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ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST
MIT DEN BEIBLÄTTERN
KUNSTCHRONIK UND KUNSTMARKT
NEUE EOLGE
SECHZEHNTER JAHRGANG
LEIPZIG
VERLAG VON E. A. SEEMANN
1905
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi40unse
Inhalt des sechzehnten Jahrgangs
Seite
Aufsätze über moderne Kunst
Klingens Dramagruppe. Von Georg Treu. Mit i Licht¬
druck und 5 Abbildungen i
Max Klingens dekorative Malereien in der Villa Albers
in Steglitz. Von F. Becker. Mit i Dreifarbendruck
und 7 Abbildungen . 8
Käthe Kollwitz. Von Werner Weisbach. Mit i Ori¬
ginalradierung, 2 Lichtdrucken und 6 Abbildungen 85
Bruno Liljefors. Von Tor Hedberg. Mit 2 Dreifarben¬
drucken und 2 Abbildungen . 116
Franz von Lenbach. Eine Gedächtnisrede. Von Theodor
Schreiber. Mit 5 Abbildungen . 127
Eugene Laermans. Von Robert Breuer. Mit 1 Ori¬
ginalradierung und 3 Abbildungen ...... 145
Neue Schweizer Kunst. Von Hermann Kesser. Mit
8 Abbildungen . 14g
Jules Dalou und sein Denkmal der Arbeit. Von Kurl
Eugen Schmidt. Mit 18 Abbildungen . 158
Eugen Bejot. Von August Marguillier. Mit 1 Ori¬
ginalradierung und 3 Abbildungen . 171
Weltkunst. Der dänische Maler Vilhelm Hammershöi.
Von Alfred Bramsen. Mit 1 Dreifarbendruck und
11 Abbildungen . 177
Constantin Meunier f- Von Henri Hymans. Mit
1 Originalholzschnitt, 1 Heliogravüre und 11 Ab¬
bildungen . 205
Woldemar Hottenroth. Von J. E. H. Mit 6 Abbil¬
dungen . 223
Otto Wagners moderne Kirche. Von Ludwig Hevesi.
Mit 1 Abbildung . 236
Valentin Ruths. Von H. E. Wallsee. Mit 4 Abbil¬
dungen . 243
Friedrich Drake. Erinnerungen zu seinem 100. Ge¬
burtstage. Von Paul Meyerheim. Mit 5 Abbil¬
dungen . 257
Bernhard Hötger. Von K. E. Schmidt. Mit 9 Ab¬
bildungen . 277
Das Leipziger Ratsbild. Von Theodor Schreiber. Mit
1 Abbildung . 284
Domenico Morelli. Von Arnold Ruesch. Mit 7 Ab¬
bildungen . 285
Seite
Forschungen zur älteren Kunstgesehichte
Vergessene und neuentdeckte Bilder von Gains-
borough. Von Gustav Pauli und Konrad Lange.
Mit 1 Heliogravüre in 6 Abbildungen . 14
Sigilgaita und die Flachbilder der Kanzel von Ravello.
Von Wilhelm Rolfs. Mit 4 Abbildungen .... 93
Neue Forschungen über italienische Renaissance¬
bronzen. Von W. Bode. Mit 4 Abbildungen . . 122
Die Giebelzeichnung vom Heidelberger Ottoheinrichs-
bau im Wetzlarer Skizzenbuch. Eine Entgegnung.
Von A. von Oechelhaeuser. Mit 1 Lichtdruck . . 137
Die Wiedergabe griechischer Kunstwerke durch Bild¬
hauer des römischen Trevererlandes. Von Hans
Graeven. Mit 5 Abbildungen . . 165
Die Echtheit der »Wetzlarer« Zeichnung des Otto-
Heinrichbau-Giebels. Von Albrecht Haupt . . . 170
Das Winckelmannporträt von Anton Raphael Mengs.
VonJuliusBrann. Miti Heliogravüren. 2 Abbildungen 173
Bemerkungen über einige Meisterwerke. Von Wilhelm
Suida. Mit 1 Abbildung . 190
Die Wiederherstellung des päpstlichen Palastes in
VM&xho. Von Eederico Hermanin. Mit 3 Abbildungen 192
Ein Handbuch der bürgerlichen Baukunst in Frank¬
reich. Von H. Bergner. Mit 6 Abbildungen . . 195
Kritik und Chronologie der Gemälde von Peter Paul
Rubens. Von W. Bode . 200
Eine Komposition von Giovanni Bellini. Von Ph. M.
Halm. Mit 5 Abbildungen . 238
Die romanischen Wandmalereien der Rheinlande. Von
Paul Weber. Mit 4 Abbildungen . 249
Der neue Rembrandt im Städelschen Kunstinstitut.
Von Ludwig Jiisti. Mit 2 Heliogravüren .... 253
Eine Variante des Marienbildes bei Sir F. Cook in
Richmond, in Petersburger Privatbesitz. Von A.
Neustroieff. Mit 1 Abbildung . 292
Tizians Bildnis des Pietro Aretino in London. Von
Georg Gronau. Mit 1 Abbildung . 294
Neuere Erwerbungen vlämischer Kunst in der Galerie
zu Brüssel. Von Emil Jacobsen. Mit 7 Abbildungen 297
Die neue Grünewald-Monographie. Von Eritz Baum¬
garten . 307
IV
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Ausstellungen, Sammlungen und Stiftungen
Das Kaiser- Friedrich- Museum zu Berlin. Erläutert
in Gemeinschaft mit Adolph Goldschmidt, Ludwig
Justi und Paul Schiibritig von Paul deinen. Mit
2 Originalradierungen, 5 Dreifarbendrucken und
30 Abbildungen . 25
Die Ausstellungen alter sienesischer Kunst in London
und'ixem.. Von Louise M. Richter. Mit 12 Abbildungen 99
Das Wallace-Museum in London. Von J. Paul Richter.
Mit 7 Abbildungen . 215
Ausstellung von Werken Karl Zieglers im Kaiser-
Friedrich -Museum zu Posen. Von Ludwig Kaeni-
merer. Mit 9 Abbildungen . 229
Die Galerie Speck von Sternburg. Von Felix Becker.
Mit 13 Abbildungen . 263
Seite
Die Ausstellung von Werken deutscher Landschafter
in Berlin. Von Walther Gensei. Mit 30 Abbildungen 309
Die internationale Kunstausstellung in München. Von
L. von Biierkel. Mit 5 Abbildungen . 323
Die Künstlerkolonie Villa Romana in Florenz. Von
R. G. Mit 2 Abbildungen .
Die zweite Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes
in 1 Dreifarbendruck und 15 Abbildungen . . .
Biographisches
Nekrolog für Ernst Arthur Seemann. Von G. K- Mit
1 Abbildung . 25
Ein Heldenleben. Von Hans Mackowsky ... 109
Zum Tode Menzels. Mit 1 Abbildung und 1 Drei¬
farbendruck . 144
Kunstbeilagen
Seite
Eugen Bejot, An der Themse. Originalradierung zu 172
/. Beiirdeley, Wäscherinnen. Originalradierung . zu 109
Margarete Braumiiller-Haveniann, Flatternde Win¬
deln. Originalholzschnitt . zu 108
Anna Costenoble, Sturm. Originalradierung . . zu 308
Lukas Cranach, Ruhe auf der Flucht. Dreifarben¬
druck . zu 64
Donatello, Engel vom Taufbrunnen in Siena. Ra¬
dierung von Peter Halm . zu 56
/. V. Diitczyiiska, Originalholzschnitt . zu 276
[an van Eyck, Der Mann mit den Nelken. Drei¬
farbendruck . zu 84
Gainsboroiigh, Georg III. und sein Hof. Helio¬
gravüre . zu 16
H. V. d. Goes, Anbetung. Dreifarbendruck . . zu 48
V. Haniniershöi, Stille Stunden. Dreifarbendruck zu 180
Walther Hampel, Bildnis der M>ie. Tanguay. Drei¬
farbendruck . zu 340
Max Heilmann, Vor dtr K\rcW. Originalradierung zu 252
Gustav Klimt, Bildnis. Dreifarbendruck ... zu 309
Max Klinger, Das Drama. Lichtdruck .... zu 1
Max Klinger, ln der Brandung. Dreifarbendruck zu 8
Karl Köpping, Radierung nach Jan van Beers zu 204
Käthe Kollwitz, Am Parktor. Originalradierung zu 85
Seite
Käthe Kollwitz, Entwurf der Radierung »Bauern¬
aufstand«. Lichtdruck . zu 88
Eugene Laernians, Sonnenuntergang. Original¬
radierung . zu 145
Bruno Liljefors, Junge Möwen. Dreifarbendruck zu 116
Bruno Liljefors, Sonnenaufgang. Dreifarbendruck zu 121
Raphael Mengs, Bildnis Winckelmanns. Helio¬
gravüre . zu 173
Adolph von Menzel, König Wilhelms Abreise zur
Armee. Dreifarbendruck . zu 144
Constantin Meiinier, Studie. Heliogravüre . . zu 212
Hans Neumann Jr., Originalholzschnitt .... zu 229
Giebel des Ottheinrichbaues. Lichtdruck aus dem
Wetzlarer Skizzenbuch . zu 137
Rembrandt, Triumph der Dalila. 2 Heliogravüren zu 253
Antonio Rossellino, Knabenbüste. Radierung von
Albert Krüger . zu 27
Jakob Riiisdael, Blick auf Harlem. Dreifarbendruck zu 72
Martin Schoiigaiier, Die Anbetung. Dreifarben¬
druck . zu 40
Marie Stein, Bildnis. Originalradierung ... zu 24
Canalegrande. Originalradierung zu 285
Pierre Vibert, Constantin Meunier. Originalholz¬
schnitt . zu 205
ZEITSCHRIFI FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI
MAX KLINOER. DAS DRAMA
M. KLINQER, STEGLITZER VILLA, FRIESBILD ÜBER DEM KAMIN (HAMBURG, KUNSTHALLE)
KLINOERS DRAMAORUPPE
Von Georg Treu
Am 31. Juli 1904 hat Max Klinger nach sechs¬
jähriger Arbeit eine Kolossalgruppe in Marmor
vollendet, die er »Drama« nennt. Bestellerin
des Werkes ist die Dresdener Tiedgestiftung, nach
deren Wunsch es dereinst in der Skulpturensamm¬
lung des Albertinums seinen Platz finden soll. Vor¬
her aber wird die Gruppe der Öffentlichkeit zuerst
in der Dresdener Großen Kunstausstellung zugänglich
gemacht werden.
Vielleicht ist der Augenblick, in dem diese neue
Schöpfung Klingers aus der Stille der Werkstatt in
den Streit der Meinungen hinaustritt, am geeignetsten
dazu, die äußere und innere Geschichte der Gruppe
zu erzählen. Kenntnis der Eindrücke und Gedanken,
Erfahrungen und Absichten des Künstlers selbst
pflegen ja doch am ehesten zu teilnehmender und
verständnisvoller Freude an seiner Schöpfung anzu¬
regen.
fk *
Sk
Den ersten Anlaß zur Entstehung des Werkes
gab ein starker Natureindruck: der Anblick eines her¬
vorragend schönen Athletenkörpers. Über diese Schön¬
heit zu urteilen, vergönnt uns der Künstler durch
eine Aufnahme, die das Urbild neben das Nach¬
bild stellt (Abb. S. 7).
Die Pracht dieser Schultern und Arme mit dem
von der Anstrengung bis zum Platzen gefüllten Adern¬
geflecht darüber, die Wucht des zusammengekrümmten
Rumpfes, die in höchster Kraftanspannung gestreckten
Beine, die ausdrucksvoll klammernden Finger und
Zehen, kurz die ganze Flerrlichkeit dieses durchge¬
bildeten Athletenkörpers, sie war es, die den Künstler
gerade zum plastischen Nachschaffen »des schönen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. i
Körpers in schönem Stein« hinriß, ja zu einer Dar¬
stellung in überlebensgroßem Maßstab drängte.
Diesem klaren Muskelgefüge gegenüber, von dem
stete Übung jede Spur von trägem Fett weggearbeitet
hat, kommen einem auch die Worte Klingers wieder
in den Sinn: von der wunderbaren Einfachheit des
menschlichen Körpers, die keine Künstelei dulde, die
zur Einfachheit zwinge und dessen Nachbildung
»Kern und Mittelpunkt« aller Kunst großen Stiles sei.
Ein gutes Glück fügte es, daß der Künstler die
Arbeit wiederholt vor dem Urbild seiner Hauptgestalt,
dem Athleten Rasso, aufnehmen und monatelang
durchführen konnte, — freilich unter bedeutenden, der
Höhe der » Artisten «gehälter entsprechenden Opfern.
Übrigens fand Klinger in seinem Modell zugleich
den schärfsten Beurteiler seiner Arbeit. Der Athlet
kannte alle seine Muskeln nach Lage und Form zu
gut auswendig, um hier nicht jede Abweichung so¬
gleich zu bemerken und zu rügen. Es wiederholt
sich auf diese Weise die alte Erfahrung aus helle¬
nischer Welt, daß Sports- und berufsmäßige Kenner¬
schaft des Menschenleibes seiner bildnerischen Dar¬
stellung eine leidenschaftliche Teilnahme entgegen¬
zubringen pflegt. Dies allein erklärt Art und Höhe
der antiken Athletenplastik.
Auch bei unserem Künstler galten Teilnahme und
Arbeit zunächst dem schön durchgebildeten Körper.
Bezeichnend hierfür ist, daß der Kopf des Mannes
erst ganz zuletzt ausgeführt wurde.
Dies Haupt ist eine ganz persönliche, geistreiche
Schöpfung Klingers, die er hier an die Stelle des
glatten Schnurrbartgesichtes seines Artisten setzte. Aus
den erregten Zügen ließ er mißtrauischen Ingrimm
und finstere Entschlossenheit blicken. Auch hob er
1
Max KLINGERS »DRAMA.
MAX KLINOERS »DRAMA.
4
KLINGERS DRAMAGRUPPE
den Kopf, im Gegensatz zu dessen gesenkter Haltung
im Urbild; offenbar wollte er hiermit die Beziehung
zu dem vorauszusetzenden Gegner zum Ausdruck
bringen. Um seinen Angreifer abzuwehren, bricht
der nackte Riese, wie im Verzweiflungskampf um
Tod und Leben, mit gewaltiger Kraftanstrengung sich
den starken Ast zur Waffe vom Baumstumpf los.
Veranlassung, Art und Ziel dieses Kampfes an¬
zudeuten fühlte der Künstler weiter das Bedürfnis
und fügte daher, als er vor fünf Jahren gebeten
wurde, den Entwurf seines Athleten für die Dresdener
Kunstausstellung von 189g herzugeben, in wenig
Tagen die liegende weibliche Gestalt hinzu.
Zum Tode verwundet hält das Weib einen der
Eelszacken umklammert. Ihre Verwundung war ur¬
sprünglich durch einen Pfeil angedeutet. Dieser
wurde später als zu aufdringlich und spielig in der
Wirkung weggelassen. Den Gedankenkreis aber, den
Klinger mit jener Sterbenden andeutet, hat er in der
Eolge nur noch reicher ausgestaltet.
Begebenheiten, die um die Wende des Jahr¬
hunderts unser Volk zu leidenschaftlicher Teilnahme
erregten, spielten herein. Sie waren es, die sich für
den Künstler in der Gestalt seines baumausreißenden
Kämpfers verkörperten. Er wurde für ihn zum Ver¬
treter des heldenmütigen Burenstammes und dessen
Verteidigung von Volkstum und Heimat, von Weib
und Kind gegen Einbruch und Gewalt.
Eine Zeitlang beabsichtigte Klinger sogar, dieser
Deutung inschriftlichen Ausdruck zu geben: BELLI
BOERORUM IMAGO sollte an dem Felsen einge¬
meißelt zu lesen stehen. Diese Absicht wurde je¬
doch aufgegeben, um die weite und dauernde Ge¬
dankenwelt, die das Werk mit seiner ins Allgemein¬
menschliche erhöhten Form anregt, nicht auf den
zufälligen Anlaß seiner Entstehung einzuschränken.
Umfang und Gestalt der Gruppe aber waren in
ihrem ersten Entwurf näher bedingt durch die schräg¬
gestellte Rechtecksform eines Marmorblockes, den
Klinger auf seinen griechischen Inselfahrten durch
die Kykladen auf Paros hatte liegen sehen.
Auf Grund jenes Entwurfs, der auf Tafel 4 des
Schriftchens über »Klinger als Bildhauer« wieder¬
gegeben ist, bestellte der leitende Ausschuß der
Tiedgestiftung bei Klinger die Gruppe in Marmor.
Die Geschichte dieses Auftrages und seiner Aus¬
führung durch den Künstler gehört zu sehr zu den
seltenen, völlig erfreulichen Erfahrungen auf dem Ge¬
biete von Kunstaufträgen durch eine Körperschaft, als
daß ihrer hier nicht mit warmem Dank gedacht
werden müßte.
Der mit Klinger abgeschlossene Vertrag enthielt,
außer den notwendigsten geschäftlichen Festsetzungen,
in bezug auf die Art der Ausführung des Werkes
nur die sehr nachahmungswerte Bestimmung, daß
hierfür lediglich die künstlerische Überzeugung des
Schöpfers der Gruppe maßgebend sein solle. Das
Vertrauen, das diese Worte eingab, hat der Künstler
in reichem Maße dadurch gerechtfertigt, daß er in
dem ausgeführten Werke nach Umfang und innerem
Reichtum der Kunstform unvergleichlich mehr gab,
als er verheißen.
Die Füglichkeit hierzu erwuchs aus zunächst sehr
unwillkommenen Umständen: den Block, den Klinger
anfänglich für die Gruppe in Aussicht genommen,
fand er bei erneuter Anwesenheit in Paros zu Platten
zersägt. Zur Herbeischaffung eines neuen Steines
war 1899, dem Jahre des Vertragsabschlusses, die
Herbstzeit allmählich schon zu weit vorgeschritten,
um eine Verschiffung des Blockes in den kleinen
griechischen Kai'ks noch zu gestatten. Gesellschaften,
die sich zur Gewinnung von Marmor auf Paros ge¬
bildet hatten, waren an dem verkehrten und die Eigen¬
tümlichkeit des parischen Steins verkennenden Bestre¬
ben gescheitert, möglichst Carrara-ähnlichen »schönen«
Marmor zu finden. Bruchversuche an von Klinger
auf der Insel selbst gewählten Stellen blieben leider
erfolglos; den Leuten dort schien endlich Geduld
und Mut ausgegangen zu sein, da sie nicht rasch
genug Gewinn sahen. »Glückliches Zeitalter der Speku¬
lation,« ruft Klinger in einem seiner Briefe aus, in
dem er aller der mißglückten Versuche gedachte, aus
Griechenland einen Block für seine Gruppe zu ge¬
winnen.
So mußte sich der Künstler denn zur Verwendung
von Tiroler Marmor entschließen. Ein glücklicher
Kauf in Laas sicherte ihm einen Block von schönem,
parosähnlichem Korn und bedeutender Härte. Diese
setzte zwar der Bearbeitung die größten Schwierig¬
keiten entgegen, verbürgt dem Werke dafür aber eine
um so längere Dauer. Der durch und durch ge¬
sunde Stein klingt beim Anschlägen wie eine Glocke.
Bei der Ausmessung in der Werkstatt stellte sich
heraus, daß der über dreihundert Zentner wiegende
Block bedeutend umfangreicher war, als der ursprüng¬
liche Entwurf dies erforderte. Statt in ein schräggestelltes
Rechteck eingeengt zu sein, konnte die Gruppe nun¬
mehr einem aufrechtstehenden bequem eingeordnet
werden. Der Stein gestattete sogar, die Gestalten um
volle fünfzig Zentimeter zu heben. Dies steigerte
den Rhythmus des Ganzen außerordentlich und sicherte
ihm ein besseres Gleichgewicht der Massen. Auch
konnte der untere Umriß der sitzenden Mannesgestalt
jetzt in Augenhöhe gebracht werden. Das war für
den Künstler wichtig, da ihm daran lag, die Gestalt
in ihrer Bewegung besser zu verdeutlichen, als es
im ersten Entwurf hatte geschehen können. Beine
und Gesäß wurden nun möglichst vom Fels gelöst,
damit auf diese Weise klarer zum Ausdruck komme,
wie der Mann sich vom Sitz hebt, um mit Anstem-
mung seiner ganzen Körperlast den Ast loszubrechen.
Zum Hauptgewinn wurde es dem Werke aber,
daß der größere Block dem Künstler den Gedanken
eingab, noch eine dritte Gestalt hinzuzufügen und so
die Gruppe nach Form und Gedanken abzurunden.
Dem Gewaltmenschen auf der Höhe des Steines setzte
er an dessen Rückseite ein Bild zartester Innigkeit
gegenüber: eine Mädchengestalt, die, gleichsam im
Schutze des Felsens zusammengekauert, die Sterbende
mit töchterlicher Zärtlichkeit auffängt und ihr bang
tröstende Worte zuzuflüstern scheint.
MAX KLINGERS »DRAMA
6
KLINGERS DRAMAGRUPPE
So entstanden die beiden, in erhabener Arbeit
ausgeführten Sockelgestalten. Fast nur die Häupter
ließ der Künstler im Vollrund ausladen; die Körper
aber wahren den Zusammenhang mit dem Stein.
Der jugendlich schmiegsame Leib der Sitzenden
scheint aus ihm herauszuwachsen; die Beine ver¬
schwinden, halb ausgearbeitet, im Fels. Auch der
rechte Arm der liegenden Frau wurde nicht vom
Block gelöst. Eine dünne Marmorwand ist zwischen
Unterarm und Fels stehen geblieben, die in dem
doppelten Seitenlicht, das Klinger für seine Gruppe
wünscht, einen weichen Schimmer über die Brust der
Sterbenden wirft.
Aber diese Steinwüchsigkeit beschränkt sich nicht
auf dergleichen Einzelheiten; sie durchdringt die
ganze Körperform der Gestalten. Man empfindet
dies recht, wenn man sie mit früheren Arbeiten des
Künstlers, etwa mit den Sockelfiguren vom Christus
im Olymp oder mit der Badenden vergleicht. Das
Modellmäßige ist einer großflächigen Behandlung ge¬
wichen; die Wirklichkeitsnachahmung im einzelnen
hat einer plastischen Objektivität Platz gemacht,
die doch wieder ganz persönlich belebte Natur gibt.
Besonders bezeichnend sind hierfür die Köpfe der
Frauen. Von den Körperformen rühmte der Künstler
selbst mit Recht, sie liebevoll streichelnd, daß sie
das allseitige Sonnenlicht vertrügen — seien sie doch
auch in solchem fertig gemacht.
Jeder Zoll der Marmoroberfläche ist hier eigen¬
händige Neuarbeit. Die ersten Gipsmodelle lagen
schon während des Meißelns zerbrochen und ver¬
staubt im Winkel.
Allerdings brachte dies schöpferische Arbeiten im
Stein neben den Freuden des Schaffens auch Sorgen
und Gefahren. Mit dem rechten Arm der Liegenden
war der Künstler zu tief in den Stein geraten. Er
habe hier nur noch Millimeterdicke zur Verfügung,
schrieb er einst, jeder Meißelschlag wolle überlegt
sein und könne Unheil bringen. Sei das überwunden,
so arbeite er sicher weiter.
An der Sitzenden vollends war kein Maß ihres ur¬
sprünglichen Entwurfs dasselbe geblieben. Die fort¬
schreitende Arbeit selbst ergab erst allmählich, wie
weit Leib und Beine aus dem Stein herauszuholen
und fertig zu meißeln seien.
Einen Augenblick dachte Klinger sogar daran,
noch eine dritte weibliche Gestalt zur Linken des
Sockels einzufügen. Aber diese Absicht gab er zu¬
gunsten einer ausgedehnteren landschaftlichen Aus¬
gestaltung des Felsens auf — wohl zum Vorteil des
Ganzen.
Zwar machte die Schichtung des Gesteins viel
Arbeit, so daß der Künstler gelegentlich äußerte, er
wolle lieber einen Figurenteil meißeln, als ein Stück
Fels. Dafür half ihm das Gestein aber, den Raum
zwischen der oberen und den unteren Gestalten zu
beleben, ln den vorragenden Baumstümpfen wurde
eine Ausladung gewonnen, die derjenigen der beiden
Frauenköpfe an der Rückseite entspricht und auch der
Vorderansicht das Gleichgewicht sichert.
Kraftvolles Wurzelgeflecht greift weit über den
Stein aus; Eppich wuchert dazwischen. In der ge¬
schmackvollen Andeutung dieser Dinge kommt der
Maler zu Wort.
Für die so viel mißverstandene Handlung der
Hauptgestalt aber ergab dies den Gewinn, daß auch
hierdurch das Losreißen des Astes zum klarsten Aus¬
druck gebracht werden konnte.
Die landschaftliche Stimmung, die durch den Fels
und seine Höhlungen, durch Baum- und Pflanzen¬
wuchs in die Gruppe kam, war dem Künstler als
solche willkommen. Galt es doch den Heimatsboden
anzudeuten, mit dem die drei Gestalten verwachsen
sind und den sie mit Einsetzung ihres Lebens ver¬
teidigen.
*
Den besten Standpunkt für die Betrachtung des
vollendeten Werkes gewinnt man, wenn man sich
seiner rechten vorderen Ecke schräg gegenüberstellt,
also in der Ansicht, die unsere Tafel 1 gibt. Hier
bauen sich die Massen am gleichgewogensten auf;
hier überschneiden sich die Umrisse des Mannes am
schönsten zu dem Bilde im engsten Raume zusammen¬
gedrängter und gegeneinander gespannter Kräfte. Der
liegende Frauenleib wiederholt die gestreckte Linie
der Beine ihres Verteidigers in verstärkendem Nach¬
klang, ebenso wie an der Rückseite der Gruppe die
zweite Sockelfigur das Motiv der sitzenden Haupt¬
gestalt in reliefmäßiger Abwandlung und gegensätz¬
licher Stimmung wiederholt.
Der Zusammenschluß der beiden Frauengestalten
enthüllt sich dem Blick erst, wenn man den Fels um¬
schritten. Man hat dann die beste Übersicht des
Ganzen vor der linken hinteren Ecke der Gruppe
(Abb. S. 5).
Wer von vornherein der Meinung ist, daß ein
Bildwerk sich bereits in der Vorderansicht voll aus¬
sprechen müsse, der mag die Ausstattung der Rück¬
seite mit jener zartempfundenen Frauengruppe tadeln.
