ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST
MIT DEM BEIBLATT KUNSTCHRONIK
NEUE FOLGE
VIERZEHNTER JAHRGANG
LEIPZIG
VERLAG VON E. A. SEEMANN
1903
!
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' i'-:
i
t
Inhalt des vierzehnten Jahrgangs
Jan Veth. Von Andre Jolles. Mit i Lithographie und
5 Abbildungen . i
Adolf Menzel. Von Jan Veth. Mit i Lithographie . 1 1
Die vlämischen und die niederländischen Meister in
der Ermitage zu St. Petersburg (Fortsetzung aus
Jahrgang XIII). Von Max Rooses. Mit i Abbildung 13
Ein Bild von Karel Fabritius in Rom. Von Sigurd
Müller. Mit 2 Abbildungen . 44
Rembrandt’s Gemälde des Paulus im Nachdenken im
Germanischen Museum zu Nürnberg. Von Wilhelm
Bode . 48
Die Ausstellung altniederländischer Meister in Brügge.
Von Franz Dillberg. Mit 6 Abbildungen . . 49, 135
G. H. Breitner. Von W. Vogelsang. Mit 5 Abbildungen 58
Carel Fabritius oder Pieter de Hoch ? Von Wilhelm Bode 85
Theodor Rocholl. Von Eduard Daelen. Mit 1 Farben¬
tafel . 87
Otto Heinrich Engel. Von Max Osborn. Mit 1 Farben¬
tafel und 10 Abbildungen . 159
Eugene Carriere. Von August Marguillier. Mit 8 Ab¬
bildungen . 183
Der Brunnen des Lebens von Hans Holbein. Von
Artur Seemann. Mit 1 Farbentafel und 15 Ab¬
bildungen . 197
Karl Mediz — Emilie Mediz- Pelikan. Von Ludwig
Hevesi. Mit 9 Abbildungen . 207
Die Ludwig Richter -Ausstellung in Dresden. Von
Karl Woermann. Mit 7 Abbildungen ..... 225
Constantin Somoff. Von Igor Grabar. Mit 8 Ab¬
bildungen . 23g
James Marshall. Von Julius Gensei. Mit 8 Abbildungen 256
Drei verschollene, kürzlich' wiedergefundene Meister¬
werke. Von Louise M. Richter. Mit 3 Abbildungen 263
Leonardo’s Bildnis der Ginevra dei Bend. Von Wil¬
helm Bode. Mit 4 Abbildungen . 274
Kunstausstellungen in Japan. Von A. von Janson.
Mit 3 Abbildungen . 277
Willroider’s Landschaften. Von H. E. von Berlepsch.
Mit 2 Abbildungen . . 286
Albert Belleroche. Von Karl Eugen Schmidt. Mit
2 Originallithographien und g Abbildungen . . . 287
Seite
Die jüngsten Strömungen der dänischen Kunst. Von
Emil Hannover. . . 299
Das Skizzenbuch des van Dyck. Von Georg Gronau.
Mit 3 Abbildungen . 320
Plastik
Florentiner Bildhauer der Renaissance. Von Alfred
G. Meyer. Mit 1 Abbildung . 70
Max Klinger’s »Schlafende«. Von Julius Vogel. Mit
1 Abbildung . go
Zwei Selbstbildnisse des Niccoia Pisano. Von Ernst
Polaczek. Mit 6 Abbildungen . 143
Michele Marini. Von Ernst Steinmann. Mit 10 Ab¬
bildungen . 147
Der Farnesische Stier und die Dirkegruppe des
Apollonios und Tauriskos. Ein Brief an Georg
Treu in Dresden zu seinem sechzigsten Geburtstag
am 29. März 1903. Von Franz Studniczka. Mit
13 Abbildungen . 171
Max Klinger’s Entwurf zu einem Brahmsdenkmal.
Von Ludwig Hevesi. Mit 2 Abbildungen . . . 236
Theodor von Gosen. Von Felix Becker. Mit 6 Ab¬
bildungen . . 267
Architektur
Der Ursprung der »romanischen« Kunst. Von Josef
Strzygowski. Mit 3 Abbildungen . 295
Graphische Künste
Ein Nachtrag zum Houbraken- Kataloge, Bildnis der
Tochter des Kurfürsten Moritz zu Sachsen. Von
Theodor Distel. Mit 1 Abbildung . 22
Heinrich Reifferscheid. Von Gustav Kirstein. Mit
2 Originalradierungen und 4 Abbildungen . . . 271
Allgemeines
Ein Porträt Friedrich’s 11. von Hohenstaufen. Von
Richard Delbrück. Mit 7 Abbildungen (Erwide¬
rungen S. 86 u. 246) . 17
Kunst und Leben in England (Fortsetzung und Schluss).
Von Hermann Muthesius. Mit 31 Abbildungen 25, 73
IV
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
[j\c Ausstellung von Kunstwerken aus Privatbesitz
in Baden-Baden igü2. Von /ra/iz Rkj'fel. Mit
25 Abbildungen . . ^3
Das Porträt Kaiser Friedrich’s 11. V'on F . Philippt.
iWit 2 Abbildungen . .
Die rheinische und die westfälische Kunst auf der
kunsthistorischcn Ausstellung zu Düsseldorf 1Q02.
Von Faul (Jemen. Mit Farbentafel und 37 Ab¬
bildungen . . . 95
Otto Fischer. V'on f‘aul Sc/iumann. Mit 1 Original¬
steinzeichnung . ‘5h
Seite
San Miniato al Tedesco. Von Hans Mackowsky.
Mit 15 Abbildungen . 166, 215
Thorvaldsen und Zoega. Von Adolf Michaelis. Mit
6 Abbildungen . 193
Das Porträt Kaiser Friedrich’s II. von Hohenstaufen.
Von fitliüs Reinhard Dieterich. Mit 16 Abbildungen 246
Qriiuewald’s Isenheimer Altar (ein Rekonstruktions¬
versuch). Von Fritz Baaingarten. Mit 6 Abbildungen 282
Mittelalterliche Flechtgevvebe. Von E. Kumsch. Mit
1 Dreifarbendrucktafel und 12 Abbildungen ... 311
Kunstbeilagen
Alherl Belleroche, Mädchenküpfe. Originallitho¬
graphie .
Alhert Belleroche, Stillleben. Originallithographie
Heinrich Fickmann, Gespräch über das Wetter.
Originalradieriing .
F.duard F.inschlag, Russischer E5auer. r^adierung,
nach einer Skizze von Fr. Koch .
Otto H. Fngel, Morgensonne. Dreifarbendruck
Otto Fischer, Am Abeiul. Originalsteinzeichnung
Mittelalterliches Flechtgewebe im Königlichen
Kunstgewerbemuseum in Dresden. Dreifarben¬
drucktafel . .
Oskar üraf Die Stadtbrücke in Salzburg. Ori-
ginalrailierung .
fiermann llirzel, Sommertag. Originalradierung
Hans Holbcin, Der Brunnen des Lebens. Drei¬
farbendruck . . . . . .
(icorg von Kempf Eltcrnglück. Radierung . .
Seile
L. Kühn, Paulus im Gemache. Radierung nach
Seite
ZU
287
Rembrandt .
zu
48
zu
2S7
Hilde L.ott, König Drosselbart. Aquarelldruck .
Adolf von Menzel, Von der Pariser Weltausstel-
zu
24
nach
214
hing 1867. Dreifarbendruck .
zu
46
Hans Neiimann jun , Empire. Originalradierung nach
182
vor
183
Max Pietschmann, Männerkopf. Schabkunstblatt
nach
238
ZU
159
Heinrich Reifferscheid, Erntefeld. Originalradierung
zu
271
zu
158
Heinrich Reifferscheid, Bischof Weber. Original¬
radierung .
Theodor Rocholl, Türkische Reiter. Dreifarben-
zu
271/
zu
3"
druck nach einem Aquarell .
Schrein des hl. Andreas, gestiftet vom Erzbischof
zu
87 \
zu
72
Egbert, im Domschatz zu Trier. Dreifarbendruck
ZU
95 t
zu
72
Franz Skarbina, Weihnachten. Dreifarbendruck
zu
72
Eduard Stiefel, Im Atelier. Originalradierung .
zu
238
zu
197
Jan Veth, Adolf von Menzel. Originallithographie
zu
1
zu
142
Ludwig Willroider, Landschaft. Studienblatt . .
zu
286
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in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi38unse
ADOLF V. MENZEL
ORIGINALLITHOGRAPHIE VON JAN VETH
JAN VETH
I.
Auch wenn er nicht vor kurzer Zeit eine zün¬
dende Verteidigungsrede für einen von kurz¬
sichtigen Grossstadtsneigungen und Parvenu-
Verkehrseitelkeit zum Tode verurteilten Altamster-
damschen »gracht« gehalten hätte und mit dem
Feldgeschrei »Städteschändung« für den eigenen
holländischen Charakter seiner Umgebung eingetreten
wäre; auch wenn er nicht nun schon fünfzehn Jahre
mit zäher selbstbewusster Ausdauer auf alle denkbare
und undenkbare Weise versucht hätte, dem schönsten
Kunstwerk seines Vaterlandes einen würdigeren Platz
in dem Gebäude zu verschaffen, das trotz seiner
architektonischen Verdienste ohne Verständnis gerade
für dieses Kunstwerk gebaut wurde — so könnte
man doch aus Veth’s Arbeit und mehr noch aus seiner
Karriere beweisen, wie sehr das Ureigene Hollands
und der holländischen Kunst sein Leben gestützt,
seine Malerei beeinflusst hat.
Nicht wie bei den Brüdern Jakob und Willem
Maris mit ihren saftigen Wiesen, auf denen die
Sonne smaragden funkelt oder ihren Städtebildern, über
welchen die gigantischen Wolkenungeheuer hintaumeln
und gleiten, spricht bei ihm aus jedem Pinselstrich
die leidenschaftliche Liebe für das Land, wo das lustige
Frühlingsfeld immer an die einsame Finsternis der
Dünen angrenzt und die Übergänge von goldener
Sonne zu dumpfem Nebel zu den täglichen Erschei¬
nungen gehören. Nicht wie bei Israels ist jedes Bild
vollgesogen von dieser wehmütigen Kenntnis der
Menschenrasse, die in Hütten am Strand oder in
Höhlen der Stadt wohnt. Ebensowenig lodert hier
die Brunst eines Breitner, der die Stadt, welche er
liebt, zu befruchten scheint, so dass jede Leinwand
sowohl ihr als auch sein Kind wird. Auch wird,
bezeichnet man die Kunst des 17. Jahrhunderts als
die holländische par excellence, für den ober¬
flächlichen Beschauer nur wenig von ihr in Veth’s
Malerei zu finden sein und man würde bei einem
Vergleich mit den Doelenstukken mehr an Dirk jacobsz,
Teunissen oder Dirk Barentsz als an Van der Heist,
Bol oder Hals denken, während man bei den einzelnen
Porträts eher auf die Kreuzfahrer eines Jan van
Scorel oder die Bilder des Antonis Mor van Dashorst
als auf van Dyck oder Miereveit kommen würde. Für
den hochherzigen Utrechter, dessen kühle Grandezza
in einem späteren Jahrhundert nur von der göttlichen
Wärme des Rembrandt übertroffen wurde, und dem das
Universelle einer in Spanien und unter italienischen
Einflüssen erworbenen Kultur manchmal etwas Kosmo¬
politisches zu geben scheint, gerade für ihn, der trotz
Hofetikette und Renaissance ein so charakteristischer
Typus des selbständigen Nordniederländers geblieben
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. i.
ist, scheint Veth eine ziemlich ausgesprochene Vor¬
liebe zu haben. Aber wir wiederholen: eine zu
scharfe Trennung zwischen den früheren Jahrhun¬
derten und dem siebzehnten zu machen zeugt von
Oberflächlichkeit; denn die Kunst des letzteren hatte
ebensowenig als alle anderen holländischen Kunst¬
bewegungen eine spontane Genesis; sie war eine
fortgesetzte Tradition, undenkbar ohne alles Vorher¬
gegangene. Daher gehört Veth, wenngleich er an¬
scheinend seine Meister mehr bei den früheren als
bei den späteren gesucht hat, in Wirklichkeit in diese
lange Kette holländischer Künstler, die sich mit nur
kleinen Unterbrechungen schon so viele Jahrhunderte
fortgliedert und noch lange kein Ende haben wird.
Jeder Holländer wird dies fast instinktiv verstehen,
aber im kunstgeschichtlich gebildeten Deutschland
bedarf es einer Erklärung. Das Verhältnis zur früheren
Kunst ist nun einmal bei uns Holländern ein anderes
als dort, und ich brauche nur, um dem Verdacht
chauvinistischen Stolzes zu entgehen, an die Worte zu
erinnern, die Liebermann an dieser Stelle just schrieb:
»Die modernen Holländer haben von ihren Vorfahren
eine gewisse malerische Kultur geerbt, die selbst
unsern bedeutendsten Meistern wie Menzel oder Böck-
lin fehlt«. Diese Kultur ist es, welche unsere Liebe
und unsern Umgang mit den Malern vergangener
Zeiten beherrscht. Sie sind für uns ebensowenig die
Objekte kunstgeschichtlicher Studien als blosse Erinne¬
rungen an eine ruhmreiche aber verflossene Zeit.
Wir sind jetzt noch Fleisch von ihrem Fleisch, Blut
von ihrem Blut, sie gehören zu unserer Familie, denn wir
betrachten sie als unsere Grossväter und Onkel. Wir
stammen von ihnen ab, wir haben sie fast noch ge¬
kannt; ihre Sprachweise, ihre kleinen typischen Be¬
wegungen kehren, ohne dass wir es wissen, bei uns
wieder — eine Eigenart überspringt ja oft ganze Gene¬
rationen — und das bringt sie uns näher als die aller¬
tiefsten Studien und lässt sie uns besser lieben als blosser
Nationalstolz es vermöchte. Wir sind von derselben
Rasse, sie und wir, wenn wir auch in vieler Beziehung
degenerirt sind und ihre Geschicklichkeit und Ein¬
fachheit nicht mehr besitzen. Wir sind ihrer insoweit
würdig, als unser Verständnis für sie nichts an Klar¬
heit verloren hat und wir sie lieben als unsern
schönsten Besitz.
Wie mögen die Schatten der Alten auf einen
jungen Burschen gewirkt haben, wenn er durch die
Geburtsstadt der Kuyp irrte, durch Dordrecht, das van
Goyen’s gelbe Nebel schöner als ein greller Heiligen¬
schein geweiht — wenn er abends die strenge Dunkelheit
stattlich wie einen alten Sammetmantel über die er¬
grauten Wasser der Mervede gleiten sah, während er
unter den langästigen Ulmen vom Groothoofd
träumte oder beobachtete, wie die tanzende Morgen-
1
2
JAN VETH
Jan Veth, Amsterdam. Drei Schwestern (Jugendarbeit)
sonne den alten viereckigen Grootekerksturm mit
(jold bekrcänzte, einer jungen Nymphe gleich, die
frisch lachend den Kopf eines alten Dichters mit
Friihlingsblumen krönt, - wenn er nach althollän¬
dischem Brauch auf dem altertümlichen Bagynhof
een puisje ving oder in der Dämmerung an jenem
1 lause vorbeiging, das die ältesten Erinnerungen Hol¬
lands birgt, und wo der erste Raubritter, der sich Graf
von Holland zu nennen wagte, erschossen wurde —
wenn der Sommer ihn unter den schattigen Bäumen von
Eykendonck oder im molligen Gras vom groenen dyk
liegen oder der Winter ihn auf gekrümmtem Eisen
über das überschwemmte Galgenfeld bei Zwyndrecht
dahingleiten sah, immer mit der holländischen Land¬
schaft, der alten Stadt und dem wechselnden Wasser
als unvergesslichen Hintergrund. Konnten diese Schatten
auch nicht verhüten, dass der wilde Knabe, in einen
Räuberroman vertieft, aus einem knorrigen Apfel¬
baum auf die Erde purzelte, wobei jeder, der keine
Wassergeusen unter seine Ahnen zählte, sich zwei¬
felsohne den Hals gebrochen hätte, während er,
in einer Schiebkarre voll Kalk versinkend, nur einen
unfreiwilligen Anfang der ^Schwarz -Weiss - Kunst'
mit seinem neuen Anzug machte, so fehlten sie
dafür keineswegs im Hause und Hofe seines Vaters,
weder in der Erinnerung noch in Wirklichkeit.
Denn die Erinnerung an den Verwandten mütter¬
licherseits, der im schlaffen, kunstlosen Beginn des
ig. Jahrhunderts wenigstens versucht hatte, durch
gewissenhaftes Zeichnen und freimütige Naturbetrach-
timg etwas von der grossen Tradition zu bewahren,
lebte fort im Hause des Mannes, der morgens den
Bauern ihre Pflüge verkaufte, mittags im Rat die
Interessen der Stadt klaren Sinnes erwog, aber sich
abends mit Vorliebe der ruhmreichen Geschichte seiner
Stadt widmete und die Schicksale ihrer berühmten Ein¬
wohner mit treuherziger Genauigkeit durchforschte.
Aber die Liebe zur Vergangenheit ging Hand in Hand
mit der Freude an dem frischen Leben der Gegen¬
wart; dem Eisenhändler verbot keine falsche Pietät,
anstatt der alten Landbaugeräte neue einzuführen, der
Gelehrte und seine Hausgenossen nahmen trotz ihrer
Studien des Vergangenen von neuen 1 itterarischen Tages¬
erscheinungen Kenntnis und der Magistrat war frei von
allem Konservatismus. Die liberale Partei erlebte in
jenen Tagen ihre goldene Zeit; die Litteratur versuchte,
so gut es ging, eine Fortsetzung früherer Jahrhunderte
zu finden; die Theologie zerbrach die Fesseln eines
JAN VETH
3
düsteren Kalvinismus, um nach freudevolleren aber
vielleicht skeptischeren Ländern dichterischer Modernität
zu entfliehen. Die Politik des Ministers Thorbecke,
Prosa und Poesie des Dichters Potgieter und seiner
Zeitschrift »De Gids« und die Theologie des de
Oenestet und Thiele waren das beste, was die Mitte
des vorigen Jahrhunderts in Holland geben konnte,
und sie wurden im Hause des alten Herrn Veth
herzlich willkommen geheissen — ebenso willkommen
als 1864 das fünfte Kind Jan Pieter.
Was Wunder, dass seine ersten malerischen Ver¬
suche, die, wäre er kein Maler geworden, kaum unserer
Aufmerksamkeit wert wären, aber in denen wir jetzt
doch die Vorzeichen einer wahrhaftigen Begabung sehen
dürfen, in historischer Richtung gingen, und dass längere
Zeit auf einer der weissen Mauern des elterlichen Unter¬
hauses eine riesige in Kohle skizzierte Darstellung
prangte, auf welcher der Statthalter Willem III. die ver¬
feindeten grössten niederländischen Seehelden de Ruyter
und Tromp wieder miteinander versöhnte. Was Wun¬
der, dass Veth der Mann in Holland geworden ist, der
mit unermüdlichem Eifer für alle holländischen Tradi¬
tionen eintritt, wo und wann sie seiner Verteidigung
bedürfen; dass er nicht nur zum Künstler, sondern auch
zum Kritiker, besser zum Kenner erwuchs, der vor allem
das echt Holländische, in welcher Form es sich demon¬
striert, zu schätzen, zu geniessen weiss und der mit
Leidenschaft gegen alles ins Feld zieht, was, unecht
oder pervers, die alte Kultur stört oder schändet.
Denn wie fast bei allen, welche viel tadeln, ohne dabei
cynisch oder blasiert zu sein, ist bei ihm der Tadel
nur die Rückseite einer grossen Liebe, und wenn es
in dem kleinen Land, das sich rühmt die Wahrheit
nicht zu vertuschen und eine ausgesuchte Litanei
von Schimpfworten für Feinde zu besitzen, nur
wenige giebt, die so deutlich und unverblümt ihre
Meinung sagen wie er und in so krassen Ausdrücken
ihrem Hass Luft machen, so giebt es deren noch
weniger, die in so hohem Masse die Gabe des Be-
wunderns besitzen, denen es so gegeben ist, ihre
Seele allen schönen Seelen, die leben oder gelebt
haben, anzupassen, die so frei von jedem engen
Parteistandpunkt sind und mit so klarer Gerechtig¬
keit das Schöne an sich zu erkennen wissen.
Die holländischen Gesandten aus dem 17. Jahr¬
hundert verdanken ihren staatsmännischen Ruhm wohl
grösstenteils der Thatsache, dass sie keine Diplomaten
waren, keine geheimen Intriguen spannen, aber ehrlich
und nüchtern jede Sache für sich recht und schlecht
beurteilten oder ausführten, und auch diese Eigen¬
schaft, ins Ästhetische übertragen, hat der Sohn des
alten Dordt von seinen Ahnen geerbt.
II.
Wenn die Besprechung der Jugend des Malers eine
Erinnerung an die Traditionen war, welche das alte Hol¬
land mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts verbinden,
so kann man von seinen Lehrjahren auf der Akademie
zu Amsterdam, wo er 1880 als Schüler eingeschrieben
wurde und von der ersten Zeit selbständiger Arbeit
nicht sprechen, ohne die Wiedergeburt der ganzen
holländischen Kunst zu erwähnen, jene Revolution
der Jüngeren, die alles, was von geistiger Bildung
träumte, aus dem Schlafe rüttelte.
Seit den Tagen der Bilderstürmer hatte der Boden
des niederen Landes am wilden Meer nicht von so
leidenschaftlichen Tritten gedröhnt, und seit der Dros-
saert Hooft in seinem väterlichen Schloss zu Muiden
alles um sich versammelt hatte, was seine Zeit an
grossen und kleinen Talenten nur aufbringen konnte,
war auf einem so kleinen Fleckchen Erde niemals eine
grössere Anzahl bedeutender Männer gegen die Un¬
sterblichkeit Sturm gelaufen.
In der Litteratur begann es mit dem jungen Jacques
Perk, der wie ein Herold vor dem Thor der ewigen
Poesie stand und laut um Einlass rief. Hinter ihm
kamen sie alle in gedrängten Horden, die vom Geist
der Schönheit Erfüllten und von flammender Kunst
Berauschten, und sie peitschten da, wo ihre Väter
mit Geissein gegeisselt hatten, jetzt die holländische
Mittelmässigkeit und Flauheit mit Skorpionen. Wenn
die stolzen Seefahrer früher das Recht hatten, den
Besen an den Mast zu binden, weil sie das Meer
von Unrat rein kehrten, so stand er den Dichtern von
damals auf dem Schreibtisch. Laut, prophetisch laut
schallten die Stimmen durch das Land, die gegen das
Niedrige und Gemeine mit brennenden Worten pre¬
digten, aber zu gleicher Zeit das Dogma, dass Kunst
keine kleine Liebhaberei, keine Erholung für stille
Sonntagnachmittage , kein harmloser Zeitvertreib
für aufgeregte Backfische, keine prickelnde Sensation
für ermüdete Börsenjobber sei, in einem Lenz von
Poesie verkündeten. Durch jede Lieferung ihres
»Nieuwen Gids« ging die schönste und ernsteste
Dichtkunst wie ein Strom von glühendem Erz, aus
dem jene Glocke werden sollte, die Hollands Sprache
heute ist. Der Egoismus dieser jungen Dichterschaft führte
nicht zu jener Überhebung, die eine weitere Kultur
ausschliesst; denn mit leidenschaftlicher Demut wurde
alles Schöne anderer Länder und Zeiten studiert. Wie
einstens die mächtigen Flotten ausgesegelt waren, um
aus allen Weltteilen Produkte nach Amsterdams Hafen
zu bringen, so wurden jetzt aus Deutschland, England
und Frankreich, aus Klassizismus und Romantik die
Kunstbeispiele herbeigeschleppt, nicht zur Nachahmung,
sondern zur Bildung und Erbauung. Es war ein
Fest der Schönheit, ein Siegesfest nach einem wohl¬
gelungenen Kreuzzug in das heilige Land der Muse;
die Barbaren und Ungläubigen waren vertrieben,
ein neuer Einfall ihrerseits unmöglich gemacht. Die
Deutschen, bei denen die Kunst kränkelt, weil ihr
eine organisierte Kritik fehlt, die ihr gutes Recht
beweist, indem sie selbst ein bewusstes Kunstwerk
ist, sie werden es kaum begreifen, wie vollkommen
diese Männer, jeder auf seinem Gebiet, die Mittel¬
mässigkeit und das Hässliche zu verbannen wussten
und wie der Ruhm, dass sie schlechte Verse ver¬
dammten, kein geringerer war, als der ihrer eigenen
guten.
Auch in der Malerei rührte sich neues Leben,
war gleich der Streit ein anderer. Nicht nur schlaffen
Zeitgenossen galt hier der Angriff, nicht nur das
1
4
JAN VETH
Recht auf eigene Kunst ward hier erfochten, sondern
ein Publikum, das bereits existierende Schönheiten weder
kannte noch würdigte, wollte oft mit dem Schwerte
bekehrt sein. Ebenso wie die Dichter standen die
Künstler einer geistlosen iinj^otenten Zeitungskritik
gegenüber, die ein Jahr nach dem anderen urteilslos,
immer nach demselben kleinbürgerlichen Massstabe
die Ausstellungen mit kindlichem Geschwätz beurteilte.
Der Malerei fehlte keineswegs das positive Können,
aber die Haagsche Schule, Mauve und Israels, Bos-
boom und die Brü¬
der Maris lebten und
arbeiteten in fast
gänzlicher Verges¬
senheit. Es waren
nicht die leichtesten
Siege, welche die
Jüngeren für jene
Alteren errangen,
die damals ihr Er¬
scheinen kaum mit
Sympathie begrüss-
ten. Indem die
Maler also durch
Bewunderung und
Not gezwungen
wurden, mit der
Feder zu hantieren
und durch bindende
Freundschaft mit den
Schriftstellern die
Prosatechnik wie
von selbst lernten,
entstand auch hier
eine fachmännische
Beurteilungsweise,
die nicht bloss den
Laien die Augen für
das Schöne in eige¬
ner und fremder
Arbeit öffnete, son¬
dern auch an sich
nicht geringen litte-
rarischen Wert hatte.
Auch hier also die
innerliche Einheit,
die allein ermög¬
licht, dass Kritik auf
Publikum und Künst¬
ler veredelnd wirkt. Die grössten Beweise von Unver¬
mögen wurden der jüngeren Generation von den
wohlweisen Kritikern selbst in die Hände gespielt, als
kurz nach der Gründung der neuen Zeitschrift ein Büch¬
lein unter dem Titel Julia, eine Geschichte auf Sicilien
von Guido' erschien, das die heftigsten Gegner der
neuen Richtung bis in den Himmel erhoben, ja der
sogenanten Extravaganz der Jüngeren als Muster vor¬
hielten. Was ergab sich? Dieses Poem war ein frecher
Witz, von den Hauptredakteuren der nieuwen Gids«,
den Dichtern Willem Kloos und Albert Verwey, mit
wenigen Freunden ersonnen und ausgeführt in einer
Jan Veth, Amsterdam. Bildnis eines Staatsrates (i8q6)
übermütigen Laune, eigens um die antiquierten Herren
critici hereinfallen zu lassen. Das Ganze war eine
Mischung blödsinniger Romantik, hohler Phrasen mit
oberflächlichem Klingklang und die am meisten gelobte
Stelle bestand aus Versen, die den Dichtern zu un¬
bedeutend für ihre eigene Zeitschrift erschienen waren.
Unter den bösen Buben , deren mit Pulver
gestopfte Pfeife den miserabcln Schulmeister der
holländischen Kritik also in die Luft fliegen Hess,
war einer, der sich unter dem Pseudonym Henrik
van Goyen verbarg
und es scheint nach
so vielen Jahren eine
verzeihliche Indis¬
kretion, wenn wir
verraten, dass der¬
jenige, der sich auf
diese Weise zum
geistigen Nachkom¬
men des so wun¬
derlichen Malers der
Dordtschen Visionen
bekannte, derselbe
war, auf dessen per¬
sönliche Entwicke¬
lung wir jetzt zu¬
rückkommen.
Im eigentlichen
Maler-Ceuacle, dem
er während seiner
fünf Akademiejahre
und später noch
angehörte, wurden
die jetzt nach allen
Richtungen ausein¬
andergestobenen
Elemente damals
noch durch das
gemeinsame Band
der Genossenschaft
Sint Lucas zusam¬
mengehalten. Da
war Valck, der zu¬
erst die Feder er¬
griff und der so¬
wohl in seinen
impressionistischen
Farbenstudien als
auch in seinen
hellklingenden Aufsätzen des selbst gewählten Na¬
mens Jan Stemming« (Hans Stininumg) sich würdig
zu erweisen suchte; Jacobus van Looy, der besser
ein Schüler des Hals als einer der Amsterdam-
scheu Akademie vom Ende des ig. Jahrhunderts
gewesen wäre, dessen Prosa zu dem Herrlichsten
gehört, was unsere Litteratur kennt und dessen Ge¬
dichte duften und glühen wie ein Wald bei unter¬
gehender Herbstsonne; dann Karsen, der noch immer
die alten Strassen und Häuser von Amsterdam in der
Dämmerung dichtergleich auf seine Leinwand träumt;
Witsen, der düstere Seher der trüben Stadt, dem der
JAN VETH, AMSTERDAM. DES KÜNSTLERS VATER (1900)
6
JAN VETH
göttliche Sonnettencyklus Das Passionspiel von Kind
und Gott' von dem nicht weniger düsteren Dichter
gewidmet wurde; Derkinderen, dem damals schon
jene unendlich zarten und doch so streng dogmatischen
Visionen erschienen, die später Wände und Fenster
der Häuser schmücken sollten. Er stritt gegen einen
allzu unbändigen Naturalismus, da er lieber auf eine
Kunst bauen wollte, wie sie aus der Gemeinschaft
eines an Ideale glaubenden Volkes entsteht, als sich
für jene andern begeistern, die dem inspirierten Tem¬
perament des Einzelnen entspringt.
Nichts von seiner Ursprünglichkeit unter all diesen
meist etwas älteren Zeitgenossen zu verlieren und
unter all den verschiedenen Einflüssen einen bestimmten
Kunstzweck, der bei zwanzigjährigen Künstlern gewöhn¬
lich mehr instinktiv gefühlt als bewussterstrebt wird, im
Auge zu behalten, wäre für Jan Veth eine unmögliche
Aufgabe gewesen. Vielleicht auch eine überflüssige;
denn es ist dem sich zum Manne entwickelnden
Jünglinge oft besser, vielseitig zu geniessen als starr
seine eigene Individualität auf Kosten des Verständ¬
nisses für das Wollen anderer durchzuführen. Wenn
das, was er später mit eisernem Eifer von seiner Kunst
verlangte; die reine Wiedergabe der abstrakten Seelen¬
eigenschaften bei seinen damaligen Arbeiten nicht
immer so unvermischt in den Vordergrund trat, so
errang er in jener Zeit wenigstens die grosse Kenntnis
von Menschen und Büchern, jene erstaunliche all¬
gemeine Bildung, jene feinfühlige Einsicht in Cha¬
raktere, die es dem Porträtisten später nicht nur
ermöglichte, die verschiedensten Individuen, in ihrer
eigenen Sphäre zu verstehen, sondern ihn auch be¬
fähigte, immer wieder einen Anknüpfungspunkt
zu finden, wodurch jeder sich ihm zugleich am
allervorteilhaftesten zeigte. Last not least den Kultus
der Arbeit. Gearbeitet wurde mit unermüdlicher
Kraft. Trotz des erschlaffenden Abendlebens der
Grossstadt, trotz endloser Gespräche und feuriger
Debatten, trotz l^oheme-Festen und aller Ausgelassen¬
heit wurden doch nur wenige Momente vergeudet.
Der Drang sich zu vertiefen — mehr noch die Un¬
möglichkeit, je mit arbeiten aufzuhören — wurden
ihm, obschon sie in seinem Temperament lagen, da¬
mals erst durch Anstrengung und Übung zur zweiten
Natur.
im Jahre 1886 und 1887 machte er in seiner
Geburtsstadt zwei Ausstellungen. Hier suchten alle
Gemälde den innerlichen Wert des Dargestellten so
nachdrücklich herauszuarbeiten, dass es den Beschauer
manchmal bedünkte, als ob darüber der äusserliche
Schein ein wenig vernachlässigt wäre. Technisch
aber waren sie sehr scharf in zwei Gruppen zu
scheiden, und es ist die Frage, ob diese Zeit am
deutlichsten durch jene Mehrzahl der Bilder charak¬
terisiert wird, welche ausschliesslich in jenen Tagen
so und nicht anders von ihm gemalt werden konnte,
oder durch die kleine Minderheit, welche uns als Vor¬
studien für ein tieferes Stadium erscheinen. Im ersten
Fall würde das brüsk gemalte, aber schneidend ähnliche
Porträt des Dichters Verwey am meisten die Aufmerk¬
samkeit auf sich ziehen, während wir uns im zweiten
das helle, fast tastend vorsichtig gemalte alte Damen¬
porträt in Erinnerung rufen. Wie anders war dieses
und doch wie verwandt dem schon 1884 ge¬
malten Porträt der drei Schwestern, das vielleicht
jungenhaft wirken mochte, aber gerade in seiner Un¬
befangenheit die kernigsten Qualitäten des Künstlers
deutlich zeigte, und das in seiner frischen Selbstän¬
digkeit wie ein Spiegel jener wachsenden Künstlerseele
ist, in der noch wenig Phantasie aber um so mehr uner¬
schrockene Ehrlichkeit lebte (Abb. S. 2). In eine seiner
wenigen Landschaften stellte er eine Ziege: armes
kleines Tier, du warst ein so freundliches Beispiel
natürlichster Naturbeobachtung jener Zeit; dein
Meister hat dich zum Tode verdammt und dein treuer
Bewunderer hat hier nicht einmal Platz genug, um
dir eine kleine Leichenrede zu halten.
Wollte man einen Vorgang aus jener Zeit
erwähnen , der gleichfalls den Übergang zur jetzi¬
gen Periode vorbereitet hat, so müsste es die Er¬
richtung des Ets-Club (Radierervereins) 1885 sein,
der Ausstellungen von allem veranstaltete, was Neues auf
dem Gebiete der blanc-et-noir- Kunst geleistet wurde.
Diese Ausstellungen waren im besten Sinne belehrend;
hier machten wir Bekanntschaft mit Odilon Redon
und Seymour Haden, mit Meryon und Klinger, Rops
und Thoma, Bracquemont und Puvis de Chavannes,
während Mappen, die jährlich erschienen, die Arbeiten
der Mitglieder brachten. So entwickelte sich eine
graphische Technik, wie sie momentan in keinem
anderen Lande gefunden wird und deren sich Lucas
van Leyden, wenn er zu den Lebenden wiederkehrte,
nicht zu schämen brauchte. Solcher Art vergingen die
ersten Jahre selbständiger Arbeit und wer die Seelenphase
kennen möchte, in welcher der Maler sich nach all
diesem Wühlen und Ringen, diesem Hass und Genuss
am Ende der achtziger Jahre befindet, — wer ein
specimen eruditionis jenes beweglichen scharfsinnig
suchenden Geistes verlangt und ausserdem eine
Probe geniessen will seines durchgreifenden Schreib¬
talents, das oft Worte und Sätze zu vergewaltigen
scheint, um sie zu zwingen, das auszudrücken, was
das klare Auge gesehen hat, den weisen wir auf die
1889 erschienene Broschüre über Josef Israels hin,
wo er mit kühlem Verstand versuchte, theoretisch
das Wollen und Können des empfindsamsten der
holländischen Intuitiven zu beschreiben und zu er¬
klären, die Broschüre, in der die Liebe des Jungen
so warmen Herzens den älteren Vorgänger feiert.
III.
Nicht in den gemalten Porträts hat sich die Eigenart
von Veth’s späterer Malerei am stärksten gezeigt. Der¬
selbe Redakteur, Doktor de Koo, der schon früher sein
Tag- und Wochenblatt allem, was jung war und eine
eigene Meinung besass, mit grosser Liberalität offen¬
gehalten hatte, beauftragte ihn 1892, eine Reihe »be¬
kannte Zeitgenossen« für den »Amsterdamer« zu litho¬
graphieren. Der Zufall wollte, dass die beiden zuerst
erscheinenden Porträts die von Künstlern waren, welche
die neue Generation nicht gerade mit allzuviel Liebens¬
würdigkeit behandelt hatte: ein Romanschreiber, dessen
JAN VETH
7
spätere, wenig ursprüngliche Romane keineswegs im
Stande waren, seine früheren hochtrabenden, lächerlich
patriotischen Dramen vergessen zu machen und ein
Dichter, der in seiner Jugend geistreiche, echt hollän¬
dische Skizzen geliefert, aber in seinem reiferen Alter
als Professor der Theologie sich unverzeihlich
fade romantische Gedichte hatte zu Schulden kommen
lassen und jetzt als freundlicher Litteraturonkel seinen
Ruhm überlebte. Da sich weder der Litterat noch
der Maler in Veth für diese etwas mumifizierten Modelle
mit ihrem wenig bedeutenden Äusseren interessieren
oft gegen die naturalistische Schule erhoben wurde.
Bald aber folgten anziehendere Modelle und ein grösserer
Erfolg. Jakob Maris, so wie er in der Grandezza
seiner Zwergengestalt vor seiner Staffelei sitzt, — der
vergeistigte Hieronymuskopf des Baumeisters Cuypers,
— das berechnende intelligente Gesicht des Gross¬
industriellen van Marken, die sammtene Wesenlosigkeit
des Schriftstellers Couperus, — sie alle nähern sich dem,
was überhaupt erreicht werden konnte und Veth zuerst
in dem adligen Porträt von Josef Israels bot, das die
Feinheiten einer Federzeichnung mit den energischen
Jan Veth, Amsterdam. Bildnis. (Nach Photographie Verslays in Utrecht)
konnte, so fehlt dadurch vieles, was frühere oder
spätere Porträts so anziehend macht; ein sentimentales
Publikum aber, das sich in Gedanken die Köpfe jener
Herren nach der Süsse ihrer Produktion konstruiert
hatte, erblickte in diesen ersten Proben, die zugleich
ein Ringen mit der widerspenstigen Technik und
der Antipathie bedeuteten, zudem durch überan¬
strengtes Streben nach Charakteristik Karikaturen ähnel¬
ten, eine der älteren Litteratur angethane Schmach, und
der Porträtist kam alsbald in den Geruch, alles ab¬
sichtlich zu verhässlichen; ein Vorwurf, der damals
(ebenso grundlos übrigens) allerorten zum Übel werden
Kerben des Holzschnitts verbindet; dann in dem allmäch¬
tigen Cäsarenkopf des Prosatitans van Deyssel, mit seiner
hochherzigen Ironie und genialen Kunstherrschsucht.
Wenn seine Menschenkenntnis, seine Gewandtheit im
Umgang und seine Fähigkeit, die Modelle zu zwingen
im geistigen Sinne nackt mit all ihren Fehlern und
Schönheiten vor ihm zu stehen, noch Übung brauchten,
so erlangte er diese mehr wie genügend in jener Zeit,
als er jeden Monat ein neues Porträt von so unendlich
verschiedenen Leuten zu liefern hatte, die alle etwas
bedeuteten oder wenigstens in dem Rufe standen. Es
waren nur wenige, die ihn nicht mit einer gewissen
8
JAN VETH
Angst kommen sahen; denn viele, die ihn nicht kannten,
glaubten nach seiner Schriftstellerei einen wüsten
rücksichtslosen Gesellen erwarten zu müssen, mit dem
jeder intime Verkehr eine Unmöglichkeit wäre; ja, es
ist vorgekommen, dass die Tochter des Hauses, wo
er zum Frühstück blieb, mit Erstaunen wahruahm,
dass er Messer und Gabel zu handhaben wusste und
nicht sein Beefsteak raubtierhaft mit Händen und
Zähnen zerriss. Aber noch seltener waren jene, die
er nicht als Freund verliess, und die er nicht in langen
Gesprächen dazu gebracht hätte, vieles anzuerkennen
von dem, was er selbst für gut, recht und schön
hielt.
ln der holländischen Kultur hatte sich die Strömung
etwas geändert. Vielleicht blieb eine in Belgien und
Frankreich aufkommende und mit Recht oder Unrecht
symbolistisch oder mystisch genannte Richtung auch
bei uns nicht ohne Einfluss, jedenfalls fing man an,
das Allgemeinere und Abstraktere, was in älteren
idealistischen Traditionen liegt, dem forciert Ursprüng¬
lichen und Neuen schärfer gegenüber zu stellen und
man suchte mehr nach dem, was nur jedem einzelnen
individualistischen Temperament eigen war. Von den
Gefahren jener Richtung, entweder die anziehenden
aber leichtsinnigen und ziemlich zwecklosen Kapriolen
einer Anzahl heissköpfiger Ausländer mitzumachen
oder in eine wiedererwachende überempfindliche
Romantik zu verfallen, braucht, weil sie im nüchternen
Holland nur vorübergehend auftraten, hier kaum die
Rede zu sein. Ebensowenig von den Verwirrungen,
welche die neue Art in den grünen Gehirnen einiger
halbwüchsiger Knaben anrichtete. Reaktionär gegen das
Vorhergehende konnte sie durch das geringere Talent
ihrer jüngsten Anhänger nur in den wenigsten Fällen
sein ; bei ernsten Künstlern hatte sie höchstens zur
Folge, dass die impressionistische Technik nicht mehr
als die alleinseligmachende angesehen wurde; dass
auch Kunstrichtungen wie die von Rossetti oder
William Morris genauer als bis jetzt studiert wurden;
dass ein Kunstwerk nicht mehr als l’art pour l’art
aufgefasst wurde, sondern auch die angewandte
Kunst ihre Rechte wieder geltend machte und dass
man schliesslich, ohne etwas von der Bewunderung
für die grossen Haagschen einzubüssen, lächelnd über
die Thorheiten einer kränklichen Mystik sich trotz-
alledem fragte, ob nicht von den Brüdern Maris der
dritte, der in London seine märchenhaften Erzählungen
in verträumten Farben der krassen Realität der andern
vorzog, — der allergrösste wäre.
Wie für alles Junge hat Veth auch dafür in
den letzten zehn Jahren mit Wärme gestritten, sei
es, dass er Derkinderens dekorative Wandgemälde in
einer geistreichen Broschüre verteidigte oder dass er in
einer Reihe von Notizen und Kritiken, die seit 1885
im Amsterdamer und seit 1895 in der Kroniek er¬
schienen, immer wieder die allgemeine Aufmerksam¬
keit auf neue Schöpfungen in allen Gebieten des Kunst
gewerbes lenkte. Auch hier wurden mit ungealterter
Streitlust und Frische die Böcke von den Schafen,
Ernst von Humbug getrennt. Aber am stärksten zeigt
sich bei ihm das Neue, wenn wir 1893 ein Gemälde
sehen, in dem zum erstenmal technisch ganz mit dem
Einfluss seiner älteren impressionistischen Zeitgenossen
gebrochen ist. Es ist ein einfach hingesetztes Mädchen
im Kostüm der Fischerfrauen von Huisen am Zuidersee
— die langen weissen Hände im Schoss gefaltet — ein
durchsichtiges blasses Gesicht, in dem sich Weltangst
und Lebensüberdruss zugleich einen. Giebt es einen
grösseren Gegensatz als zwischen diesem ruhigen, fast
leidenschaftslos glatt gemalten Bilde und den rastlos
von Farben durchwühlten und durchstrichelten Arbeiten
älterer Künstler? Auch Israels hat uns den Schmerz
gemalt in Bildern, wo jeder Pinselstrich und jeder dar¬
gestellte Gegenstand von Trübsal durchsogen scheint.
Wir erinnern an die alte Frau an der Leiche ihres
Mannes. Nicht nur die ärmliche, hingekrümmte Ge¬
stalt, der welke, in die Schürze gedrückte Kopf und
jene starre kaum angedeutete Form auf dem dürftigen
Bett lassen uns die armselige Trauer empfinden, son¬
dern das Ganze, — die trostlose Spelunke, in die das
matte Licht furchtsam und schüchtern nur hineinzu¬
schlüpfen wagt, die gruseligen Ecken, in welchen die
Verlassenheit wie ein verlottertes Gespenst hockt, die ab¬
geflauten Umrisse des schäbigen Mobiliars, das Mulsche
der mühsam durcheinander wimmelnden Farben, —
alles zusammen ist eineStimmung pauverenjammers und
elender Einsamkeit. Und nun derGegensatz. Das sitzende
Mädchen in den fast übergrellen Farben. Mit mitleids¬
loser Rauheit sind das Rot der Jacke, das Blau der
Schürze, das Gelb der Stuhllehne neben einander gesetzt.
Der schattenlose Hintergrund grüner Eichenblätter
wirkt beinah dekorativ; es ist eine strenge asketische
Zurückhaltung in allem Beiwerk, die Absicht des
Malers konzentriert sich lediglich auf das Antlitz. Hier
liegt das Seelenproblem, das er sich selbst zu lösen
gegeben hat, hier liest man von einer Wehmut, nicht
weniger brennend als das Leid der alten Frau, hier
haust eine Einsamkeit, unheimlicher als der Tod selbst
vom letzten und liebsten, was wir besessen, sie hinter¬
lässt. ln diesen starren Augen, den schwindsüchtigen
Zügen, in diesem Ausdruck ratloser Mutlosigkeit von
danteskem Weh sehen wir, was den Maler dazu
brachte, diesem Mädchen den Namen jenes andern aus
Hans Christian’s Märchen »die roten Schuhe« zu geben.
Und doch ist es nicht ohne Absicht, dass der
Name des Dekans der niederländischen Malerzunft so
oft in diesem Versuch, seinen jüngeren Bewunderer
zu charakterisieren, vorkommt. Das Reife Israels’ und
das Jugendliche Veth’s ausser Betracht gelassen, sind
sie in diesen Arbeiten trotz der verschiedenen Mittel,
wodurch sie auf den Beschauer wirken, miteinander zu
vergleichen, weil beide mit dem Ernst und der Kraft
ihres arbeitsamen Lebens etwas von dem Innerlichen,
das die äusserlichen Formen bestimmt, von den see¬
lischen Rührungen, welche das sichtbare Wesen be¬
herrschen, zu erfassen und wiederzugeben versuchen;
zu vergleichen in ihrer Verschiedenheit, wie man
Ähnlichkeiten im Gesicht eines jungen übermütig
tanzenden Mädchens mit dem ihres alten strenggläu¬
bigen Grossvaters entdecken kann; wie der Ausdruck
eines Kindes, das in der Sonne Schmetterlinge jagt,
an den seiner trauernden Mutter erinnern kann; zu
Zeitschrift für bildende Kunst.
N. F. XIV. H. 1
2
JAN VETH PINX. BILDNIS EINES VERLEGERS
10
JAN VETH
vergleichen, weil es sich hier um eine unvermischte
gemeinsame Herkunft handelt, ln die Regierungs¬
kommission, die wegen des Platzes der Nachtwache
zu Rate sitzt, sind diese zwei gewählt und man stellt
sie sich unwillkürlich in der Gruppe, die am radi¬
kalsten für eine Änderung eifert, in der äussersten
Linken sitzend vor. Der kleine bissige Alte mit der
blitzenden Beweglichkeit seiner klaren Augen, mit der
geistreichen Abruptheit seiner Bewegungen und der
launischen Frische seiner jugendlichen Vernunft, die
sich durch keine Machtsprüche der Welt imponieren
lässt, und neben ihm der lange Hagere, dessen rötlicher
Spitzbart hartnäckig in eine Richtung zeigt, dessen
gelenkige Glieder noch immer an einen Gassenjungen
erinnern, aber dessen wohlüberlegte Worte in ihrer
jäh festgehaltenen Logik den Gegner, der sich nur
einen Moment bloss stellt, augenblicklich zu treffen
wissen. Fast könnte man sich dazudenken, dass dieser
Grösste, um dessen Meisterwerk sie als Kameraden
streiten, sich freuend über so verschiedenartige Enkel
in die Sitzung kommt und mit wenigen Strichen die
zwei ausgeprägten Köpfe in eine Kupferplatte ätzt.
IV.
Ohne dass von einem spiessbürgerlich-schneidigen
Es ist erreicht die Rede sein kann, trat doch
bald eine Zeit ein, in der von eigentlichem Streit
mit dem Publikum nicht mehr gesprochen wurde.
Die Chance oder die Gefahr je populär zu werden,
wird für Veth wohl immer gering bleiben, aber der
Kreis von denen, die ihn schätzen und verstehen, war
schon bald nach dem Beginn der neuen Periode ein
ziemlich grosser. 1893 wurde zu Amsterdam ein
Damenporträt ausgestellt, in dem das Beste jener Zeit
und vielleicht nicht nur jener Zeit sich zeigte, das,
wie zehn Jahre früher das Bild der Schwestern, deut¬
licher vom neuen Ziel sprach, als dies viele spätere Bilder
thaten. Beim ersten Anblick fast trocken und dürr in
der Behandlung, für den oberflächlichen Beschauer eine
farbige Zeichnung, bekommt es für jeden, der sich die
Mühe giebt, schärfer hinzusehen, die höhere Einfachheit,
die tiefere spirituelle Einsicht, und so erinnert es, wie
Veth’s beste Arbeiten überhaupt, an die Bilder jenes wun¬
derlichen Malers, von dem uns Hawthorne erzählt, der
das menschliche Gemüt so zu ergründen verstand, dass
seine Porträts schliesslich Prophezeihungen wurden
und er, ohne es zu wollen, die Menschen in jenen zu¬
künftigen Momenten darstellen musste, in denen das
Tiefste ihres Wesens sich in der entscheidenden That
ihres Lebens herauskehrte. Bald folgte das vergeistigt¬
suggestive Bild eines Stadtrats; die gelähmte Dame, in
deren Augen die verlorene Körperkraft nunmehr zu
wohnen scheint, der vollblütige Kopf des Diplo¬
maten, der vielleicht etwas an Luther, aber sicher sehr
an den gefrässigen Vitellins erinnert; das schlanke
Kniestück der zierlichen Frau im schwarzen Spitzen¬
kleid mit glitzerndem Jet. Aber eine Aufzählung des
ganzen gemalten Oeuvre ist nicht meine Absicht; eine
bewundernde Beschreibung jedes einzelnen Bildes
möchte übrigens den Maler, der über alles lieber als
über sich selbst sprechen hört, keineswegs freundlich
oder dankbar stimmen. Es würde ausserdem keinen
Sinn haben, zwischen dem, was er gegeben hat und
dem, was er noch leisten wird, gerade jetzt eine Tren¬
nung zu machen. Mitten in einer Entwickelung, die
im allgemeinen bis jetzt eine fortwährende Steigerung
aufwies, hat man keinen stärkeren Grund anzunehmen,
dass die nächste Zukunft einen Stillstand bringen wird,
als zu glauben, dass jetzt alle Schwierigkeiten über¬
wunden sind und der Wagen endgültig im Rollen ist.
»Man sitzt vor jedem neuen Gemälde immer wieder
so ungeschickt, als ob man noch nie eins gemalt hätte«
ist ein Ausspruch, den man oft von dem ausdauernden
Arbeiter hören kann und dies wird er wohl noch
manchmal sagen.
Mögen seine Freunde bisweilen fürchten, dass seine
Tugenden zu viel Ähnlichkeit mit Fehlern bekommen,
dass er, zu sehr vertieft in die guten Eigenschaften
seiner Modelle, auf die Dauer die schlechten nicht
mehr mit überlegener Ruhe zu beobachten wissen
wird, dass, wie ein zu angestrengtes Streben bei nicht
ganz gesunden Menschen das Seelische in den Vor¬
dergrund rückt, auch in seine Malerei etwas Kränk¬
liches kommen könnte; mögen sie ihm als besten Auf¬
trag das Porträt seines verhasstesten Feindes gönnen,
damit seinen Bildern nicht jener heilige Oppositions¬
geist verloren gehe, der seine Schriften noch immer kenn¬
zeichnet und damit das nicht in seine Kunst dringe,
was man eine Allerweltsfreundschaft nennt; mögen sie
ihm in der Zeit der Überraschungen beim althollän¬
dischen Sint Nikiaasfest eine schöne Reproduktion
der Haarlemschen Hexe Hille Bobbe sehicken, damit
der Kritiker, der Hals als Porträtmaler nicht am mei¬
sten schätzt, trotzdem in seiner eigenen Arbeit den
Humor nicht vernachlässige — sie vertrauen nichts¬
destoweniger fest auf jene zweite Lebenshälfte, die
wie bei vielen holländischen Künstlern, die gute erste
noch weit übertreffen wird.
ANDRE JOLLES.
ADOLF MENZEL
Von Jan Veth
WENN man unter urdeutscher Kunst ein Geistes¬
produkt verstehen wollte, das von dem Duft
deutscher Wälder durchzogen wäre, eins, in
welchem die Waldvögel singen, die Veilchen duften
und die deutsche Minne kost, in dem altgermanische
Erinnerungen spuken und zugleich schmucke Ritter¬
lichkeit und jungfräuliche Unschuld sich spiegeln,
eine Kunst, deren Märchengemüt uns lockend zu¬
flüstern kann, dann würde es schwer fallen, sich
einen weniger urdeutschen Künstler als Adolf Menzel
vorzustellen. Singen, duften, minniglich kosen, spuken,
locken oder bethören, dessen war in der That die
Muse von Menzel niemals fähig und wenn man in
seiner Kunst eigentlich, selbst figürlich gesprochen,
von solcher beseelenden Dame sprechen kann, so ist
es sicher eine, die dem Gemüt kein unnützes Thränchen
nachweint.
So »drög« wirklich manchmal wie Hafergrütze, so
schwer beinah wie Wurst und nicht selten nahezu
so nüchtern wie ein Hausstandsbuch ist viel von der
Arbeit seiner geschickten Hände und doch muss dieser
zähe Pütjerer als ein ausserordentlicher Künstler und
in gewissem Sinne als ein typisch deutscher Künstler
betrachtet werden. Ich gebe zu, dass das Adjektiv
»deutsch« vielleicht zu breit und zu unbestimmt für
einen Mann mit so scharf umgrenztem Geist klingt und
obschon ich offen bekenne, dass ich in der Genea¬
logie der germanischen Volksstämme schlecht bewan¬
dert bin, würde ich es dann noch eher wagen, Menzel
als einen echten Preussen zu charakterisieren. Aber
nicht als einen Preussen nach 70: einen preussischen
Leutnant mit frisiertem Schnurrbart und Korsett — nein,
als einen altmodischen, rechtschaffenen Preussen, der
ein vortrefflicher Beamter, ein vielleicht noch vortreff¬
licherer Geschichtsforscher oder Naturwissenschafter
und jedenfalls am allerwenigsten ein Parvenü ist.
Menzel veranschaulicht uns den Typus eines
scharfdenkenden , hartnäckigen Spiessbürgers, mit be¬
schränktem Horizont vielleicht, aber gross in hart
durchgeführter Ehrlichkeit. Niemandem ist fester zu
vertrauen, keiner ist schwerer abzulenken als er. Durch
kein Missgeschick und keinen Ruhm, durch keine
Schwierigkeiten und keine Verführung hat er sich
einen Einger breit von seinem Weg abbringen lassen.
Das Komplizierteste und scheinbar Unausführbarste
packt er ganz kalt in Gemütsruhe an. Obgleich
man behauptet, dass der alte Herr in jungen Jahren
schwere gesundheitliche Krisen durchgemacht hat,
kennt man keine Nerven an ihm. Jetzt noch in
seinem 87. Jahre mit einem staunenerweckenden
Oeuvre hinter sich, von Lob und Ehrenbezeugungen
belästigt wie kein andrer, spricht er überzeugt von
der Mission, welche er an der deutschen Kunst noch
zu erfüllen hat, beklagt die Zeit, die er durch Getrödel
verloren und arbeitet inzwischen von morgens bis
abends an Wochen- und Feiertagen an der Vollendung
seiner Aufgabe mit einer Beharrlichkeit, die an das
Feuer der Jugend erinnert.
Wer den fast säuerlich ernst aussehenden Greis
betrachtet, erstaunt sich über die Erscheinung eines
so wunderlichen Kobolds, der bei so seltsam unter¬
setzter Gestalt doch imponiert und trotz einer gewissen
Komik in seinen Bewegungen doch so ehrfurcht¬
gebietend auftritt. Wie bei den meisten Zwergen
steckt seine Kleinheit vor allem in dem fast gänzlichen
Mangel an Bauch und Schenkeln, seine Beine .«ind
kräftig, seine Schultern eher breit und bei den possier¬
lichen Verhältnissen scheint der Schädel um so schwerer
und das Durchdringende seines Blickes um so mäch¬
tiger.
Wenn der rüstige alte Herr in seiner grossen
unheimlichen Werkstatt auf und nieder stapft und ein
bestürztes Modell oder einen durch die Schranken
seiner Unzugänglichkeit hindurchgebrochenen Besucher
anschnauzt, ist etwas so Stolzes, Imponierendes in
seinem Gang, als inspizierte er eine grosse Parade und
aus den Gebärden seiner kleinen Hände spricht eine
Entschiedenheit als ob er gewöhnt wäre, über Scharen
zu befehlen.
Als ich mich genauer in den Ecken des einsam
über die Wohnungen der Menschen hinaussehenden
Ateliers umblickte, wo jahrelanger Staub den sonder¬
baren Gegenständen an den Wänden durch gräulichen
Russ einen grimmigen Anstrich gegeben hatte, war es
mir, als ob ich die Geister in den grauen Ecken
scharren hörte und es wurde mir in meiner Verlegen¬
heit zu Mute, als hätte ich mich bei einem Zwergen-
könig verirrt, der von einem Gnomenheer Gehorsam
verlangen konnte.
Seine Vertieftheit gleicht dem stillen Ernst jener
Unterthanen, sein Witz ist wie ihr knirschendes Spott¬
lachen. Seine Fingerfertigkeit erinnert an ihre Alchy-
misterei. Ganz erfüllt von seiner Kunst steht er dem
Herzensleben der Menschen fast feindlich gegenüber.
Seine Augen sind scharf geschliffene Optikerspiegel,
seine Hände bilden den vollkommensten Zeichenapparat
— ebenso wie Lionardo zeichnet er mit der linken
Hand ebenso gern wie mit der rechten, mit der
rechten ebenso sicher wie mit der linken. Um sein
Ziel zu erreichen, setzt er alle Hebel in Bewegung,
keine Träumerei leitet ihn ab, er zeichnet um zu
zeichnen, nicht aus Liebe zu dem, was er zeichnet.
Die Welt fasst er wie eine Vorratskammer von Mo¬
tiven auf, die Natur und die Menschen beobachtet er
mit der Mitleidslosigkeit des Forschers. Man hält ihn
für fähig, das Leben so sehr bis ins äusserste zu zer¬
gliedern, dass er zur Not seine Beute tötlich verletzen
ADOLF MENZEL
1 2
könnte, käme dies nur dem Leben seiner Kunst zu
gute. Darin ist er immer auch von der Rasse jenes
Ejalar und jenes Galar, die den verjüngenden Götter¬
trank zu brauen wussten, wenn sie dazu aucli das
Blut des weisen Kwasir brauchten.
Man verlangt vielleicht eine voller atmende Kunst,
Schöpfungen, die erhebender, erfrischender, heroischer
sein sollen als die, welche wir von Menzel haben.
Nur dies werfe ich dagegen ein, dass die Ritter des
Idealismus, wenn sie auch nach einem unwiderleglich
höheren Ziel streben, es nur zu oft auf Ikarusweise
zu erreichen versuchen. Und wenn man es mir zu
gute halten will, dass ich dabei bleibe, unsern
preussischen Positivisten gerade mit mythologischen
Gleichnissen etwas zu charakterisieren, so möchte ich
bemerken, dass auch die Äsen der Macht der Erd¬
geister Rechnung trugen und dass der Lybische Riese
Antaeus nur aus der Berührung mit der Erde jedes¬
mal die Kraft schöpfte, um Herkules zu widerstehen.
Wenn ein jüngeres Geschlecht von Deutschen einer
Kunst nachzustreben verlangt, die sonniger, stolzer
und vielleicht poetischer ist, als die, mit welcher der
kleine solide Mann ihnen voran ging, wenn sie einen
heldenhafteren Kampf mit einem Ideal zu streiten be¬
gehrten, wie es die Geduld und die Ehrwürdig¬
keit Menzel’s thaten, dann möchte ich sie darauf hin-
weisen, was die Weisheit der Väter ihnen in ihrer
Schätzung des Gnomengeschlechts zur Lehre hinter¬
lassen. Ihnen, hiess es immer, sind die lebenskräftigen
Kenntnisse und fabelhaften Kunstgriffe vertraut, die
uns verborgen bleiben. Sie verstehen Mischungen
zu brauen, Risse zu löten und Waffen zu schmieden,
von denen weder Götter noch Menschen eine Ahnung
haben und diejenigen erringen den grössten Sieg,
die die Waffen aus ihren Händen beziehen.
Lacht nicht über die dickköpfigen alten Graubärte
mit ihrer falben Gesichtsfarbe. Die Macht der Gnomen
zu verkennen, kommt einem teuer zu stehen. Haltet
die scharfsinnigen emsigen kleinen Weisen in Ehren;
ihre Kunstweise wie ihre Geschicklichkeit machen sie
zu vortrefflichen Lehrmeistern, für junge Heldensöhne
geeignet.
Ich würde an meinem Ziel vorbeigeschossen haben,
hätte ich hier zu einer Auffassung Anleitung gegeben,
als sollte man in Menzel nur einen Weisen, einen
Meister, ein Vorbild sehen, dessen thatsächliche Produk¬
tionen nur einen mässigen Genuss zu bereiten ver¬
mögen. Die Sache ist die, dass es ungewöhnlich
viele Schwierigkeiten bietet, Menzel’s Arbeit etwas
ausführlich richtig zu charakterisieren. Die Gefahr
liegt vor allem darin, dass man das abstrahieren will,
was doch nur konkret aufgefasst werden kann. Doch
selbst dann eine Beschreibung seiner Arbeit - ich
bitte Sie, wo würde der Anfang, wo das Ende von
solch einer Riesenaufgabe sein !
Ich bin zu meiner Ereude mit einem deutschen
Künstler befreundet, der mit einer grossen Erische
von produktivem Können eine seltene Einsicht in die
Arbeit vieler andrer Maler vereinigt. Jahraus, jahr¬
ein haben wir immer wieder über Menzel das Blaue
vom Himmel geredet und oft ergab es sich, dass wir
seine Kraft selbst nicht annähernd definieren konnten,
ohne uns genau Rechenschaft zu geben, wo sie an
seine Eehler grenzt. Etwas kommt hier noch dazu:
Der grosse Ruhm von Menzel ist durch unklare Ver¬
hältnisse allmählich masslos auf die Spitze getrieben.
Die zur Reichsresidenz erhobene Hauptstadt Preussens
hat das Bedürfnis verspürt, einen Kaiser auch der
Malerei zu proklamieren; die familienstolzen Hohen-
zollern wollten den plastischen Geschichtsschreiber
des grossen Eritz und seiner Heldenthaten auffällig
ehren und des seltsamen Mannes hohes Alter lässt
das Interesse an seiner bedeutenden Persönlichkeit noch
fortwährend zunehmen. Dies alles weckt bei vorsich¬
tigen Leuten - nichts stimmt so sehr zur Kritik als
das Beobachten einer kunstmässigen Überschätzung
— die Lust, auch die schwachen Seiten eines grossen
Künstlers ans Licht zu kehren. Mein deutscher Ereund
befindet sich in einer Lage, die ihm in jeder Hinsicht
zu solcher Kritik an Menzel Veranlassung genug giebt.
Seine Bemerkungen bleiben nicht immer ganz respekt¬
voll und manches Mal werden sie selbst unartig. Doch
merkwürdigerweise war dies nur der Eall, wenn wir
von weitem über Menzel’s Bedeutung theorisierten,
nicht wenn wir mit den Blättern in der Hand uns
mit seinen Produktionen familiär fühlten. Der Maler,
den ich meine, hat bei seinen andern grossen Ver¬
diensten nämlich auch dieses, dass er ein äusserst ge¬
schmackvoller Sammler ist. Und jedesmal, wenn ich
ihn in seinem Hause besuchte, war es nicht der
Menzel -Nörgler, sondern der Menzel-Enthusiast, der
mich — die schönsten Sachen von Menzel kenne ich
aus diesem künstlerischen Hause — vor ein neu er¬
worbenes Werk des Meisters führte. Dies scheint mir
bezeichnend. Man kann über diese Eigur in ihrem
Verhältnis zur Kunst im allgemeinen denken was man
will, aber auch die nicht bereitwillig Gläubigen können
eine grosse Anzahl von Zeichnungen nur hoch¬
achten und oft nur lieben. Nicht dadurch, dass man
an ihn denkt, sondern seine besten Produktionen be¬
sieht, bewundert man ihn am meisten. Ich weiss
nicht, ob er mit all seinen Versuchen, all seinen
Grübeleien, all seinem Eorschen und all seinem Können
der Kunst dieser Zeit viel Neues gebracht hat, ich
weiss nicht, ob man seine Stellung immer für so wich¬
tig und bedeutungsvoll halten wird, wie sie uns jetzt
erscheint. Aber sein grosser Wert liegt auch weniger
in seinen Konzeptionen selbst, als in der krassen
Art, wie er sie zu verfleischlichen wusste. Ich kenne
Künstler von höheren Idealen, aber wenige, die ihr
Wort so treu gehalten haben. Und deshalb: wo die
Geschichte ihn auch hinstellen wird, ausser Erage
scheint es mir, dass ausgewählte Werke Menzel’s, so
lange Zeichnen Zeichnen, Redlichkeit Redlichkeit und
Kraft Kraft bleibt, nur mit entschiedener Bewunderung
betrachtet werden können. Mit einem so ehrwürdigen
Gepäck wie das seine richtet man sichern Kurs nach
der Unsterblichkeit.
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
IN DER ERMITAGE ZU ST. PETERSBURG
Von Max Rooses in Antwerpen
(Fortsetzung aus Jahrgang XHI, Heft 2 und 5)
LUCAS VAN LEIDEN
Ein höchst merkwürdiger Meister! Er gehört
zu den ersten in der Reihe der grossen hol¬
ländischen Künstler. Vor ihm hatte die nieder¬
ländische Kunst ihre Bannerträger hohen Ranges in
den südlichen Provinzen gefunden, zuerst in Flandern,
später in Brabant; jetzt kam die Reihe an Holland.
Und schon gleich brachte der neu auftretende Land¬
strich eine Morgengabe mit, die den gesamten Schatz
der Weltkunst bereicherte: es war der Widerschein
des Volkslebens in seiner Einfalt und Gemütstiefe.
Der Bürger, der geringe Mann wird zum Gegenstand
des Studiums, ein Held, dessen Thaten wenn
auch noch so bescheiden der Mühe der Betrach¬
tung und Aufzeichnung für wert erachtet werden.
Liicas van Leiden brach mit der mittelalterlichen
Kunst, die allein für das Seelenleben ein Auge hatte
und ausser den Auserwählten, den Himmlischen und
ihren Vertretern niemanden für darstellenswürdig
hielt. Höchstens wurden neben jenen die Fürsten
und Grossen der Erde, die Weltbeherrscher, zuge¬
lassen. In der neueren Zeit bekam das Leben auf
der Erde ebenfalls Interesse und der Bürger erhielt
Bürgerrecht in der Kunst. Lucas van Leiden war
der Anführer dieser durchgreifenden Umwandlung.
Hierdurch legte er den Grund zu allen späteren
charakteristischen Äusserungen vaterländischer Kunst.
Während die übergrosse Mehrheit der Maler des
16. Jahrhunderts der alten Kunstrichtung den Rücken
gekehrt hatte, zur italienischen Manier überlief und
sich durch akademische Lockungen verleiten liess,
blieb er treu niederländisch. Er suchte in der
nächsten Umgebung das Eigenartige und dasjenige,
was verewigt zu werden verdiente. Er war der
Hauptmann der glorreichen Schar, die in den Tagen
der Eingenommenheit für die fremde Lehre und der
Verleugnung der nationalen Art, Treue der eigenen
Auffassung predigte und deutlich zeigte, welche Kraft
die holländischen Sitten ursprünglich besitzen und
welche Art die Kunst seines Landes auszeichnen muss.
Hieronymus Bosch, Pieter Breughel, Pieter Aertsen
und viele andere folgten im 1 6. Jahrhundert auf dem
Wege, den er gebahnt hatte; im 17. Jahrhundert
wurde der Ton, den er angeschlagen hatte, zu dem
Grundton der holländischen Kunst.
Lucas van Leiden war ein Wunderkind. Was
uns van Mander von seiner frühzeitigen Reife erzählt,
grenzt ans Unwahrscheinliche und würde nicht zu
glauben sein, wenn nicht alle vorhandenen Urkunden
damit übereinstimmten. Der alte Geschichtsschreiber,
der ein Bewunderer unseres Meisters war und über
ihn ausführlicher geschrieben hat, als über irgend
einen anderen holländischen Künstler, weiss uns zu
erzählen, dass Lucas im Jahre 1494 um den letzten
Mai oder Anfang Juni in Leiden geboren wurde, und
dass er als Kind von neun Jahren Kupferpiatten nach
eigener Erfindung bearbeitete. Seine erste gezeichnete
Platte trägt die Jahreszahl 1 508, als er vierzehn Jahre
alt war; ihre Komposition und Ausführung ist be¬
wunderungswürdig. Zwei Jahre später war er Meister
in seiner Kunst. Er starb 1533; in seinem kurzen
Leben stach er 174 Kupferplatten, gravierte auf Glas
und fertigte eine Anzahl von Gemälden.
Als Stecher nach eigenen Schöpfungen ist er am
meisten bekannt und verdient er auch das grösste
Lob. Unter seinen allerersten Bildern, die er von
seinem neunten bis vierzehnten Jahre verfertigte, sind
bereits einige erstaunlich schön ausgeführt. Mit
sechzehn Jahren vollendete er einige seiner voll¬
kommensten Bilder: seine »Taufe Christi«, seinen
»Christus dem Volke gezeigt« und seinen »Verlorenen
Sohn«. Alle diese Bilder sind durch die Feinheit
der Ausführung bemerkenswert; er grub nicht tief
in das Kupfer, er kratzt mit ganz zarten Linien
leicht auf die glatte Fläche und erzielt nichtsdesto¬
weniger herrliche Wirkungen von Licht und Farbe.
Die wolligen Falten, die leuchtenden Widerscheine
des Kleides, den Glanz von dem Laub der Bäume,
die allgemeine Erscheinung der Dinge wie das ge¬
ringste Untergeordnete bringt er in wenigen Zügen
mit seinem Stift. Ein Bildchen kann noch so ein¬
fach sein, er weiss es durch sein Geschick köstlich
und anziehend zu machen. Sein Können vermag das
Besondere ausfindig zu machen und seine Liebe zur
Sache weiss das Geringste zu schmücken. Er hatte
sehr wahrscheinlich die ersten Werke Albrecht Dürer’s
gesehen, als er seine frühesten Platten stach, und die
Technik des grossen Meisters hatte er sich zum Vor¬
bild genommen. Seine eigene Stifttechnik war nicht
weniger bewunderungswürdig als diejenige seines
Vorgängers, aber sie war anders: Dürer war forscher,
männlicher in seinen glänzenden Kupferstichen; Lucas
war weicher, feiner, grauer; seine Kunst ist mehr
diejenige jenes schwachen Männleins, wovon Dürer
spricht, als die des mächtigen Schöpfers aus Nürnberg.
ln der Auffassung seiner Motive ist er in der
That eigenartig und holländisch. Was ihn in der
Welt berührt, ist nicht die That seines Helden oder
das mehr oder weniger gewichtige Ereignis, das er
14
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
darzustellen hat, sondern der Eindruck, welchen sie
auf die Menge machen, die Teilnahme des Publikums
an ihnen; der gewöhnliche Mensch mit seinen All¬
tagsgefühlen und seinen Naturäusserungen ziehen ihn
am meisten an, ihn studiert und schildert er mit
Vorliebe. Dadurch wird das Leben in seinen Werken
nicht an einem einzelnen Punkte vorherrschend, son¬
dern es durchdringt alle Teile, jede Person; seine
Wahrheit ist ungekünstelt, ein jeder begreift sie und
geniesst sie. Im Gegensatz zu den akademischen
Künstlern fasst er weder zusammen, noch vereinfacht
er, sondern er ist ein Analytiker und Zergliederer
der Handlung.
Saulus ist durch ein übernatürliches Ereignis von
seinem Pferd geschleudert: der Zustand ist tragisch,
der Körper gebrochen und der Geist gewaltig er¬
schüttert. Die Heldemnaler bilden den Betroffenen
ab wie er von seinem bäumenden Pferde fort¬
geschleift wird, die Eüsse haken im Steigbügel, das
Haupt hängt zur Erde, der Blick ist gen Himmel
gerichtet und erfleht Gnade. Lucas fasst die Sache
anders auf. Ein f^eiter, ein bejahrter Mann, ist von
seinem Pferde gefallen; das Tier ist verwirrt über
den Unfall und sieht mitleidig nach seinem Herrn.
Dieser ist verletzt, er hat jedoch seine Glieder auf¬
gerafft und humpelt hinkend weiter, gestützt auf zwei
dienstwillige Kameraden. Lebe wohl, Mirakel und
Drama; es bleibt ein Uiiglückchen übrig für die ver¬
mischten Neuigkeiten der städtischen Zeitung. Adam
und Eva sind aus dem Paradies verbannt: kein Engel
mit dem flammenden Schwert, keine machtvolle Gott¬
heit und kein von Angst und Reue niedergeschmettertes
Menschenpaar; es ist nur ein Tagelöhner mit seinem
Spaten auf der Schulter und seiner Erau mit dem
Kind auf dem Arm, die das Landgut verlassen, wo
man ihnen den Dienst aufgesagt hat. ln Esther vor
Ahasverus< berührt ihn nicht die Person und die
That des mächtigen Pürsten, und auch seine Personen
empfinden nicht den Eindruck; Esther ist ein Bürger¬
mädchen und verwundert sich sehr darüber, sich in
solch reicher Mitte zu befinden, und Hauptpersonen
sind zwei ihrer Gefährtinnen, die grosse, erstaunte
Augen machen bei dem Anblick der fremden Gesell¬
schaft, wo sie hineingeraten sind. In der Kreuzigung
Christi ist es wiederum nicht das mächtige Drama,
das welterneuernde Selbstopfer des Gottmenschen,
das ihn anzieht; es sind die Gruppen der Zuschauer
auf dem Wege nach Golgatha, die sich über das
Geschehnis des Tages unterhalten, die bettelnden
Krüppel, die paradierenden Reiter, die würfelnden
Söldner. Das Gemütliche beherrscht alles, der Bürger
spielt die grosse Rolle.
Seine Kunst ist deshalb doch nicht nüchtern; er
ist auf seine Weise Dichter und im gewöhnlichen
Leben ist ein inniges Gefühl und ein freimütiger Ans¬
druck bei ihm nicht ausgeschlossen. In Marias
Besuch bei Elisabeth begegnen sich die beiden
Erauen: keine Vorstellung der Überraschung über
das erfreuliche Neue, kein Bewillkommnen auf der
Schwelle; nichts als eine Umarmung, aber so innig,
so herzlich, dass von den beiden nichts weiter zu
sehen bleibt, als diese eine Gebärde. »Maria in einer
Landschaft ihr Kind säugend«; echt mütterlich sitzt
die Bürgersfrau da, nur darauf bedacht, ihren Liebling
zu laben und ihm ein bequemes Nestchen zwischen
ihren gespreizten, etwas angezogenen Knieen zu be¬
reiten; die Blumen am Boden jedoch, die Kräuter,
welche die Felsblöcke umranken, verleihen diesem
Idyll die Poesie.
Nein, Lucas war weit davon entfernt, nüchtern die
Wirklichkeit abzumalen, in die Winkel seines Geistes
versteckte sich eine gute Dosis Phantasie. Er muss die
Menschen wohl so nehmen, wie sie sind, er malt sie
jedoch gerne nach mittelalterlicher Weise, schlank und
aufgeschossen; die Gewandung und das Beiwerk er¬
setzt das hingegen wieder. Was für eine Pracht und
Grossartigkeit der Mäntel und Draperien, was für ein
Suchen und sich Vertiefen in allerlei grillenhafte
Fältchen und dann, welch eine grenzenlose Auswahl
von Kopfbedeckungen. Wir müssen bis zu Rembrandt
gehen, um ein derartiges reiches Sortiment zu finden:
Mützen, Helme, Hüte, Turbane von hundert ver¬
schiedenen Formen; nicht zweimal dieselben, und
seltsame Ränder um die Hüte; Federn auf den
Mützen und Federbüsche auf den Helmen. Eine
seiner geliebkosten Figuren ist ein Mann, dessen
Haupt mit Laubwerk umrankt ist; warum diese merk¬
würdige Kopfbedeckung? Nichts beantwortet die
Frage. Es scheint wohl possierlich, und doch ist es
das eigentlich nicht. Lucas van Leiden lacht und
spottet nicht; erst ein folgendes Geschlecht wird
dieses andere Element in die Kunst hineinbringen.
Sein Humor, wenn man das so nennen darf, ist
trocken; Blödsinn schildert er in vollem Ernst, ln
seiner »Festfeiernden Magdalena« ist die Tanzmusik
aus einem die Querpfeife blasenden Landsknecht
und einem Trommel schlagenden Herrn mit hohem
Hute und langem Rocke zusammengestellt. Der
hohe Hut und der lange Rock passen bei dieser
Trommelei ebensogut, wie ein Frack mit seidenem
Cylinder für einen Spielmann auf der Dorfkirmess,
und doch steht dieser seltsame Musikus in vollem
Ernste da, kühl bis ans Herz, ohne irgend welchen
Schein oder das Vermuten zu erwecken, dass er sich
komisch anstellen möchte.
Den grössten Teil seines Lebens blieb Lucas
dieser eigenartigen Kunstauffassung treu und behielt
seine hohe, ehrenvolle Ursprünglichkeit; in seinen aller¬
letzten Jahren erst wurde auch er von der ällmächtigen
Zauberkraft der italienischen Kunst ergriffen. Ver-
schiedeneseinerBilder,gezeichnet 1 530, tragen in unleug¬
barer Weise den Stempel akademischen Einflusses. Er
muss damals Stiche von Marc Antonio, dem Kupferstecher
von Raffaels Werken, gesehen und zum Vorbild ge¬
nommen haben. Ein »Adam und Eva«, ein »Loth durch
seine Töchter betrunken gemacht« , ein Cyklus der
-Sieben Tugenden«, ein »Mars und Venus« sind ganz in
dem bildhauerartigen Stil der italienischen Schule ge¬
halten. 1527 fand er Mabuse in Middelburg und reiste
mit ihm in Flandern; aus diesem Jahre stammen einige
seiner Werke, worin die sehr edlen Formen der
Renaissanceverzierungen — worauf Mabuse erpicht
LUCAS VAN LEIDEN DIE HEILUNG DES BLINDEN PETERSBURG, ERMITAGE
i6
DIE VLÄMISCHEN UND NIEDERLÄNDISCHEN MEISTER
war — eine Hauptrolle spielen. Der flämische Maler
kann den holländischen wohl zu der fremden Kunst
bekehrt haben.
Lucas van Leiden muss zur Einkehr gekommen
sein und Reue gefühlt haben über die Sünden
früherer Jahre gegen die heilige Zeichenkunst. Und
in der That, sein Sündenregister war sehr beladen
und er sah in den ersten Zeiten nichts darin, Kopf
und Leib gegen die Gesetze der Anatomie zu ver¬
ändern. Nach der Erkenntnis der Irrungen seiner
Jugend legte er sich auf das Zeichnen von schönen
nackten Eiguren, so wie hundert andere sie zeich¬
neten; er verlor seine erwähnten Gebrechen, aber zu¬
gleich auch seine unschätzbare Ursprünglichkeit.
Als Maler produzierte Lucas van Leiden viel weniger
wie als Graveur und auch der Kunstwert seiner Ge¬
mälde ist weniger bedeutend. Er gebraucht manch¬
mal Wasserfarbe, dann wieder Ölfarbe, aber er ist
eigentlich weniger ein Maler, der die Natur in Farben
wiedergiebt, als ein Graveur, der seine Zeichnungen
koloriert. Er behält alle seine guten Eigenschaften
als Beobachter des Lebens; seine Personen handeln
und bewegen sich wahrheitsgetreu; ihr Ausdruck ist
sprechend, aber die Farbe ist unharmonisch, einmal
blass, dann wieder braun und öfter schwarz; der
Widerschein ist gekünstelt, die Konturen scharf ab¬
geschnitten. Van Mander, der die Gemälde von
Lucas van Leiden ebenso preist, wie seine Kupfer¬
stiche, beschreibt verschiedene von ihnen, unter
anderen auch das Bild, welches die Ermitage von
Lucas besitzt und welches nach dem alten Geschichts¬
schreiber het uijtnemenste en schoonste« ist. Das
Bild gehörte im Anfang des 17. Jahrhunderts Hend¬
rik Goltzius und in dem folgenden Jahrhundert Crozat
und kam von da nach St. Petersburg. Es war damals
ein dreiteiliges Gemälde mit Flügeln, welche geschlossen
werden konnten, auf der Aussenseite trugen sie die
Jahreszahl 1531. Die Innenseiten der Flügel sind
jetzt mit dem Mittelstück zusammengefügt, die Aussen-
seiten der Laden sind abgesägt und absonderlich
eingerahmt. Alle Teile sind von den Holztafeln auf
die Leinwand gebracht. Die Aussenseiten der Flügel
stellen einen Mann und eine Frau dar, welche Wappen¬
schilder halten; das Mittelstück und die Innenseiten
stellen die »Heilung der Blinden von Jericho« dar.
Das Bild ist eins der letzten Werke des Meisters.
Er bleibt seinem Prinzip der früheren Jahre treu und
überlässt in der Darstellung des wundersamen Ereig¬
nisses der bunten Menge der Zuschauer eine ansehn¬
liche Rolle. Rechts und links bilden sich dichte
Gruppen, welche das Wunder beobachten und be¬
sprechen. Die Neugierde, Rührung und Zweifelsucht
ist in lebendigen Zügen wiedergegeben, eine Näherung
an klassische Behandlung ist jedoch auch zu merken.
Christus und der Blinde stehen ganz in der Mitte und
im Vordergrund der Komposition, auf ihn richtet sich
die Aufmerksamkeit der Umstehenden und auch die
unsrige. Die Handlung ist einheitlicher, es ist ein
merklicher Schritt zur modernen, zur akademischen
Auffassung gethan.
Der gemütlichen Auffassung ist er auch in seinen
Personen teilweise treu geblieben; das Kind, welches
den Blinden leitet und Christi Hilfe voll Vertrauen
und Andrang anruft, der mitleidige Heiland und der
klagende Blinde, der misstrauisch blickende Apostel,
der Knabe, welcher auf der Erde sitzt und nach der
Hauptgruppe hinweist, die Mutter, die links sitzt und
nach dem Wunder hinschaut und die bewegten Figuren
rechts sind alle Menschen, die auf frischer Lebensthat
ertappt sind. Aber in sie selbst und die übrigen Per¬
sonen ist mehr Stil gekommen; die Hauptgruppe ist
vornehm und würdig, die Figur links mit dem Rücken
nach uns zugekehrt, ist vollkommen akademisch drapiert,
es ist ein grosser Versuch gemacht, das wirkliche Leben
klassischer Ordination einzufügen. Der kräftig spru¬
delnde Geist des Meisters späht noch nach allen Seiten
aus, und es giebt noch Leben und Wahrheit in Über¬
fluss, aber es ist mehr eingezäumte Überlegung, mehr
vernünftige Einteilung hinzugekommen.
Ein aussergewöhnlich grosser Anteil ist auch der
Landschaft zuerteilt worden. Der Hintergrund ist ganz
durch dieselbe eingenommen. Nach der veralteten
Manier sind in der Ferne die Berge und Felsen blau¬
grün, links erheben sich graugetönte Gebäude mit zart¬
roten Dächern, mehr nach dem Vordergründe hin
steigt ein Schirm von dunklen Baumgruppen in die
Höhe, wovor sich die Scene entfaltet. Die Farbe ist
bunt und hoch im Ton mit launischen Reflexen.
Christus trägt ein dunkelblaues Gewand, der Blinde
ein dunkel braungelbes mit leuchtenden Widerscheinen,
der kleine Junge, der ihn leitet, ein lichtblaues mit
weissen Tönen! Rechts sieht man viele rote Draperien,
einige mit weissen oder gelben Widerspiegelungen.
Links trägt der von hinten gesehene Mann einen weissen
Mantel mit blauen Reflexen, ein anderer ist in eine
voll rote Draperie gehüllt, die sitzende Frau trägt ein
weisses Übergewand mit safranartigen Tönen; wieder
andere sind in gelber, rosiger, dunkel- oder lichtblauer
Kleidung. Es ist eine ganze Ausstellung von hohem
Farbenprunk und dabei noch wohl schwer und fest
aufgelegt; die Technik besitzt nicht mehr die Feinheit
der früheren Schule, auch nicht die porzellanartige
Manier einiger später kommenden, es liegt etwas
Solides und Breites in seiner Art. Aber Leben, Be¬
wegung und Wahrheit herrschen in allen Teilen und
Unterteilen. Eine neue Kunst hat sich Bahn gebrochen,
welche die Bescheidenheit und das Hölzerne des Mittel¬
alterlichen abgelegt hat, die vollauf menschlich ge¬
worden ist und die aus der Natur und Wahrheit ihren
Lebenssaft schöpfen wird, die Kunst der vaterländischen
Renaissance, deren Laufbahn eine Zeit lang noch durch
fremden Einfluss gehemmt werden wird, die jedoch
dazu berufen ist, im folgenden Jahrhundert den Ruhm
der holländischen Malerschule für immer zu befestigen.
Abb. 1. Büste Fried rieh’ s II. von Hohenstaufen (?) in Acerenza
Nach Photographie Moscioni, Rom
EIN PORTRÄT FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
Von Richard Delbrück
Eine Büste, die anscheinend Friedrich II. von
Hohenstaufen darstellt, befindet sich auf dem
Fassadenfirst der Kathedrale von Acerenza in
Süditalien.
Die Büste ist lebensgross, nur an der Vorderseite
voll ausgearbeitet, unten wagerecht abgeschnitten, kurz
über den Ellenbogen der herabhängenden Arme. Das
Material soll nach der Aussage des römischen Photo¬
graphen Moscioni, welcher die Büste aus der Nähe
gesehen hat, harter Kalkstein sein, der verwittert, aber
sonst nicht beschädigt ist.
Der Kopf ist schroff nach links gedreht und
schaut nach dort geradeaus; er hat kurzes Haar und
kurzen Bart, im Haare einen glatt anliegenden Lorbeer¬
kranz. Das Alter des Mannes werden 40 bis 50
Jahre sein. Der Rumpf ist bekleidet mit einem
Schuppenpanzer, der den Hals frei lässt und die
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. i.
Schultern bedeckt. Um beide Oberarme hängen
schmale glatte Schutzstreifen. Über dem Panzer liegt
ein Paludamentum aus schwerem Stoff, das unter
der rechten Achsel hindurchgeht und über der linken
Schulter von einer runden Schliesse zusammen¬
gehalten wird.
Der Kopf ist ein ausgesprochener Langkopf, dessen
Schädelkontur oben lang hinläuft und dann in
kurzem vollen Bogen nach dem Nacken herabfällt.
Der Gesichtswinkel ist beträchtlich, das Gesicht
lang, mit steiler, hoher Stirn, ziemlich kurzer, leicht
gebogener Nase, hoher Oberlippe und starkem eckigen
Kinn, unter dem ein breites Doppelkinn liegt. Die
Züge sind nach der Mitte versammelt, so dass das
Gesicht von vorn klein aussieht; die Augen sind
ganz offen, nicht gross, in den inneren Winkeln
durch die vorgebauten Brauenbogen stark beschattet.
3
i8
EIN' PORTRÄT FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
Abb. 2 und j. Büste Fried r ich’ s II. von Hohen¬
staufen (?) in Acerenza
die Nase scharf und schmal mit knappen Flügeln,
der Mund klein und einfach geformt, mit dünnen
Lippen; die Mundwinkel sind herabgezogen. Das
untere Ohrläppchen ist angewachsen, die Muschel
breit und eckig, die Öffnung gross und lang. Das
Kopfhaar ist kurz geschnitten, von Natur etwas gelockt
und fällt in kleinen Wischen rings in die Stirn, in
der Mitte in ein paar längeren Ringeln. Der kurze
Vollbart lockt sich stärker als das Kopfhaar, der Schnurr¬
bart ist sehr knapp geschnitten.
Die Ikauen sind ständig gerunzelt, es ist die Falte
da, die das Zucken der Nasenflügel den Wangen
einprägt, die Mundwinkel hängen herab, wie bei
Menschen, deren Leben ernsthaft ist, die offenen
Augen schauen hart geradeaus, die scharfe einfache
Drehung des Kopfes ist eine stolze Geberde; die
(jesamterscheinung des Kopfes ist ernst und herrisch,
dabei intensiv lebendig. Weiter wird man noch
sagen dürfen, dass der Mann vornehm, und dass er
von feiner Rasse ist; ja die schmalen Knochen und
das kleine Gesicht geben ihm etwas Spätes, zu hoch
gezüchtetes. Seinem Volke nach scheint er ein Süd¬
deutscher, Franzose oder Norditaliener zu sein.
Der [Bildhauer, der diese Büste gemacht hat, war
nicht im stände, die Form im grossen zu beherrschen;
die Auffassung der Silhouette ist plump und locker,
die Flächen des Fleisches, besonders am Halse, leer
und nicht durchfühlt; anatomische Kenntnisse be-
sass er augenscheinlich keine. Die Stilisierung des
Paludamentum ist einfach und fast grandios, aber
unlogisch und wenig sicher. Um so sicherer und
liebreicher sind die kleinen Formen eingehend aus¬
geführt und individualisiert, die der Künstler völlig
erfassen konnte; die Lorbeerblätter des Kranzes, die
vielen verschiedenen Löckchen in Haupthaar und
Bart, die Augen, die Nasenwurzel. Das Gesicht ist
viel mehr durchgearbeitet als der Hals; anscheinend
galt das Interesse vorwiegend der Physiognomie, dem
Porträthaften im modernen Sinne; auch die Drehung
des Kopfes giebt ja Ausdruck Und als Porträtist
stand der Meister der Büste sehr hoch, nicht gar zu
weit unter den grössten aller Zeiten, die man ver¬
gleichen mag.
Wann lebte nun dieser Bildhauer? Wann wurde
die Büste gemacht? Antik scheint sie aus mehrfachen
Gründen nicht zu sein. Zunächst wäre das unedle
Material in römischer Zeit, und nur diese käme ja
in Betracht, recht auffällig, dann ist der Schuppen¬
panzer, der die Schultern mit bedeckt, meines Wissens
an römischen Denkmälern nicht nachzuweisen, und
endlich ist die ganze Form der Büste mit horizontalem
unteren Abschluss nicht antik; bei römischen Büsten
verläuft diese Grenzlinie vielmehr immer geschwungen.
Abb. 3
EIN PORTRÄT FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
19
Wie verschieden Formauffassung und Strich von
der Antike sind, lässt sich nicht auseinandersetzen;
bei den römischen Büsten erscheinen sie reif und
sicher, bei dem Kopfe von Acerenza steif, unbefreit,
aber von archaischer Frische. Wer von der Beschäf¬
tigung mit der Antike herkommt, wird in diesem
Kunstwerk die Art einer völlig anderen Zeit erkennen.
Seine nächsten Analogien findet es in der süd¬
italienischen Plastik des 13. Jahrhunderts; besonders
an den Werken, die Friedrich II. von Hohenstaufen
arbeiten liess.
Das Porträt des sogenannten Petrus de Vinea vom
capuanischen Brücken¬
thor i) ähnelt dem Porträt
von Acerenza in allem
Vergleichbaren, dem Stirn¬
haar, der Form der Augen
mit der rund eingebohrten
Pupille, dem archaisch
stilisierten Gewände, in
der Art die Natur aufzu¬
fassen und das Indivi-
duellezu empfinden. Wenn
die Formen der capuaner
Büste in der Abbildung-
härter erscheinen, so liegt
es daran, dass sie nach
einem hellen Gipsabguss
photographiert ist. Die
Büste von Capua ist aller¬
dings unten rund abge¬
schnitten; hier treten zur
Ergänzung die zwei hori¬
zontal abgeschnittenen
Büsten der Sigelgaita auf
der Kanzel im Dome von
Ravello und einer unbe¬
kannten Dame aus Scala
ein, beides unteritalische
Skulpturen des 13. Jahr¬
hunderts und im Charakter
den fridericianischen nahe
verwandt-).
Die Einweisung der
Büste von Acerenza in das
13. Jahrhundert und in den staufischen Kunstkreis
scheint mir notwendig zu sein. Dabei muss aber
betont werden, dass der Panzer, wie ihn die Büste
1) Die capuanischen Skulpturen wurden teilweise .ver¬
öffentlicht von Fabriczy im XIV. Jahrgange dieser Zeit¬
schrift S. 180, 214, 236. Er erkannte als staufisch den
Torso der Kaiserstatue, den Kopf der »Capua«, die Büsten
des »Petras de Vinea« und »Thaddaeus von Suessula«.
Es verdient hervorgehoben zu werden, dass das Material
jetzt viel reicher ist; im Museo Campano zu Capua vetere
befindet sich jetzt ein weiterer männlicher Kolossalkopf
aus Marmor, ein marmorner Löwe und eine grössere An¬
zahl figürlich verzierter Marmorzinnen, alles sicher staufisch,
aber vielleicht bisher für antik gehalten. Gegenüber der
manchmal auftauchenden Behauptung, die Skulpturen von
Capua seien spätantik, glaubt der Verfasser, der Archäolog
trägt, in dieser Zeit in Süditalien bisher meines
Wissens nicht zu belegen ist.
Um nun den Namen des dargestellten Mannes
zu ermitteln, könnte man zunächst von der Thatsache
ausgehen, dass die Büste auf dem First der Kathe¬
drale von Acerenza steht und könnte in ihr das Bild
eines Lokalheiligen oder eines Stifters sehen wollen.
Aber es ist fraglich, ob die Büste für ihren jetzigen
Standort ursprünglich bestimmt war. Mit dem unter
ihr liegenden Mauerwerk steht sie in keinerlei Ver¬
bindung, so dass sie für die photographische Auf¬
nahme von der Stelle gerückt werden konnte, und
es ist auch zu bedenken,
dass der fein gearbeitete
Kopf in seiner heutigen
Aufteilung nicht zur Gel¬
tung kommt. Selbst das
steht nicht fest, ob die
Büste und die Kathedrale
gleichzeitig sind; Schultz
setzt die Kathedrale aller¬
dings in das 13. Jahr¬
hundert, aber Mothes in
langobardische Zeit. Be¬
vor eine erneute Unter¬
suchung der Kathedrale
von fachmännischer Seite
stattgefunden hat, wird
man also die Frage, ob
Büste und Kirche gleich¬
zeitig sind, zum mindesten
nicht bejahen dürfen.
Unter diesen Umstän¬
den thut man besser, die
jetzige Aufstellung der
Büste bei ihrer Benennung
nicht zu berücksichtigen.
Es wurde bereits oben
ausgesprochen, dass sie
wahrscheinlich ein Porträt
Friedrich’s II. ist.
Darauf führt zunächst
die Thatsache, dass der
Mann gepanzert, also ein
Krieger ist, und den Lor¬
beerkranz im Haare hat. Den Lorbeerkranz haben
in nachrömischer Zeit noch die Karolinger getragen,
wie man an ihren Münzen sieht, späterhin aber
nur noch Friedrich II. auf den Augustalen ^); der
übliche Kopfschmuck des Herrschers ist im Mittel¬
ist, 'mit Zuversicht sagen zu dürfen, dass in der Ent¬
wickelung der antiken Kunst kein Platz für dieselben zu
finden ist.
Vergleiche ferner Kraus, Geschichte der christlichen
Kunst II, 2. S. 85 F. 3, 4, mit der weiteren Litteratur.
2) Sigelgai'ta: vergleiche Kraus, Geschichte der christ¬
lichen Kunst II, 2. S. 89, F. 8. Büste aus Scala ebenda
F. 9, jetzt im Berliner Museum.
i) Vergleiche den Aufsatz von Winkelmann in den
Mitteilungen des Institutes für österreichische Geschichts¬
forschung XV. S. 401 f, mit Münztafel.
Abb. 4. Büste des Petras de Vinea (?) im Museo
Campano zu Capua. Nach Gips
(Nach Photographie Moscioni, Rpm)
3
20
EIN PORTRÄT FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
alter sonst vielmehr
nur die Krone. Es
ist darum wahr¬
scheinlich, dass eine
Panzerbüste, die
ihrem Stile nach in
die fridericianische
Zeit gehört und den
Lorbeerkranz trägt,
eben den Kaiser
Friedrich selbst dar-
itellt. Auch auf
den Augustalen trägt
der Kaiser übrigens
das Paludainentum,
darunter allerdings
keinen Panzer, son¬
dern einen Ärrnel-
rock, wie auch seine
Statue in Capua;
diese Übereinstim¬
mung und dieser
Unterschied werden
für die Lösung der
behandelten Frage
aber kaum von Be¬
deutung sein.
Recht günstig
ist hingegen der
liier vertretenen An¬
nahme, dass die
physiognornische
Übereinstimmung
der Köpfe auf den
individueller gehal¬
tenen Augustalen
und des Profilbil¬
des der Büste von
Acerenza ziemlich
weit geht, wie ein Vergleich der Abbildungen klar
macht. Der einzige stärkere Unterschied besteht
darin, dass der Kaiser auf den Augustalen bartlos
ist; aber dieser Unterschied kann nicht als sehr wichtig
betrachtet werden; er erklärt sich ungezwungen, wenn
man annimmt, dass beim Beginn der Augustalen-
prägung (1232) Friedrich keinen Bart trug, ihn sich
aber später wachsen liess, weshalb jedoch die Münz¬
stempel nicht geändert wurden; am Hofe Friedrich’s
wurde ja Vollbart getragen, wie man an den Büsten
des Thaddäus de Suessa« und Petrus de Vinea« vom
capuaner Brücken-
thore sieht.
Die Augustalen
wurden von 1231
ab für das sicilische
Reich geprägt; sie
geben das authen¬
tische, gleichzeitige
Porträt des Kaisers,
sind somit das beste
ikonographische Ma¬
terial, das man den¬
ken kann, und die
Übereinstimmung
zwischen ihnen und
der Büste ist von
Bedeutung.
Neben den Gold¬
münzen kommt eine
Gemme in Betracht,
die im 18. Jahrhun¬
dert nach dem
Kopfe der capuani-
schen Porträtstatue
des Kaisers ge¬
schnitten wurde *),
der damals noch
vorhanden war. Der
Kaiser trägt hier die
Zackenkrone, ist
bartlos, und seine
Züge gleichen etwa
denen der typischer
gehaltenen Augusta¬
len; diese Gemme,
deren Treue sich
nicht mehr kontrol¬
lieren lässt, hat als
Zeugnis natürlich
nur geringen Wert.
Endlich ist noch
auf Friedrich’s Sie¬
gel hinzuweisen^).
Auf dem bisher am
besten abgebildeten
Exemplar sind die
Züge des in Vor¬
deransicht sitzend
dargestellten Kaisers
recht wohl kenntlich
und enthalten nichts, was sie von dem Kopfe von
Acerenza wesentlich unterschiede; zwingende Ähnlich¬
keit ist allerdings auch nicht vorhanden.
Den Schriftquellen ist nichts zu entnehmen, was
die hier vorgetragene Vermutung bestätigen oder
widerlegen könnte. Der Geschichtsschreiber Salim-
bene sah Friedrich 1238 und sagt von ihm: »pulcher
1) Vergleiche Winkelmann a. a. O. Die Gemme be¬
fand sich später in Raunier’s Besitz ; jetzt scheint sie ver¬
schollen zu sein. Abb. : Huillard Hist. dipl. Frid. II. 1
Titelblatt, danach
Winkelmann a. a. O.
S. 401. Raumer, Ge¬
schichte der Hohen¬
staufen 111. Buch VI.
Schlussvignette.
2) Mitteilung des
Institutes für öster¬
reichische Geschichts¬
forschung XV. 1894,
S. 485 ff. Winkel¬
mann.
Abb. 5. Kflthedrale in Acerenza; auf dem First die Büste
(Nach Photographie Moscioni, Rom)
EIN PORTRÄT FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
homo et bene formatus, sed mediae staturae fuit«.
Den Eindruck wird man haben, dass zu dem Kopfe
von Acerenza kein sehr grosser Körper gehört, und
einen »schönen Mann« kann man den Dargestellten
zur Not nennen; aber diese Übereinstimmungen ent¬
scheiden nichts.
Von den Zeugnissen abendländischer Geschichts¬
schreiber, die später lebten als Friedrich, darf man
absehen; auch sie enthalten übrigens nichts, was sich
mit dem Typus der Büste von Acerenza nicht leicht
vereinigen liesse. (Winkelmann a. a. O. S. 408.)
Durchaus widersprechend sind hingegen die An¬
gaben, die sich im Pseudo-Yäfi'i, einem Pariser arabi¬
schen Manuskript historischen Inhaltes, finden. Danach
soll das Personal der Moschee Omars in Jerusalem,
die der Kaiser 122g besuchte, ihn folgendermassen
geschildert haben: » . . . L’imperatore era rosso, calvo,
debole di vista: s’egii fosse stato schiavo non sarebbe
arrivato al prezzo di dugento dirham«. (80 — 100 Mark)
Diese Äusserungen machen an sich keinen sehr unpar¬
teiischen Eindruck; alles Gewicht wird ihnen aber durch
den Umstand genommen, dass das Pariser Manuskript erst
im 15. Jahrhundert abgefasst ist und man seinen Autor
nicht kennt; die ihm gegebenen Namen des »Yafei«
und des »Hassan Ibn Ibrahim« trägt es zu Unrecht^).
1) Bibliotheque nationale, manuscrits arabes Nr. 1543
(Suppl. 757). Übersetzt bei Amari Biblioteca arabo-sicula
II. S. 245!, danach bei Röhricht, Beiträge zur Geschichte
der Kreuzzüge S. 88 — Qi. Der jetzige Titel schreibt das Werk
einem Yafei zu, der in Friedrich’s Zeit lebte, während es
2 1
Die vorstehenden Erörterungen lassen sich dahin
zusammenfassen, dass die Büste von Acerenza sicher
in den Kreis der staufischen Skulpturen von Capua
gehört und wahrscheinlich Friedrich II. darstellt.
Schliesst man sich dieser Ansicht an, so tritt man in
Widerspruch zu dem eigentlichen Entdecker und ersten
Herausgeber der Büste, Salomon Reinach, der in ihr
ein Bildnis Julian’s des Abtrünnigen zu erkennen
vorschlägt ^), sie also für römisch hält. Ich gestehe,
dass mir ein so früher Zeitansatz stilistisch vollkommen
unmöglich scheint, und dass ich sogar hoffe, meinen
Gegner zu überzeugen, wenn einmal die staufischen
Skulpturen so gut veröffentlicht sein werden, dass
man sie auch ausserhalb des Museo Campano in
Capua kennen lernen und sehen kann, wie mittelalter¬
lich frisch sie erscheinen neben der grossen, überreifen
Kunst der konstantinischen Periode.
nach Defremery im Journal asiatique S. IV. T. 8. 1846.
S. 535 erst im 15. Jahrhundert abgefasst wurde. Michaud,
Histoire des Croisades VII. S. 810 citiert augenscheinlich
dasselbe Manuskript unter dem Namen »Hassan Ibn Ibra¬
him«. Winkelmann a. a. O. S. 408, hält das Manuskript
noch für ein echtes Werk des Yafei und citiert den »Hassan
Ibn Ibrahim« daneben als unabhängige Quelle. (Auskunft
über diesen Sachverhalt verdanke ich Herrn Professor Völlers
in Jena.)
i) Revue archeologique XXXVIII. S. 337ff. Tafel IX ff.,
a. a. O. XXXIX S. 259!!., Michon, der Reinach’s Ansichten
ebenfalls widerspricht. A. a. O. XL S. 288 ff., Babelon
und Reinach.
Abb. 7. Siegel Friedrich's //.
Nach Mitt. d. Inst. /. öst. Geschichtsforschung XV.
EIN NACHTRAG ZUM HOUBRAKEN-KATALOOE
BILDNIS DER TOCHTER DES KURFÜRSTEN MORITZ ZU SACHSEN
N Driigalin’s I^orträtwc'rke, nicht in A Ver Huell’s
t lonbraken-Kataloge ist der, mir endlich!
ans den NiederlancleiG) zngegangene Stich Anna’s,
des hinterlassenen Kindes eines Moritz zu Sachsen,
der zweiten Geinalilin WiUuim’s I. (des Schweigers)
der Mutter unter anderem eines Moritz von Oranien-)
verzeichnet. 1561 wurde die sechzehnjährige Prin¬
zessin vermählt, 1577 ist sie (im Gewahrsam ihres
Oheims, des Kurfürsten August zu Sachsen) geistes¬
krank gestorben. Einem Anton Moor hat, wie das
Blatt angiebt, Anna gesessen oder gestanden. Das Ge-
1) Das K. Kiipferstichkabinett zu Dresden hat das
Blatt von mir zugewiesen erhalten.
2) In der Kunstchronik« N. F. XII, 516 f. erscheint
sie - irrtümlich — als dessen dritte Gemahlin; man ver¬
gleiche über sie Archiv für die sächsische Geschichte
II. (1864), 264!. und N. F. VI. (1880), 137 öl.
mäkle konnte mir, obwohl selbst S. K. H. Prinz Hein¬
rich der Niederlande meine Nachforschungen zu
fördern geruhte, nicht nachgewiesen werden. Die
Originalplatte ist 355 mm hoch. Ich führe diese
Anna hier vor^) und bemerke, dass ich eine ver¬
kleinerte (?) photographische Nachbildung einer frag¬
würdigen (»DIE EDEL . . .’^)«), im Prenten-Kabinett
zu Amsterdam aufbewahrten (Kniestück, Kupferstich,
Graveur angeblich Abraham Bruin), dem Museum
des Königlich Sächsischen Altertumsvereins zugeführt
habe •^).
Blasewitz. THEODOR DISTEL.
1) Das darauf angebrachte sächsische Wappen bedarf
der Ergänzung.
2) Man vergleiche das »Repertorium für Kunstwissen¬
schaft« XXIV. (igoi/2), 463.
3) Dort ist das sächsische Wappen noch mangelhafter.
BÜCHERSCHAU
Katalog der Handzeichnungen, Aquarelle und Öl¬
studien in der Königl. Nationalgalerie. Bearbeitet
von Lionel von Donop. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1Q02.
Uber die umfangreiche Sammlung moderner Hand-
zeichniingen in der Berliner Nationalgalerie giebt dieser
Katalog alle erforderliche Auskunft. Geringere Arbeit als
die Zeichnungen alter Meister geben die der neueren, weil
die Frage nach dem Urheber immer schon beantwortet ist
und wenn sie noch gestellt wird, meist an den Urheber
persönlich gerichtet werden kann. Als wissenschaftliche
Arbeit im Sinne der heutigen Kunstgeschichte, die im
Attribuieren ihr Ziel sucht, kann der Katalog sonach nicht
gelten. Doch wird als solche das sorgfältige Zusammen¬
tragen der Kimstierdaten, bei Lebenden oft umständlich,
gerühmt werden dürfen. Seine praktische Einrichtung macht
dies Verzeichnis zu einem guten Vorbild für ähnliche
Arbeiten. Von einer umständlichen Beschreibung der ein¬
zelnen Blätter ist löblicherweise ganz abgesehen worden,
die Beschreibung ist kaum mehr als ein kurzer Titel. Be¬
zeichnung, Datum, Technik und Maasse sind ausführlich
und genau angegeben.
Aus diesem Katalog ist der überraschend grosse Um¬
fang der Zeichnungsannnlung der Nationalgalerie zu er¬
kennen. Sie ist hervorgegangen aus den Zeichnungen
moderner Meister des Kupferstichkabinetts, 1878 über¬
wiesen und aus dem Vermächtnis des Dr. Theodor Wagener
vom Jahre 1891. In beiden Teilen aber waren zumeist
nur die älteren deutschen Künstler vertreten. Wert bekam
die Sammlung doch wohl erst durch die jährlichen Ankäufe.
Im Vorwort heisst es darüber sehr bescheiden: 3>ln syste¬
matischer Weise wurde durch Einzelankauf gesucht, die
Sammlung zu erweitern und zu ergänzen.« Damit wurde
sie erst zu ihrer jetzigen Bedeutung gehoben. Entsprechend
dem Sammlungsgebiet der Nationalgalerie überwiegen auch
im Handzeichnungskabinett die deutschen Meister. Aber
unvertreten ist das Ausland nicht, Blätter sehr wichtiger
Künstler finden sich vor: Constable (33 Nummern), Coignet,
Couture, Cham, Charlet, Cruikshank, Gavarni, Degas.
Adolf Menzel ist mit 1712 Nummern der umfangreichste,
vom prächtigen Franz Krüger besitzt die Nationalgalerie
522 Zeichnungen, meist Porträts, diese, wie der ganze Künstler
noch viel zu wenig bekannt und geschätzt. Der Katalog
ist wohl zunächst für die Benutzung vor den Blättern be¬
stimmt und gewiss geeignet, das Interesse für die Samm¬
lung der Zeichnungen in der Königlichen Nationalgalerie
zu vermehren. /. s.
Rom in der Renaissance von Nikolaus V. bis auf
Leo X. von E. Steinniann. Zweite umgearbeitete und ver¬
mehrte Auflage. Leipzig, E. A. Seemann 1902. 8**. XVI,
215 S. (Berühmte Kunststätten Nr. 3.)
Der Verfasser dieser Monographie vergleicht sein
Werk mit Albertini’s Mirabilienbiich. In der That führt
er uns den wunderbaren üppigen Blütenflor einer überaus
hochgesteigerten Kulturperiode, dessen halberloschene
Farbenglut und dessen edle Formen noch heute Hundert¬
tausende alljährlich zu bezaubern wissen, darin vor, in einer
Sprache von vornehmer Einfachheit, von feingestimmter
Empfindung und von tiefem Eindringen in die komplizierten
Probleme der Renaissancekunst und -Kultur. Es war voraus¬
zusehen, dass dieses schöne Buch in den weitesten Kreisen
Anklang finden werde. Nach nicht viel über zwei Jahren
ist denn auch schon eine zweite Auflage notwendig ge¬
worden. Sie giebt sich als eine Umarbeitung und Erweite¬
rung der ersten in mehrfacher Hinsicht aus, namentlich
im zweiten Kapitel versuchte der Verfasser eine andere An¬
ordnung des Inhaltes; auch die Illustrationen sind vielfach
umgestellt und mehr in die Nähe des zugehörigen Textes
gerückt. Eine Anzahl Abbildungen sind neu aufgenommen
worden, so das interessante Kreuzigungsrelief aus Mino’s
Schule in Santa Balbina, Mino’s Madonna in Maria Maggiore,
Melozzo’s da Forli Himmelfahrt Christi, die sich im Quirinal
befindet, Rosselli’s Porträt des Prinzen Ludwig von Savoyen
und der Charlotte Lusignan, sowie die Madonna im
Appartamento Borgia, die man oft als Bildnis der Giulia
Farnese ausgiebt. Dankbar müssen wir besonders für die
Aufnahme des alten Stiches sein, der uns wenigstens einen
Schatten von der Gesamtwirkung des herrlichen Grabmales
Paul’s II. giebt, dessen Fragmente den Hauptschmuck der
Grotten von St. Peter bilden. Die wichtigste Neuerung in
der vorliegenden Auflage aber ist die Einfügung des letzten
Kapitels, das der Kunst unter Leo X. gewidmet ist. Die
erste Auflage schloss etwas unmotiviert mit Julius II. ab,
so blieben uns die köstlich frischen Schöpfungen Raffael’s
in der Farnesina, die Werke der Prunkkapelle von St. Maria
del Popolo, Raffael’s herrliche Sibyllen, dessen Kom¬
positionen in den Stanzen und Loggien des Vatikans, so¬
wie für die berühmten Arrazzi und endlich seine letzte wie
von überirdischem Licht schon übergossene Offenbarung
in dem Verklärungsbilde, aber auch Michelangelo’s götter¬
gleicher Salvator in S. Maria sopra Minerva vorenthalten.
All diese Werke behandelt Steinmann mit der gewohnten
Feinheit und Meisterhaftigkeit des Urteils; die Lebendigkeit
und Anschaulichkeit seiner Darstellung lässt uns das Kunst¬
werk unmittelbar selbst schauen. Vielleicht geht er bei
einer künftigen Auflage noch über die jetzige obere Zeit¬
grenze hinaus und giebt uns aus der auf Leo X. folgenden
Pontifikaten noch die eine oder andere grosse Schöpfung,
wenigstens noch Michelangelo’s jüngstes Gericht; sehr viel
kommt ja aus dieser Zeit nicht mehr in Betracht, was sich
auf der Höhe dessen hält, was Steinmann’s Buch uns heute
vorführt; die Berücksichtigung dieses Wenigen aber würde
den Inhalt des hübschen Werkchens vollkommener noch
abrunden. Die Brauchbarkeit der jetzigen Auflage ist gegen¬
über der ersten durch Aufnahme eines Litteraturverzeich-
nisses, eines Verzeichnisses der Abbildungen und der be¬
handelten Künstler in dankenswerter Weise erhöht worden.
Franz Xaver Kraus, Die Wandgemälde der St. Sylvester-
Kapelle za Goldbach am Bodensee. München 1902, Ver¬
lagsanstalt von F. Bruckmann A.-G.
Die letzte grössere Arbeit des so vor der Zeit dahin¬
gegangenen grossen Gelehrten ist dem Grossherzog
Friedrich von Baden zu seinem fünfzigjährigen Regierungs¬
jubiläum gewidmet, und damit ist auf dies schöne Ver¬
hältnis eines hochsinnigen Fürsten zu einem unserer ersten
Kunstgelehrten das Siegel gedrückt worden. Die vorliegende
prächtige Publikation, welche im Aufträge des badischen
Unterrichtsministeriums erschienen ist, schliesst die Reihe
der Veröffentlichungen über die Bilderschätze des Reichenau
würdig ab, welche Kraus selbst im Jahre 1884 mit der
Herausgabe der Wandgemälde der St. Georgskirche in
Oberzell begonnen hatte. Wer sich einen Begriff von der
Vervollkonmung unserer Reproduktionstechnik machen
will, vergleiche die Tafeln und Abbildungen beider Werke.
Allerdings war der Waiulschmuck der kleinen Sylvester-
24
zu DEM AQUARELLDRUCK
Kapelle zu Goldbach ein recht bescheidener: Christus mit
den zwölf Aposteln in Vollfiguren, rings an den Wänden
zwischen den Fenstern gemalt — und es sind eigentlich
nur noch Fragmente erhalten. Aber sie bilden mit den
gleichzeitig entstandenen Wandgemälden in Oberzell das
älteste Denkmal der monumentalen Malerei in Deutsch¬
land, deren Mittelpunkt die Reichenau im lo. Jahrhundert
gewesen ist. Durch die Feder von Franz Xaver Kraus ist
diesen Fresken nun eine glänzende Würdigung zu teil
geworden, und es ist ihnen für alle Zeit ihr Platz in der
Kunstgeschichte des frühen Mittelalters bestimmt. Die
Ergebnisse seiner Forschungen fasst Kraus am Schluss
der Studie in kurze, klare Worte zusammen. Er nimmt
in ihnen noch einmal Stellung zu Prinzipienfragen der
christlichen Kunst, und sie klingen wie ein Testament des
hochbegabten Mannes, dem die Kultur- und Kunst¬
geschichte Deutschlands und Italiens so unendlich viel
zu verdanken hat. E. St.
l)r. Ing. E. Vetterlein. Die Aufnahme des frühgotischen
Chores zu Hirzenach am Rhein. Darmstädter Habili¬
tationsarbeit Strassburg 1Q02.
Die Erwartung, dass durch die Zulassung der Doktor¬
promotion an den technischen Hochschulen die wissen¬
schaftliche Mitarbeit der Architekten an baugeschichtlicher
Forschung stärker angeregt wird, erfüllt sich jetzt schon
in erfreulicher Weise. So hatte Architekt E. Vetterlein an
der Technischen Hochschule zu Darmstadt mit einer vor¬
trefflichen Dissertation über das Auftreten der Gotik am
Dom zu Mainz die Würde eines Dr. Ing. errungen, jetzt
liegt bereits eine zweite Arbeit dieses strebsamen Ar¬
chitekten vor, die als Habilitationsarbeit an derselben
Hochschule angenommen ist. Es ist eine sorgfältige Auf¬
nahme des frühgotischeTi Chores der romanischen Kloster¬
kirche zu Hirzenach am Rhein. Im Text sucht Vetterlein
nachziiweisen, dass im Anschluss an die südliche Vorhalle
(1224) der Klosterkirche sogleich der Chorbau ausgeführt
wurde. Er vermutet, dass der Architekt ein deutscher
Meister war, der zuvor in Rheims arbeitete, von dort aus
Soissons und Laon kennen lernte und vermutlich nach
Vollendung des Hirzenacher Anbaues die Elisabethkirche
zu Marburg errichtete.
Der Nachweis ist im wesentlichen stilkritisch begründet.
Doch hat Vetterlein auch die einschlägigen litterarischen
Quellen mit Geschick benutzt und sich dabei einer erfreu¬
lichen Kürze und Klarheit in seinen Ausführungen be-
fleissigt. Die Arbeit ist in ihrer methodischen Durch¬
führung für Dissertationen an technischen Hochschulen
mustergültig. Sc/i.
Die Meisterwerke der National Gallery zu London.
222 Kunstdrucke nach den Originaigeniälden , mit ein¬
leitendem Text von Dr. Karl Voll. Verlag von F. Hanf-
staengl in München. Elegant gebunden M. 12. — .
Die Firma Hanfstaengl ist unermüdlich bestrebt die
Schätze der grossen Galerien für das kunstsinnige Publikum
zu heben und sie ihm in den verschiedensten Formen zu¬
gänglich zu machen. Hier liegt wieder ein Rundgang
durch eine der reichsten Galerien Europas vor; es ist ein
Kunstbrevier, das zur andächtigen Verehrung der Heroen
der Malerei reizt und allen denen, die den Kunsttempel
einst durchpilgert haben, lebendige Erinnerung an unver¬
gessliche Stunden reichen Genusses weckt. Von Cimabue,
Duccio, Vittore Pisano an, die den Boden für den späteren
mächtigen A'laiwuchs der Frührenaissance durch emsige
Arbeit vorbereiteten bis zu Dante Gabriel Rossetti ist
ein weiter, durch die verschiedenartigsten Ausblicke unter¬
brochener Spaziergang in der Geschichte der Malerei.
Das Durchblättern dieses prächtig ausgestatteten, so sorg¬
fältig gedruckten Bandes ist dem Lustwandeln durch einen
botanischen Garten zu vergleichen, in dem die bunten
Orchideen sich in unerschöpflicher Fülle drängen und
jede ihren eigenen holden Duft verhaucht. Welch eine
Fülle von Empfindung von der leisesten Regung bis zur
stürmischen Wucht, welch ein holder Zauber der Linie,
welcher Reichtum des kräftigsten Lebens wirkt in diesen
Gestaltungen und Gruppierungen, welche Summe von
liebevoller Arbeit ist hier beschlossen, um vom empfindungs¬
vollen Auge wieder erschlossen zu werden! Möchte doch
das so trefflich gewählte Werk die passendsten Betrachter
finden, die für die zarten Formenharmonien der grossen
Meister Sinn und Fühlung gewonnen haben. Eine
schätzenswerte Beigabe ist der Text von Dr. Karl Voll,
der es trefflich versteht, Fingerzeige zu geben, den Blut¬
kreislauf innerhalb der Malerei, die Seelenwanderung der
künstlerischen Motive, die leisen Ausstrahlungen der Gross¬
meister anzudeuten.
Un’ Iscrizione che non e un’ Iscrizione. Ricerche
d’arte per Liiigi Manzoni. Perugia, LInione tipografica
cooperativa, igo2.
In einer kleinen, vornehm ausgestatteten Gelegenheits¬
schrift bringt der unermüdliche umbrische Forscher einen
wertvollen Beitrag zum Jugendleben Perugino’s. Er han¬
delt von den Fresken in Cerqueto und publiziert eine bis
dahin unverstandene Inschrift, die unter den heute zu
Grunde gegangenen Heiligen, Sebastian und Maria Magda¬
lena, von Perugino gemalt war. Der Verfasser weist diese
Inschrift scharfsinnig als ein Volkslied — una laude popo-
lare — zu Ehren von S. Maria Magdalena nach, der die
Kapelle Perugino’s im Jahre 1478 geweiht worden war,
weil sie das Volk vor Pestilenzgefahr errettet hatte. Wenn
es nun Manzoni ausserdem noch gelungen ist, aufs zwang¬
loseste die Reime wieder herzustellen und sogar den Ton¬
fall nachzuweisen, in welchem dies Lied vom Volk und
wohl auch vom jugendlichen Perugino gesungen worden
ist, so verdanken wir dem trefflichen Manne ein neues
willkommenes Zeugnis für die enge Verbindung der Musik
und der bildenden Kunst im Zeitalter der Renaissance.
E. Si.
ZU DEM AQUARELLDRUCK
ln Fräulein Hilde Lott stellen wir ein liebens¬
würdiges Wiener Talent vor, das mit Grazie in den
Lefler - Urban’schen Bahnen der Märchenillustration
wandelt. Die Künstlerin ist 22 Jahre alt und hat sich
unter Karger an der Wiener Kunstgewerbeschule ge¬
bildet. Gegenwärtig ist sie Schülerin von William
Unger, der uns auf sie aufmerksam gemacht hat.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
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!l'L°TT
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Von Hermann Muthesius in London
(Fortsetzung)
Kein Zweig der englischen Malerei ist in Deutsch¬
land auch nur annähernd so bekannt gewor¬
den wie die Werke der Glasgower Malerschule.
Will man sich über das Wirken, die Eigenart, den
Unterschied der Einzelpersönlichkeiten der Schule eine
Vorstellung machen, so hat man die Ausstellungen
Deutschlands, nicht die Grossbrilanniens zu durch¬
mustern. Im letzten Jahre gab allein schon die kleine
Sammelausstellung schottischer Werke in Dresden
einen besseren Überblick über die schottischen Künst¬
ler, als beispielsweise die mit der Glasgower Welt¬
ausstellung verbundene, sonst sehr bedeutende Kunst¬
ausstellung in ihrer Vaterstadt, ln England und ins¬
besondere in London hat man kaum Gelegenheit, die
Schotten kennen zu lernen (obgleich viele derselben in
der Hauptstadt wohnen), die Masse der Akademiekunst
mit ihrem offiziellen und populären Anhänge wirkt
hier erdrückend für jede andere Kunstauffassung.
Die der Akademie fernstehenden, wirklich ästhetisch
empfindenden Kreise aber sind noch zu vollständig in
ihrem halb 1 itterarischen Rossetti-ldeal befangen, um
einer im Grunde ihres Wesens lediglich malerischen
Malerei ihr Interesse entgegenzubringen. Als daher
im Januar dieses Jahres in der kürzlich eröffneten
Volks-Gemäldegalerie in Whitechapel eine Sonder¬
ausstellung älterer und neuerer schottischer Gemälde
veranstaltet wurde, musste dies mit Recht in London
als ein künstlerisches Ereignis ersten Ranges betrach¬
tet werden, und die Presse hob durchweg die Bedeu¬
tung dieses Vorkommnisses ausdrücklich hervor.
Es ist nicht zuviel behauptet, dass die schottischen
Maler, ganz besonders aber die Landschafter, zum
grossen Teil für den deutschen Kunstmarkt arbeiten.
Sie können fast mit vollkommener Sicherheit darauf
rechnen, jedes Bild, das sie auf eine deutsche Aus¬
stellung schicken, zu verkaufen. Die deutsche An¬
erkennung hat sich in der Verleihung von grossen
und kleinen Medaillen fast jedem einzelnen derselben
gegenüber geäussert, unsere Galerien haben ihre Bil¬
der angekauft. Es ist daher auch nur erklärlich, wenn
über sie im deutschen Publikum verhältnismässig mehr
bekannt ist, als über irgend eine andere ausländische
Schule. Auch im Schrifttum sind sie ausführlich be¬
handelt worden. Cornelius Gurlitt widmete der schot¬
tischen Malerei mit Einschluss der Glasgowschule
schon 1893 eine eingehende Schilderung in Wester¬
mann ’s Monatsheften, und Richard Muther behandelte
in seiner 1894 erschienenen Malerei des 19. Jahrhun¬
derts die neuen schottischen Künstler mit besonderer
Vorliebe. Unzählige Kritiken in der Tages- und Zeit¬
schriftenpresse haben sich seitdem mit ihnen beschäftigt.
Schottland hat in der Geschichte der britischen
Malerei eine eigenartige Rolle gespielt. Ohne alles-
beherrschende Persönlichkeiten hervorgebracht zu
haben, wie die im engeren Sinne englische Kunst in
Reynolds, Turner, Maddox Brown, Rossetti und Millais
aufzuweisen hat, steht sie in ihrem Durchschnitt auf
grosser Höhe und atmet in ihrer Gesamtleistung eine
kernige Tüchtigkeit, verbunden mit besonderer Schärfe
der Auffassung. Die technische Stärke ist stets auffallend
an den Schotten gewesen. Ein grosser Sinn für Farbe
und eine innige Hingabe an die Natur, an deren Busen
der schottische Maler stets näher gelebt hat als sein
englischer Bruder, hat die schottische Malerei von je¬
herausgezeichnet. Wie sich schon das äusserliche Wesen
des Schotten von dem des Engländers durch grössere
Vertraulichkeit, durch geringere Gebundenheit, unter
anderem auch durch eine rauhere und eckigere Aus¬
sprache des Englischen auszeichnet, so steht auch die
schottische Malerei, ganz allgemein betrachtet, mehr auf
dem Boden des Natürlichen, sie ist stets rauher und
schärfer, weniger akademisch und mehr ausgesprochen
beobachtend und sachlich gewesen als die englische.
Daneben hat sie vor jener noch stets den Hang
zum Romantischen voraus gehabt, der mit Schottland,
dem Lande der nebelverschleierten Figur Ossians und
des ganz Europa mit Romantik fütternden Walter
Scott stets unzertrennlich verbunden gewesen ist.
Die romantische Neigung kommt vorzugsweise auf
Rechnung der keltischen Abstammung der Bevöl¬
kerung, denn die Kelten sind ihrer Natur nach
die Träger der Phantastik, Ritterlichkeit, hochfliegen¬
den Sehnsucht und glühenden Märchenempfindung,
die Verehrer des Wunderbaren und Tiefsinnigen;
sie sind die geborenen Künstler unter den Germanen.
Unter den Briten haben sie die Bedeutung, die Vertreter
des künstlerischen Elements zu sein, hat man doch
herausgefunden, dass neun Zehntel aller englischen
Künstler keltischer Abstammung sind, das heisst aus
Schottland, Wales oder Irland stammen.
Die englische Kunst ist von Schottland aus wieder¬
holt und in der verschiedensten Weise beeinflusst
worden. David Wilkie, der Begründer der grossen
englischen Genreschule des 19. Jahrhunderts, kam von
Edinburg nach England und machte in London eine
Karriere ersten Ranges. Seitdem ist es für den schot¬
tischen Maler fast typisch geworden, dass er sich
in London niederlässt. Daniel Roberts, John Phillip,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 2.
4
26
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Abb. 1. Fischerboote. Von W. McTaggort
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
Alexander Nasinyth, William Dyce, David Maclise,
John Pettie besclilossen ihr Leben in der Weltstadt
London und von lebenden Malern sind W. Q. Orchard-
son, j. McWhirter, David Murray, Collin Hunter,
Thomas und Peter Graham, Arthur Melville, David
Farquharson, R. W. Allan, Schotten, die den Ruhm
Londons als Kunststadt hochhalten helfen, ja selbst
von den boys of Glasgow pflegen John Lavery,
E. A. Walton, George Henry, Grosvenor Thomas,
Harrington Mann den Glasgower Ortsstil in ihren
Londoner Ateliers und James Guthrie ist eben erst
wieder an den Geburtsort seiner Kunst zurückgekehrt.
Die Riesenstadt zieht die geistigen Kräfte an sich und
verspricht ihnen für das Aufgeben ihrer Ortsluft und
vieler damit zusammenhängender geistiger Werte einen
grösseren Zufluss an weltlichen Mitteln. Dass diese
schottische Einwanderung nicht ohne Einfluss auf
das Bild der englischen Kunst bleiben konnte, leuch¬
tet ein, denn fast alle die genannten Namen nehmen
Ehrenplätze in der englischen Kunstgeschichte ein.
Die Schotten brachten neues Leben auch dadurch
nach England, dass sie bei ihrer mehr entwickelten,
der deutschen ähnlichen Wanderlust vom Kontinent
her Anregungen und neue Werte einführten, die sie
dort durch oft vieljähriges Studium sich angeeignet
hatten. Auch dieser ihr offener Sinn unterscheidet
sie wesentlich von dem englischen Maler. Deutsch¬
land war zur Zeit unserer grossen Geschichtsmalerei
vielfach ihr Wanderziel, der seit Jahrhunderten be¬
stehende freundliche Zusammenhang zwischen Schott¬
land und Frankreich führte sie in gleicher Weise nach
Paris, und schon von der Mitte des letzten Jahrhun¬
derts an war ihnen auch Spanien als Kunstland er¬
schlossen, seitdem John Phillip (nach seiner grossen
Vorliebe für spanische Vorwürfe Phillip of Spain ge¬
nannt) die Begeisterung von
seiner ersten 1851 dahin
unternommenen Reise nach
England zurückbrachte. Der
deutsche Einfluss äusserte
sich in dem kurzen Auf¬
flackern der Monumental-
Geschichtsmalerei, die in
England in den vierziger
Jahren gelegentlich der Aus¬
schmückung des Parla¬
mentshauses mit Wand¬
gemälden zu verzeichnen
ist und in der der Schotte
Dyce und der Sohn schot¬
tischer Eltern Maclise die
Hauptrolle spielten. Die
von den Schotten offen ge¬
haltene Verbindung mit
Frankreich und Spanien
erlangte ihre auffallendste
Bedeutung aber erst mit
dem Auftreten der Glas¬
gower Schule.
Aber auch mit dem
Einfluss, den die Schotten
direkt aus ihrer Heimat nach London brachten,
traten sie hier bahnbrechend auf. Das ganze, in
feinem Detail ein allzubreites Genüge findende Genre
der Engländer wurde in den Schatten gestellt durch
die breitere Art der beiden Schotten Pettie und
Ochardson, deren Kunst auf die (kontinental beein¬
flusste) Schule R. S. Lauder’s in Edinburg zurückzu¬
führen ist, dieselbe Stelle, von der auch ein so
reiches neues Leben in der Landschaftsmalerei aus¬
strömte, das durch Lauder’s Schüler McWhirter und
Peter Graham nach London gelangte. Der grosse
Begründer dieser schottischen Landschaft war Horatio
Macculloch, den man häufig als den dritten Stern
in der schottischen Malerei neben Raeburn und
Wilkie nennen hört. In London bildet die Land¬
schaft, die diese Schotten mitbrachten, von da an den
Hauptbestandteil der vorzugsweise in der Akademie
gepflegten guten englischen Landschaft älterer Schule.
Der schottische Anteil an ihr ist gross, was sich
schon aus der Anzahl der schottischen Namen unter
den Akademie- Landschaftern zu erkennen giebt. Er
hat sich mit dem englischen Anteil verschmolzen, so
dass er heute kaum mehr von ihm getrennt werden
kann. Das Wesen dieser Landschaftsmalerei ist eine
Art Porträtierung der Natur mit dem Bestreben, die
gelegentlichen Stimmungsbilder derselben festzuhalten.
Sie prangt mit vielen tüchtigen Leistungen, aber sie
enthält weder einen subjektiven Stimmungsanteil des
Künstlers selbst, noch zeichnet sie sich durch örtliche
Intimität aus und unterscheidet sich dadurch grund¬
sätzlich von der Landschaft der französischen Roman¬
tiker, der Holländer und der neueren Glasgow-Schule.
Der Übergang zu der intimeren Auffassung ist be¬
zeichnend: es handelt sich in jeder Entwickelung um
das Durchringen aus dem Allgemeinen zum Beson-
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
27
dem. Die heroische Landschaft kommt vor dem
subjektiven Kleinstimmungsbild. Man berauscht sich
an der Gesamtwirkung, ehe man das Einzelne würdigt,
man malt Gebirgsreihen, ehe man die Schönheit eines
verlorenen Landwinkels sieht. Das stellte sich auch
bei den Malern ein, die vor die schottische Natur ge¬
setzt wurden.
Unter ihnen nimmt der 1835 geborene M’Taggart
die ganz eigene Stellung ein, das Bindeglied der
alten und der jungen schottischen Generation zu
bilden, er wird nicht selten direkt als der Begründer
der Glasgow -Schule bezeichnet. Wenn man seine
heutigen Bilder sieht, hält man dies kaum für mög¬
lich; wer aber Gelegenheit hatte, seine Werke aus den
sechziger und siebziger Jahren zu sehen, der bemerkt
auf der Stelle, wie sehr er sich aus seiner damaligen Um¬
gebung heraushebt, durch seine neue Auffassung auffällt.
Man hat die Empfindung, dass dieser Mann ohne jeden
Zusammenhang mit der Kunstmode und der Kunst¬
beurteilung seiner Zeit malte und nur das eine Bestreben
hatte, der Natur auf den Grund zu kommen. Bei
vollkommener Abwesenheit irgend einer bewussten
Technik sind die Bilder eiligst, mit ganz unberech¬
netem Pinselstrich vor der Natur hingemalt, wodurch
sie aber gerade den Stempel des Genialen tragen.
Die atmosphärischen Werte und Stimmungen sind
scharf erfasst, sie waren das eigentliche Ziel seines Malens.
Die Bilder sind, wie die Beispiele (Abb. 1 und 2)
zeigen, zumeist Seestücke mit etwas Küstenland und
Fischerbooten, fast nie fehlen Kindergruppen auf ihnen.
Das Figürliche interessiert ihn aber dabei so wenig,
dass man häufig nur Schemen ohne Körperlichkeit
zu sehen glaubt, die in den sonst so scharf erfassten
atmosphären Werten des Bildes fast störend wirken.
Wasser und Luft sind auf
seinen Bildern wunderbar
überzeugend, von Wirklich¬
keit erstrahlend. M’Taggart
ist der bedeutendste Im¬
pressionist, der auf bri¬
tischem Boden geboren ist.
Die jüngeren mussten an
ihm zuerst sehen, was eigent¬
lich Malen heisst. Hier war
nichts Erlerntes, kein er¬
probtes Rezept zu sehen,
keine Spur von jener Bra¬
vour, in die kleinere Geister
durch Übung gelangen.
Hier war das Können des
Meisters, das man nicht
nachrechnen kann, das sich
auf jedem Bilde selbst¬
verjüngt wieder zeigt.
Neben diesem Beispiele,
das sie vor sich sahen,
wirkten fremde Einflüsse
mächtig ein. Auf den
Wanderzügen der Väter
nach dem Kontinent waren
Eindrücke der dortigen
Kunst haften geblieben und Zeugen derselben mit
nach Schottland gebracht worden. Nicht der alten
Kunst, sondern der modernen, die ebenfalls durch
ihre impressionistische Art anregte. Die französi¬
schen Landschaften der Barbizon - Schule und viele
holländischen Bilder gelangten nach Schottland und
fanden hier Bewunderung. Ein flotter Kunsthandel
führte bald beide in grösserer Anzahl ein und
durch die besondere Pflege, die das Bildergeschäft
von Craibe Angus in Glasgow dem Gebiete zu¬
wandte, wurden sie geradezu die Lieblingsbilder
der schottischen Sammler. Der schottische Privat¬
besitz ist heule völlig getränkt mit solchen Bildern,
schon in einer den Franzosen und Holländern
gewidmeten Ausstellung in Edinburg im Jahre 1886
war dies ersichtlich, noch mehr aber auf der Welt¬
ausstellung in Glasgow igoi. Millet, Corot, Diaz,
Daubigny, Dupre, Rousseau, Lhermitte, Harpignies,
Troyon, Israels, die Brüder Maris, Mesdag, Bosboom
sind in Schottland ganz geläufige Namen und seit
zwanzig Jahren die alles verdrängenden Lieblinge des
bilderkaufenden Publikums. War es das romantische
Element, was hier anzog? War es die aus den Bil¬
dern sprechende Empfindungsgemeinschaft?
Jedenfalls zündeten diese Bilder in Schottland in
einer ganz merkwürdigen Weise, nicht unähnlich der Art,
in welcher später die Bilder der Schotten in Deutsch¬
land einschl Ligen. Noch ein anderer Franzose wurde
reichlich importiert und übte seine Wirkung aus:
Monticelli. Diesem zu Lebzeiten nie recht zur Gel¬
tung gekommenen Meister war nach seinem Tode in
Schottland eine zweite Laufbahn des Ruhmes beschert;
während er in seiner Zeit und in seiner Heimat
als Einzelerscheinung dastand, blieb ihm jetzt sogar
Abb. 2. Nebel auf Arsan Hills. Von IV. McTaggart
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
4
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
2Ö
ein^' .Ule :‘nd Liankbare Einflusssphäre Vorbehalten.
.■.1...: i.ann sich walus^t heinlich heute nirgends eine so
vor Monticelli’s Kunst machen als
^ U; auf der Weltausstellung igoi
. : , : -'UiZvnd Bilder von ihm nebenein-
anilc zu .s:r-n. Ein Vollblutromantiker und doch
so gru.:a.. oscliieden von den Romantikern in seiner
Farben- und Lebensfreude, ein alter Venetianer in
seinen üppigen Earbenzusammenstellungen und doch
ein Moderner in der impressionistischen Art, die Earben
auf die Leinwand zu werfen, verwandt mit Rossetti
in seiner Stimmungsglut und doch so grundverschie¬
den von ihm in dem Eehlen jedes lilterarischen An¬
klanges. Die Bilder stellen zumeist Eeste im Ereien
der Watteau’schen Art dar, aber mit üppigeren, in
phantastischen Kostümen sich bewegenden Eiguren¬
gruppen und mit
heilleuchtendem
Earbenauftrag ge¬
geben. Eine Zu¬
sammenstellung
von Earbenflecken,
nur zum Zwecke
der Farbenzusam-
menstelhmg vor¬
genommen und
mit Vernachlässi¬
gung jeder andern
Rücksicht. Aber
diese Earben sitzen.
Es sind berau¬
schende Klänge,
die gehört werden
und ein Earben-
genie ersten Ran¬
ges hat sie kom¬
poniert.
Man kann sich
in gewisser Weise
keinen grösseren
Gegensatz denken
als zwischen Mon-
ticelli und Whist¬
ler, und doch wirkten hier in Glasgow beider Ein¬
flüsse zusammen. Whistler, der grosse Bahnbrecher
in der Erkennung abgetönter Earbenwerte, mit dem
ins Nervöseste gesteigerten Tonempfinden für zarte,
in vornehmster Zurückhaltung sich haltende Earben-
harmonien — und der stets farbentrunkene, in stärksten
Effekten schwelgende Monticelli! Das Gemeinsame,
was beide verbindet, ist, dass sie beide reine Earben-
künstler sind, die die Malerei vor allem für eine
Kunst der Earbenbethätigung halten, dass sie keine
Litteratur und keine Anekdote in die Kunst des
Pinsels tragen, dass sie weder die Geschichte illustrieren
noch Moral predigen, noch Geographie illustrieren,
noch die Welt zum Guten erziehen wollen, sondern
dass sie eben einfach malen. In der wachsenden
Erkenntnis der schottischen Jugend, dass das eigent¬
lich das Ziel sei, auf das sie losgehen müssten, konnte
sich ihre Begeisterung an beide Meister heften. Aber
sie hoben noch einen dritten Meister auf ihren Schild
und zwar einen alten und einen der grössten, den
die Kunst aller Zeiten hervorgebracht hat: Velasquez.
Velasquez wurde das Losungswort. Man kannte
und bewunderte ihn von den spanischen Studien¬
reisen her, die jetzt allgemein geworden waren, ausser¬
dem fanden sich eine Reihe seiner Werke in schot¬
tischem Besitz. Auch an Velasquez bewunderte man
sein abgeklärtes Earbenempfinden, besonders seine
Bevorzugung neutraler, in vollkommener, ruhiger Har¬
monie gehaltener Allgemeintöne, auf denen sich kleine
Farbenflecke um so wirkungsvoller aufbauen. Aber
vor allem bewunderte man seine schier unbegreifliche
Technik, die Leichtigkeit, mit der hier die schwie¬
rigsten malerischen Probleme überwunden waren,
diese Meisterschaft, mit der in der denkbar einfachsten
Weise die höchsten
Wirkungen er¬
reicht waren. Hier
sah man einen Ma¬
ler, der malen
konnte, wie es
nie einer gekonnt
hatte.
Die französi¬
schen Impressio¬
nisten und Land¬
schafter, die neuen
Holländer, Whist¬
ler, Monticelli und
Velasquez, sie wa¬
ren es, deren Ein¬
fluss die Kunst
Glasgows begrün¬
den half. So ver¬
schiedenartig auch
diese Einfluss¬
quellen waren,
eins war ihnen
allen gemein: sie
verkörperten alle
das rein Maleri¬
sche ohne irgend
welche Nebenzwecke, sie bedeuteten, maltechnisch
betrachtet, höchste Gipfelpunkte und sie machten alle
ein besonderes Geschäft aus der planmässig verwen¬
deten Farbe. Aus diesen Einflüssen entstand in Schott¬
land etwas Neues, von der bisherigen schottischen
Tradition Verschiedenes, und es war dafür von höch¬
ster Wichtigkeit, dass es in Glasgow und nicht in
Edinburg, der alten schottischen Kunstcentrale, ent¬
stehen konnte. Glasgow war eine künstlerisch ganz
neue, an amerikanische Verhältnisse erinnernde Stadt,
hier hemmte keine Tradition die aufkeimende Kunst,
hier bestand keine Akademie, die eine etablierte Kunst¬
meinung vertrat und sich rührende Talente eindämmte.
Hier konnte sich die Jugend aufs Freieste entfalten.
Die bisherige schottische Kunst hatte sich um die
königliche schottische Akademie in Edinburg geglie¬
dert, die neue Glasgower Kunst entstand ganz unab¬
hängig von ihr, sie wurde anfangs von dieser auch
Abb. j. Romantische Landschaft von James Paterson
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
JOHN LAVERY
Ab!) 6
BILDNIS IN SCHWARZ UND GRAU
30
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
weder anerkannt noch beachtet. Erst in neuerer Zeit
zieht die schottische Akademie die boys of Glasgow an
ihren Busen, sie hat sogar mehrere derselben bereits
zu Vollmitgliedern gemacht, die meisten befinden sich
aber noch im Stadium der Associates.
Die Kunst der Glasgow-Schule ist in einem 1897
erschienenen Bändchen von David Martin geschildert,
zu dem der Direktor der Glasgower Kunstschule
F. H. Newbery ein Vorwort geschrieben hat. Es
gleicht einem Siegesgesange. Glasgow ist, so heisst
es, zum Kunstcentrum geworden und sein Name ist
als Kunststätte ersten Ranges neben die grossen ge-
herrschung der Technik erstrebt, dem rein malerischen
Können eine grosse Aufmerksamkeit zugewendet wurde.
Dies that man aber wohlbedachter Weise nicht durch
Kopieren von Meisterwerken, sondern indem man sich
vor der Natur selbst versuchte. Die schottischen
Maler sind durch keine Antikenklassen von Akade¬
mien gegangen, und das war ihr Glück. Aus dem
Mut, alle Rezepte beiseite zu lassen und vor die Natur
zu treten, aus dem unablässigen Eifer ihr beizukom¬
men, ergab sich ihr Erfolg. Sie lernten malen auf
dem geraden Wege, den sich jedes Talent selbst sucht,
in Abgeschlossenheit in Landwinkeln des Hochlandes,
-^1
Abb. 5. Hafen von Burnmoiith. Von J. Whitelaw Hamilton
(Mit Erlnabnis des Künstlers)
schichtlichen Kunststätten des Kontinents gestellt. Und
das alles durch eine Reihe von Künstlern, die nichts
weiter vorhatten, als ohne jede Nebenansicht zu malen.
Sie wollten, so sagt er, niemand bekehren, aber sie
glaubten von Anbeginn fest an eins; dass es für die
Kunst ganz genug sei, Kunst zu sein, dass die Malerei
weder Religionsunterricht zu erteilen, noch im Dienste
der Litteratur zu stehen brauche. Statt dessen wolle
man die Tradition der alten Meister wieder aufnehmen,
indem man deren Arbeitsweise studiere und fort¬
setze. — Dieses Aufnehmen der Arbeitsweise der
alten Meister hat hier glücklicherweise zu keiner Nach¬
ahmung, sondern zu einer ganz modernen Kunst ge¬
führt. Was es bewirkt hat, und wie es in dem an¬
geführten Sinne zu verstehen ist, ist, dass die volle Be-
dort sich selbst anfeuernd und gegenseitig helfend,
wie es die Maler in Barbizon gethan hatten. Zu
Beginn der achtziger Jahre war es, als die Einzel¬
mitglieder der jungen Gesellschaft sich zusammen¬
fanden, sie waren damals alle beginnende Zwanziger,
wie das Durchschnittsalter derMitglieder heute etwa fünf¬
undvierzig ist. Im Atelier des etwa zehn Jahre älteren
W. Y. Macgregor, der aus der Slade School in Lon¬
don zurückgekehrt und von Legros die herrlichste
künstlerische Anregung mitbringend, eine Aktklasse
eingerichtet hatte, schlossen sich die jungen Leute
wohl zuerst zusammen. Der grosse Zug, der Mac¬
gregor eigen ist, die Art, immer auf die rein male¬
rischen Werte loszugehen und das Ganze scharf ins
Auge zu fassen, wirkte auf sie höchst fruchtbringend.
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
31
Anfang der achtziger Jahre finden wir in einem Dörf¬
chen in den schottischen Bergen Walton, Guthrie,
Henry und Crawhall in eifrigstem Studium vor der
Natur vereinigt. Man malte alles: Landschaften, Fi¬
guren, Tiere. Crawhall, der für Technik den aus¬
geprägtesten Sinn hatte, zog die andern mit sich auf
den Bahnen flottesten Gebrauches des Pinsels. Ähn¬
liches Zusammenstudieren fand an andern Orten statt,
in Kirkcudbright in Südschottland trafen sich später
in ähnlicher Weise die jüngeren Mitglieder der Ge¬
er muss das, was er malen will, eben können. In der
Bravour mussten die Japaner den Schotten so vor¬
bildlich sein, wie es sonst nur Velasquez sein konnte.
Dieser Einfluss Japans ist auf verschiedene Mitglieder
der denkbar stärkste gewesen, am meisten ist er wohl
bei Crawhall zu beobachten.
Die meisten Mitglieder der Schotten Hessen es
aber nicht bei dem Selbststudium in Schottland be¬
wenden, sie gingen nach Paris, um sich dort, nach¬
dem sie bereits im gewissen Sinne eine fertige In-
Abb. 4. Landschaft. Von R. Macaulay Stevenson
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
meinschaft, George Henry und E. A. Hornel zu ge¬
meinsamem Studium. Diese beiden Künstler machten
auch Anfang der neunziger Jahre eine gemeinsame
Studienreise nach Japan, von der sie mit reichster
Ernte zurückkehrten. Japan musste selbstverständlich
das ersehnte Ziel der Wünsche einer Künstlergemeinde
sein, die die Bravourmalerei so sehr auf ihre Fahne
geschrieben hatte. Die japanische Malerei ist im
Grunde ihres Wesens Bravour, der japanische Maler
erstrebt in jedem Gegenstände, den er malt, eine
Bravourleistung, die eine absolute Treffsicherheit auf
den ersten Anhieb zum Ziele hat. Es giebt kein
Versuchen (das liegt in langer Lehrzeit hinter ihm).
dividualität besassen, zu vervollkommnen. Wie die
Schotten, bei aller Verschiedenheit, doch durchaus
einen gemeinsamen Grundzug tragen, so gehört dieser
Durchgang durch die Pariser Ateliers fast zu ihrer
Sonderheit. Wir sehen Lavery, Guthrie, Paterson,
Crawhall, Whitelaw Hamilton, Kennedy, Gauld und
Roche in Paris studieren, Hornel ging zu Verlat nach
Antwerpen. Die programmmässigen Reisen nach
Spanien, die gern nach Marokko und Algerien aus¬
gedehnt wurden, sind schon erwähnt, die Darstellung
des Stierkampfes wurde ein Lieblingsgegenstand.
Aber alle diese Reisen nach dem Auslande raubten
ihnen nicht ihre heimische Art. Sie bildeten keinen
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
JOHN LAVERY
Ahh. 7
DIE VIOLINSPIELERIN
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
33
von ihnen zu neuen Idealen um, sondern dienten
nur dazu, sie in den ihrigen zu befestigen, den Schritt
zur Erlangung ihrer Ziele zu beschleunigen. Sie
kehrten alle als boys of Glasgow zurück, nur als
auch irrtümlich, gewöhnlich als erster der Glasgow¬
leute angeführt wird, war nur Arthur Melville. Er
machte ausgedehnte Reisen in den Orient und be¬
rauschte die Welt durch seine von dort mitgebrachten
Abb. 8. Bildnis seiner Mutter. Von James Guthrie
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
vervollkommnete. Das Beispiel ist lehrreich und sollte
in der Kunsterziehung zu denken geben : ausländische
Einflüsse sind nur dann zuzuführen, wenn sich der
Künstler in seiner Eigenart schon entwickelt hat.
Ein echter Zug- und Wandervogel, der, wenn
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 2.
Aquarelle. Eür diese hatte er technisch eine ganz
neue Art entwickelt, die er mit geradezu schwindeln¬
der Virtuosität handhabte. Er kennt keine Kontur
sondern setzt nur Farbenflecke nebeneinander, alles im¬
pressionistisch und zumeist nass in nass gemalt. In
5
34
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Äbb. 10. Die Fähre. Von F. Fl. Newbery
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
der Nähe sieht man nur ein unentwirrbares Durch¬
einander, in einiger Entfernung tritt das Bild plastisch
heraus. Am erstaunlichsten sind in dieser Beziehung
seine indischen Aquarelle, in ihnen zeigt er sich als
unübertrefflicher Meister. Wie die blendende Sonne
dort alles Farbige und Plastische aufzehrt und dem
Auge die Welt eigentlich nur als eine ungeheure
weissgliihende Fläche erscheinen lässt, das giebt Mel-
ville trefflich wieder, indem er auf der weissen Papier¬
fläche nur kleine Farbenpunkte andeutet, aber dadurch
alles erreicht, was darzustellen ist. — Melville gehört
nicht zu den Glasgowleuten, er ist Edinburger und
verliess seine Vaterstadt früh, um in Paris zu studieren
und im Orient zu malen; seit seiner Rückkehr lebt
er in London. Aber er hat auf die Glasgower, so¬
wie überhaupt auf die englische künstlerische Jugend
den grössten Einfluss ausgeübt. Er ist künstlerisch
eine Einzelerscheinung, an die die Nachahmung nicht
leicht heranreichen kann. Er musste aber gerade auf
die Schotten, die so sehr nach Technik strebten, den
stärksten Eindruck machen.
Das Darstellungsgebiet der Glasgower ist das man¬
nigfaltigste, verdichtet sich aber für die meisten in der
Landschaft und im Porträt. Alle haben wohl ein Stadium
der Landschaftsmalerei durchgemacht, die Mehrzahl ist
aber im Laufe der Zeit, wohl aus praktischen Gründen,
zum Porträt übergegangen. In der Landschaft ist
der Einfluss der Holländer und der Barbizonschule
nicht abzuleugnen, dem sie das romantische Element,
das Intime und Stimmungsvolle verdanken, und doch
ist das Ergebnis ein ganz anderes geworden. Am
meisten zu ihm hat wohl das Wirken Whistler’s bei¬
getragen. Whistler entdeckte für England die atmo¬
sphärischen Werte der feuchten , nebligen Luft. Es
ist merkwürdig, dass man sie vorher noch nicht ge¬
sehen hatte, und die Thatsache, dass dieses hier so
naheliegende Gebiet erst von einem Fremden ent¬
deckt werden musste, giebt zu denken. Sie zeigt,
wie sehr wir auch in unserem »Sehen« und in der
ästhetischen Abschätzung unserer Umwelt von der Ge¬
wohnheit abhängen. Man malte schon seit hundert
Jahren Landschaften in England und schon Constable
hatte darauf bestanden, diese lediglich vor der Natur
fertig zu malen. Aber offenbar hielt man den Nebel
nicht für darstellungswürdig, man malte nur bei klarer
Luft. Einem Künstler mit so feinen Farbenempfin¬
dungsnerven wie Whistler, dessen vornehmer Ge¬
schmack nicht die strahlende Farbigkeit, sondern die
Harmonie in der weitgehendsten Verallgemeinerung
der Farben suchte, in der Abstraktion auf ge¬
wisse, dem modern - verfeinerten Empfinden entspre¬
chende Abtönungen zu einem ruhigen Grundaccord,
musste die englische feuchte Luft mit ihrer alles in
graublaue Verallgemeinerung hüllenden Eigenschaft
gerade das Willkommene sein. Dazu zog er die
Dämmerung als Gegenstand der malerischen Darstel¬
lung heran, die das, was er wollte, noch viel voll¬
kommener ausdrückte, sie wurde sein Lieblingsvorwurf.
Das Eintreten Whistler’s in die englische Kunst
ist von der allerweitgehendsten Bedeutung gewesen.
Alles wurde weicher, feiner, luftiger. Die Kontur
löste sich auf, der Umriss verschwand, eine Allgemein-
Farbenstimmung wurde zwingend. Keiner der nach
ihm in die Arena Tretenden konnte sich dem mehr
entziehen, er führte neue Werte ein, die nicht mehr
vernachlässigt werden konnten.
Am auffallendsten bekannten sich zunächst die
Glasgowleute zur Pflege dieser Werte. Die Dämmer¬
stimmung ist ihr grosses Lieblingsthema. Vereinigt man
zwanzig zufällig zusammengebrachte schottische Land¬
schaften zu einer Ausstellung, so kann es Vorkommen,
dass alle zwanzig Dämmerungsbilder sind. Der Be¬
trachter, der sich langsam in diese Stimmung hat
einwiegen lassen, hat dann beim Verlassen des Saales
die Empfindung, als wenn er aus einer Versenkung
käme, aus dem Dunkeln ins Helle einträte. Wo nicht
Dämmerung gemalt ist, hängen schwere Wolken über
der Landschaft und stimmen alle Farbenwerte herunter.
Die Bilder erscheinen alle in graugrün - braunem
Grundton. — Es ist nicht zu leugnen, dass solche
Bilder immer stimmungsvoll wirken. Aber anderer¬
seits lässt sich bei einer grösseren Vorführung der¬
selben der Eindruck nicht vermeiden, dass der Effekt
zu häufig verwendet und etwas billig sei. Schliesslich
bestehen doch auch die schottischen Tage nicht ledig¬
lich aus Dämmerstunden.
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
E. A. WALTON
Abb. g
DIE SONNENUHR
5*
36
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Allerdings haben die Glasgower auch einige sonnige
Bilder, und zwar sehr gute, gemalt. Lavery’s be¬
rühmtes in München hängendes Bild Eine Lawn-
termispartie , noch mehr sein Bild Croquet< ist ganz
Sonne und Helligkeit. i’-!ur die feine Abtönung alles
Farbigen verrät die schottische Luft. Auch andere
Meister wagen sich in die Tageshelligkeit. Aber am
wohlsten fühlen sich alle Glasgower Landschafter in
der schummerigen, düstern Dumpfheit. Auch in der
Wahl des Gegenstandes hält sich die Landschaft in
den Grenzen des Intimen und Stimmungsvollen. Man
malt Kleinbilder, zufällige Landwinkel, einen Waldes¬
rand, einen Steinbruch, ein Haus, das sich in einem
Teiche spiegelt. Immer kommt es nicht darauf an,
was gemalt wird, sondern wie es gemalt wird und
was für eine Stimmung der Maler hineinlegt. Diese
ist ein Teil seiner Seele, dasjenige, was er menschlich
gestaltend zu dem von der Natur Gegebenen hinzu¬
fügt.
Fast alle Glasgower malen Landschaften, W. J.
Macgregor in der grossen Auffassung, mit der er
vorbildlich wurde, John Lavery in der seinem ver¬
feinerten Empfinden entsprechenden, dabei flotten und
breiten Art, James Guthrie in der ihm eignen ungemein
kernigen Virtuosität, E. A. Walton am liebsten roman¬
tisch verklärt und meist stark abgetönt, der haupt¬
sächlich als Radierer bekannte D. Y. Cameron mit
starker Anlehnung an die Holländer. Landschafter
im eigentlichen Sinne, das heisst solche, die sich nur
der Landschaft widmen, sind James Paterson, Macaulay
Stevenson, Grosvenor Thomas, Whitelaw Hamilton.
James Paterson bevorzugt die weite stimmungsvolle
Ebene mit weiter Himmelsfläche (Abb. 3). Er hat eine
besondere Gabe, das Poetische und Grosse darin zu
erkennen und darzustellen. Neuerdings hat er eine
Serie von Aquarellen in Teneriffa gemalt und in einer
Sonderausstellung in London vorgeführt. Macaulay
Stevenson, nicht minder poetisch, hält sich mehr an
Einzelzüge in der Natur. Hochstämmige Birken stehen
vor breiten Laubmassen und spiegeln sich in einem
Teiche. Oder der Mond geht hinter der Wald¬
lichtung im fahlen Grau der Wolken auf. Seine
Farben sind abgetönt, graugrün (Abb. 4). Grosvenor
Thomas malt die einsamen Hügel mit dem verlorenen
Hause im Hintergründe, umgeben von Buschwerk,
das sich trübe im Wasser spiegelt. Whitelaw
Hamilton widmet sich der Landschaft wie dem See¬
stück mit gleichem Glück, meist aber den grauen
Himmel oder die blaue Abenddämmerung bevor¬
zugend (Abb. 5).
Obwohl die Landschaft das Lieblingsthema der
Schotten ist, das Gebiet, auf dem sie eigentlich ihre
Berühmtheit errungen haben, so ist man bei näherer
Bekanntschaft mit ihrem Wirken doch zweifelhaft, ob
man ihnen nicht die Palme auf dem Gebiete des
Porträts zuerteilen soll. Hier treten sie glänzend auf.
Lavery und Guthrie gehören wohl überhaupt zu den
besten lebenden Porträtmalern, E. A Walton, George
Henry, David Gauld, Alexander Roche, Harrington
Mann folgen in der Reihe dicht hinter ihnen. Auch
im Porträt wird die abgetönte Farbe bevorzugt, auch
hier erscheinen nicht Lokaltöne, sondern Variationen
eines Grundstimmungstones. Und doch ist gerade
hier der Monticelli-Einfluss am auffallendsten. Über
dem Ganzen ist aber eine Weichheit ausgebreitet, die
von vornherein angenehm berührt. Die Charakte-
Abb. 11. Der runde Tisch. Von F. H. Newbery
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
37
Abb. 12. Pferdemarkt in Barnet. Von Joseph Crawhall
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
ristik der Züge kann auf ihr weitgehend verstärkt
werden, ohne den Anschein des Übertriebenen anzu¬
nehmen. Dabei ist flotteste Malweise die unerläss¬
liche Bedingung. Man sieht überall noch die Pinsel¬
striche der ersten Anlage durchscheinen, alles er¬
scheint wie auf den ersten Hieb richtig hingesetzt,
hier und da schaut noch die Leinwand durch. Gerade
diese flotte Malweise war es ja, die beim ersten Auf¬
treten der Schotten in Deutschland so sehr imponierte,
sie wirkte wie eine Offenbarung und hat wohl nicht
verfehlt, ihren Einfluss auf unsere jüngeren Künstler
auszuüben. Lavery, der alles kann, ist hier wohl
wieder der stärkste unter den Schotten. Seine Lieb¬
lingsfigur ist die moderne englische Frau, die Welt-
und Gesellschaftsdame, die er in der Sicherheit ihres
selbstbewussten Auftretens, in ihrer fehlerlosen Ele¬
ganz, aber auch in ihrer entsetzlichen Oberflächlich¬
keit und herzlosen, stupiden Selbstsucht trefflich zu
schildern weiss. Der Typus ist amerikanisch, ist aber
in den letzten zehn Jahren in England ganz heimisch
geworden — that dreadful society-woman, mit welcher
Ueberschrift er in einer Monographie in Blackwood’s
Magazine kürzlich trefflich gekennzeichnet wurde.
Lavery ist der Maler, der diesen Typus für die künst¬
lerische Darstellung erfasst und festgenagelt hat, und
er feiert mit ihm in jeder neuen Arbeit wieder neue
Triumphe. Lavery ist von allen Schotten wohl am
meisten von Whistler beeinflusst, er geht so weit, den
Meister in der Benennung seiner Bilder nach Farben-
accorden, z. B. Schwarz und Grau, wie in Abbil¬
dung 6 geschehen, nachzuahmen.
Neben Lavery überrascht Guthrie durch die Kraft
und Sicherheit seiner Darstellung. Auch er stimmt
auf Farbenaccorde ab, so dass man auf den ersten
Blick weiss, um welches Problem es sich bei einem
Bilde handelt. Seine Porträts sind Muster in ihrer
Art, kräftig, einfach und ausserordentlich flott und
sicher hingesetzt (Abb. 8). George Henry, den auf
dem Gebiete des Porträts sein 1895 ausgestelltes Bild:
Die Federboa berühmt machte, geht tiefer und kräf¬
tiger in die Farbe als viele andere Schotten. E. A.
Walton arbeitet gern in dunkleren Farbenstimnumgen
auch im Porträt. Er weiss seinen Bildern neben
ihrer technischen Anziehungskraft auch noch einen
ganz besonderen romantischen und dekorativen Reiz
zu verleihen, durch den er unter den Schotten allein
dasteht (Abb. g). Ein Porträt von Walton erhebt
sich dadurch immer auf die Stufe eines von dem
Personalinteresse des Dargestellten unabhängigen,
eigenartig anziehenden Schmuckstücke in dekorativem
Sinne. Auch die Frau des Künstlers, Helen Walton,
hat sich durch vorzügliche Bildnisse vorteilhaft be¬
kannt gemacht.
Alle Porträts der Schotten sind auf den ersten
Blick als solche zu erkennen, vor allem durch die
kecke und sichere Art der Vorführung, in der sie
immer den Eindruck der spielenden Leichtigkeit des
Schaffens hervorrufen, bekanntlich ein ungemein wich¬
tiger Umstand bei der Beurteilung eines Kunstwerkes.
Nächst der Landschaft und dem Porträt spielt das
Bild aus dem Leben eine mehr oder weniger grosse
Rolle. Es interessiert aber hier nicht die Anekdote
oder die Moral der Geschichte, wie bei den Bildern der
englischen Maler und der älteren schottischen Generation,
sondern lediglich das rein malerische Problem. Lavery
und Guthrie haben hier wiederum das Interessanteste ge¬
liefert, der erstere namentlich in seinen schon genannten
Bildern der Tennispartie und des Croquetspiels und
in seinem berühmten grossen Bilde, in welchem er
die Eröffnung der Glasgower Ausstellung 1 887 durch
die Königin Viktoria darstellt. Auf der letzten so¬
genannten Internationalen Ausstellung in London zeigte
er von neuem seine Meisterschaft in einem »La Toi¬
lette« betitelten, gegen das Licht gesehenen weiblichen
Akt, auf dem sich alle möglichen Reflexfarben in der
Besnard’schen Art spiegelten. Guthrie ist wohl der
eigentliche Meister in dem Bilde aus dem Leben. Er
stellt alles dar, was ihm als malerisch in den Weg
tritt. Henry und Hornel haben seit ihrer japanischen
Reise Japan, besonders in dessen Kinderwelt, in die
Malerei eingeführt. William Kennedy hat sich neuer¬
dings dem Soldaten- und Schlachtenbilde mit grossem
Erfolg zugewandt, Harrington Mann, F. Newberry
haben gute Bilder aus dem Leben geschaffen. Der
letztere Maler, Direktor der Glasgower Kunstschule,
ist eigentlich ein eingewanderter Engländer, reiht sich
aber in seinen Werken der Eigenart der Schotten an.
Das flott vor der Natur hingemalte Bild »Die Fähre«
(eine Scene aus dem Malerort Walberswick in Suffolk)
und das reizende Genrebild »Der runde Tisch« (Ab¬
bildung 11) sind zwei bezeichnende Werke von ihm.
Das Tierstück ist ein weiteres beliebtes Gebiet der
Schotten. Hier leistet Joseph Crawhall ganz Vorzüg¬
liches, wieder vorwiegend in der Richtung des tech¬
nischen Bravourstückes. Er wendet mit Vorliebe
38
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Wasserfarben, häufig nur schwarze Tusche an und
malt zumeist, wie die Japaner, auf Seide. Wie dipe
trifft er das Charakteristische auf den ersten Strich
und seine Darstellungen haben bei grösster Flottheit
und Skizzenhaftigkeit die grösste Lebenswirkung. Am
meisten bewundert man ihn vielleicht in seinen Bil¬
dern von Pferden, von denen Der Pferdemarkt in
Barnet , Abbildung 12, ein im vorigen Jahre gezeigtes
Beispiel vorführt.
Die häufig gesehenen Bilder von Blumen, in denen
der Ferne lösen sich Kinderköpfe los und man er¬
kennt, dass es sich hier um spielende Kinder im
Walde oder am Fluss oder sonst eine Darstellung
aus dem Leben der Kleinen handelt. Das in Abbil¬
dung 13 vorgeführte, im städtischen Museum in
Glasgow hängende Bild zeigt ein Beispiel seiner
früheren, noch gemässigteren Malweise.
Über die Stellung der Schotten in der modernen
Kunstgeschichte wird es vorläufig nicht leicht sein,
ein endgültiges Urteil abzugeben. Unzweifelhaft haben
Abb. 13. Schöne Kinder des Februars. Von E. A. Hornel
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
sich namentlich Stuart Park bethätigt, interessieren von
allen Leistungen der Glasgower vielleicht am wenig¬
sten. Dagegen muss noch auf eine Eigenart hin¬
gewiesen werden, die einer der Glasgower, nämlich
E. A. Hornel, vertritt und die man vielleicht als das
Teppichbild bezeichnen könnte. Er steigert die
Gruppierung und Farbengebung seiner Bilder so sehr
ins Dekorative, dass sie auf ein Haar einem Teppich
gleichen und direkt in Weberei umgesetzt werden
könnten. In der Nähe ist kaum etwas zu erkennen,
man sieht nur Farben- und Lichtflecke nebeneinander
gesetzt, die in dicker Ölfarbe aufgetragen sind. In
sie durch scharfes Insaugefassen der rein malerischen
Aufgaben die Malerei aus den verschlungenen Seiten¬
wegen, in die sie im ig. Jahrhundert allerorten, be¬
sonders aber in England geraten war, wieder auf den
geraden Weg gebracht. Sie haben nicht nur durch
bewundernswürdiges technisches Können, sondern
auch durch gewisse moderne Grundsätze, wie die
Einhaltung von Tonwerten, durch Beobachtung der
atmosphärischen Wirkungen und schliesslich durch
einen gewissen Stimmungsgehalt erfrischend auf die
moderne Kunst eingewirkt. Und doch kann die Be¬
fürchtung nicht zurückgehalten werden, dass sie auf
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
39
ihrem Siegeszuge über den Kontinent vielleicht etwas
allzusehr gefeiert worden sind. Ob sie den höchsten
Gipfel der Kunst wirklich erreicht haben, ob sie vor
allem neue Werte von Gewicht zu dem künstlerischen
Vermögen der Welt gefügt haben, wie wir dies bei
einigen anderen Schulen des i g. Jahrhunderts beobachten
können, ist noch nicht ganz sicher. Wirkliche Neue¬
rungen in der Kunst, umwälzende Thatsachen pflegen
sich zudem langsam durchzuringen und es erscheint
fast ein Naturgesetz, dass ihnen die Anerkennung schwer
gemacht wird. Der Sieg der Schotten war leicht, fast
augenblicklich, wie jene grossen Erfolge, die sich in
allen Kunstzweigen gelegentlich einfanden, ohne
aber von geschichtlicher Bedeutung zu werden. Viel¬
leicht ist der Hauptanteil des Erfolges der Schotten
viel mehr ihrer Virtuosität zuzuschreiben als ihrer
wirklichen Bedeutung, mit der die Virtuosität der
Technik zunächst nicht notwendigerweise etwas zu
thun hat.
Aber es hiesse ihnen doch Unrecht thun, wollte
man deshalb ihr Verdienst, wie es sich im Rahmen
der neueren britischen Kunst darstellt, für geschmälert
hatten. Hier berührt ihr Auftreten wie eine wirk¬
liche Wohlthat. Wie ein Hauch frischen künstle¬
rischen Lebens strömt es uns aus ihren Werken an¬
gesichts der Massenkunst, welche dem Akademie¬
lager eigen ist, entgegen. Sie bilden in der That
eine der feinsten Künstlercliquen, die je in der
Kunstgeschichte ihren Standpunkt geltend gemacht
haben. Wie ein Mann vereinigt halten sie ihre Grund¬
sätze hoch und spotten der Welt, die ihnen wirklich
in ihrem Vaterlande das Leben nicht leicht gemacht
hat. Ihre wunderbare Einmütigkeit in dem, was ihre
künstlerische Überzeugung ausmacht, steht einzig da.
Und darin liegt ihre Macht, darin liegt das Gewicht
ihres Auftretens.
Wenden wir uns nach England zurück, um die
neuesten Strömungen hier weiter zu verfolgen, so liegen
hier die Verhältnisse ganz und gar anders. Wir sehen
keine Einheit vor uns, sondern die vielseitigste Vielheit,
ein wahres Kaleidoskop an künstlerischen Tendenzen und
Individualitäten. Wie schon früher erwähnt, vereinigt
hier der seit 1885 bestehende New English Art Club
die künstlerisch Unabhängigen und solche die eigene
Wege suchen. Er hält zweimal jährlich Ausstellungen,
meist nur mässigen Umfanges, ab, vorwiegend von
Werken seiner Mitglieder, doch lässt er auch Aussen-
stehende zu. Das Interesse des Londoner Publikums
an diesen Ausstellungen ist gering, um so mehr fin¬
den sie die Beachtung eines kleinen gewählten Kunst¬
kreises, vor allem auch eines Teiles desjenigen Publi¬
kums, das sich um die Zeitschrift »The Studio« schart.
Im grossen Publikum herrscht die Ansicht, dass es
sich in den Ausstellungen um verrückte Sachen han¬
dele, woraus man ja, wie es oft der Fall ist, von vorn¬
herein schliessen könnte, dass das dort Gebotene sich
über das Gewöhnliche erhebt, vielleicht sogar bedeu¬
tend ist. Was die Mitglieder des New English Art Club
wollen, ist etwa dasselbe als was die Schotten wollen:
sie wollen malen ohne jede Nebenabsicht. Sie machen
keine Konzessionen und buhlen nicht um die Gunst
des grossen künstlerischen Pöbels. Wie sie es aber
thun, ist grundverschieden von der Weise der Schotten,
jedes Mitglied scheint seine eigenen Wege zu gehen.
Man verlässt die Ausstellungen des New English Art
Club zumeist mit dem Gegenteil von einem Gesamt¬
eindruck. Dafür sieht man die mannigfachsten
künstlerischen Anläufe, fast überall ein ehrliches Ringen,
hier und da eine glänzende Leistung. Freilich
fehlt das Mittelmässige nicht, mancher kleinere Geist
windet sich in seinen Versuchen, eine Individualität
zu entwickeln, die er nicht hat. Viele verfallen in
Nachahmungen alter Meister, man sieht da falsche
Watteaus, Reynolds, Constables und Turners. Aber
das halbe Dutzend bis Dutzend wirklich guter Sachen,
das jede Ausstellung schliesslich doch enthält, ent¬
schädigt für vieles.
Unter den Mitgliedern des Clubs hat sich in den
letzten Jahren P. Wilson Steer immer mehr als der
Führer der Gesellschaft herausgehoben. Er malt kraft¬
volle Landschaften, Figuren (wie die trefflich breit hin¬
gesetzte Aktstudie Abb. 14), Bilder aus dem Leben,
alles was ihm in den Weg tritt. Professor Brown
(der jetzige Leiter der Slade School), Moffat Lindner,
James Henry bieten zum Teil prächtige Landschaftstudien,
Bernard Sickert malt zumeist holländische Landschaften,
G. Thomson erfreut durch seine in kraftvollen Deck¬
farben ausgeführten Aquarelle, H. B. Brabazon ist
ein Impressionist der leichtempfänglichsten Art.
Charles Conder, der sich durch seine Malereien auf
seidene Fächer einen bedeutenden Ruf erworben hat,
lehnt sich in seinen Bildern etwas an Watteau an. In
letzter Zeit sind zwei jüngere vielversprechende Künst¬
ler aufgetreten: William Orpen mit gut studierten
Innenbildern und A. A. McEvoy. — Man hat von
dem New English Art Club im allgemeinen eine ge¬
deihlichere Entwickelung erwartet, als er bisher ein¬
geschlagen hat. Bis jetzt hat er sich kaum zu etwas
anderem herausgebildet als zu einer interessanten Ver¬
suchsanstalt für neue Malmethoden.
Fast möchte es scheinen, als ob ein anderes neu¬
zeitiges Unternehmen, welches vor vier Jahren zuerst
auftauchte und eines der bedeutendsten künstlerischen
Ereignisse der letzten Jahrzehnte in England war, in
seiner Fortsetzung einem ähnlichen Schicksale ver¬
fallen sollte: die Ausstellungen der sogenannten Inter¬
nationalen Gesellschaft der Bildhauer, Maler und Ra¬
dierer. Die erste Ausstellung, in jeder Beziehung
glänzend beschickt, fand 1 8g8 statt. Es war eine im¬
ponierende Vorführung nicht nur der besten neueren
englischen Kunst, sondern auch gut ausgewählter
Werke der kontinentalen Kunst. Man konnte Meister¬
werke der französischen, und was für England noch
viel seltener war, der deutschen Kunst sehen, eine
Ausstellung, wie sie in England noch nicht dage¬
wesen war. Whistler war der Präsident der Gesell¬
schaft, Lavery der Vizepräsident, von Deutschen waren
Böcklin, Klinger, Liebermann, Uhde, Stuck, Thoma,
von Franzosen Aman-Jean, Puvis de Chavannes, Ro¬
din zu Ehrenmitgliedern ernannt, alle Vorwärtsstreben¬
den waren vereinigt. Es waren nicht nur die besten
Bilder moderner Richtung des Jahres zusammen-
40
K.JNST UND LEBEN IN ENGLAND
gebracht, sondern man hatte bekannte Meisterwerke
von Besitzern entliehen und ausgestellt, kurz es han¬
delte sich um eine glänzende künstlerische That. Es
ist merkwürdig, aber /löcl u 1/= zeichnen^!, wie sich
uie englische offiziü k.".:!; ;i:izu v rhiei.: abwartend,
lau, zurr I -:i ■ delnd. Keines'./egs war man in der
Lage, die I'-dcutung der Sache abzuschätzen, man
beurteiil in Engla.i; m ; ^ as i-iit,, was man kennt,
und hier v/ar ja .o •;::1 Unuekc. Utes vorhanden. Um
si; erfrischvndr - \. ;rktp abvr dir Ausstellung in den
intimeren Ku.istkreisen i.ondons. Die zweite Aus-
stellun.i: fam' im folgenden Jahre in etwas engerem
Räumen statt. Als Motto hatte man auf den Katalog
Keck das i/rteil der in
England als sehr ge-
',,'ichtiv; betrachteten kri¬
tischen Zritschrift Athe¬
näum über die erste
Ausstellung gesetzt: A
large and not particu-
lariy pleasant gallery .
Man glaubte sich in der
Lage, diesem Stumpfsinn
der offiziellen Kunst¬
kritik Trotz bieten zu
können. Die dritte Aus¬
stellung war das Ereignis
des letzten Herbstes. Der
Rahmen war wieder viel
enger geworden , aus
Deutschland war kaum
ein Dutzend Bilder da,
aus Frankreich nicht
viel mehr und nicht die
besten. Selbst was Whist¬
ler sandte (seine früheren
Bilder waren die An¬
ziehungspunkte der Aus¬
stellung gewesen), war
wenig und enttäuschend.
Von dem Eindrücke der
Internationalität konnte
kaum die Rede sein.
Und trotzdem bot die
Ausstellung sehr viel
Interessantes. Denn abgesehen von den Schotten,
welche sich fast alle als Mitglieder der Gesell¬
schaft eingefunden hatten, wurden auch recht gute
Sachen der in neueren Bahnen wandelnden Lon¬
doner Künstler, wie Bertram Priestman, Henry Muhr¬
mann, C. H. Shannon, William Nicholson und an¬
derer vorgeführt. Sie war daher gewiss eine sehr gute
englische Ausstellung, aber kaum eine internationale
zu nennen.
Man bedauert dies vor allem im deutschen Inter¬
esse. Man ist sich in Deutschland schwerlich bewusst,
wie wenig man heute in England von deutscher
Kunst weiss und hält. Während man in gewissen
Kreisen jeden Pinselstrich, den ein französischer Maler
führt, bewundert, kennt man aus Deutschland nicht
die allerbekanntesten Namen. Böcklin, Klinger, Lenbach
sind dem weiteren englischen Publikum unbekannte
Grössen, von anderen Künstlernamen ganz zu schwei¬
gen. Und mehr als das, man hält es für ein still¬
schweigendes Übereinkommen, dass in Deutschland
künstlerisch überhaupt nichts zu holen sei. Es gab
eine Zeit, wo dies anders war. Vor fünfzig Jahren
hatte man die respektvollste Vorstellung von der
deutschen Kunst, unsere grossen Geschichtsmaler waren
allbekannt, man ging nach München und Düsseldorf,
um bei ihnen zu studieren, man brachte aus Deutsch¬
land Ideen für die Umgestaltung des künstlerischen
Unterrichts mit, München lieferte die Glasfenster für
die englischen Kathedralen. Der damalige Zustand
hat sich jetzt in das
Gegenteil verwandelt.
