann  nichts  mehr  täuschen  als  die  von  allem 
positiv  Stilistischen  losgelöste,  fast  nur  der  Empfindung 
überlassene  Handschriftenvergleichung,  und  am  gefährlich¬ 
sten  ist  es  vielleicht,  in  all  den  verschiedenen  von  Augen¬ 
blick  und  Laune  abhängenden  Äusserungen  desselben  In¬ 
dividuums  immer  mit  Sicherheit  den  gemeinsamen  Zug 
erkennen  zu  wollen.  Dass  alle  diese  Zeichnungen  von 
einer  Hand  herrühren  sollten,  kann  also  eine  Täuschung 
sein;  aber  unmöglich  bestreiten  lässt  sich  doch  eine  grosse 
Familienähnlichkeit,  derSchulzusammenhang  in  der  Zeichen¬ 
technik  durch  alle  drei  Gruppen.  Natürlich  kann  man  nicht 
Lavierung  und  Strichzeichnung  vergleichen,  wohl  aber  die 
bestimmten  Linien  in  ihnen,  den  Kontur,  und  der  hat  in 
allen,  ob  laviert,  schraffiert  oder  mit  breiten  Lagen  aus- 
ausgefüllt,  die  gleiche  Führung:  spitzig,  trocken  und  ohne 
Schwellung.  Auch  sind  in  den  Zeichnungen  nach  Signo¬ 
relli  und  Pollajuolo  alle  Typen  von  ihrer  ursprünglichen 
Herbheit  und  Kraft  ins  umbrisch  kraftlose  gebrochen.  Es 
kann  sehr  wohl  dieselbe  Hand,  wenn  sie  Draperiefiguren, 
diese  sauberen  Falten  und  Haken,  kopiert,  kindisch  oder 
senil  erscheinen,  und  dann  wie  frei  und  flüchtig,  wenn  sie 
eine  Landschaft  skizziert.  Sie  bleibt  sich  auch  gleich  ob 
sie  einen  Muskelmann,  wie  Pollajuolo’s  Herkules,  oder 
ein  paar  Reiter  nach  einem  umbrischen  Meister  laviert, 
und  auch  dann,  wenn  sie  ein  frühes  Quattrocentobild 
flüchtig  wie  den  kindlichen  Kindermord  skizziert. 

Spätere  Zusätze  markieren  sich  schon  deutlich  genug, 
wie  der  Kopf  mit  der  Allongeperücke,  der  Pierrot  auf 
einem  andern  Blatt,  durch  ihren  Mangel  an  Stil  in  der 
Federführung;  es  kommen  auch  auf  echten  Raffael’s  in 
Lille  und  Oxford  ähnliche  Kritzeleien  vor. 

Schwieriger  ist  die  Frage  der  Überarbeitung.  Man 
darf  doch  wohl  nicht,  wie  hier  bei  den  Landschaften 
geschehen  ist,  aus  dem  blossen  Vorhandensein  von  ein¬ 
geritzten  Konturen  oder  auch  von  Silberstiftspuren  unter 
den  Federstrichen  schliessen,  dass  die  ursprüngliche  Zeich¬ 
nung  von  fremder  Hand  mit  der  Feder  übergangen  wurde. 
Gerade  diese  Landschaften  stimmen  ja  in  der  Handschrift 
mit  den  besten  peruginesken  Blättern  überein,  zu  denen 
sie  auch  sonst  in  Beziehung  stehen:  bekanntlich  setzt  sich 
aus  zwei  Stücken  dieser  Landschaften,  allerdings  seltsamer 
Weise  im  Gegensinn,  der  Hintergrund  von  Raffael’s  Ma¬ 
donna  Terranuova  zusammen. 

Die  Vorbilder  der  Skizzenbuch-Zeichnungen  zu  finden, 
wird  mit  der  Zeit  mehr  und  mehr  gelingen.  Amersdorffer 
hat  eine  Reihe  Funde  zu  verzeichnen,  und  schon  Vor¬ 
handenes  glücklich  gruppiert.  Aus  der  Raffael-Forschung 
ist  das  Skizzenbuch  nun  wohl  endgültig  eliminiert,  aber 


48 


REMBRANDT’S  GEMÄLDE  DES  PAULUS  IM  NACHDENKEN 


von  grossem  Interesse  bleibt  es  als  Spiegel  der  gleich¬ 
zeitigen  Kunst.  Denn  den  eifrigen  Kopisten  hat  sein  Weg 
an  vielen  Grossen  vorbeigeführt,  ln  der  umbrischen  Heimat 
und  Schule  unter  Perugino  und  Pinturicchio  ist  er  er¬ 
wachsen  und  hat  seinen  Meistern  den  schuldigen  Tribut 
gegeben:  Perugino  in  den  beiden  greisen  Heiligen  (Per.  3 
und  Per.  50)  nach  den  ehemaligen  Sakristeibildern  in  S.  Pietro 
zu  Perugia,  Pinturicchio  in  den  Kopien  von  Figuren  aus 
der  Si.xtina.  Den  jungen  Raffael  muss  er,  als  Mitschüler, 
mindestens  gestreift  haben:  er  hat  den  Kopf  eines  alten 
Hirten,  den  Raffael  in  der  vatikanischen  Predella  der 
Anbetung  anbrachte,  in  seinem  Skizzenbuch  verzeichnet 
(Per.  87),  ebenso  den  ziirückgeworfenen  Apostelkopf  an  der 
Krönung  Mariä  (Per.  28)  und  selbst  ein  lionardeskes  Profil, 
das  Raffael  in  S.  Severo  verwertete  (Per.  87).  Mit  Spagna 
teilt  er  sich  —  es  ist  fraglich  ob  als  Kopist  nach  diesem 
—  in  der  Figur  eines  Reiters,  der  mit  dem  gleichen  zu 
langen  Bein,  auf  dem  Fresko  der  Kreuzigung  in  S.  Maria 
degli  Angeli  unterhalb  Assisi  vorkommt.  ln  Urbino 
hat  er  sich  die  bekannten  Philosophenporträts  des  Justus 
van  Gent  gemerkt,  in  Florenz  Pollajuolo’s  Zeichnungen 


(Per.  109,  110,  46)  und  Bronzen  (Per.  45  und  13)  auch 
Cosimo  Rosselli  in  seinem  hl.  Andreas  (Per.  44)  kopiert, 
und  der  werdenden  Hochrenaissance  seine  Ehrerbietung  be¬ 
zeugt,  indem  er  einen  Kopf  nach  Fra  Bartolommeo  (Per.  108) 
zeichnete.  Auf  seinem  Wege  von  den  Marken  nach  Florenz 
beugt  er,  der  Umbrer,  sich  vor  der  dramatischen  Wucht 
und  anatomischen  Meisterschaft  Signorelli’s  (Per.  2,  Per.  76) 
und  einem  frühen  Quattrocentomeister  kann  er  nicht  vorüber¬ 
gehen,  ohne  sich  von  seiner  Darstellung  des  Kindesmordes 
wenigstens  für  die  Zeit  einer  flüchtigen  Skizze  festhalten 
zu  lassen  (Per.  75).  Die  graphischen  Künste:  Mantegna’s 
Stich  der  Grablegung  und  eine  Nielle  mit  dem  vom 
Löwen  überfallenen  Hirten,  schliesslich  die  Antike,  von 
der  er  in  seiner  Grazienzeichnung  mindestens  ein  Er¬ 
innerungsbild  mitnimmt,  vervollständigen  das  Bild  aussen, 
was  in  jener  Zeit  dem  mittelmässigen  Maler  einer  provin¬ 
ziellen  Schule  für  seine  Ausbildung  zu  Gebote  stand. 
Dieser  kunst-  und  kulturgeschichtliche  Ausblick  mag  denen 
ein  Trost  sein,  die  den  Verlust  des  Skizzenbuchs  für 
Raffael’s  Namen  nicht  verwinden  können.  Oskar  Fischet. 


REMBRANDT’S  GEMÄLDE  DES  PAULUS  IM  NACHDENKEN  IM 
GERMANISCHEN  MUSEUM  ZU  NÜRNBERG 


L.  Kühn’s  Radierung  führt  uns  ein  Jugendwerk  Rem- 
brandt’s  im  Besitz  des  Germanischen  Museums  in  treuer, 
charakteristischer  Nachbildung  vor.  Das  Bild  ist  weder 
bezeichnet  noch  datiert;  trotzdem  ist  es  nie  angezweifelt 
worden,  wie  bis  vor  kurzem  noch  die  Mehrzahl  der 
Jugendbilder  des  Meisters.  Freilich  ist  es  noch  nicht  lange 
bekannt.  Es  tauchte  vor  einigen  zwanzig  Jahren  in  Berlin 
in  der  Sammlung  des  Freiherrn  von  Fechenbach  in  Franken 
auf.  Das  Auktionshaus  FL  Lepke  sollte  das  Bild  unter  der 
Hand  unterzubringen  suchen;  aber  da  es  keinerlei  pedigree 
hatte,  fand  es  keinen  Käufer,  und  auf  einer  Versteigerung 
bei  Lepke  1882  musste  es  wegen  ganz  niedrigen  Angebots 
zurückgezogen  werden.  Das  Bild  gelangte  dann  durch 
Erbschaft  an  einen  anderen  fränkischen  Edelmann,  Frei¬ 
herrn  von  Bodeck-Ellgau  auf  Heidenfeld,  der  es  1890  mit 
seiner  Sammlung  in  Köln  versteigern  liess.  Hier  musste 
ich  es,  da  ich  zufällig  der  Auktion  beiwohnte,  auf  Wunsch 
von  Professor  v.  Essenwein  für  das  Germanische  Museum 
erwerben.  Nicht,  dass  ich  nicht  froh  gewesen  wäre,  auf 
diese  Weise  das  Bild  einer  öffentlichen  Sammlung  und 
gerade  Deutschland  erhalten  zu  sehen,  aber  ich  vertrat  und 
vertrete  noch  imVerwaltungsausschuss  des  German. Museums 
die  Ansicht,  dass  dieses  Institut  möglichst  ausschliesslich 
Gegenstände  rein  deutscher  Kunst  und  Kultur  erwerben 
soll,  und  dass  die  Mittel  die  Ausdehnung  auf  stamm¬ 
verwandte  Nationen,  wie  Holländer  und  Vlamen,  nicht  er¬ 
lauben.  Immerhin  ist  es  erfreulich,  dass  das  Bild  jetzt  in 
einem  grossen  deutschen  Museum  aufbewahrt  wird, 
denn  es  ist  nicht  etwa  eine  blosse  Nummer  im  reichen 
Malerwerk  Rembrandt’s,  nicht  bloss  ein  Bild  wie  manche 
andere,  sondern  es  steht  unter  seinen  Jugendwerken  mit 
in  erster  Reihe  und  zeigt  seine  Eigenart  schon  in  eigen¬ 
tümlich  scharfer  und  bedeutender  Weise. 

Der  Paulus  des  Germanischen  Museums  ist  freilich 
eine  Gestalt  wie  so  viele  in  Rembrandt’s  Gemälden  und 
Radierungen:  ein  alter  Gelehrter  an  seiner  Arbeit.  Gerade 
unter  den  Jugend  werken  finden  wir  den  Paulus  wiederholt 
und  ähnliche  Einzelgestalten  in  grösserer  Zahl,  aber  sie 
verraten  den  Anfänger  in  viel  stärkerem  Masse.  So  der 


»Paulus  im  Gefängnis«  von  1627,  das  früheste  bekannte 
Bild  Rembrandt’s,  jetzt  in  der  Stuttgarter  Galerie,  in  dem  das 
Modell  noch  fast  peinlich  wiedergegeben  ist  und  die 
Überfülle  von  Nebensachen  die  Hauptfigur  beeinträchtigt. 
Dies  gilt  in  anderer  Weise  auch  vom  »Wechsler«  in  der 
Berliner  Galerie  und  vom  »alten  Gelehrten«  in  der  Sammlung 
von  Frau  Rätin  Mayer  in  Wien;  das  erste,  gleichfalls  datiert 
vom  Jahre  1627,  in  welchem  Jahre  sehr  wahrscheinlich  auch 
das  letztere  entstanden  ist.  ln  beiden  Bildern  sind  die  Gegen¬ 
sätze  zwischen  Licht  und  Schatten  noch  stark  übertrieben,  die 
Wirkung  des  Kerzenlichtes  ist  darin  ebenso  naturalistisch,  fast 
ängstlich  treu  wiedergegeben,  wie  im  Stuttgarter  »Paulus« 
das  einfallende  Sonnenlicht,  und  die  Figuren  sind  noch  ohne 
jede  feinere  Empfindung.  Anders  im  »Paulus«  des  Ger¬ 
manischen  Museums,  wenn  er  auch,  nach  der  Benutzung  des 
in  diesen  Jahren  häufiger  vorkommenden  Modells  und  nach 
manchen  charakteristischen  Zügen,  nur  ein  bis  zwei  Jahre 
später  entstanden  ist  als  jene  Bilder.  Hier  ist  die  edle 
Apostelfigur  schon  voll  zur  Geltung  gekommen,  sie  wird 
durch  die  Beleuchtung  und  malerische  Behandlung  nur 
gehoben  und  voll  zur  Wirkung  gebracht.  In  tiefes  Sinnen 
verloren  über  den  Brief,  den  er  an  eine  seiner  geliebten 
Gemeinden  niederzuschreiben  im  Begriffe  ist,  blickt  er  vor 
sich  hin,  eine  kräftige  Gestalt,  schon  ergraut,  aber  voll 
verhaltener  Thatkraft.  Die  getünchten  Wände  des  kahlen 
Raumes  schmücken  nur  ein  Paar  Yatagans  —  wohl  an  Stelle 
des  Schwertes  — ,  aber  das  warme  goldige  Licht,  das  den 
Kopf  des  Apostels  streift  und  voll  auf  die  Wand  fällt  und 
die  Bücher  auf  dem  Tisch  ganz  dunkel  sich  abheben  lässt, 
giesst  schon  jenen  eigentümlichen  Zauber  des  Behagens  und 
der  Andacht  über  die  Gestalt,  wie  er  den  späteren  Bildern 
des  Meisters  ganz  eigen  ist,  und  hebt  sie  weit  über  die  Sphäre 
jener  ersten  Studien.  Der  »Paulus«  ist  darin  schon  der 
unmittelbare  Vorläufer  der  beiden  berühmten  kleinen 
Philosophenbilder  im  Louvre,  die  er  zwar  an  Feinheit 
der  Ausführung  und  des  Helldunkels  nicht  erreicht,  neben 
denen  er  aber  durch  die  eigentümliche  Kraft  und  Breite 
der  Behandlung,  durch  reiche  leuchtende  Färbung  bestehen 
kann.  w.  BODE. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ilTSCHRlFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  I902 


ADOLF  V.  MENZEL.  VON  DER  PARISER  WELTAUSSTELLUNG  1867 


AUS  SEEMANNS  HUNDERT  MEISTERN  DER  GEGENWART 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1902 


ORIGINALRADIERUNO  VON  HERMANN  HIRZED 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER 

IN  BRÜGGE 

VON  Franz  Dülberg 


ES  war  ein  voller,  ein  flandrisch  lauter,  ein  fast 
betäubender  Erfolg.  Die  träumende  Stadt  sah 
für  einige  Monate  dem  Bayreuth  der  Wagner¬ 
spiele  zum  Verwechseln  ähnlich. 

Ist  eine  reine  Freude  über  solches  Ergebnis  er¬ 
laubt?  So  schön  es  ist,  dass  eine  Kunst,  die  so  auf¬ 
richtig  war  zur  Natur  und  die  nie  mit  leichter  Fertig¬ 
keit  die  scheinbar  kleinen  Dinge  des  Lebens  über¬ 
hüpfte,  so  viele  Freunde  jetzt  findet,  so  will  doch 
die  Befürchtung  nicht  schweigen,  dass  gerade  das 
Primitive  an  den  Primitiven  Mode  werden  könnte. 
Vestigia  terrent.  Manet  und  Degas  werden  länger 
leben  als  Rossetti  und  Burne-Jones. 

Dabei  setzte  die  Ausstellung  nicht  etwa  die  leicht 
eindringende  Stimmung  fort,  die  dem  Besucher,  der 
auf  dem  Burgplatze  hinter  dem  Stadthause  den  Mond 
sich  erheben  und  die  leise  Vergoldung  des  Anbaues 
beglänzen  sieht,  zum  Geschenke  wird.  Die  Ausstellung 
war  aufgeregt  kunsthistorisch,  ja  etwas  kunsthänd¬ 
lerisch. 

Schliessen  wir  einen  Augenblick  die  Ohren  gegen 
das  Gepolter  der  hart  im  Raume  sich  stossenden 
Dinge,  so  schauen  wir  in  der  Mitte  eines  hohen 
Saales  den  Dijoner  Mosesbrunnen  des  Claus  Sluter, 
um  den  herum  man  jetzt  in  gerechter  Erkenntnis  des 
Genies  ein  Irrenhaus  angelegt  hat.  Broederlam’s 
Marienleben  mit  seinen  schlanken  Erscheinungen  und 
der  zarten  Jugend  seiner  blonden  Farben  führt  zu 
des  grossen  Hubertus  e  Eyck  Mitteltafel  des  Genter 
Altars,  dessen  machtvoll  herrschende  Gestalten  uns 
von  einer  nordischen  Monumentalkunst  erzählen,  deren 
hohe  Reife  im  Schwur  der  Bataver  heraufzuführen 
Rembrandt  durch  den  Unverstand  seiner  Mitbürger 
gehindert  wurde.  Zur  Seite  steht  Roger’s  von  Tournai 
Kreuzabnahme  des  Escorial,  nahe,  klar  und  ergreifend 
wie  ein  Volkslied.  Gegenüber  Hugo  van  der  Goes’ 
Anbetung  der  Hirten  aus  Florenz,  in  seiner  süssen 
Herbe,  in  seiner  unvergleichlichen  Gegenwärtigkeit  für 
mich  neben  Matthias  Grünewald’s  Isenheimer  Altar 
das  stolzeste  Werk  der  nordischen  Frühblüte.  Auf 
Pulten  breiten  sich  Paul  von  Limburg’s  Stundenbuch 
des  Herzogs  von  Berry  und  dieses  Werkes  wohl¬ 
geratener  Enkel,  das  Grimanische  Brevier.  Die  Rück¬ 
wand  schmückt  Geertgen’s  van  Sint  Jans  Wiener 
Hauptbild  mit  der  starren  laut  umklagten  Feier  des 
toten  heiligen  Leibes.  Ein  Nebenraum  zeigt  einander 
gegenüber  des  Quinten  Massys  Antwerpener  Altar 
mit  seinem  unzählbaren  goldenen  Reichtum  und  des 
Lukas  van  Leyden  jüngstes  Gericht,  jene  Schöpfung 
unerhörtester  malerischer  Unbefangenheit  vor  dem 
widerspenstigsten  aller  Stoffe.  —  Verschwinde,  Traum! 

Was  gegen  Hunderte  berechtigter  und  unberech¬ 
tigter  Widerstände  durchzusetzen  war,  haben  die  Leiter 

Zeitschrift  für  bildende  Kunsf.  N.  F.  XIV.  H.  3. 


der  Brügger  Ausstellung,  deren  Namen  Belgien  mit 
Jubel  nennen  durfte,  erreicht.  Natürlich  war  fast  jedes 
wichtigere  ältere  Bild,  das  Brügge  selbst  besitzt,  ge¬ 
kommen.  Die  belgischen  Kirchen  —  leider  lange 
nicht  alle  —  hatten  manches,  die  belgischen  Museen 
einige  Proben,  die  belgischen  Sammler  vieles,  darunter 
einige  ihren  ganzen  Primitivenbestand,  geschickt. 
Holland  hatte  wenig  gegeben,  Deutschlands  und  Öster¬ 
reichs  Privatsammler,  zumal  die  Berliner,  sehr  viel; 
auch  einige  fürstliche  Sammlungen,  die  schon  fast 
Museen  gleichen,  hatten  aufs  erfreulichste  beigesteuert. 
Aus  Paris  hatte  sich  eine  gute  Anzahl  eingefunden; 
auch  aus  dem  übrigen  Frankreich  einzelne  sehr  be¬ 
deutende  Stücke.  Auch  Italien  war,  vornehmlich  durch 
den  Fürsten  Doria,  vertreten.  Den  grössten  Gewinn 
brachte  aber  der  sehr  stattliche  Aufmarsch  Englands: 
zumal  die  Sammlungen  des  Earl  of  Northbrook  und 
des  Sir  Frederick  Cook  führten  manchem  Kunstfreund 
vieles  Herrliche,  das  er  bisher  nur  nach  Photographien 
oder  gar  nur  nach  Beschreibungen  erraten  durfte,  in 
schönster  Greifbarkeit  vor  die  Augen. 

Bei  alledem  beherrschte  Brügge  das  Gesamtbild. 
Damit  war  —  da  die  ja  fast  sämtlich  eingewanderten 
Meister  der  sogenannten  Schule  von  Brügge  am  Ort 
ihrer  neuen  Thätigkeit  eine  behäbigere,  den  Wünschen 
einer  satten  Grossbürgerei  nachkommende  Art  an- 
nahmen  —  die  Entscheidung  dahin  gefallen,  dass  die 
retardierenden  Momente  des  geschichtlichen  Dramas 
in  den  Vordergrund  traten.  Antwerpen  als  Schau¬ 
platz  der  Ausstellung  würde  ein  ganz  anderes  Bild 
ermöglicht  haben.  Vor  allem  aber  möchte  ich  dafür 
eintreten,  das  Holland  im  Jahre  1908  zur  Vierhundert¬ 
jahrfeier  des  künstlerischen  Auftretens  des  Lukas  van 
Leyden  eine  Ausstellung  seiner  Primitiven  veranstalten 
möge.  Ich  hoffe,  dass  man  meine  Anregung  nicht 
mit  einem  »Vous  etes  orfevre,  Monsieur«  abthun 
möchte. 

Da  den  kostbaren  Gemälden  *)  ein  allen  Ansprüchen 
an  Feuersicherheit  genügender  Aufenthalt  verbürgt 
werden  musste,  so  war  in  der  Stadt  wohl  kaum  ein 
besserer  Raum  zu  finden,  als  das  durch  Entgegen¬ 
kommen  der  Regierung  dargebotene  Provinzialgebäude 
am  Markt,  leider  eine  Schöpfung  »neugotischen 
Stiles«. 

Die  Eingangsräume  im  Erdgeschoss  schmückte 
die  rotblaubunte  Pracht  einiger  (nicht  der  vorzüg- 

1)  Ich  beschränke  mich,  da  der  Stoff  mich  fast  zu  er¬ 
drücken  droht,  auf  die  Ausstellung  der  Gemälde  und  lasse 
die  sehr  wichtige  Schau  der  Miniaturen,  Urkunden,  Siegel, 
Medaillen,  plastischen  Werke,  kirchlichen  Gebrauchs-  und 
Prunkstücke  und  Stickereien,  die  gleichzeitig  in  dem  von 
der  Stadt  erneuten  Hotel  Gruuthuuse  stattfand,  ganz  bei¬ 
seite. 


7 


DIE  AuSSTEL’  /NG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


liebsten)  Wandg£\v-be  aus  der  Llinterlassenscnaft 
.eon  de  Son.rLeA,  ’cn.rs  k- .  'L-digen  Unternehmers 
und  S?".  :1er  ,  -  r  er"  ni  So  recht  den  all- 

eiiig;:.:  Ti:o  :  r  :v.  =  ;igei:  '  dgiers  ver- 

Köipen  hav  ■  .  ui  oiche  Ernatiker  des 

Schauens,  die  ■  .  irdil  'ucht  das  Haus 

der  Primi. L  .  .  :“rir  r  •  .r  ...  gpeise  und  Trank 

fanden,  uk  -  i  d:n:gsraum  für  die  Re- 

produklioric;.  .:-r  vtrniissten  Gemälde: 

doch  vrr  un  u-^.dges  darmüer,  was  nicht  auch  an 
and- ■  L.a- li  ,  .  -  va  at.f  d.  ni  Berliner  Kupferstich- 
Kabineli.  d.;m  Si  rTieruen  zur  Verfügung  stände.  Die 
OemäidrsrTiätr-e  über  400  Nummern,  also  weit 
mehr,  als  irgend  ein  einzelnes  Museum  an  nordischen 
Frühmeistcp  besitzt  —  waren  in  sieben  Räumen  des 
eisten  u.d  un  einer  Empore  des  zweiten  Stockes 
untergebraeiü.  i-ine  ziemlich  enge  Treppe,  mit  Blatt¬ 
pflanzen,  i4i:inem  Sammet  und  gegenständlich  inter¬ 
essanten  Orisailledarstellungen  der  Grafen  von  Flan¬ 
dern  lind  der  Äbte  von  Unserer  lieben  Frau  zur  Düne« 
{-/om  Jahre  1480)  geschmückt,  führte  hinauf. 

Die  Bildersäle  waren  mit  rotem  Sammet  aus¬ 
geschlagen;  leider  hatten  sie  sämtlich  Seitenlicht,  das 
zumal  im  Haiiptsaal  aus  schwindelnd  hohen  Fenstern, 
weit  über  den  Bildern  her,  einfiel.  Bei  der  Be¬ 
schränktheit  des  Platzes  hatte  man  selbst  den  hervor¬ 
ragendsten  Stücken  nicht  den  Ellenbogenraum  geben 
können,  den  ein  Kunstwerk  so  gut  wie  ein  richtiger 
Mensch  braucht,  um  zur  Geltung  zu  kommen. 

Das  erste  kleine  Zimmer,  in  das  man  von  der 
Treppe  aus  gelangte,  enthielt  hauptsächlich  die  Werke 
des  Jan  van  Eyck  und  des  Petrus  Christus;  auch 
einiges,  was  man  den  Vorläufern  der  Eyck  glaubte 
zuschreiben  zu  können.  Sonderbarerweise  gehörte 
gerade  dasjenige  Bild,  das  den  Eintretenden  empfing, 
ein  als  Bellegambe  eingesandter  Christus  in  der  Vor¬ 
hölle  (Nr.  352),  der  italienischen  Kunst  an:  etwa  Schule 
von  Verona  um  1460^).  Rechts  folgte  der  grosse 
Saal  der  Hauptmeister  Brügges:  Memling,  dem  durch 
Zwischenwände  kümmerlich  ein  eigener  Raum  ge¬ 
schaffen  war,  und  Gerard  David,  der,  mit  zu  Ehren 
seines  Wiederbelebers,  des  hochverdienten  James  Weale, 
glänzend  vertreten  war.  Auch  wohnten  hier  Dirk 
Bouts,  der  gut  in  Erscheinung  trat,  Hugo  van  der 
Goes  und  der  Meister  von  Flemalle,  die  kümmerlich 
zur  Geltung  kamen;  schliesslich  Roger  de  la  Pasture 
mit  gar  allzuwenigen  Proben.  Zur  Rechten  weiter 
führte  ein  kleiner  Raum,  der  vornehmlich  der  hollän¬ 
dischen  Malerei  gewidmet  war,  in  ein  Zimmer,  wo 
der  ranken-  und  goldfrohe  Lancelot  Blondeel  —  eine 
Spezialität  des  sinkenden  Brügge  —  seine  Tapezier¬ 
künste  zeigen  durfte.  —  Im  ersten  Saale  links  vom 
Heiligtume  der  van  Eyck  folgte  der  ernste  Jean  Prevost 
und  der  bisher  sogenannte  Waagen 'sehe  Mostaert, 

1)  Nur  noch  ein  zweites  Bild,  das  auch  beim  besten 
Willen  nicht  unter  das  Zeichen  des  Kunstkreises  der  van 
Eyck  zu  bringen  war,  ist  mir  aufgefallen;  diesmal  im  letzten 
Raum:  eine  als  Orley  von  Sedelmeyer  in  Paris  geschickte 
Dorothea  (Nr.  407),  sehr  verrestauriert,  aber  wie  mir  die 
Malweise  der  Hand  unzweideutig  zu  zeigen  schien,  ein 
echter  Palma  Vecchio! 


dessen  prachtvolles  Karminrot  zu  bewundern  die 
reichste  Gelegenheit  geboten  war;  auch  der  Meister 
der  weiblichen  Halbfiguren.  Links  weiter  im  zweiten 
Raume  Mabuse,  dessen  wechselvolle,  aber  immer  be¬ 
deutende  Art  leider  durch  kein  einziges  entscheiden¬ 
des  Stück  veranschaulicht  wurde,  der  Haarlemer  Meister 
des  Oultremont’schen  Altares  und  der  preziöse  Herri 
de  Bles:  in  reizvollstem,  ungemein  belehrendem  Gegen¬ 
satz  hatte  man  die  Hauptwerke  dieser  beiden  Künstler 
in  dieselbe  Zwischenwand  eingelassen.  Im  dritten 
Zimmer  endlich  herrschten  die  grossen  Charakteristiker 
und  Phantasten  Bosch  und  Brueghel,  hinter  denen 
Erscheinungen  wie  Massys,  Patinir  und  der  Meister 
des  Todes  Mariä  ungebührlich  zurücktraten.  Auf 
der  Empore  musste  das  eigentlich  nicht  mehr  in  den 
Kreis  der  Primitiven  gehörende  wackere  Malergeschlecht 
der  Pourbus  vorlieb  nehmen,  das  mit  der  fetten  schon 
an  Thomas  de  Keyser  gemahnenden  Kraft  seiner  Por¬ 
träts  den  Ausblick  ins  17.  Jahrhundert  eröffnete. 

Qa  fera  la  fortune  des  specialistes;  Vous  en  aurez 
ponr  dix  ans!«  rief  in  der  Ausstellung  ein  älterer 
Forscher,  der  neuen  Ergebnisse  gedenkend,  die  das 
Beieinanderwohnen  so  vieler  sonst  durch  Eisenbahn¬ 
nächte  getrennter  Bilder  für  die  Erkenntnis  der  Kunst 
haben  werde.  Mit  reichem  Verständnis  hatte  auch 
die  Hängekommission  gestrebt,  das  Auge  zu  führen, 
indem  sie  manche  nur  durch  veraltete  Taufnamen  ge¬ 
trennte,  in  der  Art  aber  verwandte  Stücke  einander 
benachbarte.  Der  offizielle  Katalog  freilich,  wertvoll 
durch  einen  einführenden  Aufsatz  James  Weale’s  und 
durch  die  ausführliche  und  genaue  Beschreibung  der 
meisten  Werke,  verzichtete  darauf,  an  den  Meister¬ 
namen,  die  die  Besitzer  ihren  Bildern  gegeben  hatten, 
zu  ändern.  Mit  gutem  Grunde:  manche  Sammler 
würden  gewiss  erklärt  haben,  sie  spielten  nicht  mehr 
mit,  sobald  man  Miene  gemacht  hätte,  ihre  Hubert 
van  Eycks  und  Gerard  van  der  Meires  umzutaufen. 
Es  giebt  eben  immer  noch  Leute,  die  Bilder  nicht 
nach  ihren  Eigenschaften,  sondern  nach  dem,  was 
man  auf  der  unteren  Leiste  der  Rahmen  liest,  be¬ 
werten.  Als  eine  zum  mindesten  für  Belgien  epoche¬ 
machende  wissenschaftliche  That  ist  aber  das  —  leider 
erst  kurz  vor  Thoresschluss  erfolgte  —  Erscheinen 
eines  nichtamtlichen  kritischen  Kataloges  zu  begrüssen, 
der  von  einem  —  wie  ich  seinem  Lande  wünschen 
will,  noch  jungen  und  zukunftreichen  —  belgischen 
Forscher,  Herrn  George  H.  de  Loo  in  Gent,  verfasst 
war.  Diese  Arbeit  verriet  nicht  nur  in  den  Bilder¬ 
bestimmungen  eine  blendende  —  mitunter  selbst  leicht 
an  Snobismus  streifende  —  wissenschaftliche  Moder¬ 
nität,  sondern  vor  allem  an  vielen  Stellen  erstaunliche 
historische  und  heraldische  Kenntnisse.  Einen  beson¬ 
deren  Wert  erhielt  sie  noch  dadurch,  dass  der  Autor 
eine  Fülle  noch  unveröffentlichter  mündlich  mitge¬ 
teilter  Forschungsergebnisse  zweier  der  führenden 
Kenner  altniederländischer  Kunst,  Hugo  von  Tschudi’s 
und  Max  J.  Friedländer’s  hatte  verwerten  dürfen  und 
sie  gewissermassen  als  Dolmetsch  deutscher  Wissen¬ 
schaft  vor  das  Publikum  brachte;  dass  er  so  sein 
eigenes  Verdienst  nicht  schmälerte,  sondern  mehrte, 
wird  jeder  würdigen,  der  weiss,  welche  Leistung  es 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


51 


erfordert,  die  im  Fachgespräch  hingeworfenen  Äusse¬ 
rungen  eines  anderen  für  den  Druck  zu  gestalten. 
In  einer  beigegebenen  Abhandlung  über  die  Identifi¬ 
zierung  anonymer  Meister  setzte  der  Verfasser  die 
wichtigen,  von  Forschern  wie  Karl  Justi,  Firmenich- 
Richartz,  Gustav  Glück  und  anderen  begonnenen 
Versuche  fort,  eine  Anzahl  der  bisher  in  der  Kunst¬ 
geschichte  für  Werke  einer  und  derselben  Hand  ge¬ 
bräuchlichen  Hilfsnamen  (»Der  Meister  des  Todes 
Mariä«,  »Der  Meister  der  weiblichen  Halbfiguren« 
u.  s.  w.)  mit  Hilfe  von  Wahrscheinlichkeitsschlüssen 
durch  die  Namen  historisch  beglaubigter  Maler,  von 
denen  wir  keine  sicher  bezeichneten  oder  beurkun¬ 
deten  Bilder  haben,  zu  ersetzen.  Manche  dieser  Ehen 
zwischen  Holz  und  Pergament  werden  wohl  nicht 
mehr  getrennt  werden:  so  wird  man,  zumal  nach  de 
Loo’s  letzten  Beiträgen,  wohl  kaum  mehr  daran 
zweifeln,  dass  der  bisherige  »Meister  der  Himmel¬ 
fahrt  Mariä«  in  Albert,  dem  Sohne  des  Dirk  Bouts, 
gefunden  ist:  in  einigen  anderen  Fällen  scheint  für 
mein  Gefühl  das  Standesamt  des  belgischen  Autors 
oder  seiner  Vorgänger  etwas  zu  schnell  gewaltet  zu 
haben. 

*  * 

* 

Die  Frage,  wie  die  Kunst  der  van  Eyck  aus  dem 
umgebenden  Erdreich  erwachsen  sein  mag,  wurde 
auf  der  Brügger  Ausstellung  ihrer  Lösung  kaum 
näher  geführt.  Eher  ins  14.  Jahrhundert  zurück  als 
ins  15.  voraus  schien  ein  sehr  hell  gehaltenes  um 
1400  entstandenes  Kreuzigungsbild  der  Brügger  Sal¬ 
vatorkirche  (Nr.  4)  zu  weisen,  bemerkenswert  durch 
den  starken  Gefühlsausdruck  der  heiligen  Frauen. 
Dem  burgundischen  Hofmaler  Broederlam  und  seiner 
Schule  wurden  zwei  Stücke,  die  reizvolle,  in  feinem 
Rot  und  Blau  leuchtende  Dreieinigkeit  bei  Konsul 
Weber  in  Hamburg  (Nr.  2)  und  ein  Marienaltärchen, 
Schnitzerei  mit  bemalten  Flügeln  aus  der  Sammlung 
Cardon  in  Brüssel  zugeschrieben,  ln  dem  ersten  der 
beiden  Werke  erinnerte  wohl  die  Farbenharmonie 
und  die  Gestaltung  der  Evangelistensymbole  an  den 
Meister,  Zeichnung  und  Komposition  aber  waren  viel 
schwächer;  bei  dem  zweiten  bildete  wohl  die  Ähn¬ 
lichkeit,  die  die  Erscheinung  des  Henkers  in  der  Scene 
des  Kindermordes  mit  de  Baerze’s  Schnitzfigur  des 
heiligen  Georg  vom  Dijoner  Altar  aufwies,  die  ein¬ 
zige  Verbindung  zur  Burgunder  Gruppe.  Sehr  schwer 
einzuordnen  war  eine  sehr  interessante  Folge  von 
vier  figurenreichen  Tafeln  aus  der  Georgslegende 
(Nr.  321,  M.  Theoph.  Belin,  Paris),  die  der  kritische 
Katalog  versuchsweise  der  Schule  von  Avignon  gab. 
Ich  fühlte  mich  mehr  an  die  von  Vogelsang  ver¬ 
öffentlichten  Miniaturen  der  sogenannten  »holländischen 
Apokalypse«  in  Paris  und  an  das  grossartige  Wand¬ 
bild  des  Todestriumphs  im  Palazzo  Scläfani  in  Pa¬ 
lermo  erinnert.  In  die  Nähe  jenes  geheimnisvollen 
holländischen  Wanderers,  der  dieses  auch  in  der  Mal¬ 
technik  einzeln  stehende  Werk  im  Süden  schuf,  ge¬ 
hören  die  Bilder  vielleicht;  die  Hand  scheint  mir 
italienisch. 

So  wurde  der  Beschauer  ziemlich  unvermittelt  zu 
Jan  van  Eyck  geführt,  der,  da  von  all  den  Herrlich¬ 


keiten  des  Genter  Altarwerkes  nur  die  beiden  Brüsseler 
Flügel  mit  den  Bildern  Adam’s  und  der  Eva  erreich¬ 
bar  gewesen  waren,  den  stärksten  Eindruck  mit  der 
1436  gemalten  Madonna  des  Kanonikus  van  de  Paele 
hervorrief.  So  bedeutsam  auch  die  beiden  Bildnisse 
unserer  ersten  Eltern  als  die  frühesten  uns  erhaltenen 
naturalistischen  Aktdarstellungen  und  als  Ahnen  einer 
unabsehbaren  Reihe  sind,  so  ist  doch  für  den,  der 
sich  einmal  den  Geheimnissen  der  Mittelgestalten  des 
unerschöpflichen  Werkes  hingegeben  hat,  der  Abstand 
an  seelenkündender  Kraft  zu  gewaltig,  um  einen  reinen 
Genuss  dieser  Figuren,  mit  denen  Jan  die  Fortsetzung 
von  Hubert’s  Arbeit  begonnen  haben  dürfte,  auf- 
kommen  zu  lassen.  Wer  sich  die  Tafeln  umwenden 
und  die  frische  Entdeckerfreude,  mit  der  Zimmer¬ 
inneres  und  Strassenausblick  dort  festgehalten  sind, 
auf  sich  wirken  liess,  kam  besser  auf  seine  Rechnung. 
Das  viel  verleumdete  grosse  Devotionsbild,  das  in 
der  Brügger  Akademie  ungünstig  aufgestellt  ist,  schien 
mir  bis  auf  die  linke  Hand  der  Madonna  und  den 
rechten  Fuss  des  Kindes  wohl  erhalten;  die  Typen 
nirgends  »hässlicher«  als  sonst  bei  Jan;  ungemein  er¬ 
freulich  der  augenblickhaft  belebte  Gesichtsausdruck 
des  Kindes  und  des  heiligen  Georg.  An  leiser 
scharfer  Nachfühlung  der  Natur  geht  Jan  hier  über 
alles,  was  wir  heute  an  einem  Adolf  Menzel  be¬ 
wundern,  hinaus:  man  sehe  die  Hand  des  Stifters, 
mit  der  er  das  Buch  hält  —  von  der  unübertreff¬ 
lichen  Aufnahme  des  Teppichs,  der  Fliesen  und  des 
Bischofsgewandes  gar  nicht  zu  reden.  Alles,  was 
sonst  noch  von  Werken  Jan  van  Eyck’s  gezeigt  wurde, 
trat  weit  zurück:  das  Bildnis  der  Gattin  in  seiner 
vornehmen  Sachlichkeit,  die  feine  kleine,  aber  etwas 
miniaturhafte,  nach  Ludwig  Kaemmerer’s  feinsinnigem 
Hinweis  von  Stephan  Lochner’s  Madonna  im  Kölner 
Erzbischöflichen  Museum  geistig  angeregte  Antwer- 
pener  Madonna  am  Springbrunnen,  und  das  freudig 
begrüsste  kleine  Männerporträt  aus  Hermannstadt:  der 
Kopf  mit  seiner  momentanen  starren  Haltung  und 
dem  lebendigen  Ausdruck  gut  erhalten,  nur  das  Ultra¬ 
marin  der  Kopfbedeckung  verdorben.  Zu  manchen 
klärenden  Streichungen  war  Gelegenheit:  das  oft  be¬ 
sprochene,  mit  der  verlockenden  Jahreszahl  1421  ge¬ 
schmückte  Bild  der  Bischofsweihe  des  heiligen  Thomas 
von  Canterbury  aus  dem  Besitze  des  Herzogs  von 
Devonshire  (Nr.  8)  ist  eine  noch  dazu  übermalte 
Arbeit  vom  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  und  mag,  wie 
mir  ein  besser  bewahrtes  Werk  der  gleichen  Hand 
aus  dem  gleichen  Besitz,  das  den  Aufbruch  eines 
jungen  Heiligen  fürstlichen  Geblütes  darstellt  (Nr.  147), 
mit  dem  zarten  leicht  verschwimmenden  Blick  des  die 
Hände  faltenden  Knaben,  den  kleinen  fein  geschnit¬ 
tenen  Köpfen  und  dem  leicht  bräunlichen  Ton,  auch 
der  Vergleich  mit  einem  verwandten,  hier  fehlenden 
Bilde  des  Musee  Conde  in  Chantilly  zu  zeigen  scheinen, 
im  nördlichsten  Frankreich  entstanden  sein  und  dem 
fein  empfindenden  Simon  Marmion  nicht  allzu  fern 
stehen.  Die  kleine  Madonna  der  Sammlung  North- 
brook  (Nr.  11)  ist  nur  eine  Kopie  aus  der  Madonna 
van  der  Paele;  nach  der  rotbräunlichen  Karnation  zu 
schliessen,  erst  gegen  1500  ausgeführt.  Der  viel  be- 


7 


DIE  AUSSTELLU’IO  ;_LTr:!EDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


52 

redete  Löwener  van  Eyck  ’Hch,  Je  iebensgrosse 
Madonna  des  Nicolas  van  '  iae!';'eke,  "^ropstes  von 
Sankt  Martin  in  •  o  :  "as  -  ^vOKci-dete  Werk 
des  -leistcrs.  is.  :  ;  1  gegr./ -artigen  Gestalt 
jedenfa  's  dt  .  verdankei::  einige 

rt;.j];on  .  c..  :  '  k  Ei'au  lassen  aber 

irofiei  d  tif  :  ■;  ass  sich  einmal  auf 

ner  ■  drj  d.rt  .inderts  befunden 

habLii  ■  :  ..  -ai’z  n  Tone  muss  von  dem 

vor  •diep'i  lai-iM  a-ftii' h  ■  1  ei-  hervorragenden  Ge¬ 

mälde  der  ■  r-..c  am  Gi-l-:  Christi  (Nr.  7,  Sir  Fr. 
r:ook,  r  tiimrt'.d)  werden,  dem  Vertreter 

einer  Jt  n  neiu  ■■■  grossen  Brüdern  örtlich  und  zeitlich 
sthr  naiiesieheirlen  nüdergruppe,  der  neben  anderen 
auch  das  vor  einig:  *’  .T^en  für  das  Berliner  Museum 
als  ?an  ■  an  y  k  'worhene  Kreuzigungsbild  und  die 
beider  a-i  il;  überreichen  Flügel  mit  dem  Kal- 
varifuberg  nd  davu  Jüngsten  Gericht  in  Petersburg 
angehürin.  Von  mancher  Seite  wird  jetzt  versucht, 
ansere  Sehnsucht  nach  Werken  des  Hubert  van  Eyck 
tnit  diesen  gewiss  kostbaren  Stücken  zu  befriedigen: 
nacii  meinem  Eindruck  von  dem  Genfer  Denkmal 
und  den  Einzelwerken  des  jüngeren  Bruders  kann  ich 
in  dem  unruhig  die  ganze  Tafel  mit  geistreichen 
Einzelheiten  übersäenden,  statt  der  Dinge  selbst  ein 
Capriccio  über  sie  gebenden  Künstler  weder  den  im 
Innersten  ergriffenen  gross  und  klar  gestaltenden 
Meister  des  Gottvater,  der  Maria,  des  Johannes,  der 
Engelchöre  und  der  Anbetung  des  Lammes  noch  den 
allzeit  zielsicheren  Maler  des  Ehepaars  Arnolfini  er¬ 
kennen.  Sicher  gehört  das  Cook’sche  Bild  (gut  er¬ 
halten  bis  auf  das,  wie  so  oft,  verdorbene  Ultramarin) 
durch  das  herrliche  Spiel  der  Morgenlichter  auf  den 
Burgen  im  Hintergründe  und  die  leuchtenden  Wolken 
in  die  erste  Reihe  der  Zeugnisse  zur  Entwickelung 
der  Landschaftskunst,  ln  den  starken  Gesichtsschatten 
und  der  reich  belebten  Hiigellandschaft  erschien  die 
von  Mad.  Andre  in  Paris  gesandte  Madonna  mit  dem 
Tintenfass  (Nr.  gg)  dem  Richmonder  Bilde  entschieden 
verwandt.  Vor  solchen  Werken  hätte  immerhin  eher 
der  Name  der  Margaretha  van  Eyck,  der  jungfräu¬ 
lichen  Schwester  der  beiden  Grossmeister,  genannt 
werden  können  als  vor  dem  kleinen  aus  England  ge¬ 
kommenen  Altärchen  der  Anbetung  der  Könige 
(Nr.  327),  das  in  seiner  leuchtend  bunten  Farbe, 
aber  schwachen,  auf  Schongauer’schen  und  anderen 
Krücken  daherhumpelnden  Zeichnung  sich  deutlich 
als  eine  Arbeit  des  beginnenden  16.  Jahrhunderts 
erwies. 

Von  den  warmen  Lebensgluten  des  Jan  van  Eyck 
gelangte  man  in  die  Eisregion  des  aus  heute  hollän¬ 
dischem  Gebiet  (Baerle  bei  Tilburg)  stammenden, 
aber  ein  Menschenalter  in  Brügge  wirkenden  Petrus 
Cristus,  dessen  144g  datiertes  Hauptwerk  —  ein 
Brautpaar  holt  bei  Eligius  dem  Patron  der  Gold¬ 
schmiede,  die  bestellten  Ringe  ab  —  von  Baron 
Albert  Oppenheim  in  Köln  dargeliehen  war.  Wie 
leblos  sind  die  Blicke  der  beiden  jungen  Leute,  wie 
gliederpuppenmässig  ihre  Bewegungen!  Fast  gelingt 
es  dem  Künstler,  das  wertvolle  von  Quinten  Massys 
so  glücklich  später  wieder  aufgenommene  Motiv  des 


»Menschen  in  reicher  Werkstatt«  umzubringen,  das 
übrigens,  wenn  wir  nicht  ein  verschollenes  Führer¬ 
werk  des  Jan  van  Eyck  annehmen  wollen,  bereits 
durch  dessen  so  ausserordentlich  keimreiches  Zimmer¬ 
bild  des  Arnolfinipaares  in  London  nahegelegt  worden 
war.  Das  ebenfalls  wenig  belebte  Bildnis  eines  jungen 
Mannes  mit  dem  Tuch  der  Veronika  im  Hintergründe 
(Nr.  18,  G.  Salting,  London)  war  dem  Meister  von 
Baerle  wohl  mit  Recht  gegeben,  während  ich  zwei 
ungleich  bedeutendere  und  empfindungsreichere  Bilder, 
die  ebenfalls  dem  Petrus  Cristus  zugeschrieben  waren, 
zwar  auch  für  Früchte  vom  Baume  der  van  Eyck, 
aber  von  einem  ausgesprochen  nach  Holland  über¬ 
greifenden  Aste  erkennen  möchte.  Die  durch  die 
innige  Verbindung  der  Personen  mit  der  Landschaft, 
durch  die  leisen,  inhaltsvollen,  auf  einen  Flüsterton 
gestimmten  Bewegungen  der  trauernden  Menschen 
jeden  Beschauer  ergreifende  Kreuzabnahme  des  Brüsseler 
Museums  (Nr.  20)  habe  ich  schon  vor  Jahren,  dem 
Vorgänge  Adolf  Bayersdorfer’s  folgend,  als  ein  Haupt¬ 
werk  desjenigen  Meisters  angesprochen,  mit  dem  die 
holländische  Kunst  aus  ihrem  mythischen  in  das 
heroische  Zeitalter  tritt,  des  in  Haarlem  thätigen  Süd¬ 
holländers  Albert  van  Ouwater,  dessen  einziges  be¬ 
glaubigtes  Gemälde,  die  durch  van  Mander  bezeugte 
Erweckung  des  Lazarus  im  Berliner  Museum,  uns 
einen  Künstler  mit  allen,  sicher  in  unmittelbarem  Ver¬ 
kehr  erworbenen  Kräften  und  Fertigkeiten  der  van 
Eyck,  aber  auch  mit  schon  ausgeprägter,  in  Anordnung 
und  Benehmen  der  Gestalten  deutlich  ersichtlicher 
heimatlicher  Sonderart  vor  die  Augen  führt.  Die 
stilistischen  Übereinstimmungen  zwischen  dem  Ber¬ 
liner  und  dem  Brüsseler  Bild  habe  ich  in  meiner 
Dissertation  (Die  Leydener  Malerschule  I.  II.  Berlin 
i8gg,  S.  I4f.)  aufgezählt;  hier  sei  nur  nochmals  auf 
die  völlig  gleiche  Behandlung  der  Halsfalten  und  des 
Brustkastens  an  den  beiden  nackten  Körpern  hinge¬ 
wiesen.  Die  Brüsseler  Kreuzabnahme  führte  mich 
dann  zu  dem  köstlich  reichen  kleinen  Kalvarienberg 
beim  Herzog  von  Anhalt  (Nr.  ig),  der  in  der  Stim¬ 
mung  bei  stärkerer  Erregung  gleich  tief,  in  der  aus¬ 
gedehnten  sanfthügeligen  den  ganzen  Vorgang  leise 
umwebenden  Landschaft  gleich  reizvoll  (man  beachte 
den  breiten  von  Figuren  belebten  Weg,  der  hinter 
dem  Kreuze  herführt  und  der  bei  etwas  späteren 
Holländern  sich  häufig  wiederfindet!),  in  meinem  Auf¬ 
satz  »Altholland  in  Wörlitz«  (Augustheft  i8gg  dieser 
Zeitschrift)  als  die  Arbeit  eines  unmittelbaren,  die  Kar- 
nation  etwas  dunkler  gebenden,  nicht  nur  dem  Um¬ 
fange  nach  etwas  mehr  miniaturhaft  gerichteten,  dafür 
aber  in  der  Belebung  des  Augenausdruckes  über  den 
Meister  hinausgehenden  Nachfolgers  des  Ouwater  ver¬ 
öffentlicht  wurde.  Dass  die  auf  wenige  Gestalten  be¬ 
schränkte  tiefgefärbte  Beweinung  Christi  bei  Herrn 
Ad.  Schloss  in  Paris  (Nr.  325)  in  engem  Zusammen¬ 
hänge  mit  dem  Wörlitzer  Kalvarienberg  steht,  wird 
kaum  bestritten  werden;  da  die  gleichfalls  ärmere 
Landschaft  im  Hintergründe  links  Motive  aus  dem 
Bilde  des  Herzogs  von  Anhalt  wiederholt,  mag  man 
an  der  Eigenhändigkeit  zweifeln.  Nun  erfuhr  ich 
erst  nach  Erscheinen  meines  Aufsatzes,  dass  das  an- 


ROGER  VAN  DER  WEYDEN 


BILDNIS  EINES  JÜNGLINGS 


54 


DiE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


haitische  Gemälde  bereits  von  Hugo  von  Tschudi  (im 
Text  zum  Berliner  Galerievverk)  für  Petrus  Cristus  in 
Anspruch  genommen  sei  'm'.er  besoiidercm  Hinweis 
auf  die  Abhängigkeit  de;'  Kcn.j'''USÜiori  von  dem  einen 
der  oben  ervvälniten.  dci:  beigen  van  Eyck  ja  un¬ 
mittelbar  verwandten  be  erfi  iiryer  Flügel,  deren  an¬ 
derer  —  das  jüngste  Gcriclb  —  ja  oitcnsichtlich  durch 
den  Meister  \'on  Baerle  in  einoivi  Dczeicimeten  1452 
datierten  Werke  des  Berliner  Aiuscums  kopiert  wurde. 
Nach  eingehender  Vergleichung  der  Abbildungen 
beider  Kreuzigungsbilder  scheinen  mir  die  Ähnlich¬ 
keiten  nirgends  so  weit  zu  gehen,  dass  man  einen 
Einfluss  des  einen  Werkes  auf  das  andere  annehmen 
müsste.  Selbst  lici  dieser  Annahme  beachte  man 
aber,  wie  verschieden  der  Künstler  des  Wörlitzer  und 
der  des  Berliner  Bildes  kopiert^  haben.  Petrus  Cristus 
beschränkt  die  überreiche  Motivenfülle  seines  Vor¬ 
bildes,  ohne  auch  nur  grössere  Klarheit  zu  bieten : 
sein  Werk  hat  die  Glätte  und  Eleganz  eines  abge¬ 
tragenen  Oehrocks.  Das  gewiss  schon  recht  böse 
Präsentierbrett,  auf  dem  beim  Petersburger  Jüngsten 
Gericht  die  Auserwählten  sitzen,  wird  dort  wenigstens 
durch  die  Vordergrundgestalten  der  heiligen  Bischöfe 
und  Könige  ein  wenig  cachirt  —  in  Berlin  hängt 
der  schreckliche  Apparat  ganz  unvermittelt  in  der 
Luft.  Wie  ganz  anders  der  Meister  des  Wörlitzer 
Kalvarienberges!  In  einer  weiten,  reich  abgestuften, 
stimmunggebenden  Landschaft,  für  die  die  unruhige, 
nervös  dilettierende  Dame,  der  ich  am  liebsten  die 
Petersburger  Bilder  Zutrauen  möchte,  gar  keinen  Platz 
hatte,  verteilen  sich  die  Gestalten  in  grösster  Natür¬ 
lichkeit.  Wie  sind  nicht  alle  Empfindungen  abge¬ 
wandelt!  Man  sehe  auf  der  rechten  Seite  vom  Kreuz 
den  ernst  bewachenden  Reiter  mit  dem  Scepter,  den 
hohen  gläubig  aufblickenden  Longinus,  den  miss¬ 
günstig  Abreitenden,  der  die  Lanze  schultert,  und 
endlich  die  beiden  vornehmen  Reiter  in  ernstem,  fast 
bedauerndem  Gespräch.  Welchen  neuen  grossen  Ton 
giebt  vollends  Magdalena,  die  im  weissen  Büsserhemd 
mit  aufgelösten  Haaren  herbeigeeilt  ist  und  nun  in 
ihres  Jammers  jauchzendem  Schwall«  hoch  über 
dem  Haupte  die  Hände  ringt!  Wie  verschwindet 
dagegen  die  schwächliche,  als  knieende  Rückenfigur 
dargestellte  Magdalena  des  Petersburger  Bildes  in  der 
Menge!  Gewiss  hat  nicht  nur  der  Künstler  des  Wör¬ 
litzer  Kalvarienberges,  sondern  selbst  der  der  Brüsseler 
Kreuzabnahme  eine  Anleihe  gemacht:  die  Armhaltung 
der  ohnmächtigen  Mutter  des  Heilands  ist,  wie  seit 
langem  bekannt  ist,  dem  Meisterwerke  Roger  de  la 
Pasture’s,  das  mit  seiner  grossen  herben  Klarheit  wohl 
gleich  bei  seinem  Erscheinen  auch  in  der  nächsten 
Kunstprovinz  der  van  Eyck  Aufsehen  weckte,  ent¬ 
nommen.  Aber  wie  hat  der  Maler  mit  dem  ge¬ 
liehenen  Pfunde  gewuchert!  Auf  den  Kopf  Mariä 
als  den  Mittelpunkt  des  Ganzen  ziehen  sich  alle  Blicke 
der  Beschauer,  mit  der  völlig  senkrechten  Haltung  des 
Gesichts,  der  pfeilerartigen  Stellung  der  Nase,  den 
das  Auge  nicht  ganz  deckenden  Lidern  und  der 
bitteren  Öffnung  und  Zerrung  des  Mundes  ist  das 
Versteinernde  des  Schmerzes  denkmalhaft  gross  ge¬ 
geben.  Nein,  es  scheint  mir  unmöglich,  zwischen 


dem  Künstler  dieses  Bildes,  zwischen  dem  Schöpfer 
der  Wörlitzer  Magdalenengestalt  und  —  dem  Maler 
des  Oppenheim’schen  heiligen  Eligius,  einem  Meister, 
der,  soweit  es  im  entdeckungsfrohesten  aller  Jahr¬ 
hunderte  anging,  die  Natur  aus  zweiter  Hand  zu 
nehmen  gewohnt  war,  eine  Seeleneinheit  herauszu¬ 
rechnen. 

In  ein  Reich  eigensten  Willens  führt  uns  jener 
starke  Künstler,  der  nacheinander  (nach  einem  jetzt 
verschwundenen  Hauptwerk)  der  »Meister  des  Me- 
rode’schen  Altars«,  der  »Meister  von  Flemalle«,  und 
jetzt,  noch  ohne  Beweis,  aber  mit  mancherlei  guten 
Gründen  Jacques  Daret  von  Tournai,  der  Mitschüler 
Roger’s  de  la  Pasture  genannt  wird.  Leider  war  von 
ihm  nur  ein  einziges  sicher  eigenhändiges  Werk  zu 
sehen:  die  Madonna  der  Somzee’schen  Sammlung 
(Nr.  23).  Mit  der  schweren  Fülle  des  Gesichts,  mit 
der  metallisch-plastischen  Bildung  des  Halses  und  der 
Brust,  den  schweren  dunklen  Schatten,  der  mächtig 
schirmenden  Mütterlichkeit  der  Erscheinung  lässt  das 
Bild  die  alte  Bezeichnung  »Hubert  van  Eyck«  nicht 
als  völlig  sinnlos  verwerfen:  sicher  geht  der  Meister 
hier  mehr  von  den  grossen  Hauptgestalten  des  Genfer 
Altares  aus,  als  von  der  lebhaft  reichen  Art  des  Jan 
van  Eyck.  Einen  verwandten  heroisch  monumentalen 
Zug  zeigte  die  Gebärde  der  den  heiligen  Leib  hal¬ 
tenden  Engel  auf  dem  etwas  schwärzlich  gewordenen 
Dreieinigkeitsbilde  des  Löwener  Museums,  das  aber 
wohl  nur  eine  —  vielleicht  spanische  -  Kopie  einer 
mehrfach  bei  dem  Meister  wiederkehrenden  Kompo¬ 
sition  sein  dürfte  (Nr.  206).  Zwei  Nachbildungen 
des  verschollenen  grossen  Kreuzigungsbildes  des 
»Flemallers«,  dessen  linken  Flügel  mit  der  scharf  be¬ 
wegten  Gestalt  des  »bösen  Schächers«  das  Frankfurter 
Städel’sche  Institut  besitzt,  waren  von  der  Liverpool 
Institution  (Nr.  22)  und  der  Brügger  Salvatorkirche 
(Nr.  120)  gekommen.  Wie  früh  der  Meister  schon 
kopiert  wurde,  lehrte  die  aus  derselben  Brügger  Kirche 
stammende,  um  1450  gemalte  Tafel  mit  dem  von 
Stiftern  angebeteten  Cruzifixus,  dessen  Gestalt  seinem 
in  Ausdruck  und  Farbe  besonders  zarten,  der  drama¬ 
tischen  Art  Roger’s  verwandten  kleinen  Kreuzigungs¬ 
bild  im  Berliner  Museum  entnommen  war.  Mit  der 
Weise  eines  mehr  auf  stumpfere  Farbengebung  und 
reiner  malerische,  besonders  landschaftliche  Bestre¬ 
bungen  gerichteten  Nachfolgers,  der  hauptsächlich  in 
der  Berliner  Galerie  (dort  Nr.  527,  542)  und  einer 
dortigen  Privatsammlung  vertreten  ist,  zeigten  einige 
Ähnlichkeit  eine  Anbetung  der  Könige  aus  dem  Be¬ 
sitze  von  Herrn  Lewis  Ery  in  Bristol  (Nr.  323),  ko¬ 
loristisch  fein  im  Ziegelrot  der  Beinkleider  des  Mohren¬ 
königs  und  dem  grünen  Gewände  des  zweiten  Königs, 
landschaftlich  bedeutsam  in  der  Darstellung  des  vom 
Winde  bewegten  Baumes,  und  ferner  zwei  leider  in 
der  oberen  Hälfte  verdorbene  Legendenscenen  aus 
der  Brügger  Heiligenblutkapelle  (Nr.  45). 

So  sehr  wir,  durch  unsere  deutschen  Museen  ver¬ 
wöhnt,  in  Brügge  eine  stärkere  Veranschaulichung 
Roger  de  la  Pasture’s  vermissten,  gewiss  der  nächst 
den  beiden  grossen  Brüdern  wirkungsreichsten  Kraft 
in  dem  hier  betrachteten  Kunstkreise,  so  gab  doch 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


55 


ein  Bild,  die  Beweinung  Christi  des  Brüsseler  Mu¬ 
seums  (Nr.  25)  uns  auf  geringstem  Raume  das  mäch¬ 
tigste  Gefühl  von  der  Eigenart  des  so  früh  populär 
gewordenen  Künstlers.  Wie  hart,  stark  an  Holz¬ 
schnitzerei  erinnernd,  ist  doch  Zeichnung  und  Auf¬ 
bau  der  Hauptgruppe,  und  wie  merkwürdig  realistisch 
dabei  das  Motiv,  dass  Johannes  mit  besorgtem  Ge¬ 
sicht  und  unruhiger  Hand  die  Mutter,  die  den  Leich¬ 
nam  küsst,  von  der  Berührung  der  verwesenden 
Lippen  zurückzuhalten  strebt.  Wie  vornehm  er¬ 
scheint  in  ihren  Zügen  die  etwas  an  den  Elemaller 
Meister  erinnernde  Gestalt  der  Magdalena,  in  Schwarz 
und  Blaugrün  gekleidet.  Und  alles  dies  steht  unter 
der  Herrschaft  einer  mit  den  starken  Mitteln  eines 
gelbrötlichen  Abendhimmels  und  halbkahlen  Ge¬ 
sträuches  wirkenden  Stimmungslandschaft!  Sonst 
waren  nur  einige  von  Roger’s  Porträts  gekommen, 
die  im  Gegensatz  zu  denen  Jan  van  Eyck’s  uns  mehr 
von  der  Wesensart  der  Dargestellten  erzählen,  als  dass 
sie  ihre  Leiblichkeit  greifbar  vorführten:  der  soge¬ 
nannte  Bladelin  der  v.  Kaufmann’schen  Sammlung 
mit  dem  gespannten  Ausdruck  in  den  aufeinander- 
gekniffenen  dünnen  Lippen  (Nr.  26)  und  das  schöne 
jünglingsporträt  der  Sammlung  Cardon  (Nr.  27)  mit 
dem  ruhig  offenen  vornehmen  Gesicht,  dem  sehr 
langen  Hals,  den  überschlanken  eckig  gezeichneten 
Händen  und  dem  glücklichen  Klang  des  hellkarmin¬ 
farbenen  Gewandes  auf  dem  grünen  Grunde(s.  Abb.  S.  53). 
Als  wichtige  alte  Kopie  ragte  die  schon  in  der  Mün¬ 
chener  Ausstellung  des  vorhergehenden  Jahres  gezeigte 
Madonna  mit  dem  heiligen  Lukas  (Nr.  118,  Graf 
Wilczek)  hervor,  wo  die  helle  Melodie  des  Meisters 
von  Tournai  in  eine  tiefere  schwere  Tonart  trans¬ 
poniert  ist.  Aus  der  nicht  ganz  kleinen  Zahl  der 
Nachfolgebilder  hebe  ich  hervor:  eine  sehr  gut  aus¬ 
geführte,  nur  in  der  Gesichtsbildung  für  ein  Eigen¬ 
werk  des  strengen  Künstlers  zu  moderne  Madonna  in 
Brüsseler  Privatbesitz  (Nr.  28),  die  überfeine,  ganz 
kleine  Muttergottes  unter  dem  Kirchenthor  aus  der 
Sammlung  Northbrook  (Nr.  30),  wesensverwandt  dem 
älteren,  bei  Jan  van  Eyck’s  Madonna  in  der  Kirche 
geborgten  Teile  jenes  merkwürdigen  Antwerpener 
Diptychons,  das  um  das  Jahr  1500  nacheinander  für 
zwei  Äbte  von  »Unserer  Lieben  Frau  zur  Düne«  bei 
Brügge  bemalt  wurde,  und  endlich  das  gegenständ¬ 
lich  bedeutsame,  etwas  skizzenhafte  Bildchen,  das  den 
Kaiser  (wohl  Friedrich  III.),  umgeben  von  seinen  sieben 
Kurfürsten,  darstellt  (Nr.  102,  Graf  Harrach,  Wien). 

Als  eine  Art  Kreuzungsprodukt  aus  Aelbert  van 
Ouwater  und  dem  grossen  Roger  hatte  man  bisher 
meist  den  in  Löwen  eingewanderten  Haarlemer  Dirk 
Bouts  angesehen,  den  grössten  Landschaftsmaler  des 
15.  Jahrhunderts,  ln  Brügge  trat  ein  noch  weniger 
gewürdigtes  Element  hervor:  die  starke  Wechsel¬ 
wirkung,  die  zwischen  ihm  und  Hugo  van  der  Goes, 
der  in  Gent  der  echte  und  rechte  Erbe  des  Hubert 
van  Eyck  wurde,  stattgefunden  haben  muss.  Man 
wird  die  Rolle  des  stärker  Gebenden  hierbei  dem 
jüngeren,  an  innerem  Erleben  so  unvergleichlich 
reicheren  der  beiden  Künstler  zuweisen  müssen,  der 
übrigens,  trotz  einer  ihn  als  »aus  Gent  gebürtig« 


bezeichnenden  Urkunde  ebenfalls  aus  heute  hollän¬ 
dischem  Gebiet  stammte:  der  Name  »van  der  Goes« 
nennt  ebenso  sicher  einen  aus  Goes  bei  Middelburg 
in  Zeeland  herkommenden,  wie  etwa  »van  der  Goude« 
für  »aus  Gouda«  gebräuchlich  war.  Leider  waren 
Werke  aus  Bouts’  holländischer  Zeit,  wie  etwa  die 
im  Heraustreten  der  dunklen  Figuren  auf  dem  hellen 
Sande  des  Hofes  so  reizvolle  »Weissagung  der  Si¬ 
bylle«  im  Frankfurter  Städel’schen  Institut  und  die 
unmittelbar  an  Ouwater’s  Lazarusbild  anknüpfende 
Gefangennahme  Christi  in  der  Münchener  Pinakothek, 
auf  der  Ausstellung  kaum  vertreten.  Nach  dem  hiera¬ 
tisch  steif  komponierten  Abendmahl  aus  der  Lö- 
wener  Peterskirche  (Nr.  36)  darf  man  den  Meister 
nicht  beurteilen:  ebenso  wie  seine  jetzt  in  Brüssel  be¬ 
findlichen  Rathausbilder,  das  räumlich  grösste,  was  er 
geschaffen,  zeigt  es  nur,  dass  der  Maler  im  Momente 
grösster  Anstrengung  feierlich  werden  wollte  und  dar¬ 
über  langweilig  wurde.  Wie  weit  überlegen  sind 
die  in  Berlin  und  München  bewahrten  Flügelbilder: 
zumal  die  Mannalese  mit  ihrer  in  dreieckigen  Gruppen 
aufbauenden  Komposition,  die  deutlich  zu  Geertgen 
van  Sint  Jans  hinführt.  Werbend  trat  für  Meister 
Dietrich  auf  der  Brügger  Hippolytusaltar  (Nr.  37)  mit 
dem  schönen,  in  deutlicher  Anlehnung  an  van  der 
Goes  sehnig  metallisch  gebildeten,  stark  an  Bouts’ 
bewegtestes  Werk,  den  Höllensturz  im  Louvre,  er¬ 
innernden  Körper  des  Heiligen,  der  ergreifenden 
Gruppe  der  drei  Zuschauer  auf  der  Anhöhe,  der  herr¬ 
lichen,  ohne  jede  Übertreibung  leicht  hügelig  ange¬ 
legten  Landschaft,  dem  merkwürdig  fragenden  Blick 
des  Jünglings  auf  dem  rechten  Flügel  und  den  stark 
an  die  Portinaribildnisse  des  grossen  Hugo  gemah¬ 
nenden  Stiftern  in  ihrer  so  vornehm  auf  Schwarz 
und  Lila  gestimmten  Kleidung^).  Lebensvoller  noch 
wirkte  das  Erasmuswerk  aus  Löwen  (Nr.  35):  im  Be¬ 
wusstsein  alles  Erdenleides  erduldet  der  Heilige  die 
Marter,  sorgenvoll  ernsten  Blickes  thut  der  Henker 
zur  Linken  seine  Pflicht,  wie  zur  Abwehr  gegen  das 
eigene  Grausen  drückt  der  jüngere  Henkersknecht  die 
Zähne  auf  die  Lippen.  Halb  teilnahmvoll,  halb 
aristokratisch  gleichgültig  steht  der  Machthaber  in 
seinem  vornehmen  Gewand  aus  grünem  und  hell¬ 
gelbem  Brokat  dabei;  der  schöne  Mann  rechts  hinter 
ihm,  in  der  plastisch  angeordneten  Kleidung,  schlägt 
die  Augen  nieder  er  hat  schon  ganz  andere  Dinge 
mit  ansehen  müssen.  Eines  der  farbenleuchtendsten 
Bilder  der  Ausstellung  war  das  Gastmahl  Simon’s  mit 
einem  Benediktiner  als  Stifter  (Nr.  2g),  das  aus  Herrn 
Ad.  Thiem’s  wunderreichem  Winterfluchthaus  in  San 
Remo  gekommen  war.  Auch  dieses  Stück  ist,  zumal 
in  den  Gebärden,  weit  bewegter  als  Bouts’  meiste 
Werke;  die  Gestalt  der  knieenden  Magdalena  lässt 
stark  an  Goes  denken,  doch  entscheiden  die  Köpfe 
der  beiden  älteren  Männer  und  die  Existenz  der  be¬ 
kannten  von  Albert,  dem  Sohne,  mit  geringen  Ver¬ 
änderungen  ausgeführten  Kopie  im  Brüsseler  Museum 

1)  Zu  der  im  kritischen  Kataloge  aiifgestellten  Hypo¬ 
these,  diese  Stifterbildnisse  seien  nach  Dirk  Bouts’  Tode 
von  Hugo  V.  d.  Goes  hinzugefügt  worden,  scheint  mir 
keine  Nötigung  vorzuliegen. 


56 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


unwiderleglich  für  BouN-  Sonst  erschien  mir  als 
Original  nur  noch  der  n  der  "^lockenheit  des  Ein¬ 
drucks  den  Ratlii^T' .  v  ü”";  wolil  sicher 
aus  eim -n  grüsb  :  ■  .-.y-.Äcl,.i.uiene  Kopf 

eines  -ie  iänd-  \  '  >  U  /  .  ^  L  gerade:;  scharfen 
Zügen  auf  bU.  V  r  •;  ^  Sammlung  Oppen¬ 
heim  (Nr.  38).  I  Hcrm  Thiem  ge¬ 

liehene  Kicueke.  ^ G  ;  dü'-fie,  so  ansprechend 
die  Gestalt  ■  . ;  -s  "  seirrer^  vom  Thränen- 

strom  a- 1  j'V’gL  igsgesicht,  den  zarten  ge¬ 
öffneter:  .  ;  it-h  d  sr'-’  'einen  Rosa  der  Ge¬ 
wandung  ■.  --■  n  der  hölzernen  hässlichen 

ChrisLisgeStÄ.d  ■  ■-  merkwürdig  geringen  Land- 

sciiaft  aas  dem  '  des  Meisters  zu  streichen  sein; 
ebenso' ■  anch  das  durch  das  spitze  Oval  auf- 
fallrr.di  'aastbild  der  Madonna  in  bräunlicher  Wal¬ 
dung,  aus  dci:.  Besitz  des  Grafen  Pourtales  (Nr.  269). 
Das  etwas  ddie  und  harte  Bild  des  die  Madonna 
malenden  heiligen  Lukas  (Nr.  115,  Lord  Penrhyn, 
London)  scheint  mir,  ohne  näheren  Zusammenhang 
mit  Bouts,  in  die  Schule  Roger’s  zu  gehören.  Von 
Albert  Bouts,  dem  bisherigen  »Meister  der  Himmel¬ 
fahrt  Mariä'  ,  der  die  Kunstweise  des  Vaters  in  einen 
graueren  kreidigeren  Ton,  seine  Landschaft  ins  Un¬ 
ruhige,  Aufgelockerte,  ins  »Belgische  überträgt,  war 
genug  zu  sehen:  die  aneinander  gestossenen  Tafeln 
mit  den  Geschichten  des  Gideon  und  Mosis  (Nr.  41, 
Charles  T.  D.  Crews,  London),  für  deren  zweite  eine 
starke  Benutzung  des  väterlichen  Meisterwerkes  in  der 
Pariser  Galerie  Kann  ersichtlich  ist,  schon  mit  dem 
bald  so  bedeutsam  werdenden  weiten  Flussthal  der 
Maas  im  Hintergründe,  die  beiden  bekannten  Stifter¬ 
flügel  der  V.  KaufmaniTschen  Sammlung  (Nr.  141, 
142),  eine  kleine  bewegte,  etwas  kokett  blickende 
Madonna  aus  Wörlitz  (Nr.  210)  —  auch  dieses  Erben¬ 
werk  noch  stark  mit  Elementen  aus  van  der  Goes 
durchsetzt  —  und  die  beiden  Brustbilder  Christi  und 
Mariä  im  Besitz  von  Herrn  Dr.  Hofstede  de  Groot 
(Nr.  95).  Dem  für  Deutschland  wichtigsten  Nach¬ 
folger  des  Dirk  Bouts,  dem  Meister  des  Münchener 
Marienlebens,  zeigte  sich  aufs  nächste  verwandt  das 
schöne  grosse  Flügelstück  der  sechs  Apostel  aus  der 
Sammlung  des  Vicomte  de  Ruffo  in  Brüssel  (Nr.  378), 
zwei  wundervolle,  die  reine  Schönheit  des  grossen  in 
Stücke  geschlagenen  Westfalen,  des  Liesborner  Meisters, 
atmende  Engel  halten  hinter  den  Männern  ein  Brokat¬ 
tuch  empor.  Unten  im  Vordergrund  sind  von  spä¬ 
terer  Hand  zwei  Stifter  aufgemalt. 

Er,  der  so  oft  schon  genannt  werden  musste, 
Hugo  van  der  Goes  selbst,  der  grosse  Melancholiker 
vom  -Roten  Kloster«,  war  auf  der  Ausstellung  so 
selten,  wie  er  es  leider  überall  ist:  das  vortrefflich  er¬ 
haltene  Bild  des  Todes  der  Maria  aus  der  Brügger 
Akademie  (Nr.  51)  genügte,  die  hohe  Kraft  des  Künst¬ 
lers,  zu  dem  von  Claus  Sluter  über  Hubert  van  Eyck 
eine  gerade  Linie  führt,  zu  zeigen.  Alle  Farben  sind, 
in  feinstem  Einklangsgefühl  zu  dem  Erlöschenden 
des  Vorganges,  auf  die  matteste  Ruhe  gestimmt,  um 
eine  Zeichnung  und  Modellierung  heraustreten  zu 
lassen,  die  alle  Dinge  der  Erde  beachtet,  alle  zum 
höchsten  Rhythmus  hebt.  Selbst  Dürer’s  Zeichnungen 


haben  nicht  diese  Grösse  des  Zuges;  den  Namen 
eines  Cornelius  hier  zu  nennen,  wäre  Lästerung.  Ich 
kenne  nur  einige  Blätter  von  Ingres,  einiges  Frühe  von 
Degas,  das  mich  durch  eine  gleiche  Steigerung  des 
Wirklichen  beglückt  hätte.  Wie  geheimnisvoll  ver¬ 
schwimmt  das  Leben  im  Blicke  Mariä,  wie  tief  sind 
Auge  und  Gebärde  der  beiden,  die  die  verlöschende 
Kerze  voneinander  übernehmen!  ln  der  Glorie  der 
Engel  hinter  Christus  sehen  wir  das  Vorbild  jenes 
Himmelsglanzes,  den  Frankreichs  im  15.  Jahrhundert 
stärkster  Maler  seinem  Altarwerk  von  Moulins,  der 
grossen  Freude  der  Pariser  Rückschau  von  1900,  zu 
geben  wusste.  Wer  vor  dem  Bilde  des  Marientodes 
einen  Augenblick  Hugo’s  tiefeindringende  Farben¬ 
gewalt  vergass,  wie  sie  sich  am  stärksten  in  den 
Flügeln  des  Portinarialtars  offenbart,  der  wurde  durch 
das  warm  ins  Auge  brennende  Rot  des  ersten  Königs 
auf  dem  kleinen  Altar  der  Anbetung  des  Christkindes 
aus  der  Liechtensteingalerie  (Nr.  52)  neu  belehrt;  sind 
aber  dort  die  Flügel  mit  der  steifen  Haltung  der  Per¬ 
sonen  von  der  Hand  des  Meisters?  Etwas  zu  matt 
für  ihn  erschien  auch  die  kleine  Madonna  auf  Gold¬ 
grund  aus  der  Sammlung  Hainauer  (Nr.  107). 


Im  Anschluss  an  Hugo  van  der  Goes  sei  auch 
einer  weiten,  aber  trotz  der  so  wertvollen  Beiträge 
Camille  Benoit’s  noch  wenig  erforschten  Provinz 
Eyckischer  Kunst  gedacht,  der  in  verhältnismässig 
zahlreichen,  zum  Teil  hochwichtigen  Beispielen  auf 
der  Ausstellung  erschienenen  französischen  Malerei  vor 
der  Rezeption  des  römischen  Stiles.  Ihre  Einordnung 
an  dieser  Stelle  mag  sich  dadurch  rechtfertigen,  dass 
der  —  da  Jehan  Fouquet  abwesend  blieb  —  den 
Eindruck  beherrschende  Künstler,  der  eben  schon  er¬ 
wähnte  Schöpfer  des  Altares  von  Moulins,  in  der  me¬ 
tallischen  Herausarbeituug  der  Umrisse,  im  Glanze 
der  Karnation,  vor  allem  aber  in  der  künstlerischen 
Gesinnung  so  stark  an  den  Meister  von  Gent  an¬ 
knüpft,  dass  eines  seiner  schönsten  Bilder  bis  vor 
wenigen  Jahren  für  eine  Arbeit  Hugo’s  gelten  konnte. 
Ein  Bild  freilich,  das  bei  kleinem  Umfange  vielleicht 
die  grösste  Überraschung  der  ganzen  Ausstellung  be¬ 
deutete,  gehört  wohl  schon  zeitlich  noch  mehr  in  die 
Nähe  der  van  Eyck:  die  vom  Besitzer,  Baron  d’AI- 
benas  in  Montpellier,  als  Antonello  da  Messina  ein¬ 
gesandte,  nach  dem  Vorgänge  v.  Tschudi’s  aber  im 
kritischen  Kataloge  als  südfranzösisch  bestimmte  Be¬ 
weinung  Christi  (Nr.  32).  In  der  That  giebt  schon 
das  Landschaftliche  des  Werkes  —  fahles  gelbliches 
Sonnenlicht  überall,  im  Hintergrund  eine  mauer¬ 
umschlossene  Stadt  mit  scharf  belichteter  gotischer 
Kirche,  deren  Turm  vom  Schiff  getrennt  ist,  dahinter 
die  Alpenkette  —  eine  frappierend  eigenartige  Stim¬ 
mung,  die  ich  mich  wohl  entsinne  in  der  Provence, 
niemals  aber  in  Italien  erlebt  zu  haben.  Der  Kopf 
Christi  mit  dem  zurückgekämmten  Haar  und  dem 
kurzen  Kinnbart  wirkt  in  grandiosester  Hässlichkeit. 
Der  Leib  ist  ganz  nackt  bis  auf  einen  dünnen  Scham¬ 
schleier;  die  Mutter,  in  Blaugrün,  und  eine  der  Frauen, 
mit  der  bräunlichen  Gesichtsfarbe  des  Südens,  kar- 


Südfranzösisch  um  1460.  Beweinung  Christi.  (Besitzer  Baron  d' Albenas,  Montpellier) 


minrot  gekleidet,  halten  den  Toten.  Hochbedeiitsam 
wirkt  die  Gestalt  einer  fast  ganz  verhüllten  Frau  in 
Ziegelrot,  deren  grosser  Qewandwurf  die  Abstammung 
von  den  »Plourans«  an  Claus  Sluter’s  Dijoner  Herzogs¬ 
grab  deutlich  verrät.  Ganz  rechts  kniet  in  scharfem 
Profil  ein  kahlköpfiger  weltlicher  Stifter  auf  einem  Kissen 
und  einem  Gebetsteppich.  Das  Ganze  ist  bei  grosser 
Kraft  des  Lichtes  merkwürdig  plastisch  und  streng  em¬ 
pfunden  (s.  obige  Abb.).  Neben  einem  solchen  Stücke 
verschwanden  natürlich  Werke  wie  eine  sehr  hell  ge¬ 
färbte  Grablegung  aus  englischem  Privatbesitz  (Nr.  214) 
und  ein  in  der  Ausführung  recht  verwandtes  Kreu¬ 
zigungsbild  (Nr.  186),  Arbeiten  aus  französischer 
Nachfolge  Roger  de  la  Pasture’s.  Dem  Meister  des 
Altarwerkes  von  Moulins  (de  Loo’s  Zusammenstellung 
dieser  künstlerischen  Persönlichheit  mit  dem  viel¬ 
genannten  Jehan  Perreal  von  Paris  zeigt  ein  inter¬ 
essantes  Parallelgehen  zweier  Linien,  zur  Schlingung 
des  Knotens  kommt  es  nirgends)  möchte  ich  zunächst 
die  in  der  Ausstellung  und  im  kritischen  Katalog  in 
der  Nähe  Gerard  David’s  untergebrachte  eindrucks¬ 
volle  Lünette  des  Baron  Schickler  in  Paris  (Nr.  14g) 
zuweisen.  Gottvater  ist  von  zwei  rotgefiederten  ängst¬ 
lich  blickenden  Engeln  umgeben,  deren  Erscheinung 
Jehan  Fouquet’s  Antwerpener  Madonnenbild  dem  Ge¬ 
dächtnis  naheruft.  Der  Himmel  ist  rot  imd  gelb, 
von  schweren  dunklen  Wolken  belagert:  eine  drohend 
lastende  Gewitterstimmung.  —  ln  einer  Gruppe  von 
Halbfigurenbildern  heiligenbegleiteter  Stifter  gehört 
dem  Meister  sicher  die  berühmte,  vom  Glasgower 
Museum  hergesandte  Darstellung  eines  Kanonikers 
mit  dem  heiligen  Mauritius,  auf  dessen  Rüstung  das 
Spiegelbild  eines  Engels  glänzt  (Nr,  100).  Viel  be¬ 
wundert  wird  die  auffallend  flache,  sehr  grüne  Land¬ 
schaft;  sollte  sie  in  ihrer  derben,  von  der  sorgsam 
überlegten  Arbeit  der  Bildnisse  so  stark  abweichenden 
Faktur  nicht  doch  einer  Erneuerung  zu  verdanken 
sein?  Das  älteste  Bild  der  Art  auf  der  Ausstellung 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  3. 


war  wohl  das  seinen  Stifter  in  der  Gesellschaft  des 
heiligen  Clemens  vorführende  aus  dem  Somzee’schen 
Nachlass  (Nr.  148),  merkwürdig  durch  den  reichen 
Hintergrund:  ein  Flussthal  mit  kleinen  scharf  drei¬ 
eckigen  Erhebungen,  wahrscheinlich  burgundische  Ar¬ 
beit.  Eigenartigen  Reiz  entfaltete  durch  die  leuch¬ 
tende,  in  der  Abstufung  der  vier  verschiedenen  Rot 
vortreffliche  Färbung  ein  wiederholt  ausgestelltes  Stück 
derselben  Sammlung,  wo  eine  Stifterin  von  Magdalena 
begleitet  ist  (Nr.  181).  Der  sehr  helle  Fleischton, 
die  ausserordentlich  faltige  Behandlung  der  Haut,  die 
nichts  weniger  als  schönen,  leise  an  den  holländisch¬ 
kölnischen  Meister  von  Sankt  Severin  erinnernden 
Gesichter  lassen  mich  doch  etwas  zögern,  der  im 
kritischen  Katalog  mit  Wärme  verteidigten  Zuweisung 
an  den  Künstler  der  Marienglorie  von  Moulins  mich 
anzuschliessen.  ln  mancher  Hinsicht,  so  in  der  gelb¬ 
lichen  Karnation,  der  sehr  sorgfältigen  Bildung  der 
Hände  und  dem  hellen  grüngrauen  Ton  der  Land¬ 
schaft  steht  dem  Glasgower  Stifterbilde  sogar  näher 
das  aus  englischem  Privatbesitz  geliehene  Bildnis 
eines  Kanonikers  unter  dem  Schutze  des  heiligen  Hiero¬ 
nymus  (Nr.  101).  Durch  die  ausserordentliche  Ähn¬ 
lichkeit  der  scharfzügigen  Gesichtsbildung  und  der 
Haltung  mit  diesem  Heiligen  wurde  ein  Einzelbild 
des  heiligen  Jakobus  Maior  (Nr.  go,  Herr  Vincent 
Bareel,  Capellen),  farbig  von  grösster  Wirkung  durch 
das  schöne  Karminrosa  des  Ärmels  und  die  tiefe 
dunkle,  blau  gehaltene,  aufgelockerte  Landschaft  unter 
bewölktem  Himmel,  als  ein  Werk  der  gleichen,  noch 
unbekannten  Hand  nachgewiesen.  —  ln  die  Nachbar¬ 
schaft  eines  Nordfranzosen,  des  feinsinnig  gestaltenden 
Simon  Marmion,  scheinen  mir  die  beiden  Flügel  mit 
den  vier  Kirchenvätern  und  der  Verkündigung  (Nr.  318, 
Martin  Leroy,  Paris),  und,  trotz  einer  flandrischen  In¬ 
schrift  von  15J4,  die  Gregoriusmesse  der  Weber’schen 
Sammlung  in  Hamburg  (Nr.  1 56)  zu  gehören. 

(Fortsetzung  folgt.) 

8 


O.  H.  Breit ner.  Arbeitspferde 

Photogrdphicvcrlag  von  Scheltenia  &  Holkenia  in  Amsteniani 


O.  H.  BREITNER 

Von  W.  Vooelsang  in  Amsterdam 


WENN  man  bei  Jakob  Maris  auf  Vermeer,  bei 
Israels  manchmal  auf  Rembrandt,  bei  Bos- 
boom  auf  Saenredam  als  Vorgänger  deuten 
kann,  und  es  gar  leicht  ist,  Wahrheiten  zu  sagen  über 
die  ununterbrochene  Tradition,  so  kann  man  Breitner 
nicht  so  ohne  weiteres  als  Urenkel  irgend  einer  spe¬ 
ziellen  Berühmtheit  gelten  lassen.  —  Dennoch  steht 
gerade  er  mit  der  ganzen  Schule  der  holländischen 
Glanzzeit  im  engsten  Zusammenhang.  Es  hat  bloss 
ziemlich  lange  gedauert,  bis  man  das  hat  einsehen 
wollen,  bis  man  sich  mit  dem  Gedanken  vertraut 
machte,  auch  in  ihm  einen  Künstler  zu  besitzen,  dem 
es  nicht  darum  zu  thun  war,  ausgeklügelte,  eigen¬ 
willige  oder  gar  rohe  Experimente  zu  machen,  son¬ 
dern  dessen  eigenstes  Empfinden  in  seinen  Werken 
zu  Tage  tritt,  ein  Empfinden,  das  überaus  holländisch 
genannt  werden  muss. 

Es  ist  noch  gar  nicht  lange  her,  da  eiferte  die 
Kritik  überall  gegen  diesen  ungehobelten  Menschen, 
nicht  weil  er  etwa  ein  Neuerer  wäre,  weil  er  das 
Unerhörte  geahnt,  das  Nimmergeschaute  gestaltet  hätte; 
sondern  weil  er  es  sich  bei  allem  Talent,  das  man 
ihm  ja  nicht  absprach,  denn  doch  zu  leicht  mache. 


gar  zu  dreist  in  der  Farbe,  zu  flüchtig  in  der  Zeich¬ 
nung,  zu  arm  an  künstlerischen  Gedanken  sei. 

Jetzt  ist  es  anders  geworden.  Breitner  ist  ein  ge¬ 
feierter  Mann.  Amsterdam  hat  mit  regem  Interesse 
fast  sein  ganzes  Werk  auf  einer  Ausstellung  bei¬ 
sammen  gesehen  1).  Man  staunte,  bewunderte,  lobte 
und  schalt,  die  Zeitungen  öffneten  der  Begeisterung 
geräumige  Spalten. 

Sonderausstellungen,  zumal  wenn  sie  umsichtig 
vorbereitet  und  sorgsam  organisiert  werden,  sind  ja 
zweifellos  drastisch  belehrend;  sie  ersticken  jedes  Ur¬ 
teil,  das  sich  auf  zufällige  Schwächen  einzelner  Werke 
stützt,  sie  zeigen  uns  das  ganze  Wesen  des  Künstlers, 
seine  grösste  Liebe  und  deren  tiefste  Ursachen,  seine 
Kraft  und  seine  Mängel.  Das  Unwesentliche  ver¬ 
schwindet,  es  klärt  sich  das  Gesamtbild.  Ganz  sicher 
hat  auch  diese  grosse  Breitner-Ausstellung  ihre  Auf¬ 
gabe  dahin  erfüllt.  Nicht  nur  die  grosse  Menge, 
deren  Meinung  sich  nach  der  Wetterfahne  der  Mode 


i)  Äusserst  dankenswert  ist  das  Unternehmen  der 
Firma  Scheltenia  &  Holkema,  Amsterdam,  Breitner’s  Oeuvre 
in  vorzüglicher  Nachbildung  herauszugeben. 


G.  H.  BREITNER 


59 


richtet,  auch  viele  ernsthafte  Leute  haben  sich  bekehrt 
gefühlt,  sie  haben  genossen,  was  sie  lange  blöde  be¬ 
lächelten. 

Lange  vor  diesem  energischen  Stoss  in  die 

öffentliche  Anerkennung  hatte  aber  Breitner  doch 
schon  eine  recht  ansehnliche  Gemeinde,  die  ihn 

kannte  und  schätzte. 

Freilich  in  Deutschland  hat  das  grössere  Publikum 
kaum  den  Klang 

seines  Namens  ver¬ 
nommen;  wenn¬ 
gleich  es  an  offi¬ 
zieller  Anerken¬ 
nung  und  Aus¬ 

zeichnungen  auf 
deutschen  Ausstel¬ 
lungen  nicht  ge¬ 
fehlt  hat,  und  man 
die  kleine  Zahl  der 
künstlerischen 
Feinschmecker,  die 
es  ja  in  den  letzten 
Jahrzehnten  auch 
in  Deutschland 
giebt,  ausnehmen 
muss.  Die  Galerien 
haben  sich  ihm 
höchst  schüchtern 
geöffnet,  die  Privat¬ 
sammler  kennen 
ihn  entweder  gar 
nicht,  oder  stehen 
auf  dem  Stand¬ 
punkte  des  hollän¬ 
dischen  Publikums 
von  vor  zehn  Jah¬ 
ren. 

Geht  man  der 
Sache  auf  den 
Grund,  dann  wird 
es  klar,  dass  die 
holländischen  Ma¬ 
ler,  bis  auf  ganz 
wenige  Ausnah¬ 
men,  für  den 
Deutschen  nur  als 
Sammelbegriff 
existieren.  Das  ha¬ 
ben  sogar  die  oft 
recht  gut,  wenn 
auch  immer  un¬ 
vollständig,  be¬ 
schickten  Seces- 
sionen  nicht  ändern  können.  Wen  kennt  man 
denn  eigentlich?  Israels,  weil  für  ihn  Propaganda 
gemacht  wurde,  weil  sich  einsichtsvolle  Leute,  zuletzt 
sogar  Liebermann,  seiner  angenommen  haben;  es  mag 
auch  irgend  einmal  von  Maris  oder  Mesdag  die  Rede 
sein,  man  kennt  Toorop,  weil  man  ihn  tiefsinnig  zu 
enträtseln  sucht,  aber  die  Wertunterscheidung  ist  doch 
recht  verschwommen.  Es  sind  eben  so  »die  Hollän¬ 


der«.  Ich  glaube  aber  ganz  bestimmt,  dass  der  Mehr¬ 
zahl  der  sogenannten  gebildeten  Deutschen  fast  noch 
immer  alle  Eigenschaften  fehlen,  um  die  Holländer, 
auch  die  so  sehr  geschätzten  und  beschwätzten  alten 
Holländer,  nach  Gebühr  zu  würdigen.  Nur  wenige 
Anzeichen  einer  neuen  Zeit  geben  der  Hoffnung 
Raum,  dass  man  von  einem  Manne  wie  Breitner  in 
Deutschland  nicht  mehr  vor  tauben  Leuten  spricht. 

Die  bewährte 
Methode  des 
Kunsthistorikers  so 
etwas  wie  eine  Ent¬ 
wickelung  festzu¬ 
stellen,  dürfte  frei¬ 
lich  scheitern.  Die 
unsicheren  An¬ 
fänge,  die  spröde 
Vorblüte,  die  üp¬ 
pige  Reifezeit  las¬ 
sen  sich  nicht  nach- 
weisen,  man  er¬ 
kennt  kein  stetiges 
Entfalten  in  Breit- 
ner’s  Bildern.  Die 
Periode  des 
Schwankens  mit 
leichten  Anklängen 
an  ein  Vorbild, 
den  Historienmaler 
Rochussen,  dauert 
sehr  kurz;  merk¬ 
würdig  früh,  etwa 
gegen  1880,  ist 
der  jetzt  fünfund- 
vierzigjährige  Rot- 
terdamer  ganz  er 
selbst.  Ausdrucks¬ 
mittel,  Neigungen, 
Können  stehen  in 
unwandelbarem 
Gleichgewicht  als¬ 
bald  auf  einer 
Höhe,  nur  die 
Stoffe  wechseln 
mannigfach.  Nach 
der  Stoffwahl  glie¬ 
dert  sich  seine  Ar¬ 
beit  in  grosse  Pe¬ 
rioden. 

Er  debütiert 
als  Militärmaler; 

wenigstens  in 
Deutschland  wür¬ 
de  man  ihn  wohl  rücksichtslos  in  dies  Fach  ver¬ 
wiesen  haben,  weil  er  damals  Soldaten  malte,  ohne 
zur  Lackstiefel-  und  Uniformenspezialität  herab  zu 
sinken.  Man  verglich  ihn  in  Holland  mit  franzö¬ 
sischen  Kollegen,  mit  Detaille  und  Neuville,  wie 
man  ihn  in  Deutschland  etwa  mit  Hang  vergleichen 
würde.  Sehr  mit  Unrecht;  Breitner  hat  sich  erstens 
niemals  Mühe  gegeben  Schlachtenmaler  zu  sein, 


G.  H.  Breitner.  Selbstbild 


Photographievevlag  von  Scheltema  &  Holkema  in  Amsterdam 


‘J  ) 


H.  BREITNER 


z./iritens  iiai  'iüi  i.!;-  SwEaiu-i-ri  •  ;i'C  \a- ■  li- 1  \;e- 
an't' 'jl'en  S.  a'  m  i'-:'“  '  a  ;xi'n.'der 

:.,-r  :  ’  ■  ■  ;  ,  1  -:.-ra'.Icn, 

.  _  f-  i? ,  .'dei'  des 

;v-:.  .  ^  die  ver^cliän- 

iia'r  '  .  .  .  ,  i:  ■  aivJst'.ose,  über 

:ii.  o:-  .1-.'  .  .  '  1  ü'eMrig  dahin- 

/;  i:  .  die' güMg,  die  Stim- 

■1-  i.  iedaiicholie  des 
.  •  a.  ■  ;  .iisaren  und  Ar- 

.  ri  .  .  :  _  i.i'  Uem  braunvioletten 

r,  -  ,  ,  :  ■  a  ,0  vorbei:  man  unter- 


vveg.  Da  liegt  gerade  jener  grundsätzliche  Unter¬ 
schied  zwischen  Holländern  und  Deutschen.  Was  man 
hübsch  in  Worte  kleiden  kann,  was  der  Dichter  in 
Strophen  klagt,  das  braucht  der  holländische  Maler 
nicht  zu  malen  und  will  er  auch  gar  nicht  malen. 
Das  aber,  was  in  Worten  zur  vagen  Umschreibung 
verwässert,  was  in  Liedern  nicht  fesselnd  bleibt,  jenes 
geheimnisvolle  tiefmenschliche  Gefühl  der  Natur  gegen¬ 
über,  die  erwachte  Erinnerung  an  einmal  Gesehenes,  an 
das  lediglich  durch  unsere  Augen  der  Seele  Mitgeteilte, 
das  kann  nur  der  Maler  geben  und  das  in  erster  Linie 
suchen  und  verlangen  die  Holländer  von  allen  Zeiten. 
Wem  es  nicht  durch  Mark  und  Bein  gehen  kann. 


G.  H.  Breitner.  Amsterdamer  Strassenbild 

Pliotographicvcrlag  von  Scheltema  &  Holkcma  in  Amsterdam 


scheidet  den  einzelnen  nicht,  es  gilt  nicht  Achsel¬ 
klappen  und  Tschackos,  nicht  Aufschlägen  und  Säbel¬ 
taschen.  Die  Masse,  der  lebende  Farbenstrauss,  das 
Tiefblau  der  Uniform,  der  rote  Fleck  der  Schnüre, 
eine  blinkende  Scheide  dort,  ein  glitzerndes  Zaum¬ 
zeug  hier,  vor  allem  das  Auf  und  Ab  der  Trab¬ 
bewegung,  der  schaukelnde  Galopp,  das  Schütteln  der 
Körper,  und  das  alles  im  bestimmten  Tagesmoment, 
ein  trüber,  regnerischer  Morgen,  ein  rauchiger  Dämmer¬ 
abend,  die  sammetne  Nacht,  nur  selten  eine  sonnige 
Stunde.  Wer  sich  was  erzählen  lassen  will  von 
Kampfesmut  und  Todesgrauen,  vom  Jammer  der  ge¬ 
opferten  Jugend  und  was  uns  alles  aus  dem  Sol¬ 
datenleben  berichtet  werden  kann,  der  bleibe  besser 


wenn  er  die  lebhafte  Bewegung  von  Mann  und  Pferd 
da  vor  sich  sieht  im  allerschärfsten  Ausdruck,  wer 
sich  da  nicht  wieder  von  feuchter  Luft  umweht  fühlt 
und  die  Freude  nicht  kennt,  so  viel  reiche  Eindrücke 
flüchtigster  Natur  vor  sich  verwirklicht  und  gebannt 
zu  sehen,  der  hat  eben  das  Zeug  nicht,  malerisch  zu 
geniessen.  Er  lese  einen  Roman,  oder  rege  sich 
patriotisch  auf  vor  Illustrationen  aus  den  Befreiungs¬ 
kriegen.  Die  Verehrung  für  phantasievolle  Kunst,  für 
Gedankenreichtum  beim  Maler  ist  in  Deutschland  noch 
heute  grösstenteils  eine  Folge  mangelhaft  gebildeter 
Augen.  Unmusikalische  Leute  interessieren  sich  auch  bloss 
dann  für  Musik,  wenn  sie  Gewitterstürme  nachahmt  und 
Pferdegetrappel  hören  lässt,  sie  meinen  eben,  es  müsse 


G.  H.  BREITNER 


6i 


sich  dabei  etwas  denken  lassen  .  Den  Ärmsten  ent¬ 
geht  ein  grosser  Genuss,  weil  ihnen  eine  Art  der 
Aufnahmefähigkeit  fehlt.  Jeder  Deutsche  bemitleidet 
sie;  dass  es  ihm  selber  häufig  mit  der  Malerei  ebenso 
geht,  ahnt  er  nicht. 

Blosse  Wiedergabe  der  Welt,  willkürliche  Natur¬ 
ausschnitte  giebt  aber  Breitner  auch  in  seiner  frühen 
Zeit  nicht.  Immer  leitet  ihn  ein  eminentes  Kompo¬ 
sitionsgefühl.  Das  1886  von  der  Regierung  an¬ 
gekaufte  Bild  »Reitende  Artillerie  —  die  Bedienungs¬ 
mannschaft,  die  mit  dem  Geschütz  im  vollen  Rennen 


und  zieht  in  die  Stadt.  —  Amsterdam  hat  ihn  ge¬ 
packt,  wie  keinen  zuvor:  die  Wucht  des  Grossstadt- 
lebens,  die  rastlose  Bewegung  der  Wagen  und  Men¬ 
schen,  Schleppkarren  und  Kähne;  die  verregneten 
Asphaltspiegel,  die  Ufer  der  Grachten  im  schmutzigen 
Stadtschnee,  die  rostbraunen  und  violettschwarzen 
Backsteinfassaden  der  schmalen  Häuser  mit  den  Fenster¬ 
löchern,  den  Streifen  des  buttergelben  Holzwerks;  das 
Heben  und  Senken  der  Giebellinie  unter  der 
russigen  Schneeluft.  Da  geht  das  Alltagsleben  hin, 
schwere  Gäule  ziehen  mühsam  die  polternden  Last- 


O.  H.  Breitner.  Amsterdamer  Strassenbild 

Photogmphieveiiag  von  Scheltcmaer  Holhcma  in  Amsterdam 


einen  sandigen  Hohlweg  nimmt  —  ist  kompositionell 
ein  Meisterstück.  Der  Hauptumriss  wirkt  absolut 
momentan,  ist  aber  trotzdem  mit  vortrefflichem  Ge¬ 
schmack  in  den  Rahmen  hineingepasst.  Ein  unver¬ 
besserliches  Gleichgewicht  der  Farbe,  Gegensätze  von 
dunklen  Pferdeleibern,  hellgelben  Schnüren,  maulwurf¬ 
schwarzen  Mützen  und  blondem  Sand,  unterstützen 
die  geschlossene  Wirkung  des  Ganzen. 

Als  hätte  der  Künstler  diese  ganze  Militärperiode 
(er  hat  das  Sujet  übrigens  auch  später  nicht  ganz 
losgelassen)  nur  durchgemacht,  um  seine  Ausdrucks¬ 
fähigkeit  zu  steigern  beim  Studium  so  beweglicher 
Modelle,  wendet  er  sich  weg  von  Feld  und  Heide 


karren.  Die  Leute  eilen  unverwandt  aneinander  vor¬ 
über,  biegen  ein  in  Strassen,  verbreiten  sich  über 
Plätze,  kommen  herab  von  der  hohen  Wölbung  ge¬ 
waltiger  Bogenbrücken.  Am  Damplatz  warten  die 
Trambahnwagen  mit  dem  grauweissen  Dach,  im  win¬ 
terlichen  Nebel  leuchten  schon  die  grün  und  roten 
Lichter.  Bald  geschieht  alles  mehr  in  der  Ferne,  wir 
stehen  am  Fenster  und  schauen  auf  das  Treiben  hinab, 
bald  kommt  der  Strom  gerade  auf  den  Beschauer  zu. 
Wir  stehen  mitten  darunter.  Eine  Figur,  ein  Laden¬ 
mädchen  in  brauner  Mantille,  ist  wenige  Schritte  von 
uns  entfernt,  tief  zieht  es  dahinter  in  die  Strassen- 
prospekte  zurück.  Hier  hat  ganz  sicher  die  Moment- 


G.  H.  BREITNER 


2 


Photographie  anregend  gewirkt,  wenn  auch  nicht  mehr 


d  i^ucL  'iie 
bcu  i'n  mo- 
\ii>  en  rlues 
'cchnischen 


Grossstadt, 
:  überzeugend  ge- 


■ils  das,  denn  . 
beste  Phoiogi','.]: 
^-cri.en  Lcurz  ' 
niotiernc.i  ..  e;.: 
Verfahre;.  ;  ’ 

Xocii  L'  : 
die  Almo-;;:  üre 

iuati.  • 

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l  Otenl  r-v 

nässt.d  die  d: 

larb '  ’d  ...  i 

d  .  s 

idKan.eri.'  U 


das  grüne  Scindier- 
tiich  einer  Arbeiter- 
fra::,  ein  lackroter 
Zeitungskiosk.  Breit- 
ner  ist  der  Maler 
von  Amsterdam  ge¬ 
worden.  Aber  sein 
Amsterdam  ist  die 
innere,  schwerdröh¬ 
nende,  wimmelnde 
Handelsstadt,  nicht 
jenes  strahlende 
Amsterdam,  wie  es 
Jakob  Maris  olym¬ 
pisch  erschaute  an 
heiteren  Herbsttagen, 
da  es  sich  unter 
wolkenbeflaggtem 
Himmelsblau  aus¬ 
breitet  am  spiegeln¬ 
den  Wasser.  Irn 
17.  Jahrhundert  ha¬ 
ben  Jan  van  der  Hey¬ 
den,  Berkheyde  und 
Beerstraeten  dieStadt 
gemalt;  aber  das 
warbloss  ein  schlich¬ 
tes  sorgfältiges  Auf¬ 
nehmen  der  Details, 
ein  getreues  selbst- 
zufriedenesErzählen, 
bei  äusserst  vor¬ 
nehmer  Gesamthal¬ 
tung.  Erschüttert 
von  der  Schönheit 

sind  sie  nie  und  an  Macht  des  Ausdrucks  stehen 
sie  weit  hinter  Breitner  zurück.  Auch  wählen  sie 
ganz  andere  Orte  und  Viertel.  Breitner  hat  den  im¬ 
posanten  Patrizierstadtteil,  die  parallelen  Grachten¬ 
bogen,  wo  die  Privatpaläste  im  Schatten  der  Ulmen 
von  reicheren  Zeiten  träumen,  nicht  gesucht.  Nicht 
in  sich  gekehrte,  hoheitsvolle  Pracht,  sondern  der 
Strudel  des  bewegenden  Lebens  ergreift  ihn.  Es  treibt 
und  wütet  in  ihm,  es  kocht  und  stochert,  er  greift 


G.  H.  Breitner.  Artillerie 

Photographieverlag  von  Scheltcma  &  Holkema  in  Anisterdani 


zur  Arbeit  mit  einer  Plötzlichkeit,  die  manchmal  ein 
abgeklärtes  Gelingen  gefährdet,  aber  sein  Können,  das 
nicht  etwa  bloss  so  hergeweht  kam,  sondern  von 
unablässigem  Studium  unterstützt  wird,  trägt  ihn.  Er 
ringt  und  siegt.  Sonntagskinder  der  Kunst  arbeiten 
eben  erst  recht,  sie  zehren  nicht  vom  dumpfigen 
Speicher  des  früher  Gelernten.  Ob  man  Breitner’s 
Soldatenbilder,  seine  Strassen  und  prachtvollen  Akte 

sieht,  ob  er  das  alte 
Gemäuer  der  Vor¬ 
stadthäuser  im  Ab¬ 
bruch, oder  wiein  der 
letzten  Zeit,  grosse 
Bau-  und  Hafen¬ 
werke  malt,  überall 
zeigt  sich  sein  spru¬ 
delndes  Naturell,  sein 
nie  versagendes  Ton¬ 
gefühl,  seine  plasti¬ 
sche,  synthetische 
Begabung  und  eine 
Hand  so  gehorsam 
und  geübt,  wie  sie 
höchstens  Hals  ge¬ 
habt  hat.  Gerade 
seine  späteren  Arbei¬ 
ten;  die  schnurrende 
Lokomobile,  das  Ge¬ 
wimmel  der  Arbeiter 
zwischen  einge¬ 
rammten  Pfählen, 
die  klobigen  Gäule 
vor  den  Steinkarren, 
diese  für  ihn  wieder 
ganz  neuen  Stoffe 
zeigen,  wie  er  auch 
nicht  dazu  angelegt 
ist,  einseitig  beim 
einmal  Gewählten 
zu  bleiben.  Er  ist 
eben  weder  Militär¬ 
maler  noch  Archi¬ 
tekturmaler,  auch 
nicht  Aktmaler  oder 
Landschafter;  er  ver¬ 
tritt  kein  Fach  und 
darin  schliesst  er 
sich  an  Jakob  Maris’ 
Vielseitigkeit  an,  wie 
er  denn  überhaupt 
von  den  Brüdern 
Maris  viel  gelernt 
hat,  wenn  er  auch  nur  ungefähr  ein  Jahr  Willem 
Maris’  Schüler  war.  Seine  Kraft  ist  dieselbe,  aber 
seine  Auffassung  ist  die  einer  späteren  Generation. 
Er  ist,  wie  die  besten  Holländer,  Künstler  aus 
nimmer  versiegender  Lust,  alles  Gesehene  zu  gestalten, 
alle  Dinge  der  Welt  mit  seinem  Temperament  zu 
durchdringen,  aus  inniger  Liebe  zu  Farbe  und  Ton. 
Ein  geborener  Maler,  wie  Hokusai  ein  geborener 
Zeichner  war. 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  KUNSTWERKEN  AUS  PRIVAT¬ 
BESITZ  IN  BADEN-BADEN  1902 


E 


'  INE  Ausstellung 
von  Kunstgegen¬ 
ständen  aus  Pri¬ 
vatbesitz  Herrichten,  ist 
eine  dornenvolle  Sache. 
Man  muss  zwischen 
Scylla  und  Charybdis 
hindurchsteuern.  Man 
will  die  Kritik  der  Be¬ 
schauer,  wenigstens  der 
verständigen,  ertragen 
können,  ist  aber  nicht 
bloss  in  der  Benennung, 
sondern  nicht  selten 
auch  in  der  Auswahl 
und  Aufstellung  der 
Kunstwerke  von  dem 
nicht  stets  verständigen 

/.  Oberdeutsch.  Maria  selbdritt  der  geschätzten 

Sammler  und  Besitzer 
abhängig.  Wie  oft 
muss  die  Überlassung  eines  guten  Stücks  durch 
die  Mitübernahme  eines  Schmarren  erkauft  werden! 
Wer  über  eine  sogenannte  Leihausstellung  ein  Ge¬ 
samturteil  abgiebt,  wird  diese  mildernden  Umstände 
erwägen. 

Das  klingt  nun  beinahe,  als  ob  die  Baden-Badener 
Ausstellung  sich  an  das  gute  Herz  ihrer  Richter 
wenden  müsste,  um  einen  günstigen  Urteilsspruch  zu 
erreichen.  So  steht  es  mit  ihrer  Sache  nicht.  Im 
Gegenteil.  Die  Gesamtwirkung  ist  sogar  vortrefflich 
und  die  wohlüberlegte  Anordnung  lässt  die  unver¬ 
meidlichen  kleinen  Unbeträchtlichkeiten  bescheiden 
zurücktreten.  Die  Physiognomie  der  Ausstellung  ist 
durchaus  bedingt  durch  das  Haus,  das  sie  aufge¬ 
nommen  hat,  das  Palais  Hamilton.  Es  sieht  alles  be¬ 
haglich,  wohnlich,  lebendig  aus,  nicht  wie  ein  ver¬ 
körperter  Katalog  und  nicht  wie  eine  Sammlung  in 
Spiritus  gesetzter  Präparate. 

Die  Ausstellung  ist  in  zwanzig  Räumen  unter¬ 
gebracht  und  umfasst  etwa  1500  Nummern,  übrigens 
nicht  bloss  Kunstgegenstände.  Auch  eine  Auto¬ 
graphensammlung  findet  sich  darin  und  manches, 
namentlich  von  Bildnissen,  ist  zwar  aus  biographischen 
und  historischen  Gründen,  aber  nicht  des  Kunstwertes 
wegen  anziehend.  In  einem  Museum  ermüdet  und 
belästigt  ein  solches  Massenaufgebot.  Hier  verteilt  es 
sich  anspruchslos  in  die  Winkel  und  Ecken  der  kleinen 
Salons  in  reizende  Schränkchen  und  Etageren,  auf 
kleine  Tische,  Kommoden  u.  s.  w.  und  verstärkt  den 
Eindruck  des  Lebens  und  der  Intimität. 

Eine  starre  kritische  Inventarisierung  würde  der 
Ausstellung  nicht  gerecht  werden.  Man  schlendert 
hindurch,  freut  sich  der  in  Licht  und  Ton  gut  ge¬ 


stimmten  Interieurs,  schaut  sich  das  eine  Ding  ge¬ 
nauer  an,  das  andere  flüchtiger  und  nur  von  aussen, 
als  Farbe,  als  Lichtfleck.  Immerhin  vieles  ist  des  Ver- 
weilens  und  Eindringens  wert. 

Aus  dem  Treppenhaus  treten  wir  zunächst  in  den 
Empfangssalon,  der  unter  anderem  mit  Bildnissen  des 
grossherzoglichen  Jubilars  und  seines  Hauses  ge¬ 
schmückt  ist  und  sich  ganz  stattlich  und  repräsentativ 
ausnimmt.  Daran  schliesst  sich  ein  charmanter  gelber 
Empiresalon,  in  dem  aber  auch  Späteres  Unter¬ 
kunft  gefunden  hat,  z.  B.  eine  geschickt  gegen  ge¬ 
mildertes  Licht  plazierte  Bathseba  von  Jos.  v.  Kopf. 
Die  anstossenden  Räume  beherbergen  besonders  Por¬ 
zellan,  Autographen,  Edelmetall  und  Schmuck,  darunter 
viel  Gutes.  Ein  netter  und  komfortabler  roter  Empire¬ 
salon  weist  wieder  mehr  Bilder  und  Skulpturen 
auf.  Dann  kommen  zwei  Zimmer  mit  Möbeln  und 
älteren  Bildern.  Zwei  unter  Schongauer’s  Namen 
(Kat.  740  und  741;  Fräulein  Bertha  Grunelius)  stark 
restauriert,  wie  es  scheint  (Abb.  2  u.  4).  Bei  der  Ge- 
fangennehmung  Christi  (740)  sind  die  Figuren  des 
Hintergrundes  flott  und  geistreich.  Die  Benennung 
zwingt  aber  nicht.  Das  Votivbild  des  Markgrafen 
Bernhard  von  Baden,  datiert  1534  (Kat.  24,  »Ober¬ 
deutsche  Schule«,  Abb.  3)  giebt  Rätsel  auf.  Es  ist  auf  un- 
grundierte  Leinwand  gemalt,  könnte  also  danach  wohl 
schweizerisch  sein.  Der  frühe  Typus  der  Figuren 
widerspricht  dem  Ornament  und  der  Jahreszahl. 
Gehen  die  Gestalten  auf  norditalienische  Muster  zu¬ 
rück?  Man  hat  die  nicht  unwahrscheinliche  Ver¬ 
mutung  geäussert,  dass  eine  ältere  Miniatur  zum  Vor¬ 
bild  gedient  habe.  Das  Bild  gehört  dem  Kloster 
Lichtenthal.  Eine  sehr  lustige  Attrappe  ist  das  drei¬ 
teilige  Bildchen  Kat.  670,  angeblich  von  H.  Hol¬ 
bein  d.  j.  (Abb.  8).  Wie  mancher  andere  Beschauer 
habe  auch  ich  mich  damit  abgequält.  Das  kleine 
Bild  der  Schleissheimer  Galerie  185,  schmerzhafte 
Mutter  Gottes  Schule  des  Grünewald  aus  der  Samm¬ 
lung  Boisseree  fuhr  mir  dabei  durch  den  Sinn.  Ich 
war  geneigt,  an  niederländische  Arbeit  zu  denken, 
um  so  mehr  als  das  Bild  auf  Eichenholz  gemalt  ist; 
wie  denn  der  Katalog  den  Lukas  von  Leiden  als  Ur¬ 
heber  vorschlägt.  Da  erfuhr  ich,  dass  ein  Forscher, 
ich  meine  Max  Wingenroth,  den  Namen  Hermann’s 
davor  ausgesprochen  habe  und  jetzt  fiel  es  mir  wie 
Schuppen  von  den  Augen.  Das  ist  in  der  That  kein 
andrer,  als  der  schalkhafte  Freiburger  Pasticciere,  von 
dem  in  dortigem  Privatbesitz  und  in  der  städtischen 
Sammlung  viele  Bilder  existieren.  Er  war  ein  ehr¬ 
licher  Fälscher.  Ausser  der  lügnerischen  Bezeichnung 
und  Datierung  auf  Dürer  oder  wen  sonst  hat  er  regel¬ 
mässig  sein  eignes  gotisches  Minuskel  h  ((|)  ange¬ 
bracht,  so  auch  auf  diesen  drei  Bildchen,  von  denen 
jedes  mindestens  eine  falsche  Signatur  trägt.  Der 


34  DIE  AUSSTELLUNG  VON  KUNSTWERKEN  AUS  PRIVATBESITZ  IN  BADEN-BADEN  1902 


2.  Schongaiier  (?).  Christus  am  Ölberg 

Mann,  der  in  der  Tiefe  seines 
Gemüts  so  viele  und  verschiedene 
Manieren  barg,  muss  einen  kräf¬ 
tigen  Humor  gehabt  haben.  Er 
erinnert  an  den  köstlichen  Eulen- 
böck  in  Tieck’s  Novelle  Die  Ge¬ 
mälde  (1822),  der  sich  ebenfalls, 
wenn  er  solch  Bildchen  in  aller 
Liebe  und  Demut  malte,  in  den 
alten  Meister  und  alle  seine  lieben 
Eigenheiten  recht  sanftselig  und 
saumthunlich  hineingedacht  hat, 
dass  ihm  war,  als  führte  des 
Verstorbenen  Seelchen  ihm 
Hand  und  Pinsel  B. 


3.  Votivbild  des  Markgrafen  Bernhard 
von  Baden 


1)  Der  Güte  des  Herrn  Pro¬ 
fessors  Dr.  Baumgarten  in  Freiburg 
verdanke  ich  es,  aus  Schreiber’s 
Oeschiclite  der  Stadt  Freiburg  IV, 

S.  365  ff.  die  nachstehenden  An¬ 
gaben  mitteilen  zu  können: 

Besonders  zeichnete  sich  in 
diesem  Zeitabschnitt  Joseph  Markus 
Hermann,  geboren  am  7.  Oktober 
1732,  aus.  Anfänglich  hatte  er  sich, 

wie  seine  Eltern  behufs  der  Theologie  es  wünschten,  gelehrten  Studien 
gewidmet  und  schon  die  philosophischen  Fächer  zurückgelegt,  als  es 
ihn  unwiderstehlich  zur  Malerei  hinzog  und  er  in  kurzer  Zeit  alte, 
zumal  Mönchsköpfe  lieferte,  welche  günstig  aufgenommen  wurden. 
Am  13.  April  1766  wurde  er  zum  Reisen  zünftig,  jedoch  durch  Dürftig¬ 
keit  (sein  Vater  war  Schuster)  abgehalten,  Kunstschulen  zu  höherer 
Ausbildung  zu  besuchen.  Er  sah  sich  genötigt,  des  Erwerbs  wegen 
viel,  daher  auch  flüchtig  zu  arbeiten;  bald  die  Wand  des  Speisesaals  der 
Kapuziner  (seiner  Gönner)  mit  einem  Dutzend  grosser  Ölgemälde  der 
Passionsgeschichte  gegen  geringe  Entschädigung  zu  bedecken;  bald  auf 
Bestellung  Wallfahrtsbilder,  Landschaften,  Seestücke,  Porträts  11.  s.  w.  zu 
malen.  Nur  wenig  Zeit  war’s  ihm  vergönnt,  sich  seinem  Lieblingsfach, 
dem  niederländischen  Genre  zu  widmen  und  darin  besseres  zu  leisten. 
Nicht  selten  besitzt  eine  Galerie  unter  dem  Namen  eines  berühmten 
Meisters  Kopien  (auch  Originale)  von  Hermann  —  [Unter  andern  ver¬ 
sichert  Nikolai,  in  der  Abtei  St.  Blasien  Bilder  in  Holbein’s  Manier 
mit  dessen  Zeichen  gefunden  zu  haben,  welche  von  Hermann  gefertigt 
waren.  Derselbe  pflege  auf  altes  Holz,  sogar  auf  alte  Fassdauben 


Eine  koloristisch  pikante  Martyriumsscene  (Kat.  281,  Ed.  Meyer, 
Abb.  9)  wird  dem  Elsheimer  zugeschrieben.  In  demselben 
Zimmer  steht  ein  pompöser  Schreibsekretär  von  Nussbaumholz 
mit  Zierhölzern  eingelegt,  von  dem  Kurmainzer  Hofschreiner 
Ludwig  Rohden  1725  und  1726  gearbeitet.  Irre  ich  nicht,  so 
gehörte  er  ehemals  der  Sammlung  Büchner  in  Bamberg  an. 

Nun  geht  es  in  den  oberen  Stock.  Ein  grosser  Waffensaal 
thut  sich  vor  uns  auf,  die  reichhaltige  Sammlung  des  (verstor¬ 
benen)  Leutnants  a.  D.  Karl  Gimbel.  Links  und  rechts  schliessen 
sich  wieder  Zimmer  mit  Gemälden  an,  neueren  und  älteren;  Feuer¬ 
bach,  Böcklin,  Leibi,  Liebermann,  Uhde,  Trübner,  Thoma  und  noch 
andere  grosse,  mittelgute,  mässige  Namen,  ln  dieser  Abteilung 
hätte  am  Ende  einiges  entbehrt  werden  können,  ohne  dass  die 
Kunstfreude  des  Beschauers  dadurch  beeinträchtigt  worden  wäre. 

Für  den  Kunsthistoriker  bildet  der  Kapellenraum  die  eigent¬ 
liche  Hauptschüssel  der  Ausstellung.  Er  umschliesst  namentlich, 
was  das  Kloster  Lichtenthal  und  einige  Kirchen  ausgestellt  haben, 
ferner  sind  zur  Vergleichung  mit  den  Lichtenthaler  Altären  entliehene 

Gemälde  Baldung’s  vel  quasi  hier 
vereinigt  (s.  unsere  Bildertafel  S. 
66  u.  67).  Es  handelt  sich  um  drei 
Altarwerke,  den  angeblich  1503 


und  Fussböden  in  Holbein’s  und  an¬ 
derer  Meister  Manier  zu  malen  und 
deren  Zeichen  beizusetzen.  Schon 
seien  dergleichen  Bilder,  die  man 
alten  Meistern  zugeeignet,  in  manche 
Sammlungen  gekommen  u.  s.  w. 
(Fussnote  zu  S.  366)]  —  zumal  Knei¬ 
penbilder,  alte  Köpfe  und  Katzen. 
Die  Auffassung  ist  naturgetreu,  das 
Kolorit  ebenso  lebendig  als  dauer¬ 
haft,  die  Gewandung  mit  Sorgfalt 
behandelt.  Er  war  zweimal  verhei¬ 
ratet  und  lebte  stets  sorglos,  nicht 
selten  bisNur  Ausgelassenheit  lustig. 
Die  Kinder  liebte  er  und  beklagte 
es  sehr,  selbst  keine  zu  haben. 
Sein  Tod  erfolgte  (14.  Februar  1811) 
im  achtzigsten  Jahre  seines  Alters. 
Seine  besseren  Stücke  sind  bereits 
aus  seinerVaterstadt  verschwunden.« 


4.  Schongaiier  (?).  Kreuztragung 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  KUNSTWERKEN  AUS  PRIVATBESITZ  IN  BADEN-BADEN  1902  65 


entstandenen  Hochaltar  mit  der  heiligen  Sippe  und 
zwei  Seitenaltäre,  einen  mit  der  Magdalenenlegende 
und  drei  weiblichen  Heiligen  und  einen  anderen, 
1496  echt  datierten  mit  der  Ursulageschichte  und 
gleichfalls  drei  Heiligen  (alle  auf  unserer  Tafel  S.  66 
und  67  abgebil¬ 
det).  Wenigstens 
die  beiden  Seiten¬ 
altäre  wurden  auf 
Grund  eines  woh! 
durch  den  Restau¬ 
rator  Völlinger 
1 830  gefälschten 
Monogramms  auf 
dem  Magdalenen- 
altar  von  der  Über¬ 
lieferung  dem  Bai¬ 
dung  zugeschrie¬ 
ben.  Eine  genaue 
Untersuchung  ge¬ 
stattete  der  Stand¬ 
ort  der  Altäre  in 
der  finsteren  und 
feuchten  Markgra¬ 
fenkapelle  des 
Lichtenthaler  Klo¬ 
sters  nicht.  Aber 
die  Taufe  auf  Bai¬ 
dung  wurde  doch 
immer  mit  einem 
grossen  Fragezei¬ 
chen  versehen.  Es 
lag  in  der  Ab¬ 
sicht  des  Ausstel¬ 
lungskomitees,  die 
Tafeln  in  hellem 
Tageslichte  der 
Forschung  zugäng¬ 
lich  zu  machen. 

Inzwischen  hat 
eine  ''  durch  die 
Munifizenz  des 
Grossherzogs  von 
Baden  geladene 
Konferenz  von 
Fachgenossen  die 
Altäre  genau  unter¬ 
suchen  können.  Es 
wird  sich  wohl 
ergeben,  dass  sie 
mit  allgemeiner 
Übereinstimmung 
aus  dem  Lebens¬ 
werk  des  Künstlers, 
so  weit  wir  seinen 
Stil  heute  kennen,  ausscheiden.  Sie  tragen  die  Spur  meh¬ 
rerer  Hände  und  ausser  der  Verwandtschaft  mit  dem 
oberrheinischen  Stil  auch  manchen  schwäbischen  Zug  an 
sich.  Der  höchst  gründlich  und  liebevoll  übermalte 
Hochaltar  hat  mit  den  Seitenaltären  nichts  gemeinsam 
und  ist  von  vag  fränkischem  Charakter.  Das  gar 

Zeilsdirifl  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  8. 


nicht  unfeine  Antependiumbild  des  Ursulaaltars  (etwa 
1515/20,  Abb.  5)  weist  entfernte  und  äussere  An¬ 
klänge  an  den  Meister  von  Messkirch  auf,  dessen 
künstlerische  Heimat  ich  nicht  am  Bodensee,  sondern 
im  schwäbisch  -  fränkischen  Grenzland  suche.  Er¬ 
fahrene  Beurteiler 
denken  an  einen 
Meister  wie  den 
Nördlinger  Daig. 
Gabriel  von  Terey 
hat  vor  Jahren  in 
einem  Aufsatz  im 
^  Rep.  f.  K.  ■<  bei 
einer  Besprechung 
der  von  P.  Heitz 
herausgegebenen 
Zierinitialen  der 
Drucke  des  Th. 
Anshelm  den  Maler 
des  kleinen  Bild¬ 
chens  mit  dem 
Zeichner  einiger 
dieser  Alphabete 
identifiziert.  Das 
etwas  ältere  Ante¬ 
pendiumbild  des 
Magdalenaltars 
(Abb.  6)  steht  den 
Kreisen  Schon- 
gauer’s  ganz  nahe. 
Ohne  hervorra¬ 
gend  zu  sein,  inter¬ 
essieren  die  zwei 
in  die  Altarwangen 
eingefügten  Engel¬ 
bilder  (s.  die  Ta¬ 
fel)  durch  ihren 
Stil  und  ihre  He- 
benswürdigeLyrik. 
Fast  alles  spricht 
dafür,  dass  sie  aus 
der  Werkstatt  der 
zwei  Seitenaltäre 
herrühren.  Aber 
es  fällt  einem 
schwer,  mit  deren 
hausbackener  Rou¬ 
tine  eine  That  voll 
so  inniger,  unbe¬ 
holfener,  knaben¬ 
hafter  Anmut  zu¬ 
sammen  zu  schir¬ 
ren,  wie  sie  aus 
den  beiden  Täflein 
spricht.  Wenn 
überhaupt  etwas  an  den  Lichtenthaler  Bildern,  so 
könnten  sie  von  dem  jugendlichen  Baidung  herrühren. 
Aber  irgend  einen  positiven  wissenschaftlichen  Anhalt 
giebt  es  nicht  dafür. 

Der  Hochaltar  trug  als  Antependium  bis  1835 
das  seitdem  in  der  Karlsruher  Kunsthalle  aufbewahrte 

Q 


5.  Oberdeutsch  (Daig?).  Maria  mit  Heiligen 

Antependiumbild  des  Urstilaaltars  (s.  Tafel) 


6.  Schule  Schongauer’s.  Maria  mit  Heiligen 

Antependiumbild  des  Magdalenenaltars  (s.  Tafel) 


Christiiskopf 


Hochaltar  des  Klosters  Lichtenthal 
bei  geschlossenen  Flügeln 


Vom  Lichtenthaler  Altar 


Magdalenentafel.  Innenseite 


Magdalenentafel.  Aussenseite 


DIE  BILDER  DES  KLOSTERS  LlCHTENTHAl 


Hochaltar  des  Klosters  Lichtenthal 
bei  geöffneten  Flügeln 


Stickereien  aus  dem  Kloster  Lichtenthal 


k 

*■  t 

Ursiilatafel.  Aussenseite 


Ursulatafel.  Innenseite 


Vom  Lichte nthaler  Altar 


F  DER  BADENER  AUSSTELLUNG 


6S  DIE  AUSSTELLUNG  VON  KUNSTWERKEN  AUS  Pf^lVATBESITZ  IN  BADEN-BADEN  1902 


(gleichfalls  aLisges;.  t;i:;  W '.ivbild  des  Markgrafen 
Christoph  linti  se'.aer  ^  rrW-  von  Baidung. 

Man  siciiL  ’r,  j  Ll'ruijaU'r  Kapelle  zeigen 


sainmen  gekommen  sind.  Zur  Kollektivtaufe  auf 
Baidung  mag  die  alte,  nicht  unglaubhafte  Überliefe¬ 
rung,  dass  nahe  Verwandte  des  Malers  dem  Lichten- 


ä  e  f 

7.  a  Amor.  Bei  G.  von  Terey,  Budapest,  b  Die  heilige  Elisabeth  and  Magdalena,  c  Maria  mit  dem  Kind. 
Strassburg,  d  Vanitas.  Slg.  Weber,  Hamburg,  e  Bildnis.  Strassburg,  f  Bildnis  des  Hans  von  Bären¬ 
fels.  Bei  Frau  Oser-Thurneysen,  Basel 


sich  etwa  so  viel  Malerhände  wie  Bilder.  Sie  ist  viel¬ 
leicht  nur  ein  zufälliges  Refugium  für  Altarstücke, 
die  von  verschiedenen  Filialklöstern  von  den  Zeiten 
der  Reformation  und  des  Bauernkriegs  an  dort  zu- 


thaler  Konvent  angehört  hätten,  das  ihrige  beigetragen 
haben. 

Ausserdem  hat  das  Lichtenthaler  Kloster  Gutes 
und  sogar  Vorzügliches  an  Paramenten  und  kirch- 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  KUNSTWERKEN  AUS  PRIVATBESITZ  IN  BADEN-BADEN  1902  69 


liehen  Stickereien  ausgestellt  (s.  Tafel).  In  jedem 
Sinne  eine  Arbeit  ersten  Ranges  ist  der  mit  abge¬ 
bildete  Stickereistreifen  mit  den  vier  Heiligendar¬ 
stellungen  (Kat.  63  b);  merkwürdig  auch  das  Hoch¬ 
relief  des  Streifens  mit  biblischen  Geschichten  (Kat.  63a). 

Beachtenswert,  wenngleich  von  geringer  künstle¬ 
rischer  Bedeutung,  ist  sodann  ein  ziemlich  gut  erhaltenes 
kleines  Eccehomobild  (Kat.  11,  s.  Tafel). 

ln  demselben  Raume  befinden  sich  unter  anderem 
zwei  schöne  polychromierte  Holzskulpturen,  eine  Pieta 
(Kat.  1467,  Frau  Adelb.  Gimbel,  Abb.  10)  von  sehr 
komplexer  Empfindung,  angeblich  deutsch,  wie  ich 
aber  glaube,  spanisch,  und  eine  hl.  Anna  selbdritt 
(Kat.  1456,  Abb.  1). 

Ebendaselbst:  als  Kunstwerk  unerheblich  und  nur 
durch  die  Unruhe  des  Stiles  interessant  zwei  Heilige 
aus  der  Kirche  in  Lauterbach  (Kat.  1423,  1424» 
Abb.  7  b).  Dann  eine  Anzahl  von  Bildern  Baldung’s, 
unter  anderen  der  tief  empfundene,  auch  kolo¬ 
ristisch  besonders  gelungene  Schmerzensmann  der 
Freiburger  Galerie  von  1513,  eines  der  edelsten 
Werke  Baldung’s;  die  Bilder  des  Strassburger  Mu- 


g.  Elsheimer.  Der  hl.  Laurentius  (?) 

seums  (Abb.  7c  u.  e),  das  eher  derbe  und  wenigstens 
in  seinem  jetzigen  Zustand  nicht  völlig  unbedenkliche 
Bildnis  des  Hans  von  Bärenfels  (Kat.  1045,  Frau 
E.  Oser-Thurneysen,  Abb.  yf),  das  der  Öffentlichkeit 
zuerst  durch  die  Strassburger  Ausstellung  1895  be¬ 
kannt  wurde,  die  zwei  Bilder  der  Sammlung  Weber 
in  Hamburg,  von  denen  ich  jedoch  die  Vanitas 
(Abb.  7  d)  nach  wie  vor  für  ein  Werk  B.  Beham’s 
halte,  endlich  G.  von  Terey’s  Amor  (Abb.  7a). 

Die  Ausstellung  ist  von  einem  Komitee  von  fünf¬ 
zehn  Herren  zu  stände  gebracht  worden,  unter  denen 
man  einem  kunstgeschichtlich  bekannten  Namen, 
dem  des  Architekturforschers  Baron  v.  Geymüller, 
begegnet.  Als  Schrift-  und  Geschäftsführer  hat  der 
Grossherzogliche  Konservator  Direktor  Schall  fungiert. 
Seinem  Geschick  und  seinen  Bemühungen  verdankt 
die  Ausstellung  jene  Persönlichkeit  und  Intimität,  die 
ihren  besonderen  Vorzug  ausmacht.  Ähnliche  Unter¬ 
nehmungen  ,  wenngleich  von  geringerem  Umfang, 
möchte  man  sich  öfter  wünschen. 


FRANZ  RIEFFEL. 


IO.  Spanisch  (?).  Schmerzhafte  Mutter 


FLORENTINER  BILDHAUER  DER  RENAISSANCE 


Der  Name  »Wilhelm  Bode  ist  in  der  inter¬ 
nationalen  Kunstwissenschaft  längst  ein  Pro¬ 
gramm.  Vom  Einzelstücke  geht  es  aus,  um 
sich  auf  alle  Gebiete  künstlerischer  und  kunstgeschicht¬ 
licher  Betrachtung  zu  erweitern.  Induktive  Methode, 
aber  ein  Ziel,  das  sich  mit  deduktiver  Erkenntnis 
deckt;  Analyse  des  Einzelnen,  aber  zum  Zweck  einer 
Synthese  der  stilistisch  verwandten  Gruppen,  der 
Künstlerpersönlichkeiten,  der  Schulen  und  Epochen! 

Aufgestellt  hat  Bode  dies  Programm  nicht.  Es 
ist  im  Grunde  so  alt,  wie  die  Kunstwissenschaft  selbst. 
Allein  Bode  hat  früher  als  irgend  ein  anderer  die 
ungeheuer  gesteigerten  Mittel,  welche  die  Kultur  des 
IQ.  Jahrhunderts  dieser  Arbeitsweise  bietet,  richtig  er¬ 
kannt  und  sie  in  der  entschlossensten  und  umfassend¬ 
sten  Art  benutzt.  Keiner  hat  mehr  gesehen  und 
keiner  sieht  schneller.  Das  ist  eine  angeborene,  geniale 
Begabung.  Als  Kenner  Sehen  aber  heisst:  »Ver¬ 
gleichen«.  Es  heisst  ferner:  Echtes  vom  Unechten, 
Gutes  vom  Minderwertigen  unterscheiden.  Dabei 
kann  man  irren.  Das  geschieht  jedoch  um  so  seltener, 
je  häufiger  man  vor  die  Entscheidung  gestellt  ist. 
Daher  in  diesen  Fragen  das  Übergewicht  der  ver¬ 
antwortungsvollen  Museumsleiter  und  die  Führerschaft 
Bode’s.  Denn  auch  hierfür  brachte  er  eine  ganz  un¬ 
gewöhnliche  Begabung  mit. 

Zeuge  ist  die  Gemälde-  und  Skulpturensammlung 
des  Berliner  Museums,  zugleich  aber  die  grosse 
Reihe  seiner  gedruckten  kunstwissenschaftlichen 
Studien.  Besonders  in  den  letzten  Jahren,  wo  Krank¬ 
heit  den  Unermüdlichen  oft  ans  Zimmer  fesselte, 
wurde  sie  stark  vermehrt.  Allerdings  handelt  es  sich 
dabei  oft  nur  um  die  Vereinigung  und  Überarbeitung 
älterer  Aufsätze.  Gerade  dabei  aber  kommt  das  oben 
angedeutete  Programm  zu  voller  Geltung,  und  auch 
diese  gesammelten  Werke«  werden  den  eisernen  Be¬ 
stand  bilden,  den  die  Kunstwissenschaft  der  Zukunft 
aus  dem  Wirken  Bode’s  übernimmt. 

Einen  reichen  Beitrag  dazu  bringt  das  vor  kurzem 
bei  Bruno  Cassirer  in  Berlin  erschienene  Buch: 
-Florentiner  Bildhauer  der  Renaissance' . 

Das  Thema  war  von  jeher  eines  von  Bode’s 
Lieblingsgebieten.  Neben  der  holländischen  Malerei 
steht  es  am  Beginn  seiner  Studien,  es  sind  ihm  die 
meisten  Jahrbuchaufsätze  gewidmet,  und  schon  1887 
wurden  diese  in  Buchform  vereint.  Allein  das  ge¬ 
schah  damals  nur  in  einem  mehr  äusserlichen  Neben¬ 
einander.  Geschlossener,  jedoch  auch  wieder  ver¬ 
allgemeinert,  wurde  die  Behandlung  in  dem  kleinen 


der  italienischen  Plastik  gewidmeten  »Handbuch« 
(Berlin  1891),  und  im  Text  zu  den  Denkmälern  der 
Renaissanceskulptur  in  Italien«  (München,  Bruckmann). 

Die  neue  Veröffentlichung  knüpft  das  einigende 
Band  fester.  Sie  gilt  lediglich  der  Florentiner  Plastik. 
»Florenz  als  Heimat  der  neueren  Kunst-,  seine  »Plastik 
als  deren  erste,  eindrucksvollste  Blüte«  —  das  ist  das 
Thema  des  ganzen  Werkes.  In  der  Einleitung  wird  es  mit 
besonderer  Wärme  angeschlagen.  »Nur  an  zwei  Stätten 
hat  sich  die  Bildhauerkunst  ganz  frei  entfaltet:  in 
Athen  und  in  Florenz  .  Nirgends  in  der  That  waren 
die  sozialen  Verhältnisse  so  günstig  wie  dort,  nirgends 
kamen  ihnen  so  mächtige  Künstlerkräfte  entgegen. 
Während  der  ersten  Hälfte  des  Quattrocento  spiegeln 
sie  sich  in  dem  Dreigestirn:  Ghiberti,  Donatello,  Luca 
della  Robbia.  Die  anderen  sind  nur  Trabanten.  In  den 
Marmorbildhauern  vom  Schlage  Desiderio’s,  und  den 
Bronzebildnern  Antonio  Pollajuolo  und  Verrocchio 
erwächst  ein  neues  Geschlecht,  aber  noch  keine  ganz 
neue  Kunst.  Diese  bringen  erst  Lionardo  und  Michel¬ 
angelo. 

Damit  ist  ungefähr  der  Künstlerkreis  gekenn¬ 
zeichnet,  in  dem  sich  die  Einzelstudien  des  Werkes 
bewegen.  Diese  selbst  geben  Monographien  teils 
aus  der  Künstlergeschichte,  teils  aus  der  Kunst¬ 
geschichte.  Einige  der  ersteren  sind  grössere,  er¬ 
schöpfende  Charakterbilder  —  so  von  Luca  della 
Robbia  und  von  Bertoldo  di  Giovanni  —  andere 
bieten  Ausschnitte  aus  dem  Wirken  einzelner  Meister 
—  Donatello  ^als  Architekt  und  Dekorator«  und  als 
Madonnenbildner  ,  Desiderio  und  Laurana  als  »Por- 
trätisten^  »Michelangelo’s  Jugendwerke«  —  andere 
wieder  gehen  mehr  von  ikonographischen  Gesichts¬ 
punkten  aus  -  Madonnendarstellung  bei  den  Flo¬ 
rentiner  Bildnern«,  »Quattrocentobüsten  des  jungen 
Christus  und  Johannes«,  »Versuche  der  Ausbildung 
des  Genre  und  der  Putto«.  Nur  zwei  Aufsätze 
schliessen  sich  lediglich  an  ein  Einzelwerk  an,  steigen 
aber  ebenfalls  zu  einer  Charakteristik  der  in  Frage 
kommenden  Meister  —  des  Desiderio  und  des  Gio¬ 
vanni  della  Robbia  —  auf. 

Trotz  aller  Vielseitigkeit  des  Buches  bleibt  sein 
Held  Donatello.  Von  dem  mit  Willi  Pastor  begin¬ 
nenden  Zweifel  an  dessen  heutiger  Schätzung  spürt 
man  bei  Bode  nichts.  Bode  sieht  eben  stets  nur  mit 
eigenen  Augen.  Und  Ergebnisse,  die  sich  ihm  dabei 
von  neuem  bestätigen,  formuliert  er  nur  um  so 
schärfer,  je  mehr  sie  von  anderer  Seite  bestritten 
wurden.  Allein,  wo  Bode  selbst  das  frühere  Gute 


FLORENTINER  BILDHAUER  DER  RENAISSANCE 


71 


durch  ein  Besseres  ersetzen  zu  können  glaubt,  scheut 
er  auch  nicht,  sich  selbst  zu  korrigieren.  Auch  die 
glänzendste  Stilkritik  muss  eben  mit  »provisorischen 
Wahrheiten«  rechnen.  Eine  solche  war  beispielsweise 
die  frühere  Benennung  jener  köstlichen  1878  aus  dem 
Strozzipalast  für  das  Berliner  Museum  erworbenen 
marmornen  Frauenbüste  als  »Marietta  Strozzi«  und 
ihre  Zuweisung  an  Desiderio  da  Settignano.  Jetzt 
hat  eine  in  der  Villa  del  Boschetto  des  Principe 
Strozzi  bei  Florenz  aufgetauchte,  übrigens  künstlerisch 
nicht  sonderlich  anziehende  Marmorbüste  der  Marietta 
diesen  Namen  der  schon  1842  in  Florenz  für  das 
Berliner  Museum  erworbenen  Mädchenbüste  gebracht, 
die  damals  als  ein  Werk  Donatello’s  galt,  von  Waagen 
und  dann  auch  von  Bode  dem  Mino  da  Fiesoie  zu¬ 
geschrieben  wurde.  Nun  wird 
sie  dem  Desiderio  zurück¬ 
gegeben  Jene  früher  Marietta 
Strozzi  getaufte  Büste  aber 
ist  schon  im  Handbuch« 

(1891)  als  eine  neapolitanische 
Prinzessin  von  Francesco  Lau- 
rana  bezeichnet  und  erscheint 
in  dem  neuen  Buche  neben 
ihrer  stilistischen  Zwillings¬ 
schwester  bei  Stefano  Bardini 
in  Florenz  und  einer  Reihe 
legitimer  Geschwister  im  Bar- 
gello,  im  Wiener  Hofmuseum, 
im  Louvre  und  bei  G.  Drey- 
fus  in  Paris.  Und  dabei  wirkt 
die  schärfere  Erkenntnis  Lau- 
rana’s  auch  wieder  auf  das 
stilistische  Charakterbild  Desi- 
derio’s  klärend  zurück. 

Während  in  diesem  Auf¬ 
satz  lediglich  die  Stilkritik 
zum  Worte  kommt,  bringt 
der  folgende  zugleich  eine 
überraschende  geistvolle  Hypo¬ 
these  über  die  sachliche  Be¬ 
deutung  von  Werken,  die  von 
jeher  Lieblinge  aller  Kunst¬ 
freunde  waren:  der  zahlreichen  quattrocentistischen 
Kinderbüsten.  Sie  gelten  als  Bildnisse  des  Gio¬ 
vannino.  Aber  bei  einer  ganzen  Reihe  von  ihnen 
fehlt  das  Lammfell,  das  den  kleinen  Täufer  zu  cha¬ 
rakterisieren  pflegt.  Bode  erklärt  sie  daher  jetzt  als 
Darstellungen  des  jugendlichen  Christus.  In  ihren 
durchweg  individuellen  Zügen  jedoch  sieht  er  Bildnisse 
von  Knaben  aus  vornehmen  Florentiner  Familien. 
»Ein  reines  Kinderbildnis  wäre  der  Zeit,  in  der  das 
Porträt  nur  zur  Verherrlichung  einzelner  hervorragen¬ 
der  Persönlichkeiten  in  Aufnahme  kam,  viel  zu  an¬ 
spruchsvoll  erschienen,  während  man  die  Porträtierung 
eines  lieben  Kindes  in  dem  Gemälde  oder  der  Büste 
eines  heiligen  Knaben  für  eine  Kirche  oder  Kapelle 
keineswegs  anstössig  fand.«  Das  ist  so  recht  im 
Geiste  der  Frührenaissance  gedacht  —  vor  den 
Tagen  Savonarola’s!  Die  Stimmung  in  diesen  Knaben¬ 
büsten  ist  freilich  sehr  verschieden,  und  bei  dem 


laut  lachenden  Bürschchen  des  Herrn  Benda  in  Wien 
erscheint  die  neue  Deutung  als  Christusknabe  nicht 
unbedingt  überzeugend.  Um  so  mehr  das  Ergebnis 
der  gerade  hier  sehr  schwierigen  Stilexegese,  die  — 
ausgehend  von  einer  neueren  Berliner  Erwerbung  — 
diese  zahlreichen  Büsten  besonders  zwischen  Desiderio 
und  Antonio  Rossellino  verteilt. 

Stilkritik,  wie  sie  Bode  übt,  lässt  sich  nicht  er¬ 
lernen.  Sie  beruht  keineswegs  nur  auf  Erfahrung, 
sondern  vor  allem  auf  Gefühl.  Daher  kann  sie  oft 
auch  ohne  Beweis  überzeugen.  Das  Verhältnis  Do¬ 
natello’s  zu  Michelozzo  entzieht  sich,  wie  jedes  der¬ 
artige  Zusammenarbeiten  zweier  Künstler,  einer  rech- 
nungsmässig  sicheren  Abschätzung.  Dennoch  wird, 
wer  näher  in  Donatello’s  Wesen  eindringt,  dem  ersten 
Aufsatz  Bode’s,  der  Donatello’s 
Originalität  auch  im  architek¬ 
tonischen  und  dekorativen 
Schaffen  Michelozzo  gegen¬ 
über  so  hoch  anschlägt,  völ¬ 
lig  beistimmen.  Werke,  wie 
die  Nischen  des  S.  Ludwig 
und  der  Verkündigungsgruppe 
in  S.  Croce,  wollen  sich  zu¬ 
nächst  selbst  dem  allgemeinen 
Stilbild  ihrer  Entstehungszeit 
kaum  fügen.  Aber  gerade  dies 
spricht  für  Donatello,  der  jeder 
Aufgabe  einen  neuen  Wert 
giebt.  Wiederholt  braucht 
Bode  bei  dieser  Erörterung 
das  Wort  »barock«,  und  diese 
Betonung  eines  dem  Kunst¬ 
geiste  nach  barocken  Elementes 
in  der  Kunst  der  Erührenais- 
sance  kehrt  auch  an  anderer 
Stelle  wieder.  Solche  gelegent¬ 
liche  Hinweise  eröffnen  neue 
Perspektiven.  Ins  stärkste  Licht 
treten  sie  bei  Michelangelo. 
Schon  früher  hat  Bode  gezeigt, 
dass  dessen  »Madonna  an  der 
Treppe«  durch  ein  Marmorrelief 
bei  G.  Dreyfus  in  Paris  beeinflusst  sei.  Jetzt  erhält  diese  An¬ 
nahme  durch  eine  Reihe  verwandter,  bisher  unbeachteter 
Marmorreliefs  neue  Stützen.  Die  Zwischenglieder 
mehren  sich  und  erhöhen  die  Wahrscheinlichkeit  des 
Zusammenhanges,  ln  ähnlichem  Sinne  wird  unsere 
Kenntnis  von  der  Jugendentwickelung  Michelangelo’s 
erweitert.  Bode’s  Tendenz  ist  hier,  auch  diesen  Ti¬ 
tanen  wieder  fester  mit  dem  Boden  seiner  heimat¬ 
lichen  Kunst  zu  verbinden.  Das  stärkste  Mittelglied  ist 
Bertoldo,  dessen  Kleinkunst  ein  meisterhafter  Aufsatz 
gewidmet  ist.  Für  Michelangelo’s  Verhältnis  zu  seinem 
ersten  Lehrer  in  der  Plastik  gewinnt  das  kleine  vom 
alten  E.  von  Liphart  erkannte,  jetzt  von  seinem  Enkel 
in  Ratshof  bei  Dorpat  erworbene  Relief  »Apoll  und 
Marsyas«  besondere  Wichtigkeit,  weil  es  mindestens 
zum  Schlachtrelief  und  zum  David  schlagende  Analogien 
bietet.  Bei  der  Erörterung  der  Jugendwerke  Michel¬ 
angelo’s  richtet  sich  Bode’s  Polemik  diesmal  vor  allem 


Ant.  Rossellino.  Kinderbüste 
Berlin,  Kgl.  Museen 


72 


UNSERE  KUNSTBLÄTTER 


gegen  Wölfflin.  Zur  Beurteilung  des  Berliner  Qiovannino 
wäre  aber  mindesiejis  crv.  ■ünscht  gewesen,  dieAbbildung 
der  Täuferstatue  des  G  ''o’air.u  Saniacroce  in  Moiito- 
liveto  zu  Neape:  iii  gloiT,.eiU  ./lassstabe  und  ohne 
ihre  Nischenurni  a'.i'u  .,ng  ier,!  Berliner  Werk  gegen- 
überzustellcn.  i.Vi  üe  ig''  ;  sii  u  gerade  die  Abbil¬ 
dungen  vorzüglich  gcv/äidi^  urui,  wie  die  ganze  Aus¬ 
stattung  des  Buches,  reicli  und  gefällig. 

Auf  die  cir.zelncn  Slreiifragcn  näher  einzugehen, 
ist  an  dieser  Sie  c  v.  -der  inögiieh  noch  geboten.  Sie 
werden  nocii  •..eie  ,i^eiicnkreise  ziehen.  Ist  doch 
auch  der  Ton  des  Buches  oft  der  einer  Streitschrift! 
Uncbcnbürtigcii  Widersin-uch,  wie  den  von  Reymond 
und  Fritz  Wolf  ij  iciSo  t  bode  dabei  oft  hart  büssen. 
Bcgrcii'lich  genug:  Toieranz  war  niemals  die  Tugend 
der  KuiKUkenmr.  iViehr  als  anderwärts  gilt  hier  der 
Satz;  Wer  wankt,  der  fällt.  Und  als  gemeinsamer 
Feind  droht  die  Fälscherkunst.  Auch  über  einzelne 
Probleme  des  neuen  Buches  wirft  sie  ihren  gefälir- 
liclien  Schatten.  Aber  niemand  ist  heute  berufener, 
gerade  hier  den  rechten  Weg  zu  weisen,  als  Bode. 
Da  wird  es  ein  bemerkenswertes  Ergebnis,  dass  Bode 
seine  Erfahrung  in  den  meisten  strittigen  Fällen  zu 


Gunsten  der  Echtheit  in  die  Wagschale  wirft.  Und 
noch  ein  anderes  sei  hier  zum  Schluss  betont!  Man 
vergleiche  einmal  die  in  diesem  Buche  behandelten 
Probleme,  mit  denen,  welche  die  Historiker  der  ita¬ 
lienischen  Plastik  vor  etwa  zwanzig  Jahren  beschäf¬ 
tigten,  in  Zeiten,  in  denen  fast  jede  unbezeichnete 
Quattrocentoskulptur  unter  dem  Namen  Donatello’s 
auf  den  Markt  kam.  Das  ist  ein  gewaltiger  Fort¬ 
schritt.  Das  Bild  der  Florentiner  Renaissanceplastik 
hat  sich  in  der  modernen  Kunstforschimg  überraschend 
schnell  grosszügig  entfaltet.  An  ihm  wird  sich  nicht 
viel  mehr  verändern.  Die  heutige  Aufgabe  ist,  es  in 
allen  seinen  Feinheiten  durchzuciselieren.  Das  ist  die 
undankbarere,  schwerere  Kunst.  »Am  schwierigsten 
wird  die  Plastik,  wenn  der  Fingernagel  dem  Thon¬ 
modell  die  letzte  Feile  geben  soll«,  sagte  Polyklet. 
Das  gilt  auch  für  die  Stilkritik.  Freuen  wir  uns,  dass 
Wilhelm  Bode’s  feinfühlige  Kraft,  die  an  der  heutigen 
Gesamterscheinung  dieser  kunstgeschichtlichen  Cha¬ 
rakterbilder  so  wesentlich  beteiligt  ist,  nun  auch  noch 
in  minimis  quoque  rebus«  so  rüstig  am  Werke 
bleibt.  ALFRED  G.  MEYER. 


UNSERE  KUNSTBLÄTTER 


Eiermann  R.  C.  Hirzel’s  Name  ist  dem  Leser¬ 
kreise  wohlvertraut.  Von  ihm  stammte  der  Entwurf 
zu  dem  stimmungsvollen  Umschläge  her,  der  diese 
Zeitschrift  die  letzten  zwei  Jahre  über  umschloss. 
Auch  das  Kunstgewerbeblatt  hat  er  mit  seinen  auf 
eindringenden  Naturstudien  beruhenden  stilisierten  Pflan¬ 
zenumrahmungen  öfters  geschmückt.  Gerade  diese 
scharfzackigen  Blattgebilde  sind  für  Hirzel  so  typisch 
geworden,  dass  man  seine  Urheberschaft  fast  auf  den 
ersten  Blick  zu  erkennen  pflegt;  und  dies  nicht  nur 
auf  dem  Gebiete  des  Buchschmuckes,  das  er  in  den 
letzten  Jahren  so  eifrig  gepflegt  hat:  auch  im  plasti¬ 
schen  Kunstgewerbe  hat  Hirzel  seine  Talente  mit 
bestem  Geschick  zu  verwerten  gewusst.  Seine  mit 
der  Hand  getriebenen  Gold-  und  Silberarbeiten  haben 
sich  rasch  ihren  Weg  gebahnt.  Neben  dieser  ihn  viel 
in  Anspruch  nehmenden  gewerblichen  Thätigkeit  hat 
er  aber  unablässig  mit  der  Radiernadel  gearbeitet  und 
in  den  letzten  Jahren  eine  ganze  Reihe  empfindsamer 
Blätter  (zum  Teil  auch  in  Federzeichnung)  hervor¬ 
gebracht.  Wir  freuen  uns,  in  der  für  diese  Zeitschrift 
geschaffenen  Radierung  eine  seiner  vorzüglichsten 
Arbeiten  begrüssen  zu  können. 

Gegen  diese  stilisierte  Kunst  Hirzel’s  steht  als 
zweites  Blatt  die  kräftige  Naturstudie  von  Franz 
Skarbina.  Von  allen  Problemen  der  modernen  Malerei 
hat  keines  Skarbina  so  oft  angezogen,  ist  keines  von 
ihm  in  so  unendlich  vielen  Variationen  behandelt 


worden,  wie  das  des  künstlichen  Lichtes.  Und  dies¬ 
mal  scheint  es  fast,  als  wenn  dem  Maler  nicht  nur 
der  Reiz  der  Lichteffekte  den  Pinsel  in  die  Hand 
gedrückt  hätte,  auch  das  Gemüt  hat  ihn  wohl  zur 
Festhaltung  dieses  Poetischesten  aller  Lichtmeere,  des 
Weihnachtslichtes,  bestimmt.  Die  Ölstudie  ist,  wie 
uns  der  Künstler  erzählt  hat,  frisch  vor  der  Familien¬ 
scene  in  einem  Zuge  heruntergestrichen  und  wird 
durch  unseren  Dreifarbendruck  mit  verblüffender 
Originaltreue  wiedergegeben. 

Noch  ein  drittes  Kunstblatt  haben  wir  diesmal 
beigegeben  und  führen  damit  einen  höchst  begabten 
jungen  Radierer  in  den  Kreis  dieser  Zeitschrift  ein, 
dessen  Arbeiten  wir  schon  bei  den  letzten  Schwarz- 
weiss-Ausstellungen  mit  besonderem  Interesse  betrachtet 
haben.  Es  ist  dies  Oskar  Oraf-Vr^xhuxg.  Ihm  ward 
kürzlich  Gelegenheit,  seine  Kunst  in  den  Dienst  einer 
grösseren  Aufgabe  zu  stellen.  Es  galt  ein  Pracht¬ 
werk  unter  dem  Titel  Malerisches  aus  Salzburg«  in 
Gemeinschaft  mit  C.  Pfaff-Bader  zu  schaffen,  das 
aus  25  Radierungen  mit  Textbeilagen  besteht  und  im 
Verlage  von  Hermann  Kerber  in  Salzburg  erschienen 
ist.  Jeder  Freund  Salzburgs  —  und  wer  wäre  das 
nach  dem  Besuche  dieser  einzigen  Stadt  nicht!  — 
sei  auf  das  wirklich  vornehme  Prachtwerk  hingewiesen. 
Es  ist  künstlerisch  von  Anfang  bis  zu  Ende  und  des¬ 
halb  als  rechtes  Weihnachtsgeschenk  zu  empfehlen. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  Q.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


DIE  STADTBRÜCKE  IN  SALZBURG 


ORIOINALRADIERUNG  VON  OSKAR  GRAF-FREIBURG 


Zeitsclirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  4. 


U) 


MAX  KLINGER 


SCHLAFENDE  (MARMOR) 


Abb.  1.  Mittelstiick  der  Komposition  Amor  und  Psyche.  Thonrelief  von  Henry  Bates 

(Mit  Erlaubnis  von  F.  Hollyer,  London) 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 

Von  Hermann  Muthesius  in  London 
(Schluss) 


Der  Kampf  gegen  den  Akademismus,  der  die  vor¬ 
wärts  strebende  Kunst  der  letzten  fünfzig  Jahre 
allerorten  charakterisiert,  hat  sich  auch  in  der 
englischen  Skulptur  geäussert,  ohne  hier  aber  zu  so  aus¬ 
gesprochenen  Werten  gelangt  zu  sein  wie  in  der  Malerei. 
England  ist  nie  ein  besonders  günstiger  Boden  für  die 
Skulptur  gewesen.  Nicht  nur,  dass  es  nach  dem  Aus¬ 
löschen  der  mittelalterlichen  Tradition  bis  ins  Ende 
des  1 8.  Jahrhunderts  hinein  hier  fast  noch  mehr  vom 
Auslande  gelebt  hat  als  in  der  Malerei,  es  ist  auch  im 
ig.  Jahrhundert  arm  gewesen  an  wirklichen  bildhaue¬ 
rischen  Grössen.  Zwar  reiht  sich  John  Flaxman 
würdig  in  die  Reihe  der  ganz  international  gefärbten 
grossen  Bildhauer  ein,  die  die  Flutwelle  griechischer 
Begeisterung  am  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  in  allen 
Ländern  hervorrief,  aber  seine  Nachfolger  sind  um 
so  unerfreulicher.  Mehr  als  anderwärts  machen  die 
Werke,  die  sie  im  sogenannten  griechischen  Stile 
hinterlassen  haben,  heute  den  Eindruck  des  Puppen¬ 
haften,  Gedrechselten,  Leblosen  und  Schemenhaften, 
erzeugt  unter  der  narkotischen  Betäubung  eines  frem¬ 
den  Giftes.  Ein  Gang  durch  die  Diplomagalerie  der 
Akademie  der  Künste  in  London  muss  davon  über¬ 
zeugen.  Über  den  Stand  der  englischen  Bildhauerei 
in  den  sechziger  Jahren  giebt  das  Jedem  bekannte 
Albert-Denkmal  im  Hyde-Park  in  London  die  beste 
Auskunft.  Hier  waren  fast  alle  damaligen  Bildhauer 
von  Ruf  beteiligt:  Foley  schuf  das  Bild  des  Fürsten, 
Armstead  (der  jetzt  noch  lebende  Akademiker)  und 
Philip  übernahmen  die  grossen  Figurenfriese  und  Mac- 
dowell,  Foley,  Theed  und  Bell  die  grossen  Eckgruppen, 


weiche  die  vier  Erdteile  versinnbildlichen.  Alles  steht 
noch  streng  unter  dem  Gebot  des  »Idealismus«,  der 
noch  kaum  durch  irgend  welche  Individualität  durch¬ 
brochen  oder  für  modernes  Empfinden  schmackhaft 
gemacht  ist.  Und  doch  wirkte  um  dieselbe  Zeit  be¬ 
reits  ein  Bildhauer  von  sprudelndster  individueller  Kraft, 
das  grösste  plastische  Genie,  das  England  hervor¬ 
gebracht  hat,  Alfred  Stevens,  ungekannt  und  unbe¬ 
rühmt  neben  diesen  Akademikern;  eine  an  Michel¬ 
angelo  erinnernde,  stürmische  Künstlernatur  von  selbst¬ 
verzehrender  Glut,  von  deren  sonst  in  allerhand 
Kleingerät  verschwendeter  Kraft  fast  nur  das  unvoll¬ 
endet  gebliebene  Wellington-Monument  in  der  Pauls¬ 
kirche  in  London  heute  öffentlich  Zeugnis  ablegt. 

Das  Albert  -  Denkmal  ist  auch  noch  in  einer  an¬ 
deren  Beziehung  lehrreich:  es  zeigt,  wie  wenig  man 
überhaupt  in  der  Lage  war,  die  Monumentalität  eines 
Denkmalgedankens  zu  verwirklichen.  Über  und  über 
mit  Skulpturen  beladen,  die  keinen  Quadratzoll  Fläche 
übrig  lassen  und  ohne  befriedigende  Gesamtform  ist  es 
eigentlich  die  beste  Illustration  dessen,  wie  ein  Denkmal 
nicht  sein  soll.  Über  den  Mangel  an  monumentalem 
Sinn  in  England  ist  schon  im  Zusammenhänge  mit 
der  englischen  Architektur  die  Rede  gewesen.  Er 
prägt  sich  aus  in  dem  gänzlichen  Fehlen  an  gross¬ 
städtischen  Platz-  und  Architekturanlagen  in  England, 
dessen  Städte  einschliesslich  Londons  alle  ins  Riesen¬ 
hafte  gewachsenen  Dörfern  gleichen.  Er  prägt  sich 
aber  auch  aus  in  dem  erwähnten  Fehlen  von  guten 
Denkmälern,  das  für  England  geradezu  typisch  ist. 
Und  das  überzeugendste  Beispiel  für  denselben  Mangel 


IO 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


an  monumentalem 
Sinn  kann  von  je¬ 
dem  Englandrei¬ 
senden  in  derWest- 
minsterabtei,  dieser 
berühmten  Ruh¬ 
meshalle  Englands, 
beobachtet  werden, 
in  welcher  die  Mo¬ 
numente  wie  sie 
gerade  kamen 
durcheinander  ge¬ 
stellt  sind  und  so 
ungeordnet  auf¬ 
einander  hocken, 
dass  man  sich  beim 
Eintritt  in  die 
Kirche  zunächst  in 
einen  Trödelladen 
versetzt  glaubt.  — 
Die  Spärlichkeit 
von  öffentlichen 
Denkmälern  wäre 
an  sich  nicht  zu 
bedauern,  wie  ja 
die  jetzt  auf  dem 
Kontinent  grassie¬ 
rende  Denkmalwut 
sicherlich  nicht  den 
Erfolg  hat,  beson¬ 
dere  Kulturwerte 
anzuhäufen.  Aber 
die  wenigenDenk- 
mäler  Englands 
sind  oft  hart  und 
steif  und  meist 
ohne  besonderes 
Interesse.  —  Von 
der  älteren  denk¬ 
malschaffenden 
Generation  sind 
neben  den  beim 
Albert  -  Denkmal 
genannten  Bild¬ 
hauern  als  die  her¬ 
vorragendsten  Ver¬ 
treter  etwa  noch  Durham,  Jones,  Noble,  Chantrey 
und  Mossman  zu  nennen,  deren  Namen  mit  der 
Mehrzahl  der  öffentlichen  Monumente  Englands  ver¬ 
bunden  sind. 

ln  die  mit  verschwindenden  Ausnahmen  im  Geiste 
der  Akademie  ausgeübte  und  unter  deren  schützender 
Decke  blühende  Kunst  eines  verjährten  Klassizismus 
wurde  in  den  sechziger  und  den  beginnenden  siebziger 
Jahren  Bresche  geschlagen  und  zwar  durch  direkten 
Kunstimport  aus  Deutschland  und  Frankreich.  Der 
deutsche  Bildhauer  J.  E.  Böhm,  einer  der  ersten 
Künstler,  die  sich,  besonders  im  Bildnis,  wieder  einem 
frischeren  Realismus  zugewandt  hatten,  liess  sich  1862 
in  England  nieder  und  lebte  hier  als  gefeierter  und 
vielbeschäftigter  Bildhauer  bis  zu  seinem  1890  er¬ 


Abb.  2.  Ikarus 
Bronzefigiir  von  Alfred  Gilbert 


folgten  Tode.  Von  noch  grösserem  erzieherischen 
Einfluss  wie  er  wurde  der  (vor  kurzem  verstorbene) 
französische  Bildhauer  Dalou,  weil  er  sich  ganz  dem 
Unterrichte  widmete  und  so  das  Mittel  in  der  Hand 
hatte,  den  Samen  einer  neuen  Kunstauffassung  in  die 
Brust  der  studierenden  Jugend  zu  streuen.  Bei  Aus¬ 
bruch  der  Commune  1870  nach  England  flüchtend 
wurde  Dalou  hier  freundlich  aufgenommen  und  als 
Lehrer  an  die  Southkensingtonschule  berufen.  Er  ge¬ 
staltete  dort  den  Bildhauerunterricht  binnen  wenigen 
Jahren  vollkommen  um.  Als  er  dann  in  sein  Vater¬ 
land  zurückkehrte,  sandte  er  einen  jungen  Stellver¬ 
treter,  den  jetzt  noch  an  der  Southkensingtonschule 
thätigen  E.  Lanteri.  Mit  Böhm’s  und  Dalou’s  Auf¬ 
treten  beginnt  ein  neues  Zeitalter  in  der  englischen 
Bildhauerei.  Naturstudium,  flotte  Behandlung,  Be¬ 
wegung  wurden  die  leitenden  Gesichtspunkte  gegen¬ 
über  der  glatten  steifen  Art  von  früher.  Böhm,  Dalou 
und  Lanteri  sind  die  Begründer  des  modernen  Ele¬ 
ments  in  der  englischen  Bildhauerei. 

Will  man  dieses  charakterisieren,  so  ist  zunächst  zu 
bemerken,  dass  der  Realismus  trotz  allem  merkwürdig 
wenig  Wurzel  geschlagen  hat.  Es  sind  nur  wenige  Ver¬ 
treter  vorhanden,  die  ihm  huldigen  oder  eine  Zeitlang 
gehuldigt  haben.  Alfred  Gilbert,  Onslow  Ford,  Ros- 
coe  Mullins,  Konrad  Dressier,  der  schon  als  Maler 
genannte  John  M.  Swan  und  andere,  die  mehr  oder 
weniger  realistische  Auffassung  verraten,  würde  man 
deshalb  doch  kaum  als  Realisten  bezeichnen.  Da¬ 
gegen  hat  sich  eine  andere  Bewegung  Geltung  ver¬ 
schafft,  die  man  wohl  als  das  typisch  Englische  in 
der  heutigen  Bildhauerei  ansprechen  kann,  und  die 
daher  unsere  besondere  Beachtung  verdient.  Es  ist 
eine  dem  Neupräraffaelismus  parallel  laufende,  deko¬ 
rativ  plastische  Schule,  der  sich  jetzt  die  besten  jün¬ 
geren  Kräfte  zugewendet  haben.  Sie  hat  ihren  Ur¬ 
sprung  zum  Teil  im  Kunstgewerbe  und  streift 
das  letztere  Gebiet  vielfach,  sogar  oft  in  nicht  unbe¬ 
denklicher  Weise.  Ein  Kultus  der  dekorativen  Linie, 
die  Verwendung  mannigfaltiger  Materialien,  wie  ver¬ 
schiedener  Metalle,  Schmelz,  Elfenbein,  bunten  Steinen 
u.  s.  w.  ist  das  Bezeichnende  dieser  Schule,  im  Stoff 
huldigt  sie  einem  gewissen  Romantizismus,  mit  Vor¬ 
liebe  dem  präraffaelitischen  Sagenkreis  entnommen. 
Neben  dieser  dekorativen  Schule  blüht  der  alte  Klassi¬ 
zismus  noch  bei  einigen  Vertretern  weiter,  wenn  auch 
in  etwas  modernisierter  Form.  Gänzlich  abwesend 
sind  moderne  Bestrebungen  in  der  Art  der  Kunst 
Meunier’s  oder  van  der  Stappen’s,  auch  die  auf 
grossen  massigen  Zuschnitt  ausgehenden  modernen 
Bestrebungen,  wie  wir  sie  hier  und  da  auf  dem  Kon¬ 
tinent  hervortreten  sehen,  sind  unbekannt  in  England. 
Die  heutige  Lage  würde  sich  daher  vielleicht  dahin 
bestimmen  lassen,  dass  neben  den  Ausläufern  des 
Klassizismus  die  neupräraffaelitische  Schule  in  Eng¬ 
land  die  herrschende  ist.  Die  letztere  geht  jedoch  zu 
allermeist  auf  intimere,  kleinere  Wirkungen  aus  und 
lässt  das  eigentlichste  Gebiet  der  Skulptur,  das  Mo¬ 
numentale,  im  grossen  und  ganzen  unbeackert. 

Es  ist  für  diese  Schule  bezeichnend,  dass  fast  alle 
ihre  jüngeren  Vertreter  aus  den  Kunstgewerbeschulen 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


75 


hervorgingen,  oder  vielmehr  aus  jenen,  eine  Verbin¬ 
dung  von  Kunst-  und  Kunstgewerbeunterricht  reprä¬ 
sentierenden  Schulen,  die  unter  dem  Einflüsse  des 
Southkensington  -  Museums  entstanden  und  jetzt  über 
ganz  England  verbreitet  sind.  Eine  dieser  Schulen, 
nämlich  die  dem  City  and  Guilds  of  London  Institute 
angehörende  südlondoner  Kunstschule  in  Lambeth 
wurde  die  Geburtsstätte  für  fast  sämtliche  jüngeren 
bildhauerischen  Talente  Englands,  dort  waren  Kunst¬ 
klassen  für  Handwerker  eingerichtet  worden  und  Da- 
lou  hielt  in  der  ersten  Zeit  des  Bestehens  der  Schule 
die  Aktklassen  ab.  Aus  ihr  gingen  hervor  Alfred 
Gilbert,  G.  J.  Frampton,  Goscombe  John,  F.  W.  Po- 
meroy,  Harry  Bates,  Charles  Allen,  W.  R.  Colton, 
Roscoe  Mullins  und  viele  andere  bekannle  Vertreter 
der  heutigen  englischen  Skulptur.  Die  obigen  Namen 
würden  eigentlich  allein  schon  fast  genügen,  ein  zu¬ 
treffendes  Bild  der  heutigen  Bildhauerei  zu  geben. 
Von  den  die  ältere  Schule  vertretenden 
Bildhauern  wären  nur  die  beiden  Aka¬ 
demiker  Thomas  Brock  und  W.  Hamo 
Thornycroft  der  Liste  zuzufügen,  von 
der  mittleren  der  direkte  Schüler  Dalou’s 
Alfred  Drury  und  der  Ende  igoi  ver¬ 
storbene  Schüler  Wagmüller’s  in  Mün¬ 
chen  Onslow  Ford,  von  der  jüngeren 
der  aus  dem  Schosse  der  Akademie 
hervorgegangene  sehr  begabte  W.  Rey¬ 
nolds-Stephens,  der  aber  durchaus  in 
das  Lager  der  oben  genannten  prä- 
raffaelitischen  Künstler  gehört. 

Worin  sich  demgemäss  fast  alle 
englischen  Bildhauer  der  Gegenwart 
von  den  Bildhauern  anderer  Länder 
unterscheiden,  ist  ihre  enge  Verbindung 
mit  dem  Kunstgewerbe  und  der  Archi¬ 
tektur,  die  sich  einmal  darin  äussert, 
dass  sie  alle  im  stände  sind,  die  rich¬ 
tige  architektoniche  Fassung,  wie 
Sockel,  Basis  oder  Rahmen  für  ihre 
Werke  selbst  zu  schaffen,  dann  aber 
auch  darin,  dass  unter  allen  Umständen 
eine  dekorative  Linie  ihre  Komposi¬ 
tionen  beherrscht.  Es  ist  bemerkens¬ 
wert,  dass  namentlich  in  ersterer  Be¬ 
ziehung  eine  Eigenschaft  festgehalten 
ist,  die  z.  B.  die  Renaissancebildhauer 
als  Selbstverständlichkeit  besassen  (auch 
sie  entstammten  ja  meist  dem  Kunst¬ 
gewerbe),  die  aber  dem  heutigen  kon¬ 
tinentalen  Bildhauer  ganz  aus  dem  Ge¬ 
sichtskreis  entschwunden  ist.  Denn 
unsere  Bildhauer  pflegen  absolut  ratlos 
dazustehen,  wenn  es  sich  um  einen 
Sockel  oder  irgend  einen  architek¬ 
tonischen  oder  ornamentalen  Bestand¬ 
teil  handelt.  Eine  fernere,  aus  dem 
kunstgewerblichen  Ursprung  abzulei¬ 
tende  Eigentümlichkeit  der  neueren 
englischen  Bildhauerschule  ist  die 
schon  erwähnte  Vorliebe  für  das  far¬ 


bige  Element,  ausgedrückt  in  der  Wahl  verschie¬ 
dener  Materialien,  vor  allem  verschiedener  Metalle. 
Eine  Abneigung  gegen  Marmor  hat  sich  mehr 
und  mehr  Geltung  verschafft.  Man  bevorzugt  den 
Bronzeguss.  Aber  man  bereichert  diesen  durch  ver¬ 
schiedene  Behandlung  der  Einzelteile,  durch  angesetzte 
Schmuckteile  in  geschmiedeter  Arbeit,  in  Schmelz 
oder  Steinen,  man  führt  Elfenbein,  Perlmutter,  bunten 
Marmor  und  andere  abwechselungsreichen  Stoffe  für 
Einzelteile  ein.  Das  Relief  behandelt  man,  wie  schon 
früher  hervorgehoben,  farbig  und  hat  hierfür  eine 
eigene,  höchst  wirkungsvolle  Bemalungsart  entwickelt. 
Alle  diese  Bereicherungen  der  Skulptur,  von  denen 
man  in  unrichtigen  Händen  leicht  banale  Ergebnisse 
erwarten  könnte,  werden  mit  gutem  Geschmack 
gehandhabt  und  halten  sich  stets  im  Rahmen  einer 
geschlossenen  und  unaufdringlichen  künstlerischen 
Wirkung. 


Das  Alter  der  Unschuld.  Mannorbüstc  von  Alfred  Drury 

(Mil  Erlniibiüs  des  Künstlers) 


76 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Das  UrdiensU  Hese  Materialvielseitigkeit  in  die 
-"  ■.-llsvl;  Bik’.l  rei  eingeführt  zu  haben,  wird  Alfred 
./eii.  -3j4)  zugeschrieben,  einem  Künstler, 
ler  ;  -  vrkei üiiL  an  der  Spitze  der  modernen 

-•  -.r  ßi'-  ■  =  genannt  werden  muss,  und  der 

■’  ■  als  Lehrer  an  der  Akademie- 

1:  ucii  ■•■"•osien  Einfluss  auf  diese  ausgeübt 


dann  durch  die  Ecole  des  Beaux-Arts,  worauf  er 
jahrelang  in  Rom  lebte.  Die  Southkensington- 
schule  hinterliess  in  seiner  Kunst  wohl  das  deko¬ 
rative  Element,  die  französische  seine  flotte  Auf¬ 
fassung  und  die  Schule  Boehm’s  seine  realistischen 
Beimischungen,  ln  Bezug  auf  die  beiden  letzten  Punkte 
berühren  seine  Werke  inmitten  ihrer  englischen  Um- 


Abb.  4.  »Oliicklich  in  Schönheit,  Leben  und  Liebe<-< 
Relief  von  W.  Reynolds- Stephens 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers,  Besitzers  des  Vervielfiiltignngsreehtes) 


hat.  Die  jüngeren  aus  der  südlondoner  Kunstschule 
(der  er  selbst  entstammt)  kommenden  Bildhauer  haben 
fast  alle  unter  seiner  Lehrerschaft  ihre  endgültige  Aus¬ 
bildung  erhalten.  Gilbert  kommt  aus  einer  Musiker¬ 
familie  und  ist  eine  der  ausgesprochensten  Künstler¬ 
naturen,  die  England  heute  besitzt.  Er  fand  seine 
Hauptausbildung  in  der  Southkensingtonschule  unter 
Lanteri,  arbeitete  später  unter  Boehm  und  ging 


gebung  mit  besonderer  Frische.  Am  bekanntesten 
sind  von  Gilbert  ein  Denkmal  der  Königin  Viktoria 
in  Winchester,  in  welchem  die  Herrscherin  sitzend 
dargestellt  ist  vor  einem  kunstgewerblich  reich  aus¬ 
gebildeten  Hintergründe,  ferner  sein  sehr  eigenartiges, 
an  gotische  Kleinkunst  erinnerndes  Denkmal  für  Henry 
Fawcett  in  der  Westminsterabtei  und  der  eherne 
Brunnen  in  Piccadilly  Circus.  Der  letztere  ist  aller- 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


77 


dings  kaum  geeignet,  zu  einer  genügenden  Würdigung 
des  Künstlers  zu  veranlassen.  Dass  er  etwas  ver¬ 
unglückt  aussieht,  hat  aber  wohl  seinen  Grund  darin, 
dass  sich  die  reiche  Stadt  London  nicht  in  der  Lage 
sieht,  das  Wasser  der  Fontäne  laufen  zu  lassen,  dessen 
Linie  (man  hat  wahrscheinlich  nie  Gelegenheit  es 
zu  beurteilen),  für  die  richtige 
Wirkung  des  Ganzen  unerlässlich 
ist.  Neben  diesen  Hauptwerken 
hat  der  Meister  eine  ganze  Reihe 
prächtiger  kleinerer  Werke  ge¬ 
schaffen.  Seinen  Ruf  begründete 
er  mit  der  Bronzefigur  Ikarus 
(Abb.  2).  Zu  seinen  besten  Lei¬ 
stungen  gehört  ferner  der  Studien¬ 
kopf  eines  alten  Mannes  (Abb.  1 4). 

Auch  viele  kleinere  Statuetten, 
die  alle  durch  ihre  prächtige 
Beobachtung  und  meisterhafte 
Fassung  fesseln,  hat  er  geschaf¬ 
fen  (Abbildung  8).  In  der  Leich¬ 
tigkeit,  mit  welcher  er  irgend 
eine  künstlerische  Konzeption 
verkörpert,  reicht  kein  anderer 
englischer  Bildhauer  an  ihn 
heran.  Eine  besondere  Stärke 
von  ihm  liegt  auch  in  seiner 
Beherrschung  des  Kunstgewerb¬ 
lichen,  die  er  namentlich  an  dem 
mächtigen  Tafelaufbau  gezeigt 
hat,  den  er  im  Aufträge  der 
englischen  Offiziere  für  die  Kö¬ 
nigin  Viktoria  schuf. 

Neben  Gilbert  nimmt  George 
J.  Frampton  (geb.  1860)  einen 
Ehrenplatz  in  der  englischen 
Bildhauerei  der  Gegenwart  ein. 

Wie  Gilbert  pflegt  er  das  farbige 
Material  dem  Marmor  zu  bevor¬ 
zugen,  wie  er  ist  er  erzieherisch 
von  bedeutendstem  Einflüsse  auf 
die  künstlerische  Jugend  Eng¬ 
lands,  da  er  mit  dem  Architekten 
Lethaby  zusammen  die  Kunst¬ 
gewerbeschulen  des  Londoner 
Grafschaftsrates  leitet.  Abwei¬ 
chend  von  diesem  liegt  ihm  jedoch 
das  natural iatische  Element  ganz 
und  gar  fern.  Frampton  steht 
mitten  in  dem  Lager  der  Vertreter 
der  neuen  Kunstbewegung,  ja 
kann  geradezu  als  einer  der  Führer 
derselben  gelten.  Alle  seine 
Werke  haben  einen  streng  dekora¬ 
tiven,  um  nicht  zu  sagen  architektonischen  Charakter. 
Er  setzt  seine  Reliefs  in  Rahmen  von  ganz  moderner 
Gestaltung,  die  von  dem  historischen  Rüstzeug  an 
Architekturformen  keinen  Gebrauch  macht  und  deren 
Formensprache  er  selbst  erfunden  hat.  Gewisse  Mo¬ 
tive  der  »neuen  Kunst«,  wie  die  dekorativ  verwen¬ 
deten  Bäumchen  sind  auf  ihn  zurückzuführen.  Er 


verwendet  alle  Materialien,  Silber  und  andere  Metalle, 
Elfenbein,  buntes  Gestein  und  Schmelz.  Trotz  hoher 
dekorativer  Entwickelung  seiner  Werke  ermangelt  er 
aber  nicht  der  intimen  Beobachtung  des  Lebens  und 
der  gemütvollen  Darstellung  desselben.  Davon  giebt 
neben  manchem  anderen  Werke  die  in  Abbildung  6 
wiedergegebene  Statue  des  im 
jugendlichen  Alter  verstorbenen 
Königs  Eduard  IV.  Zeugnis,  die 
in  einer  unter  der  Regierung 
dieses  Fürsten  gegründeten  Schule 
in  Yorkshire  aufgestellt  werden 
soll. 

Unter  den  Künstlern,  die  eine 
ähnliche  dekorative  Richtung  ver¬ 
folgen,  war  der  vor  einigen  Jahren 
verstorbene  Harry  Bates  (geb. 
1850)  vielleicht  der  bedeutendste 
seiner  Zeit.  Er  besass  eine  Tiefe 
der  Empfindung  und  einen  be¬ 
rückenden  Schwung  der  Linie, 
wie  wir  sie  nur  in  den  besten 
Malerwerken  der  englischen  Prä¬ 
raffael  iten  antreffen.  Aus  der  süd- 
londoner  Kunstschule  hervorge¬ 
gangen  ,  wo  er  für  kurze  Zeit 
unter  Dalou  arbeitete,  vollendete 
er  seine  Studien  an  der  Akademie, 
ging  dann  im  Genuss  des  grossen 
Staatspreises  auf  Reisen  und  ar¬ 
beitete  später  auf  Dalou’s  Rat 
unter  Rodin  in  Paris.  Trotz 
aller  dieser  französischen  Ein¬ 
flüsse  blieb  er  ganz  englisch,  er 
ist  der  reinste  Präraffaelit  unter 
den  englischen  Bildhauern.  Seine 
Vorliebe  ging  auf  antike  Vor¬ 
würfe,  die  er  mit  unnachahm¬ 
licher  Grazie  handhabte.  Allbe¬ 
kannt  ist  in  dieser  Beziehung 
seine  Relieffolge  Amor  und 
Psyche  (Abb.  1,  g  u.  10),  die 
zum  Lieblingswandschmuck  des 
englischen  Volkes  geworden  ist. 
Durch  seinen  frühen  Tod  hat 
England  eines  seiner  glänzendsten 
Talente  verloren.  Unter  den 
Lebenden  folgen  ihm  am  engsten 
Charles  J.  Allen  (geb.  1862),  Th. 
Stirling  Lee  und  Albert  Toft. 
Ch.  J.  Allen  ist  nach  einer  kurzen 
glänzenden  Laufbahn,  die  eben¬ 
falls  in  der  südlondoner  Kunst¬ 
schule  begann,  Professor  der  Skulp¬ 
tur  an  der  Universität  Liverpool  geworden  (mit  dieser 
Universität  ist  eine  Schule  der  bildenden  Künste  ver¬ 
bunden)  und  verfolgt  die  dekorative  Richtung  am 
entschiedensten  von  den  drei.  Zu  dem  abgerundeten 
Aufbau  seiner  Gruppen,  den  er  bevorzugt,  nimmt  er 
gern  grosse  Engelsschwingen  zu  Hilfe.  Seine  Werke 
sind  zwar  zum  Teil  mehr  süss  als  hehr,  erwecken 


Abb.  5.  '^Ehre  den  Toten«^ 
Statue  von  E.  Onslow  Eord 

{Mit  Erlaubnis  des  Herrn  Wolfram  Otislow  Ford) 


78 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Abb.  6.  Standbild  König  Eduard  VI. 
Von  G.  F.  Franipton 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


Abb.  j.  Dekan  Colct,  Stifter  der  Paulssehnle, 
London,  Thonmodell.  Hans  Thornyeroft 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers) 


aber  stets  das  unbedingte  Gefallen.  Th.  Stirling  Lee 
neigt  noch  etwas  nach  der  Antike  hin,  Albert 
Toft,  ein  jüngerer  Schüler  der  Soiithkensingtonschule, 
vereinigt  mit  seiner  entschieden  dekorativen  Linie  eine 
gewisse  Keckheit  des  Ausdruckes  bei  realistischer 
Einzeldurchbildung. 

W.  R.  Colton,  ein  anderer  aus  der  Lambethschule 
hervorgegangener  Bildhauer,  bildet  von  dieser  Gruppe 
den  Übergang  nach  einer  mehr  realistisch  empfinden¬ 
den  Schule,  die  ihre  Hauptvertreter  in  Onslow  Ford 
und  Goscombe  John  hat.  Colton  lenkte  zuerst  die 
Aufmerksamkeit  durch  einen  seiner  Zeit  vielgeprie¬ 
senen,  inzwischen  ausgeführten  Brunnenentwurf  für 
den  Hyde-Park  auf  sich,  bestehend  aus  dem  Oberteil 
einer  weiblichen  Figur,  welcher  aus  einem  Sockel 
herauswächst  und  eine  Brunnenschale  vor  sich  hält. 
In  der  Folge  hat  er  sich  mehr  naturalistischen  Nei¬ 
gungen  hingegeben  und  in  dieser  Richtung  einige 
vorzügliche  Werke  geschaffen,  wie  z.  B.  den  trefflich 
durchgebildeten  Kopffinder«.  Am  deutlichsten  ver¬ 
tritt  das  Modern- Realistische  in  der  englischen  Bild¬ 
hauerei  der  kurz  vor  dem  vorletzten  Jahresschluss  ver¬ 
storbenen  Onslow  Ford  (geb.  1852).  Dieser  Künst¬ 
ler  hat  für  die  englische  Skulptur  eine  grosse  Be¬ 
deutung  dadurch,  dass  er  gewisse  aus  dem  fort¬ 
geschrittenen  Stadium  der  kontinentalen  Bildhauerei 


abgeleitete  Neuerungen  am  rücksichtslosesten  und  auch 
erfolgreichsten  in  England  vertreten  hat.  Er  war  vor 
allem  ein  moderner  Künstler  und  ebnete  durch  sein 
reiches  Können  modernen  Bestrebungen  im  englischen 
Publikum  den  Boden.  Er  begann  seine  Laufbahn  als 
Maler  und  studierte  als  solcher  erst  in  Antwerpen 
und  dann  mehrere  Jahre  in  München.  Durch  Wag¬ 
müller  wurde  er  dort  der  ihm  mehr  zusagenden 
Bildhauerei  zugeführt.  Er  erregte  seit  den  achtziger 
Jahren  in  England  Aufsehen  durch  eine  Reihe  rea¬ 
listischer  weiblicher  Figuren,  zarte,  meist  erst  an  der 
Schwelle  der  Weiblichkeit  stehende  Wesen  in  ver¬ 
schiedenen,  meist  ruhigen  Stellungen  und  immer  auf 
höchst  originell  von  ihm  selbst  entworfenen  Sockeln 
stehend.  Am  bekanntesten  davon  sind  die  jetzt  in  der 
Tate-Gallery  stehenden  Werke  »Leichtsinn^  und  »Die 
Sängerin«  ferner  die  reizende  Studie  »Echo«  (Abb.  12), 
»Ehre  den  Toten«  (Abb.  5)  u.  s.  w.  Er  ist  auch  der  Ur¬ 
heber  vieler  Standbilder,  von  denen  die  des  auf  einem 
Kamel  reitenden  Gordon  in  Chatham  die  bekannteste 
ist.  Ein  bedeutendes  Werk  von  ihm  ist  ferner  das 
Grabmal  des  Dichters  Shelley  in  University  College 
in  Oxford.  Der  Umstand,  dass  Shelley  seinen  Tod 
durch  Ertrinken  fand,  veranlasste  den  Künstler,  den 
Dichter  nackt  auf  einem  Sarkophag  liegend  darzu¬ 
stellen,  so  wie  er  ans  Land  geschwemmt  aufgefunden 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


79 


wurde,  mit  einem  Lorbeerkranz  über  das  Haupt  ge¬ 
breitet.  Er  Iiat  damit  ein  grosses,  ergreifendes  Werk 
geschaffen,  das  vollendet  sein  würde,  wenn  die  orna¬ 
mentale  Gestaltung  des  Sockels  glücklicher  wäre. 
Onslow  Eord  rang  stets  nach 
neuen  Gedanken  und  vertrat  die 
englische  Bildhauerei  so  vortreff¬ 
lich  wie  kaum  ein  zweiter  Künst¬ 
ler.  Sein  früher  Tod  bedeutet, 
wie  der  von  Harry  Bates,  einen 
grossen  Verlust  für  die  englische 
Kunst. 

Ihm  verwandt  ist  W.  Goscombe 
John  (geb.  1860),  der  wieder  den 
typischen  Bildungsgang:  südlon- 
cloner  Kunstschule,  Akademie, 

Paris  durchmachte.  Er  vertritt  in 
seinen  Werken  »Johannes  der  Täu¬ 
fer«,  »Spielender  Knabe«  u.  s.  w. 
denselben  frischen,  wohlthuenden 
Realismus  wie  Onslow  Eord,  hat 
aber  auch  Werke,  namentlich  Re¬ 
liefs  geschaffen,  die  sich  ganz  in 
der  dekorativen  Linie  genügen. 

Dasselbe  gilt  von  dem  begabten, 
in  München  gebildeten  Roscoe 
Mullins,  der  ebenfalls  beide  Ge¬ 
biete  mit  grossem  Geschick  pflegt 
und  in  der  ergreifenden  Skulptur 
'Meine  Strafe  ist  grösser  als  ich 
ertragen  kann«  ein  Werk  von 
Bedeutung  geschaffen  hat. 

Neben  diesen  Dekorativen  und 
Realistisch -Dekorativen  sind,  ab¬ 
gesehen  von  den  noch  zu  betrach¬ 
tenden  Klassizisten,  noch  einige 
andere  Bildhauer  aufzuführen,  die 
man  nicht  wohl  in  eine  dieser 
Klassen  rechnen  kann.  Alfred 
Drury,  der  Lieblingsschüler  Dalou’s, 
den  der  Meister  bei  seiner  Rückkehr 
nach  Frankreich  mit  nach  Paris 
nahm,  machte  bei  seinem  Wieder- 
auftreten  in  England  Aufsehen  mit 
seiner  »Circe«,  mit  der  er  auch 
auf  dem  Kontinent  mehrere  Me¬ 
daillen  erhielt.  Neuerdings  hat  er 
sich  dem  Gebiet  reizend-sentimen¬ 
taler  Mädchenköpfe  zugewendet 
und  damit  grossen  Erfolg  erzielt. 

Der  erste  dieser  Köpfe,  in  Bronze 
und  betitelt  St.  Agnes,  wirkte  gleich 
durchschlagend.  Ihm  folgte  die  jetzt 
in  der  Tate-Galerie  stehende  Kin¬ 
derbüste  Griselda,  die  in  dem  Aus¬ 
drucke  anmutiger  Unschuld  noch 
übertroffen  wurde  durch  sein  Meisterwerk  in  dieser 
Beziehung:  »Das  Alter  der  Unschuld«  (Abb.  3),  ein 
reizendes  Büstchen  von  sprechendstem,  anmutigstem 
Kinderausdruck.  Es  ist  nicht  zu  verwundern,  dass  der 
Erfolg  sehr  gross  war.  Allerdings  ist  von  hier  bis 

Zeitsclirift  für  bildende  Knn';l.  N.  F.  XIV.  II.  4 


ZU  jener  Süssigkeit,  die  dem  Empfinden  der  Massen 
schmeichelt,  kein  allzuweiter  Schritt  mehr,  wenn  sich 
auch  ein  Künstler  wie  Drury  hüten  wird,  diesen 
Schritt  zu  thun.  —  Etwas  von  diesem  Süssen  findet 
sich  aber  bei  dem  fruchtbaren 
Bildhauer  Luchesi  (dem  Sohne  eines 
italienischen  in  England  lebenden 
Vaters  und  einer  englischen  Mut¬ 
ter),  der  in  seinen  Werken,  bei 
technisch  tüchtigem  Können,  die 
echtere  künstlerische  Auffassung 
leicht  dem  Bestreben  opfert,  der 
Menge  zu  gefallen. 

Die  heutigen  Klassizisten  in 
England,  diejenigen  Bildhauer,  die 
noch  mehr  oder  weniger  an  der 
alten  Tradition  festhalten,  können 
dennoch  nicht  mit  den  Klassizisten 
alten  Stils  verglichen  werden,  weil 
die  Macht  der  Gegenwart  in  ihrem 
Schaffen  von  selbst  Veränderungen 
mit  sich  gebracht  hat,  die  eine 
Beimischung  von  Modernität  im 
Gefolge  gehabt  haben.  Dazu 
kommt,  dass  sie  in  ihren^  Führern 
Thornycroft  und  Brock  sehr  gut 
vertreten  sind.  In  Lord  Leighton’s 
Skulpturen,  von  denen  drei  in  der 
Tate-Galerie  aufgestellt  sind,  liegt 
noch  viel  Konvention  und  Steifig¬ 
keit,  obgleich  sie  kräftiges  Gestal¬ 
ten  zeigen  und  im  allgemeinen 
überhaupt  Leighton  als  Künstler 
besser  vertreten,  als  dies  seine  süss¬ 
pathetisch  -  sentimentalen  Gemälde 
thun.  Auch  Thornycroft’s  (geb. 
1850)  Frühwerke  muten  mit¬ 
unter  etwas  hart  an.  Sein  be¬ 
rühmter  in  der  Tate-Galerie  stehen¬ 
der  »Bogenschütze«  sieht  mit 
seinen  heraustretenden  Muskel¬ 
massen  wie  zu  anatomischen  Lehr¬ 
zwecken  angeferligt  aus.  Aber  in 
seinen  Standbildern  erhebt  er  sich 
zu  grosser  Freiheit  und  Wucht 
der  Behandlung,  gepaart  mit  guter 
Beobachtung  und  lebenswahrer 
Darstellung.  Seinen  vor  dem  Par¬ 
lamentshaus  stehenden  »Cromwell 
(Abb.  11)  muss  man  als  eins  der 
besten  Standbilder  Englands  be¬ 
zeichnen.  Und  in  seiner  für 
die  Paulsschule  in  Hammersmith 
gefertigten  Gruppe  des  Dekan 
Colet  mit  zwei  Schülern  hat  er 
ein  ungemein  fein  abgestimmtes 
und  sprechend  eindruckvolles  Kunstwerk  geschaffen 
(Abbildung  7  giebt  die  Ansicht  des  Entwurfsmodells). 
Zu  grosser  Berühmtheit  ist  ferner  der  Figurenfries 
gelangt,  den  er  für  die  Front  des  Instituts  der 
vereidigten  Bücherrevisoren  in  der  City  von  London 


Abb.  8.  Ein  Opfer  an  Eiymen, 
Statuette  von  Alfred  Gilbert 


8o 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Abb.  g.  Linkes  Scifensfück  der  Komposition  Amor 
und  Psyche.  Thonrelicf  von  Harry  Baies 

(Mit  Erlauhnis  von  F.  Hollyer,  London) 


geschaffen  hat.  Hier  sind  ideale  und  der  Wirklich¬ 
keit  entnommene  Figuren  in  trefflicher  Anordnung 
zu  einem  Friese  von  grosser  Schönheit  vereinigt.  Ein 
Werk  von  strotzender  Kraft  und  trefflichem  Charakter 
ist  ferner  sein  Standbild  Eduard’s  L,  für  dessen  Auf¬ 
stellung  man  aber,  wie  es  scheint,  bisher  noch  keinen 
Platz  gefunden  hat.  Es  ist  merkwürdig,  dass  Thorny- 
croft  einige  Arbeiterfiguren  in  der  Art  Meunier’s  ver¬ 
sucht  hat.  Aber  sie  muten  merkwürdig  fremd  an, 
und  dieser  einzige  englische  Versuch,  die  Darstellung 
der  Arbeit  in  den  Bereich  der  Kunst  zn  ziehen,  eine 
Aufgabe,  die  der  belgische  Meister  so  trefflich  gelöst 
hat,  muss  wohl  als  gescheitert  betrachtet  werden. 
Diese  Arbeiter  sind  ebensowenig  Arbeiter,  wie  die 
Bauern  Fred  Walker’s  Bauern  sind. 