Aber er wünscht damit zugleich den Reichtum gegen¬
sätzlicher Stimmungen und Formen weg, den das
Werk in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung ein¬
schließt. Ungewürdigt bliebe dabei auch der gegen¬
ständlich feine Zug, der die Frauen gleichsam Halt
und Schutz des Heimatfelsens suchen läßt, dessen
Gipfel der Mann verteidigt. Formell betrachtet aber
unterliegen jene weiblichen Gestalten als Sockelfiguren
wohl überhaupt ihren eigenen Gesetzen. Und schlie߬
lich ist doch auch eine Freigruppe eben darum kein
Relief, weil sie mehr zu geben hat als ein solches
und weil sie einen Formenreichtum in sich birgt, den
sie erst dem voll zu offenbaren gewillt ist, der sie
im Schauen umkreist.
Noch weniger vermögen wir das Recht derjenigen
anzuerkennen, die leidenschaftliche Bewegung aus
dem Gebiet des plastisch Darstellbaren überhaupt
ausschließen wollen.
Wir verstehen das Entzücken nur zu sehr, durch
das bedeutende Meister in alter und neuer Zeit sich
getrieben fühlen, in freier und gesehmackvoller Nach¬
empfindung den Kreis jener stillen und schönen
KLINGERS DRAMAGRUPPE
7
Stellungen und Formen zu wiederholen, die Antike
und Frührenaissance geschaffen haben. Aber diese
strengen oder anmutigen Gestalten vermögen Stim¬
mungen und Strebungen innerlich stark erregter Zeiten
nicht voll zum Ausdruck zu bringen. Der Drang
solcher Stimmungen hat daher stets jenen eng um¬
schriebenen Kreis zu erweitern, ja zu sprengen gesucht.
ln unserem Falle vollends gilt es Gerechtigkeit
zu üben einer neuschaffenden Kunst gegenüber, die
auf ihren ungebahnten Wegen der Gefahr des Irrens
zwar leichter unterliegt, als jene, die einer sicheren
Überlieferung folgt, die dafür aber den Ausblick in das
Land der Schönheit in ungeahnter Weise erweitert.
Was sollen wir endlich zu denen sagen, die für
den gewählten Gegenstand eine ausführliche Wirklich¬
keitsdarstellung verlangen? Die, wie sie bei Klingers
Beethoven Rock und Hose vermißten, so auch hier
Schlapphut und Flinte des Buren und den wollenen
Unterrock der Burenfrau fordern. Sollen denn unter
allen Umständen Tuch und Leder mehr gelten als
die ganze ausdrucksvolle Herrlichkeit des Menschen¬
leibes? Auch dann gelten, wenn, wie hier, ein Kunst¬
werk durch seine gesteigerte Formenwelt aus dem
Gebiet zufälliger Anregungen und Nebengedanken
auf die Höhe allgemein-menschlichen Mitempfindens
hinausgehoben wird?
Daß unser Künstler ein solches Mitkiingen der
Empfindung so mächtig zu erregen weiß, wie kaum
einer, ist ein Stück seiner eigenherrlichen Größe.
Seine Kunst ist nicht eine Kunst nur für Künstler,
und noch weniger von der Art derjenigen, die aus
der Bildhauerei bloß geschicktes und prächtiges Zier¬
werk machen wollen.
Aber es ist ebensoleicht zu sagen, was Klingers
Gruppe nicht ist, als schwer, ihre Eigenart in Worten
auszusprechen. Es ist dies auch nicht vonnöten.
Denn das Werk läßt seine . Macht jeden fühlen, der
davor getreten. Es übt seine siegreiche Wirkung
auch auf die, die ihm zunächst mit Fragen und
Zweifeln und Anderswünschen nahen, zum besten
Beweis dafür, daß der Genius sich mit dem neuen
Werke auch neue Gesetze schafft.
So vertrauen wir denn, daß Klingers Dramagruppe
bestehen bleiben werde im Streite der Meinungen
und der Zeiten. Daß das Werk mir ein Klinger ist,
wird einst nicht als der geringste seiner Vorzüge
gelten.
Juist, August 1904.
KI-INGER, STEGLITZER VILLA, FRIESBILD (NATIONALGALERIE, BERLIN)
MAX KLINOERS DEKORATIVE MALEREIEN IN DER
VILLA ALBERS IN STEGLITZ
Max KLINOERS Jugendwerk, der reiche künst¬
lerische Ertrag der acht Studienjahre in Berlin,
bedarf nicht riickstrahlenden Glanzes von den
späteren Meisterwerken her, um Beachtung und Bewun¬
derung zu finden. Denn was der junge Künstler damals
mit unerschöpflicher Inspiration, mit überraschender
Selbständigkeit und Produktivität in seinen neun ersten
radierten Eolgen, in Einzelblättern, Zeichnungen und
Gemälden geschaffen hat, ist volle Geniearbeit, deren
beglückende Schönheiten jetzt erst ihre Wirkungen
auf weitere Kunstkreise auszuüben beginnen. Als der
junge Meister 1884 nach Paris ging, um unter neuen
Verhältnissen neue Kunstbahnen zu betreten und seine
ganze Schaffenslust und Schaffenskraft an eine große
malerische Aufgabe; das Parisurteil, zu setzen, hatte er
kurz vorher die ziemlich umfangreiche Arbeit der deko¬
rativen Malereien im Vestibül einer Villa in Steglitz für
einen Ereund, den Juristen Albers, vollendet. Auch
hier, wo die Bedingungen der Innendekoration es noch
besonders nahelegten, hatte er zur zyklischen Anordnung
gegriffen und drei Darstellungsfolgen gemalt, die in Geist
und Stimmung mit den radierten Eolgen die mannig¬
fachsten und interessanten Beziehungen haben. Ein
ungünstiger Stern hat über dieser entzückend heiteren,
farbenfrohen und phantasiereichen Schöpfung gewaltet,
die noch deshalb besonderes Interesse erweckt, weil
hier schon ein praktisches Beispiel zu Klingers viel¬
erörtertem Begriff der Raumkunst, das heißt der
Malerei im Dienste der Innenwirkung eines Raumes,
gegeben war. Das Vestibül selbst ist nur wenige
Monate intakt geblieben, da das Balkenwerk des
Hauses vom Schwamm zerstört wurde, und der
Besitzer seinen Hausstand auflöste und die ganze
Dekoration, soweit sie abnehmbar war, mit nach
seinem neuen Wohnsitz Graz führte, wo er wenige
Jahre später starb. Bei dem großen und stets wach¬
senden Umfange von Klingers künstlerischem Werke
konnte es geschehen, daß dieser ganze Zyklus von
zirka fünfzig Eries-, Wand-, Sockel- und Türbildern
in Vergessenheit geriet. Erst 1898 erschienen vier¬
zehn Bilder davon, zehn Eries- und vier Wandfelder,
in der Wiener Sezessionsausstellung, gelangten dann
in den Besitz der Schulteschen Kunsthandlung in
Berlin, die sie zu gleichen Teilen an die National¬
galerie und an die Hamburger Kunsthalle verkaufte.
Das schöne, stimmungsvolle Kaminbild mit der Dar¬
stellung von drei musizierenden Frauen im Schatten
eines mächtigen Baumes (Abb. S. 24), das an des Mei¬
sters Frühbild »Der Abend«, aber auch an Böcklin-
sche Kompositionen erinnert, nimmt durch seinen
Inhalt und seine staffeleibildmäßige Ausführung eine
Sonderstellung unter diesen dekorativen Arbeiten ein.
Es gelangte in den Besitz der Gurlittschen Kunst¬
handlung in Berlin, während die Menge der kleinen
Sockel- und Türbilder nach England gekommen
sein soll. — So tief beklagenswert die Vernich¬
tung dieser ganz aparten und künstlerisch bedeut¬
samen Raumausstattung bleibt, so kann man sich doch
wenigstens noch der nun leicht zugänglichen Haupt¬
bilder freuen und unter Zuhilfenahme von Photo¬
graphien der Gesamtansicht eine Vorstellung von der
ursprünglichen Wirkung gewinnen. Ein Blick auf
die Innenansichten zeigt einen rechteckigen Raum von
mäßigen Dimensionen nur mit Oberlicht und einer Art
von Renaissancearchitektur, die in ihrer nüchternen
Gliederung eigentlich einer malerisch einheitlichen,
modernen Ausstattung die fühlbarsten Hindernisse be¬
reiten mußte. Für den Schmuck boten sich vier
schmale Wandfelder, die Kaminecke, die Sockelfelder,
fünf Türen und der am besten beleuchtete Deckenfries.
Der letztere zerfiel an jeder Seite in drei ungleiche Teile
(lang-kurz-lang und kurz-lang-kurz). Von den so ent¬
standenen zwölf, durch ionische Pilaster getrennten,
breiten Feldern trugen neun figürliche Kompositionen,
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI MAX KLIKOER. IN DER SRANDüNCS
MAX KLINGERS DEKORATIVE MALEREIEN IN DER VILLA ALBERS IN STEGLITZ
9
während je ein schmales Mittelstück am Kamin und
der gegenüberliegenden Wand als Füllstücke behandelt
waren (jetzt verschollen) und ein drittes Stück rechts
vom Kamin mehr als Farbenfleck zur Isolierung der
Kaminecke verwertet war. Sämtliche Fries- und die
vier Wandbilder sind in Öl auf Leinen ausgeführt,
während die Sockel- und Türendekorationen unmittel¬
bar auf die betreffenden Holzteile aufgemalt waren.
Um eine ausgesprochene koloristische Einheit der Ge¬
samtstimmung zu erreichen, wählte der Künstler für die
Sockelpartien Tiefblau, für die obere Voute und für die
Türen Hellblau, das auch in den Meerlandschaften des
Frieses wiederkehrte und mit
dem Weiß und Altgold der
Pilaster und dem Weiß und
Gelb der Leiber und dem
Grün der unteren Landschaf¬
ten harmonisch zusammen¬
ging. Es muß ein wunder¬
voller Farbenzauber gewesen
sein, ein Interieur von fest¬
lichster Totalwirkung und
voll des entzückendsten De¬
tails, wohin das Auge auch
traf. — Der feinsinnige Be¬
sitzer hatte dem jungen Künst¬
ler volle Freiheit gelassen,
seine Vorstellungen von einer
neuartigen, idealen Raumkunst
zu verwirklichen. Es darf
nicht Wunder nehmen, daß
damals, unter dem Zeichen
der »stilvollen deutschen Re¬
naissance«, diese dem Zeit¬
geschmack weit vorauseilende
Raumkunst nur von wenigen
verstanden wurde. Nicht ein¬
mal die Künstler begriffen den
Wert, sondern machten sich
über »dieblauenTüren« lustig.
Über die künstlerische Berech¬
tigung dieser »Phantasie in
Blau« gab Klinger später in sei¬
ner Schrift»Malerei undZeich-
nung« (S. ig) eine dahinzie¬
lende Erklärung mit den Wor¬
ten: »Die Einheit des Raumes und die Eindringlichkeit
seiner Bedeutung fordern geradezu auf, die sonst so
streng einzuhaltenden Formen- und Farbengesetze der
Natur aufzulösen zugunsten einer rein dichterischen
Verwendung der Mittel.« — Je mehr man sich in
diese Raumkunst hineinversetzt, desto mehr erkennt
man, wie fein und klug und wie natürlich der Künstler
alle Zufälligkeiten des Raumes berücksichtigte und
künstlerisch verwertete. Man kann das deutlich an
der außerordentlich sinnigen Ausgestaltung der Kamin¬
ecke als eines bevorzugten und zum Verweilen und
Träumen einladenden Platzes wahrnehmen. Hier fällt
der Blick auf das gemalte Idyll mit den musizierenden
Jungfrauen in abendlicher Sommerlandschaft und lockt
die Phantasie in weite Fernen, und auch das Wand-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVt. H. i
bild zur Seite mit der italienischen Ruinenlandschaft
dient diesem Zwecke. Über dem Kamin begann die
Reihe der Friesbilder mit der Darstellung von drei auf
felsiger Höhe sich lagernder, derbknochiger Jungfrauen
(Abb. S. i). Dieses Bild steht noch in einer gewissen
Beziehung zum Kaminbilde und, in Rücksicht auf
seinen Platz, im Gegensatz zu den übrigen Friesbildern,
die einen Zyklus von Meeresidyllen mit dem über¬
mütig humorvollen Treiben urwüchsiger Meerkentauren
und Nereiden darstellen. Es geht durch alle diese
Bilder ein Böcklinscher Geist, und man fühlt, daß
hier das aufstrebende Genie dem verehrten Meister
und Entdecker solcher Phan¬
tasiereiche in aller persön¬
lichen Freiheit und Örigina-
lität seine Huldigung dar¬
bringt. Man sieht auch hier
wieder mit Überraschung, wie
fein und tief Klinger in Böck-
lins Kunst eingedrungen ist,
wie dessen Meereswunderwelt
in ihm eine schier unendliche
Fülle solcher Phantasiegebilde
auslöste, die er mit einer
verblüffenden Wahrheit der
Vision und mit entzückender
Anmut und Frische des Vor¬
trags festzuhalten weiß. Be¬
trachten wir die Bilder im ein¬
zelnen, so sehen wir links
vom Kamin eine neckische
Szene (Abb. S. 8). Auf schau¬
kelnden Wellen treibt eine
schlafende Nixe und hinter ihr
taucht aus einem Wellenberge
das tückisch-begehrliche Ant¬
litz eines Tritonen auf. Nie¬
mand ist Zeuge als ein See¬
adler, der mit weitem Fittich¬
schlag davoneilt. Wie herr¬
lich ist der rosige Leib auf
dem glitzernden Wasser, wie
fein Licht und Luft des
Sommertages auf See mit
wenigen, ganz meisterhaf¬
ten Strichen dargestellt! Im
nächsten Bilde (Abb. S. 1 3) sehen wir in spiegelblanker
See einen Kentaurenvater zum Gaudium von Nereiden und
zur Sorge der Mutter mit seinem Söhnchen übermütige
Kunststücke machen. Daran schließt sich als Mittel¬
stück der Wand, über der Tür zum Speisezimmer,
die allerschönste dieser Idyllen, eine Fahrt der Amphitrite
im Muschelwagen durch die hellblaue See. Von schnee¬
weißen Möven umschwärmt gleitet die Muschel da¬
hin, gezogen von zwei milchweißen Rossen, die Amor
als Kutscher nur mit äußerster Anstrengung zu zügeln
vermag. Es erinnert an die herrliche Vision der
Venusfahrt in der Radierung zu Amor und Psyche.
Links davon sieht man eine schöne Nereide auf dem
Rücken eines finsteren Seekentauren durch die Wogen
ziehen, begleitet von dem Schalle mächtiger Muschel-
KLINGER, DIE STEGLITZER VILLA. GEMÄLDE
KLINGER, STEGLITZER VILLA, KAMINECKE
KLINOER, STEGLITZER VILLA, TÜR ZUM SPEISEZIMMER
;v nGkrs dekorative Malereien in der villa albers in steglitz
KLINGER, FRIESBILD AUS DER STEGLITZER VILLA (HAMBURGER KUNSTHALLE)
hörner seiner Freunde. Auf dem nächsten Bilde reitet
ein junger Triton keck auf einem Haifisch durch die
Flut. Daran reilit sich das übermütige Kentaurenbild,
auf dem die derben Burschen sich unbändig freuen,
daß die von ihren sehnigen Armen geschleuderte Nixe
in weitem Bogen auf die aufspritzenden Wellen auf¬
plumpst. Wie sich dieses ulkige Spiel entwickelt,
zeigt das übernächste Bild, wo die Nixe noch auf
den schaukelnden Armen der Kentauren ruht und
schreiend vor dem Sturze bangt. Auf dem dazwischen¬
liegenden Bilde zeigt sich ein Seekentaur verliebt und
stürmisch, indem er eine üppige Nixe vom Roß herab¬
zureißen sucht. Ob auch der Triton, der sich an der
Mähne des mächtigen milchweißen Rosses hält, auf
dem träumerisch eine schöne Nixe mit der Leier im
Arm daherreitet, verliebte Absichten hat?
Wenden wir uns nun zu den vier schmalen land¬
schaftlichen Hochbildern, die zwischen kräftigen Pila¬
sterumrahmungen stehen, und beginnen wir wieder
mit dem Rundgang von der Kaminecke, so sehen wir
rechts eine groß aufgebaute, bewaldete Bergschlucht,
die mit ihren wilden Felsblöcken im Vordergrund,
ihren hochragenden Silberpappeln und der grell be¬
leuchteten Tempelruine hoch oben wie ein Motiv
aus Tivoli und wie eine Komposition von Claude
Lorrain anmutet. Klinger hatte damals Italien noch
nicht gesehen, und so haben wir in diesem Bilde
eins der wundervollen, mit dem Seherblick der Phan¬
tasie geschauten Landschaftsgebilde, wie sie auch in
den Intermezzi, in der Folge der vier radierten Land¬
schaften und in den Rettungen ovidischer Opfer und
gelegentlich noch sonst in seinen Arbeiten dieser Zeit
wiederkehren. Die beiden Seiten des inneren Eingangs,
den die Venusfahrt krönt, werden von zwei weiteren
Landschaften flankiert (Abb. S. 1 1). Die rechte gehört in
den Ideenkreis der wilden Kentaurenlandschaften, wie
wir sie in den Intermezzi finden; die linke, auch noch
in großen massigen Formationen, erhält doch durch
das Grün im Vordergründe und die blühenden Rispen
der Gräser einen etwas milderen Charakter. Es fehlt
noch jede Andeutung von menschlicher Kultur, aber
man ahnt, daß dieser Erdenwinkel bald vom Jäger
oder Hirten durchstreift werden wird. Die vierte
Landschaft versetzt uns auch ohne Haus-, Eeld oder
Staffageandeutung unmittelbar in die Gegenwart durch
das primitive Geländer, das sich die Höhe heraufzieht
und von Obstbäumen, Birken und blühenden Malven
begleitet wird. Es ist ein Motiv aus Meißen, das der
Künstler auch in einem kleinen, nicht weiter bekannt
gewordenen Ölgemälde verwertet hat. — So haben
wir in diesen Landschaften einen Zyklus, der in geist¬
vollster Weise vier Epochen, die mythologische, die
prähistorische, die klassisch-antike Zeit und die Gegen¬
wart umschließt. Aber vor allem wirken sie in ihrer
Farbigkeit und ihrem feierlichen Stil höchst dekorativ,
das Auge fesselnd und die Phantasie mächtig erregend.
Die Flügeltüren in langweiligem Schreinerstil mit
den üblichen sechs Blindfüllungen und Leistenum¬
rahmungen müssen dem Künstler bei der Einbeziehung
in die Gesamtdekoration viel Kopfzerbrechen bereitet
haben. Er half sich energisch, indem er ihnen, wie
schon bemerkt, einen blauen Anstrich gab, die lang¬
weiligen Mittelpartien durch aufgemalte Palmwedel
belebte und die rechteckigen Füllungen mit reizen¬
den ornamentalen, landschaftlichen und figürlichen
Kompositionen schmückte. Der Palmwedel ist ein
dekoratives Lieblingsrequisit Kllngerscher Kunst schon
in den Randleisten der frühen Radierungen und kehrt
auch in den späteren großen Werken z. B. beim
Christus im Olymp als Rahmenwerk und am Beelhoven¬
sessel wieder. Es ist nicht zu leugnen, daß die Palm¬
wedeldekoration hier, ohne Rücksicht auf die Punktion
MAX KLINGERS DEKORATIVE MALEREIEN IN DE VILLA ALBERS IN STEGLITZ
53
KLiNGER, FRIESBILD AUS DER STEGLITZER VILLA (NATIONALGALERIE, BERLIN)
der Türflügel, in der Idee nicht ganz einwandfrei ist,
aber sie wirkt außerordentlich für den festlichen Ein¬
druck des Raumes. Mit besonderer Hingabe malte der
Künstler auf den kaum eine Spanne breiten, hohen Mittel¬
füllungen der Tür rechts vom Kamin Bildchen voll geist¬
reicher Beziehungen und jenem Formenreiz, den man
in den Randleisten vieler seiner Radierungen bewundert.
Venus und Mars, die Göttin im Reize ihrer unver¬
hüllten Schönheit, von Blütenzweigen umrahmt; der
Kriegsgott als gewappneter Ritter, auf dessen Lanze
sich Eroten tummeln, schweben beide in Muscheln
stehend auf den Fittichen silberweißer Möwen hoch
über dem Meeresspiegel dahin, während unten in der
Flut ein verliebtes Delphinenpaar denselben Weg zieht
(Abb. S. 10). Selbst die kleinen Kassetten am untersten
Teile der Tür erfüllte der Künstler noch mit energischem
Leben durch die Darstellung von Jünglingen, die auf
bäumenden Rossen bergan reiten. Eine andere Tür ist in
den mittleren Kassetten mit schönen Blumensträußen
mit Maskaron-Vasen, eine dritte und vierte mit blumen¬
tragenden, fischschwänzigen Sirenen und durch reizende
Landschaften mit Figurengruppen oben und unten ge¬
schmückt. Für mehrere dieser entzückenden, jetzt mit
den Türen verschollenen Bildchen besitzen wir die
Skizzen in den Randzeichnungen zu den nicht zur
Ausgabe gekommenen »Fragmenten einer klassischen
Anthologie«, jetzt in der Nationalgalerie in Berlin.
Auch der Sockelfries erhielt noch einen feinen,
plastisch wirkenden ornamentalen Schmuck durch ge¬
zeichnete Masken bärtiger Männer an den Pilasterbasen
und durch kleine figürliche Zeichnungen z. B. einer
Maraboutgesandtschaft bei einem Jüngling und einer
Storchgesandtschaft bei einem Löwen.
Schon damals war sich der junge Künstler klar,
daß in einer solchen auf harmonische Gesamtwirkung
berechneten Innenausstattung auch die plastischen
Werke farbig sein müssen und bemalte die für den
Raum bestimmten idealen Frauenbüsten, die Artur
Volkmann ausführte. Der Versuch wurde zuerst an
den Gipsentwürfen gemacht, die sich jetzt in der
Nationalgalerie befinden, dann von Hermann Prell
an den Marmorausführungen, die im Leipziger Mu¬
seum aufbewahrt werden, wiederholt.
Diese künstlerisch so wohl durchdachte Innen¬
dekoration, zu einer Zeit entstanden, wo eine zusammen¬
gestoppelte Renaissanceausstattung für allein geschmack¬
voll galt, hätte, wenn sie erhalten geblieben wäre, in
der bewegten Zeit des modernen Kunstgewerbes für
die Ästhetik der Raumausstattung gradezu vorbildlich
wirken können. Noch heute erzählen die erhaltenen
Teile von der einzigartigen Schönheit des Ganzen,
das ein tückischer Zufall vernichtet hat. An einem
Zufall scheiterte auch des Künstlers Plan, das ganze
Werk, das ihm mehr wie manches andere ans Herz
gewachsen ist, in seinen eignen Räumen wieder her¬
zustellen. Nun aber freuen wir uns der Hoffnung,
daß die nächsten Jahre große Monumentalmalereien
Klingers in der Aula der Leipziger Universität und
im Treppenhause des Museums bringen werden, und
daß der große Künstler da noch viel Bedeutenderes
darzustellen hat als in jenem lieblichen Jugendtraume
in der Steglitzer Villa. F. BECKER-
VERGESSENE UND NEUENTDECKTE BILDER VON
GAINSBOROUGH )
Die Engländer dürfen stolz darauf sein, daß sie die
Meisterwerke, die den Ruhm ihrer Malerei be¬
gründen, beinahe vollzählig in ihrer Heimat be¬
sitzen. Was sie in der jüngsten Zeit an Gemälden ihrer
Großen an das Ausland, namentlich an Amerika, ab¬
gegeben haben, können sie, allem Geschrei der Tages¬
presse zum Trotz, getrost verschmerzen. Wie mag
das so gekommen sein? wie ist es zu erklären, daß
unsere größten Galerien gar nichts von Gainsborough
und Reynolds, nichts von Romney, Raeburn und
Hoppner erworben haben? — Vielleicht, weil diese
Meister den fürstlichen Begründern unserer Galerien
nach nicht als klassisch galten, vielleicht auch, weil
sie in den Augen der Sammlungsdirektoren einer
späteren Zeit wenigstens nicht den Wert besaßen,
der ihnen durch die rapid steigenden Kurse des Lon¬
doner Kunstmarktes beigelegt wurde. So sind es
denn spärliche Brosamen, die ein freundlicher Zufall
uns von der reich besetzten Tafel der großen eng¬
lischen Malerei in die Hände gespielt hat. Mit solchen
müssen wir uns auch heute begnügen.
Von Gainsborough besitzt Deutschland, soviel ich
weiß, neun oder zehn Bilder. Zwei von ihnen hängen
in den Empfangsräunien der Lenbachischen Villa in
München. Das eine ist die in wenigen neutralen
Tönen hingeworfene Landschaftsskizze eines hügeligen
Geländes mit ein paar Rindern und einem Hirten als
Staffage, das andere ein Brustbild einer dunkeläugigen
Dame im blaugrauen Seidenkleid mit heller gold¬
betreßter Mantille, ein wenig bedeutendes Werk, dessen
Echtheit nicht über allen Zweifel erhaben ist. Unser
dritter Gainsborough wäre die Landschaft, welche die
Kasseler Galerie auf der Versteigerung der Habich-
schen Sammlung erworben hat. Dazu kommen sieben
Bildnisse der königlichen Familie, die als Geschenke
an fürstliche Verwandte gelangt sind — die lebens¬
großen Figuren des Königspaares in der welfischen
Ahnengalerie zu Herrenhausen und im königlich
württembergischen Besitze, das Brustbild des Prinzen
Octavius, das neben dem seiner Mutter in der Stutt¬
garter Galerie hängt, und endlich die beiden Brust¬
bilder des Königspaares im Schlosse zu Arolsen, die
auf unseren Reproduktionen erscheinen.
i) Die besprochenen Gemälde sind zwar von Parthey
im deutschen Bildersaal kurz notiert, indessen unter einer
Nummer, was den Irrtum vermuten läßt, die Dargestellten
seien in einem Rahmen vereinigt. In der späteren Literatur
über Gainsborough werden sie nicht mehr erwähnt. — Der
Verfasser, der eine Monographie über Gainsborough ge¬
schrieben hat, die demnächst im Verlage von Velhagen &
Klasing erscheinen wird, lernte die Bilder erst nach Beendi¬
gung seiner Arbeit kennen, so daß er sich an jener Stelle
mit einer Schlußnotiz begnügen mußte. Die Reproduktion
der Bilder an dieser Stelle gibt erwünschte Gelegenheit,
noch einmal zu ihnen zurückzukehren.
Alle diese Fürstenbilder sind nicht in dem strengsten
Sinne originale Schöpfungen, daß sie lediglich in den
genannten Exemplaren vor der Natur entstanden seien.