Man hält die deutsche
Kunstproduktion für eine
durchaus zu vernach¬
lässigende Grösse. In
Glasgow, wo man im
vorigen Jahre den An¬
spruch machte, eine inter¬
nationale Gemälde -Aus¬
stellung zu haben, waren
neben mindestens zwei¬
hundert französischen
zwei deutsche Bilder
vorhanden. Wohlge¬
merkt : die ausländischen
Bilder waren aus eng¬
lischem Privatbesitz ent¬
liehen und man hatte
wahrscheinlich mit dem
besten Willen nicht mehr
auftreiben können. Die
englischen Bildersamm¬
ler kaufen keine deut¬
schen Bilder, man kann
noch so viele moderne
Gemäldesammlungen
durchstreifen , ohne je
auf ein deutsches Bild
zu stossen. Zweifellos
trägt zu diesem augen¬
blicklichen Zustande die
englische insulare Abgeschlossenheit, nicht des Landes,
sondern der Köpfe, das ihre bei. Die glückliche
Entwickelung aller Verhältnisse in den letzten fünfzig
Jahren hat England in einen Zustand hoher Selbst¬
zufriedenheit, um nicht zu sagen Selbstbewunderung,
versetzt, der sich ganz von selbst auf alle Gebiete,
auch auf das der Kunst, erstreckt. Es ist weiter vorn
geschildert worden, wie erst seit den achtziger Jahren
die französische Kunst hier eingedrungen ist und den
insularen Ring gesprengt hat. Sie ist jetzt in Mode;
man könnte sich aus dem vorhandenen Bestände in
den englischen Kunsthandlungen an einem einzigen
Tage eine Sammlung von hundert französischen
Landschaften auswählen — aber man würde vergeblich
nach einem einzigen deutschen Bilde fragen. — Die in
Rede stehenden sogenannten internationalen Ausstel-
Abb. 14. Aktstudie. Von P. Wilson Steer
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
41
lungen böten ein Mittel, die deutsche Kunst etwas
heimischer in England zu machen, zumal die Ge¬
schäfte des Vereins von einem hier ansässigen ver¬
dienten deutschen Maler, Professor G. Sauter, geführt
werden, der den besten Willen hat, hier fördernd
einzugreifen.
Von den moderneren englischen Künstlern, die
man auf diesen Ausstellungen sehen kann, sind
zunächst einige Landschafter zu nennen , vor allem
Bertram Priestman und Henry Muhrmann. Beide
malen dunkle, düstre Bilder, wie die Mehrzahl der
Schotten. Muhrmann malt oft geradezu die Nacht,
welche Bilder dann selbstverständlich ein Höchst-
mass von Stimmung haben. Aber er ist ein kraft¬
voller, tieffühlender Künstler. Priestman, von dessen
Bildern die Abbildung 15 eine Vorstellung giebt,
malt ebenfalls lediglich trübe Tage, mit schwer
und vereinigt mit ihr die Weichheit der Farbe in
einer merkwürdig glücklichen Weise. Das über¬
raschendste Talent aber, das sich in den letzten Jahren
bemerkbar gemacht hat, ist der schon früher in Ge¬
meinschaft mit James Pryde, mit dem zusammen er
unter dem Künstlernamen Brothers Beggarstaff zuerst
die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, genannte William
Nicholson. Seine erste That war der 1897 in der
»New Review« erschienene farbige Holzschnitt der
Königin Viktoria, eine in wenigen urkräftigen Strichen
gezeichnete, höchst charakteristische, lebensvolle Figur
der Königin, deren Realismus gegenüber den sonst
üblichen »Verschönerungen eine wahre Wohlthat
war. Er war mit einem Schlage ein gemachter
Mann. Bei Heinemann erschienen seine bekannten
Bücher mit Bildern in derselben Manier, die in
Mode kamen und reissenden Absatz fanden. Viele
Abb. 75. Fliisskrümmiing. Von Bertram Priestmann
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
herabhängenden Wolken, melancholischen grossen
Erd-, Wasser- und Baumflächen, alles breit und
dabei flott hingesetzt. Die Bilder sind meist auf
einen grüngrauen Ton gestimmt, der sich selbst in
der Luft zu erkennen giebt. Grosse melancholische
Dämmerstimmung auch hier. Neben diesen Land¬
schaftern sind noch einige Figurenmaler zu nennen,
die sich meist mit Porträts beschäftigen und dann
auch in den Jahresausstellungen eines anderen Ver¬
eins, der Gesellschaft der Porträtmaler, wiederzufinden
sind. Dahin gehört vor allem der schon genannte
C. H. Shannon, ein Künstler, der die Rossetti’sche
Linie mit der abgetönteren modernen Farbengebung
vereinigt. Seine Bilder sind immer ungemein an¬
ziehend durch ihre Empfindungsfülle und den aparten
Geschmack des Künstlers, dessen Berühmtheit in
gleicher Weise auf dem Gebiete der graphischen
Kunst liegt wie auf dem der Malerei. Wie er strebt
auch der junge, vielversprechende Künstler Robert
Brough vor allem nach der ausdrucksvollen Linie
ZeilsclirifI für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 2
näherten sich der Vortrefflichkeit des Viktoriabildes,
andere blieben weit zurück, alle aber zeigten die grosse
Kraft der Auffassung und Darstellung, die ihm eigen
blieb, auch wenn der Gesamteindruck der Vorfüh¬
rungen ein gemischter war. Um so mehr mussten
seine neuerlichen Ölbilder überraschen, die sofort
wieder Treffer ersten Ranges waren. Namentlich ein
Kinderporträt, genannt Rosemary, war geradezu eine
Meisterleistung. Andere Bilder, wie das hier vor¬
geführte des Schriftstellers Henley (Abb. 17), zeigten
in gleicher Weise seinen sicheren künstlerischen Griff
und die Leichtigkeit seines künstlerischen Schaffens.
Wenn Nicholson nicht im Schlepptau der Mode krank
geschleift wird, ist noch viel von ihm zu erwarten.
Es konnte sich in diesem Überblick nur um die
Erwähnung der allerhervorragendsten Namen handeln,
solcher, die durch die Eigenart des Gebotenen ein
ganz besonderes Interesse erregen. Sonst wäre man
versucht, bei Namen von Porträtmalern wie William
Strang, W. Rothenstein, R. Jack, dem kürzlich zur
6
42
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
allgemeinen Anerkennung gekommenen Holländer
Nico W. Jungmann und anderen, bei den vorzüglichen
graphischen Künstlern Charles Riketis, Lucien Pissarro
und Josef Pennell, und bei den vorwiegend in der
alten WasserfarbcngeSeiLUiaft autiretenden Malern Ro¬
bert W. Allan, Herbert Marshall und Walter West
noch etwas länger verweilen, nicht zu reden von einer
ganzen Reihe hervorragender Buchillustratoren wie
A. Garth Jones, Edmund J. Sullivan, Eaurence Hous-
man, Hugh Thompson, Harold Nelson, deren Wirken
wohl eine eingehende Würdigung verdiente. Sie hier
zu versuchen, würde den Rahmen dieser Arbeit weit
überschreiten.
tung streift das Kunstgewerbe, die letztere ist rein
malerisch, in die erstere ragen die Bestrebungen der
zahlreichen Kunstschulen und Kunstgewerbeschulen
des Landes herein, die insgesamt »die neue Kunst¬
bewegung« pflegen, die letztere hat so wenig mit
dieser Kunstbewegung zu thun, dass die sie vertre¬
tenden Maler z. B. im stände sind, die scheusslichsten
Rahmen für ihre Bilder zu wählen, ein Beweis, dass
der umgehende Geist der Verallgemeinerung unseres
Schönheitsbegehrens bis zur breitesten Basis des ge¬
samten menschlichen Schaffens und Empfindens sie
noch nicht berührt hat. Beide Richtungen sind aber
spezifisch englisch. Die eine ist innerlich-örtlich die
Abb. i6. Dame mit chineschem Fächer. Von C. H. Shannon
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
Sucht man einen Gesamtüberblick über das neuere
Schaffen in der englischen Malerei, wie es sich ausser¬
halb der altväterischen Akademiewände abspielt, zu
erlangen, so lösen sich als besonders bezeichnend zwei
Richtungen ab: eine dekorative und eine impressio¬
nistische. Die erste sieht auf Rossetti als ihren
Gründer zurück, sie hat sich von ihm über Burne-
Jones bis auf den heutigen Tag erhalten und
nimmt im englischen allgemeinen Kunstleben einen
breiten Boden ein. Die letztere hat Whistler zum
Vater und unterscheidet sich von dem kontinen¬
talen Impressionismus durch die von Whistler in die
Kunst eingeführten abgetönten, auf einheitliche Grund¬
töne gestimmten Farbenwerte. Die erstere Rich-
andere äusserlich-örtlich begründet, die erstere durch
die nun schon fünfzigjährige Tradition der dem
englischen Wesen so sehr gefallenden dekorativen
Linie, die letztere durch die Eigenart der eng¬
lischen Luft, welche die spezifisch heruntertönenden
und einhüllenden Einflüsse auf alles in ihr befindliche
Feste ausübt.
Das Übergewicht liegt bei der dekorativen Rich¬
tung, die geradezu zu einem Teile des englischen
Wesens geworden ist und die englische bildende
Kunst nicht nur auf dem Gebiete der Malerei, son¬
dern in ihrer gesamten Ausdehnung mit Beschlag
belegt hat. Hier liegt eine ausgesprochene Kultur¬
leistung, die Verdichtung eines Kunstideals zu einem
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
43
Nationalstil, vor. Das Dekorative beherrscht die Ma¬
lerei, die Skulptur und die Kleinkunst in England in
einer so einheitlichen Weise, dass es der Kunst des
letzten halben Jahrhunderts das Gepräge giebt. Von dem
Genie Rossetti’s in der Malerei entwickelt, dehnte es
sich von da aus auf die Kleinkünste und die gesamte
künstlerische Lebensauffassung aus, und aus dieser
Allgemeinheit erhoben sich in den letzten Jahrzehnten
des alten Jahrhunderts die neuen Schösslinge der
neupräraffaelitischen Malerschule, die wir schon ken¬
nen gelernt haben und die heutige im wesentlichen
auf das Dekorative auslaufende englische Skulptur,
von der weiterhin die Rede sein wird.
Abb. ij. Bildnis des Schriftstellers W. E. Henley
Von William Nicholson
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
6*
EIN BILD VON KAREL FABRITIUS IN ROM
WÄHREND meinem letzten Aufenthaltes in Rom
im Winter 1901 — 1902 wurde mir die un¬
erwartete Freude zu teil, in der Galleria
nazionale einen g- uz unzweifelhaften Karel Fabritius
zu entdecken. Bekanntlich ist die betreffende GetUcälde-
sammlung durch Vereinigung der ehemaligen Galleria
Corsini und der dem Staate vor wenigen Jahren ge-
vorkommenden als trefflichen Rembrandtschülers —
von der ganzen Schar wohl derjenige, welcher von
dem Unterricht des Meisters die reichste Ausbeute
gewonnen, ohne gleichzeitig seine Künstlerindividua¬
lität einzLibüssen — in Erinnerung bringen; für die
beiden Bilder ist, wie es scheint, dasselbe Modell be¬
nutzt, die Kostümierung zeigt auffallende Überein-
Die (kleine) Schildwache von Kcirel Fabritius. Rom, Oaleria Nazionale
schenkten Galleria Torlonia entstanden; mit der letzt¬
genannten ist unter mehreren holländischen Bildern
von Wert auch das hier zu erwähnende in die Galleria
nazionale gekommen. Es hängt da als Nr. 401 und
ist in dem Verzeichnis als »Pieter de Hooch: Caserna
con soldati, che giuocano aufgeführt.
Schon der erste Blick auf das besonders schön
erhaltene Kunstwerk wird denjenigen Beschauer,
welcher mit anderen Leistungen des Karel Fabritius,
besonders mit der Schildwache" in Schwerin, einiger-
inassen vertraut ist, den Namen des eben so selten
Stimmungen — man merke sich z. B. die eiserne
Sturmhaube — , und von den architektonischen Um¬
gebungen gilt etwas Ähnliches. — Schreitet man je¬
doch zu einer genaueren Prüfung, so bestätigt sich
der erste unmittelbare Eindruck bis zur vollkommen¬
sten Überzeugung. Das feingestimmte und doch mit
ebenso grosser Kraft als Harmonie wirkende Kolorit,
die Weise, wie das Helldunkel beherrscht ist, die
ganze Mache, die eine beinahe völlig Rembrandt’sche
Wirkung durch die leichteste Handhabung des
Pinsels und den elegantesten Vortrag hervorbringt.
EIN BILD VON KAREL FABRlTlüS IN ROM
45
lässt keinen Zweifel übrig. Von hoch ausgebildeter
Virtuosität zeigt die Kühnheit und die fein empfin¬
dende Sicherheit, womit das klare Rot des über die
Knie der Hauptfigur gebreiteteten Mantels mit der
fahlen Farbe der Jacke zusammenstimmt, und prächtig
hebt sich die ganze Gestalt des frischen, braunhaarigen
Buben, der während der Wache behaglich seine Pfeife
raucht, auf dem teilweise sonnenbeschienenen Hinter¬
gründe heraus. Der Ton des Stückchen Luft, auf
welchem sich ein Kirchenturm zeichnet, hat einen
beinahe van Qoyen’schen Charakter.
Formgebung ist das Bild als ein Meisterwerk zu be¬
zeichnen.
Bekanntlich ist das Schweriner Bild im Todesjahre
des Karel Fabritius (1654) vollendet. Das kleinere
Gemälde trägt keine Signatur. Sehr wahrscheinlich
kommt es mir doch vor, dass es etwas früher als das
grössere entstanden ist; allerdings scheint es durch
Unmittelbarkeit des Gefühles und der Auffassung so¬
wie durch reizende Frische der Ausführung vor dem
längst bekannten Schweriner Hauptwerk einen Vor¬
zug zu haben.
Die Schildwache von Karel Fabritius. Schwerin, Museum
Das Bild ist 55 cm hoch, 46'/2 breit. Die
Hauptfigur, sowie auch der ganze Vorder- und Mittel¬
grund des Bildes, ist mit ausserordentlicher Delikatesse
durchgeführt, die im Hintergründe beschäftigten Per¬
sonen, von denen die zwei einem Brettspiele obzu¬
liegen scheinen, während der dritte am Wachtfeuer
(Küchenherd?) steht, sind mit leichtem, flüchtigem
Pinsel hingesetzt und lassen sich, so wie sie im Hell¬
dunkel angebracht sind, in den Einzelheiten schwer¬
lich erkennen — am allerwenigsten in einer photo¬
graphischen Wiedergabe. Auch in Beziehung auf
Hätte ich nicht das Schweriner Bild gekannt
würde ich vielleicht den römischen Fabritius für ein
jugendwerk Rembrandt’s gehalten haben. Als ein
Pieter de Hooch wird es wohl schwerlich irgend einen
Kenner holländischer Kabinettskunst anmuten. Die
unrichtige Benennung könnte vielleicht dadurch einiger-
massen erklärt werden, dass der mit P. de Hooch oft¬
mals verwechselte Jan van der Neer van Delft notorisch
ein Schüler von Karel Fabritius war.
Kopenhagen, Oktober igo2
SIGURD MÜLLER
BÜCHERSCHAU
Hundert Meister der Gegenwart. 20 Lieferungen mit
je 5 Tafeln in Faksimilefarbendruck nach Gemälden
moderner Meister. (Ladenpreis M. 40.— ; Verlag von
E. A. Seemann in Leipzig.)
Das vornehme Lieferungswerk, von dem die drei
ersten Hefte (Einzelpreis je M. 3. — ; Subskriptionspreis je
M. 2. — ) erschienen sind, stellt einen bis dahin nicht er¬
reichten Höhepunkt in der Entwickelung der Technik des
Farbendruckes vor. Was die Kunsttechniker seit Jahrhun¬
derten gesucht haben, ein Verfahren, auf mechanische
Weise eine würdige Reproduktion von Gemälden in Farben
herzustellen, was zuerst auf Grund der Schabkunst der
Frankfurter Le Blon versuchte, der drei Platten für Gelb,
Rot, Blau anwandte, die Zwischentöne durch Übereinander¬
drucken der Pigmente erzielte und so der Erfinder des
Prinzips des Dreifarbendruckes wurde, was nach Erfindung
der Lithographie der Steinfarbendruck, was dann weiter
der Farbenholzschnitt erstrebte und was in neuester Zeit
als Problem der Farbenphotographie verheissungsvoll auf¬
getaucht ist, hat hier eine ungeahnte Stufe der Vollendung
erreicht, die uns eine grossartige Perspektive für die ästhe¬
tische Bildung der breiten Schichten unseres Volkes eröffnet.
Das kategorische Urteil, das erst kürzlich auf dem Dresdner
Kunsterziehungstage bei Erwähnung der englischen Farben¬
drucke der Arundel-Society gefällt wurde, dass es der Tech¬
nik bisher nicht gelungen sei, wirklich gute, billige Nach¬
bildungen farbiger Meisterwerke der Malerei herzustellen,
war in demselben Augenblicke, wo es gesprochen wurde,
bereits hinter den Ereignissen zurückgeblieben: Die Samm¬
lung »Alte Meister , die von Blatt zu Blatt einen erstaunlichen
Fortschritt bekundete, war in die Erscheinung getreten. Welch
eine Aussicht für die künstlerische Bildung, freilich nicht für
den ästhetischen Gourmand, der Müsse und Geld genug
besitzt, die Originale durchzukosten, für die hyperästhe¬
tischen Virtuosen des Genusses, die mit dem mitleidigen
Lächeln ihres Spottes dem Hungrigen seine ersehnte
Speise vergällen, beides Feinde jeder wahren Volkskunst,
sondern für die Tausende, die den Anblick eines Originals
nur ein paarmal, nur einmal erleben und die doch den
Wunsch haben, sich auf diesen Moment so gut wie mög¬
lich vorzubereiten, nachdem derselbe aber vorübergegangen
ist, sich den Eindruck, so oft sie wollen, mit sinnlicher
Gewalt zurückzurufen, für die Abertausende, die den
Originalen ewig fern bleiben werden und die sich bei
ihrem Hunger nach Kunst bisher mit einfarbigen Repro¬
duktionen behelfen mussten. Sind schon die »Alten Meister«
im stände, denen, die bisher zur Farbenblindheit im ästhe¬
tischen Sinne verdammt waren, die Augen zu öffnen, so
tragen die »Meister der Gegenwart«, wenn die versprochenen
Hundert in Ausführung und Auswahl die gleiche Höhe
zu behaupten fähig sind, die Möglichkeit einer völligen
Umwälzung der allgemeinen Geschmacksbildung in sich.
Und bereits das, was die ersten beiden Hefte zeigen und
was sich im dritten hinter der Öffentlichkeit vorbereitet,
ist mit besonderer Freude zu begrüssen. Alle Richtungen
sind vertreten, und es geht in kühnem Sprunge von Menzel
und Lenbach, die ja beinahe schon Klassiker sind, zu den
Allermodernsten.
Ich kann den rein ästhetischen und erziehlichen Wert
der Blätter nicht besser charakterisieren, als indem ich
etwas von den Proben mitteile, die ich in Bezug auf die
Wirkungsfähigkeit derselben vor einer Anzahl jüngerer und
älterer Kunstfreunde gemacht habe. Dass Darstellungen
wie Hinter den Kulissen« von Knaus und »Die Mena¬
gerie« von Meyerheim, wo der reizvolle Gegenstand ganz
allein genügt, um Auge und Gemüt zu entzücken, in erster
Linie mit Freude begrüsst wurden, ist selbstverständlich,
aber gerade hier erschloss sich am leichtesten und fast
instinktiv das volle Verständnis für den Wert der Farben.
Kinder, die den Knaus von einer schwarz-weissen Repro¬
duktion her kannten und liebten, meinten diese nun nicht
mehr ansehen zu können. Fanden sie doch jeden Zug in
den Gesichtern ihrer Lieblinge in voller Treue wieder und
bewunderten dazu den Reiz der Farben, nicht so als ob
diese als ein neues Element hinzugetreten wären, nein, sie
fühlten den Einklang von Form und Farbe, sie sahen in
dem Bild nicht eine kolorierte Darstellung, sondern ein
Abbild der farbenfrohen Wirklichkeit. Ebenso wurde vor
dem köstlichen Meyerheim das Malerische in dem von
hinten hereinfallenden kalten Tageslicht und in der fein
abgetönten Aufhellung des Vordergrundes durch eine un¬
sichtbare Lichtquelle empfunden. Thoma’s »Kinderreigen«
in dem in Vorbereitung befindlichen dritten Heft giebt dem,
der kein Original des Künstlers gesehen hat, erst den
richtigen Aufschluss über das intime Verhältnis, in dem die
satten, glänzenden Farben zu den Gesichtern und Figuren
seiner Menschen stehen. Von den Porträtdarstellungen
fand Lenbach’s Bismarck ungeteilte Bewunderung. Die
das Glück gehabt hatten, den grossen Kanzler im Leben
zu sehen, wiesen sofort auf die rosige Frische des Teints
hin; Kunstverständige meinten, die unnachahmliche Kunst
der Palette und der Pinselführung des Meisters sei hier
täuschend nachgeahmt. Einen unfreiwilligen Beweis für
diese den Blättern eigene hohe Vollendung in der Nach¬
ahmung der Originale erbrachten einige, zwar an scharfe
Auffassung der Naturwirklichkeit gewöhnte, aber dem
modernen Kunstschaffen fernstehende Personen, indem sie
vor der Schönleber’schen, mit derbem Impasto behandelten
Hafenskizze behaupteten, dass man in der Natur keine
Pinselstriche sehe. Ihre Kritik wandte sich also nicht gegen
die Reproduktion, sondern gegen die künstlerische Auf¬
fassung des Originals, das sie sofort an Stelle jener er¬
blickten. Damit kamen die für den stumpferen Blick des
grossen Publikums so oft nichtssagenden, manchmal auch
zu viel sagenden Darstellungen, in denen der Inhalt fast
nichts, die Art, wie die Dinge in Licht, Luft und Raum
gesehen und wiedergegeben werden, fast alles ausmacht.
Hier zog Menzel’s »Restaurant auf der Pariser Weltaus¬
stellung« in seiner genialen Vorwegnahme impressionisti¬
scher Theorien ohne weiteres, ebenso Hans Herrmann’s
»An der Scheldemündung«, das in Himmel, Meer und
Menschen auf wasserglänzendem Pflaster die echteste See¬
stimmung atmet. Skarbina’s »Winterabend am Lützowplatz
in Berlin« schien ein längeres und öfteres Verweilen nötig
zu machen. Leibl’s »Zeitungsleser« erweckte eine Ahnung
von der ungeheuren Treffsicherheit des Künstlers, wenn
auch die Gartenlaube noch als Farbenchaos empfunden
wurde. Dagegen errang Hans von Bartels’ »Holländische
Mädchen in den Dünen«, wo die sonnenglühenden Farben
so schön in der Luft stehen, einen ganzen Erfolg, besonders
als die Beschauer weit genug weggetreten waren. Dem
grössten Widerstand begegneten Liebermann’s »Schul¬
mädchen«. Vielleicht kommt der grosse Freilichtmaler mit
einem ferneren Bilde zu grösserem Rechte, als es mit dieser
Studie möglich war. Es braucht ja nicht alles auf einmal
zu kommen. Das Überhasten würde mehr schaden als
nützen; die Blätter wollen erziehen, und eine gute Er¬
ziehung braucht die heilende und reifende Zeit. Und so
BÜCHERSCHAU
47
rufen wir in froher Erwartung des Kommenden den hundert
Meistern der Gegenwart aus vollem Herzen Glückauf ent¬
gegen. Georg Warneckc.
Alexander Amersdorffer, Kritische Studien Uber das
venetianische Skizzenbuch. Mit drei Tafeln und drei Ab¬
bildungen im Text. Berlin 1901, Mayer & Müller.
ln die seit mehreren Jahren etwas stagnierende Raffael-
Forschung sollte ein Buch wieder Fluss bringen, das
einen vielumstrittenen Punkt zum Gegenstand gewissen¬
haftester Untersuchung macht. So kühn seinerzeit Morelli’s
Angriff auf den raffaelischen Ursprung des Skizzenbuchs
war, so suggestiv und lähmend hat er gewirkt. Man war
froh, das vielgeliebte Buch unter einem so ansprechenden
Namen, wie dem Pinturicchio’s weiter verehren zu dürfen
und die Beschäftigung damit galt seitdem als eine Art
Privileg, das man gern den kunstgeschichtlichen Seminaren
überliess. Damit war wohl die Raffael -Forschung von
einer unbequemen Aufgabe befreit, nicht aber die kunst-
geschichtliche Kritik.
Der an sich scheinbar sehr undankbaren Aufgabe, zu
untersuchen, von wessen Hand das Skizzenbuch herrührt,
hat sich nun Amersdorffer mit unermüdlicher Sorgfalt und
scharfer Kritik unterzogen.
Von seinen Vorgängern konnte er nur Robert Kahl’s
Schriftchen brauchen; es hat das Verdienst eine grosse
Zahl von Beziehungen aufgedeckt zu haben, die zwischen
den Skizzenbuchblättern und gleichzeitigen Kunstwerken
bestehen. Aber von allen, die vor ihm über das Skizzen¬
buch schrieben oder schwiegen, unterscheidet sich Aniers-
dorffer dadurch, dass er zum erstenmal energisch dem
Gedanken Ausdruck giebt, das Skizzenbuch rühre nicht von
einem einzigen Künstler her, sondern mehrere Hände hätten
daran gearbeitet, eine Ansicht übrigens, die schon irgendwie
in der Luft lag, aber hier erst so konsequent zum Ausgang
und Endziel der Untersuchung gemacht wird.
Nach einer ebenso mühsamen wie dankenswerten
idealen Rekonstruktion des Skizzenbuchs in der ursprüng¬
lichen Reihenfolge seiner Blätter sucht der Verfasser die
verschiedenen Gruppen, aus denen sich das Ganze für ihn
zusammensetzt, scharf stilisiert zu umgrenzen. Eine »peru-
gineske« Gruppe umfasst vor allem die bekannten Draperie¬
studien, die Morelli mit den Sixtinafresken Pinturicchio’s
in Beziehung setzte, die Philosophenporträts, die Land¬
schaften. Zur »Pollajuologruppe« gehören z. B. die lavierte
Zeichnung des Herakles mit dem Löwen, eine Anzahl spitz-
umrissener Aktstudien — auf ihren Zusammenhang mit
z. T. erhaltenen Blättern Pollajuolo’s war schon früher
hingewiesen — , einem Flötenspieler und auch die lavierte
Zeichnung zweier Reiter. Die »signorelleske« Gruppe
schliesslich bestand aus der Rückenfigur eines Kriegers,
eines kahlköpfigen Flötenspielers und der Mutter mit dem
Henker aus einem Kindermord.
Der Autor der auf die Sixtinafresken bezüglichen Ge¬
wandfiguren ist nicht Pinturicchio selbst. Amersdorffer
beweist es durch einfache Gegenüberstellung der sitzenden
Frau in Zeichnung und Bild. Von manchen unverstandenen
Partien in der Gewandung abgesehen, bleibt die Gestalt
auch im Ausdruck hinter der in der Sixtina zurück, deren
Köpfchen den anmutigsten Typus Pinturicchio’s zeigt. Da¬
mit bekommt Morelli’s Pinturicchio-Theorie einen empfind¬
lichen Stoss. Denn entweder eine grosse, ja die ausschlag¬
gebende Gruppe ist nicht von ihm oder — wenn man an
der Einheitlichkeit der Handschrift festhält — das ganze
Buch nicht. Gegen diese Einheitlichkeit hält Amersdorffer
als stärksten Beweis die Pollajuologruppe bereit. Sie er¬
scheint ihm wie ein ganz fremder Körper in diesem umbri-
schen oder umbroflorentinischen Ganzen.
Aber man weiss, dass auch sie Kopien sind, wie das
meiste im Skizzenbuch. In den Vorbildern dieser Kopien
liegt der ganze Unterschied der einzelnen Gruppen. Sieht
man schärfer auf das »Wie« als auf das »Was« dieser
Zeichnungen, so kommt man doch wieder zu der Erkenntnis,
dass hier nicht verschiedene Hände gearbeitet haben und
dass die einzelnen Gruppen, wenn man sie auf ihre »Hand¬
schrift« betrachtet, ineinander fliessen. Denn die Handschrift
ist nicht anders in dem Kindermord nach Signorelli und
in den Draperien nach Perugino oder Pinturicchio, nur
diese Draperien sind verschieden, nicht der Zug des Strich¬
systems; der einzelne Fuss neben dem peruginesken Heiligen
ist zwar mit den gleichen Strichen modelliert wie der
einzelne Fuss neben dem pollajuolesken Flötenspieler, und
dieser im Profil schreitende Flötenspieler ist nach derselben
Bronze Pollajuolo’s oder eines Oberitalieners (ein Exemplar
befindet sich in Modena, die gleiche Figur steht auf dem
Fresko der Geburt Mariä in S. Francesco zu Padua von
Girolamo da Santa Croce über einer Thür) kopiert, wie
die Rückenfigur seines »signorellesken« Kameraden.
Gewiss kann nichts mehr täuschen als die von allem
positiv Stilistischen losgelöste, fast nur der Empfindung
überlassene Handschriftenvergleichung, und am gefährlich¬
sten ist es vielleicht, in all den verschiedenen von Augen¬
blick und Laune abhängenden Äusserungen desselben In¬
dividuums immer mit Sicherheit den gemeinsamen Zug
erkennen zu wollen. Dass alle diese Zeichnungen von
einer Hand herrühren sollten, kann also eine Täuschung
sein; aber unmöglich bestreiten lässt sich doch eine grosse
Familienähnlichkeit, derSchulzusammenhang in der Zeichen¬
technik durch alle drei Gruppen. Natürlich kann man nicht
Lavierung und Strichzeichnung vergleichen, wohl aber die
bestimmten Linien in ihnen, den Kontur, und der hat in
allen, ob laviert, schraffiert oder mit breiten Lagen aus-
ausgefüllt, die gleiche Führung: spitzig, trocken und ohne
Schwellung. Auch sind in den Zeichnungen nach Signo¬
relli und Pollajuolo alle Typen von ihrer ursprünglichen
Herbheit und Kraft ins umbrisch kraftlose gebrochen. Es
kann sehr wohl dieselbe Hand, wenn sie Draperiefiguren,
diese sauberen Falten und Haken, kopiert, kindisch oder
senil erscheinen, und dann wie frei und flüchtig, wenn sie
eine Landschaft skizziert. Sie bleibt sich auch gleich ob
sie einen Muskelmann, wie Pollajuolo’s Herkules, oder
ein paar Reiter nach einem umbrischen Meister laviert,
und auch dann, wenn sie ein frühes Quattrocentobild
flüchtig wie den kindlichen Kindermord skizziert.
Spätere Zusätze markieren sich schon deutlich genug,
wie der Kopf mit der Allongeperücke, der Pierrot auf
einem andern Blatt, durch ihren Mangel an Stil in der
Federführung; es kommen auch auf echten Raffael’s in
Lille und Oxford ähnliche Kritzeleien vor.
Schwieriger ist die Frage der Überarbeitung. Man
darf doch wohl nicht, wie hier bei den Landschaften
geschehen ist, aus dem blossen Vorhandensein von ein¬
geritzten Konturen oder auch von Silberstiftspuren unter
den Federstrichen schliessen, dass die ursprüngliche Zeich¬
nung von fremder Hand mit der Feder übergangen wurde.
Gerade diese Landschaften stimmen ja in der Handschrift
mit den besten peruginesken Blättern überein, zu denen
sie auch sonst in Beziehung stehen: bekanntlich setzt sich
aus zwei Stücken dieser Landschaften, allerdings seltsamer
Weise im Gegensinn, der Hintergrund von Raffael’s Ma¬
donna Terranuova zusammen.
Die Vorbilder der Skizzenbuch-Zeichnungen zu finden,
wird mit der Zeit mehr und mehr gelingen. Amersdorffer
hat eine Reihe Funde zu verzeichnen, und schon Vor¬
handenes glücklich gruppiert. Aus der Raffael-Forschung
ist das Skizzenbuch nun wohl endgültig eliminiert, aber
48
REMBRANDT’S GEMÄLDE DES PAULUS IM NACHDENKEN
von grossem Interesse bleibt es als Spiegel der gleich¬
zeitigen Kunst. Denn den eifrigen Kopisten hat sein Weg
an vielen Grossen vorbeigeführt, ln der umbrischen Heimat
und Schule unter Perugino und Pinturicchio ist er er¬
wachsen und hat seinen Meistern den schuldigen Tribut
gegeben: Perugino in den beiden greisen Heiligen (Per. 3
und Per. 50) nach den ehemaligen Sakristeibildern in S. Pietro
zu Perugia, Pinturicchio in den Kopien von Figuren aus
der Si.xtina. Den jungen Raffael muss er, als Mitschüler,
mindestens gestreift haben: er hat den Kopf eines alten
Hirten, den Raffael in der vatikanischen Predella der
Anbetung anbrachte, in seinem Skizzenbuch verzeichnet
(Per. 87), ebenso den ziirückgeworfenen Apostelkopf an der
Krönung Mariä (Per. 28) und selbst ein lionardeskes Profil,
das Raffael in S. Severo verwertete (Per. 87). Mit Spagna
teilt er sich — es ist fraglich ob als Kopist nach diesem
— in der Figur eines Reiters, der mit dem gleichen zu
langen Bein, auf dem Fresko der Kreuzigung in S. Maria
degli Angeli unterhalb Assisi vorkommt. ln Urbino
hat er sich die bekannten Philosophenporträts des Justus
van Gent gemerkt, in Florenz Pollajuolo’s Zeichnungen
(Per. 109, 110, 46) und Bronzen (Per. 45 und 13) auch
Cosimo Rosselli in seinem hl. Andreas (Per. 44) kopiert,
und der werdenden Hochrenaissance seine Ehrerbietung be¬
zeugt, indem er einen Kopf nach Fra Bartolommeo (Per. 108)
zeichnete. Auf seinem Wege von den Marken nach Florenz
beugt er, der Umbrer, sich vor der dramatischen Wucht
und anatomischen Meisterschaft Signorelli’s (Per. 2, Per. 76)
und einem frühen Quattrocentomeister kann er nicht vorüber¬
gehen, ohne sich von seiner Darstellung des Kindesmordes
wenigstens für die Zeit einer flüchtigen Skizze festhalten
zu lassen (Per. 75). Die graphischen Künste: Mantegna’s
Stich der Grablegung und eine Nielle mit dem vom
Löwen überfallenen Hirten, schliesslich die Antike, von
der er in seiner Grazienzeichnung mindestens ein Er¬
innerungsbild mitnimmt, vervollständigen das Bild aussen,
was in jener Zeit dem mittelmässigen Maler einer provin¬
ziellen Schule für seine Ausbildung zu Gebote stand.
Dieser kunst- und kulturgeschichtliche Ausblick mag denen
ein Trost sein, die den Verlust des Skizzenbuchs für
Raffael’s Namen nicht verwinden können. Oskar Fischet.
REMBRANDT’S GEMÄLDE DES PAULUS IM NACHDENKEN IM
GERMANISCHEN MUSEUM ZU NÜRNBERG
L. Kühn’s Radierung führt uns ein Jugendwerk Rem-
brandt’s im Besitz des Germanischen Museums in treuer,
charakteristischer Nachbildung vor. Das Bild ist weder
bezeichnet noch datiert; trotzdem ist es nie angezweifelt
worden, wie bis vor kurzem noch die Mehrzahl der
Jugendbilder des Meisters. Freilich ist es noch nicht lange
bekannt. Es tauchte vor einigen zwanzig Jahren in Berlin
in der Sammlung des Freiherrn von Fechenbach in Franken
auf. Das Auktionshaus FL Lepke sollte das Bild unter der
Hand unterzubringen suchen; aber da es keinerlei pedigree
hatte, fand es keinen Käufer, und auf einer Versteigerung
bei Lepke 1882 musste es wegen ganz niedrigen Angebots
zurückgezogen werden. Das Bild gelangte dann durch
Erbschaft an einen anderen fränkischen Edelmann, Frei¬
herrn von Bodeck-Ellgau auf Heidenfeld, der es 1890 mit
seiner Sammlung in Köln versteigern liess. Hier musste
ich es, da ich zufällig der Auktion beiwohnte, auf Wunsch
von Professor v. Essenwein für das Germanische Museum
erwerben. Nicht, dass ich nicht froh gewesen wäre, auf
diese Weise das Bild einer öffentlichen Sammlung und
gerade Deutschland erhalten zu sehen, aber ich vertrat und
vertrete noch imVerwaltungsausschuss des German. Museums
die Ansicht, dass dieses Institut möglichst ausschliesslich
Gegenstände rein deutscher Kunst und Kultur erwerben
soll, und dass die Mittel die Ausdehnung auf stamm¬
verwandte Nationen, wie Holländer und Vlamen, nicht er¬
lauben. Immerhin ist es erfreulich, dass das Bild jetzt in
einem grossen deutschen Museum aufbewahrt wird,
denn es ist nicht etwa eine blosse Nummer im reichen
Malerwerk Rembrandt’s, nicht bloss ein Bild wie manche
andere, sondern es steht unter seinen Jugendwerken mit
in erster Reihe und zeigt seine Eigenart schon in eigen¬
tümlich scharfer und bedeutender Weise.
Der Paulus des Germanischen Museums ist freilich
eine Gestalt wie so viele in Rembrandt’s Gemälden und
Radierungen: ein alter Gelehrter an seiner Arbeit. Gerade
unter den Jugend werken finden wir den Paulus wiederholt
und ähnliche Einzelgestalten in grösserer Zahl, aber sie
verraten den Anfänger in viel stärkerem Masse. So der
»Paulus im Gefängnis« von 1627, das früheste bekannte
Bild Rembrandt’s, jetzt in der Stuttgarter Galerie, in dem das
Modell noch fast peinlich wiedergegeben ist und die
Überfülle von Nebensachen die Hauptfigur beeinträchtigt.
Dies gilt in anderer Weise auch vom »Wechsler« in der
Berliner Galerie und vom »alten Gelehrten« in der Sammlung
von Frau Rätin Mayer in Wien; das erste, gleichfalls datiert
vom Jahre 1627, in welchem Jahre sehr wahrscheinlich auch
das letztere entstanden ist. ln beiden Bildern sind die Gegen¬
sätze zwischen Licht und Schatten noch stark übertrieben, die
Wirkung des Kerzenlichtes ist darin ebenso naturalistisch, fast
ängstlich treu wiedergegeben, wie im Stuttgarter »Paulus«
das einfallende Sonnenlicht, und die Figuren sind noch ohne
jede feinere Empfindung. Anders im »Paulus« des Ger¬
manischen Museums, wenn er auch, nach der Benutzung des
in diesen Jahren häufiger vorkommenden Modells und nach
manchen charakteristischen Zügen, nur ein bis zwei Jahre
später entstanden ist als jene Bilder. Hier ist die edle
Apostelfigur schon voll zur Geltung gekommen, sie wird
durch die Beleuchtung und malerische Behandlung nur
gehoben und voll zur Wirkung gebracht. In tiefes Sinnen
verloren über den Brief, den er an eine seiner geliebten
Gemeinden niederzuschreiben im Begriffe ist, blickt er vor
sich hin, eine kräftige Gestalt, schon ergraut, aber voll
verhaltener Thatkraft. Die getünchten Wände des kahlen
Raumes schmücken nur ein Paar Yatagans — wohl an Stelle
des Schwertes — , aber das warme goldige Licht, das den
Kopf des Apostels streift und voll auf die Wand fällt und
die Bücher auf dem Tisch ganz dunkel sich abheben lässt,
giesst schon jenen eigentümlichen Zauber des Behagens und
der Andacht über die Gestalt, wie er den späteren Bildern
des Meisters ganz eigen ist, und hebt sie weit über die Sphäre
jener ersten Studien. Der »Paulus« ist darin schon der
unmittelbare Vorläufer der beiden berühmten kleinen
Philosophenbilder im Louvre, die er zwar an Feinheit
der Ausführung und des Helldunkels nicht erreicht, neben
denen er aber durch die eigentümliche Kraft und Breite
der Behandlung, durch reiche leuchtende Färbung bestehen
kann. w. BODE.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
ilTSCHRlFT FÜR BILDENDE KUNST I902
ADOLF V. MENZEL. VON DER PARISER WELTAUSSTELLUNG 1867
AUS SEEMANNS HUNDERT MEISTERN DER GEGENWART
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1902
ORIGINALRADIERUNO VON HERMANN HIRZED
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER
IN BRÜGGE
VON Franz Dülberg
ES war ein voller, ein flandrisch lauter, ein fast
betäubender Erfolg. Die träumende Stadt sah
für einige Monate dem Bayreuth der Wagner¬
spiele zum Verwechseln ähnlich.
Ist eine reine Freude über solches Ergebnis er¬
laubt? So schön es ist, dass eine Kunst, die so auf¬
richtig war zur Natur und die nie mit leichter Fertig¬
keit die scheinbar kleinen Dinge des Lebens über¬
hüpfte, so viele Freunde jetzt findet, so will doch
die Befürchtung nicht schweigen, dass gerade das
Primitive an den Primitiven Mode werden könnte.
Vestigia terrent. Manet und Degas werden länger
leben als Rossetti und Burne-Jones.
Dabei setzte die Ausstellung nicht etwa die leicht
eindringende Stimmung fort, die dem Besucher, der
auf dem Burgplatze hinter dem Stadthause den Mond
sich erheben und die leise Vergoldung des Anbaues
beglänzen sieht, zum Geschenke wird. Die Ausstellung
war aufgeregt kunsthistorisch, ja etwas kunsthänd¬
lerisch.
Schliessen wir einen Augenblick die Ohren gegen
das Gepolter der hart im Raume sich stossenden
Dinge, so schauen wir in der Mitte eines hohen
Saales den Dijoner Mosesbrunnen des Claus Sluter,
um den herum man jetzt in gerechter Erkenntnis des
Genies ein Irrenhaus angelegt hat. Broederlam’s
Marienleben mit seinen schlanken Erscheinungen und
der zarten Jugend seiner blonden Farben führt zu
des grossen Hubertus e Eyck Mitteltafel des Genter
Altars, dessen machtvoll herrschende Gestalten uns
von einer nordischen Monumentalkunst erzählen, deren
hohe Reife im Schwur der Bataver heraufzuführen
Rembrandt durch den Unverstand seiner Mitbürger
gehindert wurde. Zur Seite steht Roger’s von Tournai
Kreuzabnahme des Escorial, nahe, klar und ergreifend
wie ein Volkslied. Gegenüber Hugo van der Goes’
Anbetung der Hirten aus Florenz, in seiner süssen
Herbe, in seiner unvergleichlichen Gegenwärtigkeit für
mich neben Matthias Grünewald’s Isenheimer Altar
das stolzeste Werk der nordischen Frühblüte. Auf
Pulten breiten sich Paul von Limburg’s Stundenbuch
des Herzogs von Berry und dieses Werkes wohl¬
geratener Enkel, das Grimanische Brevier. Die Rück¬
wand schmückt Geertgen’s van Sint Jans Wiener
Hauptbild mit der starren laut umklagten Feier des
toten heiligen Leibes. Ein Nebenraum zeigt einander
gegenüber des Quinten Massys Antwerpener Altar
mit seinem unzählbaren goldenen Reichtum und des
Lukas van Leyden jüngstes Gericht, jene Schöpfung
unerhörtester malerischer Unbefangenheit vor dem
widerspenstigsten aller Stoffe. — Verschwinde, Traum!
Was gegen Hunderte berechtigter und unberech¬
tigter Widerstände durchzusetzen war, haben die Leiter
Zeitschrift für bildende Kunsf. N. F. XIV. H. 3.
der Brügger Ausstellung, deren Namen Belgien mit
Jubel nennen durfte, erreicht. Natürlich war fast jedes
wichtigere ältere Bild, das Brügge selbst besitzt, ge¬
kommen. Die belgischen Kirchen — leider lange
nicht alle — hatten manches, die belgischen Museen
einige Proben, die belgischen Sammler vieles, darunter
einige ihren ganzen Primitivenbestand, geschickt.
Holland hatte wenig gegeben, Deutschlands und Öster¬
reichs Privatsammler, zumal die Berliner, sehr viel;
auch einige fürstliche Sammlungen, die schon fast
Museen gleichen, hatten aufs erfreulichste beigesteuert.
Aus Paris hatte sich eine gute Anzahl eingefunden;
auch aus dem übrigen Frankreich einzelne sehr be¬
deutende Stücke. Auch Italien war, vornehmlich durch
den Fürsten Doria, vertreten. Den grössten Gewinn
brachte aber der sehr stattliche Aufmarsch Englands:
zumal die Sammlungen des Earl of Northbrook und
des Sir Frederick Cook führten manchem Kunstfreund
vieles Herrliche, das er bisher nur nach Photographien
oder gar nur nach Beschreibungen erraten durfte, in
schönster Greifbarkeit vor die Augen.
Bei alledem beherrschte Brügge das Gesamtbild.
Damit war — da die ja fast sämtlich eingewanderten
Meister der sogenannten Schule von Brügge am Ort
ihrer neuen Thätigkeit eine behäbigere, den Wünschen
einer satten Grossbürgerei nachkommende Art an-
nahmen — die Entscheidung dahin gefallen, dass die
retardierenden Momente des geschichtlichen Dramas
in den Vordergrund traten. Antwerpen als Schau¬
platz der Ausstellung würde ein ganz anderes Bild
ermöglicht haben. Vor allem aber möchte ich dafür
eintreten, das Holland im Jahre 1908 zur Vierhundert¬
jahrfeier des künstlerischen Auftretens des Lukas van
Leyden eine Ausstellung seiner Primitiven veranstalten
möge. Ich hoffe, dass man meine Anregung nicht
mit einem »Vous etes orfevre, Monsieur« abthun
möchte.
Da den kostbaren Gemälden *) ein allen Ansprüchen
an Feuersicherheit genügender Aufenthalt verbürgt
werden musste, so war in der Stadt wohl kaum ein
besserer Raum zu finden, als das durch Entgegen¬
kommen der Regierung dargebotene Provinzialgebäude
am Markt, leider eine Schöpfung »neugotischen
Stiles«.
Die Eingangsräume im Erdgeschoss schmückte
die rotblaubunte Pracht einiger (nicht der vorzüg-
1) Ich beschränke mich, da der Stoff mich fast zu er¬
drücken droht, auf die Ausstellung der Gemälde und lasse
die sehr wichtige Schau der Miniaturen, Urkunden, Siegel,
Medaillen, plastischen Werke, kirchlichen Gebrauchs- und
Prunkstücke und Stickereien, die gleichzeitig in dem von
der Stadt erneuten Hotel Gruuthuuse stattfand, ganz bei¬
seite.
7
DIE AuSSTEL’ /NG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
liebsten) Wandg£\v-be aus der Llinterlassenscnaft
.eon de Son.rLeA, ’cn.rs k- . 'L-digen Unternehmers
und S?". :1er , - r er" ni So recht den all-
eiiig;:.: Ti:o : r :v. = ;igei: ' dgiers ver-
Köipen hav ■ . ui oiche Ernatiker des
Schauens, die ■ . irdil 'ucht das Haus
der Primi. L . . :“rir r • .r ... gpeise und Trank
fanden, uk - i d:n:gsraum für die Re-
produklioric;. .:-r vtrniissten Gemälde:
doch vrr un u-^.dges darmüer, was nicht auch an
and- ■ L.a- li , . - va at.f d. ni Berliner Kupferstich-
Kabineli. d.;m Si rTieruen zur Verfügung stände. Die
OemäidrsrTiätr-e über 400 Nummern, also weit
mehr, als irgend ein einzelnes Museum an nordischen
Frühmeistcp besitzt — waren in sieben Räumen des
eisten u.d un einer Empore des zweiten Stockes
untergebraeiü. i-ine ziemlich enge Treppe, mit Blatt¬
pflanzen, i4i:inem Sammet und gegenständlich inter¬
essanten Orisailledarstellungen der Grafen von Flan¬
dern lind der Äbte von Unserer lieben Frau zur Düne«
{-/om Jahre 1480) geschmückt, führte hinauf.
Die Bildersäle waren mit rotem Sammet aus¬
geschlagen; leider hatten sie sämtlich Seitenlicht, das
zumal im Haiiptsaal aus schwindelnd hohen Fenstern,
weit über den Bildern her, einfiel. Bei der Be¬
schränktheit des Platzes hatte man selbst den hervor¬
ragendsten Stücken nicht den Ellenbogenraum geben
können, den ein Kunstwerk so gut wie ein richtiger
Mensch braucht, um zur Geltung zu kommen.
Das erste kleine Zimmer, in das man von der
Treppe aus gelangte, enthielt hauptsächlich die Werke
des Jan van Eyck und des Petrus Christus; auch
einiges, was man den Vorläufern der Eyck glaubte
zuschreiben zu können. Sonderbarerweise gehörte
gerade dasjenige Bild, das den Eintretenden empfing,
ein als Bellegambe eingesandter Christus in der Vor¬
hölle (Nr. 352), der italienischen Kunst an: etwa Schule
von Verona um 1460^). Rechts folgte der grosse
Saal der Hauptmeister Brügges: Memling, dem durch
Zwischenwände kümmerlich ein eigener Raum ge¬
schaffen war, und Gerard David, der, mit zu Ehren
seines Wiederbelebers, des hochverdienten James Weale,
glänzend vertreten war. Auch wohnten hier Dirk
Bouts, der gut in Erscheinung trat, Hugo van der
Goes und der Meister von Flemalle, die kümmerlich
zur Geltung kamen; schliesslich Roger de la Pasture
mit gar allzuwenigen Proben. Zur Rechten weiter
führte ein kleiner Raum, der vornehmlich der hollän¬
dischen Malerei gewidmet war, in ein Zimmer, wo
der ranken- und goldfrohe Lancelot Blondeel — eine
Spezialität des sinkenden Brügge — seine Tapezier¬
künste zeigen durfte. — Im ersten Saale links vom
Heiligtume der van Eyck folgte der ernste Jean Prevost
und der bisher sogenannte Waagen 'sehe Mostaert,
1) Nur noch ein zweites Bild, das auch beim besten
Willen nicht unter das Zeichen des Kunstkreises der van
Eyck zu bringen war, ist mir aufgefallen; diesmal im letzten
Raum: eine als Orley von Sedelmeyer in Paris geschickte
Dorothea (Nr. 407), sehr verrestauriert, aber wie mir die
Malweise der Hand unzweideutig zu zeigen schien, ein
echter Palma Vecchio!
dessen prachtvolles Karminrot zu bewundern die
reichste Gelegenheit geboten war; auch der Meister
der weiblichen Halbfiguren. Links weiter im zweiten
Raume Mabuse, dessen wechselvolle, aber immer be¬
deutende Art leider durch kein einziges entscheiden¬
des Stück veranschaulicht wurde, der Haarlemer Meister
des Oultremont’schen Altares und der preziöse Herri
de Bles: in reizvollstem, ungemein belehrendem Gegen¬
satz hatte man die Hauptwerke dieser beiden Künstler
in dieselbe Zwischenwand eingelassen. Im dritten
Zimmer endlich herrschten die grossen Charakteristiker
und Phantasten Bosch und Brueghel, hinter denen
Erscheinungen wie Massys, Patinir und der Meister
des Todes Mariä ungebührlich zurücktraten. Auf
der Empore musste das eigentlich nicht mehr in den
Kreis der Primitiven gehörende wackere Malergeschlecht
der Pourbus vorlieb nehmen, das mit der fetten schon
an Thomas de Keyser gemahnenden Kraft seiner Por¬
träts den Ausblick ins 17. Jahrhundert eröffnete.
Qa fera la fortune des specialistes; Vous en aurez
ponr dix ans!« rief in der Ausstellung ein älterer
Forscher, der neuen Ergebnisse gedenkend, die das
Beieinanderwohnen so vieler sonst durch Eisenbahn¬
nächte getrennter Bilder für die Erkenntnis der Kunst
haben werde. Mit reichem Verständnis hatte auch
die Hängekommission gestrebt, das Auge zu führen,
indem sie manche nur durch veraltete Taufnamen ge¬
trennte, in der Art aber verwandte Stücke einander
benachbarte. Der offizielle Katalog freilich, wertvoll
durch einen einführenden Aufsatz James Weale’s und
durch die ausführliche und genaue Beschreibung der
meisten Werke, verzichtete darauf, an den Meister¬
namen, die die Besitzer ihren Bildern gegeben hatten,
zu ändern. Mit gutem Grunde: manche Sammler
würden gewiss erklärt haben, sie spielten nicht mehr
mit, sobald man Miene gemacht hätte, ihre Hubert
van Eycks und Gerard van der Meires umzutaufen.
Es giebt eben immer noch Leute, die Bilder nicht
nach ihren Eigenschaften, sondern nach dem, was
man auf der unteren Leiste der Rahmen liest, be¬
werten. Als eine zum mindesten für Belgien epoche¬
machende wissenschaftliche That ist aber das — leider
erst kurz vor Thoresschluss erfolgte — Erscheinen
eines nichtamtlichen kritischen Kataloges zu begrüssen,
der von einem — wie ich seinem Lande wünschen
will, noch jungen und zukunftreichen — belgischen
Forscher, Herrn George H. de Loo in Gent, verfasst
war. Diese Arbeit verriet nicht nur in den Bilder¬
bestimmungen eine blendende — mitunter selbst leicht
an Snobismus streifende — wissenschaftliche Moder¬
nität, sondern vor allem an vielen Stellen erstaunliche
historische und heraldische Kenntnisse. Einen beson¬
deren Wert erhielt sie noch dadurch, dass der Autor
eine Fülle noch unveröffentlichter mündlich mitge¬
teilter Forschungsergebnisse zweier der führenden
Kenner altniederländischer Kunst, Hugo von Tschudi’s
und Max J. Friedländer’s hatte verwerten dürfen und
sie gewissermassen als Dolmetsch deutscher Wissen¬
schaft vor das Publikum brachte; dass er so sein
eigenes Verdienst nicht schmälerte, sondern mehrte,
wird jeder würdigen, der weiss, welche Leistung es
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
51
erfordert, die im Fachgespräch hingeworfenen Äusse¬
rungen eines anderen für den Druck zu gestalten.
In einer beigegebenen Abhandlung über die Identifi¬
zierung anonymer Meister setzte der Verfasser die
wichtigen, von Forschern wie Karl Justi, Firmenich-
Richartz, Gustav Glück und anderen begonnenen
Versuche fort, eine Anzahl der bisher in der Kunst¬
geschichte für Werke einer und derselben Hand ge¬
bräuchlichen Hilfsnamen (»Der Meister des Todes
Mariä«, »Der Meister der weiblichen Halbfiguren«
u. s. w.) mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsschlüssen
durch die Namen historisch beglaubigter Maler, von
denen wir keine sicher bezeichneten oder beurkun¬
deten Bilder haben, zu ersetzen. Manche dieser Ehen
zwischen Holz und Pergament werden wohl nicht
mehr getrennt werden: so wird man, zumal nach de
Loo’s letzten Beiträgen, wohl kaum mehr daran
zweifeln, dass der bisherige »Meister der Himmel¬
fahrt Mariä« in Albert, dem Sohne des Dirk Bouts,
gefunden ist: in einigen anderen Fällen scheint für
mein Gefühl das Standesamt des belgischen Autors
oder seiner Vorgänger etwas zu schnell gewaltet zu
haben.
* *
*
Die Frage, wie die Kunst der van Eyck aus dem
umgebenden Erdreich erwachsen sein mag, wurde
auf der Brügger Ausstellung ihrer Lösung kaum
näher geführt. Eher ins 14. Jahrhundert zurück als
ins 15. voraus schien ein sehr hell gehaltenes um
1400 entstandenes Kreuzigungsbild der Brügger Sal¬
vatorkirche (Nr. 4) zu weisen, bemerkenswert durch
den starken Gefühlsausdruck der heiligen Frauen.
Dem burgundischen Hofmaler Broederlam und seiner
Schule wurden zwei Stücke, die reizvolle, in feinem
Rot und Blau leuchtende Dreieinigkeit bei Konsul
Weber in Hamburg (Nr. 2) und ein Marienaltärchen,
Schnitzerei mit bemalten Flügeln aus der Sammlung
Cardon in Brüssel zugeschrieben, ln dem ersten der
beiden Werke erinnerte wohl die Farbenharmonie
und die Gestaltung der Evangelistensymbole an den
Meister, Zeichnung und Komposition aber waren viel
schwächer; bei dem zweiten bildete wohl die Ähn¬
lichkeit, die die Erscheinung des Henkers in der Scene
des Kindermordes mit de Baerze’s Schnitzfigur des
heiligen Georg vom Dijoner Altar aufwies, die ein¬
zige Verbindung zur Burgunder Gruppe. Sehr schwer
einzuordnen war eine sehr interessante Folge von
vier figurenreichen Tafeln aus der Georgslegende
(Nr. 321, M. Theoph. Belin, Paris), die der kritische
Katalog versuchsweise der Schule von Avignon gab.
Ich fühlte mich mehr an die von Vogelsang ver¬
öffentlichten Miniaturen der sogenannten »holländischen
Apokalypse« in Paris und an das grossartige Wand¬
bild des Todestriumphs im Palazzo Scläfani in Pa¬
lermo erinnert. In die Nähe jenes geheimnisvollen
holländischen Wanderers, der dieses auch in der Mal¬
technik einzeln stehende Werk im Süden schuf, ge¬
hören die Bilder vielleicht; die Hand scheint mir
italienisch.
So wurde der Beschauer ziemlich unvermittelt zu
Jan van Eyck geführt, der, da von all den Herrlich¬
keiten des Genter Altarwerkes nur die beiden Brüsseler
Flügel mit den Bildern Adam’s und der Eva erreich¬
bar gewesen waren, den stärksten Eindruck mit der
1436 gemalten Madonna des Kanonikus van de Paele
hervorrief. So bedeutsam auch die beiden Bildnisse
unserer ersten Eltern als die frühesten uns erhaltenen
naturalistischen Aktdarstellungen und als Ahnen einer
unabsehbaren Reihe sind, so ist doch für den, der
sich einmal den Geheimnissen der Mittelgestalten des
unerschöpflichen Werkes hingegeben hat, der Abstand
an seelenkündender Kraft zu gewaltig, um einen reinen
Genuss dieser Figuren, mit denen Jan die Fortsetzung
von Hubert’s Arbeit begonnen haben dürfte, auf-
kommen zu lassen. Wer sich die Tafeln umwenden
und die frische Entdeckerfreude, mit der Zimmer¬
inneres und Strassenausblick dort festgehalten sind,
auf sich wirken liess, kam besser auf seine Rechnung.
Das viel verleumdete grosse Devotionsbild, das in
der Brügger Akademie ungünstig aufgestellt ist, schien
mir bis auf die linke Hand der Madonna und den
rechten Fuss des Kindes wohl erhalten; die Typen
nirgends »hässlicher« als sonst bei Jan; ungemein er¬
freulich der augenblickhaft belebte Gesichtsausdruck
des Kindes und des heiligen Georg. An leiser
scharfer Nachfühlung der Natur geht Jan hier über
alles, was wir heute an einem Adolf Menzel be¬
wundern, hinaus: man sehe die Hand des Stifters,
mit der er das Buch hält — von der unübertreff¬
lichen Aufnahme des Teppichs, der Fliesen und des
Bischofsgewandes gar nicht zu reden. Alles, was
sonst noch von Werken Jan van Eyck’s gezeigt wurde,
trat weit zurück: das Bildnis der Gattin in seiner
vornehmen Sachlichkeit, die feine kleine, aber etwas
miniaturhafte, nach Ludwig Kaemmerer’s feinsinnigem
Hinweis von Stephan Lochner’s Madonna im Kölner
Erzbischöflichen Museum geistig angeregte Antwer-
pener Madonna am Springbrunnen, und das freudig
begrüsste kleine Männerporträt aus Hermannstadt: der
Kopf mit seiner momentanen starren Haltung und
dem lebendigen Ausdruck gut erhalten, nur das Ultra¬
marin der Kopfbedeckung verdorben. Zu manchen
klärenden Streichungen war Gelegenheit: das oft be¬
sprochene, mit der verlockenden Jahreszahl 1421 ge¬
schmückte Bild der Bischofsweihe des heiligen Thomas
von Canterbury aus dem Besitze des Herzogs von
Devonshire (Nr. 8) ist eine noch dazu übermalte
Arbeit vom Ende des 1 5. Jahrhunderts und mag, wie
mir ein besser bewahrtes Werk der gleichen Hand
aus dem gleichen Besitz, das den Aufbruch eines
jungen Heiligen fürstlichen Geblütes darstellt (Nr. 147),
mit dem zarten leicht verschwimmenden Blick des die
Hände faltenden Knaben, den kleinen fein geschnit¬
tenen Köpfen und dem leicht bräunlichen Ton, auch
der Vergleich mit einem verwandten, hier fehlenden
Bilde des Musee Conde in Chantilly zu zeigen scheinen,
im nördlichsten Frankreich entstanden sein und dem
fein empfindenden Simon Marmion nicht allzu fern
stehen. Die kleine Madonna der Sammlung North-
brook (Nr. 11) ist nur eine Kopie aus der Madonna
van der Paele; nach der rotbräunlichen Karnation zu
schliessen, erst gegen 1500 ausgeführt. Der viel be-
7
DIE AUSSTELLU’IO ;_LTr:!EDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
52
redete Löwener van Eyck ’Hch, Je iebensgrosse
Madonna des Nicolas van ' iae!';'eke, "^ropstes von
Sankt Martin in • o : "as - ^vOKci-dete Werk
des -leistcrs. is. : ; 1 gegr./ -artigen Gestalt
jedenfa 's dt . verdankei:: einige
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irofiei d tif : ■; ass sich einmal auf
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vor •diep'i lai-iM a-ftii' h ■ 1 ei- hervorragenden Ge¬
mälde der ■ r-..c am Gi-l-: Christi (Nr. 7, Sir Fr.
r:ook, r tiimrt'.d) werden, dem Vertreter
einer Jt n neiu ■■■ grossen Brüdern örtlich und zeitlich
sthr naiiesieheirlen nüdergruppe, der neben anderen
auch das vor einig: *’ .T^en für das Berliner Museum
als ?an ■ an y k 'worhene Kreuzigungsbild und die
beider a-i il; überreichen Flügel mit dem Kal-
varifuberg nd davu Jüngsten Gericht in Petersburg
angehürin. Von mancher Seite wird jetzt versucht,
ansere Sehnsucht nach Werken des Hubert van Eyck
tnit diesen gewiss kostbaren Stücken zu befriedigen:
nacii meinem Eindruck von dem Genfer Denkmal
und den Einzelwerken des jüngeren Bruders kann ich
in dem unruhig die ganze Tafel mit geistreichen
Einzelheiten übersäenden, statt der Dinge selbst ein
Capriccio über sie gebenden Künstler weder den im
Innersten ergriffenen gross und klar gestaltenden
Meister des Gottvater, der Maria, des Johannes, der
Engelchöre und der Anbetung des Lammes noch den
allzeit zielsicheren Maler des Ehepaars Arnolfini er¬
kennen. Sicher gehört das Cook’sche Bild (gut er¬
halten bis auf das, wie so oft, verdorbene Ultramarin)
durch das herrliche Spiel der Morgenlichter auf den
Burgen im Hintergründe und die leuchtenden Wolken
in die erste Reihe der Zeugnisse zur Entwickelung
der Landschaftskunst, ln den starken Gesichtsschatten
und der reich belebten Hiigellandschaft erschien die
von Mad. Andre in Paris gesandte Madonna mit dem
Tintenfass (Nr. gg) dem Richmonder Bilde entschieden
verwandt. Vor solchen Werken hätte immerhin eher
der Name der Margaretha van Eyck, der jungfräu¬
lichen Schwester der beiden Grossmeister, genannt
werden können als vor dem kleinen aus England ge¬
kommenen Altärchen der Anbetung der Könige
(Nr. 327), das in seiner leuchtend bunten Farbe,
aber schwachen, auf Schongauer’schen und anderen
Krücken daherhumpelnden Zeichnung sich deutlich
als eine Arbeit des beginnenden 16. Jahrhunderts
erwies.
Von den warmen Lebensgluten des Jan van Eyck
gelangte man in die Eisregion des aus heute hollän¬
dischem Gebiet (Baerle bei Tilburg) stammenden,
aber ein Menschenalter in Brügge wirkenden Petrus
Cristus, dessen 144g datiertes Hauptwerk — ein
Brautpaar holt bei Eligius dem Patron der Gold¬
schmiede, die bestellten Ringe ab — von Baron
Albert Oppenheim in Köln dargeliehen war. Wie
leblos sind die Blicke der beiden jungen Leute, wie
gliederpuppenmässig ihre Bewegungen! Fast gelingt
es dem Künstler, das wertvolle von Quinten Massys
so glücklich später wieder aufgenommene Motiv des
»Menschen in reicher Werkstatt« umzubringen, das
übrigens, wenn wir nicht ein verschollenes Führer¬
werk des Jan van Eyck annehmen wollen, bereits
durch dessen so ausserordentlich keimreiches Zimmer¬
bild des Arnolfinipaares in London nahegelegt worden
war. Das ebenfalls wenig belebte Bildnis eines jungen
Mannes mit dem Tuch der Veronika im Hintergründe
(Nr. 18, G. Salting, London) war dem Meister von
Baerle wohl mit Recht gegeben, während ich zwei
ungleich bedeutendere und empfindungsreichere Bilder,
die ebenfalls dem Petrus Cristus zugeschrieben waren,
zwar auch für Früchte vom Baume der van Eyck,
aber von einem ausgesprochen nach Holland über¬
greifenden Aste erkennen möchte. Die durch die
innige Verbindung der Personen mit der Landschaft,
durch die leisen, inhaltsvollen, auf einen Flüsterton
gestimmten Bewegungen der trauernden Menschen
jeden Beschauer ergreifende Kreuzabnahme des Brüsseler
Museums (Nr. 20) habe ich schon vor Jahren, dem
Vorgänge Adolf Bayersdorfer’s folgend, als ein Haupt¬
werk desjenigen Meisters angesprochen, mit dem die
holländische Kunst aus ihrem mythischen in das
heroische Zeitalter tritt, des in Haarlem thätigen Süd¬
holländers Albert van Ouwater, dessen einziges be¬
glaubigtes Gemälde, die durch van Mander bezeugte
Erweckung des Lazarus im Berliner Museum, uns
einen Künstler mit allen, sicher in unmittelbarem Ver¬
kehr erworbenen Kräften und Fertigkeiten der van
Eyck, aber auch mit schon ausgeprägter, in Anordnung
und Benehmen der Gestalten deutlich ersichtlicher
heimatlicher Sonderart vor die Augen führt. Die
stilistischen Übereinstimmungen zwischen dem Ber¬
liner und dem Brüsseler Bild habe ich in meiner
Dissertation (Die Leydener Malerschule I. II. Berlin
i8gg, S. I4f.) aufgezählt; hier sei nur nochmals auf
die völlig gleiche Behandlung der Halsfalten und des
Brustkastens an den beiden nackten Körpern hinge¬
wiesen. Die Brüsseler Kreuzabnahme führte mich
dann zu dem köstlich reichen kleinen Kalvarienberg
beim Herzog von Anhalt (Nr. ig), der in der Stim¬
mung bei stärkerer Erregung gleich tief, in der aus¬
gedehnten sanfthügeligen den ganzen Vorgang leise
umwebenden Landschaft gleich reizvoll (man beachte
den breiten von Figuren belebten Weg, der hinter
dem Kreuze herführt und der bei etwas späteren
Holländern sich häufig wiederfindet!), in meinem Auf¬
satz »Altholland in Wörlitz« (Augustheft i8gg dieser
Zeitschrift) als die Arbeit eines unmittelbaren, die Kar-
nation etwas dunkler gebenden, nicht nur dem Um¬
fange nach etwas mehr miniaturhaft gerichteten, dafür
aber in der Belebung des Augenausdruckes über den
Meister hinausgehenden Nachfolgers des Ouwater ver¬
öffentlicht wurde. Dass die auf wenige Gestalten be¬
schränkte tiefgefärbte Beweinung Christi bei Herrn
Ad. Schloss in Paris (Nr. 325) in engem Zusammen¬
hänge mit dem Wörlitzer Kalvarienberg steht, wird
kaum bestritten werden; da die gleichfalls ärmere
Landschaft im Hintergründe links Motive aus dem
Bilde des Herzogs von Anhalt wiederholt, mag man
an der Eigenhändigkeit zweifeln. Nun erfuhr ich
erst nach Erscheinen meines Aufsatzes, dass das an-
ROGER VAN DER WEYDEN
BILDNIS EINES JÜNGLINGS
54
DiE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
haitische Gemälde bereits von Hugo von Tschudi (im
Text zum Berliner Galerievverk) für Petrus Cristus in
Anspruch genommen sei 'm'.er besoiidercm Hinweis
auf die Abhängigkeit de;' Kcn.j'''USÜiori von dem einen
der oben ervvälniten. dci: beigen van Eyck ja un¬
mittelbar verwandten be erfi iiryer Flügel, deren an¬
derer — das jüngste Gcriclb — ja oitcnsichtlich durch
den Meister \'on Baerle in einoivi Dczeicimeten 1452
datierten Werke des Berliner Aiuscums kopiert wurde.
Nach eingehender Vergleichung der Abbildungen
beider Kreuzigungsbilder scheinen mir die Ähnlich¬
keiten nirgends so weit zu gehen, dass man einen
Einfluss des einen Werkes auf das andere annehmen
müsste. Selbst lici dieser Annahme beachte man
aber, wie verschieden der Künstler des Wörlitzer und
der des Berliner Bildes kopiert^ haben. Petrus Cristus
beschränkt die überreiche Motivenfülle seines Vor¬
bildes, ohne auch nur grössere Klarheit zu bieten :
sein Werk hat die Glätte und Eleganz eines abge¬
tragenen Oehrocks. Das gewiss schon recht böse
Präsentierbrett, auf dem beim Petersburger Jüngsten
Gericht die Auserwählten sitzen, wird dort wenigstens
durch die Vordergrundgestalten der heiligen Bischöfe
und Könige ein wenig cachirt — in Berlin hängt
der schreckliche Apparat ganz unvermittelt in der
Luft. Wie ganz anders der Meister des Wörlitzer
Kalvarienberges! In einer weiten, reich abgestuften,
stimmunggebenden Landschaft, für die die unruhige,
nervös dilettierende Dame, der ich am liebsten die
Petersburger Bilder Zutrauen möchte, gar keinen Platz
hatte, verteilen sich die Gestalten in grösster Natür¬
lichkeit. Wie sind nicht alle Empfindungen abge¬
wandelt! Man sehe auf der rechten Seite vom Kreuz
den ernst bewachenden Reiter mit dem Scepter, den
hohen gläubig aufblickenden Longinus, den miss¬
günstig Abreitenden, der die Lanze schultert, und
endlich die beiden vornehmen Reiter in ernstem, fast
bedauerndem Gespräch. Welchen neuen grossen Ton
giebt vollends Magdalena, die im weissen Büsserhemd
mit aufgelösten Haaren herbeigeeilt ist und nun in
ihres Jammers jauchzendem Schwall« hoch über
dem Haupte die Hände ringt! Wie verschwindet
dagegen die schwächliche, als knieende Rückenfigur
dargestellte Magdalena des Petersburger Bildes in der
Menge! Gewiss hat nicht nur der Künstler des Wör¬
litzer Kalvarienberges, sondern selbst der der Brüsseler
Kreuzabnahme eine Anleihe gemacht: die Armhaltung
der ohnmächtigen Mutter des Heilands ist, wie seit
langem bekannt ist, dem Meisterwerke Roger de la
Pasture’s, das mit seiner grossen herben Klarheit wohl
gleich bei seinem Erscheinen auch in der nächsten
Kunstprovinz der van Eyck Aufsehen weckte, ent¬
nommen. Aber wie hat der Maler mit dem ge¬
liehenen Pfunde gewuchert! Auf den Kopf Mariä
als den Mittelpunkt des Ganzen ziehen sich alle Blicke
der Beschauer, mit der völlig senkrechten Haltung des
Gesichts, der pfeilerartigen Stellung der Nase, den
das Auge nicht ganz deckenden Lidern und der
bitteren Öffnung und Zerrung des Mundes ist das
Versteinernde des Schmerzes denkmalhaft gross ge¬
geben. Nein, es scheint mir unmöglich, zwischen
dem Künstler dieses Bildes, zwischen dem Schöpfer
der Wörlitzer Magdalenengestalt und — dem Maler
des Oppenheim’schen heiligen Eligius, einem Meister,
der, soweit es im entdeckungsfrohesten aller Jahr¬
hunderte anging, die Natur aus zweiter Hand zu
nehmen gewohnt war, eine Seeleneinheit herauszu¬
rechnen.
In ein Reich eigensten Willens führt uns jener
starke Künstler, der nacheinander (nach einem jetzt
verschwundenen Hauptwerk) der »Meister des Me-
rode’schen Altars«, der »Meister von Flemalle«, und
jetzt, noch ohne Beweis, aber mit mancherlei guten
Gründen Jacques Daret von Tournai, der Mitschüler
Roger’s de la Pasture genannt wird. Leider war von
ihm nur ein einziges sicher eigenhändiges Werk zu
sehen: die Madonna der Somzee’schen Sammlung
(Nr. 23). Mit der schweren Fülle des Gesichts, mit
der metallisch-plastischen Bildung des Halses und der
Brust, den schweren dunklen Schatten, der mächtig
schirmenden Mütterlichkeit der Erscheinung lässt das
Bild die alte Bezeichnung »Hubert van Eyck« nicht
als völlig sinnlos verwerfen: sicher geht der Meister
hier mehr von den grossen Hauptgestalten des Genfer
Altares aus, als von der lebhaft reichen Art des Jan
van Eyck. Einen verwandten heroisch monumentalen
Zug zeigte die Gebärde der den heiligen Leib hal¬
tenden Engel auf dem etwas schwärzlich gewordenen
Dreieinigkeitsbilde des Löwener Museums, das aber
wohl nur eine — vielleicht spanische - Kopie einer
mehrfach bei dem Meister wiederkehrenden Kompo¬
sition sein dürfte (Nr. 206). Zwei Nachbildungen
des verschollenen grossen Kreuzigungsbildes des
»Flemallers«, dessen linken Flügel mit der scharf be¬
wegten Gestalt des »bösen Schächers« das Frankfurter
Städel’sche Institut besitzt, waren von der Liverpool
Institution (Nr. 22) und der Brügger Salvatorkirche
(Nr. 120) gekommen. Wie früh der Meister schon
kopiert wurde, lehrte die aus derselben Brügger Kirche
stammende, um 1450 gemalte Tafel mit dem von
Stiftern angebeteten Cruzifixus, dessen Gestalt seinem
in Ausdruck und Farbe besonders zarten, der drama¬
tischen Art Roger’s verwandten kleinen Kreuzigungs¬
bild im Berliner Museum entnommen war. Mit der
Weise eines mehr auf stumpfere Farbengebung und
reiner malerische, besonders landschaftliche Bestre¬
bungen gerichteten Nachfolgers, der hauptsächlich in
der Berliner Galerie (dort Nr. 527, 542) und einer
dortigen Privatsammlung vertreten ist, zeigten einige
Ähnlichkeit eine Anbetung der Könige aus dem Be¬
sitze von Herrn Lewis Ery in Bristol (Nr. 323), ko¬
loristisch fein im Ziegelrot der Beinkleider des Mohren¬
königs und dem grünen Gewände des zweiten Königs,
landschaftlich bedeutsam in der Darstellung des vom
Winde bewegten Baumes, und ferner zwei leider in
der oberen Hälfte verdorbene Legendenscenen aus
der Brügger Heiligenblutkapelle (Nr. 45).
So sehr wir, durch unsere deutschen Museen ver¬
wöhnt, in Brügge eine stärkere Veranschaulichung
Roger de la Pasture’s vermissten, gewiss der nächst
den beiden grossen Brüdern wirkungsreichsten Kraft
in dem hier betrachteten Kunstkreise, so gab doch
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
55
ein Bild, die Beweinung Christi des Brüsseler Mu¬
seums (Nr. 25) uns auf geringstem Raume das mäch¬
tigste Gefühl von der Eigenart des so früh populär
gewordenen Künstlers. Wie hart, stark an Holz¬
schnitzerei erinnernd, ist doch Zeichnung und Auf¬
bau der Hauptgruppe, und wie merkwürdig realistisch
dabei das Motiv, dass Johannes mit besorgtem Ge¬
sicht und unruhiger Hand die Mutter, die den Leich¬
nam küsst, von der Berührung der verwesenden
Lippen zurückzuhalten strebt. Wie vornehm er¬
scheint in ihren Zügen die etwas an den Elemaller
Meister erinnernde Gestalt der Magdalena, in Schwarz
und Blaugrün gekleidet. Und alles dies steht unter
der Herrschaft einer mit den starken Mitteln eines
gelbrötlichen Abendhimmels und halbkahlen Ge¬
sträuches wirkenden Stimmungslandschaft! Sonst
waren nur einige von Roger’s Porträts gekommen,
die im Gegensatz zu denen Jan van Eyck’s uns mehr
von der Wesensart der Dargestellten erzählen, als dass
sie ihre Leiblichkeit greifbar vorführten: der soge¬
nannte Bladelin der v. Kaufmann’schen Sammlung
mit dem gespannten Ausdruck in den aufeinander-
gekniffenen dünnen Lippen (Nr. 26) und das schöne
jünglingsporträt der Sammlung Cardon (Nr. 27) mit
dem ruhig offenen vornehmen Gesicht, dem sehr
langen Hals, den überschlanken eckig gezeichneten
Händen und dem glücklichen Klang des hellkarmin¬
farbenen Gewandes auf dem grünen Grunde(s. Abb. S. 53).
Als wichtige alte Kopie ragte die schon in der Mün¬
chener Ausstellung des vorhergehenden Jahres gezeigte
Madonna mit dem heiligen Lukas (Nr. 118, Graf
Wilczek) hervor, wo die helle Melodie des Meisters
von Tournai in eine tiefere schwere Tonart trans¬
poniert ist. Aus der nicht ganz kleinen Zahl der
Nachfolgebilder hebe ich hervor: eine sehr gut aus¬
geführte, nur in der Gesichtsbildung für ein Eigen¬
werk des strengen Künstlers zu moderne Madonna in
Brüsseler Privatbesitz (Nr. 28), die überfeine, ganz
kleine Muttergottes unter dem Kirchenthor aus der
Sammlung Northbrook (Nr. 30), wesensverwandt dem
älteren, bei Jan van Eyck’s Madonna in der Kirche
geborgten Teile jenes merkwürdigen Antwerpener
Diptychons, das um das Jahr 1500 nacheinander für
zwei Äbte von »Unserer Lieben Frau zur Düne« bei
Brügge bemalt wurde, und endlich das gegenständ¬
lich bedeutsame, etwas skizzenhafte Bildchen, das den
Kaiser (wohl Friedrich III.), umgeben von seinen sieben
Kurfürsten, darstellt (Nr. 102, Graf Harrach, Wien).
Als eine Art Kreuzungsprodukt aus Aelbert van
Ouwater und dem grossen Roger hatte man bisher
meist den in Löwen eingewanderten Haarlemer Dirk
Bouts angesehen, den grössten Landschaftsmaler des
15. Jahrhunderts, ln Brügge trat ein noch weniger
gewürdigtes Element hervor: die starke Wechsel¬
wirkung, die zwischen ihm und Hugo van der Goes,
der in Gent der echte und rechte Erbe des Hubert
van Eyck wurde, stattgefunden haben muss. Man
wird die Rolle des stärker Gebenden hierbei dem
jüngeren, an innerem Erleben so unvergleichlich
reicheren der beiden Künstler zuweisen müssen, der
übrigens, trotz einer ihn als »aus Gent gebürtig«
bezeichnenden Urkunde ebenfalls aus heute hollän¬
dischem Gebiet stammte: der Name »van der Goes«
nennt ebenso sicher einen aus Goes bei Middelburg
in Zeeland herkommenden, wie etwa »van der Goude«
für »aus Gouda« gebräuchlich war. Leider waren
Werke aus Bouts’ holländischer Zeit, wie etwa die
im Heraustreten der dunklen Figuren auf dem hellen
Sande des Hofes so reizvolle »Weissagung der Si¬
bylle« im Frankfurter Städel’schen Institut und die
unmittelbar an Ouwater’s Lazarusbild anknüpfende
Gefangennahme Christi in der Münchener Pinakothek,
auf der Ausstellung kaum vertreten. Nach dem hiera¬
tisch steif komponierten Abendmahl aus der Lö-
wener Peterskirche (Nr. 36) darf man den Meister
nicht beurteilen: ebenso wie seine jetzt in Brüssel be¬
findlichen Rathausbilder, das räumlich grösste, was er
geschaffen, zeigt es nur, dass der Maler im Momente
grösster Anstrengung feierlich werden wollte und dar¬
über langweilig wurde. Wie weit überlegen sind
die in Berlin und München bewahrten Flügelbilder:
zumal die Mannalese mit ihrer in dreieckigen Gruppen
aufbauenden Komposition, die deutlich zu Geertgen
van Sint Jans hinführt. Werbend trat für Meister
Dietrich auf der Brügger Hippolytusaltar (Nr. 37) mit
dem schönen, in deutlicher Anlehnung an van der
Goes sehnig metallisch gebildeten, stark an Bouts’
bewegtestes Werk, den Höllensturz im Louvre, er¬
innernden Körper des Heiligen, der ergreifenden
Gruppe der drei Zuschauer auf der Anhöhe, der herr¬
lichen, ohne jede Übertreibung leicht hügelig ange¬
legten Landschaft, dem merkwürdig fragenden Blick
des Jünglings auf dem rechten Flügel und den stark
an die Portinaribildnisse des grossen Hugo gemah¬
nenden Stiftern in ihrer so vornehm auf Schwarz
und Lila gestimmten Kleidung^). Lebensvoller noch
wirkte das Erasmuswerk aus Löwen (Nr. 35): im Be¬
wusstsein alles Erdenleides erduldet der Heilige die
Marter, sorgenvoll ernsten Blickes thut der Henker
zur Linken seine Pflicht, wie zur Abwehr gegen das
eigene Grausen drückt der jüngere Henkersknecht die
Zähne auf die Lippen. Halb teilnahmvoll, halb
aristokratisch gleichgültig steht der Machthaber in
seinem vornehmen Gewand aus grünem und hell¬
gelbem Brokat dabei; der schöne Mann rechts hinter
ihm, in der plastisch angeordneten Kleidung, schlägt
die Augen nieder er hat schon ganz andere Dinge
mit ansehen müssen. Eines der farbenleuchtendsten
Bilder der Ausstellung war das Gastmahl Simon’s mit
einem Benediktiner als Stifter (Nr. 2g), das aus Herrn
Ad. Thiem’s wunderreichem Winterfluchthaus in San
Remo gekommen war. Auch dieses Stück ist, zumal
in den Gebärden, weit bewegter als Bouts’ meiste
Werke; die Gestalt der knieenden Magdalena lässt
stark an Goes denken, doch entscheiden die Köpfe
der beiden älteren Männer und die Existenz der be¬
kannten von Albert, dem Sohne, mit geringen Ver¬
änderungen ausgeführten Kopie im Brüsseler Museum
1) Zu der im kritischen Kataloge aiifgestellten Hypo¬
these, diese Stifterbildnisse seien nach Dirk Bouts’ Tode
von Hugo V. d. Goes hinzugefügt worden, scheint mir
keine Nötigung vorzuliegen.
56
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
unwiderleglich für BouN- Sonst erschien mir als
Original nur noch der n der "^lockenheit des Ein¬
drucks den Ratlii^T' . v ü”"; wolil sicher
aus eim -n grüsb : ■ .-.y-.Äcl,.i.uiene Kopf
eines -ie iänd- \ ' > U / . ^ L gerade:; scharfen
Zügen auf bU. V r •; ^ Sammlung Oppen¬
heim (Nr. 38). I Hcrm Thiem ge¬
liehene Kicueke. ^ G ; dü'-fie, so ansprechend
die Gestalt ■ . ; -s " seirrer^ vom Thränen-
strom a- 1 j'V’gL igsgesicht, den zarten ge¬
öffneter: . ; it-h d sr'-’ 'einen Rosa der Ge¬
wandung ■. --■ n der hölzernen hässlichen
ChrisLisgeStÄ.d ■ ■- merkwürdig geringen Land-
sciiaft aas dem ' des Meisters zu streichen sein;
ebenso' ■ anch das durch das spitze Oval auf-
fallrr.di 'aastbild der Madonna in bräunlicher Wal¬
dung, aus dci:. Besitz des Grafen Pourtales (Nr. 269).
Das etwas ddie und harte Bild des die Madonna
malenden heiligen Lukas (Nr. 115, Lord Penrhyn,
London) scheint mir, ohne näheren Zusammenhang
mit Bouts, in die Schule Roger’s zu gehören. Von
Albert Bouts, dem bisherigen »Meister der Himmel¬
fahrt Mariä' , der die Kunstweise des Vaters in einen
graueren kreidigeren Ton, seine Landschaft ins Un¬
ruhige, Aufgelockerte, ins »Belgische überträgt, war
genug zu sehen: die aneinander gestossenen Tafeln
mit den Geschichten des Gideon und Mosis (Nr. 41,
Charles T. D. Crews, London), für deren zweite eine
starke Benutzung des väterlichen Meisterwerkes in der
Pariser Galerie Kann ersichtlich ist, schon mit dem
bald so bedeutsam werdenden weiten Flussthal der
Maas im Hintergründe, die beiden bekannten Stifter¬
flügel der V. KaufmaniTschen Sammlung (Nr. 141,
142), eine kleine bewegte, etwas kokett blickende
Madonna aus Wörlitz (Nr. 210) — auch dieses Erben¬
werk noch stark mit Elementen aus van der Goes
durchsetzt — und die beiden Brustbilder Christi und
Mariä im Besitz von Herrn Dr. Hofstede de Groot
(Nr. 95). Dem für Deutschland wichtigsten Nach¬
folger des Dirk Bouts, dem Meister des Münchener
Marienlebens, zeigte sich aufs nächste verwandt das
schöne grosse Flügelstück der sechs Apostel aus der
Sammlung des Vicomte de Ruffo in Brüssel (Nr. 378),
zwei wundervolle, die reine Schönheit des grossen in
Stücke geschlagenen Westfalen, des Liesborner Meisters,
atmende Engel halten hinter den Männern ein Brokat¬
tuch empor. Unten im Vordergrund sind von spä¬
terer Hand zwei Stifter aufgemalt.
Er, der so oft schon genannt werden musste,
Hugo van der Goes selbst, der grosse Melancholiker
vom -Roten Kloster«, war auf der Ausstellung so
selten, wie er es leider überall ist: das vortrefflich er¬
haltene Bild des Todes der Maria aus der Brügger
Akademie (Nr. 51) genügte, die hohe Kraft des Künst¬
lers, zu dem von Claus Sluter über Hubert van Eyck
eine gerade Linie führt, zu zeigen. Alle Farben sind,
in feinstem Einklangsgefühl zu dem Erlöschenden
des Vorganges, auf die matteste Ruhe gestimmt, um
eine Zeichnung und Modellierung heraustreten zu
lassen, die alle Dinge der Erde beachtet, alle zum
höchsten Rhythmus hebt. Selbst Dürer’s Zeichnungen
haben nicht diese Grösse des Zuges; den Namen
eines Cornelius hier zu nennen, wäre Lästerung. Ich
kenne nur einige Blätter von Ingres, einiges Frühe von
Degas, das mich durch eine gleiche Steigerung des
Wirklichen beglückt hätte. Wie geheimnisvoll ver¬
schwimmt das Leben im Blicke Mariä, wie tief sind
Auge und Gebärde der beiden, die die verlöschende
Kerze voneinander übernehmen! ln der Glorie der
Engel hinter Christus sehen wir das Vorbild jenes
Himmelsglanzes, den Frankreichs im 15. Jahrhundert
stärkster Maler seinem Altarwerk von Moulins, der
grossen Freude der Pariser Rückschau von 1900, zu
geben wusste. Wer vor dem Bilde des Marientodes
einen Augenblick Hugo’s tiefeindringende Farben¬
gewalt vergass, wie sie sich am stärksten in den
Flügeln des Portinarialtars offenbart, der wurde durch
das warm ins Auge brennende Rot des ersten Königs
auf dem kleinen Altar der Anbetung des Christkindes
aus der Liechtensteingalerie (Nr. 52) neu belehrt; sind
aber dort die Flügel mit der steifen Haltung der Per¬
sonen von der Hand des Meisters? Etwas zu matt
für ihn erschien auch die kleine Madonna auf Gold¬
grund aus der Sammlung Hainauer (Nr. 107).
Im Anschluss an Hugo van der Goes sei auch
einer weiten, aber trotz der so wertvollen Beiträge
Camille Benoit’s noch wenig erforschten Provinz
Eyckischer Kunst gedacht, der in verhältnismässig
zahlreichen, zum Teil hochwichtigen Beispielen auf
der Ausstellung erschienenen französischen Malerei vor
der Rezeption des römischen Stiles. Ihre Einordnung
an dieser Stelle mag sich dadurch rechtfertigen, dass
der — da Jehan Fouquet abwesend blieb — den
Eindruck beherrschende Künstler, der eben schon er¬
wähnte Schöpfer des Altares von Moulins, in der me¬
tallischen Herausarbeituug der Umrisse, im Glanze
der Karnation, vor allem aber in der künstlerischen
Gesinnung so stark an den Meister von Gent an¬
knüpft, dass eines seiner schönsten Bilder bis vor
wenigen Jahren für eine Arbeit Hugo’s gelten konnte.
Ein Bild freilich, das bei kleinem Umfange vielleicht
die grösste Überraschung der ganzen Ausstellung be¬
deutete, gehört wohl schon zeitlich noch mehr in die
Nähe der van Eyck: die vom Besitzer, Baron d’AI-
benas in Montpellier, als Antonello da Messina ein¬
gesandte, nach dem Vorgänge v. Tschudi’s aber im
kritischen Kataloge als südfranzösisch bestimmte Be¬
weinung Christi (Nr. 32). In der That giebt schon
das Landschaftliche des Werkes — fahles gelbliches
Sonnenlicht überall, im Hintergrund eine mauer¬
umschlossene Stadt mit scharf belichteter gotischer
Kirche, deren Turm vom Schiff getrennt ist, dahinter
die Alpenkette — eine frappierend eigenartige Stim¬
mung, die ich mich wohl entsinne in der Provence,
niemals aber in Italien erlebt zu haben. Der Kopf
Christi mit dem zurückgekämmten Haar und dem
kurzen Kinnbart wirkt in grandiosester Hässlichkeit.
Der Leib ist ganz nackt bis auf einen dünnen Scham¬
schleier; die Mutter, in Blaugrün, und eine der Frauen,
mit der bräunlichen Gesichtsfarbe des Südens, kar-
Südfranzösisch um 1460. Beweinung Christi. (Besitzer Baron d' Albenas, Montpellier)
minrot gekleidet, halten den Toten. Hochbedeiitsam
wirkt die Gestalt einer fast ganz verhüllten Frau in
Ziegelrot, deren grosser Qewandwurf die Abstammung
von den »Plourans« an Claus Sluter’s Dijoner Herzogs¬
grab deutlich verrät. Ganz rechts kniet in scharfem
Profil ein kahlköpfiger weltlicher Stifter auf einem Kissen
und einem Gebetsteppich. Das Ganze ist bei grosser
Kraft des Lichtes merkwürdig plastisch und streng em¬
pfunden (s. obige Abb.). Neben einem solchen Stücke
verschwanden natürlich Werke wie eine sehr hell ge¬
färbte Grablegung aus englischem Privatbesitz (Nr. 214)
und ein in der Ausführung recht verwandtes Kreu¬
zigungsbild (Nr. 186), Arbeiten aus französischer
Nachfolge Roger de la Pasture’s. Dem Meister des
Altarwerkes von Moulins (de Loo’s Zusammenstellung
dieser künstlerischen Persönlichheit mit dem viel¬
genannten Jehan Perreal von Paris zeigt ein inter¬
essantes Parallelgehen zweier Linien, zur Schlingung
des Knotens kommt es nirgends) möchte ich zunächst
die in der Ausstellung und im kritischen Katalog in
der Nähe Gerard David’s untergebrachte eindrucks¬
volle Lünette des Baron Schickler in Paris (Nr. 14g)
zuweisen. Gottvater ist von zwei rotgefiederten ängst¬
lich blickenden Engeln umgeben, deren Erscheinung
Jehan Fouquet’s Antwerpener Madonnenbild dem Ge¬
dächtnis naheruft. Der Himmel ist rot imd gelb,
von schweren dunklen Wolken belagert: eine drohend
lastende Gewitterstimmung. — ln einer Gruppe von
Halbfigurenbildern heiligenbegleiteter Stifter gehört
dem Meister sicher die berühmte, vom Glasgower
Museum hergesandte Darstellung eines Kanonikers
mit dem heiligen Mauritius, auf dessen Rüstung das
Spiegelbild eines Engels glänzt (Nr, 100). Viel be¬
wundert wird die auffallend flache, sehr grüne Land¬
schaft; sollte sie in ihrer derben, von der sorgsam
überlegten Arbeit der Bildnisse so stark abweichenden
Faktur nicht doch einer Erneuerung zu verdanken
sein? Das älteste Bild der Art auf der Ausstellung
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 3.
war wohl das seinen Stifter in der Gesellschaft des
heiligen Clemens vorführende aus dem Somzee’schen
Nachlass (Nr. 148), merkwürdig durch den reichen
Hintergrund: ein Flussthal mit kleinen scharf drei¬
eckigen Erhebungen, wahrscheinlich burgundische Ar¬
beit. Eigenartigen Reiz entfaltete durch die leuch¬
tende, in der Abstufung der vier verschiedenen Rot
vortreffliche Färbung ein wiederholt ausgestelltes Stück
derselben Sammlung, wo eine Stifterin von Magdalena
begleitet ist (Nr. 181). Der sehr helle Fleischton,
die ausserordentlich faltige Behandlung der Haut, die
nichts weniger als schönen, leise an den holländisch¬
kölnischen Meister von Sankt Severin erinnernden
Gesichter lassen mich doch etwas zögern, der im
kritischen Katalog mit Wärme verteidigten Zuweisung
an den Künstler der Marienglorie von Moulins mich
anzuschliessen. ln mancher Hinsicht, so in der gelb¬
lichen Karnation, der sehr sorgfältigen Bildung der
Hände und dem hellen grüngrauen Ton der Land¬
schaft steht dem Glasgower Stifterbilde sogar näher
das aus englischem Privatbesitz geliehene Bildnis
eines Kanonikers unter dem Schutze des heiligen Hiero¬
nymus (Nr. 101). Durch die ausserordentliche Ähn¬
lichkeit der scharfzügigen Gesichtsbildung und der
Haltung mit diesem Heiligen wurde ein Einzelbild
des heiligen Jakobus Maior (Nr. go, Herr Vincent
Bareel, Capellen), farbig von grösster Wirkung durch
das schöne Karminrosa des Ärmels und die tiefe
dunkle, blau gehaltene, aufgelockerte Landschaft unter
bewölktem Himmel, als ein Werk der gleichen, noch
unbekannten Hand nachgewiesen. — ln die Nachbar¬
schaft eines Nordfranzosen, des feinsinnig gestaltenden
Simon Marmion, scheinen mir die beiden Flügel mit
den vier Kirchenvätern und der Verkündigung (Nr. 318,
Martin Leroy, Paris), und, trotz einer flandrischen In¬
schrift von 15J4, die Gregoriusmesse der Weber’schen
Sammlung in Hamburg (Nr. 1 56) zu gehören.
(Fortsetzung folgt.)
8
O. H. Breit ner. Arbeitspferde
Photogrdphicvcrlag von Scheltenia & Holkenia in Amsteniani
O. H. BREITNER
Von W. Vooelsang in Amsterdam
WENN man bei Jakob Maris auf Vermeer, bei
Israels manchmal auf Rembrandt, bei Bos-
boom auf Saenredam als Vorgänger deuten
kann, und es gar leicht ist, Wahrheiten zu sagen über
die ununterbrochene Tradition, so kann man Breitner
nicht so ohne weiteres als Urenkel irgend einer spe¬
ziellen Berühmtheit gelten lassen. — Dennoch steht
gerade er mit der ganzen Schule der holländischen
Glanzzeit im engsten Zusammenhang. Es hat bloss
ziemlich lange gedauert, bis man das hat einsehen
wollen, bis man sich mit dem Gedanken vertraut
machte, auch in ihm einen Künstler zu besitzen, dem
es nicht darum zu thun war, ausgeklügelte, eigen¬
willige oder gar rohe Experimente zu machen, son¬
dern dessen eigenstes Empfinden in seinen Werken
zu Tage tritt, ein Empfinden, das überaus holländisch
genannt werden muss.
Es ist noch gar nicht lange her, da eiferte die
Kritik überall gegen diesen ungehobelten Menschen,
nicht weil er etwa ein Neuerer wäre, weil er das
Unerhörte geahnt, das Nimmergeschaute gestaltet hätte;
sondern weil er es sich bei allem Talent, das man
ihm ja nicht absprach, denn doch zu leicht mache.
gar zu dreist in der Farbe, zu flüchtig in der Zeich¬
nung, zu arm an künstlerischen Gedanken sei.
Jetzt ist es anders geworden. Breitner ist ein ge¬
feierter Mann. Amsterdam hat mit regem Interesse
fast sein ganzes Werk auf einer Ausstellung bei¬
sammen gesehen 1). Man staunte, bewunderte, lobte
und schalt, die Zeitungen öffneten der Begeisterung
geräumige Spalten.
Sonderausstellungen, zumal wenn sie umsichtig
vorbereitet und sorgsam organisiert werden, sind ja
zweifellos drastisch belehrend; sie ersticken jedes Ur¬
teil, das sich auf zufällige Schwächen einzelner Werke
stützt, sie zeigen uns das ganze Wesen des Künstlers,
seine grösste Liebe und deren tiefste Ursachen, seine
Kraft und seine Mängel. Das Unwesentliche ver¬
schwindet, es klärt sich das Gesamtbild. Ganz sicher
hat auch diese grosse Breitner-Ausstellung ihre Auf¬
gabe dahin erfüllt. Nicht nur die grosse Menge,
deren Meinung sich nach der Wetterfahne der Mode
i) Äusserst dankenswert ist das Unternehmen der
Firma Scheltenia & Holkema, Amsterdam, Breitner’s Oeuvre
in vorzüglicher Nachbildung herauszugeben.
G. H. BREITNER
59
richtet, auch viele ernsthafte Leute haben sich bekehrt
gefühlt, sie haben genossen, was sie lange blöde be¬
lächelten.
Lange vor diesem energischen Stoss in die
öffentliche Anerkennung hatte aber Breitner doch
schon eine recht ansehnliche Gemeinde, die ihn
kannte und schätzte.
Freilich in Deutschland hat das grössere Publikum
kaum den Klang
seines Namens ver¬
nommen; wenn¬
gleich es an offi¬
zieller Anerken¬
nung und Aus¬
zeichnungen auf
deutschen Ausstel¬
lungen nicht ge¬
fehlt hat, und man
die kleine Zahl der
künstlerischen
Feinschmecker, die
es ja in den letzten
Jahrzehnten auch
in Deutschland
giebt, ausnehmen
muss. Die Galerien
haben sich ihm
höchst schüchtern
geöffnet, die Privat¬
sammler kennen
ihn entweder gar
nicht, oder stehen
auf dem Stand¬
punkte des hollän¬
dischen Publikums
von vor zehn Jah¬
ren.
Geht man der
Sache auf den
Grund, dann wird
es klar, dass die
holländischen Ma¬
ler, bis auf ganz
wenige Ausnah¬
men, für den
Deutschen nur als
Sammelbegriff
existieren. Das ha¬
ben sogar die oft
recht gut, wenn
auch immer un¬
vollständig, be¬
schickten Seces-
sionen nicht ändern können. Wen kennt man
denn eigentlich? Israels, weil für ihn Propaganda
gemacht wurde, weil sich einsichtsvolle Leute, zuletzt
sogar Liebermann, seiner angenommen haben; es mag
auch irgend einmal von Maris oder Mesdag die Rede
sein, man kennt Toorop, weil man ihn tiefsinnig zu
enträtseln sucht, aber die Wertunterscheidung ist doch
recht verschwommen. Es sind eben so »die Hollän¬
der«. Ich glaube aber ganz bestimmt, dass der Mehr¬
zahl der sogenannten gebildeten Deutschen fast noch
immer alle Eigenschaften fehlen, um die Holländer,
auch die so sehr geschätzten und beschwätzten alten
Holländer, nach Gebühr zu würdigen. Nur wenige
Anzeichen einer neuen Zeit geben der Hoffnung
Raum, dass man von einem Manne wie Breitner in
Deutschland nicht mehr vor tauben Leuten spricht.
Die bewährte
Methode des
Kunsthistorikers so
etwas wie eine Ent¬
wickelung festzu¬
stellen, dürfte frei¬
lich scheitern. Die
unsicheren An¬
fänge, die spröde
Vorblüte, die üp¬
pige Reifezeit las¬
sen sich nicht nach-
weisen, man er¬
kennt kein stetiges
Entfalten in Breit-
ner’s Bildern. Die
Periode des
Schwankens mit
leichten Anklängen
an ein Vorbild,
den Historienmaler
Rochussen, dauert
sehr kurz; merk¬
würdig früh, etwa
gegen 1880, ist
der jetzt fünfund-
vierzigjährige Rot-
terdamer ganz er
selbst. Ausdrucks¬
mittel, Neigungen,
Können stehen in
unwandelbarem
Gleichgewicht als¬
bald auf einer
Höhe, nur die
Stoffe wechseln
mannigfach. Nach
der Stoffwahl glie¬
dert sich seine Ar¬
beit in grosse Pe¬
rioden.
Er debütiert
als Militärmaler;
wenigstens in
Deutschland wür¬
de man ihn wohl rücksichtslos in dies Fach ver¬
wiesen haben, weil er damals Soldaten malte, ohne
zur Lackstiefel- und Uniformenspezialität herab zu
sinken. Man verglich ihn in Holland mit franzö¬
sischen Kollegen, mit Detaille und Neuville, wie
man ihn in Deutschland etwa mit Hang vergleichen
würde. Sehr mit Unrecht; Breitner hat sich erstens
niemals Mühe gegeben Schlachtenmaler zu sein,
G. H. Breitner. Selbstbild
Photographievevlag von Scheltema & Holkema in Amsterdam
‘J )
H. BREITNER
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■1- i. iedaiicholie des
. • a. ■ ; .iisaren und Ar-
. ri . . : _ i.i' Uem braunvioletten
r, - , , : ■ a ,0 vorbei: man unter-
vveg. Da liegt gerade jener grundsätzliche Unter¬
schied zwischen Holländern und Deutschen. Was man
hübsch in Worte kleiden kann, was der Dichter in
Strophen klagt, das braucht der holländische Maler
nicht zu malen und will er auch gar nicht malen.
Das aber, was in Worten zur vagen Umschreibung
verwässert, was in Liedern nicht fesselnd bleibt, jenes
geheimnisvolle tiefmenschliche Gefühl der Natur gegen¬
über, die erwachte Erinnerung an einmal Gesehenes, an
das lediglich durch unsere Augen der Seele Mitgeteilte,
das kann nur der Maler geben und das in erster Linie
suchen und verlangen die Holländer von allen Zeiten.
Wem es nicht durch Mark und Bein gehen kann.
G. H. Breitner. Amsterdamer Strassenbild
Pliotographicvcrlag von Scheltema & Holkcma in Amsterdam
scheidet den einzelnen nicht, es gilt nicht Achsel¬
klappen und Tschackos, nicht Aufschlägen und Säbel¬
taschen. Die Masse, der lebende Farbenstrauss, das
Tiefblau der Uniform, der rote Fleck der Schnüre,
eine blinkende Scheide dort, ein glitzerndes Zaum¬
zeug hier, vor allem das Auf und Ab der Trab¬
bewegung, der schaukelnde Galopp, das Schütteln der
Körper, und das alles im bestimmten Tagesmoment,
ein trüber, regnerischer Morgen, ein rauchiger Dämmer¬
abend, die sammetne Nacht, nur selten eine sonnige
Stunde. Wer sich was erzählen lassen will von
Kampfesmut und Todesgrauen, vom Jammer der ge¬
opferten Jugend und was uns alles aus dem Sol¬
datenleben berichtet werden kann, der bleibe besser
wenn er die lebhafte Bewegung von Mann und Pferd
da vor sich sieht im allerschärfsten Ausdruck, wer
sich da nicht wieder von feuchter Luft umweht fühlt
und die Freude nicht kennt, so viel reiche Eindrücke
flüchtigster Natur vor sich verwirklicht und gebannt
zu sehen, der hat eben das Zeug nicht, malerisch zu
geniessen. Er lese einen Roman, oder rege sich
patriotisch auf vor Illustrationen aus den Befreiungs¬
kriegen. Die Verehrung für phantasievolle Kunst, für
Gedankenreichtum beim Maler ist in Deutschland noch
heute grösstenteils eine Folge mangelhaft gebildeter
Augen. Unmusikalische Leute interessieren sich auch bloss
dann für Musik, wenn sie Gewitterstürme nachahmt und
Pferdegetrappel hören lässt, sie meinen eben, es müsse
G. H. BREITNER
6i
sich dabei etwas denken lassen . Den Ärmsten ent¬
geht ein grosser Genuss, weil ihnen eine Art der
Aufnahmefähigkeit fehlt. Jeder Deutsche bemitleidet
sie; dass es ihm selber häufig mit der Malerei ebenso
geht, ahnt er nicht.
Blosse Wiedergabe der Welt, willkürliche Natur¬
ausschnitte giebt aber Breitner auch in seiner frühen
Zeit nicht. Immer leitet ihn ein eminentes Kompo¬
sitionsgefühl. Das 1886 von der Regierung an¬
gekaufte Bild »Reitende Artillerie — die Bedienungs¬
mannschaft, die mit dem Geschütz im vollen Rennen
und zieht in die Stadt. — Amsterdam hat ihn ge¬
packt, wie keinen zuvor: die Wucht des Grossstadt-
lebens, die rastlose Bewegung der Wagen und Men¬
schen, Schleppkarren und Kähne; die verregneten
Asphaltspiegel, die Ufer der Grachten im schmutzigen
Stadtschnee, die rostbraunen und violettschwarzen
Backsteinfassaden der schmalen Häuser mit den Fenster¬
löchern, den Streifen des buttergelben Holzwerks; das
Heben und Senken der Giebellinie unter der
russigen Schneeluft. Da geht das Alltagsleben hin,
schwere Gäule ziehen mühsam die polternden Last-
O. H. Breitner. Amsterdamer Strassenbild
Photogmphieveiiag von Scheltcmaer Holhcma in Amsterdam
einen sandigen Hohlweg nimmt — ist kompositionell
ein Meisterstück. Der Hauptumriss wirkt absolut
momentan, ist aber trotzdem mit vortrefflichem Ge¬
schmack in den Rahmen hineingepasst. Ein unver¬
besserliches Gleichgewicht der Farbe, Gegensätze von
dunklen Pferdeleibern, hellgelben Schnüren, maulwurf¬
schwarzen Mützen und blondem Sand, unterstützen
die geschlossene Wirkung des Ganzen.
Als hätte der Künstler diese ganze Militärperiode
(er hat das Sujet übrigens auch später nicht ganz
losgelassen) nur durchgemacht, um seine Ausdrucks¬
fähigkeit zu steigern beim Studium so beweglicher
Modelle, wendet er sich weg von Feld und Heide
karren. Die Leute eilen unverwandt aneinander vor¬
über, biegen ein in Strassen, verbreiten sich über
Plätze, kommen herab von der hohen Wölbung ge¬
waltiger Bogenbrücken. Am Damplatz warten die
Trambahnwagen mit dem grauweissen Dach, im win¬
terlichen Nebel leuchten schon die grün und roten
Lichter. Bald geschieht alles mehr in der Ferne, wir
stehen am Fenster und schauen auf das Treiben hinab,
bald kommt der Strom gerade auf den Beschauer zu.
Wir stehen mitten darunter. Eine Figur, ein Laden¬
mädchen in brauner Mantille, ist wenige Schritte von
uns entfernt, tief zieht es dahinter in die Strassen-
prospekte zurück. Hier hat ganz sicher die Moment-
G. H. BREITNER
2
Photographie anregend gewirkt, wenn auch nicht mehr
d i^ucL 'iie
bcu i'n mo-
\ii> en rlues
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Grossstadt,
: überzeugend ge-
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idKan.eri.' U
das grüne Scindier-
tiich einer Arbeiter-
fra::, ein lackroter
Zeitungskiosk. Breit-
ner ist der Maler
von Amsterdam ge¬
worden. Aber sein
Amsterdam ist die
innere, schwerdröh¬
nende, wimmelnde
Handelsstadt, nicht
jenes strahlende
Amsterdam, wie es
Jakob Maris olym¬
pisch erschaute an
heiteren Herbsttagen,
da es sich unter
wolkenbeflaggtem
Himmelsblau aus¬
breitet am spiegeln¬
den Wasser. Irn
17. Jahrhundert ha¬
ben Jan van der Hey¬
den, Berkheyde und
Beerstraeten dieStadt
gemalt; aber das
warbloss ein schlich¬
tes sorgfältiges Auf¬
nehmen der Details,
ein getreues selbst-
zufriedenesErzählen,
bei äusserst vor¬
nehmer Gesamthal¬
tung. Erschüttert
von der Schönheit
sind sie nie und an Macht des Ausdrucks stehen
sie weit hinter Breitner zurück. Auch wählen sie
ganz andere Orte und Viertel. Breitner hat den im¬
posanten Patrizierstadtteil, die parallelen Grachten¬
bogen, wo die Privatpaläste im Schatten der Ulmen
von reicheren Zeiten träumen, nicht gesucht. Nicht
in sich gekehrte, hoheitsvolle Pracht, sondern der
Strudel des bewegenden Lebens ergreift ihn. Es treibt
und wütet in ihm, es kocht und stochert, er greift
G. H. Breitner. Artillerie
Photographieverlag von Scheltcma & Holkema in Anisterdani
zur Arbeit mit einer Plötzlichkeit, die manchmal ein
abgeklärtes Gelingen gefährdet, aber sein Können, das
nicht etwa bloss so hergeweht kam, sondern von
unablässigem Studium unterstützt wird, trägt ihn. Er
ringt und siegt. Sonntagskinder der Kunst arbeiten
eben erst recht, sie zehren nicht vom dumpfigen
Speicher des früher Gelernten. Ob man Breitner’s
Soldatenbilder, seine Strassen und prachtvollen Akte
sieht, ob er das alte
Gemäuer der Vor¬
stadthäuser im Ab¬
bruch, oder wiein der
letzten Zeit, grosse
Bau- und Hafen¬
werke malt, überall
zeigt sich sein spru¬
delndes Naturell, sein
nie versagendes Ton¬
gefühl, seine plasti¬
sche, synthetische
Begabung und eine
Hand so gehorsam
und geübt, wie sie
höchstens Hals ge¬
habt hat. Gerade
seine späteren Arbei¬
ten; die schnurrende
Lokomobile, das Ge¬
wimmel der Arbeiter
zwischen einge¬
rammten Pfählen,
die klobigen Gäule
vor den Steinkarren,
diese für ihn wieder
ganz neuen Stoffe
zeigen, wie er auch
nicht dazu angelegt
ist, einseitig beim
einmal Gewählten
zu bleiben. Er ist
eben weder Militär¬
maler noch Archi¬
tekturmaler, auch
nicht Aktmaler oder
Landschafter; er ver¬
tritt kein Fach und
darin schliesst er
sich an Jakob Maris’
Vielseitigkeit an, wie
er denn überhaupt
von den Brüdern
Maris viel gelernt
hat, wenn er auch nur ungefähr ein Jahr Willem
Maris’ Schüler war. Seine Kraft ist dieselbe, aber
seine Auffassung ist die einer späteren Generation.
Er ist, wie die besten Holländer, Künstler aus
nimmer versiegender Lust, alles Gesehene zu gestalten,
alle Dinge der Welt mit seinem Temperament zu
durchdringen, aus inniger Liebe zu Farbe und Ton.
Ein geborener Maler, wie Hokusai ein geborener
Zeichner war.
DIE AUSSTELLUNG VON KUNSTWERKEN AUS PRIVAT¬
BESITZ IN BADEN-BADEN 1902
E
' INE Ausstellung
von Kunstgegen¬
ständen aus Pri¬
vatbesitz Herrichten, ist
eine dornenvolle Sache.
Man muss zwischen
Scylla und Charybdis
hindurchsteuern. Man
will die Kritik der Be¬
schauer, wenigstens der
verständigen, ertragen
können, ist aber nicht
bloss in der Benennung,
sondern nicht selten
auch in der Auswahl
und Aufstellung der
Kunstwerke von dem
nicht stets verständigen
/. Oberdeutsch. Maria selbdritt der geschätzten
Sammler und Besitzer
abhängig. Wie oft
muss die Überlassung eines guten Stücks durch
die Mitübernahme eines Schmarren erkauft werden!
Wer über eine sogenannte Leihausstellung ein Ge¬
samturteil abgiebt, wird diese mildernden Umstände
erwägen.
Das klingt nun beinahe, als ob die Baden-Badener
Ausstellung sich an das gute Herz ihrer Richter
wenden müsste, um einen günstigen Urteilsspruch zu
erreichen. So steht es mit ihrer Sache nicht. Im
Gegenteil. Die Gesamtwirkung ist sogar vortrefflich
und die wohlüberlegte Anordnung lässt die unver¬
meidlichen kleinen Unbeträchtlichkeiten bescheiden
zurücktreten. Die Physiognomie der Ausstellung ist
durchaus bedingt durch das Haus, das sie aufge¬
nommen hat, das Palais Hamilton. Es sieht alles be¬
haglich, wohnlich, lebendig aus, nicht wie ein ver¬
körperter Katalog und nicht wie eine Sammlung in
Spiritus gesetzter Präparate.
Die Ausstellung ist in zwanzig Räumen unter¬
gebracht und umfasst etwa 1500 Nummern, übrigens
nicht bloss Kunstgegenstände. Auch eine Auto¬
graphensammlung findet sich darin und manches,
namentlich von Bildnissen, ist zwar aus biographischen
und historischen Gründen, aber nicht des Kunstwertes
wegen anziehend. In einem Museum ermüdet und
belästigt ein solches Massenaufgebot. Hier verteilt es
sich anspruchslos in die Winkel und Ecken der kleinen
Salons in reizende Schränkchen und Etageren, auf
kleine Tische, Kommoden u. s. w. und verstärkt den
Eindruck des Lebens und der Intimität.
Eine starre kritische Inventarisierung würde der
Ausstellung nicht gerecht werden. Man schlendert
hindurch, freut sich der in Licht und Ton gut ge¬
stimmten Interieurs, schaut sich das eine Ding ge¬
nauer an, das andere flüchtiger und nur von aussen,
als Farbe, als Lichtfleck. Immerhin vieles ist des Ver-
weilens und Eindringens wert.
Aus dem Treppenhaus treten wir zunächst in den
Empfangssalon, der unter anderem mit Bildnissen des
grossherzoglichen Jubilars und seines Hauses ge¬
schmückt ist und sich ganz stattlich und repräsentativ
ausnimmt. Daran schliesst sich ein charmanter gelber
Empiresalon, in dem aber auch Späteres Unter¬
kunft gefunden hat, z. B. eine geschickt gegen ge¬
mildertes Licht plazierte Bathseba von Jos. v. Kopf.
Die anstossenden Räume beherbergen besonders Por¬
zellan, Autographen, Edelmetall und Schmuck, darunter
viel Gutes. Ein netter und komfortabler roter Empire¬
salon weist wieder mehr Bilder und Skulpturen
auf. Dann kommen zwei Zimmer mit Möbeln und
älteren Bildern. Zwei unter Schongauer’s Namen
(Kat. 740 und 741; Fräulein Bertha Grunelius) stark
restauriert, wie es scheint (Abb. 2 u. 4). Bei der Ge-
fangennehmung Christi (740) sind die Figuren des
Hintergrundes flott und geistreich. Die Benennung
zwingt aber nicht. Das Votivbild des Markgrafen
Bernhard von Baden, datiert 1534 (Kat. 24, »Ober¬
deutsche Schule«, Abb. 3) giebt Rätsel auf. Es ist auf un-
grundierte Leinwand gemalt, könnte also danach wohl
schweizerisch sein. Der frühe Typus der Figuren
widerspricht dem Ornament und der Jahreszahl.
Gehen die Gestalten auf norditalienische Muster zu¬
rück? Man hat die nicht unwahrscheinliche Ver¬
mutung geäussert, dass eine ältere Miniatur zum Vor¬
bild gedient habe. Das Bild gehört dem Kloster
Lichtenthal. Eine sehr lustige Attrappe ist das drei¬
teilige Bildchen Kat. 670, angeblich von H. Hol¬
bein d. j. (Abb. 8). Wie mancher andere Beschauer
habe auch ich mich damit abgequält. Das kleine
Bild der Schleissheimer Galerie 185, schmerzhafte
Mutter Gottes Schule des Grünewald aus der Samm¬
lung Boisseree fuhr mir dabei durch den Sinn. Ich
war geneigt, an niederländische Arbeit zu denken,
um so mehr als das Bild auf Eichenholz gemalt ist;
wie denn der Katalog den Lukas von Leiden als Ur¬
heber vorschlägt. Da erfuhr ich, dass ein Forscher,
ich meine Max Wingenroth, den Namen Hermann’s
davor ausgesprochen habe und jetzt fiel es mir wie
Schuppen von den Augen. Das ist in der That kein
andrer, als der schalkhafte Freiburger Pasticciere, von
dem in dortigem Privatbesitz und in der städtischen
Sammlung viele Bilder existieren. Er war ein ehr¬
licher Fälscher. Ausser der lügnerischen Bezeichnung
und Datierung auf Dürer oder wen sonst hat er regel¬
mässig sein eignes gotisches Minuskel h ((|) ange¬
bracht, so auch auf diesen drei Bildchen, von denen
jedes mindestens eine falsche Signatur trägt. Der
34 DIE AUSSTELLUNG VON KUNSTWERKEN AUS PRIVATBESITZ IN BADEN-BADEN 1902
2. Schongaiier (?). Christus am Ölberg
Mann, der in der Tiefe seines
Gemüts so viele und verschiedene
Manieren barg, muss einen kräf¬
tigen Humor gehabt haben. Er
erinnert an den köstlichen Eulen-
böck in Tieck’s Novelle Die Ge¬
mälde (1822), der sich ebenfalls,
wenn er solch Bildchen in aller
Liebe und Demut malte, in den
alten Meister und alle seine lieben
Eigenheiten recht sanftselig und
saumthunlich hineingedacht hat,
dass ihm war, als führte des
Verstorbenen Seelchen ihm
Hand und Pinsel B.
3. Votivbild des Markgrafen Bernhard
von Baden
1) Der Güte des Herrn Pro¬
fessors Dr. Baumgarten in Freiburg
verdanke ich es, aus Schreiber’s
Oeschiclite der Stadt Freiburg IV,
S. 365 ff. die nachstehenden An¬
gaben mitteilen zu können:
Besonders zeichnete sich in
diesem Zeitabschnitt Joseph Markus
Hermann, geboren am 7. Oktober
1732, aus. Anfänglich hatte er sich,
wie seine Eltern behufs der Theologie es wünschten, gelehrten Studien
gewidmet und schon die philosophischen Fächer zurückgelegt, als es
ihn unwiderstehlich zur Malerei hinzog und er in kurzer Zeit alte,
zumal Mönchsköpfe lieferte, welche günstig aufgenommen wurden.
Am 13. April 1766 wurde er zum Reisen zünftig, jedoch durch Dürftig¬
keit (sein Vater war Schuster) abgehalten, Kunstschulen zu höherer
Ausbildung zu besuchen. Er sah sich genötigt, des Erwerbs wegen
viel, daher auch flüchtig zu arbeiten; bald die Wand des Speisesaals der
Kapuziner (seiner Gönner) mit einem Dutzend grosser Ölgemälde der
Passionsgeschichte gegen geringe Entschädigung zu bedecken; bald auf
Bestellung Wallfahrtsbilder, Landschaften, Seestücke, Porträts 11. s. w. zu
malen. Nur wenig Zeit war’s ihm vergönnt, sich seinem Lieblingsfach,
dem niederländischen Genre zu widmen und darin besseres zu leisten.
Nicht selten besitzt eine Galerie unter dem Namen eines berühmten
Meisters Kopien (auch Originale) von Hermann — [Unter andern ver¬
sichert Nikolai, in der Abtei St. Blasien Bilder in Holbein’s Manier
mit dessen Zeichen gefunden zu haben, welche von Hermann gefertigt
waren. Derselbe pflege auf altes Holz, sogar auf alte Fassdauben
Eine koloristisch pikante Martyriumsscene (Kat. 281, Ed. Meyer,
Abb. 9) wird dem Elsheimer zugeschrieben. In demselben
Zimmer steht ein pompöser Schreibsekretär von Nussbaumholz
mit Zierhölzern eingelegt, von dem Kurmainzer Hofschreiner
Ludwig Rohden 1725 und 1726 gearbeitet. Irre ich nicht, so
gehörte er ehemals der Sammlung Büchner in Bamberg an.
Nun geht es in den oberen Stock. Ein grosser Waffensaal
thut sich vor uns auf, die reichhaltige Sammlung des (verstor¬
benen) Leutnants a. D. Karl Gimbel. Links und rechts schliessen
sich wieder Zimmer mit Gemälden an, neueren und älteren; Feuer¬
bach, Böcklin, Leibi, Liebermann, Uhde, Trübner, Thoma und noch
andere grosse, mittelgute, mässige Namen, ln dieser Abteilung
hätte am Ende einiges entbehrt werden können, ohne dass die
Kunstfreude des Beschauers dadurch beeinträchtigt worden wäre.
Für den Kunsthistoriker bildet der Kapellenraum die eigent¬
liche Hauptschüssel der Ausstellung. Er umschliesst namentlich,
was das Kloster Lichtenthal und einige Kirchen ausgestellt haben,
ferner sind zur Vergleichung mit den Lichtenthaler Altären entliehene
Gemälde Baldung’s vel quasi hier
vereinigt (s. unsere Bildertafel S.
66 u. 67). Es handelt sich um drei
Altarwerke, den angeblich 1503
und Fussböden in Holbein’s und an¬
derer Meister Manier zu malen und
deren Zeichen beizusetzen. Schon
seien dergleichen Bilder, die man
alten Meistern zugeeignet, in manche
Sammlungen gekommen u. s. w.
(Fussnote zu S. 366)] — zumal Knei¬
penbilder, alte Köpfe und Katzen.
Die Auffassung ist naturgetreu, das
Kolorit ebenso lebendig als dauer¬
haft, die Gewandung mit Sorgfalt
behandelt. Er war zweimal verhei¬
ratet und lebte stets sorglos, nicht
selten bisNur Ausgelassenheit lustig.
Die Kinder liebte er und beklagte
es sehr, selbst keine zu haben.
Sein Tod erfolgte (14. Februar 1811)
im achtzigsten Jahre seines Alters.
Seine besseren Stücke sind bereits
aus seinerVaterstadt verschwunden.«
4. Schongaiier (?). Kreuztragung
DIE AUSSTELLUNG VON KUNSTWERKEN AUS PRIVATBESITZ IN BADEN-BADEN 1902 65
entstandenen Hochaltar mit der heiligen Sippe und
zwei Seitenaltäre, einen mit der Magdalenenlegende
und drei weiblichen Heiligen und einen anderen,
1496 echt datierten mit der Ursulageschichte und
gleichfalls drei Heiligen (alle auf unserer Tafel S. 66
und 67 abgebil¬
det). Wenigstens
die beiden Seiten¬
altäre wurden auf
Grund eines woh!
durch den Restau¬
rator Völlinger
1 830 gefälschten
Monogramms auf
dem Magdalenen-
altar von der Über¬
lieferung dem Bai¬
dung zugeschrie¬
ben. Eine genaue
Untersuchung ge¬
stattete der Stand¬
ort der Altäre in
der finsteren und
feuchten Markgra¬
fenkapelle des
Lichtenthaler Klo¬
sters nicht. Aber
die Taufe auf Bai¬
dung wurde doch
immer mit einem
grossen Fragezei¬
chen versehen. Es
lag in der Ab¬
sicht des Ausstel¬
lungskomitees, die
Tafeln in hellem
Tageslichte der
Forschung zugäng¬
lich zu machen.
Inzwischen hat
eine '' durch die
Munifizenz des
Grossherzogs von
Baden geladene
Konferenz von
Fachgenossen die
Altäre genau unter¬
suchen können. Es
wird sich wohl
ergeben, dass sie
mit allgemeiner
Übereinstimmung
aus dem Lebens¬
werk des Künstlers,
so weit wir seinen
Stil heute kennen, ausscheiden. Sie tragen die Spur meh¬
rerer Hände und ausser der Verwandtschaft mit dem
oberrheinischen Stil auch manchen schwäbischen Zug an
sich. Der höchst gründlich und liebevoll übermalte
Hochaltar hat mit den Seitenaltären nichts gemeinsam
und ist von vag fränkischem Charakter. Das gar
Zeilsdirifl für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 8.
nicht unfeine Antependiumbild des Ursulaaltars (etwa
1515/20, Abb. 5) weist entfernte und äussere An¬
klänge an den Meister von Messkirch auf, dessen
künstlerische Heimat ich nicht am Bodensee, sondern
im schwäbisch - fränkischen Grenzland suche. Er¬
fahrene Beurteiler
denken an einen
Meister wie den
Nördlinger Daig.
Gabriel von Terey
hat vor Jahren in
einem Aufsatz im
^ Rep. f. K. ■< bei
einer Besprechung
der von P. Heitz
herausgegebenen
Zierinitialen der
Drucke des Th.
Anshelm den Maler
des kleinen Bild¬
chens mit dem
Zeichner einiger
dieser Alphabete
identifiziert. Das
etwas ältere Ante¬
pendiumbild des
Magdalenaltars
(Abb. 6) steht den
Kreisen Schon-
gauer’s ganz nahe.
Ohne hervorra¬
gend zu sein, inter¬
essieren die zwei
in die Altarwangen
eingefügten Engel¬
bilder (s. die Ta¬
fel) durch ihren
Stil und ihre He-
benswürdigeLyrik.
Fast alles spricht
dafür, dass sie aus
der Werkstatt der
zwei Seitenaltäre
herrühren. Aber
es fällt einem
schwer, mit deren
hausbackener Rou¬
tine eine That voll
so inniger, unbe¬
holfener, knaben¬
hafter Anmut zu¬
sammen zu schir¬
ren, wie sie aus
den beiden Täflein
spricht. Wenn
überhaupt etwas an den Lichtenthaler Bildern, so
könnten sie von dem jugendlichen Baidung herrühren.
Aber irgend einen positiven wissenschaftlichen Anhalt
giebt es nicht dafür.
Der Hochaltar trug als Antependium bis 1835
das seitdem in der Karlsruher Kunsthalle aufbewahrte
Q
5. Oberdeutsch (Daig?). Maria mit Heiligen
Antependiumbild des Urstilaaltars (s. Tafel)
6. Schule Schongauer’s. Maria mit Heiligen
Antependiumbild des Magdalenenaltars (s. Tafel)
Christiiskopf
Hochaltar des Klosters Lichtenthal
bei geschlossenen Flügeln
Vom Lichtenthaler Altar
Magdalenentafel. Innenseite
Magdalenentafel. Aussenseite
DIE BILDER DES KLOSTERS LlCHTENTHAl
Hochaltar des Klosters Lichtenthal
bei geöffneten Flügeln
Stickereien aus dem Kloster Lichtenthal
k
*■ t
Ursiilatafel. Aussenseite
Ursulatafel. Innenseite
Vom Lichte nthaler Altar
F DER BADENER AUSSTELLUNG
6S DIE AUSSTELLUNG VON KUNSTWERKEN AUS Pf^lVATBESITZ IN BADEN-BADEN 1902
(gleichfalls aLisges;. t;i:; W '.ivbild des Markgrafen
Christoph linti se'.aer ^ rrW- von Baidung.
Man siciiL ’r, j Ll'ruijaU'r Kapelle zeigen
sainmen gekommen sind. Zur Kollektivtaufe auf
Baidung mag die alte, nicht unglaubhafte Überliefe¬
rung, dass nahe Verwandte des Malers dem Lichten-
ä e f
7. a Amor. Bei G. von Terey, Budapest, b Die heilige Elisabeth and Magdalena, c Maria mit dem Kind.
Strassburg, d Vanitas. Slg. Weber, Hamburg, e Bildnis. Strassburg, f Bildnis des Hans von Bären¬
fels. Bei Frau Oser-Thurneysen, Basel
sich etwa so viel Malerhände wie Bilder. Sie ist viel¬
leicht nur ein zufälliges Refugium für Altarstücke,
die von verschiedenen Filialklöstern von den Zeiten
der Reformation und des Bauernkriegs an dort zu-
thaler Konvent angehört hätten, das ihrige beigetragen
haben.
Ausserdem hat das Lichtenthaler Kloster Gutes
und sogar Vorzügliches an Paramenten und kirch-
DIE AUSSTELLUNG VON KUNSTWERKEN AUS PRIVATBESITZ IN BADEN-BADEN 1902 69
liehen Stickereien ausgestellt (s. Tafel). In jedem
Sinne eine Arbeit ersten Ranges ist der mit abge¬
bildete Stickereistreifen mit den vier Heiligendar¬
stellungen (Kat. 63 b); merkwürdig auch das Hoch¬
relief des Streifens mit biblischen Geschichten (Kat. 63a).
Beachtenswert, wenngleich von geringer künstle¬
rischer Bedeutung, ist sodann ein ziemlich gut erhaltenes
kleines Eccehomobild (Kat. 11, s. Tafel).
ln demselben Raume befinden sich unter anderem
zwei schöne polychromierte Holzskulpturen, eine Pieta
(Kat. 1467, Frau Adelb. Gimbel, Abb. 10) von sehr
komplexer Empfindung, angeblich deutsch, wie ich
aber glaube, spanisch, und eine hl. Anna selbdritt
(Kat. 1456, Abb. 1).
Ebendaselbst: als Kunstwerk unerheblich und nur
durch die Unruhe des Stiles interessant zwei Heilige
aus der Kirche in Lauterbach (Kat. 1423, 1424»
Abb. 7 b). Dann eine Anzahl von Bildern Baldung’s,
unter anderen der tief empfundene, auch kolo¬
ristisch besonders gelungene Schmerzensmann der
Freiburger Galerie von 1513, eines der edelsten
Werke Baldung’s; die Bilder des Strassburger Mu-
g. Elsheimer. Der hl. Laurentius (?)
seums (Abb. 7c u. e), das eher derbe und wenigstens
in seinem jetzigen Zustand nicht völlig unbedenkliche
Bildnis des Hans von Bärenfels (Kat. 1045, Frau
E. Oser-Thurneysen, Abb. yf), das der Öffentlichkeit
zuerst durch die Strassburger Ausstellung 1895 be¬
kannt wurde, die zwei Bilder der Sammlung Weber
in Hamburg, von denen ich jedoch die Vanitas
(Abb. 7 d) nach wie vor für ein Werk B. Beham’s
halte, endlich G. von Terey’s Amor (Abb. 7a).
Die Ausstellung ist von einem Komitee von fünf¬
zehn Herren zu stände gebracht worden, unter denen
man einem kunstgeschichtlich bekannten Namen,
dem des Architekturforschers Baron v. Geymüller,
begegnet. Als Schrift- und Geschäftsführer hat der
Grossherzogliche Konservator Direktor Schall fungiert.
Seinem Geschick und seinen Bemühungen verdankt
die Ausstellung jene Persönlichkeit und Intimität, die
ihren besonderen Vorzug ausmacht. Ähnliche Unter¬
nehmungen , wenngleich von geringerem Umfang,
möchte man sich öfter wünschen.
FRANZ RIEFFEL.
IO. Spanisch (?). Schmerzhafte Mutter
FLORENTINER BILDHAUER DER RENAISSANCE
Der Name »Wilhelm Bode ist in der inter¬
nationalen Kunstwissenschaft längst ein Pro¬
gramm. Vom Einzelstücke geht es aus, um
sich auf alle Gebiete künstlerischer und kunstgeschicht¬
licher Betrachtung zu erweitern. Induktive Methode,
aber ein Ziel, das sich mit deduktiver Erkenntnis
deckt; Analyse des Einzelnen, aber zum Zweck einer
Synthese der stilistisch verwandten Gruppen, der
Künstlerpersönlichkeiten, der Schulen und Epochen!
Aufgestellt hat Bode dies Programm nicht. Es
ist im Grunde so alt, wie die Kunstwissenschaft selbst.
Allein Bode hat früher als irgend ein anderer die
ungeheuer gesteigerten Mittel, welche die Kultur des
IQ. Jahrhunderts dieser Arbeitsweise bietet, richtig er¬
kannt und sie in der entschlossensten und umfassend¬
sten Art benutzt. Keiner hat mehr gesehen und
keiner sieht schneller. Das ist eine angeborene, geniale
Begabung. Als Kenner Sehen aber heisst: »Ver¬
gleichen«. Es heisst ferner: Echtes vom Unechten,
Gutes vom Minderwertigen unterscheiden. Dabei
kann man irren. Das geschieht jedoch um so seltener,
je häufiger man vor die Entscheidung gestellt ist.
Daher in diesen Fragen das Übergewicht der ver¬
antwortungsvollen Museumsleiter und die Führerschaft
Bode’s. Denn auch hierfür brachte er eine ganz un¬
gewöhnliche Begabung mit.
Zeuge ist die Gemälde- und Skulpturensammlung
des Berliner Museums, zugleich aber die grosse
Reihe seiner gedruckten kunstwissenschaftlichen
Studien. Besonders in den letzten Jahren, wo Krank¬
heit den Unermüdlichen oft ans Zimmer fesselte,
wurde sie stark vermehrt. Allerdings handelt es sich
dabei oft nur um die Vereinigung und Überarbeitung
älterer Aufsätze. Gerade dabei aber kommt das oben
angedeutete Programm zu voller Geltung, und auch
diese gesammelten Werke« werden den eisernen Be¬
stand bilden, den die Kunstwissenschaft der Zukunft
aus dem Wirken Bode’s übernimmt.
Einen reichen Beitrag dazu bringt das vor kurzem
bei Bruno Cassirer in Berlin erschienene Buch:
-Florentiner Bildhauer der Renaissance' .
Das Thema war von jeher eines von Bode’s
Lieblingsgebieten. Neben der holländischen Malerei
steht es am Beginn seiner Studien, es sind ihm die
meisten Jahrbuchaufsätze gewidmet, und schon 1887
wurden diese in Buchform vereint. Allein das ge¬
schah damals nur in einem mehr äusserlichen Neben¬
einander. Geschlossener, jedoch auch wieder ver¬
allgemeinert, wurde die Behandlung in dem kleinen
der italienischen Plastik gewidmeten »Handbuch«
(Berlin 1891), und im Text zu den Denkmälern der
Renaissanceskulptur in Italien« (München, Bruckmann).
Die neue Veröffentlichung knüpft das einigende
Band fester. Sie gilt lediglich der Florentiner Plastik.
»Florenz als Heimat der neueren Kunst-, seine »Plastik
als deren erste, eindrucksvollste Blüte« — das ist das
Thema des ganzen Werkes. In der Einleitung wird es mit
besonderer Wärme angeschlagen. »Nur an zwei Stätten
hat sich die Bildhauerkunst ganz frei entfaltet: in
Athen und in Florenz . Nirgends in der That waren
die sozialen Verhältnisse so günstig wie dort, nirgends
kamen ihnen so mächtige Künstlerkräfte entgegen.
Während der ersten Hälfte des Quattrocento spiegeln
sie sich in dem Dreigestirn: Ghiberti, Donatello, Luca
della Robbia. Die anderen sind nur Trabanten. In den
Marmorbildhauern vom Schlage Desiderio’s, und den
Bronzebildnern Antonio Pollajuolo und Verrocchio
erwächst ein neues Geschlecht, aber noch keine ganz
neue Kunst. Diese bringen erst Lionardo und Michel¬
angelo.
Damit ist ungefähr der Künstlerkreis gekenn¬
zeichnet, in dem sich die Einzelstudien des Werkes
bewegen. Diese selbst geben Monographien teils
aus der Künstlergeschichte, teils aus der Kunst¬
geschichte. Einige der ersteren sind grössere, er¬
schöpfende Charakterbilder — so von Luca della
Robbia und von Bertoldo di Giovanni — andere
bieten Ausschnitte aus dem Wirken einzelner Meister
— Donatello ^als Architekt und Dekorator« und als
Madonnenbildner , Desiderio und Laurana als »Por-
trätisten^ »Michelangelo’s Jugendwerke« — andere
wieder gehen mehr von ikonographischen Gesichts¬
punkten aus - Madonnendarstellung bei den Flo¬
rentiner Bildnern«, »Quattrocentobüsten des jungen
Christus und Johannes«, »Versuche der Ausbildung
des Genre und der Putto«. Nur zwei Aufsätze
schliessen sich lediglich an ein Einzelwerk an, steigen
aber ebenfalls zu einer Charakteristik der in Frage
kommenden Meister — des Desiderio und des Gio¬
vanni della Robbia — auf.
Trotz aller Vielseitigkeit des Buches bleibt sein
Held Donatello. Von dem mit Willi Pastor begin¬
nenden Zweifel an dessen heutiger Schätzung spürt
man bei Bode nichts. Bode sieht eben stets nur mit
eigenen Augen. Und Ergebnisse, die sich ihm dabei
von neuem bestätigen, formuliert er nur um so
schärfer, je mehr sie von anderer Seite bestritten
wurden. Allein, wo Bode selbst das frühere Gute
FLORENTINER BILDHAUER DER RENAISSANCE
71
durch ein Besseres ersetzen zu können glaubt, scheut
er auch nicht, sich selbst zu korrigieren. Auch die
glänzendste Stilkritik muss eben mit »provisorischen
Wahrheiten« rechnen. Eine solche war beispielsweise
die frühere Benennung jener köstlichen 1878 aus dem
Strozzipalast für das Berliner Museum erworbenen
marmornen Frauenbüste als »Marietta Strozzi« und
ihre Zuweisung an Desiderio da Settignano. Jetzt
hat eine in der Villa del Boschetto des Principe
Strozzi bei Florenz aufgetauchte, übrigens künstlerisch
nicht sonderlich anziehende Marmorbüste der Marietta
diesen Namen der schon 1842 in Florenz für das
Berliner Museum erworbenen Mädchenbüste gebracht,
die damals als ein Werk Donatello’s galt, von Waagen
und dann auch von Bode dem Mino da Fiesoie zu¬
geschrieben wurde. Nun wird
sie dem Desiderio zurück¬
gegeben Jene früher Marietta
Strozzi getaufte Büste aber
ist schon im Handbuch«
(1891) als eine neapolitanische
Prinzessin von Francesco Lau-
rana bezeichnet und erscheint
in dem neuen Buche neben
ihrer stilistischen Zwillings¬
schwester bei Stefano Bardini
in Florenz und einer Reihe
legitimer Geschwister im Bar-
gello, im Wiener Hofmuseum,
im Louvre und bei G. Drey-
fus in Paris. Und dabei wirkt
die schärfere Erkenntnis Lau-
rana’s auch wieder auf das
stilistische Charakterbild Desi-
derio’s klärend zurück.
Während in diesem Auf¬
satz lediglich die Stilkritik
zum Worte kommt, bringt
der folgende zugleich eine
überraschende geistvolle Hypo¬
these über die sachliche Be¬
deutung von Werken, die von
jeher Lieblinge aller Kunst¬
freunde waren: der zahlreichen quattrocentistischen
Kinderbüsten. Sie gelten als Bildnisse des Gio¬
vannino. Aber bei einer ganzen Reihe von ihnen
fehlt das Lammfell, das den kleinen Täufer zu cha¬
rakterisieren pflegt. Bode erklärt sie daher jetzt als
Darstellungen des jugendlichen Christus. In ihren
durchweg individuellen Zügen jedoch sieht er Bildnisse
von Knaben aus vornehmen Florentiner Familien.
»Ein reines Kinderbildnis wäre der Zeit, in der das
Porträt nur zur Verherrlichung einzelner hervorragen¬
der Persönlichkeiten in Aufnahme kam, viel zu an¬
spruchsvoll erschienen, während man die Porträtierung
eines lieben Kindes in dem Gemälde oder der Büste
eines heiligen Knaben für eine Kirche oder Kapelle
keineswegs anstössig fand.« Das ist so recht im
Geiste der Frührenaissance gedacht — vor den
Tagen Savonarola’s! Die Stimmung in diesen Knaben¬
büsten ist freilich sehr verschieden, und bei dem
laut lachenden Bürschchen des Herrn Benda in Wien
erscheint die neue Deutung als Christusknabe nicht
unbedingt überzeugend. Um so mehr das Ergebnis
der gerade hier sehr schwierigen Stilexegese, die —
ausgehend von einer neueren Berliner Erwerbung —
diese zahlreichen Büsten besonders zwischen Desiderio
und Antonio Rossellino verteilt.
Stilkritik, wie sie Bode übt, lässt sich nicht er¬
lernen. Sie beruht keineswegs nur auf Erfahrung,
sondern vor allem auf Gefühl. Daher kann sie oft
auch ohne Beweis überzeugen. Das Verhältnis Do¬
natello’s zu Michelozzo entzieht sich, wie jedes der¬
artige Zusammenarbeiten zweier Künstler, einer rech-
nungsmässig sicheren Abschätzung. Dennoch wird,
wer näher in Donatello’s Wesen eindringt, dem ersten
Aufsatz Bode’s, der Donatello’s
Originalität auch im architek¬
tonischen und dekorativen
Schaffen Michelozzo gegen¬
über so hoch anschlägt, völ¬
lig beistimmen. Werke, wie
die Nischen des S. Ludwig
und der Verkündigungsgruppe
in S. Croce, wollen sich zu¬
nächst selbst dem allgemeinen
Stilbild ihrer Entstehungszeit
kaum fügen. Aber gerade dies
spricht für Donatello, der jeder
Aufgabe einen neuen Wert
giebt. Wiederholt braucht
Bode bei dieser Erörterung
das Wort »barock«, und diese
Betonung eines dem Kunst¬
geiste nach barocken Elementes
in der Kunst der Erührenais-
sance kehrt auch an anderer
Stelle wieder. Solche gelegent¬
liche Hinweise eröffnen neue
Perspektiven. Ins stärkste Licht
treten sie bei Michelangelo.
Schon früher hat Bode gezeigt,
dass dessen »Madonna an der
Treppe« durch ein Marmorrelief
bei G. Dreyfus in Paris beeinflusst sei. Jetzt erhält diese An¬
nahme durch eine Reihe verwandter, bisher unbeachteter
Marmorreliefs neue Stützen. Die Zwischenglieder
mehren sich und erhöhen die Wahrscheinlichkeit des
Zusammenhanges, ln ähnlichem Sinne wird unsere
Kenntnis von der Jugendentwickelung Michelangelo’s
erweitert. Bode’s Tendenz ist hier, auch diesen Ti¬
tanen wieder fester mit dem Boden seiner heimat¬
lichen Kunst zu verbinden. Das stärkste Mittelglied ist
Bertoldo, dessen Kleinkunst ein meisterhafter Aufsatz
gewidmet ist. Für Michelangelo’s Verhältnis zu seinem
ersten Lehrer in der Plastik gewinnt das kleine vom
alten E. von Liphart erkannte, jetzt von seinem Enkel
in Ratshof bei Dorpat erworbene Relief »Apoll und
Marsyas« besondere Wichtigkeit, weil es mindestens
zum Schlachtrelief und zum David schlagende Analogien
bietet. Bei der Erörterung der Jugendwerke Michel¬
angelo’s richtet sich Bode’s Polemik diesmal vor allem
Ant. Rossellino. Kinderbüste
Berlin, Kgl. Museen
72
UNSERE KUNSTBLÄTTER
gegen Wölfflin. Zur Beurteilung des Berliner Qiovannino
wäre aber mindesiejis crv. ■ünscht gewesen, dieAbbildung
der Täuferstatue des G ''o’air.u Saniacroce in Moiito-
liveto zu Neape: iii gloiT,.eiU ./lassstabe und ohne
ihre Nischenurni a'.i'u .,ng ier,! Berliner Werk gegen-
überzustellcn. i.Vi üe ig'' ; sii u gerade die Abbil¬
dungen vorzüglich gcv/äidi^ urui, wie die ganze Aus¬
stattung des Buches, reicli und gefällig.
Auf die cir.zelncn Slreiifragcn näher einzugehen,
ist an dieser Sie c v. -der inögiieh noch geboten. Sie
werden nocii •..eie ,i^eiicnkreise ziehen. Ist doch
auch der Ton des Buches oft der einer Streitschrift!
Uncbcnbürtigcii Widersin-uch, wie den von Reymond
und Fritz Wolf ij iciSo t bode dabei oft hart büssen.
Bcgrcii'lich genug: Toieranz war niemals die Tugend
der KuiKUkenmr. iViehr als anderwärts gilt hier der
Satz; Wer wankt, der fällt. Und als gemeinsamer
Feind droht die Fälscherkunst. Auch über einzelne
Probleme des neuen Buches wirft sie ihren gefälir-
liclien Schatten. Aber niemand ist heute berufener,
gerade hier den rechten Weg zu weisen, als Bode.
Da wird es ein bemerkenswertes Ergebnis, dass Bode
seine Erfahrung in den meisten strittigen Fällen zu
Gunsten der Echtheit in die Wagschale wirft. Und
noch ein anderes sei hier zum Schluss betont! Man
vergleiche einmal die in diesem Buche behandelten
Probleme, mit denen, welche die Historiker der ita¬
lienischen Plastik vor etwa zwanzig Jahren beschäf¬
tigten, in Zeiten, in denen fast jede unbezeichnete
Quattrocentoskulptur unter dem Namen Donatello’s
auf den Markt kam. Das ist ein gewaltiger Fort¬
schritt. Das Bild der Florentiner Renaissanceplastik
hat sich in der modernen Kunstforschimg überraschend
schnell grosszügig entfaltet. An ihm wird sich nicht
viel mehr verändern. Die heutige Aufgabe ist, es in
allen seinen Feinheiten durchzuciselieren. Das ist die
undankbarere, schwerere Kunst. »Am schwierigsten
wird die Plastik, wenn der Fingernagel dem Thon¬
modell die letzte Feile geben soll«, sagte Polyklet.
Das gilt auch für die Stilkritik. Freuen wir uns, dass
Wilhelm Bode’s feinfühlige Kraft, die an der heutigen
Gesamterscheinung dieser kunstgeschichtlichen Cha¬
rakterbilder so wesentlich beteiligt ist, nun auch noch
in minimis quoque rebus« so rüstig am Werke
bleibt. ALFRED G. MEYER.
UNSERE KUNSTBLÄTTER
Eiermann R. C. Hirzel’s Name ist dem Leser¬
kreise wohlvertraut. Von ihm stammte der Entwurf
zu dem stimmungsvollen Umschläge her, der diese
Zeitschrift die letzten zwei Jahre über umschloss.
Auch das Kunstgewerbeblatt hat er mit seinen auf
eindringenden Naturstudien beruhenden stilisierten Pflan¬
zenumrahmungen öfters geschmückt. Gerade diese
scharfzackigen Blattgebilde sind für Hirzel so typisch
geworden, dass man seine Urheberschaft fast auf den
ersten Blick zu erkennen pflegt; und dies nicht nur
auf dem Gebiete des Buchschmuckes, das er in den
letzten Jahren so eifrig gepflegt hat: auch im plasti¬
schen Kunstgewerbe hat Hirzel seine Talente mit
bestem Geschick zu verwerten gewusst. Seine mit
der Hand getriebenen Gold- und Silberarbeiten haben
sich rasch ihren Weg gebahnt. Neben dieser ihn viel
in Anspruch nehmenden gewerblichen Thätigkeit hat
er aber unablässig mit der Radiernadel gearbeitet und
in den letzten Jahren eine ganze Reihe empfindsamer
Blätter (zum Teil auch in Federzeichnung) hervor¬
gebracht. Wir freuen uns, in der für diese Zeitschrift
geschaffenen Radierung eine seiner vorzüglichsten
Arbeiten begrüssen zu können.
Gegen diese stilisierte Kunst Hirzel’s steht als
zweites Blatt die kräftige Naturstudie von Franz
Skarbina. Von allen Problemen der modernen Malerei
hat keines Skarbina so oft angezogen, ist keines von
ihm in so unendlich vielen Variationen behandelt
worden, wie das des künstlichen Lichtes. Und dies¬
mal scheint es fast, als wenn dem Maler nicht nur
der Reiz der Lichteffekte den Pinsel in die Hand
gedrückt hätte, auch das Gemüt hat ihn wohl zur
Festhaltung dieses Poetischesten aller Lichtmeere, des
Weihnachtslichtes, bestimmt. Die Ölstudie ist, wie
uns der Künstler erzählt hat, frisch vor der Familien¬
scene in einem Zuge heruntergestrichen und wird
durch unseren Dreifarbendruck mit verblüffender
Originaltreue wiedergegeben.
Noch ein drittes Kunstblatt haben wir diesmal
beigegeben und führen damit einen höchst begabten
jungen Radierer in den Kreis dieser Zeitschrift ein,
dessen Arbeiten wir schon bei den letzten Schwarz-
weiss-Ausstellungen mit besonderem Interesse betrachtet
haben. Es ist dies Oskar Oraf-Vr^xhuxg. Ihm ward
kürzlich Gelegenheit, seine Kunst in den Dienst einer
grösseren Aufgabe zu stellen. Es galt ein Pracht¬
werk unter dem Titel Malerisches aus Salzburg« in
Gemeinschaft mit C. Pfaff-Bader zu schaffen, das
aus 25 Radierungen mit Textbeilagen besteht und im
Verlage von Hermann Kerber in Salzburg erschienen
ist. Jeder Freund Salzburgs — und wer wäre das
nach dem Besuche dieser einzigen Stadt nicht! —
sei auf das wirklich vornehme Prachtwerk hingewiesen.
Es ist künstlerisch von Anfang bis zu Ende und des¬
halb als rechtes Weihnachtsgeschenk zu empfehlen.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., Q. m. b. H., Leipzig.
DIE STADTBRÜCKE IN SALZBURG
ORIOINALRADIERUNG VON OSKAR GRAF-FREIBURG
Zeitsclirift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 4.
U)
MAX KLINGER
SCHLAFENDE (MARMOR)
Abb. 1. Mittelstiick der Komposition Amor und Psyche. Thonrelief von Henry Bates
(Mit Erlaubnis von F. Hollyer, London)
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Von Hermann Muthesius in London
(Schluss)
Der Kampf gegen den Akademismus, der die vor¬
wärts strebende Kunst der letzten fünfzig Jahre
allerorten charakterisiert, hat sich auch in der
englischen Skulptur geäussert, ohne hier aber zu so aus¬
gesprochenen Werten gelangt zu sein wie in der Malerei.
England ist nie ein besonders günstiger Boden für die
Skulptur gewesen. Nicht nur, dass es nach dem Aus¬
löschen der mittelalterlichen Tradition bis ins Ende
des 1 8. Jahrhunderts hinein hier fast noch mehr vom
Auslande gelebt hat als in der Malerei, es ist auch im
ig. Jahrhundert arm gewesen an wirklichen bildhaue¬
rischen Grössen. Zwar reiht sich John Flaxman
würdig in die Reihe der ganz international gefärbten
grossen Bildhauer ein, die die Flutwelle griechischer
Begeisterung am Ende des i8. Jahrhunderts in allen
Ländern hervorrief, aber seine Nachfolger sind um
so unerfreulicher. Mehr als anderwärts machen die
Werke, die sie im sogenannten griechischen Stile
hinterlassen haben, heute den Eindruck des Puppen¬
haften, Gedrechselten, Leblosen und Schemenhaften,
erzeugt unter der narkotischen Betäubung eines frem¬
den Giftes. Ein Gang durch die Diplomagalerie der
Akademie der Künste in London muss davon über¬
zeugen. Über den Stand der englischen Bildhauerei
in den sechziger Jahren giebt das Jedem bekannte
Albert-Denkmal im Hyde-Park in London die beste
Auskunft. Hier waren fast alle damaligen Bildhauer
von Ruf beteiligt: Foley schuf das Bild des Fürsten,
Armstead (der jetzt noch lebende Akademiker) und
Philip übernahmen die grossen Figurenfriese und Mac-
dowell, Foley, Theed und Bell die grossen Eckgruppen,
weiche die vier Erdteile versinnbildlichen. Alles steht
noch streng unter dem Gebot des »Idealismus«, der
noch kaum durch irgend welche Individualität durch¬
brochen oder für modernes Empfinden schmackhaft
gemacht ist. Und doch wirkte um dieselbe Zeit be¬
reits ein Bildhauer von sprudelndster individueller Kraft,
das grösste plastische Genie, das England hervor¬
gebracht hat, Alfred Stevens, ungekannt und unbe¬
rühmt neben diesen Akademikern; eine an Michel¬
angelo erinnernde, stürmische Künstlernatur von selbst¬
verzehrender Glut, von deren sonst in allerhand
Kleingerät verschwendeter Kraft fast nur das unvoll¬
endet gebliebene Wellington-Monument in der Pauls¬
kirche in London heute öffentlich Zeugnis ablegt.
Das Albert - Denkmal ist auch noch in einer an¬
deren Beziehung lehrreich: es zeigt, wie wenig man
überhaupt in der Lage war, die Monumentalität eines
Denkmalgedankens zu verwirklichen. Über und über
mit Skulpturen beladen, die keinen Quadratzoll Fläche
übrig lassen und ohne befriedigende Gesamtform ist es
eigentlich die beste Illustration dessen, wie ein Denkmal
nicht sein soll. Über den Mangel an monumentalem
Sinn in England ist schon im Zusammenhänge mit
der englischen Architektur die Rede gewesen. Er
prägt sich aus in dem gänzlichen Fehlen an gross¬
städtischen Platz- und Architekturanlagen in England,
dessen Städte einschliesslich Londons alle ins Riesen¬
hafte gewachsenen Dörfern gleichen. Er prägt sich
aber auch aus in dem erwähnten Fehlen von guten
Denkmälern, das für England geradezu typisch ist.
Und das überzeugendste Beispiel für denselben Mangel
IO
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
an monumentalem
Sinn kann von je¬
dem Englandrei¬
senden in derWest-
minsterabtei, dieser
berühmten Ruh¬
meshalle Englands,
beobachtet werden,
in welcher die Mo¬
numente wie sie
gerade kamen
durcheinander ge¬
stellt sind und so
ungeordnet auf¬
einander hocken,
dass man sich beim
Eintritt in die
Kirche zunächst in
einen Trödelladen
versetzt glaubt. —
Die Spärlichkeit
von öffentlichen
Denkmälern wäre
an sich nicht zu
bedauern, wie ja
die jetzt auf dem
Kontinent grassie¬
rende Denkmalwut
sicherlich nicht den
Erfolg hat, beson¬
dere Kulturwerte
anzuhäufen. Aber
die wenigenDenk-
mäler Englands
sind oft hart und
steif und meist
ohne besonderes
Interesse. — Von
der älteren denk¬
malschaffenden
Generation sind
neben den beim
Albert - Denkmal
genannten Bild¬
hauern als die her¬
vorragendsten Ver¬
treter etwa noch Durham, Jones, Noble, Chantrey
und Mossman zu nennen, deren Namen mit der
Mehrzahl der öffentlichen Monumente Englands ver¬
bunden sind.
ln die mit verschwindenden Ausnahmen im Geiste
der Akademie ausgeübte und unter deren schützender
Decke blühende Kunst eines verjährten Klassizismus
wurde in den sechziger und den beginnenden siebziger
Jahren Bresche geschlagen und zwar durch direkten
Kunstimport aus Deutschland und Frankreich. Der
deutsche Bildhauer J. E. Böhm, einer der ersten
Künstler, die sich, besonders im Bildnis, wieder einem
frischeren Realismus zugewandt hatten, liess sich 1862
in England nieder und lebte hier als gefeierter und
vielbeschäftigter Bildhauer bis zu seinem 1890 er¬
Abb. 2. Ikarus
Bronzefigiir von Alfred Gilbert
folgten Tode. Von noch grösserem erzieherischen
Einfluss wie er wurde der (vor kurzem verstorbene)
französische Bildhauer Dalou, weil er sich ganz dem
Unterrichte widmete und so das Mittel in der Hand
hatte, den Samen einer neuen Kunstauffassung in die
Brust der studierenden Jugend zu streuen. Bei Aus¬
bruch der Commune 1870 nach England flüchtend
wurde Dalou hier freundlich aufgenommen und als
Lehrer an die Southkensingtonschule berufen. Er ge¬
staltete dort den Bildhauerunterricht binnen wenigen
Jahren vollkommen um. Als er dann in sein Vater¬
land zurückkehrte, sandte er einen jungen Stellver¬
treter, den jetzt noch an der Southkensingtonschule
thätigen E. Lanteri. Mit Böhm’s und Dalou’s Auf¬
treten beginnt ein neues Zeitalter in der englischen
Bildhauerei. Naturstudium, flotte Behandlung, Be¬
wegung wurden die leitenden Gesichtspunkte gegen¬
über der glatten steifen Art von früher. Böhm, Dalou
und Lanteri sind die Begründer des modernen Ele¬
ments in der englischen Bildhauerei.
Will man dieses charakterisieren, so ist zunächst zu
bemerken, dass der Realismus trotz allem merkwürdig
wenig Wurzel geschlagen hat. Es sind nur wenige Ver¬
treter vorhanden, die ihm huldigen oder eine Zeitlang
gehuldigt haben. Alfred Gilbert, Onslow Ford, Ros-
coe Mullins, Konrad Dressier, der schon als Maler
genannte John M. Swan und andere, die mehr oder
weniger realistische Auffassung verraten, würde man
deshalb doch kaum als Realisten bezeichnen. Da¬
gegen hat sich eine andere Bewegung Geltung ver¬
schafft, die man wohl als das typisch Englische in
der heutigen Bildhauerei ansprechen kann, und die
daher unsere besondere Beachtung verdient. Es ist
eine dem Neupräraffaelismus parallel laufende, deko¬
rativ plastische Schule, der sich jetzt die besten jün¬
geren Kräfte zugewendet haben. Sie hat ihren Ur¬
sprung zum Teil im Kunstgewerbe und streift
das letztere Gebiet vielfach, sogar oft in nicht unbe¬
denklicher Weise. Ein Kultus der dekorativen Linie,
die Verwendung mannigfaltiger Materialien, wie ver¬
schiedener Metalle, Schmelz, Elfenbein, bunten Steinen
u. s. w. ist das Bezeichnende dieser Schule, im Stoff
huldigt sie einem gewissen Romantizismus, mit Vor¬
liebe dem präraffaelitischen Sagenkreis entnommen.
Neben dieser dekorativen Schule blüht der alte Klassi¬
zismus noch bei einigen Vertretern weiter, wenn auch
in etwas modernisierter Form. Gänzlich abwesend
sind moderne Bestrebungen in der Art der Kunst
Meunier’s oder van der Stappen’s, auch die auf
grossen massigen Zuschnitt ausgehenden modernen
Bestrebungen, wie wir sie hier und da auf dem Kon¬
tinent hervortreten sehen, sind unbekannt in England.
Die heutige Lage würde sich daher vielleicht dahin
bestimmen lassen, dass neben den Ausläufern des
Klassizismus die neupräraffaelitische Schule in Eng¬
land die herrschende ist. Die letztere geht jedoch zu
allermeist auf intimere, kleinere Wirkungen aus und
lässt das eigentlichste Gebiet der Skulptur, das Mo¬
numentale, im grossen und ganzen unbeackert.
Es ist für diese Schule bezeichnend, dass fast alle
ihre jüngeren Vertreter aus den Kunstgewerbeschulen
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
75
hervorgingen, oder vielmehr aus jenen, eine Verbin¬
dung von Kunst- und Kunstgewerbeunterricht reprä¬
sentierenden Schulen, die unter dem Einflüsse des
Southkensington - Museums entstanden und jetzt über
ganz England verbreitet sind. Eine dieser Schulen,
nämlich die dem City and Guilds of London Institute
angehörende südlondoner Kunstschule in Lambeth
wurde die Geburtsstätte für fast sämtliche jüngeren
bildhauerischen Talente Englands, dort waren Kunst¬
klassen für Handwerker eingerichtet worden und Da-
lou hielt in der ersten Zeit des Bestehens der Schule
die Aktklassen ab. Aus ihr gingen hervor Alfred
Gilbert, G. J. Frampton, Goscombe John, F. W. Po-
meroy, Harry Bates, Charles Allen, W. R. Colton,
Roscoe Mullins und viele andere bekannle Vertreter
der heutigen englischen Skulptur. Die obigen Namen
würden eigentlich allein schon fast genügen, ein zu¬
treffendes Bild der heutigen Bildhauerei zu geben.
Von den die ältere Schule vertretenden
Bildhauern wären nur die beiden Aka¬
demiker Thomas Brock und W. Hamo
Thornycroft der Liste zuzufügen, von
der mittleren der direkte Schüler Dalou’s
Alfred Drury und der Ende igoi ver¬
storbene Schüler Wagmüller’s in Mün¬
chen Onslow Ford, von der jüngeren
der aus dem Schosse der Akademie
hervorgegangene sehr begabte W. Rey¬
nolds-Stephens, der aber durchaus in
das Lager der oben genannten prä-
raffaelitischen Künstler gehört.
Worin sich demgemäss fast alle
englischen Bildhauer der Gegenwart
von den Bildhauern anderer Länder
unterscheiden, ist ihre enge Verbindung
mit dem Kunstgewerbe und der Archi¬
tektur, die sich einmal darin äussert,
dass sie alle im stände sind, die rich¬
tige architektoniche Fassung, wie
Sockel, Basis oder Rahmen für ihre
Werke selbst zu schaffen, dann aber
auch darin, dass unter allen Umständen
eine dekorative Linie ihre Komposi¬
tionen beherrscht. Es ist bemerkens¬
wert, dass namentlich in ersterer Be¬
ziehung eine Eigenschaft festgehalten
ist, die z. B. die Renaissancebildhauer
als Selbstverständlichkeit besassen (auch
sie entstammten ja meist dem Kunst¬
gewerbe), die aber dem heutigen kon¬
tinentalen Bildhauer ganz aus dem Ge¬
sichtskreis entschwunden ist. Denn
unsere Bildhauer pflegen absolut ratlos
dazustehen, wenn es sich um einen
Sockel oder irgend einen architek¬
tonischen oder ornamentalen Bestand¬
teil handelt. Eine fernere, aus dem
kunstgewerblichen Ursprung abzulei¬
tende Eigentümlichkeit der neueren
englischen Bildhauerschule ist die
schon erwähnte Vorliebe für das far¬
bige Element, ausgedrückt in der Wahl verschie¬
dener Materialien, vor allem verschiedener Metalle.
Eine Abneigung gegen Marmor hat sich mehr
und mehr Geltung verschafft. Man bevorzugt den
Bronzeguss. Aber man bereichert diesen durch ver¬
schiedene Behandlung der Einzelteile, durch angesetzte
Schmuckteile in geschmiedeter Arbeit, in Schmelz
oder Steinen, man führt Elfenbein, Perlmutter, bunten
Marmor und andere abwechselungsreichen Stoffe für
Einzelteile ein. Das Relief behandelt man, wie schon
früher hervorgehoben, farbig und hat hierfür eine
eigene, höchst wirkungsvolle Bemalungsart entwickelt.
Alle diese Bereicherungen der Skulptur, von denen
man in unrichtigen Händen leicht banale Ergebnisse
erwarten könnte, werden mit gutem Geschmack
gehandhabt und halten sich stets im Rahmen einer
geschlossenen und unaufdringlichen künstlerischen
Wirkung.
Das Alter der Unschuld. Mannorbüstc von Alfred Drury
(Mil Erlniibiüs des Künstlers)
76
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Das UrdiensU Hese Materialvielseitigkeit in die
-" ■.-llsvl; Bik’.l rei eingeführt zu haben, wird Alfred
./eii. -3j4) zugeschrieben, einem Künstler,
ler ; - vrkei üiiL an der Spitze der modernen
-• -.r ßi'- ■ = genannt werden muss, und der
■’ ■ als Lehrer an der Akademie-
1: ucii ■•■"•osien Einfluss auf diese ausgeübt
dann durch die Ecole des Beaux-Arts, worauf er
jahrelang in Rom lebte. Die Southkensington-
schule hinterliess in seiner Kunst wohl das deko¬
rative Element, die französische seine flotte Auf¬
fassung und die Schule Boehm’s seine realistischen
Beimischungen, ln Bezug auf die beiden letzten Punkte
berühren seine Werke inmitten ihrer englischen Um-
Abb. 4. »Oliicklich in Schönheit, Leben und Liebe<-<
Relief von W. Reynolds- Stephens
(Mit Erlaubnis des Künstlers, Besitzers des Vervielfiiltignngsreehtes)
hat. Die jüngeren aus der südlondoner Kunstschule
(der er selbst entstammt) kommenden Bildhauer haben
fast alle unter seiner Lehrerschaft ihre endgültige Aus¬
bildung erhalten. Gilbert kommt aus einer Musiker¬
familie und ist eine der ausgesprochensten Künstler¬
naturen, die England heute besitzt. Er fand seine
Hauptausbildung in der Southkensingtonschule unter
Lanteri, arbeitete später unter Boehm und ging
gebung mit besonderer Frische. Am bekanntesten
sind von Gilbert ein Denkmal der Königin Viktoria
in Winchester, in welchem die Herrscherin sitzend
dargestellt ist vor einem kunstgewerblich reich aus¬
gebildeten Hintergründe, ferner sein sehr eigenartiges,
an gotische Kleinkunst erinnerndes Denkmal für Henry
Fawcett in der Westminsterabtei und der eherne
Brunnen in Piccadilly Circus. Der letztere ist aller-
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
77
dings kaum geeignet, zu einer genügenden Würdigung
des Künstlers zu veranlassen. Dass er etwas ver¬
unglückt aussieht, hat aber wohl seinen Grund darin,
dass sich die reiche Stadt London nicht in der Lage
sieht, das Wasser der Fontäne laufen zu lassen, dessen
Linie (man hat wahrscheinlich nie Gelegenheit es
zu beurteilen), für die richtige
Wirkung des Ganzen unerlässlich
ist. Neben diesen Hauptwerken
hat der Meister eine ganze Reihe
prächtiger kleinerer Werke ge¬
schaffen. Seinen Ruf begründete
er mit der Bronzefigur Ikarus
(Abb. 2). Zu seinen besten Lei¬
stungen gehört ferner der Studien¬
kopf eines alten Mannes (Abb. 1 4).
Auch viele kleinere Statuetten,
die alle durch ihre prächtige
Beobachtung und meisterhafte
Fassung fesseln, hat er geschaf¬
fen (Abbildung 8). In der Leich¬
tigkeit, mit welcher er irgend
eine künstlerische Konzeption
verkörpert, reicht kein anderer
englischer Bildhauer an ihn
heran. Eine besondere Stärke
von ihm liegt auch in seiner
Beherrschung des Kunstgewerb¬
lichen, die er namentlich an dem
mächtigen Tafelaufbau gezeigt
hat, den er im Aufträge der
englischen Offiziere für die Kö¬
nigin Viktoria schuf.
Neben Gilbert nimmt George
J. Frampton (geb. 1860) einen
Ehrenplatz in der englischen
Bildhauerei der Gegenwart ein.
Wie Gilbert pflegt er das farbige
Material dem Marmor zu bevor¬
zugen, wie er ist er erzieherisch
von bedeutendstem Einflüsse auf
die künstlerische Jugend Eng¬
lands, da er mit dem Architekten
Lethaby zusammen die Kunst¬
gewerbeschulen des Londoner
Grafschaftsrates leitet. Abwei¬
chend von diesem liegt ihm jedoch
das natural iatische Element ganz
und gar fern. Frampton steht
mitten in dem Lager der Vertreter
der neuen Kunstbewegung, ja
kann geradezu als einer der Führer
derselben gelten. Alle seine
Werke haben einen streng dekora¬
tiven, um nicht zu sagen architektonischen Charakter.
Er setzt seine Reliefs in Rahmen von ganz moderner
Gestaltung, die von dem historischen Rüstzeug an
Architekturformen keinen Gebrauch macht und deren
Formensprache er selbst erfunden hat. Gewisse Mo¬
tive der »neuen Kunst«, wie die dekorativ verwen¬
deten Bäumchen sind auf ihn zurückzuführen. Er
verwendet alle Materialien, Silber und andere Metalle,
Elfenbein, buntes Gestein und Schmelz. Trotz hoher
dekorativer Entwickelung seiner Werke ermangelt er
aber nicht der intimen Beobachtung des Lebens und
der gemütvollen Darstellung desselben. Davon giebt
neben manchem anderen Werke die in Abbildung 6
wiedergegebene Statue des im
jugendlichen Alter verstorbenen
Königs Eduard IV. Zeugnis, die
in einer unter der Regierung
dieses Fürsten gegründeten Schule
in Yorkshire aufgestellt werden
soll.
Unter den Künstlern, die eine
ähnliche dekorative Richtung ver¬
folgen, war der vor einigen Jahren
verstorbene Harry Bates (geb.
1850) vielleicht der bedeutendste
seiner Zeit. Er besass eine Tiefe
der Empfindung und einen be¬
rückenden Schwung der Linie,
wie wir sie nur in den besten
Malerwerken der englischen Prä¬
raffael iten antreffen. Aus der süd-
londoner Kunstschule hervorge¬
gangen , wo er für kurze Zeit
unter Dalou arbeitete, vollendete
er seine Studien an der Akademie,
ging dann im Genuss des grossen
Staatspreises auf Reisen und ar¬
beitete später auf Dalou’s Rat
unter Rodin in Paris. Trotz
aller dieser französischen Ein¬
flüsse blieb er ganz englisch, er
ist der reinste Präraffaelit unter
den englischen Bildhauern. Seine
Vorliebe ging auf antike Vor¬
würfe, die er mit unnachahm¬
licher Grazie handhabte. Allbe¬
kannt ist in dieser Beziehung
seine Relieffolge Amor und
Psyche (Abb. 1, g u. 10), die
zum Lieblingswandschmuck des
englischen Volkes geworden ist.
Durch seinen frühen Tod hat
England eines seiner glänzendsten
Talente verloren. Unter den
Lebenden folgen ihm am engsten
Charles J. Allen (geb. 1862), Th.
Stirling Lee und Albert Toft.
Ch. J. Allen ist nach einer kurzen
glänzenden Laufbahn, die eben¬
falls in der südlondoner Kunst¬
schule begann, Professor der Skulp¬
tur an der Universität Liverpool geworden (mit dieser
Universität ist eine Schule der bildenden Künste ver¬
bunden) und verfolgt die dekorative Richtung am
entschiedensten von den drei. Zu dem abgerundeten
Aufbau seiner Gruppen, den er bevorzugt, nimmt er
gern grosse Engelsschwingen zu Hilfe. Seine Werke
sind zwar zum Teil mehr süss als hehr, erwecken
Abb. 5. '^Ehre den Toten«^
Statue von E. Onslow Eord
{Mit Erlaubnis des Herrn Wolfram Otislow Ford)
78
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Abb. 6. Standbild König Eduard VI.
Von G. F. Franipton
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
Abb. j. Dekan Colct, Stifter der Paulssehnle,
London, Thonmodell. Hans Thornyeroft
(Mit Erlaubnis des Künstlers)
aber stets das unbedingte Gefallen. Th. Stirling Lee
neigt noch etwas nach der Antike hin, Albert
Toft, ein jüngerer Schüler der Soiithkensingtonschule,
vereinigt mit seiner entschieden dekorativen Linie eine
gewisse Keckheit des Ausdruckes bei realistischer
Einzeldurchbildung.
W. R. Colton, ein anderer aus der Lambethschule
hervorgegangener Bildhauer, bildet von dieser Gruppe
den Übergang nach einer mehr realistisch empfinden¬
den Schule, die ihre Hauptvertreter in Onslow Ford
und Goscombe John hat. Colton lenkte zuerst die
Aufmerksamkeit durch einen seiner Zeit vielgeprie¬
senen, inzwischen ausgeführten Brunnenentwurf für
den Hyde-Park auf sich, bestehend aus dem Oberteil
einer weiblichen Figur, welcher aus einem Sockel
herauswächst und eine Brunnenschale vor sich hält.
In der Folge hat er sich mehr naturalistischen Nei¬
gungen hingegeben und in dieser Richtung einige
vorzügliche Werke geschaffen, wie z. B. den trefflich
durchgebildeten Kopffinder«. Am deutlichsten ver¬
tritt das Modern- Realistische in der englischen Bild¬
hauerei der kurz vor dem vorletzten Jahresschluss ver¬
storbenen Onslow Ford (geb. 1852). Dieser Künst¬
ler hat für die englische Skulptur eine grosse Be¬
deutung dadurch, dass er gewisse aus dem fort¬
geschrittenen Stadium der kontinentalen Bildhauerei
abgeleitete Neuerungen am rücksichtslosesten und auch
erfolgreichsten in England vertreten hat. Er war vor
allem ein moderner Künstler und ebnete durch sein
reiches Können modernen Bestrebungen im englischen
Publikum den Boden. Er begann seine Laufbahn als
Maler und studierte als solcher erst in Antwerpen
und dann mehrere Jahre in München. Durch Wag¬
müller wurde er dort der ihm mehr zusagenden
Bildhauerei zugeführt. Er erregte seit den achtziger
Jahren in England Aufsehen durch eine Reihe rea¬
listischer weiblicher Figuren, zarte, meist erst an der
Schwelle der Weiblichkeit stehende Wesen in ver¬
schiedenen, meist ruhigen Stellungen und immer auf
höchst originell von ihm selbst entworfenen Sockeln
stehend. Am bekanntesten davon sind die jetzt in der
Tate-Gallery stehenden Werke »Leichtsinn^ und »Die
Sängerin« ferner die reizende Studie »Echo« (Abb. 12),
»Ehre den Toten« (Abb. 5) u. s. w. Er ist auch der Ur¬
heber vieler Standbilder, von denen die des auf einem
Kamel reitenden Gordon in Chatham die bekannteste
ist. Ein bedeutendes Werk von ihm ist ferner das
Grabmal des Dichters Shelley in University College
in Oxford. Der Umstand, dass Shelley seinen Tod
durch Ertrinken fand, veranlasste den Künstler, den
Dichter nackt auf einem Sarkophag liegend darzu¬
stellen, so wie er ans Land geschwemmt aufgefunden
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
79
wurde, mit einem Lorbeerkranz über das Haupt ge¬
breitet. Er Iiat damit ein grosses, ergreifendes Werk
geschaffen, das vollendet sein würde, wenn die orna¬
mentale Gestaltung des Sockels glücklicher wäre.
Onslow Eord rang stets nach
neuen Gedanken und vertrat die
englische Bildhauerei so vortreff¬
lich wie kaum ein zweiter Künst¬
ler. Sein früher Tod bedeutet,
wie der von Harry Bates, einen
grossen Verlust für die englische
Kunst.
Ihm verwandt ist W. Goscombe
John (geb. 1860), der wieder den
typischen Bildungsgang: südlon-
cloner Kunstschule, Akademie,
Paris durchmachte. Er vertritt in
seinen Werken »Johannes der Täu¬
fer«, »Spielender Knabe« u. s. w.
denselben frischen, wohlthuenden
Realismus wie Onslow Eord, hat
aber auch Werke, namentlich Re¬
liefs geschaffen, die sich ganz in
der dekorativen Linie genügen.
Dasselbe gilt von dem begabten,
in München gebildeten Roscoe
Mullins, der ebenfalls beide Ge¬
biete mit grossem Geschick pflegt
und in der ergreifenden Skulptur
'Meine Strafe ist grösser als ich
ertragen kann« ein Werk von
Bedeutung geschaffen hat.
Neben diesen Dekorativen und
Realistisch -Dekorativen sind, ab¬
gesehen von den noch zu betrach¬
tenden Klassizisten, noch einige
andere Bildhauer aufzuführen, die
man nicht wohl in eine dieser
Klassen rechnen kann. Alfred
Drury, der Lieblingsschüler Dalou’s,
den der Meister bei seiner Rückkehr
nach Frankreich mit nach Paris
nahm, machte bei seinem Wieder-
auftreten in England Aufsehen mit
seiner »Circe«, mit der er auch
auf dem Kontinent mehrere Me¬
daillen erhielt. Neuerdings hat er
sich dem Gebiet reizend-sentimen¬
taler Mädchenköpfe zugewendet
und damit grossen Erfolg erzielt.
Der erste dieser Köpfe, in Bronze
und betitelt St. Agnes, wirkte gleich
durchschlagend. Ihm folgte die jetzt
in der Tate-Galerie stehende Kin¬
derbüste Griselda, die in dem Aus¬
drucke anmutiger Unschuld noch
übertroffen wurde durch sein Meisterwerk in dieser
Beziehung: »Das Alter der Unschuld« (Abb. 3), ein
reizendes Büstchen von sprechendstem, anmutigstem
Kinderausdruck. Es ist nicht zu verwundern, dass der
Erfolg sehr gross war. Allerdings ist von hier bis
Zeitsclirift für bildende Knn';l. N. F. XIV. II. 4
ZU jener Süssigkeit, die dem Empfinden der Massen
schmeichelt, kein allzuweiter Schritt mehr, wenn sich
auch ein Künstler wie Drury hüten wird, diesen
Schritt zu thun. — Etwas von diesem Süssen findet
sich aber bei dem fruchtbaren
Bildhauer Luchesi (dem Sohne eines
italienischen in England lebenden
Vaters und einer englischen Mut¬
ter), der in seinen Werken, bei
technisch tüchtigem Können, die
echtere künstlerische Auffassung
leicht dem Bestreben opfert, der
Menge zu gefallen.
Die heutigen Klassizisten in
England, diejenigen Bildhauer, die
noch mehr oder weniger an der
alten Tradition festhalten, können
dennoch nicht mit den Klassizisten
alten Stils verglichen werden, weil
die Macht der Gegenwart in ihrem
Schaffen von selbst Veränderungen
mit sich gebracht hat, die eine
Beimischung von Modernität im
Gefolge gehabt haben. Dazu
kommt, dass sie in ihren^ Führern
Thornycroft und Brock sehr gut
vertreten sind. In Lord Leighton’s
Skulpturen, von denen drei in der
Tate-Galerie aufgestellt sind, liegt
noch viel Konvention und Steifig¬
keit, obgleich sie kräftiges Gestal¬
ten zeigen und im allgemeinen
überhaupt Leighton als Künstler
besser vertreten, als dies seine süss¬
pathetisch - sentimentalen Gemälde
thun. Auch Thornycroft’s (geb.
1850) Frühwerke muten mit¬
unter etwas hart an. Sein be¬
rühmter in der Tate-Galerie stehen¬
der »Bogenschütze« sieht mit
seinen heraustretenden Muskel¬
massen wie zu anatomischen Lehr¬
zwecken angeferligt aus. Aber in
seinen Standbildern erhebt er sich
zu grosser Freiheit und Wucht
der Behandlung, gepaart mit guter
Beobachtung und lebenswahrer
Darstellung. Seinen vor dem Par¬
lamentshaus stehenden »Cromwell
(Abb. 11) muss man als eins der
besten Standbilder Englands be¬
zeichnen. Und in seiner für
die Paulsschule in Hammersmith
gefertigten Gruppe des Dekan
Colet mit zwei Schülern hat er
ein ungemein fein abgestimmtes
und sprechend eindruckvolles Kunstwerk geschaffen
(Abbildung 7 giebt die Ansicht des Entwurfsmodells).