Thomas  Brock,  dessen  Name  seit  einem  Jahre  in 
aller  Munde  ist,  weil  er  mit  der  Ausführung  des  Mo¬ 
numentes  der  Königin  Viktoria  vor  dem  Buckingham- 
Palast  betraut  worden  ist,  hat  sich  bisher  als  tüchtiger 
Porträtist  und  Schöpfer  vieler  Statuen,  auch  solcher 
der  Königin  Viktoria  (z.  B.  der  tüchtigen  Arbeit  in 
Hove  bei  Brighton)  bekannt  gemacht,  ln  seinen  Ideal¬ 
werken,  wie  dem  .^^Genius  der  Poesie«  und  der  in 
der  Tate- Galerie  stehenden  »Eva«,  huldigt  er  einem 
etwas  modernisierten  Klassizismus,  mit  weicher,  feiner 


Oberflächenbehandlung  und  in  ziemlich  konventioneller 
Stellung.  Man  muss  Brock  wohl  in  seinem  beson¬ 
deren  Fahrwasser  als  tüchtigen  Bildhauer  bezeichnen, 
der  sich  auch  mit  der  ihm  gestellten  Aufgabe’  des 
Denkmals  der  Königin  Viktoria  in  London  auf  seine 
Weise  abfinden  wird.  Freilich  enttäuschte  das  bis 
jetzt  gezeigte  kleine  Modell  des  Monumentes  zunächst 
durch  seine  mangelhafte  Umrisslinie  und  den  kon¬ 
ventionellen  uninteressanten  Aufbau.  In  dieser  Be¬ 
ziehung  gerade  wären  in  England  andere  Künstler 
weit  berufener  gewesen  wie  er,  da  ihm  die  dekora¬ 
tive  Auffassung  —  die  Stärke  der  heutigen  englischen 
Bildhauerei  -  abzugehen  scheint. 

Aus  der  Schule  des  Klassizismus  sind  ferner  noch 
zu  nennen  F.  W.  Pomeroy,  der  Lambethschule  ent¬ 
stammend,  aber  dann  einige  Zeit  unter  Leighton  ar¬ 
beitend,  A.  G.  Walker,  ferner  der  direkte  Schüler 
Thornycroft’s  Henry  A.  Pegram  und  der  Schüler 
Brock’s  Henry  C.  Fehr.  Die  Werke  dieser  Künstler 
interessieren  nicht  in  erster  Linie,  wenn  man  von  eng¬ 
lischer  Skulptur  redet,  sie  haben  sich  aber  stets  der 
besonderen  Vorliebe  der  Akademie  erfreut  und  eine 
Anzahl  derselben  ist  in  der  Tate-Galerie  zu  sehen. 

Unter  den  jüngsten  Bildhauern  war  es  in  letzter 
Zeit  Derwent  Wood,  der  allgemein  grosse  Hoff¬ 
nungen  erregte.  Sehr  gewandt  und  leicht  schaffend 
dazu,  setzte  er  durch  manches  seiner  bisher  gezeigten 
Werke  in  Erstaunen.  Trotzdem  fand  man  fast  immer 
bekannte  Anklänge  heraus  —  an  Gilbert,  Rodin, 
Stevens,  Flaxman  und  andere  —  und  es  schien  dem 
Künstler  bei  aller  Geschicklichkeit  schwer  zu  werden, 
seine  eigenen  Wege  zu  finden.  Seine  letzten  Werke, 
unter  denen  sich  ein  Wand -Grabdenkmal  von  be¬ 
deutenden  Maassen  befindet,  gehen  wieder  ganz  auf 
Flaxman’s  Auffassung  der  Antike  zurück.  —  Ein  an¬ 
derer  junger  Künstler,  Gilbert  Bayes,  erregte  in  den 
letzten  Jahren  Aufsehen  durch  seine  Reliefs  antiker 
Sujets,  die  eine  ganz  neue  Auffassung  verrieten.  In 
einfachstem  Aufbau  und  in  einer  herb-dekorativen 
Weise  gehalten,  zeigen  diese  Reliefs,  wie  sich  auch 
alte  und  allbekannte  Vorwürfe  in  neuem  Lichte  be¬ 
handeln  lassen.  Auch  in  anderen  Werken,  Gruppen 
lind  Statuetten,  fesselt  der  Künstler  durch  seine  Kraft 
und  Eigenart.  Vielversprechend  unter  der  jüngsten 
Generation  lässt  sich  ferner  F.  M.  Taubman  an. 

Schottland  ist  arm  an  Bildhauern  einer  modernen 
Richtung.  Glasgow,  die  Geburtsstadt  der  modernen 
schottischen  Kunst,  ist  noch  nicht  zur  Skulptur  er¬ 
wacht.  Und  in  Edinburg,  der  alten  Hochburg  des 
schottischen  Klassizismus,  regt  sich  noch  wenig  neues 
Leben.  Der  Akademiker  William  Brodie  wirkte  hier 
lange  Zeit  führend  in  der  klassizistischen  Richtung, 
die  auch  jetzt  noch  die  herrschende  ist.  Aus  seiner 
Schule  gingen  die  beiden  Brüder  D.  W.  Stevenson 
und  W.  G.  Stevenson  hervor,  die  heute  für  die  Edin- 
burger  Skulptur  typische  Erscheinungen  sind.  In 
ihren  Idealwerken  noch  in  klassizistischen  Bahnen 
gehend,  berühren  sie  uns  doch  in  ihren  zahl¬ 
reichen  Porträtbüsten  und  Standbildern  in  einem 
frischeren  Geiste  und  zeigen  sich  hier  als  Meister  der 
Situation.  W.  Birnie  Rhind  hat  sich  namentlich  durch 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


8i 


die  Skulpturen  an  dem  Gebäude  der  schottischen 
Porträtgalerie  bekannt  gemacht.  Wenn  man  den  von 
schottischen  Eltern  in  Australien  geborenen,  jetzt  in 
London  wohnenden  Bertram  Mackennal  (geb.  1865) 
als  Schotten  auffassen  soll,  so  haben  wir  hier  einen 
sehr  geschickten  Bildhauer  vor  uns,  der  sich  modernere 
Grundsätze  in  Bezug  auf  das  Dekorative  und  das 
Realistische  zu  eigen  gemacht  hat.  Aber  auch  einer 
der  in  Schottland  lebenden  schottischen  Bildhauer, 
J.  Pittendrigh  Macgillivray,  hat  sich  aus  den  Fesseln 
des  Klassizismus  befreit  und  einer  freieren  realistischen 
Auffassung  zugewendet.  Seine  Burns-Statue  in  Irvine 
wird  allgemein  als  das  beste  der  zahlreichen  diesem 
Volksdichter  errichteten  Standbilder  anerkannt,  auch 
zeigt  er  grosse  dekorative  Fähigkeiten  bei  flotter, 
kraftvoller  Behandlung.  Er  gehört  seiner  ganzen  In¬ 
dividualität  nach  zu  den  Künstlern  der  Glasgow- 
Schule  und  ist  wohl  der  einzige  wirklich  moderne 
Bildhauer  von  grösserer  Bedeutung,  der  in  Schottland 
zu  finden  ist. 

Mit  Vorbedacht  ist  einer  der  interessantesten  der 
jüngeren  englischen  Bildhauer,  W.  Reynolds-Stephens, 
in  dem  bisherigen  Zusammenhänge  nicht  genannt 
worden.  Ihm  scheint  eine  Sonderstellung  zu  ge¬ 
bühren,  denn  obgleich  er  rein  bildhauerisch  auf 
grosser  Höhe  steht,  ist  die  Einzeldurchbildung  seiner 
Werke  doch  technisch  -  handwerklich  so  interessant, 
dass  man  ihn  einen  Goldschmied  oder  irgendwie 
einen  Kleinmeister  nennen  möchte.  Er  führt  das  von 
Gilbert  eingeführte  Prinzip  der  verschiedenen  Werk¬ 
stoffe  in  weitgehendster  Weise  durch.  Und  nicht 
nur  das,  er  pflegt  alle  nur  denkbaren  Werk¬ 
techniken  an  demselben  Werke  zu  vereinigen.  Ein 
Ritter  trägt  eine  Rüstung,  an  der  die  Hauptteile 
richtig  geschmiedet  und  der  Figur  aufgesetzt  sind. 
Das  Stoffmuster  eines  Kleides  ist  zum  Teil  aufgeätzt 
und  mit  bunten  Steinen  oder  Schmelz  verziert,  Schmuck 
und  Ketten  sind  als  getrennte  Teile  angehängt.  Die 
Fleischteile  sind  in  Holz  oder  Elfenbein  gebildet,  an 
Metallen  ist  alles  herangezogen,  was  man  sich  nur 
denken  kann.  Die  Wirkung  wird  dadurch  sehr  reich 
und  mannigfaltig.  Aber  doch  ist  das  Triviale  ver¬ 
mieden,  und  weit  davon  entfernt,  künstlerisch  zu  stö¬ 
ren,  verleiht  die  Mannigfaltigkeit  an  kleinkünstlerischem 
Beiwerk  den  Skulpturen  nur  noch  ein  erhöhtes  tech¬ 
nisches  Interesse.  Von  Reynolds-Stephens’  Werken 
ist  das  Relief  »Jugend«  (Abb.  4)  vielleicht  das  lieb¬ 
reizendste,  die  Statuette  Guinevere«  (Abb.  13)  diejenige, 
welche  die  mannigfaltigsten  Werktechniken  zeigt. 

Von  Reynolds- Stephens  ist  nur  ein  kleiner  Schritt 
zu  der  zahlreichen  Gemeinschaft  der  englischen  Klein¬ 
künstler  in  Metall  und  allen  anderen  Materialien. 
Alexander  Fisher,  der  Meister  in  Silberwerk  und 
Schmelzarbeit,  Nelson  Dawson,  der  jene  reizenden 
Stahlkassetten  mit  allerhand  Email-  und  Edelmetall¬ 
arbeit  fertigt,  reihen  sich  ihm  direkt  an.  Damit  be¬ 
treten  wir  das  kunstgewerbliche  Gebiet,  dasjenige,  auf 
dem  England  eines  Tages  als  Prophet  auftrat  und 
dem  noch  in  stilistischen  und  stilreproduzierenden  Ban¬ 
den  befangenen  Festlande  den  Blick  in  das  Wunder¬ 
land  einer  neuen  Kunstentfaltung  auf  durchaus  mo¬ 


derner  Grundlage  eröffnete.  Auf  dieses  weite  Gebiet 
näher  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort  und  augen¬ 
blicklich  auch  kaum  der  geeignete  Zeitpunkt.  Denn 
wir  selbst  sind  jetzt  so  stark  in  diese  aus  England 
herangerollt  gekommene  Bewegung  verwickelt,  dass 
uns  die  Ruhe  für  eine  objektive  Betrachtung  der  eng¬ 
lischen  Leistungen  zu  fehlen  scheint,  die  heute  von 
uns  nicht  ganz  ohne  Parteilichkeit  beurteilt  zu  werden 
pflegen.  Wir  befinden  uns  in  der  Lage  des  Schülers, 
der  seinen  Lehrmeister  überwunden  zu  haben  glaubt. 
Ausserdem  sprechen  gewisse  elementare  Geschmacks¬ 
neigungen,  die  uns  im  Gegensatz  zu  dem  mehr  das 
Nüchterne  bevorzugenden  Engländer  das  Vollere,  Phan¬ 
tastischere,  reicher  Geschmückte  bewundern  lassen, 
jetzt  gegen  die  englische  schmückende  Kunst. 

Das  alles  kann  aber  an  der  Thatsache  nichts  ändern, 
dass  England  gerade  auf  diesem  Gebiete  durch  die 
erste  Entwickelung  der  neuen  Ideen  eine  künstlerische 
That  geleistet  hat,  die  sich  in  die  Reihe  der  ersten 
künstlerischen  Thaten  der  Geschichte  stellt.  England, 
das  kunstlose  Land,  wurde  hier  der  Wegführer  in 
eine  neue  Welt.  Und  wie  es  in  der  Regel  zu  be¬ 
obachten  ist,  die  neue  künstlerische  Strömung,  die 
hier  entsprang,  zog  alles  mit  sich,  was  sich  Kunst 
nannte,  sie  formte  die  Kunst  in  ihrer  gesamten  Aus¬ 
dehnung  nach  dem  Ideal  um,  das  sie  verfolgte. 


Abb.  10.  Rechtes  Seitenstiiek  der  Komposition  Amor 
und  Psyche.  Thonrclief  von  Harry  Bates 

(Mit  Erlanbnis  von  F.  Hollycr,  London) 


82 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Malerei,  Handwerk,  Wohnuiigskiinst,  Skulptur,  Archi¬ 
tektur,  Illustration,  alles  lenkte  in  die  Bahnen  des 
Präraffael ism US  ein.  Selbst  die  Litteratur  schwang 
mit,  die  Bühnenkunst  wurde  umgestaltet  (man  denke 
an  die  von  England  kommende  Reform,  die  allein  im 
Ballettanzug  stattgefimden  liat,  wo  das  schöne  faltige 
Gewand  die  zur  Karikatur  gewordenen  abstehenden 
Gazeröckchen  verdrängte),  der  Anzug  der  Erauen 
selbständig  gemacht,  die  ganze  Umwelt  des  Menschen 


Landes  (sie  sind  alle  eine  Mischung  von  beiden),  wo 
man  sich  der  vollständigen  Einheitlichkeit  des  eng¬ 
lischen  Kunststrebens  bewusst  wird:  in  der  Malerei 
läuft  alles  auf  die  dekorative  Figurenkomposition,  den 
Kultus  der  schönen  Linie  hinaus,  die  Skulptur  ver¬ 
folgt  dasselbe  Ziel  im  plastischen  Sinne,  alle  Klein¬ 
künste  treffen  sich  in  dem  Bestreben  der  auf  neuer 
Entwickelung  beruhenden  dekorativen  Linie  mit  Zu¬ 
grundelegung  der  stilisierten  Pflanze.  Über  die  Rich- 


Ab.  11.  Cromwell-Standbild  vor  der  Wcstininstcrhalle,  London 
Von  Hanw  Thornycroft 


formal  veredelt.  Die  Hochflut  der  allgemein  -  ästhe¬ 
tischen  Tendenzen  fand  in  England  in  den  achtziger 
Jahren  statt.  Inzwischen  ist  es  äusserlich  zwar  ruhiger 
geworden,  aber  die  Werte,  die  damals  gebildet  worden 
sind,  dauern  weiter  trotz  alles  Wiedereindringens 
des  Trivialen  in  das  rasch  dahinfliessende  Leben.  Wie 
lebenskräftig  sie  noch  vorhanden  sind  und  wie  ein¬ 
heitlich  man  noch  in  ihnen  denkt,  das  zeigt  am  besten 
ein  Gang  durch  eine  der  vielen,  zum  Teil  vorzüg¬ 
lichen  Kunst-  oder  vielmehr  Kunstgewerbeschulen  des 


tigkeit  dieser  künstlerischen  Ziele  ist  hier  niemand  auch 
nur  einen  Augenblick  im  Zweifel,  im  Gegenteil,  jeder¬ 
mann  tritt  fanatisch  für  sie  ein.  Man  hat  den  Ein¬ 
druck  einer  vollständig  einheitlichen  Kunstrichtung, 
die  hier  gepflegt  wird,  im  gewissen  Sinne  einer  echt 
nationalen  Kunst. 

Was  nun  aber  das  kunstgewerbliche  Gebiet  im 
besondern  betrifft,  so  darf  eins  nicht  vergessen  wer¬ 
den  hinzuzufügen:  Die  formale  Seite  tritt  in  den 
Hintergrund  vor  der  technischen,  konstruktiven  und 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


83 


sachlichen.  Von  Anbeginn  hat  man  daran  festge¬ 
halten,  gesund  zu  konstruieren,  materialgerecht  zu  ge¬ 
stalten,  die  Eorm  auf  der  Basis  des  praktischen  Zweckes 
und  der  Eigentümlichkeit  des  Werkstoffes  zu  ent¬ 
wickeln.  Mit  eiserner  Willens¬ 
stärke  verfolgt  man  die  Grund¬ 
sätze  auch  heute  noch.  Sie  siml 
ein  Erbteil  der  langen  neugotischen 
Schulung,  die  England  im  ig. 

Jahrhundert  durchgemacht  hat,  der 
Niederschlag  der  langen  mittel¬ 
alterlichen  Begeisterung,  die  hier 
obwaltete,  ein  Kind  also  des 
Romantizismus.  Es  sei  hier  gleich 
eingeschaltet,  dass  der  etwas  nüch¬ 
terne,  steife,  phantasielose  Cha¬ 
rakter,  den  man  neuerdings  auf 
dem  Kontinente  an  englischen 
kunstgewerblichen  Erzeugnissen 
zu  finden  pflegt,  zumeist  seine 
Erklärung  in  der  strengen  Auf¬ 
rechterhaltung  der  erwähnten 
Grundsätze  hat,  wobei  jedoch 
nicht  zu  vergessen  ist,  dass  unsere 
augenblickliche,  namentlich  die 
unter  dem  belgischen  Zeichen 
stehende  Kunstmode  in  der  Ver¬ 
wischung  des  Werkmässigen  und 
Materialgerechten,  in  der  Über¬ 
flutung  der  technischenGrundsätze 
durch  phantastisches  Einienwerk 
das  Menschenmögliche  leistet  und 
unser  Auge  bis  zu  einem  ge¬ 
wissen  Grade  verdorben  hat. 

Aus  diesem  Unterschiede,  dem 
strengen  Einhalten  des  Konstruk¬ 
tiven  in  der  englischen  und  dem 
Überwalten  des  Phantastischen 
in  der  neuen  kontinentalen  Kunst 
hat  sich  andererseits  auch  in  Eng¬ 
land  ein  gewisses  Gegensatzgefühl 
gegen  den  Kontinent  entwickelt. 

Man  hält  die  dortige  sogenannte 
neue  Kunst  mit  kurzen  Worten 
für  eine  Verirrung.  Und  als  ein 
reicher  Enthusiast  vor  zwei  Jahren 
eine  auf  der  Pariser  Weltausstel- 
lungzusammengestellteSammlung 
neuer  kontinentaler  Möbel  dem 
Southkensington  -  Museum  ge¬ 
schenkt  und  dieses  die  Sammlung 
in  seinen  Räumen  ausgestellt  hatte, 
erhob  sich  ein  allgemeiner  Protest 
aus  den  Reihen  der  Vertreter  der 
englischen  neuen  Richtung  gegen 
die  Ausstellung  dieser  als  die  sclilechtesten  tekto¬ 
nischen  Tendenzen  verkörpernden  Dinge.  Man  mag 
über  diesen  Protest  urteilen  wie  man  will,  es  ist 
lehrreich,  den  entstandenen  Gegensatz  in  der  Auf¬ 
fassung  von  hüben  und  drüben  zu  beobachten. 

Das  Festhalten  an  dem  Werkmässigen,  Konstruk¬ 


tiven,  Materialgemässen,  kurz  den  sachlichen  Gesichts¬ 
punkten  im  Kimstgewerbe  hat  sich  in  letzter  Zeit 
noch  verschärft,  die  Meinung  noch  verdichtet,  dass 
diese  Gesichtspunkte  und  nicht  formale  die  Grund¬ 
lage  des  Gestaltens  sein  müssten. 
Das  prägt  sich  am  klarsten  aus  in 
der  jetzt  vor  sich  gehenden  Um¬ 
gestaltung  des  englischen  kunst¬ 
gewerblichen  Unterrichts  nach  der 
Seite  des  Werkstättenunterrichts 
hin.  Die  erste  vollkommene 
Verwirklichung  des  Werkstätten¬ 
gedankens  geschah  vor  einer 
Reihe  von  Jahren  in  der  Haupt- 
kunstgewerbeschule  des  Londoner 
Grafschaftsrates,  welche  der  Ar¬ 
chitekt  Lethaby  in  Gemeinschaft 
mit  dem  Bildhauer  Frampton  ein¬ 
gerichtet  hatte.  Die  Schule  ging 
davon  aus,  dass  jeder  kunst¬ 
gewerbliche  Zeichner  im  stände 
sein  müsse,  die  Technik,  für  die 
er  zeichne,  zu  beherrschen,  das 
Ding,  dass  er  entwerfe,  selbst  aus¬ 
zuführen.  Nur  hierin  glaubte  man 
das  Mittel  finden  zu  können,  die¬ 
jenigen  Grenzen,  welche  Material 
und  Konstruktion  für  jeden  Ent¬ 
wurf  ziehen,  dem  Entwerfer  stets 
im  Bewusstsein  zu  halten.  Die 
Einrichtung  geschah  damals  im 
Gegensatz  zu  dem  Lehrgänge 
der  SoLithkensingtonschulen,  die 
noch  das  alte  System  des  lediglich 
auf  dem  Papiere  entwickelten 
Entwurfes  pflegten.  Neuerdings 
sind  nun  aber  auch  die  letzteren 
vollständig  eingeschwenkt,  die 
Hauptschule  in  Southkensington 
hat  nicht  nur  den  Gedanken  des 
Werkstättenunterrichts,  sondern 
für  seine  Verwirklichung  dieselben 
Künstler  übernommen,  die  den 
Gedanken  an  derGrafschaftsschule 
so  erfolgreich  durchgeführt  haben. 
Damit  ist  aber  für  alle  Kunst¬ 
gewerbeschulen  das  Signal  gege¬ 
ben,  ebenfalls  in  dieselben  Bahnen 
einzuschwenken,  was  innerhalb 
kurzer  Frist  geschehen  sein  wird. 

In  dieser  Betonung  des  Sach¬ 
lichen  gegenüber  dem  Formalen  ist 
in  England  ein  Bollwerk  errichtet 
gegen  das  Überwuchern  des  rein 
ornamentalen  und  phantastischen 
Elements,  dem  die  technischen  Künste  immer  zu  ver¬ 
fallen  drohen,  wenn  sie  den  Boden  des  rein  Handwerks- 
mässigen  verlassen.  Hier  ist  gleichzeitig  ein  Gewicht 
geschaffen,  das  die  Fortentwicklung  im  Gravitations¬ 
centrum  aller  Pendelschwingungen  derMode  halten  wird 
und  ruhige,  sachliche  Weiterentwicklung  gewährleistet. 


Abb.  12.  Echo«.  Von  E.  Onslow  Eord 

(/Mit  Erlimbnis  des  Herrn  Wolfram  (Inslow  Ford) 


84 


KUNST  UND  LEBEN  IN  ENGLAND 


Um  so  mehr  lässt  man  aber  der  phantastischen 
Linie  in  denjenigen  Künsten  freien  Lauf,  die  nichts 
mit  der  Technik  und  der  Tektonik  zu  thun  liaben,  der 
Malerei,  der  Skulptur  und  der  Illustration.  Hier  giebt 
man  mehr,  als  die  blosse  Beobachtung  der  Wirklichkeit 
gebietet,  hier  strebt  man 
unbedingt  die  schvvungvolle 
Linie  und  höliere  stiiisitische 
Werte  an.  Und  in  wunder¬ 
voller  Kraft  lebt  Iner  die 
Tradition  des  Präraffaciismus 
auch  heute  noch  weiter. 

Die  Akademiekunst  mag  ihre 
eigenen  langweiligen  Wege 
gehen,  die  Schotten  mögen 


ihre  impressionistischen  Ziele  verfolgen,  sucht  man  aus 
der  schwebenden  Allgemeinheit  das  Charakteristische 
der  modernen  englischen  Kunst  zu  erfassen,  so  ist  es 
das  Präraffaelitische.  Und  heute  noch  tönt  uns  der  In¬ 
begriff  alles  Wesentlichen,  das  England  zu  der  grossen 

künstlerischen  Fortentwicke¬ 
lung  der  modernen  Welt 
beigetragen  hat ,  aus  dem 
Namen  des  Mannes  entgegen, 
der  vor  fünfzig  Jahren  den 
Samen  dieser  Kunst  in  die 
englische  Seele  zu  streuen 
begann,  des  Mannes,  dem 
England  seine  moderne  Kunst 
verdankt:  Rossetti’s. 


Abb.  13.  Onüicvcre  und  das  Nesthäkchen 
Bronzefignr  mit  Silber-,  Elfenbein-,  Perlmutter-  und 
anderer  Verzierung  von  W.  Reynolds-Stephens 

(Mit  Erlaubnis  des  Künstlers,  Besitzers  des  Veirielfältigiingsreelites) 


CAREL  FABRITIUS  ODER  PIETER  DE  HOOCH? 


Der  Zuschreibung  der  »Wache«  in  der  Galleria 
Nazionale  zu  Rom  an  Carel  Fabritius,  die 
Sigurd  Müller  vor  kurzem  an  dieser  Stelle 
(S.  44  f.)  mit  grösster  Bestimmtheit  ausgesprochen 
hat,  kann  ich  in  keiner  Weise  beistimmen  und  möchte 
ihr  umsomehr  widersprechen,  als  durch  ähnliche  Zu¬ 
weisungen  das  noch  unbestimmte  Bild  des  Künstlers, 
für  den  bisher  nur  ganz  wenige  Gemälde  gesichert 
sind,  wieder  ins  Nebelhafte  verschwimmen  würde.  Die 
alte  Benennung  des  mit  der  Galleria  Torlonia  in 
die  Gail.  Nazionale  überführten  Bildes  als  ein  Werk 
des  Pieter  de  Hooch,  dem  ich  es  auch  in  der  letzten 
Auflage  des  Cicerone  zugeschrieben  habe,  ist  meines 
Erachtens  durchaus  zutreffend,  wenn  auch  Heir  Sigurd 
Müller  bezweifelt,  dass  es  »irgend  einen  Kenner  hol¬ 
ländischer  Kabinettskunst  als  solches  anmuten  könne«. 
Der  branstige  Ton  des  Bildes,  das  starke  Helldunkel, 
das  kräftige  Rot  als  Hauptfarbe  des  Bildes  wären 
ebenso  ungewöhnlich  für  Carel  Fabritius  wie  die 
schwache  Zeichnung  und  ziemlich  flüchtige  Behand¬ 
lung.  Der  Künstler  ist  in  seinen  beglaubigten  Bildern, 
besonders  in  der  »Wache«  der  Schweriner  Galerie, 
klar  und  ziemlich  hell  und  fast  graulich  im  Ton, 
sicher  und  korrekt  in  der  Zeichnung.  Alle  jene 
oben  angegebenen  Eigenschaften  des  römischen 
Bildes  sind  dagegen  charakteristisch  für  die  Jugend¬ 
werke  des  Pieter  de  Hooch,  die  bisher  freilich  noch 
kaum  beachtet  worden  sind.  Ein  Bild  der  Art  be¬ 
findet  sich  zufällig  gerade  in  einer  anderen  römischen 


Galerie,  in  der  Galerie  Borghese,  eine  Wachtstube 
von  reicher  kräftiger  Färbung  mit  starkem  Rot  und 
Gelb  und  flüchtig,  aber  sehr  flott  gemalten  schlanken 
Figuren.  Ein  bezeichnetes  Bild  im  gleichen  Charakter 
und  mit  ähnlichem  Motiv  sah  ich  vor  Jahren  im 
Londoner  Kunsthandel ;  ein  zweites,  ganz  verwandtes 
ist,  soviel  ich  weiss,  inzwischen  in  die  National¬ 
galerie  zu  Dublin  gekommen;  schon  etwas  vor¬ 
geschrittener  und  abweichend  im  Motiv  ist  ein  Bild 
der  Eremitage  (Kat.  Nr.  943).  In  diesen  und  einigen 
ähnlichen  Bildern  erscheint  der  Meister  noch  als  ein 
Nachfolger  der  älteren  holländischen  Maler  von 
Soldatenstücken,  unter  deren  Einfluss  er  wohl  seine 
erste  Schule  durchmachte.  Die  grosse  Verwandtschaft 
im  Motiv  mit  Fabritius’  Bilde  und  die  Delfter  Türme 
im  Hintergründe  auf  dem  Bilde  der  Galleria  Nazionale, 
die  Herrn  Sigurd  Müller  irre  macht,  lässt  uns  viel¬ 
mehr  den  interessanten  Schluss  zu,  dass  Pieter  de 
Hooch,  etwa  um  die  Zeit,  als  Carel  Fabritius  sein 
Schweriner  Bild  malte,  in  Delft  wohnte  und  dort 
unter  dem  Einfluss  des  frefflichen  Rembrandtschülers 
und  vielleicht  auch  von  dessen  Schüler  Jan  Vermeer 
sich  zu  dem  grossen  Lichtmaler  entwickelte,  als  der 
er  jetzt  unter  allen  Sittenbildmalern  am  meisten  ge¬ 
feiert  wird.  Hoffentlich  bekommen  wir  über  den 
Künstler  bald  eine  Monographie  aus  der  Feder  von 
Dr.  C.  Hofstede  de  Groot,  der  seine  grundlegenden 
Studien  dazu  schon  vor  zehn  Jahren  in  der  Zeit¬ 
schrift  »Oud  Holland«  veröffentlicht  hat. 

IC.  BODE. 


Abb.  14.  Kopf  eines  alten  Mannes 
Bronze -Wachsgnss  von  Alfred  Oilbert 

(Mit  F.rltnihnis  des  Künstlers) 


DAS  PORTRAT  KAISER  FRIEDRICH’S  II. 


?  ;  :  : -riiefte  dieser  Zeitschrift  hat  uns  Herr 

!>r.  :;ie!!ard  Delbrück  mit  einer  interessanten, 
t  -.Ul  v.  ■  --ver  erreichbarer  Stelle  befindlichen  Porträt- 
liüst:  bekannt  gemacht.  Interessant  ist  das  Stück 
besonders  deshalb,  weil  der  Verfasser  durch  beigefügtes 
Vergleichsmaterial  nachweist,  dass  der  Kopf  nicht  spät¬ 
antik  ist,  sondern  eins  der  wenigen  auf  uns  gekom¬ 
menen  Denkmale  der  jüngeren  Stauferzeit  darstellt. 

Nicht  ebenso  unbedingt  möchte  man  jedoch  Herrn 
Delbrück’s  Einzelbestimmung  des  Kopfes  zustimmen. 

Er  sucht  durch  ebenfalls  in  Abbildungen  bei¬ 
gebrachtes  Vergleichsmaterial  wahrscheinlich  zu  machen, 
dass  wir  darin  ein  Porträt  Kaiser  Friedrich’s  II.  zu  sehen 
haben.  Leider  stand  dem  Herrn  Verfasser  bei  dieser 
Nachforschung  das  wichtigste  Material,  die  Siegel,  nur 
in  mangelhafter  Wiedergabe  zur  Verfügung,  neben 
welchen  die  Goldmünzen,  da  sie  einen  allgemeinen 
Herrschertypns  wiedergeben,  und  die  sogenannte 
Raumer-Gemme,  da  sie  mir  eine  jüngere  verkleinerte 
Nachbildung  einer  —  wohl  verlorenen  —  Büste  ist, 
erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommen  ^). 

Indessen  auch  schon  eine  Vergleichung  des  Kopfes 
mit  Münzen  und  Gemme  hätte  zu  Zweifeln  an  der 
Identität  Veranlassung  geben  sollen,  da  sowohl  Münzen 
wie  Gemme  den  Kaiser  glatt  rasiert  zeigen,  während 
die  Büste  einen  Backen-  und  Kinnbart  —  ohne  Schnurr¬ 
bart  aufweist.  Wenn  man  auch  diese  Nichtüberein¬ 
stimmung  und  die  daraus  zu  ziehenden  Schlüsse 

i)  Vergl.  zum  folgenden  mein  Buch;  »Zur  Geschichte 
der  Reichskanzlei  unter  den  letzten  Staufern«  Sp.  59,  60, 
sowie  Tafel  VII  und  VIII. 


Königsie^rel 

Friedrich's  II.  von  121^ 


leicht  mit  der  Bemerkung  beiseite  schieben  könnte, 
dass  der  Kaiser  eben  zu  der  Zeit,  als  die  Büste 
gefertigt  wurde,  sich  habe  einen  Bart  wachsen  lassen, 
so  ist  dem  doch  entgegenzuhalten,  dass  in  den  vor¬ 
nehmen  Kreisen  es  offenbar  während  des  ganzen 
13.  Jahrhunderts  Mode  war,  rasiert  zu  gehen  '). 

Aber  welche  Bedeutung  man  auch  diesem  Punkte 
beizulegen  geneigt  ist,  die  Hauptsache  möchte  eine 
eventuelle  Übereinstimmung  der  Qesichtszüge  und  des 
Ausdrucks  sein,  und  hiervon  geben  die  Siegel,  soweit 
sie  wirklich  künstlerisch  durchgeführt  sind,  eine  viel 
klarere  Vorstellung  als  Münzen  und  Gemme. 

Ich  füge,  um  hierüber  ein  Urteil  zu  ermöglichen, 
Abbildungen  der  beiden  hier  in  Betracht  kommenden 
Siegel  bei.  Das  ältere,  etwa  1215  oder  1216  in 
Deutschland,  am  Niederrhein,  in  Köln  oder  Aachen 
geschnittene  zeigt  den  ganz  jugendlichen  Kopf  des 
Königs,  das  jüngere,  etwa  1221  oder  1222  wohl  in 
Italien  gefertigte,  lässt  den  schon  etwas  gereifteren 
Jüngling  erkennen. 

Sie  bieten  ein  in  Gesichtszügen  und  Gesichtsaus¬ 
druck  wohl  durchgeführtes  Porträt,  welches  meines 
Erachtens  kaum  eine  Verwandtschaft  mit  dem  auch 
persönlicher  Charakterisierung  nicht  entbehrenden  Mar¬ 
morkopfe  erkennen  lässt.  Dr.  F.  PHILIPP!. 


1)  Vergl.  die  Königsdarstellungen  auf  Siegeln  bei 
Heffner,  die  Siegel  der  deutschen  Könige,  ferner  z.  B. 
das  bekannte  Grabmal  Rudolf’s  von  Habsburg  im  Speyerer 
Dome,  das  Denkmal  HeinriclTs  des  Löwen  im  Dome  zn 
Braunscliweig  u.  s.  w. 


Kaisersiegel 
Friedrich' s  II.  1222 


THEODOR  ROCHOLL 

MIT  EINER  FARBENTAFEL 


UNTER  allen  Berufsarten  giebt  es  wohl  kaum 
zwei  andere,  die  in  ihrem  inneren  Wesen  so 
grundverschieden  sind  wie  die  künstlerische 
und  die  militärische.  Hier  als  Hauptprinzip  die  straffe 
Disziplin  der  Massen,  das  Zurücktreten  des  Einzelnen, 
die  unbedingte  Unterordnung  jeder  eigenen  Regung 
unter  den  höheren  leitenden  Willen,  dort  im  schärf¬ 
sten  Gegensatz  dazu  als  erstes  Erfordernis  die  Be¬ 
tonung  der  ganzen  Persönlichkeit,  der  freien,  subjek¬ 
tiven  Selbständigkeit,  des  eigenen  Willens,  die  Ver¬ 
kündigung  des  inneren  Gesetzgebers  als  einziger 
Autorität. 

Und  doch  finden  sich  beide,  die  so  verschieden 
geartet  sind,  auf  einem  gemeinschaftlichen  Boden, 
wodurch  ihre  höchsten  Leistungen  in  eine  harmo¬ 
nische  Beziehung  gebracht  werden.  Dieser  Boden  ist 
das  weite  Gebiet  der  Schlachtenmalerei;  werden  von 
ihren  Vertretern  die  besten  genannt,  so  wird  darunter 
jederzeit  an  sichtbarer  Stelle  auch  der  Name  Theodor 
Rocholl  glänzen. 

Was  schon  vorhin  als  das  Hauptmerkmal  des 
künstlerischen  Berufs  bezeichnet  wurde  und  was  ganz 
besonders  dem  Schlachtenmaler  als  hervorstechende 
Charaktereigenschaft  innewohnen  muss,  die  selbstän¬ 
dige  Eigenart  einer  ganzen  Persönlichkeit,  das  findet 
sich  bei  Rocholl  in  markantester  Weise  ausgesprochen. 
Jedes  seiner  Werke  trägt  das  Kennzeichen  einer  scharf 
ausgeprägten  Persönlichkeit.  So  wie  er  die  Ereignisse 
anschaut  und  wiedergiebt,  hat  sie  noch  kein  anderer 
gebracht.  Wer  seine  Bilder  sieht,  der  wird  an  keine 
Schule,  an  keine  Lehrer  oder  Vorgänger  erinnert,  der 
muss  sich  sagen:  so  malt  nur  Rocholl.  Er  ist  in  der 
That  ein  Eigener,  ein  Pfadfinder,  der,  einsam  und 
unbekümmert  um  andere,  neue  unausgetretene  Wege  zu 
wandeln  weiss. 

Als  nach  dem  französischen  Kriege  in  den  sieb¬ 
ziger  Jahren  die  zeitgenössischen  Schlachtenmaler 
daran  gingen,  die  grossen  militärischen  Erfolge 
für  ihre  Darstellungen  zu  verwerten,  da  wurden 
nach  und  nach  kritische  Urteile  laut,  dass  die 
Deutschen  bessere  Soldaten  als  Künstler  seien;  da 
würden  sie  nun  wieder  von  den  Franzosen  geschlagen; 
das  sei  eine  böse  Revanche. 

Allerdings,  während  Namen  wie  Neuville  und 
Detaille  in  aller  Munde  waren,  wusste  man  in  Deutsch¬ 
land  ihnen  keine  von  gleichem  Klange  entgegen  zu 
setzen.  Seltsames  Verhängnis!  Die  Besiegten,  die 
bei  den  gewaltigen  Vorgängen  ihre  vielgepriesene 
»gloire«  eingebüsst  hatten,  sie  wussten  als  Künstler 
trotz  alledem  aus  ihren  Niederlagen  Ruhmvolleres  zu 
gestalten  wie  die  mit  dem  glänzendsten  Ruhmeskranze 
geschmückten  Sieger. 

Als  Schlachtenmaler  fehle  den  Deutschen  so 
behauptete  man  —  vor  allem  die  nötige  Verve  des 
Angriffs,  die  schnelle  temperamentvolle  Erfassung  des 
stürmisch  bewegten  Moments.  Bald  aber  sollte  es  sich 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  II.  4 


zeigen,  dass  dieser  Mangel  nur  ein  scheinbarer  war 
dass  jene  Begabung  nur  noch  im  Schlummer  lag 
Wer  Rocholl’s  Bilder  kennt,  der  weiss,  dass  sie  er¬ 
wacht  ist  zu  echt  künstlerisch  eigenwilliger  Bethä- 
tigung. 

Es  wurde  Rocholl  an  der  Wiege  nicht  gesungen, 
dass  er  dereinst  sich  einem  Berufe  widmen  sollte,  der 
zum  Kriegshandwerk  in  so  naher  Beziehung  steht,  ln 
einem  Hause  des  Friedens,  in  dem  Pfarrhause  zu  Sachsen¬ 
berg  im  Fürstentum  Waldeck  1854  geboren,  durfte 
er  den  grössten  Teil  einer  glücklichen  Jugendzeit  in 
ungestörter  Ruhe  verbringen.  Und  auch  die  ersten 
Proben  seiner  künstlerischen  Begabung  verrieten  nichts 
weniger  als  den  zukünftigen  Schlachtenmaler,  der 
mit  keckem  Griff  den  Augenblick  des  frisch  pulsieren¬ 
den  Lebens  zu  packen  versteht. 

Wer  den  jungen  Rocholl  kennen  lernte,  der  hätte 
eher  vermutet,  dass  in  ihm  der  deutschen  Kunst  ein 
neuer  Moritz  von  Schwind  erstehen  würde.  Die 
Märchenwelt  mit  ihrem  ganzen  phantastischen  Zauber 
der  Romantik  —  das  war  das  eigentliche  Feld  des 
jugendlichen  Träumers;  ihm  entnahm  er  seine  ersten 
Kompositionen,  in  denen  sich  schon  ein  ungewöhn¬ 
liches  Talent  offenbarte.  Als  damit  sein  Beruf  zur 
Malerei  festgestellt  war,  besuchte  er  zu  seiner  Aus¬ 
bildung  zunächst  die  Dresdner,  dann  die  Münchner 
und  die  Düsseldorfer  Kunstakademie,  um  schliesslich 
zu  der  Einsicht  zu  gelangen,  dass  doch  erst  in  eigenem 
Studium  der  Künstler  werden  könne. 

Nachdem  er  sich  zu  dieser  Klarheit  durchgerungen, 
reifte  auch  allmählich  in  ihm  die  andere  Erkenntnis,  dass 
seine  bisherige  Arbeit,  das  Ergebnis  seines  Jugendtraumes, 
nur  eine  harmlose  Spielerei  der  Lehrjahre,  nur  eine 
Vorstufe  gewesen,  dass  er  aber  eigentlich  zu  weit 
Ernsterem  berufen  sei.  An  ermutigenden  Erfolgen 
hatte  es  zwar  dem  Anfänger  nicht  gefehlt.  Schon 
sein  erstes  Bild,  ein  »Till  Eulenspiegel«,  das  er  1876 
in  München  als  Pilotyschüler  gemalt  hatte,  fand  einen 
Käufer  und  ausserdem  erhielt  er  in  jener  Zeit  auch 
den  Auftrag,  ein  Märchenbuch,  das  in  Spamer’s  Ver¬ 
lag  erschien,  zu  illustrieren.  Diesen  ersten  pekuniären 
Erfolgen  reihten  sich  weitere  an  und  so  gelang  es 
ihm  wohl,  sich  selbständig  durchzubringen.  Das  hätte 
ihn  also  nicht  zu  veranlassen  brauchen,  einen  anderen 
Weg  einzuschlagen.  Es  war  etwas  anderes,  was  den 
strebsamen  Feuergeist  nicht  ruhen  liess. 

Die  Märchengestalten  der  Vergangenheit  waren 
vor  einem  leuchtenden  Bilde  der  Gegenwart  verblasst. 
In  deutschen  Landen  war  die  Zeit  der  Träumerei 
glücklich  überwunden.  Das  Ziel  des  glühenden 
Sehnens  war  nach  langem,  langem  Harren,  nach 
ernstem  Mühen  und  Ringen  erreicht  und  das  junge 
Geschlecht  sah  sich  in  eine  Wirklichkeit  versetzt,  der 
es  seine  volle  Begeisterung  entgegentragen  durfte. 
Auch  der  junge  Rocholl  war  schon  früh  von  einem 
tiefwurzelnden  Patriotismus  beseelt.  Sein  grösstes 

12 


SS 


THEODOR  ROCHOLL 


Leid  war,  dass  er  bei  dem  siebziger  Kriegsmarsch 
noch  nicht  erwachsen  war,  dass  er  nicht  mit  dabei 
sein  konnte,  das  Vaterland  gegen  den  übermütigen 
Angreifer  zu  verteidigen.  Aber  um  so  tieferen  Ein¬ 
druck  riefen  in  dem  still  erglühenden  Herzen  die 
Siegesbotschaflc!'  hervor  und  entflammten  des  Jüng¬ 
lings  Brust  zu  jubelndem  Enthusiasmus;  da  wurde 
der  schlummernde  'Ccim  der  kimstierischen  Schaffens¬ 
kraft  in  dem  Aufwallen  der  helllodernden  Vaterlands¬ 
liebe  zu  sprosseniiem  Leben  erweckt. 

In  Iiarmoiiiscliem  Einklang  traf  dieser  tiefinner¬ 
liche  Vorgang  mit  den  gewaltigen  äusseren  Ereig¬ 
nissen  zusammen,  in  dem  deutschen  Märchenwald 
war  Dornröschen-Germania,  die  herrliche,  die  so  lange 
unter  Dornenhecken  schlummern  musste,  zum  freu¬ 
digen  Äuferslehen  erwacht.  In  strahlender  Glorie 
und  furchtlos  der  Dornen  nicht  achtend  war  jung- 
Siegfried  in  ihre  Kammer  gestiegen  und  hatte  sie  vor 
aller  Welt  zu  dem  ihr  gebührenden  Thronsitze  ge¬ 
führt,  von  jung  und  Alt  mit  jauchzendem  »Hurrah 
Germania!  begrüsst. 

Diese  glorreiche  Zeit  hatte  der  junge  Rocholl  mit¬ 
erlebt  und  miterlebt  mit  der  ganzen  Glut  einer  be¬ 
geisterten  Jünglingsseele. 

Als  in  den  ereignisreichen  Julitagen  1870  nach 
der  schnöden  Herausforderung  der  Pariser  Schreier 
die  höchsten  Wogen  patriotischer  Begeisterung  Deutsch¬ 
lands  Gauen  mit  dem  donnernden  Rufe:  »Zum  Rhein! 
Zum  deutschen  Rhein!  durchbrausten,  da  hatte  auch 
der  sechzehnjährige  Rocholl  mit  mehreren  gleich- 
gesinnten  Kameraden  den  Vater  bestürmt,  bis  er  zu 
dem  ihm  bekannten  Oberst  von  Bock  in  Göttingen 
ging  und  ihn  fragte,  ob  die  jungen  Leute  nicht  mit 
ins  Feld  ziehen  könnten.  Der  Oberst  riet  entschieden 
davon  ab,  da  die  braven  Jungen  bei  all  ihrer  löb¬ 
lichen  Energie  doch  körperlich  nicht  den  Strapazen 
des  Felddienstes  gewachsen  sein  würden.  Das  war 
für  den  jungen  Rocholl  ein  harter  Schlag,  der  in 
seinem  Innern  einen  argen  Widerstreit  hervorrief, 
denn  er  geriet  nun  in  die  stärkste  Versuchung,  ohne 
die  Einwilligung  des  Vaters  seinen  Entschluss  aus¬ 
zuführen  und  durchzubrennen.  Doch  der  Einfluss 
der  guten  Erziehung  siegte.  Der  Sohn  blieb,  wenn 
auch  mit  schwerem  Herzen.  Dennoch  hat  er  später 
sich  oft  mit  einem  bitteren  Reuegefühl  sagen  müssen, 
dies  sei  die  grösste  Unterlassungssünde  seines  Lebens 
gewesen. 

Er  war  nämlich  inzwischen  über  die  Leistungs¬ 
fähigkeit  seiner  künstlerischen  Schaffenskraft  sich  im¬ 
mer  klarer  geworden  und  damit  wuchs  auch  von 
Tag  zu  Tag  die  Erkenntnis,  dass  es  für  ihn  die 
schönste  Lebensaufgabe  sein  würde,  die  geschicht¬ 
lichen  Vorgänge,  durch  die  jene  tiefen  seelischen 
Eindrücke  verursacht  wurden,  bildnerisch  zur  Dar¬ 
stellung  zu  bringen. 

In  dieser  Einsicht  wurde  er  noch  wesentlich  wäh¬ 
rend  seiner  Dienstzeit  als  Einjährig-Freiwilliger  bestärkt. 

Hatte  er  anfangs  nur  traumhaft  geahnt,  wohin  ihn 
der  Genius  führe,  so  erwachte  jetzt  immer  deutlicher 
in  ihm  das  Bewusstsein,  wozu  er  berufen  sei.  Und 
zwar  drängte  ihn  sein  ganzes  Empfinden  vor  allem 


zu  dem  feurigen  Temperament  der  stürmischen  Ka¬ 
vallerieattacke.  Aber  er  fühlte  auch,  dass  es  dabei 
nicht  wie  bei  den  Märchenbildern  mit  den  Phantasie¬ 
vorstellungen  allein  gethan  sei,  dass  vielmehr,  um 
solches  darzustellen,  er  es  auch  so  viel  wie  möglich 
in  wirklicher  Anschauung  kennen  lernen,  es  mit  er¬ 
leben  müsste. 

So  begleitete  er  denn  zum  Studium  das  siebente 
Kürassierregiment  wochenlang  auf  seinen  Manövern 
und  zwar  immer  zu  Fuss,  was  ihm  unsägliche  Stra¬ 
pazen  auferlegte.  Beobachtend  stand  er  dann  wohl 
hinter  einem  Baume  geschützt  und  liess  die  rasende 
Attacke  schnurstracks  auf  sich  zukommen.  Er  war 
so  lebhaft  bei  der  Sache  und  griff  sie  mit  fieber¬ 
hafter  Anspannung  so  packend  auf,  dass  er  den 
drastischen  Eindruck  des  erregten  Moments  gar  nicht 
mehr  los  wurde,  dass  er  von  ihm  bis  im  Traume 
verfolgt,  nachts  mit  lebendigster  Deutlichkeit  die  wilde 
Kürassierattacke  auf  sich  zustürmen  sah  und  von  der 
dahinbrausenden  Gewalt  zermalmt  wurde. 

Dieser  rastlos  aufgeregte  Zustand  griff  seine  Ner¬ 
ven  derart  an,  dass  für  seine  Gesundheit  trotz  ihrer 
ursprünglichen  Stärke  die  ernstlichste  Gefahr  drohte. 
Glücklickerweise  konnte  er  aber  bald  seine  Gelegen¬ 
heit  zum  Studieren  erleichtern:  er  durfte  ein  Kavallerie¬ 
manöver  zu  Pferde  mitmachen. 

Wie  sehr  diese  intensive  Art  des  Studiums 
seiner  künstlerischen  Entwickelung  zu  statten  kam, 
zeigte  sich  aufs  deutlichste  in  seinen  nächsten 
Arbeiten.  Hatte  er  schon  in  einigen  früheren 
Leistungen  auf  diesem  Gebiete,  ein  paar  Bilder 
»Schleichpatrouille«,  »Examiniertrupp«,  »Abgesessen«, 
die  er  in  Düsseldorf  gemalt  hatte,  seine  Begabung 
für  diese  Richtung  vollauf  erwiesen,  so  dokumentierte 
sich  doch  in  dem  nun  folgenden  »Todesritt  von 
Vionville«  ein  erheblicher  Fortschritt,  der  denn  auch 
die  erfolgreichste  Anerkennung  fand. 

Er  hatte  die  bei  dem  Manöver  gemachten  Studien 
und  Skizzen,  die  er  bei  diesem  Bilde  verwenden 
wollte,  der  Verbindung  für  historische  Kunst  einge¬ 
reicht,  die  ihm  daraufhin  die  Ausführung  des  Bildes, 
dessen  Entwurf  er  schon  lange  im  Kopfe  getragen 
hatte,  bestellte.  Als  er  dann  das  fertige  Werk  zur 
Ausstellung  brachte,  wurde  es  überall  als  ein  Meister¬ 
werk  der  Schlachtenmalerei  bewundert.  Jetzt  erkannte 
man,  dass  hier  eine  frische  Kraft  auftrat,  geeignet, 
die  grosse  Zeit  der  Erhebung  Deutschlands,  der  ruhm¬ 
reichen  Thaten  auf  den  Schlachtfeldern  Frankreichs  in 
würdiger  Weise  zu  verherrlichen. 

Und  dieser  hohen  Aufgabe  widmete  fortan  Rocholl, 
in  dem  beseligenden  Bewusstsein,  den  rechten  Weg 
gefunden  zu  haben,  sein  ganzes  ernstes  Streben.  So 
entstand  denn  nach  und  nach  unter  seiner  Hand  eine 
Reihe  von  Bildern,  welche  als  ein  Nationalschatz  des 
deutschen  Volkes,  als  ein  köstliches  Erinnerungs¬ 
zeichen  seiner  glänzenden  Errungenschaft  betrachtet 
werden  darf.  Rocholl  weiss  wie  kein  anderer  so  er¬ 
greifend  und  lebensvoll  die  Heldenthaten  der  tapferen 
Söhne  Germanias  zu  schildern;  zudem  bekundet  er 
einen  ungemein  glücklichen  Griff  in  der  Wahl  seiner 
Stoffe. 


THEODOR  ROCHOLL 


89 


Das  zeigt  sich  besonders  auch  wieder  in  einem 
seiner  nächsten  Bilder,  das  eine  »Episode  aus  der 
Schlacht  von  Vionville«  darstellt,  wie  der  Wacht¬ 
meister  Kaiser  seinen  schwer  verwundet  zu  Pferde 
sitzenden  Leutnant  Grafen  Sierstorff  aus  der  Schlacht 
führt.  Der  Künstler  errang  damit  einen  durch¬ 
schlagenden  Erfolg,  was  sich  besonders  auf  der  Münch¬ 
ner  Ausstellung  zeigte;  ein  Jahr  später  wurde  das 
Bild  Eigentum  der  städtischen  Galerie  in  Magdeburg. 

Kaum  minder  packend  schildert  ein  früheres  Bild, 
betitelt  »Vorbei!«  wie  die  Spitze  eines  Kürassier¬ 
regiments  an  einem  Wintermorgen  die  Leiche  eines 
Kameraden  findet,  der  neben  seinem  toten  Ross  am 
Wege  liegt.  Und  diesen  trefflichen  Bildern  reihten 
sich  mit  der  Zeit  noch  viele  andere  würdig  an,  wie 
der  »Kampf  um  die  Standarte«,  »Vorpostengefecht«, 
»Ein  Husarenstreich«  (das  1892  in  München  die 
goldene  Medaille  erhielt),  »Die  Nürnberger  hängen 
keinen,  sie  haben  ihn  denn«,  »Ein  Hoch  auf  den 
König«,  »Waldrast«,  »ln  Feindesland«,  »Attacke  der 
sechzehnten  Dragoner  bei  Mars  la  Tour«,  »Nachzügler« 
(in  der  städtischen  Galerie  zu  Düsseldorf)  u.  s.  w. 

Und  nicht  nur  die  wackeren  Krieger  in  ihrer  auf¬ 
opferungsvollen  Thätigkeit,  auch  ihren  edlen  Führer, 
den  greisen  Heldenkaiser  in  seiner  gewinnenden 
Herzensgüte,  ebenso  wie  seine  glorreichen  Paladine 
weiss  Rocholl  in  den  erhebendsten  Momenten  zur 
Anschauung  zu  bringen.  So  hat  er  vor  allem  in 
dem  Bilde  »Kaiser  Wilhelm’s  Ritt  um  Sedan«  eine 
der  bedeutendsten  und  ergreifendsten  Scenen  des 
ganzen  Kriegsjahres  dargestellt,  wie  der  alte  Kaiser, 
begleitet  von  Bismarck  und  Moltke,  nach  der  Schlacht 
bei  Sedan  von  dem  siegreichen  Heer  in  jauchzender 
Begeisterung  begrüsst  und  verehrt  wird,  ln  dem 
spontanen  Gefühlsausbruch  dieser  rauhen  Krieger,  die 
in  dem  gewaltigen  Augenblick  gewissermassen  das 
deutsche  Volksgefühl  repräsentieren,  konzentriert  sich 
die  feierlich  gehobene  Stimmung,  der  ganze  Jubel 
unaussprechlicher  Dankbarkeit,  mit  dem  die  gross¬ 
artige  Errungenschaft  jedes  deutsche  Herz  erfüllt. 
Und  so  wird  dieses  Bild  für  alle  Zeit  als  ein  echtes 
Historienbild,  als  ein  redendes  Dokument  der  grossen 
Zeitepoche  zu  gelten  haben,  ln  dieser  Erwägung  hat 
der  Kunstverein  für  Rheinland  und  Westfalen,  die 
richtigste  Wahl  treffend,  das  Bild  durch  einen  Kupfer¬ 
stich  von  E.  Forberg’s  Meisterhand  vervielfältigen 
lassen,  um  es  so  in  gebührender  Weise  zu  einem 
Gemeingut  des  deutschen  Volkes  zu  machen. 

Die  unermüdliche  Pflichttreue  und  schlichte  Be¬ 
scheidenheit  des  edlen  Greises  schildert  in  einem 
rührenden  Moment  das  Bild  »Letzte  Heerschau  Kaiser 
Wilhelm’s  I.«,  das  in  den  Besitz  der  Stettiner  Galerie 
übergegangen  ist.  Neben  diesen  Malereien  aber  ent¬ 
standen  auch  noch  eine  grosse  Anzahl  von  Illustra¬ 
tionen,  von  denen  beispielsweise  etwa  zwanzig  das 
bei  Bruckmann  erscheinende  Werk  »Kaiser  Wilhelm 
und  seine  Zeit«  in  Federzeichnungen  enthält;  ferner 
vierhundert  Illustrationen  für  das  in  Lieferungen  er¬ 
schienene  grosse  Werk  von  Devens  »Das  deutsche 
Ross«,  worin  sich  Rocholl  auch  als  einer  der  ge¬ 
schicktesten  und  phantasiereichsten  Illustratoren  zeigt 


und  das  namentlich  dem  Pferdekenner  einen  hohen 
Genuss  bietet. 

Alle  jene  Kriegsbilder  machen  den  überzeugenden 
Eindruck,  als  wenn  sie  aus  unmittelbarer  eigener  An¬ 
schauung  des  Dargestellten  entstanden  wären;  es  wird 
jedem  beim  Anblick  derselben  unglaublich  erscheinen, 
dass  damals  der  Maler  noch  nie  persönlich  einer  Schlacht, 
einem  wirklichen  Kriegsgetümmel  beigewohnt  hatte. 
Um  so  mehr  aber  fühlte  diesen  Mangel  der  Autor 
selbst.  In  seinem  rastlosen  Drang,  aufs  gründlichste 
die  Natur  zu  studieren,  konnte  er  sich  nicht  genug 
thun  und  so  blieb  doch  immer  sein  grösster  Schmerz, 
dass  er  1870  nicht  dabei  gewesen  war  und  dass  er 
auch  bisher  noch  keinen  Krieg  hatte  mitmachen 
können.  Noch  keine  Gelegenheit  hatte  sich  dazu  ge¬ 
boten,  seitdem  er  sich  als  Meister  fühlte;  das  Schick¬ 
sal  schien  seinen  Herzenswunsch  nicht  erfüllen  zu 
wollen. 

Da  endlich  kam  der  griechisch -türkische  Krieg; 
nun  war  Rocholl  nicht  mehr  zu  halten.  Ein  Pass, 
ein  Rucksack  und  500  Mark  Barschaft,  die  er 
sich  kurzer  Hand  zusammenpumpte,  —  damit  hielt 
er  »eine  Reise  um  die  Welt  für  sehr  leicht  und 
wahrscheinlich«,  wie  er  selbst  in  seinen  köstlich  ge¬ 
schilderten  Reiseerlebnissen  mit  launiger  Selbstironie 
erzählt. 

Und  an  Schwierigkeiten  und  Gefahren  fehlte  es 
denn  auch  nicht,J£Aber  mit  frischem  fröhlichem 
Wagemut,  der  ihn  nicht  verliess,  überwand  er  sie 
alle  und  dem  Kühnen  zeigte  doch  schliesslich  For¬ 
tuna  sich  hold.  Er  fand  in  der  Türkei  vollauf  Ge¬ 
legenheit,  die  interessantesten  Studien  zu  machen, 
namentlich  in  der  Schlacht  bei  Domokos,  wo  er  in 
nächster  Nähe  stundenlang  in  der  Schützenkette  dem 
mörderischen  Kampfe  beiwohnen  konnte. 

Rocholl  ging  nun  zunächst  daran,  die  in  der 
Türkei  gesammelten  Studien  und  Erfahrungen  für 
seine  Arbeit  zu  verwerten.  So  entstanden  eine  Reihe 
farbenprächtiger,  von  südlicher  Glut  durchstrahlter 
Bilder  aus  dem  türkischen  Kriegs-  und  Lagerleben; 
eines  dieser  Bilder  ist  diesem  Hefte  als  Farbendruck 
beigegeben,  ln  Konstantinopel  malte  er  im  Aufträge 
des  Sultans  ein  Bild  der  Schlacht  von  Domokos,  zu 
dem  er  im  Jahre  nachher  bei  der  türkischen  Okku¬ 
pationsarmee  in  Thessalien  an  Ort  und  Stelle  als  Gast 
des  Sultans  noch  eingehendere  Studien  machen  konnte. 

Dann  aber  trieb  es  ihn  zu  der  Hauptaufgabe  seines 
ganzen  Strebens,  zu  deren  Förderung  allein  er  die 
»Studienreise  zum  Kriegsschauplatz«  unternommen 
hatte,  mit  neuer  und  gestählter  Kraft  zurück.  Wie 
schon  gesagt,  er  hatte  selbst  am  besten  gefühlt  was 
ihm  noch  fehlte.  Manches  treffliche  Bild  hatte  er 
schon  ausgeführt,  namentlich  manch  unvergleichliches 
Reiterstückchen,  aber  es  liess  sich  nicht  verhehlen, 
dass  er  auch  zuweilen  daneben  gehauen  hatte,  be¬ 
sonders  dann,  wenn  er  etwas  machen  musste,  was 
seiner  Eigenart  nicht  lag,  wie  solches  im  Schaffen 
eines  jeden  Künstlers  vorkommt.  Auch  war  manches 
in  seiner  stürmisch  vorwärts  dringenden  Arbeitsweise 
nicht  vollständig  ausgereift. 

Darin  war  die  türkische  Exkursion  von  bestem 


12 


go 


HEODOR  ROCHOLL 


Einfluss  auf  seine  Entwickelung.  Er  war  dadurch 
in  seinem  ganzen  Wesen  ernster  und  ruhiger  gewor¬ 
den.  Mit  Überwindung  der  grössten  Mühseligkeiten 
hatte  er  Tags  über  seiner  Arbeit  obgelegen  und  sich 
dann  in  langen  iiualvollen  Fiebernächten  grübelnd 
auf  seinem  harten  Lagf^^-  gewälzt;  da  kam  der  ganze 
tiefe  Ernst  des  Le''ens  üoer  ih.n,  so  dass  er  sich  zur 
männlichen  kü^iSticrischen  Reife  durchrang. 

Im  Jalire  igoc  ka  ,  die  weraiisforderung  Chinas, 
die  Ermordw',_T  unse:\.--  Gesandten.  Die  deutsche 
.\ntVv'ort  Hess  nicht  auf  sicli  warten;  die  Kriegsmarine 
war  bald  zum  .Xufbriic'';  bereit.  Rocholl  schloss  sich 
dem  Oberkommando  an  und  schiffte  sich  mit  dem¬ 
selben  auf  tler  Sachsen  in  Genua  ein.  ln  Tientsien 
bekam  er  Pferd  und  Burschen,  machte  dann  hoch- 
inieressante  kriegerisclie  Expeditionen  in  die  Gebirge 
mit,  'vobe:  er  Frost  und  Hitze  und  alle  Strapazen 
redlich  mit  den  Truppen  teilte.  So  erreichte  er  im 


Jahre  igoo  einigermassen  das,  was  ihm  im  Jahre  1S70 
versagt  war:  Deutsche  Soldaten  in  ernstem  Kampfe 
zu  sehen,  zu  begleiten. 

Augenblicklich  ist  Rocholl  mit  einem  grösseren 
Bilde  für  die  Nationalgalerie  beschäftigt,  welches  den 
Zug  des  Oberst  Graf  York  nach  Kalgan  darstellt. 
Auf  der  grossen  nationalen  Kunstausstellung  in 
Düsseldorf  befand  sich  sein  neuestes  Bild  »Boxer 
verteidigen  die  Bergfeste  Hophu«  und  daneben  das 
zu  gleicher  Zeit  gemalte  Bild  >  Aufsitzende  Kürassiere  . 

Und  so  ist  zu  erwarten,  dass  wie  bisher  der  Ent¬ 
wickelungsgang  seiner  Schaffenskraft  ein  stetig  fort¬ 
schreitender  war,  jetzt  erst  recht  seine  Kunst  einem 
neuen  Aufschwung  entgegengeht  und  dass  sie  noch 
manches  wertvolle  Dokument  zur  Verherrlichung  echt¬ 
deutschen  Wesens  und  deutscher  Thaten  zum  Ruhme 
des  Vaterlandes  hervorbringen  werde. 

EDUARD  DAELEN. 


MAX  KLINOER’S  SCHLAFENDE 

ZU  DER  TAFEL 


ln  den  Tagen,  wo  dieses  Heft  in  die  Hände 
unserer  Leser  gelangt,  wird  der  Beethoven  Max 
Klinger’s,  zurückgekehrt  von  den  Ausstellungen  in 
Wien,  Düsseldorf  und  Berlin,  endgültig  im  Museum 
der  bildenden  Künste  in  Leipzig  aufgestellt  sein.  Man 
hat  daselbst  in  dem  sogenannten  Michelangelosaale 
einen  provisorischen  Einbau  nach  den  Plänen  und 
Angaben  des  Künstlers  geschaffen,  der  in  diesem  Jahre 
noch  durch  einen  massiven  Bau,  der  der  Südfassade 
des  Museums  angegliedert  werden  soll,  ersetzt  werden 
wird,  ln  diesem  Saale,  der  in  einer  mässigen  Grösse 
gehalten  wird,  so  dass  die  Architektur  in  richtigem 
Verhältnis  zu  den  darin  aufzustellenden  Kunstwerken 
steht,  sollen  auch  die  übrigen  Skulpturen  Klinger’s 
untergebracht  werden:  die  Salome,  Kassandra,  das 
badende  Mädchen  und  die  mehr  als  plastische  Skizze 
geltende  Bronzestatuette  eines  Athleten,  die  in  den 
letzten  Tagen  dem  Museum  von  Herrn  Kommerzien¬ 
rat  Stöhr  geschenkt  worden  ist.  Leipzig  kann  sich 


nunmehr  seines  Besitzes  von  plastischen  Werken  seines 
grossen  Sohnes  rühmen.  Denn  ausser  den  genannten 
Skulpturen  befinden  sich  hier  die  Büste  von  Franz 
Liszt  (im  Foyer  des  Gewandhauses)  und  das  »Schlafende 
Mädchen«  im  Besitze  des  Verlagsbuchhändlers  Georg 
Hirzel.  Unsere  Abbildung  wird  dem  Leser  einen 
Begriff  von  dem  mit  allen  Reizen  der  Jungfräulichkeit 
und  Naivetät  umkleideten  Körper  geben,  der,  augen¬ 
blicklich  schlafend  und  träumend  noch,  im  nächsten 
Moment  in  dem  toten  Steine  erwachen  und  sich  mit 
pulsierendem  Leben  erfüllen  wird  plastisch  viel¬ 
leicht  das  liebenswürdigste,  am  unmittelbarsten  wir¬ 
kende,  menschlich  am  meisten  ansprechende  Werk 
Klinger’s.  Das  Material  ist  wieder  parischer  Stein; 
nach  einer  früheren  ähnlichen  Behandlung  des  Motivs 
ist  die  Hirzel’sche  Figur  im  Sommer  igo2  vom 
Künstler,  etwa  gleichzeitig  mit  der  Porträtbüste  von 
Nietzsche,  vollendet  worden.  Julius  Vogel. 


BUCHERSCHAU 


Lange,  Konrad,  Das  Wesen  der  Kunst.  Zwei  Bände. 

Berlin,  Orote’sche  Verlagsbuchhandlung. 

Lange,  Carl,  Siimesgenüsse  und  Kunstgenuss.  Wiesbaden, 

Bergmann. 

Das  umfangreiche  Werk  des  Tübinger  Kunsthistorikers 
hat  zunächst  symptomatische  Bedeutung.  Denn  obgleich 
die  Erörterung  über  das  Wesen  der  Schönheit  überhaupt 
und  der  gewollten  Schönheit,  das  heisst,  der  Kunst,  im 
Laufe  des  19.  Jahrhunderts  nie  verstummt  ist,  insofern 
seine  Philosophen  vom  Kantianer  Schiller  bis  E.  v.  Hart¬ 
mann  sich  um  Ergründung  der  Prinzipien  dieser  Begriffe 
bemüht  haben,  so  ist  es  doch  eine  verhältnismässig  neue 
Erscheinung,  dass  sich  eigentliche  Kunsthistoriker  mit 
dieser  Aufgabe,  den  innersten  Kern  des  Schönen  aus¬ 
zuschälen,  den  schwierigen  Begriff  in  eine  neue  Formel  zu 
giessen,  systematisch  befassen.  Die  Wege,  welche  die 
Erforschung  des  Schönen  und  der  dazu  gehörigen  Er¬ 
scheinungen  genommen  hat,  sind  von  E.  v.  Hartmann 
im  ersten  Teile  seiner  Ästhetik  (1886  erschienen)  gekenn¬ 
zeichnet  worden.  Man  sieht  an  der  Hand  seiner  kritischen 
Führung,  wie  verschiedenartig  die  Lösungsversuche  waren, 
die  seit  Schiller  von  Schelling,  Schopenhauer,  Solger, 
Krause,  Lotze,  Weisse,  Hegel,  Trahndorff,  Schleiermacher, 
Deutinger,  Oersted,  Vischer,  Zeising,  Carriere,  Schasler, 
Kirchmann,  Herbart,  Köstlin,  Siebeck  und  Fechner  an¬ 
gestellt  worden  sind.  Unter  diesen  Autoren  sind  es  vor¬ 
nehmlich  Trahndorff,  Deutinger  und  Kirchmann,  mit  denen 
Konrad  Lange’s  Werk  streckenweise  parallel  läuft.  Den 
Begriff  der  Illusion,  den  Konrad  Lange  als  Kern  des 
künstlerischen  Genusses  hinstellt,  hat  Trahndorff  bereits 
in  seinem  1827  erschienenen  Werke  behandelt;  er  sagt, 
dass  man  Illusion  nicht  mit  Selbsttäuschung  übersetzen 
solle,  weil  das  den  wunderlichen  Irrtum  Hervorrufen 
könne,  als  ob  es  in  der  Kunst  nur  um  eine  Selbsttäuschung 
zu  thun  wäre,  die  der  Mensch  sich  selber  vorspiegelt, 
um  die  Wirklichkeit  auf  einen  Augenblick  zu  vergessen 
und  in  Phantasien  zu  schwärmen  und  süss  zu  träumen. 
Hartmann  nennt  diesen  von  Trahndorff  aufgestellten  Be¬ 
griff  der  Illusion  als  subjektives  Korrelat  zu  dem  objektiven 
Begriff  des  ästhetischen  Scheins  im  Kunstwerk  eine  wert¬ 
volle  Bereicherung  und  Vertiefung  der  ästhetischen  Grund¬ 
begriffe.  Deutinger  ist  hier  zu  erwähnen,  weil  dieser  von 
Neudecker  sozusagen  wieder  aufgefundene  Ästhetiker  zu¬ 
erst  die  Geschichte  der  bildenden  Kunst  in  umfassender 
Weise  in  den  Kreis  seiner  Spekulation  gezogen  hat.  Auch 
Deutinger  war  schon  bekannt,  dass  der  ästhetische  Schein 
nicht  dazu  da  sei,  »Vögel  zu  täuschen  und  den  Sinn  zu 
betrügen,  sondern  zum  Geiste  zu  sprechen«.  Endlich 
trifft  eine  Bemerkung  H.  Kirchmann’s,  ein  Kunstwerk  sei 
um  so  schöner,  je  näher  sein  ästhetischer  Schein  sich  an 
die  Grenze  der  wirklichen  Welt  anschüesst,  mit  dem 
Hauptsatze  Konrad  Lange’s  zusammen,  allerdings  im  Gegen¬ 
sinn,  als  Spiegelbild.  »Jede  Kunst«,  sagt  Lange,  »ist  ihrem 
inneren  Wesen  nach  ein  Kampf  gegen  iüusionsstörende 
Momente;  der  Künstler  haucht  seinen  toten  Materialien 
Leben  ein;  in  diesem  Sinne  kämpft  die  Kunst  gegen  die 
Materie  und  sucht  sie  sich  zu  unterwerfen,  zu  durch¬ 
geistigen«. 


Der  Verfasser  beruft  sich  selbst  auf  Berührungspunkte 
mit  anderen  Ästhetikern  (I,  205);  mehr  aber,  als  dass  die 
zitierten  Autoren  nur  in  jenen  Punkten  seines  Wegs, 
nicht  aber  mit  seinem  Wege  überhaupt  einverstanden 
seien,  wird  er  nicht  behaupten  dürfen.  Hier  ist  überdies 
Schiller  zu  erwähnen,  dessen  zwei  Zeilen: 

»Der  Schein  soll  nie  die  Wirklichkeit  erreichen, 

Und  siegt  Natur,  so  muss  die  Kunst  entweichen« 

schon  in  nuce  die  Theorie  des  Lange’schen  Werkes  enthält. 

Die  Beweisführung,  dass  das  Wesen  der  Kunst  im 
letzten  Grunde  in  der  Erregung  der  bewussten  Selbst¬ 
täuschung  liege,  kann  man  trotz  der  vielen  bestechenden 
und  geistreichen  Bemerkungen,  die  sie  hervorgerufen  hat, 
nicht  als  erbracht  gelten  lassen.  Wäre  es  so,  wie  der 
Verfasser  meint,  dass  die  Herbeiführung  der  bewussten 
Selbsttäuschung  der  Keim  sei,  aus  dem  allein  der  Kunst¬ 
genuss  hervorwächst,  so  würde  mancherlei  unerklärt  bleiben. 
Bestimmte  Beispiele  werden  das  am  fasslichsten  darthun. 
Es  würde  unerklärt  bleiben,  warum  wir  unbefriedigt  sind, 
wenn  Laube  den  Schiller’schen  Demetrius,  oder  ein  neuer 
Bildhauer  die  Venus  von  Milo  ergänzt;  obwohl  beide 
Künstler  doch  darnach  trachten,  im  Sinne  des  unvoll¬ 
ständigen  Kunstwerkes  zu  schaffen  und  die  ästhetische 
Illusion  zu  vollenden.  Es  würde  unerklärt  bleiben,  warum 
das  Grillparzer’sche  Estherfragment  eben  weil  es  nur 
Fragment  ist,  nicht  völlig  befriedigt,  denn  Illusion  wird  ja 
auch  schon  durch  das  Bruchstück  herbeigeführt;  es  würde 
unentschieden  bleiben,  warum  eine  farbige  Kopie  einer 
Originalgrisaüle  (z.  B.  der  Luini  in  der  Ambrosfana  und 
seine  Nachbildung  im  Museo  Poldi  Pezzoli)  für  weniger 
wertvoll  gehalten  wird,  obwohl  die  farbige  Darstellung 
doch  eine  stärkere  Illusion  weckt;  es  würde  unerklärt 
bleiben,  warum  der  Künstler,  der  seiner  Zeit  vorauseilt 
die  Zeitgenossen  nicht  in  die  gleiche  Illusion  versetzt 
wie  die  Nachwelt.  Die  blosse  Behauptung,  dass  die 
Zeitgenossen  eben  weniger  illusionsfähig  seien  im  Sinne 
des  neuen  Genius,  weicht  eher  der  Erklärung  aus,  als 
dass  sie  sie  herbeiführt. 

Der  Verfasser  setzt  ausführlich  auseinander,  dass  dem 
Kunstwerke  illusionsstörende  Momente  eigen  sein  müssen 
und  sieht  laut  I,  224  in  der  denkbar  stärksten  Steigerung 
der  Illusion  bei  vollem  Festhalten  des  Gefühls  der  Schein- 
haftigkeit  das  Kennzeichen  des  wahren  Kunstgenusses. 
Jede  Kunst  sei  deshalb  (S.  232)  ihrem  innersten  Wesen 
nach  ein  Kampf  gegen  illusionsstörende  Momente.  Wäre 
das  richtig,  so  müsste  eigentlich  die  völlige  Beseitigung 
aller  illusionsstörenden  Momente  das  wahre  Ziel  der 
Kunst  sein;  die  Malerei  stünde  dann  eine  Stufe  höher 
als  die  Zeichnung,  die  Farbenlithographie  höher  als  die 
Radierung,  die  bemalte  Holzskulptur  wäre  höher  zu  achten 
als  ein  weisses  Marmorwerk.  Ein  völliges  Hypnotisieren 
des  Hörers  oder  Beschauers  wäre  alsdann  der  höchste 
Triumph  des  Künstlers;  man  müsste  dem  Grafen  Tolstoi 
zubilligen,  in  seinem  Drama  »Die  Macht  der  Finsternis- , 
wirkliche  Düngerhaufen  auf  die  Bühne  zu  bringen,  um 
auch  durch  die  Geruchsnerven  die  Illusion  eines  russischen 
Bauernhofes  steigern  zu  helfen.  Man  wird  nicht  wenig 


92 


BÜCHERSCHAU 


begierig  sein,  zu  hören,  was  der  Illusionsästhetiker  zur 
Panuramennialerei,  zum  Wachsfigurenkabinett,  zurTaschen- 
^pielerkunst  und  zum  Stereoskop  sagt.  Im  neunten 
Kapitel  seines  W'erkes  setzt  sich  dann  auch  der  Verfasser 
mit  diesen  Wiue.-saehc-ri'.  seiner  Theorie  auseinander.  Hier 
zieht  er  ein  Arguii’.eni  '.lerbci,  aas  der  eigentlichen  Illusions¬ 
theorie  irema  Ti;  Die  ' -ndigl-eit  der  Erzeugung  der 
lllusi.,n  durch  ^iu.  :  Kü  /.Vo  uiso  die  Notwendigkeit  einer 
'.viihlend-jn  uid.i  (..an. u.dcn  i'ersönlichkeit.  Dagegen 

i-;t  TA  u,  ,  '  di:  ’v.'.  U'.iu  Selbsttäuschung  nicht  not- 
v/cu'.dl^  du  u  i\  '.u  ''cr  hervorgerufen  werden  muss. 

.  i.  em-i-.  ’  .1.  i!u  Eisenbahnzuge  weiss  man 
,-A  'iic';', ,  i,  -iuh  der  -i,u  re  oder  der  nebenstehende 
V  ...eLi,  u.  ;>ev,  j  e.-.t.  Alan  blickt  dann  nach  den 
i  ;  u,  '.•  lui.  n  Ab  uiciiten  ,  das  heisst  der  Gegenseite 
..  -r  u.  u.^r..  ! '-.iidsien,  um  sich  zu  vergewissern,  ob 

i 'i-  u dl’-  wi  kiiehe  Bewegung  vorliegt.  Durch 

i.  duj 'i  .dues  ,'~i.vieren  lies  abfahrenden  Zuges  können  viele 
fi.S'du-:,  hl  sicli  das  Gefühl  des  Dahingleitens  wieder- 
i.nicii,  ..'oizdeni  sie  wissen,  dass  der  Zug,  in  den  sie  ein- 
■uc-ua gu  ii  sind,  still  steht.  Ganz  das  gleiche  —  schein¬ 
bare  Beu.r'gung  bei  voller  Überzeugung,  dass  man  fest¬ 
steht,  kann  man  sich  auf  einer  Brücke,  unter  der  fliessendes 
Wasser  strömt,  verschaffen.  Die  Täuschung  endet,  wenn 
man  auf  eins  der  Ufer  schaut;  sie  beginnt  von  neuem, 
wenn  man  wieder  ins  Wasser  blickt;  man  kann  so  zwischen 
Ruhegefühl  und  dem  der  gleitenden  Bewegung  mehrfach 
wechseln.  In  solchem  Falle  liegt  also  doch  eine  bewusste 
Selbsttäuschung,  aber  keine  künstlerische  Illusion  vor; 
denn  auch  hier  fehlt  die  geistige  Zuthat,  der  Ausdruck 
einer  Persönlichkeit,  die  den  illusionsschaffenden  Elementen 
aufgeprägt  sein  müsste.  Der  Verfasser  meint  ferner  in 
Bezug  auf  das  Stereoskop,  dass  dies  nur  deshalb  keine 
künstlerische  Illusion  biete,  weil  mit  diesem  Apparat  eine 
wirkliche  Täuschung  in  Bezug  auf  den  Raum  stattfinde. 
Das  ist  offenbar  nicht  stichhaltig.  Niemand  wird  den 
Raum,  den  das  Stereoskop  vortäuscht,  für  einen  wirklichen 
halten,  und  etwa  versuchen,  einen  Gegenstand  in  die 
Tiefe  des  Raumes,  der  so  greifbar  scheint,  zu  bringen. 
Jedermann  weiss  .ganz  genau,  dass  hier  eine  Täuschung 
vorliegt;  man  braucht  die  Beschauer  ja  nur  zu  fragen. 
Es  liegt  also  auch  hier  eine  bewusste  Selbsttäuschung  vor, 
die  beliebig  of(  wiederholt  werden  kann.  Es  fehlt  die 
Flächenhaftigkeit,  meint  der  Verfasser,  also  sei  das  stereo¬ 
skopische  Bild  kein  Kunstwerk.  Nun  hat  aber  das  stereo¬ 
skopische  Bild  illusionsstörende  Momente  genug;  die  Ein¬ 
farbigkeit,  die  Bewegungslosigkeit,  die  lineare  Abgrenzung. 
Die  ersten  beiden  sind  illusionsstörende  Momente  der 
Plastik,  die  letzte  ist  eines  der  Malerei.  Diese  drei 
illusionsstörenden  Momente  reichen  völlig  hin,  das  Gefühl 
der  Wirklichkeit  des  Vorgetäuschten  nicht  anfkommen  zu 
lassen. 

Auch  beim  Kinematographen  sagt  der  Verfasser,  dass 
er  einen  ästhetischen  Genuss  deshalb  nicht  hervorrufen 
könne,  weil  man  bei  der  Anschauung  absolut  nicht  das 
Gefühl  (des  Vorhandenseins)  einer  menschlichen  Persönlich¬ 
keit  erhalten  würde,  die  durch  ihre  Kunst  auf  uns  ein¬ 
wirken  wollte.  Die  eine  Vorstellungsreihe,  die  sich  auf 
den  Schöpfer  des  Kunstwerks  bezieht,  wäre  vielmehr  ganz 
ausgeschaltet  .  Wenn  es  notwendig  ist,  eine  Vorstellnngs- 
reihe  einzuschalten,  die  sich  auf  den  Schöpfer  eines  Werkes 
bezieht,  so  kann  die  bewusste  Selbsttäuschung  des  Indivi¬ 
duums  allein  zur  Erklärung  des  ästhetischen  Genusses 
offenbar  nicht  ausreichen.  Vielmehr  muss  diese  Täuschung, 
soweit  sie  Kunst  heissen  soll,  beabsichtigt,  von  einer  Per¬ 
sönlichkeit  planmässig  herbeigeführt  sein. 

Allein,  man  kann  ja  auch  bewusste  Selbsttäuschungen 
planmässig  herbeiführen,  die  unästhetisch  sind.  Zu  solchen 


gehört  z.  B.  eine  Prügelscene  zweier  Clowns  im  Cirkus- 
Die  Galerie  und  die  Kinder  pflegen  derlei  zu  belachen 
und  lebhaft  zu  beklatschen;  der  an  geistige  Speise  Ge¬ 
wöhnte  wendet  sich  ab.  jedermann  weiss,  dass  die  Prügel 
nicht  ernst  gemeint  sind,  obwohl  die  Schläge  täuschend 
klatschen;  der  Genuss  ist  aber  unästhetisch,  weil  er  un¬ 
geistig  ist.  Zum  Ästhetischen  gehört  somit  nicht  eine 
bewusste  Selbsttäuschung  schlechthin,  sondern  sie  muss 
von  edler  Art  sein.  Edel  heisst  nach  Schiller  (Über  die 
ästhetische  Erziehung,  23.  Brief,  Anm.)  jede  Form,  welche 
dem,  was  seiner  Natur  nach  bloss  dient  (blosses  Mittel 
ist)  das  Gepräge  der  Selbständigkeit  aufdrückt.  Edel  heisst 
ihm  ein  Gemüt,  das  die  Gabe  besitzt,  auch  das  beschränk¬ 
teste  Geschäft  und  den  kleinlichsten  Gegenstand  durch  die 
Behandlung  in  ein  Unendliches  zu  verwandeln.  Der  Künst¬ 
ler  von  echter  Art  adelt  eben,  was  uns  gemein  erschien, 
und  das  Geschätzte  wird  vor  ihm  zu  nichts«.  (Vgl.  auch 
Schiller’s  Aufsatz:  Gedanken  über  den  Gebrauch  des  Ge¬ 
meinen  und  Niedrigen  in  der  Kunst.) 

Hiernach  dürfen  wir  wohl  sagen,  dass  nicht  die  be¬ 
wusste  Selbsttäuschung  an  sich  der  Kern  des  künstlerischen 
Genusses  sein  könne,  sondern  die  geistig  geadelte  Illusion. 
Die  Sache  läuft  im  wesentlichen  auf  das  hinaus,  was 
H.  Siebeck  in  seinem  Buche  vom  »Wesen  der  ästhetischen 
Anschauung«  p.  12,  17,  95  u.  a.  O.  ausgeführt  hat. 

Dass  dies  auch  des  Verfassers  Meinung  ist,  geht  aus 
verschiedenen  Stellen  seines  Werkes  hervor;  unter  anderem 
hat  er  auf  Seite  251  des  ersten  Bandes  darauf  hingewiesen, 
dass  man  neben  der  Natur  die  Persönlichkeit  des  Künst¬ 
lers  hindurchfühlen  müsse,  darauf  komme  alles  an  Der 
Verfasser  erwähnt  die  Naturabgüsse  der  Goldschmiede, 
die  Benutzung  der  Totenmasken  von  Bildhauern  und  fügt 
hinzu:  »Sobald  ein  Nacharbeiten,  ein  freies  Naclimodellieren, 
in  dem  sich  das  persönliche  Gefühl  des  Künstlers  aus¬ 
spricht,  hinzutritt,  ist  ein  solcher  Abguss  ebenso  als  Kunst¬ 
werk  aufzufassen,  wie  eine  retouchierte  Künstlerphotographie, 
oder  ein  Bild,  das  mit  Hilfe  einer  Photographie  gemalt  ist. 

Hiermit  kommen  wir  auf  die  Auffassung,  wie  sie 
E.  V.  Hartmann  bei  Besprechung  der  KirchmamTschen 
Definition  giebt,  welche  lautet:  »Das  Schöne  soll  das  Bild 
eines  seelenvollen  Realen  sein.  Wenn  hier«,  fährt  Hart¬ 
mann  fort  (1,  257),  »unter  Realem  nicht  ein  wirklich  seien¬ 
des  Reales,  sondern  ein  bloss  vorgestelltes,  als  daseiend 
fingiertes  Reales  verstanden  werden  soll,  so  ist  das  nichts 
anderes,  als  was  Hegel  und  seine  Schule  auch  sagt;  denn 
der  ästhetische  Schein  könnte  uns  gar  nichts  als  Erscheinung 
der  Idee  gelten,  wenn  er  nicht  als  ein  fingiertes  Reales 
wenigstens  vorgestellt  würde  (Hegel’s  Ästhetik  111,  243), 
welches  das  seelische  Innere  mit  einem  sinnlichen  Äusseren 
verknüpft.  Aber  gerade  diese  fingierte  Realität  ist  (ebenso 
wie  beim  Naturschönen  die  wirklich  existierende  Realität) 
dasjenige,  wovon  beim  ästhetischen  Schein  abstrahieit,  was 
in  der  Deutung  des  Scheines  übersprungen  wird;  denn  sie 
ist  nur  Mittel,  um  diese  Deutung  zu  vollziehen  und  zwar 
ein  unbewusst  gewordenes,  unbewusst  seine  Schuldigkeit 
timendes  Mittel,  das  den  ästhetischen  Eindruck  des  Schönen 
sofort  stört  und  zerstört,  sobald  es  sich  ins  Bewusstsein 
hervordrängt.  Der  ästhetische  Eindruck  beruht  lediglich  auf 
den  beiden  Endgliedern:  dem  ästhetischen  Schein  und  dem 
durch  denselben  versinnlichten  seelischen  Gehalt.« 

Wir  haben  oben  gesehen,  dass  der  Verfasser  des 
»Wesens  der  Kunst«  bei  der  Definition  zwar  den  Künstler 
zunächst  beiseite  lässt,  ihn  aber  als  den  Schöpfer  des  Kunst¬ 
werkes  dennoch  nicht  entbehren  kann,  sondern  beim  Kine¬ 
matographen  z.  B.  das  Fehlen  seiner  Thätigkeit  bemerkt 
und  sie  als  Postulat  jedes  Kunstschönen  herbeizieht. 
Weiterhin  erklärt  er  (I,  334),  wie  er  schon  in  der  Antritts¬ 
vorlesung  i8q5  gethan,  den  Kunstgenuss  in  dem  Hin-  und 


BÜCHERSCHAU 


93 


Heroscillieren  zwischen  Wahrnehmungs-  und  Vorstelliings- 
bild,  Schein  und  Wirklichkeit,  Kunst  und  Natur.  Die  be¬ 
wusste  Selbsttäuschung  sei  einer  Pendelbewegung  vergleich¬ 
bar;  das  Pendel  stehe  still,  wenn  der  Schein  die  Wirklich¬ 
keit  erreichte  und  keine  Differenz  mehr  zwischen  ihnen 
bestehe.  Das  Bestreben  des  Künstlers  solle  dies  sein,  die 
Schwingungslinie  möglichst  zu  verringern,  fast  gleich  Null 
zu  machen,  aber  ja  nicht  völlig  den  Unterschied  auszu¬ 
gleichen.  Wäre  dies  richtig,  so  würde  der  galvanoplastische 
Abguss  einer  Eidechse,  der  nur  durch  einige  Handgriffe 
des  Ciseleurs  um  ein  Minimum  seiner  Naturwahrheit  be¬ 
raubt  ist,  wertvoller,  als  eine  freihändig  modellierte.  Der 
realistischste  Künstler  wäre  dann  der  höchststehende;  also 
der  Schiller  der  Kabale  und  Liebe  stünde  über  dem  der 
Braut  von  Messina,  Courbet  wäre  mehr  als  Raffael.  Wieso 
ein  Hin-  und  Herpendeln  beim  Anhören  einer  Bach’schen 
Fuge  zwischen  einem  Wahrnehmungs-  und  einem  Vor¬ 
stellungsbild,  zwischen  einem  Kunstnachbild  und  einem 
Naturvorbild  stattfinden  solle,  ist  nicht  recht  verständlich. 
Ein  besonders  geistreiches  Kapitel  ist  das  24.  des  Werks, 
das  von  der  umgekehrten  Illusion  handelt:  es  will  uns 
zeigen,  dass  wir  beim  Anschauen  der  Naturschönheit  durch 
Erinnerung  an  Kunstwerke  und  Vergleichen  mit  ihnen 
zum  Genüsse  gelangen.  Insoweit  die  Ausführungen  des 
Verfassers  richtig  sind,  hat  sie  schon  H.  Siebeck  in  dem 
erwähnten  Werke  als  ein  »Bearbeiten«  vorausgenommen, 
S.  10,  97  ff.  Siebeck  lehrt,  dass  jedes  Kunstwerk  ein 
Analogon  personalitatis  sei,  dass  in  ihm  die  Möglichkeit 
gegeben  sei,  einen  Künstlergeist  ohne  Reflexion,  ohne 
diskursives  Denken  unmittelbar  anzuschauen;  und  dass 
beim  Naturschönen  auch  eine  ästhetische  Bearbeitung  des 
Objekts  durch  den  Betrachter  erfolge,  dessen  Phantasie 
dadurch  aus  einer  anschaulich  produzierenden  zu  einer 
künstlerisch  produzierenden  werde.  Die  Idee,  dass  jedes 
Kunstwerk  ein  anschaulicher  Ausdruck  eines  Geistigen  sei, 
hat  neuerdings  B.  Croce  ausführlich  dargelegt  (Estetica 
come  scienza  dell’  espressione  e  linguistica  generale, 
Milano,  Sandron).  Hier  wird  insbesondere  deutlich, 
dass  uns  ein  starker  Geist,  der  nur  schwache  Illusion 
herbeiführt  (z.  B.  Rembrandt  in  einer  Skizze),  wertvoller 
ist  als  ein  schwacher,  der  sich  der  Natur  weit  mehr  nähert. 
So  erklärt  sich  auch  die  Thatsache,  dass  Skizzen  oder 
Fragmente  oft  mehr  bieten,  als  die  später  danach  aus¬ 
geführten  Werke;  mit  der  Illusionstheorie  des  Verfassers 
wäre  diese  Erscheinung  nicht  vereinbar. 

Als  eine  Art  Ergänzung  zu  dem  vorstehenden  umfang¬ 
reichen  Werke  des  Kunsthistorikers  Konrad  Lange  kann 
man  das  kleine  Heft  seines  Namensvetters,  des  dänischen 
Physiologen  Carl  Lange,  bezeichnen,  der  den  Berg,  auf  dem 
der  Schatz  des  Schönen  blüht,  von  einer  ganz  anderen 
Seite  bestiegen  hat.  Der  Weg  ist  kurz  und  nichtsehr  steil: 
hundert  Seiten  umfasst  das  Ganze,  wovon  die  Hälfte  auf 
die  Physiologie  des  Genusses  und  ebensoviel  auf  die  Kunst 
entfallen.  Der  erste  Teil  ist  noch  mehr  als  der  zweite  für 
jeden  Ästhetiker  von  höchstem  Interesse:  der  erfahrene 
Mediziner  legt  zunächst  den  Zusammenhang  unserer  Ge¬ 
fühlszustände  mit  den  aktiven  Bewegungen  unserer  Blut¬ 
gefässe  dar,  lehrt,  wie  die  Affekte  durch  die  Reizungen  der 
vasomotorischen  Nerven  zu  stände  kommen,  die  teils  von 
den  Sinnesorganen,  teils  von  der  Rindensubstanz  des  Ge¬ 
hirnes  herrühren.  Alsdann  werden  die  Affekte  als  Genuss¬ 
mittel  abgehandelt  mit  einer  Einfachheit,  Klarheit  und 
gleichzeitiger  Tiefe  bei  grösster  Knappheit,  die  bewunde¬ 
rungswürdig  sind.  Nacheinander  bespricht  der  Verfasser 
die  Freude,  den  Zorn,  die  Angst,  die  Spannung,  die  Trauer, 
die  Ekstase,  die  Bewunderung  und  die  Enttäuschung. 
Man  braucht  nur  an  die  Theorien  vom  Erhabenen  und  vom 
Tragischen  zu  denken,  um  sogleich  zu  fühlen,  welch  frucht¬ 


bare  Ergebnisse  sich  auf  diesem  Gebiete  für  den  Ästhe¬ 
tiker  ergeben  müssen,  wenn  eine  kundige  Hand  den  Weg 
zeigt.  Alsdann  erläutert  Carl  Lange  die  beiden  Haupt¬ 
prinzipien  des  Kunstgenusses,  die  Abwechselung  als  Ge¬ 
nussmittel  und  die  sympathische  Gefiihlserregung.  Die 
Notwendigkeit  der  Abwechselung  ergiebt  sich  aus  der 
Nervenermüdung,  ein  Mittel,  sie  hintanzuhalten,  ist  der 
Rhythmus.  Die  Überraschung  und  die  daraus  resultierende 
Komik  sind  Steigerungsmittel,  wenn  der  rhythmische  Wechsel 
nicht  mehr  ausreicht.  Im  vierten  Kapitel  wird  die  Sym¬ 
pathie,  das  Mitleid  und  die  suggestive  Wirkung  des  Ge¬ 
fühlsausdrucks  erörtert;  hier  treffen  wir  auf  die  feinsten 
Saugwurzeln  der  Kunst.  Im  zweiten  Abschnitte,  der  die 
Kunst  zum  Gegenstände  hat,  zeigt  der  Verfasser,  welcher 
Wert  den  allgemeinen  Kunstmitteln  zukommt,  bespricht 
den  Satz  »l’art  pour  l’art«,  die  Scheu  vor  dem  Banaten, 
weist  der  Illusion  ihren  Platz  an,  wobei  er  die  Grenzlinie 
zwischen  der  völligen  Täuschung  (dem  Hingerissensein) 
und  der  unvollkommenen  Täuschung  zeichnet.  Dass  er 
hier  die  Illusion  mit  der  völligen  Täuschung  verwechselt, 
sei  ausdrücklich  bemerkt.  An  anderer  Stelle  zeigt  er,  dass 
die  Illusion  einen  gewissen  Grad  von  Bewusstlosigkeit 
und  Empfindungslosigkeit  herbeiführt;  sehr  starke  Illusion, 
Fesselung  des  Geistes  und  Bannung  auf  das  Geschaute 
erzeugt  Ekstase,  einen  schwachen  Grad  von  Hypnose 
(S.  18  ff.). 

Wenn  man  auch  nicht  allem  unbedingt  beipflichten 
kann,  was  der  geistvolle,  klardenkende  Gelehrte  äussert 
(bei  der  Betrachtung  der  Keramik  würde  eine  kleine  Dosis 
Gottfried  Semper  gut  thun)  und  wenn  auch  Wichtiges  fehlt 
(z.  B.  ein  Kapitel  über  den  Musikgenuss),  so  wird  doch 
aus  dem  Zusammenhänge  klar,  wie  tiefgründig  und  frucht¬ 
bar  diese  Skizze  sein  muss,  wenn  sie,  was  der  leider  ver¬ 
storbene  Verfasser  nicht  mehr  kann,  ausgebaut  wird.  Die 
Fundamente,  die  er  giebt,  sind  sehr  tragfähig,  obgleich 
ein  paar  nebensächliche  Irrtümer  oder  Missverständnisse 
unterlaufen.  Nach  Carl  Lange  ist  es  die  Absicht  des 
Künstlers  sympathische  Gefühlserregung  hervorzurufen  und 
durch  Abwechslung  der  Kunstmittel  dauernd  zu  erhalten. 
Das  Produkt  beider  ist  die  Bewunderung,  in  ihrer  höchsten 
Steigerung  die  Ekstase.  Ein  Kunstwerk  ist  dem  Verfasser 
jedes  Menschenwerk,  das  seinen  Ursprung  in  dem  be¬ 
wussten  Bestreben  hat,  einen  geistigen  Genuss  durch  das 
Auge  oder  durch  das  Ohr  hervorzubringen.  Am  Schlüsse 
seiner  Ausführungen  beschäftigt  sich  der  Verfasser  noch 
mit  dem  Begriff  des  Schönen  und  stellt  (mit  einen  Seiten¬ 
blick  auf  Hamlet)  den  Satz  auf:  Nichts  ist  an  sich  schön; 
erst  unsere  Auffassung  macht  es  dazu.  Ein  treffendes 
Beispiel  giebt  völlige  Klarheit  über  Carl  Lange’s  Auffassung 
von  dem  Begriff  des  Schönen.  »Definiert  man«,  sagt  er, 
»ein  Gift  allgemein  als  einen  Stoff,  welcher  lebende 
Organismen  auf  chemischem  Wege  schädigt,  so  kann  man 
nicht  zugleich  bestimmte  absolute  Eigenschaften  als  für  das 
Gift  charakteristisch  hinstellen;  nicht  minder  unlogisch  ist  es, 
das  Schöne  erst  durch  seine  Beziehung  zum  Subjekt  zu 
definieren,  und  dann  bestimmte  Qualitäten  dafür  zu 
postulieren;  das  streitet  nicht  allein  gegen  die  Vernunft, 
sondern  es  stürzt  die  Ästhetik  auch  in  die  grössten  prak¬ 
tischen  Verlegenheiten  und  führt  sie  zu  den  traurigsten 
Resultaten«.  Dass  der  Verfasser  nicht  für  Böcklin  oder 
Max  Klinger  schwärmt,  nimmt  dem  Werte  seiner  Aus¬ 
führungen  nichts;  er  hat  eben  einen  anderen  »Affekt¬ 
hunger«. 

Natürlich  berührt  sich  das  Werkchen  vielfach  mit 
Th.  Fechner,  der  ebenfalls  die  dunklen  verworrenen  Pfade 
gewandelt  ist,  auf  denen  die  Kunstsensationen  spriessen. 
Man  wird  aber  seinen  von  solidem  spekulativem  Geiste  ge¬ 
tragenen  Essay  gleichwohl  mit  grossem  Nutzen  lesen,  denn 


94 


BÜCHERSCHAU 


auf  ihr  ist  sein  eiofenes  Wort  (S.  24)  anwendbar:  Wenn 
man  etwa:  in  der  Vv'elt  zu  siande  bringen  soll,  so  muss 
man  ausser  über  das  Maierial  auch  über  das  richtige  Ver¬ 
fahren  ^erfüge-u  .  S/i. 

Georg  Waniccke,  i  irPi’  der  bildenden  Kunst  in 

'ye-.-hiddliclr  v  .////da/  Zur  Einführung  erläutert. 

.\',it  441  .\hb;k:/'nv:;n  !•;■  '’  e/ct  Und  v'ier  Farbendrucken. 
Leipzig,  E.  A  ?  c  an,  i<y>2. 

L/ieses  :'li:'-  ''ucl.  ist  etwas  in  seiner  Art  ganz 

X  -i.tis,  Ah-  .  i  :  / .3:  . m  IC  lihängenden  Kunstgeschichte, 
die  ia  de/  K  ; -70  eircs  riied;^  n  Bandes  für  die  heutigen 
Aiis'>riiche  nob. :  :aiigerv.  /  is^  so  oberflächlich  ausfallen 
muss,  dn'.s  m.'-:  ,,.1  d!,.!  solchen  neueren  Büchern,  so 
sehr  ;,i;-  auch  /  'gepi  :e-ia  werden,  nur  warnen  kann,  giebt 
der  Veifa-.sei  eine  geschickt  getroffene  Auswahl  von 
/X'c.'.eu  der  Arci  itekiar,  Plastik  und  Malerei  aller  Zeiten 
vui.  de-i  Äg;  p  eni  und  Assyrern  bis  auf  Klinger,  Stuck, 
Tlu'ina,  Lieboüiiann  und  Uhde,  die  Werke  werden  ab- 
gehiidei  aiu!  kiirz  besprochen,  die  wichtigeren  Künstler 
mit  wenig  Strichen  charakterisiert,  und  die  einzelnen 
Gruppen  von  Kunstwerken  und  Künstlern  durch  fest  und 
klar  gezogene  Grundlinien  der  Geschichte  miteinander 
verbunden.  Der  Gedanke  ist  glücklich,  und  für  die  ebenso 
glückliche  Durchführung  gebührt  dem  Verfasser  der  Dank 
aller,  denen  an  geschmackvoller  Popularisierung  der  Kunst 
gelegen  ist:  er  kennt  die  Litteratur,  versteht  zu  sehen  und 
hat  die  Gabe,  deutlich  und  ohne  Phrasen  zu  belehren. 
Sein  Buch  setzt  gar  keine  Vorkenntnisse  voraus  und  unter¬ 
richtet  doch  so  gründlich,  mühelos  und  angenehm,  wie 
keines  der  bis  jetzt  für  Anfänger  geschriebenen  Hand¬ 
bücher,  die  es  mit  seinem  gediegenen  Inhalt,  seinem  reichen 
Bilderschmuck  und  dem  spottbilligen  Preise  von  7,50  Mark 
für  den  Band  in  Leinwand  alle  aus  dem  Felde  schlägt. 
Warnecke  hat  sich  schon  durch  einen  gut  geschriebenen 
Text  zu  einem  kunstgeschichtlichen  Bilderbuche  desselben 
Verlags  bekannt  gemacht,  er  ist  ein  gebildeter,  tüchtiger 
Schulmann,  der  nicht  nur  die  Methoden  des  Unterrichts 
kennt,  sondern  auch  weiss,  dass,  was  man  andere  lehren 
will,  man  zunächst  erst  selbst  gelernt  haben  muss.  So 
trivial  das  klingt,  so  nötig  scheint  es  mir,  es  gerade  bei 
dieser  Gelegenheit  zu  sagen,  weil  ich  zufällig  in  einer 
Rezension  seines  Werkes  die  Bemerkung  finde:  den  sach¬ 
lichen  Inhalt  der  Kunstwerke  gebe  er  meist  richtig  an,  im 
Technischen  und  Ästhetischen  versage  er«.  Ich  bin  ihm 
dankbar,  dass  er  sich  das  billige  Vergnügen  versagt  hat, 
seine  Leser  mit  seichtem  ästhetischem  Geschwätz  zu  über¬ 
schütten,  weil  ich  seine  sachliche«  Art,  die  ich  allein  für 
wissenschaftlich  berechtigt  halte,  vorziehe,  und  das  »Tech¬ 
nische.  z.  B.  in  den  Architekturbeschreibungen  so  aus¬ 
reichend  berücksichtigt  finde,  wie  es  von  einem  solchen 
Buch  überhaupt  nur  erwartet  werden  kann.  Ich  habe  es 


einer  ganzen  Anzahl  kluger  Männer  zunächst  als  Geschenk 
an  junge  Mädchen  empfohlen;  sie  haben  es  dann  zum 
Teil  auch  noch  für  sich  selbst  gekauft  und  mir  nachträg¬ 
lich  gesagt,  dass  sie  nicht  gedacht  hätten,  dass  es  ein  so 
schönes  Buch  überhaupt  gebe.  Es  erscheint  nun  gerade 
zur  rechten  Zeit.  Kunst  für  die  Schule,  Kunst  für  das 
Volk,  Kunsterziehung,  noch  niemals  hat  man  davon  so 
viel  gesprochen  und  geschrieben  wie  in  diesen  letzten 
Jahren.  Wenn  es  sich  aber  dabei  häufig  wenigstens  um 
die  Förderung  bestimmter  moderner  Richtungen  in  der 
Kunst  und  um  die  Einführung  neuer  sogenannter  Methoden 
in  der  Betrachtung  von  Kunstwerken  gehandelt  hat,  so 
giebt  uns  Warnecke’s  Buch  das  bewährte  Alte,  das  heisst 
die  ganze  Kunst  der  Vergangenheit  in  ihren  besten  Bei¬ 
spielen  und,  was  die  Behandlung  betrifft,  auf  die  für  das 
allgemeine  Verständnis  einleuchtendsten  Begriffe  zurück¬ 
geführt,  die  niemals  veralten  können,  weil  sie  in  der  Sache 
liegen.  a.  p 


Florenz.  Mit  dem  Beginn  des  Jahres  hat  eine  neue 
Kunstzeitschrift  unter  dem  Titel  »Misceilanea  d’arte«  zu 
erscheinen  angefangen,  deren  Leiter  J.  B.  Supino  ist.  Das 
vorliegende  erste  Heft  bringt  zunächst  einen  Artikel  vom 
Herausgeber  über  die  Pugliese  Kapelle  im  Kloster  alle 
Campove  und  das  Gemälde  Filippino’s.  Es  handelt  sich 
um  das  Bild,  das  jetzt  der  Florentiner  Badia  zum  Haupt¬ 
schmuck  gereicht.  Supino  teilt  die  Aufzeichnungen  über 
die  Ausgaben,  die  der  Stifter  für  die  Kapelle  und  deren 
Dekoration  machte,  erstmalig  im  Wortlaut  mit.  Ein  Datum 
für  Filippino’s  Bild  ist  nicht  gegeben,  aber  es  muss  vor 
i486  entstanden  sein,  wahrscheinlich  1480—1482.  Der 
Preis  betrug  150,  nicht  250  Dukaten,  wie  Milanesi  (Va- 
sari  III,  Seite  464)  angiebt.  An  zweiter  Stelle  folgt  ein 
Aufsatz  von  Marcel  Reymond  über  das  Thor  der  Strozzi- 
Kapelle  in  Santa  Trinitä,  eines  der  seltenen  Beispiele  des 
Überganges  vom  gotischen  Stil  zu  dem  der  Renaissance. 
Er  datiert  das  Werk  gegen  1420  und  setzt  es  in  inter¬ 
essanten  Vergleich  zu  dem  um  ein  Jahrzehnt  älteren  Portal 
im  Palazzo  Vecchio,  das  aus  dem  Palast  der  Parte  Guelfa 
stammt.  Nerino  Ferri  bespricht  die  berühmte  Uffizien¬ 
zeichnung  mit  Michelangelo’s  Entwurf  zum  Juliusgrab, 
das  er  zusammen  mit  anderen  Blättern,  die  sich  auf  das¬ 
selbe  Grabmal  beziehen,  dem  Aristotile  Sangallo  zuschreibt. 
Aus  dem  Staatsarchiv  publiziert  Carnesecchi  ein  Konto  des 
Lorenzo  di  Credi  von  1531  —  1534,  sowie  eine  Notiz  über 
Marmorsachen  in  Porto  a  Signa  (1528),  G.  Poggi  eine 
Zahlung  an  Michelozzo  für  den  Guss  einer  Glocke  vom 
Jahre  1450.  Es  folgen  Bücheranzeigen  und  die  Besprechung 
einiger  Florenz  interessierender  Fragen.  Man  darf  hoffen, 
dass  die  neue  Zeitschrift  auch  in  der  Zukunft  viel  von 
den  reichen,  noch  zu  hebenden  Schätzen  in  den  Floren¬ 
tiner  Archiven  mitteilen  wird.  o.  Gr. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13. 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XIV,  ZU  SEITE  89  NACH  EINEM  AQUARELL  VON  TH.  ROCHOLL 


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DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 
AUF  DER  KUNSTHISTORISCHEN  AUSSTELLUNG  ZU 

DÜSSELDORF  1902 

VON  PAUL  CLEMEN 


Die  endlose  Reihe  phantastischer  Bauten,  die  die 
atemlose  Arbeit  dreier  Jahre  auf  dem  dem  Rheinstrom 
abgerungenen  Ausstellungsgebiet  in  Düsseldorf  hat 
emporwachsen  lassen,  ist  schon  der  Zerstörung  überantwortet. 
Unberührt  von  diesem  Vernichtungswerk  bleibt  nur,  jetzt 
in  seiner  ruhigen  Vornehmheit  und  seinem  echten  Material 
über  die  zusammenbrechenden  Nachbarn  triumphierend,  der 
neue  Kunstausstellungspalast,  der  wie  das  Grand  Palais 
und  das  Petit  Palais  in  Paris  im  Jahre  igoo  eine  auf  die 
Dauer  berechnete  Schöpfung  der  grossen  Ausstellung  und 
zugleich  eine  dauernde  Erinnerung  an  sie  darstellen  soll. 
Bleibender  noch  als  das  Gedächtnis  an  die  deutsch-nationale 
Kunstausstellung  wird  die  Erinnerung  an  die  mit  ihr  ver¬ 
bundene  kunsthistorische  Ausstellung  sein,  nicht  nur  des¬ 
halb,  weil  diese  sichtbare  Spuren  in  den  Anfängen  eines 
westdeutschen  Abgussmuseums  hinterlassen  hat.  Nicht  der 
Augenblickserfolg  während  einiger  kurzer  Sommermonate 
macht  die  Bedeutung  einer  solchen  Ausstellung  aus  — 
das  Entscheidende  ist,  inwieweit  sie  die  ganze  Auffassung 
von  dem  Gebiet,  das  hier  zur  Vorführung  gelangt  ist,  um¬ 
gestaltet  hat.  Eine  Ausstellung,  die  der  Wissenschaft 
dienen  soll,  ist  dabei  freilich  nur  allzusehr  auf  die  Äusser- 
lichkeiten  angewiesen,  sie  muss  um  das  Interesse  buhlen, 
sie  muss  starke  Anziehungsmittel  gebrauchen  —  und  es 
liegt  die  Gefahr  vor,  dass  diese  Anziehungsmittel  grob 
sind,  grob  und  unkünstlerisch.  Bei  der  Düsseldorfer  kunst- 
historischen  Ausstellung  lagen  die  Verhältnisse  günstiger: 
die  rein  äusserlich  das  Publikum  anlockenden  Ausstellungs¬ 
objekte  waren  zugleich  auch  wissenschaftlich  die  bedeu¬ 
tendsten.  Nur  auf  trockene  synchronistische  Zusammen¬ 
stellung  war  verzichtet,  gern  verzichtet  zu  Gunsten  einer 
grossen  dekorativen  Wirkung, 

Die  Ausstellung  sollte  sich  ihren  westdeutschen  Vor¬ 
gängerinnen  anschliessen,  den  Ausstellungen  von  Bonn 
1868,  Köln  1876,  Münster  1879,  Düsseldorf  1880  und 
sie  sollte  die  Erfahrungen  der  letzten  grossen  retro¬ 
spektiven  Ausstellungen  von  München,  Brüssel,  Budapest, 
Turin  und  vor  allem  von  Paris  verwerten.  Sie  wollte 
aber  auf  der  anderen  Seite  auch  mehr  sein  als  jene,  die 
Abb.  1.  Köln,  St.  Andreas.  zumeist  die  kunstgewerblichen  Altertümer  in  den  Vorder- 

Statiie  des  hl.  Michael  grund  gestellt  hatten.  Die  Einzelwerke  der  Stein-  und  Holz¬ 

skulptur,  der  Metall-  und  der  Emailtechnik,  der  Keramik  und 
der  Paramentik  würden  doch  nur  ein  unfertiges  und  halbes  Bild  von  der  Leistungshöhe  der  mittelalterlichen 
westdeutschen  Kunst  gegeben  haben,  wenn  die  Schöpfungen  der  Monumentalkunst  ganz  fehlten. 
Grosse  Aufnahmen  der  wichtigsten  architektonischen  Denkmäler  der  Rheinprovinz  und  Westfalens,  farbige 
Aufnahmen  der  mittelalterlichen  Wandmalereien  der  Rheinlande  sollten  das  Bild  vollständig  und  ge¬ 
schlossen  machen,  vor  allem  aber  ausgewählte  Abgüsse  der  bedeutendsten  Werke  der  monumentalen  Plastik. 
Für  die  deutsche  Kunstgeschichte  und  die  deutsche  Denkmalpflege  wäre  eine  solche  Abgusssammlung,  wie 
sie  in  England  bereits  seit  1851  vorbereitet  ward,  wie  sie  in  Frankreich  seit  1877,  seit  der  Begründung 
des  Trocaderomuseums  planmässig  geschaffen  ist,  längst  ein  dringliches  Bedürfnis  gewesen  ---  erst  in 
den  letzten  Jahren  ist  in  Preussen  wie  in  Bayern  der  langgehegte  Plan,  ein  solches  Museum  der  Nach- 

Zeitscbrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  5. 


13 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


:i;e  heimische  Kunst  zu  schaffen,  aufs 
,.;.:e  eiüiceF  .  ord.-H.  Bereits  im  Frühsommer  1899 
:  ;  -ser  Plan  in  einer  von  mir  ausgearbeiteten 

:  _  ri  iirift  ei;;:^'.T-end  dargelegt  worden.  Die  Staats- 
:;e  Frovinzialvervvaltungen  von  Rheinland 
;-,iFLr  stellten  erhebliche  Beiträge  für  die 
.•V  ■;  ;:l’  g  in  Aussicht,  so  dass  das  ganze  Unter- 
.  .;,i.  iert  schien.  Im  Winter  1899  konnte 

'vr  M  issvl.uss  gebildet,  die  Arbeit  begonnen  werden. 

io  Schöpfungen  aller  Techniken  bis  zum  17.  Jahr¬ 
hundert  wurden  berücksichtigt,  nur  Tafelgemälde  und 
Buchmalereien  bleiben  der  geplanten  kunsthistorischen 
Ausstellung  des  Jahres  1904  Vorbehalten.  Ein  kleiner 
Stab  von  Kunstgelehrten,  Museumsdirektoren  und 
Künstlern  hat  in  einmütigem  Zusammenwirken  das 
Werk  vollendet  —  die  Eröffnung  am  1.  Mai  1902 
sah  eine  fertige  Ausstellung  und  fand  sogar  den 
illustrierten  Katalog  fertig  gedruckt  vor. 

Der  folgende  kurze  Bericht  will  keine  Revue  der 
ganzen  Ausstellung  geben,  den  öffentlichen  Besitz 
wie  die  Schätze  der  Privatsammlungen  gleichermassen 
würdigen,  er  will  nur  den  Versuch  machen,  auf 
dem  eigentlichsten  Ausstellungsgebiete,  dem  der  Ge¬ 
schichte  der  rheinischen  und  der  westfälischen  Kunst, 
die  neuen  Ergebnisse  zu  verwerten,  in  unsere  bis¬ 
herigen  Kenntnisse,  Auffassungen  zu  verweben'). 

Das  erste  Hauptgebiet,  auf  dem  die  kunst¬ 
historische  Ausstellung  neues  Anschauungsmaterial 
für  alle  Perioden  beigebracht  hat  und  für  das  sie 
eine  ganz  neue  Gruppierung  der  Vorlagen,  die 
Aufstellung  ganz  neuer  Gesichtspunkte  ermöglichte, 
ist  das  der  Grossplastik.  Eine  rheinische  Plastik  im 
Mittelalter  schien  bisher  kaum  zu  bestehen;  was  bis¬ 
lang  bekannt,  wurde  mit  einigem  Recht  als  die  Kunst 
einer  Seitenprovinz  behandelt.  Es  war  im  Grunde 
etwas  unwahrscheinlich,  dass  die  Grossplastik  in  den 
Rheinlanden  so  ganz  erstorben  sein  sollte  —  während 
der  Zeit  der  römischen  Herrschaft  hatte  hier  durch 
vier  Jahrhunderte  neben  der  glänzenden  griechischen 
Importkunst,  die  uns  in  den  Grabdenkmälern  von 


1)  Eine  kurze  Beschreibung  aller  Objekte  bietet  der 
illustrierte  Katalog,  der  in  zweiter  Auflage  im  August  d.  J. 
erschienen  ist  —  im  wesentlichen  eine  Arbeit  des  Schrift¬ 
führers  der  Ausstellung,  Dr.  Renard.  Die  das  Programm 
enthaltende  ausführliche  Denkschrift  ist  besonders  er¬ 
schienen  und  im  5.  Jahresbericht  d.  Provinzialkommission 
f.  d.  Denkmalpflege  in  d.  Rheinprovinz  igoo  abgedruckt. 
Von  Berichten  vor  allem  zu  nennen  E.  Renard,  Die  kunst¬ 
historische  Ausstellung  Düsseldorf  IQ02:  Die  Rheinlande  H, 
Heft  n  (Sonderheft).  —  G.  Migeon,  L’exposition  retro- 
spective  d’art  religieux  ä  Düsseldorf;  Gazette  des  Beaux- 
Arts  1Q02,  p.  208.  —  St.  Beissel  i.  d.  Stimmen  aus  Maria- 
Laach  1902,  S.  324.  —  H.  Graeven  i.  d.  Beilage  zur  Münchner 
Allgemeinen  Zeitung  1902,  Nr.  153.  —  Berichte  von  H. 
Frauberger  i.  d.  Düsseldorfer  Ausstellungswoche.  —  Auf 
Kosten  der  rheinischen  Provinzialverwaltung  sind  von  den 
wichtigsten  Objekten  photographische  Aufnahmen  gemacht 
worden  —  die  Platten  sind  im  Denkmälerarchiv  der  Rhein¬ 
provinz  in  Bonn  deponiert.  Eine  grosse  Tafelpublikation, 
die  zumal  das  Gebiet  der  Goldschmiedekunst  behandeln 
wird,  von  Otto  von  Falke  im  Verlag  von  H.  Frauberger 
ist  in  Vorbereitung. 


Igel  und  Neumagen  ihre  köstlichsten  Schöpfungen 
hinterlassen  hatte,  eine  heimische  Steinmetzenschule 
von  einer  erstaunlichen  Fruchtbarkeit  gearbeitet,  deren 
Werke  eine  ziemlich  klare  Sprache  sprechen.  Die 
Tradition  dieser  Schule  ist  nie  ganz  erloschen  —  es 
ist  eine  lockende  Aufgabe,  gerade  hier  die  direkte 
Ableitung  einer  ganzen  Reihe  von  frühromanischen 
Werken  aus  den  römischen  Grabsteinen  nachzuweisen 
—  der  Stil  zweier  der  frühesten  Halbfiguren  des 
segnenden  Heilands  im  Trierer  Dommuseum  entspricht 
ganz  der  Zeichnung  und  Einfassung  der  späten  Grab¬ 
steine  mit  den  Halbfiguren  der  Verstorbenen,  deut¬ 
licher  noch  sind  einige  der  merkwürdigen  Skulpturen 
von  Oberpleis  im  Siebengebirge  (jetzt  im  Provinzial¬ 
museum  zu  Bonn)  von  Grabsteinen  abgeleitet.  Die 
römischen  Denkmäler  der  rheinischen  Museen  zeigen 
dieselbe  Büste  im  selben  Kostüm,  in  derselben  auf¬ 
fälligen  Umrahmung.  Und  endlich  war  uns  doch 
auch  schon  eine  stattliche  Schule  romanischer  Elfen¬ 
beinschnitzer  vom  Rhein  bekannt  —  die  noch  wesentlich 
zu  erweitern  sein  würde  —  unter  ihnen  jener  seltsame 
derbbäurische,  gewaltthätige  Naturalist  vom  Ende  des 
10.  Jahrhunderts,  ein  ausgesprochener,  höchst  eigen¬ 
sinniger  Künstler,  von  dessen  Hand  unsere  Ausstellung 
den  Deckel  vom  Echternacher  Kodex  in  Gotha  und 
das  Diptychon  der  Sammlung  Figdor  in  Wien  ver¬ 
einigte').  Das  alles  und  dazu  die  unbestrittene  Vorrang¬ 
stellung  von  Köln  in  der  romanischen  Kunst  hätte 
auch  auf  die  Vermutung  führen  können,  dass  hier 
die  plastische  Thätigkeit  doch  nicht  ganz  aussetzt. 
Freilich  liegt  hier  nicht  der  Schwerpunkt  der  plasti¬ 
schen  Entwickelung  des  Mittelalters:  der  verschiebt 
sich  langsam  nach  Osten  und  im  Osten  von  Norden 
nach  dem  Süden  —  von  Niedersachsen  nach  Ober¬ 
sachsen,  von  Obersachsen  nach  Franken.  Aber  dafür 
haben  die  Rheinlande  und  Westfalen  aus  der  roma¬ 
nischen  Periode  eine  grosse  Reihe  von  vor  allem  auch 
ikonographisch  höchst  merkwürdigen  Monumenten 
bewahrt;  das  13.  Jahrhundert  hat  hier  ein  paar  der 
vollendetsten  und  schönsten  Portale  geschaffen,  das 
14.  Jahrhundert  Grabdenkmäler  von  einer  fast  klas¬ 
sischen  Hochgotik,  und  vom  Ende  des  14.  Jahrhunderts 
ab  ist  die  Entwickelung,  zumal  in  Köln  und  am  Nieder¬ 
rhein,  eine  erstaunlich  rasche  und  eine  beispiellos 
fruchtbare.  Nur  fehlen  hier  noch  völlig  eingehende 
und  zusammenfassende  Untersuchungen,  wie  wir  sie 
für  die  benachbarten  westlichen  Bildhauerschulen,  für 
die  Lütticher,  Brabanter  und  flandrische  Plastik  von 
Helbig,  Destree,  Dehaisnes  und  Rousseau  besitzen  -). 


1)  Vergl.  die  feine  Charakteristik  von  W.  Vöge,  Ein 
deutscher  Schnitzer  des  10.  Jh. :  Jahrbuch  d.  kgl.  preussischen 
Kunstsammlungen  1899,  Heft  II.  Über  den  Echternacher 
Deckel  Vöge,  Eine  deutsche  Malerschule  um  die  Wende 
d.  1.  Jahrtausends  S.  381.  Über  das  Elfenbein  speziell 
schon  V.  Quast  in  d.  Zs.  f.  christliche  Kunst  u.  Archäologie 
II,  S.  252.  Über  das  bekannte  Diptychon  der  Sammlung 
Figdor  vergl.  Fr.  Schneider  i.  d.  Zeitschrift  f.  christliche 
Kunst  I,  S.  15. 

2)  Jul.  Helbig,  La  sculpture  et  les  arts  plastiques  au 
pays  de  Liege,  Brügge  1890,  —  J.  Destree,  Etüde  sur  la 
sculpture  brabanzonne  au  moyen  äge:  Annales  de  la  sociele 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


97 


Abgüsse  und  Originale  hatten  sich  in  Düsseldorf 
vereint,  um  das  geschlossene  Bild  einer  ununter¬ 
brochenen  Folge  von  plastischen  Werken  aus  West¬ 
deutschland  vorzuführen. 

Das  früheste  Hauptwerk  nächst  dem  der  Edel¬ 
metallkunst  angehörigen  aus  dem  Ende  des  lo.  Jahr¬ 
hunderts  stammenden  Antependium  des  Aachener 
Domschatzes  war  die  Holzthür  von  St.  Maria  im 
Kapitol  zu  Köln,  die  noch  in  das  ii.  Jahrhundert 
gehört  und  schwerlich  um  sehr  viel  nach  der  Voll¬ 
endung  der  Kirche  in  der  Mitte  des  ii.  Jahrhunderts 
anzusetzen  sein  dürfte')  —  in  der  Einrahmung  der 
beiden  Flügel,  der  Betonung  des  Feldersystems  durch 
die  flachen  Bänder  und  die  ornamentierten  Nagelknäufe, 
dem  kräftigen  Relief  mustergültig  für  die  Behandlung 
solcher  Thürflügel,  in  der  Durchbildung  der  steifen 
Figuren  mit  den  grossen  schweren  Köpfen  durchaus 
primitiv  und  unbeholfen.  Die  flachen,  mit  Flechtwerk 
überzogenen  Bänder  wie  die  Knäufe  zeigen  übrigens 
eine  Dekoration,  die  viel  eher  für  Bronzetechnik  als 
für  Holztechnik  bestimmt  zu  sein  scheint.  Freilich  ist 
unter  den  bekannten  Bronzethüren  keine  zu  nennen, 
die  unmittelbare  Verwandtschaft  aufweist;  nur  die  Thür 

d’archeologie  de  Bruxelles  VIII,  p.  i;  IX,  p.  363;  XIII, 
p.  273  —  Dehaisnes,  Histoire  de  hart  dans  la  Flandre, 
1’ Artois  et  le  Hainaut,  Lille  1886.  —  Rousseau,  La  sculpture 
flamande  du  onzieme  au  dix-neuvieme  siede:  Bull,  des 
comm.  royales  d’art  et  d’archeologie  de  Belgique  XV, 
1875,  p.  192. 

1)  Die  Thür  war  zuerst  publiziert  bei  Boisseree,  Denk¬ 
mäler  der  Baukunst  am  Niederrhein  Tat.  g  und  Gailhabaud, 
Denkmäler  der  Baukunst  II,  Lief.  8g.  Dann  bei  aus’m 
Weerth,  Kunstdenkmäler  d.  christl.  Mittelalters  i.  d.  Rhein¬ 
landen  II,  S.  142,  Taf.  40.  Abb.  nach  Phot.  i.  d.  Düsseldorfer 
Ausstellungswoche  igo2  S.  198. 

Das  Datum  der  Einweihung  der  Kirche  im  Frühjahr 
1049  durch  Papst  Leo  IX.  beruht  auf  einer  Nachricht  bei 
Aeg.  Qelenius,  De  admiranda  Coloniae  magnitudine  p.  327, 
682,  die  aber  sehr  zweifelhaft  ist.  ln  den  echten  Quellen 
(vergl.  Chronica  regia  ed.  Waitz  p.  36  ^  Jaffe,  Regesta 
pontiticum  I,  p.  531.  —  Watterich,  Vitae  pontificum  1, 
p.  93)  wird  von  einer  Weihe  der  Kirche  (der  Papst  war 
erst  Ende  Juni  in  Köln)  nichts  berichtet.  Vergl.  über  die 
Gründung  Düntzer  i.  d.  Jahrbüchern  d.  Ver.  v.  Altertums¬ 
freunden  i.  Rheinlande  Llll,  S.  221.  Der  Ansicht  von 
Fr.  Jac.  Schmitt  (Repertorium  für  Kunstwissenschaft  XXIV, 
S.  415),  der  den  Ostbau  im  wesentlichen  erst  in  die  2.  H. 
d.  12.  Jh.  setzt,  kann  ich  mich  nicht  anschliessen  —  alle 
Details  sprechen  dagegen.  Eine  eingehende  Monographie 
von  H.  Board  über  die  Kirche  befindet  sich  in  Vor¬ 
bereitung. 

Neuerdings  hat  Ditges  in  der  Zs.  f.  christliche  Kunst  XV, 
S.  241  die  Vermutung  ausgesprochen,  die  eingehende  Dar¬ 
stellung  der  Anbetung  der  h.  drei  Könige  und  des  bethlehemi- 
tischen  Kindermordes  sei  mit  der  Überführung  der  Reliquien 
der  h.  drei  Könige  nach  Köln  durch  Reinald  von  Dassel 
im  J.  1164  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Der  Schluss 
ist  nicht  zwingend  -  die  Geschichte  der  h.  drei  Könige 
ist  auch  vorher  schon  eingehend  dargestellt  worden,  so  in 
den  von  Weizsäcker  neu  publizierten  Frankfurter  Elfenbein¬ 
reliefs,  die  dem  Deckel  des  Drogosakramentars  verwandt 
sind.  Vor  allem  aber  haben  wir  ja  aus  dem  12.  Jh.  eine 
ganze  Reihe  sicherer  kölnischer  Arbeiten,  die  einen  durchaus 
anderen  fortgeschritteneren  Stil  zeigen. 


von  St.  Zeno  in  Verona  zeigt  im  Figürlichen  entfernte 
Ähnlichkeit 

Die  früheste  Entwickelung  des  romanischen  plasti¬ 
schen  Stiles  in  Westfalen  führt  der  bekannte  Tauf¬ 
stein  in  Freckenhorst  vor,  der  den  Vorzug  geniesst, 
ungefähr  datiert  zu  sein  —  auf  das  Jahr  112g  — 
ein  mächtiger  Steincylinder,  dessen  Sockel  ein  ge¬ 
waltiger  Löwenfries  schmückt,  darüber  unter  sechs 
Arkadenbögen  die  Darstellungen  der  Verkündigung, 
der  Geburt,  der  Taufe  Christi,  der  Kreuzigung,  der 
Höllenfahrt,  der  Himmelfahrt,  endlich  des  Jüngsten 
Gerichtes  -  die  einzelnen  Scenen  trotz  der  verall¬ 
gemeinerten  Behandlung  doch  scharf  herausmodelliert’). 
Die  eigentlichen  Rheinlande  schienen  aus  dem  12.  Jahr¬ 
hundert  fast  nichts  von  monumentaler  Plastik  mehr 
zu  besitzen.  Die  dürftigen  Reste  in  den  Museen  zu 
Trier  und  Köln,  die  kleinen  Reliefs  in  der  Abteikirche 
zu  Werden  erweckten  eher  den  Eindruck  einer  ver- 
grösserten  und  vergröberten  Kleinplastik  und  das  be¬ 
kannte  Portal  am  Pfarrhof  zu  Remagen  mit  seiner 
phantastischen  Blütenlese  von  symbolischen  Dar¬ 
stellungen  liess  auf  einen  ganz  schwerfälligen,  derben, 
unbeholfenenen  Stil  schliessen -). 

Es  ist  jetzt  möglich,  hier  eine  ausgedehnte  Schule 
im  12.  Jahrhundert  nachzuweisen.  Der  Grabstein 
der  Plectrudis  in  der  Krypta  von  St.  Maria  im  Kapitol 
gehört  hierher,  das  Tympanon  von  St.  Cäcilia  in  Köln, 
der  Marienaltar  aus  der  Abteikirche  zu  Brauweiler,  der 
Altar  mit  der  Darstellung  der  heiligen  drei  Könige  aus 
der  Pfarrkirche  zu  Oberpleis,  vor  allem  aber  gehören  zu 
der  Gruppe  die  merkwürdigen  Chorschranken  aus  der 
Pfarrkirche  zu  Gustorf  bei  Neuss,  bislang  dort  in  der 
neuen  Kirche  in  der  Turmhalle  eingemauert'’).  In 
ihrer  merkwürdigen  alten  Bemalung  sind  sie  durch 
die  Düsseldorfer  Ausstellung  zum  erstenmal  weiteren 
Kreisen  bekannt  geworden.  Es  sind  zwei  lange  und 
zwei  kürzere  Platten,  mit  den  Darstellungen  des 
segnenden  Christus  und  dreier  Apostel,  der  Verkün¬ 
digung  der  Hirten,  der  Anbetung  der  Könige,  endlich 
der  drei  Frauen  am  Grabe.  Die  Scenen  zeigen  scharfe 
Silhouettenwirkung.  Die  Figuren  bringen  einen  ganz 


1)  Zuerst  abgebildet  bei  Dorow,  Denkmäler  alter 
Sprache  und  Kunst  I,  1828,  S.  XII,  Taf.  1.  Dann  Organ 
f.  christliche  Kunst  XX,  S.  249.  —  Nordhoff,  Kunst-  und 
Geschichtsdenkmäler  des  Kreises  Warendorf  S.  109.  — 
W.  Effmann  eingehend  in  der  Zs.  f.  christliche  Kunst  II, 
S.  110.  Das  Datum  ist  durch  die  Inschrift  auf  dem  mittleren 
Rand  gegeben,  die  die  Weihe  der  Kirche  im  J.  112g  aus¬ 
drücklich  nennt. 

2)  Die  Skulpturen  des  Portals  haben  neuerdings  (nach 
Braun’s  unzulänglichen  Erläuterungen  v.  J.  1859)  ihre  Er¬ 
klärung  durch  St.  Beissel  gefunden  (Zs.  f.  christliche  Kunst 
IX,  S.  153).  Das  Portal  befindet  sich  übrigens  seit  einigen 
Monaten  nicht  mehr  an  der  alten  Stelle;  es  musste  dem 
Erweiterungsbau  der  katholischen  Pfarrkirche  weichen  — 
ich  habe  es  an  der  Innenseite  der  alten  Kirchhofsbefestigung 
einmauern  und  dabei  die  ursprüngliche  Form  des  Doppel¬ 
portals  wiederherstellen  lassen. 

3)  Die  Skulpturen  von  Gustorf  sind  sämtlich  veröffent¬ 
licht  bei  Clemen,  Die  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz, 
Kreis  Grevenbroich  S.  35  u.  Taf.  3  u.  4.  Der  Marienaltar 
von  Brauweiler  ebenda  im  Landkreis  Köln  S.  45  u.  Taf.  4. 


13 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


,  ;eLir  auffällig  durch  die  Gewandung 
LLicdmassen,  ziemlich  manierierten 
l  i'Chei  Parallelstrichelung.  Die  Skulp- 


hier  gehören  ihm  gleich  am  Eingang  die  Skulpturen 
von  Andernach  an:  das  Tympanon  vom  Südportal 
der  Liebfrauenkirche  mit  der  fein  abgewogenen, 


Abb.  2.  Soest,  St.  Maria  zur  Höhe.  Krenzestafel 


turen  gehören  doch  wohl  erst  in  die  zweite  Hälfte 
des  Jahrhunderts:  der  Vergleich  mit  den  Zeichnungen 
der  Herrad  von  Landsberg  oder  des  Konrad  von 
Hirsau  liegt  am  nächsten.  Und  dieser  Stil  setzt  sich 
weiter  ganz  folgerichtig  in  das  13.  Jahrhundert  fort: 


das  ganze  Feld  gleichmässig  füllenden  Komposition 
des  Lammes  Gottes  im  Medaillon  von  zwei  Engeln 
gehalten  das  ganze  Portal  war  im  Abguss  in 
Düsseldorf  aufgebaut  —  und  die  ikonographisch 
höchst  merkwürdigen  Reste  einer  Darstellung  des 


DIE  [RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


99 


jüngsten  Gerichts,  von  der  sich  zwei  Bruchstücke  im 
Provinzialmuseum  zu  Bonn  befinden,  während  eines 
noch  in  der  Kirche  zu  Andernach  zurückgeblieben  ist. 

Ganz  anders  scheint  sich  im  Trierischen  diese 
hochromanische  Plastik  entwickelt  zu  haben.  Das 
Portal,  das  aus  dem  südlichen  Seitenschiff  des  Pop- 
ponischen  Domes  nach  der  älteren  Liebfrauenkirche 
führte,  zeigt  schon  in  der  Ornamentik  ziemliche  Ab¬ 
weichungen  von  dem  Stil  des  Rheinthaies:  noch  ganz 
antikisierende  Kapitälbildungen,  dazu  einen  gestreckten 
plastischen  Mäander,  wie  er  sonst  nur  an  französischen 


das  sich  seitdem  in  den  unteren  Räumen  des  Trierer 
Provinzialmuseums  befindet '). 

Eine  der  merkwürdigsten  Holzskulpturen,  noch 
vor  dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts  geschaffen, 
hatte  die  Ausstellung  aus  Westfalen  herbeigeschafft, 
das  riesige  Scheibenkreuz  aus  der  Kirche  St.  Maria 
zur  Hölle  in  Soest-).  Es  ist  ein  Werk  von  ganz 


1)  Das  Thor  gehört  wohl  erst  zu  der  Befestigungs¬ 
anlage  des  Erzbischofs  Johann  I.  (1190  —  1212).  Vergl. 
J.  Marx,  Die  Ringmauern  und  die  Thore  der  Stadt  Trier, 


Abb.  3.  Das  Paradies  des  Domes  in  Münster 


Bauten  vorkommt,  im  Tympanon  noch  gar  keine 
Halbrundkomposition:  die  Gestalt  des  segnenden 
Salvators  ganz  losgelöst  von  der  der  Madonna  und 
des  Apostelfürsten  Petrus,  die  Figuren  selbst  fast 
ängstlich  die  Blockform  bewahrend,  aber  alle  von 
einer  hohen  ernsthaften  Feierlichkeit  erfüllt.  Was 
diesem  Portal  seine  Sonderstellung  giebt,  sind  auch 
wieder  die  Reste  einer  vollständigen  Bemalung,  — 
die  an  dem  Abguss  in  Düsseldorf  ergänzt  war  -- 
die  matten  Farben  stehen  leicht  und  unaufdringlich 
gegen  den  grauen  Steinton.  Vergröbert  findet  sich 
dann  dieser  Stil  in  dem  kolossalen  Tympanonrelief 
des  leider  1816  abgebrochenen  Neuthors  in  Trier, 


Trier  1876,  S.  22,  31.  Anderer  Ansicht  ist  Ladner  im 
Jahresbericht  d.  Gesellschaft  f.  nützliche  Forschungen  1852, 
S.  13  u.  i.  Pick’s  Monatsschrift  f.  d.  Geschichte  West¬ 
deutschlands  IV,  S.  479.  Vergl.  eingehend  Kraus,  Die 
christlichen  Inschriften  der  Rheinlande  II,  S.  199,  Nr.  426. 
Abb.  bei  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler  III,  S.  101,  Taf. 
62,  3,  besser  in  Hettner’s  Führer  durch  das  Trierer 
Provinzialmuseum.  —  Über  den  untergegangenen  ehernen 
Brunnen  des  Folcardus  in  St.  Maximin  zu  Trier  vergl. 
F.  X.  Kraus  i.  d.  Jahrbüchern  d.  Vereins  v.  Altertums¬ 
freunden  i.  Rheinlande  XLIX,  S.  100  mit  Abb. 

2)  Die  um  den  Kreis  herumlaufende  Inschrift  lautet: 
Inspice,  quid  patior,  ut  quo  te  duco,  sequaris. 
Dum  sic  afficior,  ut  morte  mea  rcdimaris. 


100 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


Abb.  4.  Trier,  Liebfraaenkirche.  Haiiptijortal 


bedeutenden  Dimensionen,  4  m  hoch  und  2,80  m 
breit.  Der  Krnzifixus  selbst  fehlt  leider  —  man 
möchte  sich  eine  solche  ernste  und  feierliche  Gestalt 
davor  vorstellen,  wie  den  noch  ans  dem  alten  Dom 
stammenden  Christus,  der  jetzt  im  Chor  des  Kölner 
Domes  anfgehängt  ist.  Acht  Darstellungen  aus  der 
Passion  in  runden  und  viereckigen  Rahmen  umgeben 
die  Scheibe,  die  auf  einem  Leinwandüberzug  und 
Kreidegrund  in  Temperafarben  eine  grosszügige 
ornamentale  Dekoration  in  Rot  und  Grün  zeigt;  auf 
beiden  Enden  des  Querbalkens  Weihrauchfässer 
schwingende  Engel.  Ich  kenne  kein  Werk  des  I2.jahr- 


Im  J.  1471  ward  das  Werk  durch  den  Meister  Theodorich 
von  Dortmund  restauriert,  nach  einer  auf  der  Wand  hinter 
dem  früheren  Standort  der  Tafel  befindlichen  Inschrift: 
Anno  Domini  MCCCCLXX  primo  octava  assumptionis 
beatae  Mariae  virginis  gloriosae  haec  tabula  cum  crucifixo 
et  aliis  reformata  sunt . .  .  Magister  Theodorus  de  Tremonia 
pictor  huius.  Die  merkwürdigen  unteren  gotischen  Flügel 
mit  ihren  phantastischen  Darstellungen  sind  leider  sehr 
beschädigt.  Abb.  bei  Aldenkirchen,  Die  mittelalterliche  Kunst 
in  Soest  S.  19,  Taf.  3.  Vergl.  C.  Josephson,  Die  wiederher¬ 
gestellten  Malereien  und  die  sonstigen  Darstellungen  in  der 
Kirche  Mariae  zur  Höhe,  Soest  i8go,  S.  17.  Daselbst  auch  die 
Erklärung  des  Tympanons  der  Kirche,  dessen  ganze  Kom¬ 
position  viel  eher  einem  Antependium  oder  einem  Retable 
zu  entsprechen  scheint.  (Abb.  im  Katalog  zu  Nr.  50  u.  i. 
d.  Düsseldorfer  Ausstellungswoche  S.  200.) 


hunders  in  Deutschland  oder  Frankreich,  dass  diesem 
in  der  Grösse  der  ganzen  Anlage  verwandt  wäre. 

Unter  den  plastischen  Schöpfungen  des  1 3.  Jahrhun¬ 
derts  stehen  die  beiden  grossen  Portale  der  Liebfrauen¬ 
kirche  zu  Trier  und  das  Paradies  am  Dom  zu  Münster 
in  der  vordersten  Reihe.  Der  grosse  Eckrisalitsaal 
der  Düsseldorfer  Ausstellung  hatte  durch  den  Einbau 
der  beiden  Trierer  Portale  seine  eigentliche  Gliederung 
erhalten.  Dem  Eingang  gegenüber  erhob  sich  der 
mächtige  Aufbau  des  Westportales  der  Liebfrauen¬ 
kirche  mit  den  die  seitlichen  Strebepfeiler  bekrönenden 
Figurenpaaren,  die  Hasak  die  vollendetsten  Beispiele 
für  Standbilder  von  Heiligen  an  Kirchenbauten  ge¬ 
nannt  hat.  Die  kunstgeschichtliche  Stellung  der 
Liebfrauenkirche  wird  nach  den  neuesten  Unter¬ 
suchungen  und  bei  dem  Vergleich  mit  den  übrigen 
frühgotischen  Werken  in  Trier  doch  etwas  anders 
anzusetzen  sein,  als  man  gewöhnlich  anzunehmen 
pflegt.  Die  herkömmliche  Datierung  des  Bauwerks 
lautet  auf  die  Jahre  1227 — 1243.  Aber  diese  Zahlen 
beruhen  nur  auf  einer  spätgotischen  Inschrift.  Es 
wird  uns  dagegen  in  einer  Urkunde  vom  Jahre  1243 
berichtet,  die  alte  Marienkirche  sei  vor  übergrossem 
Alter  kürzlich  zusammengestürzt  und  man  habe  be¬ 
gonnen,  sie  neu  aufzuführen  ^),  die  Vollendung  ist 
dann  wohl  erst  in  den  fünfziger  Jahren  anzusetzen  “). 
Das  stimmt  auch  mit  der  Durchbildung  der  Details 
ganz  überein:  jedenfalls  sind  die  Anlagen  der  Kloster¬ 
gebäude  von  St.  Matthias  bei  Trier  mit  den  prächtigen 
Gewölbebauten  des  Refektoriums  und  des  Dormi- 
toriums,  die  an  Raumwirkung  denen  von  Eberbach 
gleichkommen,  früher  und  somit  zeitlich  die  ersten 
gotischen  Bauten  in  den  Rheinlanden®),  ln  Bezug  auf 
den  plastischen  Schmuck  bleibt  der  Liebfrauenkirche 
aber  ihre  Vorrangstellung  erhalten.  Ganz  köstlich  ist  die 
Tympanongruppe  des  Hauptportals.  Eigentlich  sind  es 
vier  Gruppen,  und  sichtlich  gar  nicht  auf  diesen  halbrun¬ 
den  Rahmen  berechnet,  einer  Frieskomposition  entnom¬ 
men:  der  Anbetung  der  Könige  und  der  Darstellung  im 
Tempel  treten  in  winzigen  Figürchen  die  Verkündigung 
an  die  Flirten  und  der  Betlehemitische  Kindermord  zur 
Seite.  Es  ist  die  reinste  Kunst  der  Ile  de  France,  fast 
pariserisch  treten  uns  diese  schlanken  feingegliederten 
Figürchen  entgegen.  Eine  ganz  andere  Hand  be¬ 
herrscht  das  an  der  Nordseite  unter  einer  Vorhalle 
gelegene  kleinere  Portal,  das,  von  Anfang  an  auf 

1)  Urkunde  des  Erzbischofs  Konrad  von  Hochstaden 
V.  J.  1243  bei  Ehester  u.  Goerz,  Urkundenbuch  der  mittel¬ 
rheinischen  Territorien  III,  Nr.  580. 

2)  Die  letzte  Kritik  des  Bauwerkes  und  seiner  Ge¬ 
schichte  bei  St.  Beissel,  die  Kirche  U.  1.  Frauen  in  Trier: 
Zs.  f.  christliche  Kunst  XII,  S.  231. 

3)  Die  Klostergebäude  befinden  sich  im  Besitz  des 
Herrn  Dr.  von  Nell  Genaue  Aufnahmen  von  Biebendt 
im  Denkmälerarchive  der  Rheinprovinz.  Die  Gebäude  sind 
unter  dem  Abt  Jakob  von  Lothringen  (1210^1257)  auf¬ 
geführt,  aber  offenbar  in  den  ersten  Jahrzehnten  seiner 
Herrschaft.  Vergl.  Fr.  Kutzbach,  Die  Marienkapelle  auf 
dem  Kirchhof  von  St.  Matthias:  Trierisches  Archiv  Heft  5 
und  Willi.  Schmitz,  Die  Klostergebäude  der  Benediktiner¬ 
abtei  von  St.  Matthias  bei  Trier:  Zs.  f.  christl.  Kunst  Xlll, 
S.  353 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


101 


solche  Innenwirkung  berechnet,  die  ganze  Architektur 
verzierlicht  zeigt;  eine  reizvolle  Sammlung  von  stark 
unterschnittenen  Laubwerkstreifen  ist  um  das  Mittelfeld 
mit  der  etwas  ungeschickt  in  den  Rahmen  eingepassten 
Darstellung  der  Krönung  der  Madonna  gelegt.  Aber 
es  gilt  von  diesen  plastischen  Meisterstücken,  was 
Schnaase  einst  von  der  umrahmenden  Architektur 
sagte:  sie  verraten  an  keiner  Stelle  die  Mattigkeit  des 
Nachahmers,  jedes  kleinste  Detail  atmet  eine  Wärme 
der  Empfindung,  welche  dem  ganzen  Werke  einen 
Charakter  der  Jugendfrische  und  anspruchsloser 
Schönheit  verleiht '). 

Mit  dem  Abguss  des  ganzen  Paradieses  vom 
Dom  zu  Münster,  das,  quer  durch  den  ganzen  Aus¬ 
stellungspalast  durchgebaut,  die  alte  gegen  die  neue 
Kunst  abschloss,  war  das  umfangreichste  Werk  der 
ganzen  westdeutschen  Monumentalplastik  hier  zur 
vollen  Wirkung  gebracht.  Ein  Werk,  das  noch  voll 
von  ungelösten  Fragen  ist,  wie  die  ganze  Geschichte 
der  westfälischen  Plastik.  Die  älteren  Figuren,  die 
neun  gewaltigen  Apostel  der  Langseiten,  sind  echte 
Westfälinger,  derb,  mit  klobigen  schweren  Köpfen 
und  strähnigem  Haar,  in  einen  filzigen  Lodenstoff 
eingewickelt,  der  ungraziös  wie  an  den  Körper  an¬ 
geklebt  liegt.  Die  Figuren  vom  Paderborner  Dom¬ 
portal  sind  ihre  Brüder,  jene  nur  noch  ungefüger 
und  unkünstlerischer,  in  den  Formen  verwaschener. 
Sind  die  Figuren  von  Anfang  an  für  diese  Stelle  be¬ 
rechnet  gewesen  oder  waren  sie  etwa  wie  die  im 
Magdeburger  Domchor  für  ein  später  verworfenes 
Portal  bestimmt?  Die  äusserste  Manieriertheit  atmen 
die  beiden  Reliefs  über  den  Durchgängen  mit  der 
Anbetung  der  Könige,  der  Beschneidung  und  der 
Bekehrung  Pauli.  Welch  unglaublich  verwickelte 
und  verschnörkelte  Gewandung!  Man  möchte  aus 
der  Entfernung  an  eine  hinterindische  Skulptur  denken. 
Das  sind  die  allerletzten  Äusserungen  der  hier  wirklich 
abgewirtschafteten  romanischen  Plastik  —  und  gerade 
an  diesen  Stil  hat  der  seltsame  archaisierende  Künstler 
Anlehnung  gesucht,  der  um  1530  den  Mittelpfosten 
mit  dem  heiligen  Paulus  dem  alten  offenbar  nach¬ 
bildend  schuf,  deutlich  romanisierend,  in  ganz  ver¬ 
wandter  aufgewirbelter  Gewandung.  Dann  endlich 


1)  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler  111,  S.  gt,  Taf.  59 
u.  60.  —  Schmidt,  Trierische  Baudenkmale  2.  Lief.,  Taf.  6.  — 
Hasak,  Geschichte  der  deutschen  Bildhauerkunst  im  13.  Jahr¬ 
hundert  S.  84  m.  Abb.  Von  den  Figuren  in  den  Gewänden 
des  Hauptportals  sind  nur  drei,  die  Ecclesia,  die  Synagoge 
und  der  Evangelist  Johannes,  alt,  die  übrigen  drei  Evange¬ 
listen  (die  Ende  des  18.  Jh.  verschwunden  waren)  neu, 
der  eine  mit  Benutzung  des  Gewandmotives  eines  Torso, 
den  eine  sorgsame  Zeichnung  von  Ramboux  in  der  Trierer 
Stadtbibliothek  um  das  Jahr  1820  noch  neben  den  anderen 
zeigt.  Die  neuen  Figuren  sind  Werke  des  Metzer  Bild¬ 
hauers  Dujardin,  des  Schöpfers  der  beiden  neuen  Metzer 
Domportale.  Da  die  drei  alten  Figuren,  seit  die  obere 
Silikatschicht  von  dem  gelben  krystallinischen  Jaumont- 
kalkstein  sich  abgelöst  hatte,  rasch  verwitterten  und  wie 
die  Figuren  zu  Tholey  völligem  Untergang  preisgegeben 
schienen,  sind  auch  sie  an  Ort  und  Stelle  durch  Kopien 
ersetzt  worden;  die  drei  Originale  sind  zum  Vergleich  im 
Innern  des  Domkreuzganges  aufgestellt  worden. 


auf  den  Schmalseiten  diese  herrlichen  vier  Figuren, 
die  schon  den  fortgeschrittenen  Stil  nach  der  Mitte 
des  Jahrhunderts  zeigen.  Auch  sie  wieder  unter  sich 
ganz  verschieden.  Der  heilige  Laurentius  mit  einem 
schlanken  ephebenhaften  Körper,  der  mit  vollendeter 
Kunst  überall  durch  das  feingefältelte  Gewand  durch¬ 
modelliert  ist.  Wie  fein  ist  der  Kontrapost  in  dieser 
leise  bewegen  Gestalt  angedeutet.  Auf  der  anderen 
Seite  diese  mächtige  imposante  Gestalt  der  Maria 
Magdalena,  die  fast  matronenhaft  erscheint,  in  einem 
Gewandmotiv,  das  auch  unter  den  Stifterinnen  im 
Naumbiirger  Domchore,  wo  man  sich  zunächst  nach 
Verwandten  umsehen  möchte,  seinesgleichen  sucht. 
Und  daneben  die  beiden  steiferen  ehrbareren  Figuren 
des  jungen  hochgemuten  Rittersmannes  und  des 
Bischofs  Theodorich ’).  Die  Portale  von  der  Nikolai- 

1)  Abbildungen  der  vier  Seitenfiguren  bei  Hasak  a.  a. 
O.  S.  9Ö.  Beschreibung  der  ganzen  Vorhalle  bei  W.  Lübke, 
Die  mittelalterliche  Kunst  in  Westfalen  S.  132.  Nach  ihm 
waren  früher  noch  fünf  —  jetzt  zerstörte  oder  verloren 
gegangene  Figuren  erhalten.  Die  Inschrift  auf  dem  Spruch¬ 
band  in  der  Hand  des  Bischofs  Theodorich  von  Isenburg, 
der  1225  den  Grundstein  legte  und  schon  1226  starb,  lautet: 

Eligor  et  morior,  opus  inchoo,  festa  Mariae 

Dedico;  sunt  anni  plures,  sed  terminus  unus. 

Die  Weihe  des  Domes  erfolgte  erst  am  30.  Sept.  1261 
durch  Bischof  Gerhard.  Das  Paradies  ist  wohl  erst  damals 
in  der  jetzigen  Gestalt  zusammengestellt  worden.  Theo- 
dorich  scheint  den  Bau  viel  grösser  projektiert  zu  haben. 
Mit  einer  kritischen  Untersuchung  der  westfälischen  Plastik 
im  12.  und  13.  Jh.  ist  zur  Zeit  Herr  R.  Reiche  beschäftigt. 
Das  verwandte  Paderborner  Portal  bei  Ludorff,  Die  Kunst¬ 
denkmäler  von  Westfalen.  Kr.  Paderborn,  Taf.  32—35. 


Abb.  5.  Münster  /.  IV.,  Dom.  Figuren  ans  dem  Paradies 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


■;!  Obermarsberg, 

■  :  der  ’Ti-.rrkirche  zu 
■;  ..erk.;ppelii,  von  der 

,  : f’iskiiche  in  Coesfeld 

■  vigeii  daneben,  wie  in 

■  '( sifalen  an  kleineren 
Fortallösungen  das  Motiv 
der  Einrahmung  durch 
abgetreppte  Gewände  zu 
immer  grösserer  Feinheit 
und  Zierlichkeit  durchge¬ 
bildet  wird. 

Die  Düsseldorfer  Aus¬ 
stellung  hatte  den  Versuch 
gemacht,  die  Entwickelung 
der  Holzplastik  seit  der 
2.  Hälfte  des  13.  Jahrhun¬ 
derts  zu  ergänzen  durch 
die  Vorführung  der  wich¬ 
tigsten  frühen  rheinischen 
Chorstühle.  An  der  Spitze 
stand  das  wundervolle 
Chorgestühl  von  Alten¬ 
berg,  das  nach  der  Ver¬ 
wüstung  der  Kirche  im 
Jahre  1821  in  Privathände 
gelangt  war  und  endlich 
im  Kunstgewerbemuseum  zu 
Berlin  einen  dauernden  Platz 
gefunden  hat').  Die  vier 
hohen  hinteren  Wangenstücke 
sind  erhalten,  dazu  vier  Einzel¬ 
sitze,  alle  mit  dem  schönsten 
frühgotischen  Blattwerk  ver¬ 
ziert,  die  hinteren  Wangen 
mehr  im  Charakter  der  Stein¬ 
bildhauerei  durchgeführt,  die 
niederen  Trennungswände  fein 
mit  zierlichen  koketten  Figür- 
chen.  Unmittelbar  an  diese 
Arbeiten,  die  wohl  direkt  nach 
der  Vollendung  des  Chores 
im  Jahre  1287  geschaffen 
wurden,  reiht  sich  das  Chor¬ 
gestühl  von  Wassenberg  im 
Kreis  Heinsberg,  das  hier  zum 
erstenmal  bekannt  gemacht 
wurde.  Die  beiden  Wangen 
sind  in  ganz  grossen  Linien 
gehalten,  in  das  schlichte  Ran¬ 
kenwerk  passen  sich  unge¬ 
zwungen  die  figürlichen  Dar¬ 
stellungen  ein:  die  Madonna, 
von  dem  Stifter  verehrt,  und 
der  gewappnete  Reitersmann 
auf  dem  ansprengenden  Ross. 


1)  Abbildung  bei  A.  Pabst, 

Kirchenmöbel  des  Mittelalters 
und  der  Neuzeit,  1893,  Taf.  15.  —  Vergl.  deinen,  Kunst¬ 
denkmäler  d.  Rheinprovinz.  Kreis  Mülheim  a.  Rhein  S.  49. 


Die  Madonna  erinnert  un¬ 
mittelbar  an  die  aus  den 
Maasgegenden  stammen¬ 
den  Elfenbeinmadonnen. 
In  die  gleiche  Zeit  gehört 
auch  das  frühgotische  Pult 
aus  Herford  im  Berliner 
Kunslgewerbemuseum, 
klassisch  in  der  Verwen¬ 
dung  des  einfachen  Blatt¬ 
ornaments').  Das  Xantener 
Gestühl  folgt  dann-)  - 
es  ist  wohl  um  1300 
entstanden,  mit  weichen, 
schon  üppig  wuchernden, 
durch  krautige  Knospen 
verzierten  Ranken  besetzt; 
allerlei  Getier,  Hund,  Adler, 
Affe  und  Drache,  treibt  in 
den  Windungen  sein  We¬ 
sen.  Solcher  Chorgestühle 
hat  der  französische  Ar¬ 
chitekt  Villard  de  Honne- 
court  in  seinem  Skizzen¬ 
buch  einige  gezeichnet"): 
ganz  deutlich  fühlt  man 
sich  an  Xanten,  an  Köln, 
oder  höchstens  an  Sainte-Croix 
in  Lüttich  erinnerL*).  Die 
französischen  Chorgestühle 
dieser  Zeit,  die  der  französi¬ 
sche  Baumeister  auf  seiner 
Wanderschaft  hätte  sehen  kön¬ 
nen,  zeigen  einen  ganz  anderen 
Charakter:  ihnen  fehlt  dies 
üppige  ins  Kraut  schiessen  der 
Ornamentik,  man  vergleiche 
die  frühesten  erhaltenen  fran¬ 
zösischen  Chorgestühle  in 
Notre-Dame  de  la  Roche  bei 
Chevreuse,  in  der  Kathedrale 
von  Poitiers  und  in  Saulieu’^). 


1)  A.  Pabst,  Kirchenmöbel 
Taf.  9,  1.  —  Ferd.  Luthmer,  Deut¬ 
sche  Möbel  der  Vergangenheit  S. 
13.  —  Jul.  Lessing,  Holzarbeiten 
a.  d.  Kunstgewerbemuseum  zu 
Berlin  Taf.  29. 

2)  Abb.  bei  aus’m  Weerth, 
Kunstdenkmäler  I,  S.  42,  Taf.  19. 
—  Clemen,  Kunstdenkmäler  der 
Rlieinprovinz,  Kreis  Moers  S.  108. 
—  Ferd.  Luthmer,  Deutsche  Mö¬ 
bel  der  Vergangenheit  S.  8. 

3)  J.  B.  Lassus  et  A.  Darcel, 
Album  de  Villard  de  Honnecourt 
pk  53,  56,  P-  193,  09- 

4)  Reusens,  Elemens  d’ar- 
cheologie  chretienne  II,  p.  280. 

5)  Über  das  älteste  Chorgestühl  von  Notre-Dame  de 
la  Roche  vergl.  Sauvageot  i.  d.  Annal.  archeol.  XXIII, 


Abb.  6.  Berlin,  Kunstgewerbeniiiseani 
Bcipiilt  aus  Herford 


Abb.  7.  Wassenberg,  Pfarrkirche.  Chorgestühl 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


103 


In  Köln  im  Chor  von  St.  Gereon  der  gleiche  Aufbau 
wie  in  Xanten.  Nur  treten  hier  an  die  Stelle  der 
phantastischen  Tiere  zwei  menschliche  Figuren.  Es 
sind  der  Patron  der  Kirche  und  ihre  sagenhafte 
Gründerin,  der  heilige  Gereon  und  die  heilige  Helena. 
Der  Neigung  der  jungen  Gotik,  ihre  Figuren  immer 
schlanker  und  schmäler  zu  machen,  kam  hier  der 
vom  Material  ausgehende  Zwang  entgegen.  Die 
Figuren  durften  nicht  brei¬ 
ter  sein  als  die  Eichen-  _ 

bohlen,  aus  denen  diese 
ganzen  Wangenstücke  ge¬ 
arbeitet  sind.  Der  Künst¬ 
ler  hat  aus  der  Not  eine 
Tugend  gemacht;  ganz 
unbefangen  schmiegen 
sich  die  beiden  zierlichen 
feingliederigen  Gestalten 
in  den  so  geschaffenen 
Rahmen  hinein  —  es  sind 
die  lieblichsten  Schöpfun¬ 
gen  dieser  neuen  jung¬ 
fräulichen  Kunst,  noch 
gar  nicht  angekränkelt  von 
jener  Weichlichkeit,  die 
schon  in  den  Figuren  im 
Kölner  Domchor  mit- 
sprichU).  Den  Abschluss 
bilden  dann  die  nach  1330 
entstandenen  prächtigen 
und  überreich  verzierten 
Chorstühle  aus  dem  Köl¬ 
ner  Dom.  Ein  unerschöpf¬ 
licher  Schatz  von  Erfin¬ 
dungskraft  steht  dem 
Schöpfer  dieses  Gestühls 
zur  Verfügung:  eine  hohe 
und  reine  Grazie  erscheint 
hier  dicht  neben  leiden¬ 
schaftlicher  Bewegtheit  und 
einer  ganz  grotesken  Aus¬ 
gelassenheit. 

Die  Madonna  auf  dem 
Wassenberger  Chorstuhl 
würde,  aus  ihrem  Zusam¬ 
menhang  losgelöst,  bisher 
wohl  ziemlich  allgemein 
als  französisch  angesehen 


p.  61.  —  Viollet-le-Duc,  Dic- 
tionnaire  raisonne  de  I’archi- 
tekture  VIII,  p.  463.  Über 
das  aus  Poitiers  vergl.  Annal. 

archeol.  II,  p.  3Q.  —  Bulletin  monumental  XXXIV,  p.  i6o. 
Das  von  Saint-Andoche  de  Saulieu  bei  Viollet-Ie-Duc  a.  a. 
O.  VIII,  p.  465.  Vergl.  Molinier,  Histoire  generale  des 
arts  appliques  ä  l’industrie  II.  Les  meubles  p.  15. 

1)  Das  eine  Wangenstück  schon  bei  Jul.  Gailhabaud, 
L’Architecture  du  V.  au  XVI.  siede,  Bd.  I.  Darnach  bei 
D.  Joseph,  Geschichte  der  Baukunst  1,  S.  369.  Die  Ab¬ 
bildung  zeigt  die  h.  Helena  ohne  Unterarme  (die  mit  dem 
Modell  ergänzt  sind). 


Abb.  8.  Köln,  St.  Oereon 
Figuren  von  den  Wangenstücken  der  Chorstiihle 


worden  sein.  Ihre  Vorgängerinnen,  die  Madonnen 
auf  dem  Marienschrein  zu  Aachen,  auf  dem  Suit- 
bertusschrein  zu  Kaiserswerth,  zeigten  den  gleichen 
Typus  aber  schon  vorher  in  den  Rheinlanden  hei¬ 
misch.  Die  grosse  schon  aus  der  Ausstellung  im 
Petit  Palais  im  Jahre  igoo  bekannte  Madonna  aus 
dem  Besitz  des  Herrn  Freiherrn  Albert  von  Oppenheim 
in  Köln^)  hat  noch  keine  Heimat  erhalten,  sie  dürfte 

aber  ebenso  wie  die  ver¬ 
wandte  Madonna  aus  der 
Sammlung  Martin  Le  Roy 
dem  französisch-belgischen 
Grenzgebiet  zuzuweisen 
sein-).  Diese  Madonnen 
sind  naturalistischer  und 
in  einigen  Zügen  schon 
etwas  manierierter  als  die 
echten  französischen  der 
He  de  France,  die  sich  an 
die  schöne  schlanke  Figur 
aus  der  Sainte  Chapelle 
im  Louvre  anschliessen-^). 
Es  sind  aber  jenseits  dieser 
westlichen  Gruppe  noch 
ein  paar  Elfenbeinwerke 
zu  nennen,  die  man  wohl 
mit  Fug  und  Recht  noch 
für  die  Rheinlande  in  An¬ 
spruch  nehmen  kann.  Da 
ist  vor  allem  eine  Ma¬ 
donna  im  bischöflichen 
Museum  zu  Münster,  in 
der  Gewandung,  auch  in 
der  Haltung  des  Kindes 
zunächst  in  vielen  Punkten 
der  Madonna  bei  Martin 
Le  Roy  verwandt,  dann 
aber  doch  wieder  selbstän¬ 
dig.  Die  Gestalt  ist  viel 
gedrungener,  zumal  der 
Kopf  viel  runder,  auch 
das  pausbäckige  Kind 
viel  derber.  Und  dieses 
Stück  geht,  zumal  in  der 
ganzen  Kopfbildung,  eng 
zusammen  mit  der  feinen 
20  cm  hohen  Elfenbein¬ 
statuette  einer  stehenden 
Madonna  im  Privatbesitz 
Kreis  Jülich.  Die 


im 


1)  Abgebildet  bei  Moli¬ 
nier,  Les  Ivoires  (Collection 
Spitzer)  p.  186.  Durch  die  starke  Ergänzung  (die  sich 
wohl  auf  den  ganzen  Thron  erstreckt  hat)  und  die  Er¬ 
neuerung  der  Vergoldung  hat  das  Stück  fast  etwas  Unwahr¬ 
scheinliches  bekommen. 

2)  Les  beaux-arts  et  les  arts  decoratifs  ä  l’exposition 
universelle  de  1900,  p.  127.  Zu  vergleichen  endlich  noch 
die  Madonna  von  Villeneuve-les-Avignon. 

3)  Molinier  imCatalogue  des  ivoires  du  Louvre  Nr.  53. — 
Molinier,  Les  ivoires  pl.  17,  p.  )86. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  II.  5. 


104 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


Gex/andbehandlung  erinnert  hier  wieder  an  die 
;  ■  lüge  Helena  von  St.  Gereon^). 

Noch  gar  nicht  im  Zusammenhang  behandelt  und 
unter?iicht  ist  die  reiche  Grabsteinplastik  West- 
eutschlands,  die  im  14.  Jahrhundert  ihren  Höhepunkt 
.  rreiclh,  aber  schon  ein  Jahrhundert  früher  einsetzt. 
'Tjn  Übergang  zu  der  gotischen  Plastik  bildet  das 
wunderliche  Grabmal  des  Gaugrafen  Konrad  Kuzibold 
im  Limburger  Dom-).  Es  ist  das  Idealportrait  des 
vor  drei  Jahrhunderten  verstor¬ 
benen  Stifters;  die  Figur  sieht 
wie  eingesehrumpft,  mumifiziert 
aus,  eine  phantastische  Sockel¬ 
bildung  darunter,  den  sechs 
Stützen  treten  ein  Löwe  und 
ein  Bär  vor,  an  den  Ecken 
Mönchsfiguren  mit  zu  komi- 
sehen  Grimassen  verzerrten  kla¬ 
genden  Gesichtern.  Viel  impo¬ 
nierender  ist  die  Stifterfigur  des 
Pfalzgrafen  Heinrieh  II.  in  der 
Abteikirehe  zu  Laaeh  —  eine 
riesenhafte  bemalte  Holzfigur. 

Die  Figur  ist  mit  Leinwand 
überklebt  und  auf  einem  glatten 
Gipsgrund  reich  bemalt;  sie 
stellt  den  Pfalzgrafen  in  der 
kokett  höfischen  Tracht  des  13. 

Jahrhunderts  dar  —  es  fehlt 
weder  das  Essbesteck  noch  der 
Fächer.  Über  diesem  schon 
frühgotischen  Denkmal  erhebt 
sieh  auf  sechs  Säulen  von  Kalk¬ 
sinter  jener  seltsame  Baldachin, 
der  uns  das  äusserste  romanische 
Barock  vorführt,  die  wunder¬ 
lichste  Äusserung  der  Ori¬ 
ginalitätssucht  eines  der  letzten 
Romanisten,  der  noeh  einmal 
zeigen  wollte,  dass  er  in  sei¬ 
ner  Formenspraehe  alles,  aber 
auch  alles  sagen  konnte.  Die 
Grabmäler  der  Landesherren 
aus  dem  Jülicher,  Bergischen, 

Klevischen  Hause  sind  zum  Teil 
schwer  verstümmelt  oder  ganz 
zertrümmert,  die  künstlerisch  be¬ 
deutendsten,  die  Monumente  im 


1)  Das  Elfenbeindiptychon  im  selben  Museum  (abgeb. 
von  Schnütgen  i.  d.  Zs.  f.  christliche  Kunst  1902,  S.  182) 
ist  dagegen  ganz  sicher  französisch  —  man  vergleiche  es 
mit  dem  Triptychon  von  Saint-Sulpice  (Tarn)  im  Cluny- 
museum  (Fondation  Piot.  Monuments  et  memoires  11, 
1895,  pl.  28). 

2)  Abgeb.  Bock,  Rheinlands  Baudenkmale,  Limburg 
S.  23.  Ebenda  die  Inschrift. 

3)  Das  Hochgrab  von  Laach  ist  abgebildet  bei  Fr.  Bock, 
Rheinlands  Baudenkmale.  Laach  S.  17.  —  Details  bei  Bock, 
Das  monumentale  Rheinland  1,  Taf.  4.  —  aus’ni  Weerth, 
Kunstdenkmäler  i.  d.  Rheinlanden  111,  S.  48,  Taf.  52.  — 
J.  Wegeier,  Kloster  Laach  S.  30,  88. 


Herzogenchor  des  Altenberger  Domes  sind  vor 
wenigen  Jahren  auf  Kosten  des  Kaisers  wiederher¬ 
gestellt  worden.  Andere  galt  es  geradezu  wieder  zu 
entdecken:  das  Hochgrab  des  Grafen  Arnold  11.  von 
Kleve  und  seiner  Gemahlin  in  der  Klosterkirche  zu 
Bedburg  war  vor  sechsig  Jahren  zertrümmert  und  auf 
dem  Kirchhof  eingegraben  worden :  es  ist  erst  jetzt  wieder 
exhumiert  und  harrt  der  künstlerischen  Auferstehung^). 
Gegenüber  der  eingehenden  Würdigung,  die  die 
niederrheinische  und  die  mittel¬ 
rheinische  Malerei  durch  Scheib- 
1er,  Aldenhoven,  Firmenich- 
Richartz,  Thode  gefunden,  er¬ 
scheint  die  Skulptur  dieses  Ge¬ 
bietes  fast  über  Gebühr  ver¬ 
nachlässigt.  Ich  glaube,  mit 
Unrecht.  In  der  niederrheinischen 
Kunstprovinz  hat  im  14.  Jahr¬ 
hundert  die  Plastik  geradezu  die 
Führung.  Auch  die  Kunst  jener 
am  Ausgang  des  Jahrhunderts 
stehenden  Malerschule,  die  wir 
unter  dem  Sammelnamen  Meister 
Wilhelm  zusammenfassen,  hat 
die  plastische  Entwickelung 
zur  Voraussetzung.  Ich  wüsste 
auf  diesem  Gebiete  kaum  ein 
lockenderes  Thema,  als  diese 
rheinische  Plastik  durch  das  14. 
und  15.  Jahrhundert  zu  geleiten. 
Der  Ruhm  der  Kölner  Bild¬ 
hauer  war  in  dieser  Zeit  weit 
über  die  Alpen  gedrungen.  Aus 
Florenz  haben  wir  dafür  das 
merkwürdige  Zeugnis  des  Lo- 
renzo  Ghiberti:  in  Köln  lebte 
ein  ausgezeichneter  Bildhauer, 
der  war  in  seiner  Kunst  so 
vollkommen  wie  die  alten  Grie¬ 
chen,  namentlich  in  den  Köpfen 
und  in  allen  nackten  Teilen,  nur 
waren  seine  Statuen  etwas  kurz. 
Im  i4.Jahrhundertbilden  fürKöln 
die  Figuren  an  den  Chorpfeilern 
des  Kölner  Domes  und  die  Fi¬ 
guren  im  Aachener  Münsterchor 
den  Ausgang  und  geben,  weil 
ziemlich  genau  datierbar,  die 
Stützpunkte  der  Untersuchung.  Giebt  es  in  der  Mitte  des 


1)  DieOrabdenkmälerabgeb.  beiClemen,  Die  Kunstdenk¬ 
mäler  der  Rheinprovinz,  Kreis  Mülheim  a.  Rh.  S.  r68.  Dazu 
Taf.  5  u.  6.  Vergl.  auch  den  2.  Jahresbericht  der  Provinzial¬ 
konimission  f.  d.  Denkmalpflege  i.  d.  Rheinprovinz  1897,  S.  20. 

2)  Die  interessantesten  der  westfälischen  dieser  Grab¬ 
steine,  der  des  Grafen  Dietrich  von  der  Mark  in  Hoerde 
(Lübke,  Die  mittelalterl.  Kunst  in  Westfalen  S.379.  —  Ludorff, 
Bau- u.  Kunstdenkmäler  Westfalens,  Kr.  Hoerde  Taf.  8)  u.  das 
Epitaph  der  Stifter  Gottfried  und  Otto  in  der  Kirche  zu 
Kappenberg  (Lübke  a.  a.  O.  S.  378.  —  Ludorff,  Kreis  Lüding¬ 
hausen  Taf.  14)  waren  gleichfalls  in  Düsseldorf  im  Abguss 
aufgestellt. 


Abb.  Q.  Münster  i.  W.,  Bischöfliches 
Museum.  Elfenbeinmadonna 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTEALISCHE  KUNST 


105 


14.  Jahrhunderts  in  Deutschland  etwas  Graziöseres,  als 
diese  im  anmutigen  Reigen  sich  drehenden,  schlanken, 
musizierenden  Engel  über  den  Baldachinen  im  Kölner 
Domchor?  Als  einen  Niederschlag  dieser  gleichen 
künstlerischen  Empfindung  in  der  Malerei  dürfen  wir 
die  entzückenden  Dekorationen  auf  den  inneren  Chor¬ 
schranken  ansehen,  die  wie  die  Skulpturen  um  1350 
anzusetzen  sein  dürften^).  Die  artigen  Püppchen  und 
die  liebenswürdigen  Tänzerinnen  auf  den  Hintergründen 
bewegen  sich  mit  der  unnachahmlichen  Grazie  der  Miss 
Isadora  Duncan.  Man  hätte  diese  Malereien,  wenn  sie 
ohne  Zeugnis  des  Ursprungs  vorgelegt  worden  wären, 
wohl  sicher  allgemein  bisher  als  französisch  bezeichnet. 
Wenn  diese  aber  wie  jene  Engelsfiguren  kölnisch 
sind,  so  wird  man  viel  von  dem,  was  in  der  Klein¬ 
kunst,  in  durchsichtigem  Email  und  in  Elfenbeinplastik 
bislang  als  französisch  galt,  für  die  Rheinlande  in 
Anspruch  zu  nehmen  haben.  Es  gilt  hier,  verloren 
gegangenen  kunstgeschichtlichen  Besitz  wieder¬ 
zuerobern.  In  gleichmässigen  Etappen  lässt  sich  die 
Wandlung  dieser  schlanken,  aber  doch  sehnigen  Gotik 
zu  der  schwächlich  verzärtelten  und  manierierten 
Spätgotik  des  15.  Jahrhunderts  verfolgen.  Die  ver¬ 
schiedenen  grossen  Madonnenstatuen  in  Köln,  in 
Aachen,  in  Münstermaifeld  und  Münstereifel  geben 
hier  die  Stufen  an:  im  Anfang  nur  ein  paar  energisch 
eingeschnittene  Längsfalten  als  dominierende  Gewand¬ 
motive,  allmählich  dann  die  feine  knittrige  Eältelung 
auf  der  einen  Seite  und  zuletzt  hier  ein  hastiges 
Zickzack  von  aufgerefften  Faltenlinien.  Für  die 
früheste  Phase  des  Stiles  enthält  die  Sammlung 
Schnütgen  zu  Köln  vor  allem  wertvolles  Material. 
Seine  drei  schönsten  Stücke,  drei  wirklich  adlige 
Jungfrauen  von  einer  eleganten  Grazie  in  der  Be¬ 
wegung,  sind  wohl  eher  mittelrheinisch  und  noch 
um  1300  anzusetzen,  im  Stil  sich  selbst  den  Strass¬ 
burger  klugen  und  thörichten  Jungfrauen  nähernd. 

Als  Typen  eines  ganz  abweichenden,  ziemlich 
selbständigen  mittelrheinischen  Stiles  erscheinen  die 
feinen  Figürchen  vom  Hochaltar  in  Oberwesel,  die 
noch  früher  als  die  Skulpturen  im  Kölner  Dom¬ 
chor  sind  (um  1331),  denen  dann  wieder  das  heilige 
Grab  in  derselben  Kirche  verwandt  ist  mit  fast  un¬ 
bewegten  statuarischen  Figuren,  die  sich  ängstlich 
geradehalten,  das  Gewand  am  Oberkörper  fast  ganz 
glatt  und  eng  anschliessend.  Ganz  verblüffend  wirkt 
ein  Blick  auf  die  in  der  alten  Polychromie  vollständig 
erhaltene  Pieta  der  Sammlung  Roettgen.  Sie  ist  eine 

1)  Eine  Erklärung  und  Deutung  der  Wandgemälde 
hat  vor  wenigen  Monaten  zum  erstenmal  der  gelehrte 
Arnold  Steffens  gegeben  (Die  alten  Wandgemälde  auf  der 
Innenseite  der  Chorbrüstungen  des  Kölner  Domes;  Zs.  f. 
Christi.  Kunst  XV,  S.  12g  ff.).  Schon  im  J.  1842  hatte  der  Maler 
G.  Osterwald  Zeichnungen  von  vier  der  Bilderreihen  kopiert 
(Aufnahmen  i.  d.  Archiv  der  Königlichen  Museen  zu  Berlin). 
Ich  habe  die  gesamten  Dekorationen  im  Sommer  1901 
farbig  und  zeichnerisch  aufnehmen  lassen.  Die  von  den 
Malern  A.  und  J.  Winkel  im  J.  1901  angefertigten  Kopien 
waren  im  Treppenhaus  der  Kunsthistorischen  Ausstellung 
ausgehängt.  Vergl.  darüber  auch  Clemen  im  7.  Jahres¬ 
bericht  der  Provinzialkommission  f.  d.  Denkmalpflege  der 
Rheinprovinz  1902,  S.  69  mit  Tafel. 


Zeitgenossin  Meister  Wilhelms.  Man  will  es  schwer 
glauben,  dass  eine  Kunst,  die  sonst  sich  in  den 
Typen  einer  holdseligen  Demut  und  engelhaften 
Reinheit  erschöpft,  gleichzeitig  eines  so  grauenhaften 
Naturalismus  fähig  ist.  Das  Antlitz  ist  schmerzlich 
verzogen,  der  Mund  nach  allzulangem  Klagen  erstarrt, 
die  Augen  vom  Weinen  gerötet,  —  atembeklemmend 
wirkt  das  Bildnis,  und  so  roh  noch  und  primitiv  die 
Durchbildung,  fast  wie  die  in  Schmerz  vergrabene 
vordere  Mutter  auf  der  linken  Seite  von  Bartholome’s 
grossem  Totenmonument. 

Im  15.  Jahrhundert  setzt  diese  Kunst  zunächst 
noch  einmal  mit  ihren  lieblichsten  Tönen  ein.  Wie 
vollkommen  geschlossen,  feierlich  und  doch  lieblich 
zugleich  wirkt  die  Mittelkomposition  von  dem  grossen 
Altaraufsatz  aus  dem  Mindener  Dom^).  Er  steht  über 
einer  Predella,  die  unter  Kleeblattbögen  kleine  Einzel¬ 
figuren  zeigt,nahe  verwandt  der  BehandlungdesBeckumer 
Reliquienschreines,  so  dass  die  Figuren  fast  wie  Holz¬ 
modelle  für  solche  getriebene  Goldschmiedearbeiten  er¬ 
scheinen.  Der  Untersatz  ist  das  älteste  bekannte  derartige 
Altarwerk  in  Holz:  Westfalen  besitzt  damit,  wie  die 
frühesten  gemalten  Antependien  und  Retables,  auch 
den  frühesten  hölzernen  Altaraufsatz.  Das  kostbare 
Werk,  das  an  Ort  und  Stelle  aufs  äusserste  bedroht, 
schon  dem  Restaurator  zur  vollständigen  Neupoly- 
chromierung  überantwortet  war,  bleibt  nun  hoffentlich 
dauernd,  ungeschmälert  in  seinem  kunstgeschichtlichen 
Wert,  erhalten.  Erscheint  aber  eine  Restauration,  um 
dem  kirchlichen  Kultusbedürfnis  zu  genügen,  un¬ 
erlässlich:  nun,  so  ist  es  schon  besser,  der  Schrein 
wandert  in  seinem  unberührten  Zustande  in  ein  grosses 
Museum  und  an  Ort  und  Stelle  wird  eine  genaue 
Kopie  aufgestellt:  sie  würde  sich  in  Nichts  von  dem 
neuvergoldeten  Schrein  unterscheiden. 


1)  Der  Mindener  Altar  abgebildet  bei  Münzenberger, 
Die  Kenntnis  und  Würdigung  der  mittelalterlichen  Altäre 
Deutschlands,  Taf.  2,  und  bei  Ludorff,  Bau-  und  Kunstdenk¬ 
mäler  Westfalens,  Kreis  Minden,  Taf.  23—25. 


Abb.  10.  Köln,  Sammlung  Schnütgen. 
Drei  l  lolzfigiircn 

14* 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


1  o6 

Es  ist  noch  nicht  recht  gelungen,  im  15.  Jahr- 
hur.dcrt  kölnisdre,  wcsifälische  und  niederrheinische 
Plastik  iiberah  cuseinanderznhalten  und  noch  weniger 
niederrheinischc  und  niedcrländisciie.  Die  Grenzen 
sind  liier  aucli  kau:  .  mit  Sicherheit  zu  ziehen,  nament¬ 
lich  den  Riicin  c.iuaug.  Von  dem  kölnischen  Typus 
aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  enthalten 
die  Sanrmliiugeti  Schrrütgen  in  Köln,  Roettgen  in  Bonn, 
Kramer  in  Kc..'|:u:  rUclies  Material.  Es  sind  nicht 
innner  ei/reulichc  Erscheinungen,  die  männlichen 
Heiligen  schwächlich  und  wie  junge  ausgemergelte 
Greise,  die  weiblichen  Figuren  mit  dem  fatalen  ein¬ 
gefrorenen  Lächeln  einer  ältlichen  Kokette,  in  eine 
knittrige  Gewandung  gehüllt.  Wie  frisch  hebt  sich 
von  diesen  die  lebensgrosse  reichvergoldete  Statue 
des  heiligen  Michael  aus  der  Kirche  St.  Andreas  in 
Köln  ab.  Der  Heilige  steht  freilich  ziemlich  steif, 
der  rechte  Arm  ist  kraftlos  erhoben,  die  etwas  gezierte 
Figur  scheint  in  ein  Korsett  eingeschnürt  zu  sein, 
aber  mit  wie  ausgesprochenem  Schönheitsgefühl  ist 
dieser  Lockenkopf  behandelt  —  es  ist  ein  plastisches 
Gegenstück  zu  dem  gemalten  heiligen  Georg  auf  dem 
rechten  Flügel  von  Stephan  Lochner’s  Dombild.  Eine 
ganz  verwandte  Figur  desselben  Heiligen  hatte  sich 
auch  aus  der  Kirche  St.  Kirche  St.  Aposteln  in  Köln 
dazu  eingefunden. 

Wir  wissen  längst,  dass  an  der  niederrheinischen 
Plastik,  die  unter  dem  Namen  Kalkarer  Schule  geht, 
auch  die  Nachbarstädte  ihren  Anteil  haben;  Wesel, 
Emmerich,  Kleve  sind  hier  vertreten,  auch  wohl  die 
benachbarten  holländischen  Städte  Nijmwegen  und 
Arnheim.  Auch  hier  steht  die  Sonderung  in  Einzel¬ 
gruppen  noch  aus.  Und  unter  den  heimischen 
Kalkarer  Meistern,  über  deren  Namen  und  Schicksale 
uns  der  Bienenfleiss  des  1888  verstorbenen  Kaplans 
Wolff  unterrichtet  hat'),  der  hier  für  Kalkar  dasselbe 
geleistet  hat,  wie  für  Köln  Merlo,  können  wir  doch 
nur  bei  wenigen  ein  ganzes  Oeuvre  aufstellen,  am 
besten  bei  den  späteren.  Zwei  der  grössten  Kunstwerke 
der  höchsten  Blüte  der  Kalkarer  Kunst  konnten  in 
Düsseldorf  vorgeführt  werden:  der  Marienleuchter  von 
Heinrich  Bernts  und  die  grosse  Kreuzigungsgruppe. 
Der  Marienleuchter  ist  das  umfangreichste  Exemplar 
dieser  ganzen  Gruppe-);  die  Doppelfigur  der  Madonna 
ruht  auf  einem  Sockel,  in  dem  unter  anderen  der 

1)  Die  erste  von  A.  Wolff  im  J.  1S80  herausgegebene 
Publikation  trug  den  Titel:  Die  Nikolaipfarrkirche  zu  Kalkar, 
ihre  Kunstdenkniäler  und  Künstler,  archivalisch  und  archäo¬ 
logisch  untersucht.  Eingehender  noch  sind  die  reichen 
Quellen  des  Stadtarchivs  ausgenutzt  in  desselben  Verfassers 
Geschichte  der  Stadt  Kalkar,  nach  des  Autors  Tode  1893 
von  St.  Beissel  herausgegeben.  Vergl.  weiter  j.  B.  Nord¬ 
hoff  im  Organ  f.  christl.  Kunst  XVIII,  S.  235,  248,  — 
L.  Scheibler,  Maler  und  Bildschnitzer  der  sog.  Schule  von 
Kalkar:  Zs.  f.  bildende  Kunst  XVIII,  S.  28,  59.  —  Münzen¬ 
berger,  Zur  Kenntnis  und  Würdigung  der  mittelalterlichen 
Altäre  Deutschlands,  S.  145. —  Xanten  ende  Calcar,  Publi¬ 
kation  der  St.  Bernulphusgilde  für  1889,  Utrecht  1890.  — 
Clemen,  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz,  Kreis  Kleve, 
S.  49. 

2)  Über  den  Marienleuchter  Wolff,  Nikolaipfarrkirche 
S.  44.  Ders.,  Gesch.  der  Stadt  Kalkar  S.  168.  —  aus’m 


schlummernde  jesse  abgebildet  ist,  von  seinem  Schosse 
wächst  ein  Stamm  empor,  dessen  zwei  Zweige  sich 
auf  beiden  Seiten  wie  ein  Stammbaum  als  Rahmen 
um  das  Bild  der  Gottesmutter  legen:  die  Halbfiguren 
der  Vorfahren  Christi  wachsen  aus  den  Blüten  heraus. 
Etwas  kleiner  ist  der  1517  gefertigte  und  1533  von 
Meister  Johann  Erwein  aus  Köln  polychromierte 
Marienleuchter  aus  der  Pfarrkirche  zu  Erkelenz,  noch 
zierlicher  der  aus  der  Propsteikirche  in  Dortmund. 
Verwandt  sind  dem  Kalkarer  am  Niederrhein  aber 
vor  allem  die  Leuchter  von  Xanten  und  Kempen. 
Und  endlich  die  prachtvolle  Kreuzigungsgruppe ^). 
Welch  mächtiges  Pathos  spricht  aus  den  Gestalten! 
Der  heilige  Johannes  unter  dem  Kreuz,  selbst  die  in 
schwerem  Wurf  die  Figur  verhüllende  Gewandung 
scheint  diesem  pathetischen  Zug  Folge  zu  leisten. 
Die  Madonna  dagegen  mit  einem  ergreifenden  durch¬ 
geistigten  Kopf  schliesst  in  schmerzlicher  Wehmut 
die  Augen  und  kreuzt  die  schmalen  hageren  Hände 
über  der  Brust.  Hier  ist  am  Ausgang  der  Spätgotik 
—  die  Gruppe  gehört  etwa  ins  Jahr  1520  —  alles 
Kleinliche,  Befangene  abgestreift,  die  fast  lebensgrossen 
Gestalten  sind  von  einem  geborenen  Plastiker  erdacht, 
mit  hohem  Sinn  für  Monumentalität  gestellt. 

Sk  sf; 

Von  grösstem  Wert  für  die  Kritik  der  westdeutschen 
Frührenaissance  war  die  Zusammenstellung  einer  Reihe 
der  Hauptwerke  der  Renaissanceplastik  mit  auserlesenen 
Abgüssen.  Wohl  das  früheste  Renaissancewerk  am 
Rhein  ist  jenes  entzückende  Bronzeepitaph  des  Fürst¬ 
bischofs  Jakob  von  Kroy  vom  Jahre  1517,  das  sich 
in  der  Schatzkammer  des  Domes  befindet-).  Die 
Figuren  selbst  sind  noch  ganz  spätgotisch,  die 

schmucken  Gestalten,  jede  für  sich  frei  gegossen,  mit 
grossem  Geschick  eng  hintereinander  angeordnet;  die 
Architektur  ist  aber  schon  ganz  erfüllt  von  der 

flandrischen  Frührenaissance  —  ein  lustiger  Putten- 
reigen  bildet  die  Krönung  und  die  Ecksäulen  zeigen 
jene  für  die  früheste  Phase  der  niederländischen 
Renaissance  so  überaus  charakteristische  Häufung  der 
Formenelemente.  Als  ob  sich  der  Künstler  gar  nie 
hätte  Genüge  thun  können,  sind  hier  Kapitäle  un¬ 
mittelbar  auf  Basen  gepfropft,  Schaftringe,  Knäufe, 
Baluster  darauf  gestellt  -  es  fehlt  völlig  an  einem 
ruhigen  Stück  Schaft.  Zwei  Jahre  darauf  entsteht 
dann,  wieder  von  einem  Ausländer,  diesmal  aber  einem 
Süddeutschen  geschaffen,  das  Wandepitaph  der  Mar- 

Weerth,  Kunstdenkmäler  Taf.  16,  1.  —  deinen,  Kreis  Kleve 
S.  73  m.  Abb. 

1)  Die  Kreuzigungsgruppe  bei  Münzenberger  a.  a.  O. 
Taf.  42.  —  Wolff,  Nikolaipfarrkirche  S.  43.  Album  Taf. 
39-42.  —  Clemen,  Kreis  Kleve  S.  72  ni.  Abb.  ~  Wolff, 
Gesch.  der  Stadt  Kalcar  S.  76.  —  Die  Gruppe  stand  ehemals 
über  dem  1818  abgebrochenen  Doxal  am  Eingang  des 
Chores  auf  einem  Apostelbalken,  von  dem  die  Apostel¬ 
statuetten  noch  über  den  Chorstühlen  erhalten  sind.  Die 
Gruppe  war  übrigens  ursprünglich  bemalt  und  ist  erst 
1861  abgelaugt  worden. 

2)  Vergl  Schnütgen  in  der  Zs.  f.  christliche  Kunst  1, 
S.  243  m.  Taf. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


107 


garetha  von  Eltz,  das  ihr  neunzehn  Jahre  nach  ihrem 
Tod  ihr  ältester  Sohn  Georg  in  der  Karmeliterkirche  zu 
Boppard  setzen  lässt').  Es  zeigt  in  dem  viereckigen 
Rahmen,  in  Kehlheimer  Stein  ausgeführt,  die  Dar¬ 
stellung  der  Dreieinigkeit,  von  der  Frau  Margaretha 
und  ihrem  Sohn  verehrt,  in  ganz  flachem  und  zarten 
Relief,  von  minutiöser  Durchführung.  Der  Künstler 
ist  jener  Loyen 
Hering  aus  Eich¬ 
stätt,  über  den  wir 
seit  einigen  Jahren 
durch  Hugo  Graf 
näher  unterrichtet 
sind,  der  Schöpfer 
des  Marmordenk¬ 
mals  des  Bischofs 
Georg  im  Dom 
zu  Bamberg,  dessen 
Stil  v/ir  aus  seinen 
sonstigen  Arbeiten 
in  Eichstätt,  Ingol¬ 
stadt,  Würzburg, 

Regensburg,  Heil¬ 
bronn  schon  ken¬ 
nen.  Es  sind  in 
beiden  Fällen  Aus¬ 
länder,  die  hier 
arbeiten.  Auch 
grosse  kirchliche 
Ausstattungsstücke 
werden  in  dieser 
Zeit  von  fremden 
Meistern  gefertigt, 
so  der  herrliche 
Lettner,  den  die 
Familie  Hackeney 
im  Jahre  1524  in 
die  Kirche  St.  Maria 
im  Kapitol  zu  Köln 
stiftet,  von  zwei 
Meistern  von  Me- 
cheln.  Erst  aus 
dem  Jahre  1540 
haben  wir  in  Köln 
das  Werk  eines 
einheimischen  Mei¬ 
sters  in  ausgespro¬ 
chenen  Renais¬ 
sanceformen:-  die 
Dekorationen  des 
Löwenhofes  im  Kölner  Rathaus,  die  der  Meister  Lorenz 
in  diesem  Jahre  »up  antix«  ausführtc. 

Von  einem  zugewanderten  Künstler  ist  auch  noch 
die  Reliefplatte  aus  Kehlheimer  Stein  mit  dem  Bildnis 
des  Erzbischofs  Daniel  Brendel  von  Mainz  (1555  bis 
1583)  gefertigt,  die  sich  jetzt  in  der  Sammlung 


1)  Hugo  Graf  i.  d.  Zs  d,  bayrischen  Kunstgewerbe¬ 
vereins  1886,  S.  77.  —  Schlecht,  Zur  Kunstgeschichte  der 
Stadt  Eichstätt,  Eichstätt  1888,  S.  26.  —  St.  Beissel  i.  d.  Zs.  f. 
christliche  Kunst  XI!!,  S.  18. 


Oppenheim  befindet,  früher  in  den  Sammlungen 
Milani  und  Spitzer.  In  reicher  Renaissanceumrahmung 
erscheint  die  Halbfigur  des  Kurfürsten  mit  dem  fein¬ 
geschnittenen  Kopf.  Das  Werk  ist  in  vielfacher  Be¬ 
ziehung  merkwürdig,  im  Hintergründe  erscheint  die 
von  dem  Dargestellten  wieder  hergestellte  Martinsburg, 
das  alte  kurfürstliche  Schloss  zu  Mainz:  die  Tafel  ist 

deshalb  wohl  als 
eine  Erinnerung  an 
diese  Restauration 
im  Jahre  1558  an¬ 
zusehen  ’). 

Die  beiden 
Strömungen ,  die 
im  Anfang  am  Nie¬ 
derrhein  miteinan¬ 
der  kämpfen,  die 
italienisierende 
und  die  niederlän¬ 
dische,  die  die  ita¬ 
lienischen  Formen 
nur  auf  dem  Um¬ 
weg  über  den 
Nordwesten  erhält, 
finden  ihren  schärf¬ 
sten  Ausdruck  in 
einer  klassischen 
Antithese  in  dem 
berühmten  Paar 
der  beiden  Renais¬ 
sancealtäre  von  Kal- 
kar.  Der  Meister 
Heinrich  Douver- 
mann,  der  Schöpfer 
des  unvergleich¬ 
lichen  Altars  der 
sieben  Schmerzen 
Mariä  in  Kalkar  und 
der  beiden  Altäre 
zu  Xanten  und 
Kleve,  der  bis  1528 
nachweisbar  ist, 

i)  Collektion 
Spitzer,  Bois  et  Pierre 
de  Munich  pL  Xi, 
171.  —  Überden  Um¬ 
bau  der  Martinsburg 
vergl.  Fr.  Schneider, 
Denkschrift  zur  Her¬ 
stellung  d.  ehemali¬ 
gen  kurfürstlichen  Schlosses  zu  Mainz  S.  10.  —  Ders.,  Die 
Kunst  der  Renaissance  unter  Kurfürst  Brendel  von  Mainz 
i.  Korrespondenzblatt  d.  Gesamtvereins  d.  deutschen  Ge¬ 
schichtsvereine  1876,  S.  5.  Auf  dem  Socke!  der  Relief¬ 
platte  findet  sicli  die  Bezeichnung  H.  K.  V.  B.  Das  könnte 
auf  Hans  Kels  von  jKaiifjbeuren  bezogen  werden,  den 
Meister  des  berühmten  Wiener  Spielbrettes  (vergl.  llg  i. 
Jahrbuch  d.  Österreich.  Kunstsammlungen  Hl,  S.  53),  aber 
dessen  Stil  ist  doch  ein  total  anderer.  Mit  H.  K.  ist  eine 
Platte  im  Germanischen  Museum  gezeichnet  (Katalog  d. 
Originalskiilptiiren  Nr.  421);  ein  Bildhauer  Hans  Kremer 
stirbt  in  Nürnberg  1 567  (Mitteil.  a.  d.  Germ.  Nat.  Mus.  II,  S.  278). 


Abb.  iL  Köln,  Domschatz.  Epitaph  des  Jakob  von  Croy 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


io8 


ist  noch  ganz  unberührt  von  den  Eornien  der  Renais- 
sa’K'e,  er  ist  die  freieste  Künsllerpersönlichkeit  am 
Ende  der  Spätgotik,  voll  von  leidenschaftlicher  Verve, 
dazu  ein  eminenter  Techniker,  der  das  Holz  in  schier 
unmögliche  Verschlingungen  hineinquält').  Aber  un¬ 
mittelbar  nach  seinem  Tode  zieht  auch  in  Kalkar  die 
Renaissance  ein.  Der  Kreuzaltar  in  der  Pfarrkirche 


altar  (mit  der  früheren,  von  einen  anderen  Altar  hin¬ 
zugefügten)  Mittelfigur  zeigt  ganz  die  italienisierenden 
Formen  —  in  den  flachen  Pilasterfüllungen  Motive 
lombardischer  Dekoration,  ebenso  in  den  feinen  geist¬ 
reich  gezeichneten  Baldachinen;  der  im  Aufbau  ganz 
verwandte  Crispinusaltar  ist  dagegen  durch  und  durch 
niederländisch,  die  verkröpften  Säulen  mit  den  auf- 


Abb.  12.  Köln,  Sammlung  Oppenheim.  Porträt  des  Erzbischofs  Daniel  Brendel  von  Mainz 


zu  Kleve  ist  wohl  das  früheste  Werk  dieser  Art,  in 
der  Mitte  der  dreissiger  Jahre  entstehen  dann  neben¬ 
einander  oder  hintereinander  in  Kalkar  die  beiden 
Altäre,  die  jetzt  die  Namen  Crispinus-  und  Cris- 
pinianusaltar  und  johannesaltar  tragen'^).  Derjohannes- 

1)  Münzenberger,  a.  a.  O.  Tat.  54,  S.  143.  — 
Clemen,  Kreis  Kleve  S.  62,  gy.  —  Wolff,  Nikolaipfarrkirche 
S.  27,  76.  —  Ders.,  Gesch.  d.  Stadt  Kalkar  S.  140. 
Beissel,  Die  Kirche  des  h.  Viktor  zu  Xanten  III,  S.  16,  83. 