Vielmehr haben wir es mit Wiederholungen zu tun,
deren Urbilder in England, und zwar fast sämtlich
im Besitze des Königshauses geblieben sind. Aber
freilich rühren die allermeisten Wiederholungen und
insbesondere die Arolsener Bilder von Gainsboroughs
eigener Hand her. Das zeigt ihre Technik deut¬
lich genug, die künstlerische Handschrift, die kein
Kopist kopieren kann, am wenigsten bei Gainsborough.
Sogar die Reproduktion verrät noch etwas davon.
Das flimmernde Gestrichel des Pinsels, das den
Haaren lockere Fülle, dem Munde Leben und den
Augen feuchten Glanz verleiht, die kalligraphische
Sicherheit, mit der in flüssigen Zickzackschwüngen
das Gefältel des Musselins hingeworfen ist — die
ganze scheinbare Nonchalance der Arbeit, in Wahr¬
heit lauter Weisheit und Berechnung — das alles
verkündet den Meister. Dem Farbenton unserer Ge¬
mälde ist es zustatten gekommen, daß sie augen¬
scheinlich seit ihrem Entstehen von keines Bilder¬
doktors Hand berührt worden sind. So ist zwar die
Farbenschicht, namentlich bei dem Gemälde der Königin,
gesprungen in einer stellenweise allzu starken Craque-
ture, aber die kühle rosige Frische von Gainsboroughs
Kolorit blieb ungetrübt.
Das Bild der Königin ist in jedem Betracht das
bessere. Gainsborough verstand die Frauen gut —
besser als irgend ein anderer unter den großen Malern
seines Landes, und das will viel sagen. Reynolds
hat die Frauen manchmal pathetischer, manchmal
sentimentaler und manchmal verführerischer geschil¬
dert, Romney hat sie sinnlicher gemalt, Lawrence ele¬
ganter, aber keiner von ihnen hat so wie Gainsborough
das Wesen der Dame begriffen — der Dame, nicht
des Weibes. Die Distinktion, die Leichtigkeit und
Anmut des Auftretens, das schwebende Lächeln, das
nervöse Spiel müßiger schlanker Finger, die Reize,
die sich nicht in Worte zwingen lassen, die allem
plumpen Zugreifen entschwinden, die hat Gainsbo¬
rough gesehen und im Flug erhascht. Etwas von
diesen Reizen verschönt auch das müde leere Gesicht
der von ewigen Wochenbetten erschöpften Königin.
Die Entstehungszeit der Arolsener Gemälde läßt
sich mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmen. 1774
siedelte Gainsborough von dem Modebade Bath, das
ihn berühmt gemacht hatte, nach London über.
König Georg III., der den Maler bereits in einigen
Bildern kennen und bewundern gelernt hatte, wendete
ihm bald seine Gunst zu. Wann er ihm zuerst ge¬
sessen haben mag, das dürfte sich kaum mehr fest¬
stellen lassen. Gewiß ist nur so viel, daß ein Bildnis
des Königs in ganzer Figur zuerst auf der Ausstellung
der Akademie im Jahre 1781 erschien. 1 783 folgte dann
VERGESSENE UND NEUENTDECKTE BILDER VON GAINSBOROUGH
15
in der gleichen Ausstellung die Serie der Brustbilder
der königlichen Familie, die sich heutzutage in Windsor
befindet. Ihr gehören auch die Urbilder der Arolsener
Gemälde an. Und in der Tat würden wir in dem
Könige, der 1 738 geboren war, auf diesem Bilde einen
rüstigen Vierziger erkennen. GUSTAV PAULI.
* *
Die Publikation zweier bisher verschollener Por¬
träts von Gainsborough im Schlosse zu Arolsen (siehe
den vorigen Artikel) gibt mir Veranlassung, um den Stoff
nicht zu sehr zu zersplittern, an derselben Stelle ein
paar Angaben über die anderen neuerdings wieder ent¬
deckten Bilder des Meisters zu machen, die gelegent¬
lich jener Publikation en passant erwähnt worden
sind. Ich beschränke mich dabei auf das kunsthisto¬
risch Interessante, da ich speziell die Stuttgarter Bilder
demnächst in den Württembergischen Vierteljahrsheften
für Landesgeschichte ausführlich behandeln und dabei
alle archivalischen und sonstigen historischen Auf¬
klärungen, die ich mir darüber habe verschaffen können,
mitteilen werde.
Die meisten Bilder von Gainsborough, die sich
gegenwärtig in Deutschland befinden, sind Porträts
der englischen Königsfamilie. Nur fünf andere Werke
sind mir bekannt geworden: Eine kleine auf Papier ge¬
malte Landschaft, die vor einigen Jahren aus der Habich-
schen Sammlung in die Kasseler Gemäldegalerie ge¬
kommen ist, eine Landschaft und ein — übrigens an-
gezweifeltes — Damenporträt in der Sammlung Lenbach
in München, ein Herrenbrustbild in der Galerie Liechten¬
stein in Wien, das aber nicht unbestritten ist, und
ein Damenporträt, das sich vor zwei Jahren im Besitz
der Kunsthandlung von Casper in Berlin befand und
mir nach der Photographie echt und aus der früheren
Zeit zu sein schien. Von den letzteren Bildern wollen
wir hier absehen.
Auffallenderweise sind die aus England stammenden
Porträts bis zum Jahre 1902, wo es mir gelang, zwei
davon im königlichen Schlosse zu Ludwigsburg wieder
aufzufinden, ganz unbekannt geblieben, obwohl schon
die verwandtschaftlichen Beziehungen deutscher Für¬
stenhäuser zu der englischen Dynastie wenigstens die
Spezialforscher auf ihre Spur hätten leiten sollen. Aber
in den großen englischen Biographien des Meisters,
zuletzt in denjenigen von Mrs. Bell und Sir Walter Arm¬
strong, ist kein einziges Bild des Meisters in Deutsch¬
land aufgeführt. Und man hat sich bei uns der
Autorität dieser Schriftsteller wohl deshalb bisher gefügt,
weil Gainsborough noch vor kurzem in öffentlichen
Galerien des Festlandes überhaupt nicht vertreten war,
der gewöhnliche Sterbliche sich also ohne eine Reise
nach England keine Vorstellung an seinem Stil bilden
konnte. In Ludwigsburg, wo die betreffenden Bilder
allerdings in den dem Publikum zugänglichen Paterre-
Sälen des neuen Corps de Logis hingen, kamen
noch besonders ungünstige Umstände hinzu, um die
Entdeckung hintan zu halten, nämlich daß das eine
Porträt fast außer Sehweite über einem hohen Schranke
hing, das andere aber einem Porträt des Königs
Georg 111. als Gegenstück diente, das sich schon bei
flüchtiger Untersuchung als untergeordnete Kopie kund¬
gab und damit auch das Urteil über das Gegenstück
in den Augen der Meisten ungünstig beeinflußte.
Da die Aufklärung von den früheren Ludwigs¬
burger, jetzt Stuttgarter Bildern ausgegangen ist und
diese jetzt die einzigen Porträts von Gainsborough sind,
die sich in einer öffentlichen Sammlung des Fest¬
landes befinden, ist es billig, mit ihnen anzufangen.
In der Stuttgarter Gemäldegalerie hängen seit 1902,
leihweise aus dem Besitz der Königin Charlotte
Mathilde- Stiftung überwiesen, drei englische Bilder des
18. Jahrhunderts, das lebensgroße Porträt der Königin
Charlotte von England in ganzer Figur, das eben¬
falls lebensgroße Brustbild ihres Sohnes, des Prin¬
zen Octavius und ein figurenreiches Bild kleineren
Maßstabes, König Georg III. mit seiner Familie
und seinem Hof auf der Terrasse des Schlosses von
Windsor (Tafel 3). Von diesen dreien sind die
beiden ersten eigenhändige Werke von Gainsborough,
deren Authentizität auch von den englischen Forschern,
die die Originale oder Photographien seitdem gesehen
haben, allgemein anerkannt wird, während das letztere
zwar von einigen englischen Kennern ebenfalls für
ein Werk des Meisters gehalten wird, in Wirklichkeit
aber wahrscheinlich nur das Werk eines zeitgenössischen
Nachahmers desselben ist. Daß wir das bisherige Gegen¬
stück der Königin Charlotte, das lebensgroße Bildnis
ihres Gemahls, König Georgs IIL, im Schlosse zu
Ludwigsburg belassen haben, beruht darauf, daß ich es
wie gesagt nur für eine Kopie nach Gainsborough
halten kann. Es hängt jetzt in Ludwigsburg gegenüber
einer modernen Kopie der Königin Charlotte, die als
Ersatz für das Original an die Stelle des letzteren ge¬
treten ist.
Äußerlich sind die beiden Stuttgarter Gainsbo-
roughs allerdings nicht beglaubigt. Der Maler hat,
einer damals herrschenden englischen Sitte folgend,
seine Bilder fast niemals mit seinem Namen bezeichnet,
und so fehlt seine Signatur auch auf diesen Werken.
Ein eigentümlicher Zufall, auf den ich hier nicht
näher eingehen kann, hat es ferner verschuldet, daß
auch in den archivalischen Quellen sein Name nicht
in Verbindung mit diesen Bildern genannt wird. Da¬
für sind sie aber durch ihre Provenienz so gut be¬
glaubigt, wie dies bei Bildern Gainsboroughs nur immer
möglich ist. Sie stellen nämlich nicht nur Personen
derselben Königsfamilie dar, bei der der Maler persona
gratissima war, und deren Mitglieder er wer weiß wie
oft porträtiert hat, sondern sie stammen auch aus dem
Besitz der württembergischen Königin Charlotte Ma¬
thilde, der ältesten Tochter der dargestellten Königin
Charlotte und Schwester des dargestellten Prinzen
Octavius. Das heißt also, sie befanden sich früher
im Besitz der englischen Königsfamilie und sind aus
diesem in königlich württembergischen Besitz über¬
gegangen. Wann sie nach Ludwigsburg gekommen
sind, ist zwar nicht mehr bestimmt nachzuweisen,
jedenfalls waren sie aber beim Tode der Königin
Charlotte Mathilde im Jahre 1828, wie aus dem
Inventar ihres Nachlasses hervorgeht, dort und sind
vergesse; und neuentdeckte bieder von gainsborough
I 6
also entweder bei ihrer ‘^erheiratiing rdt dem da¬
maligen Erbprinzen, späteren Herzog, Kurfürsten und
König Friedrich im Jahre 1797 oder bei irgend einem
späteren Anlaß nach Württemberg gekommen.
Das beste der beiden Bilder ist ohne Zweifel
das Profilporträt des Prinzen Octavius. Dieser war
einer der beiden jüngsten frühverstorbenen Prinzen
des königlichen Hauses. Er war 1779 geboren
und starb 1783. Da er hier als etwa vierjähriger
Knabe erscheint, muß das Bild ungefähr in seinem
T odesjahre entstanden sein.
Diese Datierung wird da¬
durch bestätigt, daß Gains¬
borough gerade im Jahre
1783 jene bekannte Serie
von Brustbildern der könig¬
lichen Familie ausstellte,
die sich noch jetzt in
Windsor Castle befindet
und die in Format (Oval),
Größe und technischer
Behandlung genau mit
unserem Bilde überein¬
stimmt. Darunter ist auch
ein Porträt desselben
Prinzen, das ihn aber en
face darstellt. Daß Gains¬
borough gerade ihn zwei¬
mal gemalt hat, kann ver¬
schiedene Gründe haben.
Vielleicht war er das Lieb¬
lingsbrüderchen der Prin-
cess Royal und bestellte
diese, die damals 17 Jahre
alt war, ein besonderes
Exemplar für sich — das¬
selbe, das sie später mit
nach Württemberg nahm
— vielleicht regte der ge¬
rade damals erfolgte Tod
des Kleinen die Eltern zur
Bestellung eines zweiten
Porträts im Profil an.
Und dann würde das
Stuttgarter Porträt wahr¬
scheinlich dasjenige sein,
das Gainsborough laut
einer von Fulcher erzähl¬
ten gut beglaubigten Ge¬
schichte nach einem der beiden jüngsten Prinzen
auf dem Totenbette gemalt hat.
Daraus würde sich dann auch der etwas konven¬
tionelle Ausdruck des Gesichtes erklären, das, wenn auch
lebendig durchgeführt, doch nicht ganz so individuell
aufgefaßt ist wie einige andere Porträts der Serie,
und ein wenig von jenem puppenhaften Schönheits¬
ideal zeigt, das dem englischen Geschmack so sehr
zusagt. Im übrigen liegt das Verdienst dieses Werkes
weniger in der Zeichnung — das Profil weist sogar
ein bei Gainsborough seltenes Pentimento auf —
als im Kolorit und in der Technik. Die Wahl und
Zusammenstellung der Farben zeugt von auserlesenem
Geschmack. Das braungelbe Jäckchen, die lichtblaue
Schärpe, die um den Leib geschlungen ist, der frische
rosa Teint der Wangen, die blonden lang auf die
Schultern herabfallenden Locken, der violette Wolken¬
hintergrund und das graugrüne Laub der Bäume,
alles das vereinigt sich zu einer entzückenden Har¬
monie von leichtem, heiterem Charakter. Das Ganze
wirkt fast wie ein Pastell, wofür ich es auch anfangs,
als ich es nur aus der Ferne sehen konnte, hielt. Es
scheint, daß Gainsborough
sich hier durch die in
seiner Zeit blühende Pa¬
stelltechnik in seiner Far¬
benwahl und auch bis zu
einem gewissen Grade in
der malerischen Behand¬
lung hat beeinflussen las¬
sen. Letztere ist von
einer Leichtigkeit und
Grazie, daß man sich
kaum etwas Schöneres
denken kann. Zum Bei¬
spiel ist das Auge so frei
und wie zufällig hinge¬
zeichnet, daß man die
feine Überlegung gar nicht
merkt, mit der jeder Strich
an seine richtige Stelle
gesetzt ist.
Natürlich darf man auch
an dieses Werk, wie über¬
haupt an die Porträtkunst
Gainsboroughs, nicht den
strengen Maßstab einer
realistisch - monumentalen
Porträtmalerei anlegen.
Gainsborough ist, wie
man nie vergessen sollte,
echter Rokokomaler und
teilt als solcher mit der
Kunst seiner Zeit den
leichten, bis zu einem
gewissen Grade oberfläch¬
lichen Charakter. Ich ver¬
stehe es durchaus, daß mo¬
derne Künstler, die selbst
eine ernste herbe Rich¬
tung vertreten, hier von
»Decadence , ja sogar von »Kitsch« sprechen. Allein
es führen gar viele Wege nach Rom, und wir Kunst¬
historiker sind gewiß am ersten verpflichtet, solche
Werke nicht bloß nach ihrem Verhältnis zu einer
grade herrschenden modernen Kunstrichtung, sondern
nach ihrem ewigen historischen Gehalt zu würdigen.
Und da müssen wir doch sagen, daß das Ideal der
Rokokokunst niemals einen malerisch schöneren Aus¬
druck gefunden hat als in diesem liebenswürdigen,
unschuldig naiven Köpfchen, das mit dem ganzen Duft
und Zauber der raffinierten Farbenempfindung eines
bedeutenden Koloristen auf die Leinwand gezaubert
ALLAN RAMSAY. PORTRÄT DER KÖNIGIN CHARLOTTE VON
ENGLAND IM KGL. SCHLOSSE WILHELMSHÖHE BEI KASSEL
GEORG E L'ND SEIN HOF
■ v'
'1
S . l-
VERGESSENE UND NEUENTDECKTE BILDER VON QAINSBOROUGH
17
ist. Man hat wohl gesagt, daß die Bilder des Königs¬
paares und der Prinzen und Prinzessinnen nicht die¬
jenigen seien, an denen das Herz des Malers am
meisten beteiligt war, und schon die zeitgenössische
Kritik z. B. eines Walpole hatte an den Bildern dieser
Serie auszusetzen, daß sie zum großen Teil leblos
seien. Aber vielleicht war das Leben, das hier pul¬
sierte, nur ein feineres, durch die höfische Etikette zu¬
rückgehaltenes, dessen realistische Wiedergabe dem
oberflächlichen Blick nicht so zum Bewußtsein kam,
obwohl sie gewiß viel
mehr Mühe machte, als
die Charakteristik eines
biederen Reverend oder
einer stattlichen Schau¬
spielerin. Und wenn man
gerecht sein will, so muß
man sagen: es war wirk¬
lich eine etwas undankbare
Aufgabe für den Künstler,
die ganze große königliche
Familie, siebzehn Per¬
sonen, in lauter gleich
großen und in der Auffas¬
sung ziemlich überein¬
stimmenden Brustbildern
zu verewigen. Und beim
Anblick derschönen Braun-
schenPhotographien dieser
Bilder kommt man wohl
eher zu dem Ergebnis, er
habe die allerhöchste Kunst
dazu gebraucht, um aus
diesen teilweise matten
und temperamentlosen Ge¬
sichtern wenigstens so
viel zu machen, wie er
daraus gemacht hat.
Wieder in anderer
Richtung interessant, wenn
auch nicht ganz so er¬
freulich ist das lebens¬
große Porträt der Königin
Charlotte, die in ganzer
Figur, mit einem wei߬
seidenen Kleide angetan,
einen durchsichtigen
schwarzen Spitzenshawl
um die Schultern ge¬
schlungen, neben einer Säule und einem großen
rotbraunen Vorhang steht, der das Bild auf der rechten
Seite abschließt, während sich links der Blick in einen
Park öffnet, in welchem die Ecke eines Renaissance¬
palastes sichtbar wird. Die Erscheinung der Königin
ist höchst einfach, entsprechend ihrer Abneigung gegen
allen Pomp und überflüssigen Schmuck. Die Perlen¬
ketten am Halse und den Armen, ein Geschenk des
Königs, hat sie gewiß nur angelegt, weil ihr Gemahl
es wünschte — kostete es doch manche Träne, bis
er sie gewöhnt hatte, sie auch beim Empfang des
Abendmahles zu tragen — und das übertrieben sorg-
Zeitsclirift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. i
fähig ausgeführte Porträtmedaillon des Königs auf ihrer
Brust legt Zeugnis von dem guten Verhältnis der
Ehegatten zueinander ab.
Gainsborough hat diese Komposition öfters wieder¬
holt. Das Exemplar beim Earl of Powis in London
zeigt im Hintergründe noch eine Krone, hat also einen
weniger familiären Charakter. Auch eines oder zwei
andere der von Armstrong erwähnten Bildnisse scheinen
damit übereinzustimmen, ein Beweis, daß gerade diese
Auffassung der Königin in der Familie als besonders
gelungen galt. Auch
Deutschland besitzt noch
eine Replik derselben in
dem Bilde der Ahnen¬
galerie im Fürstenhause zu
Herrenhausen bei Han¬
nover, das ich mit der
gnädigen Erlaubnis Seiner
Königlichen Hoheit des
Herzogs von Cumberland
und des Königlichen Ober¬
präsidiums der Provinz
Hannover auf S. 18 ab¬
bilde. Ein Vergleich mit
dem Stuttgarter Bilde
würde das Verhältnis der
beiden Porträts zuein¬
ander, das oben nicht
ganz richtig dargestellt
worden ist, sofort auf¬
klären. Der Kopf auf
dem Herrenhäuser Bilde
zeigt nämlich entschieden
ältere Züge und jenen
etwas müden und resig¬
nierten Ausdruck, den das
Gesicht der Königin erst
nach dem Tode der beiden
jüngsten Prinzen (1782
und 1783) annahm. Das
Bild in Stuttgart, das noch
volle Züge und einen fri¬
schen jugendlichen Aus¬
druck zeigt, muß mehrere
Jahre früher entstanden
sein.
Sehr interessant ist
der Vergleich des Ge¬
wandes nach der Seite der
malerischen Ausführung hin. Dieses ist zwar auch
bei dem Stuttgarter Exemplar sehr rasch und impres¬
sionistisch hingemalt, zeigt aber trotzdem eine treffliche
Charakteristik des seidenen Stoffes und völlige Be¬
herrschung der plastischen Form, so daß man hier
nur an ein Arbeiten unmittelbar nach der Natur denken
kann. Das Kleid auf dem Bilde in Herrenhausen da¬
gegen ist flüchtig und ohne tieferes Verständnis des
Faltenwurfs hingepinselt, so wie man es etwa tut,
wenn man nach einem anderen Bilde arbeitet, ohne
sich die Mühe zu machen, sich über alle Einzelheiten
von neuem auf Grundlage der Natur Rechenschaft zu
THOMAS OAINSBOROUGH. PORTRÄT DER KÖNIGIN CHARLOTTE VON ENGLAND IN DER AHNENGALERIE
DES FÜRSTENHAUSES ZU HERRENHAUSEN BEI HANNOVER
THOMAS GAINSBOROUGH. PORTRÄT KÖNIG GEORGS III. VON ENGLAND IN DER AHNENGALERIE
DES FÜRSTENHAUSES ZU HERRENHAUSEN BEI HANNOVER
3
20
'^ERr-ESSPNE UND NEUENTDECKTE BILDER VON GAINSBOROUOH
geben. Man darf daraus schließen, daß das Herren¬
häuser Bild nach dem Stuttgarter Bilde (oder nach
einem ihnen beiden zugrunde liegenden Original?)
gemalt ist, wobei der Künstler nur den Kopf ent¬
sprechend dem inzwischen erreichten höheren Alter
der Königin neu nach dem Leben durchmodel¬
lierte, die Tracht, den Hintergrund u. s. w. aber in
der früheren Fassung beibehielt. Man wird ihm
dieses Verfahren schwerlich zum Vorwurf machen
können. Denn bei der großen Überhäufung mit
Aufträgen, unter der er in den achtziger Jahren des
Jahrhunderts auf dem Zenith seines Ruhmes —
zu leiden hatte, konnte er nicht alle Exemplare dieser
Porträts, die ihm überdies wahrscheinlich nicht sehr
hoch bezahlt wurden, mit gleicher Sorgfalt ausführen.
Da ihm ohne Zweifel das Original, nach dem man
eine Kopie zu haben wünschte, namhaft gemacht
wurde, ist es begreiflich, daß er sich die Arbeit
so viel wie möglich erleichterte, und man kann es ihm
schon hoch anrechnen, daß er wenigstens den Kopf,
wie es scheint, immer neu nach der Natur durch¬
arbeitete.
Diese Repliken dienten teilweise als Geschenke
für dem Hofe nahestehende Personen, teilweise
wurden sie den Prinzen und Prinzessinnen mit¬
gegeben, wenn sie sich verheirateten oder den Hof
resp. das Vaterland verließen. So erhielt die Prin-
cess Royal wahrscheinlich bei ihrer Verheiratung
das jetzige Stuttgarter Exemplar als Geschenk, und so
werden wir annehmen müssen — nachweisen läßt
es sich leider nicht mehr — daß das Exemplar in
Herrenhausen aus dem Besitz ihres Bruders Ernst
August, Herzogs von Cumberland, späteren Königs
von Hannover stammt, der den Hof seiner Eltern zu¬
erst 1786 verließ, um die Universität Göttingen zu
beziehen. Daß die Princess Royal das beste der aus
England herauskommenden Exemplare erhalten hat,
ist wohl natürlich, wir wissen übrigens aus ihrem
Testament, daß sie außer den beiden noch in Würt¬
temberg befindlichen Porträts ihrer Eltern noch zwei
andere besessen hat, von denen eines, ein kleines Kniestück
der Königin, das ihre Schwester, die Prinzessin Elisa¬
beth, spätere Landgräfin von Hessen, von ihr erbte,
in ihrem Testament ausdrücklich als Werk des Qains-
boroiigh bezeichnet wird. Außerdem hatte sie viele
sehr schöne Miniaturporträts und Kupferstiche nach
ihren englischen Verwandten, die alle noch, teils im
neuen Residenzschloß in Stuttgart, teils in den Schlös¬
sern zu Ludwigsburg und Monrepos erhalten sind.
Da sie erst 1797, also lange nach dem Tode Gains-
boroughs (f 1 788) heiratete, kann das ihr gehörige
Porträt der Königin natürlich nicht erst gelegentlich
ihrer Verheiratung gemalt sein, sondern man hat es
wahrscheinlich bei dieser Gelegenheit aus dem früheren
Bestand von Familienbildnissen_ in den königlichen
Schlössern ausgesucht.
Aus der häufigen Wiederholung dieser Kompo¬
sition würde sich auch erklären, daß die meisten dieser
Repliken nicht gerade zu den besten Werken Gains-
boroughs gehören. Es müßte mit sonderbaren Dingen
zugehen, wenn ihnen nicht etwas von dem Fabrik¬
betriebe dieser späteren Zeit anhaftete, und es wäre,
um dem Kunstwert der einzelnen Exemplare gerecht
zu werden, zunächst einmal nötig festzustellen, welches
von ihnen den Archetypus repräsentiert, und wie sich
die anderen Exemplare zu ihm verhalten. Da die in
England verbliebenen Bilder, soweit ich in Erfahrung
bringen konnte, nicht photographiert sind, ist diese
Frage vorläufig nicht zu entscheiden. Soviel aber
scheint sicher, daß das Stuttgarter Bild schon wegen
der verhältnismäßig jugendlichen Erscheinung der
Königin eines der früheren Exemplare sein muß. Und
damit stimmt auch die plastische Modellierung des
Gesichts, die z. B. im Vergleich mit der weichen und
lockeren Behandlung des Prinzen Octavius vom Jahre
1783 darauf hinweist, daß das Bild mindestens einige
Jahre früher entstanden ist. Dies wird auch durch
den Vergleich mit dem Brustbilde der Königin in
der Windsorer Serie der Brustbilder der königlichen
Familie und in Arolsen bestätigt. Denn dieses zeigt,
wie man an den Photographien sehen kann, ent¬
schieden ältere Züge, und da sie, wie gesagt, im Jahre
1783 gemalt sind, muß das Stuttgarter Bild mindestens
zwei, vielleicht sogar mehr Jahre früher entstanden
sein. Die ersten Bildnisse des Königs und der Königin,
die Gainsborough ausgestellt hat, stammten vom Jahre
1781. Doch ist nicht ausgeschlossen, daß er schon
vorher den einen oder anderen Auftrag vom Hofe
erhalten hat. Einige Prinzen, die mit Frauen unter
ihrem Stande verheiratet waren, hat er schon in den
siebziger Jahren porträtiert, woraus man schließen darf,
daß er bald nach seiner Übersiedelung von Bath nach
London im Jahre 1774, in Beziehungen zum Hofe
getreten ist. Ja es heißt, daß er einen der Prinzen
schon während seines Aufenthaltes in Bath porträtiert
habe, und daß der König schon in den sechziger
Jahren durch Bilder von ihm, die in London ausgestellt
waren, auf ihn aufmerksam geworden sei. Man wird
also vorläufig nur soviel sagen können, daß das Por¬
trät der Königin in Stuttgart um 1780, vielleicht auch
noch etwas früher gemalt ist. Dies würde auch mit
dem Alter der Königin, die 1744 geboren war und
hier als eine Frau um die Mitte der Dreißiger erscheint,
sehr gut stimmen.