Zu grosser Berühmtheit ist ferner der Figurenfries
gelangt, den er für die Front des Instituts der
vereidigten Bücherrevisoren in der City von London
Abb. 8. Ein Opfer an Eiymen,
Statuette von Alfred Gilbert
8o
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Abb. g. Linkes Scifensfück der Komposition Amor
und Psyche. Thonrelicf von Harry Baies
(Mit Erlauhnis von F. Hollyer, London)
geschaffen hat. Hier sind ideale und der Wirklich¬
keit entnommene Figuren in trefflicher Anordnung
zu einem Friese von grosser Schönheit vereinigt. Ein
Werk von strotzender Kraft und trefflichem Charakter
ist ferner sein Standbild Eduard’s L, für dessen Auf¬
stellung man aber, wie es scheint, bisher noch keinen
Platz gefunden hat. Es ist merkwürdig, dass Thorny-
croft einige Arbeiterfiguren in der Art Meunier’s ver¬
sucht hat. Aber sie muten merkwürdig fremd an,
und dieser einzige englische Versuch, die Darstellung
der Arbeit in den Bereich der Kunst zn ziehen, eine
Aufgabe, die der belgische Meister so trefflich gelöst
hat, muss wohl als gescheitert betrachtet werden.
Diese Arbeiter sind ebensowenig Arbeiter, wie die
Bauern Fred Walker’s Bauern sind.
Thomas Brock, dessen Name seit einem Jahre in
aller Munde ist, weil er mit der Ausführung des Mo¬
numentes der Königin Viktoria vor dem Buckingham-
Palast betraut worden ist, hat sich bisher als tüchtiger
Porträtist und Schöpfer vieler Statuen, auch solcher
der Königin Viktoria (z. B. der tüchtigen Arbeit in
Hove bei Brighton) bekannt gemacht, ln seinen Ideal¬
werken, wie dem .^^Genius der Poesie« und der in
der Tate- Galerie stehenden »Eva«, huldigt er einem
etwas modernisierten Klassizismus, mit weicher, feiner
Oberflächenbehandlung und in ziemlich konventioneller
Stellung. Man muss Brock wohl in seinem beson¬
deren Fahrwasser als tüchtigen Bildhauer bezeichnen,
der sich auch mit der ihm gestellten Aufgabe’ des
Denkmals der Königin Viktoria in London auf seine
Weise abfinden wird. Freilich enttäuschte das bis
jetzt gezeigte kleine Modell des Monumentes zunächst
durch seine mangelhafte Umrisslinie und den kon¬
ventionellen uninteressanten Aufbau. In dieser Be¬
ziehung gerade wären in England andere Künstler
weit berufener gewesen wie er, da ihm die dekora¬
tive Auffassung — die Stärke der heutigen englischen
Bildhauerei - abzugehen scheint.
Aus der Schule des Klassizismus sind ferner noch
zu nennen F. W. Pomeroy, der Lambethschule ent¬
stammend, aber dann einige Zeit unter Leighton ar¬
beitend, A. G. Walker, ferner der direkte Schüler
Thornycroft’s Henry A. Pegram und der Schüler
Brock’s Henry C. Fehr. Die Werke dieser Künstler
interessieren nicht in erster Linie, wenn man von eng¬
lischer Skulptur redet, sie haben sich aber stets der
besonderen Vorliebe der Akademie erfreut und eine
Anzahl derselben ist in der Tate-Galerie zu sehen.
Unter den jüngsten Bildhauern war es in letzter
Zeit Derwent Wood, der allgemein grosse Hoff¬
nungen erregte. Sehr gewandt und leicht schaffend
dazu, setzte er durch manches seiner bisher gezeigten
Werke in Erstaunen. Trotzdem fand man fast immer
bekannte Anklänge heraus — an Gilbert, Rodin,
Stevens, Flaxman und andere — und es schien dem
Künstler bei aller Geschicklichkeit schwer zu werden,
seine eigenen Wege zu finden. Seine letzten Werke,
unter denen sich ein Wand -Grabdenkmal von be¬
deutenden Maassen befindet, gehen wieder ganz auf
Flaxman’s Auffassung der Antike zurück. — Ein an¬
derer junger Künstler, Gilbert Bayes, erregte in den
letzten Jahren Aufsehen durch seine Reliefs antiker
Sujets, die eine ganz neue Auffassung verrieten. In
einfachstem Aufbau und in einer herb-dekorativen
Weise gehalten, zeigen diese Reliefs, wie sich auch
alte und allbekannte Vorwürfe in neuem Lichte be¬
handeln lassen. Auch in anderen Werken, Gruppen
lind Statuetten, fesselt der Künstler durch seine Kraft
und Eigenart. Vielversprechend unter der jüngsten
Generation lässt sich ferner F. M. Taubman an.
Schottland ist arm an Bildhauern einer modernen
Richtung. Glasgow, die Geburtsstadt der modernen
schottischen Kunst, ist noch nicht zur Skulptur er¬
wacht. Und in Edinburg, der alten Hochburg des
schottischen Klassizismus, regt sich noch wenig neues
Leben. Der Akademiker William Brodie wirkte hier
lange Zeit führend in der klassizistischen Richtung,
die auch jetzt noch die herrschende ist. Aus seiner
Schule gingen die beiden Brüder D. W. Stevenson
und W. G. Stevenson hervor, die heute für die Edin-
burger Skulptur typische Erscheinungen sind. In
ihren Idealwerken noch in klassizistischen Bahnen
gehend, berühren sie uns doch in ihren zahl¬
reichen Porträtbüsten und Standbildern in einem
frischeren Geiste und zeigen sich hier als Meister der
Situation. W. Birnie Rhind hat sich namentlich durch
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
8i
die Skulpturen an dem Gebäude der schottischen
Porträtgalerie bekannt gemacht. Wenn man den von
schottischen Eltern in Australien geborenen, jetzt in
London wohnenden Bertram Mackennal (geb. 1865)
als Schotten auffassen soll, so haben wir hier einen
sehr geschickten Bildhauer vor uns, der sich modernere
Grundsätze in Bezug auf das Dekorative und das
Realistische zu eigen gemacht hat. Aber auch einer
der in Schottland lebenden schottischen Bildhauer,
J. Pittendrigh Macgillivray, hat sich aus den Fesseln
des Klassizismus befreit und einer freieren realistischen
Auffassung zugewendet. Seine Burns-Statue in Irvine
wird allgemein als das beste der zahlreichen diesem
Volksdichter errichteten Standbilder anerkannt, auch
zeigt er grosse dekorative Fähigkeiten bei flotter,
kraftvoller Behandlung. Er gehört seiner ganzen In¬
dividualität nach zu den Künstlern der Glasgow-
Schule und ist wohl der einzige wirklich moderne
Bildhauer von grösserer Bedeutung, der in Schottland
zu finden ist.
Mit Vorbedacht ist einer der interessantesten der
jüngeren englischen Bildhauer, W. Reynolds-Stephens,
in dem bisherigen Zusammenhänge nicht genannt
worden. Ihm scheint eine Sonderstellung zu ge¬
bühren, denn obgleich er rein bildhauerisch auf
grosser Höhe steht, ist die Einzeldurchbildung seiner
Werke doch technisch - handwerklich so interessant,
dass man ihn einen Goldschmied oder irgendwie
einen Kleinmeister nennen möchte. Er führt das von
Gilbert eingeführte Prinzip der verschiedenen Werk¬
stoffe in weitgehendster Weise durch. Und nicht
nur das, er pflegt alle nur denkbaren Werk¬
techniken an demselben Werke zu vereinigen. Ein
Ritter trägt eine Rüstung, an der die Hauptteile
richtig geschmiedet und der Figur aufgesetzt sind.
Das Stoffmuster eines Kleides ist zum Teil aufgeätzt
und mit bunten Steinen oder Schmelz verziert, Schmuck
und Ketten sind als getrennte Teile angehängt. Die
Fleischteile sind in Holz oder Elfenbein gebildet, an
Metallen ist alles herangezogen, was man sich nur
denken kann. Die Wirkung wird dadurch sehr reich
und mannigfaltig. Aber doch ist das Triviale ver¬
mieden, und weit davon entfernt, künstlerisch zu stö¬
ren, verleiht die Mannigfaltigkeit an kleinkünstlerischem
Beiwerk den Skulpturen nur noch ein erhöhtes tech¬
nisches Interesse. Von Reynolds-Stephens’ Werken
ist das Relief »Jugend« (Abb. 4) vielleicht das lieb¬
reizendste, die Statuette Guinevere« (Abb. 13) diejenige,
welche die mannigfaltigsten Werktechniken zeigt.
Von Reynolds- Stephens ist nur ein kleiner Schritt
zu der zahlreichen Gemeinschaft der englischen Klein¬
künstler in Metall und allen anderen Materialien.
Alexander Fisher, der Meister in Silberwerk und
Schmelzarbeit, Nelson Dawson, der jene reizenden
Stahlkassetten mit allerhand Email- und Edelmetall¬
arbeit fertigt, reihen sich ihm direkt an. Damit be¬
treten wir das kunstgewerbliche Gebiet, dasjenige, auf
dem England eines Tages als Prophet auftrat und
dem noch in stilistischen und stilreproduzierenden Ban¬
den befangenen Festlande den Blick in das Wunder¬
land einer neuen Kunstentfaltung auf durchaus mo¬
derner Grundlage eröffnete. Auf dieses weite Gebiet
näher einzugehen, ist hier nicht der Ort und augen¬
blicklich auch kaum der geeignete Zeitpunkt. Denn
wir selbst sind jetzt so stark in diese aus England
herangerollt gekommene Bewegung verwickelt, dass
uns die Ruhe für eine objektive Betrachtung der eng¬
lischen Leistungen zu fehlen scheint, die heute von
uns nicht ganz ohne Parteilichkeit beurteilt zu werden
pflegen. Wir befinden uns in der Lage des Schülers,
der seinen Lehrmeister überwunden zu haben glaubt.
Ausserdem sprechen gewisse elementare Geschmacks¬
neigungen, die uns im Gegensatz zu dem mehr das
Nüchterne bevorzugenden Engländer das Vollere, Phan¬
tastischere, reicher Geschmückte bewundern lassen,
jetzt gegen die englische schmückende Kunst.
Das alles kann aber an der Thatsache nichts ändern,
dass England gerade auf diesem Gebiete durch die
erste Entwickelung der neuen Ideen eine künstlerische
That geleistet hat, die sich in die Reihe der ersten
künstlerischen Thaten der Geschichte stellt. England,
das kunstlose Land, wurde hier der Wegführer in
eine neue Welt. Und wie es in der Regel zu be¬
obachten ist, die neue künstlerische Strömung, die
hier entsprang, zog alles mit sich, was sich Kunst
nannte, sie formte die Kunst in ihrer gesamten Aus¬
dehnung nach dem Ideal um, das sie verfolgte.
Abb. 10. Rechtes Seitenstiiek der Komposition Amor
und Psyche. Thonrclief von Harry Bates
(Mit Erlanbnis von F. Hollycr, London)
82
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Malerei, Handwerk, Wohnuiigskiinst, Skulptur, Archi¬
tektur, Illustration, alles lenkte in die Bahnen des
Präraffael ism US ein. Selbst die Litteratur schwang
mit, die Bühnenkunst wurde umgestaltet (man denke
an die von England kommende Reform, die allein im
Ballettanzug stattgefimden liat, wo das schöne faltige
Gewand die zur Karikatur gewordenen abstehenden
Gazeröckchen verdrängte), der Anzug der Erauen
selbständig gemacht, die ganze Umwelt des Menschen
Landes (sie sind alle eine Mischung von beiden), wo
man sich der vollständigen Einheitlichkeit des eng¬
lischen Kunststrebens bewusst wird: in der Malerei
läuft alles auf die dekorative Figurenkomposition, den
Kultus der schönen Linie hinaus, die Skulptur ver¬
folgt dasselbe Ziel im plastischen Sinne, alle Klein¬
künste treffen sich in dem Bestreben der auf neuer
Entwickelung beruhenden dekorativen Linie mit Zu¬
grundelegung der stilisierten Pflanze. Über die Rich-
Ab. 11. Cromwell-Standbild vor der Wcstininstcrhalle, London
Von Hanw Thornycroft
formal veredelt. Die Hochflut der allgemein - ästhe¬
tischen Tendenzen fand in England in den achtziger
Jahren statt. Inzwischen ist es äusserlich zwar ruhiger
geworden, aber die Werte, die damals gebildet worden
sind, dauern weiter trotz alles Wiedereindringens
des Trivialen in das rasch dahinfliessende Leben. Wie
lebenskräftig sie noch vorhanden sind und wie ein¬
heitlich man noch in ihnen denkt, das zeigt am besten
ein Gang durch eine der vielen, zum Teil vorzüg¬
lichen Kunst- oder vielmehr Kunstgewerbeschulen des
tigkeit dieser künstlerischen Ziele ist hier niemand auch
nur einen Augenblick im Zweifel, im Gegenteil, jeder¬
mann tritt fanatisch für sie ein. Man hat den Ein¬
druck einer vollständig einheitlichen Kunstrichtung,
die hier gepflegt wird, im gewissen Sinne einer echt
nationalen Kunst.
Was nun aber das kunstgewerbliche Gebiet im
besondern betrifft, so darf eins nicht vergessen wer¬
den hinzuzufügen: Die formale Seite tritt in den
Hintergrund vor der technischen, konstruktiven und
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
83
sachlichen. Von Anbeginn hat man daran festge¬
halten, gesund zu konstruieren, materialgerecht zu ge¬
stalten, die Eorm auf der Basis des praktischen Zweckes
und der Eigentümlichkeit des Werkstoffes zu ent¬
wickeln. Mit eiserner Willens¬
stärke verfolgt man die Grund¬
sätze auch heute noch. Sie siml
ein Erbteil der langen neugotischen
Schulung, die England im ig.
Jahrhundert durchgemacht hat, der
Niederschlag der langen mittel¬
alterlichen Begeisterung, die hier
obwaltete, ein Kind also des
Romantizismus. Es sei hier gleich
eingeschaltet, dass der etwas nüch¬
terne, steife, phantasielose Cha¬
rakter, den man neuerdings auf
dem Kontinente an englischen
kunstgewerblichen Erzeugnissen
zu finden pflegt, zumeist seine
Erklärung in der strengen Auf¬
rechterhaltung der erwähnten
Grundsätze hat, wobei jedoch
nicht zu vergessen ist, dass unsere
augenblickliche, namentlich die
unter dem belgischen Zeichen
stehende Kunstmode in der Ver¬
wischung des Werkmässigen und
Materialgerechten, in der Über¬
flutung der technischenGrundsätze
durch phantastisches Einienwerk
das Menschenmögliche leistet und
unser Auge bis zu einem ge¬
wissen Grade verdorben hat.
Aus diesem Unterschiede, dem
strengen Einhalten des Konstruk¬
tiven in der englischen und dem
Überwalten des Phantastischen
in der neuen kontinentalen Kunst
hat sich andererseits auch in Eng¬
land ein gewisses Gegensatzgefühl
gegen den Kontinent entwickelt.
Man hält die dortige sogenannte
neue Kunst mit kurzen Worten
für eine Verirrung. Und als ein
reicher Enthusiast vor zwei Jahren
eine auf der Pariser Weltausstel-
lungzusammengestellteSammlung
neuer kontinentaler Möbel dem
Southkensington - Museum ge¬
schenkt und dieses die Sammlung
in seinen Räumen ausgestellt hatte,
erhob sich ein allgemeiner Protest
aus den Reihen der Vertreter der
englischen neuen Richtung gegen
die Ausstellung dieser als die sclilechtesten tekto¬
nischen Tendenzen verkörpernden Dinge. Man mag
über diesen Protest urteilen wie man will, es ist
lehrreich, den entstandenen Gegensatz in der Auf¬
fassung von hüben und drüben zu beobachten.
Das Festhalten an dem Werkmässigen, Konstruk¬
tiven, Materialgemässen, kurz den sachlichen Gesichts¬
punkten im Kimstgewerbe hat sich in letzter Zeit
noch verschärft, die Meinung noch verdichtet, dass
diese Gesichtspunkte und nicht formale die Grund¬
lage des Gestaltens sein müssten.
Das prägt sich am klarsten aus in
der jetzt vor sich gehenden Um¬
gestaltung des englischen kunst¬
gewerblichen Unterrichts nach der
Seite des Werkstättenunterrichts
hin. Die erste vollkommene
Verwirklichung des Werkstätten¬
gedankens geschah vor einer
Reihe von Jahren in der Haupt-
kunstgewerbeschule des Londoner
Grafschaftsrates, welche der Ar¬
chitekt Lethaby in Gemeinschaft
mit dem Bildhauer Frampton ein¬
gerichtet hatte. Die Schule ging
davon aus, dass jeder kunst¬
gewerbliche Zeichner im stände
sein müsse, die Technik, für die
er zeichne, zu beherrschen, das
Ding, dass er entwerfe, selbst aus¬
zuführen. Nur hierin glaubte man
das Mittel finden zu können, die¬
jenigen Grenzen, welche Material
und Konstruktion für jeden Ent¬
wurf ziehen, dem Entwerfer stets
im Bewusstsein zu halten. Die
Einrichtung geschah damals im
Gegensatz zu dem Lehrgänge
der SoLithkensingtonschulen, die
noch das alte System des lediglich
auf dem Papiere entwickelten
Entwurfes pflegten. Neuerdings
sind nun aber auch die letzteren
vollständig eingeschwenkt, die
Hauptschule in Southkensington
hat nicht nur den Gedanken des
Werkstättenunterrichts, sondern
für seine Verwirklichung dieselben
Künstler übernommen, die den
Gedanken an derGrafschaftsschule
so erfolgreich durchgeführt haben.
Damit ist aber für alle Kunst¬
gewerbeschulen das Signal gege¬
ben, ebenfalls in dieselben Bahnen
einzuschwenken, was innerhalb
kurzer Frist geschehen sein wird.
In dieser Betonung des Sach¬
lichen gegenüber dem Formalen ist
in England ein Bollwerk errichtet
gegen das Überwuchern des rein
ornamentalen und phantastischen
Elements, dem die technischen Künste immer zu ver¬
fallen drohen, wenn sie den Boden des rein Handwerks-
mässigen verlassen. Hier ist gleichzeitig ein Gewicht
geschaffen, das die Fortentwicklung im Gravitations¬
centrum aller Pendelschwingungen derMode halten wird
und ruhige, sachliche Weiterentwicklung gewährleistet.
Abb. 12. Echo«. Von E. Onslow Eord
(/Mit Erlimbnis des Herrn Wolfram (Inslow Ford)
84
KUNST UND LEBEN IN ENGLAND
Um so mehr lässt man aber der phantastischen
Linie in denjenigen Künsten freien Lauf, die nichts
mit der Technik und der Tektonik zu thun liaben, der
Malerei, der Skulptur und der Illustration. Hier giebt
man mehr, als die blosse Beobachtung der Wirklichkeit
gebietet, hier strebt man
unbedingt die schvvungvolle
Linie und höliere stiiisitische
Werte an. Und in wunder¬
voller Kraft lebt Iner die
Tradition des Präraffaciismus
auch heute noch weiter.
Die Akademiekunst mag ihre
eigenen langweiligen Wege
gehen, die Schotten mögen
ihre impressionistischen Ziele verfolgen, sucht man aus
der schwebenden Allgemeinheit das Charakteristische
der modernen englischen Kunst zu erfassen, so ist es
das Präraffaelitische. Und heute noch tönt uns der In¬
begriff alles Wesentlichen, das England zu der grossen
künstlerischen Fortentwicke¬
lung der modernen Welt
beigetragen hat , aus dem
Namen des Mannes entgegen,
der vor fünfzig Jahren den
Samen dieser Kunst in die
englische Seele zu streuen
begann, des Mannes, dem
England seine moderne Kunst
verdankt: Rossetti’s.
Abb. 13. Onüicvcre und das Nesthäkchen
Bronzefignr mit Silber-, Elfenbein-, Perlmutter- und
anderer Verzierung von W. Reynolds-Stephens
(Mit Erlaubnis des Künstlers, Besitzers des Veirielfältigiingsreelites)
CAREL FABRITIUS ODER PIETER DE HOOCH?
Der Zuschreibung der »Wache« in der Galleria
Nazionale zu Rom an Carel Fabritius, die
Sigurd Müller vor kurzem an dieser Stelle
(S. 44 f.) mit grösster Bestimmtheit ausgesprochen
hat, kann ich in keiner Weise beistimmen und möchte
ihr umsomehr widersprechen, als durch ähnliche Zu¬
weisungen das noch unbestimmte Bild des Künstlers,
für den bisher nur ganz wenige Gemälde gesichert
sind, wieder ins Nebelhafte verschwimmen würde. Die
alte Benennung des mit der Galleria Torlonia in
die Gail. Nazionale überführten Bildes als ein Werk
des Pieter de Hooch, dem ich es auch in der letzten
Auflage des Cicerone zugeschrieben habe, ist meines
Erachtens durchaus zutreffend, wenn auch Heir Sigurd
Müller bezweifelt, dass es »irgend einen Kenner hol¬
ländischer Kabinettskunst als solches anmuten könne«.
Der branstige Ton des Bildes, das starke Helldunkel,
das kräftige Rot als Hauptfarbe des Bildes wären
ebenso ungewöhnlich für Carel Fabritius wie die
schwache Zeichnung und ziemlich flüchtige Behand¬
lung. Der Künstler ist in seinen beglaubigten Bildern,
besonders in der »Wache« der Schweriner Galerie,
klar und ziemlich hell und fast graulich im Ton,
sicher und korrekt in der Zeichnung. Alle jene
oben angegebenen Eigenschaften des römischen
Bildes sind dagegen charakteristisch für die Jugend¬
werke des Pieter de Hooch, die bisher freilich noch
kaum beachtet worden sind. Ein Bild der Art be¬
findet sich zufällig gerade in einer anderen römischen
Galerie, in der Galerie Borghese, eine Wachtstube
von reicher kräftiger Färbung mit starkem Rot und
Gelb und flüchtig, aber sehr flott gemalten schlanken
Figuren. Ein bezeichnetes Bild im gleichen Charakter
und mit ähnlichem Motiv sah ich vor Jahren im
Londoner Kunsthandel ; ein zweites, ganz verwandtes
ist, soviel ich weiss, inzwischen in die National¬
galerie zu Dublin gekommen; schon etwas vor¬
geschrittener und abweichend im Motiv ist ein Bild
der Eremitage (Kat. Nr. 943). In diesen und einigen
ähnlichen Bildern erscheint der Meister noch als ein
Nachfolger der älteren holländischen Maler von
Soldatenstücken, unter deren Einfluss er wohl seine
erste Schule durchmachte. Die grosse Verwandtschaft
im Motiv mit Fabritius’ Bilde und die Delfter Türme
im Hintergründe auf dem Bilde der Galleria Nazionale,
die Herrn Sigurd Müller irre macht, lässt uns viel¬
mehr den interessanten Schluss zu, dass Pieter de
Hooch, etwa um die Zeit, als Carel Fabritius sein
Schweriner Bild malte, in Delft wohnte und dort
unter dem Einfluss des frefflichen Rembrandtschülers
und vielleicht auch von dessen Schüler Jan Vermeer
sich zu dem grossen Lichtmaler entwickelte, als der
er jetzt unter allen Sittenbildmalern am meisten ge¬
feiert wird. Hoffentlich bekommen wir über den
Künstler bald eine Monographie aus der Feder von
Dr. C. Hofstede de Groot, der seine grundlegenden
Studien dazu schon vor zehn Jahren in der Zeit¬
schrift »Oud Holland« veröffentlicht hat.
IC. BODE.
Abb. 14. Kopf eines alten Mannes
Bronze -Wachsgnss von Alfred Oilbert
(Mit F.rltnihnis des Künstlers)
DAS PORTRAT KAISER FRIEDRICH’S II.
? ; : : -riiefte dieser Zeitschrift hat uns Herr
!>r. :;ie!!ard Delbrück mit einer interessanten,
t -.Ul v. ■ --ver erreichbarer Stelle befindlichen Porträt-
liüst: bekannt gemacht. Interessant ist das Stück
besonders deshalb, weil der Verfasser durch beigefügtes
Vergleichsmaterial nachweist, dass der Kopf nicht spät¬
antik ist, sondern eins der wenigen auf uns gekom¬
menen Denkmale der jüngeren Stauferzeit darstellt.
Nicht ebenso unbedingt möchte man jedoch Herrn
Delbrück’s Einzelbestimmung des Kopfes zustimmen.
Er sucht durch ebenfalls in Abbildungen bei¬
gebrachtes Vergleichsmaterial wahrscheinlich zu machen,
dass wir darin ein Porträt Kaiser Friedrich’s II. zu sehen
haben. Leider stand dem Herrn Verfasser bei dieser
Nachforschung das wichtigste Material, die Siegel, nur
in mangelhafter Wiedergabe zur Verfügung, neben
welchen die Goldmünzen, da sie einen allgemeinen
Herrschertypns wiedergeben, und die sogenannte
Raumer-Gemme, da sie mir eine jüngere verkleinerte
Nachbildung einer — wohl verlorenen — Büste ist,
erst in zweiter Linie in Betracht kommen ^).
Indessen auch schon eine Vergleichung des Kopfes
mit Münzen und Gemme hätte zu Zweifeln an der
Identität Veranlassung geben sollen, da sowohl Münzen
wie Gemme den Kaiser glatt rasiert zeigen, während
die Büste einen Backen- und Kinnbart — ohne Schnurr¬
bart aufweist. Wenn man auch diese Nichtüberein¬
stimmung und die daraus zu ziehenden Schlüsse
i) Vergl. zum folgenden mein Buch; »Zur Geschichte
der Reichskanzlei unter den letzten Staufern« Sp. 59, 60,
sowie Tafel VII und VIII.
Königsie^rel
Friedrich's II. von 121^
leicht mit der Bemerkung beiseite schieben könnte,
dass der Kaiser eben zu der Zeit, als die Büste
gefertigt wurde, sich habe einen Bart wachsen lassen,
so ist dem doch entgegenzuhalten, dass in den vor¬
nehmen Kreisen es offenbar während des ganzen
13. Jahrhunderts Mode war, rasiert zu gehen ').
Aber welche Bedeutung man auch diesem Punkte
beizulegen geneigt ist, die Hauptsache möchte eine
eventuelle Übereinstimmung der Qesichtszüge und des
Ausdrucks sein, und hiervon geben die Siegel, soweit
sie wirklich künstlerisch durchgeführt sind, eine viel
klarere Vorstellung als Münzen und Gemme.
Ich füge, um hierüber ein Urteil zu ermöglichen,
Abbildungen der beiden hier in Betracht kommenden
Siegel bei. Das ältere, etwa 1215 oder 1216 in
Deutschland, am Niederrhein, in Köln oder Aachen
geschnittene zeigt den ganz jugendlichen Kopf des
Königs, das jüngere, etwa 1221 oder 1222 wohl in
Italien gefertigte, lässt den schon etwas gereifteren
Jüngling erkennen.
Sie bieten ein in Gesichtszügen und Gesichtsaus¬
druck wohl durchgeführtes Porträt, welches meines
Erachtens kaum eine Verwandtschaft mit dem auch
persönlicher Charakterisierung nicht entbehrenden Mar¬
morkopfe erkennen lässt. Dr. F. PHILIPP!.
1) Vergl. die Königsdarstellungen auf Siegeln bei
Heffner, die Siegel der deutschen Könige, ferner z. B.
das bekannte Grabmal Rudolf’s von Habsburg im Speyerer
Dome, das Denkmal HeinriclTs des Löwen im Dome zn
Braunscliweig u. s. w.
Kaisersiegel
Friedrich' s II. 1222
THEODOR ROCHOLL
MIT EINER FARBENTAFEL
UNTER allen Berufsarten giebt es wohl kaum
zwei andere, die in ihrem inneren Wesen so
grundverschieden sind wie die künstlerische
und die militärische. Hier als Hauptprinzip die straffe
Disziplin der Massen, das Zurücktreten des Einzelnen,
die unbedingte Unterordnung jeder eigenen Regung
unter den höheren leitenden Willen, dort im schärf¬
sten Gegensatz dazu als erstes Erfordernis die Be¬
tonung der ganzen Persönlichkeit, der freien, subjek¬
tiven Selbständigkeit, des eigenen Willens, die Ver¬
kündigung des inneren Gesetzgebers als einziger
Autorität.
Und doch finden sich beide, die so verschieden
geartet sind, auf einem gemeinschaftlichen Boden,
wodurch ihre höchsten Leistungen in eine harmo¬
nische Beziehung gebracht werden. Dieser Boden ist
das weite Gebiet der Schlachtenmalerei; werden von
ihren Vertretern die besten genannt, so wird darunter
jederzeit an sichtbarer Stelle auch der Name Theodor
Rocholl glänzen.
Was schon vorhin als das Hauptmerkmal des
künstlerischen Berufs bezeichnet wurde und was ganz
besonders dem Schlachtenmaler als hervorstechende
Charaktereigenschaft innewohnen muss, die selbstän¬
dige Eigenart einer ganzen Persönlichkeit, das findet
sich bei Rocholl in markantester Weise ausgesprochen.
Jedes seiner Werke trägt das Kennzeichen einer scharf
ausgeprägten Persönlichkeit. So wie er die Ereignisse
anschaut und wiedergiebt, hat sie noch kein anderer
gebracht. Wer seine Bilder sieht, der wird an keine
Schule, an keine Lehrer oder Vorgänger erinnert, der
muss sich sagen: so malt nur Rocholl. Er ist in der
That ein Eigener, ein Pfadfinder, der, einsam und
unbekümmert um andere, neue unausgetretene Wege zu
wandeln weiss.
Als nach dem französischen Kriege in den sieb¬
ziger Jahren die zeitgenössischen Schlachtenmaler
daran gingen, die grossen militärischen Erfolge
für ihre Darstellungen zu verwerten, da wurden
nach und nach kritische Urteile laut, dass die
Deutschen bessere Soldaten als Künstler seien; da
würden sie nun wieder von den Franzosen geschlagen;
das sei eine böse Revanche.
Allerdings, während Namen wie Neuville und
Detaille in aller Munde waren, wusste man in Deutsch¬
land ihnen keine von gleichem Klange entgegen zu
setzen. Seltsames Verhängnis! Die Besiegten, die
bei den gewaltigen Vorgängen ihre vielgepriesene
»gloire« eingebüsst hatten, sie wussten als Künstler
trotz alledem aus ihren Niederlagen Ruhmvolleres zu
gestalten wie die mit dem glänzendsten Ruhmeskranze
geschmückten Sieger.
Als Schlachtenmaler fehle den Deutschen so
behauptete man — vor allem die nötige Verve des
Angriffs, die schnelle temperamentvolle Erfassung des
stürmisch bewegten Moments. Bald aber sollte es sich
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. II. 4
zeigen, dass dieser Mangel nur ein scheinbarer war
dass jene Begabung nur noch im Schlummer lag
Wer Rocholl’s Bilder kennt, der weiss, dass sie er¬
wacht ist zu echt künstlerisch eigenwilliger Bethä-
tigung.
Es wurde Rocholl an der Wiege nicht gesungen,
dass er dereinst sich einem Berufe widmen sollte, der
zum Kriegshandwerk in so naher Beziehung steht, ln
einem Hause des Friedens, in dem Pfarrhause zu Sachsen¬
berg im Fürstentum Waldeck 1854 geboren, durfte
er den grössten Teil einer glücklichen Jugendzeit in
ungestörter Ruhe verbringen. Und auch die ersten
Proben seiner künstlerischen Begabung verrieten nichts
weniger als den zukünftigen Schlachtenmaler, der
mit keckem Griff den Augenblick des frisch pulsieren¬
den Lebens zu packen versteht.
Wer den jungen Rocholl kennen lernte, der hätte
eher vermutet, dass in ihm der deutschen Kunst ein
neuer Moritz von Schwind erstehen würde. Die
Märchenwelt mit ihrem ganzen phantastischen Zauber
der Romantik — das war das eigentliche Feld des
jugendlichen Träumers; ihm entnahm er seine ersten
Kompositionen, in denen sich schon ein ungewöhn¬
liches Talent offenbarte. Als damit sein Beruf zur
Malerei festgestellt war, besuchte er zu seiner Aus¬
bildung zunächst die Dresdner, dann die Münchner
und die Düsseldorfer Kunstakademie, um schliesslich
zu der Einsicht zu gelangen, dass doch erst in eigenem
Studium der Künstler werden könne.
Nachdem er sich zu dieser Klarheit durchgerungen,
reifte auch allmählich in ihm die andere Erkenntnis, dass
seine bisherige Arbeit, das Ergebnis seines Jugendtraumes,
nur eine harmlose Spielerei der Lehrjahre, nur eine
Vorstufe gewesen, dass er aber eigentlich zu weit
Ernsterem berufen sei. An ermutigenden Erfolgen
hatte es zwar dem Anfänger nicht gefehlt. Schon
sein erstes Bild, ein »Till Eulenspiegel«, das er 1876
in München als Pilotyschüler gemalt hatte, fand einen
Käufer und ausserdem erhielt er in jener Zeit auch
den Auftrag, ein Märchenbuch, das in Spamer’s Ver¬
lag erschien, zu illustrieren. Diesen ersten pekuniären
Erfolgen reihten sich weitere an und so gelang es
ihm wohl, sich selbständig durchzubringen. Das hätte
ihn also nicht zu veranlassen brauchen, einen anderen
Weg einzuschlagen. Es war etwas anderes, was den
strebsamen Feuergeist nicht ruhen liess.
Die Märchengestalten der Vergangenheit waren
vor einem leuchtenden Bilde der Gegenwart verblasst.
In deutschen Landen war die Zeit der Träumerei
glücklich überwunden. Das Ziel des glühenden
Sehnens war nach langem, langem Harren, nach
ernstem Mühen und Ringen erreicht und das junge
Geschlecht sah sich in eine Wirklichkeit versetzt, der
es seine volle Begeisterung entgegentragen durfte.
Auch der junge Rocholl war schon früh von einem
tiefwurzelnden Patriotismus beseelt. Sein grösstes
12
SS
THEODOR ROCHOLL
Leid war, dass er bei dem siebziger Kriegsmarsch
noch nicht erwachsen war, dass er nicht mit dabei
sein konnte, das Vaterland gegen den übermütigen
Angreifer zu verteidigen. Aber um so tieferen Ein¬
druck riefen in dem still erglühenden Herzen die
Siegesbotschaflc!' hervor und entflammten des Jüng¬
lings Brust zu jubelndem Enthusiasmus; da wurde
der schlummernde 'Ccim der kimstierischen Schaffens¬
kraft in dem Aufwallen der helllodernden Vaterlands¬
liebe zu sprosseniiem Leben erweckt.
In Iiarmoiiiscliem Einklang traf dieser tiefinner¬
liche Vorgang mit den gewaltigen äusseren Ereig¬
nissen zusammen, in dem deutschen Märchenwald
war Dornröschen-Germania, die herrliche, die so lange
unter Dornenhecken schlummern musste, zum freu¬
digen Äuferslehen erwacht. In strahlender Glorie
und furchtlos der Dornen nicht achtend war jung-
Siegfried in ihre Kammer gestiegen und hatte sie vor
aller Welt zu dem ihr gebührenden Thronsitze ge¬
führt, von jung und Alt mit jauchzendem »Hurrah
Germania! begrüsst.
Diese glorreiche Zeit hatte der junge Rocholl mit¬
erlebt und miterlebt mit der ganzen Glut einer be¬
geisterten Jünglingsseele.
Als in den ereignisreichen Julitagen 1870 nach
der schnöden Herausforderung der Pariser Schreier
die höchsten Wogen patriotischer Begeisterung Deutsch¬
lands Gauen mit dem donnernden Rufe: »Zum Rhein!
Zum deutschen Rhein! durchbrausten, da hatte auch
der sechzehnjährige Rocholl mit mehreren gleich-
gesinnten Kameraden den Vater bestürmt, bis er zu
dem ihm bekannten Oberst von Bock in Göttingen
ging und ihn fragte, ob die jungen Leute nicht mit
ins Feld ziehen könnten. Der Oberst riet entschieden
davon ab, da die braven Jungen bei all ihrer löb¬
lichen Energie doch körperlich nicht den Strapazen
des Felddienstes gewachsen sein würden. Das war
für den jungen Rocholl ein harter Schlag, der in
seinem Innern einen argen Widerstreit hervorrief,
denn er geriet nun in die stärkste Versuchung, ohne
die Einwilligung des Vaters seinen Entschluss aus¬
zuführen und durchzubrennen. Doch der Einfluss
der guten Erziehung siegte. Der Sohn blieb, wenn
auch mit schwerem Herzen. Dennoch hat er später
sich oft mit einem bitteren Reuegefühl sagen müssen,
dies sei die grösste Unterlassungssünde seines Lebens
gewesen.
Er war nämlich inzwischen über die Leistungs¬
fähigkeit seiner künstlerischen Schaffenskraft sich im¬
mer klarer geworden und damit wuchs auch von
Tag zu Tag die Erkenntnis, dass es für ihn die
schönste Lebensaufgabe sein würde, die geschicht¬
lichen Vorgänge, durch die jene tiefen seelischen
Eindrücke verursacht wurden, bildnerisch zur Dar¬
stellung zu bringen.
In dieser Einsicht wurde er noch wesentlich wäh¬
rend seiner Dienstzeit als Einjährig-Freiwilliger bestärkt.
Hatte er anfangs nur traumhaft geahnt, wohin ihn
der Genius führe, so erwachte jetzt immer deutlicher
in ihm das Bewusstsein, wozu er berufen sei. Und
zwar drängte ihn sein ganzes Empfinden vor allem
zu dem feurigen Temperament der stürmischen Ka¬
vallerieattacke. Aber er fühlte auch, dass es dabei
nicht wie bei den Märchenbildern mit den Phantasie¬
vorstellungen allein gethan sei, dass vielmehr, um
solches darzustellen, er es auch so viel wie möglich
in wirklicher Anschauung kennen lernen, es mit er¬
leben müsste.
So begleitete er denn zum Studium das siebente
Kürassierregiment wochenlang auf seinen Manövern
und zwar immer zu Fuss, was ihm unsägliche Stra¬
pazen auferlegte. Beobachtend stand er dann wohl
hinter einem Baume geschützt und liess die rasende
Attacke schnurstracks auf sich zukommen. Er war
so lebhaft bei der Sache und griff sie mit fieber¬
hafter Anspannung so packend auf, dass er den
drastischen Eindruck des erregten Moments gar nicht
mehr los wurde, dass er von ihm bis im Traume
verfolgt, nachts mit lebendigster Deutlichkeit die wilde
Kürassierattacke auf sich zustürmen sah und von der
dahinbrausenden Gewalt zermalmt wurde.
Dieser rastlos aufgeregte Zustand griff seine Ner¬
ven derart an, dass für seine Gesundheit trotz ihrer
ursprünglichen Stärke die ernstlichste Gefahr drohte.
Glücklickerweise konnte er aber bald seine Gelegen¬
heit zum Studieren erleichtern: er durfte ein Kavallerie¬
manöver zu Pferde mitmachen.
Wie sehr diese intensive Art des Studiums
seiner künstlerischen Entwickelung zu statten kam,
zeigte sich aufs deutlichste in seinen nächsten
Arbeiten. Hatte er schon in einigen früheren
Leistungen auf diesem Gebiete, ein paar Bilder
»Schleichpatrouille«, »Examiniertrupp«, »Abgesessen«,
die er in Düsseldorf gemalt hatte, seine Begabung
für diese Richtung vollauf erwiesen, so dokumentierte
sich doch in dem nun folgenden »Todesritt von
Vionville« ein erheblicher Fortschritt, der denn auch
die erfolgreichste Anerkennung fand.
Er hatte die bei dem Manöver gemachten Studien
und Skizzen, die er bei diesem Bilde verwenden
wollte, der Verbindung für historische Kunst einge¬
reicht, die ihm daraufhin die Ausführung des Bildes,
dessen Entwurf er schon lange im Kopfe getragen
hatte, bestellte. Als er dann das fertige Werk zur
Ausstellung brachte, wurde es überall als ein Meister¬
werk der Schlachtenmalerei bewundert. Jetzt erkannte
man, dass hier eine frische Kraft auftrat, geeignet,
die grosse Zeit der Erhebung Deutschlands, der ruhm¬
reichen Thaten auf den Schlachtfeldern Frankreichs in
würdiger Weise zu verherrlichen.
Und dieser hohen Aufgabe widmete fortan Rocholl,
in dem beseligenden Bewusstsein, den rechten Weg
gefunden zu haben, sein ganzes ernstes Streben. So
entstand denn nach und nach unter seiner Hand eine
Reihe von Bildern, welche als ein Nationalschatz des
deutschen Volkes, als ein köstliches Erinnerungs¬
zeichen seiner glänzenden Errungenschaft betrachtet
werden darf. Rocholl weiss wie kein anderer so er¬
greifend und lebensvoll die Heldenthaten der tapferen
Söhne Germanias zu schildern; zudem bekundet er
einen ungemein glücklichen Griff in der Wahl seiner
Stoffe.
THEODOR ROCHOLL
89
Das zeigt sich besonders auch wieder in einem
seiner nächsten Bilder, das eine »Episode aus der
Schlacht von Vionville« darstellt, wie der Wacht¬
meister Kaiser seinen schwer verwundet zu Pferde
sitzenden Leutnant Grafen Sierstorff aus der Schlacht
führt. Der Künstler errang damit einen durch¬
schlagenden Erfolg, was sich besonders auf der Münch¬
ner Ausstellung zeigte; ein Jahr später wurde das
Bild Eigentum der städtischen Galerie in Magdeburg.
Kaum minder packend schildert ein früheres Bild,
betitelt »Vorbei!« wie die Spitze eines Kürassier¬
regiments an einem Wintermorgen die Leiche eines
Kameraden findet, der neben seinem toten Ross am
Wege liegt. Und diesen trefflichen Bildern reihten
sich mit der Zeit noch viele andere würdig an, wie
der »Kampf um die Standarte«, »Vorpostengefecht«,
»Ein Husarenstreich« (das 1892 in München die
goldene Medaille erhielt), »Die Nürnberger hängen
keinen, sie haben ihn denn«, »Ein Hoch auf den
König«, »Waldrast«, »ln Feindesland«, »Attacke der
sechzehnten Dragoner bei Mars la Tour«, »Nachzügler«
(in der städtischen Galerie zu Düsseldorf) u. s. w.
Und nicht nur die wackeren Krieger in ihrer auf¬
opferungsvollen Thätigkeit, auch ihren edlen Führer,
den greisen Heldenkaiser in seiner gewinnenden
Herzensgüte, ebenso wie seine glorreichen Paladine
weiss Rocholl in den erhebendsten Momenten zur
Anschauung zu bringen. So hat er vor allem in
dem Bilde »Kaiser Wilhelm’s Ritt um Sedan« eine
der bedeutendsten und ergreifendsten Scenen des
ganzen Kriegsjahres dargestellt, wie der alte Kaiser,
begleitet von Bismarck und Moltke, nach der Schlacht
bei Sedan von dem siegreichen Heer in jauchzender
Begeisterung begrüsst und verehrt wird, ln dem
spontanen Gefühlsausbruch dieser rauhen Krieger, die
in dem gewaltigen Augenblick gewissermassen das
deutsche Volksgefühl repräsentieren, konzentriert sich
die feierlich gehobene Stimmung, der ganze Jubel
unaussprechlicher Dankbarkeit, mit dem die gross¬
artige Errungenschaft jedes deutsche Herz erfüllt.
Und so wird dieses Bild für alle Zeit als ein echtes
Historienbild, als ein redendes Dokument der grossen
Zeitepoche zu gelten haben, ln dieser Erwägung hat
der Kunstverein für Rheinland und Westfalen, die
richtigste Wahl treffend, das Bild durch einen Kupfer¬
stich von E. Forberg’s Meisterhand vervielfältigen
lassen, um es so in gebührender Weise zu einem
Gemeingut des deutschen Volkes zu machen.
Die unermüdliche Pflichttreue und schlichte Be¬
scheidenheit des edlen Greises schildert in einem
rührenden Moment das Bild »Letzte Heerschau Kaiser
Wilhelm’s I.«, das in den Besitz der Stettiner Galerie
übergegangen ist. Neben diesen Malereien aber ent¬
standen auch noch eine grosse Anzahl von Illustra¬
tionen, von denen beispielsweise etwa zwanzig das
bei Bruckmann erscheinende Werk »Kaiser Wilhelm
und seine Zeit« in Federzeichnungen enthält; ferner
vierhundert Illustrationen für das in Lieferungen er¬
schienene grosse Werk von Devens »Das deutsche
Ross«, worin sich Rocholl auch als einer der ge¬
schicktesten und phantasiereichsten Illustratoren zeigt
und das namentlich dem Pferdekenner einen hohen
Genuss bietet.
Alle jene Kriegsbilder machen den überzeugenden
Eindruck, als wenn sie aus unmittelbarer eigener An¬
schauung des Dargestellten entstanden wären; es wird
jedem beim Anblick derselben unglaublich erscheinen,
dass damals der Maler noch nie persönlich einer Schlacht,
einem wirklichen Kriegsgetümmel beigewohnt hatte.
Um so mehr aber fühlte diesen Mangel der Autor
selbst. In seinem rastlosen Drang, aufs gründlichste
die Natur zu studieren, konnte er sich nicht genug
thun und so blieb doch immer sein grösster Schmerz,
dass er 1870 nicht dabei gewesen war und dass er
auch bisher noch keinen Krieg hatte mitmachen
können. Noch keine Gelegenheit hatte sich dazu ge¬
boten, seitdem er sich als Meister fühlte; das Schick¬
sal schien seinen Herzenswunsch nicht erfüllen zu
wollen.
Da endlich kam der griechisch -türkische Krieg;
nun war Rocholl nicht mehr zu halten. Ein Pass,
ein Rucksack und 500 Mark Barschaft, die er
sich kurzer Hand zusammenpumpte, — damit hielt
er »eine Reise um die Welt für sehr leicht und
wahrscheinlich«, wie er selbst in seinen köstlich ge¬
schilderten Reiseerlebnissen mit launiger Selbstironie
erzählt.
Und an Schwierigkeiten und Gefahren fehlte es
denn auch nicht,J£Aber mit frischem fröhlichem
Wagemut, der ihn nicht verliess, überwand er sie
alle und dem Kühnen zeigte doch schliesslich For¬
tuna sich hold. Er fand in der Türkei vollauf Ge¬
legenheit, die interessantesten Studien zu machen,
namentlich in der Schlacht bei Domokos, wo er in
nächster Nähe stundenlang in der Schützenkette dem
mörderischen Kampfe beiwohnen konnte.
Rocholl ging nun zunächst daran, die in der
Türkei gesammelten Studien und Erfahrungen für
seine Arbeit zu verwerten. So entstanden eine Reihe
farbenprächtiger, von südlicher Glut durchstrahlter
Bilder aus dem türkischen Kriegs- und Lagerleben;
eines dieser Bilder ist diesem Hefte als Farbendruck
beigegeben, ln Konstantinopel malte er im Aufträge
des Sultans ein Bild der Schlacht von Domokos, zu
dem er im Jahre nachher bei der türkischen Okku¬
pationsarmee in Thessalien an Ort und Stelle als Gast
des Sultans noch eingehendere Studien machen konnte.
Dann aber trieb es ihn zu der Hauptaufgabe seines
ganzen Strebens, zu deren Förderung allein er die
»Studienreise zum Kriegsschauplatz« unternommen
hatte, mit neuer und gestählter Kraft zurück. Wie
schon gesagt, er hatte selbst am besten gefühlt was
ihm noch fehlte. Manches treffliche Bild hatte er
schon ausgeführt, namentlich manch unvergleichliches
Reiterstückchen, aber es liess sich nicht verhehlen,
dass er auch zuweilen daneben gehauen hatte, be¬
sonders dann, wenn er etwas machen musste, was
seiner Eigenart nicht lag, wie solches im Schaffen
eines jeden Künstlers vorkommt. Auch war manches
in seiner stürmisch vorwärts dringenden Arbeitsweise
nicht vollständig ausgereift.
Darin war die türkische Exkursion von bestem
12
go
HEODOR ROCHOLL
Einfluss auf seine Entwickelung. Er war dadurch
in seinem ganzen Wesen ernster und ruhiger gewor¬
den. Mit Überwindung der grössten Mühseligkeiten
hatte er Tags über seiner Arbeit obgelegen und sich
dann in langen iiualvollen Fiebernächten grübelnd
auf seinem harten Lagf^^- gewälzt; da kam der ganze
tiefe Ernst des Le''ens üoer ih.n, so dass er sich zur
männlichen kü^iSticrischen Reife durchrang.
Im Jalire igoc ka , die weraiisforderung Chinas,
die Ermordw',_T unse:\.-- Gesandten. Die deutsche
.\ntVv'ort Hess nicht auf sicli warten; die Kriegsmarine
war bald zum .Xufbriic''; bereit. Rocholl schloss sich
dem Oberkommando an und schiffte sich mit dem¬
selben auf tler Sachsen in Genua ein. ln Tientsien
bekam er Pferd und Burschen, machte dann hoch-
inieressante kriegerisclie Expeditionen in die Gebirge
mit, 'vobe: er Frost und Hitze und alle Strapazen
redlich mit den Truppen teilte. So erreichte er im
Jahre igoo einigermassen das, was ihm im Jahre 1S70
versagt war: Deutsche Soldaten in ernstem Kampfe
zu sehen, zu begleiten.
Augenblicklich ist Rocholl mit einem grösseren
Bilde für die Nationalgalerie beschäftigt, welches den
Zug des Oberst Graf York nach Kalgan darstellt.
Auf der grossen nationalen Kunstausstellung in
Düsseldorf befand sich sein neuestes Bild »Boxer
verteidigen die Bergfeste Hophu« und daneben das
zu gleicher Zeit gemalte Bild > Aufsitzende Kürassiere .
Und so ist zu erwarten, dass wie bisher der Ent¬
wickelungsgang seiner Schaffenskraft ein stetig fort¬
schreitender war, jetzt erst recht seine Kunst einem
neuen Aufschwung entgegengeht und dass sie noch
manches wertvolle Dokument zur Verherrlichung echt¬
deutschen Wesens und deutscher Thaten zum Ruhme
des Vaterlandes hervorbringen werde.
EDUARD DAELEN.
MAX KLINOER’S SCHLAFENDE
ZU DER TAFEL
ln den Tagen, wo dieses Heft in die Hände
unserer Leser gelangt, wird der Beethoven Max
Klinger’s, zurückgekehrt von den Ausstellungen in
Wien, Düsseldorf und Berlin, endgültig im Museum
der bildenden Künste in Leipzig aufgestellt sein. Man
hat daselbst in dem sogenannten Michelangelosaale
einen provisorischen Einbau nach den Plänen und
Angaben des Künstlers geschaffen, der in diesem Jahre
noch durch einen massiven Bau, der der Südfassade
des Museums angegliedert werden soll, ersetzt werden
wird, ln diesem Saale, der in einer mässigen Grösse
gehalten wird, so dass die Architektur in richtigem
Verhältnis zu den darin aufzustellenden Kunstwerken
steht, sollen auch die übrigen Skulpturen Klinger’s
untergebracht werden: die Salome, Kassandra, das
badende Mädchen und die mehr als plastische Skizze
geltende Bronzestatuette eines Athleten, die in den
letzten Tagen dem Museum von Herrn Kommerzien¬
rat Stöhr geschenkt worden ist. Leipzig kann sich
nunmehr seines Besitzes von plastischen Werken seines
grossen Sohnes rühmen. Denn ausser den genannten
Skulpturen befinden sich hier die Büste von Franz
Liszt (im Foyer des Gewandhauses) und das »Schlafende
Mädchen« im Besitze des Verlagsbuchhändlers Georg
Hirzel. Unsere Abbildung wird dem Leser einen
Begriff von dem mit allen Reizen der Jungfräulichkeit
und Naivetät umkleideten Körper geben, der, augen¬
blicklich schlafend und träumend noch, im nächsten
Moment in dem toten Steine erwachen und sich mit
pulsierendem Leben erfüllen wird plastisch viel¬
leicht das liebenswürdigste, am unmittelbarsten wir¬
kende, menschlich am meisten ansprechende Werk
Klinger’s. Das Material ist wieder parischer Stein;
nach einer früheren ähnlichen Behandlung des Motivs
ist die Hirzel’sche Figur im Sommer igo2 vom
Künstler, etwa gleichzeitig mit der Porträtbüste von
Nietzsche, vollendet worden. Julius Vogel.
BUCHERSCHAU
Lange, Konrad, Das Wesen der Kunst. Zwei Bände.
Berlin, Orote’sche Verlagsbuchhandlung.
Lange, Carl, Siimesgenüsse und Kunstgenuss. Wiesbaden,
Bergmann.
Das umfangreiche Werk des Tübinger Kunsthistorikers
hat zunächst symptomatische Bedeutung. Denn obgleich
die Erörterung über das Wesen der Schönheit überhaupt
und der gewollten Schönheit, das heisst, der Kunst, im
Laufe des 19. Jahrhunderts nie verstummt ist, insofern
seine Philosophen vom Kantianer Schiller bis E. v. Hart¬
mann sich um Ergründung der Prinzipien dieser Begriffe
bemüht haben, so ist es doch eine verhältnismässig neue
Erscheinung, dass sich eigentliche Kunsthistoriker mit
dieser Aufgabe, den innersten Kern des Schönen aus¬
zuschälen, den schwierigen Begriff in eine neue Formel zu
giessen, systematisch befassen. Die Wege, welche die
Erforschung des Schönen und der dazu gehörigen Er¬
scheinungen genommen hat, sind von E. v. Hartmann
im ersten Teile seiner Ästhetik (1886 erschienen) gekenn¬
zeichnet worden. Man sieht an der Hand seiner kritischen
Führung, wie verschiedenartig die Lösungsversuche waren,
die seit Schiller von Schelling, Schopenhauer, Solger,
Krause, Lotze, Weisse, Hegel, Trahndorff, Schleiermacher,
Deutinger, Oersted, Vischer, Zeising, Carriere, Schasler,
Kirchmann, Herbart, Köstlin, Siebeck und Fechner an¬
gestellt worden sind. Unter diesen Autoren sind es vor¬
nehmlich Trahndorff, Deutinger und Kirchmann, mit denen
Konrad Lange’s Werk streckenweise parallel läuft. Den
Begriff der Illusion, den Konrad Lange als Kern des
künstlerischen Genusses hinstellt, hat Trahndorff bereits
in seinem 1827 erschienenen Werke behandelt; er sagt,
dass man Illusion nicht mit Selbsttäuschung übersetzen
solle, weil das den wunderlichen Irrtum Hervorrufen
könne, als ob es in der Kunst nur um eine Selbsttäuschung
zu thun wäre, die der Mensch sich selber vorspiegelt,
um die Wirklichkeit auf einen Augenblick zu vergessen
und in Phantasien zu schwärmen und süss zu träumen.
Hartmann nennt diesen von Trahndorff aufgestellten Be¬
griff der Illusion als subjektives Korrelat zu dem objektiven
Begriff des ästhetischen Scheins im Kunstwerk eine wert¬
volle Bereicherung und Vertiefung der ästhetischen Grund¬
begriffe. Deutinger ist hier zu erwähnen, weil dieser von
Neudecker sozusagen wieder aufgefundene Ästhetiker zu¬
erst die Geschichte der bildenden Kunst in umfassender
Weise in den Kreis seiner Spekulation gezogen hat. Auch
Deutinger war schon bekannt, dass der ästhetische Schein
nicht dazu da sei, »Vögel zu täuschen und den Sinn zu
betrügen, sondern zum Geiste zu sprechen«. Endlich
trifft eine Bemerkung H. Kirchmann’s, ein Kunstwerk sei
um so schöner, je näher sein ästhetischer Schein sich an
die Grenze der wirklichen Welt anschüesst, mit dem
Hauptsatze Konrad Lange’s zusammen, allerdings im Gegen¬
sinn, als Spiegelbild. »Jede Kunst«, sagt Lange, »ist ihrem
inneren Wesen nach ein Kampf gegen iüusionsstörende
Momente; der Künstler haucht seinen toten Materialien
Leben ein; in diesem Sinne kämpft die Kunst gegen die
Materie und sucht sie sich zu unterwerfen, zu durch¬
geistigen«.
Der Verfasser beruft sich selbst auf Berührungspunkte
mit anderen Ästhetikern (I, 205); mehr aber, als dass die
zitierten Autoren nur in jenen Punkten seines Wegs,
nicht aber mit seinem Wege überhaupt einverstanden
seien, wird er nicht behaupten dürfen. Hier ist überdies
Schiller zu erwähnen, dessen zwei Zeilen:
»Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen,
Und siegt Natur, so muss die Kunst entweichen«
schon in nuce die Theorie des Lange’schen Werkes enthält.
Die Beweisführung, dass das Wesen der Kunst im
letzten Grunde in der Erregung der bewussten Selbst¬
täuschung liege, kann man trotz der vielen bestechenden
und geistreichen Bemerkungen, die sie hervorgerufen hat,
nicht als erbracht gelten lassen. Wäre es so, wie der
Verfasser meint, dass die Herbeiführung der bewussten
Selbsttäuschung der Keim sei, aus dem allein der Kunst¬
genuss hervorwächst, so würde mancherlei unerklärt bleiben.
Bestimmte Beispiele werden das am fasslichsten darthun.
Es würde unerklärt bleiben, warum wir unbefriedigt sind,
wenn Laube den Schiller’schen Demetrius, oder ein neuer
Bildhauer die Venus von Milo ergänzt; obwohl beide
Künstler doch darnach trachten, im Sinne des unvoll¬
ständigen Kunstwerkes zu schaffen und die ästhetische
Illusion zu vollenden. Es würde unerklärt bleiben, warum
das Grillparzer’sche Estherfragment eben weil es nur
Fragment ist, nicht völlig befriedigt, denn Illusion wird ja
auch schon durch das Bruchstück herbeigeführt; es würde
unentschieden bleiben, warum eine farbige Kopie einer
Originalgrisaüle (z. B. der Luini in der Ambrosfana und
seine Nachbildung im Museo Poldi Pezzoli) für weniger
wertvoll gehalten wird, obwohl die farbige Darstellung
doch eine stärkere Illusion weckt; es würde unerklärt
bleiben, warum der Künstler, der seiner Zeit vorauseilt
die Zeitgenossen nicht in die gleiche Illusion versetzt
wie die Nachwelt. Die blosse Behauptung, dass die
Zeitgenossen eben weniger illusionsfähig seien im Sinne
des neuen Genius, weicht eher der Erklärung aus, als
dass sie sie herbeiführt.
Der Verfasser setzt ausführlich auseinander, dass dem
Kunstwerke illusionsstörende Momente eigen sein müssen
und sieht laut I, 224 in der denkbar stärksten Steigerung
der Illusion bei vollem Festhalten des Gefühls der Schein-
haftigkeit das Kennzeichen des wahren Kunstgenusses.
Jede Kunst sei deshalb (S. 232) ihrem innersten Wesen
nach ein Kampf gegen illusionsstörende Momente. Wäre
das richtig, so müsste eigentlich die völlige Beseitigung
aller illusionsstörenden Momente das wahre Ziel der
Kunst sein; die Malerei stünde dann eine Stufe höher
als die Zeichnung, die Farbenlithographie höher als die
Radierung, die bemalte Holzskulptur wäre höher zu achten
als ein weisses Marmorwerk. Ein völliges Hypnotisieren
des Hörers oder Beschauers wäre alsdann der höchste
Triumph des Künstlers; man müsste dem Grafen Tolstoi
zubilligen, in seinem Drama »Die Macht der Finsternis- ,
wirkliche Düngerhaufen auf die Bühne zu bringen, um
auch durch die Geruchsnerven die Illusion eines russischen
Bauernhofes steigern zu helfen. Man wird nicht wenig
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BÜCHERSCHAU
begierig sein, zu hören, was der Illusionsästhetiker zur
Panuramennialerei, zum Wachsfigurenkabinett, zurTaschen-
^pielerkunst und zum Stereoskop sagt. Im neunten
Kapitel seines W'erkes setzt sich dann auch der Verfasser
mit diesen Wiue.-saehc-ri'. seiner Theorie auseinander. Hier
zieht er ein Arguii’.eni '.lerbci, aas der eigentlichen Illusions¬
theorie irema Ti; Die ' -ndigl-eit der Erzeugung der
lllusi.,n durch ^iu. : Kü /.Vo uiso die Notwendigkeit einer
'.viihlend-jn uid.i (..an. u.dcn i'ersönlichkeit. Dagegen
i-;t TA u, , ' di: ’v.'. U'.iu Selbsttäuschung nicht not-
v/cu'.dl^ du u i\ '.u ''cr hervorgerufen werden muss.
. i. em-i-. ’ .1. i!u Eisenbahnzuge weiss man
,-A 'iic';', , i, -iuh der -i,u re oder der nebenstehende
V ...eLi, u. ;>ev, j e.-.t. Alan blickt dann nach den
i ; u, '.• lui. n Ab uiciiten , das heisst der Gegenseite
.. -r u. u.^r.. ! '-.iidsien, um sich zu vergewissern, ob
i 'i- u dl’- wi kiiehe Bewegung vorliegt. Durch
i. duj 'i .dues ,'~i.vieren lies abfahrenden Zuges können viele
fi.S'du-:, hl sicli das Gefühl des Dahingleitens wieder-
i.nicii, ..'oizdeni sie wissen, dass der Zug, in den sie ein-
■uc-ua gu ii sind, still steht. Ganz das gleiche — schein¬
bare Beu.r'gung bei voller Überzeugung, dass man fest¬
steht, kann man sich auf einer Brücke, unter der fliessendes
Wasser strömt, verschaffen. Die Täuschung endet, wenn
man auf eins der Ufer schaut; sie beginnt von neuem,
wenn man wieder ins Wasser blickt; man kann so zwischen
Ruhegefühl und dem der gleitenden Bewegung mehrfach
wechseln. In solchem Falle liegt also doch eine bewusste
Selbsttäuschung, aber keine künstlerische Illusion vor;
denn auch hier fehlt die geistige Zuthat, der Ausdruck
einer Persönlichkeit, die den illusionsschaffenden Elementen
aufgeprägt sein müsste. Der Verfasser meint ferner in
Bezug auf das Stereoskop, dass dies nur deshalb keine
künstlerische Illusion biete, weil mit diesem Apparat eine
wirkliche Täuschung in Bezug auf den Raum stattfinde.
Das ist offenbar nicht stichhaltig. Niemand wird den
Raum, den das Stereoskop vortäuscht, für einen wirklichen
halten, und etwa versuchen, einen Gegenstand in die
Tiefe des Raumes, der so greifbar scheint, zu bringen.
Jedermann weiss .ganz genau, dass hier eine Täuschung
vorliegt; man braucht die Beschauer ja nur zu fragen.
Es liegt also auch hier eine bewusste Selbsttäuschung vor,
die beliebig of( wiederholt werden kann. Es fehlt die
Flächenhaftigkeit, meint der Verfasser, also sei das stereo¬
skopische Bild kein Kunstwerk. Nun hat aber das stereo¬
skopische Bild illusionsstörende Momente genug; die Ein¬
farbigkeit, die Bewegungslosigkeit, die lineare Abgrenzung.
Die ersten beiden sind illusionsstörende Momente der
Plastik, die letzte ist eines der Malerei. Diese drei
illusionsstörenden Momente reichen völlig hin, das Gefühl
der Wirklichkeit des Vorgetäuschten nicht anfkommen zu
lassen.
Auch beim Kinematographen sagt der Verfasser, dass
er einen ästhetischen Genuss deshalb nicht hervorrufen
könne, weil man bei der Anschauung absolut nicht das
Gefühl (des Vorhandenseins) einer menschlichen Persönlich¬
keit erhalten würde, die durch ihre Kunst auf uns ein¬
wirken wollte. Die eine Vorstellungsreihe, die sich auf
den Schöpfer des Kunstwerks bezieht, wäre vielmehr ganz
ausgeschaltet . Wenn es notwendig ist, eine Vorstellnngs-
reihe einzuschalten, die sich auf den Schöpfer eines Werkes
bezieht, so kann die bewusste Selbsttäuschung des Indivi¬
duums allein zur Erklärung des ästhetischen Genusses
offenbar nicht ausreichen. Vielmehr muss diese Täuschung,
soweit sie Kunst heissen soll, beabsichtigt, von einer Per¬
sönlichkeit planmässig herbeigeführt sein.
Allein, man kann ja auch bewusste Selbsttäuschungen
planmässig herbeiführen, die unästhetisch sind. Zu solchen
gehört z. B. eine Prügelscene zweier Clowns im Cirkus-
Die Galerie und die Kinder pflegen derlei zu belachen
und lebhaft zu beklatschen; der an geistige Speise Ge¬
wöhnte wendet sich ab. jedermann weiss, dass die Prügel
nicht ernst gemeint sind, obwohl die Schläge täuschend
klatschen; der Genuss ist aber unästhetisch, weil er un¬
geistig ist. Zum Ästhetischen gehört somit nicht eine
bewusste Selbsttäuschung schlechthin, sondern sie muss
von edler Art sein. Edel heisst nach Schiller (Über die
ästhetische Erziehung, 23. Brief, Anm.) jede Form, welche
dem, was seiner Natur nach bloss dient (blosses Mittel
ist) das Gepräge der Selbständigkeit aufdrückt. Edel heisst
ihm ein Gemüt, das die Gabe besitzt, auch das beschränk¬
teste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die
Behandlung in ein Unendliches zu verwandeln. Der Künst¬
ler von echter Art adelt eben, was uns gemein erschien,
und das Geschätzte wird vor ihm zu nichts«. (Vgl. auch
Schiller’s Aufsatz: Gedanken über den Gebrauch des Ge¬
meinen und Niedrigen in der Kunst.)
Hiernach dürfen wir wohl sagen, dass nicht die be¬
wusste Selbsttäuschung an sich der Kern des künstlerischen
Genusses sein könne, sondern die geistig geadelte Illusion.
Die Sache läuft im wesentlichen auf das hinaus, was
H. Siebeck in seinem Buche vom »Wesen der ästhetischen
Anschauung« p. 12, 17, 95 u. a. O. ausgeführt hat.
Dass dies auch des Verfassers Meinung ist, geht aus
verschiedenen Stellen seines Werkes hervor; unter anderem
hat er auf Seite 251 des ersten Bandes darauf hingewiesen,
dass man neben der Natur die Persönlichkeit des Künst¬
lers hindurchfühlen müsse, darauf komme alles an Der
Verfasser erwähnt die Naturabgüsse der Goldschmiede,
die Benutzung der Totenmasken von Bildhauern und fügt
hinzu: »Sobald ein Nacharbeiten, ein freies Naclimodellieren,
in dem sich das persönliche Gefühl des Künstlers aus¬
spricht, hinzutritt, ist ein solcher Abguss ebenso als Kunst¬
werk aufzufassen, wie eine retouchierte Künstlerphotographie,
oder ein Bild, das mit Hilfe einer Photographie gemalt ist.
Hiermit kommen wir auf die Auffassung, wie sie
E. V. Hartmann bei Besprechung der KirchmamTschen
Definition giebt, welche lautet: »Das Schöne soll das Bild
eines seelenvollen Realen sein. Wenn hier«, fährt Hart¬
mann fort (1, 257), »unter Realem nicht ein wirklich seien¬
des Reales, sondern ein bloss vorgestelltes, als daseiend
fingiertes Reales verstanden werden soll, so ist das nichts
anderes, als was Hegel und seine Schule auch sagt; denn
der ästhetische Schein könnte uns gar nichts als Erscheinung
der Idee gelten, wenn er nicht als ein fingiertes Reales
wenigstens vorgestellt würde (Hegel’s Ästhetik 111, 243),
welches das seelische Innere mit einem sinnlichen Äusseren
verknüpft. Aber gerade diese fingierte Realität ist (ebenso
wie beim Naturschönen die wirklich existierende Realität)
dasjenige, wovon beim ästhetischen Schein abstrahieit, was
in der Deutung des Scheines übersprungen wird; denn sie
ist nur Mittel, um diese Deutung zu vollziehen und zwar
ein unbewusst gewordenes, unbewusst seine Schuldigkeit
timendes Mittel, das den ästhetischen Eindruck des Schönen
sofort stört und zerstört, sobald es sich ins Bewusstsein
hervordrängt. Der ästhetische Eindruck beruht lediglich auf
den beiden Endgliedern: dem ästhetischen Schein und dem
durch denselben versinnlichten seelischen Gehalt.«
Wir haben oben gesehen, dass der Verfasser des
»Wesens der Kunst« bei der Definition zwar den Künstler
zunächst beiseite lässt, ihn aber als den Schöpfer des Kunst¬
werkes dennoch nicht entbehren kann, sondern beim Kine¬
matographen z. B. das Fehlen seiner Thätigkeit bemerkt
und sie als Postulat jedes Kunstschönen herbeizieht.
Weiterhin erklärt er (I, 334), wie er schon in der Antritts¬
vorlesung i8q5 gethan, den Kunstgenuss in dem Hin- und
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Heroscillieren zwischen Wahrnehmungs- und Vorstelliings-
bild, Schein und Wirklichkeit, Kunst und Natur. Die be¬
wusste Selbsttäuschung sei einer Pendelbewegung vergleich¬
bar; das Pendel stehe still, wenn der Schein die Wirklich¬
keit erreichte und keine Differenz mehr zwischen ihnen
bestehe. Das Bestreben des Künstlers solle dies sein, die
Schwingungslinie möglichst zu verringern, fast gleich Null
zu machen, aber ja nicht völlig den Unterschied auszu¬
gleichen. Wäre dies richtig, so würde der galvanoplastische
Abguss einer Eidechse, der nur durch einige Handgriffe
des Ciseleurs um ein Minimum seiner Naturwahrheit be¬
raubt ist, wertvoller, als eine freihändig modellierte. Der
realistischste Künstler wäre dann der höchststehende; also
der Schiller der Kabale und Liebe stünde über dem der
Braut von Messina, Courbet wäre mehr als Raffael. Wieso
ein Hin- und Herpendeln beim Anhören einer Bach’schen
Fuge zwischen einem Wahrnehmungs- und einem Vor¬
stellungsbild, zwischen einem Kunstnachbild und einem
Naturvorbild stattfinden solle, ist nicht recht verständlich.
Ein besonders geistreiches Kapitel ist das 24. des Werks,
das von der umgekehrten Illusion handelt: es will uns
zeigen, dass wir beim Anschauen der Naturschönheit durch
Erinnerung an Kunstwerke und Vergleichen mit ihnen
zum Genüsse gelangen. Insoweit die Ausführungen des
Verfassers richtig sind, hat sie schon H. Siebeck in dem
erwähnten Werke als ein »Bearbeiten« vorausgenommen,
S. 10, 97 ff. Siebeck lehrt, dass jedes Kunstwerk ein
Analogon personalitatis sei, dass in ihm die Möglichkeit
gegeben sei, einen Künstlergeist ohne Reflexion, ohne
diskursives Denken unmittelbar anzuschauen; und dass
beim Naturschönen auch eine ästhetische Bearbeitung des
Objekts durch den Betrachter erfolge, dessen Phantasie
dadurch aus einer anschaulich produzierenden zu einer
künstlerisch produzierenden werde. Die Idee, dass jedes
Kunstwerk ein anschaulicher Ausdruck eines Geistigen sei,
hat neuerdings B. Croce ausführlich dargelegt (Estetica
come scienza dell’ espressione e linguistica generale,
Milano, Sandron). Hier wird insbesondere deutlich,
dass uns ein starker Geist, der nur schwache Illusion
herbeiführt (z. B. Rembrandt in einer Skizze), wertvoller
ist als ein schwacher, der sich der Natur weit mehr nähert.
So erklärt sich auch die Thatsache, dass Skizzen oder
Fragmente oft mehr bieten, als die später danach aus¬
geführten Werke; mit der Illusionstheorie des Verfassers
wäre diese Erscheinung nicht vereinbar.
Als eine Art Ergänzung zu dem vorstehenden umfang¬
reichen Werke des Kunsthistorikers Konrad Lange kann
man das kleine Heft seines Namensvetters, des dänischen
Physiologen Carl Lange, bezeichnen, der den Berg, auf dem
der Schatz des Schönen blüht, von einer ganz anderen
Seite bestiegen hat. Der Weg ist kurz und nichtsehr steil:
hundert Seiten umfasst das Ganze, wovon die Hälfte auf
die Physiologie des Genusses und ebensoviel auf die Kunst
entfallen. Der erste Teil ist noch mehr als der zweite für
jeden Ästhetiker von höchstem Interesse: der erfahrene
Mediziner legt zunächst den Zusammenhang unserer Ge¬
fühlszustände mit den aktiven Bewegungen unserer Blut¬
gefässe dar, lehrt, wie die Affekte durch die Reizungen der
vasomotorischen Nerven zu stände kommen, die teils von
den Sinnesorganen, teils von der Rindensubstanz des Ge¬
hirnes herrühren. Alsdann werden die Affekte als Genuss¬
mittel abgehandelt mit einer Einfachheit, Klarheit und
gleichzeitiger Tiefe bei grösster Knappheit, die bewunde¬
rungswürdig sind. Nacheinander bespricht der Verfasser
die Freude, den Zorn, die Angst, die Spannung, die Trauer,
die Ekstase, die Bewunderung und die Enttäuschung.
Man braucht nur an die Theorien vom Erhabenen und vom
Tragischen zu denken, um sogleich zu fühlen, welch frucht¬
bare Ergebnisse sich auf diesem Gebiete für den Ästhe¬
tiker ergeben müssen, wenn eine kundige Hand den Weg
zeigt. Alsdann erläutert Carl Lange die beiden Haupt¬
prinzipien des Kunstgenusses, die Abwechselung als Ge¬
nussmittel und die sympathische Gefiihlserregung. Die
Notwendigkeit der Abwechselung ergiebt sich aus der
Nervenermüdung, ein Mittel, sie hintanzuhalten, ist der
Rhythmus. Die Überraschung und die daraus resultierende
Komik sind Steigerungsmittel, wenn der rhythmische Wechsel
nicht mehr ausreicht. Im vierten Kapitel wird die Sym¬
pathie, das Mitleid und die suggestive Wirkung des Ge¬
fühlsausdrucks erörtert; hier treffen wir auf die feinsten
Saugwurzeln der Kunst. Im zweiten Abschnitte, der die
Kunst zum Gegenstände hat, zeigt der Verfasser, welcher
Wert den allgemeinen Kunstmitteln zukommt, bespricht
den Satz »l’art pour l’art«, die Scheu vor dem Banaten,
weist der Illusion ihren Platz an, wobei er die Grenzlinie
zwischen der völligen Täuschung (dem Hingerissensein)
und der unvollkommenen Täuschung zeichnet. Dass er
hier die Illusion mit der völligen Täuschung verwechselt,
sei ausdrücklich bemerkt. An anderer Stelle zeigt er, dass
die Illusion einen gewissen Grad von Bewusstlosigkeit
und Empfindungslosigkeit herbeiführt; sehr starke Illusion,
Fesselung des Geistes und Bannung auf das Geschaute
erzeugt Ekstase, einen schwachen Grad von Hypnose
(S. 18 ff.).
Wenn man auch nicht allem unbedingt beipflichten
kann, was der geistvolle, klardenkende Gelehrte äussert
(bei der Betrachtung der Keramik würde eine kleine Dosis
Gottfried Semper gut thun) und wenn auch Wichtiges fehlt
(z. B. ein Kapitel über den Musikgenuss), so wird doch
aus dem Zusammenhänge klar, wie tiefgründig und frucht¬
bar diese Skizze sein muss, wenn sie, was der leider ver¬
storbene Verfasser nicht mehr kann, ausgebaut wird. Die
Fundamente, die er giebt, sind sehr tragfähig, obgleich
ein paar nebensächliche Irrtümer oder Missverständnisse
unterlaufen. Nach Carl Lange ist es die Absicht des
Künstlers sympathische Gefühlserregung hervorzurufen und
durch Abwechslung der Kunstmittel dauernd zu erhalten.
Das Produkt beider ist die Bewunderung, in ihrer höchsten
Steigerung die Ekstase. Ein Kunstwerk ist dem Verfasser
jedes Menschenwerk, das seinen Ursprung in dem be¬
wussten Bestreben hat, einen geistigen Genuss durch das
Auge oder durch das Ohr hervorzubringen. Am Schlüsse
seiner Ausführungen beschäftigt sich der Verfasser noch
mit dem Begriff des Schönen und stellt (mit einen Seiten¬
blick auf Hamlet) den Satz auf: Nichts ist an sich schön;
erst unsere Auffassung macht es dazu. Ein treffendes
Beispiel giebt völlige Klarheit über Carl Lange’s Auffassung
von dem Begriff des Schönen. »Definiert man«, sagt er,
»ein Gift allgemein als einen Stoff, welcher lebende
Organismen auf chemischem Wege schädigt, so kann man
nicht zugleich bestimmte absolute Eigenschaften als für das
Gift charakteristisch hinstellen; nicht minder unlogisch ist es,
das Schöne erst durch seine Beziehung zum Subjekt zu
definieren, und dann bestimmte Qualitäten dafür zu
postulieren; das streitet nicht allein gegen die Vernunft,
sondern es stürzt die Ästhetik auch in die grössten prak¬
tischen Verlegenheiten und führt sie zu den traurigsten
Resultaten«. Dass der Verfasser nicht für Böcklin oder
Max Klinger schwärmt, nimmt dem Werte seiner Aus¬
führungen nichts; er hat eben einen anderen »Affekt¬
hunger«.
Natürlich berührt sich das Werkchen vielfach mit
Th. Fechner, der ebenfalls die dunklen verworrenen Pfade
gewandelt ist, auf denen die Kunstsensationen spriessen.
Man wird aber seinen von solidem spekulativem Geiste ge¬
tragenen Essay gleichwohl mit grossem Nutzen lesen, denn
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BÜCHERSCHAU
auf ihr ist sein eiofenes Wort (S. 24) anwendbar: Wenn
man etwa: in der Vv'elt zu siande bringen soll, so muss
man ausser über das Maierial auch über das richtige Ver¬
fahren ^erfüge-u . S/i.
Georg Waniccke, i irPi’ der bildenden Kunst in
'ye-.-hiddliclr v .////da/ Zur Einführung erläutert.
.\',it 441 .\hb;k:/'nv:;n !•;■ '’ e/ct Und v'ier Farbendrucken.
Leipzig, E. A ? c an, i<y>2.
L/ieses :'li:'- ''ucl. ist etwas in seiner Art ganz
X -i.tis, Ah- . i : / .3: . m IC lihängenden Kunstgeschichte,
die ia de/ K ; -70 eircs riied;^ n Bandes für die heutigen
Aiis'>riiche nob. : :aiigerv. / is^ so oberflächlich ausfallen
muss, dn'.s m.'-: ,,.1 d!,.! solchen neueren Büchern, so
sehr ;,i;- auch / 'gepi :e-ia werden, nur warnen kann, giebt
der Veifa-.sei eine geschickt getroffene Auswahl von
/X'c.'.eu der Arci itekiar, Plastik und Malerei aller Zeiten
vui. de-i Äg; p eni und Assyrern bis auf Klinger, Stuck,
Tlu'ina, Lieboüiiann und Uhde, die Werke werden ab-
gehiidei aiu! kiirz besprochen, die wichtigeren Künstler
mit wenig Strichen charakterisiert, und die einzelnen
Gruppen von Kunstwerken und Künstlern durch fest und
klar gezogene Grundlinien der Geschichte miteinander
verbunden. Der Gedanke ist glücklich, und für die ebenso
glückliche Durchführung gebührt dem Verfasser der Dank
aller, denen an geschmackvoller Popularisierung der Kunst
gelegen ist: er kennt die Litteratur, versteht zu sehen und
hat die Gabe, deutlich und ohne Phrasen zu belehren.
Sein Buch setzt gar keine Vorkenntnisse voraus und unter¬
richtet doch so gründlich, mühelos und angenehm, wie
keines der bis jetzt für Anfänger geschriebenen Hand¬
bücher, die es mit seinem gediegenen Inhalt, seinem reichen
Bilderschmuck und dem spottbilligen Preise von 7,50 Mark
für den Band in Leinwand alle aus dem Felde schlägt.
Warnecke hat sich schon durch einen gut geschriebenen
Text zu einem kunstgeschichtlichen Bilderbuche desselben
Verlags bekannt gemacht, er ist ein gebildeter, tüchtiger
Schulmann, der nicht nur die Methoden des Unterrichts
kennt, sondern auch weiss, dass, was man andere lehren
will, man zunächst erst selbst gelernt haben muss. So
trivial das klingt, so nötig scheint es mir, es gerade bei
dieser Gelegenheit zu sagen, weil ich zufällig in einer
Rezension seines Werkes die Bemerkung finde: den sach¬
lichen Inhalt der Kunstwerke gebe er meist richtig an, im
Technischen und Ästhetischen versage er«. Ich bin ihm
dankbar, dass er sich das billige Vergnügen versagt hat,
seine Leser mit seichtem ästhetischem Geschwätz zu über¬
schütten, weil ich seine sachliche« Art, die ich allein für
wissenschaftlich berechtigt halte, vorziehe, und das »Tech¬
nische. z. B. in den Architekturbeschreibungen so aus¬
reichend berücksichtigt finde, wie es von einem solchen
Buch überhaupt nur erwartet werden kann. Ich habe es
einer ganzen Anzahl kluger Männer zunächst als Geschenk
an junge Mädchen empfohlen; sie haben es dann zum
Teil auch noch für sich selbst gekauft und mir nachträg¬
lich gesagt, dass sie nicht gedacht hätten, dass es ein so
schönes Buch überhaupt gebe. Es erscheint nun gerade
zur rechten Zeit. Kunst für die Schule, Kunst für das
Volk, Kunsterziehung, noch niemals hat man davon so
viel gesprochen und geschrieben wie in diesen letzten
Jahren. Wenn es sich aber dabei häufig wenigstens um
die Förderung bestimmter moderner Richtungen in der
Kunst und um die Einführung neuer sogenannter Methoden
in der Betrachtung von Kunstwerken gehandelt hat, so
giebt uns Warnecke’s Buch das bewährte Alte, das heisst
die ganze Kunst der Vergangenheit in ihren besten Bei¬
spielen und, was die Behandlung betrifft, auf die für das
allgemeine Verständnis einleuchtendsten Begriffe zurück¬
geführt, die niemals veralten können, weil sie in der Sache
liegen. a. p
Florenz. Mit dem Beginn des Jahres hat eine neue
Kunstzeitschrift unter dem Titel »Misceilanea d’arte« zu
erscheinen angefangen, deren Leiter J. B. Supino ist. Das
vorliegende erste Heft bringt zunächst einen Artikel vom
Herausgeber über die Pugliese Kapelle im Kloster alle
Campove und das Gemälde Filippino’s. Es handelt sich
um das Bild, das jetzt der Florentiner Badia zum Haupt¬
schmuck gereicht. Supino teilt die Aufzeichnungen über
die Ausgaben, die der Stifter für die Kapelle und deren
Dekoration machte, erstmalig im Wortlaut mit. Ein Datum
für Filippino’s Bild ist nicht gegeben, aber es muss vor
i486 entstanden sein, wahrscheinlich 1480—1482. Der
Preis betrug 150, nicht 250 Dukaten, wie Milanesi (Va-
sari III, Seite 464) angiebt. An zweiter Stelle folgt ein
Aufsatz von Marcel Reymond über das Thor der Strozzi-
Kapelle in Santa Trinitä, eines der seltenen Beispiele des
Überganges vom gotischen Stil zu dem der Renaissance.
Er datiert das Werk gegen 1420 und setzt es in inter¬
essanten Vergleich zu dem um ein Jahrzehnt älteren Portal
im Palazzo Vecchio, das aus dem Palast der Parte Guelfa
stammt. Nerino Ferri bespricht die berühmte Uffizien¬
zeichnung mit Michelangelo’s Entwurf zum Juliusgrab,
das er zusammen mit anderen Blättern, die sich auf das¬
selbe Grabmal beziehen, dem Aristotile Sangallo zuschreibt.
Aus dem Staatsarchiv publiziert Carnesecchi ein Konto des
Lorenzo di Credi von 1531 — 1534, sowie eine Notiz über
Marmorsachen in Porto a Signa (1528), G. Poggi eine
Zahlung an Michelozzo für den Guss einer Glocke vom
Jahre 1450. Es folgen Bücheranzeigen und die Besprechung
einiger Florenz interessierender Fragen. Man darf hoffen,
dass die neue Zeitschrift auch in der Zukunft viel von
den reichen, noch zu hebenden Schätzen in den Floren¬
tiner Archiven mitteilen wird. o. Gr.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13.
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XIV, ZU SEITE 89 NACH EINEM AQUARELL VON TH. ROCHOLL
St':
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V ■'
•“1-
AN'DRl A>, ( iI STll TI T \'(A\\ |•;RZB1S('1 l(')l' I'GISRR’T, l.W DO.WSOiAT/ /T I RlI-iv
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
AUF DER KUNSTHISTORISCHEN AUSSTELLUNG ZU
DÜSSELDORF 1902
VON PAUL CLEMEN
Die endlose Reihe phantastischer Bauten, die die
atemlose Arbeit dreier Jahre auf dem dem Rheinstrom
abgerungenen Ausstellungsgebiet in Düsseldorf hat
emporwachsen lassen, ist schon der Zerstörung überantwortet.
Unberührt von diesem Vernichtungswerk bleibt nur, jetzt
in seiner ruhigen Vornehmheit und seinem echten Material
über die zusammenbrechenden Nachbarn triumphierend, der
neue Kunstausstellungspalast, der wie das Grand Palais
und das Petit Palais in Paris im Jahre igoo eine auf die
Dauer berechnete Schöpfung der grossen Ausstellung und
zugleich eine dauernde Erinnerung an sie darstellen soll.
Bleibender noch als das Gedächtnis an die deutsch-nationale
Kunstausstellung wird die Erinnerung an die mit ihr ver¬
bundene kunsthistorische Ausstellung sein, nicht nur des¬
halb, weil diese sichtbare Spuren in den Anfängen eines
westdeutschen Abgussmuseums hinterlassen hat. Nicht der
Augenblickserfolg während einiger kurzer Sommermonate
macht die Bedeutung einer solchen Ausstellung aus —
das Entscheidende ist, inwieweit sie die ganze Auffassung
von dem Gebiet, das hier zur Vorführung gelangt ist, um¬
gestaltet hat. Eine Ausstellung, die der Wissenschaft
dienen soll, ist dabei freilich nur allzusehr auf die Äusser-
lichkeiten angewiesen, sie muss um das Interesse buhlen,
sie muss starke Anziehungsmittel gebrauchen — und es
liegt die Gefahr vor, dass diese Anziehungsmittel grob
sind, grob und unkünstlerisch. Bei der Düsseldorfer kunst-
historischen Ausstellung lagen die Verhältnisse günstiger:
die rein äusserlich das Publikum anlockenden Ausstellungs¬
objekte waren zugleich auch wissenschaftlich die bedeu¬
tendsten. Nur auf trockene synchronistische Zusammen¬
stellung war verzichtet, gern verzichtet zu Gunsten einer
grossen dekorativen Wirkung,
Die Ausstellung sollte sich ihren westdeutschen Vor¬
gängerinnen anschliessen, den Ausstellungen von Bonn
1868, Köln 1876, Münster 1879, Düsseldorf 1880 und
sie sollte die Erfahrungen der letzten grossen retro¬
spektiven Ausstellungen von München, Brüssel, Budapest,
Turin und vor allem von Paris verwerten. Sie wollte
aber auf der anderen Seite auch mehr sein als jene, die
Abb. 1. Köln, St. Andreas. zumeist die kunstgewerblichen Altertümer in den Vorder-
Statiie des hl. Michael grund gestellt hatten. Die Einzelwerke der Stein- und Holz¬
skulptur, der Metall- und der Emailtechnik, der Keramik und
der Paramentik würden doch nur ein unfertiges und halbes Bild von der Leistungshöhe der mittelalterlichen
westdeutschen Kunst gegeben haben, wenn die Schöpfungen der Monumentalkunst ganz fehlten.
Grosse Aufnahmen der wichtigsten architektonischen Denkmäler der Rheinprovinz und Westfalens, farbige
Aufnahmen der mittelalterlichen Wandmalereien der Rheinlande sollten das Bild vollständig und ge¬
schlossen machen, vor allem aber ausgewählte Abgüsse der bedeutendsten Werke der monumentalen Plastik.
Für die deutsche Kunstgeschichte und die deutsche Denkmalpflege wäre eine solche Abgusssammlung, wie
sie in England bereits seit 1851 vorbereitet ward, wie sie in Frankreich seit 1877, seit der Begründung
des Trocaderomuseums planmässig geschaffen ist, längst ein dringliches Bedürfnis gewesen --- erst in
den letzten Jahren ist in Preussen wie in Bayern der langgehegte Plan, ein solches Museum der Nach-
Zeitscbrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 5.
13
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
:i;e heimische Kunst zu schaffen, aufs
,.;.:e eiüiceF . ord.-H. Bereits im Frühsommer 1899
: ; -ser Plan in einer von mir ausgearbeiteten
: _ ri iirift ei;;:^'.T-end dargelegt worden. Die Staats-
:;e Frovinzialvervvaltungen von Rheinland
;-,iFLr stellten erhebliche Beiträge für die
.•V ■; ;:l’ g in Aussicht, so dass das ganze Unter-
. .;,i. iert schien. Im Winter 1899 konnte
'vr M issvl.uss gebildet, die Arbeit begonnen werden.
io Schöpfungen aller Techniken bis zum 17. Jahr¬
hundert wurden berücksichtigt, nur Tafelgemälde und
Buchmalereien bleiben der geplanten kunsthistorischen
Ausstellung des Jahres 1904 Vorbehalten. Ein kleiner
Stab von Kunstgelehrten, Museumsdirektoren und
Künstlern hat in einmütigem Zusammenwirken das
Werk vollendet — die Eröffnung am 1. Mai 1902
sah eine fertige Ausstellung und fand sogar den
illustrierten Katalog fertig gedruckt vor.
Der folgende kurze Bericht will keine Revue der
ganzen Ausstellung geben, den öffentlichen Besitz
wie die Schätze der Privatsammlungen gleichermassen
würdigen, er will nur den Versuch machen, auf
dem eigentlichsten Ausstellungsgebiete, dem der Ge¬
schichte der rheinischen und der westfälischen Kunst,
die neuen Ergebnisse zu verwerten, in unsere bis¬
herigen Kenntnisse, Auffassungen zu verweben').
Das erste Hauptgebiet, auf dem die kunst¬
historische Ausstellung neues Anschauungsmaterial
für alle Perioden beigebracht hat und für das sie
eine ganz neue Gruppierung der Vorlagen, die
Aufstellung ganz neuer Gesichtspunkte ermöglichte,
ist das der Grossplastik. Eine rheinische Plastik im
Mittelalter schien bisher kaum zu bestehen; was bis¬
lang bekannt, wurde mit einigem Recht als die Kunst
einer Seitenprovinz behandelt. Es war im Grunde
etwas unwahrscheinlich, dass die Grossplastik in den
Rheinlanden so ganz erstorben sein sollte — während
der Zeit der römischen Herrschaft hatte hier durch
vier Jahrhunderte neben der glänzenden griechischen
Importkunst, die uns in den Grabdenkmälern von
1) Eine kurze Beschreibung aller Objekte bietet der
illustrierte Katalog, der in zweiter Auflage im August d. J.
erschienen ist — im wesentlichen eine Arbeit des Schrift¬
führers der Ausstellung, Dr. Renard. Die das Programm
enthaltende ausführliche Denkschrift ist besonders er¬
schienen und im 5. Jahresbericht d. Provinzialkommission
f. d. Denkmalpflege in d. Rheinprovinz igoo abgedruckt.
Von Berichten vor allem zu nennen E. Renard, Die kunst¬
historische Ausstellung Düsseldorf IQ02: Die Rheinlande H,
Heft n (Sonderheft). — G. Migeon, L’exposition retro-
spective d’art religieux ä Düsseldorf; Gazette des Beaux-
Arts 1Q02, p. 208. — St. Beissel i. d. Stimmen aus Maria-
Laach 1902, S. 324. — H. Graeven i. d. Beilage zur Münchner
Allgemeinen Zeitung 1902, Nr. 153. — Berichte von H.
Frauberger i. d. Düsseldorfer Ausstellungswoche. — Auf
Kosten der rheinischen Provinzialverwaltung sind von den
wichtigsten Objekten photographische Aufnahmen gemacht
worden — die Platten sind im Denkmälerarchiv der Rhein¬
provinz in Bonn deponiert. Eine grosse Tafelpublikation,
die zumal das Gebiet der Goldschmiedekunst behandeln
wird, von Otto von Falke im Verlag von H. Frauberger
ist in Vorbereitung.
Igel und Neumagen ihre köstlichsten Schöpfungen
hinterlassen hatte, eine heimische Steinmetzenschule
von einer erstaunlichen Fruchtbarkeit gearbeitet, deren
Werke eine ziemlich klare Sprache sprechen. Die
Tradition dieser Schule ist nie ganz erloschen — es
ist eine lockende Aufgabe, gerade hier die direkte
Ableitung einer ganzen Reihe von frühromanischen
Werken aus den römischen Grabsteinen nachzuweisen
— der Stil zweier der frühesten Halbfiguren des
segnenden Heilands im Trierer Dommuseum entspricht
ganz der Zeichnung und Einfassung der späten Grab¬
steine mit den Halbfiguren der Verstorbenen, deut¬
licher noch sind einige der merkwürdigen Skulpturen
von Oberpleis im Siebengebirge (jetzt im Provinzial¬
museum zu Bonn) von Grabsteinen abgeleitet. Die
römischen Denkmäler der rheinischen Museen zeigen
dieselbe Büste im selben Kostüm, in derselben auf¬
fälligen Umrahmung. Und endlich war uns doch
auch schon eine stattliche Schule romanischer Elfen¬
beinschnitzer vom Rhein bekannt — die noch wesentlich
zu erweitern sein würde — unter ihnen jener seltsame
derbbäurische, gewaltthätige Naturalist vom Ende des
10. Jahrhunderts, ein ausgesprochener, höchst eigen¬
sinniger Künstler, von dessen Hand unsere Ausstellung
den Deckel vom Echternacher Kodex in Gotha und
das Diptychon der Sammlung Figdor in Wien ver¬
einigte'). Das alles und dazu die unbestrittene Vorrang¬
stellung von Köln in der romanischen Kunst hätte
auch auf die Vermutung führen können, dass hier
die plastische Thätigkeit doch nicht ganz aussetzt.
Freilich liegt hier nicht der Schwerpunkt der plasti¬
schen Entwickelung des Mittelalters: der verschiebt
sich langsam nach Osten und im Osten von Norden
nach dem Süden — von Niedersachsen nach Ober¬
sachsen, von Obersachsen nach Franken. Aber dafür
haben die Rheinlande und Westfalen aus der roma¬
nischen Periode eine grosse Reihe von vor allem auch
ikonographisch höchst merkwürdigen Monumenten
bewahrt; das 13. Jahrhundert hat hier ein paar der
vollendetsten und schönsten Portale geschaffen, das
14. Jahrhundert Grabdenkmäler von einer fast klas¬
sischen Hochgotik, und vom Ende des 14. Jahrhunderts
ab ist die Entwickelung, zumal in Köln und am Nieder¬
rhein, eine erstaunlich rasche und eine beispiellos
fruchtbare. Nur fehlen hier noch völlig eingehende
und zusammenfassende Untersuchungen, wie wir sie
für die benachbarten westlichen Bildhauerschulen, für
die Lütticher, Brabanter und flandrische Plastik von
Helbig, Destree, Dehaisnes und Rousseau besitzen -).
1) Vergl. die feine Charakteristik von W. Vöge, Ein
deutscher Schnitzer des 10. Jh. : Jahrbuch d. kgl. preussischen
Kunstsammlungen 1899, Heft II. Über den Echternacher
Deckel Vöge, Eine deutsche Malerschule um die Wende
d. 1. Jahrtausends S. 381. Über das Elfenbein speziell
schon V. Quast in d. Zs. f. christliche Kunst u. Archäologie
II, S. 252. Über das bekannte Diptychon der Sammlung
Figdor vergl. Fr. Schneider i. d. Zeitschrift f. christliche
Kunst I, S. 15.
2) Jul. Helbig, La sculpture et les arts plastiques au
pays de Liege, Brügge 1890, — J. Destree, Etüde sur la
sculpture brabanzonne au moyen äge: Annales de la sociele
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
97
Abgüsse und Originale hatten sich in Düsseldorf
vereint, um das geschlossene Bild einer ununter¬
brochenen Folge von plastischen Werken aus West¬
deutschland vorzuführen.
Das früheste Hauptwerk nächst dem der Edel¬
metallkunst angehörigen aus dem Ende des lo. Jahr¬
hunderts stammenden Antependium des Aachener
Domschatzes war die Holzthür von St. Maria im
Kapitol zu Köln, die noch in das ii. Jahrhundert
gehört und schwerlich um sehr viel nach der Voll¬
endung der Kirche in der Mitte des ii. Jahrhunderts
anzusetzen sein dürfte') — in der Einrahmung der
beiden Flügel, der Betonung des Feldersystems durch
die flachen Bänder und die ornamentierten Nagelknäufe,
dem kräftigen Relief mustergültig für die Behandlung
solcher Thürflügel, in der Durchbildung der steifen
Figuren mit den grossen schweren Köpfen durchaus
primitiv und unbeholfen. Die flachen, mit Flechtwerk
überzogenen Bänder wie die Knäufe zeigen übrigens
eine Dekoration, die viel eher für Bronzetechnik als
für Holztechnik bestimmt zu sein scheint. Freilich ist
unter den bekannten Bronzethüren keine zu nennen,
die unmittelbare Verwandtschaft aufweist; nur die Thür
d’archeologie de Bruxelles VIII, p. i; IX, p. 363; XIII,
p. 273 — Dehaisnes, Histoire de hart dans la Flandre,
1’ Artois et le Hainaut, Lille 1886. — Rousseau, La sculpture
flamande du onzieme au dix-neuvieme siede: Bull, des
comm. royales d’art et d’archeologie de Belgique XV,
1875, p. 192.
1) Die Thür war zuerst publiziert bei Boisseree, Denk¬
mäler der Baukunst am Niederrhein Tat. g und Gailhabaud,
Denkmäler der Baukunst II, Lief. 8g. Dann bei aus’m
Weerth, Kunstdenkmäler d. christl. Mittelalters i. d. Rhein¬
landen II, S. 142, Taf. 40. Abb. nach Phot. i. d. Düsseldorfer
Ausstellungswoche igo2 S. 198.
Das Datum der Einweihung der Kirche im Frühjahr
1049 durch Papst Leo IX. beruht auf einer Nachricht bei
Aeg. Qelenius, De admiranda Coloniae magnitudine p. 327,
682, die aber sehr zweifelhaft ist. ln den echten Quellen
(vergl. Chronica regia ed. Waitz p. 36 ^ Jaffe, Regesta
pontiticum I, p. 531. — Watterich, Vitae pontificum 1,
p. 93) wird von einer Weihe der Kirche (der Papst war
erst Ende Juni in Köln) nichts berichtet. Vergl. über die
Gründung Düntzer i. d. Jahrbüchern d. Ver. v. Altertums¬
freunden i. Rheinlande Llll, S. 221. Der Ansicht von
Fr. Jac. Schmitt (Repertorium für Kunstwissenschaft XXIV,
S. 415), der den Ostbau im wesentlichen erst in die 2. H.
d. 12. Jh. setzt, kann ich mich nicht anschliessen — alle
Details sprechen dagegen. Eine eingehende Monographie
von H. Board über die Kirche befindet sich in Vor¬
bereitung.
Neuerdings hat Ditges in der Zs. f. christliche Kunst XV,
S. 241 die Vermutung ausgesprochen, die eingehende Dar¬
stellung der Anbetung der h. drei Könige und des bethlehemi-
tischen Kindermordes sei mit der Überführung der Reliquien
der h. drei Könige nach Köln durch Reinald von Dassel
im J. 1164 in Zusammenhang zu bringen. Der Schluss
ist nicht zwingend - die Geschichte der h. drei Könige
ist auch vorher schon eingehend dargestellt worden, so in
den von Weizsäcker neu publizierten Frankfurter Elfenbein¬
reliefs, die dem Deckel des Drogosakramentars verwandt
sind. Vor allem aber haben wir ja aus dem 12. Jh. eine
ganze Reihe sicherer kölnischer Arbeiten, die einen durchaus
anderen fortgeschritteneren Stil zeigen.
von St. Zeno in Verona zeigt im Figürlichen entfernte
Ähnlichkeit
Die früheste Entwickelung des romanischen plasti¬
schen Stiles in Westfalen führt der bekannte Tauf¬
stein in Freckenhorst vor, der den Vorzug geniesst,
ungefähr datiert zu sein — auf das Jahr 112g —
ein mächtiger Steincylinder, dessen Sockel ein ge¬
waltiger Löwenfries schmückt, darüber unter sechs
Arkadenbögen die Darstellungen der Verkündigung,
der Geburt, der Taufe Christi, der Kreuzigung, der
Höllenfahrt, der Himmelfahrt, endlich des Jüngsten
Gerichtes - die einzelnen Scenen trotz der verall¬
gemeinerten Behandlung doch scharf herausmodelliert’).
Die eigentlichen Rheinlande schienen aus dem 12. Jahr¬
hundert fast nichts von monumentaler Plastik mehr
zu besitzen. Die dürftigen Reste in den Museen zu
Trier und Köln, die kleinen Reliefs in der Abteikirche
zu Werden erweckten eher den Eindruck einer ver-
grösserten und vergröberten Kleinplastik und das be¬
kannte Portal am Pfarrhof zu Remagen mit seiner
phantastischen Blütenlese von symbolischen Dar¬
stellungen liess auf einen ganz schwerfälligen, derben,
unbeholfenenen Stil schliessen -).
Es ist jetzt möglich, hier eine ausgedehnte Schule
im 12. Jahrhundert nachzuweisen. Der Grabstein
der Plectrudis in der Krypta von St. Maria im Kapitol
gehört hierher, das Tympanon von St. Cäcilia in Köln,
der Marienaltar aus der Abteikirche zu Brauweiler, der
Altar mit der Darstellung der heiligen drei Könige aus
der Pfarrkirche zu Oberpleis, vor allem aber gehören zu
der Gruppe die merkwürdigen Chorschranken aus der
Pfarrkirche zu Gustorf bei Neuss, bislang dort in der
neuen Kirche in der Turmhalle eingemauert'’). In
ihrer merkwürdigen alten Bemalung sind sie durch
die Düsseldorfer Ausstellung zum erstenmal weiteren
Kreisen bekannt geworden. Es sind zwei lange und
zwei kürzere Platten, mit den Darstellungen des
segnenden Christus und dreier Apostel, der Verkün¬
digung der Hirten, der Anbetung der Könige, endlich
der drei Frauen am Grabe. Die Scenen zeigen scharfe
Silhouettenwirkung. Die Figuren bringen einen ganz
1) Zuerst abgebildet bei Dorow, Denkmäler alter
Sprache und Kunst I, 1828, S. XII, Taf. 1. Dann Organ
f. christliche Kunst XX, S. 249. — Nordhoff, Kunst- und
Geschichtsdenkmäler des Kreises Warendorf S. 109. —
W. Effmann eingehend in der Zs. f. christliche Kunst II,
S. 110. Das Datum ist durch die Inschrift auf dem mittleren
Rand gegeben, die die Weihe der Kirche im J. 112g aus¬
drücklich nennt.
2) Die Skulpturen des Portals haben neuerdings (nach
Braun’s unzulänglichen Erläuterungen v. J. 1859) ihre Er¬
klärung durch St. Beissel gefunden (Zs. f. christliche Kunst
IX, S. 153). Das Portal befindet sich übrigens seit einigen
Monaten nicht mehr an der alten Stelle; es musste dem
Erweiterungsbau der katholischen Pfarrkirche weichen —
ich habe es an der Innenseite der alten Kirchhofsbefestigung
einmauern und dabei die ursprüngliche Form des Doppel¬
portals wiederherstellen lassen.
3) Die Skulpturen von Gustorf sind sämtlich veröffent¬
licht bei Clemen, Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz,
Kreis Grevenbroich S. 35 u. Taf. 3 u. 4. Der Marienaltar
von Brauweiler ebenda im Landkreis Köln S. 45 u. Taf. 4.
13
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
, ;eLir auffällig durch die Gewandung
LLicdmassen, ziemlich manierierten
l i'Chei Parallelstrichelung. Die Skulp-
hier gehören ihm gleich am Eingang die Skulpturen
von Andernach an: das Tympanon vom Südportal
der Liebfrauenkirche mit der fein abgewogenen,
Abb. 2. Soest, St. Maria zur Höhe. Krenzestafel
turen gehören doch wohl erst in die zweite Hälfte
des Jahrhunderts: der Vergleich mit den Zeichnungen
der Herrad von Landsberg oder des Konrad von
Hirsau liegt am nächsten. Und dieser Stil setzt sich
weiter ganz folgerichtig in das 13. Jahrhundert fort:
das ganze Feld gleichmässig füllenden Komposition
des Lammes Gottes im Medaillon von zwei Engeln
gehalten das ganze Portal war im Abguss in
Düsseldorf aufgebaut — und die ikonographisch
höchst merkwürdigen Reste einer Darstellung des
DIE [RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
99
jüngsten Gerichts, von der sich zwei Bruchstücke im
Provinzialmuseum zu Bonn befinden, während eines
noch in der Kirche zu Andernach zurückgeblieben ist.
Ganz anders scheint sich im Trierischen diese
hochromanische Plastik entwickelt zu haben. Das
Portal, das aus dem südlichen Seitenschiff des Pop-
ponischen Domes nach der älteren Liebfrauenkirche
führte, zeigt schon in der Ornamentik ziemliche Ab¬
weichungen von dem Stil des Rheinthaies: noch ganz
antikisierende Kapitälbildungen, dazu einen gestreckten
plastischen Mäander, wie er sonst nur an französischen
das sich seitdem in den unteren Räumen des Trierer
Provinzialmuseums befindet ').
Eine der merkwürdigsten Holzskulpturen, noch
vor dem Ende des 12. Jahrhunderts geschaffen,
hatte die Ausstellung aus Westfalen herbeigeschafft,
das riesige Scheibenkreuz aus der Kirche St. Maria
zur Hölle in Soest-). Es ist ein Werk von ganz
1) Das Thor gehört wohl erst zu der Befestigungs¬
anlage des Erzbischofs Johann I. (1190 — 1212). Vergl.
J. Marx, Die Ringmauern und die Thore der Stadt Trier,
Abb. 3. Das Paradies des Domes in Münster
Bauten vorkommt, im Tympanon noch gar keine
Halbrundkomposition: die Gestalt des segnenden
Salvators ganz losgelöst von der der Madonna und
des Apostelfürsten Petrus, die Figuren selbst fast
ängstlich die Blockform bewahrend, aber alle von
einer hohen ernsthaften Feierlichkeit erfüllt. Was
diesem Portal seine Sonderstellung giebt, sind auch
wieder die Reste einer vollständigen Bemalung, —
die an dem Abguss in Düsseldorf ergänzt war --
die matten Farben stehen leicht und unaufdringlich
gegen den grauen Steinton. Vergröbert findet sich
dann dieser Stil in dem kolossalen Tympanonrelief
des leider 1816 abgebrochenen Neuthors in Trier,
Trier 1876, S. 22, 31. Anderer Ansicht ist Ladner im
Jahresbericht d. Gesellschaft f. nützliche Forschungen 1852,
S. 13 u. i. Pick’s Monatsschrift f. d. Geschichte West¬
deutschlands IV, S. 479. Vergl. eingehend Kraus, Die
christlichen Inschriften der Rheinlande II, S. 199, Nr. 426.
Abb. bei aus’m Weerth, Kunstdenkmäler III, S. 101, Taf.
62, 3, besser in Hettner’s Führer durch das Trierer
Provinzialmuseum. — Über den untergegangenen ehernen
Brunnen des Folcardus in St. Maximin zu Trier vergl.
F. X. Kraus i. d. Jahrbüchern d. Vereins v. Altertums¬
freunden i. Rheinlande XLIX, S. 100 mit Abb.
2) Die um den Kreis herumlaufende Inschrift lautet:
Inspice, quid patior, ut quo te duco, sequaris.
Dum sic afficior, ut morte mea rcdimaris.
100
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
Abb. 4. Trier, Liebfraaenkirche. Haiiptijortal
bedeutenden Dimensionen, 4 m hoch und 2,80 m
breit. Der Krnzifixus selbst fehlt leider — man
möchte sich eine solche ernste und feierliche Gestalt
davor vorstellen, wie den noch ans dem alten Dom
stammenden Christus, der jetzt im Chor des Kölner
Domes anfgehängt ist. Acht Darstellungen aus der
Passion in runden und viereckigen Rahmen umgeben
die Scheibe, die auf einem Leinwandüberzug und
Kreidegrund in Temperafarben eine grosszügige
ornamentale Dekoration in Rot und Grün zeigt; auf
beiden Enden des Querbalkens Weihrauchfässer
schwingende Engel. Ich kenne kein Werk des I2.jahr-
Im J. 1471 ward das Werk durch den Meister Theodorich
von Dortmund restauriert, nach einer auf der Wand hinter
dem früheren Standort der Tafel befindlichen Inschrift:
Anno Domini MCCCCLXX primo octava assumptionis
beatae Mariae virginis gloriosae haec tabula cum crucifixo
et aliis reformata sunt . . . Magister Theodorus de Tremonia
pictor huius. Die merkwürdigen unteren gotischen Flügel
mit ihren phantastischen Darstellungen sind leider sehr
beschädigt. Abb. bei Aldenkirchen, Die mittelalterliche Kunst
in Soest S. 19, Taf. 3. Vergl. C. Josephson, Die wiederher¬
gestellten Malereien und die sonstigen Darstellungen in der
Kirche Mariae zur Höhe, Soest i8go, S. 17. Daselbst auch die
Erklärung des Tympanons der Kirche, dessen ganze Kom¬
position viel eher einem Antependium oder einem Retable
zu entsprechen scheint. (Abb. im Katalog zu Nr. 50 u. i.
d. Düsseldorfer Ausstellungswoche S. 200.)
hunders in Deutschland oder Frankreich, dass diesem
in der Grösse der ganzen Anlage verwandt wäre.
Unter den plastischen Schöpfungen des 1 3. Jahrhun¬
derts stehen die beiden grossen Portale der Liebfrauen¬
kirche zu Trier und das Paradies am Dom zu Münster
in der vordersten Reihe. Der grosse Eckrisalitsaal
der Düsseldorfer Ausstellung hatte durch den Einbau
der beiden Trierer Portale seine eigentliche Gliederung
erhalten. Dem Eingang gegenüber erhob sich der
mächtige Aufbau des Westportales der Liebfrauen¬
kirche mit den die seitlichen Strebepfeiler bekrönenden
Figurenpaaren, die Hasak die vollendetsten Beispiele
für Standbilder von Heiligen an Kirchenbauten ge¬
nannt hat. Die kunstgeschichtliche Stellung der
Liebfrauenkirche wird nach den neuesten Unter¬
suchungen und bei dem Vergleich mit den übrigen
frühgotischen Werken in Trier doch etwas anders
anzusetzen sein, als man gewöhnlich anzunehmen
pflegt. Die herkömmliche Datierung des Bauwerks
lautet auf die Jahre 1227 — 1243. Aber diese Zahlen
beruhen nur auf einer spätgotischen Inschrift. Es
wird uns dagegen in einer Urkunde vom Jahre 1243
berichtet, die alte Marienkirche sei vor übergrossem
Alter kürzlich zusammengestürzt und man habe be¬
gonnen, sie neu aufzuführen ^), die Vollendung ist
dann wohl erst in den fünfziger Jahren anzusetzen “).
Das stimmt auch mit der Durchbildung der Details
ganz überein: jedenfalls sind die Anlagen der Kloster¬
gebäude von St. Matthias bei Trier mit den prächtigen
Gewölbebauten des Refektoriums und des Dormi-
toriums, die an Raumwirkung denen von Eberbach
gleichkommen, früher und somit zeitlich die ersten
gotischen Bauten in den Rheinlanden®), ln Bezug auf
den plastischen Schmuck bleibt der Liebfrauenkirche
aber ihre Vorrangstellung erhalten. Ganz köstlich ist die
Tympanongruppe des Hauptportals. Eigentlich sind es
vier Gruppen, und sichtlich gar nicht auf diesen halbrun¬
den Rahmen berechnet, einer Frieskomposition entnom¬
men: der Anbetung der Könige und der Darstellung im
Tempel treten in winzigen Figürchen die Verkündigung
an die Flirten und der Betlehemitische Kindermord zur
Seite. Es ist die reinste Kunst der Ile de France, fast
pariserisch treten uns diese schlanken feingegliederten
Figürchen entgegen. Eine ganz andere Hand be¬
herrscht das an der Nordseite unter einer Vorhalle
gelegene kleinere Portal, das, von Anfang an auf
1) Urkunde des Erzbischofs Konrad von Hochstaden
V. J. 1243 bei Ehester u. Goerz, Urkundenbuch der mittel¬
rheinischen Territorien III, Nr. 580.
2) Die letzte Kritik des Bauwerkes und seiner Ge¬
schichte bei St. Beissel, die Kirche U. 1. Frauen in Trier:
Zs. f. christliche Kunst XII, S. 231.
3) Die Klostergebäude befinden sich im Besitz des
Herrn Dr. von Nell Genaue Aufnahmen von Biebendt
im Denkmälerarchive der Rheinprovinz. Die Gebäude sind
unter dem Abt Jakob von Lothringen (1210^1257) auf¬
geführt, aber offenbar in den ersten Jahrzehnten seiner
Herrschaft. Vergl. Fr. Kutzbach, Die Marienkapelle auf
dem Kirchhof von St. Matthias: Trierisches Archiv Heft 5
und Willi. Schmitz, Die Klostergebäude der Benediktiner¬
abtei von St. Matthias bei Trier: Zs. f. christl. Kunst Xlll,
S. 353
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
101
solche Innenwirkung berechnet, die ganze Architektur
verzierlicht zeigt; eine reizvolle Sammlung von stark
unterschnittenen Laubwerkstreifen ist um das Mittelfeld
mit der etwas ungeschickt in den Rahmen eingepassten
Darstellung der Krönung der Madonna gelegt. Aber
es gilt von diesen plastischen Meisterstücken, was
Schnaase einst von der umrahmenden Architektur
sagte: sie verraten an keiner Stelle die Mattigkeit des
Nachahmers, jedes kleinste Detail atmet eine Wärme
der Empfindung, welche dem ganzen Werke einen
Charakter der Jugendfrische und anspruchsloser
Schönheit verleiht ').
Mit dem Abguss des ganzen Paradieses vom
Dom zu Münster, das, quer durch den ganzen Aus¬
stellungspalast durchgebaut, die alte gegen die neue
Kunst abschloss, war das umfangreichste Werk der
ganzen westdeutschen Monumentalplastik hier zur
vollen Wirkung gebracht. Ein Werk, das noch voll
von ungelösten Fragen ist, wie die ganze Geschichte
der westfälischen Plastik. Die älteren Figuren, die
neun gewaltigen Apostel der Langseiten, sind echte
Westfälinger, derb, mit klobigen schweren Köpfen
und strähnigem Haar, in einen filzigen Lodenstoff
eingewickelt, der ungraziös wie an den Körper an¬
geklebt liegt. Die Figuren vom Paderborner Dom¬
portal sind ihre Brüder, jene nur noch ungefüger
und unkünstlerischer, in den Formen verwaschener.
Sind die Figuren von Anfang an für diese Stelle be¬
rechnet gewesen oder waren sie etwa wie die im
Magdeburger Domchor für ein später verworfenes
Portal bestimmt? Die äusserste Manieriertheit atmen
die beiden Reliefs über den Durchgängen mit der
Anbetung der Könige, der Beschneidung und der
Bekehrung Pauli. Welch unglaublich verwickelte
und verschnörkelte Gewandung! Man möchte aus
der Entfernung an eine hinterindische Skulptur denken.
Das sind die allerletzten Äusserungen der hier wirklich
abgewirtschafteten romanischen Plastik — und gerade
an diesen Stil hat der seltsame archaisierende Künstler
Anlehnung gesucht, der um 1530 den Mittelpfosten
mit dem heiligen Paulus dem alten offenbar nach¬
bildend schuf, deutlich romanisierend, in ganz ver¬
wandter aufgewirbelter Gewandung. Dann endlich
1) aus’m Weerth, Kunstdenkmäler 111, S. gt, Taf. 59
u. 60. — Schmidt, Trierische Baudenkmale 2. Lief., Taf. 6. —
Hasak, Geschichte der deutschen Bildhauerkunst im 13. Jahr¬
hundert S. 84 m. Abb. Von den Figuren in den Gewänden
des Hauptportals sind nur drei, die Ecclesia, die Synagoge
und der Evangelist Johannes, alt, die übrigen drei Evange¬
listen (die Ende des 18. Jh. verschwunden waren) neu,
der eine mit Benutzung des Gewandmotives eines Torso,
den eine sorgsame Zeichnung von Ramboux in der Trierer
Stadtbibliothek um das Jahr 1820 noch neben den anderen
zeigt. Die neuen Figuren sind Werke des Metzer Bild¬
hauers Dujardin, des Schöpfers der beiden neuen Metzer
Domportale. Da die drei alten Figuren, seit die obere
Silikatschicht von dem gelben krystallinischen Jaumont-
kalkstein sich abgelöst hatte, rasch verwitterten und wie
die Figuren zu Tholey völligem Untergang preisgegeben
schienen, sind auch sie an Ort und Stelle durch Kopien
ersetzt worden; die drei Originale sind zum Vergleich im
Innern des Domkreuzganges aufgestellt worden.
auf den Schmalseiten diese herrlichen vier Figuren,
die schon den fortgeschrittenen Stil nach der Mitte
des Jahrhunderts zeigen. Auch sie wieder unter sich
ganz verschieden. Der heilige Laurentius mit einem
schlanken ephebenhaften Körper, der mit vollendeter
Kunst überall durch das feingefältelte Gewand durch¬
modelliert ist. Wie fein ist der Kontrapost in dieser
leise bewegen Gestalt angedeutet. Auf der anderen
Seite diese mächtige imposante Gestalt der Maria
Magdalena, die fast matronenhaft erscheint, in einem
Gewandmotiv, das auch unter den Stifterinnen im
Naumbiirger Domchore, wo man sich zunächst nach
Verwandten umsehen möchte, seinesgleichen sucht.
Und daneben die beiden steiferen ehrbareren Figuren
des jungen hochgemuten Rittersmannes und des
Bischofs Theodorich ’). Die Portale von der Nikolai-
1) Abbildungen der vier Seitenfiguren bei Hasak a. a.
O. S. 9Ö. Beschreibung der ganzen Vorhalle bei W. Lübke,
Die mittelalterliche Kunst in Westfalen S. 132. Nach ihm
waren früher noch fünf — jetzt zerstörte oder verloren
gegangene Figuren erhalten. Die Inschrift auf dem Spruch¬
band in der Hand des Bischofs Theodorich von Isenburg,
der 1225 den Grundstein legte und schon 1226 starb, lautet:
Eligor et morior, opus inchoo, festa Mariae
Dedico; sunt anni plures, sed terminus unus.
Die Weihe des Domes erfolgte erst am 30. Sept. 1261
durch Bischof Gerhard. Das Paradies ist wohl erst damals
in der jetzigen Gestalt zusammengestellt worden. Theo-
dorich scheint den Bau viel grösser projektiert zu haben.
Mit einer kritischen Untersuchung der westfälischen Plastik
im 12. und 13. Jh. ist zur Zeit Herr R. Reiche beschäftigt.
Das verwandte Paderborner Portal bei Ludorff, Die Kunst¬
denkmäler von Westfalen. Kr. Paderborn, Taf. 32—35.
Abb. 5. Münster /. IV., Dom. Figuren ans dem Paradies
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
■;! Obermarsberg,
■ : der ’Ti-.rrkirche zu
■; ..erk.;ppelii, von der
, : f’iskiiche in Coesfeld
■ vigeii daneben, wie in
■ '( sifalen an kleineren
Fortallösungen das Motiv
der Einrahmung durch
abgetreppte Gewände zu
immer grösserer Feinheit
und Zierlichkeit durchge¬
bildet wird.
Die Düsseldorfer Aus¬
stellung hatte den Versuch
gemacht, die Entwickelung
der Holzplastik seit der
2. Hälfte des 13. Jahrhun¬
derts zu ergänzen durch
die Vorführung der wich¬
tigsten frühen rheinischen
Chorstühle. An der Spitze
stand das wundervolle
Chorgestühl von Alten¬
berg, das nach der Ver¬
wüstung der Kirche im
Jahre 1821 in Privathände
gelangt war und endlich
im Kunstgewerbemuseum zu
Berlin einen dauernden Platz
gefunden hat'). Die vier
hohen hinteren Wangenstücke
sind erhalten, dazu vier Einzel¬
sitze, alle mit dem schönsten
frühgotischen Blattwerk ver¬
ziert, die hinteren Wangen
mehr im Charakter der Stein¬
bildhauerei durchgeführt, die
niederen Trennungswände fein
mit zierlichen koketten Figür-
chen. Unmittelbar an diese
Arbeiten, die wohl direkt nach
der Vollendung des Chores
im Jahre 1287 geschaffen
wurden, reiht sich das Chor¬
gestühl von Wassenberg im
Kreis Heinsberg, das hier zum
erstenmal bekannt gemacht
wurde. Die beiden Wangen
sind in ganz grossen Linien
gehalten, in das schlichte Ran¬
kenwerk passen sich unge¬
zwungen die figürlichen Dar¬
stellungen ein: die Madonna,
von dem Stifter verehrt, und
der gewappnete Reitersmann
auf dem ansprengenden Ross.
1) Abbildung bei A. Pabst,
Kirchenmöbel des Mittelalters
und der Neuzeit, 1893, Taf. 15. — Vergl. deinen, Kunst¬
denkmäler d. Rheinprovinz. Kreis Mülheim a. Rhein S. 49.
Die Madonna erinnert un¬
mittelbar an die aus den
Maasgegenden stammen¬
den Elfenbeinmadonnen.
In die gleiche Zeit gehört
auch das frühgotische Pult
aus Herford im Berliner
Kunslgewerbemuseum,
klassisch in der Verwen¬
dung des einfachen Blatt¬
ornaments'). Das Xantener
Gestühl folgt dann-) -
es ist wohl um 1300
entstanden, mit weichen,
schon üppig wuchernden,
durch krautige Knospen
verzierten Ranken besetzt;
allerlei Getier, Hund, Adler,
Affe und Drache, treibt in
den Windungen sein We¬
sen. Solcher Chorgestühle
hat der französische Ar¬
chitekt Villard de Honne-
court in seinem Skizzen¬
buch einige gezeichnet"):
ganz deutlich fühlt man
sich an Xanten, an Köln,
oder höchstens an Sainte-Croix
in Lüttich erinnerL*). Die
französischen Chorgestühle
dieser Zeit, die der französi¬
sche Baumeister auf seiner
Wanderschaft hätte sehen kön¬
nen, zeigen einen ganz anderen
Charakter: ihnen fehlt dies
üppige ins Kraut schiessen der
Ornamentik, man vergleiche
die frühesten erhaltenen fran¬
zösischen Chorgestühle in
Notre-Dame de la Roche bei
Chevreuse, in der Kathedrale
von Poitiers und in Saulieu’^).
1) A. Pabst, Kirchenmöbel
Taf. 9, 1. — Ferd. Luthmer, Deut¬
sche Möbel der Vergangenheit S.
13. — Jul. Lessing, Holzarbeiten
a. d. Kunstgewerbemuseum zu
Berlin Taf. 29.
2) Abb. bei aus’m Weerth,
Kunstdenkmäler I, S. 42, Taf. 19.
— Clemen, Kunstdenkmäler der
Rlieinprovinz, Kreis Moers S. 108.
— Ferd. Luthmer, Deutsche Mö¬
bel der Vergangenheit S. 8.
3) J. B. Lassus et A. Darcel,
Album de Villard de Honnecourt
pk 53, 56, P- 193, 09-
4) Reusens, Elemens d’ar-
cheologie chretienne II, p. 280.
5) Über das älteste Chorgestühl von Notre-Dame de
la Roche vergl. Sauvageot i. d. Annal. archeol. XXIII,
Abb. 6. Berlin, Kunstgewerbeniiiseani
Bcipiilt aus Herford
Abb. 7. Wassenberg, Pfarrkirche. Chorgestühl
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
103
In Köln im Chor von St. Gereon der gleiche Aufbau
wie in Xanten. Nur treten hier an die Stelle der
phantastischen Tiere zwei menschliche Figuren. Es
sind der Patron der Kirche und ihre sagenhafte
Gründerin, der heilige Gereon und die heilige Helena.
Der Neigung der jungen Gotik, ihre Figuren immer
schlanker und schmäler zu machen, kam hier der
vom Material ausgehende Zwang entgegen. Die
Figuren durften nicht brei¬
ter sein als die Eichen- _
bohlen, aus denen diese
ganzen Wangenstücke ge¬
arbeitet sind. Der Künst¬
ler hat aus der Not eine
Tugend gemacht; ganz
unbefangen schmiegen
sich die beiden zierlichen
feingliederigen Gestalten
in den so geschaffenen
Rahmen hinein — es sind
die lieblichsten Schöpfun¬
gen dieser neuen jung¬
fräulichen Kunst, noch
gar nicht angekränkelt von
jener Weichlichkeit, die
schon in den Figuren im
Kölner Domchor mit-
sprichU). Den Abschluss
bilden dann die nach 1330
entstandenen prächtigen
und überreich verzierten
Chorstühle aus dem Köl¬
ner Dom. Ein unerschöpf¬
licher Schatz von Erfin¬
dungskraft steht dem
Schöpfer dieses Gestühls
zur Verfügung: eine hohe
und reine Grazie erscheint
hier dicht neben leiden¬
schaftlicher Bewegtheit und
einer ganz grotesken Aus¬
gelassenheit.
Die Madonna auf dem
Wassenberger Chorstuhl
würde, aus ihrem Zusam¬
menhang losgelöst, bisher
wohl ziemlich allgemein
als französisch angesehen
p. 61. — Viollet-le-Duc, Dic-
tionnaire raisonne de I’archi-
tekture VIII, p. 463. Über
das aus Poitiers vergl. Annal.
archeol. II, p. 3Q. — Bulletin monumental XXXIV, p. i6o.
Das von Saint-Andoche de Saulieu bei Viollet-Ie-Duc a. a.
O. VIII, p. 465. Vergl. Molinier, Histoire generale des
arts appliques ä l’industrie II. Les meubles p. 15.
1) Das eine Wangenstück schon bei Jul. Gailhabaud,
L’Architecture du V. au XVI. siede, Bd. I. Darnach bei
D. Joseph, Geschichte der Baukunst 1, S. 369. Die Ab¬
bildung zeigt die h. Helena ohne Unterarme (die mit dem
Modell ergänzt sind).
Abb. 8. Köln, St. Oereon
Figuren von den Wangenstücken der Chorstiihle
worden sein. Ihre Vorgängerinnen, die Madonnen
auf dem Marienschrein zu Aachen, auf dem Suit-
bertusschrein zu Kaiserswerth, zeigten den gleichen
Typus aber schon vorher in den Rheinlanden hei¬
misch. Die grosse schon aus der Ausstellung im
Petit Palais im Jahre igoo bekannte Madonna aus
dem Besitz des Herrn Freiherrn Albert von Oppenheim
in Köln^) hat noch keine Heimat erhalten, sie dürfte
aber ebenso wie die ver¬
wandte Madonna aus der
Sammlung Martin Le Roy
dem französisch-belgischen
Grenzgebiet zuzuweisen
sein-). Diese Madonnen
sind naturalistischer und
in einigen Zügen schon
etwas manierierter als die
echten französischen der
He de France, die sich an
die schöne schlanke Figur
aus der Sainte Chapelle
im Louvre anschliessen-^).
Es sind aber jenseits dieser
westlichen Gruppe noch
ein paar Elfenbeinwerke
zu nennen, die man wohl
mit Fug und Recht noch
für die Rheinlande in An¬
spruch nehmen kann. Da
ist vor allem eine Ma¬
donna im bischöflichen
Museum zu Münster, in
der Gewandung, auch in
der Haltung des Kindes
zunächst in vielen Punkten
der Madonna bei Martin
Le Roy verwandt, dann
aber doch wieder selbstän¬
dig. Die Gestalt ist viel
gedrungener, zumal der
Kopf viel runder, auch
das pausbäckige Kind
viel derber. Und dieses
Stück geht, zumal in der
ganzen Kopfbildung, eng
zusammen mit der feinen
20 cm hohen Elfenbein¬
statuette einer stehenden
Madonna im Privatbesitz
Kreis Jülich. Die
im
1) Abgebildet bei Moli¬
nier, Les Ivoires (Collection
Spitzer) p. 186. Durch die starke Ergänzung (die sich
wohl auf den ganzen Thron erstreckt hat) und die Er¬
neuerung der Vergoldung hat das Stück fast etwas Unwahr¬
scheinliches bekommen.
2) Les beaux-arts et les arts decoratifs ä l’exposition
universelle de 1900, p. 127. Zu vergleichen endlich noch
die Madonna von Villeneuve-les-Avignon.
3) Molinier imCatalogue des ivoires du Louvre Nr. 53. —
Molinier, Les ivoires pl. 17, p. )86.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. II. 5.
104
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
Gex/andbehandlung erinnert hier wieder an die
; ■ lüge Helena von St. Gereon^).
Noch gar nicht im Zusammenhang behandelt und
unter?iicht ist die reiche Grabsteinplastik West-
eutschlands, die im 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt
. rreiclh, aber schon ein Jahrhundert früher einsetzt.
'Tjn Übergang zu der gotischen Plastik bildet das
wunderliche Grabmal des Gaugrafen Konrad Kuzibold
im Limburger Dom-). Es ist das Idealportrait des
vor drei Jahrhunderten verstor¬
benen Stifters; die Figur sieht
wie eingesehrumpft, mumifiziert
aus, eine phantastische Sockel¬
bildung darunter, den sechs
Stützen treten ein Löwe und
ein Bär vor, an den Ecken
Mönchsfiguren mit zu komi-
sehen Grimassen verzerrten kla¬
genden Gesichtern. Viel impo¬
nierender ist die Stifterfigur des
Pfalzgrafen Heinrieh II. in der
Abteikirehe zu Laaeh — eine
riesenhafte bemalte Holzfigur.
Die Figur ist mit Leinwand
überklebt und auf einem glatten
Gipsgrund reich bemalt; sie
stellt den Pfalzgrafen in der
kokett höfischen Tracht des 13.
Jahrhunderts dar — es fehlt
weder das Essbesteck noch der
Fächer. Über diesem schon
frühgotischen Denkmal erhebt
sieh auf sechs Säulen von Kalk¬
sinter jener seltsame Baldachin,
der uns das äusserste romanische
Barock vorführt, die wunder¬
lichste Äusserung der Ori¬
ginalitätssucht eines der letzten
Romanisten, der noeh einmal
zeigen wollte, dass er in sei¬
ner Formenspraehe alles, aber
auch alles sagen konnte. Die
Grabmäler der Landesherren
aus dem Jülicher, Bergischen,
Klevischen Hause sind zum Teil
schwer verstümmelt oder ganz
zertrümmert, die künstlerisch be¬
deutendsten, die Monumente im
1) Das Elfenbeindiptychon im selben Museum (abgeb.
von Schnütgen i. d. Zs. f. christliche Kunst 1902, S. 182)
ist dagegen ganz sicher französisch — man vergleiche es
mit dem Triptychon von Saint-Sulpice (Tarn) im Cluny-
museum (Fondation Piot. Monuments et memoires 11,
1895, pl. 28).
2) Abgeb. Bock, Rheinlands Baudenkmale, Limburg
S. 23. Ebenda die Inschrift.
3) Das Hochgrab von Laach ist abgebildet bei Fr. Bock,
Rheinlands Baudenkmale. Laach S. 17. — Details bei Bock,
Das monumentale Rheinland 1, Taf. 4. — aus’ni Weerth,
Kunstdenkmäler i. d. Rheinlanden 111, S. 48, Taf. 52. —
J. Wegeier, Kloster Laach S. 30, 88.
Herzogenchor des Altenberger Domes sind vor
wenigen Jahren auf Kosten des Kaisers wiederher¬
gestellt worden. Andere galt es geradezu wieder zu
entdecken: das Hochgrab des Grafen Arnold 11. von
Kleve und seiner Gemahlin in der Klosterkirche zu
Bedburg war vor sechsig Jahren zertrümmert und auf
dem Kirchhof eingegraben worden : es ist erst jetzt wieder
exhumiert und harrt der künstlerischen Auferstehung^).
Gegenüber der eingehenden Würdigung, die die
niederrheinische und die mittel¬
rheinische Malerei durch Scheib-
1er, Aldenhoven, Firmenich-
Richartz, Thode gefunden, er¬
scheint die Skulptur dieses Ge¬
bietes fast über Gebühr ver¬
nachlässigt. Ich glaube, mit
Unrecht. In der niederrheinischen
Kunstprovinz hat im 14. Jahr¬
hundert die Plastik geradezu die
Führung. Auch die Kunst jener
am Ausgang des Jahrhunderts
stehenden Malerschule, die wir
unter dem Sammelnamen Meister
Wilhelm zusammenfassen, hat
die plastische Entwickelung
zur Voraussetzung. Ich wüsste
auf diesem Gebiete kaum ein
lockenderes Thema, als diese
rheinische Plastik durch das 14.
und 15. Jahrhundert zu geleiten.
Der Ruhm der Kölner Bild¬
hauer war in dieser Zeit weit
über die Alpen gedrungen. Aus
Florenz haben wir dafür das
merkwürdige Zeugnis des Lo-
renzo Ghiberti: in Köln lebte
ein ausgezeichneter Bildhauer,
der war in seiner Kunst so
vollkommen wie die alten Grie¬
chen, namentlich in den Köpfen
und in allen nackten Teilen, nur
waren seine Statuen etwas kurz.
Im i4.Jahrhundertbilden fürKöln
die Figuren an den Chorpfeilern
des Kölner Domes und die Fi¬
guren im Aachener Münsterchor
den Ausgang und geben, weil
ziemlich genau datierbar, die
Stützpunkte der Untersuchung. Giebt es in der Mitte des
1) DieOrabdenkmälerabgeb. beiClemen, Die Kunstdenk¬
mäler der Rheinprovinz, Kreis Mülheim a. Rh. S. r68. Dazu
Taf. 5 u. 6. Vergl. auch den 2. Jahresbericht der Provinzial¬
konimission f. d. Denkmalpflege i. d. Rheinprovinz 1897, S. 20.
2) Die interessantesten der westfälischen dieser Grab¬
steine, der des Grafen Dietrich von der Mark in Hoerde
(Lübke, Die mittelalterl. Kunst in Westfalen S.379. — Ludorff,
Bau- u. Kunstdenkmäler Westfalens, Kr. Hoerde Taf. 8) u. das
Epitaph der Stifter Gottfried und Otto in der Kirche zu
Kappenberg (Lübke a. a. O. S. 378. — Ludorff, Kreis Lüding¬
hausen Taf. 14) waren gleichfalls in Düsseldorf im Abguss
aufgestellt.
Abb. Q. Münster i. W., Bischöfliches
Museum. Elfenbeinmadonna
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTEALISCHE KUNST
105
14. Jahrhunderts in Deutschland etwas Graziöseres, als
diese im anmutigen Reigen sich drehenden, schlanken,
musizierenden Engel über den Baldachinen im Kölner
Domchor? Als einen Niederschlag dieser gleichen
künstlerischen Empfindung in der Malerei dürfen wir
die entzückenden Dekorationen auf den inneren Chor¬
schranken ansehen, die wie die Skulpturen um 1350
anzusetzen sein dürften^). Die artigen Püppchen und
die liebenswürdigen Tänzerinnen auf den Hintergründen
bewegen sich mit der unnachahmlichen Grazie der Miss
Isadora Duncan. Man hätte diese Malereien, wenn sie
ohne Zeugnis des Ursprungs vorgelegt worden wären,
wohl sicher allgemein bisher als französisch bezeichnet.
Wenn diese aber wie jene Engelsfiguren kölnisch
sind, so wird man viel von dem, was in der Klein¬
kunst, in durchsichtigem Email und in Elfenbeinplastik
bislang als französisch galt, für die Rheinlande in
Anspruch zu nehmen haben. Es gilt hier, verloren
gegangenen kunstgeschichtlichen Besitz wieder¬
zuerobern. In gleichmässigen Etappen lässt sich die
Wandlung dieser schlanken, aber doch sehnigen Gotik
zu der schwächlich verzärtelten und manierierten
Spätgotik des 15. Jahrhunderts verfolgen. Die ver¬
schiedenen grossen Madonnenstatuen in Köln, in
Aachen, in Münstermaifeld und Münstereifel geben
hier die Stufen an: im Anfang nur ein paar energisch
eingeschnittene Längsfalten als dominierende Gewand¬
motive, allmählich dann die feine knittrige Eältelung
auf der einen Seite und zuletzt hier ein hastiges
Zickzack von aufgerefften Faltenlinien. Für die
früheste Phase des Stiles enthält die Sammlung
Schnütgen zu Köln vor allem wertvolles Material.
Seine drei schönsten Stücke, drei wirklich adlige
Jungfrauen von einer eleganten Grazie in der Be¬
wegung, sind wohl eher mittelrheinisch und noch
um 1300 anzusetzen, im Stil sich selbst den Strass¬
burger klugen und thörichten Jungfrauen nähernd.
Als Typen eines ganz abweichenden, ziemlich
selbständigen mittelrheinischen Stiles erscheinen die
feinen Figürchen vom Hochaltar in Oberwesel, die
noch früher als die Skulpturen im Kölner Dom¬
chor sind (um 1331), denen dann wieder das heilige
Grab in derselben Kirche verwandt ist mit fast un¬
bewegten statuarischen Figuren, die sich ängstlich
geradehalten, das Gewand am Oberkörper fast ganz
glatt und eng anschliessend. Ganz verblüffend wirkt
ein Blick auf die in der alten Polychromie vollständig
erhaltene Pieta der Sammlung Roettgen. Sie ist eine
1) Eine Erklärung und Deutung der Wandgemälde
hat vor wenigen Monaten zum erstenmal der gelehrte
Arnold Steffens gegeben (Die alten Wandgemälde auf der
Innenseite der Chorbrüstungen des Kölner Domes; Zs. f.
Christi. Kunst XV, S. 12g ff.). Schon im J. 1842 hatte der Maler
G. Osterwald Zeichnungen von vier der Bilderreihen kopiert
(Aufnahmen i. d. Archiv der Königlichen Museen zu Berlin).
Ich habe die gesamten Dekorationen im Sommer 1901
farbig und zeichnerisch aufnehmen lassen. Die von den
Malern A. und J. Winkel im J. 1901 angefertigten Kopien
waren im Treppenhaus der Kunsthistorischen Ausstellung
ausgehängt. Vergl. darüber auch Clemen im 7. Jahres¬
bericht der Provinzialkommission f. d. Denkmalpflege der
Rheinprovinz 1902, S. 69 mit Tafel.
Zeitgenossin Meister Wilhelms. Man will es schwer
glauben, dass eine Kunst, die sonst sich in den
Typen einer holdseligen Demut und engelhaften
Reinheit erschöpft, gleichzeitig eines so grauenhaften
Naturalismus fähig ist. Das Antlitz ist schmerzlich
verzogen, der Mund nach allzulangem Klagen erstarrt,
die Augen vom Weinen gerötet, — atembeklemmend
wirkt das Bildnis, und so roh noch und primitiv die
Durchbildung, fast wie die in Schmerz vergrabene
vordere Mutter auf der linken Seite von Bartholome’s
grossem Totenmonument.
Im 15. Jahrhundert setzt diese Kunst zunächst
noch einmal mit ihren lieblichsten Tönen ein. Wie
vollkommen geschlossen, feierlich und doch lieblich
zugleich wirkt die Mittelkomposition von dem grossen
Altaraufsatz aus dem Mindener Dom^). Er steht über
einer Predella, die unter Kleeblattbögen kleine Einzel¬
figuren zeigt,nahe verwandt der BehandlungdesBeckumer
Reliquienschreines, so dass die Figuren fast wie Holz¬
modelle für solche getriebene Goldschmiedearbeiten er¬
scheinen. Der Untersatz ist das älteste bekannte derartige
Altarwerk in Holz: Westfalen besitzt damit, wie die
frühesten gemalten Antependien und Retables, auch
den frühesten hölzernen Altaraufsatz. Das kostbare
Werk, das an Ort und Stelle aufs äusserste bedroht,
schon dem Restaurator zur vollständigen Neupoly-
chromierung überantwortet war, bleibt nun hoffentlich
dauernd, ungeschmälert in seinem kunstgeschichtlichen
Wert, erhalten. Erscheint aber eine Restauration, um
dem kirchlichen Kultusbedürfnis zu genügen, un¬
erlässlich: nun, so ist es schon besser, der Schrein
wandert in seinem unberührten Zustande in ein grosses
Museum und an Ort und Stelle wird eine genaue
Kopie aufgestellt: sie würde sich in Nichts von dem
neuvergoldeten Schrein unterscheiden.
1) Der Mindener Altar abgebildet bei Münzenberger,
Die Kenntnis und Würdigung der mittelalterlichen Altäre
Deutschlands, Taf. 2, und bei Ludorff, Bau- und Kunstdenk¬
mäler Westfalens, Kreis Minden, Taf. 23—25.
Abb. 10. Köln, Sammlung Schnütgen.
Drei l lolzfigiircn
14*
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
1 o6
Es ist noch nicht recht gelungen, im 15. Jahr-
hur.dcrt kölnisdre, wcsifälische und niederrheinische
Plastik iiberah cuseinanderznhalten und noch weniger
niederrheinischc und niedcrländisciie. Die Grenzen
sind liier aucli kau: . mit Sicherheit zu ziehen, nament¬
lich den Riicin c.iuaug. Von dem kölnischen Typus
aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts enthalten
die Sanrmliiugeti Schrrütgen in Köln, Roettgen in Bonn,
Kramer in Kc..'|:u: rUclies Material. Es sind nicht
innner ei/reulichc Erscheinungen, die männlichen
Heiligen schwächlich und wie junge ausgemergelte
Greise, die weiblichen Figuren mit dem fatalen ein¬
gefrorenen Lächeln einer ältlichen Kokette, in eine
knittrige Gewandung gehüllt. Wie frisch hebt sich
von diesen die lebensgrosse reichvergoldete Statue
des heiligen Michael aus der Kirche St. Andreas in
Köln ab. Der Heilige steht freilich ziemlich steif,
der rechte Arm ist kraftlos erhoben, die etwas gezierte
Figur scheint in ein Korsett eingeschnürt zu sein,
aber mit wie ausgesprochenem Schönheitsgefühl ist
dieser Lockenkopf behandelt — es ist ein plastisches
Gegenstück zu dem gemalten heiligen Georg auf dem
rechten Flügel von Stephan Lochner’s Dombild. Eine
ganz verwandte Figur desselben Heiligen hatte sich
auch aus der Kirche St. Kirche St. Aposteln in Köln
dazu eingefunden.
Wir wissen längst, dass an der niederrheinischen
Plastik, die unter dem Namen Kalkarer Schule geht,
auch die Nachbarstädte ihren Anteil haben; Wesel,
Emmerich, Kleve sind hier vertreten, auch wohl die
benachbarten holländischen Städte Nijmwegen und
Arnheim. Auch hier steht die Sonderung in Einzel¬
gruppen noch aus. Und unter den heimischen
Kalkarer Meistern, über deren Namen und Schicksale
uns der Bienenfleiss des 1888 verstorbenen Kaplans
Wolff unterrichtet hat'), der hier für Kalkar dasselbe
geleistet hat, wie für Köln Merlo, können wir doch
nur bei wenigen ein ganzes Oeuvre aufstellen, am
besten bei den späteren. Zwei der grössten Kunstwerke
der höchsten Blüte der Kalkarer Kunst konnten in
Düsseldorf vorgeführt werden: der Marienleuchter von
Heinrich Bernts und die grosse Kreuzigungsgruppe.
Der Marienleuchter ist das umfangreichste Exemplar
dieser ganzen Gruppe-); die Doppelfigur der Madonna
ruht auf einem Sockel, in dem unter anderen der
1) Die erste von A. Wolff im J. 1S80 herausgegebene
Publikation trug den Titel: Die Nikolaipfarrkirche zu Kalkar,
ihre Kunstdenkniäler und Künstler, archivalisch und archäo¬
logisch untersucht. Eingehender noch sind die reichen
Quellen des Stadtarchivs ausgenutzt in desselben Verfassers
Geschichte der Stadt Kalkar, nach des Autors Tode 1893
von St. Beissel herausgegeben. Vergl. weiter j. B. Nord¬
hoff im Organ f. christl. Kunst XVIII, S. 235, 248, —
L. Scheibler, Maler und Bildschnitzer der sog. Schule von
Kalkar: Zs. f. bildende Kunst XVIII, S. 28, 59. — Münzen¬
berger, Zur Kenntnis und Würdigung der mittelalterlichen
Altäre Deutschlands, S. 145. — Xanten ende Calcar, Publi¬
kation der St. Bernulphusgilde für 1889, Utrecht 1890. —
Clemen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Kreis Kleve,
S. 49.
2) Über den Marienleuchter Wolff, Nikolaipfarrkirche
S. 44. Ders., Gesch. der Stadt Kalkar S. 168. — aus’m
schlummernde jesse abgebildet ist, von seinem Schosse
wächst ein Stamm empor, dessen zwei Zweige sich
auf beiden Seiten wie ein Stammbaum als Rahmen
um das Bild der Gottesmutter legen: die Halbfiguren
der Vorfahren Christi wachsen aus den Blüten heraus.
Etwas kleiner ist der 1517 gefertigte und 1533 von
Meister Johann Erwein aus Köln polychromierte
Marienleuchter aus der Pfarrkirche zu Erkelenz, noch
zierlicher der aus der Propsteikirche in Dortmund.
Verwandt sind dem Kalkarer am Niederrhein aber
vor allem die Leuchter von Xanten und Kempen.
Und endlich die prachtvolle Kreuzigungsgruppe ^).
Welch mächtiges Pathos spricht aus den Gestalten!
Der heilige Johannes unter dem Kreuz, selbst die in
schwerem Wurf die Figur verhüllende Gewandung
scheint diesem pathetischen Zug Folge zu leisten.
Die Madonna dagegen mit einem ergreifenden durch¬
geistigten Kopf schliesst in schmerzlicher Wehmut
die Augen und kreuzt die schmalen hageren Hände
über der Brust. Hier ist am Ausgang der Spätgotik
— die Gruppe gehört etwa ins Jahr 1520 — alles
Kleinliche, Befangene abgestreift, die fast lebensgrossen
Gestalten sind von einem geborenen Plastiker erdacht,
mit hohem Sinn für Monumentalität gestellt.
Sk sf;
Von grösstem Wert für die Kritik der westdeutschen
Frührenaissance war die Zusammenstellung einer Reihe
der Hauptwerke der Renaissanceplastik mit auserlesenen
Abgüssen. Wohl das früheste Renaissancewerk am
Rhein ist jenes entzückende Bronzeepitaph des Fürst¬
bischofs Jakob von Kroy vom Jahre 1517, das sich
in der Schatzkammer des Domes befindet-). Die
Figuren selbst sind noch ganz spätgotisch, die
schmucken Gestalten, jede für sich frei gegossen, mit
grossem Geschick eng hintereinander angeordnet; die
Architektur ist aber schon ganz erfüllt von der
flandrischen Frührenaissance — ein lustiger Putten-
reigen bildet die Krönung und die Ecksäulen zeigen
jene für die früheste Phase der niederländischen
Renaissance so überaus charakteristische Häufung der
Formenelemente. Als ob sich der Künstler gar nie
hätte Genüge thun können, sind hier Kapitäle un¬
mittelbar auf Basen gepfropft, Schaftringe, Knäufe,
Baluster darauf gestellt - es fehlt völlig an einem
ruhigen Stück Schaft. Zwei Jahre darauf entsteht
dann, wieder von einem Ausländer, diesmal aber einem
Süddeutschen geschaffen, das Wandepitaph der Mar-
Weerth, Kunstdenkmäler Taf. 16, 1. — deinen, Kreis Kleve
S. 73 m. Abb.
1) Die Kreuzigungsgruppe bei Münzenberger a. a. O.
Taf. 42. — Wolff, Nikolaipfarrkirche S. 43. Album Taf.
39-42. — Clemen, Kreis Kleve S. 72 ni. Abb. ~ Wolff,
Gesch. der Stadt Kalcar S. 76. — Die Gruppe stand ehemals
über dem 1818 abgebrochenen Doxal am Eingang des
Chores auf einem Apostelbalken, von dem die Apostel¬
statuetten noch über den Chorstühlen erhalten sind. Die
Gruppe war übrigens ursprünglich bemalt und ist erst
1861 abgelaugt worden.
2) Vergl Schnütgen in der Zs. f. christliche Kunst 1,
S. 243 m. Taf.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
107
garetha von Eltz, das ihr neunzehn Jahre nach ihrem
Tod ihr ältester Sohn Georg in der Karmeliterkirche zu
Boppard setzen lässt'). Es zeigt in dem viereckigen
Rahmen, in Kehlheimer Stein ausgeführt, die Dar¬
stellung der Dreieinigkeit, von der Frau Margaretha
und ihrem Sohn verehrt, in ganz flachem und zarten
Relief, von minutiöser Durchführung. Der Künstler
ist jener Loyen
Hering aus Eich¬
stätt, über den wir
seit einigen Jahren
durch Hugo Graf
näher unterrichtet
sind, der Schöpfer
des Marmordenk¬
mals des Bischofs
Georg im Dom
zu Bamberg, dessen
Stil v/ir aus seinen
sonstigen Arbeiten
in Eichstätt, Ingol¬
stadt, Würzburg,
Regensburg, Heil¬
bronn schon ken¬
nen. Es sind in
beiden Fällen Aus¬
länder, die hier
arbeiten. Auch
grosse kirchliche
Ausstattungsstücke
werden in dieser
Zeit von fremden
Meistern gefertigt,
so der herrliche
Lettner, den die
Familie Hackeney
im Jahre 1524 in
die Kirche St. Maria
im Kapitol zu Köln
stiftet, von zwei
Meistern von Me-
cheln. Erst aus
dem Jahre 1540
haben wir in Köln
das Werk eines
einheimischen Mei¬
sters in ausgespro¬
chenen Renais¬
sanceformen:- die
Dekorationen des
Löwenhofes im Kölner Rathaus, die der Meister Lorenz
in diesem Jahre »up antix« ausführtc.
Von einem zugewanderten Künstler ist auch noch
die Reliefplatte aus Kehlheimer Stein mit dem Bildnis
des Erzbischofs Daniel Brendel von Mainz (1555 bis
1583) gefertigt, die sich jetzt in der Sammlung
1) Hugo Graf i. d. Zs d, bayrischen Kunstgewerbe¬
vereins 1886, S. 77. — Schlecht, Zur Kunstgeschichte der
Stadt Eichstätt, Eichstätt 1888, S. 26. — St. Beissel i. d. Zs. f.
christliche Kunst XI!!, S. 18.
Oppenheim befindet, früher in den Sammlungen
Milani und Spitzer. In reicher Renaissanceumrahmung
erscheint die Halbfigur des Kurfürsten mit dem fein¬
geschnittenen Kopf. Das Werk ist in vielfacher Be¬
ziehung merkwürdig, im Hintergründe erscheint die
von dem Dargestellten wieder hergestellte Martinsburg,
das alte kurfürstliche Schloss zu Mainz: die Tafel ist
deshalb wohl als
eine Erinnerung an
diese Restauration
im Jahre 1558 an¬
zusehen ’).
Die beiden
Strömungen , die
im Anfang am Nie¬
derrhein miteinan¬
der kämpfen, die
italienisierende
und die niederlän¬
dische, die die ita¬
lienischen Formen
nur auf dem Um¬
weg über den
Nordwesten erhält,
finden ihren schärf¬
sten Ausdruck in
einer klassischen
Antithese in dem
berühmten Paar
der beiden Renais¬
sancealtäre von Kal-
kar. Der Meister
Heinrich Douver-
mann, der Schöpfer
des unvergleich¬
lichen Altars der
sieben Schmerzen
Mariä in Kalkar und
der beiden Altäre
zu Xanten und
Kleve, der bis 1528
nachweisbar ist,
i) Collektion
Spitzer, Bois et Pierre
de Munich pL Xi,
171. — Überden Um¬
bau der Martinsburg
vergl. Fr. Schneider,
Denkschrift zur Her¬
stellung d. ehemali¬
gen kurfürstlichen Schlosses zu Mainz S. 10. — Ders., Die
Kunst der Renaissance unter Kurfürst Brendel von Mainz
i. Korrespondenzblatt d. Gesamtvereins d. deutschen Ge¬
schichtsvereine 1876, S. 5. Auf dem Socke! der Relief¬
platte findet sicli die Bezeichnung H. K. V. B. Das könnte
auf Hans Kels von jKaiifjbeuren bezogen werden, den
Meister des berühmten Wiener Spielbrettes (vergl. llg i.
Jahrbuch d. Österreich. Kunstsammlungen Hl, S. 53), aber
dessen Stil ist doch ein total anderer. Mit H. K. ist eine
Platte im Germanischen Museum gezeichnet (Katalog d.
Originalskiilptiiren Nr. 421); ein Bildhauer Hans Kremer
stirbt in Nürnberg 1 567 (Mitteil. a. d. Germ. Nat. Mus. II, S. 278).
Abb. iL Köln, Domschatz. Epitaph des Jakob von Croy
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
io8
ist noch ganz unberührt von den Eornien der Renais-
sa’K'e, er ist die freieste Künsllerpersönlichkeit am
Ende der Spätgotik, voll von leidenschaftlicher Verve,
dazu ein eminenter Techniker, der das Holz in schier
unmögliche Verschlingungen hineinquält'). Aber un¬
mittelbar nach seinem Tode zieht auch in Kalkar die
Renaissance ein. Der Kreuzaltar in der Pfarrkirche
altar (mit der früheren, von einen anderen Altar hin¬
zugefügten) Mittelfigur zeigt ganz die italienisierenden
Formen — in den flachen Pilasterfüllungen Motive
lombardischer Dekoration, ebenso in den feinen geist¬
reich gezeichneten Baldachinen; der im Aufbau ganz
verwandte Crispinusaltar ist dagegen durch und durch
niederländisch, die verkröpften Säulen mit den auf-
Abb. 12. Köln, Sammlung Oppenheim. Porträt des Erzbischofs Daniel Brendel von Mainz
zu Kleve ist wohl das früheste Werk dieser Art, in
der Mitte der dreissiger Jahre entstehen dann neben¬
einander oder hintereinander in Kalkar die beiden
Altäre, die jetzt die Namen Crispinus- und Cris-
pinianusaltar und johannesaltar tragen'^). Derjohannes-
1) Münzenberger, a. a. O. Tat. 54, S. 143. —
Clemen, Kreis Kleve S. 62, gy. — Wolff, Nikolaipfarrkirche
S. 27, 76. — Ders., Gesch. d. Stadt Kalkar S. 140.
Beissel, Die Kirche des h. Viktor zu Xanten III, S. 16, 83.
2) Abbildung des johaniiesaltars bei Wolff, Nikolai-
einandergespiessten Knäufen, die Baldachine mit dem
gedrängten, überfüllten Dekor, dazu der scharfkantige
Schnitt in der in unruhigem Gefältel um die Figuren
gelegten Gewandung.
Eine ganz besondere Stellung gebührt der Trierer
Pfarrkirche S. 34, Album Taf. 8 — 12. — Münzenberger a. a.
O. S. 145, Taf. 42. — Clemen, Kreis Kleve S 68, Taf. 6. —
Renard in den Rheinlanden S. 34 Tafel. — Der Crispinus¬
altar bei Wolff a a O. S. 42, Album Taf. 34—38.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
log
Renaissance. Das umfangreichste Werk dieser Schule,
der riesige Aufbau des heiligen Grabes, den der wohl
von Burgund gekommene Künstler in den Jahren
1530 — 1531 in der Liebfrauenkirche aufgeführt hat,
ist freilich vor vier Jahrzehnten durch einen Akt un¬
verständlicher Barbarei, in der Zeit des schlimmsten
Strebens nach Stilreinheit, aus der Kirche entfernt
worden, die köstliche Architektur war dann im Garten
eines Trierer Kunstfreundes aufgestellt gewesen und
soll erst jetzt in dem projektierten Neubau des Trierer
Provinzialmuseums einen Ehren¬
platz finden. Aber im Dom sind
aus dieser Zeit zwei Denkmäler
erhalten, die zu den erlesensten
Schöpfungen der deutschen Re¬
naissance überhaupt gehören.
Das erste ist das Grabmal
des Kurfürsten Richard von Greif-
fenclau aus den Jahren 1525 bis
1527, schon bei seinen Lebzeiten
durch dem von der Ruhmsucht
der italienischen Renaissance er¬
füllten Kurfürsten errichtet (erstarb
erst 1531 inWittlich). Die Behand¬
lung der Gewandung zeigt noch manche gotische
Züge, der Aufbau der Gruppe ist aber ganz im Sinne
der Renaissance erfasst, die Einrahmung endlich bringt
einen ganz erstaunlichen Reichtum von Ornament¬
motiven in einer fast filigranartigen Behandlung, die
an französische Werke erinnert^). Und endlich das
Metzenhausendenkmal. Es ist eines der vornehmsten
deutschen Grabmäler überhaupt, vielleicht das voll¬
endetste Wandgrab, das die deutsche Renaissance
überhaupt hervorgebracht Deutlich zeigt es den
Einfluss römischer und venetiani-
1) Abbildung des Denkmals in
den Reiseaufnahmen der Studieren¬
den der Technischen Hochschule zu
Aachen. Trier, Blatt 11. — Ortwein,
Deutsche Renaissance, 42. Abt., Taf.
14 u. 15.
2) Aufnahmen bei Ortwein a.
a. O. Taf. 7—12. — Lübke, Deutsche
Renaissance II, S. 465. — Abb. bei
Renardin den Rheinlanden II, Heft 11,
Tafel. Ein weiteres Meisterwerk der
Porträtplastik aus Trier, das in der
Sakristei der Liebfrauenkirche ver-
Ähb. 13. Calcar, Pfarrkirche. Crispinusaltar
1 1 0
..E RHi NISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
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l:-.i z.deizi endlich in
h ; ; da : diese ganz frei-
; r, :geer. Gestalten, die die
sehv/ere Masse des Grabmals
fast spielend nach oben aus¬
klingen lassen, mit ihrem
starken Kontrapost - in der
Mitte der beinahe tänzelnde
Christus. Dabei die Details
von der grössten Schönheit:
die auf Delphinen reitenden
Putten gleichen denen am
Hauptaltar der Pfarrkirche
zu Annaberg, den Adolf
Dowher aus Augsburg ge¬
schaffen hat, die spielenden
Affen am Sockel den Figür-
chen vom Fusse des Sebal-
dusgrabes, und wie bei diesem
hat sich wohl der Künstler
in dem bärtigen Mann am
Unterbau, der Zirkel und
Schlägel hält, selbst abkon¬
terfeit.
Aber wer ist der Künstler?
Wo kommt er her? Hof¬
fentlich werden wir bald
darauf Antwort erhalten. Es
ist an der Zeit, dass diese
ganze Trierer Renaissance
in ihrem gesamten Verlauf
bis zu Hans Ruprich Hoff-
mann, dem Meister der Dom¬
kanzel und des Marktbrun¬
nens, ihren Historiker findet.
Wir werden schon in den
nächsten Jahren zwei Unter¬
suchungen erhalten, die diese
Gebiete hoffentlich mit hellen
Licht erfüllen werden: eine
Arbeit über die Kölner Re¬
naissance von W. Ewald
und hoffentlich eine über
die Trierer Renaissance von
Joh. Bapt. Wiegand.
Abb. 14. Trier, Dom. Grabdenkmal des Erz
bischofs Richard von Grciffenclau aus den
Jahren 1525 1527
Das weite Gebiet der Qoldschmiedekiinst übte
auf der Düsseldorfer Ausstellung wohl die be¬
deutendste Anziehungskraft
aus: die Gelehrten lockte die
einzigartige, wohl nie wieder¬
kehrende Zusammenstellung
verwandter Objekte, die
Künstler, die archaistischen
wie die modernen, die Fülle
der Vorbilder und die darin
sich offenbarende unerschöpf¬
liche Gestaltungskraft, und
die grosse Masse der Laien
das kostbare, prunkende,
schimmernde Material. Allzu
einseitig sind vielleicht ein¬
zelne Abteilungen dieses
ganzen grossen Gebietes wäh¬
rend der Sommermonate in
den Vordergrund geschoben
und untersucht worden: und
doch konnten die hier auf¬
gehäuften Schätze erst wirk¬
lich fruchtbar werden, wenn
Treibarbeit und Gussarbeit,
Gravierung und Niello, Fili¬
gran und Email nebeneinan¬
der behandelt und gewürdigt
wurden. Für die Geschichte
unserer monumentalen Gold¬
schmiedekunst und der ihr
dienenden Techniken ist
diese kurze Ausstellungszeit
wohl von dem grössten
Nutzen gewesen. Nicht als
ob wichtige Fragen hier durch
Abstimmung eines kleinen
republikanischen Gelehrten¬
kongresses zu entscheiden
gewesen wären: aber diese
Zusammenstellung hat Anlass
zu erneutem eifrigen Studium,
zur Aussprache, zum Ver¬
gleiche gegeben und eine
ganze Reihe von Unter¬
suchungen und wichtigen
Veröffentlichungen angeregt.
Was aus den kölnischen
Sammlungen römischer Alter¬
tümer an Goldschmiedewer¬
ken hier vereinigt war, war
nur gering und stand in
keinem rechten Verhältnis zu
der Leistungshöhe dieses
Kunstzweiges. Hier müssen
die Provinzialmuseen zu Trier
und Bonn und das Wallraf-
Richartz-Museum in Köln
aushelfen, dessen römische Abteilung im letzten jahr¬
steckte Wandepitaph des 1564 verstorbenen Kantors Joh. zehnt eine glänzende Bereicherung gefunden hat. In
Segen war gleichfalls iin Abguss in Düsseldorf ausgestellt. das Reich der merowingischen Goldschmiedekunst
1 1 1
DIE
RHEINISCHE UND DIE
WESTEALISCHE
KUNST
führten dann zwei merkwürdige Reliquienkästchen, das
Kästchen aus dem Erzbischöflichen Museum zu Ut¬
recht und das Taschenreliquiar aus dem Schatz des
Dionysiuskapitels in Enger, der auf dem Umweg über
die Johanniskirche zu Herford endlich in das Kunst¬
gewerbemuseum zu Berlin gelangt ist. Das nur
6,2 Centimeter lange
Utrechter Kästchen i),
das vor mehr als zwei
Jahrzehnten im Rhein
gefunden ist, ist in
einer Art Kerbschnitt¬
technik ornamentiert
und auf der Vorder¬
seite in reinem Olas-
emai! verziert, mit
roten Almandinen, die
auf kaltem Wege in
die kleinen in den
Kupferkern eingegra¬
benen Gruben ein¬
gelassen sind. Das
kleine Bijou ist ein
klassisches Beispiel
der einfachsten ver-
roterie cloisonnee,
ähnlich wie an dem
ganz gleichaltrigen
Reliquiar von Saint
Maurice d’Agaune^).
Das Taschenreli¬
quiar aus Enger ^),
das eine alte Tradition
als das Patengeschenk
Karl’s des Grossen
an den Sachsenherzog
Wittekind bezeichnet,
bringt dagegen schon
eine gemischte Tech¬
nik: neben der ein¬
fachen Verroterie, die
hier Muster ähnlich
wie an dem berühm¬
ten ehemaligen Kelch
von Chelles zeichnet,
erscheint ein ganz pri-
1) Charles de Li¬
nas, Coffret incruste et
emaille de Utrecht,
Paris 1879. — Ernest
Rupin, L’oeuvre de Li¬
moges, Paris 1890, p.35.
2) Charles de Linas, Les Origines de l’orfevrerie
cloisonnee, Paris 1887, III, pl. 11 u. 12. — F. de Lasteyrie,
Histoire de l’orfevrerie p. 77. — Ed. Aubert, Tresor de
l’abbaye de Saint Maurice d’Agaune, Paris 1S72, pl. 11. —
A. Venturi, Storia dell’arte Italiana II, p. 94.
3) Charles de Linas, Les expositions retrospectives en
1880: Bruxelles, Düsseldorf, Paris, p. 110, 127. — Fr. Bock,
Die byzantinischen Zellenschnielze der Sammlung Swenigo-
rodskoi, Aachen 1896, S. 368, Taf. 25.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 5
Abb. 75. Trier, Dom. Grabdenkmal des Erzbischofs
Johann von Metzenhausen (f J540)
mitives Zellenemail: die Farben sind zum Teil über
die Stege übergetreten und verwischen so die Zeich¬
nung. Weit mehr als irgend eine andere zu dieser
Gruppe gehörige Arbeit offenbart sich dies Kästchen
des 8. Jahrhunderts als Barbarenwerk, mit derben,
schweren Fingern geschaffen, ungeschickt eine reife
Technik nachbildend.
Dann kommt in
den nächsten Jahrhun¬
derten für West¬
deutschland eine Pe¬
riode langsamer Re¬
zeption byzantinischer
Kunst - auf dem
Wege des Imports,
des friedlichen und
des gewaltsamen, als
Kaufware, Geschenke
und als Beutestücke
gelangen zahlreiche
Werke der Kleinkunst
nach dem deutschen
Westen. Man darf
sich freilich keine
dauernden Beziehun¬
gen vorstellen: der
Einfluss wirkt inter¬
mittierend, stossweise.
Auch keinen Massen¬
import: denn das
Byzantinische war
immer zugleich im
Material das Kostbare.
Nur die Goldschmie¬
dewerkstätten wurden
wohl regelmässig von
den Geschäftsreisen¬
den byzantinischer
Exportfirmen besucht :
was diese verkauften,
das waren vor allem
Halbedelsteine und
kleine viereckigeTäfel-
chen, mit zarten sym¬
metrischen Ornamen¬
ten in Zellenemail be¬
deckt, oft wohl in
langen Streifen und
gar nicht auseinander
geschnitten. Diese
Würfelchen wurden
dann auf Buchdeckeln,
auf Prachtkreuzen,
auf Reliquiaren von den einheimischen Künstlern mit
grösserem oder geringerem Geschmack angebracht
und verteilt — auf dem kostbaren Deckel des
karolingischen Evangeliars aus dem Münsterschatz zu
Aachen getrennt*), auf dem Deckel einer Evangelien-
1) Abb. bei Bock, Karl’s des Grossen Pfalzkapelle
und ihre Kunstschätze, Fig. 26, S. 55. — aus’m Weerth,
Kunstdenkmäler, Taf. 34, 2; Text II, S. 94.
15
112
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
handsclirift im Donischatz zu Trier’) noch in Streifen
unaufgeteilt. Noch an den Vortragskreuzen in der
Schatzkammer zu Essen werden diese kleinen Email¬
blättchen verwendet, zum Teil ganz willkürlich —
auf dem Kreuz der Äbtissin Theophanu (1039 — 1054)
Täfelchen, die ursprünglich zu dem kreisförmigen
Nimbus einer ^'igur gehörten'“). Dass der Essener
Schatz fehlie, wurde vielleicht am schmerzlichsten in
Düsseldorf etnpfnnuen, schmerzlicher noch als das
Fernbleiben des Limburger Domschatzes. Allzu ängst¬
lich fast hütet der Essener Kirchenvorstand seine
Kostbarkeiten. Hoffentlich rückt dafür in Bälde die
seit einem Jahrzehnt schon vorbereitete grosse Publi¬
kation Georg Humann’s, des besten und berufensten
Kenners der Essener Kunstschätze, diese gesamten
Kunstwerke in das vollste Licht der Öffentlichkeit.
Als derbe byzantinische Arbeit der späteren Zeit
wurde eine Staurothek vorgestellt, die vor wenigen
Jahren in Italien für die Sammlung des Freiherrn
Albert von Oppenheim in Köln erworben wurde®).
Der Kern ist Silber, Platten von durchsichtigem
Zellenschmelz auf Goldgrund verkleiden ihn. Die
Zeichnung des Deckels mit der Kreuzigung erinnert
sehr auffällig an die Vorderseite des einen byzan¬
tinischen Deckels in der Schatzkammer der Markus¬
kirche zu Venedig'’), die Halbfiguren von Heiligen
auf der Seite fast an russische Arbeiten. Doch scheint
die Vorlage des Deckels sich ohne Zwang in eine
Gruppe von verwandten byzantinischen Arbeiten ein¬
zureihen; ähnliche Christusdarstellungen, nur mit dem
Kolobion bekleidet, enthält das Muttergottesbild von
Chachuli im mingrelischen Kloster Gelat, das Kreuz,
das aus der Sammlung Beresford Hope im Jahre
1886 für das South- Kensington - Museum erworben
ward, endlich das Kreuz der Sammlung Goluchöw®).
Wie solche byzantinische Emailplättchen in deut¬
schen Goldschmiedewerkstätten Verwendung fanden,
zeigt auch der prachtvolle Goldschmuck aus dem
Besitz des Freiherrn Max von Heyl in Darmstadt,
ln Deutschland ist er ganz ohne Parallele, nur die
Briistagraffe mit dem emaillierten Adler findet in dem
Adlerschmucke des Mainzer Museums ein Gegen¬
stück®). Der ganze Schatz, der in der Behandlung
1) Abb. bei aus’m Weerth a. a. O. III, S. 84, Taf. 57, 3.
2) Über den Essener Schatz vergl. aus’m Weerth II,
S. 22, Taf. 24 29. — Clemen, Kunstdenkmäler der Rhein¬
provinz. Stadt und Kreis Essen, S. 42 mit Litteratur. Die
Hauptstücke waren auf der kunsthistorischen Ausstellung
zu Köln 1876. Vergl. Katalog Nr. 535, 538, 539, 542—46,
557-62, 575-79, 581, 583-
3) Abb. bei Bock, Die byzantinischen Zellenschmelze,
S. 169, Taf. 8.
4) Der Deckel bei Antonio Pasini, II tesoro di San
Marco in Venezia, Venedig 1885, pl. 6. Vergl. Labarte,
Histoire des arts industriels III, p. 419. — W. Kondakow,
Geschichte und Denkmäler des byzantinischen Emails
S. 100, 185.
5) Das letztere abgeb. in Collections du chäteau de
GoJuchöw. L’orfevrerie par W. Froehner p. 76, pl. 18.
Schon beschrieben von Ch. de Linas i. d. Revue de l’art
chretien XXXI, 1881, p. 288.
6) Die Agraffe des Mainzer Museums ist im j. 1880
und Verwendung des Emails, in der Filigran- und
Granuliertechnik eine erstaunliche Feinheit aufweist,
und der wohl eines der letzten Stücke ist, an dem
antike Kameen und Intaglien in solcher Fülle zum
Schmuck benutzt wurden, ist aber erst in Verbindung
mit den Altertümern Russlands zu verstehen ’). Vor
allem sind die Schätze der Eremitage hier zu ver¬
gleichen. Ähnliche Schmuckstücke in der Form eines
hohen goldenen Knopfes finden sich auch sonst in
abendländischen Sammlungen, eines im Clunymuseum,
andere im Museum zu Kopenhagen, im britischen
Museum. Besonders charakteristisch für die byzan¬
tinische Technik sind die Fingerringe — mit dem
schönsten dürfte der Ring im Nationalmuseum zu
Pest und ein anderer in der Sammlung des Grafen
Bobrinski in Petersburg zu vergleichen sein'’) Wir
haben hier wohl den Schmuck einer deutschen
Fürstin aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts
vor uns, die sich aber ganz nach byzantinischer Art
kostümiert haben muss: die grossen Schmuckgehänge,
die von dem Kopfschmuck bis auf die Brust herab¬
baumelten, sind den byzantinischen Kaiserinnen ent¬
lehnt. Und vor allem in den schweren halbmond¬
förmigen Ohrringen lebt noch ganz die antike Tra¬
dition nach. Schwer ist es, hier ganz das byzan¬
tinische Material und die deutsche Arbeit zu sondern.
Die kleinen ovalen Ornamente mit der regelmässigen
Palmette kommen an den grossen goldenen Ohr¬
gehängen der Sammlung Swenigorodskoi, ebenso
aber auch an den Langseiten des Trierer Andreas¬
schreins vor. Wo liegt die Grenze?
Ein halbes Jahrhundert vorher aber ist schon in
Trier der Übergang zu der byzantinischen Technik
des Zellenemails gelungen. Waren wandernde byzan¬
tinische Goldschmiede selbst die Künstler oder
nur die Lehrmeister oder haben Fremde im Verein
mit einheimischen Kräften jene ersten Arbeiten be¬
gonnen? Es ist eine stattliche Zahl von Werken
noch heute übrig, die von der Fruchtbarkeit und
von der erstaunlichen Leistungsfähigkeit jener Schule
Kenntnis giebt — und zum erstenmal vermögen
wir hier auf dem Gebiete der Goldschmiede¬
kunst innerhalb der deutschen Grenzen von einer
ausgesprochenen Schule zu reden. Die Hauptwerke
gruppieren sich um die Person des Trierischen
Bernward, des grossen Kirchenfürsten Egbert (975
bis 993). Der Ruhm seiner Schule war damals weit
in Mainz gefunden. Vergl. darüber eingehend Ch. de Linas,
Les expositions retrospectives en 1880, p. 128. — Fr.
Schneider i. d. Jahrbüchern des Vereins von Altertums¬
freunden i. Rheinlande LXIX, S. 115. — Bock, Die byzan¬
tinischen Zellenemails S. 384, Taf. 29. — Farbige Abb. i.
d. Zs. d. Vereins z. Erforschung d. rheinischen Geschichte
u. Altertümer III, 1883, Heft 2.
1) Der Heyl’sche Schatz ist gewürdigt bei Kondakow,
a. a. O. S. 259. Eingehend über die verwandte Art des
byzantinischen Schmuckes ebendort S. 325.
2) Das eine Schmuckstück im Clunymuseum bei de
Linas, Les origines de l’orfevrerie cloisonnee I, pl. 5 bis.
— Über den Fester Ring vergl. Katalog der Ausstellung
1884. — A Magyar törteneti ötvösmü Kiällitäs, Abt. III,
Nr. 1, 138.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
113
über die Grenzen der Erzdiözese gedrungen, bis nach
Reims und an den Kaiserhof. Reims hatte seit den
Tagen, da es die eigentliche Hauptstadt der römischen
Provinz bildete, der auch Trier angehörte, immer
enge Verbindung mit der Moselstadt behalten, aus
Reims wendet sich der Erzbischof Gerbert, der nach¬
malige Papst Silvester II., an den Trierer Erzbischof
mit der Bitte, allerlei Altargerät für ihn in seiner be¬
rühmten Werkstatt anfertigen zu lassen, und er er¬
bittet vor allem eines: die adiectio vitri, das Email').
*
*
Ein Werk vor allem bleibt mit dem Namen
Egbert’s verbunden: der Reliquienschrein des heiligen
Andreas (vergleiche die farbige Tafel) im Domschatz
zu Trier-). Es ist ein Tragaltar und zugleich ein
Reliquienschrein. Ein ganz kleines Stück eines
flammenförmig gemusterten antiken römischen Glas¬
flusses dient als Altarstein. Man möchte das kost¬
bare Stück die vollendetste deutsche Goldschmiede¬
arbeit des 10. Jahrhunderts nennen. Es befriedigt
selbst unsere modernen Künstler, die durch die zarten
Reize japanischer Kunst verwöhnt sind. Die kolo¬
ristische Wirkung ist eine ganz einzige: die mattgelben
Beinplatten, mit denen der Kern verkleidet ist, bilden
die Vermittlung zwischen dem schmalen Rahmen und
den kleinen figurierten Feldern, ln dem Rahmen
wechseln Platten mit grossen Edelsteinen oder Perlen
in Kästchenfassung mit Plättchen in Zellenemail, ein
goldenleuchtender Fuss, reich mit Perlen besetzt,
krönt den Deckel. Die Bestimmung des merkwür¬
digen Stückes giebt die Inschrift: der Kasten sollte
neben anderen Reliquien eine der Sandalen des
Apostels Andreas bergen. An der einen Schmalseite
ist eine kostbare merowingische Rundfibel eingelassen,
in rotem Zellenglasemail verziert, in der Mitte eine
byzantinische Goldmünze justinian’s II. In den
kleinen roten herzförmigen Verzierungen, die zu je
vier um die Edelsteine herumgestellt sind, lebt noch
die alte Verroterie, im übrigen aber zeigt der Schrein
das köstlichste Zellenemail und zwar in zwei ver¬
schiedenen Techniken. An den Schmalseiten reines
Zellenemail, auf eine goldene Platte dünne goldene
Stege aufgelötet und in diese die Farbe eingelassen.
Auf den Langseiten ist dafür in den massiven goldenen
1) Die Briefe Gerbert’s an Egbert bei Migne, Patro-
logia Bd. CXXXVII, p. 514. Vergl. Marx i. d. Trierer
Mitteilungen des archäologisch-historischen Vereins I, S.
132. — Vergl. auch Sauerland, Trierer Geschichtsquellen
d. 11. Jh. S. 116. Über die ganze Frage handelt St. Beissel,
Erzbischof Egbert u. d. byzantinische Frage: Stimmen
aus Maria Laach XXII, S. 260.
2) Die gleichzeitige Inschrift auf dem Deckel nennt
den Erzbischof als den Auftraggeber: Hoc sacrum reli-
quiarum conditorium Egbertus archiepiscopus fieri iussit . . .
Abb. bei aus’m Weerlh, Kunstdenkmäler I, 3, S. 78, Taf. 55.
— Leon Palustre, Le tresor de Treves p. 6, pl. 3^5. —
Bock, Die byzantinischen Zellenschmelze der Sammlung
Swenigorodskoi S. 93, Taf. 3 u. 4. — Vergl. Kraus, Bei¬
träge zur Trierer Archäologie und Geschichte I, S. 150.
Die Inschrift vollständig bei Kraus, Die christlichen In¬
schriften der Rheinlande II, Nr. 353.
Platten zunächst eine Grube, ein Bett, gegraben, in
das dann die dünnen Stege, die die einzelnen Farben
trennen sollen, eingelötet sind. Liegt nicht hier
schon eine Art gemischtes Email vor, wie wir das an
den späteren rheinischen Schreinen treffen? Trotz der
grossen Verschiedenheiten sind diese beiden Gattungen
von Emails doch Arbeiten einer Schule, einer Werk¬
statt. Sie weisen zu viel Verschiedenheiten von den
echten byzantinischen Schöpfungen auf, um sie für
Byzanz in Anspruch zu nehmen: man vergleiche nur
einmal die Zeichnung der Ornamente und die Technik
auf gleichzeitigen rein byzantinischen Werken, etwa
auf der nur um dreissig Jahre älteren Kreuzestafel in
Limburg, die um 940 für Constantinus Phorphyro-
genitus und Romanus II. Lecapenus geschaffen ist'),
oder mit den Buchdeckeln in der Bibliothek zu Siena
und im Domschatz zu Venedig. Wollte man etwa
die Platten mit den Evangelistensymbolen als byzan¬
tinisch ausscheiden, so müsste man doch auch die
ganz verwandten Platten mit den Evangelistensym¬
bolen auf dem oberen Teile der Hülle zum Stabe
Petri im Limburger Domschatze ausscheiden, der ja
aber als Leistung der Trierer Werkstatt Egbert’s aus
dem Jahre 980 inschriftlich bezeugt ist'-).