2)  Abbildung  des  johaniiesaltars  bei  Wolff,  Nikolai- 


einandergespiessten  Knäufen,  die  Baldachine  mit  dem 
gedrängten,  überfüllten  Dekor,  dazu  der  scharfkantige 
Schnitt  in  der  in  unruhigem  Gefältel  um  die  Figuren 
gelegten  Gewandung. 

Eine  ganz  besondere  Stellung  gebührt  der  Trierer 


Pfarrkirche  S.  34,  Album  Taf.  8  —  12.  —  Münzenberger  a.  a. 
O.  S.  145,  Taf.  42.  —  Clemen,  Kreis  Kleve  S  68,  Taf.  6.  — 
Renard  in  den  Rheinlanden  S.  34  Tafel.  —  Der  Crispinus¬ 
altar  bei  Wolff  a  a  O.  S.  42,  Album  Taf.  34—38. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


log 


Renaissance.  Das  umfangreichste  Werk  dieser  Schule, 
der  riesige  Aufbau  des  heiligen  Grabes,  den  der  wohl 
von  Burgund  gekommene  Künstler  in  den  Jahren 
1530 — 1531  in  der  Liebfrauenkirche  aufgeführt  hat, 
ist  freilich  vor  vier  Jahrzehnten  durch  einen  Akt  un¬ 
verständlicher  Barbarei,  in  der  Zeit  des  schlimmsten 
Strebens  nach  Stilreinheit,  aus  der  Kirche  entfernt 
worden,  die  köstliche  Architektur  war  dann  im  Garten 
eines  Trierer  Kunstfreundes  aufgestellt  gewesen  und 
soll  erst  jetzt  in  dem  projektierten  Neubau  des  Trierer 
Provinzialmuseums  einen  Ehren¬ 
platz  finden.  Aber  im  Dom  sind 
aus  dieser  Zeit  zwei  Denkmäler 
erhalten,  die  zu  den  erlesensten 
Schöpfungen  der  deutschen  Re¬ 
naissance  überhaupt  gehören. 

Das  erste  ist  das  Grabmal 
des  Kurfürsten  Richard  von  Greif- 
fenclau  aus  den  Jahren  1525  bis 
1527,  schon  bei  seinen  Lebzeiten 
durch  dem  von  der  Ruhmsucht 
der  italienischen  Renaissance  er¬ 
füllten  Kurfürsten  errichtet  (erstarb 
erst  1531  inWittlich).  Die  Behand¬ 


lung  der  Gewandung  zeigt  noch  manche  gotische 
Züge,  der  Aufbau  der  Gruppe  ist  aber  ganz  im  Sinne 
der  Renaissance  erfasst,  die  Einrahmung  endlich  bringt 
einen  ganz  erstaunlichen  Reichtum  von  Ornament¬ 
motiven  in  einer  fast  filigranartigen  Behandlung,  die 
an  französische  Werke  erinnert^).  Und  endlich  das 
Metzenhausendenkmal.  Es  ist  eines  der  vornehmsten 
deutschen  Grabmäler  überhaupt,  vielleicht  das  voll¬ 
endetste  Wandgrab,  das  die  deutsche  Renaissance 
überhaupt  hervorgebracht Deutlich  zeigt  es  den 
Einfluss  römischer  und  venetiani- 


1)  Abbildung  des  Denkmals  in 
den  Reiseaufnahmen  der  Studieren¬ 
den  der  Technischen  Hochschule  zu 
Aachen.  Trier,  Blatt  11.  —  Ortwein, 
Deutsche  Renaissance,  42.  Abt.,  Taf. 
14  u.  15. 

2)  Aufnahmen  bei  Ortwein  a. 
a.  O.  Taf.  7—12.  —  Lübke,  Deutsche 
Renaissance  II,  S.  465.  —  Abb.  bei 
Renardin  den  Rheinlanden  II,  Heft  11, 
Tafel.  Ein  weiteres  Meisterwerk  der 
Porträtplastik  aus  Trier,  das  in  der 
Sakristei  der  Liebfrauenkirche  ver- 


Ähb.  13.  Calcar,  Pfarrkirche.  Crispinusaltar 


1  1  0 


..E  RHi  NISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


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l:-.i  z.deizi  endlich  in 
h  ;  ;  da  :  diese  ganz  frei- 

;  r,  :geer.  Gestalten,  die  die 
sehv/ere  Masse  des  Grabmals 
fast  spielend  nach  oben  aus¬ 
klingen  lassen,  mit  ihrem 
starken  Kontrapost  -  in  der 
Mitte  der  beinahe  tänzelnde 
Christus.  Dabei  die  Details 
von  der  grössten  Schönheit: 
die  auf  Delphinen  reitenden 
Putten  gleichen  denen  am 
Hauptaltar  der  Pfarrkirche 
zu  Annaberg,  den  Adolf 
Dowher  aus  Augsburg  ge¬ 
schaffen  hat,  die  spielenden 
Affen  am  Sockel  den  Figür- 
chen  vom  Fusse  des  Sebal- 
dusgrabes,  und  wie  bei  diesem 
hat  sich  wohl  der  Künstler 
in  dem  bärtigen  Mann  am 
Unterbau,  der  Zirkel  und 
Schlägel  hält,  selbst  abkon¬ 
terfeit. 

Aber  wer  ist  der  Künstler? 
Wo  kommt  er  her?  Hof¬ 
fentlich  werden  wir  bald 
darauf  Antwort  erhalten.  Es 
ist  an  der  Zeit,  dass  diese 
ganze  Trierer  Renaissance 
in  ihrem  gesamten  Verlauf 
bis  zu  Hans  Ruprich  Hoff- 
mann,  dem  Meister  der  Dom¬ 
kanzel  und  des  Marktbrun¬ 
nens,  ihren  Historiker  findet. 
Wir  werden  schon  in  den 
nächsten  Jahren  zwei  Unter¬ 
suchungen  erhalten,  die  diese 
Gebiete  hoffentlich  mit  hellen 
Licht  erfüllen  werden:  eine 
Arbeit  über  die  Kölner  Re¬ 
naissance  von  W.  Ewald 
und  hoffentlich  eine  über 
die  Trierer  Renaissance  von 
Joh.  Bapt.  Wiegand. 


Abb.  14.  Trier,  Dom.  Grabdenkmal  des  Erz 
bischofs  Richard  von  Grciffenclau  aus  den 
Jahren  1525  1527 


Das  weite  Gebiet  der  Qoldschmiedekiinst  übte 
auf  der  Düsseldorfer  Ausstellung  wohl  die  be¬ 
deutendste  Anziehungskraft 
aus:  die  Gelehrten  lockte  die 
einzigartige,  wohl  nie  wieder¬ 
kehrende  Zusammenstellung 
verwandter  Objekte,  die 
Künstler,  die  archaistischen 
wie  die  modernen,  die  Fülle 
der  Vorbilder  und  die  darin 
sich  offenbarende  unerschöpf¬ 
liche  Gestaltungskraft,  und 
die  grosse  Masse  der  Laien 
das  kostbare,  prunkende, 
schimmernde  Material.  Allzu 
einseitig  sind  vielleicht  ein¬ 
zelne  Abteilungen  dieses 
ganzen  grossen  Gebietes  wäh¬ 
rend  der  Sommermonate  in 
den  Vordergrund  geschoben 
und  untersucht  worden:  und 
doch  konnten  die  hier  auf¬ 
gehäuften  Schätze  erst  wirk¬ 
lich  fruchtbar  werden,  wenn 
Treibarbeit  und  Gussarbeit, 
Gravierung  und  Niello,  Fili¬ 
gran  und  Email  nebeneinan¬ 
der  behandelt  und  gewürdigt 
wurden.  Für  die  Geschichte 
unserer  monumentalen  Gold¬ 
schmiedekunst  und  der  ihr 
dienenden  Techniken  ist 
diese  kurze  Ausstellungszeit 
wohl  von  dem  grössten 
Nutzen  gewesen.  Nicht  als 
ob  wichtige  Fragen  hier  durch 
Abstimmung  eines  kleinen 
republikanischen  Gelehrten¬ 
kongresses  zu  entscheiden 
gewesen  wären:  aber  diese 
Zusammenstellung  hat  Anlass 
zu  erneutem  eifrigen  Studium, 
zur  Aussprache,  zum  Ver¬ 
gleiche  gegeben  und  eine 
ganze  Reihe  von  Unter¬ 
suchungen  und  wichtigen 
Veröffentlichungen  angeregt. 

Was  aus  den  kölnischen 
Sammlungen  römischer  Alter¬ 
tümer  an  Goldschmiedewer¬ 
ken  hier  vereinigt  war,  war 
nur  gering  und  stand  in 
keinem  rechten  Verhältnis  zu 
der  Leistungshöhe  dieses 
Kunstzweiges.  Hier  müssen 
die  Provinzialmuseen  zu  Trier 
und  Bonn  und  das  Wallraf- 
Richartz-Museum  in  Köln 


aushelfen,  dessen  römische  Abteilung  im  letzten  jahr¬ 
steckte  Wandepitaph  des  1564  verstorbenen  Kantors  Joh.  zehnt  eine  glänzende  Bereicherung  gefunden  hat.  In 
Segen  war  gleichfalls  iin  Abguss  in  Düsseldorf  ausgestellt.  das  Reich  der  merowingischen  Goldschmiedekunst 


1 1 1 


DIE 


RHEINISCHE  UND  DIE 


WESTEALISCHE 


KUNST 


führten  dann  zwei  merkwürdige  Reliquienkästchen,  das 
Kästchen  aus  dem  Erzbischöflichen  Museum  zu  Ut¬ 
recht  und  das  Taschenreliquiar  aus  dem  Schatz  des 
Dionysiuskapitels  in  Enger,  der  auf  dem  Umweg  über 
die  Johanniskirche  zu  Herford  endlich  in  das  Kunst¬ 
gewerbemuseum  zu  Berlin  gelangt  ist.  Das  nur 
6,2  Centimeter  lange 
Utrechter  Kästchen  i), 
das  vor  mehr  als  zwei 
Jahrzehnten  im  Rhein 
gefunden  ist,  ist  in 
einer  Art  Kerbschnitt¬ 
technik  ornamentiert 
und  auf  der  Vorder¬ 
seite  in  reinem  Olas- 
emai!  verziert,  mit 
roten  Almandinen,  die 
auf  kaltem  Wege  in 
die  kleinen  in  den 
Kupferkern  eingegra¬ 
benen  Gruben  ein¬ 
gelassen  sind.  Das 
kleine  Bijou  ist  ein 
klassisches  Beispiel 
der  einfachsten  ver- 
roterie  cloisonnee, 
ähnlich  wie  an  dem 
ganz  gleichaltrigen 
Reliquiar  von  Saint 
Maurice  d’Agaune^). 

Das  Taschenreli¬ 
quiar  aus  Enger  ^), 
das  eine  alte  Tradition 
als  das  Patengeschenk 
Karl’s  des  Grossen 
an  den  Sachsenherzog 
Wittekind  bezeichnet, 
bringt  dagegen  schon 
eine  gemischte  Tech¬ 
nik:  neben  der  ein¬ 
fachen  Verroterie,  die 
hier  Muster  ähnlich 
wie  an  dem  berühm¬ 
ten  ehemaligen  Kelch 
von  Chelles  zeichnet, 
erscheint  ein  ganz  pri- 


1)  Charles  de  Li¬ 
nas,  Coffret  incruste  et 
emaille  de  Utrecht, 

Paris  1879.  —  Ernest 
Rupin,  L’oeuvre  de  Li¬ 
moges,  Paris  1890,  p.35. 

2)  Charles  de  Linas,  Les  Origines  de  l’orfevrerie 
cloisonnee,  Paris  1887,  III,  pl.  11  u.  12.  —  F.  de  Lasteyrie, 
Histoire  de  l’orfevrerie  p.  77.  —  Ed.  Aubert,  Tresor  de 
l’abbaye  de  Saint  Maurice  d’Agaune,  Paris  1S72,  pl.  11. — 
A.  Venturi,  Storia  dell’arte  Italiana  II,  p.  94. 

3)  Charles  de  Linas,  Les  expositions  retrospectives  en 
1880:  Bruxelles,  Düsseldorf,  Paris,  p.  110,  127.  —  Fr.  Bock, 
Die  byzantinischen  Zellenschnielze  der  Sammlung  Swenigo- 
rodskoi,  Aachen  1896,  S.  368,  Taf.  25. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  5 


Abb.  75.  Trier,  Dom.  Grabdenkmal  des  Erzbischofs 
Johann  von  Metzenhausen  (f  J540) 


mitives  Zellenemail:  die  Farben  sind  zum  Teil  über 
die  Stege  übergetreten  und  verwischen  so  die  Zeich¬ 
nung.  Weit  mehr  als  irgend  eine  andere  zu  dieser 
Gruppe  gehörige  Arbeit  offenbart  sich  dies  Kästchen 
des  8.  Jahrhunderts  als  Barbarenwerk,  mit  derben, 
schweren  Fingern  geschaffen,  ungeschickt  eine  reife 

Technik  nachbildend. 

Dann  kommt  in 
den  nächsten  Jahrhun¬ 
derten  für  West¬ 
deutschland  eine  Pe¬ 
riode  langsamer  Re¬ 
zeption  byzantinischer 
Kunst  -  auf  dem 
Wege  des  Imports, 
des  friedlichen  und 
des  gewaltsamen,  als 
Kaufware,  Geschenke 
und  als  Beutestücke 
gelangen  zahlreiche 
Werke  der  Kleinkunst 
nach  dem  deutschen 
Westen.  Man  darf 
sich  freilich  keine 
dauernden  Beziehun¬ 
gen  vorstellen:  der 
Einfluss  wirkt  inter¬ 
mittierend,  stossweise. 
Auch  keinen  Massen¬ 
import:  denn  das 

Byzantinische  war 
immer  zugleich  im 
Material  das  Kostbare. 
Nur  die  Goldschmie¬ 
dewerkstätten  wurden 
wohl  regelmässig  von 
den  Geschäftsreisen¬ 
den  byzantinischer 
Exportfirmen  besucht : 
was  diese  verkauften, 
das  waren  vor  allem 
Halbedelsteine  und 
kleine  viereckigeTäfel- 
chen,  mit  zarten  sym¬ 
metrischen  Ornamen¬ 
ten  in  Zellenemail  be¬ 
deckt,  oft  wohl  in 
langen  Streifen  und 
gar  nicht  auseinander 
geschnitten.  Diese 
Würfelchen  wurden 
dann  auf  Buchdeckeln, 
auf  Prachtkreuzen, 
auf  Reliquiaren  von  den  einheimischen  Künstlern  mit 
grösserem  oder  geringerem  Geschmack  angebracht 
und  verteilt  —  auf  dem  kostbaren  Deckel  des 
karolingischen  Evangeliars  aus  dem  Münsterschatz  zu 
Aachen  getrennt*),  auf  dem  Deckel  einer  Evangelien- 

1)  Abb.  bei  Bock,  Karl’s  des  Grossen  Pfalzkapelle 
und  ihre  Kunstschätze,  Fig.  26,  S.  55.  —  aus’m  Weerth, 
Kunstdenkmäler,  Taf.  34,  2;  Text  II,  S.  94. 

15 


112 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


handsclirift  im  Donischatz  zu  Trier’)  noch  in  Streifen 
unaufgeteilt.  Noch  an  den  Vortragskreuzen  in  der 
Schatzkammer  zu  Essen  werden  diese  kleinen  Email¬ 
blättchen  verwendet,  zum  Teil  ganz  willkürlich  — 
auf  dem  Kreuz  der  Äbtissin  Theophanu  (1039 — 1054) 
Täfelchen,  die  ursprünglich  zu  dem  kreisförmigen 
Nimbus  einer  ^'igur  gehörten'“).  Dass  der  Essener 
Schatz  fehlie,  wurde  vielleicht  am  schmerzlichsten  in 
Düsseldorf  etnpfnnuen,  schmerzlicher  noch  als  das 
Fernbleiben  des  Limburger  Domschatzes.  Allzu  ängst¬ 
lich  fast  hütet  der  Essener  Kirchenvorstand  seine 
Kostbarkeiten.  Hoffentlich  rückt  dafür  in  Bälde  die 
seit  einem  Jahrzehnt  schon  vorbereitete  grosse  Publi¬ 
kation  Georg  Humann’s,  des  besten  und  berufensten 
Kenners  der  Essener  Kunstschätze,  diese  gesamten 
Kunstwerke  in  das  vollste  Licht  der  Öffentlichkeit. 

Als  derbe  byzantinische  Arbeit  der  späteren  Zeit 
wurde  eine  Staurothek  vorgestellt,  die  vor  wenigen 
Jahren  in  Italien  für  die  Sammlung  des  Freiherrn 
Albert  von  Oppenheim  in  Köln  erworben  wurde®). 
Der  Kern  ist  Silber,  Platten  von  durchsichtigem 
Zellenschmelz  auf  Goldgrund  verkleiden  ihn.  Die 
Zeichnung  des  Deckels  mit  der  Kreuzigung  erinnert 
sehr  auffällig  an  die  Vorderseite  des  einen  byzan¬ 
tinischen  Deckels  in  der  Schatzkammer  der  Markus¬ 
kirche  zu  Venedig'’),  die  Halbfiguren  von  Heiligen 
auf  der  Seite  fast  an  russische  Arbeiten.  Doch  scheint 
die  Vorlage  des  Deckels  sich  ohne  Zwang  in  eine 
Gruppe  von  verwandten  byzantinischen  Arbeiten  ein¬ 
zureihen;  ähnliche  Christusdarstellungen,  nur  mit  dem 
Kolobion  bekleidet,  enthält  das  Muttergottesbild  von 
Chachuli  im  mingrelischen  Kloster  Gelat,  das  Kreuz, 
das  aus  der  Sammlung  Beresford  Hope  im  Jahre 
1886  für  das  South- Kensington  -  Museum  erworben 
ward,  endlich  das  Kreuz  der  Sammlung  Goluchöw®). 

Wie  solche  byzantinische  Emailplättchen  in  deut¬ 
schen  Goldschmiedewerkstätten  Verwendung  fanden, 
zeigt  auch  der  prachtvolle  Goldschmuck  aus  dem 
Besitz  des  Freiherrn  Max  von  Heyl  in  Darmstadt, 
ln  Deutschland  ist  er  ganz  ohne  Parallele,  nur  die 
Briistagraffe  mit  dem  emaillierten  Adler  findet  in  dem 
Adlerschmucke  des  Mainzer  Museums  ein  Gegen¬ 
stück®).  Der  ganze  Schatz,  der  in  der  Behandlung 


1)  Abb.  bei  aus’m  Weerth  a.  a.  O.  III,  S.  84,  Taf.  57,  3. 

2)  Über  den  Essener  Schatz  vergl.  aus’m  Weerth  II, 
S.  22,  Taf.  24  29.  —  Clemen,  Kunstdenkmäler  der  Rhein¬ 
provinz.  Stadt  und  Kreis  Essen,  S.  42  mit  Litteratur.  Die 
Hauptstücke  waren  auf  der  kunsthistorischen  Ausstellung 
zu  Köln  1876.  Vergl.  Katalog  Nr.  535,  538,  539,  542—46, 
557-62,  575-79,  581,  583- 

3)  Abb.  bei  Bock,  Die  byzantinischen  Zellenschmelze, 
S.  169,  Taf.  8. 

4)  Der  Deckel  bei  Antonio  Pasini,  II  tesoro  di  San 
Marco  in  Venezia,  Venedig  1885,  pl.  6.  Vergl.  Labarte, 
Histoire  des  arts  industriels  III,  p.  419.  —  W.  Kondakow, 
Geschichte  und  Denkmäler  des  byzantinischen  Emails 
S.  100,  185. 

5)  Das  letztere  abgeb.  in  Collections  du  chäteau  de 
GoJuchöw.  L’orfevrerie  par  W.  Froehner  p.  76,  pl.  18. 
Schon  beschrieben  von  Ch.  de  Linas  i.  d.  Revue  de  l’art 
chretien  XXXI,  1881,  p.  288. 

6)  Die  Agraffe  des  Mainzer  Museums  ist  im  j.  1880 


und  Verwendung  des  Emails,  in  der  Filigran-  und 
Granuliertechnik  eine  erstaunliche  Feinheit  aufweist, 
und  der  wohl  eines  der  letzten  Stücke  ist,  an  dem 
antike  Kameen  und  Intaglien  in  solcher  Fülle  zum 
Schmuck  benutzt  wurden,  ist  aber  erst  in  Verbindung 
mit  den  Altertümern  Russlands  zu  verstehen  ’).  Vor 
allem  sind  die  Schätze  der  Eremitage  hier  zu  ver¬ 
gleichen.  Ähnliche  Schmuckstücke  in  der  Form  eines 
hohen  goldenen  Knopfes  finden  sich  auch  sonst  in 
abendländischen  Sammlungen,  eines  im  Clunymuseum, 
andere  im  Museum  zu  Kopenhagen,  im  britischen 
Museum.  Besonders  charakteristisch  für  die  byzan¬ 
tinische  Technik  sind  die  Fingerringe  —  mit  dem 
schönsten  dürfte  der  Ring  im  Nationalmuseum  zu 
Pest  und  ein  anderer  in  der  Sammlung  des  Grafen 
Bobrinski  in  Petersburg  zu  vergleichen  sein'’)  Wir 
haben  hier  wohl  den  Schmuck  einer  deutschen 
Fürstin  aus  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts 
vor  uns,  die  sich  aber  ganz  nach  byzantinischer  Art 
kostümiert  haben  muss:  die  grossen  Schmuckgehänge, 
die  von  dem  Kopfschmuck  bis  auf  die  Brust  herab¬ 
baumelten,  sind  den  byzantinischen  Kaiserinnen  ent¬ 
lehnt.  Und  vor  allem  in  den  schweren  halbmond¬ 
förmigen  Ohrringen  lebt  noch  ganz  die  antike  Tra¬ 
dition  nach.  Schwer  ist  es,  hier  ganz  das  byzan¬ 
tinische  Material  und  die  deutsche  Arbeit  zu  sondern. 
Die  kleinen  ovalen  Ornamente  mit  der  regelmässigen 
Palmette  kommen  an  den  grossen  goldenen  Ohr¬ 
gehängen  der  Sammlung  Swenigorodskoi,  ebenso 
aber  auch  an  den  Langseiten  des  Trierer  Andreas¬ 
schreins  vor.  Wo  liegt  die  Grenze? 

Ein  halbes  Jahrhundert  vorher  aber  ist  schon  in 
Trier  der  Übergang  zu  der  byzantinischen  Technik 
des  Zellenemails  gelungen.  Waren  wandernde  byzan¬ 
tinische  Goldschmiede  selbst  die  Künstler  oder 
nur  die  Lehrmeister  oder  haben  Fremde  im  Verein 
mit  einheimischen  Kräften  jene  ersten  Arbeiten  be¬ 
gonnen?  Es  ist  eine  stattliche  Zahl  von  Werken 
noch  heute  übrig,  die  von  der  Fruchtbarkeit  und 
von  der  erstaunlichen  Leistungsfähigkeit  jener  Schule 
Kenntnis  giebt  —  und  zum  erstenmal  vermögen 
wir  hier  auf  dem  Gebiete  der  Goldschmiede¬ 
kunst  innerhalb  der  deutschen  Grenzen  von  einer 
ausgesprochenen  Schule  zu  reden.  Die  Hauptwerke 
gruppieren  sich  um  die  Person  des  Trierischen 
Bernward,  des  grossen  Kirchenfürsten  Egbert  (975 
bis  993).  Der  Ruhm  seiner  Schule  war  damals  weit 

in  Mainz  gefunden.  Vergl.  darüber  eingehend  Ch.  de  Linas, 
Les  expositions  retrospectives  en  1880,  p.  128.  —  Fr. 
Schneider  i.  d.  Jahrbüchern  des  Vereins  von  Altertums¬ 
freunden  i.  Rheinlande  LXIX,  S.  115.  —  Bock,  Die  byzan¬ 
tinischen  Zellenemails  S.  384,  Taf.  29.  —  Farbige  Abb.  i. 
d.  Zs.  d.  Vereins  z.  Erforschung  d.  rheinischen  Geschichte 
u.  Altertümer  III,  1883,  Heft  2. 

1)  Der  Heyl’sche  Schatz  ist  gewürdigt  bei  Kondakow, 
a.  a.  O.  S.  259.  Eingehend  über  die  verwandte  Art  des 
byzantinischen  Schmuckes  ebendort  S.  325. 

2)  Das  eine  Schmuckstück  im  Clunymuseum  bei  de 
Linas,  Les  origines  de  l’orfevrerie  cloisonnee  I,  pl.  5  bis. 
—  Über  den  Fester  Ring  vergl.  Katalog  der  Ausstellung 
1884.  —  A  Magyar  törteneti  ötvösmü  Kiällitäs,  Abt.  III, 
Nr.  1,  138. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


113 


über  die  Grenzen  der  Erzdiözese  gedrungen,  bis  nach 
Reims  und  an  den  Kaiserhof.  Reims  hatte  seit  den 
Tagen,  da  es  die  eigentliche  Hauptstadt  der  römischen 
Provinz  bildete,  der  auch  Trier  angehörte,  immer 
enge  Verbindung  mit  der  Moselstadt  behalten,  aus 
Reims  wendet  sich  der  Erzbischof  Gerbert,  der  nach¬ 
malige  Papst  Silvester  II.,  an  den  Trierer  Erzbischof 
mit  der  Bitte,  allerlei  Altargerät  für  ihn  in  seiner  be¬ 
rühmten  Werkstatt  anfertigen  zu  lassen,  und  er  er¬ 
bittet  vor  allem  eines:  die  adiectio  vitri,  das  Email'). 
* 

* 

Ein  Werk  vor  allem  bleibt  mit  dem  Namen 
Egbert’s  verbunden:  der  Reliquienschrein  des  heiligen 
Andreas  (vergleiche  die  farbige  Tafel)  im  Domschatz 
zu  Trier-).  Es  ist  ein  Tragaltar  und  zugleich  ein 
Reliquienschrein.  Ein  ganz  kleines  Stück  eines 
flammenförmig  gemusterten  antiken  römischen  Glas¬ 
flusses  dient  als  Altarstein.  Man  möchte  das  kost¬ 
bare  Stück  die  vollendetste  deutsche  Goldschmiede¬ 
arbeit  des  10.  Jahrhunderts  nennen.  Es  befriedigt 
selbst  unsere  modernen  Künstler,  die  durch  die  zarten 
Reize  japanischer  Kunst  verwöhnt  sind.  Die  kolo¬ 
ristische  Wirkung  ist  eine  ganz  einzige:  die  mattgelben 
Beinplatten,  mit  denen  der  Kern  verkleidet  ist,  bilden 
die  Vermittlung  zwischen  dem  schmalen  Rahmen  und 
den  kleinen  figurierten  Feldern,  ln  dem  Rahmen 
wechseln  Platten  mit  grossen  Edelsteinen  oder  Perlen 
in  Kästchenfassung  mit  Plättchen  in  Zellenemail,  ein 
goldenleuchtender  Fuss,  reich  mit  Perlen  besetzt, 
krönt  den  Deckel.  Die  Bestimmung  des  merkwür¬ 
digen  Stückes  giebt  die  Inschrift:  der  Kasten  sollte 
neben  anderen  Reliquien  eine  der  Sandalen  des 
Apostels  Andreas  bergen.  An  der  einen  Schmalseite 
ist  eine  kostbare  merowingische  Rundfibel  eingelassen, 
in  rotem  Zellenglasemail  verziert,  in  der  Mitte  eine 
byzantinische  Goldmünze  justinian’s  II.  In  den 
kleinen  roten  herzförmigen  Verzierungen,  die  zu  je 
vier  um  die  Edelsteine  herumgestellt  sind,  lebt  noch 
die  alte  Verroterie,  im  übrigen  aber  zeigt  der  Schrein 
das  köstlichste  Zellenemail  und  zwar  in  zwei  ver¬ 
schiedenen  Techniken.  An  den  Schmalseiten  reines 
Zellenemail,  auf  eine  goldene  Platte  dünne  goldene 
Stege  aufgelötet  und  in  diese  die  Farbe  eingelassen. 
Auf  den  Langseiten  ist  dafür  in  den  massiven  goldenen 

1)  Die  Briefe  Gerbert’s  an  Egbert  bei  Migne,  Patro- 
logia  Bd.  CXXXVII,  p.  514.  Vergl.  Marx  i.  d.  Trierer 
Mitteilungen  des  archäologisch-historischen  Vereins  I,  S. 
132.  —  Vergl.  auch  Sauerland,  Trierer  Geschichtsquellen 
d.  11.  Jh.  S.  116.  Über  die  ganze  Frage  handelt  St.  Beissel, 
Erzbischof  Egbert  u.  d.  byzantinische  Frage:  Stimmen 
aus  Maria  Laach  XXII,  S.  260. 

2)  Die  gleichzeitige  Inschrift  auf  dem  Deckel  nennt 
den  Erzbischof  als  den  Auftraggeber:  Hoc  sacrum  reli- 
quiarum  conditorium  Egbertus  archiepiscopus  fieri  iussit . . . 
Abb.  bei  aus’m  Weerlh,  Kunstdenkmäler  I,  3,  S.  78,  Taf.  55. 
—  Leon  Palustre,  Le  tresor  de  Treves  p.  6,  pl.  3^5.  — 
Bock,  Die  byzantinischen  Zellenschmelze  der  Sammlung 
Swenigorodskoi  S.  93,  Taf.  3  u.  4.  —  Vergl.  Kraus,  Bei¬ 
träge  zur  Trierer  Archäologie  und  Geschichte  I,  S.  150. 
Die  Inschrift  vollständig  bei  Kraus,  Die  christlichen  In¬ 
schriften  der  Rheinlande  II,  Nr.  353. 


Platten  zunächst  eine  Grube,  ein  Bett,  gegraben,  in 
das  dann  die  dünnen  Stege,  die  die  einzelnen  Farben 
trennen  sollen,  eingelötet  sind.  Liegt  nicht  hier 
schon  eine  Art  gemischtes  Email  vor,  wie  wir  das  an 
den  späteren  rheinischen  Schreinen  treffen?  Trotz  der 
grossen  Verschiedenheiten  sind  diese  beiden  Gattungen 
von  Emails  doch  Arbeiten  einer  Schule,  einer  Werk¬ 
statt.  Sie  weisen  zu  viel  Verschiedenheiten  von  den 
echten  byzantinischen  Schöpfungen  auf,  um  sie  für 
Byzanz  in  Anspruch  zu  nehmen:  man  vergleiche  nur 
einmal  die  Zeichnung  der  Ornamente  und  die  Technik 
auf  gleichzeitigen  rein  byzantinischen  Werken,  etwa 
auf  der  nur  um  dreissig  Jahre  älteren  Kreuzestafel  in 
Limburg,  die  um  940  für  Constantinus  Phorphyro- 
genitus  und  Romanus  II.  Lecapenus  geschaffen  ist'), 
oder  mit  den  Buchdeckeln  in  der  Bibliothek  zu  Siena 
und  im  Domschatz  zu  Venedig.  Wollte  man  etwa 
die  Platten  mit  den  Evangelistensymbolen  als  byzan¬ 
tinisch  ausscheiden,  so  müsste  man  doch  auch  die 
ganz  verwandten  Platten  mit  den  Evangelistensym¬ 
bolen  auf  dem  oberen  Teile  der  Hülle  zum  Stabe 
Petri  im  Limburger  Domschatze  ausscheiden,  der  ja 
aber  als  Leistung  der  Trierer  Werkstatt  Egbert’s  aus 
dem  Jahre  980  inschriftlich  bezeugt  ist'-). 

Es  kommt  noch  ein  anderes  Hauptwerk  der 
Emailkunst  hinzu,  das  durch  die  rühmliche  Liberalität 
des  Direktors  des  Gothaer  Museums  in  Düsseldorf 
neben  den  Andreasschrein  gestellt  werden  konnte: 
der  Deckel  des  berühmten  Echternacher  Kodex®).  Der 
gleiche  Farbenaccord  wie  beim  Andreasschrein:  Elfen¬ 
bein,  Goldblech,  Zellenemails  und  Edelsteine.  In 
der  Mitte  steht  die  prächtige  Elfenbeinplatte  mit  der 
Kreuzigung,  das  Hauptwerk  jener  seltsamen  Schnitzer- 


1)  Die  Tafel  veröffentlicht  von  E.  aus’m  Weerth,  Das 
Siegeskreuz  der  byzantinischen  Kaiser  Constantinus  VII. 
Porphyrogenitus  und  Romanus  II.  und  der  Hirtenstab 
des  Apostels  Petrus,  Bonn  1866.  —  Vergl.  Annales  archeo- 
logiques  XVII,  p.  337;  XVIII,  p.  42.  Labarte,  Histoire 
des  arts  industriels  II,  p.  83.  —  Kondakow,  Geschichte  u. 
Denkmäler  des  byzantinischen  Emails  S.  20Q.  Die  In¬ 
schriften  genau  bei  Kraus,  Die  christlichen  Inschriften  II, 
S.  312.  Übrigens  erwähnt  Brower,  Annales  Trevirenses  11, 
p.  ro2  als  in  dem  Kloster  Stuben  befindlich  (woher  auch 
die  Limburger  Tafel  stammt)  noch  zwei  weitere  grosse 
byzantinische  Reliquiare,  die  alle  aus  der  Konstantinopoli- 
tanischen  Beute  des  Ritters  Heinrich  von  Ulmen  her¬ 
rühren. 

2)  Die  Stabhülle  bei  aus’m  Weerth,  Das  Siegeskreuz 
S.  15,  Taf.  4.  Vergl.  auch  Bock,  Die  byzantinischen  Zellen¬ 
emails  S.  115. 

3)  Über  den  Deckel  vergl.  v.  Quast  und  Otte  in  der 
Zs.  f.  christliche  Archäologie  u.  Kunst  II,  S.  240.  —  v.  Quast 
und  de  Verneilh  im  Bulletin  monumental  XXVI,  S.  115. 
Scharfe  Abbildungen  der  Goldplatten  bei  Stacke,  Deutsche 
Geschichte  1,  S.  281  und  bei  Otte,  Handbuch  der  Kunst¬ 
archäologie  1,  S.  175,  Taf.  Die  Inschriften  bei  Kraus, 
Christliche  Inschriften  II,  Nr.  334.  Die  ganze  Litteratur 
über  die  Handschrift  bei  Vöge,  Eine  deutsche  Malerschule 
um  die  Wende  des  1.  Jahrtausends  S.  381.  Ich  habe  nach 
sämtlichen  Bildern,  Vorsatzblättern  und  Zierblättern  der 
Handschrift  während  der  Ausstellung  vorzügliche  Auf¬ 
nahmen  24x30  cm  hersteilen  lassen;  die  Platten  befinden 
sich  im  Denkmälerarchiv  der  Rheinprovinz. 


5 


114 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


Persönlichkeit  vom  Ende  des  lo.  Jahrhunderts,  rundum 
acht  getriebene  Goldplatteii  mit  den  Darstellungen 
der  Evangelistensymbole,  der  Paradiesesflüsse  und 
von  einzelnen  Heiligen  und  gleichzeitigen  Persönlich¬ 
keiten,  darunter  Otto  111.  und  Theophanu.  Da  Otto 
als  rex  und  Theophanu  als  imperatrix  bezeichnet 
sind,  kann  der  Deckel  nur  während  der  Vormund¬ 
schaft  der  Theophanu  in  den  Jahren  983-  991  ent¬ 
standen  sein.  Die  zierlichen  Emails  stimmen  in 
Zeichnung  und  Farbe  fast  völlig  mit  denen  an  den 
Schmalseiten  des  Andreasschreiiis  überein:  kein  Zweifel, 
dass  wir  hier  Arbeiten  der  gleichen  Werkstatt,  fast 
der  gleichen  Hände  vor  uns  haben.  Und  endlich 
gehören  hierher  noch  zwei  Stücke,  die  in  Düsseldorf 
zu  Füssen  des  Andreasschreines  Platz  gefunden 
hatten:  der  nach  der  Tradition  von  der  Mosel  stam¬ 
mende  Rahmen  aus  Goldblech  mit  Zellenemails,  ur¬ 
sprünglich  wohl  die  Einfassung  eines  Steines  von 
einem  Tragaitar,  aus  dem  Beuth-Schinkehnuseum  in 
BerliiU),  und  die  Hülle  des  Nagels  vom  heiligen 
Kreuze,  die  jahrhundertelang  in  dem  Andreasschrein 
selbst  gelegen  hat,  in  dem  Dekor  von  wundervoller 
Reinheit,  fast  klassisch  in  der  Verwendung  des  Orna¬ 
mentes-).  Zuletzt  ist  hier  noch  anzureihen  das  Kreuz 
aus  dem  Schatze  der  St.  Servatiuskirche  zu  Maastricht, 
dessen  elfenbeinerner  Kruzifixus  gleichfalls  von  der 
Hand  jenes  berühmten  Schnitzers  herrührt,  und  dessen 
Rahmen  wiederum  mit  kleinen  Zellenschmelztäfelchen 
dekoriert  ist'*). 

Am  Schluss  dieser  deutschen  Zelleneinails  steht 
die  merkwürdige  Goldplatte  mit  der  sitzenden  Figur 
des  heiligen  Severin  aus  der  Kirche  St.  Severin  in 
KöhU).  Die  Technik  ist  vollendet  schön,  die  Gold¬ 
lamellen  der  Stege  sind  von  der  äussersten  Zierlich¬ 
keit,  fast  wie  bei  japanischen  Arbeiten,  die  Farben¬ 
gebung  eine  wunderbar  harmonische.  Die  Platte 
stammt  nicht  etwa  von  dem  einen  Vortragekreuz  aus 
St.  Severin,  sondern  von  dem  Reliquienschrein  des 
Heiligen,  der  nach  der  von  Gelenius  aufbewahrten 
Inschrift  unter  dem  Erzbischof  Heriman  111.  (1089 
bis  1099)  gefertigt  war:  an  dem  Ziergiebel  der  einen 
Schmalseite  war  dies  Medaillon  eingelassen.  Das 
giebt  zugleich  das  Datum  für  diese  Platte.  Bis  hart 
an  den  Schluss  des  11.  Jahrhunderts  hat  sich  hier 
das  Zellenemail  in  den  Rheinlanden  erhalten. 

Im  12.  und  13.  Jahrhundert  stehen  die  grossen 

1)  Die  Platte  abgebildet  bei  Bock,  Die  byzantinischen 
Zellenschmelze  der  Sammlung  Swenigorodskoi  S.  379, 
Taf.  27.  —  Vergl.  Julius  Lessing,  Die  kunstgewerblichen 
Altertümer  im  Beuth-Schinkelmuseum  zu  Berlin. 

2)  Der  Nagel  abgeb.  bei  aus’rn  Weerth,  Knnstdenk- 
mäler  111,  S.  82,  Taf.  55,  2.  —  Bock,  Die  byzantinischen 
Zellenschmelze  S.  106,  Taf.  5. 

3)  Abgeb.  bei  Bock  u.  Willemsen,  Der  mittelalterliche 
Kunst-  und  Reliquienschatz  zu  Maastricht,  Düsseldorf  1872. 
—  Willemsen,  Het  Heiligdom  van  St.  Servaas  te  Maastricht, 
Maastricht  1888,  S.  16.  —  Bock,  Die  byzantinischen  Zellen¬ 
schmelze  S.  313. 

4)  Abb.  bei  Bock,  Das  heilige  Köln.  S.  Severin  S.  5, 
Taf.  51.  Vergl.  Kraus,  Christliche  Inschriften  11,  Nr.  591. 


Reliqiiienschreinc  im  Mittelpunkt  der  westdeutschen 
Goldschmiedekunst.  Sie  bergen  die  vornehmsten 
Reliquien,  sie  stellen  selbst  die  vornehmsten  Heilig¬ 
tümer  der  hervorragendsten  Kirchen  dar;  alles,  was 
die  Kirche,  das  Kapitel  an  kostbarem  Material,  an 
Edelmetall,  an  Edelsteinen  besitzt,  wird  auf  sie  ge¬ 
häuft.  Auch  als  künstlerische  Leistungen  stehen  diese 
grossen  Werke  durchaus  voran,  wir  dürfen  annehmen, 
dass  nur  die  ersten  künstlerischen  Kräfte  hier  mit- 
arbeiten  durften.  ln  heiligem  Wetteifer  haben  so 
Goldschmiede,  Modelleure,  Bronzebildner,  Emailleure, 
Filigranarbeiter  zusammengewirkt,  um  ihrer  Kirche 
ein  neues  Heiligtum  zu  schaffen.  Oft  ist  jahrzehnte¬ 
lang  an  ihnen  gearbeitet  worden.  Nicht  der  Mangel 
der  Mittel  war  es,  was  die  Fertigstellung  verzögerte: 
in  jahrelanger  Arbeit  wurde  eine  Seite  nach  der 
anderen  modelliert,  getrieben,  vergoldet,  eine  Email¬ 
platte,  eine  Emailbüchse  nach  der  anderen  wurde 
fertiggestellt,  und  das  Fertige  dann  auf  den  Holz¬ 
kern  aufgenagelt.  Die  Art  der  Aufstellung  kam 
diesem  Verfahren  nur  entgegen:  die  Schreine  stan¬ 
den,  wie  der  von  Xanten  noch  heute  in  einem 
Altaraufbau,  in  dem  nur  die  Stirnseite  sichtbar  war; 
hatte  diese  ihren  Schmuck  erhalten,  so  konnten 
die  übrigen  Seiten  gut  noch  ein  paar  Jahrzehnte 
warten.  Der  Schrein  der  heiligen  drei  Könige  in 
Köln  ist  bald  nach  1164  begonnen  und  erst  in  der 
1.  Hälfte  des  1 3.  Jahrhunderts  vollendet  worden,  noch 
Otto  IV.  trägt  als  König  zu  seiner  Fertigstellung  bei; 
der  Reliquienschrein  Karl’s  des  Grossen  in  Aachen 
wurde  bald  nach  1165  angefangen  —  erst  im  Jahre 
1215  war  er  vollendet.  Es  ist  bei  der  Kritik  dieser 
Schreine  eben  zu  beachten,  dass  sie  oft  genug  die 
künstlerische  Entwickelung  einer  ganzen  Generation 
von  Goldschmieden  vorführen. 

Das  Rheinland  schafft  hier  in  der  heroischen  Zeit 
des  deutschen  Mittelalters  auf  dem  Gebiet  der  Gold¬ 
schmiedekunst  etwas,  dem  das  übrige  Deutschland 
und  dem  auch  Frankreich  und  Italien  nichts  an  die 
Seite  zu  stellen  haben.  Wo  ist  in  der  Welt  wieder 
ein  solches  mit  Kostbarkeiten  aller  Art  überladenes 
Gehäuse  geschaffen  worden  wie  der  Dreikönigeschrein 
in  Köln! 

Die  eigentliche  Heimat  dieser  Schreine  ist  das 
niedere  Rhein-  und  Maasgebiet.  Am  Niederrhein  ist 
Köln  der  Stützpunkt  und  das  Centrum,  im  Gebiet  der 
niederen  Maas  giebt  es  einen  solchen  Mittelpunkt  nicht: 
Mastricht,  Stavelot,  Huy,  Namur  treten  gleichzeitig 
hervor,  und  zwischen  beiden  Stromgebieten,  als  Ver¬ 
mittlerin  zum  einen  wie  zum  anderen  liegt  Aachen. 
Das  ist  vor  allem  im  Auge  zu  behalten,  dass  die 
Goldschmiedekunst  dieses  ganzen  grossen  Gebietes 
einen  ausgesprochenen  gemeinschaftlichen  Stilcharakter 
zeigt.  Erst  wenn  dies  Gemeinschaftliche  erfasst  ist, 
darf  die  Auflösung  in  Lokalschulen  beginnen.  Vor 
allem  auch  die  grossen  Schreine  haben  einen  im 
wesentlichen  übereinstimmenden  Zug;  ihre  Herstellung 
scheint  geradezu  auf  dies  Gebiet  beschränkt  gewesen 
zu  sein.  Die  wenigen  französischen  grossen  Reliquien- 
tumben,  die  uns  erhalten  sind,  haben  eine  ganz 
andere  Gestalt,  ganz  andere  Verzierungsart:  etwa  die 


Abb.  i6.  Qofba,  Museum.  Deckel  des  lichteniacher  Kodex 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


1  1 6 

von  Moissat-Bas  (Piiy-de-D6me)  oder  die  von  Ambazac 
(Haute  Vienne)’).  Ohne  das  heute  noch  in  Belgien 
und  der  holländischen  Provinz  Limburg  erhaltene 
Material  ist  aber  eine  kunstgeschichtliche  Kritik  dieser 
wichtigsten  (uiippe  von  Goldschmiedewerken  ganz 
unmöglich;  sowohl  die  Geschichte  der  Kleinplastik 
wie  des  Emails  wird  ohne  ihre  Hinzuziehung  immer 
in  der  Luft  hängen  bleiben. 

Ich  nenne  hier  die  wichtigsten  der  auswärtigen 
Stücke.  Da  ist  zunächst  der  Schrein  des  heiligen 
Hadelin  in  der  Kirche  zu  Vise,  der  früheste  dieser 
Gruppe,  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  1 2.  Jahrhunderts 
begonnen-),  dann  die  verwandten  beiden  Schreine 
der  heiligen  Domitian  und  Mangold  in  der  Kollegiat- 
kirche  zu  Huy.  Weiter  zwei  der  Hauptstücke,  der 
Schrein  des  heiligen  Servatius  in  der  Servatiuskirche 
zu  Maastricht-'),  und  der  Schrein  des  heiligen  Remaclus 
zu  Stavelot-*).  Die  beiden,  etwa  um  ein  halbes  Jahr¬ 
hundert  auseinanderliegenden  Schreine  sind  um  so 
wertvoller,  weil  sie,  im  Gegensatz  zu  den  Schreinen 
von  Siegburg  und  von  St.  Pantaleon,  den  Figuren¬ 
schmuck  noch  intakt  bewahrt  haben.  Endlich  sind 
noch  der  Schrein  der  heiligen  Ode  in  der  Kollegiat- 
kirche  zu  Amay  zu  nennen,  am  Schlüsse  zwei 
engverwandte  Hauptstücke,  die  zusammen  wieder 
auf  das  deutlichste  die  Verwandtschaft  mit  Aachen 
zeigen:  der  Schrein  des  heiligen  Eleutherius  in 
der  Kathedrale  zu  Tournai’’’)  und  der  der  heiligen 
Julia  in  Jouarre*’),  der  erstere  1247,  der  zweite  1240 


1)  Die  beiden  Schreine  abgebildet  bei  E.  Rupin, 
L’oeuvre  de  Limoges  p.  123,  142,  pl.  18  n.  19.  Dazu 
L.  Palnstre  et  Barbier  de  Montault,  Orfevrerie  et  emaillerie 
limonsine  cap.  IV. 

2)  Vergl.  Bulletin  de  la  societe  d’art  et  d’histoire  du 
diocese  de  Liege  VI,  p.  173.  —  Jos.  Demarteau,  A  travers 
l’exposition  d’art  ancien  au  pays  de  Liege  p.  86.  — 
J.  Destree,  La  chässe  de  St.  Hadelin:  Annales  de  la  societe 
archeologique  de  Bruxelles  IV,  i8go,  p.  283.  —  Charles 
de  Linas,  L’art  et  rindustrie  d’autretois  dans  les  regions 
de  la  Meuse  Beige,  Paris  1882,  p.  49. 

3)  Abgeb.  bei  Bock  n.  Willernsen,  Der  mittelalterliche 
Kunst-  und  Reliciuienschatz  zu  Maastricht,  Düsseldorf  1872. 
—  Willernsen,  Het  Heiligdom  von  St.  Servaas  te  Maastricht 
p.  4. 

4)  Jules  Helbig,  La  sculpture  au  pays  de  Liege  p.  74, 
pl.  13.  —  A.  de  Noue,  La  chässe  de  Saint  Remacle  ä 
Stavelot:  Publications  de  l’academie  archeologique  de 
Belgique  1866.  —  Vergl.  Harless  und  ans’m  Weerth,  Der 
Reliquien-  und  Ornamentenschatz  der  Abteikirche  zu  Stablo: 
Jahrbücher  d.  Vereins  v.  Altertumsfreunden  i.  Rheinlande 
LXVl,  S.  135- 

5)  Le  maistre  d’Anstaing,  La  chässe  de  Saint  Eleu- 
there:  Annales  archeologiques  Xlll,  p.  57,  113.  —  Leon 
Oaucherel  et  le  maistre  d’Anstaing,  la  chässe  de  Saint 
Eleuthere,  Tournay  1854.  —  Ysendyck,  Documents  classes 
de  l’art  dans  les  Pays-Bas,  chässes  pl.  6.  —  Revue  de  l’art 
chretien  N.  E.  Vlil,  p.  188.  —  Dehaisnes,  Hist,  de  l’art 
dans  la  Flandre,  l’Artois  et  le  Hainaut,  Lille  1886,  p.  110, 
pl.  3.  —  Ders.,  Documents  et  extraits  divers  concernant 
l’histoire  de  l’art  dans  la  Eiandre  etc.  I,  p.  58  giebt  die 
Übertragung.  —  Didron  i.  Bull,  des  commissions  d’art  et 
d’archeologie  de  Belgique  XV,  p.  191. 

6)  Annales  archeologiques  VIII,  p.  136,  260,  295; 


vollendet.  Die  Tumba  der  h.  Gertrud  in  Nivelles  ge¬ 
hört  schon  ganz  in  die  Herrschaft  der  Gotik,  ähn¬ 
lich  wie  der  Suitbertusschrein  zu  Kaiserswerth  —  sie 
ist  erst  1272  begonnen  und  als  Künstler  werden 
Nicolas  de  Douai  und  Jacques  de  Nivelles  genannt, 
die  nach  der  Zeichnung  des  maistre  Jakemon  l’orfevre, 
Mönch  zu  Anchin,  arbeiten  müssen.’)  Der  Schrein 
von  Jouarre,  ins  Departement  Seine-et-Marne  ver¬ 
schlagen,  giebt  sich  doch  ohne  weiteres  als  zugehörig 
zu  jener  Maasgruppe,  deren  Ausläufer  bis  Tournai 
reichen.  Ein  paar  kleinere  Reliquiare  sind  wie  die 
Stirnseiten  solcher  Schreine  behandelt,  die  der  heiligen 
Candidus,  Monulphus,  Valentin  und  Gondulphus  aus 
der  Kollegiatkirche  zu  Maastricht,  jetzt  im  Museum 
zu  Brüssel,  die  kleineren  Reliquiare  in  Lüttich  und 
Maastricht.  Und  dabei  sind  diese  auf  so  engem  Raum 
zusammengedrängten  Kunstwerke  nur  ein  kleiner  Teil 
der  im  12.  und  13.  Jahrhundert  hier  entstandenen 
Reliquienschreine.  In  den  Rheinlanden  wissen  wir 
nur  von  wenigen  grossen  Tumben  ausser  den  er¬ 
haltenen  —  der  älteste  in  Essen,  in  Bonn  die 
Schreine  der  heiligen  Cassius  und  Florentius,  in 
Köln  die  Schreine  von  St.  Cunibert  und  St.  Severin 

—  in  den  Maasgegenden  zählt  Dehaisnes  aus  den 
Jahren  1040  —  1272  nicht  weniger  als  achtzehn  grosse 
untergegangene  Prachtschreine  auf^).  Lothringische 
und  nordfranzösische  Einflüsse  spielen  hier  hinein: 
in  der  Kathedrale  zu  Tournai  steht  neben  dem 
Eleutherusschrein  die  chässe  de  Notre-Dame,  die  in¬ 
schriftlich  im  Jahre  1205  vom  magister  Nicolaus  de 
Verdun  angefertigt  ist®)  —  von  dem  Künstler  des 
Klosterneuburger  Altaraufsatzes,  24  Jahr  nach  diesem 
ausgeführt. 

Die  Herstellung  dieser  Schreine  im  12.  Jahrhundert 
schliesst  sich  eng  an  die  plötzlich  gesteigerte  Reli- 

XIX,  p.  15.  —  Am.  Aufaiivre  et  Ch.  Eichot,  Les  monu- 
ments  de  Seine-et-Marne  p.  193. 

1)  Der  merkwürdige  Vertrag  ist  publiziert  in  den  An¬ 
nales  de  l’academie  d’archeologie  de  Belgique  VIII,  p.  517. 

—  Vergl.  Dehaisnes,  Documents  et  extraits  1,  p.  64.  — 
Ders.,  Histoire  de  l’art  dans  la  Eiandre  p.  272.  Die  Tumba 
ist  erst  1298  vollendet. 

2)  Dehaisnes,  Documents  et  extraits  I,  p.  22,  24,  25, 
26,  33,  36,  37,  39,  42,  46,  51,  56,  58,  60,  64,  66.  Über  die 
im  17.  Jahrhundert  in  Köln  erhaltenen  Schätze  vgl.  aus¬ 
führlich  Aeg.  Oelenius,  De  admiranda  Coloniae  magni- 
tudine  v.  J.  1645,  und  Supplex  Colonia  v.  J.  1639. 

3)  Dehaisnes,  Documents  et  extraits  I,  p.  115.  — 
E.  J.  Soll,  La  cathedrale  de  Tournai  p.  37.  —  aus’m  Weerth 
i.  Correspondenzblatt  des  Gesamtvereins  1866,  S.  20.  Über 
Tournai  noch  zu  vergl.  A.  de  la  Orange  et  L.  Cloquet, 
Etudes  sur  l’art  ä  Tournai  et  sur  les  anciens  artistes  de 
cette  ville:  Memoires  de  la  soc.  hist,  de  Tournai  XX,  XXL 
Weiteres  Material  für  die  Geschichte  der  Edelmetallkunst 
in  den  Maasgegenden  ausser  bei  J.  Helbig  und  J.  J.  van 
Ysendyck  bei  Ch.  de  Linas,  L’arl  et  l’industrie  d’autrefois 
dans  les  regions  de  la  Meuse  Beige:  Memoires  de  l’aca¬ 
demie  d’Arras  1883.  —  A.  Pinchart,  Histoire  de  la  dinan- 
derie  et  de  la  sculpture  de  metal  en  Belgique:  Bull,  des 
commissions  d’art  et  archeologie  1874.  —  Societe  de  l’art 
ancien  en  Belgique.  Orfevrerie,  Dinanderie,  ivoires,  4  Bde., 
Brügge  1883—86.  —  J.  Destree,  Les  murees  royaux  du  parc 
du  Cinquantenaire  et  de  la  porte  de  Hai  ä  Bruxelles. 


Abb.  17.  Köln,  St.  Maria  in  der  Schnurgasse.  Maiiriniisschrein 


Abb.  18.  Köln,  St.  Maria  in  der  Schnnrgasse.  Albiniisschrein 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


1  iS 

quienverehrung  an.  Die  grossen  Stifter  sahen  iin 
Besitz  berühmter  Reliquien  die  wesentlichste  Förde¬ 
rung  ihrer  Macht  und  bemühen  sich,  dem  Ruf  ihres 
Heiligen  auch  äusserlich  durch  ein  kostbares  Gewand 
Ausdruck  zu  geben  —  und  nachdem  einmal  eine 
Kirche  vorangegangen,  können  die  Nachbarkirchen 
nicht  gut  Zurückbleiben.  In  der  zweiten  Hälfte  des 
Jahrhunderts  blüht  diese  Neigung  vor  allem  am 
Niederrhein:  im  jahre  1164  halten  die  Gebeine  der 
heiligen  drei  Könige  ihren  feierlichen  Einzug  in 
Köln,  im  nächsten  Jahre  erhebt  der  Kaiser  Friedrich 
Barbarossa  im  Münster  zu  Aachen  die  Gebeine  Karl ’s 
des  Grossen  und  lässt  seinen  grossen  Vorgänger  heilig 
sprechen.  Für  die  heiligen  drei  Könige  wie  für  den 
grossen  Karl  wurden  jetzt  Prachtschreine  begonnen 
—  und  das  erregt  wieder  den  Ehrgeiz  der  benach¬ 
barten  Kirchen. 

Die  Ausstellung  von  vollen  23  der  kostbarsten 
rheinischen  und  westfälischen  Schreine  war  wohl  der 
Glanzpunkt  der  ganzen  Ausstellung.  Nur  die  Spitzen 
der  Entwickelung  fehlten,  die  beiden  Schreine  des 
Aachener  Münsters,  des  Kölner  Domes,  endlich  der 
Schrein  der  heiligen  Elisabeth  in  Marburg.  Aber 
das  Rheinland  war  sonst  vollständig  vertreten.  Nur 
einer  der  noch  erhaltenen  rheinischen  Schreine  ist 
dem  Rheinland  selbst  entfremdet,  einer  der  dürftigsten, 
der  des  heiligen  Potentianus  aus  Steinfeld  in  der 
Eifel,  der  jetzt  in  der  Apollogalerie  im  Louvre  zu 
Paris  steht*).  Aber  eine  ganze  Reihe  von  Resten 
bewahren  noch  deutsche  Sammlungen:  das  Museum 
zu  Darmstadt  die  Reste  des  Kunibertusschreins“)  und 
einen  grossen  Teil  der  Beschläge  von  einem  —  wohl 
auch  aus  Köln  stammenden  —  unbekannten  Schrein 
mit  reichen  kölnischen  Emails  das  Kunstgewerbe¬ 
museum  zu  Berlin. 

Alle  Techniken  sind  an  diesen  grossen  Pracht¬ 
stücken  gleichmässig  vertreten;  im  Anfang  streiten 
sich  das  Grubenemail  und  die  Plastik  um  die  Herr¬ 
schaft,  später  überwiegt  die  Plastik.  Aber  alle  Tech¬ 
niken  sind  hier  gleichzeitig  nebeneinander  zu  studieren, 
keine  auf  Kosten  der  anderen  zurückzuschieben.  Zu¬ 
mal  für  die  kunstgeschichtliche  Würdigung,  für  die 
Lokalisierung,  die  Zuweisung  zu  einer  Gruppe,  einem 
Meisteratelier  dürfen  nicht  aus  einer  Technik  allein 
die  Anhaltspunkte  gewonnen  werden.  Wenn  am 
Tragaltar  des  heiligen  Gregorius  Bänder  Vorkommen, 
die  unzweifelhaft  aus  derselben  Eisenstanze  geschlagen 
sind,  wie  die  am  Schrein  des  heiligen  Maurinus  aus 
St.  Pantaleon  und  am  Ursulaschrein  aus  St.  Ursula, 
so  beweist  das  allein  durchaus  noch  nicht,  dass  jene 
drei  Arbeiten  im  gleichen  Atelier  geschaffen  zu  sein 
brauchen.  Solche  gestanzte  Streifen  konnten  am  ehesten 
als  Massenartikel  für  Goldschmiedeateliers  über  einer 
Stanze  angefertigt  und  nach  der  Elle  verkauft  werden. 
Sollte  man  denn  etwa  all  die  abendländischen  Ar¬ 
beiten,  an  denen  die  oben  beschriebenen  kleinen  by- 

1)  A.  Darcel,  Musee  du  Louvre.  Notice  des  emaux 
et  de  l’orfevrerie  p.  461.  Abgeb.  Acta  Sanctorum  Juni  III, 
P-  585- 

2)  Vergl.  Ditges  in  der  Zs.  f.  christliche  Kunst  XII, 
S.  220. 


zantinischen  Zellenemails  Vorkommen,  deshalb  in  ein 
byzantinisches  Atelier  verweisen?  Der  Albinusschrein 
aus  St.  Pantaleon  zeigt  —  selbst  wenn  man  die 
spätere  Umgestaltung  und  Verunstaltung  abrechnet  — 
dass  die  Verfertiger  auf  dem  Kern  anbrachten,  was 
sie  von  fertigen  Emailplättchen  gerade  in  ihren  Schub¬ 
laden  liegen  hatten,  oder  was  sie  erwerben  konnten: 
so  sind  die  Arbeiten  von  zwei,  vielleicht  von  drei 
fremden  Händen  oder  Ateliers  hier  vereinigt  *). 

Die  heute  an  der  Spitze  der  niederrheinischen 
Schreine  stehende  Prachttumba  von  Xanten  war 
durchaus  nicht  die  älteste.  Noch  aus  der  ersten 
Hälfte  des  1 1.  Jahrhunderts  stammte  der  Schrein  der 
heiligen  Marsus  und  Lugdrudis  in  der  Stiftskirche  zu 
Essen-),  von  der  Äbtissin  Theophanu  (1039 — 1054) 
gestiftet,  ein  merkwürdiges  Werk,  an  dem  der  byzan¬ 
tinische  Einfluss  sich  auch  durch  die  zur  Hälfte  griechi¬ 
schen  Inschriften  verriet.  Am  Ende  des  Jahrhunderts,  in 
den  neunziger  Jahren,  war  dann  der  seines  alten 
Schmuckes  fast  ganz  beraubte  Schrein  von  St.  Severin 
in  Köln  entstanden.  Für  den  Xantener  Schrein  ist 
ein  Datum  überliefert,  das  Jahr  1129,  in  dem  die  Ge¬ 
beine  des  heiligen  Viktor  erhoben  und  in  dieser  Tumba 
auf  dem  Hochaltar  niedergelegt  worden  sein  sollen. 
Das  Datum  kann  stimmen  für  die  schwerfälligen,  un¬ 
geschickt  getriebenen  Figuren  mit  den  vorhängenden 
glotzäugigen  Köpfen  auf  den  Langseiten,  aber  nicht 
für  die  Deckel  mit  den  feingetriebenen,  nur  schwer 
verletzten  Figuren  der  klugen  und  der  thörichten  Jung¬ 
frauen,  die  frühestens  der  zweiten  Hälfte  desjahrhunderts 
angehören’’).  Die  Emails  auf  den  flachen  Pilastern 
sind  hier  ganz  primitiv:  einfache  und  derbe,  immer 
wiederkehrende  Ornamentmotive. 

Die  Frage,  woher  das  Email  gekommen,  wo  es 
zuerst  aufgetreten,  wo  der  Hauptsitz  dieser  Fabrikation 
gewesen,  wie  es  sich  zu  dem  Email  der  benachbarten 
Provinzen  verhalten,  hat  im  vergangenen  Sommer  die 
in  Düsseldorf  vereinigten  Gelehrten  wiederholt  be¬ 
schäftigt.  Eine  Lösung  der  Frage  haben  diese  flüch¬ 
tigen  Untersuchungen  nicht  gebracht,  nur  das  Studium 
selbst  gefördert.  Die  beste  Frucht  dieser  Vorführung 
so  vieler  Glanzstücke  des  rheinischen  Emails  ist  sicher 
die,  dass  die  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde 
eine  grosse  Publikation  über  die  rheinische  Gold¬ 
schmiedekunst  und  das  Grubenemail  in  Aussicht  ge¬ 
nommen  hat.  Die  Bearbeitung  wird  Hans  Graeven  über¬ 
nehmen,  nicht  auf  Grund  des  lückenhaften  Düsseldorfer 
Materials,  das  noch  längst  keine  eingehende  und  um¬ 
fassende  Würdigung  ermöglicht,  sondern  unter  Hinzu- 


1)  Vergl.  über  die  ganze  Gruppe  neuerdings  die  feinen 
Beobachtungen  von  Beissel  in  den  Stimmen  von  Maria 
Laach  1902,  S.  330  und  von  Renard  i.  d.  Rheinlanden  1902, 
Heft  11,  S.  n. 

2)  Clemen,  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz.  Stadt 
und  Kreis  Essen  S.  54.  —  Bock,  Die  byzantinischen  Zellen¬ 
schmelze  S.  151.  —  Kraus,  Die  christlichen  Inschriften  II, 
Nr.  645. 

3)  Abb.  bei  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler  I,  S.  40, 
Taf.  18,  I.  —  Beissel,  Die  Bauführung  des  Mittelalters  I, 
S.  63.  —  Clemen,  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz.  Kreis 
Moers  S.  106. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTEÄLISCHE  KUNST 


119 


Ziehung  der  gesamten  in  den  Kirchen,  Museen  und  Samm¬ 
lungen  Europas  zerstreuten  Stücke.  Es  wäre  an  der 
Zeit,  dass  wir  über  diese  wichtigste  Gruppe  aus  der 
deutschen  Edelmetallkunst  des  Mittelalters  eine  grund¬ 
legende  Publikation  erhielten,  wie  sie  das  byzanti¬ 
nische  Zellenemail,  dank  der  ausserordentlichen 
Liberalität  Alexanders  von  Swenigorodskoi  durch 
Kondakow,  wie  sie  das  Limoger  Email  durch  Rupin 
gefunden  hat. 

Bis  diese  Untersuchungen  vorliegen,  muss  man 
sich  darauf  beschränken,  vorsichtig  ein  paar  Grenz¬ 
pfähle  zu  stecken.  Sowie  man  aber  zu  solcher  Ab¬ 
grenzung  übergeht,  wird  man  merken,  dass  es  sich 
viel  mehr  darum  handelt,  Grenzpfähle  auszureissen 
als  neue  zu  pflanzen.  Es  wird  möglich  sein,  für 
Köln  ein  Atelier  in  St.  Pantaleon  nachzuweisen.  Hier 
sind  zwei  der  Hauptschreine  entstanden,  die  jetzt  in 
der  Kirche  St.  Maria  zur  Schnurgasse  aufbewahrt 
werden  —  der  Schrein  des  heiligen  Maurinus  und 
der  des  heiligen  Albinus.  Auf  dem  Sockel  des 
Maurinusschreins  sind  zwei  Porträts  dargestellt,  das 
eine  als  Fridericus,  das  andere  als  Herlivus  prior 
bezeichneU).  ln  dem  einen  haben  wir  wohl  den 
Verfertiger  oder  wenigstens  den  Vorsteher  des  klöster¬ 
lichen  Ateliers  zu  sehen.  Es  ist  überhaupt  bezeich¬ 
nend  für  die  Schätzung  der  Goldschmiedekunst  in 
dieser  Zeit,  dass  uns  eine  ganze  Reihe  von  Künstler¬ 
namen  erhalten  sind,  ln  Köln  Eilbertus,  Reginaldus, 
Henricus,  in  Aachen  Meister  Wibert,  der  Schöpfer 
des  Kronleuchters  im  Münster  und  der  bekannten 
Kappenberger  Schale-)  im  Besitz  des  Grossherzogs 
von  Sachsen-Weimar,  und  Meister  Johannes,  einer  der 
Schöpfer  des  Marienschreines,  in  der  Maasgegend 
der  Bruder  Hugo  d’Oignies  und  Richard  de  Claire, 
in  jouarre  der  Meister  Bonnard.  Dem  Atelier  von 
St.  Pantaleon  sind  auch  noch  eine  Reihe  weiterer 
Kölner  Schreine  zuzuweisen,  der  Heribertusschrein  in 
Deutz,  der  Ursulaschrein  der  Pfarrkirche  zu  St.  Ursula 
und  wohl  auch  eine  Anzahl  von  Tragaltärchen.  Die 
Gruppe  von  Tragaltären,  die  Graeven  vor  kurzem 
zusammengestellt  hat,  gehört  dann  wohl  zu  einem 
benachbarten  Atelier^).  Als  Hauptstück  ist  ihr  auch 


1)  Vergl.  Bock,  Das  heilige  Köln,  Maria  i.  d.  Schnur¬ 
gasse  S.  11,  Taf.  38.  —  Kraus,  Die  christlichen  Inschriften  11, 
S.  272,  Ein  Herlivus  erscheint  in  einer  Urk.  v.  J.  1181 
als  einer  der  ältesten  Brüder  des  Konvents:  Rheinische 
Urbare  I.  Hilliger,  die  Urbare  von  St.  Pantaleon  in  Köln 
S.  96.  Die  beiden  Schreine  sind  schon  beschrieben  bei 
Aeg.  Gelenius,  De  admiranda  niagnitudine  Coloniae,  Köln 
1645,  p.  368. 

2)  Über  die  beiden  Meister  vergl.  H.  Loersch  und 
M.  Rosenberg,  Die  Aachener  Goldschmiede:  Zs.  d.  Aachener 
Geschichtsvereins  XV,  S.  88.  Zu  den  Untersuchungen  von 
Bock,  aus’m  Weerth  und  Beissel  über  den  Aachener  Kron¬ 
leuchter  ist  neuerdings  noch  eine  Studie  von  J.  Buchkreiner 
in  der  Zs.  d.  Aachener  Geschichtsvereins  XXIV,  S.  317  zu 
nennen,  die  die  Beobachtungen  aus  Anlass  der  neuesten 
Wiederherstellung  wiedergiebt. 

3)  H.  Graeven,  Fragmente  eines  Siegburger  Tragaltars 
im  Kestnermuseum  zu  Hannover:  Jahrbuch  d.  Kgl.  Preus- 
sischen  Kunstsammlungen  1900. 

Das  Reliquiar  Heinrich’s  II.  ist  publiziert  von  Darcel  in 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  F.  XIV.  H.  5 


noch  das  im  Louvre  befindliche  Reliquiar  des  Kaisers 
Heinrich  II.  anzureihen,  das  Werk  des  Mönches 
Welandus.  Mit  vollem  Recht  bemerkt  Graeven,  dass 
ein  Mönch,  der  bei  seinem  Eintritt  in  den  Orden  den 
Namen  des  sagenberühmten  Schmiedes  erhielt,  ge¬ 
wiss  ein  in  der  Kunst  der  Metallbereitung  erfahrener 
Mann  war.  Und  gern  nimmt  man  auch  seine  Deutung 
der  auf  die  Rückseite  einiger  Nimben  am  Siegburger 
Annoschrein  eingravierten  Monogramme  auf  Wela 
hin.  Schwerer  wird  die  Abgrenzung  nach  den  Maas¬ 
gegenden  zu.  Eine  kleine  Gruppe  von  eng  unter¬ 
einander  verwandten  Werken  ist  schon  längst  als 
Email  von  Stablo  bezeichnet  worden.  Charakteristisch 
für  dieses  sind  vor  allem  die  dicken  schweren,  dabei 
unsicher  in  einer  Art  litera  capitalis  rustica  gezeich¬ 
neten  blauen  Inschriften.  Als  Hauptwerk  gehörte  zu 
dieser  Gruppe  der  wunderbare  Altaraufbau,  der 
durch  den  Abt  Wibald  von  Stablo  (1136 — 1158) 
gegen  1148  für  den  Hauptaltar  der  Klosterkirche  zu 
Stablo  geschaffen  war.  Ein  Riesenwerk  mit  getrie¬ 
benen  und  vergoldeten  Tafeln  in  reichem  Email¬ 
rahmen,  dazu  am  Mittelbau  einige  grosse  Medaillons. 
Das  Werk,  das  noch  im  Jahre  1718  die  Bewunde¬ 
rung  von  Martene  und  Durand  erregt  hatte,  ist  am 
Ende  des  19.  Jahrhunderts  zu  Grunde  gegangen,  aber 
zum  Glücke  wenigstens  in  einer  genauen  Zeichnung 
des  Staatsarchivs  zu  Lüttich  erhalten').  Von  dem 
Mittelstück  des  Altaraufsatzes  stammen  die  beiden 
Medaillons  mit  der  Darstellung  zweier  Engel,  jetzt 
in  der  Sammlung  des  Fürsten  von  Hohenzollern  in 
Sigmaringen.  Es  gehört  hierzu  vielleicht  auch  eine 
Platte  mit  der  Darstellung  der  Liebe  aus  dem  Ber¬ 
liner  Kunstgewerbemuseum  —  und  eng  verwandt 
hiermit  ist  im  Stil  und  in  der  Technik  eine  Gruppe 
von  kleineren  Werken,  voran  der  berühmte  Kreuzes- 
fuss  aus  dem  Museum  in  St.  Omer  und  der  Stabloer 
Tragaltar  im  Museum  zu  Brüssel.  Nun  stimmten 
aber  diese  Werke  wieder  so  deutlich  mit  dem  der 
Tradition  aus  Xanten  stammenden  Kreuz  mit  der 
Legende  der  Kreuzerfindung  im  Beuth  -  Schinkel¬ 
museum  und  vor  allem  mit  der  späteren  Deckelseite 
des  Heribertusschreines  in  Deutz  überein,  dass,  will 
man  jene  angeblich  Stabloer  Werke  ganz  ausscheiden, 
man  notwendig  auch  jenen  Deckel  ausscheiden  muss. 
Es  wird  überhaupt  zunächst  schwierig  sein,  hier 
genaue  Grenzen  zu  ziehen.  Viel  eher  dürfte  man 
ein  Bild  von  der  künstlerischen  Entwickelung  gewinnen, 
wenn  man  zunächst  die  ganze  Maasgegend  mit  zu 
den  Rheinlanden  hinzunimmt.  Reicht  doch  auch  in 


den  Annales  arclieologiques  XVIII,  p.  154.  Vergl.  auch 
Darcel,  Notice  des  eniaux  et  de  l’orfevrerie  p.  31.  Die 
Monograninie  am  Annoschrein  bei  ans’in  Weerth,  Kunst¬ 
denkmäler  III,  S.  22. 

1)  Van  de  Casteele  im  Bulletin  der  commissions  royales 
d’art  et  d’archeologie  XXII,  p.  213.  —  Jos.  Demarteau,  Le 
retable  de  St.  Remacle:  Bulletin  de  rinstitut  liegeois  XVll, 
p.  135.  —  Jules  Helbig,  La  sculpture  au  pays  de  Liege, 
P-  57- 

2)  Publiziert  in  Farbendruck  in  den  Jahrbüchern  des 
Vereins  von  Altertumsfreunden  im  Rheinlande  XLVI,  pl.  12. 
Vergl.  Reusens  im  Bull,  des  comm.  royales  XXll,  p.  236. 

16 


1  20 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


der  ronianiscl  en  Architcldiir  der  kölnische  Einfluss 
bis  Tournai  -  e  an>m  nicht  auch  in  der  Gold- 
schiniedekur.  >1/ 

Dem  .■.;aurinusschrein  aus  St.  Pantaleon  reihen 
sich  de"  Hcrh  erl;  ssciircin  in  Deutz  und  der  Ursula¬ 
schrein  in  Sv  ’S!  a  a'i.  Sie  sind  alle  in  der  zweiten 
Hälfte  des  2.  j '  rderts  entstanden;  der  des  hei¬ 
ligen  Mcritei;;'.  -  el-,  dein  Jahre  1147,  dem  Jahre 
der  Erhebbiig  der  Gebeine  begonnen,  aber  wohl 
erst  etwa  ei.i  pi-ai  jalirzehnte  später  vollendet  ^).  Hier 
erscheint  das  ältere  kölnische  Grubenemail  auf  dem 
Höhepunkte.  Virtuoser  und  zugleich  monumentaler 
i^i  es  nie  gehandhabt  worden.  Die  fünf  Töne  Hell- 
lih’ii,  Dunkelblau,  Grün,  Gelb,  Weiss  bestimmen  den 
;  ..rbenacemd  —  charakteristisch  ist  vor  allem  das 
helle  Kobaltblau.  Ganz  erstaunlich  ist  die  Kunst,  in 
diesen  Tönen  schon  zu  modellieren,  ohne  trennende, 
von  dem  Kupfergrund  aufstehende  Stege  weiche 


auch  von  hohem  historischen  Wert.  Prächtiges  ro¬ 
manisches  Ornament  füllt  in  getriebener  Arbeit  die 
Zwickel  —  Medaillons  mit  lebhaft  bewegten  Figuren, 
die  Bücher,  Scepter,  Scheiben,  Märtyrerpalmen  führen, 
treten  hinzu.  Von  derselben  Hand  dürften  die  grossen 
Engelfiguren  sein ,  die  an  den  vier  Ecken  des  Mau- 
rinusschreins  die  Wache  halten:  Figuren,  die  auch  in 
der  Zeichnung  deutlich  den  kölnischen  Charakter  vom 
Ende  des  Jahrhunderts  zeigen,  bedeutend  und  gross 
in  den  Rahmen  hineingestellt.  Die  Apostelfiguren, 
die  ehemals  die  Langseiten  schmückten,  sind  ver¬ 
schwunden;  nur  die  Deckelreliefs  mit  den  Darstel¬ 
lungen  aus  dem  Martyrium  des  Heiligen  erhalten. 
Von  höchster  Originalität  ist  dann  der  Ursulaschrein: 
das  Dach  in  der  Gestalt  eines  Tonnengewölbes  mit 
halbrunden  Giebeln,  überzogen  mit  einem  Netz  von 
emaillierten  Streifen,  die  durch  prächtig  emaillierte 
Sternrosetten  gehalten  werden.  Von  ausserordent- 


Abb.  IQ.  Deutz,  Heribertiisschrein 


Übergänge  zu  schaffen,  ln  den  Köpfen  ist  mitunter 
schon  die  Wirkung  des  späten  Maleremails  erreicht. 
Am  reichsten  ist  hier  der  Heribertusschrein  ausgestattet. 
Zwischen  den  getriebenen  sitzenden  Figuren  der  zwölf 
Apostel,  die  noch  etwas  befangen  in  der  Treibtechnik 
und  gebunden  im  Stile  sind  —  übrigens  am  nächsten 
denen  am  Servatiusschrein  zu  Maastricht  verwandt  — 
stehen  vierzehn  Tafeln  mit  den  emaillierten  Figuren  von 
Propheten.  Auf  dem  Deckel  zwölf  grosse  Medaillons 
mit  Darstellungen  aus  der  Legende  des  Heiligen, 
in  denen  breit,  mit  einer  Fülle  von  Figuren  das 
Leben  des  heiligen  Bischofs  erzählt  wird  —  die 
Schilderungen  des  Erzbischofs  und  des  Kaisers  Otto  III. 

1)  Der  Heribertusschrein  abgeb.  bei  Bock,  Das  heilige 
Köln.  Deutz  S.  12.  —  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler  III, 
S.  8,  Taf.  43.  —  Heuser  i.  Organ  f.  christliche  Kunst  1885, 
S.  255.  —  Renard  i.  d.  Rheinlanden  igo2,  Heft  11,  S.  12.  — 
Die  Inschriften  bei  Kraus,  Christliche  Inschriften  II,  Nr.  522. 
—  Vergl.  über  die  Datierung  Beissel  i.  d.  Stimmen  von 
Maria  Laach  1902,  S.  330. 


lieber  Schönheit  sind  an  den  Langseiten  die  Zwickel¬ 
ornamente’). 

Reicher  in  dem  architektonischen  Aufbau  ist  dann 
die  spätere  Gruppe  der  Schreine,  in  deren  Mittelpunkt 
der  des  heiligen  Albinus  aus  St.  Pantaleon  (jetzt  in 
St.  Maria  in  der  Setmurgasse  zu  Köln)  und  der 
des  heiligen  Anno  aus  Siegburg  stehen.  Beiden  ge¬ 
meinsam  ist  an  Stelle  der  bei  der  früheren  Gruppe 
beobachteten  Pilastergliederung  die  mehr  architek¬ 
tonische  Behandlung  der  Langseiten :  gekuppelte 
Säulen  mit  Kleeblattbögen  —  der  Deckel  in  einfache 
viereckige  Felder  zerlegt,  reiche  gegossene  Kämme 
und  kunstvolle  Knäufe.  In  klassischer  Vollendung 
zeigt  sich  diese  Behandlung  am  Annoschrein“).  Das 

1)  Vergl.  Bock,  Das  heilige  Köln.  St.  Ursula  S.  16, 
Taf.  7.  Über  die  Funde  bei  der  Restauration  im  J.  1878 
vergl.  Kölnische  Volkszeitung  v.  16.  Dez.  1878,  Nr.  346. 
Die  Inschrift  bei  Kraus,  Christliche  Inschriften  11,  Nr.  594. 

2)  Der  Annoschrein  abgeb.  bei  aus’ni  Weerth,  Kunst¬ 
denkmäler  III,  S.  7,  Taf.  44—45.  —  Die  Inschrift  inkorrekt 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


1  2  1 


Abb.  20.  Köln,  St.  Ursula.  Ursiilaschrcin 


Fehlen  der  (i8o8  geraubten)  Figuren  und  Reliefs 
lässt  die  vornehmen  Verhältnisse  dieser  Architektur 
nur  noch  deutlicher  hervortreten.  Über  den  reich 
emaillierten  Säulchen  prächtige  ganz  freigearbeitete 


bei  Kraus,  Christliche  Inschriften  II,  Nr.  520.  Die  Reliefs 
an  dem  Schrein  stellten  das  Leben  des  Heiligen,  seine 
Wunder,  seinen  Tod 
und  zuletzt  seine 
Beisetzung  in  dem 
Schrein  dar.  Auf 
diesem  Bilde  war  der 
Abt  Gerhard  mit  dem 
Kustos  Heinrich  dar¬ 
gestellt,  der  auf  einer 
der  Schmalseiten 
vor  dem  h.  Michael 
knieend  erscheint. 

Beschreibungen  der 
Reliefs  giebt  der 
Minorit  P.  Sebastia- 
nus  in  seinem  1750 
erschienenen  Heilig¬ 
tumsbüchlein.  Ver¬ 
gleiche  auch  Müller 
im  Organ  f.  christ¬ 
liche  Kunst  1856,  S. 

128.  -  Aeg.  Müller, 

Anno  II.  der  Heilige 
S.  158.  Die  übrigen 
Siegburger  Schreine 
bei  aus’m  Weerth, 

KunstdenkmälerTaf. 

46-50. 


Doppelkapitälchen,  in  den  Zwickeln  darüber  die  bron¬ 
zenen  Halbfiguren  von  Aposteln  die  beiden  Seiten 
deutlich  von  zwei  verschiedenen  Händen,  die 
emaillierten  oder  mit  feinstem  Filigran  über- 

sponnenen  Knäufe  von  der  grössten  technischen 

Virtuosität  zeugend.  Ganz  köstlich  sind  die  Giebel¬ 
kämme  mit  den  nackten  Figürchen  drin,  ein  Kahlkopf, 

ein  Merkur  mit 
dem  Flügelhut,  von 
so  hoher  Voll¬ 

endung,  wie  nur 
an  dem  Leuchter- 
fuss  von  St.  Am- 
brogio  in  Mailand 
oder  von  Braun¬ 

schweig. 

An  den  Anno¬ 
schrein  schliessen 
sich  noch  der 
Schrein  der  heili¬ 
gen  Innocentius 
und  Mauritius,  der 
des  heiligen  Benig¬ 
nus  und  der  des 
heiligen  Honoratus 
an.  Alle  drei  stam¬ 
men  aus  der  Abtei¬ 
kirche  zu  Siegburg 
und  befinden  sich 
seit  der  Aufhe¬ 
bung  der  Abtei  in 


Abb.  21.  Deutz.  Detail  vom  Heribertselirein 


16 


1  22 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


Abb.  22.  Siegbarg,  Pfarrkirche.  Annoschrcin 


der  Obhut  der  dortigen  Pfarrkirche.  Nur  der  Hono- 
ratusschrein,  der  einzige,  der  einen  Quergiebel  —  eine 
Art  verkümmertes  Transsept  —  besitzt,  hat  noch  einige 
der  alten  Figuren  an  den  Langseiten,  sowie  die  ge¬ 
triebenen  Reliefs  auf  dem  Deckel  bewahrt,  ln  ver¬ 
schiedener  Variation  wird  das  Motiv  des  Annoschreines 
weitergeführt,  nie  übertroffen.  Die  sämtlichen  Sieg¬ 
burger  Reliquientumben,  die  in  traurig  verwahrlostem 
Zustand,  nach  der  Beraubung  vom  Anfang  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  notdürftig  verkleidet,  auf  uns  gekommen 
waren,  sind  jüngst  durch  den  Düsseldorfer  Gold¬ 
schmied  P.  Beumers  auf  Kosten  und  unter  der 
Aufsicht  der  Provinzialkommission  für  die  Denkmal¬ 
pflege  mustergültig  in  Stand  gesetzt  worden:  im 
wesentlichen  nur  vorsichtig  gereinigt  und  neu  montiert, 
die  fehlenden  gestanzten  Streifen  ergänzt;  nur  ganz 
wenige  fehlende  Emailplättchen  brauchten  nach  dem 
Muster  der  vorhandenen  alten  neu  hinzugefügt  zu 
werden. 

Der  Schrein  der  heiligen  drei  Könige  im  Kölner 
Dom  und  die  beiden  Aachener  Schreine,  der  Schrein 
Karl’s  des  Grossen,  der  1215  fertig  war’)  und  der 
Marienschrein,  der  1238  vollendet  ward^),  stellen  dann 
den  Höhepunkt  der  Entwickelung  dar.  Über  die 
Aachener  Schreine  bereitet  St.  Beissel  eine  genaue 


1)  Der  Karlsschrein  abgeb.  bei  Fr.  Bock,  Karl’s  des 
Grossen  Pfalzkapelle  I,  S.  g8.  —  aus’m  Weerth,  Kunst¬ 
denkmäler  II,  S.  108,  Taf.  37.  —  Clemen  i.  d.  Zs.  d.  Aachener 
Geschichtsvereins  XII,  S.  47.  —  Ders.,  Die  Porträtdarstel¬ 
lungen  Karl’s  des  Grossen,  Aachen  i8qo,  S.  133.  —  Rauschen, 
Die  Legende  Karls  des  Grossen  S.  135.  —  Loersch  ebenda, 
S.  170. 

2)  Der  Marienschrein  bei  Bock,  Pfalzkapelle  I,  S.  132. 
—  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler  II,  S.  103,  Taf.  36.  — 
St.  Beissel  i.  d.  Zs.  d.  Aachener  Geschichtsvereins  V,  S.  1. 
ausführlich  mit  Tafeln. 


Publikation  vor  —  aber  wer  giebt  uns  eine  eingehende 
Untersuchung  und  Veröffentlichung  des  Dreikönige¬ 
schreins?  Die  ganze  Geschichte  der  rheinischen  Plastik 
ist  eine  unvollständige  ohne  den  Figurenschmuck 
dieser  Reliquienbehälter  des  13.  Jahrhunderts.  Wo 
kommen  die  Meister  her,  die  am  Dreikönigeschreine 
arbeiten,  woher  kommen  diese  prachtvollen  monu¬ 
mental  aufgefassten  Propheten,  die  leidenschaftlich 
bewegten  Apostel?  Der  Stil  weist  nach  dem  Westen 

—  aber  wo  sind  die  Verwandten  und  die  Vorfahren 
dieser  Figuren  zu  finden?  Hier  müsste  die  Unter¬ 
suchung  der  belgischen  Schreine  einsetzen  —  bei 
dem  Fehlen  des  Figurenschmuckes  an  den  übrigen 
Kölner  und  Siegburger  Tumben  sind  sie  doppelt 
wertvoll.  Wie  sehr  die  letzte  Gruppe  der  rheinischen 
Schreine  unter  französischem  Einfluss  steht,  zeigen 
die  drei  Hauptvertreter,  der  früheste,  der  Marienschrein 
in  Aachen,  der  im  Aufbau  nah  verwandte  Elisabeth¬ 
schrein  zu  Marburg’)  und  endlich  der  Suitbertus- 
schrein  zu  Kaiserswerth“^).  Das  Datum  1264  für 
diesen  bezeichnet  vielleicht  nicht  einmal  die  Vollendung 

—  auch  hier  zeigen  die  beiden  Langseiten  eine  ver¬ 
schiedene  Hand,  einen  verschiedenen  Stil  —  und  die 
feinen  eleganten  Figürchen  an  den  Stirnseiten,  vor 
allem  die  entzückende  jugendliche  Madonna  steht 
schon  den  französischen  Elfenbeinmadonnen  von  der 


1)  W.  Kolbe,  Die  Kirche  der  h.  Elisabeth  zu  Marburg, 
Marburg  1882,  S.  74  —  Abb.  bei  Ramee,  meubles  religieux 
et  civiles  du  moyen  äge  Taf.  144. 

2)  Abb.  bei  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler  II,  S.  45, 
Taf.  30.  —  Clemen,  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz. 
Kr.  Düsseldorf  S.  137,  Taf.  7.  —  Kraus,  Christi.  Inschriften  II, 
Nr.  627.  Man  vergleiche  hiermit  als  französische  Arbeit 
den  Schrein  des  h.  Taurinus  in  der  Kathedrale  zu  Evreux, 
der  zwischen  1240  u.  1265  entstanden  ist.  Vgl.  Cahier  et 
Martin,  Melanges  d’archeologie  II.  p.  1,  pl.  1—3 


Abb.  23.  Kaiserswerth,  Stiftskirche.  Suitbertusschreiii  Abb.  24.  Siegburg,  Pfarrkirche.  Giebelseite  des  Annoschreins 


124 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


Abb.  25.  Berlin,  Kgl.  Museen 
Mittelstiiek  des  Patrokliissehreins  aus  Soest 


Wende  des  13.  Jahrhunderts  nahe.  Die  gotischen 
Schreine  des  14.  Jahrhunderts  brechen  dann  völlig 
mit  der  bisherigen  Art  des  Aufbaus,  der  Dekoration. 
Der  früheste,  der  Patroklusschrein  aus  Soest,  jetzt 
durch  Restauration  stark  verändert,  im  Königlichen 
Museum  zu  Berlin,  von  dem  Meister  Sigefrid  in 
Soest  kurz  nach  1313  begonnen,  giebt  gegenüber 
den  zierlichen  und  svelten  französischen  Figürchen 
vom  Suitbertusschrein  schon  den  derberen  untersetzten 
deutschen  Typus,  nur  in  der  kräftig  einherschreitenden 
Mittelfigur  des  heiligen  Patroklus  selbst  noch  von 
hohem  Reiz. 

Unter  den  übrigen  kirchlichen  Ausstattungsstücken 
steht,  als  den  grossen  Schreinen  am  nächsten  nach 
der  Bestimmung  wie  in  der  Art  der  Dekoration,  ver¬ 
wandt,  die  Schar  der  Reliquiare  und  Tragaltaltäre 
in  vorderster  Reihe.  Auch  hier  geht  Siegburg  wieder 
voran.  An  den  Gregoriusaltar  schliesst  sich  der 
Tragaltar  aus  dem  Schatz  von  Xanten  und  der  aus 
St.  Maria  im  Kapitol  in  Köln  an;  weiter  aber  ge¬ 
hören  der  Gruppe  jene  drei  kostbaren,  eng  unter¬ 
einander  verwanten  Kuppelreliquiare  an^)  die  die  Ge- 


1)  Über  das  Kuppelreliquiar  in  London  vgl.  Cattois 
i.  d.  Annal.  archeol.  XX,  p.  307;  XXI,  p.  105,  148;  XXII, 
p.  5.  —  Labarte,  Histoire  des  arts  indiistriels  III,  p.  42; 
Album  pl.  43.  —  Ferd.  de  Lasteyrie,  Hist,  de  l’orfevrerie 
p.  121.  —  Ecclesiastical  metal  work  of  the  middle  ages 
(Arundel  Society)  pl.  12.  —  Clemen,  Kunstdenkmäler  der 
Rheinprovinz.  Kreis  Rees  S.  73.  Über  das  Reliquiar  im 


stalt  von  Zentralbauten  nachahmen,  das  älteste,  aus 
Hochelten  am  Niederrhein  stammende  im  South- 
Kensington-Museum,  sein  jüngerer  Bruder  im  Weifen¬ 
schatz,  beide  zugleich  mit  Elfenbeinen  verziert,  und 
endlich  das  lediglich  emaillierte  in  Darmstadt.  Mit  dem 
Mauritiusaltar  ist  vor  allem  der  von  München-Gladbach 
verwandt,  weiter  aber  noch  eine  ganze  Anzahl  ähnlicher 
Stücke.  Auch  hier  wird  sich  bei  weiterer  Untersuchung 
des  Materials  noch  eine  stattliche  Schar  anreihen;  wenn 
sich  auch  keine  so  grosse  Ziffer  ergeben  wird  wie  von 
den  fabrikmässig  hergestellten  Limoger  Kästchen,  von 
denen  Ruppin  allein  über  ein  halbes  Hundert  nennt, 
so  wird  doch  auch  hier  sich  ein  leidlicher  Export 
nachweisen  lassen').  Im  vollen  Gegensatz  zu  diesen 
rheinischen  Werken  stehen  die  westfälischen  Trag¬ 
altäre.  Hier  ist  nirgendwo  eine  Tradition,  eine 
Schule  nachweisbar;  jedes  der  westfälischen  Stücke 
stellt  gewissermassen  einen  Stil  für  sich  dar.  Die 
merkwürdigsten  Exemplare  sind  die  beiden  Trag- 
altärchen  von  Paderborn.  Das  erste  aus  dem  Dom¬ 
schatz-)  ist  zu  einer  gewissen  Berühmtheit  durch 
eine  irrige  Hypothese  gelangt  —  durch  die  Annahme, 
der  Verfertiger,  der  Mönch  Rogkerus  von  Helmers¬ 
husen,  der  für  den  Paderborner  Bischof  Heinrich 
von  Werl  das  Werk  geschaffen,  sei  identisch  mit 
jenem  Rugerus,  der  sich  als  Autor  des  Traktates 
Schedula  diversarum  artium  den  nom  de  guerre  Theo¬ 
philus  begelegt  hat.  Der  Altar  selbst  spricht  gegen 
den  Vater  dieser  Hypothese:  es  sollten  an  ihm  alle 
von  Theophilus  erwähnten  Techniken  angewandt  sein, 
aber  gerade  die  von  Theophilus  am  eingehendsten 
beschriebene  Emailtechnik  ist  überhaupt  nicht  zu 
Worte  gekommen.  Dafür  enthält  der  Schrein  auf 
dem  Deckel  das  vollendetste  Niello  von  einer  Schön¬ 
heit  und  Weichheit  der  Zeichnung,  die  ihres  gleichen 
sucht,  an  den  Langseiten  und  einer  Schmalseite  die 
Gestalten  der  Madonna  sowie  der  zwölf  Apostel  teils 
graviert,  teils  nielliert,  an  der  Vorderseite  (vergl.  die 
Abbildung)  dazu  den  ganz  in  der  Art  der  westfälischen 
Skulpturen  aufgefassten  getriebenen  Salvator  zwischen 
den  Kirchenpatronen  Ciborius  und  Kilian.  Den 
gleichzeitigen  Stil  der  Elfenbeinarbeiten  giebt  die 
verwandte  Darstellung  auf  dem  sogen.  Kamm  Karls 
des  Grossen  im  Domschatz  zu  Osnabrück.  Noch 
absonderlicher  ist  der  in  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahr¬ 
hunderts  entstandene  Tragaltar  aus  der  Franziskaner- 


Weifenschatz  eingehend  Neumann,  Der  Reliquienschatz 
des  Hauses  Braunschweig- Lüneburg,  S.  176,  181.  — 
Vogell,  Kunstarbeiten  aus  Niedersachsens  Vorzeit  2.  Heft. 
Das  Darmstädter  bei  Neumann  a.  a.  O.  S.  184. 

1)  Die  bekannten  Tragaltäre  zusammengestellt  bei 
Rohault  de  Fleury,  La  messe  V,  p.  1 ,  Taf.  340—358.  — 
Neumann,  Der  Reliquienschatz  des  Hauses  Braunschweig- 
Lüneburg  S.  122. 

2)  Baudri,  Zwei  merkwürdige  Reisealtäre  aus  Pader¬ 
born:  Organ  f.  christliche  Kunst  1861,  S.  76,  88.  —  Bücher, 
Geschichte  der  technischen  Künste  II,  S.  210.  Über  die 
Identifizierung  mit  Theophilus  vergl.  11g  in  seiner  Einleitung 
zur  Schedula  in  den  Quellenschriften  für  Kunstgeschichte. 
Gute  Abbildungen  aller  Seiten  bei  Ludorff,  Kunstdenk¬ 
mäler  von  Westfalen,  Kreis  Paderborn,  S.  gg,  Taf.  53—55. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


125 


1)  Abb.  bei  Ludorff  ebenda 
Taf.  83—85,  S.  118.  Der  Trag¬ 
altar  stammt  aus  Kloster  Ab¬ 
dinghof. 

2)  Die  Schenkungsurkunde 
bei  Beyer,  Mittelrheinisches 
Urkundenbuch  II,  Nr.  235.  Die 
übrigen  Schenkungen  bei  aus’m 
Weerth,  Das  Siegeskreuz  S.  4 
angegeben.  Vergl.  Brower, 

Annales  Trevirenses  II,  p.  102. 

—  Schannat-Baersch,  Eiflia  illu- 
strata  1,  2,  p.  1070. 

3)  Abb.  bei  Chr.  Willi. 

Schmidt,  Kirchenmöbel  und 
Utensilien,  Trier  1869,  Taf.  1  u. 

2.  —  aus’m  Weerth,  Kuiistdenk- 
mäler  III,  S.  99,  Taf.  52.  —  L. 

Palustre,  Le  tresor  de  Treves 
Taf.  21,  p.  41.  —  Kraus,  Christ¬ 
liche  Inschriften  II,  Nr.  368. 

4)  von  Cohausen  in  v. 

Quast  u.  Otte,  Zeitschrift  f.  Abb.  2O.  Paderborn,  Dom.  Stirnseite  des  Tragaltars 


kirche  zu  Paderborn  ^).  Ausgeschnittene  und  gravierte 
Kupferplatten  bedecken  die  Langseiten,  und  ohne  jede 
Trennung  sind  hier  in  epischer  Breite  die  Legenden 
der  heiligen  Felix  und  Blasius  vorgeführt. 
Die  Darstellungen  sind  von  leidenschaftlicher  Erregt¬ 
heit,  heftig  bewegt;  der  Stil  erinnert  an  gleich¬ 

zeitige  englische  Handschriften. 

Bei  der  Einnahme  von  Konstantinopel  im  Jahre 
1204  hatte  einer  von  den  deutschen  Kreuzfahrern, 
ein  Ritter  Heinrich  von  Uelmen,  reiche  Beute  gemacht 
an  Reliquien  in  kostbarer  Fassung  und  diese  nach 
seiner  Heimkehr  an  die  befreundeten  Klöster  verteilt. 
Laach,  Münstermaifeld,  Heisterbach,  St.  Pantaleon  in 
Köln  erhielten  ihren  Teil.  Sein  Hauptstück,  die 

Kreuzestafel  der  Kaiser  Constantinus  VII.  Porphyro- 
genitus  und  Romanus  II.  schenkte  der  fromme  Räuber 
im  Jahre  1208  dem  seinem  Hause  von  jeher  ver¬ 
bundenen  adligen  Augustiner-Nonnenkloster  zu  Stuben 
an  der  MoseU).  Dort  bildete  es  bald  eine  im  ganzen 
Lande  berühmte  Sehenswürdigkeit.  Die  seltsame 
Form,  in  der  die  kostbare  Reliquie  gefasst  war,  reizte 
zur  Nachahmung,  und  in  einer  benachbarten  Werkstatt, 
wohl  in  Trier,  entstanden  in  den  nächsten  Jahrzehnten 
zwei  ganz  verwandte  Tafeln.  Es  sind  die  beiden 

Kreuzestafeln  von  St.  Matthias  in  Trier  und  von 

Mettlach^).  Es  sind  wohl  ohne  Zweifel  Werke  einer 
Werkstatt,  wenn  auch  sicherlich  nicht  einer  Hand, 
aber  höchst  beachtenswert  für  die  ganze  Art,  wie 
hier  das  byzantinische  Vorbild  nachgebildet  wird,  für 
die  Art,  wie  überhaupt  die  mittelalterliche  Kunst,  wie 
eine  jede  hochstehende  selbstbewusste  Kunst,  fremde 
Anregungen  aufnimmt  und  verarbeitet.  Nichts  von 
dem  Versuch  einer  Nachahmung,  nur  eine  freie  An¬ 
lehnung  an  das  Motiv.  Auch  unter  sich  zeigen  die 
beiden  Werke  wieder  die 
grössten  Verschiedenheiten: 
bei  der  Trierer  Tafel  sind 
die  einzelnen  Felder,  in 


denen  neben  der  wichtigsten,  der  Kreuzespartikel,  die 
übrigen  kleinen  Reliquien  geborgen  sind,  durch  Berg- 
krystalle  geschlossen,  in  Mettlach  durch  kleine  Thür- 
chen,  auf  deren  Deckeln  die  Abbilder  der  Heiligen 
in  gravierter  Zeichnung  auf  emailliertem  Grunde  ent¬ 
halten  sind.  Die  kleinere  Mettlacher  Tafel  hat  in  der 
Art  eines  Triptychons  ein  paar  Flügel  erhalten;  die 
Heiligen  Petrus  und  Lutwin  sind  in  getriebenen  und 
vergoldeten  Figuren  auf  ihnen  dargestellt.  Die  Rück¬ 
seiten  der  beiden  Tafeln  sind  in  ganz  ähnlicher  Weise 
graviert.  In  der  Mitte  jedesmal  der  segnende  Christus, 
umgeben  von  den  Evangelistensymbolen,  dazu  oben 
und  unten  in  Halbfiguren  die  Wohlthäter  der  Abtei. 
Bei  dem  Mettlacher  Reliquiar  ergiebt  sich  aus  den 
Darstellungen  der  verschiedenen  Figuren  die  Zeit 
nach  1220,  bei  der  Trierer  Tafel  ergiebt  sich  aus 
der  Darstellung  des  Abtes  Jakob  von  Lothringen 
(zwischen  1213  und  1250)  dieselbe  Zeit.  Auf  dem 
Mettlacher  Reliquiar  ist  die  Gravierung  technisch  noch 
nicht  ganz  vollkommen,  die  Figuren  sitzen  mehr  wie 
Federzeichnungen  auf  der  Fläche,  besonders  auf  den 
Aussenseiten  der  Flügel  die  Verkündigung  und  die 
Anbetung  der  Könige.  Auf  den  ersten  Blick  offenbart 
sich  hier  übrigens  eine  ganz  auffallende  Verwandt¬ 
schaft  mit  einem  bekannten  französischen  Werke  — 
mit  dem  Skizzenbuche  des  Villard  de  Honnecourt. 
Ganz  vollendet  aber  ist  diese  Zeichnung  auf  der 
Trierer  Tafel.  In  grossartiger  Feierlichkeit  erscheint 
hier  die  Gestalt  des  thronenden  Salvator,  das  Gesetz 
der  Raumfüllung  ist  mit  sicherem  Gefühl  gehandhabt. 


Christi.  Archäologie  und  Kunst  I,  S.  267,  Taf.  18.  —  aus’m 
Weerth,  Kunstdenkmäler  III,  S.  102,  Taf.  63.  —  Kraus, 
Christliche  Inschriften  II,  Nr.  332. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


Abh.  27.  Osnabrück,  Domscbafz.  Bischofskamni 

in  ruhiger  Schönheit  füllt  reiches  schon  leicht  früh¬ 
gotisches  Rankenornament  den  Grund. 

ln  einer  etwas  anderen  Form,  in  der  Gestalt  einer 
flachen  aufrechtstehenden,  mit  einem  Halbkreis  ab¬ 
geschlossenen  Tafel  zeigt  sich  das  Fritzlarer  Reliquiar. 
Es  führt  uns  zugleich  vor,  in  wie  geschickter  Weise 
der  Goldschmied  frühere  Stücke  in  seine  Komposition 
zu  verweben  wusste.  Die  Beinfigürchen  der  zwölf 
Apostel  stammen  wahrscheinlich  von  einem  etwas 
älteren  Elfenbeinkasten,  der  einer  bekannten  grossen 
schon  von  Hans  Semper  nachgewiesenen  rheinischen 
Gruppe  angehörU).  Es  gehören  zu  ihr  Einzelwerke 
im  Rester  Museum,  im  Louvre,  im  Clunymuseum, 
die  Tafeln  an  den  Kuppelreliquiaren  von  Darmstadt, 
aus  dem  South-Kensington-Museum  und  aus  dem 
Weifenschatz,  die  auch  hier  eng  verwandt  sind.  Zu 
hoher  Vollendung  erhebt  sich  dieser  Stil  an  den  vier 
Platten  am  Weifenschatz  -  Reliquiar.  Das  als  Be¬ 
krönung  bei  der  Fritzlarer  Tafel  angebrachte 
Schmuckstück  ist  noch  merowingisch.  Der  Künstler, 
dem  diese  Stücke  überantwortet  wurden,  hat  dann 
im  Abschluss  die  getriebene  Darstellung  Christi  in 
der  Mandorla  zwischen  zwei  Engeln  hinzugefügt, 
das  Ganze  reich  mit  feinen  Emails  umgeben  und 
endlich  die  Rückseite  mit  einem  klassisch  schönen 

1)  H.  Semper,  Über  rheinische  Elfenbein-  und  Bein¬ 
arbeiten  ini  11.  11.  12.  Jh.:  Zs.  f.  christliche  Kunst  IX, 
S.  25g,  291.  Daselbst  S.  269  die  Fritzlarer  Tafel.  Über 
die  Darmstädter  Platten  vgl.  G.  Schaefer,  Die  Denkmäler 
der  Elfenbeinplastik  im  Orossherzogl.  Museum  zu  Darm¬ 
stadt  S.  60.  —  Ders.,  Kunstschätze  a.  d.  Grossherzogi. 
Museum  zu  Darmstadt  Taf.  7. 


symmetrischen,  in  email  brun  ausgeführten  Rankenwerk 
bedeckt.  In  dieser  Technik  sind  am  Niederrhein  zumal 
im  12.  Jahrhundert  eine  grosse  Reihe  von  Arbeiten 
ausgeführt  —  man  bevorzugt  sie  überall  da,  wo  Ruhe 
und  Weichheit  der  Wirkung  nötig  ist,  an  den  Schreinen 
gern  als  Hintergrund  für  die  Figuren  und  die  Säulen^. 
Das  schönste  saftige  Sepiabraun  eignet  gerade  den 
Gegenden  des  Niederrheins  und  der  Niedermaas  — 
hier  findet  sich  auch  das  früheste  Denkmal  in  dieser 
Technik:  die  Rückseite  der  Willibrordiarche  zu 
Emmerich-).  Eine  der  schönsten  Darstellungen  bietet 
die  Rückseite  des  Tragaltärchens  aus  dem  kirchlichen 
Museum  in  Augsburg Ü  -  in  einen  reichen  Rahmen 

1)  Über  die  Technik  des  muail  brun  vergl.  Schnütgen 
in  Kunst  und  Gewerbe  XX,  18S6,  S.  194.  Die  Technik 
ist  schon  beschrieben  bei  Theophilus,  Schedula  diversarum 
artium  1.  111,  c.  70,  ed.  11g  p.  27g. 

2)  deinen.  Die  Kunstdenkmäler  der  Rheinprovinz. 
Kreis  Rees  S.  46.  —  v.  Quast  i.  d.  Zs.  f.  christliche  Archäo¬ 
logie  u.  Kunst  II,  S.  186.  —  aus’m  Weerth,  Kunstdenk¬ 
mäler  1,  S.  7,  Taf.  3.  Das  email  brun  kommt  dann  ebenso 
auch  schon  auf  dem  Deckel  des  Wessobrunner  Kodex  in 
München  vor  (W.  A.  Neuinann,  Der  Reliquienschatz  des 
Hauses  Braunschweig-Liineburg  S.  54.) 

3)  Abgeb.  bei  Andreas  Schmid,  Der  christliche  Altar 
n.  sein  Schmuck,  Regensburg  1871  und  von  Schnütgen  i. 
d.  Zs.  f.  christliche  Kunst  XV,  S.  128. 


Abb.  28.  Mettlach.  Gravierte  Riiekseite  der 
Krenzestafel 


Abb.  2Q.  Trier,  St.  Matthias.  Gravierte  Rückseite  der  Rreuzcstafel 


Zeltsclirift  für  hikiciide  Kunst.  N.  f.  XIV.  H.  5. 


17 


■] 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


129 


ist  hier  ein  Medaillon  mit  der  Darstellung  des  Ge¬ 
kreuzigten  zwischen  der  Ecclesia  und  Synagoge  ein¬ 
gezeichnet;  in  den  Zwickeln  treten  die  Halbfiguren 
der  vier  Kardinaltugenden  hinzu. 

Die  Schätze  von  Fritzlar,  von  Xanten,  von  Emmerich, 
von  Hochelten,  die  Schätze  des  Aachener  Münsters 
und  der  Kölner  Kirchen  haben  eine  kaum  überseh¬ 
bare  Fülle  der  verschiedensten  Formen  des  Reliquiars 
geliefert.  Geschnittene  Krystallfläschchen  arabischer 


Stücke  ist  die  Büste  im  Schatz  der  Kirche  zu  Cappen¬ 
berg^),  ein  Bronzekopf  von  stolzer  Haltung,  auf  einem 
Unterbau  ruhend,  auf  dem  aus  einem  Zinnenkranz 
sich  vier  Einzelfigürchen  erheben,  die  die  Büste  selbst 
stützen.  Die  Inschrift  und  die  Bestimmung,  Haare 
vom  Haupte  des  heiligen  Johannes  des  Evangelisten 
zu  bergen,  scheint  mit  der  Deutung  auf  eine  Porträt¬ 
darstellung  Friedrich  Barbarossa’s  wenig  in  Einklang 
zu  bringen  zu  sein.  Die  ganze  Art  des  Gusses  und 


Abb.  30.  Fritzlar,  S.  Petrikirche.  Reliquientafel 


Herkunft  sind  in  späteren  Jahrhunderten  neu  montiert 
worden,  oft  in  ganz  abenteuerlichen  und  phantastischen 
Formen,  Kokosnüsse,  Strausseneier,  antike  Gefässe 
werden  ebenso  verwendet.  Dann  folgen  die  Kopf- 
reliquiare  und  die  Armreliquiare,  die  Hüllen  für 
Schädel-  und  Armknochen,  die  in  ihrer  äusseren  Form 
den  Inhalt  gleich  aussprechen  wollten.  Diese  Kopf- 
reliquiare  lassen  sich  schon  seit  dem  1  o.  Jahrhundert 
verfolgen,  die  frühesten  Exemplare  mögen  das  Haupt 
des  heiligen  Mauritius  in  der  Kathedrale  zu  Vienne 
und  das  des  heiligen  Candidus  im  Stiftsschatz  von 
St.  Maurice  in  Wallis  sein.  Eines  der  merkwürdigsten 


die  Zeichnung  des  Aufbaues  erinnert  an  den  schönen 

1)  Diese  Deutung  ist  verfochten  von  F.  Philippi,  Die 
Kappenberger  Porträtbüste  Kaiser  Friedrich’s  1.:  (West¬ 
fälische)  Zs.  f.  vaterländ.  Gesch.  u.  Altertumskunde  XLIV, 
S.  150.  Vergl.  J.  B.  Nordhoff,  Hohenstaufer  Kleinodien 
des  Klosters  Kappenberg;  Pick’s  Monatsschrift  f.  d.  Gesch. 
Westdeutschlands  IV,  S.  344.  Gute  Abb.  bei  Ludorff,  Kunst- 
denkniäler  Westfalens.  Kreis  Lüdinghausen  S.  28,  Taf.  24. 
Über  die  ganze  Gruppe  der  Kopfreliquiare  vergl.  Clemen, 
Die  Porträtdarstellungen  Karls  des  Grossen  S.  145.  — 
Neumann,  Reliquienschatz  des  Hauses  Branschweig-Lüne- 
burg  S.  257. 


17* 


OIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


bislang  mit  grösse¬ 
rer  Wahrschein¬ 
lichkeit  als  fran¬ 
zösisch  angespro¬ 
chen  wurde,  das 
man  aber  auch 
jetztaisrheinisches, 
wahrscheinlich 
kölnisches  Werk 
vom  Ende  des 
14.  Jahrhunderts 
in  Anspruch  neh¬ 
men  darf.  Den 
Weg  zu  diesem 
Werke  zeigt  ein 
Kelch  mit  zuge¬ 
höriger  Patene  aus 
der  Sammlung 
des  Fürsten  von 
Hohenzollern  in 
Sigmaringen,  auf 
das  reichste  mit 
durchsichtigen 
Grubenschmelzen 
dekoriert.  Die 
Madonna  besitzt  noch  den 
feierlichen  Stil  der  mittleren 
Gotik  mit  wenigen  grossen 
Faltenmotiven. 

Nur  gestreift  werden  kann 
hier,  was  von  profanen  Schät¬ 
zen  der  späteren  Jahrhunderte 
in  Düsseldorf  zusammen¬ 
gebracht  war.  Der  Besitz  der 
grossen  Städte  und  Stiftungen 
und  die  Privatsammlungen 
Westdeutschlands  stritten  hier 
um  den  Vorrang.  Im  Mittel¬ 
punkt  des  Interesses  stand 
immer  wieder  der  berühmte 
Kaiserpokal  aus  dem  Besitz 
der  Stadt  Osnabrück.  Das 
ganze  Werk  stammt  ursprüng¬ 
lich  aus  der  ersten  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts;  in  der  ersten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
ist  dann  der  ganze  Aufbau 
durch  Einfügung  eines  Mittel¬ 
stückes  mit  Knauf  erhöht,  auf 
dem  Deckel  ist  eine  Statuette 
Karls  des  Grossen  angebracht 
worden,  ln  der  Schale  selbst 
befindet  sich  auf  einem 
Schachbrett  das  gotische  Sitz- 
figürchen  eines  Königs.  Auf 
der  Kuppe  sind  in  Rund¬ 
medaillons  die  Tugenden 
und  Laster  dargestellt,  eine 
Verkörperung  jener  Folge, 
die  wir  von  den  Portalen 
der  französischen  Kathedralen 


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schönste  .aid  an¬ 
mutigste  Stück  AUS 
der  Reihe  der  go¬ 
tischen  Reliquiare 
a4  das  Simeons- 
reliquiar  aus  dem 
Domschatz  zu 
Aachen  -).  Der 
eigentliche  Reli¬ 
quienkasten,  mit 
feinen  durchsich¬ 
tigen  Emails  und 
Edelsteinen  bedeckt,  ruht  wie 
ein  Altartisch  auf  Säulen,  in 
der  Mitte  erhebt  sich  auf  ihm 
eine  antike  Onyxvase.  An 
den  beiden  Schmalseiten  stehen 
der  heilige  Simeon,  auf  den 
beiden  vorgestreckten  Armen 
das  nackte  Kind  haltend,  das 
fröhlich  balanciert,  ihm  gegen¬ 
über  die  Madonna,  in  den 
vorgestreckten  Händen  zwei 
Tauben  darreichend.  Der 
feine  Charme,  der  über  diesen 
jugendlichen  Gestalten  liegt, 
die  geistreiche  Art,  wie  hier 
die  Bestimmung  des  Werkes 
ausgesprochen  ist,  macht  es 
zu  einer  der  köstlichsten 
Schöpfungen  der  rheinischen 
Gotik.  Anzureihen  ist  hier 
auch,  als  eine  spätere  Lei¬ 
stung  dieses  rheinischen  email 
translucide,  das  entzückende 
Klappaltärchen  aus  der  Samm¬ 
lung  des  Grafen  von  Wolff- 
Metternich  zur  Gracht®),  das 


1)  Abb.  bei  Schnütgen  i.  cl. 
Zs.  f.  christliche  Kunst  XV,  S.  254. 

2)  Abb.  bei  Bock,  Der  Reli¬ 
quienschatz  des  Liebfrauenmün¬ 
sters  zu  Aachen  S.  16. 

3)  Publiziert  bei  Clemen, 
Kunstdenkmäler  der  Rheinpro¬ 
vinz.  Kreis  Euskirchen  S.  70, 
Taf.  6.  ~  Renard  i.  d.  Rheinlan¬ 
den  1902,  Heft  II,  S.  43. 


Abb.  31.  Augsburg,  Kii'cliliclies  Museum 
Rückseite  des  Tragaltärchens 


Abb.  32.  Cappenberg.  Romanische  Reliquicnbüste 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


13' 


Abb.  33.  Aachen,  Donischatz.  Simeonsreliquiar 


kennen.  Auf  dem  Deckel  entsprechen  ihnen,  in 
einem  Stil,  der  wieder  stark  an  die  Figürchen  auf 
den  Wandmalereien  von  den  Chorschranken  des 
Kölner  Domes  erinnert, 

Medaillons  mit  höchst 
merkwürdigen  Gestal¬ 
ten,  alle  nackt,  die 
Körper  muskulös  und 
schlank  durchgebildet, 
antike  Personifikationen 
wiedergebend:  Eros, 

Apoll  sind  deutlich  er¬ 
kennbar.  Die  getrie¬ 
benen  Plättchen  sind 
nachträglich  in  den 
Deckel  eingefügt,  das 
sehr  symmetrische  stili¬ 
sierte  Laubwerk  hinter 
den  Figuren  nachträglich 
aufgelötet,  an  der  Kuppe 
sind  dafür  all  die  ver¬ 
schiedenen  bekannten 
Arten  des  gotischen 
Laubwerks  zu  beobach¬ 
ten.  Wohl  ganz  ohne 
Parallele  wäre  in  der 
deutschen  Gotik  ein  sol¬ 


cher  Kreis  von  nackten  Figuren  -  -  fast  möchte  man 
an  eine  archaistische  Arbeit  aus  der  Zeit  um  1530 
denken,  in  der  ein  Renaissancekünstler  versucht  hat, 

den  Stil  der  Medaillons 
der  Kuppe  frei  nachzu¬ 
bilden. 

An  Stoffen  und  Para¬ 
menten  hatte  die  Düssel¬ 
dorfer  Ausstellung  eine 
kleine  und  gewählte 
Sammlung  der  allerkost¬ 
barsten  Exemplare  zu¬ 
sammengestellt.  Seit  dem 
5.  Jahrhundert  war  die 
Entwickelung  hier  mit 
kunstgeschichtlich  merk¬ 
würdigen  Stücken  be¬ 
legt.  Die  Eröffnung  der 
grossen  Heiligenschreine 
in  den  letzten  Jahrzehn¬ 
ten  hat  eine  Reihe  der 
schönsten  dieser  Stoffe 
zu  Tage  gefördert.  Sie 
galten  schon  dem  11. 
und  12.  Jahrhundert  als 
kostbarster  Besitz;  das 
Wertvollste,  was  die 


Abb.  34.  Osnabrück.  Deckel  des  h^aiserpcka/s 


132 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


Abb.  35.  Siegburg.  Byzantinischer  Löwenstoff  aus  dem  Annoschrein 


Kirche  besass,  sollte  für  die  Gebeine  der  Heiligen 
die  innerste  Hülle  bilden.  An  der  Spitze  stehen 
zwei  schon  seit  längerer  Zeit  bekannte  Stoffe  aus 
St.  Ursula,  der  eine  ein  spätrömisches  Gewebe, 
etwa  aus  dem  5.  Jahrhundert,  in  der  feinen  Tö¬ 
nung  von  gelb  und  rot,  in  den  noch  unverbun¬ 
denen  Medaillons  mit  der  Darstellung  von  Tierkämpfen. 
Der  andere  ein  sassanidischer  Stoff,  der  einen  der 
letzten  Sassanidenkönige,  Chosroes  II.  (590 — 628)  zeigt, 
auf  dem  Greifen  reitend  und  von  dem  bösen  Dämon 
bedroht,  während  der  gute  Dämon  ihm  aus  dem 
Baum  des  Lebens  zu  Hilfe  kommt.  Es  ist  derselbe 
König,  der  auf  der  bekannten  Chosroesschale  des 
Cabinet  des  medailles  der  Bibliotheque  nationale  er¬ 
scheint’).  Bei  der  Eröffnung  des  Kunibertusschreins 
in  Köln  im  Jahre  1898  kam  dann  ein  kostbarer 
sassanidischer  Stoff  zum  Vorschein"),  ein  geköpertes, 
doppeltgefärbtes  Purpurgewebe  in  Dunkelblau  und 
Hellgelb,  von  einer  Grösse  der  Medaillons,  wie  sie 
nur  noch  in  dem  Elefantenstoff  im  Aachener  Münster¬ 
schatz  vorkommt.  Das  Pallium  auf  der  Innenfläche 
der  einen  Hochaltarthüre  von  St.  Ambrogio  zu  Mailand 
zeigt  dieselbe  Zeichnung,  nur  erreichen  die  Medaillons 
hier  nicht  diese  erstaunliche  Höhe  von  90  cm.  Das 
Feld  wird  beherrscht  von  dem  mächtig  aufschiessenden 
Lebensbaum,  auf  jeder  Seite  ein  Reiter  in  skythischer 
Mütze,  der  mit  einem  einzigen  Pfeilschuss  einen 
Löwen,  der  einem  Wildesel  im  Nacken  sitzt,  erlegt 
und  ihn  auf  seine  Beute  heftet.  Der  Dargestellte  ist 
der  indische  Prinz  Bahram  Gor  (als  König  420 — 438), 
ein  gewaltiger  Nimrod.  Die  arabische  Chronik  des 
Tabari  von  Bagdad  erzählt,  wie  er  diese  Doublette 
schiesst.  Die  Darstellung  aber  wird  in  dem  Speise¬ 
saal  des  prinzlichen  Palastes  abgebildet  —  von  dieser 
Zeit  an  heisst  der  Prinz  Bahram  Gor  (d.  i.  Wildesel). 


1)  Vergl.  Dienlafoy,  L’art  antique  de  la  Perse  V, 
p.  103.  —  Babeion,  Guide  illustre  au  cabinet  des  medailles, 
p.  163. 

2)  Schnütgen  i.  d.  Zs.  f.  christliche  Kunst  XI,  S.  225 
mit  Taf.  5.  Die  eingehende  Deutung  der  Darstellung  giebt 
Feld.  Justi  ebenda  S.  361. 


Es  ist  uns  hier  in  einem  späten  sassanidischen  Stoff, 
der  wahrscheinlich  erst  dem  Anfang  des  7.  Jahrhunderts 
angehört,  die  Kopie  eines  berühmten  Gemäldes  des 
5.  Jahrhunderts  bewahrt.  Und  auch  der  gleichzeitige 
Stoff  aus  St.  Ursula  giebt  uns  die  Zeichnung  eines 
Fürstenbildnisses  wieder,  wie  auf  den  sassanidischen 
Felsenbildwerken  von  Naksch  i  Rustam  vor  Perse- 
polis.  Das  grösste  und  prachtvollste  Stück  ist  aber 
erst  im  Jahre  1900  bei  der  Eröffnung  des  Anno¬ 
schreines  erhoben  worden.  Es  zeigt  auf  trübviolettem 
Grunde  sechs  majestätische  Löwen,  je  drei  in  einer 
Reihe  stehend.  Es  ist  ein  Werk  aus  der  kaiserlichen 
Manufaktur  in  Byzanz,  wie  es  nur  fremden  Fürsten 
als  Geschenk  übersandt  wurde.  In  solcher  Breite  ist 
uns  überhaupt  kein  Stoff  vor  dem  Jahre  1000  er¬ 
halten:  freilich  die  Breite  von  2,6  m  gilt  der  Kette, 
nicht  dem  Einschuss,  welcher  von  oben  nach  unten 
läuft.  Auch  dieses  Werk  ist  genau  zu  datieren  nach 
den  auf  ihm  genannten  Kaisern  Romanos  11.  Leca- 
penus  (919 — 944)  und  Christophorus,  seinem  Stiefsohn, 
der  944  starb’).  Der  Stoff  ist  um  ein  halbes  Jahr¬ 
hundert  älter  als  der  im  Düsseldorfer  Kunstgewerbe¬ 
museum  befindliche  Löwenstoff,  der  unter  Kon¬ 
stantin  VIII.  und  Basilius  II.  zwischen  976  und  1025 
hergestellt  ist^). 

Von  den  romanischen  Kasein  in  Glockenform 
waren  zwei  der  kostbarsten  zur  Stelle,  die  beiden 
sogenannten  Bernhardskasein  aus  den  Schätzen  der 
Kirchen  zu  Xanten'’)  und  Brauweiler ^),  beide  von 
kostbarem  dunkelgelben  Seidenstoff  mit  feinen  Rosetten- 

1)  aus’m  Weerth  i.  d.  Jahrbüchern  d.  Ver.  v.  Altertums¬ 
freunden  i.  Rheinlande  XLVI,  S.  162,  Taf.  10.  —  Kraus, 
Christliche  Inschriften  II,  S.  314,  Nr.  4. 

2)  Frauberger  u.  Usener  i.  d.  Jahrbüchern  d.  Ver.  v. 
Altertumsfreunden  i.  Rheinlande  LXXXXIII,  S.  223.  — 
Kraus,  a.  a.  O.  II,  S.  317,  Nr.  12. 

3)  Bock,  Geschichte  der  liturgischen  Gewänder  II, 
S.  103.  —  Ders.,  Kommentar  d.  mittelalterlichen  Kunst¬ 
ausstellung  zu  Krefeld  1852.  —  Clemen,  Kunstdenkmäler 
d.  Rheinprovinz.  Kreis  Moers  S.  135. 

4)  Bock,  Liturgische  Gewänder  II,  S.  245,  Taf.  32.  — 
Clemen  a.  a.  O.,  Landkreis  Köln  S.  55. 


DIE  RHEINISCHE  UND  DIE  WESTFÄLISCHE  KUNST 


133 


mustern,  die  erste  der  Willegiskasel  aus  Mainz  ver¬ 
wandt,  die  spätere  aus  Brauweiler  mit  einem  stehenden 
Bäumchen  zwischen  zwei  Adlern.  Eine  dritte  dieser 
Bernhardskasein  war  gerade  zur  gleichen  Zeit  auf 
der  Ausstellung  im  Hotel  Gruuthuuse  zu  Brügge  zu 
sehen :  die  aus  St.  Donat  zu  Arlon  ^),  neben  ihr  ein 
anderer,  nur  wenig  späterer  Stoff,  die  Kasel  des 
Thomas  von  Canterbury  aus  dem  Schatz  der  Kathe¬ 
drale  zu  Tournai"),  beide  mit  einem  nah  verwandten 
Muster. 

Aus  dem  12.  Jahrhundert  birgt  die  St.  Patroklus¬ 
kirche  in  Soest  ein  merkwürdiges  Kissen,  das  als 


erhalten  ist,  aus  dünnem  Köperleinen  und  ganz  mit 
Seide  bestickt.  Die  eine  Seite  zeigt  ein  Symbol  der 
Demut,  die  andere  ein  solches  der  Hoffart:  die 
Rückseite  das  Lamm,  die  Vorderseite  den  hoffärtigen 
König  Alexander.  Dargestellt  ist  die  Sage,  die  schon 
der  Pseudokallisthenes  erzählt,  wie  Alexander  in  seinem 
Hochmut,  um  zum  Himmel  aufzusteigen,  ein  paar 
riesige  Vögel  oder  Greife  einfängt,  diese  ein  paar 
Tage  hungern  lässt,  und  dann  mit  Gurten  an  einen 
eigens  konstruierten  Wagen  spannt,  auf  den  er  sich 
selbst  setzt.  Mit  langen  Stangen  hält  er  den  Tieren 
Köder,  aufgespiesste  Ferkel  oder  Hasen,  vor  —  die 


Abb.  36.  Soest,  St.  Patroklus 
Romanisches  Kissen  mit  der  Himmelfahrt  Alexanders 


Unterlage  für  den  Schädel  des  heiligen  Patroklus  in 
seiner  Reliquienbüste  diente®).  Es  ist  wohl  das 
älteste  Kissen,  das  noch  in  dieser  Gestalt  vollständig 


1)  V.  Denval,  Notice  sur  les  vetements  liturgiques 
dits  de  S.  Bernard  ä  Arlon  et  ä  Treves:  Ann.  de  Finstitut 
archeologique  de  Luxembourg  XIX,  33.  fase.  —  Abgeb.  im 
Catalogue  de  l’exposition  des  primitifs  flamands  et  d’art 
ancien.  Section  des  tissus  et  broderies  p.  1,  pl.  1. 

2)  Bulletin  de  la  societe  historique  et  litteraire  de 
Tournai  X,  p.  243.  —  Rohault  de  Fleury,  La  messe  VII, 
p.  161.  —  de  Caumont  im  Bulletin  monumental  XX,  p.  113. 
—  Katalog  der  Brügger  Ausstellung  p.  4,  pl.  2. 

3)  Das  Kissen  bei  Schnütgen  i.  d.  Zs.  f.  christliche 
Kunst  XV,  S.  177.  Vergl.  auch  XII,  S.  159. 


Vögel  flattern  hungrig  auf  und  so  steigt  der  König 
in  die  Lüfte  *).  Diese  Münchhauseniade  ist  schon 
auf  einem  Relief  an  der  Fassade  von  St.  Marco,  am 
Portal  zu  Remagen,  im  Münster  zu  Basel  und  zu 
Freiburg,  auf  einem  Elfenbeinkasten  des  Darmstädter 
Museums  und  auf  einer  Platte  im  Kloster  Dochiariu 
auf  dem  Athos  ganz  ernsthaft  dargestellt,  besonders 


r)  Über  die  Deutung  der  Luftfahrt  Alexander’s  vergl. 
Ad.  Goldschmidt,  Der  Albanipsalter  in  Hildesheim,  Berlin 
1895,  S.  71.  --  Kraus,  Geschichte  der  christlichen  Kunst  II, 
S.  403.  Neuerdings  die  Darstellungen  zusammengestellt 
von  Graeven  i.  d.  Jahrbüchern  d.  Vereins  v.  Altertunisfreun- 
den  i.  Rheinlande  108,  S.  269,  Anm.  2,  S.  273,  Anm.  4. 


■34 


R  I^INiSC  'E  UND  DIE  WESTFALISCHE  KUNST 


■V  :  ;L  >- I'Lt  sich  ganz  natürlich 
.  i  ac-iG-ni  Sy!-i-netrie  der  beiden 
.bern  die  Museen  zu 
snlUie  Seidenstoffe, 
Lei':;::  die  grosse  farbenprächtige 
I  =  ees  !i eiligen  Cyriacus  in 
'  g:cii3r  iis  erst  dem  12.  Jahr- 

i-  s-  ViU-rskirche  zu  Xanten  birgt 

’  ;  .  :  .  :  LLLf;  ::  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 

;  -  3  TL:  wif  wohl  keine  andere  Kirche  in 

Vor  allem  sind  hier  eine  ganze 
Ke;-  e  -...v:  vcHständigen  Kapellen  —  die  ganze  Aus- 
tüs.Ui:.g  des  Priesters  und  seiner  beiden  Ministranten 
für  den  Altardienst  —  in  den  kostbarsten  Sammetbro¬ 
katen  erhalten,  aus  moosgrünen,  scharlachenen,  purpur¬ 
farbenen  und  dunkelvioletten  Sammeten,  die  meist 
mit  dem  schönen  Granatapfelmuster  in  den  verschie¬ 
densten  Variationen  gezeichnet  sind,  oft  in  zwei  Höhen 
geschoren,  die  Linien  gross  und  kühn  geschwungen. 
Die  Stoffe  sind  durchweg  italienische  Fabrikate,  die 
schweren  kostbareren Venetianer,  die  leichteren  Genuesen 
-  die  Annahme  einer  gleichzeitigen  flandrischen 
Fabrikation  muss  aufgegeben  werden,  zumal  auch 
nach  den  letzten  Untersuchungen  von  Jan  Kalf,  die 
immer  nur  Einfuhr,  nicht  eigene  Herstellung  in  den 
Niederlanden  nachweisen.  Aber  diese  Sammete  sind 
dann  am  Niederrhein  verarbeitet,  gewissermassen 
montiert  worden.  Im  Anfang  herrscht  die  sogenannte 
Kölner  Borde  als  Verzierung  der  Stäbe  vor,  mit  ihren 
fast  ornamentalen  Inschriften  und  den  symmetrischen 
Bäumchen,  die  so  wunderlich  modern,  wie  einer 

1)  Abgeb.  bei  Fischbach,  Die  wichtigsten  Weberorna- 
niente  Taf.  112.  Graeven  a.  a.  O.  S.  270,  Anm.  2. 

2)  Abgeb.  bei  v.  Hefner-AIteneck,  Trachten,  Kunst¬ 
werke  und  Gerätschaften  2.  Aufl.,  Taf.  29. 


Morris’schen  Vorlage  entnommen,  uns  anmuten.  Dann 
folgen  die  gestickten  Stäbe,  meist  mit  einzelnen  Hei¬ 
ligen  in  architektonischer  Umrahmung,  auf  dem  Kreuz 
—  auf  der  Rückseite  der  Kasel  —  meist  die  Kreu¬ 
zigung  dargestellt,  die  sich  wie  selbstverständlich 
diesem  Rahmen  einfügte.  Um  die  Wende  des  jahrhun¬ 
dertsbeginnen  dann  die  grossen  ausgeführten  Stickereien 
in  Lasurmanier,  mit  leise  durchschimmerndem  Gold, 
kleine  Meisterwerke  von  der  höchsten  Eleganz 
der  Durchführung.  Die  Bilder  auf  der  mit  dem 
Wappen  des  1540  verstorbenen  Kanonikus  Sibert 
von  Ryswick  geschmückten  Kapelle  stellen  viel¬ 
leicht  den  Höhepunkt  dieser  Nadelmalerei  über¬ 
haupt  dar.  Die  Vorbilder,  selbst  für  die  Ornamentik, 
sind  hier  gleichfalls  italienisch.  Sieht  das  grosse  Mittel¬ 
feld  nicht  ganz  wie  ein  italienisches  Tondo,  etwa  von 
Mainardi,  aus?  Und  wer  möchte  angesichts  einer 
solchen  Ausdrucksfähigkeit  der  Technik  leugnen,  dass 
diese  Werke  eben  wirklich  zur  grossen  Kunst  ge¬ 
hören? 

Denn  das  scheint  mir  gerade  das  entscheidende 
Kriterium  für  die  Bedeutung  und  die  innere  Kraft 
eines  Stiles  zu  sein,  ob  er  alle  Techniken,  auch  die 
scheinbar  abliegenden,  mit  seiner  Formensprache  er¬ 
füllt  hat  und  ob  er  selbst  alle  Geräte  und  Ausstattungs¬ 
stücke,  auch  die  scheinbar  untergeordneten,  seinen 
Gesetzen  unterworfen  hat.  Nur  bei  der  Ausdehnung 
des  Interesses  auch  auf  diese  Seitengebiete  lässt  sich 
die  Stärke  einer  künstlerischen  Richtung  berechnen, 
die  Intensität  eines  Stromes  ablesen.  Und  verwundert 
sehen  wir,  wie  diese  künstlerischen  Nebensächlich¬ 
keiten,  die  kleinen  und  alltäglichen  Gebrauchsgegen¬ 
stände  mitunter  ein  weit  subtileres  und  ausgesproche¬ 
neres  Stilgefühl  offenbaren,  als  dies  den  Schöpfungen 
der  monumentalen  Kunst  überhaupt  möglich  ist. 

T  Clemen,  a.  a.  O.  Kreis  Moers,  S.  138,  Taf.  8. 


Abb.  37.  Mettlach.  Vorderseite  der  K/eiizestafel 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H  ,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1903 


ELTERNOLÜCK.  RADIERUNG  VON  GEORG  VON  KEMPF 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER 

IN  BRÜGGE 

VON  Franz  Dülberg 

II. 


Gegen  das  Ende  des  15.  Jahrhunderts  be¬ 
mühen  sich  nacheinander  zwei  in  Brügge  ein¬ 
gewanderte  Meister,  aus  den  seltenen  Blumen 
der  Grossen,  Hubert’s  und  jan’s  van  Eyck,  Roger’s 
de  la  Pasture  und  des  Flemallers,  Hugo’s  van  der 
Goes  und  des  Dirc  Bouts,  ein  allen  gefallendes  Ge¬ 
winde  zu  flechten:  einen  bunt  sauberen  Strauss  für 
das  gute  Zimmer  des  auf  Bildung  und  Wohlstand 
haltenden  Bürgermannes 
bringt  der  Mainfranke  Hans 
Memling,  ein  steif  an¬ 
spruchsvolles  Bouquet  für 
die  Räume  des  in  der 
Kunst  sich  selber  anbeten¬ 
den  Geschmackssüchtlers 
der  Südholiänder  Gerard 
David  zu  stände.  Äusser- 
lich  stand  in  der  Mitte  der 
Memling’schen  Werke 
sein  nachgerade  zu  Tode 
gelobter  Reliqiiienschrein 
der  heiligen  Ursula  aus 
dem  Brügger  johannis- 
spital  (Nr.  68);  hier  sei 
nur  bemerkt,  dass  auf  den 
Flügeln  eines  früher  ent¬ 
standenen,  ebenfalls  in 
Brügge  (Soeurs  Noires) 
bewahrten  Altarstückes  mit 
Darstellungen  der  Kirche 
und  Synagoge  (Nr.  46,  47) 
die  Ursulalegende  drama¬ 
tischer  erzählt  ist:  man 
beachte  in  der  Marterscene 
ganz  vorn  das  Mädchen, 
das  an  den  Haaren  geris¬ 
sen  wird  und  die  Hände 
vorstreckt.  Auch  die  beiden 
räumlich  grossen  Haupt¬ 
werke  aus  dem  johannis- 
spitaI,derjohannisaltar  von 
147g  (Nr.  59)  und  der 
Christophorusaltar  von 
1484  (Nr.  66)  sind  uns  nicht  viel  mehr  als  vornehm  ge¬ 
stellte  lebende  Bilder.  Das  Schwergewicht  eines  Vor¬ 
ganges  wie  die  Enthauptung  des  Täufers  ist  dem 
Maler  kaum  bewusst  geworden,  und  eine  Apokalypse, 
die  so  wenig  Offenbarung  ist,  hat  wohl  kein  Grosserder 
Kunst  wieder  gemalt.  Man  vergleiche  einmal  die  behäbi¬ 
gen  vier  Reiter  Memling’s  mit  Dürer’s  vulkanischem 
Blatte!  Sehr  erfreulich  war  das  Erscheinen  des  selten 
gezeigten,  durch  die  frühe  Entstehungszeit  —  gegen 
1468  —  und  als  Vorbild  des  grossen  johannisaltars 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  II.  fi 


wichtigen  Triptychons  des  Sir  John  Donne  (Nr.  56, 
Herzog  von  Devonshire,  Chatsworth).  Die  Anordnung 
ist  hier  von  steifster  Symmetrie,  die  Haltung  der 
Madonna  völlig  senkrecht;  nur  der  Engel,  der  lächelnd 
dem  Christkinde  den  Apfel  bietet,  wirkt  belebend. 
Die  Färbung  ist  geschmackvoll  —  das  violette  Ge¬ 
wand  des  Täufers,  die  beiden  trefflich  gegeneinander 
gesetzten  Rot  in  dem  des  Evangelisten  — ,  aber 

ziemlich  kühl.  Die  Land¬ 
schaft  flussdurchzogen, fast 
eben;  die  Höhenzüge  der 
Ferne  sehr  rundlich  ge¬ 
wellt,  merkwürdig  nach¬ 
lässig  behandelt.  Auf  dem 
linken  Flügel  sehen  wir 
den  Maler:  ein  gutmütiges, 
volles,  festes  Gesicht  mit 
kurzer  Stirn,  zurücktreten¬ 
den  Augen  und  breiten, 
dünnen  Lippen.  Unselb¬ 
ständig  zeigt  sich  seine 
Kunst  in  dem  wohl  eben¬ 
falls  sehr  frühen,  stark  von 
Bouts  angeregten  Mar¬ 
tyrium  des  heiligen  Se¬ 
bastian  im  Brüsseler  Mu¬ 
seum  (Nr.  69):  weder  er¬ 
scheint  hier  der  Akt  be¬ 
deutsam,  noch  ergreift  uns 
bei  der  geringen  seelischen 
Anteilnahme,  mit  der  hier 
gemalt  wurde,  der  Gegen¬ 
stand.  Unter  dem  Zeichen 
Rogier’s  steht  die  kleine 
fragmentierte  Geburt  Chri¬ 
sti  (Nr.  80,  Clemens,  Mün¬ 
chen),  interessant  durch  das 
verkümmerte,  besorgte  Ge¬ 
sicht  joseph’s,  der  die 
Kerze  hält,  und  das  leuch¬ 
tende  Feuerrot  seines  Ge¬ 
wandes.  Die  gleiche  Ab¬ 
hängigkeit  zeigt  noch  die 
Anbetung  der  Könige  in  dem  1479  datierten  Brügger 
Floreinsaltärchen  (Nr.  60):  freilich  gewinnt  uns  dort 
die  ausserordentlich  schön  beobachtete,  bis  zum  Stadt¬ 
thor  führende  Strassenperspektive.  Eigener  sind  im 
Aufbau:  die  trefflich  erhaltene  und  schön  in  die 
Senkrechte  komponierte  Beweinung  Christi  aus  den 
Privatgemächern  des  Fürsten  Doria  (Nr.  gi)  und  der 
v.  Kaufmann’sche  Altar  mit  der  gleichen  Darstellung 
im  Mittelbilde  (Nr.  92),  tief  gestimmt  in  der  Land¬ 
schaft,  ungewöhnlich  ausdruckskräftig  in  den  Gestalten 

iS 


Memling,  Verkündigung 
Sainnilitng  des  Fürsten  Anton  Radziwill 


13Ö 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


uer  n:it  geöffnetem  Munde,  ängstlichen  Blicken  und 
thränendem  Gesichte  hinter  dem  Leichnam  nieder¬ 
knienden  Mutter  und  der  die  Hände  ringenden 
.Magdalena.  Die  vollen  Gesichter  zeigen  in  der 
iJLircharbeitimg  deutliche  Anklänge  an  Hugo  van  der 
■'i.^es.  Lebendiger  als  Memling’s  meiste  Werke —  in 
der  ,-tarken,  wenn  auch  noch  eckigen  Geste,  in  dem 
.  ei'.  hen  Ausdrucke  der  Mundöffnungen  —  wirkt  auch 
ein  Fragment  in  englischem  Privatbesitz;  die  Volks¬ 
menge  im  Eccehomo  (Nr.  76),  nur  wenige  Köpfe 
und  Hände.  Nach  Weale’s  wohl  zutreffendem  Ansatz 
gehörte  das  Bild  der  letzten  Zeit  des  Meisters  an, 
seinem  Lübecker  Altar  ist  es  verwandt.  Die  meisten 
Stimmen  der  prüfenden  Kunstfreunde  aber  vereinigte  auf 
sich  das  vom  Fürsten  Anton  Radziwill  geliehene,  wohl 
1482  gemalte  Verkündigungsbild  (Nr.  85,  s.  Abb.).  Fast 
hinsinkend  empfängt  Maria,  in  lichtblauem  Gewände, 
die  Botschaft.  Zwei  Engel  helfen  ihr,  der  eine  in 
Hellviolett,  der  andere  in  köstlichem,  gelb  belichteten 
Violettweiss.  Den  Kündiger  kleidet  ein  prächtig  rot¬ 
goldener  Mantel,  aber  nur  fast  ängstlich  fragend  wagt 
er  sich  zu  nahen.  Eine  zarte  Empfindsamkeit,  noch 
durchaus  gehalten,  spricht  sich  in  diesem  Bilde  aus. 
Im  16.  Jalirhundert  wächst  sie  rasch  bis  zu  neu- 
rasthenischer  Spannung.  Zwei  Werke  führten  von 
Memling  zu  seinem  Nachfolger  Gerard  David:  der 
kniende  heilige  Hieronymus  der  Sammlung  Schubart, 
jetzt  bei  Frau  Professor  Bachofen  in  Basel  (Nr,  86) 
durch  die  selir  sorgfältige,  nicht  gerade  vielsagende 
Gesichtsbildung  und  den  allzugleichmässig  hellbräun¬ 
lichen  Fleischton,  und  der  grosse,  aus  Spanien  ent¬ 
führte  Orgelschmuck  mit  dem  Himmelskönig  und 
dem  Engelchor  (Nr.  84,  Antwerpener  Museum)  durch 
die  absichtsvolle  Feierlichkeit.  Die  Mittelfigur  des 
segnenden  Christus,  natürlich  von  Hubert  van  Eyck 
abhängig,  wirkt  mit  ihrer  hölzernen  Handhaltung 
unrettbar  langweilig,  doch  wecken  die  leisen  Ab¬ 
wandlungen  in  Gesichtern  und  Händen  der  Engel 
die  Teilnahme:  freilich  an  die  aus  schönstem  Leben 
herausgegriffenen,  halb  knaben-,  halb  mädchenhaften 
Zeugen  der  heiligen  Geburt  auf  Hugo’s  van  der  Goes 
Florentiner  Zeugnis  darf  man  dabei  nicht  denken. 
Zahlreich  waren  die  handlungslosen  Madonnenbilder 
des  Meisters  vertreten:  die  im  Aufbau  recht  unbelebte, 
frühe  Madonna  mit  dem  heiligen  Antonius  aus  der 
Liechtensteingalerie  (Nr.  81),  aus  derselben  Sammlung 
die  kleinere  Madonna  mit  dem  Apfel  (Nr.  72),  wo 
das  wirklich  liebenswürdig  lächelnde  Kind  in  starkem 
Gegensätze  steht  zu  dem  kalten  Ausdrucke  der  Mutter, 
das  leider  stark  übermalte  Bild  der  Sammlung 
Stephenson  Clarke  (Nr.  81),  wo  Maria  von  zwei 
äusserst  anmutigen  Engeln  begleitet  ist,  deren  linker 
dem  Kinde  eine  Nelke  reicht,  interessant  auch  durch 
die  spätgotische  Skulptur  des  Thrones  mit  der  Ver¬ 
treibung  aus  dem  Paradiese,  und  die  ganz  in  Rot 
getauchte  Madonna  des  Herzogs  von  Anhalt  (Nr.  7g), 
mit  den  beiden  Musikengeln,  gotischer  in  der  Orna¬ 
mentik,  also  wohl  früher  als  die  beiden  Variationen 
in  Wien  und  Florenz.  Das  schönste  Stück  der  Reihe 
besitzt  wieder  Herr  Adolf  Thiem:  die  Mutter  in 
prächtigstem  Rot  und  zurücktretendem  Graublau,  mit 


nur  einem  sehr  belebt  blickenden,  eine  Nelke  reichenden 
Engel  in  grauer  Kleidung  (Nr.  78).  Das  altbekannte 
Brügger  Zweiblatt  mit  der  selbstgefällig  kalten  Madonna 
und  dem  so  frischen  und  lebenswarmen  Bildnis  des 
Martin  van  Nieuwenhove  (Nr.  67,  1487  gemalt)  mag 
uns  zum  Schluss  zu  Memling’s  Porträts  führen,  die 
zwar  nicht  jene  unbarmherzige  Fesselung  des  Ani¬ 
malischen,  wie  die  des  Jan  van  Eyck,  nicht  die  blitzhafte 
Seelenbeleuchtung  Roger’s,  nicht  Hugo’s  denkmalhafte 
Erhöhung  alles  Lebendigen  besitzen,  dafür  aber  durch 
ein  kluges  Belauschen  des  Gesamtaccordes  der  Natur 
eine  erfreuende  Lebensnähe  erwerben.  Der  Jugend 
gehört,  noch  ganz  von  Roger  geführt,  das  Bild  eines 
wunderhübschen  betenden  Jünglings  mit  ganz  schlanken 
Händen  (Nr.  77,  Sammlung  Salling,  London);  die 
musterknabenhafte  Haltung  wird  durch  den  träume¬ 
rischen,  frühreifen  Blick  Lügen  gestraft.  Fast  an 
Giorgione’s  Jüngling  in  Violett  im  Berliner  Museum 
werden  wir  hier  gemahnt.  Gar  nichts  beinahe  sagen 
aber  die  Augen  eines  jungen  Mannes  mit  grosser 
energischer  Nase,  der  nach  Kaemmerer’s  Vermutung 
wohl  als  Schützenkönig  —  einen  Pfeil  in  der  Hand 
hält;  das,  wohl  ebenfalls  frühe,  Bild,  mit  blauem 
Grund,  war  aus  der  Oppenheim’schen  Sammlung  in 
Köln  gekommen  (Nr.  70).  Nicht  viel  mehr  als  ge¬ 
sammelte  Kraft  verrät  uns  auch  das  farbenfreudige, 
trefflich  erhaltene  Bildnis  eines  Mannes  mit  ein¬ 
geschlagener  Nase  aus  der  Galerie  des  Haag  (Nr.  73). 
Stark  nachgedunkelt  und  von  gelbem  Firnis  bedeckt, 
aber  doch  äusserst  vornehm,  zumal  in  den  feinen 
Zügen  des  Mannes,  sind  die  Bildnisse  des  durch  Hugo 
van  der  Goes  uns  teuer  gewordenen  Tonnnaso  Porti¬ 
nari  und  seiner  Gattin  (Nr.  57,  58),  aus  dem  Besitz 
von  Herrn  Leopold  Goldschmidt  in  Paris,  der  auch 
eine  Variation  der  Gottesmutter  mit  den  heiligen 
Frauen  vom  Mittelbilde  des  Brügger  Johannesaltars, 
eine  wahre  Symphonie  in  Rot  und  Grün,  ausgestellt 
hatte  (Nr.  63).  Nicht  gerade  in  gutem  Zustande,  in 
der  Landschaft  übermalt  sind  die  beiden  viel  ersehnten 
Kniestücke  aus  der  Hermannstadter  Galerie  (Nr.  74,  75). 
Geheimnisvoll  geschlossene  Züge  sind  in  dem  in  der 
Malweise  ungewöhnlich  freien  Porträt  einer  alten  Frau 
aus  ungenanntem  Pariser  Privatbesitz  (Nr.  71)  fest¬ 
gehalten;  das  freilich  lange  nicht  so  reizvolle  männ¬ 
liche  Gegenstück  befindet  sich  im  Berliner  Museum. 
Wenn  von  Memling,  so  sicher  eines  seiner  reifsten 
liebenswürdigsten  Werke,  ist  das  Bild  eines  alten 
Mannes  mit  sehr  durchgearbeitetem  Gesicht  und  über- 
einandergelegten  Händen  (Nr.  16),  das  bei  Baron 
Oppenheim  in  Köln  den  Namen  Jan’s  van  Eyck  führt, 
aber  unzweifelhaft  eine  der  schönsten  Leistungen  der 
Menschendarstellung  erst  des  ausgehenden  15.  Jahr¬ 
hunderts  ist.  Unbeirrbare  Güte  ist  selten  so  weit  im 
Ausdrucke  gebracht  worden. 

Als  Arbeiten  der  Schule  Memling’s  seien  genannt; 
das  jedenfalls  noch  der  Werkstatt  angehörende,  in 
der  Anordnung  und  in  den  Gegenständen  merkwürdige, 
in  der  Mittelgestalt  des  segnenden  Christus  von  dem 
grossen  Antwerpener  Orgelbild  abhängige  Reise- 
altärchen  des  Strassburger  Museums  (Nr.  176),  er¬ 
freulich  durch  den  wohlgebildeten,  vollen  Frauenakt 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


137 


der  Eitelkeit«,  der  von  der  hölzernen  Figur  auf  dem 
grossen,  wohl  zwischen  Memling  und  Gerard  David 
einzuordnenden  Stuttgarter  Bathsebabilde  weit  absticht, 
und  den  wie  ein  Goldkäfer  leuchtenden  Leib  des 
Teufels;  dann  —  in  weitem  Abstande  —  die  Ein¬ 
kleidung  des  heiligen  Ildefons  im  Besitz  von  E.  Pacully 
in  Paris  (Nr.  in),  roh,  hell  und  gering  in  der 
Farbe. 

Wo  Gerard  David  die  Kunst  Memling’s  fortsetzt, 
ist  es,  als  würde  eine  Melodie,  die  wir  eben  auf  dem 
Klavier  hörten,  nun  voll  und  schwer  auf  der  Orgel 
vorgetragen.  So  sehr  nun  die  späten  bekannten  Haupt¬ 
werke  des  jetzt  fast  wie  ein  Italiener  beliebten  Meisters 
als  »reifer  klassischer  Archaismus«  einer  Stimmung 
unserer  Zeit  entgegenkommen,  so  wird  dieser  Ent¬ 
wickelung  des  Künstlers  der  nicht  ganz  froh  werden, 
der  weiss,  dass  der  Holländer  Gerard  David  von 
Geertgen  van  Sint  Jans  herkommt.  Diesem  Zu¬ 
sammenhänge  zuliebe  sei  zunächst  von  den  wenigen 
Bildern  die  Rede,  mit  denen  auf  der  Ausstellung  die 
Art  und  nächste  Nachfolge  Geertgen’s,  dieses  kühn¬ 
sten,  früh  wieder  entschwundenen  Neuerers  unter  den 
Diadochen  der  Eyck,  vertreten  war. 

Das  eine  Werk,  das  von  eigener  Hand  des  jungen 
grossen  Gerhart  in  Brügge  gezeigt  wurde  —  kennen 
wir  ja  doch  nur  im  ganzen  etwa  zehn  Bilder  von 
ihm  —  konnte  uns  freilich  nicht  so  viel  wie  die  un¬ 
schätzbaren  Wiener  Fragmente  seines  johannisaltars 
von  seiner  im  Gegensatz  zum  reliefmässigen  Aufbau 
fast  aller  seiner  Vorgänger  so  echt  malerischen,  bis 
auf  Rembrandt’s  volkreiche  Radierungen  fortwirkenden 
Massenbewältigung,  von  seinem  an  die  besten  Japaner 
erinnernden,  unheimlich  schnellen  Erfassen  jeder 
Körperbewegung  verraten,  da  es  nur  eine  einzige 
Figur  enthält  und  nur  ein  Stück  kleineren  Umfanges  ist. 
Es  stellt  —  auch  im  Stoffe  für  den  »famulus  ac  pictor« 
der  Haarlemer  Johanniter  bezeichnend  ■ —  den  Täufer 
in  der  Wüste  dar  (Nr.  34,  Abb.  S.  141):  aber  welcher 
Gegensatz  zu  Memling’s  Johannes  in  der  Münchner 
Pinakothek,  der  sich  malen  lässt  und  mit  stumpfer 
Gebärde  auf  das  Gotteslamm  deutet!  Geertgen  zeigt 
uns  einen  frischen  tüchtigen  Burschen,  der  einmal 
Trübsal  bläst  und  in  der  schönsten  grünen,  vom  Bäch¬ 
lein  durchflossenen  Frühlingslandschaft  dasitzt,  den 
Kopf  in  die  Hand  gestützt.  Wie  trefflich  eingehend 
ist  das  Gewand  von  Kamelshaaren  durchgearbeitet, 
wie  sicher  die  dünnstämmigen  Bäume,  das  ganz  wie 
auf  den  frühen  Stichen  des  Lucas  van  Leyden  dolden¬ 
förmige,  bogenartig  durchzogene  Laubwerk  hingesetzt, 
wie  reich  die  Ebene,  die  nur  fern  von  blauen  Hügeln 
begrenzt  wird,  entwickelt!  Das  köstliche  Stück,  bis¬ 
her  in  englischem  Privatbesitz,  wurde  denn  auch  von 
den  glücklichsten  Jägern  nach  dem  Schönen  ver¬ 
gangener  Zeiten,  den  Leitern  des  Berliner  Museums,  zur 
Strecke  gebracht,  so  dass  jetzt  die  preussische  Galerie 
die  holländischen  Frühmeister  in  einer  sonst  nirgends 
erreichten  Vollständigkeit  besitzt:  Ouwater,  Dirk  Bouts, 
Geertgen,  Cornelis  Engebrechtsz,  Lucas  van  Leyden, 
Jacob  Cornelisz,  Jan  van  Scorel,  Antonis  Mor.  Ein 
äusserlich  weit  reicheres  Werk,  das  zumal  in  den 
Gesichtstypen  stark  an  Geertgen’s  originellstes  Bild, 


das  »Sühnopfer  des  neuen  Testamentes«  im  Rijks¬ 
museum  erinnerte,  war  ebenfalls  aus  England  ge¬ 
kommen  (Nr.  256.  Sir  C.  A.  Turner,  London);  der 
recht  ungewöhnliche  Gegenstand  war  die  Einsetzung 
des  Rosenkranzes.  Weit  entfernt  aber  von  der  apfel- 
blütenhaften  Frische  des  Amsterdamer  Gemäldes  zeigte 
das  Bild  eine  kalkig  helle  und  fettige  Malweise,  auch 
die  Komposition  war  geistlos  und  nicht  Geertgen’s 
Eigen.  Es  handelte  sich  wohl  um  die  Leistung  eines 
archaisierenden  Nachahmers  vom  zweiten  Viertel  des 
16.  Jahrhunderts.  Ein  kräftiges  Malwerk,  das  auf 
der  Mitte  des  Weges  zwischen  Geertgen  und  seinem 
weniger  adeligen,  aber  im  Starken  wie  im  Zarten 
stets  echt  malerischen  Fortsetzer  Cornelis  Engebrechtsz, 
steht,  ist  der  bereits  durch  frühere  Ausstellung  be¬ 
kannte  Kalvarienberg  der  Hamburger  Sammlung  Glitza 
(Nr.  255),  zugleich  eines  der  frühesten  Beispiele  der 
in  den  reichsten  Stichen  des  Leydener  Hauptmeisters 
wiederkehrenden  Kompositionsart,  die  eigentlichen 
Träger  der  Handlung  zu  Gunsten  einer  auf  die  Viel¬ 
gestaltigkeit  ihrer  Beteiligung  studierten  Zuschauer¬ 
menge  in  den  Hintergrund  zu  drängen,  einer  im 
echten  Sinne  demokratischen  Malweise.  Mit  grosser 
Plastik  heben  sich  die  beiden  Pferde  im  Vordergründe, 
das  vordere  braun,  das  hintere  weiss,  heraus.  Die 
Gewandungen,  fast  alle  rot,  braunrot,  braun  und  weiss, 
der  Hügel,  von  merkwürdig  landkartenartiger  Bildung, 
graugefärbt,  und  der  dunkelblaue  Himmel  —  das  giebt 
den  vollsten  und  tiefsten  Farbenton.  Matter  und 
feiner  in  der  Färbung,  wahrhaft  als  Freilichtmalerei 
empfunden,  bedeutsam  in  der  Zusammenstellung  der 
verschiedenen  Rot,  zarter  und  edier  in  den  Formen 
ist  die  Beweinung  Christi  der  Sammlung  Martin  Le 
Roy  in  Paris  (Nr.  245),  vielleicht  das  wichtigste  früh¬ 
holländische  Bild  in  dieser  Stadt  ^).  Von  ausserordent¬ 
licher  Gewalt  ist  die  Gruppe,  die  den  ganz  vorn 
liegenden,  nur  durch  ein  Tuch  vor  der  Berührung 
des  Erdbodens  geschützten,  das  gebrochene  Auge 
uns  zukehrenden  Leichnam  umgiebt.  Mit  ängstlicher 
Sorgfalt  hält  Johannes  die  Mutter  des  Heilandes,  die 
ihm  jeden  Augenblick  entgleiten  und  den  Kopf  vor¬ 
auf,  zu  Boden  stürzen  kann.  Entfernter  berührt  eine 
der  Frauen  —  vielleicht  Magdalena  —  in  ihrer  Ver¬ 
zweiflung  mit  den  gerungenen  Händen  und  mit  der 
Stirn  die  Erde.  Echt  malerisch  gesehen  sind  im 
Hintergründe  die  beiden  Träger,  die  mit  der  Leiter 
abziehen  und  die  hinter  der  Böschung  gerade  mit 


1)  Ich  schrieb  dies,  ehe  mir  eine  Photographie  des 
wunderbar  unser  Leben  bereichernden  Bildes  der  Er¬ 
weckung  des  Lazarus  zu  Gesichte  kam,  das  das  Louvre, 
so  mit  einem  Schlage  das  Reich  der  frühholländischen 
Kunst  sich  eröffnend,  kürzlich  erwerben  durfte.  Das  Werk, 
bereits  1857  durch  seinen  Besitzer  Jules  Renouvier  mit 
dem  richtigen  grossen  Namen  Geertgen’s  van  Sint  Jan’s 
belegt,  zeigt  uns  den  Vorgang,  den  Aelbert  Ouwater  hinter 
Kirchenmauern  verschloss,  in  freier  lichter  Natur.  Drama¬ 
tisch  nur  an  einer  Stelle  so  stark  wie  die  in  heller  Glut 
empfangene  Wiener  Kreuzabnahme,  führt  es  sicher  von 
dem  jung-frischen  Prager  Dreikönigsbilde  zn  jenem  Haupt¬ 
werke  hin.  Ich  hoffe  über  das  Bild  in  einiger  Zeit  an 
anderer  Stelle  ausführlich  reden  zu  können. 


iS 


^  AL '^STELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  AlElSTER  IN  BRÜGGE 


L;  ;n  K.ö;::fe::  .  "^  'hciii  kommen.  Das  Bild  ist 

.  M  dcr-st-ii'.-;  :i  ic  die  von  ähnlichem  drama- 

■■  V  ii;- 1  Lf-r  _■  I  iVcilich  nicht  ganz  so  starke 

v  p:  .''  ;iii.  7.  ■ .  cfl  ffizicii;  das  eigenartige,  in 
1-  .1  ( T-L;  i  "  ■*  -v  a  i  Ri^- i'  ciella  Francesca  erinnernde 
:  ,  -  ,  ;  G.^ria  mit  weiblichen  Heiligen 

,  :-:v  :  :  ;  ■  J  ■ .  1,  '  t  /"  .ir  in  der  Schädelbildung 
-  I  .  -i.  7  -  i  .  :  i  i-v.;ndfalten  verwandt,  aber  das 


doch  stellte  sich  bald  unzweideutig  heraus,  dass  an 
der  fraglichen  Stelle  die  Hand  oder  besser  Pfote 
eines  Restaurators<  gewaltet  hatte.  Auf  derselben 
Strecke,  etwas  näher  dem  Ausgangspunkte,  liegt 
übrigens  das  kleine  Triptychon  des  Antwerpner 
Museums  (Nr.  561,  562,  563,  Coli,  van  Ertboru)  mit 
der  Madonna  mit  Engeln  unter  dem  Baldachin, 
Christophorus  und  Georg  als  Drachentöter  ').  ln  die 


Gerard  David.  Verkündigung 
Fiirsü.  tlohenzollcni'sche  Sannnlnng  Sig/nari/tgc/i 


Werk  einer  weniger  bedeutenden  Persönlichkeit  und 
etwas  früher  entstanden.  Ein  wichtiges  Bildchen,  das 
von  Geertgen  zu  dem  Erwecker  der  zartesten  Farben¬ 
wollust,  zum  Kölner  Meister  des  Baitholomäusaltars, 
der  Orchidee  im  Garten  der  deutschen  Malerei,  hin¬ 
führt,  war  das  hell-  und  mattfarbige  der  heiligen 
Anna  selbdritt  mit  zwei  heiligen  [Bischöfen  (Nr.  15g, 
C.  Davis,  London).  Die  Inschrift  Sanctus  Anna 
liess  mich  einen  Augenblick  an  der  Echtheit  zweifeln, 


Nähe  eines  derberen,  aber  im  schrankenlosen  Pathos 
und  der  Frische  der  Auffassung  verwandten  Zeit-  und 

1)  Audi  das  1902  erschienene  abschliessende  Haupt¬ 
werk  Aldenhoven’s  über  die  Kölner  Malerscbule  bringt 
mir  nicht  den  Beweis  für  die  von  den  meisten  Forschern 
angenommene  schwäbische  Herkunft  des  Bartholomäus¬ 
meisters.  Die  Benutzung  eines  Schongauer’schen  Stiches 
bedingt  nicht  die  stilistische  Abhängigkeit  von  dem  Kol- 
marer  Meister. 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLANDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


139 


Landesgenossen  Geertgen’s,  des  unter  dem  Namen 
»Der  Meister  J.  A.  M.  von  Zwolle«  bekannten  Stechers 
möchte  ich  am  liebsten  das  färben  kräftige,  sehr  durch¬ 
geführte  und  ziemlich  grosse  Bild  der  Handwaschung 
des  Pilatus«  aus  der  Sammlung  Vicomte  de  Ruffo 
in  Brüssel  (Nr.  339)  setzen,  das  ausserdem  auch 
einige  Beziehungen  zur  westfälischen  Kunst  (den  Ge¬ 
brüdern  Dünwegge)  zu  verraten  schien. 


ging  oder  bereits  im  KlimaBrügges  abhanden  gekommen 
war.  Nur  ganz  leise  Gebärden  erlaubt  der  Künstler 
den  Zuschauern  der  aufregenden  Ereignisse,  und 
Sisamnes  selbst  ist  bei  seiner  Entlarvung  nur  verblüfft, 
keineswegs  zum  Tode  erschrocken;  als  er  nun  gar 
—  ein  unheiliger  Vorläufer  —  das  schreckliche  Bar¬ 
tholomäusschicksal  erleidet,  sieht  man  ihm  höchstens 
an,  dass  ihm  die  Situation  peinlich,  fast  möchte  man 


Gerard  David.  Verkündigung 
Fiirstl.  HohcnzoUern'sche  Samntliing  Sigmaringen 


Kam  man  von  dieser  Gruppe  bewegter,  von  tief 
erfassten  Problemen  erfüllter  Werke  zu  den  frühesten 
beglaubigten  Arbeiten  Gerard  David’s,  den  vielleicht 
schon  1488  begonnenen,  sicher  1498  vollendeten 
Rathausbildern  der  Bestrafung  des  bestechlichen  Rich¬ 
ters  Sisamnes  (Nr.  121,  122,  Brügge,  Akademie),  so 
sah  man  um  so  deutlicher,  wie  sehr  dem  Meister  die 
Fähigkeit  zu  klarer  Gliederung  der  Massen,  zum  Aus¬ 
drucke  starker  Gefühlserregung  entweder  von  Natur  ab¬ 


sagen  kitzlich,  ist.  Die  Herkunft  des  Malers  von 
Geertgen  wird  in  der  Belichtung  der  Hände  mit  Rot, 
in  dem  bräunlichen  Ton  der  Gesichter  deutlich,  auch 
das  Erscheinen  eines  sich  kratzenden  Hundes  im 
Vordergründe  ist  ein  holländischer,  ähnlich  ja  noch 
bei  Rembrandt  wiederkehrender  Zug.  Interessant  sind 
die  angebrachten  Skulpturen  antiker  Stoffe,  wie  So- 
phonisbe’s  Gifttrunk.  —  Von  diesen  Hauptstücken 
gelangte  man  leicht  zu  einigen  anderen  Frühwerken 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLANDISCHER  MEISTER  IN  BF^ÜGGE 


140 

des  Künstlers,  von  denen  der  kleine  heilige  Hiero¬ 
nymus  der  Somzee’schen  Sammlung  (Nr.  172)  mit 
dvm  stark  geertgenhaften  Cruzifixus  und  dem  hier 
wirklich  ausdrucksvollen,  Leiden  und  Weisheit  ver¬ 
ratenden  Bück  des  Heiligen  wohl  das  älteste  und 
.-mpathischste  war.  Hell,  etwas  kreidig,  erschienen 
di;-  beiden  Flügel  mit  dem  Täufer  und  Franziskus, 
aus  der  von  Kaufmann’schen  Sammlung  (Nr.  134), 
v:)n  starkem  Eindruck  aber  war  die  figurenreiche 
warn.f.ub!  ;e  Ar.betung  der  Könige  aus  dem  Brüsseler 
rduse.im  135),  dem  etwas  späteren,  im  Aufbau 
kiarcp  Bilde  gleichen  Gegenstandes  in  der  Münchner 
r’in.-kü'diL-k  überlegen  durch  die  unmittelbar  geschauten, 
wundervoll  durchgearbeiteten  Greisengesichter  des 
die  Hand  des  Kindes  küssenden  Königs  und  des 
auf  den  Stock  gestützt  sicher  dastehenden,  kräftig 
verwitterten  Josej^h.  Die  Madonna  ist  freilich  auch 
hier  feierlich  bedeutungslos,  das  bunteste  Leben  aber 
erfüllt  die  Gruppen  des  zweiten  Planes,  die  ebenso 
wie  der  F^undbau  des  Hintergrundes  an  das  frischeste 
aller  Dreikönigsbilder,  Geertgen’s  in  ehrlicher  Andacht 
wie  in  tummelndem  Gewoge  gleich  reiches  Altarstück 
im  Prager  F^udolphinum  denken  lassen.  Die  Gestalt 
des  Mohrenkönigs,  mit  der  weissen  Mütze  und  dem 
grünen  Mantel  als  Farbenaccord  sehr  vornehm,  ge¬ 
mahnt  an  Jan  van  Mabuse’s  mächtiges  Frühwerk  der 
Epiphanie,  im  Besitz  des  Lord  Carlisle,  wie  denn 
überhaupt  Gossart-Mabuse,  aus  heute  französischem 
Gebiet  stammend,  aber  lange  Jahre  in  holländischen 
Gegenden  thätig,  in  seinen  Anfangsbildern  durch  Ver¬ 
mittelung  Gerard  David’s  Elemente  Geertgen’scher 
Kunst  aufnahm  und  seltsam  diese  umgestaltend  sie 
auf  den  beginnenden  Lukas  van  Leyden  übertrug  — 
was  wir  an  dessen  frühesten  Stichen,  wie  die  Er¬ 
weckung  des  Lazarus  und  die  Ölbergscene  der  Runden 
FLassion,  deutlich  ersehen.  Leider  fehlten  der  Aus¬ 
stellung  einige  bereits  vor  Jahren  durch  Friedländer 
für  die  Jugend  Gerard  David’s  beanspruchte  Stücke: 
die  vom  Antwerpener  Museum  zurückbehaltenen 
Flügel  mit  den  gerechten  Richtern«  und  den  leid¬ 
tragenden  Frauen,  und  das  Breitbild  der  Nagelung 
Christi  aufs  Kreuz  bei  Lady  Layard  in  Venedig: 
zumal  dieses  im  Stoff  so  grausame,  in  der  Aus¬ 
führung  so  zahme  Bild  zeigt  uns  deutlich  einen 
Maler,  der  merkwürdig  bedachtsam  die  Unmittelbar¬ 
keiten  Geertgen’s  mitmacht.  Man  sieht  es  nach 
und  nach:  eine  Tugend  aus  der  Not  machend  wurde 
Gerard  David  ein  »vornehmer  Stilist-  und  erreichte 
so,  dass  er  heute  einer  unserer  Modernsten  ist.  In 
dem  spätestens  vier  Jahre  nach  den  Gerichtsbildern 
ausgeführten  Mittelstück  des  zweiten  Brügger  Haupt¬ 
werkes,  der  Taufe  Christi  (Nr.  123)  hat  er  den  FJber- 
gang  zu  absichtsvoller  Würde  bereits  vollzogen.  Eine 
schnurgerade  Senkrechte  geht  durch  die  Nase  Gott¬ 
vaters,  den  Schnabel  der  Taube,  die  Nase  und  den 
Nabel  Christi!  Auch  der  Rücken  des  ministrierenden 
Engels  ist  kerzengerade.  Dazu  stimmen  die  ganz 
senkrecht  herabgehenden  Linien  der  Bäume  in 
der  freilich  gross  entworfenen,  auf  Tiefgrün  und 
leichtes  Blaugrün  gestimmten  Landschaft.  Nur  den 
Stifterfiguren  und  den  Predigthörern  des  Hintergrundes 


gestattet  der  Meister  etwas  freiere  Bewegung.  Dabei 
scheint  der  taufende  Johannes  vom  Gewichte  seiner 
Handlung  gar  nicht  sehr  durchdrungen.  In  den 
Frauengestalten  der  vier  bis  sechs  Jahre  später  ge¬ 
malten  Aussenseiten  der  Flügel  zeigt  sich  der  Maler 
völlig  im  Banne  Memling’s.  Ganz  und  gar  konnte 
der  Künstler  alle  Möglichkeiten  dieser  Richtung  ins 
Leben  treten  lassen  in  dem  grossen  Bilde  der  Ma¬ 
donna  im  Kreise  heiliger  Jungfrauen,  das  er  1509 
den  Brügger  Karmeliteriimen  schenkte:  es  wurde  das 
berühmteste  Stück  zugleich  Gerard  David’s  und  des 
Rouener  Museums  (Nr.  124).  Die  Anordnung  im 
Halbkreise  ist  vollkommen  skulptural.  Alles  ist  ab¬ 
gewogen  und  hat  seinen  Kontrapost.  So  auch  die 
Farben.  Gegen  die  Madonna  in  Dunkelblaugrün 
sind  die  beiden  Engel  in  Weissblau  gestellt.  Der 
Thron,  mit  Karminrot  belegt,  stimmt  zu  den  roten 
Brokaten  der  beiden  Heiligen  links  und  rechts  am 
Ende,  und  die  vorletzten  auf  jeder  Seite  tragen  in 
schöner  Harmonie  Olivengrün.  Links  hinten  steht 
als  einziger  Mann  der  Maler:  ruhig,  gelassen,  vor¬ 
nehm,  schwerfällig,  passt  er  ganz  gut  in  die  heilig 
monotone  Gesellschaft.  Den  grössten  Beifall  aber 
heimste  die  wohl  nur  wenig  später  entstandene  Ver¬ 
kündigungaus  der  Fürstlich  Hohenzollern’schen  Samm¬ 
lung  in  Sigmaringen  (Nr.  128,  Abb.  S.  138  u.  139)  ein: 
nur  zwei  Personen  auf  zwei  Tafeln,  die  früher  vielleicht 
die  Flügel  eines  farblosen  Scimitzaltars  bildeten:  die 
Ausstellungsbesucher  sagten  einfach  »das  blaue  Bild«. 
Die  Gesichter  und  Fleischteile  sind  in  leuchtenden 
Glanz  getaucht,  die  Modellierung  zeigt  deutlich  ein 
spätes  Nachwirken  der  Kraft  des  Hugo  van  der  Goes. 
Der  Engel  ist  in  Hellblau  gekleidet,  die  Flügel  unten 
hellblaugrau,  oben  braun  gefärbt,  der  weite  Mantel 
grün  und  violett,  oben  rotbraun.  Die  Wand  grau 
und  braun.  Die  Glorie  der  Taube  umgiebt  ein 
blauer  Rand.  Der  Mantel  der  Maria  ist  graublau, 
die  Bettstatt  dunkelblaugrau.  Ein  magisches,  vom 
Himmel  kommendes  Licht  trifft  die  weissen  Lilien. 
Als  einzige  unterbrechende  Note  sehen  wir  vorn  einen 
roten  Beutel  auf  dem  Boden  liegen.  Man  musste 
vor  der  Malerei,  die  mit  dem  Memling’schen  Ver¬ 
kündigungsbilde  beim  Fürsten  Radziwill  zu  vergleichen 
eine  der  lehrreichsten  kritischen  Beschäftigungen  war, 
unwillkürlich  an  den  populären  Effekt  der  blauen 
Beleuchtung  in  Rauch’s  Charlottenburger  Mausoleum 
der  Königin  Luise  denken.  Neben  solchen  Haupt¬ 
stücken  war  noch  manches  andere  von  Gerard  David 
und  aus  seiner  nächsten  Umgebung  auf  der  Aus¬ 
stellung  zu  sehen,  das  geringeres  Interesse  bot:  die 
noch  ziemlich  frühen,  geradlinig  gezeichneten,  in  der 
Farbe  vollen  und  kräftigen,  leider  keineswegs  unver¬ 
letzten  vier  Figuren  männlicher  Heiliger  aus  der 
Berliner  Sammlung  Simon  (Nr.  138),  das  kleine, 
dunkel  gehaltene  Rundbild  der  Madonna  beim  Baron 
Bethune  in  Brügge,  zeitlich  dem  Rouener  Bilde  nicht 
ganz  fern  (Nr.  268),  die  sehr  gedrängt  komponierte, 
in  den  Händen  wächserne,  in  den  Linien  scharfe  und 
feine  Madonna  mit  dem  die  Mutter  küssenden  Kind 
und  dem  Speisen  heranbringenden  Joseph  (Nr.  343, 
Herr  Martin  Leroy,  Paris),  diesem  I3ilde  in  der  hol- 


DIE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


141 


ländisch  häuslichen  Stimmung  verwandt  die  vom 
Strassburger  Museum  dargeliehene  Madonna  mit  dem 
Löffel  (Nr.  20g),  freilich  kein  Original,  sondern,  wie 
die  nervöse  Haltung  des  Kindes  zeigt,  Kopie  von 
der  Hand  eines  aus  der  Gruppe  um  Herri  de  Bles 
stammenden  Nachahmers^).  Weiter  das  riesengrosse, 
aus  Spanien  erworbene  Triptychon  der  heiligen  Anna 
selbdritt  und  des 
heiligen  Nikolaus 
und  Antonius  (Nr. 

125,  Somzee’scher 
Nachlass),  bei  ge¬ 
ringerer  Durchbil¬ 
dung  sicher  von 
derselben  Art  wie 
die  steinharte  thro¬ 
nende  Madonna  im 
Genueser  Palazzo 
Bianco  und  gewiss 
ein  gleich  für  die 
Ausfuhr  gemaltes 
Atelierwerk  der 
Spätzeit,  dann  die 
sehr  hellfarbige, 
nur  durch  grossen 
fast  raffaelischen 
Schwung  der  Be¬ 
wegung  Petri  in¬ 
teressierende  Ver¬ 
klärung  Christi  aus 
der  Brügger  Lieb¬ 
frauenkirche  (Nr. 

1 17),  ein  zumal  in 
der  Landschaft  an 
die  matte,  aber 
feintonige  Berliner 
Kreuzigung  er¬ 
innerndes  Bild  und 
gleich  dieser  wohl 
aus  den  allerletzten 
Jahren  des  Künst¬ 
lers.  Ferner,  in  ge¬ 
ziemendem  Ab¬ 
stande,  die  Bilder 
der  Verkündigung 
und  Heimsuchung, 
aus  gräflich  Har- 
rach’schem  Besitz 
(Nr.  267),  wohl 
schon  nach  dem 
Tode  Gerard  Da- 
vid’s  gemalt  und 

nicht  ganz  ohne  Verwandtschaft  zu  dem  später  zu  bespre¬ 
chenden,  bisher  unter  dem  Namen  »der  Waagen’sche 
Mostaert«  bekannten  fruchtbaren  Meister.  —  Zwei  Bild¬ 
nisse  wurden  im  kritischen  Katalog  als  Arbeiten  eines 
Schülers  des  Gerard  David  zusammengestellt:  das  von 
seinem  Pariser  Besitzer  und  von  der  Ausstellungsleitung 


Oeerfgen.  Der  hl.  Johannes.  Berlin,  Kgl-  Museen 


1)  Das  sehr  ähnliche  Bild  ini  Palazzo  Bianco  in  Genua 
steht  dem  Meister  selbst  ungleich  näher. 


bei  Petrus  Cristus  untergebrachte,  in  der  That  durch 
den  spröden  glasigen  Farbenauftrag  etwas  an  die  so¬ 
genannte  Lady  Talbot«  im  Berliner  Museum  an¬ 
klingende  Porträt  eines  Unbekannten  von  schmalen 
energischen  Zügen,  eindrucksvoll  durch  das  leuchtende 
Rot  der  Kopfbedeckung  und  den  grossen  alten,  elegant 
flächenhaft  behandelten  Holzrahmen  (Nr.  146),  und 

das  eines  jungen 
Geistlichen  von 
rötlichem  Gesichts¬ 
ton  aus  der  Samm¬ 
lung  James  Simon 
(Nr.  217).  Auch 
diese  beiden  Stücke 
gehörten  durch  die 
altertümelnde  Kost¬ 
barkeit  der  Ausfüh¬ 
rung  schon  fast  in 
den  Umkreis  jenes 
in  den  meisten  Ga¬ 
lerien  vertretenen 
Meisters,  dessen 
Art  mit  dem  war¬ 
men  hellen,  durch 
spitzige  weisse 
Lichter  unterbro¬ 
chenen  Braun  der 
Gesichter  und 
Hände,  dem  tiefen 
durchsichtigen  Kar¬ 
minrot  der  Gewan¬ 
dungen  und  dem 
schweren,  etwas 
stumpfen  Dunkel¬ 
grün  des  Laub¬ 
werks  dem  Kunst¬ 
betrachter  so  rasch 
vertraut  wird. 

Als  ein  erläu¬ 
ternder  Anhang  zu 
den  Werken  des 
Malers,  der  uns  den 
Rouener  Kranz  der 
heiligen  Jungfrauen 
schuf,  war,  zumeist 
inräumlicherNähe, 
eine  Reihe  von 
Erzeugnissen  einer 
und  derselben 

Werkstatt  ausge¬ 
stellt,  von  denen 
das  umfangreichste, 
ein  1489  für  die  Gilde  zu  den  Drei  heiligen  Frauen 
(»Drie  Sanctinnen«)  in  Brügge  gestiftetes  Breitbild 

(Nr.  114,  Brüsseler  Museum)  für  den  allerdings  weit 
geschlosseneren  und  strengeren  Aufbau  jenes  Haupt¬ 
werkes  Gerard  Davids  offensichtlich  die  Anregung 
gegeben  hat.  Ein  weiter  Abstand  ist  es  freilich  von 
den  steif  mit  hochgezogenen  Brauen  und  mürrisch 
vorgeschobenen  Lippen  trotz  mechanisch  reicherer 

Bewegung  götzenhaft  dasitzenden  Jungfrauen  in 


1 


DiE  AUSSTELLUNG  ALTNIEDERLÄNDISCHER  MEISTER  IN  BRÜGGE 


Brüssel  zu  den  schwach,  aber  fein  belebten,  wie  die 
Saiten  eines  edleii  Instrumentes  auf  einander  abge- 
-  üien  Rouener  Gestalten!  Wie  fällt  die  eine  Roger 
e  ’a  Pasture  abgehorgte  Figur  der  vorn  knienden 
■‘.'ialc-nr  (aus  der  Beweinung  Christi  in  den  Uffizien) 
e.’rcii  ihre  V  em'gstens  etwas  sagende  Gebärde  aus 
. . Ganzen  heraus!  Neben  Roger  wirkte  auch  der 
..cd-  der  Santa  Conversazione  des  Johannesaltars, 
m  allem  aber  die  Festigkeit,  die  Landschaftsfreude 
.1.1  der  Detailsinn  des  Dirk  Bouts  bestimmend  ein. 
irierkwürdig  nahmen  sich  auch  die  hellen,  fast  un- 
'■crmittelt  nebeneinander  gesetzten,  von  frischem  Grün 
und  Braungelb  beherrschten  Farben  des  Brüsseler 
Bildes  neben  David’s  zart  abgetöntem  Kolorit  aus. 
Es  ist,  als  wäre  jede  Einzelheit  auf  dem  Gemälde 
von  einem  anderen  Künstler,  der  auf  seine  Mitarbeiter 
wenig  Rücksicht  nahm,  ausgeführt  worden.  So  haben 
die  reichen,  sorgfältig  in  Strähnen  frisierten  Haare 
fast  all  der  Jungfrauen  eigentlich  mit  den  Köpfen,  zu 
denen  sie  gehören,  nichts  zu  thun,  der  kostbare,  das 
Rad  des  Martyriums  als  eingesticktes  Schmuckmotiv 
verwendende  Mantel  der  heiligen  Katharina  kommt 
gerade  vom  Schneider  und  sitzt  seiner  Trägerin  nicht 
recht.  Besonders  liebevoll  sind  immer  die  reichlich 
angebrachfen  Blumen  und  Früchte  behandelt,  und  so 
möchte  man  glauben,  dass  eine  Gruppe  von  Kunst¬ 
handwerkern,  die  sonst  die  als  Textumrahmung  der 
Gebetbücher  so  beliebten  Blumenfriese  auszuführen 
gewohnt  waren,  sich  hier  dem  grossen  Auftrag  gegen¬ 
über,  so  gut  oder  schlimm  es  ging,  ans  der  Verlegen¬ 
heit  gezogen  habe.  Den  gleichen  eigenartigen  Kunst¬ 
charakter,  zugleich  aber  die  Kennzeichen  einer  um 


fünfzehn  bis  zwanzig  Jahre  weiter  geschrittenen  Ent¬ 
wickelung,  zeigen  zwei  an  sorgfältigst  ausgeführtem 
Blattwerk  überreiche  Madonnenbilder  in  Landschaft, 
beim  Earl  of  Crawford  in  London  (Nr.  132)  und 
beim  Baron  Oppenheim  in  Köln  (Nr.  133).  Dieses, 
neben  einem  farbenleuchtenden  Breitbild  der  Berliner 
Sammlung  von  Kaufmann  und  einer  von  Engeln  be¬ 
gleiteten,  die  Gesellschaft  eines  prachtvollen  Pfaus 
geniessenden  Madonna  im  Liller  Museum  (dort  Nr. 
225)  wohl  das  bedeutendste  Stück  der  Gruppe,  er¬ 
freute  durch  das  Geschick,  mit  dem  fast  ohne  An¬ 
wendung  von  Schatten  der  Eindruck  einer  grossen 
Raumweite  erzielt  wurde,  und  den  scharfen  Natur¬ 
blick,  der  die  auf  einem  Teiche  lagernde  Sumpfkresse 
nicht  vergessen  hat.  —  Eine  kleinere  Madonna  auf 
Goldgrund  aus  dem  Aachener  Suermondt-Museum 
(Nr.  173)  schloss  sich  bei  schwärzeren  Fleischschatten 
durch  die  eigenartige  Kopfform  an  die  Reihe  an, 
zwei  Gegenstücke,  Halbfiguren  der  im  Walde  lesen¬ 
den  heiligen  Katharina  und  der  heiligen  Barbara, 
aus  englischem  Privatbesitz  (Nr.  404,  405)  auch  durch 
die  Behandlung  der  Landschaft. 

Mit  Gerard  David  ist  auch  in  den  Niederlanden 
die  Kunst  des  1 5.  Jahrhunderts  zu  Ende.  Nach  ihm 
äussert  sich  überall,  selbst  bei  den  ihm  sich  an¬ 
schliessenden  Meistern  alterlümelnden  Strebens,  jene 
ja  oft  zu  zierlichen  Gebilden  ihre  Zuflucht  nehmende 
Unruhe,  jene  Unsicherheit  in  allen  wesentlichen 
Eragen,  die  dem  ungesund  gesteigerten  Pulsschlag 
des  Zeitalters  der  Reformation  und  der  beginnenden 
spanischen  Weltherrschaft  entspricht. 

(Fortsetzung  folgt.)  y 


i)  liier  sei  gleich  auf  das  unmittelbar  bevorstehende  Erscheinen  eines  grossen  Tafelwerkes  über  die  Brügger 
Ausstellung  hingewiesen,  das  go  Foliotafeln  und  einen  kritischen  Text  von  Max  J.  Friedländer  enthalten  wird.  Der 
nächste  Anfsatz  wird  Gelegenheit  bieten,  auf  das  bei  F.  Brucknrann  erscheinende  Werk  näher  einzugehen.  D.  Red. 


ZU  DEM  KUNSTBLATTE  ELTERNGLÜCK«. 


UNSERE  Leser  werden  sich  der  schönen  Radie¬ 
rung  „Ein  Geheimnis“  erinnern,  die  wir  im 
vorjährigen  Januarhefte  veröffentlichten.  Heute 
stellen  wir  denselben  Künstler,  Georg  v.  Kempf  in 
Wien,  mit  einem  weiteren  Blatte  (diesmal  Aquatinta) 
vor  und  geben  zugleich  einige  Daten  über  seinen 
Lebensgang.  v.  Kempf  ist  am  24.  Juni  1872  in  Wien 
geboren,  bezog  die  dortige  Akademie,  wo  er  sich 
besonders  an  den  jüngst  verstorbenen  J.  V.  Berger 
anschloss.  Seine  eigentliche  Begabung  ist  das  De¬ 


korative,  auf  welchem  Gebiete  er  sich  denn  auch 
vielfach  geübt  hat;  die  bekannten  Wiener  dekorativen 
Publikationen  zeigen  seinen  Namen  unter  vielen  treff¬ 
lichen  Blättern.  Aber  daneben  ist  unser  Künstler 
auch  ein  Porträtist  von  guten  Qualitäten:  Das  ge¬ 
radezu  sprühend  radierte  Bildnis  des  Oberbaurates 
Otto  Wagner,  das  wir  im  Oktober  1901  brachten, 
ist  Zeugnis  dafür.  —  Das  heutige  Blatt  redet  eine 
so  verständliche  Sprache,  dass  wir  uns  weiterer  Be¬ 
merkungen  darüber  füglich  enthalten  können. 


Abb.  1.  Niccola  Pisano.  Relief  von  der  Kflnzel  im  Baptisterium  za  Pisa 


ZWEI  SELBSTBILDNISSE  DES  NICCOLA  PISANO 


SIE  befinden  sich  an  seinen  beiden  Hauptwerken, 
den  Kanzeln  des  Baptisteriums  zu  Pisa  und  des 
Sieneser  Doms.  Meines  Wissens  hat  bisher  noch 
niemand  der  sehr  merkwürdigen  Thatsache  ihrer  Exi¬ 
stenz  gedacht. 

Das  Bildnis  im  strengen  Sinne  des  Wortes,  d.  h. 
die  bildliche  Wiedergabe  eines  Einzelnen  um  seiner 
selbst  willen,  in  voller  psychischer  und  physischer 
Bestimmtheit,  ist  bekanntlich  im  Norden  wie  im  Süden 
eine  Errungenschaft  des  1 5.  Jahrhunderts.  Doch  sind 
auch  in  älterer  Zeit  Versuche  bildnismässiger  Dar¬ 
stellung  nicht  ganz  so  selten,  wie  meist  angenommen 
wird.  Lässt  man  alles  Nichtitalienische  beiseite,  so 
müsste  dem  oft  angeführten  Beispiele  Giotto’s,  der 
in  der  Kapelle  des  Palazzo  del  Podestä  auf  dem 
Fresko  des  jüngsten  Gerichts  unter  den  Seligen  auch 
die  Bildnisse  von  Dante,  Corso  Donati  und  Brunelto 
Latini  anbrachte,  der  auf  dem  Fresko  in  der  Laterans¬ 
basilika  Papst  Bonifaz  Vlll.  darstellte,  für  das  14.  Jahr¬ 
hundert  ausser  verschiedenen  gemalten  Porträts  noch 
die  ganze  grosse  Gruppe  der  Grabplastik  hinzugefügt 
werden;  dem  typischen  Grabmal  dieser  Zeit  gehört  als 
wesentlicher  Bestandteil  das  Bildnis  des  Verstorbenen 
in  ganzer  liegender  Figur  an.  Wie  weit  in  diesen  und 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  6. 


ähnlichen  Arbeiten,  beispielsweise  in  den  verschiedenen 
Porträtslatiien  Bonifaz’  VIII.,  nicht  nur  der  Wille  zur 
Büdnistreue,  sondern  auch  die  Fähigkeit  vorhanden  war, 
über  Alters-  und  Standestypen  hinaus  ins  Individuelle 
vorzudringen,  bedürfte  freilich  erst  noch  der  Unter¬ 
suchung.  Auch  am  Ausgange  des  13.  Jahrhunderts  sind 
plastische  Porträts  dieser  Art  nicht  eben  selten;  man 
denke  nur  an  die  grosse,  weit  über  Rom  hinausreichende 
Gruppe  der  Cosmafengräber.  Aber  erst  der  Tod  war  in 
den  meisten  Fällen  Anlass  und  Legitimation  zur  bildnis- 
mässigen  Darstellung,  und  auch  dieser  nur  für  Fürsten 
und  hohe  Geistliche.  Die  wenigen,  nicht  nachweis¬ 
lich  im  Zusammenhänge  mit  Grabdenkmälern  ent¬ 
standenen  Bildnisse  des  13.  Jahrhunderts  sind  rasch 
aufgezählt:  Die  Statue  Karl’s  von  Anjou  (wohl  um  1277) 
im  Konservatorenpalast  zu  Rom;  die  aus  Scala  nach 
Berlin  übertragene  Büste  einer  Fürstin,  die  sogenannte 
Sigilgaita  Rufolo  an  der  1272  datierten  Kanzel  von 
Ravello,  vor  allem  aber  die  Bildnisse  Friedrich’s  II. 
und  zweier  seiner  Ratgeber  an  dem  vom  Kaiser  er¬ 
richteten  Capuaner  Brückenthor.  Man  sieht,  alle  diese 
Denkmäler  gehören  dem  Süden  des  Landes,  die  letzt¬ 
genannten  sogar  noch  der  ersten  Jahrhundertshälfte 
an.  Über  das  Kaiserbild  ist  kein  Urteil  mehr  mög- 


9 


144 


ZWEI  SELBSTBILDNISSE  DES  NICCOLA  PISANO 


li  1. ■  '..ie  i;ri  i  -  ■  .  .  '  on  Capua  bewahrten  Büsten 

Pietro  Taddeo  della  Sessa  jedoch 

'Tnncii  ::  i  h.T’Aiem  Sinne  als  Bildnisse 

rev  esciien  ‘  c.  .'.  -:  '..siehtiieh  hat  der  Künstler  mehr 
e.'i  ri  .'4!.'.^  ;t:s  der  Natur  nachgestrebti). 

Seih;  ’h.  ;h  e  ■  hün^ilern  aber  sind  im  Italien 
s;.  ;  .  h;  de  ePialienen  Denkmäler  ein  Ur- 

leil  z:  h  ::  .'  -'’i  nicht  geradezu  unerhört,  so 

g;  L, ■  .:e  .  '.'erwunderlicherweise  eigent- 

;i,:h-  •  ei  l  —  die  psychologische  Vor- 

i;  -  ^  d:  -edic.eisses  —  hatten  die  ehrsamen 
:d:  e;  ■  .1  -  lii  'cn  Architraven  der  romanischen 

Kir'  .  ;  e  e  Lne- 
-'1  * 

diiz  nriie- 
;e'  'de.ii;  ixunst- 
entfal- 
iveee,  iii  ;:;>.!ir  als 
ausreichendem 
Masse.  Wahrlich, 
die  Robertus, 

Gruamons,  Bi- 
duinus  u.  s.  w. 
waren  keine  be¬ 
scheidenen  Lum¬ 
pe,  sondern  Bra¬ 
ve,  die  sich  der 
That  freuten  und 
ihrer  Selbstschät¬ 
zung  in  Worten 
zuweilen  recht 
deutlichen  Aus¬ 
druckgaben.  Ein 
einziger  jedoch 
hat  uns  sein  Bild¬ 
nis  hinterlassen, 
jener  Guidetto 
nämlich,  der  im 
Jahre  1 204  an 
der  Fassade  des 
Doms  von  Lucca 
thätig  war.  An 
der  äussersten 
Säule  der  ersten 
Bogenreihe,  dort 
wo  sie  an  den 
Campanile  stösst, 
findet  sich  eine  mit  Namen  und  Jahreszahl  bezeichnete 
Relieffigur,  die  ihn  in  der  Tracht  der  Zeit  als  jugend¬ 
lichen  Burschen  mit  rundem  bartlosen  Antlitz  zeigt. 
Die  Thatsache  an  sich  ist  interessant,  der  dokumen¬ 
tarische  Wert  des  Reliefs  ist  jedoch  gleich  Null,  da 
cs  durch  Abputzen  und  Überarbeiten  neuerdings 
charakterlos  geworden  ist-).  Schmarsow  glaubte  jenen 
Guidetto  in  einem  Profilkopf  des  1246  vollendeten 

1 )  Vergl.  die  sorgfältige  Heraushebung  der  individuellen 
Elemente,  die  Fabriczy  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  XIV  S.  222 
und  236  ff.  gegeben  hat.  Siehe  ferner  auch  Delbrück  im 
laufenden  Jahrgang  S.  17  ff. 

2)  Vergl.  Schmarsow,  S.  Martin  in  Lucca  S.  27  und 


Taufbeckens  im  Baptisterium  zu  Pisa  und  in  dem 
Säulenträger  der  1250  datierten  Kanzel  von  S.  Bar- 
tolommeo  in  Pantano  zu  Pistoja  wiederzuerkennen'). 
Beide  Werke  sind  durch  ausführliche  Inschriften 
einem  Comasken  Guido  gesichert;  die  von  Schmarsow 
behauptete  Identität  dieses  Guido  mit  jenem  Guidectus, 
der  1204  in  Lucca  arbeitete  und  neuerdings  als  be¬ 
reits  im  Jahre  1199  in  Pistoja  thätig  nachgewiesen 
wurde'-),  den  wir  also  durch  zweiundfünfzig  Jahre 
seines  Lebensganges  verfolgen  könnten,  ist  mindestens 
sehr  unwahrscheinlich.  Auch  durch  das  vorgebliche 
Selbstbildnis  von  1250  wird  sie  in  keiner  Weise  ge¬ 
stützt;  denn  dieses 
zeigt  durchaus 
nicht  die  Züge 
eines  Siebzigers 
(so  alt  müsste  der 
1 1 99  bereits  Ar¬ 
beitsfähige  im 
Jahre  1250  ge¬ 
wesen  sein),  und 
ist  überhaupt, 
was  ein  Vergleich 
mit  den  Gestalten 
an  der  Brüstung 
lehrt,  sehr  wenig 
individuell. 

Immerhin,  so 
schwach  auch  die 
ausführenden 
Kräfte  waren,  — 
die  Absicht,  ein 
Selbstbildnis  zu 
geben ,  war  bei 
jenem  Guidetto 
im  Jahre  1204 
sicher,  bei  unse¬ 
rem  Guido  Biga- 
relli  aus  Como 
im  Jahre  1250 
wahrscheinlich 
vorhanden.  Nur 
die  Fähigkeit  zu 
wirklich  indivi¬ 
dueller  Gestal¬ 
tung  fehlte  ihnen 
beiden,  und  zwar 
sogar  mehr  als  den  künstlerisch  sichtlich  vorgeschrit¬ 
tenen  Meistern  der  Martins-  und  Regulusgeschichten  in 
der  Vorhalle  des  Doms  von  Lucca.  Sehr  merkwürdig 
ist  es  nun,  dass  schon  wenige  Jahre  nach  Guido  Biga- 
relli  ein  Künstler,  dessen  Bedeutung  sonst  nicht  eben 
in  der  Richtung  auf  individuelle  Gestaltendurchbildung 
gesucht  zu  werden  pflegt,  nicht  nur  den  Willen,  son¬ 
dern  auch  die  Fähigkeit  zur  Gestaltung  eines  Selbst¬ 
bildnisses  besass.  Dieser  Künstler  ist  Niccola  Pisano. 


Tschudi’s  Anzeige  im  Repertorium  für  Kunstwissenschaft 
XIV,  S.  514- 

1)  A.  a.  O.  S.  58  u.  61. 

2)  Arte  e  Storia  1895  Nr.  21. 