Auf jeden Fall dürfen wir die Entstehung des
Stuttgarter Bildes in die beste Zeit des Künstlers
setzen. Drmit ist natürlich nicht gesagt, daß es
seinen besten Werken, dem blue boy, der Mrs. Siddons,
der Miss Graham, den Schwestern Linley u. s. w. eben¬
bürtig sei. Das ist bei einem Porträt höfischen Cha¬
rakters von vornherein nicht sehr wahrscheinlich. Trotz
der viel gerühmten Leutseligkeit der Königin wird die
Steifheit des Hofzeremoniells, auf dessen Innehaltung
streng gesehen wurde, gerade auf eine so naive Natur
wie Gainsborough lähmend gewirkt haben. Es war
auch nicht ganz leicht, die Königin, die ja bekannt¬
lich keine Schönheit war, so zu charakterisieren, daß
sie ähnlich und doch nicht geradezu häßlich erschien.
Aber dazu war Gainsborough gerade der richtige Mann.
Ein Kritiker der Zeit rühmte ihm nach, daß er sogar
»der alten Königin einen gewissen malerischen Reiz
abzugewinnen verstände«, und wenn wir von Walpole
GAINSBOROUGH. KÖNIG GEORG III. UND KÖNIGIN ANNA. SCHLOSS AROLSEN
VERGESSENE UND NEUENTDECKTE BILDER VON GAINSBOROUGH
21
hören, daß die Königin wenigstens zur Zeit ihrer
Verheiratung blaß gewesen sei und einen großen
Mund und eine breite Nase gehabt habe, Züge, die hier
nur andeutungsweise wiedergegeben sind, so werden
wir geneigt sein, Gainsborough zu den idealisierenden
Porträtmalern zu rechnen, die aus höfischer Schmeichelei
oder künstlerischer Schwäche ihre Modelle verschönern.
Ich glaube in der Tat, daß seine Fähigkeit, das Hä߬
liche weniger häßlich erscheinen zu lassen, wesent¬
lich zu seiner Beliebtheit am Hofe beigetragen hat,
und verstehe es wiederum, daß diese Eigenschaft
unseren modernen realistisch empfindenden Porträt¬
malern wie ein Verrat an der Kunst erscheint, so daß
sie für diese Art »Schönmalerei« nicht sehr viel übrig
haben. Aber wer die Dinge historisch aufzufassen
gelernt hat, wird zunächst konstatieren, daß den Zeit¬
genossen diese Idealisierung durchaus nicht zum Be¬
wußtsein kam, im Gegenteil, daß sie, wie wir aus
dem Munde von Reynolds wissen, gerade die Ähn¬
lichkeit der Gainsboroughschen Porträts besonders
schätzten. Allerdings war diese Ähnlichkeit anderer
Art als diejenige seiner Vorgänger. Wenn man sich
davon überzeugen will, braucht man nur das Porträt
derselben Königin von Allan Ramsay, dem Vorgänger
Gainsboroughs in der Gunst des Hofes, das ich
nach einer von Herrn Direktor Dr. Seidel mir
gütigst zur Verfügung gestellten Photographie des
im Schloß Wilhelmshöhe befindlichen Exemplars
auf Seite i6 publiziere, zu vergleichen. Es gehört
der älteren nüchtern realistischen Richtung eines Sir
Godefroy Kneller und Sir Peter Lely an, die eben
durch Gainsborough überwunden wurde. Und wie
viel höher steht der letztere! Beim älteren Meister
eine leblose und mechanische Übereinstimmung mit
der Natur, peinlich bis in die Einzelheiten des prunk¬
vollen Krönungsornates hinein, ohne Fähigkeit, das
Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden; der
Mensch nicht aufgefaßt als der dominierende, geistige
Träger des Ganzen, sondern als Kleiderständer, als
Mittel zur Entfaltung kostümlichen Prunkes. Beim jünge¬
ren Meister größte Einfachheit des Kostüms, absichtliche
Vernachlässigung des Schmucks — wie unkörperlich
sind z. B. die Perlen gemalt! — dagegen bewußte
Konzentration der Wirkung auf den geistigen Ausdruck
des Gesichts, kurz wahre Kunst an Stelle bloßer
handwerklicher Kunstfertigkeit. Man kann die Richtung,
in der Gainsborough epochemachend für die höfische
Porträtmalerei seiner Zeit wurde, nicht besser als durch
diese Nebeneinanderstellung charakterisieren.
Dabei brauchen wir aber für die Schwächen dieser
Richtung keineswegs blind zu sein. Dem modernen
Realisten sind schon die Versatzstücke der van Dyck-
schen Porträtkunst, die Säule mit dem pompösen
Vorhang, der Blick in den Park mit der Palastarchi¬
tektur unsympathisch. Aber der vornehme und geist¬
reiche van Dyck war eben der Lehrmeister, der Gains¬
borough den Weg zeigte, auf dem er die ältere, nüchterne
Richtung überwinden konnte. So ist es natürlich, daß
auch die Schwächen des Vorbildes in die Kunst des
Nachahmers übergingen, und man muß wenigstens
zugeben, daß diese Requisiten niemals passender an¬
gewendet worden sind als bei diesem Porträt einer
Königin. Bedenklicher ist die puppenhaft leere Aus¬
führung der Arme und Hände, der gegenüber man
wohl von Decadence sprechen kann, wenn man auch
zugeben muß, daß Gainsborough hier nur etwas
weiter auf der schiefen Ebene fortgeschritten ist, auf
die van Dyck mit seinen leeren konventionellen Hän¬
den die Kunst gelenkt hatte. Unverhältnismäßig sorg¬
fältig, fast zudringlich ist dann wieder das Porträt
des Königs in dem Medaillon ausgeführt, wiederum
wahrscheinlich eine Konzession an die höfische Eti¬
kette und eine Rücksicht auf den hohen Gemahl.
Im übrigen ist hier mit vollem Bewußtsein das
Prinzip durchgeführt, nur die Hauptsache, das Gesicht
sorgfältig durchzumodellieren, alles übrige dagegen
skizzenhaft zu behandeln. An dem aufgesprungenen
Farbkörper erkennt man, daß der Kopf sehr pastös
in mehreren übereinanderliegenden Farbschichten aus¬
geführt ist, wobei der Künstler sich der Lasur in sehr
wirksamer Weise bedient hat, um den Charakter der
gepuderten Haut und der Haare hervorzubringen. Es
scheint, daß ihm die Ähnlichkeit nicht gleich gelang,
und daß er wiederholt übermalen mußte, ehe er seine
Intention erreichte. Um so leichter und flüssiger ist
alles andere gemalt.
Man hat Gainsborough mit einem gewissen Recht
den ersten Impressionisten genannt, womit man spe¬
ziell den freien malerischen Farbauftrag bei der Aus¬
führung der Akzessorien andeuten wollte, jenen
breiten, flotten Pinselstrich, bei dem die Töne erst in
einiger Entfernung Zusammengehen, dann aber um so
frischer und lebhafter wirken. Er ist zwar nicht der
erste, der die Pinselstriche stehen gelassen und die
Lokalfarben in mosaikartig nebeneinander gestellte Far¬
bentöne aufgelöst hat — die Niederländer des 17. Jahr¬
hunderts, ebenfalls seine großen Lehrmeister, waren
ihm hierin vorangegangen — aber er war der erste,
der die Vernachlässigung der Nebendinge und die
Konzentration der Ausführung auf die Hauptsache,
nämlich das Gesicht, zum Prinzip erhob: Lenbach ist
hierin sein getreuer Schüler gewesen. Und daß selbst
ein so gescheuter und weitherziger Kritiker wie Rey¬
nolds in seiner klassischen Gedächtnisrede auf seinen
großen Rivalen diese Art und Weise, deren illusio¬
nistische Wirkung er wohl empfand, mehr entschul¬
digen als loben zu müssen glaubte, ist ein Beweis,
wie neu und ungewohnt sie in der englischen Malerei
jener Zeit war. Man kann sich keine bessere Illu¬
stration zu der Reynoldsschen Charakteristik dieser
Malweise denken als unser Porträt. Die Gefahren,
die diese Technik mit sich bringt, sind hier noch völlig
vermieden, dagegen kann man sie an dem Herren¬
häuser Porträt erkennen, bei dem man den Eindruck
hat, daß das »Streichen« Selbstzweck geworden ist,
nicht mehr zur Veranschaulichung der plastischen
Form dient.
Sehr viel weniger gut als die beiden Porträts der
Königin sind die zwei ihnen als Gegenstücke die¬
nenden Porträts des Königs Georg ///. in Ludwigs¬
burg und Herrenhausen. Ich publiziere deshalb von
ihnen nur auf S. 19 das letztere, indem ich bemerke.
22
VERGESSENE UND NEUENTDECKTE BILDER VON GAINSBOROUGH
da!) das Ludwigsburger Exemplar in der Stellung
und irn Kostüm nur wenig davon abweicht. Der
König trägt nämlich hier statt der Stulpenstiefel weiße
Strümpfe und Schnallenschuhe, und die Haltung der
Arme ist etwas verschieden. Die Tracht ist bei beiden
Bildern die sogenannte Windsoruniform, blau mit
Goldtressen und roten Aufschlägen. Bei dem Lud¬
wigsburger Porträt bin ich sicher, daß es, wenigstens
in dem Zustande, in dem es sich jetzt befindet, nicht
von Gainsborough ist. Vielleicht war, als die Princess
Royal heiratete, kein Originalporträt des Königs mehr
disponibel und mußte deshalb eine Kopie nach einer auch
sonst in England mehrfach vorkommenden Komposition
Gainsboroughs angefertigt werden. Vielleicht ist das
Bild auch einmal in Ludwigsburg übermalt worden.
Jedenfalls kann nur die Komposition auf Gainsborough
zurückgeführt werden. Das Herrenhäuser Porträt mag
wenigstens teilweise eigenhändig sein, ist aber, wie
schon die Abbildung zeigt, keine erfreuliche Leistung.
Die Stiefel und der Erdboden sind unerlaubt lang¬
weilig gemalt, und wenn man auch zugeben mag,
daß Gainsborough an dem Porträt des Königs we¬
niger Freude gehabt hat als an dem der Königin, so
kann man doch angesichts dieser Schwächen an der
Eigenhändigkeit nur festhalten mit der Entschuldigung:
Quandoque bonus dormitat Homerus. Die Steifheit
und das Zeremonielle der Haltung ist freilich nicht
Gainsboroughs Schuld. Im Gegenteil, es scheint, daß
er damit das hochmütige und dabei etwas bornierte
Wesen des Königs zum Ausdruck hat bringen wollen.
Und das ist ihm ganz gut gelungen. Auch hier ist ein
Vergleich mit dem Bilde von Allan Ramsay (S. 17) sehr
instruktiv. Man fühlt, auch ohne das Modell gesehen
zu haben, daß Gainsborough die Persönlichkeit des
Königs viel besser getroffen hat als sein Vorgänger
mit der leeren und konventionellen Schönheitspose.
* ^
*
Ein besonders interessantes, kunst- und kultur¬
historisch wichtiges Bild ist das auf Tafel 3 abgebildete,
das bisher nur durch den Katalog der Stuttgarter
Gemäldegalerie in die Kunstliteratur eingeführt war:
Georg III. und sein Hof auf der Terrasse des Schlosses
von Windsor. Es gehört ebenfalls der Königin Char¬
lotte Mathilde-Stiftung und ist der Stuttgarter Galerie
etwa gleichzeitig mit den beiden besprochenen Por¬
träts überwiesen worden. Als ich es zum erstenmal
sah, hing es in einem der dem Publikum nicht zu¬
gänglichen Zimmer des oberen Geschosses des Lud¬
wigsburger Schlosses, ist also vor dem Jahre 1902
wohl niemals von einem Kunsthistoriker gesehen
worden.
Das Bild verdankt seine Entstehung offenbar einer
privaten Bestellung der königlichen Familie, da es ja
ebenso wie die beiden anderen Bilder, von der eng¬
lischen Prinzessin mit nach Württemberg gebracht
worden ist. Nach dem Gegenstände der Darstellung
begreift man wohl, daß die Princess Royal, für die
sich die schönsten Jugenderinnerungen damit ver¬
knüpften, Wert auf seinen Besitz legen mußte. Der
familiäre Charakter des Bildes ist wohl die Ursache,
daß es nie öffentlich ausgestellt war, woraus sich
auch erklärt, daß es in der gleichzeitigen englischen
Literatur nicht erwähnt wird.
Dargestellt ist eine der häufigen Promenaden der
königlichen Familie auf der Terrasse von Windsor
Castle, die uns in gleichzeitigen Memoiren genau so
beschrieben werden, wie wir sie hier sehen. Diese
Promenaden pflegten nachmittags um 5 Uhr stattzu¬
finden, und die bei Hofe Eingeführten oder in Windsor
Vorzustellenden waren dabei zugelassen, so daß die
Terrasse oft von vornehmen Personen wimmelte, die sich
beim Herannahen des königlichen Zuges respektvoll
gegen die Mauer des Schlosses zurückzogen und nach
Passieren desselben hinten anschlossen. Alles das war
genau geregelt, und ein Verstoß gegen die Sitte wäre sehr
übel vermerkt worden, wie denn überhaupt das Leben
des Hofes in Windsor genau nach der Uhr geordnet
und allem Anschein nach bodenlos langweilig war.
Es gehörte schon eine gewisse künstlerische Kraft
dazu, aus dieser echten Hofszene ein so hübsches
malerisches Bild zu machen, wie es unser Künstler
getan hat. Die »lustigen Weiber von Windsor«
könnte man es nennen, denn das weibliche Element
und die bunten malerischen Toiletten überwiegen
durchaus. Nur die Damen der königlichen Familie
unterscheiden sich durch ihre schlichten weißen Reif¬
röcke und ihre gradrandigen weißgarnierten Stroh¬
hüte in charakteristischer Weise von allen anderen
Damen der Szene.
Es ist der Moment dargestellt, wo der Zug der
königlichen Eamilie, aus dem im Hintergründe sicht¬
baren Gebüsch des Parkes hervorkommend, die Ter¬
rasse eben betritt. An der Spitze schreitet der König
in Windsoruniform, die Königin am Arme führend.
Während er durch Abnehmen des Hutes in besonders
gnädigerWeise einen jungen, vornehm gekleideten Mann
in rotem Rocke, weißer Weste, Hosen und Strümpfen
grüßt, der den Hut tief vor ihm abzieht, wendet sich
die Königin nach links, wo innerhalb einer Gruppe
von zwei Damen mit einem kleinen Mädchen und
zwei Herren ganz im Vordergründe die berühmte
Schauspielerin Mrs. Sarah Siddons erscheint. Ihr
Äußeres, besonders die stark vorspringende gekrümmte
Nase, ist uns aus zahlreichen Bildnissen bekannt, so
daß über ihre Identifikation kein Zweifel sein kann.
Wenn man es nicht wüßte, daß sie Tragödin war,
würde man es aus ihrer Haltung erkennen: Jeder
Zoll eine Königin.
Hinter dem Königspaare schreitet zunächst allein
die Princess Royal, dann folgen zwei weitere Prin¬
zessinen, hinter ihnen kommt ein noch sehr jugend¬
licher Prinz, neben dem eine wie es scheint ältere
Dame geht, die sich durch ein dunkles Brusttuch von
den übrigen Damen der Familie unterscheidet. Viel¬
leicht ist es die Prinzessin von Wales, die Mutter
des Königs. Dann folgen wieder zwei Damen, die ent¬
weder zur Familie oder, was wahrscheinlicher ist, zum
engeren Hofstaat gehören. Denn die meisten Prin¬
zessinnen waren damals noch nicht erwachsen, die
älteste erst 17 Jahre alt.
VERGESSENE UND NEUENTDECKTE BILDER VON OAINSBOROUGH
23
Von den übrigen Personen der Szene ist mit
Sicherheit nur noch zu identifizieren der kleine Prinz
Octavius, der etwas rechts vom Könige vor einer
Gruppe von drei wie es scheint nicht der könig¬
lichen Familie angehörigen Damen steht. An den vom
König gegrüßten jungen Herrn schließen sich rechts
wieder eine Reihe von Damen an, über denen auf
der Treppe zur »Lodge« die Musik, sechs Bläser, die
wahrscheinlich einen Marsche aufspielen, postiert sind.
Die zwei Kinder, die außer dem Prinzen Octavius
auf dem Bilde erscheinen, sind wahrscheinlich uner¬
wachsene Prinzen oder Prinzessinnen, doch ist es
nicht ganz leicht, sie zu identifizieren, da die Datie¬
rung des Bildes einige Schwierigkeiten macht.
Da der Prinz Octavius am 3. Mai 1783 starb,
liegt es am nächsten, die dargestellte Szene, wenn
man in ihr überhaupt ein bestimmtes Ereignis am
Hofe erkennen will, vor diesen Tag zu datieren.
Nun ist aber die Jahreszeit, die dem Künstler bei der
Charakterisierung der Landschaft vorschwebte, offen¬
bar der Hochsommer, wie man aus der Farbe des
Laubes deutlich erkennen kann. An den Sommer des
Jahres 1782 oder gar 1781 zu denken, geht aber des¬
halb nicht an, weil die Sarah Siddons, wie wir aus
ihren Memoiren wissen, erst seit Januar 1783 bei
Hofe eingeführt war, und zwar infolge der Triumphe,
die sie während ihrer ersten Londoner Saison am
Drury Lane-Theater seit Oktober 1782 errungen hatte.
Sie erzählt selbst, daß sie seit dem Jahre 1783 sehr
häufig nach Buckingham Palace und Windsor ein¬
geladen worden sei, um den Majestäten vorzulesen,
und ihr Biograph Campeil meint sogar, sie habe eine
Art Anstellung als Vorleserin bei den Prinzessinnen
gehabt, wofür indessen die Beweise fehlen. Jeden¬
falls darf man aus ihrem Auftreten in dem Bilde
schließen, daß dieses nicht vor dem Sommer 1783
gemalt sein kann, also in einer Zeit, als der Prinz
Octavius schon tot war, so daß also sein Auftreten
ein kleiner Anachronismus sein würde. Eine be¬
trächtlich spätere Datierung ist dagegen ganz ausge¬
schlossen, da der Maler das Kind dann gewiß nicht
mehr unter den Lebenden dargestellt hätte. Aus
Londoner Zeitungsnotizen, die mir Herr Vine Cronin
in London so liebenswürdig war zur Verfügung zu
stellen, entnehme ich, daß die königliche Familie am
5. Juni des Jahres wieder nach Windsor übersiedelte,
um den Rest des Sommers dort zuzubringen.
Kommen wir damit auf den Juni oder Juli des
Jahres 1783 als die wahrscheinliche Entstehungszeit
des Bildes, so liegt es nahe, in dem jungen Manne,
der hier offenbar zum erstenmal bei Hofe vorgestellt
wird, den damals vierundzwanzigjährigen Kapitän
Nelson zu erkennen, der, wie wir aus seiner eigenen
Korrespondenz wissen, nach seiner Rückkehr aus dem
spanisch-amerikanischen Kriege ungefähr am 15. Juli
des Jahres 1783 nach Windsor befohlen wurde, um
von seinem Zögling und Freunde, dem Prinzen
William Henry, vor dessen Einschiffung nach dem
Kontinent Abschied zu nehmen. Diesen würde man
dann also in dem jungen Prinzen im Hintergründe
zu erkennen haben, was mit dessen Alter ganz gut
stimmen würde. Doch steht dieser Hypothese, die
ich schon in dem Katalog der Stuttgarter Gemälde¬
galerie frageweise ausgesprochen habe, entgegen, daß
die Tracht des jungen Mannes nicht die blaue Uniform
der damaligen Marinekapitäne ist, sondern mehr einem
vornehmen Hofmann, etwa einem Gesandten oder frem¬
den Prinzen zu gehören scheint. Vielleicht hängt die An¬
wesenheit dieses Mannes mit einer der allerdings erfolg¬
los gebliebenen Werbungen um englische Prinzessinnen
zusammen, von denen wir gerade in den achtziger
Jahren hören. Vielleicht halte der Maler auch gar
nicht die Absicht, eine bestimmte Szene darzustellen,
sondern nur im allgemeinen ein höfisches Genrebild zu
geben, auf dem allerlei Personen vereinigt sein konnten,
die zu verschiedenen Zeiten am Hofe verkehrt hatten.
Mag dem nun sein, wie ihm wolle, jedenfalls sind
wir zu dem interessanten Ergebnis gekommen, daß
das Bild gerade im Sommer des Jahres gemalt worden
ist, in welchem sich Gainsborough, um die oben er¬
wähnten Porträts der königlichen Familie zu malen,
längere Zeit in Windsor aufgehalten hat. Es läßt
sich nicht leugnen, daß dadurch der Blick zuerst auf
ihn als vermutlichen Urheber des Werkes gelenkt wird,
und ich muß offen gestehen, daß ich selbst das Bild
schon ehe ich diese Kombination angestellt hatte,
wenn auch mit einem starken Fragezeichen, ihm
zugeschrieben habe. Ich wurde dazu noch durch
andere Erwägungen veranlaßt. Gerade Gainsborough
hat mehrere Bilder dieser Art, das heißt in diesem
Verhältnis der Figuren zur Landschaft, gemalt. Ich
erinnere nur an den bekannten Spaziergang des Herzogs
von Cumberland, des Bruders des Königs, mit seiner
Gemahlin und in Anwesenheit von deren Schwester
in einem Park, und an die Gruppe der Prinzessinnen
und Hofdamen im S. James-Park, genannt the Mall,
die ja zu seinen schönsten Bildern gehören. Herr
Vine Cronin teilt mir sogar mit, daß ein verschollenes
Bild Gainsboroughs die Prinzessinnen auf der Treppe
des Schlosses in Windsor dargestellt habe, also eine
Szene, die der unserigen in der Auffassung gewiß
ziemlich ähnlich war. Dazu kommt, daß die im¬
pressionistische, wenn auch etwas grobe Art, wie die
Gewänder behandelt sind, und vor allem die leeren
spitzfingerigen Hände sehr an den Künstler erinnern.
Im übrigen ist das Bild nicht ohne künstlerisches Ver¬
dienst. Die Art, wie der königliche Zug aus dem
Hintergründe nach vorn kommt, zeugt von einer be¬
merkenswerten Fähigkeit, Raumillusion zu erzeugen,
und die Gruppe zur Linken ist koloristisch sehr fein
behandelt, wie überhaupt die Farben der bunten ma¬
lerischen Kostüme dem Ganzen einen höchst lustigen
Charakter geben. Ich begreife deshalb wohl, daß
mehrere Kenner der englischen Malerei des 18. Jahr¬
hunderts beim Anblick der Photographie am meisten
an Gainsborough erinnert wurden.
Dennoch glaube ich, daß eine Untersuchung des
Originals zu einem anderen Ergebnis führen muß.
Für einen Porträtmaler von der feinen Charakte-
risierungsfähigkeit Gainsboroughs sind die meisten
Köpfe denn doch zu puppenhaft mit ihrem insipiden
Lächeln und ihren rotgescliminkten Wangen. Und
24
zu MARIE STEINS PREISRADIERUNG
die starke Vernachlässigung der rechten Hälfte des
Bildes, die langweilige Ausführung der Architektur,
die kompakte Behandlung des Laubes, vor allem aber
die poesielose Stimmung, die über dem Ganzen liegt,
und eine gewisse nüchterne Sachlichkeit des Vortrags,
alles das will nicht recht zu seiner geistreichen Art
stimmen. Ich möchte deshalb annehmen, daß das Bild,
wenn Gainsboroiigh es auch möglicherweise entworfen
und vielleicht sogar einzelne Teile daran ausgeführt hat,
doch im wesentlichen von einem Maler der jüngeren
Generation gemalt worden ist, die unter seinem Ein¬
fluß stand, etwa von Hoppner oder Beechey oder
Opie, dem jüngeren Ramberg u. s. w. Doch fehlt
mir das bildliche Material, um die Frage durch Ver¬
gleichung zu entscheiden, und besonders bin ich
außerstande, das Porträt des jungen en face dar¬
gestellten etwa zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigen
Mannes zur Linken, in dem wir wie es scheint ein
Selbstporträt des Malers erkennen dürfen, zu identi¬
fizieren. Daß es nicht Gainsborough sein kann, der
damals schon sechsundfünfzig Jahre alt war, liegt auf
der Hand. Ich möchte die Frage deshalb den eng¬
lischen Kennern der Malerei des 1 8. Jahrhunderts ans
Herz legen. Vielleicht sind sie glücklicher als ich.
KON RAD LANGE.
ZU MARIE STEINS PREISRADIERUNG
Der diesem Hefte beigegebenen Originalradierung von Fräulein Marie Stein-Oldenburg wurde von
der Jury unseres vorjährigen Wettbewerbes, den Herren Professoren Klinger, Liebermann, Köpping, Tschudi,
Lehrs und Graul, der dritte Preis zuerkannt. Den älteren Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst«
wird Marie Steins geistvolle Auffassung in der Darstellung und sichere Beherrschung der Technik bereits bekannt
sein, da wir schon im Jahre 1899 eine preisgekrönte Kaltnadelarbeit der Künstlerin veröffentlichen konnten.
MAX KLINGER. DER ABEND
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf,, o. m. b. h., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI
MARIE STEIN,
ORIGINAI.RADIERIJNG
Am 5. Oktober ist Ernst Arthur Seemann, der
Begründer dieser Zeitschrift und des Hauses
E. A. Seemann im gesegneten Alter von fünf¬
undsiebzig Jahren entschlafen.
Es darf heute gesagt werden, daß der Verstorbene
diese Zeitschrift geschaffen hat; denn ihre Entstehung
ist in seinem Kopfe zu suchen. Carl von Lützow,
mit dem Seemann seit Mitte 1864 persönlich bekannt
geworden war, wandte sich an seinen Verleger wegen
Fortführung der »Recensionen und Mittheilungen über
bildende Kunst« unterm 27. Oktober 1865. Darauf
erwiderte Seemann am 30. Oktober:
»Ich hatte mir schon vorgenommen. Ihnen heute zu
schreiben, um endlich eine alte Briefschuld einzulösen, als
Ihr Brief vom 27. Oktober eintraf. Die darin enthaltenen
Mitteilungen spornen mich natürlich an nicht länger zu
säumen. Ich komme der Reihe nach auf die einzelnen
Gegenstände, welche erledigt sein wollen, und fange mit
demjenigen an, welcher vielleicht am wenigsten Aufschub
erleiden kann: die zu ermöglichende Fortsetzung der
»Recensionen«, deren Eingehen ich natürlich ebensosehr
bedauern muß, als alle Freunde der Kunstwissenschaft.