Es kommt noch ein anderes Hauptwerk der
Emailkunst hinzu, das durch die rühmliche Liberalität
des Direktors des Gothaer Museums in Düsseldorf
neben den Andreasschrein gestellt werden konnte:
der Deckel des berühmten Echternacher Kodex®). Der
gleiche Farbenaccord wie beim Andreasschrein: Elfen¬
bein, Goldblech, Zellenemails und Edelsteine. In
der Mitte steht die prächtige Elfenbeinplatte mit der
Kreuzigung, das Hauptwerk jener seltsamen Schnitzer-
1) Die Tafel veröffentlicht von E. aus’m Weerth, Das
Siegeskreuz der byzantinischen Kaiser Constantinus VII.
Porphyrogenitus und Romanus II. und der Hirtenstab
des Apostels Petrus, Bonn 1866. — Vergl. Annales archeo-
logiques XVII, p. 337; XVIII, p. 42. Labarte, Histoire
des arts industriels II, p. 83. — Kondakow, Geschichte u.
Denkmäler des byzantinischen Emails S. 20Q. Die In¬
schriften genau bei Kraus, Die christlichen Inschriften II,
S. 312. Übrigens erwähnt Brower, Annales Trevirenses 11,
p. ro2 als in dem Kloster Stuben befindlich (woher auch
die Limburger Tafel stammt) noch zwei weitere grosse
byzantinische Reliquiare, die alle aus der Konstantinopoli-
tanischen Beute des Ritters Heinrich von Ulmen her¬
rühren.
2) Die Stabhülle bei aus’m Weerth, Das Siegeskreuz
S. 15, Taf. 4. Vergl. auch Bock, Die byzantinischen Zellen¬
emails S. 115.
3) Über den Deckel vergl. v. Quast und Otte in der
Zs. f. christliche Archäologie u. Kunst II, S. 240. — v. Quast
und de Verneilh im Bulletin monumental XXVI, S. 115.
Scharfe Abbildungen der Goldplatten bei Stacke, Deutsche
Geschichte 1, S. 281 und bei Otte, Handbuch der Kunst¬
archäologie 1, S. 175, Taf. Die Inschriften bei Kraus,
Christliche Inschriften II, Nr. 334. Die ganze Litteratur
über die Handschrift bei Vöge, Eine deutsche Malerschule
um die Wende des 1. Jahrtausends S. 381. Ich habe nach
sämtlichen Bildern, Vorsatzblättern und Zierblättern der
Handschrift während der Ausstellung vorzügliche Auf¬
nahmen 24x30 cm hersteilen lassen; die Platten befinden
sich im Denkmälerarchiv der Rheinprovinz.
5
114
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
Persönlichkeit vom Ende des lo. Jahrhunderts, rundum
acht getriebene Goldplatteii mit den Darstellungen
der Evangelistensymbole, der Paradiesesflüsse und
von einzelnen Heiligen und gleichzeitigen Persönlich¬
keiten, darunter Otto 111. und Theophanu. Da Otto
als rex und Theophanu als imperatrix bezeichnet
sind, kann der Deckel nur während der Vormund¬
schaft der Theophanu in den Jahren 983- 991 ent¬
standen sein. Die zierlichen Emails stimmen in
Zeichnung und Farbe fast völlig mit denen an den
Schmalseiten des Andreasschreiiis überein: kein Zweifel,
dass wir hier Arbeiten der gleichen Werkstatt, fast
der gleichen Hände vor uns haben. Und endlich
gehören hierher noch zwei Stücke, die in Düsseldorf
zu Füssen des Andreasschreines Platz gefunden
hatten: der nach der Tradition von der Mosel stam¬
mende Rahmen aus Goldblech mit Zellenemails, ur¬
sprünglich wohl die Einfassung eines Steines von
einem Tragaitar, aus dem Beuth-Schinkehnuseum in
BerliiU), und die Hülle des Nagels vom heiligen
Kreuze, die jahrhundertelang in dem Andreasschrein
selbst gelegen hat, in dem Dekor von wundervoller
Reinheit, fast klassisch in der Verwendung des Orna¬
mentes-). Zuletzt ist hier noch anzureihen das Kreuz
aus dem Schatze der St. Servatiuskirche zu Maastricht,
dessen elfenbeinerner Kruzifixus gleichfalls von der
Hand jenes berühmten Schnitzers herrührt, und dessen
Rahmen wiederum mit kleinen Zellenschmelztäfelchen
dekoriert ist'*).
Am Schluss dieser deutschen Zelleneinails steht
die merkwürdige Goldplatte mit der sitzenden Figur
des heiligen Severin aus der Kirche St. Severin in
KöhU). Die Technik ist vollendet schön, die Gold¬
lamellen der Stege sind von der äussersten Zierlich¬
keit, fast wie bei japanischen Arbeiten, die Farben¬
gebung eine wunderbar harmonische. Die Platte
stammt nicht etwa von dem einen Vortragekreuz aus
St. Severin, sondern von dem Reliquienschrein des
Heiligen, der nach der von Gelenius aufbewahrten
Inschrift unter dem Erzbischof Heriman 111. (1089
bis 1099) gefertigt war: an dem Ziergiebel der einen
Schmalseite war dies Medaillon eingelassen. Das
giebt zugleich das Datum für diese Platte. Bis hart
an den Schluss des 11. Jahrhunderts hat sich hier
das Zellenemail in den Rheinlanden erhalten.
Im 12. und 13. Jahrhundert stehen die grossen
1) Die Platte abgebildet bei Bock, Die byzantinischen
Zellenschmelze der Sammlung Swenigorodskoi S. 379,
Taf. 27. — Vergl. Julius Lessing, Die kunstgewerblichen
Altertümer im Beuth-Schinkelmuseum zu Berlin.
2) Der Nagel abgeb. bei aus’rn Weerth, Knnstdenk-
mäler 111, S. 82, Taf. 55, 2. — Bock, Die byzantinischen
Zellenschmelze S. 106, Taf. 5.
3) Abgeb. bei Bock u. Willemsen, Der mittelalterliche
Kunst- und Reliquienschatz zu Maastricht, Düsseldorf 1872.
— Willemsen, Het Heiligdom van St. Servaas te Maastricht,
Maastricht 1888, S. 16. — Bock, Die byzantinischen Zellen¬
schmelze S. 313.
4) Abb. bei Bock, Das heilige Köln. S. Severin S. 5,
Taf. 51. Vergl. Kraus, Christliche Inschriften 11, Nr. 591.
Reliqiiienschreinc im Mittelpunkt der westdeutschen
Goldschmiedekunst. Sie bergen die vornehmsten
Reliquien, sie stellen selbst die vornehmsten Heilig¬
tümer der hervorragendsten Kirchen dar; alles, was
die Kirche, das Kapitel an kostbarem Material, an
Edelmetall, an Edelsteinen besitzt, wird auf sie ge¬
häuft. Auch als künstlerische Leistungen stehen diese
grossen Werke durchaus voran, wir dürfen annehmen,
dass nur die ersten künstlerischen Kräfte hier mit-
arbeiten durften. ln heiligem Wetteifer haben so
Goldschmiede, Modelleure, Bronzebildner, Emailleure,
Filigranarbeiter zusammengewirkt, um ihrer Kirche
ein neues Heiligtum zu schaffen. Oft ist jahrzehnte¬
lang an ihnen gearbeitet worden. Nicht der Mangel
der Mittel war es, was die Fertigstellung verzögerte:
in jahrelanger Arbeit wurde eine Seite nach der
anderen modelliert, getrieben, vergoldet, eine Email¬
platte, eine Emailbüchse nach der anderen wurde
fertiggestellt, und das Fertige dann auf den Holz¬
kern aufgenagelt. Die Art der Aufstellung kam
diesem Verfahren nur entgegen: die Schreine stan¬
den, wie der von Xanten noch heute in einem
Altaraufbau, in dem nur die Stirnseite sichtbar war;
hatte diese ihren Schmuck erhalten, so konnten
die übrigen Seiten gut noch ein paar Jahrzehnte
warten. Der Schrein der heiligen drei Könige in
Köln ist bald nach 1164 begonnen und erst in der
1. Hälfte des 1 3. Jahrhunderts vollendet worden, noch
Otto IV. trägt als König zu seiner Fertigstellung bei;
der Reliquienschrein Karl’s des Grossen in Aachen
wurde bald nach 1165 angefangen — erst im Jahre
1215 war er vollendet. Es ist bei der Kritik dieser
Schreine eben zu beachten, dass sie oft genug die
künstlerische Entwickelung einer ganzen Generation
von Goldschmieden vorführen.
Das Rheinland schafft hier in der heroischen Zeit
des deutschen Mittelalters auf dem Gebiet der Gold¬
schmiedekunst etwas, dem das übrige Deutschland
und dem auch Frankreich und Italien nichts an die
Seite zu stellen haben. Wo ist in der Welt wieder
ein solches mit Kostbarkeiten aller Art überladenes
Gehäuse geschaffen worden wie der Dreikönigeschrein
in Köln!
Die eigentliche Heimat dieser Schreine ist das
niedere Rhein- und Maasgebiet. Am Niederrhein ist
Köln der Stützpunkt und das Centrum, im Gebiet der
niederen Maas giebt es einen solchen Mittelpunkt nicht:
Mastricht, Stavelot, Huy, Namur treten gleichzeitig
hervor, und zwischen beiden Stromgebieten, als Ver¬
mittlerin zum einen wie zum anderen liegt Aachen.
Das ist vor allem im Auge zu behalten, dass die
Goldschmiedekunst dieses ganzen grossen Gebietes
einen ausgesprochenen gemeinschaftlichen Stilcharakter
zeigt. Erst wenn dies Gemeinschaftliche erfasst ist,
darf die Auflösung in Lokalschulen beginnen. Vor
allem auch die grossen Schreine haben einen im
wesentlichen übereinstimmenden Zug; ihre Herstellung
scheint geradezu auf dies Gebiet beschränkt gewesen
zu sein. Die wenigen französischen grossen Reliquien-
tumben, die uns erhalten sind, haben eine ganz
andere Gestalt, ganz andere Verzierungsart: etwa die
Abb. i6. Qofba, Museum. Deckel des lichteniacher Kodex
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
1 1 6
von Moissat-Bas (Piiy-de-D6me) oder die von Ambazac
(Haute Vienne)’). Ohne das heute noch in Belgien
und der holländischen Provinz Limburg erhaltene
Material ist aber eine kunstgeschichtliche Kritik dieser
wichtigsten (uiippe von Goldschmiedewerken ganz
unmöglich; sowohl die Geschichte der Kleinplastik
wie des Emails wird ohne ihre Hinzuziehung immer
in der Luft hängen bleiben.
Ich nenne hier die wichtigsten der auswärtigen
Stücke. Da ist zunächst der Schrein des heiligen
Hadelin in der Kirche zu Vise, der früheste dieser
Gruppe, noch in der ersten Hälfte des 1 2. Jahrhunderts
begonnen-), dann die verwandten beiden Schreine
der heiligen Domitian und Mangold in der Kollegiat-
kirche zu Huy. Weiter zwei der Hauptstücke, der
Schrein des heiligen Servatius in der Servatiuskirche
zu Maastricht-'), und der Schrein des heiligen Remaclus
zu Stavelot-*). Die beiden, etwa um ein halbes Jahr¬
hundert auseinanderliegenden Schreine sind um so
wertvoller, weil sie, im Gegensatz zu den Schreinen
von Siegburg und von St. Pantaleon, den Figuren¬
schmuck noch intakt bewahrt haben. Endlich sind
noch der Schrein der heiligen Ode in der Kollegiat-
kirche zu Amay zu nennen, am Schlüsse zwei
engverwandte Hauptstücke, die zusammen wieder
auf das deutlichste die Verwandtschaft mit Aachen
zeigen: der Schrein des heiligen Eleutherius in
der Kathedrale zu Tournai’’’) und der der heiligen
Julia in Jouarre*’), der erstere 1247, der zweite 1240
1) Die beiden Schreine abgebildet bei E. Rupin,
L’oeuvre de Limoges p. 123, 142, pl. 18 n. 19. Dazu
L. Palnstre et Barbier de Montault, Orfevrerie et emaillerie
limonsine cap. IV.
2) Vergl. Bulletin de la societe d’art et d’histoire du
diocese de Liege VI, p. 173. — Jos. Demarteau, A travers
l’exposition d’art ancien au pays de Liege p. 86. —
J. Destree, La chässe de St. Hadelin: Annales de la societe
archeologique de Bruxelles IV, i8go, p. 283. — Charles
de Linas, L’art et rindustrie d’autretois dans les regions
de la Meuse Beige, Paris 1882, p. 49.
3) Abgeb. bei Bock n. Willernsen, Der mittelalterliche
Kunst- und Reliciuienschatz zu Maastricht, Düsseldorf 1872.
— Willernsen, Het Heiligdom von St. Servaas te Maastricht
p. 4.
4) Jules Helbig, La sculpture au pays de Liege p. 74,
pl. 13. — A. de Noue, La chässe de Saint Remacle ä
Stavelot: Publications de l’academie archeologique de
Belgique 1866. — Vergl. Harless und ans’m Weerth, Der
Reliquien- und Ornamentenschatz der Abteikirche zu Stablo:
Jahrbücher d. Vereins v. Altertumsfreunden i. Rheinlande
LXVl, S. 135-
5) Le maistre d’Anstaing, La chässe de Saint Eleu-
there: Annales archeologiques Xlll, p. 57, 113. — Leon
Oaucherel et le maistre d’Anstaing, la chässe de Saint
Eleuthere, Tournay 1854. — Ysendyck, Documents classes
de l’art dans les Pays-Bas, chässes pl. 6. — Revue de l’art
chretien N. E. Vlil, p. 188. — Dehaisnes, Hist, de l’art
dans la Flandre, l’Artois et le Hainaut, Lille 1886, p. 110,
pl. 3. — Ders., Documents et extraits divers concernant
l’histoire de l’art dans la Eiandre etc. I, p. 58 giebt die
Übertragung. — Didron i. Bull, des commissions d’art et
d’archeologie de Belgique XV, p. 191.
6) Annales archeologiques VIII, p. 136, 260, 295;
vollendet. Die Tumba der h. Gertrud in Nivelles ge¬
hört schon ganz in die Herrschaft der Gotik, ähn¬
lich wie der Suitbertusschrein zu Kaiserswerth — sie
ist erst 1272 begonnen und als Künstler werden
Nicolas de Douai und Jacques de Nivelles genannt,
die nach der Zeichnung des maistre Jakemon l’orfevre,
Mönch zu Anchin, arbeiten müssen.’) Der Schrein
von Jouarre, ins Departement Seine-et-Marne ver¬
schlagen, giebt sich doch ohne weiteres als zugehörig
zu jener Maasgruppe, deren Ausläufer bis Tournai
reichen. Ein paar kleinere Reliquiare sind wie die
Stirnseiten solcher Schreine behandelt, die der heiligen
Candidus, Monulphus, Valentin und Gondulphus aus
der Kollegiatkirche zu Maastricht, jetzt im Museum
zu Brüssel, die kleineren Reliquiare in Lüttich und
Maastricht. Und dabei sind diese auf so engem Raum
zusammengedrängten Kunstwerke nur ein kleiner Teil
der im 12. und 13. Jahrhundert hier entstandenen
Reliquienschreine. In den Rheinlanden wissen wir
nur von wenigen grossen Tumben ausser den er¬
haltenen — der älteste in Essen, in Bonn die
Schreine der heiligen Cassius und Florentius, in
Köln die Schreine von St. Cunibert und St. Severin
— in den Maasgegenden zählt Dehaisnes aus den
Jahren 1040 — 1272 nicht weniger als achtzehn grosse
untergegangene Prachtschreine auf^). Lothringische
und nordfranzösische Einflüsse spielen hier hinein:
in der Kathedrale zu Tournai steht neben dem
Eleutherusschrein die chässe de Notre-Dame, die in¬
schriftlich im Jahre 1205 vom magister Nicolaus de
Verdun angefertigt ist®) — von dem Künstler des
Klosterneuburger Altaraufsatzes, 24 Jahr nach diesem
ausgeführt.
Die Herstellung dieser Schreine im 12. Jahrhundert
schliesst sich eng an die plötzlich gesteigerte Reli-
XIX, p. 15. — Am. Aufaiivre et Ch. Eichot, Les monu-
ments de Seine-et-Marne p. 193.
1) Der merkwürdige Vertrag ist publiziert in den An¬
nales de l’academie d’archeologie de Belgique VIII, p. 517.
— Vergl. Dehaisnes, Documents et extraits 1, p. 64. —
Ders., Histoire de l’art dans la Eiandre p. 272. Die Tumba
ist erst 1298 vollendet.
2) Dehaisnes, Documents et extraits I, p. 22, 24, 25,
26, 33, 36, 37, 39, 42, 46, 51, 56, 58, 60, 64, 66. Über die
im 17. Jahrhundert in Köln erhaltenen Schätze vgl. aus¬
führlich Aeg. Oelenius, De admiranda Coloniae magni-
tudine v. J. 1645, und Supplex Colonia v. J. 1639.
3) Dehaisnes, Documents et extraits I, p. 115. —
E. J. Soll, La cathedrale de Tournai p. 37. — aus’m Weerth
i. Correspondenzblatt des Gesamtvereins 1866, S. 20. Über
Tournai noch zu vergl. A. de la Orange et L. Cloquet,
Etudes sur l’art ä Tournai et sur les anciens artistes de
cette ville: Memoires de la soc. hist, de Tournai XX, XXL
Weiteres Material für die Geschichte der Edelmetallkunst
in den Maasgegenden ausser bei J. Helbig und J. J. van
Ysendyck bei Ch. de Linas, L’arl et l’industrie d’autrefois
dans les regions de la Meuse Beige: Memoires de l’aca¬
demie d’Arras 1883. — A. Pinchart, Histoire de la dinan-
derie et de la sculpture de metal en Belgique: Bull, des
commissions d’art et archeologie 1874. — Societe de l’art
ancien en Belgique. Orfevrerie, Dinanderie, ivoires, 4 Bde.,
Brügge 1883—86. — J. Destree, Les murees royaux du parc
du Cinquantenaire et de la porte de Hai ä Bruxelles.
Abb. 17. Köln, St. Maria in der Schnurgasse. Maiiriniisschrein
Abb. 18. Köln, St. Maria in der Schnnrgasse. Albiniisschrein
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
1 iS
quienverehrung an. Die grossen Stifter sahen iin
Besitz berühmter Reliquien die wesentlichste Förde¬
rung ihrer Macht und bemühen sich, dem Ruf ihres
Heiligen auch äusserlich durch ein kostbares Gewand
Ausdruck zu geben — und nachdem einmal eine
Kirche vorangegangen, können die Nachbarkirchen
nicht gut Zurückbleiben. In der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts blüht diese Neigung vor allem am
Niederrhein: im jahre 1164 halten die Gebeine der
heiligen drei Könige ihren feierlichen Einzug in
Köln, im nächsten Jahre erhebt der Kaiser Friedrich
Barbarossa im Münster zu Aachen die Gebeine Karl ’s
des Grossen und lässt seinen grossen Vorgänger heilig
sprechen. Für die heiligen drei Könige wie für den
grossen Karl wurden jetzt Prachtschreine begonnen
— und das erregt wieder den Ehrgeiz der benach¬
barten Kirchen.
Die Ausstellung von vollen 23 der kostbarsten
rheinischen und westfälischen Schreine war wohl der
Glanzpunkt der ganzen Ausstellung. Nur die Spitzen
der Entwickelung fehlten, die beiden Schreine des
Aachener Münsters, des Kölner Domes, endlich der
Schrein der heiligen Elisabeth in Marburg. Aber
das Rheinland war sonst vollständig vertreten. Nur
einer der noch erhaltenen rheinischen Schreine ist
dem Rheinland selbst entfremdet, einer der dürftigsten,
der des heiligen Potentianus aus Steinfeld in der
Eifel, der jetzt in der Apollogalerie im Louvre zu
Paris steht*). Aber eine ganze Reihe von Resten
bewahren noch deutsche Sammlungen: das Museum
zu Darmstadt die Reste des Kunibertusschreins“) und
einen grossen Teil der Beschläge von einem — wohl
auch aus Köln stammenden — unbekannten Schrein
mit reichen kölnischen Emails das Kunstgewerbe¬
museum zu Berlin.
Alle Techniken sind an diesen grossen Pracht¬
stücken gleichmässig vertreten; im Anfang streiten
sich das Grubenemail und die Plastik um die Herr¬
schaft, später überwiegt die Plastik. Aber alle Tech¬
niken sind hier gleichzeitig nebeneinander zu studieren,
keine auf Kosten der anderen zurückzuschieben. Zu¬
mal für die kunstgeschichtliche Würdigung, für die
Lokalisierung, die Zuweisung zu einer Gruppe, einem
Meisteratelier dürfen nicht aus einer Technik allein
die Anhaltspunkte gewonnen werden. Wenn am
Tragaltar des heiligen Gregorius Bänder Vorkommen,
die unzweifelhaft aus derselben Eisenstanze geschlagen
sind, wie die am Schrein des heiligen Maurinus aus
St. Pantaleon und am Ursulaschrein aus St. Ursula,
so beweist das allein durchaus noch nicht, dass jene
drei Arbeiten im gleichen Atelier geschaffen zu sein
brauchen. Solche gestanzte Streifen konnten am ehesten
als Massenartikel für Goldschmiedeateliers über einer
Stanze angefertigt und nach der Elle verkauft werden.
Sollte man denn etwa all die abendländischen Ar¬
beiten, an denen die oben beschriebenen kleinen by-
1) A. Darcel, Musee du Louvre. Notice des emaux
et de l’orfevrerie p. 461. Abgeb. Acta Sanctorum Juni III,
P- 585-
2) Vergl. Ditges in der Zs. f. christliche Kunst XII,
S. 220.
zantinischen Zellenemails Vorkommen, deshalb in ein
byzantinisches Atelier verweisen? Der Albinusschrein
aus St. Pantaleon zeigt — selbst wenn man die
spätere Umgestaltung und Verunstaltung abrechnet —
dass die Verfertiger auf dem Kern anbrachten, was
sie von fertigen Emailplättchen gerade in ihren Schub¬
laden liegen hatten, oder was sie erwerben konnten:
so sind die Arbeiten von zwei, vielleicht von drei
fremden Händen oder Ateliers hier vereinigt *).
Die heute an der Spitze der niederrheinischen
Schreine stehende Prachttumba von Xanten war
durchaus nicht die älteste. Noch aus der ersten
Hälfte des 1 1. Jahrhunderts stammte der Schrein der
heiligen Marsus und Lugdrudis in der Stiftskirche zu
Essen-), von der Äbtissin Theophanu (1039 — 1054)
gestiftet, ein merkwürdiges Werk, an dem der byzan¬
tinische Einfluss sich auch durch die zur Hälfte griechi¬
schen Inschriften verriet. Am Ende des Jahrhunderts, in
den neunziger Jahren, war dann der seines alten
Schmuckes fast ganz beraubte Schrein von St. Severin
in Köln entstanden. Für den Xantener Schrein ist
ein Datum überliefert, das Jahr 1129, in dem die Ge¬
beine des heiligen Viktor erhoben und in dieser Tumba
auf dem Hochaltar niedergelegt worden sein sollen.
Das Datum kann stimmen für die schwerfälligen, un¬
geschickt getriebenen Figuren mit den vorhängenden
glotzäugigen Köpfen auf den Langseiten, aber nicht
für die Deckel mit den feingetriebenen, nur schwer
verletzten Figuren der klugen und der thörichten Jung¬
frauen, die frühestens der zweiten Hälfte desjahrhunderts
angehören’’). Die Emails auf den flachen Pilastern
sind hier ganz primitiv: einfache und derbe, immer
wiederkehrende Ornamentmotive.
Die Frage, woher das Email gekommen, wo es
zuerst aufgetreten, wo der Hauptsitz dieser Fabrikation
gewesen, wie es sich zu dem Email der benachbarten
Provinzen verhalten, hat im vergangenen Sommer die
in Düsseldorf vereinigten Gelehrten wiederholt be¬
schäftigt. Eine Lösung der Frage haben diese flüch¬
tigen Untersuchungen nicht gebracht, nur das Studium
selbst gefördert. Die beste Frucht dieser Vorführung
so vieler Glanzstücke des rheinischen Emails ist sicher
die, dass die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde
eine grosse Publikation über die rheinische Gold¬
schmiedekunst und das Grubenemail in Aussicht ge¬
nommen hat. Die Bearbeitung wird Hans Graeven über¬
nehmen, nicht auf Grund des lückenhaften Düsseldorfer
Materials, das noch längst keine eingehende und um¬
fassende Würdigung ermöglicht, sondern unter Hinzu-
1) Vergl. über die ganze Gruppe neuerdings die feinen
Beobachtungen von Beissel in den Stimmen von Maria
Laach 1902, S. 330 und von Renard i. d. Rheinlanden 1902,
Heft 11, S. n.
2) Clemen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz. Stadt
und Kreis Essen S. 54. — Bock, Die byzantinischen Zellen¬
schmelze S. 151. — Kraus, Die christlichen Inschriften II,
Nr. 645.
3) Abb. bei aus’m Weerth, Kunstdenkmäler I, S. 40,
Taf. 18, I. — Beissel, Die Bauführung des Mittelalters I,
S. 63. — Clemen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz. Kreis
Moers S. 106.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTEÄLISCHE KUNST
119
Ziehung der gesamten in den Kirchen, Museen und Samm¬
lungen Europas zerstreuten Stücke. Es wäre an der
Zeit, dass wir über diese wichtigste Gruppe aus der
deutschen Edelmetallkunst des Mittelalters eine grund¬
legende Publikation erhielten, wie sie das byzanti¬
nische Zellenemail, dank der ausserordentlichen
Liberalität Alexanders von Swenigorodskoi durch
Kondakow, wie sie das Limoger Email durch Rupin
gefunden hat.
Bis diese Untersuchungen vorliegen, muss man
sich darauf beschränken, vorsichtig ein paar Grenz¬
pfähle zu stecken. Sowie man aber zu solcher Ab¬
grenzung übergeht, wird man merken, dass es sich
viel mehr darum handelt, Grenzpfähle auszureissen
als neue zu pflanzen. Es wird möglich sein, für
Köln ein Atelier in St. Pantaleon nachzuweisen. Hier
sind zwei der Hauptschreine entstanden, die jetzt in
der Kirche St. Maria zur Schnurgasse aufbewahrt
werden — der Schrein des heiligen Maurinus und
der des heiligen Albinus. Auf dem Sockel des
Maurinusschreins sind zwei Porträts dargestellt, das
eine als Fridericus, das andere als Herlivus prior
bezeichneU). ln dem einen haben wir wohl den
Verfertiger oder wenigstens den Vorsteher des klöster¬
lichen Ateliers zu sehen. Es ist überhaupt bezeich¬
nend für die Schätzung der Goldschmiedekunst in
dieser Zeit, dass uns eine ganze Reihe von Künstler¬
namen erhalten sind, ln Köln Eilbertus, Reginaldus,
Henricus, in Aachen Meister Wibert, der Schöpfer
des Kronleuchters im Münster und der bekannten
Kappenberger Schale-) im Besitz des Grossherzogs
von Sachsen-Weimar, und Meister Johannes, einer der
Schöpfer des Marienschreines, in der Maasgegend
der Bruder Hugo d’Oignies und Richard de Claire,
in jouarre der Meister Bonnard. Dem Atelier von
St. Pantaleon sind auch noch eine Reihe weiterer
Kölner Schreine zuzuweisen, der Heribertusschrein in
Deutz, der Ursulaschrein der Pfarrkirche zu St. Ursula
und wohl auch eine Anzahl von Tragaltärchen. Die
Gruppe von Tragaltären, die Graeven vor kurzem
zusammengestellt hat, gehört dann wohl zu einem
benachbarten Atelier^). Als Hauptstück ist ihr auch
1) Vergl. Bock, Das heilige Köln, Maria i. d. Schnur¬
gasse S. 11, Taf. 38. — Kraus, Die christlichen Inschriften 11,
S. 272, Ein Herlivus erscheint in einer Urk. v. J. 1181
als einer der ältesten Brüder des Konvents: Rheinische
Urbare I. Hilliger, die Urbare von St. Pantaleon in Köln
S. 96. Die beiden Schreine sind schon beschrieben bei
Aeg. Gelenius, De admiranda niagnitudine Coloniae, Köln
1645, p. 368.
2) Über die beiden Meister vergl. H. Loersch und
M. Rosenberg, Die Aachener Goldschmiede: Zs. d. Aachener
Geschichtsvereins XV, S. 88. Zu den Untersuchungen von
Bock, aus’m Weerth und Beissel über den Aachener Kron¬
leuchter ist neuerdings noch eine Studie von J. Buchkreiner
in der Zs. d. Aachener Geschichtsvereins XXIV, S. 317 zu
nennen, die die Beobachtungen aus Anlass der neuesten
Wiederherstellung wiedergiebt.
3) H. Graeven, Fragmente eines Siegburger Tragaltars
im Kestnermuseum zu Hannover: Jahrbuch d. Kgl. Preus-
sischen Kunstsammlungen 1900.
Das Reliquiar Heinrich’s II. ist publiziert von Darcel in
Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. XIV. H. 5
noch das im Louvre befindliche Reliquiar des Kaisers
Heinrich II. anzureihen, das Werk des Mönches
Welandus. Mit vollem Recht bemerkt Graeven, dass
ein Mönch, der bei seinem Eintritt in den Orden den
Namen des sagenberühmten Schmiedes erhielt, ge¬
wiss ein in der Kunst der Metallbereitung erfahrener
Mann war. Und gern nimmt man auch seine Deutung
der auf die Rückseite einiger Nimben am Siegburger
Annoschrein eingravierten Monogramme auf Wela
hin. Schwerer wird die Abgrenzung nach den Maas¬
gegenden zu. Eine kleine Gruppe von eng unter¬
einander verwandten Werken ist schon längst als
Email von Stablo bezeichnet worden. Charakteristisch
für dieses sind vor allem die dicken schweren, dabei
unsicher in einer Art litera capitalis rustica gezeich¬
neten blauen Inschriften. Als Hauptwerk gehörte zu
dieser Gruppe der wunderbare Altaraufbau, der
durch den Abt Wibald von Stablo (1136 — 1158)
gegen 1148 für den Hauptaltar der Klosterkirche zu
Stablo geschaffen war. Ein Riesenwerk mit getrie¬
benen und vergoldeten Tafeln in reichem Email¬
rahmen, dazu am Mittelbau einige grosse Medaillons.
Das Werk, das noch im Jahre 1718 die Bewunde¬
rung von Martene und Durand erregt hatte, ist am
Ende des 19. Jahrhunderts zu Grunde gegangen, aber
zum Glücke wenigstens in einer genauen Zeichnung
des Staatsarchivs zu Lüttich erhalten'). Von dem
Mittelstück des Altaraufsatzes stammen die beiden
Medaillons mit der Darstellung zweier Engel, jetzt
in der Sammlung des Fürsten von Hohenzollern in
Sigmaringen. Es gehört hierzu vielleicht auch eine
Platte mit der Darstellung der Liebe aus dem Ber¬
liner Kunstgewerbemuseum — und eng verwandt
hiermit ist im Stil und in der Technik eine Gruppe
von kleineren Werken, voran der berühmte Kreuzes-
fuss aus dem Museum in St. Omer und der Stabloer
Tragaltar im Museum zu Brüssel. Nun stimmten
aber diese Werke wieder so deutlich mit dem der
Tradition aus Xanten stammenden Kreuz mit der
Legende der Kreuzerfindung im Beuth - Schinkel¬
museum und vor allem mit der späteren Deckelseite
des Heribertusschreines in Deutz überein, dass, will
man jene angeblich Stabloer Werke ganz ausscheiden,
man notwendig auch jenen Deckel ausscheiden muss.
Es wird überhaupt zunächst schwierig sein, hier
genaue Grenzen zu ziehen. Viel eher dürfte man
ein Bild von der künstlerischen Entwickelung gewinnen,
wenn man zunächst die ganze Maasgegend mit zu
den Rheinlanden hinzunimmt. Reicht doch auch in
den Annales arclieologiques XVIII, p. 154. Vergl. auch
Darcel, Notice des eniaux et de l’orfevrerie p. 31. Die
Monograninie am Annoschrein bei ans’in Weerth, Kunst¬
denkmäler III, S. 22.
1) Van de Casteele im Bulletin der commissions royales
d’art et d’archeologie XXII, p. 213. — Jos. Demarteau, Le
retable de St. Remacle: Bulletin de rinstitut liegeois XVll,
p. 135. — Jules Helbig, La sculpture au pays de Liege,
P- 57-
2) Publiziert in Farbendruck in den Jahrbüchern des
Vereins von Altertumsfreunden im Rheinlande XLVI, pl. 12.
Vergl. Reusens im Bull, des comm. royales XXll, p. 236.
16
1 20
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
der ronianiscl en Architcldiir der kölnische Einfluss
bis Tournai - e an>m nicht auch in der Gold-
schiniedekur. >1/
Dem .■.;aurinusschrein aus St. Pantaleon reihen
sich de" Hcrh erl; ssciircin in Deutz und der Ursula¬
schrein in Sv ’S! a a'i. Sie sind alle in der zweiten
Hälfte des 2. j ' rderts entstanden; der des hei¬
ligen Mcritei;;'. - el-, dein Jahre 1147, dem Jahre
der Erhebbiig der Gebeine begonnen, aber wohl
erst etwa ei.i pi-ai jalirzehnte später vollendet ^). Hier
erscheint das ältere kölnische Grubenemail auf dem
Höhepunkte. Virtuoser und zugleich monumentaler
i^i es nie gehandhabt worden. Die fünf Töne Hell-
lih’ii, Dunkelblau, Grün, Gelb, Weiss bestimmen den
; ..rbenacemd — charakteristisch ist vor allem das
helle Kobaltblau. Ganz erstaunlich ist die Kunst, in
diesen Tönen schon zu modellieren, ohne trennende,
von dem Kupfergrund aufstehende Stege weiche
auch von hohem historischen Wert. Prächtiges ro¬
manisches Ornament füllt in getriebener Arbeit die
Zwickel — Medaillons mit lebhaft bewegten Figuren,
die Bücher, Scepter, Scheiben, Märtyrerpalmen führen,
treten hinzu. Von derselben Hand dürften die grossen
Engelfiguren sein , die an den vier Ecken des Mau-
rinusschreins die Wache halten: Figuren, die auch in
der Zeichnung deutlich den kölnischen Charakter vom
Ende des Jahrhunderts zeigen, bedeutend und gross
in den Rahmen hineingestellt. Die Apostelfiguren,
die ehemals die Langseiten schmückten, sind ver¬
schwunden; nur die Deckelreliefs mit den Darstel¬
lungen aus dem Martyrium des Heiligen erhalten.
Von höchster Originalität ist dann der Ursulaschrein:
das Dach in der Gestalt eines Tonnengewölbes mit
halbrunden Giebeln, überzogen mit einem Netz von
emaillierten Streifen, die durch prächtig emaillierte
Sternrosetten gehalten werden. Von ausserordent-
Abb. IQ. Deutz, Heribertiisschrein
Übergänge zu schaffen, ln den Köpfen ist mitunter
schon die Wirkung des späten Maleremails erreicht.
Am reichsten ist hier der Heribertusschrein ausgestattet.
Zwischen den getriebenen sitzenden Figuren der zwölf
Apostel, die noch etwas befangen in der Treibtechnik
und gebunden im Stile sind — übrigens am nächsten
denen am Servatiusschrein zu Maastricht verwandt —
stehen vierzehn Tafeln mit den emaillierten Figuren von
Propheten. Auf dem Deckel zwölf grosse Medaillons
mit Darstellungen aus der Legende des Heiligen,
in denen breit, mit einer Fülle von Figuren das
Leben des heiligen Bischofs erzählt wird — die
Schilderungen des Erzbischofs und des Kaisers Otto III.
1) Der Heribertusschrein abgeb. bei Bock, Das heilige
Köln. Deutz S. 12. — aus’m Weerth, Kunstdenkmäler III,
S. 8, Taf. 43. — Heuser i. Organ f. christliche Kunst 1885,
S. 255. — Renard i. d. Rheinlanden igo2, Heft 11, S. 12. —
Die Inschriften bei Kraus, Christliche Inschriften II, Nr. 522.
— Vergl. über die Datierung Beissel i. d. Stimmen von
Maria Laach 1902, S. 330.
lieber Schönheit sind an den Langseiten die Zwickel¬
ornamente’).
Reicher in dem architektonischen Aufbau ist dann
die spätere Gruppe der Schreine, in deren Mittelpunkt
der des heiligen Albinus aus St. Pantaleon (jetzt in
St. Maria in der Setmurgasse zu Köln) und der
des heiligen Anno aus Siegburg stehen. Beiden ge¬
meinsam ist an Stelle der bei der früheren Gruppe
beobachteten Pilastergliederung die mehr architek¬
tonische Behandlung der Langseiten : gekuppelte
Säulen mit Kleeblattbögen — der Deckel in einfache
viereckige Felder zerlegt, reiche gegossene Kämme
und kunstvolle Knäufe. In klassischer Vollendung
zeigt sich diese Behandlung am Annoschrein“). Das
1) Vergl. Bock, Das heilige Köln. St. Ursula S. 16,
Taf. 7. Über die Funde bei der Restauration im J. 1878
vergl. Kölnische Volkszeitung v. 16. Dez. 1878, Nr. 346.
Die Inschrift bei Kraus, Christliche Inschriften 11, Nr. 594.
2) Der Annoschrein abgeb. bei aus’ni Weerth, Kunst¬
denkmäler III, S. 7, Taf. 44—45. — Die Inschrift inkorrekt
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
1 2 1
Abb. 20. Köln, St. Ursula. Ursiilaschrcin
Fehlen der (i8o8 geraubten) Figuren und Reliefs
lässt die vornehmen Verhältnisse dieser Architektur
nur noch deutlicher hervortreten. Über den reich
emaillierten Säulchen prächtige ganz freigearbeitete
bei Kraus, Christliche Inschriften II, Nr. 520. Die Reliefs
an dem Schrein stellten das Leben des Heiligen, seine
Wunder, seinen Tod
und zuletzt seine
Beisetzung in dem
Schrein dar. Auf
diesem Bilde war der
Abt Gerhard mit dem
Kustos Heinrich dar¬
gestellt, der auf einer
der Schmalseiten
vor dem h. Michael
knieend erscheint.
Beschreibungen der
Reliefs giebt der
Minorit P. Sebastia-
nus in seinem 1750
erschienenen Heilig¬
tumsbüchlein. Ver¬
gleiche auch Müller
im Organ f. christ¬
liche Kunst 1856, S.
128. - Aeg. Müller,
Anno II. der Heilige
S. 158. Die übrigen
Siegburger Schreine
bei aus’m Weerth,
KunstdenkmälerTaf.
46-50.
Doppelkapitälchen, in den Zwickeln darüber die bron¬
zenen Halbfiguren von Aposteln die beiden Seiten
deutlich von zwei verschiedenen Händen, die
emaillierten oder mit feinstem Filigran über-
sponnenen Knäufe von der grössten technischen
Virtuosität zeugend. Ganz köstlich sind die Giebel¬
kämme mit den nackten Figürchen drin, ein Kahlkopf,
ein Merkur mit
dem Flügelhut, von
so hoher Voll¬
endung, wie nur
an dem Leuchter-
fuss von St. Am-
brogio in Mailand
oder von Braun¬
schweig.
An den Anno¬
schrein schliessen
sich noch der
Schrein der heili¬
gen Innocentius
und Mauritius, der
des heiligen Benig¬
nus und der des
heiligen Honoratus
an. Alle drei stam¬
men aus der Abtei¬
kirche zu Siegburg
und befinden sich
seit der Aufhe¬
bung der Abtei in
Abb. 21. Deutz. Detail vom Heribertselirein
16
1 22
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
Abb. 22. Siegbarg, Pfarrkirche. Annoschrcin
der Obhut der dortigen Pfarrkirche. Nur der Hono-
ratusschrein, der einzige, der einen Quergiebel — eine
Art verkümmertes Transsept — besitzt, hat noch einige
der alten Figuren an den Langseiten, sowie die ge¬
triebenen Reliefs auf dem Deckel bewahrt, ln ver¬
schiedener Variation wird das Motiv des Annoschreines
weitergeführt, nie übertroffen. Die sämtlichen Sieg¬
burger Reliquientumben, die in traurig verwahrlostem
Zustand, nach der Beraubung vom Anfang des ig. Jahr¬
hunderts notdürftig verkleidet, auf uns gekommen
waren, sind jüngst durch den Düsseldorfer Gold¬
schmied P. Beumers auf Kosten und unter der
Aufsicht der Provinzialkommission für die Denkmal¬
pflege mustergültig in Stand gesetzt worden: im
wesentlichen nur vorsichtig gereinigt und neu montiert,
die fehlenden gestanzten Streifen ergänzt; nur ganz
wenige fehlende Emailplättchen brauchten nach dem
Muster der vorhandenen alten neu hinzugefügt zu
werden.
Der Schrein der heiligen drei Könige im Kölner
Dom und die beiden Aachener Schreine, der Schrein
Karl’s des Grossen, der 1215 fertig war’) und der
Marienschrein, der 1238 vollendet ward^), stellen dann
den Höhepunkt der Entwickelung dar. Über die
Aachener Schreine bereitet St. Beissel eine genaue
1) Der Karlsschrein abgeb. bei Fr. Bock, Karl’s des
Grossen Pfalzkapelle I, S. g8. — aus’m Weerth, Kunst¬
denkmäler II, S. 108, Taf. 37. — Clemen i. d. Zs. d. Aachener
Geschichtsvereins XII, S. 47. — Ders., Die Porträtdarstel¬
lungen Karl’s des Grossen, Aachen i8qo, S. 133. — Rauschen,
Die Legende Karls des Grossen S. 135. — Loersch ebenda,
S. 170.
2) Der Marienschrein bei Bock, Pfalzkapelle I, S. 132.
— aus’m Weerth, Kunstdenkmäler II, S. 103, Taf. 36. —
St. Beissel i. d. Zs. d. Aachener Geschichtsvereins V, S. 1.
ausführlich mit Tafeln.
Publikation vor — aber wer giebt uns eine eingehende
Untersuchung und Veröffentlichung des Dreikönige¬
schreins? Die ganze Geschichte der rheinischen Plastik
ist eine unvollständige ohne den Figurenschmuck
dieser Reliquienbehälter des 13. Jahrhunderts. Wo
kommen die Meister her, die am Dreikönigeschreine
arbeiten, woher kommen diese prachtvollen monu¬
mental aufgefassten Propheten, die leidenschaftlich
bewegten Apostel? Der Stil weist nach dem Westen
— aber wo sind die Verwandten und die Vorfahren
dieser Figuren zu finden? Hier müsste die Unter¬
suchung der belgischen Schreine einsetzen — bei
dem Fehlen des Figurenschmuckes an den übrigen
Kölner und Siegburger Tumben sind sie doppelt
wertvoll. Wie sehr die letzte Gruppe der rheinischen
Schreine unter französischem Einfluss steht, zeigen
die drei Hauptvertreter, der früheste, der Marienschrein
in Aachen, der im Aufbau nah verwandte Elisabeth¬
schrein zu Marburg’) und endlich der Suitbertus-
schrein zu Kaiserswerth“^). Das Datum 1264 für
diesen bezeichnet vielleicht nicht einmal die Vollendung
— auch hier zeigen die beiden Langseiten eine ver¬
schiedene Hand, einen verschiedenen Stil — und die
feinen eleganten Figürchen an den Stirnseiten, vor
allem die entzückende jugendliche Madonna steht
schon den französischen Elfenbeinmadonnen von der
1) W. Kolbe, Die Kirche der h. Elisabeth zu Marburg,
Marburg 1882, S. 74 — Abb. bei Ramee, meubles religieux
et civiles du moyen äge Taf. 144.
2) Abb. bei aus’m Weerth, Kunstdenkmäler II, S. 45,
Taf. 30. — Clemen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz.
Kr. Düsseldorf S. 137, Taf. 7. — Kraus, Christi. Inschriften II,
Nr. 627. Man vergleiche hiermit als französische Arbeit
den Schrein des h. Taurinus in der Kathedrale zu Evreux,
der zwischen 1240 u. 1265 entstanden ist. Vgl. Cahier et
Martin, Melanges d’archeologie II. p. 1, pl. 1—3
Abb. 23. Kaiserswerth, Stiftskirche. Suitbertusschreiii Abb. 24. Siegburg, Pfarrkirche. Giebelseite des Annoschreins
124
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
Abb. 25. Berlin, Kgl. Museen
Mittelstiiek des Patrokliissehreins aus Soest
Wende des 13. Jahrhunderts nahe. Die gotischen
Schreine des 14. Jahrhunderts brechen dann völlig
mit der bisherigen Art des Aufbaus, der Dekoration.
Der früheste, der Patroklusschrein aus Soest, jetzt
durch Restauration stark verändert, im Königlichen
Museum zu Berlin, von dem Meister Sigefrid in
Soest kurz nach 1313 begonnen, giebt gegenüber
den zierlichen und svelten französischen Figürchen
vom Suitbertusschrein schon den derberen untersetzten
deutschen Typus, nur in der kräftig einherschreitenden
Mittelfigur des heiligen Patroklus selbst noch von
hohem Reiz.
Unter den übrigen kirchlichen Ausstattungsstücken
steht, als den grossen Schreinen am nächsten nach
der Bestimmung wie in der Art der Dekoration, ver¬
wandt, die Schar der Reliquiare und Tragaltaltäre
in vorderster Reihe. Auch hier geht Siegburg wieder
voran. An den Gregoriusaltar schliesst sich der
Tragaltar aus dem Schatz von Xanten und der aus
St. Maria im Kapitol in Köln an; weiter aber ge¬
hören der Gruppe jene drei kostbaren, eng unter¬
einander verwanten Kuppelreliquiare an^) die die Ge-
1) Über das Kuppelreliquiar in London vgl. Cattois
i. d. Annal. archeol. XX, p. 307; XXI, p. 105, 148; XXII,
p. 5. — Labarte, Histoire des arts indiistriels III, p. 42;
Album pl. 43. — Ferd. de Lasteyrie, Hist, de l’orfevrerie
p. 121. — Ecclesiastical metal work of the middle ages
(Arundel Society) pl. 12. — Clemen, Kunstdenkmäler der
Rheinprovinz. Kreis Rees S. 73. Über das Reliquiar im
stalt von Zentralbauten nachahmen, das älteste, aus
Hochelten am Niederrhein stammende im South-
Kensington-Museum, sein jüngerer Bruder im Weifen¬
schatz, beide zugleich mit Elfenbeinen verziert, und
endlich das lediglich emaillierte in Darmstadt. Mit dem
Mauritiusaltar ist vor allem der von München-Gladbach
verwandt, weiter aber noch eine ganze Anzahl ähnlicher
Stücke. Auch hier wird sich bei weiterer Untersuchung
des Materials noch eine stattliche Schar anreihen; wenn
sich auch keine so grosse Ziffer ergeben wird wie von
den fabrikmässig hergestellten Limoger Kästchen, von
denen Ruppin allein über ein halbes Hundert nennt,
so wird doch auch hier sich ein leidlicher Export
nachweisen lassen'). Im vollen Gegensatz zu diesen
rheinischen Werken stehen die westfälischen Trag¬
altäre. Hier ist nirgendwo eine Tradition, eine
Schule nachweisbar; jedes der westfälischen Stücke
stellt gewissermassen einen Stil für sich dar. Die
merkwürdigsten Exemplare sind die beiden Trag-
altärchen von Paderborn. Das erste aus dem Dom¬
schatz-) ist zu einer gewissen Berühmtheit durch
eine irrige Hypothese gelangt — durch die Annahme,
der Verfertiger, der Mönch Rogkerus von Helmers¬
husen, der für den Paderborner Bischof Heinrich
von Werl das Werk geschaffen, sei identisch mit
jenem Rugerus, der sich als Autor des Traktates
Schedula diversarum artium den nom de guerre Theo¬
philus begelegt hat. Der Altar selbst spricht gegen
den Vater dieser Hypothese: es sollten an ihm alle
von Theophilus erwähnten Techniken angewandt sein,
aber gerade die von Theophilus am eingehendsten
beschriebene Emailtechnik ist überhaupt nicht zu
Worte gekommen. Dafür enthält der Schrein auf
dem Deckel das vollendetste Niello von einer Schön¬
heit und Weichheit der Zeichnung, die ihres gleichen
sucht, an den Langseiten und einer Schmalseite die
Gestalten der Madonna sowie der zwölf Apostel teils
graviert, teils nielliert, an der Vorderseite (vergl. die
Abbildung) dazu den ganz in der Art der westfälischen
Skulpturen aufgefassten getriebenen Salvator zwischen
den Kirchenpatronen Ciborius und Kilian. Den
gleichzeitigen Stil der Elfenbeinarbeiten giebt die
verwandte Darstellung auf dem sogen. Kamm Karls
des Grossen im Domschatz zu Osnabrück. Noch
absonderlicher ist der in der ersten Hälfte des 12. Jahr¬
hunderts entstandene Tragaltar aus der Franziskaner-
Weifenschatz eingehend Neumann, Der Reliquienschatz
des Hauses Braunschweig- Lüneburg, S. 176, 181. —
Vogell, Kunstarbeiten aus Niedersachsens Vorzeit 2. Heft.
Das Darmstädter bei Neumann a. a. O. S. 184.
1) Die bekannten Tragaltäre zusammengestellt bei
Rohault de Fleury, La messe V, p. 1 , Taf. 340—358. —
Neumann, Der Reliquienschatz des Hauses Braunschweig-
Lüneburg S. 122.
2) Baudri, Zwei merkwürdige Reisealtäre aus Pader¬
born: Organ f. christliche Kunst 1861, S. 76, 88. — Bücher,
Geschichte der technischen Künste II, S. 210. Über die
Identifizierung mit Theophilus vergl. 11g in seiner Einleitung
zur Schedula in den Quellenschriften für Kunstgeschichte.
Gute Abbildungen aller Seiten bei Ludorff, Kunstdenk¬
mäler von Westfalen, Kreis Paderborn, S. gg, Taf. 53—55.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
125
1) Abb. bei Ludorff ebenda
Taf. 83—85, S. 118. Der Trag¬
altar stammt aus Kloster Ab¬
dinghof.
2) Die Schenkungsurkunde
bei Beyer, Mittelrheinisches
Urkundenbuch II, Nr. 235. Die
übrigen Schenkungen bei aus’m
Weerth, Das Siegeskreuz S. 4
angegeben. Vergl. Brower,
Annales Trevirenses II, p. 102.
— Schannat-Baersch, Eiflia illu-
strata 1, 2, p. 1070.
3) Abb. bei Chr. Willi.
Schmidt, Kirchenmöbel und
Utensilien, Trier 1869, Taf. 1 u.
2. — aus’m Weerth, Kuiistdenk-
mäler III, S. 99, Taf. 52. — L.
Palustre, Le tresor de Treves
Taf. 21, p. 41. — Kraus, Christ¬
liche Inschriften II, Nr. 368.
4) von Cohausen in v.
Quast u. Otte, Zeitschrift f. Abb. 2O. Paderborn, Dom. Stirnseite des Tragaltars
kirche zu Paderborn ^). Ausgeschnittene und gravierte
Kupferplatten bedecken die Langseiten, und ohne jede
Trennung sind hier in epischer Breite die Legenden
der heiligen Felix und Blasius vorgeführt.
Die Darstellungen sind von leidenschaftlicher Erregt¬
heit, heftig bewegt; der Stil erinnert an gleich¬
zeitige englische Handschriften.
Bei der Einnahme von Konstantinopel im Jahre
1204 hatte einer von den deutschen Kreuzfahrern,
ein Ritter Heinrich von Uelmen, reiche Beute gemacht
an Reliquien in kostbarer Fassung und diese nach
seiner Heimkehr an die befreundeten Klöster verteilt.
Laach, Münstermaifeld, Heisterbach, St. Pantaleon in
Köln erhielten ihren Teil. Sein Hauptstück, die
Kreuzestafel der Kaiser Constantinus VII. Porphyro-
genitus und Romanus II. schenkte der fromme Räuber
im Jahre 1208 dem seinem Hause von jeher ver¬
bundenen adligen Augustiner-Nonnenkloster zu Stuben
an der MoseU). Dort bildete es bald eine im ganzen
Lande berühmte Sehenswürdigkeit. Die seltsame
Form, in der die kostbare Reliquie gefasst war, reizte
zur Nachahmung, und in einer benachbarten Werkstatt,
wohl in Trier, entstanden in den nächsten Jahrzehnten
zwei ganz verwandte Tafeln. Es sind die beiden
Kreuzestafeln von St. Matthias in Trier und von
Mettlach^). Es sind wohl ohne Zweifel Werke einer
Werkstatt, wenn auch sicherlich nicht einer Hand,
aber höchst beachtenswert für die ganze Art, wie
hier das byzantinische Vorbild nachgebildet wird, für
die Art, wie überhaupt die mittelalterliche Kunst, wie
eine jede hochstehende selbstbewusste Kunst, fremde
Anregungen aufnimmt und verarbeitet. Nichts von
dem Versuch einer Nachahmung, nur eine freie An¬
lehnung an das Motiv. Auch unter sich zeigen die
beiden Werke wieder die
grössten Verschiedenheiten:
bei der Trierer Tafel sind
die einzelnen Felder, in
denen neben der wichtigsten, der Kreuzespartikel, die
übrigen kleinen Reliquien geborgen sind, durch Berg-
krystalle geschlossen, in Mettlach durch kleine Thür-
chen, auf deren Deckeln die Abbilder der Heiligen
in gravierter Zeichnung auf emailliertem Grunde ent¬
halten sind. Die kleinere Mettlacher Tafel hat in der
Art eines Triptychons ein paar Flügel erhalten; die
Heiligen Petrus und Lutwin sind in getriebenen und
vergoldeten Figuren auf ihnen dargestellt. Die Rück¬
seiten der beiden Tafeln sind in ganz ähnlicher Weise
graviert. In der Mitte jedesmal der segnende Christus,
umgeben von den Evangelistensymbolen, dazu oben
und unten in Halbfiguren die Wohlthäter der Abtei.
Bei dem Mettlacher Reliquiar ergiebt sich aus den
Darstellungen der verschiedenen Figuren die Zeit
nach 1220, bei der Trierer Tafel ergiebt sich aus
der Darstellung des Abtes Jakob von Lothringen
(zwischen 1213 und 1250) dieselbe Zeit. Auf dem
Mettlacher Reliquiar ist die Gravierung technisch noch
nicht ganz vollkommen, die Figuren sitzen mehr wie
Federzeichnungen auf der Fläche, besonders auf den
Aussenseiten der Flügel die Verkündigung und die
Anbetung der Könige. Auf den ersten Blick offenbart
sich hier übrigens eine ganz auffallende Verwandt¬
schaft mit einem bekannten französischen Werke —
mit dem Skizzenbuche des Villard de Honnecourt.
Ganz vollendet aber ist diese Zeichnung auf der
Trierer Tafel. In grossartiger Feierlichkeit erscheint
hier die Gestalt des thronenden Salvator, das Gesetz
der Raumfüllung ist mit sicherem Gefühl gehandhabt.
Christi. Archäologie und Kunst I, S. 267, Taf. 18. — aus’m
Weerth, Kunstdenkmäler III, S. 102, Taf. 63. — Kraus,
Christliche Inschriften II, Nr. 332.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
Abh. 27. Osnabrück, Domscbafz. Bischofskamni
in ruhiger Schönheit füllt reiches schon leicht früh¬
gotisches Rankenornament den Grund.
ln einer etwas anderen Form, in der Gestalt einer
flachen aufrechtstehenden, mit einem Halbkreis ab¬
geschlossenen Tafel zeigt sich das Fritzlarer Reliquiar.
Es führt uns zugleich vor, in wie geschickter Weise
der Goldschmied frühere Stücke in seine Komposition
zu verweben wusste. Die Beinfigürchen der zwölf
Apostel stammen wahrscheinlich von einem etwas
älteren Elfenbeinkasten, der einer bekannten grossen
schon von Hans Semper nachgewiesenen rheinischen
Gruppe angehörU). Es gehören zu ihr Einzelwerke
im Rester Museum, im Louvre, im Clunymuseum,
die Tafeln an den Kuppelreliquiaren von Darmstadt,
aus dem South-Kensington-Museum und aus dem
Weifenschatz, die auch hier eng verwandt sind. Zu
hoher Vollendung erhebt sich dieser Stil an den vier
Platten am Weifenschatz - Reliquiar. Das als Be¬
krönung bei der Fritzlarer Tafel angebrachte
Schmuckstück ist noch merowingisch. Der Künstler,
dem diese Stücke überantwortet wurden, hat dann
im Abschluss die getriebene Darstellung Christi in
der Mandorla zwischen zwei Engeln hinzugefügt,
das Ganze reich mit feinen Emails umgeben und
endlich die Rückseite mit einem klassisch schönen
1) H. Semper, Über rheinische Elfenbein- und Bein¬
arbeiten ini 11. 11. 12. Jh.: Zs. f. christliche Kunst IX,
S. 25g, 291. Daselbst S. 269 die Fritzlarer Tafel. Über
die Darmstädter Platten vgl. G. Schaefer, Die Denkmäler
der Elfenbeinplastik im Orossherzogl. Museum zu Darm¬
stadt S. 60. — Ders., Kunstschätze a. d. Grossherzogi.
Museum zu Darmstadt Taf. 7.
symmetrischen, in email brun ausgeführten Rankenwerk
bedeckt. In dieser Technik sind am Niederrhein zumal
im 12. Jahrhundert eine grosse Reihe von Arbeiten
ausgeführt — man bevorzugt sie überall da, wo Ruhe
und Weichheit der Wirkung nötig ist, an den Schreinen
gern als Hintergrund für die Figuren und die Säulen^.
Das schönste saftige Sepiabraun eignet gerade den
Gegenden des Niederrheins und der Niedermaas —
hier findet sich auch das früheste Denkmal in dieser
Technik: die Rückseite der Willibrordiarche zu
Emmerich-). Eine der schönsten Darstellungen bietet
die Rückseite des Tragaltärchens aus dem kirchlichen
Museum in Augsburg Ü - in einen reichen Rahmen
1) Über die Technik des muail brun vergl. Schnütgen
in Kunst und Gewerbe XX, 18S6, S. 194. Die Technik
ist schon beschrieben bei Theophilus, Schedula diversarum
artium 1. 111, c. 70, ed. 11g p. 27g.
2) deinen. Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz.
Kreis Rees S. 46. — v. Quast i. d. Zs. f. christliche Archäo¬
logie u. Kunst II, S. 186. — aus’m Weerth, Kunstdenk¬
mäler 1, S. 7, Taf. 3. Das email brun kommt dann ebenso
auch schon auf dem Deckel des Wessobrunner Kodex in
München vor (W. A. Neuinann, Der Reliquienschatz des
Hauses Braunschweig-Liineburg S. 54.)
3) Abgeb. bei Andreas Schmid, Der christliche Altar
n. sein Schmuck, Regensburg 1871 und von Schnütgen i.
d. Zs. f. christliche Kunst XV, S. 128.
Abb. 28. Mettlach. Gravierte Riiekseite der
Krenzestafel
Abb. 2Q. Trier, St. Matthias. Gravierte Rückseite der Rreuzcstafel
Zeltsclirift für hikiciide Kunst. N. f. XIV. H. 5.
17
■]
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
129
ist hier ein Medaillon mit der Darstellung des Ge¬
kreuzigten zwischen der Ecclesia und Synagoge ein¬
gezeichnet; in den Zwickeln treten die Halbfiguren
der vier Kardinaltugenden hinzu.
Die Schätze von Fritzlar, von Xanten, von Emmerich,
von Hochelten, die Schätze des Aachener Münsters
und der Kölner Kirchen haben eine kaum überseh¬
bare Fülle der verschiedensten Formen des Reliquiars
geliefert. Geschnittene Krystallfläschchen arabischer
Stücke ist die Büste im Schatz der Kirche zu Cappen¬
berg^), ein Bronzekopf von stolzer Haltung, auf einem
Unterbau ruhend, auf dem aus einem Zinnenkranz
sich vier Einzelfigürchen erheben, die die Büste selbst
stützen. Die Inschrift und die Bestimmung, Haare
vom Haupte des heiligen Johannes des Evangelisten
zu bergen, scheint mit der Deutung auf eine Porträt¬
darstellung Friedrich Barbarossa’s wenig in Einklang
zu bringen zu sein. Die ganze Art des Gusses und
Abb. 30. Fritzlar, S. Petrikirche. Reliquientafel
Herkunft sind in späteren Jahrhunderten neu montiert
worden, oft in ganz abenteuerlichen und phantastischen
Formen, Kokosnüsse, Strausseneier, antike Gefässe
werden ebenso verwendet. Dann folgen die Kopf-
reliquiare und die Armreliquiare, die Hüllen für
Schädel- und Armknochen, die in ihrer äusseren Form
den Inhalt gleich aussprechen wollten. Diese Kopf-
reliquiare lassen sich schon seit dem 1 o. Jahrhundert
verfolgen, die frühesten Exemplare mögen das Haupt
des heiligen Mauritius in der Kathedrale zu Vienne
und das des heiligen Candidus im Stiftsschatz von
St. Maurice in Wallis sein. Eines der merkwürdigsten
die Zeichnung des Aufbaues erinnert an den schönen
1) Diese Deutung ist verfochten von F. Philippi, Die
Kappenberger Porträtbüste Kaiser Friedrich’s 1.: (West¬
fälische) Zs. f. vaterländ. Gesch. u. Altertumskunde XLIV,
S. 150. Vergl. J. B. Nordhoff, Hohenstaufer Kleinodien
des Klosters Kappenberg; Pick’s Monatsschrift f. d. Gesch.
Westdeutschlands IV, S. 344. Gute Abb. bei Ludorff, Kunst-
denkniäler Westfalens. Kreis Lüdinghausen S. 28, Taf. 24.
Über die ganze Gruppe der Kopfreliquiare vergl. Clemen,
Die Porträtdarstellungen Karls des Grossen S. 145. —
Neumann, Reliquienschatz des Hauses Branschweig-Lüne-
burg S. 257.
17*
OIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
bislang mit grösse¬
rer Wahrschein¬
lichkeit als fran¬
zösisch angespro¬
chen wurde, das
man aber auch
jetztaisrheinisches,
wahrscheinlich
kölnisches Werk
vom Ende des
14. Jahrhunderts
in Anspruch neh¬
men darf. Den
Weg zu diesem
Werke zeigt ein
Kelch mit zuge¬
höriger Patene aus
der Sammlung
des Fürsten von
Hohenzollern in
Sigmaringen, auf
das reichste mit
durchsichtigen
Grubenschmelzen
dekoriert. Die
Madonna besitzt noch den
feierlichen Stil der mittleren
Gotik mit wenigen grossen
Faltenmotiven.
Nur gestreift werden kann
hier, was von profanen Schät¬
zen der späteren Jahrhunderte
in Düsseldorf zusammen¬
gebracht war. Der Besitz der
grossen Städte und Stiftungen
und die Privatsammlungen
Westdeutschlands stritten hier
um den Vorrang. Im Mittel¬
punkt des Interesses stand
immer wieder der berühmte
Kaiserpokal aus dem Besitz
der Stadt Osnabrück. Das
ganze Werk stammt ursprüng¬
lich aus der ersten Hälfte des
14. Jahrhunderts; in der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts
ist dann der ganze Aufbau
durch Einfügung eines Mittel¬
stückes mit Knauf erhöht, auf
dem Deckel ist eine Statuette
Karls des Grossen angebracht
worden, ln der Schale selbst
befindet sich auf einem
Schachbrett das gotische Sitz-
figürchen eines Königs. Auf
der Kuppe sind in Rund¬
medaillons die Tugenden
und Laster dargestellt, eine
Verkörperung jener Folge,
die wir von den Portalen
der französischen Kathedralen
ivi'CuZe.'i üis '.n v.'..T
^aini;i.L:ug ^
.iur
MünsierO -
stvjhende
Li-agcn L'-r ; ^
L lU'-r-^.viz --'1 '
,;ki vu ' ^ r
. i:. i'l • J - I .‘ V- . ^
dem i-
hau dv-.,. ’ vddc.
iVeitau-^ vlas
schönste .aid an¬
mutigste Stück AUS
der Reihe der go¬
tischen Reliquiare
a4 das Simeons-
reliquiar aus dem
Domschatz zu
Aachen -). Der
eigentliche Reli¬
quienkasten, mit
feinen durchsich¬
tigen Emails und
Edelsteinen bedeckt, ruht wie
ein Altartisch auf Säulen, in
der Mitte erhebt sich auf ihm
eine antike Onyxvase. An
den beiden Schmalseiten stehen
der heilige Simeon, auf den
beiden vorgestreckten Armen
das nackte Kind haltend, das
fröhlich balanciert, ihm gegen¬
über die Madonna, in den
vorgestreckten Händen zwei
Tauben darreichend. Der
feine Charme, der über diesen
jugendlichen Gestalten liegt,
die geistreiche Art, wie hier
die Bestimmung des Werkes
ausgesprochen ist, macht es
zu einer der köstlichsten
Schöpfungen der rheinischen
Gotik. Anzureihen ist hier
auch, als eine spätere Lei¬
stung dieses rheinischen email
translucide, das entzückende
Klappaltärchen aus der Samm¬
lung des Grafen von Wolff-
Metternich zur Gracht®), das
1) Abb. bei Schnütgen i. cl.
Zs. f. christliche Kunst XV, S. 254.
2) Abb. bei Bock, Der Reli¬
quienschatz des Liebfrauenmün¬
sters zu Aachen S. 16.
3) Publiziert bei Clemen,
Kunstdenkmäler der Rheinpro¬
vinz. Kreis Euskirchen S. 70,
Taf. 6. ~ Renard i. d. Rheinlan¬
den 1902, Heft II, S. 43.
Abb. 31. Augsburg, Kii'cliliclies Museum
Rückseite des Tragaltärchens
Abb. 32. Cappenberg. Romanische Reliquicnbüste
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
13'
Abb. 33. Aachen, Donischatz. Simeonsreliquiar
kennen. Auf dem Deckel entsprechen ihnen, in
einem Stil, der wieder stark an die Figürchen auf
den Wandmalereien von den Chorschranken des
Kölner Domes erinnert,
Medaillons mit höchst
merkwürdigen Gestal¬
ten, alle nackt, die
Körper muskulös und
schlank durchgebildet,
antike Personifikationen
wiedergebend: Eros,
Apoll sind deutlich er¬
kennbar. Die getrie¬
benen Plättchen sind
nachträglich in den
Deckel eingefügt, das
sehr symmetrische stili¬
sierte Laubwerk hinter
den Figuren nachträglich
aufgelötet, an der Kuppe
sind dafür all die ver¬
schiedenen bekannten
Arten des gotischen
Laubwerks zu beobach¬
ten. Wohl ganz ohne
Parallele wäre in der
deutschen Gotik ein sol¬
cher Kreis von nackten Figuren - - fast möchte man
an eine archaistische Arbeit aus der Zeit um 1530
denken, in der ein Renaissancekünstler versucht hat,
den Stil der Medaillons
der Kuppe frei nachzu¬
bilden.
An Stoffen und Para¬
menten hatte die Düssel¬
dorfer Ausstellung eine
kleine und gewählte
Sammlung der allerkost¬
barsten Exemplare zu¬
sammengestellt. Seit dem
5. Jahrhundert war die
Entwickelung hier mit
kunstgeschichtlich merk¬
würdigen Stücken be¬
legt. Die Eröffnung der
grossen Heiligenschreine
in den letzten Jahrzehn¬
ten hat eine Reihe der
schönsten dieser Stoffe
zu Tage gefördert. Sie
galten schon dem 11.
und 12. Jahrhundert als
kostbarster Besitz; das
Wertvollste, was die
Abb. 34. Osnabrück. Deckel des h^aiserpcka/s
132
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFALISCHE KUNST
Abb. 35. Siegburg. Byzantinischer Löwenstoff aus dem Annoschrein
Kirche besass, sollte für die Gebeine der Heiligen
die innerste Hülle bilden. An der Spitze stehen
zwei schon seit längerer Zeit bekannte Stoffe aus
St. Ursula, der eine ein spätrömisches Gewebe,
etwa aus dem 5. Jahrhundert, in der feinen Tö¬
nung von gelb und rot, in den noch unverbun¬
denen Medaillons mit der Darstellung von Tierkämpfen.
Der andere ein sassanidischer Stoff, der einen der
letzten Sassanidenkönige, Chosroes II. (590 — 628) zeigt,
auf dem Greifen reitend und von dem bösen Dämon
bedroht, während der gute Dämon ihm aus dem
Baum des Lebens zu Hilfe kommt. Es ist derselbe
König, der auf der bekannten Chosroesschale des
Cabinet des medailles der Bibliotheque nationale er¬
scheint’). Bei der Eröffnung des Kunibertusschreins
in Köln im Jahre 1898 kam dann ein kostbarer
sassanidischer Stoff zum Vorschein"), ein geköpertes,
doppeltgefärbtes Purpurgewebe in Dunkelblau und
Hellgelb, von einer Grösse der Medaillons, wie sie
nur noch in dem Elefantenstoff im Aachener Münster¬
schatz vorkommt. Das Pallium auf der Innenfläche
der einen Hochaltarthüre von St. Ambrogio zu Mailand
zeigt dieselbe Zeichnung, nur erreichen die Medaillons
hier nicht diese erstaunliche Höhe von 90 cm. Das
Feld wird beherrscht von dem mächtig aufschiessenden
Lebensbaum, auf jeder Seite ein Reiter in skythischer
Mütze, der mit einem einzigen Pfeilschuss einen
Löwen, der einem Wildesel im Nacken sitzt, erlegt
und ihn auf seine Beute heftet. Der Dargestellte ist
der indische Prinz Bahram Gor (als König 420 — 438),
ein gewaltiger Nimrod. Die arabische Chronik des
Tabari von Bagdad erzählt, wie er diese Doublette
schiesst. Die Darstellung aber wird in dem Speise¬
saal des prinzlichen Palastes abgebildet — von dieser
Zeit an heisst der Prinz Bahram Gor (d. i. Wildesel).
1) Vergl. Dienlafoy, L’art antique de la Perse V,
p. 103. — Babeion, Guide illustre au cabinet des medailles,
p. 163.
2) Schnütgen i. d. Zs. f. christliche Kunst XI, S. 225
mit Taf. 5. Die eingehende Deutung der Darstellung giebt
Feld. Justi ebenda S. 361.
Es ist uns hier in einem späten sassanidischen Stoff,
der wahrscheinlich erst dem Anfang des 7. Jahrhunderts
angehört, die Kopie eines berühmten Gemäldes des
5. Jahrhunderts bewahrt. Und auch der gleichzeitige
Stoff aus St. Ursula giebt uns die Zeichnung eines
Fürstenbildnisses wieder, wie auf den sassanidischen
Felsenbildwerken von Naksch i Rustam vor Perse-
polis. Das grösste und prachtvollste Stück ist aber
erst im Jahre 1900 bei der Eröffnung des Anno¬
schreines erhoben worden. Es zeigt auf trübviolettem
Grunde sechs majestätische Löwen, je drei in einer
Reihe stehend. Es ist ein Werk aus der kaiserlichen
Manufaktur in Byzanz, wie es nur fremden Fürsten
als Geschenk übersandt wurde. In solcher Breite ist
uns überhaupt kein Stoff vor dem Jahre 1000 er¬
halten: freilich die Breite von 2,6 m gilt der Kette,
nicht dem Einschuss, welcher von oben nach unten
läuft. Auch dieses Werk ist genau zu datieren nach
den auf ihm genannten Kaisern Romanos 11. Leca-
penus (919 — 944) und Christophorus, seinem Stiefsohn,
der 944 starb’). Der Stoff ist um ein halbes Jahr¬
hundert älter als der im Düsseldorfer Kunstgewerbe¬
museum befindliche Löwenstoff, der unter Kon¬
stantin VIII. und Basilius II. zwischen 976 und 1025
hergestellt ist^).
Von den romanischen Kasein in Glockenform
waren zwei der kostbarsten zur Stelle, die beiden
sogenannten Bernhardskasein aus den Schätzen der
Kirchen zu Xanten'’) und Brauweiler ^), beide von
kostbarem dunkelgelben Seidenstoff mit feinen Rosetten-
1) aus’m Weerth i. d. Jahrbüchern d. Ver. v. Altertums¬
freunden i. Rheinlande XLVI, S. 162, Taf. 10. — Kraus,
Christliche Inschriften II, S. 314, Nr. 4.
2) Frauberger u. Usener i. d. Jahrbüchern d. Ver. v.
Altertumsfreunden i. Rheinlande LXXXXIII, S. 223. —
Kraus, a. a. O. II, S. 317, Nr. 12.
3) Bock, Geschichte der liturgischen Gewänder II,
S. 103. — Ders., Kommentar d. mittelalterlichen Kunst¬
ausstellung zu Krefeld 1852. — Clemen, Kunstdenkmäler
d. Rheinprovinz. Kreis Moers S. 135.
4) Bock, Liturgische Gewänder II, S. 245, Taf. 32. —
Clemen a. a. O., Landkreis Köln S. 55.
DIE RHEINISCHE UND DIE WESTFÄLISCHE KUNST
133
mustern, die erste der Willegiskasel aus Mainz ver¬
wandt, die spätere aus Brauweiler mit einem stehenden
Bäumchen zwischen zwei Adlern. Eine dritte dieser
Bernhardskasein war gerade zur gleichen Zeit auf
der Ausstellung im Hotel Gruuthuuse zu Brügge zu
sehen : die aus St. Donat zu Arlon ^), neben ihr ein
anderer, nur wenig späterer Stoff, die Kasel des
Thomas von Canterbury aus dem Schatz der Kathe¬
drale zu Tournai"), beide mit einem nah verwandten
Muster.
Aus dem 12. Jahrhundert birgt die St. Patroklus¬
kirche in Soest ein merkwürdiges Kissen, das als
erhalten ist, aus dünnem Köperleinen und ganz mit
Seide bestickt. Die eine Seite zeigt ein Symbol der
Demut, die andere ein solches der Hoffart: die
Rückseite das Lamm, die Vorderseite den hoffärtigen
König Alexander. Dargestellt ist die Sage, die schon
der Pseudokallisthenes erzählt, wie Alexander in seinem
Hochmut, um zum Himmel aufzusteigen, ein paar
riesige Vögel oder Greife einfängt, diese ein paar
Tage hungern lässt, und dann mit Gurten an einen
eigens konstruierten Wagen spannt, auf den er sich
selbst setzt. Mit langen Stangen hält er den Tieren
Köder, aufgespiesste Ferkel oder Hasen, vor — die
Abb. 36. Soest, St. Patroklus
Romanisches Kissen mit der Himmelfahrt Alexanders
Unterlage für den Schädel des heiligen Patroklus in
seiner Reliquienbüste diente®). Es ist wohl das
älteste Kissen, das noch in dieser Gestalt vollständig
1) V. Denval, Notice sur les vetements liturgiques
dits de S. Bernard ä Arlon et ä Treves: Ann. de Finstitut
archeologique de Luxembourg XIX, 33. fase. — Abgeb. im
Catalogue de l’exposition des primitifs flamands et d’art
ancien. Section des tissus et broderies p. 1, pl. 1.
2) Bulletin de la societe historique et litteraire de
Tournai X, p. 243. — Rohault de Fleury, La messe VII,
p. 161. — de Caumont im Bulletin monumental XX, p. 113.
— Katalog der Brügger Ausstellung p. 4, pl. 2.
3) Das Kissen bei Schnütgen i. d. Zs. f. christliche
Kunst XV, S. 177. Vergl. auch XII, S. 159.
Vögel flattern hungrig auf und so steigt der König
in die Lüfte *). Diese Münchhauseniade ist schon
auf einem Relief an der Fassade von St. Marco, am
Portal zu Remagen, im Münster zu Basel und zu
Freiburg, auf einem Elfenbeinkasten des Darmstädter
Museums und auf einer Platte im Kloster Dochiariu
auf dem Athos ganz ernsthaft dargestellt, besonders
r) Über die Deutung der Luftfahrt Alexander’s vergl.
Ad. Goldschmidt, Der Albanipsalter in Hildesheim, Berlin
1895, S. 71. -- Kraus, Geschichte der christlichen Kunst II,
S. 403. Neuerdings die Darstellungen zusammengestellt
von Graeven i. d. Jahrbüchern d. Vereins v. Altertunisfreun-
den i. Rheinlande 108, S. 269, Anm. 2, S. 273, Anm. 4.
■34
R I^INiSC 'E UND DIE WESTFALISCHE KUNST
■V : ;L >- I'Lt sich ganz natürlich
. i ac-iG-ni Sy!-i-netrie der beiden
.bern die Museen zu
snlUie Seidenstoffe,
Lei':;:: die grosse farbenprächtige
I = ees !i eiligen Cyriacus in
' g:cii3r iis erst dem 12. Jahr-
i- s- ViU-rskirche zu Xanten birgt
’ ; . : . : LLLf; :: des 15. und 16. Jahrhunderts
; - 3 TL: wif wohl keine andere Kirche in
Vor allem sind hier eine ganze
Ke;- e -...v: vcHständigen Kapellen — die ganze Aus-
tüs.Ui:.g des Priesters und seiner beiden Ministranten
für den Altardienst — in den kostbarsten Sammetbro¬
katen erhalten, aus moosgrünen, scharlachenen, purpur¬
farbenen und dunkelvioletten Sammeten, die meist
mit dem schönen Granatapfelmuster in den verschie¬
densten Variationen gezeichnet sind, oft in zwei Höhen
geschoren, die Linien gross und kühn geschwungen.
Die Stoffe sind durchweg italienische Fabrikate, die
schweren kostbareren Venetianer, die leichteren Genuesen
- die Annahme einer gleichzeitigen flandrischen
Fabrikation muss aufgegeben werden, zumal auch
nach den letzten Untersuchungen von Jan Kalf, die
immer nur Einfuhr, nicht eigene Herstellung in den
Niederlanden nachweisen. Aber diese Sammete sind
dann am Niederrhein verarbeitet, gewissermassen
montiert worden. Im Anfang herrscht die sogenannte
Kölner Borde als Verzierung der Stäbe vor, mit ihren
fast ornamentalen Inschriften und den symmetrischen
Bäumchen, die so wunderlich modern, wie einer
1) Abgeb. bei Fischbach, Die wichtigsten Weberorna-
niente Taf. 112. Graeven a. a. O. S. 270, Anm. 2.
2) Abgeb. bei v. Hefner-AIteneck, Trachten, Kunst¬
werke und Gerätschaften 2. Aufl., Taf. 29.
Morris’schen Vorlage entnommen, uns anmuten. Dann
folgen die gestickten Stäbe, meist mit einzelnen Hei¬
ligen in architektonischer Umrahmung, auf dem Kreuz
— auf der Rückseite der Kasel — meist die Kreu¬
zigung dargestellt, die sich wie selbstverständlich
diesem Rahmen einfügte. Um die Wende des jahrhun¬
dertsbeginnen dann die grossen ausgeführten Stickereien
in Lasurmanier, mit leise durchschimmerndem Gold,
kleine Meisterwerke von der höchsten Eleganz
der Durchführung. Die Bilder auf der mit dem
Wappen des 1540 verstorbenen Kanonikus Sibert
von Ryswick geschmückten Kapelle stellen viel¬
leicht den Höhepunkt dieser Nadelmalerei über¬
haupt dar. Die Vorbilder, selbst für die Ornamentik,
sind hier gleichfalls italienisch. Sieht das grosse Mittel¬
feld nicht ganz wie ein italienisches Tondo, etwa von
Mainardi, aus? Und wer möchte angesichts einer
solchen Ausdrucksfähigkeit der Technik leugnen, dass
diese Werke eben wirklich zur grossen Kunst ge¬
hören?
Denn das scheint mir gerade das entscheidende
Kriterium für die Bedeutung und die innere Kraft
eines Stiles zu sein, ob er alle Techniken, auch die
scheinbar abliegenden, mit seiner Formensprache er¬
füllt hat und ob er selbst alle Geräte und Ausstattungs¬
stücke, auch die scheinbar untergeordneten, seinen
Gesetzen unterworfen hat. Nur bei der Ausdehnung
des Interesses auch auf diese Seitengebiete lässt sich
die Stärke einer künstlerischen Richtung berechnen,
die Intensität eines Stromes ablesen. Und verwundert
sehen wir, wie diese künstlerischen Nebensächlich¬
keiten, die kleinen und alltäglichen Gebrauchsgegen¬
stände mitunter ein weit subtileres und ausgesproche¬
neres Stilgefühl offenbaren, als dies den Schöpfungen
der monumentalen Kunst überhaupt möglich ist.
T Clemen, a. a. O. Kreis Moers, S. 138, Taf. 8.
Abb. 37. Mettlach. Vorderseite der K/eiizestafel
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H , Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1903
ELTERNOLÜCK. RADIERUNG VON GEORG VON KEMPF
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER
IN BRÜGGE
VON Franz Dülberg
II.
Gegen das Ende des 15. Jahrhunderts be¬
mühen sich nacheinander zwei in Brügge ein¬
gewanderte Meister, aus den seltenen Blumen
der Grossen, Hubert’s und jan’s van Eyck, Roger’s
de la Pasture und des Flemallers, Hugo’s van der
Goes und des Dirc Bouts, ein allen gefallendes Ge¬
winde zu flechten: einen bunt sauberen Strauss für
das gute Zimmer des auf Bildung und Wohlstand
haltenden Bürgermannes
bringt der Mainfranke Hans
Memling, ein steif an¬
spruchsvolles Bouquet für
die Räume des in der
Kunst sich selber anbeten¬
den Geschmackssüchtlers
der Südholiänder Gerard
David zu stände. Äusser-
lich stand in der Mitte der
Memling’schen Werke
sein nachgerade zu Tode
gelobter Reliqiiienschrein
der heiligen Ursula aus
dem Brügger johannis-
spital (Nr. 68); hier sei
nur bemerkt, dass auf den
Flügeln eines früher ent¬
standenen, ebenfalls in
Brügge (Soeurs Noires)
bewahrten Altarstückes mit
Darstellungen der Kirche
und Synagoge (Nr. 46, 47)
die Ursulalegende drama¬
tischer erzählt ist: man
beachte in der Marterscene
ganz vorn das Mädchen,
das an den Haaren geris¬
sen wird und die Hände
vorstreckt. Auch die beiden
räumlich grossen Haupt¬
werke aus dem johannis-
spitaI,derjohannisaltar von
147g (Nr. 59) und der
Christophorusaltar von
1484 (Nr. 66) sind uns nicht viel mehr als vornehm ge¬
stellte lebende Bilder. Das Schwergewicht eines Vor¬
ganges wie die Enthauptung des Täufers ist dem
Maler kaum bewusst geworden, und eine Apokalypse,
die so wenig Offenbarung ist, hat wohl kein Grosserder
Kunst wieder gemalt. Man vergleiche einmal die behäbi¬
gen vier Reiter Memling’s mit Dürer’s vulkanischem
Blatte! Sehr erfreulich war das Erscheinen des selten
gezeigten, durch die frühe Entstehungszeit — gegen
1468 — und als Vorbild des grossen johannisaltars
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. II. fi
wichtigen Triptychons des Sir John Donne (Nr. 56,
Herzog von Devonshire, Chatsworth). Die Anordnung
ist hier von steifster Symmetrie, die Haltung der
Madonna völlig senkrecht; nur der Engel, der lächelnd
dem Christkinde den Apfel bietet, wirkt belebend.
Die Färbung ist geschmackvoll — das violette Ge¬
wand des Täufers, die beiden trefflich gegeneinander
gesetzten Rot in dem des Evangelisten — , aber
ziemlich kühl. Die Land¬
schaft flussdurchzogen, fast
eben; die Höhenzüge der
Ferne sehr rundlich ge¬
wellt, merkwürdig nach¬
lässig behandelt. Auf dem
linken Flügel sehen wir
den Maler: ein gutmütiges,
volles, festes Gesicht mit
kurzer Stirn, zurücktreten¬
den Augen und breiten,
dünnen Lippen. Unselb¬
ständig zeigt sich seine
Kunst in dem wohl eben¬
falls sehr frühen, stark von
Bouts angeregten Mar¬
tyrium des heiligen Se¬
bastian im Brüsseler Mu¬
seum (Nr. 69): weder er¬
scheint hier der Akt be¬
deutsam, noch ergreift uns
bei der geringen seelischen
Anteilnahme, mit der hier
gemalt wurde, der Gegen¬
stand. Unter dem Zeichen
Rogier’s steht die kleine
fragmentierte Geburt Chri¬
sti (Nr. 80, Clemens, Mün¬
chen), interessant durch das
verkümmerte, besorgte Ge¬
sicht joseph’s, der die
Kerze hält, und das leuch¬
tende Feuerrot seines Ge¬
wandes. Die gleiche Ab¬
hängigkeit zeigt noch die
Anbetung der Könige in dem 1479 datierten Brügger
Floreinsaltärchen (Nr. 60): freilich gewinnt uns dort
die ausserordentlich schön beobachtete, bis zum Stadt¬
thor führende Strassenperspektive. Eigener sind im
Aufbau: die trefflich erhaltene und schön in die
Senkrechte komponierte Beweinung Christi aus den
Privatgemächern des Fürsten Doria (Nr. gi) und der
v. Kaufmann’sche Altar mit der gleichen Darstellung
im Mittelbilde (Nr. 92), tief gestimmt in der Land¬
schaft, ungewöhnlich ausdruckskräftig in den Gestalten
iS
Memling, Verkündigung
Sainnilitng des Fürsten Anton Radziwill
13Ö
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
uer n:it geöffnetem Munde, ängstlichen Blicken und
thränendem Gesichte hinter dem Leichnam nieder¬
knienden Mutter und der die Hände ringenden
.Magdalena. Die vollen Gesichter zeigen in der
iJLircharbeitimg deutliche Anklänge an Hugo van der
■'i.^es. Lebendiger als Memling’s meiste Werke — in
der ,-tarken, wenn auch noch eckigen Geste, in dem
. ei'. hen Ausdrucke der Mundöffnungen — wirkt auch
ein Fragment in englischem Privatbesitz; die Volks¬
menge im Eccehomo (Nr. 76), nur wenige Köpfe
und Hände. Nach Weale’s wohl zutreffendem Ansatz
gehörte das Bild der letzten Zeit des Meisters an,
seinem Lübecker Altar ist es verwandt. Die meisten
Stimmen der prüfenden Kunstfreunde aber vereinigte auf
sich das vom Fürsten Anton Radziwill geliehene, wohl
1482 gemalte Verkündigungsbild (Nr. 85, s. Abb.). Fast
hinsinkend empfängt Maria, in lichtblauem Gewände,
die Botschaft. Zwei Engel helfen ihr, der eine in
Hellviolett, der andere in köstlichem, gelb belichteten
Violettweiss. Den Kündiger kleidet ein prächtig rot¬
goldener Mantel, aber nur fast ängstlich fragend wagt
er sich zu nahen. Eine zarte Empfindsamkeit, noch
durchaus gehalten, spricht sich in diesem Bilde aus.
Im 16. Jalirhundert wächst sie rasch bis zu neu-
rasthenischer Spannung. Zwei Werke führten von
Memling zu seinem Nachfolger Gerard David: der
kniende heilige Hieronymus der Sammlung Schubart,
jetzt bei Frau Professor Bachofen in Basel (Nr, 86)
durch die selir sorgfältige, nicht gerade vielsagende
Gesichtsbildung und den allzugleichmässig hellbräun¬
lichen Fleischton, und der grosse, aus Spanien ent¬
führte Orgelschmuck mit dem Himmelskönig und
dem Engelchor (Nr. 84, Antwerpener Museum) durch
die absichtsvolle Feierlichkeit. Die Mittelfigur des
segnenden Christus, natürlich von Hubert van Eyck
abhängig, wirkt mit ihrer hölzernen Handhaltung
unrettbar langweilig, doch wecken die leisen Ab¬
wandlungen in Gesichtern und Händen der Engel
die Teilnahme: freilich an die aus schönstem Leben
herausgegriffenen, halb knaben-, halb mädchenhaften
Zeugen der heiligen Geburt auf Hugo’s van der Goes
Florentiner Zeugnis darf man dabei nicht denken.
Zahlreich waren die handlungslosen Madonnenbilder
des Meisters vertreten: die im Aufbau recht unbelebte,
frühe Madonna mit dem heiligen Antonius aus der
Liechtensteingalerie (Nr. 81), aus derselben Sammlung
die kleinere Madonna mit dem Apfel (Nr. 72), wo
das wirklich liebenswürdig lächelnde Kind in starkem
Gegensätze steht zu dem kalten Ausdrucke der Mutter,
das leider stark übermalte Bild der Sammlung
Stephenson Clarke (Nr. 81), wo Maria von zwei
äusserst anmutigen Engeln begleitet ist, deren linker
dem Kinde eine Nelke reicht, interessant auch durch
die spätgotische Skulptur des Thrones mit der Ver¬
treibung aus dem Paradiese, und die ganz in Rot
getauchte Madonna des Herzogs von Anhalt (Nr. 7g),
mit den beiden Musikengeln, gotischer in der Orna¬
mentik, also wohl früher als die beiden Variationen
in Wien und Florenz. Das schönste Stück der Reihe
besitzt wieder Herr Adolf Thiem: die Mutter in
prächtigstem Rot und zurücktretendem Graublau, mit
nur einem sehr belebt blickenden, eine Nelke reichenden
Engel in grauer Kleidung (Nr. 78). Das altbekannte
Brügger Zweiblatt mit der selbstgefällig kalten Madonna
und dem so frischen und lebenswarmen Bildnis des
Martin van Nieuwenhove (Nr. 67, 1487 gemalt) mag
uns zum Schluss zu Memling’s Porträts führen, die
zwar nicht jene unbarmherzige Fesselung des Ani¬
malischen, wie die des Jan van Eyck, nicht die blitzhafte
Seelenbeleuchtung Roger’s, nicht Hugo’s denkmalhafte
Erhöhung alles Lebendigen besitzen, dafür aber durch
ein kluges Belauschen des Gesamtaccordes der Natur
eine erfreuende Lebensnähe erwerben. Der Jugend
gehört, noch ganz von Roger geführt, das Bild eines
wunderhübschen betenden Jünglings mit ganz schlanken
Händen (Nr. 77, Sammlung Salling, London); die
musterknabenhafte Haltung wird durch den träume¬
rischen, frühreifen Blick Lügen gestraft. Fast an
Giorgione’s Jüngling in Violett im Berliner Museum
werden wir hier gemahnt. Gar nichts beinahe sagen
aber die Augen eines jungen Mannes mit grosser
energischer Nase, der nach Kaemmerer’s Vermutung
wohl als Schützenkönig — einen Pfeil in der Hand
hält; das, wohl ebenfalls frühe, Bild, mit blauem
Grund, war aus der Oppenheim’schen Sammlung in
Köln gekommen (Nr. 70). Nicht viel mehr als ge¬
sammelte Kraft verrät uns auch das farbenfreudige,
trefflich erhaltene Bildnis eines Mannes mit ein¬
geschlagener Nase aus der Galerie des Haag (Nr. 73).
Stark nachgedunkelt und von gelbem Firnis bedeckt,
aber doch äusserst vornehm, zumal in den feinen
Zügen des Mannes, sind die Bildnisse des durch Hugo
van der Goes uns teuer gewordenen Tonnnaso Porti¬
nari und seiner Gattin (Nr. 57, 58), aus dem Besitz
von Herrn Leopold Goldschmidt in Paris, der auch
eine Variation der Gottesmutter mit den heiligen
Frauen vom Mittelbilde des Brügger Johannesaltars,
eine wahre Symphonie in Rot und Grün, ausgestellt
hatte (Nr. 63). Nicht gerade in gutem Zustande, in
der Landschaft übermalt sind die beiden viel ersehnten
Kniestücke aus der Hermannstadter Galerie (Nr. 74, 75).
Geheimnisvoll geschlossene Züge sind in dem in der
Malweise ungewöhnlich freien Porträt einer alten Frau
aus ungenanntem Pariser Privatbesitz (Nr. 71) fest¬
gehalten; das freilich lange nicht so reizvolle männ¬
liche Gegenstück befindet sich im Berliner Museum.
Wenn von Memling, so sicher eines seiner reifsten
liebenswürdigsten Werke, ist das Bild eines alten
Mannes mit sehr durchgearbeitetem Gesicht und über-
einandergelegten Händen (Nr. 16), das bei Baron
Oppenheim in Köln den Namen Jan’s van Eyck führt,
aber unzweifelhaft eine der schönsten Leistungen der
Menschendarstellung erst des ausgehenden 15. Jahr¬
hunderts ist. Unbeirrbare Güte ist selten so weit im
Ausdrucke gebracht worden.
Als Arbeiten der Schule Memling’s seien genannt;
das jedenfalls noch der Werkstatt angehörende, in
der Anordnung und in den Gegenständen merkwürdige,
in der Mittelgestalt des segnenden Christus von dem
grossen Antwerpener Orgelbild abhängige Reise-
altärchen des Strassburger Museums (Nr. 176), er¬
freulich durch den wohlgebildeten, vollen Frauenakt
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
137
der Eitelkeit«, der von der hölzernen Figur auf dem
grossen, wohl zwischen Memling und Gerard David
einzuordnenden Stuttgarter Bathsebabilde weit absticht,
und den wie ein Goldkäfer leuchtenden Leib des
Teufels; dann — in weitem Abstande — die Ein¬
kleidung des heiligen Ildefons im Besitz von E. Pacully
in Paris (Nr. in), roh, hell und gering in der
Farbe.
Wo Gerard David die Kunst Memling’s fortsetzt,
ist es, als würde eine Melodie, die wir eben auf dem
Klavier hörten, nun voll und schwer auf der Orgel
vorgetragen. So sehr nun die späten bekannten Haupt¬
werke des jetzt fast wie ein Italiener beliebten Meisters
als »reifer klassischer Archaismus« einer Stimmung
unserer Zeit entgegenkommen, so wird dieser Ent¬
wickelung des Künstlers der nicht ganz froh werden,
der weiss, dass der Holländer Gerard David von
Geertgen van Sint Jans herkommt. Diesem Zu¬
sammenhänge zuliebe sei zunächst von den wenigen
Bildern die Rede, mit denen auf der Ausstellung die
Art und nächste Nachfolge Geertgen’s, dieses kühn¬
sten, früh wieder entschwundenen Neuerers unter den
Diadochen der Eyck, vertreten war.
Das eine Werk, das von eigener Hand des jungen
grossen Gerhart in Brügge gezeigt wurde — kennen
wir ja doch nur im ganzen etwa zehn Bilder von
ihm — konnte uns freilich nicht so viel wie die un¬
schätzbaren Wiener Fragmente seines johannisaltars
von seiner im Gegensatz zum reliefmässigen Aufbau
fast aller seiner Vorgänger so echt malerischen, bis
auf Rembrandt’s volkreiche Radierungen fortwirkenden
Massenbewältigung, von seinem an die besten Japaner
erinnernden, unheimlich schnellen Erfassen jeder
Körperbewegung verraten, da es nur eine einzige
Figur enthält und nur ein Stück kleineren Umfanges ist.
Es stellt — auch im Stoffe für den »famulus ac pictor«
der Haarlemer Johanniter bezeichnend ■ — den Täufer
in der Wüste dar (Nr. 34, Abb. S. 141): aber welcher
Gegensatz zu Memling’s Johannes in der Münchner
Pinakothek, der sich malen lässt und mit stumpfer
Gebärde auf das Gotteslamm deutet! Geertgen zeigt
uns einen frischen tüchtigen Burschen, der einmal
Trübsal bläst und in der schönsten grünen, vom Bäch¬
lein durchflossenen Frühlingslandschaft dasitzt, den
Kopf in die Hand gestützt. Wie trefflich eingehend
ist das Gewand von Kamelshaaren durchgearbeitet,
wie sicher die dünnstämmigen Bäume, das ganz wie
auf den frühen Stichen des Lucas van Leyden dolden¬
förmige, bogenartig durchzogene Laubwerk hingesetzt,
wie reich die Ebene, die nur fern von blauen Hügeln
begrenzt wird, entwickelt! Das köstliche Stück, bis¬
her in englischem Privatbesitz, wurde denn auch von
den glücklichsten Jägern nach dem Schönen ver¬
gangener Zeiten, den Leitern des Berliner Museums, zur
Strecke gebracht, so dass jetzt die preussische Galerie
die holländischen Frühmeister in einer sonst nirgends
erreichten Vollständigkeit besitzt: Ouwater, Dirk Bouts,
Geertgen, Cornelis Engebrechtsz, Lucas van Leyden,
Jacob Cornelisz, Jan van Scorel, Antonis Mor. Ein
äusserlich weit reicheres Werk, das zumal in den
Gesichtstypen stark an Geertgen’s originellstes Bild,
das »Sühnopfer des neuen Testamentes« im Rijks¬
museum erinnerte, war ebenfalls aus England ge¬
kommen (Nr. 256. Sir C. A. Turner, London); der
recht ungewöhnliche Gegenstand war die Einsetzung
des Rosenkranzes. Weit entfernt aber von der apfel-
blütenhaften Frische des Amsterdamer Gemäldes zeigte
das Bild eine kalkig helle und fettige Malweise, auch
die Komposition war geistlos und nicht Geertgen’s
Eigen. Es handelte sich wohl um die Leistung eines
archaisierenden Nachahmers vom zweiten Viertel des
16. Jahrhunderts. Ein kräftiges Malwerk, das auf
der Mitte des Weges zwischen Geertgen und seinem
weniger adeligen, aber im Starken wie im Zarten
stets echt malerischen Fortsetzer Cornelis Engebrechtsz,
steht, ist der bereits durch frühere Ausstellung be¬
kannte Kalvarienberg der Hamburger Sammlung Glitza
(Nr. 255), zugleich eines der frühesten Beispiele der
in den reichsten Stichen des Leydener Hauptmeisters
wiederkehrenden Kompositionsart, die eigentlichen
Träger der Handlung zu Gunsten einer auf die Viel¬
gestaltigkeit ihrer Beteiligung studierten Zuschauer¬
menge in den Hintergrund zu drängen, einer im
echten Sinne demokratischen Malweise. Mit grosser
Plastik heben sich die beiden Pferde im Vordergründe,
das vordere braun, das hintere weiss, heraus. Die
Gewandungen, fast alle rot, braunrot, braun und weiss,
der Hügel, von merkwürdig landkartenartiger Bildung,
graugefärbt, und der dunkelblaue Himmel — das giebt
den vollsten und tiefsten Farbenton. Matter und
feiner in der Färbung, wahrhaft als Freilichtmalerei
empfunden, bedeutsam in der Zusammenstellung der
verschiedenen Rot, zarter und edier in den Formen
ist die Beweinung Christi der Sammlung Martin Le
Roy in Paris (Nr. 245), vielleicht das wichtigste früh¬
holländische Bild in dieser Stadt ^). Von ausserordent¬
licher Gewalt ist die Gruppe, die den ganz vorn
liegenden, nur durch ein Tuch vor der Berührung
des Erdbodens geschützten, das gebrochene Auge
uns zukehrenden Leichnam umgiebt. Mit ängstlicher
Sorgfalt hält Johannes die Mutter des Heilandes, die
ihm jeden Augenblick entgleiten und den Kopf vor¬
auf, zu Boden stürzen kann. Entfernter berührt eine
der Frauen — vielleicht Magdalena — in ihrer Ver¬
zweiflung mit den gerungenen Händen und mit der
Stirn die Erde. Echt malerisch gesehen sind im
Hintergründe die beiden Träger, die mit der Leiter
abziehen und die hinter der Böschung gerade mit
1) Ich schrieb dies, ehe mir eine Photographie des
wunderbar unser Leben bereichernden Bildes der Er¬
weckung des Lazarus zu Gesichte kam, das das Louvre,
so mit einem Schlage das Reich der frühholländischen
Kunst sich eröffnend, kürzlich erwerben durfte. Das Werk,
bereits 1857 durch seinen Besitzer Jules Renouvier mit
dem richtigen grossen Namen Geertgen’s van Sint Jan’s
belegt, zeigt uns den Vorgang, den Aelbert Ouwater hinter
Kirchenmauern verschloss, in freier lichter Natur. Drama¬
tisch nur an einer Stelle so stark wie die in heller Glut
empfangene Wiener Kreuzabnahme, führt es sicher von
dem jung-frischen Prager Dreikönigsbilde zn jenem Haupt¬
werke hin. Ich hoffe über das Bild in einiger Zeit an
anderer Stelle ausführlich reden zu können.
iS
^ AL '^STELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER AlElSTER IN BRÜGGE
L; ;n K.ö;::fe:: . "^ 'hciii kommen. Das Bild ist
. M dcr-st-ii'.-; :i ic die von ähnlichem drama-
■■ V ii;- 1 Lf-r _■ I iVcilich nicht ganz so starke
v p: .'' ;iii. 7. ■ . cfl ffizicii; das eigenartige, in
1- .1 ( T-L; i " ■* -v a i Ri^- i' ciella Francesca erinnernde
: , - , ; G.^ria mit weiblichen Heiligen
, :-:v : : ; ■ J ■ . 1, ' t /" .ir in der Schädelbildung
- I . -i. 7 - i . : i i-v.;ndfalten verwandt, aber das
doch stellte sich bald unzweideutig heraus, dass an
der fraglichen Stelle die Hand oder besser Pfote
eines Restaurators< gewaltet hatte. Auf derselben
Strecke, etwas näher dem Ausgangspunkte, liegt
übrigens das kleine Triptychon des Antwerpner
Museums (Nr. 561, 562, 563, Coli, van Ertboru) mit
der Madonna mit Engeln unter dem Baldachin,
Christophorus und Georg als Drachentöter '). ln die
Gerard David. Verkündigung
Fiirsü. tlohenzollcni'sche Sannnlnng Sig/nari/tgc/i
Werk einer weniger bedeutenden Persönlichkeit und
etwas früher entstanden. Ein wichtiges Bildchen, das
von Geertgen zu dem Erwecker der zartesten Farben¬
wollust, zum Kölner Meister des Baitholomäusaltars,
der Orchidee im Garten der deutschen Malerei, hin¬
führt, war das hell- und mattfarbige der heiligen
Anna selbdritt mit zwei heiligen [Bischöfen (Nr. 15g,
C. Davis, London). Die Inschrift Sanctus Anna
liess mich einen Augenblick an der Echtheit zweifeln,
Nähe eines derberen, aber im schrankenlosen Pathos
und der Frische der Auffassung verwandten Zeit- und
1) Audi das 1902 erschienene abschliessende Haupt¬
werk Aldenhoven’s über die Kölner Malerscbule bringt
mir nicht den Beweis für die von den meisten Forschern
angenommene schwäbische Herkunft des Bartholomäus¬
meisters. Die Benutzung eines Schongauer’schen Stiches
bedingt nicht die stilistische Abhängigkeit von dem Kol-
marer Meister.
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLANDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
139
Landesgenossen Geertgen’s, des unter dem Namen
»Der Meister J. A. M. von Zwolle« bekannten Stechers
möchte ich am liebsten das färben kräftige, sehr durch¬
geführte und ziemlich grosse Bild der Handwaschung
des Pilatus« aus der Sammlung Vicomte de Ruffo
in Brüssel (Nr. 339) setzen, das ausserdem auch
einige Beziehungen zur westfälischen Kunst (den Ge¬
brüdern Dünwegge) zu verraten schien.
ging oder bereits im KlimaBrügges abhanden gekommen
war. Nur ganz leise Gebärden erlaubt der Künstler
den Zuschauern der aufregenden Ereignisse, und
Sisamnes selbst ist bei seiner Entlarvung nur verblüfft,
keineswegs zum Tode erschrocken; als er nun gar
— ein unheiliger Vorläufer — das schreckliche Bar¬
tholomäusschicksal erleidet, sieht man ihm höchstens
an, dass ihm die Situation peinlich, fast möchte man
Gerard David. Verkündigung
Fiirstl. HohcnzoUern'sche Samntliing Sigmaringen
Kam man von dieser Gruppe bewegter, von tief
erfassten Problemen erfüllter Werke zu den frühesten
beglaubigten Arbeiten Gerard David’s, den vielleicht
schon 1488 begonnenen, sicher 1498 vollendeten
Rathausbildern der Bestrafung des bestechlichen Rich¬
ters Sisamnes (Nr. 121, 122, Brügge, Akademie), so
sah man um so deutlicher, wie sehr dem Meister die
Fähigkeit zu klarer Gliederung der Massen, zum Aus¬
drucke starker Gefühlserregung entweder von Natur ab¬
sagen kitzlich, ist. Die Herkunft des Malers von
Geertgen wird in der Belichtung der Hände mit Rot,
in dem bräunlichen Ton der Gesichter deutlich, auch
das Erscheinen eines sich kratzenden Hundes im
Vordergründe ist ein holländischer, ähnlich ja noch
bei Rembrandt wiederkehrender Zug. Interessant sind
die angebrachten Skulpturen antiker Stoffe, wie So-
phonisbe’s Gifttrunk. — Von diesen Hauptstücken
gelangte man leicht zu einigen anderen Frühwerken
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLANDISCHER MEISTER IN BF^ÜGGE
140
des Künstlers, von denen der kleine heilige Hiero¬
nymus der Somzee’schen Sammlung (Nr. 172) mit
dvm stark geertgenhaften Cruzifixus und dem hier
wirklich ausdrucksvollen, Leiden und Weisheit ver¬
ratenden Bück des Heiligen wohl das älteste und
.-mpathischste war. Hell, etwas kreidig, erschienen
di;- beiden Flügel mit dem Täufer und Franziskus,
aus der von Kaufmann’schen Sammlung (Nr. 134),
v:)n starkem Eindruck aber war die figurenreiche
warn.f.ub! ;e Ar.betung der Könige aus dem Brüsseler
rduse.im 135), dem etwas späteren, im Aufbau
kiarcp Bilde gleichen Gegenstandes in der Münchner
r’in.-kü'diL-k überlegen durch die unmittelbar geschauten,
wundervoll durchgearbeiteten Greisengesichter des
die Hand des Kindes küssenden Königs und des
auf den Stock gestützt sicher dastehenden, kräftig
verwitterten Josej^h. Die Madonna ist freilich auch
hier feierlich bedeutungslos, das bunteste Leben aber
erfüllt die Gruppen des zweiten Planes, die ebenso
wie der F^undbau des Hintergrundes an das frischeste
aller Dreikönigsbilder, Geertgen’s in ehrlicher Andacht
wie in tummelndem Gewoge gleich reiches Altarstück
im Prager F^udolphinum denken lassen. Die Gestalt
des Mohrenkönigs, mit der weissen Mütze und dem
grünen Mantel als Farbenaccord sehr vornehm, ge¬
mahnt an Jan van Mabuse’s mächtiges Frühwerk der
Epiphanie, im Besitz des Lord Carlisle, wie denn
überhaupt Gossart-Mabuse, aus heute französischem
Gebiet stammend, aber lange Jahre in holländischen
Gegenden thätig, in seinen Anfangsbildern durch Ver¬
mittelung Gerard David’s Elemente Geertgen’scher
Kunst aufnahm und seltsam diese umgestaltend sie
auf den beginnenden Lukas van Leyden übertrug —
was wir an dessen frühesten Stichen, wie die Er¬
weckung des Lazarus und die Ölbergscene der Runden
FLassion, deutlich ersehen. Leider fehlten der Aus¬
stellung einige bereits vor Jahren durch Friedländer
für die Jugend Gerard David’s beanspruchte Stücke:
die vom Antwerpener Museum zurückbehaltenen
Flügel mit den gerechten Richtern« und den leid¬
tragenden Frauen, und das Breitbild der Nagelung
Christi aufs Kreuz bei Lady Layard in Venedig:
zumal dieses im Stoff so grausame, in der Aus¬
führung so zahme Bild zeigt uns deutlich einen
Maler, der merkwürdig bedachtsam die Unmittelbar¬
keiten Geertgen’s mitmacht. Man sieht es nach
und nach: eine Tugend aus der Not machend wurde
Gerard David ein »vornehmer Stilist- und erreichte
so, dass er heute einer unserer Modernsten ist. In
dem spätestens vier Jahre nach den Gerichtsbildern
ausgeführten Mittelstück des zweiten Brügger Haupt¬
werkes, der Taufe Christi (Nr. 123) hat er den FJber-
gang zu absichtsvoller Würde bereits vollzogen. Eine
schnurgerade Senkrechte geht durch die Nase Gott¬
vaters, den Schnabel der Taube, die Nase und den
Nabel Christi! Auch der Rücken des ministrierenden
Engels ist kerzengerade. Dazu stimmen die ganz
senkrecht herabgehenden Linien der Bäume in
der freilich gross entworfenen, auf Tiefgrün und
leichtes Blaugrün gestimmten Landschaft. Nur den
Stifterfiguren und den Predigthörern des Hintergrundes
gestattet der Meister etwas freiere Bewegung. Dabei
scheint der taufende Johannes vom Gewichte seiner
Handlung gar nicht sehr durchdrungen. In den
Frauengestalten der vier bis sechs Jahre später ge¬
malten Aussenseiten der Flügel zeigt sich der Maler
völlig im Banne Memling’s. Ganz und gar konnte
der Künstler alle Möglichkeiten dieser Richtung ins
Leben treten lassen in dem grossen Bilde der Ma¬
donna im Kreise heiliger Jungfrauen, das er 1509
den Brügger Karmeliteriimen schenkte: es wurde das
berühmteste Stück zugleich Gerard David’s und des
Rouener Museums (Nr. 124). Die Anordnung im
Halbkreise ist vollkommen skulptural. Alles ist ab¬
gewogen und hat seinen Kontrapost. So auch die
Farben. Gegen die Madonna in Dunkelblaugrün
sind die beiden Engel in Weissblau gestellt. Der
Thron, mit Karminrot belegt, stimmt zu den roten
Brokaten der beiden Heiligen links und rechts am
Ende, und die vorletzten auf jeder Seite tragen in
schöner Harmonie Olivengrün. Links hinten steht
als einziger Mann der Maler: ruhig, gelassen, vor¬
nehm, schwerfällig, passt er ganz gut in die heilig
monotone Gesellschaft. Den grössten Beifall aber
heimste die wohl nur wenig später entstandene Ver¬
kündigungaus der Fürstlich Hohenzollern’schen Samm¬
lung in Sigmaringen (Nr. 128, Abb. S. 138 u. 139) ein:
nur zwei Personen auf zwei Tafeln, die früher vielleicht
die Flügel eines farblosen Scimitzaltars bildeten: die
Ausstellungsbesucher sagten einfach »das blaue Bild«.
Die Gesichter und Fleischteile sind in leuchtenden
Glanz getaucht, die Modellierung zeigt deutlich ein
spätes Nachwirken der Kraft des Hugo van der Goes.
Der Engel ist in Hellblau gekleidet, die Flügel unten
hellblaugrau, oben braun gefärbt, der weite Mantel
grün und violett, oben rotbraun. Die Wand grau
und braun. Die Glorie der Taube umgiebt ein
blauer Rand. Der Mantel der Maria ist graublau,
die Bettstatt dunkelblaugrau. Ein magisches, vom
Himmel kommendes Licht trifft die weissen Lilien.
Als einzige unterbrechende Note sehen wir vorn einen
roten Beutel auf dem Boden liegen. Man musste
vor der Malerei, die mit dem Memling’schen Ver¬
kündigungsbilde beim Fürsten Radziwill zu vergleichen
eine der lehrreichsten kritischen Beschäftigungen war,
unwillkürlich an den populären Effekt der blauen
Beleuchtung in Rauch’s Charlottenburger Mausoleum
der Königin Luise denken. Neben solchen Haupt¬
stücken war noch manches andere von Gerard David
und aus seiner nächsten Umgebung auf der Aus¬
stellung zu sehen, das geringeres Interesse bot: die
noch ziemlich frühen, geradlinig gezeichneten, in der
Farbe vollen und kräftigen, leider keineswegs unver¬
letzten vier Figuren männlicher Heiliger aus der
Berliner Sammlung Simon (Nr. 138), das kleine,
dunkel gehaltene Rundbild der Madonna beim Baron
Bethune in Brügge, zeitlich dem Rouener Bilde nicht
ganz fern (Nr. 268), die sehr gedrängt komponierte,
in den Händen wächserne, in den Linien scharfe und
feine Madonna mit dem die Mutter küssenden Kind
und dem Speisen heranbringenden Joseph (Nr. 343,
Herr Martin Leroy, Paris), diesem I3ilde in der hol-
DIE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
141
ländisch häuslichen Stimmung verwandt die vom
Strassburger Museum dargeliehene Madonna mit dem
Löffel (Nr. 20g), freilich kein Original, sondern, wie
die nervöse Haltung des Kindes zeigt, Kopie von
der Hand eines aus der Gruppe um Herri de Bles
stammenden Nachahmers^). Weiter das riesengrosse,
aus Spanien erworbene Triptychon der heiligen Anna
selbdritt und des
heiligen Nikolaus
und Antonius (Nr.
125, Somzee’scher
Nachlass), bei ge¬
ringerer Durchbil¬
dung sicher von
derselben Art wie
die steinharte thro¬
nende Madonna im
Genueser Palazzo
Bianco und gewiss
ein gleich für die
Ausfuhr gemaltes
Atelierwerk der
Spätzeit, dann die
sehr hellfarbige,
nur durch grossen
fast raffaelischen
Schwung der Be¬
wegung Petri in¬
teressierende Ver¬
klärung Christi aus
der Brügger Lieb¬
frauenkirche (Nr.
1 17), ein zumal in
der Landschaft an
die matte, aber
feintonige Berliner
Kreuzigung er¬
innerndes Bild und
gleich dieser wohl
aus den allerletzten
Jahren des Künst¬
lers. Ferner, in ge¬
ziemendem Ab¬
stande, die Bilder
der Verkündigung
und Heimsuchung,
aus gräflich Har-
rach’schem Besitz
(Nr. 267), wohl
schon nach dem
Tode Gerard Da-
vid’s gemalt und
nicht ganz ohne Verwandtschaft zu dem später zu bespre¬
chenden, bisher unter dem Namen »der Waagen’sche
Mostaert« bekannten fruchtbaren Meister. — Zwei Bild¬
nisse wurden im kritischen Katalog als Arbeiten eines
Schülers des Gerard David zusammengestellt: das von
seinem Pariser Besitzer und von der Ausstellungsleitung
Oeerfgen. Der hl. Johannes. Berlin, Kgl- Museen
1) Das sehr ähnliche Bild ini Palazzo Bianco in Genua
steht dem Meister selbst ungleich näher.
bei Petrus Cristus untergebrachte, in der That durch
den spröden glasigen Farbenauftrag etwas an die so¬
genannte Lady Talbot« im Berliner Museum an¬
klingende Porträt eines Unbekannten von schmalen
energischen Zügen, eindrucksvoll durch das leuchtende
Rot der Kopfbedeckung und den grossen alten, elegant
flächenhaft behandelten Holzrahmen (Nr. 146), und
das eines jungen
Geistlichen von
rötlichem Gesichts¬
ton aus der Samm¬
lung James Simon
(Nr. 217). Auch
diese beiden Stücke
gehörten durch die
altertümelnde Kost¬
barkeit der Ausfüh¬
rung schon fast in
den Umkreis jenes
in den meisten Ga¬
lerien vertretenen
Meisters, dessen
Art mit dem war¬
men hellen, durch
spitzige weisse
Lichter unterbro¬
chenen Braun der
Gesichter und
Hände, dem tiefen
durchsichtigen Kar¬
minrot der Gewan¬
dungen und dem
schweren, etwas
stumpfen Dunkel¬
grün des Laub¬
werks dem Kunst¬
betrachter so rasch
vertraut wird.
Als ein erläu¬
ternder Anhang zu
den Werken des
Malers, der uns den
Rouener Kranz der
heiligen Jungfrauen
schuf, war, zumeist
inräumlicherNähe,
eine Reihe von
Erzeugnissen einer
und derselben
Werkstatt ausge¬
stellt, von denen
das umfangreichste,
ein 1489 für die Gilde zu den Drei heiligen Frauen
(»Drie Sanctinnen«) in Brügge gestiftetes Breitbild
(Nr. 114, Brüsseler Museum) für den allerdings weit
geschlosseneren und strengeren Aufbau jenes Haupt¬
werkes Gerard Davids offensichtlich die Anregung
gegeben hat. Ein weiter Abstand ist es freilich von
den steif mit hochgezogenen Brauen und mürrisch
vorgeschobenen Lippen trotz mechanisch reicherer
Bewegung götzenhaft dasitzenden Jungfrauen in
1
DiE AUSSTELLUNG ALTNIEDERLÄNDISCHER MEISTER IN BRÜGGE
Brüssel zu den schwach, aber fein belebten, wie die
Saiten eines edleii Instrumentes auf einander abge-
- üien Rouener Gestalten! Wie fällt die eine Roger
e ’a Pasture abgehorgte Figur der vorn knienden
■‘.'ialc-nr (aus der Beweinung Christi in den Uffizien)
e.’rcii ihre V em'gstens etwas sagende Gebärde aus
. . Ganzen heraus! Neben Roger wirkte auch der
..cd- der Santa Conversazione des Johannesaltars,
m allem aber die Festigkeit, die Landschaftsfreude
.1.1 der Detailsinn des Dirk Bouts bestimmend ein.
irierkwürdig nahmen sich auch die hellen, fast un-
'■crmittelt nebeneinander gesetzten, von frischem Grün
und Braungelb beherrschten Farben des Brüsseler
Bildes neben David’s zart abgetöntem Kolorit aus.
Es ist, als wäre jede Einzelheit auf dem Gemälde
von einem anderen Künstler, der auf seine Mitarbeiter
wenig Rücksicht nahm, ausgeführt worden. So haben
die reichen, sorgfältig in Strähnen frisierten Haare
fast all der Jungfrauen eigentlich mit den Köpfen, zu
denen sie gehören, nichts zu thun, der kostbare, das
Rad des Martyriums als eingesticktes Schmuckmotiv
verwendende Mantel der heiligen Katharina kommt
gerade vom Schneider und sitzt seiner Trägerin nicht
recht. Besonders liebevoll sind immer die reichlich
angebrachfen Blumen und Früchte behandelt, und so
möchte man glauben, dass eine Gruppe von Kunst¬
handwerkern, die sonst die als Textumrahmung der
Gebetbücher so beliebten Blumenfriese auszuführen
gewohnt waren, sich hier dem grossen Auftrag gegen¬
über, so gut oder schlimm es ging, ans der Verlegen¬
heit gezogen habe. Den gleichen eigenartigen Kunst¬
charakter, zugleich aber die Kennzeichen einer um
fünfzehn bis zwanzig Jahre weiter geschrittenen Ent¬
wickelung, zeigen zwei an sorgfältigst ausgeführtem
Blattwerk überreiche Madonnenbilder in Landschaft,
beim Earl of Crawford in London (Nr. 132) und
beim Baron Oppenheim in Köln (Nr. 133). Dieses,
neben einem farbenleuchtenden Breitbild der Berliner
Sammlung von Kaufmann und einer von Engeln be¬
gleiteten, die Gesellschaft eines prachtvollen Pfaus
geniessenden Madonna im Liller Museum (dort Nr.
225) wohl das bedeutendste Stück der Gruppe, er¬
freute durch das Geschick, mit dem fast ohne An¬
wendung von Schatten der Eindruck einer grossen
Raumweite erzielt wurde, und den scharfen Natur¬
blick, der die auf einem Teiche lagernde Sumpfkresse
nicht vergessen hat. — Eine kleinere Madonna auf
Goldgrund aus dem Aachener Suermondt-Museum
(Nr. 173) schloss sich bei schwärzeren Fleischschatten
durch die eigenartige Kopfform an die Reihe an,
zwei Gegenstücke, Halbfiguren der im Walde lesen¬
den heiligen Katharina und der heiligen Barbara,
aus englischem Privatbesitz (Nr. 404, 405) auch durch
die Behandlung der Landschaft.
Mit Gerard David ist auch in den Niederlanden
die Kunst des 1 5. Jahrhunderts zu Ende. Nach ihm
äussert sich überall, selbst bei den ihm sich an¬
schliessenden Meistern alterlümelnden Strebens, jene
ja oft zu zierlichen Gebilden ihre Zuflucht nehmende
Unruhe, jene Unsicherheit in allen wesentlichen
Eragen, die dem ungesund gesteigerten Pulsschlag
des Zeitalters der Reformation und der beginnenden
spanischen Weltherrschaft entspricht.
(Fortsetzung folgt.) y
i) liier sei gleich auf das unmittelbar bevorstehende Erscheinen eines grossen Tafelwerkes über die Brügger
Ausstellung hingewiesen, das go Foliotafeln und einen kritischen Text von Max J. Friedländer enthalten wird. Der
nächste Anfsatz wird Gelegenheit bieten, auf das bei F. Brucknrann erscheinende Werk näher einzugehen. D. Red.
ZU DEM KUNSTBLATTE ELTERNGLÜCK«.
UNSERE Leser werden sich der schönen Radie¬
rung „Ein Geheimnis“ erinnern, die wir im
vorjährigen Januarhefte veröffentlichten. Heute
stellen wir denselben Künstler, Georg v. Kempf in
Wien, mit einem weiteren Blatte (diesmal Aquatinta)
vor und geben zugleich einige Daten über seinen
Lebensgang. v. Kempf ist am 24. Juni 1872 in Wien
geboren, bezog die dortige Akademie, wo er sich
besonders an den jüngst verstorbenen J. V. Berger
anschloss. Seine eigentliche Begabung ist das De¬
korative, auf welchem Gebiete er sich denn auch
vielfach geübt hat; die bekannten Wiener dekorativen
Publikationen zeigen seinen Namen unter vielen treff¬
lichen Blättern. Aber daneben ist unser Künstler
auch ein Porträtist von guten Qualitäten: Das ge¬
radezu sprühend radierte Bildnis des Oberbaurates
Otto Wagner, das wir im Oktober 1901 brachten,
ist Zeugnis dafür. — Das heutige Blatt redet eine
so verständliche Sprache, dass wir uns weiterer Be¬
merkungen darüber füglich enthalten können.
Abb. 1. Niccola Pisano. Relief von der Kflnzel im Baptisterium za Pisa
ZWEI SELBSTBILDNISSE DES NICCOLA PISANO
SIE befinden sich an seinen beiden Hauptwerken,
den Kanzeln des Baptisteriums zu Pisa und des
Sieneser Doms. Meines Wissens hat bisher noch
niemand der sehr merkwürdigen Thatsache ihrer Exi¬
stenz gedacht.
Das Bildnis im strengen Sinne des Wortes, d. h.
die bildliche Wiedergabe eines Einzelnen um seiner
selbst willen, in voller psychischer und physischer
Bestimmtheit, ist bekanntlich im Norden wie im Süden
eine Errungenschaft des 1 5. Jahrhunderts. Doch sind
auch in älterer Zeit Versuche bildnismässiger Dar¬
stellung nicht ganz so selten, wie meist angenommen
wird. Lässt man alles Nichtitalienische beiseite, so
müsste dem oft angeführten Beispiele Giotto’s, der
in der Kapelle des Palazzo del Podestä auf dem
Fresko des jüngsten Gerichts unter den Seligen auch
die Bildnisse von Dante, Corso Donati und Brunelto
Latini anbrachte, der auf dem Fresko in der Laterans¬
basilika Papst Bonifaz Vlll. darstellte, für das 14. Jahr¬
hundert ausser verschiedenen gemalten Porträts noch
die ganze grosse Gruppe der Grabplastik hinzugefügt
werden; dem typischen Grabmal dieser Zeit gehört als
wesentlicher Bestandteil das Bildnis des Verstorbenen
in ganzer liegender Figur an. Wie weit in diesen und
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 6.
ähnlichen Arbeiten, beispielsweise in den verschiedenen
Porträtslatiien Bonifaz’ VIII., nicht nur der Wille zur
Büdnistreue, sondern auch die Fähigkeit vorhanden war,
über Alters- und Standestypen hinaus ins Individuelle
vorzudringen, bedürfte freilich erst noch der Unter¬
suchung. Auch am Ausgange des 13. Jahrhunderts sind
plastische Porträts dieser Art nicht eben selten; man
denke nur an die grosse, weit über Rom hinausreichende
Gruppe der Cosmafengräber. Aber erst der Tod war in
den meisten Fällen Anlass und Legitimation zur bildnis-
mässigen Darstellung, und auch dieser nur für Fürsten
und hohe Geistliche. Die wenigen, nicht nachweis¬
lich im Zusammenhänge mit Grabdenkmälern ent¬
standenen Bildnisse des 13. Jahrhunderts sind rasch
aufgezählt: Die Statue Karl’s von Anjou (wohl um 1277)
im Konservatorenpalast zu Rom; die aus Scala nach
Berlin übertragene Büste einer Fürstin, die sogenannte
Sigilgaita Rufolo an der 1272 datierten Kanzel von
Ravello, vor allem aber die Bildnisse Friedrich’s II.
und zweier seiner Ratgeber an dem vom Kaiser er¬
richteten Capuaner Brückenthor. Man sieht, alle diese
Denkmäler gehören dem Süden des Landes, die letzt¬
genannten sogar noch der ersten Jahrhundertshälfte
an. Über das Kaiserbild ist kein Urteil mehr mög-
9
144
ZWEI SELBSTBILDNISSE DES NICCOLA PISANO
li 1. ■ '..ie i;ri i - ■ . . ' on Capua bewahrten Büsten
Pietro Taddeo della Sessa jedoch
'Tnncii :: i h.T’Aiem Sinne als Bildnisse
rev esciien ‘ c. .'. -: '..siehtiieh hat der Künstler mehr
e.'i ri .'4!.'.^ ;t:s der Natur nachgestrebti).
Seih; ’h. ;h e ■ hün^ilern aber sind im Italien
s;. ; . h; de ePialienen Denkmäler ein Ur-
leil z: h :: .' -'’i nicht geradezu unerhört, so
g; L, ■ .:e . '.'erwunderlicherweise eigent-
;i,:h- • ei l — die psychologische Vor-
i; - ^ d: -edic.eisses — hatten die ehrsamen
:d: e; ■ .1 - lii 'cn Architraven der romanischen
Kir' . ; e e Lne-
-'1 *
diiz nriie-
;e' 'de.ii; ixunst-
entfal-
iveee, iii ;:;>.!ir als
ausreichendem
Masse. Wahrlich,
die Robertus,
Gruamons, Bi-
duinus u. s. w.
waren keine be¬
scheidenen Lum¬
pe, sondern Bra¬
ve, die sich der
That freuten und
ihrer Selbstschät¬
zung in Worten
zuweilen recht
deutlichen Aus¬
druckgaben. Ein
einziger jedoch
hat uns sein Bild¬
nis hinterlassen,
jener Guidetto
nämlich, der im
Jahre 1 204 an
der Fassade des
Doms von Lucca
thätig war. An
der äussersten
Säule der ersten
Bogenreihe, dort
wo sie an den
Campanile stösst,
findet sich eine mit Namen und Jahreszahl bezeichnete
Relieffigur, die ihn in der Tracht der Zeit als jugend¬
lichen Burschen mit rundem bartlosen Antlitz zeigt.
Die Thatsache an sich ist interessant, der dokumen¬
tarische Wert des Reliefs ist jedoch gleich Null, da
cs durch Abputzen und Überarbeiten neuerdings
charakterlos geworden ist-). Schmarsow glaubte jenen
Guidetto in einem Profilkopf des 1246 vollendeten
1 ) Vergl. die sorgfältige Heraushebung der individuellen
Elemente, die Fabriczy in dieser Zeitschrift Bd. XIV S. 222
und 236 ff. gegeben hat. Siehe ferner auch Delbrück im
laufenden Jahrgang S. 17 ff.
2) Vergl. Schmarsow, S. Martin in Lucca S. 27 und
Taufbeckens im Baptisterium zu Pisa und in dem
Säulenträger der 1250 datierten Kanzel von S. Bar-
tolommeo in Pantano zu Pistoja wiederzuerkennen').
Beide Werke sind durch ausführliche Inschriften
einem Comasken Guido gesichert; die von Schmarsow
behauptete Identität dieses Guido mit jenem Guidectus,
der 1204 in Lucca arbeitete und neuerdings als be¬
reits im Jahre 1199 in Pistoja thätig nachgewiesen
wurde'-), den wir also durch zweiundfünfzig Jahre
seines Lebensganges verfolgen könnten, ist mindestens
sehr unwahrscheinlich. Auch durch das vorgebliche
Selbstbildnis von 1250 wird sie in keiner Weise ge¬
stützt; denn dieses
zeigt durchaus
nicht die Züge
eines Siebzigers
(so alt müsste der
1 1 99 bereits Ar¬
beitsfähige im
Jahre 1250 ge¬
wesen sein), und
ist überhaupt,
was ein Vergleich
mit den Gestalten
an der Brüstung
lehrt, sehr wenig
individuell.
Immerhin, so
schwach auch die
ausführenden
Kräfte waren, —
die Absicht, ein
Selbstbildnis zu
geben , war bei
jenem Guidetto
im Jahre 1204
sicher, bei unse¬
rem Guido Biga-
relli aus Como
im Jahre 1250
wahrscheinlich
vorhanden. Nur
die Fähigkeit zu
wirklich indivi¬
dueller Gestal¬
tung fehlte ihnen
beiden, und zwar
sogar mehr als den künstlerisch sichtlich vorgeschrit¬
tenen Meistern der Martins- und Regulusgeschichten in
der Vorhalle des Doms von Lucca. Sehr merkwürdig
ist es nun, dass schon wenige Jahre nach Guido Biga-
relli ein Künstler, dessen Bedeutung sonst nicht eben
in der Richtung auf individuelle Gestaltendurchbildung
gesucht zu werden pflegt, nicht nur den Willen, son¬
dern auch die Fähigkeit zur Gestaltung eines Selbst¬
bildnisses besass. Dieser Künstler ist Niccola Pisano.
Tschudi’s Anzeige im Repertorium für Kunstwissenschaft
XIV, S. 514-
1) A. a. O. S. 58 u. 61.
2) Arte e Storia 1895 Nr. 21.
Abb. 2. Niccola Pisano. Relief von der Kanzel im Dom zu Siena
ZWEI SELBSTBILDNISSE DES NICCOLA PISANO
145
Abb. 3. Niccola Pisano. Selbstbildnis von det
Sieneser Kanzel
Auf einem der Brüstungsfelder der Sieneser Dom¬
kanzel, an der, wie die noch erhaltenen Urkunden
lehren, der alte Niccola als Leiter eines grösseren Be¬
triebes, ferner sein eben arbeitsfähig gewordener Sohn
Giovanni, endlich der Florentiner Arnolfo und einige
andere Gehilfen von 1266 bis 1268 beschäftigt waren,
ist links die Praesentatio Christi und rechts die Flucht
nach Ägypten dargestellt (Abb. 2). Über dieser füllen
den Bildgrund eine Anzahl von Gestalten, in denen wohl
Herodes mit den Seinen zu erkennen ist. Die ganz nach
dem überliefertenTypus geordnete Darstellung imTempel
hingegen hat als Hintergrund eine seltsam zusammen¬
geschachtelte gotische Architektur. Links von dieser
nun steht im zweiten Bildgrund hinter Josef und
durch ihn bis zur Brust verdeckt, völlig isoliert von
den sonstigen Assistenzfiguren, ein alter Mann von
durchaus anderem Habitus als die übrigen Gestalten;
in ihm sehe ich den Künstler (Abb. 3). Er allein ist in
die Zeittracht gekleidet. Über dem anliegenden Unter-
gewande trägt er einen Mantel; ob ärmellos oder mit
Ärmeln, ist nicht zu unterscheiden, aber sicherlich ist
er nicht, wie die Mäntel der anderen Gestalten, zum
blossen Umhängen eingerichtet; auch wird er nicht
wie diese vorn oder auf der Achsel durch eine Spange
zusammengehalten. Ein haubenartig zusammengelegtes
Tuch bedeckt den Kopf und fällt dann auf den Rücken
herab. Das bartlose Antlitz ist ganz individuell be¬
handelt. Während die übrigen männlichen Köpfe durch¬
weg von sehr runder, weicher, fülliger Form sind
und im wesentlichen zwei Typen, einem bartlosen
und einem bärtigen, angehören, innerhalb deren die
Abwandlungen nur gering sind, liegt dem Kopfe
unseres Alten eine härtere, schärfere, ziemlich magere
Urform zu Grunde. Er ist arbeitsmüde nach vorn gebeugt.
Tiefe Furchen sind in die Haut eingegraben, die Haare,
soweit sie sichtbar sind, zeigen in viel geringerem
Grade, als die der übrigen Gestalten, die Umstilisierung
ins Lockige. Sehr bedeutungsvoll sprechen ausser der
Isolierung der Gestalt, ihrer Tracht, der scharfen Durch¬
bildung des Kopfes zu Gunsten meiner Annahme
dann noch die Hände. Die zusammengeballte Rechte
scheint etwas zu tragen (ob etwa Handwerkszeug?),
die Linke aber weist mit gestrecktem Zeigefinger
gegen die Hintergrundarchitektur, wohin sich auch
— wenngleich nicht mit voller Entschiedenheit —
der Blick wendet. Sollte etwa eine Beziehung zwi¬
schen dem Alten und dem Bau, auf den er weist,
bestehen? Mit aller Vorsicht sei hier eine Vermutung
geäussert, die sich mir, so sehr ich mich wegen ihres
novellistischen Charakters gegen sie wehre, doch immer
wieder von neuem aufdrängt. Die Hintergrundarchi¬
tektur der Praesentatio, so unrealistisch sie in den
Maassen und der Konstruktion auch ist, soll doch
offenbar die Chorpartie einer gotischen Kirche dar¬
stellen. Der niedrige Umgang des Chores ist seltsamer¬
weise nach aussen ganz geöffnet. Blickt man nun in
das auf diese Art ganz wirklichkeitswidrig — gewiss
also aus einem ganz bestimmten Grunde — sichtbar
gemachte Innere dieses gotischen Baues, so sieht
man einen, wie die Schlagschatten der Freisäulen
beweisen, freistehenden romanischen Centralbau mit
zwei Reihen rundbogiger Arkaden und einem Kegel¬
dach — das Baptisterium von Pisa vor der später voll¬
zogenen gotischen Umgestaltung (Abb. 4) '). Niccola
1) Die Rekonstruktion nach Rohault de Fleury, Les
monuments de Pise Taf. XIX.
Abb. 4. Baptisterium zu Pisa.
Links die frühere, rechts die jetzige Aussenansicht
>9
14^
ZWEI SELBSTBILDNISSE DES NICCOLA PISANO
Pisano weist n:': dem Finger auf
den weitberühmten Bau, entweder,
weil dort sein Hauptwerk stand oder
- - weil er i". Pisa geboren und ge¬
tauft war, oder e.i.e -fielen Gründen').
Auch ru o'es.em acht Jalire älte¬
ren Werke ha- eer Künstler, so
el: --■ilo.i dargestellt{Abb.
:e die iiudsten der Sie-
, i: ! ai'-jl' die Tafel mit
eng ini Tempel in der
eine bweicherte und
ierüchen ins Genrehafte
w iedi fholung der glei-
an der Pisaner Kanzel.
Abb. 5. Niccola Pisa/w. Se/bs(-
bildnis von der Pisaner Kanzel
'daube ioii, '
1 u. \\
neser
der Ü.e-u ;,
Haiip - wb.'
aus d.,-:!. ■■
clu n Sce-'.-e
heben wir an der entsprechenden Stelle
a r äJteieu Praeseiitatio nach, so finden
ir über dem Kopfe Josef’s den unseres
iKUürlidi hier einige Jahre jüngeren
Künstlers wieder. Er trägt auch hier das
schleierartig über den Kopf gelegte
Haubentuch, das einen Teil der Haaie
und die bei den Männern sonst überall
durch das Gelock verdeckten, auffällig
gross gebildeten Ohren sichtbar lässt.
Die Backen hängen hässlich herab. Die
Augen sind scharf nach aufwärts gerichtet.
Im ganzen steht dieses Porträt dem
Typus der übrigen Gestalten wesentlich ,,, ^ , .
^ Abb. 6. Bildnis des
Nieeola Pisa/w ans der
:) Es sei bei dieser Gelegenheit darauf Qiantina des Vasari
hingewiesen, dass die Inschrift des Brunnens
von Perugia Niccola und Giovanni mit eitler
jeden Zweifel ansschliessenden Deutlichkeit als Pisaner von
Geburt (natu Pisani) bezeichnet.
näher, das heisst, es ist in geringe¬
rem Grade Bildnis, als die Sieneser
Figur. Die hierin liegende Überein¬
stimmung mit der allgemeinen Ent¬
wickelung von Niccola’s künstle¬
rischer Art liegt klar zu Tage.
ln der Editio Gitmlina des Vasari
(vom Jahre 1568) findet sich eben¬
falls ein Bildnis unseres Künstlers
(Abb. 6). Es ist nicht unmöglich,
dass ihm das Sieneser Selbstbildnis
zu Grunde liegt; die Ähnlichkeit ist
indessen keineswegs überzeugend.
Vasari selbst giebt übrigens ja in
der Vorrede dieser zweiten Ausgabe
zu, dass sowohl die Zeichnungen, als die
Holzschnitte danach ihn nicht befriedig¬
ten, und so kann wohl die Nichtüberein¬
stimmung kein Argument gegen meine
Vermutung sein.
Die wenigen gesicherten Lebensdaten
widersprechen den uns durch die beiden
Bildnisse gegebenen Altersangaben in
keiner Weise. Da sich die Nachrichten
Vasari’s, Niccola habe 1225 in Bologna
und 1233 in Lucca gearbeitet, als unbe¬
gründet erwiesen haben, so bleiben als
sicher nur übrig: Pisa 1260, Siena
1265 '68, Perugia 1278. Zwischen 1278
und 1284 ist er gestorben. Da er nun
auf dem älteren Bildnis etwa in der
Mitte der fünfziger, auf dem späteren
im Anfang der sechziger Jahre zu stehen
scheint, würde sich etwa 1205 als wahrscheinliches
Geburtsjahr ergeben.
Indessen scheinen mir die beiden Selbstbildnisse
Niccola’s doch auch noch über diese Wissensbe¬
reicherung im einzelnen und über das anekdotische
Interesse hinaus für die Beurteilung des Künsters und
seiner Stellung im Zusammenhänge der italienischen
Kunstentwickehmg von symptomatischer Bedeutung zu
sein. Man hat sich ja gewöhnt, recht geringschätzig
von ihm zu sprechen. Wo von der Pisaner Kanzel
die Rede war, hob man immer und immer den
antiken Einfluss hervor, dem der Künstler wider¬
standslos erlegen sei; die modernen Bestandteile des
Werkes wurden übersehen! Kam man dann auf die
Sieneser Kanzel zu sprechen, so that man sie meist
mit der Bemerkung ab, sie sei kein vollgültiges Zeug¬
nis für Niccola’s Stil. Gehilfen hätten daran mitge¬
arbeitet, und wo sich etwas Neues zeige, was über
den Stil des älteren Werkes hinausgehe, bekunde sich
eben bereitsderEinfluss des Sohnes'). AberGiovanni war
damals ein Knabe, der den Meissei gewiss noch nicht
mit der für das malerische Relief nötigen Fertigkeit
handhabte. Und zudem übersah man, dass der Ver-
I) hrey, II codice Magliabechiano S. 326 nennt die
Kanzel ausdrücklich das Werk Giovanni Pisano’s«. Sogar
die Entwürfe der Reliefs sollen von ihm stammen!
trag ausdrücklich die persönliche Anwesenheit des
Meisters forderte und für jedes Arbeitsjahr höchstens
viermaligen Urlaub von je fünfzehn Tagen gewährte.
So wird man, zumal die Rechnungsbelege uns die
Einhaltung dieses Vertragspunktes verbürgen, dem
Niccola selbst die stilistische Entwickelung anrechnen
müssen, von der uns die Sieneser Kanzel Kunde giebt.
Auf dem älteren Werke ist die Antike zweifellos die
weitaus stärkere Macht. Der Künstler steht unter
ihrem Bann, aber er widersteht ihr doch auch; dies
bezeugt unter anderem die Maria der Verkündigung,
dies bezeugt auch das Selbstbildnis, ln der Sieneser
Kanzel ist die »Überwindung« der Antike, wenn nicht
vollzogen, so doch in raschem Flusse. Hundertfältig
offenbart sich hier die neue Stellung des Künstlers
zur Welt, und wiederum bekundet es — durch seine
vorgeschrittene Individualisierung — das Selbstbildnis,
in welchem Sinne und mit welcher Macht sich die
Entwickelung vollzogen. Vielleicht hatte Vasari doch
nicht so ganz unrecht, als er von Niccola aus Pisa
die neue plastische Kunst ihren Anfang nehmen liess.
Was hier verheissungsreich zu blühen begann, hat
erst das spätere Trecento verdorren lassen.
ERNST POLACZEK.
Abb. 1. Zwei Prophetenbilder von der Stiftungstafel der Ponzctil-Kapdle in S. Maria della Pace
MICHELE MARINI
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER RENAISSANCESKULPTUR IN ROM
Von Ernst Steinmann
SEIT kurzem erst ist es der Kunstforschung ge¬
lungen, den ungeheuren Reichtum der Renais¬
sanceskulpturen in Rom in seinen Hauptstücken
wenigstens zwischen die Werkstätten des Toskaners
Mino und des Lombarden Andrea Bregno zu ver¬
teilen. Aber die Zahl vor allem der Grabskulpturen,
deren künstlerische Herkunft wir nicht kennen, ist
noch immer erschreckend gross. Grabstatue und sein
ornamentaler Schmuck — die Hauptelemente, aus
denen sich in der Regel ein römisches Prälatengrab
züsammensetzt — können der Stilkritik meist nur
wenig sichere Anhaltspunkte geben, während anderer¬
seits unsere einzige litterarische Quelle aus jener Zeit,
Vasari, was die Urheber der römischen Renaissance¬
denkmäler anlangt, fast völlig versagt.
Und doch ist es Vasari gewesen, welcher uns
allein den Namen eines Bildhauers aus Fiesoie er¬
halten hat, der, wie es scheint, die Tradition seines
Vorgängers Mino fortgesetzt und sich in Rom im
Anfang des i6. Jahrhunderts ein bedeutendes künst¬
lerisches Ansehen erworben hat. Er erwähnt im
Leben des Andrea Ferrucci von Fiesoie den Bildhauer
Michele Maini, -der in der Minerva in Rom den
heiligen Sebastian gearbeitet hat, welcher von den Zeit¬
genossen so sehr gelobt worden ist« ^). Milanesi hat
dann in seiner Vasari-Ausgabe diese Notiz erweitert
und berichtigt: Ein Michele di Luca Marini — nicht
Maini, wie Vasari schreibt — wurde im Jahre 1459
in Fiesoie geboren, und es liegt bis heute kein Grund
vor, daran zu zweifeln, dass er der Meister war,
welcher die vielgepriesene Sebastianstatuette in der
Minerva ausgeführt hat.
Der heilige Sebastian (Abb. 2) in der Familienkapeile
der Maffei verdiente die Bewunderung der Zeitgenossen
seines Schöpfers. Die Statue ist etwas unter Lebens¬
grösse ausgeführt und stellt den Heiligen dar, wie
er, die Hände auf dem Rücken, an einen Baumstamm
gebunden, das Martyrium erwartet. Ein reicher Locken¬
kranz umrahmt den feiiigeschnittenen Kopf mit den
gen Himmel gerichteten Augen und dem kleinen,
1) Ed. Milanesi IV, p. 476: Ma nondimeno, heisst es
von Andrea Ferrucci da Fiesoie, attese iin poco piü all’ arte,
quando poi seguitö nel colmo delia siia gioveniii Michele
Maini, scisitore simiimente da Fiesoie; il quäle Michele
fece nella Minerva di Roma il San Sebastiane di niarmo,
che fii tanto lodato in que’ tempi.
MICHELE MARINI
i ^iS
,?: ?■ ■-.-'■iineten r-.iind; der schlanke Jünglingskörper
■ . -"'3 ,orgia' 'g^te durchgearbeitet mit jener etwas
k.-:: uen Behandlung des Nackten, welche
‘ r i-üiirenaissance eigentümlich ist. Der
lltil ilit 1— Ui-ilC der Jahrhunderte eine leuchtende,
.jllbraune Fdrb m.g angenommen, wie wir sie auch
an vlichela-’gelo's berühmtem Madonnenrelief im
Barg^ ro b:ioi>-K'
: ;;.s ck
floreuiiner
nü''- s':iiO!
Si:in;'n \
Shterarisch bezeugte Werk des
ii'Uianers, den wir mit Milanesi Michele
:.n ■.vollen, ge-
:, um uns von
■ g-n undSchwä-
clicii al. bildhauer ganz
ijc.^ ia.-vue ^ orstellungen zu
g. k n. Bewundern wir
::;v..T<:eits seine sorgfältige
inu vollendete Marmor¬
technik, das kindlich Rüh¬
rende und Zarte in der
psychologischen Darstellung
des jungen Märtyrers, so
sehen wir doch anderer¬
seits, dass der Meister über
eine beschränkte Darstel¬
lung der Affekte nicht hin¬
auszugehen vermag, und
dass er dem anmutigen
Schein die Wiedergabe des
vollen frischen Lebens zu
opfern gewohnt ist. Als
besondere Eigentümlich¬
keiten Michele’s stellen sich
überdies der kleine Mund
mit den schmalen Lippen
und die geschlitzten, pupil¬
lenlosen Augen dar, welche
den Eindruck der Blindheit
erwecken; ferner ein aus¬
gesprochener Sinn für alles
Feine und Zierliche, der sich
besonders in der Bildung
der gekräuselten Locken,
des künstlich gefälteten
Lendentuches und der Füsse
mit den zierlich gearbeiteten
Zehen offenbart.
Alle diese Eigenschaften
finden sich zunächst an
einem kleinen, ganz flach gearbeiteten Madonnenrelief
in derselben Kapelle wieder, welches das Grabmal des
Agostino Maffei rechts vom Eingang schmückt (Abb. 3).
Schon früher wurde Marini als Schöpfer dieses an¬
mutigen Bildwerkes genannt^), an welchem vor allem
wiederum die Bildung der schmalen, halbgeschlossenen,
man möchte sagen erblindeten, Augen bei Mutter und
Kind charakteristisch ist. Hier haben wir auch Qe-
1) Cicerone. Achte Auflage II, 472, wo der h. Sebastian
in richtiger Würdigung seiner Eigenart einem guten Bilde
Perugino’s verglichen wird.
Abb. 2. Der h. Sebastian in der Maffei-Kapelle
in S. Maria sopra Minerva
legenheit, die weiche, flüssige Faltengebung Marini’s
kennen zu lernen und die zarte Bildung seiner knochen¬
losen Hände deren Finger bei der Madonna noch
auffallend lang erscheinen.
Der Meister von Fiesoie aber hat nicht nur das
Madonnenrelief, sondern das ganze Grabmal des
Agostino Maffei gearbeitet, welcher in einer hohen
pfeilergetragenen Grabnische friedlich auf seinem Sarko¬
phage schlummernd dargestellt ist (Abb. 5). Das feine,
lebendig aufgefasste Pilasterornament und die Dar¬
stellung einer Hirschjagd
oben am Fries des antiken
Gebälkes geben von Mari¬
ni’s Leistungen in der deko¬
rativen Plastik einen hohen
Begriff, während die schlicht
und edel aufgefasste Dar¬
stellung des Toten ihn uns
zum erstenmal als Porträt¬
bildner zeigt. Dieselben
Vorzüge wie das Grabmal
Agostino’s zeichnen das
Grabmal des Benedetto Maf¬
fei (Abb. 6) gegenüber aus,
das gleichfalls aus derselben
Werkstätte hervorgegangen
ist wie der heilige Seba¬
stian. Schon der einfache
Aufbau der pfeilergetrage¬
nen Grabnische mit der von
dem Familienwappen rechts
und links eingefassten In¬
schrift darunter ist derselbe,
nur sehen wir auf dem
Sarkophag nicht den Toten
ausgestreckt liegen, sondern
seine Büste in einer Rund¬
nische angebracht, ganz
ähnlich wie beim Grabmal
der Brüder Bonsi in San
Gregorio. Aber gerade die¬
ser Porträtkopf ist für Ma¬
rini’s Eigenart charakteri¬
stisch. Wir finden hier
die sorgfältige, etwas be¬
fangene Bearbeitung des
Marmors wieder, die weiche
subtile Behandlung der
Haare, die schmalen Augen
ohne Sehkraft und den kleinen, idealisierten Mund.
Benedetto Maffei starb laut Grabinschrift im Jahre
1494^). Agostino Maffei, Abbreviator Sixtus’ IV.
und Besitzer einer berühmten Antikensammlung-) starb
1) Das griechische Epigramm auf dem Sarkophag
Benedetto’s besagt: Geniesse deine Güter wie einer der
sterben muss und spare deine Reichtümer wie einer der
zu leben hat. Es stammt nach freundlicher Mitteilung von
Professor E. Petersen von Lucian. Vergl. Epigrammatum
Antologia Palatina ed. Dübner II, p. 256.
2) Vergl. Maffei, Verona illustrata II, 273. Ferner
Müntz, Les arts ä la cour des papes II, 17g. Marini, Degli
MICHELE MARINI
149
im Jahre 1496. So wird die dem Salvator geweihte
Familienkapelle in der Minerva Mitte und Ende der
neunziger Jahre des Quattrocento hergerichtet worden
sein. Sie wurde wahrscheinlich schon damals auch
von einem umbrischen Meister mit Fresken geschmückt,
von denen sich noch über dem Hochaltar ein Fragment
mancher andere seiner florentiner Landsleute erst in
der ewigen Stadt die grossen Aufgaben für seine
Kunst gefunden hat.
Schon im Jahre 1497 finden wir ihn mit der
Ausführung eines neuen Auftrages beschäftigt. Filippo
della Valle, der hochberühmte Arzt mehrerer Päpste,
Abb. 3. Madonnenrelief vom Grabmal des Agostino Maffei
— ein Christuskopf — erhalten hat. Wir müssen
damit zugleich den Ausgangspunkt der römischen
Thätigkeit Marini’s gefunden haben, der wie so
Archiatri Pontifici I, 229. Das Todesjahr des Agostino giebt
Jacovacci Cod. Vat. Ottobon. 2552, Buchstabe M, p. 75.
Von den Maffei erwarb Julius II. etwa i. J. 1511 die
schlummernde Ariadne, damals Kleopatra genannt für den
Belvedere. Vergl. Michaelis, Statuenhof im vaticanischen
Belvedere im Jahrb. des Kaiserl. Deutsch. Archäol. Inst.
Konklavearzt während der Wahl Alexander’s VI., war
im Jahre 1494 gestorben^) und wurde in der Fami-
(1890) V, p. 18 ff., wo weitere Litteratur über die Antiken
der Casa Maffei angegeben ist. Vergl. auch Lanciani,
Storia degli scavi di Roma (1902) 1, p. 109.
1) Marini, Degli archiatri Pontifici 1, 236, hat das
Todesjahr des Filippo della Valle richtig gestellt. Schräder,
Momimenta Italiae, p. 148 hatte die Zahlen willkürlich
umgestellt und statt MVID hatte er MDVl gelesen. Marini
150
MICHELE MARINI
lienkapelle der dolla Valle in Araceli beigeselzt, wo
<i l!on sein Vater Paolo, Leibarzt Alexander's V., und sein
Z.ruder Pietrt- begraben lagen'). Drei Jahre später erst
i:ann das schö;;. andgrab (Abb. 7) links vom Eingang
icrtig gewoiden seir, denn Andreas, der sich in der
Stiftungsinsdirift disdiof von Croto nennt, bekleidete
diese Würd'' er-.! dem 2. Dezember 1496 bis
zum 2 5. ! - l:r": r .5; 8, wo er zum Bischof von Milet
erhoben ’• rde ’j.
Als dsnbli;, fd“ das Denkmal diente das edle
■ v dche.s Gkiliano della Rovere im Jahre
’ 177 .'S. .Apostoli seinem Vater Raffaello er¬
richten de , j. .\’.;ch hier ruht der Tote ausgestreckt
liiiie 1 auch über die Lebensschicksale Filippo’s zahlreiche
I drielKi-ii bei.
■) V- n i. Marini, Degli archiatri Pontifici I, p. 120.
1. 'dr Grabschriften beider haben sich noch erhalten; sie
wurden mit anderen Inschriften i. J. 1586 gegenüber dem
Denkmal Filippo’s eingemauert. (Vergl. Casimiro, Meinorie
di S. Maria in Araceli, p. 205.) Die Grabschrift, welche
Filippo seinem Bruder Pietro setzte, ist in klassischem
Latein geschrieben und so wahr und tief empfunden wie
kaum eine ähnliche Grabschrift der Renaissance in Rom.
Sie verdient hier eine Stelle:
Reverendo in X9 PatriDno. Petro de Valle
Juris utriusq. doctori epo. esculano frati bene.
Dum tibi vita fuit felicia tempora novi
Me miserum versa est sors mea niorte tna.
Nulla igitur requies onerosa in luce moranti
Te sine dulce nihil te sine vita dolor.
Occidis ante annos patrie virtutis imago
Sic tarnen ut vivas in meliore loco.
Accipe supremos tnmuli modo frater honores
Quos potius nobis tu dare debueras.
Parce precor lacrimis fatuin germane quid urges?
Omnibus hoc solido est scripta adamante dies.
Pulvis et umbra sumus tantuni post funera virtus
Nomen in extinctuni sola superstes habet.
Nil aurum nil poinpa vivat nil sanguis avorum
Excipe virtutem cetera mortis erunt
Hane cole et ante oculos imitanda exempla parentum
Pone sed interdum sit tibi cura mei.
Obiit MCCCCLXIll. XII. Novembris.
2) Die Ernennung Andrea’s zum Bischof von Croto am
2. Dez. 1496 erzählt Burchard (Diarium ed. Thuasne 11, 340),
seine Ernennung zum Bischof von Milet bezeugt Ughelli, Italia
sacra I, 958. Schon der gelehrte Marini a. a. O. p. 237
Anm. d. hat diese Zeitbestimmungen festgestellt. In den
zahlreichen Inschriften seines schönen, noch heute wohl¬
erhaltenen Palastes, den sich Andrea della Valle als Kardinal
am heutigen Corso Vittorio Emanuele gegenüber der Piazza
della Valle baute, nennt er sich regelmässig Episcopus
Miletensis.
3) Das Grabmal, welches ich verloren glaubte (Six¬
tinische Kapelle 1, 76, Anm. 3), befindet sich thalsächlich
noch in einer völlig finsteren Seitenkapelle der Krypta von
SS. Apostoli. Eine ziemlich rohe Nachahmung des Valle-
denkmals ist das Grabmal des Antonio Albertoni (f 1509),
gleichfalls in S. Maria in Araceii in der Cesarinikapelle,
wo sich aber in der unruhigen Haltung des Toten und
dem aufgestützten rechten Arm schon der Einfluss
des Andrea Sansovino geltend macht. Wer die edle
Einfachheit der Erührenaissance , die glänzende Schönheit
auf einer offenen Bahre in einer kunstvoll perspek¬
tivisch dargestellten, mit zarten Blätterguirlanden ge¬
schmückten Nische, und zn Häupten und Füssen
haben sich zwei wehklagende Spiritelli aufgestellt, die
das Wappen des Verstorbenen halten. Michele Marini
hat das ältere Denkmal ziemlich genau in Araceli
kopiert, und sich begnügt für die liegende Grabstatue
den Rahmen zu erfinden und die dekorativen Elemente
weiter auszugestalten. Auf einer hohen, mit reich¬
gearbeitetem Fries geschmückten Basis baut sich die
verhältnismässig schmale Grabnische auf, von zwei
Platten mit trauernden Putten eingefasst, auf denen
zugleich das reiche antike Gebälk ruht. In der Nische
sieht man ganz wie in SS. Apostoli den Toten auf
einer nach antiken Vorbildern gebildeten Bahre in
friedlichem Schlummer ruhen. Bücher legte man ge¬
lehrten Männern jener Zeit in ihren Sarg, so hat auch
der Bildhauer Haufen von Büchern zu Häupten und
zu Füssen des Toten aufgeschichtet. Rechts und links
halten die Spiritelli das Wappen des römischen
Patriziers'), von dem die Grabschrift rühmt, dass er
das Ansehen seiner vornehmen Geburt durch den
Ruhm der Wissenschaften noch erhöht habe.
An der in edelster Einfachheit dargestellten Grab¬
statue muss die schlichte Faltengebung, die Sorgsam¬
keit der Technik z. B. in der Arbeit der feinen
Hände als bezeichnend für die Kunst Marini’s hervor¬
gehoben werden. Gerade so hat der Meister die
Grabstatue des Agostino Maffei gearbeitet. Da die
Putten in den Maffeigräbern fehlen und das Ornament
äusserst beschränkt ist, lässt sich mit diesen gleichzeitig
entstandenen Werken weiter keine Stilverwandtschaft
nachweisen, sie tritt uns aber aufs klarste in späteren
Werken Marini’s entgegen, wo wir denselben Spiritelli
begegnen und der gleichen Vorliebe für reichen
ornamentalen Schmuck. Die auf Felsblöcken stehenden,
wappentragenden Engel mit den flatternden Bändern
werden wir am Cibodenkmal wiederfinden, die Gold¬
schmiedearbeiten, auf Marmorskulptur übertragen, in
den Ponzettidenkmälern in S. Maria della Pace.
Im Dezember des Jahres 1503 war Lorenzo Cibo,
der kunstliebende Nepot Innocenz’ Vlll. gestorben,
nachdem ihm seine letzten Lebensjahre durch die
Verfolgungen Alexander’sVI. verbittert worden waren-).
der Hochrenaissance, das grobsinnliche Pathos der Spät¬
renaissance mit einem Blick erfassen will, vergleiche die
drei Denkmäler des Raffaello della Rovere, des Filippo
della Valle und des Antonio Albertoni. Sie sind für die
Entwickelung der Renaissanceskulptur in Rom geradezu
typisch.
1) Es ist charakteristisch für die Naivität, mit welcher
die Renaissancekünstler arbeiteten, dass die Spiritelli am
Vallemonument Zug für Zug nach den trauernden Putten
am Denkmal des Pietro Riario in SS. Apostoli kopiert sind.
Von hier stammt auch die Gewohnheit Marini’s, seine
Spiritelli mit den flatternden Binden zu schmücken, die
als Lendentuch dienen und zugleich die Thränen der
trauernden Knaben trocknen. Demselben Typus trauernder
Putten begegnen wir am Grabmal Roverelia (t 1477) in
San Clemente und am Grabmal Ortega (t 1503) in der
Sakristei von S. Maria del Popolo.
2) Ciacconi, Vitae Pontificum 111, 124.
Abb. 4. Das Cibo-Orabrnal in San Cosimaio
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 6.
20
152
MICHELE MARINI
Was dieser ausgezeichnete Prälat als Beschützer der
Künste geth; ;-, rjozeugen noch heute das Grabmal
IiMOcenz’ \ i;: >n / lüorio J ollajiiolo in St. Peter
und die des Tabernakels der heiligen
Lr.ize i 'gno ;n den vatikanischen
f motten o. o c'ren Lebzeiten hatte sich
j nreiizo - ’ : 5. Ue 1,1 del Popolo auch eine
Kapellenschranken wurden zum Schmuck einer anderen
Kapelle verwendet, und das Grabmal des Stifters
wanderte im Jahre 1685 als Altarschmuck nach dem
Kirchlein Sixtus’ IV., San Cosimato, wo es sich noch
heute, allerdings ohne den Sarkophag Lorenzo’s, er¬
halten hat.
Schon durch seinen monumentalen Aufbau über-
Gr.-j
L:u,r-=, i
. ■ M '.ilC
-Tn Kar-
u\-' Ä pk ich nach
-vviii. m Tode ein
glänzendes Mar¬
mordenkmal, das zu
den reichsten und
eigentümlichsten
Werken der römi¬
schen Grabskulp¬
tur gehört (Abb. 4).
Wie bekannt hat
ein späterer Cibo
am Ausgang des
17. Jahrhunderts
dieEamilienkapelle
im Geschmack der
Zeit restauriert. Die
Ereskeii Pinturic-
chio’s gingen bis
auf ein geringes
nach Massa-Carra-
ra gesandtes Prag¬
ment zu Grunde'^),
die marmornen
AvG^VriNVS MAFAEVS PLVMr)Aii!l FI.'^CI IllViR
ALirSQVE HONOj<,!BVS EOJRFGIE FVNCFVS
BONARVM llTJEftARVM ■ CVSTOS
|NQy(^.rÖBgrVNIi NON CrSSiT V,.).RTVS
J’VX'ANN MTVI ’ir )?^V
Abb. 5. Grabmal des Agostino Majfei in S. Maria sopra Minerva
1) H. Geymüller
(Les projets primi-
tifs pour la basilique
de Saint Pierre de
Rome p. 82 ff.)
schreibt dies Cibori-
nrn, auf eine Angabe
Grimaldi’s sich stüt¬
zend, dem Bramante
zu, und dieser kann
sehr wohl die
Zeichnung für den
Aufbau geliefert haben. Die schonen Engel, welche den
Schrein der h. Lanze bewachen, sind ebenso wie das
Ciborium Innocenz’ VlII. in SS. Quattro Coronati zweifels¬
ohne in der Werkstätte Andrea Bregno’s entstanden.
2) Vergl. L. Staffetti, Spigolature di storia artistica
Massese im giornale-storico e letterario della Liguria igoo.
Die äusserst dankenswerte Arbeit Staffetti’s zeigt einige
Irrtümer und Ungenauigkeiten, weil er die unzuverlässige
Monographie Colantuoni’s über S. Maria del Popolo be¬
nutzt hat, der nicht einmal wusste, dass das Cibodenkmal
heute in S. Cosimato
zu suchen ist. Die
Grabinschrift Loren¬
zo’s sucht man in
der Sakristei von
S. Maria del Popolo,
wo sie Colantuoni
gesehen haben will,
vergeblich ; die Ka¬
pellenschranken dagegen haben sich an der vierten Kapelle
links erhalten und sind an den Wappenemblemen der Cibo
kenntlich. Die Überführung des Cibodenkmals nach S.
Cosimato i. J. 1685 wird als ein Akt der Munificenz des
Kardinals Alderano in einer Inschrift unter dem Reliquien¬
schrein daselbst gepriesen.
1) Abgedruckt neuerdings bei Staffetti a. a. O., ausser¬
dem u. a. bei Alveri, Roma in ogni stato 11, p. 14, der
die Kapelle verhältnismässig am ausführlichsten beschrieben
hat. Vergl. auch Schräder, Monumentorum Italiae libri
trifft dies Kardi¬
nalsgrab die mei¬
sten Prälatengräber
jener Zeit in Rom.
Es ist wie ein
Triumphbogen
komponiert, der
auf zwei statuen¬
geschmückten Pfei¬
lern ruht. Unten
sah man die Grab¬
inschrift eingelas¬
sen *), von zwei
wappentragenden
Putten eingefasst,
darüber stand der
Sarkophag des Kar¬
dinals, während
das ganze Bogen¬
feld noch heute
eine reiche Relief¬
darstellung
schmückt. Man
sieht hier in der
Mitte Maria mit
dem Kinde auf
Wolken thronen,
die von einem
Cherubim getragen
werden; links steht
der heilige Bartho¬
lomäus, durch ein
riesiges Messer cha¬
rakterisiert, rechts
wird der knieende
Kardinal Lorenzo
MICHELE MARINI
153
faSitS^HÄDf»<03;j «A®(H
niaroM»io
^ SWt!A£3r«>
>*.«<4.
o£cr$«
RÖMMLER
der Madonna von seinem Namensheiligen empfohlen;
oben im Bogenfelde schweben zwei Engel und halten
über der Himmelskönigin die Krone empor. Eine
lyrische Stimmung beseelt das Ganze, und auf allen
Gesichtern ist dieselbe Empfindung verhaltener, an¬
dächtiger Wehmut zu lesen. Man hat den Eindruck,
als wären die Himmelskönigin und ihre Diener nur
halb beseelt, als führten sie ein Traumdasein, fern
von jeder stören¬
den Berührung mit
dem wirklichen
Leben. Das ist die
gleiche Auffassung
der Madonna, wie
sie uns schon am
Grabmal Maffei
begegnet ist. Wir
beobachten aber
auch hier und dort
dieselben Eigen¬
tümlichkeiten und
dieselbe Technik
in der Bearbeitung
des Marmors. Die
Haltung der Maria
ist in beiden Re¬
liefs fast dieselbe,
ebenso auch die
Gewandung, wel¬
che aus Kleid,
Mantel und dem
kurzen Kopftuch
besteht. Ihr Ge¬
sichtstypus ist ein¬
fach wiederholt,
sowohl der kleine
Mund wie die zier¬
liche Nase, die
halbgeschlossenen,
gesenkten Augen
und endlich die
hohe Stirn mit den
glattanliegenden
Haaren. Nur ist
das grosse Madon¬
nenbild in San Co-
simato weit plasti¬
scher aus dem Mar¬
mor herausgearbei¬
tet als das kleine
Flachrelief in der
Minerva. Dieselbe Ähnlichkeit wie bei den Madonnen
beobachtet man bei den Kindern. Das Ungeschick
und die Hilflosigkeit des Christkindes in der Minerva,
quatuor p. 158^. Die beiden Orabmäler der Cicada,
genuesischen Ursprunges und Nachkommen des in S. Gio¬
vanni dei Genovesi beigesetzten Meliadux Cicada, Schatz¬
meisters Sixtus IV., welche gleichfalls in der Cibokapelle
begraben waren, wurden in die Kapelle von S. Lucia im
Querschiff rechts vom Chor von S. Maria del Popolo
übertragen.
welches mit der Rechten segnet und mit der Linken
einen kleinen Vogel gefasst hat, finden wir auch in
San Cosimato wieder, wo das Kind wie ein Vögelchen
auf dem Schoss der Mutter balanciert, die Rechte
segnend dem Kardinal entgegenstreckt und in der
Linken die Weltkugel hält. Auch hier beobachten
wir am Kinde die langen, weichen Löckchen, die
schmalen, blinden Augen, das Stumpfnäschen und
endlich die fetten
Hände mit den
ungelenkigen Fin-
gerchen. Am heili¬
gen Bartholomäus
sind die zierlich
gekräuselten Bart¬
haare, die sauber
durchgearbeiteten
Hände und Füsse
und endlich der
breite, kühne Wurf
des Mantels be¬
merkenswert, wäh¬
rend die Gruppe
des Kardinals mit
seinem Schutzheili¬
gen durch den
Ausdruck inniger
Andacht in den
Köpfen, und die
schlichte würdige
Haltung der Dar¬
gestellten erfreut.
Wie starr und in¬
nerlich unbewegt
erscheint doch An¬
drea Bregno’s Kar¬
dinal Cusa in S.
Pietro in Vincoli,
wie selbstbewusst
kniet Roverella in
S. Clemente vor
dem Madonnen¬
bilde, und wie
geistesabwesend
zeigt sich Maria
selbst! Erst der
Vergleich mit An¬
drea Bregno’s mo¬
notonen Heiligen
und mit Mino’s
strahlend schönen,
aber kalten Madonnen lehrt uns Marini’s Eigenart
erkennen und die schüchternen Versuche würdigen,
seinen Marmorbildern Stimmung und Empfindung
aufzuprägen.
Auch in den vier Allegorien der christlichen
Kardinaltugenden kommt dies Bestreben zum Ausdruck.
Links sieht man Caritas und Spes, rechts Justitia und
Fides. Alle vier Frauengestalten gleichen im Typus
den Madonnenbildern Michele’s mit den feinen
melancholischen Zügen und der Bildung des leicht-
Abb. 6. Grabmal des Benedetto Maffei
in S. Maria sopra Minerva
20
154
MICHELE MARINl
rimojvjri-jtA
.^ _ _ _ Auvrmcvv^vfoN'rTtEt:!
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\ ' /A’.t-Cr; •
üImW
Abb. j. Grabmal des Filippo della Valle in S. Maria in Araceli
gewellten, flachanliegenden Haares; nur die Gewand-
gebung wirkt auffallend unrnliig durch den Über¬
reichtum zierlich geworfener Ealten, die sich eng an
den Körper anschmiegen und mit unvergleichlicher
Sorgfalt ausgearbeitet sind. Man meint, der Meister
von Fiesoie habe diese Gewänder nicht aus hartem
Stein herausgehauen, sondern aus weichem Wachs
oder Ton modelliert. Die Spes ist die schönste unter
diesen Frauengestalten, und sie braucht den Vergleich
mit Dalmata’s technisch höher stehenden aber weit
weniger beseelten Allegorie in den vatikanischen
Grotten nicht zu scheuen. Marini hat dies jugend¬
liche Wesen mit den langen bis weit über die Knie
herabreichenden Fittigen aufs glücklichste in die
schmale Nische hineinkomponiert. In der Haltung
liegt etwas Schwebendes, und die betend erhobenen
Augen und Hände bringen die Himmelssehnsucht
der weitabgewandten Hoffnung packend zum Ausdruck.
Unten, rechts und links von dem modernen Altar,
haben sich auch noch die Putten mit dem Cibo-
wappen erhalten, dem schachbrettartigen Bande unten
und dem Kreuz oben, welches später ausgekratzt
worden ist. Sie tragen zierlich durchbrochene Schuhe
und ein frei flatterndes Tuch um die Lenden und
stehen auf künstlichen Felsblöcken, wie fast alle Relief¬
gestalten Marini’s. Charakteristisch für diese Putten
sind ferner die etwas grossen, fetten Händchen mit
den plumpen Fingern, die weichen, zierlich gekräuselten
Locken und die auffallend kleine Ohrmuschel. Das
sind die Brüder der Spiritelli am Grabe des Filippo
della Valle, nicht nur dieselben in der Bildung der
kurzen Löckchen, der zierlichen Flügel und der Be¬
handlung des Nackten, sondern ihnen auch in allen
Äusserlichkeiten vollständig gleich, dem langen, flat¬
ternden Tuch, den durchbrochenen Schuhen und dem
Felsstück, auf welchem sie stehen.
Das Grabmal Cibo ist Michele Marini’s Haupt¬
werk in Rom und, so unbeachtet es auch bis heute
geblieben ist, eins der schönsten und edelsten unter
den Prälatengräbern der Renaissance daselbst. Nicht
nur in seinem glänzenden äusseren Aufbau unter¬
scheidet es sich von dem allgemein angenommenen
Typus der Bregno und Mino da Fiesoie, auch sein
innerer Wert und Gehalt ist schon deshalb, weil
Marini wenig Gehilfen benutzt hat, ein völlig anderer.
Florentiner und Lombarden haben in der Regel die
Werke der Alten voll auf sich wirken lassen, und
darum erhalten ihre Arbeiten in Rom häufig einen
monumentalen Charakter und eignen sich gleichzeitig
eine gewisse Kälte an. Michele Marini blieb auch
in Rom der Lyriker, der er war, als er die Heimat
Fiesoie verliess. Auf ihn hat die Antike, wenigstens
was das Statuarische anlangt, so wenig Einfluss aus¬
geübt wie auf Antonio Rossellino und Benedetto da
Majano, denen er in seinem künstlerischen Wollen
und Können wohl am nächsten steht. Nur seine
dekorativen Formgedanken hat er, wie alle Bildhauer
der Renaissance, den römischen Vorbildern entlehnt.
In dieser Hinsicht ist der Grabstein der beiden
Mädchen Beatrice und Lavinia Ponzelti beachtenswert,
der ihnen von ihrem Oheim Ferrando im Jahre 1505 in
S. Maria della Pace gesetzt wurde (Abb. 8). Es ist ein
einfacher, hoher Grabstein mit einer langen Inschrift
unten und den Porträtbüsten der Verstorbenen darüber,
welche in runden, zierlich eingefassten Nischen an¬
gebracht sind. Reiche Ornamente umrahmen sowohl
die Inschrift, wie auch die Porträtbüsten, welche
sofort alle Stileigentümlichkeiten erkennen lassen, die
wir an Marini’s Madonnen- und Heiligenbildern be-
1) Ferrando Ponzetti war Leibarzt Innocenz’ VIIL und
erhielt i. J. 1517 den Purpur von Leo X. Er starb in Rom
i. j, 1527 und wurde ebenfalls in S. Maria della Pace be¬
graben. Vergl. Marini a. a. O. I, p. 229 und Ciacconi III,
388. Gnoli nennt beiläufig als Autor der Ponzettidenk-
inäler einen Maestro Matteo, ohne indessen den Beweis
dafür zu erbringen. (Arch. stör, dell’ arte [1893] VI, p. 100.)
MICHELE MARINI
155
IN D OU S . „ FES T 1 VITATl SQ_
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temANDvs^Amfvs aposemä
obachtet haben. Man findet an diesen Mädchen¬
köpfen die eigentümlich gekämmten, eng um den
Kopf herumliegenden, etwas schwer lastenden Haare
wieder, die schmalen, pupillenlosen Augen und den
kleinen, etwas mürrischen Mund. Der Meister hat
auf diese Kinderköpfe — die Mädchen starben
sechs- und achtjährig an der Pest in Rom — noch
grössere Sorgfalt verwandt, als auf die Allegorien am
Cibograbe und selbst den Schmuck der Beiden, die
Halsbänder und Schleifen auf Brust und Schultern
aufs feinste aus dem Mar¬
mor herausgearbeitet. Die¬
selbe Sorgsamkeit ist auch
auf die Ausführung der
reichen Ornamentik ver¬
wandt worden, auf die
Fabelwesen und Blumen¬
ranken, welche die Por¬
trätbüsten umspielen, auf
die Lorbeergewinde und
Familienwappen, welche
die Schrifttafel einfassen
und endlich auf die Reihe
der für Marini besonders
charakteristischen Edel¬
steine, welche den oberen
Teil des Denkmals vom
unteren trennt.
Wenig später, im Jahre
1 50g, erwarb derselbe
Ferrando Ponzetti für sich
und seine Nachkommen
die Kapelle links neben dem
Denkmal seiner Nichten.
Er Hess von Baldassare Pe-
ruzzi im Jahre 1 5 1 6 die heu¬
te noch erhaltenen Fresken
malen und beauftragte
ausserdem den Bildhauer
von Fiesoie als Gegenstück
zum Grabstein der Lavi-
nia und Beatrice eine
ähnlicheTafel von gleichen
Verhältnissen zu meissein,
die an der linken Wand
neben der Kapelle ihren
Platz erhielt. Die zweite
Tafel, obwohl vier Jahre
später ausgeführt als die
erste, gleicht ihr doch völlig in Stil und Komposition
(Abb. 1). Unten ist eine Stiftungsinschrift angebracht,
und darüber erscheinen in Rundnischen, wie die
Mädchenköpfe gegenüber, zwei an ihren Schriftrollen
kenntliche Propheten. Der ältere trägt einen Turban
und einen feingelockten Bart wie der heilige Bartho¬
lomäus des Cibodenkmals. Das Haupt des zweiten,
völlig bartlosen gleicht dem hergebrachten jugend¬
lichen Johannestypus. Beide Reliefs geben sich schon
durch die schmalen, halbgeschlossencn Augen, den
1) Vasari IV, 594.
Abb. 8.
auffallend kleinen Mund und die weiche Haarbehand¬
lung als Arbeiten Marini’s zu erkennen, der auch
hier wieder seine Freude an reicher, phantastischer
Ornamentik walten Hess und den unteren und oberen
Teil des Denkmals durch einen mit Perlen und Edel¬
steinen geschmückten Streifen getrennt hat. So darf
man diese Vorliebe für Edelsteinornamentik, die uns
zuerst am Grabmal des Filippo della Valle begegnete,
als eins der charakteristischen Merkmale der dekora¬
tiven Kunst des Meisters von Fiesoie bezeichnen.
Wie unbeirrt Michele
Marini seine Kunstideale
verfolgte, wie wenig die
Lockungen des neuen
Stiles über ihn vermoch¬
ten, der durch Andrea
Sansovino so glänzend in
Rom eingeführt wurde,
beweist die herrliche Grab¬
statue des Erzbischofs von
York im englischen Kolleg
(Abb. 10). Man darf eskühn-
Hch behaupten, dass kein
anderer Bildhauer in Rom
im Jahre 1514 so zu ar¬
beiten vermochte, wie der
Meister von Fiesoie, dem
Mino’s Büste des Bischofs
Salutati im heimatlichen
Dom als Vorbild vorge¬
schwebt zu haben scheint,
als er den Kopf des eng¬
lischen Prälaten meisselte.
Der Charakter des Erz¬
bischofs von York, dem
Julius II. am 10. März
1511 den Purpur verlieh,
wird von den Geschichts¬
schreibern als jähzornig
und herrschsüchtig ge¬
schildert. Man sah ihn
selbst auf der Strasse seine
Diener schlagen und einer
derselben, den er in auf¬
brausender Leidenschaft
tötlich gekränkt hatte, ver¬
giftete ihn *).
Nach diesen Charakter¬
zügen sucht man im Mar¬
morantlitz des Verstorbenen vergebens, der ähnlich
wie Mino’s Kardinal Fortiguerra in Santa Cecilia auf
einer freistehend gedachten Bahre ausgestreckt er¬
scheint. Ruhig Hegt er da, die behandschuhten Hände
übereinander gelegt, das mitrengeschmückte Haupt auf
dem mit feinstem Ornament gezierten Kissen. Nur
Grabmal von Beatrice und Lavinia Ponzetti
in 5. Maria della Pace
1) Oarimberti (Vite overo fatti nieniorabili d’alcuni
papi et di tiitli i Cardinali passati. Venezia 1568, p. 492)
führt den Kardinal in seinen Lebensbeschreibungen unter
den Beispielen »della crudeltä e durezza de costnini« auf.
Vergl. auch Ciacconi, Vitae Pontificiini 111, 290
MICHELE MARINl
E r Körner sc' ri i ii Tode erstarrt; über dem Ge-
sici.r .ulit der i Vo • ‘ines tiefen, stärkenden Schlum-
r;. Mar a-- ’., inan müsse die Atemzüge des
:rc!ilan-nd.;; .. re- ; e \ hat man lange in dies edle
Ai fosichl -er ausdrucksvolle Mund mit
:;:n feinen . dar 'a-Eh:i, die tiefliegenden Augen,
■ li; - ' irk r.-a. a,L‘. ! f - , eicht gebogene Nase, die
: t e-i;, id unter der Mitra hervor-
.| i:-! r 1 . , mit derselben vollendeten
T u; ' : ie ler Kopf des Eilippo della
. . \ r V - i :r kiiel des Gedankens, der diese
■ n d . aiibeschreibliclie Milde, welche
,d r d ; :>i '"ir die zarte Empfindungsweise des
' nie charakteristisch und hier besonders
: . , : :,1 \ o der Verstorbene wegen seines Jäh-
•i . . ■iiirchtet und gehasst, eines gewaltsamen
n: . . gestorben war. Das feine Pilasterornament,
v'lches die Bahre auf beiden Seiten einfasst, steht in
Stil und Technik der Ornamentik der Ponzettidenk-
mäler am nächsten. Ebenso meisterhaft ist der Marmor
der vier Wappenschilder bearbeitet, welche die vier
Seiten der Bahre schmücken: das Kardinalswappen
des Verstorbenen zu seinen Eüssen und zu seiner
flechten und Linken, das englische Königswappen zu
seinen Häupten. Man kann das Grabmal des eng¬
lischen Prälaten als einen Markstein in der römischen
Renaissanceskulptur betrachten. Es ist das letzte
Denkmal reinen Stiles der Hochrenaissance in Rom,
es ist als Porträtgestalt die höchste Leistung Marini’s
und überhaupt eine der herrlichsten Grabstatuen
in Rom.