Abb.  2.  Niccola  Pisano.  Relief  von  der  Kanzel  im  Dom  zu  Siena 


ZWEI  SELBSTBILDNISSE  DES  NICCOLA  PISANO 


145 


Abb.  3.  Niccola  Pisano.  Selbstbildnis  von  det 
Sieneser  Kanzel 


Auf  einem  der  Brüstungsfelder  der  Sieneser  Dom¬ 
kanzel,  an  der,  wie  die  noch  erhaltenen  Urkunden 
lehren,  der  alte  Niccola  als  Leiter  eines  grösseren  Be¬ 
triebes,  ferner  sein  eben  arbeitsfähig  gewordener  Sohn 
Giovanni,  endlich  der  Florentiner  Arnolfo  und  einige 
andere  Gehilfen  von  1266  bis  1268  beschäftigt  waren, 
ist  links  die  Praesentatio  Christi  und  rechts  die  Flucht 
nach  Ägypten  dargestellt  (Abb.  2).  Über  dieser  füllen 
den  Bildgrund  eine  Anzahl  von  Gestalten,  in  denen  wohl 
Herodes  mit  den  Seinen  zu  erkennen  ist.  Die  ganz  nach 
dem  überliefertenTypus  geordnete  Darstellung  imTempel 
hingegen  hat  als  Hintergrund  eine  seltsam  zusammen¬ 
geschachtelte  gotische  Architektur.  Links  von  dieser 
nun  steht  im  zweiten  Bildgrund  hinter  Josef  und 
durch  ihn  bis  zur  Brust  verdeckt,  völlig  isoliert  von 
den  sonstigen  Assistenzfiguren,  ein  alter  Mann  von 
durchaus  anderem  Habitus  als  die  übrigen  Gestalten; 
in  ihm  sehe  ich  den  Künstler  (Abb.  3).  Er  allein  ist  in 
die  Zeittracht  gekleidet.  Über  dem  anliegenden  Unter- 
gewande  trägt  er  einen  Mantel;  ob  ärmellos  oder  mit 
Ärmeln,  ist  nicht  zu  unterscheiden,  aber  sicherlich  ist 
er  nicht,  wie  die  Mäntel  der  anderen  Gestalten,  zum 
blossen  Umhängen  eingerichtet;  auch  wird  er  nicht 
wie  diese  vorn  oder  auf  der  Achsel  durch  eine  Spange 
zusammengehalten.  Ein  haubenartig  zusammengelegtes 
Tuch  bedeckt  den  Kopf  und  fällt  dann  auf  den  Rücken 
herab.  Das  bartlose  Antlitz  ist  ganz  individuell  be¬ 
handelt.  Während  die  übrigen  männlichen  Köpfe  durch¬ 
weg  von  sehr  runder,  weicher,  fülliger  Form  sind 
und  im  wesentlichen  zwei  Typen,  einem  bartlosen 
und  einem  bärtigen,  angehören,  innerhalb  deren  die 
Abwandlungen  nur  gering  sind,  liegt  dem  Kopfe 
unseres  Alten  eine  härtere,  schärfere,  ziemlich  magere 
Urform  zu  Grunde.  Er  ist  arbeitsmüde  nach  vorn  gebeugt. 
Tiefe  Furchen  sind  in  die  Haut  eingegraben,  die  Haare, 
soweit  sie  sichtbar  sind,  zeigen  in  viel  geringerem 
Grade,  als  die  der  übrigen  Gestalten,  die  Umstilisierung 


ins  Lockige.  Sehr  bedeutungsvoll  sprechen  ausser  der 
Isolierung  der  Gestalt,  ihrer  Tracht,  der  scharfen  Durch¬ 
bildung  des  Kopfes  zu  Gunsten  meiner  Annahme 
dann  noch  die  Hände.  Die  zusammengeballte  Rechte 
scheint  etwas  zu  tragen  (ob  etwa  Handwerkszeug?), 
die  Linke  aber  weist  mit  gestrecktem  Zeigefinger 
gegen  die  Hintergrundarchitektur,  wohin  sich  auch 
—  wenngleich  nicht  mit  voller  Entschiedenheit  — 
der  Blick  wendet.  Sollte  etwa  eine  Beziehung  zwi¬ 
schen  dem  Alten  und  dem  Bau,  auf  den  er  weist, 
bestehen?  Mit  aller  Vorsicht  sei  hier  eine  Vermutung 
geäussert,  die  sich  mir,  so  sehr  ich  mich  wegen  ihres 
novellistischen  Charakters  gegen  sie  wehre,  doch  immer 
wieder  von  neuem  aufdrängt.  Die  Hintergrundarchi¬ 
tektur  der  Praesentatio,  so  unrealistisch  sie  in  den 
Maassen  und  der  Konstruktion  auch  ist,  soll  doch 
offenbar  die  Chorpartie  einer  gotischen  Kirche  dar¬ 
stellen.  Der  niedrige  Umgang  des  Chores  ist  seltsamer¬ 
weise  nach  aussen  ganz  geöffnet.  Blickt  man  nun  in 
das  auf  diese  Art  ganz  wirklichkeitswidrig  —  gewiss 
also  aus  einem  ganz  bestimmten  Grunde  —  sichtbar 
gemachte  Innere  dieses  gotischen  Baues,  so  sieht 
man  einen,  wie  die  Schlagschatten  der  Freisäulen 
beweisen,  freistehenden  romanischen  Centralbau  mit 
zwei  Reihen  rundbogiger  Arkaden  und  einem  Kegel¬ 
dach  —  das  Baptisterium  von  Pisa  vor  der  später  voll¬ 
zogenen  gotischen  Umgestaltung  (Abb.  4) ').  Niccola 


1)  Die  Rekonstruktion  nach  Rohault  de  Fleury,  Les 
monuments  de  Pise  Taf.  XIX. 


Abb.  4.  Baptisterium  zu  Pisa. 

Links  die  frühere,  rechts  die  jetzige  Aussenansicht 


>9 


14^ 


ZWEI  SELBSTBILDNISSE  DES  NICCOLA  PISANO 


Pisano  weist  n:':  dem  Finger  auf 
den  weitberühmten  Bau,  entweder, 
weil  dort  sein  Hauptwerk  stand  oder 
-  -  weil  er  i".  Pisa  geboren  und  ge¬ 
tauft  war,  oder  e.i.e  -fielen  Gründen'). 

Auch  ru  o'es.em  acht  Jalire  älte¬ 
ren  Werke  ha-  eer  Künstler,  so 


el:  --■ilo.i dargestellt{Abb. 
:e  die  iiudsten  der  Sie- 
,  i: !  ai'-jl'  die  Tafel  mit 
eng  ini  Tempel  in  der 
eine  bweicherte  und 
ierüchen  ins  Genrehafte 
w  iedi  fholung  der  glei- 
an  der  Pisaner  Kanzel. 


Abb.  5.  Niccola  Pisa/w.  Se/bs(- 
bildnis  von  der  Pisaner  Kanzel 


'daube  ioii, ' 

1  u.  \\ 

neser 

der  Ü.e-u  ;, 

Haiip  -  wb.' 

aus  d.,-:!.  ■■ 

clu  n  Sce-'.-e 

heben  wir  an  der  entsprechenden  Stelle 
a  r  äJteieu  Praeseiitatio  nach,  so  finden 
ir  über  dem  Kopfe  Josef’s  den  unseres 
iKUürlidi  hier  einige  Jahre  jüngeren 
Künstlers  wieder.  Er  trägt  auch  hier  das 
schleierartig  über  den  Kopf  gelegte 
Haubentuch,  das  einen  Teil  der  Haaie 
und  die  bei  den  Männern  sonst  überall 
durch  das  Gelock  verdeckten,  auffällig 
gross  gebildeten  Ohren  sichtbar  lässt. 

Die  Backen  hängen  hässlich  herab.  Die 
Augen  sind  scharf  nach  aufwärts  gerichtet. 

Im  ganzen  steht  dieses  Porträt  dem 

Typus  der  übrigen  Gestalten  wesentlich  ,,,  ^  ,  . 

^  Abb.  6.  Bildnis  des 

Nieeola  Pisa/w  ans  der 
:)  Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  darauf  Qiantina  des  Vasari 

hingewiesen,  dass  die  Inschrift  des  Brunnens 
von  Perugia  Niccola  und  Giovanni  mit  eitler 
jeden  Zweifel  ansschliessenden  Deutlichkeit  als  Pisaner  von 
Geburt  (natu  Pisani)  bezeichnet. 


näher,  das  heisst,  es  ist  in  geringe¬ 
rem  Grade  Bildnis,  als  die  Sieneser 
Figur.  Die  hierin  liegende  Überein¬ 
stimmung  mit  der  allgemeinen  Ent¬ 
wickelung  von  Niccola’s  künstle¬ 
rischer  Art  liegt  klar  zu  Tage. 

ln  der  Editio  Gitmlina  des  Vasari 
(vom  Jahre  1568)  findet  sich  eben¬ 
falls  ein  Bildnis  unseres  Künstlers 
(Abb.  6).  Es  ist  nicht  unmöglich, 
dass  ihm  das  Sieneser  Selbstbildnis 
zu  Grunde  liegt;  die  Ähnlichkeit  ist 
indessen  keineswegs  überzeugend. 
Vasari  selbst  giebt  übrigens  ja  in 
der  Vorrede  dieser  zweiten  Ausgabe 
zu,  dass  sowohl  die  Zeichnungen,  als  die 
Holzschnitte  danach  ihn  nicht  befriedig¬ 
ten,  und  so  kann  wohl  die  Nichtüberein¬ 
stimmung  kein  Argument  gegen  meine 
Vermutung  sein. 

Die  wenigen  gesicherten  Lebensdaten 
widersprechen  den  uns  durch  die  beiden 
Bildnisse  gegebenen  Altersangaben  in 
keiner  Weise.  Da  sich  die  Nachrichten 
Vasari’s,  Niccola  habe  1225  in  Bologna 
und  1233  in  Lucca  gearbeitet,  als  unbe¬ 
gründet  erwiesen  haben,  so  bleiben  als 
sicher  nur  übrig:  Pisa  1260,  Siena 
1265 '68,  Perugia  1278.  Zwischen  1278 
und  1284  ist  er  gestorben.  Da  er  nun 
auf  dem  älteren  Bildnis  etwa  in  der 
Mitte  der  fünfziger,  auf  dem  späteren 
im  Anfang  der  sechziger  Jahre  zu  stehen 
scheint,  würde  sich  etwa  1205  als  wahrscheinliches 
Geburtsjahr  ergeben. 


Indessen  scheinen  mir  die  beiden  Selbstbildnisse 
Niccola’s  doch  auch  noch  über  diese  Wissensbe¬ 
reicherung  im  einzelnen  und  über  das  anekdotische 
Interesse  hinaus  für  die  Beurteilung  des  Künsters  und 
seiner  Stellung  im  Zusammenhänge  der  italienischen 
Kunstentwickehmg  von  symptomatischer  Bedeutung  zu 
sein.  Man  hat  sich  ja  gewöhnt,  recht  geringschätzig 
von  ihm  zu  sprechen.  Wo  von  der  Pisaner  Kanzel 
die  Rede  war,  hob  man  immer  und  immer  den 
antiken  Einfluss  hervor,  dem  der  Künstler  wider¬ 
standslos  erlegen  sei;  die  modernen  Bestandteile  des 
Werkes  wurden  übersehen!  Kam  man  dann  auf  die 
Sieneser  Kanzel  zu  sprechen,  so  that  man  sie  meist 
mit  der  Bemerkung  ab,  sie  sei  kein  vollgültiges  Zeug¬ 
nis  für  Niccola’s  Stil.  Gehilfen  hätten  daran  mitge¬ 
arbeitet,  und  wo  sich  etwas  Neues  zeige,  was  über 
den  Stil  des  älteren  Werkes  hinausgehe,  bekunde  sich 
eben  bereitsderEinfluss  des  Sohnes').  AberGiovanni  war 
damals  ein  Knabe,  der  den  Meissei  gewiss  noch  nicht 
mit  der  für  das  malerische  Relief  nötigen  Fertigkeit 
handhabte.  Und  zudem  übersah  man,  dass  der  Ver- 

I)  hrey,  II  codice  Magliabechiano  S.  326  nennt  die 
Kanzel  ausdrücklich  das  Werk  Giovanni  Pisano’s«.  Sogar 
die  Entwürfe  der  Reliefs  sollen  von  ihm  stammen! 


trag  ausdrücklich  die  persönliche  Anwesenheit  des 
Meisters  forderte  und  für  jedes  Arbeitsjahr  höchstens 
viermaligen  Urlaub  von  je  fünfzehn  Tagen  gewährte. 
So  wird  man,  zumal  die  Rechnungsbelege  uns  die 
Einhaltung  dieses  Vertragspunktes  verbürgen,  dem 
Niccola  selbst  die  stilistische  Entwickelung  anrechnen 
müssen,  von  der  uns  die  Sieneser  Kanzel  Kunde  giebt. 
Auf  dem  älteren  Werke  ist  die  Antike  zweifellos  die 
weitaus  stärkere  Macht.  Der  Künstler  steht  unter 
ihrem  Bann,  aber  er  widersteht  ihr  doch  auch;  dies 
bezeugt  unter  anderem  die  Maria  der  Verkündigung, 
dies  bezeugt  auch  das  Selbstbildnis,  ln  der  Sieneser 
Kanzel  ist  die  »Überwindung«  der  Antike,  wenn  nicht 
vollzogen,  so  doch  in  raschem  Flusse.  Hundertfältig 
offenbart  sich  hier  die  neue  Stellung  des  Künstlers 
zur  Welt,  und  wiederum  bekundet  es  —  durch  seine 
vorgeschrittene  Individualisierung  —  das  Selbstbildnis, 
in  welchem  Sinne  und  mit  welcher  Macht  sich  die 
Entwickelung  vollzogen.  Vielleicht  hatte  Vasari  doch 
nicht  so  ganz  unrecht,  als  er  von  Niccola  aus  Pisa 
die  neue  plastische  Kunst  ihren  Anfang  nehmen  liess. 
Was  hier  verheissungsreich  zu  blühen  begann,  hat 
erst  das  spätere  Trecento  verdorren  lassen. 

ERNST  POLACZEK. 


Abb.  1.  Zwei  Prophetenbilder  von  der  Stiftungstafel  der  Ponzctil-Kapdle  in  S.  Maria  della  Pace 


MICHELE  MARINI 

EIN  BEITRAG  ZUR  GESCHICHTE  DER  RENAISSANCESKULPTUR  IN  ROM 

Von  Ernst  Steinmann 


SEIT  kurzem  erst  ist  es  der  Kunstforschung  ge¬ 
lungen,  den  ungeheuren  Reichtum  der  Renais¬ 
sanceskulpturen  in  Rom  in  seinen  Hauptstücken 
wenigstens  zwischen  die  Werkstätten  des  Toskaners 
Mino  und  des  Lombarden  Andrea  Bregno  zu  ver¬ 
teilen.  Aber  die  Zahl  vor  allem  der  Grabskulpturen, 
deren  künstlerische  Herkunft  wir  nicht  kennen,  ist 
noch  immer  erschreckend  gross.  Grabstatue  und  sein 
ornamentaler  Schmuck  —  die  Hauptelemente,  aus 
denen  sich  in  der  Regel  ein  römisches  Prälatengrab 
züsammensetzt  —  können  der  Stilkritik  meist  nur 
wenig  sichere  Anhaltspunkte  geben,  während  anderer¬ 
seits  unsere  einzige  litterarische  Quelle  aus  jener  Zeit, 
Vasari,  was  die  Urheber  der  römischen  Renaissance¬ 
denkmäler  anlangt,  fast  völlig  versagt. 

Und  doch  ist  es  Vasari  gewesen,  welcher  uns 
allein  den  Namen  eines  Bildhauers  aus  Fiesoie  er¬ 
halten  hat,  der,  wie  es  scheint,  die  Tradition  seines 
Vorgängers  Mino  fortgesetzt  und  sich  in  Rom  im 
Anfang  des  i6.  Jahrhunderts  ein  bedeutendes  künst¬ 
lerisches  Ansehen  erworben  hat.  Er  erwähnt  im 
Leben  des  Andrea  Ferrucci  von  Fiesoie  den  Bildhauer 
Michele  Maini,  -der  in  der  Minerva  in  Rom  den 


heiligen  Sebastian  gearbeitet  hat,  welcher  von  den  Zeit¬ 
genossen  so  sehr  gelobt  worden  ist«  ^).  Milanesi  hat 
dann  in  seiner  Vasari-Ausgabe  diese  Notiz  erweitert 
und  berichtigt:  Ein  Michele  di  Luca  Marini  —  nicht 
Maini,  wie  Vasari  schreibt  —  wurde  im  Jahre  1459 
in  Fiesoie  geboren,  und  es  liegt  bis  heute  kein  Grund 
vor,  daran  zu  zweifeln,  dass  er  der  Meister  war, 
welcher  die  vielgepriesene  Sebastianstatuette  in  der 
Minerva  ausgeführt  hat. 

Der  heilige  Sebastian  (Abb.  2)  in  der  Familienkapeile 
der  Maffei  verdiente  die  Bewunderung  der  Zeitgenossen 
seines  Schöpfers.  Die  Statue  ist  etwas  unter  Lebens¬ 
grösse  ausgeführt  und  stellt  den  Heiligen  dar,  wie 
er,  die  Hände  auf  dem  Rücken,  an  einen  Baumstamm 
gebunden,  das  Martyrium  erwartet.  Ein  reicher  Locken¬ 
kranz  umrahmt  den  feiiigeschnittenen  Kopf  mit  den 
gen  Himmel  gerichteten  Augen  und  dem  kleinen, 

1)  Ed.  Milanesi  IV,  p.  476:  Ma  nondimeno,  heisst  es 
von  Andrea  Ferrucci  da  Fiesoie,  attese  iin  poco  piü  all’  arte, 
quando  poi  seguitö  nel  colmo  delia  siia  gioveniii  Michele 
Maini,  scisitore  simiimente  da  Fiesoie;  il  quäle  Michele 
fece  nella  Minerva  di  Roma  il  San  Sebastiane  di  niarmo, 
che  fii  tanto  lodato  in  que’  tempi. 


MICHELE  MARINI 


i  ^iS 


,?:  ?■  ■-.-'■iineten  r-.iind;  der  schlanke  Jünglingskörper 
■  .  -"'3  ,orgia' 'g^te  durchgearbeitet  mit  jener  etwas 

k.-::  uen  Behandlung  des  Nackten,  welche 
‘  r  i-üiirenaissance  eigentümlich  ist.  Der 

lltil  ilit  1— Ui-ilC  der  Jahrhunderte  eine  leuchtende, 
.jllbraune  Fdrb  m.g  angenommen,  wie  wir  sie  auch 
an  vlichela-’gelo's  berühmtem  Madonnenrelief  im 
Barg^  ro  b:ioi>-K' 

:  ;;.s  ck 


floreuiiner 

nü''-  s':iiO! 
Si:in;'n  \ 


Shterarisch  bezeugte  Werk  des 
ii'Uianers,  den  wir  mit  Milanesi  Michele 
:.n  ■.vollen,  ge- 


:,  um  uns  von 
■  g-n  undSchwä- 
clicii  al.  bildhauer  ganz 
ijc.^  ia.-vue  ^  orstellungen  zu 
g.  k  n.  Bewundern  wir 
::;v..T<:eits  seine  sorgfältige 
inu  vollendete  Marmor¬ 
technik,  das  kindlich  Rüh¬ 
rende  und  Zarte  in  der 
psychologischen  Darstellung 
des  jungen  Märtyrers,  so 
sehen  wir  doch  anderer¬ 
seits,  dass  der  Meister  über 
eine  beschränkte  Darstel¬ 
lung  der  Affekte  nicht  hin¬ 
auszugehen  vermag,  und 
dass  er  dem  anmutigen 
Schein  die  Wiedergabe  des 
vollen  frischen  Lebens  zu 
opfern  gewohnt  ist.  Als 
besondere  Eigentümlich¬ 
keiten  Michele’s  stellen  sich 
überdies  der  kleine  Mund 
mit  den  schmalen  Lippen 
und  die  geschlitzten,  pupil¬ 
lenlosen  Augen  dar,  welche 
den  Eindruck  der  Blindheit 
erwecken;  ferner  ein  aus¬ 
gesprochener  Sinn  für  alles 
Feine  und  Zierliche,  der  sich 
besonders  in  der  Bildung 
der  gekräuselten  Locken, 
des  künstlich  gefälteten 
Lendentuches  und  der  Füsse 
mit  den  zierlich  gearbeiteten 
Zehen  offenbart. 

Alle  diese  Eigenschaften 
finden  sich  zunächst  an 

einem  kleinen,  ganz  flach  gearbeiteten  Madonnenrelief 
in  derselben  Kapelle  wieder,  welches  das  Grabmal  des 
Agostino  Maffei  rechts  vom  Eingang  schmückt  (Abb.  3). 
Schon  früher  wurde  Marini  als  Schöpfer  dieses  an¬ 
mutigen  Bildwerkes  genannt^),  an  welchem  vor  allem 
wiederum  die  Bildung  der  schmalen,  halbgeschlossenen, 
man  möchte  sagen  erblindeten,  Augen  bei  Mutter  und 
Kind  charakteristisch  ist.  Hier  haben  wir  auch  Qe- 

1)  Cicerone.  Achte  Auflage  II,  472,  wo  der  h.  Sebastian 
in  richtiger  Würdigung  seiner  Eigenart  einem  guten  Bilde 
Perugino’s  verglichen  wird. 


Abb.  2.  Der  h.  Sebastian  in  der  Maffei-Kapelle 
in  S.  Maria  sopra  Minerva 


legenheit,  die  weiche,  flüssige  Faltengebung  Marini’s 
kennen  zu  lernen  und  die  zarte  Bildung  seiner  knochen¬ 
losen  Hände  deren  Finger  bei  der  Madonna  noch 
auffallend  lang  erscheinen. 

Der  Meister  von  Fiesoie  aber  hat  nicht  nur  das 
Madonnenrelief,  sondern  das  ganze  Grabmal  des 
Agostino  Maffei  gearbeitet,  welcher  in  einer  hohen 
pfeilergetragenen  Grabnische  friedlich  auf  seinem  Sarko¬ 
phage  schlummernd  dargestellt  ist  (Abb.  5).  Das  feine, 
lebendig  aufgefasste  Pilasterornament  und  die  Dar¬ 
stellung  einer  Hirschjagd 
oben  am  Fries  des  antiken 
Gebälkes  geben  von  Mari¬ 
ni’s  Leistungen  in  der  deko¬ 
rativen  Plastik  einen  hohen 
Begriff,  während  die  schlicht 
und  edel  aufgefasste  Dar¬ 
stellung  des  Toten  ihn  uns 
zum  erstenmal  als  Porträt¬ 
bildner  zeigt.  Dieselben 
Vorzüge  wie  das  Grabmal 
Agostino’s  zeichnen  das 
Grabmal  des  Benedetto  Maf¬ 
fei  (Abb.  6)  gegenüber  aus, 
das  gleichfalls  aus  derselben 
Werkstätte  hervorgegangen 
ist  wie  der  heilige  Seba¬ 
stian.  Schon  der  einfache 
Aufbau  der  pfeilergetrage¬ 
nen  Grabnische  mit  der  von 
dem  Familienwappen  rechts 
und  links  eingefassten  In¬ 
schrift  darunter  ist  derselbe, 
nur  sehen  wir  auf  dem 
Sarkophag  nicht  den  Toten 
ausgestreckt  liegen,  sondern 
seine  Büste  in  einer  Rund¬ 
nische  angebracht,  ganz 
ähnlich  wie  beim  Grabmal 
der  Brüder  Bonsi  in  San 
Gregorio.  Aber  gerade  die¬ 
ser  Porträtkopf  ist  für  Ma¬ 
rini’s  Eigenart  charakteri¬ 
stisch.  Wir  finden  hier 
die  sorgfältige,  etwas  be¬ 
fangene  Bearbeitung  des 
Marmors  wieder,  die  weiche 
subtile  Behandlung  der 
Haare,  die  schmalen  Augen 
ohne  Sehkraft  und  den  kleinen,  idealisierten  Mund. 

Benedetto  Maffei  starb  laut  Grabinschrift  im  Jahre 
1494^).  Agostino  Maffei,  Abbreviator  Sixtus’  IV. 

und  Besitzer  einer  berühmten  Antikensammlung-)  starb 


1)  Das  griechische  Epigramm  auf  dem  Sarkophag 
Benedetto’s  besagt:  Geniesse  deine  Güter  wie  einer  der 
sterben  muss  und  spare  deine  Reichtümer  wie  einer  der 
zu  leben  hat.  Es  stammt  nach  freundlicher  Mitteilung  von 
Professor  E.  Petersen  von  Lucian.  Vergl.  Epigrammatum 
Antologia  Palatina  ed.  Dübner  II,  p.  256. 

2)  Vergl.  Maffei,  Verona  illustrata  II,  273.  Ferner 
Müntz,  Les  arts  ä  la  cour  des  papes  II,  17g.  Marini,  Degli 


MICHELE  MARINI 


149 


im  Jahre  1496.  So  wird  die  dem  Salvator  geweihte 
Familienkapelle  in  der  Minerva  Mitte  und  Ende  der 
neunziger  Jahre  des  Quattrocento  hergerichtet  worden 
sein.  Sie  wurde  wahrscheinlich  schon  damals  auch 
von  einem  umbrischen  Meister  mit  Fresken  geschmückt, 
von  denen  sich  noch  über  dem  Hochaltar  ein  Fragment 


mancher  andere  seiner  florentiner  Landsleute  erst  in 
der  ewigen  Stadt  die  grossen  Aufgaben  für  seine 
Kunst  gefunden  hat. 

Schon  im  Jahre  1497  finden  wir  ihn  mit  der 
Ausführung  eines  neuen  Auftrages  beschäftigt.  Filippo 
della  Valle,  der  hochberühmte  Arzt  mehrerer  Päpste, 


Abb.  3.  Madonnenrelief  vom  Grabmal  des  Agostino  Maffei 


—  ein  Christuskopf  —  erhalten  hat.  Wir  müssen 
damit  zugleich  den  Ausgangspunkt  der  römischen 
Thätigkeit  Marini’s  gefunden  haben,  der  wie  so 

Archiatri  Pontifici  I,  229.  Das  Todesjahr  des  Agostino  giebt 
Jacovacci  Cod.  Vat.  Ottobon.  2552,  Buchstabe  M,  p.  75. 
Von  den  Maffei  erwarb  Julius  II.  etwa  i.  J.  1511  die 
schlummernde  Ariadne,  damals  Kleopatra  genannt  für  den 
Belvedere.  Vergl.  Michaelis,  Statuenhof  im  vaticanischen 
Belvedere  im  Jahrb.  des  Kaiserl.  Deutsch.  Archäol.  Inst. 


Konklavearzt  während  der  Wahl  Alexander’s  VI.,  war 
im  Jahre  1494  gestorben^)  und  wurde  in  der  Fami- 

(1890)  V,  p.  18  ff.,  wo  weitere  Litteratur  über  die  Antiken 
der  Casa  Maffei  angegeben  ist.  Vergl.  auch  Lanciani, 
Storia  degli  scavi  di  Roma  (1902)  1,  p.  109. 

1)  Marini,  Degli  archiatri  Pontifici  1,  236,  hat  das 
Todesjahr  des  Filippo  della  Valle  richtig  gestellt.  Schräder, 
Momimenta  Italiae,  p.  148  hatte  die  Zahlen  willkürlich 
umgestellt  und  statt  MVID  hatte  er  MDVl  gelesen.  Marini 


150 


MICHELE  MARINI 


lienkapelle  der  dolla  Valle  in  Araceli  beigeselzt,  wo 
<i  l!on  sein  Vater  Paolo,  Leibarzt  Alexander's  V.,  und  sein 
Z.ruder  Pietrt-  begraben  lagen').  Drei  Jahre  später  erst 
i:ann  das  schö;;.  andgrab  (Abb.  7)  links  vom  Eingang 
icrtig  gewoiden  seir,  denn  Andreas,  der  sich  in  der 
Stiftungsinsdirift  disdiof  von  Croto  nennt,  bekleidete 
diese  Würd''  er-.!  dem  2.  Dezember  1496  bis 

zum  2  5.  !  -  l:r":  r  .5;  8,  wo  er  zum  Bischof  von  Milet 
erhoben  ’•  rde  ’j. 

Als  dsnbli;,  fd“  das  Denkmal  diente  das  edle 
■  v  dche.s  Gkiliano  della  Rovere  im  Jahre 
’  177  .'S.  .Apostoli  seinem  Vater  Raffaello  er¬ 

richten  de  ,  j.  .\’.;ch  hier  ruht  der  Tote  ausgestreckt 

liiiie  1  auch  über  die  Lebensschicksale  Filippo’s  zahlreiche 
I drielKi-ii  bei. 

■)  V- n  i.  Marini,  Degli  archiatri  Pontifici  I,  p.  120. 

1. 'dr  Grabschriften  beider  haben  sich  noch  erhalten;  sie 
wurden  mit  anderen  Inschriften  i.  J.  1586  gegenüber  dem 
Denkmal  Filippo’s  eingemauert.  (Vergl.  Casimiro,  Meinorie 
di  S.  Maria  in  Araceli,  p.  205.)  Die  Grabschrift,  welche 
Filippo  seinem  Bruder  Pietro  setzte,  ist  in  klassischem 
Latein  geschrieben  und  so  wahr  und  tief  empfunden  wie 
kaum  eine  ähnliche  Grabschrift  der  Renaissance  in  Rom. 
Sie  verdient  hier  eine  Stelle: 

Reverendo  in  X9  PatriDno.  Petro  de  Valle 
Juris  utriusq.  doctori  epo.  esculano  frati  bene. 

Dum  tibi  vita  fuit  felicia  tempora  novi 
Me  miserum  versa  est  sors  mea  niorte  tna. 

Nulla  igitur  requies  onerosa  in  luce  moranti 
Te  sine  dulce  nihil  te  sine  vita  dolor. 

Occidis  ante  annos  patrie  virtutis  imago 
Sic  tarnen  ut  vivas  in  meliore  loco. 

Accipe  supremos  tnmuli  modo  frater  honores 
Quos  potius  nobis  tu  dare  debueras. 

Parce  precor  lacrimis  fatuin  germane  quid  urges? 
Omnibus  hoc  solido  est  scripta  adamante  dies. 

Pulvis  et  umbra  sumus  tantuni  post  funera  virtus 
Nomen  in  extinctuni  sola  superstes  habet. 

Nil  aurum  nil  poinpa  vivat  nil  sanguis  avorum 
Excipe  virtutem  cetera  mortis  erunt 
Hane  cole  et  ante  oculos  imitanda  exempla  parentum 
Pone  sed  interdum  sit  tibi  cura  mei. 

Obiit  MCCCCLXIll.  XII.  Novembris. 

2)  Die  Ernennung  Andrea’s  zum  Bischof  von  Croto  am 

2.  Dez.  1496  erzählt  Burchard  (Diarium  ed.  Thuasne  11,  340), 
seine  Ernennung  zum  Bischof  von  Milet  bezeugt  Ughelli,  Italia 
sacra  I,  958.  Schon  der  gelehrte  Marini  a.  a.  O.  p.  237 
Anm.  d.  hat  diese  Zeitbestimmungen  festgestellt.  In  den 
zahlreichen  Inschriften  seines  schönen,  noch  heute  wohl¬ 
erhaltenen  Palastes,  den  sich  Andrea  della  Valle  als  Kardinal 
am  heutigen  Corso  Vittorio  Emanuele  gegenüber  der  Piazza 
della  Valle  baute,  nennt  er  sich  regelmässig  Episcopus 
Miletensis. 

3)  Das  Grabmal,  welches  ich  verloren  glaubte  (Six¬ 
tinische  Kapelle  1,  76,  Anm.  3),  befindet  sich  thalsächlich 
noch  in  einer  völlig  finsteren  Seitenkapelle  der  Krypta  von 
SS.  Apostoli.  Eine  ziemlich  rohe  Nachahmung  des  Valle- 
denkmals  ist  das  Grabmal  des  Antonio  Albertoni  (f  1509), 
gleichfalls  in  S.  Maria  in  Araceii  in  der  Cesarinikapelle, 
wo  sich  aber  in  der  unruhigen  Haltung  des  Toten  und 
dem  aufgestützten  rechten  Arm  schon  der  Einfluss 
des  Andrea  Sansovino  geltend  macht.  Wer  die  edle 
Einfachheit  der  Erührenaissance ,  die  glänzende  Schönheit 


auf  einer  offenen  Bahre  in  einer  kunstvoll  perspek¬ 
tivisch  dargestellten,  mit  zarten  Blätterguirlanden  ge¬ 
schmückten  Nische,  und  zn  Häupten  und  Füssen 
haben  sich  zwei  wehklagende  Spiritelli  aufgestellt,  die 
das  Wappen  des  Verstorbenen  halten.  Michele  Marini 
hat  das  ältere  Denkmal  ziemlich  genau  in  Araceli 
kopiert,  und  sich  begnügt  für  die  liegende  Grabstatue 
den  Rahmen  zu  erfinden  und  die  dekorativen  Elemente 
weiter  auszugestalten.  Auf  einer  hohen,  mit  reich¬ 
gearbeitetem  Fries  geschmückten  Basis  baut  sich  die 
verhältnismässig  schmale  Grabnische  auf,  von  zwei 
Platten  mit  trauernden  Putten  eingefasst,  auf  denen 
zugleich  das  reiche  antike  Gebälk  ruht.  In  der  Nische 
sieht  man  ganz  wie  in  SS.  Apostoli  den  Toten  auf 
einer  nach  antiken  Vorbildern  gebildeten  Bahre  in 
friedlichem  Schlummer  ruhen.  Bücher  legte  man  ge¬ 
lehrten  Männern  jener  Zeit  in  ihren  Sarg,  so  hat  auch 
der  Bildhauer  Haufen  von  Büchern  zu  Häupten  und 
zu  Füssen  des  Toten  aufgeschichtet.  Rechts  und  links 
halten  die  Spiritelli  das  Wappen  des  römischen 
Patriziers'),  von  dem  die  Grabschrift  rühmt,  dass  er 
das  Ansehen  seiner  vornehmen  Geburt  durch  den 
Ruhm  der  Wissenschaften  noch  erhöht  habe. 

An  der  in  edelster  Einfachheit  dargestellten  Grab¬ 
statue  muss  die  schlichte  Faltengebung,  die  Sorgsam¬ 
keit  der  Technik  z.  B.  in  der  Arbeit  der  feinen 
Hände  als  bezeichnend  für  die  Kunst  Marini’s  hervor¬ 
gehoben  werden.  Gerade  so  hat  der  Meister  die 
Grabstatue  des  Agostino  Maffei  gearbeitet.  Da  die 
Putten  in  den  Maffeigräbern  fehlen  und  das  Ornament 
äusserst  beschränkt  ist,  lässt  sich  mit  diesen  gleichzeitig 
entstandenen  Werken  weiter  keine  Stilverwandtschaft 
nachweisen,  sie  tritt  uns  aber  aufs  klarste  in  späteren 
Werken  Marini’s  entgegen,  wo  wir  denselben  Spiritelli 
begegnen  und  der  gleichen  Vorliebe  für  reichen 
ornamentalen  Schmuck.  Die  auf  Felsblöcken  stehenden, 
wappentragenden  Engel  mit  den  flatternden  Bändern 
werden  wir  am  Cibodenkmal  wiederfinden,  die  Gold¬ 
schmiedearbeiten,  auf  Marmorskulptur  übertragen,  in 
den  Ponzettidenkmälern  in  S.  Maria  della  Pace. 

Im  Dezember  des  Jahres  1503  war  Lorenzo  Cibo, 
der  kunstliebende  Nepot  Innocenz’  Vlll.  gestorben, 
nachdem  ihm  seine  letzten  Lebensjahre  durch  die 
Verfolgungen  Alexander’sVI.  verbittert  worden  waren-). 


der  Hochrenaissance,  das  grobsinnliche  Pathos  der  Spät¬ 
renaissance  mit  einem  Blick  erfassen  will,  vergleiche  die 
drei  Denkmäler  des  Raffaello  della  Rovere,  des  Filippo 
della  Valle  und  des  Antonio  Albertoni.  Sie  sind  für  die 
Entwickelung  der  Renaissanceskulptur  in  Rom  geradezu 
typisch. 

1)  Es  ist  charakteristisch  für  die  Naivität,  mit  welcher 
die  Renaissancekünstler  arbeiteten,  dass  die  Spiritelli  am 
Vallemonument  Zug  für  Zug  nach  den  trauernden  Putten 
am  Denkmal  des  Pietro  Riario  in  SS.  Apostoli  kopiert  sind. 
Von  hier  stammt  auch  die  Gewohnheit  Marini’s,  seine 
Spiritelli  mit  den  flatternden  Binden  zu  schmücken,  die 
als  Lendentuch  dienen  und  zugleich  die  Thränen  der 
trauernden  Knaben  trocknen.  Demselben  Typus  trauernder 
Putten  begegnen  wir  am  Grabmal  Roverelia  (t  1477)  in 
San  Clemente  und  am  Grabmal  Ortega  (t  1503)  in  der 
Sakristei  von  S.  Maria  del  Popolo. 

2)  Ciacconi,  Vitae  Pontificum  111,  124. 


Abb.  4.  Das  Cibo-Orabrnal  in  San  Cosimaio 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  6. 


20 


152 


MICHELE  MARINI 


Was  dieser  ausgezeichnete  Prälat  als  Beschützer  der 
Künste  geth;  ;-,  rjozeugen  noch  heute  das  Grabmal 
IiMOcenz’  \  i;:  >n  /  lüorio  J  ollajiiolo  in  St.  Peter 

und  die  des  Tabernakels  der  heiligen 

Lr.ize  i  'gno  ;n  den  vatikanischen 

f  motten  o.  o  c'ren  Lebzeiten  hatte  sich 
j  nreiizo  -  ’  :  5.  Ue  1,1  del  Popolo  auch  eine 


Kapellenschranken  wurden  zum  Schmuck  einer  anderen 
Kapelle  verwendet,  und  das  Grabmal  des  Stifters 
wanderte  im  Jahre  1685  als  Altarschmuck  nach  dem 
Kirchlein  Sixtus’  IV.,  San  Cosimato,  wo  es  sich  noch 
heute,  allerdings  ohne  den  Sarkophag  Lorenzo’s,  er¬ 
halten  hat. 

Schon  durch  seinen  monumentalen  Aufbau  über- 


Gr.-j 


L:u,r-=,  i 


.  ■  M  '.ilC 

-Tn  Kar- 
u\-' Ä  pk  ich  nach 
-vviii.  m  Tode  ein 
glänzendes  Mar¬ 
mordenkmal,  das  zu 
den  reichsten  und 
eigentümlichsten 
Werken  der  römi¬ 
schen  Grabskulp¬ 
tur  gehört  (Abb.  4). 
Wie  bekannt  hat 
ein  späterer  Cibo 
am  Ausgang  des 
17.  Jahrhunderts 
dieEamilienkapelle 
im  Geschmack  der 
Zeit  restauriert.  Die 
Ereskeii  Pinturic- 
chio’s  gingen  bis 
auf  ein  geringes 
nach  Massa-Carra- 
ra  gesandtes  Prag¬ 
ment  zu  Grunde'^), 
die  marmornen 


AvG^VriNVS  MAFAEVS  PLVMr)Aii!l  FI.'^CI  IllViR 
ALirSQVE  HONOj<,!BVS  EOJRFGIE  FVNCFVS 
BONARVM  llTJEftARVM  ■  CVSTOS 
|NQy(^.rÖBgrVNIi  NON  CrSSiT  V,.).RTVS 

J’VX'ANN  MTVI  ’ir  )?^V 


Abb.  5.  Grabmal  des  Agostino  Majfei  in  S.  Maria  sopra  Minerva 


1)  H.  Geymüller 
(Les  projets  primi- 
tifs  pour  la  basilique 
de  Saint  Pierre  de 
Rome  p.  82  ff.) 
schreibt  dies  Cibori- 
nrn,  auf  eine  Angabe 
Grimaldi’s  sich  stüt¬ 
zend,  dem  Bramante 
zu,  und  dieser  kann 
sehr  wohl  die 
Zeichnung  für  den 

Aufbau  geliefert  haben.  Die  schonen  Engel,  welche  den 
Schrein  der  h.  Lanze  bewachen,  sind  ebenso  wie  das 
Ciborium  Innocenz’  VlII.  in  SS.  Quattro  Coronati  zweifels¬ 
ohne  in  der  Werkstätte  Andrea  Bregno’s  entstanden. 

2)  Vergl.  L.  Staffetti,  Spigolature  di  storia  artistica 
Massese  im  giornale-storico  e  letterario  della  Liguria  igoo. 
Die  äusserst  dankenswerte  Arbeit  Staffetti’s  zeigt  einige 
Irrtümer  und  Ungenauigkeiten,  weil  er  die  unzuverlässige 
Monographie  Colantuoni’s  über  S.  Maria  del  Popolo  be¬ 
nutzt  hat,  der  nicht  einmal  wusste,  dass  das  Cibodenkmal 


heute  in  S. Cosimato 
zu  suchen  ist.  Die 
Grabinschrift  Loren¬ 
zo’s  sucht  man  in 
der  Sakristei  von 
S.  Maria  del  Popolo, 
wo  sie  Colantuoni 
gesehen  haben  will, 
vergeblich ;  die  Ka¬ 
pellenschranken  dagegen  haben  sich  an  der  vierten  Kapelle 
links  erhalten  und  sind  an  den  Wappenemblemen  der  Cibo 
kenntlich.  Die  Überführung  des  Cibodenkmals  nach  S. 
Cosimato  i.  J.  1685  wird  als  ein  Akt  der  Munificenz  des 
Kardinals  Alderano  in  einer  Inschrift  unter  dem  Reliquien¬ 
schrein  daselbst  gepriesen. 

1)  Abgedruckt  neuerdings  bei  Staffetti  a.  a.  O.,  ausser¬ 
dem  u.  a.  bei  Alveri,  Roma  in  ogni  stato  11,  p.  14,  der 
die  Kapelle  verhältnismässig  am  ausführlichsten  beschrieben 
hat.  Vergl.  auch  Schräder,  Monumentorum  Italiae  libri 


trifft  dies  Kardi¬ 
nalsgrab  die  mei¬ 
sten  Prälatengräber 
jener  Zeit  in  Rom. 
Es  ist  wie  ein 
Triumphbogen 
komponiert,  der 
auf  zwei  statuen¬ 
geschmückten  Pfei¬ 
lern  ruht.  Unten 
sah  man  die  Grab¬ 
inschrift  eingelas¬ 
sen  *),  von  zwei 
wappentragenden 
Putten  eingefasst, 
darüber  stand  der 
Sarkophag  des  Kar¬ 
dinals,  während 
das  ganze  Bogen¬ 
feld  noch  heute 
eine  reiche  Relief¬ 
darstellung 
schmückt.  Man 
sieht  hier  in  der 
Mitte  Maria  mit 
dem  Kinde  auf 
Wolken  thronen, 
die  von  einem 
Cherubim  getragen 
werden;  links  steht 
der  heilige  Bartho¬ 
lomäus,  durch  ein 
riesiges  Messer  cha¬ 
rakterisiert,  rechts 
wird  der  knieende 
Kardinal  Lorenzo 


MICHELE  MARINI 


153 


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RÖMMLER 


der  Madonna  von  seinem  Namensheiligen  empfohlen; 
oben  im  Bogenfelde  schweben  zwei  Engel  und  halten 
über  der  Himmelskönigin  die  Krone  empor.  Eine 
lyrische  Stimmung  beseelt  das  Ganze,  und  auf  allen 
Gesichtern  ist  dieselbe  Empfindung  verhaltener,  an¬ 
dächtiger  Wehmut  zu  lesen.  Man  hat  den  Eindruck, 
als  wären  die  Himmelskönigin  und  ihre  Diener  nur 
halb  beseelt,  als  führten  sie  ein  Traumdasein,  fern 
von  jeder  stören¬ 
den  Berührung  mit 
dem  wirklichen 
Leben.  Das  ist  die 
gleiche  Auffassung 
der  Madonna,  wie 
sie  uns  schon  am 
Grabmal  Maffei 
begegnet  ist.  Wir 
beobachten  aber 
auch  hier  und  dort 
dieselben  Eigen¬ 
tümlichkeiten  und 
dieselbe  Technik 
in  der  Bearbeitung 
des  Marmors.  Die 
Haltung  der  Maria 
ist  in  beiden  Re¬ 
liefs  fast  dieselbe, 
ebenso  auch  die 
Gewandung,  wel¬ 
che  aus  Kleid, 

Mantel  und  dem 
kurzen  Kopftuch 
besteht.  Ihr  Ge¬ 
sichtstypus  ist  ein¬ 
fach  wiederholt, 
sowohl  der  kleine 
Mund  wie  die  zier¬ 
liche  Nase,  die 
halbgeschlossenen, 
gesenkten  Augen 
und  endlich  die 
hohe  Stirn  mit  den 
glattanliegenden 
Haaren.  Nur  ist 
das  grosse  Madon¬ 
nenbild  in  San  Co- 
simato  weit  plasti¬ 
scher  aus  dem  Mar¬ 
mor  herausgearbei¬ 
tet  als  das  kleine 
Flachrelief  in  der 
Minerva.  Dieselbe  Ähnlichkeit  wie  bei  den  Madonnen 
beobachtet  man  bei  den  Kindern.  Das  Ungeschick 
und  die  Hilflosigkeit  des  Christkindes  in  der  Minerva, 

quatuor  p.  158^.  Die  beiden  Orabmäler  der  Cicada, 
genuesischen  Ursprunges  und  Nachkommen  des  in  S.  Gio¬ 
vanni  dei  Genovesi  beigesetzten  Meliadux  Cicada,  Schatz¬ 
meisters  Sixtus  IV.,  welche  gleichfalls  in  der  Cibokapelle 
begraben  waren,  wurden  in  die  Kapelle  von  S.  Lucia  im 
Querschiff  rechts  vom  Chor  von  S.  Maria  del  Popolo 
übertragen. 


welches  mit  der  Rechten  segnet  und  mit  der  Linken 
einen  kleinen  Vogel  gefasst  hat,  finden  wir  auch  in 
San  Cosimato  wieder,  wo  das  Kind  wie  ein  Vögelchen 
auf  dem  Schoss  der  Mutter  balanciert,  die  Rechte 
segnend  dem  Kardinal  entgegenstreckt  und  in  der 
Linken  die  Weltkugel  hält.  Auch  hier  beobachten 
wir  am  Kinde  die  langen,  weichen  Löckchen,  die 
schmalen,  blinden  Augen,  das  Stumpfnäschen  und 

endlich  die  fetten 
Hände  mit  den 
ungelenkigen  Fin- 
gerchen.  Am  heili¬ 
gen  Bartholomäus 
sind  die  zierlich 
gekräuselten  Bart¬ 
haare,  die  sauber 
durchgearbeiteten 
Hände  und  Füsse 
und  endlich  der 
breite,  kühne  Wurf 
des  Mantels  be¬ 
merkenswert,  wäh¬ 
rend  die  Gruppe 
des  Kardinals  mit 
seinem  Schutzheili¬ 
gen  durch  den 
Ausdruck  inniger 
Andacht  in  den 
Köpfen,  und  die 
schlichte  würdige 
Haltung  der  Dar¬ 
gestellten  erfreut. 
Wie  starr  und  in¬ 
nerlich  unbewegt 
erscheint  doch  An¬ 
drea  Bregno’s  Kar¬ 
dinal  Cusa  in  S. 
Pietro  in  Vincoli, 
wie  selbstbewusst 
kniet  Roverella  in 
S.  Clemente  vor 
dem  Madonnen¬ 
bilde,  und  wie 
geistesabwesend 
zeigt  sich  Maria 

selbst!  Erst  der 
Vergleich  mit  An¬ 
drea  Bregno’s  mo¬ 
notonen  Heiligen 
und  mit  Mino’s 

strahlend  schönen, 
aber  kalten  Madonnen  lehrt  uns  Marini’s  Eigenart 

erkennen  und  die  schüchternen  Versuche  würdigen, 
seinen  Marmorbildern  Stimmung  und  Empfindung 

aufzuprägen. 

Auch  in  den  vier  Allegorien  der  christlichen 
Kardinaltugenden  kommt  dies  Bestreben  zum  Ausdruck. 
Links  sieht  man  Caritas  und  Spes,  rechts  Justitia  und 
Fides.  Alle  vier  Frauengestalten  gleichen  im  Typus 
den  Madonnenbildern  Michele’s  mit  den  feinen 

melancholischen  Zügen  und  der  Bildung  des  leicht- 


Abb.  6.  Grabmal  des  Benedetto  Maffei 
in  S.  Maria  sopra  Minerva 


20 


154 


MICHELE  MARINl 


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Abb.  j.  Grabmal  des  Filippo  della  Valle  in  S.  Maria  in  Araceli 


gewellten,  flachanliegenden  Haares;  nur  die  Gewand- 
gebung  wirkt  auffallend  unrnliig  durch  den  Über¬ 
reichtum  zierlich  geworfener  Ealten,  die  sich  eng  an 
den  Körper  anschmiegen  und  mit  unvergleichlicher 
Sorgfalt  ausgearbeitet  sind.  Man  meint,  der  Meister 
von  Fiesoie  habe  diese  Gewänder  nicht  aus  hartem 
Stein  herausgehauen,  sondern  aus  weichem  Wachs 
oder  Ton  modelliert.  Die  Spes  ist  die  schönste  unter 
diesen  Frauengestalten,  und  sie  braucht  den  Vergleich 
mit  Dalmata’s  technisch  höher  stehenden  aber  weit 
weniger  beseelten  Allegorie  in  den  vatikanischen 
Grotten  nicht  zu  scheuen.  Marini  hat  dies  jugend¬ 
liche  Wesen  mit  den  langen  bis  weit  über  die  Knie 
herabreichenden  Fittigen  aufs  glücklichste  in  die 
schmale  Nische  hineinkomponiert.  In  der  Haltung 
liegt  etwas  Schwebendes,  und  die  betend  erhobenen 
Augen  und  Hände  bringen  die  Himmelssehnsucht 
der  weitabgewandten  Hoffnung  packend  zum  Ausdruck. 
Unten,  rechts  und  links  von  dem  modernen  Altar, 
haben  sich  auch  noch  die  Putten  mit  dem  Cibo- 
wappen  erhalten,  dem  schachbrettartigen  Bande  unten 
und  dem  Kreuz  oben,  welches  später  ausgekratzt 
worden  ist.  Sie  tragen  zierlich  durchbrochene  Schuhe 
und  ein  frei  flatterndes  Tuch  um  die  Lenden  und 
stehen  auf  künstlichen  Felsblöcken,  wie  fast  alle  Relief¬ 
gestalten  Marini’s.  Charakteristisch  für  diese  Putten 
sind  ferner  die  etwas  grossen,  fetten  Händchen  mit 
den  plumpen  Fingern,  die  weichen,  zierlich  gekräuselten 
Locken  und  die  auffallend  kleine  Ohrmuschel.  Das 
sind  die  Brüder  der  Spiritelli  am  Grabe  des  Filippo 
della  Valle,  nicht  nur  dieselben  in  der  Bildung  der 
kurzen  Löckchen,  der  zierlichen  Flügel  und  der  Be¬ 
handlung  des  Nackten,  sondern  ihnen  auch  in  allen 
Äusserlichkeiten  vollständig  gleich,  dem  langen,  flat¬ 
ternden  Tuch,  den  durchbrochenen  Schuhen  und  dem 
Felsstück,  auf  welchem  sie  stehen. 

Das  Grabmal  Cibo  ist  Michele  Marini’s  Haupt¬ 
werk  in  Rom  und,  so  unbeachtet  es  auch  bis  heute 


geblieben  ist,  eins  der  schönsten  und  edelsten  unter 
den  Prälatengräbern  der  Renaissance  daselbst.  Nicht 
nur  in  seinem  glänzenden  äusseren  Aufbau  unter¬ 
scheidet  es  sich  von  dem  allgemein  angenommenen 
Typus  der  Bregno  und  Mino  da  Fiesoie,  auch  sein 
innerer  Wert  und  Gehalt  ist  schon  deshalb,  weil 
Marini  wenig  Gehilfen  benutzt  hat,  ein  völlig  anderer. 
Florentiner  und  Lombarden  haben  in  der  Regel  die 
Werke  der  Alten  voll  auf  sich  wirken  lassen,  und 
darum  erhalten  ihre  Arbeiten  in  Rom  häufig  einen 
monumentalen  Charakter  und  eignen  sich  gleichzeitig 
eine  gewisse  Kälte  an.  Michele  Marini  blieb  auch 
in  Rom  der  Lyriker,  der  er  war,  als  er  die  Heimat 
Fiesoie  verliess.  Auf  ihn  hat  die  Antike,  wenigstens 
was  das  Statuarische  anlangt,  so  wenig  Einfluss  aus¬ 
geübt  wie  auf  Antonio  Rossellino  und  Benedetto  da 
Majano,  denen  er  in  seinem  künstlerischen  Wollen 
und  Können  wohl  am  nächsten  steht.  Nur  seine 
dekorativen  Formgedanken  hat  er,  wie  alle  Bildhauer 
der  Renaissance,  den  römischen  Vorbildern  entlehnt. 

In  dieser  Hinsicht  ist  der  Grabstein  der  beiden 
Mädchen  Beatrice  und  Lavinia  Ponzelti  beachtenswert, 
der  ihnen  von  ihrem  Oheim  Ferrando  im  Jahre  1505  in 
S.  Maria  della  Pace  gesetzt  wurde  (Abb.  8).  Es  ist  ein 
einfacher,  hoher  Grabstein  mit  einer  langen  Inschrift 
unten  und  den  Porträtbüsten  der  Verstorbenen  darüber, 
welche  in  runden,  zierlich  eingefassten  Nischen  an¬ 
gebracht  sind.  Reiche  Ornamente  umrahmen  sowohl 
die  Inschrift,  wie  auch  die  Porträtbüsten,  welche 
sofort  alle  Stileigentümlichkeiten  erkennen  lassen,  die 
wir  an  Marini’s  Madonnen-  und  Heiligenbildern  be- 

1)  Ferrando  Ponzetti  war  Leibarzt  Innocenz’  VIIL  und 
erhielt  i.  J.  1517  den  Purpur  von  Leo  X.  Er  starb  in  Rom 
i.  j,  1527  und  wurde  ebenfalls  in  S.  Maria  della  Pace  be¬ 
graben.  Vergl.  Marini  a.  a.  O.  I,  p.  229  und  Ciacconi  III, 
388.  Gnoli  nennt  beiläufig  als  Autor  der  Ponzettidenk- 
inäler  einen  Maestro  Matteo,  ohne  indessen  den  Beweis 
dafür  zu  erbringen.  (Arch.  stör,  dell’  arte  [1893]  VI,  p.  100.) 


MICHELE  MARINI 


155 


IN  D  OU  S .  „  FES  T 1  VITATl  SQ_ 
ADMIRAN0AE  Cfi/AS  NEA?OLiS 
FTVEIT  R,6MA-i>ROBE  FWCAVffj 
IgSTltENTlA :  .QVaE'  ^iPESIl  SSE  | 
Premtvr  VNAME  ABSWKM 
mXER  HAEC  VlloA  ANN  V® 
temANDvs^Amfvs  aposemä 


obachtet  haben.  Man  findet  an  diesen  Mädchen¬ 
köpfen  die  eigentümlich  gekämmten,  eng  um  den 
Kopf  herumliegenden,  etwas  schwer  lastenden  Haare 
wieder,  die  schmalen,  pupillenlosen  Augen  und  den 
kleinen,  etwas  mürrischen  Mund.  Der  Meister  hat 
auf  diese  Kinderköpfe  —  die  Mädchen  starben 
sechs-  und  achtjährig  an  der  Pest  in  Rom  —  noch 
grössere  Sorgfalt  verwandt,  als  auf  die  Allegorien  am 
Cibograbe  und  selbst  den  Schmuck  der  Beiden,  die 
Halsbänder  und  Schleifen  auf  Brust  und  Schultern 
aufs  feinste  aus  dem  Mar¬ 
mor  herausgearbeitet.  Die¬ 
selbe  Sorgsamkeit  ist  auch 
auf  die  Ausführung  der 
reichen  Ornamentik  ver¬ 
wandt  worden,  auf  die 
Fabelwesen  und  Blumen¬ 
ranken,  welche  die  Por¬ 
trätbüsten  umspielen,  auf 
die  Lorbeergewinde  und 
Familienwappen,  welche 
die  Schrifttafel  einfassen 
und  endlich  auf  die  Reihe 
der  für  Marini  besonders 
charakteristischen  Edel¬ 
steine,  welche  den  oberen 
Teil  des  Denkmals  vom 
unteren  trennt. 

Wenig  später,  im  Jahre 
1 50g,  erwarb  derselbe 
Ferrando  Ponzetti  für  sich 
und  seine  Nachkommen 
die  Kapelle  links  neben  dem 
Denkmal  seiner  Nichten. 

Er  Hess  von  Baldassare  Pe- 
ruzzi  im  Jahre  1 5 1 6  die  heu¬ 
te  noch  erhaltenen  Fresken 
malen  und  beauftragte 
ausserdem  den  Bildhauer 
von  Fiesoie  als  Gegenstück 
zum  Grabstein  der  Lavi- 
nia  und  Beatrice  eine 
ähnlicheTafel  von  gleichen 
Verhältnissen  zu  meissein, 
die  an  der  linken  Wand 
neben  der  Kapelle  ihren 
Platz  erhielt.  Die  zweite 
Tafel,  obwohl  vier  Jahre 
später  ausgeführt  als  die 
erste,  gleicht  ihr  doch  völlig  in  Stil  und  Komposition 
(Abb.  1).  Unten  ist  eine  Stiftungsinschrift  angebracht, 
und  darüber  erscheinen  in  Rundnischen,  wie  die 
Mädchenköpfe  gegenüber,  zwei  an  ihren  Schriftrollen 
kenntliche  Propheten.  Der  ältere  trägt  einen  Turban 
und  einen  feingelockten  Bart  wie  der  heilige  Bartho¬ 
lomäus  des  Cibodenkmals.  Das  Haupt  des  zweiten, 
völlig  bartlosen  gleicht  dem  hergebrachten  jugend¬ 
lichen  Johannestypus.  Beide  Reliefs  geben  sich  schon 
durch  die  schmalen,  halbgeschlossencn  Augen,  den 

1)  Vasari  IV,  594. 


Abb.  8. 


auffallend  kleinen  Mund  und  die  weiche  Haarbehand¬ 
lung  als  Arbeiten  Marini’s  zu  erkennen,  der  auch 
hier  wieder  seine  Freude  an  reicher,  phantastischer 
Ornamentik  walten  Hess  und  den  unteren  und  oberen 
Teil  des  Denkmals  durch  einen  mit  Perlen  und  Edel¬ 
steinen  geschmückten  Streifen  getrennt  hat.  So  darf 
man  diese  Vorliebe  für  Edelsteinornamentik,  die  uns 
zuerst  am  Grabmal  des  Filippo  della  Valle  begegnete, 
als  eins  der  charakteristischen  Merkmale  der  dekora¬ 
tiven  Kunst  des  Meisters  von  Fiesoie  bezeichnen. 

Wie  unbeirrt  Michele 
Marini  seine  Kunstideale 
verfolgte,  wie  wenig  die 
Lockungen  des  neuen 
Stiles  über  ihn  vermoch¬ 
ten,  der  durch  Andrea 
Sansovino  so  glänzend  in 
Rom  eingeführt  wurde, 
beweist  die  herrliche  Grab¬ 
statue  des  Erzbischofs  von 
York  im  englischen  Kolleg 
(Abb.  10).  Man  darf  eskühn- 
Hch  behaupten,  dass  kein 
anderer  Bildhauer  in  Rom 
im  Jahre  1514  so  zu  ar¬ 
beiten  vermochte,  wie  der 
Meister  von  Fiesoie,  dem 
Mino’s  Büste  des  Bischofs 
Salutati  im  heimatlichen 
Dom  als  Vorbild  vorge¬ 
schwebt  zu  haben  scheint, 
als  er  den  Kopf  des  eng¬ 
lischen  Prälaten  meisselte. 
Der  Charakter  des  Erz¬ 
bischofs  von  York,  dem 
Julius  II.  am  10.  März 
1511  den  Purpur  verlieh, 
wird  von  den  Geschichts¬ 
schreibern  als  jähzornig 
und  herrschsüchtig  ge¬ 
schildert.  Man  sah  ihn 
selbst  auf  der  Strasse  seine 
Diener  schlagen  und  einer 
derselben,  den  er  in  auf¬ 
brausender  Leidenschaft 
tötlich  gekränkt  hatte,  ver¬ 
giftete  ihn  *). 

Nach  diesen  Charakter¬ 
zügen  sucht  man  im  Mar¬ 
morantlitz  des  Verstorbenen  vergebens,  der  ähnlich 
wie  Mino’s  Kardinal  Fortiguerra  in  Santa  Cecilia  auf 
einer  freistehend  gedachten  Bahre  ausgestreckt  er¬ 
scheint.  Ruhig  Hegt  er  da,  die  behandschuhten  Hände 
übereinander  gelegt,  das  mitrengeschmückte  Haupt  auf 
dem  mit  feinstem  Ornament  gezierten  Kissen.  Nur 


Grabmal  von  Beatrice  und  Lavinia  Ponzetti 
in  5.  Maria  della  Pace 


1)  Oarimberti  (Vite  overo  fatti  nieniorabili  d’alcuni 
papi  et  di  tiitli  i  Cardinali  passati.  Venezia  1568,  p.  492) 
führt  den  Kardinal  in  seinen  Lebensbeschreibungen  unter 
den  Beispielen  »della  crudeltä  e  durezza  de  costnini«  auf. 
Vergl.  auch  Ciacconi,  Vitae  Pontificiini  111,  290 


MICHELE  MARINl 


E  r  Körner  sc'  ri  i  ii  Tode  erstarrt;  über  dem  Ge- 
sici.r  .ulit  der  i  Vo  •  ‘ines  tiefen,  stärkenden  Schlum- 
r;.  Mar  a--  ’.,  inan  müsse  die  Atemzüge  des 
:rc!ilan-nd.;;  ..  re-  ;  e  \  hat  man  lange  in  dies  edle 
Ai  fosichl  -er  ausdrucksvolle  Mund  mit 

:;:n  feinen  .  dar  'a-Eh:i,  die  tiefliegenden  Augen, 

■  li;  - '  irk  r.-a.  a,L‘. !  f  -  ,  eicht  gebogene  Nase,  die 
:  t  e-i;,  id  unter  der  Mitra  hervor- 

.|  i:-!  r  1  .  ,  mit  derselben  vollendeten 

T  u;  '  :  ie  ler  Kopf  des  Eilippo  della 

.  .  \  r  V  -  i  :r  kiiel  des  Gedankens,  der  diese 

■  n  d  .  aiibeschreibliclie  Milde,  welche 
,d  r d  ;  :>i  '"ir  die  zarte  Empfindungsweise  des 
'  nie  charakteristisch  und  hier  besonders 
:  .  ,  :  :,1  \  o  der  Verstorbene  wegen  seines  Jäh- 

•i  .  .  ■iiirchtet  und  gehasst,  eines  gewaltsamen 

n:  .  .  gestorben  war.  Das  feine  Pilasterornament, 
v'lches  die  Bahre  auf  beiden  Seiten  einfasst,  steht  in 
Stil  und  Technik  der  Ornamentik  der  Ponzettidenk- 
mäler  am  nächsten.  Ebenso  meisterhaft  ist  der  Marmor 
der  vier  Wappenschilder  bearbeitet,  welche  die  vier 
Seiten  der  Bahre  schmücken:  das  Kardinalswappen 
des  Verstorbenen  zu  seinen  Eüssen  und  zu  seiner 
flechten  und  Linken,  das  englische  Königswappen  zu 
seinen  Häupten.  Man  kann  das  Grabmal  des  eng¬ 
lischen  Prälaten  als  einen  Markstein  in  der  römischen 
Renaissanceskulptur  betrachten.  Es  ist  das  letzte 
Denkmal  reinen  Stiles  der  Hochrenaissance  in  Rom, 
es  ist  als  Porträtgestalt  die  höchste  Leistung  Marini’s 
und  überhaupt  eine  der  herrlichsten  Grabstatuen 
in  Rom. 

An  diese  -  wir  dürfen  wohl  sagen  -  sicher 
beglaubigten  Werke  einer  einzigen  Künstlerhand,  die 
uns  Milanesi  Michele  Marini  nennen  heisst,  schliessen 
sich  wenige  andere  an  von  niederem  Wert,  aber,  wie 
es  scheint,  aus  derselben  Werkstatt.  Vor  allem  die 
zierlichen  F^eliefs  am  Altar  des  Bramantetempelchens 
auf  dem  Janiculus  zeigen  mit  dem  Stil  Marini’s  einige 


Verwandtschaft^).  Man  sieht  hier  auf  dem  Altarvorsatz 
zwischen  den  spanischen  Königswappen  die  Kirche 
als  Arche  auf  dem  Wasser  schwimmend  dargestellt, 
und  auf  der  Predella  darüber  unter  einer  modernen 
Petrusstatue  das  Martyrium  des  Aiwstelfürsten.  Das 
marmorne  Paleotto  ist  eine  rein  dekorative  Leistung, 
aber  ausserordentlich  schön  gearbeitet.  Ein  prächtig 
stilisierter  Adler  hält  die  Königswappen  mit  seinen 
Krallen  empor,  welche  in  der  ganzen  Höhe  des  Altars 
die  von  zahlreichen  Delphinen  belebte  Meeresfläche 
umfassen,  auf  der  die  Arche  schwimmt. 

Die  historische  Schilderung  ist  in  kleinsten  Ver¬ 
hältnissen  ausgeführt,  etwa  wie  das  Martyrium  Petri 
im  Bargello  zu  Elorenz,  das  dem  Luca  della  Robbia 
zugeschrieben  wird  und  gewiss  für  einen  ähnlichen 
Zweck  bestimmt  war.  Links  thront  der  richtende 
Nero,  von  Kriegsleuten  umringt,  mit  der  Linken  auf 
den  gekreuzigten  Petrus  in  der  Mitte  deutend,  dessen 
nach  unten  gerichtetes  Haupt  zwei  kleine  Putten  mit 
den  Händen  berühren.  Kriegsleute  halten  bei  dem 
Gekreuzigten  Wache,  und  zwei  Posaunenbläser  haben 
ihre  riesigen  Instrumente  angesetzt.  Rechts  endlich 
geleitet  ein  Engel  den  befreiten  Petrus  aus  dem 
Kerker.  An  Marini  erinnert  in  diesem  ziemlich 
flüchtig  behandelten  Relief  vor  allem  die  Bildung  der 
geschlitzten  Augen,  der  weichen,  zarten  Gewand¬ 
behandlung  und  die  Art,  wie  alle  Eiguren  auf  kleinen 
Felsstücken  stehen.  Um  1 502  hatte  Bramante  seinen 

1)  Diese  Reliefs  sind  bis  heute  völlig  unbekannt  und 
auch  niemals  photographisch  aufgenommen  worden.  Tosi 
(Raccolta  di  monumenti  sacri  e  profani  III,  Tav.  LXXXV) 
bringt  den  Altar  in  einem  ziemlich  getreuen  Stich  mit  der 
hässlichen  Petrusstatue.  In  der  kleinen  Krypta,  mit  dem 
Loch  in  der  Mitte,  in  welches  das  Kreuz  Petri  eingelassen 
gewesen  sein  soll,  befinden  sich  zwei  ganz  kleine  anbetende 
Engel  über  dem  Altar  in  die  Wand  eingemauert,  die  sich 
mit  Bestimmtheit  dem  Giovanni  Dahnata  zuschreiben 
lassen.  Sie  blieben  gleichfalls  bis  heute  völlig  unbeachtet. 


Abb.  Q.  Ornamentstiiek  vom  Grabmal  des  Filipijo  della  Valle  in  S.  Maria  in  Aracell 


MICHELE  MARINI 


157 


Tempel  vollendet,  so  mag  diese  Arbeit  ausgeführt  wor¬ 
den  sein,  ehe  Marini  das  grosse  Cibodenkmal  begann. 

Im  Jahre  1506  starb  der  hochberühmte  Mailänder 
Bildhauer,  Andrea  Bregno.  Seine  Gattin  setzte  ihm 
in  der  Minerva  ein  bescheidenes  Denkmal,  welches, 
wenn  auch  viel  einfacher  in  der  Ausführung,  im 
Aufbau  doch  den  Ponzettidenkmälern  sehr  ähnlich 
ist^).  Auch  hier  ist  das  Bild  des  Verstorbenen  über 
einer  Inschrifttafel  als  Hochreliefbüste  in  einer  Rund¬ 
nische  angebracht,  auch  hier  giebt  sich  in  der  Art, 
wie  das  Handwerkszeug  des  Bildhauers  als  ornamen¬ 
taler  Schmuck  verwandt  ist,  ein  ausgesprochener  Sinn 
für  dekorative  Plastik  zu  erkennen.  Auch  der  feine 
Mund  und  die  schmalen,  pupillenlosen  Augen  be¬ 
zeugen  die  Hand  eines  Schülers  Marini’s,  dem  die 
Charakteristik  eines  alten,  weit-  und  kunsterfahrenen 
Bildhauers,  wie  es  Andrea  Bregno  gewesen,  allerdings 
nur  mangelhaft  gelungen  ista). 

Damit  ist  die  Zahl  der  Bildwerke  erschöpft,  die 
man  Michele  Marini  da  Fiesoie  und  seiner  Schule  in 
Rom  mit  einiger  Sicherheit  zuschreiben  kann.  Mitte 
oder  Ende  der  neunziger  Jahre  des  Quattrocento  be¬ 
gann  er  seine  Laufbahn  in  der  ewigen  Stadt  mit  den 
Arbeiten  in  der  Maffeikapelle  in  S.  Maria  sopra 
Minerva  und  dem  Grabmal  des  Filippo  della  Valle 
in  S.  Maria  in  Araceli.  Diese  Leistungen  und  vor 
allem  die  Statue  des  heiligen  Sebastian  erwarben  ihm 
so  hohen  Ruhm,  dass  er  im  Jahre  1503  den  grossen 
Auftrag  für  das  Cibodenkmal  erhielt,  welches  als  das 

1)  Das  Bregnodenkmal  steht  heute  itn  Durchgang  zur 
Sakristei  von  S.  Maria  sopra  Minerva  nicht  mehr  an  seinem 
alten  Platz.  Bei  der  Umstellung  scheinen  das  Gebälk  oben 
und  vor  allem  die  hässlichen  Kapitäle  neu  ergänzt  worden 
zu  sein. 

2)  Stilverwandt  der  Art  des  Michele  Marini  ist  das 
figurenreiche  Grabmal  des  Kardinals  Lonati  (f  1497)  im 
linken  Seitenschiff  in  S.  Maria  del  Popolo.  Jedenfalls  wird 
der  florentiner  Ursprung  dieses  Monumentes  durch  die 
Medici-lmprese  »Glovis«  bezeugt,  die  links  auf  einem 
Täfelchen  auf  der  Pilasterbasis  angebracht  ist.  Ein  Schüler 
Marini’s  scheint  auch  das  unbedeutende  Grabmal  Buticella 
(t  1515)  in  S.  Maria  sopra  Minerva  gearbeitet  zu  haben, 
das  im  Aufbau  dem  Bregnodenkmal  gleicht  und  oben  am 
Fries  ein  eigentümliches  Dekorationsmotiv  zeigt,  das  uns 
schon  über  den  Allegorien  der  Spes  und  Justitia  in  San 
Cosimato  begegnet.  Auch  das  sorgfältig  gearbeitete  Denk¬ 
mal  der  Brüder  Pollajuolo  in  S.  Pietro  in  Vincoli  fällt 
in  die  Kategorie  der  Rundnischendenkmäler  mit  Porträt¬ 
büsten  darin  und  den  Grabschriften  darunter,  ein  Grabtypus, 
den  Marini  im  Ponzettidenkmal  zur  schönsten  Vollendung 
geführt  hat.  Jedenfalls  wurde  es  von  demselben  Meister 
gearbeitet,  man  vergleiche  vor  allen  Dingen  die  Haarbehand¬ 
lung,  wie  das  Lonatimonument  in  S.  Maria  del  Popolo. 


Hauptwerk  seines  Lebens  angesehen  werden  muss. 
Dann  meisselte  er  im  Jahre  1505  das  originelle 
Denkmal  für  Beatrice  und  Lavinia  Ponzetti  und  wenige 
Jahre  später  die  Stiftungstafel  der  Ponzettikapelle. 
Mit  dem  Grabmal  des  englischen  Prälaten  scheint  er 
seine  Thätigkeit  in  Rom  beschlossen  zu  haben.  Die 
Statue  des  Erzbischofs  von  York  ist  das  höchste,  was 
er  als  Porträtbildner  geleistet  hat.  Nur  einige  Grab¬ 
statuen  der  Frührenaissance,  die  des  Pietro  Riario,  des 
Christoforo  della  Rovere  und  des  Roverella  können 
neben  dieser  Leistung  genannt  werden.  Weder  unter 
Julius  II.  noch  unter  Leo  X.  ist  in  Rom  eine  Grab¬ 
statue  von  ähnlicher  Schönheit  gearbeitet  worden. 
Dass  seine  Thätigkeit  in  der  ewigen  Stadt  nicht  so 
fruchtbar  gewesen  ist,  wie  die  eines  Mino  oder 
Bregno,  erklärt  sich  wohl  aus  dem  für  ihn  sehr 
glücklichen  Umstande,  dass  er  alle  seine  Werke  eigen¬ 
händig  ausgeführt  hat.  Nur  die  Predella  am  Petrus¬ 
altar  und  das  Bregnodenkmal  tragen  den  Stempel 
einer  zaghaften  Werkstattarbeit. 

In  der  Geschichte  der  Skulptur  der  Hochrenaissance 
in  Rom  nimmt  Marini  eine  feste,  eigentümliche  Stel¬ 
lung  ein.  Er  setzt  die  Traditionen  Mino’s  fort,  ohne 
von  der  römischen  Lokalschule,  oder  den  Nachfolgern 
Bregno’s  irgend  etwas  anzunehmen.  An  den  Arbeiten 
Andrea  Sansovino’s  scheint  er  nur  die  wundervolle 
Ornamentik  bewundert  und  nachgeahmt  zu  haben; 
das  Pathos  seiner  statuarischen  Kunst  musste  dem 
sinnigen,  feinfühligen  Meister  von  Fiesoie  unsym¬ 
pathisch  sein,  der  sich  sein  florentiner  Kunstideal  so 
rein  und  ungetrübt  erhalten  hat,  wie  wenige  seiner 
Landsleute. 

Über  die  Lebensschicksale  Marini’s  weiss  Vasari 
nichts  zu  berichten,  er  nennt  auch  kein  einziges  Werk 
seiner  Hand  in  Florenz^).  So  dürfen  wir  annehmen, 
dass  der  Schöpfer  so  vieler  herrlicher  Grabdenkmäler 
in  Rom  auch  sein  eigenes  vergessenes  Grab  in  der 
ewigen  Stadt  gefunden  hat,  dass  seine  Geburt  und 
sein  Tod  unter  den  Spruch  fallen,  den  man  einst  oft 
auf  römischen  Grabsteinen  las^): 

Roma  mihi  tumulum  tribuit,  Florentia  vitam 

Nemo  alio  vellet  nasci  et  obire  loco. 


1)  Vermutungsweise  kann  die  Büste  einer  Unbekannten 
von  unbekanntem  Autor  im  Bargello  gleich  links  am 
Eingang  in  dem  Skulpturensaal  im  zweiten  Stock  dem 
Marini  zugeschrieben  werden.  Das  liebliche  Gesicht  mit 
dem  vollen,  zurückgestrichenen  Haar,  dass  ein  feiner  Lorbeer¬ 
kranz  umschliesst,  erinnert  an  die  Köpfe  der  Allegorien 
am  Cibodenkmal  und  in  der  Technik  an  den  h.  Sebastian. 

2)  Vergl.  Vasari  IV,  581,  wo  die  Inschrift  zuerst  ab¬ 
gedruckt  worden  ist. 


Abb.  10.  Grabmal  des  Erzbischofs  von  York  im  englischen  Kolleg 


OTTO  FISCHER 


An  dor.  Aiifscli'.'.  Liiig  der  Griffelkunst  in  den 
letzten  2\vnnzig  Jahren  hat  auch  Dresdens 
Künstlerschait  ihren  berechtigten  Anteil.  Es 
bleibt  ei.i  danenidcs  Verdienst  der  jüngeren  Dres¬ 
dener  KüiirilcTSchan,  die  sich  anfangs  der  1890er 
Jahre  zur  Secession  zusaminenfand,  thatkräftig  an  die 
l'ilege  tief  ididierung  und  der  Steinzeichnung  hcran- 
^zegangen  zu  sein,  so  dass  seitdem  beide  wieder  in 
Dresden  ein  Heim  haben.  Georg  Lührig,  Sascha 
Scinteider,  Hans  Unger,  Georg  Müller-Breslau,  Ma¬ 
rianne  l  iedler,  Georg  Jahn  und  andere  Dresdner 
iuinsikr  haben  sich  seitdem  in  mannigfacher  Weise 
als  Griffelküiistler  bethätigt  und  nach  der  einen  oder 
anderen  Seite  Ausgezeichnetes  geleistet. 

Unter  diesen  Künstlern  steht  neben  Georg  Lührig 
Otto  Fischer  in  erster  Linie,  und  er  darf  ganz  be¬ 
sondere  Beachtung  beanspruchen,  weil  er  sich  der 
Radierung  und  dem  Steindruck  einige  Jahre  lang 
ganz  ausschliesslich  gewidmet  hat.  Fischer  steht  jetzt 
im  33.  Lebensjahre,  er  stammt  aus  Leipzig  und  hat 
die  Dresdner  Kunstakademie  besucht;  indes  verdankt 
er  das  meiste,  was  er  kann,  eigenem,  ernsthaftem 
Studium.  Weithin  bekannt  wurde  er  1896  durch 
das  prächtige,  ungemein  wirksame  Plakat  »Die  alte 
Stadt' ,  das  erste  moderne  Plakat,  das  in  Dresden  und 
in  Deutschland  überhaupt  entstanden  ist.  Andere  sehr 
beachtenswerte  Werke  seiner  Hand  sind  die  vier 
dekorativen  Gemälde,  die  Fischer  für  das  Restaurant 
Kaiserpalast  in  Dresden  malte,  und  neben  vielen  wei¬ 
teren  Plakaten  machte  er  auch  Entwürfe  für  Schniuck- 
sachen,  Frauenkleider,  Möbel  und  anderes.  Wichtiger 
als  alles  dies  aber  sind  seine  zahlreichen  Radierungen 
und  Steindrucke.  Schon  im  Jahre  1891  fing  Fischer 
an  zu  radieren,  aber  erst  1895  wendeteer  der  Griffel- 
kimst  seine  volle  Kraft  zu,  und  in  diesem  Jahre  er¬ 
schien  auch  seine  erste  Lithographie  (Kühe  im  Walde) 
im  1.  Heft  des  1.  Jahrganges  der  Vierteljahrshefte  des 
Vereins  bildender  Künstler  Dresdens.  Seitdem  hat  er  in 
aller  Stille  und  ohne  viel  Wesens  davon  zu  machen,  ein 
stattliches  Werk  von  Radierungen  und  Steindrucken  zu¬ 
sammengebracht,  über  welches  Hans  W.  Singer  in  einem 
beschreibenden  Katalog  in  den  Graphischen  Künsten 
24.  Jahrgang,  S.  72  fachgemäss  Auskunft  giebt.  Das 
Verzeichnis  reicht  von  1891  — 1901  und  umfasst  be¬ 
reits  63  Nummern,  welche  Zahl  sich  seitdem  noch 
entsprechend  gesteigert  hat.  Wer  Otto  Fischers 
Schaffen  im  Zusammenhang  studieren  will  —  und 
das  verlohnt  wahrhaftig  der  Mühe  —  der  findet  das 
gesamte  Werk  im  Königlichen  Kupferstichkabinett  zu 
Dresden  vereinigt. 

Fischers  Hauptgebiet  ist  die  Landschaft.  Im  Riesen¬ 


gebirge,  um  Dresden,  ganz  besonders  aber  auf  der 
Insel  Rügen  hat  er  sich  für  sein  Schaffen  die  wich¬ 
tigsten  Anregungen  geholt.  Seine  ersten  Arbeiten  er¬ 
innern  an  die  Leistungen  des  Engländers  Strang, 
der  1895  eine  Zeit  lang  in  Dresden  verweilte,  aber 
von  diesem  Einfluss  hat  er  sich  mit  Recht  bald  frei 
gemacht.  Dieses  Vorbild  war  unvereinbar  mit 
dem  deutschen  Empfinden,  das  sich  in  ihm  Bahn 
gebrochen  hat,  unvereinbar  mit  dem  schöpferisch¬ 
dichterischen  Zuge,  den  Fischers  Schöpfungen  seit 
1896  in  immer  sich  steigerndem  Masse  aufweisen. 
Fischer  ist  keiner  jener  Künstler,  die  mit  heissem 
Bemühen  Zug  um  Zug  die  Natur  abschreiben  und 
denen  der  Kritiker  dann  den  Fleiss  ihres  Schaffens, 
die  Sorgsamkeit  der  Arbeit  und  die  Naturtreue  ach¬ 
tungsvoll  bescheinigt.  Er  ist  ein  Poet  von  Gottes 
Gnaden,  ein  Künstler  von  poetischer  Kraft,  der  die 
Landschaft  mit  dem  Auge  des  Sehers  sieht  und  ihren 
Stimmungsgehalt  bis  in  ihre  Tiefen  ausschöpft.  Wie 
er  in  seinen  wenigen  figürlichen  Arbeiten  mit  treff¬ 
licher  Formengebung  tiefe  Innerlichkeit  des  Ausdrucks 
vereint,  packt  er  uns  auch  in  seinen  Landschaften 
durch  die  Kraft  der  Stimmung,  die  in  dem  reichen 
malerischen  Leben,  in  dem  energisch  empfundenen 
Gegensatz  von  Hell  und  Dunkel  sich  ausdrückt. 
Diese  Belebung  der  Natur  aber  ist  keineswegs  auf 
Kosten  der  Formenklarheit  erzielt,  vielmehr  liegt  ihr 
eine  eindringliche  Kenntnis  der  Natur,  ein  ernstes 
Studium  ihrer  Einzelheiten  zu  Grunde,  und  eben 
diese  Beherrschung  der  Elemente  ermöglicht  unserm 
Künstler  über  die  blosse  Abschrift  der  Natur  hinaus¬ 
zugehen,  sie  mit  seiner  schöpferischen  Phantasie  zu 
durchdringen  und  zu  lebendigem  Ausdruck  seiner 
Empfindungen  zu  steigern.  Sonnige  Pracht,  leiden¬ 
schaftliche  Gewitterstimmung,  elegische  Trauer,  ge¬ 
heimnisvolle  Sehnsucht,  einsame  Grösse,  unheimliches 
Nachtleben  —  all  das  schildert  Otto  Fischer  in  seinen 
Landschaften  mit  eindringlicher  Kraft,  und  seine 
Schöpfungen  nehmen  unser  Empfinden  mächtig  in 
Bann.  Das  abziehende  Gewitter,  die  Sommernacht, 
der  Sonnenuntergang  auf  dem  Meere,  die  arkadische 
Landschaft,  Sommernacht  und  die  beiden  Blätter 
Nachtstimmung  mögen  als  besonders  bezeichnende 
und  hervorragende  Leistungen  Fischers  genannt  sein. 
Aber  auch  die  Originalstcinzeichnung,  die  diesem  Heft 
unserer  Zeitschrift  beigegeben  ist,  wird  unseren  Le¬ 
sern  einen  guten  Begriff  von  dem  technischen  Können 
und  der  schöpferischen  Kraft  Otto  Fischers  geben. 
Möchte  sie  für  manchen  ein  Ansporn  sein,  weitere 
Blätter  aus  Fischers  Werk  zu  erwerben.  Sie  stellen 
ihm  hohe  künstlerische  Genüsse  in  Aussicht. 

PAUL  SCHUMANN. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H  ,  Leipzig 


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AM  ABEND.  ORIOINALSTEINZEICHNUNO  VON  ^ 


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OTTO  H.  ENGEL.  MORGENSONNE' 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  ig03 


TAFEL  38  AUS  SEEMANN’S  HUNDERT  MEISTERN  DER  GEGEN'WART 


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O.  H.  Engel.  Friesisches  Mädchen 


OTTO  HEINRICH  ENGEL 


Der  deutsche  Kunst-Kriegsschau¬ 
platz  hat  sich  seit  zehn  Jahren 
gründlich  verändert.  Vor  einem 
Decennium  galt  es  die  Schlacht  zu 
schlagen  für  die  grossen  neuen  Lehren, 
die  vom  Ausland  her  über  unsere 
Grenzen  drangen,  und  denen  sich  bei 
uns  alle  Mächte  des  aktiven  und  pas¬ 
siven  Widerstands  entgegenstellten.  Mit 
dem  Blicke  des  Historikers  sehen  wir 
heute  bereits  über  die  Schlachtfelder. 
Die  Bataille  ist  aus,  die  »Modernen« 
haben  gesiegt.  Mein  Gott  ja,  es  giebt 
noch  eine  Reihe  von  Leuten,  die  das 
nicht  sehen  oder  nicht  anerkennen 
wollen,  ebenso  wie  es  immer  noch 
wunderliche  Leute  giebt,  die  glauben, 
der  Kampf  um  Richard  Wagner  im 
früheren  Sinne  sei  noch  nicht  zu  Ende. 
Doch  für  diejenigen,  denen  es  nur  um 
die  Hauptschlachten  des  grossen  Krieges 
zu  thun  ist,  und  die  keine  Zeit  haben, 
sich  um  jedes  kleine  Geplänkel  zu  bekümmern,  ist  die  Angelegenheit  geschichtlich  entschieden.  Sie  zweifeln 
nicht  mehr  an  dem  endgültigen  Sieg  der  impressionistischen  Technik  und  ihrer  Begleiterscheinungen,  in  dem 
sie  nur  den  Endpunkt  einer  Jahrhunderte  alten  Bewegung  sehen,  sie  halten  den  Streit  um  die  Berechtigung 
dieser  Forderungen  für  eine  abgethane  Sache  und  gehen  über  die  Zeitgenossen,  die  sich  über  sie  noch 
immer  den  Kopf  zerbrechen  oder  sie  gar  mit  schöner  Energie  leugnen,  lächelnd  zur  Tagesordnung  über. 

Aber  ein  anderer  Kampf  scheint  zu  beginnen.  Sein  Thema  ist  die  Verwertung  und  Weiterentwickelung 
der  grossen  Errungenschaften  der  letzten  Jahrzehnte.  Es  ist  eine  deutsche  Impressionistenschule  in  Bildung 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  II.  7 


O.  H.  Engel.  Wasseratelier 


21 


OTTO  HEINRICH  ENGEL 


1 6o 


begriffen,  die  ihr  Ziel  schlechthin  in  der  Übernahme 
der  modernen  französischen  Art  sieht  und  sich  damit 

begnügt;  die  den 
unbestrittenen 
Grundsatz,  dass  für 
den  Maler  das 
Malenkönnen  die 
erste  und  unerläss¬ 
lichste  Forderung 
darstellt,  dahin  zu 
erweitern  geneigt 
ist,  dass  sich  mit  der 
höchsten  Ausbil¬ 
dung  seiner  Fähig¬ 
keit,  das  Spiel  des 
Lichtes,  der  Luft 
und  der  Farben  zu 
meistern,  der  Be¬ 
griff  seiner  Kunst 
auch  schon  er¬ 
schöpfe.  Dem¬ 
gegenüber  erheben 
sich  neueWünsche, 
die  darauf  hin¬ 
zielen,  eine  solche, 
aus  dem  französi¬ 
schen  Geiste  der 
neuen  Technik 
hervorgegangene 
Auffassung  der 
Kunst  zu  überwin¬ 
den  und  diese 
nicht  mehr  ent¬ 
behrliche,  einen 
ungeheueren  Fort¬ 
schritt  darstellende 
Technik  mit  der 
über  das  Hand¬ 
werkliche  hinaus¬ 
weisenden  Sehn¬ 
suchtzuversöhnen, 
die  zu  den  Grund¬ 
elementen  der  deut¬ 
schen  Kunst  ge¬ 
hört. 

Es  würde  zu 
weit  führen,  die 
neuen  Gegensätze, 
die  sich  hier  auf- 
thun,  eingehend 
zu  beleuchten.  Sie 
mussten  nur  kurz 
herangezogen  wer¬ 
den,  weil  die  Stel¬ 
lung  des  Künstlers, 
dem  diese  Zeilen 
gewidmet  sind, 
erst  durch  sie  ver¬ 
ständlich  wird.  Ot¬ 
to  Heinrich  Engel 
gehört  zu  der  noch 


O.  H.  Engel.  Nieder¬ 
deutsche  Votkstypen 
Bemaltes  Stuckrelief 


nicht  grossen  und  vor  allem  noch  nicht  hinreichend  kraft¬ 
vollen  Schar,  die  heute  auf  jene  neuen  Ziele  hinweist. 
Wenn  diese  Gruppe  den  »reinen«  Impressionisten  als 
halbreaktionär  erscheint,  so  ist  das  eine  Anschauung, 
die  sich  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens 
wiederholt  und  die  ihren  Grund  darin  hat,  dass  jede 
neue  Bewegung  sich  in  irgend  einem  Sinne  als 
Reaktion  —  aber  nun  das  Wort  im  eigentlichen  Sinne 
gebraucht  —  gegen  Herrschendes  oder  zur  Herrschaft 
Strebendes  darstellt.  Engel  ist  einer  der  Tüchtigsten 
unter  den  Malern  unserer  Zeit,  die  sich,  vielleicht  oder 
wahrscheinlich  weniger  aus  bewusster  Absicht  und 
nach  einem  festen  Plane  als  aus  instinktivem  Drang, 
darum  bemühen,  die  Empfindung,  die  seelischen 
Werte,  die  jener  reine«  Impressionismus  nicht  un¬ 
bedenklich  bedroht,  wieder  in  ihre  Rechte  einzusetzen, 
aber  nun  nicht  durch  äussere  Mittelchen,  durch  Zu- 
thaten,  die  in  ihres  Wesens  Kern  nicht  aus  dem 
Malerischen  stammen;  sondern  eben  auf  malerischer 
Grundlage,  durch  den  Zusammenklang  und  die  von 
innen  heraus  gestaltete  Harmonie  der  mit  geschärftem 
Auge  gesehenen  Luft-,  Licht-  und  Farbenspiele  der 
Wirklichkeit,  durch  die  von  innen  heraus  beseelte 
Wiedergabe  des  gewählten  Naturausschnitts.  Das 
Auge  hat  den  Vortritt.  Es  hat  zunächst  seine  Forde¬ 
rungen  geltend  zu  machen  und  das  Technische  des 
Bildes  zu  bestimmen.  Aber  dann  will  auch  das,  was 
hinter  der  Netzhaut  liegt,  was  sich  physiologisch  noch 
nicht  genau  definieren  lässt  und  wohl  nie  erschöpfend 
definieren  lassen  wird,  mitsprechen  und  seine  An¬ 
sprüche  stellen. 

Engel  ist  nicht  durch  eine  stürmisch-geniale  Be¬ 
gabung  frühzeitig  im  Sturmschritt  in  die  Höhe  ge¬ 
trieben  worden;  er  hat  sich  in  verhältnismässig  lang¬ 
samer  Entwickelung,  in  zäher  Arbeit  und  scharfer 
Selbstzucht  von  schlichten  Anfängen  emporgearbeitet, 
hat  sein  in  jungen  Jahren  erwachtes  Talent  ganz 
allmählich,  aber  in  stetiger  Steigerung  entfaltet.  Am 
27.  Dezember  1866  in  Erlach,  einer  kleinen  hessischen 
Stadt,  wo  sein  Vater  Geistlicher  war,  geboren,  ist  er 
erst  zwanzigjährig  in  Berlin,  wohin  er  früh  mit  den 
Eltern  übergesiedelt  war,  auf  die  Akademie  gekommen. 
Hier  hat  er  sich,  hauptsächlich  in  der  Klasse  Wolde- 
mar  Friedrich’s  und  bei  Paul  Meyerheim,  die  solide 
Grundlage  seines  starken  zeichnerischen  Könnens  er¬ 
worben,  die  seinen  Arbeiten  für  alle  Zukunft  zugute 
gekommen  ist.  Die  Reproduktionen,  die  dies  Heft 
nach  Zeichnungen  und  Studien  aus  seinen  Mappen, 
aber  nicht  minder  die,  die  es  nach  Gemälden  seiner 
Hand  bringt,  bezeugen  Engel’s  absolute  Sicherheit 
in  der  Beherrschung  der  Form ,  eine  Sicherheit, 
die  dem  Künstler  frühzeitig  über  alle  akademische 
Ängstlichkeit  hinweghalf  und  schliesslich  auch  die 
letzten  Spuren  der  Schule  verwischte.  Die  famose 
Kohlestudie  >Am  Bollwerk«  zeigt  ihn  im  vollen 
Besitze  der  Kunst,  die  Liebermann  durch  den  geist¬ 
reichen  Ausspruch  »Zeichnen  ist  Fortlassen«  charak¬ 
terisiert  hat,  im  Besitze  der  Fähigkeit,  das  Wesentliche 
aus  der  Fülle  der  Linien  der  Natur  rasch  und  be¬ 
stimmt  auszuwählen  und  mit  markanten  Abbreviaturen 
ein  schlagenderes  Abbild  des  Gesehenen  festzuhalten. 


OTTO  HEINRICH  ENGEL 


1 6i 


als  es  die  im  Detail  versinkende  Pedanterie  vermöchte. 
Und  nur  ein  Zeichner,  der  in  völlig  souveräner  Frei¬ 
heit  mit  der  Form  zu  schalten  weiss,  ist  imstande,  so 
kostbare  Karikaturen  hervorzubringen  wie  Engel. 
Nur  wer  die  wahren  Linien  aufs  genaueste  im  Kopfe 
hat,  kann  sich  zu  der  scherzhaft  übertreibenden 
Charakteristik  heranwagen,  die  hier  verlangt  wird 
und  die  doch  den  Zusammenhang  mit  der  Natur  in 
keinem  Augenblicke  verlieren  darf.  Entzückend,  wie 
auf  dem  schnell  hingeworfenen  Blättchen,  das  wir 
als  Probe  geben,  die  wehmütig-feierliche  Bezechtheit 
der  Abschiedspunschstimmung  mit  ein  paar  Strichen 
festgehalten  ist. 

Im  Jahre  1890  ging  Engel  nach  Karlsruhe,  um  bei 
Schönleber,  Baisch,  Kaspar  Ritter  seine  Studien  fortzu¬ 
setzen.  Hier  ging  ihm,  nach  der  Bevorzugung  des 
Zeichnerischen  auf  der  Berliner  Akademie,  der  Begriff 
des  Malerischen  auf.  In  dem  Garten  der  Kunstschule 
in  der  badischen  Hauptstadt,  den  vordem  Schirmer 
zu  Zwecken  des  Studiums  und  Unterrichts  eingerichtet 
hatte,  sah  er  zum  erstenmal,  was  es  heisst,  im  Freien 
Luft  und  Licht,  Schatten  und  Reflexe  auf  Gegenständen 
und  menschlichen  Figuren  zu  beobachten.  In  München 
dann,  wo  er  sich  hauptsächlich  Paul  Höcker  an¬ 
schloss,  führte  er  in  den  Jahren  1891  und  1892  seine 
malerische  Ausbildung  weiter  und  genoss  mit  vollen 
Zügen  die  frische  Kunstluft,  die  damals  an  der  Isar 
wehte.  Einen  starken  Eindruck  hat  auf  Engel,  wie 
er  mir  einmal  erzählte,  in  jenen  Jahren  eine  Aus¬ 
stellung  dänischer  Künstler  im  Münchner  Glaspalast 
gemacht.  Man  braucht  nicht  zu  betonen,  dass  er  in 
einer  »Nachahmung«  dieser  Dänen,  wie  Ancher, 
Brasen  u.  s.  w.,  sein  Ziel  weder  damals  noch  später 
gesehen  hat.  Was  ihn  anzog,  war  die  stille,  feine 
Intimität  der  Stimmungen  in  den  Bildern  der  Nord¬ 
länder,  die  seiner  Individualität  sehr  entgegenkam,  und 
der  er  sich  aufs  innigste  verwandt  fühlte.  Ganz  von 
selbst  trieb  es  ihn,  der  sich  nach  schlichter  Natur 
und  einfachen  Menschen  sehnte,  früh  in  das  von  den 
Malern  damals  und  eigentlich  auch  heute  noch  wenig 
»abgegraste«  niederdeutsche  Land,  in  die  Gegend  von 
Lüneburg,  nach  Mecklenburg,  Schleswig-Holstein,  an 
die  Waterkant  und  vor  allem  nach  Föhr,  wo  er  in  dem 
kleinen  Ekensund  einen  Studienort  fand,  wie  er  ihn 
sich  nicht  schöner  wünschen  konnte,  und  den  er 
darum  in  der  Folge  fast  alljährlich  immer  wieder 
aufsuchte.  Dort  studierte  Engel  mit  heiligem  Eifer 
die  Landschaft  in  ihrer  einfachen,  ernsten  Schönheit, 
den  Glanz  der  hellen  Sommersonne,  von  deren  er¬ 
wärmender  und  leuchtender  Kraft  Wiesen  und  Äcker, 
Kornfelder,  Busch-  und  Baumreviere  eindringliche 
Kunde  geben,  während  die  roten  Dächer  der  Dorf¬ 
häuser  erglühen,  in  Flüssen,  Buchten,  Seen  und 
Kanälen  die  Uferbilder  sich  spiegeln  und  für  ihre 
heimliche  Melodie  eine  tiefer  klingende  Begleitung 
finden.  Er  studierte  das  Treiben  der  kleinen  Häfen, 
deren  schaukelnde  Schiffe  feuchte  Luft  umfächelt,  das 
Leben  am  Strande  und  in  den  Städtchen  und  die 
wortkargen  Menschen,  die  darin  wohnen,  die  Männer 
mit  den  wettergebräunten  Gesichtern,  die  alten  Frauen 
mit  ihren  von  Sorgen  und  Arbeit  durchfurchten  Zügen, 


die  jungen  Mädchen  mit  ihren  malerischen  Volks¬ 
trachten  und  der  eckigen  Anmut  ihrer  herben  Jung¬ 
fräulichkeit,  die  wei¬ 
zenblonden  Kinder 
in  ihrer  blauäugi¬ 
gen  und  pauspäcki- 
gen  Unschuld  und 
Gesundheit. 

Schon  in  der 
ersten  Ausstellung 
der  Münchner  Se¬ 
cession,  zu  deren 
Mitgliedern  Engel 
nach  dem  Ab¬ 
schluss  seiner  Stu¬ 
dien  von  Anfang 
an  gehörte,  er¬ 
schien  er  im  Jahre 
1893  mit  einem 
Flensburger  Motiv, 
dessen  Wahl  und 
Behandlung  seine 
charakteristischen 
Neigungen  deut¬ 
lich  verraten:  ein 
Stück  Bucht,  Häu¬ 
ser  am  Ufer,  ein 
paar  Schiffe  im 
Wasser,  ein  paar 
Kinder  am  Strande, 

Sommerstimmung, 
und  im  Vorder¬ 
gründe  lauer  Schat¬ 
ten,  während  der 
Blick  in  eine  helle 
Ferne  geführt  wird. 

1895  trat  er  dann 
mit  dem  grossen 
Bilde  »Meeres¬ 
leuchten«  hervor, 
das  man  von  ver¬ 
schiedenen  Ausstel¬ 
lungen  her  kennt: 
ein  Boot  mit  einem 
jungen,  nun  aber 
einmal  ganz  städ¬ 
tisch  gekleideten 
Paare,  das  in  war¬ 
mer,  klarer  Som¬ 
mernacht  auf  das 
stille  Wasser  hin¬ 
ausgerudert  ist; 
vom  Schlag  des 
Ruders,  vom  glei¬ 
tenden  Kiel  des 
Bootes,  von  der 
Hand  des  jungen 
Mädchens,  die  sich 
ins  Wasser  senkt, 
blitzt  die  tiefe  dun¬ 
kelblaue  Flut  phos- 


O.  H.  Engel.  Nieder¬ 
deutsche  Volkstypen 
Gemaltes  Stiickrelicf 


21 


OTTO  HEINRICH  ENGEL 


1  .2 


O.  H.  Engel.  Morgens  beim  Ausfahren 


phoreszierend  grell  auf,  weit  aus  der  Ferne  blinzeln  vom 
Ufer  und  von  verankerten  Schiffen  gelbe,  grüne  und  rote 
Lichterchen.  Das  Triptychon  Waterkant  ,  das  im 
Winter  i8g8  in  einer  der  ersten  Ausstellungen  des 
Künstlerhauses  in  Berlin  hing,  wohin  Engel  zwei 
Jahre  vorher  endgültig  übersiedelt  war,  und  der 
Spaziergang  der  beiden  Geistlichen  am  Meeresufer, 
mit  dem  er  die  erste  Berliner  Secessionsausstellung 
i8gg  beschickte,  sind  von  den  folgenden  Arbeiten  des 
Künstlers  am  bekanntesten  geworden.  In  den  Seiten¬ 
tafeln  der  Waterkant  ,  die  wir  hier  in  der  Repro¬ 
duktion  bringen,  versuchte  er  sich  einmal  in  deko¬ 
rativer  Stilisierung  und  malte  die  Figuren  in  stark 
leuchtend  behandelten  Lokalfarben  auf  goldenen 
Grund,  Sonst  aber  ging  sein  Streben  durchweg  auf 
eine  Vertiefung  und  persönliche  Verarbeitung  moderner 
Lehren.  Namentlich  auf  Föhr  fand  der  stille,  in 
sich  gekehrte  Künstler  im  dauernden  Verkehr  mit  der 
Natur  und  den  Menschen  des  friesischen  Landes  die 
Stoffe  und  Stimmungen,  die  ihm  zusagten.  Die  Ein¬ 
drücke,  die  er  einst  von  den  Bildern  der  Dänen  em¬ 
pfangen  hatte,  waren  durch  die  Lektüre  skandina¬ 
vischer  Schriftsteller,  durch  die  wundervoll  intimen 


Naturschilderungen  von  Dichtern  wie  jacobsen  und 
Drachmann,  noch  verstärkt  worden.  Etwas  von  der 
feinen  Art  dieser  Poesien  mag  man  wohl  bei  ihm 
wiederfinden,  aber  es  kommt  bei  Engel  kräftiger, 
gesunder,  volksliedmässiger,  mit  weniger  Hang  zur 
Melancholie  heraus.  Die  leise  Sehnsucht,  die  bei 
seinen  Scenen  vom  Felde,  von  den  Dörfern,  von  der 
Föhrde,  die  er  so  in  sein  Herz  geschlossen,  stets 
mitklingt,  hat  eine  durchaus  deutsche  Note,  die  sich 
zumal  in  den,  gegenüber  den  Skandinaviern  besonders 
auffallenden  lebhafteren  und  kühneren  Farbensteihmgen 
äussert.  Von  besonderer  Wichtigkeit  aber  wurde  bei 
Engel  mehr  und  mehr  die  Belebung  des  Landschaft¬ 
lichen  durch  Figuren,  die  weder  den  Charakter  hinein¬ 
gesetzter  Staffage  annehmen  noch 'sich  mit  dem  Amte 
begnügen,  Farbenflecke«  zu  sein.  Das  grosse  Ge¬ 
mälde  der  »Friesischen  Mädchen  ,  das  im  Sommer 
igo2  auf  der  Grossen  Berliner  Ausstellung  hing  und 
von  dort  in  den  Besitz  der  Nationalgalerie  über¬ 
gegangen  ist,  zeigte  die  bedeutsame  Entwickelung 
der  sympathischen  Kunst  Engel’s  während  der  letzten 
Jahre  im  schönsten  Lichte.  Doch  der  unablässig 
Strebende  hat  —  das  darf  man  mit  einer  Erwartung 


OTTO  H.  ENGEL 


FRAU  UND  KIND 


OTTO  HEINRICH  ENGEL 


1 64 


O.  H.  Engel.  Bootsbriicke 


aiissprechen,  die  an  Sicherheit  grenzt  —  gewiss  noch 
eine  reiche  Zukunft  vor  sich.  Er  selbst  würde  es 
wohl  am  wenigsten  billigen,  wenn  man  ihn  als  einen 
Künstler  darstellen  wollte,  der  schon  auf  seinem 


Gipfel  angekommen  ist.  Nicht  auf  eine  »historische 
Betrachtung  dessen,  was  er  bisher  geleistet,  konnte 
es  darum  hier  ankommen,  sondern  nur  um  eine 
kurze  Einführung  in  seine  Art  und  Kunst. 

MAX  OSBORN. 


O.  H.  Engel.  Karikatur 


O.  H.  Engel.  Am  Bollwerk.  Kohlestiidie 


O.  /■/.  Engel.  Abends  beim  Dorschangeln 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 

Von  Hans  Mackowsky 


Bald  hinter  Empoli,  wo  der  Arno  in  die 
fruchtbare  Ebene  von  Fucecchio  tritt,  ragt  auf 
weit  vorgeschobenem  Bergrücken  zwischen  den 
Flussthälern  der  Elsa  und  der  Evola  die  Ruine  eines 
gewaltigen  Wartturmes  empor.  Es  ist  die  Rocca  von 
San  Miniato  al  Tedesco,  dem  einstigen  Sitz  der 
kaiserlichen  Vikare  in  Toskana.  Auf  dem  höchsten 
der  drei  Flügel  gelegen,  über  die  hin  die  Stadt  sich 
dehnt,  beherrscht  dieser  Turm,  gleich  einem  sagen¬ 
haften  Gebieter,  die  Gegend  und  lockt  mit  seinem 
verwitterten  Gemäuer  geheimnisvoll  zu  sich  hinan. 

Auf  kräftig  ansteigender,  vielfach  gewundener 
Fahrstrasse,  immer  an  Olivenpflanzungen  und  vorge¬ 
schobenen  Villen  vorüber,  bringt  uns  ein  ländliches 
Gefährt  bergaufwärts.  Eine  letzte  energische  Kehre  — 
und  der  Zeltdachwagen  hält  vor  der  ehrwürdigen 
Dominikanerkirche.  Die  Sauberkeit  eines  toskanischen 
Landstädtchens  erfüllt  sogleich  mit  freundlichem  Be¬ 
hagen.  Auf  breitfliesigem  Travertinpflaster  durch¬ 
schreiten  wir  die  Stadt,  die  eigentlich  nur  aus  einer 
einzigen,  einen  halben  Kilometer  sich  hinziehenden 
Strasse  besteht.  Über  die  weissen  Häuser  schaut  aus 
silberiggrünem  Olivenwuchs  in  dem  wundervollen 
Rostrot  seines  Ziegelbaues  die  Rocca  herein,  und  die 
malerische  Schönheit  dieses  Stadtbildes  entschuldigt  das 
Selbstgefühl  der  Einwohner,  das  sie  in  den  Ruf  von 
Prahlhänsen  und  Grosssprechern  gebracht  hat,  denen 
nirgends  so  wohl  ist  als  im  Schatten  ihrer  Rocca’). 

Wir  wandern  diese  einzige  Strasse,  die  von  Thor 
zu  Thor  mehrfach  den  Namen  wechselt,  entlang,  an 

i)  Tutti  i  Samminiatesi  son  passionatissiini  amatori  della 
loro  cittaduzza;  e  non  istanno  bene  che  all’onibra  della 


alten  Kirchen  und  Konventen  vorüber,  an  öffent¬ 
lichen  Gebäuden  und  Palästen,  deren  Architektur  auf 
Florenz  zurückweist.  Wir  biegen  in  kurze  Seiten¬ 
gässchen  ein,  sehen  den  jähen  Absturz  der  Hügel, 
und  wie  gewaltige  Substruktionen  die  umfassenderen 
Baulichkeiten  stützen.  Wir  kommen  auf  die  Piazza 
Buonaparte  mit  dem  antikisch  gewandeten  Standbild 
Leopold’s  II.  von  Toskana  und  denken  der  Geschichte, 
die  mit  diesen  Namen  zu  uns  redet.  Überall  stossen 
wir  auf  Gestalten,  in  denen  der  blonde,  ungelenkere 
Germanentypus  deutliche  Merkmale  hinterlassen  hat; 
eine  ungewohnte  Treuherzigkeit  schaut  hier  und  da 
aus  blauen  Augen  uns  überraschend  an.  Und  schliess¬ 
lich  steigen  wir  hinauf  zur  Felsenwarte,  um  mit 
wenigen  Schritten  in  die  Romantik  hohenstaufischer 
Kaiserzeit  zu  gelangen. 

Schon  der  Domplatz  mit  der  dreischiffigen  Kathe¬ 
drale  und  dem  fast  schmucklosen  bischöflichen  Palast 
lässt  trotz  aller  späteren  »Verschönerungen'  und  Um¬ 
bauten  die  Stimmung  des  13.  Jahrhunderts  wach 
werden.  Zuerst  auf  den  gepflegten  Kieswegen  einer 
öffentlichen  Promenade,  dann  durch  die  verwahrlosten 
Kulturgärten,  die  im  1 6.  Jahrhundert  Michele  Mercati  an- 
legen  Hess,  führt  der  Weg  hinauf  zu  dem  halbzer¬ 
fallenen  Denkmal  staufischer  Herrschergewalt.  Ein 
kleines  Plateau,  auf  dem  ehemals  die  Befestigungen 
lagen,  bietet  einen  der  herrlichsten  Fernblicke. 

»Hier  ist  die  Aussicht  frei,  der  Geist  erhoben." 


rocca;  e  si  tengon  tanto  d’esser  cittadini  di  qiiella  lor 
terra,  che  presso  i  vicini  ne  riportano  mal  nome  di  vendi- 
fumo,  e  svegliano  gelosie  senza  fine.  Augusto  Conti, 
Viaggetto  d’una  lieta  brigata. 


NB.  Die  Abbildungen  sind  mit  Ausnahme  der  Kopfvignette  und  des  Chellini-Grabmales  nach  Aufnahmen  gemacht, 
die  der  Photograph  A.  Reali  in  Florenz  im  Mai  7902  unter  der  Aufsicht  des  Verfassers  angefertigt  hat.  Sie  werden  hier 
zum  erstenmal  veröffentlicht  und  befinden  sich  nicht  im  Handel. 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


1 67 


Im  Westen,  wie  gelöst  unter  dem  Sonnenflimmer, 
erhebt  sich  die  zackige  Wand  der  Pisaner  Marmor¬ 
berge.  Im  Osten  blinkt  Empoli  mit  glitzernden  Dächern 
herauf,  während  ganz  fern  die  Kuppeln  von  Florenz 
im  Dunst  der  Mittagsstunde  schwimmen.  Von  Norden 
her  drängen  die  Pistojeischen  Bergmassen  mit  ihren 


nach  einer  kurzen  Selbständigkeit  mit  hoher,  kom¬ 
munaler  Blüte  eine  immer  tiefere  Provinzstille  unter 
Florentiner  Botmässigkeit.  Auf  San  Miniato  aber 
ruht  noch  ein  letzter  Schimmer  staufischer  Kaiser¬ 
pracht,  und  um  die  zermorschten  Steine  der  Rocca 
wandeln  allen  voran  die  grossen  Schatten  Kaiser 


San  Miniato  al  Tedesco.  Der  Dom 


Kastellen  und  Felsennestern  heran.  Südwärts  wandert 
der  Blick  ins  alte  Etrurien,  zu  dem  im  Stolz  seiner 
Türme  starrenden  San  Gimignano  und  dem  breiten 
Mauergürtel  von  Volterra. 

Die  Lage  des  Ortes  erklärt  auch  seine  Geschichte. 
Sie  unterscheidet  sich  kaum  von  dem  Schicksal  aller 
zwischen  Florenz  und  Pisa  eingeengten  Ortschaften: 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  7. 


Friedrich ’s  II.  und  seines  Kanzlers,  der  es  noch  Dante 
im  Inferno  auf  Ritterehre  zuschwört 

.  .  .  che  giammai  non  riippi  fede 
Al  mio  signor,  che  fu  d’onor  si  degno 


22 


i68 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


Wenn  Friedrich  II.  nach  dem  immer  rebellischen 
Toskana  kam,  so  war  San  Miniato  der  Ort,  wo  er 
sich  fast  so  sicher  fühlen  konnte  wie  in  Lucera  unter 
seinen  Sarazenen.  Florenz  mied  er  aus  Furcht  vor 
einer  dunklen  Weissagung,  die  ihm  dort  seinen  Tod 
•’eriieissen  hatte.  In  San  Miniato  aber  sassen  schon 
seit  Otto  I.  die  kaiserlichen  Vikare  und  genossen  bei 
der  gut  ghibellinischen  Bevölkerung  ein  Ansehen, 
das  ihnen  im  übrigen  Toskana  mehr  und  mehr  verloren 
gegangen  war,  wenn  sie  es  überhaupt  jemals  besessen 
hatten.  Damit  ist  nicht  gesagt,  dass  die  kleine  Bergveste 
etwa  von  den  inneren  Fehden,  die  Italiens  Boden 
zerrissen,  verschont  geblieben  wäre.  Aber  der  Kaiser, 
der  diesen  Stützpunkt  seiner  Macht  mit  allen  Mitteln 
zu  halten  bestrebt  war,  verstand  es  in  kluger  Weise 
hier  sein  Ansehen  zu  mehren.  Er  verlieh  wertvolle 
Privilegien,  machte  Schenkungen,  verlegte  hierher  den 
Sitz  des  Appellrichters  für  ganz  Toskana.  Zugleich 
festigte  er  die  militärische  Sicherheit  des  Ortes.  Wahr¬ 
scheinlich  1236  Hess  er  mitten  in  die  grossartigen 
Festungswerke  hinein,  die  heute  bis  auf  die  letzten 
Trümmer  verschwunden  sind,  die  Rocca  als  Feuer¬ 
warte  und  Luginsland  bauen.  Hierher  verlegt  die 
Tradition  den  Schauplatz  des  Dramas  zwischen  ihm 
und  seinem  Kanzler  Pier  delle  Vigne.  Böse  Zungen 
hatten  das  Ohr  des  misstrauischen  Kaisers  erreicht. 
Der  Kanzler  — 

.  .  .  colui,  che  tenni  ambo  le  chiavi 

Del  cuor  di  Federigo  e  che  le  volsi 

Serrando  e  disserrando,  si  soavi 

Che  dal  segreto  suo  quasi  ogni  uom  tolsi  — 

fiel  in  Ungnade,  ward  geblendet  und  soll  sich  hier 
im  Gefängnis  den  Schädel  eingerannt  haben'). 

Der  Anblick  des  Turmes  mit  seinem  auffälligen 
oberen  Stockwerk  lenkt  plötzlich  unser  historisches 
Interesse  auf  kunstgeschichtliche  Bahnen.  Der  mit 
scharfen  Kanten  viereckig  ansteigende  Ziegelbau  ist 
gekrönt  von  drei  aufgemauerten  Säulen  -),  zwischen 
denen  sich  halbzerstörte  Wände  mit  Fenstereinschnitten 
ziehen,  wohl  als  Guckaus  für  die  Wachen.  Diese 
Art  von  Bekrönung  findet  sich  nur  noch  einmal  in 
ganz  Toskana  wieder:  am  Turm  des  Palazzo  Vecchio 
zu  Florenz.  Keiner  der  Biographen  dieses  Bauwerkes 
von  Rastrelli  bis  Gotti  hat  diese  kunstgeschichtlich 
eminente  Thatsache  bemerkt.  Selbst  der  sonst  so 
gründliche  und  zuverlässige  Gargani  (1872)  begnügt 
sich  damit,  seinen  Vorgängern  die  altersschwache 
Tradition,  als  Vorbild  des  florentiner  Stadthauses  habe 
das  Kastell  der  Grafen  Poppi  im  Casentino  gedient, 
nachzubeten.  Aber  gesetzt  den  Fall,  dass  diese  Tra- 

1)  Die  Zeit  seines  Sturzes  wird  ziemlich  allgemein  um 
1249  gesetzt.  Auch  sind  sich  die  Quellen  (vgl.  Raumer, 
Gesch.  der  Flohenstaufen  IV,  S.  391  ff.)  überden  Selbstmord 
einig.  Nur  die  Art  des  Todes  und  der  Ort  sind  nicht 
einmütig  überliefert.  Hinsichtlich  des  letzteren  schwankt 
die  Überlieferung  zwischen  Pisa  und  San  Miniato  al 
Tedesco. 

2)  Die  vierte  wurde  von  dem  furchtbaren  Erdbeben 
am  14.  August  1846  zerstört.  Die  letzten  Restaurierungs¬ 
arbeiten  fallen  in  die  Jahre  1890  und  1891. 


dition  der  geschichtlichen  Wahrheit  entspräche,  so  ist 
noch  immer  nicht  die  Idee  des  ganz  eigenartigen 
oberen  offenen  Stockwerkes  an  dem  Florentiner  Bau 
erklärt.  Denn  jenes  obskure  Provinzkastell  zeigt,  wie 
auch  der  gleichartige  Palazzo  del  Podestä  in  Florenz, 
nur  den  Zinnenkranz  als  Turmbekrönung.  Es  scheint 
verführerisch,  Arnolfo  di  Cambio,  den  Baumeister 
des  florentinischen  Stadthauses,  auf  seiner  Wanderung 
aus  seinem  Geburtsort  Colle  val  d’Elsa  nach  Florenz 
den  grossen  Eindruck  der  Rocca  von  San  Miniato 
mitnehmen  und  ihn  dann  verwenden  zu  lassen.  Doch 
widersprächen  dem  die  sicheren  Daten  der  leider 
noch  immer  nicht  genügend  aufgeklärten  Baugeschichte 
des  Palazzo  Vecchio.  Der  Bau,  der  1294  beschlossen 
wurde,  war  beim  Ableben  Arnolfo’s  1301  keineswegs 
in  allen  Teilen  vollendet.  Noch  am  26.  Oktober  1308 
»si  elessero  ufficiali  pro  murando  et  super  murando 
turrim  Palatii  Populi  in  quo  Priores  Artium  et  Vexil- 
lifer  justitie  pro  Communi  morantur«  (Gotti).  Erst 
1314  steht  der  Bau  vollendet  da  bis  auf  den  Kupfer¬ 
helm,  den  1453  Antonio  di  Migliorini  Guidotti  auf¬ 
setzt.  Das  unorganisch  Bizarre  und  deswegen  reiz¬ 
voll  Phantastische,  das  diesen  Säulenaufsatz  auszeichnet, 
scheint  mir  nicht  in  dem  mehr  konstruktiv  berech¬ 
nenden  als  malerisch  ausschmückenden  Genie  des 
Arnolfo  entstanden  zu  sein.  Nicht  minder  spräche 
die  Form  der  Kapitelle  gegen  die  Autorschaft  Arnolfo’s. 
Schliesslich,  wie  dem  auch  sei,  die  Thatsache,  dass 
die  ca.  1 236  erbaute  Rocca  von  San  Miniato  das 
Vorbild  für  den  Turm  des  florentiner  Stadthauses 
hergeliehen  hat,  darf  in  Zukunft  nicht  mehr  übersehen 
werden.  Die  trotzige  Feindin  des  Kaisertums  hat  in 
ihrem  Stadthause  die  Veste  des  Erbfeindes  selbst  teil¬ 
weise  nachgebildet. 

*  * 

* 

Im  warmen  Höhenwinde  steigen  wir  durch  die 
verwilderten  Anpflanzungen  wieder  hinunter  zum 
Domplatz.  Noch  immer  sind  wir  im  Bereich  staufi- 
scher  Erinnerungen.  Mit  dem  ganzen  Hügel  war 
auch  dieser  Platz  in  alten  Zeiten  von  starken  Mauern 
und  festen  Thoren  umgeben.  Hier  lag  die  eigentliche 
Citadelle.  Und  wo  zu  Friedrich’s  Zeiten  die  Haupt¬ 
leute  der  militärischen  Besatzung  ihr  Quartier  hatten, 
residiert  jetzt  der  Bischof.  Aber  der  Palast  weist 
kaum  noch  Spuren  aus  dem  12.  Jahrhundert  auf, 
als  Zinnen  ihn  schmückten  und  drei  Türme  sein 
wehrhaftes  Äussere  erhöhten.  Nachdem  San  Miniato 
1622  unter  Gregor  XV.  Bistum  geworden  war, 
bauten  und  besserten  unaufhörlich  die  geistlichen 
Herren  und  einer  von  ihnen,  Monsignore  Suares, 
Hess  1746  die  baufälligen  Türme  bis  auf  einen  kleinen 
stumpfartigen  Rest  in  der  Mittelachse  der  Fassade 
niederlegen. 

Vom  gegenüberliegenden  Dome,  der  schon  1194 
erwähnt  wird,  hat  sich  ebenfalls  nicht  viel  mehr  aus 
jener  allen  Zeit  erhalten.  Doch  gehört  seine  Fassade, 
die  klar  die  Dreischiffigkeit  des  Inneren  ausspricht, 
durch  ihren  Schmuck  zu  den  merkwürdigsten,  die  in 
Italien  zu  sehen  sind.  Heute,  wo  die  drei  Barock¬ 
portale  und  die  Fensterrosen  darüber  rücksichtslos 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


169 


in  das  Mauerwerk  eingebrochen  wurden,  und  die 
alte  regelmässige  Schönheit  der  Ziegelschichten  un¬ 
zählige  Flicken  und 
Ausbesserungen  zeigt, 
deuten  nur  noch  die 
Blendbogen  an  der 
Bedachung  und  die 
über  Eck  gestellten 
vertieften  Quadrate 
am  Giebel  des  Mittel¬ 
schiffes  auf  die  Zu¬ 
gehörigkeit  des  Bau¬ 
werkes  zu  der  grossen 
Gruppe  süditalieni¬ 
scher,  besonders  apu- 
lischer  Kirchen,  die’ 
unter  dem  Regiment 
der  Staufer  entstan¬ 
den.  Sein  schönster 
Schmuck  aber  sind 
ungefähr  fünfund¬ 
zwanzig  in  das  Mauer¬ 
werk  eingelassene,  zu 
symmetrischen  Figu¬ 
ren  disponierte  Fay¬ 
enceschüsseln,  deren 
Zeichnung  —  geome¬ 
trische  Muster,  Band¬ 
ornamente,  Fabeltiere 
—  deutlich  hispano- 
maureske  Herkunft 
verraten.  Die  beträcht¬ 
liche  Höhe,  in  der 
diese  herrlichen  tief- 
randigen  Gefässe  an¬ 
gebracht  sind,  er¬ 
schwert  leider  ihre 
eingehende  Unter¬ 
suchung.  Sie  scheinen 
auch  bisher  keinem 
Spezialforscher  vor 
die  Augen  gekommen 
zu  sein.  Ihre  Technik 
und  ihre  Musterung 
weisen  auf  eine  spa¬ 
nische  Fabrik,  wohl 
aus  der  Provinz  Va¬ 
lencia.  Das  nahe  ge¬ 
legene  Pisa  war  ja  der 
Stapelplatz  für  die  aus 
Spanien  herüberkom¬ 
menden  Produkte. 

Die  Erweiterungs¬ 
bauten,  denen  im  Lauf 
der  Jahrhunderte  der 
Dom  unterlag,  rückten 
ihn  immer  näher  an 
die  Umfassungsmauer 
der  alten  Festungs¬ 
werke  heran.  Gegen  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  unter 
dem  Pontifikat  Innocenz’  Vlll.  bezog  man  einen  der 


alten  Türme  als  Campanile  in  die  Anlage.  Kurz  und 
stämmig  ragt  er  an  der  Chorseite  der  Kirche  auf, 

wie  ein  alter  Kriegs¬ 
mann,  der  auf  den 
Rest  seiner  Tage  den 
Panzer  mit  der  Kutte 
vertauscht.  Sein  krie¬ 
gerisches  Aussehen  ist 
ihm  aber  auch  in 
seinem  frommen  Amte 
verblieben. 

Das  Innere  des 
Domes  bietet  kaum 
Merkwürdiges.  Es 
wurde  gänzlich  im 
Geschmack  des  18. 
Jahrhunderts  restau¬ 
riert  und  zu  einem 
Pantheon  verdienter 
Samminiatesen  um¬ 
gewandelt.  Stammen 
ein  paar  ältere  hoch 
an  der  Wand  aufge- 
hängteBilder  vielleicht 
aus  der  Zeit,  als  unter 
Innocenz  VIII.  die  neu 
ernannte  Collegiata 
bedeutend  erweitert 
und  ausgeschmückt 
wurde?  Eine  thro¬ 
nende  Madonna  mit 
Johannes  dem  Täufer 
und  dem  heiligen 
Sebastian  trägt  deut¬ 
lich  die  Merkmale  der 
Werkstatt  des  Cosimo 
Rosselli  an  sich. 
Schrägüber  an  der 
hohen  Wand  hängt 
eineBeschneidung,die 
sich  aufs  engste  an  das 
von  Fra  Bartolommeo 
in  Wien  befindliche 
Originalgemälde  an- 
schliesst. 

*  * 

* 

Nach  dem  Sturze 
der  Staufer  war  auch 
die  Gewalt  der  kaiser¬ 
lichen  Vikare  für  im¬ 
mer  geschwächt.  Zwar 
blieben  im  Ort  des 
heiligen  Miniatus  die 
Ghibellinen  noch  die 
Herren  der  Situation 
und  hielten  auch  den 
neuen  Kaisern  stand¬ 
haft  die  Treue.  Auf 
seinem  Römerzuge  fand  Rudolf  von  Habsburg  in  ganz 
Toskana  San  Miniato  allein  unterwürfig.  Aber  die  Fehde 


Die  Rocca  von  San  Miniato  al  Tedesco 


22 


170 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


zwischen  den  Parteien  loderte  auch  hier  alle  Augen¬ 
blicke  auf  und  bereitete  das  unvermeidliche  Ende  im 
florentiner  joch  vor.  Als  1294  Gianni  di  Celona, 
seiner  Geburt  nach  Franzose,  wahrscheinlich  aus 

Chälons,  mit  'ünfhunaert  burgundischen  und  deutschen 
Rittern  ais  Aiisc! lichc-r  Statthalter  seine  Rechte  wahr¬ 
nehmen  ''/o!'':-,  :.npörten  sich  auch  die  Ghibellinen 
gegen  ’/u  "rc:  id:h;g.  Und  so  geschwächt  war  die 
kaiseiii^hj  .  '.ehr,  .U.^s  man  ihren  Vertreter  mit  einer 
h  aipiG.v-.  :Un.ieii;-../!äcligung  nach  Haus,  in  sein  Bur¬ 
gund  zu.'ici  . ‘schicken  wagte. 

imaufgeklärt  ist  auch  hier  der  Pro- 
z.:-;  '.vi  £;~li  unter  der  Führung  der  guelfischen 

I-  tei  u'v;;  koiiimunale  Leben  befreite.  Zu  Beginn 
■  irs  14.  jaiiihimderts  fand  der  Ort  —  »quel  nido 

ici.:esc,'  uaiiiite  ihn  die  ränkevolle  florentiner  Diplo- 
r.Lvd.  -  auf  der  Höhe  seiner  Entfaltung.  Die  unter 
;.di  eifersüchtigen  Nobili  thaten  sich  zu  ungewohnter 
Eintracht  zusammen.  Man  sah  dem  schlauen  Florenz 
die  Politik  mit  dem  doppelten  Boden  ab,  that  freund¬ 
lich  und  ehrerbietig  mit  dem  Kaiser  Heinrich  VII., 
der  1311  durchzog,  und  liebäugelte  zugleich  mit 

Florenz,  ohne  in  die  klug  gestellten  Netze  zu  fallen. 
Hundert  mächtige  Familien  und  neun  Adelsgeschlecher 
aus  blauestem  germanischem  Blut  sassen  stolz  und 
trotzig  zwischen  den  drei  amphitheatralisch  absteigenden 
Mauerkreisen;  vierunddreissig  Kastelle  in  der  Um¬ 
gebung  waren  ebensoviel  vorgeschobene  wachsame 
Posten.  Zu  den  Franziskanern,  die  sich  schon  1276 
angesiedelt  hatten,  gesellten  sich  nun  132g  die 
Dominikaner  in  San  Jacopo  e  Lucia  fuori  porta  del 
castello.  Reiche  Bürger  errichteten  fromme  Stiftungen, 
wie  Michele  Portigiani,  der  Kloster  und  Kirche  für 
die  Clarissinnen  erbauen  Hess.  Aber  die  Pest  von 
1 348  dieselbe,  die  Boccaccio  schildert  —  lähmte 
die  frische  Unternehmungslust.  In  eine  ruhige  Ent¬ 
wickelung  fuhr  immer  wieder  der  Streit  der  Parteien 
hinein,  bis  endlich  Florenz  die  begierige  und  lang 
drohende  Hand  auf  den  blühenden  Ort  legte.  Ver¬ 
rat  auch  hier!  Der  8.  Januar  136g,  als  ein  gewisser 
Luparello  hinterrücks  von  San  Francesco  her  die 
florentinischen  Söldner  in  das  Kastell  einliess,  ent¬ 
schied  für  alle  Zeiten  das  Schicksal  der  alten  Reichs¬ 
burg  '). 

Aber  die  neuen  florentinischen  Machthaber  rüttelten 
umsonst  an  der  geschichtlichen  Tradition,  die  in  dem 


1)  Die  historischen  Schilderungen,  die  ich  in  aller 
Gedrängtheit  gebe,  stützen  sich  zumeist  auf  die  geringe 
Lokallitteratur.  Von  einschlägigen  Werken  erwähne  ich 
nur:  Giuseppe  Rondoni,  S.  Miniato  al  Tedesco,  Memorie 
storiche  con  documenti  inediti,  S.  M.  1876  und  Guida 
della  cittä  di  S.  M.  al  Ted.  von  Giuseppe  Piombanti, 
S.  M.  1894.  Für  die  kunstgeschichtlichen  Fragen  giebt 
Rondoni  fast  gar  kein,  Piombanti  erheblicheres  Material, 
aber  ohne  Kritik.  Ein  neuer  Führer,  der  im  Herbst  1901 
angekündigt  wurde,  ist  bis  jetzt  noch  nicht  erschienen. 


Beinamen  ausgesprochen  lag.  Es  gelang  ihnen  nicht, 
das  verpönte  aristokratische  »al  tedesco«  in  das  ple¬ 
bejisch  geläufige  »Eiorentino«  umzuwandeln.  Und 
der  gekrönte  steigende  Löwe  mit  dem  gezückten 
Schwert,  den  San  Miniato  im  Wappen  führte,  schien 
treu  wenigstens  über  der  glorreichen  Vergangenheit 
wachen  zu  wollen.  Nur  jährlich  zum  Johannistage 
schickten  die  Samminiatesen  als  Zeichen  ihrer  Unter¬ 
würfigkeit  eine  geweihte  Kerze  nach  Florenz  ins 
Baptisterium. 

Für  die  Zukunft  aber  ward  San  Miniato  floren¬ 
tiner  Provinznest,  politisch  wie  künstlerisch.  Floren¬ 
tiner  Maler  schmücken  die  Wände  der  Ordens¬ 
kirchen  und  florentiner  Beamte  nehmen  den  alten 
Palast  der  kaiserlichen  Vikare  in  Beschlag.  Einem 
von  ihnen,  Guicciardini,  hat  man  ein  Denkmal  seinerVer- 
waltung  errichtet,  eine  al  fresko  gemalte  Madonna,  um¬ 
geben  von  sieben  Tugenden  nach  der  allegorisierenden 
Weise  des  Trecento.  Das  Bild  trägt  die  Jahreszahl 
1393,  dazu  das  Wappen  des  Vikars  und  sein  Lob 
in  Form  eines  Sonettes: 

Quanto  für  l’opre  tue  perfecte  et  sante 
Ti  dimostran,  lector,  le  sette  donne, 

Del  regimento  suo  ferme  cholonne, 

Chel  fan  d’eterna  fama  triunfante. 

Esempro  prenda  chi  verrä  davante 
Del  grau  guadagno  che  secho  portomie, 

Che  i  cuor  delli  nomini  tucti  et  de  le  donne 
Volle,  ne  giammai  tolse  un  vil  bisante 

Et  nel  novante  tre  dopol  trecento 
Et  mille,  resse  si  il  Vichariato, 

Che  ciaschun  fu  da  lui  sempre  contento. 

In  pace  tenne  tucti  et  in  buon  stato; 

Fu  in  sua  chorte  ciascun  vitio  spento, 

Tenendo  le  virtü,  che  vedi,  a  lato. 

Onde  sempre  obbligato 
Glie  ciascheduno,  et  grandi  et  piccholini, 

E,  per  suo  amore,  a  tucti  i  Guicciardini. 

Doch  nicht  nur  mit  halb  verwischten  Freskogemälden 
des  Trecento  oder  mit  Kunstwerken,  deren  Inschriften 
fesselnder  sind  als  ihre  Darstellungen,  müssen  wir 
uns  hier  begnügen.  Ein  Stück  bisher  unbekannt 
gebliebenen  Quattrocento  tritt  unverhoffter  Weise  in 
San  Miniato  uns  entgegen.  Nicht  grosse  Namen 
schlagen  an  das  Ohr,  nicht  grosse  Kunst,  zu  der  wir 
wallfahrten  gehen,  wird  uns  geboten  —  aber  doch 
reines  und  unverfälschtes  Quattrocento,  florentiner 
Schulgut,  das  uns  zeigt,  wie  die  Centrale  die  Provinz 
versorgt  hat.  (Fortsetzung  folgt.) 

1)  Über  das  Blosslegen  trecentistischer  Freskomalereien 
in  S.  M.  vergl.  Arte  e  Storia  1898  (XVII),  p.  112  und 
1899  (XVIIl),  p.  120. 


DER  FARNESISCHE  STIER 

UND  DIE  DIRKEGRUPPE  DES  APOLLONIOS  UND  TAURISKOS 

ein  Brief  an  GEORG  TREU  in  Dresden 
zii  seinem  sechzigsten  Geburtstag  am  2g.  März  igoj 


ZU  diesem  Ehrentage  bringen  Ihnen,  verehrter 
Freund  und  bester  Nachbar,  die  Bewunderer 
Ihrer  vielseitigen  und  segensreichen  Thätigkeit, 
von  zünftigen  Archäologen  bis  zu  führenden  Meistern 
der  lebenden  Kunst,  im  Lande  Sachsen,  im  Deutschen 
Reich  und  Sprachgebiete,  wie  in  der  übrigen  weiten 
Welt,  eine  für  Sie  passendere  Festgabe  dar,  als  es 
einer  von  den  üblichen  Miscellanbänden  wäre.  Dass 
aber  doch  auch  der  Gruss  des  ehrsamen  Hand¬ 
werks,  von  dem  Sie  ausgegangen  sind  und  dem  Sie, 
bei  allem  Wirken  für  unser  modernes  Kunstleben,  treu 
bleiben,  nicht  ganz  fehle,  legt  hier  der  nächste  dazu, 
der  Ihre  Feste  dankbar  mitzufeiern  so  viel  Grund  hat 
wie  wenige,  Ihrem  wohlwollenden  Kennerauge  wieder 
einmal  einen  kleinen  Beitrag  zur  griechischen  Kunst¬ 
geschichte  vor.  Er  hofft,  es  sei  diesmal  mehr  als 
eine  blosse  Vermutung,  nämlich  die  Zusammenfassung 
längst  vorhandener  Ansätze  zum  Beweis  einer  wert¬ 
vollen  und  erfreulichen  Wahrheit.  Dass  es  sich  um 
ein  Denkmal  handelt,  welches  von  jeher  auch  die 
allgemeine  Kunstwissenschaft  beschäftigt  hat,  recht¬ 
fertigt  die  Veröffentlichung  in  dieser  Zeitschrift. 

Obgleich  die  hier  vorgetragenen  Gedanken  eben 
erst  in  den  Übungen  eines  guten  Jahrgangs  des 
Leipziger  archäologischen  Seminars  festere  Gestalt 
empfangen  haben,  ist  ihr  Keim  doch  so  alt,  wie  mein 
Wirken  hier  in  Ihrer  Nähe.  Mein  erstes  Amtsgeschäft 
in  Leipzig  war  nämlich,  im  Zusammenhänge  der 
vollständigen  Neueinrichtung  unseres  Universitäts¬ 
museums,  die  Aufstellung  des  Abgusses  vom  Toro 
Farnese,  welchen  Overbeck,  einer  seiner  wärmsten 
Verteidiger,  noch  kurz  vor  seinem  Tod  erworben 
hatte.  Mit  sehr  gemischten  Empfindungen  wies  ich 
dem  anspruchsvollen  Gipsgebirge  den  erforderlichen 
Raum  an  und  heute  noch  bleibt  es  mir  fraglich,  ob 
sich  nicht  solch  mittelgrosse  Lehrsammlung,  so  gut 
wie  die  reichere,  von  Michaelis  trefflich  angelegte  zu 
Strassburg,  mit  einer  von  den  modernen  Reduktionen 
der  Gruppe  begnügen  sollte,  jedoch  einmal  vor¬ 
handen,  überwand  der  unwillkommene  Hausgenosse 
mit  der  Zeit  meinen  von  den  Lehr-  und  Wander¬ 
jahren  her  genährten  Widerwillen  und  erzwang  die 
ruhig  aufmerksame  Betrachtung,  aus  der  das  Ver¬ 
ständnis  hervorgeht. 

Freilich,  zum  Widerwillen  ist  Grund  genug  vor¬ 
handen.  Vorab  in  den  beträchtlichen  Teilen  der 
eigentlichen  Gruppe,  die  Gianbattista  Bianchi,  aus  der 
Sippschaft  Guglielmo’s  della  Porta,  und  nach  dem 
Transport  Angelo  Brunelli  in  Neapel  ergänzt  haben  ^). 


Es  sind  leider  noch  wesentlichere  Stücke  der  Haupt¬ 
personen,  als  die  Köpfe,  mit  denen  ein  Grundmotiv: 
wie  der  wildere  Zethos  das  bereits  an  den  Stier  ge¬ 
fesselte  Weib  am  Haare  zurückriss,  verloren  blieb. 
Dies  erschloss  Otfried  Müller  aus  der  genauen  Nach¬ 
bildung  der  Gruppe  auf  dem  leider  fragmentierten 
Cameo  zu  Neapel  und  der  freieren,  aber  vollständigen 
auf  der  unter  Septimus  Severus  geprägten  Grossbronze 
von  Thyateira  in  Lydien,  welche  beide  unsere  Abb.  1 1 
und  12  mit  dem  Marmor  (Abb.  13)  zu  vergleichen  ge¬ 
statten  -). 

Doch  auch  die  antiken  Teile  stimmen  gar  übel 
zu  den  Ansprüchen,  womit  wir  an  ein  Originalwerk 
hellenistischer  Virtuosen  heranzutreten  befugt  sind. 
Wie  solche  zumal  im  Drange  der  Konkurrenz  ihres 
Zusammenströmens  nach  der  reichen  verwöhnten 
Weltstadt  Rhodos,  das  uns  Hiller  von  Gärtringen  aus 
den  Inschriften  so  anschaulich  gemacht  hat’"),  den 
Meissei  zu  führen  wussten,  zeigt  ja  der  Laokoon,  den 
mit  Karl  Robert  in  der  flavischen  Zeit  unterzu¬ 
bringen  mir  um  so  weniger  möglich  wird,  je 
klarer  ich  an  der  Hand  Wickhoff’s’’)  und  über  ihn 
hinaus,  zumal  am  Architekturornamente,  die  ganz 
anders  geartete  Grösse  ihrer  Kunstweise  zu  begreifen 
glaube.  Mit  diesem  Werke  verglichen  kann  die  Arbeit 
des  Stieres  nur  höchst  minderwertig  erscheinen.  Am 
augenfälligsten  ist  dies  vielleicht  an  den  Bäumen  und 
Tieren  der  Felsenplinthe,  von  denen  die  Abbildungen 
—  durchweg  nach  Photographien  der  Dresdener 
Skulpturensammlung  hergestellt  —  besonders  4,  kaum 
der  Erläuterung  bedürftige  Proben  liefern;  das  er¬ 
innert  mehr  an  geringes  Spielzeug,  als  an  die  köst¬ 
lich  frischen  Meisterstücke  der  Ara  Pacis  und  der 
grimanischen  Reliefs'").  Doch  auch  die  Hauptfiguren 
zeigen,  besonders  greifbar  in  den  virtuos  angelegten 
Draperien  und  ähnlichen  Einzelheiten,  eine  leblosere, 
geringere  Mache,  wie  selbst  gute  Kopien,  etwa  die  von 
Michaelis  richtig  mit  Dirke  verglichene  Ariadne ').  Und 
was  treibt  uns  denn  eigentlich,  ein  so  mittelmässig 
ausgeführtes  Exemplar  den  eigenen  Händen  der 
Meister  aus  Tralles  zuzuschreiben?  Nichts  als  dasselbe 
»Vorurteil  der  Wahrscheinlichkeit«,  wonach  zum  Bei¬ 
spiel  der  einzige  Apoxyomenos  der  römischen  Museen 
für  das  lysippische  Original  gelten  dürfte,  wüssten 
wir  nicht  zufällig,  dass  es  aus  Bronze  war.  Nein, 
die  in  den  Caracallathermen  gefundene  Stiergruppe 
ist  nichts  als  eine  römische  Kopistenarbeit,  wie  nach 
älteren  Schriftstellern  Friederichs  und  Wolters  geahnt, 
M.  G.  Zimmermann  bestimmt  ausgesprochen  hat^)  und 


172 


DER  FARNESISCHE  STIER 


Abb.  I 


Abb.  2 


wiederholte  Betrachtung  jeden  Kundigen  überzeugen 
wird. 

Aber  diese  beiden  nur  allzu  gewöhnlichen  Arten 
der  Entstellung  vermögen  doch  sonst  nicht,  die 
mächtige,  von  den  Hauptlinien  ausgehende  Wirkung 
echter  alter  Meisterwerke  ganz  aufzuheben.  Wie 
steht  es  damit  bei  der  farnesischen  Gruppe?  Sogar 
Welcher,  der  begeisterte  Herold  ihrer  ethisch-poetischen 
wie  künstlerischen  Berechtigung,  kann  nicht  umhin 
zu  gestehen,  '>auf  den  ersten  Blick  mache  sie  immer 
den  Eindruck  einer  verworrenen  aufgehäuften  Masse«''). 
Doch  verkehrt  sich  ihm  dieser  Tadel  alsbald  in  eitel 
Lob:  »Aber  bewundernswürdig  ist  es,  sobald  man 
nun  zu  unterscheiden  anfängt,  wie  sie  dann  von 
jedem  Punkt  aus,  den  man  im  Herumgehen  einnehmen 
mag,  nur  wohl  zusammengehende  Linien  darbietet 
und  von  jeder  Seite  eine  Ansicht  gewährt,  ein  Ganzes 
macht,  das  man  für  eine  selbständige  Komposition 
nehmen  möchte  . 

So  oft  diese  und  andere  Worte  des  edlen,  alten 
vates«  nachgesprochen  oder  variiert  sind,  sogar  von 
Brunn,  wenngleich  von  diesem  mit  leisem  Miss¬ 
behagen^"),  so  gewiss  können  sie  nüchtern  prüfenden 
Blicken  nur  bestätigen,  was  derselbe  grosse  Schüler 
von  jenem  gesagt  hat:  »Das  Auge  war  bei  ihm  nicht 
für  äussere  scharfe  Beobachtung  gemacht,  nicht 
fixierend,  sondern  poetisch  schauend,  oder  etwa  die 
äusseren  Eindrücke  so  weit  in  sich  aufnehmend,  wie 
sie  sich  mit  seinen  inneren  Anschauungen  verbanden «^^). 
Oder  soll  es  noch  ein  gewolltes  Ganzes  vorstellen, 
wenn  in  Ansichten  wie  Abb.  4  von  dem  kompakten 


Gliederwirrsal  der  eigentlichen  Gruppe  die  Einzelfigur 
wie  ein  Pfahl  losgelöst  dasteht? 

Doch  bescheiden  wir  uns  einmal  bei  den  vier 
Standpunkten,  die  der  Bildhauer  selbst  uns  durch  das 
naturwidrige  Quadrat  seines  Berges  anweist.  Da 
sehen  wir  an  der  Rückseite  eigentlich  nur  zwei  sehr 
verschiedene,  fast  gleich  nichtssagende  Hinterteile  und 
einen  Baumtronk  unverbunden  nebeneinander.  Dass 
von  rechts  nicht  viel  mehr  des  wesentlichen  und 
Antiope’s  Isolierung  nur  wenig  gemildert  erscheint, 
lässt  sich  nach  Abb.  4  leicht  ausdenken.  Nur  von 
links  (Abb.  2)  und  von  vorne  gesehen  (Abb.  1)  baut 
sich  etwas  wie  ein  Ganzes  von  geschlossenem  Um¬ 
riss,  dort  mehr  in  rechtwinkeligem,  hier  in  etwa 
gleichseitigem  Dreieck  auf.  Aber  selbst  in  der  für  die 
neuesten  AbbildungeiU-)  meist  bevorzugten  Front¬ 
ansicht  wirkt  die  Gruppe  nur  »wie  ein  aus  Menschen 
und  Tieren  aufgeführtes  kühnes  Gebäude«  (Friederichs), 
das  heisst  allenfalls,  auch  dies  nur  ganz  äusserlich 
betrachtet,  tektonisch,  nicht  plastisch  befriedigend,  weil 
uns  ein  Hauptträger  der  Aktion,  Zethos  —  von  links 
her  Amphion  —  grössten  Teils  vorenthalten  bleibt. 

So  gelangt  man  notwendig  zu  dem  ungünstigen 
Gesamturteil,  etwa  wie  Friederichs  und  Wolters  es 
aussprachen:  die  Gruppe  »hat  etwas  Unruhiges,  über¬ 
all  durchschneiden  sich  die  verschiedenen  Umrisslinien, 
und  nirgends  erhalten  wir  ein  klares  abgeschlossenes 
Gesamtbild«^^),  oder  wie  es  Adolf  Hildebrand  im 
Zusammenhänge  seiner  Theorie  fasst:  »Es  ist  nur 
die  Handlung,  der  Vorgang,  welcher  die  plasti¬ 
schen  Teile  zusammenhält,  nicht  der  Eindruck  einer 


DER  FARNESISCHE  STIER 


173 


geschlossenen  Raumeinheit«  **).  Diesem  Mangel, 
falls  er  besteht,  vermöchte  keines  von  den  vorge¬ 
schlagenen  Mitteln  abzuhelfen.  Die  jüngst  wieder 
von  Michaelis'®)  empfohlene  »freie  Aufstellung  auf 
einem  weiten  Platze,  wie  vor  der  Orangerie  in  Sans¬ 
souci«,  das  heisst  für  Fern  Wirkung,  brächte  nur  den 
tektonischen  Vorzug  einiger  Ansichten,  unter  Preis¬ 
gabe  des  reichen  plastischen  Inhalts  zur  Geltung. 
Und  die  von  Karl  Dilthey  vermutete  Erhöhung  auf 
der  Felspartie  irgend  eines  rhodischen  Parks'*'),  schon 
nach  dieser  ganzen  Voraussetzung  sehr  fragwürdig 
und  durch  Analogien  nur  aus  spätrömischen  Autoren 
belegt,  ergäbe,  wie  mich  unser  aus  Raumnot  2,10  Meter 
hoch  gestellter  Abguss  lehrt,  nichts  wie  vermehrte 
Unklarheiten. 

Indes  alle  Klagen  bestehen  nur  zu  Recht,  so  lange 
der  quadratische  Grundriss  dieser  römischen  Kopie 
als  massgebende  Weisung  anerkannt  wird.  Wer 
darüber  hinweg  mit  eigenen  Augen  zu  suchen  wagt, 
der  findet  alsbald  auch  hier,  was  allen  antiken  Gruppen, 
sogar  den  gegenständlich  wildesten,  den  Stempel  bild- 
mässigerGeschlossenheit  aufprägt:  »eine  Ansicht,  welche 
die  wesentlichen  Teile  vollzählig  und  in  voller  Klarheit 
innerhalb  ihrer  Motive  vereinigt«,  um  Emanuel  Löwy’s 
Worte  zu  gebrauchen''').  Wie  vor  ihm  grundsätz¬ 
lich  übereinstimmend,  in  der  bildlichen  Fassung  sogar 
meistens  richtiger,  O.  Müller,  Clarac,  O.  Jahn,  Friede- 
richs,  Overbeck,  M.  G.  Zimmermann  und  andere,  noch 
früher  die  Stecher  der  Renaissance,  vor  allen  aber 
die  Urheber  der  antiken  Nachbildungen  (Abb.  11.  12) 
gesehen  haben,  ist  für  unsere  Gruppe  dieser  er¬ 
schöpfende,  geringe  Latitude  abgerechnet,  einzige 
Standpunkt  derjenige,  von  dem  aus  Stier  und  Dirke 
die  Mitte  zwischen  den  symmetrisch  zusammenwirken¬ 
den  Brüdern  einnehmen,  fast  genau  in  der  Diagonale 
des  Quadrats'®)  (Abb.  13). 

Aber  wo  bleibt  dabei  Antiope?  Ist  wirklich  mit 
älteren  Abbildungen,  nach  einem  Fensterchen  zu 
spähen,  um  wenigstens  einen  verstohlenen  Blick  von 
ihr  zu  erhaschen?  Nein  sie  bleibt  dort,  wo  sie  hin¬ 
gehört:  weg,  als  der  sichere  Kopistenzusatz,  der  sie 
ist.  Ein  richtiges  Gefühl  davon  verlockte  den  nur 
nach  Stichen  urteilenden  alten  Heyne,  sie  für  modern 
zu  halten"*).  Und  O.  Müller  hat,  auch  nachdem  er 
sich  durch  wiederholte  Prüfung  des  Originals  vom 
Gegenteil  überzeugt  haben  musste,  sie  doch  kurzer 
Hand  abgethan  als  »der  Bestrafung  Dirke’s  durchaus 
fremd  und  vielleicht  ursprünglich  nicht  zugehörig«. 
Über  diesen  nicht  bis  zu  Ende  gedachten  Gedanken 
siegte  .jedoch  Welcker,  trotz  leisen  Zweifeln  von 
Jahn,  Brunn  und  Friederichs,  nur  allzu  leicht  und 
dauernd  mit  dem  Einspruch,  »dass  vielmehr  ohne  sie 
die  Handlung  in  ihrem  eigentlichen  Zusammenhang 
und  Charakter  sich  gar  nicht  vollständig  darstellen 
lässt  und  dass  der  Erfinder  der  Gruppe,  der  die 
Antiope  des  Euripides  vor  Augen  hatte,  sie  in  einer 
so  reichen  Komposition  wie  diese  unmöglich  auslassen 
konnte«.  Aber  der  Zusammenhang  des  grausigen 
Strafgerichtes  war  ja  hier,  so  gut  wie  bei  den  Niobiden 
und  dem  Laokoon,  jedem  Kinde  schon  aus  seinem 
mythologischen  Schulbuche  vertraut.  Und  der  Künst¬ 


ler,  der  sie  trotzdem  nicht  entbehren  mochte,  hatte 
die  Pflicht,  Antiope  mit  in  den  Verband  der  Hand¬ 
lung  einzufügen,  ln  einem  der  Reliefs  am  Tempel 
der  pergamenischen  Königin  Apollonis  in  Kyzikos 
flehte  die  von  den  Söhnen  bereits  an  den  Stier  ge¬ 
fesselte  Dirke  zu  ihr  um  Gnade  “**).  Auch  ein  pom- 
pejanisches  Wandgemälde'")  (Abb.  3)  lässt  die  Mutter 
von  Mitleid  ergriffen  zwischen  den  einen  Sohn  und 
die  Feindin  treten,  obgleich  es  die  Gruppe  der  Letz¬ 
teren  einem  älteren  Rundwerke  nachbildet,  von  dem 
noch  die  Rede  sein  wird  (Abb.  6).  ln  einem  apulischen 
Vasenbild  eilt  sie  hinweg  von  den  Rachethaten  ihrer 
Kinder-*').  Sogar  unweiblich,  nach  Art  euripideischer 
Furien  dazu  aneifernd  oder  ihre  Zustimmung  äussernd, 
wäre  sie  erträglicher,  wie  als  müssig  seitab  stehende 
Zuschauerin.  Wie  sie  zur  bildnerischen  Einheit  der 
Gruppe  steht,  sagt  Abb.  4  besser  als  Worte. 

Das  alles  den  genialen  Schöpfern  einer  so  kühnen 
Komposition  aufzubürden,  entfällt  jeder  Anlass,  nach¬ 
dem  das  vor  uns  stehende  Exemplar  auf  anderem 
Weg  als  Kopie  erkannt  ist.  Und  als  rechte  Kopisten- 
zuthat  vollends  entlarvt  wird  die  Statistin  endlich 
durch  wenigstens  vier  selbständige  Wiederholungen 
desselben  statuarischen  Typus,  von  denen  eine,  in 
den  Uffizien  stehende,  hier  abgebildet  ist-®)  (Abb.  5). 
In  etwas  älterer  Fassung,  mit  willkürlich  verändertem 
Oberkörper  und  Kopfe,  hat  ihn  ein  geistesverwandter 
Bildhauer  in  der  Neapeler  Gruppe  mit  dem  Stephanos- 
jüngling  verkuppelt^'). 


DER  FARNESISCHE  STIER 


Abb.  4. 


Antiope  fehlt  also  nicht  von  ungefähr  in  den 
antiken  Nachbildungen  der  Gruppe  und,  was  auch  schon 
Heyne  geltend  machte,  bei  Plinius  in  der  lakonischen 
Beschreibung  des  Originals:  Zethus  et  Amphion  acDirce 
et  taurus  vinculumque  ex  eodem  lapide,  wo  nament¬ 
lich  dieses  beim  Laokoon  wiederkehrende  Lob  Voll¬ 
ständigkeit  der  Aufzählung  zwingend  voraussetzt 


Mit  Antiope  fällt  der  eigentliche  Stein  des  An- 
stosses,  der  quadratische  Grundriss,  in  welchen  der 
Kopist  die  Gruppe  hineinzwängte,  um  sie  zum 
Mittelstück  eines  Raumes,  wenn  die  Durchbohrung 
des  Stiertronks  antik  ist,  zu  etwas  wie  einem  Brunnen- 
aufsatze  tauglich  zu  machen.  Dabei  hat  er  die 
Spuren  der  einstigen  Orientierung  nicht  ganz  getilgt. 


DER  FARNESISCHE  STIER 


175 


Der  Abhang  hinter  Amphion  und  dem  Stier  ist,  als 
Hypotenuse  die  dreieckige  Standfläche  der  Figurantin 
abschneidend  (Abb.  4),  unverkennbar  ein  Rest  des 
einstigen  hinteren  Plinthenrandes,  auf  den  die  Blick¬ 
richtung  der  Hauptansicht  ungefähr  im  rechten  Winkel 
trifft.  Und  vorne  geht  ihm  parallel  die  Bodenstufe,  worauf 
Dirke  sitzt  (Abb.  13).  Ihre  ursprüngliche  Fortsetzung 
nach  rechts  bezeichnet  die  Gewandpartie,  die  jetzt 
so  unwahrscheinlich  zufällig  über  die  runde  Ciste 
herabhängt  und  deren  aufdringlich  detailliertes  Flecht¬ 
werk  nach  dem  richtigen  Standpunkte  hin  gänzlich 

verbirgt.  —  Dass  auch 
beiderseits  unter  den 
Füssen  der  Brüder  der 
Felsboden  sich  ursprüng¬ 
lich  etwas  weiter  nach 
vorn  erstreckt  haben 
muss,  ist  namentlich  beim 
Amphion  klar.  »Wir 
verstehen  weder,  wie  der 
Jüngling  bei  dem  hefti¬ 
gen  Kampfe  mit  dem 
Tiere  auf  zwei  so  hohe 
[und  gar  so  dünne]  Fels¬ 
zacken  hat  gelangen  kön¬ 
nen,  noch  wie  er  sich 
jetzt  dort  zu  halten  ver¬ 
mag«  (Wolters).  Im 
Originale  war  seine  Stand¬ 
fläche  gewiss  breiter  und 
einheitlicher.  Die  Grube 
zwischen  den  Füssen  des 
Jünglings  schuf  dem 
Kopisten  nur  mehr  Raum 
für  dessen  Leier,  welche 
die  sonstigen  Darstellun¬ 
gen  des  Vorgangs  mit 
Recht  aus  diesem  wilden 
Spiele  lassen.  Sie  verrät 
sich  als  Zuthat  noch  da¬ 
durch,  dass  sie  genau 
nach  der  neuen  Vorder¬ 
ansicht  Front  macht  (Abb.  1)  und  an  dem  künstlerisch 
gar  nicht  vorhandenen  Tronk  lehnt.  Mit  diesem  Not¬ 
behelfe  könnten  übrigens  Apollonios  und  Tauriskos 
etwas  sparsamer  umgegangen  sein.  Wie  viel  ohne 
ihn  möglich  war,  lehrt  die  weiter  unten  erwähnte 
Jacobsen’sche  Originalgruppe. 

Die  schwanke  Stellung  Amphion’s  auf  solchem 
Boden  wirkt  um  so  peinlicher,  als  sie  zugleich  den 
Burschen  zu  seinen  Füssen  ernstlich  bedroht  (Abb.  13). 
Wer  ist  das  und  was  sucht  er  hier?  Mit  Levezow  und 
Jahn  vermutet  Friederichs  in  ihm  »den  Gott  des  Berges, 
denn  allerdings  nur  ein  solches  Wesen,  das  am  Boden 
haftet,  wie  Fluss-  und  Berggötter,  kann  bei  diesem 
Schauspiel  ruhig  dasitzen«.  Thatsächlich  ist,  im  Wider¬ 
spruche  mit  seiner  Natur,  der  Kithairon  auch  als  Jüng¬ 
ling  gedacht  worden.  Und  die  nach  Abzug  von 
Kopftypus  und  Pinienkranz  genau  mit  Dionysos¬ 
bildungen,  wie  auf  einem  athenischen  Relief^"),  über¬ 
einstimmende  Erscheinung  könnte  ihn  bezeichnen  als 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  7. 


Teilnehmer  des  bacchischen  Festes,  an  dem  das  Er¬ 
eignis  stattfindet.  Aber  dem  grossen  Monumentalstile 
des  Werkes  gemäss  wäre  nur  dieselbe  Gleichstellung 
der  zuschauenden  Ortsgottheit  mit  den  übrigen  Ge¬ 
stalten,  wie  sie  dem  mutmasslichen  Kaukasos  in  der 
etwas  älteren  Prometheusgruppe  von  Pergamon,  falls 
er  wirklich  dazu  gehört,  zu  Teil  geworden  ist-*). 
Unser  winziges  Kerlchen  aber  kann  wieder  erst  der 
römische  Bildhauer  aus  dem  dadurch  so  masslos  dünn 
gewordenen  Felsen  herausgeholt  haben,  gleich  der 
Antiope  nach  einem  guten  Vorbilde,  welches  jenem 
Dionysosrelief  ähnlich  war,  nur  mit  Hinzufügung 
der  im  Verhältnis  zu  seiner  ruhigen  Haltung  stark 
übertriebenen,  von  Winckelmann  richtig  mit  dem 
ältern  Laokoonsohne  verglichenen  Schmerzensmiene -■'). 
Welcher  traf  unbewusst  das  Rechte,  wenn  er  die  Figur 
angebracht  fand  »wie  neben  einer  Statue  ein  Attribut 
am  Tronk«.  Ihr  Zweck  ist  offenbar,  in  der  neuen 
Vorderansicht  (Abb.  i)  dem  links  herabhangenden 
Beine  Dirke’s  die  Wage  zu  halten. 

Diese  weitere  Zuthat  gehört  zusammen  mit  dem 
ganzen  Paradeisos  voll  allem  erdenklichen  Getier  in 
den  verschiedensten  Proportionen  und  Situationen, 
welche  der  Kopist  auf  den  drei  anderen  Hängen 
seines  quadratischen  Berges  ausgebreitet  hat*'*).  Auch 
ihn  fand  schon  Heyne  sehr  richtig  des  alten  Kunst¬ 
werks  unwürdig.  Dass  »diese  kleinliche  und  über¬ 
ladene  Ausstaffierung«  (Dilthey)  gewänne,  wenn  der 
schlecht  nachgeahmte  Fels  hoch  auf  wirklichen  auf¬ 
gesetzt  würde  —  was  schon  oben  aus  anderen  Gründen 
abzulehnen  war  ist  schwer  zu  glauben.  Diese 
eigentlich  nur  von  Welcher  matt  genug  verteidigte 
Leistung  weiter  dem  Apollonios  und  Tauriskos  auf¬ 
zubürden,  ist  jetzt  um  so  weniger  ein  Grund,  wenn 
Wickhoff  richtig  das  selbständige  Landschaftsrelief 
mit  Tierstaffage  aus  der  hellenistischen  Periode  hinaus¬ 
gewiesen  hat.  Das  einschlägige  Hauptwerk  der  letzteren, 
der  Telephosfries,  verrät  ja  zwar  eine  mächtige  Er¬ 
weiterung  des  landschaftlichen  Wollens  und  Könnens 
im  Vergleiche  zu  den  klassischen  Jahrhunderten,  aber 
er  beschränkt  sich  noch  streng  auf  das,  was  zur  Ver¬ 
anschaulichung  des  Schauplatzes  nötig  ist,  sogar  ohne 
grosse  Lücken  zu  scheuen*^).  Dagegen  finden  sich 
Felspartien  nach  Art  unserer  Plinthe  mit  allem,  was 
darauf  wächst  und  lebt,  bis  zu  den  kleinen  Orts¬ 
gottheiten,  sowie  dieselben  Staffagestücke,  die  ge¬ 
flochtene  Ciste  und  der  Thyrsos,  dessen  Spitze  den 
Pinienzapfen  durchbohrt,  ganz  ähnlich,  nur  in  kleinem 
Massstabe  viel  erfreulicher,  in  spätantoninischen  Sar¬ 
kophagreliefs  wieder*-). 

Für  die  Hauptansicht  ist  das  alles  überflüssig  oder 
störend.  Beiderseits  von  dem  festonartig  herab¬ 
wallenden  Gewände  Dirke’s,  besonders  an  den  Ecken, 
verlangt  das  Auge  ruhigen,  festen  Grund  zu  sehen. 
Rechts  aber,  wo  er  sich  zu  weit  dehnen  würde,  über¬ 
schneidet  ihn  der  ex  unguibus  sicher  ergänzte  Hund. 
Er  ist,  wie  diesmal  Welcher  mit  Recht  gegen  Heyne 
bemerkte,  sachlich  am  Platz  als  der  auch  im  Spada¬ 
relief**)  zur  Charakteristik  des  Zethos  verwandte  Ge¬ 
nosse  des  rauhen  Jägers,  dessen  Beginnen  fördernd  er 
nach  Art  von  Metzgerhunden  den  Stier  von  vorn  an- 

23 


DER  FARNESISCHE  STIER 


1  76 


Abb.  ö.  Kleine  Mannorgnippe 
Rom,  Via  Margutta 


belli,  um  ihn  zurücklialten  zu  helfen.  Seinesgleichen 
und  andere  Tiere  wirken  ja  auch  im  pergamenischen 
Gigantenkampfe  mit  den  Herren  zusammen.  Seine 
künstlerische  Notwendigkeit  wird  sich  uns  später 
heraussteilen. 

Die  hier  vorerst  bloss  mit  Worten  angedeutete 
Säuberung  des  Meisterwerkes  von  alle  dem,  was 
der  römische  Kopist  ihm  angeheftet,  sowie  die 
schwierigere  Herstellung  dessen,  was  er  und  der 
neuere  Ergänzer  verfälscht  haben,  am  Abgusse  wenig¬ 
stens  einer  modernen  Reduktion  gründlich  durchzu¬ 
führen,  ist  eine  würdige  Aufgabe  derjenigen  Art  plasti¬ 
scher  Chirurgie,  die  mit  frischem  Mut  und  schönen 
Erfolgen  in  früher  unerhörtem  Mass  anzuwenden  eine 
der  vorbildlichen  Seiten  Ihrer  Dresdner  Museums¬ 
verwaltung  ist.  Auch  jetzt  indes  kann  der  von 
falschen  Ergänzungen  abzusehen  geübte  vom  richtigen 
Standpunkt  aus  ahnen,  wie  Herrliches  die  Meister 
von  Tralles  geschaffen  haben.  Dies  mit  Benutzung 
alles  von  Vorgängern  Dargelegten,  aber  zeitgemäss  voll¬ 
ständiger  auszusprechen,  lassen  Sie  mich  zum  Schlüsse 
versuchen.  Sie  wissen  ja,  dass  mir  die  Geschichte 
der  statuarischen  Gruppe  besonders  am  Herzen  liegt, 
seit  mir  die  schöne  Aufgabe  zu  Teil  geworden,  das 
heilige  Original  einer  neuen  aus  der  Zeit  etwa  der 
Niobiden:  Artemis  mit  dem  Hirsche  zur  Rettung 
Iphigeniens  herbeikommend,  aus  zwei  Torsen  Dr.  Karl 
Jacobsen’s  in  Kopenhagen  und  vielen  mühsam  wieder¬ 
gefundenen  oder  nachträglich  ausgegrabenen  Bruch¬ 
stücken  aufzubauen 

Der  Gegenstand  der  Stiergruppe  ist  eine  Sage, 
mit  deren  Grausamkeit  wir  nicht  zu  rechten  haben. 
Sie  wird,  gleich  vielem  Ähnlichen,  in  alten  religiösen 
Vorstellungen  wurzeln.  Die  vom  Stiere  geschleifte 
Quellgöttin  Dirke  gehört  vermutlich  neben  den  Quell¬ 
dämon  Silen,  mit  dem  der  Mannstier  Acheloos 
und  in  grösserem  Abstande  neben  den  Sonnen¬ 
gott  Mithra,  mit  dem  der  Vegetationsstier  durch- 
geht'^*').  Vermenschlicht  und  mit  dem  Sagenkreise 
der  thebanischen  Brüder  verknüpft  wurde  diese  Vor¬ 
stellung  zum  furchtbaren  Schlusseffekt  einer  Novelle, 
welchen  die  Poesie,  namentlich  Euripides,  romantisch 
und  ethisch  soweit  verklärte,  die  Kunst  den  Augen 
so  geläufig  machte,  dass  ihn  König  Attalos  II.  von 


Pergamon  am  Tempel  seiner  edlen  Mutter  Apollonis 
ln  Kyzikos  unter  den  Beispielen  von  »philometria« 
darstellen  Hess.  Unter  den  von  Jahn  und  Dilthey^') 
trefflich  gesammelten  und  geordneten  Bildwerken 
zeigen  die  dem  Werke  des  Apollonios  und  Tauriskos 
vorausliegenden  oder  sonst  unabhängigen  wesentlich 
zwei  Momente  des  Vorgangs. 

Zuerst  griff  die  Kunst  nach  dem  bezeichnenden 
Schlussakte,  dem  Keim  der  Sage.  Allein  das  mit 
Dirke  hinrasende  Tier  wirkt  nur  als  brutales  Elementar¬ 
ereignis,  ohne  die  Bedeutung  des  Vorgangs  als  Straf¬ 
gericht  anschaulich  zu  machen,  selbst  wenn  Neben¬ 
figuren  sie  dem  Wissenden  ins  Gedächtnis  rufen. 
Dennoch  ist,  wie  beim  Laokoon,  auch  er  zum  Gegen¬ 
stand  einer  statuarischen  Darstellung  geworden,  in 
dem  Originale  der  an  Skopas  erinnernden  kleinen 
Gruppe  zu  Rom,  deren  Kenntnis  Heinrich  Bulle  ver¬ 
dankt  wird'^^)  (Abb.  6).  Richtig  wählte  ihr  Schöpfer 
nicht  die  flüchtige  Bewegung,  sondern  ihren  ruhigen 
Ausgangspunkt,  wo  dem  phlegmatischen  Buckelochsen 
die  hilflos  an  ihm  herabhangende,  mit  der  Linken  an 
der  Fessel  Halt  suchende  Frau  lästig  zu  werden  be¬ 
ginnt,  dass  er  stutzend  den  Kopf  senkt  und  mit  dem 
Schwänze  den  Rücken  schlägt.  Es  ist  die  angstvolle 
Rühe  vor  dem  Losbrechen,  ein  »Ethos«  im  strengen 
klassischen  Geschmack. 

Je  grösseren  Raum  aber  das  bewegte  Pathos  ge¬ 
wann,  um  so  mehr  drängte  die  furchtbare  Vergeltungs- 
that  selbst  zur  Darstellung.  Der  empörende  Anblick 
starker  Männer,  die  ein  schwaches,  nur  aus  der  Dichtung 
als  schuldig  bekanntes  Weib  so  grässlichem  Tode 
preisgeben,  ward  erträglich  durch  die  für  Griechen 
vermöge  tausendjähriger  Überlieferung  noch  ganz 
anders  als  für  uns  erhebende  Leistung  »des  helden¬ 
haften  Kampfes  mit  dem  Stiere« ,  die  nicht  bloss 
»Leiden  und  Mitleiden  zurücktreten«  lässt  (Dilthey), 
sondern  in  ihrer  gefahrverachtenden  Kühnheit  selbst 
dem  Unkundigen  dafür  bürgt,  dass  es  eine  Leiden¬ 
schaft  von  mächtigem  Ernst  ist,  was  so  edle  Jüng¬ 
linge  zu  solchem  Thun  antreibt.  Dies  war  auch  das 
Thema  des  Reliefs  am  Tempel  der  Apollonis,  wo 
freilich  die  Gegenwart  der  Mutter  noch  bestimmter 
an  die  sittliche  Begründung  des  Strafgerichts  erinnerte 
(S.  173  r.).  Unter  den  erhaltenen  Darstellungen,  soweit 
sie  von  unserer  Gruppe  unbeeinflusst  sind,  fehlt  von 
ihren  Motiven  kaum  eines  ganz.  Aber  wie  sie  in 
ihr,  soviel  bekannt  zum  ersten  Male,  von  der  Fläche 
losgelöst  in  voller  Körperlichkeit  ineinandergreifen, 
das  ist  eine  Neuschöpfung  von  unwiderstehlicher 
Überzeugungskraft. 

Das  königliche  Weib,  gleich  den  Lapithenmädchen 
in  den  Ecken  des  olympischen  Westgiebels  vom 
früheren  Widerstreben  halb  entblösst,  ist  —  so  lehrten 
uns  die  kleinen  Nachbildungen  —  bereits  an  den 
Stier  gefesselt  und  niedergeworfen  auf  den  Boden, 
über  den  er  sie  hinschleifen  wird.  Haltlos  hängt  der 
linke  Fuss  den  Felsrand  hinab,  an  dem  der  rechte 
mit  vergeblicher  Anstrengung  noch  Stand  zu  fassen 
sucht.  Denn  mit  eisernem  Griffe  seiner  Linken  hält 
sie  der  wilde  Zethos  am  Haare  nieder,  während  die 
rechte  Hand  noch  die  letzte  Schleife  festzieht.  Aber 


DER  FARNESISCHE  STIER 


177 


Abb.  7.  Laokoon  ohne  die  Ergänzungen 

angefügte  Glieder,  Werkzeuge,  Waffen,  Attribute  jeder 
Art  —  wozu  selbst  kleine  Nebenfiguren,  wie  das 
Kind  auf  dem  Arme  der  Eirene  und  des  Hermes, 
zählen  können  — ,  ohne  seine  körperliche  Einheit  zu 
stören.  Und  darüber  hinaus  kann  er  sich  vorüber¬ 
gehend  mit  anderen  ähnlichen  Wesen,  sei  es  in  Gleich¬ 
berechtigung,  sei  es  in  Über-  und  Unterordnung,  ver¬ 
binden  zu  einem  neuen,  komplizierten  Mechanismus 
von  mehr  oder  minder  enger  Geschlossenheit,  worin 
ähnlich  wie  im  Einzelleibe,  nur  mannigfaltiger,  ver¬ 
schiedene  Kräfte  zusammen  und  gegeneinander  wirken. 
Ist  nun  so  ein  zusammengesetzer  Mechanismus  in 
Ruhe  oder  innerhalb  seiner  Bewegung  in  einem  Gleich¬ 
gewichtszustände  von  hinreichender  Dauer  sichtbar, 
also  auch  vorstellbar,  dann  bildet  er  den  Gegenstand 
einer  plastischen  Gruppe  im  vollsten  Sinne  des  Wortes. 
Dass  letzteres  auf  unseren  Eall  zutrifft,  erhellt  aus  dem 
bereits  gesagten. 

Aber  nun  gilt  es  erst,  »die  Einheit  der  Funktions¬ 
werte  als  Einheit  der  Raumwerte  zu  fassen«  (Hilde¬ 
brand  S.  104);  denn  »eine  Gruppe  im  künstlerischen 
Sinne  beruht  nicht  auf  einem  Zusammenhänge,  der 
durch  den  Vorgang  entsteht,  sondern  muss  ein  Er¬ 
scheinungszusammenhang  sein,  welcher  sich  als  ideelle 
Raumeinheit  gegenüber  dem  realen  Lufträume  be¬ 
hauptet«  (S.  108).  Damit  meint  bekanntlich  Hilde¬ 
brand  die  Einigung  der  dreidimensionalen  Körperlich¬ 
keit  in  der  Reliefanschauung  des  zweidimensionalen 
Fernbildes.  Ob  diese  Forderung  seiner  scharf  durch- 


das  scheuende  Tier  bräche  zu  früh  los, 
wenn  nicht,  von  dem  bellend  anspringen¬ 
den  Hund  unterstützt,  Amphion  mit  Zu¬ 
griffe  und,  auf  höhern  Felsabsatz  empor¬ 
gesprungen,  es  am  Horn  und  der  em¬ 
pfindlichen  Schnauze  zurückhielte.  Dem 
so  scheinbar  das  Verderben  im  letzten 
Augenblicke  noch  hemmenden,  mildern 
Bruder  wendet  sich  Dirke  mit  letztem 
jammernden  Gnadeflehen  erfolglos  zu. 

»Es  ist  wie  eine  Mine,  die  im  Losgehen 
begriffen  ist«  (Welcher);  und  »dennoch 
bleibt  der  beflügelten  Einbildungskraft 
zwischen  dem  veranschaulichten  Moment 
und  der  Verwirklichung  des  Entsetzlichen 
noch  eben  Raum  genug«  (Dilthey). 

Diese  letzte  Pause  innerhalb  der  atem¬ 
los  verwärtsstürzenden  Handlung  hat  auch 
statisch  betrachtet  hinreichenden  Bestand, 
um  ihr  Festhalten  im  Rundwerke  glaub¬ 
lich  erscheinen  zu  lassen.  Dennoch 
ist  die  Gruppe  wiederholt,  zuletzt  mit 
besonderem  Nachdruck  von  CoIIignon, 
malerisch  genannt  worden.  Davon  bleibt, 
auch  nach  Entfernung  all  der  Kopisten¬ 
staffage  der  Plinthe,  so  viel  bestehen,  dass 
sie  anstatt  des  ursprünglichen  ebenen 
Idealbodens  der  Plastik  drei  verschie 
dene  Terrainstufen  benützt;  die  oberste, 
noch  in  sich  von  den  Hinterhufen  des 
Stieres  zu  den  Füssen  Amphion’s  stark 
ansteigende;  die  mittlere,  worauf  Zethos 
steht  und  Dirke  sitzt;  die  tiefste,  ursprünglich 
wohl  mit  der  Oberkante  der  Basis  zusammenfallende, 
wo  der  Hund  steht  und  Dirkes  linker  Fuss  hinab¬ 
hängt.  Die  Gestaltung  dieser  drei  Absätze  war  im 
Originale  gewiss  einfacher  als  in  der  Kopie.  Immer 
freilich  gehörten  sie  zu  den  Naturformen,  die  in  der 
Malerei  ganz  anders  zu  Hause  sind,  wie  in  der  Plastik. 
Aber  darum  sind  sie  ihrem  Wesen  nach  noch  nicht 
schlechthin  unplastisch  und  der  Zweck,  dem  sie  hier 
dienen,  ist  es  auch  nicht  recht.  Sie  taugen  nämlich 
schlecht  dazu,  gleich  dem  Fels  der  Antiochia  von 
Eutychides'^®)  oder  dem  Altar  des  Laokoon,  den  un¬ 
mittelbaren  Schauplatz  anzudeuten;  so  steil  abfallende 
Stufen  sind  doch  kein  Boden,  über  den  ein  Stier  hin¬ 
rasen  könnte,  weshalb  ihm  denn  auch  von  der  Gruppe 
nicht  abhängige  Wandgemälde  (Abb.  3)  glattere  Lauf¬ 
bahn  geben und  die  Beschreibung  des  kyzikenischen 
Reliefs  nur  von  Buschwerk  spricht.  Dagegen  wirklich 
zweckmässig,  ja  unentbehrlich  sind  sie  für  den  Hoch¬ 
bau  der  Figuren  über-  und  untereinander.  Dessen 
Fügung  aber  fällt  meines  Erachtens  im  wesentlichen 
unter  den  Begriff  der  plastischen  Gruppe,  über  den 
ja  neuerdings  wieder  mehrfach  verhandelt  worden  isP^). 

Schon  der  Hauptgegenstand  der  Plastik,  der 
Menschenleib,  ist  kein  Körper  in  stereometrischem  Sinne, 
kein  »Mal«,  sondern  ein  organisch  tektonisches  System 
von  mannigfach  geformten,  beweglichen  Teilkörpern, 
ein  lebendiger  Mechanismus.  Dieser  Mechanismus  ver¬ 
mag  sich  zeitweilig  zu  erweitern  durch  äusserlich 


23 


DER  FARNESISCHE  STIER 


17S 


dachten  Theorie  allen  historisch  bedeutenden  Er¬ 
scheinungen,  einschliesslich  des  Apoxyomenos,  ent¬ 
spricht,  kann  hier  dahingestellt  bleiben.  Für  die 
statuarischen  Gruppen  des  Altertums  gilt  sie  wenigstens 
insofern,  als  diese,  wie  schon  oben  (S.  172  1.)  gesagt 
ist,  so  gut  wie  durchweg  auf  eine  alles  gegenständlich 
Wesentliche  in  klarster  Ausprägung  für  einen  Blick 
zusammenfassende  Hauptansicht  angelegt  sind,  mögen 
sie  nach  der  dritten  Dimension  in  reliefmässiger 
Flachheit  beharren,  wie  der  Laokoon  (Abb.  7),  oder 
durch  grösstmögliche  Tiefenentfaltung  mehrere  lehr¬ 
reiche  und  reizvolle  Nebenansichten  darbieten,  wie 
Menelaos  mit  der  Leiche  des  Patroklos.  Für  dieses 
Wunderwerk  nachlysippischer  Gruppenbildung,  das 
uns  erst  Ihre  Rekonstruktion,  obschon  noch  nicht 
ganz  abgeschlossen,  recht  kennen  gelehrt  hat,  sei 
hier  die  Vorherrschaft  der  Hauptansicht  (Abb.  8) 
durch  deren  Zusammenstellung  mit  zwei  weiteren,  aber¬ 
mals  Ihrer  Güte  verdankten  Aufnahmen  (Abb.  g.  10) 
anschaulich  dargethan^-). 


Was  diesen  beiden  untereinander  so 
verschiedenen  Beispielen  antiker  Grup¬ 
penplastik  gemein  ist,  erinnert  uns  zu¬ 
gleich  an  ein  weiteres  Hauptmittel,  wo¬ 
durch  sich  solch  »ideelle  Raumeinheit 
gegenüber  dem  realen  Luftraum  be- 
hauptet< ,  also  die  Funktion  erfüllt  wird, 
die  beim  Relief  und  Bilde  dem  Rahmen 
zufällt.  Es  ist  der  Aufbau  nach  Art 
tektonischer  Körper«,  der  »dem  Ganzen 
wieder  die  bleibende  Existenzberech¬ 
tigung,  den  Wert  selbständiger  Behar¬ 
rung  sichert«  (Schmarsow  S.  1  34  f.).  So 
gern  ich  mir  diese  treffenden  Worte  für 
einen  richtigen  alten  Gedanken  aneigne, 
so  wenig  kann  ich  zugeben,  dass  damit 
zugleich  »ein  Abweg  vom  rein  plasti¬ 
schen  Wesen«  bezeichnet  ist.  Gehört 
doch  auch  der  Mechanismus  unseres 
Körpers  in  dem  hier  in  Betracht  kom¬ 
menden  Sinne  ganz  ausgesprochen  unter 
die  »gesetzmässigen  Gebilde  der  Tek¬ 
tonik«,  sowohl  in  der  Ruhe,  wie  in  den 
Gleichgewichtszuständen  der  Bewegung, 
deren  feste  Basis,  die  auseinander  treten¬ 
den  Beine,  wie  sie  Rodin’s  Täufer  in 
monumentaler  Schlichtheit  veranschau¬ 
licht^’^),  das  Grundmotiv  der  für  Grup¬ 
pen  so  beliebten  Dreieckform  angeben. 
Ausser  im  Aussenkontur  drückt  sich  der 
tektonische  Aufbau  in  wirksamer  Wie¬ 
derholung  der  Hauptrichtungen  der  Glie¬ 
der  aus,  demselben  Parallelismus  der 
Achsen,  der  auch  stark  bewegten  Einzel¬ 
gestalten,  wie  dem  neulich  erst  von  Strzy- 
gowski  daraufhin  gewürdigten  Diskos- 
werfer“^')  den  Stempel  der  Beständigkeit 
aufprägt.  Laokoon  und  Pasquino  zeigen 
auch  das  in  voller  Klarheit. 

Der  Gruppenbau  unterliegt  natür¬ 
lich  denselben  zwei  Forderungen, 

welche  die  antike  Theorie  so  gut  an  Standbilder 
und  Gemälde,  wie  an  Tempel  und  Kriegs¬ 

maschinen  stellte:  der  der  Symmetrie  und  der 
Eurhythmie  oder  des  Rhythmus  schlechtweg^’^).  Sym¬ 
metrie  besagt  hier  Proportionalität,  das  heisst  die  auf 
einem  in  dem  Gebilde  selbst  enthaltenen  Grundmasse 
beruhende  Harmonie  der  Teile  miteinander  und  mit 
dem  Ganzen,  also  zunächst  nicht  dasselbe,  was  der 
Ausdruck  uns  bedeutet,  nämlich  die  genaue  Responsion 
zweier  Hälften  zu  beiden  Seiten  eines  Mittelschnittes; 
wobei  jedoch  nicht  übersehen  werden  darf,  dass  diese 
Art  Symmetrie  bei  Formen,  denen  sie  zukommt,  wie 
dem  Menschenleib  oder  der  Tempelfront,  auch  in 
dem  antiken  Begriffe  mitenthalten  ist.  Die  Eurhythmie 
dagegen  besteht  in  gewissen  freien  Abweichungen 
von  der  symmetrischen  Gesetzmässigkeit,  wodurch 
erst  die  lebendige  Schönheit  der  Erscheinung  her¬ 
vorgebracht  wird.  Dies  thut  die  Architektur,  in¬ 
dem  sie  »die  Eigenschaften  des  Auges  berücksichtigt 
und  danach  strebt,  dass  Ungleichheiten,  die  sich  bei 


DER  FARNESISCHE  STIER 


179 


Abb.  Q 


strenger  Durchführung  der  Symmetrie  für  den  Anblick 
ergeben,  der  Physiologie  des  Auges  zuliebe  durch 
Änderungen  oder  Abweichungen  von  der  Symmetrie 
beseitigt  werden,  wie  z.  B.  bei  der  Kurvatur  oder  der 
Verstärkung  der  Ecksäulen«  (Puchstein ■‘®).  Auch  in 
der  Plastik  sind  solche  Veränderungen  der  gegebenen 
»Daseinsform«  in  eine  dem  Bedürfnisse  des  jeweiligen 
Zusammenhanges  angepasste  »Wirkungsform«,  wie 
Hildebrand  (Kap.  11)  sagt,  schon  den  Alten  wohl- 
bekannt  gewesen.  Allein  in  dem  Sprachgebrauche 
der  auf  Xenokrates,  einen  Enkelschüler  Lysipp’s, 
zurückgehenden  Reihe  von  Künstlercharakleristiken^') 
bedeutet  Rhythmus  (lateinisch  numerus)  die  Ab¬ 
weichungen  der  bewegten  Körperform  von  der  sym¬ 
metrischen  der  Ruhelage.  Rein  symmetrisch  ist  die 
archaische  Statue;  die  Brüder  Rhoikos  und  Telekles 
sollen  die  zwei  genau  zusammenpassenden  Hälften 
eines  Apollon  mit  Hilfe  des  ägyptischen  Proportions¬ 
systems  an  verschiedenen  Orten  zu  arbeiten  vermocht 
haben ■‘*).  In  der  erst  mit  Phidias  anhebenden  Ent¬ 
wickelungsreihe  des  Xenokrates  wird  dann  natürlich 
Symmetrie  und  Rhythmus  gesondert  charakterisiert. 
Der  erste  darin  wirklich  anerkannte  Meister  statuarischer 
Kunst,  Polyklet,  hat  zu  schwere  Proportionen  und  in 
der  stark  betonten  Unterscheidung  von  Stand-  und 
Spielbein  zu  einförmigen  und  ruhigen  Rhythmus. 
Ihm  sind  Myron  und  Pythagoras,  die  darum  irrig 
für  jünger  gelten,  überlegen  durch  ihre  schlankeren 
Gestalten  und  mannigfaltigeren  Bewegungsmotive. 


Abb.  10 


Doch  alle  lässt  Lysipp  hinter  sich  mit  seinen  eleganten 
Figuren,  die  er  in  den  flüchtigsten  und  feinsten  Er¬ 
scheinungsmomenten  (quales  viderentur  esse)  zu  fassen 
weiss,  wie  den  erhitzt  transspirierenden,  flimmernd 
oscillierenden  Apoxyomenos,  neben  dem  in  der  That 
ältere  Werke,  zumal  die  polykletischen,  nichts  als  die 
ruhende  Daseinsform  (quales  essent  homines)  darzu¬ 
bieten  scheinen'^®). 

Solches  Einordnen  in  eine  Reihe  gleichartiger 
Werke  wäre  die  Vorbedingung  einer  vollen  kunst¬ 
geschichtlichen  Würdigung  unserer  Gruppe.  Es  würde 
zeigen,  wie  die  griechische  Kunst  auch  hier  mit 
schematischer  Symmetrie  begann,  um  sich  langsam 
zu  so  freiem  Rhythmus  emporzuarbeiten.  Da  jedoch 
diese  Ahnenreihe  nur  umständlich  durch  Heranziehung 
geringer  Werke  tektonischer  Kleinplastik  oder  der 
Reliefkunst  einigermassen  vollständig  hergestellt  werden 
könnte,  muss  ich  mich  hier  auf  eine  bloss  das  Nächst¬ 
liegende  vergleichende  Würdigung  nach  den  ange¬ 
führten  Grundsätzen  beschränken. 

Den  verwegenen  Aufbau  schliessen  fest  und  ruhig 
gleich  Eckpfeilern  die  beiden  Träger  der  Handlung, 
die  thebanischen  Dioskuren,  zusammen  durch  die  Zug 
um  Zug,  bis  in  die  Haltung  der  Arme  genaue 
Responsion  ihrer  Bewegung.  Wie  schon  bei  den 
Vorkämpfern  des  Äginetengiebels  belebt  diese  Ein¬ 
förmigkeit  der  Wechsel  zwischen  Vorder-  und  Seiten¬ 
ansicht.  Mit  starkem  Rhythmus  wird  die  Symmetrie 
gelockert  durch  den  bedeutend  höhern  Standplatz 


i8o 


DER  FARNESISCHE  STIER 


Amphions,  ähnlich,  aber  noch  mehr,  wie  im  Laokoon, 
wo  der  kleinere  und  minder  aufgerichtete  Bruder  auf 
die  Altarstufen  gehoben  ist.  In  beiden  Eällen  gilt 
es,  der  Verschiebung  des  Mittelgliedes  aus  der  Senk¬ 
rechten  wie  mit  einer  Strebe  zu  begegnen.  Dort 
aber  beschränkt  sich  diese  Schrägstellung  wesentlich 
auf  die  Bi  in.-  des  Vaters,  während  sein  überragender 
Oberleib,  venn  schon  gekrümmt,  doch  mit  der  Sehne 
seine,>  iks  /eiis  wieder  einlenkt  in  die  Vertikale,  die 
in  >'-s  iV'aben  vurherrscht.  Hier  dagegen  waren 
Ci.  Eck  reiU-r  an  sich  stärker  zu  nehmen  und  der 
i-s-chie  A)  viel  höher  zu  führen,  weil  gerade  oben 
-■  iimen  die  weit  schräger  liegende  Masse  des 
domir.iert.  Nur  sein  Hals  schliesst  sich,  der 
ikfiüv.  gemäss,  an  die  wenig  auswärts  geneigte 
v.chsv-  des  Amphiontorsos  parallel  an.  Die  volle 
vertikale,  die  am  Stiere  bloss  in  den  Umrissen  der 
Brust,  namentlich  der  Wamme,  schwerlich  auch  in 
den  —  sicher  parallel  zu  ergänzenden  —  Vorder¬ 
beinen,  anklingt,  übernahm  unten  zwischen  den  gegen¬ 
einander  geneigten  Beinen  derjünglinge  die  Herrschaft 
in  dem  nackten  Oberleibe  der  leidenden  Hauptperson, 
welcher  einst,  am  Haare  zurückgerissen,  mehr  als  der 
ergänzte  aufgerichtet  war,  so  zugleich  die  baumähn¬ 
liche  Stütze  des  Tierbauches,  deren  selbst  die  Pferde 
des  Parthenonwestgiebels  nicht  entbehrten’’“),  glücklich 
maskierend.  Dieses  stark  betonte  Mittellot  setzte  sich 
nach  oben,  wenn  wir  dem  Cameo  (Abb.  12)  trauen, 
in  Dirke’s  steil  erhobenem  rechten  Arm  ähnlich  fort, 
wie  abwärts  in  ihrem  herabhangenden  Bein.  Das 
rechte  hingegen  nimmt  nochmals  die  Schräge  des 
Stierkörpers  auf,  welcher  aber  hier  die  des  anderseits 
ansteigenden  Hundes  die  Wage  hält,  um  im  Funda¬ 
mente  nochmals  die  Symmetrie  des  ganzen  Aufbaues 
zu  betonen  und  dabei,  durch  tieferes  Herabhängen 
dieser  rechten  Dreieckseite,  die  Verschiebung  des  ent¬ 
sprechenden  Umrisses  der  ganzen  Gruppe  nach  oben 
etwas  zu  kompensieren.  Dies  die  so  klare  wie 
reiche  Symmetrie  und  Eurhythmie  des  tektonischen  Ge¬ 
rüstes,  dessen  ruhige  Geschlossenheit  doch  dem  Feuer 
der  Bewegung  nicht  den  geringsten  Eintrag  thut. 

Nicht  minder  vollendet  dünkt  mich  die  plastische 
Tiefenführung  .  Die  Brüder,  mit  den  Beinen  in 
einer  Ebene  gegeneinander  tretend,  bilden  mit  ihren 
leicht  nach  aussen  weichenden,  parallel  halblinks  ge¬ 
drehten  Leibern  den  schräg  nach  vorn  und  rechts 
offenen  Thorweg,  aus  dem,  sobald  die  leichte  Barre 
der  einander  zugestreckten  Arme  fällt,  der  wilde  Stier 
hervorbrechen  wird.  Das  drückt  nur  die  starke  Ver¬ 
kürzung,  worin  ihn  die  Hauptansicht  zeigt,  mit  grösst- 
möglicher  Kraft  aus.  Aber  es  ist  keine  von  den 
peinlichen,  die  »von  hinten  nach  vorn  abgelesen« 
durch  solches  »Nachvornstreben  dem  gesamten  Be¬ 
wegungsgefühl  nach  der  Tiefe  des  Bildes  entgegen¬ 
wirken'  (Hildebrand  S.  62).  Die  vorderen  Teile  des 
Tieres  mit  seinen  ausdruckvollsten  Formenmerk¬ 
malen«  halten  sich  streng  innerhalb  der  durch  die 
beiden  Arme  klar  bezeichneten  Vorderebene,  von  der 
aus  uns  die  Linien  seines  Körpers  durch  die  schräge 
Gasse  hindurchführen  bis  hinab  zu  dem  rückwärtigen 
Hufe,  der  zwischen  den  Füssen  des  Zethos  so  recht 


im  Hintergründe  sichtbar  wird,  »was  den  Blick  und 
die  Tiefenvorstellung  stark  nach  hinten  zieht«  und 
die  Verkürzung  »in  die  allgemeine  Tiefenbewegung 
einreiht«.  Dass  die  plastische  Gestaltung  des  Stieres 
ganz  auf  diese  eine  Wirkungsform«  berechnet  ist, 
lehrt  der  wenig  günstige  Eindruck  anderer  Ansichten 
wie  Abb.  1  und  2. 

Dirke  dagegen  bleibt  ebenso  richtig  draussen  vor 
dem  Thore.  Von  den  ergreifend  ausdrucksvollen 
Bewegungen  ihrer  Glieder  darf  nichts  verloren  gehen. 
Und  sie  ordnen  sich  bei  aller  Lebhaftigkeit  mit  sehr 
geringer  Tiefenentfaltung  in  eine  Fläche  zusammen, 
wie  die  Seitenansichten  (Abb.  2  und  4)  erkennen  lassen. 
Dieselben  lehren  freilich  auch,  wie  weit  die  Figur  von 
dem  mittleren  Reliefplan  der  Jünglingsbeine  weg  nach 
vorne  gerückt  ist.  Aber  es  leuchtet  sofort  ein,  dass 
dies  wiederum  nur  zu  den  plastisch  unsinnigen  Folgen 
der  Übertragung  unserer  Gruppe  auf  das  Prokrustes¬ 
bette  des  quadratischen  Grundrisses  gehört.  Nichts 
hindert,  Dirke  bis  an  den  Stiertronk  und  das  rechte 
Bein  des  Zethos  zurückzuschieben,  wie  es  schon  die 
Statik  und  Ökonomie  der  Marmorarbeit  verlangt.  Dann 
treten  die  vordersten  Punkte  ihres  Reliefs  kaum  weiter 
heraus,  als  über  ihr  Stirn  und  Hufe  des  Rindes, 
wodurch  zugleich  das  drohende  Verderben  noch  an¬ 
schaulicher  wird.  Nicht  stärker  ist  der  Leichnam  des 
Patroklos,  der  unten  weit  vor  die  Beine  des  Menelaos 
gerückt  ist,  oben  durch  dessen  übergreifenden  Arm 
und  herausgedrehten  Kopf  in  die  Bildfläche  der  Haupt¬ 
ansicht  eingefasst  (Abb.  8  und  10). 

So  betrachtet  und  hergestellt  dürfte  das  Werk  des 
Apollonios  und  Tauriskos  sogar  den  Forderungen 
Hildebrand’s  genug  thun.  Denn  sein  Urteil,  »auch 
da  wäre  die  künstlerische  Form  für  den  gewünschten 
Inhalt  eine  Reliefdarstelluiig  gewesen«  (S.  108),  beruht 
offenbar  auf  den  hier  beseitigten  Voraussetzungen. 
Gewiss  Hesse  sich  die  Gruppe  mit  geringen  Ände¬ 
rungen  ins  Relief  projizieren,  wie  der  Laokoon,  der 
myronische  Diskoboi  und  noch  manches  antike  Rund¬ 
werk.  Aber  ebenso  gewiss  ist  die  volle  Körperlich¬ 
keit  ein  unentbehrliches  Mittel  zum  Zwecke  der  über¬ 
wältigenden  Lebenswahrheit,  welchen  die  Künstler 
wollten  und  erreichten,  ohne  sich  der  unumgäng¬ 
lichen  Forderung,  den  reichen  Mechanismus  von  Ge¬ 
stalten  zur  übersichtlichen,  tektonischen  »Raumein¬ 
heit«  zusammenzubauen,  im  mindesten  zu  entziehen. 

Wie  sie  das  vollbracht  haben,  lehrt  uns  aufs  neue, 
dass  keine  Periode  der  Kunstentwickelung  eines  wahr¬ 
haft  begabten  Volkes  schlechthin  unproduktiv  ist,  auch 
nicht  diese  späthellenistische  Zeit,  wo  sich  sonst  der 
rückwärtsschauende  Klassizismus  neben  den  Ausläufern 
des  griechischen  Barockstiles  breit  macht.  Und  noch 
eines  lehrt  der  Toro,  wie  wir  ihn  angesehen  haben, 
sicherer  als  früher:  dass  in  der  Geschichte  der  sta¬ 
tuarischen  Gruppenbildung  er  und  der  Laokoon  dicht 
beieinander,  ersterer  wohl  etwas  später,  anzusetzen 
sind. 

Damit  schliesse  diese  rasch  hingeworfene,  für 
einen  Geburtstagsbrief  aber  schon  etwas  lang  ge¬ 
ratene  Skizze.  Möge  sie  trotz  ihrer  Unfertigkeit  ge¬ 
nügen,  ihre  These  wenigstens  in  der  Hauptsache  glaub- 


DER  FARNESISCHE  STIER 


i8i 


lieh  zu  machen,  vor  allen  anderen  Mitforschenden 
Ihnen,  mein  verehrter  Freund.  Dann  wird  sie  wohl 
auch  den  nächsten  Zweck  erfüllen  und  an  dem  Tage, 
da  Sie  die  Schwelle  des  Lebensabends  überschreiten, 
ein  bescheidenes  Scherflein  ^beitragen,  um  Ihnen  das 
zu  erhöhen,  was  Sie  uns  trotz  dem  und  alledem  so 


jung  erhält;  das,  was  Ernst  Curtius  in  Olympia 
suchte  und  Sie  dort  mit  ihm  in  reichstem  Masse 
gefunden  haben:  »die  Weihe  der  Kunst  und  die 
Kraft  der  alle  Mühsale  des  Lebens  überdauernden 
Freude«  Ihr  treu  ergebener 

Leipzig. 

FRANZ  STUDNICZKA. 