Allerdings wird es nicht leicht sein, ein ähnliches Organ
an die Stelle zu setzen, wenn dasselbe rentabel werden
oder wenigstens die Kosten der Herstellung decken soll.
Aber es geht doch — es muß meines Erachtens gehen,
wenn gewisse Konzessionen im Interesse des großen
Publikums gemacht werden, welches gern von Kunst und
Künstlern sprechen hört oder selbst spricht, ohne gerade
mit wissenschaftlichem Ernst dabei zu sein. Die erste
große Hauptsache ist die, daß das Blatt illustriert wird.
und daß diese Illustrationen zunächst sich auf die Gegen¬
wart, auf hervorragende Erzeugnisse der modernsten Kunst
stützen, ähnlich wie es in Frankreich die Gaz. des beaux
arts mit ihren Salonberichten macht.«
Hierauf folgt ein Programmentwurf, der mit ge¬
nauen Einzelheiten entwickelt wird, just so, wie das
Blatt hernachmals in die Erscheinung trat. Umfang,
Format, Inhalt, Gliederung, Abwechselung, Bilder¬
schmuck, Preisberechnung, alles wird mit Deutlich¬
keit sogleich vorgestellt. Alsdann lautet der Brief
weiter:
»Bei einer Subvention von 1500 Thlrn. würde ich gerne
bereit sein, das Unternehmen ins Leben zu rufen und auf
ein Jahr fortzusetzen, wenn Sie die Redaktion übernehmen
wollten. Für das Arrangement würde ich selbst Sorge
tragen, eventuell wird gewiß auch Herr von Zahn bereit
sein, gegen eine mäßige Vergütung das redaktionelle
Arrangement jeder Nummer zu übernehmen. Ich würde
mich dann verpflichten, die subventionirte Summe mit
Zinsen zurückzuzahlen, sobald der Absatz die normale
Höhe erreicht.«
Aus der Subvention wurde nichts. Das Projekt
kam aber ohne solche zu stände, und zwar ist aus
der nachfolgenden Korrespondenz ersichtlich wie ge¬
schickt der Verleger die einzelnen Kapazitäten heran¬
zieht, ihnen bestimmte Aufgaben stellt, vermittelnd,
ordnend, beschwichtigend eingreift, wo es nötig scheint.
Die Regierung widmete dem neuen Unternehmen
schon ehe es erschien, eine besondere Aufmerksamkeit.
Sie verlangte nämlich eine Kaution von 800 Talern,
BIiMW
»SB
was dem etwas erschreckten Verleger am 24. Dezember
1865 als Weihnachtsüberraschung mitgeteilt wird,
■^rotz des dagegen ergriffenen Rekurses mußte die
Hälfte der Summe alsbald erlegt werden; sie wurde
aber später mit Zinsen für einen Monat zurück¬
erstattet: offenbar lag kein staatsgefährliches Unter¬
nehmen vor. Anfangs sollte das Blatt auf Vorschlag
des Verlegers Propyläen' genannt werden, wobei an
die Goethische Schöpfung gedacht wurde; C. von
Lützow wünschte dagegen lieber Athenäum« — dieser
Titel war einst von den Gebrüdern Schlegel für ihre
Zeitschrift gewählt worden. Schließlich einigte man
sich dahin, die fremdartigen Bezeichnungen fallen zu
lassen und den ursprünglich beabsichtigten Neben¬
titel »Zeitschrift für bildende Kunst« zum Haupttitel
zu machen.
Für das erste Heft hatte v. Lützow einen Aufsatz
eingesandt, der dem Verleger der Zeitschrift als Debüt
recht mißfiel. Er schreibt am 3. Januar 1866:
Den . . . Artikel bitte ich in Nr. 2 zu schieben oder
nur bruchstückweise in zwei späteren Nummern zu geben.
Ich muß gestehen, ich liabe mich über das behagliche
Geistreichtun des Mannes ein wenig entsetzt. Das ist ja
der burschikoseste Feiiilletonstil den jemand schreiben
kann! Ich glaube, Sie werden selbst fühlen, daß wir
damit nicht debütieren können . . . Wenn wir ja den
Artikel für später verwenden, so muß darin manches unter¬
drückt und manches gemildert werden. Gleich Eingangs
fällt die Behauptung, die gesamte moderne Malerei mache
einen , unausstehlich plebejischen* Eindruck höchst unan¬
genehm auf; da ist doch die pars pro toto etwas zu kühn
gegriffen! Bisweilen kam es mir vor, als wolle der Ver¬
fasser sich bloß einen schlechten Spaß mit seinen Lesern
machen und zur Kontroverse herausfordern. Es tut mir
leid, daß Ihnen dies Urteil vielleicht nicht angenehm ist,
zumal da N. N., wie ich vermute. Ihnen nahe steht und
viel Interesse für das Blatt hat. Er ist ein guter Mann
— aber ein schlechter Musikant, dem wir wenigstens für
Nr. 1 kein Solo übertragen dürfen, ohne uns eine Blöße
zu geben. Ich bin ganz dafür, daß wir ab und zu einen
munteren mit Humor gewürzten Artikel bringen, der von
dem Ernst der Arbeit nichts merken läßt; aber dann muß
das Ding blitzen und perlen und nicht zu sehr nach Bier¬
krug und Tabak schmecken. Auch der derbe Ausdruck,
die feste Faust ist mir recht; nur muß beides am rechten
Orte angewandt sein. Wer aber über klassische Malerei
schreibt, sollte wenigstens etwas Klassizität auch in seinem
Stile durchblicken lassen. Nehmen Sie mir diesen Aus¬
druck meiner sittlichen Entrüstung nicht übel. Ich schreibe
wie mirs gerade in die Feder kommt und messe die Worte
nicht ab.«
Neben solcher negativen Kritik finden sich zahl¬
reiche positive Anregungen. Seemann weist auf
Fechner hin, von dessen Psychophysik man damals
wenig wissen wollte; es gelingt ihm Beiträge von
diesem merkwürdigen Mann in die Zeitschrift zu
bringen.
Ich sprach Professor Fechner um Beiträge an, falls
er etwas Geeignetes hat. Kennen Sie ihn? Er ist ein
feiner Kopf, nicht ohne Witz und hat einen sehr gewandten
Vortrag, der ungemein fesselt.«
Am 13. Januar folgt die Anregung:
= Sollten wir übrigens nicht Grimm um Beiträge an-
gehen? Er ist doch trotz seiner hochgereckten Nase immer
ein Mann von vielem Wissen und großer Sprach¬
gewandtheit.«
Herman Grimm hatte damals mit den zünftigen
Kunsthistorikern viel Streit. Er galt als ein phan¬
tastischer Schöngeist; sein Roman: »Unüberwindliche
Mächte« hatte ihn bei der exakten Wissenschaft in
Mißkredit gebracht.
Am 10. Januar schreibt Seemann an seinen neu
geworbenen Herausgeber:
»Beifolgend eine Probe eines Kunsthandelsberichts.
Ich habe natürlich keine Zeit zu solchen Dingen, auch
fehlen mir technische Kenntnisse um einen ordentlichen
Rapport zu geben. Sie werden aus dem flüchtigen Kon¬
zept sehen, wie ich mir die Sache ungefähr denke.«
Das flüchtige Konzept fand der Herausgeber den¬
noch brauchbar; es wurde in die erste Nummer der
»Kunstchronik« aufgenommen.
Das waren die Anfänge dieser Zeitschrift, die der
Verleger fünfundzwanzig Jahre mit hingebender Sorg¬
falt betreut hat. Sie umschließt ein beträchtliches
Maß stiller, ernsthafter Arbeit, und das Bild des Mannes,
der sich unverdrossen seiner Schöpfung gewidmet
hat, darf wohl jetzt nach fast vierzig Jahren hier ge¬
zeichnet werden.
Ernst Eiert Arthur Heinrich Seemann wurde am
9. März 182g als Sohn des Gerichtsrats Justus See¬
mann in Herford geboren. Im Jahre 1844 starb der
Vater und hinterließ sieben unversorgte Kinder. Die
Pension der Mutter betrug 200 Taler; es war schwer,
die Kinder alle durchzubringen. Ernst, der inzwischen
das Gymnasium fast absolviert hatte, kam nach Biele¬
feld zu Velhagen & Klasing in die buchhändlerische
Lehre, ging später nach Leipzig zu E. Volckmar und
war hierauf mehrere Jahre als Redakteur des Pierer-
schen Konversationslexikons mit tätig. Dort sammelte
er die Erfahrungen, die er später verwertete.
Ein kleines sauberes Ölbild von Lorenz Glasen,
1855 "1 Berlin gemalt, zeigt ihn als wohlgebildeten
jungen Mann mit blauen Augen, vollem dunkel¬
blondem Haar und einem wunderschön geformten
Munde. Das volle Haar ist ihm bis ins Alter ge¬
blieben; wie denn überhaupt sein Antlitz, wenn ihn
nicht gerade ein vorübergehendes Leiden beschlich,
in der Umrahmung seines kurz gehaltenen blond¬
weißen Vollbarts bis ans Ende eine frische Eärbung
und einen elastischen Ausdruck bewahrte. Er war
von kräftig untersetzter Gestalt und nicht sehr stark.
Im Jahre 1858 ging Ernst Seemann nach Essen,
wo er eine Verlags- und Sortimentsbuchhandlung
begründete; das Sortiment verkaufte er 1861 an
Julius Deiter und siedelte mit dem Verlage nach
Leipzig über. Schon vor der Niederlassung in Essen
hatte er sich mit Luise Graul vermählt. Der Ehe,
die das Paar fast fünfzig Jahre verbunden hat, sind
zwei Söhne und sieben Töchter entsprossen.
In Leipzig kam die junge Eirma rasch in Elor,
und bald sollte sich das EAS, zu gut deutsch: »Du
mögest gehen«, an den Büchern des Verlages tapfer
bewähren.
Schon zur Zeit, als das erste Heft dieser Zeitsclirift
im Entstehen war, gab es einige wichtige Werke im
Druck; Lübkes Architekturgeschichte, Lemckes Ästhetik,
Woltmanns Holbein, Julius Meyers Geschichte der
modernen französischen Malerei, ein Buch von dem man
sagen möchte, es sei zu früh erschienen; denn für seine
Qualität war das Publikum damals noch nicht reif. Heute
ist es längst vergriffen. Neben die Geschichte der Plastik,
deren erste Auflage 1 863 erschienen war, hoffte Seemann
schon damals eine umfangreiche Geschichte der
Malerei setzen zu können. Er trug den Plan Wilhelm
Lübke an, der aber mit Seufzern und Klagen über
den geringen materiellen Lohn der Schriftstellerei
antwortete; auch wird er vermutlich geäutJert haben,
daß er erst eine Reise nach Spanien machen müsse,
denn in einem beschwichtigenden Briefe sandte See¬
mann seinem Autor ein Extrahonorar von 200 Talern,
um ihm die geplante Reise zu ermöglichen. Den
Gedanken einer Geschichte der Malerei griff dann
aber Alfred Woltmann auf, dessen frühzeitiger Tod
das große Werk unterbrach. Unter Benutzung der
von Woltmann hinterlassenen Materialien führte Karl
Woermann, der bereits den ersten Band (Antike) ver¬
faßt hatte, die bedeutende, schwierige Arbeit liebevoll
und sorgfältig durch.
Einige der Seemannschen Unternehmungen sind
so sehr sein eigenes Werk, daß sie wie wichtige Charakter¬
züge zu seinem Bilde gehören. Hier sind vor allem die
»Deutsche Renaissance«, Dohmes »Kunst und Künstler
und die »Kunsthistorischen Bilderbogen« zu nennen.
Den Anlaß zur »Deutschen Renaissance« gab A. Ort¬
wein, der einen bescheidenen Band über die Re¬
naissance Nürnbergs veröffentlicht hatte. Der Erfolg
dieses Werkchens war bestimmend für die Weiter¬
führung des Unternehmens. Seine Grenzen wurden
weit gesteckt und schließlich eine Renaissance in
Österreich angegliedert. Der Plan ging darauf aus, die
wichtigsten Baudenkmäler der Renaissance in Deutsch¬
land, sowie einige Musterstücke des Hausrates, in
großendetaillierten Federzeichnungen, die lithographisch
vervielfältigt wurden, durch einen Stab von Zeichnern
aufnehmen zu lassen. Anfangs führte A. Ortwein
die Redaktion; nach dessen schwerer Erkrankung
setzte sich der Verleger selbst als Redakteur ein. Das
große, zuletzt neun Riesenbände starke Unter¬
nehmen führte ihn in fast alle deutschen Städte, wo
die Vorzeit künstlerische Spuren hinterlassen hat,
und so erwarb er sich jene umfassende und intime
Kenntnis der deutschen Städte und ihrer kunstgeschicht¬
lichen Vergangenheit, mit der er manches mal seine
erstaunten Autoren überraschte.
Die Seemannschen Bilderbogen haben den Namen
ihres Vaters populär gemacht und in alle Weltteile
getragen. Es war in jener reproduktionsarmen Zeit
ein glücklicher Griff, den Schatz von Holzschnitten,
der sich durch den systematisch gepflegten Verlag
kunsthistorischer Werke bei ihm anhäufte, in Form
loser Bilderbogen für wenige Pfennige zu vulgari¬
sieren. Aber eine seiner glücklichsten Ideen hatte er
doch erst, als er Anton Springer bat, ihm einen Leitfaden
zu dieser losen Bilderfolge zu schreiben. Daraus ist
nach und nach das Handbuch der Kunstgeschichte
erwachsen — heute und hoffentlich lange noch der
Stolz des Hauses.
Hier darf auch nicht der Seemannsche Literarische
Jahresbericht übergangen werden, der 1871 zura
erstenmal ausgegeben wurde und an dem sich der
Verleger daneben als Kritiker viele Jahre lang beteiligt
hat. Diese kritische Rundschau, die seitdem alljähr¬
lich zu Weihnachten erscheint, fand sogleich leb¬
haften Beifall, und wie natürlich wagten sich sehr
bald Nachahmungen hervor.
Immer blieb die Zeitschrift für bildende Kunst
und das später angegliederte Kunstgewerbeblatt das
belebende Element des Geschäftes. Die alte Wahrheit,
daß alles fließt, trat auch hier in Wirkung. Wo jedes
Ereignis der Kunstbewegung aufgefaßt und registriert
werden muß, kann es kein Stillstehen geben. Und
das ist der Schlüssel von Seemanns Erfolgen: er ver¬
kalkte nie.
Diese Fähigkeit umschloß noch eine andere: was
ihm nicht taugte, ließ er fahren. Er hatte von An¬
fang an zwei Eisen im Feuer, Kunst und Gewerbe.
Bald schürte er das eine oder ließ das andere er¬
kalten — je nachdem der Wind stand.
Die friesisch - westfälische Stammesart kam in
seinem Wesen deutlich zum Ausdrucke; er war kein
Schönredner, überhaupt gar kein Causeur, aber sein
Ja war Ja. Und wenn ich Ernst Seemanns Charakter
in eine Formel fassen sollte, so hieße sie: Er sprach
wenig und tat viel!
Er sprach wenig. — Diese Schweigsamkeit ver¬
blüffte zunächst. Jedes Gespräch mit ihm erlosch
bald, wenn es der Gegenpart nicht anfachte. Aber
seine Schweigsamkeit war durchaus nicht von jener
Art, die auf eine Gesellschaft langsam vereisend
wirkt. Im Gegenteil, man empfand sofort, daß es
ihm behaglich war, stiller Teilnehmer eines anregenden
Gespräches zu sein; er hatte da so eine undefinier¬
bare Art freundlichen Zuhörens, das sein interessiertes
Festhalten ausdrückte. Und dann, bei irgend einer
Wendung, umspielte seinen Mund jenes wundervoll
liebenswürdige Lächeln — das wir nun auf ewig
entbehren werden. Seine Art zu sprechen war klar
und einfach. Er operierte selten mit Stilblüten oder
Witzworten, ausgenommen bei Tischreden, und war
nur in feiner Nüance sarkastisch. Aber er hatte
kaum etwas zurückzunehmen; dazu war er zu be¬
sinnlich. Er hatte Freude an der Geselligkeit, be¬
sonders wenn sie durch gute Musik und ein gutes
Glas Wein veredelt war; im übrigen war er ein
äußerst mäßiger Mensch und haßte geradezu die
Schlemmerei.
Er tat viel. — Er war ein Frühaufsteher und
machte schon vor Geschäftsbeginn einen Spaziergang.
Notabene war er ein passionierter Fußgänger von
größter Ausdauer. Von morgens um 8 bis abends
um 7, mit kurzer Mittagspause, stand er, ohne sich
einen Augenblick zu setzen, an seinem hohen Schreib¬
tische und erledigte in völliger Ruhe, ohne Über¬
eilung, Stück vor Stück seines Tagewerkes. Ich
sagte eben: bis abends 7, und gedenke dabei des
letzten Dezenniums; früher freilich, als es noch galt,
den Berg hinaufzuklimmen, war das anders. Da hat
man in seinem Kontor, das damals neben den
Wohnräumen lag, noch oft um 2 Uhr nachts Licht
gesehen. Die ganze Korrespondenz besorgte er
selbst. Das war seine Stärke. So ungern nämlich
und zurückhaltend er redete, so leicht, fließend, klar
und ausführlich schrieb er. Diese Differenz ging so
weit, daß er alle Diskussionen schriftlich zu führen
pflegte und der mündlichen oft auswich. Er schrieb
ein ausgezeichnetes Deutsch und hielt so sehr darauf,
daß auch die Bücher seines Verlages keine Sprach-
dummheiten aufwiesen, indem er, besonders in früheren
Jahren, wie ein Gärtner im Blütengarten der Sprache
seiner Verlagsmanuskripte jätete.
Im Jahre 1898 legte er nach vierzigjähriger Tätig¬
keit die Leitung des Geschäftes ganz in die Hand
seines Sohnes Artur und setzte sich zur Ruhe. Eigent¬
lich möchte ich sagen: er setzte sich zur ruhigen
Arbeit. Denn nun begann er, frei von den Fesseln des
Geschäftes, sich ohne jedes pekuniäre Interesse, nur
aus reiner Lust an der Sache, mit der Durchsicht und
Illustrierung solcher kunsthistorischen Werke des Ver¬
lages zu befassen, die ihm besonders zusagten. Der
Fleiß, mit dem dies alles geschah, spottete geradezu
seines Alters. Für uns, die wir in seinen Fußtapfen
standen, blieb er immer der gütige, nie sich auf-
drängende Berater. Es ist mir immer erstaunlich
gewesen, wie er nach seinem Rücktritte sich so voll¬
ständig mit der Rolle eines heiter und gelassen Zu¬
schauenden beschied. Auch bei der ästhetischen
Wertung künstlerischer Dinge, wie sie täglich an uns
herantritt und oft anders gelöst werden muß, als es
zu seinen älteren Zeiten der Fall war, hielt er sich
zurück. Er konnte mit der Kunst nach 1890 nicht
mehr mitgehen, aber er schwieg, wo er nicht begreifen
konnte. Das waren Eigenschaften, die ihn hoch über
die alten Herren gängigen Kalibers erhoben. Wir
liebten ihn darum doppelt.
Bescheidenheit zierte auch durchaus sein ganzes
Wesen. Wenige nur werden wissen, daß hinter
Adolf Biebers Abriß der Geschichte der Baustile,
hinter Beckers Charakterbildern aus der Kunstgeschichte,
hinter dem E. S. der Fingerzeige zur Abschätzung
buchhändlerischer Geschäfte und hinter der Hälfte
manches seiner Verlagswerke kein anderer steckt als
Ernst Seemann. Ich will deshalb ihm keinen Weih¬
rauch streuen; er hätte im Leben abgewehrt. Soll
ich diesen Scheidegruß in die Ewigkeit in seinem
Sinne schließen, so wäre es wohl mit dem Worte:
Enkel mögen kraftvoll walten
Schwer Errungnes zu erhalten!
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• DAS • KAISER • FRI EDRiCH •
• MUSEUM • ZU • BERLIN •
ERLÄUTERT IN GEMEINSCHAFT MIT
ADOLPH GOLDSCHMIDT, LUDWIG JUSTI UND PAUL SCHUBRING
VON
PAUL CLEMEN
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I. DER BAU UND SEINE GESCHICHTE.
AUS dem Geburtsjahre des ig. Jahrhunderts, aus
dem Jahre 1800, stammt ein Entwurf Schinkels,
in dem zum erstenmal ein selbständiges
Museumsgebäude dargestellt ist. Der Neunzehn¬
jährige, der damals noch Schüler des alten Gilly
war, hat hier am Beginn seiner Laufbahn und am
Beginn des neuen Jahrhunderts einem bis dahin noch
ungekannten Baugedanken künstlerischen Ausdruck
geben wollen, der für dies Jahrhundert eine der
neuen Aufgaben bezeichnet, die neben der Errichtung
von Theatern und Bahnhöfen jetzt an die Architekten
herantreten sollten. Es gab vordem keinen Museums¬
bau — deren ganze Geschichte gehört dem ig. Jahr¬
hundert an. Als im vorigen Jahre zur Einleitung
des merkwürdigen Mannheimer Kongresses über die
Museen als Volksbildungsstätten Alfred Lichtwark
über die Museumsbauten sprach, nannte er den
ältesten Museumstypus den des Speichers, - und
kam zu dem Ergebnis, daß die Museen so weit ge¬
kommen wären, daß sie nicht einmal als Speicher
etwas taugten. Haben wir heute für die Geschichte
dieses neuen Bauorganismus, des Museums, so etwas
wie eine Entwickelung, gibt es da schon eine feste
Tradition, gibt es einen oder mehrere Normaltypen
— oder haben wir nur eine Reihe von Erfahrungen,
gute und schlechte?
Dreißig Jahre nach jenem ersten Entwurf konnte
Schinkel den stolzen Bau seines Museums am Lust¬
garten einweihen — noch heute und vielleicht gerade
heute das vornehmste unter den architektonischen
Denkmälern Berlins aus der ersten Hälfte des Jahr¬
hunderts. Der gesamte deutsche Klassizismus hat
keine Säulenhalle von solcher einfachen Größe ge¬
schaffen, wie diese 86 Meter lange Front mit ihren
achtzehn ionischen Säulen - und man hat mit Recht
von ihr gerühmt, daß nie wieder eine Säule mit so
sicherem künstlerischen Gefühl für alle Verhältnisse
erdacht worden sei. Auch der Grundriß von der
gleichen bewußten Einfachheit, ln der Mittelachse
hinter dem Treppenhaus die Rotunde, deren vier¬
eckiger Um- und Überbau auch nach außen sich
siegreich über der Fassade geltend machte — zwei
quadratische Höfe, an den Langseiten Säle, an den
Schmalseiten kleinere gestreckte Kabinette symmetrisch
einander gegenüber gestellt.
Schon bei seiner Eröffnung war dies Gebäude
für die gesamten Königlichen Kunst- und Altertums¬
sammlungen eigentlich zu klein. Wie rasch hatten
sich diese Sammlungen auch vermehrt in den ersten
drei Jahrzehnten des Jahrhunderts, seit zum ersten¬
mal der Gedanke ihrer Vereinigung in einem eigenen
Prachtbau ausgesprochen worden war. Und dabei
waren die Anfänge dieser Sammlungen doch so
bescheidene. Die Museen des Louvre gehen ja
eigentlich noch auf Franz 1. und Heinrich 11. zurück,
und im 17. Jahrhundert treten neben den königlichen
Mäcenen schon die privaten Sammler auf, Mazarin
und Crozat an der Spitze, deren Schätze allmählich
4*
2S
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
von zeniraien Samtnlung aufgesogen werden.
Der ■ itgenosse des französischen Königs Heinrich II.,
der brandenburgische Kurfürst Joachim II., begann
Seltenheiten und merkwürdige Dinge< in der Fremde
anzukanfen aber diese scheinen eben mehr für
eine Raritätenkammer als für eine Kunstkammer be-
stimmi gewesen zu sein, denn — wie noch 1727
C. F. Jenckel in seiner Anleitung zum rechten Begriff
und nützlichen Anlegung der Museorum oder Rari¬
tätenkammern schrieb: »In einer Kunstkammer wird
aufgehoben Alles, was die Kunst in allerlei Species
und Materien nur immer der curieusen Welt ver¬
fertigen mag: wobey auch dieses in Acht zu nehmen,
daß, je schwerer eine Materie an und für sich zu
bearbeiten, um desto mehr die Rarität und Kunst
dabei zu admiriren sey«. Aber es mag als eine
gute Vorbedeutung für den ganzen künftigen Charakter
der Berliner Sammlungen angesehen werden, daß
des Kurfürsten künstlerischer Berater, der Graf Rochus
Guerini von Lynar an den Höfen der Medici und
Este aufgewachsen war. Erst der Vater des neuen
brandenburgischen Staates, der große Kurfürst, ist
auch der eigentliche Begründer der Berliner Kunst¬
sammlungen, der Antikensammlung, des Antiquariums,
der Gemäldegalerie, ja man möchte selbst sagen: er
hat dem Museum für Völkerkunde schon vorgearbeitet.
König Friedrich 1. hatte dann vor allem die Alter¬
tumssammlungen erweitert, die Kollektion des be¬
rühmten Archäologen Bellori erworben, der vordem
die Sammlungen der Königin Christina geleitet hatte
- quantae tantillo tempore gazae durfte sein Lob¬
redner Beger im Thesaurus Brandenburgicus ausrufen.
Einen Zuwachs von ganz persönlichem Charakter
erhielten dann die Sammlungen unter dem großen
Friedrich, ln den kleinen Reliefs am Sockel seines
Denkmals hat Rauch auch eine der schönsten antiken
Bronzestatuen abgebildet, den betenden Knaben, den
der König von dem Fürsten von Liechtenstein er¬
stand als einen monumentalen Beweis seiner Kunst¬
liebe. Bei seiner Hochzeitsfeier im Schlosse zu
Salzdalum hatte der Kronprinz die schöne Gemälde¬
galerie bewundert, die jetzt das Braunschweiger
Museum ziert — die Bildergalerie in Sanssouci sollte
eine Nachahmung dieser Sammlung sein, und wo
der König eine starke persönliche Neigung hatte, wie
für Watteau und seine Schule, da scheute er auch vor
erheblichen Opfern nicht zurück.
»Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen,
was er an physischen verloren hat« — dies Wort
Friedrich Wilhelms IIL, das nach der tiefsten Er¬
niedrigung Preußens in Memel im Jahre 1807 aus¬
gesprochen ward, wurde auch bezeichnend für die
Anschauungen, aus denen der neue Museumsgedanke
des 19. Jahrhunderts herauswuchs. Man faßte das
Museum schon als eine moralische Bildungsstätte
auf. Als drittes Element und Ferment der höchsten
humanen Bildung tritt es jetzt neben die Universi¬
täten und Akademien, die schon den früheren Jahr¬
hunderten Gründung und Ausbildung verdanken.
Als die wiedereroberten aus Paris zurückgekehrten
Kunstwerke vorläufig im Gebäude der Akademie der
Künste ausgestellt waren, wuchs der Gedanke, alle
diese zerstreuten Werke in einem einzigen Gebäude
zu vereinigen, sich immer lebhafter aus: die beiden
Humboldts, Niebuhr und Bunsen, der Generalkonsul
Bartholdy und der Bildhauer Emil Wolff, die Grafen
Ingenheim und Sack, Rumohr und Rauch wirkten
dafür, der Minister von Altenstein trat für den Plan
ein — vor allem aber war es immer wieder Schinkel,
der die Idee nährte. Der Plan, einen Prachtbau im
Lustgarten, dem Schlosse gegenüber, aufzuführen, ge¬
hört ihm allein an — er war auch der einzige,
der es wagen konnte und wagen durfte, hier dem
Königlichen Schloß und Schlüter gegenüber und
an die Seite zu treten. Und mit welchem Eifer
ward in diesen Jahrzehnten gesammelt. Ganz neue
Abteilungen wurden begründet, so die ägyptische,
die heute eine der bedeutendsten in ganz Europa ist,
aber vor allem fand die Gemäldegalerie eine reich¬
haltige Vermehrung. Die Sammlung des Marchese
Vincenzo Giustiniani brachte die späten Italiener und
als glückliche Ergänzung dazu die Sammlung Solly
die Meister des Quattrocento und schon eine der
Hauptperlen der heutigen Galerie: den Genter Altar.
Als alle diese neu zusammengebrachten Schätze
in den neuen Schinkelschen Prachtbau einziehen
sollten, ergab es sich sehr bald, daß das Gebäude
längst nicht mehr ausreichend war: die heimischen
und die ägyptischen Altertümer, die sogenannten
Kunstkammern, konnten nicht Aufnahme finden, sie
verblieben im Königlichen Schloß und im benach¬
barten Schloß Monbijou. Schon in den nächsten
Jahren entstand der Plan, unmittelbar hinter dem
alten Museum eine Reihe von Neubauten zu errichten,
schon 1835 wurden die ersten Grundstücke ange¬
kauft, und in einer Kabinettsordre vom 8. März 1841
bezeichnet der König Friedrich Wilhelm IV. es als
seinen Plan, die ganze Spreeinsel hinter dem Museum
zu einer »Freistätte für Kunst und Wissenschaft«
umzuschaffen. In den Jahren 1841 — 1847 ward nun
zunächst unter Stüler das neue Museum errichtet.
Es war ein Annexbau und er konnte deshalb auf die
prunkende Fassade verzichten. Das große Treppenhaus
aber ließ sich der Architekt nicht nehmen. Es liegt
genau in der Querachse der ganzen Anlage und füllt
den mittleren Verbindungstrakt zwischen den beiden
rechtwinkligen Höfen vollkommen aus. Von Anfang an
war es bestimmt, zugleich der monumentalen Malerei
zu dienen, und von seinen Wänden grüßen jetzt die
großen historischen Visionen Wilhelm von Kaulbachs,
der die ganze Weltgeschichte hier nach dem gleich¬
mäßigen Kompositionsschema einer doppelten Bühne
abgehandelt hat. Eines der unglücklichsten Treppen¬
häuser, zu groß und doch noch zu kleinlich in den
Treppenläufen, die aus einem dunklen Souterrain
emporsteigen und gegen eine Wand laufen. Im
Grundriß in nichts eine Neuerung — parallele
Galerien von gleicher Breite ohne Teilung, recht¬
eckige Binnenhöfe, die nur die gute Eigenschaft
hatten, daß man sie überdecken konnte. Das Ge¬
bäude schien jetzt hinreichenden Raum für alle vor¬
handenen Sammlungen zu bieten: die prähistorische.
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
29
die ethnographische, die ägyptische Abteilung waren
im Erdgeschoß untergebracht, die Kunstkammer und
das Kupferstichkabinett im obersten Stockwerk, das
ganze mittlere Geschoß ward der neugebildeten
Oipssammlung eingeräumt. Es war, abgesehen von
dem Treppenhaus, ein bescheidener Nutzbau, ent¬
sprechend den geringen künstlerischen Ansprüchen
der Periode, und klug suchte die Architektur im
Inneren überall zu schweigen und den Kunst¬
werken allein das Wort zu lassen. Der Neubau
der Dresdener Galerie durch Gottfried Semper,
der beiden Wiener kunsthistorischen Hofmuseen
durch Hasenauer war dann eher ein Rückschritt —
denn wieder bestimmten hier die Rücksichten auf
die Fassade, auf das Treppenhaus, auf das Repräsen¬
tative, die Disposition und schädigten die Räume
durch diese Rücksichtnahme. Vielleicht stellt das
Wiener Museum, gerade weil es ein einheitliches
architektonisches Kunstwerk ist und sein will, nach
dieser Richtung hin überhaupt das äußerste Maß von
Rücksichtslosigkeit auf die Kunstwerke dar, denen es
doch nur ein Schutz und ein Rahmen sein sollte.
Unterdessen wuchsen die Sammlungen und
wuchsen. Zunächst tauchten ganz neue Bedürfnisse
auf. Ziemlich abweisend hatte Wilhelm von Hum¬
boldt in einer Denkschrift vom Jahre 1833 sich
ausgelassen: »Der Zweck des Museums ist offen¬
bar die Beförderung der Kunst, die Verbreitung
des Geschmackes derselben und die Gewährung
ihres Genusses. Wenn aber von Kunst die Rede
ist, so muß man zuerst und hauptsächlich an
die antike Skulptur und die Malerei in allen ihren
Schulen und Epochen denken. Die Antiken- und
Gemäldegalerie müssen daher den Kern der Anstalt,
ja eigentlich die ganze Anstalt selbst ausmachen, und
der Organismus derselben muß zunächst auf sie und
auf ihr Bedürfnis berechnet sein. Die anderen
Zweige sind nur als Nebenzweige zu betrachten,
doch versteht es sich von selbst, daß sie von sehr
verschiedener Wichtigkeit sind, die sich aber gerade
nach ihrem Verhältnis zu jenen Hauptzweigen richtet.«
Aber in dem nächsten halben Jahrhundert war man
vorsichtiger und zurückhaltender geworden in der
Abgrenzung der Aufgaben, man hatte gelernt, die
Zeit nach ihren Forderungen zu befragen und suchte
allen entgegenzukommen. Es ist jetzt ein Viertel¬
jahrhundert her, daß Richard Schoene über die ihm
untergeordneten Berliner Sammlungen schrieb: »Es
ist gewagt, die Aufgaben und die Ziele einer so
reichen und vielseitigen Anstalt in feste Grenzen
bannen zu wollen. Ein solches Institut hat die
Pflicht, jeden irgend möglichen Nutzen zu schaffen,
den es schaffen kann, und den Bedürfnissen der
Kunst, der Wissenschaft, unserer Bildung überhaupt
zu folgen. Es hat den lebendigen Mächten des
Geistes zu dienen; und eben dieser Dienst allein ist
es, der ihm selber Leben und Entwickelung geben
kann. «
Das Kupferstichkabinett, die Sammlung der ita¬
lienischen Skulpturen, die deutsche plastische, die alt¬
christliche Abteilung — alles das waren neue Gruppen,
die jetzt eine nach der anderen sich bildeten, nach
Ausdehnung und dabei nach Raum und Licht ver¬
langten. Im Jahre 1830 bestand die Sammlung der
plastischen Bildwerke außerhalb der Antike aus den
im Majolikenkabinett aufgestellten zehn Werken der
della Robbia und dazu aus acht nordischen Skulp¬
turen des 16. und 17. Jahrhunderts. Schon im Jahre
1841 hatte Waagen eine Anzahl von plastischen
Werken des italienischen Mittelalters erworben, er
hatte vor allem die ganze Sammlung Pajaro in
Venedig gekauft, darunter die herrlichen beiden
Schildhalter vom Grabmal Vendramin, und eine kleine
gewählte Kollektion in Florenz. Aber die Zeit der
Haupterwerbungen begann doch erst in den siebziger
Jahren. Der erste Triumph war hier die Erwerbung
der Büsten aus dem Palazzo Strozzi im Jahre 1877
— drei der ersten Marmorbildhauer des florentinischen
Quattrocento waren jetzt sofort glänzend vertreten.
Dazu begann die Sammlung der Stucchi, die sich
schnell vergrößerte und alles das forderte Raum.
Und ebenso rasch wuchs die Gemäldegalerie: die
Holländer und Vlamen, die im Anfang kaum ver¬
treten waren, fanden ihre Vertretung, die spanische
Gruppe mußte überhaupt erst geschaffen werden.
Unter den Italienern galt es vor allem die Venezianer
zu ergänzen. Dann brachte der Ankauf der Galerie
Suermondt im Jahre 1874 mit einem Schlage eine
Ergänzung, die für alle Abteilungen köstliche Be¬
reicherungen bot. Der Ankauf fiel bereits in die
Periode des jüngsten und kräftigsten Aufschwungs
der Museen. Im Juli des Jahres 1871 war der Kron¬
prinz zum Protektor der Königlichen Museen ernannt
worden, der fortan die Fürsorge für die Entwickelung
der Museen und für die Ausbildung des Museums¬
gedankens als eine seiner Hauptaufgaben erfaßte, die
er zu pflegen nicht müde ward. Das Hohenzollern-
museum war seine ganz persönliche Schöpfung, die
Gründung des Gewerbemuseums wuchs zum guten
Teil aus den Anregungen heraus, die die englische Be¬
wegung for practical art gegeben hatte — und der leb¬
hafteste Vermittler dieser Anregungen war der Kronprinz
selbst mit seiner hohen Gemahlin. Die Verstaatlichung
dieser Sammlung, ihr Neubau erfolgten unter seiner
ganz persönlichen Teilnahme -- und unvergessen
wird seine Unterstützung der großen Ausgrabungen
in Olympia und Pergamon, der Erwerbung der
Sammlungen Sabouroff, Posony, Hamilton und des
Ankaufs des Lüneburger Silberschatzes bleiben. Und
indem er immer wieder Wert legte auf die Qualität
der Erwerbungen, nur durch auserlesene Stücke eine
Bereicherung anstrebte, ward er der vornehmste
Förderer der Grundsätze, die gleichzeitig von den
verantwortlichen Redakteuren der Berliner Museen als
künftighin maßgebend aufgestellt wurden. Aus dem
Aufsatz von Hans Delbrück über die geschichts¬
schreibende Tätigkeit des Kaisers Friedrich wissen
wir, wie stark er auch schon Denkmäler der Dynastie
in allen diesen künstlerischen Schöpfungen sah und
gesehen haben wollte. Und in dem Kreise des Kron¬
prinzen und seiner Gemahlin ward vor allem der
Plan einer Vereinigung der Gemäldegalerie und der
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
pla^uschen Sammlungen in einem eigenen Renaissance-
riiuseum immer s^■ieder besprochen und durchberaten
— jener Fhm, ans dem jetzt das Kaiser- Friedrich¬
museum herausgewachsen ist. Noch in einer Nieder¬
schrift aus den letzten Schmerzenswochen in San
Remo hat der Kronprinz seinem warmen Interesse
an diesem Projekte Ausdruck gegeben.
In dieselbe Zeit fallen nun die Anhänge des
Mannes, als dessen persönliche Leistung, als dessen
Lebenswerk die Durchführung dieser Pläne, die
Schöpfung des neuen Museums erscheint: Wilhelm
Bodes. Im Jahr 1872 trat der damals Sechsund¬
zwanzigjährige zuerst als Direktorialassistent bei der
Gemäldegalerie ein und er hat dann in langsamer
Arbeit erst die plastische Abteilung, dann die Gemälde¬
galerie sich erobert, ja die erste überhaupt neu ge¬
schaffen. Es ist hier nicht der Ort, seine Tätigkeit
und seine Verdienste zu würdigen — und es hielte
Denkmäler nach Berlin tragen, das zu wiederholen,
was in diesen Tagen auf aller Lippen liegt: sein
Werk spricht gerade jetzt lauter als je und bedarf
nicht des Herolds.
Aus der berufenen Feder von Woldemar von
Seidlitz hat die Zeitschrift für bildende Kunst im
Jahre 1897, als Bode ein volles Vierteljahrhundert an
den Berliner Sammlungen tätig war, eine Charakteristik
des Feuergeistes gebracht, der ein leidenschaftlicher
Sammler und ein genialer Feldherr, der Gelehrter und
Kritiker zugleich ist und der den Typus des modernen
Sammlungsbeamten überhaupt erst geschaffen hat.
Was Preußen versäumt hat, versäumen mußte im
17. und 18. Jahrhundert, als die anderen europäischen
Hauptstädte den Grundstock zu ihren Sammlungen
legten, das hat er, soweit es noch möglich war, in
zielbewußter dreißigjähriger Arbeit wieder eingebracht.
Was Madrid und Petersburg, was Florenz und
Paris an altem Kunstbesitz aufweisen, das läßt sich
nie ersetzen — aber wenn trotzdem heute das Berliner
Museum mit Ehren unter den ersten europäischen
Sammlungen genannt werden darf, wenn es, was
Vollständigkeit aller Richtungen betrifft, die erste
kunsthistorische Sammlung Europas genannt werden
darf, so ist das sein Werk. Wenn man übersieht,
was in allen Abteilungen durch ihn zu dem alten
Bestände Neues und Kostbares hinzugekommen ist,
wenn man erwägt, wie viele Gruppen unter ihm
überhaupt neu geschaffen sind, möchte man jedes
Wort aus dem Thesaurus Brandenburgicus für die
Ara Bode wiederholen: Quantae tantillo tempore
gazae! ln ihm lebt im höchsten Sinne das, was
Wilhelm von Humboldt die einzige Tugend genannt
hat: Energie. Was er erreicht hat, wäre freilich nicht
möglich gewesen ohne die ständige Unterstützung und
ohne die weitgehende weise und verständnisvolle
Förderung des Mannes, der der Organisator der
Berliner Museen seit einem Vierteljalirhundert schon
;st: Richard Schoenes. Von ihm selbst darf man
sagen, was er vor zwei Jahren bei der Gedächtnis¬
feier für den Kaiser Friedrich im Kunstgewerbe¬
museum von dem verewigten Protektor äußerte: weit
schwerer als alles, was in die Öffentlichkeit heraus¬
trat, fällt die unablässig anregende und ermutigende
Fürsorge, die bei keiner Schwierigkeit versagende
Hülfe und Förderung ins Gewicht, die aller Öffent¬
lichkeit sich entzog. Wenn jetzt bei der Einweihung
des Kaiser Friedrich -Museums die kunsthistorische
Welt, Deutschlands vor allem, voll aufrichtigen Dankes
vor dem neugeschaffenen Werke steht, so gelten ihre
aufrichtigen Glückwünsche der gesamten Verwaltung
der Museen, nicht zum wenigsten auch dem Stab,
den der Feldherr sich geschaffen, seinen längst er¬
probten Helfern , die ihm Schüler nnd Freunde zu¬
gleich geworden sind.
Auch des Kaiser Friedrich-Museums-Vereins muß
bei dieser Gelegenheit dankbar gedacht werden, der
im Jahre i8g6 begründet ward, um gefährdete Kunst¬
werke zu erwerben und dem Museum dauernd zur
Aufstellung zu überlassen und um bei größeren
Käufen selbst einzuspringen, die umworbenen Objekte
für das Museum festzuhalten. Der Kreis der Berliner
Sammler, für die Bode unermüdlich tätig war, war
es, der hier die meisten Mitglieder stellte, die so
gewissermaßen ihren Dank für diese Hilfe abstatteten.
Denn Mittel waren jetzt in ganz anderem Maße er¬
forderlich als wenige Jahrzehnte vorher. Wenn man
in Proksch hübschem Buche über den Freiherrn
August Bernhard von Lindenau liest, mit wie geringen
Summen in den dreißiger und vierziger Jahren eine
ganze Galerie gegründet werden konnte, oder wenn
man nur die Taxen für die Sammlung Solly oder
Waagens italienische Rechnungen vergleicht —
eine grimmige Wehmut ergreift dann einen jeden
Museumsbeamten über jede einzelne versäumte Ge¬
legenheit. Kunstwerke, die vor vier Jahrzehnten ab¬
gelehnt wurden, müssen jetzt für den fünf- und zehn¬
fachen, gelegentlich für den fünfzigfachen Preis er¬
worben werden. Und seit Amerika auf dem euro¬
päischen Kunstmarkt als gefährlichster Konkurrent
erschienen ist, haben wir eine Hausse vor allem der
Bilderpreise zu verzeichnen, die noch ihren Gipfel
nicht erreicht zu haben scheint. Mit Mrs. Gardner,
mit M. Pierpont Morgan können freilich auch die
größten europäischen Sammlungen nicht wetteifern.
Aber trotzdem sind für einzelne der letzten Berliner
Ankäufe Vermögen ausgegeben worden: das war
freilich auch der einzige Weg, um die Sammlung,
auf ihre Höhe zu bringen. Große Legate, wie sie
in Amerika an der Tagesordnung, gehören in Deutsch¬
land noch zu den größten Seltenheiten, und auch
ganze Sammlungen, wie das in Frankreich und
England üblich, sind — denn die jetzt nach Posen
gewanderte Raczynskische Fideikommißgalerie war
nur leihweise ausgestellt — den Berliner Museen
bisher noch nie als Erbschaften zugefallen; erst
in den beiden letzten Jahren sind vier feine und
bedeutende Privatsammlungen dem Kaiser Friedrich-
Museum überwiesen worden, um jetzt zum ersten¬
mal öffentlich ausgestellt zu werden, die Sammlungen
von Carstanjen, Wesendonk, Simon und Thiem. Die
mageren Jahre sind für Preußen vorüber, in denen
der Staat sich den Luxus solcher großen Kunstankäufe
versagen mußte. Im Jahr 1754 schrieb der große
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
31
Friedrich, als ihm ein sehr teurer Raphael angeboten
war: »Dem König in Pohlen stehet frey, vor ein
Tableau 30 mille Dukaten zu bezahlen, und in Sachsen
vor 100 mille Reichsthaler Kopfsteuer auszuschreiben,
aber das ist meine Methode nicht. Was ich bezahlen
kann, nach einem resonablen Preis, das kaufe ich,
aber was zu theuer ist, laB ich dem König in Pohlen
über, denn Geld kann ich nicht machen und Imposten
aufzulegen ist meine Sache nicht.« Wir freuen uns
dafür heute jenes kaiserlichen Wortes, das vor zwei
Jahren bei der Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich
im Kunstgewerbemuseum gesprochen ward - jenes
Wortes, das von den Zeiten sprach, da wir wieder
so weit gelangt sind, daß unser Volk mehr für die
Kunst zu tun vermag als in früheren trüberen Zeiten
geschehen konnte.
Im Staatshaushaltsetat für das Jahr 1897/98 waren
gleichzeitig die ersten Raten für zwei neue Museums¬
gebäude eingestellt, für das Pergamenische Museum
und das Museum, das die Gemäldegalerie, die Samm¬
lung der Skulpturen der christlichen Epoche und ur¬
sprünglich das Kupferstichkabinett aufnehmen sollte.
Auf den Befehl des Kaisers sollte es den Namen
Kaiser Friedrich-Museum tragen; seinem Eingang gegen¬
über sollte das Reiterdenkmal des verewigten Monarchen
auf der äußersten Spitze der Museumsinsel Platz
finden. Ein längst gehegter Wunsch ging damit in
Erfüllung. Längst auch waren die Pläne in allen Einzel¬
heiten durchberaten, der Grundriß ausstudiert, die
Erfahrungen aller anderen großen Museen zu Rate
gezogen worden. Auch der Architekt war schon
längst gewählt, der Geheime Oberhofbaurat Ihne, der
eben den Umbau des Berliner Schlosses im wesent¬
lichen durchgeführt hatte. Das Projekt hatte alle
Instanzen durchlaufen, war revidiert und superrevidiert
- im Jahr 1898 konnte endlich der Bau beginnen.
Das Museum ist, wie die Inschrift auf der Rück¬
seite nach der Stadtbahn zu meldet, im Jahre 1898
begonnen und nach sechsjähriger Bauzeit im Jahre 1904
zu Ende geführt. Die künstlerische Leitung lag dauernd
in den Händen des Schöpfers, des Geheimen Oberhof¬
baurates Ihne, die Detaillierung erfolgte zum großen
Teil unter seiner Leitung durch den Architekten Lodder.
Die Bauausführung war dem Regierungs- und Baurat
Hasak übertragen, der, Künstler und Schriftsteller zu¬
gleich in vielen Sätteln gerecht ist, in einigen sich als
wagehalsiger Reiter erwiesen hat, und dem hier eine, vor
allem nach der technischen Seite hin, ganz besonders
schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe zufiel.
Der dreieckige Zipfel der Museumsinsel, der durch
die Stadtbahn abgeschnitten war, erzeigte sich von
vornherein als eine Grundfläche, die an und für
sich als die denkbar ungünstigste für einen großen
Monumentalbau erschien. Bode hat einmal geäußert,
einen Monumentalbau an solcher Stelle könne man
sich eigentlich nur als Preisaufgabe für Bauschüler
denken. Nicht einmal die beiden Schenkelseiten des
spitzen Winkels waren gleich lang. Dazu kam die
vollständige Unmöglichkeit, für die Rückfront eine
Ansicht zu schaffen, da diese von der Stadtbahn In
der Höhe des ersten Stockwerkes mitten durch¬
geschnitten wird. Für die Seitenansichten gab es
keine hinreichende Distanz, überhaupt kaum einen
Aufstellungspunkt, von dem aus man die ganze Fassade
zu übersehen imstande war. Die Hauptansicht mußte
an dem Scheitel des Winkels angelegt werden, wo
naturgemäß für eine Fassade gar kein Platz war.
Dazu kamen die Schwierigkeiten in der Grundri߬
disposition. Die Museumsverwaltung forderte Räume
mit Oberlicht und mit Seitenlicht; sie verlangte große
Säle von verschiedener Höhe und eine lange Reihe
kleinerer Kabinette und diese alle galt es in dem
Grundriß unterzubringen und sie einer Generalidee
unterzuordnen. Die Grundfläche war auf der anderen
Seite wieder so groß, daß eine vollständige Bebauung
ausgeschlossen war. Man mußte also zu dem System
der Hofanlagen greifen, die der gesamten Disposition
entsprechend natürlich auch eine unregelmäßige Grund-
rißform erhalten mußten.
Alles dieses muß man sich bei der Betrachtung
des Gebäudes, bei der Würdigung der Fassadenlösung
und bei der Beurteilung der Grundrißdisposition vor
Augen halten und zwar auf Schritt und Tritt vor
Augen halten. Was an Mängeln und Unzuträglich¬
keiten, zumal in der Grundrißlösung, dem Besucher
auf den ersten Blick entgegenzutreten scheint, das
ergibt sich fast alles aus der Unmöglichkeit, der hier
vorhandenen Schwierigkeiten vollständig Herr zu
werden. Man hatte oft nur die Wahl zwischen zwei
Möglichkeiten, die beide nicht vollständig befriedigten;
und man hat sich damit begnügen müssen, wenn
man keine ideale Lösung finden konnte, dann wenig¬
stens das kleinere Übel zu wählen. Gerade in der
Überwindung vieler, im Anfang wohl unbesiegbar
erscheinender Schwierigkeiten, bei der Gestaltung des
Grundrisses dürfte das Hauptverdienst des Architekten
liegen. Einiges würde vielleicht schon heute gegen¬
über der veränderten Bestimmung ganzer Trakte anders
geplant worden sein. Man darf eben auch nicht über¬
sehen, daß das Programm während dieser sechs Bau¬
jahre wiederholt verändert ward. Für das Münz¬
kabinett, das jetzt im Erdgeschoß Aufnahme gefunden
hat, war im Anfang gar kein Platz vorgesehen. Eine
Reihe von Räumen war dem Kupferstichkabinett zu¬
gedacht, wurde aber dann für die Sammlung der
Abgüsse des Mittelalters und der Renaissance be¬
stimmt; zuletzt brachte die riesige Fassade von
M’schetta die Notwendigkeit, für dieses Wunderwerk
ein Unterkommen zu schaffen, und man wird es dem
Raum, in dem sie jetzt aufgestellt ist, immer ansehen,
daß er eben nicht für sie erdacht und geschaffen war.
Die Architektur Ihnes schöpft aus zwei Quellen,
der Renaissance Italiens und der Schlüterschen und
friedericianischen Architektur Preußens — und es ist
für den Kenner der Schöpfungen dieses fruchtbaren
Künstlers nicht ohne Reiz, die einzelnen Vorbilder,
das Maß ihrer Benutzung und auch die Art ihrer
Verwendung und Vermählung bei seinen Werken
zu verfolgen. Für den Außenbau des Museums hat
Ihne die Formensprache des frühen italienischen
32
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
Bivrock gewählt. Mit großem Geschick ist der aus¬
gedehnten Anlage ein monumentaler Zug gegeben
worden, indem ein einziges Motiv mit eiserner, manch¬
mal vielleicht etwas starrer Konsequenz um den ganzen
Bau herumgeführt ist. Über dem in Rustika ausgeführten
Untergeschoß, das auf den Wasserseiten direkt aus der
Spree aufsteigt und nur von einfachen, rechteckigen
Fenstern durchbrochen ist, erhebt sich der Aufbau der
beiden oberen Geschosse, die durch durchgezogene
Säulen und Pilasterstellungen zusammengefaßt sind.
Ein einziges Hauptgesims mit der überall gleichen
Profilierung zieht sich in der gleichen Höhe um den
ganzen Bau herum. Das muß eine gewisse Eintönig¬
keit geben, zugleich liegt aber in dieser Eintönigkeit
auch die ernste Ruhe und Geschlossenheit des Ein¬
druckes der Fassaden. Das System macht man sich
zu stören, Schlüter am Zeughaus an der gleichen
Stelle hier jene prachtvollen individuell belebten
Masken seiner sterbenden Krieger geschaffen hat.