An diese - wir dürfen wohl sagen - sicher
beglaubigten Werke einer einzigen Künstlerhand, die
uns Milanesi Michele Marini nennen heisst, schliessen
sich wenige andere an von niederem Wert, aber, wie
es scheint, aus derselben Werkstatt. Vor allem die
zierlichen F^eliefs am Altar des Bramantetempelchens
auf dem Janiculus zeigen mit dem Stil Marini’s einige
Verwandtschaft^). Man sieht hier auf dem Altarvorsatz
zwischen den spanischen Königswappen die Kirche
als Arche auf dem Wasser schwimmend dargestellt,
und auf der Predella darüber unter einer modernen
Petrusstatue das Martyrium des Aiwstelfürsten. Das
marmorne Paleotto ist eine rein dekorative Leistung,
aber ausserordentlich schön gearbeitet. Ein prächtig
stilisierter Adler hält die Königswappen mit seinen
Krallen empor, welche in der ganzen Höhe des Altars
die von zahlreichen Delphinen belebte Meeresfläche
umfassen, auf der die Arche schwimmt.
Die historische Schilderung ist in kleinsten Ver¬
hältnissen ausgeführt, etwa wie das Martyrium Petri
im Bargello zu Elorenz, das dem Luca della Robbia
zugeschrieben wird und gewiss für einen ähnlichen
Zweck bestimmt war. Links thront der richtende
Nero, von Kriegsleuten umringt, mit der Linken auf
den gekreuzigten Petrus in der Mitte deutend, dessen
nach unten gerichtetes Haupt zwei kleine Putten mit
den Händen berühren. Kriegsleute halten bei dem
Gekreuzigten Wache, und zwei Posaunenbläser haben
ihre riesigen Instrumente angesetzt. Rechts endlich
geleitet ein Engel den befreiten Petrus aus dem
Kerker. An Marini erinnert in diesem ziemlich
flüchtig behandelten Relief vor allem die Bildung der
geschlitzten Augen, der weichen, zarten Gewand¬
behandlung und die Art, wie alle Eiguren auf kleinen
Felsstücken stehen. Um 1 502 hatte Bramante seinen
1) Diese Reliefs sind bis heute völlig unbekannt und
auch niemals photographisch aufgenommen worden. Tosi
(Raccolta di monumenti sacri e profani III, Tav. LXXXV)
bringt den Altar in einem ziemlich getreuen Stich mit der
hässlichen Petrusstatue. In der kleinen Krypta, mit dem
Loch in der Mitte, in welches das Kreuz Petri eingelassen
gewesen sein soll, befinden sich zwei ganz kleine anbetende
Engel über dem Altar in die Wand eingemauert, die sich
mit Bestimmtheit dem Giovanni Dahnata zuschreiben
lassen. Sie blieben gleichfalls bis heute völlig unbeachtet.
Abb. Q. Ornamentstiiek vom Grabmal des Filipijo della Valle in S. Maria in Aracell
MICHELE MARINI
157
Tempel vollendet, so mag diese Arbeit ausgeführt wor¬
den sein, ehe Marini das grosse Cibodenkmal begann.
Im Jahre 1506 starb der hochberühmte Mailänder
Bildhauer, Andrea Bregno. Seine Gattin setzte ihm
in der Minerva ein bescheidenes Denkmal, welches,
wenn auch viel einfacher in der Ausführung, im
Aufbau doch den Ponzettidenkmälern sehr ähnlich
ist^). Auch hier ist das Bild des Verstorbenen über
einer Inschrifttafel als Hochreliefbüste in einer Rund¬
nische angebracht, auch hier giebt sich in der Art,
wie das Handwerkszeug des Bildhauers als ornamen¬
taler Schmuck verwandt ist, ein ausgesprochener Sinn
für dekorative Plastik zu erkennen. Auch der feine
Mund und die schmalen, pupillenlosen Augen be¬
zeugen die Hand eines Schülers Marini’s, dem die
Charakteristik eines alten, weit- und kunsterfahrenen
Bildhauers, wie es Andrea Bregno gewesen, allerdings
nur mangelhaft gelungen ista).
Damit ist die Zahl der Bildwerke erschöpft, die
man Michele Marini da Fiesoie und seiner Schule in
Rom mit einiger Sicherheit zuschreiben kann. Mitte
oder Ende der neunziger Jahre des Quattrocento be¬
gann er seine Laufbahn in der ewigen Stadt mit den
Arbeiten in der Maffeikapelle in S. Maria sopra
Minerva und dem Grabmal des Filippo della Valle
in S. Maria in Araceli. Diese Leistungen und vor
allem die Statue des heiligen Sebastian erwarben ihm
so hohen Ruhm, dass er im Jahre 1503 den grossen
Auftrag für das Cibodenkmal erhielt, welches als das
1) Das Bregnodenkmal steht heute itn Durchgang zur
Sakristei von S. Maria sopra Minerva nicht mehr an seinem
alten Platz. Bei der Umstellung scheinen das Gebälk oben
und vor allem die hässlichen Kapitäle neu ergänzt worden
zu sein.
2) Stilverwandt der Art des Michele Marini ist das
figurenreiche Grabmal des Kardinals Lonati (f 1497) im
linken Seitenschiff in S. Maria del Popolo. Jedenfalls wird
der florentiner Ursprung dieses Monumentes durch die
Medici-lmprese »Glovis« bezeugt, die links auf einem
Täfelchen auf der Pilasterbasis angebracht ist. Ein Schüler
Marini’s scheint auch das unbedeutende Grabmal Buticella
(t 1515) in S. Maria sopra Minerva gearbeitet zu haben,
das im Aufbau dem Bregnodenkmal gleicht und oben am
Fries ein eigentümliches Dekorationsmotiv zeigt, das uns
schon über den Allegorien der Spes und Justitia in San
Cosimato begegnet. Auch das sorgfältig gearbeitete Denk¬
mal der Brüder Pollajuolo in S. Pietro in Vincoli fällt
in die Kategorie der Rundnischendenkmäler mit Porträt¬
büsten darin und den Grabschriften darunter, ein Grabtypus,
den Marini im Ponzettidenkmal zur schönsten Vollendung
geführt hat. Jedenfalls wurde es von demselben Meister
gearbeitet, man vergleiche vor allen Dingen die Haarbehand¬
lung, wie das Lonatimonument in S. Maria del Popolo.
Hauptwerk seines Lebens angesehen werden muss.
Dann meisselte er im Jahre 1505 das originelle
Denkmal für Beatrice und Lavinia Ponzetti und wenige
Jahre später die Stiftungstafel der Ponzettikapelle.
Mit dem Grabmal des englischen Prälaten scheint er
seine Thätigkeit in Rom beschlossen zu haben. Die
Statue des Erzbischofs von York ist das höchste, was
er als Porträtbildner geleistet hat. Nur einige Grab¬
statuen der Frührenaissance, die des Pietro Riario, des
Christoforo della Rovere und des Roverella können
neben dieser Leistung genannt werden. Weder unter
Julius II. noch unter Leo X. ist in Rom eine Grab¬
statue von ähnlicher Schönheit gearbeitet worden.
Dass seine Thätigkeit in der ewigen Stadt nicht so
fruchtbar gewesen ist, wie die eines Mino oder
Bregno, erklärt sich wohl aus dem für ihn sehr
glücklichen Umstande, dass er alle seine Werke eigen¬
händig ausgeführt hat. Nur die Predella am Petrus¬
altar und das Bregnodenkmal tragen den Stempel
einer zaghaften Werkstattarbeit.
In der Geschichte der Skulptur der Hochrenaissance
in Rom nimmt Marini eine feste, eigentümliche Stel¬
lung ein. Er setzt die Traditionen Mino’s fort, ohne
von der römischen Lokalschule, oder den Nachfolgern
Bregno’s irgend etwas anzunehmen. An den Arbeiten
Andrea Sansovino’s scheint er nur die wundervolle
Ornamentik bewundert und nachgeahmt zu haben;
das Pathos seiner statuarischen Kunst musste dem
sinnigen, feinfühligen Meister von Fiesoie unsym¬
pathisch sein, der sich sein florentiner Kunstideal so
rein und ungetrübt erhalten hat, wie wenige seiner
Landsleute.
Über die Lebensschicksale Marini’s weiss Vasari
nichts zu berichten, er nennt auch kein einziges Werk
seiner Hand in Florenz^). So dürfen wir annehmen,
dass der Schöpfer so vieler herrlicher Grabdenkmäler
in Rom auch sein eigenes vergessenes Grab in der
ewigen Stadt gefunden hat, dass seine Geburt und
sein Tod unter den Spruch fallen, den man einst oft
auf römischen Grabsteinen las^):
Roma mihi tumulum tribuit, Florentia vitam
Nemo alio vellet nasci et obire loco.
1) Vermutungsweise kann die Büste einer Unbekannten
von unbekanntem Autor im Bargello gleich links am
Eingang in dem Skulpturensaal im zweiten Stock dem
Marini zugeschrieben werden. Das liebliche Gesicht mit
dem vollen, zurückgestrichenen Haar, dass ein feiner Lorbeer¬
kranz umschliesst, erinnert an die Köpfe der Allegorien
am Cibodenkmal und in der Technik an den h. Sebastian.
2) Vergl. Vasari IV, 581, wo die Inschrift zuerst ab¬
gedruckt worden ist.
Abb. 10. Grabmal des Erzbischofs von York im englischen Kolleg
OTTO FISCHER
An dor. Aiifscli'.'. Liiig der Griffelkunst in den
letzten 2\vnnzig Jahren hat auch Dresdens
Künstlerschait ihren berechtigten Anteil. Es
bleibt ei.i danenidcs Verdienst der jüngeren Dres¬
dener KüiirilcTSchan, die sich anfangs der 1890er
Jahre zur Secession zusaminenfand, thatkräftig an die
l'ilege tief ididierung und der Steinzeichnung hcran-
^zegangen zu sein, so dass seitdem beide wieder in
Dresden ein Heim haben. Georg Lührig, Sascha
Scinteider, Hans Unger, Georg Müller-Breslau, Ma¬
rianne l iedler, Georg Jahn und andere Dresdner
iuinsikr haben sich seitdem in mannigfacher Weise
als Griffelküiistler bethätigt und nach der einen oder
anderen Seite Ausgezeichnetes geleistet.
Unter diesen Künstlern steht neben Georg Lührig
Otto Fischer in erster Linie, und er darf ganz be¬
sondere Beachtung beanspruchen, weil er sich der
Radierung und dem Steindruck einige Jahre lang
ganz ausschliesslich gewidmet hat. Fischer steht jetzt
im 33. Lebensjahre, er stammt aus Leipzig und hat
die Dresdner Kunstakademie besucht; indes verdankt
er das meiste, was er kann, eigenem, ernsthaftem
Studium. Weithin bekannt wurde er 1896 durch
das prächtige, ungemein wirksame Plakat »Die alte
Stadt' , das erste moderne Plakat, das in Dresden und
in Deutschland überhaupt entstanden ist. Andere sehr
beachtenswerte Werke seiner Hand sind die vier
dekorativen Gemälde, die Fischer für das Restaurant
Kaiserpalast in Dresden malte, und neben vielen wei¬
teren Plakaten machte er auch Entwürfe für Schniuck-
sachen, Frauenkleider, Möbel und anderes. Wichtiger
als alles dies aber sind seine zahlreichen Radierungen
und Steindrucke. Schon im Jahre 1891 fing Fischer
an zu radieren, aber erst 1895 wendeteer der Griffel-
kimst seine volle Kraft zu, und in diesem Jahre er¬
schien auch seine erste Lithographie (Kühe im Walde)
im 1. Heft des 1. Jahrganges der Vierteljahrshefte des
Vereins bildender Künstler Dresdens. Seitdem hat er in
aller Stille und ohne viel Wesens davon zu machen, ein
stattliches Werk von Radierungen und Steindrucken zu¬
sammengebracht, über welches Hans W. Singer in einem
beschreibenden Katalog in den Graphischen Künsten
24. Jahrgang, S. 72 fachgemäss Auskunft giebt. Das
Verzeichnis reicht von 1891 — 1901 und umfasst be¬
reits 63 Nummern, welche Zahl sich seitdem noch
entsprechend gesteigert hat. Wer Otto Fischers
Schaffen im Zusammenhang studieren will — und
das verlohnt wahrhaftig der Mühe — der findet das
gesamte Werk im Königlichen Kupferstichkabinett zu
Dresden vereinigt.
Fischers Hauptgebiet ist die Landschaft. Im Riesen¬
gebirge, um Dresden, ganz besonders aber auf der
Insel Rügen hat er sich für sein Schaffen die wich¬
tigsten Anregungen geholt. Seine ersten Arbeiten er¬
innern an die Leistungen des Engländers Strang,
der 1895 eine Zeit lang in Dresden verweilte, aber
von diesem Einfluss hat er sich mit Recht bald frei
gemacht. Dieses Vorbild war unvereinbar mit
dem deutschen Empfinden, das sich in ihm Bahn
gebrochen hat, unvereinbar mit dem schöpferisch¬
dichterischen Zuge, den Fischers Schöpfungen seit
1896 in immer sich steigerndem Masse aufweisen.
Fischer ist keiner jener Künstler, die mit heissem
Bemühen Zug um Zug die Natur abschreiben und
denen der Kritiker dann den Fleiss ihres Schaffens,
die Sorgsamkeit der Arbeit und die Naturtreue ach¬
tungsvoll bescheinigt. Er ist ein Poet von Gottes
Gnaden, ein Künstler von poetischer Kraft, der die
Landschaft mit dem Auge des Sehers sieht und ihren
Stimmungsgehalt bis in ihre Tiefen ausschöpft. Wie
er in seinen wenigen figürlichen Arbeiten mit treff¬
licher Formengebung tiefe Innerlichkeit des Ausdrucks
vereint, packt er uns auch in seinen Landschaften
durch die Kraft der Stimmung, die in dem reichen
malerischen Leben, in dem energisch empfundenen
Gegensatz von Hell und Dunkel sich ausdrückt.
Diese Belebung der Natur aber ist keineswegs auf
Kosten der Formenklarheit erzielt, vielmehr liegt ihr
eine eindringliche Kenntnis der Natur, ein ernstes
Studium ihrer Einzelheiten zu Grunde, und eben
diese Beherrschung der Elemente ermöglicht unserm
Künstler über die blosse Abschrift der Natur hinaus¬
zugehen, sie mit seiner schöpferischen Phantasie zu
durchdringen und zu lebendigem Ausdruck seiner
Empfindungen zu steigern. Sonnige Pracht, leiden¬
schaftliche Gewitterstimmung, elegische Trauer, ge¬
heimnisvolle Sehnsucht, einsame Grösse, unheimliches
Nachtleben — all das schildert Otto Fischer in seinen
Landschaften mit eindringlicher Kraft, und seine
Schöpfungen nehmen unser Empfinden mächtig in
Bann. Das abziehende Gewitter, die Sommernacht,
der Sonnenuntergang auf dem Meere, die arkadische
Landschaft, Sommernacht und die beiden Blätter
Nachtstimmung mögen als besonders bezeichnende
und hervorragende Leistungen Fischers genannt sein.
Aber auch die Originalstcinzeichnung, die diesem Heft
unserer Zeitschrift beigegeben ist, wird unseren Le¬
sern einen guten Begriff von dem technischen Können
und der schöpferischen Kraft Otto Fischers geben.
Möchte sie für manchen ein Ansporn sein, weitere
Blätter aus Fischers Werk zu erwerben. Sie stellen
ihm hohe künstlerische Genüsse in Aussicht.
PAUL SCHUMANN.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H , Leipzig
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AM ABEND. ORIOINALSTEINZEICHNUNO VON ^
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OTTO H. ENGEL. MORGENSONNE'
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST ig03
TAFEL 38 AUS SEEMANN’S HUNDERT MEISTERN DER GEGEN'WART
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O. H. Engel. Friesisches Mädchen
OTTO HEINRICH ENGEL
Der deutsche Kunst-Kriegsschau¬
platz hat sich seit zehn Jahren
gründlich verändert. Vor einem
Decennium galt es die Schlacht zu
schlagen für die grossen neuen Lehren,
die vom Ausland her über unsere
Grenzen drangen, und denen sich bei
uns alle Mächte des aktiven und pas¬
siven Widerstands entgegenstellten. Mit
dem Blicke des Historikers sehen wir
heute bereits über die Schlachtfelder.
Die Bataille ist aus, die »Modernen«
haben gesiegt. Mein Gott ja, es giebt
noch eine Reihe von Leuten, die das
nicht sehen oder nicht anerkennen
wollen, ebenso wie es immer noch
wunderliche Leute giebt, die glauben,
der Kampf um Richard Wagner im
früheren Sinne sei noch nicht zu Ende.
Doch für diejenigen, denen es nur um
die Hauptschlachten des grossen Krieges
zu thun ist, und die keine Zeit haben,
sich um jedes kleine Geplänkel zu bekümmern, ist die Angelegenheit geschichtlich entschieden. Sie zweifeln
nicht mehr an dem endgültigen Sieg der impressionistischen Technik und ihrer Begleiterscheinungen, in dem
sie nur den Endpunkt einer Jahrhunderte alten Bewegung sehen, sie halten den Streit um die Berechtigung
dieser Forderungen für eine abgethane Sache und gehen über die Zeitgenossen, die sich über sie noch
immer den Kopf zerbrechen oder sie gar mit schöner Energie leugnen, lächelnd zur Tagesordnung über.
Aber ein anderer Kampf scheint zu beginnen. Sein Thema ist die Verwertung und Weiterentwickelung
der grossen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Es ist eine deutsche Impressionistenschule in Bildung
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. II. 7
O. H. Engel. Wasseratelier
21
OTTO HEINRICH ENGEL
1 6o
begriffen, die ihr Ziel schlechthin in der Übernahme
der modernen französischen Art sieht und sich damit
begnügt; die den
unbestrittenen
Grundsatz, dass für
den Maler das
Malenkönnen die
erste und unerläss¬
lichste Forderung
darstellt, dahin zu
erweitern geneigt
ist, dass sich mit der
höchsten Ausbil¬
dung seiner Fähig¬
keit, das Spiel des
Lichtes, der Luft
und der Farben zu
meistern, der Be¬
griff seiner Kunst
auch schon er¬
schöpfe. Dem¬
gegenüber erheben
sich neueWünsche,
die darauf hin¬
zielen, eine solche,
aus dem französi¬
schen Geiste der
neuen Technik
hervorgegangene
Auffassung der
Kunst zu überwin¬
den und diese
nicht mehr ent¬
behrliche, einen
ungeheueren Fort¬
schritt darstellende
Technik mit der
über das Hand¬
werkliche hinaus¬
weisenden Sehn¬
suchtzuversöhnen,
die zu den Grund¬
elementen der deut¬
schen Kunst ge¬
hört.
Es würde zu
weit führen, die
neuen Gegensätze,
die sich hier auf-
thun, eingehend
zu beleuchten. Sie
mussten nur kurz
herangezogen wer¬
den, weil die Stel¬
lung des Künstlers,
dem diese Zeilen
gewidmet sind,
erst durch sie ver¬
ständlich wird. Ot¬
to Heinrich Engel
gehört zu der noch
O. H. Engel. Nieder¬
deutsche Votkstypen
Bemaltes Stuckrelief
nicht grossen und vor allem noch nicht hinreichend kraft¬
vollen Schar, die heute auf jene neuen Ziele hinweist.
Wenn diese Gruppe den »reinen« Impressionisten als
halbreaktionär erscheint, so ist das eine Anschauung,
die sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens
wiederholt und die ihren Grund darin hat, dass jede
neue Bewegung sich in irgend einem Sinne als
Reaktion — aber nun das Wort im eigentlichen Sinne
gebraucht — gegen Herrschendes oder zur Herrschaft
Strebendes darstellt. Engel ist einer der Tüchtigsten
unter den Malern unserer Zeit, die sich, vielleicht oder
wahrscheinlich weniger aus bewusster Absicht und
nach einem festen Plane als aus instinktivem Drang,
darum bemühen, die Empfindung, die seelischen
Werte, die jener reine« Impressionismus nicht un¬
bedenklich bedroht, wieder in ihre Rechte einzusetzen,
aber nun nicht durch äussere Mittelchen, durch Zu-
thaten, die in ihres Wesens Kern nicht aus dem
Malerischen stammen; sondern eben auf malerischer
Grundlage, durch den Zusammenklang und die von
innen heraus gestaltete Harmonie der mit geschärftem
Auge gesehenen Luft-, Licht- und Farbenspiele der
Wirklichkeit, durch die von innen heraus beseelte
Wiedergabe des gewählten Naturausschnitts. Das
Auge hat den Vortritt. Es hat zunächst seine Forde¬
rungen geltend zu machen und das Technische des
Bildes zu bestimmen. Aber dann will auch das, was
hinter der Netzhaut liegt, was sich physiologisch noch
nicht genau definieren lässt und wohl nie erschöpfend
definieren lassen wird, mitsprechen und seine An¬
sprüche stellen.
Engel ist nicht durch eine stürmisch-geniale Be¬
gabung frühzeitig im Sturmschritt in die Höhe ge¬
trieben worden; er hat sich in verhältnismässig lang¬
samer Entwickelung, in zäher Arbeit und scharfer
Selbstzucht von schlichten Anfängen emporgearbeitet,
hat sein in jungen Jahren erwachtes Talent ganz
allmählich, aber in stetiger Steigerung entfaltet. Am
27. Dezember 1866 in Erlach, einer kleinen hessischen
Stadt, wo sein Vater Geistlicher war, geboren, ist er
erst zwanzigjährig in Berlin, wohin er früh mit den
Eltern übergesiedelt war, auf die Akademie gekommen.
Hier hat er sich, hauptsächlich in der Klasse Wolde-
mar Friedrich’s und bei Paul Meyerheim, die solide
Grundlage seines starken zeichnerischen Könnens er¬
worben, die seinen Arbeiten für alle Zukunft zugute
gekommen ist. Die Reproduktionen, die dies Heft
nach Zeichnungen und Studien aus seinen Mappen,
aber nicht minder die, die es nach Gemälden seiner
Hand bringt, bezeugen Engel’s absolute Sicherheit
in der Beherrschung der Form , eine Sicherheit,
die dem Künstler frühzeitig über alle akademische
Ängstlichkeit hinweghalf und schliesslich auch die
letzten Spuren der Schule verwischte. Die famose
Kohlestudie >Am Bollwerk« zeigt ihn im vollen
Besitze der Kunst, die Liebermann durch den geist¬
reichen Ausspruch »Zeichnen ist Fortlassen« charak¬
terisiert hat, im Besitze der Fähigkeit, das Wesentliche
aus der Fülle der Linien der Natur rasch und be¬
stimmt auszuwählen und mit markanten Abbreviaturen
ein schlagenderes Abbild des Gesehenen festzuhalten.
OTTO HEINRICH ENGEL
1 6i
als es die im Detail versinkende Pedanterie vermöchte.
Und nur ein Zeichner, der in völlig souveräner Frei¬
heit mit der Form zu schalten weiss, ist imstande, so
kostbare Karikaturen hervorzubringen wie Engel.
Nur wer die wahren Linien aufs genaueste im Kopfe
hat, kann sich zu der scherzhaft übertreibenden
Charakteristik heranwagen, die hier verlangt wird
und die doch den Zusammenhang mit der Natur in
keinem Augenblicke verlieren darf. Entzückend, wie
auf dem schnell hingeworfenen Blättchen, das wir
als Probe geben, die wehmütig-feierliche Bezechtheit
der Abschiedspunschstimmung mit ein paar Strichen
festgehalten ist.
Im Jahre 1890 ging Engel nach Karlsruhe, um bei
Schönleber, Baisch, Kaspar Ritter seine Studien fortzu¬
setzen. Hier ging ihm, nach der Bevorzugung des
Zeichnerischen auf der Berliner Akademie, der Begriff
des Malerischen auf. In dem Garten der Kunstschule
in der badischen Hauptstadt, den vordem Schirmer
zu Zwecken des Studiums und Unterrichts eingerichtet
hatte, sah er zum erstenmal, was es heisst, im Freien
Luft und Licht, Schatten und Reflexe auf Gegenständen
und menschlichen Figuren zu beobachten. In München
dann, wo er sich hauptsächlich Paul Höcker an¬
schloss, führte er in den Jahren 1891 und 1892 seine
malerische Ausbildung weiter und genoss mit vollen
Zügen die frische Kunstluft, die damals an der Isar
wehte. Einen starken Eindruck hat auf Engel, wie
er mir einmal erzählte, in jenen Jahren eine Aus¬
stellung dänischer Künstler im Münchner Glaspalast
gemacht. Man braucht nicht zu betonen, dass er in
einer »Nachahmung« dieser Dänen, wie Ancher,
Brasen u. s. w., sein Ziel weder damals noch später
gesehen hat. Was ihn anzog, war die stille, feine
Intimität der Stimmungen in den Bildern der Nord¬
länder, die seiner Individualität sehr entgegenkam, und
der er sich aufs innigste verwandt fühlte. Ganz von
selbst trieb es ihn, der sich nach schlichter Natur
und einfachen Menschen sehnte, früh in das von den
Malern damals und eigentlich auch heute noch wenig
»abgegraste« niederdeutsche Land, in die Gegend von
Lüneburg, nach Mecklenburg, Schleswig-Holstein, an
die Waterkant und vor allem nach Föhr, wo er in dem
kleinen Ekensund einen Studienort fand, wie er ihn
sich nicht schöner wünschen konnte, und den er
darum in der Folge fast alljährlich immer wieder
aufsuchte. Dort studierte Engel mit heiligem Eifer
die Landschaft in ihrer einfachen, ernsten Schönheit,
den Glanz der hellen Sommersonne, von deren er¬
wärmender und leuchtender Kraft Wiesen und Äcker,
Kornfelder, Busch- und Baumreviere eindringliche
Kunde geben, während die roten Dächer der Dorf¬
häuser erglühen, in Flüssen, Buchten, Seen und
Kanälen die Uferbilder sich spiegeln und für ihre
heimliche Melodie eine tiefer klingende Begleitung
finden. Er studierte das Treiben der kleinen Häfen,
deren schaukelnde Schiffe feuchte Luft umfächelt, das
Leben am Strande und in den Städtchen und die
wortkargen Menschen, die darin wohnen, die Männer
mit den wettergebräunten Gesichtern, die alten Frauen
mit ihren von Sorgen und Arbeit durchfurchten Zügen,
die jungen Mädchen mit ihren malerischen Volks¬
trachten und der eckigen Anmut ihrer herben Jung¬
fräulichkeit, die wei¬
zenblonden Kinder
in ihrer blauäugi¬
gen und pauspäcki-
gen Unschuld und
Gesundheit.
Schon in der
ersten Ausstellung
der Münchner Se¬
cession, zu deren
Mitgliedern Engel
nach dem Ab¬
schluss seiner Stu¬
dien von Anfang
an gehörte, er¬
schien er im Jahre
1893 mit einem
Flensburger Motiv,
dessen Wahl und
Behandlung seine
charakteristischen
Neigungen deut¬
lich verraten: ein
Stück Bucht, Häu¬
ser am Ufer, ein
paar Schiffe im
Wasser, ein paar
Kinder am Strande,
Sommerstimmung,
und im Vorder¬
gründe lauer Schat¬
ten, während der
Blick in eine helle
Ferne geführt wird.
1895 trat er dann
mit dem grossen
Bilde »Meeres¬
leuchten« hervor,
das man von ver¬
schiedenen Ausstel¬
lungen her kennt:
ein Boot mit einem
jungen, nun aber
einmal ganz städ¬
tisch gekleideten
Paare, das in war¬
mer, klarer Som¬
mernacht auf das
stille Wasser hin¬
ausgerudert ist;
vom Schlag des
Ruders, vom glei¬
tenden Kiel des
Bootes, von der
Hand des jungen
Mädchens, die sich
ins Wasser senkt,
blitzt die tiefe dun¬
kelblaue Flut phos-
O. H. Engel. Nieder¬
deutsche Volkstypen
Gemaltes Stiickrelicf
21
OTTO HEINRICH ENGEL
1 .2
O. H. Engel. Morgens beim Ausfahren
phoreszierend grell auf, weit aus der Ferne blinzeln vom
Ufer und von verankerten Schiffen gelbe, grüne und rote
Lichterchen. Das Triptychon Waterkant , das im
Winter i8g8 in einer der ersten Ausstellungen des
Künstlerhauses in Berlin hing, wohin Engel zwei
Jahre vorher endgültig übersiedelt war, und der
Spaziergang der beiden Geistlichen am Meeresufer,
mit dem er die erste Berliner Secessionsausstellung
i8gg beschickte, sind von den folgenden Arbeiten des
Künstlers am bekanntesten geworden. In den Seiten¬
tafeln der Waterkant , die wir hier in der Repro¬
duktion bringen, versuchte er sich einmal in deko¬
rativer Stilisierung und malte die Figuren in stark
leuchtend behandelten Lokalfarben auf goldenen
Grund, Sonst aber ging sein Streben durchweg auf
eine Vertiefung und persönliche Verarbeitung moderner
Lehren. Namentlich auf Föhr fand der stille, in
sich gekehrte Künstler im dauernden Verkehr mit der
Natur und den Menschen des friesischen Landes die
Stoffe und Stimmungen, die ihm zusagten. Die Ein¬
drücke, die er einst von den Bildern der Dänen em¬
pfangen hatte, waren durch die Lektüre skandina¬
vischer Schriftsteller, durch die wundervoll intimen
Naturschilderungen von Dichtern wie jacobsen und
Drachmann, noch verstärkt worden. Etwas von der
feinen Art dieser Poesien mag man wohl bei ihm
wiederfinden, aber es kommt bei Engel kräftiger,
gesunder, volksliedmässiger, mit weniger Hang zur
Melancholie heraus. Die leise Sehnsucht, die bei
seinen Scenen vom Felde, von den Dörfern, von der
Föhrde, die er so in sein Herz geschlossen, stets
mitklingt, hat eine durchaus deutsche Note, die sich
zumal in den, gegenüber den Skandinaviern besonders
auffallenden lebhafteren und kühneren Farbensteihmgen
äussert. Von besonderer Wichtigkeit aber wurde bei
Engel mehr und mehr die Belebung des Landschaft¬
lichen durch Figuren, die weder den Charakter hinein¬
gesetzter Staffage annehmen noch 'sich mit dem Amte
begnügen, Farbenflecke« zu sein. Das grosse Ge¬
mälde der »Friesischen Mädchen , das im Sommer
igo2 auf der Grossen Berliner Ausstellung hing und
von dort in den Besitz der Nationalgalerie über¬
gegangen ist, zeigte die bedeutsame Entwickelung
der sympathischen Kunst Engel’s während der letzten
Jahre im schönsten Lichte. Doch der unablässig
Strebende hat — das darf man mit einer Erwartung
OTTO H. ENGEL
FRAU UND KIND
OTTO HEINRICH ENGEL
1 64
O. H. Engel. Bootsbriicke
aiissprechen, die an Sicherheit grenzt — gewiss noch
eine reiche Zukunft vor sich. Er selbst würde es
wohl am wenigsten billigen, wenn man ihn als einen
Künstler darstellen wollte, der schon auf seinem
Gipfel angekommen ist. Nicht auf eine »historische
Betrachtung dessen, was er bisher geleistet, konnte
es darum hier ankommen, sondern nur um eine
kurze Einführung in seine Art und Kunst.
MAX OSBORN.
O. H. Engel. Karikatur
O. H. Engel. Am Bollwerk. Kohlestiidie
O. /■/. Engel. Abends beim Dorschangeln
SAN MINIATO AL TEDESCO
Von Hans Mackowsky
Bald hinter Empoli, wo der Arno in die
fruchtbare Ebene von Fucecchio tritt, ragt auf
weit vorgeschobenem Bergrücken zwischen den
Flussthälern der Elsa und der Evola die Ruine eines
gewaltigen Wartturmes empor. Es ist die Rocca von
San Miniato al Tedesco, dem einstigen Sitz der
kaiserlichen Vikare in Toskana. Auf dem höchsten
der drei Flügel gelegen, über die hin die Stadt sich
dehnt, beherrscht dieser Turm, gleich einem sagen¬
haften Gebieter, die Gegend und lockt mit seinem
verwitterten Gemäuer geheimnisvoll zu sich hinan.
Auf kräftig ansteigender, vielfach gewundener
Fahrstrasse, immer an Olivenpflanzungen und vorge¬
schobenen Villen vorüber, bringt uns ein ländliches
Gefährt bergaufwärts. Eine letzte energische Kehre —
und der Zeltdachwagen hält vor der ehrwürdigen
Dominikanerkirche. Die Sauberkeit eines toskanischen
Landstädtchens erfüllt sogleich mit freundlichem Be¬
hagen. Auf breitfliesigem Travertinpflaster durch¬
schreiten wir die Stadt, die eigentlich nur aus einer
einzigen, einen halben Kilometer sich hinziehenden
Strasse besteht. Über die weissen Häuser schaut aus
silberiggrünem Olivenwuchs in dem wundervollen
Rostrot seines Ziegelbaues die Rocca herein, und die
malerische Schönheit dieses Stadtbildes entschuldigt das
Selbstgefühl der Einwohner, das sie in den Ruf von
Prahlhänsen und Grosssprechern gebracht hat, denen
nirgends so wohl ist als im Schatten ihrer Rocca’).
Wir wandern diese einzige Strasse, die von Thor
zu Thor mehrfach den Namen wechselt, entlang, an
i) Tutti i Samminiatesi son passionatissiini amatori della
loro cittaduzza; e non istanno bene che all’onibra della
alten Kirchen und Konventen vorüber, an öffent¬
lichen Gebäuden und Palästen, deren Architektur auf
Florenz zurückweist. Wir biegen in kurze Seiten¬
gässchen ein, sehen den jähen Absturz der Hügel,
und wie gewaltige Substruktionen die umfassenderen
Baulichkeiten stützen. Wir kommen auf die Piazza
Buonaparte mit dem antikisch gewandeten Standbild
Leopold’s II. von Toskana und denken der Geschichte,
die mit diesen Namen zu uns redet. Überall stossen
wir auf Gestalten, in denen der blonde, ungelenkere
Germanentypus deutliche Merkmale hinterlassen hat;
eine ungewohnte Treuherzigkeit schaut hier und da
aus blauen Augen uns überraschend an. Und schliess¬
lich steigen wir hinauf zur Felsenwarte, um mit
wenigen Schritten in die Romantik hohenstaufischer
Kaiserzeit zu gelangen.
Schon der Domplatz mit der dreischiffigen Kathe¬
drale und dem fast schmucklosen bischöflichen Palast
lässt trotz aller späteren »Verschönerungen' und Um¬
bauten die Stimmung des 13. Jahrhunderts wach
werden. Zuerst auf den gepflegten Kieswegen einer
öffentlichen Promenade, dann durch die verwahrlosten
Kulturgärten, die im 1 6. Jahrhundert Michele Mercati an-
legen Hess, führt der Weg hinauf zu dem halbzer¬
fallenen Denkmal staufischer Herrschergewalt. Ein
kleines Plateau, auf dem ehemals die Befestigungen
lagen, bietet einen der herrlichsten Fernblicke.
»Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben."
rocca; e si tengon tanto d’esser cittadini di qiiella lor
terra, che presso i vicini ne riportano mal nome di vendi-
fumo, e svegliano gelosie senza fine. Augusto Conti,
Viaggetto d’una lieta brigata.
NB. Die Abbildungen sind mit Ausnahme der Kopfvignette und des Chellini-Grabmales nach Aufnahmen gemacht,
die der Photograph A. Reali in Florenz im Mai 7902 unter der Aufsicht des Verfassers angefertigt hat. Sie werden hier
zum erstenmal veröffentlicht und befinden sich nicht im Handel.
SAN MINIATO AL TEDESCO
1 67
Im Westen, wie gelöst unter dem Sonnenflimmer,
erhebt sich die zackige Wand der Pisaner Marmor¬
berge. Im Osten blinkt Empoli mit glitzernden Dächern
herauf, während ganz fern die Kuppeln von Florenz
im Dunst der Mittagsstunde schwimmen. Von Norden
her drängen die Pistojeischen Bergmassen mit ihren
nach einer kurzen Selbständigkeit mit hoher, kom¬
munaler Blüte eine immer tiefere Provinzstille unter
Florentiner Botmässigkeit. Auf San Miniato aber
ruht noch ein letzter Schimmer staufischer Kaiser¬
pracht, und um die zermorschten Steine der Rocca
wandeln allen voran die grossen Schatten Kaiser
San Miniato al Tedesco. Der Dom
Kastellen und Felsennestern heran. Südwärts wandert
der Blick ins alte Etrurien, zu dem im Stolz seiner
Türme starrenden San Gimignano und dem breiten
Mauergürtel von Volterra.
Die Lage des Ortes erklärt auch seine Geschichte.
Sie unterscheidet sich kaum von dem Schicksal aller
zwischen Florenz und Pisa eingeengten Ortschaften:
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 7.
Friedrich ’s II. und seines Kanzlers, der es noch Dante
im Inferno auf Ritterehre zuschwört
. . . che giammai non riippi fede
Al mio signor, che fu d’onor si degno
22
i68
SAN MINIATO AL TEDESCO
Wenn Friedrich II. nach dem immer rebellischen
Toskana kam, so war San Miniato der Ort, wo er
sich fast so sicher fühlen konnte wie in Lucera unter
seinen Sarazenen. Florenz mied er aus Furcht vor
einer dunklen Weissagung, die ihm dort seinen Tod
•’eriieissen hatte. In San Miniato aber sassen schon
seit Otto I. die kaiserlichen Vikare und genossen bei
der gut ghibellinischen Bevölkerung ein Ansehen,
das ihnen im übrigen Toskana mehr und mehr verloren
gegangen war, wenn sie es überhaupt jemals besessen
hatten. Damit ist nicht gesagt, dass die kleine Bergveste
etwa von den inneren Fehden, die Italiens Boden
zerrissen, verschont geblieben wäre. Aber der Kaiser,
der diesen Stützpunkt seiner Macht mit allen Mitteln
zu halten bestrebt war, verstand es in kluger Weise
hier sein Ansehen zu mehren. Er verlieh wertvolle
Privilegien, machte Schenkungen, verlegte hierher den
Sitz des Appellrichters für ganz Toskana. Zugleich
festigte er die militärische Sicherheit des Ortes. Wahr¬
scheinlich 1236 Hess er mitten in die grossartigen
Festungswerke hinein, die heute bis auf die letzten
Trümmer verschwunden sind, die Rocca als Feuer¬
warte und Luginsland bauen. Hierher verlegt die
Tradition den Schauplatz des Dramas zwischen ihm
und seinem Kanzler Pier delle Vigne. Böse Zungen
hatten das Ohr des misstrauischen Kaisers erreicht.
Der Kanzler —
. . . colui, che tenni ambo le chiavi
Del cuor di Federigo e che le volsi
Serrando e disserrando, si soavi
Che dal segreto suo quasi ogni uom tolsi —
fiel in Ungnade, ward geblendet und soll sich hier
im Gefängnis den Schädel eingerannt haben').
Der Anblick des Turmes mit seinem auffälligen
oberen Stockwerk lenkt plötzlich unser historisches
Interesse auf kunstgeschichtliche Bahnen. Der mit
scharfen Kanten viereckig ansteigende Ziegelbau ist
gekrönt von drei aufgemauerten Säulen -), zwischen
denen sich halbzerstörte Wände mit Fenstereinschnitten
ziehen, wohl als Guckaus für die Wachen. Diese
Art von Bekrönung findet sich nur noch einmal in
ganz Toskana wieder: am Turm des Palazzo Vecchio
zu Florenz. Keiner der Biographen dieses Bauwerkes
von Rastrelli bis Gotti hat diese kunstgeschichtlich
eminente Thatsache bemerkt. Selbst der sonst so
gründliche und zuverlässige Gargani (1872) begnügt
sich damit, seinen Vorgängern die altersschwache
Tradition, als Vorbild des florentiner Stadthauses habe
das Kastell der Grafen Poppi im Casentino gedient,
nachzubeten. Aber gesetzt den Fall, dass diese Tra-
1) Die Zeit seines Sturzes wird ziemlich allgemein um
1249 gesetzt. Auch sind sich die Quellen (vgl. Raumer,
Gesch. der Flohenstaufen IV, S. 391 ff.) überden Selbstmord
einig. Nur die Art des Todes und der Ort sind nicht
einmütig überliefert. Hinsichtlich des letzteren schwankt
die Überlieferung zwischen Pisa und San Miniato al
Tedesco.
2) Die vierte wurde von dem furchtbaren Erdbeben
am 14. August 1846 zerstört. Die letzten Restaurierungs¬
arbeiten fallen in die Jahre 1890 und 1891.
dition der geschichtlichen Wahrheit entspräche, so ist
noch immer nicht die Idee des ganz eigenartigen
oberen offenen Stockwerkes an dem Florentiner Bau
erklärt. Denn jenes obskure Provinzkastell zeigt, wie
auch der gleichartige Palazzo del Podestä in Florenz,
nur den Zinnenkranz als Turmbekrönung. Es scheint
verführerisch, Arnolfo di Cambio, den Baumeister
des florentinischen Stadthauses, auf seiner Wanderung
aus seinem Geburtsort Colle val d’Elsa nach Florenz
den grossen Eindruck der Rocca von San Miniato
mitnehmen und ihn dann verwenden zu lassen. Doch
widersprächen dem die sicheren Daten der leider
noch immer nicht genügend aufgeklärten Baugeschichte
des Palazzo Vecchio. Der Bau, der 1294 beschlossen
wurde, war beim Ableben Arnolfo’s 1301 keineswegs
in allen Teilen vollendet. Noch am 26. Oktober 1308
»si elessero ufficiali pro murando et super murando
turrim Palatii Populi in quo Priores Artium et Vexil-
lifer justitie pro Communi morantur« (Gotti). Erst
1314 steht der Bau vollendet da bis auf den Kupfer¬
helm, den 1453 Antonio di Migliorini Guidotti auf¬
setzt. Das unorganisch Bizarre und deswegen reiz¬
voll Phantastische, das diesen Säulenaufsatz auszeichnet,
scheint mir nicht in dem mehr konstruktiv berech¬
nenden als malerisch ausschmückenden Genie des
Arnolfo entstanden zu sein. Nicht minder spräche
die Form der Kapitelle gegen die Autorschaft Arnolfo’s.
Schliesslich, wie dem auch sei, die Thatsache, dass
die ca. 1 236 erbaute Rocca von San Miniato das
Vorbild für den Turm des florentiner Stadthauses
hergeliehen hat, darf in Zukunft nicht mehr übersehen
werden. Die trotzige Feindin des Kaisertums hat in
ihrem Stadthause die Veste des Erbfeindes selbst teil¬
weise nachgebildet.
* *
*
Im warmen Höhenwinde steigen wir durch die
verwilderten Anpflanzungen wieder hinunter zum
Domplatz. Noch immer sind wir im Bereich staufi-
scher Erinnerungen. Mit dem ganzen Hügel war
auch dieser Platz in alten Zeiten von starken Mauern
und festen Thoren umgeben. Hier lag die eigentliche
Citadelle. Und wo zu Friedrich’s Zeiten die Haupt¬
leute der militärischen Besatzung ihr Quartier hatten,
residiert jetzt der Bischof. Aber der Palast weist
kaum noch Spuren aus dem 12. Jahrhundert auf,
als Zinnen ihn schmückten und drei Türme sein
wehrhaftes Äussere erhöhten. Nachdem San Miniato
1622 unter Gregor XV. Bistum geworden war,
bauten und besserten unaufhörlich die geistlichen
Herren und einer von ihnen, Monsignore Suares,
Hess 1746 die baufälligen Türme bis auf einen kleinen
stumpfartigen Rest in der Mittelachse der Fassade
niederlegen.
Vom gegenüberliegenden Dome, der schon 1194
erwähnt wird, hat sich ebenfalls nicht viel mehr aus
jener allen Zeit erhalten. Doch gehört seine Fassade,
die klar die Dreischiffigkeit des Inneren ausspricht,
durch ihren Schmuck zu den merkwürdigsten, die in
Italien zu sehen sind. Heute, wo die drei Barock¬
portale und die Fensterrosen darüber rücksichtslos
SAN MINIATO AL TEDESCO
169
in das Mauerwerk eingebrochen wurden, und die
alte regelmässige Schönheit der Ziegelschichten un¬
zählige Flicken und
Ausbesserungen zeigt,
deuten nur noch die
Blendbogen an der
Bedachung und die
über Eck gestellten
vertieften Quadrate
am Giebel des Mittel¬
schiffes auf die Zu¬
gehörigkeit des Bau¬
werkes zu der grossen
Gruppe süditalieni¬
scher, besonders apu-
lischer Kirchen, die’
unter dem Regiment
der Staufer entstan¬
den. Sein schönster
Schmuck aber sind
ungefähr fünfund¬
zwanzig in das Mauer¬
werk eingelassene, zu
symmetrischen Figu¬
ren disponierte Fay¬
enceschüsseln, deren
Zeichnung — geome¬
trische Muster, Band¬
ornamente, Fabeltiere
— deutlich hispano-
maureske Herkunft
verraten. Die beträcht¬
liche Höhe, in der
diese herrlichen tief-
randigen Gefässe an¬
gebracht sind, er¬
schwert leider ihre
eingehende Unter¬
suchung. Sie scheinen
auch bisher keinem
Spezialforscher vor
die Augen gekommen
zu sein. Ihre Technik
und ihre Musterung
weisen auf eine spa¬
nische Fabrik, wohl
aus der Provinz Va¬
lencia. Das nahe ge¬
legene Pisa war ja der
Stapelplatz für die aus
Spanien herüberkom¬
menden Produkte.
Die Erweiterungs¬
bauten, denen im Lauf
der Jahrhunderte der
Dom unterlag, rückten
ihn immer näher an
die Umfassungsmauer
der alten Festungs¬
werke heran. Gegen Ende des 1 5. Jahrhunderts unter
dem Pontifikat Innocenz’ Vlll. bezog man einen der
alten Türme als Campanile in die Anlage. Kurz und
stämmig ragt er an der Chorseite der Kirche auf,
wie ein alter Kriegs¬
mann, der auf den
Rest seiner Tage den
Panzer mit der Kutte
vertauscht. Sein krie¬
gerisches Aussehen ist
ihm aber auch in
seinem frommen Amte
verblieben.
Das Innere des
Domes bietet kaum
Merkwürdiges. Es
wurde gänzlich im
Geschmack des 18.
Jahrhunderts restau¬
riert und zu einem
Pantheon verdienter
Samminiatesen um¬
gewandelt. Stammen
ein paar ältere hoch
an der Wand aufge-
hängteBilder vielleicht
aus der Zeit, als unter
Innocenz VIII. die neu
ernannte Collegiata
bedeutend erweitert
und ausgeschmückt
wurde? Eine thro¬
nende Madonna mit
Johannes dem Täufer
und dem heiligen
Sebastian trägt deut¬
lich die Merkmale der
Werkstatt des Cosimo
Rosselli an sich.
Schrägüber an der
hohen Wand hängt
eineBeschneidung,die
sich aufs engste an das
von Fra Bartolommeo
in Wien befindliche
Originalgemälde an-
schliesst.
* *
*
Nach dem Sturze
der Staufer war auch
die Gewalt der kaiser¬
lichen Vikare für im¬
mer geschwächt. Zwar
blieben im Ort des
heiligen Miniatus die
Ghibellinen noch die
Herren der Situation
und hielten auch den
neuen Kaisern stand¬
haft die Treue. Auf
seinem Römerzuge fand Rudolf von Habsburg in ganz
Toskana San Miniato allein unterwürfig. Aber die Fehde
Die Rocca von San Miniato al Tedesco
22
170
SAN MINIATO AL TEDESCO
zwischen den Parteien loderte auch hier alle Augen¬
blicke auf und bereitete das unvermeidliche Ende im
florentiner joch vor. Als 1294 Gianni di Celona,
seiner Geburt nach Franzose, wahrscheinlich aus
Chälons, mit 'ünfhunaert burgundischen und deutschen
Rittern ais Aiisc! lichc-r Statthalter seine Rechte wahr¬
nehmen ''/o!'':-, :.npörten sich auch die Ghibellinen
gegen ’/u "rc: id:h;g. Und so geschwächt war die
kaiseiii^hj . '.ehr, .U.^s man ihren Vertreter mit einer
h aipiG.v-. :Un.ieii;-../!äcligung nach Haus, in sein Bur¬
gund zu.'ici . ‘schicken wagte.
imaufgeklärt ist auch hier der Pro-
z.:-; '.vi £;~li unter der Führung der guelfischen
I- tei u'v;; koiiimunale Leben befreite. Zu Beginn
■ irs 14. jaiiihimderts fand der Ort — »quel nido
ici.:esc,' uaiiiite ihn die ränkevolle florentiner Diplo-
r.Lvd. - auf der Höhe seiner Entfaltung. Die unter
;.di eifersüchtigen Nobili thaten sich zu ungewohnter
Eintracht zusammen. Man sah dem schlauen Florenz
die Politik mit dem doppelten Boden ab, that freund¬
lich und ehrerbietig mit dem Kaiser Heinrich VII.,
der 1311 durchzog, und liebäugelte zugleich mit
Florenz, ohne in die klug gestellten Netze zu fallen.
Hundert mächtige Familien und neun Adelsgeschlecher
aus blauestem germanischem Blut sassen stolz und
trotzig zwischen den drei amphitheatralisch absteigenden
Mauerkreisen; vierunddreissig Kastelle in der Um¬
gebung waren ebensoviel vorgeschobene wachsame
Posten. Zu den Franziskanern, die sich schon 1276
angesiedelt hatten, gesellten sich nun 132g die
Dominikaner in San Jacopo e Lucia fuori porta del
castello. Reiche Bürger errichteten fromme Stiftungen,
wie Michele Portigiani, der Kloster und Kirche für
die Clarissinnen erbauen Hess. Aber die Pest von
1 348 dieselbe, die Boccaccio schildert — lähmte
die frische Unternehmungslust. In eine ruhige Ent¬
wickelung fuhr immer wieder der Streit der Parteien
hinein, bis endlich Florenz die begierige und lang
drohende Hand auf den blühenden Ort legte. Ver¬
rat auch hier! Der 8. Januar 136g, als ein gewisser
Luparello hinterrücks von San Francesco her die
florentinischen Söldner in das Kastell einliess, ent¬
schied für alle Zeiten das Schicksal der alten Reichs¬
burg ').
Aber die neuen florentinischen Machthaber rüttelten
umsonst an der geschichtlichen Tradition, die in dem
1) Die historischen Schilderungen, die ich in aller
Gedrängtheit gebe, stützen sich zumeist auf die geringe
Lokallitteratur. Von einschlägigen Werken erwähne ich
nur: Giuseppe Rondoni, S. Miniato al Tedesco, Memorie
storiche con documenti inediti, S. M. 1876 und Guida
della cittä di S. M. al Ted. von Giuseppe Piombanti,
S. M. 1894. Für die kunstgeschichtlichen Fragen giebt
Rondoni fast gar kein, Piombanti erheblicheres Material,
aber ohne Kritik. Ein neuer Führer, der im Herbst 1901
angekündigt wurde, ist bis jetzt noch nicht erschienen.
Beinamen ausgesprochen lag. Es gelang ihnen nicht,
das verpönte aristokratische »al tedesco« in das ple¬
bejisch geläufige »Eiorentino« umzuwandeln. Und
der gekrönte steigende Löwe mit dem gezückten
Schwert, den San Miniato im Wappen führte, schien
treu wenigstens über der glorreichen Vergangenheit
wachen zu wollen. Nur jährlich zum Johannistage
schickten die Samminiatesen als Zeichen ihrer Unter¬
würfigkeit eine geweihte Kerze nach Florenz ins
Baptisterium.
Für die Zukunft aber ward San Miniato floren¬
tiner Provinznest, politisch wie künstlerisch. Floren¬
tiner Maler schmücken die Wände der Ordens¬
kirchen und florentiner Beamte nehmen den alten
Palast der kaiserlichen Vikare in Beschlag. Einem
von ihnen, Guicciardini, hat man ein Denkmal seinerVer-
waltung errichtet, eine al fresko gemalte Madonna, um¬
geben von sieben Tugenden nach der allegorisierenden
Weise des Trecento. Das Bild trägt die Jahreszahl
1393, dazu das Wappen des Vikars und sein Lob
in Form eines Sonettes:
Quanto für l’opre tue perfecte et sante
Ti dimostran, lector, le sette donne,
Del regimento suo ferme cholonne,
Chel fan d’eterna fama triunfante.
Esempro prenda chi verrä davante
Del grau guadagno che secho portomie,
Che i cuor delli nomini tucti et de le donne
Volle, ne giammai tolse un vil bisante
Et nel novante tre dopol trecento
Et mille, resse si il Vichariato,
Che ciaschun fu da lui sempre contento.
In pace tenne tucti et in buon stato;
Fu in sua chorte ciascun vitio spento,
Tenendo le virtü, che vedi, a lato.
Onde sempre obbligato
Glie ciascheduno, et grandi et piccholini,
E, per suo amore, a tucti i Guicciardini.
Doch nicht nur mit halb verwischten Freskogemälden
des Trecento oder mit Kunstwerken, deren Inschriften
fesselnder sind als ihre Darstellungen, müssen wir
uns hier begnügen. Ein Stück bisher unbekannt
gebliebenen Quattrocento tritt unverhoffter Weise in
San Miniato uns entgegen. Nicht grosse Namen
schlagen an das Ohr, nicht grosse Kunst, zu der wir
wallfahrten gehen, wird uns geboten — aber doch
reines und unverfälschtes Quattrocento, florentiner
Schulgut, das uns zeigt, wie die Centrale die Provinz
versorgt hat. (Fortsetzung folgt.)
1) Über das Blosslegen trecentistischer Freskomalereien
in S. M. vergl. Arte e Storia 1898 (XVII), p. 112 und
1899 (XVIIl), p. 120.
DER FARNESISCHE STIER
UND DIE DIRKEGRUPPE DES APOLLONIOS UND TAURISKOS
ein Brief an GEORG TREU in Dresden
zii seinem sechzigsten Geburtstag am 2g. März igoj
ZU diesem Ehrentage bringen Ihnen, verehrter
Freund und bester Nachbar, die Bewunderer
Ihrer vielseitigen und segensreichen Thätigkeit,
von zünftigen Archäologen bis zu führenden Meistern
der lebenden Kunst, im Lande Sachsen, im Deutschen
Reich und Sprachgebiete, wie in der übrigen weiten
Welt, eine für Sie passendere Festgabe dar, als es
einer von den üblichen Miscellanbänden wäre. Dass
aber doch auch der Gruss des ehrsamen Hand¬
werks, von dem Sie ausgegangen sind und dem Sie,
bei allem Wirken für unser modernes Kunstleben, treu
bleiben, nicht ganz fehle, legt hier der nächste dazu,
der Ihre Feste dankbar mitzufeiern so viel Grund hat
wie wenige, Ihrem wohlwollenden Kennerauge wieder
einmal einen kleinen Beitrag zur griechischen Kunst¬
geschichte vor. Er hofft, es sei diesmal mehr als
eine blosse Vermutung, nämlich die Zusammenfassung
längst vorhandener Ansätze zum Beweis einer wert¬
vollen und erfreulichen Wahrheit. Dass es sich um
ein Denkmal handelt, welches von jeher auch die
allgemeine Kunstwissenschaft beschäftigt hat, recht¬
fertigt die Veröffentlichung in dieser Zeitschrift.
Obgleich die hier vorgetragenen Gedanken eben
erst in den Übungen eines guten Jahrgangs des
Leipziger archäologischen Seminars festere Gestalt
empfangen haben, ist ihr Keim doch so alt, wie mein
Wirken hier in Ihrer Nähe. Mein erstes Amtsgeschäft
in Leipzig war nämlich, im Zusammenhänge der
vollständigen Neueinrichtung unseres Universitäts¬
museums, die Aufstellung des Abgusses vom Toro
Farnese, welchen Overbeck, einer seiner wärmsten
Verteidiger, noch kurz vor seinem Tod erworben
hatte. Mit sehr gemischten Empfindungen wies ich
dem anspruchsvollen Gipsgebirge den erforderlichen
Raum an und heute noch bleibt es mir fraglich, ob
sich nicht solch mittelgrosse Lehrsammlung, so gut
wie die reichere, von Michaelis trefflich angelegte zu
Strassburg, mit einer von den modernen Reduktionen
der Gruppe begnügen sollte, jedoch einmal vor¬
handen, überwand der unwillkommene Hausgenosse
mit der Zeit meinen von den Lehr- und Wander¬
jahren her genährten Widerwillen und erzwang die
ruhig aufmerksame Betrachtung, aus der das Ver¬
ständnis hervorgeht.
Freilich, zum Widerwillen ist Grund genug vor¬
handen. Vorab in den beträchtlichen Teilen der
eigentlichen Gruppe, die Gianbattista Bianchi, aus der
Sippschaft Guglielmo’s della Porta, und nach dem
Transport Angelo Brunelli in Neapel ergänzt haben ^).
Es sind leider noch wesentlichere Stücke der Haupt¬
personen, als die Köpfe, mit denen ein Grundmotiv:
wie der wildere Zethos das bereits an den Stier ge¬
fesselte Weib am Haare zurückriss, verloren blieb.
Dies erschloss Otfried Müller aus der genauen Nach¬
bildung der Gruppe auf dem leider fragmentierten
Cameo zu Neapel und der freieren, aber vollständigen
auf der unter Septimus Severus geprägten Grossbronze
von Thyateira in Lydien, welche beide unsere Abb. 1 1
und 12 mit dem Marmor (Abb. 13) zu vergleichen ge¬
statten -).
Doch auch die antiken Teile stimmen gar übel
zu den Ansprüchen, womit wir an ein Originalwerk
hellenistischer Virtuosen heranzutreten befugt sind.
Wie solche zumal im Drange der Konkurrenz ihres
Zusammenströmens nach der reichen verwöhnten
Weltstadt Rhodos, das uns Hiller von Gärtringen aus
den Inschriften so anschaulich gemacht hat’"), den
Meissei zu führen wussten, zeigt ja der Laokoon, den
mit Karl Robert in der flavischen Zeit unterzu¬
bringen mir um so weniger möglich wird, je
klarer ich an der Hand Wickhoff’s’’) und über ihn
hinaus, zumal am Architekturornamente, die ganz
anders geartete Grösse ihrer Kunstweise zu begreifen
glaube. Mit diesem Werke verglichen kann die Arbeit
des Stieres nur höchst minderwertig erscheinen. Am
augenfälligsten ist dies vielleicht an den Bäumen und
Tieren der Felsenplinthe, von denen die Abbildungen
— durchweg nach Photographien der Dresdener
Skulpturensammlung hergestellt — besonders 4, kaum
der Erläuterung bedürftige Proben liefern; das er¬
innert mehr an geringes Spielzeug, als an die köst¬
lich frischen Meisterstücke der Ara Pacis und der
grimanischen Reliefs'"). Doch auch die Hauptfiguren
zeigen, besonders greifbar in den virtuos angelegten
Draperien und ähnlichen Einzelheiten, eine leblosere,
geringere Mache, wie selbst gute Kopien, etwa die von
Michaelis richtig mit Dirke verglichene Ariadne '). Und
was treibt uns denn eigentlich, ein so mittelmässig
ausgeführtes Exemplar den eigenen Händen der
Meister aus Tralles zuzuschreiben? Nichts als dasselbe
»Vorurteil der Wahrscheinlichkeit«, wonach zum Bei¬
spiel der einzige Apoxyomenos der römischen Museen
für das lysippische Original gelten dürfte, wüssten
wir nicht zufällig, dass es aus Bronze war. Nein,
die in den Caracallathermen gefundene Stiergruppe
ist nichts als eine römische Kopistenarbeit, wie nach
älteren Schriftstellern Friederichs und Wolters geahnt,
M. G. Zimmermann bestimmt ausgesprochen hat^) und
172
DER FARNESISCHE STIER
Abb. I
Abb. 2
wiederholte Betrachtung jeden Kundigen überzeugen
wird.
Aber diese beiden nur allzu gewöhnlichen Arten
der Entstellung vermögen doch sonst nicht, die
mächtige, von den Hauptlinien ausgehende Wirkung
echter alter Meisterwerke ganz aufzuheben. Wie
steht es damit bei der farnesischen Gruppe? Sogar
Welcher, der begeisterte Herold ihrer ethisch-poetischen
wie künstlerischen Berechtigung, kann nicht umhin
zu gestehen, '>auf den ersten Blick mache sie immer
den Eindruck einer verworrenen aufgehäuften Masse«'').
Doch verkehrt sich ihm dieser Tadel alsbald in eitel
Lob: »Aber bewundernswürdig ist es, sobald man
nun zu unterscheiden anfängt, wie sie dann von
jedem Punkt aus, den man im Herumgehen einnehmen
mag, nur wohl zusammengehende Linien darbietet
und von jeder Seite eine Ansicht gewährt, ein Ganzes
macht, das man für eine selbständige Komposition
nehmen möchte .
So oft diese und andere Worte des edlen, alten
vates« nachgesprochen oder variiert sind, sogar von
Brunn, wenngleich von diesem mit leisem Miss¬
behagen^"), so gewiss können sie nüchtern prüfenden
Blicken nur bestätigen, was derselbe grosse Schüler
von jenem gesagt hat: »Das Auge war bei ihm nicht
für äussere scharfe Beobachtung gemacht, nicht
fixierend, sondern poetisch schauend, oder etwa die
äusseren Eindrücke so weit in sich aufnehmend, wie
sie sich mit seinen inneren Anschauungen verbanden «^^).
Oder soll es noch ein gewolltes Ganzes vorstellen,
wenn in Ansichten wie Abb. 4 von dem kompakten
Gliederwirrsal der eigentlichen Gruppe die Einzelfigur
wie ein Pfahl losgelöst dasteht?
Doch bescheiden wir uns einmal bei den vier
Standpunkten, die der Bildhauer selbst uns durch das
naturwidrige Quadrat seines Berges anweist. Da
sehen wir an der Rückseite eigentlich nur zwei sehr
verschiedene, fast gleich nichtssagende Hinterteile und
einen Baumtronk unverbunden nebeneinander. Dass
von rechts nicht viel mehr des wesentlichen und
Antiope’s Isolierung nur wenig gemildert erscheint,
lässt sich nach Abb. 4 leicht ausdenken. Nur von
links (Abb. 2) und von vorne gesehen (Abb. 1) baut
sich etwas wie ein Ganzes von geschlossenem Um¬
riss, dort mehr in rechtwinkeligem, hier in etwa
gleichseitigem Dreieck auf. Aber selbst in der für die
neuesten AbbildungeiU-) meist bevorzugten Front¬
ansicht wirkt die Gruppe nur »wie ein aus Menschen
und Tieren aufgeführtes kühnes Gebäude« (Friederichs),
das heisst allenfalls, auch dies nur ganz äusserlich
betrachtet, tektonisch, nicht plastisch befriedigend, weil
uns ein Hauptträger der Aktion, Zethos — von links
her Amphion — grössten Teils vorenthalten bleibt.
So gelangt man notwendig zu dem ungünstigen
Gesamturteil, etwa wie Friederichs und Wolters es
aussprachen: die Gruppe »hat etwas Unruhiges, über¬
all durchschneiden sich die verschiedenen Umrisslinien,
und nirgends erhalten wir ein klares abgeschlossenes
Gesamtbild«^^), oder wie es Adolf Hildebrand im
Zusammenhänge seiner Theorie fasst: »Es ist nur
die Handlung, der Vorgang, welcher die plasti¬
schen Teile zusammenhält, nicht der Eindruck einer
DER FARNESISCHE STIER
173
geschlossenen Raumeinheit« **). Diesem Mangel,
falls er besteht, vermöchte keines von den vorge¬
schlagenen Mitteln abzuhelfen. Die jüngst wieder
von Michaelis'®) empfohlene »freie Aufstellung auf
einem weiten Platze, wie vor der Orangerie in Sans¬
souci«, das heisst für Fern Wirkung, brächte nur den
tektonischen Vorzug einiger Ansichten, unter Preis¬
gabe des reichen plastischen Inhalts zur Geltung.
Und die von Karl Dilthey vermutete Erhöhung auf
der Felspartie irgend eines rhodischen Parks'*'), schon
nach dieser ganzen Voraussetzung sehr fragwürdig
und durch Analogien nur aus spätrömischen Autoren
belegt, ergäbe, wie mich unser aus Raumnot 2,10 Meter
hoch gestellter Abguss lehrt, nichts wie vermehrte
Unklarheiten.
Indes alle Klagen bestehen nur zu Recht, so lange
der quadratische Grundriss dieser römischen Kopie
als massgebende Weisung anerkannt wird. Wer
darüber hinweg mit eigenen Augen zu suchen wagt,
der findet alsbald auch hier, was allen antiken Gruppen,
sogar den gegenständlich wildesten, den Stempel bild-
mässigerGeschlossenheit aufprägt: »eine Ansicht, welche
die wesentlichen Teile vollzählig und in voller Klarheit
innerhalb ihrer Motive vereinigt«, um Emanuel Löwy’s
Worte zu gebrauchen'''). Wie vor ihm grundsätz¬
lich übereinstimmend, in der bildlichen Fassung sogar
meistens richtiger, O. Müller, Clarac, O. Jahn, Friede-
richs, Overbeck, M. G. Zimmermann und andere, noch
früher die Stecher der Renaissance, vor allen aber
die Urheber der antiken Nachbildungen (Abb. 11. 12)
gesehen haben, ist für unsere Gruppe dieser er¬
schöpfende, geringe Latitude abgerechnet, einzige
Standpunkt derjenige, von dem aus Stier und Dirke
die Mitte zwischen den symmetrisch zusammenwirken¬
den Brüdern einnehmen, fast genau in der Diagonale
des Quadrats'®) (Abb. 13).
Aber wo bleibt dabei Antiope? Ist wirklich mit
älteren Abbildungen, nach einem Fensterchen zu
spähen, um wenigstens einen verstohlenen Blick von
ihr zu erhaschen? Nein sie bleibt dort, wo sie hin¬
gehört: weg, als der sichere Kopistenzusatz, der sie
ist. Ein richtiges Gefühl davon verlockte den nur
nach Stichen urteilenden alten Heyne, sie für modern
zu halten"*). Und O. Müller hat, auch nachdem er
sich durch wiederholte Prüfung des Originals vom
Gegenteil überzeugt haben musste, sie doch kurzer
Hand abgethan als »der Bestrafung Dirke’s durchaus
fremd und vielleicht ursprünglich nicht zugehörig«.
Über diesen nicht bis zu Ende gedachten Gedanken
siegte .jedoch Welcker, trotz leisen Zweifeln von
Jahn, Brunn und Friederichs, nur allzu leicht und
dauernd mit dem Einspruch, »dass vielmehr ohne sie
die Handlung in ihrem eigentlichen Zusammenhang
und Charakter sich gar nicht vollständig darstellen
lässt und dass der Erfinder der Gruppe, der die
Antiope des Euripides vor Augen hatte, sie in einer
so reichen Komposition wie diese unmöglich auslassen
konnte«. Aber der Zusammenhang des grausigen
Strafgerichtes war ja hier, so gut wie bei den Niobiden
und dem Laokoon, jedem Kinde schon aus seinem
mythologischen Schulbuche vertraut. Und der Künst¬
ler, der sie trotzdem nicht entbehren mochte, hatte
die Pflicht, Antiope mit in den Verband der Hand¬
lung einzufügen, ln einem der Reliefs am Tempel
der pergamenischen Königin Apollonis in Kyzikos
flehte die von den Söhnen bereits an den Stier ge¬
fesselte Dirke zu ihr um Gnade “**). Auch ein pom-
pejanisches Wandgemälde'") (Abb. 3) lässt die Mutter
von Mitleid ergriffen zwischen den einen Sohn und
die Feindin treten, obgleich es die Gruppe der Letz¬
teren einem älteren Rundwerke nachbildet, von dem
noch die Rede sein wird (Abb. 6). ln einem apulischen
Vasenbild eilt sie hinweg von den Rachethaten ihrer
Kinder-*'). Sogar unweiblich, nach Art euripideischer
Furien dazu aneifernd oder ihre Zustimmung äussernd,
wäre sie erträglicher, wie als müssig seitab stehende
Zuschauerin. Wie sie zur bildnerischen Einheit der
Gruppe steht, sagt Abb. 4 besser als Worte.
Das alles den genialen Schöpfern einer so kühnen
Komposition aufzubürden, entfällt jeder Anlass, nach¬
dem das vor uns stehende Exemplar auf anderem
Weg als Kopie erkannt ist. Und als rechte Kopisten-
zuthat vollends entlarvt wird die Statistin endlich
durch wenigstens vier selbständige Wiederholungen
desselben statuarischen Typus, von denen eine, in
den Uffizien stehende, hier abgebildet ist-®) (Abb. 5).
In etwas älterer Fassung, mit willkürlich verändertem
Oberkörper und Kopfe, hat ihn ein geistesverwandter
Bildhauer in der Neapeler Gruppe mit dem Stephanos-
jüngling verkuppelt^').
DER FARNESISCHE STIER
Abb. 4.
Antiope fehlt also nicht von ungefähr in den
antiken Nachbildungen der Gruppe und, was auch schon
Heyne geltend machte, bei Plinius in der lakonischen
Beschreibung des Originals: Zethus et Amphion acDirce
et taurus vinculumque ex eodem lapide, wo nament¬
lich dieses beim Laokoon wiederkehrende Lob Voll¬
ständigkeit der Aufzählung zwingend voraussetzt
Mit Antiope fällt der eigentliche Stein des An-
stosses, der quadratische Grundriss, in welchen der
Kopist die Gruppe hineinzwängte, um sie zum
Mittelstück eines Raumes, wenn die Durchbohrung
des Stiertronks antik ist, zu etwas wie einem Brunnen-
aufsatze tauglich zu machen. Dabei hat er die
Spuren der einstigen Orientierung nicht ganz getilgt.
DER FARNESISCHE STIER
175
Der Abhang hinter Amphion und dem Stier ist, als
Hypotenuse die dreieckige Standfläche der Figurantin
abschneidend (Abb. 4), unverkennbar ein Rest des
einstigen hinteren Plinthenrandes, auf den die Blick¬
richtung der Hauptansicht ungefähr im rechten Winkel
trifft. Und vorne geht ihm parallel die Bodenstufe, worauf
Dirke sitzt (Abb. 13). Ihre ursprüngliche Fortsetzung
nach rechts bezeichnet die Gewandpartie, die jetzt
so unwahrscheinlich zufällig über die runde Ciste
herabhängt und deren aufdringlich detailliertes Flecht¬
werk nach dem richtigen Standpunkte hin gänzlich
verbirgt. — Dass auch
beiderseits unter den
Füssen der Brüder der
Felsboden sich ursprüng¬
lich etwas weiter nach
vorn erstreckt haben
muss, ist namentlich beim
Amphion klar. »Wir
verstehen weder, wie der
Jüngling bei dem hefti¬
gen Kampfe mit dem
Tiere auf zwei so hohe
[und gar so dünne] Fels¬
zacken hat gelangen kön¬
nen, noch wie er sich
jetzt dort zu halten ver¬
mag« (Wolters). Im
Originale war seine Stand¬
fläche gewiss breiter und
einheitlicher. Die Grube
zwischen den Füssen des
Jünglings schuf dem
Kopisten nur mehr Raum
für dessen Leier, welche
die sonstigen Darstellun¬
gen des Vorgangs mit
Recht aus diesem wilden
Spiele lassen. Sie verrät
sich als Zuthat noch da¬
durch, dass sie genau
nach der neuen Vorder¬
ansicht Front macht (Abb. 1) und an dem künstlerisch
gar nicht vorhandenen Tronk lehnt. Mit diesem Not¬
behelfe könnten übrigens Apollonios und Tauriskos
etwas sparsamer umgegangen sein. Wie viel ohne
ihn möglich war, lehrt die weiter unten erwähnte
Jacobsen’sche Originalgruppe.
Die schwanke Stellung Amphion’s auf solchem
Boden wirkt um so peinlicher, als sie zugleich den
Burschen zu seinen Füssen ernstlich bedroht (Abb. 13).
Wer ist das und was sucht er hier? Mit Levezow und
Jahn vermutet Friederichs in ihm »den Gott des Berges,
denn allerdings nur ein solches Wesen, das am Boden
haftet, wie Fluss- und Berggötter, kann bei diesem
Schauspiel ruhig dasitzen«. Thatsächlich ist, im Wider¬
spruche mit seiner Natur, der Kithairon auch als Jüng¬
ling gedacht worden. Und die nach Abzug von
Kopftypus und Pinienkranz genau mit Dionysos¬
bildungen, wie auf einem athenischen Relief^"), über¬
einstimmende Erscheinung könnte ihn bezeichnen als
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 7.
Teilnehmer des bacchischen Festes, an dem das Er¬
eignis stattfindet. Aber dem grossen Monumentalstile
des Werkes gemäss wäre nur dieselbe Gleichstellung
der zuschauenden Ortsgottheit mit den übrigen Ge¬
stalten, wie sie dem mutmasslichen Kaukasos in der
etwas älteren Prometheusgruppe von Pergamon, falls
er wirklich dazu gehört, zu Teil geworden ist-*).
Unser winziges Kerlchen aber kann wieder erst der
römische Bildhauer aus dem dadurch so masslos dünn
gewordenen Felsen herausgeholt haben, gleich der
Antiope nach einem guten Vorbilde, welches jenem
Dionysosrelief ähnlich war, nur mit Hinzufügung
der im Verhältnis zu seiner ruhigen Haltung stark
übertriebenen, von Winckelmann richtig mit dem
ältern Laokoonsohne verglichenen Schmerzensmiene -■').
Welcher traf unbewusst das Rechte, wenn er die Figur
angebracht fand »wie neben einer Statue ein Attribut
am Tronk«. Ihr Zweck ist offenbar, in der neuen
Vorderansicht (Abb. i) dem links herabhangenden
Beine Dirke’s die Wage zu halten.
Diese weitere Zuthat gehört zusammen mit dem
ganzen Paradeisos voll allem erdenklichen Getier in
den verschiedensten Proportionen und Situationen,
welche der Kopist auf den drei anderen Hängen
seines quadratischen Berges ausgebreitet hat*'*). Auch
ihn fand schon Heyne sehr richtig des alten Kunst¬
werks unwürdig. Dass »diese kleinliche und über¬
ladene Ausstaffierung« (Dilthey) gewänne, wenn der
schlecht nachgeahmte Fels hoch auf wirklichen auf¬
gesetzt würde — was schon oben aus anderen Gründen
abzulehnen war ist schwer zu glauben. Diese
eigentlich nur von Welcher matt genug verteidigte
Leistung weiter dem Apollonios und Tauriskos auf¬
zubürden, ist jetzt um so weniger ein Grund, wenn
Wickhoff richtig das selbständige Landschaftsrelief
mit Tierstaffage aus der hellenistischen Periode hinaus¬
gewiesen hat. Das einschlägige Hauptwerk der letzteren,
der Telephosfries, verrät ja zwar eine mächtige Er¬
weiterung des landschaftlichen Wollens und Könnens
im Vergleiche zu den klassischen Jahrhunderten, aber
er beschränkt sich noch streng auf das, was zur Ver¬
anschaulichung des Schauplatzes nötig ist, sogar ohne
grosse Lücken zu scheuen*^). Dagegen finden sich
Felspartien nach Art unserer Plinthe mit allem, was
darauf wächst und lebt, bis zu den kleinen Orts¬
gottheiten, sowie dieselben Staffagestücke, die ge¬
flochtene Ciste und der Thyrsos, dessen Spitze den
Pinienzapfen durchbohrt, ganz ähnlich, nur in kleinem
Massstabe viel erfreulicher, in spätantoninischen Sar¬
kophagreliefs wieder*-).
Für die Hauptansicht ist das alles überflüssig oder
störend. Beiderseits von dem festonartig herab¬
wallenden Gewände Dirke’s, besonders an den Ecken,
verlangt das Auge ruhigen, festen Grund zu sehen.
Rechts aber, wo er sich zu weit dehnen würde, über¬
schneidet ihn der ex unguibus sicher ergänzte Hund.
Er ist, wie diesmal Welcher mit Recht gegen Heyne
bemerkte, sachlich am Platz als der auch im Spada¬
relief**) zur Charakteristik des Zethos verwandte Ge¬
nosse des rauhen Jägers, dessen Beginnen fördernd er
nach Art von Metzgerhunden den Stier von vorn an-
23
DER FARNESISCHE STIER
1 76
Abb. ö. Kleine Mannorgnippe
Rom, Via Margutta
belli, um ihn zurücklialten zu helfen. Seinesgleichen
und andere Tiere wirken ja auch im pergamenischen
Gigantenkampfe mit den Herren zusammen. Seine
künstlerische Notwendigkeit wird sich uns später
heraussteilen.
Die hier vorerst bloss mit Worten angedeutete
Säuberung des Meisterwerkes von alle dem, was
der römische Kopist ihm angeheftet, sowie die
schwierigere Herstellung dessen, was er und der
neuere Ergänzer verfälscht haben, am Abgusse wenig¬
stens einer modernen Reduktion gründlich durchzu¬
führen, ist eine würdige Aufgabe derjenigen Art plasti¬
scher Chirurgie, die mit frischem Mut und schönen
Erfolgen in früher unerhörtem Mass anzuwenden eine
der vorbildlichen Seiten Ihrer Dresdner Museums¬
verwaltung ist. Auch jetzt indes kann der von
falschen Ergänzungen abzusehen geübte vom richtigen
Standpunkt aus ahnen, wie Herrliches die Meister
von Tralles geschaffen haben. Dies mit Benutzung
alles von Vorgängern Dargelegten, aber zeitgemäss voll¬
ständiger auszusprechen, lassen Sie mich zum Schlüsse
versuchen. Sie wissen ja, dass mir die Geschichte
der statuarischen Gruppe besonders am Herzen liegt,
seit mir die schöne Aufgabe zu Teil geworden, das
heilige Original einer neuen aus der Zeit etwa der
Niobiden: Artemis mit dem Hirsche zur Rettung
Iphigeniens herbeikommend, aus zwei Torsen Dr. Karl
Jacobsen’s in Kopenhagen und vielen mühsam wieder¬
gefundenen oder nachträglich ausgegrabenen Bruch¬
stücken aufzubauen
Der Gegenstand der Stiergruppe ist eine Sage,
mit deren Grausamkeit wir nicht zu rechten haben.
Sie wird, gleich vielem Ähnlichen, in alten religiösen
Vorstellungen wurzeln. Die vom Stiere geschleifte
Quellgöttin Dirke gehört vermutlich neben den Quell¬
dämon Silen, mit dem der Mannstier Acheloos
und in grösserem Abstande neben den Sonnen¬
gott Mithra, mit dem der Vegetationsstier durch-
geht'^*'). Vermenschlicht und mit dem Sagenkreise
der thebanischen Brüder verknüpft wurde diese Vor¬
stellung zum furchtbaren Schlusseffekt einer Novelle,
welchen die Poesie, namentlich Euripides, romantisch
und ethisch soweit verklärte, die Kunst den Augen
so geläufig machte, dass ihn König Attalos II. von
Pergamon am Tempel seiner edlen Mutter Apollonis
ln Kyzikos unter den Beispielen von »philometria«
darstellen Hess. Unter den von Jahn und Dilthey^')
trefflich gesammelten und geordneten Bildwerken
zeigen die dem Werke des Apollonios und Tauriskos
vorausliegenden oder sonst unabhängigen wesentlich
zwei Momente des Vorgangs.
Zuerst griff die Kunst nach dem bezeichnenden
Schlussakte, dem Keim der Sage. Allein das mit
Dirke hinrasende Tier wirkt nur als brutales Elementar¬
ereignis, ohne die Bedeutung des Vorgangs als Straf¬
gericht anschaulich zu machen, selbst wenn Neben¬
figuren sie dem Wissenden ins Gedächtnis rufen.
Dennoch ist, wie beim Laokoon, auch er zum Gegen¬
stand einer statuarischen Darstellung geworden, in
dem Originale der an Skopas erinnernden kleinen
Gruppe zu Rom, deren Kenntnis Heinrich Bulle ver¬
dankt wird'^^) (Abb. 6). Richtig wählte ihr Schöpfer
nicht die flüchtige Bewegung, sondern ihren ruhigen
Ausgangspunkt, wo dem phlegmatischen Buckelochsen
die hilflos an ihm herabhangende, mit der Linken an
der Fessel Halt suchende Frau lästig zu werden be¬
ginnt, dass er stutzend den Kopf senkt und mit dem
Schwänze den Rücken schlägt. Es ist die angstvolle
Rühe vor dem Losbrechen, ein »Ethos« im strengen
klassischen Geschmack.
Je grösseren Raum aber das bewegte Pathos ge¬
wann, um so mehr drängte die furchtbare Vergeltungs-
that selbst zur Darstellung. Der empörende Anblick
starker Männer, die ein schwaches, nur aus der Dichtung
als schuldig bekanntes Weib so grässlichem Tode
preisgeben, ward erträglich durch die für Griechen
vermöge tausendjähriger Überlieferung noch ganz
anders als für uns erhebende Leistung »des helden¬
haften Kampfes mit dem Stiere« , die nicht bloss
»Leiden und Mitleiden zurücktreten« lässt (Dilthey),
sondern in ihrer gefahrverachtenden Kühnheit selbst
dem Unkundigen dafür bürgt, dass es eine Leiden¬
schaft von mächtigem Ernst ist, was so edle Jüng¬
linge zu solchem Thun antreibt. Dies war auch das
Thema des Reliefs am Tempel der Apollonis, wo
freilich die Gegenwart der Mutter noch bestimmter
an die sittliche Begründung des Strafgerichts erinnerte
(S. 173 r.). Unter den erhaltenen Darstellungen, soweit
sie von unserer Gruppe unbeeinflusst sind, fehlt von
ihren Motiven kaum eines ganz. Aber wie sie in
ihr, soviel bekannt zum ersten Male, von der Fläche
losgelöst in voller Körperlichkeit ineinandergreifen,
das ist eine Neuschöpfung von unwiderstehlicher
Überzeugungskraft.
Das königliche Weib, gleich den Lapithenmädchen
in den Ecken des olympischen Westgiebels vom
früheren Widerstreben halb entblösst, ist — so lehrten
uns die kleinen Nachbildungen — bereits an den
Stier gefesselt und niedergeworfen auf den Boden,
über den er sie hinschleifen wird. Haltlos hängt der
linke Fuss den Felsrand hinab, an dem der rechte
mit vergeblicher Anstrengung noch Stand zu fassen
sucht. Denn mit eisernem Griffe seiner Linken hält
sie der wilde Zethos am Haare nieder, während die
rechte Hand noch die letzte Schleife festzieht. Aber
DER FARNESISCHE STIER
177
Abb. 7. Laokoon ohne die Ergänzungen
angefügte Glieder, Werkzeuge, Waffen, Attribute jeder
Art — wozu selbst kleine Nebenfiguren, wie das
Kind auf dem Arme der Eirene und des Hermes,
zählen können — , ohne seine körperliche Einheit zu
stören. Und darüber hinaus kann er sich vorüber¬
gehend mit anderen ähnlichen Wesen, sei es in Gleich¬
berechtigung, sei es in Über- und Unterordnung, ver¬
binden zu einem neuen, komplizierten Mechanismus
von mehr oder minder enger Geschlossenheit, worin
ähnlich wie im Einzelleibe, nur mannigfaltiger, ver¬
schiedene Kräfte zusammen und gegeneinander wirken.
Ist nun so ein zusammengesetzer Mechanismus in
Ruhe oder innerhalb seiner Bewegung in einem Gleich¬
gewichtszustände von hinreichender Dauer sichtbar,
also auch vorstellbar, dann bildet er den Gegenstand
einer plastischen Gruppe im vollsten Sinne des Wortes.
Dass letzteres auf unseren Eall zutrifft, erhellt aus dem
bereits gesagten.
Aber nun gilt es erst, »die Einheit der Funktions¬
werte als Einheit der Raumwerte zu fassen« (Hilde¬
brand S. 104); denn »eine Gruppe im künstlerischen
Sinne beruht nicht auf einem Zusammenhänge, der
durch den Vorgang entsteht, sondern muss ein Er¬
scheinungszusammenhang sein, welcher sich als ideelle
Raumeinheit gegenüber dem realen Lufträume be¬
hauptet« (S. 108). Damit meint bekanntlich Hilde¬
brand die Einigung der dreidimensionalen Körperlich¬
keit in der Reliefanschauung des zweidimensionalen
Fernbildes. Ob diese Forderung seiner scharf durch-
das scheuende Tier bräche zu früh los,
wenn nicht, von dem bellend anspringen¬
den Hund unterstützt, Amphion mit Zu¬
griffe und, auf höhern Felsabsatz empor¬
gesprungen, es am Horn und der em¬
pfindlichen Schnauze zurückhielte. Dem
so scheinbar das Verderben im letzten
Augenblicke noch hemmenden, mildern
Bruder wendet sich Dirke mit letztem
jammernden Gnadeflehen erfolglos zu.
»Es ist wie eine Mine, die im Losgehen
begriffen ist« (Welcher); und »dennoch
bleibt der beflügelten Einbildungskraft
zwischen dem veranschaulichten Moment
und der Verwirklichung des Entsetzlichen
noch eben Raum genug« (Dilthey).
Diese letzte Pause innerhalb der atem¬
los verwärtsstürzenden Handlung hat auch
statisch betrachtet hinreichenden Bestand,
um ihr Festhalten im Rundwerke glaub¬
lich erscheinen zu lassen. Dennoch
ist die Gruppe wiederholt, zuletzt mit
besonderem Nachdruck von CoIIignon,
malerisch genannt worden. Davon bleibt,
auch nach Entfernung all der Kopisten¬
staffage der Plinthe, so viel bestehen, dass
sie anstatt des ursprünglichen ebenen
Idealbodens der Plastik drei verschie
dene Terrainstufen benützt; die oberste,
noch in sich von den Hinterhufen des
Stieres zu den Füssen Amphion’s stark
ansteigende; die mittlere, worauf Zethos
steht und Dirke sitzt; die tiefste, ursprünglich
wohl mit der Oberkante der Basis zusammenfallende,
wo der Hund steht und Dirkes linker Fuss hinab¬
hängt. Die Gestaltung dieser drei Absätze war im
Originale gewiss einfacher als in der Kopie. Immer
freilich gehörten sie zu den Naturformen, die in der
Malerei ganz anders zu Hause sind, wie in der Plastik.
Aber darum sind sie ihrem Wesen nach noch nicht
schlechthin unplastisch und der Zweck, dem sie hier
dienen, ist es auch nicht recht. Sie taugen nämlich
schlecht dazu, gleich dem Fels der Antiochia von
Eutychides'^®) oder dem Altar des Laokoon, den un¬
mittelbaren Schauplatz anzudeuten; so steil abfallende
Stufen sind doch kein Boden, über den ein Stier hin¬
rasen könnte, weshalb ihm denn auch von der Gruppe
nicht abhängige Wandgemälde (Abb. 3) glattere Lauf¬
bahn geben und die Beschreibung des kyzikenischen
Reliefs nur von Buschwerk spricht. Dagegen wirklich
zweckmässig, ja unentbehrlich sind sie für den Hoch¬
bau der Figuren über- und untereinander. Dessen
Fügung aber fällt meines Erachtens im wesentlichen
unter den Begriff der plastischen Gruppe, über den
ja neuerdings wieder mehrfach verhandelt worden isP^).
Schon der Hauptgegenstand der Plastik, der
Menschenleib, ist kein Körper in stereometrischem Sinne,
kein »Mal«, sondern ein organisch tektonisches System
von mannigfach geformten, beweglichen Teilkörpern,
ein lebendiger Mechanismus. Dieser Mechanismus ver¬
mag sich zeitweilig zu erweitern durch äusserlich
23
DER FARNESISCHE STIER
17S
dachten Theorie allen historisch bedeutenden Er¬
scheinungen, einschliesslich des Apoxyomenos, ent¬
spricht, kann hier dahingestellt bleiben. Für die
statuarischen Gruppen des Altertums gilt sie wenigstens
insofern, als diese, wie schon oben (S. 172 1.) gesagt
ist, so gut wie durchweg auf eine alles gegenständlich
Wesentliche in klarster Ausprägung für einen Blick
zusammenfassende Hauptansicht angelegt sind, mögen
sie nach der dritten Dimension in reliefmässiger
Flachheit beharren, wie der Laokoon (Abb. 7), oder
durch grösstmögliche Tiefenentfaltung mehrere lehr¬
reiche und reizvolle Nebenansichten darbieten, wie
Menelaos mit der Leiche des Patroklos. Für dieses
Wunderwerk nachlysippischer Gruppenbildung, das
uns erst Ihre Rekonstruktion, obschon noch nicht
ganz abgeschlossen, recht kennen gelehrt hat, sei
hier die Vorherrschaft der Hauptansicht (Abb. 8)
durch deren Zusammenstellung mit zwei weiteren, aber¬
mals Ihrer Güte verdankten Aufnahmen (Abb. g. 10)
anschaulich dargethan^-).
Was diesen beiden untereinander so
verschiedenen Beispielen antiker Grup¬
penplastik gemein ist, erinnert uns zu¬
gleich an ein weiteres Hauptmittel, wo¬
durch sich solch »ideelle Raumeinheit
gegenüber dem realen Luftraum be-
hauptet< , also die Funktion erfüllt wird,
die beim Relief und Bilde dem Rahmen
zufällt. Es ist der Aufbau nach Art
tektonischer Körper«, der »dem Ganzen
wieder die bleibende Existenzberech¬
tigung, den Wert selbständiger Behar¬
rung sichert« (Schmarsow S. 1 34 f.). So
gern ich mir diese treffenden Worte für
einen richtigen alten Gedanken aneigne,
so wenig kann ich zugeben, dass damit
zugleich »ein Abweg vom rein plasti¬
schen Wesen« bezeichnet ist. Gehört
doch auch der Mechanismus unseres
Körpers in dem hier in Betracht kom¬
menden Sinne ganz ausgesprochen unter
die »gesetzmässigen Gebilde der Tek¬
tonik«, sowohl in der Ruhe, wie in den
Gleichgewichtszuständen der Bewegung,
deren feste Basis, die auseinander treten¬
den Beine, wie sie Rodin’s Täufer in
monumentaler Schlichtheit veranschau¬
licht^’^), das Grundmotiv der für Grup¬
pen so beliebten Dreieckform angeben.
Ausser im Aussenkontur drückt sich der
tektonische Aufbau in wirksamer Wie¬
derholung der Hauptrichtungen der Glie¬
der aus, demselben Parallelismus der
Achsen, der auch stark bewegten Einzel¬
gestalten, wie dem neulich erst von Strzy-
gowski daraufhin gewürdigten Diskos-
werfer“^') den Stempel der Beständigkeit
aufprägt. Laokoon und Pasquino zeigen
auch das in voller Klarheit.
Der Gruppenbau unterliegt natür¬
lich denselben zwei Forderungen,
welche die antike Theorie so gut an Standbilder
und Gemälde, wie an Tempel und Kriegs¬
maschinen stellte: der der Symmetrie und der
Eurhythmie oder des Rhythmus schlechtweg^’^). Sym¬
metrie besagt hier Proportionalität, das heisst die auf
einem in dem Gebilde selbst enthaltenen Grundmasse
beruhende Harmonie der Teile miteinander und mit
dem Ganzen, also zunächst nicht dasselbe, was der
Ausdruck uns bedeutet, nämlich die genaue Responsion
zweier Hälften zu beiden Seiten eines Mittelschnittes;
wobei jedoch nicht übersehen werden darf, dass diese
Art Symmetrie bei Formen, denen sie zukommt, wie
dem Menschenleib oder der Tempelfront, auch in
dem antiken Begriffe mitenthalten ist. Die Eurhythmie
dagegen besteht in gewissen freien Abweichungen
von der symmetrischen Gesetzmässigkeit, wodurch
erst die lebendige Schönheit der Erscheinung her¬
vorgebracht wird. Dies thut die Architektur, in¬
dem sie »die Eigenschaften des Auges berücksichtigt
und danach strebt, dass Ungleichheiten, die sich bei
DER FARNESISCHE STIER
179
Abb. Q
strenger Durchführung der Symmetrie für den Anblick
ergeben, der Physiologie des Auges zuliebe durch
Änderungen oder Abweichungen von der Symmetrie
beseitigt werden, wie z. B. bei der Kurvatur oder der
Verstärkung der Ecksäulen« (Puchstein ■‘®). Auch in
der Plastik sind solche Veränderungen der gegebenen
»Daseinsform« in eine dem Bedürfnisse des jeweiligen
Zusammenhanges angepasste »Wirkungsform«, wie
Hildebrand (Kap. 11) sagt, schon den Alten wohl-
bekannt gewesen. Allein in dem Sprachgebrauche
der auf Xenokrates, einen Enkelschüler Lysipp’s,
zurückgehenden Reihe von Künstlercharakleristiken^')
bedeutet Rhythmus (lateinisch numerus) die Ab¬
weichungen der bewegten Körperform von der sym¬
metrischen der Ruhelage. Rein symmetrisch ist die
archaische Statue; die Brüder Rhoikos und Telekles
sollen die zwei genau zusammenpassenden Hälften
eines Apollon mit Hilfe des ägyptischen Proportions¬
systems an verschiedenen Orten zu arbeiten vermocht
haben ■‘*). In der erst mit Phidias anhebenden Ent¬
wickelungsreihe des Xenokrates wird dann natürlich
Symmetrie und Rhythmus gesondert charakterisiert.
Der erste darin wirklich anerkannte Meister statuarischer
Kunst, Polyklet, hat zu schwere Proportionen und in
der stark betonten Unterscheidung von Stand- und
Spielbein zu einförmigen und ruhigen Rhythmus.
Ihm sind Myron und Pythagoras, die darum irrig
für jünger gelten, überlegen durch ihre schlankeren
Gestalten und mannigfaltigeren Bewegungsmotive.
Abb. 10
Doch alle lässt Lysipp hinter sich mit seinen eleganten
Figuren, die er in den flüchtigsten und feinsten Er¬
scheinungsmomenten (quales viderentur esse) zu fassen
weiss, wie den erhitzt transspirierenden, flimmernd
oscillierenden Apoxyomenos, neben dem in der That
ältere Werke, zumal die polykletischen, nichts als die
ruhende Daseinsform (quales essent homines) darzu¬
bieten scheinen'^®).
Solches Einordnen in eine Reihe gleichartiger
Werke wäre die Vorbedingung einer vollen kunst¬
geschichtlichen Würdigung unserer Gruppe. Es würde
zeigen, wie die griechische Kunst auch hier mit
schematischer Symmetrie begann, um sich langsam
zu so freiem Rhythmus emporzuarbeiten. Da jedoch
diese Ahnenreihe nur umständlich durch Heranziehung
geringer Werke tektonischer Kleinplastik oder der
Reliefkunst einigermassen vollständig hergestellt werden
könnte, muss ich mich hier auf eine bloss das Nächst¬
liegende vergleichende Würdigung nach den ange¬
führten Grundsätzen beschränken.
Den verwegenen Aufbau schliessen fest und ruhig
gleich Eckpfeilern die beiden Träger der Handlung,
die thebanischen Dioskuren, zusammen durch die Zug
um Zug, bis in die Haltung der Arme genaue
Responsion ihrer Bewegung. Wie schon bei den
Vorkämpfern des Äginetengiebels belebt diese Ein¬
förmigkeit der Wechsel zwischen Vorder- und Seiten¬
ansicht. Mit starkem Rhythmus wird die Symmetrie
gelockert durch den bedeutend höhern Standplatz
i8o
DER FARNESISCHE STIER
Amphions, ähnlich, aber noch mehr, wie im Laokoon,
wo der kleinere und minder aufgerichtete Bruder auf
die Altarstufen gehoben ist. In beiden Eällen gilt
es, der Verschiebung des Mittelgliedes aus der Senk¬
rechten wie mit einer Strebe zu begegnen. Dort
aber beschränkt sich diese Schrägstellung wesentlich
auf die Bi in.- des Vaters, während sein überragender
Oberleib, venn schon gekrümmt, doch mit der Sehne
seine,> iks /eiis wieder einlenkt in die Vertikale, die
in >'-s iV'aben vurherrscht. Hier dagegen waren
Ci. Eck reiU-r an sich stärker zu nehmen und der
i-s-chie A) viel höher zu führen, weil gerade oben
-■ iimen die weit schräger liegende Masse des
domir.iert. Nur sein Hals schliesst sich, der
ikfiüv. gemäss, an die wenig auswärts geneigte
v.chsv- des Amphiontorsos parallel an. Die volle
vertikale, die am Stiere bloss in den Umrissen der
Brust, namentlich der Wamme, schwerlich auch in
den — sicher parallel zu ergänzenden — Vorder¬
beinen, anklingt, übernahm unten zwischen den gegen¬
einander geneigten Beinen derjünglinge die Herrschaft
in dem nackten Oberleibe der leidenden Hauptperson,
welcher einst, am Haare zurückgerissen, mehr als der
ergänzte aufgerichtet war, so zugleich die baumähn¬
liche Stütze des Tierbauches, deren selbst die Pferde
des Parthenonwestgiebels nicht entbehrten’’“), glücklich
maskierend. Dieses stark betonte Mittellot setzte sich
nach oben, wenn wir dem Cameo (Abb. 12) trauen,
in Dirke’s steil erhobenem rechten Arm ähnlich fort,
wie abwärts in ihrem herabhangenden Bein. Das
rechte hingegen nimmt nochmals die Schräge des
Stierkörpers auf, welcher aber hier die des anderseits
ansteigenden Hundes die Wage hält, um im Funda¬
mente nochmals die Symmetrie des ganzen Aufbaues
zu betonen und dabei, durch tieferes Herabhängen
dieser rechten Dreieckseite, die Verschiebung des ent¬
sprechenden Umrisses der ganzen Gruppe nach oben
etwas zu kompensieren. Dies die so klare wie
reiche Symmetrie und Eurhythmie des tektonischen Ge¬
rüstes, dessen ruhige Geschlossenheit doch dem Feuer
der Bewegung nicht den geringsten Eintrag thut.
Nicht minder vollendet dünkt mich die plastische
Tiefenführung . Die Brüder, mit den Beinen in
einer Ebene gegeneinander tretend, bilden mit ihren
leicht nach aussen weichenden, parallel halblinks ge¬
drehten Leibern den schräg nach vorn und rechts
offenen Thorweg, aus dem, sobald die leichte Barre
der einander zugestreckten Arme fällt, der wilde Stier
hervorbrechen wird. Das drückt nur die starke Ver¬
kürzung, worin ihn die Hauptansicht zeigt, mit grösst-
möglicher Kraft aus. Aber es ist keine von den
peinlichen, die »von hinten nach vorn abgelesen«
durch solches »Nachvornstreben dem gesamten Be¬
wegungsgefühl nach der Tiefe des Bildes entgegen¬
wirken' (Hildebrand S. 62). Die vorderen Teile des
Tieres mit seinen ausdruckvollsten Formenmerk¬
malen« halten sich streng innerhalb der durch die
beiden Arme klar bezeichneten Vorderebene, von der
aus uns die Linien seines Körpers durch die schräge
Gasse hindurchführen bis hinab zu dem rückwärtigen
Hufe, der zwischen den Füssen des Zethos so recht
im Hintergründe sichtbar wird, »was den Blick und
die Tiefenvorstellung stark nach hinten zieht« und
die Verkürzung »in die allgemeine Tiefenbewegung
einreiht«. Dass die plastische Gestaltung des Stieres
ganz auf diese eine Wirkungsform« berechnet ist,
lehrt der wenig günstige Eindruck anderer Ansichten
wie Abb. 1 und 2.
Dirke dagegen bleibt ebenso richtig draussen vor
dem Thore. Von den ergreifend ausdrucksvollen
Bewegungen ihrer Glieder darf nichts verloren gehen.
Und sie ordnen sich bei aller Lebhaftigkeit mit sehr
geringer Tiefenentfaltung in eine Fläche zusammen,
wie die Seitenansichten (Abb. 2 und 4) erkennen lassen.
Dieselben lehren freilich auch, wie weit die Figur von
dem mittleren Reliefplan der Jünglingsbeine weg nach
vorne gerückt ist. Aber es leuchtet sofort ein, dass
dies wiederum nur zu den plastisch unsinnigen Folgen
der Übertragung unserer Gruppe auf das Prokrustes¬
bette des quadratischen Grundrisses gehört. Nichts
hindert, Dirke bis an den Stiertronk und das rechte
Bein des Zethos zurückzuschieben, wie es schon die
Statik und Ökonomie der Marmorarbeit verlangt. Dann
treten die vordersten Punkte ihres Reliefs kaum weiter
heraus, als über ihr Stirn und Hufe des Rindes,
wodurch zugleich das drohende Verderben noch an¬
schaulicher wird. Nicht stärker ist der Leichnam des
Patroklos, der unten weit vor die Beine des Menelaos
gerückt ist, oben durch dessen übergreifenden Arm
und herausgedrehten Kopf in die Bildfläche der Haupt¬
ansicht eingefasst (Abb. 8 und 10).
So betrachtet und hergestellt dürfte das Werk des
Apollonios und Tauriskos sogar den Forderungen
Hildebrand’s genug thun. Denn sein Urteil, »auch
da wäre die künstlerische Form für den gewünschten
Inhalt eine Reliefdarstelluiig gewesen« (S. 108), beruht
offenbar auf den hier beseitigten Voraussetzungen.
Gewiss Hesse sich die Gruppe mit geringen Ände¬
rungen ins Relief projizieren, wie der Laokoon, der
myronische Diskoboi und noch manches antike Rund¬
werk. Aber ebenso gewiss ist die volle Körperlich¬
keit ein unentbehrliches Mittel zum Zwecke der über¬
wältigenden Lebenswahrheit, welchen die Künstler
wollten und erreichten, ohne sich der unumgäng¬
lichen Forderung, den reichen Mechanismus von Ge¬
stalten zur übersichtlichen, tektonischen »Raumein¬
heit« zusammenzubauen, im mindesten zu entziehen.
Wie sie das vollbracht haben, lehrt uns aufs neue,
dass keine Periode der Kunstentwickelung eines wahr¬
haft begabten Volkes schlechthin unproduktiv ist, auch
nicht diese späthellenistische Zeit, wo sich sonst der
rückwärtsschauende Klassizismus neben den Ausläufern
des griechischen Barockstiles breit macht. Und noch
eines lehrt der Toro, wie wir ihn angesehen haben,
sicherer als früher: dass in der Geschichte der sta¬
tuarischen Gruppenbildung er und der Laokoon dicht
beieinander, ersterer wohl etwas später, anzusetzen
sind.
Damit schliesse diese rasch hingeworfene, für
einen Geburtstagsbrief aber schon etwas lang ge¬
ratene Skizze. Möge sie trotz ihrer Unfertigkeit ge¬
nügen, ihre These wenigstens in der Hauptsache glaub-
DER FARNESISCHE STIER
i8i
lieh zu machen, vor allen anderen Mitforschenden
Ihnen, mein verehrter Freund. Dann wird sie wohl
auch den nächsten Zweck erfüllen und an dem Tage,
da Sie die Schwelle des Lebensabends überschreiten,
ein bescheidenes Scherflein ^beitragen, um Ihnen das
zu erhöhen, was Sie uns trotz dem und alledem so
jung erhält; das, was Ernst Curtius in Olympia
suchte und Sie dort mit ihm in reichstem Masse
gefunden haben: »die Weihe der Kunst und die
Kraft der alle Mühsale des Lebens überdauernden
Freude« Ihr treu ergebener
Leipzig.
FRANZ STUDNICZKA.
ANMERKUNGEN
1) über die Ergänzet: G. Kinkel, Mosaik zur Kunst-
gesch. S. 35 ff. Correm im Bullett. della commiss. archeol.
comunale di Roma XXVIll, 1900, S. 44 ff. Über die Ergän¬
zungen besonders Miszkowshi bei Welcher, Alte Denkm. I,
S. 365f. Anm., danach Friederichs und Wolters, Gipsabgüsse
antiker Bildwerke Nr. 1402.
2) O. Müller \n den Annali dell’ instit. archeolog. XI, 1839,
5. 287 ff. In unserer Abb. 12 ist die Kamee nach Ärchäolog.
Zeitung XI, 1853, Taf. 56, 1 (vergl. S. 90, O.Jatui), die Münze,
deren ältere Publikationen Müller a. a. O. anführt, in
Abb. 11 nach einem Wilhelm Kubitschek, dem Direktor der
Kaiserl. Münzensammlung in Wien, verdankten Gipsabguss
wiedergegeben. Über die einschlägigen pompejanischen
Wandgemälde zuletzt: SogUano in den Atti dell’ accademia
di archeologia di Napoli XVII, 1895; Ely im Journ. of
hellen, stud. XVI, 1896, S. 145 ff-; Man in den Mitteil. d.
d. archäol. Instit. Rom XI, 1896, S. 46 f.; auch Löwy, unten
Anm. 17.
3) H Iller von Gärtringen im Jahrbuch d. d. ärchäolog.
Instituts IX, 1894, S. 22ff. ; S. 35 ff. über die Laokoon-
meister. Über die Künstler des Stieres vergl. denselben
in den Mitteil. d. d. arch. Inst. Athen XIX, 1894, S. 37 f.
4) Karl Robert, Ärchäolog. Märchen S. 142 f.
5) W. von Flartel und Fr. Wicklioff, Die Wiener Ge¬
nesis S. 28 ff.
6) Wicklioff a. a. O. S. 18 und 22 f. Petersen, Ara
Pacis Augustae Taf. 3. Kunstgesch. in Bildern I, bearb.
V. Franz Winter, Taf. 80.
7) Michaelis in Spiinger’s Handbuch d. Kunstgesch. 1,
6. Aufl., S. 286, abgeb. Kunstgesch. in Bildern 1, Taf. 74,1.
8) Friederichs und Wolters a. a. O. S. 517. M. G.
Zimmermann, Kunstgesch. d. Altertums und Mittelalters
S. 277.
9) Welcher, Alte Denkmäler I, S. 352.
10) Brunn, Geschichte d. gr. Künstler I, S. 495 ff.
11) Brunn bei R. Kekiile, Das Leben F. G. Welcker’s
S. V.
12) Fast von vorn, mit geringer Verschiebung nach
rechts, Antiope zuliebe: Baumeister, Denkmäler 1, S. 107.
Brunn, Denkm. gr. u. röm. Skulptur Nr. 367. Collignon,
Hist, de la sculpt. gr. II, S. 535. Michaelis in Springer's
Handbuch der Kunstgesch. I, 6. Aufl., S. 286. Fr. Winter,
Kunstgesch. in Bildern I, Taf. 72,5 u. a. ni.
13) Friederichs und Wolters a. a. O. S. 517. Vergl.
Wicklioff (oben Anm. 5) S. 17.
14) A. FFldebrand, Das Problem der Form in der bild.
Kunst, 4. Aufl., S. i07f.
15) S. Anm. 12.
16) Karl Dilthey in der Ärchäolog. Zeitung XXX VI,
1878, S. 48.
17) Fm. Löwy, Die Naturwiedergabe in der älteren
gr. Kunst S. 52 f. mit der Abbildung S. 42.
18) Mir liegen folgende annähernd von diesem Stand¬
punkt aus genommene Abbildungen vor: f. B. de Cavalleriis,
Antiq. statuarum urbis Romae I. et II. über 1585, Taf. 3.
Lafrerii Speculum Romanae magnificentiae, Stich vom J.
1581. O. Müller und Fr. Wieseler, Denkm. d. alten Kunst
I, Taf. 47. Clarac, Musee de seuipture V, Taf. 811 und
81 lA. R. Museo Borbonico XIV, Taf. 5, danach Overbeck,
Gesch. d. gr. Plastik II, 4. Aufl., Fig. 204 zu S. 343, alle
mit Rücksicht auf Antiope zu weit von rechts. Ihre gegen¬
seitige Abhängigkeit zu verfolgen lohnt nicht die Mühe.
Die von Löwy (s. Anm. 17) wiederholte Skizze Sogliano’s
(oben Anm. 2) ist viel zu weit von links genommen. Am
nächsten kommt der unserigen, bis auf zu hohen Stand¬
punkt, die Photographie bei Zimmermann (oben Anm. 8)
S. 275. Dass dies die Hauptansicht sei, bemerkte unter
den neueren Gelehrten wohl zuerst O. Müller (Anm. 2),
dann sehr klar O. Jahn (oben Anm. 2) S. 93, nach ihm
Friederichs, Overbeck u. a. m.
19) Chr. G. Fleyne, Sammlung antiquar. Aufsätze II,
S. 193, 218.
20) Epigramm der palatinischen Anthologie III 7, vergl.
Dilthey a. a. O. S. 44. Über Apollonis Pauly-Wissowa,
Real-Encykl. d. kl. Altert. II, S. 163,4.
21) Abb. 3 nach Zahn II 3; Helbig, Wandgemälde der
Städte Campaniens Nr. 1251; vergl. Dilthey a. a. O. S. 48 f.
22) Herausgegeben von Dilthey (oben Anm. 16) Taf. 7;
auch bei Baumeister, Denkmäler I, S. 456; vergl. Furt-
wängler, Beschr. d. Vasensamml. [in Berlin] Nr. 3296.
23) 1. Florenz, Uffizien, [Arndt] Anielung, Phot. Ein¬
zelaufnahmen II, Nr. 350. 2. Florenz, Giardino Boboli, mit
Füllhorn, ebenda Nr. 386 (S. Reinach, Repert. de la sta-
tuaire II, S. 250,5). 3. Rom, Magazz. archeologio comu¬
nale, mir durch Furtwängler nachgewiesen, aus schwarzem
Marmor wie 4. München, Furtwängler, Beschr. d. Glypto¬
thek Nr. 449, Hundert Tafeln nach Bildw. d. Glypt. 92.
Ähnlich, nur im Gegensinn komponiert ist Arndt-Amelung,
Einzelaufn. Nr. 551 in Palermo. Vergl. Anm. 24.
24) Winter, Kunstgesch. in Bildern I, Taf. 79,7. Col¬
lignon (oben Anm. 12) II, S. 662. Wiederholungen des
Vorbildes der Elektra (und des Antiopetypus) : [Arndt-]
Anielung, Einzelaufn. IV, Nr. 1153 mit Text, S. 44 f.
25) Plinius, naturalis historia 36, 34.
26) Vasari, Vita di Michelangelo, Milanesi VII S. 224:
(si perfette figure in un sasso solo e senza pezzi, che fu
giudicato servire per una fontana); Michelangelo consigliö
che si dovessi condurre nel secondo cortile [des Palazzo
Farnese] e quivi restaurarlo per fargli nel medesimo modo
gettare acque; das galt also offenbar als die antike Be¬
stimmung des Marmorwerks. Über die Fundumstände in
den Caracallathermen ist genaueres nicht bekannt, s. S. A.
Iwanoff, Architekturstudien III herausg. von Hülsen.
27) Abbildungen R. Schöne, Gr. Reliefs Taf. 27, 110,
und Ariidt-Ameliing, Einzelaufnahmen V, Nr. 1248, 1, S. 22
(E. Löwy). Ähnliche Dionysostypen in Roscher' s Lexikon
d. Mythol. I, S. 1132!, 2539. Für Dionysos hielten den
Knaben Schriftsteller des iS. jahrh. und Clarac.
28) Milchhö[er, Befreiung des Prometheus, 42. Progr.
zum Winckelmannsfest in Berlin 1882, Tafel und S. 7, 10 f.
DER FARNESISCHE STIER
1 82
Baumeister, Denkmäler II, S. 1277. Zu dem landschaft¬
lichen Hintergründe der Gruppen vergl. die Grotten, antra,
am Festzelte Ptolemaios II und im Schiffspalaste Ptole-
maios iV bei Athenaeus 5, p. 196 F., p. 204 F, auch die
(Musentafel fies Archelaos von Priene, Kunstgesch. in Bildern I,
Taf. 75, 6. Die .Möglichkeit solcher Aufstellung in helle-
nistiscl'.-r Zeit verkennt Wickhoff S. 61 Anm. (s. oben
Anm. 5), wenn er, gegen den Stil, die Prometheusgruppe
antoninischer oder nf)ch späterer Zeit überweist.
2Q) Gesell, der Kunst. Buch 10, Kap. 2, § 14.
30) .Am vollständigsten Museo Borbonico XIV, Taf. 6
ibgobüe.c-t, darnach bei Miiller-Wieseler (oben Anm. 18).
311 S. das Übersichtsblatt SchradeBs im Jahrbuch d.
d. arcidiul. 'nscituts XV, 1900, T. 1. Einzelnes am besten
bei Coi,io-non et Pontremoli, Pergame S. 91 ff. und Collignon,
Hist, de !a sculpt. Gr. 11, S. 528 ff.
32) Z. B. Robert, Ant. Sarkophagreliefs II, Taf. 5 und 60.
ill, Taf. i ff., 14 ff., 38. Baumeister, Denkmäler 1, S. 36 f.,
480. Zur Zeitbestimmung vergl. Walter Altmauu, Archit.
und Ornam. d. ant. Sark. S. 104 ff.
33) Schreiber, Hellenist. Reliefbilder Taf. 5. Roscher,
Lexik, d. Mythol. I, S. 311. Dass der Hund des Toro zum
Zethos gehört, bemerkte Friederichs nach zögerndem Vor¬
gang Jahn’s (s. oben Anm. 1 und 2).
34) Fundberichte von Lanciani in den Notizie degli
scavi 1886, S. 230, 272, von C. L. Visconti im Bullett. d.
commiss. archeol. comunale di Roma XIV, 1886, S. 299,
ebenda S. 390 ff. und Tafel 14, 15 Publication des Iphi-
geniatorsos, danach S. Reinach, Repert. de la statuaire II,
S. 313, 4. Vergl. Furtw’ängler, Meisterwerke S. 558 mit
Anm. 4.
35) Der Kürze wegen verweise ich nur auf Fr. Marx
im Jahrbuch d. d. archäol. Instit. IV, 1889, S. lUjf.
36) Franz Cumont, Mysteres de Mithra I, S. 170. Dass
der im Hauptbilde der Mithrasreliefs öfter Kornähren am
Schwänze tragende Stier nicht der Mond-, sondern der
Mannhardt’sche Vegetationsstier sei, ist meine Meinung.
37) S. oben Anm. 2 und 16.
38) Ft. Bulle in den Mitt. d. d. archäol. Instit. VIII,
1893, S. 246.
39) Michaelis (oben Anm. 7) S. 262. Flelbig, Führer
d. d. Samnil. Roms, 2. Aufl. I, Nr. 382.
40) Auch Archäol. Zeitung XXXVl, 1878, Taf. 9.
41) Bruno Sauer, Die Anfänge der statuar. Gruppe
(Leipz. Dissert.) S. 1 ff., 74 ff. August Fterzog, Studien zur
gr. Kunstgesch. S. 3 ff. Bei diesen beiden die ältere Litte-
ratur. Hildebrand und Fm. Löwy in den Anm. 14 und 17
angeführten Schriften. August Schmarsow, Beitr. zur Aesth.
d. bild. Künsteln, Plastik, Malerei und Reliefkunst S. ii8ff.
Gegen die hier geübte Gesamtkritik hat Hildebrand’s Ge¬
danken am entschiedensten verteidigt H. Cornelius in der
Deutschen Litteraturzeitung 1900 S. 2040 ff.
42) Abb. 8 aus Michaelis (oben Anm. 7) S. 270. Die
von Winter, Kunstgesch. in Bildern I, Taf. 59 gegebene
Zusammenstellung mit Mausoleumskulpturen lehrt aufs
eindringslichste, wie viel später der Pasquino sein muss,
was zuletzt O. IHßsr’r ausgeführt hat in den N. Jahrbüchern
f. d. klass. Altert. VII, 1901, S.616 ff. Der Kopf des Menelaos
stellt sich nahe zu den lysippischen Heraklestypen.
43) Zuletzt abgebildet bei Treu im Jahrbuch der bil¬
denden Kunst 1903, S. 83.
44) Josef Strzygowski, Anleitung zur Kunstbetrachtung
in der Mittelschule, in der Festschrift zum fünfzigjährigen
Bestände der deutschen Staatsoberrealschule in Brünn 1902,
S. 326.
45) Davon handelt zuletzt, mit Benutzung der Arbeiten
von Puchstein und Kalkmann, R. Schöne im Jahrbuch d. d.
archäol. Instituts XIII, 1898, Anzeiger S. 181 f., vergl. Kekiile
von Stradonitz ebenda S. 183 und Kalkmann S. 185. Es
sind dieselben Forderungen, wonach H. Wölfflin »Die
klassische Kunst« beurteilt, s. besonders S. 266 seines
so betitelten Buches.
46) Pauly-Wissowa, Real-Encyklop. d. d. Altert. II, S. 547.
47) Am übersichtlichsten zusammengestellt und er¬
läutert von Robert, Archäol. Märchen S. 28 ff. Vgl. Kalk¬
mann, Quellen des Plinius, passim.
48) Diodor 1, 98.
49) Dass in diesem vielerörterten Ausspruch Lysipp’s,
nach den unmittelbar vorher bezeichneten Neuerungen in
den Proportionen, von seinem Rhythmus die Rede sein
müsse, haben, nach etwas unklarem Vorgänge Kalk¬
mann und Schöne gesehen (oben Anm. 45), nur den meines
Erachtens für diesen Zusammenhang zu feinen, rein künst¬
lerischen Unterschied zwischen Daseins- und Wirkungsform,
statt des hier offenbar in Rede stehenden zwischen Ruhe
und Bewegung darin gesucht.
50) Br. Sauer in den Mitt. d. d. archäol. Instit. Athen
XI, 1891, S. 73 und die sog. carreysche Zeichnung Collignon
a. a. O. II, S. 36 oder Kunstgeschichte in Bildern I,
Taf. 44, 2.
Abb. II. Münze von Thyateira
Abb. 12. Camee in Neapel
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H , Leipzig
Abb. 13. Der Farnesische Stier, Hauptansicht der ursprünglichen Komposition
EMPIRE«. ORIGINALRADIERUNG VON HANS NEUMANN JUN.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQ03 NACH EINER SKIZZE VON FR. KOCH, RADIERT VON E, EINSCHLAG
E. Carriere
1
Selbstbildnis
EUGENE CARRIERE
Von August Marguillier in Paris
WIR stehen an einem überaus interessanten Wende¬
punkte der Kunstgeschichte. Nach den ver¬
schiedenen Perioden, welche die Ästhetik des
19. Jahrhunderts nacheinander duichgemacht hat:
starrer und fühlloser Klassizismus, mit dem Dogma
der Antike und der Linie; leidenschaftliche Roman¬
tik, begeistert für alles Farbige und Malerische, in
der der individuelle lyrische Drang sich unge¬
bunden ausspricht; serviler Realismus, einzig auf die
Wiedergabe der umgebenden Gegenstände bedacht,
und bei der geschickten Darstellung der Formen,
Farben und Nüancen häufig bis zur gleichgültigen
Kopie herabsinkend; blutloser Symbolismus, der gegen
die vorangegangene Schule reagieren möchte und
zumeist weiter nichts erreicht, als die Ideen, welche
er ausdrücken möchte, der Form und des Lebens
zu berauben; gar nicht zu reden von jener Schar
falscher Künstler, die sich ästhetisch nicht klassifizieren
lässt, obgleich sie bei weitem die zahlreichste ist, und
die in allen Schwankungen und neuen Anschauungen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. Fl. 8.
stets nur einem einzigen Prinzip treu bleibt: dem
Publikum gefallen; die im Kunstwerke nur eine
Ware sieht, deren grosser Markt die Kunstausstellungen
sind, — nach all diesen Perioden scheint sich endlich die
Morgenröte einer tieferen und menschlicheren Kunst
erhoben zu haben, die als die ehrliche Wiedergabe
der Gefühle des Künstlers vor dem Leben für uns
andere gleichsam eine beredte Sprache sein wird,
voll von brüderlichen Lehren, und nach der antiken
Formel wie die Pracht der Wahrheit, die Paraphrase,
das Preislied des fruchtbaren und herrlichen Lebens.
Auf die kindischen und kleinlichen Bestrebungen der
Virtuosenkunst und der Amüsierkunst scheint endlich
die erhabene Auffassung der Kunst als Religion
im ethymologischen Sinne des Wortes — zu folgen,
eine Kunst, die uns aufs engste mit der ganzen Natur
und mit der Menschheit verbindet und vereint: ideale
Verbindung, deren reine Freuden Beethoven in seiner
neunten Symphonie so mächtig und herrlich ver¬
kündet hat.
24
i84
EUGENE CARRIERE
Man weiss — um nur Beispiele aus meinem
Vaterlande zu nennen — wieviel wichtige Zeugnisse
dieser Entwickelung uns die letzte Zeit gebracht
hat- in der Musik tauchte «Der Fremdling« von
Vincent d’Indy auf. In der Poesie ist die jüngste
unter der Bezeichnung Humanismus« erstandene
Richtung nicht weniger merkwürdig. In der Skulptur
bewegen sich die schönsten Werke Rodin’s in der
gleichen Ästhetik, in der Malerei endlich ist einer
der becUutcndsten Vertreter dieser neuen Kunst¬
anschauung, vier am meisten für den Sieg und Triumph
i.er moL'ernen Auffassung des Schönen gethan hat,
jetzt zu allgemeinem Ruhme gelangt: Engen Caniere.
Er selbst hat mit lapidarer Kürze das soeben von
uns skizzierte ästhetische Credo beredt formuliert^),
und wir können nichts besseres thun, als seine Worte
diesem seinen Werken gewidmeten Aufsatze voran¬
zustellen :
ln der kurzen Spanne, welche die Geburt vom
Tode trennt, hat der Mensch kaum Zeit, den zu
durchmessenden Weg zu wählen, und kaum hat
er begonnen, sich selbst zu kennen, so erscheint
schon die Drohung des Endes.
In dieser begrenzten Zeit haben wir unsere Freu¬
den und unsere Schmerzen: diese wenigstens sollen
uns gehören; unsere Manifestationen sollen ihnen
geweiht sein und sollen nur uns selbstgleichen.
Mit diesem Wunsche zeige ich meine Arbeiten
denjenigen, deren Seele der meinen nahe steht.
Ihnen bin ich Rechenschaft über meine Thätigkeit
schuldig, und darum stelle ich meine Arbeiten aus.
Ich sehe die anderen Menschen in mir und
mich in ihnen: was mich bewegt, ist auch ihnen
nicht gleichgültig.
Die Liebe zu den äusseren Formen der Natur ist
das Mittel, welches mir zum Verständnisse ihres
inneren Wesens geboten ist.
Ich weiss nicht, ob die Wirklichkeit sich dem
Geiste entzieht; eine Bewegung ist eine sichtbare
Willensäusserung: ich habe sie immer vereint em¬
pfunden.
Die rührende Entdeckung der Natur, wenn sich
die Augen unter der Herrschaft eines endlich
sehend gewordenen Gedankens öffnen, der in
unserer Erinnerung und in unserer Gegenwart mit
der Vergangenheit verschmolzene Augenblick —
all das ist meine Freude und meine Unruhe.
Seine geheimnisvolle Logik nimmt meinen Geist
gefangen; eine Sensation enthält so viele konzentrierte
Kräfte.
Die Formen, die nicht durch sich selbst exi¬
stieren, sondern durch ihre vielfachen Beziehungen,
alles, selbst die weiteste Ferne, verbindet sich mit
uns durch leise Schwingungen; alles flüstert mir
ein Geheimnis zu, dass meine Geständnisse be¬
antwortet, und meine Arbeit ist ein Werk voll
Glauben und Verehrung.
i) Vorwort des Kataloges der Ausstellung der Werke
von Eugen Carriere in der Galerie »Art nouveau«, Paris,
April i8g6.
Mögen die hier ausgestellten Arbeiten ein kleiner
Beweis meiner grossen Liebe sein.«
Und vier Jahre später, bei Gelegenheit des Kon¬
gresses für soziale Erziehung, der verbunden mit der
Weltausstellung von 1900 abgehalten wurde, definierte
Carriere in einem ausgezeichneten Vortrage über die
Erziehung zur Kunst durch das Leben von neuem
die Pflichten der Kunst in unserer Epoche:
»Der moderne Künstler ist sich selber die Wahr¬
heit schuldig. Er darf nur ausdrücken, was er
selbst gefühlt Ipt, und diese Beichte von Individuen,
die so ihre Ähnlichkeit mit ihren Mitmenschen
suchen, anstatt stolzer Verschiedenheit nachzustreben,
wird das wahre Band zwischen den Künstlern und
ihrer Epoche sein, lebend und leidend unter den
nämlichen Dingen.«
Man kann sich nicht besser ausdrücken, und die
französische Schule darf stolz sein auf solche Künstler,
deren Geist und Hand durch so hohe Gedanken ge¬
leitet werden.
* *
*
Der Augenblick ist günstig, um die aus diesen
Gedanken und Gefühlen entstandenen Werke zu
studieren und dem ausländischen Publikum vorzu¬
führen: vor wenigen Monaten ist durch die Bewun¬
derung eines der besten französischen Kunstschrift¬
steller dem Künstler ein wahres Monument errichtet
worden: Gustave Geffroy hat eine bedeutende und
kostbare Monographie über den Meister veröffentlicht,
die das Andenken seiner bis zum heutigen Tage
entstandenen Werke erhalten solP). Und vor wenigen
Wochen hatten wir in der Galerie Bernheim in Paris
eine Ausstellung, wo die verschiedenen Seiten seines
Genies und die letzten Schöpfungen seines Geistes
gezeigt wurden. Die Anerkennung dieser Kunst, die
noch vor kurzer Zeit so viele Gegnerschaft und Er¬
staunen erregte, ist jetzt allgemein.
Litterarische Arbeiten, wie das soeben von uns
erwähnte Buch, haben nicht wenig zu diesem end¬
gültigen Triumphe beigetragen durch die Klarheit
und die hinreissende Wärme der Darstellung. Viel¬
leicht waren niemals zwei Menschen so sehr ge¬
schaffen, um sich zu verstehen, wie der beredte
Theoretiker, der begeisterte Apostel jener sozialen
Kunst, deren Theorie wir soeben erklärt haben, und
der Künstler, der das Programm formuliert hat, das
soeben mitgeteilt worden ist. Dergestalt, dass zum
Verständnis Carrieres und zum Genüsse an den
jetzt ausgestellten neuen Arbeiten des Künstlers keine
bessere Vorbereitung denkbar ist, als die Lektüre
dieses schönen Buches von Gustave Geffroy, das voll
ist von durchdringendem Verständnis und überzeugen¬
der Beredsamkeit, und geschmückt mit ausgezeichneten
Illustrationen, deren Vollkommenheit so gross ist,
dass durch die Wahrheit ihrer Töne und Valeurs
die Meisterwerke dieses grossen Künstlers fast in ihrer
Originalgestalt vor unseren Augen stehen.
i) L’Oeuvre de Eugene Carriere. Text von Gustave
Geffroy. (L’Edition d’art, H. Piazza & Cie, Rue Jacob 4,
Paris), ln Eolio, 56 Seiten mit Illustrationen und Mappe
mit 75 Blättern.
EUGENE CARRIERE
185
Ehe wir aber an die Schilderung dieser Meister¬
werke herangehen, ist es notwendig, die Gestalt des
Künstlers und des Menschen zu skizzieren.
Geboren in Gournay (Seine et Marne) am 1 7. Januar
184g als Sohn eines flandrischen Vaters und einer
elsässischen Mutter verbrachte Carriere seine erste
Kindheit in Strassburg, aber seine ersten Erinnerungen
beziehen sich nur auf Dinge der Natur. Carriere
war keines jener Wunderkinder, die schon den Stift
in ihre kleinen Händchen nehmen, in einem Alter,
wo ihre Gefährten sich nur mit Spielsachen beschäf¬
tigen. Er hat Edmond de Goncourt erzählt, dass er
mit achtzehn Jahren zum erstenmal das Museum in
Strassburg besucht und damit angefangen hat, sich
für die Kunst zu interessieren. Erst in Saint Quentin,
wohin seine Eltern im folgenden Jahre übersiedelten,
erwachte in ihm vor den wunderbaren Pastellen von
Quentin de la Tour die Liebe zur Malerei, und Ed¬
mond de Goncourt meint: »Vielleicht haben diese
Lehren eines der grössten Zeichner des menschlichen
Gesichtes ihm jene Liebe zur Konstruktion gegeben,
die sich später in seinen Bildnissen zeigt.«
Um sich auszubilden kam der junge Mann nach
Paris und besuchte die Nationale Kunstschule. Dies
war im Jahre 1870. Plötzlich brach der Krieg aus.
Carriere trat freiwillig in die Truppen ein, wurde in
Neu-Breisach mit seinem Bataillon blockiert, gefangen
genommen und nach Dresden gebracht. Dort kam
er bei einem Ausgange in die Gemäldegalerie, und
Rubens wurde zu seinem zweiten Lehrmeister.
Nach Erankreich zurückgekehrt, trat er wieder in
die Kunstschule ein und besuchte von 1872 — 76 den
Kursus des akademischen und kalten Malers Cabanel.
1876 bewarb er sich um den Rompreis, hatte aber
keinen Erfolg und vertauschte jetzt, wie Gustave Geffroy
sich ausdrückt, für immer die Malerei der Akademie
mit der Malerei des Lebens.
Im nämlichen Jahre stellte er zum erstenmal im
Salon aus: das Bildnis seiner Mutter, eine ernste und
gute Gestalt, die bereits den Kern aller seiner Vor-
Abb. 2. Eugene Carriere
Der Enss (Paris, Luxembourg)
EUGENE CARRIERE
136
z:"~3 enthält und würdig die neue Periode seines
Lebens, «eine Laufbahn als wahrer Künstler, eröffnet.
! Lid voll '/cn Zuversicht auf seine Arbeitsamkeit ver-
! . nd er :rn nächsten Jahre sein Schicksal mit dem
; . : ^reurn Gattin, deren Züge er auf dem von uns
f'rgegebenen Selbstbildnis (Abb. i) im Hinter-
M ■ ;!' dargestellt hat, gleichsam als die gütige Schutz-
■ ■ tih unzertrennliche Gehilfin, deren Inspiration
\, i - alle Ue herrlichen Gemälde verdanken, auf denen
der Künstler wieder und wieder die Mutterliebe be¬
sungen hat.
Nach der Hochzeit führte ihn ein Luftschloss nach
London, aber hier begegnete
ihm bald die Misere, und
nachdem er sechs Monate
lang eine unbegrenzte Ener¬
gie vergeudet und wie Herr
Seailles sagt, das Wunder
zu leben vollbracht hatte,
kehlte er nach Paris zurück,
und, wie Carriere selbst sich
ausdrückt, das Leben und
ich nahmen unsern Lauf wie¬
der auf, das eine hart, der
andere eigensinnig«.
Nun folgte eine Zeit un¬
ablässiger Arbeit, die ihn oft
bis spät in die Nacht hinein
beschäftigte. Versuche aller
Art, unzählige Studien, wozu
ihm seine Umgebung die
Inspiration gaben: die Mutter
und das Kind, deren zärtliche
Liebe sein Leben ausfüllte.
Eine Junge Mutier, die
ihr Kind säugt«, war das
Resultat dieser Studien. Lei¬
der wurde das in den Sa¬
lon von 187g gesandte ISild
so hoch gehängt, dass es
unbemerkt blieb; später
wurde es von dem Mu¬
seum in Avignon erworben.
Und dann folgten in jedem
Jahre Gemälde (man findet
die detaillierte Liste in der
Arbeit von Gustave Geffroy), deren Themen fort¬
gesetzt seiner Umgebung und seiner Häuslichkeit ent¬
nommen waren: Scenen aus dem Familienleben, Bild¬
nisse von Freunden, worin der Künstler mehr und
mehr seine Persönlichkeit in die Gewalt bekam, und
worin er sich eine immer festere und prägnantere
Sprache schuf. Unter diesen Arbeiten verdienen
einige besondere Erwähnung: Das Kind mit dem Hund,
1884, das eine Erwähnung im Salon erhielt; im fol¬
genden Jahre ein viel umstrittenes, aber allgemein be¬
achtetes Bild, das eine dritte Medaille erhielt und
vom Staat angekauft wurde: Das kranke Kind (Abb. 6);
1886 Der erste Schleier {khb. 4), eines der schönsten
Werke Carriere’s durch die ungesuchte Wahrheit der
Komposition, die natürliche und doch geschickte Art,
womit die Gruppen verteilt sind, womit die einzelnen
Figuren durch die Luft und die Lichtbewegungen
nicht minder als durch die Gemeinsamkeit ihrer Ge¬
fühle miteinander verbunden sind. Diese reizende
Arbeit wurde nach langen Jahren ebenfalls vom Staat
angekauft. Die Medaille zweiter Klasse wurde dem
Künstler von seinen Kameraden im folgenden Jahre
für das Bddnis des Bildhauers Devillez zugesprochen.
Irn Jahre 188g endlich wurde Carriere für die Ehren¬
medaille vorgeschlagen und erhielt bei Gelegenheit
der Weltausstelhmg, wo er mit den bereits genannten
und anderen Arbeiten erschienen war, eine silberne
Medaille und das Kreuz der
Ehrenlegion.
Als im folgenden Jahre
die Spaltung zwischen den
Künstlern zur Gründung der
Societe Nationale des Beaux-
arts führte, wo die Zahl der
von einem Künstler gesandten
Werke nicht beschränkt war
und wo man nicht nur fer¬
tige Arbeiten, sondern auch
Skizzen und Studien aus¬
stellen konnte, gehörte Car¬
riere zu den Dissidenten und
konnte von da an jedesmal
das Resultat einer ganzen
Jahresarbeit zeigen. Jetzt, wo
fertige Gemälde und Studien
nebeneinander ausgestellt
wurden, gelangten seine Ar¬
beiten besser zur vollen Gel¬
tung und nahmen allmäh¬
lich das Publikum für ihre
Ästhetik ein. Von diesen
Ausstellungen sind im Ge¬
dächtnis besonders haften
geblieben: 1 8g 1 die Bildnisse
von Daudet und Verlaine;
i8g2 die herrliche Mutter¬
liebe, die vom Staat bestellt
war und jetzt im Luxembourg
hängt; i8g5 das Theater von
Batignolles ; i8g6 das litho¬
graphierte Bildnis von Ed-
mond de Goncourt; iSgy die Kreuzigung und das
lithographierte Porträt Verlainc's; i8g8 das Dekorative
Gemälde für die Sorbonne. Auf der Weltausstellung
von igoo erschienen acht dieser Gemälde und fünf
Lithographien. Endlich haben drei Sonderausstellungen,
i8gi, i8g6 und im gegenwärtigen Jahre eine grosse
Anzahl der Arbeiten Carriere’s dem Publikum zugäng¬
lich gemacht und damit das Verfolgen seiner Ent¬
wickelung wesentlich erleichtert.
5k *
5k
Man kann in dieser Entwickelung drei Perioden
unterscheiden.
Ganz im Anfang ist der Maler selbstverständlich
von Quentin de la Tour und Rubens beeinflusst; er
Abb. 3. E. Carriere. Kind mit Kragen
EUGENE CARRIERE Abb. 4 DER ERSTE SCHLEIER
EUGENE CARRIERE
1 89
Abb. 5. E. Carriere. Das Theater in Bat igno lies
liebt den schönen fetten Farbenauftrag und die zart
abgestuften Töne. Es ist die Zeit der hübschen Bild¬
nisse kostümierter Kinder (Abb. 3): Das Kind mit
dem Kragen, Das Kind mit dem Teller, Das Kind
mit dem Hunde, von dem mehrere Wiederholungen
existieren, deren besonders schöne Herrn Lucien Sauphar
gehört und bei der jüngsten Ausstellung in der Galerie
Bernheim ebenfalls gezeigt wurde, ferner einige kleine
Mädchen, deren Haare hübsch mit einem Bändchen
geschmückt sind, die mit Lesen und Rechnen an
den Fingern beschäftigt sind, oder die der Mutter
bei der Toilette des Brüderchens helfen, entzückende
Bilder, die durch ihre graue Silbertonalität, belebt
durch einen rosigen Fleck hier und da, die Bezeich¬
nung »Velasquez der Volksanmut«, den Geffroy dem
Carriere dieser Epoche giebt, rechtfertigen, ln diese
Zeit fallen auch zahlreiche rührende Familienscenen
und besonders der Mutterliebe gewidmete Arbeiten,
Themen, die er vom ersten Tage an mit Meister¬
schaft beherrscht und denen er einen genrehaften Zug
giebt.
Aber bald verändert sich seine Technik unmerk¬
lich, und nach und nach wird der Meister immer
mehr von den Erscheinungen des Lebens eingenom¬
men; der Wunsch, diese wiederzugeben, wird immer
stärker in ihm: er sucht die allgemeine Wahrheit und
ihren konzentrierten Ausdruck. Nach und nach unter¬
drückt er alles, was nicht absolut notwendig zu seiner
Absicht ist, er synthetisiert die Formen immer mehr
und unterdrückt sogar die Farbe oder wenigstens
das, was man gemeiniglich unter dem Namen »Farbe«
versteht, um nur das übrig zu lassen, was er für
wichtig hält, und um diesem Wichtigen seinen ganzen
Wert zu geben.
Und zuerst wählt und verallgemeinert er wie alle
grossen Künstler. G. Seailles, der über Carriere ein
verständnisvolles kleines Buch geschrieben hat, zeigt
mit bewundernswürdiger Klarheit, wie viel mensch¬
liche Wahrheit und Tiefe, verbunden mit zärtlicher
Liebe, in den zahlreichen Bildern der Ahitterliebe
enthalten ist, wovon das Bild im Luxembourg, das
wir hier wiedergeben (Abb. 2), gleichsam die Synthese
ist; wie sehr Carriere nicht nur die mütterlichen Be¬
wegungen festgehalten hat, sondern auch das, was in
ihr von der Fruchtbarkeit der elementaren Kräfte ge¬
blieben ist, wie z. B. in dem y> Schlummer wo die
Mutter am Bette ihres Kindes eingeschlafen ist; und
was in ihr Ernstes und Religiöses lebt.
Diese Kunst sucht indessen weder das Symbol
noch das abstrakte Ideal: sie schaut in sich und um
sich, und gerade weil Carriere in seine Beobachtungen
alle seine Liebe als Gatte und Vater gelegt hat, ist
er so ausserordentlich wahr und menschlich.
Um diese Scenen und Bewegungen in ihrer ganzen
allgemeinen und ewigen Wahrheit den Augen vor¬
zustellen, bedient sich Carriere einer Technik, worin
wiederum die Synthese die grösste Rolle spielt. Zu
gleicher Zeit, wo er sich von den äusseren Be¬
dingungen wie Dekor, Hausrat, Kostüm freimacht,
setzt er seine Personen in eine besondere Atmosphäre,
entfernt, wenn man will, von der Wirklichkeit, aber
durchaus seiner eigentümlichen Auffassung angepasst,
wonach die Figuren nicht als scharf begrenzte Sil¬
houetten erscheinen, durch scharfe und ideale Linien,
welche die Natur nicht kennt, geschieden (denn, wie
Gustave Geffroy mit Recht sagt, die Form zeigt auf
keinem einzigen Punkte eine Auflösung des Zusammen¬
hanges, und gerade das macht die weise und feine
Kunst so schwer und so selten, die es versteht, die
ganze Form in einer konventionellen Linie einzu-
schliessen und zur Geltung zu bringen wie die Zeich¬
nungen von Hokusai und Ingres), sondern er zeigt
EUGENE CARRIERE
190
sie in ihrem Volumen, in der Dichtigkeit ihrer Formen.
Diese Ästhetik oringt ihn dazu, nicht mit dem er¬
wähnten ;:onventione;ien Striche anzufangen, sondern
mi. ihm aifzuhören, indem er seine Formen wie ein
bildhai - r fesü‘!:w, modelliert von Lichtern und Schat-
icn. Und Ur.zig jekümnn -rt um die Grundbedingung
der A'flew': äe -.Vitdergabe der runden Formen
:• •ah : , d'-ächen, auf der anderen Seite be-
geiu^G ., !• ’u Gdurlieit, die immer abstrakter und
-iä'' '.itfern; er allmählich alle Farbe
lind : .
e.!'- -■ i
•e L‘- dl -'uu
Swudten Ifasis
■■ui Veibindimg
Lier Komposition
dienen: ideale
Zwischenwelt, aus
der Wirklichkeit
entsprungen, darin
die Natur sich in
all ihrer magischen
Schönheit spiegelt
(Maurice Hamei).
So rechtfertigt sich
die von Jean
Dolent gegebene
Definition der
Werke Carriere’s:
Wahrheiten mit
der Magie des Trau
mes' . Wahrheit,
Ideal: liegt nicht
darin der ganze
Zweck jeder Kunst?
Daraufhin ist
das Publikum, be¬
reit alles zu ver¬
dammen, was es
nicht versteht, und
feindselig gegen
alles, was seine
Gewohnheiten
stört, zuerst er¬
staunt, dann hat
es sich lustig ge¬
macht über die¬
sen »Rauch', über
diesen »Nebel , worin Carriere seine Figuren
ertränkt, und niehts würde diesem Publikum para¬
doxer Vorkommen, als wenn man von der Farbe
Carriere’s sprechen wollte. Wenn es aber wahr ist,
dass die Farbe nicht in der Zusammenstellung ver¬
schiedener Töne, in ihrer Versehiedenheit und Inten¬
sität zu suchen ist, sondern ausschliesslich in ihrer
Harmonie, so darf man Carriere für einen Koloristen
in seiner Art halten, und diese Art ist sieherlich die
riehtige, sintemalen sie durchaus seiner Auffassung
der Kunst und seiner ernsten Rührung vor dem Leben
entspricht und den Sinn seiner Arbeit ausserordent¬
lich verklärt und deutet. Es ist ein sonderbares Ver¬
langen, sagi Gustave Geffroy, von den Künstlern, und
hier sind nur die wirklichen Künstler gemeint, zu
verlangen, ihre Werke anders zu sehaffen, als sie
ihrer künstlerischen Eigenart nach sein müssen. Wenn
die Wünsche dieser Kritiker erfüllt würden, gäbe es
hinfort nur noch neutrale Arbeiten ohne jede Über¬
treibung, zahme, korrekte und langweilige Arbeiten.
Lasst uns die Äpfel am Apfelbaum und die Pfirsiche
am Pfirsichbaume bewundern, ohne ihre Plätze aus-
tauschen zu wol¬
len!
Was liegt über¬
haupt an dem Ver¬
fahren, wenn es
der Künstler nur
versteht, uns eine
eigentümliche und
gefühlvolle Vision
der Natur und seine
eigene Rührung
mitzuteilen? Und
wer kann leugnen,
dass dies bei Car¬
riere der Fall ist?
Wer kann es
leugen vor seinen
unzähligen Studien
von Müttern und
Kindern, beobach¬
tet an jedem Augen¬
blick des Tages,
in jeder ihrer Be¬
wegungen un-
endliehe Varia¬
tionen eines The¬
mas, das dem
Künstler ganz
ausserordentliche
Schwierigkeiten
bietet, und dem er,
ohne jemals in die
banale Anekdote
zu verfallen, so
wahre und liebe¬
volle Accente abge¬
winnt; vor seinen
Bildern der Mutter¬
liebe, die Edmond
de Goncourt mit Recht mit den Schöpfungen der reli¬
giösen Maler vergleichen konnte, mit jenem göttlichen
Motiv, das uns alle Gemälde des alten Italiens von
Cimabue bis auf Raffael zeigen, und das er auf¬
gegriffen hat, indem er dem bürgerlichen Vorwurfe
der modernen Mutterschaft die Grösse und Einfalt
jener alten Meisterwerke zu geben wusste?
Wer kann es leugnen vor seinen zahlreichen Bild¬
nissen: Frauen oder junge Mädchen, deren ange¬
borenem Reize die Technik Carriere’s einen eigen¬
tümlichen poetischen Ausdruck verleiht, und die wie
das auf der Ausstellung von igoo so sehr bewunderte
Abb. 6. E. Carriere. Das kranke
EUGENE CARRIERE
und jetzt mit grossem Vergnügen wiedergesehene
schöne Porträt von Madame Caplain mit ihrem Töch-
terchen, das von Mademoiselle Seailles, von Ma¬
dame Oallimard u. s. w. mit diesem verführerischen
Reiz die Grösse des Stiles vereinen? Vor den ge¬
malten oder lithographierten Bildnissen berühmter
Männer, seiner Kameraden in Kunst oder Wissen¬
schaft: Elisee Rechis (Abb. 7), Blanqai, Edmond and
Jules de Qoncoiirt, Piivis de Chavannes , Paul
Verlaine, Daudet (zweimal, allein und mit seiner
Tochter), Rodin, Rochefort, Gustav Geffroy, der Oberst
Picquart u. s. w., in denen das Innenleben sich so stark
ausspricht, dass es sich hier weniger um die Porträts
bestimmter Personen als vielmehr um die Wieder¬
gabe der in ihren Eormen wohnenden Intelligenz
handelt, dergestalt, dass diese Bildnisse höchst inter¬
essante psychologische Dokumente sind?
Einige Kompositionen, worin wie in den soeben
besprochenen Darstellungen der Mutterliebe gewisser-
massen der Geist, der sie schuf, in dem Rhythmus
der Linien zittert, beweisen wie sie diese Sensibilität
der Seele, diese brüderliche Gemeinsamkeit in Ereude
und Schmerz, dieses Streben nach synthetischer und
tiefer Wahrheit.
Da ist vor allen Dingen das Theater von Bati-
gnolles (Abb. 5), das im Salon von 1895 ausgestellt
war und jetzt Herrn Paul Gallimard gehört. Besonders
vor dieser Arbeit, welche so sehr die Erwartungen
des bei solchen Themen an den Glanz von Rot und
Gold gewöhnten Publikums enttäuschte, fehlte es
nicht an Spott über den von dem Künstler beliebten
»Nebel«. Man fragte sich nicht, ob der Maler, der
nicht eine Vorstellung oder ein Theater, sondern den
Eindruck, den diese Vorstellung auf die Menge macht,
darstellen wollte, nicht absichtlich ein Volkstheater
gewählt hatte, wo die Zuschauer sich mit Leib und
Seele den Absichten des Dramas ausliefern, und ob
dieses Theater nicht weniger brillant erleuchtet sei
als die Oper. Und es trifft sich, dass das Theater
in Batignolles gerade mit Bezug auf Dekorationen und
Beleuchtung nur sehr bescheiden versorgt ist, und
dieser graue Raum, gleichsam mit einem sichtbaren
grauen Nebel angefüllt, der alle lebhaften Earbentöne
unterdrückt, war gerade der richtige neutrale Rahmen,
um die Zuschauergruppen zur vollen Geltung zu
bringen, die Carriere malen wollte, jene anonyme
Volksmenge, die nicht ins Theater geht, um sich zu
zeigen und um Toiletten zu sehn, sondern einzig um
sich zu unterhalten, und bei der infolgedessen der
Künstler weiter nichts als die Aufmerksamkeit und
den Genuss wiederzugeben hatte. Und in der That
hat er uns durch die von ihm beliebte Vereinfachung
nicht ein bestimmtes Theater gezeigt, sondern über¬
haupt das Theater und im besondern das Volks¬
theater.
Zwei Jahre später zeigte die Kreuzigung unsern
Künstler bei der Bewältigung einer weit höhern Auf¬
gabe, bei der Darteilung des sublimsten Dramas. Es
ist erlaubt zu bedauern, dass, um auf der Höhe einer
solchen Aufgabe zu stehen, der Künstler nicht zu¬
gleich ein Gläubiger gewesen ist, dergestalt, dass uns
Zcitsclirift für hilciciule Kunst. N. 1'. XIV. II. 8.
1 Ql
Carriere an Stelle des evangelischen Heilandes nur
einen finstern Verurteilten gezeigt hat, der in ent¬
schlossener Auflehnung stirbt und mit einer gewaltsam
protestierenden Bewegung die Arme gen Himmel
erhebt. Aber welche ergreifende Erscheinung, dieses
von Leiden durchwühlte Antlitz, diese verzweifelte
Mutter zu Eüssen ihres Sohnes, mit verzerrtem Ge¬
sichte auf die gefalteten Hände herabgebeugt, mit dem
packenden Ausdrucke unendlichen Schmerzes! Dieses
schöne Werk könnte zu den herrlichsten Meister¬
werken der religiösen Kunst gerechnet werden, wenn
der Geist, der es durchweht, sich bis zum über¬
natürlichen erhöbe, wenn dieser Sterbende und diese
Mutter, ohne von ihrer Tragik einzubüssen, einen
weniger irdischen Schmerz erduldeten. Die Aus¬
stellung des letzten Monats zeigte uns ausserdem
zwei Bilder, die wie Elügel eines Triptychons aus¬
sahen und ohne Zweifel zur Begleitung dieser Kreu¬
zigung bestimmt waren. Man erblickte darauf weib¬
liche Gestalten und kniende Kinder in der Art der
Stifter auf den Bildern der primitiven Maler. Zu¬
sammen mit dem Mittelbilde, somit die tägliche
Menschheit mit dem Opfertode Christi verbindend
und auf diese Weise dieses ewige Thema verjüngend
und erweiternd, hätten sie die ergreifende Bedeutung
der Kreuzigung ausserordentlich vertieft.
Alle die von uns genannten Vorzüge müssten
Carriere für grosse dekorative Arbeiten in die erste
Reihe stellen, aber der Künstler, dem Puvis de
Chavannes prophezeit hat, die Aufträge würden ihm,
wie Puvis selber, erst spät zukommen, hat bei der
Dekoration des Pariser Stadthauses nur zwölf Zwickel
auszumalen gehabt in einem Saale, dessen Plafond
von Besnard und die Wände von Jeanniot gemalt
sind. (Wann wird man sich doch bei den offiziellen
dekorativen Aufträgen um die Gesetze der Einheit
und Harmonie kümmern?) Carriere hat es verstanden,
seine bescheidenen Graumalereien mit diesen so ver¬
schiedenen Gemälden in Einklang zu bringen; er hat Ge¬
stalten von Erauen und Kindern hergestellt, die Künste
und Wissenschaften symbolisierend und in ihren
Stellungen, Bewegungen und Gesichtszügen alle Be¬
geisterung, Leidenschaft und schmerzliche Regung
ausdrückend, die unsere Epoche charakterisieren.
In der Sorbonne, wo er den Auftrag hatte, den
Saal des freien Unterrichtes auszumalen, konnte
er glücklicherweise sein Talent auf einem weiteren
Felde bethätigen. Auch hier hat Carriere alle Leiden¬
schaften und allen Enthusiasmus unserer Zeit dar¬
gestellt, und auf die einfachste Weise: er hat vor
unsern Augen das Schauspiel aufgerollt, das er täg¬
lich von seinen Fenstern aus sieht, das Panorama
von Paris von den Belleviller Höhen aus, die Ansicht
der ungeheuren Stadt, gebräunt durch den Rauch
und Staub der Arbeit, »wo hie und da wie ebenso-
viele einsame und dauernde Ideen die grossen Bau¬
werke aus der wimmelnden Menge der anonymen
Wohnhäuser aufragen« (G. Seailles). Und um gewisser-
massen die von diesem Schauspiel wachgerufene Be¬
wegung konkreter zu machen, hat er in den Vorder¬
grund des Gemäldes zwei Frauen gestellt, die eine
^5
192
EUGENE CARRIERE
schon bejahrt, sitzend, gleichsam des Lebens müde,
die andere jünger, stehend und eine unvergessliche
Bewegung von Hoffnung und Ekstase machend.
Diese Vision von Paris bringt uns zu den von
Carriere gemalten Landschaften, zumeist Ansichten
aus der Bretagne und aus den Pyrenäen, wo für ihn
die Erde, die Gewässer, die Bäume, die Hügel die
nämliche Sprache wie die Menschen reden. Auch
hier kümmert er sich einzig um die Eormen und um
das Spiel des Lichtes, unterdrückt alle Verschieden¬
heit der Koloration und giebt uns nur eine schema¬
tische Synthese der Natur, die oft zu einer ergreifen¬
den melancholischen Grösse aufsteigt.
Endlich ist Carriere — und dies könnte man seine
dritte Periode nennen — folgerichtig zu einer noch
vereinfachteren Malerei gelangt: grosse, breite, solide
konstruierte Elächen, in einen allgemeinen grauen Ton
getaucht, zumeistCharakterköpfe,wiedas von uns wieder¬
gegebene '^Nachdenken« (s. die Tafel). Das sind die
schönsten Skulpturen im Salon,« sagte im letzten
Jahre ein verständiger Kenner vor einer Reihe dieser
herrlichen und ausdrucksvollen Köpfe. Carriere, der
übrigens selbst modelliert und ausser einem weib¬
lichen Gesicht ein Denkmal Verlaine's für die Stadt
Nancy geschaffen hat, nähert sich hier dem Bild¬
hauer Rodin, über den er bei Gelegenheit der Aus¬
stellung Rodin’s im Jahre igoo als Vorwort zu seinem
Kataloge so umfassende und schöne Dinge geschrieben
hat: beide Künstler haben die nämliche ästhetische
Anschauung und bedienen sich der gleichen Technik,
und man kann sie gegenwärtig für die hervor¬
ragendsten französischen Vertreter jener Kunst halten,
die wir zu Eingang dieses Aufsatzes definiert haben.
So hat sich in vollkommener Einheit die Ent¬
wickelung dieses empfindsamen und nachdenklichen
Geistes vollzogen. Ohne aufzuhören ihn zu bewun¬
dern, möchten wir trotzdem wünschen, dass die
strenge Auffassung, zu der er jetzt gelangt ist, ihn
nicht verhindere, wieder und wieder in seiner immer
beredter gewordenen Sprache mit dem unendlichen
Reichtum des Lebens unsere Seele zu erfüllen.
Abb. j. E. Carriere. Bildnis des Elisee Rechts
Abb. 1. Wilhelm v. Humboldt und Oeorg Zoega. Skizze von Thorvaldsen
THORVALDSEN UND ZOEGA
Von Ad. Michaelis
Als Bartel Thorvaldsen am 8. März 1797 in
Rom einzog, ein in der Technik seiner Kunst
wohlbewanderter, sonst aber ganz ungebildeter
Jüngling von 26 Jahren mit noch schlummernder
Psyche, war er ganz natürlich an Georg Zoega als
an seinen Mentor gewiesen. Zoega, dem sein grösster
Schüler Friedrich Gottüeb Welcher ein höchst an¬
ziehendes biographisches Denkmal gesetzt hat, stammte
aus einer vornehmen oberitalienischen Familie, aber
ein Zwist hatte zweihundert Jahre vorher seinen Ahnen
an die Ostsee geführt; dort waren seine Nachkommen
Generationen hindurch als Pastoren thätig gewesen,
und in einer damals jütischen Enklave des Herzog¬
tums Schleswig war Zoega 1755 geboren. Alle An¬
regungen und Stimmungen der Sturm- und Drang¬
zeit hatte der Jüngling in sich aufgenommen, daneben
aber war er in Göttingen durch Heyne in ebenso
tiefe, wie weitgreifende Altertumsstudien eingeführt
worden. Auf einer Studienreise hatte er 1783 in
Rom die bildschöne und leidenschaftliche junge Maria
Pietruccioli geheiratet und war durch diese Ehe
bleibend an Rom gefesselt worden, ohne doch seine
Verbindung mit Gönnern und Freunden in Kopen¬
hagen ganz aufzugeben. Er lieferte dorthin regel¬
mässige Berichte über die Erscheinungen des römischen
Kunstlebens und ward zum Mitglied der Kopen-
hagener Kunstakademie ernannt. Während er einen
ausserordentlichen Fleiss auf seine gelehrten Arbeiten,
numismatische, ägyptologische, archäologische Werke
ersten Ranges, verwandte, fand er doch noch immer
Zeit, gelehrten oder kunstsinnigen Fremden, meistens
Dänen und Deutschen, die Schätze der ewigen Stadt,
namentlich die Antiken, deren vornehmster Kenner
er war, zu zeigen und sie durch knappe anregende
Bemerkungen in deren Verständnis einzuführen. Es
war nur eine Anerkennung von Zoega’s Verdiensten,
wenn er 1798 zum dänischen Agenten und Konsul
ernannt ward, ein Amt, das er mit der gleichen Ge¬
wissenhaftigkeit verwaltete, die er in seinen wissen¬
schaftlichen Arbeiten stets bewährt hat.
Thorvaldsen war schon als Däne und Stipendiat
der Kopenhagener Kunstakademie auf Zoega hinge-
25
THOKVALDSEN UND ZÜtüA
wiesen, brachte
aber auch noch
eine besondere
Empfehlung von
Zoega’s Freund,
dem Kopenhage-
ner Professor Fr.
Münter, mit. Frei¬
lich war der erste
Eindruck, den
der verschlafene
Jüngling auf Zoe-
ga machte, nicht
günstig; in star¬
ken Worten ta¬
delte er die Aka¬
demie, dass sie
ganz ungebildete
Menschen, ohne
jede Kenntnis
von Geschichte
und Mythologie,
gerade nach Rom schicke, wo die ganze Umgebung,
jedes Kunstwerk solche Kenntnisse voraussetze. In¬
dessen erkannte er doch bald den Genius, der in dem
Landsmann schlummerte, und neben dem kranken
Asmus Carsten, dessen Verkehr Thorvaldsen noch
ein Jahr lang geniessen konnte, war es namentlich
Zoega, der sich keine Mühe verdriessen liess, die
Lücken in Thorvaldsen’s Bildung auszufüllen und
ihm das Verständnis der Antiken aufzuschliessen M,
deren Zahl damals freilich durch die Wegführung
der Hauptstücke nach Paris arg gelichtet ward. Als
sich Thorvaldsen endlich zu seinem lason aufgerafft
hatte, empfand Zoega in der allgemeinen Anerkennung
dieses Werkes, vor dem auch Canova sich beugte,
ein Stück eigenen Erfolges, und wenige Jahre später,
1805, bekannte er eine lebhafte Freude, die Begabung
des damals schon allgemein neben Canova gestellten
Nordländers früher als die anderen erkannt zu haben.
Seit 1802 lebte auch Wilhelm von Humboldt als
preussischer Gesandter in Rom, der Mann, der es
mit seiner Frau wie wenige verstand, die besten und
edelsten Kräfte in reger und freudiger Thätigkeit auf¬
gehen zu lassen . Er war Zoega’s Nachbar in der
Via Gregoriana, dieser unterrichtete seine älteste
Tochter im Griechischen, und an der sehr belebten,
wissenschaftlich wie künstlerisch angeregten Gesellig¬
keit des Humboldt’schen Hauses nahmen sowohl
Zoega, wie bald darauf auch Thorvaldsen teil, der
hier auch mit Rauch zusammentraf. Eine hübsche
1) Ad. Rosenberg, der in seinem »Tliorwaldsen«
S. 12 Zoega zu einem reichen Manne macht, sagt S. 15
von Thorvaldsen; »Wo er den Lehren Zoega’s folgte,
der den Höhepunkt der antiken Kunst in den röntisch-
etrnskischen Thonreliefs [was heisst das?] and in den Vasen¬
malereien der Etrusker [so!] sah, da geriet er in eine
trockene Manier, die nur sein angeborenes Schönheits¬
gefühl etwas erträglicher machte. Woher Rosenberg das
nur weiss? Falscheres und Ungerechteres lässt sich gar
nicht ersinnen.
Abb. 2. Skizze Thorvaldsen’s
Erimierung an diesen Verkehr bietet die an der Spitze
dieses Aufsatzes wiedergegebene Zeichnung Thor¬
valdsen’s (Abb. 1), die sich unter den Schätzen des
Thorvaldsenmuseums in Kopenhagen findet; ich ver¬
danke deren Photographie der Güte meines verehrten
Freundes, Professor Ussing in Kopenhagen. Der so
überaus charakteristische Kopf Humboldt’s, mit der
eingezogenen Stirn, dem starken Vorsprung der Brauen,
dem grossen Auge, ist unverkennbar, wenn wir auch
mehr an die Züge des Greises, wie sie Krüger ver¬
ewigt hat, gewöhnt sind. Thorvaldsen hatte den
Kopf zuerst mehr von vorn gezeichnet, dann aber
diesen Versuch ausgestrichen und den Kopf von neuem
in strengem Profil gezeichnet, um ihm so das Bild
seines Lehrers gegenüberzustelleiU). Zoega, damals
erst etwa fünfzigjährig, erscheint älter; häufige Krank¬
heiten, beständige häusliche Nöte, angestrengteste
Arbeit um der Wissenschaft, wie um des täglichen
Brotes willen hatten den Mann früh altern lassen.
Aber die hohe Stirn, das seelenvolle Auge und der
feine Zug um den Mund (dessen Bildung mit der
vortretenden Unterlippe in Dänemark häufig begegnet)
verraten den tiefsinnigen und feinsinnigen, scharfe
Beobachtung mit eingewurzelter Neigung zum Mysti¬
zismus verbindenden Forscher. Die zusammenge¬
sunkene Haltung wird nicht allein eine Folge des
Alters sein, sondern rührt wohl auch daher, dass
Zoega, wie eine Linie zu verraten scheint, sitzend
und an die Stuhllehne zurückgelehnt aufgenommen
ward. Wir glauben uns in das Humboldt’sche
Zimmer versetzt und begreifen das Interesse, mit
dem der junge Künstler den charakteristischen Gegen¬
satz in den Zügen seiner beiden Gönner, wie sie
sich miteinander unterhalten, mit wenigen Strichen
festhielt. Die Zeichnung muss vor dem Herbst 1808,
wo Humboldt Rom verliess, entstanden sein.
Aber auch sonst haben Zoega’s scharfe und aus¬
drucksvolle Züge Thorvaldsen’s Stift beschäftigt. Ein
anderes Blatt im Thorvaldsenmuseum, das durch den
Entwurf einer Gruppe für das Schloss Christiansborg
(Herakles und Hebe)
etwa ins Jahr 1 805
datiert wird, führt
Zoega noch zwei¬
mal in flüchtigen
Umrissen vor. Die
eine Skizze (Abb. 2)
giebt das gleiche Pro¬
fil wie jene Doppel¬
zeichnung, nur noch
schärfer und magerer,
Nase und Kinn noch
spitzer; die andere
1) Zoega’s Bild¬
nis ist danach bereits
mitgeteilt in der
»Strassbnrger Fest¬
schrift zur 46. Ver¬
sammlung deutscher
Philologen« (Strass¬
bing, 1901), S. 1.
Abb. 3. Kai'ikatiir von einem
Skizzenblatte Thorvaldsen’ s
THOKVALDSEN UND ZOtGA
195
(Abb. 3) krönt die kaiikaturartig vergröberten Züge
mit ein paar Hörnern! Das ist ein grausamer Spott
des übermütigen Künstlers. Wer weiss, dass Fernow
(auch ein Mitglied des Kreises, der sich um Humboldt
und Zoega gebildet hatte) in seinem anonym er¬
schienenen »Sitten- und Kulturgemälde von Rom«
(Gotha, 1802) bei seiner Schilderung des Cicisbeats
und ähnlicher Unsitten des römischen Ehelebens be¬
sonders die schöne Frau Zoega im Sinne gehabt hat,
wird sich über den Hauptschmuck des Gatten nicht
wundern; Thorvaldsen aber konnte besser als ein
anderer darüber un¬
terrichtet sein, da Frau
Zoega’s Kammer¬
jungfer Anna Maria
Magnani seine Ge¬
liebte war, die ihn
zwanzig Jahre lang
mit eifersüchtigen
Banden gefesselt hielt.
Diese Karikatur
sollte aber nicht das
letzte Wort Thorvald¬
sen ’s über Zoega
bleiben. Als der
grosse Gelehrte, den
kurz vorher die Ber¬
liner Akademie der
Wissenschaften zu¬
gleich mit Goethe zu
ihrem Mitglied er¬
wählt hatte, am 1 0. Fe¬
bruar 1809 der tücki¬
schen Perniziosa er¬
lag, war Thorvaldsen
der berufene Künst¬
ler, um seine Züge
festznhalten, sei es an
Zoega’s Grabe in
der Kirche S. Andrea
delle Tratte, sei es für
das Pantheon, in dem
seine Büste aufgestellt
werden sollte. Thor¬
valdsen nahm denn
auch eine Totenmaske
und entwarf ein paar
Zeichnungen zur
Ausführung ist weder das eine, noch das andere
Denkmal gekommen.
Die uns noch erhaltenen Zeichnungen sind
von zwiefacher Art. Eine schliesst sich dem nach
dem Leben entworfenen Bildnis insofern an, als
sie gleichfalls Zoega im Rock und mit der Hals¬
binde darstellt (Abb. 4). Das Blatt befindet sich auch
im Thorvaldsenmuseum; der gütigen Vermittelung
des Direktors, Herrn Kammerherrn Meldahl, verdanke
ich eine Photographie. Die Zeichnung rührt wohl
sicher von Thorvaldsen selbst her. Sorgfältig und
recht lebendig ausgeführt, trägt sie doch deutlich
einen idealisierenden Charakter. Alle Linien sind ihrer
Schärfe beraubt und rundlich geworden, die auffallende
Bildung der Kinnbacken ist gemildert, der Blick
starrer und leerer geworden, und die Locken im
Nacken bilden ein besonders auffälliges Zugeständnis
an den Idealstil. Es scheint, dass die Zeichnung
nicht sowohl als Vorlage für ein plastisches Werk,
sondern als Ersatz eines Gemäldes dienen sollte; wer
sie aber mit der oben abgebildeten Skizze nach dem
Leben vergleicht, wird keinen Augenblick schwanken,
wo der wahre Zoega zu finden ist.
Neben den vier besprochenen Zeichnungen, die
alle bisher unbekannt
waren, hat Thorvald¬
sen noch ein Profil¬
bild Zoega’s entwor¬
fen, das in mehreren
Exemplaren auf uns
gekommen ist. Bald
nach Zoega’s Tode
erschien als letzte
Tafel seines klassi¬
schen, vorzeitig ab¬
gebrochenen Werkes
Li bassirilievi antichi
di Roma eine nur
leicht schattierte Um¬
risszeichnung, als Re¬
lief auf einer runden
Platte dargestellt, nach
einer Zeichnung Thor-
valdsen’s von C. Sil-
vestrini fein gestochen
(Abb. 5). Dieselbe
Vorlage hat zehnJahre
später dem kameen¬
artigen Stiche des
jungen Dresdner Kup¬
ferstechers Anton
Krüger zu Grunde ge¬
legen, der(i8ig) Wel-
cker’s Buche » Zoega’s
Leben- beigegeben
ward (Abb. 6). Die
Zeichnung war offen¬
bar zur Grundlage
eines Reliefs bestimmt,
vermutlich des Grab¬
reliefs für S. Andrea
delle Tratte. Daher die klassische Nacktheit, daher
die klassische Lockenfülle im Nacken, die an Dannecker’s
Schillerbüste erinnert, jede Locke stilistisch zugestutzt.
Die seltsam gewundene Haarpartie vor dem Ohre
stimmt mit der flüchtigen Andeutung in der Skizze
nach dem Leben (Abb. 1) überein, geht mm aber in
den Bart über, während in der ausgeführten Zeich¬
nung (Abb. 4) beides naturalistischer wiedergegeben
und voneinander geschieden ist. Das Vorschieben
des Kopfes, die so charakteristisch vortretende Unter¬
lippe, die spitze Nase, das alles hat dem klassischen«
Stil weichen müssen. Und während alle diese Uber-
einstimnumgen beweisen, dass die gleiche Zeichnung
Abb. 4. Nach einer Zeichnung Thorvalcisen’s im
Thorvaldsen- Museum
THORVALDSEN UND ZOEGA
196
zu Grunde lag: welche Verschiedenheit nicht bloss
der Linien, sondern auch des gesamten Charakters
hl beiden Stichen! Namentlich Krüger’s Stich, heut-
...itage das verbreitetste Bild Zoega’s, entfernt sich
am weitesten von dem wirklichen Zoega.
Wohin Thorvaldsen’s Originalzeichnung für die
beiden Stiche gelangt sein mag, ist unbekannt, ln
Welcker’s Nachlass (auf der Bonner Bibliothek) be¬
findet sich nichts dergleichen, ebensowenig im Thor-
valdsenmuseum. Dagegen besitzt die Kopenhagener
Glyptothek eine hierher gehörige Zeichnung als Ge¬
schenk des Direktors P. Krohn. Sie gleicht mehr
dem Stiche Silvestrini’s, als dem Krüger’s, ist aber
so flau, dass sie nach dem Urteile des Herrn Th.
Abb. 5. Nach dem Stich C. Silvcstrini’s
Oppermann unmöglich von Thorvaldsen selbst her¬
rühren kann. Dies Urteil wird durch eine grosse
Photographie bestätigt, die ich der Liebenswürdigkeit
des Herrn Direktors C. Jacobsen verdanke^). In noch
viel geringerem Masse kann eine Zeichnung auf Echt¬
heit Anspruch machen, die, früher in Professor
Hoyen’s Besitz, jetzt durch ein Geschenk Professor
Ussing’s dem historischen Museum im Schlosse
Frederiksborg einverleibt ist; nach der Photographie,
die ich von Ussing erhalten habe, ist es eine unge¬
schickte Kopie eines mässigen Zeichners. Dagegen
liegt Grund zu der Vermutung vor, dass das Original
wenigstens bis vor kurzem sich noch in der Familie
Zoega’s befand. Nach einer Mitteilung Herrn Meldahl’s
1) Eine ähnliche Bleistiftzeichnung, in einigen Neben¬
dingen abweichend, besitzt der Lehrer Herr Th. Rausch¬
mann in Oltmachau bei Neisse, der sie mir freundlichst
zur Prüfung mitteilte.
ward nämlich im Jahre 1897 von einem Fräulein
M. L. Zoega in Antwerpen ein Bildnis Zoega’s dem
Thorvaldsenrnuseum zum Kauf angeboten, aber leider
nicht erworben. Dies ist vermutlich eine Urenkelin
Zoega’s, dessen Sohn Friedrich Salvator, Thorvaldsen’s
Patenkind, nach langer Lehrerthätigkeit in Hofwyl
und Beauvais, 1871 bei einer Tochter in Belgien
starb. Eine Witwe Therese Julie Zoega, wahrschein¬
lich eine Schwiegertochter Friedrich Salvator’s, die
von Paris nach Antwerpen übergesiedelt war, ist
dort 1895 gestorben. Sie hinterliess eine Tochter
Marguerite Berthe Marie Emilie (doch wohl identisch
mit jener M. L. [B.?] Zoega), die 1898 einen Herrn Lair
in St. Gilles (Rue Fontaines 44) geheiratet hat, aber
Abb. 6. Nach dem Stich Ant. Krüger' s
trotz der Nachforschungen des Herrn H. Hymans,
dem ich durch Vermittelung des Professor Fr. Cumont
in Brüssel diese letzten Nachrichten verdanke, nicht
mehr auffindbar ist. Ob freilich diese vermutliche
Originalzeichnung Thorvaldsen’s für die Kenntnis
der wirklichen Züge Zoega’s von Bedeutung sein
würde, scheint mir nach obigen Darlegungen recht
fraglich. Die sicherste Grundlage wird immer jene
Zeichnung nach dem Leben (Abb. 1) bieten; daher
denn auch ein Relief des grossen Gelehrten, das
kürzlich von dem jungen Strassburger Bildhauer
Stark für den Bibliotheksaal des Deutschen Archäo¬
logischen Instituts in Rom angefertigt worden ist,
statt der späteren Stiche jene Originalzeichnung in
Relief umzusetzen gesucht hat^).
1) Abgüsse können durch meine Vermittelung für
20 Mark bezogen werden.
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
IM Königlichen Schlosse zu Lissabon befindet sich
ein Gemälde, das schon öfters die Aufmerksam¬
keit der Kunstfreunde auf sich gezogen hat. Es
stellt eine Madonna mit dem Kinde in einer Land¬
schaft thronend, umgeben von Heiligen, vor; hinter
dem Stuhl der Mutter Gottes erscheinen deren Eltern,
weiterhin öffnet sich eine prächtige Renaissancehalle
mit Durchblicken auf eine weite bergige Landschaft,
in deren Mitte das Meer, rechts eine Palme, links
eine Ruine von antikem Charakter sichtbar wird.
Musizierende Engelgruppen stehen hinter der Ba¬
lustrade, die die heilige Versammlung von der weiten
Welt abschliesst (siehe die umstehende Farbentafel).
Das Bild wird der Brunnen des Lebens genannt:
von dem Quell, der zu Füssen der Madonna, aus
einem geflügelten Engelsköpfchen rinnend, entspringt
und sich in ein nur halb sichtbares ruudes Becken
ergiesst. Rechts am Rande dieses Beckens befindet
sich eine Signatur:
lOANNES
HOLBEIN
FECIT
1519.
Der näheren Beschreibung des Bildes sind wir
durch Beigabe der Abbildung überhoben, die sich
einerseits auf die einzige in Deutschland existierende
Photographie, andererseits auf eine Ölkopie des Bildes
in halber Grösse des Originals stützt. Die Photographie
hatte Herr Geheimrat Dr. Purgold darzuleihen die
Güte gehabt, die Kopie ist von Fräulein Schulze-Berge
auf Veranlassung des Unterzeichneten hergestellt
worden. Seine Majestät der König von Portugal ge¬
ruhte das Gesuch um Anfertigung einer Kopie zu
genehmigen, indessen gelang es leider nicht, den
hohen Besitzer des Bildes zur Zulassung einer neuen,
mit Hilfe eines modernen Objektivs herzustellenden
photographischen Aufnahme zu bewegen. Deshalb
musste die vor dem Jahre 1865 hergestellte Photo¬
graphie zu Grunde gelegt werden. Das dabei ver¬
wendete Objektiv lässt die zu jener Zeit noch nicht
überwundenen optischen Fehler erkennen. Nur ein
Kreis von der Breite des Bildes ist ziemlich scharf
und genügend hell; die oberen und unteren Partien
sind verschwommen und dunkel. Hier half die Kopie
aus, die auch für die Farbengebung massgebend sein
musste. Die Herstellung der Druckplatten ist eine
besonders rühmenswerte Leistung des Herrn Professors
Rieh. Berthold, Lehrers an der Königlichen Kunst¬
akademie zu Leipzig.
Das Bild galt zunächst, nachdem es bekannt ge¬
worden war, für eine Arbeit Hans Holbein’s des
jüngeren. Woltmann hat es in der ersten Auflage
seines Werkes mit Begeisterung gepriesen; in der
zweiten freilich verwirft er es kurzer Hand als nieder¬
ländisch. Die Inschrift ist ihm verdächtig, das Bild
selbst hat er aber nie gesehen, jetzt gilt das Werk
fast allgemein als eine Schöpfung Hans Holbein’s
des älteren. Für alle drei Auffassungen lassen sich
Gründe und Gegengründe angeben, die neben¬
einanderzustellen vielleicht nützlich, jedenfalls aber
interessant ist.
Da bei der Erörterung von Urheberfragen das
Objektive dem Subjektiven, das Dokument der Aus¬
legung voranzugehen hat, so beschäftigen wir uns
zuvörderst mit den alten Berichten und mit der In¬
schrift, ehe wir an die Erörterung der verschiedenen
Lehrmeinungen gehen dürfen.
Der älteste Fundbericht findet sich im Abecedario
pittorico del pellegrino Antonio Orlandi accresciuto
da Pietro Guarienti Venezia 1753, p. 252 (vergleiche
Woltmann, Holbein II2, 132). Dieser laufet:
Giovanni Holtein, nome da me veduto in un
quadro, ch’e in una regia capella di Lisbona in
cui si rappresentano gli Attributi di Maria Vergine,
il quäl quadro e perfettamente bello, bon disegnato
e colorito, con quautitä di figure. Dalla maniera,
diligenza e composizione di detto quadro, e dell’
anno 1519 posto sotto al nome di lui, pare che
possa dirsi esso esser stato scolare dell’ Holbens,
che circa a quel tempo fioriva et che mori nel
1554-«
Eine zweite Nachricht über das Bild giebt, etwa
hundert Jahre später, A. Raczynski in dem Werke
Les arts en Portugal, Paris 1846. Der betreffende
Passus lautet:
»Bemposta (pres de Santa Anna, 26 mars 1844).
Dans la sacristie de la chapelle du chäteau, au dessus
d’une armoire est place un tableau, signe de Jean
Holbein. II porte la date de 1619 (sic). II a ä peu
pres 2 metres de hauteur sur 1 m 30 de largeur.
Les figures du premier plan ont un tiers de grandeur
naturelle. C’est un admirable ouvrage, et il est
d’une Conservation parfaite. Les bourreaux, appeles
restaurateurs, n’y ont pas touche. Le sujet est la
Salute Vierge assise sur un twne tenant l’enfant Jesus
dans ses bras et entouree de beaucoup de saintes.
Derriere le tröne se voit une riche et belle architecture
dans le style de Frangois PL Ce fut la fille de
Jean IV, la reine Catherine de Portugal, soeur de
Pierre 11 et femme de Charles II d’ Angleterre, qui,
etant devenue veuve, rapporta ce tableau d’Angleterre
et en fit present ä cette chapelle. Je tiens ces ren-
seignemens des ecclesiastiques qui la desservent.«
Der erste der beiden Gewährsmänner, Guarienti,
bekleidete das Amt eines Inspektors der Dresdner
Galerie und war in den Jahren 1733—1736 in
Portugal anwesend. Um diese Zeit also schon muss
die Signatur auf dem Bilde gestanden haben. Dieser
Umstand macht eine Fälschung, die heute nicht so¬
gleich zu erkennen wäre, ziemlich unwahrscheinlich;
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
10-'
verstärkt aber wird diese Unwahrscheinlichkeit, wenn
:i;an heJenkt, dass sich das Bild an einem Orte be-
V 0 man an einer Täuschung kein erhebliches
iii'jressc hatte, nämlich erst in königlichem Besitz,
in der Schlosskapelle zu Bemposta. Wenn es
r ciiug ist, was die Tradition angiebt, dass das Bild
uib England stammt, so würde ein Fälscher wohl
kaiun auf ein so frühes Jalir verfallen sein, sondern
eine Jahrcsziffer gewälilt haben, die dem Aufenthalt
Hoibcin’s in Eng¬
land entsprochen
hätte. Auch darf man
einer kirchlichen
Tradition mehr als
jeder anderen glau¬
ben. Hierzu kommt,
dass zwei namhafte
Forscher, die das
Bild selbst haben
prüfen dürfen, für
die Echtheit der Sig¬
natur eintreten. Da
nun Woltmann für
den Verdacht einer
Fälschung keine
Gründe angiebt, so
ist es nicht möglich,
diese zu beseitigen.
Nach einer freund¬
lichen Mitteilung
Karl Woerniann’s
hält L. Scheibler die
Bezeichnung für
echt, und Karl Justi
hatte die Güte, münd¬
lich und schriftlich
zu erklären, dass er
bei zweimaliger Be¬
sichtigung keinen
Anlass gehabt habe,
die Inschrift anzu¬
zweifeln.
Da es indessen
Gelehrte giebt, die
den niederländi¬
schen Ursprung des
Bildes für möglich
halten, so sei er¬
wähnt, was für
diese Auffassung
spricht. Wenn man
die Mittelgruppe mit ihren teils sitzenden, teils
stehenden Figuren betrachtet, so wird man aller¬
dings an verwandte Darstellungen Memling’s (Brügge,
Johanneshospital) und noch mehr an solche Gerard
David’s (Rouen, München) erinnert. Allein es sind
doch wohl nur die Gruppierung, die Art des Sitzens,
die liebevolle Durchführung und das klare Kolorit
des Bildes, die Stützpunkte für die Meinung darbieten.