ANMERKUNGEN 


1)  über  die  Ergänzet:  G.  Kinkel,  Mosaik  zur  Kunst- 
gesch.  S.  35  ff.  Correm  im  Bullett.  della  commiss.  archeol. 
comunale  di  Roma  XXVIll,  1900,  S.  44  ff.  Über  die  Ergän¬ 
zungen  besonders  Miszkowshi  bei  Welcher,  Alte  Denkm.  I, 
S.  365f.  Anm.,  danach  Friederichs  und  Wolters,  Gipsabgüsse 
antiker  Bildwerke  Nr.  1402. 

2)  O.  Müller  \n  den  Annali  dell’  instit.  archeolog.  XI,  1839, 

5.  287  ff.  In  unserer  Abb.  12  ist  die  Kamee  nach  Ärchäolog. 
Zeitung  XI,  1853,  Taf.  56, 1  (vergl.  S.  90,  O.Jatui),  die  Münze, 
deren  ältere  Publikationen  Müller  a.  a.  O.  anführt,  in 
Abb.  11  nach  einem  Wilhelm  Kubitschek,  dem  Direktor  der 
Kaiserl.  Münzensammlung  in  Wien,  verdankten  Gipsabguss 
wiedergegeben.  Über  die  einschlägigen  pompejanischen 
Wandgemälde  zuletzt:  SogUano  in  den  Atti  dell’  accademia 
di  archeologia  di  Napoli  XVII,  1895;  Ely  im  Journ.  of 
hellen,  stud.  XVI,  1896,  S.  145  ff-;  Man  in  den  Mitteil.  d. 
d.  archäol.  Instit.  Rom  XI,  1896,  S.  46 f.;  auch  Löwy,  unten 
Anm.  17. 

3)  H Iller  von  Gärtringen  im  Jahrbuch  d.  d.  ärchäolog. 
Instituts  IX,  1894,  S.  22ff. ;  S.  35  ff.  über  die  Laokoon- 
meister.  Über  die  Künstler  des  Stieres  vergl.  denselben 
in  den  Mitteil.  d.  d.  arch.  Inst.  Athen  XIX,  1894,  S.  37  f. 

4)  Karl  Robert,  Ärchäolog.  Märchen  S.  142  f. 

5)  W.  von  Flartel  und  Fr.  Wicklioff,  Die  Wiener  Ge¬ 
nesis  S.  28  ff. 

6)  Wicklioff  a.  a.  O.  S.  18  und  22  f.  Petersen,  Ara 
Pacis  Augustae  Taf.  3.  Kunstgesch.  in  Bildern  I,  bearb. 
V.  Franz  Winter,  Taf.  80. 

7)  Michaelis  in  Spiinger’s  Handbuch  d.  Kunstgesch.  1, 

6.  Aufl.,  S.  286,  abgeb.  Kunstgesch.  in  Bildern  1,  Taf.  74,1. 

8)  Friederichs  und  Wolters  a.  a.  O.  S.  517.  M.  G. 
Zimmermann,  Kunstgesch.  d.  Altertums  und  Mittelalters 
S.  277. 

9)  Welcher,  Alte  Denkmäler  I,  S.  352. 

10)  Brunn,  Geschichte  d.  gr.  Künstler  I,  S.  495  ff. 

11)  Brunn  bei  R.  Kekiile,  Das  Leben  F.  G.  Welcker’s 

S.  V. 

12)  Fast  von  vorn,  mit  geringer  Verschiebung  nach 
rechts,  Antiope  zuliebe:  Baumeister,  Denkmäler  1,  S.  107. 
Brunn,  Denkm.  gr.  u.  röm.  Skulptur  Nr.  367.  Collignon, 
Hist,  de  la  sculpt.  gr.  II,  S.  535.  Michaelis  in  Springer's 
Handbuch  der  Kunstgesch.  I,  6.  Aufl.,  S.  286.  Fr.  Winter, 
Kunstgesch.  in  Bildern  I,  Taf.  72,5  u.  a.  ni. 

13)  Friederichs  und  Wolters  a.  a.  O.  S.  517.  Vergl. 
Wicklioff  (oben  Anm.  5)  S.  17. 

14)  A.  FFldebrand,  Das  Problem  der  Form  in  der  bild. 
Kunst,  4.  Aufl.,  S.  i07f. 

15)  S.  Anm.  12. 

16)  Karl  Dilthey  in  der  Ärchäolog.  Zeitung  XXX VI, 
1878,  S.  48. 

17)  Fm.  Löwy,  Die  Naturwiedergabe  in  der  älteren 
gr.  Kunst  S.  52  f.  mit  der  Abbildung  S.  42. 

18)  Mir  liegen  folgende  annähernd  von  diesem  Stand¬ 
punkt  aus  genommene  Abbildungen  vor:  f.  B.  de  Cavalleriis, 
Antiq.  statuarum  urbis  Romae  I.  et  II.  über  1585,  Taf.  3. 


Lafrerii  Speculum  Romanae  magnificentiae,  Stich  vom  J. 
1581.  O.  Müller  und  Fr.  Wieseler,  Denkm.  d.  alten  Kunst 
I,  Taf.  47.  Clarac,  Musee  de  seuipture  V,  Taf.  811  und 
81  lA.  R.  Museo  Borbonico  XIV,  Taf.  5,  danach  Overbeck, 
Gesch.  d.  gr.  Plastik  II,  4.  Aufl.,  Fig.  204  zu  S.  343,  alle 
mit  Rücksicht  auf  Antiope  zu  weit  von  rechts.  Ihre  gegen¬ 
seitige  Abhängigkeit  zu  verfolgen  lohnt  nicht  die  Mühe. 
Die  von  Löwy  (s.  Anm.  17)  wiederholte  Skizze  Sogliano’s 
(oben  Anm.  2)  ist  viel  zu  weit  von  links  genommen.  Am 
nächsten  kommt  der  unserigen,  bis  auf  zu  hohen  Stand¬ 
punkt,  die  Photographie  bei  Zimmermann  (oben  Anm.  8) 
S.  275.  Dass  dies  die  Hauptansicht  sei,  bemerkte  unter 
den  neueren  Gelehrten  wohl  zuerst  O.  Müller  (Anm.  2), 
dann  sehr  klar  O.  Jahn  (oben  Anm.  2)  S.  93,  nach  ihm 
Friederichs,  Overbeck  u.  a.  m. 

19)  Chr.  G.  Fleyne,  Sammlung  antiquar.  Aufsätze  II, 
S.  193,  218. 

20)  Epigramm  der  palatinischen  Anthologie  III  7,  vergl. 
Dilthey  a.  a.  O.  S.  44.  Über  Apollonis  Pauly-Wissowa, 
Real-Encykl.  d.  kl.  Altert.  II,  S.  163,4. 

21)  Abb.  3  nach  Zahn  II  3;  Helbig,  Wandgemälde  der 
Städte  Campaniens  Nr.  1251;  vergl.  Dilthey  a.  a.  O.  S.  48  f. 

22)  Herausgegeben  von  Dilthey  (oben  Anm.  16)  Taf.  7; 
auch  bei  Baumeister,  Denkmäler  I,  S.  456;  vergl.  Furt- 
wängler,  Beschr.  d.  Vasensamml.  [in  Berlin]  Nr.  3296. 

23)  1.  Florenz,  Uffizien,  [Arndt]  Anielung,  Phot.  Ein¬ 
zelaufnahmen  II,  Nr.  350.  2.  Florenz,  Giardino  Boboli,  mit 
Füllhorn,  ebenda  Nr.  386  (S.  Reinach,  Repert.  de  la  sta- 
tuaire  II,  S.  250,5).  3.  Rom,  Magazz.  archeologio  comu¬ 
nale,  mir  durch  Furtwängler  nachgewiesen,  aus  schwarzem 
Marmor  wie  4.  München,  Furtwängler,  Beschr.  d.  Glypto¬ 
thek  Nr.  449,  Hundert  Tafeln  nach  Bildw.  d.  Glypt.  92. 
Ähnlich,  nur  im  Gegensinn  komponiert  ist  Arndt-Amelung, 
Einzelaufn.  Nr.  551  in  Palermo.  Vergl.  Anm.  24. 

24)  Winter,  Kunstgesch.  in  Bildern  I,  Taf.  79,7.  Col¬ 
lignon  (oben  Anm.  12)  II,  S.  662.  Wiederholungen  des 
Vorbildes  der  Elektra  (und  des  Antiopetypus) :  [Arndt-] 
Anielung,  Einzelaufn.  IV,  Nr.  1153  mit  Text,  S.  44  f. 

25)  Plinius,  naturalis  historia  36,  34. 

26)  Vasari,  Vita  di  Michelangelo,  Milanesi  VII  S.  224: 
(si  perfette  figure  in  un  sasso  solo  e  senza  pezzi,  che  fu 
giudicato  servire  per  una  fontana);  Michelangelo  consigliö 
che  si  dovessi  condurre  nel  secondo  cortile  [des  Palazzo 
Farnese]  e  quivi  restaurarlo  per  fargli  nel  medesimo  modo 
gettare  acque;  das  galt  also  offenbar  als  die  antike  Be¬ 
stimmung  des  Marmorwerks.  Über  die  Fundumstände  in 
den  Caracallathermen  ist  genaueres  nicht  bekannt,  s.  S.  A. 
Iwanoff,  Architekturstudien  III  herausg.  von  Hülsen. 

27)  Abbildungen  R.  Schöne,  Gr.  Reliefs  Taf.  27,  110, 
und  Ariidt-Ameliing,  Einzelaufnahmen  V,  Nr.  1248,  1,  S.  22 
(E.  Löwy).  Ähnliche  Dionysostypen  in  Roscher' s  Lexikon 
d.  Mythol.  I,  S.  1132!,  2539.  Für  Dionysos  hielten  den 
Knaben  Schriftsteller  des  iS.  jahrh.  und  Clarac. 

28)  Milchhö[er,  Befreiung  des  Prometheus,  42.  Progr. 
zum  Winckelmannsfest  in  Berlin  1882,  Tafel  und  S.  7,  10  f. 


DER  FARNESISCHE  STIER 


1 82 

Baumeister,  Denkmäler  II,  S.  1277.  Zu  dem  landschaft¬ 
lichen  Hintergründe  der  Gruppen  vergl.  die  Grotten,  antra, 
am  Festzelte  Ptolemaios  II  und  im  Schiffspalaste  Ptole- 
maios  iV  bei  Athenaeus  5,  p.  196  F.,  p.  204  F,  auch  die 
(Musentafel  fies  Archelaos  von  Priene,  Kunstgesch.  in  Bildern  I, 
Taf.  75,  6.  Die  .Möglichkeit  solcher  Aufstellung  in  helle- 
nistiscl'.-r  Zeit  verkennt  Wickhoff  S.  61  Anm.  (s.  oben 
Anm.  5),  wenn  er,  gegen  den  Stil,  die  Prometheusgruppe 
antoninischer  oder  nf)ch  späterer  Zeit  überweist. 

2Q)  Gesell,  der  Kunst.  Buch  10,  Kap.  2,  §  14. 

30)  .Am  vollständigsten  Museo  Borbonico  XIV,  Taf.  6 
ibgobüe.c-t,  darnach  bei  Miiller-Wieseler  (oben  Anm.  18). 

311  S.  das  Übersichtsblatt  SchradeBs  im  Jahrbuch  d. 
d.  arcidiul.  'nscituts  XV,  1900,  T.  1.  Einzelnes  am  besten 
bei  Coi,io-non  et  Pontremoli,  Pergame  S.  91  ff.  und  Collignon, 
Hist,  de  !a  sculpt.  Gr.  11,  S.  528  ff. 

32)  Z.  B.  Robert,  Ant.  Sarkophagreliefs  II,  Taf.  5  und  60. 
ill,  Taf.  i  ff.,  14  ff.,  38.  Baumeister,  Denkmäler  1,  S.  36  f., 
480.  Zur  Zeitbestimmung  vergl.  Walter  Altmauu,  Archit. 
und  Ornam.  d.  ant.  Sark.  S.  104  ff. 

33)  Schreiber,  Hellenist.  Reliefbilder  Taf.  5.  Roscher, 
Lexik,  d.  Mythol.  I,  S.  311.  Dass  der  Hund  des  Toro  zum 
Zethos  gehört,  bemerkte  Friederichs  nach  zögerndem  Vor¬ 
gang  Jahn’s  (s.  oben  Anm.  1  und  2). 

34)  Fundberichte  von  Lanciani  in  den  Notizie  degli 
scavi  1886,  S.  230,  272,  von  C.  L.  Visconti  im  Bullett.  d. 
commiss.  archeol.  comunale  di  Roma  XIV,  1886,  S.  299, 
ebenda  S.  390  ff.  und  Tafel  14,  15  Publication  des  Iphi- 
geniatorsos,  danach  S.  Reinach,  Repert.  de  la  statuaire  II, 
S.  313,  4.  Vergl.  Furtw’ängler,  Meisterwerke  S.  558  mit 
Anm.  4. 

35)  Der  Kürze  wegen  verweise  ich  nur  auf  Fr.  Marx 
im  Jahrbuch  d.  d.  archäol.  Instit.  IV,  1889,  S.  lUjf. 

36)  Franz  Cumont,  Mysteres  de  Mithra  I,  S.  170.  Dass 
der  im  Hauptbilde  der  Mithrasreliefs  öfter  Kornähren  am 
Schwänze  tragende  Stier  nicht  der  Mond-,  sondern  der 
Mannhardt’sche  Vegetationsstier  sei,  ist  meine  Meinung. 

37)  S.  oben  Anm.  2  und  16. 

38)  Ft.  Bulle  in  den  Mitt.  d.  d.  archäol.  Instit.  VIII, 
1893,  S.  246. 

39)  Michaelis  (oben  Anm.  7)  S.  262.  Flelbig,  Führer 
d.  d.  Samnil.  Roms,  2.  Aufl.  I,  Nr.  382. 

40)  Auch  Archäol.  Zeitung  XXXVl,  1878,  Taf.  9. 

41)  Bruno  Sauer,  Die  Anfänge  der  statuar.  Gruppe 
(Leipz.  Dissert.)  S.  1  ff.,  74  ff.  August  Fterzog,  Studien  zur 


gr.  Kunstgesch.  S.  3  ff.  Bei  diesen  beiden  die  ältere  Litte- 
ratur.  Hildebrand  und  Fm.  Löwy  in  den  Anm.  14  und  17 
angeführten  Schriften.  August  Schmarsow,  Beitr.  zur  Aesth. 
d.  bild.  Künsteln,  Plastik,  Malerei  und  Reliefkunst  S.  ii8ff. 
Gegen  die  hier  geübte  Gesamtkritik  hat  Hildebrand’s  Ge¬ 
danken  am  entschiedensten  verteidigt  H.  Cornelius  in  der 
Deutschen  Litteraturzeitung  1900  S.  2040  ff. 

42)  Abb.  8  aus  Michaelis  (oben  Anm.  7)  S.  270.  Die 
von  Winter,  Kunstgesch.  in  Bildern  I,  Taf.  59  gegebene 
Zusammenstellung  mit  Mausoleumskulpturen  lehrt  aufs 
eindringslichste,  wie  viel  später  der  Pasquino  sein  muss, 
was  zuletzt  O.  IHßsr’r  ausgeführt  hat  in  den  N.  Jahrbüchern 
f.  d.  klass.  Altert.  VII,  1901,  S.616  ff.  Der  Kopf  des  Menelaos 
stellt  sich  nahe  zu  den  lysippischen  Heraklestypen. 

43)  Zuletzt  abgebildet  bei  Treu  im  Jahrbuch  der  bil¬ 
denden  Kunst  1903,  S.  83. 

44)  Josef  Strzygowski,  Anleitung  zur  Kunstbetrachtung 
in  der  Mittelschule,  in  der  Festschrift  zum  fünfzigjährigen 
Bestände  der  deutschen  Staatsoberrealschule  in  Brünn  1902, 
S.  326. 

45)  Davon  handelt  zuletzt,  mit  Benutzung  der  Arbeiten 
von  Puchstein  und  Kalkmann,  R.  Schöne  im  Jahrbuch  d.  d. 
archäol.  Instituts  XIII,  1898,  Anzeiger  S.  181  f.,  vergl.  Kekiile 
von  Stradonitz  ebenda  S.  183  und  Kalkmann  S.  185.  Es 
sind  dieselben  Forderungen,  wonach  H.  Wölfflin  »Die 
klassische  Kunst«  beurteilt,  s.  besonders  S.  266  seines 
so  betitelten  Buches. 

46)  Pauly-Wissowa,  Real-Encyklop.  d.  d. Altert.  II,  S. 547. 

47)  Am  übersichtlichsten  zusammengestellt  und  er¬ 
läutert  von  Robert,  Archäol.  Märchen  S.  28  ff.  Vgl.  Kalk¬ 
mann,  Quellen  des  Plinius,  passim. 

48)  Diodor  1,  98. 

49)  Dass  in  diesem  vielerörterten  Ausspruch  Lysipp’s, 

nach  den  unmittelbar  vorher  bezeichneten  Neuerungen  in 
den  Proportionen,  von  seinem  Rhythmus  die  Rede  sein 
müsse,  haben,  nach  etwas  unklarem  Vorgänge  Kalk¬ 

mann  und  Schöne  gesehen  (oben  Anm.  45),  nur  den  meines 
Erachtens  für  diesen  Zusammenhang  zu  feinen,  rein  künst¬ 
lerischen  Unterschied  zwischen  Daseins-  und  Wirkungsform, 
statt  des  hier  offenbar  in  Rede  stehenden  zwischen  Ruhe 
und  Bewegung  darin  gesucht. 

50)  Br.  Sauer  in  den  Mitt.  d.  d.  archäol.  Instit.  Athen 
XI,  1891,  S.  73  und  die  sog.  carreysche  Zeichnung  Collignon 
a.  a.  O.  II,  S.  36  oder  Kunstgeschichte  in  Bildern  I, 
Taf.  44,  2. 


Abb.  II.  Münze  von  Thyateira 


Abb.  12.  Camee  in  Neapel 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H  ,  Leipzig 


Abb.  13.  Der  Farnesische  Stier,  Hauptansicht  der  ursprünglichen  Komposition 


EMPIRE«.  ORIGINALRADIERUNG  VON  HANS  NEUMANN  JUN. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQ03  NACH  EINER  SKIZZE  VON  FR.  KOCH,  RADIERT  VON  E,  EINSCHLAG 


E.  Carriere 


1 


Selbstbildnis 


EUGENE  CARRIERE 

Von  August  Marguillier  in  Paris 


WIR  stehen  an  einem  überaus  interessanten  Wende¬ 
punkte  der  Kunstgeschichte.  Nach  den  ver¬ 
schiedenen  Perioden,  welche  die  Ästhetik  des 
19.  Jahrhunderts  nacheinander  duichgemacht  hat: 
starrer  und  fühlloser  Klassizismus,  mit  dem  Dogma 
der  Antike  und  der  Linie;  leidenschaftliche  Roman¬ 
tik,  begeistert  für  alles  Farbige  und  Malerische,  in 
der  der  individuelle  lyrische  Drang  sich  unge¬ 
bunden  ausspricht;  serviler  Realismus,  einzig  auf  die 
Wiedergabe  der  umgebenden  Gegenstände  bedacht, 
und  bei  der  geschickten  Darstellung  der  Formen, 
Farben  und  Nüancen  häufig  bis  zur  gleichgültigen 
Kopie  herabsinkend;  blutloser  Symbolismus,  der  gegen 
die  vorangegangene  Schule  reagieren  möchte  und 
zumeist  weiter  nichts  erreicht,  als  die  Ideen,  welche 
er  ausdrücken  möchte,  der  Form  und  des  Lebens 
zu  berauben;  gar  nicht  zu  reden  von  jener  Schar 
falscher  Künstler,  die  sich  ästhetisch  nicht  klassifizieren 
lässt,  obgleich  sie  bei  weitem  die  zahlreichste  ist,  und 
die  in  allen  Schwankungen  und  neuen  Anschauungen 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  Fl.  8. 


stets  nur  einem  einzigen  Prinzip  treu  bleibt:  dem 
Publikum  gefallen;  die  im  Kunstwerke  nur  eine 
Ware  sieht,  deren  grosser  Markt  die  Kunstausstellungen 
sind,  —  nach  all  diesen  Perioden  scheint  sich  endlich  die 
Morgenröte  einer  tieferen  und  menschlicheren  Kunst 
erhoben  zu  haben,  die  als  die  ehrliche  Wiedergabe 
der  Gefühle  des  Künstlers  vor  dem  Leben  für  uns 
andere  gleichsam  eine  beredte  Sprache  sein  wird, 
voll  von  brüderlichen  Lehren,  und  nach  der  antiken 
Formel  wie  die  Pracht  der  Wahrheit,  die  Paraphrase, 
das  Preislied  des  fruchtbaren  und  herrlichen  Lebens. 
Auf  die  kindischen  und  kleinlichen  Bestrebungen  der 
Virtuosenkunst  und  der  Amüsierkunst  scheint  endlich 
die  erhabene  Auffassung  der  Kunst  als  Religion 
im  ethymologischen  Sinne  des  Wortes  —  zu  folgen, 
eine  Kunst,  die  uns  aufs  engste  mit  der  ganzen  Natur 
und  mit  der  Menschheit  verbindet  und  vereint:  ideale 
Verbindung,  deren  reine  Freuden  Beethoven  in  seiner 
neunten  Symphonie  so  mächtig  und  herrlich  ver¬ 
kündet  hat. 


24 


i84 


EUGENE  CARRIERE 


Man  weiss  —  um  nur  Beispiele  aus  meinem 
Vaterlande  zu  nennen  —  wieviel  wichtige  Zeugnisse 
dieser  Entwickelung  uns  die  letzte  Zeit  gebracht 
hat-  in  der  Musik  tauchte  «Der  Fremdling«  von 
Vincent  d’Indy  auf.  In  der  Poesie  ist  die  jüngste 
unter  der  Bezeichnung  Humanismus«  erstandene 
Richtung  nicht  weniger  merkwürdig.  In  der  Skulptur 
bewegen  sich  die  schönsten  Werke  Rodin’s  in  der 
gleichen  Ästhetik,  in  der  Malerei  endlich  ist  einer 
der  becUutcndsten  Vertreter  dieser  neuen  Kunst¬ 
anschauung,  vier  am  meisten  für  den  Sieg  und  Triumph 
i.er  moL'ernen  Auffassung  des  Schönen  gethan  hat, 
jetzt  zu  allgemeinem  Ruhme  gelangt:  Engen  Caniere. 
Er  selbst  hat  mit  lapidarer  Kürze  das  soeben  von 
uns  skizzierte  ästhetische  Credo  beredt  formuliert^), 
und  wir  können  nichts  besseres  thun,  als  seine  Worte 
diesem  seinen  Werken  gewidmeten  Aufsatze  voran¬ 
zustellen  : 

ln  der  kurzen  Spanne,  welche  die  Geburt  vom 
Tode  trennt,  hat  der  Mensch  kaum  Zeit,  den  zu 
durchmessenden  Weg  zu  wählen,  und  kaum  hat 
er  begonnen,  sich  selbst  zu  kennen,  so  erscheint 
schon  die  Drohung  des  Endes. 

In  dieser  begrenzten  Zeit  haben  wir  unsere  Freu¬ 
den  und  unsere  Schmerzen:  diese  wenigstens  sollen 
uns  gehören;  unsere  Manifestationen  sollen  ihnen 
geweiht  sein  und  sollen  nur  uns  selbstgleichen. 

Mit  diesem  Wunsche  zeige  ich  meine  Arbeiten 
denjenigen,  deren  Seele  der  meinen  nahe  steht. 
Ihnen  bin  ich  Rechenschaft  über  meine  Thätigkeit 
schuldig,  und  darum  stelle  ich  meine  Arbeiten  aus. 

Ich  sehe  die  anderen  Menschen  in  mir  und 
mich  in  ihnen:  was  mich  bewegt,  ist  auch  ihnen 
nicht  gleichgültig. 

Die  Liebe  zu  den  äusseren  Formen  der  Natur  ist 
das  Mittel,  welches  mir  zum  Verständnisse  ihres 
inneren  Wesens  geboten  ist. 

Ich  weiss  nicht,  ob  die  Wirklichkeit  sich  dem 
Geiste  entzieht;  eine  Bewegung  ist  eine  sichtbare 
Willensäusserung:  ich  habe  sie  immer  vereint  em¬ 
pfunden. 

Die  rührende  Entdeckung  der  Natur,  wenn  sich 
die  Augen  unter  der  Herrschaft  eines  endlich 
sehend  gewordenen  Gedankens  öffnen,  der  in 
unserer  Erinnerung  und  in  unserer  Gegenwart  mit 
der  Vergangenheit  verschmolzene  Augenblick  — 
all  das  ist  meine  Freude  und  meine  Unruhe. 

Seine  geheimnisvolle  Logik  nimmt  meinen  Geist 
gefangen;  eine  Sensation  enthält  so  viele  konzentrierte 
Kräfte. 

Die  Formen,  die  nicht  durch  sich  selbst  exi¬ 
stieren,  sondern  durch  ihre  vielfachen  Beziehungen, 
alles,  selbst  die  weiteste  Ferne,  verbindet  sich  mit 
uns  durch  leise  Schwingungen;  alles  flüstert  mir 
ein  Geheimnis  zu,  dass  meine  Geständnisse  be¬ 
antwortet,  und  meine  Arbeit  ist  ein  Werk  voll 
Glauben  und  Verehrung. 


i)  Vorwort  des  Kataloges  der  Ausstellung  der  Werke 
von  Eugen  Carriere  in  der  Galerie  »Art  nouveau«,  Paris, 
April  i8g6. 


Mögen  die  hier  ausgestellten  Arbeiten  ein  kleiner 
Beweis  meiner  grossen  Liebe  sein.« 

Und  vier  Jahre  später,  bei  Gelegenheit  des  Kon¬ 
gresses  für  soziale  Erziehung,  der  verbunden  mit  der 
Weltausstellung  von  1900  abgehalten  wurde,  definierte 
Carriere  in  einem  ausgezeichneten  Vortrage  über  die 
Erziehung  zur  Kunst  durch  das  Leben  von  neuem 
die  Pflichten  der  Kunst  in  unserer  Epoche: 

»Der  moderne  Künstler  ist  sich  selber  die  Wahr¬ 
heit  schuldig.  Er  darf  nur  ausdrücken,  was  er 
selbst  gefühlt  Ipt,  und  diese  Beichte  von  Individuen, 
die  so  ihre  Ähnlichkeit  mit  ihren  Mitmenschen 
suchen,  anstatt  stolzer  Verschiedenheit  nachzustreben, 
wird  das  wahre  Band  zwischen  den  Künstlern  und 
ihrer  Epoche  sein,  lebend  und  leidend  unter  den 
nämlichen  Dingen.« 

Man  kann  sich  nicht  besser  ausdrücken,  und  die 
französische  Schule  darf  stolz  sein  auf  solche  Künstler, 
deren  Geist  und  Hand  durch  so  hohe  Gedanken  ge¬ 
leitet  werden. 

*  * 

* 

Der  Augenblick  ist  günstig,  um  die  aus  diesen 
Gedanken  und  Gefühlen  entstandenen  Werke  zu 
studieren  und  dem  ausländischen  Publikum  vorzu¬ 
führen:  vor  wenigen  Monaten  ist  durch  die  Bewun¬ 
derung  eines  der  besten  französischen  Kunstschrift¬ 
steller  dem  Künstler  ein  wahres  Monument  errichtet 
worden:  Gustave  Geffroy  hat  eine  bedeutende  und 
kostbare  Monographie  über  den  Meister  veröffentlicht, 
die  das  Andenken  seiner  bis  zum  heutigen  Tage 
entstandenen  Werke  erhalten  solP).  Und  vor  wenigen 
Wochen  hatten  wir  in  der  Galerie  Bernheim  in  Paris 
eine  Ausstellung,  wo  die  verschiedenen  Seiten  seines 
Genies  und  die  letzten  Schöpfungen  seines  Geistes 
gezeigt  wurden.  Die  Anerkennung  dieser  Kunst,  die 
noch  vor  kurzer  Zeit  so  viele  Gegnerschaft  und  Er¬ 
staunen  erregte,  ist  jetzt  allgemein. 

Litterarische  Arbeiten,  wie  das  soeben  von  uns 
erwähnte  Buch,  haben  nicht  wenig  zu  diesem  end¬ 
gültigen  Triumphe  beigetragen  durch  die  Klarheit 
und  die  hinreissende  Wärme  der  Darstellung.  Viel¬ 
leicht  waren  niemals  zwei  Menschen  so  sehr  ge¬ 
schaffen,  um  sich  zu  verstehen,  wie  der  beredte 
Theoretiker,  der  begeisterte  Apostel  jener  sozialen 
Kunst,  deren  Theorie  wir  soeben  erklärt  haben,  und 
der  Künstler,  der  das  Programm  formuliert  hat,  das 
soeben  mitgeteilt  worden  ist.  Dergestalt,  dass  zum 
Verständnis  Carrieres  und  zum  Genüsse  an  den 
jetzt  ausgestellten  neuen  Arbeiten  des  Künstlers  keine 
bessere  Vorbereitung  denkbar  ist,  als  die  Lektüre 
dieses  schönen  Buches  von  Gustave  Geffroy,  das  voll 
ist  von  durchdringendem  Verständnis  und  überzeugen¬ 
der  Beredsamkeit,  und  geschmückt  mit  ausgezeichneten 
Illustrationen,  deren  Vollkommenheit  so  gross  ist, 
dass  durch  die  Wahrheit  ihrer  Töne  und  Valeurs 
die  Meisterwerke  dieses  grossen  Künstlers  fast  in  ihrer 
Originalgestalt  vor  unseren  Augen  stehen. 

i)  L’Oeuvre  de  Eugene  Carriere.  Text  von  Gustave 
Geffroy.  (L’Edition  d’art,  H.  Piazza  &  Cie,  Rue  Jacob  4, 
Paris),  ln  Eolio,  56  Seiten  mit  Illustrationen  und  Mappe 
mit  75  Blättern. 


EUGENE  CARRIERE 


185 


Ehe  wir  aber  an  die  Schilderung  dieser  Meister¬ 
werke  herangehen,  ist  es  notwendig,  die  Gestalt  des 
Künstlers  und  des  Menschen  zu  skizzieren. 

Geboren  in  Gournay  (Seine  et  Marne)  am  1 7.  Januar 
184g  als  Sohn  eines  flandrischen  Vaters  und  einer 
elsässischen  Mutter  verbrachte  Carriere  seine  erste 
Kindheit  in  Strassburg,  aber  seine  ersten  Erinnerungen 
beziehen  sich  nur  auf  Dinge  der  Natur.  Carriere 
war  keines  jener  Wunderkinder,  die  schon  den  Stift 
in  ihre  kleinen  Händchen  nehmen,  in  einem  Alter, 
wo  ihre  Gefährten  sich  nur  mit  Spielsachen  beschäf¬ 
tigen.  Er  hat  Edmond  de  Goncourt  erzählt,  dass  er 
mit  achtzehn  Jahren  zum  erstenmal  das  Museum  in 
Strassburg  besucht  und  damit  angefangen  hat,  sich 
für  die  Kunst  zu  interessieren.  Erst  in  Saint  Quentin, 
wohin  seine  Eltern  im  folgenden  Jahre  übersiedelten, 
erwachte  in  ihm  vor  den  wunderbaren  Pastellen  von 
Quentin  de  la  Tour  die  Liebe  zur  Malerei,  und  Ed¬ 
mond  de  Goncourt  meint:  »Vielleicht  haben  diese 
Lehren  eines  der  grössten  Zeichner  des  menschlichen 


Gesichtes  ihm  jene  Liebe  zur  Konstruktion  gegeben, 
die  sich  später  in  seinen  Bildnissen  zeigt.« 

Um  sich  auszubilden  kam  der  junge  Mann  nach 
Paris  und  besuchte  die  Nationale  Kunstschule.  Dies 
war  im  Jahre  1870.  Plötzlich  brach  der  Krieg  aus. 
Carriere  trat  freiwillig  in  die  Truppen  ein,  wurde  in 
Neu-Breisach  mit  seinem  Bataillon  blockiert,  gefangen 
genommen  und  nach  Dresden  gebracht.  Dort  kam 
er  bei  einem  Ausgange  in  die  Gemäldegalerie,  und 
Rubens  wurde  zu  seinem  zweiten  Lehrmeister. 

Nach  Erankreich  zurückgekehrt,  trat  er  wieder  in 
die  Kunstschule  ein  und  besuchte  von  1872 — 76  den 
Kursus  des  akademischen  und  kalten  Malers  Cabanel. 
1876  bewarb  er  sich  um  den  Rompreis,  hatte  aber 
keinen  Erfolg  und  vertauschte  jetzt,  wie  Gustave  Geffroy 
sich  ausdrückt,  für  immer  die  Malerei  der  Akademie 
mit  der  Malerei  des  Lebens. 

Im  nämlichen  Jahre  stellte  er  zum  erstenmal  im 
Salon  aus:  das  Bildnis  seiner  Mutter,  eine  ernste  und 
gute  Gestalt,  die  bereits  den  Kern  aller  seiner  Vor- 


Abb.  2.  Eugene  Carriere 


Der  Enss  (Paris,  Luxembourg) 


EUGENE  CARRIERE 


136 


z:"~3  enthält  und  würdig  die  neue  Periode  seines 
Lebens,  «eine  Laufbahn  als  wahrer  Künstler,  eröffnet. 
!  Lid  voll  '/cn  Zuversicht  auf  seine  Arbeitsamkeit  ver- 
!  .  nd  er  :rn  nächsten  Jahre  sein  Schicksal  mit  dem 
;  . :  ^reurn  Gattin,  deren  Züge  er  auf  dem  von  uns 
f'rgegebenen  Selbstbildnis  (Abb.  i)  im  Hinter- 
M  ■  ;!'  dargestellt  hat,  gleichsam  als  die  gütige  Schutz- 
■  ■  tih  unzertrennliche  Gehilfin,  deren  Inspiration 
\,  i  -  alle  Ue  herrlichen  Gemälde  verdanken,  auf  denen 
der  Künstler  wieder  und  wieder  die  Mutterliebe  be¬ 
sungen  hat. 

Nach  der  Hochzeit  führte  ihn  ein  Luftschloss  nach 
London,  aber  hier  begegnete 
ihm  bald  die  Misere,  und 
nachdem  er  sechs  Monate 
lang  eine  unbegrenzte  Ener¬ 
gie  vergeudet  und  wie  Herr 
Seailles  sagt,  das  Wunder 
zu  leben  vollbracht  hatte, 
kehlte  er  nach  Paris  zurück, 
und,  wie  Carriere  selbst  sich 
ausdrückt,  das  Leben  und 
ich  nahmen  unsern  Lauf  wie¬ 
der  auf,  das  eine  hart,  der 
andere  eigensinnig«. 

Nun  folgte  eine  Zeit  un¬ 
ablässiger  Arbeit,  die  ihn  oft 
bis  spät  in  die  Nacht  hinein 
beschäftigte.  Versuche  aller 
Art,  unzählige  Studien,  wozu 
ihm  seine  Umgebung  die 
Inspiration  gaben:  die  Mutter 
und  das  Kind,  deren  zärtliche 
Liebe  sein  Leben  ausfüllte. 

Eine  Junge  Mutier,  die 
ihr  Kind  säugt«,  war  das 
Resultat  dieser  Studien.  Lei¬ 
der  wurde  das  in  den  Sa¬ 
lon  von  187g  gesandte  ISild 
so  hoch  gehängt,  dass  es 
unbemerkt  blieb;  später 
wurde  es  von  dem  Mu¬ 
seum  in  Avignon  erworben. 

Und  dann  folgten  in  jedem 
Jahre  Gemälde  (man  findet 
die  detaillierte  Liste  in  der 
Arbeit  von  Gustave  Geffroy),  deren  Themen  fort¬ 
gesetzt  seiner  Umgebung  und  seiner  Häuslichkeit  ent¬ 
nommen  waren:  Scenen  aus  dem  Familienleben,  Bild¬ 
nisse  von  Freunden,  worin  der  Künstler  mehr  und 
mehr  seine  Persönlichkeit  in  die  Gewalt  bekam,  und 
worin  er  sich  eine  immer  festere  und  prägnantere 
Sprache  schuf.  Unter  diesen  Arbeiten  verdienen 
einige  besondere  Erwähnung:  Das  Kind  mit  dem  Hund, 
1884,  das  eine  Erwähnung  im  Salon  erhielt;  im  fol¬ 
genden  Jahre  ein  viel  umstrittenes,  aber  allgemein  be¬ 
achtetes  Bild,  das  eine  dritte  Medaille  erhielt  und 
vom  Staat  angekauft  wurde:  Das  kranke  Kind  (Abb.  6); 
1886  Der  erste  Schleier  {khb.  4),  eines  der  schönsten 
Werke  Carriere’s  durch  die  ungesuchte  Wahrheit  der 
Komposition,  die  natürliche  und  doch  geschickte  Art, 


womit  die  Gruppen  verteilt  sind,  womit  die  einzelnen 
Figuren  durch  die  Luft  und  die  Lichtbewegungen 
nicht  minder  als  durch  die  Gemeinsamkeit  ihrer  Ge¬ 
fühle  miteinander  verbunden  sind.  Diese  reizende 
Arbeit  wurde  nach  langen  Jahren  ebenfalls  vom  Staat 
angekauft.  Die  Medaille  zweiter  Klasse  wurde  dem 
Künstler  von  seinen  Kameraden  im  folgenden  Jahre 
für  das  Bddnis  des  Bildhauers  Devillez  zugesprochen. 
Irn  Jahre  188g  endlich  wurde  Carriere  für  die  Ehren¬ 
medaille  vorgeschlagen  und  erhielt  bei  Gelegenheit 
der  Weltausstelhmg,  wo  er  mit  den  bereits  genannten 
und  anderen  Arbeiten  erschienen  war,  eine  silberne 

Medaille  und  das  Kreuz  der 
Ehrenlegion. 

Als  im  folgenden  Jahre 
die  Spaltung  zwischen  den 
Künstlern  zur  Gründung  der 
Societe  Nationale  des  Beaux- 
arts  führte,  wo  die  Zahl  der 
von  einem  Künstler  gesandten 
Werke  nicht  beschränkt  war 
und  wo  man  nicht  nur  fer¬ 
tige  Arbeiten,  sondern  auch 
Skizzen  und  Studien  aus¬ 
stellen  konnte,  gehörte  Car¬ 
riere  zu  den  Dissidenten  und 
konnte  von  da  an  jedesmal 
das  Resultat  einer  ganzen 
Jahresarbeit  zeigen.  Jetzt,  wo 
fertige  Gemälde  und  Studien 
nebeneinander  ausgestellt 
wurden,  gelangten  seine  Ar¬ 
beiten  besser  zur  vollen  Gel¬ 
tung  und  nahmen  allmäh¬ 
lich  das  Publikum  für  ihre 
Ästhetik  ein.  Von  diesen 
Ausstellungen  sind  im  Ge¬ 
dächtnis  besonders  haften 
geblieben:  1 8g  1  die  Bildnisse 
von  Daudet  und  Verlaine; 
i8g2  die  herrliche  Mutter¬ 
liebe,  die  vom  Staat  bestellt 
war  und  jetzt  im  Luxembourg 
hängt;  i8g5  das  Theater  von 
Batignolles ;  i8g6  das  litho¬ 
graphierte  Bildnis  von  Ed- 
mond  de  Goncourt;  iSgy  die  Kreuzigung  und  das 
lithographierte  Porträt  Verlainc's;  i8g8  das  Dekorative 
Gemälde  für  die  Sorbonne.  Auf  der  Weltausstellung 
von  igoo  erschienen  acht  dieser  Gemälde  und  fünf 
Lithographien.  Endlich  haben  drei  Sonderausstellungen, 
i8gi,  i8g6  und  im  gegenwärtigen  Jahre  eine  grosse 
Anzahl  der  Arbeiten  Carriere’s  dem  Publikum  zugäng¬ 
lich  gemacht  und  damit  das  Verfolgen  seiner  Ent¬ 
wickelung  wesentlich  erleichtert. 

5k  * 

5k 

Man  kann  in  dieser  Entwickelung  drei  Perioden 
unterscheiden. 

Ganz  im  Anfang  ist  der  Maler  selbstverständlich 
von  Quentin  de  la  Tour  und  Rubens  beeinflusst;  er 


Abb.  3.  E.  Carriere.  Kind  mit  Kragen 


EUGENE  CARRIERE  Abb.  4  DER  ERSTE  SCHLEIER 


EUGENE  CARRIERE 


1 89 


Abb.  5.  E.  Carriere.  Das  Theater  in  Bat igno lies 


liebt  den  schönen  fetten  Farbenauftrag  und  die  zart 
abgestuften  Töne.  Es  ist  die  Zeit  der  hübschen  Bild¬ 
nisse  kostümierter  Kinder  (Abb.  3):  Das  Kind  mit 
dem  Kragen,  Das  Kind  mit  dem  Teller,  Das  Kind 
mit  dem  Hunde,  von  dem  mehrere  Wiederholungen 
existieren,  deren  besonders  schöne  Herrn  Lucien  Sauphar 
gehört  und  bei  der  jüngsten  Ausstellung  in  der  Galerie 
Bernheim  ebenfalls  gezeigt  wurde,  ferner  einige  kleine 
Mädchen,  deren  Haare  hübsch  mit  einem  Bändchen 
geschmückt  sind,  die  mit  Lesen  und  Rechnen  an 
den  Fingern  beschäftigt  sind,  oder  die  der  Mutter 
bei  der  Toilette  des  Brüderchens  helfen,  entzückende 
Bilder,  die  durch  ihre  graue  Silbertonalität,  belebt 
durch  einen  rosigen  Fleck  hier  und  da,  die  Bezeich¬ 
nung  »Velasquez  der  Volksanmut«,  den  Geffroy  dem 
Carriere  dieser  Epoche  giebt,  rechtfertigen,  ln  diese 
Zeit  fallen  auch  zahlreiche  rührende  Familienscenen 
und  besonders  der  Mutterliebe  gewidmete  Arbeiten, 
Themen,  die  er  vom  ersten  Tage  an  mit  Meister¬ 
schaft  beherrscht  und  denen  er  einen  genrehaften  Zug 
giebt. 

Aber  bald  verändert  sich  seine  Technik  unmerk¬ 
lich,  und  nach  und  nach  wird  der  Meister  immer 
mehr  von  den  Erscheinungen  des  Lebens  eingenom¬ 
men;  der  Wunsch,  diese  wiederzugeben,  wird  immer 
stärker  in  ihm:  er  sucht  die  allgemeine  Wahrheit  und 
ihren  konzentrierten  Ausdruck.  Nach  und  nach  unter¬ 
drückt  er  alles,  was  nicht  absolut  notwendig  zu  seiner 
Absicht  ist,  er  synthetisiert  die  Formen  immer  mehr 
und  unterdrückt  sogar  die  Farbe  oder  wenigstens 
das,  was  man  gemeiniglich  unter  dem  Namen  »Farbe« 
versteht,  um  nur  das  übrig  zu  lassen,  was  er  für 
wichtig  hält,  und  um  diesem  Wichtigen  seinen  ganzen 
Wert  zu  geben. 

Und  zuerst  wählt  und  verallgemeinert  er  wie  alle 
grossen  Künstler.  G.  Seailles,  der  über  Carriere  ein 


verständnisvolles  kleines  Buch  geschrieben  hat,  zeigt 
mit  bewundernswürdiger  Klarheit,  wie  viel  mensch¬ 
liche  Wahrheit  und  Tiefe,  verbunden  mit  zärtlicher 
Liebe,  in  den  zahlreichen  Bildern  der  Ahitterliebe 
enthalten  ist,  wovon  das  Bild  im  Luxembourg,  das 
wir  hier  wiedergeben  (Abb.  2),  gleichsam  die  Synthese 
ist;  wie  sehr  Carriere  nicht  nur  die  mütterlichen  Be¬ 
wegungen  festgehalten  hat,  sondern  auch  das,  was  in 
ihr  von  der  Fruchtbarkeit  der  elementaren  Kräfte  ge¬ 
blieben  ist,  wie  z.  B.  in  dem  y> Schlummer wo  die 
Mutter  am  Bette  ihres  Kindes  eingeschlafen  ist;  und 
was  in  ihr  Ernstes  und  Religiöses  lebt. 

Diese  Kunst  sucht  indessen  weder  das  Symbol 
noch  das  abstrakte  Ideal:  sie  schaut  in  sich  und  um 
sich,  und  gerade  weil  Carriere  in  seine  Beobachtungen 
alle  seine  Liebe  als  Gatte  und  Vater  gelegt  hat,  ist 
er  so  ausserordentlich  wahr  und  menschlich. 

Um  diese  Scenen  und  Bewegungen  in  ihrer  ganzen 
allgemeinen  und  ewigen  Wahrheit  den  Augen  vor¬ 
zustellen,  bedient  sich  Carriere  einer  Technik,  worin 
wiederum  die  Synthese  die  grösste  Rolle  spielt.  Zu 
gleicher  Zeit,  wo  er  sich  von  den  äusseren  Be¬ 
dingungen  wie  Dekor,  Hausrat,  Kostüm  freimacht, 
setzt  er  seine  Personen  in  eine  besondere  Atmosphäre, 
entfernt,  wenn  man  will,  von  der  Wirklichkeit,  aber 
durchaus  seiner  eigentümlichen  Auffassung  angepasst, 
wonach  die  Figuren  nicht  als  scharf  begrenzte  Sil¬ 
houetten  erscheinen,  durch  scharfe  und  ideale  Linien, 
welche  die  Natur  nicht  kennt,  geschieden  (denn,  wie 
Gustave  Geffroy  mit  Recht  sagt,  die  Form  zeigt  auf 
keinem  einzigen  Punkte  eine  Auflösung  des  Zusammen¬ 
hanges,  und  gerade  das  macht  die  weise  und  feine 
Kunst  so  schwer  und  so  selten,  die  es  versteht,  die 
ganze  Form  in  einer  konventionellen  Linie  einzu- 
schliessen  und  zur  Geltung  zu  bringen  wie  die  Zeich¬ 
nungen  von  Hokusai  und  Ingres),  sondern  er  zeigt 


EUGENE  CARRIERE 


190 


sie  in  ihrem  Volumen,  in  der  Dichtigkeit  ihrer  Formen. 
Diese  Ästhetik  oringt  ihn  dazu,  nicht  mit  dem  er¬ 
wähnten  ;:onventione;ien  Striche  anzufangen,  sondern 
mi.  ihm  aifzuhören,  indem  er  seine  Formen  wie  ein 


bildhai  -  r  fesü‘!:w,  modelliert  von  Lichtern  und  Schat- 
icn.  Und  Ur.zig  jekümnn  -rt  um  die  Grundbedingung 
der  A'flew':  äe  -.Vitdergabe  der  runden  Formen 
:•  •ah  :  ,  d'-ächen,  auf  der  anderen  Seite  be- 

geiu^G  .,  !•  ’u  Gdurlieit,  die  immer  abstrakter  und 
-iä''  '.itfern;  er  allmählich  alle  Farbe 

lind  :  . 

e.!'-  -■  i 


•e  L‘- dl  -'uu 
Swudten  Ifasis 
■■ui  Veibindimg 
Lier  Komposition 
dienen:  ideale 

Zwischenwelt,  aus 
der  Wirklichkeit 
entsprungen,  darin 
die  Natur  sich  in 
all  ihrer  magischen 
Schönheit  spiegelt 
(Maurice  Hamei). 

So  rechtfertigt  sich 
die  von  Jean 
Dolent  gegebene 
Definition  der 
Werke  Carriere’s: 

Wahrheiten  mit 
der  Magie  des  Trau 
mes' .  Wahrheit, 

Ideal:  liegt  nicht 
darin  der  ganze 
Zweck  jeder  Kunst? 

Daraufhin  ist 
das  Publikum,  be¬ 
reit  alles  zu  ver¬ 
dammen,  was  es 
nicht  versteht,  und 
feindselig  gegen 
alles,  was  seine 
Gewohnheiten 
stört,  zuerst  er¬ 
staunt,  dann  hat 
es  sich  lustig  ge¬ 
macht  über  die¬ 
sen  »Rauch',  über 
diesen  »Nebel  ,  worin  Carriere  seine  Figuren 
ertränkt,  und  niehts  würde  diesem  Publikum  para¬ 
doxer  Vorkommen,  als  wenn  man  von  der  Farbe 
Carriere’s  sprechen  wollte.  Wenn  es  aber  wahr  ist, 
dass  die  Farbe  nicht  in  der  Zusammenstellung  ver¬ 
schiedener  Töne,  in  ihrer  Versehiedenheit  und  Inten¬ 
sität  zu  suchen  ist,  sondern  ausschliesslich  in  ihrer 
Harmonie,  so  darf  man  Carriere  für  einen  Koloristen 
in  seiner  Art  halten,  und  diese  Art  ist  sieherlich  die 
riehtige,  sintemalen  sie  durchaus  seiner  Auffassung 
der  Kunst  und  seiner  ernsten  Rührung  vor  dem  Leben 
entspricht  und  den  Sinn  seiner  Arbeit  ausserordent¬ 


lich  verklärt  und  deutet.  Es  ist  ein  sonderbares  Ver¬ 
langen,  sagi  Gustave  Geffroy,  von  den  Künstlern,  und 
hier  sind  nur  die  wirklichen  Künstler  gemeint,  zu 
verlangen,  ihre  Werke  anders  zu  sehaffen,  als  sie 
ihrer  künstlerischen  Eigenart  nach  sein  müssen.  Wenn 
die  Wünsche  dieser  Kritiker  erfüllt  würden,  gäbe  es 
hinfort  nur  noch  neutrale  Arbeiten  ohne  jede  Über¬ 
treibung,  zahme,  korrekte  und  langweilige  Arbeiten. 
Lasst  uns  die  Äpfel  am  Apfelbaum  und  die  Pfirsiche 
am  Pfirsichbaume  bewundern,  ohne  ihre  Plätze  aus- 

tauschen  zu  wol¬ 
len! 

Was  liegt  über¬ 
haupt  an  dem  Ver¬ 
fahren,  wenn  es 
der  Künstler  nur 
versteht,  uns  eine 
eigentümliche  und 
gefühlvolle  Vision 
der  Natur  und  seine 
eigene  Rührung 
mitzuteilen?  Und 
wer  kann  leugnen, 
dass  dies  bei  Car¬ 
riere  der  Fall  ist? 

Wer  kann  es 
leugen  vor  seinen 
unzähligen  Studien 
von  Müttern  und 
Kindern,  beobach¬ 
tet  an  jedem  Augen¬ 
blick  des  Tages, 
in  jeder  ihrer  Be¬ 
wegungen  un- 
endliehe  Varia¬ 
tionen  eines  The¬ 
mas,  das  dem 
Künstler  ganz 
ausserordentliche 
Schwierigkeiten 
bietet,  und  dem  er, 
ohne  jemals  in  die 
banale  Anekdote 
zu  verfallen,  so 
wahre  und  liebe¬ 
volle  Accente  abge¬ 
winnt;  vor  seinen 
Bildern  der  Mutter¬ 
liebe,  die  Edmond 
de  Goncourt  mit  Recht  mit  den  Schöpfungen  der  reli¬ 
giösen  Maler  vergleichen  konnte,  mit  jenem  göttlichen 
Motiv,  das  uns  alle  Gemälde  des  alten  Italiens  von 
Cimabue  bis  auf  Raffael  zeigen,  und  das  er  auf¬ 
gegriffen  hat,  indem  er  dem  bürgerlichen  Vorwurfe 
der  modernen  Mutterschaft  die  Grösse  und  Einfalt 
jener  alten  Meisterwerke  zu  geben  wusste? 

Wer  kann  es  leugnen  vor  seinen  zahlreichen  Bild¬ 
nissen:  Frauen  oder  junge  Mädchen,  deren  ange¬ 
borenem  Reize  die  Technik  Carriere’s  einen  eigen¬ 
tümlichen  poetischen  Ausdruck  verleiht,  und  die  wie 
das  auf  der  Ausstellung  von  igoo  so  sehr  bewunderte 


Abb.  6.  E.  Carriere.  Das  kranke 


EUGENE  CARRIERE 


und  jetzt  mit  grossem  Vergnügen  wiedergesehene 
schöne  Porträt  von  Madame  Caplain  mit  ihrem  Töch- 
terchen,  das  von  Mademoiselle  Seailles,  von  Ma¬ 
dame  Oallimard  u.  s.  w.  mit  diesem  verführerischen 
Reiz  die  Grösse  des  Stiles  vereinen?  Vor  den  ge¬ 
malten  oder  lithographierten  Bildnissen  berühmter 
Männer,  seiner  Kameraden  in  Kunst  oder  Wissen¬ 
schaft:  Elisee  Rechis  (Abb.  7),  Blanqai,  Edmond  and 
Jules  de  Qoncoiirt,  Piivis  de  Chavannes ,  Paul 
Verlaine,  Daudet  (zweimal,  allein  und  mit  seiner 
Tochter),  Rodin,  Rochefort,  Gustav  Geffroy,  der  Oberst 
Picquart  u.  s.  w.,  in  denen  das  Innenleben  sich  so  stark 
ausspricht,  dass  es  sich  hier  weniger  um  die  Porträts 
bestimmter  Personen  als  vielmehr  um  die  Wieder¬ 
gabe  der  in  ihren  Eormen  wohnenden  Intelligenz 
handelt,  dergestalt,  dass  diese  Bildnisse  höchst  inter¬ 
essante  psychologische  Dokumente  sind? 

Einige  Kompositionen,  worin  wie  in  den  soeben 
besprochenen  Darstellungen  der  Mutterliebe  gewisser- 
massen  der  Geist,  der  sie  schuf,  in  dem  Rhythmus 
der  Linien  zittert,  beweisen  wie  sie  diese  Sensibilität 
der  Seele,  diese  brüderliche  Gemeinsamkeit  in  Ereude 
und  Schmerz,  dieses  Streben  nach  synthetischer  und 
tiefer  Wahrheit. 

Da  ist  vor  allen  Dingen  das  Theater  von  Bati- 
gnolles  (Abb.  5),  das  im  Salon  von  1895  ausgestellt 
war  und  jetzt  Herrn  Paul  Gallimard  gehört.  Besonders 
vor  dieser  Arbeit,  welche  so  sehr  die  Erwartungen 
des  bei  solchen  Themen  an  den  Glanz  von  Rot  und 
Gold  gewöhnten  Publikums  enttäuschte,  fehlte  es 
nicht  an  Spott  über  den  von  dem  Künstler  beliebten 
»Nebel«.  Man  fragte  sich  nicht,  ob  der  Maler,  der 
nicht  eine  Vorstellung  oder  ein  Theater,  sondern  den 
Eindruck,  den  diese  Vorstellung  auf  die  Menge  macht, 
darstellen  wollte,  nicht  absichtlich  ein  Volkstheater 
gewählt  hatte,  wo  die  Zuschauer  sich  mit  Leib  und 
Seele  den  Absichten  des  Dramas  ausliefern,  und  ob 
dieses  Theater  nicht  weniger  brillant  erleuchtet  sei 
als  die  Oper.  Und  es  trifft  sich,  dass  das  Theater 
in  Batignolles  gerade  mit  Bezug  auf  Dekorationen  und 
Beleuchtung  nur  sehr  bescheiden  versorgt  ist,  und 
dieser  graue  Raum,  gleichsam  mit  einem  sichtbaren 
grauen  Nebel  angefüllt,  der  alle  lebhaften  Earbentöne 
unterdrückt,  war  gerade  der  richtige  neutrale  Rahmen, 
um  die  Zuschauergruppen  zur  vollen  Geltung  zu 
bringen,  die  Carriere  malen  wollte,  jene  anonyme 
Volksmenge,  die  nicht  ins  Theater  geht,  um  sich  zu 
zeigen  und  um  Toiletten  zu  sehn,  sondern  einzig  um 
sich  zu  unterhalten,  und  bei  der  infolgedessen  der 
Künstler  weiter  nichts  als  die  Aufmerksamkeit  und 
den  Genuss  wiederzugeben  hatte.  Und  in  der  That 
hat  er  uns  durch  die  von  ihm  beliebte  Vereinfachung 
nicht  ein  bestimmtes  Theater  gezeigt,  sondern  über¬ 
haupt  das  Theater  und  im  besondern  das  Volks¬ 
theater. 

Zwei  Jahre  später  zeigte  die  Kreuzigung  unsern 
Künstler  bei  der  Bewältigung  einer  weit  höhern  Auf¬ 
gabe,  bei  der  Darteilung  des  sublimsten  Dramas.  Es 
ist  erlaubt  zu  bedauern,  dass,  um  auf  der  Höhe  einer 
solchen  Aufgabe  zu  stehen,  der  Künstler  nicht  zu¬ 
gleich  ein  Gläubiger  gewesen  ist,  dergestalt,  dass  uns 

Zcitsclirift  für  hilciciule  Kunst.  N.  1'.  XIV.  II.  8. 


1  Ql 

Carriere  an  Stelle  des  evangelischen  Heilandes  nur 
einen  finstern  Verurteilten  gezeigt  hat,  der  in  ent¬ 
schlossener  Auflehnung  stirbt  und  mit  einer  gewaltsam 
protestierenden  Bewegung  die  Arme  gen  Himmel 
erhebt.  Aber  welche  ergreifende  Erscheinung,  dieses 
von  Leiden  durchwühlte  Antlitz,  diese  verzweifelte 
Mutter  zu  Eüssen  ihres  Sohnes,  mit  verzerrtem  Ge¬ 
sichte  auf  die  gefalteten  Hände  herabgebeugt,  mit  dem 
packenden  Ausdrucke  unendlichen  Schmerzes!  Dieses 
schöne  Werk  könnte  zu  den  herrlichsten  Meister¬ 
werken  der  religiösen  Kunst  gerechnet  werden,  wenn 
der  Geist,  der  es  durchweht,  sich  bis  zum  über¬ 
natürlichen  erhöbe,  wenn  dieser  Sterbende  und  diese 
Mutter,  ohne  von  ihrer  Tragik  einzubüssen,  einen 
weniger  irdischen  Schmerz  erduldeten.  Die  Aus¬ 
stellung  des  letzten  Monats  zeigte  uns  ausserdem 
zwei  Bilder,  die  wie  Elügel  eines  Triptychons  aus¬ 
sahen  und  ohne  Zweifel  zur  Begleitung  dieser  Kreu¬ 
zigung  bestimmt  waren.  Man  erblickte  darauf  weib¬ 
liche  Gestalten  und  kniende  Kinder  in  der  Art  der 
Stifter  auf  den  Bildern  der  primitiven  Maler.  Zu¬ 
sammen  mit  dem  Mittelbilde,  somit  die  tägliche 
Menschheit  mit  dem  Opfertode  Christi  verbindend 
und  auf  diese  Weise  dieses  ewige  Thema  verjüngend 
und  erweiternd,  hätten  sie  die  ergreifende  Bedeutung 
der  Kreuzigung  ausserordentlich  vertieft. 

Alle  die  von  uns  genannten  Vorzüge  müssten 
Carriere  für  grosse  dekorative  Arbeiten  in  die  erste 
Reihe  stellen,  aber  der  Künstler,  dem  Puvis  de 
Chavannes  prophezeit  hat,  die  Aufträge  würden  ihm, 
wie  Puvis  selber,  erst  spät  zukommen,  hat  bei  der 
Dekoration  des  Pariser  Stadthauses  nur  zwölf  Zwickel 
auszumalen  gehabt  in  einem  Saale,  dessen  Plafond 
von  Besnard  und  die  Wände  von  Jeanniot  gemalt 
sind.  (Wann  wird  man  sich  doch  bei  den  offiziellen 
dekorativen  Aufträgen  um  die  Gesetze  der  Einheit 
und  Harmonie  kümmern?)  Carriere  hat  es  verstanden, 
seine  bescheidenen  Graumalereien  mit  diesen  so  ver¬ 
schiedenen  Gemälden  in  Einklang  zu  bringen;  er  hat  Ge¬ 
stalten  von  Erauen  und  Kindern  hergestellt,  die  Künste 
und  Wissenschaften  symbolisierend  und  in  ihren 
Stellungen,  Bewegungen  und  Gesichtszügen  alle  Be¬ 
geisterung,  Leidenschaft  und  schmerzliche  Regung 
ausdrückend,  die  unsere  Epoche  charakterisieren. 

In  der  Sorbonne,  wo  er  den  Auftrag  hatte,  den 
Saal  des  freien  Unterrichtes  auszumalen,  konnte 
er  glücklicherweise  sein  Talent  auf  einem  weiteren 
Felde  bethätigen.  Auch  hier  hat  Carriere  alle  Leiden¬ 
schaften  und  allen  Enthusiasmus  unserer  Zeit  dar¬ 
gestellt,  und  auf  die  einfachste  Weise:  er  hat  vor 
unsern  Augen  das  Schauspiel  aufgerollt,  das  er  täg¬ 
lich  von  seinen  Fenstern  aus  sieht,  das  Panorama 
von  Paris  von  den  Belleviller  Höhen  aus,  die  Ansicht 
der  ungeheuren  Stadt,  gebräunt  durch  den  Rauch 
und  Staub  der  Arbeit,  »wo  hie  und  da  wie  ebenso- 
viele  einsame  und  dauernde  Ideen  die  grossen  Bau¬ 
werke  aus  der  wimmelnden  Menge  der  anonymen 
Wohnhäuser  aufragen«  (G.  Seailles).  Und  um  gewisser- 
massen  die  von  diesem  Schauspiel  wachgerufene  Be¬ 
wegung  konkreter  zu  machen,  hat  er  in  den  Vorder¬ 
grund  des  Gemäldes  zwei  Frauen  gestellt,  die  eine 


^5 


192 


EUGENE  CARRIERE 


schon  bejahrt,  sitzend,  gleichsam  des  Lebens  müde, 
die  andere  jünger,  stehend  und  eine  unvergessliche 
Bewegung  von  Hoffnung  und  Ekstase  machend. 

Diese  Vision  von  Paris  bringt  uns  zu  den  von 
Carriere  gemalten  Landschaften,  zumeist  Ansichten 
aus  der  Bretagne  und  aus  den  Pyrenäen,  wo  für  ihn 
die  Erde,  die  Gewässer,  die  Bäume,  die  Hügel  die 
nämliche  Sprache  wie  die  Menschen  reden.  Auch 
hier  kümmert  er  sich  einzig  um  die  Eormen  und  um 
das  Spiel  des  Lichtes,  unterdrückt  alle  Verschieden¬ 
heit  der  Koloration  und  giebt  uns  nur  eine  schema¬ 
tische  Synthese  der  Natur,  die  oft  zu  einer  ergreifen¬ 
den  melancholischen  Grösse  aufsteigt. 


Endlich  ist  Carriere  —  und  dies  könnte  man  seine 
dritte  Periode  nennen  —  folgerichtig  zu  einer  noch 
vereinfachteren  Malerei  gelangt:  grosse,  breite,  solide 
konstruierte  Elächen,  in  einen  allgemeinen  grauen  Ton 
getaucht,  zumeistCharakterköpfe,wiedas  von  uns  wieder¬ 
gegebene  '^Nachdenken«  (s.  die  Tafel).  Das  sind  die 


schönsten  Skulpturen  im  Salon,«  sagte  im  letzten 
Jahre  ein  verständiger  Kenner  vor  einer  Reihe  dieser 
herrlichen  und  ausdrucksvollen  Köpfe.  Carriere,  der 
übrigens  selbst  modelliert  und  ausser  einem  weib¬ 
lichen  Gesicht  ein  Denkmal  Verlaine's  für  die  Stadt 
Nancy  geschaffen  hat,  nähert  sich  hier  dem  Bild¬ 
hauer  Rodin,  über  den  er  bei  Gelegenheit  der  Aus¬ 
stellung  Rodin’s  im  Jahre  igoo  als  Vorwort  zu  seinem 
Kataloge  so  umfassende  und  schöne  Dinge  geschrieben 
hat:  beide  Künstler  haben  die  nämliche  ästhetische 
Anschauung  und  bedienen  sich  der  gleichen  Technik, 
und  man  kann  sie  gegenwärtig  für  die  hervor¬ 
ragendsten  französischen  Vertreter  jener  Kunst  halten, 
die  wir  zu  Eingang  dieses  Aufsatzes  definiert  haben. 

So  hat  sich  in  vollkommener  Einheit  die  Ent¬ 
wickelung  dieses  empfindsamen  und  nachdenklichen 
Geistes  vollzogen.  Ohne  aufzuhören  ihn  zu  bewun¬ 
dern,  möchten  wir  trotzdem  wünschen,  dass  die 
strenge  Auffassung,  zu  der  er  jetzt  gelangt  ist,  ihn 
nicht  verhindere,  wieder  und  wieder  in  seiner  immer 
beredter  gewordenen  Sprache  mit  dem  unendlichen 
Reichtum  des  Lebens  unsere  Seele  zu  erfüllen. 


Abb.  j.  E.  Carriere.  Bildnis  des  Elisee  Rechts 


Abb.  1.  Wilhelm  v.  Humboldt  und  Oeorg  Zoega.  Skizze  von  Thorvaldsen 


THORVALDSEN  UND  ZOEGA 

Von  Ad.  Michaelis 


Als  Bartel  Thorvaldsen  am  8.  März  1797  in 
Rom  einzog,  ein  in  der  Technik  seiner  Kunst 
wohlbewanderter,  sonst  aber  ganz  ungebildeter 
Jüngling  von  26  Jahren  mit  noch  schlummernder 
Psyche,  war  er  ganz  natürlich  an  Georg  Zoega  als 
an  seinen  Mentor  gewiesen.  Zoega,  dem  sein  grösster 
Schüler  Friedrich  Gottüeb  Welcher  ein  höchst  an¬ 
ziehendes  biographisches  Denkmal  gesetzt  hat,  stammte 
aus  einer  vornehmen  oberitalienischen  Familie,  aber 
ein  Zwist  hatte  zweihundert  Jahre  vorher  seinen  Ahnen 
an  die  Ostsee  geführt;  dort  waren  seine  Nachkommen 
Generationen  hindurch  als  Pastoren  thätig  gewesen, 
und  in  einer  damals  jütischen  Enklave  des  Herzog¬ 
tums  Schleswig  war  Zoega  1755  geboren.  Alle  An¬ 
regungen  und  Stimmungen  der  Sturm-  und  Drang¬ 
zeit  hatte  der  Jüngling  in  sich  aufgenommen,  daneben 
aber  war  er  in  Göttingen  durch  Heyne  in  ebenso 
tiefe,  wie  weitgreifende  Altertumsstudien  eingeführt 
worden.  Auf  einer  Studienreise  hatte  er  1783  in 
Rom  die  bildschöne  und  leidenschaftliche  junge  Maria 
Pietruccioli  geheiratet  und  war  durch  diese  Ehe 


bleibend  an  Rom  gefesselt  worden,  ohne  doch  seine 
Verbindung  mit  Gönnern  und  Freunden  in  Kopen¬ 
hagen  ganz  aufzugeben.  Er  lieferte  dorthin  regel¬ 
mässige  Berichte  über  die  Erscheinungen  des  römischen 
Kunstlebens  und  ward  zum  Mitglied  der  Kopen- 
hagener  Kunstakademie  ernannt.  Während  er  einen 
ausserordentlichen  Fleiss  auf  seine  gelehrten  Arbeiten, 
numismatische,  ägyptologische,  archäologische  Werke 
ersten  Ranges,  verwandte,  fand  er  doch  noch  immer 
Zeit,  gelehrten  oder  kunstsinnigen  Fremden,  meistens 
Dänen  und  Deutschen,  die  Schätze  der  ewigen  Stadt, 
namentlich  die  Antiken,  deren  vornehmster  Kenner 
er  war,  zu  zeigen  und  sie  durch  knappe  anregende 
Bemerkungen  in  deren  Verständnis  einzuführen.  Es 
war  nur  eine  Anerkennung  von  Zoega’s  Verdiensten, 
wenn  er  1798  zum  dänischen  Agenten  und  Konsul 
ernannt  ward,  ein  Amt,  das  er  mit  der  gleichen  Ge¬ 
wissenhaftigkeit  verwaltete,  die  er  in  seinen  wissen¬ 
schaftlichen  Arbeiten  stets  bewährt  hat. 

Thorvaldsen  war  schon  als  Däne  und  Stipendiat 
der  Kopenhagener  Kunstakademie  auf  Zoega  hinge- 


25 


THOKVALDSEN  UND  ZÜtüA 


wiesen,  brachte 
aber  auch  noch 
eine  besondere 
Empfehlung  von 
Zoega’s  Freund, 
dem  Kopenhage- 
ner  Professor  Fr. 
Münter,  mit.  Frei¬ 
lich  war  der  erste 
Eindruck,  den 
der  verschlafene 
Jüngling  auf  Zoe- 
ga  machte,  nicht 
günstig;  in  star¬ 
ken  Worten  ta¬ 
delte  er  die  Aka¬ 
demie,  dass  sie 
ganz  ungebildete 
Menschen,  ohne 
jede  Kenntnis 
von  Geschichte 
und  Mythologie, 
gerade  nach  Rom  schicke,  wo  die  ganze  Umgebung, 
jedes  Kunstwerk  solche  Kenntnisse  voraussetze.  In¬ 
dessen  erkannte  er  doch  bald  den  Genius,  der  in  dem 
Landsmann  schlummerte,  und  neben  dem  kranken 
Asmus  Carsten,  dessen  Verkehr  Thorvaldsen  noch 
ein  Jahr  lang  geniessen  konnte,  war  es  namentlich 
Zoega,  der  sich  keine  Mühe  verdriessen  liess,  die 
Lücken  in  Thorvaldsen’s  Bildung  auszufüllen  und 
ihm  das  Verständnis  der  Antiken  aufzuschliessen  M, 
deren  Zahl  damals  freilich  durch  die  Wegführung 
der  Hauptstücke  nach  Paris  arg  gelichtet  ward.  Als 
sich  Thorvaldsen  endlich  zu  seinem  lason  aufgerafft 
hatte,  empfand  Zoega  in  der  allgemeinen  Anerkennung 
dieses  Werkes,  vor  dem  auch  Canova  sich  beugte, 
ein  Stück  eigenen  Erfolges,  und  wenige  Jahre  später, 
1805,  bekannte  er  eine  lebhafte  Freude,  die  Begabung 
des  damals  schon  allgemein  neben  Canova  gestellten 
Nordländers  früher  als  die  anderen  erkannt  zu  haben. 

Seit  1802  lebte  auch  Wilhelm  von  Humboldt  als 
preussischer  Gesandter  in  Rom,  der  Mann,  der  es 
mit  seiner  Frau  wie  wenige  verstand,  die  besten  und 
edelsten  Kräfte  in  reger  und  freudiger  Thätigkeit  auf¬ 
gehen  zu  lassen  .  Er  war  Zoega’s  Nachbar  in  der 
Via  Gregoriana,  dieser  unterrichtete  seine  älteste 
Tochter  im  Griechischen,  und  an  der  sehr  belebten, 
wissenschaftlich  wie  künstlerisch  angeregten  Gesellig¬ 
keit  des  Humboldt’schen  Hauses  nahmen  sowohl 
Zoega,  wie  bald  darauf  auch  Thorvaldsen  teil,  der 
hier  auch  mit  Rauch  zusammentraf.  Eine  hübsche 


1)  Ad.  Rosenberg,  der  in  seinem  »Tliorwaldsen« 
S.  12  Zoega  zu  einem  reichen  Manne  macht,  sagt  S.  15 
von  Thorvaldsen;  »Wo  er  den  Lehren  Zoega’s  folgte, 
der  den  Höhepunkt  der  antiken  Kunst  in  den  röntisch- 
etrnskischen  Thonreliefs  [was  heisst  das?]  and  in  den  Vasen¬ 
malereien  der  Etrusker  [so!]  sah,  da  geriet  er  in  eine 
trockene  Manier,  die  nur  sein  angeborenes  Schönheits¬ 
gefühl  etwas  erträglicher  machte.  Woher  Rosenberg  das 
nur  weiss?  Falscheres  und  Ungerechteres  lässt  sich  gar 
nicht  ersinnen. 


Abb.  2.  Skizze  Thorvaldsen’s 


Erimierung  an  diesen  Verkehr  bietet  die  an  der  Spitze 
dieses  Aufsatzes  wiedergegebene  Zeichnung  Thor¬ 
valdsen’s  (Abb.  1),  die  sich  unter  den  Schätzen  des 
Thorvaldsenmuseums  in  Kopenhagen  findet;  ich  ver¬ 
danke  deren  Photographie  der  Güte  meines  verehrten 
Freundes,  Professor  Ussing  in  Kopenhagen.  Der  so 
überaus  charakteristische  Kopf  Humboldt’s,  mit  der 
eingezogenen  Stirn,  dem  starken  Vorsprung  der  Brauen, 
dem  grossen  Auge,  ist  unverkennbar,  wenn  wir  auch 
mehr  an  die  Züge  des  Greises,  wie  sie  Krüger  ver¬ 
ewigt  hat,  gewöhnt  sind.  Thorvaldsen  hatte  den 
Kopf  zuerst  mehr  von  vorn  gezeichnet,  dann  aber 
diesen  Versuch  ausgestrichen  und  den  Kopf  von  neuem 
in  strengem  Profil  gezeichnet,  um  ihm  so  das  Bild 
seines  Lehrers  gegenüberzustelleiU).  Zoega,  damals 
erst  etwa  fünfzigjährig,  erscheint  älter;  häufige  Krank¬ 
heiten,  beständige  häusliche  Nöte,  angestrengteste 
Arbeit  um  der  Wissenschaft,  wie  um  des  täglichen 
Brotes  willen  hatten  den  Mann  früh  altern  lassen. 
Aber  die  hohe  Stirn,  das  seelenvolle  Auge  und  der 
feine  Zug  um  den  Mund  (dessen  Bildung  mit  der 
vortretenden  Unterlippe  in  Dänemark  häufig  begegnet) 
verraten  den  tiefsinnigen  und  feinsinnigen,  scharfe 
Beobachtung  mit  eingewurzelter  Neigung  zum  Mysti¬ 
zismus  verbindenden  Forscher.  Die  zusammenge¬ 
sunkene  Haltung  wird  nicht  allein  eine  Folge  des 
Alters  sein,  sondern  rührt  wohl  auch  daher,  dass 
Zoega,  wie  eine  Linie  zu  verraten  scheint,  sitzend 
und  an  die  Stuhllehne  zurückgelehnt  aufgenommen 
ward.  Wir  glauben  uns  in  das  Humboldt’sche 
Zimmer  versetzt  und  begreifen  das  Interesse,  mit 
dem  der  junge  Künstler  den  charakteristischen  Gegen¬ 
satz  in  den  Zügen  seiner  beiden  Gönner,  wie  sie 
sich  miteinander  unterhalten,  mit  wenigen  Strichen 
festhielt.  Die  Zeichnung  muss  vor  dem  Herbst  1808, 
wo  Humboldt  Rom  verliess,  entstanden  sein. 

Aber  auch  sonst  haben  Zoega’s  scharfe  und  aus¬ 
drucksvolle  Züge  Thorvaldsen’s  Stift  beschäftigt.  Ein 
anderes  Blatt  im  Thorvaldsenmuseum,  das  durch  den 
Entwurf  einer  Gruppe  für  das  Schloss  Christiansborg 
(Herakles  und  Hebe) 
etwa  ins  Jahr  1 805 
datiert  wird,  führt 
Zoega  noch  zwei¬ 
mal  in  flüchtigen 
Umrissen  vor.  Die 
eine  Skizze  (Abb.  2) 
giebt  das  gleiche  Pro¬ 
fil  wie  jene  Doppel¬ 
zeichnung,  nur  noch 
schärfer  und  magerer, 

Nase  und  Kinn  noch 
spitzer;  die  andere 

1)  Zoega’s  Bild¬ 
nis  ist  danach  bereits 
mitgeteilt  in  der 
»Strassbnrger  Fest¬ 
schrift  zur  46.  Ver¬ 
sammlung  deutscher 
Philologen«  (Strass¬ 
bing,  1901),  S.  1. 


Abb.  3.  Kai'ikatiir  von  einem 
Skizzenblatte  Thorvaldsen’ s 


THOKVALDSEN  UND  ZOtGA 


195 


(Abb.  3)  krönt  die  kaiikaturartig  vergröberten  Züge 
mit  ein  paar  Hörnern!  Das  ist  ein  grausamer  Spott 
des  übermütigen  Künstlers.  Wer  weiss,  dass  Fernow 
(auch  ein  Mitglied  des  Kreises,  der  sich  um  Humboldt 
und  Zoega  gebildet  hatte)  in  seinem  anonym  er¬ 
schienenen  »Sitten-  und  Kulturgemälde  von  Rom« 
(Gotha,  1802)  bei  seiner  Schilderung  des  Cicisbeats 
und  ähnlicher  Unsitten  des  römischen  Ehelebens  be¬ 
sonders  die  schöne  Frau  Zoega  im  Sinne  gehabt  hat, 
wird  sich  über  den  Hauptschmuck  des  Gatten  nicht 
wundern;  Thorvaldsen  aber  konnte  besser  als  ein 
anderer  darüber  un¬ 
terrichtet  sein,  da  Frau 
Zoega’s  Kammer¬ 
jungfer  Anna  Maria 
Magnani  seine  Ge¬ 
liebte  war,  die  ihn 
zwanzig  Jahre  lang 
mit  eifersüchtigen 
Banden  gefesselt  hielt. 

Diese  Karikatur 
sollte  aber  nicht  das 
letzte  Wort  Thorvald¬ 
sen ’s  über  Zoega 
bleiben.  Als  der 
grosse  Gelehrte,  den 
kurz  vorher  die  Ber¬ 
liner  Akademie  der 
Wissenschaften  zu¬ 
gleich  mit  Goethe  zu 
ihrem  Mitglied  er¬ 
wählt  hatte,  am  1 0.  Fe¬ 
bruar  1809  der  tücki¬ 
schen  Perniziosa  er¬ 
lag,  war  Thorvaldsen 
der  berufene  Künst¬ 
ler,  um  seine  Züge 
festznhalten,  sei  es  an 
Zoega’s  Grabe  in 
der  Kirche  S.  Andrea 
delle  Tratte,  sei  es  für 
das  Pantheon,  in  dem 
seine  Büste  aufgestellt 
werden  sollte.  Thor¬ 
valdsen  nahm  denn 
auch  eine  Totenmaske 
und  entwarf  ein  paar 
Zeichnungen  zur 
Ausführung  ist  weder  das  eine,  noch  das  andere 
Denkmal  gekommen. 

Die  uns  noch  erhaltenen  Zeichnungen  sind 
von  zwiefacher  Art.  Eine  schliesst  sich  dem  nach 
dem  Leben  entworfenen  Bildnis  insofern  an,  als 
sie  gleichfalls  Zoega  im  Rock  und  mit  der  Hals¬ 
binde  darstellt  (Abb.  4).  Das  Blatt  befindet  sich  auch 
im  Thorvaldsenmuseum;  der  gütigen  Vermittelung 
des  Direktors,  Herrn  Kammerherrn  Meldahl,  verdanke 
ich  eine  Photographie.  Die  Zeichnung  rührt  wohl 
sicher  von  Thorvaldsen  selbst  her.  Sorgfältig  und 
recht  lebendig  ausgeführt,  trägt  sie  doch  deutlich 
einen  idealisierenden  Charakter.  Alle  Linien  sind  ihrer 


Schärfe  beraubt  und  rundlich  geworden,  die  auffallende 
Bildung  der  Kinnbacken  ist  gemildert,  der  Blick 
starrer  und  leerer  geworden,  und  die  Locken  im 
Nacken  bilden  ein  besonders  auffälliges  Zugeständnis 
an  den  Idealstil.  Es  scheint,  dass  die  Zeichnung 
nicht  sowohl  als  Vorlage  für  ein  plastisches  Werk, 
sondern  als  Ersatz  eines  Gemäldes  dienen  sollte;  wer 
sie  aber  mit  der  oben  abgebildeten  Skizze  nach  dem 
Leben  vergleicht,  wird  keinen  Augenblick  schwanken, 
wo  der  wahre  Zoega  zu  finden  ist. 

Neben  den  vier  besprochenen  Zeichnungen,  die 

alle  bisher  unbekannt 
waren,  hat  Thorvald¬ 
sen  noch  ein  Profil¬ 
bild  Zoega’s  entwor¬ 
fen,  das  in  mehreren 
Exemplaren  auf  uns 
gekommen  ist.  Bald 
nach  Zoega’s  Tode 
erschien  als  letzte 
Tafel  seines  klassi¬ 
schen,  vorzeitig  ab¬ 
gebrochenen  Werkes 
Li  bassirilievi  antichi 
di  Roma  eine  nur 
leicht  schattierte  Um¬ 
risszeichnung,  als  Re¬ 
lief  auf  einer  runden 
Platte  dargestellt,  nach 
einer  Zeichnung  Thor- 
valdsen’s  von  C.  Sil- 
vestrini  fein  gestochen 
(Abb.  5).  Dieselbe 
Vorlage  hat  zehnJahre 
später  dem  kameen¬ 
artigen  Stiche  des 
jungen  Dresdner  Kup¬ 
ferstechers  Anton 
Krüger  zu  Grunde  ge¬ 
legen,  der(i8ig)  Wel- 
cker’s  Buche  »  Zoega’s 
Leben-  beigegeben 
ward  (Abb.  6).  Die 
Zeichnung  war  offen¬ 
bar  zur  Grundlage 
eines  Reliefs  bestimmt, 
vermutlich  des  Grab¬ 
reliefs  für  S.  Andrea 
delle  Tratte.  Daher  die  klassische  Nacktheit,  daher 
die  klassische  Lockenfülle  im  Nacken,  die  an  Dannecker’s 
Schillerbüste  erinnert,  jede  Locke  stilistisch  zugestutzt. 
Die  seltsam  gewundene  Haarpartie  vor  dem  Ohre 
stimmt  mit  der  flüchtigen  Andeutung  in  der  Skizze 
nach  dem  Leben  (Abb.  1)  überein,  geht  mm  aber  in 
den  Bart  über,  während  in  der  ausgeführten  Zeich¬ 
nung  (Abb.  4)  beides  naturalistischer  wiedergegeben 
und  voneinander  geschieden  ist.  Das  Vorschieben 
des  Kopfes,  die  so  charakteristisch  vortretende  Unter¬ 
lippe,  die  spitze  Nase,  das  alles  hat  dem  klassischen« 
Stil  weichen  müssen.  Und  während  alle  diese  Uber- 
einstimnumgen  beweisen,  dass  die  gleiche  Zeichnung 


Abb.  4.  Nach  einer  Zeichnung  Thorvalcisen’s  im 
Thorvaldsen- Museum 


THORVALDSEN  UND  ZOEGA 


196 

zu  Grunde  lag:  welche  Verschiedenheit  nicht  bloss 
der  Linien,  sondern  auch  des  gesamten  Charakters 
hl  beiden  Stichen!  Namentlich  Krüger’s  Stich,  heut- 
...itage  das  verbreitetste  Bild  Zoega’s,  entfernt  sich 
am  weitesten  von  dem  wirklichen  Zoega. 

Wohin  Thorvaldsen’s  Originalzeichnung  für  die 
beiden  Stiche  gelangt  sein  mag,  ist  unbekannt,  ln 
Welcker’s  Nachlass  (auf  der  Bonner  Bibliothek)  be¬ 
findet  sich  nichts  dergleichen,  ebensowenig  im  Thor- 
valdsenmuseum.  Dagegen  besitzt  die  Kopenhagener 
Glyptothek  eine  hierher  gehörige  Zeichnung  als  Ge¬ 
schenk  des  Direktors  P.  Krohn.  Sie  gleicht  mehr 
dem  Stiche  Silvestrini’s,  als  dem  Krüger’s,  ist  aber 
so  flau,  dass  sie  nach  dem  Urteile  des  Herrn  Th. 


Abb.  5.  Nach  dem  Stich  C.  Silvcstrini’s 


Oppermann  unmöglich  von  Thorvaldsen  selbst  her¬ 
rühren  kann.  Dies  Urteil  wird  durch  eine  grosse 
Photographie  bestätigt,  die  ich  der  Liebenswürdigkeit 
des  Herrn  Direktors  C.  Jacobsen  verdanke^).  In  noch 
viel  geringerem  Masse  kann  eine  Zeichnung  auf  Echt¬ 
heit  Anspruch  machen,  die,  früher  in  Professor 
Hoyen’s  Besitz,  jetzt  durch  ein  Geschenk  Professor 
Ussing’s  dem  historischen  Museum  im  Schlosse 
Frederiksborg  einverleibt  ist;  nach  der  Photographie, 
die  ich  von  Ussing  erhalten  habe,  ist  es  eine  unge¬ 
schickte  Kopie  eines  mässigen  Zeichners.  Dagegen 
liegt  Grund  zu  der  Vermutung  vor,  dass  das  Original 
wenigstens  bis  vor  kurzem  sich  noch  in  der  Familie 
Zoega’s  befand.  Nach  einer  Mitteilung  Herrn  Meldahl’s 

1)  Eine  ähnliche  Bleistiftzeichnung,  in  einigen  Neben¬ 
dingen  abweichend,  besitzt  der  Lehrer  Herr  Th.  Rausch¬ 
mann  in  Oltmachau  bei  Neisse,  der  sie  mir  freundlichst 
zur  Prüfung  mitteilte. 


ward  nämlich  im  Jahre  1897  von  einem  Fräulein 
M.  L.  Zoega  in  Antwerpen  ein  Bildnis  Zoega’s  dem 
Thorvaldsenrnuseum  zum  Kauf  angeboten,  aber  leider 
nicht  erworben.  Dies  ist  vermutlich  eine  Urenkelin 
Zoega’s,  dessen  Sohn  Friedrich  Salvator,  Thorvaldsen’s 
Patenkind,  nach  langer  Lehrerthätigkeit  in  Hofwyl 
und  Beauvais,  1871  bei  einer  Tochter  in  Belgien 
starb.  Eine  Witwe  Therese  Julie  Zoega,  wahrschein¬ 
lich  eine  Schwiegertochter  Friedrich  Salvator’s,  die 
von  Paris  nach  Antwerpen  übergesiedelt  war,  ist 
dort  1895  gestorben.  Sie  hinterliess  eine  Tochter 
Marguerite  Berthe  Marie  Emilie  (doch  wohl  identisch 
mit  jener  M.  L.  [B.?]  Zoega),  die  1898  einen  Herrn  Lair 
in  St.  Gilles  (Rue  Fontaines  44)  geheiratet  hat,  aber 


Abb.  6.  Nach  dem  Stich  Ant.  Krüger' s 


trotz  der  Nachforschungen  des  Herrn  H.  Hymans, 
dem  ich  durch  Vermittelung  des  Professor  Fr.  Cumont 
in  Brüssel  diese  letzten  Nachrichten  verdanke,  nicht 
mehr  auffindbar  ist.  Ob  freilich  diese  vermutliche 
Originalzeichnung  Thorvaldsen’s  für  die  Kenntnis 
der  wirklichen  Züge  Zoega’s  von  Bedeutung  sein 
würde,  scheint  mir  nach  obigen  Darlegungen  recht 
fraglich.  Die  sicherste  Grundlage  wird  immer  jene 
Zeichnung  nach  dem  Leben  (Abb.  1)  bieten;  daher 
denn  auch  ein  Relief  des  grossen  Gelehrten,  das 
kürzlich  von  dem  jungen  Strassburger  Bildhauer 
Stark  für  den  Bibliotheksaal  des  Deutschen  Archäo¬ 
logischen  Instituts  in  Rom  angefertigt  worden  ist, 
statt  der  späteren  Stiche  jene  Originalzeichnung  in 
Relief  umzusetzen  gesucht  hat^). 


1)  Abgüsse  können  durch  meine  Vermittelung  für 
20  Mark  bezogen  werden. 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


IM  Königlichen  Schlosse  zu  Lissabon  befindet  sich 
ein  Gemälde,  das  schon  öfters  die  Aufmerksam¬ 
keit  der  Kunstfreunde  auf  sich  gezogen  hat.  Es 
stellt  eine  Madonna  mit  dem  Kinde  in  einer  Land¬ 
schaft  thronend,  umgeben  von  Heiligen,  vor;  hinter 
dem  Stuhl  der  Mutter  Gottes  erscheinen  deren  Eltern, 
weiterhin  öffnet  sich  eine  prächtige  Renaissancehalle 
mit  Durchblicken  auf  eine  weite  bergige  Landschaft, 
in  deren  Mitte  das  Meer,  rechts  eine  Palme,  links 
eine  Ruine  von  antikem  Charakter  sichtbar  wird. 
Musizierende  Engelgruppen  stehen  hinter  der  Ba¬ 
lustrade,  die  die  heilige  Versammlung  von  der  weiten 
Welt  abschliesst  (siehe  die  umstehende  Farbentafel). 

Das  Bild  wird  der  Brunnen  des  Lebens  genannt: 
von  dem  Quell,  der  zu  Füssen  der  Madonna,  aus 
einem  geflügelten  Engelsköpfchen  rinnend,  entspringt 
und  sich  in  ein  nur  halb  sichtbares  ruudes  Becken 
ergiesst.  Rechts  am  Rande  dieses  Beckens  befindet 
sich  eine  Signatur: 

lOANNES 

HOLBEIN 

FECIT 

1519. 

Der  näheren  Beschreibung  des  Bildes  sind  wir 
durch  Beigabe  der  Abbildung  überhoben,  die  sich 
einerseits  auf  die  einzige  in  Deutschland  existierende 
Photographie,  andererseits  auf  eine  Ölkopie  des  Bildes 
in  halber  Grösse  des  Originals  stützt.  Die  Photographie 
hatte  Herr  Geheimrat  Dr.  Purgold  darzuleihen  die 
Güte  gehabt,  die  Kopie  ist  von  Fräulein  Schulze-Berge 
auf  Veranlassung  des  Unterzeichneten  hergestellt 
worden.  Seine  Majestät  der  König  von  Portugal  ge¬ 
ruhte  das  Gesuch  um  Anfertigung  einer  Kopie  zu 
genehmigen,  indessen  gelang  es  leider  nicht,  den 
hohen  Besitzer  des  Bildes  zur  Zulassung  einer  neuen, 
mit  Hilfe  eines  modernen  Objektivs  herzustellenden 
photographischen  Aufnahme  zu  bewegen.  Deshalb 
musste  die  vor  dem  Jahre  1865  hergestellte  Photo¬ 
graphie  zu  Grunde  gelegt  werden.  Das  dabei  ver¬ 
wendete  Objektiv  lässt  die  zu  jener  Zeit  noch  nicht 
überwundenen  optischen  Fehler  erkennen.  Nur  ein 
Kreis  von  der  Breite  des  Bildes  ist  ziemlich  scharf 
und  genügend  hell;  die  oberen  und  unteren  Partien 
sind  verschwommen  und  dunkel.  Hier  half  die  Kopie 
aus,  die  auch  für  die  Farbengebung  massgebend  sein 
musste.  Die  Herstellung  der  Druckplatten  ist  eine 
besonders  rühmenswerte  Leistung  des  Herrn  Professors 
Rieh.  Berthold,  Lehrers  an  der  Königlichen  Kunst¬ 
akademie  zu  Leipzig. 

Das  Bild  galt  zunächst,  nachdem  es  bekannt  ge¬ 
worden  war,  für  eine  Arbeit  Hans  Holbein’s  des 
jüngeren.  Woltmann  hat  es  in  der  ersten  Auflage 
seines  Werkes  mit  Begeisterung  gepriesen;  in  der 
zweiten  freilich  verwirft  er  es  kurzer  Hand  als  nieder¬ 


ländisch.  Die  Inschrift  ist  ihm  verdächtig,  das  Bild 
selbst  hat  er  aber  nie  gesehen,  jetzt  gilt  das  Werk 
fast  allgemein  als  eine  Schöpfung  Hans  Holbein’s 
des  älteren.  Für  alle  drei  Auffassungen  lassen  sich 
Gründe  und  Gegengründe  angeben,  die  neben¬ 
einanderzustellen  vielleicht  nützlich,  jedenfalls  aber 
interessant  ist. 

Da  bei  der  Erörterung  von  Urheberfragen  das 
Objektive  dem  Subjektiven,  das  Dokument  der  Aus¬ 
legung  voranzugehen  hat,  so  beschäftigen  wir  uns 
zuvörderst  mit  den  alten  Berichten  und  mit  der  In¬ 
schrift,  ehe  wir  an  die  Erörterung  der  verschiedenen 
Lehrmeinungen  gehen  dürfen. 

Der  älteste  Fundbericht  findet  sich  im  Abecedario 
pittorico  del  pellegrino  Antonio  Orlandi  accresciuto 
da  Pietro  Guarienti  Venezia  1753,  p.  252  (vergleiche 
Woltmann,  Holbein  II2,  132).  Dieser  laufet: 

Giovanni  Holtein,  nome  da  me  veduto  in  un 
quadro,  ch’e  in  una  regia  capella  di  Lisbona  in 
cui  si  rappresentano  gli  Attributi  di  Maria  Vergine, 
il  quäl  quadro  e  perfettamente  bello,  bon  disegnato 
e  colorito,  con  quautitä  di  figure.  Dalla  maniera, 
diligenza  e  composizione  di  detto  quadro,  e  dell’ 
anno  1519  posto  sotto  al  nome  di  lui,  pare  che 
possa  dirsi  esso  esser  stato  scolare  dell’  Holbens, 
che  circa  a  quel  tempo  fioriva  et  che  mori  nel 
1554-« 

Eine  zweite  Nachricht  über  das  Bild  giebt,  etwa 
hundert  Jahre  später,  A.  Raczynski  in  dem  Werke 
Les  arts  en  Portugal,  Paris  1846.  Der  betreffende 
Passus  lautet: 

»Bemposta  (pres  de  Santa  Anna,  26  mars  1844). 
Dans  la  sacristie  de  la  chapelle  du  chäteau,  au  dessus 
d’une  armoire  est  place  un  tableau,  signe  de  Jean 
Holbein.  II  porte  la  date  de  1619  (sic).  II  a  ä  peu 
pres  2  metres  de  hauteur  sur  1  m  30  de  largeur. 
Les  figures  du  premier  plan  ont  un  tiers  de  grandeur 
naturelle.  C’est  un  admirable  ouvrage,  et  il  est 
d’une  Conservation  parfaite.  Les  bourreaux,  appeles 
restaurateurs,  n’y  ont  pas  touche.  Le  sujet  est  la 
Salute  Vierge  assise  sur  un  twne  tenant  l’enfant  Jesus 
dans  ses  bras  et  entouree  de  beaucoup  de  saintes. 
Derriere  le  tröne  se  voit  une  riche  et  belle  architecture 
dans  le  style  de  Frangois  PL  Ce  fut  la  fille  de 
Jean  IV,  la  reine  Catherine  de  Portugal,  soeur  de 
Pierre  11  et  femme  de  Charles  II  d’ Angleterre,  qui, 
etant  devenue  veuve,  rapporta  ce  tableau  d’Angleterre 
et  en  fit  present  ä  cette  chapelle.  Je  tiens  ces  ren- 
seignemens  des  ecclesiastiques  qui  la  desservent.« 

Der  erste  der  beiden  Gewährsmänner,  Guarienti, 
bekleidete  das  Amt  eines  Inspektors  der  Dresdner 
Galerie  und  war  in  den  Jahren  1733—1736  in 
Portugal  anwesend.  Um  diese  Zeit  also  schon  muss 
die  Signatur  auf  dem  Bilde  gestanden  haben.  Dieser 
Umstand  macht  eine  Fälschung,  die  heute  nicht  so¬ 
gleich  zu  erkennen  wäre,  ziemlich  unwahrscheinlich; 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


10-' 


verstärkt  aber  wird  diese  Unwahrscheinlichkeit,  wenn 
:i;an  heJenkt,  dass  sich  das  Bild  an  einem  Orte  be- 
V  0  man  an  einer  Täuschung  kein  erhebliches 
iii'jressc  hatte,  nämlich  erst  in  königlichem  Besitz, 
in  der  Schlosskapelle  zu  Bemposta.  Wenn  es 
r  ciiug  ist,  was  die  Tradition  angiebt,  dass  das  Bild 
uib  England  stammt,  so  würde  ein  Fälscher  wohl 
kaiun  auf  ein  so  frühes  Jalir  verfallen  sein,  sondern 
eine  Jahrcsziffer  gewälilt  haben,  die  dem  Aufenthalt 
Hoibcin’s  in  Eng¬ 
land  entsprochen 
hätte.  Auch  darf  man 
einer  kirchlichen 
Tradition  mehr  als 
jeder  anderen  glau¬ 
ben.  Hierzu  kommt, 
dass  zwei  namhafte 
Forscher,  die  das 
Bild  selbst  haben 
prüfen  dürfen,  für 
die  Echtheit  der  Sig¬ 
natur  eintreten.  Da 
nun  Woltmann  für 
den  Verdacht  einer 
Fälschung  keine 
Gründe  angiebt,  so 
ist  es  nicht  möglich, 
diese  zu  beseitigen. 

Nach  einer  freund¬ 
lichen  Mitteilung 
Karl  Woerniann’s 
hält  L.  Scheibler  die 
Bezeichnung  für 
echt,  und  Karl  Justi 
hatte  die  Güte,  münd¬ 
lich  und  schriftlich 
zu  erklären,  dass  er 
bei  zweimaliger  Be¬ 
sichtigung  keinen 
Anlass  gehabt  habe, 
die  Inschrift  anzu¬ 
zweifeln. 

Da  es  indessen 
Gelehrte  giebt,  die 
den  niederländi¬ 
schen  Ursprung  des 
Bildes  für  möglich 
halten,  so  sei  er¬ 
wähnt,  was  für 
diese  Auffassung 
spricht.  Wenn  man 
die  Mittelgruppe  mit  ihren  teils  sitzenden,  teils 
stehenden  Figuren  betrachtet,  so  wird  man  aller¬ 
dings  an  verwandte  Darstellungen  Memling’s  (Brügge, 
Johanneshospital)  und  noch  mehr  an  solche  Gerard 
David’s  (Rouen,  München)  erinnert.  Allein  es  sind 
doch  wohl  nur  die  Gruppierung,  die  Art  des  Sitzens, 
die  liebevolle  Durchführung  und  das  klare  Kolorit 
des  Bildes,  die  Stützpunkte  für  die  Meinung  darbieten. 
Der  Typus  der  Heiligengesichter  mutet  weit  mehr 
oberdeutsch  an;  unter  den  Handzeichnnngen ,  die 


Holbein  dem  älteren  zugeschrieben  werden,  findet 
man  einige,  die  mit  Gestalten  des  Bildes  identisch 
sind.  .Auch  die  Form  der  Engelflügel,  die  in  dem 
Lissaboner  Bilde  mehr  heraldisch  ist,  kommt  bei 
niederländischen  Meistern  selten  vor;  ich  habe  sie  nur 
bei  Lukas  van  Leiden  gefunden.  Van  Eyck,  Memling, 
G.  David,  H  v.  d.  Goes  geben  ihren  Engeln 
Schvvanenflügel. 

Noch  ein  anderer  Umstand  lässt  speziell  den 

oberdeutschen  Ur¬ 
sprung  des  Bildes 
vermuten.  Die  Re¬ 
naissancehalle,  die 
sich  hinter  der  Ver¬ 
sammlung  erhebt, 
macht  es  wahrschein¬ 
lich,  dass  der  Maler 
des  Bildes  in  Augs- 
burg  gelebt  hat. 
Denn  dieselbe  Halle 
findet  sich  mit  ge¬ 
ringen  Abänderun¬ 
gen,  auf  welche  wir 
weiter  unten  zu 
sprechen  kommen, 
auf  mehreren  Reliefs 
von  Hans  Daucher. 
Eines  dieser  Reliefs 
bewahrt  die  k.  k. 
Schatzkammer  in 
Wien,  ein  zweites  das 
Berliner  Museum, 
ein  drittes,  aus  Sig¬ 
maringen,  erschien 
1901  auf  der  Re¬ 
naissanceausstellung 
in  München  (Abbil¬ 
dung  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  N.  F.  XIII,  S. 
29,  sehr  deutlich  Gaz. 
d.  B.  Arts,  1899,  111. 
per  XXII,  S.  378). 
Hans  Daucher  war 
kein  sehr  origineller 
Künstler;  er  setzte 
gern  zusammen  und 
nahm  das  Gute,  wo 
er  es  fand.  M.  Fried¬ 
länder  hat  darauf  hin¬ 
gewiesen,  dass  die 
Mittelgruppe  des  Sig¬ 
maringer  Reliefs  nach  einem  Dürer’schen  Holzschnitt 
gebildet  ist.  Das  Sigmaringer  Relief  ist  mit  der  Jahres¬ 
zahl  1520  bezeichnet.  Ob  einer  der  Holbeins  die 
Architektur  nach  einem  der  Reliefs  gezeichnet  hat 
oder  ob  beide  Kunstwerke  etwa  eine  gemeinsame 
Quelle  in  einer  italienischen  Zeichnung  haben,  bleibe 
dahingestellt.  Anklänge  finden  sich  auch  auf  einer 
Zeichnung  Dürer’s  von  1509,  die  Madonna  mit 
Engeln,  in  Basel  (abgebildet  in  Philippi’s  Einzel¬ 
darstellungen  III,  206).  Der  Ursprung  der  Architektnr- 


Müdonnenrelief  von  tlans  Daucher 
Besitzer  Fürst  zu  Hohenlohe-Sigmaringen 


Der  Brunnen  des  Lebens 

V’hii  ILiiis  lliilliriii.  I.issabon,  Ivgl.  Schluss 


Zeitschrift  lüi  li  i  I  d  e  lul  c  ICnii  t. 


l'iiii. 


Verlay  von  b.  A,  Secniaiin  in  I  eip/i 


rhi'  i.t  •. 


,1 


'  4äl 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


199 


formen  ist  jedenfalls  in  Oberitalien  zu  suchen;  man 
erinnere  sich  der  Grabmäler  und  vergleiche  die  auf¬ 
gesetzten  Pilaster  an  den  Fenstern  des  Doms  zu 
Como.  Italienische  Zeichnungen  waren  ja  in  Augs¬ 
burg  nichts  Seltenes,  und  dass  beide  Künstler,  der 
Bildhauer  H.  Daucher  und  der  Maler  des  Bildes, 
dieselbe  Quelle  benutzt  haben,  dafür  spricht  die  ganz 
gleiche  Perspektive  mit  der  Höhe  des  Augenpunktes, 
die  den  Vordergrund  so  ausgedehnt  erscheinen  lässt. 
Die  Wahl  eines  solchen  Standpunktes  ist  nur  da  an¬ 
gemessen,  wo  es  sich  darum  handelt,  eine  Menge 
Personengruppen  sichtbar  zu  machen,  wie  auf  dem 
Lissaboner  Bilde;  sie  hat  aber  keinen  Sinn  für  die 
Daucher’schen  Reliefs,  auf  denen  nur  je  eine  kleine 
Figurengruppe  erscheint.  Daucher  hatte  kein  Gefühl 
für  das  Angemessene  und  war  nicht  selbständig  genug, 
sonst  würde  er  die  Rundsäulen  nicht  so  weit  vor¬ 
geschoben  und  den  Boden  weniger  steil  ansteigend 
gezeichnet  haben,  auf  dem  seine  Gruppen  zu  rutschen 
scheinen. 

Die  deutschen  Gelehrten  teilen  gegenwärtig  wohl 
allgemein  die  Ansicht,  dass  das  Bild  in  Lissabon  dem 
älteren  Hans  Holbein  zuzuweisen  sei.  Diese  Ansicht 
wird  gestützt  einerseits  durch  das  Vorkommen  von 
Handzeichnungen,  deren  Typen  sich  auf  dem  Bilde 
wiederfinden,  andererseits  auf  die  oben  erwähnte 
Perspektive  der  Architektur  und  des  Terrains,  die 
mit  der  Darstellung  der  Figurengruppen  nicht  har¬ 
moniert.  Das  letztere  hat  besonders  H.  A.  Schmid 
(Repertorium  XIX,  278  ff.)  hervorgehoben. 

Ehe  wir  diese  Gründe  besprechen,  sei  gestattet, 
einige  objektive  Kennzeichen  zu  erwähnen,  die  die 
Urheberschaft  des  jungen  Holbein  wahrscheinlich 
machen. 

Gegen  den  älteren  und  für  den  jungen  Holbein 
spricht  zunächst  die  Schreibweise  des  Namens.  Der 
ältere  Holbein  hat  seinen  Namen,  wo  er  ihn  selbst 
schrieb,  fast  immer  in  der  Augsburger  Art,  mit  ai 
geschrieben,  nie  mit  ei;  nur  zweimal  setzt  er  Holbon. 
Der  jüngere  Holbein  dagegen  schreibt  seinen  Namen 
stets  mit  e;  hiervon  ist  nur  eine  Ausnahme  bekannt, 
das  Bildnis  des  Lord  Tuke  in  München.  Dies  Ge¬ 
mälde  hält  aber  ein  Holbeinkenner  wie  Wornum 
nicht  für  echt  (the  style  does  not  proclaim  it  to  be 
the  work  of  Holbein).  Wornum  war  bekanntlich 
der  erste,  der  die  Urheberschaft  Holbein’s  für  das 
Dresdner  Madonnenbild  bestimmt  in  Abrede  stellte; 
seiner  Stimme  wird  daher  Gewicht  beigemessen 
werden  dürfen.  Woltmann  sagt  über  das  Porträt 
des  Lord  Tuke,  das  Bild  habe  durch  Putzen  seine 
Schatten  eirigebüsst  und  der  Ton  des  Gesichts  sei 
übertrieben  rot.  Er  hütet  sich  auch,  direkt  auszu¬ 
sprechen,  das  Bild  sei  von  Holbein  selbst,  sondern 
sagt  nur,  es  sei  dennoch  noch  immer  ein  durch 
Wahrheit  und  Durchbildung  ausgezeichnetes  Bildnis, 
zugleich  in  der  Auffassung  scharf  und  streng,  wie 
manche  von  Holbein’s  Bildern  gerade  in  dieser  Zeit«. 

Die  Berufung  auf  die  Schreibweise  des  Namens 
wird  für  manchen  Kenner  der  Zeit  und  ihrer  Ge¬ 
wohnheiten  wenig  belangreich  erscheinen.  Stellt  man 
aber  die  Zahl  der  Fälle  nach  Woltmann  II2,  61  ff. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XfV.  H.  8. 


zusammen,  so  ergiebt  sich  doch  eine  grosse  Regel¬ 
mässigkeit.  Nach  dem  Verzeichnis  der  Werke  des 
alten  Holbein  ist  Nr.  4  bezeichnet  Holbain  (1493), 
Nr.  5  Holbain  (1499),  Nr.  11  Holbain,  Nr.  17  Hol¬ 
bain,  Nr.  20  Holbain,  Nr.  107  Holbain,  Nr.  108 
(Bildnis  Sigmund’s)  Holbain,  Nr.  207  Hoilbayn,  Nr.  235 
(zweites  Bildnis  Sigmund’s)  Holbain,  Nr.  243  Holbain, 
Nr.  247  Holbon,  Nr.  262  (von  Sigmund,  Madonna 
mit  dem  Zettel)  Holbain,  Nr.  263  Holbon,  Nr.  272 
Holbain,  Nr.  277  (Bildnis  des  alten  Hans,  angeblich 
Selbstporträt)  Holbain,  Nr.  285  Holbain,  Nr.  288 
Holbain.  Der  jüngere  Holbein  dagegen  hat  auf 
seinen  unzweifelhaften  Werken  stets  e  statt  a  ge¬ 
schrieben:  Nr.  10  (Amerbach  von  1519)  Jo.  Holbein, 
Nr.  113  (Wappen,  Werkstattarbeit)  Holbein,  Nr.  169 
Holbein,  Nr.  176  Holbein  (Echtheit  fraglich),  Nr.  214 
Holbein,  Nr.  215  Holbein,  Nr.  219  (das  oben  erwähnte 
Bild  des  Sir  Bryan  Tuke)  Holpain;  Holzschnitte: 
Nr.  199  Holben  (EN  aus  EIN  zusammengezogen), 
Nr.  200  Holben  (wie  der  Band  I,  Seite  399  abge¬ 
druckte  Holzschnitt  zeigt,  ist  der  Name  Holbein  ganz 
richtig  geschnitten). 

Wenn  man  somit  allein  nach  der  Bezeichnung 
urteilen  dürfte,  müsste  man  sagen,  dass  die  Urheber¬ 
schaft  des  jüngeren  Holbein  die  wahrscheinlichere 
sei.  Denn  es  wäre  gezwungen,  anzunehmen,  dass 
der  alte  Holbein  mit  etwa  55  (nach  Stoedtner  46) 
Jahren  seine  Namensschreibung  sollte  geändert  haben, 
weil  er  nach  dem  Eisass  gezogen  war. 

Dagegen  könnte  nun  eingewendet  werden,  dass 
im  Jahr  1519  der  junge  Holbein  22  oder  23  Jahre 
alt  gewesen  sei;  wie  sollte  wohl  ein  so  junger  Mann 
ein  solches  Werk  hervorbringen?  Dem  ist  gegenüber¬ 
zuhalten,  dass  das  Jahr  1519  des  jungen  Holbein 
Meisterjahr  ist.  Damals  (im  Oktober)  malte  er  das 
Bildnis  Amerbach’s,  eine  Leistung,  die  er  (nach 
Wornum)  nicht  wieder  übertroffen  hat.  ln  diesem 
Jahre  trat  er  auch  in  Basel  in  die  Zunft  zum  Himmel 
als  Meister  ein.  Da  wir  schon  Gemälde  von  seiner 
Hand  haben,  die  aus  dem  Jahr  1515  stammen,  so 
ergiebt  sich  eine  mehrjährige  Lernzeit,  die  für  ein 
solches  Genie  hinreichend  ist,  ihn  zum  Meister  reifen 
zu  lassen. 

Vei gleicht  man  die  Renaissancehalle  des  Hinter¬ 
grundes  mit  den  erwähnten  Reliefs  von  Daucher,  so 
wird  man  gewisse  Abweichungen  finden,  die  für  die 
Frage  von  Belang  sind.  Die  Kapitäle  der  runden 
Säulen  sind  verändert,  man  findet  sie  genau  so,  wie 
auf  dem  Bilde,  in  Zeichnungen  des  jungen  Holbein, 
nämlich  z.  B.  in  dem  Entwurf  für  das  Haus  zum 
Tanz  im  Berliner  Kupferstichkabinett.  Der  Maler  hat 
ferner  der  Halle  eine  Balustrade  aufgesetzt;  solche 
Balustraden  sind  Holbein’s  des  jüngeren  Liebhaberei: 
bei  dem  alten  Holbein  findet  man  keine.  Links  und 
rechts  neben  den  äusseren  Pilastern  der  Halle  findet 
man,  etwas  zurückgeschoben,  Anbauten,  die  der 
schüchternen  Renaissancearchitektur  der  Aussenflügel 
des  Sebastiaiialtars  verwandt  sind.  Man  beachte  die 
Voluten.  Endlich  hat  Holbein  der  jüngere  auf  der 
oben  erwähnten  Zeichnung  in  Berlin  die  Säulen  auch 
vor  einen  offenen  Rundbogen  gestellt,  so  dass  sie 

26 


2  -'0 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


uie  Öii"  -n-'  Teil  /erdecken,  wie  dies  auf  dem 

!  issab^.:i-  r  Bi'do  sichtbar  ist. 

■.V  d-  e  -  :-‘ive,  die  bei  dem  jungen,  nicht  aber 

bei  VtM  i  !-_/ibein  voi  kommen,  sind  die  Kerben 

in  .  i  .<i;n:Jb>JMe”,  die  Medaillons  in  den 

/w'  L.  '  '  'b-  Es: 

das  für  die  Urheberschaft  des 
.  :  r,  ,  .1  ? rechen  scheint,  verdient  besondere 

;  c  \.  i.  lititid  hat  in  seiner  Habilitations- 
;  ,  r-  l  -"'ickelung  des  jungen  Holbein 
.  _  _  ;  11  ,  ;  ^;;'aer  in  einem  Aufsatz  des  Re- 

I  .  :b.  .  ff.)  auf  die  fortschreitende  Ent- 

■,-.t  .Anwendung  raumschaffender  Mittel 
:  1  •  .  der  hingewiesen  und  setzt  in  einer  Ver- 

;  mTs  :  des  bebastianaltars  einerseits  und  der  Karls- 

r'd  .  r  i  M-eiiztragung  andererseits  auseinander,  dass 
und  warum  der  erstere  vom  alten  Hans  Holbein,  die 
letztere  vom  jungen  Holbein  herrühren  müsse.  Er 
spricht  auch  in  der  Habilitationsschrift  von  dem 


Lissaboner  Bilde  und  meint,  die  unrichtige  Perspektive 
mit  dem  scharf  ansteigenden  Vordergrund  könne  nur 
der  alte  Hans  verbrochen  haben;  denn  dieser  habe 
mit  der  Perspektive  auf  gespanntem  Fusse  gestanden, 
während  dem  jungen  Holbein,  wie  das  Karlsruher 
Bild  zeige,  das  ursprüngliche  Gefühl  für  die  richtige 
perspektivische  Zeichnung  innegewohnt  habe. 

Hiergegen  ist  zu  sagen,  dass  die  Perspektive  des 
Lissaboner  Bildes,  wenn  man  nur  die  Landschaft 
und  die  Architektur  in  Betracht  zieht,  nicht  eigent¬ 
lich  unrichtig  genannt  werden  kann.  Der  Augen¬ 
punkt  ist  nur  sehr  hoch  genommen,  wie  der  Meeres¬ 
spiegel  anzeigt.  Die  starke  Verjüngung  der  Flucht¬ 
linien  kommt  auf  Rechnung  des  italienischen  Vor¬ 
bildes.  Die  ganze  vordere  Figurengruppe  in  der 
unteren  Hälfte  des  Bildes  freilich  ist  von  dieser  Per¬ 
spektive  nicht  beherrscht,  man  müsste  den  Figuren 
auf  die  Köpfe  sehen.  Es  ist  dieselbe  Art  des  Zu¬ 
sammenbauens,  der  wir  bei  dem  älteren  Holbein 


Zeichnung  von  Hans  Holbein  d.  j. 


Zeichnung  von  Hans  Holbein  d.  j. 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


201 


auch  sonst,  zuletzt  beim  Sebastianaltar,  begegnen.  Er 
hatte  kein  Gefühl  für  die  perspektivische  Einheit 
einer  Komposition  und  konnte  daher  die  Wissen¬ 
schaft  der  Perspektive  seinem  Sohne  nicht  vermitteln. 
Es  ist  nicht  unbedenklich,  vorauszusetzen,  dass  die 
Genialität  des  jungen  Holbein  eine  unbewusste  Lösung 
so  schwieriger  Probleme,  wie  es  die  einheitliche  per¬ 
spektivische  Behandlung  einer  grossen  Komposition 
ist,  ermöglicht  habe.  Dass  Holbein  ein  geborener 
Perspektivkünstler  gewesen  sei,  lässt  sich  nicht  sagen, 
man  sehe  nur  die  frühen  Bildnisse  mit  der  miss¬ 
verstandenen  Architektur  an.  Perspektive  wird  gelernt 
oder  nicht  gelernt;  ahnen  lässt  sie  sich  nicht.  Aber 
es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  Holbein  bald  den 
Geheimnissen  der  Perspektive  nachgegangen  ist;  ein 
einziges  Blatt  von  Mantegna  konnte  ihm  später  die 
Augen  geöffnet  haben.  Die  Karlsruher  Kreuztragung 
braucht  nicht  unbedingt  vom  jungen  Holbein  zu 
stammen,  sie  kann  vielmehr  auch  von  Sigmund  her¬ 
rühren;  und  selbst  angenommen,  sie  sei  von  dem 
jungen  Hans,  so  beweist  die  hier  vorhandene  Richtig¬ 
keit  der  Perspektive  noch  nicht  die  bewusste  oder 
unbewusste  richtige  Anwendung  derselben  überhaupt 
oder  auf  einem  späteren  Bilde.  Sondern  die  Richtig¬ 
keit  der  Perspektive  kann  von  älterer  Herkunft  sein, 
aus  einem  Stich,  einer  Zeichnung  oder  sonst  woher 
stammen.  Übrigens  konstatiert  H.  A.  Schmid  selbst 
eine  geringfügige  perspektivische  Abweichung  in  dem 
Bilde. 

Man  wird  gut  thun,  sich  bei  Erörterung  der 
Fragen,  die  die  Familie  Holbein  betreffen,  stets  gegen¬ 
wärtig  zu  halten,  dass  neben  Hans  dem  alten  und 


ist  die  Eliminationsmethode,  die  von  A.  von  Zahn 
angewandt  worden  ist,  nicht  die  zum  Ziele  führende; 
die  von  His  versuchte  Substitutionsmethode  scheint 
viel  aussichtsreicher. 

A.  von  Zahn  hatte  den  geistreichen  Einfall,  die 
Bezeichnung 

S  ■  H  OLBAIN 


auf  einem  Madonnenbildchen  in  Nürnberg  auf  Hans 
Holbein  den  älteren  zu  deuten,  statt,  wie  natürlich 
wäre,  auf  Sigmund.  Da  die  Inschrift  in  Spiegelschrift 
auf  einem  Zettel  steht,  der  aus  einem  Buche  heraus¬ 
hängt,  so  nahm  v.  Zahn  an,  dass  Hans  sich  den 
Scherz  gemacht  habe,  die  ersten  drei  Buchstaben  des 
Namens  Hans  in  dem  Buche  zu  verstecken.  Der 
Punkt  hinter  dem  S  wurde,  weil  er  nicht  unten  am 
Buchstaben  steht,  sondern  in  der  Mitte,  »aus  paläo- 
graphischen  Gründen«  nicht  für  einen  Abkürzungs¬ 
punkt,  sondern  für  einen  Trennungspunkt,  wie  er 
zwischen  einzelnen  ausgeschriebenen  Worten  üblich 
sei,  erklärt. 

Wenn  diese  grausam  gelehrte  Anmerkung  nicht 
dazu  dienen  soll,  den  unbequemen  Sigmund  gänz¬ 
lich  zu  beseitigen,  so  weiss  ich  nicht,  wozu  sie  gut 
sein  mag.  Denn  jeder  Kenner  der  Holbein’schen 
Handzeichnungen  wird  wissen,  dass  sich  solche  Ab¬ 
kürzungspunkte  auf  den  Blättern  mehrere  befinden. 
Sie  stehen  niemals  hinter  ausgeschriebenen  Worten, 
sondern  nur  hinter  Abkürzungen;  sie  stehen  auch 
nicht  am  Fusse  der  Buchstaben,  sondern,  wie  auf 
dem  Nürnberger  Bilde,  in  halber  Höhe.  Ich  gebe 
drei  Beispiele: 


Von  einer  Holbein’schen  Zeichnung,  Berlin.  Ini  Original 
ist  der  Punkt  hinter  dem  S  in  halber  Höhe  sichtbar 


V  r  f  .  ^ 

#  ö  t; A  . 

.  tte-ü'-'vöTvrc 


Von  einer  Holbein’schen  Handzeichnung  (Weimar) 


Von  einer  Holbein’schen  Hand¬ 
zeichnung  (Kopenhagen) 


dem  jungen  noch  eine  schier  unbekannte  Grösse, 
nämlich  Sigmund,  steht,  wie  eine  Figur  mit  einer 
Tarnkappe.  Man  fühlt  Einwirkungen,  Veränderungen, 
kann  sie  aber  nicht  bestimmen.  Es  ist  keine  kleine 
Aufgabe,  diese  Gleichung  mit  drei  variablen  Unbe¬ 
kannten  auch  nur  annähernd  zu  lösen;  und  jedenfalls 


H.  A.  Schmid  hält  seinem  Opponenten  F.  Stoedtner, 
der  das  paläographische  Märchen  wieder  aufwärmt, 
mit  Fug  entgegen,  dass  ihn  schon  das  Durchblättern 
des  Berliner  Galeriekatalogs  davon  hätte  abhalten 
müssen,  den  Einfall  Zahn’s  zu  wiederholen.  »Die 
Inschriften  werden  auf  die  Bilder  gesetzt,  um  zu 


26* 


’//  Hans  Holht'in  d.  ü.  Madonna  von  Sigmund  Holbein 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


203 


verhindern,  dass  sie  als  Arbeiten  anderer  gelten.« 
—  Der  Punkt  in  dem  Bilde  ist  hier  wirklich  das 
punctum  saliens  der  Holbeinfrage.  Er  ist  um  so 
wichtiger,  als  die  drei  Holbeins,  die  beim  Sebastian¬ 
altar  vermutlich  mitgearbeitet  haben,  durch  blosse 
stilkritische  Erwägung  nicht  als  Sondergestalten  ent¬ 
hüllbar  sind.  Denn  Sigmund  war  vermutlich  der 
Schüler  des  alten  Hans  und  der  junge  Hans  lernte 
wohl  von  beiden.  Wenn  irgendwo,  so  sind  hier 
objektive  Kriterien  am  Platze. 

Im  Germanischen  Museum  hängt  noch  eine  zweite 
holbeinische  Madonna,  ebenfalls  in  kleinem  Format, 
gotischer,  hausbackener,  als  die  eben  erwähnte  mit 
dem  Zettel.  Sie  ist  Hans  Holbon  149  .  bezeichnet. 
Die  letzte  Ziffer  ist  undeutlich;  früher  las  man  1492 
oder  1493,  neuerdings  (R.  Bergau  in  den  Grenz¬ 
boten,  1876,  pag.  76)  1499.  Wenn  nicht  alles  trügt, 
haben  wir  in  den  beiden  kleinen  Bildern,  die  den¬ 
selben  Gegenstand  darstellen  und  die  gleiche  sorg¬ 
fältige  Ausführung  zeigen,  die  Meisterstücke  der  Ge¬ 


Vom  Lissaboner 
Bilde 


Vom  Sebastiansaltar 


brüder  Holbein  vor  uns,  und  zwar  dürfte  dann  das 
erste  wirklich  1492  oder  1493  von  Hans,  das  andere 
1501  oder  1504  von  Sigmund  gemalt  sein’). 

Meisterstücke  waren  in  jener  Zeit  vorgeschrieben; 
es  wurden  sogar  von  den  Zunftordnungen  bestimmte 
Aufgaben  gestellt.  Die  Breslauer  Malerzunft  be¬ 
stimmte  noch  1572,  dass  als  Meisterstück  die  Dar¬ 
stellung  der  Geburt  Christi  oder  des  Kruzifixus  ver¬ 
langt  werden  solle  (Zahn’s  Jahrbücher  II,  351).  Ist 
die  Vermutung  richtig,  so  muss  Hans  der  ältere  seine 
Madonna  vor  1499  gemalt  haben.  Er  lieferte  schon 
1493  bezeichnete  Bilder,  heiratete  vermutlich  1494, 
wie  aus  dem  Steuererlass  in  diesem  Jahre  zu  entnehmen 
ist,  und  war  wahrscheinlich  ein  oder  zwei  Jahre  früher 
Meister.  Man  hielt  darauf,  dass  die  Meister  sich  bald 
verheirateten.  Das  Geburtsjahr  des  alten  Hans  Holbein 
wird  gewöhnlich  mit  1460  angegeben;  das  ist  zu 
früh.  Rechnet  man  von  1493  *^'rn  fünfundzwanzig 

1)  Eine  neuerliche  Besichtigung  macht  mir  doch  die 
Ziffer  g  an  letzter  Stelle  am  wahrscheinlichsten.  Ich  lasse 
die  Sache  dahingestellt. 


Jahre  zurück,  so  kommt  man  auf  1468.  Dies  wird 
annähernd  das  richtige  Geburtsjahr  sein.  Die  An¬ 
nahme  Stödtner’s,  dass  er  erst  nach  1472  geboren 
sei,  ist  nicht  hinreichend  gestützt,  wie  H.  A.  Schmid 
(Repertorium  XIX,  279  unten)  darlegt. 

Für  Sigmund  hat  schon  W.  Schmidt  (Zahn’s 
Jahrbuch  V,  58  Anm.)  das  Geburtsjahr  scharfsinnig  auf 
1477  berechnet.  Das  würde  sehr  wohl  mit  der  An¬ 
gabe  seines  Testaments  von  1540  stimmen,  dass  er 
»alt  und  guter  Tage«  sei,  und  widerspricht  auch 
nicht  seinem  Vorhaben,  auf  seine  alten  Tage  die  Reise 
von  Bern  nach  Augsburg  zu  machen,  um  seine  Ver¬ 
wandten  noch  einmal  zu  sehen.  Wäre  er  nahe  an 
siebzig  gewesen,  er  würde  an  diese  Unternehmung 
nicht  gedacht  haben.  Auf  Sigmund  wird  also  auch 
die  »Pflege  Holbein’s«  zu  deuten  sein,  die  in  den 
Augsburger  Steuerbüchern  1477  auftaucht  und  1503 
verschwindet. 

Der  Altersunterschied  der  beiden  Brüder  beträgt 
hiernach  neun  oder  zehn  Jahre;  er  ist  wichtig  für 
die  Beurteilung  des  Verhältnisses  beider.  Der  ältere 
wird  auf  den  jüngeren  lange  Zeit  einen  bestimmen¬ 
den  Einfluss  ausüben  —  nicht  nur  als  Lehrer  in  der 
Malkunst,  sondern  in  der  ganzen  Lebensführung. 
Man  stelle  sich  nur  einen  Elfjährigen  und  einen 
Zwanzigjährigen  vor:  der  Jüngere  wird  dann 
von  dem  Älteren  immer  beherrscht,  und  diese 
Überlegenheit  wird  noch  lange  fühlbar  bleiben, 
auch  wenn  der  jüngere  Bruder  der  begabtere 
ist.  Es  ist  im  wesentlichen  Sache  des  Tempera¬ 
ments,  ob  sich  der  Jüngere  noch  lange  unter¬ 
ordnet  oder  nicht.  Man  kann  dergleichen  Be¬ 
obachtungen  heute  noch  machen. 

Wenn  nun  Holbein  der  ältere  seinen  wesent¬ 
lich  jüngeren  Bruder  Sigmund  in  seiner  Kunst 
unterwiesen  und  ihn  in  den  Wanderjahren  unter¬ 
stützt  hatte,  so  wird  Sigmund  eine  gewisse  Dankes¬ 
schuld  ihm  gegenüber  gefühlt  und  durch  emsige 
Mitarbeit  in  den  Jahren  1501  — 1517  abgetragen  haben. 
Dass  Sigmund  in  die  Werkstatt  seines  Bruders  eintrat 
und  dort  Zweitmeister  wurde,  geht  aus  den  Steuer¬ 
beträgen  hervor,  die  beide  zahlen.  Hans  entrichtet 
die  Hälfte  mehr,  als  Sigmund. 

Von  1514  an  ging  es  mit  den  Finanzen  des 
alten  Holbein  stark  bergab.  Ob  daran  der  Wett¬ 
bewerb  anderer  tüchtiger  Maler  Augsburgs  die  Ur¬ 
sache  war,  oder  ob  der  Mann  dem  flotten  Leben  des 
damaligen  Augsburg  fröhnte  -  Gelegenheit  bot  sich 
genug  dazu  —  ,  kann  hier  unerörtert  bleiben.  Genug, 
die  Schulden  nahmen  überhand,  einmal  wird  sogar 
eine  Klage  um  32  Kreuzer  anhängig.  Schliesslich 
kommt  es  auch  zwischen  Hans  und  Sigmund  zum 
Bruch.  Dieser  hatte  von  jenem  die  nicht  unbeträcht¬ 
liche  Summe  von  34  Gulden  zu  fordern,  und  auch 
er  musste  das  Gericht  darum  zu  Hilfe  rufen;  erliess 
aber  auch  gleichzeitig  eine  Feststellungsklage,  dass  er 
nicht  verpflichtet  sei,  mit  nach  Isenhein  zu  ziehen, 
wohin  Hans  sich  gewandt  hatte.  Offenbar  war  Sig¬ 
mund  ein  sehr  brauchbarer  Arbeiter  und  die  Ver¬ 
mutung  von  Ed.  His,  dass  er  den  Sebastianaltar  voll¬ 
endet  habe,  erscheint  in  Ansehung  der  Forderung 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


;  iliel-  Woltmann’s  Annahme  dagegen,  dass  sich 
'  vun  Sigmund  bares  Geld  geliehen  habe,  ist 
_ ;  -ahrscheinlich.  Auch  H.  A.  Schmid  nimmt 
s  Sigmund  erhebliche  Partien  des  Sebastian- 
■  ’  gestellt  habe,  und  ohne  die  Mitwirkung  des 
■  ■.lu  \'.!'iide  das  Bild  ein  vollkommenes  Rätsel 
Die  vollendete  Anmut  und  Schönheit  einzelner 
I  ..'.st  sich  nur  so  erklären,  dass  ein  dem 
'  .  .vn  1  laus  überlegenerer  Genosse,  der  sich  an  nieder- 
iänuischem  Formenreiz  gesättigt  hatte,  an  der  Arbeit 
Dcteiligt  hat.  Dies  kann  kaum  der  junge  Holbein 
gewesen  sein,  der  1516  noch  unvollendet  war;  An¬ 
mut  aber  ist  etwas,  das  nur  aus  vollendeter  Kraft 
entspringt. 

Man  hat  aus  dem  Umstande,  dass  von  Sigmund 


Sigmund  Holbein.  Zeichnung  in  Berlin 


kein  zweites  signiertes  Bild  bekannt  ist,  schliessen 
wollen,  dass  er  als  Maler  unbedeutend  gewesen  sei 
und  nur  Handwerksarbeit  geleistet  habe;  also  auch 
in  Bern,  wo  er  von  1518  bis  1541  Bürger  war. 
Das  erweist  sich  aber  als  unstichhaltig,  wenn  man 
an  die  Zeitgenossen,  den  Meister  vom  Tode  der 
Maria,  den  der  Lyversbergischen  Passion,  den  von 
Messkirch,  der  heiligen  Sippe,  des  Marienlebens,  des 
Amsterdamer  Kabinetts,  der  weiblichen  Halbfiguren 
u.  s.  w.  denkt.  Das  waren  doch  auch  Künstler,  die 
selten  oder  nie  ihre  Leistung  bezeichnet  haben.  Der 
Umstand,  dass  Hans  seinen  jüngeren  Bruder  gericht¬ 
lich  zwingen  will,  ihn  nach  dem  Eisass  zu  begleiten, 
erweist  die  schwache  Position  und  geschwächte  Kraft 
des  Hans  und  lässt  vermuten,  dass  Sigmund  bis  1517 
von  Hans  tüchtig  ausgebeutet  worden  war.  Wäre 


Hans  der  ältere  nun  der  Urheber  des  Lissaboner 
Bildes,  so  hatte  er  solche  verfehlte  Gewaltstreiche 
nicht  nötig. 

Dass  dagegen  Sigmund  ein  stiller,  rechtschaffener 
Arbeiter  war,  der  etwas  vor  sich  brachte  und  das 
Seine  zusammenhielt,  lehrt  uns  sein  Testament.  Er 
hinterliess  in  Bern  Haus  und  Hof,  Silbergerät,  Maler¬ 
gold  und  -Silber,  Farben  u.  s.  w.,  und  fügt  stolz 
hinzu,  dass  er  alles  mit  seiner  Hände  Arbeit  erspart 
und  zusammengelegt  habe.  Seine  ganze  Habe  ver¬ 
macht  er  seinem  lieben  Brudersohn  Hans  aus 
sonderer  Liebe  und  Freundschaft,  darmit  er  mit  ihm 
verwandt,  zu  einer  freien  und  aufrechten  Gabe«.  An 
Sigmund  bewährte  sich  das  Wort  Moltke’s:  Auf 
die  Dauer  hat  doch  nur  der  Tüchtige  Glück.« 


Hans  Holbein  d.  ä.  Zeichnung  in  Chantilly 


Die  erhaltenen  Dokumente  lassen  es  als  wahr¬ 
scheinlich  erkennen,  dass  der  letzte  Wille  Sigmund 
Holbein’s  vollstreckt  worden  ist,  dass  somit  die  Fa¬ 
milie  des  in  England  befindlichen  Hans  Holbein  des 
jüngeren  in  Besitz  der  ganzen  Hinterlassenschaft  ge¬ 
langt  ist  (vergl.  Zahn’s  Jahrbuch  III,  133  ff.).  Da¬ 
gegen  ist  vermutlich  der  künstlerische  Nachlass  Hans 
HolbeiiTs  des  älteren  durch  den  Bauernaufstand  1525 
verloren  gegangen  und  in  alle  Winde  zerstreut  worden 
(ebenda,  121).  ln  dem  Baseler  Ratsschreiben  an  den 
Konvent  zu  Isenheim,  der  von  Hans  des  älteren  Habe 
spricht,  ist  nicht  von  Haus  und  Hof,  noch  von  Silber¬ 
gerät  die  Rede,  sondern  nur  von  »etlich  Werkzeug 
drei  Centner  schwer  und  zwei  Stübchen  (Kisten)  volL , 
die  Holbein  der  jüngere  mehrfach  reklamiert,  aber 
nicht  bekommen  habe.  Es  wird  darin  die  Thatsache 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


205 


erwähnt,  dass  die  Bauern  nach  früherer  Mitteilung  das 
Werkzeug  »in  ergangener  Aufruhr  verschwendet- 
hätten.  Das  Kloster  hatte  Holbein  an  die  Bauern¬ 
schaft  verwiesen,  der  Baseler  Rat  verlangt  aber  vom 
Konvent  Ersatz  für  seinen  Bürger  Holbein,  da  dieser 
ja  den  Bauern  nichts  zur  Aufbewahrung  übergeben 
habe. 

Diese  beiden  Thatsachen,  der  Verlust  des  Nach¬ 
lasses  des  älteren  Hans  und  die  Auslieferung  der  Erb¬ 
schaft  des  Sigmund  an  dessen  Verwandte,  wecken  die 
Vermutung,  dass  manches,  was  unter  dem  Namen 
des  älteren  Hans  geht,  von  Sigmund  herrühren  könnte. 
Insbesondere  sind  es  die  Handzeichnungen,  über  zwei¬ 
hundert  an  der  Zahl,  die  seither  sämtlich  dem  alten 
Hans  zugewiesen  wurden,  während  der  Gedanke,  eine 
Reihe  oder,  wie  wahrscheinlich  ist,  viele  könnten  von 
Sigmund  herrühren,  meines  Wissens  noch  nicht  er¬ 
örtert  worden  ist.  Die  etwa  aufgetauchte  Mutmassung 
ist  jedenfalls  als  aussichtslos  oder  unergründbar  wieder 
fallen  gelassen  worden. 

Die  Aufgabe  ist  schwierig,  aber  schwerlich  un¬ 
lösbar.  Wer  die  Zeichnungen  im  Berliner  Kupfer¬ 
stichkabinett  betrachtet,  wird  bald  verschiedene  Hände, 
die  sich  dabei  bethätigt  haben,  herausfühlen.  Ob 
aber  die  Zahl  der  beteiligten  Individuen  zwei,  drei 
oder  vier  sind  und  welche  Blätter  etwa  Hans  dem 
älteren,  Sigmund,  Ambrosius  und  Hans  dem  jüngeren 
zuzuschreiben  wären,  das  wird  ohne  feste  Anhalts¬ 
punkte,  ohne  objektive  Kriterien,  auch  durch  lange 
Debatten  nicht  zu  entscheiden  sein.  Denn  allenfalls 
hat  man  Vergleichsobjekte  für  Arbeiten  des  alten  und 
des  jungen  Hans;  und  da  der  Sohn  vom  Vater  ge¬ 
lernt  hat  und  seine  Art  der  Darstellung  erst  nach¬ 
ahmt,  ehe  er  selbständige  Handschrift  bekommt,  so 
wird  die  Entscheidung  unsicher.  Man  lese  nur  den 
Text  Woltmann’s  zu  der  Publikation  der  Holbein’schen 
Zeichnungen.  Für  Sigmund  war  bisher  unter  den 
Handzeichnungen  keine  Urheberschaft  vermutet;  sein 
einziges  sicher  bezeichnetes  Gemälde  ist  für  die  Frage 
der  Zeichnungen  fast  ohne  Belang. 

Vielleicht  lässt  man  aber  den  nachfolgenden  Satz 
gelten:  Alle  echten  gezeichneten  Selbstbildnisse 
richten  die  Augen  auf  den  Beschauer.  Der  Grund 
dafür  ist  der,  dass  der  Künstler,  der  sich  selbst  im 
Spiegel  betrachtet,  wenn  er  seine  Augen  zeichnen 
will,  seinem  Spiegelbilde  in  die  Pupillen  sehen  muss. 
Seine  Augenachsen  und  die  seines  Spiegelbildes  bilden 
dann  eine  ungebrochene  gerade  Linie,  die  stets  auf 
der  Spiegelfläche  senkrecht  steht.  Mag  der  Künstler 
nun  seinen  Spiegel  oder  seinen  Kopf  drehen,  wie  er 
will:  die  Augäpfel  werden,  wenn  er  sein  Gegenüber 
fixiert,  unbeweglich  auf  den  einen  Punkt  gerichtet 
sein.  In  allen  Selbstbildnissen,  die  diese  Bedingungen 
nicht  erfüllen,  sind  die  Augen  nicht  nach  der  Natur, 
sondern  nach  dem  Gedächtnis  eingefügt,  oder  es  sind 
statt  eines  zwei  Spiegel  benutzt.  Das  erstere  finden 
wir  zum  Beispiel  bei  der  unbeholfenen  Zeichnung 
des  vierzehnjährigen  Dürer;  in  den  späteren  Selbst¬ 
bildnissen  Dürer’s  (Sammlung  Felix,  Prado,  München, 
Allerheiligenbild  in  Wien)  blickt  oder  schielt  der 
Meister  nach  seinem  Beschauer.  Das  Schielen  tritt 


merklich  hervor  bei  dem  Bilde  der  Sammlung  Felix 
und  beweist  die  übergrosse  Naturtreue  des  Künstlers. 
Denn  indem  seine  beiden  wirklichen  Augen  einmal 
das  Spiegelbild  des  linken,  das  andere  Mal  das  des 
rechten  Auges  fixieren,  ändert  sich  die  Stellung  seiner 
Augenachsen  und  diese  Veränderung  prägt  sich  in 
der  Divergenz  der  Augenachsen  des  Porträts  aus. 
Diese  Divergenz  macht  sich  auch  in  dem  Münchner 
Porträt  Dürer’s  noch  als  parallel  gerichteter,  welt¬ 
ferner  Blick  bemerklich,  der  dem  Bilde  das  Medusen¬ 
hafte  giebt. 

Ein  Künstler,  der  sein  eigen  Antlitz  wiedergeben 
will,  wird  vor  allem  den  Ausdruck  der  Augen  genau 
nach  dem  Vorbilde,  dem  Modell  bilden,  wie  dies 
Rembrandt  z.  B.  so  häufig  gethan  hat.  Thut  er  dies 
nicht,  so  wird  sein  Selbstporträt  nicht  sprechend, 
sondern  ausdruckslos. 

Das  mit  Feder  gezeichnete  Bildnis  des  alten  Holbein 
aus  dem  Besitz  des  Herzogs  von  Aumale  wird  man 
nicht  steif  und  seelenlos  nennen  können.  Es  hat 
vielmehr  den  lebendigen,  erwartungsvollen  Blick  eines 
Porträtierten.  Die  Thatsache,  dass  ein  solches  Bildnis 
ein  Selbstporträt  sei,  wäre  ja  bei  Anwendung  zweier 
Spiegel  ermöglicht.  Darauf  hat,  wie  H.  A.  Schmid 
mitteilt,  schon  der  Katalog  der  Münchner  Pinakothek 
hingewiesen.  Der  genannte  Forscher  entgegnet  darauf: 
das  sei  nicht  richtig;  jedermann  könne  sein  Gesicht 
in  dieser  Stellung  in  einem  einfachen  Spiegel  be¬ 
obachten,  mit  Ausnahme  der  Augensterne,  und  diese 
»könnten  dann  doch  ohne  direktes  Vorbild  hinein¬ 
gezeichnet  werden«. 

Das  hätte  Holbein  der  ältere  gethan?  Sich  selbst 
gezeichnet  und  die  Augen  wie  ein  paar  Glasaugen 
eingefügt?  ln  einem  Atelier,  wo  zwei  Meister  han¬ 
tierten,  denen  das  gegenseitige  Abzeichnen  viel  natür¬ 
licher  war,  als  das  Selbstzeichnen?  Da  sollte  Holbein 
der  ältere  sich  selbst  abgebildet,  und  statt  seinen  Blick, 
das  Individuellste,  Geistigste,  wiederzugeben,  die  Augen¬ 
höhlen  mit  Phantasiesternen  gefüllt  haben?  Ein  Mann, 
dem  so  viel  Porträtköpfe  zugeschrieben  werden  und 
der  so  viel  Bildnisse  in  seinen  Bildern  verwertet  hat, 
wird  eine  solche  Kunstlüge  nicht  begehen. 

Wenn  schon  der  nach  oben  gerichtete,  lebhafte, 
erwartungsvolle  Blick  es  nicht  bewiese,  dass  Hans 
der  ältere  sich  hier  nicht  selbst  gezeichnet  haben 
wird:  so  sollte  die  Inschrift  das  vermeintliche  Selbst¬ 
bildnis  verdächtig  machen.  Hans  Holbein,  Maler, 
der  Alte,  lautet  die  Bezeichnung.  So  lapidar,  so  sehr 
wie  Cäsar  pflegen  die  Künstler  in  Skizzenbüchern 
sich  nicht  auszudrücken.  Allenfalls  Hans  Holbein 
schlechtweg,  wie  auf  seinen  Bildern,  hätte  er  sich 
bezeichnen  können;  aber  der  Zusatz  »der  Alte«,  der 
auf  einen  jungen  schliessen  lässt,  macht  die  Selbst¬ 
zeichnung  zweifelhaft.  Denn  in  jener  Zeit  (1515) 
hatte  der  Vater  noch  nicht  nötig,  in  seinem  Skizzeii- 
buche  etwaigen  Verwechselungen  mit  seinem  Sohne 
vorzubeugen.  Dort  hätte  eine  Jahreszahl  oder  eine 
Altersangabe  genügt. 

Genau  dieselbe  Handschrift,  von  der  Achilles 
Burckhardt  (64.  Neujahrsblatt,  Basel  1885)  sagt,  sie 
rühre  vom  jungen  Holbein  her,  während  Woltmann 


2'  ü 


DER  BRUNNEN  DES  LEBENS  VON  H.  HOLBEIN 


sie  für  die  des  alten  Hans  erklärt,  kommt  auch  auf 
der  Zeichnung  der  beiden  Söhne  Ambrosius  und 
rians  des  jüngeren  vor,  die  sich  im  Berliner  Kupfer- 
, l;kabinett  befindet.  Die  Schriftzüge  sind  zum  Ver- 
echseln  ähnlich,  so  dass  man  meinen  sollte,  sie 
rien  nicht  nur  von  derselben  Hand,  sondern  mit 
.derselben  Gänsefeder  geschrieben.  Ganz  anders  ist 
‘lagegen  die  Schrift,  die  sich  auf  dem  Bildnisse  Sig- 
-  i.md’s  in  Berlin  befindet.  Hiermit  hätte  man  zu 
'crgleichen,  ob  die  Schrift  auf  dem  zweiten  Bildnis 
Signumd’s  mit  jener  identisch  sei;  mit  Hilfe  der 
echten  Zeichnungen  Hans  des  jüngeren,  die  viele 
Beischriften  tragen,  könnte  man  bei  sorgfältiger  Ver¬ 
gleichung  allmählich  den  Weg  finden,  der  aus  dem 
Labyrinth  führt.  Das  Skizzenbuch  des  Hugo  Klauber 
in  Basel  und  andere  Dokumente  müssten  herbeigezogen 
werden.  Eine  Aussicht  auf  Erzielung  bestimmter 
Resultate  hätte  der  Prüfende  aber  nur  dann,  wenn  er 
mit  den  Handschriften  vom  Beginn  des  lö.  Jahr¬ 
hunderts  vertraut  genug  ist,  um  den  allgemeinen 
Duktus  von  den  graphologischen  Besonderheiten 
scheiden  zu  können. 

Diese  Handschriftenvergleichung  wird,  wenn  sie 
richtig  geführt  ist,  vielfach  neues  Licht  auf  die 
Holbeinfrage  werfen  und  insbesondere  den  viel¬ 
umstrittenen  Sebastianaltar,  der  bald  dem  einen,  bald 
dem  andern,  bald  dem  dritten  Holbein  ganz  oder 
teilweise  zugeschoben  wird,  zur  Ruhe  kommen  lassen. 

Für  die  gegenwärtige  Frage,  die  Urheberschaft 
des  Lissaboner  Bildes,  ist  die  graphologische  Unter¬ 
suchung  von  untergeordneter  Bedeutung.  Es  kam 
hier  nur  darauf  an,  zu  zeigen,  dass  die  unter  dem 
Namen  des  alten  Holbein  gehenden  Handzeichnungen 
von  diesem  durchaus  nicht  alle  herrühren  müssen. 
Es  beweist  daher  nichts  gegen  die  Urheberschaft  des 
jungen  Holbein,  wenn  Handzeichnungen  für  das  Lissa¬ 
boner  Bild  existieren,  die  angeblich  von  dem  alten 
Hans  Holbein  herrühren.  Wären  sie  datiert  oder 
nachweislich  aus  der  Zeit  von  1500  stammend,  so 
könnte  man  die  Vermutung,  dass  Sigmund  sie  zum 
Teil  gefertigt  habe,  abweisen.  Dass  aber  der  junge 
Holbein  für  das  Lissaboner  Bild  Handzeichnungen 
seines  Oheims  benutzt  haben  könnte,  ist  durchaus 
nicht  unwahrscheinlich.  An  und  für  sich  wird  sich 


zwischen  dem  jungen  Hans  und  Sigmund,  die  einander 
im  Alter  viel  näher  standen,  ein  vertraulicheres,  mehr 
brüderliches  Verhältnis  entwickelt  haben,  als  zwischen 
Vater  und  Sohn.  Das  Testament  Sigmund’s  verrät 
überdies  eine  gewisse  Zärtlichkeit  des  Oheims  für 
den  Neffen.  Endlich  aber  war  Holbein  der  jüngere 
1518  in  Luzern  und  Sigmund  in  Bern;  sie  standen 
sich  auch  räumlich  nahe.  Der  Rückweg  des  jungen 
Holbein  von  Luzern  nach  Basel  mag  über  Bern  ge¬ 
nommen  sein. 

Nun,  wird  man  sagen,  das  sind  doch  alles  nur 
auf  Schrauben  gestellte,  vage  Vermutungen!  Gewiss, 
allein  bis  man  die  festen  trigonometrischen  Punkte 
findet,  muss  die  Hypothese  ihren  Fing  nehmen;  in 
keiner  Wissenschaft  kommt  man  ohne  sie  aus  (trotz 
W.  Ostwald’s  Naturphilosophie  S.  399),  und  es  handelt 
sich  hier  doch  darum,  diejenige  zu  finden,  die 
die  Erscheinungen  am  natürlichsten  erklärt.  Was 
wir  haben  wahrscheinlich  machen  wollen,  ist  dies: 
Das  Lissaboner  Bild  ist  vom  jungen  Holbein  1519 
in  Luzern,  Bern  oder  Basel  gemalt  worden  als  sein 
Meisterstück,  das  ihm  den  Eintritt  in  die  Zunft  zum 
Himmel  eröffnen  sollte.  Er  fasste  darin  zusammen, 
was  er  von  Vater  und  Oheim  erlernt  hatte.  Dafür 
sprechen  die  Inschrift,  die  Herkunft  des  Bildes  aus 
England,  die  Grösse,  der  Reichtum  und  die  feine 
Ausführung  des  Gemäldes  —  jede  Perle  ist  einzeln 
gemalt  — ;  die  Benutzung  fremder  Motive,  der  An¬ 
klang  an  niederländische  Gruppierungsart,  die  kühne 
Stellung  des  Christkindes,  die  charakteristischen  Ver¬ 
änderungen  in  der  Architektur;  gegen  den  alten 
Holbein,  der  1519  verarmt  und  allein  in  Isenheim 
sitzt,  sprechen  alle  die  erwähnten  Einzelheiten,  trotz 
vorhandener  Handzeichnungen,  die  von  ihm  nicht 
notwendig  herrühren  müssen. 

Holbein  der  jüngere  gab  in  dem  Bilde  mehr,  als 
erfordert  war.  Dass  ihm  die  Gesetze  der  Perspektive 
nicht  ganz  unbekannt  waren,  ist  aus  dem  Werke  er¬ 
sichtlich.  Dass  man  aber  Figuren,  die  unter  einem 
anderen  Gesichtswinkel  studiert  sind,  nicht  in  eine 
leere  Bühne,  die  vom  zweiten  Rang  aus  betrachtet 
wird,  einfach  hineinmalen  darf,  ist  ihm  vielleicht  erst 
klar  geworden,  nachdem  er  sein  Bild  fertig  hatte. 

ARTUR  SEEMANN. 


-K  (\  \  \ ,  '/l  I  ,  -  J  /  ' 


Ans  dem  Skizzenbiich  des  Hugo  Klauber  in  Basel 


Karl  Mcdiz.  Gottscheerinnen 


KARL  MEDIZ  EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 

Von  Ludwig  Hevesi 


UNTER  den  Malern  des  deutschen  Neu-ldealismus, 
die  auf  der  Linie  Böcklin-Leibl  fortschreitend, 
in  fruchtbarem  Ringen  bei  der  eigenen  male¬ 
rischen  Persönlichkeit  angelangt  sind,  tritt  seit  einigen 
Jahren  das  Ehepaar  Mediz  ansehnlich  hervor.  Es 
gehörte  längere  Zeit  zur  österreichischen  Diaspora  in 
Deutschland  und  hat  sich  vor  kurzem  aus  Dresden 
nach  Wien  »repatriiert«.  Der  Hagenbund  hat  das 
Verdienst,  sie  durch  seine  drei  Mediz-Ausstellungen 
der  Heimat  wiedergewonnen  zu  haben.  In  der  ersten 
erwarb  die  österreichische  Regierung  das  Hauptbild 
Karl  Mediz’,  »Die  vier  Eismänner«,  für  die  Moderne 
Galerie.  In  der  zweiten  sah  man  jene  merkwürdige 
Reihe  von  Dresdner  Kreideporträts,  die  Originale  zu 
den  25  Heliogravüren  in  dem  grossen,  dem  König 
Albert  von  Sachsen  gewidmeten  Bildniswerke  der 
Kunsthandlung  Emil  Richter  (Holst).  In  der  dritten 
73  Bilder  des  Gatten  und  der  Gattin,  eine  Auswahl 
aus  etwa  500  Arbeiten ,  die  ihren  fertigen  Vorrat 
bilden.  Es  war  eine  interessante  Bekanntschaft  für 
die  Wiener.  Zwei  künstlerische  Parallelnaturen,  zur 
Zweieinigkeit  geboren,  in  Leben  und  Kunst  von 
Hause  aus  verschwistert,  verheiratet,  in  nnunter- 

Zeitschriff  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  8 


brochenem  Selbstaustausch  schaffend,  jedes  überzeugt, 
dass  es  sich  dem  anderen  verdankt. 

Sie  sind  auch  stammverwandt.  Karl  Mediz  ist 
1868  in  dem  grossen  Wiener  Bezirke  Hernals  ge¬ 
boren,  Emilie  Pelikan  1862  im  oberösterreichischen 
Markt  Vöcklabruck.  Karl  hielt  es  bei  den  toten  Gips¬ 
köpfen  der  Wiener  Akademie  nicht  aus  und  ging 
nach  München,  nach  Dachau,  wo  eben  Uhde  die 
Stimmgabel  ergriffen  hatte.  Dort  traf  er  Emilien, 
die  aus  Salzburg  kam,  vom  achtzigjährigen  Albert 
Zimmermann.  Vom  Lehrer  jener  Wiener  Landschafts- 
Plejade,  an  deren  Spitze  Schindler  stand.  Der  Meister 
Hess  seine  letzte  Schülerin  grosse  Kartons  zeichnen 
und  die  Bilder  mit  Malbutter  zubereiten,  so  dass  sie, 
noch  unfertig,  schon  an  der  Leinwand  herunterrannen. 
Aber  Geist  lernte  man  bei  ihm  noch  immer,  man 
wuchs  mit  Idealen  auf.  Mediz  verzog  sich  dann 
nach  Paris,  zu  Julian,  wo  die  Glasgower  und 
Amerikaner  ihre  Barbarenfrische  verschleifen  Hessen. 
Mit  dieser  Schule  im  Leibe  ging  er  nach  Knokke, 
dem  belgischen  Malerdorf,  drei  Viertelstunden  vom 
Seebad  Heyst.  Von  den  geschniegelten  Föhren 
Lamoriniere’s  bis  zur  Gespensternatur  Toorop’s  ist 


27 


KARL  MEDIZ  —  EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


lort  ein?  weite  Strecke  moderner  Stimmungslandschaft 
i  den.  Anderthalb  Jahre  lebte  er  in  jener  Thebais. 
:  'or-  t:  d;'  d  eine  Mappe  voll  Bleistiftstudien  (i88g), 
;  ,  'X  -cner  Künstlerhause  abgewiesen  wurde. 

L.r.X^a.:;;  -A'gegen  fand  Wohlgefallen  an  diesen  ver- 
■-■ti:  rten  Schiffern  und  verwitterten  Schiffersfrauen, 
er  Lid  t’en  Küiv  -er  zu  sich  und  war  ihm  gut.  Auch 
tmili:  Lud  sich  in  Knokke  ein,  ging  aber 

mit  ddden-  tapfer  nach  München.  Sie  wagte 

id.M.-  :  "  ir  •  ;ru>  Ausstellung  und  machte  Aufsehen. 
Lin  i  ■  id  ’  ,;U  gelben  Ginsters,  im  schönsten  Sonnen- 
s-i::  ■  ,  c‘xi  i-:.:  i-eits  jenem  Durcheinander,  das  sich  in 
späicren  bläuen,  gelben  und  roten  Blumengefilden 
des  Ehepaares  noch  so  verwirrend  märchenhaft  steigern 
sollte,  war  ein  Schau¬ 
spiel  von  Impressio¬ 
nismus,  wie  man  es 
in  München  noch 
nicht  gesehen.  Es 
machte  auch  auf 
UhdeEindruck.Zahl- 
reiche Münchner  eil¬ 
ten  spornstreichs 
nach  Knokke,  wo 
die  Impression  so 
auf  der  Strasse  zu 
liegen  schien.  Es 
wurde  sogar  ein 
Bürgerkrieg  daraus. 

Die  Diezpartei  erhob 
die  Wouwerman- 
sche  Palette  als 
Scliild  wider  Emilie 
Pelikan,  die  Uhde- 
partei  stand  zu  ihr. 

Es  war  ein  erbitter¬ 
tes  Handgemenge, 
von  sichtbaren  und 
unsichtbaren  Hän¬ 
den,  und  die  Dame 
zog  den  kürzeren. 

Da  kam  Karl  Mediz 
aus  Paris  zurück, 
auch  als  Impressio¬ 
nist,  recta  von  Monet, 

Pissarro,  Sisley  her. 

Die  beiden  Verfemten  brachten  ihre  Novelle  zum 
Abschluss.  Als  Ehepaar  gingen  sie  heim,  nach 
Hernals,  einem  der  »enteren  Qründe'^<  Wiens,  wo 
man  weder  Wouwerman  noch  Monet  kannte.  Es 
kümmerte  sich  niemand  um  sie,  nur  Theodor  von 
Hörmann,  der  Vorsecessionist,  kam  zu  ihnen  hinaus. 
Die  drei  Unverstandenen  verstanden  sich.  Aber 
Hernals  ist  der  siebzehnte  Bezirk  Wiens  und  das  ist 
gar  weit  vom  ersten  Bezirke,  wo  die  Häuser  für 
Kunstausstellungen  stehen.  Da  schien  ihnen  noch 
Dresden  näher.  Paul  Baum  hatte  ihnen  geraten,  sich 
dort  niederzulassen.  In  Dresden  wehte  damals  etwas 
wie  Frühlingsluft;  Uhde’s  heilige  Nacht  wurde  an¬ 
gekauft,  Klinger’s  Pieta;  Gotthard  Kuehl  war  berufen. 
Es  war  eine  Anwandlung.  Seitdem  geht  es  wieder 


akademischer  her.  Als  vor  vier  Jahren  Karl  Mediz 
das  grosse,  helle,  blau-weiss-grüne  Bild:  »Gottschee¬ 
rinnen«  auf  der  Dresdner  internationalen  Ausstellung 
hatte,  ging  ein  kühler  Schauer  durch  die  Leute.  Sie 
waren,  bei  ihrem  warmen  Galerieklima,  diese  helle 
freiluftige  Note  nicht  gewohnt.  Es  sind  elf  weib¬ 
liche  Figuren  auf  freiem  Felde,  über  dessen  helle 
Grünlichkeit  sich  die  helle  Bläulichkeit  des  Himmels 
spannt.  Die  vorderste  ist  eine  Greisin  am  Stabe, 
dann  folgt  eine  bemooste  Birke,  dann  zehn  Mädchen, 
jüngere,  ältere,  alle  in  weissem  plissefaltigem  Kleide, 
mit  dem  hellgrünen  Paletot  aus  ruppigem  Tuch  dar¬ 
über,  und  weissen  Spitzenärmeln  und  -Krausen,  und 
jede  eine  Vorsteckmasche  mit  lang  niederhangenden 

Enden  aus  schwe¬ 
rem  ,  buntgeblüm¬ 
tem  Seidenband,  und 
jede  einen  Lilien¬ 
stengel  in  der  Hand. 
Dazu  blondes  Haar, 
helleGesichter,  blaue 
Augen.  Die  Figuren 
selber  haben  die 
Farben  der  Land¬ 
schaft,  und  die 
schlanke  Birke,  die 
zufällig  in  ihre  Reihe 
geraten,  scheint  fast 
als  zwölfte  mitzu¬ 
gehen.  Es  ist  ein 
Kirchgang  in  Gott¬ 
schee,  jenem  krai- 
nischen  Ländchen, 
dessen  Herzöge  die 
Fürsten  Auersperg 
sind;  des  Malers  Va¬ 
ter  war  ein  deutscher 
Gottscheer.  Der 
Kirchgang  ist  natür¬ 
lich  nur  gedacht; 
Giotto  hat  in  der 
Arena  zu  Padua  so 
einen  Brautzug  ge¬ 
malt  und  Mediz  sich 
ihn  gemerkt.  Aber 
jede  der  lebens¬ 
grossen  Gestalten  ist  vom  Scheitel  bis  zur  Zehe 
Bildnisstudie.  In  Dresden  war  es  eine  starke  helle 
Freskowirkung  mitten  unter  geheiligtem  Staffeleiton; 
das  fiel  unverträglich  heraus,  so  dass  die  Leute  sich 
schon  Vornahmen,  es  nicht  vertragen  zu  können. 

Solche  lebensgrosse  Gestalten  in  urwüchsiger 
Volkstracht  hat  der  Künstler  immer  wieder  gemalt. 
Ein  solches  Mädel,  »Miederle«  genannt,  sitzt  vor 
einer  grauen  Bretterwand,  zwei  dunkle  Hände  im 
Schosse  der  weissen  Spitzenschürze.  Sie  trägt  das 
Fronleichnamskostüm,  dessen  eigentlich  ungeschickte 
Farben  —  das  rotbraune  Mieder  und  das  rosa 
Gürtelband  und  dergleichen  -  doch  so  unbefangen 
Zusammengehen.  Rosmarin  hat  sie  im  Haar;  man 
glaubt  es  herausziehen  zu  können,  wie  die  grossen 


KARL  MEDIZ 


EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


2og 


grünen  Eichenblätter  und  Tannenzweige  aus  dem 
Elutband  jenes  Windisch-Matreier  Qebirgsbauern ,  an 
dessen  Tracht  den  Maler  das  Schwarz,  Rot  und  Grün 
so  gereizt  hat.  Diese  groben  Tirolerloden  und  Woll¬ 
samte,  Leinen  und  Seiden,  Borten  und  Hefteln,  und 
die  Augenwimpern  und  der  Zug  der  Schere  im 
fahlblonden  Haar  —  man  hat  diese  Dinge  erst  seit 
Leibi  so  gesehen.  Und  seit  Van  Eyck  allerdings. 
Erühere  Volksfiguren  Mediz’  haben  diese  Art  Wahr¬ 
heit  noch  nicht.  Die  alte  Erau,  die  er  »die  Witwe« 
nennt  (von  1892)  und  die  mit  gefalteten  Händen  auf 
ihrer  Truhe  sitzt,  ist  in  Tolcsva  bei  Tokaj  gemalt 
und  trägt  eine  ungari¬ 
sche  »Bunda«,  nämlich 
einen  braunen  Schafpelz 
mit  farbiger  Lederzier 
und  gestickten  Wollblu- 
men.  Das  ist  nun  war¬ 
mer  Münchner  Lederton 
von  anno  dazumal,  jener 
spezifische,  die  ganze 
braune  Skala  herunter¬ 
spielende  Lederhosenton, 
der  aus  dem  bayrischen 
Oberland  nach  München 
hereindrang  und  Pa¬ 
lette«  wurde.  Es  klingt 
drastisch,  aber  der  Leder¬ 
hose  des  Holzknechts 
verdankt  Neu-München 
seinen  ersten  bodenstän¬ 
digen  Kolorismus.  Auch 
Erau  Mediz  hat  in  älterer 
Art  Treffliches  gemalt; 
das  Bildnis  ihrer  Mutter 
zum  Beispiel  (»Porträt 
in  Blau«,  i8gi).  Die 
Zeit  änderte  sich,  Luft 
und  Licht  wurden  frei, 
die  Earben  und  Eormen 
verschummerten  sich 
nicht  mehr  im  Hell¬ 
dunkel,  sondern  gaben 
ihren  Naturlaut  von 
sich.  Das  war  noch 
schöner;  im  Ereien  giebt 
es  nichts  Grelles,  weil 
der  Raum  sich  mit  den 
Earben  mischt;  als  wäre  schon  Luftperspektive  mit 
in  die  Tuben  gesperrt.  Aber  auch  ihre  Eormen 
änderten  sich.  In  diese  bringt  das  scharfe  Sehen 
beider  Mediz  gleichsam  eine  eigene  Gebärde,  es 
stellt  sich  ein  besonderer  Habitus  ein.  Selbst  den 
erwähnten  Dresdner  Porträts,  von  hohen  und  höchsten 
Persönlichkeiten,  von  berühmten  Künstlern  und  Ge¬ 
lehrten,  sieht  man  diesen  auf  den  ersteir' Blick  an. 
Ihre  Wahrheit  hat  gewisse  schier  seltsame  Eigenzüge, 
so  die  wesenhafte  Richtigkeit  von  allem,  was  Haar 
und  Haaresgleichen  ist.  Wie  individuell  sehen’^etwa 
die  Wimpern  an  jedem  Auge  aus,  wie  leibhaftig 
meint  man  den  Bürstenstrich  des  Bedienten  an  jedem 


Rockärmel  zu  unterscheiden.  Und  das  bei  den  be¬ 
schränkten  Mitteln  der  Kreidezeichnung.  Wie  weit 
da  das  Gesicht  selbst  ergründet  ist,  mag  man  sich 
denken. 

An  dem  grossen  Bilde:  »Die  vier  Eismänner« 
oder  »Die  Eisriesen«  erregte  dies  das  grösste  Er¬ 
staunen.  Das  Filzig- Lodenhafte  der  altertümlichen 
Schauben,  die  maschengenaue  Pinselstrickerei  der 
derben  Wadenstrümpfe,  das  Haar-für-Haar  der  langen 
struppigen  Graubärte  und  Haarschöpfe,  die  Härchen 
sogar  an  den  blossen  Teilen  der  Beine  (wie  bei  Van 
Eyck’s  Adam  in  der  Brüsseler  Galerie),  das  ist  alles 

wie  für  die  Lupe.  Die 
Ledernarbe  der  Berg¬ 
schuhe,  der  Messerzug 
am  Schnitt  der  Pfund¬ 
sohlen  und  ganz  beson¬ 
ders  die  Rinde  der  vier 
frisch  vom  Baume  ge¬ 
schnittenen  Knüttel. 
Baumrinde  ist  überhaupt 
ein  Liebling  beider  Mediz. 
Was  da  an  winzigen 
Moosen  und  Flechten, 
Sprüngen  und  Narben, 
Ästlein  und  Knötchen 
vor  sich  geht,  das  ist 
wieder  alles  für  die  Lupe. 
Man  möchte  es  kindisch 
nennen,  wenn  man  es 
sähe.  Aber  man  sieht  es 
erst,  wenn  man  es  sehen 
will;  ganz  wie  beim 
wirklichen  Menschen  und 
Baumast,  den  man  ja  für 
gewöhnlich  auch  nicht 
durch  die  Lupe  ansieht. 
Denn  die  Figuren  haben 
dabei  Masse.  Sie  glie¬ 
dern  sich  ebenso  richtig 
als  Ganzes,  das  man  mit 
einem  Blicke  umfassen 
kann,  ohne  auf  die  Mikro- 
skopik  zu  achten.  Wieder¬ 
um  wird  man  an  Leibi 
denken  müssen.  Oder  an 
englische  Präraffael iten. 
An  Hol  man  Hunt  etwa, 
dessen  Gestalten  so  durchgebildet  sind  und  unter  dessen 
Sträuchern  und  Blumen  man  thatsächlich  botanisiert 
hat.  Die  vier  Eismänner  stehen  auf  einem  Streifen 
blühender  Alpenhalde.  Es  ist  ein  dichter  zäher  Teppich 
aus  winzigen  Alpenblumen,  jede  einzelne  einzeln  vor¬ 
handen,  wie  ein  farbiger  Wollknoten  in  einem  orien¬ 
talischen  Teppich.  Die  rote  Alpenrose,  die  gelbe 
Primel,  der  blaue  Speik,  der  blauere  Enzian,  dicht 
zusammengedrängt,  ein  elastisches  Blumenmosaik. 
Man  sah  alle  diese  Dinge  halb  ungläubig  an,  wie 
vor  fünfundzwanzig  Jahren  die  bunt  aufgedruckten 
Blumensträusse  auf  dem  weissen  Umschlagtuch  von 
Leibl’s  Kirchgängerin,  oder  wie  man  die  unzähligen 


27 


KARL  MEDIZ  —  EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


Eiaueii  Schürzenfalten  seiner  Kellnerin  (der  Mieder¬ 
studie)  zu  zählen  versuchie.  Sogar  in  der  Fleisch- 
'■'arbe  isi  ei  i  Zug  von  Verwandtschaft,  ein  bläulich¬ 
rosiges  Etwas  von  Miiton,  das  auch  Dürer  oftmals 
ha;.  r;>a3  siiid  eben  alle  Drei  Deutsche,  von  jener 
schti”ba'-en  Schwere,  che  sich  durch  eine  innewoh¬ 
nende  ;ven;ciiV'e  Spaniikrafi  von  selbst  wieder  auf- 
itebt.  Seiuievi  hat  Aiediz  noch  einmal  zwei  solche 
LisnShi  v  .•  in  I  nbensgrösse  zusammengestellt.  (  Die 
Aiicn  vtn.i  Berge  .)  Einsiedelbauern  sind  es,  der 
LI.  :  ;  !, einen  ein  Naturdichter,  der  Knittelverse 

nn'.ein,  Ber  andere  ein  bäuerlicher  Tausendsassa, 
Geeusen  von 
Sehnuiggler, 

Pfadfinder  und 
Y;  iirzelsepp,  ne¬ 
benbei  nie  ohne 
einen  alten  zot¬ 
tigen  Gaul  zu 
sehen,  der  ihm 
wie  ein  betagter 
Hund  nachhum¬ 
pelt.  Auf  dem 
Viereismänner¬ 
bilde  ist  der  Alte 
links,  mit  dem 
langen  Schwind- 
schen  Rübezahl¬ 
bart  im  Profil, 
im  Original  schon 
neunzig  Jahre  alt 
und  hat  viel  Bun¬ 
tes  im  Leben  er¬ 
lebt.  Das  sind 
solche  Charak¬ 
tere,  und  wenn 
man  in  ihre  hell¬ 
blauen  Augen 
schaut,  kann  man 
es  darin  lesen, 
und  in  den  tau¬ 
send  Runenrun¬ 
zeln  ringsum,  de¬ 
ren  Rechtschrei¬ 
bung  Mediz  im 
kleinen  Finger 
hat. 

Schier  be¬ 
fremdlich  heben  sich  solche  äusserst  wahre  Men¬ 
schengestalten  bei  ihm  von  einer  Natur  ab,  die 
eigentlich  nicht  zu  ihnen  passt.  Von  einer  schemen¬ 
haften  Hochgebirgs-  und  Gletscherwelt,  in  der  es 
am  hellen  Tage  geologisch  und  meteorologisch  zu 
spuken  scheint.  Da  entfallen  sich  weite  Hinter¬ 
gründe,  in  denen  sich  ein  fast  körperlos  gegebenes 
Eiszackensystem  in  tausend  stürzende  Bäche,  hüpfende 
Bächlein,  fallende,  zerknickende,  zerstiebende  .Wasser¬ 
fäden  auflöst.  Es  wird  da  ein  Hochalpenstil  gesucht, 
der  sich  noch  nicht  recht  finden  lässt.  Frau  Emilie 
ist  darin  glücklicher,  wenigstens  soweit  sie  noch 
positiver,  studienhafter  geblieben.  So  in  ihrem  grossen 


Hochthal  ,  wo  verschiedene  Charakterzüge  des 
Gletschers  vortrefflich  beobachtet  sind.  Es  ist  der 
Schlattenkäsgletscher  am  Gross-Venediger,  wo  das 
Paar  den  vorigen  Hochsommer  gearbeitet  hat.  ln 
einem  anderen  Bilde  stellt  Emilie  diesen  Gletscher 
als  solchen  dar,  als  grosszügiges,  heroisch  gestimmtes 
Bildnis  einer  geologischen  Persönlichkeit.  Wie  der 
breite  Eisstrom  als  ungeheures  S  zwischen  seinen 
Felsengestaden  thalwärts  zieht,  das  hat  etwas  Typisches. 
Dabei  fühlt  man  den  Föhn,  in  dessen  weicher  Wärme 
alles  schmilzt,  schwitzt,  rinnt.  Die  Eisspitze  darüber 
weg  ist  die  »schwarze  Wand  .  Man  begegnet  ihrer 

kühnen  Zacke  auf 
manchem  dieser 
Bilder  und  sie 
hat  auch  ein  Ge¬ 
genüber,  mit  dem 
sie  sich  durch 
eine  grosse  Linie 
verbindet.  Ver¬ 
binden  würde, 
wenn  nicht  ein 
fremder  Berg  sich 
davor  schöbe. 
Nun,  diesen  Berg 
hat  Frau  Emilie 
im  »HochthaL 
beseitigt  und  an 
seine  Stelle  die 
grosse  runde  Ne¬ 
belsonne  gesetzt. 
Dieser  Zug  mag 
zeigen,  wie  die 
beiden  die  Land¬ 
schaft  sichten, 
ordnen,  bauen. 

Photographen 
sind  sie  nicht.  Auf 
einem  grossen 
Bilde  Emiliens, 
Ruine  »Dürn¬ 
stein',  sieht  man 
das  ganze  Do¬ 

nauthal  mit  sei¬ 
nen  Auen  und 

Uferdörfern  als 
silbergrau  dun¬ 
stigen,  luftigen 
Prospekt  in  der  Tiefe  schweben;  beinahe  schon 
eine  Luftballonwirkung.  Schade,  dass  das  Bild 

etwas  seifig  gemalt  ist.  Ich  ziehe  ihre  Bilder  vor, 

wo  die  Tiefen  und  Höhen  weniger  ins  Natur¬ 
ferne  gerückt  sind.  Etwa  so,  wie  in  jenem  »Hoch¬ 
thal  der  üppige  Blumengrund,  in  dem  die  bunten 
Kühe  weiden.  Man  blickt  auf  diesen  Streifen  Alpen¬ 
matte  nieder  und  das  Auge  spürt  ordentlich,  dass  sie 
aus  nichts  als  Blumen  besteht.  So  sind  auch  die 
Meerestiefen,  in  denen  beide  schwelgen.  Am  Fusse 
der  purpurbraunen  Felsen  von  Duino  (Karls  »Ruine 
am  Meer«)  sieht  man  ein  Wasser  voll  dunklen,  blau¬ 
grünen  und  grünblauen  Farbenspiels.  Ebenso  in 


Karl  Mediz."_Alte  Frau  bei  Tokaj 


EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


ÖLBÄUME  —  KASTANIENBÄUME 


212 


KARL  MEDIZ  EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


Emiliens  Meeres\veitpn,  :1en  dalmatinischen,  korfio- 
tischen,  triestinischen.  Zwei  grosse  Bilder  bei  Triest  füllt 
sie  nur  mit  S^r  und  Lu‘T  mit  einer  Meeresdämme- 
run^  in  Si!ber<  unv  eitler  .  Meeresdämmerung  in 
Blau  .  :  -d  .drirnel,  jedes  der  beiden  scheint 

sich  in  dem  „r ’e'-n  uu  spiegeln.  Das  leise  Spiel  der 
Elemcsir  beii  e  dünsiler,  mitzuspielen.  Man 

sieh;  uci  ;  i  d  ;  s  ■  'z  -  iiau,  wie  die  weichen  weissen 
Sciro; oi.u 'S  ’ .  ■  : \  d  ^"chcrförmig  ausspinnen,  so  über 
dem  ;  .  n  CO  naturale  auf  Lacroma  (  Das 

,;;ui  ).  ;  J  er  ier  Hohenlohe’schen  Burgruine 

;  jui  u.  .  .e  am  Abendhimmel  feurige  Ara¬ 
ber;'  d.r  ;oge- 

d dmrbaum  . 
ganze  At- 
mosphärik  beider 
Künstler  ist  mir  um 
so  lieber,  je  weniger 
sie  sich  ins  Abstrakte 
heben  will.  Eine 
Phantasienatur,  wie 
beim  altenWatts,muss 
angeboren  sein,  von 
selber  kommen;  expe¬ 
rimentell  erreicht  man 
sie  nicht.  Dass  der 
Künstler  daran  glaubt, 
überzeugt  den  Be¬ 
schauer  noch  nicht, 
und  wenn  er  nicht 
überzeugt  ist,  will  er 
auch  nicht  glauben, 
dass  der  Künstler 
daran  glaubt.  Selbst 
bei  den  »Eisriesen« 
steht  das  helle  stili¬ 
stische  Eisgebirge  hin¬ 
ter  den  so  greifbaren 
Figuren,  wie  die  grau 
in  grau  gemalten  Ge- 
birgsprospektebei  den 
Ischler  Photographen. 

Statt  menschlicher 
Körperlichkeit,diesich 
so  von  Luft  und  Luft¬ 
artigem  abhebt,  mag  es 
auch  wohl  eine  mineralogische  oder  pflanzengeographi¬ 
sche  Persönlichkeit  sein.  Eines  jener  erstaunlichen  Fels¬ 
gebilde  der  adriatischen  Küsten,  die  an  Cyklopenhand 
gemahnen,  mächtige  Wände  wie  aus  bunten  Achat¬ 
quadern,  Bogen  wie  aus  Karniolblöcken.  Karl  Mediz 
hat  manches  solche  Motiv  breit  hingemörtelt.  Und 
Emilie  setzt  sich  einmal  vor  das  Grottenloch  von 
St.  Canzian  bei  Triest  und  konterfeit  jene  ganze  bunt 
verwitterte  Karstphysiognomie  treulichst  ab,  Zug  für 
Zug,  mit  allen  den  Einfällen  und  Zufällen,  die  sich 
verkarstetes  Kalkgestein  erlaubt.  (»Zur  Unterwelt«.) 
Das  ist  eine  Studie  voll  durchdringender  Wahrheits¬ 
liebe.  Oder  das  Objekt  ist  eines  jener  gemischten 
Gebilde,  in  denen  Stein  und  Pflanze,  Natur  und 
Menschenwerk  sich  wie  zu  einem  massiven  Blumen- 


strauss  vermählen.  Das  sind  jene  südlichen  Strand- 
palazzini  und  Inselklöster  mit  ihren  hellen  Säulen 
und  Bogen  zwischen  dunklen  Cypressen  und  Pinien, 
starrend  von  graublauem  Kaktus,  wallend  von  silber¬ 
grauen  Schleiern  der  Olivenhaine,  durchwuchert  und 
übersponnen  von  hellblauen  Glycinien  und  dunkel¬ 
grünem  Kissos.  So  malt  etwa  Karl  Mediz  »das 
Kloster«.  Es  ist  jene  berühmte  Einsiedelei  auf  der 
Mausinsel  bei  Korfu,  dem  Eilande,  das  man  für 
Böcklin’s  Toteninsel  zu  halten  pflegt.  Aber  Max 
Klinger  weiss  es  von  Böcklin  selbst,  dass  dieser  sein 
Motiv  von  den  Ponzainseln'^bei  Neapel  geholt  hat. 

Die  Mausinsel,  das 
versteinerte  Schiff  der 
Phäaken,  wie  es  tief 
unten  in  dertiefblauen 
Bucht  liegt,  hat  Mediz 
einmal  auch  im  Nie¬ 
derblick,  zwischen 
dunklen  Epheuge- 
hängen  hindurch,  ge¬ 
malt.  Diese  Darstel¬ 
lungen  greifen  natür¬ 
lich  schon  in  Böcklin’s 
Gebiet  über.  Stein 
und  Pflanze  gleich 
plastisch,  aber  auch 
gleich  farbig,  die  Na¬ 
tur  als  Gesamtkünst¬ 
lerin.  Aber,  möchte 
man  fragen,  hat  nicht 
jene  Natur  viel  von 
Böcklin  gelernt?  An 
diesem  Geist  ist  dort 
ewig  nicht  mehr  vor¬ 
beizukommen.  Bei 
Mediz  ist  der  beson¬ 
dere  Zug  vor  allem 
wieder,  dass  er  un¬ 
vermerkt  ins  kleinste 
geht.  Jede  seiner 
Cypressen  —  für  das 
gemeine  Auge  giebt 
es  nichts  Unifor¬ 
meres  als  Cypressen 
und  Pappeln  —  ist 
eine  Person  für  sich.  Die  scheinbar  so  gleichen 
Wipfel  sind  jeder  nach  seiner  besonderen  Sammtig- 
keit,  Ruppigkeit,  Oberflächlichkeit  oder  Zerwühlt- 
heit,  strotzend  oder  kränkelnd,  melancholisch  oder 
sanguinisch  charakterisiert.  Und  dabei  ist  ihr  Spriessen, 
das  bewegte  Leben  in  ihrem  Organismus,  ersichtlich 
gemacht.  Gerade  wo  andere  zu  malen  aufhören, 
fängt  Mediz  erst  recht  an.  Wo  der  nackte  Stamm 
beginnt  und  sich  teilt,  spaltet,  ins  Unendliche  zer¬ 
fasert,  Sammelname  wird  und  dabei  Abenteuer  erlebt 
in  Wind  und  Wetter  und  Sonnenglut.  Der  Cypressen- 
stamm  erzählt  seine  Lebensgeschichte.  Das  hindert 
übrigens  nicht,  das  manche  dieser  Bilder  trotzdem 
etwas  Dürres,  Blechernes,  Silhouettenartiges  behalten. 
So  ein  Park«,  Glycinienbrunnen«  und  noch  andere. 


KARL  MEDIZ 


EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


213 


Auch  diese  Ansichten  sind  oft  frei  komponiert,  mit 
Benutzung  einzelner  eigentümlich  poetischer  Gegen¬ 
stände,  wie  eben  jenes  Glycinienbrunnens;  die  blumen¬ 
gesprenkelte  Parkgeometrie,  in  die  er  diese  lebendige 
Fontäne  aus  hellhimmelblauen,  seidigwallenden  Bluten¬ 
dolden  hineingestellt  hat,  ist  Variationenspiel  über  ein 
dortzulande  gegebenes  Thema.  Auch  Frau  Emilie 
hat  ihre  Lieblingsbäume.  Mit  Passion  geht  sie  in 
ihren  bunten  Kreiden  den  Capriccios  des  Ölbaums 
nach.  Aber  vielleicht  noch  lieber  sind  ihr  gewisse 
Bäume  und  Pflanzen,  die  gemeiniglich  als  langweilig 
verschrieen  sind.  Wenn  sie  ihre  zierlichen  Studien 
von  Gräsern  und 
Halmpflanzen, 
auch  von  Papyrus¬ 
stauden  macht,  ist 
ihr  merklich  japa¬ 
nisch  zu  Mute. 

Auch  wenn  sie  die 
fadenfein  gefieder¬ 
ten  Zweiglein  der 
Lärche  dünn  und 
dicht  und  senk¬ 
recht  niederhangen 
lässt.  Echt  deutsch 
aber  ist  sie  in 
ihren  blühenden 
Kastanienbäumen, 
die  sie,  unbeirrt  von 
all  dem  Gestarre 
und  Gewimmel 
eines  gleichmässig 
ausgestanzten  Lau¬ 
bes  als  eine  grosse, 
plastische,  in  Licht 
und  Schatten  ge¬ 
gliederte  Masse  von 
eigenem  Formen¬ 
geist  zu  sehen 
weiss.  Ein  Pracht¬ 
stück  mit  zwei 
solchen  Bäumen 
an  flachem  See¬ 
gestade,  aus  Si¬ 
zilien  geholt,  hat 
die  österreichi¬ 
sche  Regierung  er¬ 
worben.  Solche  Baumindividuen  auf  eine  Terrasse 
am  Meere  hinzustellen,  Kübelbäume  etwa  und  kletternde 
Glycinien  als  blaue  Arabeske  darüber,  das  ist  ein 
Lieblingsthema  Emiliens.  Auf  wie  vielen  deutschen 
Ausstellungen  hat  man  schon  solche  Bilder  von  ihr 
gesehen.  Das  ist  ihr  Sondermotiv,  ihr  Monogramm 
gleichsam.  Auch  diese  Bäumchen  sind  eigentlich  un¬ 
dankbar,  aber  was  ist  undankbar,  wenn  man  es  dank¬ 
bar  anzusehen  weiss?  Ein  dünner  roter  Kirschbaum¬ 
zweig,  dem  man  schon  das  Pfeifenrohr  ansieht,  in 
das  er  sich  einst  verwandeln  wird,  ist  bei  Mediz  voll 
einzelnster  Farbe  und  Form.  Ein  Orangenbäumchen 
voll  purpurner  Früchte  steht  bei  Frau  Emilie  in 
einer  tiefen  Pracht  und  fast  heraldischen  Würde  da. 


dass  man  ein  ehrwürdiges  Symbol  zu  sehen  meint. 
—  Das  Kleinleben  innerhalb  der  grossen  Form  zu 
sehen,  darauf  sind  beider  Augen  eigens  eingestellt. 
Beide  haben  die  Passion  des  Gewimmelmalens.  Der 
Blumenteppich  zu  Füssen  der  Eismänner  ist  ein 
Musterstück  in  dieser  Richtung.  Gewimmel  von 
hellen  Bäumen  haben  beide  schon  früh  gemalt;  sein 
Birkenwald  von  1894,  ihr  Silberpappelhain  von  1896 
sind  solche  Stücke.  Noch  lieber  aber  sind  ihnen 
wimmelnde  Blumendickichte,  unabsehbares  Blumen¬ 
gestrüppe.  Er  malt  in  einer  Gärtnerei  bei  Krems 
Vergissmeinnichtfelder  mit  roten  Tulpenhainen  und 


Hyazinthenbeständen  vermischt.  Dann  wieder  blaue 
Blumen,  eine  Wildnis  von  blühendem  »Natternkopf« 
(1893,  Motiv  bei  Tokaj,  doch  in  Krems  gemalt),  worin 
ein  geigendes  Mädchen  in  dunkelrotem,  blau  getupftem 
Kleide  wandelt.  Sie  malt  jene  gelbe  Ginsterland¬ 
schaft  (i8go),  wo  aber  der  rechte  Mut  zum  Gewimmel 
noch  nicht  vorhanden  ist.  Der  kommt  erst  später, 
wenn  ganze  Horizonte  sich  mit  den  flaumigen  Kugeln 
des  Löwenzahns  füllen  oder  jener  Lärchenbaum  aus 
einem  verworrenen  Gewusel  und  Gewurl  (gute  öster¬ 
reichische  Wörter)  von  Alpenrosen  aufsteigt.  Viele 
solche  Bilder  in  allen  Farben  haben  beide  gemalt. 
Wie  es  denn  überhaupt  merkwürdig  ist,  zwei  Menschen 
in  ihrer  Kunst  so  ganz  und  gar  verheiratet  zu  sehen. 


Karl  Mediz.  Schloss  Diiino  (Istrien) 


2;  ; 


KARL  MEDIZ  —  EMILIE  MEDIZ-PELIKAN 


S--’  'Hbcn  -ich  ■^ei.mseiLg  gemacht  und  machen  sich 
r  ,:h  D!:-  -r  zi.'arnmen  ein  Künstler.  Auch 

t  -V  ifl  r  i;?  r  Frau  ein  eigentümliches  Denk- 
-,1.;  er;’:'-  t';.- -  seiner  letzten  grossen  Bilder: 

D  -  .cie  -e  Ar  .Cii  stellt  die  gotische  Brunnen- 
:  ■  lei'-e -  iitretiz  vor.  Dort  steht  ein 

;  r:  .'inineii,  mir  mehreren  schweren 

-  :n  ‘  c  :  .  ■■'her:  ;.:  eider,  in  Bleiguss,  schon  ganz 
;  ..i  .  ri  vi  'U  eigenen  Gewicht  und 

r  :  -ert  mit  alten  und  uralten 

:  e  ;  -  ;i.  ■  I  i’en  ein  Oxydierungswunder, 

;  .  en  Maler  geschaffen.  Und  auf 

;  '  .  ,  irefon  dieses  Brunnens  sitzt  vorn, 
i;  !  au.  Das  ernste  Antlitz,  von  ge- 

I  .  nn  zwei  dichten  schwarzen  Sclieiteln 

.;io  Hände  ruhen  gefaltet  im  Schosse, 
r'  '  -ei'  riitbürgerliches  grünliclies  Lüsterkleid 
:  Jarüh  i  -äne  dunkelblaue  Stola  mit  dunkleren 

'rLl)fcn.  Eine  ehrsame  deutsche  Bürgersfrau,  halb 
von  heute,  halb  von  irgendwann.  Doch  an  den 
Schultern  hat  sie  zwei  mächtige  Fittiche,  dunkelblau 
mit  Reihen  von  hellen  Pfauenaugen.  Ehrsam  und 
wundersam  zugleich,  hausbacken  und  erhaben,  so 
sitzt  sie  und  schaut  und  sinnt.  Hinter  ihr  im  Halb¬ 
dunkel  glühen  rot  und  blau  und  goldig  die  uralten 


gotischen  Glasfenster.  Das  Bild  hiess  ursprünglich 
Die  Gotik«  und  das  war  der  richtige  Titel.  Die 
Frau  aber  ist  Frau  Emilie.  Das  blaue  Flügelpaar  an 
ihren  Schultern  mag  wohl  ihr  Gatte  einmal  wirklich 
erblickt  haben. 

Alles  in  allem  hat  man  hier  den  Anblick  einer 
ehelich-künstlerischen  Gemeinschaft,  die  sich  ihre  eigene 
Welt  geschaffen  hat.  Ihren  besonderen  Anschauungs¬ 
und  Empfindungskreis  und  eine  eigene  Technik  dazu. 
Eine  festbegründete  Wahrhaftigkeit  berührt  sich  mit 
einer  wogenden,  ringenden  Phantastik,  das  Sinnen¬ 
fällige  geht  Arm  in  Arm  mit  dem  Unwägbaren. 
Positivste  Erscheinung  und  transscendente  Neigungen, 
ein  Realismus,  der  nach  Stil  strebt,  ohne  freilich  einst¬ 
weilen  den  Widerspruch  lösen  zu  können.  Böcklin, 
Klinger,  Thoma,  Worpswede  —  auch  die  Mediz  ge¬ 
hören  in  diese  Reihe,  die  mit  starken,  durchaus 
deutschen  Eigenschaften  ausgerüstet,  an  den  Grenzen 
der  bürgerlichen  Welt  sich  eine  überbürgerliche, 
poetisch-malerische  Schöpfung  aufbaut.  Aus  starken 
Sinnen  heraus  greifen  sie  in  das  Übersinnliche  ein, 
nervig  und  nervös,  Symboliker  des  Alltags,  gesunde 
Farbendichter.  Nach  all  dem  Jahrhundertende  der 
letzten  Dekadenzen  scheint  in  solchen  Erscheinungen 
sich  wieder  jahrhundertanfang  anzukündigen. 


Karl  Mediz.  Der  heilige  Brunnen 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  ni.b.  H.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1903 


GESPRÄCH  ÜBER  DAS  WETTER 
ORIO.-RAD.  VON  HEINRICH  EICKMANN 


DRUCK  VON  QIE8ECKE  äi  DEVRIENT  IN  LEIPZIG 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1()03  IM  ATELIER.  ORIOINALRADIERUNQ  VON  E.  STIEFEL 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 

Von  Hans  Mackowsky 
(Schluss) 


WIE  überall  haben  sich  auch  in  S.  Miniato  al 
Tedesco  die  Franziskaner  und  die  Dominikaner 
an  entgegengesetzten  Ecken  angesiedelt.  Ihre 
Kirchen  mit  den  daranstossenden  Konventen  bestim¬ 
men  die  Silhouette  des  Stadtbildes  sehr  wesentlich. 
Beide  Orden  haben  nach  demselben  Schema  gebaut 
und  mit  Hilfe  von  grossen  Substruktionen  die  Un¬ 
ebenheiten  des  Terrains  überwunden.  Sie  trugen 
wieder  Sorge,  dass  die  Mönche  gesunde  Luft  und 
einen  schönen  Blick  in  das  umliegende  Land  genossen. 

San  Francesco  ist  die  ältere  Anlage.  1211,  als 
der  heilige  Franz  in  eigener  Person  nach  San 
Miniato  gekommen  war  und  mit  Worten  des  Frie¬ 
dens  und  der  Versöhnung  auf  die  erregten  Ge¬ 
müter  eingewirkt  hatte,  war  das  alte  dem  Orts¬ 
heiligen  Miniatus  geweihte  Kirch¬ 
lein  mit  einem  daranstossen¬ 
den  Hause  ihm  zum  Geschenk 
gemacht  worden.  Der  Tradition 
nach  baute  zunächst  Fra  Elia 
die  kleine  Anlage  aus.  Aber 
erst  im  15.  Jahrhundert  erwei¬ 
terte  sich  das  Ganze  zu  der 
grossartigen  Gestalt,  die  es  bis 
heute  sich  erhalten  hat^).  Die 
vornehmsten  Familien,  zu  denen 
die  Buonaparte,  Napoleon’s  Vor¬ 
fahren,  zählen,  schmückten  die 
Kapellen  und  errichteten  ihre 
Gräber.  Doch  haben  sich  nur 
wenige  Freskenreste  aufdecken 
lassen.  Ihre  Kunstschätze  hat 
die  Kirche  zur  Zeit  der  franzö¬ 
sischen  Invasion  auf  Nimmer¬ 
wiedersehen  eingebüsst  und  so 
muss  sie,  wenigstens  für  den 
Kunstfreund,  den  ihr  sonst  nach 
Grösse  und  Bedeutung  zustehen¬ 
den  ersten  Rang  an  die  Rivalin 
S.  Domenico  abtreten. 

Den  _  Dominikanern  war 
mit  Genehmigung  des  Bischofs 

1)  Für  die  Baugeschichte  sind 
zwei  Inschriften  wichtig,  die  von 
Marmortafeln  im  Innern  der  Kirche 
abgelesen  werden:  —  Hoc  tem- 
plum,  diruto  antiquiore,  erectum, 
anno  Domini  1276.  —  Piorum  cura 
ampliatum  et  auctum,  anno  Domini 
1480.  —  Das  an  den  Sattelbalken 
des  Dachstuhls  angebrachteWappen 
ist  das  der  Rondinelli. 


von  Lucca  die  schon  1194  erwähnte  alte  Paro- 
chialkirche  S.  Jacopo  e  Lucia  angewiesen  worden 
(1329).  Die  Ordensbrüder  verstanden  es,  sich  volks¬ 
tümlich  zu  machen  und  erlangten  bald  die  Mittel  zum 
weiteren  Ausbau  ihres  Gotteshauses  und  des  daran¬ 
stossenden  Klosters.  Die  Baugeschichte  kann  noch 
heute  an  dem  Zustand  des  Baues  selbst  gelesen  werden. 
Die  Kirche  zeigt  den  bekannten  Dominikanergrundriss, 
war  aber  ursprünglich  weniger  hoch  und  mit  Seiten¬ 
kapellen  eingefasst.  Kühne  Unterbauten  steigen  auch 
hier  bis  an  den  Fuss  des  Tufffelsens.  Sie  führen  zu¬ 
nächst  in  eine  dem  hl.  Urban  geweihte  Krypta  mit 
halbverblichenen  Fresken  aus  dem  Leben  dieses  Papstes. 
Endlich  klettert  man  auf  schmaler  Stiege  hinunter 
in  eine  mit  starken  Pfeilern  gestützte  Unterkirche. 

Und  während  man  sich  von 
Luft  und  Licht  geschieden  wähnt, 
öffnet  sich  eine  unscheinbare 
Seitenthür,  aus  der  wir  in  den 
süssen,  verwirrenden  Duft  eines 
blühenden  Citronengärtchens 
ganz  unten  am  Fuss  des  Felsens 
treten.  Von  hier  aus  schätzen 
wir  erst  die  Höhe  der  senkrecht 
ansteigenden  Mauermasse  und 
sehen  hoch  über  uns  die  male¬ 
rischen  Rückfronten  der  den 
oberen  Hügelrand  entlang  ge¬ 
legenen  Häuserreihe. 

Die  Reste  alter  Fresko¬ 
malereien  sind  zahlreicher  wie 
in  S.  Francesco.  Gegen  das 
Ende  des  14.  Jahrhunderts  muss 
eine  besonders  eifrige  Kunst- 
thätigkeit  hier  geübt  worden 
sein.  Doch  spielen  in  den  all¬ 
gemein  herrschenden  Stil  des 
sinkenden  Trecento,  der  sich 
natürlich  in  der  Provinz  zäher 
als  in  der  Hauptstadt  hielt,  deut¬ 
liche  Quattrocentoformen  hinein, 
z.  B.  in  jenem  schönen  jugend¬ 
lichen  Diakonenbrnstbild,  das 
in  der  Oberkirche  am  Pfeiler 
der  rechten  Querschiffskapelle 
aus  dem  Intonaco  herausgekratzt 
worden  ist. 

Mustert  man  die  noch  erhal¬ 
tenen  Werke  der  Tafelmalerei, 
so  sieht  man,  dass  ordnende 
Hände  mit  Eifer,  aber  nicht  im¬ 
mer  mit  Umsicht  gewirtschaftet 


Pier  Francesco  Fiorentino.  Der  hl.  Vincenthis 
San  Miniato  al  Tedesco.  San  Domenico 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  M.  g. 


28 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


li-Sen.  um  aus  S.  Domenico  ein  kleines  Museum 
-r  -Chen.  Hauptbild  und  Predelle  hat  man  aus- 
■ -  u;,  ,r  jehängt,  und  was  beisammen  geblieben  ist, 
!,i  immer  ursprünglich  zusammengehört.  Ich 
c  /iuiäch.st  zwei  als  Gegenstücke  aufgestellte  spitz- 
.  geschlossene  Holztafeln  mit  dem  hl.  Michael 
:.  *  h.e'-  li-  .  ccen  Katharina;  die  zugehörigen  Predellen- 
h':..  zeigen  den  Kampf  des  Erzengels  mit  dem  Höllen- 
'!L.  ::en  und  die  Enthaup- 
uiriu;  -ier  heiligen  Katha- 
rhua.  Auf  dem  Hauptbild 
liat  diese  Heilige  auch 
noch  das  Martyrium  einer 
brutalen  und  stümperhaf¬ 
ten  Übermalung  erdulden 
müssen.  Trotzdem  bleibt 
es  möglich,  die  Stilstufe 
dieser  Gemälde  zu  er¬ 
kennen.  Siegehören  einem 
zu  Beginn  des  Quattro¬ 
cento  arbeitenden  Maler, 
der  Orcagna’s  Tradition 
in  das  neue  Jahrhundert 
überleitet.  Ich  möchte  ihn 
identifizieren  mit  jenem 
Unbekannten,  der  das  aus 
Pisa  stammende  Altarwerk 
Nr.  48  im  ersten  Korridor 
der  Uffizien  gemalt  hat. 

An  derselben  Eingangs¬ 
wand  hängt  eine  Predelle, 
den  heiligen  Hieronymus 
in  seiner  Einsiedelei  dar¬ 
stellend,  zu  der  wir  das 
Hauptbild  in  der  Kapelle 
links  vom  Hochaltar  suchen 
müssen.  Hier  finden  wir 
den  Heiligen  sitzend  in 
seinem  gotisch  eng  ge¬ 
schachtelten  Studio.  Beide 
Bilder,  namentlich  die  Pre¬ 
delle,  lassen  an  einen 
Zeitgenossen  des  Lorenzo 
Monaco  denken;  eine 
meisterliche  Hand  hat 
auch  auf  ihnen  nicht  ge¬ 
waltet. 