Die oberen Fenster sind quadratisch und zeigen ganz
schlichte Gewände mit nur mäßig betontem oberen
Schlußstein. In den Risaliten liegen die unteren
Fenster im Gegensatz hierzu in rechteckigen Um¬
rahmungen, über ihnen schlichte viereckige Kartuschen,
die von Adlerflügeln gehalten werden. Gegen den
Himmel hebt sich klar und ohne Unterbrechung auf
der ganzen Linie der Fassade die einfache kräftige
Balustrade, die das Gesims krönt, ab.
Die Nordseite war wesentlich länger als die Süd¬
seite. Hätte hier der Risalit, was am nächsten lag,
die Ecke markiert, so wäre die Fassade, die auf der
Südseite so klug und sorgfältig abgewogen erschien.
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM VON DER NORDWESTSEITE
am besten klar an der Fassade der Südseite, die dem
Kupfergraben zugekehrt ist. Zwei kräftig vortretende
Risalite fassen hier die Wand zusammen, sie sind
flankiert von zwei Paaren von Halbsäulen mit
korinthischen Kapitälen, während an der langen Wand
selbst zwischen den zehn Fensterachsen Pilaster die
Gliederung bilden. Über den beiden Risaliten flache
Giebel, aber ohne irgend welchen Schmuck im Giebel¬
felde, auf den Ecken an Stelle der Akroterien Gruppen
von allegorischen weiblichen Figuren mit jugend¬
lichen Genien und etwas reichlicher Zutat von
Trophäen, die Wappen der Großstädte der Künste
haltend. Die Fenster des unteren Erdgeschosses sind
rundbogig und zeigen nur in den Schlußsteinen
mächtige Köpfe des bärtigen Dionysos und Medusen¬
häupter. Die Abwechselung erscheint hier etwas all¬
zu gering. Man erinnert sich, wie, ohne den Rhythmus
wohl überlang geworden, die Risalite hätten dabei zu
schmal ausgesehen. Außerdem aber bildet die Nordost¬
ecke keinen rechten, sondern einen spitzen Winkel,
und es hätte dann eine sofortige Brechung des
Risalits eintreten müssen. Alle diese Schwierigkeiten
hat der Künstler einfach dadurch umgangen, daß er
die beiden Risalite an der Nordseite in der gleichen
Entfernung voneinander angeordnet hat wie an der
Südseite. So springt gewissermaßen an der Nordost¬
ecke über den geschlossenen Hauptbau nur noch
ein dreieckiger Anbau vor, und dieser konnte an der
gefährlichen Nordostecke selbst nun auch in einem
polygonalen Abschluß enden. Am schlichtesten ist
naturgemäß die Rückfassade nach der Stadtbahn zu
gegliedert. Hier sind die Pilaster glatt durchgezogen;
an Stelle der Fenster im Obergeschoß gibt es hier,
wie auf der Nordseite, nur viereckige Felder. Ein
a/i'iip/ergrn.beri -i2/'roi: f.
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
3 ;
MiUclri-salit erscheint der Fassade vorgeklebl; vier
Halbsäiilcn tragen einen leeren Giebel, in dem Mittel¬
felde das Bronzemedaillon des Kaiser Friedrichs
zwischen zwei ornamentalen steinernen Adlern und
darunter die Tafel mit der Inschrift: »Kaiser Wil¬
helm II. dem Andenken Kaiser Friedrichs III.«
Den Hauptnachdruck hat der Architekt natur¬
gemäß auf die Ausbildung der Westspitze seiner
Halbinsel legen müssen. An einer Stelle, die die
denkbar ungünstigste für eine Fassade war, mußte
er eine solche errichten, und er hat auch erst die
Vorbedingungen zu einer solchen schaffen müssen:
den Vorplatz, die gleichmäßigen Zugänge und den
Standpunkt für die Betrachtung der Fassade. Es ist
an diesem Punkte eine Unsumme von Nachdenken,
künstlerischer Überlegung und technischer Berechnung
verschwendet, um zuletzt doch nur eine halbe Wir¬
kung zu erzielen.
Man erhält die volle Wirkung erst, wenn man
sich die gesamten Fassaden — die der Spitze und
die der Seiten — gewissermaßen aufgerollt vorstellt.
Diese Hauptfassade wendet sich im Grunde einer
sehr unerfreulichen Gegend zu. Die Kasernen links,
die Kliniken rechts der Zugang erfolgt durch
ziemlich gleichgültige Straßen. Man kommt an dieser
Fassade und damit auch an diesem Museum nicht
vorbei, muß nicht vorbei man muß erst den Weg
zu ihm sich suchen; die Fassade hat nicht einmal
einen Augenpunkt, von dem sie gesehen werden
will, gesehen werden soll, — und der Umstand, daß
das Leibpferd des Kaisers Friedrich dem, der die
Fassade aus angemessener Entfernung betrachten will,
seine breite Kehrseite zudreht, scheint von solcher
Würdigung des Ganzen eher abzuraten. Das sind
Schwierigkeiten, mit denen die große Künstlerkraft
des Architekten ganz vergeblich kämpfte. Die ein¬
fache Klarheit seiner Marstallfassaden konnte er hier
an dieser verlorenen Ecke nicht erreichen.
Das den ganzen Bau krönende Gesims zieht sich
auch im Halbrund um diese abgerundete Westecke.
Sechs Dreiviertelsäulen treten den Mauerflächen vor,
zwischen ihnen öffnen sich sieben Bogen, von denen
die mittelsten drei als mächtige Portale ausgebildet
sind, zu denen sechs Stufen emporführen. Die Fen¬
ster des Obergeschosses liegen in einer reicheren
barocken Umrahmung, darüber eine Kartusche, von
der stilisierte Lorbeerkränze herunterhängen, vor jedem
der oberen Fenster ein Balkon mit einer steinernen
Balustrade auf einer weitausladenden Platte, die nicht
auf Konsolen, sondern auf einer Art von Triglyphen-
glied sitzt. Jeder der Zwickel wird durch ein Löwen¬
fell gefüllt, während der mächtige Löwenkopf sich
gerade über dem Scheitel der Bögen im Schlußstein
erhebt. Alles ist an dieser Fassade kräftig, einfach
und groß gehalten. Das Hauptgesims wirkt, da die
Mauerflächen darunter weiter zurücktreten als auf den
Langseiten, viel saftiger und wuchtiger. Die glatten
Abschlußgeländer auf der Seite bereiten geschickt auf
die drei Eingänge vor. Die Bekrönung der Balustrade
bilden hier auf den einzelnen Pfeilerchen große alle¬
gorische Gestalten, die die einzelnen Künste vergegen¬
wärtigen. Über dem Haupteingang begrüßen natur¬
gemäß Malerei und Plastik den Besucher. Es sind
Gestalten von klaren und sicheren Umrissen, geschickt
auf das Fernbild berechnet, barock und doch modern,
ohne Koketterie und ohne aufdringliches Pathos.
Die Schöpfer des gesamten plastischen Schmuckes
sind die Bildhauer Vogel und Wiedemann, die schon
an Wallots Reichstagshause mitgearbeitet hatten. Hinter
dieser Balustrade steigt dann, unmittelbar über der
Vierung des großen Treppenhauses errichtet, die
Hauptkuppel auf. Der Tambour ist durch Doppel¬
paare von Pilastern gegliedert, die in leicht ge¬
schwungenen Voluten auslaufen, wie sie seit der
Schule Vignolas in der italienischen Hochrenaissance
üblich sind, zwischen ihnen große ovale Fenster. Das
obere Gesims ist um diese Pilasterpaare herum ver-
kröpft. Auf der kupfernen Kuppel erscheint diese
Gliederung fortgesetzt; die Zwischenfelder sind nur
nach innen abgesetzt und unten mit Tropfen ab¬
geschlossen , sehr kleine Fenster in barocker Um¬
rahmung mit Königskronen, auf dem glatten Ab-
schlußgeländer etwas kleinlich wirkende dekorative
Vasen. Dieser Hauptkuppel entsprechend erhebt sich
auf der Rückseite über dem kleineren Treppenhaus
eine kleine Nebenkuppel, die aber auf der Ansicht
von der Museumsinsel her die ganze Fassade be¬
herrschen muß.
In einem stumpfen Winkel führen von der neben
dem Schloß Monbijou neu durchgebrochenen Straße
und vom Kupfergraben zwei neue Brücken auf die
Spitze der Museumsinsel zu, die eine auf einem,
die andere auf zwei Bogen ruhend. Die Bogen
sind leicht gedrückt, die Fahrbahn mäßig gehoben.
Schlichte, durchbrochene Balustraden mit Pfeilern
dazwischen geben die Umrahmung. Im Scheitel
des Bogens eine Kartusche mit einem weiblichen
Haupt. Mil einem reichen Grundriß springt in dem
stumpfen Winkel der Sockel des Kaiser-Friedrich-
Denkmals weit in das Wasser vor. Alle Formen
sind hier als Vorbereitung auf das plastische Werk
gedrungen und massiv gehalten, keinerlei reicher
Schmuck an dem Unterbau, nur an der Spitze eine
große Kartusche mit einem Adler, der Königskrone,
zur Seite je ein männliches bärtiges Haupt. Von
dem mächtigen hochgezogenen Sockel , der in ein¬
fachen und klaren Linien nur mäßig gegliedert auf¬
steigt, grüßt dann nach dem Museum herüber die
schlichte Heldengestalt des Kaisers Friedrich, die letzte
große Schöpfung des Müncheners Rudolf Maison.
Schon gegenüber den Skizzen und dem Hilfsmodell
im Atelier ward den Besuchern seltsam klar, wie dieser
Künstler, den es in seinem schrankenlosen Naturalis¬
mus zu so unruhig bewegten Vorwürfen und fast
unplastischen Motiven trieb, dort, wo er monumentale
Wirkung anstrebte, solch große Ruhe und Einfachheit
bewahren konnte. Noch klarer und imposanter er¬
scheint jetzt der eherne Reiter auf dem mächtigen
geradlinigen Sockel in seiner monumentalen Größe.
Nur die Beziehung zu dem Museum selbst vermißt
man schmerzlich. Wenn der Reiter nicht, was man
ja zunächst im Zusammenhang der ganzen Gruppe
DAS GROSSE TREPPENHAUS
5*
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
3Ö
vielleicht erwarfpt, "’as aber bei dem Mangel eines
Aufstellungspunktes frr den Beschauer eine Unmög¬
lichkeit war, vor dem Bau stand, so hätte irgend
eine innere Verbindung zwischen dem Kaiser und
der idealen Stätte, die seinen Namen für alle Zeiten
tragen soll, gegeben werden müssen. Aber es ist
nur das Bildnis des siegreichen Oeneralfeldmarschalls:
nichts mahnt hier an den hochgemuten und be¬
geisterten Schutzherrn dieses Hauses der Schönheit.
Bei der schwierigen Form des Grundrisses, der
in etwa ja dem des Museums für Völkerkunde
gleicht, galt es nun zunächst eine Orientierung zu
schaffen durch eine Hauptachse, auf die die ein¬
zelnen Trakte mündeten, die die Verbindung zwischen
ihnen darstellte, die zugleich auch gewissermaßen die
Repräsentationsräume des Baues enthielt. Diese Haupt¬
orientierung wird durch die goldene Achse dargestellt,
die durch das ganze Dreieck hindurch gelegt ist, von
dem großen Treppenhause zu dem kleinen führt und
in der Mitte die sogenannte Basilika aufnimmt. Es
gehört zu den charakteristischen Eigenschaften dieser
Gruppe von Museumsbauten, zu denen auch das Kaiser-
Frieclrich-Museum gehört, und als dessen letzter, viel¬
leicht höchster Typus es erscheint, daß die Repräsen¬
tationsräume, vor allem die Treppenhäuser, einen so
außerordentlich breiten Raum einnehmen. Bei dem
Ihneschen Bau darf man von den beiden Treppen¬
häusern wenigstens sagen, daß sie, jedes für sich,
bedeutende und klar durchdachte künstlerische Lei¬
stungen sind.
ln dem großen Treppenhaus, zu dem man aus
dem gewölbten Umgang durch eine schmale Vor¬
halle von der Hauptfassade tritt, öffnet sich der Blick
sofort auf den aus dem Viereck durch Pendentifs in
das Rund übergeführten Kuppelraum selbst. Halb¬
kuppeln lehnen sich auf beiden Seiten an, in der
Hauptachse rechtwinkelige Räume mitTonnengewölben.
Der ganze Raum ist in Weiß und Hell gehalten, nur
die Gewände in dem Erdgeschoß neben den Treppen¬
läufen, die Säulen, die die Treppen und die ein¬
gebauten Galerien tragen und die Pilasterpaare, die
die Wandflächen in den Seitenapsiden gliedern, sind
in rötlichem Stuckmarmor ausgeführt und tragen ver¬
goldete Kupferkapitäle. Die Kuppel selbst, die durch
ein feingegliedertes Oberlicht ihre Hauptbeleuchtung
erhält, ist ganz schlicht in acht glatte Felder zerlegt,
die Rahmen nur mit Rosetten besetzt, ln den vier
Pendentifs viermal der brandenburgische Adler auf¬
fahrend und Spruchbänder tragend mit den Wahl¬
sprüchen der Hohenzollern; von jedem hängt die
Kette des Schwarzen Adlerordens hernieder, die den
Zwickel füllt, ln der inneren abgeschrägten Seite
der Eckpfeiler unter diesen dann vergoldete Bronze¬
medaillons mit den Bildnissen der vier Hauptförderer
der Sammlungen, des großen Kurfürsten, Friedrichs
des Großen, Friedrich Wilhelms IV., Friedrichs 111.
Ein kräftiges Hauptgesims, scharf profiliert, aber nur
mäßig um die Wandgliederung verkröpft, zieht sich
durch den ganzen Raum. Man erwartet zunächst
wohl beim Betreten des Raumes den Zugang zur
Freitreppe gerade vor sich zu haben. In zwei ge¬
schwungenen Bogen hätte man dann die Höhe des
ersten Stockwerkes erklommen und hätte hier durch eine
monumentale Tür in der Mittelachse den hinter dem
Treppenhaus gelegenen, mit den Raphaelschen Tapeten
jetzt gefüllten langgestreckten Saal betreten, aus dem
wieder der Zugang in die verbindenden Seitentrakte
möglich gewesen wäre. Dieser Gedanke ist aber auf¬
gegeben worden, bewußt aufgegeben, aber man möchte
sagen: leider aufgegeben. Die Treppe führt auf beiden
Seiten wieder nach der Front zu. Man tritt von der
mittleren Galerie auf den oberen Umgang heraus und
betritt von dieser aus die lange Reihe der schmalen und
gleichmäßigen Kabinette, die sich auf beiden Seiten
unmittelbar am Wasser hinziehen. Es ist ein etwas
seltsamer Eindruck, wenn man in diesem prunkhaften
Treppenhause aufgestiegen ist, dann in die vornehme
weiße obere Vorhalle tritt und sich zuletzt plötzlich am
Ende dieses Korridors vor zwei sehr schlichten, nur
1,40 m im Lichten messenden Türen sieht, die in ziem¬
lich dunkle Räume führen, — den alleinigen Zugängen
zu der Reihe der Gemäldesäle. Maßgebend bei dieser
Umgestaltung des Grundrisses war der Wunsch, die
Besucher zu zwingen, die Kabinette in historischer
Folge zu besuchen, bei den frühesten Werken, die in
jedem der Flügel dem Treppenhause zunächst auf¬
gestellt sind, zu beginnen und von dort aus weiter
zu schreiten, während man sonst das Publikum in
der Mitte der langen Galerie entladen hätte. Aber
es will vielen scheinen, daß man hier um dieses
pädagogischen und polizeilichen Zweckes willen doch
allzuviel von dem Künstlerischen und dem Prak¬
tischen aufgegeben hätte.
Wenn man das Treppenhaus als eine Schöpfung
für sich betrachtet, fällt dieser Gesichtspunkt natürlich
weg. Die beiden Treppenläufe münden auf eine von
drei Bogen getragene Galerie. Ihr gegenüber ist auf
Säulen toskanischer Ordnung eine geradlinige Empore
angeordnet. Über der Empore, wie über dem mitt¬
leren Treppenlauf, flankiert von gekuppelten Halb¬
säulen große Portale, überdeckt von gebrochenen
und geschwungenen Giebeln, auf denen die allego¬
rischen Figuren der einzelnen Künste gelagert er¬
scheinen, in der Mitte jedesmal eine große vergoldete
Kartusche. Unter diesem Prachtportal öffnet sich
nach Osten hin über der Galerie eine ganz kleine,
fast verkümmerte Tür, die den Zugang zu dem
Tapetenraum vermittelt. In der Mitte des Raumes
erhebt sich auf dem alten Sockel (der bei der Um¬
gestaltung der Schloßbrücke erneuert ward) eine
galvanoplastische Nachbildung von Schlüters Großem
Kurfürsten, trotz der fremdartigen Umgebung und
des zur Zeit noch unerfreulichen kupferfarbenen Metalls
immer von der gleichen monumentalen Wirkung.
Freilich frägt man sich, wozu eigentlich der Große
Kurfürst hier steht, da man doch in zehn Minuten
die lange Brücke erreichen kann, auf der das Schlütersche
Original mit seinen doch unlöslich damit verbundenen
gefesselten Trabanten steht.
Durch einen schmalen fünfteiligen Raum, der im
Erdgeschoß mit einem fast flachen gedrückten Tonnen¬
gewölbe überspannt ist, betritt man dann die so-
DAS KLEINE TREPPENHAUS
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
3S
genannte Basilika, einen 30 Meter langen, 17 Meter
breiten und 16 Meter hohen Raum, der zugleich eine
Art Lunge des ganzen Gebäudes darstellt und daher
auch de^ Festsaal des Museums ist. Man muß frei¬
lich alle Erinnerungen an basilikaähnliche Gebäude
hier hinter sich lassen. Die einfachen toskanischen
Hallenkirchen mit flachen Nischen an den Seiten, die
gewissermaßen verkümmerte Kapellen darstellen, wie
sie sich seit dem Ende des 1 5. Jahrhunderts finden,
haben hier das Muster abgegeben und Pate gestanden,
etwa San Francesco unterhalb San Miniato zu Florenz;
im Außenbau haben für die gestreckten Voluten wohl
wieder die Bauten Vignolas und Scamozzis als Vor¬
bilder gedient. Man betritt den Bau von der Apsis
aus durch ein rundbogiges Tor, das von aulten in
rotem Marmor eingefaßt, innen von zwei schwarzen
Säulen mit korintischen Kapitälen flankiert ist. Die
Empore, die die ganze Apsis füllt, hat eine flache
Decke und ruht mit drei Bögen auf zwei alten Säulen
von grauem Marmor. Eine Balustrade mit sehr dünnen
und schlanken Balustern schließt die Empore ab;
darüber öffnet sich der Blick in die Halbkuppel, die
mit vertieften Kassetten verziert ist, in der seltsamer¬
weise auf stumpfem blauen Ton aufgemalt sich große
Rosetten befinden, in der Mitte ein Muschelornament
mit einem Lorbeerkranz. Das Tonnengewölbe ist
ganz ungegliedert, nur durch vier Gurte zerschnitten,
auf jeder Seite unter dem sehr reichen Gebälk fünf
Nischen unter fein profilierten Bögen. Vor die vor¬
deren Stirnseiten der Mauerpfeiler treten Pilaster, um
die das weit ausladende Gesims herumgeführt ist.
In der Mitte der Rückwand, dem kleinen Treppen¬
haus zugewendet, ein großes Schauportal. Über der
rundbogigen Tür ein Balkon, auf den sich eine Tür
mit reicher schöner Deckplatte öffnet. Der ganze
Raum hat wohl am stärksten von allen Innenräumen
des ganzen Museums italienischen Charakter. Die
Gesamtwirkung ist eine sehr feine und ruhige; das
warme Graubraun des Steines geht vortrefflich mit
den weißlich gesprenkelten Putzflächen in den Nischen
und an der Decke zusammen, und auch die blau¬
graue Malerei in der Apsis gliedert sich hier glück¬
lich ein. Auch die Profilierung ist von hoher Fein¬
heit und Zartheit.
Am Schluß der goldenen Achse schließt sich nun
endlich der hintere Kuppelraum an, der das zweite
kleine Treppenhaus enthält. Es trägt am stärksten
von allen Teilen des Baues friederizianischen Cha¬
rakter. Das Stadtschloß zu Potsdam und Schloß
Sanssouci haben hier einzelne Motive abgegeben. Ein
runder Raum, in dem in der Mitte mit geschwungenen
Wangen ein Treppenlauf aufsteigt, der sich dann von
dem mittleren Podest in zwei Läufen an der Wand
hinzieht, um oben wieder auf eine gemeinschaftliche
Galerie zu münden. Der Raum im Erdgeschoß ist
ziemlich kahl, nur die drei Türöffnungen sind in
grauem Marmor ausgeführt, die Wangen der Treppen¬
läufe selbst in echtem grauen Marmor, über ihnen
die Wandflächen, die nur leicht durch Streifen ge¬
gliedert sind, in dunkelrotem Stuckmarmor. Der
Tambour des oberen Kuppelraumes ist durch zehn
Nischen belebt, die durch Paare von glatten Pilastern
mit Basen und jonischen Kapitälen aus vergoldeter
Bronze getrennt sind. Ein fein profiliertes Gesims
zieht sich darüber hin, über ihm steigt unmittelbar
die zehnteilige Kuppel auf. Hier ist auch im Gegen¬
satz zu der großen Kuppel die Fläche selbst reicher
detailliert: die Felder sind kassettiert, in ein jedes ist
ein ovales Fenster eingeschnitten, Kartuschen, Kon¬
solen und Trophäen sind geschickt und maßvoll als
Dekorationsmotive hinzugenommen. In dem Tam¬
bour herrscht noch der Stuckmarmor vor. Die zehn
Nischen zeigen einen gelben speckigen Fonds, die
Wandflächen sind rotbraun, doch geht auch hier
durch die Rahmen und die architektonischen Glieder
das Weiß als leitende Farbe hindurch, das dann
oberhalb des Hauptgesimses in der Kuppel selbst
vollständig dominiert. Einen glücklichen Schmuck
hat das Treppenhaus gefunden durch die Statuen
von sechs der friederizianischen Feldherren von
Schadow und seinen Genossen, die ursprünglich
auf dem Wilhelmsplatz zu Berlin aufgestellt waren
und 1862 durch Bronzekopien ersetzt worden sind;
sie sind aus dem Kadettenhause in Großlichter¬
felde, wo sie bisher standen, hierher übertragen. Es
sind der Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, General¬
feldmarschall von Keith, Seidlitz, Ziethen und dann
die wunderlichen, im römischen Kostüm dargestellten
Figuren des Generalleutnants von Winterfeldt und
des Generalfeldmarschalls Grafen von Schwerin, die
nicht durch Kopien auf dem Wilhelmsplatz ersetzt,
sondern nach neueren Entwürfen von Kiß im Zeit¬
kostüm ausgeführt sind, ln der Mitte endlich hat
eine Kopie des schönen Marmorbildes vom alten
Schadow aus Stettin Platz gefunden, der hier mitten
unter seinen Generalen erscheint. Auf den runden
Sockeln am Fuße der Treppenwange treten dann die
bekannten Marmorfiguren des Merkur und der Venus
von Pigalle aus Sanssouci hinzu. Der Raum scheint
in den Verhältnissen, wie in dem Maßstab der Details
ganz auf diese plastischen Werke zugeschnitten, —
und doch sind sie als Geschenke des Kaisers erst
hinzugekommen, als das Treppenhaus im Rohbau
schon fertig war. Auch Durchblicke und Einblicke
sind hier von einer sorgfältig berechneten und glück¬
lich abgewogenen Wirkung.
Wenn man den Bau als einheitliche Anlage über¬
sieht, so fällt als schlimmster Mangel die Unüber¬
sichtlichkeit des Grundrisses auf. Sie erklärt sich
zum Teil aus der verzwickten Grundfläche — alle
Schwierigkeiten konnten hier eben nicht überwunden
werden. Es wird für einen jeden Besucher viel, recht
viel Zeit brauchen, ehe er sich zurechtfinden wird.
Hier waren die alten rechteckigen Museumsgebäude
mit ihrem Normalgrundriß sogar besser daran: dort
konnte man bei einem einzigen Rundgang alle Räume
bequem durchmessen. Wer könnte aber im Kaiser
Friedrich-Museum nach einem solchen Umgänge —
denn von einem eigentlichen Rundgang darf man
hier gar nicht mehr sprechen — einen Eid darauf
ablegen, daß er wirklich alle Räume betreten habe?
Nun wird man entgegnen: Dazu sind die Grund-
BLICK IN DIE BASILIKA
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
im ührer da. Aber in den Händen von
’vie viel Besuchern finden wir denn die Führer,
wie viel Käufer können überhaupt einen Grundriß
lesen — und erhöht es den ästhetischen Genuß
übermäßig, wenn man wie auf einem Ritt durch
kupiertes Terrain allerorten Generalstabskarte und
Kompaß ziehen muß? Böse Menschen sprechen von
Rettungsstationen des Roten Kreuzes für verzweifelte
Verirrte, die vergeblich den Ausgang in diesem Laby¬
rinth suchen (ach nirgendwo, in keinem der Museen
ist an eine Stätte der leiblichen Erquickung gedacht)
— und wie oft werden die Aufseher den Wegweiser
machen müssen auf die Frage: Wo komme ich zum
Ausgang? Wo geht der nächste Weg zum Rubens¬
saal oder zu den Spaniern?
Unsere modernen Kunstausstellungsgebäude haben
ja gezeigt, daß die Räume, die nicht direkt in der
Zirkulation der Masse liegen, am glücklichsten und
intimsten wirken und am besten für stillen und be¬
schaulichen Kunstgenuß geeignet erscheinen. Das
hatte am schönsten wohl Friedrich Ratzel in seinem
Karlsruher Kunstausstellungsgebäude erreicht. Im
Kaiser Friedrich -Museum ist es nun vielleicht ein
Mißstand, daß die Zirkulation gerade durch die kleinen
Kabinette mit den allzu engen Türen erfolgen muß,
die doch mit ihren feinen Kabinettstücken gerade
zum Genuß für zurückgezogene Beschauer einladen
sollten, während die großen Säle mit den zum Teil
derberen Stücken von dem sich vorwärtsschiebenden
Publikum frei bleiben. Wie wird an Sonn- und
Festtagen in den schmalen ersten Kabinetten neben
dem großen Treppenhaus sich die Menge stauen.