Der Typus der Heiligengesichter mutet weit mehr
oberdeutsch an; unter den Handzeichnnngen , die
Holbein dem älteren zugeschrieben werden, findet
man einige, die mit Gestalten des Bildes identisch
sind. .Auch die Form der Engelflügel, die in dem
Lissaboner Bilde mehr heraldisch ist, kommt bei
niederländischen Meistern selten vor; ich habe sie nur
bei Lukas van Leiden gefunden. Van Eyck, Memling,
G. David, H v. d. Goes geben ihren Engeln
Schvvanenflügel.
Noch ein anderer Umstand lässt speziell den
oberdeutschen Ur¬
sprung des Bildes
vermuten. Die Re¬
naissancehalle, die
sich hinter der Ver¬
sammlung erhebt,
macht es wahrschein¬
lich, dass der Maler
des Bildes in Augs-
burg gelebt hat.
Denn dieselbe Halle
findet sich mit ge¬
ringen Abänderun¬
gen, auf welche wir
weiter unten zu
sprechen kommen,
auf mehreren Reliefs
von Hans Daucher.
Eines dieser Reliefs
bewahrt die k. k.
Schatzkammer in
Wien, ein zweites das
Berliner Museum,
ein drittes, aus Sig¬
maringen, erschien
1901 auf der Re¬
naissanceausstellung
in München (Abbil¬
dung in dieser Zeit¬
schrift N. F. XIII, S.
29, sehr deutlich Gaz.
d. B. Arts, 1899, 111.
per XXII, S. 378).
Hans Daucher war
kein sehr origineller
Künstler; er setzte
gern zusammen und
nahm das Gute, wo
er es fand. M. Fried¬
länder hat darauf hin¬
gewiesen, dass die
Mittelgruppe des Sig¬
maringer Reliefs nach einem Dürer’schen Holzschnitt
gebildet ist. Das Sigmaringer Relief ist mit der Jahres¬
zahl 1520 bezeichnet. Ob einer der Holbeins die
Architektur nach einem der Reliefs gezeichnet hat
oder ob beide Kunstwerke etwa eine gemeinsame
Quelle in einer italienischen Zeichnung haben, bleibe
dahingestellt. Anklänge finden sich auch auf einer
Zeichnung Dürer’s von 1509, die Madonna mit
Engeln, in Basel (abgebildet in Philippi’s Einzel¬
darstellungen III, 206). Der Ursprung der Architektnr-
Müdonnenrelief von tlans Daucher
Besitzer Fürst zu Hohenlohe-Sigmaringen
Der Brunnen des Lebens
V’hii ILiiis lliilliriii. I.issabon, Ivgl. Schluss
Zeitschrift lüi li i I d e lul c ICnii t.
l'iiii.
Verlay von b. A, Secniaiin in I eip/i
rhi' i.t •.
,1
' 4äl
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
199
formen ist jedenfalls in Oberitalien zu suchen; man
erinnere sich der Grabmäler und vergleiche die auf¬
gesetzten Pilaster an den Fenstern des Doms zu
Como. Italienische Zeichnungen waren ja in Augs¬
burg nichts Seltenes, und dass beide Künstler, der
Bildhauer H. Daucher und der Maler des Bildes,
dieselbe Quelle benutzt haben, dafür spricht die ganz
gleiche Perspektive mit der Höhe des Augenpunktes,
die den Vordergrund so ausgedehnt erscheinen lässt.
Die Wahl eines solchen Standpunktes ist nur da an¬
gemessen, wo es sich darum handelt, eine Menge
Personengruppen sichtbar zu machen, wie auf dem
Lissaboner Bilde; sie hat aber keinen Sinn für die
Daucher’schen Reliefs, auf denen nur je eine kleine
Figurengruppe erscheint. Daucher hatte kein Gefühl
für das Angemessene und war nicht selbständig genug,
sonst würde er die Rundsäulen nicht so weit vor¬
geschoben und den Boden weniger steil ansteigend
gezeichnet haben, auf dem seine Gruppen zu rutschen
scheinen.
Die deutschen Gelehrten teilen gegenwärtig wohl
allgemein die Ansicht, dass das Bild in Lissabon dem
älteren Hans Holbein zuzuweisen sei. Diese Ansicht
wird gestützt einerseits durch das Vorkommen von
Handzeichnungen, deren Typen sich auf dem Bilde
wiederfinden, andererseits auf die oben erwähnte
Perspektive der Architektur und des Terrains, die
mit der Darstellung der Figurengruppen nicht har¬
moniert. Das letztere hat besonders H. A. Schmid
(Repertorium XIX, 278 ff.) hervorgehoben.
Ehe wir diese Gründe besprechen, sei gestattet,
einige objektive Kennzeichen zu erwähnen, die die
Urheberschaft des jungen Holbein wahrscheinlich
machen.
Gegen den älteren und für den jungen Holbein
spricht zunächst die Schreibweise des Namens. Der
ältere Holbein hat seinen Namen, wo er ihn selbst
schrieb, fast immer in der Augsburger Art, mit ai
geschrieben, nie mit ei; nur zweimal setzt er Holbon.
Der jüngere Holbein dagegen schreibt seinen Namen
stets mit e; hiervon ist nur eine Ausnahme bekannt,
das Bildnis des Lord Tuke in München. Dies Ge¬
mälde hält aber ein Holbeinkenner wie Wornum
nicht für echt (the style does not proclaim it to be
the work of Holbein). Wornum war bekanntlich
der erste, der die Urheberschaft Holbein’s für das
Dresdner Madonnenbild bestimmt in Abrede stellte;
seiner Stimme wird daher Gewicht beigemessen
werden dürfen. Woltmann sagt über das Porträt
des Lord Tuke, das Bild habe durch Putzen seine
Schatten eirigebüsst und der Ton des Gesichts sei
übertrieben rot. Er hütet sich auch, direkt auszu¬
sprechen, das Bild sei von Holbein selbst, sondern
sagt nur, es sei dennoch noch immer ein durch
Wahrheit und Durchbildung ausgezeichnetes Bildnis,
zugleich in der Auffassung scharf und streng, wie
manche von Holbein’s Bildern gerade in dieser Zeit«.
Die Berufung auf die Schreibweise des Namens
wird für manchen Kenner der Zeit und ihrer Ge¬
wohnheiten wenig belangreich erscheinen. Stellt man
aber die Zahl der Fälle nach Woltmann II2, 61 ff.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XfV. H. 8.
zusammen, so ergiebt sich doch eine grosse Regel¬
mässigkeit. Nach dem Verzeichnis der Werke des
alten Holbein ist Nr. 4 bezeichnet Holbain (1493),
Nr. 5 Holbain (1499), Nr. 11 Holbain, Nr. 17 Hol¬
bain, Nr. 20 Holbain, Nr. 107 Holbain, Nr. 108
(Bildnis Sigmund’s) Holbain, Nr. 207 Hoilbayn, Nr. 235
(zweites Bildnis Sigmund’s) Holbain, Nr. 243 Holbain,
Nr. 247 Holbon, Nr. 262 (von Sigmund, Madonna
mit dem Zettel) Holbain, Nr. 263 Holbon, Nr. 272
Holbain, Nr. 277 (Bildnis des alten Hans, angeblich
Selbstporträt) Holbain, Nr. 285 Holbain, Nr. 288
Holbain. Der jüngere Holbein dagegen hat auf
seinen unzweifelhaften Werken stets e statt a ge¬
schrieben: Nr. 10 (Amerbach von 1519) Jo. Holbein,
Nr. 113 (Wappen, Werkstattarbeit) Holbein, Nr. 169
Holbein, Nr. 176 Holbein (Echtheit fraglich), Nr. 214
Holbein, Nr. 215 Holbein, Nr. 219 (das oben erwähnte
Bild des Sir Bryan Tuke) Holpain; Holzschnitte:
Nr. 199 Holben (EN aus EIN zusammengezogen),
Nr. 200 Holben (wie der Band I, Seite 399 abge¬
druckte Holzschnitt zeigt, ist der Name Holbein ganz
richtig geschnitten).
Wenn man somit allein nach der Bezeichnung
urteilen dürfte, müsste man sagen, dass die Urheber¬
schaft des jüngeren Holbein die wahrscheinlichere
sei. Denn es wäre gezwungen, anzunehmen, dass
der alte Holbein mit etwa 55 (nach Stoedtner 46)
Jahren seine Namensschreibung sollte geändert haben,
weil er nach dem Eisass gezogen war.
Dagegen könnte nun eingewendet werden, dass
im Jahr 1519 der junge Holbein 22 oder 23 Jahre
alt gewesen sei; wie sollte wohl ein so junger Mann
ein solches Werk hervorbringen? Dem ist gegenüber¬
zuhalten, dass das Jahr 1519 des jungen Holbein
Meisterjahr ist. Damals (im Oktober) malte er das
Bildnis Amerbach’s, eine Leistung, die er (nach
Wornum) nicht wieder übertroffen hat. ln diesem
Jahre trat er auch in Basel in die Zunft zum Himmel
als Meister ein. Da wir schon Gemälde von seiner
Hand haben, die aus dem Jahr 1515 stammen, so
ergiebt sich eine mehrjährige Lernzeit, die für ein
solches Genie hinreichend ist, ihn zum Meister reifen
zu lassen.
Vei gleicht man die Renaissancehalle des Hinter¬
grundes mit den erwähnten Reliefs von Daucher, so
wird man gewisse Abweichungen finden, die für die
Frage von Belang sind. Die Kapitäle der runden
Säulen sind verändert, man findet sie genau so, wie
auf dem Bilde, in Zeichnungen des jungen Holbein,
nämlich z. B. in dem Entwurf für das Haus zum
Tanz im Berliner Kupferstichkabinett. Der Maler hat
ferner der Halle eine Balustrade aufgesetzt; solche
Balustraden sind Holbein’s des jüngeren Liebhaberei:
bei dem alten Holbein findet man keine. Links und
rechts neben den äusseren Pilastern der Halle findet
man, etwas zurückgeschoben, Anbauten, die der
schüchternen Renaissancearchitektur der Aussenflügel
des Sebastiaiialtars verwandt sind. Man beachte die
Voluten. Endlich hat Holbein der jüngere auf der
oben erwähnten Zeichnung in Berlin die Säulen auch
vor einen offenen Rundbogen gestellt, so dass sie
26
2 -'0
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
uie Öii" -n-' Teil /erdecken, wie dies auf dem
! issab^.:i- r Bi'do sichtbar ist.
■.V d- e - :-‘ive, die bei dem jungen, nicht aber
bei VtM i !-_/ibein voi kommen, sind die Kerben
in . i .<i;n:Jb>JMe”, die Medaillons in den
/w' L. ' ' 'b- Es:
das für die Urheberschaft des
. : r, , .1 ? rechen scheint, verdient besondere
; c \. i. lititid hat in seiner Habilitations-
; , r- l -"'ickelung des jungen Holbein
. _ _ ; 11 , ; ^;;'aer in einem Aufsatz des Re-
I . :b. . ff.) auf die fortschreitende Ent-
■,-.t .Anwendung raumschaffender Mittel
: 1 • . der hingewiesen und setzt in einer Ver-
; mTs : des bebastianaltars einerseits und der Karls-
r'd . r i M-eiiztragung andererseits auseinander, dass
und warum der erstere vom alten Hans Holbein, die
letztere vom jungen Holbein herrühren müsse. Er
spricht auch in der Habilitationsschrift von dem
Lissaboner Bilde und meint, die unrichtige Perspektive
mit dem scharf ansteigenden Vordergrund könne nur
der alte Hans verbrochen haben; denn dieser habe
mit der Perspektive auf gespanntem Fusse gestanden,
während dem jungen Holbein, wie das Karlsruher
Bild zeige, das ursprüngliche Gefühl für die richtige
perspektivische Zeichnung innegewohnt habe.
Hiergegen ist zu sagen, dass die Perspektive des
Lissaboner Bildes, wenn man nur die Landschaft
und die Architektur in Betracht zieht, nicht eigent¬
lich unrichtig genannt werden kann. Der Augen¬
punkt ist nur sehr hoch genommen, wie der Meeres¬
spiegel anzeigt. Die starke Verjüngung der Flucht¬
linien kommt auf Rechnung des italienischen Vor¬
bildes. Die ganze vordere Figurengruppe in der
unteren Hälfte des Bildes freilich ist von dieser Per¬
spektive nicht beherrscht, man müsste den Figuren
auf die Köpfe sehen. Es ist dieselbe Art des Zu¬
sammenbauens, der wir bei dem älteren Holbein
Zeichnung von Hans Holbein d. j.
Zeichnung von Hans Holbein d. j.
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
201
auch sonst, zuletzt beim Sebastianaltar, begegnen. Er
hatte kein Gefühl für die perspektivische Einheit
einer Komposition und konnte daher die Wissen¬
schaft der Perspektive seinem Sohne nicht vermitteln.
Es ist nicht unbedenklich, vorauszusetzen, dass die
Genialität des jungen Holbein eine unbewusste Lösung
so schwieriger Probleme, wie es die einheitliche per¬
spektivische Behandlung einer grossen Komposition
ist, ermöglicht habe. Dass Holbein ein geborener
Perspektivkünstler gewesen sei, lässt sich nicht sagen,
man sehe nur die frühen Bildnisse mit der miss¬
verstandenen Architektur an. Perspektive wird gelernt
oder nicht gelernt; ahnen lässt sie sich nicht. Aber
es ist sehr wahrscheinlich, dass Holbein bald den
Geheimnissen der Perspektive nachgegangen ist; ein
einziges Blatt von Mantegna konnte ihm später die
Augen geöffnet haben. Die Karlsruher Kreuztragung
braucht nicht unbedingt vom jungen Holbein zu
stammen, sie kann vielmehr auch von Sigmund her¬
rühren; und selbst angenommen, sie sei von dem
jungen Hans, so beweist die hier vorhandene Richtig¬
keit der Perspektive noch nicht die bewusste oder
unbewusste richtige Anwendung derselben überhaupt
oder auf einem späteren Bilde. Sondern die Richtig¬
keit der Perspektive kann von älterer Herkunft sein,
aus einem Stich, einer Zeichnung oder sonst woher
stammen. Übrigens konstatiert H. A. Schmid selbst
eine geringfügige perspektivische Abweichung in dem
Bilde.
Man wird gut thun, sich bei Erörterung der
Fragen, die die Familie Holbein betreffen, stets gegen¬
wärtig zu halten, dass neben Hans dem alten und
ist die Eliminationsmethode, die von A. von Zahn
angewandt worden ist, nicht die zum Ziele führende;
die von His versuchte Substitutionsmethode scheint
viel aussichtsreicher.
A. von Zahn hatte den geistreichen Einfall, die
Bezeichnung
S ■ H OLBAIN
auf einem Madonnenbildchen in Nürnberg auf Hans
Holbein den älteren zu deuten, statt, wie natürlich
wäre, auf Sigmund. Da die Inschrift in Spiegelschrift
auf einem Zettel steht, der aus einem Buche heraus¬
hängt, so nahm v. Zahn an, dass Hans sich den
Scherz gemacht habe, die ersten drei Buchstaben des
Namens Hans in dem Buche zu verstecken. Der
Punkt hinter dem S wurde, weil er nicht unten am
Buchstaben steht, sondern in der Mitte, »aus paläo-
graphischen Gründen« nicht für einen Abkürzungs¬
punkt, sondern für einen Trennungspunkt, wie er
zwischen einzelnen ausgeschriebenen Worten üblich
sei, erklärt.
Wenn diese grausam gelehrte Anmerkung nicht
dazu dienen soll, den unbequemen Sigmund gänz¬
lich zu beseitigen, so weiss ich nicht, wozu sie gut
sein mag. Denn jeder Kenner der Holbein’schen
Handzeichnungen wird wissen, dass sich solche Ab¬
kürzungspunkte auf den Blättern mehrere befinden.
Sie stehen niemals hinter ausgeschriebenen Worten,
sondern nur hinter Abkürzungen; sie stehen auch
nicht am Fusse der Buchstaben, sondern, wie auf
dem Nürnberger Bilde, in halber Höhe. Ich gebe
drei Beispiele:
Von einer Holbein’schen Zeichnung, Berlin. Ini Original
ist der Punkt hinter dem S in halber Höhe sichtbar
V r f . ^
# ö t; A .
. tte-ü'-'vöTvrc
Von einer Holbein’schen Handzeichnung (Weimar)
Von einer Holbein’schen Hand¬
zeichnung (Kopenhagen)
dem jungen noch eine schier unbekannte Grösse,
nämlich Sigmund, steht, wie eine Figur mit einer
Tarnkappe. Man fühlt Einwirkungen, Veränderungen,
kann sie aber nicht bestimmen. Es ist keine kleine
Aufgabe, diese Gleichung mit drei variablen Unbe¬
kannten auch nur annähernd zu lösen; und jedenfalls
H. A. Schmid hält seinem Opponenten F. Stoedtner,
der das paläographische Märchen wieder aufwärmt,
mit Fug entgegen, dass ihn schon das Durchblättern
des Berliner Galeriekatalogs davon hätte abhalten
müssen, den Einfall Zahn’s zu wiederholen. »Die
Inschriften werden auf die Bilder gesetzt, um zu
26*
’// Hans Holht'in d. ü. Madonna von Sigmund Holbein
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
203
verhindern, dass sie als Arbeiten anderer gelten.«
— Der Punkt in dem Bilde ist hier wirklich das
punctum saliens der Holbeinfrage. Er ist um so
wichtiger, als die drei Holbeins, die beim Sebastian¬
altar vermutlich mitgearbeitet haben, durch blosse
stilkritische Erwägung nicht als Sondergestalten ent¬
hüllbar sind. Denn Sigmund war vermutlich der
Schüler des alten Hans und der junge Hans lernte
wohl von beiden. Wenn irgendwo, so sind hier
objektive Kriterien am Platze.
Im Germanischen Museum hängt noch eine zweite
holbeinische Madonna, ebenfalls in kleinem Format,
gotischer, hausbackener, als die eben erwähnte mit
dem Zettel. Sie ist Hans Holbon 149 . bezeichnet.
Die letzte Ziffer ist undeutlich; früher las man 1492
oder 1493, neuerdings (R. Bergau in den Grenz¬
boten, 1876, pag. 76) 1499. Wenn nicht alles trügt,
haben wir in den beiden kleinen Bildern, die den¬
selben Gegenstand darstellen und die gleiche sorg¬
fältige Ausführung zeigen, die Meisterstücke der Ge¬
Vom Lissaboner
Bilde
Vom Sebastiansaltar
brüder Holbein vor uns, und zwar dürfte dann das
erste wirklich 1492 oder 1493 von Hans, das andere
1501 oder 1504 von Sigmund gemalt sein’).
Meisterstücke waren in jener Zeit vorgeschrieben;
es wurden sogar von den Zunftordnungen bestimmte
Aufgaben gestellt. Die Breslauer Malerzunft be¬
stimmte noch 1572, dass als Meisterstück die Dar¬
stellung der Geburt Christi oder des Kruzifixus ver¬
langt werden solle (Zahn’s Jahrbücher II, 351). Ist
die Vermutung richtig, so muss Hans der ältere seine
Madonna vor 1499 gemalt haben. Er lieferte schon
1493 bezeichnete Bilder, heiratete vermutlich 1494,
wie aus dem Steuererlass in diesem Jahre zu entnehmen
ist, und war wahrscheinlich ein oder zwei Jahre früher
Meister. Man hielt darauf, dass die Meister sich bald
verheirateten. Das Geburtsjahr des alten Hans Holbein
wird gewöhnlich mit 1460 angegeben; das ist zu
früh. Rechnet man von 1493 *^'rn fünfundzwanzig
1) Eine neuerliche Besichtigung macht mir doch die
Ziffer g an letzter Stelle am wahrscheinlichsten. Ich lasse
die Sache dahingestellt.
Jahre zurück, so kommt man auf 1468. Dies wird
annähernd das richtige Geburtsjahr sein. Die An¬
nahme Stödtner’s, dass er erst nach 1472 geboren
sei, ist nicht hinreichend gestützt, wie H. A. Schmid
(Repertorium XIX, 279 unten) darlegt.
Für Sigmund hat schon W. Schmidt (Zahn’s
Jahrbuch V, 58 Anm.) das Geburtsjahr scharfsinnig auf
1477 berechnet. Das würde sehr wohl mit der An¬
gabe seines Testaments von 1540 stimmen, dass er
»alt und guter Tage« sei, und widerspricht auch
nicht seinem Vorhaben, auf seine alten Tage die Reise
von Bern nach Augsburg zu machen, um seine Ver¬
wandten noch einmal zu sehen. Wäre er nahe an
siebzig gewesen, er würde an diese Unternehmung
nicht gedacht haben. Auf Sigmund wird also auch
die »Pflege Holbein’s« zu deuten sein, die in den
Augsburger Steuerbüchern 1477 auftaucht und 1503
verschwindet.
Der Altersunterschied der beiden Brüder beträgt
hiernach neun oder zehn Jahre; er ist wichtig für
die Beurteilung des Verhältnisses beider. Der ältere
wird auf den jüngeren lange Zeit einen bestimmen¬
den Einfluss ausüben — nicht nur als Lehrer in der
Malkunst, sondern in der ganzen Lebensführung.
Man stelle sich nur einen Elfjährigen und einen
Zwanzigjährigen vor: der Jüngere wird dann
von dem Älteren immer beherrscht, und diese
Überlegenheit wird noch lange fühlbar bleiben,
auch wenn der jüngere Bruder der begabtere
ist. Es ist im wesentlichen Sache des Tempera¬
ments, ob sich der Jüngere noch lange unter¬
ordnet oder nicht. Man kann dergleichen Be¬
obachtungen heute noch machen.
Wenn nun Holbein der ältere seinen wesent¬
lich jüngeren Bruder Sigmund in seiner Kunst
unterwiesen und ihn in den Wanderjahren unter¬
stützt hatte, so wird Sigmund eine gewisse Dankes¬
schuld ihm gegenüber gefühlt und durch emsige
Mitarbeit in den Jahren 1501 — 1517 abgetragen haben.
Dass Sigmund in die Werkstatt seines Bruders eintrat
und dort Zweitmeister wurde, geht aus den Steuer¬
beträgen hervor, die beide zahlen. Hans entrichtet
die Hälfte mehr, als Sigmund.
Von 1514 an ging es mit den Finanzen des
alten Holbein stark bergab. Ob daran der Wett¬
bewerb anderer tüchtiger Maler Augsburgs die Ur¬
sache war, oder ob der Mann dem flotten Leben des
damaligen Augsburg fröhnte - Gelegenheit bot sich
genug dazu — , kann hier unerörtert bleiben. Genug,
die Schulden nahmen überhand, einmal wird sogar
eine Klage um 32 Kreuzer anhängig. Schliesslich
kommt es auch zwischen Hans und Sigmund zum
Bruch. Dieser hatte von jenem die nicht unbeträcht¬
liche Summe von 34 Gulden zu fordern, und auch
er musste das Gericht darum zu Hilfe rufen; erliess
aber auch gleichzeitig eine Feststellungsklage, dass er
nicht verpflichtet sei, mit nach Isenhein zu ziehen,
wohin Hans sich gewandt hatte. Offenbar war Sig¬
mund ein sehr brauchbarer Arbeiter und die Ver¬
mutung von Ed. His, dass er den Sebastianaltar voll¬
endet habe, erscheint in Ansehung der Forderung
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
; iliel- Woltmann’s Annahme dagegen, dass sich
' vun Sigmund bares Geld geliehen habe, ist
_ ; -ahrscheinlich. Auch H. A. Schmid nimmt
s Sigmund erhebliche Partien des Sebastian-
■ ’ gestellt habe, und ohne die Mitwirkung des
■ ■.lu \'.!'iide das Bild ein vollkommenes Rätsel
Die vollendete Anmut und Schönheit einzelner
I ..'.st sich nur so erklären, dass ein dem
' . .vn 1 laus überlegenerer Genosse, der sich an nieder-
iänuischem Formenreiz gesättigt hatte, an der Arbeit
Dcteiligt hat. Dies kann kaum der junge Holbein
gewesen sein, der 1516 noch unvollendet war; An¬
mut aber ist etwas, das nur aus vollendeter Kraft
entspringt.
Man hat aus dem Umstande, dass von Sigmund
Sigmund Holbein. Zeichnung in Berlin
kein zweites signiertes Bild bekannt ist, schliessen
wollen, dass er als Maler unbedeutend gewesen sei
und nur Handwerksarbeit geleistet habe; also auch
in Bern, wo er von 1518 bis 1541 Bürger war.
Das erweist sich aber als unstichhaltig, wenn man
an die Zeitgenossen, den Meister vom Tode der
Maria, den der Lyversbergischen Passion, den von
Messkirch, der heiligen Sippe, des Marienlebens, des
Amsterdamer Kabinetts, der weiblichen Halbfiguren
u. s. w. denkt. Das waren doch auch Künstler, die
selten oder nie ihre Leistung bezeichnet haben. Der
Umstand, dass Hans seinen jüngeren Bruder gericht¬
lich zwingen will, ihn nach dem Eisass zu begleiten,
erweist die schwache Position und geschwächte Kraft
des Hans und lässt vermuten, dass Sigmund bis 1517
von Hans tüchtig ausgebeutet worden war. Wäre
Hans der ältere nun der Urheber des Lissaboner
Bildes, so hatte er solche verfehlte Gewaltstreiche
nicht nötig.
Dass dagegen Sigmund ein stiller, rechtschaffener
Arbeiter war, der etwas vor sich brachte und das
Seine zusammenhielt, lehrt uns sein Testament. Er
hinterliess in Bern Haus und Hof, Silbergerät, Maler¬
gold und -Silber, Farben u. s. w., und fügt stolz
hinzu, dass er alles mit seiner Hände Arbeit erspart
und zusammengelegt habe. Seine ganze Habe ver¬
macht er seinem lieben Brudersohn Hans aus
sonderer Liebe und Freundschaft, darmit er mit ihm
verwandt, zu einer freien und aufrechten Gabe«. An
Sigmund bewährte sich das Wort Moltke’s: Auf
die Dauer hat doch nur der Tüchtige Glück.«
Hans Holbein d. ä. Zeichnung in Chantilly
Die erhaltenen Dokumente lassen es als wahr¬
scheinlich erkennen, dass der letzte Wille Sigmund
Holbein’s vollstreckt worden ist, dass somit die Fa¬
milie des in England befindlichen Hans Holbein des
jüngeren in Besitz der ganzen Hinterlassenschaft ge¬
langt ist (vergl. Zahn’s Jahrbuch III, 133 ff.). Da¬
gegen ist vermutlich der künstlerische Nachlass Hans
HolbeiiTs des älteren durch den Bauernaufstand 1525
verloren gegangen und in alle Winde zerstreut worden
(ebenda, 121). ln dem Baseler Ratsschreiben an den
Konvent zu Isenheim, der von Hans des älteren Habe
spricht, ist nicht von Haus und Hof, noch von Silber¬
gerät die Rede, sondern nur von »etlich Werkzeug
drei Centner schwer und zwei Stübchen (Kisten) volL ,
die Holbein der jüngere mehrfach reklamiert, aber
nicht bekommen habe. Es wird darin die Thatsache
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
205
erwähnt, dass die Bauern nach früherer Mitteilung das
Werkzeug »in ergangener Aufruhr verschwendet-
hätten. Das Kloster hatte Holbein an die Bauern¬
schaft verwiesen, der Baseler Rat verlangt aber vom
Konvent Ersatz für seinen Bürger Holbein, da dieser
ja den Bauern nichts zur Aufbewahrung übergeben
habe.
Diese beiden Thatsachen, der Verlust des Nach¬
lasses des älteren Hans und die Auslieferung der Erb¬
schaft des Sigmund an dessen Verwandte, wecken die
Vermutung, dass manches, was unter dem Namen
des älteren Hans geht, von Sigmund herrühren könnte.
Insbesondere sind es die Handzeichnungen, über zwei¬
hundert an der Zahl, die seither sämtlich dem alten
Hans zugewiesen wurden, während der Gedanke, eine
Reihe oder, wie wahrscheinlich ist, viele könnten von
Sigmund herrühren, meines Wissens noch nicht er¬
örtert worden ist. Die etwa aufgetauchte Mutmassung
ist jedenfalls als aussichtslos oder unergründbar wieder
fallen gelassen worden.
Die Aufgabe ist schwierig, aber schwerlich un¬
lösbar. Wer die Zeichnungen im Berliner Kupfer¬
stichkabinett betrachtet, wird bald verschiedene Hände,
die sich dabei bethätigt haben, herausfühlen. Ob
aber die Zahl der beteiligten Individuen zwei, drei
oder vier sind und welche Blätter etwa Hans dem
älteren, Sigmund, Ambrosius und Hans dem jüngeren
zuzuschreiben wären, das wird ohne feste Anhalts¬
punkte, ohne objektive Kriterien, auch durch lange
Debatten nicht zu entscheiden sein. Denn allenfalls
hat man Vergleichsobjekte für Arbeiten des alten und
des jungen Hans; und da der Sohn vom Vater ge¬
lernt hat und seine Art der Darstellung erst nach¬
ahmt, ehe er selbständige Handschrift bekommt, so
wird die Entscheidung unsicher. Man lese nur den
Text Woltmann’s zu der Publikation der Holbein’schen
Zeichnungen. Für Sigmund war bisher unter den
Handzeichnungen keine Urheberschaft vermutet; sein
einziges sicher bezeichnetes Gemälde ist für die Frage
der Zeichnungen fast ohne Belang.
Vielleicht lässt man aber den nachfolgenden Satz
gelten: Alle echten gezeichneten Selbstbildnisse
richten die Augen auf den Beschauer. Der Grund
dafür ist der, dass der Künstler, der sich selbst im
Spiegel betrachtet, wenn er seine Augen zeichnen
will, seinem Spiegelbilde in die Pupillen sehen muss.
Seine Augenachsen und die seines Spiegelbildes bilden
dann eine ungebrochene gerade Linie, die stets auf
der Spiegelfläche senkrecht steht. Mag der Künstler
nun seinen Spiegel oder seinen Kopf drehen, wie er
will: die Augäpfel werden, wenn er sein Gegenüber
fixiert, unbeweglich auf den einen Punkt gerichtet
sein. In allen Selbstbildnissen, die diese Bedingungen
nicht erfüllen, sind die Augen nicht nach der Natur,
sondern nach dem Gedächtnis eingefügt, oder es sind
statt eines zwei Spiegel benutzt. Das erstere finden
wir zum Beispiel bei der unbeholfenen Zeichnung
des vierzehnjährigen Dürer; in den späteren Selbst¬
bildnissen Dürer’s (Sammlung Felix, Prado, München,
Allerheiligenbild in Wien) blickt oder schielt der
Meister nach seinem Beschauer. Das Schielen tritt
merklich hervor bei dem Bilde der Sammlung Felix
und beweist die übergrosse Naturtreue des Künstlers.
Denn indem seine beiden wirklichen Augen einmal
das Spiegelbild des linken, das andere Mal das des
rechten Auges fixieren, ändert sich die Stellung seiner
Augenachsen und diese Veränderung prägt sich in
der Divergenz der Augenachsen des Porträts aus.
Diese Divergenz macht sich auch in dem Münchner
Porträt Dürer’s noch als parallel gerichteter, welt¬
ferner Blick bemerklich, der dem Bilde das Medusen¬
hafte giebt.
Ein Künstler, der sein eigen Antlitz wiedergeben
will, wird vor allem den Ausdruck der Augen genau
nach dem Vorbilde, dem Modell bilden, wie dies
Rembrandt z. B. so häufig gethan hat. Thut er dies
nicht, so wird sein Selbstporträt nicht sprechend,
sondern ausdruckslos.
Das mit Feder gezeichnete Bildnis des alten Holbein
aus dem Besitz des Herzogs von Aumale wird man
nicht steif und seelenlos nennen können. Es hat
vielmehr den lebendigen, erwartungsvollen Blick eines
Porträtierten. Die Thatsache, dass ein solches Bildnis
ein Selbstporträt sei, wäre ja bei Anwendung zweier
Spiegel ermöglicht. Darauf hat, wie H. A. Schmid
mitteilt, schon der Katalog der Münchner Pinakothek
hingewiesen. Der genannte Forscher entgegnet darauf:
das sei nicht richtig; jedermann könne sein Gesicht
in dieser Stellung in einem einfachen Spiegel be¬
obachten, mit Ausnahme der Augensterne, und diese
»könnten dann doch ohne direktes Vorbild hinein¬
gezeichnet werden«.
Das hätte Holbein der ältere gethan? Sich selbst
gezeichnet und die Augen wie ein paar Glasaugen
eingefügt? ln einem Atelier, wo zwei Meister han¬
tierten, denen das gegenseitige Abzeichnen viel natür¬
licher war, als das Selbstzeichnen? Da sollte Holbein
der ältere sich selbst abgebildet, und statt seinen Blick,
das Individuellste, Geistigste, wiederzugeben, die Augen¬
höhlen mit Phantasiesternen gefüllt haben? Ein Mann,
dem so viel Porträtköpfe zugeschrieben werden und
der so viel Bildnisse in seinen Bildern verwertet hat,
wird eine solche Kunstlüge nicht begehen.
Wenn schon der nach oben gerichtete, lebhafte,
erwartungsvolle Blick es nicht bewiese, dass Hans
der ältere sich hier nicht selbst gezeichnet haben
wird: so sollte die Inschrift das vermeintliche Selbst¬
bildnis verdächtig machen. Hans Holbein, Maler,
der Alte, lautet die Bezeichnung. So lapidar, so sehr
wie Cäsar pflegen die Künstler in Skizzenbüchern
sich nicht auszudrücken. Allenfalls Hans Holbein
schlechtweg, wie auf seinen Bildern, hätte er sich
bezeichnen können; aber der Zusatz »der Alte«, der
auf einen jungen schliessen lässt, macht die Selbst¬
zeichnung zweifelhaft. Denn in jener Zeit (1515)
hatte der Vater noch nicht nötig, in seinem Skizzeii-
buche etwaigen Verwechselungen mit seinem Sohne
vorzubeugen. Dort hätte eine Jahreszahl oder eine
Altersangabe genügt.
Genau dieselbe Handschrift, von der Achilles
Burckhardt (64. Neujahrsblatt, Basel 1885) sagt, sie
rühre vom jungen Holbein her, während Woltmann
2' ü
DER BRUNNEN DES LEBENS VON H. HOLBEIN
sie für die des alten Hans erklärt, kommt auch auf
der Zeichnung der beiden Söhne Ambrosius und
rians des jüngeren vor, die sich im Berliner Kupfer-
, l;kabinett befindet. Die Schriftzüge sind zum Ver-
echseln ähnlich, so dass man meinen sollte, sie
rien nicht nur von derselben Hand, sondern mit
.derselben Gänsefeder geschrieben. Ganz anders ist
‘lagegen die Schrift, die sich auf dem Bildnisse Sig-
- i.md’s in Berlin befindet. Hiermit hätte man zu
'crgleichen, ob die Schrift auf dem zweiten Bildnis
Signumd’s mit jener identisch sei; mit Hilfe der
echten Zeichnungen Hans des jüngeren, die viele
Beischriften tragen, könnte man bei sorgfältiger Ver¬
gleichung allmählich den Weg finden, der aus dem
Labyrinth führt. Das Skizzenbuch des Hugo Klauber
in Basel und andere Dokumente müssten herbeigezogen
werden. Eine Aussicht auf Erzielung bestimmter
Resultate hätte der Prüfende aber nur dann, wenn er
mit den Handschriften vom Beginn des lö. Jahr¬
hunderts vertraut genug ist, um den allgemeinen
Duktus von den graphologischen Besonderheiten
scheiden zu können.
Diese Handschriftenvergleichung wird, wenn sie
richtig geführt ist, vielfach neues Licht auf die
Holbeinfrage werfen und insbesondere den viel¬
umstrittenen Sebastianaltar, der bald dem einen, bald
dem andern, bald dem dritten Holbein ganz oder
teilweise zugeschoben wird, zur Ruhe kommen lassen.
Für die gegenwärtige Frage, die Urheberschaft
des Lissaboner Bildes, ist die graphologische Unter¬
suchung von untergeordneter Bedeutung. Es kam
hier nur darauf an, zu zeigen, dass die unter dem
Namen des alten Holbein gehenden Handzeichnungen
von diesem durchaus nicht alle herrühren müssen.
Es beweist daher nichts gegen die Urheberschaft des
jungen Holbein, wenn Handzeichnungen für das Lissa¬
boner Bild existieren, die angeblich von dem alten
Hans Holbein herrühren. Wären sie datiert oder
nachweislich aus der Zeit von 1500 stammend, so
könnte man die Vermutung, dass Sigmund sie zum
Teil gefertigt habe, abweisen. Dass aber der junge
Holbein für das Lissaboner Bild Handzeichnungen
seines Oheims benutzt haben könnte, ist durchaus
nicht unwahrscheinlich. An und für sich wird sich
zwischen dem jungen Hans und Sigmund, die einander
im Alter viel näher standen, ein vertraulicheres, mehr
brüderliches Verhältnis entwickelt haben, als zwischen
Vater und Sohn. Das Testament Sigmund’s verrät
überdies eine gewisse Zärtlichkeit des Oheims für
den Neffen. Endlich aber war Holbein der jüngere
1518 in Luzern und Sigmund in Bern; sie standen
sich auch räumlich nahe. Der Rückweg des jungen
Holbein von Luzern nach Basel mag über Bern ge¬
nommen sein.
Nun, wird man sagen, das sind doch alles nur
auf Schrauben gestellte, vage Vermutungen! Gewiss,
allein bis man die festen trigonometrischen Punkte
findet, muss die Hypothese ihren Fing nehmen; in
keiner Wissenschaft kommt man ohne sie aus (trotz
W. Ostwald’s Naturphilosophie S. 399), und es handelt
sich hier doch darum, diejenige zu finden, die
die Erscheinungen am natürlichsten erklärt. Was
wir haben wahrscheinlich machen wollen, ist dies:
Das Lissaboner Bild ist vom jungen Holbein 1519
in Luzern, Bern oder Basel gemalt worden als sein
Meisterstück, das ihm den Eintritt in die Zunft zum
Himmel eröffnen sollte. Er fasste darin zusammen,
was er von Vater und Oheim erlernt hatte. Dafür
sprechen die Inschrift, die Herkunft des Bildes aus
England, die Grösse, der Reichtum und die feine
Ausführung des Gemäldes — jede Perle ist einzeln
gemalt — ; die Benutzung fremder Motive, der An¬
klang an niederländische Gruppierungsart, die kühne
Stellung des Christkindes, die charakteristischen Ver¬
änderungen in der Architektur; gegen den alten
Holbein, der 1519 verarmt und allein in Isenheim
sitzt, sprechen alle die erwähnten Einzelheiten, trotz
vorhandener Handzeichnungen, die von ihm nicht
notwendig herrühren müssen.
Holbein der jüngere gab in dem Bilde mehr, als
erfordert war. Dass ihm die Gesetze der Perspektive
nicht ganz unbekannt waren, ist aus dem Werke er¬
sichtlich. Dass man aber Figuren, die unter einem
anderen Gesichtswinkel studiert sind, nicht in eine
leere Bühne, die vom zweiten Rang aus betrachtet
wird, einfach hineinmalen darf, ist ihm vielleicht erst
klar geworden, nachdem er sein Bild fertig hatte.
ARTUR SEEMANN.
-K (\ \ \ , '/l I , - J / '
Ans dem Skizzenbiich des Hugo Klauber in Basel
Karl Mcdiz. Gottscheerinnen
KARL MEDIZ EMILIE MEDIZ-PELIKAN
Von Ludwig Hevesi
UNTER den Malern des deutschen Neu-ldealismus,
die auf der Linie Böcklin-Leibl fortschreitend,
in fruchtbarem Ringen bei der eigenen male¬
rischen Persönlichkeit angelangt sind, tritt seit einigen
Jahren das Ehepaar Mediz ansehnlich hervor. Es
gehörte längere Zeit zur österreichischen Diaspora in
Deutschland und hat sich vor kurzem aus Dresden
nach Wien »repatriiert«. Der Hagenbund hat das
Verdienst, sie durch seine drei Mediz-Ausstellungen
der Heimat wiedergewonnen zu haben. In der ersten
erwarb die österreichische Regierung das Hauptbild
Karl Mediz’, »Die vier Eismänner«, für die Moderne
Galerie. In der zweiten sah man jene merkwürdige
Reihe von Dresdner Kreideporträts, die Originale zu
den 25 Heliogravüren in dem grossen, dem König
Albert von Sachsen gewidmeten Bildniswerke der
Kunsthandlung Emil Richter (Holst). In der dritten
73 Bilder des Gatten und der Gattin, eine Auswahl
aus etwa 500 Arbeiten , die ihren fertigen Vorrat
bilden. Es war eine interessante Bekanntschaft für
die Wiener. Zwei künstlerische Parallelnaturen, zur
Zweieinigkeit geboren, in Leben und Kunst von
Hause aus verschwistert, verheiratet, in nnunter-
Zeitschriff für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 8
brochenem Selbstaustausch schaffend, jedes überzeugt,
dass es sich dem anderen verdankt.
Sie sind auch stammverwandt. Karl Mediz ist
1868 in dem grossen Wiener Bezirke Hernals ge¬
boren, Emilie Pelikan 1862 im oberösterreichischen
Markt Vöcklabruck. Karl hielt es bei den toten Gips¬
köpfen der Wiener Akademie nicht aus und ging
nach München, nach Dachau, wo eben Uhde die
Stimmgabel ergriffen hatte. Dort traf er Emilien,
die aus Salzburg kam, vom achtzigjährigen Albert
Zimmermann. Vom Lehrer jener Wiener Landschafts-
Plejade, an deren Spitze Schindler stand. Der Meister
Hess seine letzte Schülerin grosse Kartons zeichnen
und die Bilder mit Malbutter zubereiten, so dass sie,
noch unfertig, schon an der Leinwand herunterrannen.
Aber Geist lernte man bei ihm noch immer, man
wuchs mit Idealen auf. Mediz verzog sich dann
nach Paris, zu Julian, wo die Glasgower und
Amerikaner ihre Barbarenfrische verschleifen Hessen.
Mit dieser Schule im Leibe ging er nach Knokke,
dem belgischen Malerdorf, drei Viertelstunden vom
Seebad Heyst. Von den geschniegelten Föhren
Lamoriniere’s bis zur Gespensternatur Toorop’s ist
27
KARL MEDIZ — EMILIE MEDIZ-PELIKAN
lort ein? weite Strecke moderner Stimmungslandschaft
i den. Anderthalb Jahre lebte er in jener Thebais.
: 'or- t: d;' d eine Mappe voll Bleistiftstudien (i88g),
; , 'X -cner Künstlerhause abgewiesen wurde.
L.r.X^a.:;; -A'gegen fand Wohlgefallen an diesen ver-
■-■ti: rten Schiffern und verwitterten Schiffersfrauen,
er Lid t’en Küiv -er zu sich und war ihm gut. Auch
tmili: Lud sich in Knokke ein, ging aber
mit ddden- tapfer nach München. Sie wagte
id.M.- : " ir • ;ru> Ausstellung und machte Aufsehen.
Lin i ■ id ’ ,;U gelben Ginsters, im schönsten Sonnen-
s-i:: ■ , c‘xi i-:.: i-eits jenem Durcheinander, das sich in
späicren bläuen, gelben und roten Blumengefilden
des Ehepaares noch so verwirrend märchenhaft steigern
sollte, war ein Schau¬
spiel von Impressio¬
nismus, wie man es
in München noch
nicht gesehen. Es
machte auch auf
UhdeEindruck.Zahl-
reiche Münchner eil¬
ten spornstreichs
nach Knokke, wo
die Impression so
auf der Strasse zu
liegen schien. Es
wurde sogar ein
Bürgerkrieg daraus.
Die Diezpartei erhob
die Wouwerman-
sche Palette als
Scliild wider Emilie
Pelikan, die Uhde-
partei stand zu ihr.
Es war ein erbitter¬
tes Handgemenge,
von sichtbaren und
unsichtbaren Hän¬
den, und die Dame
zog den kürzeren.
Da kam Karl Mediz
aus Paris zurück,
auch als Impressio¬
nist, recta von Monet,
Pissarro, Sisley her.
Die beiden Verfemten brachten ihre Novelle zum
Abschluss. Als Ehepaar gingen sie heim, nach
Hernals, einem der »enteren Qründe'^< Wiens, wo
man weder Wouwerman noch Monet kannte. Es
kümmerte sich niemand um sie, nur Theodor von
Hörmann, der Vorsecessionist, kam zu ihnen hinaus.
Die drei Unverstandenen verstanden sich. Aber
Hernals ist der siebzehnte Bezirk Wiens und das ist
gar weit vom ersten Bezirke, wo die Häuser für
Kunstausstellungen stehen. Da schien ihnen noch
Dresden näher. Paul Baum hatte ihnen geraten, sich
dort niederzulassen. In Dresden wehte damals etwas
wie Frühlingsluft; Uhde’s heilige Nacht wurde an¬
gekauft, Klinger’s Pieta; Gotthard Kuehl war berufen.
Es war eine Anwandlung. Seitdem geht es wieder
akademischer her. Als vor vier Jahren Karl Mediz
das grosse, helle, blau-weiss-grüne Bild: »Gottschee¬
rinnen« auf der Dresdner internationalen Ausstellung
hatte, ging ein kühler Schauer durch die Leute. Sie
waren, bei ihrem warmen Galerieklima, diese helle
freiluftige Note nicht gewohnt. Es sind elf weib¬
liche Figuren auf freiem Felde, über dessen helle
Grünlichkeit sich die helle Bläulichkeit des Himmels
spannt. Die vorderste ist eine Greisin am Stabe,
dann folgt eine bemooste Birke, dann zehn Mädchen,
jüngere, ältere, alle in weissem plissefaltigem Kleide,
mit dem hellgrünen Paletot aus ruppigem Tuch dar¬
über, und weissen Spitzenärmeln und -Krausen, und
jede eine Vorsteckmasche mit lang niederhangenden
Enden aus schwe¬
rem , buntgeblüm¬
tem Seidenband, und
jede einen Lilien¬
stengel in der Hand.
Dazu blondes Haar,
helleGesichter, blaue
Augen. Die Figuren
selber haben die
Farben der Land¬
schaft, und die
schlanke Birke, die
zufällig in ihre Reihe
geraten, scheint fast
als zwölfte mitzu¬
gehen. Es ist ein
Kirchgang in Gott¬
schee, jenem krai-
nischen Ländchen,
dessen Herzöge die
Fürsten Auersperg
sind; des Malers Va¬
ter war ein deutscher
Gottscheer. Der
Kirchgang ist natür¬
lich nur gedacht;
Giotto hat in der
Arena zu Padua so
einen Brautzug ge¬
malt und Mediz sich
ihn gemerkt. Aber
jede der lebens¬
grossen Gestalten ist vom Scheitel bis zur Zehe
Bildnisstudie. In Dresden war es eine starke helle
Freskowirkung mitten unter geheiligtem Staffeleiton;
das fiel unverträglich heraus, so dass die Leute sich
schon Vornahmen, es nicht vertragen zu können.
Solche lebensgrosse Gestalten in urwüchsiger
Volkstracht hat der Künstler immer wieder gemalt.
Ein solches Mädel, »Miederle« genannt, sitzt vor
einer grauen Bretterwand, zwei dunkle Hände im
Schosse der weissen Spitzenschürze. Sie trägt das
Fronleichnamskostüm, dessen eigentlich ungeschickte
Farben — das rotbraune Mieder und das rosa
Gürtelband und dergleichen - doch so unbefangen
Zusammengehen. Rosmarin hat sie im Haar; man
glaubt es herausziehen zu können, wie die grossen
KARL MEDIZ
EMILIE MEDIZ-PELIKAN
2og
grünen Eichenblätter und Tannenzweige aus dem
Elutband jenes Windisch-Matreier Qebirgsbauern , an
dessen Tracht den Maler das Schwarz, Rot und Grün
so gereizt hat. Diese groben Tirolerloden und Woll¬
samte, Leinen und Seiden, Borten und Hefteln, und
die Augenwimpern und der Zug der Schere im
fahlblonden Haar — man hat diese Dinge erst seit
Leibi so gesehen. Und seit Van Eyck allerdings.
Erühere Volksfiguren Mediz’ haben diese Art Wahr¬
heit noch nicht. Die alte Erau, die er »die Witwe«
nennt (von 1892) und die mit gefalteten Händen auf
ihrer Truhe sitzt, ist in Tolcsva bei Tokaj gemalt
und trägt eine ungari¬
sche »Bunda«, nämlich
einen braunen Schafpelz
mit farbiger Lederzier
und gestickten Wollblu-
men. Das ist nun war¬
mer Münchner Lederton
von anno dazumal, jener
spezifische, die ganze
braune Skala herunter¬
spielende Lederhosenton,
der aus dem bayrischen
Oberland nach München
hereindrang und Pa¬
lette« wurde. Es klingt
drastisch, aber der Leder¬
hose des Holzknechts
verdankt Neu-München
seinen ersten bodenstän¬
digen Kolorismus. Auch
Erau Mediz hat in älterer
Art Treffliches gemalt;
das Bildnis ihrer Mutter
zum Beispiel (»Porträt
in Blau«, i8gi). Die
Zeit änderte sich, Luft
und Licht wurden frei,
die Earben und Eormen
verschummerten sich
nicht mehr im Hell¬
dunkel, sondern gaben
ihren Naturlaut von
sich. Das war noch
schöner; im Ereien giebt
es nichts Grelles, weil
der Raum sich mit den
Earben mischt; als wäre schon Luftperspektive mit
in die Tuben gesperrt. Aber auch ihre Eormen
änderten sich. In diese bringt das scharfe Sehen
beider Mediz gleichsam eine eigene Gebärde, es
stellt sich ein besonderer Habitus ein. Selbst den
erwähnten Dresdner Porträts, von hohen und höchsten
Persönlichkeiten, von berühmten Künstlern und Ge¬
lehrten, sieht man diesen auf den ersteir' Blick an.
Ihre Wahrheit hat gewisse schier seltsame Eigenzüge,
so die wesenhafte Richtigkeit von allem, was Haar
und Haaresgleichen ist. Wie individuell sehen’^etwa
die Wimpern an jedem Auge aus, wie leibhaftig
meint man den Bürstenstrich des Bedienten an jedem
Rockärmel zu unterscheiden. Und das bei den be¬
schränkten Mitteln der Kreidezeichnung. Wie weit
da das Gesicht selbst ergründet ist, mag man sich
denken.
An dem grossen Bilde: »Die vier Eismänner«
oder »Die Eisriesen« erregte dies das grösste Er¬
staunen. Das Filzig- Lodenhafte der altertümlichen
Schauben, die maschengenaue Pinselstrickerei der
derben Wadenstrümpfe, das Haar-für-Haar der langen
struppigen Graubärte und Haarschöpfe, die Härchen
sogar an den blossen Teilen der Beine (wie bei Van
Eyck’s Adam in der Brüsseler Galerie), das ist alles
wie für die Lupe. Die
Ledernarbe der Berg¬
schuhe, der Messerzug
am Schnitt der Pfund¬
sohlen und ganz beson¬
ders die Rinde der vier
frisch vom Baume ge¬
schnittenen Knüttel.
Baumrinde ist überhaupt
ein Liebling beider Mediz.
Was da an winzigen
Moosen und Flechten,
Sprüngen und Narben,
Ästlein und Knötchen
vor sich geht, das ist
wieder alles für die Lupe.
Man möchte es kindisch
nennen, wenn man es
sähe. Aber man sieht es
erst, wenn man es sehen
will; ganz wie beim
wirklichen Menschen und
Baumast, den man ja für
gewöhnlich auch nicht
durch die Lupe ansieht.
Denn die Figuren haben
dabei Masse. Sie glie¬
dern sich ebenso richtig
als Ganzes, das man mit
einem Blicke umfassen
kann, ohne auf die Mikro-
skopik zu achten. Wieder¬
um wird man an Leibi
denken müssen. Oder an
englische Präraffael iten.
An Hol man Hunt etwa,
dessen Gestalten so durchgebildet sind und unter dessen
Sträuchern und Blumen man thatsächlich botanisiert
hat. Die vier Eismänner stehen auf einem Streifen
blühender Alpenhalde. Es ist ein dichter zäher Teppich
aus winzigen Alpenblumen, jede einzelne einzeln vor¬
handen, wie ein farbiger Wollknoten in einem orien¬
talischen Teppich. Die rote Alpenrose, die gelbe
Primel, der blaue Speik, der blauere Enzian, dicht
zusammengedrängt, ein elastisches Blumenmosaik.
Man sah alle diese Dinge halb ungläubig an, wie
vor fünfundzwanzig Jahren die bunt aufgedruckten
Blumensträusse auf dem weissen Umschlagtuch von
Leibl’s Kirchgängerin, oder wie man die unzähligen
27
KARL MEDIZ — EMILIE MEDIZ-PELIKAN
Eiaueii Schürzenfalten seiner Kellnerin (der Mieder¬
studie) zu zählen versuchie. Sogar in der Fleisch-
'■'arbe isi ei i Zug von Verwandtschaft, ein bläulich¬
rosiges Etwas von Miiton, das auch Dürer oftmals
ha;. r;>a3 siiid eben alle Drei Deutsche, von jener
schti”ba'-en Schwere, che sich durch eine innewoh¬
nende ;ven;ciiV'e Spaniikrafi von selbst wieder auf-
itebt. Seiuievi hat Aiediz noch einmal zwei solche
LisnShi v .• in I nbensgrösse zusammengestellt. ( Die
Aiicn vtn.i Berge .) Einsiedelbauern sind es, der
LI. : ; !, einen ein Naturdichter, der Knittelverse
nn'.ein, Ber andere ein bäuerlicher Tausendsassa,
Geeusen von
Sehnuiggler,
Pfadfinder und
Y; iirzelsepp, ne¬
benbei nie ohne
einen alten zot¬
tigen Gaul zu
sehen, der ihm
wie ein betagter
Hund nachhum¬
pelt. Auf dem
Viereismänner¬
bilde ist der Alte
links, mit dem
langen Schwind-
schen Rübezahl¬
bart im Profil,
im Original schon
neunzig Jahre alt
und hat viel Bun¬
tes im Leben er¬
lebt. Das sind
solche Charak¬
tere, und wenn
man in ihre hell¬
blauen Augen
schaut, kann man
es darin lesen,
und in den tau¬
send Runenrun¬
zeln ringsum, de¬
ren Rechtschrei¬
bung Mediz im
kleinen Finger
hat.
Schier be¬
fremdlich heben sich solche äusserst wahre Men¬
schengestalten bei ihm von einer Natur ab, die
eigentlich nicht zu ihnen passt. Von einer schemen¬
haften Hochgebirgs- und Gletscherwelt, in der es
am hellen Tage geologisch und meteorologisch zu
spuken scheint. Da entfallen sich weite Hinter¬
gründe, in denen sich ein fast körperlos gegebenes
Eiszackensystem in tausend stürzende Bäche, hüpfende
Bächlein, fallende, zerknickende, zerstiebende .Wasser¬
fäden auflöst. Es wird da ein Hochalpenstil gesucht,
der sich noch nicht recht finden lässt. Frau Emilie
ist darin glücklicher, wenigstens soweit sie noch
positiver, studienhafter geblieben. So in ihrem grossen
Hochthal , wo verschiedene Charakterzüge des
Gletschers vortrefflich beobachtet sind. Es ist der
Schlattenkäsgletscher am Gross-Venediger, wo das
Paar den vorigen Hochsommer gearbeitet hat. ln
einem anderen Bilde stellt Emilie diesen Gletscher
als solchen dar, als grosszügiges, heroisch gestimmtes
Bildnis einer geologischen Persönlichkeit. Wie der
breite Eisstrom als ungeheures S zwischen seinen
Felsengestaden thalwärts zieht, das hat etwas Typisches.
Dabei fühlt man den Föhn, in dessen weicher Wärme
alles schmilzt, schwitzt, rinnt. Die Eisspitze darüber
weg ist die »schwarze Wand . Man begegnet ihrer
kühnen Zacke auf
manchem dieser
Bilder und sie
hat auch ein Ge¬
genüber, mit dem
sie sich durch
eine grosse Linie
verbindet. Ver¬
binden würde,
wenn nicht ein
fremder Berg sich
davor schöbe.
Nun, diesen Berg
hat Frau Emilie
im »HochthaL
beseitigt und an
seine Stelle die
grosse runde Ne¬
belsonne gesetzt.
Dieser Zug mag
zeigen, wie die
beiden die Land¬
schaft sichten,
ordnen, bauen.
Photographen
sind sie nicht. Auf
einem grossen
Bilde Emiliens,
Ruine »Dürn¬
stein', sieht man
das ganze Do¬
nauthal mit sei¬
nen Auen und
Uferdörfern als
silbergrau dun¬
stigen, luftigen
Prospekt in der Tiefe schweben; beinahe schon
eine Luftballonwirkung. Schade, dass das Bild
etwas seifig gemalt ist. Ich ziehe ihre Bilder vor,
wo die Tiefen und Höhen weniger ins Natur¬
ferne gerückt sind. Etwa so, wie in jenem »Hoch¬
thal der üppige Blumengrund, in dem die bunten
Kühe weiden. Man blickt auf diesen Streifen Alpen¬
matte nieder und das Auge spürt ordentlich, dass sie
aus nichts als Blumen besteht. So sind auch die
Meerestiefen, in denen beide schwelgen. Am Fusse
der purpurbraunen Felsen von Duino (Karls »Ruine
am Meer«) sieht man ein Wasser voll dunklen, blau¬
grünen und grünblauen Farbenspiels. Ebenso in
Karl Mediz."_Alte Frau bei Tokaj
EMILIE MEDIZ-PELIKAN
ÖLBÄUME — KASTANIENBÄUME
212
KARL MEDIZ EMILIE MEDIZ-PELIKAN
Emiliens Meeres\veitpn, :1en dalmatinischen, korfio-
tischen, triestinischen. Zwei grosse Bilder bei Triest füllt
sie nur mit S^r und Lu‘T mit einer Meeresdämme-
run^ in Si!ber< unv eitler . Meeresdämmerung in
Blau . : -d .drirnel, jedes der beiden scheint
sich in dem „r ’e'-n uu spiegeln. Das leise Spiel der
Elemcsir beii e dünsiler, mitzuspielen. Man
sieh; uci ; i d ; s ■ 'z - iiau, wie die weichen weissen
Sciro; oi.u 'S ’ . ■ : \ d ^"chcrförmig ausspinnen, so über
dem ; . n CO naturale auf Lacroma ( Das
,;;ui ). ; J er ier Hohenlohe’schen Burgruine
; jui u. . .e am Abendhimmel feurige Ara¬
ber;' d.r ;oge-
d dmrbaum .
ganze At-
mosphärik beider
Künstler ist mir um
so lieber, je weniger
sie sich ins Abstrakte
heben will. Eine
Phantasienatur, wie
beim altenWatts,muss
angeboren sein, von
selber kommen; expe¬
rimentell erreicht man
sie nicht. Dass der
Künstler daran glaubt,
überzeugt den Be¬
schauer noch nicht,
und wenn er nicht
überzeugt ist, will er
auch nicht glauben,
dass der Künstler
daran glaubt. Selbst
bei den »Eisriesen«
steht das helle stili¬
stische Eisgebirge hin¬
ter den so greifbaren
Figuren, wie die grau
in grau gemalten Ge-
birgsprospektebei den
Ischler Photographen.
Statt menschlicher
Körperlichkeit,diesich
so von Luft und Luft¬
artigem abhebt, mag es
auch wohl eine mineralogische oder pflanzengeographi¬
sche Persönlichkeit sein. Eines jener erstaunlichen Fels¬
gebilde der adriatischen Küsten, die an Cyklopenhand
gemahnen, mächtige Wände wie aus bunten Achat¬
quadern, Bogen wie aus Karniolblöcken. Karl Mediz
hat manches solche Motiv breit hingemörtelt. Und
Emilie setzt sich einmal vor das Grottenloch von
St. Canzian bei Triest und konterfeit jene ganze bunt
verwitterte Karstphysiognomie treulichst ab, Zug für
Zug, mit allen den Einfällen und Zufällen, die sich
verkarstetes Kalkgestein erlaubt. (»Zur Unterwelt«.)
Das ist eine Studie voll durchdringender Wahrheits¬
liebe. Oder das Objekt ist eines jener gemischten
Gebilde, in denen Stein und Pflanze, Natur und
Menschenwerk sich wie zu einem massiven Blumen-
strauss vermählen. Das sind jene südlichen Strand-
palazzini und Inselklöster mit ihren hellen Säulen
und Bogen zwischen dunklen Cypressen und Pinien,
starrend von graublauem Kaktus, wallend von silber¬
grauen Schleiern der Olivenhaine, durchwuchert und
übersponnen von hellblauen Glycinien und dunkel¬
grünem Kissos. So malt etwa Karl Mediz »das
Kloster«. Es ist jene berühmte Einsiedelei auf der
Mausinsel bei Korfu, dem Eilande, das man für
Böcklin’s Toteninsel zu halten pflegt. Aber Max
Klinger weiss es von Böcklin selbst, dass dieser sein
Motiv von den Ponzainseln'^bei Neapel geholt hat.
Die Mausinsel, das
versteinerte Schiff der
Phäaken, wie es tief
unten in dertiefblauen
Bucht liegt, hat Mediz
einmal auch im Nie¬
derblick, zwischen
dunklen Epheuge-
hängen hindurch, ge¬
malt. Diese Darstel¬
lungen greifen natür¬
lich schon in Böcklin’s
Gebiet über. Stein
und Pflanze gleich
plastisch, aber auch
gleich farbig, die Na¬
tur als Gesamtkünst¬
lerin. Aber, möchte
man fragen, hat nicht
jene Natur viel von
Böcklin gelernt? An
diesem Geist ist dort
ewig nicht mehr vor¬
beizukommen. Bei
Mediz ist der beson¬
dere Zug vor allem
wieder, dass er un¬
vermerkt ins kleinste
geht. Jede seiner
Cypressen — für das
gemeine Auge giebt
es nichts Unifor¬
meres als Cypressen
und Pappeln — ist
eine Person für sich. Die scheinbar so gleichen
Wipfel sind jeder nach seiner besonderen Sammtig-
keit, Ruppigkeit, Oberflächlichkeit oder Zerwühlt-
heit, strotzend oder kränkelnd, melancholisch oder
sanguinisch charakterisiert. Und dabei ist ihr Spriessen,
das bewegte Leben in ihrem Organismus, ersichtlich
gemacht. Gerade wo andere zu malen aufhören,
fängt Mediz erst recht an. Wo der nackte Stamm
beginnt und sich teilt, spaltet, ins Unendliche zer¬
fasert, Sammelname wird und dabei Abenteuer erlebt
in Wind und Wetter und Sonnenglut. Der Cypressen-
stamm erzählt seine Lebensgeschichte. Das hindert
übrigens nicht, das manche dieser Bilder trotzdem
etwas Dürres, Blechernes, Silhouettenartiges behalten.
So ein Park«, Glycinienbrunnen« und noch andere.
KARL MEDIZ
EMILIE MEDIZ-PELIKAN
213
Auch diese Ansichten sind oft frei komponiert, mit
Benutzung einzelner eigentümlich poetischer Gegen¬
stände, wie eben jenes Glycinienbrunnens; die blumen¬
gesprenkelte Parkgeometrie, in die er diese lebendige
Fontäne aus hellhimmelblauen, seidigwallenden Bluten¬
dolden hineingestellt hat, ist Variationenspiel über ein
dortzulande gegebenes Thema. Auch Frau Emilie
hat ihre Lieblingsbäume. Mit Passion geht sie in
ihren bunten Kreiden den Capriccios des Ölbaums
nach. Aber vielleicht noch lieber sind ihr gewisse
Bäume und Pflanzen, die gemeiniglich als langweilig
verschrieen sind. Wenn sie ihre zierlichen Studien
von Gräsern und
Halmpflanzen,
auch von Papyrus¬
stauden macht, ist
ihr merklich japa¬
nisch zu Mute.
Auch wenn sie die
fadenfein gefieder¬
ten Zweiglein der
Lärche dünn und
dicht und senk¬
recht niederhangen
lässt. Echt deutsch
aber ist sie in
ihren blühenden
Kastanienbäumen,
die sie, unbeirrt von
all dem Gestarre
und Gewimmel
eines gleichmässig
ausgestanzten Lau¬
bes als eine grosse,
plastische, in Licht
und Schatten ge¬
gliederte Masse von
eigenem Formen¬
geist zu sehen
weiss. Ein Pracht¬
stück mit zwei
solchen Bäumen
an flachem See¬
gestade, aus Si¬
zilien geholt, hat
die österreichi¬
sche Regierung er¬
worben. Solche Baumindividuen auf eine Terrasse
am Meere hinzustellen, Kübelbäume etwa und kletternde
Glycinien als blaue Arabeske darüber, das ist ein
Lieblingsthema Emiliens. Auf wie vielen deutschen
Ausstellungen hat man schon solche Bilder von ihr
gesehen. Das ist ihr Sondermotiv, ihr Monogramm
gleichsam. Auch diese Bäumchen sind eigentlich un¬
dankbar, aber was ist undankbar, wenn man es dank¬
bar anzusehen weiss? Ein dünner roter Kirschbaum¬
zweig, dem man schon das Pfeifenrohr ansieht, in
das er sich einst verwandeln wird, ist bei Mediz voll
einzelnster Farbe und Form. Ein Orangenbäumchen
voll purpurner Früchte steht bei Frau Emilie in
einer tiefen Pracht und fast heraldischen Würde da.
dass man ein ehrwürdiges Symbol zu sehen meint.
— Das Kleinleben innerhalb der grossen Form zu
sehen, darauf sind beider Augen eigens eingestellt.
Beide haben die Passion des Gewimmelmalens. Der
Blumenteppich zu Füssen der Eismänner ist ein
Musterstück in dieser Richtung. Gewimmel von
hellen Bäumen haben beide schon früh gemalt; sein
Birkenwald von 1894, ihr Silberpappelhain von 1896
sind solche Stücke. Noch lieber aber sind ihnen
wimmelnde Blumendickichte, unabsehbares Blumen¬
gestrüppe. Er malt in einer Gärtnerei bei Krems
Vergissmeinnichtfelder mit roten Tulpenhainen und
Hyazinthenbeständen vermischt. Dann wieder blaue
Blumen, eine Wildnis von blühendem »Natternkopf«
(1893, Motiv bei Tokaj, doch in Krems gemalt), worin
ein geigendes Mädchen in dunkelrotem, blau getupftem
Kleide wandelt. Sie malt jene gelbe Ginsterland¬
schaft (i8go), wo aber der rechte Mut zum Gewimmel
noch nicht vorhanden ist. Der kommt erst später,
wenn ganze Horizonte sich mit den flaumigen Kugeln
des Löwenzahns füllen oder jener Lärchenbaum aus
einem verworrenen Gewusel und Gewurl (gute öster¬
reichische Wörter) von Alpenrosen aufsteigt. Viele
solche Bilder in allen Farben haben beide gemalt.
Wie es denn überhaupt merkwürdig ist, zwei Menschen
in ihrer Kunst so ganz und gar verheiratet zu sehen.
Karl Mediz. Schloss Diiino (Istrien)
2; ;
KARL MEDIZ — EMILIE MEDIZ-PELIKAN
S--’ 'Hbcn -ich ■^ei.mseiLg gemacht und machen sich
r ,:h D!:- -r zi.'arnmen ein Künstler. Auch
t -V ifl r i;? r Frau ein eigentümliches Denk-
-,1.; er;’:'- t';.- - seiner letzten grossen Bilder:
D - .cie -e Ar .Cii stellt die gotische Brunnen-
: ■ lei'-e - iitretiz vor. Dort steht ein
; r: .'inineii, mir mehreren schweren
- :n ‘ c : . ■■'her: ;.: eider, in Bleiguss, schon ganz
; ..i . ri vi 'U eigenen Gewicht und
r : -ert mit alten und uralten
: e ; - ;i. ■ I i’en ein Oxydierungswunder,
; . en Maler geschaffen. Und auf
; ' . , irefon dieses Brunnens sitzt vorn,
i; ! au. Das ernste Antlitz, von ge-
I . nn zwei dichten schwarzen Sclieiteln
.;io Hände ruhen gefaltet im Schosse,
r' ' -ei' riitbürgerliches grünliclies Lüsterkleid
: Jarüh i -äne dunkelblaue Stola mit dunkleren
'rLl)fcn. Eine ehrsame deutsche Bürgersfrau, halb
von heute, halb von irgendwann. Doch an den
Schultern hat sie zwei mächtige Fittiche, dunkelblau
mit Reihen von hellen Pfauenaugen. Ehrsam und
wundersam zugleich, hausbacken und erhaben, so
sitzt sie und schaut und sinnt. Hinter ihr im Halb¬
dunkel glühen rot und blau und goldig die uralten
gotischen Glasfenster. Das Bild hiess ursprünglich
Die Gotik« und das war der richtige Titel. Die
Frau aber ist Frau Emilie. Das blaue Flügelpaar an
ihren Schultern mag wohl ihr Gatte einmal wirklich
erblickt haben.
Alles in allem hat man hier den Anblick einer
ehelich-künstlerischen Gemeinschaft, die sich ihre eigene
Welt geschaffen hat. Ihren besonderen Anschauungs¬
und Empfindungskreis und eine eigene Technik dazu.
Eine festbegründete Wahrhaftigkeit berührt sich mit
einer wogenden, ringenden Phantastik, das Sinnen¬
fällige geht Arm in Arm mit dem Unwägbaren.
Positivste Erscheinung und transscendente Neigungen,
ein Realismus, der nach Stil strebt, ohne freilich einst¬
weilen den Widerspruch lösen zu können. Böcklin,
Klinger, Thoma, Worpswede — auch die Mediz ge¬
hören in diese Reihe, die mit starken, durchaus
deutschen Eigenschaften ausgerüstet, an den Grenzen
der bürgerlichen Welt sich eine überbürgerliche,
poetisch-malerische Schöpfung aufbaut. Aus starken
Sinnen heraus greifen sie in das Übersinnliche ein,
nervig und nervös, Symboliker des Alltags, gesunde
Farbendichter. Nach all dem Jahrhundertende der
letzten Dekadenzen scheint in solchen Erscheinungen
sich wieder jahrhundertanfang anzukündigen.
Karl Mediz. Der heilige Brunnen
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. ni.b. H., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1903
GESPRÄCH ÜBER DAS WETTER
ORIO.-RAD. VON HEINRICH EICKMANN
DRUCK VON QIE8ECKE äi DEVRIENT IN LEIPZIG
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1()03 IM ATELIER. ORIOINALRADIERUNQ VON E. STIEFEL
SAN MINIATO AL TEDESCO
Von Hans Mackowsky
(Schluss)
WIE überall haben sich auch in S. Miniato al
Tedesco die Franziskaner und die Dominikaner
an entgegengesetzten Ecken angesiedelt. Ihre
Kirchen mit den daranstossenden Konventen bestim¬
men die Silhouette des Stadtbildes sehr wesentlich.
Beide Orden haben nach demselben Schema gebaut
und mit Hilfe von grossen Substruktionen die Un¬
ebenheiten des Terrains überwunden. Sie trugen
wieder Sorge, dass die Mönche gesunde Luft und
einen schönen Blick in das umliegende Land genossen.
San Francesco ist die ältere Anlage. 1211, als
der heilige Franz in eigener Person nach San
Miniato gekommen war und mit Worten des Frie¬
dens und der Versöhnung auf die erregten Ge¬
müter eingewirkt hatte, war das alte dem Orts¬
heiligen Miniatus geweihte Kirch¬
lein mit einem daranstossen¬
den Hause ihm zum Geschenk
gemacht worden. Der Tradition
nach baute zunächst Fra Elia
die kleine Anlage aus. Aber
erst im 15. Jahrhundert erwei¬
terte sich das Ganze zu der
grossartigen Gestalt, die es bis
heute sich erhalten hat^). Die
vornehmsten Familien, zu denen
die Buonaparte, Napoleon’s Vor¬
fahren, zählen, schmückten die
Kapellen und errichteten ihre
Gräber. Doch haben sich nur
wenige Freskenreste aufdecken
lassen. Ihre Kunstschätze hat
die Kirche zur Zeit der franzö¬
sischen Invasion auf Nimmer¬
wiedersehen eingebüsst und so
muss sie, wenigstens für den
Kunstfreund, den ihr sonst nach
Grösse und Bedeutung zustehen¬
den ersten Rang an die Rivalin
S. Domenico abtreten.
Den _ Dominikanern war
mit Genehmigung des Bischofs
1) Für die Baugeschichte sind
zwei Inschriften wichtig, die von
Marmortafeln im Innern der Kirche
abgelesen werden: — Hoc tem-
plum, diruto antiquiore, erectum,
anno Domini 1276. — Piorum cura
ampliatum et auctum, anno Domini
1480. — Das an den Sattelbalken
des Dachstuhls angebrachteWappen
ist das der Rondinelli.
von Lucca die schon 1194 erwähnte alte Paro-
chialkirche S. Jacopo e Lucia angewiesen worden
(1329). Die Ordensbrüder verstanden es, sich volks¬
tümlich zu machen und erlangten bald die Mittel zum
weiteren Ausbau ihres Gotteshauses und des daran¬
stossenden Klosters. Die Baugeschichte kann noch
heute an dem Zustand des Baues selbst gelesen werden.
Die Kirche zeigt den bekannten Dominikanergrundriss,
war aber ursprünglich weniger hoch und mit Seiten¬
kapellen eingefasst. Kühne Unterbauten steigen auch
hier bis an den Fuss des Tufffelsens. Sie führen zu¬
nächst in eine dem hl. Urban geweihte Krypta mit
halbverblichenen Fresken aus dem Leben dieses Papstes.
Endlich klettert man auf schmaler Stiege hinunter
in eine mit starken Pfeilern gestützte Unterkirche.
Und während man sich von
Luft und Licht geschieden wähnt,
öffnet sich eine unscheinbare
Seitenthür, aus der wir in den
süssen, verwirrenden Duft eines
blühenden Citronengärtchens
ganz unten am Fuss des Felsens
treten. Von hier aus schätzen
wir erst die Höhe der senkrecht
ansteigenden Mauermasse und
sehen hoch über uns die male¬
rischen Rückfronten der den
oberen Hügelrand entlang ge¬
legenen Häuserreihe.
Die Reste alter Fresko¬
malereien sind zahlreicher wie
in S. Francesco. Gegen das
Ende des 14. Jahrhunderts muss
eine besonders eifrige Kunst-
thätigkeit hier geübt worden
sein. Doch spielen in den all¬
gemein herrschenden Stil des
sinkenden Trecento, der sich
natürlich in der Provinz zäher
als in der Hauptstadt hielt, deut¬
liche Quattrocentoformen hinein,
z. B. in jenem schönen jugend¬
lichen Diakonenbrnstbild, das
in der Oberkirche am Pfeiler
der rechten Querschiffskapelle
aus dem Intonaco herausgekratzt
worden ist.
Mustert man die noch erhal¬
tenen Werke der Tafelmalerei,
so sieht man, dass ordnende
Hände mit Eifer, aber nicht im¬
mer mit Umsicht gewirtschaftet
Pier Francesco Fiorentino. Der hl. Vincenthis
San Miniato al Tedesco. San Domenico
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. M. g.
28
SAN MINIATO AL TEDESCO
li-Sen. um aus S. Domenico ein kleines Museum
-r -Chen. Hauptbild und Predelle hat man aus-
■ - u;, ,r jehängt, und was beisammen geblieben ist,
!,i immer ursprünglich zusammengehört. Ich
c /iuiäch.st zwei als Gegenstücke aufgestellte spitz-
. geschlossene Holztafeln mit dem hl. Michael
:. * h.e'- li- . ccen Katharina; die zugehörigen Predellen-
h':.. zeigen den Kampf des Erzengels mit dem Höllen-
'!L. ::en und die Enthaup-
uiriu; -ier heiligen Katha-
rhua. Auf dem Hauptbild
liat diese Heilige auch
noch das Martyrium einer
brutalen und stümperhaf¬
ten Übermalung erdulden
müssen. Trotzdem bleibt
es möglich, die Stilstufe
dieser Gemälde zu er¬
kennen. Siegehören einem
zu Beginn des Quattro¬
cento arbeitenden Maler,
der Orcagna’s Tradition
in das neue Jahrhundert
überleitet. Ich möchte ihn
identifizieren mit jenem
Unbekannten, der das aus
Pisa stammende Altarwerk
Nr. 48 im ersten Korridor
der Uffizien gemalt hat.
An derselben Eingangs¬
wand hängt eine Predelle,
den heiligen Hieronymus
in seiner Einsiedelei dar¬
stellend, zu der wir das
Hauptbild in der Kapelle
links vom Hochaltar suchen
müssen. Hier finden wir
den Heiligen sitzend in
seinem gotisch eng ge¬
schachtelten Studio. Beide
Bilder, namentlich die Pre¬
delle, lassen an einen
Zeitgenossen des Lorenzo
Monaco denken; eine
meisterliche Hand hat
auch auf ihnen nicht ge¬
waltet.
Den reichsten künstle¬
rischen Schmuck enthält
die Kapelle im Querschiff
rechts. Sie ist den heiligen
Cosmas und Damian geweiht, und deutet damit auf einen
Arzt als Stifter. Wir müssen nicht lange nach einem
solchen Umschau halten, denn die Inschrift auf dem
Grab an der linken Seitenwand lässt ihn uns in Gio¬
vanni Chellini finden. Uralt — annis fere nonaginta
— ruht er in Doktortalar und Kappe mit Händen,
die sich über einem gelehrten Buche kreuzen,
unter einem hohen Giebelbau wie auf einem Altar¬
tisch. Das ist für ein Quattrocentograbmal eine ganz
ungewöhnliche Form. Unmöglich ferner, dass die
InschrifttafeP) dicht unter der Platte in die bunte
Marmorfüllung des Unterbaues eingepasst war. Das
Grabmal ist von unkundiger Hand einmal umgebaut
worden, wobei wesentliche Teile versetzt, andere ver¬
loren gegangen sind. Alt und ursprünglich scheint
nur der Unterbau und die Figur des Toten, die bis
auf die bestosseue Nase wohl erhalten ist. Die Pi¬
laster des Oberbaues stimmen in ihrer dünnen und
zerbrechlichen Ornamen¬
tik mit den unteren Stützen
schlecht überein; dagegen
scheinen die Kapitelle, die
an jene der Mediceerbank
in Mailand erinnern, wie¬
der Originalarbeit des 15.
Jahrhunderts zu sein.
Selbstverständlich hat das
Giebeldach ein moderner
Restaurator auf dem Ge¬
wissen, vermutlich der¬
selbe, der die in Gips
nach Luca della Robbia
geformte Madonna ohne
Verständnis in den Kranz¬
rahmen brachte und die
hintere Nischenwand mit
dem Fruchtgehänge und
den ärztlichen Emblemen
verzierte. Die Figur des
Toten erinnert aufs stärkste
an den Aragazzi von
Michelozzo in Montepul-
ciano, so dass wir hier
eher auf ihn als (nach
Liphart’s Vorgang) auf
seinen ausführenden Ge¬
hilfen Pagno di Lapo
Portigiani schliessen möch¬
ten. Allerdings war Pagno
in S. Miniato nicht fremd,
wenn wir Vasari Glauben
schenken dürfen, der
(Sans. II, 447) erzählt:
»lavorö anco Pagno a
San Miniato al Tedesco
alcune figure in compag-
nia di Donato suo maestro,
essendo giovane«. Die
Jugendzeit war aber 1461,
als Chellini starb, für
Pagno, dessen Leben die
Daten 1406 und 1470 einschliessen, lang vorüber ’).
1) Johanni Chellino Florentino civi preclaro • artiiim
medicineque eximio doctori • sepulchrnni hoc Bartholomeus
nepos et gratus heres construendiim curavit • vixit autem
honore dignus annis fere nonaginta ■ obiit die llll Februarii
MCCCCLXI.
2) Während des Druckes teilt mir Herr C. von Fabriczy
mit, dass die Autorschaft Pagno’s aus chronologischen
Gründen ausgeschlossen ist, wie er demnächst im Beiblatt
des »Jahrbuchs der Kgl. Pretiss. Kunstsammlungen« nach-
SAN MINIATO AL TEDESCO
217
Vielleicht war es der gleiche Bartolomeus nepos
et gratus heres, der die Altartafel in der Qrabkapelle
zum Andenken an den durch seine milde Werkthätig-
keit berühmten Onkel stiftete’). Sie stellt die thro¬
nende Madonna dar, umgeben von den hh. Cosmas
und Damian, denen sich noch ein bärtiger Graukopf - -
Bartholomäus, der, wie ich glaube, durch den Restau¬
rator um das Messer in seiner Linken gekommen ist
langweiliger Symmetrie aufgebaute Gruppe steht auf
buntem Marmorfussboden gegen einen gemusterten
Goldgrund, dessen oberen Teil eine vierfach geraffte
Draperie mit Cherubimköpfen schliesst. Eine vier¬
teilige Predelle erzählt das chirurgische Kuriosum der
beiden hl. Ärzte, die Anbetung der Könige, das Mar¬
tyrium der Mediziner und die Gürtelspende an den
hl. Thomas. Dieser letzte Teil der Predelle hat stark
Giusto d’ Andrea. San Domenico in San Miniato al Tedesco
Cappella dei SS. Cosimo e Damiano
— und Thomas mit der Lanze anschliessen. Diese in
weisen wird. Es scheint mir demnach geraten, vorläufig
an Michelozzo als Verfertiger festzuhalten. Ein Aufenthalt
des Künstlers in S. M. ist nicht notwendigerweise anzu¬
nehmen, da wir wissen, wie solche Arbeiten verschickt
wurden, wobei gerade an Michelozzos Grabmäler in Monte-
pulciano und in Neapel zu erinnern wäre.
1) Das Wappen der Pazzi am Altar stammt von den
späteren Patronen der Kapelle her. Zuletzt ging das Pa¬
tronat an die Settinianni über.
gelitten, vermutlich später, nachdem schon die aus¬
bessernde Restauratorenhand die ganze Malerei über¬
gangen hatte.
Die Kunst des Meisters, der sich hier offenbart, ist
über manche Filter gegangen. Die Lokaltradition schreibt
das Gemälde der Schule des Angelico zu, von dessen
Madonnenauffassung die vorliegende inspiriert scheint.
Der Schematismus der Komposition erinnert ebenfalls
an die hieratisch gebundene Art des Fra Beato. Das
Beste verdankt der Maler aber doch dem Fra Filippo
28
2lS
SAN MINIATO AL TEDESCO
Lippi, auf den manche Typen und vor allem das Kolorit
hiiuveisen. Eine Figur wie der bartlose Damian ist
ohne die Kenntnis des Bildes in Casa Alessandri gar
n!ci:‘i: vorstellbar. Auch das schöne Granatrot der
DokT-.renmäntel und die feinen Mitteltöne sind Fra
filippo abgesehen. Wir müssen also nach einem
Maler Umschau halten, der um 1460 in diesen Schul¬
traditionen sich bewegte. Ich bringe Ginsto d’ Andrea
in Vorschlag.
Mehr als ausreicliend sind wir über Giusto unter-
richtvi. Sein VMter Andrea erscheint in der denunzia
Masaccios von 1427 als Werkstattgenosse des grossen
Meisters’). Cavalcaselle-) stellt seine Arbeiten zusam¬
men. Ich habe bereits den Versuch gemacht’'), die
Liste dieser sämtlich ausserhalb von Florenz befind¬
lichen Arbeiten durch das in der Sakristei von S. Nicolo
zu Florenz befindliche Altarbild der Madonna mit
Engeln und sechs Fleiligen zu vermehren. Andrea
lebte bis 1450.
Die erste Portata des Sohnes Giusto von 1457^)
führt ihn mit zwei Brüdern im fremden Hause als
Waisen auf: Siano popili sanza padre e sanza madre
e istiano chon altrui per le spese . 1458 wird Giusto
auf zwei Jahre garzone bei Neri di Bicci, hatte doch
schon der Vater Andrea mit Bicci di Lorenzo Be¬
ziehungen gehabt, ln seinen pedantischen Aufzeich¬
nungen notiert Neri sub anno 1458 ’): »Piglia per
disccpolo Giusto d’ Andrea di Giusto, dipintore, per
1 anno con salario di fiorini 12 et un paio di calze«.
Mehrfach erlitt die Thätigkeit Unterbrechungen, was
Neri genau annierkt; eine kurze Abschwenkung
führt (jinsto auch in Fra Filippo’s Atelier. Um die¬
selbe Zeit wird er in die Lukasgilde aufgenommen'’).
Nicht ohne Selbstgefühl schreibt der junge Meister
nach Beendigung dieser Zeit: fe’ molti lavori e gua-
dargniai bene . Allein er zog es doch bald vor, zu
F^enozzo Gozzoli als Gehilfe zu gehen »per agpare
(imparare) neir arte e nella virlü«. 1462 — 1465 ist er
mit Gozzoli in San Gimignano thätig. Dann ver¬
lieren wir ihn aus den Augen bis zum Sturz der
Medici 1494, den er selbst sehr anschaulich in einem
wenig schriftgelehrten Italienisch beschrieben hat.
1496 stirbt er. Cavalcaselle hat sich die Zusammen¬
stellung auch der ihm zugehörigen Malereien ange¬
legen sein lassen").
1) Gaye, Carteggio 1,8. 116.
2) Ital. Ausgabe II, S. 349—351. Die dort in S.
Margherita zu Cortona und in der Casa Ranghiasci zu
Gubbio erwähnten und bezeiclineten Werke befinden sich
nicht mehr an Ort und Stelle. Das Bild in Cortona ist
beim Umbau der Kirche 1897 verschwunden, die Gemälde
der Casa Ranghiasci sind verkauft worden.
3) Sitzungsbericht der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft
zu Berlin vom 10. Januar 1902, wo ich auch die ersten
Mitteilungen über San Miniato al Ted. machte.
4) Quartiere S. Croce, gonfalone bue. Gaye, Carteggio
1, S. 21 1 -212.
5) Gaye, ebenda S. 212.
6) Gualandi, Memorie VI, S. 183. Zwischen 1458
und 1460. Das genaue Datum fehlt.
7) Ital. Ausg. Vlll, S. 129 ff. Nicht überall kann ich bei¬
stimmen. Mit Sicherheit erkenne auch ich Giusto’s Hand
Nehmen wir das Todesdatum des Chelliui 1461
als Entstehungsjahr des Gemäldes an, so ordnet es
sich trefflich in Giusto’s Entwickelung ein. Spätestens
1460 ist Giusto selbständiger Meister geworden, da¬
nach >arbeitete er viel und verdiente gut«. Die Un¬
selbständigkeit der Malerei deutet auf einen Suchenden,
einen Anfänger. Und wenn die Art des Fra Filippo
am stärksten darin sich geltend macht, so kommen wir
wieder auf die Zeit um 1460, als die Richtung des
Frate die massgebende war. Giusto gehört in den
Kreis der Piero di Lorenzo, Zanobi Machiavelli’), Fra
Diamante. Von Gozzoli ist noch nichts auf dieser
Tafel zu spüren.
Deutlicher noch als das Hauptbild weist die
Predelle in den Umkreis des Frate und zwar auf
Pesellino. Für das Wunder der Beinamputation nahm
Giusto seine Zuflucht zu Pesellino’s jetzt im Louvre
(Nr. 1414) befindlichen Predellenstück. Er änderte
nur die linke Seite, die er durch eine Wand von dem
Krankenzimmer trennt, und wo er eine zimperlich
verlegene Jungfrau einen mit Spülnapf und Wasser¬
kanne herbeieilenden Fante erwarten lässt. Die Lage
des Kranken im Bett, das Herzutreten der beiden kurz
entschlossenen Chirurgen zeigt nichts von den Fein¬
heiten des Vorbildes. Im folgenden Stück, auf der An¬
betung der Könige, verarbeitet Giusto verhältnismässig
frei die von Gcntile da Fabriano importierten Motive.
Kröche der älteste König nicht allzu animalisch zum
Fusskuss heran, so wäre die Geschlossenheit der
Gruppe zu loben. F^ei der Hinrichtung des Cosmas
in der Madonna mit sechs Heiligen, ehemals in der floren-
tiner Akademie (Katalog 1893, Nr. 13). Das Gemälde soll
demnächst in den neuen Sälen der Uffizien aiifgestellt
werden. Das Bild in der Galerie zu Prato (Katalog 1900,
sala IV Nr. 19) hält ziemlich die Mitte zwischen Gozzoli
und Botticini. Eine Madonna in der Galerie zu San Gi¬
mignano (im r’*alazzo Nuovo del Podestä, phot. Alinari
Nr. 9589) geht trefflich mit dem Bilde in Florenz zusammen.
Das Bild in San Girolamo ausserhalb von Volterra — aus
dem Stadthause erst dorthin gebracht — ist ausserordent¬
lich stark restauriert, hat aber sehr viel Verwandtschaft
mit Giusto. Die Madonna in Budapest schreibe ich mit
Weisbach (F^esellino S. 113) dem Piero di Lorenzo zu.
Für Giusto beanspruche ich noch die Madonna mit sechs
Heiligen zu S. Giovanni Valdarno im Oratorio della
Madonna (phot. Alinari Nr. 8908). Die Art Giusto’s hat
Bayersdorfer mit gewohnter Treffsicherheit in der 1458
datierten grossen Madonna mit Heiligen der Münchner
Pinakothek (Nr. 1003) erkannt.
1) Sollte dieser Zanobi de’ Machiavelli nicht identisch
mit jenem Zanobi de — (hier hat das Dokument eine
Lücke) sein, der in dem bekannten Rechtsstreit um die
Trinität in London (Nat. Gallery Nr. 727) mit Piero di
Lorenzo als Werkstattgenosse des Pesellino namhaft ge¬
macht wird? Milanesi (Vas. Sansoni III, S. 43) nennt zwar
Zanobi di Migliore, ohne anzugeben, woher er diesen
gänzlich unbekannten Namen hat. Wer indessen die von
mir in dem oben zitierten Sitzungsbericht der Kunstge¬
schichtlichen Gesellschaft zusammengestellten Malereien
des Zanobi Machiavelli (1418 — 1479) auf ihre Beziehungen
zu Fra Filippo und Pesellino prüft, wird gleich mir geneigt
sein, in diesem Künstler den trefflich zu Piero di Lorenzo
passenden Werkstattgenossen zu mutmasseii.
Giusfo d’ Andrea. Predellenstücke zum Altarbild in San Domcnieo
San Min lato al Tcdcsco
220
SAN MINIATO AL TEDESCO
und Damian schielt Giusto wieder zu Pesellino hin-
üLcr, diesmal nach dem in Elorenz befindlichen Teil
- r '{enannten Predelle. Den Henker übernimmt er
/i- r lich i/etreu, wie ihn seiner Zeit Pesellino von
. '.ni i cio (Berlin Nr. 58 B) entlehnte. Im übrigen
: L nicht viel Eederlesens mit dem Vorbilde gemacht;
langweilig aufmarschierte Front der vier Legionäre
..:rn’t Je Armseligkeit, die sich der Maler auf einer
Predelle hingehen Hess. Das vierte Bild kann nur
noch nach seinem Gegenstände, die Gürtelspende an
Thomas, erraten werden, so abgerieben ist es. Das
Wappen, das sich auf dem trennenden Pfeiler links
befand, ist ebenfalls durch Auskratzung unkenntlich
und Stilanalyse, um das Werk zusammen mit der ehe¬
mals in der Florentiner Akademie ausgestellten Ma¬
donna der Jugendzeit Giusto’s zuzuschreiben, vor
seiner Berührung mit Gozzoli.
Die Kapelle rechts vom Hochaltar ist ganz mit
Fresken aus dem Ende des 14. Jahrhunderts im Stile
des Agnolo Gaddi ausgemalt. Das dort befindliche
Altargemälde ist erst vor einigen Jahren an diese
Stelle gekommen. Vor gewohnter Nischenarchitektur
thront die Madonna, umgeben von den hll. Se¬
bastian und Johannes dem Täufer (links) sowie den
Sinibaldo Ibi (?) bez. 150J
San Miniato al Tedesco. San Domcnico
gemacht. Das Fleckchen Landschaft, zu dem der Maler
sich verstand — Berge und ein kastellartiger Bau, —
erinnert am meisten an Fra Aiigelico’s andeutende
Einfachheit. Die künstlerischen Unkosten, die Pesellino
sich mit seinen reichen landschaftlichen Gründen machte,
vermied der umsichtig seinen Lohn abwägende Giusto
durchaus.
Die mehr andeutende, grob konturierende Art')
dieser Malereien spricht ebenso wie die ängstliche
Symmetrie für eine jugendliche, unerfahrene Hand.
Alles steht da im Lot und in unfreiem Parallelismus.
Und so vereinigen sich chronologische Kombination
1) Allerdings ist, namentlich in den Gesichtern, eine
naciizeichnende spätere Hand wahrnehinlrar.
hll. Martin (?) und Rochus (rechts); vorn kniet,
puppenhaft klein, die Stifterfamilie, Mann, Frau und
Tochter. Die Anwesenheit der hll. Sebastian und
Rochus lassen ein Devotionsbild vermuten zur Abwehr
der Pestgefahr, die San Miniato so oft bedrohte.
Ein grob verputzter Riss, der durch die rechte Hälfte
des Bildes geht und die Namensinschrift des heiligen
Bischofs zerstört hat, entstellt ein wenig das Gemälde.
Die helle kalte Farbe, aus der ein fahles Grün her¬
vorsticht, das bleiche Inkarnat, die hakenförmig aus¬
gebogenen Locken, die auffallenden weissen Augäpfel,
in deren Ecken die Pupillen stehen, die fleischrote
Architektur des Thrones und die Miniaturfigürchen
der Stifterfamilie — all das, sollte man meinen, wären
deutliche Fingerzeige auf einen bestimmten Meister.
SAN MINIATO AL TEDESCO
221
Trotzdem weiss ich keinen Namen vorzuschlagen.
Die Tradition »scuola del Botticelli« lenkt vollends
in die Irre. Die leere, schönschreiberische Model¬
lierung des Nackten, das Preziöse des Qefühlsaus-
drucks deutet auf einen Umbrer, nicht einmal auf einen
sonderlich frühen. Unter dem Bilde hängt eine nicht
zugehörige Predelle, leider auch nicht wohl erhalten,
auf der ein tüchtiger Meister des beginnenden Quattro¬
cento Geschichten aus dem Leben des Täufers auf
Goldgrund dargestellt hat.
das geöffnete Buch, das der Heilige in der Linken
trägt, weist mit seiner Schrift auf das Jüngste Gericht
hin: Timete deum e date illi Honore. Auch hier
ist viel verputzt, der Meister aber noch kenntlich.
Wenn ich mich für Pier Francesco Fiorentino ent¬
scheide, so hat mich die Ähnlichkeit dieses Vincen-
tius mit dem gleichen auf dem Bilde in Siena
(Saal III, Nr. 66) bestimmt. Und ich verweise ferner
auf den heiligen Vincentius, wie ihn Pier Erancesco
in S. Agostino zu San Gimignano gemalt hat. Eine
Uinbro-Florentinischer Meister um i^oo
San Miniato al Tedesco. Altarbild in San Domenico
In der Kapelle links vom Hauptaltar, wo wir
schon den heiligen Hieronymus fanden, hängt auf
der rechten Seitenwand die fast lebensgrosse Figur
des heiligen Vincentius*). Stehend, auf geflammtem
Marmorboden gegen einen azurblauen Hintergrund
deutet er in seiner Ordenstracht mit erhobenem Zeige¬
finger auf Christus, der als Weltenrichter von zwei
blasenden Engeln emporgetragen erscheint. Auch
i) Für die Benennung dieses Heiligen ist mir ein mit
Sanctus Vincentius bezeichnetes, in Tracht, Typus und
Gebärde analoges Gemälde in der Pinakothek zu Gubbio
massgebend.
besondere Eigentümlichkeit, die langen zugespitzten
Finger mit dem geschwollenen Daumen, zeigt auch
unser Bild. Zudem liegt San Miniato in dem Bezirk,
den Pier Francesco bei seinen nachweisbaren Malereien
abgewandert hat.
Das letzte Bild, das uns in dieser Kirche interessiert,
hängt wieder an der Eingangswand als Gegenstück
zu den Figuren der hll. Michael und Katharina. Hier
assistieren der thronenden Madonna Johannes der
Täufer und der heilige Andreas. Inschriftlich wurde
i) Das Bild stammt übrigens aus dem benaclibarten
Colle di Val d’Elsa.
222
SAN MINIATO AL TEDESCO
das Gemälde 1507 von Andrea Giovanni Guidi
^‘cstiftet. Aus Pinturricchio’s Werkstatt hat der un-
br-kannte Maler seine Typen entlehnt. Seine künst-
1 . lischt- Verwandtschaft mit Sinibaldo Ibi ist zu auf-
üi'enJ, als dass der Name nicht genannt werden
üiüsstL-, wenn ich auch Bedenken trage, das gieich-
giiltige und verputzte Bild selbst mit einem so unter¬
geordneten Meisternamen zu belegen.
Draussen im schattigen Kreuzgang, der seit 1873
dem mercato pubblico zur Verfügung gestellt wurde,
ist über einer Thür, die zur Bibliothek führt, ein
Relief mit der Verkündigung aus der späten Robbia-
schule eingemauert. Es stammt aus dem unter Na-
sich jedoch nicht wieder sehen. Da ging die Wittib
zu den Priestern, dass diese die Kiste öffneten. Ein
Crocefisso lag darin, dessen wunderbare Herkunft
seine taumaturgische Kraft gewährleistete. So oft das
Land schwer heimgesucht wurde, trug man das
Wunderbild in Prozession. Es hatte seinen Ehren¬
platz in dem Oratorium neben dem Palaste der
Kommune. 1637, als die Pest wieder schlimm
hauste, gelobten die Samminiatesen ein neues und
prunkvolleres Haus für das Wunderbild. Aber erst
im 18. Jahrhundert konnte man jenen Rundbau er¬
richten, zu dem eine stattliche, doppelarmige Treppe
mit Statuenschmuck heranführt.
San Miniato al Tedesco. Altar in der Chiesa di Loretino
poleon aufgehobenen Kloster der SS. Annunziata.
Für Giovanni selbst erscheint die Arbeit zu gröblich.
Wie die Bewohner der Impruneta, besitzen auch
die Samminiatesen ihr wunderthätiges Heiligenbild,
nur dass es keine Madonna, sondern ein Kruzifixus
ist. Einst, zu des Hohenstaufers Zeiten, hatten zwei
Pilger bei einer armen Witwe eine grosse Holzkiste
hinterlegt, mit der Bitte, sie bis zu ihrer Rückkehr
uneröffnet in Gewahrsam zu nehmen. Die Männer
— oder waren es himmlische Abgesandte? — liessen
ln dem alten Oratorium aber, das inzwischen
mannigfache Umbauten erfahren hatte, sehen wir
heute in prächtigem holzgeschnitztem Tabernakel das
Bild der Madonna di Loreto, dem zu Ehren das
Heiligtum den Namen Loretino führt. Es ist einer
der reichsten und schönsten Altäre, die man in dieser
Technik sehen kann. Ein sehr kunstvolles Eisen¬
gitter trennt ihn von der Schar der Anbeter. Seine
Architektur, aus der Form des römischen Triumph¬
bogens entwickelt, schliesst in rundbogigen Nischen
und viereckigen Feldern einige Gemälde der späten
florentinischen Schule ein, die das herrschende Dunkel
und die schlechte Erhaltung nur schwer erkennen
SAN MINIATO AL TEDESCO
223
lassen. Doch darauf kommt es nicht an ^). Hier
wirken allein die Kunst des Schnitzers, die pracht¬
vollen Verhältnisse, der Reichtum ohne Überladen¬
heit und das schöne Altgold der Bemalung. Den
Giebel krönt ein segnendes Christkindlein, dessen
Stammbaum sich bis ins Quattrocento hinein zu
Desiderio da Settignano zurückverfolgen lässt.
scheint zunächst altertümlicher, als sie ist. Das ge¬
ringe Verständnis des Nackten, die nebeneinander
genagelten Füsse, die byzantinisch steif herabhängenden
Gewandfalten — das alles möchte man einer beson¬
ders frühen Zeit zuweisen. Doch überzeugt der Aus¬
druck der Gesichter, dass wir es nur mit einem rück¬
ständigen Provinzkünstler, nicht etwa mit einem durch
Toskanischer Meister, Anfang 1400
San Miniato al Tedesco. Arciconfraternitä della Misericordia
Einige Schritte weiter die Strasse hinauf kommen
wir zur Kapelle der Misericordienbruderschaft. Eine
Kreuzigungsgruppe aus Thon, leider modern bemalt,
1) Dargestellt sind; in den kleineren seitlichen Nischen
neben dem verhängten Madonnenbild zwei anbetende
Engel, darüber in den quadratischen Feldern die Verkün¬
digung, in den grossen Seitennischen die beiden Orts¬
heiligen S. Miniatus und S. Genesius.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. o
hohes Alter ehrwürdigen Spezimen toskanischer Plastik
zu thun haben. Wir würden, glaube ich, fehl gehen,
setzten wir die Arbeit vor das 14. Jahrhundert, ja
ich meine, dass sie sogar an den Anfang des
15. Jahrhunderts gehört. Die im Hintergründe an
die Mauer angepickten papiernen Engel hat das Rokoko
in Reifröcke gekleidet, wodurch der groteske Eindruck
ihrer Klage noch erhöht wird.
29
SAN MINIATO AL TEDESCO
Auch der floren-
tinische Palaststil hat
Eingang in San Mi-
niato gefunden. Ugo-
lino Orifoni, der ehe¬
malige inaggiordomo
des duca Alessandro
de’ Medici, der in
Elorenz den Palazzo
Altopasso in der Ecke
des Annunziaten-
platzes errichtet hat,
liess von Giuliano di
Baccio d’Agnolo
(1491 — 1555) einen
Palast in San Miniato
erbauen. Als Muster
nahm sich Giuliano
den Palazzo Guada-
gni, dessen obere
säulendurchbrochene
Loggia sich auch in
der Nachahmung sehr
wirkungsvoll erweist.
Zum Bau verwandte
man Material aus den
abgetragenen Eestungswerken, die um die F^occa lagen.
Vasari (Sansoni, V, 355) rühmt den Palast als »cosa
magnifica .
Weniger imposant ist der Palazzo Eonnichini,
ebenfalls dreigeschossig, aber mit geschlossenem
oberen Stockwerk. Seine Zierde beruht auf den
guten Verhältnissen seiner Stockwerke und auf der
Rustika, die Portal und Eenster umrahmt.
Die grossen Ereignisse, die Florenz erschüttern,
zittern auch in dem Provinznest nach. 1527 kommt
die Pest mit ungewohnter Verheerung, so dass die
Taufregister von April bis Dezember leer bleiben.
Dann kommen die Spanier, ben degni, wie der
Chronist sagt, di venire dopo la peste. Noch ein¬
mal im 17. Jahrhundert ersteht dem Ort eine Wohl-
thäterin in Maria Magdalena von Österreich, der Ge¬
mahlin Cosimo’s II. Sie wirkt San Miniato Titel und
Rechte einer Stadt aus und sorgt für einen eigenen,
von Lucca unabhängigen Bischofsstuhl.
In der langen Reihe der illustren Besucher, die
seit den Tagen des heiligen Franz zum alten Sitz der
kaiserlichen Vikare hinanstiegen, taucht auch Michel¬
angelo auf, der hier 1533 mit Papst Clemens Vll.
zusammenkam i).
Am 2g. Juni 1797 erscheint der General Buonaparte
mit einer Suite von fünf Offizieren, um die Stätte,
wo er seine Kindheit zugebracht, und den alten Onkel
Kanonikus zu besuchen. Eine Inschrift an dem Hause
erinnert daran “).
Seither scheint die gute Stadt wie eingeschlafen
in langer Vergessenheit. Die Wagen, die unten im
Thale an der Station halten, und deren Führer mit
Peitschengeknall und Preisunterbietung die Ehre sich
streitig machen, den allzu seltenen Fremdling den
Berg hinaufzufahren, kehren meist leer zurück. Nur
gelegentlich kommt ein Ordensgeneral zur Inspektion
oder flüchtet ein Liebespärchen aus dem klatsch¬
süchtigen Florenz in den verschwiegenen Schatten der
alten staufischen Reichsveste.
1) Milanesi, Fettere e ricordi p. 604. »22 detto (settembre)
Nel inille Cinquecento trenta tre. Ricordo come oggi a
di 22 di settembre che andai a Santo Miniato al Tedesco
a parlare a papa Cleinente che andava a Nizza; e in tal di mi
lasciö frate Sebastiano del Pionibo un siio cavallo«.
2) Napoleone 1, qni, dove albergö fancinllo presso
i suoi consanguinei, tornö, adorno di allori, a visitare il
canonico Filippo Buonaparte, e tenne in questa consiglio
di guerra, ai 29 di Oiugno 1797. Acciö ricordassero i posteri,
nata in Italia la gentilissima stirpe dei Buonaparte.
224
San Miniato al Tedesco
Palazzo Fonnichinl
San Miniato al Tedesco. Palazzo Orifoni
Arcli. Qiiiliano di Baccio d'Agnolo
Ihre K- lind K- Hoheit Erzherzogin Maria Josepha als Kind in Loschwitz
Wasserfarbenblatt (iS6g) im Besitze Seiner Majestät des Königs Georg in Dresden
Richter- Aiisstellnngskatalog Nr. 5ji
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
Von Karl Woermann
WAR das eine Freude in meiner Jugend, wenn
jedes Jahr ein neues Werk Ludwig Richter’s
auf dem Weihnachtstische lag! Die Volks¬
bücher, die Volkslieder und Musäus’ Volksmärchen
waren freilich schon vor meiner Zeit erschienen;
aber von Campe’s Robinson an, der 1848 heraus¬
kam — ich zählte damals vier Jahre — habe ich die
von Richter mit Holzschnitten geschmückten Bücher
alle erlebt und die meisten von ihnen auch in die
Hand bekommen, ln die »Spinnstube« durften wir
manchmal bei unseren Grosseltern einen Blick thun.
Die illustrierte Jugendzeitung hielten uns unsere Eltern.
Hebel’s allemannische Gedichte (1851), aus deren
Abbildungen die deutsche Volksseele mit ebenso
hellen und tiefen Augen hervorschaut wie aus ihrem
Versen, habe ich allerdings erst später kennen gelernt.
Dann aber Andersen’s Märchen (1851), Bechstein’s
Märchen (1853), Christenfreude (1855), der Kinder¬
engel (1858) und Klaus Groth’s »Voer de Goern
(1858)! Schon uns Kindern schien in manchen diesen
Büchern der Text nur der Bilder wegen da zu sein.
»Bilder und Reime (1859), war einmal« (1862)
und die Scherer’schen Kinderbücher, die zum Teil mit
älteren Richter’schen Holzschnitten geschmückt wurden,
wandten sich schon mehr an meine jüngeren Ge¬
schwister; aber wir älteren genossen sie mit und
ahnten schon so etwas davon, wie glücklich die
Jugend sei, die die Welt durch so wahre, gute und
schöne Bilder kennen lernte, wie diese Richter’schen
Bücher sie ins Volk trugen.
Dann die frei geschaffenen Holzschnittfolgen!
Im Übergang zu ihnen stehen das Goethealbum
(1853 — 1856), das die unsterblichen Lieder des
Dichters in frei erfundene, vom gleichen Hauche be¬
seelte Gestalten umsetzt, die Bilder zu Schiller’s
Glocke (1857), die die durch den Dichter angeregten
Gedanken selbständig weiterspinnen, und die schon
genannte Bilderreihe zu Klaus Groth’s »Voer de
Goern s die in der That eher Parallelschöpfungen zu
den Gedichten als eigentliche »Illustrationen« zu
29
226
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
nennen sir J'.hriiin Friedrich Hoff, der durch sein
trefflichp= r- i; über Richter’s Radierungen, Holz¬
schnitte erid Lifi'-Jgrajdiien (Dresden 1877) der Be-
■ iTÜnd ; e''n r hei' icr- Wissenschaft geworden ist, hat
diesr dr ; W ;ialn-r auch schon seiner Abteilung
Pol;e^:i , ijei:.; ^ier Abteilung Illustrierte Werke.
cing^'e
W; = . :P w irklich frei erfundenen Bilderfolgen
üls a-i-.-iM-rrs, Beschauliches und Erbauliches«
(1 ".5: id.,L was Das Vaterunser« (1856), was
wi. . ; r .Sr.;iii!i ungen Fürs Haus (1858 -1861),
was . r-wimtag (1861), der Neue Strauss fürs
-laus ( 864), Unser tägliches Brod« (1866) und
Gesainrieltesv (1869) dem deutschen Volke an
vcistigcr Nahrung, an künstlerischer Anschauung,
an Heimatliebe, Natursinn und Schönheitsgefühl, an
reinem, köstlichen Humor und an sittlich-religiöser
Erbauung ins Haus gebracht haben, das können voll
wohl nur wir älteren Zeugen jener Zeit nachempfin¬
den, die wir das Erscheinen aller dieser Werke mit
erlebt und ihre Wirkung an uns selbst erfahren
haben.
Ach! wie vergänglich alle Erdensachen sind. Die
Exemplare aller dieser Bücher, die meine Geschwister
lind ich in unserer Jugend in Händen gehabt haben,
sind längst zu Grunde gegangen. Die erhaltenen
Stücke der älteren Auflagen wandern als Kunstwerke
in die Kupferstichkabinette. Unsere Jugend erbaut
sich an anderen Bilderbüchern, an anderen Bildfolgen.
Es liegt ja auch ein Trost darin, dass unsere Zeit
aus sich heraus Neues schafft, so gut wie Richter’s
Zeit dies aus sich heraus that. Wenn man jedoch
Richter’s Kinderbücher z. B. neben die englischen
der letzten Jahrzehnte hält, wird man nicht daran
zweifeln, dass die englischen zwar grosszügiger in
dekorativer Beziehung sind, dass die alten Richter’schen
Bücher ihnen aber an frischer Natürlichkeit und
schlichtem Adel ihrer Formensprache, an Unmittel¬
barkeit und Reinheit der Empfindung, an wirklicher,
nicht beabsichtigter Naivetät und vor allen Dingen
an echter Tiefe des Gemütslebens überlegen sind und
überlegen bleiben.
Jenen für Alt und Jung bestimmten freien Bilder¬
folgen, die, durch den Holzschnitt vervielfältigt, Trost
und Erquickung ins deutsche Bürgerhaus getragen
haben, haben die anderen Völker in der Art über¬
haupt nichts an die Seite zu setzen. Sie sind deutsch
ihrer Art, deutsch ihren künstlerischen Formengabe,
deutsch ihrer Herzensprache nach.
Es war eine Ehrenpflicht Deutschlands, sich aus
Anlass des 100. Geburtstages (28. September 1803)
Richter’s aller dieser Schöpfungen zu erinnern, sie
wieder ans Licht zu ziehen und Alt und Jung wieder
auf sie zurückzuweisen. Dass dieses im Rahmen
einer Ausstellung« geschehen musste, ist den Blättern
gegenüber, die bestimmt gewesen, gesammelten Gemüts
allein, zu zweien oder zu dreien im stillen Stübchen
beim trauten Lampenschein genossen zu werden,
gewiss als Übelstand anzuerkennen; aber auf andere
Weise Hess sich weiteren Kreisen die Bedeutung
dieser eigenartigen, in ihrer schlichten Technik wie
in ihrer seelischen Vertiefung urdeutschen Kunst doch
kaum wieder vor Augen stellen; und die Dresdner
Kunstgenossenschaft, der man dankbar sein wird,
dass sie ihrer >Sächsischen Kunstausstellung« die
Richterausstellung als geschlossene Abteilung ein¬
gereiht hat, hat es auch verstanden, ihr den intimen
Charakter zu verleihen, der ihr zukam.
Natürlich durften die Ölgemälde des Meisters nicht
fehlen, die seine künstlerische Entwickelung bis gegen
die Mitte des 19. Jahrhunderts doch immer noch
am deutlichsten widerspiegeln. Natürlich durften
seine freien, nicht gerade für die Vervielfältigung
geschaffenen, wenn auch manchmal später verviel¬
fältigten Wasserfarbenbilder nicht fehlen. Natürlich
mussten jene feinfühligen Naturstudien auf Papier,
in denen er die Natur bei wahrheitsfreudigster Be¬
obachtung aller ihrer Seiten und liebevollster Ver¬
senkung in ihre wesentlichsten Züge sofort mit dem
Auge und der Hand in seinen eigenen zarten Griffel¬
stil übersetzte, in genügender Anzahl zur Anschauung
gebracht werden. Es konnte aber auch von Anfang
an keinem Zweifel unterliegen, dass jene Zeichnungen
Richter’s für den Holzschnitt und für andere Ver¬
vielfältigungsarten, auf denen sein Weltrnhm haupt¬
sächlich beruht, auch einen Hauptbestandteil der
Ausstellung bilden mussten. Nur konnte sich fragen,
ob neben diesen Blei-, Feder- und Pinselzeichnungen
nicht auch die Holzschnitte, die andere Hände aus
ihnen gemacht, nicht auch den Radierungen, die er
selbst und die andere nach ihnen geschaffen, aus¬
gestellt werden sollten. Warum nicht, wenn Platz
für alles vorhanden gewesen wäre? Aber der Platz
war, da die Sächsische Kunstausstellung 1903 wegen
der grossen Städteausstellung nun einmal nur im
akademischen Ausstellungsgebäude auf der Brühlschen
Terrasse stattfinden konnte, von Anfang an beschränkt,
recht beschränkt. Doch musste diese Beschränkung,
da gerade so vielen an sich anspruchslosen Zeichnungen
gegenüber das Wort vom Weniger, das mehr ist,
Geltung behält, der Richterausstellung, bei Licht be¬
sehen, nur zu gute kommen. Da galt es also ohne
weiteres, aus der Not eine Tugend zu machen. Das
nahegelegene Königliche Kupferstichkabinett hatte
so wie so eine Ausstellung der Drucke Richter’s
aus diesem Anlass geplant. Damit war es entschieden,
dass unsere Ludwig- Richter- Ausstellung die Drucke
ausschliessen und sich auf die Ölgemälde, die Wasser¬
farbenblätter und die Zeichnungen des Meisters, also
auf die eigensten Werke seiner eigensten Hand be¬
schränken musste. Zeigen seine Wasserfarbenblätter
und Zeichnungen, zwischen denen, da Richter die
zwischen ihnen liegenden Möglichkeiten alle aus¬
genutzt hat, keine Grenze zu ziehen ist, doch auch
gerade, soweit sie als Vorstudien und Vorlagen für
seine gedruckten Blätter anzusehen sind, seine Be¬
obachtungsgabe von ihrer ursprünglichsten, seine
schöpferische Phantasie von ihrer frischesten, seine
künstlerische Handschrift von ihrer unmittelbarsten
und ihrer technisch meisterhaftesten Seite. Manchmal
erkennt man, welche Wandlungen seine Erfindungen
durchzumachen hatten, bis sie ins Holz geschnitten
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
227
wurden. Zahlreichen dieser Blätter, die er mit der
Feder oder dem Bleistift zu zeichnen und mit zarten,
leichten Farben anzutönen liebte, sieht man es aber
auch gar nicht an, dass sie bestimmt gewesen, zu
Holzschnitten verarbeitet zu werden. Besonders die
Vorlagen für die freien Holzschnittfolgen haben durch¬
aus die Bedeutung selbständiger, ihrer selbst willen
ausgeführter Schöpfungen; und wie viel feiner die
eigenhändigen Vorlagen Richter’s auch den besten
nach ihnen geschaffenen Holzschnitten gegenüber
bleiben, davon kann man sich gerade in unserem
Kupferstichkabinett, das einige Zeichnungen aus
Richter’s bester Zeit neben den Holzschnitten aus¬
gestellt hat, leicht überzeugen.
Aus denselben Gründen, die die gedruckten Blätter
Richter’s von unserer Ausstellung ganz ausschlossen,
konnten aber auch seine Zeichnungen und Aquarelle
nur in sorgfältiger Auswahl ausgestellt werden. Es
war daher nur willkommen, dass einige Leipziger
Verleger erklärten, ihre Blätter Richter’s im Leipziger
Museum zu einer besonderen Richterausstellung ver¬
einigen zu wollen, und dass das Dresdner Kupferstich¬
kabinett, das immerhin zwei wertvolle Zeichnungen
geliehen hat, die grosse Mehrzahl seiner Richter’schen
Zeichnungen und Aquarelle im Anschluss an die
Drucke selbst ausstellen konnte und wollte. Da der
Platz nicht einmal ausreichte, die allerbedeutendsten
Sammlungen Richter ’scher Blätter, die des Herrn
Ed. Cichorius in Leipzig, der Nationalgalerie und
des Herrn M. Flinsch in Berlin, vollständig auszustel¬
len, konnten überhaupt nicht alle öffentlichen Samm¬
lungen um die Herleihung ihrer Blätter angegangen
werden. Es erschien doch wichtiger, dem Privat¬
besitz seine Schätze zu entlocken, als den öffentlichen
Besitz als solchen zusammenzutragen; und überdies
enthalten, ausser den genannten, z. B. auch die Samm¬
lungen von Herrn A. O. Meyer in Hamburg, von
dem während der Ausstellung verstorbenen Herrn
Dr. Eug. Lucius in Frankfurt a. M., von Frau Professor
Beneke in Braunschweig, von Herrn Walter Meyer
in Köln und von Frau Kretzschmar, der Tochter
Richter’s, in Dresden, bedeutsamere und zahlreichere
Blätter des Meisters, als die meisten öffentlichen Samm¬
lungen. Jedenfalls enthält die Richterausstellung, wie
sie ist doch von den Ölgemälden des Meisters
alle, die erreichbar waren, von seinen Zeichnungen
und Wasserfarbenblättern aber fast alle, auf denen sein
Ruhm beruht; und jedenfalls gewährt sie mit ihren
37 Ölgemälden und Ölskizzen und ihren 573 Wasser¬
farbenblättern und Zeichnungen zu fast allen Werken
und aus fast allen Lebensjahren des Meisters einen
vollständigen Überblick über seinen Entwickelungsgang.
Den ungeschlachten, grossen und hohen Fünfeck¬
saal des Lipsius’schen Ausstellungsgebäudes, neben
dem der Richterausstellung nur noch ein kleiner an¬
grenzender Raum zur Verfügung stand, hat Herr
Architekt Max Hans Kühne mit Geschick und Ge¬
schmack in drei kleinere, niedrig gedeckte, häuslich
anheimelnde Räume verwandelt. Zuerst betreten wir
das dreieckige, weiss gehaltene Vorgemach, dessen
der Eingangsthür gegenüberliegender Winkel zu einer
Nische gestaltet worden ist, aus der uns Oskar
Rassau’s lebenswarme Marmorbüste Meister Ludwig’s
grüsst. In diesem Zimmer haben zunächst Zeichnungen
und Aquarelle Platz gefunden, die eingerahmt ein-
gesandt worden waren; von den in Dresden ein¬
gerahmten, die die grosse Mehrzahl bilden, sind aber
so viel hinzugenommen, um gleich hier einen Über¬
blick über das Schaffen des Meisters zu gestatten.
Hier hängen die gezeichneten Bildnisse Richter’s,
unter ihnen das Selbstbildnis von 183g im Besitze
des Herrn Cichorius, freilich aber auch eins (Nr.
610), das weder von Richter gezeichnet, noch ihn
darzustellen scheint. Hier hängen einige der besten
landschaftlichen Aquarelle und Zeichnungen, die er
nach seiner Rückkehr aus Italien in Meissen und
Dresden auf der Grundlage seiner mitgebrachten
Studienblätter ausgeführt, unter ihnen die grosse Sepia¬
zeichnung »Italienische Berglandschaft« von 1828 aus
dem Besitze des Herrn Herrn. Vogel in Leipzig und
das schöne, zarte, grosse Farbenblatt »Ariccia von 1834
aus dem Dresdner Kupferstichkabinett. Hier hängt
die breitgesteckte Wasserfarbenzeichnung des Dresdner
Stadtmuseums, die den um 1842 geschaffenen Ent¬
wurf zum Fries des verbrannten Dresdner Theater¬
vorhangs zeigt, hier aus der letzten Schaffensperiode
des Meisters unter anderem das liebenswürdige, duftige
Aquarell »Frühlingsidyll« von 1871, das Herrn
Kommerzienrat Schmidt in Braunschweig gehört; aber
auch an Proben von Zeichnungen des Meisters für
den Holzschnitt fehlt es schon in diesem Raume nicht;
schon die beiden Rahmen des Herrn Geheimrat Lampe-
Vischer in Leipzig zeigen einige gute Beispiele dieser
Art; und von Richter’s persönlich bedingten Blättern
sieht man schon hier sein anmutiges, farbig ausgeführtes
»Titelblatt zu Herrn Cichorius’ Handzeichnungen-
Sammlung«, schon hier die Herrn joh. Friedr Hoff
in Frankfurt gewidmete Wiederholung der 1870 ent¬
standenen Federzeichnung »Der Einsiedler von Losch-
witz«, die der Meister seinen Stammtischgenossen in
Loschwitz gewidmet hatte. Welche Fülle von Anmut
und Schönheit, von Ernst und Scherz, von Poesie
und Leben umstrahlt uns gleich hier an der Schwelle
der Ausstellung! Alles schlicht und anspruchslos in
der Technik; aber alles selbst erschaut und selbst
empfunden, alles keusch und lauter aus den tiefsten
Quellen des deutschen Gemütslebens geschöpft!
Aus diesem anmutigen Eingangsraum gelangen
wir durch die Thür zur Rechten in den Saal der
Ölgemälde, der in seiner milden, bläulich-grünen Aus¬
stattung einen ruhigen Hintergrund für die Haupt¬
bilder des Meisters gewährt. Über den Thüren hängen
zwei Ölbildnisse des Meisters; das eine ist um
1840 von Professor Karl Johann Baehr in Dresden,
das andere an dreissig Jahre später von Frau von
Sochodolska gemalt. Richter’s frühe Hauptbilder,
von denen in seiner Selbstbiographie die Rede ist,
sind alle da: und ihnen voraus geht wohl noch das
poetische kleine Bild des »Innthals«, das noch der
Tochter des Meisters, Frau Kretzschmar, gehört. Wahr¬
scheinlich schon 1823 auf der Wanderung des jungen
Zwanzigjährigen nach Italien entstanden — vielleicht
228
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
Am Alpensee. Leicht bemalte Federzeichnung (1823)
Eigentum der Kgl- Nationalgalerie, Berlin. Richter- Aiisstellnngskatalog Nr. 47
aucli erst in Rom ausgeführt — ist es doch bereits
von einem Anliauch jener römisch-neudeutschen Kunst¬
empfindung umflossen, die Richter damals erst durch
Bilder, die in Dresden ausgestellt gewesen, kennen
gelernt hatte. Ebenfalls auf seiner Wanderung nach
Italien empfangen war das grosse Hochbild »Der
Watzmann (Abb. S. 231) von dem in seiner Selbst¬
biographie so viel die Rede ist. Die neuere Richter-
litteratur nennt das Bild; aber ihre Vertreter, selbst
Hoff und Mohn, scheinen es nicht selbst gekannt
zu haben. Es gehört Herrn Karl Leubner in
Dresden, dem Pflegesohn jenes Buchhändlers Ar¬
nold, dem Richter seine Reise nach Italien ver¬
dankte; und es darf dankbar hinzugefügt werden,
dass Herr Leubner das kunstgeschichtlich wichtige
Bild bereits der Dresdner Galerie vermacht hat.
Möge ihm noch lange vergönnt sein, sich selbst des
schönen Besitzes zu erfreuen. Gleich 1824 in Rom
ausgeführt, war es das erste grosse Gemälde des
Meisters. Es ist kein Wunder, dass sich in ihm neben
den Einflüssen KoclTs und Schnorr’s, die ihn in Rom
gleich in Beschlag nahmen, noch deutliche Erinne¬
rungen an den Vater des norwegischen Realismus,
an J. C. C. Dahl widerspiegeln, der seit 1818 in
Dresden gewirkt hatte. Dann folgen die beiden
schönen Gemälde des Leipziger Museums von 1825
und 1826, die an der Schmalseite des Saales zu beiden
Seiten des Watzmann hängen: »Rocca di Mezzo und
Thal bei Amalfi«, auch sie in der Selbstbiographie
Richter’s wiederholt genannt, gerade sie ausgezeichnet
durch jene zugleich stilvolle und empfindungsfrische
Haltung, die besonders aus Schnorr’s Studienblättern
stammte. Man wird sich immer noch unbefangen
an diesen Bildern erfreuen können, die, obgleich sie in
Rom gemalt sind und italienische Landschaften dar¬
stellen, deutschem Herzblut entsprungen sind; und
diese deutsch -römische Kunst des ersten Drittels des
ig. Jahrhunderts wird schon dadurch, dass die anderen
Völker doch höchstens auf Parallelpfaden wanderten, als
deutsch ihrem eigensten Wesen nach gekennzeichnet.
Diesen beiden Bildern schliesst sich das kleine, erst
voriges Jahr für die Dresdner Galerie angekaufte Bild
an, das eine italienische Berglandschaft mit heim¬
kehrendem Harfner darstellt. Auf einem Schimmel
reitet der Alte den Berg hinan. Sein Knabe eilt
munter voraus. Die Blumen und Kräuter, die am
Wege spriessen, sind noch mit liebevollster Sorgfalt
durchgebildet. Poesie, Phantasie, Natur und Stil ver-
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
22y
Civitella. Ölgemälde (1827)
Eigentum der Kgl. Qemäldegalerie, Dresden. Richter- Ausstellungskatalog Nr. 6
einen sich auch in diesem kleinen Bilde, das Richter
nach seiner Selbstbiographie 1825 in Civitella gemalt
hatte, zu eigenartiger, herber und doch duftiger Ge¬
samtwirkung. Ich bleibe dabei, dass es ein Stück
Böcklin’scher Empfindung vorwegnimmt. Ende 1826
nach Deutschland heimgekehrt, fing Richter an, seine
italienischen Studien in grösserem Umfang zu Bildern,
Wasserfarbenblättern und ausgeführten Zeichnungen
zu verarbeiten. Herr von Quandt in Dresden be¬
stellte 1827 zwei mittelgrosse Landschaften bei ihm:
Civitella und Ariccia. Jenes wurde 1827, dieses 1828
ausgeführt. Gleich das Bild von Civitella (Abb. S. 22g),
in dem man besonders die fast gleichwertige Betonung
der Menschen und der Landschaft, »die Einheit des
Menschen mit der ihn umgebenden Natur«, wie man
damals sagte, bewunderte, erregte Aufsehen. Kein
geringerer als Schinkel sprach, wie Otto Jahn erzählt,
begeistert von dem Bilde. Beide Gemälde gehörten
bis vor kurzem Herrn Ed. Cichorius, der sie aus
Anlass der Ludwig Richter-Ausstellung, wie auch an
dieser Stelle mit innigem Danke hervorgehoben sei,
nebst drei Bildern von Jos. Ant. Koch, der Dresdner
Galerie geschenkt hat. Von den übrigen ausgestellten
Ölgemälden Richter’s in dieser Art und aus der Zeit
zwischen 1827 und 1835 war der stimmungsvolle
Erntezug in der römischen Campagna von 1833
(im Leipziger Museum) längst allgemein bekannt; in
der Richterl itteratur genannt wurden Bajae« von 1830,
Eigentum der Frau Pauline Brandes in Apolda, und
der »Brunnen bei Grotta ferrata« von 1832, Eigentum
der Frau Direktor Fritsche in Dessau. Jenes erinnert
an Claude Lorrain’sche Motive; dieses, ein stattliches
Hochbild, von dem noch eine kleinere Wiederholung
von 1835 aus der Dorpater Universitäts-Sammlung
ausgestellt ist, zeichnet sich durch die farbigen Abend¬
gluten aus, in die es gehüllt ist. Als neu aufgetaucht
aber können vier kleinere Bilder bezeichnet werden:
von 1828 die stimmungsvolle Bergsee-Landschaft des
Herrn Dr. L. Volkmann in Leipzig und der prächtige
Ponte Namentano« des Herrn Wirkl. Geheimrat
Schöne in Berlin; von 182g eine hübsche, ernste
Landschaft aus dem Sabinergebirge bei Herrn R. von
Zahn in Dresden, von 1833 eine italienische Landschaft
bei Frau von Nostitz und Jänckendorf in Niederlössnitz.
Dann erfolgt 1835 der Umschwung in der Wahl
der landschaftlichen Vorwürfe. Widrige Umstände
hatten dem Meister in diesem Jahre bekanntlich ganz
wider Wunsch und Willen eine Reise ins deutsch¬
böhmische Elbthal anstatt einer zweiten italienischen
Reise aufgenötigt. Diese Wanderung enthüllte seinen
230
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
erstaunten Blicken die Schönheit der heimischen Natur,
die es gerade im böhmischen Mittelgebirge an plasti¬
schem Teize mit dem Albaner- und Sabinergebirge
aufnehi.ien kann. So wurde Richter im heimatlichen
Miis-.iii.L zimächst als Landschaftsmaler zum Heimat-
i ür.dler; m.d ri.'lmäldich, aber nur ganz allmählich
m..;!iip :L ! dennmisprechend auch ein gewisser Um-
.d'! = ■uiii' i'i d -r SLÜisierung geltend. Gleich 1835
sntL a :1 L. -iisgestellte Ölgemälde Der Schrecken-
stcL; , - - ■= Un Zierden des Leipziger Museums
■ Lsrr L: .s : .id aufsteigendes Gewitter. Wie ganz
•ii‘i i : :■ Z.-icl jung und Färbung hatte der Meister
.• früher die Landschaft mit aufsteigen-
d: 'iU-r am Monte Serone in dem bekannten,
Ijiik.r .;!clit in Dresden ausgestellten Bilde des Städel-
scIk:- Instituts zu Frankfurt behandelt! Er war er
selbst geblieben und hatte sich doch verändert. Die
grosse Überfahrt am Schreckenstein < der Dresdner
Galerie folgte erst 1837. In der Pinselfiihrung wirkt
es, den ganz anderen Wegen gegenüber, die die Öl¬
malerei inzwischen gegangen, heute etwas hart und
trocken; aber diese Pinselführung gehört schliesslich
doch zu dieser Komposition, die von unvergänglicher
Poesie erfüllt ist. Die deutsche Volksseele erfüllte
hier zuerst ein ganzes Richter’sches Gemälde mit
ihrem warmen, belebenden Hauche. Auch die kleine
Wiederholung dieses Bildes von 1840, die Frau
Maurer in Godesberg gehört, ist ausgestellt. An rein
malerischer Kraft und Stimmung ist dieser Darstellung
freilich der »Teich im Riesengebirge von 183g über¬
legen, das schöne Bild, das die Berliner National¬
galerie geschickt hat. Das kleinere, staffagelose Exemplar
aus dem Besitze der Ernst Arnold’schen Kunsthandlung
in Dresden wirkt doch eher als Studie zu, denn als
Wiederholung nach dem Bilde; und das ganz kleine
Bildchen, aus dem Besitze der Frau Kretzschmar, das
die gleiche Landschaft mit Richter selbst und seiner
Frau, die vor dem aufsteigenden Gewitter flüchten,
als Staffagefiguren, wiederholt, ist, rein malerisch an¬
gesehen, vielleicht das wirksamste, was der Meister ge¬
schaffen hat. Von den noch späteren grossen Gemälden
Richter’s, die ausgestellt sind, gehören die »Ruhenden
Wallfahrer- von 183g, bei Frau Sophie Gutbier in
Dresden, ebenfalls zu den malerischsten und leicht¬
flüssigsten Pinselschöpfungen des Meisters. Am nächsten
verwandt ist diesem Bilde die »Abendandacht- von
1842 im Leipziger Museum. Inzwischen aber hatte
er 1841 in dem Bilde »Genoveva in der Waldeinsam¬
keit- das Herrn Professor Leonhardi in Loschwitz
gehört, ein Werk von durch und durch deutscher
Eigenart geschaffen, das, ohne mit der damals
schon aufkommenden flüssigeren Pinselführung der
fremden Völker wetteifern zu wollen, der deutschen,
liebevoll alle Einzelheiten umfassenden Auffassung
auch einen besonderen malerischen Stil gab, der sich
eine Generation lang fortpflanzte und besonders in
Professor Leonhardi’s eigenen Bildern seine Höhe
erreichte. Die »Kirche zu Graupen in Böhmen« von
1836, ein Bild, das der verwitweten Frau Herzogin
Elimar von Oldenburg gehört, der Dorfgeiger« von
1845 äus dem Besitze der Frau Bürgermeister Cichorius
in Leipzig und »Die Furt« von 1847 aus der Ham¬
burger Kunsthalle wirken vor allen Dingen durch
ihre naive Wiedergabe malerisch ansprechender Motive.
Als die grösste malerische Leistung Richter’s, die
auch als solche auf der Pariser Weltausstellung von
1855 durch die goldene Medaille anerkannt wurde,
galt seiner Zeit allgemein »Der Brautzug« von 1847
in der Dresdner Galerie. Das Bild steht auf dem
durch die »Genoveva« bereiteten Boden, folgt durch¬
aus der eigenen Technik und Pinselführung Richter’s,
wird heute natürlich von manchem, weil es Pinsel
und Farbe anders gehandhabt zeigt, als man es jetzt
gewohnt ist, als altmodisch und unmalerisch, kleinlich
und trocken in der Behandlung verschrieen, bleibt
trotzdem aber in seiner Art ein künstlerisches Meister¬
werk, das eine Fülle von Schönheit, von Freude, von
Poesie, von Lebens- und Liebesglück ausstrahlt. Nach
dieser Zeit hat Ludwig Richter nur wenig Ölgemälde
mehr geschaffen. Das nicht mit ausgestellte grosse
Gemälde »Im Juni«, das er noch 185g für Herrn
Ed. Cichorius malte, war ein Nachhall seiner früheren
Schöpfungen. Seit er 1838 mit Marbach’s Volks¬
büchern angefangen, für den Buchholzschnitt zu zeichnen,
liessen die Verleger ihm keine Zeit mehr, in Öl zu
malen. Auch fing die Ölmalerei gerade um diese Zeit
auch in Deutschland an andere Wege einzuschlagen,
Wege, die dem Meister fernlagen. Er begnügte sich
daher von jetzt an in der Regel damit, Zeichnungen
für den Kunstdruck und Wasserfarbenblätter in allen
Abstufungen von den nur mit leichtem Farbenhauch
versehenen Blei- und Federzeichnungen bis zu den
am sorgsamsten ausgeführten Wasserfarbenbildern zu
schaffen. Die Hauptmasse dieser Zeichnungen und
Farbenblätter ist in den beiden Sälen der Ludwig
Richter-Abteilung ausgestellt, die noch nicht genannt
worden sind: in dem langen graugrün und weiss ge¬
haltenen Mittelsaal und dem farbenfroheren Schluss¬
raum. Die Anordnung der Richterschen Zeich¬
nungen und Blätter in diesen Sälen folgt, soweit
die stets vorangestellten dekorativen Rücksichten dies
zuliessen, der Entstehungszeit der Blätter. Die
Zeichnungen für den Kunstdruck wechseln daher in
bunter Folge mit den Naturstudien und den aus¬
geführten Aquarellen. Die Farbenblätter heben sich
in goldenen, die schwarz-weissen Blätter in roten
Rahmen von dem graugrünen Wandgrunde des ersten
und dem lichtblauen Wandgrunde des zweiten Saales
ab. Bei alledem ist, wie gesagt, die chrono¬
logische Folge, die auch der Katalog, der alle
Blätter einzeln verzeichnet, einzuhalten versucht, so
viel wie möglich gewahrt worden. Bei der grossen
Eile, mit der ein solcher Ausstellungskatalog in dem
kurzen Zeitraum, der zwischen dem Eintreffen aller
Kunstwerke und der Eröffnung der Ausstellung liegt,
zusammengestellt werden muss, ist es schwer, eine
wissenschaftliche Anordnung in ihm fehlerfrei durch¬
zuführen. Es ist daher nicht zu verwundern, dass
auch mein Katalog der Ludwig Richter-Ausstellung
hier und da Irrtümer, die jetzt bereits berichtigt
werden konnten, in der Einreihung und Bestimmung
der Blätter enthält. Sie hier aufzuzählen wäre zwecklos.
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
231
DER WATZMANN. ÖLGEMÄLDE (1824)
EIGENTÜMER: HERR KARL LEUBNER, DRESDEN
RICHTER-AUSSTELLUNGSKATALOG NR. 1
Erwähnt sei nur, dass Nr. 215, 216, 382 und 383,
die vier reizenden farbigen Federzeichnungen zu
Nieritz’ Volkskalender, zusannnengehören, für den Jahr¬
gang 1855 gestochen und von Hoff als Nr. 3008 — 301 1
verzeichnet sind; und berichtigt sei, dass Nr. 238
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. g.
nicht Goldhähnchen aus Keil’s Märchen, sondern
»Vogelbegräbnis« aus der »Illustrierten Zeitung für die
Jugend 1852« (Hoff Nr. 1862) ist, wiederholt in
Volbeding’s Kinderleben vom Jahre 1862. Auch
darf nicht verschwiegen werden, dass unter den 750
31'
232
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
Kindcrtust. Farbige Federzeichnung za Beschanliches und Erbauliches <■< (1848)
Eigentümer: Herr Ed. Cichorius, Leipzig. Richter- Ausstellungskatalog Nr. 248
Blättern sich einige von zweifelhafter Eigenhändigkeit
befinden. Für die Richter-Wissenschaft, deren Haiipt-
vertreter neben Joh. Fr. Hoff heute Professor D. K. Budde
in Marburg ist, gehört die Klärung dieser Echtheits¬
fragen natürlich zu den Aufgaben der Ausstellung.
An dieser Stelle aber würde es uns zu weit führen,
darauf einzugehen. Mit unserem von Erich Klein-
hempel geschmackvoll ausgestatteten Verzeichnis in der
Hand, bleibt man bei der Betrachtung der ausgestellten
Blätter am besten in der Zeitfolge, wenn man sich beim
Ausgang aus dem Gemäldesaal rechts hält bis zum
Eingang in das blaue Schlusszimmer, auch in diesem
sich rechtshaltend die Runde macht bis zum Wieder¬
eintritt in den grossen Mittelsaal und in diesem sich aber¬
mals rechts hält bis zur Mittelwand, an der die späten
Wasserfarbenblätter des Meisters vereinigt sind. Die
vierzig Rahmen der Berliner Nationalgalerie, die die
Standwände der Mitte dieses Saales füllen, sind so
angeordnet, dass die Blätter jeder Seite den Blättern
der gegenüberliegenden Wände chronologisch einiger-
massen entsprechen.
Von besonderer Bedeutung ist die Richter-Aus¬
stellung für unsere Kenntnis der frühen Entwickelungs¬
geschichte des Meisters. Brachten in dieser Beziehung
schon die Ölgemälde manches Neue, so thun die
Zeichnungen und Wasserfarbenblätter dies noch in
höherem Grade. Wie der junge zwölf- bis sechzehn¬
jährige Ludwig zwischen liebevollem Einzelstudium
der Natur und ihrer konventionellen Gesamtauffassung
schwankte, zeigen von seinen beglaubigten Blättern
dieser Frühzeit die Rhabarberstudie aus seinem zwölften
und die schon farbig ausgeführte Vordergrundstudie
aus seinem sechzehnten Lebensjahr (beide aus der
Nationalgalerie in Berlin), verglichen mit dem »Tusch¬
versuch von 1817 bei Herrn Cichorius und der
demnach doch wohl echten getuschten Zeichnung
mit dem Wasserfall von 1818 bei Frau Baronin
von Finck in Dresden. Den Anschluss an Zingg
zeigt in besonderer Deutlichkeit dagegen seine Sepia-
zeichnung des Schlosses Gnandstein von 1820 bei
Herrn Arnold Otto Meyer in Hamburg. Wie der
junge Künstler sich dann, als der russische Fürst
Narischkin ihn zur Festhaltung seiner landschaftlichen
Reiseeindrücke mit nach Südfrankreich nahm, ganz
in den Dienst der zopfigen Routine stellte, beweisen
seine Tuschezeichnung aus Nizza und seine Blei¬
zeichnungen aus Avignon, Hyeres u. s. w. Diese
datierten Blätter von 1820 und 1821 aus dem Be¬
sitze von Richter’s Tochter Frau Kretzschmar sehen
fast so aus, als seien sie noch im 18. Jahr¬
hundert entstanden. Nr. 44, »Mutter und Kind im
Süden Frankreichs« ist hierfür besonders lehrreich,
zeigt aber zugleich, dass Ludwig Richter schon da¬
mals den Figuren in der Landschaft eben solche
Beobachtung schenkte, wie der Landschaft selbst.
Nach Dresden zurückgekehrt, radierte er zwischen
1822 und 1823 hauptsächlich Prospekte »für Papa
Arnold <, wie er selbst schreibt, und malte, wohl im
Sinne dieser Prospekte, »ein paar kleine Ölbildchen«.
Eins von diesen mag das kleine Bild Nr. 25 bei
Herrn Fritz Arndt in Oberwartha sein, das wir des
Zusammenhangs wegen erst hier nennen. Würde es
nicht durch alte Überlieferung auf Richter zurück¬
geführt, würde man die Hand des Meisters freilich
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
233
Ernteziig. Wasserfarbenblatt (1835)
Eigentümer: Elerr Geh. Hof rat Lampe -Viseher, Leipzig. Riehter- Ausstellungskatalog Nr. 11 j
kaum in ihm erkennen. Dann folgte 1823 die
Wanderung Ludwig Richter’s über die Alpen! Von
seinen Studienblättern aus dem schneebedeckten Ge¬
birge haben sich ] manche erhalten. Da sie die
unausgeglichene Handschrift eines Künstlers zeigen,
der seinen alten Stil verleugnet, seinen neuen Stil
aber noch nicht gefunden hat, sind nur zwei von
ihnen (Nr. 48 und 49) ausgestellt worden. Den
neuen Stil fand Richter aber offenbar, sobald er in
Rom angekommen war, sobald ihn die Luft umgab,
die Cornelius und Overbeck geatmet hatten, Koch,
Veit und Schnorr, der gerade seine genialen, zugleich
Stil- und stimmungsvollen Landschaften gezeichnet
hatte, noch atmeten. Das köstliche, zarte kleine
Wasserfarbenblatt der Berliner Nationalgalerie (unsere
Nr. 47), das die Jahreszahl 1823 trägt (Abb. S. 228),
ist offenbar schon in den Alpen ersonnen, ebenso
offenbar aber (da wir ja wissen, wie Richter zeichnete,
ehe er in Rom ankam) erst in Rom unter dem
frischen Eindruck der dortigen neudeutschen Kunst
ausgeführt worden. Man vergleiche mit diesem
Blatte das genannte Ölbild Nr. 5. Wie Richter sich
dann in die Landschaft Roms, der Campagna und
der Berge, die sie umsäumen, vertiefte, wie er ihr
das Geheimnis ihrer stilvollen Wirkung zu entlocken
verstand, wie er ihre malerischen Motive mit den
einfachsten Mitteln, in schlichten, manchmal mit einem
Hauch zarter duftiger Earbe angetönter Bleistift¬
zeichnungen aufs Papier zu bannen verstand, das
bezeugen hunderte seiner Studienblätter, die sich aus
den Jahren 1824, 1825 und 1826 erhalten haben.
Ausgestellt sind etwa 35 von ihnen. Zu den schönsten
gehört die grosse Ansicht von Ariccia aus dem Besitze
Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Johann Georg
in Dresden. Charakteristisch, wenngleich später über¬
arbeitet, ist aber auch die Ansicht von Sa. Balbina
aus der Sammlung Flinsch in Berlin (Abb. S. 234).
— Dann folgt die grosse Anzahl der meist als
braun getönte Federzeichnungen, oft als Aquarelle
ausgeführten Blätter, die, zwischen 1827 und 1835
in Dresden und Meissen entstanden, die italieni¬
schen Volks- und Landschaftstudien des Meisters zu
kleinen in sich abgeschlossenen Kunstwerken ver¬
arbeiten. Manchmal sieht man es ihnen etwas an,
dass sie den Natureindruck schon durch die Atelier¬
brille verschoben wiedergeben; manchmal stehen sie
aber auch auf der Höhe stilvoll durchgearbeiteter
kleiner Meisterwerke. Zwanzig bis dreissig Blätter
dieser Art sind ausgestellt. Am Anfang der Reihe
steht, ausser dem genannten Vogel’schen Blatte, Herrn
Cichorius’ getuschte Federzeichnung von 1828, die
laut ihrer Inschrift schon in Meissen entstanden ist.
Am Ende der Reihe aber stehen die Farbenblätter
von 1835, von denen das eine, aus der Sammlung
weiland König Friedrich August’s II. in Dresden, eine
italienische Landschaft mit aufsteigendem Gewitter,
das andere, das Herrn Geheimen Hofrat Lampe-
Vischer in Leipzig gehört, einen italienischen Ernte¬
zug darstellt (Abb. S. 233). Ganz allmählich mischen
sich heimische unter die italienischen Motive: der
Meister fing an, in der Umgebung Meissens und
Dresdens Farbeiiblätter vor der Natur zu skizzieren,
die, wie unsere Nr. 99 102, doch den Odem einer
anderen Atmosphäre verraten. Als vereinzelte historische
30
234
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
ICoir.positionen i.’ischen sich aber auch bereits jene
ersten inusTaüonen des Meisters, die 1832 ent-
^iandent ;'. F'. c’erze'chrungen zu den Steindrucken in
Zahn’s : L e; ee. -i: Historien- (unsere Nr. 106 — 113)
Unter e p LiT ..'ece en Erinnerungen. Dann folgen
die grose- frlci:;' -ennesjahre Richter’s, in denen
n.er zree ; 'ln : : e iinaikünstler gewordene Meister
„ in , i • •. .nnächst das starke Menschen-
; de j, .1 uem neben den frischesten,
;.r e:* ' . -.uii Natnrstndien, seine haupt-
. !’:;.intgen für Buchbilder und, ab-
■ ,. 1 it :\achklängen in Gesammeltes'
^ n der und Vignetten- (1874), auch
... üti.-n Holzschnittfolgen entstanden, in
; ; 1, r : , i t-cutschen ihr Volksleben, von innen
. P n cli, in schlichtester, edelster Verklärung
■■ r /.rgpii fülirt. Blätter aller dieser Gruppen sind
■ ■icii'ich vertreten. Zunächst die Naturstudien. Der
Zeit von 1836 1838 entstammen die fein ansgeführten
deutschen Ansichten für die Stahlstiche des malerischen
und romantischen Deutschlands . Seine selbständigen
Naturstudien aber können wir an bezeichneten und
datierten Blättern auch weiter herab verfolgen: Wie
anmutig seine Federzeichnung Mühlbach mit Weiden
von 1838 bei Herrn Professor Budde in Marburg!
Wie flott und doch wie fein seine Jungen Buchen«
von 1840 bei Herrn A. O. Meyer in Hamburg!
Wie zart und stilvoll seine Felsenlandschaft von 1842
bei Frau El. Grahl in Dresden! Dazu alle die Farben¬
blätter aus der Umgegend Dresdens, aus der böhmischen
Schweiz und aus Franken (unsere Nr. 154 170)!
Dann z. B. noch die leicht hingeworfene, braun ge¬
tönte Bleizeichnung Marienthal« von 1847 bei Herrn
justizrat Steinfeld in Höchst, die prächtige Eiche bei
Schwanheim am Main von 1862 bei Herrn A. O. Meyer
in Hamburg, die Dorfstrasse in Loschwitz von 1865
bei Frau Baronin von Finck in Dresden und das
Bauernliaus in Rochwitz von 1867 bei Herrn Al. Flinsch
in Berlin. Mit deutschem Auge und deutschem Ge¬
müt sind alle diese schlichten Motive erfasst. Eine
besondere Stellung unter des Meisters freien Blättern
nehmen aber einige Witz- und Scherzblätter aus dem
Jahre 1848 ein, die Herrn Professor D. Bndde in
Marburg gehören: Eine wahre Begebenheit liegt dem
Farbenblatt Nr. 241 zu Grunde, das eine Hasenjagd
durchs Zimmer hindurch darstellt. Die erste Zeichnung
dazu Nr. 242 rührt doch wohl nicht von Richter
selbst, sondern von dem Augenzeugen der Begeben¬
heit her. Interessant sind aber auch die beiden
politischen Karikaturen Nr. 250 und 251.
Die ausgestellten Zeichnungen nnd Farbenblätter,
die Richter für die Vervielfältigung in Büchern ge¬
schaffen, hier aufzuzählen, würde keinen Zweck haben.
Vertreten sind, wie gesagt, nahezu alle Bücher, die
er illustriert hat; und alle diese Zeichnnngen zeigen
die hohe Begabung des Meisters, die Worte des
Dichters in so anschauliche Bilder umzusetzen, dass
sie selbsterlebte Vorgänge wiederzugeben scheinen.
Auch seine Vielseitigkeit, die die schlichten Vorgänge
des täglichen Lebens (z. B. in der Spinnstube) ebenso
Santa Balbina, Rom. Leicht getönte Bleizeichniing (um 182^)
Eigentümer: Herr Alexander Flinsch, Berlin. Richter- Ausstellungskatalog Nr. 82
DIE LUDWIG RICHTER-AUSSTELLUNG IN DRESDEN
235
wahr und natürlich darstellt, wie die Gebilde der
heiligsten religiösen Empfindungen (z. B. in der
»Christenfreude< ) und wie die ausgelassensten, die
märchenhaftesten und die phantastischsten Gestaltungen
der poetisch erregten Einbildungskraft (z. B. in den
Volksliedern, in Musäus’ und in Bechstein’s Märchen)
tritt uns in den Originalzeichnungen noch lebendiger
entgegen als in den Drucken. Aber auch eine ge¬
wisse Stilwandlung des Meisters lässt sich gerade in
den Originalblättern zu seinen Buchbildern von den
noch etwas schwerfälligen Zeichnungen zu den Volks¬
büchern und zu Duller’s Geschichte an durch die
frischen, poesieerfüllten Blätter zu den Volksliedern,
zu Musäus’ und zu Bechstein’s Märchen hindurch
bis zu den leichten, frei hingeworfenen Zeichnungen
zu Klaus Groth’s »Voer de Goern« und zu »Es war
einmal« mit besonderer Deutlichkeit verfolgen.
Die Hauptrolle spielen auch auf der Ausstellung
des Meisters eigene, freie Schöpfungen für den Kunst¬
druck. Da fehlen weder die Vorlagen zu seinen
grossen eigenhändigen Einzelradierungen , wie dem
»Rübezahl« von 1848 und der »Christnacht« von
1854, die vielleicht das köstlichste ist, was der Meister
geschaffen, noch eine Reihe der schönsten Blätter zn
seinen berühmten Folgen. Schon 1848 hat er die
reizende, farbig getönte Federzeichnung »Kinderlust«
(Abb. S. 232) bei Herrn Cichorius geschaffen, die
er 1851 seiner ersten dieser Folgen, »Beschauliches
und Erbauliches«, einverleibte. Die Poesie des Kinder¬
lebens tritt uns in kaum einer zweiten Schöpfung
des Meisters so lebendig entgegen, wie in diesem
Blatte. Und nun folgten sie Schlag auf Schlag, alle
die berühmten Blätter, die schon in ihren leichten,
oft von Blätterranken durchwobenen Einrahmungen
und buchkünstlerischen Zierformen, sowie in ihrer
idealen, manchmal an mittelalterliche Unzulänglich¬
keiten erinnernden, hier kühn als Freiheiten wieder auf¬
genommenen Raumbehandlung eine Welt für sich
bilden. »Aller Augen warten auf dich«, in der
Sammlung weiland Friedrich August’s II. zu Dresden,
»Das Lob des Weibes« bei Frau Bürgermeister
Cichorius in Braunschweig, »Feinsliebchen in der
Hausthür« aus dem Besitze Seiner Majestät des Königs
Georg — gleich diese drei Prachtblätter aus »Be¬
schauliches und Erbauliches« treffen jenen innigen
deutschen Ton in der Idealgestaltung des deutschen
Volkslebens, der nur Ludwig Richter und Schwind eigen
ist. Das köstliche »Vaterunser« von 1856, wieder im
Besitze des Herrn Cichorius, ist vollständig ausge¬
stellt, der »Neue Strauss fürs Haus« von 1864, zumeist
im Besitze der Berliner National galerie, nahezu voll¬
ständig. »Fürs Haus«, »Der Sonntag , »Unser täg¬
liches Brot«, alle diese Folgen sind mit einer Reihe
ihrer schönsten Originalblätter vertreten. Jedes Blatt
ist eine Perle für sich. Die hier meisterhaft gehand-
habte Technik der leicht bemalten Feder- oder Blei¬
stiftzeichnung entspricht dem zarten reinen Em¬
pfindungsleben, das sich in allen diesen Bildern
aus dem deutschen Hause, dem deutschen Korn¬
felde, dem deutschen Walde widerspiegelt, so voll¬
kommen, dass gerade in diesen Blättern, die einen
unerschöpflichen Schatz der deutschen Volkskunst
bilden. Form und Inhalt restlos ineinander aufgehen.
ln dem letzten Jahrzehnt seines Lebens musste
Ludwig Richter, da er fast erblindet war, so gut wie
ganz auf künstlerisches Schaffen verzichten; schon
1874 schrieb er auf die in Wasserfarben ausgeführte
Hirtenlandschaft bei Herrn Arn. Otto Meyer in Ham¬
burg (unsere Nr. 607): -Meine letzte Zeichnung. 1874.
L. Richter«; man sieht es den Farben an, dass des
Meisters Augenlicht im Begriff war zu erlöschen. Die
zahlreichen Wasserfarbenblätter aus dem vorletzten
Jahrzehnt seines Lebens aber lehnen sich teils an
frühere Kompositionen seiner Hand an, sind teils aber
auch neu in deren Sinne geschaffen; fast immer stellen
sie ein heiteres, frisches, jugendliches Menschenleben
in heiterer, heimischer Landschaft dar. Blätter dieser
Art, denen sich aus dem deutschen Märchenschatze
wiederholt Darstellungen von Schneewittchen und
Genoveva anreihen, sind besonders zahlreich aus dem
Besitze der Nationalgalerie in Berlin, des Herrn
A. O. Meyer in Hamburg und des Herrn M. Flinsch
in Berlin ausgestellt. Unter den Blättern, die aus
persönlichem Anlass entstanden, sind aber besonders
zwei hervorzuheben: zunächst die farbig getönte
Federzeichnung, die der Meister seinem Schwiegersohn
Th. Kretzschmar 1860 zu Weihnachten gemacht hat.
»Aus der Kinderstube« ist sie betitelt und stellt Richter
mit seinen Enkelinnen Lisbeth und Agnes dar, die
ihm scherzend die Haare kämmen. Sodann das an¬
mutige Aquarell von 186g aus dem Besitze König
Georg’s, clas die Erzherzogin Maria Josepha als Kind
mit dem Gefolge ihrer Enten in Loschwitz darstellt
(Abb. S. 225). Auch die 1868 entstandene Studien¬
zeichnung zu diesem sorgfältig ausgeführten Blatte,
die Herrn A. O. Meyer in Hamburg gehört, konnte
mit ausgestellt werden.
Die Ludwig Richter-Ausstellung ist, alles in allem
genommen, eine Einkehr bei uns selbst. Sogar die
meisten Anhänger der modernsten Richtungen fühlen
sich zu der anspruchslosen und doch so viele An¬
sprüche des deutschen Gemütslebens erfüllenden, weil
durch und durch wahren, ganz aus eigenstem Empfinden
geflossenen Kunst Ludwig Richter’s, die Wirklichkeits¬
und Phantasiekunst zugleich ist, gleichmässig hin¬
gezogen. Auch hier zeigt sich, dass für alle Zeiten
lebt, wer den Besten seiner Zeit genügt hat. Wir
wollen uns daher unsere Freude an der jugendfrischen
Kunst unserer Zeit, die Freude an den Schöpfungen
eines Uhde und Klinger (um nur zwei andere Sachsen
zu nennen) und unserer ganzen in eigenen Bahnen
vorwärtsstrebenden Jugend durch unsere Verehrung
des Altmeisters Ludwig Richter nicht rauben lassen.
Wir wollen uns aber auch, umgekehrt, durch die
neuen Richtungen, in denen die Kunst unserer Zeit
sich bewegen muss, nicht irre machen lassen in unserer
Bewunderung der in ihrem fest umschriebenen Be¬
reiche ewig gültigen Kunst Ludwig Richter’s und im
Genüsse seiner Schöpfungen, in denen alle reinen
Saiten der deutschen Volksseele widerklingen.
Max Klingt^r’s Entwurf für ein Brahmsdenknial
MAX KLINGER’S ENTWURF ZU EINEM
BRAHMSDENKMAL
Von Ludwig Hevesi
IN einem der kleinen heiligen Bezirke westlich
vom Areopag, die das Deutsche archäologische
Institut in Athen aufgedeckt hat, befand sich das
Heiligtum des Heros Dexion. Unter dieser Form
verehrten die Athener den toten Dichter Sophokles.
Auch Max Klinger hat seinen Brahms heroisiert und
ihn in einem Tempelchen zur Ruhe gesetzt, das zu
seinen köstlichsten Schöpfungen gehört. Man denke
nicht an das Tempietto Bramante’s im Hofe von San
Pietro in Montorio, noch auch an das antike Rund-
tempelchen bei Porta Rossa. Das sind denn doch
völlige Kirchen im Verhältnis zu diesem niedlichen
fanum profanum, das ein Privatmann seinem Privat¬
gott errichtet haben könnte, in seinem stillen Garten,
mit grüner Wiese davor und grünen Bäumen dahinter.
Die weissgetünchten Floratempelchen der Canovazeit
hatten etwas von diesem Privatissimumstil, besonders
wenn die Göttin die Züge der frühverstorbenen Prin-
MAX KLINGER’S ENTWURF ZU EINEM BRAMSDENKMAL
237
Max Kl'mger’s Entwarf für ein Brahmsdenkmal
cipessa trug. Aber sie waren kühl und trocken im
Vergleich zu dieser Brahmsphantasie, deren Baumeister
ein malerischer Bildhauer war. Klinger phantasiert
nun schon einige Zeit über dieses Bralimsthema.
Als er es zum erstenmal anschlug, erinnerte er noch
mehr an jenes klassische Rundgebilde am Tiberufer
zu Rom. Unterbau und Bekrönung waren rund,
dazwischen freilich fand durch die fünf Säulen ein
Übergang ins Fünfeck statt. Und das flachgewölbte
rote Ziegeldach mit seinen weissen Rippen erinnerte
an das Notdach des alten Baues, das ja, obgleich
nur aus der Konservatorenpraxis hervorgegangen, nun
seinerseits wieder ein quasi klassischer Typus geworden
ist. Bei Klinger ist das Pentagon jetzt vom Sockel
bis an den Knauf der Kuppel durchgeführt und die
Form steht wie aus einem Guss da. Auch das Ein¬
zelne hat sich durchaus krystallisiert; namentlich haben
die jonischen Säulen, die früher ganz dorisch aus
dem Sockelbau stiegen, attisierende Basen bekommen,
und alles ist erst ins eigentliche, eigentümliche Ver¬
hältnis gerückt. Die Verhältnismässigkeit des Gebildes
ist überhaupt bewunderungswürdig. Es ist von einer
eigenen, gedrungenen Anmut, voll jenes gesunden
Barbarengeistes, der die Antike aus sich neugebiert.
Es ist nichts von archäologischer Schablone daran.
Niemals hat ein Jonier seine Säule so kurz genommen,
was hier durch die breite Ausladung des Kapitäls
noch deutlicher wird, oder die drei Teile des Archi-
travs so kräftig übereinander hingestuft, und zwar
über einer sechseckigen Zwischenplatte, deren Seiten
noch eigens übereck gestellt sind. Und dieser wild¬
wüchsige Architrav ruht überdies nur indirekt mittels
kräftiger rechtwinkeliger Verkröpfungen auf den Deck¬
platten der Kapitäle, und diese Verkröpfungen tragen
23S
EDUARD STIEFEL
kecke Akroterien, die flaniinengieich auflodern. Dann
leitet eine tiefe Einschnürung zum Dach, das sie
ringsum tiefschattend untersclmeidet. Und dieses
Dach ist wieder so eine wildvvüchsige Flachkuppel
aus fünf Segmenten, deren Ziegelrot durch starke
weisse Rippen geschieden und mit einem kräftigen
weissen Knauf gekrönt ist. Es ist etwas Rustikes
in allen uicseii Verhältnissen, eine Naivität, die gar
nicht wt-iss, viv reich und fein sie schliesslich doch
bei dieSM- C].,Mal(ung empfunden hat.
Da/i U'iiinnt mm noch das Treppchen, das dem
Tempciciivii seitwärts angegliedert ist. Ein Endchen
Wendeiirtmpi-, zehn Stufen, mit niedrigen Wangen an
der -VLisscnseite. Der konstruktive Gedanke ist höchst
ursinünglich. Der Anschluss dieser Kurve an den
Sockdbau bringt in das Ganze ein pikantes Element
von Asymmetrie, und dennoch behält der Rhythmus
sein Gleichgewicht, weil die Treppe ein Gegengewicht
in der ihr gegenüber sitzenden Gestalt des Tonmeisters
erhält. Diese kleine Stiege ist in der That eine köst¬
liche Erfindung. Sie bringt in das Ganze eine er¬
staunliche Mannigfaltigkeit, da sie sich bei jedem
Standpunkte des Beschauers anders anschliesst. Man
muss an die Schleppe einer schönen Dame in weissem
Kleide denken, die bei jeder Wendung der Trägerin
anders einschwenkt, sich anders lagert und faltet,
bald lang dahinfliessend , bald schroff verkürzt, und
dann wieder in zierlicher Sihrale von der Seite her
nach vorne kommt. Auch die mitgekrümmte Treppen-
wange hält bei jeder Stufe an und erhält ihre eigene
kleine Deckplatte, was bei seitlichem Anblick ein reiz¬
volles Staccato von emporleitender Umrisslinie giebt.
Und selbst die Stufen haben ihr organisches Gefüge,
sie werden nach oben immer kürzer und dieses rasche
Decrescendo macht die Schwenkung der Treppe nach
links perspektivisch noch eindringlicher. Je mehr
man dieses verhältnismässig kleine Kunstwerk betrachtet,
desto sinnvoller wird es, der Stoff ist vollständig von
Geist durchdrungen. Innen aber zieht sich um fast
zwei Drittel der kleinen Säulenhalle eine Marmorbank,
deren Lehne sich fortlaufend zwischen die Säulen¬
schäfte einfügt. Zwischen zwei Säulen links erhöht
sich die Lehne, armgerecht, rückengerecht, und dort
sitzt Johannes Brahms. Ein Bein über das andere
geschlagen, den rechten Arm auf die Lehne gelegt,
das bärtige, mähnige Haupt seitwärts gewandt, mit
dem Blick hinaus in die blühende Natur, ins Nahe
und Ferne, sinnend, lauschend, Johannes Brahms »im
Gehäuse , wie man zu Dürer’s Zeit sagte, aber in
einem Freiluftgehäuse unserer Tage. Die Gestalt ist
ja nur Skizze, aber wer Brahms kannte, erkennt in
ihr auf den ersten Blick seinen Habitus, sein ge¬
drungenes Sitzen, behäbig und selbstherrlich zugleich,
sein in sich gefestetes, geistig und leiblich aufge¬
häuftes Wesen, hier unbeachtet und schlicht, aber
schon von Natur aus ein Sinnbild der gesammelten,
in sich verdichteten Kraft. Wer den Genuss kennt,
das Werden eines Kunstwerkes zu betrachten, hat ihn
auch an dem verhältnismässig raschen Krystallisations-
prozess dieses Denkmalgedankens vollauf gehabt. Die
Idee greift hastig, im Halbdunkel, nach ihrer Form.
Sie durchdringt und beseelt sie und plötzlich ent¬
faltet sich etwas Organisches, eine reiche Blüte, neu,
nie dagewesen, durch und durch überraschend und
dennoch ganz und gar notwendig. Es ist, als sei
das Werk ewig so gewesen und könnte niemals
anders sein.
EDUARD STIEFEL
Auf der diesjährigen Winterausstellung der Ber¬
liner Secession begegnet man unter den Ra¬
dierern einem neuen Namen: Eduard Stiefel.
Von den Blättern, die er dort zeigte, war besonders
ein Atelier-Interieur so reizvoll, dass wir die Platte
für die Leser unserer Zeitschrift erwarben. Stiefel
stammt aus Zürich, wo er 1875 geboren ist. Erst
war er Chromolithograph, ging aber, seinem Drange
folgend, später nach München zu Herterich und Peter
Hahn in die Schule; auch unter Zügel hat er ge¬
arbeitet. Wie die grosse Reihe seiner Blätter, die er
uns vorgelegt hat, zeigt, haben diese Vorbilder sein
Talent trefflich befruchtet. Er hat die Fähigkeit kräf¬
tiger Erfassung der landschaftlichen Töne, versteht
das Licht reizvoll zu führen, ist ein sicherer Zeichner
der Bewegung und hat viel Radiertechnik. Man
kann noch Gutes von dem Künstler erwarten.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., O. m. b. H., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1903
SCHABKUNSTBLATT VON MAX PIETSCHMANN
ÜBDCK VON QIESECKE & DEVItlENT IN LEIPZIO
ORIGINALRADIERUNG VON GEORG MAYR (MÜNCHEN)
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQ03
DRUCK VON QIESECKE & DEVRIENT IN LEIPZIG
CONSTANTIN SOMOFF NACFl DEM REGEN
CONSTANTIN SOMOFF
VON Igor Grabar in St. Petersburg
IM Sommer 1898 sah man in der Münchner Secession ein sonderbares
Bild. Es waren zwei Damen mit einem Kinde aus den Biedermeiers¬
zeiten gemalt, die vom Gewitter überrascht, sich unter einem Baume
verbargen. Es scheint schon die Sonne, es strahlt der Regenbogen und
der Spaziergang kann ruhig weiter fortgesetzt werden.
Nichts Besonderes! Man malt so oft Gewitter, so viele Regen¬
bogen und malt auch Biedermeierdamen. Und doch schien das Bild so
ungewöhnlich. Es war etwas Scharfes und Unverständliches darin. Man
fühlte einen schwärmerisch -melancholischen Hauch, eine fast krankhaft
traurige Note. Und noch etwas: einen leichten Scherz, eine kaum zu
merkende Ironie, einen raffinierten Skeptizismus.
Es ist schwer zu sagen, woran es lag. Vielleicht an all den reizen¬
den Einzelheiten, an den drolligen und pikanten Details. Eine von den
Damen hob ihren gebauschten Rock auf und enthüllte so komisch die
Stahlringe der Krinoline. Die andere betrachtet bange die vorüberziehen¬
den Wolken und streckt die Hand aus, ob es noch regnet. Beide so
reizende, so liebliche Modepuppen.
Vielleicht lag es auch an den Farben. Die Farben waren wirklich
sonderlich: leuchtend, fast strahlend und dabei so munter und präzis.
Immer ein prachtvoller und unerwarteter Klang. An einigen Stellen
spielten sie wie in einer Perlmuschel. Es erinnerte hier gar nichts an
die fleissigen Naturstudien, nichts plein-airartiges, dabei aber so unendlich
viel von der Natur. Es war keine abgemalte Regenbogenstimmung, es war vielmehr eine fein filtrierte Auf¬
fassung, eine Synthese all der gesehenen und empfundenen Gewitterstimmungen. Daher diese scharfe,
frappante Naturähnlichkeit, bei so ungewöhnlichem Farbeneindrucke.
Eher aber lag das Sonderbare in dem Ganzen, in dem Verhältnis des Künstlers zu der Sache. Es
gehört dazu ein eigentümliches Gefühl, fast gleich einem Hellsehen, um die Vergangenheit so greifbar
aufzufassen. Es ist rätselhaft, beinahe schon halb hysterisch. Vielleicht daher der rätselhafte Eindruck,
den das Bild machte.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. li. id
3'
2^0
CONSTANTIN SOMOFF
Es v/ar von einem jungen Russen, Constan-
.in Süi.ioff, gemalt. Seither wurde sein Name in
..eiteren Kreisen bekannt.
in -'erselben Aus'-tellung war noch ein anderes
Bild /on n. Es war diesmal ein Winter, eine
dld-jhe andschaft aus Mittelrussland mit weiter
Ydalii* e. mit einem ovalen Landteiche. Wiederum
/woi ;-d . n , '•-. ii aus den dreissiger Jahren. Sie
■v- i'dor. ’ i ■ ein Spaziergange von einem Neger
der:.; .: , ‘-erhalten sich steif und geziert. Und
• j. sicher um die zwei winzig kleinen
bei Niedliches, mit hausbackener Gotik, vermischt mit
Empireornamentik und den altherigen ländlichen FIolz-
formen. Das ganze Fläuschen ist eine Aufeinander¬
häufung von grossen und kleinen Terrassen und
Galerien. Auf der unteren Terrasse sitzen zwei Damen.
Sie sind soeben mit dem Kaffee fertig und eine ge¬
sunde rotbackige Magd trägt den Präsentierteller mit
dem Naschwerk weg. Neben den Damen auf einem
niedrigen Bänkchen ist ein kleiner Bube samt dem
Spielzeug eingeschlafen. Oben auf dem Balkon, bei
offener Thüre, sitzt in einem bequemen Voltairesessel
CONSTANTIN SOMOFF KINDERSTUBE
Hündchen, die sie auf ihren Händen tragen. Die
Hündchen strecken ihre komischen Mäulchen heraus
und bellen einander an. Unten auf der Strasse fährt
eine schwere Landkalesche vorbei. Zwei Gigerl
bleiben stehen und betrachten neugierig die beiden
Damen.
Wiederum dasselbe Gefühl. Es ist halb ernst,
halb scherzhaft, halb traurig, halb ironisch.
Einige Jahre später in der Berliner Secession
(igoi) sah man noch ein Bild von Somoff. Auch
wieder aus den Grossväterzeiten. Es ist ein Land¬
haus'. Etwas im höchsten Grade Drolliges und da¬
ein biederer Herr im Schlafrock und liest seinen Diderot.
Links in der Ferne blickt man auf eine prächtige
Landschaft. Im Himmel der Regenbogen. Es hat
geregnet und wurde auf einmal alles so merkwürdig
frisch, so hell und leuchtend: die Bäume, die Blumen,
das Gras und die Sandstreifen.
Und wiederum dieselbe Empfindung wie bei den
früheren Bildern.
Die Somoff’schen Menschen gleichen gar nicht
den modernen. Dies wird ihm auch vorgeworfen.
Dabei ist es das beste Kompliment für ihn. Waren
denn die damaligen Menschen wirklich so wie wir es
CONSTANTIN SOMOFF
DER VATER DES KÜNSTLERS, DIREKTOR DER ERMITAOEOALERIE
3
CONSTANTIN SOA\OFF
-42
sind? Kaum möglich. Man blättere nur die zahlreichen
Stahlstiche durch, welche aus der Zeit stammen, die
amüsanten und kuriosen Lithographien, die den Ro-
n.anen und Novellen beigelegt wurden: überall der
leine lange Flals, das gezogene Gesichtsoval, die ge¬
zierten Lippen, die schlanken Zuckerfigürchen. Viel¬
mütter so gerne gedichtet und gezeichnet hatten.
Alles so köstlich, so träumerisch traurig und so
bieder. Manchmal sind sie auch rührend komisch
und trotz aller Drolligkeit bleiben sie immer echte
Poeten.
Es giebt noch etwas Derartiges, was einen wahren
Constantia Sonwff. Theaterzettel für das kaiserUchc Privattheater des Zaren
(hl tlimmelblaii, Gold und Braun ausgcjiihrt)
leicht sahen sie gar nicht so aus, sie schilderten sich
nur auf diese Weise? Das Wichtige ist eben das,
wie sie sich schilderten, und es ist ganz unwichtig,
wie sie wirklich aussahen. Denn so, wie sie sich
schilderten, sahen sie sich und fühlten sie sich. Darin
liegt das ganze Parfüm der Zeit. Besonders schön
sind sie in den reizenden Albums mit Gedichten und
Zeichnungen, welche unsere Grossväter und Gross-
Genuss bieten kann. Es sind die alten Modejournale.
Einst, besonders in Paris, zeichneten die besten Künstler
solche Modeblätter. Man erinnere sich nur an den
berühmten Gavarni. Es ist eine reine Ereude, die
Blätter anzusehen; alles so schön, elegant, so aus¬
erlesen. Aber auch Blätter der kleinen Zeichner
bieten, was den wirklichen Geist der Epoche an¬
belangt, ein ganz bedeutendes Material und lassen
CONSTANTIN SOMOFF
DAME AM TEICHE
CONSTANTIN SOMOFF
■e <i‘j^se und einzig wahre Kunst eines Vernet
^icigAjichen weit hinter sich zurück. Allein
; ■ . -ecki giebt in diesem Maasse den ganzen Bei-
k i --ck seinerzeit. Und dies, weil er bei seiner
- . - Vr^erschaft, das heisst bei dem Fachmässigen,
. r-i.aberischen, was er hatte, gerade noch immer
i-' ;-haoer blieb, genau solch ein Liebhaber wie
,! ■? Dichter- Grossväter und die Malerinnen-
" o ä: v'tter.
k:!i fürchte, man würde mich schlecht verstehen,
wenn ich behaupte, dass es um vieles, was in der
Somoff 'sehen Kunst so kostbar ist, gerade diesem
Setzungen, seine pure Unmittelbarkeit. Keine Theorien
und dabei oft eine überraschende Einfachheit der
Mittel. Der Fachmann ist immer schon etwas an¬
gesteckt. Mag er der grösste Feind der Theorie
sein, dieselbe ist immer im innigsten seiner Seele
verborgen. Er unterliegt ihr und ist schon ihr Sklave.
Und es gehört ein seltenes Glück dazu, um bei einem
grossen Fachkönnen noch die schlichte Seele eines
Liebhabers zu bewahren.
So einer ist Somoff. Diese seine Doppelheit
wird von den Meisten verkannt und doch giebt sie
Anlass zu häufigen Missverständnissen. Die einigen
CONSTANTIN SOMOFF
seinen eigentümlichen Zuge der Liebhaberei zu ver¬
danken sei. Gerade der Liebhaberei und nicht etwa
dem Dilettantismus und zwar dem Zusammenwirken
von der Meisterschaft eines Fachmannes und der Un¬
befangenheit eines Liebhabers. In der Regel sind
wir alle etwas zu sehr gegen die Liebhaber und wahr¬
haftig ohne Grund. Was ein Liebhaber leisten kann,
zeigte die vor einiger Zeit in Paris veranstaltete Aus¬
stellung von Werken solcher Liebhaber. Da sah
man Bilder von staunenswerter Bedeutung und es
tauchten manche Namen auf, die seitdem nie mehr
vergessen werden. Das Gesunde bei einem Liebhaber
ist diese völlige Abwesenheit von den Faehvoraus-
IM BOSQUET
sehen ein, dass der Künstler viel »kann«, wenn er
will; sie behaupten nur, dass er sich zu oft verstellt,
den Naiven spielt und dabei Gesichter schneidet.
Die anderen sind bereit, ihm ein jedes Können ab¬
zusprechen. Man will nicht begreifen, dass es einen
Bund zwischen Fachmann und Liebhaber in einem
und demselben Künstler geben kann.
Ich kenne ein entzückendes Bild von ihm. Es
ist gerade dasjenige, welches am heftigsten angegriffen
wurde. In Petersburg erinnert man sich noch bis
jetzt an das höhnische Gelächter in dem Ausstellungs¬
saale, welches dem Bildchen zu teil ward. Es ist
eine Kavalkade«, Ein Herr und eine Dame vom
CONSTANTIN SOMOFF
245
Ende des achtzehnten Jahrhunderts reiten in der
Dämmerung einen Teich entlang. Das Publikum war
im Zweifel, ob es die Sache ernst nehmen oder
als Ulk auffassen sollte. Ist es denn möglich, solche
Kinderpferdchen zu malen, solche Puppenfigürchen
darauf zu setzen, solch ein komisches, krüppelhaftes
Frauchen und so ein steifes Männchen? Und dennoch
ist eben das Missgestaltete, was darin liegt, so reizend.
Es ist ja auch nicht der einzige Fall bei Somoff.
Er hat eine sonderliche Vorliebe für unschöne
Frauengesichter, die er schön zu malen versteht
Er findet einen raffinierten Reiz in der Poetisierung
der fast hässlichen Züge. Man könnte es eine Art
Poesie der Missgestalt nennen. Ist denn die Monna
Lisa von Leonardo eine sogenannte Schönheit? Oder
der merkwürdige Kopf der Liechtensteiner Galerie, ja
selbst so viele Köpfe von Botticelli? Das sonder¬
barste, was Somoff in dieser Hinsicht schuf, ist die
mittlere Dame in seinem letzten grossen Bilde der
diesjährigen Berliner Secession: »Der Abend«. Die
Dame ist weitaus nicht hübsch, sie ist beinahe häss¬
lich. Und doch wirkt die ganze Figur wie eine
Zaubervision aus der prächtigen Vergangenheit und
selbst aus dem hässlichen Gesichte strahlt eine un¬
sagbare und ungewöhnliche Schönheit. Es ist der
grosse visionäre und phantastische Zug, der seinen
Bildern diesen ausserordentlichen Reiz verleiht.
So wirkt auch die »Kavalkade«. Die meisten
Gestalten der Somoff’schen Bilder machen den Ein¬
druck als wären sie in einen geheimnisvollen Schleier
eingehüllt; der Künstler lüftet ihn ein wenig —
das übrige enthülle man selbst. So in der »Liebes-
insel«, so im »August«, in der »Zauberei«, ja sogar in
manchen seiner Porträts, wie in der »Dame im blauen
Kleide« (Berl. Secession 1902). »Es ist ja gerade so
schön, dass es so geheimnisvoll ist«, sagt ein sterben¬
der Alter bei Dostojewski.
•Es ist dasselbe, was man bei der Betrachtung einer
Egineten-Minerva der Münchner Glyptothek, oder einer
Korenstatue der Akropolis empfindet. Man würde
es noch in den blauen Augen von Botticelli’s oder
Rossetti’s Frauen finden, sowie in manchem Bilde
von Watteau, in den Erzählungen von Amadeus Hoff-
mann und in einigen Scenen von Dostojewski, auch
bei einem Puvis, Böcklin oderMar&s, in der Messaiina
von Beardsley oder in den grotesken und grausamen
Blättern von Th. Th. Heine.
Es ist etwas Scharfes, Ätzendes, Aufdringliches und
zu gleicher Zeit Verlockendes. Es zieht einen wider
Willen an und fesselt bezaubernd.
Ich hatte ein wahres Vergnügen, eine Sonder¬
ausstellung von Somoff’s Werken in Petersburg zu ver¬
anstalten. Ich sah die Bilder unendlich oft und fand
immer etwas Neues darin. Und dies bei der schein¬
baren Gleichförmigkeit der Bilder. Eine Sonder¬
ausstellung ist eine sehr gefährliche Prüfung für den
Künstler. Es hat schon Fälle gegeben, wo mit einem
Schlage unbekannte Leute gross wurden. Doch öfter
ist es umgekehrt gewesen. Grosse Namen erwiesen
sich als künstlich aufgeblasene Berühmtheiten und
stürzten mit Ungestüm von ihrer Höhe in die Ver¬
gessenheit hinab.