Den  reichsten  künstle¬ 
rischen  Schmuck  enthält 
die  Kapelle  im  Querschiff 
rechts.  Sie  ist  den  heiligen 
Cosmas  und  Damian  geweiht,  und  deutet  damit  auf  einen 
Arzt  als  Stifter.  Wir  müssen  nicht  lange  nach  einem 
solchen  Umschau  halten,  denn  die  Inschrift  auf  dem 
Grab  an  der  linken  Seitenwand  lässt  ihn  uns  in  Gio¬ 
vanni  Chellini  finden.  Uralt  —  annis  fere  nonaginta 
—  ruht  er  in  Doktortalar  und  Kappe  mit  Händen, 
die  sich  über  einem  gelehrten  Buche  kreuzen, 
unter  einem  hohen  Giebelbau  wie  auf  einem  Altar¬ 
tisch.  Das  ist  für  ein  Quattrocentograbmal  eine  ganz 
ungewöhnliche  Form.  Unmöglich  ferner,  dass  die 


InschrifttafeP)  dicht  unter  der  Platte  in  die  bunte 
Marmorfüllung  des  Unterbaues  eingepasst  war.  Das 
Grabmal  ist  von  unkundiger  Hand  einmal  umgebaut 
worden,  wobei  wesentliche  Teile  versetzt,  andere  ver¬ 
loren  gegangen  sind.  Alt  und  ursprünglich  scheint 
nur  der  Unterbau  und  die  Figur  des  Toten,  die  bis 
auf  die  bestosseue  Nase  wohl  erhalten  ist.  Die  Pi¬ 
laster  des  Oberbaues  stimmen  in  ihrer  dünnen  und 

zerbrechlichen  Ornamen¬ 
tik  mit  den  unteren  Stützen 
schlecht  überein;  dagegen 
scheinen  die  Kapitelle,  die 
an  jene  der  Mediceerbank 
in  Mailand  erinnern,  wie¬ 
der  Originalarbeit  des  15. 
Jahrhunderts  zu  sein. 
Selbstverständlich  hat  das 
Giebeldach  ein  moderner 
Restaurator  auf  dem  Ge¬ 
wissen,  vermutlich  der¬ 
selbe,  der  die  in  Gips 
nach  Luca  della  Robbia 
geformte  Madonna  ohne 
Verständnis  in  den  Kranz¬ 
rahmen  brachte  und  die 
hintere  Nischenwand  mit 
dem  Fruchtgehänge  und 
den  ärztlichen  Emblemen 
verzierte.  Die  Figur  des 
Toten  erinnert  aufs  stärkste 
an  den  Aragazzi  von 
Michelozzo  in  Montepul- 
ciano,  so  dass  wir  hier 
eher  auf  ihn  als  (nach 
Liphart’s  Vorgang)  auf 
seinen  ausführenden  Ge¬ 
hilfen  Pagno  di  Lapo 
Portigiani  schliessen  möch¬ 
ten.  Allerdings  war  Pagno 
in  S.  Miniato  nicht  fremd, 
wenn  wir  Vasari  Glauben 
schenken  dürfen,  der 
(Sans.  II,  447)  erzählt: 
»lavorö  anco  Pagno  a 
San  Miniato  al  Tedesco 
alcune  figure  in  compag- 
nia  di  Donato  suo  maestro, 
essendo  giovane«.  Die 
Jugendzeit  war  aber  1461, 
als  Chellini  starb,  für 
Pagno,  dessen  Leben  die 
Daten  1406  und  1470  einschliessen,  lang  vorüber  ’). 


1)  Johanni  Chellino  Florentino  civi  preclaro  •  artiiim 
medicineque  eximio  doctori  •  sepulchrnni  hoc  Bartholomeus 
nepos  et  gratus  heres  construendiim  curavit  •  vixit  autem 
honore  dignus  annis  fere  nonaginta  ■  obiit  die  llll  Februarii 
MCCCCLXI. 

2)  Während  des  Druckes  teilt  mir  Herr  C.  von  Fabriczy 
mit,  dass  die  Autorschaft  Pagno’s  aus  chronologischen 
Gründen  ausgeschlossen  ist,  wie  er  demnächst  im  Beiblatt 
des  »Jahrbuchs  der  Kgl.  Pretiss.  Kunstsammlungen«  nach- 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


217 


Vielleicht  war  es  der  gleiche  Bartolomeus  nepos 
et  gratus  heres,  der  die  Altartafel  in  der  Qrabkapelle 
zum  Andenken  an  den  durch  seine  milde  Werkthätig- 
keit  berühmten  Onkel  stiftete’).  Sie  stellt  die  thro¬ 
nende  Madonna  dar,  umgeben  von  den  hh.  Cosmas 
und  Damian,  denen  sich  noch  ein  bärtiger  Graukopf  -  - 
Bartholomäus,  der,  wie  ich  glaube,  durch  den  Restau¬ 
rator  um  das  Messer  in  seiner  Linken  gekommen  ist 


langweiliger  Symmetrie  aufgebaute  Gruppe  steht  auf 
buntem  Marmorfussboden  gegen  einen  gemusterten 
Goldgrund,  dessen  oberen  Teil  eine  vierfach  geraffte 
Draperie  mit  Cherubimköpfen  schliesst.  Eine  vier¬ 
teilige  Predelle  erzählt  das  chirurgische  Kuriosum  der 
beiden  hl.  Ärzte,  die  Anbetung  der  Könige,  das  Mar¬ 
tyrium  der  Mediziner  und  die  Gürtelspende  an  den 
hl.  Thomas.  Dieser  letzte  Teil  der  Predelle  hat  stark 


Giusto  d’ Andrea.  San  Domenico  in  San  Miniato  al  Tedesco 
Cappella  dei  SS.  Cosimo  e  Damiano 


—  und  Thomas  mit  der  Lanze  anschliessen.  Diese  in 


weisen  wird.  Es  scheint  mir  demnach  geraten,  vorläufig 
an  Michelozzo  als  Verfertiger  festzuhalten.  Ein  Aufenthalt 
des  Künstlers  in  S.  M.  ist  nicht  notwendigerweise  anzu¬ 
nehmen,  da  wir  wissen,  wie  solche  Arbeiten  verschickt 
wurden,  wobei  gerade  an  Michelozzos  Grabmäler  in  Monte- 
pulciano  und  in  Neapel  zu  erinnern  wäre. 

1)  Das  Wappen  der  Pazzi  am  Altar  stammt  von  den 
späteren  Patronen  der  Kapelle  her.  Zuletzt  ging  das  Pa¬ 
tronat  an  die  Settinianni  über. 


gelitten,  vermutlich  später,  nachdem  schon  die  aus¬ 
bessernde  Restauratorenhand  die  ganze  Malerei  über¬ 
gangen  hatte. 

Die  Kunst  des  Meisters,  der  sich  hier  offenbart,  ist 
über  manche  Filter  gegangen.  Die  Lokaltradition  schreibt 
das  Gemälde  der  Schule  des  Angelico  zu,  von  dessen 
Madonnenauffassung  die  vorliegende  inspiriert  scheint. 
Der  Schematismus  der  Komposition  erinnert  ebenfalls 
an  die  hieratisch  gebundene  Art  des  Fra  Beato.  Das 
Beste  verdankt  der  Maler  aber  doch  dem  Fra  Filippo 


28 


2lS 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


Lippi,  auf  den  manche  Typen  und  vor  allem  das  Kolorit 
hiiuveisen.  Eine  Figur  wie  der  bartlose  Damian  ist 
ohne  die  Kenntnis  des  Bildes  in  Casa  Alessandri  gar 
n!ci:‘i:  vorstellbar.  Auch  das  schöne  Granatrot  der 
DokT-.renmäntel  und  die  feinen  Mitteltöne  sind  Fra 
filippo  abgesehen.  Wir  müssen  also  nach  einem 
Maler  Umschau  halten,  der  um  1460  in  diesen  Schul¬ 
traditionen  sich  bewegte.  Ich  bringe  Ginsto  d’ Andrea 
in  Vorschlag. 

Mehr  als  ausreicliend  sind  wir  über  Giusto  unter- 
richtvi.  Sein  VMter  Andrea  erscheint  in  der  denunzia 
Masaccios  von  1427  als  Werkstattgenosse  des  grossen 
Meisters’).  Cavalcaselle-)  stellt  seine  Arbeiten  zusam¬ 
men.  Ich  habe  bereits  den  Versuch  gemacht’'),  die 
Liste  dieser  sämtlich  ausserhalb  von  Florenz  befind¬ 
lichen  Arbeiten  durch  das  in  der  Sakristei  von  S.  Nicolo 
zu  Florenz  befindliche  Altarbild  der  Madonna  mit 
Engeln  und  sechs  Fleiligen  zu  vermehren.  Andrea 
lebte  bis  1450. 

Die  erste  Portata  des  Sohnes  Giusto  von  1457^) 
führt  ihn  mit  zwei  Brüdern  im  fremden  Hause  als 
Waisen  auf:  Siano  popili  sanza  padre  e  sanza  madre 
e  istiano  chon  altrui  per  le  spese  .  1458  wird  Giusto 

auf  zwei  Jahre  garzone  bei  Neri  di  Bicci,  hatte  doch 
schon  der  Vater  Andrea  mit  Bicci  di  Lorenzo  Be¬ 
ziehungen  gehabt,  ln  seinen  pedantischen  Aufzeich¬ 
nungen  notiert  Neri  sub  anno  1458  ’):  »Piglia  per 
disccpolo  Giusto  d’ Andrea  di  Giusto,  dipintore,  per 
1  anno  con  salario  di  fiorini  12  et  un  paio  di  calze«. 
Mehrfach  erlitt  die  Thätigkeit  Unterbrechungen,  was 
Neri  genau  annierkt;  eine  kurze  Abschwenkung 
führt  (jinsto  auch  in  Fra  Filippo’s  Atelier.  Um  die¬ 
selbe  Zeit  wird  er  in  die  Lukasgilde  aufgenommen'’). 
Nicht  ohne  Selbstgefühl  schreibt  der  junge  Meister 
nach  Beendigung  dieser  Zeit:  fe’  molti  lavori  e  gua- 
dargniai  bene  .  Allein  er  zog  es  doch  bald  vor,  zu 
F^enozzo  Gozzoli  als  Gehilfe  zu  gehen  »per  agpare 
(imparare)  neir  arte  e  nella  virlü«.  1462 — 1465  ist  er 
mit  Gozzoli  in  San  Gimignano  thätig.  Dann  ver¬ 
lieren  wir  ihn  aus  den  Augen  bis  zum  Sturz  der 
Medici  1494,  den  er  selbst  sehr  anschaulich  in  einem 
wenig  schriftgelehrten  Italienisch  beschrieben  hat. 
1496  stirbt  er.  Cavalcaselle  hat  sich  die  Zusammen¬ 
stellung  auch  der  ihm  zugehörigen  Malereien  ange¬ 
legen  sein  lassen"). 

1)  Gaye,  Carteggio  1,8.  116. 

2)  Ital.  Ausgabe  II,  S.  349—351.  Die  dort  in  S. 
Margherita  zu  Cortona  und  in  der  Casa  Ranghiasci  zu 
Gubbio  erwähnten  und  bezeiclineten  Werke  befinden  sich 
nicht  mehr  an  Ort  und  Stelle.  Das  Bild  in  Cortona  ist 
beim  Umbau  der  Kirche  1897  verschwunden,  die  Gemälde 
der  Casa  Ranghiasci  sind  verkauft  worden. 

3)  Sitzungsbericht  der  Kunstgeschichtlichen  Gesellschaft 
zu  Berlin  vom  10.  Januar  1902,  wo  ich  auch  die  ersten 
Mitteilungen  über  San  Miniato  al  Ted.  machte. 

4)  Quartiere  S.  Croce,  gonfalone  bue.  Gaye,  Carteggio 
1,  S.  21 1  -212. 

5)  Gaye,  ebenda  S.  212. 

6)  Gualandi,  Memorie  VI,  S.  183.  Zwischen  1458 
und  1460.  Das  genaue  Datum  fehlt. 

7)  Ital.  Ausg.  Vlll,  S.  129  ff.  Nicht  überall  kann  ich  bei¬ 
stimmen.  Mit  Sicherheit  erkenne  auch  ich  Giusto’s  Hand 


Nehmen  wir  das  Todesdatum  des  Chelliui  1461 
als  Entstehungsjahr  des  Gemäldes  an,  so  ordnet  es 
sich  trefflich  in  Giusto’s  Entwickelung  ein.  Spätestens 
1460  ist  Giusto  selbständiger  Meister  geworden,  da¬ 
nach  >arbeitete  er  viel  und  verdiente  gut«.  Die  Un¬ 
selbständigkeit  der  Malerei  deutet  auf  einen  Suchenden, 
einen  Anfänger.  Und  wenn  die  Art  des  Fra  Filippo 
am  stärksten  darin  sich  geltend  macht,  so  kommen  wir 
wieder  auf  die  Zeit  um  1460,  als  die  Richtung  des 
Frate  die  massgebende  war.  Giusto  gehört  in  den 
Kreis  der  Piero  di  Lorenzo,  Zanobi  Machiavelli’),  Fra 
Diamante.  Von  Gozzoli  ist  noch  nichts  auf  dieser 
Tafel  zu  spüren. 

Deutlicher  noch  als  das  Hauptbild  weist  die 
Predelle  in  den  Umkreis  des  Frate  und  zwar  auf 
Pesellino.  Für  das  Wunder  der  Beinamputation  nahm 
Giusto  seine  Zuflucht  zu  Pesellino’s  jetzt  im  Louvre 
(Nr.  1414)  befindlichen  Predellenstück.  Er  änderte 
nur  die  linke  Seite,  die  er  durch  eine  Wand  von  dem 
Krankenzimmer  trennt,  und  wo  er  eine  zimperlich 
verlegene  Jungfrau  einen  mit  Spülnapf  und  Wasser¬ 
kanne  herbeieilenden  Fante  erwarten  lässt.  Die  Lage 
des  Kranken  im  Bett,  das  Herzutreten  der  beiden  kurz 
entschlossenen  Chirurgen  zeigt  nichts  von  den  Fein¬ 
heiten  des  Vorbildes.  Im  folgenden  Stück,  auf  der  An¬ 
betung  der  Könige,  verarbeitet  Giusto  verhältnismässig 
frei  die  von  Gcntile  da  Fabriano  importierten  Motive. 
Kröche  der  älteste  König  nicht  allzu  animalisch  zum 
Fusskuss  heran,  so  wäre  die  Geschlossenheit  der 
Gruppe  zu  loben.  F^ei  der  Hinrichtung  des  Cosmas 


in  der  Madonna  mit  sechs  Heiligen,  ehemals  in  der  floren- 
tiner  Akademie  (Katalog  1893,  Nr.  13).  Das  Gemälde  soll 
demnächst  in  den  neuen  Sälen  der  Uffizien  aiifgestellt 
werden.  Das  Bild  in  der  Galerie  zu  Prato  (Katalog  1900, 
sala  IV  Nr.  19)  hält  ziemlich  die  Mitte  zwischen  Gozzoli 
und  Botticini.  Eine  Madonna  in  der  Galerie  zu  San  Gi¬ 
mignano  (im  r’*alazzo  Nuovo  del  Podestä,  phot.  Alinari 
Nr.  9589)  geht  trefflich  mit  dem  Bilde  in  Florenz  zusammen. 
Das  Bild  in  San  Girolamo  ausserhalb  von  Volterra  —  aus 
dem  Stadthause  erst  dorthin  gebracht  —  ist  ausserordent¬ 
lich  stark  restauriert,  hat  aber  sehr  viel  Verwandtschaft 
mit  Giusto.  Die  Madonna  in  Budapest  schreibe  ich  mit 
Weisbach  (F^esellino  S.  113)  dem  Piero  di  Lorenzo  zu. 
Für  Giusto  beanspruche  ich  noch  die  Madonna  mit  sechs 
Heiligen  zu  S.  Giovanni  Valdarno  im  Oratorio  della 
Madonna  (phot.  Alinari  Nr.  8908).  Die  Art  Giusto’s  hat 
Bayersdorfer  mit  gewohnter  Treffsicherheit  in  der  1458 
datierten  grossen  Madonna  mit  Heiligen  der  Münchner 
Pinakothek  (Nr.  1003)  erkannt. 

1)  Sollte  dieser  Zanobi  de’  Machiavelli  nicht  identisch 
mit  jenem  Zanobi  de  —  (hier  hat  das  Dokument  eine 
Lücke)  sein,  der  in  dem  bekannten  Rechtsstreit  um  die 
Trinität  in  London  (Nat.  Gallery  Nr.  727)  mit  Piero  di 
Lorenzo  als  Werkstattgenosse  des  Pesellino  namhaft  ge¬ 
macht  wird?  Milanesi  (Vas.  Sansoni  III,  S.  43)  nennt  zwar 
Zanobi  di  Migliore,  ohne  anzugeben,  woher  er  diesen 
gänzlich  unbekannten  Namen  hat.  Wer  indessen  die  von 
mir  in  dem  oben  zitierten  Sitzungsbericht  der  Kunstge¬ 
schichtlichen  Gesellschaft  zusammengestellten  Malereien 
des  Zanobi  Machiavelli  (1418  —  1479)  auf  ihre  Beziehungen 
zu  Fra  Filippo  und  Pesellino  prüft,  wird  gleich  mir  geneigt 
sein,  in  diesem  Künstler  den  trefflich  zu  Piero  di  Lorenzo 
passenden  Werkstattgenossen  zu  mutmasseii. 


Giusfo  d’ Andrea.  Predellenstücke  zum  Altarbild  in  San  Domcnieo 
San  Min  lato  al  Tcdcsco 


220 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


und  Damian  schielt  Giusto  wieder  zu  Pesellino  hin- 
üLcr,  diesmal  nach  dem  in  Elorenz  befindlichen  Teil 
-  r  '{enannten  Predelle.  Den  Henker  übernimmt  er 
/i-  r  lich  i/etreu,  wie  ihn  seiner  Zeit  Pesellino  von 
.  '.ni  i  cio  (Berlin  Nr.  58  B)  entlehnte.  Im  übrigen 
:  L  nicht  viel  Eederlesens  mit  dem  Vorbilde  gemacht; 

langweilig  aufmarschierte  Front  der  vier  Legionäre 
..:rn’t  Je  Armseligkeit,  die  sich  der  Maler  auf  einer 
Predelle  hingehen  Hess.  Das  vierte  Bild  kann  nur 
noch  nach  seinem  Gegenstände,  die  Gürtelspende  an 
Thomas,  erraten  werden,  so  abgerieben  ist  es.  Das 
Wappen,  das  sich  auf  dem  trennenden  Pfeiler  links 
befand,  ist  ebenfalls  durch  Auskratzung  unkenntlich 


und  Stilanalyse,  um  das  Werk  zusammen  mit  der  ehe¬ 
mals  in  der  Florentiner  Akademie  ausgestellten  Ma¬ 
donna  der  Jugendzeit  Giusto’s  zuzuschreiben,  vor 
seiner  Berührung  mit  Gozzoli. 


Die  Kapelle  rechts  vom  Hochaltar  ist  ganz  mit 
Fresken  aus  dem  Ende  des  14.  Jahrhunderts  im  Stile 
des  Agnolo  Gaddi  ausgemalt.  Das  dort  befindliche 
Altargemälde  ist  erst  vor  einigen  Jahren  an  diese 
Stelle  gekommen.  Vor  gewohnter  Nischenarchitektur 
thront  die  Madonna,  umgeben  von  den  hll.  Se¬ 
bastian  und  Johannes  dem  Täufer  (links)  sowie  den 


Sinibaldo  Ibi  (?)  bez.  150J 
San  Miniato  al  Tedesco.  San  Domcnico 


gemacht.  Das  Fleckchen  Landschaft,  zu  dem  der  Maler 
sich  verstand  —  Berge  und  ein  kastellartiger  Bau,  — 
erinnert  am  meisten  an  Fra  Aiigelico’s  andeutende 
Einfachheit.  Die  künstlerischen  Unkosten,  die  Pesellino 
sich  mit  seinen  reichen  landschaftlichen  Gründen  machte, 
vermied  der  umsichtig  seinen  Lohn  abwägende  Giusto 
durchaus. 

Die  mehr  andeutende,  grob  konturierende  Art') 
dieser  Malereien  spricht  ebenso  wie  die  ängstliche 
Symmetrie  für  eine  jugendliche,  unerfahrene  Hand. 
Alles  steht  da  im  Lot  und  in  unfreiem  Parallelismus. 
Und  so  vereinigen  sich  chronologische  Kombination 

1)  Allerdings  ist,  namentlich  in  den  Gesichtern,  eine 
naciizeichnende  spätere  Hand  wahrnehinlrar. 


hll.  Martin  (?)  und  Rochus  (rechts);  vorn  kniet, 
puppenhaft  klein,  die  Stifterfamilie,  Mann,  Frau  und 
Tochter.  Die  Anwesenheit  der  hll.  Sebastian  und 
Rochus  lassen  ein  Devotionsbild  vermuten  zur  Abwehr 
der  Pestgefahr,  die  San  Miniato  so  oft  bedrohte. 
Ein  grob  verputzter  Riss,  der  durch  die  rechte  Hälfte 
des  Bildes  geht  und  die  Namensinschrift  des  heiligen 
Bischofs  zerstört  hat,  entstellt  ein  wenig  das  Gemälde. 
Die  helle  kalte  Farbe,  aus  der  ein  fahles  Grün  her¬ 
vorsticht,  das  bleiche  Inkarnat,  die  hakenförmig  aus¬ 
gebogenen  Locken,  die  auffallenden  weissen  Augäpfel, 
in  deren  Ecken  die  Pupillen  stehen,  die  fleischrote 
Architektur  des  Thrones  und  die  Miniaturfigürchen 
der  Stifterfamilie  —  all  das,  sollte  man  meinen,  wären 
deutliche  Fingerzeige  auf  einen  bestimmten  Meister. 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


221 


Trotzdem  weiss  ich  keinen  Namen  vorzuschlagen. 
Die  Tradition  »scuola  del  Botticelli«  lenkt  vollends 
in  die  Irre.  Die  leere,  schönschreiberische  Model¬ 
lierung  des  Nackten,  das  Preziöse  des  Qefühlsaus- 
drucks  deutet  auf  einen  Umbrer,  nicht  einmal  auf  einen 
sonderlich  frühen.  Unter  dem  Bilde  hängt  eine  nicht 
zugehörige  Predelle,  leider  auch  nicht  wohl  erhalten, 
auf  der  ein  tüchtiger  Meister  des  beginnenden  Quattro¬ 
cento  Geschichten  aus  dem  Leben  des  Täufers  auf 
Goldgrund  dargestellt  hat. 


das  geöffnete  Buch,  das  der  Heilige  in  der  Linken 
trägt,  weist  mit  seiner  Schrift  auf  das  Jüngste  Gericht 
hin:  Timete  deum  e  date  illi  Honore.  Auch  hier 
ist  viel  verputzt,  der  Meister  aber  noch  kenntlich. 
Wenn  ich  mich  für  Pier  Francesco  Fiorentino  ent¬ 
scheide,  so  hat  mich  die  Ähnlichkeit  dieses  Vincen- 
tius  mit  dem  gleichen  auf  dem  Bilde  in  Siena 
(Saal  III,  Nr.  66)  bestimmt.  Und  ich  verweise  ferner 
auf  den  heiligen  Vincentius,  wie  ihn  Pier  Erancesco 
in  S.  Agostino  zu  San  Gimignano  gemalt  hat.  Eine 


Uinbro-Florentinischer  Meister  um  i^oo 
San  Miniato  al  Tedesco.  Altarbild  in  San  Domenico 


In  der  Kapelle  links  vom  Hauptaltar,  wo  wir 
schon  den  heiligen  Hieronymus  fanden,  hängt  auf 
der  rechten  Seitenwand  die  fast  lebensgrosse  Figur 
des  heiligen  Vincentius*).  Stehend,  auf  geflammtem 
Marmorboden  gegen  einen  azurblauen  Hintergrund 
deutet  er  in  seiner  Ordenstracht  mit  erhobenem  Zeige¬ 
finger  auf  Christus,  der  als  Weltenrichter  von  zwei 
blasenden  Engeln  emporgetragen  erscheint.  Auch 

i)  Für  die  Benennung  dieses  Heiligen  ist  mir  ein  mit 
Sanctus  Vincentius  bezeichnetes,  in  Tracht,  Typus  und 
Gebärde  analoges  Gemälde  in  der  Pinakothek  zu  Gubbio 
massgebend. 


besondere  Eigentümlichkeit,  die  langen  zugespitzten 
Finger  mit  dem  geschwollenen  Daumen,  zeigt  auch 
unser  Bild.  Zudem  liegt  San  Miniato  in  dem  Bezirk, 
den  Pier  Francesco  bei  seinen  nachweisbaren  Malereien 
abgewandert  hat. 

Das  letzte  Bild,  das  uns  in  dieser  Kirche  interessiert, 
hängt  wieder  an  der  Eingangswand  als  Gegenstück 
zu  den  Figuren  der  hll.  Michael  und  Katharina.  Hier 
assistieren  der  thronenden  Madonna  Johannes  der 
Täufer  und  der  heilige  Andreas.  Inschriftlich  wurde 

i)  Das  Bild  stammt  übrigens  aus  dem  benaclibarten 
Colle  di  Val  d’Elsa. 


222 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


das  Gemälde  1507  von  Andrea  Giovanni  Guidi 
^‘cstiftet.  Aus  Pinturricchio’s  Werkstatt  hat  der  un- 
br-kannte  Maler  seine  Typen  entlehnt.  Seine  künst- 
1  .  lischt-  Verwandtschaft  mit  Sinibaldo  Ibi  ist  zu  auf- 
üi'enJ,  als  dass  der  Name  nicht  genannt  werden 
üiüsstL-,  wenn  ich  auch  Bedenken  trage,  das  gieich- 
giiltige  und  verputzte  Bild  selbst  mit  einem  so  unter¬ 
geordneten  Meisternamen  zu  belegen. 

Draussen  im  schattigen  Kreuzgang,  der  seit  1873 
dem  mercato  pubblico  zur  Verfügung  gestellt  wurde, 
ist  über  einer  Thür,  die  zur  Bibliothek  führt,  ein 
Relief  mit  der  Verkündigung  aus  der  späten  Robbia- 
schule  eingemauert.  Es  stammt  aus  dem  unter  Na- 


sich  jedoch  nicht  wieder  sehen.  Da  ging  die  Wittib 
zu  den  Priestern,  dass  diese  die  Kiste  öffneten.  Ein 
Crocefisso  lag  darin,  dessen  wunderbare  Herkunft 
seine  taumaturgische  Kraft  gewährleistete.  So  oft  das 
Land  schwer  heimgesucht  wurde,  trug  man  das 
Wunderbild  in  Prozession.  Es  hatte  seinen  Ehren¬ 
platz  in  dem  Oratorium  neben  dem  Palaste  der 
Kommune.  1637,  als  die  Pest  wieder  schlimm 
hauste,  gelobten  die  Samminiatesen  ein  neues  und 
prunkvolleres  Haus  für  das  Wunderbild.  Aber  erst 
im  18.  Jahrhundert  konnte  man  jenen  Rundbau  er¬ 
richten,  zu  dem  eine  stattliche,  doppelarmige  Treppe 
mit  Statuenschmuck  heranführt. 


San  Miniato  al  Tedesco.  Altar  in  der  Chiesa  di  Loretino 


poleon  aufgehobenen  Kloster  der  SS.  Annunziata. 
Für  Giovanni  selbst  erscheint  die  Arbeit  zu  gröblich. 


Wie  die  Bewohner  der  Impruneta,  besitzen  auch 
die  Samminiatesen  ihr  wunderthätiges  Heiligenbild, 
nur  dass  es  keine  Madonna,  sondern  ein  Kruzifixus 
ist.  Einst,  zu  des  Hohenstaufers  Zeiten,  hatten  zwei 
Pilger  bei  einer  armen  Witwe  eine  grosse  Holzkiste 
hinterlegt,  mit  der  Bitte,  sie  bis  zu  ihrer  Rückkehr 
uneröffnet  in  Gewahrsam  zu  nehmen.  Die  Männer 
—  oder  waren  es  himmlische  Abgesandte?  —  liessen 


ln  dem  alten  Oratorium  aber,  das  inzwischen 
mannigfache  Umbauten  erfahren  hatte,  sehen  wir 
heute  in  prächtigem  holzgeschnitztem  Tabernakel  das 
Bild  der  Madonna  di  Loreto,  dem  zu  Ehren  das 
Heiligtum  den  Namen  Loretino  führt.  Es  ist  einer 
der  reichsten  und  schönsten  Altäre,  die  man  in  dieser 
Technik  sehen  kann.  Ein  sehr  kunstvolles  Eisen¬ 
gitter  trennt  ihn  von  der  Schar  der  Anbeter.  Seine 
Architektur,  aus  der  Form  des  römischen  Triumph¬ 
bogens  entwickelt,  schliesst  in  rundbogigen  Nischen 
und  viereckigen  Feldern  einige  Gemälde  der  späten 
florentinischen  Schule  ein,  die  das  herrschende  Dunkel 
und  die  schlechte  Erhaltung  nur  schwer  erkennen 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


223 


lassen.  Doch  darauf  kommt  es  nicht  an  ^).  Hier 
wirken  allein  die  Kunst  des  Schnitzers,  die  pracht¬ 
vollen  Verhältnisse,  der  Reichtum  ohne  Überladen¬ 
heit  und  das  schöne  Altgold  der  Bemalung.  Den 
Giebel  krönt  ein  segnendes  Christkindlein,  dessen 
Stammbaum  sich  bis  ins  Quattrocento  hinein  zu 
Desiderio  da  Settignano  zurückverfolgen  lässt. 


scheint  zunächst  altertümlicher,  als  sie  ist.  Das  ge¬ 
ringe  Verständnis  des  Nackten,  die  nebeneinander 
genagelten  Füsse,  die  byzantinisch  steif  herabhängenden 
Gewandfalten  —  das  alles  möchte  man  einer  beson¬ 
ders  frühen  Zeit  zuweisen.  Doch  überzeugt  der  Aus¬ 
druck  der  Gesichter,  dass  wir  es  nur  mit  einem  rück¬ 
ständigen  Provinzkünstler,  nicht  etwa  mit  einem  durch 


Toskanischer  Meister,  Anfang  1400 
San  Miniato  al  Tedesco.  Arciconfraternitä  della  Misericordia 


Einige  Schritte  weiter  die  Strasse  hinauf  kommen 
wir  zur  Kapelle  der  Misericordienbruderschaft.  Eine 
Kreuzigungsgruppe  aus  Thon,  leider  modern  bemalt, 

1)  Dargestellt  sind;  in  den  kleineren  seitlichen  Nischen 
neben  dem  verhängten  Madonnenbild  zwei  anbetende 
Engel,  darüber  in  den  quadratischen  Feldern  die  Verkün¬ 
digung,  in  den  grossen  Seitennischen  die  beiden  Orts¬ 
heiligen  S.  Miniatus  und  S.  Genesius. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  o 


hohes  Alter  ehrwürdigen  Spezimen  toskanischer  Plastik 
zu  thun  haben.  Wir  würden,  glaube  ich,  fehl  gehen, 
setzten  wir  die  Arbeit  vor  das  14.  Jahrhundert,  ja 
ich  meine,  dass  sie  sogar  an  den  Anfang  des 
15.  Jahrhunderts  gehört.  Die  im  Hintergründe  an 
die  Mauer  angepickten  papiernen  Engel  hat  das  Rokoko 
in  Reifröcke  gekleidet,  wodurch  der  groteske  Eindruck 
ihrer  Klage  noch  erhöht  wird. 


29 


SAN  MINIATO  AL  TEDESCO 


Auch  der  floren- 
tinische  Palaststil  hat 
Eingang  in  San  Mi- 
niato  gefunden.  Ugo- 
lino  Orifoni,  der  ehe¬ 
malige  inaggiordomo 
des  duca  Alessandro 
de’  Medici,  der  in 
Elorenz  den  Palazzo 
Altopasso  in  der  Ecke 
des  Annunziaten- 
platzes  errichtet  hat, 
liess  von  Giuliano  di 
Baccio  d’Agnolo 
(1491  —  1555)  einen 
Palast  in  San  Miniato 
erbauen.  Als  Muster 
nahm  sich  Giuliano 
den  Palazzo  Guada- 
gni,  dessen  obere 
säulendurchbrochene 
Loggia  sich  auch  in 
der  Nachahmung  sehr 
wirkungsvoll  erweist. 
Zum  Bau  verwandte 
man  Material  aus  den 
abgetragenen  Eestungswerken,  die  um  die  F^occa  lagen. 
Vasari  (Sansoni,  V,  355)  rühmt  den  Palast  als  »cosa 
magnifica  . 

Weniger  imposant  ist  der  Palazzo  Eonnichini, 
ebenfalls  dreigeschossig,  aber  mit  geschlossenem 
oberen  Stockwerk.  Seine  Zierde  beruht  auf  den 
guten  Verhältnissen  seiner  Stockwerke  und  auf  der 
Rustika,  die  Portal  und  Eenster  umrahmt. 

Die  grossen  Ereignisse,  die  Florenz  erschüttern, 
zittern  auch  in  dem  Provinznest  nach.  1527  kommt 
die  Pest  mit  ungewohnter  Verheerung,  so  dass  die 


Taufregister  von  April  bis  Dezember  leer  bleiben. 
Dann  kommen  die  Spanier,  ben  degni,  wie  der 
Chronist  sagt,  di  venire  dopo  la  peste.  Noch  ein¬ 
mal  im  17.  Jahrhundert  ersteht  dem  Ort  eine  Wohl- 
thäterin  in  Maria  Magdalena  von  Österreich,  der  Ge¬ 
mahlin  Cosimo’s  II.  Sie  wirkt  San  Miniato  Titel  und 
Rechte  einer  Stadt  aus  und  sorgt  für  einen  eigenen, 
von  Lucca  unabhängigen  Bischofsstuhl. 

In  der  langen  Reihe  der  illustren  Besucher,  die 
seit  den  Tagen  des  heiligen  Franz  zum  alten  Sitz  der 
kaiserlichen  Vikare  hinanstiegen,  taucht  auch  Michel¬ 
angelo  auf,  der  hier  1533  mit  Papst  Clemens  Vll. 
zusammenkam  i). 

Am  2g.  Juni  1797  erscheint  der  General  Buonaparte 
mit  einer  Suite  von  fünf  Offizieren,  um  die  Stätte, 
wo  er  seine  Kindheit  zugebracht,  und  den  alten  Onkel 
Kanonikus  zu  besuchen.  Eine  Inschrift  an  dem  Hause 
erinnert  daran  “). 

Seither  scheint  die  gute  Stadt  wie  eingeschlafen 
in  langer  Vergessenheit.  Die  Wagen,  die  unten  im 
Thale  an  der  Station  halten,  und  deren  Führer  mit 
Peitschengeknall  und  Preisunterbietung  die  Ehre  sich 
streitig  machen,  den  allzu  seltenen  Fremdling  den 
Berg  hinaufzufahren,  kehren  meist  leer  zurück.  Nur 
gelegentlich  kommt  ein  Ordensgeneral  zur  Inspektion 
oder  flüchtet  ein  Liebespärchen  aus  dem  klatsch¬ 
süchtigen  Florenz  in  den  verschwiegenen  Schatten  der 
alten  staufischen  Reichsveste. 


1)  Milanesi,  Fettere  e  ricordi  p.  604.  »22  detto  (settembre) 
Nel  inille  Cinquecento  trenta  tre.  Ricordo  come  oggi  a 
di  22  di  settembre  che  andai  a  Santo  Miniato  al  Tedesco 
a  parlare  a  papa  Cleinente  che  andava  a  Nizza;  e  in  tal  di  mi 
lasciö  frate  Sebastiano  del  Pionibo  un  siio  cavallo«. 

2)  Napoleone  1,  qni,  dove  albergö  fancinllo  presso 
i  suoi  consanguinei,  tornö,  adorno  di  allori,  a  visitare  il 
canonico  Filippo  Buonaparte,  e  tenne  in  questa  consiglio 
di  guerra,  ai  29  di  Oiugno  1797.  Acciö  ricordassero  i  posteri, 
nata  in  Italia  la  gentilissima  stirpe  dei  Buonaparte. 


224 


San  Miniato  al  Tedesco 
Palazzo  Fonnichinl 


San  Miniato  al  Tedesco.  Palazzo  Orifoni 
Arcli.  Qiiiliano  di  Baccio  d'Agnolo 


Ihre  K-  lind  K-  Hoheit  Erzherzogin  Maria  Josepha  als  Kind  in  Loschwitz 
Wasserfarbenblatt  (iS6g)  im  Besitze  Seiner  Majestät  des  Königs  Georg  in  Dresden 
Richter- Aiisstellnngskatalog  Nr.  5ji 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 

Von  Karl  Woermann 


WAR  das  eine  Freude  in  meiner  Jugend,  wenn 
jedes  Jahr  ein  neues  Werk  Ludwig  Richter’s 
auf  dem  Weihnachtstische  lag!  Die  Volks¬ 
bücher,  die  Volkslieder  und  Musäus’  Volksmärchen 
waren  freilich  schon  vor  meiner  Zeit  erschienen; 
aber  von  Campe’s  Robinson  an,  der  1848  heraus¬ 
kam  —  ich  zählte  damals  vier  Jahre  —  habe  ich  die 
von  Richter  mit  Holzschnitten  geschmückten  Bücher 
alle  erlebt  und  die  meisten  von  ihnen  auch  in  die 
Hand  bekommen,  ln  die  »Spinnstube«  durften  wir 
manchmal  bei  unseren  Grosseltern  einen  Blick  thun. 
Die  illustrierte  Jugendzeitung  hielten  uns  unsere  Eltern. 
Hebel’s  allemannische  Gedichte  (1851),  aus  deren 
Abbildungen  die  deutsche  Volksseele  mit  ebenso 
hellen  und  tiefen  Augen  hervorschaut  wie  aus  ihrem 
Versen,  habe  ich  allerdings  erst  später  kennen  gelernt. 
Dann  aber  Andersen’s  Märchen  (1851),  Bechstein’s 
Märchen  (1853),  Christenfreude  (1855),  der  Kinder¬ 
engel  (1858)  und  Klaus  Groth’s  »Voer  de  Goern 
(1858)!  Schon  uns  Kindern  schien  in  manchen  diesen 


Büchern  der  Text  nur  der  Bilder  wegen  da  zu  sein. 
»Bilder  und  Reime  (1859),  war  einmal«  (1862) 
und  die  Scherer’schen  Kinderbücher,  die  zum  Teil  mit 
älteren  Richter’schen  Holzschnitten  geschmückt  wurden, 
wandten  sich  schon  mehr  an  meine  jüngeren  Ge¬ 
schwister;  aber  wir  älteren  genossen  sie  mit  und 
ahnten  schon  so  etwas  davon,  wie  glücklich  die 
Jugend  sei,  die  die  Welt  durch  so  wahre,  gute  und 
schöne  Bilder  kennen  lernte,  wie  diese  Richter’schen 
Bücher  sie  ins  Volk  trugen. 

Dann  die  frei  geschaffenen  Holzschnittfolgen! 

Im  Übergang  zu  ihnen  stehen  das  Goethealbum 
(1853 — 1856),  das  die  unsterblichen  Lieder  des 

Dichters  in  frei  erfundene,  vom  gleichen  Hauche  be¬ 
seelte  Gestalten  umsetzt,  die  Bilder  zu  Schiller’s 
Glocke  (1857),  die  die  durch  den  Dichter  angeregten 
Gedanken  selbständig  weiterspinnen,  und  die  schon 
genannte  Bilderreihe  zu  Klaus  Groth’s  »Voer  de 
Goern  s  die  in  der  That  eher  Parallelschöpfungen  zu 
den  Gedichten  als  eigentliche  »Illustrationen«  zu 


29 


226 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


nennen  sir  J'.hriiin  Friedrich  Hoff,  der  durch  sein 
trefflichp=  r-  i;  über  Richter’s  Radierungen,  Holz¬ 
schnitte  erid  Lifi'-Jgrajdiien  (Dresden  1877)  der  Be- 
■  iTÜnd  ;  e''n  r  hei' icr- Wissenschaft  geworden  ist,  hat 
diesr  dr  ;  W  ;ialn-r  auch  schon  seiner  Abteilung 
Pol;e^:i  ,  ijei:.;  ^ier  Abteilung  Illustrierte  Werke. 

cing^'e 

W;  =  .  :P  w  irklich  frei  erfundenen  Bilderfolgen 
üls  a-i-.-iM-rrs,  Beschauliches  und  Erbauliches« 

(1  ".5:  id.,L  was  Das  Vaterunser«  (1856),  was 
wi.  .  ;  r  .Sr.;iii!i  ungen  Fürs  Haus  (1858  -1861), 
was  .  r-wimtag  (1861),  der  Neue  Strauss  fürs 
-laus  (  864),  Unser  tägliches  Brod«  (1866)  und 
Gesainrieltesv  (1869)  dem  deutschen  Volke  an 
vcistigcr  Nahrung,  an  künstlerischer  Anschauung, 
an  Heimatliebe,  Natursinn  und  Schönheitsgefühl,  an 
reinem,  köstlichen  Humor  und  an  sittlich-religiöser 
Erbauung  ins  Haus  gebracht  haben,  das  können  voll 
wohl  nur  wir  älteren  Zeugen  jener  Zeit  nachempfin¬ 
den,  die  wir  das  Erscheinen  aller  dieser  Werke  mit 
erlebt  und  ihre  Wirkung  an  uns  selbst  erfahren 
haben. 

Ach!  wie  vergänglich  alle  Erdensachen  sind.  Die 
Exemplare  aller  dieser  Bücher,  die  meine  Geschwister 
lind  ich  in  unserer  Jugend  in  Händen  gehabt  haben, 
sind  längst  zu  Grunde  gegangen.  Die  erhaltenen 
Stücke  der  älteren  Auflagen  wandern  als  Kunstwerke 
in  die  Kupferstichkabinette.  Unsere  Jugend  erbaut 
sich  an  anderen  Bilderbüchern,  an  anderen  Bildfolgen. 
Es  liegt  ja  auch  ein  Trost  darin,  dass  unsere  Zeit 
aus  sich  heraus  Neues  schafft,  so  gut  wie  Richter’s 
Zeit  dies  aus  sich  heraus  that.  Wenn  man  jedoch 
Richter’s  Kinderbücher  z.  B.  neben  die  englischen 
der  letzten  Jahrzehnte  hält,  wird  man  nicht  daran 
zweifeln,  dass  die  englischen  zwar  grosszügiger  in 
dekorativer  Beziehung  sind,  dass  die  alten  Richter’schen 
Bücher  ihnen  aber  an  frischer  Natürlichkeit  und 
schlichtem  Adel  ihrer  Formensprache,  an  Unmittel¬ 
barkeit  und  Reinheit  der  Empfindung,  an  wirklicher, 
nicht  beabsichtigter  Naivetät  und  vor  allen  Dingen 
an  echter  Tiefe  des  Gemütslebens  überlegen  sind  und 
überlegen  bleiben. 

Jenen  für  Alt  und  Jung  bestimmten  freien  Bilder¬ 
folgen,  die,  durch  den  Holzschnitt  vervielfältigt,  Trost 
und  Erquickung  ins  deutsche  Bürgerhaus  getragen 
haben,  haben  die  anderen  Völker  in  der  Art  über¬ 
haupt  nichts  an  die  Seite  zu  setzen.  Sie  sind  deutsch 
ihrer  Art,  deutsch  ihren  künstlerischen  Formengabe, 
deutsch  ihrer  Herzensprache  nach. 

Es  war  eine  Ehrenpflicht  Deutschlands,  sich  aus 
Anlass  des  100.  Geburtstages  (28.  September  1803) 
Richter’s  aller  dieser  Schöpfungen  zu  erinnern,  sie 
wieder  ans  Licht  zu  ziehen  und  Alt  und  Jung  wieder 
auf  sie  zurückzuweisen.  Dass  dieses  im  Rahmen 
einer  Ausstellung«  geschehen  musste,  ist  den  Blättern 
gegenüber,  die  bestimmt  gewesen,  gesammelten  Gemüts 
allein,  zu  zweien  oder  zu  dreien  im  stillen  Stübchen 
beim  trauten  Lampenschein  genossen  zu  werden, 
gewiss  als  Übelstand  anzuerkennen;  aber  auf  andere 
Weise  Hess  sich  weiteren  Kreisen  die  Bedeutung 
dieser  eigenartigen,  in  ihrer  schlichten  Technik  wie 


in  ihrer  seelischen  Vertiefung  urdeutschen  Kunst  doch 
kaum  wieder  vor  Augen  stellen;  und  die  Dresdner 
Kunstgenossenschaft,  der  man  dankbar  sein  wird, 
dass  sie  ihrer  >Sächsischen  Kunstausstellung«  die 
Richterausstellung  als  geschlossene  Abteilung  ein¬ 
gereiht  hat,  hat  es  auch  verstanden,  ihr  den  intimen 
Charakter  zu  verleihen,  der  ihr  zukam. 

Natürlich  durften  die  Ölgemälde  des  Meisters  nicht 
fehlen,  die  seine  künstlerische  Entwickelung  bis  gegen 
die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  doch  immer  noch 
am  deutlichsten  widerspiegeln.  Natürlich  durften 
seine  freien,  nicht  gerade  für  die  Vervielfältigung 
geschaffenen,  wenn  auch  manchmal  später  verviel¬ 
fältigten  Wasserfarbenbilder  nicht  fehlen.  Natürlich 
mussten  jene  feinfühligen  Naturstudien  auf  Papier, 
in  denen  er  die  Natur  bei  wahrheitsfreudigster  Be¬ 
obachtung  aller  ihrer  Seiten  und  liebevollster  Ver¬ 
senkung  in  ihre  wesentlichsten  Züge  sofort  mit  dem 
Auge  und  der  Hand  in  seinen  eigenen  zarten  Griffel¬ 
stil  übersetzte,  in  genügender  Anzahl  zur  Anschauung 
gebracht  werden.  Es  konnte  aber  auch  von  Anfang 
an  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  jene  Zeichnungen 
Richter’s  für  den  Holzschnitt  und  für  andere  Ver¬ 
vielfältigungsarten,  auf  denen  sein  Weltrnhm  haupt¬ 
sächlich  beruht,  auch  einen  Hauptbestandteil  der 
Ausstellung  bilden  mussten.  Nur  konnte  sich  fragen, 
ob  neben  diesen  Blei-,  Feder-  und  Pinselzeichnungen 
nicht  auch  die  Holzschnitte,  die  andere  Hände  aus 
ihnen  gemacht,  nicht  auch  den  Radierungen,  die  er 
selbst  und  die  andere  nach  ihnen  geschaffen,  aus¬ 
gestellt  werden  sollten.  Warum  nicht,  wenn  Platz 
für  alles  vorhanden  gewesen  wäre?  Aber  der  Platz 
war,  da  die  Sächsische  Kunstausstellung  1903  wegen 
der  grossen  Städteausstellung  nun  einmal  nur  im 
akademischen  Ausstellungsgebäude  auf  der  Brühlschen 
Terrasse  stattfinden  konnte,  von  Anfang  an  beschränkt, 
recht  beschränkt.  Doch  musste  diese  Beschränkung, 
da  gerade  so  vielen  an  sich  anspruchslosen  Zeichnungen 
gegenüber  das  Wort  vom  Weniger,  das  mehr  ist, 
Geltung  behält,  der  Richterausstellung,  bei  Licht  be¬ 
sehen,  nur  zu  gute  kommen.  Da  galt  es  also  ohne 
weiteres,  aus  der  Not  eine  Tugend  zu  machen.  Das 
nahegelegene  Königliche  Kupferstichkabinett  hatte 
so  wie  so  eine  Ausstellung  der  Drucke  Richter’s 
aus  diesem  Anlass  geplant.  Damit  war  es  entschieden, 
dass  unsere  Ludwig- Richter- Ausstellung  die  Drucke 
ausschliessen  und  sich  auf  die  Ölgemälde,  die  Wasser¬ 
farbenblätter  und  die  Zeichnungen  des  Meisters,  also 
auf  die  eigensten  Werke  seiner  eigensten  Hand  be¬ 
schränken  musste.  Zeigen  seine  Wasserfarbenblätter 
und  Zeichnungen,  zwischen  denen,  da  Richter  die 
zwischen  ihnen  liegenden  Möglichkeiten  alle  aus¬ 
genutzt  hat,  keine  Grenze  zu  ziehen  ist,  doch  auch 
gerade,  soweit  sie  als  Vorstudien  und  Vorlagen  für 
seine  gedruckten  Blätter  anzusehen  sind,  seine  Be¬ 
obachtungsgabe  von  ihrer  ursprünglichsten,  seine 
schöpferische  Phantasie  von  ihrer  frischesten,  seine 
künstlerische  Handschrift  von  ihrer  unmittelbarsten 
und  ihrer  technisch  meisterhaftesten  Seite.  Manchmal 
erkennt  man,  welche  Wandlungen  seine  Erfindungen 
durchzumachen  hatten,  bis  sie  ins  Holz  geschnitten 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


227 


wurden.  Zahlreichen  dieser  Blätter,  die  er  mit  der 
Feder  oder  dem  Bleistift  zu  zeichnen  und  mit  zarten, 
leichten  Farben  anzutönen  liebte,  sieht  man  es  aber 
auch  gar  nicht  an,  dass  sie  bestimmt  gewesen,  zu 
Holzschnitten  verarbeitet  zu  werden.  Besonders  die 
Vorlagen  für  die  freien  Holzschnittfolgen  haben  durch¬ 
aus  die  Bedeutung  selbständiger,  ihrer  selbst  willen 
ausgeführter  Schöpfungen;  und  wie  viel  feiner  die 
eigenhändigen  Vorlagen  Richter’s  auch  den  besten 
nach  ihnen  geschaffenen  Holzschnitten  gegenüber 
bleiben,  davon  kann  man  sich  gerade  in  unserem 
Kupferstichkabinett,  das  einige  Zeichnungen  aus 
Richter’s  bester  Zeit  neben  den  Holzschnitten  aus¬ 
gestellt  hat,  leicht  überzeugen. 

Aus  denselben  Gründen,  die  die  gedruckten  Blätter 
Richter’s  von  unserer  Ausstellung  ganz  ausschlossen, 
konnten  aber  auch  seine  Zeichnungen  und  Aquarelle 
nur  in  sorgfältiger  Auswahl  ausgestellt  werden.  Es 
war  daher  nur  willkommen,  dass  einige  Leipziger 
Verleger  erklärten,  ihre  Blätter  Richter’s  im  Leipziger 
Museum  zu  einer  besonderen  Richterausstellung  ver¬ 
einigen  zu  wollen,  und  dass  das  Dresdner  Kupferstich¬ 
kabinett,  das  immerhin  zwei  wertvolle  Zeichnungen 
geliehen  hat,  die  grosse  Mehrzahl  seiner  Richter’schen 
Zeichnungen  und  Aquarelle  im  Anschluss  an  die 
Drucke  selbst  ausstellen  konnte  und  wollte.  Da  der 
Platz  nicht  einmal  ausreichte,  die  allerbedeutendsten 
Sammlungen  Richter ’scher  Blätter,  die  des  Herrn 
Ed.  Cichorius  in  Leipzig,  der  Nationalgalerie  und 
des  Herrn  M.  Flinsch  in  Berlin,  vollständig  auszustel¬ 
len,  konnten  überhaupt  nicht  alle  öffentlichen  Samm¬ 
lungen  um  die  Herleihung  ihrer  Blätter  angegangen 
werden.  Es  erschien  doch  wichtiger,  dem  Privat¬ 
besitz  seine  Schätze  zu  entlocken,  als  den  öffentlichen 
Besitz  als  solchen  zusammenzutragen;  und  überdies 
enthalten,  ausser  den  genannten,  z.  B.  auch  die  Samm¬ 
lungen  von  Herrn  A.  O.  Meyer  in  Hamburg,  von 
dem  während  der  Ausstellung  verstorbenen  Herrn 
Dr.  Eug.  Lucius  in  Frankfurt  a.  M.,  von  Frau  Professor 
Beneke  in  Braunschweig,  von  Herrn  Walter  Meyer 
in  Köln  und  von  Frau  Kretzschmar,  der  Tochter 
Richter’s,  in  Dresden,  bedeutsamere  und  zahlreichere 
Blätter  des  Meisters,  als  die  meisten  öffentlichen  Samm¬ 
lungen.  Jedenfalls  enthält  die  Richterausstellung,  wie 
sie  ist  doch  von  den  Ölgemälden  des  Meisters 
alle,  die  erreichbar  waren,  von  seinen  Zeichnungen 
und  Wasserfarbenblättern  aber  fast  alle,  auf  denen  sein 
Ruhm  beruht;  und  jedenfalls  gewährt  sie  mit  ihren 
37  Ölgemälden  und  Ölskizzen  und  ihren  573  Wasser¬ 
farbenblättern  und  Zeichnungen  zu  fast  allen  Werken 
und  aus  fast  allen  Lebensjahren  des  Meisters  einen 
vollständigen  Überblick  über  seinen  Entwickelungsgang. 

Den  ungeschlachten,  grossen  und  hohen  Fünfeck¬ 
saal  des  Lipsius’schen  Ausstellungsgebäudes,  neben 
dem  der  Richterausstellung  nur  noch  ein  kleiner  an¬ 
grenzender  Raum  zur  Verfügung  stand,  hat  Herr 
Architekt  Max  Hans  Kühne  mit  Geschick  und  Ge¬ 
schmack  in  drei  kleinere,  niedrig  gedeckte,  häuslich 
anheimelnde  Räume  verwandelt.  Zuerst  betreten  wir 
das  dreieckige,  weiss  gehaltene  Vorgemach,  dessen 
der  Eingangsthür  gegenüberliegender  Winkel  zu  einer 


Nische  gestaltet  worden  ist,  aus  der  uns  Oskar 
Rassau’s  lebenswarme  Marmorbüste  Meister  Ludwig’s 
grüsst.  In  diesem  Zimmer  haben  zunächst  Zeichnungen 
und  Aquarelle  Platz  gefunden,  die  eingerahmt  ein- 
gesandt  worden  waren;  von  den  in  Dresden  ein¬ 
gerahmten,  die  die  grosse  Mehrzahl  bilden,  sind  aber 
so  viel  hinzugenommen,  um  gleich  hier  einen  Über¬ 
blick  über  das  Schaffen  des  Meisters  zu  gestatten. 
Hier  hängen  die  gezeichneten  Bildnisse  Richter’s, 
unter  ihnen  das  Selbstbildnis  von  183g  im  Besitze 
des  Herrn  Cichorius,  freilich  aber  auch  eins  (Nr. 
610),  das  weder  von  Richter  gezeichnet,  noch  ihn 
darzustellen  scheint.  Hier  hängen  einige  der  besten 
landschaftlichen  Aquarelle  und  Zeichnungen,  die  er 
nach  seiner  Rückkehr  aus  Italien  in  Meissen  und 
Dresden  auf  der  Grundlage  seiner  mitgebrachten 
Studienblätter  ausgeführt,  unter  ihnen  die  grosse  Sepia¬ 
zeichnung  »Italienische  Berglandschaft«  von  1828  aus 
dem  Besitze  des  Herrn  Herrn.  Vogel  in  Leipzig  und 
das  schöne,  zarte,  grosse  Farbenblatt  »Ariccia  von  1834 
aus  dem  Dresdner  Kupferstichkabinett.  Hier  hängt 
die  breitgesteckte  Wasserfarbenzeichnung  des  Dresdner 
Stadtmuseums,  die  den  um  1842  geschaffenen  Ent¬ 
wurf  zum  Fries  des  verbrannten  Dresdner  Theater¬ 
vorhangs  zeigt,  hier  aus  der  letzten  Schaffensperiode 
des  Meisters  unter  anderem  das  liebenswürdige,  duftige 
Aquarell  »Frühlingsidyll«  von  1871,  das  Herrn 
Kommerzienrat  Schmidt  in  Braunschweig  gehört;  aber 
auch  an  Proben  von  Zeichnungen  des  Meisters  für 
den  Holzschnitt  fehlt  es  schon  in  diesem  Raume  nicht; 
schon  die  beiden  Rahmen  des  Herrn  Geheimrat  Lampe- 
Vischer  in  Leipzig  zeigen  einige  gute  Beispiele  dieser 
Art;  und  von  Richter’s  persönlich  bedingten  Blättern 
sieht  man  schon  hier  sein  anmutiges,  farbig  ausgeführtes 
»Titelblatt  zu  Herrn  Cichorius’  Handzeichnungen- 
Sammlung«,  schon  hier  die  Herrn  joh.  Friedr  Hoff 
in  Frankfurt  gewidmete  Wiederholung  der  1870  ent¬ 
standenen  Federzeichnung  »Der  Einsiedler  von  Losch- 
witz«,  die  der  Meister  seinen  Stammtischgenossen  in 
Loschwitz  gewidmet  hatte.  Welche  Fülle  von  Anmut 
und  Schönheit,  von  Ernst  und  Scherz,  von  Poesie 
und  Leben  umstrahlt  uns  gleich  hier  an  der  Schwelle 
der  Ausstellung!  Alles  schlicht  und  anspruchslos  in 
der  Technik;  aber  alles  selbst  erschaut  und  selbst 
empfunden,  alles  keusch  und  lauter  aus  den  tiefsten 
Quellen  des  deutschen  Gemütslebens  geschöpft! 

Aus  diesem  anmutigen  Eingangsraum  gelangen 
wir  durch  die  Thür  zur  Rechten  in  den  Saal  der 
Ölgemälde,  der  in  seiner  milden,  bläulich-grünen  Aus¬ 
stattung  einen  ruhigen  Hintergrund  für  die  Haupt¬ 
bilder  des  Meisters  gewährt.  Über  den  Thüren  hängen 
zwei  Ölbildnisse  des  Meisters;  das  eine  ist  um 
1840  von  Professor  Karl  Johann  Baehr  in  Dresden, 
das  andere  an  dreissig  Jahre  später  von  Frau  von 
Sochodolska  gemalt.  Richter’s  frühe  Hauptbilder, 
von  denen  in  seiner  Selbstbiographie  die  Rede  ist, 
sind  alle  da:  und  ihnen  voraus  geht  wohl  noch  das 
poetische  kleine  Bild  des  »Innthals«,  das  noch  der 
Tochter  des  Meisters,  Frau  Kretzschmar,  gehört.  Wahr¬ 
scheinlich  schon  1823  auf  der  Wanderung  des  jungen 
Zwanzigjährigen  nach  Italien  entstanden  —  vielleicht 


228 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


Am  Alpensee.  Leicht  bemalte  Federzeichnung  (1823) 

Eigentum  der  Kgl-  Nationalgalerie,  Berlin.  Richter- Aiisstellnngskatalog  Nr.  47 


aucli  erst  in  Rom  ausgeführt  —  ist  es  doch  bereits 
von  einem  Anliauch  jener  römisch-neudeutschen  Kunst¬ 
empfindung  umflossen,  die  Richter  damals  erst  durch 
Bilder,  die  in  Dresden  ausgestellt  gewesen,  kennen 
gelernt  hatte.  Ebenfalls  auf  seiner  Wanderung  nach 
Italien  empfangen  war  das  grosse  Hochbild  »Der 
Watzmann  (Abb.  S.  231)  von  dem  in  seiner  Selbst¬ 
biographie  so  viel  die  Rede  ist.  Die  neuere  Richter- 
litteratur  nennt  das  Bild;  aber  ihre  Vertreter,  selbst 
Hoff  und  Mohn,  scheinen  es  nicht  selbst  gekannt 
zu  haben.  Es  gehört  Herrn  Karl  Leubner  in 
Dresden,  dem  Pflegesohn  jenes  Buchhändlers  Ar¬ 
nold,  dem  Richter  seine  Reise  nach  Italien  ver¬ 
dankte;  und  es  darf  dankbar  hinzugefügt  werden, 
dass  Herr  Leubner  das  kunstgeschichtlich  wichtige 
Bild  bereits  der  Dresdner  Galerie  vermacht  hat. 
Möge  ihm  noch  lange  vergönnt  sein,  sich  selbst  des 
schönen  Besitzes  zu  erfreuen.  Gleich  1824  in  Rom 
ausgeführt,  war  es  das  erste  grosse  Gemälde  des 
Meisters.  Es  ist  kein  Wunder,  dass  sich  in  ihm  neben 
den  Einflüssen  KoclTs  und  Schnorr’s,  die  ihn  in  Rom 
gleich  in  Beschlag  nahmen,  noch  deutliche  Erinne¬ 
rungen  an  den  Vater  des  norwegischen  Realismus, 
an  J.  C.  C.  Dahl  widerspiegeln,  der  seit  1818  in 


Dresden  gewirkt  hatte.  Dann  folgen  die  beiden 
schönen  Gemälde  des  Leipziger  Museums  von  1825 
und  1826,  die  an  der  Schmalseite  des  Saales  zu  beiden 
Seiten  des  Watzmann  hängen:  »Rocca  di  Mezzo  und 
Thal  bei  Amalfi«,  auch  sie  in  der  Selbstbiographie 
Richter’s  wiederholt  genannt,  gerade  sie  ausgezeichnet 
durch  jene  zugleich  stilvolle  und  empfindungsfrische 
Haltung,  die  besonders  aus  Schnorr’s  Studienblättern 
stammte.  Man  wird  sich  immer  noch  unbefangen 
an  diesen  Bildern  erfreuen  können,  die,  obgleich  sie  in 
Rom  gemalt  sind  und  italienische  Landschaften  dar¬ 
stellen,  deutschem  Herzblut  entsprungen  sind;  und 
diese  deutsch -römische  Kunst  des  ersten  Drittels  des 
ig.  Jahrhunderts  wird  schon  dadurch,  dass  die  anderen 
Völker  doch  höchstens  auf  Parallelpfaden  wanderten,  als 
deutsch  ihrem  eigensten  Wesen  nach  gekennzeichnet. 
Diesen  beiden  Bildern  schliesst  sich  das  kleine,  erst 
voriges  Jahr  für  die  Dresdner  Galerie  angekaufte  Bild 
an,  das  eine  italienische  Berglandschaft  mit  heim¬ 
kehrendem  Harfner  darstellt.  Auf  einem  Schimmel 
reitet  der  Alte  den  Berg  hinan.  Sein  Knabe  eilt 
munter  voraus.  Die  Blumen  und  Kräuter,  die  am 
Wege  spriessen,  sind  noch  mit  liebevollster  Sorgfalt 
durchgebildet.  Poesie,  Phantasie,  Natur  und  Stil  ver- 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


22y 


Civitella.  Ölgemälde  (1827) 

Eigentum  der  Kgl.  Qemäldegalerie,  Dresden.  Richter- Ausstellungskatalog  Nr.  6 


einen  sich  auch  in  diesem  kleinen  Bilde,  das  Richter 
nach  seiner  Selbstbiographie  1825  in  Civitella  gemalt 
hatte,  zu  eigenartiger,  herber  und  doch  duftiger  Ge¬ 
samtwirkung.  Ich  bleibe  dabei,  dass  es  ein  Stück 
Böcklin’scher  Empfindung  vorwegnimmt.  Ende  1826 
nach  Deutschland  heimgekehrt,  fing  Richter  an,  seine 
italienischen  Studien  in  grösserem  Umfang  zu  Bildern, 
Wasserfarbenblättern  und  ausgeführten  Zeichnungen 
zu  verarbeiten.  Herr  von  Quandt  in  Dresden  be¬ 
stellte  1827  zwei  mittelgrosse  Landschaften  bei  ihm: 
Civitella  und  Ariccia.  Jenes  wurde  1827,  dieses  1828 
ausgeführt.  Gleich  das  Bild  von  Civitella  (Abb.  S.  22g), 
in  dem  man  besonders  die  fast  gleichwertige  Betonung 
der  Menschen  und  der  Landschaft,  »die  Einheit  des 
Menschen  mit  der  ihn  umgebenden  Natur«,  wie  man 
damals  sagte,  bewunderte,  erregte  Aufsehen.  Kein 
geringerer  als  Schinkel  sprach,  wie  Otto  Jahn  erzählt, 
begeistert  von  dem  Bilde.  Beide  Gemälde  gehörten 
bis  vor  kurzem  Herrn  Ed.  Cichorius,  der  sie  aus 
Anlass  der  Ludwig  Richter-Ausstellung,  wie  auch  an 
dieser  Stelle  mit  innigem  Danke  hervorgehoben  sei, 
nebst  drei  Bildern  von  Jos.  Ant.  Koch,  der  Dresdner 
Galerie  geschenkt  hat.  Von  den  übrigen  ausgestellten 
Ölgemälden  Richter’s  in  dieser  Art  und  aus  der  Zeit 
zwischen  1827  und  1835  war  der  stimmungsvolle 


Erntezug  in  der  römischen  Campagna  von  1833 
(im  Leipziger  Museum)  längst  allgemein  bekannt;  in 
der  Richterl itteratur  genannt  wurden  Bajae«  von  1830, 
Eigentum  der  Frau  Pauline  Brandes  in  Apolda,  und 
der  »Brunnen  bei  Grotta  ferrata«  von  1832,  Eigentum 
der  Frau  Direktor  Fritsche  in  Dessau.  Jenes  erinnert 
an  Claude  Lorrain’sche  Motive;  dieses,  ein  stattliches 
Hochbild,  von  dem  noch  eine  kleinere  Wiederholung 
von  1835  aus  der  Dorpater  Universitäts-Sammlung 
ausgestellt  ist,  zeichnet  sich  durch  die  farbigen  Abend¬ 
gluten  aus,  in  die  es  gehüllt  ist.  Als  neu  aufgetaucht 
aber  können  vier  kleinere  Bilder  bezeichnet  werden: 
von  1828  die  stimmungsvolle  Bergsee-Landschaft  des 
Herrn  Dr.  L.  Volkmann  in  Leipzig  und  der  prächtige 
Ponte  Namentano«  des  Herrn  Wirkl.  Geheimrat 
Schöne  in  Berlin;  von  182g  eine  hübsche,  ernste 
Landschaft  aus  dem  Sabinergebirge  bei  Herrn  R.  von 
Zahn  in  Dresden,  von  1833  eine  italienische  Landschaft 
bei  Frau  von  Nostitz  und  Jänckendorf  in  Niederlössnitz. 

Dann  erfolgt  1835  der  Umschwung  in  der  Wahl 
der  landschaftlichen  Vorwürfe.  Widrige  Umstände 
hatten  dem  Meister  in  diesem  Jahre  bekanntlich  ganz 
wider  Wunsch  und  Willen  eine  Reise  ins  deutsch¬ 
böhmische  Elbthal  anstatt  einer  zweiten  italienischen 
Reise  aufgenötigt.  Diese  Wanderung  enthüllte  seinen 


230 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


erstaunten  Blicken  die  Schönheit  der  heimischen  Natur, 
die  es  gerade  im  böhmischen  Mittelgebirge  an  plasti¬ 
schem  Teize  mit  dem  Albaner-  und  Sabinergebirge 
aufnehi.ien  kann.  So  wurde  Richter  im  heimatlichen 
Miis-.iii.L  zimächst  als  Landschaftsmaler  zum  Heimat- 
i  ür.dler;  m.d  ri.'lmäldich,  aber  nur  ganz  allmählich 
m..;!iip  :L !  dennmisprechend  auch  ein  gewisser  Um- 
.d'!  =  ■uiii'  i'i  d -r  SLÜisierung  geltend.  Gleich  1835 
sntL  a  :1  L.  -iisgestellte  Ölgemälde  Der  Schrecken- 
stcL;  ,  -  -  ■=  Un  Zierden  des  Leipziger  Museums 
■  Lsrr  L:  .s  :  .id  aufsteigendes  Gewitter.  Wie  ganz 
•ii‘i  i  :  :■  Z.-icl  jung  und  Färbung  hatte  der  Meister 
.•  früher  die  Landschaft  mit  aufsteigen- 

d:  'iU-r  am  Monte  Serone  in  dem  bekannten, 

Ijiik.r  .;!clit  in  Dresden  ausgestellten  Bilde  des  Städel- 
scIk:-  Instituts  zu  Frankfurt  behandelt!  Er  war  er 
selbst  geblieben  und  hatte  sich  doch  verändert.  Die 
grosse  Überfahrt  am  Schreckenstein  <  der  Dresdner 
Galerie  folgte  erst  1837.  In  der  Pinselfiihrung  wirkt 
es,  den  ganz  anderen  Wegen  gegenüber,  die  die  Öl¬ 
malerei  inzwischen  gegangen,  heute  etwas  hart  und 
trocken;  aber  diese  Pinselführung  gehört  schliesslich 
doch  zu  dieser  Komposition,  die  von  unvergänglicher 
Poesie  erfüllt  ist.  Die  deutsche  Volksseele  erfüllte 
hier  zuerst  ein  ganzes  Richter’sches  Gemälde  mit 
ihrem  warmen,  belebenden  Hauche.  Auch  die  kleine 
Wiederholung  dieses  Bildes  von  1840,  die  Frau 
Maurer  in  Godesberg  gehört,  ist  ausgestellt.  An  rein 
malerischer  Kraft  und  Stimmung  ist  dieser  Darstellung 
freilich  der  »Teich  im  Riesengebirge  von  183g  über¬ 
legen,  das  schöne  Bild,  das  die  Berliner  National¬ 
galerie  geschickt  hat.  Das  kleinere,  staffagelose  Exemplar 
aus  dem  Besitze  der  Ernst  Arnold’schen  Kunsthandlung 
in  Dresden  wirkt  doch  eher  als  Studie  zu,  denn  als 
Wiederholung  nach  dem  Bilde;  und  das  ganz  kleine 
Bildchen,  aus  dem  Besitze  der  Frau  Kretzschmar,  das 
die  gleiche  Landschaft  mit  Richter  selbst  und  seiner 
Frau,  die  vor  dem  aufsteigenden  Gewitter  flüchten, 
als  Staffagefiguren,  wiederholt,  ist,  rein  malerisch  an¬ 
gesehen,  vielleicht  das  wirksamste,  was  der  Meister  ge¬ 
schaffen  hat.  Von  den  noch  späteren  grossen  Gemälden 
Richter’s,  die  ausgestellt  sind,  gehören  die  »Ruhenden 
Wallfahrer-  von  183g,  bei  Frau  Sophie  Gutbier  in 
Dresden,  ebenfalls  zu  den  malerischsten  und  leicht¬ 
flüssigsten  Pinselschöpfungen  des  Meisters.  Am  nächsten 
verwandt  ist  diesem  Bilde  die  »Abendandacht-  von 
1842  im  Leipziger  Museum.  Inzwischen  aber  hatte 
er  1841  in  dem  Bilde  »Genoveva  in  der  Waldeinsam¬ 
keit-  das  Herrn  Professor  Leonhardi  in  Loschwitz 
gehört,  ein  Werk  von  durch  und  durch  deutscher 
Eigenart  geschaffen,  das,  ohne  mit  der  damals 
schon  aufkommenden  flüssigeren  Pinselführung  der 
fremden  Völker  wetteifern  zu  wollen,  der  deutschen, 
liebevoll  alle  Einzelheiten  umfassenden  Auffassung 
auch  einen  besonderen  malerischen  Stil  gab,  der  sich 
eine  Generation  lang  fortpflanzte  und  besonders  in 
Professor  Leonhardi’s  eigenen  Bildern  seine  Höhe 
erreichte.  Die  »Kirche  zu  Graupen  in  Böhmen«  von 
1836,  ein  Bild,  das  der  verwitweten  Frau  Herzogin 
Elimar  von  Oldenburg  gehört,  der  Dorfgeiger«  von 
1845  äus  dem  Besitze  der  Frau  Bürgermeister  Cichorius 


in  Leipzig  und  »Die  Furt«  von  1847  aus  der  Ham¬ 
burger  Kunsthalle  wirken  vor  allen  Dingen  durch 
ihre  naive  Wiedergabe  malerisch  ansprechender  Motive. 
Als  die  grösste  malerische  Leistung  Richter’s,  die 
auch  als  solche  auf  der  Pariser  Weltausstellung  von 
1855  durch  die  goldene  Medaille  anerkannt  wurde, 
galt  seiner  Zeit  allgemein  »Der  Brautzug«  von  1847 
in  der  Dresdner  Galerie.  Das  Bild  steht  auf  dem 
durch  die  »Genoveva«  bereiteten  Boden,  folgt  durch¬ 
aus  der  eigenen  Technik  und  Pinselführung  Richter’s, 
wird  heute  natürlich  von  manchem,  weil  es  Pinsel 
und  Farbe  anders  gehandhabt  zeigt,  als  man  es  jetzt 
gewohnt  ist,  als  altmodisch  und  unmalerisch,  kleinlich 
und  trocken  in  der  Behandlung  verschrieen,  bleibt 
trotzdem  aber  in  seiner  Art  ein  künstlerisches  Meister¬ 
werk,  das  eine  Fülle  von  Schönheit,  von  Freude,  von 
Poesie,  von  Lebens-  und  Liebesglück  ausstrahlt.  Nach 
dieser  Zeit  hat  Ludwig  Richter  nur  wenig  Ölgemälde 
mehr  geschaffen.  Das  nicht  mit  ausgestellte  grosse 
Gemälde  »Im  Juni«,  das  er  noch  185g  für  Herrn 
Ed.  Cichorius  malte,  war  ein  Nachhall  seiner  früheren 
Schöpfungen.  Seit  er  1838  mit  Marbach’s  Volks¬ 
büchern  angefangen,  für  den  Buchholzschnitt  zu  zeichnen, 
liessen  die  Verleger  ihm  keine  Zeit  mehr,  in  Öl  zu 
malen.  Auch  fing  die  Ölmalerei  gerade  um  diese  Zeit 
auch  in  Deutschland  an  andere  Wege  einzuschlagen, 
Wege,  die  dem  Meister  fernlagen.  Er  begnügte  sich 
daher  von  jetzt  an  in  der  Regel  damit,  Zeichnungen 
für  den  Kunstdruck  und  Wasserfarbenblätter  in  allen 
Abstufungen  von  den  nur  mit  leichtem  Farbenhauch 
versehenen  Blei-  und  Federzeichnungen  bis  zu  den 
am  sorgsamsten  ausgeführten  Wasserfarbenbildern  zu 
schaffen.  Die  Hauptmasse  dieser  Zeichnungen  und 
Farbenblätter  ist  in  den  beiden  Sälen  der  Ludwig 
Richter-Abteilung  ausgestellt,  die  noch  nicht  genannt 
worden  sind:  in  dem  langen  graugrün  und  weiss  ge¬ 
haltenen  Mittelsaal  und  dem  farbenfroheren  Schluss¬ 
raum.  Die  Anordnung  der  Richterschen  Zeich¬ 
nungen  und  Blätter  in  diesen  Sälen  folgt,  soweit 
die  stets  vorangestellten  dekorativen  Rücksichten  dies 
zuliessen,  der  Entstehungszeit  der  Blätter.  Die 
Zeichnungen  für  den  Kunstdruck  wechseln  daher  in 
bunter  Folge  mit  den  Naturstudien  und  den  aus¬ 
geführten  Aquarellen.  Die  Farbenblätter  heben  sich 
in  goldenen,  die  schwarz-weissen  Blätter  in  roten 
Rahmen  von  dem  graugrünen  Wandgrunde  des  ersten 
und  dem  lichtblauen  Wandgrunde  des  zweiten  Saales 
ab.  Bei  alledem  ist,  wie  gesagt,  die  chrono¬ 
logische  Folge,  die  auch  der  Katalog,  der  alle 
Blätter  einzeln  verzeichnet,  einzuhalten  versucht,  so 
viel  wie  möglich  gewahrt  worden.  Bei  der  grossen 
Eile,  mit  der  ein  solcher  Ausstellungskatalog  in  dem 
kurzen  Zeitraum,  der  zwischen  dem  Eintreffen  aller 
Kunstwerke  und  der  Eröffnung  der  Ausstellung  liegt, 
zusammengestellt  werden  muss,  ist  es  schwer,  eine 
wissenschaftliche  Anordnung  in  ihm  fehlerfrei  durch¬ 
zuführen.  Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern,  dass 
auch  mein  Katalog  der  Ludwig  Richter-Ausstellung 
hier  und  da  Irrtümer,  die  jetzt  bereits  berichtigt 
werden  konnten,  in  der  Einreihung  und  Bestimmung 
der  Blätter  enthält.  Sie  hier  aufzuzählen  wäre  zwecklos. 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


231 


DER  WATZMANN.  ÖLGEMÄLDE  (1824) 

EIGENTÜMER:  HERR  KARL  LEUBNER,  DRESDEN 
RICHTER-AUSSTELLUNGSKATALOG  NR.  1 


Erwähnt  sei  nur,  dass  Nr.  215,  216,  382  und  383, 
die  vier  reizenden  farbigen  Federzeichnungen  zu 
Nieritz’  Volkskalender,  zusannnengehören,  für  den  Jahr¬ 
gang  1855  gestochen  und  von  Hoff  als  Nr.  3008 — 301 1 
verzeichnet  sind;  und  berichtigt  sei,  dass  Nr.  238 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  g. 


nicht  Goldhähnchen  aus  Keil’s  Märchen,  sondern 
»Vogelbegräbnis«  aus  der  »Illustrierten  Zeitung  für  die 
Jugend  1852«  (Hoff  Nr.  1862)  ist,  wiederholt  in 
Volbeding’s  Kinderleben  vom  Jahre  1862.  Auch 
darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass  unter  den  750 

31' 


232 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


Kindcrtust.  Farbige  Federzeichnung  za  Beschanliches  und  Erbauliches <■<  (1848) 
Eigentümer:  Herr  Ed.  Cichorius,  Leipzig.  Richter- Ausstellungskatalog  Nr.  248 


Blättern  sich  einige  von  zweifelhafter  Eigenhändigkeit 
befinden.  Für  die  Richter-Wissenschaft,  deren  Haiipt- 
vertreter  neben  Joh.  Fr.  Hoff  heute  Professor  D.  K.  Budde 
in  Marburg  ist,  gehört  die  Klärung  dieser  Echtheits¬ 
fragen  natürlich  zu  den  Aufgaben  der  Ausstellung. 
An  dieser  Stelle  aber  würde  es  uns  zu  weit  führen, 
darauf  einzugehen.  Mit  unserem  von  Erich  Klein- 
hempel  geschmackvoll  ausgestatteten  Verzeichnis  in  der 
Hand,  bleibt  man  bei  der  Betrachtung  der  ausgestellten 
Blätter  am  besten  in  der  Zeitfolge,  wenn  man  sich  beim 
Ausgang  aus  dem  Gemäldesaal  rechts  hält  bis  zum 
Eingang  in  das  blaue  Schlusszimmer,  auch  in  diesem 
sich  rechtshaltend  die  Runde  macht  bis  zum  Wieder¬ 
eintritt  in  den  grossen  Mittelsaal  und  in  diesem  sich  aber¬ 
mals  rechts  hält  bis  zur  Mittelwand,  an  der  die  späten 
Wasserfarbenblätter  des  Meisters  vereinigt  sind.  Die 
vierzig  Rahmen  der  Berliner  Nationalgalerie,  die  die 
Standwände  der  Mitte  dieses  Saales  füllen,  sind  so 
angeordnet,  dass  die  Blätter  jeder  Seite  den  Blättern 
der  gegenüberliegenden  Wände  chronologisch  einiger- 
massen  entsprechen. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  die  Richter-Aus¬ 
stellung  für  unsere  Kenntnis  der  frühen  Entwickelungs¬ 
geschichte  des  Meisters.  Brachten  in  dieser  Beziehung 
schon  die  Ölgemälde  manches  Neue,  so  thun  die 
Zeichnungen  und  Wasserfarbenblätter  dies  noch  in 
höherem  Grade.  Wie  der  junge  zwölf-  bis  sechzehn¬ 
jährige  Ludwig  zwischen  liebevollem  Einzelstudium 
der  Natur  und  ihrer  konventionellen  Gesamtauffassung 
schwankte,  zeigen  von  seinen  beglaubigten  Blättern 
dieser  Frühzeit  die  Rhabarberstudie  aus  seinem  zwölften 
und  die  schon  farbig  ausgeführte  Vordergrundstudie 


aus  seinem  sechzehnten  Lebensjahr  (beide  aus  der 
Nationalgalerie  in  Berlin),  verglichen  mit  dem  »Tusch¬ 
versuch  von  1817  bei  Herrn  Cichorius  und  der 
demnach  doch  wohl  echten  getuschten  Zeichnung 
mit  dem  Wasserfall  von  1818  bei  Frau  Baronin 
von  Finck  in  Dresden.  Den  Anschluss  an  Zingg 
zeigt  in  besonderer  Deutlichkeit  dagegen  seine  Sepia- 
zeichnung  des  Schlosses  Gnandstein  von  1820  bei 
Herrn  Arnold  Otto  Meyer  in  Hamburg.  Wie  der 
junge  Künstler  sich  dann,  als  der  russische  Fürst 
Narischkin  ihn  zur  Festhaltung  seiner  landschaftlichen 
Reiseeindrücke  mit  nach  Südfrankreich  nahm,  ganz 
in  den  Dienst  der  zopfigen  Routine  stellte,  beweisen 
seine  Tuschezeichnung  aus  Nizza  und  seine  Blei¬ 
zeichnungen  aus  Avignon,  Hyeres  u.  s.  w.  Diese 
datierten  Blätter  von  1820  und  1821  aus  dem  Be¬ 
sitze  von  Richter’s  Tochter  Frau  Kretzschmar  sehen 
fast  so  aus,  als  seien  sie  noch  im  18.  Jahr¬ 
hundert  entstanden.  Nr.  44,  »Mutter  und  Kind  im 
Süden  Frankreichs«  ist  hierfür  besonders  lehrreich, 
zeigt  aber  zugleich,  dass  Ludwig  Richter  schon  da¬ 
mals  den  Figuren  in  der  Landschaft  eben  solche 
Beobachtung  schenkte,  wie  der  Landschaft  selbst. 
Nach  Dresden  zurückgekehrt,  radierte  er  zwischen 
1822  und  1823  hauptsächlich  Prospekte  »für  Papa 
Arnold <,  wie  er  selbst  schreibt,  und  malte,  wohl  im 
Sinne  dieser  Prospekte,  »ein  paar  kleine  Ölbildchen«. 
Eins  von  diesen  mag  das  kleine  Bild  Nr.  25  bei 
Herrn  Fritz  Arndt  in  Oberwartha  sein,  das  wir  des 
Zusammenhangs  wegen  erst  hier  nennen.  Würde  es 
nicht  durch  alte  Überlieferung  auf  Richter  zurück¬ 
geführt,  würde  man  die  Hand  des  Meisters  freilich 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


233 


Ernteziig.  Wasserfarbenblatt  (1835) 

Eigentümer:  Elerr  Geh.  Hof  rat  Lampe -Viseher,  Leipzig.  Riehter- Ausstellungskatalog  Nr.  11  j 


kaum  in  ihm  erkennen.  Dann  folgte  1823  die 
Wanderung  Ludwig  Richter’s  über  die  Alpen!  Von 
seinen  Studienblättern  aus  dem  schneebedeckten  Ge¬ 
birge  haben  sich  ]  manche  erhalten.  Da  sie  die 
unausgeglichene  Handschrift  eines  Künstlers  zeigen, 
der  seinen  alten  Stil  verleugnet,  seinen  neuen  Stil 
aber  noch  nicht  gefunden  hat,  sind  nur  zwei  von 
ihnen  (Nr.  48  und  49)  ausgestellt  worden.  Den 
neuen  Stil  fand  Richter  aber  offenbar,  sobald  er  in 
Rom  angekommen  war,  sobald  ihn  die  Luft  umgab, 
die  Cornelius  und  Overbeck  geatmet  hatten,  Koch, 
Veit  und  Schnorr,  der  gerade  seine  genialen,  zugleich 
Stil-  und  stimmungsvollen  Landschaften  gezeichnet 
hatte,  noch  atmeten.  Das  köstliche,  zarte  kleine 
Wasserfarbenblatt  der  Berliner  Nationalgalerie  (unsere 
Nr.  47),  das  die  Jahreszahl  1823  trägt  (Abb.  S.  228), 
ist  offenbar  schon  in  den  Alpen  ersonnen,  ebenso 
offenbar  aber  (da  wir  ja  wissen,  wie  Richter  zeichnete, 
ehe  er  in  Rom  ankam)  erst  in  Rom  unter  dem 
frischen  Eindruck  der  dortigen  neudeutschen  Kunst 
ausgeführt  worden.  Man  vergleiche  mit  diesem 
Blatte  das  genannte  Ölbild  Nr.  5.  Wie  Richter  sich 
dann  in  die  Landschaft  Roms,  der  Campagna  und 
der  Berge,  die  sie  umsäumen,  vertiefte,  wie  er  ihr 
das  Geheimnis  ihrer  stilvollen  Wirkung  zu  entlocken 
verstand,  wie  er  ihre  malerischen  Motive  mit  den 
einfachsten  Mitteln,  in  schlichten,  manchmal  mit  einem 
Hauch  zarter  duftiger  Earbe  angetönter  Bleistift¬ 
zeichnungen  aufs  Papier  zu  bannen  verstand,  das 
bezeugen  hunderte  seiner  Studienblätter,  die  sich  aus 
den  Jahren  1824,  1825  und  1826  erhalten  haben. 
Ausgestellt  sind  etwa  35  von  ihnen.  Zu  den  schönsten 


gehört  die  grosse  Ansicht  von  Ariccia  aus  dem  Besitze 
Seiner  Königlichen  Hoheit  des  Prinzen  Johann  Georg 
in  Dresden.  Charakteristisch,  wenngleich  später  über¬ 
arbeitet,  ist  aber  auch  die  Ansicht  von  Sa.  Balbina 
aus  der  Sammlung  Flinsch  in  Berlin  (Abb.  S.  234). 
—  Dann  folgt  die  grosse  Anzahl  der  meist  als 
braun  getönte  Federzeichnungen,  oft  als  Aquarelle 
ausgeführten  Blätter,  die,  zwischen  1827  und  1835 
in  Dresden  und  Meissen  entstanden,  die  italieni¬ 
schen  Volks-  und  Landschaftstudien  des  Meisters  zu 
kleinen  in  sich  abgeschlossenen  Kunstwerken  ver¬ 
arbeiten.  Manchmal  sieht  man  es  ihnen  etwas  an, 
dass  sie  den  Natureindruck  schon  durch  die  Atelier¬ 
brille  verschoben  wiedergeben;  manchmal  stehen  sie 
aber  auch  auf  der  Höhe  stilvoll  durchgearbeiteter 
kleiner  Meisterwerke.  Zwanzig  bis  dreissig  Blätter 
dieser  Art  sind  ausgestellt.  Am  Anfang  der  Reihe 
steht,  ausser  dem  genannten  Vogel’schen  Blatte,  Herrn 
Cichorius’  getuschte  Federzeichnung  von  1828,  die 
laut  ihrer  Inschrift  schon  in  Meissen  entstanden  ist. 
Am  Ende  der  Reihe  aber  stehen  die  Farbenblätter 
von  1835,  von  denen  das  eine,  aus  der  Sammlung 
weiland  König  Friedrich  August’s  II.  in  Dresden,  eine 
italienische  Landschaft  mit  aufsteigendem  Gewitter, 
das  andere,  das  Herrn  Geheimen  Hofrat  Lampe- 
Vischer  in  Leipzig  gehört,  einen  italienischen  Ernte¬ 
zug  darstellt  (Abb.  S.  233).  Ganz  allmählich  mischen 
sich  heimische  unter  die  italienischen  Motive:  der 
Meister  fing  an,  in  der  Umgebung  Meissens  und 
Dresdens  Farbeiiblätter  vor  der  Natur  zu  skizzieren, 
die,  wie  unsere  Nr.  99  102,  doch  den  Odem  einer 

anderen  Atmosphäre  verraten.  Als  vereinzelte  historische 


30 


234 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


ICoir.positionen  i.’ischen  sich  aber  auch  bereits  jene 
ersten  inusTaüonen  des  Meisters,  die  1832  ent- 
^iandent  ;'.  F'.  c’erze'chrungen  zu  den  Steindrucken  in 
Zahn’s  :  L  e;  ee.  -i:  Historien-  (unsere  Nr.  106 — 113) 
Unter  e  p  LiT  ..'ece  en  Erinnerungen.  Dann  folgen 
die  grose- frlci:;'  -ennesjahre  Richter’s,  in  denen 
n.er  zree  ;  'ln  :  :  e  iinaikünstler  gewordene  Meister 
„  in  , i  •  •.  .nnächst  das  starke  Menschen- 

;  de  j,  .1  uem  neben  den  frischesten, 
;.r  e:*  '  .  -.uii  Natnrstndien,  seine  haupt- 

.  !’:;.intgen  für  Buchbilder  und,  ab- 

■  ,.  1  it  :\achklängen  in  Gesammeltes' 

^  n  der  und  Vignetten-  (1874),  auch 

...  üti.-n  Holzschnittfolgen  entstanden,  in 
; ;  1,  r  :  ,  i  t-cutschen  ihr  Volksleben,  von  innen 
.  P  n  cli,  in  schlichtester,  edelster  Verklärung 
■■  r  /.rgpii  fülirt.  Blätter  aller  dieser  Gruppen  sind 

■  ■icii'ich  vertreten.  Zunächst  die  Naturstudien.  Der 

Zeit  von  1836  1838  entstammen  die  fein  ansgeführten 

deutschen  Ansichten  für  die  Stahlstiche  des  malerischen 
und  romantischen  Deutschlands  .  Seine  selbständigen 
Naturstudien  aber  können  wir  an  bezeichneten  und 
datierten  Blättern  auch  weiter  herab  verfolgen:  Wie 
anmutig  seine  Federzeichnung  Mühlbach  mit  Weiden 
von  1838  bei  Herrn  Professor  Budde  in  Marburg! 
Wie  flott  und  doch  wie  fein  seine  Jungen  Buchen« 
von  1840  bei  Herrn  A.  O.  Meyer  in  Hamburg! 
Wie  zart  und  stilvoll  seine  Felsenlandschaft  von  1842 
bei  Frau  El.  Grahl  in  Dresden!  Dazu  alle  die  Farben¬ 
blätter  aus  der  Umgegend  Dresdens,  aus  der  böhmischen 


Schweiz  und  aus  Franken  (unsere  Nr.  154  170)! 

Dann  z.  B.  noch  die  leicht  hingeworfene,  braun  ge¬ 
tönte  Bleizeichnung  Marienthal«  von  1847  bei  Herrn 
justizrat  Steinfeld  in  Höchst,  die  prächtige  Eiche  bei 
Schwanheim  am  Main  von  1862  bei  Herrn  A.  O.  Meyer 
in  Hamburg,  die  Dorfstrasse  in  Loschwitz  von  1865 
bei  Frau  Baronin  von  Finck  in  Dresden  und  das 
Bauernliaus  in  Rochwitz  von  1867  bei  Herrn  Al.  Flinsch 
in  Berlin.  Mit  deutschem  Auge  und  deutschem  Ge¬ 
müt  sind  alle  diese  schlichten  Motive  erfasst.  Eine 
besondere  Stellung  unter  des  Meisters  freien  Blättern 
nehmen  aber  einige  Witz-  und  Scherzblätter  aus  dem 
Jahre  1848  ein,  die  Herrn  Professor  D.  Bndde  in 
Marburg  gehören:  Eine  wahre  Begebenheit  liegt  dem 
Farbenblatt  Nr.  241  zu  Grunde,  das  eine  Hasenjagd 
durchs  Zimmer  hindurch  darstellt.  Die  erste  Zeichnung 
dazu  Nr.  242  rührt  doch  wohl  nicht  von  Richter 
selbst,  sondern  von  dem  Augenzeugen  der  Begeben¬ 
heit  her.  Interessant  sind  aber  auch  die  beiden 
politischen  Karikaturen  Nr.  250  und  251. 

Die  ausgestellten  Zeichnungen  nnd  Farbenblätter, 
die  Richter  für  die  Vervielfältigung  in  Büchern  ge¬ 
schaffen,  hier  aufzuzählen,  würde  keinen  Zweck  haben. 
Vertreten  sind,  wie  gesagt,  nahezu  alle  Bücher,  die 
er  illustriert  hat;  und  alle  diese  Zeichnnngen  zeigen 
die  hohe  Begabung  des  Meisters,  die  Worte  des 
Dichters  in  so  anschauliche  Bilder  umzusetzen,  dass 
sie  selbsterlebte  Vorgänge  wiederzugeben  scheinen. 
Auch  seine  Vielseitigkeit,  die  die  schlichten  Vorgänge 
des  täglichen  Lebens  (z.  B.  in  der  Spinnstube)  ebenso 


Santa  Balbina,  Rom.  Leicht  getönte  Bleizeichniing  (um  182^) 
Eigentümer:  Herr  Alexander  Flinsch,  Berlin.  Richter- Ausstellungskatalog  Nr.  82 


DIE  LUDWIG  RICHTER-AUSSTELLUNG  IN  DRESDEN 


235 


wahr  und  natürlich  darstellt,  wie  die  Gebilde  der 
heiligsten  religiösen  Empfindungen  (z.  B.  in  der 
»Christenfreude< )  und  wie  die  ausgelassensten,  die 
märchenhaftesten  und  die  phantastischsten  Gestaltungen 
der  poetisch  erregten  Einbildungskraft  (z.  B.  in  den 
Volksliedern,  in  Musäus’  und  in  Bechstein’s  Märchen) 
tritt  uns  in  den  Originalzeichnungen  noch  lebendiger 
entgegen  als  in  den  Drucken.  Aber  auch  eine  ge¬ 
wisse  Stilwandlung  des  Meisters  lässt  sich  gerade  in 
den  Originalblättern  zu  seinen  Buchbildern  von  den 
noch  etwas  schwerfälligen  Zeichnungen  zu  den  Volks¬ 
büchern  und  zu  Duller’s  Geschichte  an  durch  die 
frischen,  poesieerfüllten  Blätter  zu  den  Volksliedern, 
zu  Musäus’  und  zu  Bechstein’s  Märchen  hindurch 
bis  zu  den  leichten,  frei  hingeworfenen  Zeichnungen 
zu  Klaus  Groth’s  »Voer  de  Goern«  und  zu  »Es  war 
einmal«  mit  besonderer  Deutlichkeit  verfolgen. 

Die  Hauptrolle  spielen  auch  auf  der  Ausstellung 
des  Meisters  eigene,  freie  Schöpfungen  für  den  Kunst¬ 
druck.  Da  fehlen  weder  die  Vorlagen  zu  seinen 
grossen  eigenhändigen  Einzelradierungen ,  wie  dem 
»Rübezahl«  von  1848  und  der  »Christnacht«  von 
1854,  die  vielleicht  das  köstlichste  ist,  was  der  Meister 
geschaffen,  noch  eine  Reihe  der  schönsten  Blätter  zn 
seinen  berühmten  Folgen.  Schon  1848  hat  er  die 
reizende,  farbig  getönte  Federzeichnung  »Kinderlust« 
(Abb.  S.  232)  bei  Herrn  Cichorius  geschaffen,  die 
er  1851  seiner  ersten  dieser  Folgen,  »Beschauliches 
und  Erbauliches«,  einverleibte.  Die  Poesie  des  Kinder¬ 
lebens  tritt  uns  in  kaum  einer  zweiten  Schöpfung 
des  Meisters  so  lebendig  entgegen,  wie  in  diesem 
Blatte.  Und  nun  folgten  sie  Schlag  auf  Schlag,  alle 
die  berühmten  Blätter,  die  schon  in  ihren  leichten, 
oft  von  Blätterranken  durchwobenen  Einrahmungen 
und  buchkünstlerischen  Zierformen,  sowie  in  ihrer 
idealen,  manchmal  an  mittelalterliche  Unzulänglich¬ 
keiten  erinnernden,  hier  kühn  als  Freiheiten  wieder  auf¬ 
genommenen  Raumbehandlung  eine  Welt  für  sich 
bilden.  »Aller  Augen  warten  auf  dich«,  in  der 
Sammlung  weiland  Friedrich  August’s  II.  zu  Dresden, 
»Das  Lob  des  Weibes«  bei  Frau  Bürgermeister 
Cichorius  in  Braunschweig,  »Feinsliebchen  in  der 
Hausthür«  aus  dem  Besitze  Seiner  Majestät  des  Königs 
Georg  —  gleich  diese  drei  Prachtblätter  aus  »Be¬ 
schauliches  und  Erbauliches«  treffen  jenen  innigen 
deutschen  Ton  in  der  Idealgestaltung  des  deutschen 
Volkslebens,  der  nur  Ludwig  Richter  und  Schwind  eigen 
ist.  Das  köstliche  »Vaterunser«  von  1856,  wieder  im 
Besitze  des  Herrn  Cichorius,  ist  vollständig  ausge¬ 
stellt,  der  »Neue  Strauss  fürs  Haus«  von  1864,  zumeist 
im  Besitze  der  Berliner  National galerie,  nahezu  voll¬ 
ständig.  »Fürs  Haus«,  »Der  Sonntag  ,  »Unser  täg¬ 
liches  Brot«,  alle  diese  Folgen  sind  mit  einer  Reihe 
ihrer  schönsten  Originalblätter  vertreten.  Jedes  Blatt 
ist  eine  Perle  für  sich.  Die  hier  meisterhaft  gehand- 
habte  Technik  der  leicht  bemalten  Feder-  oder  Blei¬ 
stiftzeichnung  entspricht  dem  zarten  reinen  Em¬ 
pfindungsleben,  das  sich  in  allen  diesen  Bildern 
aus  dem  deutschen  Hause,  dem  deutschen  Korn¬ 
felde,  dem  deutschen  Walde  widerspiegelt,  so  voll¬ 


kommen,  dass  gerade  in  diesen  Blättern,  die  einen 
unerschöpflichen  Schatz  der  deutschen  Volkskunst 
bilden.  Form  und  Inhalt  restlos  ineinander  aufgehen. 

ln  dem  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  musste 
Ludwig  Richter,  da  er  fast  erblindet  war,  so  gut  wie 
ganz  auf  künstlerisches  Schaffen  verzichten;  schon 
1874  schrieb  er  auf  die  in  Wasserfarben  ausgeführte 
Hirtenlandschaft  bei  Herrn  Arn.  Otto  Meyer  in  Ham¬ 
burg  (unsere  Nr.  607):  -Meine  letzte  Zeichnung.  1874. 
L.  Richter«;  man  sieht  es  den  Farben  an,  dass  des 
Meisters  Augenlicht  im  Begriff  war  zu  erlöschen.  Die 
zahlreichen  Wasserfarbenblätter  aus  dem  vorletzten 
Jahrzehnt  seines  Lebens  aber  lehnen  sich  teils  an 
frühere  Kompositionen  seiner  Hand  an,  sind  teils  aber 
auch  neu  in  deren  Sinne  geschaffen;  fast  immer  stellen 
sie  ein  heiteres,  frisches,  jugendliches  Menschenleben 
in  heiterer,  heimischer  Landschaft  dar.  Blätter  dieser 
Art,  denen  sich  aus  dem  deutschen  Märchenschatze 
wiederholt  Darstellungen  von  Schneewittchen  und 
Genoveva  anreihen,  sind  besonders  zahlreich  aus  dem 
Besitze  der  Nationalgalerie  in  Berlin,  des  Herrn 
A.  O.  Meyer  in  Hamburg  und  des  Herrn  M.  Flinsch 
in  Berlin  ausgestellt.  Unter  den  Blättern,  die  aus 
persönlichem  Anlass  entstanden,  sind  aber  besonders 
zwei  hervorzuheben:  zunächst  die  farbig  getönte 
Federzeichnung,  die  der  Meister  seinem  Schwiegersohn 
Th.  Kretzschmar  1860  zu  Weihnachten  gemacht  hat. 
»Aus  der  Kinderstube«  ist  sie  betitelt  und  stellt  Richter 
mit  seinen  Enkelinnen  Lisbeth  und  Agnes  dar,  die 
ihm  scherzend  die  Haare  kämmen.  Sodann  das  an¬ 
mutige  Aquarell  von  186g  aus  dem  Besitze  König 
Georg’s,  clas  die  Erzherzogin  Maria  Josepha  als  Kind 
mit  dem  Gefolge  ihrer  Enten  in  Loschwitz  darstellt 
(Abb.  S.  225).  Auch  die  1868  entstandene  Studien¬ 
zeichnung  zu  diesem  sorgfältig  ausgeführten  Blatte, 
die  Herrn  A.  O.  Meyer  in  Hamburg  gehört,  konnte 
mit  ausgestellt  werden. 

Die  Ludwig  Richter-Ausstellung  ist,  alles  in  allem 
genommen,  eine  Einkehr  bei  uns  selbst.  Sogar  die 
meisten  Anhänger  der  modernsten  Richtungen  fühlen 
sich  zu  der  anspruchslosen  und  doch  so  viele  An¬ 
sprüche  des  deutschen  Gemütslebens  erfüllenden,  weil 
durch  und  durch  wahren,  ganz  aus  eigenstem  Empfinden 
geflossenen  Kunst  Ludwig  Richter’s,  die  Wirklichkeits¬ 
und  Phantasiekunst  zugleich  ist,  gleichmässig  hin¬ 
gezogen.  Auch  hier  zeigt  sich,  dass  für  alle  Zeiten 
lebt,  wer  den  Besten  seiner  Zeit  genügt  hat.  Wir 
wollen  uns  daher  unsere  Freude  an  der  jugendfrischen 
Kunst  unserer  Zeit,  die  Freude  an  den  Schöpfungen 
eines  Uhde  und  Klinger  (um  nur  zwei  andere  Sachsen 
zu  nennen)  und  unserer  ganzen  in  eigenen  Bahnen 
vorwärtsstrebenden  Jugend  durch  unsere  Verehrung 
des  Altmeisters  Ludwig  Richter  nicht  rauben  lassen. 
Wir  wollen  uns  aber  auch,  umgekehrt,  durch  die 
neuen  Richtungen,  in  denen  die  Kunst  unserer  Zeit 
sich  bewegen  muss,  nicht  irre  machen  lassen  in  unserer 
Bewunderung  der  in  ihrem  fest  umschriebenen  Be¬ 
reiche  ewig  gültigen  Kunst  Ludwig  Richter’s  und  im 
Genüsse  seiner  Schöpfungen,  in  denen  alle  reinen 
Saiten  der  deutschen  Volksseele  widerklingen. 


Max  Klingt^r’s  Entwurf  für  ein  Brahmsdenknial 


MAX  KLINGER’S  ENTWURF  ZU  EINEM 
BRAHMSDENKMAL 

Von  Ludwig  Hevesi 


IN  einem  der  kleinen  heiligen  Bezirke  westlich 
vom  Areopag,  die  das  Deutsche  archäologische 
Institut  in  Athen  aufgedeckt  hat,  befand  sich  das 
Heiligtum  des  Heros  Dexion.  Unter  dieser  Form 
verehrten  die  Athener  den  toten  Dichter  Sophokles. 
Auch  Max  Klinger  hat  seinen  Brahms  heroisiert  und 
ihn  in  einem  Tempelchen  zur  Ruhe  gesetzt,  das  zu 
seinen  köstlichsten  Schöpfungen  gehört.  Man  denke 
nicht  an  das  Tempietto  Bramante’s  im  Hofe  von  San 


Pietro  in  Montorio,  noch  auch  an  das  antike  Rund- 
tempelchen  bei  Porta  Rossa.  Das  sind  denn  doch 
völlige  Kirchen  im  Verhältnis  zu  diesem  niedlichen 
fanum  profanum,  das  ein  Privatmann  seinem  Privat¬ 
gott  errichtet  haben  könnte,  in  seinem  stillen  Garten, 
mit  grüner  Wiese  davor  und  grünen  Bäumen  dahinter. 
Die  weissgetünchten  Floratempelchen  der  Canovazeit 
hatten  etwas  von  diesem  Privatissimumstil,  besonders 
wenn  die  Göttin  die  Züge  der  frühverstorbenen  Prin- 


MAX  KLINGER’S  ENTWURF  ZU  EINEM  BRAMSDENKMAL 


237 


Max  Kl'mger’s  Entwarf  für  ein  Brahmsdenkmal 


cipessa  trug.  Aber  sie  waren  kühl  und  trocken  im 
Vergleich  zu  dieser  Brahmsphantasie,  deren  Baumeister 
ein  malerischer  Bildhauer  war.  Klinger  phantasiert 
nun  schon  einige  Zeit  über  dieses  Bralimsthema. 
Als  er  es  zum  erstenmal  anschlug,  erinnerte  er  noch 
mehr  an  jenes  klassische  Rundgebilde  am  Tiberufer 
zu  Rom.  Unterbau  und  Bekrönung  waren  rund, 
dazwischen  freilich  fand  durch  die  fünf  Säulen  ein 
Übergang  ins  Fünfeck  statt.  Und  das  flachgewölbte 
rote  Ziegeldach  mit  seinen  weissen  Rippen  erinnerte 
an  das  Notdach  des  alten  Baues,  das  ja,  obgleich 
nur  aus  der  Konservatorenpraxis  hervorgegangen,  nun 
seinerseits  wieder  ein  quasi  klassischer  Typus  geworden 
ist.  Bei  Klinger  ist  das  Pentagon  jetzt  vom  Sockel 
bis  an  den  Knauf  der  Kuppel  durchgeführt  und  die 
Form  steht  wie  aus  einem  Guss  da.  Auch  das  Ein¬ 
zelne  hat  sich  durchaus  krystallisiert;  namentlich  haben 


die  jonischen  Säulen,  die  früher  ganz  dorisch  aus 
dem  Sockelbau  stiegen,  attisierende  Basen  bekommen, 
und  alles  ist  erst  ins  eigentliche,  eigentümliche  Ver¬ 
hältnis  gerückt.  Die  Verhältnismässigkeit  des  Gebildes 
ist  überhaupt  bewunderungswürdig.  Es  ist  von  einer 
eigenen,  gedrungenen  Anmut,  voll  jenes  gesunden 
Barbarengeistes,  der  die  Antike  aus  sich  neugebiert. 
Es  ist  nichts  von  archäologischer  Schablone  daran. 
Niemals  hat  ein  Jonier  seine  Säule  so  kurz  genommen, 
was  hier  durch  die  breite  Ausladung  des  Kapitäls 
noch  deutlicher  wird,  oder  die  drei  Teile  des  Archi- 
travs  so  kräftig  übereinander  hingestuft,  und  zwar 
über  einer  sechseckigen  Zwischenplatte,  deren  Seiten 
noch  eigens  übereck  gestellt  sind.  Und  dieser  wild¬ 
wüchsige  Architrav  ruht  überdies  nur  indirekt  mittels 
kräftiger  rechtwinkeliger  Verkröpfungen  auf  den  Deck¬ 
platten  der  Kapitäle,  und  diese  Verkröpfungen  tragen 


23S 


EDUARD  STIEFEL 


kecke  Akroterien,  die  flaniinengieich  auflodern.  Dann 
leitet  eine  tiefe  Einschnürung  zum  Dach,  das  sie 
ringsum  tiefschattend  untersclmeidet.  Und  dieses 
Dach  ist  wieder  so  eine  wildvvüchsige  Flachkuppel 
aus  fünf  Segmenten,  deren  Ziegelrot  durch  starke 
weisse  Rippen  geschieden  und  mit  einem  kräftigen 
weissen  Knauf  gekrönt  ist.  Es  ist  etwas  Rustikes 
in  allen  uicseii  Verhältnissen,  eine  Naivität,  die  gar 
nicht  wt-iss,  viv  reich  und  fein  sie  schliesslich  doch 
bei  dieSM-  C].,Mal(ung  empfunden  hat. 

Da/i  U'iiinnt  mm  noch  das  Treppchen,  das  dem 
Tempciciivii  seitwärts  angegliedert  ist.  Ein  Endchen 
Wendeiirtmpi-,  zehn  Stufen,  mit  niedrigen  Wangen  an 
der  -VLisscnseite.  Der  konstruktive  Gedanke  ist  höchst 
ursinünglich.  Der  Anschluss  dieser  Kurve  an  den 
Sockdbau  bringt  in  das  Ganze  ein  pikantes  Element 
von  Asymmetrie,  und  dennoch  behält  der  Rhythmus 
sein  Gleichgewicht,  weil  die  Treppe  ein  Gegengewicht 
in  der  ihr  gegenüber  sitzenden  Gestalt  des  Tonmeisters 
erhält.  Diese  kleine  Stiege  ist  in  der  That  eine  köst¬ 
liche  Erfindung.  Sie  bringt  in  das  Ganze  eine  er¬ 
staunliche  Mannigfaltigkeit,  da  sie  sich  bei  jedem 
Standpunkte  des  Beschauers  anders  anschliesst.  Man 
muss  an  die  Schleppe  einer  schönen  Dame  in  weissem 
Kleide  denken,  die  bei  jeder  Wendung  der  Trägerin 
anders  einschwenkt,  sich  anders  lagert  und  faltet, 
bald  lang  dahinfliessend ,  bald  schroff  verkürzt,  und 
dann  wieder  in  zierlicher  Sihrale  von  der  Seite  her 
nach  vorne  kommt.  Auch  die  mitgekrümmte  Treppen- 
wange  hält  bei  jeder  Stufe  an  und  erhält  ihre  eigene 
kleine  Deckplatte,  was  bei  seitlichem  Anblick  ein  reiz¬ 
volles  Staccato  von  emporleitender  Umrisslinie  giebt. 
Und  selbst  die  Stufen  haben  ihr  organisches  Gefüge, 
sie  werden  nach  oben  immer  kürzer  und  dieses  rasche 


Decrescendo  macht  die  Schwenkung  der  Treppe  nach 
links  perspektivisch  noch  eindringlicher.  Je  mehr 
man  dieses  verhältnismässig  kleine  Kunstwerk  betrachtet, 
desto  sinnvoller  wird  es,  der  Stoff  ist  vollständig  von 
Geist  durchdrungen.  Innen  aber  zieht  sich  um  fast 
zwei  Drittel  der  kleinen  Säulenhalle  eine  Marmorbank, 
deren  Lehne  sich  fortlaufend  zwischen  die  Säulen¬ 
schäfte  einfügt.  Zwischen  zwei  Säulen  links  erhöht 
sich  die  Lehne,  armgerecht,  rückengerecht,  und  dort 
sitzt  Johannes  Brahms.  Ein  Bein  über  das  andere 
geschlagen,  den  rechten  Arm  auf  die  Lehne  gelegt, 
das  bärtige,  mähnige  Haupt  seitwärts  gewandt,  mit 
dem  Blick  hinaus  in  die  blühende  Natur,  ins  Nahe 
und  Ferne,  sinnend,  lauschend,  Johannes  Brahms  »im 
Gehäuse  ,  wie  man  zu  Dürer’s  Zeit  sagte,  aber  in 
einem  Freiluftgehäuse  unserer  Tage.  Die  Gestalt  ist 
ja  nur  Skizze,  aber  wer  Brahms  kannte,  erkennt  in 
ihr  auf  den  ersten  Blick  seinen  Habitus,  sein  ge¬ 
drungenes  Sitzen,  behäbig  und  selbstherrlich  zugleich, 
sein  in  sich  gefestetes,  geistig  und  leiblich  aufge¬ 
häuftes  Wesen,  hier  unbeachtet  und  schlicht,  aber 
schon  von  Natur  aus  ein  Sinnbild  der  gesammelten, 
in  sich  verdichteten  Kraft.  Wer  den  Genuss  kennt, 
das  Werden  eines  Kunstwerkes  zu  betrachten,  hat  ihn 
auch  an  dem  verhältnismässig  raschen  Krystallisations- 
prozess  dieses  Denkmalgedankens  vollauf  gehabt.  Die 
Idee  greift  hastig,  im  Halbdunkel,  nach  ihrer  Form. 
Sie  durchdringt  und  beseelt  sie  und  plötzlich  ent¬ 
faltet  sich  etwas  Organisches,  eine  reiche  Blüte,  neu, 
nie  dagewesen,  durch  und  durch  überraschend  und 
dennoch  ganz  und  gar  notwendig.  Es  ist,  als  sei 
das  Werk  ewig  so  gewesen  und  könnte  niemals 
anders  sein. 


EDUARD  STIEFEL 


Auf  der  diesjährigen  Winterausstellung  der  Ber¬ 
liner  Secession  begegnet  man  unter  den  Ra¬ 
dierern  einem  neuen  Namen:  Eduard  Stiefel. 
Von  den  Blättern,  die  er  dort  zeigte,  war  besonders 
ein  Atelier-Interieur  so  reizvoll,  dass  wir  die  Platte 
für  die  Leser  unserer  Zeitschrift  erwarben.  Stiefel 
stammt  aus  Zürich,  wo  er  1875  geboren  ist.  Erst 
war  er  Chromolithograph,  ging  aber,  seinem  Drange 
folgend,  später  nach  München  zu  Herterich  und  Peter 


Hahn  in  die  Schule;  auch  unter  Zügel  hat  er  ge¬ 
arbeitet.  Wie  die  grosse  Reihe  seiner  Blätter,  die  er 
uns  vorgelegt  hat,  zeigt,  haben  diese  Vorbilder  sein 
Talent  trefflich  befruchtet.  Er  hat  die  Fähigkeit  kräf¬ 
tiger  Erfassung  der  landschaftlichen  Töne,  versteht 
das  Licht  reizvoll  zu  führen,  ist  ein  sicherer  Zeichner 
der  Bewegung  und  hat  viel  Radiertechnik.  Man 
kann  noch  Gutes  von  dem  Künstler  erwarten. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  O.  m.  b.  H.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1903 


SCHABKUNSTBLATT  VON  MAX  PIETSCHMANN 

ÜBDCK  VON  QIESECKE  &  DEVItlENT  IN  LEIPZIO 


ORIGINALRADIERUNG  VON  GEORG  MAYR  (MÜNCHEN) 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQ03 


DRUCK  VON  QIESECKE  &  DEVRIENT  IN  LEIPZIG 


CONSTANTIN  SOMOFF  NACFl  DEM  REGEN 


CONSTANTIN  SOMOFF 

VON  Igor  Grabar  in  St.  Petersburg 


IM  Sommer  1898  sah  man  in  der  Münchner  Secession  ein  sonderbares 
Bild.  Es  waren  zwei  Damen  mit  einem  Kinde  aus  den  Biedermeiers¬ 
zeiten  gemalt,  die  vom  Gewitter  überrascht,  sich  unter  einem  Baume 
verbargen.  Es  scheint  schon  die  Sonne,  es  strahlt  der  Regenbogen  und 
der  Spaziergang  kann  ruhig  weiter  fortgesetzt  werden. 

Nichts  Besonderes!  Man  malt  so  oft  Gewitter,  so  viele  Regen¬ 
bogen  und  malt  auch  Biedermeierdamen.  Und  doch  schien  das  Bild  so 
ungewöhnlich.  Es  war  etwas  Scharfes  und  Unverständliches  darin.  Man 
fühlte  einen  schwärmerisch -melancholischen  Hauch,  eine  fast  krankhaft 
traurige  Note.  Und  noch  etwas:  einen  leichten  Scherz,  eine  kaum  zu 
merkende  Ironie,  einen  raffinierten  Skeptizismus. 

Es  ist  schwer  zu  sagen,  woran  es  lag.  Vielleicht  an  all  den  reizen¬ 
den  Einzelheiten,  an  den  drolligen  und  pikanten  Details.  Eine  von  den 
Damen  hob  ihren  gebauschten  Rock  auf  und  enthüllte  so  komisch  die 
Stahlringe  der  Krinoline.  Die  andere  betrachtet  bange  die  vorüberziehen¬ 
den  Wolken  und  streckt  die  Hand  aus,  ob  es  noch  regnet.  Beide  so 
reizende,  so  liebliche  Modepuppen. 

Vielleicht  lag  es  auch  an  den  Farben.  Die  Farben  waren  wirklich 
sonderlich:  leuchtend,  fast  strahlend  und  dabei  so  munter  und  präzis. 
Immer  ein  prachtvoller  und  unerwarteter  Klang.  An  einigen  Stellen 
spielten  sie  wie  in  einer  Perlmuschel.  Es  erinnerte  hier  gar  nichts  an 
die  fleissigen  Naturstudien,  nichts  plein-airartiges,  dabei  aber  so  unendlich 
viel  von  der  Natur.  Es  war  keine  abgemalte  Regenbogenstimmung,  es  war  vielmehr  eine  fein  filtrierte  Auf¬ 
fassung,  eine  Synthese  all  der  gesehenen  und  empfundenen  Gewitterstimmungen.  Daher  diese  scharfe, 
frappante  Naturähnlichkeit,  bei  so  ungewöhnlichem  Farbeneindrucke. 

Eher  aber  lag  das  Sonderbare  in  dem  Ganzen,  in  dem  Verhältnis  des  Künstlers  zu  der  Sache.  Es 
gehört  dazu  ein  eigentümliches  Gefühl,  fast  gleich  einem  Hellsehen,  um  die  Vergangenheit  so  greifbar 
aufzufassen.  Es  ist  rätselhaft,  beinahe  schon  halb  hysterisch.  Vielleicht  daher  der  rätselhafte  Eindruck, 
den  das  Bild  machte. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  li.  id 


3' 


2^0 


CONSTANTIN  SOMOFF 


Es  v/ar  von  einem  jungen  Russen,  Constan- 
.in  Süi.ioff,  gemalt.  Seither  wurde  sein  Name  in 
..eiteren  Kreisen  bekannt. 

in  -'erselben  Aus'-tellung  war  noch  ein  anderes 
Bild  /on  n.  Es  war  diesmal  ein  Winter,  eine 
dld-jhe  andschaft  aus  Mittelrussland  mit  weiter 
Ydalii*  e.  mit  einem  ovalen  Landteiche.  Wiederum 
/woi  ;-d  .  n  , '•-.  ii  aus  den  dreissiger  Jahren.  Sie 
■v- i'dor.  ’  i  ■  ein  Spaziergange  von  einem  Neger 
der:.;  .:  ,  ‘-erhalten  sich  steif  und  geziert.  Und 

•  j.  sicher  um  die  zwei  winzig  kleinen 


bei  Niedliches,  mit  hausbackener  Gotik,  vermischt  mit 
Empireornamentik  und  den  altherigen  ländlichen  FIolz- 
formen.  Das  ganze  Fläuschen  ist  eine  Aufeinander¬ 
häufung  von  grossen  und  kleinen  Terrassen  und 
Galerien.  Auf  der  unteren  Terrasse  sitzen  zwei  Damen. 
Sie  sind  soeben  mit  dem  Kaffee  fertig  und  eine  ge¬ 
sunde  rotbackige  Magd  trägt  den  Präsentierteller  mit 
dem  Naschwerk  weg.  Neben  den  Damen  auf  einem 
niedrigen  Bänkchen  ist  ein  kleiner  Bube  samt  dem 
Spielzeug  eingeschlafen.  Oben  auf  dem  Balkon,  bei 
offener  Thüre,  sitzt  in  einem  bequemen  Voltairesessel 


CONSTANTIN  SOMOFF  KINDERSTUBE 


Hündchen,  die  sie  auf  ihren  Händen  tragen.  Die 
Hündchen  strecken  ihre  komischen  Mäulchen  heraus 
und  bellen  einander  an.  Unten  auf  der  Strasse  fährt 
eine  schwere  Landkalesche  vorbei.  Zwei  Gigerl 
bleiben  stehen  und  betrachten  neugierig  die  beiden 
Damen. 

Wiederum  dasselbe  Gefühl.  Es  ist  halb  ernst, 
halb  scherzhaft,  halb  traurig,  halb  ironisch. 

Einige  Jahre  später  in  der  Berliner  Secession 
(igoi)  sah  man  noch  ein  Bild  von  Somoff.  Auch 
wieder  aus  den  Grossväterzeiten.  Es  ist  ein  Land¬ 
haus'.  Etwas  im  höchsten  Grade  Drolliges  und  da¬ 


ein  biederer  Herr  im  Schlafrock  und  liest  seinen  Diderot. 
Links  in  der  Ferne  blickt  man  auf  eine  prächtige 
Landschaft.  Im  Himmel  der  Regenbogen.  Es  hat 
geregnet  und  wurde  auf  einmal  alles  so  merkwürdig 
frisch,  so  hell  und  leuchtend:  die  Bäume,  die  Blumen, 
das  Gras  und  die  Sandstreifen. 

Und  wiederum  dieselbe  Empfindung  wie  bei  den 
früheren  Bildern. 

Die  Somoff’schen  Menschen  gleichen  gar  nicht 
den  modernen.  Dies  wird  ihm  auch  vorgeworfen. 
Dabei  ist  es  das  beste  Kompliment  für  ihn.  Waren 
denn  die  damaligen  Menschen  wirklich  so  wie  wir  es 


CONSTANTIN  SOMOFF 


DER  VATER  DES  KÜNSTLERS,  DIREKTOR  DER  ERMITAOEOALERIE 


3 


CONSTANTIN  SOA\OFF 


-42 


sind?  Kaum  möglich.  Man  blättere  nur  die  zahlreichen 
Stahlstiche  durch,  welche  aus  der  Zeit  stammen,  die 
amüsanten  und  kuriosen  Lithographien,  die  den  Ro- 
n.anen  und  Novellen  beigelegt  wurden:  überall  der 
leine  lange  Flals,  das  gezogene  Gesichtsoval,  die  ge¬ 
zierten  Lippen,  die  schlanken  Zuckerfigürchen.  Viel¬ 


mütter  so  gerne  gedichtet  und  gezeichnet  hatten. 
Alles  so  köstlich,  so  träumerisch  traurig  und  so 
bieder.  Manchmal  sind  sie  auch  rührend  komisch 
und  trotz  aller  Drolligkeit  bleiben  sie  immer  echte 
Poeten. 

Es  giebt  noch  etwas  Derartiges,  was  einen  wahren 


Constantia  Sonwff.  Theaterzettel  für  das  kaiserUchc  Privattheater  des  Zaren 
(hl  tlimmelblaii,  Gold  und  Braun  ausgcjiihrt) 


leicht  sahen  sie  gar  nicht  so  aus,  sie  schilderten  sich 
nur  auf  diese  Weise?  Das  Wichtige  ist  eben  das, 
wie  sie  sich  schilderten,  und  es  ist  ganz  unwichtig, 
wie  sie  wirklich  aussahen.  Denn  so,  wie  sie  sich 
schilderten,  sahen  sie  sich  und  fühlten  sie  sich.  Darin 
liegt  das  ganze  Parfüm  der  Zeit.  Besonders  schön 
sind  sie  in  den  reizenden  Albums  mit  Gedichten  und 
Zeichnungen,  welche  unsere  Grossväter  und  Gross- 


Genuss  bieten  kann.  Es  sind  die  alten  Modejournale. 
Einst,  besonders  in  Paris,  zeichneten  die  besten  Künstler 
solche  Modeblätter.  Man  erinnere  sich  nur  an  den 
berühmten  Gavarni.  Es  ist  eine  reine  Ereude,  die 
Blätter  anzusehen;  alles  so  schön,  elegant,  so  aus¬ 
erlesen.  Aber  auch  Blätter  der  kleinen  Zeichner 
bieten,  was  den  wirklichen  Geist  der  Epoche  an¬ 
belangt,  ein  ganz  bedeutendes  Material  und  lassen 


CONSTANTIN  SOMOFF 


DAME  AM  TEICHE 


CONSTANTIN  SOMOFF 


■e  <i‘j^se  und  einzig  wahre  Kunst  eines  Vernet 
^icigAjichen  weit  hinter  sich  zurück.  Allein 
;  ■  .  -ecki  giebt  in  diesem  Maasse  den  ganzen  Bei- 
k  i --ck  seinerzeit.  Und  dies,  weil  er  bei  seiner 
-  .  -  Vr^erschaft,  das  heisst  bei  dem  Fachmässigen, 
.  r-i.aberischen,  was  er  hatte,  gerade  noch  immer 
i-'  ;-haoer  blieb,  genau  solch  ein  Liebhaber  wie 
,!  ■?  Dichter- Grossväter  und  die  Malerinnen- 
"  o  ä:  v'tter. 

k:!i  fürchte,  man  würde  mich  schlecht  verstehen, 
wenn  ich  behaupte,  dass  es  um  vieles,  was  in  der 
Somoff 'sehen  Kunst  so  kostbar  ist,  gerade  diesem 


Setzungen,  seine  pure  Unmittelbarkeit.  Keine  Theorien 
und  dabei  oft  eine  überraschende  Einfachheit  der 
Mittel.  Der  Fachmann  ist  immer  schon  etwas  an¬ 
gesteckt.  Mag  er  der  grösste  Feind  der  Theorie 
sein,  dieselbe  ist  immer  im  innigsten  seiner  Seele 
verborgen.  Er  unterliegt  ihr  und  ist  schon  ihr  Sklave. 
Und  es  gehört  ein  seltenes  Glück  dazu,  um  bei  einem 
grossen  Fachkönnen  noch  die  schlichte  Seele  eines 
Liebhabers  zu  bewahren. 

So  einer  ist  Somoff.  Diese  seine  Doppelheit 
wird  von  den  Meisten  verkannt  und  doch  giebt  sie 
Anlass  zu  häufigen  Missverständnissen.  Die  einigen 


CONSTANTIN  SOMOFF 

seinen  eigentümlichen  Zuge  der  Liebhaberei  zu  ver¬ 
danken  sei.  Gerade  der  Liebhaberei  und  nicht  etwa 
dem  Dilettantismus  und  zwar  dem  Zusammenwirken 
von  der  Meisterschaft  eines  Fachmannes  und  der  Un¬ 
befangenheit  eines  Liebhabers.  In  der  Regel  sind 
wir  alle  etwas  zu  sehr  gegen  die  Liebhaber  und  wahr¬ 
haftig  ohne  Grund.  Was  ein  Liebhaber  leisten  kann, 
zeigte  die  vor  einiger  Zeit  in  Paris  veranstaltete  Aus¬ 
stellung  von  Werken  solcher  Liebhaber.  Da  sah 
man  Bilder  von  staunenswerter  Bedeutung  und  es 
tauchten  manche  Namen  auf,  die  seitdem  nie  mehr 
vergessen  werden.  Das  Gesunde  bei  einem  Liebhaber 
ist  diese  völlige  Abwesenheit  von  den  Faehvoraus- 


IM  BOSQUET 

sehen  ein,  dass  der  Künstler  viel  »kann«,  wenn  er 
will;  sie  behaupten  nur,  dass  er  sich  zu  oft  verstellt, 
den  Naiven  spielt  und  dabei  Gesichter  schneidet. 
Die  anderen  sind  bereit,  ihm  ein  jedes  Können  ab¬ 
zusprechen.  Man  will  nicht  begreifen,  dass  es  einen 
Bund  zwischen  Fachmann  und  Liebhaber  in  einem 
und  demselben  Künstler  geben  kann. 

Ich  kenne  ein  entzückendes  Bild  von  ihm.  Es 
ist  gerade  dasjenige,  welches  am  heftigsten  angegriffen 
wurde.  In  Petersburg  erinnert  man  sich  noch  bis 
jetzt  an  das  höhnische  Gelächter  in  dem  Ausstellungs¬ 
saale,  welches  dem  Bildchen  zu  teil  ward.  Es  ist 
eine  Kavalkade«,  Ein  Herr  und  eine  Dame  vom 


CONSTANTIN  SOMOFF 


245 


Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  reiten  in  der 
Dämmerung  einen  Teich  entlang.  Das  Publikum  war 
im  Zweifel,  ob  es  die  Sache  ernst  nehmen  oder 
als  Ulk  auffassen  sollte.  Ist  es  denn  möglich,  solche 
Kinderpferdchen  zu  malen,  solche  Puppenfigürchen 
darauf  zu  setzen,  solch  ein  komisches,  krüppelhaftes 
Frauchen  und  so  ein  steifes  Männchen?  Und  dennoch 
ist  eben  das  Missgestaltete,  was  darin  liegt,  so  reizend. 
Es  ist  ja  auch  nicht  der  einzige  Fall  bei  Somoff. 
Er  hat  eine  sonderliche  Vorliebe  für  unschöne 
Frauengesichter,  die  er  schön  zu  malen  versteht 
Er  findet  einen  raffinierten  Reiz  in  der  Poetisierung 
der  fast  hässlichen  Züge.  Man  könnte  es  eine  Art 
Poesie  der  Missgestalt  nennen.  Ist  denn  die  Monna 
Lisa  von  Leonardo  eine  sogenannte  Schönheit?  Oder 
der  merkwürdige  Kopf  der  Liechtensteiner  Galerie,  ja 
selbst  so  viele  Köpfe  von  Botticelli?  Das  sonder¬ 
barste,  was  Somoff  in  dieser  Hinsicht  schuf,  ist  die 
mittlere  Dame  in  seinem  letzten  grossen  Bilde  der 
diesjährigen  Berliner  Secession:  »Der  Abend«.  Die 
Dame  ist  weitaus  nicht  hübsch,  sie  ist  beinahe  häss¬ 
lich.  Und  doch  wirkt  die  ganze  Figur  wie  eine 
Zaubervision  aus  der  prächtigen  Vergangenheit  und 
selbst  aus  dem  hässlichen  Gesichte  strahlt  eine  un¬ 
sagbare  und  ungewöhnliche  Schönheit.  Es  ist  der 
grosse  visionäre  und  phantastische  Zug,  der  seinen 
Bildern  diesen  ausserordentlichen  Reiz  verleiht. 

So  wirkt  auch  die  »Kavalkade«.  Die  meisten 
Gestalten  der  Somoff’schen  Bilder  machen  den  Ein¬ 
druck  als  wären  sie  in  einen  geheimnisvollen  Schleier 
eingehüllt;  der  Künstler  lüftet  ihn  ein  wenig  — 
das  übrige  enthülle  man  selbst.  So  in  der  »Liebes- 
insel«,  so  im  »August«,  in  der  »Zauberei«,  ja  sogar  in 
manchen  seiner  Porträts,  wie  in  der  »Dame  im  blauen 
Kleide«  (Berl.  Secession  1902).  »Es  ist  ja  gerade  so 
schön,  dass  es  so  geheimnisvoll  ist«,  sagt  ein  sterben¬ 
der  Alter  bei  Dostojewski. 

•Es  ist  dasselbe,  was  man  bei  der  Betrachtung  einer 
Egineten-Minerva  der  Münchner  Glyptothek,  oder  einer 
Korenstatue  der  Akropolis  empfindet.  Man  würde 
es  noch  in  den  blauen  Augen  von  Botticelli’s  oder 
Rossetti’s  Frauen  finden,  sowie  in  manchem  Bilde 
von  Watteau,  in  den  Erzählungen  von  Amadeus  Hoff- 
mann  und  in  einigen  Scenen  von  Dostojewski,  auch 
bei  einem  Puvis,  Böcklin  oderMar&s,  in  der  Messaiina 
von  Beardsley  oder  in  den  grotesken  und  grausamen 
Blättern  von  Th.  Th.  Heine. 


Es  ist  etwas  Scharfes,  Ätzendes,  Aufdringliches  und 
zu  gleicher  Zeit  Verlockendes.  Es  zieht  einen  wider 
Willen  an  und  fesselt  bezaubernd. 

Ich  hatte  ein  wahres  Vergnügen,  eine  Sonder¬ 
ausstellung  von  Somoff’s  Werken  in  Petersburg  zu  ver¬ 
anstalten.  Ich  sah  die  Bilder  unendlich  oft  und  fand 
immer  etwas  Neues  darin.  Und  dies  bei  der  schein¬ 
baren  Gleichförmigkeit  der  Bilder.  Eine  Sonder¬ 
ausstellung  ist  eine  sehr  gefährliche  Prüfung  für  den 
Künstler.  Es  hat  schon  Fälle  gegeben,  wo  mit  einem 
Schlage  unbekannte  Leute  gross  wurden.  Doch  öfter 
ist  es  umgekehrt  gewesen.  Grosse  Namen  erwiesen 
sich  als  künstlich  aufgeblasene  Berühmtheiten  und 
stürzten  mit  Ungestüm  von  ihrer  Höhe  in  die  Ver¬ 
gessenheit  hinab. 

Die  Somoff’sche  Ausstellung  dagegen  hob  die 
Bedeutung  dieses  Meisters  erst  recht  auf  die  verdiente 
Höhe.  Hier  sah  man,  was  er  wirklich  kann.  Wenn 
es  früher  noch  manche  gab,  die  an  seinem  Können 
Zweifel  hegten,  so  konnten  sie  sich  hier  vom  Gegenteil 
überzeugen.  Man  sah  in  der  Ausstellung  Zeichnungen 
von  ihm,  Akt-  und  Kopfstudien,  welche  in  ihrer  ernsten 
Bescheidenheit  und  schlichten  Korrektheit  an  die  besten 
Zeichner  der  dreissiger  Jahre  erinnerten.  Man  sah 
auch  Landschaftstudien,  ernst  und  liebevoll  aufgefasst 
und  vorzüglich  gemalt.  Es  lag  da  ein  Stück  der 
echten  und  grossen  Meisterschaft  in  all  den  Öl-  und 
Aquarellskizzen.  Sein  Hauptkönnen  liegt  aber  nicht 
darin,  es  liegt  vielmehr  in  dem  vollen  Bewusstsein 
seiner  reichen  Mittel,  in  dem  Geheimnisse,  sie  anzu¬ 
wenden.  Er  weiss,  was  er  kann  und  kann,  was  er  will. 

Er  besitzt  schon  jetzt  seinen  eigenen  Stil.  Eine 
Zeichnung  von  ihm,  ja  die  kleinste  Vignette  hat  diesen 
ausgesprochenen  SomojfstiL  Als  Zierkünstler  ist  er 
besonders  interessant.  Man  sah  in  der  Ausstellung 
Vignetten,  Exlibris  und  Theaterprogramme  von  ihm,  die 
in  ihrer  Eleganz  und  auserlesenen  Raffiniertheit  zu  dem 
besten  gehören,  was  in  der  letzten  Zeit  auf  diesem 
Gebiete  geleistet  wurde.  Nur  Beardsley  und  Conder, 
Heine  und  J.  Diez  könnte  man  ihm  an  die  Seite  stellen. 

Es  giebt  überhaupt  eine  gewisse  Verwandtschaft 
zwischen  den  genannten  Künstlern.  Man  könnte  noch 
die  Belgier  Minne  und  Doudlet  und  die  Russen 
Alex.  Benois  und  Lancerey  nennen.  Es  ist  die  letzte 
Phase  der  individualistischen  Strömung,  und  die  Ge¬ 
samtkunst  Somoff’s  ist  einer  der  bedeutendsten  und 
interessantesten  Momente  darin. 


Abb.  1.  Das  grosse  Oppenheimer  Stadtsiegel  von  1225:26 
natürlicher  Grösse,  Original  in  Darmstadt) 

DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II. 
VON  HOHENSTAUFEN 

Von  Julius  Reinhard  Dieterich 


Das  Oktoberheft  dieser  Zeitschrift  liat  eine 
Studie  Richard  Delbrück’s  über  ein  Porträt 
Friedrich’s  II.  von  Hohenstaufen«  gebracht. 
Es  handelt  sich  um  ein  von  dem  namhaften  fran¬ 
zösischen  Archäologen  Frangois  Lenormant  1882  auf 
dem  Giebel  der  Hanptkirche  des  süditalienischen 
Städtchens  Acerenza  gefundenes  plastisches  Bildwerk. 
Delbrück  änssert  Ansichten  darüber,  die  von  der 
Datierung  und  Deutung  des  Funds  weit  abweichen, 
wie  sie  von  dem  glücklichen  Entdecker  und  anderen 
versucht  worden  sind. 

Lenormant  bringt  eine  in  die  Mauer  der  Kathedrale 
eingelassene  Inschrift,  die  von  Kaiser  Julian  dem  Ab¬ 
trünnigen  handelt,  mit  der  Statue  auf  dem  Giebelfirst 
zusammen  und  schliesst  daraus,  dass  diese  Kaiser 
Julian  selbst  darstelle.  Salomon  Reinach  hat  dann 
die  Gründe,  die  für  Lenormant’s  Hypothese  sprechen, 
ausführlich  und  gründlich  erörtert.  Etienne  Michon 
wiederum  entkräftet  Lenormant’s  und  Reinach’s  An¬ 
nahme,  stimmt  aber  in  einem  Punkte  mit  beiden 
überein:  auch  er  hält  den  Fund  für  ein  Erzeugnis 
römischer  Künste). 

Delbrück  nimmt  dagegen  das  Bildwerk  von 
Acerenza  für  ein  Werk  der  späten  Stauferzeit  und 
sieht  in  ihm  nicht  das  Porträt  Julian’s,  sondern  eine 
Büste  Friedrich’s  II.  von  Hohenstaufen. 

Die  Beweisführung  für  den  ersten  Satz,  mit  dem 
zugleich  der  zweite  hinfällig  würde,  ist  wenig  glück¬ 
lich,  der  Versuch  gar,  den  Fund  zu  einer  Büste 
Friedrich’s  II.  zu  stempeln,  gescheitert. 

Drei  Gründe  führt  Delbrück  gegen  eine  römische 
Herkunft  des  Bildwerks  ins  Feld:  die  Verwendung 


1)  Vergl.  Revue  arclieologique  38  (iQOi),  350  ff.,  39 
(1902),  259  ff. 


unedlen  Materials,  die  »in  römischer  Zeit  doch  recht 
auffällig  wäre  ,  die  Ausrüstung  des  Dargestellten  mit 
einem  auch  die  Schultern  deckenden  Schuppenpanzer, 
den  er  als  nichtrömisch  anzusprechen  scheint,  und 
endlich  »die  ganze  Form  der  Büste  mit  horizontalem 
Abschluss«. 

Beim  letzten  Einwand  lässt  sich  Delbrück  offenbar 
von  der  Voraussetzung  leiten,  dass  wir  es  mit  einer 
Büste  zu  thuii  hätten.  Reinach')  vertritt  dagegen  die 
gewiss  nahe  liegende  Auffassung,  das  Denkmal  von 
Acerenza  sei  der  obere  Teil  eines  Standbildes,  dessen 
unterer,  bis  auf  die  in  die  Kirchenwand  eingemauerte 
Inschrift  des  vormaligen  Sockels,  verloren  sei.  Bei¬ 
spiele  für  die  Anfertigung  von  Standbildern  aus 
mehreren  Marmorstücken  sind  nicht  selten. 

Nur  eine  genaue  Untersuchung  des  Originals,  bei 
der  vielleicht  noch  Zapfen  oder  Zapfenlöcher  zum 
Vorschein  kommen,  wird  uns  darüber  belehren 
können,  wessen  Auffassung  die  richtige  ist.  Bis 
dahin  werden  wir  der  Reinach’s  als  der  einfacheren, 
natürlicheren  den  Vorzug  geben,  es  sei  denn,  dass 
das  Stück  wie  der  Gordianus  im  Louvre  -)  von  vorn¬ 
herein  als  Halbfigur  geplant  war. 

Vor  einem  abschliessenden  Urteil  muss  ferner 
volle  Klarheit  über  das  Material  des  Denkmals  ge¬ 
wonnen  sein.  Delbrück  hat  das  Original  nicht  selbst 
daraufhin  untersucht.  Er  verlässt  sich  auf  die  Aus¬ 
sage  eines  römischen  Photographen,  nach  der  es 
»harter«  Kalkstein  sein  soll.  »Harter«  Kalkstein  kann 
aber,  besonders  wenn  er,  wie  in  unserem  Fall,  stark 
verwittert  ist,  von  einem  Laien  leicht  mit  einzelnen 
Marmorarten  verwechselt  werden. 


1)  A.  a.  O.  S.  355. 

2)  J.  J.  Bernoulli,  Rom.  Ikonographie  II,  3,  Taf.  XXXVIll. 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


247 


Selbst  wenn  Delbrück  mit  diesen  seinen  Be¬ 
hauptungen  im  Recht  wäre,  so  bewiese  dies  noch 
nichts  für  eine  staufische  Herkunft  des  Stücks.  Die 
beiden  von  ihm  herangezogenen,  angeblich  staufischen 
Büsten  aus  Kapua  haben  genau  denselben  runden 
Abschluss  wie  die  antiken  Büsten.  Die  Büste  der 
sogenannten  Sicligayta  und  jene  der  Dame  aus  Scala 
tragen  einen  ganz  anderen  Charakter  als  die  unsere 
und  lassen  einen  Vergleich  überhaupt  nicht  zu.  Sie 
alle  sind  aber,  soweit  ich  sehe,  aus  edlem  Material, 
aus  Marmor,  gefertigt.  Ausnahmen  von  den  durch 
Delbrück  über  Abschluss  und  Material  aufgestellten 
Regeln  können  ebensogut  in  der  römischen  wie 
in  der  staufischen  Zeit  vorgekommen  sein. 

Noch  schlimmer  steht  es  um  Delbrück’s  dritten 
Einwand:  »dann  ist  der  Schuppenpanzer,  der  die 
Schultern  mit  bedeckt,  meines  Wissens  an  römischen 
Denkmälern  nicht  nachzuweisen«. 

Kennt  Delbrück  den  an  den  Armen  und  um  die 
Hüften  in  Lederstreifen  auslaufenden  Schuppenpanzer 
(lorica  squamata,  plumata)  der  römischen  Panzerreiter 
nicht?  Er  ist  bis  auf  Makrinus  auch  von  den  Prä¬ 
torianern  und  von  den  Offizieren  der  Legionen  ge¬ 
tragen  worden  1).  L.  Lindenschmit  bildet  in  seinem 
Buch  »Tracht  und  Bewaffnung  des  römischen  Heeres« 
auf  Tafel  I,  6  und  II,  2  zwei  Grabsteine  aus  Verona 
ab,  die  zwei  im  Jahre  6g  n.  Chr.  gefallene  Brüder, 
den  Centurionen  der  Legio  XI  Claudia  pia  fidelis 
Q.  Sertorius  Festus  und  den  Adlerträger  L.  Sertorius 
Firmus,  darstellen.  Beide  tragen  das  Schuppenhemd, 
das,  wie  bei  dem  angeblichen  Julian  oder  Friedrich, 
die  Schultern  und  ein  Stück  des  Oberarmes  deckt. 
Denselben  Schuppenpanzer,  der  die  Schultern  deckt 
und  über  den  ein  auf  der  linken  Schulter  zusammen- 
genestelter  Mantel  fällt,  trägt  der  angebliche  Julian  auf 
dem  Cameo  von  Battlesdeu“).  An  den  Armen  und  um 
die  Hüften  stösst  bei  Panzern  dieser  Art  die  lederne 
Unterlage  der  Schuppen  vor  und  endet  in  schmalen, 
befranzten  Lederstreifen.  Diese  Streifen  sind  charakte¬ 
ristisch  für  den  römischen  Schuppenpanzer.  In  der 
Merowingerzeit  kommen  sie  noch  vereinzelt  vor,  sei 
es,  dass  man  die  Technik  der  Römer  nachgeahmt 
hat,  sei  es,  dass  sich,  wie  Lindenschmit  vermutet'’), 
vereinzelte  römische  Beutestücke  im  Gebrauch  erhalten 
haben.  Die  Stauferzeit  kennt  aber  derartige,  mit 
Schuppen  besetzte,  in  Streifen  auslaufende  Leder¬ 
hemden  überhaupt  nicht. 

Das  Standbild  von  Acerenza  ist  eine  statua  loricata. 
Sein  Panzer  gleicht  in  allen  Einzelheiten  dem  rö¬ 
mischen  des  Q.  Sertorius  Festus**).  Wie  diesem,  liegt 


1)  Albert  Müller,  Philologus  47,  520,  nennt  ihn  geradezu 
ein  für  einen  Centurionen  charakteristisches  Ausrüstungs¬ 
stück. 

2)  Abgebildet  beij.  j.  Bernouilli  a.  a.  O.  II,  3,  Tafel  LV. 
Die  ebenda  abgebildete  Statue  des  Septiinius  Severus 
(Tafel  XI),  sowie  die  Halbfigur  des  Gordianus  (Tafel 
XXXVIll)  tragen  einen  ähnlichen  Panzer. 

3)  Handb.  d.  dtschn.  Altertumskunde,  I,  265. 

4)  Da  die  Abbildungen  der  Veroneser  Grabsteine  ge¬ 
wisse  Einzelheiten  ungenau  wiedergeben,  verweise  ich  noch 
auf  die  eingehenden  Erläuterungen  Albert  Miiller’s  im 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  tl.  lo. 


ihm  das  sagum,  der  kurze  Soldatenmantel,  auf  der 
linken  Schulter.  Nur  hat  ihn  der  Unbekannte  unter 
dem  rechten  Arme  durchgezogen,  eine  Art  des  Mantel¬ 
tragens,  die  ich  auf  Bildwerken  der  römischen,  wie 
der  staufischen  Zeit  vergebens  gesucht  habe. 

Ausschlaggebend  ist  für  uns,  dass  sich  der  Panzer 
als  römisch  erwiesen  hat.  Allein  dieser  Umstand 
muss  uns  die  von  Delbrück  so  bestimmt  vorgetragene 
Meinung,  die  Statue  von  Acerenza  gehöre  in  die 
Stauferzeit,  zweifelhaft  erscheinen  lassen. 

Ist  sie  aber  antik,  wen  stellt  sie  dar?  Einen 
kriegerischen  Kaiser,  der  sich  im  Panzer  seiner  Reiter 
oder  der  Leibgarde  abbilden  liess?  Julian  den  Ala¬ 
mannensieger?  Vielleicht  darf  man  auch  an  einen 
siegreichen  General  oder  praefectus  praetorio  denken, 
obschon  der  Lorbeerkranz  eher  auf  einen  Kaiser 
raten  lässt.  — 

»Wir  vermögen  aber,  so  etwa  wendet  Delbrück 
weiter  ein,  »unserem  Bilde  den  ihm  zukommenden 
Platz  in  der  Entwickelung  der  staufischen  Plastik 
anzuweisen,  und  zwar  durch  einen  Vergleich  des¬ 
selben  mit  anderen  süditalienischen  Denkmälern  des 
13.  Jahrhunderts.« 

Wie  steht  es  damit?  —  Der  Porträtkopf  aus 
Scala,  die  Skulpturen  zu  Sessa,  das  Brustbild  der 
sogenannten  Sicligayta  Ruffola,  die  beiden  Reliefbilder 
am  Thürbogen  der  Kanzel  und  die  übrigen  Schöpfungen 
des  Nikolaus  di  Bartolomeo  de  Fioggia  im  Dom  zu 
Ravello:  sie  alle  tragen  ein  von  dem  des  Standbildes 
von  Acerenza  verschiedenes  Gepräge,  sind  starrer, 
rauher,  gebundener  und  unfreier.  Selbst  dem  Laien 
fällt  sofort  der  unüberbrückbare  Abstand  in  Auffassung 
und  Formgebung  ins  Auge  und  zwingt  ihn  geradezu 
zur  Überzeugung,  dass  er  hier  Erzeugnisse  aus  zwei 
weit  auseinanderliegenden  Zeiten  und  Welten  vor 
sich  hat. 

Allerdings  geht  Delbrück  auf  diese  zum  Teil  ge¬ 
nauer  datierbaren*)  Skulpturen  nicht  ein;  er  hat  nur 
die  beiden,  vor  etwa  dreissig  Jahren  in  Kapua  aus¬ 
gegrabenen  angeblichen  Porträtbüsten  des  Peter  von 
Vinea  und  des  Taddeus  von  Suessa,  der  Grosswürden¬ 
träger  Friedrich’s  II.,  zum  Vergleich  mit  dem  an¬ 
geblichen  Kaiserbild  herangezogen. 

Beide  Büsten  sind  eigenartige,  vielfach  an  die 
Antike  gemahnende  Kunstwerke.  In  die  Rubrik  der 
vorhin  angeführten,  in  den  Jahrzehnten  nach  Fried¬ 
rich’s  Tod  geschaffenen  Skulpturen  lassen  sie  sich  nur 
gewaltsam  pressen.  Ist  für  sie,  wie  Delbrück  so  be¬ 
stimmt  behauptet,  in  der  Antike  kein  Raum,  dann 
gilt  dies  erst  recht  von  ihrem  Verhältnis  zur  süd¬ 
italienischen  Plastik  des  13.  Jahrhunderts.  Ja,  nicht 
wenige  werden  mit  mir  der  Meinung  leben,  der  Ab¬ 
stand  der  mit  dem  Lorbeerkranze  der  römischen  Im¬ 
peratoren  geschmückten  kapuanischen  Büsten  von  den 
Bildwerken  aus  Scala,  Sessa  und  Ravello  sei  grösser 
als  der  von  der  Antike.  Die  manchmal  auftauchende 


Philologus  Bd.  40,  246  ff.  und  47,  52off.,  und  auf  das,  was 
Ernst  Hübner  hierzu,  Hermes  Bd.  16,  302  ff.,  bemerkt  hat. 

1)  Skulpturen  von  Sessa  1250  —  1270,  Kanzel  im  Dom 
zu  Ravello  ca.  1270. 


32 


248 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


Behauptung,  die  Skulpturen  von  Kapua  seien  spät- 
antik-,  ist  mit  der  beweislosen  Annahme  des  Gegen¬ 
teils  noch  nicht  widerlegt. 

Die  Beziehung  der  kapuanischen  Büsten  auf  Peter 
und  Taddeus  unterliegt  gleichfalls  Zweifeln.  In  dem 
berühmten  Brückenkastell  zu  Kapua,  aus  dem  sie 
stammen  sollen,  waren,  wir  wissen  dies  aus  guter 
Quelle’),  .1.  :.  ;i  und  unter  der  sitzenden  Statue  Fried- 
rich's  1'.  -  ll: s:  die  imagines  seines  Kanzlers  und  Hof- 
rii  litt  s  nrf,.  -lellt.  Imago  kann  beides,  Brust-  und 
S:  ui'Jüil  J,  bei’euten.  Nun  spricht  aber  der  Kapuaner 
It'ipiLeie  Sioielli,  der  um  1570  die  Chronik  seiner 
se  uieb,  nicht  von  Büsten,  sondern  von 
Sii-Hii'Udvn  (statuae)  der  beiden.  Sanelli,  der  auch 
'lischriüen  des  Prunkbaues  abgeschrieben  hat, 
luii  s  G.e  1557  mit  diesem  demolierten  statuae  gut 
gekannt  haben.  Über  diese  bestimmte,  glaubwürdige 
Bezeichnung  der  imagines  durch  einen,  soviel  ich 
sehe,  unanfechtbaren  Gewährsmann  wird  man  sich 
schwerlich  mit  denen  hinwegsetzen  dürfen,  die  unsere 
lorbeergeschmückten  Büsten  kurzweg  den  Stand¬ 
bildern  Sanelli’s  gleichgesetzt  haben. 

Mit  seinen  kapuanischen  Büsten  sucht  Delbrück 
auch  den  Fund  von  Acerenza  in  den  Kreis  der  stau¬ 
fischen  oder  nachstaufischen  Skulpturen  zu  zwängen. 
Er  findet  sogar,  dass  das  Porträt  des  sogenannten 
Petrus  de  Vinea  .  .  .  dem  Porträt  von  Acerenza  in 
allem  Vergleichbaren-  ähnelt.  —  Ich  bin  überzeugt, 
dass  jeder  vorurteilslose  Beurteiler  wenigstens  die  Be¬ 
handlung  der  Haare  und  des  Bartes,  der  Ohren  und 
Augen  und  namentlich  auch  des  Gewandes  bei  beiden 
als  grundverschieden  erkennen  wird. 

Die  staufische  Herkunft  der  Büsten  ist,  wie  wir 
feststellten,  unwahrscheinlich.  Noch  viel  mehr  ist 
dies  aber  bei  der  vermeintlichen  Bildsäule  Friedrich’s  II. 
der  Fall,  die  augenscheinlich  mit  der  Antike  um  einige 
Grade  näher  verwandt  ist  als  jene. 

Ist  sie  antik?  Delbrück  bestreitet  dies  entschieden. 

V Formauffassung  und  Strich«,  wendet  er  ein,  seien 
von  den  in  der  antiken  Kunst  üblichen  verschieden, 
begründet  aber  diese  seine  Auffassung  nicht  näher; 
'>sie  lässt  sich  nicht  auseinandersetzen«. 

Ich  mache  Delbrück  aus  diesem  Verzicht  keinen 
Vorwurf.  Es  giebt  in  der  That  Eindrücke  und  Er¬ 
fahrungen,  die  der  Kenner,  nachdem  er  sie  durch 
jahrelange  Bekanntschaft  und  Vertrautheit  mit  seinen 
Objekten  gewonnen  hat,  nur  sehr  schwer  und  un¬ 
vollkommen  an  andere,  namentlich  an  Nichtfach¬ 
genossen,  übermitteln  kann.  Er  heischt  in  solchen 
Fällen  mit  Recht  das  Vertrauen  des  Laien.  Ich  be¬ 
dauere,  ihm  dieses  Vertrauen  aus  den  oben  erörterten 
Gründen  versagen  zu  müssen. 

Hat  Delbrück  das  Standbild  von  Acerenza  im 
Original  gesehen  oder  hat  er  »Formauffassung  und 
Strich«  allein  an  der  Hand  der  allen  zugänglichen 
Reproduktionen  studiert?  Aus  dem  Aufsatz  ersehen 
wir  dies  nicht,  ja,  einzelne  Äusserungen  sprechen  für 
das  letztere. 

1)  Man  vergl.  für  das  Folgende  den  Aufsatz  C.  v. 
Fabriczy’s  »Zur  Kunstgeschichte  der  Hohenstaufenzeit«  in 
Bd.  14  (1879),  180  ff.,  214  ff.,  236  ff.  dieser  Zeitschrift. 


Wie  unsicher  aber  die  Schlüsse  aus  den  Re¬ 
produktionen  allein  sind,  geht  daraus  hervor,  dass 
andere  an  ihrer  Hand  zu  Ergebnissen  gekommen 
sind,  die  denen  Delbrück’s  schnurstracks  zuwider¬ 
laufen. 

Ich  verzichte  auf  das  Zeugnis  deutscher  Fach¬ 
genossen  Delbrück’s,  um  noch  einmal  auf  die  ab¬ 
weichenden  Ansichten  der  Franzosen  zu  verweisen. 

Lenormant  ist  einer  der  besten  Kenner  süd¬ 
italienischer  Kunst.  Wir  verdanken  ihm  auf  diesem 
Gebiete  wertvolle  Werke.  Lenormant  hat  selbst  die 
Statue  von  Acerenza  gesehen.  Er  erklärt  sie  ohne 
Einschränkung  für  antik.  Einer  der  namhaftesten 
Archäologen  unserer  Zeit,  Reinach,  fällt  ihm  rück¬ 
haltlos  zu.  Michon  setzt  trotz  seiner  Polemik  gegen 
beide  die  antike  Herkunft  stillschweigend  voraus.  Ja, 
er  erwägt  ernstlich,  ob  er  die  Statue  nicht  eher  der 
Zeit  Hadrian’s  als  der  julian’s  zuweisen  soll. 

Was  Delbrück  gegen  die  Auffassung  der  Franzosen 
vorgebracht  hat,  überzeugt  uns  nicht.  Der  von  ihm 
verkannte  römische  Schuppenpanzer  bildet  sogar  ein 
direktes  Zeugnis  für  die  antike  Herkunft  der  Bild¬ 
säule.  Ihre  wenigen  Anklänge  an  die  kapuanischen 
Büsten  würden  selbst  dann  nicht  schwer  wiegen, 
wenn  der  staufische  Ursprung  der  letzteren  überhaupt 
zu  beweisen  wäre.  Dass  »Formauffassung  und  Strich« 
unserer  Statue  von  der  Antike  verschieden«  sei,  können 
wir  Delbrück  glauben  oder  nicht.  —  Nach  dem  Ge¬ 
sagten  wird  er,  fürchte  ich,  der  Ungläubigen  mehr 
zählen  können  denn  der  Gläubigen. 

Vielleicht  lässt  sich  aber  die  Ähnlichkeit  Friedrich’s 
mit  der  Statue  von  Acerenza  so  überzeugend  darthun, 
dass  eine  Verwechselung  undenkbar  scheint? 

Nichts  von  alledem!’)  Ich  weiss  nicht,  was  Del¬ 
brück  auf  den  seltsamen  Gedanken,  den  Unbekannten 
von  Acerenza  zu  einem  Staufer  zu  stempeln,  ge¬ 
bracht  hat.  Der  Lorbeerkranz?  —  Ihn  haben,  wie 
er  ausführt,  »in  nachrömischer  Zeit  noch  die  Karo¬ 
linger  getragen,  späterhin  aber  nur  noch  Friedrich  II. 
auf  den  Augustalen«.  In  der  That?  Dann  steht  es 
schlimm  um  die  staufische  Herkunft  der  lorbeer- 
geschmückten  Büsten  von  Kapua:  Delbrück’s  Peter 
von  Vinea,  sein  Taddeus  von  Suessa  tragen  ihn  beide! 

Stellten  diese  lorbeergeschmückten  Büsten  wirklich 
die  Grosswürdenträger  Friedrich’s  II.,  stellte  die  gleich¬ 
falls  den  Lorbeer  tragende  Statue  von  Acerenza  diesen 
selbst  dar;  wie  käme  der  Kaiser  dazu,  statt  in  dem 
üblichen  Friedenskleid  der  Imperatoren,  im  Schuppen¬ 
panzer  der  Prätorianer  aufzutreten?  Auffällig  und 
schwer  zu  erklären  wäre  das  gewiss. 

Die  Kaiser  und  Könige  des  späten  Mittelalters 
tragen  ausnahmslos  langes  Haar.  Auch  Friedrich  II. 

1)  Die  Ausführungen  F.  Philippi’s  ini  Januarheft  d. 
Ztschr.  decken  sich  zum  Teil  mit  den  meinen,  die  bereits 
vor  dem  Erscheinen  dieses  Heftes  niedergeschrieben  waren. 
Für  die  Erörterungen  über  die  Siegel  Friedrich’s  II.  und 
Heinrich’s  VII.  ist  F.  Philippi’s  »Zur  Geschichte  der  Reichs¬ 
kanzlei  unter  den  letzten  Staufen«  (München  1885)  benutzt 
worden. 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


249 


trägt  es  auf  sämtlichen,  uns  bekannten  Porträts.  Kurz 
geschorenes  Haar  war  ein  Zeichen  der  Unfreiheit, 
der  Dienstbarkeit.  Die  Statue  von  Acerenza  »hat 
kurzes  Haar  und  kurzen  Bart«. 

Die  Münzen  und  Siegel,  die  um  1240  angefertigte 
Statue  von  Kapua  (siehe  unten),  der  von  Ed.  Winkel¬ 
mann  aus  guten  Gründen  in  das  Jahr  1248  gesetzte 
Siegelstempel  stellen  Friedrich  II.  bartlos  dar.  Schon 
aus  diesem  Grunde  fällt  es  uns  schwer  zu  glauben, 
er  habe  jemals  Schnurr-  und  Kinnbart  getragen,  ln 
den  höheren  Ständen  Deutschlands  und  Italiens  war 
zu  seiner  Zeit  Bartlosigkeit  die  Regel.  Delbrück’s 
Annahme,  man  habe  am  Hofe  Friedrich’s  Vollbart 
getragen,  könnte  erst  dann  durch  die  vermeintlichen 
Büsten  Peter’s  von  Vinea  und  Taddeus’  von  Suessa 
gestützt  werden,  wenn  deren  staufische  Herkunft  vorher 
einwandfrei  bewiesen  wäre.  Solange  dies  nicht  ge¬ 
schieht  —  und  damit  hat  es  noch  gute  Wege  — , 
müssen  wir  uns  für  einen  bärtigen  und  kurzgeschorenen 
Friedrich  II.  bedanken.  — 


Abb.  2.  Au gii Stalen  Friedrichs  II. 


Als  schwerstes  Geschütz  führt  Delbrück  eine  weit¬ 
gehende  »physiognomischeÜbereinstimmung  der  Köpfe 
auf  den  individueller  gehaltenen  Augustalen  und  des 
Profilbildnisses  der  Büste  von  Acerenza«  ins  Feld.  Bei 
der  Vergleichung  von  Profilbildnissen  ist  die  Haupt¬ 
sache  das  Profil  selbst.  Die  Augustalen  Friedrich’s  11. 
mögen  auf  Ähnlichkeit  mit  den  Gesichtszügen  des 
Kaisers  hingearbeitet  sein.  Wie  wenig  sie  in  dieser 
Hinsicht  erreicht  haben,  zeigt  uns  ein  Vergleich  der 
einzelnen  Typen  (Abb.  2),  die  unter  sich  die  grössten 
Verschiedenheiten  aufweisen.  Kein  Profil  gleicht  ganz 
dem  anderen.  Nur  in  einem  stimmen  sie  gegen  die 
angebliche  Kaiserbüste  von  Acerenza  überein.  Zeigt 
uns  diese  »eine  kurze,  leicht  gebogene  Nase«,  so 
weisen  die  Köpfe  auf  den  Augustalen  lange  Nasen 
auf,  von  denen  einige  gerade,  andere  eingedrückt, 
keine  aber  stumpf  und  gebogen  sind.  Damit  stimmt 
die  Gemme  Friedrich’s  von  Raumer  (s.  Abb.  5), 
damit  stimmen  die  Siegelbilder  Friedrich’s  11.  (s.  Abb. 
7,  8,  9).  Einzelne  Einzelheiten  einzelner  Augustalen 
—  ich  finde  ausser  dem  Lorbcerkranz  keine  —  mögen 
mit  einzelnen  Zügen  des  Standbildes  von  Acerenza 
stimmen:  ausschlaggebend  ist  die  Abweichung  im 
Profil.  Sie  allein  reicht  aus,  um  die  Unmöglichkeit 
der  Hypothese  Delbrück’s  darziithun,  dass  uns  in 
dem  Standbild  von  Acerenza  eine  Porträtbüste  Fried¬ 
rich’s  11.  von  Hohenstaufen  gegeben  sei. 

Auf  eine  Datierung  und  Deutung  des  Standbildes, 
auf  eine  Zuweisung  zu  einer  bestimmten  Epoche  der 
antiken,  spätantiken,  frühchristlichen  oder  einer  noch 
späteren  Kunst  lasse  ich  mich  hier  nicht  ein.  Ich 
bin  aber  fest  überzeugt,  dass  Fachleute  in  diesen 


Punkten  über  die  Ergeb¬ 
nisse  Delbrück’s  hinaus¬ 
kommen  und  sie,  unter 
Heranziehung  eines  umfang¬ 
reicheren  Vergleichsmate¬ 
rials,  berichtigen  werden. 

* 

sfs 

Delbrück’s  Aufsatz  hat 
merklich  unter  der  Un¬ 
kenntnis  der  bereits  bekann¬ 
ten  oder  wenigstens  leicht 
zugänglichen  Porträts  Kaiser 
Friedrich’s  gelitten.  So 
handelt  er  nur  ganz  bei¬ 
läufig  und  unzulänglich 
über  eine  unserer  wichtig¬ 
sten  Quellen,  die  königlichen 
und  kaiserlichen  Siegel  und 
Bullen.  Dabei  giebt  das 
einzige  von  ihm  reprodu¬ 
zierte  und  besprochene  die 
Züge  des  Kaisers  ganz  un-  ^bb.  3.  Relief  vom 
klar  und  verschwommen  Karlsschrein  in  Aachen 
wieder. 

Klein,  zierlich  und  schmächtig,  mit  schmalem 
Gesicht,  mächtiger,  breiter  Stirne,  mit  langer,  gerader 
schmaler  Nase,  mit  etwas  vorstehenden  Lippen  und 
kräftigem,  ausdrucksvollem  Kinn  stellt  uns  das  Hoch¬ 
relief  am  Karlsschrein  im  Münster  zu  Aachen,  (Abb.  3) 
jenes  Wunderwerk  der  Goldschmiedekunst,  den  jugend¬ 
lichen  Friedrich  II.  dar.  Am  27.  Juli  1215  hat  dieser 
selbst,  dem  sich  erst  drei  Tage  vorher  zum  erstenmal 
die  Thore  der  alten  Kaiserstadt  geöffnet  hatten,  die 
Gebeine  Karl’s  des  Grossen  im  Karlsschrein  betten 
und  diesen  einschliessen  helfen.  Das  Bildnis  ist  erst 
später  in  die  Nische  eingefügt  worden.  Der  Künstler, 
ein  Aachener  Goldschmied,  dem  Friedrich  selbst  ge¬ 
sessen  haben  wird,  hat  seine  Aufgabe  in  ganz  her¬ 
vorragender  Weise  gelöst.  Wie  ein  Vergleich  mit 
den  übrigen  Porträts  aus  Friedrich’s  Jugendzeit,  den 
beiden  Königssiegeln,  von  denen  das  jüngere  (Abb.  8) 
möglicherweise  in  Aachen  und  von  demselben  Gold¬ 
schmied  gestochen  ist,  und  dem  grossen  Oppenheimer 
Stadtsiegel  (Abb.  1  und  13),  aber  auch  mit  der 
Kapuaner  Statue  (Abb.  4)  und  der  Raumer’schen 
Gemme  beweist,  ist  es  ihm  gelungen,  den  grossen 
Staufer  so  lebendig  als  ähnlich  darzustellen. 

Ein  weiteres,  gutes  Porträt  des  Kaisers  bringt 
die  vatikanische  Handschrift  von  Friedrich’s  11.  Buch 
über  die  Falkenjagd^).  Gezeichnet  hat  es  ein  Italiener, 
der,  mag  er  nun  nach  der  Natur  oder  nach  einer 
Vorlage  gearbeitet  haben,  zweifellos  Porträtähnlichkeit 
angestrebt  hat.  Als  Vorbild  für  Sitz  und  Haltung 
des  mit  der  Laubkrone  gekrönten  thronenden  Herr¬ 
schers  könnte  eins  der  noch  zu  besprechenden  Maje- 

1)  Aus  dem  Cod.  Vaticaii.  Pal.  lat.  1071  abgebildet 
bei  St.  Beissel,  Vatikanische  Miniaturen  (Freiburg  i.  Br., 
1893),  Tafel  XX,  B.  Das  ebenfalls  von  Beissel,  Tafel  XIX, 
B,  gebrachte  bärtige  Kaiserbild  stellt  nicht  Friedrich  11., 
sondern  Friedrich  Barbarossa  dar. 


32 


250 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  11.  VON  HOHENSTAUFEN 


stätssiegel  gedient  haben,  dem  der  Künstler  auch  die 
individuellen  Züge:  kleine,  schmächtige  Figur,  schmales 
Gesicht,  langes  Haar,  niedere  Stirn,  tiefliegende  grosse 
Augen,  lange  schmale  und  gerade  Nase,  lange  Ober¬ 
lippe  und  langes  Kinn  entlehnt  haben  mag. 


Unterschätzt  hat  Delbrück  auch  die  Raumer’sche 
Gemme.  Die  Geschichte  ihrer  Entstehung  und  die 
der  kapuanischen  Kaiserstatue  lehrt  es  uns. 

Um  1240^)  baute  Friedrich  11.  zu  Kapua  ein 
Brückenkastell  und  schmückte  es  mit  seiner  über¬ 
lebensgrossen  Statue,  die  1557  mit  dem  Kastell  de¬ 
moliert  wurde.  1584  restauriert,  1585  wieder  auf¬ 
gestellt,  wurde  sie  später  von  Murat’s  Soldaten  zer¬ 
schlagen.  Ein  des  Kopfes  und  der  Glieder  beraubter 
Torso  ist  uns  geblieben. 


Abb.  4.  Statue  Fried  rieh’ s  II. 
vom  Briiekenthore  zu  Kapua 
(ca.  1240) 


Abb.  5.  Sogenannte 
Raumer’ sehe  Gemme 


Abb.  6.  Der  nach  der 
Raumer’schen  Gemme 
gezeichnete  Idealkopf 
Friedrich’ s  II. 


Glücklicherweise  hat  Agincourt-)  die  Statue  vor 
ihrer  Zerstümmelung  abzeichnen  lassen,  hat  P.  Fr. 
Daniele  einen  Gipsabguss  von  ihr  genommen.  Leider 
ist  dieser  Abguss,  ebenso  wie  eine  nach  ihm  ge¬ 
schnittene  Gemme  verschollen.  Doch  besitzen  wir 
letztere  noch  in  dem  Bild,  das  A.  Huillard-Breholles’^) 
nach  einem  ihm  von  dem  letzten  Besitzer,  dem  Ge¬ 
schichtschreiber  der  Hohenstaufen,  F.  von  Raumer, 
überlassenen  Gipsabdruck  hat  hersteilen  lassen. 

Agincourt’s  Abbildung  (Abb.  4)  ist  offenbar  aus 
grösserer  Entfernung  aufgenommen.  Gewandung  und 
Faltenwurf  sind  so  falsch  gesehen  und  unbeholfen 
und  antikisierend  gezeichnet  worden.  Der  Mantel 
des  Kaisers  ist  nicht,  wie  man  annimmt,  der  römische, 
sondern  —  man  vergleiche  die  Siegel!  —  der  bis 
ins  13.  Jahrhundert  übliche,  über  die  linke  Schulter 

1)  Vergl.  C.  v.  Fabriczy  a.  a.  O.  S.  214/15. 

2)  J.  B.  L.  G.  Seroux  d’Agincourt,  Hist,  de  l’art  par 
les  monunients,  T.  11  (Paris  1823),  pl.  56;  vergl.  p.  23. 

3)  Hist,  diplomat.  Frid.  11.,  Einleitungsband,  Titelblatt. 


geworfene,  auf  der  rechten  Schulter  (s.  Abb.  1)  oder 
vor  der  Brust  (s.  Abb.  7,  8,  g,  10,  16)  durch  eine 
Schliesse  zusammengehaltene  mittelalterliche,  staufische. 
Auch  das  um  die  Hüften  gegürtete,  am  Halse  zackig 
ausgeschnittene  Unterkleid  mit  halblangen  weiten 
Hängeärmeln  ist  staufisch.  Friedrich  trägt  es  auf 
dem  deutschen  Kaisersiegel  von  1220  (Abb.  g)  und 
auf  dem  Siegel  von  1248  (Abb.  10).  Sitz  und  Haltung 
der  Statue  führt  man  auf  antike  Kaiserstatuen  zurück. 
Sie  scheinen  mir  eher  einem  staufischen  Siegel  (vergl. 
Abb.  7,  8,  g,  10)  nachgebildet,  so  dass  weniger  Be¬ 
rührungspunkte  zwischen  ihr  und  der  Antike  ver¬ 
bleiben,  als  man  seither  behauptet  hat. 

Die  Abbildung  der  verstümmelten  Statue  bei 
Agincourt,  so  schwach  sie  ist,  lässt  noch  die  stolze, 
vornehme  Haltung  des  Kaisers  erkennen,  von  der 
ältere  Beschreibungen  reden.  Hoch  aufgerichtet  sitzt 
er  da.  Noch  deuten  uns  die  Stummel  der  Arme  die 
herrische,  drohende  Gebärde  an,  mit  der  er  »extensis 
brachiis  duobusque  digitis«  ehemals  vor  sich  hin  wies, 
als  ob  er  einen  keinen  Widerspruch  duldenden  Be¬ 
fehl  aussprechen  wollte').  Die  mittelgrosse  Figur,  der 
schmächtige  Wuchs,  das  schmale  Oval  des  Gesichts, 
die  langen,  in  die  Stirn  fallenden  Haare,  die  tiefliegen¬ 
den  grossen  Augen,  die  gerade  Nase,  den  kräftigen 
Hals  finden  wir  auch  auf  anderen  Porträts  Friedrich’s  11. 
wieder. 

Unsere  Abbildung  der  Gemme  ist  durch  die 
Medien  der  Gipsabgüsse  Daniele’s  und  Raumer’s, 
den  Gemmenschnitt  und  Kupferstich  gegangen. 
Trotzdem  ist  sie  in  Einzelheiten,  im  Profil,  in  der 
Form  der  Augen,  der  langen,  geraden  Nase,  des 
Mundes,  des  energischen  Kinns  und  des  langen 
fleischigen  Halses,  zuverlässig.  Die  Krone  sitzt  tiefer 
als  auf  Agincourt’s  Zeichnung  in  der  niederen  Stirn, 
die  Augenbrauen  sind  flacher  geschwungen:  hierin 
können  wir  die  flüchtige  Zeichnung  der  Statue  aus 
der  Gemme  berichtigen.  Beide  zusammen  geben  uns 
aber,  den  offenbaren  Mängeln  der  Reproduktionen 
zum  Trotz,  einen  ziemlich  genauen  Begriff  davon, 
wie  Friedrich  II.  im  kräftigsten  Mannesalter  (ca.  1240) 
ausgesehen  hat.  Man  vergleiche  sie  nur  einmal  mit 
dem  sizilianischen  Siegelstempel  von  1248  (Abb.  10)! 

Eine  ungenaue,  irreführende  Vergrösserung  des 
Gemmenkopfes  hat  Raumer  dem  dritten  Bande  seiner 
Hohenstaufen“)  beigegeben.  Nase,  Mund  und  Kinn 
sind  verzeichnet.  Die  Krone  ist  weiter  aus  der  Stirn 
gerückt,  das  schmale  Oval  des  Gesichts  ist  gerundet, 
und  so  die  Ähnlichkeit  mit  den  übrigen  Porträts  auf 
ein  weniges  zusammengeschrumpft.  Fast  scheint  es, 
als  ob  der  Zeichner  von  1824  die  Züge  Friedrich’s 
absichtlich  denen  Napoleon’s  I.  angenähert  hätte, 
jedenfalls  aber  trägt  das  falsch  idealisierte  Bild  bei 
Raumer  für  unsere  Untersuchung  nichts  aus. 

Für  ein  Porträt  Friedrich’s  II.  gilt  ferner  ein 
Medaillon  am  Portal  der  Kirche  della  porta  santa  zu 
Andria,  dessen  bärtiges  Gegenstück  König  Manfred 

1)  Vergl.  Andreae  Ungari  descriptio  victoriae  a  Karolo 
com.  reportatae,  M.  G.  S.  S.  XXVI,  571. 

2)  Friedrich  von  Raumer,  Gesch.  der  Hohenstaufen. 
Bd.  III,  265. 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRlEDRiCH’S  11.  VON  HOHENSTAUFEN 


251 


Abb.  7.  Deutsches  Königssiegel  Friedrich’s  II.  von  1212 
natürlicher  Grösse,  Original  in  Darmstadt) 

darstellen  solU).  Die  Kirche  ist  1253  bis  1265  er¬ 
baut  worden.  Da  der  angebliche  Manfred  gleich 
seinem  vermeintlichen  Vater  den  kaiserlichen  Lorbeer 
trägt,  so  müssten  die  Medaillons,  wenn  sie  noch  aus 
der  Bauzeit  der  Kirche  stammten,  zwischen  1258, 
dem  Jahre  der  Krönung  Manfred’s,  und  1265,  dem 
Jahre  der  Kirchweihe,  entstanden  sein. 

Nun  ist  aber  das  Portal,  zu  dem  die  Medaillons 
gehören,  ein  Werk  der  Frührenaissance.  Huillard- 
Breholles  vermutet  daher,  die  Stadt  Andria,  deren  An¬ 
hänglichkeit  an  die  Staufer  sprichwörtlich  war,  hätte, 
als  sie  das  Kirchenporta!  im  i  5.  Jahrhundert  erneuerte, 
die  Medaillons,  sowie  die  unter  ihnen  angebrachten 
Wappen  mit  dem  »schwäbischen  Löwen«  vom  alten 
auf  das  neue  Portal  übertragen  oder  kopieren  lassen. 

Das  älteste  mir  bekannte  Wappenbild  des  Herzog¬ 
tums  Schwaben  stellt  nicht  den  Löwen,  sondern  drei 
Leoparden  dar.  Trügt  das  Bild  in  dem  Kupferwerk 
des  Herzogs  von  Luynes  nicht  allzu  sehr,  dann  tragen 
die  Köpfe  genau  denselben  Charakter  wie  das  Portal 
selbst:  den  der  Frührenaissance.  Der  angebliche 
König  Manfred  hat  keine  Ähnlichkeit  mit  dem  bart¬ 
losen  Manfred  der  sizilischen  Siegel.  Der  bartlose 
Kopf  des  anderen  Medaillons  erinnert  in  einigen 
Zügen  an  den  Friedrich  11.  einzelner  Augustalen. 
Nach  einem  Augustalis  wird  in  der  That  der  Kopf, 
wenn  er  wirklich  den  Kaiser  darstellen  soll,  einerlei, 
ob  er  in  der  Stauferzeit  oder  im  15.  Jahrhundert 
entstanden  ist,  gebildet  sein.  Andere  Züge  passen 
aber  ganz  und  gar  nicht  zu  dem  Bilde  des  Kaisers, 
wie  wir  es  aus  anderer  Quelle,  auch  aus  den  Augustalen, 
kennen.  Stellt  das  Medaillon  von  Andria  in  der  That, 

1)  Abgebildet  bei  Duc  de  Luynes,  Recherches  sur  les 
monuments  et  l’histoire  des  Normands  et  de  la  maison 
de  Souabe  (Paris  1844),  pl.  29,  Text  (von  A.  Huillard- 
Breholles)  p.  114,  116.  Vergl.  H.  W.  Schulz,  Denkmäler 
der  Kunst  Unteritaliens  I,  150. 


was  nicht  ausser  dem  Bereich  jeder  Möglichkeit  liegt, 
Friedrich  II.  dar,  dann  stellt  es  ihn  ungenau  und  un¬ 
ähnlich  dar.  Ein  sicheres  Urteil  wird  man  freilich 
erst  dann  fällen  können,  wenn  ein  gutes  modernes 
Bild  vorliegt.  Kupferstiche  aus  dem  Anfang  des 
vorigen  Jahrhunderts  führen  uns,  wie  die  Erfahrung 
lehrt,  oft  irre. 

Unsere  beste  Quelle  stellen  die  Siegel  dar.  Wir 
können  hier  nicht  alle  Siegel  Kaiser  Friedrich’s  11. 
besprechen:  sie  taugen  auch  nicht  alle  für  unsere 
Zwecke.  Die  zwei  ältesten  Siegel,  das  älteste  sizi- 
lische  und  das  deutsche  Elektensiegel,  haben  ein  so 
kleines  Format,  dass  die  Gesichtszüge  verschwimmen 
und  selbst  durch  Vergrösserung  nichts  gewinnen. 
Die  Goldbullen  sind  entweder  Nachbildungen  der 
Königs-  oder  Kaisersiegel  oder  so  undeutlich  oder 
auch  so  schwer  erreichbar,  dass  ich  von  ihrem  Heran¬ 
ziehen  Abstand  nehmen  musste.  Meine  Besprechung 
beschränkt  sich  so  auf  die  Hauptsiegel:  die  Königs¬ 
siegel  von  1212  und  1215  und  das  Kaisersiegel  von 
1220,  dem  das  zweite  sizilische  Königssiegel  und 
Winkelmann’s  Siegelstempel  (Abb.  10)  nachgebildet 
sind. 

Das  Siegel  von  1212  wird  in  Süddeutschland 
zur  ersten  Krönung  Friedrich’s,  etwa  in  Mainz  oder 
Frankfurt  a.  M.,  geschnitten  sein.  Es  lehnt  sich  stark 
an  das  Siegel  Philipp’s  von  Schwaben  an,  das  mög¬ 
licherweise  aus  derselben  Werkstatt  stammt.  Der 
damals  achtzehnjährige  König  ist  von  mittelgrosser, 
schmächtiger  Gestalt.  Nur  den  Kopf  hat  der  Stempel¬ 
schneider,  allerdings  mit  geringem  Können,  zu  indi¬ 
vidualisieren  gesucht.  Die  Ähnlichkeit  des  Siegel¬ 
bildes  mit  dem  Dargestellten  kann  nur  gering  gewesen 
sein.  Immerhin  finden  wir  die  Form  des  Gesichts, 
die  niedere  Stirn,  die  kräftigen  flach  geschwungenen 
Brauen,  das  grosse,  runde  Auge,  den  kleinen  Mund 
auch  anderwärts  wieder.  Eine  gewisse  Verwandtschaft 
mit  dem  Königskopf  auf  dem  grossen  Oppenheimer 
Stadtsiegel  (Abb.  1  und  13)  ist  nicht  zu  verkennen. 

Ein  Kunstwerk  ersten  Ranges  ist  das  zweite  Königs¬ 
siegel,  das  Friedrich  nach  der  zweiten  Krönung  — 
sie  erfolgte  am  26.  Juli  1215  zu  Aachen  —  in  Ge¬ 
brauch  nahm.  Philippi  vermutet,  es  sei  zu  Köln 
oder  Aachen  geschnitten  worden:  »Die  Buchstaben¬ 
formen  deuten  dagegen  auf  sizilianischen  Einfluss.« 

In  der  Krönungsstadt  Aachen  stand  zur  Zeit 
Friedrich’s  die  Goldschmiedekunst  in  hoher  Blüte. 
Es  ist  wohl  kaum  daran  zu  zweifeln,  dass  der  grössere 
Teil  der  herrlichen  Goldschmiedearbeiten  im  Aachener 
Domschatz  in  Aachen  selbst  entstanden  ist.  Auch 
Lüttich  hat  hervorragende  Meister  des  Kunstgewerbes 
besessen.  In  Aachen  (oder  Lüttich?)  hat  seiner  Zeit 
Abt  Wibald  von  Stablo  das  künstlerisch  bedeutende 
Siegel  Friedrich  Barbarossa’s  schneiden  lassen^).  Ge¬ 
legenheit  zur  Anfertigung  eines  guten  Siegelstempels 
gab  es  also  in  und  um  Aachen  1215  gewiss.  Äuf- 
gabe  des  Kunsthistorikers  wäre  es  jetzt,  durch  Vergleich 
unseres  Siegels  mit  den  Aachener  Goldschmiede-  und 


1)  Vgl.  den  darüber  geführten  Briefwechsel,  Ph.  Jaffe, 
Monum.  Corbeiensia,  nr.  376,  377,  456. 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


-O“ 


Abb.  8.  Deutsches  Königssiegel  Friedrich’s  II.  von  121^ 
natürlicher  Grösse,  Original  in  Dannstadt) 


Bildhaiierarbeiten,  mit  den  kunstgewerblichen  und 
plastischen  Erzeugnissen  am  Niederrhein,  in  Lüttich, 
Brabant  und  Flandern,  mit  den  Skulpturen  der  Fran¬ 
zosen  die  Heimat  des  Meisters  zu  ermitteln. 

Man  verweist  mich  von  befreundeter  Seite  auf 
allerdings  auffällige  Berührungspunkte  in  der  Auf¬ 
fassung  und  Technik  unseres  Siegelbildes  mit  der 
italienischen  Plastik  der  staufischen  und  nachstaufischen 
Zeit,  unter  anderen  auch  auf  Arbeiten  der  Pisani  und 
ihres  Kreises.  Dass  die  Aachener  und  etwa  noch 
die  Lütticher  Kunst  von  Italien  aus  beeinflusst  wurde,  ist 


Abb.  g.  Deutsches  Kaisersiegel  Friedrich’s  II.  von  1220 
(■^1^  natürlicher  Grösse,  Original  in  Hannover) 


möglich,  ja  wahrscheinlich.  Auch  die  sizilianischen 
Buchstabenformen  der  Umschrift  geben  zu  denken. 
War  ein  italienischer  Goldschmied  im  Gefolge  Fried¬ 
rich’s  in  Deutschland?  Oder  ist  der  Stempel  auf  Be¬ 
stellung  in  Italien,  etwa  in  dem  befreundeten  Pisa, 
geschnitten  und  über  die  Alpen  eingeführt  worden? 
Wir  wagen  die  Antwort  nicht. 

Eins  steht  fest:  wir  haben  es  mit  einem  vorzüg¬ 
lichen  Stück,  für  das  wir,  mit  Ausnahme  des  grossen 
Oppenheimer  Stadtsiegels,  in  dem  damaligen  Deutsch¬ 
land  vergebens  nach  einem  Gegenstück  suchen,  und 
mit  einem  guten  Porträt  Friedrich’s  II.  zu  thun.  Es 
ist  mir  sogar  wahrscheinlich,  dass  der  damals  ein¬ 
undzwanzigjährige  König  dem  Künstler  gesessen  hat, 
oder  dass  dieser  wenigstens  seinen  Herrn  persönlich 
gut  gekannt  hat.  Ich  verzichte  darauf,  das  Porträt 
im  einzelnen  durchzusprechen  und  begnüge  mich 
damit,  die  weitgehende  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Kopfe 
unseres  und  dem  des  Kaisersiegels  (Abb.  8),  dann  aber 
auch  die  etwas  weniger  augenfällige,  aber  doch 
unleugbare  zwischen  diesen  beiden  und  dem  Königs¬ 
kopfe  des  Oppenheimer  Stadtsiegels  von  1225/26 
(Abb.  1  und  13)  und  dem  der  oben  besprochenen 
Kapuaner  Kaiserstatue  (Abb.  4)  und  vor  allem  dem 
Relief  auf  dem  Karlsschrein  (Abb.  3)  hervorzuheben’). 

Das  deutsche  Kaisersiegel  ist  von  Friedrich  11. 
seit  seiner  am  22.  Oktober  1220  zu  Rom  erfolgten 
Kaiserkrönung  bis  in  die  Zeit  seines  Todes  geführt 
worden.  Stempelbild  und  Umschrift  bleiben,  abge¬ 
sehen  von  dem  Zusatz  »et  rex  Jerusalem«  im  Siegel¬ 
felde  seit  1225,  immer  dieselben,  nur  die  Grösse  der 
Stempel  wechselt.  Nach  dem  deutschen  Kaisersiegel 
sind  ferner  auch  Friedrich’s  jüngere  sizilische  Königs¬ 
siegel  geschnitten,  von  denen  das  jüngste  (?),  von 
Delbrück  abgebildete,  des  Vergleiches  halber  hier 
wiederholt  sei  (Abb.  10). 


1)  Für  die  Überlassung  einer  grösseren  Anzahl  be¬ 
siegelter  Urkunden  Friedricli’s  II.,  deren  ich  zum  Vergleiche 
mit  den  in  unserem,  dem  Darmstädter  Archiv,  befindlichen 
bedurfte,  bin  ich  den  Archiven  zu  Frankfurt  a.  M.,  Han¬ 
nover  und  Karlsruhe  zu  Dank  verpflichtet. 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


253 


Philipp!  nimmt  an, 
das  deutsche  Siegel  sei 
wohl  auch  »am  Nieder¬ 
rhein  gefertigt  und  über 
die  Alpen  geführt«  wor¬ 
den,  während  er  die  sizi- 
lischen  Nachbildungen 
nach  Italien  verweist.  Nun 
ist  aber  die  Arbeit  des 
jüngeren  Königssiegels 
(Abb.  8)  viel  feiner,  freier, 
charakteristischer  als  die 
des  Kaisersiegels.  Dies 
spricht  mir  dafür,  dass  sie 
in  verschiedenen  Werk¬ 
stätten  und  Orten  geschnit¬ 
ten  sind.  Ob  dieses  am 
Niederrhein,  jenes  in  Italien 
entstand  oder  umgekehrt,  ist  ohne  ein  grosses  Ver¬ 
gleichsmaterial  nicht  zu  entscheiden.  Für  die  zweite 
Annahme  spricht,  dass  das  Kaisersiegel  zuerst  in  Italien 
nach  der  Kaiserkrönung  Friedrich’s  in  Gebrauch  ge¬ 
nommen  ist.  Wir  lassen  heute  notgedrungen  die 
Frage  nach  der  Herkunft  beider  Stücke,  die  der 
Kunst  beider  Länder,  Italiens  wie  Deutschlands,  zur 
Ehre  gereichen  würden,  in  der  Schwebe. 

Die  beiden  sitzenden  Herrscherfiguren  auf  den 
Siegeln  von  1215  und  1220  sind  zweifellos  als  Por¬ 
träts  gedacht,  die  Köpfe  als  Porträtköpfe.  Soweit 
dies  überhaupt  bei  den  winzigen  Maassen  der  Siegel¬ 
bilder  zu  erreichen  war,  wird  bei  beiden,  dafür 
sprechen  die  Übereinstimmungen  in  den  Zügen,  eine 
gewisse  Porträtähnlichkeit  erreicht  sein.  Ich  halte  es 
sogar  für  nicht  ausgeschlossen,  dass  Friedrich  für 
beide  den  Künstlern  gesessen 
hat.  Dass  beide  Siegelbilder  die¬ 
selbe  Person  darstellen,  wird 
schon  dem  flüchtigen  Beschauer 
auffallen.  Nur  ist  der  Kopf  des 
älteren  Siegels  strenger,  regel¬ 
mässiger  und  dadurch  charakteri¬ 
stischer,  der  des  jüngeren  weicher, 
runder,  verschwommener  ausge¬ 
fallen. 

*  * 

Feiner  und  schärfer,  freier  und 
lebendiger  als  auf  den  eben  be¬ 
sprochenen,  künstlerisch  hervor¬ 
ragenden  Siegeln  ist  ein  dritter 
Porträtkopf  Friedrich’s  II.  ge¬ 
raten.  Wir  finden  ihn  auf  dem 
grossen  Oppenheimer  Stadtsiegel 
von  1225/26  (Abb.  1  und  ver- 
grössert  Abb.  13).  Bei  ihm,  der 
bisher  noch  nicht  beachtet  wurde, 
verweilen  wir  etwas  länger.  Be¬ 
vor  wir  ihn  unter  die  von  uns 
beleuchteten  Porträts  des  Kaisers 
einreihen  können,  müssen  wir  uns 
erst  über  sein  Alter  vergewissern. 


Mit  dieser  Frage  hängt 
eine  zweite  Frage  aufs 
engste  zusammen,  die 
nach  der  Identität  des 
auf  dem  Siegel  dargestell¬ 
ten  mit  Kaiser  Fried¬ 
rich  II. 

Die  Zeit  der  Anferti¬ 
gung  des  Siegelstempels 
lässt  sich  annähernd  be¬ 
stimmen.  Der  älteste,  bis¬ 
her  bekannt  gewordene 
Abdruck  hängt  an  einer 
Urkunde  des  Klosters 
Erbach  im  Wiesbadener 
Staatsarchiv.  Er  stammt 
aus  dem  Jahre  122g. 

Schultheiss  Herbord  von 
Oppenheim  bezeugt  darin  dem  Abt  und  Konvent 
des  berühmten  Rheingauer  Klosters,  dass  sie  dem 
Befehl  Kaiser  Friedrich’s  II.  und  König  Heinrich’s  (VII.) 
willig  Folge  geleistet  und  auf  ihre  Kosten  den  ihnen 
angewiesenen  Teil  des  Grabens  und  der  Mauern  der 
Stadt  Oppenheim  gebaut  haben.  Zum  Lohne  dafür 
verleiht  der  Schultheiss,  der  die  Urkunde  mit  dem 
städtischen  Siegel  bekräftigt,  den  frommen  Mönchen 
Steuer-  und  Zollvergünstigungen  für  ihre  Höfe  in 
der  Stadt. 

ln  einer  zweiten  Erbacher  Urkunde  vom  Jahre 
1226  wird  die  »neue«  Stadt  Oppenheim  zum  ersten¬ 
mal  erwähnt.  Da  der  Aussteller,  wiederum  der  erste 
Reichsschultheiss  Herbord,  in  einer  in  der  gleichen 
Angelegenheit  ergangenen  dritten  Urkunde  vom  Mai 
1226  noch  nicht  den  Amtstitel  führt,  wird  jene  erste 
Erwähnung  der  neuen  Stadt  erst 
nach  Mai  1226  erfolgt  sein.  Wie 
in  der  Urkunde  von  1229  haben 
auch  hier  der  Schultheiss  und  die 
Gemeinschaft  der  Bürger  von 
Oppenheim  gesiegelt.  Leider  ist  das 
Siegel  abgerissen  und  verloren. 

Oppenheim  war  damals  erst 
kürzlich  zur  Stadt  erhoben  wor¬ 
den.  Als  Kaiser  Friedrich  im 
Juni  1226  zu  Borgo  S.  Donino 
ihre  Freiheiten  verbriefte,  hatten 
die  Bürger  erst  mit  der  Befesti¬ 
gung  ihrer  Stadt  begonnen.  Mit 
den  Freiheiten  wurde  ihnen  des¬ 
halb  zugleich  die  neue  Stadtgrenze, 
die  sogenannte  Bannmeile,  bestä¬ 
tigt,  so  wie  sie  von  dem  neulich 
verstorbenen  Erzbischof  Engel¬ 
bert  von  Köln  gezogen  worden 
sei.  Engelbert  hatte  seit  1220 
als  Vormund  König  Heinrich’s 
und  als  Reichsverweser  geschaltet. 
Am  7.  November  1 225  war  er  von 
dem  Grafen  Friedrich  von  Altena- 
Isenburg  schmählich  ermordet 
worden. 


Abb.  13.  Kopf  vom  grossen  Oppen¬ 
heimer  Stadtsiegel  von  1223I26 
(Vergrösssert) 


Abb.  12.  Kopf  vom 
Königssiegel  von  1213 
(Vergrössert) 


254 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  II.  VON  HOHENSTAUFEN 


Da  wir  annehmen 
müssen,  dass  der  122g 
vollendete  Mauerbaii  so¬ 
fort  nach  der  Feststel- 
lungder  Bannmeile  durch 
Erzbischof  Engelbert 
unternommen  wurde, 
da  die  neugebackenen 
Reichsstädter  ihre  Ge¬ 
sandten  sicherlich  so 
bald  als  möglich  an  den 
in  Italien  weilenden  Kai¬ 
ser  abgefertigt  und  die 
Bestätigung  ihres  Grün¬ 
dungsbriefes  nachgesucht 
haben,  werden  wir  die 
durch  das  Abstecken  der 
Bannmeile  versinnbild¬ 
lichte  Gründung  Oppenheims  und  die  Verbriefung 
dieser  Thatsache  durch  den  Stellvertreter  Friedrich’s  11. 
in  deutschen  Landen,  König  Heinrich  (VII.),  getrost 
in  die  letzte  Zeit  Erzbischof  Engelbert’s  setzen  dürfen. 

Am  28.  August  1225  weilt  König  Heinrich  in 
der  Kaiserpfalz  zu  Ingelheim.  Anfang  September 
hält  er  einen  Hoftag  zu  Worms  ab.  Engelbert  von 
Köln  ist,  nach  Ausweis  der  Königsurkunden  vom 
4.  und  7.  September,  damals  im  Gefolge  HeinriclTs 
gewesen.  Auf  der  Reise  von  Ingelheim  nach  Worms 
hat  der  Hof  aller  Voraussicht  nach  Oppenheim  berührt. 
Der  feierliche  Akt  der  Feststellung  der  Bannmeile  mag 
denn  um  den  1.  September  1 225  stattgefunden  haben. 
In  den  Monaten  vom  1.  September  1225  bis  zur  Aus¬ 
stellung  der  jüngeren  Urkunde  Herbord’svomjahre  1 226 
(nach  Mai  1226)  müsste  deshalb  der  älteste  Siegel¬ 
stempel  der  jungen  Stadt  gestochen  worden  sein. 

Wen  stellt  das  Siegelbild  dar?  König  Heinrich  (VII.)? 
Die  Form  der  Krone  kann  nicht  ausschlaggebend  sein. 
Vater  wie  Sohn  tragen  dieselbe  Laubkrone  mit  edel¬ 
steinbesetztem  Bügel.  Ein  Unterschied  zwischen 
Königs-  und  Kaiserkrone  hat  wenigstens  damals  noch 
nicht  bestanden. 

Heinrich  war  1225/26  ein  Knabe  von  vierzehn 
bis  fünfzehn  Jahren.  Das  männlich-schöne  Siegelbild 
unseres  Oppenheimer  Siegels  kann  aber  unmöglich 
einen  halbwüchsigen  Knaben  darstellen  wollen.  Auf 
dem  Siegel,  mit  dem  Heinrich  seit  1220  siegelt  und 
dessen  er  sich  auch  noch  in  den  nächsten  Jahren 
bedient,  zeigt  er  uns  ein  ausgeprägtes  Kindergesicht. 
HeinriclTs  Stempelsclmeider  hat  eine  ganz  hervor¬ 
ragende  Arbeit  geleistet.  Es  unterliegt  wohl  keinem 
Zweifel,  dass  sein  Werk  den  damals  neunjährigen 
König  mit  voller  Porträtähnlichkeit  darstellt. 

Mit  unserem  Siegelbild  hat  dieser  Knabenkopf 
(siehe  Abb.  16  am  Schlüsse  S.  255)  so  wenig  etwas  zu 
schaffen,  wie  der  König  Heinrich  der  seit  1226  vor¬ 
kommenden  Krönungsbulle,  auf  der  er  mit  vollem 
Gesicht,  kräftiger,  etwas  breiter  Nase  und  rundem 
Kinn  abgebildet  ist. 

Heinrich  wird  nicht  einmal  in  dem  grossen  Stadt¬ 
privileg  Friedrich’s  von  1226  erwähnt.  Wie  sollten 
die  Oppenheimer  darauf  verfallen  sein,  ihn  auf  ihrem 


Siegel  darzustellen,  wie  darauf,  sich  dieses  Siegels 
auch  noch  nach  dem  jähen  Sturze  des  unglücklichen 
Kaisersohnes  weiter  zu  bedienen? 

Kein  Zweifel:  das  Siegelbild  des  grossen  Oppen¬ 
heimer  Stadtsiegels  stellt  niemanden  sonst  als  Fried¬ 
rich  11.  dar,  den  Hort  und  Quell  der  städtischen 
Freiheit  Oppenheims!  Wenn  nicht  durch  diese  Über¬ 
legungen,  so  würde  es  durch  einen  Vergleich  des 
Oppenheimer  Porträtkopfes  mit  den  anderen  Bildnissen 
Friedrich’s  einwandfrei  bewiesen. 

Das  Darmstädter  Staatsarchiv  besitzt  zehn  mehr 
oder  minder  beschädigte  Exemplare  des  Siegels.  Je 
nach  dem  Material,  ob  hartes  oder  weiches,  helles 
oder  dunkles  Wachs  oder  Maltha,  ist  der  Ausdruck 
verschieden.  Die  Photographien  können  das  Bild, 
das  aus  dem  Anschauen  und  Vergleichen  der  Abdrücke 
insgesamt  gewonnen  wird,  nur  annähernd  ersetzen. 
Aber  auch  aus  der  unvollkommenen  Wiedergabe  wird 
man  entnehmen,  dass  das  Siegel  das  Werk  eines 
Künstlers  ersten  Ranges  ist.  Kein  anderes  deutsches 
Siegel  der  Staufenzeit  reicht  auch  nur  annähernd  an 
die  Kunst  dieses  Bildners  heran.  Nebensachen,  wie 
die  Umrahmung  und  die  Gewandung,  hat  der  Siegel¬ 
stecher  nur  flüchtig  behandelt,  den  Kopf  aber  hat  er 
mit  bewundernswertem  Können  und  in  grossem  Stile 
herausgearbeitet.  Künstler  wie  Kunstwerk  sind  des 
Gegenstandes  wert,  den  sie  darstellen.  Sehen  wir 
uns  dieses  Werk  jetzt  einmal  etwas  näher  an  und  ver¬ 
gleichen  wir  es  mit  den  besseren  Porträts,  die  wir  von 
Friedrich  11.  besitzen! 

Auf  schlankem,  kräftigen  Halse,  der  aus  einem 
schmächtigen  Rumpfe  herauswächst,  ruht  der  be¬ 
deutende  Kopf.  Das  kräftige  Oval  des  bartlosen 
Gesichts  zeigt  normale  Verhältnisse,  ln  langen,  dichten 
und,  wie  auf  dem  Kaisersiegel,  gelocken  Strähnen 
fällt  das  Haar  herab.  Da  das  gemusterte  Kronen¬ 
häubchen  (pileus)  straff  gespannt  ist,  dürfen  wir  eine 
spitze  Kopfform  vermuten.  Die  Laubkrone  zeigt  ein¬ 
fache  Verhältnisse.  Ihre  Anhänger  (pendilia)  hängen 
fast  bis  auf  die  Schulter,  ihr  Reif  ist  tief  in  die 
niedere,  breite,  kräftig  ausladende  Stirne  gedrückt. 
Unter  den  mässig  gewölbten  und  gewulsteten  Brauen 
schauen  uns  grosse,  runde,  tiefliegende  Augen  an. 
Das  Gesicht  erscheint, 
im  Verhältnis  zur  Länge, 
schmäler  als  es  ist,  da 
die  Backenknochen  fast 
gar  nicht  hervortreten. 

Die  Wangen  sind  die 
eines  im  kräftigen  Man¬ 
nesalter  Stehenden,  voll, 
straff  und  fleischig.  Be¬ 
sonders  tief  herausge¬ 
arbeitet  ist  die  Partie  um 
Nase  und  Mund.  Im 
Verein  mit  der  Partie 
der  Augen  und  dem 
edelgeformten  energi¬ 
schen  Kinne  giebt  sie  Abb.  75.  Kopf  von  der 
dem  Antlitz  sein  cha-  Kopnaner  Koiserstatue  (ca. 
rakteristisches  Gepräge.  1240).  (Vergrössert) 


Abb.  14.  Kopf  vom 
Kaisersiegel  von  1220 
(Vergrössert) 


DAS  PORTRÄT  KAISER  FRIEDRICH’S  !I.  VON  HOHENSTAUFEN 


255 


Leider  sind  die  aus  der  Siegelfläche  höher  heraus¬ 
getriebenen  Teile,  der  untere  Teil  der  Nase,  die  lange, 
spitz  hervortretende  Oberlippe,  die  etwas  gewulstete 
Unterlippe  in  dem  weichen  Material  der  Siegel  mehr 
oder  minder  abgeplattet  und  zerstört,  doch  können 
wir  wenigstens  aus  den  Resten  schliessen,  dass  die 
Nase  lang,  kräftig  und  gerade  war,  in  einen  scharfen 
Rücken  spitz  auslief  und,  wenn  überhaupt,  nur  wenig 
eingesattelt  war. 

Was  sagt  uns  dieses  nicht  gewöhnliche  Gesicht? 
Entspricht  es  den  Vorstellungen,  die  wir  uns  über 
Kaiser  Friedrich  II.  zu  machen  gewöhnt  sind?  — 
Man  urteile  selbst! 

Wichtig  für  die  Frage,  ob  das  Bild  porträtähnlich 
ist  oder  nicht,  ist  die  Frage  seiner  Herkunft.  Ich 
bemerkte  schon,  dass  wir,  wie  zu  dem  herrlichen 
zweiten  Königssiegel  von  1215,  nach  einem  Gegenstück 
zu  unserem  Oppenheimer  Siegel  unter  den  anderen 
deutschen  Siegeln  jener  Zeit  vergebens  suchen.  Ist 
der  Stempel  im  Auslande  gefertigt?  Die  Form 
buriensium  statt  burgensium  könnte  vielleicht  auf 
nichtdeutschen  Ursprung  deuten.  Das  Siegel  kommt 
zum  erstenmal  nach  Mai  1 226  vor  (siehe  oben).  Im  Juni 
1226  nimmt  Kaiser  Friedrich  II.  die  junge  Stadt  Oppen¬ 
heim  in  seinen  Schutz  und  verbrieft  ihr  wichtige  Frei¬ 
heiten.  Das  Diplom  ist  aus  Borgo  San  Donino  bei 
Parma  datiert.  Die  Oppenheimer  werden  bald  nach 
der  Feststellung  der  Bannmeile  durch  Erzbischof 
Engelbert  (August /September  1225?)  eine  Gesandt¬ 
schaft  mit  der  Bitte  um  Verleihung  städtischer  Frei¬ 
heiten  an  den  Kaiser  abgeordnet  haben.  Ist  sie  mit 
dem  benachbarten  Bischof  von  Worms,  der  im  Sommer 
1226  beim  Kaiser  weilt,  über  die  Alpen  gezogen? 
Da  die  Alpenpässe  wochenlang  durch  die  aufständischen 
Lombarden  gesperrt  waren,  wird  sie  längere  Zeit  am 
Hofe  geblieben  sein. 

Es  ist  nicht  anzunehmen,  dass  eine  Stadt  ohne 
besondere  Erlaubnis  das  Bild  des 
Kaisers  im  Siegel  führen  durfte. 

Auch  dies  spricht  dafür,  dass  der 
Stempel  in  Italien,  von  einem  italie¬ 
nischen  Künstler,  etwa  einem  aus 
dem  kaiserlichen  Gefolge,  geschnitten 
worden  ist.  Vielleicht  dürfen  wir 
noch  einen  Schritt  weitergehen  und 
annehmen,  der  Kaiser  selbst  habe 
dem  Künstler  gesessen. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres, 
möglicherweise  schon  im  Juli,  kam 
die  Abordnung  mit  dem  Siegel 
und  etwa  noch  mit  der  Bestallung 
des  ersten  Reichsschultheissen  nach 
Oppenheim  zurück,  ln  der  Urkunde 


vom  Mai  1226  führt  Herbord  noch  nicht  den  Schul- 
theissentitel.  Eine  spätere  Urkunde  aus  demselben 
Jahre  stellt  er  als  scultetus  aus  und  siegelt  sie  mit 
unserem  Siegel.  Alles  dies  würde  dafür  sprechen, 
dass  dieses  Siegel  von  den  Oppenheimer  Gesandten 
aus  Italien  mitgebracht  worden  ist. 

Ich  gestehe,  dass  wir  auf  Grund  des  uns  vor¬ 
liegenden  Materials  nur  diese  vorläufigen  Vermutungen 
über  Herkunft  und  Geschichte  des  Oppenheimer  Siegels 
aufstellen  können.  Das  entscheidende  Wort,  ob  der 
Stempel  deutsch  oder  italienisch,  niederrheinisch  oder 
lombardisch  ist,  hat  die  Kunstgeschichte  zu  sprechen. 

An  dem  Ergebnis  unserer  Untersuchung  wird 
aber  auch  das  des  Kunsthistorikers  voraussichtlich 
wenig  ändern.  Die  Aufgabe,  das  authentische  Porträt 
Friedrich’s  11.  von  Hohenstaufen  zu  ermitteln,  sehen 
wir,  nachdem  wir  mindestens  vier  Darstellungen  des 
Kaisers  ermittelt  haben,  die  als  leidlich  getroffen  gelten 
müssen,  als  gelöst  an.  Eine  Vollständigkeit  in  der 
Aufzählung  und  Betrachtung  der  Porträts,  wie  sie 
für  die  Karl’s  des  Grossen  Paul  Clemen  in  seinen 
ausgezeichneten  Aufsätzen  in  der  Zeitschrift  des  Aachener 
Geschichtsvereins,  Band  1 1  und  12,  erstrebt  und  erreicht 
hat,  lag  nicht  in  unserem  Plane.  An  dem  Durch- 
schnittsbild  des  grossen  Staiifers,  das  wir  aus  dem 
Vergleiche  der  besprochenen  Porträts  abnehmen 
können,  werden  auch  neue  Funde  kaum  noch  viel 
zu  ändern  vermögen. 

Wir  nehmen  für  unsere  Zusammenstellung  somit 
nur  das  Verdienst  in  Anspruch,  eine  erste  Grund¬ 
lage  geschaffen  zu  haben,  auf  der  andere  weiterbauen 
mögen.  Schon  jetzt  wird  man  aber  nicht  mehr  jedes 
beliebige  Bildwerk,  das  zufällig  einen  Lorbeerkranz 
trägt,  wie  Friedrich  11.  auf  seinen  Augustalen,  das 
einige  vage  Ähnlichkeiten  mit  minderwertigen  Dar¬ 
stellungen  des  Kaisers  hat  und  in  dessen  Machtbereich 
gefunden  wurde,  zu  einem  Porträt  des  Kaisers  stem¬ 
peln  können.  Regt  diese  Studie  zu 
weiteren  Forschungen  an,  ruft  sie 
Ergänzungen  und  Berichtigungen 
hervor:  desto  besser!  Es  ist  echt 
deutsch,  dass  wir  Deutsche  der 
wissenschaftlichen  Welt  vorzügliche 
griechische  und  römische  Ikonogra¬ 
phien  geschenkt  haben,  während  das 
grosse  Werk,  das  August  von  Essen¬ 
wein  schon  Vorjahren  gefordert  hat, 
noch  seines  Schöpfers  harrt:  eine 
Ikonographie  des  deutschen  Mittel¬ 
alters  als  Gegenstück  zu  den  Monu- 
menta  Germaniae  historica,  vor  allem 
aber  eine  Ikonographie  unserer  deut¬ 
schen  Könige  und  Kaiser. 


Abb.  16.  Kopf  von  dem  Königs¬ 
siegel  Heinrich’s  (VII.)  um  1220 
(Vergrössert) 

Nndi  r.  Pliilii’pi,  Rcuiishanzlci,  Tafel  IX,  4 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  10. 


33 


Abb.  1.  Tanzende  Kiader.  Dekorative  Federskizze,  am  i8g5 


JAMES  MARSHALL 


VOR  bald  vierzig  Jahren  wurde  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  (Jahrgang  2,  1867,  S.  60  ff.)  ein  Bild 
des  jungen  Malers  James  Marshall  besprochen: 
Tartini,  dem  im  Traum  der  Teufel  die  nachher  so 
berühmt  gewordene  Sonate  il  trillo  del  diavolo 
vorgeigt.  Das  Bild,  das  nachstehend  (Abb.  3)  nach 
einer  dem  Verfasser  vom  Künstler  selbst  geschenkten 
Photographie  wiedergegeben  ist,  war  seiner  Zeit 
vom  Grafen  Schack  erworben  worden,  der  sich  in 
dem  Buche  Meine  Gemäldesammlung  so  darüber 
äussert:  »Den  Moment,  wo  der 
Klosterschüler  (richtiger:  Kloster¬ 
schützling)  in  unruhigem  Schlummer 
daliegt  und  Lucifer  ihn  unter  tollen 
Grimassen  das  Bravourstück  hören 
lässt,  führt  Marshall’s  Bild  mit  der 
höchsten  Lebendigkeit  vor.  Es  ge¬ 
mahnt  in  seinem,  mit  barockem 
Humor  versetzten  Charakter  an  Hoff- 
mann’s  Nachtstücke. Am  18.  Juli 
igo2  ist  nun  der  Künstler  aus  dem 
Leben  geschieden.  Fragen  wir,  sein 
Werk  überblickend,  ob  er  die  da¬ 
mals  auf  ihn  gesetzten  Hoffnungen 
erfüllt  hat,  so  vermögen  wir  leider 
nicht  mit  einem  freudigen  Ja  zu 
antworten.  Ein  schlimmes  Verhäng¬ 
nis  hat  allzufrüh  seinen  Siegeslauf 
gehemmt.  Aber  auch  dann  bleibt  er 
noch  eine  so  eigenartige  künstlerische 
Persönlichkeit,  dass  es  wohl  lohnt,  sich 
eine  Weile  mit  ihm  zu  beschäftigen. 


Marshall  war  am  5.  Februar  1  838  im  Haag  geboren, 
wo  sein  Vater,  von  Geburt  Schotte,  die  Kinder  des 
Königs  der  Niederlande  in  der  englischen  Sprache 
und  Litteratur  unterrichtete.  Als  sich  1842  die  Prin¬ 
zessin  Sophie  mit  dem  Erbgrossherzog  ATff/'/  Alexander 
von  Weimar  vermählte,  wurde  ihr  der  bewährte 
Lehrer  als  Sekretär  mitgegeben,  und  so  siedelte  die 
Familie  nach  Weimar  über;  James  war  damals  das 
jüngste  von  vier  Geschwistern,  sein  Bruder  William, 
jetzt  Professor  der  Zoologie  in  Leipzig  und  geschätzter 
Schriftsteller,  ist  erst  später  geboren. 
Der  Vater  war  durch  seine  Mutter 
ein  Grossneffe  von  Robert  Barns, 
dem  berühmten  Volksdichter,  den 
seine  Landsleute,  nachdem  sie  seine 
herrliche  Begabung  erkannt  hatten, 
nur  zu  bald  durch  Verwöhnung  und 
Verführung  zu  Grunde  richteten, 
um  ihn  dann  zu  verachten  und  zu 
vergessen,  bis  sich  die  Nachwelt 
auf  ihn  besann  und  ihm  allerorten 
Denkmäler  errichtete.  In  beschränk¬ 
ten  Verhältnissen  aufgewachsen,  hatte 
sich  Hofrat  Marshall,  lebhaften  Geistes 
und  von  einem  erstaunlichen  Ge¬ 
dächtnis  unterstützt,  durch  eisernen 
Fleiss  eine  umfassende  Bildung  er¬ 
worben.  Neben  den  Werken  seines 
grossen  Landsmanns  Shakespeare,  mit 
denen  er  vertraut  war  wie  wenige, 
hatte  er  sich  schon  frühzeitig  auch  mit 
Goethe’s  hauptsächlichen  Schriften 


Abb.  2.  Bildnis  des  Künstlers 
Photographie,  Florenz  1875 


JAMES  MARSHALL 


257 


bekannt  gemacht  und  fand  nun  in  Weimar,  besonders 
im  Verkehr  mit  Eckermann  und  Schöll,  treffliche  Ge¬ 
legenheit,  seine  Kenntnisse  zu  erweitern  und  zu  ver¬ 
tiefen.  Selbst  dichterisch  veranlagt  und  feines  Em¬ 
pfinden  mit  edelstem  Geschmack  verbindend,  war  er 
ein  Vorleser  ersten  Ranges.  In  den  gelehrten  Kreisen 
Weimars  genoss  er  so  hohes  Ansehen,  wie  es  »nicht- 
studierten«  Leuten  sonst  kaum  zu  teil  wurde.  Mit 
seinem  Landsmann  Carlyle  stand  er  in  freundschaft¬ 
lichem  Briefwechsel.  Von  der  Erbgrossherzogin,  seit 
1853  Grossherzogin  Sophie  mit  vollstem  Vertrauen 
ausgezeichnet,  war  er  deren  rechte  Hand  in  ihrem 
gemeinnützigen  und  wohlthätigen  Wirken.  Und  die 
edle  Fürstin  übertrug  ihr  Wohlwollen  auch  auf  die 
Kinder.  Auf  dem  häuslichen  Glück  aber  lastete  als 
geheimer  Druck,  dass  die  Mutier,  eine  kühle  Hollän¬ 
derin,  in  Deutschland  nicht  heimisch  zu  werden  ver¬ 
stand,  vielleicht  es  kaum  ernstlich  versuchte. 

James  zeigte  schon  früh  Neigung  und  Talent  für 
die  bildende  Kunst.  Der  Vater  hätte  lieber  gesehen 
wenn  er  einen  gelehrten  Beruf  erwählt  hätte;  erst 
nach  langen  Kämpfen  willigte  er  in  seinen  Wunsch, 
zum  Meister  Friedrieh  Preller  in  die  Lehre  zu  kommen, 
die  er  unter  anderen  mit  seinem  etwas  älteren  Freund 
Otto  Schwerdgeburth ,  einem  Sohn  des  rühmlich  be¬ 
kannten  Kupferstechers,  teilte.  Zur  Freude  ihres 
Meisters  wetteiferten  die  beiden  Jünglinge  in  ihrem 
Streben.  Edler  Kunstbegeisterung  voll,  auch  in  ihrem 
Können  wohl  vorbereitet,  zogen  sie  einige  Jahre 
später  nach  Antwerpen  zu  Nicaise  de  Keyser,  um  die 
neue  Malweise  der  Belgier  zu  erlernen,  die  damals 
viel  von  sich  reden  machte.  Sie  bildeten  sich  aber 
dort  zugleich  an  den  alten  Meistern,  und  als  Marshall 
nach  der  Heimat  zurückkehrte,  brachte  er  eine  An¬ 
zahl  vortrefflicher  Kopien  mit,  unter  anderen  nach 
Rembrandt’s  grosser  Anatomie  im  Moritzhaus  im 
Haag.  Den  Freund  verlor  er  bald  durch  den  Tod. 

Eins  seiner  ersten  Werke  in  Weimar  war  ein 
Doppelbildnis:  der  junge  Künstler  selbst  mit  seinem 
jüngsten  Bruder;  es  erinnerte  in  Haltung  und  Stim¬ 
mung  an  die  Söhne  des  Rubens  und  wurde  —  was 
damals  noch  eine  Seltenheit  war  —  nach  Amerika 
verkauft.  Im  Jahr  1860  malte  er  den  ein  Jahr  zuvor 
auf  Preller’s  Anregung  von  München  nach  Weimar 
berufenen  B.  Oenelli,  der  sich  des  jungen  Kollegen, 
eine  verwandte  Seele  in  ihm  erkennend,  in  Preller’s 
Abwesenheit  freundlich  annahm;  dieses  Bild,  jetzt 
in  der  Königlichen  Nationalgalerie  in  Berlin,  giebt 
den  »letzten  der  Centauren«,  wie  seine  Münchner 
Freunde  ihn  getauft  hatten,  charakteristisch  wieder. 
Der  Grossherzogin  leistete  Marshall  einen  dankbar  an¬ 
erkannten  Dienst  durch  das  wohlgelungene  Bildnis  der 
früh  verstorbenen  zweiten  Prinzessin.  Im  Jahr  1864 
hatte  er  in  ihrem  Auftrag  in  Paris  je  ein  Bild  von 
Rembrandt  und  von  Rubens  zu  kopieren.  Zur  Silber¬ 
hochzeit  des  Fürstenpaares  malte  er  ein  grosses 
Huldigungsbild,  die  Ahnen  beider  Herrscherhäuser  in 
feierlicher  Versammlung  um  das  hohe  Paar  dar¬ 
stellend.  Aus  Anlass  des  Jubelfestes  der  Universität 
Jena  wurde  ihm  die  Herstellung  eines  Erinnerungs¬ 
bildes  übertragen,  welches  den  damaligen  Kurator 


Seebeck,  den  Prorektor  Luden  und  die  vier  Dekane  — 
Guyet,  Ried,  Hoffmann  und  Schmid  —  nebst  zwei 
Pedellen  in  Amtstracht  darstellt.  Das  Hoftheater  zu 
Weimar  erhielt  von  seiner  Hand  ein  Deckengemälde 
über  dem  Proscenium:  Dichter,  Komponisten  und 
darstellende  Künstler  huldigen  der  Vimaria. 

Von  sonstigen  Kompositionen  sind  noch  eine 
Bacchantin  und  ein  Bacchantenzug  zu  erwähnen, 
letzterer  nach  Amerika  verkauft;  ferner,  dem  Gegen¬ 
stände  nach  recht  im  Gegensatz  hierzu,  ein  Bild 
»zur  Krönung  Christi«:  Pharisäer  und  Kriegsknechte 
beim  Winden  der  Dornenkrone.  Auch  gehört  in 
diese  Zeit  das  ergreifende  grosse  Ölgemälde  die 
Hexe«,  das  später  nach  Breslau  gekommen  ist: 
der  Gang  eines  schönen  blonden  Mädchens,  das  als 
Hexe  verurteilt  ist,  zum  Scheiterhaufen.  Die  Mutter 
der  Verurteilten  bricht,  indem  der  Henkersknecht  sie 
wegdrängt,  vor  Gram  ohnmächtig  zusammen.  Im 
satten  Bewusstsein  ihrer  Gerechtigkeit  schreiten  aus 
dem  von  Tauben  umflatterten  Stadtthor  die  Richter 
hinter  ihrem  Opfer  her,  dessen  helle  Gestalt  sich 
leuchtend  von  der  düstern  Umgebung  abhebt.  Ein 
eigenartiges  Feld  fand  seine  lebhafte  Phantasie  im 
Malen  von  Fächern  auf  Seide;  drei  solche,  die  Winde, 
die  Elemente  und  die  Erdteile  darstellend,  kamen  in 
den  Besitz  der  Kaiserin  von  Russland,  der  Gross¬ 
herzogin  von  Weimar  und  der  Königin  von  Sachsen. 

Preller,  der  1861  aus  Italien  zurückgekehrt  war, 
hatte  1863  ein  stattliches  Atelier  im  Wittumspalais, 
dem  Theater  gegenüber,  eingeräumt  erhalten,  wo  er 
seine  Odysseebilder  ausführte.  Daneben  waren  noch 
zwei  Ateliers  eingerichtet  worden,  von  denen  das 
eine  Marshall  bezog.  So  stand  er  eine  Reihe  von 
Jahren  hindurch  wieder  in  nächstem  Verkehr  mit  dem 
verehrten  Meister,  der  ihm  auch  zu  einem  Bildnis 
sass:  die  Palette  in  der  Hand,  das  Gesicht  nach  rechts 
gewendet  (vom  Beschauer  aus  gerechnet);  vor  ihm 
steht  die  Büste  Homers.  Das  Bild,  das  —  ebenso 
wie  Tartini’s  Traum  —  von  W.  Unger  radiert  worden 
ist,  befindet  sich  im  Besitz  von  Preller’s  Witwe,  die 
es  hoch  in  Ehren  hält.  Gesellig  verkehrte  Marshall  mehr 
in  einem  Kreise,  dem  unter  anderen  Genelli,  Liszt, 
dann  dessen  Nachfolger  Lassen  und  der  Dichter 
Julius  Grosse  angehörten;  beim  Glase  Wein,  in  Ge¬ 
sprächen,  die  Geist  und  Laune  sprühten,  sassen  sie 
nicht  selten  bis  tief  in  die  Nacht  zusammen. 

Im  August  1861  hatte  sich  Marshall  mit  der  jüngeren 
Tochter  des  Landkammerrats  Voigt  in  Weimar  ver¬ 
heiratet,  die  ihm  zwei  Töchter  gebar.  Mit  seiner 
Familie  siedelte  er  1870  nach  Dresden  über,  wo 
er  einen  grösseren  Wirkungskreis  zu  finden  hoffte. 
In  der  That  flössen  ihm  im  Laufe  der  Zeit  mehrere 
bedeutsame  Aufträge  zu,  von  denen  nachher  zu  reden 
sein  wird.  Inzwischen  hatte  er  eine  freie  Akademie 
gegründet  und  bald  eine  grosse  Zahl  von  Schülern 
gefunden,  darunter  sehr  vornehme  Leute,  selbst 
Grafen  und  Gräfinnen.  Eine  seiner  Schülerinnen, 
die  jetzt  in  Italien  lebt,  hat  s.  Z.  in  einer  ausländischen 
Zeitung  eine  sehr  launige  Schilderung  dieser  Aka¬ 
demie  gegeben  und  darin  einige  seiner  sarkastischen 
Aussprüche  aufbewahrt,  deren  Echtheit  sie  mir  brieflich 


33 


JAMES  MARSHALL 


>58 

versichert.  Eine  Tochter  Albions  kommt  als  eine 
ier  ersten:  Oh,  Mister  Marshall,  ich  war  heute  in  der 
ddergalerie  und  sah  dort  die  Rembrandts.  Sie  ge¬ 
hr  m  mir  sehr,  und  ich  möchte  auch  malen  wie 
iibrandt.  Wollen  Sie  mich  es  in  drei  Monaten 
l/iiren?  Warum  nicht?'  erwidert  der  Meister; 

‘-:vmbrandt  hat  zwar  einige  zwanzig  Jahre  gebraucht, 
:un  es  so  weit  zu  bringen,  aber  das  ist  kein  Grund, 
..arum  es  bei  Ihnen  nicht  in  drei  Monaten  gehen 
sollte.  Eine  andere  findet  Ludwig  Richter  char- 
ming  ,  sie  will  so  zeichnen  lernen  wie  er  und  sechs 
Wochen  dran  wenden.  Hm,  sagt  der  Meister,  der 
Zeitraum  ist  etwas  knapp,  aber  nach  meiner  Methode 
für  Durchreisende  mag  es  vielleicht  gelingen,  und  da 


sie  ein  kleines  Geschcäft  anfangen  konnte.  Übrigens 
schreibt  mir  jene  Schülerin,  der  ich  diese  Aufzeich¬ 
nungen  verdanke:  Ich  erinnere  mich  seiner  als  eines 
der  genialsten,  geistreichsten  und  anregendsten  Men¬ 
schen,  und  was  ich  bei  ihm  gelernt,  ist  mir  noch  heute 
massgebend,  obgleich  ich  seitdem  bei  vielen  anderen 
Künstlern  gearbeitet  und  vieles  gesehen  habe.« 

Die  grösste  Aufgabe  während  seiner  Künstlerlauf¬ 
bahn  wurde  ihm  bei  der  Ausschmückung  des  in  der 
ersten  Hälfte  der  siebziger  Jahre  neu  erbauten  König¬ 
lichen  Hoftheaters  in  Dresden  gestellt:  die  Decke 
über  dem  Zuschauerraum  und  einen  Fries  über  dem 
Proscenium  zu  malen.  Für  jene  halte  Meister  Gott¬ 
fried  Semper  selbst  Skizzen  geliefert,  an  die  er  sich 


Abb.  3.  Tartini's  Traum.  Ölbild,  Galerie  Schack 


Sie  nur  zeichnen  lernen  wollen  ...  Ein  andermal 
beschwert  sich  eine  Dame,  dass  er  ihrer  Tochter  er¬ 
laube,  so  viele  teure  Rahmen  zu  bestellen.  »Was 
erlauben?  ruft  er  erzürnt,  »ich  habe  oft  genug  ge¬ 
sagt,  dass  alles,  was  hier  gemalt  wird,  gut  ist,  ins 
Feuer  geworfen  zu  werden!«  Es  wurden  auch  Akt¬ 
studien  gemacht.  Ein  Modell,  eine  arme  Witwe,  die 
zu  diesem  Erwerb  gegriffen  hatte,  um  ihre  Kinder 
nicht  hungern  zu  lassen,  war  den  jungen  Damen 
nicht  schön  genug,  und  eine  von  ihnen  liess  gegen 
den  Meister  eine  Bemerkung  darüber  fallen.  Was? 
war  seine  Antwort,  wollen  Sie  vielleicht  für  fünf 
Groschen  die  Stunde  eine  Venus  von  Milo  haben?« 
Das  Ende  war,  dass  die  Damen  für  die  arme  Frau 
eine  Lotterie  veranstalteten,  die  soviel  einbrachte,  dass 


zu  halten  hatte:  in  vier  grossen  ovalen  Feldern  auf 
Goldgrund  die  Musen  Griechenlands,  Englands, 
Deutschlands  und  Frankreichs,  daran  sich  anreihend 
vier  Medaillons  mit  den  Doppelbildnissen  von  Sopho¬ 
kles  und  Euripides,  Shakespeare  und  Calderon, 
Schiller  und  Goethe,  Moliere  und  Gokloni;  ferner 
vier  kleinere  Felder  mit  Kindergruppen,  den  Tanz, 
die  Musik,  die  Dekorationsmalerei  und  die  Mimik 
darstellend.  Den  Fries  über  dem  Proscenium,  für 
den  ihm  freiere  Bewegung  gelassen  war,  schmückte 
er  mit  den  dramatischen  Lieblingen  des  Publikums. 
In  der  Mitte  die  thronende  poetische  Gerechtigkeit, 
zu  ihren  Füssen  Furie  und  Komos;  rechts  her  nahen, 
von  Melpomene  geführt,  die  Helden  und  Heldinnen 
des  Schauspiels,  von  der  Linken,  durch  Euterpe  ge- 


JAMES  MARSHALL 


259 


Abb.  4.  Kinderbildnis.  Ölgemälde,  Privatbesitz 


leitet,  die  der  Oper.  Die  Bühnenbreite  beträgt  drei¬ 
zehn  Meter. 

Dann  wurde  ihm  die  Ausführung  der  Gemälde 
in  der  neuen  russischen  Kirche,  nach  byzantinischen 
Vorbildern  auf  Goldgrund,  übertragen,  und  zwar  an 
der  Wand  vor  dem  Allerheiligsten,  in  das  nur  der 
Priester  Zutritt  hat.  Leider  hat  diese  Wand  sehr 
mangelhaftes  Licht.  Die  Mitte  der  vergoldeten  Thür 
schmückt  die  Verkündigung,  eingefasst  von  den  vier 
Evangelisten.  Über  der  Thür  ist  das  Abendmahl  dar¬ 
gestellt.  Auf  der  linken  Seite  der  Wand,  fast  lebens¬ 
gross,  Alexander  Newsky,  der  Erzengel  Michael,  die 
Madonna  mit  dem  Kinde;  rechts  der  Heiland  mit 
der  Weltkugel,  der  Erzengel  Gabriel  und  Simeon. 
Darüber  noch  eine  Reihe  von  Brustbildern,  wohl  von 
Heiligen. 

Es  waren  Jahre  voll  aufreibender  Arbeit  —  um 
so  aufreibender,  als  Marshall  Erholung  und  Stärkung 
weniger  in  behaglicher  Ruhe  und  in  freier  Luft  als 
in  anregender  Geselligkeit  suchte.  Im  Winter  1874/75 
unternahm  er  eine  halbjährige  Reise  nach  Italien.  Da 
ihn  jedoch  auch  dahin  eine  Anzahl  von  Schülern 
und  Schülerinnen  begleitete,  wurde  der  Zweck  der 
Ausspannung  nur  halb  erreicht,  ln  Elorenz,  wo 
er  am  längsten  weilte  und  wo  auch  die  in  Abb.  2 
ersichtliche  Photographie  aufgenommen  ist,  malte  er 
unter  anderem  das  Bildnis  einer  jungen  Engländerin 
in  kostbarer  altvenetianischer  Tracht  mit  der  Laute  in 
der  Hand,  das  durch  die  Photographie  weite  Ver¬ 


breitung  gefunden  hat.  Was  er  an  Bauten,  an  Ge¬ 
mälden  und  sonstigen  Kunstwerken  in  Elorenz  und 
Venedig  gesehen  halte,  das  haftete  unauslöschlich  in 
seinem  Gedächtnis. 

Dass  er  ein  Kinderfreund  war,  verraten  seine 
Kinderbildnisse.  Die  unlängst  in  Leipzig  veranstaltete 
Ausstellung  einer  grösseren  Anzahl  seiner  Werke 
zeigt  deren  drei  aus  der  Dresdner  Zeit,  darunter  ein 
Doppelbildnis.  Abb.  4  giebt  das  1871  gemalte  Bild 
einer  Nichte  wieder.  Das  frische  Gesichtchen  mit 
dunkelblondem  Haar,  ein  wenig  schüchtern  drein¬ 
blickend,  und  das  erbsfarbene  Kleid  mit  weissem 
Einsatz  und  Bernsteinkettchen  heben  sich  wirksam 
von  dem  altblauen  Plüsch  der  Stuhllehne  ab;  das  röt¬ 
liche  Bändchen  im  Haar  und  die  bunten  Blumen 
in  der  Hand  vollenden  die  harmonische,  heitere 
Stimmung.  Ein  Gegenstück  dazu  bildet  ein  blau¬ 
äugiges  Blondköpfchen  in  blauem  Sammetkleid,  1878 
gemalt,  wie  es  mit  dem  Bleistift  die  ersten  Zeichen¬ 
versuche  gemacht  hat  und  fragend  aufschaut.  Ein  Jahr 
früher  war  das  Doppelbildnis  der  beiden  Töchter 
des  Künstlers  entstanden,  das  die  Photographische 
Gesellschaft  in  Berlin  unter  der  Bezeichnung  »die 
Schwestern«  in  Verlag  genommen  hat;  aneinander¬ 
geschmiegt  einher  wandelnd,  blicken  die  holden 
Mädchenknospen  in  vornehmer  Ruhe  auf  den  Be¬ 
schauer,  die  ältere  den  Duft  einer  roten  Nelke  ein¬ 
saugend,  die  jüngere  mit  dem  Seidenpinscherchen 
auf  dem  Arme.  Auch  hier  sind  dunkles  Rotbraun, 
Grau  und  Weiss  mit  einem  blauen  und  einigen  hell¬ 
roten  Earbenflecken  fein  zusammengestimmt.  Es  zählt 
sicher  zu  den  besten  Bildnissen,  die  zn  jener  Zeit  in 
Deutschland  gemalt  worden  sind. 

Nach  der  baulichen  Erneuerung  der  Albrechts- 


Abb.  5.  Geistlicher  Konvent  von  1548 
Wandgemälde,  A Ibrcchtsbnrg 


200 


JAMES  MARSHALL 


bürg  in  Meissen  wurde  unser  Künstler  wieder  mit 
zur  malerischen  Ausschmückung  herangezogen.  Der 
geistliche  Konvent  von  1548  unter  Kurfürst  Moritz 
und  dessen  Tod  nach  der  Schlacht  von  Sievershausen 
waren  die  Ereignisse,  die  er  auf  recht  ungünstig  ge¬ 
stalteten  Wandflcächen  unter  den  gotischen  Gewölben 
darzustellen  hatte.  Mit  ausserordentlichem  Geschick 
hat  er,  wie  die  .^bb.  5  uns  zeigt,  die  Aufgabe  gelöst. 
Wir  glauben  in  einen  weiten,  ähnlich  gewölbten 
Ncbenre.,!!  -1  blicken,  der  von  einem  nur  zum 
kle^' Uten  Tb’-  sichtbaren  grossen  bunten  Fenster  her 
-ei  l  Li.  !it  .'rhält;  dieses  spielt  auf  den  kahlen  Häuptern 
eii'iger  '!er  gelehrlen  Herren,  auf  der  grünen  Tisch- 
ild  ke,  auf  dem  rotbraunen  Teppich  und  wirft  seinen 
WiderscliL'in  auf  die  helle  Wand  hinter  dem  Kur¬ 
fürsten,  während  der  nach  der  Ecke  des  hohen  Ge¬ 
wölbes  zu  stehende  Herold  in  hellroter  Kleidung  nur 
einen  matteren  Schimmer  erhält.  Als  Mittelpunkt 
aber  fesselt  den  Blick  der  jüngste 
der  Gelehrten,  der  in  ehrerbietiger, 
aber  fester  Haltung  dem  Kurfürsten 
auf  eine  Zwischenbemerkung  ant¬ 
wortet.  Das  andere  Bild  zeigt  we¬ 
niger  ausgesprochen  die  Eigenart 
des  Künstlers. 

Im  Herbst  1878  erhielt  Marshall, 
noch  mit  der  eben  besprochenen 
Arbeit  beschäftigt,  einen  Ruf  an  die 
Kunstschule  zu  Breslau,  mit  dem 
Professortitel.  Er  nahm  ihn  an 
und  siedelte  187g  dahin  über.  Auch 
hier  ward  ihm  wieder  eine  grosse 
monumentale  Aufgabe  zu  teil:  der 
Entwurf  eines  Fensters  für  die  Hed¬ 
wigs-Kirche  in  Berlin,  das  Leben 
Johannis  des  Täufers  darstellend, 
mit  dessen  überlebensgrosser  Gestalt 
als  Mittelstück.  Die  Lehrthätigkeit 
machte  ihm  anfangs  nicht  minder 
Freude;  nebenbei  sei  erwähnt,  dass  zu 
seinen  Schülern  auch  Gerhart  Haupt¬ 
mann  gehörte,  der  erst  Maler  werden  wollte.  Bald 
aber  nahm  sein  Leben  eine  überaus  traurige  Wendung, 
die  an  seinen  schottischen  Verwandten  Burns  erinnert: 
was  ursprünglich  geniale  Neigung,  dann  herrische 
Gewohnheit  war,  hatte  sich  allmählich  zu  jener  ver¬ 
heerenden  Krankheit  entwickelt,  deren  dämonische 
Gewalt  darin  besteht,  dass  sie  ihre  Opfer  Trost  oder 
Vergessen  gerade  in  dem  suchen  lässt,  was  ihr  Ver¬ 
derb  ist.  Leider  ist  das  eigentliche  Wesen  dieser 
Krankheit  und  der  Weg  zur  Heilung  erst  neuerdings 
entdeckt  worden.  Und  damit  ist  die  Erkenntnis  auf¬ 
gedämmert,  dass  gegenüber  ihren  Opfern,  die  sie 
sich  nur  allzu  gern  gerade  unter  den  Begabtesten 
sucht,  pharisäischer  Hochmut  so  wenig  am  Platz  ist, 
wie  leichtfertiges  oder  feiges  Gehenlassen.  Bei  Marshall 
hatte  sich  schliesslich  auch  noch  der  Spielteufel  mit 
ihr  verbündet.  So  ging  es  rasch  abwärts.  Seine 
Stellung  an  der  Kunstschule  wurde  unhaltbar.  Der 
Gerichtsvollzieher  kam  oft  und  öfter  ins  Haus,  und 
die  Frau  sah  schliesslich  keinen  anderen  Ausweg,  als 


dass  sie  mit  den  Töchtern  nach  Weimar  zu  ihrem 
Vater  zurückkehrte,  nach  dessen  Tod  sie  nach  Wies¬ 
baden  zog.  Den  unglücklichen  Künstler  aber  finden 

wir  1883  Spital  zum  Heiligen  Geist _ 

Die  Witwe  seines  Bruders  John,  niederländischen 
Konsuls  in  Weimar,  Letizia,  geborene  Genelli,  war 
es,  deren  sonnige  Natur  den  Entschluss  reifte,  den 
Verirrten  zu  suchen  und  zurückzuführen.  Sie  hatte 
sich  der  Erziehung  junger  Mädchen  gewidmet,  denen 
nun  Marshall  Unterricht  im  Zeichnen  und  Malen  er- 
erteilte.  Auch  die  alten  Freunde,  soweit  sie  noch 
lebten,  nahmen  sich  seiner  auf  ihre  Weise  an.  Aus 
dieser  Zeit  rühren  unter  anderen  ein  Ölbildnis  Lassen’s 
und  einige  grosse  Kohle-  und  Kreidezeichnungen 
her:  Phantasien  im  Bremer  Ratskeller  (nach  Hauff), 
Simplicissimus  bei  dem  sterbenden  Einsiedler;  die 
Hufeisen-Legende  (nach  Goethe).  Leider  wurde  seine 
Beschützerin  von  einer  unheilbaren  inneren  Krank¬ 
heit  ergriffen,  die  nach  einer  Opera¬ 
tion  im  Sophienhaus  und  schmerz¬ 
haften  Leiden  im  Frühjahr  188g 
den  Tod  herbeiführte. 

Seit  dieser  Zeit  führte  dann  der 
einst  so  hoch  angesehene  Künstler 
hier  in  Leipzig  ein  stilles,  beschei¬ 
denes  Dasein.  Von  alten  und  neuen 
Freunden  unterstützt  und,  soweit 
sich’s  thun  Hess,  mit  Aufträgen  ver¬ 
sehen,  arbeitete  er  fleissig  und  mit 
liebevoller  Sorgfalt,  erteilte  auch 
Unterricht  und  wusste  seine  Schüler 
und  Schülerinnen  zu  begeistern  und 
zu  fördern.  Er  hatte  das  Glück, 
wiederholt  Wirtsleute  zu  finden,  die 
sich  seiner  verständig  und  freundlich 
annahmen,  und  seine  Liebe  zu  Kin¬ 
dern,  zu  Hunden  und  zu  Vögeln 
ward  ihm  oft  eine  Quelle  der  Freude. 
Aus  dem  Hause  kam  er  nur  selten, 
nachdem  wiederholte  Anfälle  von 
Schwindel  ihm  das  Selbstvertrauen 
geraubt  hatten;  auch  fiel  ihm  das  Treppensteigen  be¬ 
schwerlich.  Um  so  dankbarer  war  er  für  jeden 
Besuch,  und  seine  Unterhaltung  war  immer  gehalt¬ 
reich  und  anregend.  Zuweilen  empfing  er  auch  noch 
Briefe  von  alten  Freunden ;  so  von  Julius  Grosse, 
dessen  Tod  im  Jahre  igoi  ihn  sehr  schmerzlich  be¬ 
rührte,  obwohl  er  Erlösung  von  schwerem  Leiden 
bedeutete.  Lebend  als  Gespenst  zu  existieren«,  so 
hatte  Grosse  ihm  zuletzt  geschrieben,  »ist  kein  be¬ 
sonderer  Genuss.« 

Eine  von  Marshall’s  ersten  grossen  Arbeiten  in 
Leipzig  war  die  Kopie  des  Abendmahls  von  Leonardo 
für  den  Altar  der  Luther- Kirche,  die  bei  deren  Er¬ 
hebung  zur  Pfarrkirche  von  einigen  Freunden  ge¬ 
stiftet  wurde;  er  hatte  den  Morghen’schen  Stich  und 
die  Kopie  aus  der  Lindenau-Stiftung  in  Altenburg  zu 
Grunde  gelegt.  Einige  Jahre  später  erhielt  er  durch 
den  Kirchenvorstand  derselben  Kirche  den  Auftrag, 
die  beiden  Nischen  links  und  rechts  vom  Altar, 
hinter  welchem  in  drei  bunten  Fenstern  die  Geburt 


Abb.  6.  Bildnis  des  Künstlers 
Photographie,  um  1888 


JAMES  MARSHALL 


261 


Jesu,  die  Auferstehung  und  die  Ausgiessung  des 
heiligen  Geistes  dargestellt  sind,  mit  der  Taufe  und 
dem  Kreuzestode  zu  schmücken.  Die  Bilder  sind 
auf  Leinwand  in  Wachsfarben  ausgeführt;  die  Kosten 
wurden  durch  ein  grösseres  Geschenk  und  durch 
Sammlung  freiwilliger  Gaben  aufgebracht.  Weiterhin 
malte  er  in  gleicher  Weise  für  zwei  Nischen  neben 
dem  Altarraume  auf  den  Emporen,  gleichfalls  in  Ge¬ 
stalt  hoher  Spitzbogenfenster,  die  Bergpredigt  und 
»Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen«.  Seine  letzte 
Arbeit  aber  galt  der  Ausmalung  der  vier  kleineren 
Nischen  im  Schiff  mit  den  Gestalten  Luther’s,  Me- 
lanchthon’s,  Friedrich’s 
des  Weisen  und  Gustav 
Adolfs;  vor  Vollendung 
des  vorletzten  Bildes  er¬ 
eilte  ihn  der  Tod. 

Dazwischen  hat  er  eine 
grosse  Zahl  von  Öl-  und 
Pastellbildern,  Kohle-  und 
Kreide-,  auch  Bleistift- 
und  Federzeichnungen  ge¬ 
fertigt.  Sie  zeigen  eine 
reiche  Mannigfaltigkeit: 

Bildnisse  lebender  Per¬ 
sonen,  Darstellungen  nach 
dramatischen  Werken  und 
anderen  Dichtungen,  Land¬ 
schaften,  dekorative  Ent¬ 
würfe.  Eine  echte  Künst¬ 
lernatur,  stand  Marshall 
noch  immer  in  regstem 
Verkehr  mit  der  »ewig 
beweglichen,  immer  neuen 
seltsamen  Tochter  Jovis, 
seinem  Schosskinde,  der 
Phantasie.«  Treu  geblieben 
war  ihm  auch  die  Fähig¬ 
keit,  selbst  verwickelte 
Vorwürfe  rasch  und  sicher 
zum  Bilde  zu  gestalten. 

Ebenso  hatte  er  sich  bis 
zuletzt  ein  grosses  tech¬ 
nisches  Können  bewahrt, 
besonders  im  Zeichnen 
mit  schwarzer  und  bunter 
Kreide,  auch,  wie  die  Skizze 
Abb.  1  zeigt,  mit  der  Feder. 

In  der  Ausführung  fehlte  jedoch  —  nicht  immer,  aber 
nur  zu  oft  —  die  Geschlossenheit,  der  packende  Ein¬ 
druck,  der  durch  kräftige  Betonung  des  Hauptsäch¬ 
lichen,  durch  geschickte  Verteilung  von  Licht  und 
Schatten,  vor  allem  durch  das  aus  den  Gestalten 
sprechende  innere  Leben  hervorgerufen  wird  und  der 
seinen  früheren  Arbeiten  in  so  hohem  Mass  eigen 
war. 

Die  Geistesverwandtschaft  mit  Amadeus  Hoffmann, 
die  Graf  Schack  alsbald  erkannt  hatte,  tritt  auch  in 
Marshall’s  späteren  Bildern  hervor.  Schon  die  Wahl 
der  Vorwürfe  ist  dafür  bezeichnend.  Neben  der  Hexe 
und  dem  Bremer  Ratskeller  seien  hier  noch  genannt: 


Der  Teufel  und  seine  Grossmutter,  ein  Bild  voll 
launiger  Satire;  Nächtlicher  Geisterritt  über  Hünen¬ 
gräber,  mit  stimmungsvoller  Landschaft;  Ahasver,  der 
ewige  Jude,  wie  er  den  auf  dem  Gang  nach  Golgatha 
ermatteten  Heiland  von  seiner  Thür  weist,  nach  Goethe; 
Petrus  und  die  Landsknechte  an  der  Himmelspforte, 
nach  Hans  Sachs.  Als  die  Schriftenvertriebsstelle  in 
Weimar  eine  illustrierte  Ausgabe  von  Hoffmann’s 
Meister  Martin  mit  seinen  Gesellen  veranstaltete,  leistete 

Marshall  der  Aufforderung  zur  Mitarbeit  freudig 

Folge.  Vielfach  waren  auch  jetzt  noch  seine  Gedanken 
dem  Theater  zugewandt,  obgleich  dessen  Besuch  ihm 

schon  lange  versagt  war. 
Hamlet,  den  Totenkopf 
in  der  Hand,  auf  dem 
Kirchhofe,  der  eingebildete 
Kranke,  der  Tod  der 
Emilia  Galotti,  Don  Juan’s 
Ende  bildeten  Glieder 
einer  Kette,  die  er  zu 
gelegener  Zeit  weiter  zu 
führen  im  Sinn  hatte.  Als 
Entwurf  für  einen  Theater¬ 
vorhang  zeichnete  er  den 
Traum  des  Hans  Sachs, 
der  über  der  Arbeit  ein¬ 
geschlummert  ist  und  dem 
die  Poesie,  gefolgt  von 
einer  Engelschar,  den 
Lorbeer  reicht,  umrahmt 
von  allegorischen  Gestal¬ 
ten  und  Sinnbildern.  Hans 
Sachs  gehörte  überhaupt 
zu  seinen  Lieblingen. 
Für  den  Saal  des  Ver¬ 
eins  für  Volkswohl  hat  er 
sein  Bildnis  als  Schmuck¬ 
stück  gemalt  (Abb.  7) 
und  ihm  später  den  Jo¬ 
hannes  Gutenberg  in  ähn¬ 
licher  Ausführung  beige¬ 
sellt. 

Vorhin  wurde  auf  die 
Bedeutung  des  Landschaft¬ 
lichen  bei  dem  nächtlichen 
Geisterritt  hingewiesen. 
Dasselbe  gilt  von  dem  Tod 
des  Evangelisten  Johannes, 
einem  Gemälde,  das  an  Salvator  Rosa,  auch  einen 
Geistesverwandten,  erinnert;  ebenso  von  der  Zeich¬ 
nung  »Amor  als  Landschaftsmaler«  (nach  Goethe)  und 
von  den  Skizzen  zu  einem  Herkules  am  Scheidewege 
und  zu  einem  Paris-Urteil  (Abb.  8).  Von  seinen 
sonstigen  Landschaften  möchte  ich  dem  Blick  auf 
Capri«  (in  auswärtigem  Privatbesitz)  den  Vorzug 
geben,  der,  gleich  der  Mehrzahl  der  anderen  rein 
aus  dem  Gedächtnis  gemalt,  den  Charakter  des  be¬ 
gnadeten  Eilandes  mit  seinem  leuchtenden  Himmel 
trefflich  wiedergiebt. 

Besondere  Vorliebe  und  Befähigung  hatte  Marshall 
für  dekorative  Aufgaben.  Mehrere  seiner  grossen 


Abb.  7.  Hans  Sachs 
Eigentum  des  Vereins  für  Volkswohl 


202 


JAMES  MARSHALL 


Kohle-  und  Kreidezeichnungen  sind  mit  sinnigen 
bunten  Umrahmungen  eingefasst.  Überaus  geschickt 
ist  die  Raumeinteilung  und  die  Anordnung  der  mannig- 
fs’ligen  Motive  z.  B.  in  der  als  Entwurf  zu  einem 
vT'jSsen  Wandbilde  gedachten  Zeichnung:  der  Welt- 
hcmdeb ,  das  der  Handelskammer  Leipzig  gehört. 
Auch  auf  die  Ausstattung  des  Hans  Sachs-Bildnisses 
ist  hier  nochmals  hinzuweisen;  ebenso  auf  die  früher 
erwähnten  gemalten  Lächer.  Kleinerer  Arbeiten  auf 
diesem  Gebiete,  die  er  in  Mussestunden  schuf,  giebt 
es  noch  viele. 


Können  wir  auf  das  wechselvolle  Leben  des 
hochbegabten  Künstlers  nicht  ohne  Wehmut  zurück¬ 
blicken,  so  dürfen  wir  uns  doch  sagen,  dass  manche 
seiner  Werke  auch  noch  die  späteren  Nachkommen 
erfreuen  oder,  wie  die  Gemälde  in  unserer  Luther- 
Kirche,  zu  ihrer  Erbauung  beitragen  werden.  Wer 
ihm  persönlich  näher  gestanden  hat,  dem  wird  er  im 
Herzen  fortleben  als  ein  liebenswürdiger,  hochgesinnter 
Mensch,  als  ein  Künstler,  dem  seine  Kunst  bis  zur 
letzten  Stunde  Lebenselement  und  allezeit  heilig  war. 

Leipzig,  im  März  1903.  /.  GENSEL. 


Abb.  8.  Paris-U/ieil.  Dekorativer  Entwurf,  Privatbesitz 


ZU  DEN  RADIERUNGEN 


Die  beiden  jungen  Künstler,  welche  diesem  Hefte 
Radierungen  beigesteuert  haben,  kommen  aus  der 
Schule  Peter  Halm’s.  Während  Hans  Volkert,  ein 
Hamburger  von  Geburt,  noch  am  Anfänge  seiner 


freien  Laufbahn  steht,  hat  sich  Georg  Mayr  schon 
einen  Namen  gemacht;  die  sehr  delikate  Art  seiner 
Nadelführung  verdient  weiteren  Kreisen  bekannt  zu 
werden. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H  ,  Leipzig 


ORIOINALRADIERUNO  VON  HANS  VOLKERT  (MÜNCHEN) 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1903 


DRUCK  VON  aiKSKCKIO  &  DISVRIKNT  IN  LEIPZIG 


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ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1903 


HEINRICH  REIFFERSCHEID,  BISCHOF  WEBER 


DRUCK  VON  aiESECKE  &  DEVRIENT  IN  LEIPZIG 


PORTRÄT  DES  ZEHNJÄHRIGEN  EEDERICO  GONZAGA  VON  FRANCESCO  RAIBOLINl  GENANNT  FRANCIA 

DREI  VERSCHOLLENE,  KÜRZLICH  WIEDEROEFUNDENE 

MEISTERWERKE 


Die  alljährlichen  Altmeisterausslellungen  in  Lon¬ 
don  haben  schon  wiederholt  Kunstschätze 
ans  Tageslicht  gebracht,  die  Jahrhunderte 
hindurch  auf  entlegenen  Landschlössern  Englands 
verborgen  geblieben  waren.  So  wurde  unlängst  auf 
der  letzten  »Burlington  Fine  Art  Exhibition«  von 
Mr.  Herbert  Cook  ein  Knabenporträt  als  dasjenige 
identifiziert,  welches  Francia,  wie  aus  den  Dokumenten 
des  Gonzaga- Archivs^)  hervorgeht,  im  Jahre  1510 
für  Isabelia  d’Este  gemalt  hat,  als  ihr  Sohn  Federico 
Gonzaga  auf  seinem  Wege  nach  Rom  durch  Bologna 
reiste.  Der  Marchese  Gian  Francesco  von  Mantua, 
Isabella’s  Gatte,  war  nämlich,  wie  bekannt,  nach  der 
Schlacht  von  Legnano  in  die  Gefangenschaft  der 
Venetianer  geraten,  aus  der  ihn  Julius  II.  unter  der 
Bedingung  befreit  hatte,  dass  sein  ältester  Sohn  als 
Geisel  nach  dem  Vatikan  gebracht  würde.  Isabelia, 
die  sich  nur  mit  schwerem  Herzen  von  diesem  ihrem 
Lieblingssohn  trennen  konnte,  wollte  nun  vorher 

1)  Professor  A.  Luzio,  Emporium  igoo. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  ii. 


dessen  Bild  malen  lassen.  Diese  interessante  Frauen¬ 
erscheinung  der  Renaissance,  deren  Leben  uns  in 
einer  eben  erschienenen  Monographie^)  überaus  fesselnd 
erzählt  wird,  stand  mit  den  grossen  Geistern  ihrer 
Zeit  in  lebhaftem  Verkehr.  Auch  als  Förderin  der 
Künste  war  sie  in  beständigem  Briefwechsel  mit 
Malern  wie  Gian-Bellini,  Mantegna,  Leonardo,  Peru- 
gino  und  Lorenzo  Costa.  Letzterer  bekleidete  bei  ihr 
die  Würde  eines  Hofmalers,  schien  jedoch  zur  Zeit 
nicht  im  stände  gewesen  zu  sein,  das  von  Isabelia 
gewünschte  Porträt  ihres  Sohnes  für  den  festgesetzten 
Termin  fertig  zu  stellen.  Die  Fürstin  wandte  sich 
deshalb  an  Francia,  damals  auf  der  Höhe  seines 
Ruhmes.  Lucrezia  Bentivoglio,  eine  Anverwandte 
der  Gonzagas,  die  den  Bologneser  Meister  besonders 
patronisierte,  veranlasste  Isabelia  um  jene  Zeit,  auch 
ihr  eigenes  Bild  von  Francia  malen  zu  lassen  und  es 
wurde  zu  diesem  Zwecke  sogar  ein  Porträt  der  Fürstin 
von  Mantua  nach  Bologna  geschickt,  weil  sie  eine 

1)  Isabelia  d’Este  by  Julia  Cartwriglit.  Murray. 


34 


DREI  VERSCHOLLENE,  KÜRZLICH  WIEDERGEFUNDENE  MEISTERWERKE 


264 


grosse  Abneigung  zu  haben  schien,  selbst  Modell  zu 
:tzi-  L'teressant  ist  aber  die  Thatsache,  dass  dieses 
i  '-M  .on  Francia  gemalte  Porträt  Isabella’s,  das 
lach  -v/cr  eigenen  Aussage  besonders  liebte, 
•eil  sie  darauf  schöner  erschien  als  sie  je  gewesen  , 
1536  vor.  Tizian  benutzt  wurde,  um  die  gealterte 
Fürstin  die  '.er  berühmte  Venetianer  Maler  schon 
um  ;  als  Fünfzigerin  gemalt  hatte,  auf  ihren  be- 
siu. deren  v.  ach  hin  nun  nochmals  verjüngt  dar- 
zua-i:;a..i.  'ieses  von  Francia  inspirierte,  von  Tizian 
;e  -ad  .päterhin  von  Rubens^)  kopierte  Porträt 
der  i  dr die  Kubella 
\  o  t  Ma.diia  ist  jetzt 
In  der  Kaiserlichen 
Gemäldegalerie  zu 
Wien ;  dasselbe,  wel¬ 
ches,  wie  Professor 
Luzio  in  einer  inter¬ 
essanten  Abhand¬ 
lung-)  hervorhebt, 
eine  nicht  zu  ver¬ 
leugnende  Ähnlich¬ 
keit  mit  einer  be¬ 
kannten  leonardes- 
ken  Zeichnung  in 
den  Uffizien  hat,  so 
dass  man  wirklich 
in  jenem  von  einem 
feinen  Lächeln  ver¬ 
klärten  Frauenkopf 
ein  Echo  aus  Isa¬ 
bella’s  Jugendzeit, 
von  Leonardo  fest¬ 
gehalten,  vermuten 
möchte. 

Das  Bild  des 
jungen  Gonzaga,  auf 
das  wir  nunmehr 
wieder  zurückkom¬ 
men,  war  eine  Lei¬ 
stung  Francia’s,  die 
Isabel la  überaus  be¬ 
friedigte.  Es  er- 
giebt  sich  dies  aus 
folgendem  Briefe: 

Es  ist  unmöglich«, 
schreibt  sie  an  ihren 
bewährten  Freund, 
den  Dichter  Giro- 
lamo  Casio,  »ein  besseres  oder  ähnlicheres  Bild  von 
Federico  zu  sehen,  und  ich  bin  wirklich  erstaunt, 
dass  der  Künstler  ein  so  vollkommenes  Werk  in  so 
kurzer  Zeit  fertig  bringen  konnte«.  Sie  sandte  Francia 
zur  Belohnung  30  Dukaten,  eine  Summe,  die  dem 
bescheidenen  Künstler  zu  hoch  erschien.  Zugleich 
sprach  aber  die  Fürstin  den  Wunsch  aus,  er 
möge  das  Haar,  das  ihr  auf  dem  Porträt  zu 


1)  Diese  Kopie  von  Rubens  ist  nur  in  einem  Stich 
nach  Vostermann  auf  uns  gekommen. 

2)  Emporium:  i  Ritratti  d’lsabella  d’Este. 


hellblond  erschien,  etwas  nachdunkeln.  Zu  diesem 
Zweck  wurde  nun  das  Bild  des  jungen  Gonzaga 
nach  Bologna  zurück  geschickt,  wo  es  Gian  Fran¬ 
cesco,  Herzog  von  Mantua,  der  sich  eben  daselbst 
mit  Papst  Julius  aufhielt,  zu  sehen  bekam.  Der 
hocherfreute  Vater  zeigte  das  Porträt  Seiner  Heilig¬ 
keit  und  es  soll  unter  den  Kardinälen  so  viel  Be¬ 
wunderung  erregt  haben,  dass  es  sogar  ohne  die 
Erlaubnis  Isabella’s  nach  Rom  entführt  wurde. 

Entrüstet  darüber  liess  die  Fürstin  jedoch  das  Bild 
sofort  wieder  nach  Mantua  zurücksenden. 

Um  so  merk¬ 
würdiger  ist  nun 
die  Thatsache,  dass 
Isabella  sich  von 
diesem  ihr  so  lieb 
gewordenen  Porträt 
ihres  abwesenden 
Sohnes  schon  nach 
einem  Jahre  freiwil¬ 
lig  trennte;  aller¬ 
dings  um  sofort, 
wie  aus  einem  ihrer 
Briefe  an  den  Er¬ 
zieher  ihres  Sohnes 
in  Rom  hervorgeht, 
ein  anderes  Bild 
von  ihm  von  Raffael 
da  Urbino  malen  zu 
lassen  .  Das  von 
Francia  aber  ver¬ 
schenkte  sie  an  einen 
Herrn  von  Ferrara, 
Gian  Francesco 
Zaninello.  Ihm  hatte 
sie  schon  vorher  ihr 
eigenes,  das  oben 
erwähnte  von  dem¬ 
selben  Meister  ge¬ 
malte  Bild  verehrt, 
so  dass  nun  der 
glückliche  Besitzer 
dieser  beiden  Ge¬ 
mälde,  die  in  Ferrara, 
der  Heimat  Isa¬ 
bella’s,  grosses  Auf¬ 
sehen  erregten,  sagen 
konnte,  als  er  das 
Porträt  des  jungen 
Gonzaga  zu  dem  der  Fürstin  als  Pendant  bekam: 
»Er  besitze  Venus  und  Amor«.  Zaninello,  den 
die  Fürstin  in  dieser  Weise  auszeichnete,  war  ein 
feinsinniger  Sammler  von  Kunstschätzen  und  hatte 
Isabella  unter  anderem  einen  herrlich  gebundenen 
Kodex  von  den  Dichtungen  Antonio  Pistoja’s 
mit  einer  Widmung  verehrt.  Die  hochherzige 
Frau  fühlte  sich  deshalb  zu  grossem  Dank  ver¬ 
pflichtet  und  glaubte  sogar,  sich  von  dem  Porträt 
ihres  Sohnes  trennen  zu  müssen,  um  Zaninello,  der 
wohl  seinerseits  durch  Prosperi,  ihren  Korrespondenten 
aus  Ferrara,  unterfliessen  liess,  was  ihn  als  Gegen- 


VENUS  UND  MARS  VON  PAOLO  VERONESE 


DREI  VERSCHOLLENE,  KÜRZLICH  WIEDERGEFUNDENE  MEISTERWERKE 


265 


gäbe  am  höchsten  erfreuen  würde,  genügend  zu  be¬ 
lohnen. 

Somit  ist  nunmehr  klar  gelegt,  warum  Francia’s 
anmutiges  Knabenporträt  nicht  mit  der  Gonzaga- 
Sammlung  1629  nach  England  gekommen  ist.  Hatte 
doch  dasselbe  um  jene  Zeit  Mantua  schon  längst 
verlassen.  Der  Vater  des  jetzigen  Besitzers  Mr.  A. 
W.  Leatham  soll  das  Bild  im  letzten  Jahrhundert  in 
Paris  von  der  Napoleon-Sammlung  erworben  haben. 

Stilkritisch  betrachtet,  ist  dieses  Porträt  des  zehn¬ 
jährigen  Prinzen  von 
Gonzaga  zwar  ein 
flüchtiges,  doch  des¬ 
halb  nicht  minder 
anziehendes  Werk 
des  Bologneser  Mei¬ 
sters.  Der  träume¬ 
rische  nach  innen 
gekehrte  Blick  des 
Gonzagaknaben,  die 
weichen  vollen  Lip¬ 
pen,  der  etwas  me¬ 
lancholisch  ange¬ 
hauchte  Gesichts¬ 
ausdruck,  die  be¬ 
sondere  Sorgfalt,  die 
auf  den  Degengriff, 
die  Halskette  mit  der 
Perle  und  die  gol¬ 
dene  Medaille  (an¬ 
geblich  eine  Arbeit 
Caradosso’s)  im 
Samtbarett  verwandt 
ist  und  den  früheren 
Goldschmidt  ver¬ 
raten  ,  sprechen 
durchaus  für  Fran- 
cia.  Porträts  von 
Francesco  Raibolini 
sind  höchst  selten 
und  es  kann  des¬ 
halb  vergleichsweise 
hier  nur  das  be¬ 
glaubigte  Brustbild 
von  Evangelista 
Scappi  in  den  Uffi¬ 
zien,  in  Betracht  ge¬ 
zogen  werden,  mit 
dem  obiges  Werk 
unleugbare  Analo¬ 
gien  in  der  Landschaft  und  der  Zeichnung  der 
Hände  hat. 

Ausser  dem  Bilde,  das,  wie  nunmehr  dokumen¬ 
tarisch  erwiesen  ist,  Raffael  1513  ')  von  dem  jungen 
Gonzaga  in  Rom  gemalt  haben  soll  und  das  nach 
Crowe  und  Cavalcaselle  mit  einem  Porträt  in  der 
Alphonse  Rothschild -Sammlung  identifiziert  werden 
könnte,  hat  der  Urbinate  nach  Vasari  denselben  auch 
in  der  Schule  von  Athen  dargestellt.  Soll  doch  der 


schönste  der  vier  Jünglinge,  die  sich  in  der  Stanza 
della  Segnatura  um  Bramante  versammelt  haben,  der 
in  der  Nähe  von  Averroes  stehende  und  sich  vor¬ 
beugende,  Federico  von  Gonzaga  sein.  Da  es  sich 
nun  aber  aus  obigem  ergiebt,  dass,  als  dieses  Fresko 
von  Raffael  im  Jahre  1511  vollendet  wurde,  der  junge 
Gonzaga  noch  kaum  elfjährig  war,  so  müsste  an¬ 
genommen  werden,  dass  es  nicht  in  Raffael’s  Sinn 
liegen  konnte,  in  der  Schule  von  Athen  Porträtfiguren 
der  Nachwelt  zu  überliefern,  sondern  vielmehr  be¬ 
kannte  Persönlich¬ 
keiten  idealisiert  und 
den  Raumverhält¬ 
nissen  angemessen 
an  uns  vorüber¬ 
ziehen  zu  lassen. 
Nach  einem  Doku¬ 
ment  vom  1 6.  August 
1511  soll  der  junge 
Gonzaga,  der  wäh¬ 
rend  seines  ge¬ 
zwungenen  Aufent¬ 
halts  im  Vatikan  ein 
grosser  Liebling  da¬ 
selbst  geworden  war, 
nochmals  in  der 
Stanza  d’Eliodoro 
dargestellt  worden 
sein.  Aber  auch 
in  diesem  Fresko 
scheint  es  schwierig 
zu  sein,  einen  der 
Dargestellten  mit 
dem  Sohne  Isabella’s 
zu  identifizieren, 
dessen  der  Mutter 
ähnliche  Züge  in 
dem  nun  glück¬ 
lich  wiedergefunde¬ 
nen  Porträt  von 
Francia  der  Nach¬ 
welt  überliefert  wor¬ 
den  sind. 

Es  ist  ein  merk¬ 
würdiger  Zufall,  dass 
kurz  vor  der  Identi¬ 
fizierung  dieses  Bil¬ 
des,  das  für  fast  vier 
Jahrhunderte  ver¬ 
schwunden  war, 
auch  das  oben  erwähnte  Porträt  Tizian’s  von  der 
gealterten  Isabella  d’Este,  das  uns  bis  jetzt  nur  nach 
einer  Kopie  von  Rubens  (in  der  Kaiserlichen  Gemälde¬ 
galerie  in  Wien)  bekannt  war,  wiedergefunden  sein 
soll.  —  Aus  einer  englischen  Privatsammlung  ist 
dieses  Porträt  unlängst  zum  grossen  Bedauern  der 
englischen  Connoisseurs,  die  nur  ungern  Kunstschätze 
aus  England  entführt  sehen,  in  die  Kollektion  von 
M.  Leopold  Goldsclimidt  in  Paris  übergegangen. 

Ein  drittes  Bild,  das  ebenfalls  in  diesem  Jahre  und 
zwar  in  der  letzten  »Old  Master  Exhibition«  der 

34* 


MERKUR  UND  HERSE  VON  PAOLO  VERONESE 


i)  Archivio  Gonzaga. 


266 


DREI  VERSCHOLLENE,  KÜRZLICH  WIEDERGEFUNDENE  MEISTERWERKE 


Royal  Academy  der  Kunstgeschichte  wiedergegeben 
wurde,  ist  der  in  London  vielbesprochene  Paolo  Vero¬ 
nese  im  Besitz  Lord  Wimborne’s;  ein  frühes,  gut  erhal- 
:ene=  Werk  des  Meisters,  das  Stilanalogien  mit  dem 
Raub  der  Europa«  im  Dogenpalast  verrät  und  am 
Sockel  einer  Säule  die  volle  Signatur  »Paolos  Vero- 
nensis  f.<  zeigt. 

Die  auf  diesem  Bilde  Dargestellten  sind  als  Venus 
und  Mars  bezeichnet  worden.  Es  scheint  jedoch 
wahrscheinlicher,  dass  die  Liebesgöttin  wohl  eher  die 
Personifikation  einer  reizvollen  Frau  sein  soll,  die 
ihren  Geliebten  in  Banden  hält,  wie  durch  den 

Amor  links  angedeutet  ist;  auch  ist  der  vermeint¬ 
liche  Kriegsgott  viel  eher  eine  Porträtfigur  der 

bei  seiner  Geliebten  Ruhm  und  Ehre  vergisst. 
Vernachlässigt  lässt  er  sein  allerdings  etwas  zahm  dar¬ 
gestelltes  Schlachtross  beiseite  stehen ,  von  einem 
zweiten  Amor,  der  sich  seines  Schwertes  bemächtigt 
hat,  zurückgehalten. 

Nach  Crozat^)  gehörte  einst  dieses  Bild  zu  einer 
Serie  von  neun  allegorischen  Darstellungen,  die  früher 
im  Besitz  der  Königin  Christine  von  Schweden  waren, 
späterhin  in  die  Orleans-Kollektion  übergingen  und 
dann  zerstreut  worden  sind.  Drei  aus  dieser  Serie  von 
neun,  darunter  eine  ähnliche  Komposition  wie  die 
obige  Venus  im  Begriff  Mars  zu  entwaffnen«  oder 
wohl  eher  ein  zu  seiner  Geliebten  heimkehrender 
Krieger,  sind  gegenwärtig  nicht  mehr  nachweisbar. 
Ein  viertes  Bild  dieser  Serie  aber  ist  der  bekannte 
Paolo  Veronese  im  Fitz-William-Musemn,  Cambridge, 
Merkur  darstellend,  wie  er  die  eifersüchtige  Aglauros, 
die  ihm  den  Eintritt  zu  ihrer  Schwester  Herse  ver¬ 
wehren  möchte,  in  Stein  verwandelt,  ein  aus  Ovid’s 
Metamorphosen  entnommenes  Sujet").  Herse,  eine 

1)  Receuil  d’Estampes  d’apres  les  plus  beaiix  tableaux 
du  Roi  etc.  .  .  . 

2)  Metain.  11,  707—832. 


der  drei  Tauschwestern,  ist  hier  in  einem  luxuriös 
ausgestatteten  Gemach  dargestellt,  wie  sie  plötzlich  in 
ihrem  Saitenspiel  unterbrochen,  ihren  Blick  erschreckt 
auf  die  unglückliche  Gefährtin  heftet.  Ein  faltenreiches 
blaues  Gewand  fällt  ihr  über  die  linke  Schulter, 
während  die  entblösste  Brust  nur  teilweise  von  einem 
lichten  Oberhemd  bedeckt  ist.  Auf  diesem  ebenfalls 
mit  der  vollen  Signatur  des  Meisters  bezeichneten 
Bilde  finden  wir  denselben  Silberton  vorherrschend 
wie  auf  Mars  und  Venus«,  dieselbe  Haartour,  der 
identische  Perlenschmuck.  Doch  ist  die  Liebesgöttin 
im  Gegensatz  zur  Herse  fast  ohne  jedwede  Bekleidung 
dargestellt;  ihr  weisses  Oberhemd  hängt  über  dem 
plätschernden  Brunnen  und  der  tiefblaue  Mantel,  der 
sich  vorteilhaft  gegen  die  lichten  Fleischtöne  abhebt, 
gleitet  ihr  lose  von  den  Hüften  herab.  Die  unver¬ 
kennbare  Analogie  dieser  beiden  Schöpfungen  Paolo 
Veronese’s,  die  auch  im  Mass  fast  genau  überein¬ 
stimmen  (ungefähr  acht  Fuss  bei  sechs  Fuss)  deutet 
darauf  hin,  wie  schon  oben  erwähnt,  dass  sie  höchst 
wahrscheinlich  für  ein  und  dieselbe  Serie  gemalt  worden 
sind.  Dies  kann  jedoch  kaum,  wie  Crozat  behauptet, 
der  Fall  sein  mit  jenen  vier  allegorischen  Gruppen 
Paolo  Veronese’s  in  der  National-Gallery  (Nr.  1318, 
1324,  1325,  1326),  die  ebenfalls  aus  der  Orleans- 
Sammlung  stammen.  Ihrer  perspektivischen  Eigen¬ 
schaften  wegen  waren  sie  ursprünglich  wohl  für 
Deckengemälde  bestimmt  und  hingen  deshalb  auch 
im  Palais  Royal  über  den  vier  grossen  Türen  des 
Grand  Salon.  Es  gehören  dieselben  zweifellos  einer 
späteren  Periode  des  Meisters  als  das  Bild  Lord  Wim¬ 
borne’s  an,  das  alle  Eigenschaften  seiner  früheren 
Malweise  zeigt.  Zum  Schluss  muss  noch  bemerkt 
werden,  dass  dieses  Gemälde  ganz  kürzlich  bei  Christies 
den  Preis  von  6000  Guineen  erreicht  hat  und  nun¬ 
mehr  in  den  Besitz  von  W.  Wertheimer  übergegangen 
ist.  LOUISE  M.  RICHTER. 


TH.  V.  GOSEN 


BROSCHE 


THEODOR  VON  GOSEN 


WENN  das  Schopenhauer’sche  Wort,  dass  man  vom  dreissigsten  Jahre 
an  nichts  Neues  mehr  erlebt,  bei  Künstlern  noch  viel  mehr  als  bei 
anderen  Sterblichen  individuell  bedingt  ist,  so  bleibt  doch  soviel 
sicher,  dass  dieses  Alter  ungefähr  bei  jeder  originellen  Künstlernatur  einen 
entscheidenden  Abschnitt,  die  Festlegung  der  künstlerischen  Persönlichkeit  be¬ 
zeichnet.  Damit  ist  das  Leitmotiv  für  alles  spätere  Schaffen  gegeben.  Die 
nächsten  Jahre  und  Jahrzehnte  mögen  die  grossen  Aufgaben,  die  volle 
Reife  der  Meisterschaft  und  der  Erfahrung,  Kampf  und  Erfolg  bringen, 
alles  das  vermag  den  künstlerischen  Charakter  nur  schärfer  auszuprägen, 
aber  nicht  mehr  wesentlich  zu  ändern.  Man  darf  füglich  bei  einem  dreissig- 
jährigen,  in  frischer,  selbständiger  Kraft  schaffenden  Bildhauer  Halt  machen 
und  einen  Überblick  über  seine  wichtigsten  Arbeiten  versuchen,  ohne  Sorge, 
ihn  auf  Jugendwerke  festzunageln,  die  von  kommenden  grösseren  in  Schatten 
gestellt  werden  könnten.  Was  Theodor  von  Gosen  bis  jetzt  geschaffen,  hat 
einen  so  ausgeprägten  persönlichen  Stil,  soviel  Qualität  und  Wert  in  der 
Entwickelung  der  modernen  deutschen  Plastik,  dass  es  volle  Beachtung  verdient. 
Der  Künstler  ist  aus  Augsburg  gebürtig  und  Schüler  der  Münchner  Kunst¬ 
gewerbeschule  und  der  Akademie,  besonders  des  Professors  W.  von  Rümann, 
den  eine  ganze  Reihe  namhafter  junger  Bildhauer  mit  Verehrung  ihren  Lehrer 
nennt.  Gosen’s  künstlerische  Entwickelung  fällt  ganz  mit  dem  Aufschwung 
der  modernen  deutschen  Kunst  zusammen,  er  brauchte  nicht  erst  umzulernen 
und  Kraft  zu  vergeuden,  er  lebte  diese  beispiellos  regsame  und  triebkräftige 
TH.  v.  GOSEN,  GEIGENSPIELER  Zeit,  WO  jeder  Tag  neue  Ideen,  neue  Formen,  neue  Wege  und  Ziele  brachte, 

von  Anfang  an  und  in  Begeisterung  schaffend  mit.  Als  Pankok,  Paul  und 
Riemerschmid  1897  die  Münchener  Vereinigten  Werkstätten  für  Kunst  im  Handwerk  gründeten,  wurde  er  einer 
der  ihren  und  schmückte  die  modernen  Einrichtungen  mit  Bronzestatuetten  und  Ziergerät  von  hervorragend 
vornehmem  Geschmacke,  ruhig  in  den  Linien,  ernst  und  herb  im  Ausdruck  und  durchgebildet  in  der 
Form.  Es  ist  eigentlich  kein  Wunder,  dass  nach  der  Periode  der  kunstlos  in  kalter  Mache  hergestellten 
Kleinbronzen  diese  entzückenden  Arbeiten  Gosen’s  rasch  bekannt  und  geschätzt  wurden  und  wie  Schar- 
vogel’s  Steinzeug  auch  da  Eingang  fanden,  wo  man  sich  anderen  modernen 
Kunstprodukten  gegenüber  abwehrend  verhielt,  ln  diesen  Statuetten  und  figür¬ 
lichem  Schreib-  und  Schmucktischgerät  begegnet  immer  wieder  die  Frauengestalt, 
meist  nackt,  bisweilen  auch  in  moderner  Kleidung.  Er  stilisiert  und  vereinfacht 
die  Formen,  aber  immer  ersichtlich  auf  Grund  unablässiger  Naturbeobachtung 
auch  bei  den  kleinsten  Figürchen  an  einem  Petschaft,  einer  Schmuckschale  oder 
Gürtelschliesse.  Dabei  sind  seine  Frauengestalten  in  den  Proportionen  das  genaue 
Gegenteil  von  Valgreen’s  langgezogenen,  schemenhaften  Bildungen,  sie  sind  eher 
stämmig,  schenkelstark  und  sehnig.  Immer  eignet  ihnen  ein  stilles,  ernstes 
Wesen  mit  einfachen,  natürlichen  und  dabei  vornehmen  Bewegungen,  und  ein 
Antlitz  eigenartig  herb  im  Umriss  und  Ausdruck.  Mit  Vorliebe  patiniert  er  die 
Bronzen  dunkel  bis  schwärzlich  und  weiss  immer  in  Formen  und  Farbe  fein 
dazu  stimmende  Sockel  zu  bilden.  Zwei  seiner  bekanntesten  Damenstatuetten, 
die  eine  Dame  in  moderner  Strassentoillette,  die  andere  in  einfachem  Gesell¬ 
schaftskleide,  sind  ausnahmsweise  in  versilberter  Bronze  gebildet, 
ein  reizendes  Kinderfigürchen  in  Holz  geschnitzt.  Als  das 
feinste  Stück  unter  den  Einzelbronzen  darf  der  »Geiger«  gelten, 
den  die  Abbildung  vorführt.  Mögen  verwandte  und  mitstrebende 
Künstler  wie  Ludwig  Habich,  Fritz  Klimsch,  Ignatius  Taschner, 

Hermann  Hahn,  Georg  Wrba,  Frau  Sophie  Burger-Hartmann 
dem  Gosen  in  seinen  Statuetten  und  Zierfiguren  nahe  kommen, 
ihn  in  anderen  Punkten  übertreffen,  so  hätte  doch  keiner  diesen 
Geiger  besser  machen  können.  Wie  fein  beobachtet,  wie  frei 
und  situationsgerecht,  wie  straff  im  Aufbau  und  weich  in  der 
Silhouette  steht  dieser  Typus  eines  jungen  Geigenkünstlers  da. 


TH.  V.  GOSEN,  SCHMUCKSCHALE 
(SCHALE  VON  I.  SCHARVOGEL) 


268 


THEODOR  VON  GOSEN 


Man  spricht  so  häufig  von  den  Schwierigkeiten  des 
modernen  Kostüms  für  den  Plastiker;  hier  sehen  wir 
die  genrehaften,  modischen  Kleinlichkeiten  unterdrückt 
und  durch  das  Ver¬ 
tauschen  der  Röhrenhose 
mit  der  Kniehose  die 
schöngeformten  Beine  in 
Wirkung  gesetzt.  Die 
Figur  ist  U  b-r;  dig  und 
iiiiiig  i;inj)fujdc.i,  vor¬ 
nehm  imd  ernst  und 
auch  ■  chniich  gut  und 
:iiit  i'ikantcrie  so  ge- 
Löldet,  dass  das  Licht 
reich  mi  die  Formen 
spielt  und  das  Ganze 
wie  eine  lebende  Figur 
von  Luft  umgeben  er¬ 
scheint.  —  Natürlich 
hat  er  sich  auch  auf 
einem  Lieblingsgebiet 
der  modernen  Plastik: 
der  Plakette  betätigt  und 
einige  feine  Porträt¬ 
plaketten  ausgeführt,  aber 
wichtiger  noch  sind  seine 
mustergültigen  Entwürfe 
für  Schmuck  und  Pracht¬ 
geräte  aus  Edelmetallen. 

Auch  beim  Schmuck  be¬ 
währt  er  sich  als  echter 
Plastiker,  indem  er  selbst 
in  diesen  winzigen  de¬ 
korativen  Reliefs  die 
Menschenfigur  mit  vor¬ 
nehmem  Geschmack  und 
feinem  modernen  Em¬ 
pfinden  verwendet.  Er 
zeigt  da,dass  ein  Schmuck 
um  höchst  modern  zu 
sein,  nicht  Lalique  nach¬ 
empfunden  oder  im  bel¬ 
gischen  Schnörkelstil 
oder  mit  stilisiertem 
Pflanzenornament  ge¬ 
bildet  zu  sein  braucht. 

Ich  wüsste  unter  den 
deutschen  Broschen  und 
Gürtelschliessen  nichts 
reizvolleres  zu  nennen, 
als  diese  aus  weichen 
Umrahmungslinien  und 
fein  hineingesetzten  Fi¬ 
guren  in  durchbroche¬ 
ner  Arbeit  gebildeten 
Schmuckstücke  Gosen’s. 

Als  es  für  dieVereinigten 
Werkstätten  galt,  für  die  Pariser  Weltausstellung  1900 
Elitearbeiten  in  dem  spezifisch  modernen  Stile,  wie 
ihn  die  Vereinigten  Werkstätten  vertreten,  vorzubereiten, 
da  entwarf  von  Gosen  den  schönen  silbernen  Tafel¬ 


aufsatz,  den  unsere  Abbildung  zeigt.  Vielleicht 
stammt  die  erste  Anregung  zu  diesem  Werke  nicht 
von  ihm  selbst  oder  er  achtete  nicht  darauf,  dass  er 

viel  gute  Arbeit,  Sinnen 
und  Fühlen  auf  eine 
Aufgabe  verwendete,  die 
im  wesentlichen  nicht 
mehr  modernen  Bedürf¬ 
nissen  entspricht.  Es 
werden  ja  noch  gelegent¬ 
lich  Primktafelaufsätze 
für  königliche  oder 
städtische  Silberkammern 
verlangt,  noch  mehr  als 
Ausstellungsstücke  her¬ 
gestellt,  aber  gerade  auf 
der  Tafel  des  modernen 
Hauses  ist  der  grosse 
Tafelaufsatz  nicht  mehr 
recht  am  Platze.  Er  hatte 
noch  guten  Sinn  auf  dem 
grossen  runden  Speise¬ 
tisch  der  Biedermaierzeit, 
aber  er  hindert  den  Über¬ 
blick  und  die  Konver¬ 
sation  an  der  modernen 
Langtafel  und  isoliert 
den  Ehrengast,  vor  dem 
er  doch  notwendiger¬ 
weise  aufgepflanzt  wer¬ 
den  muss.  Da  hat  Leonard 
mit  seinen  Shawltänze- 
rinnen  in  Sevresporzellan 
das  Problem  des  moder¬ 
nen  Tafelzierats  reizvoll 
und  leicht  gelöst.  Also 
zugegeben ,  dass  der 
Prunktafelaufsatz  über¬ 
haupt  nicht  mehr  mo¬ 
dernen  Lebensgewohn¬ 
heiten  entspricht,  so 
bleibt  doch  der  Gosen- 
sche  Aufsatz  unter  den 
zahlreichen  und  zum  Teil 
sehr  kostbaren  Arbeiten 
derart  aus  den  letzten 
Jahren  bei  weitem  der 
geschmackvollste  und 
feinste.  Er  ist  z.  B.  unver¬ 
gleichlich  künstlerischer 
als  der  Springbrunnen  für 
Eau  deCologne  von  Her¬ 
meling  für  den  Stadt¬ 
schatz  von  Köln  gefertigt, 
der  zugleich  mit  dem 
Gosen’schen  Aufsatz  in 
Paris  zu  sehen  war.  Wenn 
man  die  Beschreibung  Schnütgen’s  in  der  Skaiaschen 
Zeitschrift  Kunst  und  Kunsthandwerk  über  diesen 
Tischbrunnen  liest  oder  sich  das  Original  jetzt  in  der 
Dresdner  Städteausstellung  ansieht,  so  kann  man  nur 


TH.  V.  GOSEN,  SILBERNER  HOCHZEITSPOKAL 


THEODOR  VON  GOSEN 


26g 


seufzen:  O  weh,  0  weh,  was  ist  in  diese  Goldschmiede¬ 
arbeit  nicht  alles  hineingepfropft,  gotische  Architektur¬ 
teile,  Türme  und  Zinnen,  Wappen  und  Embleme,  Kaiser 
und  Heilige  und  noch  viele  andere  stadthistorische 
Beziehungen.  Wenn  einmal  die  Väter  der  Stadt 
durch  einen  Zufall  drei  Stunden  lang  auf  einen 
hohen  Gast  warten  müssen,  dann  mag  ihnen  dieser 
Tafelaufsatz  unerschöpflichen  Stoff  für  stadtgeschicht¬ 
liche  Gespräche  bieten  .  .  .,  doch  kehren  wir  zu 
unserem  modernen  Aufsatz  zurück.  Er  ist  im  ganzen 
1  Meter  breit  und  75  Centimeter  hoch;  das  Mittel¬ 
stück  sowie  die  daran  anschliessenden  kleineren 
Schalen  sind  aus  blauglasiertem  Steinzeug  von  J.  Schar¬ 
vogel,  die  oberste  Schale  ist  Kristallglas,  das  das 
Ganze  tragende  Brett  nebst  den  Tieren  Palysander- 
holz.  Sämtliche  Figuren  sind  in  Silber  gegossen, 
die  grossen  Schalen  getrieben.  Das  das  Mittelstück 
umschliessende  Ornament  ist  mit  Perlen  und  Sternen  be¬ 
setzt,  die  durch  Kränze  umrahmte  Fläche  mit  Perlmutter 
eingelegt.  Leichte  Vergoldung  sitzt  an  den  Haaren  der 
weiblichen  Figuren  und  an  den  Rändern  und  Orna¬ 
menten  der  grossen  Schalen.  Mit  gutem  Grunde  hat  der 
Künstler  das  Werk  unten  weitausladend  und  am  oberen 
Teil  so  schmal  und  leicht  als  möglich  gebildet.  Der 


ganze  Aufbau,  so  einfach  und  klar  auf  den  ersten 
Blick,  hat  in  den  Proportionen  und  im  Umriss  so  viele 
Feinheiten,  so  viel  Schwung  und  Leben  in  den  Linien, 
dass  man  mit  immer  neuem  Entzücken  die  Augen 
darauf  ruhen  lässt.  Der  Aufsatz  harmoniert  in  seinen 
einschmeichelnden  Formen  und  in  seinen  ruhigen, 
tiefen  Farben  mit  den  besten  Möbeln  Pankok’s 
und  Riemerschmid’s,  aber  zeigt  doch  ganz  aus¬ 
geprägt  den  persönlichen  Stil  Gosen’s.  Sehr  reizvoll 
ist  die  Symbolik  und  Steigerung  in  der  organischen 
Entwickelung  der  Figuren:  unten  die  Fabeltiere,  dann 
die  dienenden  und  neugierig  nach  lichten  Höhen  auf¬ 
schauenden  Erdgeister,  dann  die  weichen,  aber  tekto¬ 
nisch  gebundenen  sitzenden  Frauengestalten  und  dann 
endlich  oben  die  drei  im  Tanzschritt  sich  bewegenden 
Frauen,  die  in  freier  schöner  Geste  die  strahlende 
Krislallschale  tragen.  Diese  Figuren  können  zu  den 
allerfeinsten  modernen  Statuetten  gezählt  werden,  ich 
würde  nur  Klinger’s  drei  tanzenden  Frauen  auf  dem 
Onyxsockel  den  Vorzug  geben,  sonst  wüsste  ich  unter 
modernen  Statuetten  nichts,  was  an  feiner  künstlerischer 
Durchbildung,  an  rhythmischen  Bewegungen,  an 
schönem  Faltenspiel  und  vornehmer  Einfachheit  diesen 
Figuren  gleichkommt.  —  Ein  anderes  hervorragend 


TH.  V.  OOSEN 


SILt^ERNER  TAFELAUFSATZ 


270 


THEODOR  VON  GOSEN 


schönes  Silberschmiedewerk  ist  der  hier  in  halber 
Grösse  abgebildete  Eamilienpokal,  der  voriges  Jahr 
zur  goldenen  Hochzeit  eines  Leipziger  Grosskaufmanns 
hergestellt  wurde.  Der  Entwurf  Gosen’s  gewann  in 
kleiner  Konkurrenz  den  Preis  und  wurde  vom  Hof¬ 
goldschmied  Theodor  Heiden  in  München  kunstge¬ 
recht  ausgeführt.  Man  könnte  auch  vom  Prunkpokal 
sagen,  dass  er,  da  die  Sitte  des  gemeinsamen  Trinkens 
aus  einem  Gefäss  aufgegeben  ist,  nicht  mehr  recht 
in  unsere  Zeit  passt,  aber  da  es  sich  hier  um  einen 
Auftrag  Handelt,  so  kommt  nur  die  künstlerische  Präge 
in  lietracht.  Auch  bei  dieser  Arbeit  zeigt  sich  Gosen’s 
erlest.rer  Geschmack  und  feines  Eormenempfinden. 
Schlank  und  in  organischer  Bildung  baut  sich  der 
Pokal  auf  einem  sechsseitigen,  mit  Perlmutter  ver¬ 
zierten  Pusse  auf.  Der  Knauf  ist  ein  baumartiges 
Gebilde,  aus  dem  sich  stark  stilisierte,  den  Körper 
umfassende  und  gliedernde  Zweige  erheben,  die  im 
Deckelknopf  zusammenlaufen.  Der  plastische  Schmuck 
sitzt  allein  am  Knauf  und  am  Deckel  und  zwar  sind 
es  unten  fein  durchgebildete  spannenlange  Statuetten 
eines  nackten  Mannes  und  einer  Prau,  die  in  gefälliger 
Stellung  und  in  dezenter  Symbolik  goldene  Kränze 
als  Anspielung  auf  die  goldene  Hochzeitsfeier  halten, 
während  oben  zwei  kleine  freche  Strassenjungen  kauern, 
einen  goldenen  Kranz  halten  und  Hurrah  schreien. 
Mit  Geschick  ist  die  lange  Aufschrift  dekorativ  ver¬ 
wendet  und  ein  besonderer  koloristischer  Reiz  durch 
die  mit  Metallglanz  harmonierenden  Perlmutterschalen¬ 
einlagen  nnd  Halbedelsteine  gewonnen.  Der  Pokal  ist 


bis  auf  den  figürlichen  Schmuck  vergoldet  und  der  ge¬ 
triebene  Körper  fein  gerauht.  —  Auch  auf  dem  Gebiete 
der  Grossplastik  hat  von  Gosen  eine  Reihe  beachtens¬ 
werter  Werke  geschaffen.  Ein  lebensgrosser  Perseus  in 
Marmor  auf  reich  mit  Fruchtgehängen  reliefiertem  Sockel 
gehört  zu  seinen  ersten  grösseren  Arbeiten.  Es  ist  eine 
ruhig  entwickelte,  kraftvolle  jünglingsgestalt,  stehend, 
und  den  linken  Fuss  auf  das  abgeschlagene  Medusen¬ 
haupt  setzend.  Mit  leichter  Änderung  hätte  er  diesen 
Perseus  auch  David  nennen  können,  wenigstens  giebt 
es  eine  Statuette  von  Habich  mit  sehr  ähnlichem  Stand¬ 
motiv  als  David  mit  dem  Haupte  Goliath’s.  Reifer 
noch  und  wahrhaft  monumental  ist  die  hermenartige 
Porträtbüste  des  Physiologen  Karl  von  Voit,  die  in 
ihrer  Vereinfachung  der  Formen  und  Betonung  der 
Hauptzüge  an  Arbeiten  Adolf  Hildebrand’s  erinnert. 
Zweimal  beteiligte  er  sich  an  Konkurrenzen  um  Sitz¬ 
standbilder  von  Robert  Schumann  und  Heinrich  Heine, 
und  obwohl  diese  Werke  nicht  zur  Ausführung  kamen, 
verdienen  sie  wegen  ihrer  Originalität  der  Auffassung 
und  des  tiefen  Stimmungsgehaltes  Beachtung,  ln  den 
letzten  Jahren  schuf  Gosen  mehrere  hübsche  Frauen¬ 
gestalten  und  Tierfiguren  als  krönende  Teile  an  Bauten 
des  feinsinnigen  Münchner  Architekten  Theodor  Fischer. 
—  Dieser  kurze  Überblick  über  Gosen’s  Schaffen  mag 
zeigen,  wie  wertvoll  und  persönlich  seine  Kunst  und 
wie  gerechtfertigt  es  ist,  in  ihm  eine  Hoffnung  der 
modernen  deutschen  Plastik  zu  sehen. 

FELIX  BECKER. 


TH.  V.  GOSEN,  HEINRICH  HEINE 
BRONZESTATUETTE 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQ03  .  HEINRICH  REIFFERSCHEID,  ERNTEFELD 


HEINRICH  REIFFERSCHEID 


w; 


OLLTE  man 
den  Wert  der 
Dinge  nach  der 
allgemeinen  Schätzung, 
die  sie  geniessen,  be¬ 
messen,  so  müsste  man 
eigentlich  die  Radierung 
heutzutage  zum  alten 
Eisen  werfen.  Ältere 
Kunstfreunde,  die  noch 
die  Zeiten  mitgemacht 
haben,  da  man  Ungers 
Kasseler  und  Braun¬ 
schweiger  Galerieradie¬ 
rungen  als  Ereignisse 
gefeiert  hat,  sehen  mit 
Bedauern  die  abschätzige 
Art,  mit  der  man  heute 
die  Reproduktionsradie¬ 
rung  halb  mit  Erbarmen 
zu  belächeln  pflegt  — 
und  mit  noch  grösserem, 
wie  infolge  dieser  Miss¬ 
achtung  die  Zahl  der 
guten  Reproduktions¬ 
auf  ein  Häuflein  zusammengeschmolzen  ist, 
wirklich  ohne  Übertreibung  an  den  fünf 


H.  REIFFERSCHEID  (MÜNCHEN) 
RADIERTES  EXLIBRIS 


radierer 
das  man 
Fingern  herzählen  kann. 

Und  doch:  der  Leser  mag  einmal  den  g.  Band  dieser 
Zeitschrift  aufschlagen  und  Gaillard’s  Radierung  (wahr¬ 
scheinlich  richtiger:  Nadelarbeit)  nach  Eyck’s  Mann 
mit  den  Nelken  betrachten.  Aufrichtig  gesagt:  giebt 
irgend  eine  unserer  hochgepriesenen  mechanischen  Ver¬ 
vielfältigungsarten  das  Original  so  getreu  wieder 
wie  dieses  Abbild  —  ä  travers  un  temperament? 
(bemerkenswert  übrigens,  dass  hier  das  Bild  noch 
ohne  den  erst  später  unter  der  Übermalung  entdeckten 
Goldrahmen  gegeben  ist.) 

Aber  nicht  nur  die  Reproduktionsradierung  ist  so 
gut  wie  tot.  Auch  die  höhere  Tochter  der  Graphik, 
die  Originalradierung  kann  heute  ein  melancholisches 
»verlassen  bin  i«  anstimmen;  denn  die  seit  Ende  der 
siebziger  Jahre  wiedererwachte  Freude  an  ihr  ist  ganz 
abgeblasst.  Die  Gunst  ihrer  Freunde  hat  sich  farbige¬ 
ren  Phänomenen  zugewandt:  Lithographie  ist  Trumpf. 

Für  diese  Abkehr  der  Kunstfreunde  ist  eben  gerade 
ein  lehrreiches  Exempel  statuiert  worden :  in  Berlin 
hatte  sich  ein  Schwarz-Weiss-Salon  aufgethan,  dessen 
Leiter  mit  Geschmack,  Mitteln  und  Energie  ausgerüstet 
waren.  Für  das  junge  Unternehmen  wurde  von 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  ii. 


hundert  Zungen  Propaganda  gemacht,  die  Künstler 
waren  begeistert,  die  Darbietungen  des  Salons  hatten 
eine  gute  Presse  —  und  nach  kaum  eines  Jahres 
Frist  hören  wir,  dass  das  Programm  über  Bord  ge- 
geworfen  und  eine  Kunsthandlung  üblichen  Kalibers 
eingerichtet  worden  ist.  »Das  spricht  Bände«,  würden 
die  Zeitungsleute  sagen. 

Kein  Wunder,  dass  auch  die  Künstler  nach  und 
nach  sich  von  einem  Metier  abwenden,  das  so  wenig 
seinen  Mann  nährt  und  sich  con  fuoco  dem  Steine 
»in  die  Arme  werfen«.  Und  noch  weniger  verwunder¬ 
lich,  dass  diese  Zeitschrift,  deren  Stolz  seit  40  Jahren 
die  Pflege  der  Radierung  ist,  jeden  Originalradierer, 
der  ihr  vor  den  Redaktionsfeldstecher  kommt,  sichtbar- 
lich  allem  Volke  zu  zeigen  bestrebt  ist. 

Aber  doch  ging  unsere  Freude  über  eine  neue 
Radierungssendung  weit  über  das  übliche  Mass  hinaus, 
als  uns  Heinrich  Reifferscheid  kürzlich  die  Früchte 
seines  letzten  Jahrganges  darbot.  Ein  Bündel  von 
mehr  als  sechzig  Blättern  auf  einmal!  Und  noch 
dazu  guten!  Schon  der  selbstlose  Fleiss,  der  nach 
allem  oben  Gesagten  in  solcher  Leistung  beschlossen 
ist,  verdient  öffentliche  Mitteilung. 


H.  REIFFERSCHEID  (MÜNCHEN)  RADIERTES  BILDNIS 
DES  HERRN  GEH.  RAT  KARL  JUSTI  IN  BONN 


35 


272 


HEINRICH  REIFFERSCHEID 


Wir  haben  aus  der  Sendung  sechs  Nummern 
gewählt,  von  denen  wir  zwei  in  den  Originalplatten, 
vier  weitere  als  autotypische  Nachbildungen  geben. 
Mit  diesen  Stichproben  ist  der  Künstler  voll  gekenn¬ 
zeichnet;  denn  sein  Talent  gleicht  einem  nicht  allzu¬ 
breiten,  aber  mit  ruhiger  Kraft  dahinfliessenden  Strome. 
Am  erHeulichsten  ist  er,  wenn  er  das  Gewimmel 
einer  welligen  Flachlandschaft,  etwa  des  Erntebodens, 
darstelll.  Sein  grosses  Blatt  >An  Annette  von  Droste- 
Hid-’-’O^f-  ist  wohl  in  dieser  Art  sein  Meisterstück; 
schade,  dass  das  grosse  Format  den  Abdruck  der 
Originalplatte  für  uns  nicht  ermöglichte.  Ein  anderes, 
ebenso  grosses  Blatt  gemahnte  geradezu  an  Rembrandt’s 
drei  k.äume.  Dann  ist  Reifferscheid  ein  Porträtradierer 
von  Qualitäten.  Der  Bischof  Weber  ist  so  ein  feines 
Stück.  Karl  Justi’s  Bild,  das  wir  aus  besonderer  Ver¬ 
ehrung  für  den  Dargestellten  abgebildet  haben,  scheint 
uns  allerdings  nicht  recht  ähnlich. 

Sein  drittes  Sondergebiet  sind  Exlibris,  deren 
eigentümlichstes  wir  in  verkleinerter  Reproduktion 


geben:  der  phantastische  Sitz  eines  weltfernen  Land¬ 
schaftsmalers;  das  Motiv  der  Brücke,  einem  Bilde  des 
von  dem  Besteller  besonders  verehrten  Altdorfer  ent¬ 
nommen. 

Zum  Schlüsse  seien  noch  die  biographischen 
Notizen  gegeben:  Heinrich  Reifferscheid  ist  am 
3.  Januar  1872  in  Breslau  geboren,  wo  sein  Vater 
Professor  der  klassischen  Philologie  war.  Die  Akade¬ 
mie  besuchte  der  Künstler  in  Berlin  und  München, 
und  zum  Radierer  hat  ihn  Peter  Halm,  der  eigent¬ 
lich  heute  der  Erzieher  der  jungen  F^adierergeneration 
ist,  gebildet.  Besonders  gefördert  hat  ihn  dann 
Woldemar  von  Seidlitz,  dem  auch  wir  die  erste 
Empfehlung  Reifferscheid’s  danken.  Wie  der  Künstler 
uns  mitgeteilt  hat,  sind  Leibi  und  Liebermann  seine 
künstlerischen  Leitsterne;  der  Ölmalerei  will  er  sich 
jetzt  erst  zuwenden.  Seine  Radierungen  finden  sich 
in  allen  öffentlichen  Kabinetten.  Möchten  diese  Zeilen 
auch  bei  dem  weiteren  Kreise  der  Kunstfreunde  ihm 
Gönner  werben.  G.  K. 


H.  REIFFERSCHEID  (MÜNCHEN)  RADIERUNG 


NACH  DER  ORIOINALRADIERUNG  VON  H.  REIFFERSCHEID 


LEONARDO’S  BILDNIS  DER  OINEVRA  DEI  BENCI 

Von  Wilhelm  Bode 


VASARI’S  Biographie  des  Leonardo  da  Vinci  ent¬ 
hält  eine  lakonische  Notiz  über  ein  Frauen¬ 
bildnis,  das  der  junge  Künstler  in  Florenz  ans¬ 
führte:  ritrasse  la  Ginevra  d’Amerigo  Bend,  cosa 

bellissima  .  Dieses  Bildnis  galt  als  verloren;  die  Auf¬ 
findung  desselben  wurde  dadurch  erschwert,  dass 
man  auf  Vasari’s  Autorität  das  Bildnis  dieser  vor¬ 
nehmen  Florentiner  Dame  in  einem  Profil  der  Fresken 
Ghirlandajo’s  in  S.  Maria  Novella  zu  erkennen  glaubte. 
Vasari’s  Benennung  der  letzteren  ist  aber  zweifellos 
falsch;  denn  Ginevra  dei  Benci  starb  schon  im 
August  1473,  im  Alter  von  siebzehn  Jahren,  während 
die  Fresken  in  der  Novella  erst  zwischen  den  Jahren 
1486  und  1490  ausgeführt  wurden.  Die  junge  Frau 
auf  dem  Fresko,  die  Vasari  als  Ginevra  bezeichnet, 
ist  durch  den  Vergleich  mit  der  bezeichneten  Medaille 
als  Giovanna  degli  Albizzi,  die  Gattin  des  Bestellers 
der  Fresken,  Lorenzo  Tornabuoni,  bestimmt  worden. 

Als  das  wahre  Bildnis  der  Ginevra  habe  ich  in 
meiner  Besprechung  der  Liechtensteingalerie  in  den 
Graphischen  Künsten«  (1892,  S.  86  —  gi  und  Liech¬ 
tensteingalerie«  S.  63  ff.)  das  schöne  Frauenbild  dieser 
Sammlung  angesprochen,  das  Waagen  als  Werk 
Leonardo’s  bestimmt  hat.  Damals  konnte  ich  nur 


eine  Vermutung  aussprechen;  heute  habe  ich  den 
Beweis  für  die  Richtigkeit  jener  Benennung.  Auf 
diesen  allein  will  ich  mich  hier  beschränken;  für  den 
Nachweis,  dass  Leonardo  wirklich  der  Meister  des 
Bildes  ist,  und  dass  dieses  ein  Jugendwerk  Leonardo’s 
ist,  kann  ich  mich  auf  meine  eingehenden  Ausführungen 
an  jener  Stelle  beziehen.  Ich  hätte  kaum  etwas  ein¬ 
zuschränken  oder  hinzuzufügen.  Die  Kunstgeschichte 
ist  ja  inzwischen  auch  vorgeschritten  und  lässt  jetzt 
bei  der  Bestimmung  der  Gemälde  nach  Zeit  und 
Schule  auch  noch  andere  Beweismittel  gelten,  wie 
anatomische  Deformitäten. 

Das  Frauenbild  in  der  Liechtensteingalerie  ist  in 
seinem  unteren  Teil  nicht  nur  übermalt,  sondern  auch 
verstümmelt.  Dies  zeigt  die  Rückseite  der  Tafel:  hier 
ist  auf  porphyrfarbenem  Grunde  ein  Wachholderzweig 
zwischen  Lorbeer  und  Palme  dargestellt,  die  ein  Band 
mit  der  Inschrift  VIRTVTEM  FORMA  DECORAT 
verbindet.  Der  untere  Teil  dieses  kranzartigen  Ge¬ 
bindes  fehlt;  nach  dem  oberen  Teil  desselben  lässt 
sich  ziemlich  genau  feststellen,  dass  das  Bild  nach 
unten  um  25 — 30  Centimeter  gekürzt  sein  muss.  Ein 
so  bedeutender  Ansatz  auf  der  Vorderseite  ergiebt 
mit  grosser  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  Bildnis  ur- 


VERROCCHIO,  FRAUENBÜSTE  IM  BAROELLO  FREIE  KOPIE  DES  PORTRÄTS  IN  DER  LIECHTENSTEIN-GALERIE 


276 


LEONARDO’S  BILDNIS  DER  GINEVRA  DEl  BENCI 


spriinglich  auch  die  Hände  der  jungen  Dame  zeigte. 
Wie  wir  uns  das  Gemälde  etwa  zu  ergänzen 
haben,  lehrt  uns  eine  alte  umgekehrt  gegebene 
Kopie,  die  Dr.  Fritz  Knapp  vor  einigen  Jahren  beim 
Marchese  Pucci  in  Florenz  entdeckt  hat.  Wir 
stellen  die  Hochälzimg  nach  dieser  freien  Nach¬ 
bildung,  die  :;nf  liie  Hand  eines  zu  Leonardo  und 
Lor.  di  Civ.ii  in  Beziehung  stehenden  mässigen 
Künstkrs  scin'irs-.-n  lässt,  neben  die  Abbildung  des 
Liechtet isteiri’schcn  Bildes  und  geben  zugleich  eine 
Hociiätzimg  der  l-crühmten  in  Verrocchio’s  Werkstatt, 
zur  /eit  '.1er  !  iiäligkeit  Leonardo’s  als  Gehilfe  des 
.Mcisicrs,  cnlstandenen  Frauenbüste  des  Bargello,  die 
in  der  graziösen  Bewegung  der  Arme  und  in  der 
voileiidetcn  Durchbildung  der  Hände  Leonardo’s 
Original  besser  zum  Verständnis  bringt,  wie  die  ziem¬ 
lich  lieblose  und  oberflächliche  Kopie  des  Gemäldes 
selbst.  Man  vergleiche  auch  die  herrlichen  Handstudien 
Leonardo’s  in  Windsor  und  das  unfertige  Bildnis 
Leonardo’s  im  Czartorisky- Museum  zu  Krakau,  eine 
junge  Frau  mit  einem  Wiesel  in  den  Armen  zeigend. 
Wie  wir  die  Arme  zu  ergänzen  haben,  zeigt  auch 
das  Frauenbildnis  von  Credi  in  der  Galerie  zu  Forli, 
das  offenbar  unter  dem  Einflüsse  des  Benciporträts 
entstanden  ist. 

Diese  Schulkopie  im  Besitz  des  Marchese  Pucci 
konnte  ich  kürzlich  genauer  prüfen.  Der  Besitzer  hatte 
sie  auf  eine  Staffelei  neben  das  Fenster  gestellt,  wo¬ 
durch  auch  die  Rückseite  der  Holztafel,  auf  die  sie 
gemalt  ist,  sichtbar  war.  Auf  dieser  befindet  sich  auf 


dünnem  Kreidegrimd  die  erste  flüchtige  Untertuschung 
eines  Frauenbildnisses,  vielleicht  für  die  Kopie  nach 
Leonardo’s  Porträt,  worüber  die  ganz  verriebene 
und  verkratzte  Oberfläche  kein  sicheres  Urteil  mehr 
zulässt.  Quer  darüber  ist  mit  Tusche  oder  Tinte  in 
grosser  Schrift  des  i6.  Jahrhunderts  geschrieben: 
GINEVRA  D’AMERIGO  BENCI  oder  DEI  BENCI. 
Eine  genaue  Kopie  der  Inschrift  konnte  ich  in  der 
Eile  der  Besichtigung  leider  nicht  nehmen.  Da  das 
Bild  sehr  wahrscheinlich  in  kurzer  Zeit  den  Besitzer 
wechselt,  wird  seine  Prüfung  später  voraussichtlich 
weniger  schwierig  sein  als  jetzt,  falls  es  nicht  etwa 
nach  Amerika  verkauft  werden  sollte. 

Das  Liechtensteinbild  und  seine  freie  Kopie  enthalten 
noch  einen  besonderen  Hinweis  auf  den  Namen  der 
Dargestellten,  auf  den  mich  Dr.  Warburg  aufmerksam 
gemacht  hat:  hinter  der  Dargestellten  ist  ein  Gebüsch 
von  Wachholder  angebracht,  und  auf  der  F^ückseite  des 
Originals  sehen  wir  ein  Wachholderreis  zwischen  Lor¬ 
beer  und  Palme.  Wenn  diese  gemeinsam  mit  der  In¬ 
schrift  VIRTVTEM  FORMA  DECORAT  auch  zweifel¬ 
los,  wie  ich  früher  ausgeführt  habe,  auf  die  I^elohnung 
der  Tugend  auf  ihrem  dornigen  Pfade  durch  Lorbeer 
und  Palme  hinweisen  sollen,  so  wird  doch  der  Wach¬ 
holder  (ginepra),  der  auf  beiden  Seiten  des  Bildes  in 
so  auffallender  Weise  angebracht  ist,  von  Dr.  Warburg 
in  überzeugender  Weise  zugleich  mit  dem  Namen  der 
Dargestellten:  Ginevra,  in  Beziehung  gebracht.  Diese 
symbolische  Andeutung  entspricht  ganz  der  Auffassung 
der  Zeit. 


JOCKSEITE  des  LEONARDOBIEDES  in  der  LIECHTENSTEIN-GALERIE 
(unten  ergänzt) 


KUNSTAUSSTELLUNGEN  IN  JAPAN 


Die  japanische  Kunst,  abgesehen  von  der  Archi¬ 
tektur,  studiert  sich  leichter  in  Europa  als  in 
Japan,  wo  der  Begriff  der  Museen  noch  ein 
neuer  und  höchst  unvollkommen  in  die  Praxis  über¬ 
setzter  ist.  Während  sich  in  verschiedenen  europäischen 
Hauptstädten,  z.  B.  in  Berlin,  Hamburg  und  London  wert¬ 
volle  und  verhältnismässig  umfassende  Sammlungen 
japanischer  Kunstwerke  befinden,  bietet  selbst  das 
Kaiserliche  Museum  im  L/räo-Park  zu  Tokio  (Ueno 
Hakubutou-kwan)  das,  wie  in  älteren  Zeiten  auch  bei 
uns,  das  Sehenswerte  auf  den  verschiedensten  Gebieten 
vereint,  und  fast  zur  Hälfte  den  Naturwissenschaften 
gewidmet  ist,  namentlich  in  Bezug  auf  die  Malerei, 
die  vornehmste  —  man  könnte  fast  sagen  die  Kunst 
des  alten  Japan,  ausserordentlich  Geringes.  Die  wenigen 
vorhandenen  Kakemonos  (zum  Auf  hängen  bestimmte 
Bilder  auf  langen  Streifen)  und  Makernonos  (breite 
aufgerollte  Streifen)  sind  nicht  geeignet,  einen  Über¬ 
blick  über  die  Entwickelung  der  Malerei  zu  geben. 
Die  Werke  berühmter  alter  Maler  sind  im  Privatbesitz 
und  in  Tempeln  zerstreut,  in  diesen  meist  in  ganz 
schlechter  Beleuchtung  und  durch  Weihrauch  ver¬ 
dorben.  Der  Privatmann  aber  breitet  seine  Kunst¬ 
schätze  nicht  aus;  er  will  nicht,  wie  so  mancher  bei 
uns,  auf  einen  Blick  sehen  lassen,  was  er  hat,  sein 
Kunstgenuss  ist  ein  ganz  intimer,  ein  Kakemono,  eine 
wertvolle  Bronzevase  zieren  den  hierfür  bestimmten 
Platz  des  Empfangsraumes.  Alle  übrigen  sind  in 
feuersicherem  Raum  verborgen,  um  von  Zeit  zu  Zeit 
einen  Wechsel  eintreten  zu  lassen  oder  vielleicht 
einzeln  einem  besonders  geehrten  oder  verständnis¬ 
vollen  Gaste  vorgeführt  zu  werden. 

Um  so  dankbarer  muss  man  sein,  wenn  auch  in 
Japan  der  Versuch  gemacht  wird,  die  im  Besitze  des 
Kaiserhauses  sowie  im  Privatbesitz  befindlichen  alten 
Kunstwerke  zeitweise  zu  einer  Ausstellung  zu  ver¬ 
einigen,  wie  es  augenblicklich  durch  die  Leitung  jenes 
Museums  geschehen  ist.  Ausser  einer  Sammlung  von 
alten  Metallarbeiten,  zum  Teil  chinesischen  Ursprungs, 
hat  man  einige  hundert  Gemälde  (auf  Seide  und 
Papier),  die  aus  der  Zeit  vor  der  »A/^7«- Periode 
stammen,  das  heisst  bevor  der  europäische  Einfluss 
sich  bemerklich  machen  konnte*),  zusammengebracht“). 
Neben  der  modernen  japanischen  Zeitrechnung,  die 
mit  dem  Regierungsantritt  des  ersten  »historischen« 
Herrschers  Jimmu  Tenno,  660  v.  Chr.  beginnt,  besteht 
noch  eine  andere  nach  besonders  benannten  Perioden 
von  verschiedener  Länge;  die  »Meji«  beginnt  mit 
dem  Jahre  1868,  in  dem  die  Herrschaft  des  Mikados 
wiederhergestellt  wurde,  während  das  Shogunat  (Haus- 

1)  Allerdings  haben  niederländische  Kaufleute  schon 
früher  durch  Bestellungen  einen  gewissen  Einfluss  auf  die 
Porzellanfabrikation  in  Nagasaki  ausgeübt,  ohne  Rück¬ 
wirkung  indessen  auf  weitere  Kreise  oder  die  japanische 
Kunstauffassung  überhaupt. 

2)  Die  Bilder  wurden  in  zwei  Raten  ausgestellt;  ich 
habe  leider  nur  die  zweite  gesehen. 


meiertum)  fiel.  Damit  war  auch  das  Ende  des  Eeudal- 
staats  verknüpft  und  wurde  das  Eindringen  europäischen 
Einflusses  angebahnt. 

Von  einer  so  gewaltigen  und  so  unvermittelt  ein- 


HIUOSHIOE.  DER  VOGEL  SANJAKU  AUF  BLÜHENDEM 
MUME-ZWEIG 

Diese  und  die  beiden  folgenden  Abbildungen  sind  aus  der  selir  reiclien 
Sammlung  japaniseber  Farbenliolzsclinitte  ausgewälilt,  die  K.  W.  Hierse- 
maun  in  Leipzig  jetzt  zum  Verkaufe  stellt. 


278 


KUNSTAUSSTELLUNGEN  IN  JAPAN 


tretenden  Änderung  des  Staatsvvesens  unter  fast  völligem 
-ruche  mit  allen  geschichtlichen  Überlieferungen  und 
tiefem  Eingriff  in  das  gesamte  Volksleben,  noch  radi¬ 
kaler,  als  selbst  die  erste  französische  Revolution  es 
darstellt,  konnte  auch  die  bildende  Kunst  auf  die 
Dauer  nicht  unberührt  bleiben.  Politisch  grosse  und 
bewegte  Zeiten  pflegen  ihr  indessen  nicht  günstig  zu 
sein;  daher  !:o:nmt  es,  dass  die  mit  dem  gesamten 
Leben  iängst  in  eine  gewisse  Erstarrung  geratene 
Kunst  sirh  nicht  so  rasch  wie  jenes  aus  ihr  zu  lösen 
verr.  OL'  "?  n^iwohl  bereits  in  der  zweiten  Hälfte  des 
8.  J; '  'ivLinilei  volkstümliche  Künstler  aufzutreten 
bi.o.-  vii.  Die  Malerei,  von  der  ich  hier  allein 
Spree!:'.;  .  whi,  die  vornehmste  Kunst  der  Japaner,  sucht 
noch  ':‘imer  nach  neuen  Wegen. 

Auch  in  der  alten  Hauptstadt  Kyoto  ist  mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  im  nahen  Osaka  veranstaltete  Industrie¬ 
ausstellung  und  den  dort  zu  gewärtigenden  Fremden¬ 
besuch  eine  Sammlung  alter  Kunstgegenstände  zu¬ 
sammengebracht  worden.  Leider  ist  diese  Rück¬ 
sicht  auf  die  Fremden  in  Tokio  nicht  so  weit  aus¬ 
gedehnt  worden,  dass  man  in  europäischer  Schrift 
auch  nur  die  Namen  der  Künstler  angegeben  hätte. 
Wie  auch  beim  dauernden  Bestände  des  Museums 
hat  jeder  Gegenstand  einen  Zettel  mit  ausführlichen 
japanischen  Angaben  in  chinesischen  Charakteren, 
daneben  befindet  sich  ein  englisches  Muster,  das  aber, 
abgesehen  von  einem  Teile  der  Bronzen  und  Götter¬ 
bilder  unausgefüllt  geblieben  ist.  Ich  bin  daher,  um 
die  Künstlernamen  zu  ermitteln,  genötigt  gewesen, 
die  chinesischen  Zeichen  für  die  Namen  der  bedeu¬ 
tendsten  alten  Maler  in  mein  Taschenbuch  einzutragen 
und  —  bedauerlicherweise  ohne  Sprachkenntnis  — 
so  die  notdürftigsten  Feststellungen  zu  machen,  die 
dann  durch  Nachfrage  geprüft  wurden. 

Der  älteste  Künstler,  der  uns  hier  vorgeführt  wird, 
keineswegs  der  älteste  bekannte,  ist  Kono  Motonoboii 
(1475 — 155g),  der  Sohn  des  Stifters  der  »/<a/m-Schule« 
Kano  Masanobu.  Eine  berühmte  chinesisch-japanische 
Encyklopädie  (Ouakan  Sandzai  Dzuiye)  sagt  von  ihm: 

Er  war  der  Fürst  der  chinesischen  und  japanischen 
Maler,  fast  ein  Gott  in  seiner  Macht.  Man  nennt 
ihn  oft  Kohögen.  Seine  Werke  kamen  zur  Zeit  der 
Kaiser  der  Dynastie  nach  China  und  sein  Ruhm 
verbreitete  sich  durch  das  ganze  Reich«.  Wir  sehen 
hier  von  ihm  nebeneinander  drei  Kakemonos  mit 
grau  in  grau  gemalten  Landschaften,  dann  zwei  mit 
steilen  schroffen  Bergen,  ganz  den  der  chinesischen 
Tradition  entsprechend,  eine  aber  mit  weichen  in 
Duft  verschwimmenden  Formen  mit  ersichtlicher  An¬ 
lehnung  an  die  Natur,  und  zwar  im  Sinne  der  that- 
sächlichen  Stimmung  der  japanischen  Landschaft. 
Trotzdem  ist  auch  dies  zweifellos  nur  eine  Wieder¬ 
gabe  von  Eindrücken  nach  dem  Gedächtnis  in  immer¬ 
hin  noch  konventionellen  Formen.  Diese  Nebenein¬ 
anderstellung  ist  bezeichnend  für  die  beiden  neben¬ 
einander  hergehenden  und  von  denselben  Künstlern 
ausgeübten  Malweisen,  die  man  von  jener  Zeit  an 
zu  unterscheiden  anfing,  nämlich  das  guantai,  zu 
deutsch  felsige,  das  heisst  (nach  Louis  Gonse  »l’Art 
Japonais  )  kräftige,  flüchtige,  rauhe  mit  eckigen  Um¬ 


rissen  nach  chinesischer  Art;  und  das  riutai,  fliessende, 
das  heisst  sanfte,  abgetönte,  hingegossene  wie  die 
Windungen  eines  Flusses.  Diese  Malweisen  richten 
sich  merkwürdigerweise  gar  nicht  nach  dem  Gegen¬ 
stände;  so  sieht  man  z.  B  von  Masomobu  noch  eine 
in  leichtestem  Farbenauftrage  zart  gemalte  Landschaft 
(ein  Makemono)  in  riutai,  in  quantai  dagegen  grau 
in  grau  zwei  Heilige  und  sogar  Blumen  mit  starken 
harten  Umrissen  und  leichter  Färbung  ohne  jede 
Andeutung  einer  Modellierung. 

Eine  andere  Grösse  derselben  Schule  Tanyu 
(1601  — 1674),  dem  eingehendes  Studium  der  Alten, 
somit  Zurückgehen  auf  den  chinesischen  Einfluss, 
sowie  eine  erfolgreiche  Lehrthätigkeit  nachgerühmt 
werden,  scheint  das  Prinzip  des  Andeutens  mit  wenigen 
mitunter  überkräftigen  Strichen  auf  den  Höhepunkt 
gebracht  zu  haben.  Der  vortrefflichen  Skizze  (der 
Japaner  nennt  es  ein  Bild)  eines  die  Flöte  blasenden 
Mannes,  einer  Gottheit  der  Litteratur,  der  ein  Affe^) 
das  Schreibzeug  hinhält,  und  namentlich  einem  auf 
einen  nur  schattenhaft  angedeuteten  Tieger  gelehnten 
Heiligen  kann  man  seine  Bewunderung  nicht  ver¬ 
sagen.  Wenn  man  aber  als  »Bild«  einen  mit  chinesischer 
Tusche  roh  hingeworfenen  Zickzackstrich  mit  oder 
ohne  weisse  Kleckse  als  Zweig  mit  oder  ohne  Blüten 
erkennen  und  über  die  Form  und  das  Mass  der  Teile 
in  Entzücken  geraten  soll,  —  so  kann  der  Europäer, 
der  sich  nicht  schon  völlig  japanisches  Empfinden 
zu  eigen  gemacht  hat,  nicht  mehr  mit. 

Ein  dritter  hier  vertretener  Maler  der  ATu'/m-Schule 
ist  Tanyu’s  Neffe  Tsiinenobn  (gest.  1683).  Wie  Qonse 
erzählt,  haben  zwei  seiner  Kakemonos  in  einer  Pariser 
Privatsammlung  zwischen  einer  Zeichnung  Därer’s, 
einer  Skizze  von  Rubens  und  einer  trefflich  gemalten 
Studie  von  Rcmbrandt  gehangen,  ihren  Platz  gleich¬ 
wertig  neben  letzterem  behauptet;  es  ist  ganz  be¬ 
zeichnend,  dass  das  japanische  Bild«  mit  euro¬ 
päischen  »Skizzen  verglichen  wird.  Hier  fallen  in 
erster  Linie  mit  dicken  Umrissen  mit  chinesischer 
Tusche  flüchtig  gezeichnete,  lebhaft  bewegte  Pferde 
auf,  von  denen  man  glauben  möchte,  sie  seien  unmittel¬ 
bar  nach  der  Natur  hingeworfen,  was  nach  der  Über¬ 
lieferung  höchst  unwahrscheinlich  ist.  Es  ist  das 
aber  ebenso  wie  die  unübertroffene  Darstellung  des 
Vogelflugs  durch  die  Japaner  wieder  ein  Beleg  für 
ihre  ausserordentlich  scharfe  Auffassung  der  in  der 
Bewegung  sich  zeigenden  Formen;  bei  der  Zeichnung 
fliegender  Vögel  kann  man  Stellungen  wahrnehmen, 
die  uns  erst  durch  die  Momentphotographie  enthüllt 
worden  sind.  Für  die  gleichfalls  ausgestellten  Drachen 
Tsounenobu’s,  ein  unentwirrbares  grau  in  grau,  wie 
überhaupt  für  die  so  beliebte  Darstellung  dieses 
mystischen  Tieres  wird  man  nur  dann  allenfalls  ein 
gewisses  Verständnis  gewinnen,  wenn  man  sich  ver¬ 
gegenwärtigt,  dass  es  sich  dabei  anscheinend  mehr 
um  die  Symbolisierung  eines  Unwetters  in  der  Luft 
oder  im  Wasser  als  um  die  Wiedergabe  eines  Unge¬ 
heuers  handelt.  In  vollem  Gegensatz  zu  diesen  über- 


1)  Der  Affe  kommt  auch  sonst  als  Götterdiener  in  der 
japanischen  Mythologie  vor. 


KUNSTAUSSTELLUNGEN  IN  JAPAN 


279 


NACH  EINEM  FARBENHOLZSCHNITTE  DES  HIROSHIQE.  ANSICHT  DES  HOFES  DES  TENJIN-TEMPELS  ZU  YUSHIMA 

(Sarnmltmg  K.  W.  Hiersemann,  Leipzig) 


kräftigen  Skizzen  stehen  einige  andere  hier  sichtbare 
Werke  desselben  Künstlers  mit  den  feinsten,  sorgsam 
gezeichneten  Umrissen,  mit  detaillierter  Zeichnung 
der  Einzelheiten  und  leicht  gefärbt,  aber  ohne  jeglichen 
Versuch  einer  Modellierung;  ich  nenne  nur  einen 
ausserordentlich  lebenswahren  Haushahn. 

Wir  kommen  nun  zu  K.örin  (1661  — 1716),  der 
zuerst  Schüler  von  Tsunenobu  gewesen  sein  soll, 
der  dann  aber  zu  der  der  ACö«ö-Schule  an  Alter  und 
aristokratischer  Tradition  noch  überlegenen  Schule 
von  Tosa  als  Schüler  von  Koetsii  übertrat,  der 
wieder  einen  besonderen  Zweig  gründete.  Die 
letzterem  nachgerühmte  Eleganz  der  Ausführung 
kommt  in  einem  hier  ausgestellten  niedrigen  Schirm 
mit  flüchtig,  aber  sehr  charakteristisch  gemalten 
Mandarin-Enten  nicht  zur  Geltung,  dieses  Bild  leitet 
aber  bereits  zu  der  übertrieben  flüchtigen  Art  über, 
mit  der  sein  Schüler  Körin  seine  Aufgaben  löste. 
Der  Gegenstand,  den  er  darstellt,  ist,  wie  bei  Tanyii 
nach  unseren  Begriffen  oft  ein  —  Nichts,  die  Aus¬ 
führung  geradezu  roh.  Gonse  sagt  von  ihm:  Seine 
Zeichnung  ist  eigentlich  die  Zeichnung  eines  Lack¬ 
arbeiters;  die  chinesische  Tinte  fliesst  aus  der  Spitze 
seines  Pinsels  wie  eine  feste  Masse«.  Und  in  der 
That  war  er  ein  berühmter  Künstler  in  Lack,  ebenso 
wie  sein  Lehrer  Kpetsii.  So  erklärt  sich  auch  der 
plastische  Earbenauftrag  auf  einem  Theekasten  mit 
Goldgrund,  vielleicht  auch  die  ungeheuerlich  karikierte 
Zeichnung  einer  Küstenlandschaft  auf  einem  mit  Gold- 
und  Silberpapier  beklebten  Schirm,  die  an  die  Aus- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  ii. 


schreitungen  einzelner  ganz  moderner  Künstler  bei 
uns  erinnert. 

Ich  will  von  grossen  Namen  nur  noch  Naonobii 
(1607  — 1651),  Bruder  des  Tanyu,  Kenzan  (1663  bis 
1753)  und  Höhitzii  (1761  — 1828)  nennen.  Am 
reichsten  ist  die  ATßßö- Schule  vertreten;  ich  möchte 
nur  einen  grossen  Wandschirm  erwähnen,  auf  dem 
in  flotter  Zeichnung  leicht  gefärbte  Vögel,  heilige 
Männer  und  Blumen  abwechseln;  am  anziehendsten 
ist  eine  mit  ebenso  geringen  Mitteln,  wie  mit  grosser 
Lebenswahrheit  dargestellte  Krähe  auf  einem  beschneiten 
Zweige  bei  Schneefall,  ein  übrigens  besonders  be¬ 
liebter  Gegenstand. 

Mit  dem  vorerwähnten  Körin  sind  wir  in  das 
18.  Jahrhundert  gelangt  und  es  fängt  nun  eine  bereits 
durch  Matahei^)  (gegen  die  Mitte  des  1 7.  Jahrhunderts 
blühend)  angebahnte  volkstümliche  Kunst  an,  neben 
die  bisherige  ganz  aristokratisch  und  nach  festen 
Traditionen  gehandhabte  Malerei  zu  treten,  die  rück¬ 
sichtslos  Volksscenen  und  nicht  idealisierte  Land¬ 
schaften  sich  zum  Stoff  nimm.t.  Es  war  ein  sehr 
günstiges  Zusammentreffen,  dass  man  gleichzeitig  zwei 
Hauptvertreter,  und  zwar  die  fruchtbarsten  dieser 
Richtung,  nämlich  Hokiisa'i  (1760 — 184g)  und  Hiro- 
shige  (1786 — 1858)  in  einer  vom  Kunsthändler  Ko- 
bayashi  in  Yokohama  veranstalteten  Ausstellung  in 
zahlreichen  Exemplaren  ihrer  Earbenholzschnitte  sowie 


1)  Anderson,  eine  gewichtige  Autorität,  hat  allerdings 
noch  kürzlich  diesen  von  Matahe'i g^nhttn  Einfluss  bestritten. 

36 


28o 


KUNSTAUSSTELLUNGEN  IN  JAPAN 


in  einigen  Kakemonos  kennen  lernen  konnte.  Die 
technische  Vollendung  jener  ist  bekannt;  die  Earben- 
wirkung  ist  ausserordentlich,  nicht  selten  zu  schroff 
im  Gegensatz  zu  den  überaus  zarten  Abtönungen  in 
der  Malerei.  Ein  grosser  Teil  hat  daher  doch  wohl 
mehr  k-uistlnstorischen  als  reinen  Kunstwert,  was  nicht 
hinö  dank  der  wohlgefüllten  Börse  gewisser 

Gl  .!..  ,  'ür  die  Name<  und  hoher  Preis  die 

-r  i  ■  .V  ;g  an  ein  Kunstwerk  ist,  übermässig 

JiU'ür  gefordert  und  gezahlt  werden. 

;  ; :  ^  japanischen  Kunstauktion  beigewohnt 

. ■).  zu  begreifen,  wie  der  Name  des  originellen 

-ur-  ■  '  M  ■‘.'‘ehen,  aber  doch  von  Gonse  wohl  etwas 
ZI  'schwenglich  gepriesenen  Hokiisai  »zieht«, 
ii.  .idicl-  bei  den  mitbietenden  Händlern,  die  trotz¬ 
dem  u-im  Verkauf  einen  erheblichen  Gewinn  zu 
erzielen  wissen. 

Hiroshige  ist  nach  meinem  Laiengeschmack  schon 
sympathischer  und  steht  uns  näher,  namentlich  in  seinen 
auch  i^erspektivisch  richtigeren  Landschaften.  Der  ja¬ 
panische  Landschaftsmaler  alter  Schule  hat  nämlich 
die  Eigentümlichkeit,  Hintereinanderstehendes  gleich¬ 
zeitig  sehen  zu  lassen,  wie  es  nur  aus  grosser  Höhe 
möglich  ist,  ein  Standpunkt,  der  wieder  nicht  mit  der 
Auffassung  des  Vordergrundes  übereinstimmt.  Einer 
solchen  Darstellung  kommt  die  Eorm  der  langen, 
schmalen  Kakemonos  zu  gut;  mit  Vorliebe  werden 
darauf  z.  B.  mehrere  Meeresbuchten  und  Vorgebirge 
hinter-  oder  vielmehr  übereinander  dargestellt  und, 
wenn  man  auf  einer  Anhöhe  an  der  ungemein  buchten¬ 
reichen  Küste  Japans  steht,  kann  man  sich  wohl  er¬ 
klären,  wie  die  aus  der  Erinnerung  im  Atelier  malen¬ 
den  Künstler  in  übertriebener  Charakterisierung  zu 
dieser  Darstellungsweise  gekommen  sind.  Bei  Ho- 
kiisa'i  und  noch  mehr  bei  Hiroshige  hat  man  nicht 
selten  den  Eindruck,  als  ob  die  Natur  sogar  das  un¬ 
mittelbare  Vorbild  gewesen  sei.  Trotzdem  mischt  sich 
mit  einem  ausgeprägten  Naturalismus  das  Konventio¬ 
nelle  z.  B.  bei  der  so  ausserordentlich  beliebten  Dar¬ 
stellung  des  Regens,  der  auf  den  Holzschnitten  durch 
senkrechte  oder  schräge  Striche  —  sogar  durch  wallende 
Bänder  -  dargestellt  wird,  während  die  davon  ge¬ 
troffenen  Menschen  höchst  naturwahr  und  ergötzlich 
in  ihrer  Regenkleidung  (mächtiger  Strohhut  und  Schilf¬ 
mantel)  oder  im  Kampfe  mit  ihren  Regenschirmen 
gezeichnet  sind. 

Wenn  diese  beiden  Ausstellungen  uns  die  alte 
Zeit,  das  >Prä-Meji  vorführen,  so  konnte  man  sich 
gleichzeitig  auch  über  zwei  entgegengesetzte  Richtungen 
der  Gegenwart  unterrichten.  In  Tokio  ist  nämlich 
augenblicklich  in  einem  gleichfalls  im  Ueno-Paxk  be¬ 
findlichen  Ausstellungsgebäude  (einem  einfachen  Bretter¬ 
schuppen)  eine  Ausstellung  der  -»Nippon  Bijitsii-in« 
genannten  Vereinigung  und  der  -Gesellschaft  japa¬ 
nischer  Maler«  zu  sehen,  sowie  in  Yokohama  eine 
solche  des  »Besiike- Khib«.  Jene  Vereine  wollen  die 
altjapanische  Kunst  weiter  pflegen  und  entwickeln, 
diese  Ausstellung  sieht  ganz  europäisch  aus.  Schon 
aus  dieser  Andeutung  geht  hervor,  dass  die  Leistungen 
der  Nippon  Bijitsii-in  sich  im  Stadium  des  Versuchs 
oder  vielmehr  des  Suchens  befinden.  Das  Gemein¬ 


same  der  verschiedenen  Künste  ist  die  Technik,  näm¬ 
lich  die  Malerei  in  Wasserfarben  auf  Seide,  in  der 
Mehrzahl  in  der  Eorm  von  Kakemonos.  Wenn  ich 
nicht  sehr  irre,  sind  nur  zwei  Bilder  auf  Papier  vor¬ 
handen,  Löwen  in  halber  Lebensgrösse,  grau  in  grau, 
lebenswahr  und  flott  gemalt.  Leider  vermochte  ich 
den  Namen  des  Künstlers  nicht  mit  Sicherheit  zu  er¬ 
mitteln.  Die  übrigen  Namen  wie  die  Preise  giebt 
eine  Liste  in  lateinischer  Schrift  an,  —  da  die  Bilder 
verkäuflich  sind,  eine  begreifliche  Rücksicht  auf  die 
Eremden. 

Was  man  hier  sieht,  geht  an  der  einfachen  Nach¬ 
ahmung  der  Alten,  die  im  übrigen  gewerbsmässig  im 
grössten  Masstabe  mehr  zur  Ereude  der  Globetrotter, 
als  zur  Eörderung  der  Kunst  geübt  wird,  zu  einer 
zaghaften  Annäherung  an  das  Europäische,  sogar  in 
der  Wahl  des  Stoffes,  über.  Der  Mehrzahl  der  Bilder 
aber  ist  durch  historische  Vorbilder  beeinflusst  und 
bewahrt  zum  mindesten  in  der  Art  der  Ausführung 
voll  den  japanischen  Charakter.  Einige  wenige 
Künstler  haben  mythologische  Bilder  geliefert  und 
selbstredend  ganz  nach  dem  Buddhistischen  Kanon 
gemalt;  auch  der  Drache  in  den  Wolken  fehlt  nicht. 
Ein  wenig  abweichend  von  dem  Alten  ist  der  grössere 
Teil  der  menschlichen  Darstellungen;  historische  und 
rituelle  Scenen,  Einzelfiguren  und  Gruppen  alter 
Krieger  in  einer  Landschaft,  ein  von  jeher  gesuchtes 
Motiv:  ein  in  seiner  Vornehmheit  und  Kraft  prächtiger 
Samurai,  der  einem  abgeschossenen  Pfeil  nachblickt, 
von  AI.  Jamario  ist  ganz  vortrefflich.  Es  sind  aber 
auch  richtige  Genrebilder«  im  europäischen  Sinne 
da  vom  Mörder,  der  sich  an  den  sorglos  in  der  Vor¬ 
halle  eines  Heiligtums  schlafenden  Wanderer  kriechend 
heranschleicht,  bis  zur  Einzelfigur  eines  Blumen  auf¬ 
reihenden  Mädchens  von  S.  Koko  mit  glücklicher 
Verkürzung  des  heruntergebeugten,  dem  Beschauer 
zugewandten  Gesichts.  Noch  moderner  ist  ein 
Guitarre  spielendes  Mädchen  in  einem  Kahn  von 
M.  Banri,  ferner  eine  Gruppe  ruhender  Feldarbeiter 
und  am  meisten,  auch  in  der  Ausführung,  ein  auf 
einer  Wiese  liegendes  und  Veilchen  pflückendes  Mädchen 
von  H.  Riosei;  man  könnte  glauben,  dass  dieses 
junge  Wesen  selbst  den  Beruf  fühlt,  die  Annähe¬ 
rung  an  den  Westen  zu  suchen  —  sie  trägt  nämlich 
anstatt  der  Tabis  und  Holzsandalen  bereits  Strümpfe 
und  Schuhe.  Alle  diese  Bilder  indessen,  auch  diese 
etwas  sentimentale  europäisierte  Eingeborene,  sind 
nach  japanischer  Art  mit  scharfen,  feinen  Umrissen 
gezeichnet,  zart  und  fast  schüchtern  gefärbt  und  die 
Figuren  wenig  oder  gar  nicht  modelliert.  Die  über¬ 
mässige  Zartheit  berührt  besonders  eigenartig  bei  den 
sauber  geglätteten,  wie  mit  Seide  bezogenen  Pferden 
der  Krieger,  in  merkwürdigem  Gegensatz  zu  dem 
schreckenerregenden  Haarzustande  der  wirklichen 
Pferde,  die  man  auf  der  Strasse  sieht.  Wir  kommen  da¬ 
durch  zur  Tierdarstellung  überhaupt,  in  der  (namentlich, 
soweit  es  sich  um  Vögel  und  niedere  Tiere  handelt) 
wie  in  der  Blumenmalerei  die  Japaner  von  jeher  das 
Beste  geleistet  haben.  Die  Tiere  sind  oft  ungemein 
lebensvoll  und  doch  offenbar  in  den  meisten  Fällen 
ohne  unmittelbares  Naturstudium  gemalt;  dafür  spricht 


KUNSTAUSSTELLUNGEN  IN  JAPAN 


281 


das  Gleichmässige  der  Auffassung.  Hatte  einmal  ein 
Weisser  eine  besondere  Virtuosität  in  der  Wiedergabe 
einer  bestimmten  Naturbeobachtung  erreicht,  so  fand 
er  durch  Jahrhunderte  ungezählte  Nachahmer.  Am 
meisten  sind  wohl  die  Silberreiher  und  Kraniche  ge¬ 
malt  worden.  Hier  sehen  wir  einen  Reiher  von 
5.  Kßson,  ein  weisser  Klecks  ohne  jede  Spur  von 
Modellierung  oder  Andeutung  der  Einzelheiten  des 
Gefieders  —  nur  Auge,  Schnabel  und  Beine  sind 
der  weissen  Masse  hinzugefügt  —  und  doch  ist  das 
Ganze  wirkungsvoll.  In  entsprechender  Weise  hat 
H.  Gaho  zwei  Kraniche  gemalt.  Andere  Tierbilder 
sind  wieder  in  allen  Ein¬ 
zelheiten  mit  Andeutung 
der  einzelnen  Federn  oder 
Haare  gemalt,  meist  in 
der  hergebrachten  Zusam¬ 
menstellung  mit  Blumen 
—  frei  von  jeder  Eigen¬ 
art.  Ein  wirklich  vortreff¬ 
liches  Tierstück  sind  zwei 
grau  in  grau  gemalte 
Wölfe  vor  einem  Men¬ 
schenschädel  von  K  Otoku, 
ebenso  ein  Adler  auf  einem 
Felsen  von  K  Manko. 

Die  Landschaften  sind 
in  der  alten  Art  behandelt, 
duftig,  und  doch  nicht  mit 
genügender  Luftperspek¬ 
tive,  weil  der  Vordergrund 
nicht  hinreichend  hervor¬ 
gehoben  wird.  Die  per¬ 
spektivischen  Fehler  in 
der  Zeichnung  treten  da¬ 
gegen  schon  mehr  zurück. 

Mit  Vorliebe  werden  der 
Form  der  Kakemonos 
angepasste  Felsen,  Schluch¬ 
ten  mit  Brücken  (J.  Tenfu) 
und  Wasserfälle,  bei  denen 
mehr  ausgespart  als  ge¬ 
malt  ist,  dargestellt;  auch 
Baumblüte  und  fallendes 
Laub  sieht  man  mehrfach. 

Recht  charakteristisch  ist 
eine  Frühlingslandschaft 
von  Konen  mit  einer  Wasserfläche  im  Vordergrund, 
in  der  sich  der  schneebedeckte  Kegel  des  Fusijama 
spiegelt,  obwohl  man  den  Berg  selbst  auf  dem  Bilde 
gar  nicht  sieht,  ein  oft  wiederholtes  Motiv. 

Einzelne  Kakemonos  stehen  in  ihrem  Kunstwerte 
kaum  höher  als  die  in  der  benachbarten  Kwankoba 
(Bazar)  zum  Verkauf  ausgebotenen,  auch  die  Preise 
sind  zum  Teil  entsprechend;  sie  sind  überhaupt  recht 
bescheiden  und  schwanken  zwischen  6^/2  und  200  Yen 
(1  Yen  zur  Zeit  =  2 

Der  Gesamteindruck  der  Ausstellung  ist  der,  dass 
ein  löbliches  Bestreben,  auf  der  alten  nationalen  Kunst 
eine  neue  zu  begründen,  noch  nicht  geglückt  ist; 
noch  fehlen  vor  allem  Kraft,  Eigenart  des  Einzelnen, 


Befreiung  aus  engem  Kreise  und  Zurückgehen  auf 
die  Natur.  Im  übrigen  bringt  auch  diese  Kunstrich¬ 
tung  zweifellos  bedeutenderes  hervor,  als  es  hier  zu 
sehen  ist,  das  beweist  ein  vor  mir  liegender,  mit 
technischer  Vollendung  hergestellter  Farbendruck  einer 
stilisierten  Landschaft  des  noch  lebenden  Malers  Goto 
Hashimoto  (aus  den  vortrefflichen  Publikationen  der 
»Kokka- Kompagnie«  in  Tokio). 

Verlässt  man  das  Ausstellungsgebäude,  so  steht 
man  mitten  im  {/räö-Park  mit  seinen  mächtigen 
Kiefern  und  Kryptomerien  und  seinen  in  der  ersten 
Hälfte  des  April  in  herrlichster  Blüte  stehenden  Kirsch¬ 
bäumen.  Wunderbar  glän¬ 
zen  ihre  weissen,  leicht 
rosa  angehauchten  Kronen 
in  der  Sonne  im  scharfen 
Gegensatz  zum  dunklen 
Nadelholz;  fröhliches  Volk 
wogt  auf  und  ab  zu  den 
roten  Holztempeln  mit 
weitgeschweiften  Dächern, 
zum  grossen  sitzenden 
Buddha,  zum  Standbild 
des  Helden  Saigo  Tako- 
morie,  des  Vorkämpfers 
für  den  Mikado,  dem  Re¬ 
volutionär  und  nach  dem 
Tode  wieder  in  alle  Ehren 
eingesetzt,  —  zu  dem  Stein¬ 
denkmal  für  die  von  ihm 
besiegten,  für  den  Schogun 
gefallenen  Krieger,  —  zum 
Panorama,  das  den  letzten 
Kampfan  dieser  Stelle  dar¬ 
stellt.  Überall  zwischen  den 
Bäumen  sieht  man  leuch¬ 
tendes  Rot,  es  sind  mit 
Decken  belegte  Sitzplätze, 
an  denen  Thee  geschenkt 
und  das  mitgebrachte  Essen 
verzehrt  wird.  Die  Mehr¬ 
zahl  der  Menschen  trägt  das 
Nationalkostüm,  dieFrauen 
am  grauen  Kimono  (Rock) 
einen  prächtigen  bunten 
Obi  (grosse  hinten  am 
Gürtel  befestigte  Schleife), 
die  Kinder  bunt  geblümte  Kleider,  die  jungen  Mädchen 
eine  künstliche  Blume  am  langen  Stiel  im  künstlich 
geordneten  Haar.  Verkäufer  mit  ihrem  mit  unzäh- 
lichen  Papierfähnchen  gezierten  Kram  drängen  sich 
durch  die  Menge;  ein  phantastisch  aufgeputzter  Zug 
mit  Bannern  und  übertönender  Musik  zieht  vorbei 
—  es  ist  eine  Cigarettenreklame.  Wir  treten  an  einen 
der  Tempel  und  sehen,  wie  die  Gläubigen  den  Gott 
durch  den  Schlag  eines  Gongs  anrufen,  vielleicht  ein 
Geldstück  opfern  und  nach  kurzem  Gebet  fröhlich 
weiterziehen,  wir  bewundern  die  graziöse  fünfstöckige 
Pagode  von  rot  lackiertem  Holz  am  Ende  einer  präch¬ 
tigen  Kryptomerienallee;  ein  Stück  weiter  eröffnet  sich 
ein  Blick  auf  die  Stadt  und  unmittelbar  zu  unseren 

36* 


NACH  EINEM  FARBENHOLZSCHNITTE  DES  HARONOBU 
DIE  DICHTERIN  MURASAKI  SHIKIBU  DAS  JAPANISCHE  DEKA- 
MERONE  GENjI-MONOGATARI  NIEDERSCHREIBEND 
(Sammlung  K.  W.  Hiersemann,  Leipzig) 


2S2 


GRÜNEWALD’S  ISENHEIMER  ALTAR 


Füssen  (der  Ueno-\>zxV  liegt  auf  einer  Hochfläche)  auf 
einen  kleinen  See,  im  Sommer  mit  Lotus  bedeckt,  in 
der  Mitte  eine  kleine  Insel,  darauf  zwischen  immer¬ 
grünen  Bäumen  und  scharlachrotem  Ahorn  ein  kleines 
Heiligtum  der  Glücksgöttin  Benten.  Begeben  wir 
uns  nach  der  andern  Seite  des  Parks,  so  überblicken 
wir  das  S  ■■df-.-icrtel  von  Asakiisa\  aus  dem  endlosen 
Firau  r  r^-’-d.igen  Holzhäuser  ragen  hoch  einige 
TPMpehbTT.r  und  ein  mächtiger  Aussichtsturm  her¬ 
vor:  —  .i  ;ten  geht  es  vergnügt  zu  —  der  grosse 
Trvi  i'c;  or  '^(wannon  (Göttin  der  Gnade)  ist  von 
z:i!v  1 V  vv  1  Kleinen  Heiligtümern  und  noch  mehr 
ochpi  '.ucl'Oi  niid  Theatern  umgeben;  prächtig  geklei- 
'K  i :  Boadhapriester  und  einfache  Betlelmönche  mischen 
ii  ontcr  das  Volk,  vor  und  in  den  Buden  treiben 
GauKler  aller  Art  in  wunderlichen  Kostümen  ihr  Wesen, 
lange  bunte  Zeugstreifen  hängen  an  den  grauen  Häusern 
als  Reklamen  herab;  —  dazwischen  ist  wieder  ein 
Stück  schöner  Natur  ein  Teich  ist  von  hohen 
Sträuchern  der  scharlachroten  blühenden  Quitte  um¬ 
geben.  Hier  ist  alles  malerisch  in  Gestalt  und  Farbe, 
reizvoll  für  den  Künstler,  der  auf  Schritt  und  Tritt 
Motive,  aber  auch  schwer  lösbare  Probleme  finden 
wird.  Unser  Altmeister  Adolf  Menzel  würde  diesem 
Flimmern  der  Farben  gerecht  werden,  nicht  leicht  ein 
anderer.  Aber  auch  für  weniger  hochstehende  Künstler 
giebt  es  hier  zahlreiche  dankbare  Aufgaben;  —  Ho- 
kusai  und  Hiroshige  haben  ja  bereits  ihren  Landsleuten 
den  Weg  gewiesen.  Als  Illustratoren  haben  sie  ihn 
auch  schon  mit  recht  gutem  Erfolg  betreten,  nicht, 
wie  es  scheint,  als  Maler  selbständiger  Bilder. 

Das  führt  uns  zum  Besuch  einer  vierten  Ausstel¬ 
lung,  nämlich  der  des  »Besuke  Sketching  Club«  in 
Yokohama.  Wir  finden  Aquarelle,  in  jeder  Beziehung 
nach  europäischem  Muster,  nur  die  Motive,  hauptsäch¬ 


lich  Landschaften,  sind  Japan  entnommen,  aber  jede 
Eigentümlichkeit  japanischer  Malweise  ist  verwischt. 
Der  Lehrer,  Herr  Basuke,  malt  ganz  achtungswert,  aber 
er  vermag  nicht  für  sich  zu  erwärmen  —  er  soll  seine 
Ausbildung  in  Amerika  erhalten  haben.  Seine  Schüler 
sind  erst  recht  Durchschnittsmaler;  sie  malen  meist 
breit  und  verschwommen,  ohne  Kraft  und  Charakte¬ 
ristik,  dabei  ist  auch  der  zarte  dürftige  japanische 
Farbenauftrag  verloren  gegangen. 

Selbstredend  möchte  ich  es  nicht  unternehmen, 
ein  abschliessendes  Urteil  über  die  japanische  Malerei 
der  Jetztzeit  abzugeben;  dazu  habe  ich  noch  zu  wenig- 
gesehen,  Ölbilder  noch  so  gut  wie  gar  nicht;  und 
die  entsetzlichen  Porträts  von  Feldherren  im  Yuschii- 
kwan  (historische  Waffensammlung)  in  Tokio  möchte 
ich  der  japanischen  Kunst  als  solcher  nicht  zur  Last 
legen.  Ich  kann  mich  indessen  des  Eindrucks  nicht  er¬ 
wehren,  dass  die  beiden  hier  gekennzeichneten  modernen 
Richtungen  fehl  gehen;  die  eine  verschliesst  sich  der 
Natur  und  dem  Leben,  die  andere  vernachlässigt  den 
nationalen  Boden.  Eine  Renaissance  der  japanischen 
Kunst  wird  schwerlich  durch  europäische,  oder  gar 
amerikanische  Lehrer  entstehen,  sie  wird  sich  nur 
selbständig  in  Anknüpfung  an  die  nationale  Kunst, 
aber  unter  Zurückgehen  auf  das  unmittelbare  Studium 
der  Natur  entwickeln  können.  Man  sollte  meinen, 
dass  der  unleugbare  Natursinn  und  Geschmack  dieses 
Volkes  hierbei  hilfreich  sein  müsste,  vorausgesetzt, 
dass  die  junge  Generation  es  nicht  für  gut  findet,  die 
ganze  feine  ins  Volksleben  übergegangene  Ästhetik 
ihrer  Vorfahren  für  abgethan  anzusehen,  und  es  nicht 
verschmäht,  die  eigenartige  jaiianische  Natur  mit  ja¬ 
panischen  Augen  anzusehen. 

Yokohama,  im  April  1903.  A.  v.  JANSON. 


ORÜNEWALD’S  ISENHEIMER  ALTAR 

EIN  REKONSTRUKTIONSVERSUCH 


Als  das  Isenheimer  Antoniterkloster  im  Jahre 
1793  aufgehoben  wurde,  brachte  man  unter 
anderem  auch  den  von  Mathis  Grünewald  be¬ 
malten  Fronaltar  nach  Kolmar,  wo  im  Unterlinden- 
Museum  nachträglich  ein  teilweiser,  provisorischer 
Wiederaufbau  versucht  wurde.  Dieser  Wiederaufbau 
(vgl.  Abb.  1)  ist  nun  in  mehr  als  einer  Hinsicht  irre¬ 
leitend,  und  man  merkt  es  so  ziemlich  allen  Beschrei¬ 
bungen  des  Werkes  an,  dass  die  Autoren  derselben 
sich  an  der  Hand  der  jetzigen  Aufstellung  keine  ganz 
deutliche  Vorstellung  von  dem  ursprünglichen  Aus¬ 
sehen  des  Altars  zu  bilden  vermochten. 

Das  unter  Abbildung  2 — 4  wiedergegebene,  aus 
Cigarrenholz  und  Photographien  zusammengeleimte 
Modell  versucht  eine  Rekonstruktion  des  Altars,  die 


vielleicht  manchen  Verehrern  Grünewald’s  nicht  un¬ 
willkommen  ist  und  hoffentlich  auch  den  Beifall  der 
Kenner  findet. 

Zunächst  ein  Wort  über  den  jetzigen  Zustand, 
wie  ihn  Abbildung  1  wiedergiebt,  nur  dass  jetzt  das 
geschnitzte  Rankenwerk  zu  Häupten  des  thronenden 
Heiligen  durch  nachträglich  gefundene,  sicher  zuge¬ 
hörige  Stücke  erfreulich  ergänzt  ist.  Die  einschnei¬ 
dendste  Veränderung,  die  man  bei  der  Neuaufstellung 
vornahm,  war  die,  dass  man  die  vier,  mit  Grünewald’s 
Bildern  geschmückten,  beweglichen  Flügel  von  der 
geschnitzten  Rückwand  des  Altars  trennte,  vermutlich 
weil  die  Rahmung  schadhaft  geworden  war.  Diese 
Trennung  war  unT  so  leichter  zu  bewerkstelligen,  als 
die  Flügel  wahrscheinlich  erst  nachträglich,  und  dann 


GRÜNEWALD’S  ISENHEIMER  ALTAR 


283 


mit  eigenem  Rahmenwerk 
der  etwas  älteren  (siehe  unten) 
geschnitzten  Rückwand  ange¬ 
fügt  worden  waren. 

»Zu  beyden  Seiten  des 
Altars  gehen  noch  zwey  be- 
vesfigte  Flügel  heraus'-,  heisst 
es  in  einer  Beschreibung  des 
Werkes  von  1789,  die  also 
vor  seiner  Überführung  nach 
Kolmar  verfasst  wurde  (Repert. 

VII,  I39ff).  Nur  diese  zwei 
befestigten  Flügel  sind  bis 
vor  kurzem  noch  an  ihrem 
ursprünglichen  Platze  geblie¬ 
ben.  Man  sollte  sie  nur 
sehen,  wenn  der  Altar  selbst 
geschlossen  war  (Abb.  2). 

Der  Missstand,  der  jetzt  so 
stört,  dass  wir  fast  neben¬ 
einander  einen  gemalten  und 
einen  geschnitzten  hl.  An¬ 
tonius  erblicken,  fiel  also  ur¬ 
sprünglich  fort. 

Aber  auch  das  Schnitz¬ 
werk  des  Schreines  ist  nicht 
unversehrt  geblieben.  Von  dem  Rahmen,  der  sich 
einst  im  Rechteck  um  die  Figuren  des  hl.  Augustin 
und  Hieronymus  zog,  sind  nur  Ansatzstücke  erhalten. 
Die  kleinen  Baldachine,  welche  die  flachen  Nischen 
zu  Häupten  dieser  Heiligen  abschlossen,  sitzen  jetzt, 
da  jene  Nischen  kassiert  wurden,  sonderbar  in  freier 
Luft;  die  Laubwerkfüllung  über  ihnen  fehlt.  Noch 
schlimmer  ist  es  dem  hl.  Antonius  in  der  Mitte  er¬ 
gangen.  Auch  seine  Nische  hat  man  kassiert:  er  thront 


jetzt  statt  im  Schatten  der 
tiefen  Nische  und  statt  unter 
der  herrlichen  Laubwerkfül¬ 
lung  vor  diesem  geschnitzten 
Vorhang.  Im  Innern  warseine 
Nische  nach  oben  von  einer 
mit  reichem  Masswerk  über- 
sponnenen  Baldachindecke 
abgeschlossen:  diese  Bal¬ 

dachindecke  schwebt  jetzt  als 
absonderliche  Bekrönung 
hoch  über  dem  ganzen  Rah- 
mengestell. 

Der  vor  die  Altarfront 
vorgeschobene  Thron  des 
Klosterheiligen  musste  natür¬ 
lich  eine  Unterstützung  er¬ 
halten  :  man  gab  sie  ihm  durch 
ein  Risalit  der  Altarstaffel,  ln 
diesen  willkürlich  gezimmer¬ 
ten  Untersatz  fügte  man  das 
Brustbild  Christi  ein  und 
trennte  so  in  sinnwidriger 
Weise  den  Heiland  von  seinen 
Jüngern. 

Die  gemalten  Flügel  der 
Predella  endlich,  die  sich  einst  in  der  Höhe  der  Apostel¬ 
statuetten  in  ihren  Achsen  drehten,  hat  man  in  einen 
neuen,  festen  Rahmen  gespannt;  doch  sieht  man  in  der 
Mitte  deutlich  die  Schnittlinie,  wo  einstens  die  beiden 
Hälften  der  Predella  auseinanderklafften.  Den  neuen 
Rahmen  aber  hat  man  unter  den  Brustbildern  der  Apostel 
am  Altartisch  selbst  wie  ein  Antependium  aufgehängt. 

Wir  wenden  uns  nun  der  Rekonstruktion  zu. 
Abbildung  2  zeigt  den  Altar  bei  geschlossenen 
Flügeln  und  geschlossener  Predella.  Rechts  und  links 
von  der  Kreuzigung  kommen  die  zwei  befestigten 


ABB.  1.  DIE  GESCHNITZTE  RÜCKWAND  DES  ISENHEIMER 
ALTARS  MIT  DEN  ZWEI  »BEFESTIGTEN  FLÜGELN 


ABB.  2.  DER  ISENHEIMER  ALTAR,  GESCHLOSSEN 


ABB.  3.  DER  ISENHEIMER  ALTAR  BEI  GEÖFFNETEN  AUSSENFLÜGELN 


284 


GRÜNEWALD’S  ISENHEIMER  ALTAR 


ABB.  4.  DER  ISENHEIMER  ALTAR  BEI  CiEÖFFNETEN  INNEN- 
FI.ÜOELN  UND  BEI  GEÖFFNETER  PREDELLA 

Flügel  mit  St.  Antonius  und  St.  Sebastian  zum  Vor¬ 
schein.  Sie  stehen  mit  der  Kreuzigung  nicht  in  einer 
Flucht,  wie  man  nach  der  Photographie  vermuten 
könnte,  sondern  treten  um  30 — 40  cm  hinter  diese 
zurück.  Wie  schön  die  Predella  mit  ihrer  Bewei¬ 
nung  unter  das  Bild  der  Kreuzigung  passt,  springt 
in  die  Augen.  Auffallend  ist  die  gedrückte  Breite  des 
Altars,  sie  entspricht  dem  Geschmack  um  1 500.  Es 
ist  aber  sehr  wahrscheinlich,  dass  später  hier  wie 
anderwärts  ein  geschnitztes  Gehäuse  von  bedeutender 
Höhe  den  oberen  Abschluss  reicher  gestaltete.  Sollen 
doch  ganze  Wagenladungen  von  vergoldetem  Schnitz¬ 
werk  nach  1793  von  Isenheim  weggeführt  worden  sein. 


dieser  Nische,  den  der  vorhin  besprochene,  ge¬ 
schnitzte  Baldachindeckel  einst  schmückte. 

Auch  die  flachen  Nischen,  in  denen  der  hl.  Au¬ 
gustin  und  Hieronymus  stehen,  werden  nicht  recht 
verständlich.  Die  Füllungen  darüber  sind,  was  die 
Ornamente  betrifft,  willkürlich  ergänzt. 

Diese  dritte  Ansicht  des  Altars  empfahl  sich  be¬ 
sonders  an  Festtagen  des  Klosterheiligen.  Seine  Be¬ 
gegnung  mit  Paulus  dem  Eremiten  und  seine  Ver¬ 
suchung  durch  die  Teufel  ist  auf  den  gemalten  Innen¬ 
seiten  der  Innenflügel  dargestellt. 

Besondere  Schwierigkeit  macht  die  Rekonstruktion 
der  Predella,  weil  deren  Flügel  mit  den  stark  ausge¬ 
schweiften  äusseren  Schmalseiten  für  die  Drehung  einen 
erheblichen  Spielraum  verlangen.  Dieser  Spielraum 
lässt  sich  aber  gewinnen,  wenn  man  nur  zwischen 
der  Rückwand  des  Altars  und  dem  Drehpunkt  der 
Predellaflügel  den  richtigen,  auch  durch  die  Dicke 
der  übereinander  liegenden  zwiefachen  Flügelpaare 
gebotenen  Abstand  innehält.  Die  um  ihre  Angeln 
gedrehten  Flügel  der  Predella  (sie  sind  auf  ihrer 
Innenseite  einfach  mit  schokoladenbrauner  Farbe  ge¬ 
strichen)  rahmen  dann  mit  ihren  nach  Innen  gerichteten 
Schweifungen  in  gefälliger  Weise  die  Darstellung 
Christi  mit  den  Zwölfboten,  deren  geschnitzte  Brust¬ 
bilder  in  der  Tiefe  der  Altarstaffel  angeordnet  waren. 
Ob  Christus,  wie  anderwärts,  so  auch  hier  durch 
trennende  Pfeiler  von  den  Aposteln  abgesondert  war, 
lässt  sich  nicht  mehr  entscheiden.  Dafür,  dass  diese 
Apostelfiguren,  trotz  ihres  wahrscheinlich  höheren 
Alters  zum  ursprünglichen  Bestand  des  Altars  gehören 
und  dass  sie  in  der  von  mir  vorgenommenen  Weise 
hinter  den  gemalten  Predellaflügeln  untergebracht 
waren,  zeugt  folgende  Stelle  in  der  schon  oben  er¬ 
wähnten  Beschreibung  von  1789:  »Der  hl.  Antonius 
hat  seine  gewöhnlichen  Begleiter,  die  Hirten  (!)  und 
Schweine  bey  sich.  Die  kleinen  Bildnisse  in  halben 


Abbildung  3  zeigt  den  Altar  bei 
geöffnetem  äusseren  Flügelpaar.  Es  er¬ 
scheinen  Freuden  Mariä  (Verkündigung, 
Anbetung),  wozu  die  Auffahrt  des  Herrn 
ganz  rechts  wohl  auch  gezählt  werden 
darf.  Diese  Ansicht  bot  der  Altar  wohl 
an  Marienfesten.  Daran,  dass  Antonius 
der  Kirchenheilige  war,  erinnerte  bei 
dieser  Ansicht  nur  die  kleine  Darstel¬ 
lung  im  Türsturz  des  spätgotischen 
Kappellenbaues  mit  den  musizierenden 
Engeln;  man  sieht  hier  den  thronenden 
Heiligen,  zu  dessen  Füssen  der  Abt 
kniet.  Die  Predella  konnte  bei  dieser 
Ansicht  geschlossen  bleiben;  man 
konnte  sie  aber  auch  aufthun,  wie  Ab¬ 
bildung  4  zeigt. 

Nicht  recht  klar  wird  aus  Abbil¬ 
dung  4,  dass  der  thronende  Antonius 
hinter  der  geschnitzten  Füllung  in  einer 
erheblich  weit  zurückspringenden  Nische 
sitzt.  Der  schwarze  Klex  über  seinem 
Barett  bedeutet  den  oberen  Abschluss 


ABB.  5.  AUSSCHNITT  AUS  DEM  BESUCH  DES  HL.  ANTONIUS  BEIM  HL.  PAULUS 


ORÜNEWALD’S  ISENHEIMER  ALTAR 


285 


Figuren  stellen  den  Heiland  mit  seinen  Jüngern  vor. 
Alle  sind  so  fleissig  und  genau  ausgearbeitet,  dass  sie 
nebst  den  Gemählden,  zu  denen  man  noch  eine  Be¬ 
gräbnis  Christi,  die  die  kleineren  Statuen  bedeckt, 
rechnen  muss,  diesen  Altar  etc.  .  .  .« 

Auf  der  Begegnung  mit  Paulus  (Abb.  5)  in  der 
Wüste  lehnt  links  unten  an  den  Felsen,  auf  dem 
Antonius  Platz  genommen,  das  Wappen  des  Abtes 
Guido  Gersi,  der  von  1490  — 1516  auf  dem  Isen- 
heimer  Abtsstuhl  sass  und 
dem  Maler  Grünewald  den 
Auftrag  zu  den  Altargemälden 
gab.  Das  Gewand  des  hl. 

Antonius  ist  geflissentlich 
zurückgeschlagen,  damit  das 
Wappen  recht  sichtbar  würde. 

Dieser  hochbetagte,  zahnlose 
Heilige  mit  seinem  so  ganz 
individuellen,  lauernden,  aber 
nichts  weniger  als  schönen 
Zügen,  scheint  Porträt.  Por¬ 
trät  von  wem?  Nun  doch 
gewiss  von  dem  Abt  Guido 
Gersi, dem  BestellerderBilder, 
dessen  Wappen  so  nachdrück¬ 
lich  an  dem  Felsensitze  lehnt. 

(Auf  der  Abb.  5  ist  nur  noch 
der  obere  Teil  des  Wappens 
schwach  zu  erkennen.) 

An  dem  Einsiedel  Paulus 
gegenüber  ist  die  Ähnlichkeit 
mit  Grünewald  selbst,  wie 
wir  sein  Gesicht  aus  seinem 
Selbstporträt  (Abb.  6)  kennen, 
eine  ganz  frappante;  man 
vergleiche  die  Kopfhaltung, 
den  Haarwuchs,  die  Furchen 
der  Stirn,  die  Eigenart  des 
Blickes.  Wir  sehen  also  wohl 
Meister  und  Auftraggeber, 

Künstler  und  Mäcen  auf 
diesem  schönen  Bilde  vereint. 

Wie  oft  mag  angesichts  der  entstehenden  Gemälde  der 
temperamentvolle  Maler  dem  kunstsinnigen  Abt  so 
vordemonstriert  haben,  wie  hier  der  Paulus  es  thut! 
Beiden  gebührte  ein  Ehrenplatz  auf  dem  Altargemälde; 
sie  hätten  ihn  schöner  nicht  finden  können  als  in¬ 
mitten  dieser  paradiesischen  Wüste. 

Noch  ein  zweiter  Donator  kommt  auf  dem  Altar¬ 
werk  vor:  er  kniet  in  halber  Grösse  rechts  vom  ge¬ 
schnitzten  hl.  Augustinus  (vgl.  Abb.  1).  Die  Beschrei¬ 
bung  von  1789  will  in  der  Figur  einen  Hirten  er¬ 


kennen.  Sie  ist  aber  ganz  sicher  als  Antoniterabt 
kenntlich  gemacht.  Der  Abt  ist  bartlos  und  besitzt 
grosse  Ähnlichkeit  mit  dem  Vorgänger  Guido  Gersi’s, 
dem  Abt  Jean  d’Orliac,  dessen  Züge  uns  Schongauer 
auf  seinem  Isenheimer  Autoniusbild  links  unten  neben 
dem  Wappen  überliefert  hat  (vgl.  Springer’s  Hand¬ 
buch  IV.  ^  Fig.  44).  Von  Jean  d’Orliac  wurde  vermut¬ 
lich  der  geschnitzte  Altarschrein  gestiftet,  dem  dann  sein 
Nachfolger  erst  die  gemalten  Flügel  anfügte.  So  sehen 

wir  also  bei  geöffnetem  Altar 
sowohl  den  Donator  des 
Schnitzwerks,  als  den  der 
etwas  später  gemalten  Flügel 
dargestellt  und  zwar  zur 
Linken  des  zu  ehrenden 
Heiligen,  also  an  dem  für 
männliche  Donatoren  her¬ 
kömmlichen  Platze. 

Angesichts  der  so  mangel¬ 
haften  Aufstellung  des  Altars, 
der  seine  ursprüngliche  Wir¬ 
kung  so  schlecht  zur  Geltung 
kommen  lässt,  erwacht  be¬ 
greiflicherweise  der  sehr  leb¬ 
hafte  Wunsch,  dass  man  doch 
dies  hoch  monumentaleWerk 
in  seiner  einstigen  Gestalt 
wieder  erstehen  lassen  wolle. 
Der  jetzige  Standort  erlaubt 
es.  Kein  wesentlicher  Be¬ 
standteil  fehlt.  Nur  wird 
bezweifelt,  ob  die  Tafeln 
mit  ihrem  brüchigen,  wurm¬ 
stichigen  Holz  es  vertragen 
würden,  neugerahmt  und 
dann  fleissig  vom  Kustoden 
um  ihre  Angeln  gedreht  zu 
werden.  Sollte  man  ihnen 
das  wirklich  nicht  mehr 
zumuten  können,  —  die 
genau  gleichaltrigen  Altar¬ 
flügel  im  Freiburger  Münster 
vertragen  es  vorzüglich  —  nun  so  empfiehlt  es  sich, 
wenigstens  ein  grosses  Modell  des  wieder  zusammen¬ 
gesetzten  Werkes,  beklebt  mit  den  grossen  Braun’schen 
Photographien,  im  Museum  in  der  Nähe  der  Originale 
aufzustellen.  Denn  für  das  Verständnis  und  die  Wür¬ 
digung  des  Ganzen  wie  der  einzelnen  Teile  ist  eine 
anschauliche  Vorstellung  von  dem  ursprünglichen 
Zusammenhalt  und  -hang  des  Werkes  wahrhaftig  nicht 
belanglos. 

Freiburg  i.  B.  FRITZ  BAUMGARTEN. 


ABB.  6.  GRÜNEWALD’S  SELBSTPORTRÄT.  KASSEL. 


LUDWIG  WILLROIDER.  LANDSCHAFTSSTUDIE 


WILLROIDER’S  LANDSCHAFTEN 


Willroider,  der  bekannte  Münchner  Landschafter, 
hat  aus  dem  reichen  Schatze  seiner  künstlerischen 
Gestaltungskraft  eine  Reihe  von  Proben  heraus- 
gegebeiP),  die  um  so  erfreulicher  sind,  als  sie  in 
kurzen  Zügen  lehren,  was  »grosse  Auffassung«  heisst. 
Er  hat  sich  nicht  mit  nebensächlichen  Dingen,  mit 
kleinlicher  Behandlung  des  Details  viel  zu  schaffen 
gemacht,  sondern  die  Hauptbetonung  auf  die  Grösse 
der  landschaftlichen  Erscheinung,  die  Wirkung  von 
mächtigen  Baumsilhouetten  gegen  massig  behandelte 
Lüfte  gelegt.  Es  soll  kein  Vorwurf  sein,  wenn  ge¬ 
sagt  wird,  dass  in  vielen  der  Blätter  ein  Rembrandt- 
scher  Geist  sich  in  Bezug  auf  die  Darstellungsweise 
gross  empfundener  Motive  kundgiebt.  Die  Originale, 


1)  Landschaften  von  Prof.  Ludw.  Willroider.  i8  Zeich¬ 
nungen  auf  12  Blatt  in  Mappe.  Format  26:34  cni.  Preis 
5  Mark.  München,  Verlag  von  Fr.  Rothbart. 


nicht  viel  umfangreicher  als  die  im  Druck  sehr  tonig 
und  weich  erscheinenden  Reproduktionen,  sind  in 
Kohle  ausgeführt.  Die  Technik  eignet  sich  sehr  gut 
gerade  für  das  zur  Anwendung  gekommene  Re¬ 
produktionsverfahren,  die  Autotypie.  Keine  ver¬ 
bessernde  Hand  hat  hier  die  Handschrift,  die  im 
Original  sich  kundgiebt,  irgendwie  beeinflusst.  Es 
ist  Eaksimile  im  besten  Sinne  des  Wortes.  An  Mappen 
mit  allerlei  figuralen  Kompositionen  verschiedenen 
Wertes  ist  der  Kunsthandel  überreich.  Um  so  mehr 
ist  hier  das  Werk  eines  Landschafters  zu  begrüssen, 
der  schon  so  oft  Proben  seiner  Kraft  gegeben  und 
dies  im  vorliegenden  Falle  in  einer  Weise  zu  ge¬ 
stalten  gewusst  hat,  welche  die  Mappe  in  erster  Linie 
in  die  Reihe  jener  modernen  Veröffentlichungen  stellt, 
die  unter  der  Devise:  »Gut  und  billig«  dazu  bei¬ 
tragen,  künstlerische  Anschauung  in  weitesten  Kreisen 
gross  zu  ziehen!  v.  B. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  O.  m.  b.  H.,  Leipzig 


LUDWIG  WILLROIDER  (MÜNCHEN)  STUDIENBLATT 


ALBERT  BELLEROCHE 

MIT  ZWEI  ORIGINALLITHOGRAPHIEN 


UM  diesen  Künstler  zu  charakterisieren,  muss 
ich  erzählen,  wie  ich  ihn  kennen  lernte.  Das 
war  bei  Gelegenheit  der  Beerdigung  Zola’s, 
und  somit  verdanke  ich  die  Bekanntschaft  mit  Belleroche 
keinem  andern 
als  Emil  Zola. 

Freilich  ganz  in¬ 
direkt,  und  Zola 
selbst  hatte  da¬ 
mit  nichts  zu 
thun,  ebenso¬ 
wenig  wie  Belle¬ 
roche,  der  mir 
deutlich  zeigte, 
dass  ihm  an  der 
Bekanntschaft 
nichts  gelegen 
war.  Und  ge¬ 
rade  das  impo¬ 
nierte  mir  und 
bewog  mich, 
dieser  Spur 
nachzugehen. 

Also  ich 
wollte  den  Lei¬ 
chenzug  Zola’s 
sehen  und  such¬ 
te  nach  einem 
passenden 
Standorte.  Dazu 
brauchte  ich  ein 
Fenster  in  einem 
Hause,  an  dem 
der  Zug  vor¬ 
überkommen 
musste.  Auf  der 
Jagd  nach  einem 
solchen  Fenster 
begegnete  mir 
ein  befreundeter 
Maler.  Ich  rief 
ihn  an: 

»Kennen  Sie 
jemand,  der  an 
dieser  Strecke 

wohnt?«  ÖLGEMÄLDE  VON 

»Ich  kenne 

sogar  jemand,  der  Zola  gerade  gegenüber  wohnt,  und 
dessen  Fenster  sich  gerade  auf  die  Hausthüre  Zola’s 
öffnen.« 

»Da  müssen  Sie  mich  hinführen.« 

Der  Mann  machte  ein  bedenkliches  Gesicht: 
»Hinführen  kann  ich  Sie  schon,  aber  ob  uns  der 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  12. 


Mann  hereinlässt,  ist  eine  andere  Frage.  Er  ist 
nämlich,  mit  Respekt  zu  vermelden,  etwas  kurios.  Er 
öffnet  vielleicht  die  Thüre  selbst,  schaut  uns  an,  und 
wenn  ihm  unsere  Köpfe  nicht  gefallen  oder  ihm  aus 

irgend  einem 
andern  Grunde 
unser  Besuch 
unwillkommen 
ist,  macht  er 
ohne  ein  Wort 
der  Erklärung 
seineThürewie- 
der  zu.« 

»Na,  wenn  das 
das  schlimmste 
ist,  was  uns 
passieren  kann, 
so  können  wir 
es  ja  einmal  ver¬ 
suchen.« 

So  kühn  re¬ 
dete  ich,  weil 
ichVertrauen  zu 
dem  Sesam  der 
zeitungsschrei¬ 
benden  Zunft 
besass.  Ich 
dachte  mir,  und 
viele  Erfahrun¬ 
gen  berechtig¬ 
ten  mich  zu  die¬ 
sem  Glauben, 
wenn  der  selt¬ 
same  Einsiedler 
erführe,  dass  ich 
zu  den  Leuten 
gehöre,  die  in 
Amerika  die 
Rangstufe  von 
kommandieren¬ 
den  Generälen 
bekleiden,  wer¬ 
de  er  sofort 
freundlich  wer¬ 
den,  in  derHoff- 
A.  BELLEROCHE  nung, eiiieHaiid 

werde  die  an¬ 
dere  waschen,  und  seine  Freundlichkeit  werde  eventuell 
durch  eine  kleine  Reklame  vergolten  werden. 

Aber  ich  hatte  mich  getäuscht.  Belleroche  hörte 
uns  zwar  an,  schlug  jedoch  mein  Anliegen  mit  aller 
wünschenswerten  Offenheit  ab,  ohne  auch  nur  die 
geringste  Höflichkeitsphrase  zu  machen.  Das  impo- 


37 


288 


ALBERT  BELLEROCHE 


nierte  mir,  und  ich  dachte  in  meinem  Sinn,  so  ein 
seltener  Vogel  müsse  näher  studiert  werden.  Erstens 
als  ein  Franzose,  der  keine  liebenswürdigen  und 
nichtssagenden  Phrasen  macht,  zweitens  als  ein  noch 
unbekannter  Künstler,  der  einem  Journalisten  einen 
kleinen  Gefallen  verweigert. 

Ein  paar  Wochen  später  kam  ich  wieder.  Belleroche 
war  zufällig  wenig  zur  Einsiedelei  geneigt.  Er  machte 
auf,  und  ich  sagte  ihm  ohne  Umschweife  ich  sei 
gekommen,  weil  es  mir  gefallen  habe,  neulich  von 
ihm  hinausge¬ 
worfen  \-'orden 
zu  sein,  denn 
unabhängige 
Menschen  ge¬ 
fielen  mir.  Diese 
Erklärung 
machtenun  wie¬ 
derum  dem  Ma¬ 
ler  Vergnügen, 
und  so  war  die 
Sache  in  Gang 
gebracht. 

jetzt  bin  ich 
sehr  froh,  dass 
ich  so  gehan¬ 
delt  habe.  In¬ 
dessen  bitte  ich 
doch  meine  Le¬ 
ser,  nicht  glau¬ 
ben  zu  wollen, 
dass  es  genügt, 
mich  die  Treppe 
hinunterzuwer¬ 
fen,  um  meine 
Freundschaft  zu 
erwerben.  Mit 
Nichten  und  im 
Gegenteil!  Aber 
es  gefällt  mir 
allerdings,wenn 
Leute,  denen 
die  öffentliche 
Meinung  so  viel 
helfen  kann,  auf 
diese  öffentliche 
Meinungpfeifen 
und  unbeküm¬ 
mert  um  Zei¬ 
tungen  und  Kritiker  ihren  Weg  gehen.  Zu  diesen 
wahrhaft  seltenen  Künstlern  gehört  Albert  Belleroche, 
und  selbstverständlich  ist  es  ihm  aus  diesem  Grunde 
so  ergangen,  wie  es  unabhängigen  Einsiedlern  er¬ 
gehen  muss: 

Wer  sich  der  Einsamkeit  ergiebt. 

Ach,  der  ist  bald  allein. 

Ein  jeder  lebt,  ein  jeder  liebt. 

Und  lässt  ihn  seiner  Pein. 

Das  klingt  etwas  sentimental  und  deshalb  falsch, 
denn  sentimental  ist  Belleroche  nicht  im  geringsten. 


Er  ist  auch  kein  eigentlicher  Einsiedler,  sondern  er 
ist  ganz  einfach  ein  Mensch,  der  das  Glück  hat,  seine 
Kunst  nicht  zur  Industrie  machen  zu  müssen.  Da 
er  nicht  nötig  hat,  dem  Gelderwerb  nachzujagen, 
kann  er  sich  ruhig  in  seine  Kunst  einspinnen  und 
hier  thun  und  lassen  was  ihm  behagt,  ohne  sich 
irgendwie  um  den  Kunstmarkt  und  um  den  Beifall 
der  Menge  zu  kümmern.  Und  bei  diesen  Arbeiten 
in  der  verborgenen  Stille  seiner  Werkstatt,  wo  er 
sich  von  keinem  Menschen  stören  lässt,  verliebt  er 

sich  ordentlich 
in  seine  Schö¬ 
pfungen  und 
bei  dem  Gedan¬ 
ken,  dem  frem¬ 
den  Publikum 
seine  Sachen  zu 
zeigen,  scheint 
ihn  so  etwas 
wie  Eifersucht 
anzuwandeln. 
Er  hütet  also 
seine  Leinwand 
undseineBlätter 
mit  eifersüch¬ 
tiger  Sorgfalt, 
und  es  kostet 
intime  Bekannt¬ 
schaft  und  lange 
Überredung, 
ehe  er  eine  Map¬ 
pe  öffnet  und 
ihren  Inhalt 
zeigt.  Um  aber 
gar  in  den  Win¬ 
kel  Zutritt  zu 
erhalten,  wo  die 
Presse  steht  und 
wo  der  Künstler 
in  schmierigem 
Schurzfell  mit 
nackten  Armen 
mit  den  Steinen 
und  der  Tinte 
herumhantiert, 
muss  man  mit 
Belleroche  zahl¬ 
reiche  Seidel 
Bier  und  meh¬ 
rere  Scheffel  Salz  vertilgt  haben.  Und  als  ich  diesem 
seltsamen  Menschen  davon  sprach,  seine  Kunst  den 
Lesern  einer  Kunstzeitschrift  vorzuführen,  geriet  er 
gar  in  etwas,  das  grossem  Zorne  ähnlich  sah.  Es 
bedurfte  all  meiner  Beredsamkeit  in  zwei  Sprachen, 
um  ihn  für  meinen  Plan  zu  gewinnen. 

ln  zwei  Sprachen  redete  ich  zu  ihm,  weil  Belleroche 
zwar  den  französischen  Namen  hat  und  in  Paris  lebt, 
aber  Engländer  ist  und  in  London  geboren  ist.  Da¬ 
mit  wird  auch  seine  Grobheit  unwillkommenen  Be¬ 
suchern  gegenüber  leichter  erklärlich.  Grobe  Franzosen 
giebt  es  nicht  oder  beinahe  nicht,  und  wenn  in 


ÖLGEMÄLDE  VON  A.  BELLEROCHE 


ALBERT  BELLEROCHE 


289 


Frankreich  jemand  wirklich  grob  ist,  fliesst  fast  immer 
das  Blut  irgend  eines  germanischen  Stammes  in  seinen 
Adern. 

Belleroche  verkehrt  nur  mit  wenigen  Menschen, 
und  seine  intimsten  Freunde  sind  Leute  wie  die 
Maler  Degas  und  Jaques  Rizo,  die  beide  in  künst¬ 
lerischen  Kreisen  um  ihres  kaustischen  Witzes  und 
ihrer  scharfen  Satire  willen  berühmt  sind.  Belleroche 
ist  nicht  so  grimmig  wie  diese  beiden,  aber  er  stimmt 
mit  ihren  Ansichten  über  Kunstausstellungen,  Jurys, 
Medaillen,  Publikum  und  Kritik  überein,  und  deshalb 
ist  es  leicht  verständlich,  dass  er  allen  diesen  Dingen 
mit  der  unendlich¬ 
sten  Verachtung 
gegenübersteht 
und  von  ihnen 
nichts  wissen  will. 

Erarbeitet  also  nur 
für  sich  allein  und 
für  die  drei  oder 
vierFreunde,  denen 
er  das  Heiligtum 
seinerMappen  oder 
gar  seiner  litho¬ 
graphischen  Werk¬ 
statt  aufschliesst, 
und  das  Kaufgebot 
eines  reichen,  aber 
unverständigen 
Mannes  würde  ihn 
mehr  ärgern  als 
freuen. 

Die  besondere 
Eigenart  und  Stärke 
Belleroche’s  zeigt 
sich  am  deutlich¬ 
sten  in  der  Litho¬ 
graphie.  Hier  ver¬ 
dankt  er  seine 
ausserordentlichen 
Wirkungen  nicht 
zum  geringsten 
seiner  vollkomme¬ 
nen  Beherrschung 
der  Technik.  Die 
allermeisten  Künst¬ 
ler,  die  in  diesem 
Gebiete  der  Kunst 
thätig  sind,  begnügen  sich  mit  der  Zeichnung,  die 
sehr  oft  erst  nachträglich  auf  den  Stein  gebracht 
wird.  Wenn  ein  Künstler  direkt  auf  den  Stein 
zeichnet,  thut  er  schon  mehr,  als  man  durchschnitt¬ 
lich  erwarten  darf.  Dass  er  aber  seine  Zeichen¬ 
stifte  aus  der  selber  in  brodelnden  Tiegeln  zu¬ 
sammengebrauten  Mischung  herstellte,  nachher  an  die 
Presse  ginge,  alle  Papiersorten  durchprobierte,  rast¬ 
los  immer  neue  Versuche  mit  allen  erdenklichen 
Mischungen  von  Tinten  machte,  den  Druck  der  Presse 
und  tausend  andere  Kleinigkeiten  mit  in  das  Feld 
seiner  Experimente  einbezöge  und  überhaupt  nicht 
nur  Zeichner,  sondern  auch  Drucker  und  Chemiker 


wäre  und  in  alle  Winkel  und  Details,  die  irgendwie 
von  Bedeutung  sein  können,  eindränge,  um  den 
Steindruck  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Manipulation 
von  dem  bewussten  Willen  des  Künstlers  abhängig 
zu  machen,  das  kommt  nur  in  den  allerseltensten 
Fällen  vor. 

Das  Resultat  dieser  technischen  Bemühungen 
Belleroche’s  ist  überraschend.  Lithographien,  wie  die 
beiden  Stillleben  und  wie  seine  zahlreichen  Frauen¬ 
studien,  hat  man  vor  ihm  überhaupt  noch  nicht  ge¬ 
macht,  und  weder  Gericault  und  Delacroix  noch 
Manet  und  Carriere  haben  es  verstanden,  in  ihren 

Lithographien 
diese  verschiede¬ 
nen  Grade  von  grau 
bis  zum  tiefsten 
schwarz  hervorzu¬ 
bringen,  welche  bei 
den  Blättern  Belle¬ 
roche’s  den  Be¬ 
schauer  verblüffen. 
Auf  den  ersten 
Blick  glaubt  man 
Radierungen  vor 
sich  zu  haben,  so 
kräftig  sind  die 
Abstufungen  der 
Tonstärke.  Das 
Sujet  thut  bei  Belle¬ 
roche  gar  nichts 
zur  Sache,  dieTech- 
nik  ist  alles,  zu¬ 
nächst  die  des 
Zeichners,  dann 
die  des  Druckers. 
Gerne  würde  ich 
meinen  Lesern  et¬ 
was  von  den  Ge¬ 
heimnissen  des 
Druckers  Belle¬ 
roche  verraten ,  aber 
das  geht  nicht  an, 
einmal  weil  ich  sie 
nicht  kenne,  und 
das  ist  der  Haupt 
grund,  und  dann 
weil  ein  solcher 
Verrat  vermutlich 
doch  nicht  viel  nutzen  könnte.  Als  Zeichner  berührt  er 
sich  mit  dem  schon  erwähnten  Degas,  als  Maler  kann 
man  vielleicht  einen  verwandten  Zug  zwischen  ihm 
und  Sargent  finden. 

ln  seinen  Ölgemälden  ist  er  als  Porträtist  den 
schärfsten  Beobachtern  und  energischsten  Schilderern 
ebenbürtig.  Sein  Porträt  des  Malers  Rizo,  das  hier 
wiedergegeben  ist,  zeigt  diesen  grimmigen  Spötter 
und  satirischen  Humoristen  in  so  erschöpfender  Auf¬ 
fassung,  dass  man  dieses  Bild  nur  anzuschauen  braucht, 
um  die  wunderliche  Kaustik  des  Rizo’schen  Gemütes 
zu  spüren  und  seine  zersetzende  und  lächelnde  Kritik 
ordentlich  von  seinen  Lippen  abzulesen.  Als  Malerei 


ÖLSTUDIE  VON  A.  BELLEROCHE 


37 


2go 


ALBERT  BELLEROCHE 


nicht  weniger  stark,  wenn  auch  weniger  tief  als 
Charakterstudie  ist  der  gleichfalls  hier  abgebildete 
weibliche  Kopf.  Hier  wie  dort  ist  alles  mit  energischen, 
breiten  Strichen  hingesetzt,  so  sicher  und  fest,  dass 
man  unwillkürlich  an  den  grössten  Meister  kecker, 
sicherer  und  charaktervoller  Porträtkunst,  an  Frans 
Hals,  denken  muss. 

In  seinen  Interieurs,  die  den  grössten  Raum  in 
der  Malerei  Belleroche’s  einnehmen,  wandelt  er  auf 
Pfaden,  die  sich  denen  Lobre’s  nähern,  ohne  aber 
jemals  ganz  mit  ihnen  zusammenzutreffen.  Er  ist 
weit  kräftiger  und  farbiger  als  dieser,  versteht  es 
aber  wie  er,  sanfte  Lichtwellen  in  heimliche  Dämmer¬ 
räume  zu  leiten  und  einen  solchen  Raum  mit  einer 
musikalisch  abgetönten  Atmosphäre  zu  erfüllen, 
welche  die  Gegenstände  mit  ihrem  weichen  Dufte 
umhüllt.  Während  er  in  seinen  Bildnissen  an  Frans 
Hals  erinnert,  kommt  er  in  manchen  seiner  Interieurs 


den  Meistern  van  der  Meer  und  de  Hooch  nahe. 
So  stark  und  interessant  er  uns  aber  auch  in  seiner 
Malerei  gegenüber  tritt,  am  interessantesten  und  eigen¬ 
artigsten  ist  er  in  der  Lithographie,  worin  sich  ihm 
schlechterdings  kein  anderer  Künstler  vergleichen  lässt. 
Die  hier  beigegebene  Originallithographie  des  Still¬ 
lebens  spricht  besser  für  die  Eigenart  des  Künstlers, 
als  ich  es  in  langen  Sätzen  könnte.  Die  auf  den 
Stein  gezeichneten  beiden  Kinderköpfchen  zeigen  uns 
weniger  von  der  brillanten  Technik  Belleroche’s,  die 
besser,  obschon  selbstverständlich  nur  unvollkommen 
in  den  kleinen  photographischen  Nachbildungen  zur 
Geltung  kommt.  Jedenfalls  werden  diese  Nachbil¬ 
dungen  genügen,  um  eine  Vorstellung  von  der  litho¬ 
graphischen  Technik  und  von  der  sicheren  Zeichenkunst 
Belleroche’s  zu  geben,  während  ihn  die  beiden  zu¬ 
gleich  mitgeteilten  Porträts  als  ausserordentlich  scharfen 
Charakteristiker  vorstellen. 

KARL  EUGEN  SCHMIDT. 


A.  BELLEROCHE.  PORTRÄT  DES  MALERS  RIZO 


NACH  EINER  LITHOGRAPHIE  VON  A.  BELLEROCHE 


NACH  EINER  LITHOGRAPHIE  VON  A.  BELLEROCHE 


NACH  LITHOGRAPHIEN  VON  A.  BELLEROCHE 


NACH  EINER  LITHOGRAPHIE  VON  A.  BELLEROCHE 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1Q03 


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DER  URSPRUNG  DER  ROMANISCHEN«  KUNST 

Von  Josef  Strzygowski 


ES  giebt,  glaube  ich,  heute  noch  alte  Leute,  die  das, 
was  wir  romanisch  getauft  haben,  byzantinisch 
nennen.  Ich  erinnere  mich  der  Enttäuschung,  die 
ich  als  Student  erlebte,  als  ich  mir  Heideloff’s  Kleinen 
Byzantiner,  ein  Taschenbuch  des  byzantinischen  Bau¬ 
stiles«  oder  Verneilh’s  »L’Architecture  byzantine  en 
France«  anschaffte.  Ich  suchte  Aufschluss  über  den 
Orient  und  fand  eine  Vorführung,  die  bei  Heideloff 
z.  B.  in  dem  Satz  gipfelt:  »Die  Glanzperiode  der 
byzantinischen  Kunst  für  Deutschland  war  das  zehnte 
und  elfte  Jahrhundert.«  Das  war  die  Auffassung  im 
zweiten  Viertel  des  vorigen  Jahrhunderts.  Man  hatte 
sich  damals  über  das  Griechische  und  Römische 
heraus  zu  einer  Anerkennung  auch  der  mittelalter¬ 
lichen  Baustile  durchgearbeitet  und  sah  die  unantike 
Art  des  Phänomens  klarer  als  die  Wissenschaft 
von  heute.  Das  ist  immer  so:  der  erste  Blick  giebt 
den  Eindruck  deutlicher,  die  nachträgliche  Reflexion 
im  einzelnen  raubt  die  Unbefangenheit  in  Ansehung 
des  Ganzen,  besonders,  wenn  dazu  durch  einen  falschen 
Analogieschluss  noch  Verwirrung  angerichtet  wird. 
So  hat  die  Kunstgeschichte  von  der  Sprachwissen¬ 
schaft  den  Namen  »romanisch«  entlehnt  und  nimmt 
nun  der  Sprachentwickelung  parallel  an,  das  Romanische 
habe  sich  durch  Einwirkung  des  Germanischen  aus 
dem  Lateinischen  entwickelt.  Sie  ist  damit  meiner 
Überzeugung  nach  in  eine  von  vornherein  verkehrte 
Strömung  geraten.  Wenn  man  einen  Stil  den 
romanischen  nennen  darf,  so  ist  es  jener  der  Re¬ 
naissance.  Nur  sieht  man  leider  auch  da  falsch.  Die 
Renaissance  entsteht  auf  italienischem  Boden  nicht  spon¬ 
tan  aus  dem  Studium  von  Natur  und  Antike,  sondern 
dadurch,  dass  man  die  vom  Norden  her,  in  erster 
Linie  durch  die  sogenannte  Gotik  mächtig  angeregte 
Formkraft  —  und  sie  allein  ist  das  Entscheidende,  der 
Kern  —  in  Italien  durch  die  Anwendung  antiker  Formen 
und  Konstruktionsgesetze,  sowie  durch  wissenschaftliche 
Studien  in  ein  neues  Fahrwasser  leitet.  Das  war  es, 
was  ich  im  Auge  hatte,  als  ich  im  »Werden  des 
Barock«  sagte,  die  Bedingungen  für  den  Eintritt  des 
Barock  Hessen  sich  im  letzten  Gliede  zurückverfolgen 
bis  auf  die  Völkerwanderung. 

Vom  Orient  und  nicht  von  Hellas  und  Rom  aus 
werden  die  Fundamente  gelegt,  auf  denen  sich  all¬ 
mählich  die  mittelalterliche  und  neuere  Kunst  entwickelt. 
Rom  ist  in  der  massgebenden  Zeit  ohnmächtig.  Es  ist 
die  im  Orient  mächtig  emporgewachsene  Kirche,  die 
im  vierten  und  fünften  Jahrhundert  als  der  eigentliche 
Stützpunkt  der  Kultur  und  Kunst  des  Abendlandes 
gelten  muss.  Um  nicht  missverstanden  zu  werden, 
betone  ich:  die  Kirche  des  Orients,  nicht  Byzanz.  Die 
neue  Metropole  am  Bosporus  war  damals  kaum  erst 
durch  den  Willen  eines  mächtigen  Fürsten  geschaffen, 
sie  war  in  der  Bildung  begriffen  unter  ähnlichen  Vor¬ 
bedingungen,  wie  sich  die  Kirche  und  ihre  Kunst  in 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  Ff.  12. 


den  keltischen  Stammländern  formierte.  —  Diese  An¬ 
schauung  ist  in  mir  gereift,  bevor  ich  noch  sah,  dass 
die  Theologen  und  Litterarhistoriker  allmählich  zu  der 
gleichen  Erkenntnis  durchdringen.  Am  schlagendsten 
treten  die  Verhältnisse  hervor  in  der  Geschichte  der 
Liturgie.  Dass  Mailand  und  Gallien  die  griechische, 
nicht  die  sogenannte  römische  Liturgie  besassen,  weiss 
man  längst.  Jetzt  entdeckt  Drews^),  dass  selbst  der 
römische  Kanon  derselbe  ist  wie  jener  der  altsyrischen 
Liturgie  und  W.  Meyer  veröffentlicht  eben  das  Bruch¬ 
stück  der  ältesten  irischen  Liturgie,  die  den  Stempel  des 
Orientalisch-Griechischen  vielleicht  schon  im  Äussern 
an  sich  trägt ^).  Nur  aus  diesem  Übergewicht  des 
Christlich -Orientalischen  in  der  Kirche  des  vierten 
und  fünften  Jahrhunderts  verstehen  wir  auch,  wie  die 
Iren  in  karolingischer  Zeit  als  Träger  griechischer 
Bildung  auftreten  können.  Durch  den  heidnischen 
Wall  der  Angelsachsen  vom  Kontinent  isoliert,  haben 
sie  die  alte  Kultur  der  nordischen  Kirche  bewahrt 
und  treten  dann  in  einer  Zeit,  wo  Rom  längst  seine 
Herrschaft  über  das  Abendland  durchgesetzt  hatte, 
deutlich  als  Verkünder  der  ursprünglichen  Zustände 
hervor^). 

Doch  ich  will  nicht  zu  weit  ausgreifen.  Einer 
Einladung  des  Herausgebers  folgend,  soll  ich  hier 
mein  neues  Buch  »Kleinasien,  ein  Neuland  der  Kunst¬ 
geschichte«  selbst  einführen  ^).  Man  wird  dort  alles 
ausführlicher  erörtert  finden.  Ich  freue  mich  der  Ge¬ 
legenheit,  das  Buch,  nachdem  ich  mit  ihm  gewachsen 
bin,  rückblickend  als  Ganzes  überschauen  zu  dürfen. 
Trügt  mich  nicht  die  Entdeckerfreude,  so  wird  es 
manchem  Suchenden  Anregung  und  Richtung  bringen. 
Ich  greife  hier  nur  das  eine  im  Titel  genannte  Problem 
heraus.  Wie  kann  man  von  Kleinasien  aus  auf  den 
Ursprung  der  romanischen  Kunst  kommen?  Als  ich 
anfing  über  die  kleinasiatischen  Denkmäler,  die  durch 
das  Vertrauen  von  Fachgenossen  aller  Länder  zur 
Veröffentlichung  in  meine  Hände  gelegt  waren,  nach¬ 
zudenken,  da  ahnte  ich  freilich  so  wenig  wie  wohl 
sonst  irgend  jemand,  dass  die  Dinge  weit  über  den 
Orient  hinaus  Bedeutung  gewinnen  könnten.  Es  war 
beim  Nachsinnen  über  einen  für  den  römischen 
Kongress  angekündigten  Vortrag,  dass  mir  die  Schup¬ 
pen  von  den  Augen  fielen.  Ich  war  genötigt,  vom 
Abendland  aus  auf  das  Erarbeitete  zurückzublicken. 


1)  Zur  Entstehungsgeschichte  des  Kanons  in  der 
römischen  Messe. 

2)  Nachrichten  von  der  Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen 
phil.-hist.  Klasse  1903,  S.  1631  Ähnlich  liegt  der  Fall  be¬ 
züglich  der  Sterbegebete. 

3)  Vergl.  dazu  Zimmer,  Pelagius  in  Irland,  S.  5. 