Die Somoff’sche Ausstellung dagegen hob die
Bedeutung dieses Meisters erst recht auf die verdiente
Höhe. Hier sah man, was er wirklich kann. Wenn
es früher noch manche gab, die an seinem Können
Zweifel hegten, so konnten sie sich hier vom Gegenteil
überzeugen. Man sah in der Ausstellung Zeichnungen
von ihm, Akt- und Kopfstudien, welche in ihrer ernsten
Bescheidenheit und schlichten Korrektheit an die besten
Zeichner der dreissiger Jahre erinnerten. Man sah
auch Landschaftstudien, ernst und liebevoll aufgefasst
und vorzüglich gemalt. Es lag da ein Stück der
echten und grossen Meisterschaft in all den Öl- und
Aquarellskizzen. Sein Hauptkönnen liegt aber nicht
darin, es liegt vielmehr in dem vollen Bewusstsein
seiner reichen Mittel, in dem Geheimnisse, sie anzu¬
wenden. Er weiss, was er kann und kann, was er will.
Er besitzt schon jetzt seinen eigenen Stil. Eine
Zeichnung von ihm, ja die kleinste Vignette hat diesen
ausgesprochenen SomojfstiL Als Zierkünstler ist er
besonders interessant. Man sah in der Ausstellung
Vignetten, Exlibris und Theaterprogramme von ihm, die
in ihrer Eleganz und auserlesenen Raffiniertheit zu dem
besten gehören, was in der letzten Zeit auf diesem
Gebiete geleistet wurde. Nur Beardsley und Conder,
Heine und J. Diez könnte man ihm an die Seite stellen.
Es giebt überhaupt eine gewisse Verwandtschaft
zwischen den genannten Künstlern. Man könnte noch
die Belgier Minne und Doudlet und die Russen
Alex. Benois und Lancerey nennen. Es ist die letzte
Phase der individualistischen Strömung, und die Ge¬
samtkunst Somoff’s ist einer der bedeutendsten und
interessantesten Momente darin.
Abb. 1. Das grosse Oppenheimer Stadtsiegel von 1225:26
natürlicher Grösse, Original in Darmstadt)
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II.
VON HOHENSTAUFEN
Von Julius Reinhard Dieterich
Das Oktoberheft dieser Zeitschrift liat eine
Studie Richard Delbrück’s über ein Porträt
Friedrich’s II. von Hohenstaufen« gebracht.
Es handelt sich um ein von dem namhaften fran¬
zösischen Archäologen Frangois Lenormant 1882 auf
dem Giebel der Hanptkirche des süditalienischen
Städtchens Acerenza gefundenes plastisches Bildwerk.
Delbrück änssert Ansichten darüber, die von der
Datierung und Deutung des Funds weit abweichen,
wie sie von dem glücklichen Entdecker und anderen
versucht worden sind.
Lenormant bringt eine in die Mauer der Kathedrale
eingelassene Inschrift, die von Kaiser Julian dem Ab¬
trünnigen handelt, mit der Statue auf dem Giebelfirst
zusammen und schliesst daraus, dass diese Kaiser
Julian selbst darstelle. Salomon Reinach hat dann
die Gründe, die für Lenormant’s Hypothese sprechen,
ausführlich und gründlich erörtert. Etienne Michon
wiederum entkräftet Lenormant’s und Reinach’s An¬
nahme, stimmt aber in einem Punkte mit beiden
überein: auch er hält den Fund für ein Erzeugnis
römischer Künste).
Delbrück nimmt dagegen das Bildwerk von
Acerenza für ein Werk der späten Stauferzeit und
sieht in ihm nicht das Porträt Julian’s, sondern eine
Büste Friedrich’s II. von Hohenstaufen.
Die Beweisführung für den ersten Satz, mit dem
zugleich der zweite hinfällig würde, ist wenig glück¬
lich, der Versuch gar, den Fund zu einer Büste
Friedrich’s II. zu stempeln, gescheitert.
Drei Gründe führt Delbrück gegen eine römische
Herkunft des Bildwerks ins Feld: die Verwendung
1) Vergl. Revue arclieologique 38 (iQOi), 350 ff., 39
(1902), 259 ff.
unedlen Materials, die »in römischer Zeit doch recht
auffällig wäre , die Ausrüstung des Dargestellten mit
einem auch die Schultern deckenden Schuppenpanzer,
den er als nichtrömisch anzusprechen scheint, und
endlich »die ganze Form der Büste mit horizontalem
Abschluss«.
Beim letzten Einwand lässt sich Delbrück offenbar
von der Voraussetzung leiten, dass wir es mit einer
Büste zu thuii hätten. Reinach') vertritt dagegen die
gewiss nahe liegende Auffassung, das Denkmal von
Acerenza sei der obere Teil eines Standbildes, dessen
unterer, bis auf die in die Kirchenwand eingemauerte
Inschrift des vormaligen Sockels, verloren sei. Bei¬
spiele für die Anfertigung von Standbildern aus
mehreren Marmorstücken sind nicht selten.
Nur eine genaue Untersuchung des Originals, bei
der vielleicht noch Zapfen oder Zapfenlöcher zum
Vorschein kommen, wird uns darüber belehren
können, wessen Auffassung die richtige ist. Bis
dahin werden wir der Reinach’s als der einfacheren,
natürlicheren den Vorzug geben, es sei denn, dass
das Stück wie der Gordianus im Louvre -) von vorn¬
herein als Halbfigur geplant war.
Vor einem abschliessenden Urteil muss ferner
volle Klarheit über das Material des Denkmals ge¬
wonnen sein. Delbrück hat das Original nicht selbst
daraufhin untersucht. Er verlässt sich auf die Aus¬
sage eines römischen Photographen, nach der es
»harter« Kalkstein sein soll. »Harter« Kalkstein kann
aber, besonders wenn er, wie in unserem Fall, stark
verwittert ist, von einem Laien leicht mit einzelnen
Marmorarten verwechselt werden.
1) A. a. O. S. 355.
2) J. J. Bernoulli, Rom. Ikonographie II, 3, Taf. XXXVIll.
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
247
Selbst wenn Delbrück mit diesen seinen Be¬
hauptungen im Recht wäre, so bewiese dies noch
nichts für eine staufische Herkunft des Stücks. Die
beiden von ihm herangezogenen, angeblich staufischen
Büsten aus Kapua haben genau denselben runden
Abschluss wie die antiken Büsten. Die Büste der
sogenannten Sicligayta und jene der Dame aus Scala
tragen einen ganz anderen Charakter als die unsere
und lassen einen Vergleich überhaupt nicht zu. Sie
alle sind aber, soweit ich sehe, aus edlem Material,
aus Marmor, gefertigt. Ausnahmen von den durch
Delbrück über Abschluss und Material aufgestellten
Regeln können ebensogut in der römischen wie
in der staufischen Zeit vorgekommen sein.
Noch schlimmer steht es um Delbrück’s dritten
Einwand: »dann ist der Schuppenpanzer, der die
Schultern mit bedeckt, meines Wissens an römischen
Denkmälern nicht nachzuweisen«.
Kennt Delbrück den an den Armen und um die
Hüften in Lederstreifen auslaufenden Schuppenpanzer
(lorica squamata, plumata) der römischen Panzerreiter
nicht? Er ist bis auf Makrinus auch von den Prä¬
torianern und von den Offizieren der Legionen ge¬
tragen worden 1). L. Lindenschmit bildet in seinem
Buch »Tracht und Bewaffnung des römischen Heeres«
auf Tafel I, 6 und II, 2 zwei Grabsteine aus Verona
ab, die zwei im Jahre 6g n. Chr. gefallene Brüder,
den Centurionen der Legio XI Claudia pia fidelis
Q. Sertorius Festus und den Adlerträger L. Sertorius
Firmus, darstellen. Beide tragen das Schuppenhemd,
das, wie bei dem angeblichen Julian oder Friedrich,
die Schultern und ein Stück des Oberarmes deckt.
Denselben Schuppenpanzer, der die Schultern deckt
und über den ein auf der linken Schulter zusammen-
genestelter Mantel fällt, trägt der angebliche Julian auf
dem Cameo von Battlesdeu“). An den Armen und um
die Hüften stösst bei Panzern dieser Art die lederne
Unterlage der Schuppen vor und endet in schmalen,
befranzten Lederstreifen. Diese Streifen sind charakte¬
ristisch für den römischen Schuppenpanzer. In der
Merowingerzeit kommen sie noch vereinzelt vor, sei
es, dass man die Technik der Römer nachgeahmt
hat, sei es, dass sich, wie Lindenschmit vermutet'’),
vereinzelte römische Beutestücke im Gebrauch erhalten
haben. Die Stauferzeit kennt aber derartige, mit
Schuppen besetzte, in Streifen auslaufende Leder¬
hemden überhaupt nicht.
Das Standbild von Acerenza ist eine statua loricata.
Sein Panzer gleicht in allen Einzelheiten dem rö¬
mischen des Q. Sertorius Festus**). Wie diesem, liegt
1) Albert Müller, Philologus 47, 520, nennt ihn geradezu
ein für einen Centurionen charakteristisches Ausrüstungs¬
stück.
2) Abgebildet beij. j. Bernouilli a. a. O. II, 3, Tafel LV.
Die ebenda abgebildete Statue des Septiinius Severus
(Tafel XI), sowie die Halbfigur des Gordianus (Tafel
XXXVIll) tragen einen ähnlichen Panzer.
3) Handb. d. dtschn. Altertumskunde, I, 265.
4) Da die Abbildungen der Veroneser Grabsteine ge¬
wisse Einzelheiten ungenau wiedergeben, verweise ich noch
auf die eingehenden Erläuterungen Albert Miiller’s im
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. tl. lo.
ihm das sagum, der kurze Soldatenmantel, auf der
linken Schulter. Nur hat ihn der Unbekannte unter
dem rechten Arme durchgezogen, eine Art des Mantel¬
tragens, die ich auf Bildwerken der römischen, wie
der staufischen Zeit vergebens gesucht habe.
Ausschlaggebend ist für uns, dass sich der Panzer
als römisch erwiesen hat. Allein dieser Umstand
muss uns die von Delbrück so bestimmt vorgetragene
Meinung, die Statue von Acerenza gehöre in die
Stauferzeit, zweifelhaft erscheinen lassen.
Ist sie aber antik, wen stellt sie dar? Einen
kriegerischen Kaiser, der sich im Panzer seiner Reiter
oder der Leibgarde abbilden liess? Julian den Ala¬
mannensieger? Vielleicht darf man auch an einen
siegreichen General oder praefectus praetorio denken,
obschon der Lorbeerkranz eher auf einen Kaiser
raten lässt. —
»Wir vermögen aber, so etwa wendet Delbrück
weiter ein, »unserem Bilde den ihm zukommenden
Platz in der Entwickelung der staufischen Plastik
anzuweisen, und zwar durch einen Vergleich des¬
selben mit anderen süditalienischen Denkmälern des
13. Jahrhunderts.«
Wie steht es damit? — Der Porträtkopf aus
Scala, die Skulpturen zu Sessa, das Brustbild der
sogenannten Sicligayta Ruffola, die beiden Reliefbilder
am Thürbogen der Kanzel und die übrigen Schöpfungen
des Nikolaus di Bartolomeo de Fioggia im Dom zu
Ravello: sie alle tragen ein von dem des Standbildes
von Acerenza verschiedenes Gepräge, sind starrer,
rauher, gebundener und unfreier. Selbst dem Laien
fällt sofort der unüberbrückbare Abstand in Auffassung
und Formgebung ins Auge und zwingt ihn geradezu
zur Überzeugung, dass er hier Erzeugnisse aus zwei
weit auseinanderliegenden Zeiten und Welten vor
sich hat.
Allerdings geht Delbrück auf diese zum Teil ge¬
nauer datierbaren*) Skulpturen nicht ein; er hat nur
die beiden, vor etwa dreissig Jahren in Kapua aus¬
gegrabenen angeblichen Porträtbüsten des Peter von
Vinea und des Taddeus von Suessa, der Grosswürden¬
träger Friedrich’s II., zum Vergleich mit dem an¬
geblichen Kaiserbild herangezogen.
Beide Büsten sind eigenartige, vielfach an die
Antike gemahnende Kunstwerke. In die Rubrik der
vorhin angeführten, in den Jahrzehnten nach Fried¬
rich’s Tod geschaffenen Skulpturen lassen sie sich nur
gewaltsam pressen. Ist für sie, wie Delbrück so be¬
stimmt behauptet, in der Antike kein Raum, dann
gilt dies erst recht von ihrem Verhältnis zur süd¬
italienischen Plastik des 13. Jahrhunderts. Ja, nicht
wenige werden mit mir der Meinung leben, der Ab¬
stand der mit dem Lorbeerkranze der römischen Im¬
peratoren geschmückten kapuanischen Büsten von den
Bildwerken aus Scala, Sessa und Ravello sei grösser
als der von der Antike. Die manchmal auftauchende
Philologus Bd. 40, 246 ff. und 47, 52off., und auf das, was
Ernst Hübner hierzu, Hermes Bd. 16, 302 ff., bemerkt hat.
1) Skulpturen von Sessa 1250 — 1270, Kanzel im Dom
zu Ravello ca. 1270.
32
248
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
Behauptung, die Skulpturen von Kapua seien spät-
antik-, ist mit der beweislosen Annahme des Gegen¬
teils noch nicht widerlegt.
Die Beziehung der kapuanischen Büsten auf Peter
und Taddeus unterliegt gleichfalls Zweifeln. In dem
berühmten Brückenkastell zu Kapua, aus dem sie
stammen sollen, waren, wir wissen dies aus guter
Quelle’), .1. :. ;i und unter der sitzenden Statue Fried-
rich's 1'. - ll: s: die imagines seines Kanzlers und Hof-
rii litt s nrf,. -lellt. Imago kann beides, Brust- und
S: ui'Jüil J, bei’euten. Nun spricht aber der Kapuaner
It'ipiLeie Sioielli, der um 1570 die Chronik seiner
se uieb, nicht von Büsten, sondern von
Sii-Hii'Udvn (statuae) der beiden. Sanelli, der auch
'lischriüen des Prunkbaues abgeschrieben hat,
luii s G.e 1557 mit diesem demolierten statuae gut
gekannt haben. Über diese bestimmte, glaubwürdige
Bezeichnung der imagines durch einen, soviel ich
sehe, unanfechtbaren Gewährsmann wird man sich
schwerlich mit denen hinwegsetzen dürfen, die unsere
lorbeergeschmückten Büsten kurzweg den Stand¬
bildern Sanelli’s gleichgesetzt haben.
Mit seinen kapuanischen Büsten sucht Delbrück
auch den Fund von Acerenza in den Kreis der stau¬
fischen oder nachstaufischen Skulpturen zu zwängen.
Er findet sogar, dass das Porträt des sogenannten
Petrus de Vinea . . . dem Porträt von Acerenza in
allem Vergleichbaren- ähnelt. — Ich bin überzeugt,
dass jeder vorurteilslose Beurteiler wenigstens die Be¬
handlung der Haare und des Bartes, der Ohren und
Augen und namentlich auch des Gewandes bei beiden
als grundverschieden erkennen wird.
Die staufische Herkunft der Büsten ist, wie wir
feststellten, unwahrscheinlich. Noch viel mehr ist
dies aber bei der vermeintlichen Bildsäule Friedrich’s II.
der Fall, die augenscheinlich mit der Antike um einige
Grade näher verwandt ist als jene.
Ist sie antik? Delbrück bestreitet dies entschieden.
V Formauffassung und Strich«, wendet er ein, seien
von den in der antiken Kunst üblichen verschieden,
begründet aber diese seine Auffassung nicht näher;
'>sie lässt sich nicht auseinandersetzen«.
Ich mache Delbrück aus diesem Verzicht keinen
Vorwurf. Es giebt in der That Eindrücke und Er¬
fahrungen, die der Kenner, nachdem er sie durch
jahrelange Bekanntschaft und Vertrautheit mit seinen
Objekten gewonnen hat, nur sehr schwer und un¬
vollkommen an andere, namentlich an Nichtfach¬
genossen, übermitteln kann. Er heischt in solchen
Fällen mit Recht das Vertrauen des Laien. Ich be¬
dauere, ihm dieses Vertrauen aus den oben erörterten
Gründen versagen zu müssen.
Hat Delbrück das Standbild von Acerenza im
Original gesehen oder hat er »Formauffassung und
Strich« allein an der Hand der allen zugänglichen
Reproduktionen studiert? Aus dem Aufsatz ersehen
wir dies nicht, ja, einzelne Äusserungen sprechen für
das letztere.
1) Man vergl. für das Folgende den Aufsatz C. v.
Fabriczy’s »Zur Kunstgeschichte der Hohenstaufenzeit« in
Bd. 14 (1879), 180 ff., 214 ff., 236 ff. dieser Zeitschrift.
Wie unsicher aber die Schlüsse aus den Re¬
produktionen allein sind, geht daraus hervor, dass
andere an ihrer Hand zu Ergebnissen gekommen
sind, die denen Delbrück’s schnurstracks zuwider¬
laufen.
Ich verzichte auf das Zeugnis deutscher Fach¬
genossen Delbrück’s, um noch einmal auf die ab¬
weichenden Ansichten der Franzosen zu verweisen.
Lenormant ist einer der besten Kenner süd¬
italienischer Kunst. Wir verdanken ihm auf diesem
Gebiete wertvolle Werke. Lenormant hat selbst die
Statue von Acerenza gesehen. Er erklärt sie ohne
Einschränkung für antik. Einer der namhaftesten
Archäologen unserer Zeit, Reinach, fällt ihm rück¬
haltlos zu. Michon setzt trotz seiner Polemik gegen
beide die antike Herkunft stillschweigend voraus. Ja,
er erwägt ernstlich, ob er die Statue nicht eher der
Zeit Hadrian’s als der julian’s zuweisen soll.
Was Delbrück gegen die Auffassung der Franzosen
vorgebracht hat, überzeugt uns nicht. Der von ihm
verkannte römische Schuppenpanzer bildet sogar ein
direktes Zeugnis für die antike Herkunft der Bild¬
säule. Ihre wenigen Anklänge an die kapuanischen
Büsten würden selbst dann nicht schwer wiegen,
wenn der staufische Ursprung der letzteren überhaupt
zu beweisen wäre. Dass »Formauffassung und Strich«
unserer Statue von der Antike verschieden« sei, können
wir Delbrück glauben oder nicht. — Nach dem Ge¬
sagten wird er, fürchte ich, der Ungläubigen mehr
zählen können denn der Gläubigen.
Vielleicht lässt sich aber die Ähnlichkeit Friedrich’s
mit der Statue von Acerenza so überzeugend darthun,
dass eine Verwechselung undenkbar scheint?
Nichts von alledem!’) Ich weiss nicht, was Del¬
brück auf den seltsamen Gedanken, den Unbekannten
von Acerenza zu einem Staufer zu stempeln, ge¬
bracht hat. Der Lorbeerkranz? — Ihn haben, wie
er ausführt, »in nachrömischer Zeit noch die Karo¬
linger getragen, späterhin aber nur noch Friedrich II.
auf den Augustalen«. In der That? Dann steht es
schlimm um die staufische Herkunft der lorbeer-
geschmückten Büsten von Kapua: Delbrück’s Peter
von Vinea, sein Taddeus von Suessa tragen ihn beide!
Stellten diese lorbeergeschmückten Büsten wirklich
die Grosswürdenträger Friedrich’s II., stellte die gleich¬
falls den Lorbeer tragende Statue von Acerenza diesen
selbst dar; wie käme der Kaiser dazu, statt in dem
üblichen Friedenskleid der Imperatoren, im Schuppen¬
panzer der Prätorianer aufzutreten? Auffällig und
schwer zu erklären wäre das gewiss.
Die Kaiser und Könige des späten Mittelalters
tragen ausnahmslos langes Haar. Auch Friedrich II.
1) Die Ausführungen F. Philippi’s ini Januarheft d.
Ztschr. decken sich zum Teil mit den meinen, die bereits
vor dem Erscheinen dieses Heftes niedergeschrieben waren.
Für die Erörterungen über die Siegel Friedrich’s II. und
Heinrich’s VII. ist F. Philippi’s »Zur Geschichte der Reichs¬
kanzlei unter den letzten Staufen« (München 1885) benutzt
worden.
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
249
trägt es auf sämtlichen, uns bekannten Porträts. Kurz
geschorenes Haar war ein Zeichen der Unfreiheit,
der Dienstbarkeit. Die Statue von Acerenza »hat
kurzes Haar und kurzen Bart«.
Die Münzen und Siegel, die um 1240 angefertigte
Statue von Kapua (siehe unten), der von Ed. Winkel¬
mann aus guten Gründen in das Jahr 1248 gesetzte
Siegelstempel stellen Friedrich II. bartlos dar. Schon
aus diesem Grunde fällt es uns schwer zu glauben,
er habe jemals Schnurr- und Kinnbart getragen, ln
den höheren Ständen Deutschlands und Italiens war
zu seiner Zeit Bartlosigkeit die Regel. Delbrück’s
Annahme, man habe am Hofe Friedrich’s Vollbart
getragen, könnte erst dann durch die vermeintlichen
Büsten Peter’s von Vinea und Taddeus’ von Suessa
gestützt werden, wenn deren staufische Herkunft vorher
einwandfrei bewiesen wäre. Solange dies nicht ge¬
schieht — und damit hat es noch gute Wege — ,
müssen wir uns für einen bärtigen und kurzgeschorenen
Friedrich II. bedanken. —
Abb. 2. Au gii Stalen Friedrichs II.
Als schwerstes Geschütz führt Delbrück eine weit¬
gehende »physiognomischeÜbereinstimmung der Köpfe
auf den individueller gehaltenen Augustalen und des
Profilbildnisses der Büste von Acerenza« ins Feld. Bei
der Vergleichung von Profilbildnissen ist die Haupt¬
sache das Profil selbst. Die Augustalen Friedrich’s 11.
mögen auf Ähnlichkeit mit den Gesichtszügen des
Kaisers hingearbeitet sein. Wie wenig sie in dieser
Hinsicht erreicht haben, zeigt uns ein Vergleich der
einzelnen Typen (Abb. 2), die unter sich die grössten
Verschiedenheiten aufweisen. Kein Profil gleicht ganz
dem anderen. Nur in einem stimmen sie gegen die
angebliche Kaiserbüste von Acerenza überein. Zeigt
uns diese »eine kurze, leicht gebogene Nase«, so
weisen die Köpfe auf den Augustalen lange Nasen
auf, von denen einige gerade, andere eingedrückt,
keine aber stumpf und gebogen sind. Damit stimmt
die Gemme Friedrich’s von Raumer (s. Abb. 5),
damit stimmen die Siegelbilder Friedrich’s 11. (s. Abb.
7, 8, 9). Einzelne Einzelheiten einzelner Augustalen
— ich finde ausser dem Lorbcerkranz keine — mögen
mit einzelnen Zügen des Standbildes von Acerenza
stimmen: ausschlaggebend ist die Abweichung im
Profil. Sie allein reicht aus, um die Unmöglichkeit
der Hypothese Delbrück’s darziithun, dass uns in
dem Standbild von Acerenza eine Porträtbüste Fried¬
rich’s 11. von Hohenstaufen gegeben sei.
Auf eine Datierung und Deutung des Standbildes,
auf eine Zuweisung zu einer bestimmten Epoche der
antiken, spätantiken, frühchristlichen oder einer noch
späteren Kunst lasse ich mich hier nicht ein. Ich
bin aber fest überzeugt, dass Fachleute in diesen
Punkten über die Ergeb¬
nisse Delbrück’s hinaus¬
kommen und sie, unter
Heranziehung eines umfang¬
reicheren Vergleichsmate¬
rials, berichtigen werden.
*
sfs
Delbrück’s Aufsatz hat
merklich unter der Un¬
kenntnis der bereits bekann¬
ten oder wenigstens leicht
zugänglichen Porträts Kaiser
Friedrich’s gelitten. So
handelt er nur ganz bei¬
läufig und unzulänglich
über eine unserer wichtig¬
sten Quellen, die königlichen
und kaiserlichen Siegel und
Bullen. Dabei giebt das
einzige von ihm reprodu¬
zierte und besprochene die
Züge des Kaisers ganz un- ^bb. 3. Relief vom
klar und verschwommen Karlsschrein in Aachen
wieder.
Klein, zierlich und schmächtig, mit schmalem
Gesicht, mächtiger, breiter Stirne, mit langer, gerader
schmaler Nase, mit etwas vorstehenden Lippen und
kräftigem, ausdrucksvollem Kinn stellt uns das Hoch¬
relief am Karlsschrein im Münster zu Aachen, (Abb. 3)
jenes Wunderwerk der Goldschmiedekunst, den jugend¬
lichen Friedrich II. dar. Am 27. Juli 1215 hat dieser
selbst, dem sich erst drei Tage vorher zum erstenmal
die Thore der alten Kaiserstadt geöffnet hatten, die
Gebeine Karl’s des Grossen im Karlsschrein betten
und diesen einschliessen helfen. Das Bildnis ist erst
später in die Nische eingefügt worden. Der Künstler,
ein Aachener Goldschmied, dem Friedrich selbst ge¬
sessen haben wird, hat seine Aufgabe in ganz her¬
vorragender Weise gelöst. Wie ein Vergleich mit
den übrigen Porträts aus Friedrich’s Jugendzeit, den
beiden Königssiegeln, von denen das jüngere (Abb. 8)
möglicherweise in Aachen und von demselben Gold¬
schmied gestochen ist, und dem grossen Oppenheimer
Stadtsiegel (Abb. 1 und 13), aber auch mit der
Kapuaner Statue (Abb. 4) und der Raumer’schen
Gemme beweist, ist es ihm gelungen, den grossen
Staufer so lebendig als ähnlich darzustellen.
Ein weiteres, gutes Porträt des Kaisers bringt
die vatikanische Handschrift von Friedrich’s 11. Buch
über die Falkenjagd^). Gezeichnet hat es ein Italiener,
der, mag er nun nach der Natur oder nach einer
Vorlage gearbeitet haben, zweifellos Porträtähnlichkeit
angestrebt hat. Als Vorbild für Sitz und Haltung
des mit der Laubkrone gekrönten thronenden Herr¬
schers könnte eins der noch zu besprechenden Maje-
1) Aus dem Cod. Vaticaii. Pal. lat. 1071 abgebildet
bei St. Beissel, Vatikanische Miniaturen (Freiburg i. Br.,
1893), Tafel XX, B. Das ebenfalls von Beissel, Tafel XIX,
B, gebrachte bärtige Kaiserbild stellt nicht Friedrich 11.,
sondern Friedrich Barbarossa dar.
32
250
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S 11. VON HOHENSTAUFEN
stätssiegel gedient haben, dem der Künstler auch die
individuellen Züge: kleine, schmächtige Figur, schmales
Gesicht, langes Haar, niedere Stirn, tiefliegende grosse
Augen, lange schmale und gerade Nase, lange Ober¬
lippe und langes Kinn entlehnt haben mag.
Unterschätzt hat Delbrück auch die Raumer’sche
Gemme. Die Geschichte ihrer Entstehung und die
der kapuanischen Kaiserstatue lehrt es uns.
Um 1240^) baute Friedrich 11. zu Kapua ein
Brückenkastell und schmückte es mit seiner über¬
lebensgrossen Statue, die 1557 mit dem Kastell de¬
moliert wurde. 1584 restauriert, 1585 wieder auf¬
gestellt, wurde sie später von Murat’s Soldaten zer¬
schlagen. Ein des Kopfes und der Glieder beraubter
Torso ist uns geblieben.
Abb. 4. Statue Fried rieh’ s II.
vom Briiekenthore zu Kapua
(ca. 1240)
Abb. 5. Sogenannte
Raumer’ sehe Gemme
Abb. 6. Der nach der
Raumer’schen Gemme
gezeichnete Idealkopf
Friedrich’ s II.
Glücklicherweise hat Agincourt-) die Statue vor
ihrer Zerstümmelung abzeichnen lassen, hat P. Fr.
Daniele einen Gipsabguss von ihr genommen. Leider
ist dieser Abguss, ebenso wie eine nach ihm ge¬
schnittene Gemme verschollen. Doch besitzen wir
letztere noch in dem Bild, das A. Huillard-Breholles’^)
nach einem ihm von dem letzten Besitzer, dem Ge¬
schichtschreiber der Hohenstaufen, F. von Raumer,
überlassenen Gipsabdruck hat hersteilen lassen.
Agincourt’s Abbildung (Abb. 4) ist offenbar aus
grösserer Entfernung aufgenommen. Gewandung und
Faltenwurf sind so falsch gesehen und unbeholfen
und antikisierend gezeichnet worden. Der Mantel
des Kaisers ist nicht, wie man annimmt, der römische,
sondern — man vergleiche die Siegel! — der bis
ins 13. Jahrhundert übliche, über die linke Schulter
1) Vergl. C. v. Fabriczy a. a. O. S. 214/15.
2) J. B. L. G. Seroux d’Agincourt, Hist, de l’art par
les monunients, T. 11 (Paris 1823), pl. 56; vergl. p. 23.
3) Hist, diplomat. Frid. 11., Einleitungsband, Titelblatt.
geworfene, auf der rechten Schulter (s. Abb. 1) oder
vor der Brust (s. Abb. 7, 8, g, 10, 16) durch eine
Schliesse zusammengehaltene mittelalterliche, staufische.
Auch das um die Hüften gegürtete, am Halse zackig
ausgeschnittene Unterkleid mit halblangen weiten
Hängeärmeln ist staufisch. Friedrich trägt es auf
dem deutschen Kaisersiegel von 1220 (Abb. g) und
auf dem Siegel von 1248 (Abb. 10). Sitz und Haltung
der Statue führt man auf antike Kaiserstatuen zurück.
Sie scheinen mir eher einem staufischen Siegel (vergl.
Abb. 7, 8, g, 10) nachgebildet, so dass weniger Be¬
rührungspunkte zwischen ihr und der Antike ver¬
bleiben, als man seither behauptet hat.
Die Abbildung der verstümmelten Statue bei
Agincourt, so schwach sie ist, lässt noch die stolze,
vornehme Haltung des Kaisers erkennen, von der
ältere Beschreibungen reden. Hoch aufgerichtet sitzt
er da. Noch deuten uns die Stummel der Arme die
herrische, drohende Gebärde an, mit der er »extensis
brachiis duobusque digitis« ehemals vor sich hin wies,
als ob er einen keinen Widerspruch duldenden Be¬
fehl aussprechen wollte'). Die mittelgrosse Figur, der
schmächtige Wuchs, das schmale Oval des Gesichts,
die langen, in die Stirn fallenden Haare, die tiefliegen¬
den grossen Augen, die gerade Nase, den kräftigen
Hals finden wir auch auf anderen Porträts Friedrich’s 11.
wieder.
Unsere Abbildung der Gemme ist durch die
Medien der Gipsabgüsse Daniele’s und Raumer’s,
den Gemmenschnitt und Kupferstich gegangen.
Trotzdem ist sie in Einzelheiten, im Profil, in der
Form der Augen, der langen, geraden Nase, des
Mundes, des energischen Kinns und des langen
fleischigen Halses, zuverlässig. Die Krone sitzt tiefer
als auf Agincourt’s Zeichnung in der niederen Stirn,
die Augenbrauen sind flacher geschwungen: hierin
können wir die flüchtige Zeichnung der Statue aus
der Gemme berichtigen. Beide zusammen geben uns
aber, den offenbaren Mängeln der Reproduktionen
zum Trotz, einen ziemlich genauen Begriff davon,
wie Friedrich II. im kräftigsten Mannesalter (ca. 1240)
ausgesehen hat. Man vergleiche sie nur einmal mit
dem sizilianischen Siegelstempel von 1248 (Abb. 10)!
Eine ungenaue, irreführende Vergrösserung des
Gemmenkopfes hat Raumer dem dritten Bande seiner
Hohenstaufen“) beigegeben. Nase, Mund und Kinn
sind verzeichnet. Die Krone ist weiter aus der Stirn
gerückt, das schmale Oval des Gesichts ist gerundet,
und so die Ähnlichkeit mit den übrigen Porträts auf
ein weniges zusammengeschrumpft. Fast scheint es,
als ob der Zeichner von 1824 die Züge Friedrich’s
absichtlich denen Napoleon’s I. angenähert hätte,
jedenfalls aber trägt das falsch idealisierte Bild bei
Raumer für unsere Untersuchung nichts aus.
Für ein Porträt Friedrich’s II. gilt ferner ein
Medaillon am Portal der Kirche della porta santa zu
Andria, dessen bärtiges Gegenstück König Manfred
1) Vergl. Andreae Ungari descriptio victoriae a Karolo
com. reportatae, M. G. S. S. XXVI, 571.
2) Friedrich von Raumer, Gesch. der Hohenstaufen.
Bd. III, 265.
DAS PORTRÄT KAISER FRlEDRiCH’S 11. VON HOHENSTAUFEN
251
Abb. 7. Deutsches Königssiegel Friedrich’s II. von 1212
natürlicher Grösse, Original in Darmstadt)
darstellen solU). Die Kirche ist 1253 bis 1265 er¬
baut worden. Da der angebliche Manfred gleich
seinem vermeintlichen Vater den kaiserlichen Lorbeer
trägt, so müssten die Medaillons, wenn sie noch aus
der Bauzeit der Kirche stammten, zwischen 1258,
dem Jahre der Krönung Manfred’s, und 1265, dem
Jahre der Kirchweihe, entstanden sein.
Nun ist aber das Portal, zu dem die Medaillons
gehören, ein Werk der Frührenaissance. Huillard-
Breholles vermutet daher, die Stadt Andria, deren An¬
hänglichkeit an die Staufer sprichwörtlich war, hätte,
als sie das Kirchenporta! im i 5. Jahrhundert erneuerte,
die Medaillons, sowie die unter ihnen angebrachten
Wappen mit dem »schwäbischen Löwen« vom alten
auf das neue Portal übertragen oder kopieren lassen.
Das älteste mir bekannte Wappenbild des Herzog¬
tums Schwaben stellt nicht den Löwen, sondern drei
Leoparden dar. Trügt das Bild in dem Kupferwerk
des Herzogs von Luynes nicht allzu sehr, dann tragen
die Köpfe genau denselben Charakter wie das Portal
selbst: den der Frührenaissance. Der angebliche
König Manfred hat keine Ähnlichkeit mit dem bart¬
losen Manfred der sizilischen Siegel. Der bartlose
Kopf des anderen Medaillons erinnert in einigen
Zügen an den Friedrich 11. einzelner Augustalen.
Nach einem Augustalis wird in der That der Kopf,
wenn er wirklich den Kaiser darstellen soll, einerlei,
ob er in der Stauferzeit oder im 15. Jahrhundert
entstanden ist, gebildet sein. Andere Züge passen
aber ganz und gar nicht zu dem Bilde des Kaisers,
wie wir es aus anderer Quelle, auch aus den Augustalen,
kennen. Stellt das Medaillon von Andria in der That,
1) Abgebildet bei Duc de Luynes, Recherches sur les
monuments et l’histoire des Normands et de la maison
de Souabe (Paris 1844), pl. 29, Text (von A. Huillard-
Breholles) p. 114, 116. Vergl. H. W. Schulz, Denkmäler
der Kunst Unteritaliens I, 150.
was nicht ausser dem Bereich jeder Möglichkeit liegt,
Friedrich II. dar, dann stellt es ihn ungenau und un¬
ähnlich dar. Ein sicheres Urteil wird man freilich
erst dann fällen können, wenn ein gutes modernes
Bild vorliegt. Kupferstiche aus dem Anfang des
vorigen Jahrhunderts führen uns, wie die Erfahrung
lehrt, oft irre.
Unsere beste Quelle stellen die Siegel dar. Wir
können hier nicht alle Siegel Kaiser Friedrich’s 11.
besprechen: sie taugen auch nicht alle für unsere
Zwecke. Die zwei ältesten Siegel, das älteste sizi-
lische und das deutsche Elektensiegel, haben ein so
kleines Format, dass die Gesichtszüge verschwimmen
und selbst durch Vergrösserung nichts gewinnen.
Die Goldbullen sind entweder Nachbildungen der
Königs- oder Kaisersiegel oder so undeutlich oder
auch so schwer erreichbar, dass ich von ihrem Heran¬
ziehen Abstand nehmen musste. Meine Besprechung
beschränkt sich so auf die Hauptsiegel: die Königs¬
siegel von 1212 und 1215 und das Kaisersiegel von
1220, dem das zweite sizilische Königssiegel und
Winkelmann’s Siegelstempel (Abb. 10) nachgebildet
sind.
Das Siegel von 1212 wird in Süddeutschland
zur ersten Krönung Friedrich’s, etwa in Mainz oder
Frankfurt a. M., geschnitten sein. Es lehnt sich stark
an das Siegel Philipp’s von Schwaben an, das mög¬
licherweise aus derselben Werkstatt stammt. Der
damals achtzehnjährige König ist von mittelgrosser,
schmächtiger Gestalt. Nur den Kopf hat der Stempel¬
schneider, allerdings mit geringem Können, zu indi¬
vidualisieren gesucht. Die Ähnlichkeit des Siegel¬
bildes mit dem Dargestellten kann nur gering gewesen
sein. Immerhin finden wir die Form des Gesichts,
die niedere Stirn, die kräftigen flach geschwungenen
Brauen, das grosse, runde Auge, den kleinen Mund
auch anderwärts wieder. Eine gewisse Verwandtschaft
mit dem Königskopf auf dem grossen Oppenheimer
Stadtsiegel (Abb. 1 und 13) ist nicht zu verkennen.
Ein Kunstwerk ersten Ranges ist das zweite Königs¬
siegel, das Friedrich nach der zweiten Krönung —
sie erfolgte am 26. Juli 1215 zu Aachen — in Ge¬
brauch nahm. Philippi vermutet, es sei zu Köln
oder Aachen geschnitten worden: »Die Buchstaben¬
formen deuten dagegen auf sizilianischen Einfluss.«
In der Krönungsstadt Aachen stand zur Zeit
Friedrich’s die Goldschmiedekunst in hoher Blüte.
Es ist wohl kaum daran zu zweifeln, dass der grössere
Teil der herrlichen Goldschmiedearbeiten im Aachener
Domschatz in Aachen selbst entstanden ist. Auch
Lüttich hat hervorragende Meister des Kunstgewerbes
besessen. In Aachen (oder Lüttich?) hat seiner Zeit
Abt Wibald von Stablo das künstlerisch bedeutende
Siegel Friedrich Barbarossa’s schneiden lassen^). Ge¬
legenheit zur Anfertigung eines guten Siegelstempels
gab es also in und um Aachen 1215 gewiss. Äuf-
gabe des Kunsthistorikers wäre es jetzt, durch Vergleich
unseres Siegels mit den Aachener Goldschmiede- und
1) Vgl. den darüber geführten Briefwechsel, Ph. Jaffe,
Monum. Corbeiensia, nr. 376, 377, 456.
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
-O“
Abb. 8. Deutsches Königssiegel Friedrich’s II. von 121^
natürlicher Grösse, Original in Dannstadt)
Bildhaiierarbeiten, mit den kunstgewerblichen und
plastischen Erzeugnissen am Niederrhein, in Lüttich,
Brabant und Flandern, mit den Skulpturen der Fran¬
zosen die Heimat des Meisters zu ermitteln.
Man verweist mich von befreundeter Seite auf
allerdings auffällige Berührungspunkte in der Auf¬
fassung und Technik unseres Siegelbildes mit der
italienischen Plastik der staufischen und nachstaufischen
Zeit, unter anderen auch auf Arbeiten der Pisani und
ihres Kreises. Dass die Aachener und etwa noch
die Lütticher Kunst von Italien aus beeinflusst wurde, ist
Abb. g. Deutsches Kaisersiegel Friedrich’s II. von 1220
(■^1^ natürlicher Grösse, Original in Hannover)
möglich, ja wahrscheinlich. Auch die sizilianischen
Buchstabenformen der Umschrift geben zu denken.
War ein italienischer Goldschmied im Gefolge Fried¬
rich’s in Deutschland? Oder ist der Stempel auf Be¬
stellung in Italien, etwa in dem befreundeten Pisa,
geschnitten und über die Alpen eingeführt worden?
Wir wagen die Antwort nicht.
Eins steht fest: wir haben es mit einem vorzüg¬
lichen Stück, für das wir, mit Ausnahme des grossen
Oppenheimer Stadtsiegels, in dem damaligen Deutsch¬
land vergebens nach einem Gegenstück suchen, und
mit einem guten Porträt Friedrich’s II. zu thun. Es
ist mir sogar wahrscheinlich, dass der damals ein¬
undzwanzigjährige König dem Künstler gesessen hat,
oder dass dieser wenigstens seinen Herrn persönlich
gut gekannt hat. Ich verzichte darauf, das Porträt
im einzelnen durchzusprechen und begnüge mich
damit, die weitgehende Ähnlichkeit zwischen dem Kopfe
unseres und dem des Kaisersiegels (Abb. 8), dann aber
auch die etwas weniger augenfällige, aber doch
unleugbare zwischen diesen beiden und dem Königs¬
kopfe des Oppenheimer Stadtsiegels von 1225/26
(Abb. 1 und 13) und dem der oben besprochenen
Kapuaner Kaiserstatue (Abb. 4) und vor allem dem
Relief auf dem Karlsschrein (Abb. 3) hervorzuheben’).
Das deutsche Kaisersiegel ist von Friedrich 11.
seit seiner am 22. Oktober 1220 zu Rom erfolgten
Kaiserkrönung bis in die Zeit seines Todes geführt
worden. Stempelbild und Umschrift bleiben, abge¬
sehen von dem Zusatz »et rex Jerusalem« im Siegel¬
felde seit 1225, immer dieselben, nur die Grösse der
Stempel wechselt. Nach dem deutschen Kaisersiegel
sind ferner auch Friedrich’s jüngere sizilische Königs¬
siegel geschnitten, von denen das jüngste (?), von
Delbrück abgebildete, des Vergleiches halber hier
wiederholt sei (Abb. 10).
1) Für die Überlassung einer grösseren Anzahl be¬
siegelter Urkunden Friedricli’s II., deren ich zum Vergleiche
mit den in unserem, dem Darmstädter Archiv, befindlichen
bedurfte, bin ich den Archiven zu Frankfurt a. M., Han¬
nover und Karlsruhe zu Dank verpflichtet.
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
253
Philipp! nimmt an,
das deutsche Siegel sei
wohl auch »am Nieder¬
rhein gefertigt und über
die Alpen geführt« wor¬
den, während er die sizi-
lischen Nachbildungen
nach Italien verweist. Nun
ist aber die Arbeit des
jüngeren Königssiegels
(Abb. 8) viel feiner, freier,
charakteristischer als die
des Kaisersiegels. Dies
spricht mir dafür, dass sie
in verschiedenen Werk¬
stätten und Orten geschnit¬
ten sind. Ob dieses am
Niederrhein, jenes in Italien
entstand oder umgekehrt, ist ohne ein grosses Ver¬
gleichsmaterial nicht zu entscheiden. Für die zweite
Annahme spricht, dass das Kaisersiegel zuerst in Italien
nach der Kaiserkrönung Friedrich’s in Gebrauch ge¬
nommen ist. Wir lassen heute notgedrungen die
Frage nach der Herkunft beider Stücke, die der
Kunst beider Länder, Italiens wie Deutschlands, zur
Ehre gereichen würden, in der Schwebe.
Die beiden sitzenden Herrscherfiguren auf den
Siegeln von 1215 und 1220 sind zweifellos als Por¬
träts gedacht, die Köpfe als Porträtköpfe. Soweit
dies überhaupt bei den winzigen Maassen der Siegel¬
bilder zu erreichen war, wird bei beiden, dafür
sprechen die Übereinstimmungen in den Zügen, eine
gewisse Porträtähnlichkeit erreicht sein. Ich halte es
sogar für nicht ausgeschlossen, dass Friedrich für
beide den Künstlern gesessen
hat. Dass beide Siegelbilder die¬
selbe Person darstellen, wird
schon dem flüchtigen Beschauer
auffallen. Nur ist der Kopf des
älteren Siegels strenger, regel¬
mässiger und dadurch charakteri¬
stischer, der des jüngeren weicher,
runder, verschwommener ausge¬
fallen.
* *
Feiner und schärfer, freier und
lebendiger als auf den eben be¬
sprochenen, künstlerisch hervor¬
ragenden Siegeln ist ein dritter
Porträtkopf Friedrich’s II. ge¬
raten. Wir finden ihn auf dem
grossen Oppenheimer Stadtsiegel
von 1225/26 (Abb. 1 und ver-
grössert Abb. 13). Bei ihm, der
bisher noch nicht beachtet wurde,
verweilen wir etwas länger. Be¬
vor wir ihn unter die von uns
beleuchteten Porträts des Kaisers
einreihen können, müssen wir uns
erst über sein Alter vergewissern.
Mit dieser Frage hängt
eine zweite Frage aufs
engste zusammen, die
nach der Identität des
auf dem Siegel dargestell¬
ten mit Kaiser Fried¬
rich II.
Die Zeit der Anferti¬
gung des Siegelstempels
lässt sich annähernd be¬
stimmen. Der älteste, bis¬
her bekannt gewordene
Abdruck hängt an einer
Urkunde des Klosters
Erbach im Wiesbadener
Staatsarchiv. Er stammt
aus dem Jahre 122g.
Schultheiss Herbord von
Oppenheim bezeugt darin dem Abt und Konvent
des berühmten Rheingauer Klosters, dass sie dem
Befehl Kaiser Friedrich’s II. und König Heinrich’s (VII.)
willig Folge geleistet und auf ihre Kosten den ihnen
angewiesenen Teil des Grabens und der Mauern der
Stadt Oppenheim gebaut haben. Zum Lohne dafür
verleiht der Schultheiss, der die Urkunde mit dem
städtischen Siegel bekräftigt, den frommen Mönchen
Steuer- und Zollvergünstigungen für ihre Höfe in
der Stadt.
ln einer zweiten Erbacher Urkunde vom Jahre
1226 wird die »neue« Stadt Oppenheim zum ersten¬
mal erwähnt. Da der Aussteller, wiederum der erste
Reichsschultheiss Herbord, in einer in der gleichen
Angelegenheit ergangenen dritten Urkunde vom Mai
1226 noch nicht den Amtstitel führt, wird jene erste
Erwähnung der neuen Stadt erst
nach Mai 1226 erfolgt sein. Wie
in der Urkunde von 1229 haben
auch hier der Schultheiss und die
Gemeinschaft der Bürger von
Oppenheim gesiegelt. Leider ist das
Siegel abgerissen und verloren.
Oppenheim war damals erst
kürzlich zur Stadt erhoben wor¬
den. Als Kaiser Friedrich im
Juni 1226 zu Borgo S. Donino
ihre Freiheiten verbriefte, hatten
die Bürger erst mit der Befesti¬
gung ihrer Stadt begonnen. Mit
den Freiheiten wurde ihnen des¬
halb zugleich die neue Stadtgrenze,
die sogenannte Bannmeile, bestä¬
tigt, so wie sie von dem neulich
verstorbenen Erzbischof Engel¬
bert von Köln gezogen worden
sei. Engelbert hatte seit 1220
als Vormund König Heinrich’s
und als Reichsverweser geschaltet.
Am 7. November 1 225 war er von
dem Grafen Friedrich von Altena-
Isenburg schmählich ermordet
worden.
Abb. 13. Kopf vom grossen Oppen¬
heimer Stadtsiegel von 1223I26
(Vergrösssert)
Abb. 12. Kopf vom
Königssiegel von 1213
(Vergrössert)
254
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S II. VON HOHENSTAUFEN
Da wir annehmen
müssen, dass der 122g
vollendete Mauerbaii so¬
fort nach der Feststel-
lungder Bannmeile durch
Erzbischof Engelbert
unternommen wurde,
da die neugebackenen
Reichsstädter ihre Ge¬
sandten sicherlich so
bald als möglich an den
in Italien weilenden Kai¬
ser abgefertigt und die
Bestätigung ihres Grün¬
dungsbriefes nachgesucht
haben, werden wir die
durch das Abstecken der
Bannmeile versinnbild¬
lichte Gründung Oppenheims und die Verbriefung
dieser Thatsache durch den Stellvertreter Friedrich’s 11.
in deutschen Landen, König Heinrich (VII.), getrost
in die letzte Zeit Erzbischof Engelbert’s setzen dürfen.
Am 28. August 1225 weilt König Heinrich in
der Kaiserpfalz zu Ingelheim. Anfang September
hält er einen Hoftag zu Worms ab. Engelbert von
Köln ist, nach Ausweis der Königsurkunden vom
4. und 7. September, damals im Gefolge HeinriclTs
gewesen. Auf der Reise von Ingelheim nach Worms
hat der Hof aller Voraussicht nach Oppenheim berührt.
Der feierliche Akt der Feststellung der Bannmeile mag
denn um den 1. September 1 225 stattgefunden haben.
In den Monaten vom 1. September 1225 bis zur Aus¬
stellung der jüngeren Urkunde Herbord’svomjahre 1 226
(nach Mai 1226) müsste deshalb der älteste Siegel¬
stempel der jungen Stadt gestochen worden sein.
Wen stellt das Siegelbild dar? König Heinrich (VII.)?
Die Form der Krone kann nicht ausschlaggebend sein.
Vater wie Sohn tragen dieselbe Laubkrone mit edel¬
steinbesetztem Bügel. Ein Unterschied zwischen
Königs- und Kaiserkrone hat wenigstens damals noch
nicht bestanden.
Heinrich war 1225/26 ein Knabe von vierzehn
bis fünfzehn Jahren. Das männlich-schöne Siegelbild
unseres Oppenheimer Siegels kann aber unmöglich
einen halbwüchsigen Knaben darstellen wollen. Auf
dem Siegel, mit dem Heinrich seit 1220 siegelt und
dessen er sich auch noch in den nächsten Jahren
bedient, zeigt er uns ein ausgeprägtes Kindergesicht.
HeinriclTs Stempelsclmeider hat eine ganz hervor¬
ragende Arbeit geleistet. Es unterliegt wohl keinem
Zweifel, dass sein Werk den damals neunjährigen
König mit voller Porträtähnlichkeit darstellt.
Mit unserem Siegelbild hat dieser Knabenkopf
(siehe Abb. 16 am Schlüsse S. 255) so wenig etwas zu
schaffen, wie der König Heinrich der seit 1226 vor¬
kommenden Krönungsbulle, auf der er mit vollem
Gesicht, kräftiger, etwas breiter Nase und rundem
Kinn abgebildet ist.
Heinrich wird nicht einmal in dem grossen Stadt¬
privileg Friedrich’s von 1226 erwähnt. Wie sollten
die Oppenheimer darauf verfallen sein, ihn auf ihrem
Siegel darzustellen, wie darauf, sich dieses Siegels
auch noch nach dem jähen Sturze des unglücklichen
Kaisersohnes weiter zu bedienen?
Kein Zweifel: das Siegelbild des grossen Oppen¬
heimer Stadtsiegels stellt niemanden sonst als Fried¬
rich 11. dar, den Hort und Quell der städtischen
Freiheit Oppenheims! Wenn nicht durch diese Über¬
legungen, so würde es durch einen Vergleich des
Oppenheimer Porträtkopfes mit den anderen Bildnissen
Friedrich’s einwandfrei bewiesen.
Das Darmstädter Staatsarchiv besitzt zehn mehr
oder minder beschädigte Exemplare des Siegels. Je
nach dem Material, ob hartes oder weiches, helles
oder dunkles Wachs oder Maltha, ist der Ausdruck
verschieden. Die Photographien können das Bild,
das aus dem Anschauen und Vergleichen der Abdrücke
insgesamt gewonnen wird, nur annähernd ersetzen.
Aber auch aus der unvollkommenen Wiedergabe wird
man entnehmen, dass das Siegel das Werk eines
Künstlers ersten Ranges ist. Kein anderes deutsches
Siegel der Staufenzeit reicht auch nur annähernd an
die Kunst dieses Bildners heran. Nebensachen, wie
die Umrahmung und die Gewandung, hat der Siegel¬
stecher nur flüchtig behandelt, den Kopf aber hat er
mit bewundernswertem Können und in grossem Stile
herausgearbeitet. Künstler wie Kunstwerk sind des
Gegenstandes wert, den sie darstellen. Sehen wir
uns dieses Werk jetzt einmal etwas näher an und ver¬
gleichen wir es mit den besseren Porträts, die wir von
Friedrich 11. besitzen!
Auf schlankem, kräftigen Halse, der aus einem
schmächtigen Rumpfe herauswächst, ruht der be¬
deutende Kopf. Das kräftige Oval des bartlosen
Gesichts zeigt normale Verhältnisse, ln langen, dichten
und, wie auf dem Kaisersiegel, gelocken Strähnen
fällt das Haar herab. Da das gemusterte Kronen¬
häubchen (pileus) straff gespannt ist, dürfen wir eine
spitze Kopfform vermuten. Die Laubkrone zeigt ein¬
fache Verhältnisse. Ihre Anhänger (pendilia) hängen
fast bis auf die Schulter, ihr Reif ist tief in die
niedere, breite, kräftig ausladende Stirne gedrückt.
Unter den mässig gewölbten und gewulsteten Brauen
schauen uns grosse, runde, tiefliegende Augen an.
Das Gesicht erscheint,
im Verhältnis zur Länge,
schmäler als es ist, da
die Backenknochen fast
gar nicht hervortreten.
Die Wangen sind die
eines im kräftigen Man¬
nesalter Stehenden, voll,
straff und fleischig. Be¬
sonders tief herausge¬
arbeitet ist die Partie um
Nase und Mund. Im
Verein mit der Partie
der Augen und dem
edelgeformten energi¬
schen Kinne giebt sie Abb. 75. Kopf von der
dem Antlitz sein cha- Kopnaner Koiserstatue (ca.
rakteristisches Gepräge. 1240). (Vergrössert)
Abb. 14. Kopf vom
Kaisersiegel von 1220
(Vergrössert)
DAS PORTRÄT KAISER FRIEDRICH’S !I. VON HOHENSTAUFEN
255
Leider sind die aus der Siegelfläche höher heraus¬
getriebenen Teile, der untere Teil der Nase, die lange,
spitz hervortretende Oberlippe, die etwas gewulstete
Unterlippe in dem weichen Material der Siegel mehr
oder minder abgeplattet und zerstört, doch können
wir wenigstens aus den Resten schliessen, dass die
Nase lang, kräftig und gerade war, in einen scharfen
Rücken spitz auslief und, wenn überhaupt, nur wenig
eingesattelt war.
Was sagt uns dieses nicht gewöhnliche Gesicht?
Entspricht es den Vorstellungen, die wir uns über
Kaiser Friedrich II. zu machen gewöhnt sind? —
Man urteile selbst!
Wichtig für die Frage, ob das Bild porträtähnlich
ist oder nicht, ist die Frage seiner Herkunft. Ich
bemerkte schon, dass wir, wie zu dem herrlichen
zweiten Königssiegel von 1215, nach einem Gegenstück
zu unserem Oppenheimer Siegel unter den anderen
deutschen Siegeln jener Zeit vergebens suchen. Ist
der Stempel im Auslande gefertigt? Die Form
buriensium statt burgensium könnte vielleicht auf
nichtdeutschen Ursprung deuten. Das Siegel kommt
zum erstenmal nach Mai 1 226 vor (siehe oben). Im Juni
1226 nimmt Kaiser Friedrich II. die junge Stadt Oppen¬
heim in seinen Schutz und verbrieft ihr wichtige Frei¬
heiten. Das Diplom ist aus Borgo San Donino bei
Parma datiert. Die Oppenheimer werden bald nach
der Feststellung der Bannmeile durch Erzbischof
Engelbert (August /September 1225?) eine Gesandt¬
schaft mit der Bitte um Verleihung städtischer Frei¬
heiten an den Kaiser abgeordnet haben. Ist sie mit
dem benachbarten Bischof von Worms, der im Sommer
1226 beim Kaiser weilt, über die Alpen gezogen?
Da die Alpenpässe wochenlang durch die aufständischen
Lombarden gesperrt waren, wird sie längere Zeit am
Hofe geblieben sein.
Es ist nicht anzunehmen, dass eine Stadt ohne
besondere Erlaubnis das Bild des
Kaisers im Siegel führen durfte.
Auch dies spricht dafür, dass der
Stempel in Italien, von einem italie¬
nischen Künstler, etwa einem aus
dem kaiserlichen Gefolge, geschnitten
worden ist. Vielleicht dürfen wir
noch einen Schritt weitergehen und
annehmen, der Kaiser selbst habe
dem Künstler gesessen.
In der zweiten Hälfte des Jahres,
möglicherweise schon im Juli, kam
die Abordnung mit dem Siegel
und etwa noch mit der Bestallung
des ersten Reichsschultheissen nach
Oppenheim zurück, ln der Urkunde
vom Mai 1226 führt Herbord noch nicht den Schul-
theissentitel. Eine spätere Urkunde aus demselben
Jahre stellt er als scultetus aus und siegelt sie mit
unserem Siegel. Alles dies würde dafür sprechen,
dass dieses Siegel von den Oppenheimer Gesandten
aus Italien mitgebracht worden ist.
Ich gestehe, dass wir auf Grund des uns vor¬
liegenden Materials nur diese vorläufigen Vermutungen
über Herkunft und Geschichte des Oppenheimer Siegels
aufstellen können. Das entscheidende Wort, ob der
Stempel deutsch oder italienisch, niederrheinisch oder
lombardisch ist, hat die Kunstgeschichte zu sprechen.
An dem Ergebnis unserer Untersuchung wird
aber auch das des Kunsthistorikers voraussichtlich
wenig ändern. Die Aufgabe, das authentische Porträt
Friedrich’s 11. von Hohenstaufen zu ermitteln, sehen
wir, nachdem wir mindestens vier Darstellungen des
Kaisers ermittelt haben, die als leidlich getroffen gelten
müssen, als gelöst an. Eine Vollständigkeit in der
Aufzählung und Betrachtung der Porträts, wie sie
für die Karl’s des Grossen Paul Clemen in seinen
ausgezeichneten Aufsätzen in der Zeitschrift des Aachener
Geschichtsvereins, Band 1 1 und 12, erstrebt und erreicht
hat, lag nicht in unserem Plane. An dem Durch-
schnittsbild des grossen Staiifers, das wir aus dem
Vergleiche der besprochenen Porträts abnehmen
können, werden auch neue Funde kaum noch viel
zu ändern vermögen.
Wir nehmen für unsere Zusammenstellung somit
nur das Verdienst in Anspruch, eine erste Grund¬
lage geschaffen zu haben, auf der andere weiterbauen
mögen. Schon jetzt wird man aber nicht mehr jedes
beliebige Bildwerk, das zufällig einen Lorbeerkranz
trägt, wie Friedrich 11. auf seinen Augustalen, das
einige vage Ähnlichkeiten mit minderwertigen Dar¬
stellungen des Kaisers hat und in dessen Machtbereich
gefunden wurde, zu einem Porträt des Kaisers stem¬
peln können. Regt diese Studie zu
weiteren Forschungen an, ruft sie
Ergänzungen und Berichtigungen
hervor: desto besser! Es ist echt
deutsch, dass wir Deutsche der
wissenschaftlichen Welt vorzügliche
griechische und römische Ikonogra¬
phien geschenkt haben, während das
grosse Werk, das August von Essen¬
wein schon Vorjahren gefordert hat,
noch seines Schöpfers harrt: eine
Ikonographie des deutschen Mittel¬
alters als Gegenstück zu den Monu-
menta Germaniae historica, vor allem
aber eine Ikonographie unserer deut¬
schen Könige und Kaiser.
Abb. 16. Kopf von dem Königs¬
siegel Heinrich’s (VII.) um 1220
(Vergrössert)
Nndi r. Pliilii’pi, Rcuiishanzlci, Tafel IX, 4
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 10.
33
Abb. 1. Tanzende Kiader. Dekorative Federskizze, am i8g5
JAMES MARSHALL
VOR bald vierzig Jahren wurde in dieser Zeit¬
schrift (Jahrgang 2, 1867, S. 60 ff.) ein Bild
des jungen Malers James Marshall besprochen:
Tartini, dem im Traum der Teufel die nachher so
berühmt gewordene Sonate il trillo del diavolo
vorgeigt. Das Bild, das nachstehend (Abb. 3) nach
einer dem Verfasser vom Künstler selbst geschenkten
Photographie wiedergegeben ist, war seiner Zeit
vom Grafen Schack erworben worden, der sich in
dem Buche Meine Gemäldesammlung so darüber
äussert: »Den Moment, wo der
Klosterschüler (richtiger: Kloster¬
schützling) in unruhigem Schlummer
daliegt und Lucifer ihn unter tollen
Grimassen das Bravourstück hören
lässt, führt Marshall’s Bild mit der
höchsten Lebendigkeit vor. Es ge¬
mahnt in seinem, mit barockem
Humor versetzten Charakter an Hoff-
mann’s Nachtstücke. Am 18. Juli
igo2 ist nun der Künstler aus dem
Leben geschieden. Fragen wir, sein
Werk überblickend, ob er die da¬
mals auf ihn gesetzten Hoffnungen
erfüllt hat, so vermögen wir leider
nicht mit einem freudigen Ja zu
antworten. Ein schlimmes Verhäng¬
nis hat allzufrüh seinen Siegeslauf
gehemmt. Aber auch dann bleibt er
noch eine so eigenartige künstlerische
Persönlichkeit, dass es wohl lohnt, sich
eine Weile mit ihm zu beschäftigen.
Marshall war am 5. Februar 1 838 im Haag geboren,
wo sein Vater, von Geburt Schotte, die Kinder des
Königs der Niederlande in der englischen Sprache
und Litteratur unterrichtete. Als sich 1842 die Prin¬
zessin Sophie mit dem Erbgrossherzog ATff/'/ Alexander
von Weimar vermählte, wurde ihr der bewährte
Lehrer als Sekretär mitgegeben, und so siedelte die
Familie nach Weimar über; James war damals das
jüngste von vier Geschwistern, sein Bruder William,
jetzt Professor der Zoologie in Leipzig und geschätzter
Schriftsteller, ist erst später geboren.
Der Vater war durch seine Mutter
ein Grossneffe von Robert Barns,
dem berühmten Volksdichter, den
seine Landsleute, nachdem sie seine
herrliche Begabung erkannt hatten,
nur zu bald durch Verwöhnung und
Verführung zu Grunde richteten,
um ihn dann zu verachten und zu
vergessen, bis sich die Nachwelt
auf ihn besann und ihm allerorten
Denkmäler errichtete. In beschränk¬
ten Verhältnissen aufgewachsen, hatte
sich Hofrat Marshall, lebhaften Geistes
und von einem erstaunlichen Ge¬
dächtnis unterstützt, durch eisernen
Fleiss eine umfassende Bildung er¬
worben. Neben den Werken seines
grossen Landsmanns Shakespeare, mit
denen er vertraut war wie wenige,
hatte er sich schon frühzeitig auch mit
Goethe’s hauptsächlichen Schriften
Abb. 2. Bildnis des Künstlers
Photographie, Florenz 1875
JAMES MARSHALL
257
bekannt gemacht und fand nun in Weimar, besonders
im Verkehr mit Eckermann und Schöll, treffliche Ge¬
legenheit, seine Kenntnisse zu erweitern und zu ver¬
tiefen. Selbst dichterisch veranlagt und feines Em¬
pfinden mit edelstem Geschmack verbindend, war er
ein Vorleser ersten Ranges. In den gelehrten Kreisen
Weimars genoss er so hohes Ansehen, wie es »nicht-
studierten« Leuten sonst kaum zu teil wurde. Mit
seinem Landsmann Carlyle stand er in freundschaft¬
lichem Briefwechsel. Von der Erbgrossherzogin, seit
1853 Grossherzogin Sophie mit vollstem Vertrauen
ausgezeichnet, war er deren rechte Hand in ihrem
gemeinnützigen und wohlthätigen Wirken. Und die
edle Fürstin übertrug ihr Wohlwollen auch auf die
Kinder. Auf dem häuslichen Glück aber lastete als
geheimer Druck, dass die Mutier, eine kühle Hollän¬
derin, in Deutschland nicht heimisch zu werden ver¬
stand, vielleicht es kaum ernstlich versuchte.
James zeigte schon früh Neigung und Talent für
die bildende Kunst. Der Vater hätte lieber gesehen
wenn er einen gelehrten Beruf erwählt hätte; erst
nach langen Kämpfen willigte er in seinen Wunsch,
zum Meister Friedrieh Preller in die Lehre zu kommen,
die er unter anderen mit seinem etwas älteren Freund
Otto Schwerdgeburth , einem Sohn des rühmlich be¬
kannten Kupferstechers, teilte. Zur Freude ihres
Meisters wetteiferten die beiden Jünglinge in ihrem
Streben. Edler Kunstbegeisterung voll, auch in ihrem
Können wohl vorbereitet, zogen sie einige Jahre
später nach Antwerpen zu Nicaise de Keyser, um die
neue Malweise der Belgier zu erlernen, die damals
viel von sich reden machte. Sie bildeten sich aber
dort zugleich an den alten Meistern, und als Marshall
nach der Heimat zurückkehrte, brachte er eine An¬
zahl vortrefflicher Kopien mit, unter anderen nach
Rembrandt’s grosser Anatomie im Moritzhaus im
Haag. Den Freund verlor er bald durch den Tod.
Eins seiner ersten Werke in Weimar war ein
Doppelbildnis: der junge Künstler selbst mit seinem
jüngsten Bruder; es erinnerte in Haltung und Stim¬
mung an die Söhne des Rubens und wurde — was
damals noch eine Seltenheit war — nach Amerika
verkauft. Im Jahr 1860 malte er den ein Jahr zuvor
auf Preller’s Anregung von München nach Weimar
berufenen B. Oenelli, der sich des jungen Kollegen,
eine verwandte Seele in ihm erkennend, in Preller’s
Abwesenheit freundlich annahm; dieses Bild, jetzt
in der Königlichen Nationalgalerie in Berlin, giebt
den »letzten der Centauren«, wie seine Münchner
Freunde ihn getauft hatten, charakteristisch wieder.
Der Grossherzogin leistete Marshall einen dankbar an¬
erkannten Dienst durch das wohlgelungene Bildnis der
früh verstorbenen zweiten Prinzessin. Im Jahr 1864
hatte er in ihrem Auftrag in Paris je ein Bild von
Rembrandt und von Rubens zu kopieren. Zur Silber¬
hochzeit des Fürstenpaares malte er ein grosses
Huldigungsbild, die Ahnen beider Herrscherhäuser in
feierlicher Versammlung um das hohe Paar dar¬
stellend. Aus Anlass des Jubelfestes der Universität
Jena wurde ihm die Herstellung eines Erinnerungs¬
bildes übertragen, welches den damaligen Kurator
Seebeck, den Prorektor Luden und die vier Dekane —
Guyet, Ried, Hoffmann und Schmid — nebst zwei
Pedellen in Amtstracht darstellt. Das Hoftheater zu
Weimar erhielt von seiner Hand ein Deckengemälde
über dem Proscenium: Dichter, Komponisten und
darstellende Künstler huldigen der Vimaria.
Von sonstigen Kompositionen sind noch eine
Bacchantin und ein Bacchantenzug zu erwähnen,
letzterer nach Amerika verkauft; ferner, dem Gegen¬
stände nach recht im Gegensatz hierzu, ein Bild
»zur Krönung Christi«: Pharisäer und Kriegsknechte
beim Winden der Dornenkrone. Auch gehört in
diese Zeit das ergreifende grosse Ölgemälde die
Hexe«, das später nach Breslau gekommen ist:
der Gang eines schönen blonden Mädchens, das als
Hexe verurteilt ist, zum Scheiterhaufen. Die Mutter
der Verurteilten bricht, indem der Henkersknecht sie
wegdrängt, vor Gram ohnmächtig zusammen. Im
satten Bewusstsein ihrer Gerechtigkeit schreiten aus
dem von Tauben umflatterten Stadtthor die Richter
hinter ihrem Opfer her, dessen helle Gestalt sich
leuchtend von der düstern Umgebung abhebt. Ein
eigenartiges Feld fand seine lebhafte Phantasie im
Malen von Fächern auf Seide; drei solche, die Winde,
die Elemente und die Erdteile darstellend, kamen in
den Besitz der Kaiserin von Russland, der Gross¬
herzogin von Weimar und der Königin von Sachsen.
Preller, der 1861 aus Italien zurückgekehrt war,
hatte 1863 ein stattliches Atelier im Wittumspalais,
dem Theater gegenüber, eingeräumt erhalten, wo er
seine Odysseebilder ausführte. Daneben waren noch
zwei Ateliers eingerichtet worden, von denen das
eine Marshall bezog. So stand er eine Reihe von
Jahren hindurch wieder in nächstem Verkehr mit dem
verehrten Meister, der ihm auch zu einem Bildnis
sass: die Palette in der Hand, das Gesicht nach rechts
gewendet (vom Beschauer aus gerechnet); vor ihm
steht die Büste Homers. Das Bild, das — ebenso
wie Tartini’s Traum — von W. Unger radiert worden
ist, befindet sich im Besitz von Preller’s Witwe, die
es hoch in Ehren hält. Gesellig verkehrte Marshall mehr
in einem Kreise, dem unter anderen Genelli, Liszt,
dann dessen Nachfolger Lassen und der Dichter
Julius Grosse angehörten; beim Glase Wein, in Ge¬
sprächen, die Geist und Laune sprühten, sassen sie
nicht selten bis tief in die Nacht zusammen.
Im August 1861 hatte sich Marshall mit der jüngeren
Tochter des Landkammerrats Voigt in Weimar ver¬
heiratet, die ihm zwei Töchter gebar. Mit seiner
Familie siedelte er 1870 nach Dresden über, wo
er einen grösseren Wirkungskreis zu finden hoffte.
In der That flössen ihm im Laufe der Zeit mehrere
bedeutsame Aufträge zu, von denen nachher zu reden
sein wird. Inzwischen hatte er eine freie Akademie
gegründet und bald eine grosse Zahl von Schülern
gefunden, darunter sehr vornehme Leute, selbst
Grafen und Gräfinnen. Eine seiner Schülerinnen,
die jetzt in Italien lebt, hat s. Z. in einer ausländischen
Zeitung eine sehr launige Schilderung dieser Aka¬
demie gegeben und darin einige seiner sarkastischen
Aussprüche aufbewahrt, deren Echtheit sie mir brieflich
33
JAMES MARSHALL
>58
versichert. Eine Tochter Albions kommt als eine
ier ersten: Oh, Mister Marshall, ich war heute in der
ddergalerie und sah dort die Rembrandts. Sie ge¬
hr m mir sehr, und ich möchte auch malen wie
iibrandt. Wollen Sie mich es in drei Monaten
l/iiren? Warum nicht?' erwidert der Meister;
‘-:vmbrandt hat zwar einige zwanzig Jahre gebraucht,
:un es so weit zu bringen, aber das ist kein Grund,
..arum es bei Ihnen nicht in drei Monaten gehen
sollte. Eine andere findet Ludwig Richter char-
ming , sie will so zeichnen lernen wie er und sechs
Wochen dran wenden. Hm, sagt der Meister, der
Zeitraum ist etwas knapp, aber nach meiner Methode
für Durchreisende mag es vielleicht gelingen, und da
sie ein kleines Geschcäft anfangen konnte. Übrigens
schreibt mir jene Schülerin, der ich diese Aufzeich¬
nungen verdanke: Ich erinnere mich seiner als eines
der genialsten, geistreichsten und anregendsten Men¬
schen, und was ich bei ihm gelernt, ist mir noch heute
massgebend, obgleich ich seitdem bei vielen anderen
Künstlern gearbeitet und vieles gesehen habe.«
Die grösste Aufgabe während seiner Künstlerlauf¬
bahn wurde ihm bei der Ausschmückung des in der
ersten Hälfte der siebziger Jahre neu erbauten König¬
lichen Hoftheaters in Dresden gestellt: die Decke
über dem Zuschauerraum und einen Fries über dem
Proscenium zu malen. Für jene halte Meister Gott¬
fried Semper selbst Skizzen geliefert, an die er sich
Abb. 3. Tartini's Traum. Ölbild, Galerie Schack
Sie nur zeichnen lernen wollen ... Ein andermal
beschwert sich eine Dame, dass er ihrer Tochter er¬
laube, so viele teure Rahmen zu bestellen. »Was
erlauben? ruft er erzürnt, »ich habe oft genug ge¬
sagt, dass alles, was hier gemalt wird, gut ist, ins
Feuer geworfen zu werden!« Es wurden auch Akt¬
studien gemacht. Ein Modell, eine arme Witwe, die
zu diesem Erwerb gegriffen hatte, um ihre Kinder
nicht hungern zu lassen, war den jungen Damen
nicht schön genug, und eine von ihnen liess gegen
den Meister eine Bemerkung darüber fallen. Was?
war seine Antwort, wollen Sie vielleicht für fünf
Groschen die Stunde eine Venus von Milo haben?«
Das Ende war, dass die Damen für die arme Frau
eine Lotterie veranstalteten, die soviel einbrachte, dass
zu halten hatte: in vier grossen ovalen Feldern auf
Goldgrund die Musen Griechenlands, Englands,
Deutschlands und Frankreichs, daran sich anreihend
vier Medaillons mit den Doppelbildnissen von Sopho¬
kles und Euripides, Shakespeare und Calderon,
Schiller und Goethe, Moliere und Gokloni; ferner
vier kleinere Felder mit Kindergruppen, den Tanz,
die Musik, die Dekorationsmalerei und die Mimik
darstellend. Den Fries über dem Proscenium, für
den ihm freiere Bewegung gelassen war, schmückte
er mit den dramatischen Lieblingen des Publikums.
In der Mitte die thronende poetische Gerechtigkeit,
zu ihren Füssen Furie und Komos; rechts her nahen,
von Melpomene geführt, die Helden und Heldinnen
des Schauspiels, von der Linken, durch Euterpe ge-
JAMES MARSHALL
259
Abb. 4. Kinderbildnis. Ölgemälde, Privatbesitz
leitet, die der Oper. Die Bühnenbreite beträgt drei¬
zehn Meter.
Dann wurde ihm die Ausführung der Gemälde
in der neuen russischen Kirche, nach byzantinischen
Vorbildern auf Goldgrund, übertragen, und zwar an
der Wand vor dem Allerheiligsten, in das nur der
Priester Zutritt hat. Leider hat diese Wand sehr
mangelhaftes Licht. Die Mitte der vergoldeten Thür
schmückt die Verkündigung, eingefasst von den vier
Evangelisten. Über der Thür ist das Abendmahl dar¬
gestellt. Auf der linken Seite der Wand, fast lebens¬
gross, Alexander Newsky, der Erzengel Michael, die
Madonna mit dem Kinde; rechts der Heiland mit
der Weltkugel, der Erzengel Gabriel und Simeon.
Darüber noch eine Reihe von Brustbildern, wohl von
Heiligen.
Es waren Jahre voll aufreibender Arbeit — um
so aufreibender, als Marshall Erholung und Stärkung
weniger in behaglicher Ruhe und in freier Luft als
in anregender Geselligkeit suchte. Im Winter 1874/75
unternahm er eine halbjährige Reise nach Italien. Da
ihn jedoch auch dahin eine Anzahl von Schülern
und Schülerinnen begleitete, wurde der Zweck der
Ausspannung nur halb erreicht, ln Elorenz, wo
er am längsten weilte und wo auch die in Abb. 2
ersichtliche Photographie aufgenommen ist, malte er
unter anderem das Bildnis einer jungen Engländerin
in kostbarer altvenetianischer Tracht mit der Laute in
der Hand, das durch die Photographie weite Ver¬
breitung gefunden hat. Was er an Bauten, an Ge¬
mälden und sonstigen Kunstwerken in Elorenz und
Venedig gesehen halte, das haftete unauslöschlich in
seinem Gedächtnis.
Dass er ein Kinderfreund war, verraten seine
Kinderbildnisse. Die unlängst in Leipzig veranstaltete
Ausstellung einer grösseren Anzahl seiner Werke
zeigt deren drei aus der Dresdner Zeit, darunter ein
Doppelbildnis. Abb. 4 giebt das 1871 gemalte Bild
einer Nichte wieder. Das frische Gesichtchen mit
dunkelblondem Haar, ein wenig schüchtern drein¬
blickend, und das erbsfarbene Kleid mit weissem
Einsatz und Bernsteinkettchen heben sich wirksam
von dem altblauen Plüsch der Stuhllehne ab; das röt¬
liche Bändchen im Haar und die bunten Blumen
in der Hand vollenden die harmonische, heitere
Stimmung. Ein Gegenstück dazu bildet ein blau¬
äugiges Blondköpfchen in blauem Sammetkleid, 1878
gemalt, wie es mit dem Bleistift die ersten Zeichen¬
versuche gemacht hat und fragend aufschaut. Ein Jahr
früher war das Doppelbildnis der beiden Töchter
des Künstlers entstanden, das die Photographische
Gesellschaft in Berlin unter der Bezeichnung »die
Schwestern« in Verlag genommen hat; aneinander¬
geschmiegt einher wandelnd, blicken die holden
Mädchenknospen in vornehmer Ruhe auf den Be¬
schauer, die ältere den Duft einer roten Nelke ein¬
saugend, die jüngere mit dem Seidenpinscherchen
auf dem Arme. Auch hier sind dunkles Rotbraun,
Grau und Weiss mit einem blauen und einigen hell¬
roten Earbenflecken fein zusammengestimmt. Es zählt
sicher zu den besten Bildnissen, die zn jener Zeit in
Deutschland gemalt worden sind.
Nach der baulichen Erneuerung der Albrechts-
Abb. 5. Geistlicher Konvent von 1548
Wandgemälde, A Ibrcchtsbnrg
200
JAMES MARSHALL
bürg in Meissen wurde unser Künstler wieder mit
zur malerischen Ausschmückung herangezogen. Der
geistliche Konvent von 1548 unter Kurfürst Moritz
und dessen Tod nach der Schlacht von Sievershausen
waren die Ereignisse, die er auf recht ungünstig ge¬
stalteten Wandflcächen unter den gotischen Gewölben
darzustellen hatte. Mit ausserordentlichem Geschick
hat er, wie die .^bb. 5 uns zeigt, die Aufgabe gelöst.
Wir glauben in einen weiten, ähnlich gewölbten
Ncbenre.,!! -1 blicken, der von einem nur zum
kle^' Uten Tb’- sichtbaren grossen bunten Fenster her
-ei l Li. !it .'rhält; dieses spielt auf den kahlen Häuptern
eii'iger '!er gelehrlen Herren, auf der grünen Tisch-
ild ke, auf dem rotbraunen Teppich und wirft seinen
WiderscliL'in auf die helle Wand hinter dem Kur¬
fürsten, während der nach der Ecke des hohen Ge¬
wölbes zu stehende Herold in hellroter Kleidung nur
einen matteren Schimmer erhält. Als Mittelpunkt
aber fesselt den Blick der jüngste
der Gelehrten, der in ehrerbietiger,
aber fester Haltung dem Kurfürsten
auf eine Zwischenbemerkung ant¬
wortet. Das andere Bild zeigt we¬
niger ausgesprochen die Eigenart
des Künstlers.
Im Herbst 1878 erhielt Marshall,
noch mit der eben besprochenen
Arbeit beschäftigt, einen Ruf an die
Kunstschule zu Breslau, mit dem
Professortitel. Er nahm ihn an
und siedelte 187g dahin über. Auch
hier ward ihm wieder eine grosse
monumentale Aufgabe zu teil: der
Entwurf eines Fensters für die Hed¬
wigs-Kirche in Berlin, das Leben
Johannis des Täufers darstellend,
mit dessen überlebensgrosser Gestalt
als Mittelstück. Die Lehrthätigkeit
machte ihm anfangs nicht minder
Freude; nebenbei sei erwähnt, dass zu
seinen Schülern auch Gerhart Haupt¬
mann gehörte, der erst Maler werden wollte. Bald
aber nahm sein Leben eine überaus traurige Wendung,
die an seinen schottischen Verwandten Burns erinnert:
was ursprünglich geniale Neigung, dann herrische
Gewohnheit war, hatte sich allmählich zu jener ver¬
heerenden Krankheit entwickelt, deren dämonische
Gewalt darin besteht, dass sie ihre Opfer Trost oder
Vergessen gerade in dem suchen lässt, was ihr Ver¬
derb ist. Leider ist das eigentliche Wesen dieser
Krankheit und der Weg zur Heilung erst neuerdings
entdeckt worden. Und damit ist die Erkenntnis auf¬
gedämmert, dass gegenüber ihren Opfern, die sie
sich nur allzu gern gerade unter den Begabtesten
sucht, pharisäischer Hochmut so wenig am Platz ist,
wie leichtfertiges oder feiges Gehenlassen. Bei Marshall
hatte sich schliesslich auch noch der Spielteufel mit
ihr verbündet. So ging es rasch abwärts. Seine
Stellung an der Kunstschule wurde unhaltbar. Der
Gerichtsvollzieher kam oft und öfter ins Haus, und
die Frau sah schliesslich keinen anderen Ausweg, als
dass sie mit den Töchtern nach Weimar zu ihrem
Vater zurückkehrte, nach dessen Tod sie nach Wies¬
baden zog. Den unglücklichen Künstler aber finden
wir 1883 Spital zum Heiligen Geist _
Die Witwe seines Bruders John, niederländischen
Konsuls in Weimar, Letizia, geborene Genelli, war
es, deren sonnige Natur den Entschluss reifte, den
Verirrten zu suchen und zurückzuführen. Sie hatte
sich der Erziehung junger Mädchen gewidmet, denen
nun Marshall Unterricht im Zeichnen und Malen er-
erteilte. Auch die alten Freunde, soweit sie noch
lebten, nahmen sich seiner auf ihre Weise an. Aus
dieser Zeit rühren unter anderen ein Ölbildnis Lassen’s
und einige grosse Kohle- und Kreidezeichnungen
her: Phantasien im Bremer Ratskeller (nach Hauff),
Simplicissimus bei dem sterbenden Einsiedler; die
Hufeisen-Legende (nach Goethe). Leider wurde seine
Beschützerin von einer unheilbaren inneren Krank¬
heit ergriffen, die nach einer Opera¬
tion im Sophienhaus und schmerz¬
haften Leiden im Frühjahr 188g
den Tod herbeiführte.
Seit dieser Zeit führte dann der
einst so hoch angesehene Künstler
hier in Leipzig ein stilles, beschei¬
denes Dasein. Von alten und neuen
Freunden unterstützt und, soweit
sich’s thun Hess, mit Aufträgen ver¬
sehen, arbeitete er fleissig und mit
liebevoller Sorgfalt, erteilte auch
Unterricht und wusste seine Schüler
und Schülerinnen zu begeistern und
zu fördern. Er hatte das Glück,
wiederholt Wirtsleute zu finden, die
sich seiner verständig und freundlich
annahmen, und seine Liebe zu Kin¬
dern, zu Hunden und zu Vögeln
ward ihm oft eine Quelle der Freude.
Aus dem Hause kam er nur selten,
nachdem wiederholte Anfälle von
Schwindel ihm das Selbstvertrauen
geraubt hatten; auch fiel ihm das Treppensteigen be¬
schwerlich. Um so dankbarer war er für jeden
Besuch, und seine Unterhaltung war immer gehalt¬
reich und anregend. Zuweilen empfing er auch noch
Briefe von alten Freunden ; so von Julius Grosse,
dessen Tod im Jahre igoi ihn sehr schmerzlich be¬
rührte, obwohl er Erlösung von schwerem Leiden
bedeutete. Lebend als Gespenst zu existieren«, so
hatte Grosse ihm zuletzt geschrieben, »ist kein be¬
sonderer Genuss.«
Eine von Marshall’s ersten grossen Arbeiten in
Leipzig war die Kopie des Abendmahls von Leonardo
für den Altar der Luther- Kirche, die bei deren Er¬
hebung zur Pfarrkirche von einigen Freunden ge¬
stiftet wurde; er hatte den Morghen’schen Stich und
die Kopie aus der Lindenau-Stiftung in Altenburg zu
Grunde gelegt. Einige Jahre später erhielt er durch
den Kirchenvorstand derselben Kirche den Auftrag,
die beiden Nischen links und rechts vom Altar,
hinter welchem in drei bunten Fenstern die Geburt
Abb. 6. Bildnis des Künstlers
Photographie, um 1888
JAMES MARSHALL
261
Jesu, die Auferstehung und die Ausgiessung des
heiligen Geistes dargestellt sind, mit der Taufe und
dem Kreuzestode zu schmücken. Die Bilder sind
auf Leinwand in Wachsfarben ausgeführt; die Kosten
wurden durch ein grösseres Geschenk und durch
Sammlung freiwilliger Gaben aufgebracht. Weiterhin
malte er in gleicher Weise für zwei Nischen neben
dem Altarraume auf den Emporen, gleichfalls in Ge¬
stalt hoher Spitzbogenfenster, die Bergpredigt und
»Lasset die Kindlein zu mir kommen«. Seine letzte
Arbeit aber galt der Ausmalung der vier kleineren
Nischen im Schiff mit den Gestalten Luther’s, Me-
lanchthon’s, Friedrich’s
des Weisen und Gustav
Adolfs; vor Vollendung
des vorletzten Bildes er¬
eilte ihn der Tod.
Dazwischen hat er eine
grosse Zahl von Öl- und
Pastellbildern, Kohle- und
Kreide-, auch Bleistift-
und Federzeichnungen ge¬
fertigt. Sie zeigen eine
reiche Mannigfaltigkeit:
Bildnisse lebender Per¬
sonen, Darstellungen nach
dramatischen Werken und
anderen Dichtungen, Land¬
schaften, dekorative Ent¬
würfe. Eine echte Künst¬
lernatur, stand Marshall
noch immer in regstem
Verkehr mit der »ewig
beweglichen, immer neuen
seltsamen Tochter Jovis,
seinem Schosskinde, der
Phantasie.« Treu geblieben
war ihm auch die Fähig¬
keit, selbst verwickelte
Vorwürfe rasch und sicher
zum Bilde zu gestalten.
Ebenso hatte er sich bis
zuletzt ein grosses tech¬
nisches Können bewahrt,
besonders im Zeichnen
mit schwarzer und bunter
Kreide, auch, wie die Skizze
Abb. 1 zeigt, mit der Feder.
In der Ausführung fehlte jedoch — nicht immer, aber
nur zu oft — die Geschlossenheit, der packende Ein¬
druck, der durch kräftige Betonung des Hauptsäch¬
lichen, durch geschickte Verteilung von Licht und
Schatten, vor allem durch das aus den Gestalten
sprechende innere Leben hervorgerufen wird und der
seinen früheren Arbeiten in so hohem Mass eigen
war.
Die Geistesverwandtschaft mit Amadeus Hoffmann,
die Graf Schack alsbald erkannt hatte, tritt auch in
Marshall’s späteren Bildern hervor. Schon die Wahl
der Vorwürfe ist dafür bezeichnend. Neben der Hexe
und dem Bremer Ratskeller seien hier noch genannt:
Der Teufel und seine Grossmutter, ein Bild voll
launiger Satire; Nächtlicher Geisterritt über Hünen¬
gräber, mit stimmungsvoller Landschaft; Ahasver, der
ewige Jude, wie er den auf dem Gang nach Golgatha
ermatteten Heiland von seiner Thür weist, nach Goethe;
Petrus und die Landsknechte an der Himmelspforte,
nach Hans Sachs. Als die Schriftenvertriebsstelle in
Weimar eine illustrierte Ausgabe von Hoffmann’s
Meister Martin mit seinen Gesellen veranstaltete, leistete
Marshall der Aufforderung zur Mitarbeit freudig
Folge. Vielfach waren auch jetzt noch seine Gedanken
dem Theater zugewandt, obgleich dessen Besuch ihm
schon lange versagt war.
Hamlet, den Totenkopf
in der Hand, auf dem
Kirchhofe, der eingebildete
Kranke, der Tod der
Emilia Galotti, Don Juan’s
Ende bildeten Glieder
einer Kette, die er zu
gelegener Zeit weiter zu
führen im Sinn hatte. Als
Entwurf für einen Theater¬
vorhang zeichnete er den
Traum des Hans Sachs,
der über der Arbeit ein¬
geschlummert ist und dem
die Poesie, gefolgt von
einer Engelschar, den
Lorbeer reicht, umrahmt
von allegorischen Gestal¬
ten und Sinnbildern. Hans
Sachs gehörte überhaupt
zu seinen Lieblingen.
Für den Saal des Ver¬
eins für Volkswohl hat er
sein Bildnis als Schmuck¬
stück gemalt (Abb. 7)
und ihm später den Jo¬
hannes Gutenberg in ähn¬
licher Ausführung beige¬
sellt.
Vorhin wurde auf die
Bedeutung des Landschaft¬
lichen bei dem nächtlichen
Geisterritt hingewiesen.
Dasselbe gilt von dem Tod
des Evangelisten Johannes,
einem Gemälde, das an Salvator Rosa, auch einen
Geistesverwandten, erinnert; ebenso von der Zeich¬
nung »Amor als Landschaftsmaler« (nach Goethe) und
von den Skizzen zu einem Herkules am Scheidewege
und zu einem Paris-Urteil (Abb. 8). Von seinen
sonstigen Landschaften möchte ich dem Blick auf
Capri« (in auswärtigem Privatbesitz) den Vorzug
geben, der, gleich der Mehrzahl der anderen rein
aus dem Gedächtnis gemalt, den Charakter des be¬
gnadeten Eilandes mit seinem leuchtenden Himmel
trefflich wiedergiebt.
Besondere Vorliebe und Befähigung hatte Marshall
für dekorative Aufgaben. Mehrere seiner grossen
Abb. 7. Hans Sachs
Eigentum des Vereins für Volkswohl
202
JAMES MARSHALL
Kohle- und Kreidezeichnungen sind mit sinnigen
bunten Umrahmungen eingefasst. Überaus geschickt
ist die Raumeinteilung und die Anordnung der mannig-
fs’ligen Motive z. B. in der als Entwurf zu einem
vT'jSsen Wandbilde gedachten Zeichnung: der Welt-
hcmdeb , das der Handelskammer Leipzig gehört.
Auch auf die Ausstattung des Hans Sachs-Bildnisses
ist hier nochmals hinzuweisen; ebenso auf die früher
erwähnten gemalten Lächer. Kleinerer Arbeiten auf
diesem Gebiete, die er in Mussestunden schuf, giebt
es noch viele.
Können wir auf das wechselvolle Leben des
hochbegabten Künstlers nicht ohne Wehmut zurück¬
blicken, so dürfen wir uns doch sagen, dass manche
seiner Werke auch noch die späteren Nachkommen
erfreuen oder, wie die Gemälde in unserer Luther-
Kirche, zu ihrer Erbauung beitragen werden. Wer
ihm persönlich näher gestanden hat, dem wird er im
Herzen fortleben als ein liebenswürdiger, hochgesinnter
Mensch, als ein Künstler, dem seine Kunst bis zur
letzten Stunde Lebenselement und allezeit heilig war.
Leipzig, im März 1903. /. GENSEL.
Abb. 8. Paris-U/ieil. Dekorativer Entwurf, Privatbesitz
ZU DEN RADIERUNGEN
Die beiden jungen Künstler, welche diesem Hefte
Radierungen beigesteuert haben, kommen aus der
Schule Peter Halm’s. Während Hans Volkert, ein
Hamburger von Geburt, noch am Anfänge seiner
freien Laufbahn steht, hat sich Georg Mayr schon
einen Namen gemacht; die sehr delikate Art seiner
Nadelführung verdient weiteren Kreisen bekannt zu
werden.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H , Leipzig
ORIOINALRADIERUNO VON HANS VOLKERT (MÜNCHEN)
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1903
DRUCK VON aiKSKCKIO & DISVRIKNT IN LEIPZIG
) .
•I
l
L:!
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1903
HEINRICH REIFFERSCHEID, BISCHOF WEBER
DRUCK VON aiESECKE & DEVRIENT IN LEIPZIG
PORTRÄT DES ZEHNJÄHRIGEN EEDERICO GONZAGA VON FRANCESCO RAIBOLINl GENANNT FRANCIA
DREI VERSCHOLLENE, KÜRZLICH WIEDEROEFUNDENE
MEISTERWERKE
Die alljährlichen Altmeisterausslellungen in Lon¬
don haben schon wiederholt Kunstschätze
ans Tageslicht gebracht, die Jahrhunderte
hindurch auf entlegenen Landschlössern Englands
verborgen geblieben waren. So wurde unlängst auf
der letzten »Burlington Fine Art Exhibition« von
Mr. Herbert Cook ein Knabenporträt als dasjenige
identifiziert, welches Francia, wie aus den Dokumenten
des Gonzaga- Archivs^) hervorgeht, im Jahre 1510
für Isabelia d’Este gemalt hat, als ihr Sohn Federico
Gonzaga auf seinem Wege nach Rom durch Bologna
reiste. Der Marchese Gian Francesco von Mantua,
Isabella’s Gatte, war nämlich, wie bekannt, nach der
Schlacht von Legnano in die Gefangenschaft der
Venetianer geraten, aus der ihn Julius II. unter der
Bedingung befreit hatte, dass sein ältester Sohn als
Geisel nach dem Vatikan gebracht würde. Isabelia,
die sich nur mit schwerem Herzen von diesem ihrem
Lieblingssohn trennen konnte, wollte nun vorher
1) Professor A. Luzio, Emporium igoo.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. ii.
dessen Bild malen lassen. Diese interessante Frauen¬
erscheinung der Renaissance, deren Leben uns in
einer eben erschienenen Monographie^) überaus fesselnd
erzählt wird, stand mit den grossen Geistern ihrer
Zeit in lebhaftem Verkehr. Auch als Förderin der
Künste war sie in beständigem Briefwechsel mit
Malern wie Gian-Bellini, Mantegna, Leonardo, Peru-
gino und Lorenzo Costa. Letzterer bekleidete bei ihr
die Würde eines Hofmalers, schien jedoch zur Zeit
nicht im stände gewesen zu sein, das von Isabelia
gewünschte Porträt ihres Sohnes für den festgesetzten
Termin fertig zu stellen. Die Fürstin wandte sich
deshalb an Francia, damals auf der Höhe seines
Ruhmes. Lucrezia Bentivoglio, eine Anverwandte
der Gonzagas, die den Bologneser Meister besonders
patronisierte, veranlasste Isabelia um jene Zeit, auch
ihr eigenes Bild von Francia malen zu lassen und es
wurde zu diesem Zwecke sogar ein Porträt der Fürstin
von Mantua nach Bologna geschickt, weil sie eine
1) Isabelia d’Este by Julia Cartwriglit. Murray.
34
DREI VERSCHOLLENE, KÜRZLICH WIEDERGEFUNDENE MEISTERWERKE
264
grosse Abneigung zu haben schien, selbst Modell zu
:tzi- L'teressant ist aber die Thatsache, dass dieses
i '-M .on Francia gemalte Porträt Isabella’s, das
lach -v/cr eigenen Aussage besonders liebte,
•eil sie darauf schöner erschien als sie je gewesen ,
1536 vor. Tizian benutzt wurde, um die gealterte
Fürstin die '.er berühmte Venetianer Maler schon
um ; als Fünfzigerin gemalt hatte, auf ihren be-
siu. deren v. ach hin nun nochmals verjüngt dar-
zua-i:;a..i. 'ieses von Francia inspirierte, von Tizian
;e -ad .päterhin von Rubens^) kopierte Porträt
der i dr die Kubella
\ o t Ma.diia ist jetzt
In der Kaiserlichen
Gemäldegalerie zu
Wien ; dasselbe, wel¬
ches, wie Professor
Luzio in einer inter¬
essanten Abhand¬
lung-) hervorhebt,
eine nicht zu ver¬
leugnende Ähnlich¬
keit mit einer be¬
kannten leonardes-
ken Zeichnung in
den Uffizien hat, so
dass man wirklich
in jenem von einem
feinen Lächeln ver¬
klärten Frauenkopf
ein Echo aus Isa¬
bella’s Jugendzeit,
von Leonardo fest¬
gehalten, vermuten
möchte.
Das Bild des
jungen Gonzaga, auf
das wir nunmehr
wieder zurückkom¬
men, war eine Lei¬
stung Francia’s, die
Isabel la überaus be¬
friedigte. Es er-
giebt sich dies aus
folgendem Briefe:
Es ist unmöglich«,
schreibt sie an ihren
bewährten Freund,
den Dichter Giro-
lamo Casio, »ein besseres oder ähnlicheres Bild von
Federico zu sehen, und ich bin wirklich erstaunt,
dass der Künstler ein so vollkommenes Werk in so
kurzer Zeit fertig bringen konnte«. Sie sandte Francia
zur Belohnung 30 Dukaten, eine Summe, die dem
bescheidenen Künstler zu hoch erschien. Zugleich
sprach aber die Fürstin den Wunsch aus, er
möge das Haar, das ihr auf dem Porträt zu
1) Diese Kopie von Rubens ist nur in einem Stich
nach Vostermann auf uns gekommen.
2) Emporium: i Ritratti d’lsabella d’Este.
hellblond erschien, etwas nachdunkeln. Zu diesem
Zweck wurde nun das Bild des jungen Gonzaga
nach Bologna zurück geschickt, wo es Gian Fran¬
cesco, Herzog von Mantua, der sich eben daselbst
mit Papst Julius aufhielt, zu sehen bekam. Der
hocherfreute Vater zeigte das Porträt Seiner Heilig¬
keit und es soll unter den Kardinälen so viel Be¬
wunderung erregt haben, dass es sogar ohne die
Erlaubnis Isabella’s nach Rom entführt wurde.
Entrüstet darüber liess die Fürstin jedoch das Bild
sofort wieder nach Mantua zurücksenden.
Um so merk¬
würdiger ist nun
die Thatsache, dass
Isabella sich von
diesem ihr so lieb
gewordenen Porträt
ihres abwesenden
Sohnes schon nach
einem Jahre freiwil¬
lig trennte; aller¬
dings um sofort,
wie aus einem ihrer
Briefe an den Er¬
zieher ihres Sohnes
in Rom hervorgeht,
ein anderes Bild
von ihm von Raffael
da Urbino malen zu
lassen . Das von
Francia aber ver¬
schenkte sie an einen
Herrn von Ferrara,
Gian Francesco
Zaninello. Ihm hatte
sie schon vorher ihr
eigenes, das oben
erwähnte von dem¬
selben Meister ge¬
malte Bild verehrt,
so dass nun der
glückliche Besitzer
dieser beiden Ge¬
mälde, die in Ferrara,
der Heimat Isa¬
bella’s, grosses Auf¬
sehen erregten, sagen
konnte, als er das
Porträt des jungen
Gonzaga zu dem der Fürstin als Pendant bekam:
»Er besitze Venus und Amor«. Zaninello, den
die Fürstin in dieser Weise auszeichnete, war ein
feinsinniger Sammler von Kunstschätzen und hatte
Isabella unter anderem einen herrlich gebundenen
Kodex von den Dichtungen Antonio Pistoja’s
mit einer Widmung verehrt. Die hochherzige
Frau fühlte sich deshalb zu grossem Dank ver¬
pflichtet und glaubte sogar, sich von dem Porträt
ihres Sohnes trennen zu müssen, um Zaninello, der
wohl seinerseits durch Prosperi, ihren Korrespondenten
aus Ferrara, unterfliessen liess, was ihn als Gegen-
VENUS UND MARS VON PAOLO VERONESE
DREI VERSCHOLLENE, KÜRZLICH WIEDERGEFUNDENE MEISTERWERKE
265
gäbe am höchsten erfreuen würde, genügend zu be¬
lohnen.
Somit ist nunmehr klar gelegt, warum Francia’s
anmutiges Knabenporträt nicht mit der Gonzaga-
Sammlung 1629 nach England gekommen ist. Hatte
doch dasselbe um jene Zeit Mantua schon längst
verlassen. Der Vater des jetzigen Besitzers Mr. A.
W. Leatham soll das Bild im letzten Jahrhundert in
Paris von der Napoleon-Sammlung erworben haben.
Stilkritisch betrachtet, ist dieses Porträt des zehn¬
jährigen Prinzen von
Gonzaga zwar ein
flüchtiges, doch des¬
halb nicht minder
anziehendes Werk
des Bologneser Mei¬
sters. Der träume¬
rische nach innen
gekehrte Blick des
Gonzagaknaben, die
weichen vollen Lip¬
pen, der etwas me¬
lancholisch ange¬
hauchte Gesichts¬
ausdruck, die be¬
sondere Sorgfalt, die
auf den Degengriff,
die Halskette mit der
Perle und die gol¬
dene Medaille (an¬
geblich eine Arbeit
Caradosso’s) im
Samtbarett verwandt
ist und den früheren
Goldschmidt ver¬
raten , sprechen
durchaus für Fran-
cia. Porträts von
Francesco Raibolini
sind höchst selten
und es kann des¬
halb vergleichsweise
hier nur das be¬
glaubigte Brustbild
von Evangelista
Scappi in den Uffi¬
zien, in Betracht ge¬
zogen werden, mit
dem obiges Werk
unleugbare Analo¬
gien in der Landschaft und der Zeichnung der
Hände hat.
Ausser dem Bilde, das, wie nunmehr dokumen¬
tarisch erwiesen ist, Raffael 1513 ') von dem jungen
Gonzaga in Rom gemalt haben soll und das nach
Crowe und Cavalcaselle mit einem Porträt in der
Alphonse Rothschild -Sammlung identifiziert werden
könnte, hat der Urbinate nach Vasari denselben auch
in der Schule von Athen dargestellt. Soll doch der
schönste der vier Jünglinge, die sich in der Stanza
della Segnatura um Bramante versammelt haben, der
in der Nähe von Averroes stehende und sich vor¬
beugende, Federico von Gonzaga sein. Da es sich
nun aber aus obigem ergiebt, dass, als dieses Fresko
von Raffael im Jahre 1511 vollendet wurde, der junge
Gonzaga noch kaum elfjährig war, so müsste an¬
genommen werden, dass es nicht in Raffael’s Sinn
liegen konnte, in der Schule von Athen Porträtfiguren
der Nachwelt zu überliefern, sondern vielmehr be¬
kannte Persönlich¬
keiten idealisiert und
den Raumverhält¬
nissen angemessen
an uns vorüber¬
ziehen zu lassen.
Nach einem Doku¬
ment vom 1 6. August
1511 soll der junge
Gonzaga, der wäh¬
rend seines ge¬
zwungenen Aufent¬
halts im Vatikan ein
grosser Liebling da¬
selbst geworden war,
nochmals in der
Stanza d’Eliodoro
dargestellt worden
sein. Aber auch
in diesem Fresko
scheint es schwierig
zu sein, einen der
Dargestellten mit
dem Sohne Isabella’s
zu identifizieren,
dessen der Mutter
ähnliche Züge in
dem nun glück¬
lich wiedergefunde¬
nen Porträt von
Francia der Nach¬
welt überliefert wor¬
den sind.
Es ist ein merk¬
würdiger Zufall, dass
kurz vor der Identi¬
fizierung dieses Bil¬
des, das für fast vier
Jahrhunderte ver¬
schwunden war,
auch das oben erwähnte Porträt Tizian’s von der
gealterten Isabella d’Este, das uns bis jetzt nur nach
einer Kopie von Rubens (in der Kaiserlichen Gemälde¬
galerie in Wien) bekannt war, wiedergefunden sein
soll. — Aus einer englischen Privatsammlung ist
dieses Porträt unlängst zum grossen Bedauern der
englischen Connoisseurs, die nur ungern Kunstschätze
aus England entführt sehen, in die Kollektion von
M. Leopold Goldsclimidt in Paris übergegangen.
Ein drittes Bild, das ebenfalls in diesem Jahre und
zwar in der letzten »Old Master Exhibition« der
34*
MERKUR UND HERSE VON PAOLO VERONESE
i) Archivio Gonzaga.
266
DREI VERSCHOLLENE, KÜRZLICH WIEDERGEFUNDENE MEISTERWERKE
Royal Academy der Kunstgeschichte wiedergegeben
wurde, ist der in London vielbesprochene Paolo Vero¬
nese im Besitz Lord Wimborne’s; ein frühes, gut erhal-
:ene= Werk des Meisters, das Stilanalogien mit dem
Raub der Europa« im Dogenpalast verrät und am
Sockel einer Säule die volle Signatur »Paolos Vero-
nensis f.< zeigt.
Die auf diesem Bilde Dargestellten sind als Venus
und Mars bezeichnet worden. Es scheint jedoch
wahrscheinlicher, dass die Liebesgöttin wohl eher die
Personifikation einer reizvollen Frau sein soll, die
ihren Geliebten in Banden hält, wie durch den
Amor links angedeutet ist; auch ist der vermeint¬
liche Kriegsgott viel eher eine Porträtfigur der
bei seiner Geliebten Ruhm und Ehre vergisst.
Vernachlässigt lässt er sein allerdings etwas zahm dar¬
gestelltes Schlachtross beiseite stehen , von einem
zweiten Amor, der sich seines Schwertes bemächtigt
hat, zurückgehalten.
Nach Crozat^) gehörte einst dieses Bild zu einer
Serie von neun allegorischen Darstellungen, die früher
im Besitz der Königin Christine von Schweden waren,
späterhin in die Orleans-Kollektion übergingen und
dann zerstreut worden sind. Drei aus dieser Serie von
neun, darunter eine ähnliche Komposition wie die
obige Venus im Begriff Mars zu entwaffnen« oder
wohl eher ein zu seiner Geliebten heimkehrender
Krieger, sind gegenwärtig nicht mehr nachweisbar.
Ein viertes Bild dieser Serie aber ist der bekannte
Paolo Veronese im Fitz-William-Musemn, Cambridge,
Merkur darstellend, wie er die eifersüchtige Aglauros,
die ihm den Eintritt zu ihrer Schwester Herse ver¬
wehren möchte, in Stein verwandelt, ein aus Ovid’s
Metamorphosen entnommenes Sujet"). Herse, eine
1) Receuil d’Estampes d’apres les plus beaiix tableaux
du Roi etc. . . .
2) Metain. 11, 707—832.
der drei Tauschwestern, ist hier in einem luxuriös
ausgestatteten Gemach dargestellt, wie sie plötzlich in
ihrem Saitenspiel unterbrochen, ihren Blick erschreckt
auf die unglückliche Gefährtin heftet. Ein faltenreiches
blaues Gewand fällt ihr über die linke Schulter,
während die entblösste Brust nur teilweise von einem
lichten Oberhemd bedeckt ist. Auf diesem ebenfalls
mit der vollen Signatur des Meisters bezeichneten
Bilde finden wir denselben Silberton vorherrschend
wie auf Mars und Venus«, dieselbe Haartour, der
identische Perlenschmuck. Doch ist die Liebesgöttin
im Gegensatz zur Herse fast ohne jedwede Bekleidung
dargestellt; ihr weisses Oberhemd hängt über dem
plätschernden Brunnen und der tiefblaue Mantel, der
sich vorteilhaft gegen die lichten Fleischtöne abhebt,
gleitet ihr lose von den Hüften herab. Die unver¬
kennbare Analogie dieser beiden Schöpfungen Paolo
Veronese’s, die auch im Mass fast genau überein¬
stimmen (ungefähr acht Fuss bei sechs Fuss) deutet
darauf hin, wie schon oben erwähnt, dass sie höchst
wahrscheinlich für ein und dieselbe Serie gemalt worden
sind. Dies kann jedoch kaum, wie Crozat behauptet,
der Fall sein mit jenen vier allegorischen Gruppen
Paolo Veronese’s in der National-Gallery (Nr. 1318,
1324, 1325, 1326), die ebenfalls aus der Orleans-
Sammlung stammen. Ihrer perspektivischen Eigen¬
schaften wegen waren sie ursprünglich wohl für
Deckengemälde bestimmt und hingen deshalb auch
im Palais Royal über den vier grossen Türen des
Grand Salon. Es gehören dieselben zweifellos einer
späteren Periode des Meisters als das Bild Lord Wim¬
borne’s an, das alle Eigenschaften seiner früheren
Malweise zeigt. Zum Schluss muss noch bemerkt
werden, dass dieses Gemälde ganz kürzlich bei Christies
den Preis von 6000 Guineen erreicht hat und nun¬
mehr in den Besitz von W. Wertheimer übergegangen
ist. LOUISE M. RICHTER.
TH. V. GOSEN
BROSCHE
THEODOR VON GOSEN
WENN das Schopenhauer’sche Wort, dass man vom dreissigsten Jahre
an nichts Neues mehr erlebt, bei Künstlern noch viel mehr als bei
anderen Sterblichen individuell bedingt ist, so bleibt doch soviel
sicher, dass dieses Alter ungefähr bei jeder originellen Künstlernatur einen
entscheidenden Abschnitt, die Festlegung der künstlerischen Persönlichkeit be¬
zeichnet. Damit ist das Leitmotiv für alles spätere Schaffen gegeben. Die
nächsten Jahre und Jahrzehnte mögen die grossen Aufgaben, die volle
Reife der Meisterschaft und der Erfahrung, Kampf und Erfolg bringen,
alles das vermag den künstlerischen Charakter nur schärfer auszuprägen,
aber nicht mehr wesentlich zu ändern. Man darf füglich bei einem dreissig-
jährigen, in frischer, selbständiger Kraft schaffenden Bildhauer Halt machen
und einen Überblick über seine wichtigsten Arbeiten versuchen, ohne Sorge,
ihn auf Jugendwerke festzunageln, die von kommenden grösseren in Schatten
gestellt werden könnten. Was Theodor von Gosen bis jetzt geschaffen, hat
einen so ausgeprägten persönlichen Stil, soviel Qualität und Wert in der
Entwickelung der modernen deutschen Plastik, dass es volle Beachtung verdient.
Der Künstler ist aus Augsburg gebürtig und Schüler der Münchner Kunst¬
gewerbeschule und der Akademie, besonders des Professors W. von Rümann,
den eine ganze Reihe namhafter junger Bildhauer mit Verehrung ihren Lehrer
nennt. Gosen’s künstlerische Entwickelung fällt ganz mit dem Aufschwung
der modernen deutschen Kunst zusammen, er brauchte nicht erst umzulernen
und Kraft zu vergeuden, er lebte diese beispiellos regsame und triebkräftige
TH. v. GOSEN, GEIGENSPIELER Zeit, WO jeder Tag neue Ideen, neue Formen, neue Wege und Ziele brachte,
von Anfang an und in Begeisterung schaffend mit. Als Pankok, Paul und
Riemerschmid 1897 die Münchener Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk gründeten, wurde er einer
der ihren und schmückte die modernen Einrichtungen mit Bronzestatuetten und Ziergerät von hervorragend
vornehmem Geschmacke, ruhig in den Linien, ernst und herb im Ausdruck und durchgebildet in der
Form. Es ist eigentlich kein Wunder, dass nach der Periode der kunstlos in kalter Mache hergestellten
Kleinbronzen diese entzückenden Arbeiten Gosen’s rasch bekannt und geschätzt wurden und wie Schar-
vogel’s Steinzeug auch da Eingang fanden, wo man sich anderen modernen
Kunstprodukten gegenüber abwehrend verhielt, ln diesen Statuetten und figür¬
lichem Schreib- und Schmucktischgerät begegnet immer wieder die Frauengestalt,
meist nackt, bisweilen auch in moderner Kleidung. Er stilisiert und vereinfacht
die Formen, aber immer ersichtlich auf Grund unablässiger Naturbeobachtung
auch bei den kleinsten Figürchen an einem Petschaft, einer Schmuckschale oder
Gürtelschliesse. Dabei sind seine Frauengestalten in den Proportionen das genaue
Gegenteil von Valgreen’s langgezogenen, schemenhaften Bildungen, sie sind eher
stämmig, schenkelstark und sehnig. Immer eignet ihnen ein stilles, ernstes
Wesen mit einfachen, natürlichen und dabei vornehmen Bewegungen, und ein
Antlitz eigenartig herb im Umriss und Ausdruck. Mit Vorliebe patiniert er die
Bronzen dunkel bis schwärzlich und weiss immer in Formen und Farbe fein
dazu stimmende Sockel zu bilden. Zwei seiner bekanntesten Damenstatuetten,
die eine Dame in moderner Strassentoillette, die andere in einfachem Gesell¬
schaftskleide, sind ausnahmsweise in versilberter Bronze gebildet,
ein reizendes Kinderfigürchen in Holz geschnitzt. Als das
feinste Stück unter den Einzelbronzen darf der »Geiger« gelten,
den die Abbildung vorführt. Mögen verwandte und mitstrebende
Künstler wie Ludwig Habich, Fritz Klimsch, Ignatius Taschner,
Hermann Hahn, Georg Wrba, Frau Sophie Burger-Hartmann
dem Gosen in seinen Statuetten und Zierfiguren nahe kommen,
ihn in anderen Punkten übertreffen, so hätte doch keiner diesen
Geiger besser machen können. Wie fein beobachtet, wie frei
und situationsgerecht, wie straff im Aufbau und weich in der
Silhouette steht dieser Typus eines jungen Geigenkünstlers da.
TH. V. GOSEN, SCHMUCKSCHALE
(SCHALE VON I. SCHARVOGEL)
268
THEODOR VON GOSEN
Man spricht so häufig von den Schwierigkeiten des
modernen Kostüms für den Plastiker; hier sehen wir
die genrehaften, modischen Kleinlichkeiten unterdrückt
und durch das Ver¬
tauschen der Röhrenhose
mit der Kniehose die
schöngeformten Beine in
Wirkung gesetzt. Die
Figur ist U b-r; dig und
iiiiiig i;inj)fujdc.i, vor¬
nehm imd ernst und
auch ■ chniich gut und
:iiit i'ikantcrie so ge-
Löldet, dass das Licht
reich mi die Formen
spielt und das Ganze
wie eine lebende Figur
von Luft umgeben er¬
scheint. — Natürlich
hat er sich auch auf
einem Lieblingsgebiet
der modernen Plastik:
der Plakette betätigt und
einige feine Porträt¬
plaketten ausgeführt, aber
wichtiger noch sind seine
mustergültigen Entwürfe
für Schmuck und Pracht¬
geräte aus Edelmetallen.
Auch beim Schmuck be¬
währt er sich als echter
Plastiker, indem er selbst
in diesen winzigen de¬
korativen Reliefs die
Menschenfigur mit vor¬
nehmem Geschmack und
feinem modernen Em¬
pfinden verwendet. Er
zeigt da,dass ein Schmuck
um höchst modern zu
sein, nicht Lalique nach¬
empfunden oder im bel¬
gischen Schnörkelstil
oder mit stilisiertem
Pflanzenornament ge¬
bildet zu sein braucht.
Ich wüsste unter den
deutschen Broschen und
Gürtelschliessen nichts
reizvolleres zu nennen,
als diese aus weichen
Umrahmungslinien und
fein hineingesetzten Fi¬
guren in durchbroche¬
ner Arbeit gebildeten
Schmuckstücke Gosen’s.
Als es für dieVereinigten
Werkstätten galt, für die Pariser Weltausstellung 1900
Elitearbeiten in dem spezifisch modernen Stile, wie
ihn die Vereinigten Werkstätten vertreten, vorzubereiten,
da entwarf von Gosen den schönen silbernen Tafel¬
aufsatz, den unsere Abbildung zeigt. Vielleicht
stammt die erste Anregung zu diesem Werke nicht
von ihm selbst oder er achtete nicht darauf, dass er
viel gute Arbeit, Sinnen
und Fühlen auf eine
Aufgabe verwendete, die
im wesentlichen nicht
mehr modernen Bedürf¬
nissen entspricht. Es
werden ja noch gelegent¬
lich Primktafelaufsätze
für königliche oder
städtische Silberkammern
verlangt, noch mehr als
Ausstellungsstücke her¬
gestellt, aber gerade auf
der Tafel des modernen
Hauses ist der grosse
Tafelaufsatz nicht mehr
recht am Platze. Er hatte
noch guten Sinn auf dem
grossen runden Speise¬
tisch der Biedermaierzeit,
aber er hindert den Über¬
blick und die Konver¬
sation an der modernen
Langtafel und isoliert
den Ehrengast, vor dem
er doch notwendiger¬
weise aufgepflanzt wer¬
den muss. Da hat Leonard
mit seinen Shawltänze-
rinnen in Sevresporzellan
das Problem des moder¬
nen Tafelzierats reizvoll
und leicht gelöst. Also
zugegeben , dass der
Prunktafelaufsatz über¬
haupt nicht mehr mo¬
dernen Lebensgewohn¬
heiten entspricht, so
bleibt doch der Gosen-
sche Aufsatz unter den
zahlreichen und zum Teil
sehr kostbaren Arbeiten
derart aus den letzten
Jahren bei weitem der
geschmackvollste und
feinste. Er ist z. B. unver¬
gleichlich künstlerischer
als der Springbrunnen für
Eau deCologne von Her¬
meling für den Stadt¬
schatz von Köln gefertigt,
der zugleich mit dem
Gosen’schen Aufsatz in
Paris zu sehen war. Wenn
man die Beschreibung Schnütgen’s in der Skaiaschen
Zeitschrift Kunst und Kunsthandwerk über diesen
Tischbrunnen liest oder sich das Original jetzt in der
Dresdner Städteausstellung ansieht, so kann man nur
TH. V. GOSEN, SILBERNER HOCHZEITSPOKAL
THEODOR VON GOSEN
26g
seufzen: O weh, 0 weh, was ist in diese Goldschmiede¬
arbeit nicht alles hineingepfropft, gotische Architektur¬
teile, Türme und Zinnen, Wappen und Embleme, Kaiser
und Heilige und noch viele andere stadthistorische
Beziehungen. Wenn einmal die Väter der Stadt
durch einen Zufall drei Stunden lang auf einen
hohen Gast warten müssen, dann mag ihnen dieser
Tafelaufsatz unerschöpflichen Stoff für stadtgeschicht¬
liche Gespräche bieten . . ., doch kehren wir zu
unserem modernen Aufsatz zurück. Er ist im ganzen
1 Meter breit und 75 Centimeter hoch; das Mittel¬
stück sowie die daran anschliessenden kleineren
Schalen sind aus blauglasiertem Steinzeug von J. Schar¬
vogel, die oberste Schale ist Kristallglas, das das
Ganze tragende Brett nebst den Tieren Palysander-
holz. Sämtliche Figuren sind in Silber gegossen,
die grossen Schalen getrieben. Das das Mittelstück
umschliessende Ornament ist mit Perlen und Sternen be¬
setzt, die durch Kränze umrahmte Fläche mit Perlmutter
eingelegt. Leichte Vergoldung sitzt an den Haaren der
weiblichen Figuren und an den Rändern und Orna¬
menten der grossen Schalen. Mit gutem Grunde hat der
Künstler das Werk unten weitausladend und am oberen
Teil so schmal und leicht als möglich gebildet. Der
ganze Aufbau, so einfach und klar auf den ersten
Blick, hat in den Proportionen und im Umriss so viele
Feinheiten, so viel Schwung und Leben in den Linien,
dass man mit immer neuem Entzücken die Augen
darauf ruhen lässt. Der Aufsatz harmoniert in seinen
einschmeichelnden Formen und in seinen ruhigen,
tiefen Farben mit den besten Möbeln Pankok’s
und Riemerschmid’s, aber zeigt doch ganz aus¬
geprägt den persönlichen Stil Gosen’s. Sehr reizvoll
ist die Symbolik und Steigerung in der organischen
Entwickelung der Figuren: unten die Fabeltiere, dann
die dienenden und neugierig nach lichten Höhen auf¬
schauenden Erdgeister, dann die weichen, aber tekto¬
nisch gebundenen sitzenden Frauengestalten und dann
endlich oben die drei im Tanzschritt sich bewegenden
Frauen, die in freier schöner Geste die strahlende
Krislallschale tragen. Diese Figuren können zu den
allerfeinsten modernen Statuetten gezählt werden, ich
würde nur Klinger’s drei tanzenden Frauen auf dem
Onyxsockel den Vorzug geben, sonst wüsste ich unter
modernen Statuetten nichts, was an feiner künstlerischer
Durchbildung, an rhythmischen Bewegungen, an
schönem Faltenspiel und vornehmer Einfachheit diesen
Figuren gleichkommt. — Ein anderes hervorragend
TH. V. OOSEN
SILt^ERNER TAFELAUFSATZ
270
THEODOR VON GOSEN
schönes Silberschmiedewerk ist der hier in halber
Grösse abgebildete Eamilienpokal, der voriges Jahr
zur goldenen Hochzeit eines Leipziger Grosskaufmanns
hergestellt wurde. Der Entwurf Gosen’s gewann in
kleiner Konkurrenz den Preis und wurde vom Hof¬
goldschmied Theodor Heiden in München kunstge¬
recht ausgeführt. Man könnte auch vom Prunkpokal
sagen, dass er, da die Sitte des gemeinsamen Trinkens
aus einem Gefäss aufgegeben ist, nicht mehr recht
in unsere Zeit passt, aber da es sich hier um einen
Auftrag Handelt, so kommt nur die künstlerische Präge
in lietracht. Auch bei dieser Arbeit zeigt sich Gosen’s
erlest.rer Geschmack und feines Eormenempfinden.
Schlank und in organischer Bildung baut sich der
Pokal auf einem sechsseitigen, mit Perlmutter ver¬
zierten Pusse auf. Der Knauf ist ein baumartiges
Gebilde, aus dem sich stark stilisierte, den Körper
umfassende und gliedernde Zweige erheben, die im
Deckelknopf zusammenlaufen. Der plastische Schmuck
sitzt allein am Knauf und am Deckel und zwar sind
es unten fein durchgebildete spannenlange Statuetten
eines nackten Mannes und einer Prau, die in gefälliger
Stellung und in dezenter Symbolik goldene Kränze
als Anspielung auf die goldene Hochzeitsfeier halten,
während oben zwei kleine freche Strassenjungen kauern,
einen goldenen Kranz halten und Hurrah schreien.
Mit Geschick ist die lange Aufschrift dekorativ ver¬
wendet und ein besonderer koloristischer Reiz durch
die mit Metallglanz harmonierenden Perlmutterschalen¬
einlagen nnd Halbedelsteine gewonnen. Der Pokal ist
bis auf den figürlichen Schmuck vergoldet und der ge¬
triebene Körper fein gerauht. — Auch auf dem Gebiete
der Grossplastik hat von Gosen eine Reihe beachtens¬
werter Werke geschaffen. Ein lebensgrosser Perseus in
Marmor auf reich mit Fruchtgehängen reliefiertem Sockel
gehört zu seinen ersten grösseren Arbeiten. Es ist eine
ruhig entwickelte, kraftvolle jünglingsgestalt, stehend,
und den linken Fuss auf das abgeschlagene Medusen¬
haupt setzend. Mit leichter Änderung hätte er diesen
Perseus auch David nennen können, wenigstens giebt
es eine Statuette von Habich mit sehr ähnlichem Stand¬
motiv als David mit dem Haupte Goliath’s. Reifer
noch und wahrhaft monumental ist die hermenartige
Porträtbüste des Physiologen Karl von Voit, die in
ihrer Vereinfachung der Formen und Betonung der
Hauptzüge an Arbeiten Adolf Hildebrand’s erinnert.
Zweimal beteiligte er sich an Konkurrenzen um Sitz¬
standbilder von Robert Schumann und Heinrich Heine,
und obwohl diese Werke nicht zur Ausführung kamen,
verdienen sie wegen ihrer Originalität der Auffassung
und des tiefen Stimmungsgehaltes Beachtung, ln den
letzten Jahren schuf Gosen mehrere hübsche Frauen¬
gestalten und Tierfiguren als krönende Teile an Bauten
des feinsinnigen Münchner Architekten Theodor Fischer.
— Dieser kurze Überblick über Gosen’s Schaffen mag
zeigen, wie wertvoll und persönlich seine Kunst und
wie gerechtfertigt es ist, in ihm eine Hoffnung der
modernen deutschen Plastik zu sehen.
FELIX BECKER.
TH. V. GOSEN, HEINRICH HEINE
BRONZESTATUETTE
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQ03 . HEINRICH REIFFERSCHEID, ERNTEFELD
HEINRICH REIFFERSCHEID
w;
OLLTE man
den Wert der
Dinge nach der
allgemeinen Schätzung,
die sie geniessen, be¬
messen, so müsste man
eigentlich die Radierung
heutzutage zum alten
Eisen werfen. Ältere
Kunstfreunde, die noch
die Zeiten mitgemacht
haben, da man Ungers
Kasseler und Braun¬
schweiger Galerieradie¬
rungen als Ereignisse
gefeiert hat, sehen mit
Bedauern die abschätzige
Art, mit der man heute
die Reproduktionsradie¬
rung halb mit Erbarmen
zu belächeln pflegt —
und mit noch grösserem,
wie infolge dieser Miss¬
achtung die Zahl der
guten Reproduktions¬
auf ein Häuflein zusammengeschmolzen ist,
wirklich ohne Übertreibung an den fünf
H. REIFFERSCHEID (MÜNCHEN)
RADIERTES EXLIBRIS
radierer
das man
Fingern herzählen kann.
Und doch: der Leser mag einmal den g. Band dieser
Zeitschrift aufschlagen und Gaillard’s Radierung (wahr¬
scheinlich richtiger: Nadelarbeit) nach Eyck’s Mann
mit den Nelken betrachten. Aufrichtig gesagt: giebt
irgend eine unserer hochgepriesenen mechanischen Ver¬
vielfältigungsarten das Original so getreu wieder
wie dieses Abbild — ä travers un temperament?
(bemerkenswert übrigens, dass hier das Bild noch
ohne den erst später unter der Übermalung entdeckten
Goldrahmen gegeben ist.)
Aber nicht nur die Reproduktionsradierung ist so
gut wie tot. Auch die höhere Tochter der Graphik,
die Originalradierung kann heute ein melancholisches
»verlassen bin i« anstimmen; denn die seit Ende der
siebziger Jahre wiedererwachte Freude an ihr ist ganz
abgeblasst. Die Gunst ihrer Freunde hat sich farbige¬
ren Phänomenen zugewandt: Lithographie ist Trumpf.
Für diese Abkehr der Kunstfreunde ist eben gerade
ein lehrreiches Exempel statuiert worden : in Berlin
hatte sich ein Schwarz-Weiss-Salon aufgethan, dessen
Leiter mit Geschmack, Mitteln und Energie ausgerüstet
waren. Für das junge Unternehmen wurde von
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. ii.
hundert Zungen Propaganda gemacht, die Künstler
waren begeistert, die Darbietungen des Salons hatten
eine gute Presse — und nach kaum eines Jahres
Frist hören wir, dass das Programm über Bord ge-
geworfen und eine Kunsthandlung üblichen Kalibers
eingerichtet worden ist. »Das spricht Bände«, würden
die Zeitungsleute sagen.
Kein Wunder, dass auch die Künstler nach und
nach sich von einem Metier abwenden, das so wenig
seinen Mann nährt und sich con fuoco dem Steine
»in die Arme werfen«. Und noch weniger verwunder¬
lich, dass diese Zeitschrift, deren Stolz seit 40 Jahren
die Pflege der Radierung ist, jeden Originalradierer,
der ihr vor den Redaktionsfeldstecher kommt, sichtbar-
lich allem Volke zu zeigen bestrebt ist.
Aber doch ging unsere Freude über eine neue
Radierungssendung weit über das übliche Mass hinaus,
als uns Heinrich Reifferscheid kürzlich die Früchte
seines letzten Jahrganges darbot. Ein Bündel von
mehr als sechzig Blättern auf einmal! Und noch
dazu guten! Schon der selbstlose Fleiss, der nach
allem oben Gesagten in solcher Leistung beschlossen
ist, verdient öffentliche Mitteilung.
H. REIFFERSCHEID (MÜNCHEN) RADIERTES BILDNIS
DES HERRN GEH. RAT KARL JUSTI IN BONN
35
272
HEINRICH REIFFERSCHEID
Wir haben aus der Sendung sechs Nummern
gewählt, von denen wir zwei in den Originalplatten,
vier weitere als autotypische Nachbildungen geben.
Mit diesen Stichproben ist der Künstler voll gekenn¬
zeichnet; denn sein Talent gleicht einem nicht allzu¬
breiten, aber mit ruhiger Kraft dahinfliessenden Strome.
Am erHeulichsten ist er, wenn er das Gewimmel
einer welligen Flachlandschaft, etwa des Erntebodens,
darstelll. Sein grosses Blatt >An Annette von Droste-
Hid-’-’O^f- ist wohl in dieser Art sein Meisterstück;
schade, dass das grosse Format den Abdruck der
Originalplatte für uns nicht ermöglichte. Ein anderes,
ebenso grosses Blatt gemahnte geradezu an Rembrandt’s
drei k.äume. Dann ist Reifferscheid ein Porträtradierer
von Qualitäten. Der Bischof Weber ist so ein feines
Stück. Karl Justi’s Bild, das wir aus besonderer Ver¬
ehrung für den Dargestellten abgebildet haben, scheint
uns allerdings nicht recht ähnlich.
Sein drittes Sondergebiet sind Exlibris, deren
eigentümlichstes wir in verkleinerter Reproduktion
geben: der phantastische Sitz eines weltfernen Land¬
schaftsmalers; das Motiv der Brücke, einem Bilde des
von dem Besteller besonders verehrten Altdorfer ent¬
nommen.
Zum Schlüsse seien noch die biographischen
Notizen gegeben: Heinrich Reifferscheid ist am
3. Januar 1872 in Breslau geboren, wo sein Vater
Professor der klassischen Philologie war. Die Akade¬
mie besuchte der Künstler in Berlin und München,
und zum Radierer hat ihn Peter Halm, der eigent¬
lich heute der Erzieher der jungen F^adierergeneration
ist, gebildet. Besonders gefördert hat ihn dann
Woldemar von Seidlitz, dem auch wir die erste
Empfehlung Reifferscheid’s danken. Wie der Künstler
uns mitgeteilt hat, sind Leibi und Liebermann seine
künstlerischen Leitsterne; der Ölmalerei will er sich
jetzt erst zuwenden. Seine Radierungen finden sich
in allen öffentlichen Kabinetten. Möchten diese Zeilen
auch bei dem weiteren Kreise der Kunstfreunde ihm
Gönner werben. G. K.
H. REIFFERSCHEID (MÜNCHEN) RADIERUNG
NACH DER ORIOINALRADIERUNG VON H. REIFFERSCHEID
LEONARDO’S BILDNIS DER OINEVRA DEI BENCI
Von Wilhelm Bode
VASARI’S Biographie des Leonardo da Vinci ent¬
hält eine lakonische Notiz über ein Frauen¬
bildnis, das der junge Künstler in Florenz ans¬
führte: ritrasse la Ginevra d’Amerigo Bend, cosa
bellissima . Dieses Bildnis galt als verloren; die Auf¬
findung desselben wurde dadurch erschwert, dass
man auf Vasari’s Autorität das Bildnis dieser vor¬
nehmen Florentiner Dame in einem Profil der Fresken
Ghirlandajo’s in S. Maria Novella zu erkennen glaubte.
Vasari’s Benennung der letzteren ist aber zweifellos
falsch; denn Ginevra dei Benci starb schon im
August 1473, im Alter von siebzehn Jahren, während
die Fresken in der Novella erst zwischen den Jahren
1486 und 1490 ausgeführt wurden. Die junge Frau
auf dem Fresko, die Vasari als Ginevra bezeichnet,
ist durch den Vergleich mit der bezeichneten Medaille
als Giovanna degli Albizzi, die Gattin des Bestellers
der Fresken, Lorenzo Tornabuoni, bestimmt worden.
Als das wahre Bildnis der Ginevra habe ich in
meiner Besprechung der Liechtensteingalerie in den
Graphischen Künsten« (1892, S. 86 — gi und Liech¬
tensteingalerie« S. 63 ff.) das schöne Frauenbild dieser
Sammlung angesprochen, das Waagen als Werk
Leonardo’s bestimmt hat. Damals konnte ich nur
eine Vermutung aussprechen; heute habe ich den
Beweis für die Richtigkeit jener Benennung. Auf
diesen allein will ich mich hier beschränken; für den
Nachweis, dass Leonardo wirklich der Meister des
Bildes ist, und dass dieses ein Jugendwerk Leonardo’s
ist, kann ich mich auf meine eingehenden Ausführungen
an jener Stelle beziehen. Ich hätte kaum etwas ein¬
zuschränken oder hinzuzufügen. Die Kunstgeschichte
ist ja inzwischen auch vorgeschritten und lässt jetzt
bei der Bestimmung der Gemälde nach Zeit und
Schule auch noch andere Beweismittel gelten, wie
anatomische Deformitäten.
Das Frauenbild in der Liechtensteingalerie ist in
seinem unteren Teil nicht nur übermalt, sondern auch
verstümmelt. Dies zeigt die Rückseite der Tafel: hier
ist auf porphyrfarbenem Grunde ein Wachholderzweig
zwischen Lorbeer und Palme dargestellt, die ein Band
mit der Inschrift VIRTVTEM FORMA DECORAT
verbindet. Der untere Teil dieses kranzartigen Ge¬
bindes fehlt; nach dem oberen Teil desselben lässt
sich ziemlich genau feststellen, dass das Bild nach
unten um 25 — 30 Centimeter gekürzt sein muss. Ein
so bedeutender Ansatz auf der Vorderseite ergiebt
mit grosser Wahrscheinlichkeit, dass das Bildnis ur-
VERROCCHIO, FRAUENBÜSTE IM BAROELLO FREIE KOPIE DES PORTRÄTS IN DER LIECHTENSTEIN-GALERIE
276
LEONARDO’S BILDNIS DER GINEVRA DEl BENCI
spriinglich auch die Hände der jungen Dame zeigte.
Wie wir uns das Gemälde etwa zu ergänzen
haben, lehrt uns eine alte umgekehrt gegebene
Kopie, die Dr. Fritz Knapp vor einigen Jahren beim
Marchese Pucci in Florenz entdeckt hat. Wir
stellen die Hochälzimg nach dieser freien Nach¬
bildung, die :;nf liie Hand eines zu Leonardo und
Lor. di Civ.ii in Beziehung stehenden mässigen
Künstkrs scin'irs-.-n lässt, neben die Abbildung des
Liechtet isteiri’schcn Bildes und geben zugleich eine
Hociiätzimg der l-crühmten in Verrocchio’s Werkstatt,
zur /eit '.1er ! iiäligkeit Leonardo’s als Gehilfe des
.Mcisicrs, cnlstandenen Frauenbüste des Bargello, die
in der graziösen Bewegung der Arme und in der
voileiidetcn Durchbildung der Hände Leonardo’s
Original besser zum Verständnis bringt, wie die ziem¬
lich lieblose und oberflächliche Kopie des Gemäldes
selbst. Man vergleiche auch die herrlichen Handstudien
Leonardo’s in Windsor und das unfertige Bildnis
Leonardo’s im Czartorisky- Museum zu Krakau, eine
junge Frau mit einem Wiesel in den Armen zeigend.
Wie wir die Arme zu ergänzen haben, zeigt auch
das Frauenbildnis von Credi in der Galerie zu Forli,
das offenbar unter dem Einflüsse des Benciporträts
entstanden ist.
Diese Schulkopie im Besitz des Marchese Pucci
konnte ich kürzlich genauer prüfen. Der Besitzer hatte
sie auf eine Staffelei neben das Fenster gestellt, wo¬
durch auch die Rückseite der Holztafel, auf die sie
gemalt ist, sichtbar war. Auf dieser befindet sich auf
dünnem Kreidegrimd die erste flüchtige Untertuschung
eines Frauenbildnisses, vielleicht für die Kopie nach
Leonardo’s Porträt, worüber die ganz verriebene
und verkratzte Oberfläche kein sicheres Urteil mehr
zulässt. Quer darüber ist mit Tusche oder Tinte in
grosser Schrift des i6. Jahrhunderts geschrieben:
GINEVRA D’AMERIGO BENCI oder DEI BENCI.
Eine genaue Kopie der Inschrift konnte ich in der
Eile der Besichtigung leider nicht nehmen. Da das
Bild sehr wahrscheinlich in kurzer Zeit den Besitzer
wechselt, wird seine Prüfung später voraussichtlich
weniger schwierig sein als jetzt, falls es nicht etwa
nach Amerika verkauft werden sollte.
Das Liechtensteinbild und seine freie Kopie enthalten
noch einen besonderen Hinweis auf den Namen der
Dargestellten, auf den mich Dr. Warburg aufmerksam
gemacht hat: hinter der Dargestellten ist ein Gebüsch
von Wachholder angebracht, und auf der F^ückseite des
Originals sehen wir ein Wachholderreis zwischen Lor¬
beer und Palme. Wenn diese gemeinsam mit der In¬
schrift VIRTVTEM FORMA DECORAT auch zweifel¬
los, wie ich früher ausgeführt habe, auf die I^elohnung
der Tugend auf ihrem dornigen Pfade durch Lorbeer
und Palme hinweisen sollen, so wird doch der Wach¬
holder (ginepra), der auf beiden Seiten des Bildes in
so auffallender Weise angebracht ist, von Dr. Warburg
in überzeugender Weise zugleich mit dem Namen der
Dargestellten: Ginevra, in Beziehung gebracht. Diese
symbolische Andeutung entspricht ganz der Auffassung
der Zeit.
JOCKSEITE des LEONARDOBIEDES in der LIECHTENSTEIN-GALERIE
(unten ergänzt)
KUNSTAUSSTELLUNGEN IN JAPAN
Die japanische Kunst, abgesehen von der Archi¬
tektur, studiert sich leichter in Europa als in
Japan, wo der Begriff der Museen noch ein
neuer und höchst unvollkommen in die Praxis über¬
setzter ist. Während sich in verschiedenen europäischen
Hauptstädten, z. B. in Berlin, Hamburg und London wert¬
volle und verhältnismässig umfassende Sammlungen
japanischer Kunstwerke befinden, bietet selbst das
Kaiserliche Museum im L/räo-Park zu Tokio (Ueno
Hakubutou-kwan) das, wie in älteren Zeiten auch bei
uns, das Sehenswerte auf den verschiedensten Gebieten
vereint, und fast zur Hälfte den Naturwissenschaften
gewidmet ist, namentlich in Bezug auf die Malerei,
die vornehmste — man könnte fast sagen die Kunst
des alten Japan, ausserordentlich Geringes. Die wenigen
vorhandenen Kakemonos (zum Auf hängen bestimmte
Bilder auf langen Streifen) und Makernonos (breite
aufgerollte Streifen) sind nicht geeignet, einen Über¬
blick über die Entwickelung der Malerei zu geben.
Die Werke berühmter alter Maler sind im Privatbesitz
und in Tempeln zerstreut, in diesen meist in ganz
schlechter Beleuchtung und durch Weihrauch ver¬
dorben. Der Privatmann aber breitet seine Kunst¬
schätze nicht aus; er will nicht, wie so mancher bei
uns, auf einen Blick sehen lassen, was er hat, sein
Kunstgenuss ist ein ganz intimer, ein Kakemono, eine
wertvolle Bronzevase zieren den hierfür bestimmten
Platz des Empfangsraumes. Alle übrigen sind in
feuersicherem Raum verborgen, um von Zeit zu Zeit
einen Wechsel eintreten zu lassen oder vielleicht
einzeln einem besonders geehrten oder verständnis¬
vollen Gaste vorgeführt zu werden.
Um so dankbarer muss man sein, wenn auch in
Japan der Versuch gemacht wird, die im Besitze des
Kaiserhauses sowie im Privatbesitz befindlichen alten
Kunstwerke zeitweise zu einer Ausstellung zu ver¬
einigen, wie es augenblicklich durch die Leitung jenes
Museums geschehen ist. Ausser einer Sammlung von
alten Metallarbeiten, zum Teil chinesischen Ursprungs,
hat man einige hundert Gemälde (auf Seide und
Papier), die aus der Zeit vor der »A/^7«- Periode
stammen, das heisst bevor der europäische Einfluss
sich bemerklich machen konnte*), zusammengebracht“).
Neben der modernen japanischen Zeitrechnung, die
mit dem Regierungsantritt des ersten »historischen«
Herrschers Jimmu Tenno, 660 v. Chr. beginnt, besteht
noch eine andere nach besonders benannten Perioden
von verschiedener Länge; die »Meji« beginnt mit
dem Jahre 1868, in dem die Herrschaft des Mikados
wiederhergestellt wurde, während das Shogunat (Haus-
1) Allerdings haben niederländische Kaufleute schon
früher durch Bestellungen einen gewissen Einfluss auf die
Porzellanfabrikation in Nagasaki ausgeübt, ohne Rück¬
wirkung indessen auf weitere Kreise oder die japanische
Kunstauffassung überhaupt.
2) Die Bilder wurden in zwei Raten ausgestellt; ich
habe leider nur die zweite gesehen.
meiertum) fiel. Damit war auch das Ende des Eeudal-
staats verknüpft und wurde das Eindringen europäischen
Einflusses angebahnt.
Von einer so gewaltigen und so unvermittelt ein-
HIUOSHIOE. DER VOGEL SANJAKU AUF BLÜHENDEM
MUME-ZWEIG
Diese und die beiden folgenden Abbildungen sind aus der selir reiclien
Sammlung japaniseber Farbenliolzsclinitte ausgewälilt, die K. W. Hierse-
maun in Leipzig jetzt zum Verkaufe stellt.
278
KUNSTAUSSTELLUNGEN IN JAPAN
tretenden Änderung des Staatsvvesens unter fast völligem
-ruche mit allen geschichtlichen Überlieferungen und
tiefem Eingriff in das gesamte Volksleben, noch radi¬
kaler, als selbst die erste französische Revolution es
darstellt, konnte auch die bildende Kunst auf die
Dauer nicht unberührt bleiben. Politisch grosse und
bewegte Zeiten pflegen ihr indessen nicht günstig zu
sein; daher !:o:nmt es, dass die mit dem gesamten
Leben iängst in eine gewisse Erstarrung geratene
Kunst sirh nicht so rasch wie jenes aus ihr zu lösen
verr. OL' "? n^iwohl bereits in der zweiten Hälfte des
8. J; ' 'ivLinilei volkstümliche Künstler aufzutreten
bi.o.- vii. Die Malerei, von der ich hier allein
Spree!:'.; . whi, die vornehmste Kunst der Japaner, sucht
noch ':‘imer nach neuen Wegen.
Auch in der alten Hauptstadt Kyoto ist mit Rück¬
sicht auf die im nahen Osaka veranstaltete Industrie¬
ausstellung und den dort zu gewärtigenden Fremden¬
besuch eine Sammlung alter Kunstgegenstände zu¬
sammengebracht worden. Leider ist diese Rück¬
sicht auf die Fremden in Tokio nicht so weit aus¬
gedehnt worden, dass man in europäischer Schrift
auch nur die Namen der Künstler angegeben hätte.
Wie auch beim dauernden Bestände des Museums
hat jeder Gegenstand einen Zettel mit ausführlichen
japanischen Angaben in chinesischen Charakteren,
daneben befindet sich ein englisches Muster, das aber,
abgesehen von einem Teile der Bronzen und Götter¬
bilder unausgefüllt geblieben ist. Ich bin daher, um
die Künstlernamen zu ermitteln, genötigt gewesen,
die chinesischen Zeichen für die Namen der bedeu¬
tendsten alten Maler in mein Taschenbuch einzutragen
und — bedauerlicherweise ohne Sprachkenntnis —
so die notdürftigsten Feststellungen zu machen, die
dann durch Nachfrage geprüft wurden.
Der älteste Künstler, der uns hier vorgeführt wird,
keineswegs der älteste bekannte, ist Kono Motonoboii
(1475 — 155g), der Sohn des Stifters der »/<a/m-Schule«
Kano Masanobu. Eine berühmte chinesisch-japanische
Encyklopädie (Ouakan Sandzai Dzuiye) sagt von ihm:
Er war der Fürst der chinesischen und japanischen
Maler, fast ein Gott in seiner Macht. Man nennt
ihn oft Kohögen. Seine Werke kamen zur Zeit der
Kaiser der Dynastie nach China und sein Ruhm
verbreitete sich durch das ganze Reich«. Wir sehen
hier von ihm nebeneinander drei Kakemonos mit
grau in grau gemalten Landschaften, dann zwei mit
steilen schroffen Bergen, ganz den der chinesischen
Tradition entsprechend, eine aber mit weichen in
Duft verschwimmenden Formen mit ersichtlicher An¬
lehnung an die Natur, und zwar im Sinne der that-
sächlichen Stimmung der japanischen Landschaft.
Trotzdem ist auch dies zweifellos nur eine Wieder¬
gabe von Eindrücken nach dem Gedächtnis in immer¬
hin noch konventionellen Formen. Diese Nebenein¬
anderstellung ist bezeichnend für die beiden neben¬
einander hergehenden und von denselben Künstlern
ausgeübten Malweisen, die man von jener Zeit an
zu unterscheiden anfing, nämlich das guantai, zu
deutsch felsige, das heisst (nach Louis Gonse »l’Art
Japonais ) kräftige, flüchtige, rauhe mit eckigen Um¬
rissen nach chinesischer Art; und das riutai, fliessende,
das heisst sanfte, abgetönte, hingegossene wie die
Windungen eines Flusses. Diese Malweisen richten
sich merkwürdigerweise gar nicht nach dem Gegen¬
stände; so sieht man z. B von Masomobu noch eine
in leichtestem Farbenauftrage zart gemalte Landschaft
(ein Makemono) in riutai, in quantai dagegen grau
in grau zwei Heilige und sogar Blumen mit starken
harten Umrissen und leichter Färbung ohne jede
Andeutung einer Modellierung.
Eine andere Grösse derselben Schule Tanyu
(1601 — 1674), dem eingehendes Studium der Alten,
somit Zurückgehen auf den chinesischen Einfluss,
sowie eine erfolgreiche Lehrthätigkeit nachgerühmt
werden, scheint das Prinzip des Andeutens mit wenigen
mitunter überkräftigen Strichen auf den Höhepunkt
gebracht zu haben. Der vortrefflichen Skizze (der
Japaner nennt es ein Bild) eines die Flöte blasenden
Mannes, einer Gottheit der Litteratur, der ein Affe^)
das Schreibzeug hinhält, und namentlich einem auf
einen nur schattenhaft angedeuteten Tieger gelehnten
Heiligen kann man seine Bewunderung nicht ver¬
sagen. Wenn man aber als »Bild« einen mit chinesischer
Tusche roh hingeworfenen Zickzackstrich mit oder
ohne weisse Kleckse als Zweig mit oder ohne Blüten
erkennen und über die Form und das Mass der Teile
in Entzücken geraten soll, — so kann der Europäer,
der sich nicht schon völlig japanisches Empfinden
zu eigen gemacht hat, nicht mehr mit.
Ein dritter hier vertretener Maler der ATu'/m-Schule
ist Tanyu’s Neffe Tsiinenobn (gest. 1683). Wie Qonse
erzählt, haben zwei seiner Kakemonos in einer Pariser
Privatsammlung zwischen einer Zeichnung Därer’s,
einer Skizze von Rubens und einer trefflich gemalten
Studie von Rcmbrandt gehangen, ihren Platz gleich¬
wertig neben letzterem behauptet; es ist ganz be¬
zeichnend, dass das japanische Bild« mit euro¬
päischen »Skizzen verglichen wird. Hier fallen in
erster Linie mit dicken Umrissen mit chinesischer
Tusche flüchtig gezeichnete, lebhaft bewegte Pferde
auf, von denen man glauben möchte, sie seien unmittel¬
bar nach der Natur hingeworfen, was nach der Über¬
lieferung höchst unwahrscheinlich ist. Es ist das
aber ebenso wie die unübertroffene Darstellung des
Vogelflugs durch die Japaner wieder ein Beleg für
ihre ausserordentlich scharfe Auffassung der in der
Bewegung sich zeigenden Formen; bei der Zeichnung
fliegender Vögel kann man Stellungen wahrnehmen,
die uns erst durch die Momentphotographie enthüllt
worden sind. Für die gleichfalls ausgestellten Drachen
Tsounenobu’s, ein unentwirrbares grau in grau, wie
überhaupt für die so beliebte Darstellung dieses
mystischen Tieres wird man nur dann allenfalls ein
gewisses Verständnis gewinnen, wenn man sich ver¬
gegenwärtigt, dass es sich dabei anscheinend mehr
um die Symbolisierung eines Unwetters in der Luft
oder im Wasser als um die Wiedergabe eines Unge¬
heuers handelt. In vollem Gegensatz zu diesen über-
1) Der Affe kommt auch sonst als Götterdiener in der
japanischen Mythologie vor.
KUNSTAUSSTELLUNGEN IN JAPAN
279
NACH EINEM FARBENHOLZSCHNITTE DES HIROSHIQE. ANSICHT DES HOFES DES TENJIN-TEMPELS ZU YUSHIMA
(Sarnmltmg K. W. Hiersemann, Leipzig)
kräftigen Skizzen stehen einige andere hier sichtbare
Werke desselben Künstlers mit den feinsten, sorgsam
gezeichneten Umrissen, mit detaillierter Zeichnung
der Einzelheiten und leicht gefärbt, aber ohne jeglichen
Versuch einer Modellierung; ich nenne nur einen
ausserordentlich lebenswahren Haushahn.
Wir kommen nun zu K.örin (1661 — 1716), der
zuerst Schüler von Tsunenobu gewesen sein soll,
der dann aber zu der der ACö«ö-Schule an Alter und
aristokratischer Tradition noch überlegenen Schule
von Tosa als Schüler von Koetsii übertrat, der
wieder einen besonderen Zweig gründete. Die
letzterem nachgerühmte Eleganz der Ausführung
kommt in einem hier ausgestellten niedrigen Schirm
mit flüchtig, aber sehr charakteristisch gemalten
Mandarin-Enten nicht zur Geltung, dieses Bild leitet
aber bereits zu der übertrieben flüchtigen Art über,
mit der sein Schüler Körin seine Aufgaben löste.
Der Gegenstand, den er darstellt, ist, wie bei Tanyii
nach unseren Begriffen oft ein — Nichts, die Aus¬
führung geradezu roh. Gonse sagt von ihm: Seine
Zeichnung ist eigentlich die Zeichnung eines Lack¬
arbeiters; die chinesische Tinte fliesst aus der Spitze
seines Pinsels wie eine feste Masse«. Und in der
That war er ein berühmter Künstler in Lack, ebenso
wie sein Lehrer Kpetsii. So erklärt sich auch der
plastische Earbenauftrag auf einem Theekasten mit
Goldgrund, vielleicht auch die ungeheuerlich karikierte
Zeichnung einer Küstenlandschaft auf einem mit Gold-
und Silberpapier beklebten Schirm, die an die Aus-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. ii.
schreitungen einzelner ganz moderner Künstler bei
uns erinnert.
Ich will von grossen Namen nur noch Naonobii
(1607 — 1651), Bruder des Tanyu, Kenzan (1663 bis
1753) und Höhitzii (1761 — 1828) nennen. Am
reichsten ist die ATßßö- Schule vertreten; ich möchte
nur einen grossen Wandschirm erwähnen, auf dem
in flotter Zeichnung leicht gefärbte Vögel, heilige
Männer und Blumen abwechseln; am anziehendsten
ist eine mit ebenso geringen Mitteln, wie mit grosser
Lebenswahrheit dargestellte Krähe auf einem beschneiten
Zweige bei Schneefall, ein übrigens besonders be¬
liebter Gegenstand.
Mit dem vorerwähnten Körin sind wir in das
18. Jahrhundert gelangt und es fängt nun eine bereits
durch Matahei^) (gegen die Mitte des 1 7. Jahrhunderts
blühend) angebahnte volkstümliche Kunst an, neben
die bisherige ganz aristokratisch und nach festen
Traditionen gehandhabte Malerei zu treten, die rück¬
sichtslos Volksscenen und nicht idealisierte Land¬
schaften sich zum Stoff nimm.t. Es war ein sehr
günstiges Zusammentreffen, dass man gleichzeitig zwei
Hauptvertreter, und zwar die fruchtbarsten dieser
Richtung, nämlich Hokiisa'i (1760 — 184g) und Hiro-
shige (1786 — 1858) in einer vom Kunsthändler Ko-
bayashi in Yokohama veranstalteten Ausstellung in
zahlreichen Exemplaren ihrer Earbenholzschnitte sowie
1) Anderson, eine gewichtige Autorität, hat allerdings
noch kürzlich diesen von Matahe'i g^nhttn Einfluss bestritten.
36
28o
KUNSTAUSSTELLUNGEN IN JAPAN
in einigen Kakemonos kennen lernen konnte. Die
technische Vollendung jener ist bekannt; die Earben-
wirkung ist ausserordentlich, nicht selten zu schroff
im Gegensatz zu den überaus zarten Abtönungen in
der Malerei. Ein grosser Teil hat daher doch wohl
mehr k-uistlnstorischen als reinen Kunstwert, was nicht
hinö dank der wohlgefüllten Börse gewisser
Gl .!.. , 'ür die Name< und hoher Preis die
-r i ■ .V ;g an ein Kunstwerk ist, übermässig
JiU'ür gefordert und gezahlt werden.
; ; : ^ japanischen Kunstauktion beigewohnt
. ■). zu begreifen, wie der Name des originellen
-ur- ■ ' M ■‘.'‘ehen, aber doch von Gonse wohl etwas
ZI 'schwenglich gepriesenen Hokiisai »zieht«,
ii. .idicl- bei den mitbietenden Händlern, die trotz¬
dem u-im Verkauf einen erheblichen Gewinn zu
erzielen wissen.
Hiroshige ist nach meinem Laiengeschmack schon
sympathischer und steht uns näher, namentlich in seinen
auch i^erspektivisch richtigeren Landschaften. Der ja¬
panische Landschaftsmaler alter Schule hat nämlich
die Eigentümlichkeit, Hintereinanderstehendes gleich¬
zeitig sehen zu lassen, wie es nur aus grosser Höhe
möglich ist, ein Standpunkt, der wieder nicht mit der
Auffassung des Vordergrundes übereinstimmt. Einer
solchen Darstellung kommt die Eorm der langen,
schmalen Kakemonos zu gut; mit Vorliebe werden
darauf z. B. mehrere Meeresbuchten und Vorgebirge
hinter- oder vielmehr übereinander dargestellt und,
wenn man auf einer Anhöhe an der ungemein buchten¬
reichen Küste Japans steht, kann man sich wohl er¬
klären, wie die aus der Erinnerung im Atelier malen¬
den Künstler in übertriebener Charakterisierung zu
dieser Darstellungsweise gekommen sind. Bei Ho-
kiisa'i und noch mehr bei Hiroshige hat man nicht
selten den Eindruck, als ob die Natur sogar das un¬
mittelbare Vorbild gewesen sei. Trotzdem mischt sich
mit einem ausgeprägten Naturalismus das Konventio¬
nelle z. B. bei der so ausserordentlich beliebten Dar¬
stellung des Regens, der auf den Holzschnitten durch
senkrechte oder schräge Striche — sogar durch wallende
Bänder - dargestellt wird, während die davon ge¬
troffenen Menschen höchst naturwahr und ergötzlich
in ihrer Regenkleidung (mächtiger Strohhut und Schilf¬
mantel) oder im Kampfe mit ihren Regenschirmen
gezeichnet sind.
Wenn diese beiden Ausstellungen uns die alte
Zeit, das >Prä-Meji vorführen, so konnte man sich
gleichzeitig auch über zwei entgegengesetzte Richtungen
der Gegenwart unterrichten. In Tokio ist nämlich
augenblicklich in einem gleichfalls im Ueno-Paxk be¬
findlichen Ausstellungsgebäude (einem einfachen Bretter¬
schuppen) eine Ausstellung der -»Nippon Bijitsii-in«
genannten Vereinigung und der -Gesellschaft japa¬
nischer Maler« zu sehen, sowie in Yokohama eine
solche des »Besiike- Khib«. Jene Vereine wollen die
altjapanische Kunst weiter pflegen und entwickeln,
diese Ausstellung sieht ganz europäisch aus. Schon
aus dieser Andeutung geht hervor, dass die Leistungen
der Nippon Bijitsii-in sich im Stadium des Versuchs
oder vielmehr des Suchens befinden. Das Gemein¬
same der verschiedenen Künste ist die Technik, näm¬
lich die Malerei in Wasserfarben auf Seide, in der
Mehrzahl in der Eorm von Kakemonos. Wenn ich
nicht sehr irre, sind nur zwei Bilder auf Papier vor¬
handen, Löwen in halber Lebensgrösse, grau in grau,
lebenswahr und flott gemalt. Leider vermochte ich
den Namen des Künstlers nicht mit Sicherheit zu er¬
mitteln. Die übrigen Namen wie die Preise giebt
eine Liste in lateinischer Schrift an, — da die Bilder
verkäuflich sind, eine begreifliche Rücksicht auf die
Eremden.
Was man hier sieht, geht an der einfachen Nach¬
ahmung der Alten, die im übrigen gewerbsmässig im
grössten Masstabe mehr zur Ereude der Globetrotter,
als zur Eörderung der Kunst geübt wird, zu einer
zaghaften Annäherung an das Europäische, sogar in
der Wahl des Stoffes, über. Der Mehrzahl der Bilder
aber ist durch historische Vorbilder beeinflusst und
bewahrt zum mindesten in der Art der Ausführung
voll den japanischen Charakter. Einige wenige
Künstler haben mythologische Bilder geliefert und
selbstredend ganz nach dem Buddhistischen Kanon
gemalt; auch der Drache in den Wolken fehlt nicht.
Ein wenig abweichend von dem Alten ist der grössere
Teil der menschlichen Darstellungen; historische und
rituelle Scenen, Einzelfiguren und Gruppen alter
Krieger in einer Landschaft, ein von jeher gesuchtes
Motiv: ein in seiner Vornehmheit und Kraft prächtiger
Samurai, der einem abgeschossenen Pfeil nachblickt,
von AI. Jamario ist ganz vortrefflich. Es sind aber
auch richtige Genrebilder« im europäischen Sinne
da vom Mörder, der sich an den sorglos in der Vor¬
halle eines Heiligtums schlafenden Wanderer kriechend
heranschleicht, bis zur Einzelfigur eines Blumen auf¬
reihenden Mädchens von S. Koko mit glücklicher
Verkürzung des heruntergebeugten, dem Beschauer
zugewandten Gesichts. Noch moderner ist ein
Guitarre spielendes Mädchen in einem Kahn von
M. Banri, ferner eine Gruppe ruhender Feldarbeiter
und am meisten, auch in der Ausführung, ein auf
einer Wiese liegendes und Veilchen pflückendes Mädchen
von H. Riosei; man könnte glauben, dass dieses
junge Wesen selbst den Beruf fühlt, die Annähe¬
rung an den Westen zu suchen — sie trägt nämlich
anstatt der Tabis und Holzsandalen bereits Strümpfe
und Schuhe. Alle diese Bilder indessen, auch diese
etwas sentimentale europäisierte Eingeborene, sind
nach japanischer Art mit scharfen, feinen Umrissen
gezeichnet, zart und fast schüchtern gefärbt und die
Figuren wenig oder gar nicht modelliert. Die über¬
mässige Zartheit berührt besonders eigenartig bei den
sauber geglätteten, wie mit Seide bezogenen Pferden
der Krieger, in merkwürdigem Gegensatz zu dem
schreckenerregenden Haarzustande der wirklichen
Pferde, die man auf der Strasse sieht. Wir kommen da¬
durch zur Tierdarstellung überhaupt, in der (namentlich,
soweit es sich um Vögel und niedere Tiere handelt)
wie in der Blumenmalerei die Japaner von jeher das
Beste geleistet haben. Die Tiere sind oft ungemein
lebensvoll und doch offenbar in den meisten Fällen
ohne unmittelbares Naturstudium gemalt; dafür spricht
KUNSTAUSSTELLUNGEN IN JAPAN
281
das Gleichmässige der Auffassung. Hatte einmal ein
Weisser eine besondere Virtuosität in der Wiedergabe
einer bestimmten Naturbeobachtung erreicht, so fand
er durch Jahrhunderte ungezählte Nachahmer. Am
meisten sind wohl die Silberreiher und Kraniche ge¬
malt worden. Hier sehen wir einen Reiher von
5. Kßson, ein weisser Klecks ohne jede Spur von
Modellierung oder Andeutung der Einzelheiten des
Gefieders — nur Auge, Schnabel und Beine sind
der weissen Masse hinzugefügt — und doch ist das
Ganze wirkungsvoll. In entsprechender Weise hat
H. Gaho zwei Kraniche gemalt. Andere Tierbilder
sind wieder in allen Ein¬
zelheiten mit Andeutung
der einzelnen Federn oder
Haare gemalt, meist in
der hergebrachten Zusam¬
menstellung mit Blumen
— frei von jeder Eigen¬
art. Ein wirklich vortreff¬
liches Tierstück sind zwei
grau in grau gemalte
Wölfe vor einem Men¬
schenschädel von K Otoku,
ebenso ein Adler auf einem
Felsen von K Manko.
Die Landschaften sind
in der alten Art behandelt,
duftig, und doch nicht mit
genügender Luftperspek¬
tive, weil der Vordergrund
nicht hinreichend hervor¬
gehoben wird. Die per¬
spektivischen Fehler in
der Zeichnung treten da¬
gegen schon mehr zurück.
Mit Vorliebe werden der
Form der Kakemonos
angepasste Felsen, Schluch¬
ten mit Brücken (J. Tenfu)
und Wasserfälle, bei denen
mehr ausgespart als ge¬
malt ist, dargestellt; auch
Baumblüte und fallendes
Laub sieht man mehrfach.
Recht charakteristisch ist
eine Frühlingslandschaft
von Konen mit einer Wasserfläche im Vordergrund,
in der sich der schneebedeckte Kegel des Fusijama
spiegelt, obwohl man den Berg selbst auf dem Bilde
gar nicht sieht, ein oft wiederholtes Motiv.
Einzelne Kakemonos stehen in ihrem Kunstwerte
kaum höher als die in der benachbarten Kwankoba
(Bazar) zum Verkauf ausgebotenen, auch die Preise
sind zum Teil entsprechend; sie sind überhaupt recht
bescheiden und schwanken zwischen 6^/2 und 200 Yen
(1 Yen zur Zeit = 2
Der Gesamteindruck der Ausstellung ist der, dass
ein löbliches Bestreben, auf der alten nationalen Kunst
eine neue zu begründen, noch nicht geglückt ist;
noch fehlen vor allem Kraft, Eigenart des Einzelnen,
Befreiung aus engem Kreise und Zurückgehen auf
die Natur. Im übrigen bringt auch diese Kunstrich¬
tung zweifellos bedeutenderes hervor, als es hier zu
sehen ist, das beweist ein vor mir liegender, mit
technischer Vollendung hergestellter Farbendruck einer
stilisierten Landschaft des noch lebenden Malers Goto
Hashimoto (aus den vortrefflichen Publikationen der
»Kokka- Kompagnie« in Tokio).
Verlässt man das Ausstellungsgebäude, so steht
man mitten im {/räö-Park mit seinen mächtigen
Kiefern und Kryptomerien und seinen in der ersten
Hälfte des April in herrlichster Blüte stehenden Kirsch¬
bäumen. Wunderbar glän¬
zen ihre weissen, leicht
rosa angehauchten Kronen
in der Sonne im scharfen
Gegensatz zum dunklen
Nadelholz; fröhliches Volk
wogt auf und ab zu den
roten Holztempeln mit
weitgeschweiften Dächern,
zum grossen sitzenden
Buddha, zum Standbild
des Helden Saigo Tako-
morie, des Vorkämpfers
für den Mikado, dem Re¬
volutionär und nach dem
Tode wieder in alle Ehren
eingesetzt, — zu dem Stein¬
denkmal für die von ihm
besiegten, für den Schogun
gefallenen Krieger, — zum
Panorama, das den letzten
Kampfan dieser Stelle dar¬
stellt. Überall zwischen den
Bäumen sieht man leuch¬
tendes Rot, es sind mit
Decken belegte Sitzplätze,
an denen Thee geschenkt
und das mitgebrachte Essen
verzehrt wird. Die Mehr¬
zahl der Menschen trägt das
Nationalkostüm, dieFrauen
am grauen Kimono (Rock)
einen prächtigen bunten
Obi (grosse hinten am
Gürtel befestigte Schleife),
die Kinder bunt geblümte Kleider, die jungen Mädchen
eine künstliche Blume am langen Stiel im künstlich
geordneten Haar. Verkäufer mit ihrem mit unzäh-
lichen Papierfähnchen gezierten Kram drängen sich
durch die Menge; ein phantastisch aufgeputzter Zug
mit Bannern und übertönender Musik zieht vorbei
— es ist eine Cigarettenreklame. Wir treten an einen
der Tempel und sehen, wie die Gläubigen den Gott
durch den Schlag eines Gongs anrufen, vielleicht ein
Geldstück opfern und nach kurzem Gebet fröhlich
weiterziehen, wir bewundern die graziöse fünfstöckige
Pagode von rot lackiertem Holz am Ende einer präch¬
tigen Kryptomerienallee; ein Stück weiter eröffnet sich
ein Blick auf die Stadt und unmittelbar zu unseren
36*
NACH EINEM FARBENHOLZSCHNITTE DES HARONOBU
DIE DICHTERIN MURASAKI SHIKIBU DAS JAPANISCHE DEKA-
MERONE GENjI-MONOGATARI NIEDERSCHREIBEND
(Sammlung K. W. Hiersemann, Leipzig)
2S2
GRÜNEWALD’S ISENHEIMER ALTAR
Füssen (der Ueno-\>zxV liegt auf einer Hochfläche) auf
einen kleinen See, im Sommer mit Lotus bedeckt, in
der Mitte eine kleine Insel, darauf zwischen immer¬
grünen Bäumen und scharlachrotem Ahorn ein kleines
Heiligtum der Glücksgöttin Benten. Begeben wir
uns nach der andern Seite des Parks, so überblicken
wir das S ■■df-.-icrtel von Asakiisa\ aus dem endlosen
Firau r r^-’-d.igen Holzhäuser ragen hoch einige
TPMpehbTT.r und ein mächtiger Aussichtsturm her¬
vor: — .i ;ten geht es vergnügt zu — der grosse
Trvi i'c; or '^(wannon (Göttin der Gnade) ist von
z:i!v 1 V vv 1 Kleinen Heiligtümern und noch mehr
ochpi '.ucl'Oi niid Theatern umgeben; prächtig geklei-
'K i : Boadhapriester und einfache Betlelmönche mischen
ii ontcr das Volk, vor und in den Buden treiben
GauKler aller Art in wunderlichen Kostümen ihr Wesen,
lange bunte Zeugstreifen hängen an den grauen Häusern
als Reklamen herab; — dazwischen ist wieder ein
Stück schöner Natur ein Teich ist von hohen
Sträuchern der scharlachroten blühenden Quitte um¬
geben. Hier ist alles malerisch in Gestalt und Farbe,
reizvoll für den Künstler, der auf Schritt und Tritt
Motive, aber auch schwer lösbare Probleme finden
wird. Unser Altmeister Adolf Menzel würde diesem
Flimmern der Farben gerecht werden, nicht leicht ein
anderer. Aber auch für weniger hochstehende Künstler
giebt es hier zahlreiche dankbare Aufgaben; — Ho-
kusai und Hiroshige haben ja bereits ihren Landsleuten
den Weg gewiesen. Als Illustratoren haben sie ihn
auch schon mit recht gutem Erfolg betreten, nicht,
wie es scheint, als Maler selbständiger Bilder.
Das führt uns zum Besuch einer vierten Ausstel¬
lung, nämlich der des »Besuke Sketching Club« in
Yokohama. Wir finden Aquarelle, in jeder Beziehung
nach europäischem Muster, nur die Motive, hauptsäch¬
lich Landschaften, sind Japan entnommen, aber jede
Eigentümlichkeit japanischer Malweise ist verwischt.
Der Lehrer, Herr Basuke, malt ganz achtungswert, aber
er vermag nicht für sich zu erwärmen — er soll seine
Ausbildung in Amerika erhalten haben. Seine Schüler
sind erst recht Durchschnittsmaler; sie malen meist
breit und verschwommen, ohne Kraft und Charakte¬
ristik, dabei ist auch der zarte dürftige japanische
Farbenauftrag verloren gegangen.
Selbstredend möchte ich es nicht unternehmen,
ein abschliessendes Urteil über die japanische Malerei
der Jetztzeit abzugeben; dazu habe ich noch zu wenig-
gesehen, Ölbilder noch so gut wie gar nicht; und
die entsetzlichen Porträts von Feldherren im Yuschii-
kwan (historische Waffensammlung) in Tokio möchte
ich der japanischen Kunst als solcher nicht zur Last
legen. Ich kann mich indessen des Eindrucks nicht er¬
wehren, dass die beiden hier gekennzeichneten modernen
Richtungen fehl gehen; die eine verschliesst sich der
Natur und dem Leben, die andere vernachlässigt den
nationalen Boden. Eine Renaissance der japanischen
Kunst wird schwerlich durch europäische, oder gar
amerikanische Lehrer entstehen, sie wird sich nur
selbständig in Anknüpfung an die nationale Kunst,
aber unter Zurückgehen auf das unmittelbare Studium
der Natur entwickeln können. Man sollte meinen,
dass der unleugbare Natursinn und Geschmack dieses
Volkes hierbei hilfreich sein müsste, vorausgesetzt,
dass die junge Generation es nicht für gut findet, die
ganze feine ins Volksleben übergegangene Ästhetik
ihrer Vorfahren für abgethan anzusehen, und es nicht
verschmäht, die eigenartige jaiianische Natur mit ja¬
panischen Augen anzusehen.
Yokohama, im April 1903. A. v. JANSON.
ORÜNEWALD’S ISENHEIMER ALTAR
EIN REKONSTRUKTIONSVERSUCH
Als das Isenheimer Antoniterkloster im Jahre
1793 aufgehoben wurde, brachte man unter
anderem auch den von Mathis Grünewald be¬
malten Fronaltar nach Kolmar, wo im Unterlinden-
Museum nachträglich ein teilweiser, provisorischer
Wiederaufbau versucht wurde. Dieser Wiederaufbau
(vgl. Abb. 1) ist nun in mehr als einer Hinsicht irre¬
leitend, und man merkt es so ziemlich allen Beschrei¬
bungen des Werkes an, dass die Autoren derselben
sich an der Hand der jetzigen Aufstellung keine ganz
deutliche Vorstellung von dem ursprünglichen Aus¬
sehen des Altars zu bilden vermochten.
Das unter Abbildung 2 — 4 wiedergegebene, aus
Cigarrenholz und Photographien zusammengeleimte
Modell versucht eine Rekonstruktion des Altars, die
vielleicht manchen Verehrern Grünewald’s nicht un¬
willkommen ist und hoffentlich auch den Beifall der
Kenner findet.
Zunächst ein Wort über den jetzigen Zustand,
wie ihn Abbildung 1 wiedergiebt, nur dass jetzt das
geschnitzte Rankenwerk zu Häupten des thronenden
Heiligen durch nachträglich gefundene, sicher zuge¬
hörige Stücke erfreulich ergänzt ist. Die einschnei¬
dendste Veränderung, die man bei der Neuaufstellung
vornahm, war die, dass man die vier, mit Grünewald’s
Bildern geschmückten, beweglichen Flügel von der
geschnitzten Rückwand des Altars trennte, vermutlich
weil die Rahmung schadhaft geworden war. Diese
Trennung war unT so leichter zu bewerkstelligen, als
die Flügel wahrscheinlich erst nachträglich, und dann
GRÜNEWALD’S ISENHEIMER ALTAR
283
mit eigenem Rahmenwerk
der etwas älteren (siehe unten)
geschnitzten Rückwand ange¬
fügt worden waren.
»Zu beyden Seiten des
Altars gehen noch zwey be-
vesfigte Flügel heraus'-, heisst
es in einer Beschreibung des
Werkes von 1789, die also
vor seiner Überführung nach
Kolmar verfasst wurde (Repert.
VII, I39ff). Nur diese zwei
befestigten Flügel sind bis
vor kurzem noch an ihrem
ursprünglichen Platze geblie¬
ben. Man sollte sie nur
sehen, wenn der Altar selbst
geschlossen war (Abb. 2).
Der Missstand, der jetzt so
stört, dass wir fast neben¬
einander einen gemalten und
einen geschnitzten hl. An¬
tonius erblicken, fiel also ur¬
sprünglich fort.
Aber auch das Schnitz¬
werk des Schreines ist nicht
unversehrt geblieben. Von dem Rahmen, der sich
einst im Rechteck um die Figuren des hl. Augustin
und Hieronymus zog, sind nur Ansatzstücke erhalten.
Die kleinen Baldachine, welche die flachen Nischen
zu Häupten dieser Heiligen abschlossen, sitzen jetzt,
da jene Nischen kassiert wurden, sonderbar in freier
Luft; die Laubwerkfüllung über ihnen fehlt. Noch
schlimmer ist es dem hl. Antonius in der Mitte er¬
gangen. Auch seine Nische hat man kassiert: er thront
jetzt statt im Schatten der
tiefen Nische und statt unter
der herrlichen Laubwerkfül¬
lung vor diesem geschnitzten
Vorhang. Im Innern warseine
Nische nach oben von einer
mit reichem Masswerk über-
sponnenen Baldachindecke
abgeschlossen: diese Bal¬
dachindecke schwebt jetzt als
absonderliche Bekrönung
hoch über dem ganzen Rah-
mengestell.
Der vor die Altarfront
vorgeschobene Thron des
Klosterheiligen musste natür¬
lich eine Unterstützung er¬
halten : man gab sie ihm durch
ein Risalit der Altarstaffel, ln
diesen willkürlich gezimmer¬
ten Untersatz fügte man das
Brustbild Christi ein und
trennte so in sinnwidriger
Weise den Heiland von seinen
Jüngern.
Die gemalten Flügel der
Predella endlich, die sich einst in der Höhe der Apostel¬
statuetten in ihren Achsen drehten, hat man in einen
neuen, festen Rahmen gespannt; doch sieht man in der
Mitte deutlich die Schnittlinie, wo einstens die beiden
Hälften der Predella auseinanderklafften. Den neuen
Rahmen aber hat man unter den Brustbildern der Apostel
am Altartisch selbst wie ein Antependium aufgehängt.
Wir wenden uns nun der Rekonstruktion zu.
Abbildung 2 zeigt den Altar bei geschlossenen
Flügeln und geschlossener Predella. Rechts und links
von der Kreuzigung kommen die zwei befestigten
ABB. 1. DIE GESCHNITZTE RÜCKWAND DES ISENHEIMER
ALTARS MIT DEN ZWEI »BEFESTIGTEN FLÜGELN
ABB. 2. DER ISENHEIMER ALTAR, GESCHLOSSEN
ABB. 3. DER ISENHEIMER ALTAR BEI GEÖFFNETEN AUSSENFLÜGELN
284
GRÜNEWALD’S ISENHEIMER ALTAR
ABB. 4. DER ISENHEIMER ALTAR BEI CiEÖFFNETEN INNEN-
FI.ÜOELN UND BEI GEÖFFNETER PREDELLA
Flügel mit St. Antonius und St. Sebastian zum Vor¬
schein. Sie stehen mit der Kreuzigung nicht in einer
Flucht, wie man nach der Photographie vermuten
könnte, sondern treten um 30 — 40 cm hinter diese
zurück. Wie schön die Predella mit ihrer Bewei¬
nung unter das Bild der Kreuzigung passt, springt
in die Augen. Auffallend ist die gedrückte Breite des
Altars, sie entspricht dem Geschmack um 1 500. Es
ist aber sehr wahrscheinlich, dass später hier wie
anderwärts ein geschnitztes Gehäuse von bedeutender
Höhe den oberen Abschluss reicher gestaltete. Sollen
doch ganze Wagenladungen von vergoldetem Schnitz¬
werk nach 1793 von Isenheim weggeführt worden sein.
dieser Nische, den der vorhin besprochene, ge¬
schnitzte Baldachindeckel einst schmückte.
Auch die flachen Nischen, in denen der hl. Au¬
gustin und Hieronymus stehen, werden nicht recht
verständlich. Die Füllungen darüber sind, was die
Ornamente betrifft, willkürlich ergänzt.
Diese dritte Ansicht des Altars empfahl sich be¬
sonders an Festtagen des Klosterheiligen. Seine Be¬
gegnung mit Paulus dem Eremiten und seine Ver¬
suchung durch die Teufel ist auf den gemalten Innen¬
seiten der Innenflügel dargestellt.
Besondere Schwierigkeit macht die Rekonstruktion
der Predella, weil deren Flügel mit den stark ausge¬
schweiften äusseren Schmalseiten für die Drehung einen
erheblichen Spielraum verlangen. Dieser Spielraum
lässt sich aber gewinnen, wenn man nur zwischen
der Rückwand des Altars und dem Drehpunkt der
Predellaflügel den richtigen, auch durch die Dicke
der übereinander liegenden zwiefachen Flügelpaare
gebotenen Abstand innehält. Die um ihre Angeln
gedrehten Flügel der Predella (sie sind auf ihrer
Innenseite einfach mit schokoladenbrauner Farbe ge¬
strichen) rahmen dann mit ihren nach Innen gerichteten
Schweifungen in gefälliger Weise die Darstellung
Christi mit den Zwölfboten, deren geschnitzte Brust¬
bilder in der Tiefe der Altarstaffel angeordnet waren.
Ob Christus, wie anderwärts, so auch hier durch
trennende Pfeiler von den Aposteln abgesondert war,
lässt sich nicht mehr entscheiden. Dafür, dass diese
Apostelfiguren, trotz ihres wahrscheinlich höheren
Alters zum ursprünglichen Bestand des Altars gehören
und dass sie in der von mir vorgenommenen Weise
hinter den gemalten Predellaflügeln untergebracht
waren, zeugt folgende Stelle in der schon oben er¬
wähnten Beschreibung von 1789: »Der hl. Antonius
hat seine gewöhnlichen Begleiter, die Hirten (!) und
Schweine bey sich. Die kleinen Bildnisse in halben
Abbildung 3 zeigt den Altar bei
geöffnetem äusseren Flügelpaar. Es er¬
scheinen Freuden Mariä (Verkündigung,
Anbetung), wozu die Auffahrt des Herrn
ganz rechts wohl auch gezählt werden
darf. Diese Ansicht bot der Altar wohl
an Marienfesten. Daran, dass Antonius
der Kirchenheilige war, erinnerte bei
dieser Ansicht nur die kleine Darstel¬
lung im Türsturz des spätgotischen
Kappellenbaues mit den musizierenden
Engeln; man sieht hier den thronenden
Heiligen, zu dessen Füssen der Abt
kniet. Die Predella konnte bei dieser
Ansicht geschlossen bleiben; man
konnte sie aber auch aufthun, wie Ab¬
bildung 4 zeigt.
Nicht recht klar wird aus Abbil¬
dung 4, dass der thronende Antonius
hinter der geschnitzten Füllung in einer
erheblich weit zurückspringenden Nische
sitzt. Der schwarze Klex über seinem
Barett bedeutet den oberen Abschluss
ABB. 5. AUSSCHNITT AUS DEM BESUCH DES HL. ANTONIUS BEIM HL. PAULUS
ORÜNEWALD’S ISENHEIMER ALTAR
285
Figuren stellen den Heiland mit seinen Jüngern vor.
Alle sind so fleissig und genau ausgearbeitet, dass sie
nebst den Gemählden, zu denen man noch eine Be¬
gräbnis Christi, die die kleineren Statuen bedeckt,
rechnen muss, diesen Altar etc. . . .«
Auf der Begegnung mit Paulus (Abb. 5) in der
Wüste lehnt links unten an den Felsen, auf dem
Antonius Platz genommen, das Wappen des Abtes
Guido Gersi, der von 1490 — 1516 auf dem Isen-
heimer Abtsstuhl sass und
dem Maler Grünewald den
Auftrag zu den Altargemälden
gab. Das Gewand des hl.
Antonius ist geflissentlich
zurückgeschlagen, damit das
Wappen recht sichtbar würde.
Dieser hochbetagte, zahnlose
Heilige mit seinem so ganz
individuellen, lauernden, aber
nichts weniger als schönen
Zügen, scheint Porträt. Por¬
trät von wem? Nun doch
gewiss von dem Abt Guido
Gersi, dem BestellerderBilder,
dessen Wappen so nachdrück¬
lich an dem Felsensitze lehnt.
(Auf der Abb. 5 ist nur noch
der obere Teil des Wappens
schwach zu erkennen.)
An dem Einsiedel Paulus
gegenüber ist die Ähnlichkeit
mit Grünewald selbst, wie
wir sein Gesicht aus seinem
Selbstporträt (Abb. 6) kennen,
eine ganz frappante; man
vergleiche die Kopfhaltung,
den Haarwuchs, die Furchen
der Stirn, die Eigenart des
Blickes. Wir sehen also wohl
Meister und Auftraggeber,
Künstler und Mäcen auf
diesem schönen Bilde vereint.
Wie oft mag angesichts der entstehenden Gemälde der
temperamentvolle Maler dem kunstsinnigen Abt so
vordemonstriert haben, wie hier der Paulus es thut!
Beiden gebührte ein Ehrenplatz auf dem Altargemälde;
sie hätten ihn schöner nicht finden können als in¬
mitten dieser paradiesischen Wüste.
Noch ein zweiter Donator kommt auf dem Altar¬
werk vor: er kniet in halber Grösse rechts vom ge¬
schnitzten hl. Augustinus (vgl. Abb. 1). Die Beschrei¬
bung von 1789 will in der Figur einen Hirten er¬
kennen. Sie ist aber ganz sicher als Antoniterabt
kenntlich gemacht. Der Abt ist bartlos und besitzt
grosse Ähnlichkeit mit dem Vorgänger Guido Gersi’s,
dem Abt Jean d’Orliac, dessen Züge uns Schongauer
auf seinem Isenheimer Autoniusbild links unten neben
dem Wappen überliefert hat (vgl. Springer’s Hand¬
buch IV. ^ Fig. 44). Von Jean d’Orliac wurde vermut¬
lich der geschnitzte Altarschrein gestiftet, dem dann sein
Nachfolger erst die gemalten Flügel anfügte. So sehen
wir also bei geöffnetem Altar
sowohl den Donator des
Schnitzwerks, als den der
etwas später gemalten Flügel
dargestellt und zwar zur
Linken des zu ehrenden
Heiligen, also an dem für
männliche Donatoren her¬
kömmlichen Platze.
Angesichts der so mangel¬
haften Aufstellung des Altars,
der seine ursprüngliche Wir¬
kung so schlecht zur Geltung
kommen lässt, erwacht be¬
greiflicherweise der sehr leb¬
hafte Wunsch, dass man doch
dies hoch monumentaleWerk
in seiner einstigen Gestalt
wieder erstehen lassen wolle.
Der jetzige Standort erlaubt
es. Kein wesentlicher Be¬
standteil fehlt. Nur wird
bezweifelt, ob die Tafeln
mit ihrem brüchigen, wurm¬
stichigen Holz es vertragen
würden, neugerahmt und
dann fleissig vom Kustoden
um ihre Angeln gedreht zu
werden. Sollte man ihnen
das wirklich nicht mehr
zumuten können, — die
genau gleichaltrigen Altar¬
flügel im Freiburger Münster
vertragen es vorzüglich — nun so empfiehlt es sich,
wenigstens ein grosses Modell des wieder zusammen¬
gesetzten Werkes, beklebt mit den grossen Braun’schen
Photographien, im Museum in der Nähe der Originale
aufzustellen. Denn für das Verständnis und die Wür¬
digung des Ganzen wie der einzelnen Teile ist eine
anschauliche Vorstellung von dem ursprünglichen
Zusammenhalt und -hang des Werkes wahrhaftig nicht
belanglos.
Freiburg i. B. FRITZ BAUMGARTEN.
ABB. 6. GRÜNEWALD’S SELBSTPORTRÄT. KASSEL.
LUDWIG WILLROIDER. LANDSCHAFTSSTUDIE
WILLROIDER’S LANDSCHAFTEN
Willroider, der bekannte Münchner Landschafter,
hat aus dem reichen Schatze seiner künstlerischen
Gestaltungskraft eine Reihe von Proben heraus-
gegebeiP), die um so erfreulicher sind, als sie in
kurzen Zügen lehren, was »grosse Auffassung« heisst.
Er hat sich nicht mit nebensächlichen Dingen, mit
kleinlicher Behandlung des Details viel zu schaffen
gemacht, sondern die Hauptbetonung auf die Grösse
der landschaftlichen Erscheinung, die Wirkung von
mächtigen Baumsilhouetten gegen massig behandelte
Lüfte gelegt. Es soll kein Vorwurf sein, wenn ge¬
sagt wird, dass in vielen der Blätter ein Rembrandt-
scher Geist sich in Bezug auf die Darstellungsweise
gross empfundener Motive kundgiebt. Die Originale,
1) Landschaften von Prof. Ludw. Willroider. i8 Zeich¬
nungen auf 12 Blatt in Mappe. Format 26:34 cni. Preis
5 Mark. München, Verlag von Fr. Rothbart.
nicht viel umfangreicher als die im Druck sehr tonig
und weich erscheinenden Reproduktionen, sind in
Kohle ausgeführt. Die Technik eignet sich sehr gut
gerade für das zur Anwendung gekommene Re¬
produktionsverfahren, die Autotypie. Keine ver¬
bessernde Hand hat hier die Handschrift, die im
Original sich kundgiebt, irgendwie beeinflusst. Es
ist Eaksimile im besten Sinne des Wortes. An Mappen
mit allerlei figuralen Kompositionen verschiedenen
Wertes ist der Kunsthandel überreich. Um so mehr
ist hier das Werk eines Landschafters zu begrüssen,
der schon so oft Proben seiner Kraft gegeben und
dies im vorliegenden Falle in einer Weise zu ge¬
stalten gewusst hat, welche die Mappe in erster Linie
in die Reihe jener modernen Veröffentlichungen stellt,
die unter der Devise: »Gut und billig« dazu bei¬
tragen, künstlerische Anschauung in weitesten Kreisen
gross zu ziehen! v. B.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., O. m. b. H., Leipzig
LUDWIG WILLROIDER (MÜNCHEN) STUDIENBLATT
ALBERT BELLEROCHE
MIT ZWEI ORIGINALLITHOGRAPHIEN
UM diesen Künstler zu charakterisieren, muss
ich erzählen, wie ich ihn kennen lernte. Das
war bei Gelegenheit der Beerdigung Zola’s,
und somit verdanke ich die Bekanntschaft mit Belleroche
keinem andern
als Emil Zola.
Freilich ganz in¬
direkt, und Zola
selbst hatte da¬
mit nichts zu
thun, ebenso¬
wenig wie Belle¬
roche, der mir
deutlich zeigte,
dass ihm an der
Bekanntschaft
nichts gelegen
war. Und ge¬
rade das impo¬
nierte mir und
bewog mich,
dieser Spur
nachzugehen.
Also ich
wollte den Lei¬
chenzug Zola’s
sehen und such¬
te nach einem
passenden
Standorte. Dazu
brauchte ich ein
Fenster in einem
Hause, an dem
der Zug vor¬
überkommen
musste. Auf der
Jagd nach einem
solchen Fenster
begegnete mir
ein befreundeter
Maler. Ich rief
ihn an:
»Kennen Sie
jemand, der an
dieser Strecke
wohnt?« ÖLGEMÄLDE VON
»Ich kenne
sogar jemand, der Zola gerade gegenüber wohnt, und
dessen Fenster sich gerade auf die Hausthüre Zola’s
öffnen.«
»Da müssen Sie mich hinführen.«
Der Mann machte ein bedenkliches Gesicht:
»Hinführen kann ich Sie schon, aber ob uns der
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 12.
Mann hereinlässt, ist eine andere Frage. Er ist
nämlich, mit Respekt zu vermelden, etwas kurios. Er
öffnet vielleicht die Thüre selbst, schaut uns an, und
wenn ihm unsere Köpfe nicht gefallen oder ihm aus
irgend einem
andern Grunde
unser Besuch
unwillkommen
ist, macht er
ohne ein Wort
der Erklärung
seineThürewie-
der zu.«
»Na, wenn das
das schlimmste
ist, was uns
passieren kann,
so können wir
es ja einmal ver¬
suchen.«
So kühn re¬
dete ich, weil
ichVertrauen zu
dem Sesam der
zeitungsschrei¬
benden Zunft
besass. Ich
dachte mir, und
viele Erfahrun¬
gen berechtig¬
ten mich zu die¬
sem Glauben,
wenn der selt¬
same Einsiedler
erführe, dass ich
zu den Leuten
gehöre, die in
Amerika die
Rangstufe von
kommandieren¬
den Generälen
bekleiden, wer¬
de er sofort
freundlich wer¬
den, in derHoff-
A. BELLEROCHE nung, eiiieHaiid
werde die an¬
dere waschen, und seine Freundlichkeit werde eventuell
durch eine kleine Reklame vergolten werden.
Aber ich hatte mich getäuscht. Belleroche hörte
uns zwar an, schlug jedoch mein Anliegen mit aller
wünschenswerten Offenheit ab, ohne auch nur die
geringste Höflichkeitsphrase zu machen. Das impo-
37
288
ALBERT BELLEROCHE
nierte mir, und ich dachte in meinem Sinn, so ein
seltener Vogel müsse näher studiert werden. Erstens
als ein Franzose, der keine liebenswürdigen und
nichtssagenden Phrasen macht, zweitens als ein noch
unbekannter Künstler, der einem Journalisten einen
kleinen Gefallen verweigert.
Ein paar Wochen später kam ich wieder. Belleroche
war zufällig wenig zur Einsiedelei geneigt. Er machte
auf, und ich sagte ihm ohne Umschweife ich sei
gekommen, weil es mir gefallen habe, neulich von
ihm hinausge¬
worfen \-'orden
zu sein, denn
unabhängige
Menschen ge¬
fielen mir. Diese
Erklärung
machtenun wie¬
derum dem Ma¬
ler Vergnügen,
und so war die
Sache in Gang
gebracht.
jetzt bin ich
sehr froh, dass
ich so gehan¬
delt habe. In¬
dessen bitte ich
doch meine Le¬
ser, nicht glau¬
ben zu wollen,
dass es genügt,
mich die Treppe
hinunterzuwer¬
fen, um meine
Freundschaft zu
erwerben. Mit
Nichten und im
Gegenteil! Aber
es gefällt mir
allerdings,wenn
Leute, denen
die öffentliche
Meinung so viel
helfen kann, auf
diese öffentliche
Meinungpfeifen
und unbeküm¬
mert um Zei¬
tungen und Kritiker ihren Weg gehen. Zu diesen
wahrhaft seltenen Künstlern gehört Albert Belleroche,
und selbstverständlich ist es ihm aus diesem Grunde
so ergangen, wie es unabhängigen Einsiedlern er¬
gehen muss:
Wer sich der Einsamkeit ergiebt.
Ach, der ist bald allein.
Ein jeder lebt, ein jeder liebt.
Und lässt ihn seiner Pein.
Das klingt etwas sentimental und deshalb falsch,
denn sentimental ist Belleroche nicht im geringsten.
Er ist auch kein eigentlicher Einsiedler, sondern er
ist ganz einfach ein Mensch, der das Glück hat, seine
Kunst nicht zur Industrie machen zu müssen. Da
er nicht nötig hat, dem Gelderwerb nachzujagen,
kann er sich ruhig in seine Kunst einspinnen und
hier thun und lassen was ihm behagt, ohne sich
irgendwie um den Kunstmarkt und um den Beifall
der Menge zu kümmern. Und bei diesen Arbeiten
in der verborgenen Stille seiner Werkstatt, wo er
sich von keinem Menschen stören lässt, verliebt er
sich ordentlich
in seine Schö¬
pfungen und
bei dem Gedan¬
ken, dem frem¬
den Publikum
seine Sachen zu
zeigen, scheint
ihn so etwas
wie Eifersucht
anzuwandeln.
Er hütet also
seine Leinwand
undseineBlätter
mit eifersüch¬
tiger Sorgfalt,
und es kostet
intime Bekannt¬
schaft und lange
Überredung,
ehe er eine Map¬
pe öffnet und
ihren Inhalt
zeigt. Um aber
gar in den Win¬
kel Zutritt zu
erhalten, wo die
Presse steht und
wo der Künstler
in schmierigem
Schurzfell mit
nackten Armen
mit den Steinen
und der Tinte
herumhantiert,
muss man mit
Belleroche zahl¬
reiche Seidel
Bier und meh¬
rere Scheffel Salz vertilgt haben. Und als ich diesem
seltsamen Menschen davon sprach, seine Kunst den
Lesern einer Kunstzeitschrift vorzuführen, geriet er
gar in etwas, das grossem Zorne ähnlich sah. Es
bedurfte all meiner Beredsamkeit in zwei Sprachen,
um ihn für meinen Plan zu gewinnen.
ln zwei Sprachen redete ich zu ihm, weil Belleroche
zwar den französischen Namen hat und in Paris lebt,
aber Engländer ist und in London geboren ist. Da¬
mit wird auch seine Grobheit unwillkommenen Be¬
suchern gegenüber leichter erklärlich. Grobe Franzosen
giebt es nicht oder beinahe nicht, und wenn in
ÖLGEMÄLDE VON A. BELLEROCHE
ALBERT BELLEROCHE
289
Frankreich jemand wirklich grob ist, fliesst fast immer
das Blut irgend eines germanischen Stammes in seinen
Adern.
Belleroche verkehrt nur mit wenigen Menschen,
und seine intimsten Freunde sind Leute wie die
Maler Degas und Jaques Rizo, die beide in künst¬
lerischen Kreisen um ihres kaustischen Witzes und
ihrer scharfen Satire willen berühmt sind. Belleroche
ist nicht so grimmig wie diese beiden, aber er stimmt
mit ihren Ansichten über Kunstausstellungen, Jurys,
Medaillen, Publikum und Kritik überein, und deshalb
ist es leicht verständlich, dass er allen diesen Dingen
mit der unendlich¬
sten Verachtung
gegenübersteht
und von ihnen
nichts wissen will.
Erarbeitet also nur
für sich allein und
für die drei oder
vierFreunde, denen
er das Heiligtum
seinerMappen oder
gar seiner litho¬
graphischen Werk¬
statt aufschliesst,
und das Kaufgebot
eines reichen, aber
unverständigen
Mannes würde ihn
mehr ärgern als
freuen.
Die besondere
Eigenart und Stärke
Belleroche’s zeigt
sich am deutlich¬
sten in der Litho¬
graphie. Hier ver¬
dankt er seine
ausserordentlichen
Wirkungen nicht
zum geringsten
seiner vollkomme¬
nen Beherrschung
der Technik. Die
allermeisten Künst¬
ler, die in diesem
Gebiete der Kunst
thätig sind, begnügen sich mit der Zeichnung, die
sehr oft erst nachträglich auf den Stein gebracht
wird. Wenn ein Künstler direkt auf den Stein
zeichnet, thut er schon mehr, als man durchschnitt¬
lich erwarten darf. Dass er aber seine Zeichen¬
stifte aus der selber in brodelnden Tiegeln zu¬
sammengebrauten Mischung herstellte, nachher an die
Presse ginge, alle Papiersorten durchprobierte, rast¬
los immer neue Versuche mit allen erdenklichen
Mischungen von Tinten machte, den Druck der Presse
und tausend andere Kleinigkeiten mit in das Feld
seiner Experimente einbezöge und überhaupt nicht
nur Zeichner, sondern auch Drucker und Chemiker
wäre und in alle Winkel und Details, die irgendwie
von Bedeutung sein können, eindränge, um den
Steindruck von der ersten bis zur letzten Manipulation
von dem bewussten Willen des Künstlers abhängig
zu machen, das kommt nur in den allerseltensten
Fällen vor.
Das Resultat dieser technischen Bemühungen
Belleroche’s ist überraschend. Lithographien, wie die
beiden Stillleben und wie seine zahlreichen Frauen¬
studien, hat man vor ihm überhaupt noch nicht ge¬
macht, und weder Gericault und Delacroix noch
Manet und Carriere haben es verstanden, in ihren
Lithographien
diese verschiede¬
nen Grade von grau
bis zum tiefsten
schwarz hervorzu¬
bringen, welche bei
den Blättern Belle¬
roche’s den Be¬
schauer verblüffen.
Auf den ersten
Blick glaubt man
Radierungen vor
sich zu haben, so
kräftig sind die
Abstufungen der
Tonstärke. Das
Sujet thut bei Belle¬
roche gar nichts
zur Sache, dieTech-
nik ist alles, zu¬
nächst die des
Zeichners, dann
die des Druckers.
Gerne würde ich
meinen Lesern et¬
was von den Ge¬
heimnissen des
Druckers Belle¬
roche verraten , aber
das geht nicht an,
einmal weil ich sie
nicht kenne, und
das ist der Haupt
grund, und dann
weil ein solcher
Verrat vermutlich
doch nicht viel nutzen könnte. Als Zeichner berührt er
sich mit dem schon erwähnten Degas, als Maler kann
man vielleicht einen verwandten Zug zwischen ihm
und Sargent finden.
ln seinen Ölgemälden ist er als Porträtist den
schärfsten Beobachtern und energischsten Schilderern
ebenbürtig. Sein Porträt des Malers Rizo, das hier
wiedergegeben ist, zeigt diesen grimmigen Spötter
und satirischen Humoristen in so erschöpfender Auf¬
fassung, dass man dieses Bild nur anzuschauen braucht,
um die wunderliche Kaustik des Rizo’schen Gemütes
zu spüren und seine zersetzende und lächelnde Kritik
ordentlich von seinen Lippen abzulesen. Als Malerei
ÖLSTUDIE VON A. BELLEROCHE
37
2go
ALBERT BELLEROCHE
nicht weniger stark, wenn auch weniger tief als
Charakterstudie ist der gleichfalls hier abgebildete
weibliche Kopf. Hier wie dort ist alles mit energischen,
breiten Strichen hingesetzt, so sicher und fest, dass
man unwillkürlich an den grössten Meister kecker,
sicherer und charaktervoller Porträtkunst, an Frans
Hals, denken muss.
In seinen Interieurs, die den grössten Raum in
der Malerei Belleroche’s einnehmen, wandelt er auf
Pfaden, die sich denen Lobre’s nähern, ohne aber
jemals ganz mit ihnen zusammenzutreffen. Er ist
weit kräftiger und farbiger als dieser, versteht es
aber wie er, sanfte Lichtwellen in heimliche Dämmer¬
räume zu leiten und einen solchen Raum mit einer
musikalisch abgetönten Atmosphäre zu erfüllen,
welche die Gegenstände mit ihrem weichen Dufte
umhüllt. Während er in seinen Bildnissen an Frans
Hals erinnert, kommt er in manchen seiner Interieurs
den Meistern van der Meer und de Hooch nahe.
So stark und interessant er uns aber auch in seiner
Malerei gegenüber tritt, am interessantesten und eigen¬
artigsten ist er in der Lithographie, worin sich ihm
schlechterdings kein anderer Künstler vergleichen lässt.
Die hier beigegebene Originallithographie des Still¬
lebens spricht besser für die Eigenart des Künstlers,
als ich es in langen Sätzen könnte. Die auf den
Stein gezeichneten beiden Kinderköpfchen zeigen uns
weniger von der brillanten Technik Belleroche’s, die
besser, obschon selbstverständlich nur unvollkommen
in den kleinen photographischen Nachbildungen zur
Geltung kommt. Jedenfalls werden diese Nachbil¬
dungen genügen, um eine Vorstellung von der litho¬
graphischen Technik und von der sicheren Zeichenkunst
Belleroche’s zu geben, während ihn die beiden zu¬
gleich mitgeteilten Porträts als ausserordentlich scharfen
Charakteristiker vorstellen.
KARL EUGEN SCHMIDT.
A. BELLEROCHE. PORTRÄT DES MALERS RIZO
NACH EINER LITHOGRAPHIE VON A. BELLEROCHE
NACH EINER LITHOGRAPHIE VON A. BELLEROCHE
NACH LITHOGRAPHIEN VON A. BELLEROCHE
NACH EINER LITHOGRAPHIE VON A. BELLEROCHE
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1Q03
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DER URSPRUNG DER ROMANISCHEN« KUNST
Von Josef Strzygowski
ES giebt, glaube ich, heute noch alte Leute, die das,
was wir romanisch getauft haben, byzantinisch
nennen. Ich erinnere mich der Enttäuschung, die
ich als Student erlebte, als ich mir Heideloff’s Kleinen
Byzantiner, ein Taschenbuch des byzantinischen Bau¬
stiles« oder Verneilh’s »L’Architecture byzantine en
France« anschaffte. Ich suchte Aufschluss über den
Orient und fand eine Vorführung, die bei Heideloff
z. B. in dem Satz gipfelt: »Die Glanzperiode der
byzantinischen Kunst für Deutschland war das zehnte
und elfte Jahrhundert.« Das war die Auffassung im
zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Man hatte
sich damals über das Griechische und Römische
heraus zu einer Anerkennung auch der mittelalter¬
lichen Baustile durchgearbeitet und sah die unantike
Art des Phänomens klarer als die Wissenschaft
von heute. Das ist immer so: der erste Blick giebt
den Eindruck deutlicher, die nachträgliche Reflexion
im einzelnen raubt die Unbefangenheit in Ansehung
des Ganzen, besonders, wenn dazu durch einen falschen
Analogieschluss noch Verwirrung angerichtet wird.
So hat die Kunstgeschichte von der Sprachwissen¬
schaft den Namen »romanisch« entlehnt und nimmt
nun der Sprachentwickelung parallel an, das Romanische
habe sich durch Einwirkung des Germanischen aus
dem Lateinischen entwickelt. Sie ist damit meiner
Überzeugung nach in eine von vornherein verkehrte
Strömung geraten. Wenn man einen Stil den
romanischen nennen darf, so ist es jener der Re¬
naissance. Nur sieht man leider auch da falsch. Die
Renaissance entsteht auf italienischem Boden nicht spon¬
tan aus dem Studium von Natur und Antike, sondern
dadurch, dass man die vom Norden her, in erster
Linie durch die sogenannte Gotik mächtig angeregte
Formkraft — und sie allein ist das Entscheidende, der
Kern — in Italien durch die Anwendung antiker Formen
und Konstruktionsgesetze, sowie durch wissenschaftliche
Studien in ein neues Fahrwasser leitet. Das war es,
was ich im Auge hatte, als ich im »Werden des
Barock« sagte, die Bedingungen für den Eintritt des
Barock Hessen sich im letzten Gliede zurückverfolgen
bis auf die Völkerwanderung.
Vom Orient und nicht von Hellas und Rom aus
werden die Fundamente gelegt, auf denen sich all¬
mählich die mittelalterliche und neuere Kunst entwickelt.
Rom ist in der massgebenden Zeit ohnmächtig. Es ist
die im Orient mächtig emporgewachsene Kirche, die
im vierten und fünften Jahrhundert als der eigentliche
Stützpunkt der Kultur und Kunst des Abendlandes
gelten muss. Um nicht missverstanden zu werden,
betone ich: die Kirche des Orients, nicht Byzanz. Die
neue Metropole am Bosporus war damals kaum erst
durch den Willen eines mächtigen Fürsten geschaffen,
sie war in der Bildung begriffen unter ähnlichen Vor¬
bedingungen, wie sich die Kirche und ihre Kunst in
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. Ff. 12.
den keltischen Stammländern formierte. — Diese An¬
schauung ist in mir gereift, bevor ich noch sah, dass
die Theologen und Litterarhistoriker allmählich zu der
gleichen Erkenntnis durchdringen. Am schlagendsten
treten die Verhältnisse hervor in der Geschichte der
Liturgie. Dass Mailand und Gallien die griechische,
nicht die sogenannte römische Liturgie besassen, weiss
man längst. Jetzt entdeckt Drews^), dass selbst der
römische Kanon derselbe ist wie jener der altsyrischen
Liturgie und W. Meyer veröffentlicht eben das Bruch¬
stück der ältesten irischen Liturgie, die den Stempel des
Orientalisch-Griechischen vielleicht schon im Äussern
an sich trägt ^). Nur aus diesem Übergewicht des
Christlich -Orientalischen in der Kirche des vierten
und fünften Jahrhunderts verstehen wir auch, wie die
Iren in karolingischer Zeit als Träger griechischer
Bildung auftreten können. Durch den heidnischen
Wall der Angelsachsen vom Kontinent isoliert, haben
sie die alte Kultur der nordischen Kirche bewahrt
und treten dann in einer Zeit, wo Rom längst seine
Herrschaft über das Abendland durchgesetzt hatte,
deutlich als Verkünder der ursprünglichen Zustände
hervor^).
Doch ich will nicht zu weit ausgreifen. Einer
Einladung des Herausgebers folgend, soll ich hier
mein neues Buch »Kleinasien, ein Neuland der Kunst¬
geschichte« selbst einführen ^). Man wird dort alles
ausführlicher erörtert finden. Ich freue mich der Ge¬
legenheit, das Buch, nachdem ich mit ihm gewachsen
bin, rückblickend als Ganzes überschauen zu dürfen.
Trügt mich nicht die Entdeckerfreude, so wird es
manchem Suchenden Anregung und Richtung bringen.
Ich greife hier nur das eine im Titel genannte Problem
heraus. Wie kann man von Kleinasien aus auf den
Ursprung der romanischen Kunst kommen? Als ich
anfing über die kleinasiatischen Denkmäler, die durch
das Vertrauen von Fachgenossen aller Länder zur
Veröffentlichung in meine Hände gelegt waren, nach¬
zudenken, da ahnte ich freilich so wenig wie wohl
sonst irgend jemand, dass die Dinge weit über den
Orient hinaus Bedeutung gewinnen könnten. Es war
beim Nachsinnen über einen für den römischen
Kongress angekündigten Vortrag, dass mir die Schup¬
pen von den Augen fielen. Ich war genötigt, vom
Abendland aus auf das Erarbeitete zurückzublicken.
1) Zur Entstehungsgeschichte des Kanons in der
römischen Messe.
2) Nachrichten von der Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen
phil.-hist. Klasse 1903, S. 1631 Ähnlich liegt der Fall be¬
züglich der Sterbegebete.
3) Vergl. dazu Zimmer, Pelagius in Irland, S. 5.
4) Kleinasien, ein Neuland der Kunstgeschichte.
Kirchenaufnahmen von J. W. Crowfoot und J. I. Smirnov,
bearbeitet von Josef Strzygowski. Leipzig, J. C. Hinrichs-
sche Buchhandlung.
38
296
DER URSPRUNG DER »ROMANISCHEN« KUNST
Mailand gab den Schlüssel; ich sah, dass es zu¬
sammen mit Ravenna und Marseille den Norden
von Rom abschnitt und seine Thore vor allem durch
den heiligen Ambrosius weit für den Orient öffnete.
Aber da strömte ja in erster Linie hellenistischer Geist
ein. Die -romanischen« Formen jedoch sind auf den
ersten Bück viel mehr orientalisch als griechisch. Wo
konnte da die Quelle liegen? So kam ich auf die
bahnbrechende Bedeutung jener Macht, die das ganze
Mittelalter hindurch kulturell die Führung behielt,
die Klostertradition. Das Mönchswesen ist eine spe-
zifisc!'! orientalische Einrichtung, seine Kunstformen
sind nicht in den führenden hellenistischen Gross-
siädten, sondern in deren Hinterländern, nicht in
Alexandria, Antiochia und Ephesos, sondern im
eigentlichen Äg}'pten, Syrien und Kappadokien ent¬
standen. Ägyptische und syrische Mönche, sowie die
kleinasiatischen Basilianer waren es, die diese im
inneren Orient ohne wesentliches Zuthun der Antike
entstandenen Formen nach dem Abendland über¬
trugen. Und da diese Klostertradition schon im
Oriente keine einheitliche war, am Nil eine andere
Bauart als in Centralsyrien herrschte und dort anders
als im zentralen Kleinasien gebaut wurde, so kamen
allerhand Varianten von Anfang an nach dem Westen.
So erklärt sich dann auch die rätselhafte Mannig¬
faltigkeit der romanischen Bauformen gleich bei ihrem
ersten Auftreten. Wenn der romanische Stil eine
nationale Bauform wie der griechische oder gotische
wäre, müsste er ganz anders einheitlich erscheinen,
statt, wie Heideloff sagt, jede Regel auszuschliessen
und sich frei wie der Vogel im Fluge zu bewegen.
Es könnten die Schmuckformen wie im Ionischen
und Korinthischen wechseln, ein streng einheitlicher
Bautypus aber, wie der dorische in der Entwickelung
des antiken Tempels, müsste doch durchschlagen.
Statt dessen ist im Abendlande eher das Ornament
stetig, weil es durchsetzt ist vom Völkerwanderungsstil
und den Vorbildern der lokal vorhandenen römischen
Ruinen, sowie von der Art hellenistisch-byzantinischer
Werke der Kleinkunst. Gerade das Skelett aber, das
jede nationale Kunst einheitlich durchsetzen muss, der
Bautypus, wechselt fortwährend. Man hat dafür die
Verschiedenheit der Bedingungen in den einzelnen
gallo-fränkischen Landesteilen verantwortlich machen
wollen; das langt nicht: es sind die verschiedenen
orientalischen Wurzeln, die den eigentlichen Schlüssel
zu dieser Erscheinung liefern.
Ich stehe heute noch am allerersten Anfänge
dieser Beobachtungen. Mich beschäftigten grössere
Arbeiten über Ägypten'), als ich, dem Druck der
Umstände nachgebend, Kleinasien den Vortritt gab.
Aber gerade das vorausgehende Studium des Ägyp¬
tisch- und Syrisch- “) Christlichen Hess mich die Incli-
1) Ich bereite mit Somers Clarke und Herz-Bey eine
unter der Ägide des Comite de Conservation des monu-
ments de l’art arabe erscheinende Monographie über die
Kirchen und Klöster Ägyptens vor.
2) Es sind die Ergebnisse der Studienreisen von
Dr. Max Freiherrn von Oppenheim und R. Brünnow, die
mir zur Bearbeitung freundlichst überlassen wurden.
vidualität des Central-Kleinasiatischen vielleicht deut¬
licher erfassen. Mit Bewilligung des Verlegers kann
ich hier eine Probe dessen, was als typisch central¬
kleinasiatisch gelten kann, in Abbildungen vorlegen.
Ich greife den Typus der reinen Basilika ohne Kuppel
heraus. Der Grundriss Abbildung 1 zeigt die Kirche 111
von Binbirkilisse. Man beachte zunächst die Ein¬
gangsseite. Zwischen zwei nur vom Innern aus zu¬
gänglichen Kammern öffnet sich eine offene Vorhalle.
Das findet man auch in Syrien, wo noch Bauten erhalten
sind, die zeigen, dass es sich hierum die im Abendlande
lOcTm 5 0 1 2 r! 4 r, m
[ll.i|n..| |,i-| , r-H. [
ABB. I. BINBIRKILISSE, KIRCHE III (NACH SMIRNOV);
TYPISCH CENTRALKLEINASIATISCHER GRUNDRISS
SO grossartig weiterentwickelte Turmfassade handelt.
Dann das Innere: nicht Säulen, sondern Steinpfeiler
eigener Art gliedern die drei Schiffe. Bei näherem
Zusehen erkennt man den auch im Abendlande typisch
gewordenen Pfeiler mit angearbeiteten Halbsäulen.
Es ist das Ausgangsmotiv des Bündelpfeilers, um das
es sich hier handelt. Weiter sieht man die Um¬
fassungsmauern durchbrochen von jenen durch eine
eingestellte Teilung gebildeten Doppelfenstern, eine
Einführung, die sich dann in mannigfacher Weise im
Abendlande weiterentwickelt hat. Abbildung 2, das
Innere einer der grösseren Kirchen (I) von Binbirkilisse,
ABB. 2. BINBIRKILISSE, KIRCHE I (NACH CROWEOOT): INNENANSICHT MIT JÜNGEREM EINBAU
ABB. 3. BINBIRKILISSE, KIRCHE V (NACH CROWEOOT); INNENANSICHT
298
DER URSPRUNG DER
ROMANISCHEN« KUNST
zeigt die alte Wölbung zum Teil erhalten. Die Tonne,
die noch über dem Westende des Mittelschiffes sicht¬
bar ist, rührt von einem etwas jüngeren Einbau her,
den man vornahm, als das alte Tonnengewölbe mit
seinen Gurten in Hufeisenform baufällig wurde. Man
sieht hinter dem Einbau unten die alten Arkaden
sie sind Itei den kleinasiatischen Kirchen wie in Spanien
öfter im Dreiviertelbogen durchgeführt, der dort
überhiv it sogar im Grundriss dominiert — darüber
zwi-^Liien den Gurten die Fenster des überhöhten
ivlitt'.T cidik .. Dann beginnt das Gewölbe. Die
Ab'-'iMeug allein macht klar, dass es sich um die
lii ';d'-c gewiilbte Basilika handelt wie im Romanischen,
ScltL-' '.i-'onstruktionen wie in Centralsyrien kommen
nur in Kilikien (Kodscha Kalessi) vor. Daher sind
denn auch die Wölbesysteme des centralen Kleinasiens
vom höchsten Interesse; ich möchte unter anderem
darauf aufmerksam machen, dass die Wölbungsart der
Emporen in der Palastkapelle zu Aachen mit schräg
ansteigenden Tonnen, schon in den Seitenschiffen der
Kirche VI von Binbirkilisse (S. 61 meines Buches)
angewendet ist. — Um den Eindruck des Innern dieser
Kirchen frei von Einbauten zu zeigen, gebe ich in
Abbildung 3 noch die Ruine V desselben Ortes. Da
wird deutlich, dass die Erfindung des Pfeilers mit
angearbeiteten Halbsäulen aus rein konstruktiven For¬
derungen entsprang: man bedurfte eines rechteckigen
Auflagers für die breiten, massiven Bogen. Die
Byzantiner halfen sich durch Einschiebung eines
Kämpfers über dem Kapitell, in Nordafrika und in
S. Costanza stellte man zwei Säulen nebeneinander.
Kleinasien schuf das Motiv, das dann im Rippenbau
der Gewölbekirchen des Abendlandes zu so grosser
Entwickelung gelangte.
Man wird zugeben: die Beispiele, die ich hier
vorführte, haben nichts mit Rom zu thun: ln Klein¬
asien die gewölbte Kirche mit schweren Pfeilerstützen
und einer Turmfassade, in Rom holzgedeckte Innen¬
räume auf Säulen ruhend, vor dem Eingang das
Atrium. Es ist der Gegensatz des Orientalischen und
Hellenistischen, der hier vorliegt. Daraus ergiebt sich
von selbst der Schluss, dass die romanische Kirche
dem Orientalischen nahesteht und sehr wenig mit Hellas
und Rom zu thun hat. Von Rom übernimmt das
Mittelalter im wesentlichen nur das Kreuzgewölbe;
der Orient hatte mit Tonne und Kuppel gebaut. Wenn
ich einen Namen für das, was wir heute romanisch«
nennen, vorschlagen sollte, würde ich von einer
orientalischen Kunst des Nordens sprechen. Aus ihr
entwickelt germanischer Geist die Gotik. Man be¬
greift so, wie diese eine Art Antipode der Antike
werden konnte. Die Gotik erwächst eben nicht aus
dem ägyptisch-griechischen Massenbau, sondern ent¬
steht wie die Sophia in Konstantinopel als Blüte auf
dem Stamm der konstruktiven Raumkunst des eigent¬
lichen und hellenistischen Orients. Heideloff und
seine Zeitgenossen sahen daher ganz richtig, dass
nicht Hellas und Rom unsere mittelalterliche Kunst
gezeitigt haben. Sie griffen nur fehl darin, dass sie
Byzanz für den Erreger hielten. Seit die central¬
syrischen Bauten bekannt sind, lag der Weg zur
wahren Erkenntnis offen. De Vogüe selbst und
Courajod ahnten den Zusammenhang, erst Kleinasien
und Ägypten bringen die eigentliche Aufklärung. Ich
bilde mir nicht ein, die endgültige Lösung gefunden
zu haben; dessen aber bin ich sicher, die Wahrheit
wird jetzt nicht mehr durch die uns so stark in
Fleisch und Blut übergegangenen Anschauungen vom
römischen Ursprung des » Romanischen « zurückgehalten
werden können.
Der Versuch, diese Dinge klarzustellen, bildet den
allerletzten und kleinsten Teil meines Buches. Dieses
beginnt mit Vorführung der Aufnahmen J. W. Crow-
foot’s in Binbirkilisse, Jedikapulu und Ütschajak.
Dann folgt eine systematische Aufarbeitung des ge¬
samten, mir bekannt gewordenen Materials an Kirchen¬
bauten Kleinasiens. Im Basilikenbau treten deutlich
die beiden völlig verschiedenen Typen, der helleni¬
stische und der orientalische hervor. Dazwischen
vermitteln isaurische Bauten, die ich an der Hand
der Funde jener Expedition vorführen kann, die im
Vorjahre durch die Gesellschaft zur Förderung deut¬
scher Wissenschaft, Kunst und Litteratur in Böhmen
entsandt wurde. Für den orientalischen Typus lieferten
mir Aufnahmen J. 1. Smirnov’s reiches Material. Es
folgen die verschiedenen Arten des Centralbaues.
Dem Leser dürfte da eine kaum geahnte Welt auf¬
gehen, die orientalisch-hellenistische, von der wir bisher
nur im Wege des »Byzantinischen« Proben vor Augen
hatten. Das Oktogon ist fast im Dutzend vertreten,
S. Vitale bekommt eine sehr beachtenswerte, bis ins
4. Jahrhundert hinaufgehende Gesellschaft. O. Puch¬
stein lieferte einen Hauptbeitrag mit Aufnahmen des
ovalen Oktogons von Wiranschehr in Syrien. Ganz
auf den Osten beschränkt blieb der Typus der Kuppel¬
basilika. Hauptbeispiel ist Kodscha Kalessi und der
syrische Bau von Kasr ibn Wardan, dessen Kenntnis
ich Dr. Max Freiherrn von Oppenheim verdanke.
Das Kapitel »Kreuzkuppelkirche«, unter welchem
Namen ich den späteren byzantinischen Haupttypus
verstehe, findet in Kleinasien Belege nicht so sehr
für die ersten Anfänge, als vielmehr im Hinblick auf
die Bedeutung Armeniens in der Entwickelung dieser
Bauform. Der dritte Hauptabschnitt wendet sich
Datierungsfragen, der vierte der Stellung Kleinasiens
zwischen Orient, Hellas, Rom und Byzanz zu. Erst
im letzten Abschnitte (S. 194) berühre ich unter dem
zusammenfassenden Titel »Kleinasien, ein Neuland
der Kunstgeschichte« auch die Frage kleinasiatischer
Lehnformen im Abendlande, zunächst mit Rücksicht
auf Plastik und Malerei für die altchristliche Kunst
und zum Schluss für die Baukunst des Mittelalters.
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
Von Emil Hannover in Kopenhagen
Kommenden Zeiten wird es nicht so schwer
fallen wie der unseren, die vielen geistigen
Bewegungen zu sondern, die vereint den Rück¬
schlag gegen den Naturalismus veranlassten. Natürlich
war etwas Romantik dabei im Spiele, Widerwillen
gegen das Leben wie es ist und wie es sich die
gegenwärtige Kunst begnügt hatte, uns zu zeigen;
Sehnsucht nach dem Leben wie es war oder wie es
allem Anscheine nach der kindlichen Anschauung einer
ehemaligen Kunst vorgekommen ist. Wenn nicht an
anderen geistigen Absonderlichkeiten — wie ausser¬
halb der Kunst z. B. Spiritismus und andere Arten
des Mystizismus — so liesse sich der Anteil, den die
Romantik am Rückfall gegen den Naturalismus hat,
an der Schwärmerei für das Mittelalter und die Früh¬
renaissance erkennen, in der sie sich häufig am
klarsten äusserte. Denn die Schwärmerei hierfür ist
ein oft nachgewiesener und wohlbekannter Einfluss
des vernunftbetäubenden Duftes, der von der blauen
Blume der Romantik emporsteigt, so oft sie ihren
Kelch wieder öffnet. Man hat — um nur ein paar
Beispiele anzuführen — diesen Einfluss in Deutsch¬
land ungefähr 1815, in England ungefähr 1848 be¬
obachtet, ehe man ihn ungefähr i8go in Frankreich
wahrnahm. Doch während die Schwärmerei für das
Mittelalter und die Frührenaissance in Deutschland
durch die Nazarener, in England durch die Präraffae-
liten und in Frankreich im Salon de la Rose-Croix
der Ausdruck für eine Art Lebensanschauung war,
wurde sie in Dänemark mit verschwindenden Aus¬
nahmen nur der Ausdruck einer Kunstanschauung,
Was sich dort von Gotik und anderer Romantik in
der Z.^Ä^’ßsanschauung zeigte, ging in die Zeitschrift
»Taarnet« auf und verschwand so ziemlich damit,
nachdem es nur einzelne unserer jüngsten Maler ganz
vorübergehend gepackt hatte. Wogegen die roman¬
tische /C«/zs/'anschauung selbst einige der Reiferen
unter diesen ergriff und dauernde Spuren in der
dänischen Kunst hinterliess.
In ihrer ferneren Entwicklung, die mit reissender
Schnelligkeit vor sich ging, wurde die Schwärmerei
der romantischen Kunstanschauung für die Form der
Kunst im Mittelalter und in der Frührenaissance
eine derart ausgedehnte, dass sie alle künstlerische
Form umfasste, die Auge und Sinn in grössere als
die alltäglichen Vorstellungen einführt. Eine starke
Neigung, sich in dieser Hinsicht führen, zuweilen
verführen zu lassen, kennzeichnete die neuen dänischen
Romantiker. Sie machte in kurzer Zeit, namentlich
die jüngeren unter ihnen zu Bewunderern vieler
»synthetischer«, moderner französischer Kunst, in der
man in Bezug auf Grösse und Einfachheit freilich
mehr gewagt als wirklich gewonnen hatte. Aber sie
öffnete ihnen auch in ganz anderem Masse als es
früher bei dänischen Künstlern der Fall gewesen, die
Augen für die Grösse und Einfachheit der alten Kunst.
Die Reisen nach Italien kamen wieder in Gang; Rom
oder Florenz lösten Paris als Wallfahrtsort ab, und
es galt nun nicht mehr möglichst viel kleine Bilder,
sondern möglichst viel grosse Eindrücke von diesen
Reisen nach Hause zu bringen.
Die romantische Kunstanschauung, die dadurch
zum erstenmal einige Verbreitung in Dänemark fand,
gründete sich auf die Hoffnung, dem einen Wunder¬
werke der Schöpfung, der Natur, etwas von der Grösse
wiedergeben zu können, die der Naturalismus in der
Kunst in malerische Kleinlichkeit aufgelöst hatte, und
dem zweiten Wunderwerk der Schöpfung, der mensch¬
lichen Gestalt, wieder etwas von der Würde verleihen
zu können, welche der Demokratismus, der in der
Kunst mit dem Naturalismus Hand in Hand ging,
der schlichten Wahrheit geopfert hatte. Und diese
Hoffnung gründete sich wiederum auf die Erkenntnis,
dass die Linie das wesentliche Ausdrucksmittel einer
Kunst ist, die nach Stil und Haltung strebt, und dass
die Farbe für eine solche Kunst, nur ein Mittel, kein
Ziel an und für sich ist.
Schon beim ersten Anlauf merkten diejenigen, die
den Sprung vom Naturalismus zum Traditionismus
hinüber machen wollten, dass etwas sie hemmte.
Die Ölfarbe wurde beschuldigt, dieses »etwas« zu
sein, und es machte sich ein tiefer Unwille gegen
sie geltend. Sie wäre es, so meinte man diesmal
wie unter früheren ähnlichen Verhältnissen, die die
Kunst von ihrem grossen Ziele ab und auf Irrwege
gebracht hätte. Allgemein begann man, das Heil der
Kunst in ihren alten Mitteln, in der Temperafarbe,
oder noch besser in der Freskofarbe zu erblicken.
Doch da Freskofarben eine Mauer erfordern, und
man sich mit der Leinwand begnügen musste, so
malte man entweder mit den üblichen Ölfarben »ein¬
geschlagen« matt oder mit den neuen Temperafarben,
die betriebsame Leute in den Handel brachten. Auch
die Anwendung von Gold kam wieder auf, und man
nahm in seiner Verzweiflung darüber, keinen Aus¬
druck finden zu können, der dem bloss naturwieder¬
gebenden bald in dekorativer, bald in sinnbildlicher
Wertung überlegen genug wäre, seine Zuflucht zu
den merkwürdigsten Zusammensetzungen der Mittel.
Einer stellte ein goldenes Kornfeld in getriebenem
Kupfer dar und strich die Luft auf dem Bilde mit
gewöhnlicher Ölfarbe. Ein anderer schnitzte sein
ganzes Bild in Holz, das er bemalte und in dem
er Einzelheiten in Bronze fasste. Und so Hessen
sich noch viele andere Ergebnisse der Verzweiflung
anführen, in der sich die Künstler befanden, die das
300
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
neue Evangelium im Herzen trugen, aber es nicht in
genügend bewegender Form über die Lippen bringen
konnten.
So ganz unrecht hatten sie nicht, die Künstler,
die da glaubten, dass die grossen Traditionen für die
Kunst unlöslich mit den Mitteln verbunden waren,
die die Kunst vor Erfindung der Ölfarben benutzte.
Die Ölmalerei ist es, die das Malen an der Staffelei
hervorrief, und das Malen an der Staffelei hat den
Künstler dahin gebracht, erst die monumentalen Auf¬
gaben und bald danach die monumentalen Formen
aus den Augen zu verlieren, um immer kurzsichtiger
das malerische von seinem Verhältnisse zum archi¬
tektonischen und plastischen loszulösen und so die
Einheit der Künste zu lösen, die das Geheimnis
jeder wirklich stilvollen Kunst ist. So ganz unrecht
hatten sie nicht darin, diese Künstler, dass das Wesen
der fetten, üppigen und luxuriösen Ölfarbe wenig
mit einer Kunst von dem strengen knappen Wesen
übereinstimmte, wie sie von ihnen angestrebt wurde.
In dem Masse, wie die Ölfarbe zum Zwecke der
optischen Täuschung kultiviert worden, war sie ein
Beförderer all der Auflösung der Linien und Flächen
geworden, die sie gerade zu bekämpfen trachteten.
Aber sie hatten unrecht in vielem anderen und
hauptsächlich darin, dass sie sich imstande glaubten,
sich aus dem Zusammenhänge mit dem voraus¬
gehenden Geschlechte und der Erziehung im Natura¬
lismus, die ihnen von dieser Generation zu teil ge¬
worden, herauszureissen. Mehr als einer von ihnen
zerriss sich selbst während seiner tollkühnen Versuche,
sich von seiner vorhergegangenen Entwickelung los-
zureissen. Eigentlich kamen wohl nur zwei mit heiler
Haut davon. Und das verdankten beide nur dem
Umstande, dass sie für diesen Kampf besonders ge¬
rüstet waren.
Denn die besondere Form der Begabung, die es
den Brüdern Joakirn und Niels Skovgaard ermöglicht, in
ihrer Dekorationskunst ausgeprägte Traditionisten zu
sein, obwohl sie sich in ihrer Staffeleikunst fast als reine
Naturalisten zeigen, hat ihre Ursache in Anlagen, die
diese Künstler von ihrem Vater, dem grössten Land¬
schaftsmaler Dänemarks, ererbt und welche in seinem
Hause die erste Pflege erhalten haben. Sein Talent war
nicht auf seine besondere Art des Charaktersinnes be¬
schränkt; er hatte es mit einem entwickelten Stilsinn
dubliert, den er sich durch das Studium alter Kunst
angeeignet hatte. Dieser äussert sich nicht nur in
dekorativen Arbeiten von seiner Hand, er tritt auch
in seinen späteren Landschaftsbildern zu Tage. Aber
dieser Stilsinn oder diese dekorative Befähigung, die
bei ihm überwiegend Kultur war, ist auf die Söhne
als unmittelbare Natur übergegangen, und durch er¬
neuertes Studium alter Kultur haben sie ihren Stilsinn
dermassen konsolidiert, dass er ihrem zweiten grossen
Erbteile, ihrem Charaktersinne, vollkommen ebenbürtig
geworden ist. Sie leben, diese beiden Fähigkeiten
bei den beiden Brüdern, natürlich nicht jede für sich
ihr Leben auf eigene Rechnung. Sie lassen sich
gegenseitig die Nahrung, die abwechselnd bald dem
einen und bald dem andern aus Leben und Kunst
zugeführt wird, zu gute kommen. Doch kraft einer
seltenen Zweiteilung irgendwo in den geistigen Ab¬
flüssen sind diese beiden Brüder imstande, ganz nach
Gutdünken den Strom von der einen ihrer Be¬
gabungen zu regulieren und zu reduzieren, während
die andere funktioniert und produziert. Sie haben
bei dieser Zweiteilung ihrer Fähigkeiten, die sie instand
setzte ihren Kurs abwechselnd naturalistisch und
traditionell zu berechnen, glücklich die Klippe der
Stillosigkeit umsegelt, an der so viele der anderen
scheiterten.
Keiner von ihnen hat die Farbe zum Gegenstand
einer weiteren Kultivierung und Nuancierung gemacht.
Gewohnt, die Farbe dekorativ in einem eigenen
grossen und elementaren Geiste anzuwenden, fehlte
ihnen der Sinn für die äusserste, feinste Zerlegung
der Farbe in der Natur, auf deren getreuer Wieder¬
gabe ein so grosser Teil des Wertes der nur natura¬
listischen Malerei beruht. Nichtsdestoweniger haben
sie als Naturalisten manche schöne und einzelne
ausgezeichnete Laudschaftsbilder hervorgebracht, die
frischer sind als Bilder ihres Vaters und an die besten
seiner Studien erinnern. Sie haben auch viele schöne
und vortreffliche Genrebilder gemalt. Namentlich
hat Joakirn sich als Genremaler ausgezeichnet, indem
er das Leben seiner Gattin und seiner Kinder in
demselben Heim schilderte, in welchem er selbst
seine Kindheit verlebte, und dessen genügsame Be¬
haglichkeit die Gedanken leicht nicht nur auf den
alten Skovgaard hinlenkt, der hier wohnte, sondern
auch aufseinen nahen Freund und Gesinnungsgenossen
Constantin Hansen, der von einem ähnlichen Heim
aus ähnliche Bilder gemalt hat, wenn auch in einem
ärmeren malerischen Geiste. Im grossen Ganzen
erinnern die beiden Brüder in vielen Stücken trotz
mancher Verschiedenheiten und trotz ihrer durch¬
weg glücklicheren, gleichmässigeren Anlage wohl
mehr an diesen Freund ihres Vaters, als an den
Vater selbst. Freilich stehen sie auf einer anderen
Grundlage als der, die Constantin Hansen trug.
Er stand auf der jahrhundertealten Grundlage der
Begeisterung für die alte, griechische und italie¬
nische Kunst in ihrer Blütezeit. Sie stehen auf der
neueren Grundlage der Begeisterung für die alte
Kunst in ihrer Entwickelungszeit, einer Grundlage,
die sich langsam aber sicher während des unaufhör¬
lichen Wellenganges der künstlerischen Bewegungen
im ganzen ig. Jahrhunderte abgelagert hat, und die
ungefähr seit 1890 bestimmt schien, eine Zeit oder
vielleicht Jahrhunderte lang die alte abzulösen. Daher
der moderne Archaismus der beiden Brüder im Ge¬
gensatz zu Constantin Hansen ’s altmodischen Klassi¬
zismus. Doch der Gegensatz wird gemildert und
die Verwandtschaft entsteht dadurch, dass ihr Archais¬
mus genau so wie sein Klassizismus von einem unver¬
fälschten Grundtvigianismus’) durchsäuert ist, der, kind-
1) N. F. S. Gnmdtvig, geboren 1783. Dänischer
Priester und Dichter, voll von Pathos und prophetischer
Tiefe, Stifter der noch existierenden grossen nordisch¬
christlichen Gemeinde der »Grundtvigianer«.
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
301
lieh und volkstümlich, derb und dänisch, allesQriechische
oder Italienische in seine robuste nordische Sprache
umformt. So besassen diese Brüder ausser allen
anderen Forcen, die sie vor denjenigen ihrer Zeit¬
genossen voraus hatten, die mit dem Naturalismus
brachen, auch noch die, eine Lebensanschauung ererbt
zu haben, die von Männern wie ihr Vater und Con-
stantin Hansen als Stütze einer hochstrebenden Kunst¬
anschauung geprüft und für gut befunden worden
war. Im ganzen genommen, giebt es wohl in
Dänemark keine Kunst, deren Wurzeln soweit in den
besten Traditionen verzweigt wären, als die Kunst der
beiden Brüder Skovgaard. Sie wurzelt durch das Ver¬
hältnis zum Vater und seinen Zeitgenossen im Däne¬
mark von 1848, durch Grundtvig in Dänemarks Sagen¬
zeit durch Giotto im alten Italien, durch unbekannte
Meister im ältesten und herrlichsten Griechenland.
Kein Wunder also, dass nichts so unerschütterlich
zuverlässig erscheint, als der Geschmack dieser Brüder.
Gleichartig begabt, gleichartig erzogen, gleich¬
artig gereist (namentlich in Italien und Griechen¬
land) und gleichartig technisch erfahren, schienen
sie lange Zeit bestimmt, einander gleichen zu sollen
wie zwei Tropfen Wasser, bis nach einer italienischen
Reise die Entwickelung des älteren Bruders Joakim,
der des Jüngeren vorauseilte. Die farbenreichen und
glanzvollen Landschafts- und Figurenbilder, die er
unter dem Einflüsse Zahrtmann’s und Viggo Pedersen’s
in Italien gemalt, hatten der dänischen Kunst nichts
weiter versprochen als noch einen hervorragenden
Naturbeobachter mehr. Doch schon in den Zeichnungen
zu Grundtvig’s »Der gesegnete Tag«, die er bald nach
seiner Heimkehr ausführte, herrschte eine stürmische
Phantasie, die es dem Beschauer voraussagte: gleich
einem Unwetter würde dieser Künstler über das Land
kommen können. Es zog sich in seinem Sinn zusammen
zu grosser und gewaltsamer, mutiger und trotziger
Energie. Der Sturm des kommenden Gewitters war in
den Scharen des »Bethesdadammes«, die, vom Wahn¬
sinn ergriffen, sich ins Wasser stürzen, das vom Engel
berührt wird. Es war ein Blitz des Genies in der
Paradiesmauer, die sich, himmelskühn gedacht, um die
Scene mit Christus und dem Räuber im Garten Eden
türmt. Es flammte ein anderer Blitz des Genies in
dem Blick, den »Pennina mit Hanna« wechselt.
Doch erst 1893 kam mit »Christus im Reiche der
Schatten« das ganze Gewitter zum Ausbruch. Es
muss sich um diese Zeit ein Überschuss mächtiger
Schönheitseindrücke in Skovgaard’s tiefempfänglichen
Geist angesammelt haben. Denn es ist, als hätte ein
Zusammenprall solcher Eindrücke die Explosion ver¬
anlasst, die dieses Bild verursachte. Es ist, dem An¬
schein nach nicht ohne Kenntnis von Tintoretto’s
Darstellung desselben Themas {Christo in limbo,
S. Cassiano in Venedig), auf einer Grundtvig’schen
Phantasie erbaut. Seine Grundstimmung ist ein
Halleluja, in der sich der Ton von Grundtvig’s
brausender Orgel mischt. Doch abgesehen von einigen
noch erkennbaren Zügen von Michelangelo in der
Evagestalt des Bildes, hat es der in Skovgaard’s Geist
stattgefundene Zusammenprall dieser mächtigen Schön¬
heitseindrücke aller Art mit sich geführt, dass sich
keiner daran einzeln aufzeigen lässt. Die grossartigen
Formationen auf dem Bilde verraten nur, dass grosse
Kräfte zusammengestossen sind und dass ein grosses
Naturereignis vor sich gegangen ist in der Seele eines
grossen Künstlers.
Auf diese gewaltige Entladung im Jahre 1893
scheinen stillere Zeiten in Joakim Skovgaard’s Innern
gefolgt zu sein. Seine Kunst erhielt jedenfalls ein
ruhigeres und auf einem ihrer wesentlichsten Gebiete
ein etwas weniger persönliches Gepräge. Während er
die Reihe seiner ausgezeichneten naturalistischen Land¬
schaften mit namentlich aus Hailand (Schweden) geholten
Motiven beständig fortsetzte und die kleine Anzahl
seiner Schilderungen aus Griechenland vermehrte,
unter anderen mit dem herrlichen Bilde der Karyatiden¬
halle beim Erechtheion, fand seine religiöse Bewegt¬
heit im Figurenstil Giotto’s und seiner Zeitgenossen
befriedigenden Ausdruck. (Der Altar der St. Nicolaj-
kirche in Svendborg, die Verkündigung in der Heili¬
gen Geistkirche, die Mosaiken zur Immanuelkirche,
die Vorarbeiten zur Dekoration des Doms zu Viborg.)
Freilich sprengten hin und wieder sein gesunder Geist
und die Gesundheit seiner Sinne die mittelalterliche
asketische Figurenzeichnung, die unter seiner männ¬
lichen Hand robuster, untersetzter und zuweilen auch
etwas plump wurde. Doch seine Absicht ging weit
eher darauf aus, die Formeln der alten Kunst zu be¬
wahren statt sie zu sprengen, demütig anerkennend,
dass die Gegenwart auf dem Gebiete der Kirchen¬
kunst geringe Möglichkeiten hat, etwas Neues zu
schaffen, das sich mit dem besten Alten messen kann.
Auf anderen Gebieten dagegen, hat Joakim Skovgaard’s
dekorativer Stil in Bezug auf persönliche Bearbeitung
der Überlieferungen nichts zu wünschen übrig ge¬
lassen. Man denke an seine Volksliederbilder, man
denke vor allem an die grosse Wasserfarbenzeich¬
nung der » neugeschaffenen Eva « , auf der Eva
auch künstlerisch ihrer Bezeichnung als neuge¬
schaffen entspricht, und wo auf dem ganzen Bilde
auch nicht ein Gramm Gelehrtenstaub dem Eindruck
des wonnigen ersten Morgens der Zeiten, Menschen
und Blumen etwas von seiner Frische geraubt hat.
Dass er gerade dieses Thema, gerade in diesem
reinem Geiste meistern konnte, zeugt wohl am aller¬
besten dafür, dass Joakim Skovgaard bei all seiner
Kultur imstande ist, die Schönheit der Schöpfung
nicht nur mit frischen, sondern mit urfrischen Sinnen
wahrzunehmen. Und es versteht sich von selbst, dass
diese Begabung eine Quelle ist, die seine übrigen
Anlagen durchrieselt und deren üppige Entwickelung
verursacht.
Aber seine Kunst hat ja manche Seiten, die seine
Persönlichkeit weiter und feiner bestimmen, jedoch
hier nicht in Betracht kommen dürfen, wo fast aus¬
schliesslich von der Malerei die Rede ist. Eine grosse
und reiche Wirksamkeit hat Joakim Skovgaard als
Keramiker entfaltet, und er hat, oft von Th. Bindesböll
unterstützt, auf mehreren anderen Gebieten des Kunst¬
gewerbes diesen in Dänemark neue Bahnen gebrochen.
Er hat Zeichnungen geliefert zu Siegeln und Medaillen,
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
302
zu Biichereinbänden, zu Möbeln und anderen Ge¬
brauchsgegenständen und auch zu ein paar herrlichen
Springbrunnen. Dieser Trieb und Drang, sich mit den
dekorativen Künsten zu beschäftigen, liegt in der
Familie. Er findet sich bei Niels Skovgaard wieder
und nimmt ihn so stark in Anspruch, dass dieser
Künstler, der nicht so üppig produktiv ist wie sein
Bruder, eü'-.: v-enlger reiche und eine weniger be¬
deuten! i: !:! i’iaier''sche Thätigkeit hinter sich hat
als der -licht \i niger allseitige Bruder. Auch von
Niels : r,)v.'-:äanl oesitzen wir schöne Bilder aus
Haderd aud aus Griechenland, einen einzelnen Ver-
sia !i dl piiantastischer Richtung »Der Zauberwald ,
u.'. ': nicliis, was sich mit der starken Phantasie des
Cliri.sius im Reiche der Schatten<, und nichts was
sich mit dem gigantischen Entwürfe der Dekoration
zur Domkirche von Viborg messen könnte. Niels
Skovgaard ist weniger explosiv als der Bruder, noch
mehr als dieser ein Grübler und Klügler, namentlich
ein Ausklügler zahlloser dekorativer Einfälle. Es
steckt ein wahrer Reichtum an solchen Einfällen eben¬
sowohl in seinen keramischen Arbeiten wie in seiner
Thätigkeit als Radierer und Illustrator, ln letztge¬
nannter Eigenschaft schuf er sich einen eigenen nor¬
dischen Stil, der reich an Sinnbildern wie Frölich’s
und gleichzeitig knapp und streng wie der Con-
stantin Hansen’s ist. Seine allerbesten Werke bilden
jedoch sicherlich seine Arbeiten plastischer Natur.
Sein Relief von Aage und Else, seine Grabdenkmäler
von Barfoed und Hostrup, sein Monument auf der
Lyrskover Heide gehören zu der monumentalsten
Skulptur in Dänemark. Namentlich in den letzteren
dieser gross- und derbgeschnittenen Werke grenzt die
Enthaltsamkeit von allen anderen Mitteln als den aller
notdürftigsten Linien und Formen an den sublimen
Verzicht auf alles Unwesentliche, den die ältesten
Denkmäler der Kunst uns als die höchste Weisheit
der Kunst achten lehrten.
Den beiden Brüdern steht ein dritter Künstler in
vielen Beziehungen nahe, dessen Blick aufgesperrt
von echt naiver Verliebtheit in die Natur und gleich¬
zeitig äusserst bewusst in seiner sachlichen Anschauung
des rein technischen Teiles der Kunst, eine auffallende
Mischung von Unmittelbarkeit und Reflexion verrät.
Das ist der Landschaftsmaler Viggo Pedersen. Seine
Entwickelung ist reich an Phasen gewesen, und die,
in der er sich gegenwärtig befindet, ist womöglich
noch nicht die letzte und endgültige. Es wohnt
ein Experimentator in ihm. Er war nicht nur an
der Spitze derjenigen, die für die Ablösung der Öl¬
farbe durch einen anderen Malstoff thätig waren,
sondern er hat sich auch über sein ursprüngliches
und bleibendes eigentliches Gebiet hinausgewagt und
sich sowohl in religiösen Stoffen wie in Phantasie¬
motiven und in der Porträt- und Genrekunst versucht.
Sein Stil ist auf diesen wechselnden Gebieten noch
wechselnder gewesen als er es in seiner Landschafts¬
kunst war. Denn während bei dieser im wesentlichen
nur eine einzige fruchtbare Kreuzung mit französischer
synthetischer Kunst stattfand, gingen seine Phantasie¬
figuren oder religiösen Gestalten aus flüchtigen Ver¬
bindungen mit allen Arten der Kunst von der alten
italienischen bis zur neueren deutschen hervor. Doch
unterdessen wurde er durch seine Zugehörigkeit zum
Skovgaard’schen Kreise mehr allgemein künstlerisch
bestimmt. Das lässt sich vielleicht am besten aus
den Bildern ersehen, die auch er vor seinem Daheim
malte und fast ganz in demselben Geiste, in dem
Joakim Skovgaard die seinen gemalt hat. Doch etwas
von demselben Geiste ist auch in seinen Landschaften
zu finden. Freilich liegt etwas Französisches in seiner
Vorliebe für ein üppiges, zuweilen allzu üppiges,
fettes und glänzendes Kolorit; doch gleichzeitig liegt
etwas echt Dänisches, ein Grundtvig’sches Pathos in
dem Ausdrucke seiner kernhaften, oft wirklich gross¬
artigen Grundauffassung von der Natur. Man kann
auf seinen Landschaftsbildern vielleicht nicht immer
in gleicher Weise erkennen, dass die Natur, die sie
schildern, dänisch ist; doch dass das Gemüt, mit
dem sie gemalt sind, dänisch ist, das kann man
immer erkennen.
Mehr unpersönlich, in allen möglichen, übrigens
höchst lobenswerten Vorsätzen in Bezug auf deko¬
rativen Stil aufgehend und sich dabei bald kräftig
an Viggo Pedersen, bald an Joakim Skovgaard an¬
lehnend, zeigt sich der talentvolle, doch in seiner
Persönlichkeit bisher unsichere und unfertige Land¬
schafts- und Figurenmaler Johannes Ki'i^gh. Dem
Skovgaard’schen Kreise, kraft der Simplizitas ihres
Gemütes innerlicher verbunden ist dagegen die aus¬
gezeichnete Künstlerin Elise Konstantin-Hansen, deren
Natur auch die dekorative Form besser zu liegen
scheint, da sie sich bei ihr auf dekorative Anlagen
gründet, die die Künstlerin offenbar von ihrem Vater
ererbt hat. Doch weder von Griechenland noch von
Italien, von Japan hat sie — und dasselbe gilt von
der Schwester der Brüder Skovgaard, Frau Holten —
die Weihe ihrer dekorativen Anlagen empfangen, die
sie, wie es die japanischen Künstler zu thun pflegen,
in den Schilderungen der Pflanzen und Tierwelt zur
Anwendung bringt.
Nach allen Seiten, auf alle Länder und Zeiten
waren die Blicke gerichtet, die in jenen Tagen, Ende
der Achtziger und Anfang der Neunziger, nach Formen
ausspähten, die der Kunst Möglichkeiten zur Ver¬
jüngung und Veredelung böten. Kaum ein anderer
hatte jedoch in dieser Hinsicht so offene Augen wie
Johan Rolide. Seine umfassende Bildung, seine
klare Intelligenz, seine Kenntnis der Kunst und der
Kunstgeschichte gaben ihm mit Recht eine eigene domi¬
nierende Stellung in den Reihen der Jungen, von denen
die meisten jünger waren als er. Sein Dachstübchen
in Nyhavn zu Kopenhagen wird historisch werden; denn
dort war eine Reihe von Jahren hindurch die Central¬
stelle für das Studium und die Erörterung der mo¬
dernsten Kunst. Freilich hatte Rohde mit seinen be¬
scheidenen Mitteln hiervon nicht viel sammeln können:
ein Bild von Gauguin oder Denis, einige Radierungen
von Rops, eine Zeichnung von van Gogh, eine Suite
Lithographien von Redon, eine Studie von Verkade,
ein Buch von Rysselberghe u. s. w.; aber es reichte
hin, um Stoff für Gespräche mit diesem klugen und
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
303
vorurteilsfreien Mann zu bilden, der einen aus¬
gezeichneten Kunsthistoriker abgegeben hätte, wenn
er nicht ein ausgezeichneter Künstler geworden wäre.
So vorurteilsfrei er auch als Kritiker war, so gehörte
er als Maler doch nicht zu den Unvorsichtigen, die
sich in einer einzelnen Richtung weit hinauswagten.
Er suchte eher und fand ein Justemilieu zwischen
der alten holländischen Landschaftskunst und der
modernen französischen Malerei, indem er von jener
lernte, eine dekorative Haltung mit der Silhouetten¬
wirkung eines wohlgewählten Motivs zu schaffen,
von dieser zu simplifizieren, um kurz und knapp zu
charakterisieren. Er hatte sich erst spät entschlossen,
Maler zu werden, und teils deshalb, teils weil er
sich seine Fachausbildung dadurch erschwert, dass
er noch zu denen gehört, die Versuche mit neuen
Malmitteln anstellten, fiel ihm der Pinsel schwer in
die Hand. Aber vielleicht gerade weil seine Bilder
mit ihren zahlreichen Übermalungen zeigten, wie er
sich immer wieder selbst verbesserte, um das Richtige
zu erreichen, vielleicht gerade deshalb machten diese
Bilder von Ribe oder Tönning den Eindruck einer
ganz ungewöhnlichen Gediegenheit. Zuweilen waren
sie etwas massiv in der Farbe; aber in der Stimmung
waren sie auf ganz eigene Art gesättigt und ver¬
dichtet infolge der Energie, mit der dem Charakter
der Motive zu Leibe gerückt worden war. Rohde
war in der Provinz geboren, und es bestand daher
zwischen ihm und seinen Motiven, den alten male¬
rischen Städtchen daheim oder in Holland ein echtes
und intimes Herzensverhältnis. Dadurch wurden den
Formalitäten des Stiles, für die Rohde sonst wohl
Neigung hatte und denen er in ein paar distinguierten
haltungsvollen Porträts seine Huldigung darbrachte,
Grenzen gesteckt. Im Grunde war er doch ein
Nachkomme der alten dänischen Maler, und nach
seinen letzten Arbeiten — Prospekten von Rom und
Ribe — zu urteilen, scheint er des Kampfes, den er
führte, um zu den neuen anspruchsvollen Anschau¬
ungen vorzudringen, überdrüssig geworden zu sein
und sich entschlossen zu haben, die erprobten alten
und anspruchslosen anzunehmen.
Anders seine Zeitgenossen, das Künstlerpaar
Harald und Agnes Slott-Möller, die jedenfalls darin
einander gleichen, dass sie von den Ansprüchen,
mit denen sie frühzeitig auftraten und herausforderten,
auch nicht einen Deut nachgelassen haben. Sie
hatten im übrigen ursprünglich nur wenig Gemein¬
sames. Er war mit einem reichen Talent für das
Professionelle ausgestattet; sie war in dieser Hinsicht
eher ziemlich arm. Ihre künstlerische Begabung war
überwiegend dichterisch; die seine überwiegend male¬
risch; sie schwärmte ins Blaue hinein für das Mittel-
alter, er huldigte dem Modellstudium, das ihr ein
peinliches notwendiges Mittel, ihm ein Ziel an und
für sich war. Frühzeitig steckte sie ihn indessen
mit ihrer Neigung zu geistreichem Gedankenspiel an,
ebenso wie sein leichtbewegter Sinn eine klangvolle
Resonnanz für ihr Pathos abgab. Eine Reise, die
sie 1889 gemeinsam machten, und auf der sie zum
erstenmal Italien sahen, vermehrte die gegenseitige
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. M. 12.
Übereinstimmung, indem sie beide mit einer grossen
Begeisterung für den Stil als das Adelsabzeichen der
aristokratischen Kunst erfüllte. Sie kamen heim und
brachten diesen Stilbegriff in Umlauf und damit ihre
Umgebung in starke Bewegung. Die Reisen nach
Italien wurden seitdem wieder allgemein. Es ist
historisch das Verdienst Slott-Möller’s und seiner
Gattin, auf die Stileroberung als ein für die dänische
Kunst fast vergessenes Ziel dieser Reisen hingewiesen
zu haben. Die überwältigenden Eindrücke der grossen
Kunst, die sie in Italien erhielten, kamen leider für
keinen von ihnen gerade im rechten Augenblick.
Für ihn war der Augenblick zu spät, für sie eher zu
früh. Er war schon allzu sehr im unmittelbaren
Naturstudium geschult, um sich ganz davon frei
machen und mit der vollständigen Konsequenz ab¬
strahieren zu können, die den Stil giebt. Sie dagegen
ermangelte noch allzu sehr einer solchen Schule,
als dass nicht die frühzeitige Aneignung der Abstrak¬
tionen des Stiles die Gefahr einer Stockung in ihrer
elementaren künstlerichen Ausbildung in sich be¬
greifen musste. Jedoch nur in ihrem Können un¬
sicher, in ihrem Wollen zielbewusst wie wenige,
hat sie mit einem bewunderungswürdigen Mut allen
Hindernissen getrotzt, die das Professionelle der
Kunst ihrem unbezähmbaren Drange in den Weg
stellte, sich über das, was sie auf dem Herzen hatte,
mit der Feurigkeit ihres Sinnes auszusprechen. Denn
eine wahre Herzenssache waren sie ihr, die Volks¬
lieder des dänischen Mittelalters, deren Scenen und
Stimmungen zu schildern ihre Lebensaufgabe wurde.
Seit ihrer Kindheit ungefähr fand die gedämpfte dunkle
Rede dieser Lieder Widerhall in ihrer Phantasie, und
mit dem Widerhall ihrer Strophen kamen die Geister
ihrer Gestalten. Sie spukten in ihrer Phantasie,
wie es in einer Burg spukt; bleich vor Seelenpein,
übernächtigt, ruhelos brachten sie in ihren Kleidern
eine stockige Luft aus ihren Gräbern mit. Man
darf sagen, dass es insofern immer etwas an Frau
Slott-Möller’s Kunst auszusetzen gäbe, als ja ihre Auf¬
gabe eher diejenige gewesen wäre, ein Bild des
lebendigen Menschen aus jener Zeit zu geben, an¬
statt bleiche Gespensterschatten zu verkörpern. Doch
andererseits verleiht das Gespensterhafte von Frau
Slott-Möller’s Gestalten (und das haben nicht nur
Figuren an sich, die, wie »Oluf« oder »Aage« in
»Aage und Else«, Gespenster darstellen sollen) ihrer
Kunst ein Gepräge des wirklichen inneren Erlebnisses,
auf dem ihr hauptsächlicher Wert beruht. Man merkt
es ihnen in den allermeisten Fällen an, dass sie nicht
aus Siegeln, Münzen oder Kostümwerken heran¬
gezogen worden, sondern dass sie in wirklich dich¬
terischen Augenblicken von selbst zu ihr gekommen
sind. Und dies merkt man ihnen an, trotzdem sie
so viel verlieren, wenn sie mühsam an die Leinwand
abgeliefert werden. Dort soll ja über einen Haufen
Einzelheiten, die mit ihnen Zusammenhängen, Rechen¬
schaft abgelegt werden; dort sollen sie Kleider und
in den Kleidern Körperfülle und Form haben; dort
soll auch die Kunst, am liebsten die grosse Kunst,
befriedigt; dort soll abstrahiert und stilisiert und
39
304
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
koloriert werden mit gebührender Rücksicht auf die
Natur und gleichzeitig auf die dekorative und drama¬
tische Wirkung der Farben. Wenig von alledem —
geschweige denn alles auf einmal — hat Frau Slott-
Möller ernstlich in der Gewalt. Immer sichtlicher
sind namentlich Körperfülle und -Form ihre wunden
Punkte geworden. Mit grosser Energie bekämpfte
sie früher, jedenfalls zeitweise (Königin Margrethe,
Niels Ebbesen) ihre Schwäche in dieser Hinsicht;
aber im Augenblick scheint es, als beachtete sie
sie weniger. Vielleicht unter englischem Einfluss
(Rossetti) hat sich stärker als je zuvor bei ihr die
Neigung herausgebildet, ihre Gestalten in heftigen
seelischen Affekten zu zeigen, ohne indessen ihre
leidenschaftlichen Charaktere in einer durchgeführt
charaktervollen Form zu schildern. Gleichzeitig hat
es ihre Farbe oft bezeugt, dass selbst sie von dem
weiblichen Sinne für das Süssliche nicht ganz frei
war; namentlich in einer Anzahl Bilder von lyrisch¬
süssen Situationen zeigt sie sich ihm verfallen. Am
reinsten ist vielleicht ihr Streben nach Stil in einzelnen
plastischen Arbeiten von ihrer Hand zu Tage getreten:
Ebbe’s Töchter, Königin Dagmar’s Tod, die Väter
der Stadt. Auf seinem bleibenden Ehrenplatz über
dem Eingangsportal des neuen Kopenhagener Rathauses
wird das letztgenannte Relief späten Geschlechtern
ein augenfälliges Zeugnis dafür ablegen, dass selbst
Frauen unter den dänischen Künstlern zu Ende des
Jahrhunderts jedenfalls reife Anschauungen über das
monumentale Ziel der Kunst hegen konnten.
Wendet man sich von Frau Slott-Möller ihrem
Manne zu, und versucht man, zu überschauen, was
er als Maler geschaffen hat, so wirkt zunächst die
Thatsache verblüffend, dass er, obwohl als ein Gemüt
bekannt, das wie das offene Meer nach allen Rich¬
tungen hin überschäumt, eine ganz überwiegende An¬
zahl Bilder mit arkadisch-idyllischen Vorwürfen gemalt
hat. Von »In Arkadien« (1892) bis »In Italien^ (1903)
erstreckt sich die Reihe. Gern möchte man seine Nei¬
gung zu solchen Stoffen ausschliesslich aus seinem un¬
zweifelhaft echten künstlerischen Durst nach Schönheit
im Leben erklären können; aber es lässt sich kaum
übersehen, dass auch ein mehr weltlicher Appetit auf
das Leben ihn dazu bewogen hat, sie unablässig zu
umkreisen und ihre lockeren Seiten auf eine gierigere
Art hervorzuheben, als eigentlich sympathisch ist.
Die grossen Kräfte, über die er als Künstler verfügt,
hat diese seine Schwäche doch nicht zu untergraben
vermocht. Er hat allerdings viele misslungene Bilder
auf dem Gewissen, Bilder, in denen Geschmack und
Stil gleich unsicher waren. Doch der Maler, der in
seiner ersten Jugend das glänzend tüchtige Bild vom
»Wartezimmer des Arztes« oder das nicht weniger
glänzend tüchtige Porträt seiner Gattin malte, und
dessen Vortrag damals so frisch war, dass er von
weitem an keinen geringeren als Velasquez gemahnte,
derselbe Maler führt auch fernerhin einen Pinsel, der,
wenn er malen darf, wie es seiner Natur entspricht,
fast alle anderen in Dänemark übertrifft. Auch aus
dem Grunde erhebt sich seine Kunst andauernd über
die durchschnittliche dänische, weil sie reich an
Ideen und Einfällen ist. Namentlich auf den vielen
Gebieten der dekorativen Kunst, denen er in den
letzten Jahren seine Thätigkeit geweiht hat, und auf
denen ihm seine Stilbestrebungen weit besser geglückt
sind als auf dem Felde der eigentlichen Staffelei¬
malerei, ist es ihm zu gute gekommen, dass er
so sinnreich war. Allerdings hat sein Hang zum
Spekulieren und Philosophieren ihn manchmal dazu
verleitet, an die Refle.xion des Beschauers allzu grosse
Ansprüche zu stellen; doch zu anderen Zeiten hat er
mit einem einzelnen geistreichen Einfall gerade den
centrumstreffenden Ausdruck für die Vorstellung ge¬
funden, die es zu erwecken galt. So ist er beständig
uneben, beständig von ungleichem Wert gewesen, ein
schwieriges Subjekt für seine Freunde, ein dankbares
Objekt für seine Feinde. Doch darin können wohl
Freund und Feind einig sein, dass er für unsere Kunst
ein nützlicher Gärstoff gewesen ist.
Einer ist in dieser Beziehung doch noch nütz¬
licher gewesen: Willumsen. Er begann als Architekt,
wurde nachher Maler, später Keramiker und hat zu¬
letzt bewiesen, dass er vielleicht doch am allerbesten
die volle Kraft seines Künstlerwesens in der Bild¬
hauerei zu entladen vermag. Unter Eindrücken aller
Art moderner, impressionistischer und symbolistischer
französischer Kunst, deren Kühnheit seinem kühnen
Glauben an die Zukunft der Kunst entsprach, brach
er während seines Aufenthaltes in Paris anfangs der
neunziger Jahre alle Brücken hinter sich ab, die ihn
mit der Vergangenheit in Dänemark und mit der Ver¬
gangenheit im eigenen Innern verbanden. Er schloss
sich kurze Zeit an Raffaelli, etwas später an Gauguin
an; doch er schüttelte auch diesen Einfluss von sich
ab, und er war, als er auf der Freien Ausstellung
mit einer grösseren Reihe seiner neuen Arbeiten
hervortrat und eine ganze Hauptstadt in Erbitterung
versetzte, sicherlich die eigenartigste Erscheinung, die
sich jemals in der dänischen Kunst gezeigt hatte.
Was besonders erbitterte, waren seine Ansprüche, für
tiefsinnig zu gelten. Er war es nicht, und ist es
seither auch nicht geworden. Doch es kam der
Form seiner Kunst zu gute, dass er selbst den
elementarsten seiner Gedanken über das Dasein eine
so ausserordentlich tiefe Bedeutung beimass. Sie
versetzten ihn in eine gehobene Stimmung, die Ge¬
danken, und brachten ihn in ehrerbietigen Abstand
selbst von den Alltagsverhältnissen des Daseins, die,
von solchem Abstande aus gesehen, vor seinem
staunenden Bewusstsein wuchsen und von dort in
grösseren als den wirklichen Formen in seine Kunst
übergingen. Da sich seine Kunst also auf einem
Andachtsverhältnis gründete, dessen Folge ein Abstands¬
verhältnis war, statt sich auf das Liebesverhältnis
zwischen dem Künstler und seinem Stoff zu gründen,
dessen Wärme sich dem Beschauer schnell mitteilt
und ihm das Kunstwerk lieb macht, wurde alles, was
von seiner Hand kam — weit davon entfernt, ein¬
schmeichelnd zu sein — für das Gefühl seltsam un¬
nahbar und unzugänglich. Auch dem Verstände
hatte es ja nicht viel zu sagen, da es nicht sonder¬
lich tiefsinnig war. Aber es sprach gewöhnlich zur
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
305
Phantasie ungefähr in derselben Weise, wie die Kunst
aus der ältesten Zeit. Und dies that seine Kunst,
weil bei ihm wirklich etwas von der Ehrfurcht des
primitiven Menschen vor dem Mysterium der Natur
und des Daseins zu finden war. Was Willumsen’s
Arbeiten damals mit uralter Kunst gemeinsam hatten
und zum Teil noch haben, ist nicht nur ein Teil
ihrer Formeln, sondern ein Teil ihres Geistes, eines
Geistes, der unter dem moralischen Druck des Da¬
seins in Ratlosigkeit darnieder gehalten wird, und dem
die Kunst dazu dient, sich von diesem Druck zu er¬
leichtern, indem er grosse Formen von sich abwälzt.
Dazu gehören unter anderem ein Paar männerstarke
Hände, die solche Formen umpacken und sie unge¬
sondert, gross und ganz, von der Phantasie in das
Kunstwerk hinüberschaffen können. Aber über so
ein Paar Hände, ein Paar Fäuste möchte man beinahe
sagen, verfügt gerade Willumsen.
Doch streng genommen ist vielleicht auch die
männliche Energie seiner Hände, die die männliche
Nachdrücklichkeit seiner Formbehandlung begründet,
seine einzige ausgereifte Begabung als Maler. Jeden¬
falls hat er die nicht vielen voll ausgereiften Werke,
die wir im ganzen von seiner Hand besitzen, auf
anderen Gebieten als denen der Malerei geschaffen.
Diese Werke sind auf dem Gebiete der Architektur
das Gebäude der Freien Ausstellung, auf dem Gebiete
der Skulptur die grossen Phantasie-Büsten und das
Grabmal seiner Eltern, auf dem des Kunstgewerbes die
Aschenurne u. s. w. Innerhalb der Malkunst muss
man das vollständig Gelungene eher unter seinen
Skizzen als unter seinen Hauptwerken und bei seinen
Skizzen wieder eher unter denen in Wasserfarbe als
unter denen in Ölfarbe suchen. Immer mehr scheint
es sich zeigen zu sollen, dass die Ölfarbe, schliess¬
lich die Malkunst im ganzen, gar nicht das rechte
Element für diesen Künstler war.
Unzweifelhaft hat er ja doch eine grosse Be¬
deutung für die Entwickelung der dänischen Mal¬
kunst gehabt. Freilich hat er durch den früher
von ihm vertretenen Glauben an die Möglichkeit,
philosophischer Gedanken durch eine Zeichensprache
von abstrakten Linien künstlerischen Ausdruck zu
schaffen, ein paar jüngere Zeichner, deren Namen
hier verschwiegen werden mögen, verleitet, in
jener fatalen Richtung noch weiter zu gehen. Aus
ihren Versuchen zu schliessen, führt die Richtung
geradewegs in den Wahnsinn hinein und hat so
höchstens ein rein pathologisches Interesse. Doch
daneben hat Willumsen auch einen entschieden ge¬
sunden und stärkenden Einfluss geübt, der nicht
klein war. Erstens moralisch dadurch, dass er wie
kein anderer dem Widerstand der Menge trotzte und
ihn schliesslich unterjochte, was gleichbedeutend war
mit einer Aufforderung an andere, zu thun wie er,
und alle Verlockungen zu Unterhandlungen mit der
Menge abzuweisen. Zweitens künstlerisch dadurch,
dass er mit der Energie in seiner Formbehandlung,
gleichviel ob er malte oder modellierte, ein nützliches
Beispiel gab. So yN'irt EJnar Nielsen, in seinen Motiven
der mutigste, in seiner Form der männlichste und
vielleicht im ganzen der merkwürdigste unter den
gesamten jüngsten dänischen Künstlern, kaum denkbar
ohne Willumsen als Vorgänger und Voraussetzung.
Mit Recht hat man von Nielsen’s Kunst behauptet,
dass es nicht die Schattenseite des Lebens sei, mit
der sie sich bisher überwiegend beschäftigt hat, son¬
dern seine kohlschwarze Nachtseite. Der Tod, direkt
mit der Leiche gezeigt, ist sogar noch nicht das
Fürchterlichste, was dieser Künstler uns gezwungen
hat, zu sehen; schonungslos hat er uns von Ange¬
sicht zu Angesicht dem gegenübergestellt, was schlimmer
ist als der Tod: der unvollendeten Vernichtung in
Gestalt derjenigen, die trotz Lähmung, Gebrechlichkeit
oder einer anderen unheilbaren Krankheit leben. Und
wenn diese Opfer seiner Kranken- oder Leichenhaus-
Phantasie nicht ins Leichentuch gewickelt oder an
einem erbärmlichen Lager gefesselt waren, so gingen
sie in Lumpen herum, die den Gedanken auf ihr
Dasein noch haarsträubender entsetzlich machten.
Unversöhnlich, nur widerwärtig würden nun diese
Gestalten gewirkt haben, und man hätte ihnen schnell
den Rücken gekehrt, wenn nicht die Kunst, mit der
sie geschildert waren, über mehr als eines der Mittel
verfügt hätte, wodurch die Kunst mit dem Hässlichen
versöhnen kann. Das Malerische gehörte mit zu
diesen Mitteln; denn die Bilder waren mit wenigen
grauen Tönen gemalt, die gewöhnlich fein und schön
zusammengestimmt waren. Trotzdem war die Zeich¬
nung in dieser Kunst das Versöhnendste. Sie zeigte
freilich zu Zeiten — namentlich wenn sie Linien zu
einer Landschaft hinter den Figuren hinschrieb —
eine Spur von Selbstgefälligkeit, mit dem verwandt, das
eine fliessende Handschrift in Manier ausarten lässt.
Doch dergleichen Dinge waren nur Risschen in der
summierenden Begabung einer im übrigen gross an¬
gelegten Betrachtung, die diese Kunst trug und sie
in der Richtung des Monumentalen emportrug. Sie
erreichte es nicht immer, sie erreichte es z. B. nicht
in dem Bilde des blinden Mädchens, bei dem der
Künstler den Fehler begangen hatte, eine plastisch
ausgeformte Figur auf einen Hintergrund hinzustellen,
der dekorativ wie eine Fläche behandelt war. Sie
erreichte es aus einem anderen Grunde ebenfalls nicht
in dem grossartig gedachten Zwielichtbilde mit den
armen Teufeln, die der Abendglocke lauschen, denn
hier war der Charakter der Zeichnung zur Karikatur
zerbrochen. Aber der Künstler hatte doch schon
verschiedene Male — z. B. in dem fast hieratisch
steifen Bilde der alten Frau mit den im Schoss ge¬
falteten Händen, auf seine Weise auch in den ergreifend
Seelen vollen Zeichnungen zu dem »Sohn des alten
Mannes« — sich so ziemlich zur monumentalen Form
emporgearbeitet, und insofern war man nicht unvor¬
bereitet darauf, von seiner Hand ein so monumentales
Bild zu empfangen, wie das Doppelporträt in der
Frühjahrsausstellung 1901. Aber was an diesem
grossen, stillen Bilde überraschte, war der Sinn für
Menschenschönheit und schöne menschliche Stimmung,
den dieser Maler der Schrecken an den Tag legte.
Auf einem Balkon, hoch über den Dächern von Paris,
war dieses Doppelporträt eines Bildhauers und seiner
39
3o6
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
Frau gemalt worden, ln einer grossen Synthese gab
der Hintergrund einen sowohl schönen, wie treffend
wahren Eindruck von der Stadt an der Seine. Jedoch
nicht daran allein konnte man erkennen, wo das Bild
gemalt war. Es zeigte sich unverkennbar, dass es unter
dem Einfluss von Puvis de Chavannes entstanden war,
dessen Pauvre Pecheur auch geeignet gewesen sein
musste, das Gemüt des jungen dänischen Künstlers
plötzlich auftauen zu lassen, und dessen Fresken im
Pantheon ihn lehren konnten, seinen Gefühlen in
den langen wehmütigen Rhythmen Luft zu machen,
die in den Linien des Doppelporträts atmen. Es be¬
steht jedoch ein Unterschied zwischen diesen und
entsprechenden Linien bei Puvis de Chavannes. Denn
während der grosse Zug in den Linien sich bei die¬
sem meist auf einen etwas weiblich liebkosenden
Strich über die Form beschränkt und eine ernsthafte
Vertiefung in dieser ausschliesst, ist er bei Ejnar
Nielsen mit einem männlichen Griffe um die Form
vereint, den man sich nur schwerlich fester denken
kann. Dieses Bild bedeutet jedenfalls bis auf weiteres
das äusserste, was die dänische Malkunst in der
Richtung grossartiger und energischer Formbehandlung
erreicht hat.
Mehr solcher Einsätze persönlicher Energie, wie
die Willumsen’s oder Ejnar Nielsen’s, für die Ent¬
wickelung einer grossen und monumentalen Form in der
dänischen Kunst lassen sich augenblicklich nicht nennen.
Dagegen sind noch einige junge Künstler zu erwähnen,
die zum Teil durch direkte Einführung des edlen
Stils früherer Zeiten in die dänische Kunst zu dem
Versuche beigetragen haben, deren Physiognomie zu
ändern und zu veredeln. So fand Frau Bertha Dorph
bei ihrem ungewöhnlich sicheren plastischen Formen¬
sinn sich frühzeitig innerhalb der strengen und knappen
Formeln der Portätkunst zurecht, die von Domenico
Veneziano, Piero della Francescas Lehrer, und anderen
Italienern des i5. Jahrhunderts geschaffen wurden.
Vor ihr hatte Clement, nachdem er seine jugendlichen
Versuche, der neuesten französischen Mode zu folgen,
aufgegeben, Porträts mit Benutzung ähnlicher Formeln
gemalt; aber ihm haftet innerhalb derselben stets etwas
von dem Roed-Vermehren’schen minutiösen und etwas
trockenen Detailstudium an, und deshalb erschien
seine feine und gewissenhafte Kunst oft mehr fleissig-
fertig als eigentlich vollkommen in der Form. Mehr
Frische, dafür vielleicht auch etwas weniger Festigkeit
im Künstlercharakter zeigt Find, der abwechselnd zur
altdänischen, bürgerlich-demokratischen und der mo¬
dernen europäischen, künstlerisch-aristokratischen Auf¬
fassung neigte, und dessen letzte Porträts einen Drang
zu derber Aufrichtigkeit gegen das Malerische mit
einer andauernden Neigung vereinen, das Menschliche
innerhalb ernsthafter Umrisse zu schildern. Die letzt¬
erwähnte Neigung zeigt sich auch, aber in weicherer
Form, bei Vedel, einem blutjungen Porträtmaler,
dessen Fehler es ist, sein Kolorit etwas bestechend,
ä la alte Gemälde zu präparieren, dessen milde Bilder
jedoch etwas Herzliches an sich haben, das sonst bei
den Jüngsten nicht Mode ist, wenn es auch zuweilen,
z. B. bei Wandel, Tetens oder Tycho Jessen sich unge¬
laden einschleicht, trotz aller Vorsätze, die Darstellung
mit dem steifen Zeremoniell des Stiles zu umgeben. Das
steife Zeremoniell des Stiles! Darum sammeln sich die
Bestrebungen jetzt nur allzu willig. Auch wenn es die
Bäume in der Natur sind, so werden sie ihm unter¬
worfen und heutzutage von der Landschaftskunst in
demselben naturfeindlichen Geiste geputzt, in dem
sie früher von der Gartenkunst verstutzt wurden. Der
originale Svend HammershöJ und der von ihm be¬
einflusste Struckmann sind Beispiele dieser Richtung,
innerhalb welcher mit einem Minimum von Natur¬
gefühl oder jedenfalls mit einem Minimum von Natur¬
studium operiert wird, doch keineswegs ohne wahre
Begabung für die Dekoration.
Im grossen Ganzen begegnet man jetzt dieser Be¬
gabung in der dänischen Kunst viel häufiger als früher.
Aber gleichzeitig hat sich freilich bei den ganz jungen
Künstlern eine ausgedehnte Neigung gezeigt, das
streng persönliche Naturstudium, das doch jederzeit
die Quelle aller Kunst sein muss, zu vernachlässigen.
Gerade wie man gelernt hatte, sich die Kunst hier¬
durch zu erschweren, hat man wieder gelernt, sie
sich leicht zu machen, indem man sich mit Schablonen
für Abstraktionen hilft. Stark gefördert wurde diese
Neigung durch die Beschäftigung der dänischen
Künstler mit den dekorativen Künsten, die in Däne¬
mark wie übrigens aller Orten die reine Kunst in
ihren Dienst genommen und gezwungen haben, sich
nach ihren Bedürfnissen umzuformen, welche in Bezug
auf Natur augenblicklich äusserst gering sind. Indessen
ist Dänemark nicht das Land, wo eine Bewegung
sich von Anfang bis zu Ende entwickelt. Jeder Aktion
folgt dort die Reaktion auf den Füssen, und so hat
denn auch der Rückschlag gegen die Stilbestrebungen
diese sozusagen von dem Augenblicke an begleitet,
wo sie im Ernste durchzubrechen drohten. Etwas
zu diesem Rückschläge trug vielleicht auch der Rück¬
blick auf die alte dänische Kunst bei, wozu der Kunst¬
verein in Kopenhagen mit seinen umfassenden Aus¬
stellungen und Büchern zur Beleuchtung der alten
dänischen Meister Gelegenheit gab. Jetzt konnte ja
ein jeder sehen, was verloren und was gewonnen
worden war. Gewonnen schien bestenfalls die
Festivitas des Stils, verloren schien in den meisten
Fällen die Simplizitas des Gemütes. Mit grosser
Dankbarkeit wurden da ein paar junge Künstler,
Schüler Zahrtmann’s empfangen, die nicht nur aus¬
nahmsweise etwas von dieser köstlichen Eigenschaft
bewahrt hatten, sondern sie auch in ihrer Kunst
auf eine eigen demonstrative Art geltend machten.
Ein Mitglied dieser Gruppe ist der Blumenmaler
Harald Holm, der keine Weichlichkeit in der Auf¬
fassung der Blumen kennt, sondern sie frisch und
freimütig nimmt, wo er sie in möglichst grosser Fülle
oder Farbenpracht findet. Ein anderes Mitglied der
Gruppe ist Johannes Larsen, der dem Leben in der
Natur nicht sentimental, sondern wie ein ungerührter
Jägersmann gegenüber steht und die wilden Vögel
mit einer derben Charakteristik und einem keineswegs
süsslichen Kolorit malt. Ein drittes Mitglied ist Paul
Christiansen, der kühn der ländlichen Schwerfälligkeit
NEUERE STRÖMUNGEN IN DER DÄNISCHEN MALEREI
307
seiner Hand trotzt und sogar zuweilen mit seinem
klobigen Fluge nach hochliegenden Stoffen strebt. Die
übrigen: Karl Schon, Peter Hansen, aber namentlich
die Zentrumsfigur der Gruppe, Syberg, halten sich dicht
genug an die Erde, und es ist gerade ihre starke
Seite, mit allen Sinnen wahrzunehmen, was der
Erde und der Wirklichkeit angehört. Das schil¬
dert namentlich Syberg mit einer bäurisch-robusten
Gleichgültigkeit dagegen, ob der Sinneseindruck
schön ist oder nicht. Er atmet den Gestank eines
Schweinestalles, den Dunst einer Kinderstube, den
Dampf eines frisch aufgepflügten Ackerbodens oder
den Duft eines im jungen Grün stehenden blühenden
Obstbaumes mit gleichem physischen Wohlbehagen
ein und fordert mit seinen Bildern den Beschauer
auf, dasselbe zu thun. Er legt Wert auf Kraft, nicht
auf Feinheit in der Farbe und scheut sich nicht, den
Dingen ihre rechte Couleur zu geben. Er ist und
bleibt auch lieber linkisch im Vortrag, als dass er
sich von einer flüssigen Hand zur Oberflächlichkeit
verleiten lässt. Und er erreicht oft, was er mit seinen
starken und primitiven Mitteln anstrebt: eine Schilde¬
rung, die voller Kern und Charakter ist, ohne die
Flauheit, die häufig mit der Verfeinerung Hand in
Hand geht.
So wird von dieser Seite eine gewisse primitive
Kraft für die dänische Malkunst bewahrt. Von
anderer Seite hat man die Hoffnung noch nicht auf¬
gegeben, sie zu veredeln, ihr Haltung und die Statt-
lichkeit des Stiles zu verleihen. Von dritter Seite
wird fortdauernd das rein Malerische als eigentliches
Ziel der Malkunst betont. Auf Grund der nahen
gegenseitigen Berührung der Künstler des kleinen
Landes, auf Grund auch ihres zunehmenden gegen¬
seitigen Verständnisses, das wiederum eine Folge
ihrer zunehmenden Bildung und ihres weiteren
Horizontes ist, auf Grund endlich des allgemeinen
geistigen Waffenstillstandes im Lande nach dem lang¬
jährigen geistigen Bürgerkriege stehen doch zur Zeit
der Jahrhundertwende, wo diese Zeilen geschrieben
werden, die Richtungen in der dänischen Malkunst
wenig scharf und polemisch einander gegenüber.
In ihrer Gesamtheit genommen, fehlt es auch der
dänischen Malkunst jetzt so wenig wie früher an der
Einheit, die einer Kunst ihr nationales Gepräge giebt.
Man ist allerdings nicht mehr so kindlich unberührt
von Europa, wie man es in der langen Zeit zwischen
Eckersberg und Kröyer war, volle siebzig Jahre, in
denen sich in der Fremde die grössten und merk¬
würdigsten Phänomene am Himmel der Kunst zeigen
konnten, ohne dass in Dänemark ein Auge davon
Notiz nahm. Was die dänischen Maler heutzutage
von fremder Kunst aus der Vergangenheit und Gegen¬
wart wissen, verrät sich oft genug in ihren Werken.
Doch noch behauptet die heimische Malkunst ihre
Nationalität trotz aller Einflüsse von aussen. Sie
hat immer ihre Begrenzung, die in erster Reihe
eine Folge des leidenschafts- und phantasielosen
dänischen Naturells ist. Sie behauptet vielleicht im
ganzen ihre Nationalität hauptsächlich infolge des
sehr Negativen in diesem nüchternen, kritischen däni¬
schen Naturell mit seinem feinspürenden Instinkt, in
allen Verhältnissen das Lächerliche zu vermeiden.
Davon, vom Lächerlichen, war in der dänischen
Malkunst immer äusserst wenig zu finden. Leider
blieb damit auch in der Regel das Sublime aus.
War die Furcht vor dem Lächerlichen schuld daran,
dass man das Sublime so selten erreichte? Kaum allein.
Nur die Genies erreichen es, und an solchen ist die
dänische Malkunst stets ebenso arm gewesen, wie sie
an ausgezeichneten Talenten reich war. Diese
mässigere Form der künstlerischen Begabung sowie
das mässige dänische Naturell haben gemeinsam die
bestimmenden Grenzen für Dänemarks Malkunst ge¬
bildet. Die Enge der Grenzen ist ihre Schwäche
gewesen; aber dass sie allzeit ihre Begrenzung ge¬
kannt und erkannt hat, ist ihre Stärke. Daher ihre
innere Wahrheit, dadurch ihr Dänentum, darin ihr
Anrecht auf unsere Dankbarkeit.
MITTELALTERLICHE FLECHTOEWEBE *
Von E. Kumsch, Dresden
Im Königliclien Hauptstaatsarchive zu Dresden kam
vor etwa zwei Jahren ein Gewebe zum Vorschein,
welches später dem Königlichen Kunstgewerbe¬
museum überwiesen wurde. Die Bestrebungen, Nähe¬
res über Alter und Herkunft dieses Gewebes fest¬
zustellen, führten zu den nachstehenden Erörterungen
und Resultaten.
A. DAS DRESDNER FLECHTGEWEBE
(Siehe die Farbentafel nach Seite 310)
/. Herkunft. Das Gewebe fand sich vor als Um¬
schlag einer Pergamenturkunde, der Ordensregel,
welche 1263 den Klarissinnen von Papst Urban IV.
verliehen wurde. Ausserdem enthält das Heftchen
am Anfänge und am Ende einige Schriftstücke auf
Pergament, welche als Umschlag dienten und in das
Gewebe eingeschlagen waren. Von den Schriftstücken
kommen für die Herkunft des Gewebes folgende in
Betracht:
1. Ein Brief an die Markgräfin Helene, in welchem
diese als relicta bezeichnet wird. Helene wurde
1285 Witwe des Markgrafen Dietrich des Weisen
(Fetten) von Landsberg bei Delitzsch und starb 1304
im Schlosse zu Weissenfels. Der Brief wurde also
zwischen 1285 und 1304 geschrieben und nach
Weissenfels gerichtet.
2. Ein Brief von einem Guardian in Zeitz an die
Äbtissin des Klarissinnenklosters in Weissenfels.
3. Ein Teil einer Pergamentrolle mit Notizen über
Einkünfte und Hebungen, wohl des Klosters
Weissenfels, da alle genannten Ortschaften in
dessen Nähe liegen. Nach dem Charakter der
1) Über diese Technik herrscht grosse Unklarheit, weil
sie keine einheitliche Benennung erhielt; sie wird als
Gobelintechnik, Nadelmalerei, Bildweberei, Wirkerei und
durch oft sehr schwülstige Umschreibungen bezeichnet.
Die Bezeichnung »Gobelin« lässt über die Technik keinen
Zweifel, doch wird es sicher niemandem gefallen, eine
uralte orientalische Technik mit einem erst im 15. Jahr¬
hundert auftretenden französischen Namen zu bezeichnen.
»Nadelmalerei« kann ebensogut Stickerei bedeuten und ist
wohl auch meist dafür gebraucht worden. »Bildweberei«
deckt sich nicht immer mit den Erzeugnissen der Technik.
»Wirken steht in der alten Litteratur für »arbeiten«, be¬
zeichnet also nicht speziell unsere Technik. Würde mm
diese Bezeichnung jetzt einseitig in dieser Bedeutung an¬
gewendet, so würde dadurch nicht nur keine Klarheit ge¬
schaffen, sondern nur grössere Verwirrung in die Textil¬
geschichte getragen, um so mehr, als die moderne Industrie
unter Wirkerei auch noch eine andere, wesentlich ab¬
weichende Technik versteht. Verfasser gestattet sich nun,
obige Bezeichnung vorzuschlagen, da diese der Her¬
stellungsweise wirklich entspricht und es für die Zukunft
ermöglicht, durch ein deutsches Wort einen wichtigen Teil
der Textilkunst in unzweifelhafter Weise zu bezeichnen.
Schrift wurde das Verzeichnis etwa um 1 300 an¬
gefertigt.
4. Ein Brief an die Äbtissin des Klarissinnenklosters
in Seuslitz.
Hiernach kommen für die Herstellung des Ein¬
bandes die Klöster von Weissenfels und Seuslitz in
Frage. Es ist anzunehmen, dass er vor oder bald
nach dem Tode der Markgräfin (1304) hergestellt
wurde, da die Briefe sonst wohl vernichtet worden
wären.
Das Kloster in Seuslitz wurde 1268 gestiftet, das
zu Weissenfels 1285 eingeweiht. In beiden Klöstern
lebten mehrfach fürstliche Frauen als Nonnen, so in
Weissenfels Sophie, die Tochter des Stifters Markgraf
Dietrich und der Markgräfin Helene. Sie wurde nach
dem Tode ihres Verlobten, Herzog Konrad von Glogau,
1274, Äbtissin des Klosters, starb 1318 und ist als
Empfängerin des Briefes unter 2. anzusehen.
Nach Einführung der Reformation wurden die
Klöster säkularisiert und die Urkunden dem kurfürst¬
lichen Archive einverleibt.
Vorstehende Angaben verdankt der Verfasser dem
Herrn Archivrat Dr. Lippert, auf dessen Bemühungen
hin auch die Überweisung des Gewebes an das
Königliche Kunstgewerbemuseum erfolgte.
2. Technik. Das Gewebe ist hergestellt in Flecht¬
weberei. Es enthält als Kette starkgedrehte weisse
Seidenfäden, welche paarweise, also als Doppelfäden
im Gewebe verwendet wurden. Als Schuss wurden
ebenfalls nur Seidenfäden verwendet; auch das Gold
besteht aus einem Seidenfaden, der mit sehr schmalen
Bändchen eines dünnen, nicht metallischen Häutchens
umsponnen ist, welches einen Hauch von Vergoldung
zeigt. Die Kette läuft in Bezug auf das Muster in
der Richtung von oben nach unten.
Die ganz eigenartige, durch die Technik nicht
gebotene Verwendung von Doppelfäden als Kette
wurde bei der Vergleichung mit anderen Geweben
als massgebend betrachtet, und auch nur solche Ge¬
webe wurden berücksichtigt, deren Kettenfäden aus
Seide bestehen. Das vorliegende Bruchstück des Ge¬
webes zeigt am obern Ende den Anfang der Weberei
und links das seitliche Ende, da hier sämtliche Fäden
umkehren. An Stelle der »Leiste« beginnt hier unmittel¬
bar eine Mitte des Musterrapports. Das untere Ende
ist nicht vorhanden. Wahrscheinlich haben wir es
mit dem untern Endstreifen eines Behanges zu thun,
der durch den Gebrauch, z. B. durch Schleifen auf
dem Boden infolge der Bewegung durch den Wind,
abgenutzt und schliesslich abgeschnitten worden ist.
Auch rechts ist das Muster unvollständig; hier folgt
das Ende des Gewebes im unteren Teile den durch
die Technik gebildeten Lücken. Dieser Umstand ist
MITTELALTERLICHE ELECHTGEWEBE
309
ABB. 1. REKONSTRUKTION DES IN DER BEILAGE DARGESTELLTEN MUSTERS
von besonderem Interesse; es wird später darauf zurück¬
zukommen sein. Zu bemerken ist noch, dass dem
kleinen horizontal laufenden Zipfel, am rechten Ende
in etwa ein Drittel der ganzen Höhe, beim Glätten des
Gewebes absichtlich eine falsche Richtung gegeben
wurde, um ihn leichter bemerkbar zu machen. Er bildet
eigentlich die Fortsetzung des weissen Musterteils und
müsste also, wenn auch ohne Verbindung mit dem
Grunde, senkrecht laufen.
Eigentümlich erscheint es, dass das Flechtband
unterhalb der grossen Palmette frei gearbeitet ist; die
Zwicke! zeigen zwar die allgemeine grüne Grundfarbe,
sind aber nicht mit dem gleichfarbigen Grunde der
anstossenden Teile verbunden. Genau dasselbe ist
für das linke Ende des Gewebes anzunehmen, da
dessen oberer Teil das Muster ziemlich genau bis zur
Mitte zeigt, während am unteren Teile mehr und mehr
daran fehlt.
Im übrigen sei bemerkt, dass das Gewebe sowohl
beim Dreifarbendruck als bei dem ergänzten Muster
(Abb. 1) von der Rückseite aus aufgenommen wurde
wegen der weitaus besseren Erhaltung der Farben,
also grösseren Deutlichkeit des Musters. Nach dem
Vorhandensein der Fadenenden war die Rückseite
auch bei der Herstellung des Gewebes dem Weber
zugekehrt. Es ist dies ohne jeden Einfluss, da die
Wirkung leinwandbindiger Gewebe auf beiden Seiten
völlig gleich ist. Bezüglich seiner Grundbindung
wechselt das Gewebe in den einzelnen Partien, je
nach dem stärkeren oder geringeren Festschlagen der
Schussfäden, zwischen dem Aussehen des Kettenripses
und der einfachen Taffetbindung.
Bei der Flechtweberei zeigen sich an denjenigen
Grenzen des Musters, welche parallel mit den Ketten¬
fäden laufen, klaffende Lücken, weil an solchen Stellen
die Schussfäden an einem und demselben Kettenfaden
enden. Derartige Stellen zeigt unser Gewebe auch,
doch sind dieselben nicht lang, also weniger ins Auge
fallend. Die grossen Verletzungen z. B. des linken
Teiles des Doppelflechtbandes, sowie des Pfauenschweifes
nahe der grossen Palmette rechts, bezeichnen die Grenzen
des Einbandes am Rücken und Schnitt, da das Heft ja
vielleicht 100 Jahre lang täglich in Benutzung war.
Der rechte Teil mit der vollständig erhaltenen grossen
Palmette war in zerknittertem Zustande im Innern des
Heftes festgenäht und ist daher am besten erhalten.
Die Originalgrösse des Gewebes beträgt in den
äussersten Massen 47 cm Breite und 27,5 cm Höhe.
Die Anzahl der Kettenfäden beträgt 22 (Doppelfäden),
die der Schussfäden wechselt zwischen 50 und 68
im Centimeter.
3. Farbengebung. Die Beilage in Dreifarbendruck
giebt die Farben deutlich wieder. Der Grund ist dunkel¬
grün und zeigt, auch auf der Rückseite, durch die
verschieden starke Einwirkung der Sonne zum Teil
einen Stich ins Blau. Das Muster ist in der Haupt¬
sache aus Goldfäden hergestellt und in der Art byzan¬
tinischer Glasmosaiken mit farbigen Kontouren, hier,
sowie an jenen, meist rot und weiss, versehen. Der¬
artige Mosaiken sind am schönsten farbig wieder-
310
MITTELALTERLICHE ELECHTGEWEBE
ABB. 2. VORDER- UND SEITENANSICHT DER KAPITALE IN DER HAGIA SOPHIA ZU KONSTANTINOREL. 6. JAHRHUNDERT
gegeben in Terzi, capella di S. Pietro di Palermo.
Auf dem Titelblatte sind die Besätze am Gewände
des Petrus ebenfalls rot und weiss eingefasst.
4. Musterung. Zunächst begegnen wir einem
baumartigen Aufbau, dessen Stamm ein Doppelflecht¬
band bildet, aus welchem nach beiden Seiten symmetrisch
angeordnete Äste ausschwingen. Die Krone des Baumes
wird durch eine Art Palniette gebildet. An der rechten
Seite des Gewebes tritt das Bruchstück eines gleich¬
wertigen zweiten baumartigen Gebildes auf, das sich
in den Einzelformen wesentlich von dem ersten unter¬
scheidet. Zwischen die beiden Bäume ist zur Tren¬
nung ein Flechtband eingeschoben, das sich oben zu
einer Pahnette ausbildet und weiterhin in den Voluten
Pfauen trägt. Während der ersterwähnte Baum zum
Teil durch Abnutzung des Gewebes zerstört wurde,
sich jedoch aus dem noch vorhandenen leicht ergänzen
lässt, ist dies bei dem zweiten nur in begrenztem
Masse möglich. An der rechtsseitigen Grenze des
Gewebes ist, wie S. 30g bereits erwähnt, ein kleines
Stück weisse Musterumrahmung vorhanden, durch
welches bewiesen wird, dass die Äste hier nicht wie
bei dem ersten Baume bis zum Mittelstamme gingen,
sondern bereits an jener Stelle (der rechtsseitigen Grenze
des Gewebes) einem Stamme entsprangen. Überhaupt
bildete jene weisse Umrahmung auch weiter nach
unten hin, jedoch senkrecht verlaufend, die Grenze,
da hier ein Abschluss der Grund- und Musterfarben
im Schüsse vorhanden ist.
Eine der Gesamtmusterung ähnliche Komposition
war aller Mühe ungeachtet weder auf textilem noch
auf einem anderen Gebiete aufzufinden, wenn auch
einzelne Formengruppen ohne weiteres als orientalisch
anzusprechen sind.
Es wird deshalb nun auf die einzelnen Formen
näher einzugehen sein, um über ihre Herkunft und
schliesslich diejenige des ganzen Gewebes ein Resultat
zu erzielen.
Am eigenartigsten erschienen die Flechtbänder; in
Cattaneo, Earchitettura in Italia und an anderen Stellen
finden wir hiervon eine grosse Anzahl von Beispielen;
nirgends jedoch in Verbindung mit einer der unseren
ähnlichen baumartigen Entwickelung. Endlich führte
»Salzenberg, Altchristliche Baudenkmale von Kon¬
stantinopel« zu einem Resultate. Die Kapitäle der
Hagia Sophia (Taf. 15) zeigen in der Vorderansicht
(Abb. 2) ein Flechtband, aus dem nach beiden Seiten
symmetrisch Akanthusäste herausschwingen, die sich
allerdings nicht wie bei uns nach oben verjüngen,
und obenauf sitzt ein Pinienapfel. Da eine annähernd
ähnliche Musterbildung, wie bemerkt, sonst nicht zu
finden war, so muss schon diese Verwandtschaft der
beiden Musterbildungen auffallend erscheinen. Aber
damit nicht genug; die Seitenansicht des Kapitäls
zeigt zwei Akanthuszweige, die von unten aufwachsen
und nach aussen gebogen zwischen sich einen Raum
freilassen, der durch ein Monogramm ausgefüllt wird.
Da aus jenem vorhandenen Restchen der weissen
Umrahmung (S. 30g) eine gleichartige Durchbildung
unseres Musters unzweifelhaft hervorgeht, so kann
die Verwandtschaft der beiden Musterbildungen nicht
mehr angefochten werden. Allerdings musste die
breite schwerwirkende Akanthusranke dem ersten
Baume entsprechend leichter durchgebildet werden.
Es bleibt noch die Lücke zwischen den beiden Seiten
des Kapitäls, die auf der Seitenansicht durch die
Volute ausgefüllt ist. Sie ist auch im Gewebe durch
eine Volute ausgefüllt, die allerdings einen anders
gearteten, sagen wir zunächst orientalischen Charakter
trägt. Die zweite baumartige Gruppe wurde in dem
Ergänzungsversuche des Musters (Abb. 1) soweit her¬
gestellt, als die vorhandenen Reste dies mit einiger
Wahrscheinlichkeit gestatteten. Die Grenzlinie, welche
der Rest der weissen Umrahmung am rechten Gewebe¬
ende unten andeutet, fügt sich ungezwungen in die
Durchbildung eines rund angeordneten Flechtbandes,
dessen früheres Vorhandensein nach der oben ange¬
führten Gesamtanordnung des Musters nach dem
Kapitäle wahrscheinlich ist und im byzantinischen
Formenkreise vielfache Analogien findet. In den
Flechtgewebe im Königlichen Kunstgewerbe-Museum zu Dresden
Nach Motiven in der Sophien-Kirche zu Konstantinopel und der < apella palatina u l'alermo angeterti:
MITTELALTERLICHE FLECHTGEWEBE
311
Einzelformen weicht der zweite Baum wesentlich von
dem ersten ab. Die dem rund angeordneten Flecht¬
bande nach aussen entspringenden Äste sind an den
äusseren Enden hakenförmig nach oben gebogen und
tragen ähnliche Dreiecksformen wie der erste Baum;
doch sind diese kleiner und zeigen, wie beim ersten
Baume die obersten Reihen, im Innern nur ein Auge.
Dem Flechtbande entspringen, gleichzeitig mit den
Ästen, Zweige mit einer Frucht in Form eines Linden¬
blattes. Die Schale dieser Frucht zeigt Ausbuchtungen
mit je einem Punkte; das Innere der Frucht hat auch
die Form eines Lindenblattes und ist mit kleinen
Kreuzchen in versetzenden Reihen gemustert, an deren
Stelle im nächsten Blatte schuppenartig geordnete
Pfauenaugen treten.
Von der Detaildurchbildung des Gewebemusters
abgesehen, befinden wir uns jetzt auf byzantinischem
Stilgebiete und zwar in der Zeit des 6. Jahrhunderts
n. Chr., da die Hagia Sophia unter Justinian im
Jahre 537 vollendet wurde. Die meisten oder sämt¬
liche ca. 100 Kapitäle dieser Kirche zeigen die gleiche
Musterung, wohl weil diese als eine ausserordentlich
hervorragende betrachtet wurde. Es darf daher nicht
wunder nehmen, dass sie auch für andere als
architektonische Zwecke, z. B. für unser Gewebe, als
Vorbild gedient hat.
Es liegt nahe, bei den Bäumen« an den Lebens¬
baum der Assyrer (hom) zu denken, doch zeigt dieser
nie eine ähnliche Durchbildung. Dies ist der Fall
bei Saulcy, Voyage dans les terres bibliques, Taf. 17,
bei einem Kapitäl »probablement byzantin -. Bei
diesem ranken sich je zwei Äste an den Seiten eines
Flechtbandes in die Höhe und sind mit Zweigen be¬
setzt, aus denen einzelne Blätter wachsen; die oberen
Enden des Flechtbandes laufen in breite Blattformen
aus und diese umschliessen eine Kugel. Weiter findet
sich ein Flechtband mit Äkanthuszweigen in Strzy-
gowski, Orient oder Rom, Äbb. 50 (spätantik oder
frühchristlich). Riegl, Stilfragen, Fig. 15g, giebt aus
ägyptisch-spätrömischer Zeit ein Flechtband mit drei¬
zackigen Äkanthusblättern ; auch Goetz, Ravenna, zeigt
S. 92 ein Flechtband mit grossen dreilappigen Blättern.
In Diehl, Ravenna, findet sich S. 35 ein Flechtband
aus grossen und kleinen Kreisen; aus den grossen
wachsen breite Akanthusblätter. Am nächsten kommt
unserem Aufbau auch in der Form der Blätter ln
Gayet, l’art copte, S. 217, das »linteau de porte«
und S. 222 »frise d’Akhnas-.
Einfache Flechtbänder allein erscheinen schon in
Assyrien u s. w. als Stickerei, in griechischer Zeit als
Vasenbemalung, in der koptischen Kunst z. B. bei
Forrer, römische und byzantinische Seiden-Textilien
aus Achmim, Taf. 4 und 12, und bei Gerspach,
tapisseries coptes, Abb. 110, 127; im späten Mittel-
alter, z. B. an der Tunika Heinrich’s II. von 1100
(Bock, Kleinodien, Taf. 40 und S. 188, 189). Die
byzantinische Kunst beherrscht es von Anfang an.
Doppel - Flechtbänder in der Art wie an unserem
Gewebe erscheinen in Dehli, Details an Bauwerken
Italiens byzantinischen Stils, Taf. 37; in Bock, Das
heilige Köln, Taf. 45, vom 12. Jahrhundert u. s. w.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV. H. 12.
An den gebogenen Ästen unseres Baumes sitzen,
meist je zwei gegenüber, Dreiecksformen, die an zwei
Seiten von Kreisbogen gebildet werden und mit
denen des nächstfolgenden Astes so Ineinandergreifen,
dass dazwischen ein breiter Zickzacklauf entsteht. Das
Innere der Dreiecksformen ist im unteren Teile des
Baumes durch mehrere Rippen geteilt, die oben durch
Bogenlinien verbunden sind; über diesen liegen meist
zwei runde Streifen, von denen der obere ausgebogt ist.
Das Vorbild hierfür fand sich auf ziemlich entfernt
liegendem Gebiete, nämlich in Perrot et Chipiez, hist, de
l’art VI, Grece primitive, Fig. 348 und 415, als Flügel
eines Greifen aus Elfenbein (Abb. 3), gefunden in
Mykenä, und ähnlichen Schnitzereien, so Fig. 417,
auf der Akropolis gefunden, und anderes. Geradlinige
Dreiecke mit strahlenartig angeordneten Rippen finden
sich in Cattaneo, Tarchitettura in Italia, Fig. 4 und 55,
an Marmorskulpturen des 12. Jahrhunderts; auch
Racinet, l’ornement, Taf. 34, Hottenroth, Trachten,
Taf. 6g, Nr. 5, Zeitschrift für christliche Kunst 1896,
S. 261 und 266, an Elfenbeinreliefs des 11. und
12. Jahrhunderts; Bock, Kronleuchter Barbarossa’s in
Aachen (ca. 1166 — 1170) zeigt auf Taf. 6, 7 und 10
unser Motiv; auch Borrmann, Wandmalereien, Stifts¬
kirche zu Landau; Dehli and Chamberlin, Norman
monuments, Taf. 63, giebt einen ähnlichen Fries aus
einem Kloster in Monreale. Die Verwandtschaft
unseres Stoffmusters mit der Durchbildung des Flügels
ist jedoch eine zu grosse, als dass man die Hernahme
des Motivs von einer anderen Stelle ernstlich ins Auge
fassen könnte, wohl aber mögen diese auf dieselbe
Quelle zurückzuführen sein. Man könnte die Durch¬
bildung der Flügelknochen jener Schnitzereien auch
als Vorbild betrachten für die Umrahmungen unserer
Palmetten, Aufhänger u. s. w. Die in den oberen
Reihen des Baumes mehr zusammengeschrumpften
Dreiecke ähneln den Augen von Pfauenfedern, man
kann daher auch die Äste des Baumes« als Schäfte
von Pfauenfedern und die angesetzten Dreiecksformen
mit ihrer Durchbildung
als Gruppen der Fahne
betrachten; das Ganze
könnte dann als stili¬
sierter Pfauenschweif
gelten, wobei noch an
die Abstammung von
einem Greifenflügel er¬
innert sein möge.
Von den Einzelfor¬
men am zweiten Baume
ähneln die Aufbiegungen
der Äste am meisten
denjenigen der Dattel¬
palme auf dem Kaiser¬
mantel mit den Löwen
(Bock, Kleinodien, Taf. 6),
sowie an einem gleichen
Baume in Terzi, capella,
Taf. 56. Beide Bäume
erscheinen ausserdem
durch sonst nicht anzu-
ABB. 3. FLÜGEL EINER GREIFEN-
FIGUR. ALTGRIECHISCHE
ELFENBEIN-SCHNITZEREI, GE¬
FUNDEN IN MYKENÄ
40
312
MITTELALTERLICHE FLECHTQEWEBE
treffende breite Blätter mit Ausbogungen dem unseren
sehr verwandt.
Die lindenblattähnlichen Früchte erweisen sich als
Weintrauben, welche in der byzantinischen Kunst sehr
häufig Vorkommen (vielleicht unter der Bedeutung
für Christus als Weinstock). Als Beispiel sei ange¬
führt: Cattaneo, architettura in Italia, an vielen Stellen
aus dem 7. — 9. Jahrhundert, auch Prisse d’Avennes,
l’art arabe, Taf. 3, aus Kairo, von 876 u. s. w. Die
Kreuzclien in versetzenden Reihen im Innern der
Trauben kommen bereits bei den Parthern und Sassa-
uiden, auch bei den Chaldäern vor, namentlicli aber
in byzantinischen Emails, z. B. Kondakoff, Sammlung
Swenigerodzkoi, Taf. 2—11, 17 und 27; ferner Pasini,
S. Marco, Venezia, Taf. 4 und 38; weiter Bock,
Kleinodien, Taf. 25, am Kaisermantel von 1133.
Ebenso treten die schuppenartig geordneten Pfauen¬
augen bereits bei den Persern auf, ferner an griechischen
Vasen, aber auch bei byzantinischen Emails, so Bock,
Kleinodien, Taf. 1 6 (Krone des 1 1 . Jahrhunderts) u. s. w.
Bei Betrachtung der Einzelformen an den beiden
Bäumen fanden wir die Vorbilder dafür also im
byzantinischen Stile, der seinerseits die Motive aus
dem Griechischen, also dem Boden seiner Heimat
übernahm, während dieses wieder aus dem alten
Orient (Assyrer, Perser u. s. w.) schöpfte.
Es bleiben noch zu betrachten die Einzelteile der
Ornamentgruppe, welche sich zwischen den beiden
Bäumen ausbreitet. Ohne weiteres ist ersichtlich,
dass diese einen wesentllcli anderen, niclit dem
Byzantinischen angehörigen Charakter aufweist, mit
Ausnahme des nach unten auslaufenden Flechtbandes,
das die Trennung der anderen Teile herstellt. Die
beiden Bänder dieses Flechtbandes gehen nach oben
hin auseinander, tragen schildförmige Ausladungen
und umrahmen eine Palmette. Weiter oben werden
sie durch ein Band zusammengehalten, wenden sich
dann symmetrisch nach aussen und bilden je eine
Volute. Diese läuft am Ende in ein breites Blatt aus,
das sich um den oberen Teil des Bogens schlingt,
so dass die Volute dort aufgehangen- erscheint, um
die Last eines Pfauen tragen zu können, der inner¬
halb der Volute steht. Ausserdem zweigt sich schon
früher ein Ausläufer ab, welcher eine »Weintraube«
trägt; ein weiteres Ende desselben Zweiges, das sich
zu einem Blatte ausbreitet, verläuft parallel mit der
oberen Entwickelung des ersten Baumes bis ziemlich
zu dessen Mittelachse. Der obere Teil des Baumes
blieb bisher absichtlich unbeachtet, da sowohl die
Mittelkrönung als die Ausläufer der freiwerdenden,
unten verflochtenen Bänder in der Formengebung
übereinstimmen mit den Aufhängern der Voluten und
den beiden Palmetten zwischen den Bäumen. Die
Konturen alle dieser Formen zeigen abwechselnd
schwach gebogene Linien und Rankenlinien, die sich
im Innern der Formen bis zur nächsten Kontur hin¬
ziehen. Die Palmette und die Weintrauben zeigen
im Innern das beschriebene Kreuzchenmuster. In
den Windungen des Astes, gegenüber der Brust des
Pfauen, erscheinen (falsch angebracht, weil unver¬
standen) Bänder, die augenscheinlich die Stelle hervor¬
heben sollten, an welcher sich die Ausläufer ab-
zweigeii, wie das weiter oben beim Abzweigen der
Weintrauben richtig stattfindet. Die oben angeführte
Verzierungsweise der Konturen erinnert an chinesische
Formengebung; auch die krönende Palmette am ersten
Baume hat eine völlig chinesische Form, namentlich
durch den unteren geradlinigen Abschluss mit dem
Wellenbande. Sie erscheint z. B. vielfach in Lessing^
chinesische Bronzegefässe. Mehrfach tritt hier als
Randornament ein Mäander auf, der leicht zu unserer
Einfassung umgeformt worden sein kann. Auch der
schräge Mäander in dem Beine des Pfauen erscheint
chinesisch, kommt jedoch auch in Lau, griechische
Vasen, Taf. 7, vor. Die Pahnette erscheint in F^acinet,
l’ornement, Taf. 11, Nr. 23, als Email, auch Jones,
Chinese Ornaments, finden sich häufig verwandte
Formen, ln Lessing, Gewebesammlung Berlin, zeigt
das Blatt mit Lilie« in Lieferung 3 in der zweiten
Umrahmung der Palmetten ganz ähnliche Einschnitte
wie die an unserem Gewebemuster, auch der Kern
der Palmette entspricht unserer krönenden Pahnette.
Auch in Cattaneo, architettura, begegnen wir den
gewundenen Einschnitten sehr häufig. — Die Lösung
der Nebenranken über der grossen Pahnette erinnert
an die Voluten byzantinischer Kapitäle z. B. in
Cattaneo, arch. — Die Federn am Hinterkopfe und
Schweife der Vögel sollen unzweifelhaft den Pfau
charakterisieren, während die Form des Leibes für
diesen zu voll erscheint und der Höcker am Schnabel
nur einem Schwane (Höcker- und Trauerschwan) zu¬
kommt. Der Flügel des Pfauen zeigt im Querstreifen
ein Flechtband, sowie ein Wellenband ähnlich dem
in der krönenden Palmette; ferner ausgebogte Ränder
und als Füllwerk das Pfauenaugenmuster der Trauben.
Die Spitzen der Flügel sind ähnlich den Dreiecks¬
formen am ersten Baume durchgebildet und das
einzige erhaltene Bein zeigt den schon erwähnten
schrägen Mäander. Einen ähnlichen gans- oder enten¬
artigen Vogel mit Band über den Flügel giebt Lau,
griech. Vasen, Taf. 6, Hähne mit Querstreifen über
den Flügel auf Taf. 3 und 7, Gänse mit Querstreifen
und ähnlich dickem Körper bringt Goodyear, grammar
of lotus, S. 271. Prisse d’Avennes, l’art arabe, bildet
Taf. 148 einen Stoff (14. Jahrhundert?) ab mit Pfauen,
die den unseren ausserordentlich verwandt sind
(Abb. 4); nur ist unser »Aufhänger« dabei zum
Schweife umgebildet. Im übrigen erscheint der
Querstreifen, das Pfauenaugenmuster im Flügel und
in der Krone des Baumes. Auch der oben erwähnte
Stoff in Lessing, Lieferung 3, zeigt mehrfache An¬
klänge an diesen Pfauenstoff.
Eine unserer Zwickelfülhmg überraschend ähn¬
liche Ornamentgruppe sehen wir in Abb. 5. Sie
zeigt übereinstimmend damit zwischen den beiden
Bändern mit schildförmigen Ausladungen eine ganz
verwandte Palmette; weiter oben das zusammen¬
haltende Band und noch höher die Palmettenkrönung.
An der Volute begegnen wir dem Überschläge, weiter¬
hin der Teilung der Ranke und ihrer Endigung in
Blatt und Ranke. Nur erscheinen Palmetten an Stelle
unserer Pfauen. Die abgebildete Ornamentgruppe
MITTELALTERLICHE FLECHTGEWEBE
313
ABB. 4. SICILIANISCHES SEIDENGEWEBE. 12. JAHFGI. (?)
Nach Prisse d’Avennes. Part arabe
findet sich in Terzi, capella S. Pietro, Palermo, Taf. 55.
In diesem Werke finden wir noch eine ganze Reihe
ähnlicher Ornamentgruppen, so auf Taf. 3, 46, 50, 53,
54, 56, 60, zum Teil auch in Verbindung mit An¬
hängern. Palmetten, Anhänger, Ausläufer der Pfauen-
Voluten an der Mittelpalmette (Krönung des Baumes)
finden sich auf allen Tafeln dieses Werkes mit Ein¬
schnitten aus gebogenen und Rankenlinien in ganz
unserem Muster entsprechender Weise. Palmetten
namentlich auf Taf. 51, Anhänger auf Taf. 40, den
schrägen Mäander ähnlich dem im Beine des Pfauen,
auf Taf. 37 A. Pfauen sind in dem Werke sehr
häufig, allerdings auch in sehr verschiedener Form
vertreten; unserem Pfauen am ähnlichsten, mit dickem
Kopfe und Leibe und emporgehaltenem Schweife, ist
Taf. 60, Nr. 1, mit hängendem Schweife und Quer¬
band über den Flügel Taf. 45 und 41. Das Auftreten
aller Einzelheiten unserer Ornamentgruppe, wenn nicht
vollständig in der gegebenen Abb. 5, so doch in der
Capella überhaupt, lässt wohl jeden Zweifel darüber
verstummen, dass die Zwickelfüllung unseres Gewebes
in diesem Bauwerke sein Vorbild fand.
5. Herkunft und Alter. Wir haben also in
unserem Gewebe ein Kunsterzeugnis vor uns, welches
in der Gesamtanordnung seiner Musterung den Kapi-
tälen der Hagia Sophia in Konstantinopel nachge¬
bildet und im byzantinischen Stile durchgebildet
ist, in einem wesentlichen Teile aber, der bei
jener Anordnung als Lücke verblieb, durch Vorbilder
in der Capella palatina zu Palermo ergänzt wurde.
Doch auch dieser Teil wurde im byzantinischen
Charakter beeinflusst.
Es ist nun nachzuweisen, wie die Ornament¬
gruppen aus den beiden bedeutenden Gotteshäusern,
in unserm Kunstwerke vereinigt werden konnten.
Die Hagia Sophia wurde unter Justinian im Jahre
537 vollendet. Ihre Schönheit wurde schon damals
auch von Justinian selbst sehr hoch geschätzt, so dass
dieser ausrief: »Ehre sei Gott, der mich gewürdigt
hat, ein solches Werk zu vollenden! Ich habe dich
übertroffen, o Salomo!« (Holtzinger, Sophienkirche
S. 2.) Es liegt also nahe, dass die an sämtlichen
Kapitälen der Kirche verwendete Ornamentgruppe
auch auf das Flachornament übertragen wurde. Die
Anregung dazu ist schon in der Kirche selbst ge¬
geben durch die Anbringung von Reliefflächenmustern
in Verbindung mit den Kapitälen (Salzenberg, alt¬
christliche Baudenkmale, Taf. 15 [Hagia Sophia] Abb. 7).
Wegen der zweiten Ornamentgruppe müssen wir
uns erinnern, dass der Normannenfürst Roger II. als
König von Sizilien auf seinem Zuge gegen Byzanz
unter Kaiser Manuel im Jahre 1147 Korfu eroberte,
sich dort festsetzte und das griechische Festland ver¬
heerte. In Sizilien waren schon unter den Sarazenen,
welche vor den Normannen das Land beherrschten,
weiterhin aber auch unter den Normannen Roger I.
und Roger 11. Handel und Gewerbe, Kunst und
Wissenschaft mächtig aufgeblüht. Es ist daher er¬
klärlich, dass Roger IL, wie dies allgemein gebräuch¬
lich, die Künstler aus den eroberten Hauptstädten, in
denen besondere Kunstwerkstätten eingerichtet waren,
nach den schon früher bestehenden Slaatsmanufakturen
seiner Hauptstädte Palermo und Monreale überführte.
Die Capella palatina in Palermo wurde nach einer
griechischen Inschrift am Fusse der Kuppel 1143
beendet. Die Bewohnerschaft Siziliens setzte sich
zusammen aus den früher hier sesshaften Byzantinern,
den späteren Eroberern, den Sarazenen, und den Be¬
herrschern des Landes, den Normannen, welche seit
ABB. 5. SARAZENISCHE WANDMALEREI IN DER CAPELLA
PALATINA ZU PALERMO. CA. 1142
Nach Terzi, C.ipella
40
314
MITTELALTERLICHE ELECHTGEWEBE
1091 im Besitze der Insel waren. Diese Völker¬
mischung kommt in der Ausschmückung der Capelia
deutlich zum Ausdrucke. Sind doch sogar die In¬
schriften zum Teil in den Sprachen dieser drei Völker¬
gruppen ausgeführt. Bei der Ausschmückung der
Capelia scheiden die Normannen als künstlerisch nicht
beanlagt aus, dagegen unterscheiden sich die Malereien
und Mosaiken byzantinischer Künstler ganz auffällig
von denen der Sarazenen und sonstiger orientalischer
Künstler. Von der Capella sprechen alle Kunstkenner
mit dem grössten Entzücken; z. B. sagt Ch. Diehl in
L’art 1890, I, S. loiff.: Die Kapelle ist eine Perle
der Welt. Man be¬
greift den Enthusias¬
mus der Zeitgenossen,
welche so viel Herr¬
lichkeit entstehen
sahen und verurteilt
die pomphaften Hy¬
perbeln, mit welchen
sie das W erkRoger’s II.
feierten, nicht mehr
als Übertreibungen.«
Es kann also auch
hier nicht überraschen,
wenn unsere neu ein¬
geführten Webkünst¬
ler diesem Prachtbaue
einzelne Ornament¬
gruppen entlehnten
und diese mit der aus
der griechischen Hei¬
mat stammenden Ge-
samtgruppierimg zu
einem Ganzen ver¬
einten.
Hiernach haben wir
das Dresdner Flecht¬
gewebe anzusehen als
das Erzeugnis eines
byzantinischen Web-
kiinstlers, welches in
der Staatsmanufaktur
zu Palermo etwa um
das Jahr 11^0 ange¬
fertigt wurde.
Die Feststellung vorstehender Ergebnisse war neben
der Untersuchung über die Musterbildung nur mög¬
lich durch Heranziehung technisch gleichgearteter Ge¬
webe. Von solchen war nur eine kleine Anzahl auf¬
zufinden und diese dienen, auch durch die Art der
Zeichnung ihrer Motive, so wesentlich zum Beweise
der gemachten Angaben, dass ihre Aufzählung hier
gerechtfertigt erscheint.
B. GLEICHARTIGE FLECHTGEWEBE
a) Das älteste Erzeugnis unserer Technik ist ein
Kunstwerk ersten Ranges: das Grabtuch des Bischofs
Günther im Dome zu Bamberg. Wir geben dasselbe
in Abb. 6 verkleinert nach einer farbigen Zeichnung
des Archäologen Martin (Cahier et Martin, melanges
d’archeologie II, Taf. 32—35 u- S. 251 ff.) wieder,
der vor ca. 50 Jahren das in hundert Stückchen zer¬
fallene Gewebe wieder zusammenstellte. Das hochwür¬
dige Domkapitel zu Bamberg Hess dem Verfasser zwar in
entgegenkommendster Weise eine grosse Photographie
des Kunstwerkes ziigehen, doch ermöglichte die Wie¬
dergabe der MartiiTschen Zeichnung eine grössere
Deutlichkeit des Musters. Die überraschende Korrekt¬
heit in der technischen Ausführung des Gewebes Hess
zunächst Zweifel entstehen, ob hier nicht etwa an
Stelle eines Flechtgewebes ein bemalter Leinenstoff
vorliege. Die Zweifel wurden durch Untersuchung
der Bruchstücke ge¬
hoben, welche das
Germanische Natio¬
nalmuseum zu Nürn¬
berg aufbewahrt und
in entgegenkommend¬
ster Weise dem Ver¬
fasser zusendete. Im
Kataloge des genann¬
ten Museums wird
das Gewebe unter
Nr. 395 als Fahnen¬
tuch bezeichnet; es
mag aber wohl ein
Wandbehang imSinne
eines Gemäldes sein,
als Erinnerung an die
dargestellte Huldi¬
gung eines byzantini¬
schen Kaisers durch
Ost- und West-Rom
(nach Martin) oder
durch Senat und Heer
(nach de Linas). Zur
Bestimmung des Al¬
ters des Kunstwerkes
erscheint es wichtig,
die Person des darge¬
stellten Kaisers zu be¬
stimmen. Verfasser
hofft in dieser Hinsicht
zu einem Resultat zu
gelangen, doch sind
die Vorarbeiten hierzu
noch nicht beendet. Bestimmt ist, dass Günther 1064
eine Pilgerreise nach Jerusalem antrat; auf der Rück¬
reise ist ihm in Konstantinopel das kostbare Gewebe
in üblicher Weise vom Kaiser Konstantin X. Dukas
(1059 — 67) jedenfalls als Geschenk übergeben worden.
Das Gewebe ist eine byzantinische Arbeit, deren Anfer¬
tigung wahrscheinlich schon ins 10., nicht ins 11. Jahr¬
hundert fällt. Dazu würde z. B. stimmen, dass das Ge¬
wand des Kaisers mit umgekehrten Herzformen und Drei¬
punktgruppen in versetzenden Reihen gemustert ist, eine
Musterung, welche, um nur eins anzuführen, in Schlum-
berger, Epopoe byzantine, fin 10. siede II, Taf. 5,
auf einem Seidenstoffe aus Mogac bei Riom erscheint.
Die Farben des Bamberger Gewebes sind: Grund
dunkelviolett (Purpur), Rosetten im Grunde grün.
ABB. 6. GRABTUCH DES BISCHOFS GÜNTHER IM DOME ZU BAMBERG
ARBEIT DES 10. JAHRHUNDERTS AUS KONSTANTINOPEL
Nach Cahier et Martin, Melanges d’archeologie
MITTELALTERLICHE ELECHTGEWEBE
315
ABB. 7. FLECHTOEWEBE IM GRABE ROGER I. IM DOME ZU PALERMO
ARBEIT VON CA. 1100
dergabe von Naturformen nicht geübt waren.
In dem Werke war die Zeichnung 17 cm
breit. Die dunklen Teile des Musters sind
wahrscheinlich in Gold, das übrige in Seide
farbig ausgeführt. Angaben sind darüber
nicht vorhanden, und zur Zeit ist natürlich
keine Auskunft zu erlangen. Anzunehmen
ist, dass das Gewebe in der Staatsmanufaktur
zu Palermo für Roger 1. angefertigt wurde,
also zwischen 1054 und 1101.
c) In Abb. 8 geben wir, nach der Dar¬
stellung in Bock, Kleinodien, Taf. 28, in
Va natürl. Gr. ein Stück eines Goldstoffes
unserer Technik wieder. Das Gewebe ist
an dem Kaisermantel mit Löwen (Abb. ebenda,
Taf. 6) in der Schatzkammer in Wien ange¬
bracht und zwar innen an dem Aufschläge,
so dass es beim Bewegen des Armes sicht¬
bar wurde. Das Muster zeigt zwei ver¬
schlungene Bänder, die an den Durch¬
gängen Kreisformen bilden, während sie
im übrigen treppenartig abgestuft sind.
Das hier abgebildete Stück zeigt den
Sündenfall und wahrscheinlich schliessen
sich daran in den weiteren Mittelfeldern
mit Kernen in rot und rosa, blau und hellblau, hell¬
grün und gelbgrün; Punkte gelb und rosa. Das
Gewebe enthält keine Goldfäden, ist im Originale
etwa 2,10 m hoch und breit und hat im Centimeter
22 seidene Doppelfäden und im allgemeinen 70 Schuss^).
b) Die Abb. 7 entstammt dem Werke »I regali
sepolcri del duomo di Palermo, Napoli 1784« Taf. C,
von welcher auf S. 22, 23 in Kap. I: Del sepolcro
di Ruggieri I. (Grabmal Roger’s I.) gesagt ist: »Hier
finden wir noch den Teil eines Königsgewandes, zum
Teil gelb schimmernd und, so weit es nicht Streifen
bildet, mit ausserordentlicher Kunstfertigkeit gearbeitet,
mit menschlichen Figuren und Tieren von verschie¬
denen Farben; freundlich anzusehen, aber von fremd¬
artiger, ungeschickter Zeichnung«. Es unterliegt keinem
Zweifel, namentlich wenn wir Abb. 8 mit in Betracht
ziehen, dass es sich hier um ein Flechtgewebe han¬
delt. Dies wird auch, im Gegensatz zur genau
symmetrisch arbeitenden Weberei, durch die Ab¬
weichungen in der Wiederholung des Musters be¬
wiesen. Das Muster zeigt eine byzantinisch geartete
Verschlingung von Schlangenleibern mit Schuppen,
Nasen und langen Ohren. Die Reiterfigur, ebenso
wie die Tiere, deren Köpfe denen der Schlangen
gleichen, sind geradezu naiv dargestellt. Dasselbe gilt
von den Granatapfel «Umrahmungen, deren Ausläufer
Äpfel tragen mit je einem Punkte und einer Spitze,
sowie von der misslungenen orientalischen Inschrift
in der Mitte oben und den als Füllwerk dienenden
Zweigen, ln den Borten oben und unten treten Vögel
und Vierfüssler symmetrisch zwischen Lilien geordnet
auf. Man könnte hierbei nur an zeichnerische Ver¬
suche von Muhammedanern denken, die in der Wie-
1 ) Das Grundmuster des Gewebes bringt Lessing farbig
in der soeben erschienenen Lief. 5 der Gewebesammlung.
ABB. 8. FLECHTGEWEBE AM KAISERMANTEL IN DER SCHATZ¬
KAMMER ZU WIEN. ARBEIT AUS PALERMO VON 1133
Nach Bock, Kleinodien des heil, römischen Reiches
3i6
MITTELALTERLICHE ELECHTGEWEBE
andere alttestamcntliche Darstellungen. In den Neben¬
feldern oben und unten sind Apfelbäume dargestellt,
die ebenso wie der Mittelbaum stilisiert und mit
gleichgebildeten Äpfeln behängen sind, welche in der
Mitte einen Punkt und oben eine Spitze tragen.
Aus dem Mittelbaume sowie den unteren Bäumen
ragen Schlangenköpfe mit langen Ohren heraus. Die
Verwandtschaft dieser Teile mit den Motiven in Abb. 7
fällt ohne weiteres ins Auge, ebenso die nachgeahmte
Schuppenbildung in den Bändern. Auch die Tauben
in der Abschi ussborte ähneln jenen in Abb. 7, und
die dort als Eüllvverk verwendeten Lilien treten hier
in der Begleitborte auf. Die höchst naiv gebildeten
Eüllwerksranken sind, wenn auch nur in Linienform,
ebenfalls vorhanden. Die Figuren Adam und Eva
sind wohl erste Versuche eines kunstbeflissenen Mos-
lim, namentlich sei die zugleich als Schlange durch¬
gebildete Figur der Eva der Beachtung empfohlen.
Das Originalgewebe ist etwa 36 cm breit; die
acht Farben sind: Grund gold; Muster rot, dunkel-
und hellviolett, dunkelblau, grün, gelbgrau und schwarz.
Das Flechtgewebe ist wohl gleichzeitig mit dem Kaiser¬
mantel, nach der Inschrift im Jahre 1133 und in
Palermo, entstanden, worauf auch die grosse Ver¬
wandtschaft mit der Zeichnung Abb. 7 deutet. Die
schriftartige Zwischenform in der Borte kommt auch
im Chinesischen vor, z. B. Jones, Chinese Ornaments,
Taf. 3g, Racinet, ornements, Taf. 34, Abb. 1 aus dem
1 1. Jahrhundert. Die Beschreibung, die sich in »Bock,
Kleinodien befindet, giebt trotz des wissenschaftlichen
Anscheines auch nicht einen brauchbaren Anhalt.
Die Gewissheit, dass wir ein Gewebe unserer Technik
vor uns haben, verdankt der Verfasser der Unter¬
suchung des Herrn Direktor Utz in Wien.
d) ln Abb. g erscheint das Muster eines Flecht¬
gewebes, welches Bock, als in seiner Sammlung be¬
findlich, erwähnt und das von ihm wahrscheinlich in
Palermo aufgefunden wurde. Es befinden sich Bruch¬
stücke davon in den Museen zu Berlin, Wien, London,
wahrscheinlich auch, wie von Abb. 11, in Paris und
Lyon; aber alle enthalten vom Muster nicht mehr als
Abb. g. Es ist dies eine Bandverschlingung von
ABB. 9. FLECHTGEWEBE AUS PALERMO. CA. 1150
ABB. 10. ELECHTGEWEBE. ORIGINAL IN BRÜSSEl
ARBEIT AUS PALERMO. CA. 1150
grossen, etwas verzogenen Kreisen und kleinen Kreisen,
wie sie auch bei Abb. 1 1 auftritt. In den grossen
Kreisfeldern erscheint eine eigenartige Form, die sich
beim Vergleiche mit Abb. 7 und 8 als ein — Apfel¬
baum entpuppt. In den sechsseitigen Zwickelfeldern
erscheinen ebenfalls Bäume mit aufrecht wachsenden
Früchten (?). Der Grund wird durch leiiiwandniässig
abgebundene Goldfäden gebildet; die Konturen der
Bänder, sowie der Äste und Äpfel bestehen zum Teil
aus nicht abgebundenen, also flottliegenden Gold¬
fäden. Bänder und Bäume sind rosa mit schwarzen
Konturen, die, auch hier meist falsch angebrachten,
Verbindungsstreifen schwarz mit weissen Punkten.
Die Früchte der kleinen Bäume sind abwechselnd
weiss mit schwarzen Konturen und rosa, karniin und
grün, hellblau und orange. Die Kette enthält 27 kar¬
minrote, seidene Doppelfäden, der Schuss 25 Fäden
rosa oder ca. 32 gold in einem Centinieter. Der
Rapport des Ovals mit Band beträgt 8,7 cm. Ein
verwandter Baum ist Gerspach, tapisseries coptes,
Abb. 135 abgebildet mit Ästen und Äpfeln, auch in
ähnlicher ovaler Form, auch Abb. 13g ist ähnlich.
e) Das in Abb. 10 wiedergegebene Gewebe be¬
findet sich im Museum zu Brüssel und ist in Errera,
catalogue d’etoffes anciennes bei Abb. 5 beschrieben
als Goldstoff, verziert mit weisser, roter und blauer
Seide. Wir finden auf russischen Ohrgehängen des
11. bis 12. Jahrhunderts (Kondakoff, collection Swe-
nigerodskoi, Taf. 21) eine Zeichnung in demselben
Stile. Lessing hält das Muster für arabisch, 10. bis
1 1. Jahrhundert. Er verweist auf die Ähnlichkeit mit
dem Futter des Kaisermantels in Wien (Bock, Kleinodien
Taf. 28). Die gegenüberstehenden Vögel (Tauben oder
Hühner, unten rechts wohl Täuberiche) kann man
vergleichen mit denen auf einem Schmucke aus
Mykenä von Schliemann aufgefundenen (Goblet d’Al-
vella, migration des symboles, S. 115).« Dem ist
hinzuzufügen: Der Aufbau des Musters zeigt grosse
Vierpassfelder (?) mit zwei Zuspitzungen (?) und kleine
Kreise aus Band Verschlingungen. Das Muster ist
unvollständig; entweder spitzt sich die Umrahmung
der kleineren Vögel nach unten in gleicher Weise zu
wie nach oben, wobei dann der Raum in dem Acht¬
ecke über den grösseren Vögeln durch die Krone des
Baumes ausgefüllt wird (dies ist das wahrscheinlichere),
oder aber erstere Umrahmung setzt sich auf die letztere
so auf, dass ein schuppenartiges System entsteht, wie
es Cole, European silks, Fig. 33a, zeigt. Dasselbe
Muster findet sich in der Kathedrale zu Monreale,
erbaut unter Wilhelm II. (1174 — 1182), in Dehli and
MITTELALTERLICHE LLECHTGEWEBE
317
Chamberlin, norman monuments of Palermo etc.,
Taf. 11, linke Lensternische. Die kleineren Vögel
ähneln denen in unserer Abb. 8. Der Grund des
Gewebes ist gold, das Muster weiss; nur Schnabel,
Auge und Inneres oder Umrahmung der Llügel sowie
Ständer rot, Hals und Leib der Vögel sowie Orna¬
ment der Baumstämme blassblau. Die Leiber der
grösseren Vögel sind weiss und gold oder blau und
gold quergestreift. Das Gewebe ist 12 cm lang und
5,5 cm breit. Cole, European silks, Abb. 32 und 33
zeigen grosse Verwandtschaft mit diesem Muster,
Abb. 33 besonders auch in der Umrahmung und
den Bäumen. Die dort abgebildeten Vögel sind wohl
Adler. Die kleinen Vögel finden sich auch in Kon-
dakoff, Email, Abb. 72 — 75 (Platten
von der Krone des Konstantin mono-
machus, 1042 55) und Abb. 83.
f) Eine besondere Stelle nimmt
das in Abb. 1 1 wiedergegebene Eiecht¬
gewebe ein, sowohl als einziges Stück,
welches in der Musterung eine unver¬
kennbare Verwandtschaft mit dem
Dresdner Gewebe hat, als auch in¬
folge seiner abweichenden Technik,
welche einen Lichtblick wirft in die
Unklarheit, mit welcher sich ältere
Archäologen über textile Erzeugnisse
aussprechen. Das abgebildete Gewebe
befindet sich an fünf verschiedenen
Orten in jedenfalls zusammengehörigen
Bruchstücken. Das grösste Stück von
zwei Rapporten in der Breite besitzt
das Kensington-Museum; die Museen
in Berlin, Wien (s. Riegl, Textilkunst
in Bücher, techn. Künste III. S. 363),
Paris (s. L’art pour tous, Jhrgg. 33,
Eig. 7580) und Lyon (s. Cox., Part de
tissus, Taf. 5) haben nur einen Rap¬
port in der Breite. Alle Stücke
tragen unten eine Querborte, zeigen
zwei Ovale übereinander und ent¬
stammen wohl einem von Bock in
Palermo aufgefundenen Streifen, von
dem er in den »Kleinodien« auch
als in seiner Sammlung befindlich
spricht. Das Muster wird gebildet aus einer durch
Bänder hergestellten Verschlingung grösserer Ovale
mit kleinen Kreisen. Das Oval ist wohl eine
durch die Technik langgezogene Kreisform. Elächen-
muster aus verschlungenen Kreisen bilden ein der
byzantinischen Kunst sehr geläufiges Motiv. Man ver¬
gleiche Cattaneo, architettura; Dehli, architektonische
Details Italiens und Hessemer, Bauverzierungen; auch
Beissel, altchristliche Kunst Abb. 86. Die Haupt¬
kreise unseres Musters enthalten ein kronenartiges
Gebilde aus vier stilisierten Lilien an einem Ranken¬
aufbau. Die Einzelformen erscheinen zum Teil am
untern Ende des Hauptbaumes in Abb. 8. Der übrige
Raum in den Ovalen ist durch bedeutungslose Kringel
ausgefüllt, die sich auch in den Zwickelfeldern
zwischen den Ovalen vorfinden. In den oberen
Hälften der Zwickelfelder findet sich, abwechselnd
mit einem anderen, ein Motiv, welches unzweifelhaft
den ersten Baum am Dresdner Gewebe in sehr
primitiver Weise erkennen lässt. An demselben ent¬
springen einem Eiechtbande nach beiden Seiten
symmetrische, geschwungene Äste mit Zacken und
oben erscheint eine ähnliche Krönung. Das zweite
Zwickelfeld enthält einen lilienartigen Rankenaufbau,
den man ebenfalls als verwandt mit dem Zwickel¬
felde im Dresdner Gewebe bezeichnen kann. Während
der Baum sich sonst nicht weiter findet, tritt diese
Lösung an Geweben und Stickereien häufig auf, z. B.
Beissel, altchristliche Kunst Italiens, S. 271, am Euss-
kissen Kaiser Nikephoros Botoniates (1078 — 1081),
weiter an den Borten der Mitra Bi¬
schof Otto’s von Bamberg, welche
in Kreisverschlingungen sowohl Lilien
als dem zweiten Aufbau ähnliche
Gruppen enthält (Cahier et Martin,
nouveau melanges d’archeologie III,
S. 9) und um iioo in Sizilien an¬
gefertigt sein soll. Der Kaisermantel
Heinrich’s II. (| 1024) im Dome zu
Bamberg zeigt in den Zwickeln zwi¬
schen den Kreisverschlingungen Sterne
aus Rundfeldern mit Lilien und ähn¬
lichen Gruppen wie der Zwickel des
Stoffes Abb. 11 (Bock, Kleinodien,
Taf. 43). Am ungarischen Königs¬
mantel in Ofen, von 1031 (s. Bock,
Kleinodien, Taf. 17), erinnern die
Borten an das Gewebe in Abb. 11,
noch mehr aber der Kragenbesatz
(Bock, S. gi) bei dem die Ornamente
aus Lilien in Kreisen bestehen, wie die
»Kronen« unseres Gewebes. Die be¬
deutungslosen Kringel finden sich in
Bock, Kleinodien Taf. 38 an den Email¬
platten von 1042 bis 1055. DieEarben
unseres Gewebes sind: Grund karmin¬
rot, Muster Gold; in den Umrahmungen
und Mittelfiguren blieben dieGoldfäden
unverbunden und erscheinen dadurch
höherliegend; das füllende Rankenwerk
bilden abgebundene Goldfäden, welche
daher zurücktreten. Die Kringel oben links sind gelblich
umrahmt, alle andern Hauptgruppen schwarz. Die
Durchbrechungen der Eormen sind meist weiss mit
roten Punkten oder umgekehrt, einzelnes rosa mit
weiss; die beider in der untern Borte sind abwechselnd
rosa und grün. Die Kette besteht aus seidenen
Doppelfäden, je einer rosa, einer gelb. Breite des Ge¬
weberestes 9 cm, Länge 26 cm. In 1 cm sind ent¬
halten ca. 48 rote Schuss, ca. 24 flach Gold, 24 hoch
Gold. Infolge der bei den hochliegenden Gold¬
fäden angewendeten Technik (der Goldfaden geht erst
leinwandmässig durch die Kette und dann flottliegend
zurück, wieder durch die Kette und wieder flott zu¬
rück u. s. f.) sind derartige Eiechtgewebe von Nicht¬
fachmännern wohl häufig als Stickereien angesehen
worden. Durch Aufklärung dieses Irrtumes würde
ABB. 11. FLECHTGEWEBE MIT ZUM
TEIL FLOTTLIEGENDEM GOLDFADEN
PALERMO CA. 1150
3i8
MITTELALTERLICHE ELECHTGEWEBE
sich zweifellos eine weitaus häufigere Anwendung
unserer Technik feststellen lassen, als jetzt angenommen
wird.
gj Im Städtischen Kunstgewerbemuseum zu Düssel¬
dorf befinden sich einige Bruchstücke des in Abb. 12
nach einer Zeichnung wiedergegebenen Flechtgewebes.
Die schwarzen Stellen w'erden von den Resten des
Originalgewebes in Gold gebildet. Der Grund des
Gewebes ist blau und tritt im Muster nur als
trennende Kontur auf. Das Gewebe befindet sich
als Vorhang in der Kirche zu Susteren in Holland.
Er enthält in 1 cm 28 Doppelkettfäden und 40 Schuss
Gold. Das abgebildete Stück Zeichnung ist 55 cm
lang. Das Muster wird aus 17 schmalen Borten ge¬
bildet, welche meistens, ebenso wie die Querborte
einen mehr byzantinischen Charakter tragen; die
übrigen zeigen weichere Formen, wie sie sich etwa
bei sassanidischen Stoffen in den Umrahmungen und
nach diesen in byzantinischen Stoffen finden. Für
die erstgenannten Borten, die zum Teil bereits an
gotische Formen erinnern (namentlich die Querborte
und der Granatapfelansatz) findet sich Verwandtes
bereits in Perrot et Chipiez, hist, de l’art V. Perse
etc. Abb. 438, Basrelief in Athen gefunden, das einer
asiatischen Tapisserie (!) nachgebildet sein soll, nament¬
lich ist davon die Einfassung hierher zu rechnen.
Es seien noch angeführt: Riegl, spätromanische Kunst¬
industrie, S. 123, koptischer Grabstein, ebenda Taf. 17,
18. Cattaneo, architettura zeigt viele ähnliche Friese;
Beissel, altchristliche Kunst Italiens, S. 271, gehören
die Kleiderbesätze der Beamten Kaiser Nikophoros
Botoniates’ (1078 — 1081) hierher; Schlumberger,
Epopoe II, S. 413, bringt aus der Mitte des 11 Jahr¬
hunderts gotisierende Anklänge. Dasselbe zeigt auch
ein Flechtband, Pfauen und Trauben wie das Dresdner
Gewebe; Terzi, capella, an vielen Stellen die Gewand¬
borten und Details. Mit den orientalisierenden Borten
verwandte Motive sind zu finden: Riegl, spätrömische
Kunstindustrie Fig. 71, 72 (koptisch); aus Kairo
Fig. 80, Taf. 15; in Gerspach, tapisserie coptes viele
Borten und Blattformen.
C. ÜBERSICHT UND RESULTATE
Die Flechtweberei ist eine uralte Verzierungs¬
technik. Schon altgriechische Vasengemälde zeigen
die Penelope am Webstuhl mit aufgespannter Kette,
in welche die Figuren unzweifelhaft in unserer Tech¬
nik eingearbeitet sind, ln Kertsch in der Krim wurden
Flechtgewebe ausgegraben, welche etwa dem 3. — 5.
Jahrhundert vor Christi entstammen (jetzt im Ger¬
manischen Nationalmuseum, Nürnberg). Die ägyp¬
tischen Gräberfunde (koptische Webereien), etwa aus
dem 3. — 8. Jahrhundert nach Christi sind zum weit¬
aus grössten Teile in unserer Technik verziert, und
darunter befinden sich Stücke, die nach Karabacek
entweder aus den Ländern des Tigris eingeführt sind,
oder durch ihre Motive wenigstens beweisen, dass in
jener Gegend die Technik ebenfalls geübt wurde,
ln China werden heute noch kostbare Gewänder in
den kaiserlichen Manufakturen hergestellt, die durch
die hervorragende Schönheit ihrer Ausführung be¬
weisen, dass die Technik dort schon lange eingebürgert
ist. Auch im Norden finden sich noch sehr alte
Flechtgewebe und selbst die auf sehr niedriger Kultur¬
stufe stehenden Völkerschaften Afrikas wenden die
Technik an. Die alten Peruaner, die Azteken, übten
sie in ausgiebiger Weise (s. Reiss und Stübel, Toten¬
felder von Ancon). Die ältesten Erzeugnisse sind,
selbst wenn sie mit seidenem Schüsse hergestellt
wurden, auf leinener Kette gearbeitet; so noch byzan¬
tinische Nachbildungen sassanidischer Erzeugnisse,
wovon eins im Germanischen Nationalmuseum zu
Nürnberg sich befindet. Erst in spätbyzantinischer
Zeit tritt die Seide in der Kette an die Stelle des
Leinen, nachdem sie im Lande selbst erzeugt, also
billiger wurde. Die Kettenfäden wurden bald einfach,
bald doppelt oder drei-, auch vierfach zur Herstellung
der ripsartigen Leinwand verwendet. Dabei war von
Einfluss, dass die Kettfäden auf beiten Seiten des
Gewebes von den dicht zusammengeschlagenen
Schussfäden vollständig bedeckt werden, und nur
der verschiedenfarbige Schuss die Musterbildung be¬
wirkt. Dies wurde erleichtert dadurch, dass man eine
Verminderung der Kettendichte hervorbrachte, indem
man zwei oder mehr Kettenfäden vereinigte. Es
kommen jedoch überall auch Flechtgewebe vor, bei
welchen die Kettenfäden nur einzeln verarbeitet sind.
Verfasser hat nun, veranlasst durch die Nach¬
forschungen wegen des Dresdner Flechtgewebes, die
Technik dieses Gewebes als Grundlage für vorliegende
Betrachtungen genommen und die Resultate über die
technisch hiervon abweichenden Flechtgewebe hier
zunächt ausgeschieden. Das vorstehend Gefundene
stellen wir hier kurz zusammen.
a) Abb. 6 zeigt das älteste Erzeugnis unserer
Technik. Es ist das Grabtuch Bischof Günther’s
in Bamberg, welches zugleich an Grösse und Schön¬
heit in der Durchführung von keinem der übrigen
erhaltenen Flechtgewebe auch nur annähernd erreicht
wird. Es ist sicher anzunehmen als Erzeugnis der
kaiserlichen Manufaktur in Konstantinopel und wurde
dem Bischof Günther auf der Rückreise von Jerusalem
vom Kaiser Konstantin X. Dukas ca. 1 065 als Geschenk
übergeben. Es enthält, im Gegensätze zu allen hier
noch angeführten Geweben keine Goldfäden, gilt als
Arbeit des 11. Jahrhunderts, mag aber bereits im
10 Jahrhundert angefertigt worden sein.
bj Abb. 7 ist das nächstälteste Flechtgewebe
unserer Technik. Es ist eine Bordüre im Grabe des
Normannenfürsten Roger I. (f 1101) in Palermo.
Ihre Musterung erscheint ausserordentlich primitiv
und wahrscheinlich steht auch die technische Durch¬
führung nicht auf besonders hoher Stufe, ln Palermo
haben bereits unter den Sarazenen Staatsmanufakturen
bestanden und in dieser wird das Flechtgewebe von
Sarazenen hergestellt worden sein, welche in der
Darstellung von Nalurformen wenig geübt waren;
wenn man nicht gar annehmen will, dass künstlerisch
nicht veranlagte Normannen(-Frauen?) die Herstellung
bewirkten.
c) Abb. 8. Auch von dem Goldstoffe am Kaiser¬
mantel mit den Löwen gilt das zuletzt Gesagte. Nach
MITTELALTERLICHE FLECHTGEWEBE
319
der Inschrift wurde der Mantel 1133 in Palermo her¬
gestellt. Die Verwandtschaft des Musters mit dem
in Abb. 7 ist bemerkenswert.
d) Abb. Q. Das Gewebe mit dem Apfelbaume
schliesst sich den beiden vorhergehenden ohne weiteres
an; man kann also annehmen, dass es auch etwa
1130 in Palermo hergestellt wurde.
e) Abb. 10 erscheint durch die Vögel verwandt
mit Abb. 8, mag also zur gleichen Zeit und am
gleichen Orte hergestellt sein.
f) Abb. 11 zeigt in primitiver Form den Baum
am Dresdner Flechtgewebe; seine Herstellung kann
daher ebenfalls um die Mitte des 12. Jahrhunderts
stattgefunden haben. Das Gewebe zeigt die Gold¬
fäden zum Teil flottliegend, ist also für den Nicht¬
fachmann sehr schwierig von Stickerei zu unter¬
scheiden. Es kann angenommen werden, dass eine
ganze Anzahl mittelalterlicher Textilien, welche von
älteren Archäologen als Stickereien bezeichnet wurden,
bei genauerer Untersuchung sich als Flechtgewebe
herausstellen werden. Wahrscheinlich wird sich dabei
ergeben, dass die Flechtweberei, infolge der be¬
deutenden Rolle, welche sie in gewissen Zeitabschnitten
spielte, es verdient, gegenüber der gewöhnlichen
Weberei und der Stickerei als völlig gleichwertig be¬
trachtet zu werden.
g) Abb. 12. Trotz der fast als gotisierend zu
bezeichnenden Ornamentborten glaubt der Verfasser
für die Herstellung noch das 12. Jahrhundert gelten
lassen zu sollen.
h) Beilage in Dreifarbendruck und Abb. 15. Das
Dresdner Flechtgewebe steht in der technischen Durch¬
führung dem Günthergewebe am nächsten, ebenso
in der grösseren Musteranlage. Es bildet eine Ver¬
bindung zwischen den Flechtgeweben aus Kon¬
stantinopel und Palermo, wo es, nach vollendeter
Ausschmückung der capella palatina (1 143) um 1150
von Künstlern hergestellt wurde, welche 1148 aus
Griechenland hierher überführt worden waren. Der
römisch-deutsche Kaiser Heinrich VI. wurde als Ge¬
mahl der Prinzessin Konstanze Erbe des normannischen
Reiches in Sizilien und liess nach den Berichten der
Chronisten Otto von St. Blasien und Arnold von
Lübeck im Jahre 1195 die reichen Schätze aus den
Palästen Palermos auf 150 Saumtieren nach der
Reichsfeste Trifels in der Reichspfalz bringen. Die
Enkelin Heinrich’s VI. (Tochter seines Sohnes Kaiser
Friedrich II.), Margarete, verheiratete sich 1254 mit
dem Landgrafen Albrecht von Thüringen und wurde
sonach die Schwägerin des Markgrafen Dietrich von
Landsberg, des Stifters des Klosters zu Weissenfels,
als dessen Äbtissin wir seine Tochter Sophie unter
»Herkunft des Gewebes S. 308 kennen lernten. Ab¬
gesehen nun von der Möglichkeit, dass ein Teil des
oben angeführten Schatzes vielleicht allgemein an
Kirchen und Klöster verteilt worden sein kann, wäre
die weitere Annahme nicht ausgeschlossen, dass unser
Flechtgewebe als Bestandteil jenes Schatzes durch
diese verwandtschaftlichen Beziehungen in Besitz der
Äbtissin Sophie gelangte.
Hiernach sind sämtliche angeführten Flechtgewebe,
welche auf doppelten Kettenfäden in Seide hergestellt
sind, mit alleiniger Ausnahme des Grabtuches Günther’ s,
das dem 10. fahrhundert zuzuschreiben ist und aus
Konstantinopel herrährt, als Arbeiten der Staats-
mamifaktiir zu Palermo zu betrachten, wo sie im
11. und 12. Jahrhundert hergestellt wurden.
Zum Schlüsse ist es dem Verfasser eine angenehme
Pflicht, denjenigen Instituten und Privaten verbind¬
lichsten Dank auszusprechen, welche seine Bemühungen
durch freundliches Entgegenkommen unterstützten. So
die Museen zu Düsseldorf, Nürnberg und Wien durch
Einsendung von Originalgeweben; das hochwürdige
Domkapitel zu Bamberg, Madame Errera in Brüssel
und die Museen zu Berlin, London und Paris durch
Einsendung von Photographien; die Museen zu Berlin,
Düsseldorf und Reichenberg i. B. durch Darleihung
zum Teil kostbarer Werke, sowie endlich die Herren
Geheimrat Dr. A. B. Meyer, Dresden, Dr. Forrer,
Strassburg i. E. und Direktor Utz, Wien, sowie das
Orientalische Seminar in Berlin durch Erteilung wert¬
voller Auskünfte.
ABB. 12. FLECHTOEWEBE. ARBEIT AUS PALERMO, UM 1150 (?)
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XIV H. 12
4
DOPPELBLATT AUS VAN DYCK’S SKIZZENBUCH: LINKS NACH SEBASTIANO DEL PIOMBO, RECHTS NACH TIZIAN
DAS VAN DYCK-SKIZZENBUCH IN DER
SAMMLUNG ZU CHATSWORTH')
Wenn irgend etwas, so kann das Skizzenbuch eines
Meisters den intimen Einblick in die Welt, in der er
lebte, gewähren, uns vertraut machen mit der Art, wie
er sah, mit dem, was ihn interessierte, ja indem die
Eindrücke mit hastiger Hand oder sorgfältig verweilen¬
dem Stift festgehalten sind, darf man Rückschlüsse auf
die Intensität des Interesses machen. Von den Künst¬
lern, die im i6. Jahrhundert aus dem Norden in die Welt
des Südens pilgerten, haben die meisten sich Aufzeich¬
nungen über die antiken Reste gemacht. Ich erinnere an
Heemskerk’s Skizzenbücher, die nebst manchen anderen
für die Archäologie ihre grosse Bedeutung haben.
Van Dyck’s Skizzenbuch, von dem Lionel Cust, Ver¬
fasser einer Biographie des Meisters, eine erfreulich reiche
Auswahl mitteilt, hat ebenfalls nicht zuletzt ein antiquari¬
sches Interesse. Allerdings nicht wegen der darin ent¬
haltenen Fixierungen antiker Bauwerke oder Skulpturen.
Van Dyck war zu sehr Maler, zu sehr in einer Koloristen¬
schule gebildet, als dass er sich derartige Aufzeichnungen
hätte machen sollen. Es bezeichnet seine Interessen sehr
deutlich, dass er nur ein antikes Werk, und zwar ein Ge¬
mälde sich abgezeichnet hat: die Aldobrandinische Hochzeit.
ln der kurzen, alles Wesentliche enthaltenden Einlei¬
tung giebt der Herausgeber (ausser der Beschreibung des
ganzen Buches, das sich aus 125 Blättern zusammensetzt)
seiner Meinung dahin Ausdruck, dass das Buch in Klein¬
quart dem Künstler vorwiegend auf dem ersten Teil seiner
Reise durch Italien, die im November 1621 in Genua be-
1) A description of the Sketch-book by Sir Anthony
van Dyck used by him in Italy, 1621 — 1627 and preserved
in the collection of the Duke of Devonshire, K. G. at
Chatsworth. By Lionel Cust, London, George Bell & Sons
igo2. 29 p. und XLVll Tafeln.
gann, wird gedient haben. Die Bilder, die er skizziert,
sind damals vorwiegend in Venedig und Rom gewesen.
Wer die frühen Arbeiten van Dyck’s kennt, weiss,
dass neben seinem Meister Rubens keiner grösseren Ein¬
fluss auf seinen Stil gehabt hat, als Tizian. Er muss für
das Haupt der venetianischen Schule unbegrenzte Bewun¬
derung gehabt haben. Die meisten Skizzen, die in dem
Buche enthalten sind, tragen beigeschrieben den Namen
Tizians. Daneben erscheint Giorgione (das San Rocco-
Bild) und Paolo, der grosse Veronese, dem Mit- und Nach¬
welt die erste Stelle neben dem Meister von Cadore ein¬
räumten, bis ihn die letzte Vergangenheit von diesem Platz
gewiesen hat. Charakteristisch ist, dass Tintoretto fehlt.
Dessen terribilitä musste van Dyck befremden, vielleicht
geradezu abstossen. Von Sebastiano findet man den kreuz¬
tragenden Christus, der sich seiner Zeit einer ausserordent¬
lichen Beliebtheit erfreut haben muss: Beweis die zahl¬
losen Wiederholungen weniger der ganzen Komposition,
wie der Hauptfigur.
Neben den Venetianern haben ihn die Leistungen der
übrigen Italiener offenbar weniger interessiert. Er zeichnet
eine Gruppe aus Leonardo’s Sankt Annabild ab. Einige
raffaelische Kompositionen skizziert er, nämlich die heilige
Familie, damals in Mailand, jetzt in Wien, dann Stücke aus
der Disputa, endlich das Abendmahl, das Marc Anton ge¬
stochen hat. Man darf aus der relativ geringen Zahl
dieser Skizzen schliessen, dass ihm Raffael kein sehr
starkes Interesse abgewann. Mit einer solch kühlen Be¬
wertung des Urbinaten stand van Dyck damals ja nicht
allein da.
Von späteren Künstlern kopiert er gelegentlich einen
der Caraccis und Guercino. Vom Quattrocento nichts
Das war damals tot, ganz unbeachtet. Die Lektüre der
Reisebücher derselben Zeit lehrt das gleiche.
Ein paar nordische Reminiszenzen kommen ihm: Stücke
aus Dürer, Lukas van Leyden, Brueghel (?).
Relativ selten sind die Zeichnungen nach der Natur.
AUS VAN DYCK’S SKIZZENBUCH (NACH TIZIAN)
4'
322
DAS VAN DYCK-SKIZZENBUCH IN DER SAMMLUNG ZU CHATSWORTH
Davon ist eine besonders interessant, das Porträt des
greisen Sofonisba Angiiissola, das er 1624 in Palermo
macht und mit ein paar Zeilen der Bewunderung für die
sechsundneunzigjährige Frau begleitet (Tafel XXXVlll).
Ebendort hat er eine Hexe gezeichnet, ln Rom begegnet
er 1623 dem persischen Gesandten, einem Engländer von
Geburt, und interessiert sich für die Tracht, die er und
seine Frau tragen. Auch eine Gruppe italienischer Komö¬
dianten, etwas in Callot’s Manier, kann nach dem Leben
gezeichnet sein.
Aber au weitaus erster Stelle steht doch Tizian.
1 leiligc .Mythologien, Porträts von ihm sind reproduziert.
Manches davon ist bis auf unsere Tage gekommen; wie
vieles aber ist verloren. Ich finde, keine Lektüre aller
Tiziankorrespondenzen macht uns diese Lücken so augen¬
scheinlich, als die Blätter des van Dyck’schen Skizzen-
bnches. Darüber hilft uns auch nicht die Vorstellung
hinweg, dass damals schon manches unter Tizian’s Namen
ging, was nicht sein Eigentum war (so auf Tafel XXXIV
G. B. Moroni).
Die Versuchung, etwas bei diesen Tizian’schen Sachen
zu verweilen, ist sehr gross. Ein paar Notizen mögen
gestattet sein. Hier findet man auch eine flüchtige Skizze
der zwei berühmten Borghesebilder; van Dyck hat uns
aber nicht mitgeteilt, wie zu seiner Zeit die »Himmlische
und irdische Liebe« geheissen ward. Bei dem Bild der
drei Grazien oder »Erziehung des Amor« zieht er einen
Strich von der Brust der Frau mit dem Köcher und
schreibt darunter: quel admirabil petto. Tizian’s Früh¬
bild, das der Bischof von Paphos gestiftet, ist auf Tafel VI 1
zu finden. Eine ganze Fülle von Madonnenmotiven lernt
man hier kennen.
Von Porträts interessieren ihn sichtlich diejenigen mit
feierlichen und schönen Po¬
sen. Zweimal kommt in
verschiedenen Stellungen der
Kardinal Pallavicini vor,
von dem das schöne Profil¬
porträt jetzt in der Ermi¬
tage isH). Ganz unbekannt
sind die zwei Doria -Bild¬
nisse. Ein drittes Porträt
eines Doria ist kürzlich in
englischen Besitz überge¬
gangen (mitgeteilt von Her¬
bert Cook in Burlington
Magazine, Heft 11).
Ein paarNachträge seien
notiert: die Verkündigung
Tafel I ist in San Rocco
in Venedig, das männliche
Bildnis rechts auf Tafel XX IV
ist in Berlin, die zwei
Jünglingsköpfe Tafel XXXII
kommen auf einem der
Paduaner Fresken vor, die
Komposition rechts auf Tafel
1) Dies Bild war nach
der Angabe in Somoff’s Kata¬
log in van Dyck’s Besitz.
XLl, neben dem Borghesebild, ist ebenfalls noch jetzt in
der Galerie Borghese zu finden.
Man wird nach diesen kurzen Bemerkungen das Ur¬
teil, es habe das Skizzenbuch ein bedeutendes antiquarisches
Interesse, gerechtfertigt finden. Für den Tizianforscher
speziell ist die Ausbeute sehr gross. Es hiesse aber einem
Künstler von van Dyck’s Rang Unrecht thun, wollte man
nur diese Seite betonen. Die Zeichnungen haben natürlich
auch einen rein künstlerischen Wert. Da ist merkwürdig
festzustellen, wie der Eindruck, den sie machen, mit dem
intimeren Studium günstiger wird. Zuerst sieht man die
Flüchtigkeit der Wiedergabe, die Vernachlässigung des
Details. Dann aber beobachtet man, mit wie klarer Ein¬
sicht das Wesentliche eines Eindrucks herauskommt (viel¬
leicht mit Ausnahme der »Himmlischen und irdischen
Liebe«, wo die Form des Längsbildes alteriert ist), wie
deutlich die Bewegungsmotive umschrieben sind. Die
Zeichnungen sind weit davon entfernt das zu sein, was
Goethe »reinlich« nannte. Die Feder hat in van Dyck’s
Hand rasch gearbeitet; es sind nur Erinnerungsskizzen;
gelegentlich dient Sepialavierung dazu, etwas Farbe hinein¬
zubringen. Und trotz aller Defekte: so kann doch nur
ein Künstler zeichnen. Der Dilettant würde mehr beim
Nebensächlichen verweilt haben.
Indem nun van Dyck eine Komposition sich notiert
(gelegentlich mit Zufügung einiger Bemerkungen über
Farben), wird nicht selten die italienische Form ihm unter
den Fingern zur vlämischen. Das ist besonders interessant
an den zwei Eccehomo-Skizzenblättern (Tafel Vlll und IX)
zu beobachten, wo Tizian sich in van Dyck abwandelt.
Es ist eine neue Bestätigung einer bereits bekannten
Thatsache, dass der junge van Dyck ganze Kompositionen,
wie Gestaltung heiliger Typen dem grossen Venetianer
entlehnte. So wird aus
einer Figur, die er in dem
tizianischen Flolzsehnitt von
Pharaoh’s Untergang findet,
die Hauptfigur eines seiner
schönsten Frühbilder, des
in drei Exemplaren vor-
komnienden St. Martins (Ta¬
fel XVI).
Durch solche Reflexe,
die auf das eigene Schaffen
van Dyck’s fallen, gewinnt
das Skizzenbuch auch einen
anderen Anspruch auf unser
Interesse, da es uns wichtige
Aufschlüsse über die Frage
giebt, wie van Dyck’s Kunst
sich umformte, wie aus dem
vlämischen der italienisie-
rende Maler ward.
Nach zwei Seiten hin
haben sich also Herausgeber
und Verleger durch ihre
Publikation, die man mit
Vergnügen zur Hand nimmt,
Anspruch auf dankbare Teil¬
nahme erworben.
OEORü GRONAU.
AUS VAN DYCK’S SKIZZENBUCH: HIMMLISCHE UND IRDISCHE
LIEBE
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig
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