4)  Kleinasien,  ein  Neuland  der  Kunstgeschichte. 
Kirchenaufnahmen  von  J.  W.  Crowfoot  und  J.  I.  Smirnov, 
bearbeitet  von  Josef  Strzygowski.  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs- 
sche  Buchhandlung. 


38 


296 


DER  URSPRUNG  DER  »ROMANISCHEN«  KUNST 


Mailand  gab  den  Schlüssel;  ich  sah,  dass  es  zu¬ 
sammen  mit  Ravenna  und  Marseille  den  Norden 
von  Rom  abschnitt  und  seine  Thore  vor  allem  durch 
den  heiligen  Ambrosius  weit  für  den  Orient  öffnete. 
Aber  da  strömte  ja  in  erster  Linie  hellenistischer  Geist 
ein.  Die  -romanischen«  Formen  jedoch  sind  auf  den 
ersten  Bück  viel  mehr  orientalisch  als  griechisch.  Wo 
konnte  da  die  Quelle  liegen?  So  kam  ich  auf  die 
bahnbrechende  Bedeutung  jener  Macht,  die  das  ganze 
Mittelalter  hindurch  kulturell  die  Führung  behielt, 
die  Klostertradition.  Das  Mönchswesen  ist  eine  spe- 
zifisc!'!  orientalische  Einrichtung,  seine  Kunstformen 
sind  nicht  in  den  führenden  hellenistischen  Gross- 
siädten,  sondern  in  deren  Hinterländern,  nicht  in 
Alexandria,  Antiochia  und  Ephesos,  sondern  im 
eigentlichen  Äg}'pten,  Syrien  und  Kappadokien  ent¬ 
standen.  Ägyptische  und  syrische  Mönche,  sowie  die 
kleinasiatischen  Basilianer  waren  es,  die  diese  im 
inneren  Orient  ohne  wesentliches  Zuthun  der  Antike 
entstandenen  Formen  nach  dem  Abendland  über¬ 
trugen.  Und  da  diese  Klostertradition  schon  im 
Oriente  keine  einheitliche  war,  am  Nil  eine  andere 
Bauart  als  in  Centralsyrien  herrschte  und  dort  anders 
als  im  zentralen  Kleinasien  gebaut  wurde,  so  kamen 
allerhand  Varianten  von  Anfang  an  nach  dem  Westen. 
So  erklärt  sich  dann  auch  die  rätselhafte  Mannig¬ 
faltigkeit  der  romanischen  Bauformen  gleich  bei  ihrem 
ersten  Auftreten.  Wenn  der  romanische  Stil  eine 
nationale  Bauform  wie  der  griechische  oder  gotische 
wäre,  müsste  er  ganz  anders  einheitlich  erscheinen, 
statt,  wie  Heideloff  sagt,  jede  Regel  auszuschliessen 
und  sich  frei  wie  der  Vogel  im  Fluge  zu  bewegen. 
Es  könnten  die  Schmuckformen  wie  im  Ionischen 
und  Korinthischen  wechseln,  ein  streng  einheitlicher 
Bautypus  aber,  wie  der  dorische  in  der  Entwickelung 
des  antiken  Tempels,  müsste  doch  durchschlagen. 
Statt  dessen  ist  im  Abendlande  eher  das  Ornament 
stetig,  weil  es  durchsetzt  ist  vom  Völkerwanderungsstil 
und  den  Vorbildern  der  lokal  vorhandenen  römischen 
Ruinen,  sowie  von  der  Art  hellenistisch-byzantinischer 
Werke  der  Kleinkunst.  Gerade  das  Skelett  aber,  das 
jede  nationale  Kunst  einheitlich  durchsetzen  muss,  der 
Bautypus,  wechselt  fortwährend.  Man  hat  dafür  die 
Verschiedenheit  der  Bedingungen  in  den  einzelnen 
gallo-fränkischen  Landesteilen  verantwortlich  machen 
wollen;  das  langt  nicht:  es  sind  die  verschiedenen 
orientalischen  Wurzeln,  die  den  eigentlichen  Schlüssel 
zu  dieser  Erscheinung  liefern. 

Ich  stehe  heute  noch  am  allerersten  Anfänge 
dieser  Beobachtungen.  Mich  beschäftigten  grössere 
Arbeiten  über  Ägypten'),  als  ich,  dem  Druck  der 
Umstände  nachgebend,  Kleinasien  den  Vortritt  gab. 
Aber  gerade  das  vorausgehende  Studium  des  Ägyp¬ 
tisch-  und  Syrisch- “)  Christlichen  Hess  mich  die  Incli- 

1)  Ich  bereite  mit  Somers  Clarke  und  Herz-Bey  eine 
unter  der  Ägide  des  Comite  de  Conservation  des  monu- 
ments  de  l’art  arabe  erscheinende  Monographie  über  die 
Kirchen  und  Klöster  Ägyptens  vor. 

2)  Es  sind  die  Ergebnisse  der  Studienreisen  von 
Dr.  Max  Freiherrn  von  Oppenheim  und  R.  Brünnow,  die 
mir  zur  Bearbeitung  freundlichst  überlassen  wurden. 


vidualität  des  Central-Kleinasiatischen  vielleicht  deut¬ 
licher  erfassen.  Mit  Bewilligung  des  Verlegers  kann 
ich  hier  eine  Probe  dessen,  was  als  typisch  central¬ 
kleinasiatisch  gelten  kann,  in  Abbildungen  vorlegen. 
Ich  greife  den  Typus  der  reinen  Basilika  ohne  Kuppel 
heraus.  Der  Grundriss  Abbildung  1  zeigt  die  Kirche  111 
von  Binbirkilisse.  Man  beachte  zunächst  die  Ein¬ 
gangsseite.  Zwischen  zwei  nur  vom  Innern  aus  zu¬ 
gänglichen  Kammern  öffnet  sich  eine  offene  Vorhalle. 
Das  findet  man  auch  in  Syrien,  wo  noch  Bauten  erhalten 
sind,  die  zeigen,  dass  es  sich  hierum  die  im  Abendlande 


lOcTm  5  0  1  2  r!  4  r,  m 

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ABB.  I.  BINBIRKILISSE,  KIRCHE  III  (NACH  SMIRNOV); 
TYPISCH  CENTRALKLEINASIATISCHER  GRUNDRISS 

SO  grossartig  weiterentwickelte  Turmfassade  handelt. 
Dann  das  Innere:  nicht  Säulen,  sondern  Steinpfeiler 
eigener  Art  gliedern  die  drei  Schiffe.  Bei  näherem 
Zusehen  erkennt  man  den  auch  im  Abendlande  typisch 
gewordenen  Pfeiler  mit  angearbeiteten  Halbsäulen. 
Es  ist  das  Ausgangsmotiv  des  Bündelpfeilers,  um  das 
es  sich  hier  handelt.  Weiter  sieht  man  die  Um¬ 
fassungsmauern  durchbrochen  von  jenen  durch  eine 
eingestellte  Teilung  gebildeten  Doppelfenstern,  eine 
Einführung,  die  sich  dann  in  mannigfacher  Weise  im 
Abendlande  weiterentwickelt  hat.  Abbildung  2,  das 
Innere  einer  der  grösseren  Kirchen  (I)  von  Binbirkilisse, 


ABB.  2.  BINBIRKILISSE,  KIRCHE  I  (NACH  CROWEOOT):  INNENANSICHT  MIT  JÜNGEREM  EINBAU 


ABB.  3.  BINBIRKILISSE,  KIRCHE  V  (NACH  CROWEOOT);  INNENANSICHT 


298 


DER  URSPRUNG  DER 


ROMANISCHEN«  KUNST 


zeigt  die  alte  Wölbung  zum  Teil  erhalten.  Die  Tonne, 
die  noch  über  dem  Westende  des  Mittelschiffes  sicht¬ 
bar  ist,  rührt  von  einem  etwas  jüngeren  Einbau  her, 
den  man  vornahm,  als  das  alte  Tonnengewölbe  mit 
seinen  Gurten  in  Hufeisenform  baufällig  wurde.  Man 
sieht  hinter  dem  Einbau  unten  die  alten  Arkaden 
sie  sind  Itei  den  kleinasiatischen  Kirchen  wie  in  Spanien 
öfter  im  Dreiviertelbogen  durchgeführt,  der  dort 
überhiv  it  sogar  im  Grundriss  dominiert  —  darüber 
zwi-^Liien  den  Gurten  die  Fenster  des  überhöhten 
ivlitt'.T  cidik  ..  Dann  beginnt  das  Gewölbe.  Die 
Ab'-'iMeug  allein  macht  klar,  dass  es  sich  um  die 
lii  ';d'-c  gewiilbte  Basilika  handelt  wie  im  Romanischen, 
ScltL-'  '.i-'onstruktionen  wie  in  Centralsyrien  kommen 
nur  in  Kilikien  (Kodscha  Kalessi)  vor.  Daher  sind 
denn  auch  die  Wölbesysteme  des  centralen  Kleinasiens 
vom  höchsten  Interesse;  ich  möchte  unter  anderem 
darauf  aufmerksam  machen,  dass  die  Wölbungsart  der 
Emporen  in  der  Palastkapelle  zu  Aachen  mit  schräg 
ansteigenden  Tonnen,  schon  in  den  Seitenschiffen  der 
Kirche  VI  von  Binbirkilisse  (S.  61  meines  Buches) 
angewendet  ist. —  Um  den  Eindruck  des  Innern  dieser 
Kirchen  frei  von  Einbauten  zu  zeigen,  gebe  ich  in 
Abbildung  3  noch  die  Ruine  V  desselben  Ortes.  Da 
wird  deutlich,  dass  die  Erfindung  des  Pfeilers  mit 
angearbeiteten  Halbsäulen  aus  rein  konstruktiven  For¬ 
derungen  entsprang:  man  bedurfte  eines  rechteckigen 
Auflagers  für  die  breiten,  massiven  Bogen.  Die 
Byzantiner  halfen  sich  durch  Einschiebung  eines 
Kämpfers  über  dem  Kapitell,  in  Nordafrika  und  in 
S.  Costanza  stellte  man  zwei  Säulen  nebeneinander. 
Kleinasien  schuf  das  Motiv,  das  dann  im  Rippenbau 
der  Gewölbekirchen  des  Abendlandes  zu  so  grosser 
Entwickelung  gelangte. 

Man  wird  zugeben:  die  Beispiele,  die  ich  hier 
vorführte,  haben  nichts  mit  Rom  zu  thun:  ln  Klein¬ 
asien  die  gewölbte  Kirche  mit  schweren  Pfeilerstützen 
und  einer  Turmfassade,  in  Rom  holzgedeckte  Innen¬ 
räume  auf  Säulen  ruhend,  vor  dem  Eingang  das 
Atrium.  Es  ist  der  Gegensatz  des  Orientalischen  und 
Hellenistischen,  der  hier  vorliegt.  Daraus  ergiebt  sich 
von  selbst  der  Schluss,  dass  die  romanische  Kirche 
dem  Orientalischen  nahesteht  und  sehr  wenig  mit  Hellas 
und  Rom  zu  thun  hat.  Von  Rom  übernimmt  das 
Mittelalter  im  wesentlichen  nur  das  Kreuzgewölbe; 
der  Orient  hatte  mit  Tonne  und  Kuppel  gebaut.  Wenn 
ich  einen  Namen  für  das,  was  wir  heute  romanisch« 
nennen,  vorschlagen  sollte,  würde  ich  von  einer 
orientalischen  Kunst  des  Nordens  sprechen.  Aus  ihr 
entwickelt  germanischer  Geist  die  Gotik.  Man  be¬ 
greift  so,  wie  diese  eine  Art  Antipode  der  Antike 
werden  konnte.  Die  Gotik  erwächst  eben  nicht  aus 
dem  ägyptisch-griechischen  Massenbau,  sondern  ent¬ 
steht  wie  die  Sophia  in  Konstantinopel  als  Blüte  auf 
dem  Stamm  der  konstruktiven  Raumkunst  des  eigent¬ 
lichen  und  hellenistischen  Orients.  Heideloff  und 


seine  Zeitgenossen  sahen  daher  ganz  richtig,  dass 
nicht  Hellas  und  Rom  unsere  mittelalterliche  Kunst 
gezeitigt  haben.  Sie  griffen  nur  fehl  darin,  dass  sie 
Byzanz  für  den  Erreger  hielten.  Seit  die  central¬ 
syrischen  Bauten  bekannt  sind,  lag  der  Weg  zur 
wahren  Erkenntnis  offen.  De  Vogüe  selbst  und 
Courajod  ahnten  den  Zusammenhang,  erst  Kleinasien 
und  Ägypten  bringen  die  eigentliche  Aufklärung.  Ich 
bilde  mir  nicht  ein,  die  endgültige  Lösung  gefunden 
zu  haben;  dessen  aber  bin  ich  sicher,  die  Wahrheit 
wird  jetzt  nicht  mehr  durch  die  uns  so  stark  in 
Fleisch  und  Blut  übergegangenen  Anschauungen  vom 
römischen  Ursprung  des  »  Romanischen  «  zurückgehalten 
werden  können. 

Der  Versuch,  diese  Dinge  klarzustellen,  bildet  den 
allerletzten  und  kleinsten  Teil  meines  Buches.  Dieses 
beginnt  mit  Vorführung  der  Aufnahmen  J.  W.  Crow- 
foot’s  in  Binbirkilisse,  Jedikapulu  und  Ütschajak. 
Dann  folgt  eine  systematische  Aufarbeitung  des  ge¬ 
samten,  mir  bekannt  gewordenen  Materials  an  Kirchen¬ 
bauten  Kleinasiens.  Im  Basilikenbau  treten  deutlich 
die  beiden  völlig  verschiedenen  Typen,  der  helleni¬ 
stische  und  der  orientalische  hervor.  Dazwischen 
vermitteln  isaurische  Bauten,  die  ich  an  der  Hand 
der  Funde  jener  Expedition  vorführen  kann,  die  im 
Vorjahre  durch  die  Gesellschaft  zur  Förderung  deut¬ 
scher  Wissenschaft,  Kunst  und  Litteratur  in  Böhmen 
entsandt  wurde.  Für  den  orientalischen  Typus  lieferten 
mir  Aufnahmen  J.  1.  Smirnov’s  reiches  Material.  Es 
folgen  die  verschiedenen  Arten  des  Centralbaues. 
Dem  Leser  dürfte  da  eine  kaum  geahnte  Welt  auf¬ 
gehen,  die  orientalisch-hellenistische,  von  der  wir  bisher 
nur  im  Wege  des  »Byzantinischen«  Proben  vor  Augen 
hatten.  Das  Oktogon  ist  fast  im  Dutzend  vertreten, 
S.  Vitale  bekommt  eine  sehr  beachtenswerte,  bis  ins 
4.  Jahrhundert  hinaufgehende  Gesellschaft.  O.  Puch¬ 
stein  lieferte  einen  Hauptbeitrag  mit  Aufnahmen  des 
ovalen  Oktogons  von  Wiranschehr  in  Syrien.  Ganz 
auf  den  Osten  beschränkt  blieb  der  Typus  der  Kuppel¬ 
basilika.  Hauptbeispiel  ist  Kodscha  Kalessi  und  der 
syrische  Bau  von  Kasr  ibn  Wardan,  dessen  Kenntnis 
ich  Dr.  Max  Freiherrn  von  Oppenheim  verdanke. 
Das  Kapitel  »Kreuzkuppelkirche«,  unter  welchem 
Namen  ich  den  späteren  byzantinischen  Haupttypus 
verstehe,  findet  in  Kleinasien  Belege  nicht  so  sehr 
für  die  ersten  Anfänge,  als  vielmehr  im  Hinblick  auf 
die  Bedeutung  Armeniens  in  der  Entwickelung  dieser 
Bauform.  Der  dritte  Hauptabschnitt  wendet  sich 
Datierungsfragen,  der  vierte  der  Stellung  Kleinasiens 
zwischen  Orient,  Hellas,  Rom  und  Byzanz  zu.  Erst 
im  letzten  Abschnitte  (S.  194)  berühre  ich  unter  dem 
zusammenfassenden  Titel  »Kleinasien,  ein  Neuland 
der  Kunstgeschichte«  auch  die  Frage  kleinasiatischer 
Lehnformen  im  Abendlande,  zunächst  mit  Rücksicht 
auf  Plastik  und  Malerei  für  die  altchristliche  Kunst 
und  zum  Schluss  für  die  Baukunst  des  Mittelalters. 


NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 

Von  Emil  Hannover  in  Kopenhagen 


Kommenden  Zeiten  wird  es  nicht  so  schwer 
fallen  wie  der  unseren,  die  vielen  geistigen 
Bewegungen  zu  sondern,  die  vereint  den  Rück¬ 
schlag  gegen  den  Naturalismus  veranlassten.  Natürlich 
war  etwas  Romantik  dabei  im  Spiele,  Widerwillen 
gegen  das  Leben  wie  es  ist  und  wie  es  sich  die 
gegenwärtige  Kunst  begnügt  hatte,  uns  zu  zeigen; 
Sehnsucht  nach  dem  Leben  wie  es  war  oder  wie  es 
allem  Anscheine  nach  der  kindlichen  Anschauung  einer 
ehemaligen  Kunst  vorgekommen  ist.  Wenn  nicht  an 
anderen  geistigen  Absonderlichkeiten  —  wie  ausser¬ 
halb  der  Kunst  z.  B.  Spiritismus  und  andere  Arten 
des  Mystizismus  —  so  liesse  sich  der  Anteil,  den  die 
Romantik  am  Rückfall  gegen  den  Naturalismus  hat, 
an  der  Schwärmerei  für  das  Mittelalter  und  die  Früh¬ 
renaissance  erkennen,  in  der  sie  sich  häufig  am 
klarsten  äusserte.  Denn  die  Schwärmerei  hierfür  ist 
ein  oft  nachgewiesener  und  wohlbekannter  Einfluss 
des  vernunftbetäubenden  Duftes,  der  von  der  blauen 
Blume  der  Romantik  emporsteigt,  so  oft  sie  ihren 
Kelch  wieder  öffnet.  Man  hat  —  um  nur  ein  paar 
Beispiele  anzuführen  —  diesen  Einfluss  in  Deutsch¬ 
land  ungefähr  1815,  in  England  ungefähr  1848  be¬ 
obachtet,  ehe  man  ihn  ungefähr  i8go  in  Frankreich 
wahrnahm.  Doch  während  die  Schwärmerei  für  das 
Mittelalter  und  die  Frührenaissance  in  Deutschland 
durch  die  Nazarener,  in  England  durch  die  Präraffae- 
liten  und  in  Frankreich  im  Salon  de  la  Rose-Croix 
der  Ausdruck  für  eine  Art  Lebensanschauung  war, 
wurde  sie  in  Dänemark  mit  verschwindenden  Aus¬ 
nahmen  nur  der  Ausdruck  einer  Kunstanschauung, 
Was  sich  dort  von  Gotik  und  anderer  Romantik  in 
der  Z.^Ä^’ßsanschauung  zeigte,  ging  in  die  Zeitschrift 
»Taarnet«  auf  und  verschwand  so  ziemlich  damit, 
nachdem  es  nur  einzelne  unserer  jüngsten  Maler  ganz 
vorübergehend  gepackt  hatte.  Wogegen  die  roman¬ 
tische  /C«/zs/'anschauung  selbst  einige  der  Reiferen 
unter  diesen  ergriff  und  dauernde  Spuren  in  der 
dänischen  Kunst  hinterliess. 

In  ihrer  ferneren  Entwicklung,  die  mit  reissender 
Schnelligkeit  vor  sich  ging,  wurde  die  Schwärmerei 
der  romantischen  Kunstanschauung  für  die  Form  der 
Kunst  im  Mittelalter  und  in  der  Frührenaissance 
eine  derart  ausgedehnte,  dass  sie  alle  künstlerische 
Form  umfasste,  die  Auge  und  Sinn  in  grössere  als 
die  alltäglichen  Vorstellungen  einführt.  Eine  starke 
Neigung,  sich  in  dieser  Hinsicht  führen,  zuweilen 
verführen  zu  lassen,  kennzeichnete  die  neuen  dänischen 
Romantiker.  Sie  machte  in  kurzer  Zeit,  namentlich 
die  jüngeren  unter  ihnen  zu  Bewunderern  vieler 
»synthetischer«,  moderner  französischer  Kunst,  in  der 
man  in  Bezug  auf  Grösse  und  Einfachheit  freilich 
mehr  gewagt  als  wirklich  gewonnen  hatte.  Aber  sie 


öffnete  ihnen  auch  in  ganz  anderem  Masse  als  es 
früher  bei  dänischen  Künstlern  der  Fall  gewesen,  die 
Augen  für  die  Grösse  und  Einfachheit  der  alten  Kunst. 
Die  Reisen  nach  Italien  kamen  wieder  in  Gang;  Rom 
oder  Florenz  lösten  Paris  als  Wallfahrtsort  ab,  und 
es  galt  nun  nicht  mehr  möglichst  viel  kleine  Bilder, 
sondern  möglichst  viel  grosse  Eindrücke  von  diesen 
Reisen  nach  Hause  zu  bringen. 

Die  romantische  Kunstanschauung,  die  dadurch 
zum  erstenmal  einige  Verbreitung  in  Dänemark  fand, 
gründete  sich  auf  die  Hoffnung,  dem  einen  Wunder¬ 
werke  der  Schöpfung,  der  Natur,  etwas  von  der  Grösse 
wiedergeben  zu  können,  die  der  Naturalismus  in  der 
Kunst  in  malerische  Kleinlichkeit  aufgelöst  hatte,  und 
dem  zweiten  Wunderwerk  der  Schöpfung,  der  mensch¬ 
lichen  Gestalt,  wieder  etwas  von  der  Würde  verleihen 
zu  können,  welche  der  Demokratismus,  der  in  der 
Kunst  mit  dem  Naturalismus  Hand  in  Hand  ging, 
der  schlichten  Wahrheit  geopfert  hatte.  Und  diese 
Hoffnung  gründete  sich  wiederum  auf  die  Erkenntnis, 
dass  die  Linie  das  wesentliche  Ausdrucksmittel  einer 
Kunst  ist,  die  nach  Stil  und  Haltung  strebt,  und  dass 
die  Farbe  für  eine  solche  Kunst,  nur  ein  Mittel,  kein 
Ziel  an  und  für  sich  ist. 

Schon  beim  ersten  Anlauf  merkten  diejenigen,  die 
den  Sprung  vom  Naturalismus  zum  Traditionismus 
hinüber  machen  wollten,  dass  etwas  sie  hemmte. 
Die  Ölfarbe  wurde  beschuldigt,  dieses  »etwas«  zu 
sein,  und  es  machte  sich  ein  tiefer  Unwille  gegen 
sie  geltend.  Sie  wäre  es,  so  meinte  man  diesmal 
wie  unter  früheren  ähnlichen  Verhältnissen,  die  die 
Kunst  von  ihrem  grossen  Ziele  ab  und  auf  Irrwege 
gebracht  hätte.  Allgemein  begann  man,  das  Heil  der 
Kunst  in  ihren  alten  Mitteln,  in  der  Temperafarbe, 
oder  noch  besser  in  der  Freskofarbe  zu  erblicken. 
Doch  da  Freskofarben  eine  Mauer  erfordern,  und 
man  sich  mit  der  Leinwand  begnügen  musste,  so 
malte  man  entweder  mit  den  üblichen  Ölfarben  »ein¬ 
geschlagen«  matt  oder  mit  den  neuen  Temperafarben, 
die  betriebsame  Leute  in  den  Handel  brachten.  Auch 
die  Anwendung  von  Gold  kam  wieder  auf,  und  man 
nahm  in  seiner  Verzweiflung  darüber,  keinen  Aus¬ 
druck  finden  zu  können,  der  dem  bloss  naturwieder¬ 
gebenden  bald  in  dekorativer,  bald  in  sinnbildlicher 
Wertung  überlegen  genug  wäre,  seine  Zuflucht  zu 
den  merkwürdigsten  Zusammensetzungen  der  Mittel. 
Einer  stellte  ein  goldenes  Kornfeld  in  getriebenem 
Kupfer  dar  und  strich  die  Luft  auf  dem  Bilde  mit 
gewöhnlicher  Ölfarbe.  Ein  anderer  schnitzte  sein 
ganzes  Bild  in  Holz,  das  er  bemalte  und  in  dem 
er  Einzelheiten  in  Bronze  fasste.  Und  so  Hessen 
sich  noch  viele  andere  Ergebnisse  der  Verzweiflung 
anführen,  in  der  sich  die  Künstler  befanden,  die  das 


300 


NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 


neue  Evangelium  im  Herzen  trugen,  aber  es  nicht  in 
genügend  bewegender  Form  über  die  Lippen  bringen 
konnten. 

So  ganz  unrecht  hatten  sie  nicht,  die  Künstler, 
die  da  glaubten,  dass  die  grossen  Traditionen  für  die 
Kunst  unlöslich  mit  den  Mitteln  verbunden  waren, 
die  die  Kunst  vor  Erfindung  der  Ölfarben  benutzte. 
Die  Ölmalerei  ist  es,  die  das  Malen  an  der  Staffelei 
hervorrief,  und  das  Malen  an  der  Staffelei  hat  den 
Künstler  dahin  gebracht,  erst  die  monumentalen  Auf¬ 
gaben  und  bald  danach  die  monumentalen  Formen 
aus  den  Augen  zu  verlieren,  um  immer  kurzsichtiger 
das  malerische  von  seinem  Verhältnisse  zum  archi¬ 
tektonischen  und  plastischen  loszulösen  und  so  die 
Einheit  der  Künste  zu  lösen,  die  das  Geheimnis 
jeder  wirklich  stilvollen  Kunst  ist.  So  ganz  unrecht 
hatten  sie  nicht  darin,  diese  Künstler,  dass  das  Wesen 
der  fetten,  üppigen  und  luxuriösen  Ölfarbe  wenig 
mit  einer  Kunst  von  dem  strengen  knappen  Wesen 
übereinstimmte,  wie  sie  von  ihnen  angestrebt  wurde. 
In  dem  Masse,  wie  die  Ölfarbe  zum  Zwecke  der 
optischen  Täuschung  kultiviert  worden,  war  sie  ein 
Beförderer  all  der  Auflösung  der  Linien  und  Flächen 
geworden,  die  sie  gerade  zu  bekämpfen  trachteten. 

Aber  sie  hatten  unrecht  in  vielem  anderen  und 
hauptsächlich  darin,  dass  sie  sich  imstande  glaubten, 
sich  aus  dem  Zusammenhänge  mit  dem  voraus¬ 
gehenden  Geschlechte  und  der  Erziehung  im  Natura¬ 
lismus,  die  ihnen  von  dieser  Generation  zu  teil  ge¬ 
worden,  herauszureissen.  Mehr  als  einer  von  ihnen 
zerriss  sich  selbst  während  seiner  tollkühnen  Versuche, 
sich  von  seiner  vorhergegangenen  Entwickelung  los- 
zureissen.  Eigentlich  kamen  wohl  nur  zwei  mit  heiler 
Haut  davon.  Und  das  verdankten  beide  nur  dem 
Umstande,  dass  sie  für  diesen  Kampf  besonders  ge¬ 
rüstet  waren. 

Denn  die  besondere  Form  der  Begabung,  die  es 
den  Brüdern  Joakirn  und  Niels  Skovgaard  ermöglicht,  in 
ihrer  Dekorationskunst  ausgeprägte  Traditionisten  zu 
sein,  obwohl  sie  sich  in  ihrer  Staffeleikunst  fast  als  reine 
Naturalisten  zeigen,  hat  ihre  Ursache  in  Anlagen,  die 
diese  Künstler  von  ihrem  Vater,  dem  grössten  Land¬ 
schaftsmaler  Dänemarks,  ererbt  und  welche  in  seinem 
Hause  die  erste  Pflege  erhalten  haben.  Sein  Talent  war 
nicht  auf  seine  besondere  Art  des  Charaktersinnes  be¬ 
schränkt;  er  hatte  es  mit  einem  entwickelten  Stilsinn 
dubliert,  den  er  sich  durch  das  Studium  alter  Kunst 
angeeignet  hatte.  Dieser  äussert  sich  nicht  nur  in 
dekorativen  Arbeiten  von  seiner  Hand,  er  tritt  auch 
in  seinen  späteren  Landschaftsbildern  zu  Tage.  Aber 
dieser  Stilsinn  oder  diese  dekorative  Befähigung,  die 
bei  ihm  überwiegend  Kultur  war,  ist  auf  die  Söhne 
als  unmittelbare  Natur  übergegangen,  und  durch  er¬ 
neuertes  Studium  alter  Kultur  haben  sie  ihren  Stilsinn 
dermassen  konsolidiert,  dass  er  ihrem  zweiten  grossen 
Erbteile,  ihrem  Charaktersinne,  vollkommen  ebenbürtig 
geworden  ist.  Sie  leben,  diese  beiden  Fähigkeiten 
bei  den  beiden  Brüdern,  natürlich  nicht  jede  für  sich 
ihr  Leben  auf  eigene  Rechnung.  Sie  lassen  sich 
gegenseitig  die  Nahrung,  die  abwechselnd  bald  dem 
einen  und  bald  dem  andern  aus  Leben  und  Kunst 


zugeführt  wird,  zu  gute  kommen.  Doch  kraft  einer 
seltenen  Zweiteilung  irgendwo  in  den  geistigen  Ab¬ 
flüssen  sind  diese  beiden  Brüder  imstande,  ganz  nach 
Gutdünken  den  Strom  von  der  einen  ihrer  Be¬ 
gabungen  zu  regulieren  und  zu  reduzieren,  während 
die  andere  funktioniert  und  produziert.  Sie  haben 
bei  dieser  Zweiteilung  ihrer  Fähigkeiten,  die  sie  instand 
setzte  ihren  Kurs  abwechselnd  naturalistisch  und 
traditionell  zu  berechnen,  glücklich  die  Klippe  der 
Stillosigkeit  umsegelt,  an  der  so  viele  der  anderen 
scheiterten. 

Keiner  von  ihnen  hat  die  Farbe  zum  Gegenstand 
einer  weiteren  Kultivierung  und  Nuancierung  gemacht. 
Gewohnt,  die  Farbe  dekorativ  in  einem  eigenen 
grossen  und  elementaren  Geiste  anzuwenden,  fehlte 
ihnen  der  Sinn  für  die  äusserste,  feinste  Zerlegung 
der  Farbe  in  der  Natur,  auf  deren  getreuer  Wieder¬ 
gabe  ein  so  grosser  Teil  des  Wertes  der  nur  natura¬ 
listischen  Malerei  beruht.  Nichtsdestoweniger  haben 
sie  als  Naturalisten  manche  schöne  und  einzelne 
ausgezeichnete  Laudschaftsbilder  hervorgebracht,  die 
frischer  sind  als  Bilder  ihres  Vaters  und  an  die  besten 
seiner  Studien  erinnern.  Sie  haben  auch  viele  schöne 
und  vortreffliche  Genrebilder  gemalt.  Namentlich 
hat  Joakirn  sich  als  Genremaler  ausgezeichnet,  indem 
er  das  Leben  seiner  Gattin  und  seiner  Kinder  in 
demselben  Heim  schilderte,  in  welchem  er  selbst 
seine  Kindheit  verlebte,  und  dessen  genügsame  Be¬ 
haglichkeit  die  Gedanken  leicht  nicht  nur  auf  den 
alten  Skovgaard  hinlenkt,  der  hier  wohnte,  sondern 
auch  aufseinen  nahen  Freund  und  Gesinnungsgenossen 
Constantin  Hansen,  der  von  einem  ähnlichen  Heim 
aus  ähnliche  Bilder  gemalt  hat,  wenn  auch  in  einem 
ärmeren  malerischen  Geiste.  Im  grossen  Ganzen 
erinnern  die  beiden  Brüder  in  vielen  Stücken  trotz 
mancher  Verschiedenheiten  und  trotz  ihrer  durch¬ 
weg  glücklicheren,  gleichmässigeren  Anlage  wohl 
mehr  an  diesen  Freund  ihres  Vaters,  als  an  den 
Vater  selbst.  Freilich  stehen  sie  auf  einer  anderen 
Grundlage  als  der,  die  Constantin  Hansen  trug. 
Er  stand  auf  der  jahrhundertealten  Grundlage  der 
Begeisterung  für  die  alte,  griechische  und  italie¬ 
nische  Kunst  in  ihrer  Blütezeit.  Sie  stehen  auf  der 
neueren  Grundlage  der  Begeisterung  für  die  alte 
Kunst  in  ihrer  Entwickelungszeit,  einer  Grundlage, 
die  sich  langsam  aber  sicher  während  des  unaufhör¬ 
lichen  Wellenganges  der  künstlerischen  Bewegungen 
im  ganzen  ig.  Jahrhunderte  abgelagert  hat,  und  die 
ungefähr  seit  1890  bestimmt  schien,  eine  Zeit  oder 
vielleicht  Jahrhunderte  lang  die  alte  abzulösen.  Daher 
der  moderne  Archaismus  der  beiden  Brüder  im  Ge¬ 
gensatz  zu  Constantin  Hansen ’s  altmodischen  Klassi¬ 
zismus.  Doch  der  Gegensatz  wird  gemildert  und 
die  Verwandtschaft  entsteht  dadurch,  dass  ihr  Archais¬ 
mus  genau  so  wie  sein  Klassizismus  von  einem  unver¬ 
fälschten  Grundtvigianismus’)  durchsäuert  ist,  der,  kind- 


1)  N.  F.  S.  Gnmdtvig,  geboren  1783.  Dänischer 
Priester  und  Dichter,  voll  von  Pathos  und  prophetischer 
Tiefe,  Stifter  der  noch  existierenden  grossen  nordisch¬ 
christlichen  Gemeinde  der  »Grundtvigianer«. 


NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 


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lieh  und  volkstümlich, derb  und  dänisch, allesQriechische 
oder  Italienische  in  seine  robuste  nordische  Sprache 
umformt.  So  besassen  diese  Brüder  ausser  allen 
anderen  Forcen,  die  sie  vor  denjenigen  ihrer  Zeit¬ 
genossen  voraus  hatten,  die  mit  dem  Naturalismus 
brachen,  auch  noch  die,  eine  Lebensanschauung  ererbt 
zu  haben,  die  von  Männern  wie  ihr  Vater  und  Con- 
stantin  Hansen  als  Stütze  einer  hochstrebenden  Kunst¬ 
anschauung  geprüft  und  für  gut  befunden  worden 
war.  Im  ganzen  genommen,  giebt  es  wohl  in 
Dänemark  keine  Kunst,  deren  Wurzeln  soweit  in  den 
besten  Traditionen  verzweigt  wären,  als  die  Kunst  der 
beiden  Brüder  Skovgaard.  Sie  wurzelt  durch  das  Ver¬ 
hältnis  zum  Vater  und  seinen  Zeitgenossen  im  Däne¬ 
mark  von  1848,  durch  Grundtvig  in  Dänemarks  Sagen¬ 
zeit  durch  Giotto  im  alten  Italien,  durch  unbekannte 
Meister  im  ältesten  und  herrlichsten  Griechenland. 
Kein  Wunder  also,  dass  nichts  so  unerschütterlich 
zuverlässig  erscheint,  als  der  Geschmack  dieser  Brüder. 

Gleichartig  begabt,  gleichartig  erzogen,  gleich¬ 
artig  gereist  (namentlich  in  Italien  und  Griechen¬ 
land)  und  gleichartig  technisch  erfahren,  schienen 
sie  lange  Zeit  bestimmt,  einander  gleichen  zu  sollen 
wie  zwei  Tropfen  Wasser,  bis  nach  einer  italienischen 
Reise  die  Entwickelung  des  älteren  Bruders  Joakim, 
der  des  Jüngeren  vorauseilte.  Die  farbenreichen  und 
glanzvollen  Landschafts-  und  Figurenbilder,  die  er 
unter  dem  Einflüsse  Zahrtmann’s  und  Viggo  Pedersen’s 
in  Italien  gemalt,  hatten  der  dänischen  Kunst  nichts 
weiter  versprochen  als  noch  einen  hervorragenden 
Naturbeobachter  mehr.  Doch  schon  in  den  Zeichnungen 
zu  Grundtvig’s  »Der  gesegnete  Tag«,  die  er  bald  nach 
seiner  Heimkehr  ausführte,  herrschte  eine  stürmische 
Phantasie,  die  es  dem  Beschauer  voraussagte:  gleich 
einem  Unwetter  würde  dieser  Künstler  über  das  Land 
kommen  können.  Es  zog  sich  in  seinem  Sinn  zusammen 
zu  grosser  und  gewaltsamer,  mutiger  und  trotziger 
Energie.  Der  Sturm  des  kommenden  Gewitters  war  in 
den  Scharen  des  »Bethesdadammes«,  die,  vom  Wahn¬ 
sinn  ergriffen,  sich  ins  Wasser  stürzen,  das  vom  Engel 
berührt  wird.  Es  war  ein  Blitz  des  Genies  in  der 
Paradiesmauer,  die  sich,  himmelskühn  gedacht,  um  die 
Scene  mit  Christus  und  dem  Räuber  im  Garten  Eden 
türmt.  Es  flammte  ein  anderer  Blitz  des  Genies  in 
dem  Blick,  den  »Pennina  mit  Hanna«  wechselt. 
Doch  erst  1893  kam  mit  »Christus  im  Reiche  der 
Schatten«  das  ganze  Gewitter  zum  Ausbruch.  Es 
muss  sich  um  diese  Zeit  ein  Überschuss  mächtiger 
Schönheitseindrücke  in  Skovgaard’s  tiefempfänglichen 
Geist  angesammelt  haben.  Denn  es  ist,  als  hätte  ein 
Zusammenprall  solcher  Eindrücke  die  Explosion  ver¬ 
anlasst,  die  dieses  Bild  verursachte.  Es  ist,  dem  An¬ 
schein  nach  nicht  ohne  Kenntnis  von  Tintoretto’s 
Darstellung  desselben  Themas  {Christo  in  limbo, 
S.  Cassiano  in  Venedig),  auf  einer  Grundtvig’schen 
Phantasie  erbaut.  Seine  Grundstimmung  ist  ein 
Halleluja,  in  der  sich  der  Ton  von  Grundtvig’s 
brausender  Orgel  mischt.  Doch  abgesehen  von  einigen 
noch  erkennbaren  Zügen  von  Michelangelo  in  der 
Evagestalt  des  Bildes,  hat  es  der  in  Skovgaard’s  Geist 
stattgefundene  Zusammenprall  dieser  mächtigen  Schön¬ 


heitseindrücke  aller  Art  mit  sich  geführt,  dass  sich 
keiner  daran  einzeln  aufzeigen  lässt.  Die  grossartigen 
Formationen  auf  dem  Bilde  verraten  nur,  dass  grosse 
Kräfte  zusammengestossen  sind  und  dass  ein  grosses 
Naturereignis  vor  sich  gegangen  ist  in  der  Seele  eines 
grossen  Künstlers. 

Auf  diese  gewaltige  Entladung  im  Jahre  1893 
scheinen  stillere  Zeiten  in  Joakim  Skovgaard’s  Innern 
gefolgt  zu  sein.  Seine  Kunst  erhielt  jedenfalls  ein 
ruhigeres  und  auf  einem  ihrer  wesentlichsten  Gebiete 
ein  etwas  weniger  persönliches  Gepräge.  Während  er 
die  Reihe  seiner  ausgezeichneten  naturalistischen  Land¬ 
schaften  mit  namentlich  aus  Hailand  (Schweden)  geholten 
Motiven  beständig  fortsetzte  und  die  kleine  Anzahl 
seiner  Schilderungen  aus  Griechenland  vermehrte, 
unter  anderen  mit  dem  herrlichen  Bilde  der  Karyatiden¬ 
halle  beim  Erechtheion,  fand  seine  religiöse  Bewegt¬ 
heit  im  Figurenstil  Giotto’s  und  seiner  Zeitgenossen 
befriedigenden  Ausdruck.  (Der  Altar  der  St.  Nicolaj- 
kirche  in  Svendborg,  die  Verkündigung  in  der  Heili¬ 
gen  Geistkirche,  die  Mosaiken  zur  Immanuelkirche, 
die  Vorarbeiten  zur  Dekoration  des  Doms  zu  Viborg.) 
Freilich  sprengten  hin  und  wieder  sein  gesunder  Geist 
und  die  Gesundheit  seiner  Sinne  die  mittelalterliche 
asketische  Figurenzeichnung,  die  unter  seiner  männ¬ 
lichen  Hand  robuster,  untersetzter  und  zuweilen  auch 
etwas  plump  wurde.  Doch  seine  Absicht  ging  weit 
eher  darauf  aus,  die  Formeln  der  alten  Kunst  zu  be¬ 
wahren  statt  sie  zu  sprengen,  demütig  anerkennend, 
dass  die  Gegenwart  auf  dem  Gebiete  der  Kirchen¬ 
kunst  geringe  Möglichkeiten  hat,  etwas  Neues  zu 
schaffen,  das  sich  mit  dem  besten  Alten  messen  kann. 
Auf  anderen  Gebieten  dagegen,  hat  Joakim  Skovgaard’s 
dekorativer  Stil  in  Bezug  auf  persönliche  Bearbeitung 
der  Überlieferungen  nichts  zu  wünschen  übrig  ge¬ 
lassen.  Man  denke  an  seine  Volksliederbilder,  man 
denke  vor  allem  an  die  grosse  Wasserfarbenzeich¬ 
nung  der  » neugeschaffenen  Eva « ,  auf  der  Eva 
auch  künstlerisch  ihrer  Bezeichnung  als  neuge¬ 
schaffen  entspricht,  und  wo  auf  dem  ganzen  Bilde 
auch  nicht  ein  Gramm  Gelehrtenstaub  dem  Eindruck 
des  wonnigen  ersten  Morgens  der  Zeiten,  Menschen 
und  Blumen  etwas  von  seiner  Frische  geraubt  hat. 
Dass  er  gerade  dieses  Thema,  gerade  in  diesem 
reinem  Geiste  meistern  konnte,  zeugt  wohl  am  aller¬ 
besten  dafür,  dass  Joakim  Skovgaard  bei  all  seiner 
Kultur  imstande  ist,  die  Schönheit  der  Schöpfung 
nicht  nur  mit  frischen,  sondern  mit  urfrischen  Sinnen 
wahrzunehmen.  Und  es  versteht  sich  von  selbst,  dass 
diese  Begabung  eine  Quelle  ist,  die  seine  übrigen 
Anlagen  durchrieselt  und  deren  üppige  Entwickelung 
verursacht. 

Aber  seine  Kunst  hat  ja  manche  Seiten,  die  seine 
Persönlichkeit  weiter  und  feiner  bestimmen,  jedoch 
hier  nicht  in  Betracht  kommen  dürfen,  wo  fast  aus¬ 
schliesslich  von  der  Malerei  die  Rede  ist.  Eine  grosse 
und  reiche  Wirksamkeit  hat  Joakim  Skovgaard  als 
Keramiker  entfaltet,  und  er  hat,  oft  von  Th.  Bindesböll 
unterstützt,  auf  mehreren  anderen  Gebieten  des  Kunst¬ 
gewerbes  diesen  in  Dänemark  neue  Bahnen  gebrochen. 
Er  hat  Zeichnungen  geliefert  zu  Siegeln  und  Medaillen, 


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zu  Biichereinbänden,  zu  Möbeln  und  anderen  Ge¬ 
brauchsgegenständen  und  auch  zu  ein  paar  herrlichen 
Springbrunnen.  Dieser  Trieb  und  Drang,  sich  mit  den 
dekorativen  Künsten  zu  beschäftigen,  liegt  in  der 
Familie.  Er  findet  sich  bei  Niels  Skovgaard  wieder 
und  nimmt  ihn  so  stark  in  Anspruch,  dass  dieser 
Künstler,  der  nicht  so  üppig  produktiv  ist  wie  sein 
Bruder,  eü'-.:  v-enlger  reiche  und  eine  weniger  be¬ 
deuten!  i:  !:!  i’iaier''sche  Thätigkeit  hinter  sich  hat 
als  der  -licht  \i  niger  allseitige  Bruder.  Auch  von 
Niels  :  r,)v.'-:äanl  oesitzen  wir  schöne  Bilder  aus 
Haderd  aud  aus  Griechenland,  einen  einzelnen  Ver- 
sia  !i  dl  piiantastischer  Richtung  »Der  Zauberwald  , 
u.'.  ':  nicliis,  was  sich  mit  der  starken  Phantasie  des 
Cliri.sius  im  Reiche  der  Schatten<,  und  nichts  was 
sich  mit  dem  gigantischen  Entwürfe  der  Dekoration 
zur  Domkirche  von  Viborg  messen  könnte.  Niels 
Skovgaard  ist  weniger  explosiv  als  der  Bruder,  noch 
mehr  als  dieser  ein  Grübler  und  Klügler,  namentlich 
ein  Ausklügler  zahlloser  dekorativer  Einfälle.  Es 
steckt  ein  wahrer  Reichtum  an  solchen  Einfällen  eben¬ 
sowohl  in  seinen  keramischen  Arbeiten  wie  in  seiner 
Thätigkeit  als  Radierer  und  Illustrator,  ln  letztge¬ 
nannter  Eigenschaft  schuf  er  sich  einen  eigenen  nor¬ 
dischen  Stil,  der  reich  an  Sinnbildern  wie  Frölich’s 
und  gleichzeitig  knapp  und  streng  wie  der  Con- 
stantin  Hansen’s  ist.  Seine  allerbesten  Werke  bilden 
jedoch  sicherlich  seine  Arbeiten  plastischer  Natur. 
Sein  Relief  von  Aage  und  Else,  seine  Grabdenkmäler 
von  Barfoed  und  Hostrup,  sein  Monument  auf  der 
Lyrskover  Heide  gehören  zu  der  monumentalsten 
Skulptur  in  Dänemark.  Namentlich  in  den  letzteren 
dieser  gross-  und  derbgeschnittenen  Werke  grenzt  die 
Enthaltsamkeit  von  allen  anderen  Mitteln  als  den  aller 
notdürftigsten  Linien  und  Formen  an  den  sublimen 
Verzicht  auf  alles  Unwesentliche,  den  die  ältesten 
Denkmäler  der  Kunst  uns  als  die  höchste  Weisheit 
der  Kunst  achten  lehrten. 

Den  beiden  Brüdern  steht  ein  dritter  Künstler  in 
vielen  Beziehungen  nahe,  dessen  Blick  aufgesperrt 
von  echt  naiver  Verliebtheit  in  die  Natur  und  gleich¬ 
zeitig  äusserst  bewusst  in  seiner  sachlichen  Anschauung 
des  rein  technischen  Teiles  der  Kunst,  eine  auffallende 
Mischung  von  Unmittelbarkeit  und  Reflexion  verrät. 
Das  ist  der  Landschaftsmaler  Viggo  Pedersen.  Seine 
Entwickelung  ist  reich  an  Phasen  gewesen,  und  die, 
in  der  er  sich  gegenwärtig  befindet,  ist  womöglich 
noch  nicht  die  letzte  und  endgültige.  Es  wohnt 
ein  Experimentator  in  ihm.  Er  war  nicht  nur  an 
der  Spitze  derjenigen,  die  für  die  Ablösung  der  Öl¬ 
farbe  durch  einen  anderen  Malstoff  thätig  waren, 
sondern  er  hat  sich  auch  über  sein  ursprüngliches 
und  bleibendes  eigentliches  Gebiet  hinausgewagt  und 
sich  sowohl  in  religiösen  Stoffen  wie  in  Phantasie¬ 
motiven  und  in  der  Porträt-  und  Genrekunst  versucht. 
Sein  Stil  ist  auf  diesen  wechselnden  Gebieten  noch 
wechselnder  gewesen  als  er  es  in  seiner  Landschafts¬ 
kunst  war.  Denn  während  bei  dieser  im  wesentlichen 
nur  eine  einzige  fruchtbare  Kreuzung  mit  französischer 
synthetischer  Kunst  stattfand,  gingen  seine  Phantasie¬ 
figuren  oder  religiösen  Gestalten  aus  flüchtigen  Ver¬ 


bindungen  mit  allen  Arten  der  Kunst  von  der  alten 
italienischen  bis  zur  neueren  deutschen  hervor.  Doch 
unterdessen  wurde  er  durch  seine  Zugehörigkeit  zum 
Skovgaard’schen  Kreise  mehr  allgemein  künstlerisch 
bestimmt.  Das  lässt  sich  vielleicht  am  besten  aus 
den  Bildern  ersehen,  die  auch  er  vor  seinem  Daheim 
malte  und  fast  ganz  in  demselben  Geiste,  in  dem 
Joakim  Skovgaard  die  seinen  gemalt  hat.  Doch  etwas 
von  demselben  Geiste  ist  auch  in  seinen  Landschaften 
zu  finden.  Freilich  liegt  etwas  Französisches  in  seiner 
Vorliebe  für  ein  üppiges,  zuweilen  allzu  üppiges, 
fettes  und  glänzendes  Kolorit;  doch  gleichzeitig  liegt 
etwas  echt  Dänisches,  ein  Grundtvig’sches  Pathos  in 
dem  Ausdrucke  seiner  kernhaften,  oft  wirklich  gross¬ 
artigen  Grundauffassung  von  der  Natur.  Man  kann 
auf  seinen  Landschaftsbildern  vielleicht  nicht  immer 
in  gleicher  Weise  erkennen,  dass  die  Natur,  die  sie 
schildern,  dänisch  ist;  doch  dass  das  Gemüt,  mit 
dem  sie  gemalt  sind,  dänisch  ist,  das  kann  man 
immer  erkennen. 

Mehr  unpersönlich,  in  allen  möglichen,  übrigens 
höchst  lobenswerten  Vorsätzen  in  Bezug  auf  deko¬ 
rativen  Stil  aufgehend  und  sich  dabei  bald  kräftig 
an  Viggo  Pedersen,  bald  an  Joakim  Skovgaard  an¬ 
lehnend,  zeigt  sich  der  talentvolle,  doch  in  seiner 
Persönlichkeit  bisher  unsichere  und  unfertige  Land¬ 
schafts-  und  Figurenmaler  Johannes  Ki'i^gh.  Dem 
Skovgaard’schen  Kreise,  kraft  der  Simplizitas  ihres 
Gemütes  innerlicher  verbunden  ist  dagegen  die  aus¬ 
gezeichnete  Künstlerin  Elise  Konstantin-Hansen,  deren 
Natur  auch  die  dekorative  Form  besser  zu  liegen 
scheint,  da  sie  sich  bei  ihr  auf  dekorative  Anlagen 
gründet,  die  die  Künstlerin  offenbar  von  ihrem  Vater 
ererbt  hat.  Doch  weder  von  Griechenland  noch  von 
Italien,  von  Japan  hat  sie  —  und  dasselbe  gilt  von 
der  Schwester  der  Brüder  Skovgaard,  Frau  Holten  — 
die  Weihe  ihrer  dekorativen  Anlagen  empfangen,  die 
sie,  wie  es  die  japanischen  Künstler  zu  thun  pflegen, 
in  den  Schilderungen  der  Pflanzen  und  Tierwelt  zur 
Anwendung  bringt. 

Nach  allen  Seiten,  auf  alle  Länder  und  Zeiten 
waren  die  Blicke  gerichtet,  die  in  jenen  Tagen,  Ende 
der  Achtziger  und  Anfang  der  Neunziger,  nach  Formen 
ausspähten,  die  der  Kunst  Möglichkeiten  zur  Ver¬ 
jüngung  und  Veredelung  böten.  Kaum  ein  anderer 
hatte  jedoch  in  dieser  Hinsicht  so  offene  Augen  wie 
Johan  Rolide.  Seine  umfassende  Bildung,  seine 
klare  Intelligenz,  seine  Kenntnis  der  Kunst  und  der 
Kunstgeschichte  gaben  ihm  mit  Recht  eine  eigene  domi¬ 
nierende  Stellung  in  den  Reihen  der  Jungen,  von  denen 
die  meisten  jünger  waren  als  er.  Sein  Dachstübchen 
in  Nyhavn  zu  Kopenhagen  wird  historisch  werden;  denn 
dort  war  eine  Reihe  von  Jahren  hindurch  die  Central¬ 
stelle  für  das  Studium  und  die  Erörterung  der  mo¬ 
dernsten  Kunst.  Freilich  hatte  Rohde  mit  seinen  be¬ 
scheidenen  Mitteln  hiervon  nicht  viel  sammeln  können: 
ein  Bild  von  Gauguin  oder  Denis,  einige  Radierungen 
von  Rops,  eine  Zeichnung  von  van  Gogh,  eine  Suite 
Lithographien  von  Redon,  eine  Studie  von  Verkade, 
ein  Buch  von  Rysselberghe  u.  s.  w.;  aber  es  reichte 
hin,  um  Stoff  für  Gespräche  mit  diesem  klugen  und 


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vorurteilsfreien  Mann  zu  bilden,  der  einen  aus¬ 
gezeichneten  Kunsthistoriker  abgegeben  hätte,  wenn 
er  nicht  ein  ausgezeichneter  Künstler  geworden  wäre. 
So  vorurteilsfrei  er  auch  als  Kritiker  war,  so  gehörte 
er  als  Maler  doch  nicht  zu  den  Unvorsichtigen,  die 
sich  in  einer  einzelnen  Richtung  weit  hinauswagten. 
Er  suchte  eher  und  fand  ein  Justemilieu  zwischen 
der  alten  holländischen  Landschaftskunst  und  der 
modernen  französischen  Malerei,  indem  er  von  jener 
lernte,  eine  dekorative  Haltung  mit  der  Silhouetten¬ 
wirkung  eines  wohlgewählten  Motivs  zu  schaffen, 
von  dieser  zu  simplifizieren,  um  kurz  und  knapp  zu 
charakterisieren.  Er  hatte  sich  erst  spät  entschlossen, 
Maler  zu  werden,  und  teils  deshalb,  teils  weil  er 
sich  seine  Fachausbildung  dadurch  erschwert,  dass 
er  noch  zu  denen  gehört,  die  Versuche  mit  neuen 
Malmitteln  anstellten,  fiel  ihm  der  Pinsel  schwer  in 
die  Hand.  Aber  vielleicht  gerade  weil  seine  Bilder 
mit  ihren  zahlreichen  Übermalungen  zeigten,  wie  er 
sich  immer  wieder  selbst  verbesserte,  um  das  Richtige 
zu  erreichen,  vielleicht  gerade  deshalb  machten  diese 
Bilder  von  Ribe  oder  Tönning  den  Eindruck  einer 
ganz  ungewöhnlichen  Gediegenheit.  Zuweilen  waren 
sie  etwas  massiv  in  der  Farbe;  aber  in  der  Stimmung 
waren  sie  auf  ganz  eigene  Art  gesättigt  und  ver¬ 
dichtet  infolge  der  Energie,  mit  der  dem  Charakter 
der  Motive  zu  Leibe  gerückt  worden  war.  Rohde 
war  in  der  Provinz  geboren,  und  es  bestand  daher 
zwischen  ihm  und  seinen  Motiven,  den  alten  male¬ 
rischen  Städtchen  daheim  oder  in  Holland  ein  echtes 
und  intimes  Herzensverhältnis.  Dadurch  wurden  den 
Formalitäten  des  Stiles,  für  die  Rohde  sonst  wohl 
Neigung  hatte  und  denen  er  in  ein  paar  distinguierten 
haltungsvollen  Porträts  seine  Huldigung  darbrachte, 
Grenzen  gesteckt.  Im  Grunde  war  er  doch  ein 
Nachkomme  der  alten  dänischen  Maler,  und  nach 
seinen  letzten  Arbeiten  —  Prospekten  von  Rom  und 
Ribe  —  zu  urteilen,  scheint  er  des  Kampfes,  den  er 
führte,  um  zu  den  neuen  anspruchsvollen  Anschau¬ 
ungen  vorzudringen,  überdrüssig  geworden  zu  sein 
und  sich  entschlossen  zu  haben,  die  erprobten  alten 
und  anspruchslosen  anzunehmen. 

Anders  seine  Zeitgenossen,  das  Künstlerpaar 
Harald  und  Agnes  Slott-Möller,  die  jedenfalls  darin 
einander  gleichen,  dass  sie  von  den  Ansprüchen, 
mit  denen  sie  frühzeitig  auftraten  und  herausforderten, 
auch  nicht  einen  Deut  nachgelassen  haben.  Sie 
hatten  im  übrigen  ursprünglich  nur  wenig  Gemein¬ 
sames.  Er  war  mit  einem  reichen  Talent  für  das 
Professionelle  ausgestattet;  sie  war  in  dieser  Hinsicht 
eher  ziemlich  arm.  Ihre  künstlerische  Begabung  war 
überwiegend  dichterisch;  die  seine  überwiegend  male¬ 
risch;  sie  schwärmte  ins  Blaue  hinein  für  das  Mittel- 
alter,  er  huldigte  dem  Modellstudium,  das  ihr  ein 
peinliches  notwendiges  Mittel,  ihm  ein  Ziel  an  und 
für  sich  war.  Frühzeitig  steckte  sie  ihn  indessen 
mit  ihrer  Neigung  zu  geistreichem  Gedankenspiel  an, 
ebenso  wie  sein  leichtbewegter  Sinn  eine  klangvolle 
Resonnanz  für  ihr  Pathos  abgab.  Eine  Reise,  die 
sie  1889  gemeinsam  machten,  und  auf  der  sie  zum 
erstenmal  Italien  sahen,  vermehrte  die  gegenseitige 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  M.  12. 


Übereinstimmung,  indem  sie  beide  mit  einer  grossen 
Begeisterung  für  den  Stil  als  das  Adelsabzeichen  der 
aristokratischen  Kunst  erfüllte.  Sie  kamen  heim  und 
brachten  diesen  Stilbegriff  in  Umlauf  und  damit  ihre 
Umgebung  in  starke  Bewegung.  Die  Reisen  nach 
Italien  wurden  seitdem  wieder  allgemein.  Es  ist 
historisch  das  Verdienst  Slott-Möller’s  und  seiner 
Gattin,  auf  die  Stileroberung  als  ein  für  die  dänische 
Kunst  fast  vergessenes  Ziel  dieser  Reisen  hingewiesen 
zu  haben.  Die  überwältigenden  Eindrücke  der  grossen 
Kunst,  die  sie  in  Italien  erhielten,  kamen  leider  für 
keinen  von  ihnen  gerade  im  rechten  Augenblick. 
Für  ihn  war  der  Augenblick  zu  spät,  für  sie  eher  zu 
früh.  Er  war  schon  allzu  sehr  im  unmittelbaren 
Naturstudium  geschult,  um  sich  ganz  davon  frei 
machen  und  mit  der  vollständigen  Konsequenz  ab¬ 
strahieren  zu  können,  die  den  Stil  giebt.  Sie  dagegen 
ermangelte  noch  allzu  sehr  einer  solchen  Schule, 
als  dass  nicht  die  frühzeitige  Aneignung  der  Abstrak¬ 
tionen  des  Stiles  die  Gefahr  einer  Stockung  in  ihrer 
elementaren  künstlerichen  Ausbildung  in  sich  be¬ 
greifen  musste.  Jedoch  nur  in  ihrem  Können  un¬ 
sicher,  in  ihrem  Wollen  zielbewusst  wie  wenige, 
hat  sie  mit  einem  bewunderungswürdigen  Mut  allen 
Hindernissen  getrotzt,  die  das  Professionelle  der 
Kunst  ihrem  unbezähmbaren  Drange  in  den  Weg 
stellte,  sich  über  das,  was  sie  auf  dem  Herzen  hatte, 
mit  der  Feurigkeit  ihres  Sinnes  auszusprechen.  Denn 
eine  wahre  Herzenssache  waren  sie  ihr,  die  Volks¬ 
lieder  des  dänischen  Mittelalters,  deren  Scenen  und 
Stimmungen  zu  schildern  ihre  Lebensaufgabe  wurde. 
Seit  ihrer  Kindheit  ungefähr  fand  die  gedämpfte  dunkle 
Rede  dieser  Lieder  Widerhall  in  ihrer  Phantasie,  und 
mit  dem  Widerhall  ihrer  Strophen  kamen  die  Geister 
ihrer  Gestalten.  Sie  spukten  in  ihrer  Phantasie, 
wie  es  in  einer  Burg  spukt;  bleich  vor  Seelenpein, 
übernächtigt,  ruhelos  brachten  sie  in  ihren  Kleidern 
eine  stockige  Luft  aus  ihren  Gräbern  mit.  Man 
darf  sagen,  dass  es  insofern  immer  etwas  an  Frau 
Slott-Möller’s  Kunst  auszusetzen  gäbe,  als  ja  ihre  Auf¬ 
gabe  eher  diejenige  gewesen  wäre,  ein  Bild  des 
lebendigen  Menschen  aus  jener  Zeit  zu  geben,  an¬ 
statt  bleiche  Gespensterschatten  zu  verkörpern.  Doch 
andererseits  verleiht  das  Gespensterhafte  von  Frau 
Slott-Möller’s  Gestalten  (und  das  haben  nicht  nur 
Figuren  an  sich,  die,  wie  »Oluf«  oder  »Aage«  in 
»Aage  und  Else«,  Gespenster  darstellen  sollen)  ihrer 
Kunst  ein  Gepräge  des  wirklichen  inneren  Erlebnisses, 
auf  dem  ihr  hauptsächlicher  Wert  beruht.  Man  merkt 
es  ihnen  in  den  allermeisten  Fällen  an,  dass  sie  nicht 
aus  Siegeln,  Münzen  oder  Kostümwerken  heran¬ 
gezogen  worden,  sondern  dass  sie  in  wirklich  dich¬ 
terischen  Augenblicken  von  selbst  zu  ihr  gekommen 
sind.  Und  dies  merkt  man  ihnen  an,  trotzdem  sie 
so  viel  verlieren,  wenn  sie  mühsam  an  die  Leinwand 
abgeliefert  werden.  Dort  soll  ja  über  einen  Haufen 
Einzelheiten,  die  mit  ihnen  Zusammenhängen,  Rechen¬ 
schaft  abgelegt  werden;  dort  sollen  sie  Kleider  und 
in  den  Kleidern  Körperfülle  und  Form  haben;  dort 
soll  auch  die  Kunst,  am  liebsten  die  grosse  Kunst, 
befriedigt;  dort  soll  abstrahiert  und  stilisiert  und 


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NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 


koloriert  werden  mit  gebührender  Rücksicht  auf  die 
Natur  und  gleichzeitig  auf  die  dekorative  und  drama¬ 
tische  Wirkung  der  Farben.  Wenig  von  alledem  — 
geschweige  denn  alles  auf  einmal  —  hat  Frau  Slott- 
Möller  ernstlich  in  der  Gewalt.  Immer  sichtlicher 
sind  namentlich  Körperfülle  und  -Form  ihre  wunden 
Punkte  geworden.  Mit  grosser  Energie  bekämpfte 
sie  früher,  jedenfalls  zeitweise  (Königin  Margrethe, 
Niels  Ebbesen)  ihre  Schwäche  in  dieser  Hinsicht; 
aber  im  Augenblick  scheint  es,  als  beachtete  sie 
sie  weniger.  Vielleicht  unter  englischem  Einfluss 
(Rossetti)  hat  sich  stärker  als  je  zuvor  bei  ihr  die 
Neigung  herausgebildet,  ihre  Gestalten  in  heftigen 
seelischen  Affekten  zu  zeigen,  ohne  indessen  ihre 
leidenschaftlichen  Charaktere  in  einer  durchgeführt 
charaktervollen  Form  zu  schildern.  Gleichzeitig  hat 
es  ihre  Farbe  oft  bezeugt,  dass  selbst  sie  von  dem 
weiblichen  Sinne  für  das  Süssliche  nicht  ganz  frei 
war;  namentlich  in  einer  Anzahl  Bilder  von  lyrisch¬ 
süssen  Situationen  zeigt  sie  sich  ihm  verfallen.  Am 
reinsten  ist  vielleicht  ihr  Streben  nach  Stil  in  einzelnen 
plastischen  Arbeiten  von  ihrer  Hand  zu  Tage  getreten: 
Ebbe’s  Töchter,  Königin  Dagmar’s  Tod,  die  Väter 
der  Stadt.  Auf  seinem  bleibenden  Ehrenplatz  über 
dem  Eingangsportal  des  neuen  Kopenhagener  Rathauses 
wird  das  letztgenannte  Relief  späten  Geschlechtern 
ein  augenfälliges  Zeugnis  dafür  ablegen,  dass  selbst 
Frauen  unter  den  dänischen  Künstlern  zu  Ende  des 
Jahrhunderts  jedenfalls  reife  Anschauungen  über  das 
monumentale  Ziel  der  Kunst  hegen  konnten. 

Wendet  man  sich  von  Frau  Slott-Möller  ihrem 
Manne  zu,  und  versucht  man,  zu  überschauen,  was 
er  als  Maler  geschaffen  hat,  so  wirkt  zunächst  die 
Thatsache  verblüffend,  dass  er,  obwohl  als  ein  Gemüt 
bekannt,  das  wie  das  offene  Meer  nach  allen  Rich¬ 
tungen  hin  überschäumt,  eine  ganz  überwiegende  An¬ 
zahl  Bilder  mit  arkadisch-idyllischen  Vorwürfen  gemalt 
hat.  Von  »In  Arkadien«  (1892)  bis  »In  Italien^  (1903) 
erstreckt  sich  die  Reihe.  Gern  möchte  man  seine  Nei¬ 
gung  zu  solchen  Stoffen  ausschliesslich  aus  seinem  un¬ 
zweifelhaft  echten  künstlerischen  Durst  nach  Schönheit 
im  Leben  erklären  können;  aber  es  lässt  sich  kaum 
übersehen,  dass  auch  ein  mehr  weltlicher  Appetit  auf 
das  Leben  ihn  dazu  bewogen  hat,  sie  unablässig  zu 
umkreisen  und  ihre  lockeren  Seiten  auf  eine  gierigere 
Art  hervorzuheben,  als  eigentlich  sympathisch  ist. 
Die  grossen  Kräfte,  über  die  er  als  Künstler  verfügt, 
hat  diese  seine  Schwäche  doch  nicht  zu  untergraben 
vermocht.  Er  hat  allerdings  viele  misslungene  Bilder 
auf  dem  Gewissen,  Bilder,  in  denen  Geschmack  und 
Stil  gleich  unsicher  waren.  Doch  der  Maler,  der  in 
seiner  ersten  Jugend  das  glänzend  tüchtige  Bild  vom 
»Wartezimmer  des  Arztes«  oder  das  nicht  weniger 
glänzend  tüchtige  Porträt  seiner  Gattin  malte,  und 
dessen  Vortrag  damals  so  frisch  war,  dass  er  von 
weitem  an  keinen  geringeren  als  Velasquez  gemahnte, 
derselbe  Maler  führt  auch  fernerhin  einen  Pinsel,  der, 
wenn  er  malen  darf,  wie  es  seiner  Natur  entspricht, 
fast  alle  anderen  in  Dänemark  übertrifft.  Auch  aus 
dem  Grunde  erhebt  sich  seine  Kunst  andauernd  über 
die  durchschnittliche  dänische,  weil  sie  reich  an 


Ideen  und  Einfällen  ist.  Namentlich  auf  den  vielen 
Gebieten  der  dekorativen  Kunst,  denen  er  in  den 
letzten  Jahren  seine  Thätigkeit  geweiht  hat,  und  auf 
denen  ihm  seine  Stilbestrebungen  weit  besser  geglückt 
sind  als  auf  dem  Felde  der  eigentlichen  Staffelei¬ 
malerei,  ist  es  ihm  zu  gute  gekommen,  dass  er 
so  sinnreich  war.  Allerdings  hat  sein  Hang  zum 
Spekulieren  und  Philosophieren  ihn  manchmal  dazu 
verleitet,  an  die  Refle.xion  des  Beschauers  allzu  grosse 
Ansprüche  zu  stellen;  doch  zu  anderen  Zeiten  hat  er 
mit  einem  einzelnen  geistreichen  Einfall  gerade  den 
centrumstreffenden  Ausdruck  für  die  Vorstellung  ge¬ 
funden,  die  es  zu  erwecken  galt.  So  ist  er  beständig 
uneben,  beständig  von  ungleichem  Wert  gewesen,  ein 
schwieriges  Subjekt  für  seine  Freunde,  ein  dankbares 
Objekt  für  seine  Feinde.  Doch  darin  können  wohl 
Freund  und  Feind  einig  sein,  dass  er  für  unsere  Kunst 
ein  nützlicher  Gärstoff  gewesen  ist. 

Einer  ist  in  dieser  Beziehung  doch  noch  nütz¬ 
licher  gewesen:  Willumsen.  Er  begann  als  Architekt, 
wurde  nachher  Maler,  später  Keramiker  und  hat  zu¬ 
letzt  bewiesen,  dass  er  vielleicht  doch  am  allerbesten 
die  volle  Kraft  seines  Künstlerwesens  in  der  Bild¬ 
hauerei  zu  entladen  vermag.  Unter  Eindrücken  aller 
Art  moderner,  impressionistischer  und  symbolistischer 
französischer  Kunst,  deren  Kühnheit  seinem  kühnen 
Glauben  an  die  Zukunft  der  Kunst  entsprach,  brach 
er  während  seines  Aufenthaltes  in  Paris  anfangs  der 
neunziger  Jahre  alle  Brücken  hinter  sich  ab,  die  ihn 
mit  der  Vergangenheit  in  Dänemark  und  mit  der  Ver¬ 
gangenheit  im  eigenen  Innern  verbanden.  Er  schloss 
sich  kurze  Zeit  an  Raffaelli,  etwas  später  an  Gauguin 
an;  doch  er  schüttelte  auch  diesen  Einfluss  von  sich 
ab,  und  er  war,  als  er  auf  der  Freien  Ausstellung 
mit  einer  grösseren  Reihe  seiner  neuen  Arbeiten 
hervortrat  und  eine  ganze  Hauptstadt  in  Erbitterung 
versetzte,  sicherlich  die  eigenartigste  Erscheinung,  die 
sich  jemals  in  der  dänischen  Kunst  gezeigt  hatte. 
Was  besonders  erbitterte,  waren  seine  Ansprüche,  für 
tiefsinnig  zu  gelten.  Er  war  es  nicht,  und  ist  es 
seither  auch  nicht  geworden.  Doch  es  kam  der 
Form  seiner  Kunst  zu  gute,  dass  er  selbst  den 
elementarsten  seiner  Gedanken  über  das  Dasein  eine 
so  ausserordentlich  tiefe  Bedeutung  beimass.  Sie 
versetzten  ihn  in  eine  gehobene  Stimmung,  die  Ge¬ 
danken,  und  brachten  ihn  in  ehrerbietigen  Abstand 
selbst  von  den  Alltagsverhältnissen  des  Daseins,  die, 
von  solchem  Abstande  aus  gesehen,  vor  seinem 
staunenden  Bewusstsein  wuchsen  und  von  dort  in 
grösseren  als  den  wirklichen  Formen  in  seine  Kunst 
übergingen.  Da  sich  seine  Kunst  also  auf  einem 
Andachtsverhältnis  gründete,  dessen  Folge  ein  Abstands¬ 
verhältnis  war,  statt  sich  auf  das  Liebesverhältnis 
zwischen  dem  Künstler  und  seinem  Stoff  zu  gründen, 
dessen  Wärme  sich  dem  Beschauer  schnell  mitteilt 
und  ihm  das  Kunstwerk  lieb  macht,  wurde  alles,  was 
von  seiner  Hand  kam  —  weit  davon  entfernt,  ein¬ 
schmeichelnd  zu  sein  —  für  das  Gefühl  seltsam  un¬ 
nahbar  und  unzugänglich.  Auch  dem  Verstände 
hatte  es  ja  nicht  viel  zu  sagen,  da  es  nicht  sonder¬ 
lich  tiefsinnig  war.  Aber  es  sprach  gewöhnlich  zur 


NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 


305 


Phantasie  ungefähr  in  derselben  Weise,  wie  die  Kunst 
aus  der  ältesten  Zeit.  Und  dies  that  seine  Kunst, 
weil  bei  ihm  wirklich  etwas  von  der  Ehrfurcht  des 
primitiven  Menschen  vor  dem  Mysterium  der  Natur 
und  des  Daseins  zu  finden  war.  Was  Willumsen’s 
Arbeiten  damals  mit  uralter  Kunst  gemeinsam  hatten 
und  zum  Teil  noch  haben,  ist  nicht  nur  ein  Teil 
ihrer  Formeln,  sondern  ein  Teil  ihres  Geistes,  eines 
Geistes,  der  unter  dem  moralischen  Druck  des  Da¬ 
seins  in  Ratlosigkeit  darnieder  gehalten  wird,  und  dem 
die  Kunst  dazu  dient,  sich  von  diesem  Druck  zu  er¬ 
leichtern,  indem  er  grosse  Formen  von  sich  abwälzt. 
Dazu  gehören  unter  anderem  ein  Paar  männerstarke 
Hände,  die  solche  Formen  umpacken  und  sie  unge¬ 
sondert,  gross  und  ganz,  von  der  Phantasie  in  das 
Kunstwerk  hinüberschaffen  können.  Aber  über  so 
ein  Paar  Hände,  ein  Paar  Fäuste  möchte  man  beinahe 
sagen,  verfügt  gerade  Willumsen. 

Doch  streng  genommen  ist  vielleicht  auch  die 
männliche  Energie  seiner  Hände,  die  die  männliche 
Nachdrücklichkeit  seiner  Formbehandlung  begründet, 
seine  einzige  ausgereifte  Begabung  als  Maler.  Jeden¬ 
falls  hat  er  die  nicht  vielen  voll  ausgereiften  Werke, 
die  wir  im  ganzen  von  seiner  Hand  besitzen,  auf 
anderen  Gebieten  als  denen  der  Malerei  geschaffen. 
Diese  Werke  sind  auf  dem  Gebiete  der  Architektur 
das  Gebäude  der  Freien  Ausstellung,  auf  dem  Gebiete 
der  Skulptur  die  grossen  Phantasie-Büsten  und  das 
Grabmal  seiner  Eltern,  auf  dem  des  Kunstgewerbes  die 
Aschenurne  u.  s.  w.  Innerhalb  der  Malkunst  muss 
man  das  vollständig  Gelungene  eher  unter  seinen 
Skizzen  als  unter  seinen  Hauptwerken  und  bei  seinen 
Skizzen  wieder  eher  unter  denen  in  Wasserfarbe  als 
unter  denen  in  Ölfarbe  suchen.  Immer  mehr  scheint 
es  sich  zeigen  zu  sollen,  dass  die  Ölfarbe,  schliess¬ 
lich  die  Malkunst  im  ganzen,  gar  nicht  das  rechte 
Element  für  diesen  Künstler  war. 

Unzweifelhaft  hat  er  ja  doch  eine  grosse  Be¬ 
deutung  für  die  Entwickelung  der  dänischen  Mal¬ 
kunst  gehabt.  Freilich  hat  er  durch  den  früher 
von  ihm  vertretenen  Glauben  an  die  Möglichkeit, 
philosophischer  Gedanken  durch  eine  Zeichensprache 
von  abstrakten  Linien  künstlerischen  Ausdruck  zu 
schaffen,  ein  paar  jüngere  Zeichner,  deren  Namen 
hier  verschwiegen  werden  mögen,  verleitet,  in 
jener  fatalen  Richtung  noch  weiter  zu  gehen.  Aus 
ihren  Versuchen  zu  schliessen,  führt  die  Richtung 
geradewegs  in  den  Wahnsinn  hinein  und  hat  so 
höchstens  ein  rein  pathologisches  Interesse.  Doch 
daneben  hat  Willumsen  auch  einen  entschieden  ge¬ 
sunden  und  stärkenden  Einfluss  geübt,  der  nicht 
klein  war.  Erstens  moralisch  dadurch,  dass  er  wie 
kein  anderer  dem  Widerstand  der  Menge  trotzte  und 
ihn  schliesslich  unterjochte,  was  gleichbedeutend  war 
mit  einer  Aufforderung  an  andere,  zu  thun  wie  er, 
und  alle  Verlockungen  zu  Unterhandlungen  mit  der 
Menge  abzuweisen.  Zweitens  künstlerisch  dadurch, 
dass  er  mit  der  Energie  in  seiner  Formbehandlung, 
gleichviel  ob  er  malte  oder  modellierte,  ein  nützliches 
Beispiel  gab.  So  yN'irt  EJnar  Nielsen,  in  seinen  Motiven 
der  mutigste,  in  seiner  Form  der  männlichste  und 


vielleicht  im  ganzen  der  merkwürdigste  unter  den 
gesamten  jüngsten  dänischen  Künstlern,  kaum  denkbar 
ohne  Willumsen  als  Vorgänger  und  Voraussetzung. 
Mit  Recht  hat  man  von  Nielsen’s  Kunst  behauptet, 
dass  es  nicht  die  Schattenseite  des  Lebens  sei,  mit 
der  sie  sich  bisher  überwiegend  beschäftigt  hat,  son¬ 
dern  seine  kohlschwarze  Nachtseite.  Der  Tod,  direkt 
mit  der  Leiche  gezeigt,  ist  sogar  noch  nicht  das 
Fürchterlichste,  was  dieser  Künstler  uns  gezwungen 
hat,  zu  sehen;  schonungslos  hat  er  uns  von  Ange¬ 
sicht  zu  Angesicht  dem  gegenübergestellt,  was  schlimmer 
ist  als  der  Tod:  der  unvollendeten  Vernichtung  in 
Gestalt  derjenigen,  die  trotz  Lähmung,  Gebrechlichkeit 
oder  einer  anderen  unheilbaren  Krankheit  leben.  Und 
wenn  diese  Opfer  seiner  Kranken-  oder  Leichenhaus- 
Phantasie  nicht  ins  Leichentuch  gewickelt  oder  an 
einem  erbärmlichen  Lager  gefesselt  waren,  so  gingen 
sie  in  Lumpen  herum,  die  den  Gedanken  auf  ihr 
Dasein  noch  haarsträubender  entsetzlich  machten. 
Unversöhnlich,  nur  widerwärtig  würden  nun  diese 
Gestalten  gewirkt  haben,  und  man  hätte  ihnen  schnell 
den  Rücken  gekehrt,  wenn  nicht  die  Kunst,  mit  der 
sie  geschildert  waren,  über  mehr  als  eines  der  Mittel 
verfügt  hätte,  wodurch  die  Kunst  mit  dem  Hässlichen 
versöhnen  kann.  Das  Malerische  gehörte  mit  zu 
diesen  Mitteln;  denn  die  Bilder  waren  mit  wenigen 
grauen  Tönen  gemalt,  die  gewöhnlich  fein  und  schön 
zusammengestimmt  waren.  Trotzdem  war  die  Zeich¬ 
nung  in  dieser  Kunst  das  Versöhnendste.  Sie  zeigte 
freilich  zu  Zeiten  —  namentlich  wenn  sie  Linien  zu 
einer  Landschaft  hinter  den  Figuren  hinschrieb  — 
eine  Spur  von  Selbstgefälligkeit,  mit  dem  verwandt,  das 
eine  fliessende  Handschrift  in  Manier  ausarten  lässt. 
Doch  dergleichen  Dinge  waren  nur  Risschen  in  der 
summierenden  Begabung  einer  im  übrigen  gross  an¬ 
gelegten  Betrachtung,  die  diese  Kunst  trug  und  sie 
in  der  Richtung  des  Monumentalen  emportrug.  Sie 
erreichte  es  nicht  immer,  sie  erreichte  es  z.  B.  nicht 
in  dem  Bilde  des  blinden  Mädchens,  bei  dem  der 
Künstler  den  Fehler  begangen  hatte,  eine  plastisch 
ausgeformte  Figur  auf  einen  Hintergrund  hinzustellen, 
der  dekorativ  wie  eine  Fläche  behandelt  war.  Sie 
erreichte  es  aus  einem  anderen  Grunde  ebenfalls  nicht 
in  dem  grossartig  gedachten  Zwielichtbilde  mit  den 
armen  Teufeln,  die  der  Abendglocke  lauschen,  denn 
hier  war  der  Charakter  der  Zeichnung  zur  Karikatur 
zerbrochen.  Aber  der  Künstler  hatte  doch  schon 
verschiedene  Male  —  z.  B.  in  dem  fast  hieratisch 
steifen  Bilde  der  alten  Frau  mit  den  im  Schoss  ge¬ 
falteten  Händen,  auf  seine  Weise  auch  in  den  ergreifend 
Seelen  vollen  Zeichnungen  zu  dem  »Sohn  des  alten 
Mannes«  —  sich  so  ziemlich  zur  monumentalen  Form 
emporgearbeitet,  und  insofern  war  man  nicht  unvor¬ 
bereitet  darauf,  von  seiner  Hand  ein  so  monumentales 
Bild  zu  empfangen,  wie  das  Doppelporträt  in  der 
Frühjahrsausstellung  1901.  Aber  was  an  diesem 
grossen,  stillen  Bilde  überraschte,  war  der  Sinn  für 
Menschenschönheit  und  schöne  menschliche  Stimmung, 
den  dieser  Maler  der  Schrecken  an  den  Tag  legte. 
Auf  einem  Balkon,  hoch  über  den  Dächern  von  Paris, 
war  dieses  Doppelporträt  eines  Bildhauers  und  seiner 


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3o6 


NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 


Frau  gemalt  worden,  ln  einer  grossen  Synthese  gab 
der  Hintergrund  einen  sowohl  schönen,  wie  treffend 
wahren  Eindruck  von  der  Stadt  an  der  Seine.  Jedoch 
nicht  daran  allein  konnte  man  erkennen,  wo  das  Bild 
gemalt  war.  Es  zeigte  sich  unverkennbar,  dass  es  unter 
dem  Einfluss  von  Puvis  de  Chavannes  entstanden  war, 
dessen  Pauvre  Pecheur  auch  geeignet  gewesen  sein 
musste,  das  Gemüt  des  jungen  dänischen  Künstlers 
plötzlich  auftauen  zu  lassen,  und  dessen  Fresken  im 
Pantheon  ihn  lehren  konnten,  seinen  Gefühlen  in 
den  langen  wehmütigen  Rhythmen  Luft  zu  machen, 
die  in  den  Linien  des  Doppelporträts  atmen.  Es  be¬ 
steht  jedoch  ein  Unterschied  zwischen  diesen  und 
entsprechenden  Linien  bei  Puvis  de  Chavannes.  Denn 
während  der  grosse  Zug  in  den  Linien  sich  bei  die¬ 
sem  meist  auf  einen  etwas  weiblich  liebkosenden 
Strich  über  die  Form  beschränkt  und  eine  ernsthafte 
Vertiefung  in  dieser  ausschliesst,  ist  er  bei  Ejnar 
Nielsen  mit  einem  männlichen  Griffe  um  die  Form 
vereint,  den  man  sich  nur  schwerlich  fester  denken 
kann.  Dieses  Bild  bedeutet  jedenfalls  bis  auf  weiteres 
das  äusserste,  was  die  dänische  Malkunst  in  der 
Richtung  grossartiger  und  energischer  Formbehandlung 
erreicht  hat. 

Mehr  solcher  Einsätze  persönlicher  Energie,  wie 
die  Willumsen’s  oder  Ejnar  Nielsen’s,  für  die  Ent¬ 
wickelung  einer  grossen  und  monumentalen  Form  in  der 
dänischen  Kunst  lassen  sich  augenblicklich  nicht  nennen. 
Dagegen  sind  noch  einige  junge  Künstler  zu  erwähnen, 
die  zum  Teil  durch  direkte  Einführung  des  edlen 
Stils  früherer  Zeiten  in  die  dänische  Kunst  zu  dem 
Versuche  beigetragen  haben,  deren  Physiognomie  zu 
ändern  und  zu  veredeln.  So  fand  Frau  Bertha  Dorph 
bei  ihrem  ungewöhnlich  sicheren  plastischen  Formen¬ 
sinn  sich  frühzeitig  innerhalb  der  strengen  und  knappen 
Formeln  der  Portätkunst  zurecht,  die  von  Domenico 
Veneziano,  Piero  della  Francescas  Lehrer,  und  anderen 
Italienern  des  i5.  Jahrhunderts  geschaffen  wurden. 
Vor  ihr  hatte  Clement,  nachdem  er  seine  jugendlichen 
Versuche,  der  neuesten  französischen  Mode  zu  folgen, 
aufgegeben,  Porträts  mit  Benutzung  ähnlicher  Formeln 
gemalt;  aber  ihm  haftet  innerhalb  derselben  stets  etwas 
von  dem  Roed-Vermehren’schen  minutiösen  und  etwas 
trockenen  Detailstudium  an,  und  deshalb  erschien 
seine  feine  und  gewissenhafte  Kunst  oft  mehr  fleissig- 
fertig  als  eigentlich  vollkommen  in  der  Form.  Mehr 
Frische,  dafür  vielleicht  auch  etwas  weniger  Festigkeit 
im  Künstlercharakter  zeigt  Find,  der  abwechselnd  zur 
altdänischen,  bürgerlich-demokratischen  und  der  mo¬ 
dernen  europäischen,  künstlerisch-aristokratischen  Auf¬ 
fassung  neigte,  und  dessen  letzte  Porträts  einen  Drang 
zu  derber  Aufrichtigkeit  gegen  das  Malerische  mit 
einer  andauernden  Neigung  vereinen,  das  Menschliche 
innerhalb  ernsthafter  Umrisse  zu  schildern.  Die  letzt¬ 
erwähnte  Neigung  zeigt  sich  auch,  aber  in  weicherer 
Form,  bei  Vedel,  einem  blutjungen  Porträtmaler, 
dessen  Fehler  es  ist,  sein  Kolorit  etwas  bestechend, 
ä  la  alte  Gemälde  zu  präparieren,  dessen  milde  Bilder 
jedoch  etwas  Herzliches  an  sich  haben,  das  sonst  bei 
den  Jüngsten  nicht  Mode  ist,  wenn  es  auch  zuweilen, 
z.  B.  bei  Wandel,  Tetens  oder  Tycho  Jessen  sich  unge¬ 


laden  einschleicht,  trotz  aller  Vorsätze,  die  Darstellung 
mit  dem  steifen  Zeremoniell  des  Stiles  zu  umgeben.  Das 
steife  Zeremoniell  des  Stiles!  Darum  sammeln  sich  die 
Bestrebungen  jetzt  nur  allzu  willig.  Auch  wenn  es  die 
Bäume  in  der  Natur  sind,  so  werden  sie  ihm  unter¬ 
worfen  und  heutzutage  von  der  Landschaftskunst  in 
demselben  naturfeindlichen  Geiste  geputzt,  in  dem 
sie  früher  von  der  Gartenkunst  verstutzt  wurden.  Der 
originale  Svend  HammershöJ  und  der  von  ihm  be¬ 
einflusste  Struckmann  sind  Beispiele  dieser  Richtung, 
innerhalb  welcher  mit  einem  Minimum  von  Natur¬ 
gefühl  oder  jedenfalls  mit  einem  Minimum  von  Natur¬ 
studium  operiert  wird,  doch  keineswegs  ohne  wahre 
Begabung  für  die  Dekoration. 

Im  grossen  Ganzen  begegnet  man  jetzt  dieser  Be¬ 
gabung  in  der  dänischen  Kunst  viel  häufiger  als  früher. 
Aber  gleichzeitig  hat  sich  freilich  bei  den  ganz  jungen 
Künstlern  eine  ausgedehnte  Neigung  gezeigt,  das 
streng  persönliche  Naturstudium,  das  doch  jederzeit 
die  Quelle  aller  Kunst  sein  muss,  zu  vernachlässigen. 
Gerade  wie  man  gelernt  hatte,  sich  die  Kunst  hier¬ 
durch  zu  erschweren,  hat  man  wieder  gelernt,  sie 
sich  leicht  zu  machen,  indem  man  sich  mit  Schablonen 
für  Abstraktionen  hilft.  Stark  gefördert  wurde  diese 
Neigung  durch  die  Beschäftigung  der  dänischen 
Künstler  mit  den  dekorativen  Künsten,  die  in  Däne¬ 
mark  wie  übrigens  aller  Orten  die  reine  Kunst  in 
ihren  Dienst  genommen  und  gezwungen  haben,  sich 
nach  ihren  Bedürfnissen  umzuformen,  welche  in  Bezug 
auf  Natur  augenblicklich  äusserst  gering  sind.  Indessen 
ist  Dänemark  nicht  das  Land,  wo  eine  Bewegung 
sich  von  Anfang  bis  zu  Ende  entwickelt.  Jeder  Aktion 
folgt  dort  die  Reaktion  auf  den  Füssen,  und  so  hat 
denn  auch  der  Rückschlag  gegen  die  Stilbestrebungen 
diese  sozusagen  von  dem  Augenblicke  an  begleitet, 
wo  sie  im  Ernste  durchzubrechen  drohten.  Etwas 
zu  diesem  Rückschläge  trug  vielleicht  auch  der  Rück¬ 
blick  auf  die  alte  dänische  Kunst  bei,  wozu  der  Kunst¬ 
verein  in  Kopenhagen  mit  seinen  umfassenden  Aus¬ 
stellungen  und  Büchern  zur  Beleuchtung  der  alten 
dänischen  Meister  Gelegenheit  gab.  Jetzt  konnte  ja 
ein  jeder  sehen,  was  verloren  und  was  gewonnen 
worden  war.  Gewonnen  schien  bestenfalls  die 
Festivitas  des  Stils,  verloren  schien  in  den  meisten 
Fällen  die  Simplizitas  des  Gemütes.  Mit  grosser 
Dankbarkeit  wurden  da  ein  paar  junge  Künstler, 
Schüler  Zahrtmann’s  empfangen,  die  nicht  nur  aus¬ 
nahmsweise  etwas  von  dieser  köstlichen  Eigenschaft 
bewahrt  hatten,  sondern  sie  auch  in  ihrer  Kunst 
auf  eine  eigen  demonstrative  Art  geltend  machten. 
Ein  Mitglied  dieser  Gruppe  ist  der  Blumenmaler 
Harald  Holm,  der  keine  Weichlichkeit  in  der  Auf¬ 
fassung  der  Blumen  kennt,  sondern  sie  frisch  und 
freimütig  nimmt,  wo  er  sie  in  möglichst  grosser  Fülle 
oder  Farbenpracht  findet.  Ein  anderes  Mitglied  der 
Gruppe  ist  Johannes  Larsen,  der  dem  Leben  in  der 
Natur  nicht  sentimental,  sondern  wie  ein  ungerührter 
Jägersmann  gegenüber  steht  und  die  wilden  Vögel 
mit  einer  derben  Charakteristik  und  einem  keineswegs 
süsslichen  Kolorit  malt.  Ein  drittes  Mitglied  ist  Paul 
Christiansen,  der  kühn  der  ländlichen  Schwerfälligkeit 


NEUERE  STRÖMUNGEN  IN  DER  DÄNISCHEN  MALEREI 


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seiner  Hand  trotzt  und  sogar  zuweilen  mit  seinem 
klobigen  Fluge  nach  hochliegenden  Stoffen  strebt.  Die 
übrigen:  Karl  Schon,  Peter  Hansen,  aber  namentlich 
die  Zentrumsfigur  der  Gruppe,  Syberg,  halten  sich  dicht 
genug  an  die  Erde,  und  es  ist  gerade  ihre  starke 
Seite,  mit  allen  Sinnen  wahrzunehmen,  was  der 
Erde  und  der  Wirklichkeit  angehört.  Das  schil¬ 
dert  namentlich  Syberg  mit  einer  bäurisch-robusten 
Gleichgültigkeit  dagegen,  ob  der  Sinneseindruck 
schön  ist  oder  nicht.  Er  atmet  den  Gestank  eines 
Schweinestalles,  den  Dunst  einer  Kinderstube,  den 
Dampf  eines  frisch  aufgepflügten  Ackerbodens  oder 
den  Duft  eines  im  jungen  Grün  stehenden  blühenden 
Obstbaumes  mit  gleichem  physischen  Wohlbehagen 
ein  und  fordert  mit  seinen  Bildern  den  Beschauer 
auf,  dasselbe  zu  thun.  Er  legt  Wert  auf  Kraft,  nicht 
auf  Feinheit  in  der  Farbe  und  scheut  sich  nicht,  den 
Dingen  ihre  rechte  Couleur  zu  geben.  Er  ist  und 
bleibt  auch  lieber  linkisch  im  Vortrag,  als  dass  er 
sich  von  einer  flüssigen  Hand  zur  Oberflächlichkeit 
verleiten  lässt.  Und  er  erreicht  oft,  was  er  mit  seinen 
starken  und  primitiven  Mitteln  anstrebt:  eine  Schilde¬ 
rung,  die  voller  Kern  und  Charakter  ist,  ohne  die 
Flauheit,  die  häufig  mit  der  Verfeinerung  Hand  in 
Hand  geht. 

So  wird  von  dieser  Seite  eine  gewisse  primitive 
Kraft  für  die  dänische  Malkunst  bewahrt.  Von 
anderer  Seite  hat  man  die  Hoffnung  noch  nicht  auf¬ 
gegeben,  sie  zu  veredeln,  ihr  Haltung  und  die  Statt- 
lichkeit  des  Stiles  zu  verleihen.  Von  dritter  Seite 
wird  fortdauernd  das  rein  Malerische  als  eigentliches 
Ziel  der  Malkunst  betont.  Auf  Grund  der  nahen 
gegenseitigen  Berührung  der  Künstler  des  kleinen 
Landes,  auf  Grund  auch  ihres  zunehmenden  gegen¬ 
seitigen  Verständnisses,  das  wiederum  eine  Folge 
ihrer  zunehmenden  Bildung  und  ihres  weiteren 
Horizontes  ist,  auf  Grund  endlich  des  allgemeinen 
geistigen  Waffenstillstandes  im  Lande  nach  dem  lang¬ 
jährigen  geistigen  Bürgerkriege  stehen  doch  zur  Zeit 
der  Jahrhundertwende,  wo  diese  Zeilen  geschrieben 


werden,  die  Richtungen  in  der  dänischen  Malkunst 
wenig  scharf  und  polemisch  einander  gegenüber. 
In  ihrer  Gesamtheit  genommen,  fehlt  es  auch  der 
dänischen  Malkunst  jetzt  so  wenig  wie  früher  an  der 
Einheit,  die  einer  Kunst  ihr  nationales  Gepräge  giebt. 
Man  ist  allerdings  nicht  mehr  so  kindlich  unberührt 
von  Europa,  wie  man  es  in  der  langen  Zeit  zwischen 
Eckersberg  und  Kröyer  war,  volle  siebzig  Jahre,  in 
denen  sich  in  der  Fremde  die  grössten  und  merk¬ 
würdigsten  Phänomene  am  Himmel  der  Kunst  zeigen 
konnten,  ohne  dass  in  Dänemark  ein  Auge  davon 
Notiz  nahm.  Was  die  dänischen  Maler  heutzutage 
von  fremder  Kunst  aus  der  Vergangenheit  und  Gegen¬ 
wart  wissen,  verrät  sich  oft  genug  in  ihren  Werken. 
Doch  noch  behauptet  die  heimische  Malkunst  ihre 
Nationalität  trotz  aller  Einflüsse  von  aussen.  Sie 
hat  immer  ihre  Begrenzung,  die  in  erster  Reihe 
eine  Folge  des  leidenschafts-  und  phantasielosen 
dänischen  Naturells  ist.  Sie  behauptet  vielleicht  im 
ganzen  ihre  Nationalität  hauptsächlich  infolge  des 
sehr  Negativen  in  diesem  nüchternen,  kritischen  däni¬ 
schen  Naturell  mit  seinem  feinspürenden  Instinkt,  in 
allen  Verhältnissen  das  Lächerliche  zu  vermeiden. 
Davon,  vom  Lächerlichen,  war  in  der  dänischen 
Malkunst  immer  äusserst  wenig  zu  finden.  Leider 
blieb  damit  auch  in  der  Regel  das  Sublime  aus. 
War  die  Furcht  vor  dem  Lächerlichen  schuld  daran, 
dass  man  das  Sublime  so  selten  erreichte?  Kaum  allein. 
Nur  die  Genies  erreichen  es,  und  an  solchen  ist  die 
dänische  Malkunst  stets  ebenso  arm  gewesen,  wie  sie 
an  ausgezeichneten  Talenten  reich  war.  Diese 
mässigere  Form  der  künstlerischen  Begabung  sowie 
das  mässige  dänische  Naturell  haben  gemeinsam  die 
bestimmenden  Grenzen  für  Dänemarks  Malkunst  ge¬ 
bildet.  Die  Enge  der  Grenzen  ist  ihre  Schwäche 
gewesen;  aber  dass  sie  allzeit  ihre  Begrenzung  ge¬ 
kannt  und  erkannt  hat,  ist  ihre  Stärke.  Daher  ihre 
innere  Wahrheit,  dadurch  ihr  Dänentum,  darin  ihr 
Anrecht  auf  unsere  Dankbarkeit. 


MITTELALTERLICHE  FLECHTOEWEBE  * 

Von  E.  Kumsch,  Dresden 


Im  Königliclien  Hauptstaatsarchive  zu  Dresden  kam 
vor  etwa  zwei  Jahren  ein  Gewebe  zum  Vorschein, 
welches  später  dem  Königlichen  Kunstgewerbe¬ 
museum  überwiesen  wurde.  Die  Bestrebungen,  Nähe¬ 
res  über  Alter  und  Herkunft  dieses  Gewebes  fest¬ 
zustellen,  führten  zu  den  nachstehenden  Erörterungen 
und  Resultaten. 

A.  DAS  DRESDNER  FLECHTGEWEBE 

(Siehe  die  Farbentafel  nach  Seite  310) 

/.  Herkunft.  Das  Gewebe  fand  sich  vor  als  Um¬ 
schlag  einer  Pergamenturkunde,  der  Ordensregel, 
welche  1263  den  Klarissinnen  von  Papst  Urban  IV. 
verliehen  wurde.  Ausserdem  enthält  das  Heftchen 
am  Anfänge  und  am  Ende  einige  Schriftstücke  auf 
Pergament,  welche  als  Umschlag  dienten  und  in  das 
Gewebe  eingeschlagen  waren.  Von  den  Schriftstücken 
kommen  für  die  Herkunft  des  Gewebes  folgende  in 
Betracht: 

1.  Ein  Brief  an  die  Markgräfin  Helene,  in  welchem 
diese  als  relicta  bezeichnet  wird.  Helene  wurde 
1285  Witwe  des  Markgrafen  Dietrich  des  Weisen 
(Fetten)  von  Landsberg  bei  Delitzsch  und  starb  1304 
im  Schlosse  zu  Weissenfels.  Der  Brief  wurde  also 
zwischen  1285  und  1304  geschrieben  und  nach 
Weissenfels  gerichtet. 

2.  Ein  Brief  von  einem  Guardian  in  Zeitz  an  die 
Äbtissin  des  Klarissinnenklosters  in  Weissenfels. 

3.  Ein  Teil  einer  Pergamentrolle  mit  Notizen  über 
Einkünfte  und  Hebungen,  wohl  des  Klosters 
Weissenfels,  da  alle  genannten  Ortschaften  in 
dessen  Nähe  liegen.  Nach  dem  Charakter  der 

1)  Über  diese  Technik  herrscht  grosse  Unklarheit,  weil 
sie  keine  einheitliche  Benennung  erhielt;  sie  wird  als 
Gobelintechnik,  Nadelmalerei,  Bildweberei,  Wirkerei  und 
durch  oft  sehr  schwülstige  Umschreibungen  bezeichnet. 
Die  Bezeichnung  »Gobelin«  lässt  über  die  Technik  keinen 
Zweifel,  doch  wird  es  sicher  niemandem  gefallen,  eine 
uralte  orientalische  Technik  mit  einem  erst  im  15.  Jahr¬ 
hundert  auftretenden  französischen  Namen  zu  bezeichnen. 
»Nadelmalerei«  kann  ebensogut  Stickerei  bedeuten  und  ist 
wohl  auch  meist  dafür  gebraucht  worden.  »Bildweberei« 
deckt  sich  nicht  immer  mit  den  Erzeugnissen  der  Technik. 
»Wirken  steht  in  der  alten  Litteratur  für  »arbeiten«,  be¬ 
zeichnet  also  nicht  speziell  unsere  Technik.  Würde  mm 
diese  Bezeichnung  jetzt  einseitig  in  dieser  Bedeutung  an¬ 
gewendet,  so  würde  dadurch  nicht  nur  keine  Klarheit  ge¬ 
schaffen,  sondern  nur  grössere  Verwirrung  in  die  Textil¬ 
geschichte  getragen,  um  so  mehr,  als  die  moderne  Industrie 
unter  Wirkerei  auch  noch  eine  andere,  wesentlich  ab¬ 
weichende  Technik  versteht.  Verfasser  gestattet  sich  nun, 
obige  Bezeichnung  vorzuschlagen,  da  diese  der  Her¬ 
stellungsweise  wirklich  entspricht  und  es  für  die  Zukunft 
ermöglicht,  durch  ein  deutsches  Wort  einen  wichtigen  Teil 
der  Textilkunst  in  unzweifelhafter  Weise  zu  bezeichnen. 


Schrift  wurde  das  Verzeichnis  etwa  um  1 300  an¬ 
gefertigt. 

4.  Ein  Brief  an  die  Äbtissin  des  Klarissinnenklosters 
in  Seuslitz. 

Hiernach  kommen  für  die  Herstellung  des  Ein¬ 
bandes  die  Klöster  von  Weissenfels  und  Seuslitz  in 
Frage.  Es  ist  anzunehmen,  dass  er  vor  oder  bald 
nach  dem  Tode  der  Markgräfin  (1304)  hergestellt 
wurde,  da  die  Briefe  sonst  wohl  vernichtet  worden 
wären. 

Das  Kloster  in  Seuslitz  wurde  1268  gestiftet,  das 
zu  Weissenfels  1285  eingeweiht.  In  beiden  Klöstern 
lebten  mehrfach  fürstliche  Frauen  als  Nonnen,  so  in 
Weissenfels  Sophie,  die  Tochter  des  Stifters  Markgraf 
Dietrich  und  der  Markgräfin  Helene.  Sie  wurde  nach 
dem  Tode  ihres  Verlobten,  Herzog  Konrad  von  Glogau, 
1274,  Äbtissin  des  Klosters,  starb  1318  und  ist  als 
Empfängerin  des  Briefes  unter  2.  anzusehen. 

Nach  Einführung  der  Reformation  wurden  die 
Klöster  säkularisiert  und  die  Urkunden  dem  kurfürst¬ 
lichen  Archive  einverleibt. 

Vorstehende  Angaben  verdankt  der  Verfasser  dem 
Herrn  Archivrat  Dr.  Lippert,  auf  dessen  Bemühungen 
hin  auch  die  Überweisung  des  Gewebes  an  das 
Königliche  Kunstgewerbemuseum  erfolgte. 

2.  Technik.  Das  Gewebe  ist  hergestellt  in  Flecht¬ 
weberei.  Es  enthält  als  Kette  starkgedrehte  weisse 
Seidenfäden,  welche  paarweise,  also  als  Doppelfäden 
im  Gewebe  verwendet  wurden.  Als  Schuss  wurden 
ebenfalls  nur  Seidenfäden  verwendet;  auch  das  Gold 
besteht  aus  einem  Seidenfaden,  der  mit  sehr  schmalen 
Bändchen  eines  dünnen,  nicht  metallischen  Häutchens 
umsponnen  ist,  welches  einen  Hauch  von  Vergoldung 
zeigt.  Die  Kette  läuft  in  Bezug  auf  das  Muster  in 
der  Richtung  von  oben  nach  unten. 

Die  ganz  eigenartige,  durch  die  Technik  nicht 
gebotene  Verwendung  von  Doppelfäden  als  Kette 
wurde  bei  der  Vergleichung  mit  anderen  Geweben 
als  massgebend  betrachtet,  und  auch  nur  solche  Ge¬ 
webe  wurden  berücksichtigt,  deren  Kettenfäden  aus 
Seide  bestehen.  Das  vorliegende  Bruchstück  des  Ge¬ 
webes  zeigt  am  obern  Ende  den  Anfang  der  Weberei 
und  links  das  seitliche  Ende,  da  hier  sämtliche  Fäden 
umkehren.  An  Stelle  der  »Leiste«  beginnt  hier  unmittel¬ 
bar  eine  Mitte  des  Musterrapports.  Das  untere  Ende 
ist  nicht  vorhanden.  Wahrscheinlich  haben  wir  es 
mit  dem  untern  Endstreifen  eines  Behanges  zu  thun, 
der  durch  den  Gebrauch,  z.  B.  durch  Schleifen  auf 
dem  Boden  infolge  der  Bewegung  durch  den  Wind, 
abgenutzt  und  schliesslich  abgeschnitten  worden  ist. 
Auch  rechts  ist  das  Muster  unvollständig;  hier  folgt 
das  Ende  des  Gewebes  im  unteren  Teile  den  durch 
die  Technik  gebildeten  Lücken.  Dieser  Umstand  ist 


MITTELALTERLICHE  ELECHTGEWEBE 


309 


ABB.  1.  REKONSTRUKTION  DES  IN  DER  BEILAGE  DARGESTELLTEN  MUSTERS 


von  besonderem  Interesse;  es  wird  später  darauf  zurück¬ 
zukommen  sein.  Zu  bemerken  ist  noch,  dass  dem 
kleinen  horizontal  laufenden  Zipfel,  am  rechten  Ende 
in  etwa  ein  Drittel  der  ganzen  Höhe,  beim  Glätten  des 
Gewebes  absichtlich  eine  falsche  Richtung  gegeben 
wurde,  um  ihn  leichter  bemerkbar  zu  machen.  Er  bildet 
eigentlich  die  Fortsetzung  des  weissen  Musterteils  und 
müsste  also,  wenn  auch  ohne  Verbindung  mit  dem 
Grunde,  senkrecht  laufen. 

Eigentümlich  erscheint  es,  dass  das  Flechtband 
unterhalb  der  grossen  Palmette  frei  gearbeitet  ist;  die 
Zwicke!  zeigen  zwar  die  allgemeine  grüne  Grundfarbe, 
sind  aber  nicht  mit  dem  gleichfarbigen  Grunde  der 
anstossenden  Teile  verbunden.  Genau  dasselbe  ist 
für  das  linke  Ende  des  Gewebes  anzunehmen,  da 
dessen  oberer  Teil  das  Muster  ziemlich  genau  bis  zur 
Mitte  zeigt,  während  am  unteren  Teile  mehr  und  mehr 
daran  fehlt. 

Im  übrigen  sei  bemerkt,  dass  das  Gewebe  sowohl 
beim  Dreifarbendruck  als  bei  dem  ergänzten  Muster 
(Abb.  1)  von  der  Rückseite  aus  aufgenommen  wurde 
wegen  der  weitaus  besseren  Erhaltung  der  Farben, 
also  grösseren  Deutlichkeit  des  Musters.  Nach  dem 
Vorhandensein  der  Fadenenden  war  die  Rückseite 
auch  bei  der  Herstellung  des  Gewebes  dem  Weber 
zugekehrt.  Es  ist  dies  ohne  jeden  Einfluss,  da  die 
Wirkung  leinwandbindiger  Gewebe  auf  beiden  Seiten 
völlig  gleich  ist.  Bezüglich  seiner  Grundbindung 
wechselt  das  Gewebe  in  den  einzelnen  Partien,  je 
nach  dem  stärkeren  oder  geringeren  Festschlagen  der 


Schussfäden,  zwischen  dem  Aussehen  des  Kettenripses 
und  der  einfachen  Taffetbindung. 

Bei  der  Flechtweberei  zeigen  sich  an  denjenigen 
Grenzen  des  Musters,  welche  parallel  mit  den  Ketten¬ 
fäden  laufen,  klaffende  Lücken,  weil  an  solchen  Stellen 
die  Schussfäden  an  einem  und  demselben  Kettenfaden 
enden.  Derartige  Stellen  zeigt  unser  Gewebe  auch, 
doch  sind  dieselben  nicht  lang,  also  weniger  ins  Auge 
fallend.  Die  grossen  Verletzungen  z.  B.  des  linken 
Teiles  des  Doppelflechtbandes,  sowie  des  Pfauenschweifes 
nahe  der  grossen  Palmette  rechts,  bezeichnen  die  Grenzen 
des  Einbandes  am  Rücken  und  Schnitt,  da  das  Heft  ja 
vielleicht  100  Jahre  lang  täglich  in  Benutzung  war. 
Der  rechte  Teil  mit  der  vollständig  erhaltenen  grossen 
Palmette  war  in  zerknittertem  Zustande  im  Innern  des 
Heftes  festgenäht  und  ist  daher  am  besten  erhalten. 

Die  Originalgrösse  des  Gewebes  beträgt  in  den 
äussersten  Massen  47  cm  Breite  und  27,5  cm  Höhe. 
Die  Anzahl  der  Kettenfäden  beträgt  22  (Doppelfäden), 
die  der  Schussfäden  wechselt  zwischen  50  und  68 
im  Centimeter. 

3.  Farbengebung.  Die  Beilage  in  Dreifarbendruck 
giebt  die  Farben  deutlich  wieder.  Der  Grund  ist  dunkel¬ 
grün  und  zeigt,  auch  auf  der  Rückseite,  durch  die 
verschieden  starke  Einwirkung  der  Sonne  zum  Teil 
einen  Stich  ins  Blau.  Das  Muster  ist  in  der  Haupt¬ 
sache  aus  Goldfäden  hergestellt  und  in  der  Art  byzan¬ 
tinischer  Glasmosaiken  mit  farbigen  Kontouren,  hier, 
sowie  an  jenen,  meist  rot  und  weiss,  versehen.  Der¬ 
artige  Mosaiken  sind  am  schönsten  farbig  wieder- 


310 


MITTELALTERLICHE  ELECHTGEWEBE 


ABB.  2.  VORDER-  UND  SEITENANSICHT  DER  KAPITALE  IN  DER  HAGIA  SOPHIA  ZU  KONSTANTINOREL.  6.  JAHRHUNDERT 


gegeben  in  Terzi,  capella  di  S.  Pietro  di  Palermo. 
Auf  dem  Titelblatte  sind  die  Besätze  am  Gewände 
des  Petrus  ebenfalls  rot  und  weiss  eingefasst. 

4.  Musterung.  Zunächst  begegnen  wir  einem 
baumartigen  Aufbau,  dessen  Stamm  ein  Doppelflecht¬ 
band  bildet,  aus  welchem  nach  beiden  Seiten  symmetrisch 
angeordnete  Äste  ausschwingen.  Die  Krone  des  Baumes 
wird  durch  eine  Art  Palniette  gebildet.  An  der  rechten 
Seite  des  Gewebes  tritt  das  Bruchstück  eines  gleich¬ 
wertigen  zweiten  baumartigen  Gebildes  auf,  das  sich 
in  den  Einzelformen  wesentlich  von  dem  ersten  unter¬ 
scheidet.  Zwischen  die  beiden  Bäume  ist  zur  Tren¬ 
nung  ein  Flechtband  eingeschoben,  das  sich  oben  zu 
einer  Pahnette  ausbildet  und  weiterhin  in  den  Voluten 
Pfauen  trägt.  Während  der  ersterwähnte  Baum  zum 
Teil  durch  Abnutzung  des  Gewebes  zerstört  wurde, 
sich  jedoch  aus  dem  noch  vorhandenen  leicht  ergänzen 
lässt,  ist  dies  bei  dem  zweiten  nur  in  begrenztem 
Masse  möglich.  An  der  rechtsseitigen  Grenze  des 
Gewebes  ist,  wie  S.  30g  bereits  erwähnt,  ein  kleines 
Stück  weisse  Musterumrahmung  vorhanden,  durch 
welches  bewiesen  wird,  dass  die  Äste  hier  nicht  wie 
bei  dem  ersten  Baume  bis  zum  Mittelstamme  gingen, 
sondern  bereits  an  jener  Stelle  (der  rechtsseitigen  Grenze 
des  Gewebes)  einem  Stamme  entsprangen.  Überhaupt 
bildete  jene  weisse  Umrahmung  auch  weiter  nach 
unten  hin,  jedoch  senkrecht  verlaufend,  die  Grenze, 
da  hier  ein  Abschluss  der  Grund-  und  Musterfarben 
im  Schüsse  vorhanden  ist. 

Eine  der  Gesamtmusterung  ähnliche  Komposition 
war  aller  Mühe  ungeachtet  weder  auf  textilem  noch 
auf  einem  anderen  Gebiete  aufzufinden,  wenn  auch 
einzelne  Formengruppen  ohne  weiteres  als  orientalisch 
anzusprechen  sind. 

Es  wird  deshalb  nun  auf  die  einzelnen  Formen 
näher  einzugehen  sein,  um  über  ihre  Herkunft  und 
schliesslich  diejenige  des  ganzen  Gewebes  ein  Resultat 
zu  erzielen. 

Am  eigenartigsten  erschienen  die  Flechtbänder;  in 
Cattaneo,  Earchitettura  in  Italia  und  an  anderen  Stellen 


finden  wir  hiervon  eine  grosse  Anzahl  von  Beispielen; 
nirgends  jedoch  in  Verbindung  mit  einer  der  unseren 
ähnlichen  baumartigen  Entwickelung.  Endlich  führte 
»Salzenberg,  Altchristliche  Baudenkmale  von  Kon¬ 
stantinopel«  zu  einem  Resultate.  Die  Kapitäle  der 
Hagia  Sophia  (Taf.  15)  zeigen  in  der  Vorderansicht 
(Abb.  2)  ein  Flechtband,  aus  dem  nach  beiden  Seiten 
symmetrisch  Akanthusäste  herausschwingen,  die  sich 
allerdings  nicht  wie  bei  uns  nach  oben  verjüngen, 
und  obenauf  sitzt  ein  Pinienapfel.  Da  eine  annähernd 
ähnliche  Musterbildung,  wie  bemerkt,  sonst  nicht  zu 
finden  war,  so  muss  schon  diese  Verwandtschaft  der 
beiden  Musterbildungen  auffallend  erscheinen.  Aber 
damit  nicht  genug;  die  Seitenansicht  des  Kapitäls 
zeigt  zwei  Akanthuszweige,  die  von  unten  aufwachsen 
und  nach  aussen  gebogen  zwischen  sich  einen  Raum 
freilassen,  der  durch  ein  Monogramm  ausgefüllt  wird. 
Da  aus  jenem  vorhandenen  Restchen  der  weissen 
Umrahmung  (S.  30g)  eine  gleichartige  Durchbildung 
unseres  Musters  unzweifelhaft  hervorgeht,  so  kann 
die  Verwandtschaft  der  beiden  Musterbildungen  nicht 
mehr  angefochten  werden.  Allerdings  musste  die 
breite  schwerwirkende  Akanthusranke  dem  ersten 
Baume  entsprechend  leichter  durchgebildet  werden. 
Es  bleibt  noch  die  Lücke  zwischen  den  beiden  Seiten 
des  Kapitäls,  die  auf  der  Seitenansicht  durch  die 
Volute  ausgefüllt  ist.  Sie  ist  auch  im  Gewebe  durch 
eine  Volute  ausgefüllt,  die  allerdings  einen  anders 
gearteten,  sagen  wir  zunächst  orientalischen  Charakter 
trägt.  Die  zweite  baumartige  Gruppe  wurde  in  dem 
Ergänzungsversuche  des  Musters  (Abb.  1)  soweit  her¬ 
gestellt,  als  die  vorhandenen  Reste  dies  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  gestatteten.  Die  Grenzlinie,  welche 
der  Rest  der  weissen  Umrahmung  am  rechten  Gewebe¬ 
ende  unten  andeutet,  fügt  sich  ungezwungen  in  die 
Durchbildung  eines  rund  angeordneten  Flechtbandes, 
dessen  früheres  Vorhandensein  nach  der  oben  ange¬ 
führten  Gesamtanordnung  des  Musters  nach  dem 
Kapitäle  wahrscheinlich  ist  und  im  byzantinischen 
Formenkreise  vielfache  Analogien  findet.  In  den 


Flechtgewebe  im  Königlichen  Kunstgewerbe-Museum  zu  Dresden 

Nach  Motiven  in  der  Sophien-Kirche  zu  Konstantinopel  und  der  <  apella  palatina  u  l'alermo  angeterti: 


MITTELALTERLICHE  FLECHTGEWEBE 


311 


Einzelformen  weicht  der  zweite  Baum  wesentlich  von 
dem  ersten  ab.  Die  dem  rund  angeordneten  Flecht¬ 
bande  nach  aussen  entspringenden  Äste  sind  an  den 
äusseren  Enden  hakenförmig  nach  oben  gebogen  und 
tragen  ähnliche  Dreiecksformen  wie  der  erste  Baum; 
doch  sind  diese  kleiner  und  zeigen,  wie  beim  ersten 
Baume  die  obersten  Reihen,  im  Innern  nur  ein  Auge. 
Dem  Flechtbande  entspringen,  gleichzeitig  mit  den 
Ästen,  Zweige  mit  einer  Frucht  in  Form  eines  Linden¬ 
blattes.  Die  Schale  dieser  Frucht  zeigt  Ausbuchtungen 
mit  je  einem  Punkte;  das  Innere  der  Frucht  hat  auch 
die  Form  eines  Lindenblattes  und  ist  mit  kleinen 
Kreuzchen  in  versetzenden  Reihen  gemustert,  an  deren 
Stelle  im  nächsten  Blatte  schuppenartig  geordnete 
Pfauenaugen  treten. 

Von  der  Detaildurchbildung  des  Gewebemusters 
abgesehen,  befinden  wir  uns  jetzt  auf  byzantinischem 
Stilgebiete  und  zwar  in  der  Zeit  des  6.  Jahrhunderts 
n.  Chr.,  da  die  Hagia  Sophia  unter  Justinian  im 
Jahre  537  vollendet  wurde.  Die  meisten  oder  sämt¬ 
liche  ca.  100  Kapitäle  dieser  Kirche  zeigen  die  gleiche 
Musterung,  wohl  weil  diese  als  eine  ausserordentlich 
hervorragende  betrachtet  wurde.  Es  darf  daher  nicht 
wunder  nehmen,  dass  sie  auch  für  andere  als 
architektonische  Zwecke,  z.  B.  für  unser  Gewebe,  als 
Vorbild  gedient  hat. 

Es  liegt  nahe,  bei  den  Bäumen«  an  den  Lebens¬ 
baum  der  Assyrer  (hom)  zu  denken,  doch  zeigt  dieser 
nie  eine  ähnliche  Durchbildung.  Dies  ist  der  Fall 
bei  Saulcy,  Voyage  dans  les  terres  bibliques,  Taf.  17, 
bei  einem  Kapitäl  »probablement  byzantin -.  Bei 
diesem  ranken  sich  je  zwei  Äste  an  den  Seiten  eines 
Flechtbandes  in  die  Höhe  und  sind  mit  Zweigen  be¬ 
setzt,  aus  denen  einzelne  Blätter  wachsen;  die  oberen 
Enden  des  Flechtbandes  laufen  in  breite  Blattformen 
aus  und  diese  umschliessen  eine  Kugel.  Weiter  findet 
sich  ein  Flechtband  mit  Äkanthuszweigen  in  Strzy- 
gowski,  Orient  oder  Rom,  Äbb.  50  (spätantik  oder 
frühchristlich).  Riegl,  Stilfragen,  Fig.  15g,  giebt  aus 
ägyptisch-spätrömischer  Zeit  ein  Flechtband  mit  drei¬ 
zackigen  Äkanthusblättern ;  auch  Goetz,  Ravenna,  zeigt 
S.  92  ein  Flechtband  mit  grossen  dreilappigen  Blättern. 
In  Diehl,  Ravenna,  findet  sich  S.  35  ein  Flechtband 
aus  grossen  und  kleinen  Kreisen;  aus  den  grossen 
wachsen  breite  Akanthusblätter.  Am  nächsten  kommt 
unserem  Aufbau  auch  in  der  Form  der  Blätter  ln 
Gayet,  l’art  copte,  S.  217,  das  »linteau  de  porte« 
und  S.  222  »frise  d’Akhnas-. 

Einfache  Flechtbänder  allein  erscheinen  schon  in 
Assyrien  u  s.  w.  als  Stickerei,  in  griechischer  Zeit  als 
Vasenbemalung,  in  der  koptischen  Kunst  z.  B.  bei 
Forrer,  römische  und  byzantinische  Seiden-Textilien 
aus  Achmim,  Taf.  4  und  12,  und  bei  Gerspach, 
tapisseries  coptes,  Abb.  110,  127;  im  späten  Mittel- 
alter,  z.  B.  an  der  Tunika  Heinrich’s  II.  von  1100 
(Bock,  Kleinodien,  Taf.  40  und  S.  188,  189).  Die 
byzantinische  Kunst  beherrscht  es  von  Anfang  an. 
Doppel  -  Flechtbänder  in  der  Art  wie  an  unserem 
Gewebe  erscheinen  in  Dehli,  Details  an  Bauwerken 
Italiens  byzantinischen  Stils,  Taf.  37;  in  Bock,  Das 
heilige  Köln,  Taf.  45,  vom  12.  Jahrhundert  u.  s.  w. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV.  H.  12. 


An  den  gebogenen  Ästen  unseres  Baumes  sitzen, 
meist  je  zwei  gegenüber,  Dreiecksformen,  die  an  zwei 
Seiten  von  Kreisbogen  gebildet  werden  und  mit 
denen  des  nächstfolgenden  Astes  so  Ineinandergreifen, 
dass  dazwischen  ein  breiter  Zickzacklauf  entsteht.  Das 
Innere  der  Dreiecksformen  ist  im  unteren  Teile  des 
Baumes  durch  mehrere  Rippen  geteilt,  die  oben  durch 
Bogenlinien  verbunden  sind;  über  diesen  liegen  meist 
zwei  runde  Streifen,  von  denen  der  obere  ausgebogt  ist. 
Das  Vorbild  hierfür  fand  sich  auf  ziemlich  entfernt 
liegendem  Gebiete,  nämlich  in  Perrot  et  Chipiez,  hist,  de 
l’art  VI,  Grece  primitive,  Fig.  348  und  415,  als  Flügel 
eines  Greifen  aus  Elfenbein  (Abb.  3),  gefunden  in 
Mykenä,  und  ähnlichen  Schnitzereien,  so  Fig.  417, 
auf  der  Akropolis  gefunden,  und  anderes.  Geradlinige 
Dreiecke  mit  strahlenartig  angeordneten  Rippen  finden 
sich  in  Cattaneo,  Tarchitettura  in  Italia,  Fig.  4  und  55, 
an  Marmorskulpturen  des  12.  Jahrhunderts;  auch 
Racinet,  l’ornement,  Taf.  34,  Hottenroth,  Trachten, 
Taf.  6g,  Nr.  5,  Zeitschrift  für  christliche  Kunst  1896, 
S.  261  und  266,  an  Elfenbeinreliefs  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts;  Bock,  Kronleuchter  Barbarossa’s  in 
Aachen  (ca.  1166 — 1170)  zeigt  auf  Taf.  6,  7  und  10 
unser  Motiv;  auch  Borrmann,  Wandmalereien,  Stifts¬ 
kirche  zu  Landau;  Dehli  and  Chamberlin,  Norman 
monuments,  Taf.  63,  giebt  einen  ähnlichen  Fries  aus 
einem  Kloster  in  Monreale.  Die  Verwandtschaft 
unseres  Stoffmusters  mit  der  Durchbildung  des  Flügels 
ist  jedoch  eine  zu  grosse,  als  dass  man  die  Hernahme 
des  Motivs  von  einer  anderen  Stelle  ernstlich  ins  Auge 
fassen  könnte,  wohl  aber  mögen  diese  auf  dieselbe 
Quelle  zurückzuführen  sein.  Man  könnte  die  Durch¬ 
bildung  der  Flügelknochen  jener  Schnitzereien  auch 
als  Vorbild  betrachten  für  die  Umrahmungen  unserer 
Palmetten,  Aufhänger  u.  s.  w.  Die  in  den  oberen 
Reihen  des  Baumes  mehr  zusammengeschrumpften 
Dreiecke  ähneln  den  Augen  von  Pfauenfedern,  man 
kann  daher  auch  die  Äste  des  Baumes«  als  Schäfte 
von  Pfauenfedern  und  die  angesetzten  Dreiecksformen 
mit  ihrer  Durchbildung 
als  Gruppen  der  Fahne 
betrachten;  das  Ganze 
könnte  dann  als  stili¬ 
sierter  Pfauenschweif 
gelten,  wobei  noch  an 
die  Abstammung  von 
einem  Greifenflügel  er¬ 
innert  sein  möge. 

Von  den  Einzelfor¬ 
men  am  zweiten  Baume 
ähneln  die  Aufbiegungen 
der  Äste  am  meisten 
denjenigen  der  Dattel¬ 
palme  auf  dem  Kaiser¬ 
mantel  mit  den  Löwen 
(Bock,  Kleinodien, Taf.  6), 
sowie  an  einem  gleichen 
Baume  in  Terzi,  capella, 

Taf.  56.  Beide  Bäume 
erscheinen  ausserdem 
durch  sonst  nicht  anzu- 


ABB.  3.  FLÜGEL  EINER  GREIFEN- 
FIGUR.  ALTGRIECHISCHE 
ELFENBEIN-SCHNITZEREI,  GE¬ 
FUNDEN  IN  MYKENÄ 


40 


312 


MITTELALTERLICHE  FLECHTQEWEBE 


treffende  breite  Blätter  mit  Ausbogungen  dem  unseren 
sehr  verwandt. 

Die  lindenblattähnlichen  Früchte  erweisen  sich  als 
Weintrauben,  welche  in  der  byzantinischen  Kunst  sehr 
häufig  Vorkommen  (vielleicht  unter  der  Bedeutung 
für  Christus  als  Weinstock).  Als  Beispiel  sei  ange¬ 
führt:  Cattaneo,  architettura  in  Italia,  an  vielen  Stellen 
aus  dem  7. — 9.  Jahrhundert,  auch  Prisse  d’Avennes, 
l’art  arabe,  Taf.  3,  aus  Kairo,  von  876  u.  s.  w.  Die 
Kreuzclien  in  versetzenden  Reihen  im  Innern  der 
Trauben  kommen  bereits  bei  den  Parthern  und  Sassa- 
uiden,  auch  bei  den  Chaldäern  vor,  namentlicli  aber 
in  byzantinischen  Emails,  z.  B.  Kondakoff,  Sammlung 
Swenigerodzkoi,  Taf.  2—11,  17  und  27;  ferner  Pasini, 
S.  Marco,  Venezia,  Taf.  4  und  38;  weiter  Bock, 
Kleinodien,  Taf.  25,  am  Kaisermantel  von  1133. 
Ebenso  treten  die  schuppenartig  geordneten  Pfauen¬ 
augen  bereits  bei  den  Persern  auf,  ferner  an  griechischen 
Vasen,  aber  auch  bei  byzantinischen  Emails,  so  Bock, 
Kleinodien,  Taf.  1 6  (Krone  des  1 1 .  Jahrhunderts)  u.  s.  w. 

Bei  Betrachtung  der  Einzelformen  an  den  beiden 
Bäumen  fanden  wir  die  Vorbilder  dafür  also  im 
byzantinischen  Stile,  der  seinerseits  die  Motive  aus 
dem  Griechischen,  also  dem  Boden  seiner  Heimat 
übernahm,  während  dieses  wieder  aus  dem  alten 
Orient  (Assyrer,  Perser  u.  s.  w.)  schöpfte. 

Es  bleiben  noch  zu  betrachten  die  Einzelteile  der 
Ornamentgruppe,  welche  sich  zwischen  den  beiden 
Bäumen  ausbreitet.  Ohne  weiteres  ist  ersichtlich, 
dass  diese  einen  wesentllcli  anderen,  niclit  dem 
Byzantinischen  angehörigen  Charakter  aufweist,  mit 
Ausnahme  des  nach  unten  auslaufenden  Flechtbandes, 
das  die  Trennung  der  anderen  Teile  herstellt.  Die 
beiden  Bänder  dieses  Flechtbandes  gehen  nach  oben 
hin  auseinander,  tragen  schildförmige  Ausladungen 
und  umrahmen  eine  Palmette.  Weiter  oben  werden 
sie  durch  ein  Band  zusammengehalten,  wenden  sich 
dann  symmetrisch  nach  aussen  und  bilden  je  eine 
Volute.  Diese  läuft  am  Ende  in  ein  breites  Blatt  aus, 
das  sich  um  den  oberen  Teil  des  Bogens  schlingt, 
so  dass  die  Volute  dort  aufgehangen-  erscheint,  um 
die  Last  eines  Pfauen  tragen  zu  können,  der  inner¬ 
halb  der  Volute  steht.  Ausserdem  zweigt  sich  schon 
früher  ein  Ausläufer  ab,  welcher  eine  »Weintraube« 
trägt;  ein  weiteres  Ende  desselben  Zweiges,  das  sich 
zu  einem  Blatte  ausbreitet,  verläuft  parallel  mit  der 
oberen  Entwickelung  des  ersten  Baumes  bis  ziemlich 
zu  dessen  Mittelachse.  Der  obere  Teil  des  Baumes 
blieb  bisher  absichtlich  unbeachtet,  da  sowohl  die 
Mittelkrönung  als  die  Ausläufer  der  freiwerdenden, 
unten  verflochtenen  Bänder  in  der  Formengebung 
übereinstimmen  mit  den  Aufhängern  der  Voluten  und 
den  beiden  Palmetten  zwischen  den  Bäumen.  Die 
Konturen  alle  dieser  Formen  zeigen  abwechselnd 
schwach  gebogene  Linien  und  Rankenlinien,  die  sich 
im  Innern  der  Formen  bis  zur  nächsten  Kontur  hin¬ 
ziehen.  Die  Palmette  und  die  Weintrauben  zeigen 
im  Innern  das  beschriebene  Kreuzchenmuster.  In 
den  Windungen  des  Astes,  gegenüber  der  Brust  des 
Pfauen,  erscheinen  (falsch  angebracht,  weil  unver¬ 
standen)  Bänder,  die  augenscheinlich  die  Stelle  hervor¬ 


heben  sollten,  an  welcher  sich  die  Ausläufer  ab- 
zweigeii,  wie  das  weiter  oben  beim  Abzweigen  der 
Weintrauben  richtig  stattfindet.  Die  oben  angeführte 
Verzierungsweise  der  Konturen  erinnert  an  chinesische 
Formengebung;  auch  die  krönende  Palmette  am  ersten 
Baume  hat  eine  völlig  chinesische  Form,  namentlich 
durch  den  unteren  geradlinigen  Abschluss  mit  dem 
Wellenbande.  Sie  erscheint  z.  B.  vielfach  in  Lessing^ 
chinesische  Bronzegefässe.  Mehrfach  tritt  hier  als 
Randornament  ein  Mäander  auf,  der  leicht  zu  unserer 
Einfassung  umgeformt  worden  sein  kann.  Auch  der 
schräge  Mäander  in  dem  Beine  des  Pfauen  erscheint 
chinesisch,  kommt  jedoch  auch  in  Lau,  griechische 
Vasen,  Taf.  7,  vor.  Die  Pahnette  erscheint  in  F^acinet, 
l’ornement,  Taf.  11,  Nr.  23,  als  Email,  auch  Jones, 
Chinese  Ornaments,  finden  sich  häufig  verwandte 
Formen,  ln  Lessing,  Gewebesammlung  Berlin,  zeigt 
das  Blatt  mit  Lilie«  in  Lieferung  3  in  der  zweiten 
Umrahmung  der  Palmetten  ganz  ähnliche  Einschnitte 
wie  die  an  unserem  Gewebemuster,  auch  der  Kern 
der  Palmette  entspricht  unserer  krönenden  Pahnette. 
Auch  in  Cattaneo,  architettura,  begegnen  wir  den 
gewundenen  Einschnitten  sehr  häufig.  —  Die  Lösung 
der  Nebenranken  über  der  grossen  Pahnette  erinnert 
an  die  Voluten  byzantinischer  Kapitäle  z.  B.  in 
Cattaneo,  arch.  —  Die  Federn  am  Hinterkopfe  und 
Schweife  der  Vögel  sollen  unzweifelhaft  den  Pfau 
charakterisieren,  während  die  Form  des  Leibes  für 
diesen  zu  voll  erscheint  und  der  Höcker  am  Schnabel 
nur  einem  Schwane  (Höcker-  und  Trauerschwan)  zu¬ 
kommt.  Der  Flügel  des  Pfauen  zeigt  im  Querstreifen 
ein  Flechtband,  sowie  ein  Wellenband  ähnlich  dem 
in  der  krönenden  Palmette;  ferner  ausgebogte  Ränder 
und  als  Füllwerk  das  Pfauenaugenmuster  der  Trauben. 
Die  Spitzen  der  Flügel  sind  ähnlich  den  Dreiecks¬ 
formen  am  ersten  Baume  durchgebildet  und  das 
einzige  erhaltene  Bein  zeigt  den  schon  erwähnten 
schrägen  Mäander.  Einen  ähnlichen  gans-  oder  enten¬ 
artigen  Vogel  mit  Band  über  den  Flügel  giebt  Lau, 
griech.  Vasen,  Taf.  6,  Hähne  mit  Querstreifen  über 
den  Flügel  auf  Taf.  3  und  7,  Gänse  mit  Querstreifen 
und  ähnlich  dickem  Körper  bringt  Goodyear,  grammar 
of  lotus,  S.  271.  Prisse  d’Avennes,  l’art  arabe,  bildet 
Taf.  148  einen  Stoff  (14.  Jahrhundert?)  ab  mit  Pfauen, 
die  den  unseren  ausserordentlich  verwandt  sind 
(Abb.  4);  nur  ist  unser  »Aufhänger«  dabei  zum 
Schweife  umgebildet.  Im  übrigen  erscheint  der 
Querstreifen,  das  Pfauenaugenmuster  im  Flügel  und 
in  der  Krone  des  Baumes.  Auch  der  oben  erwähnte 
Stoff  in  Lessing,  Lieferung  3,  zeigt  mehrfache  An¬ 
klänge  an  diesen  Pfauenstoff. 

Eine  unserer  Zwickelfülhmg  überraschend  ähn¬ 
liche  Ornamentgruppe  sehen  wir  in  Abb.  5.  Sie 
zeigt  übereinstimmend  damit  zwischen  den  beiden 
Bändern  mit  schildförmigen  Ausladungen  eine  ganz 
verwandte  Palmette;  weiter  oben  das  zusammen¬ 
haltende  Band  und  noch  höher  die  Palmettenkrönung. 
An  der  Volute  begegnen  wir  dem  Überschläge,  weiter¬ 
hin  der  Teilung  der  Ranke  und  ihrer  Endigung  in 
Blatt  und  Ranke.  Nur  erscheinen  Palmetten  an  Stelle 
unserer  Pfauen.  Die  abgebildete  Ornamentgruppe 


MITTELALTERLICHE  FLECHTGEWEBE 


313 


ABB.  4.  SICILIANISCHES  SEIDENGEWEBE.  12.  JAHFGI.  (?) 

Nach  Prisse  d’Avennes.  Part  arabe 

findet  sich  in  Terzi,  capella  S.  Pietro,  Palermo,  Taf.  55. 
In  diesem  Werke  finden  wir  noch  eine  ganze  Reihe 
ähnlicher  Ornamentgruppen,  so  auf  Taf.  3,  46,  50,  53, 
54,  56,  60,  zum  Teil  auch  in  Verbindung  mit  An¬ 
hängern.  Palmetten,  Anhänger,  Ausläufer  der  Pfauen- 
Voluten  an  der  Mittelpalmette  (Krönung  des  Baumes) 
finden  sich  auf  allen  Tafeln  dieses  Werkes  mit  Ein¬ 
schnitten  aus  gebogenen  und  Rankenlinien  in  ganz 
unserem  Muster  entsprechender  Weise.  Palmetten 
namentlich  auf  Taf.  51,  Anhänger  auf  Taf.  40,  den 
schrägen  Mäander  ähnlich  dem  im  Beine  des  Pfauen, 
auf  Taf.  37 A.  Pfauen  sind  in  dem  Werke  sehr 
häufig,  allerdings  auch  in  sehr  verschiedener  Form 
vertreten;  unserem  Pfauen  am  ähnlichsten,  mit  dickem 
Kopfe  und  Leibe  und  emporgehaltenem  Schweife,  ist 
Taf.  60,  Nr.  1,  mit  hängendem  Schweife  und  Quer¬ 
band  über  den  Flügel  Taf.  45  und  41.  Das  Auftreten 
aller  Einzelheiten  unserer  Ornamentgruppe,  wenn  nicht 
vollständig  in  der  gegebenen  Abb.  5,  so  doch  in  der 
Capella  überhaupt,  lässt  wohl  jeden  Zweifel  darüber 
verstummen,  dass  die  Zwickelfüllung  unseres  Gewebes 
in  diesem  Bauwerke  sein  Vorbild  fand. 

5.  Herkunft  und  Alter.  Wir  haben  also  in 
unserem  Gewebe  ein  Kunsterzeugnis  vor  uns,  welches 
in  der  Gesamtanordnung  seiner  Musterung  den  Kapi- 
tälen  der  Hagia  Sophia  in  Konstantinopel  nachge¬ 
bildet  und  im  byzantinischen  Stile  durchgebildet 
ist,  in  einem  wesentlichen  Teile  aber,  der  bei 
jener  Anordnung  als  Lücke  verblieb,  durch  Vorbilder 


in  der  Capella  palatina  zu  Palermo  ergänzt  wurde. 
Doch  auch  dieser  Teil  wurde  im  byzantinischen 
Charakter  beeinflusst. 

Es  ist  nun  nachzuweisen,  wie  die  Ornament¬ 
gruppen  aus  den  beiden  bedeutenden  Gotteshäusern, 
in  unserm  Kunstwerke  vereinigt  werden  konnten. 

Die  Hagia  Sophia  wurde  unter  Justinian  im  Jahre 
537  vollendet.  Ihre  Schönheit  wurde  schon  damals 
auch  von  Justinian  selbst  sehr  hoch  geschätzt,  so  dass 
dieser  ausrief:  »Ehre  sei  Gott,  der  mich  gewürdigt 
hat,  ein  solches  Werk  zu  vollenden!  Ich  habe  dich 
übertroffen,  o  Salomo!«  (Holtzinger,  Sophienkirche 
S.  2.)  Es  liegt  also  nahe,  dass  die  an  sämtlichen 
Kapitälen  der  Kirche  verwendete  Ornamentgruppe 
auch  auf  das  Flachornament  übertragen  wurde.  Die 
Anregung  dazu  ist  schon  in  der  Kirche  selbst  ge¬ 
geben  durch  die  Anbringung  von  Reliefflächenmustern 
in  Verbindung  mit  den  Kapitälen  (Salzenberg,  alt¬ 
christliche  Baudenkmale,  Taf.  15  [Hagia  Sophia]  Abb.  7). 

Wegen  der  zweiten  Ornamentgruppe  müssen  wir 
uns  erinnern,  dass  der  Normannenfürst  Roger  II.  als 
König  von  Sizilien  auf  seinem  Zuge  gegen  Byzanz 
unter  Kaiser  Manuel  im  Jahre  1147  Korfu  eroberte, 
sich  dort  festsetzte  und  das  griechische  Festland  ver¬ 
heerte.  In  Sizilien  waren  schon  unter  den  Sarazenen, 
welche  vor  den  Normannen  das  Land  beherrschten, 
weiterhin  aber  auch  unter  den  Normannen  Roger  I. 
und  Roger  11.  Handel  und  Gewerbe,  Kunst  und 
Wissenschaft  mächtig  aufgeblüht.  Es  ist  daher  er¬ 
klärlich,  dass  Roger  IL,  wie  dies  allgemein  gebräuch¬ 
lich,  die  Künstler  aus  den  eroberten  Hauptstädten,  in 
denen  besondere  Kunstwerkstätten  eingerichtet  waren, 
nach  den  schon  früher  bestehenden  Slaatsmanufakturen 
seiner  Hauptstädte  Palermo  und  Monreale  überführte. 
Die  Capella  palatina  in  Palermo  wurde  nach  einer 
griechischen  Inschrift  am  Fusse  der  Kuppel  1143 
beendet.  Die  Bewohnerschaft  Siziliens  setzte  sich 
zusammen  aus  den  früher  hier  sesshaften  Byzantinern, 
den  späteren  Eroberern,  den  Sarazenen,  und  den  Be¬ 
herrschern  des  Landes,  den  Normannen,  welche  seit 


ABB.  5.  SARAZENISCHE  WANDMALEREI  IN  DER  CAPELLA 
PALATINA  ZU  PALERMO.  CA.  1142 
Nach  Terzi,  C.ipella 


40 


314 


MITTELALTERLICHE  ELECHTGEWEBE 


1091  im  Besitze  der  Insel  waren.  Diese  Völker¬ 
mischung  kommt  in  der  Ausschmückung  der  Capelia 
deutlich  zum  Ausdrucke.  Sind  doch  sogar  die  In¬ 
schriften  zum  Teil  in  den  Sprachen  dieser  drei  Völker¬ 
gruppen  ausgeführt.  Bei  der  Ausschmückung  der 
Capelia  scheiden  die  Normannen  als  künstlerisch  nicht 
beanlagt  aus,  dagegen  unterscheiden  sich  die  Malereien 
und  Mosaiken  byzantinischer  Künstler  ganz  auffällig 
von  denen  der  Sarazenen  und  sonstiger  orientalischer 
Künstler.  Von  der  Capella  sprechen  alle  Kunstkenner 
mit  dem  grössten  Entzücken;  z.  B.  sagt  Ch.  Diehl  in 
L’art  1890,  I,  S.  loiff.:  Die  Kapelle  ist  eine  Perle 
der  Welt.  Man  be¬ 
greift  den  Enthusias¬ 
mus  der  Zeitgenossen, 
welche  so  viel  Herr¬ 
lichkeit  entstehen 
sahen  und  verurteilt 
die  pomphaften  Hy¬ 
perbeln,  mit  welchen 
sie  das  W erkRoger’s  II. 
feierten,  nicht  mehr 
als  Übertreibungen.« 

Es  kann  also  auch 
hier  nicht  überraschen, 
wenn  unsere  neu  ein¬ 
geführten  Webkünst¬ 
ler  diesem  Prachtbaue 
einzelne  Ornament¬ 
gruppen  entlehnten 
und  diese  mit  der  aus 
der  griechischen  Hei¬ 
mat  stammenden  Ge- 
samtgruppierimg  zu 
einem  Ganzen  ver¬ 
einten. 

Hiernach  haben  wir 
das  Dresdner  Flecht¬ 
gewebe  anzusehen  als 
das  Erzeugnis  eines 
byzantinischen  Web- 
kiinstlers,  welches  in 
der  Staatsmanufaktur 
zu  Palermo  etwa  um 
das  Jahr  11^0  ange¬ 
fertigt  wurde. 

Die  Feststellung  vorstehender  Ergebnisse  war  neben 
der  Untersuchung  über  die  Musterbildung  nur  mög¬ 
lich  durch  Heranziehung  technisch  gleichgearteter  Ge¬ 
webe.  Von  solchen  war  nur  eine  kleine  Anzahl  auf¬ 
zufinden  und  diese  dienen,  auch  durch  die  Art  der 
Zeichnung  ihrer  Motive,  so  wesentlich  zum  Beweise 
der  gemachten  Angaben,  dass  ihre  Aufzählung  hier 
gerechtfertigt  erscheint. 

B.  GLEICHARTIGE  FLECHTGEWEBE 

a)  Das  älteste  Erzeugnis  unserer  Technik  ist  ein 
Kunstwerk  ersten  Ranges:  das  Grabtuch  des  Bischofs 
Günther  im  Dome  zu  Bamberg.  Wir  geben  dasselbe 
in  Abb.  6  verkleinert  nach  einer  farbigen  Zeichnung 
des  Archäologen  Martin  (Cahier  et  Martin,  melanges 


d’archeologie  II,  Taf.  32—35  u-  S.  251  ff.)  wieder, 
der  vor  ca.  50  Jahren  das  in  hundert  Stückchen  zer¬ 
fallene  Gewebe  wieder  zusammenstellte.  Das  hochwür¬ 
dige  Domkapitel  zu  Bamberg  Hess  dem  Verfasser  zwar  in 
entgegenkommendster  Weise  eine  grosse  Photographie 
des  Kunstwerkes  ziigehen,  doch  ermöglichte  die  Wie¬ 
dergabe  der  MartiiTschen  Zeichnung  eine  grössere 
Deutlichkeit  des  Musters.  Die  überraschende  Korrekt¬ 
heit  in  der  technischen  Ausführung  des  Gewebes  Hess 
zunächst  Zweifel  entstehen,  ob  hier  nicht  etwa  an 
Stelle  eines  Flechtgewebes  ein  bemalter  Leinenstoff 
vorliege.  Die  Zweifel  wurden  durch  Untersuchung 

der  Bruchstücke  ge¬ 
hoben,  welche  das 
Germanische  Natio¬ 
nalmuseum  zu  Nürn¬ 
berg  aufbewahrt  und 
in  entgegenkommend¬ 
ster  Weise  dem  Ver¬ 
fasser  zusendete.  Im 
Kataloge  des  genann¬ 
ten  Museums  wird 
das  Gewebe  unter 
Nr.  395  als  Fahnen¬ 
tuch  bezeichnet;  es 
mag  aber  wohl  ein 
Wandbehang  imSinne 
eines  Gemäldes  sein, 
als  Erinnerung  an  die 
dargestellte  Huldi¬ 
gung  eines  byzantini¬ 
schen  Kaisers  durch 
Ost-  und  West-Rom 
(nach  Martin)  oder 
durch  Senat  und  Heer 
(nach  de  Linas).  Zur 
Bestimmung  des  Al¬ 
ters  des  Kunstwerkes 
erscheint  es  wichtig, 
die  Person  des  darge¬ 
stellten  Kaisers  zu  be¬ 
stimmen.  Verfasser 
hofft  in  dieser  Hinsicht 
zu  einem  Resultat  zu 
gelangen,  doch  sind 
die  Vorarbeiten  hierzu 
noch  nicht  beendet.  Bestimmt  ist,  dass  Günther  1064 
eine  Pilgerreise  nach  Jerusalem  antrat;  auf  der  Rück¬ 
reise  ist  ihm  in  Konstantinopel  das  kostbare  Gewebe 
in  üblicher  Weise  vom  Kaiser  Konstantin  X.  Dukas 
(1059 — 67)  jedenfalls  als  Geschenk  übergeben  worden. 
Das  Gewebe  ist  eine  byzantinische  Arbeit,  deren  Anfer¬ 
tigung  wahrscheinlich  schon  ins  10.,  nicht  ins  11.  Jahr¬ 
hundert  fällt.  Dazu  würde  z.  B.  stimmen,  dass  das  Ge¬ 
wand  des  Kaisers  mit  umgekehrten  Herzformen  und  Drei¬ 
punktgruppen  in  versetzenden  Reihen  gemustert  ist,  eine 
Musterung,  welche,  um  nur  eins  anzuführen,  in  Schlum- 
berger,  Epopoe  byzantine,  fin  10.  siede  II,  Taf.  5, 
auf  einem  Seidenstoffe  aus  Mogac  bei  Riom  erscheint. 

Die  Farben  des  Bamberger  Gewebes  sind:  Grund 
dunkelviolett  (Purpur),  Rosetten  im  Grunde  grün. 


ABB.  6.  GRABTUCH  DES  BISCHOFS  GÜNTHER  IM  DOME  ZU  BAMBERG 
ARBEIT  DES  10.  JAHRHUNDERTS  AUS  KONSTANTINOPEL 
Nach  Cahier  et  Martin,  Melanges  d’archeologie 


MITTELALTERLICHE  ELECHTGEWEBE 


315 


ABB.  7.  FLECHTOEWEBE  IM  GRABE  ROGER  I.  IM  DOME  ZU  PALERMO 
ARBEIT  VON  CA.  1100 


dergabe  von  Naturformen  nicht  geübt  waren. 
In  dem  Werke  war  die  Zeichnung  17  cm 
breit.  Die  dunklen  Teile  des  Musters  sind 
wahrscheinlich  in  Gold,  das  übrige  in  Seide 
farbig  ausgeführt.  Angaben  sind  darüber 
nicht  vorhanden,  und  zur  Zeit  ist  natürlich 
keine  Auskunft  zu  erlangen.  Anzunehmen 
ist,  dass  das  Gewebe  in  der  Staatsmanufaktur 
zu  Palermo  für  Roger  1.  angefertigt  wurde, 
also  zwischen  1054  und  1101. 

c)  In  Abb.  8  geben  wir,  nach  der  Dar¬ 
stellung  in  Bock,  Kleinodien,  Taf.  28,  in 
Va  natürl.  Gr.  ein  Stück  eines  Goldstoffes 
unserer  Technik  wieder.  Das  Gewebe  ist 
an  dem  Kaisermantel  mit  Löwen  (Abb.  ebenda, 
Taf.  6)  in  der  Schatzkammer  in  Wien  ange¬ 
bracht  und  zwar  innen  an  dem  Aufschläge, 
so  dass  es  beim  Bewegen  des  Armes  sicht¬ 
bar  wurde.  Das  Muster  zeigt  zwei  ver¬ 
schlungene  Bänder,  die  an  den  Durch¬ 
gängen  Kreisformen  bilden,  während  sie 
im  übrigen  treppenartig  abgestuft  sind. 
Das  hier  abgebildete  Stück  zeigt  den 
Sündenfall  und  wahrscheinlich  schliessen 
sich  daran  in  den  weiteren  Mittelfeldern 


mit  Kernen  in  rot  und  rosa,  blau  und  hellblau,  hell¬ 
grün  und  gelbgrün;  Punkte  gelb  und  rosa.  Das 
Gewebe  enthält  keine  Goldfäden,  ist  im  Originale 
etwa  2,10  m  hoch  und  breit  und  hat  im  Centimeter 
22  seidene  Doppelfäden  und  im  allgemeinen  70  Schuss^). 

b)  Die  Abb.  7  entstammt  dem  Werke  »I  regali 
sepolcri  del  duomo  di  Palermo,  Napoli  1784«  Taf.  C, 
von  welcher  auf  S.  22,  23  in  Kap.  I:  Del  sepolcro 
di  Ruggieri  I.  (Grabmal  Roger’s  I.)  gesagt  ist:  »Hier 
finden  wir  noch  den  Teil  eines  Königsgewandes,  zum 
Teil  gelb  schimmernd  und,  so  weit  es  nicht  Streifen 
bildet,  mit  ausserordentlicher  Kunstfertigkeit  gearbeitet, 
mit  menschlichen  Figuren  und  Tieren  von  verschie¬ 
denen  Farben;  freundlich  anzusehen,  aber  von  fremd¬ 
artiger,  ungeschickter  Zeichnung«.  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  namentlich  wenn  wir  Abb.  8  mit  in  Betracht 
ziehen,  dass  es  sich  hier  um  ein  Flechtgewebe  han¬ 
delt.  Dies  wird  auch,  im  Gegensatz  zur  genau 
symmetrisch  arbeitenden  Weberei,  durch  die  Ab¬ 
weichungen  in  der  Wiederholung  des  Musters  be¬ 
wiesen.  Das  Muster  zeigt  eine  byzantinisch  geartete 
Verschlingung  von  Schlangenleibern  mit  Schuppen, 
Nasen  und  langen  Ohren.  Die  Reiterfigur,  ebenso 
wie  die  Tiere,  deren  Köpfe  denen  der  Schlangen 
gleichen,  sind  geradezu  naiv  dargestellt.  Dasselbe  gilt 
von  den  Granatapfel  «Umrahmungen,  deren  Ausläufer 
Äpfel  tragen  mit  je  einem  Punkte  und  einer  Spitze, 
sowie  von  der  misslungenen  orientalischen  Inschrift 
in  der  Mitte  oben  und  den  als  Füllwerk  dienenden 
Zweigen,  ln  den  Borten  oben  und  unten  treten  Vögel 
und  Vierfüssler  symmetrisch  zwischen  Lilien  geordnet 
auf.  Man  könnte  hierbei  nur  an  zeichnerische  Ver¬ 
suche  von  Muhammedanern  denken,  die  in  der  Wie- 

1 )  Das  Grundmuster  des  Gewebes  bringt  Lessing  farbig 
in  der  soeben  erschienenen  Lief.  5  der  Gewebesammlung. 


ABB.  8.  FLECHTGEWEBE  AM  KAISERMANTEL  IN  DER  SCHATZ¬ 
KAMMER  ZU  WIEN.  ARBEIT  AUS  PALERMO  VON  1133 
Nach  Bock,  Kleinodien  des  heil,  römischen  Reiches 


3i6 


MITTELALTERLICHE  ELECHTGEWEBE 


andere  alttestamcntliche  Darstellungen.  In  den  Neben¬ 
feldern  oben  und  unten  sind  Apfelbäume  dargestellt, 
die  ebenso  wie  der  Mittelbaum  stilisiert  und  mit 
gleichgebildeten  Äpfeln  behängen  sind,  welche  in  der 
Mitte  einen  Punkt  und  oben  eine  Spitze  tragen. 
Aus  dem  Mittelbaume  sowie  den  unteren  Bäumen 
ragen  Schlangenköpfe  mit  langen  Ohren  heraus.  Die 
Verwandtschaft  dieser  Teile  mit  den  Motiven  in  Abb.  7 
fällt  ohne  weiteres  ins  Auge,  ebenso  die  nachgeahmte 
Schuppenbildung  in  den  Bändern.  Auch  die  Tauben 
in  der  Abschi ussborte  ähneln  jenen  in  Abb.  7,  und 
die  dort  als  Eüllvverk  verwendeten  Lilien  treten  hier 
in  der  Begleitborte  auf.  Die  höchst  naiv  gebildeten 
Eüllwerksranken  sind,  wenn  auch  nur  in  Linienform, 
ebenfalls  vorhanden.  Die  Figuren  Adam  und  Eva 
sind  wohl  erste  Versuche  eines  kunstbeflissenen  Mos- 
lim,  namentlich  sei  die  zugleich  als  Schlange  durch¬ 
gebildete  Figur  der  Eva  der  Beachtung  empfohlen. 

Das  Originalgewebe  ist  etwa  36  cm  breit;  die 
acht  Farben  sind:  Grund  gold;  Muster  rot,  dunkel- 
und  hellviolett,  dunkelblau,  grün,  gelbgrau  und  schwarz. 
Das  Flechtgewebe  ist  wohl  gleichzeitig  mit  dem  Kaiser¬ 
mantel,  nach  der  Inschrift  im  Jahre  1133  und  in 
Palermo,  entstanden,  worauf  auch  die  grosse  Ver¬ 
wandtschaft  mit  der  Zeichnung  Abb.  7  deutet.  Die 
schriftartige  Zwischenform  in  der  Borte  kommt  auch 
im  Chinesischen  vor,  z.  B.  Jones,  Chinese  Ornaments, 
Taf.  3g,  Racinet,  ornements,  Taf.  34,  Abb.  1  aus  dem 
1 1.  Jahrhundert.  Die  Beschreibung,  die  sich  in  »Bock, 
Kleinodien  befindet,  giebt  trotz  des  wissenschaftlichen 
Anscheines  auch  nicht  einen  brauchbaren  Anhalt. 
Die  Gewissheit,  dass  wir  ein  Gewebe  unserer  Technik 
vor  uns  haben,  verdankt  der  Verfasser  der  Unter¬ 
suchung  des  Herrn  Direktor  Utz  in  Wien. 

d)  ln  Abb.  g  erscheint  das  Muster  eines  Flecht¬ 
gewebes,  welches  Bock,  als  in  seiner  Sammlung  be¬ 
findlich,  erwähnt  und  das  von  ihm  wahrscheinlich  in 
Palermo  aufgefunden  wurde.  Es  befinden  sich  Bruch¬ 
stücke  davon  in  den  Museen  zu  Berlin,  Wien,  London, 
wahrscheinlich  auch,  wie  von  Abb.  11,  in  Paris  und 
Lyon;  aber  alle  enthalten  vom  Muster  nicht  mehr  als 
Abb.  g.  Es  ist  dies  eine  Bandverschlingung  von 


ABB.  9.  FLECHTGEWEBE  AUS  PALERMO.  CA.  1150 


ABB.  10.  ELECHTGEWEBE.  ORIGINAL  IN  BRÜSSEl 
ARBEIT  AUS  PALERMO.  CA.  1150 

grossen,  etwas  verzogenen  Kreisen  und  kleinen  Kreisen, 
wie  sie  auch  bei  Abb.  1 1  auftritt.  In  den  grossen 
Kreisfeldern  erscheint  eine  eigenartige  Form,  die  sich 
beim  Vergleiche  mit  Abb.  7  und  8  als  ein  —  Apfel¬ 
baum  entpuppt.  In  den  sechsseitigen  Zwickelfeldern 
erscheinen  ebenfalls  Bäume  mit  aufrecht  wachsenden 
Früchten  (?).  Der  Grund  wird  durch  leiiiwandniässig 
abgebundene  Goldfäden  gebildet;  die  Konturen  der 
Bänder,  sowie  der  Äste  und  Äpfel  bestehen  zum  Teil 
aus  nicht  abgebundenen,  also  flottliegenden  Gold¬ 
fäden.  Bänder  und  Bäume  sind  rosa  mit  schwarzen 
Konturen,  die,  auch  hier  meist  falsch  angebrachten, 
Verbindungsstreifen  schwarz  mit  weissen  Punkten. 
Die  Früchte  der  kleinen  Bäume  sind  abwechselnd 
weiss  mit  schwarzen  Konturen  und  rosa,  karniin  und 
grün,  hellblau  und  orange.  Die  Kette  enthält  27  kar¬ 
minrote,  seidene  Doppelfäden,  der  Schuss  25  Fäden 
rosa  oder  ca.  32  gold  in  einem  Centinieter.  Der 
Rapport  des  Ovals  mit  Band  beträgt  8,7  cm.  Ein 
verwandter  Baum  ist  Gerspach,  tapisseries  coptes, 
Abb.  135  abgebildet  mit  Ästen  und  Äpfeln,  auch  in 
ähnlicher  ovaler  Form,  auch  Abb.  13g  ist  ähnlich. 

e)  Das  in  Abb.  10  wiedergegebene  Gewebe  be¬ 
findet  sich  im  Museum  zu  Brüssel  und  ist  in  Errera, 
catalogue  d’etoffes  anciennes  bei  Abb.  5  beschrieben 
als  Goldstoff,  verziert  mit  weisser,  roter  und  blauer 
Seide.  Wir  finden  auf  russischen  Ohrgehängen  des 
11.  bis  12.  Jahrhunderts  (Kondakoff,  collection  Swe- 
nigerodskoi,  Taf.  21)  eine  Zeichnung  in  demselben 
Stile.  Lessing  hält  das  Muster  für  arabisch,  10.  bis 
1 1.  Jahrhundert.  Er  verweist  auf  die  Ähnlichkeit  mit 
dem  Futter  des  Kaisermantels  in  Wien  (Bock,  Kleinodien 
Taf.  28).  Die  gegenüberstehenden  Vögel  (Tauben  oder 
Hühner,  unten  rechts  wohl  Täuberiche)  kann  man 
vergleichen  mit  denen  auf  einem  Schmucke  aus 
Mykenä  von  Schliemann  aufgefundenen  (Goblet  d’Al- 
vella,  migration  des  symboles,  S.  115).«  Dem  ist 
hinzuzufügen:  Der  Aufbau  des  Musters  zeigt  grosse 
Vierpassfelder  (?)  mit  zwei  Zuspitzungen  (?)  und  kleine 
Kreise  aus  Band  Verschlingungen.  Das  Muster  ist 
unvollständig;  entweder  spitzt  sich  die  Umrahmung 
der  kleineren  Vögel  nach  unten  in  gleicher  Weise  zu 
wie  nach  oben,  wobei  dann  der  Raum  in  dem  Acht¬ 
ecke  über  den  grösseren  Vögeln  durch  die  Krone  des 
Baumes  ausgefüllt  wird  (dies  ist  das  wahrscheinlichere), 
oder  aber  erstere  Umrahmung  setzt  sich  auf  die  letztere 
so  auf,  dass  ein  schuppenartiges  System  entsteht,  wie 
es  Cole,  European  silks,  Fig.  33a,  zeigt.  Dasselbe 
Muster  findet  sich  in  der  Kathedrale  zu  Monreale, 
erbaut  unter  Wilhelm  II.  (1174 — 1182),  in  Dehli  and 


MITTELALTERLICHE  LLECHTGEWEBE 


317 


Chamberlin,  norman  monuments  of  Palermo  etc., 
Taf.  11,  linke  Lensternische.  Die  kleineren  Vögel 
ähneln  denen  in  unserer  Abb.  8.  Der  Grund  des 
Gewebes  ist  gold,  das  Muster  weiss;  nur  Schnabel, 
Auge  und  Inneres  oder  Umrahmung  der  Llügel  sowie 
Ständer  rot,  Hals  und  Leib  der  Vögel  sowie  Orna¬ 
ment  der  Baumstämme  blassblau.  Die  Leiber  der 
grösseren  Vögel  sind  weiss  und  gold  oder  blau  und 
gold  quergestreift.  Das  Gewebe  ist  12  cm  lang  und 
5,5  cm  breit.  Cole,  European  silks,  Abb.  32  und  33 
zeigen  grosse  Verwandtschaft  mit  diesem  Muster, 
Abb.  33  besonders  auch  in  der  Umrahmung  und 
den  Bäumen.  Die  dort  abgebildeten  Vögel  sind  wohl 
Adler.  Die  kleinen  Vögel  finden  sich  auch  in  Kon- 
dakoff,  Email,  Abb.  72 — 75  (Platten 
von  der  Krone  des  Konstantin  mono- 
machus,  1042  55)  und  Abb.  83. 

f)  Eine  besondere  Stelle  nimmt 
das  in  Abb.  1 1  wiedergegebene  Eiecht¬ 
gewebe  ein,  sowohl  als  einziges  Stück, 
welches  in  der  Musterung  eine  unver¬ 
kennbare  Verwandtschaft  mit  dem 
Dresdner  Gewebe  hat,  als  auch  in¬ 
folge  seiner  abweichenden  Technik, 
welche  einen  Lichtblick  wirft  in  die 
Unklarheit,  mit  welcher  sich  ältere 
Archäologen  über  textile  Erzeugnisse 
aussprechen.  Das  abgebildete  Gewebe 
befindet  sich  an  fünf  verschiedenen 
Orten  in  jedenfalls  zusammengehörigen 
Bruchstücken.  Das  grösste  Stück  von 
zwei  Rapporten  in  der  Breite  besitzt 
das  Kensington-Museum;  die  Museen 
in  Berlin,  Wien  (s.  Riegl,  Textilkunst 
in  Bücher,  techn.  Künste  III.  S.  363), 

Paris  (s.  L’art  pour  tous,  Jhrgg.  33, 

Eig.  7580)  und  Lyon  (s.  Cox.,  Part  de 
tissus,  Taf.  5)  haben  nur  einen  Rap¬ 
port  in  der  Breite.  Alle  Stücke 
tragen  unten  eine  Querborte,  zeigen 
zwei  Ovale  übereinander  und  ent¬ 
stammen  wohl  einem  von  Bock  in 
Palermo  aufgefundenen  Streifen,  von 
dem  er  in  den  »Kleinodien«  auch 
als  in  seiner  Sammlung  befindlich 
spricht.  Das  Muster  wird  gebildet  aus  einer  durch 
Bänder  hergestellten  Verschlingung  grösserer  Ovale 
mit  kleinen  Kreisen.  Das  Oval  ist  wohl  eine 
durch  die  Technik  langgezogene  Kreisform.  Elächen- 
muster  aus  verschlungenen  Kreisen  bilden  ein  der 
byzantinischen  Kunst  sehr  geläufiges  Motiv.  Man  ver¬ 
gleiche  Cattaneo,  architettura;  Dehli,  architektonische 
Details  Italiens  und  Hessemer,  Bauverzierungen;  auch 
Beissel,  altchristliche  Kunst  Abb.  86.  Die  Haupt¬ 
kreise  unseres  Musters  enthalten  ein  kronenartiges 
Gebilde  aus  vier  stilisierten  Lilien  an  einem  Ranken¬ 
aufbau.  Die  Einzelformen  erscheinen  zum  Teil  am 
untern  Ende  des  Hauptbaumes  in  Abb.  8.  Der  übrige 
Raum  in  den  Ovalen  ist  durch  bedeutungslose  Kringel 
ausgefüllt,  die  sich  auch  in  den  Zwickelfeldern 
zwischen  den  Ovalen  vorfinden.  In  den  oberen 


Hälften  der  Zwickelfelder  findet  sich,  abwechselnd 
mit  einem  anderen,  ein  Motiv,  welches  unzweifelhaft 
den  ersten  Baum  am  Dresdner  Gewebe  in  sehr 
primitiver  Weise  erkennen  lässt.  An  demselben  ent¬ 
springen  einem  Eiechtbande  nach  beiden  Seiten 
symmetrische,  geschwungene  Äste  mit  Zacken  und 
oben  erscheint  eine  ähnliche  Krönung.  Das  zweite 
Zwickelfeld  enthält  einen  lilienartigen  Rankenaufbau, 
den  man  ebenfalls  als  verwandt  mit  dem  Zwickel¬ 
felde  im  Dresdner  Gewebe  bezeichnen  kann.  Während 
der  Baum  sich  sonst  nicht  weiter  findet,  tritt  diese 
Lösung  an  Geweben  und  Stickereien  häufig  auf,  z.  B. 
Beissel,  altchristliche  Kunst  Italiens,  S.  271,  am  Euss- 
kissen  Kaiser  Nikephoros  Botoniates  (1078 — 1081), 
weiter  an  den  Borten  der  Mitra  Bi¬ 
schof  Otto’s  von  Bamberg,  welche 
in  Kreisverschlingungen  sowohl  Lilien 
als  dem  zweiten  Aufbau  ähnliche 
Gruppen  enthält  (Cahier  et  Martin, 
nouveau  melanges  d’archeologie  III, 
S.  9)  und  um  iioo  in  Sizilien  an¬ 
gefertigt  sein  soll.  Der  Kaisermantel 
Heinrich’s  II.  (|  1024)  im  Dome  zu 
Bamberg  zeigt  in  den  Zwickeln  zwi¬ 
schen  den  Kreisverschlingungen  Sterne 
aus  Rundfeldern  mit  Lilien  und  ähn¬ 
lichen  Gruppen  wie  der  Zwickel  des 
Stoffes  Abb.  11  (Bock,  Kleinodien, 
Taf.  43).  Am  ungarischen  Königs¬ 
mantel  in  Ofen,  von  1031  (s.  Bock, 
Kleinodien,  Taf.  17),  erinnern  die 
Borten  an  das  Gewebe  in  Abb.  11, 
noch  mehr  aber  der  Kragenbesatz 
(Bock,  S.  gi)  bei  dem  die  Ornamente 
aus  Lilien  in  Kreisen  bestehen,  wie  die 
»Kronen«  unseres  Gewebes.  Die  be¬ 
deutungslosen  Kringel  finden  sich  in 
Bock,  Kleinodien  Taf.  38  an  den  Email¬ 
platten  von  1042  bis  1055.  DieEarben 
unseres  Gewebes  sind:  Grund  karmin¬ 
rot,  Muster  Gold;  in  den  Umrahmungen 
und  Mittelfiguren  blieben  dieGoldfäden 
unverbunden  und  erscheinen  dadurch 
höherliegend;  das  füllende  Rankenwerk 
bilden  abgebundene  Goldfäden,  welche 
daher  zurücktreten.  Die  Kringel  oben  links  sind  gelblich 
umrahmt,  alle  andern  Hauptgruppen  schwarz.  Die 
Durchbrechungen  der  Eormen  sind  meist  weiss  mit 
roten  Punkten  oder  umgekehrt,  einzelnes  rosa  mit 
weiss;  die  beider  in  der  untern  Borte  sind  abwechselnd 
rosa  und  grün.  Die  Kette  besteht  aus  seidenen 
Doppelfäden,  je  einer  rosa,  einer  gelb.  Breite  des  Ge¬ 
weberestes  9  cm,  Länge  26  cm.  In  1  cm  sind  ent¬ 
halten  ca.  48  rote  Schuss,  ca.  24  flach  Gold,  24  hoch 
Gold.  Infolge  der  bei  den  hochliegenden  Gold¬ 
fäden  angewendeten  Technik  (der  Goldfaden  geht  erst 
leinwandmässig  durch  die  Kette  und  dann  flottliegend 
zurück,  wieder  durch  die  Kette  und  wieder  flott  zu¬ 
rück  u.  s.  f.)  sind  derartige  Eiechtgewebe  von  Nicht¬ 
fachmännern  wohl  häufig  als  Stickereien  angesehen 
worden.  Durch  Aufklärung  dieses  Irrtumes  würde 


ABB.  11.  FLECHTGEWEBE  MIT  ZUM 
TEIL  FLOTTLIEGENDEM  GOLDFADEN 
PALERMO  CA.  1150 


3i8 


MITTELALTERLICHE  ELECHTGEWEBE 


sich  zweifellos  eine  weitaus  häufigere  Anwendung 
unserer  Technik  feststellen  lassen,  als  jetzt  angenommen 
wird. 

gj  Im  Städtischen  Kunstgewerbemuseum  zu  Düssel¬ 
dorf  befinden  sich  einige  Bruchstücke  des  in  Abb.  12 
nach  einer  Zeichnung  wiedergegebenen  Flechtgewebes. 
Die  schwarzen  Stellen  w'erden  von  den  Resten  des 
Originalgewebes  in  Gold  gebildet.  Der  Grund  des 
Gewebes  ist  blau  und  tritt  im  Muster  nur  als 
trennende  Kontur  auf.  Das  Gewebe  befindet  sich 
als  Vorhang  in  der  Kirche  zu  Susteren  in  Holland. 
Er  enthält  in  1  cm  28  Doppelkettfäden  und  40  Schuss 
Gold.  Das  abgebildete  Stück  Zeichnung  ist  55  cm 
lang.  Das  Muster  wird  aus  17  schmalen  Borten  ge¬ 
bildet,  welche  meistens,  ebenso  wie  die  Querborte 
einen  mehr  byzantinischen  Charakter  tragen;  die 
übrigen  zeigen  weichere  Formen,  wie  sie  sich  etwa 
bei  sassanidischen  Stoffen  in  den  Umrahmungen  und 
nach  diesen  in  byzantinischen  Stoffen  finden.  Für 
die  erstgenannten  Borten,  die  zum  Teil  bereits  an 
gotische  Formen  erinnern  (namentlich  die  Querborte 
und  der  Granatapfelansatz)  findet  sich  Verwandtes 
bereits  in  Perrot  et  Chipiez,  hist,  de  l’art  V.  Perse 
etc.  Abb.  438,  Basrelief  in  Athen  gefunden,  das  einer 
asiatischen  Tapisserie  (!)  nachgebildet  sein  soll,  nament¬ 
lich  ist  davon  die  Einfassung  hierher  zu  rechnen. 
Es  seien  noch  angeführt:  Riegl,  spätromanische  Kunst¬ 
industrie,  S.  123,  koptischer  Grabstein,  ebenda  Taf.  17, 
18.  Cattaneo,  architettura  zeigt  viele  ähnliche  Friese; 
Beissel,  altchristliche  Kunst  Italiens,  S.  271,  gehören 
die  Kleiderbesätze  der  Beamten  Kaiser  Nikophoros 
Botoniates’  (1078 — 1081)  hierher;  Schlumberger, 
Epopoe  II,  S.  413,  bringt  aus  der  Mitte  des  11  Jahr¬ 
hunderts  gotisierende  Anklänge.  Dasselbe  zeigt  auch 
ein  Flechtband,  Pfauen  und  Trauben  wie  das  Dresdner 
Gewebe;  Terzi,  capella,  an  vielen  Stellen  die  Gewand¬ 
borten  und  Details.  Mit  den  orientalisierenden  Borten 
verwandte  Motive  sind  zu  finden:  Riegl,  spätrömische 
Kunstindustrie  Fig.  71,  72  (koptisch);  aus  Kairo 
Fig.  80,  Taf.  15;  in  Gerspach,  tapisserie  coptes  viele 
Borten  und  Blattformen. 

C.  ÜBERSICHT  UND  RESULTATE 

Die  Flechtweberei  ist  eine  uralte  Verzierungs¬ 
technik.  Schon  altgriechische  Vasengemälde  zeigen 
die  Penelope  am  Webstuhl  mit  aufgespannter  Kette, 
in  welche  die  Figuren  unzweifelhaft  in  unserer  Tech¬ 
nik  eingearbeitet  sind,  ln  Kertsch  in  der  Krim  wurden 
Flechtgewebe  ausgegraben,  welche  etwa  dem  3. — 5. 
Jahrhundert  vor  Christi  entstammen  (jetzt  im  Ger¬ 
manischen  Nationalmuseum,  Nürnberg).  Die  ägyp¬ 
tischen  Gräberfunde  (koptische  Webereien),  etwa  aus 
dem  3. — 8.  Jahrhundert  nach  Christi  sind  zum  weit¬ 
aus  grössten  Teile  in  unserer  Technik  verziert,  und 
darunter  befinden  sich  Stücke,  die  nach  Karabacek 
entweder  aus  den  Ländern  des  Tigris  eingeführt  sind, 
oder  durch  ihre  Motive  wenigstens  beweisen,  dass  in 
jener  Gegend  die  Technik  ebenfalls  geübt  wurde, 
ln  China  werden  heute  noch  kostbare  Gewänder  in 
den  kaiserlichen  Manufakturen  hergestellt,  die  durch 
die  hervorragende  Schönheit  ihrer  Ausführung  be¬ 


weisen,  dass  die  Technik  dort  schon  lange  eingebürgert 
ist.  Auch  im  Norden  finden  sich  noch  sehr  alte 
Flechtgewebe  und  selbst  die  auf  sehr  niedriger  Kultur¬ 
stufe  stehenden  Völkerschaften  Afrikas  wenden  die 
Technik  an.  Die  alten  Peruaner,  die  Azteken,  übten 
sie  in  ausgiebiger  Weise  (s.  Reiss  und  Stübel,  Toten¬ 
felder  von  Ancon).  Die  ältesten  Erzeugnisse  sind, 
selbst  wenn  sie  mit  seidenem  Schüsse  hergestellt 
wurden,  auf  leinener  Kette  gearbeitet;  so  noch  byzan¬ 
tinische  Nachbildungen  sassanidischer  Erzeugnisse, 
wovon  eins  im  Germanischen  Nationalmuseum  zu 
Nürnberg  sich  befindet.  Erst  in  spätbyzantinischer 
Zeit  tritt  die  Seide  in  der  Kette  an  die  Stelle  des 
Leinen,  nachdem  sie  im  Lande  selbst  erzeugt,  also 
billiger  wurde.  Die  Kettenfäden  wurden  bald  einfach, 
bald  doppelt  oder  drei-,  auch  vierfach  zur  Herstellung 
der  ripsartigen  Leinwand  verwendet.  Dabei  war  von 
Einfluss,  dass  die  Kettfäden  auf  beiten  Seiten  des 
Gewebes  von  den  dicht  zusammengeschlagenen 
Schussfäden  vollständig  bedeckt  werden,  und  nur 
der  verschiedenfarbige  Schuss  die  Musterbildung  be¬ 
wirkt.  Dies  wurde  erleichtert  dadurch,  dass  man  eine 
Verminderung  der  Kettendichte  hervorbrachte,  indem 
man  zwei  oder  mehr  Kettenfäden  vereinigte.  Es 
kommen  jedoch  überall  auch  Flechtgewebe  vor,  bei 
welchen  die  Kettenfäden  nur  einzeln  verarbeitet  sind. 

Verfasser  hat  nun,  veranlasst  durch  die  Nach¬ 
forschungen  wegen  des  Dresdner  Flechtgewebes,  die 
Technik  dieses  Gewebes  als  Grundlage  für  vorliegende 
Betrachtungen  genommen  und  die  Resultate  über  die 
technisch  hiervon  abweichenden  Flechtgewebe  hier 
zunächt  ausgeschieden.  Das  vorstehend  Gefundene 
stellen  wir  hier  kurz  zusammen. 

a)  Abb.  6  zeigt  das  älteste  Erzeugnis  unserer 
Technik.  Es  ist  das  Grabtuch  Bischof  Günther’s 
in  Bamberg,  welches  zugleich  an  Grösse  und  Schön¬ 
heit  in  der  Durchführung  von  keinem  der  übrigen 
erhaltenen  Flechtgewebe  auch  nur  annähernd  erreicht 
wird.  Es  ist  sicher  anzunehmen  als  Erzeugnis  der 
kaiserlichen  Manufaktur  in  Konstantinopel  und  wurde 
dem  Bischof  Günther  auf  der  Rückreise  von  Jerusalem 
vom  Kaiser  Konstantin  X.  Dukas  ca.  1 065  als  Geschenk 
übergeben.  Es  enthält,  im  Gegensätze  zu  allen  hier 
noch  angeführten  Geweben  keine  Goldfäden,  gilt  als 
Arbeit  des  11.  Jahrhunderts,  mag  aber  bereits  im 
10  Jahrhundert  angefertigt  worden  sein. 

bj  Abb.  7  ist  das  nächstälteste  Flechtgewebe 
unserer  Technik.  Es  ist  eine  Bordüre  im  Grabe  des 
Normannenfürsten  Roger  I.  (f  1101)  in  Palermo. 
Ihre  Musterung  erscheint  ausserordentlich  primitiv 
und  wahrscheinlich  steht  auch  die  technische  Durch¬ 
führung  nicht  auf  besonders  hoher  Stufe,  ln  Palermo 
haben  bereits  unter  den  Sarazenen  Staatsmanufakturen 
bestanden  und  in  dieser  wird  das  Flechtgewebe  von 
Sarazenen  hergestellt  worden  sein,  welche  in  der 
Darstellung  von  Nalurformen  wenig  geübt  waren; 
wenn  man  nicht  gar  annehmen  will,  dass  künstlerisch 
nicht  veranlagte  Normannen(-Frauen?)  die  Herstellung 
bewirkten. 

c)  Abb.  8.  Auch  von  dem  Goldstoffe  am  Kaiser¬ 
mantel  mit  den  Löwen  gilt  das  zuletzt  Gesagte.  Nach 


MITTELALTERLICHE  FLECHTGEWEBE 


319 


der  Inschrift  wurde  der  Mantel  1133  in  Palermo  her¬ 
gestellt.  Die  Verwandtschaft  des  Musters  mit  dem 
in  Abb.  7  ist  bemerkenswert. 

d)  Abb.  Q.  Das  Gewebe  mit  dem  Apfelbaume 
schliesst  sich  den  beiden  vorhergehenden  ohne  weiteres 
an;  man  kann  also  annehmen,  dass  es  auch  etwa 
1130  in  Palermo  hergestellt  wurde. 

e)  Abb.  10  erscheint  durch  die  Vögel  verwandt 
mit  Abb.  8,  mag  also  zur  gleichen  Zeit  und  am 
gleichen  Orte  hergestellt  sein. 

f)  Abb.  11  zeigt  in  primitiver  Form  den  Baum 
am  Dresdner  Flechtgewebe;  seine  Herstellung  kann 
daher  ebenfalls  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
stattgefunden  haben.  Das  Gewebe  zeigt  die  Gold¬ 
fäden  zum  Teil  flottliegend,  ist  also  für  den  Nicht¬ 
fachmann  sehr  schwierig  von  Stickerei  zu  unter¬ 
scheiden.  Es  kann  angenommen  werden,  dass  eine 
ganze  Anzahl  mittelalterlicher  Textilien,  welche  von 
älteren  Archäologen  als  Stickereien  bezeichnet  wurden, 
bei  genauerer  Untersuchung  sich  als  Flechtgewebe 
herausstellen  werden.  Wahrscheinlich  wird  sich  dabei 
ergeben,  dass  die  Flechtweberei,  infolge  der  be¬ 
deutenden  Rolle,  welche  sie  in  gewissen  Zeitabschnitten 
spielte,  es  verdient,  gegenüber  der  gewöhnlichen 
Weberei  und  der  Stickerei  als  völlig  gleichwertig  be¬ 
trachtet  zu  werden. 

g)  Abb.  12.  Trotz  der  fast  als  gotisierend  zu 
bezeichnenden  Ornamentborten  glaubt  der  Verfasser 
für  die  Herstellung  noch  das  12.  Jahrhundert  gelten 
lassen  zu  sollen. 

h)  Beilage  in  Dreifarbendruck  und  Abb.  15.  Das 
Dresdner  Flechtgewebe  steht  in  der  technischen  Durch¬ 
führung  dem  Günthergewebe  am  nächsten,  ebenso 
in  der  grösseren  Musteranlage.  Es  bildet  eine  Ver¬ 
bindung  zwischen  den  Flechtgeweben  aus  Kon¬ 
stantinopel  und  Palermo,  wo  es,  nach  vollendeter 
Ausschmückung  der  capella  palatina  (1 143)  um  1150 
von  Künstlern  hergestellt  wurde,  welche  1148  aus 
Griechenland  hierher  überführt  worden  waren.  Der 
römisch-deutsche  Kaiser  Heinrich  VI.  wurde  als  Ge¬ 
mahl  der  Prinzessin  Konstanze  Erbe  des  normannischen 


Reiches  in  Sizilien  und  liess  nach  den  Berichten  der 
Chronisten  Otto  von  St.  Blasien  und  Arnold  von 
Lübeck  im  Jahre  1195  die  reichen  Schätze  aus  den 
Palästen  Palermos  auf  150  Saumtieren  nach  der 
Reichsfeste  Trifels  in  der  Reichspfalz  bringen.  Die 
Enkelin  Heinrich’s  VI.  (Tochter  seines  Sohnes  Kaiser 
Friedrich  II.),  Margarete,  verheiratete  sich  1254  mit 
dem  Landgrafen  Albrecht  von  Thüringen  und  wurde 
sonach  die  Schwägerin  des  Markgrafen  Dietrich  von 
Landsberg,  des  Stifters  des  Klosters  zu  Weissenfels, 
als  dessen  Äbtissin  wir  seine  Tochter  Sophie  unter 
»Herkunft  des  Gewebes  S.  308  kennen  lernten.  Ab¬ 
gesehen  nun  von  der  Möglichkeit,  dass  ein  Teil  des 
oben  angeführten  Schatzes  vielleicht  allgemein  an 
Kirchen  und  Klöster  verteilt  worden  sein  kann,  wäre 
die  weitere  Annahme  nicht  ausgeschlossen,  dass  unser 
Flechtgewebe  als  Bestandteil  jenes  Schatzes  durch 
diese  verwandtschaftlichen  Beziehungen  in  Besitz  der 
Äbtissin  Sophie  gelangte. 

Hiernach  sind  sämtliche  angeführten  Flechtgewebe, 
welche  auf  doppelten  Kettenfäden  in  Seide  hergestellt 
sind,  mit  alleiniger  Ausnahme  des  Grabtuches  Günther’ s, 
das  dem  10.  fahrhundert  zuzuschreiben  ist  und  aus 
Konstantinopel  herrährt,  als  Arbeiten  der  Staats- 
mamifaktiir  zu  Palermo  zu  betrachten,  wo  sie  im 
11.  und  12.  Jahrhundert  hergestellt  wurden. 

Zum  Schlüsse  ist  es  dem  Verfasser  eine  angenehme 
Pflicht,  denjenigen  Instituten  und  Privaten  verbind¬ 
lichsten  Dank  auszusprechen,  welche  seine  Bemühungen 
durch  freundliches  Entgegenkommen  unterstützten.  So 
die  Museen  zu  Düsseldorf,  Nürnberg  und  Wien  durch 
Einsendung  von  Originalgeweben;  das  hochwürdige 
Domkapitel  zu  Bamberg,  Madame  Errera  in  Brüssel 
und  die  Museen  zu  Berlin,  London  und  Paris  durch 
Einsendung  von  Photographien;  die  Museen  zu  Berlin, 
Düsseldorf  und  Reichenberg  i.  B.  durch  Darleihung 
zum  Teil  kostbarer  Werke,  sowie  endlich  die  Herren 
Geheimrat  Dr.  A.  B.  Meyer,  Dresden,  Dr.  Forrer, 
Strassburg  i.  E.  und  Direktor  Utz,  Wien,  sowie  das 
Orientalische  Seminar  in  Berlin  durch  Erteilung  wert¬ 
voller  Auskünfte. 


ABB.  12.  FLECHTOEWEBE.  ARBEIT  AUS  PALERMO,  UM  1150  (?) 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XIV  H.  12 


4 


DOPPELBLATT  AUS  VAN  DYCK’S  SKIZZENBUCH:  LINKS  NACH  SEBASTIANO  DEL  PIOMBO,  RECHTS  NACH  TIZIAN 


DAS  VAN  DYCK-SKIZZENBUCH  IN  DER 
SAMMLUNG  ZU  CHATSWORTH') 

Wenn  irgend  etwas,  so  kann  das  Skizzenbuch  eines 
Meisters  den  intimen  Einblick  in  die  Welt,  in  der  er 
lebte,  gewähren,  uns  vertraut  machen  mit  der  Art,  wie 
er  sah,  mit  dem,  was  ihn  interessierte,  ja  indem  die 
Eindrücke  mit  hastiger  Hand  oder  sorgfältig  verweilen¬ 
dem  Stift  festgehalten  sind,  darf  man  Rückschlüsse  auf 
die  Intensität  des  Interesses  machen.  Von  den  Künst¬ 
lern,  die  im  i6.  Jahrhundert  aus  dem  Norden  in  die  Welt 
des  Südens  pilgerten,  haben  die  meisten  sich  Aufzeich¬ 
nungen  über  die  antiken  Reste  gemacht.  Ich  erinnere  an 
Heemskerk’s  Skizzenbücher,  die  nebst  manchen  anderen 
für  die  Archäologie  ihre  grosse  Bedeutung  haben. 

Van  Dyck’s  Skizzenbuch,  von  dem  Lionel  Cust,  Ver¬ 
fasser  einer  Biographie  des  Meisters,  eine  erfreulich  reiche 
Auswahl  mitteilt,  hat  ebenfalls  nicht  zuletzt  ein  antiquari¬ 
sches  Interesse.  Allerdings  nicht  wegen  der  darin  ent¬ 
haltenen  Fixierungen  antiker  Bauwerke  oder  Skulpturen. 
Van  Dyck  war  zu  sehr  Maler,  zu  sehr  in  einer  Koloristen¬ 
schule  gebildet,  als  dass  er  sich  derartige  Aufzeichnungen 
hätte  machen  sollen.  Es  bezeichnet  seine  Interessen  sehr 
deutlich,  dass  er  nur  ein  antikes  Werk,  und  zwar  ein  Ge¬ 
mälde  sich  abgezeichnet  hat:  die  Aldobrandinische  Hochzeit. 

ln  der  kurzen,  alles  Wesentliche  enthaltenden  Einlei¬ 
tung  giebt  der  Herausgeber  (ausser  der  Beschreibung  des 
ganzen  Buches,  das  sich  aus  125  Blättern  zusammensetzt) 
seiner  Meinung  dahin  Ausdruck,  dass  das  Buch  in  Klein¬ 
quart  dem  Künstler  vorwiegend  auf  dem  ersten  Teil  seiner 
Reise  durch  Italien,  die  im  November  1621  in  Genua  be- 


1)  A  description  of  the  Sketch-book  by  Sir  Anthony 
van  Dyck  used  by  him  in  Italy,  1621  —  1627  and  preserved 
in  the  collection  of  the  Duke  of  Devonshire,  K.  G.  at 
Chatsworth.  By  Lionel  Cust,  London,  George  Bell  &  Sons 
igo2.  29  p.  und  XLVll  Tafeln. 


gann,  wird  gedient  haben.  Die  Bilder,  die  er  skizziert, 
sind  damals  vorwiegend  in  Venedig  und  Rom  gewesen. 

Wer  die  frühen  Arbeiten  van  Dyck’s  kennt,  weiss, 
dass  neben  seinem  Meister  Rubens  keiner  grösseren  Ein¬ 
fluss  auf  seinen  Stil  gehabt  hat,  als  Tizian.  Er  muss  für 
das  Haupt  der  venetianischen  Schule  unbegrenzte  Bewun¬ 
derung  gehabt  haben.  Die  meisten  Skizzen,  die  in  dem 
Buche  enthalten  sind,  tragen  beigeschrieben  den  Namen 
Tizians.  Daneben  erscheint  Giorgione  (das  San  Rocco- 
Bild)  und  Paolo,  der  grosse  Veronese,  dem  Mit-  und  Nach¬ 
welt  die  erste  Stelle  neben  dem  Meister  von  Cadore  ein¬ 
räumten,  bis  ihn  die  letzte  Vergangenheit  von  diesem  Platz 
gewiesen  hat.  Charakteristisch  ist,  dass  Tintoretto  fehlt. 
Dessen  terribilitä  musste  van  Dyck  befremden,  vielleicht 
geradezu  abstossen.  Von  Sebastiano  findet  man  den  kreuz¬ 
tragenden  Christus,  der  sich  seiner  Zeit  einer  ausserordent¬ 
lichen  Beliebtheit  erfreut  haben  muss:  Beweis  die  zahl¬ 
losen  Wiederholungen  weniger  der  ganzen  Komposition, 
wie  der  Hauptfigur. 

Neben  den  Venetianern  haben  ihn  die  Leistungen  der 
übrigen  Italiener  offenbar  weniger  interessiert.  Er  zeichnet 
eine  Gruppe  aus  Leonardo’s  Sankt  Annabild  ab.  Einige 
raffaelische  Kompositionen  skizziert  er,  nämlich  die  heilige 
Familie,  damals  in  Mailand,  jetzt  in  Wien,  dann  Stücke  aus 
der  Disputa,  endlich  das  Abendmahl,  das  Marc  Anton  ge¬ 
stochen  hat.  Man  darf  aus  der  relativ  geringen  Zahl 
dieser  Skizzen  schliessen,  dass  ihm  Raffael  kein  sehr 
starkes  Interesse  abgewann.  Mit  einer  solch  kühlen  Be¬ 
wertung  des  Urbinaten  stand  van  Dyck  damals  ja  nicht 
allein  da. 

Von  späteren  Künstlern  kopiert  er  gelegentlich  einen 
der  Caraccis  und  Guercino.  Vom  Quattrocento  nichts 
Das  war  damals  tot,  ganz  unbeachtet.  Die  Lektüre  der 
Reisebücher  derselben  Zeit  lehrt  das  gleiche. 

Ein  paar  nordische  Reminiszenzen  kommen  ihm:  Stücke 
aus  Dürer,  Lukas  van  Leyden,  Brueghel  (?). 

Relativ  selten  sind  die  Zeichnungen  nach  der  Natur. 


AUS  VAN  DYCK’S  SKIZZENBUCH  (NACH  TIZIAN) 


4' 


322 


DAS  VAN  DYCK-SKIZZENBUCH  IN  DER  SAMMLUNG  ZU  CHATSWORTH 


Davon  ist  eine  besonders  interessant,  das  Porträt  des 
greisen  Sofonisba  Angiiissola,  das  er  1624  in  Palermo 
macht  und  mit  ein  paar  Zeilen  der  Bewunderung  für  die 
sechsundneunzigjährige  Frau  begleitet  (Tafel  XXXVlll). 
Ebendort  hat  er  eine  Hexe  gezeichnet,  ln  Rom  begegnet 
er  1623  dem  persischen  Gesandten,  einem  Engländer  von 
Geburt,  und  interessiert  sich  für  die  Tracht,  die  er  und 
seine  Frau  tragen.  Auch  eine  Gruppe  italienischer  Komö¬ 
dianten,  etwas  in  Callot’s  Manier,  kann  nach  dem  Leben 
gezeichnet  sein. 

Aber  au  weitaus  erster  Stelle  steht  doch  Tizian. 
1  leiligc .Mythologien,  Porträts  von  ihm  sind  reproduziert. 
Manches  davon  ist  bis  auf  unsere  Tage  gekommen;  wie 
vieles  aber  ist  verloren.  Ich  finde,  keine  Lektüre  aller 
Tiziankorrespondenzen  macht  uns  diese  Lücken  so  augen¬ 
scheinlich,  als  die  Blätter  des  van  Dyck’schen  Skizzen- 
bnches.  Darüber  hilft  uns  auch  nicht  die  Vorstellung 
hinweg,  dass  damals  schon  manches  unter  Tizian’s  Namen 
ging,  was  nicht  sein  Eigentum  war  (so  auf  Tafel  XXXIV 
G.  B.  Moroni). 

Die  Versuchung,  etwas  bei  diesen  Tizian’schen  Sachen 
zu  verweilen,  ist  sehr  gross.  Ein  paar  Notizen  mögen 
gestattet  sein.  Hier  findet  man  auch  eine  flüchtige  Skizze 
der  zwei  berühmten  Borghesebilder;  van  Dyck  hat  uns 
aber  nicht  mitgeteilt,  wie  zu  seiner  Zeit  die  »Himmlische 
und  irdische  Liebe«  geheissen  ward.  Bei  dem  Bild  der 
drei  Grazien  oder  »Erziehung  des  Amor«  zieht  er  einen 
Strich  von  der  Brust  der  Frau  mit  dem  Köcher  und 
schreibt  darunter:  quel  admirabil  petto.  Tizian’s  Früh¬ 
bild,  das  der  Bischof  von  Paphos  gestiftet,  ist  auf  Tafel  VI 1 
zu  finden.  Eine  ganze  Fülle  von  Madonnenmotiven  lernt 
man  hier  kennen. 

Von  Porträts  interessieren  ihn  sichtlich  diejenigen  mit 
feierlichen  und  schönen  Po¬ 
sen.  Zweimal  kommt  in 
verschiedenen  Stellungen  der 
Kardinal  Pallavicini  vor, 
von  dem  das  schöne  Profil¬ 
porträt  jetzt  in  der  Ermi¬ 
tage  isH).  Ganz  unbekannt 
sind  die  zwei  Doria -Bild¬ 
nisse.  Ein  drittes  Porträt 
eines  Doria  ist  kürzlich  in 
englischen  Besitz  überge¬ 
gangen  (mitgeteilt  von  Her¬ 
bert  Cook  in  Burlington 
Magazine,  Heft  11). 

Ein  paarNachträge  seien 
notiert:  die  Verkündigung 
Tafel  I  ist  in  San  Rocco 
in  Venedig,  das  männliche 
Bildnis  rechts  auf  Tafel  XX IV 
ist  in  Berlin,  die  zwei 
Jünglingsköpfe  Tafel  XXXII 
kommen  auf  einem  der 
Paduaner  Fresken  vor,  die 
Komposition  rechts  auf  Tafel 


1)  Dies  Bild  war  nach 
der  Angabe  in  Somoff’s  Kata¬ 
log  in  van  Dyck’s  Besitz. 


XLl,  neben  dem  Borghesebild,  ist  ebenfalls  noch  jetzt  in 
der  Galerie  Borghese  zu  finden. 

Man  wird  nach  diesen  kurzen  Bemerkungen  das  Ur¬ 
teil,  es  habe  das  Skizzenbuch  ein  bedeutendes  antiquarisches 
Interesse,  gerechtfertigt  finden.  Für  den  Tizianforscher 
speziell  ist  die  Ausbeute  sehr  gross.  Es  hiesse  aber  einem 
Künstler  von  van  Dyck’s  Rang  Unrecht  thun,  wollte  man 
nur  diese  Seite  betonen.  Die  Zeichnungen  haben  natürlich 
auch  einen  rein  künstlerischen  Wert.  Da  ist  merkwürdig 
festzustellen,  wie  der  Eindruck,  den  sie  machen,  mit  dem 
intimeren  Studium  günstiger  wird.  Zuerst  sieht  man  die 
Flüchtigkeit  der  Wiedergabe,  die  Vernachlässigung  des 
Details.  Dann  aber  beobachtet  man,  mit  wie  klarer  Ein¬ 
sicht  das  Wesentliche  eines  Eindrucks  herauskommt  (viel¬ 
leicht  mit  Ausnahme  der  »Himmlischen  und  irdischen 
Liebe«,  wo  die  Form  des  Längsbildes  alteriert  ist),  wie 
deutlich  die  Bewegungsmotive  umschrieben  sind.  Die 
Zeichnungen  sind  weit  davon  entfernt  das  zu  sein,  was 
Goethe  »reinlich«  nannte.  Die  Feder  hat  in  van  Dyck’s 
Hand  rasch  gearbeitet;  es  sind  nur  Erinnerungsskizzen; 
gelegentlich  dient  Sepialavierung  dazu,  etwas  Farbe  hinein¬ 
zubringen.  Und  trotz  aller  Defekte:  so  kann  doch  nur 
ein  Künstler  zeichnen.  Der  Dilettant  würde  mehr  beim 
Nebensächlichen  verweilt  haben. 

Indem  nun  van  Dyck  eine  Komposition  sich  notiert 
(gelegentlich  mit  Zufügung  einiger  Bemerkungen  über 
Farben),  wird  nicht  selten  die  italienische  Form  ihm  unter 
den  Fingern  zur  vlämischen.  Das  ist  besonders  interessant 
an  den  zwei  Eccehomo-Skizzenblättern  (Tafel  Vlll  und  IX) 
zu  beobachten,  wo  Tizian  sich  in  van  Dyck  abwandelt. 
Es  ist  eine  neue  Bestätigung  einer  bereits  bekannten 
Thatsache,  dass  der  junge  van  Dyck  ganze  Kompositionen, 
wie  Gestaltung  heiliger  Typen  dem  grossen  Venetianer 

entlehnte.  So  wird  aus 
einer  Figur,  die  er  in  dem 
tizianischen  Flolzsehnitt  von 
Pharaoh’s  Untergang  findet, 
die  Hauptfigur  eines  seiner 
schönsten  Frühbilder,  des 
in  drei  Exemplaren  vor- 
komnienden  St.  Martins  (Ta¬ 
fel  XVI). 

Durch  solche  Reflexe, 
die  auf  das  eigene  Schaffen 
van  Dyck’s  fallen,  gewinnt 
das  Skizzenbuch  auch  einen 
anderen  Anspruch  auf  unser 
Interesse,  da  es  uns  wichtige 
Aufschlüsse  über  die  Frage 
giebt,  wie  van  Dyck’s  Kunst 
sich  umformte,  wie  aus  dem 
vlämischen  der  italienisie- 
rende  Maler  ward. 

Nach  zwei  Seiten  hin 
haben  sich  also  Herausgeber 
und  Verleger  durch  ihre 
Publikation,  die  man  mit 
Vergnügen  zur  Hand  nimmt, 
Anspruch  auf  dankbare  Teil¬ 
nahme  erworben. 

OEORü  GRONAU. 


AUS  VAN  DYCK’S  SKIZZENBUCH:  HIMMLISCHE  UND  IRDISCHE 
LIEBE 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrasse  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig 


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