Und auch hier empfindet man wieder das Mißver¬
hältnis zwischen dem Hauptkuppelraum und den
Räumen, zu denen diese Treppen direkt führen —
es liegt in dieser Architektur eine gewisse Ähnlichkeit
mit den Berliner Zinshäusern, in denen die prunk¬
vollen Treppenhäuser auf enge und dunkle Korridore
führen. In der Wirklichkeit wird das Publikum diese
Prachttreppe, die hinter dem Rücken des Eintretenden
aufsteigt, eben gar nicht benutzen - es läuft, wie
selbstverständlich, gerade aus und steigt dann im
kleinen Treppenhaus in die Höhe, um die historische
Folge — von hinten mit dem i8. Jahrhundert zu
beginnen.
Die Lichtzuführung zu den Räumen ist auf das Sorg¬
samste erwogen und ausprobiert worden. Die Seiten¬
beleuchtung im Erdgeschoß erfolgt durch hinreichend
große rundbogige Fenster, die bei starker Bestrahlung
durch von unten aufzuziehende Vorhänge geschlossen
werden können, so daß nur noch durch das Bogen¬
feld von oben ein Licht in den Raum fällt. Im
ersten Geschoß haben alle Haupträume Oberlicht.
Die langen Galerien mit den kleinen Kabinetten haben
Seitenlicht, die der Südseite (wo die deutschen und
niederländischen Bilder hängen) haben außerdem noch
Oberlicht. Die Anlage des Oberlichtes ist nach
den Erfahrungen am Pergamon-Museum geschehen
(Hasak hat sie und ebenso seine Erfahrungen über
Heizung und Arrangement in den »Berliner Blättern
für Architektur und Kunsthandwerk« in den beiden
letzten Jahren veröffentlicht). Man hatte in dem eben
fertig gewordenen Pergamon - Museum probeweise
einen Saal geschaffen, der dem der Raffaelschen
Tapeten im Kaiser Friedrich-Museum entsprach, und
die Tapeten selbst dort zur Ausprobierung des Maßes
der Lichtzufuhr und des Winkels der Bestrahlung provi¬
sorisch aufgehängt. Das oberste Oberlicht besteht
aus starkem Rohglas mit eingelassenem Drahtnetz:
es würde selbst dem schlimmsten Hagelwetter stand¬
halten. Mit Rücksicht auf die verschiedenen Gruppen
von Gemälden sind im oberen Stockwerk vier ver¬
schiedene Arten von Heizkörpern für die Warmwasser¬
heizung angeordnet — in den Wänden, unter den
Fenstern, im Fußboden und nur in den großen Sälen
des Quattrocento unter den leidigen freistehenden
Sitzkästen in der Mitte.
In der Architektur der Fassaden, die in Sandstein
von der Heuscheuer und aus Niederschlesien durch¬
geführt ist, wirken die schweren, kräftigen Profile mit
berechneter Wucht — im Inneren zeigt die Profilierung
oft genug die Spuren des überhasteten Baubetriebs.
Wie derb sind viele der Decken in den italienischen
Kabinetten behandelt — wie schwer behauptet sich
so eine moderne Kassettendecke mit den aufdring¬
lichen, viel zu schweren Rosetten neben den feinen
alten Kassettendecken mit ihren so sicher abge¬
messenen Verhältnissen und ihren dezenten Tönen
— und wie lieblos sind die Türgewände, die gleich¬
mäßig in der ganzen Flucht dasselbe aus dem Stein
ins Holz übersetzte schwere Profil zeigen: die Nach¬
barschaft der dem Bau eingefügten alten floren-
tinischen und venetianischen Portale ist hier eine
sehr gefährliche. Man tut angesichts dieser großen
und kleinen Mängel dann gut, sich zu erinnern, daß
die Hauptsache in einem Museum doch immer die
ausgestellten Kunstwerke sind.
PAUL CLEMEN.
II. DIE NEUAUFSTELLUNG UND IHRE GRUNDSÄTZE.
Im Katalog zu der im Jahre 1883 in Berlin ver¬
anstalteten Ausstellung von Gemälden älterer Meister
aus Privatbesitz war ein Abschnitt aus einer Denk¬
schrift abgedruckt, in der die Kronprinzessin Viktoria
selbst, aus den Besprechungen ihres Freundeskreises
heraus, diejenigen Grundsätze aufgezeichnet hatte, die
für eine Erweiterung der Museen und für eine
künftige Neuordnung der Sammlungen maßgebend
sein sollten.
»Die Frage der Erweiterung der Königlichen
Museen und der eingreifenden und kostspieligen Ver¬
änderungen, die getroffen werden sollen, regt unwill¬
kürlich den Gedanken an, wie die schönen Samm¬
lungen nicht nur am praktischsten und Übersicht-
ZElTSCHRirr FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI
AUS DEM KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
MARTIN SCHONOAUER. DIE ANBETUNO
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
41
liebsten, sondern auch am schönsten aufgestellt werden
können.
Bisher scheint man in den Aufstellungen von
Kunstsammlungen innerhalb von Museen immer nur
den Standpunkt der Wissenschaft zur Richtschnur ge¬
nommen zu haben. Die strenge Klassifizierung, die
Trennung der bildenden Künste ist immer auf¬
recht erhalten worden. Dies scheint doch für das
unendlich wertvolle Kunstmaterial ein etwas einseitiger
Standpunkt. Statuen und Bilder sind etwas anderes,
als die GegensLände eines Naturalienkabinelts. Sollten
unsere Museen grobe Bildungsschulen für das Publi¬
kum sein, so können sie in zweifacher Weise bildend
und zivilisierend wirken: einmal durch die gebotene
Möglichkeit zu eingehendem Studium, und zweitens
durch die Darstellung des wahrhaft Schönen in mög¬
lichster Vollkommenheit. Daher will es scheinen, als
ob die kostbaren Originale, von Meisterhand ge¬
schaffen, ihren Zweck, durch ihre Schönheit zu wirken,
nicht erfüllen, wenn sie bloß als Nummer in der
Sammlung oder Exemplar dieser oder jener Schule,
dieses oder jenes Meisters aufgestellt sind. Erreichen,
daß sie ihrem Werte nach, im Sinne des Künstlers,
der sie geschaffen hat, in möglichst schöner Um¬
gebung und Beleuchtung auf den Beschauer wirken,
heißt erst wahren Nutzen aus ihrem Besitz ziehen.
Man bedauert oft geradezu, Kunstwerke, die man
früher in Palästen und Kirchen gekannt hat, nun in
den Galerien nüchtern fortgestellt oder in Reihen an
der Wand geordnet zu sehen, während sie als Schmuck
eines schönen Raumes prangen und auf uns wirken
sollten durch ihre Schönheit, die nun in der Masse
verborgen wird. Ähnlich ergeht es den Altären,
Bildern und Grabdenkmälern, welche aus den Kirchen
entfernt, einen bis zur Unkenntlichkeit verminderten
Eindruck in den Sälen eines Museums machen, die
häufig mehr oder minder den Räumen eines Hospi¬
tals nicht unähnlich sind.
Was macht den Besuch eines Museums für Laien
so unendlich ermüdend, und warum verwirren sich
in der Erinnerung die Eindrücke des Gesehenen so
störend bei dem nach Kunstgenuß durstenden Be¬
sucher? Weil die Masse des zu Betrachtenden so
aufeinandergehäuft, als Ganzes so wenig schön ist,
daß man gezwungen ist, sehr scharf zu sehen, um
all die Schönheiten der einzelnen Kunstwerke recht
gewahr zu werden; eine Arbeit, die nur dem sehr
geübten Auge gut gelingt. So gehen wir an einer
Menge der herrlichsten Dinge allzu rasch vorbei, weil
man den Wald vor Bäumen nicht mehr sieht.
Kann aber einer nationalen Baukunst eine schönere
und sympathischere Aufgabe werden, als die herr¬
lichen Kunstwerke vergangener Zeiten richtig zur
Geltung zu bringen? Sollen denn die Museen nur
Speicher sein, worin die Schätze weggestellt sind, die
man mit so ungeheueren Kosten, großer Mühe, Ge¬
schick und Wissen gesammelt hat? Sollte man nicht
ebenso glücklich aufstellen als sammeln können im
Sinne der ausübenden Künstler, die ihren Rat ja im
Interesse der älteren Kunst gewiß gern gewähren
werden. Ein grauer Stuck- oder Steinraum, angefüllt
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVl. H. 2
mit häßlichen Postamenten und grauen Statuen, ist
für niemand ein erfreulicher Anblick. Ein großer
viereckiger Raum mit kleinen, noch so wertvollen
Bildchen bis zur Decke tapeziert, ist nicht schön und
macht keinen Eindruck. Es darf nicht verkannt
werden, wie viel schon nach dieser Richtung hin ge¬
schehen ist, es ist aber noch lange nicht genug.
Könnte man nicht ein herrliches und harmonisches
Ganzes hersteilen, wenn man Statuen und Bilder,
Büsten, Reliefs in schöne Räume zusammenstellte, in
welchen auch geschmackvolle Vitrinen zur Aufnahme
von Medaillen, Gemmen usw. ihren Platz fänden?
Würden nicht die Raffaelschen Wandtapeten mit
einigen Hauptstücken der Renaissance - Skulptur und
vielleicht einem echten alten Plafond und einigen
vornehmen Möbeln einen herrlichen Eindruck machen
und pietätsvoller aufgehoben sein, als in ihrer jetzigen
Stellung?
Das oben angedeutefe Prinzip der möglichst
künstlerischen und günstigen Aufstellung von Kunst¬
werken scheint sich auf unseren modernen Ausstel¬
lungen immer mehr Bahn zu brechen. Da ist denn
zu hoffen, daß die Museen sich ihm nicht ganz ver¬
schließen und die berechtigten Anforderungen der
Künstler und Kunstliebhaber nach dieser Richtung
berücksichtigen werden. - Natürlich ist es nicht mög¬
lich, alle Kunstwerke unserer Museen so aufzustellen;
aber es kann doch mit den besten geschehen, so daß
mehrere Säle nach Art der »Tribuna« für die einzelnen
Hauptschulen entstünden. Könnte man den übrigen
wenigstens teils Nordlicht, teils eine Beleuchtung von
oben in nicht zu hohen Räumen sichern, so wäre
schon das Nötigste erreicht. Wäre dann weiter mög¬
lich, eine noch strengere Auswahl zu treffen, sowie
auf manches gute und kunsthistorisch interessante
Stück zugunsten der Provinzialmuseen zu verzichten,
würden endlich die schlechtesten Rahmen ganz ver¬
bannt, so würde der gesamte Effekt und Wert der
Galerie nur noch zunehmen.
Das schönste Ziel wäre wohl ein ganz neues
Gebäude für die Bildergalerie und die Renaissance-
Skulpturen nach oben erwähntem Prinzip.
Je mehr man anfängt, die Werke vergangener
Zeiten zu würdigen und ihren wahren Wert zu er¬
kennen, desto pietätsvoller müßte man mit ihnen um¬
gehen, desto mehr ihnen Geltung verschaffen« — .
Alle Kunstwerke der alten und der neuen Zeit,
der hohen oder der angewandten Kunst, der Malerei
oder der plastischen Darstellungsweisen sind, wenn nicht
für einen bestimmten Raum, so doch für eine be¬
stimmte Gruppe oder Gattung von Räumen geschaffen
worden — und sicher kein einziges für einen Speicher,
für die Einreihung in endlose Serien gleichartiger
Werke, für die gleichmäßige Tapezierung der Wand¬
flächen von Korridoren. Die alten fürstlichen Kunst¬
kammern, aus denen die heutigen hauptstädtischen
Museen zum größten Teil herausgewachsen sind,
waren da noch besser dran: sie nahmen ursprünglich
nur einzelne Räume der Residenzschlösser ein, denen
der wohnliche Charakter immer noch geblieben war:
sie waren zunächst möbliert, wenn auch maßvoll
6
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
_■ ;!a' voi- ;llem dem italienischen Ge-
; , I .* ;s -d Jahrhunderts entsprach — und die
■ :_ 'erke traten dann als Dekoration hin-
: v-eiiKiide, Skulpturen, Tapisserien, Edelinetall-
arbeitcn. Erst die Spätrenaissance hat uns jene voll¬
gestopften Säle geschenkt, in denen in drei und mehr
Reihen die Bilder an den Wänden übereinander hängen.
Der Palazzo Pitti in Florenz zeigt noch heut dies
System, die Wandfläche bis unter das AbschluH-
gesiins mit Bildern gieichmäbig zu decken. Die fürst¬
hatten eine Wanddekoration für die endlosen Flächen
der Festsäle zu bilden — und die längste aller
solchen Galerien im engeren Sinne, die den Louvre
mit den Tuilerien verband, hat wohl nie besser ihrem
Zweck gedient, als da im Jahre 1812 bei der Heirat
zwischen Napoleon und Marie Louise der cortege
nuptial aus dem Salon carre sich in feierlichem
Zug durch sie hindurch nach den Tuilerien be¬
gab. Wie wenig geeignet sind die Riesenräume
des Louvre für ihre heutigen Zwecke. Ein festes
KABINETT DER SAMMLUNG JAMES SIMON
liehen Galerien und Privatsammlungen des 17. Jahr¬
hunderts sind hierin noch weiter gegangen es lälit
sich kaum etwas Unglücklicheres und für die Bilder
Verhängnisvolleres denken als jene Antwerpener und
Brüsseler Bilderkammern, wie wir sie aus den Ge¬
mälden der vlämischen Kleinmeister kennen: sie er¬
innern an Watteaus Firmenschilder Gersaints — aber
Gersaint war eben zunächst Bilderhändler und dann
erst Liebhaber. Es ist das System der Magazinierung
in einem groben Bilderladen, das wir in all diesen
Galerien vor uns haben. Das 18. Jahrhundert hat
dann den Begriff der -Galerie geschaffen; die Bilder
Schlot), ein Palais, eine Vereinigung von Akademien
und eine Sammlungsheimstätte, so nennt Alfred Babeau
den Bau in seinem Buch über den Louvre — aber
die Akademien und die Sammlungen durften hier
nur logieren, durften sich nicht wohnlich einrichten.
Nachdem die Verwaltung des Louvre jahrzehntelang
mit einer gewissen konservativen Starrheit an der
überkommenen Einrichtung festgehalten, weht auch
dort seit dem Ende des Jahrhunderts ein frischerer
Wind, und man hat den Versuch gemacht, wenigstens
eine Reihe von Kunstwerken in einer Umgebung
vorzuführen, die der ursprünglichen ähnelt — aber
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
der Architekt Recion, der den neuen Rubens- Saal in
der von der Kommune zerstörten Salle des Etats her¬
gestellt hat, hat darauf verzichtet, die Architektur des
Saales im Palais Luxembourg nachzuahmen und hat
dafür eine ganz freie eigene Architektur gegeben.
Und doch waren die Museen, die gezwungen waren,
sich in alten Fürstensitzen einzuquartieren, in einem
Punkte noch gut dran: sie fanden wenigstens einen
würdigen Rahmen für die Bilder, eine Umgebung, in
der sich wenigstens eine grobe Gruppe von ihnen
zu Hause fühlen konnte. Das Schlimmste hat das
4r
Goethe führt schon im Jahr 1815 die ersten schüch¬
ternen Versuche nach dieser Richtung in den be¬
scheidenen westdeutschen Kunstkabinetten an: Alle
die aus den Kirchen genommenen Kunstwerke , sagt
er, »erschienen in Privathäusern nicht ganz am Platz;
daher der heitere, erfinderische Geist der Besitzer
und Künstler an schickliche Umgebung dachte, um
dem Geschmack zu erstatten, was der Frömmigkeit
entrissen war.« Als in den siebziger Jahren die Be¬
wegung für das deutsche Kunstgewerbe mit erneuter
Stärke einsetzte, suchten die Ausstellungen die ge-
ROSSELLINO-SAAL MIT DEM BLICK AUF BENEDETTO DA MAIANOS GROSSE STUCK-MADONNA
beginnende 1 9. Jahrhundert geleistetmitseinen verzweifelt
nüchternen, kahlen, weiß -grauen Räumen, in denen
die alten Kunstwerke wie Könige im Exil erschienen.
Seit dem Wiedererwachen, oder eigentlich seit
dem Erstarken des Sinnes für das Malerische in der
Gesamtanordnung von Innenräumen ist nun auch der
Wunsch immer stärker und lebhafter geworden, hier
Wandel zu schaffen und die Kunstwerke aus ihrer
Isolierung zu erlösen, sie einander wieder zu nähern
und sie in eine Umgebung zu versetzen, die wenigstens
annähernd die Stimmung wieder zu schaffen suchte,
die jene an ihren alten Plätzen ausgestrahlt hatten.
samten Schöpfungen der hohen und angewandten
Kunst in malerischen Bildern zu vereinigen - — viel¬
leicht hat die Ausstellung von Unserer Väter Werke«,
die Gedon und seine Freunde in München geschaffen,
hier den stärksten Anstoß gegeben. Für die Auf¬
stellung von Gemälden und Skulpturen erschienen
dann die fürstlichen Privatsammlungen des Südens,
denen eben der Charakter des Wohnlichen nicht ganz
genommen war, als Vorbilder. Eine Reihe solcher
Sammlungen sind erst in der letzten Zeit öffentlicher
Besitz geworden: die Galerie Brignole-Sale und die
Schätze des Palazzo Bianco und I^alazzo Rosso in
6‘
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
r Ja. Museum des Fürsten Filangeri in Neapel,
die Gründ-.uig Querini Stampaglia in Venedig. Am
glückiicl.den wirkt aber heute noch das Museo Poldi
Pezzoli in Mailand, die Stiftung des Don Giacomo
Poldi Pezzoli , zumal seit die ordnende Hand eines
feinen Kenners hier mit sicherem Geschmack etwas
Ruhe in die allzu bunten Rcäume gebracht hat. Aber
noch immer will das Museum die Wohnung eines
reichen Liebhabers sein, die bis in das Schlafzimmer
hinein mit Kunstwerken gefüllt ist und den Eindruck
erwecken will, als habe der Besitzer nur eben die
behaglichen Räume verlassen.
Auch ganz neue private Sammlungen machen
den Versuch, die Kunstwerke in ihre alte Umgebung
zurückzuversetzen. Das anmutigste Denkmal dieser
Gattung von Kunstpalästen ist wohl Hertford House,
das wahrhaft fürstliche Geschenk, das 1897 die Witwe
von Sir Richard Wallace der englischen Nation ge¬
macht. A palace of fancy, beauty and laste nannte
Lord Beaconsfield das Haus — und es ist der Palast
eines Grandseigneurs, in den hier alte und neue
Kunstwerke verstreut sind. Den Hintergrund und die
Umgebung, die Sir Wallace für seine Bilder geschaffen,
das Porzellan, die Penduleu und Bronzen und vor
allem die unvergleichlichen Möbel aus den Räumen
Ludwigs XIV. und Ludwigs XV., die Werke von
Boulle, Gouthiere und Riesener, die auf dem Um¬
wege über Rußland in London gelandet sind, — das
ist freilich etwas, was heute ein deutscher Musen ms-
direktor ganz vergeblich hervorzuzaubern trachten
würde. Aber Paris birgt im alten gardemeuble noch
so viele kostbare und ausgezeichnete Stücke: warum
nicht mit ihnen ein klein wenig die allzu große Ruhe
und Öde einiger der großen Säle im Louvre unter¬
brechen?
Die wunderbarste Vereinigung von Arehitektur und
Kunstwerken aller Art zu den glücklichsten Gesamt¬
bildern bietet ein erst vor wenigen Jahren jenseits
des großen Wassers entstandenes Museum: Fenway
Court, die Stiftung von Mrs. Isabella Stewart Gardner
im Fenway - Park zu Boston. Ein mächtiger Palast,
der einen venetianischen Hof in sich schließt —
den einzelnen Räumen ist mit raffiniertem Geschmack
ein einheitlicher Charakter gegeben, aber doch so,
daß die Werke der hohen Kunst dominieren. Es gibt
einen gotischen (etwas bunt gemischten), einen hol¬
ländischen, einen chinesischen Raum - und daneben
einen Raffael-, einen Tizian-, einen Paolo Veronese-
Saal, in denen Originale und Schulbilder in eine
wohnliche Umgebung gebracht sind. Das Museum
of fine arts, das jetzt neben diesem Palast empor¬
wachsen soll, für dessen Bau die umfänglichsten
Studien der neueren Museumseinrichtungen gemacht
werden, wird vielleicht einmal für größere systemati¬
sche Sammlungen ähnliche Ziele verfolgen — und es
ist nicht unmöglich, daß es dem Lande der un¬
begrenzten Möglichkeiten Vorbehalten bleiben wird,
auch einen ganz neuen Typus für ein modernes
Sammlungsheim zu schaffen.
ln Deutschland hat beim Neubau des bayrischen
Nationalniuseums von Anfang an der Gedanke be¬
stimmend geherrscht, tunlichst geschlossene Kultur¬
bilder zu schaffen. Bei der Möglichkeit, aus einem
fast unerschöpflichen Material auszuwählen, bei der
Verfügung über Kunstwerke aller Gattungen sind
Wirkungen geschaffen worden, die von keinem unserer
nordischen Museen erreicht werden. Eines vor allem
hat das Museum vor dem Berliner voraus, das den
harmonischen und warmen Eindruck der Räume so
wesentlich mit bestimmt: das ist die Fülle der kost¬
barsten Gobelins in geschlossenen Folgen. Max Fried¬
länder hat einmal — bei der Besprechung der
Münchener Renaissance - Ausstellung — die beiden
Feinde der Kunstwerke bei der Aufstelluug charakte¬
risiert: die nmseologische Nüchternheit und die ma¬
lerische Willkür. Und, mir scheint, mau kann auch
in dem Bestreben, Stimmung und Stimmung um
jeden Preis zu sehaffen, über das Ziel hinausschießen.
Unsere modernen Kunstausstellungen und mehr
noch die kleinen Kunstsalons haben ja auch eine
Zeitlaug dies Nebeneinander von Bildern und Skulp¬
turen mit Möbeln, Stickereien und allen Werken der
angewandten Kunst gesucht nnd gefördert. Aber
nicht wenige gerade von den ersten Künstlern haben
selbst dagegen protestiert: sie fanden, daß ihre Werke,
die sie mit Recht als die wichtigeren Kunst-
schöpfimgen ansahen, dann nicht klar zur Geltung
kamen — und die heutige Ausstellungstechnik, wie
sie etwa in den fast allzu raffiniert ausgeklügelten
Arrangements der Sezession und des Hagenbundes
in Wien zum Ausdruck kommt, sucht beinahe
alles Beiwerk zurückzudrängen, die Kunstwerke mög¬
lichst voneinander zu isolieren und sie fast ohne
Rahmen im engeren und weiteren Sinne für sich
zur Wirkung zu bringen.
All das hatte die Verwaltung der Berliner
Museen erwogen und ausprobiert. Seit über zwanzig
Jahren, schon seit jener Ausstellung von 1883, für die
die Kronprinzessin in der oben angeführten Denk¬
schrift das Programm aufgestellt, ist in jeder der
Leihausstellungen und der Oruppenausstellungen, zu¬
letzt noch in der glänzend gelungenen Renaissance-
Ausstellung, diese Art der malerischen Aufstellung
befolgt worden, und es war einer der Lieblings¬
gedanken des hohen Protektors der Museen und
seiner Gemahlin, auch in dem neuen Renaissance¬
museum diesen Plan zur Durchführung zu bringen.
Es ist fast alles in jener Denkschrift gesagt, was
man auch heute an Wünschen äußern möchte. Und
man darf jene Worte billig als eine Art Motto für
die Neuaufstellung der Kunstwerke im Kaiser Friedrich-
Museum an die Spitze dieses Kapitels stellen. Nicht
alle Kunstwerke können in einer so ausgedehnten
Sammlung solchermaßen zu malerischen Gruppen
vereinigt werden, aber die 73 Räume, die das neue
Museum birgt, verlangten nach Abwechselung, die
lange Reihe nach Gliederung, nach Unterbrechung.
Zunächst ist dem ganzen Bau der Charakter des
Uniformierten in seiner Innenwirkung in etwas dadurch
genommen, daß mit den modernen Normalportalen,
die nur in den — oft recht kuriosen — Verhält¬
nissen, nicht aber in den Gewänden Verschiedenheit
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
zeigen, eine Anzahl der köstlichsten alten Portale der
italienischen Gotik und der frühen und späten
Renaissance, zumal aus Genua und Venedig, ab¬
wechseln, die Bode seit Jahren erworben und auf¬
gespeichert hatte. Dazu kommen italienische und
niederländische grobe und kleine Kamine, ein paar
alte Decken und Plafonds, einer aus dem Palazzo Gri-
mani, eine venetianische Decke mit eingelassenen
Bildern Paolo Veroneses, ein ganzer Raum mit Wand-
und Deckengemälden von Tiepolo in fein abge¬
stimmten weichen Tönen: silbergrau auf gelb in
weißer Umrahmung. Und endlich sind, in erster Linie
für die italienischen Säle, eine grobe Anzahl von
alten niedrigen zumal Florentiner Credenzeu, von
Sockeln und Piedestals, von Truhen und Sitzbänken
beschafft worden, die unter und zwischen den Bildern
und Skulpturen aufgestellt sind. Die langen Truhen
ersetzen zugleich zum Teil die so wenig glücklichen
Schranken, die die Besucher von den Wänden fern¬
halten sollen. Bode selbst hat als Grundsatz für
diese Anordnung aufgestellt: ein Prinzip nicht zu
Tode zu hetzen. In einem so groben Museum kann
man nicht wirklich wohnliche Räume schaffen wie
im Museum Poldi Pezzoli - vor allem, weil der
wohnliche Charakter hier eine Lüge sein würde.
Nur in dem Kabinett, das James Simon mit seinen
auserlesensten Schätzen gefüllt und dem neuen
Museum zur Eröffnung übergeben hat, ist ein solcher
Versuch gemacht — das könnte wirklich ein Raum
aus dem Hause eines privaten Kunstliebhabers sein.
Aber diese Kunstkammern, in denen man dann auch
das Viel und Allzuviel und selbst ein wenig Bric-
a-Brac erträgt, verlangen doch eigentlich auch ihren
Herrn, eben den Liebhaber, auf dessen persön¬
lichen Geschmack ein solches Durcheinander ge¬
stimmt ist. Man möchte an die Worte denken, die
Goethe dem kunstliebenden Kanonikus Pick in Bonn
gewidmet hat: dem heiteren geistreichen Mann, der
alles und jedes, was ihm als altertümlich in die
Hand kam, gewissenhaft gesammelt hat, welches
schon ein grobes Verdienst wäre. »Ein gröberes
aber hat er sich erworben«, fährt er fort, »daß er,
mit Ernst und Scherz, gefühlvoll und geistreich, heiter
und witzig, ein Chaos von Trümmern geordnet, be¬
lebt, nützlich und genießbar gemacht hat.«
Was im Kaiser-Friedrich-Museum geleistet ist —
und ganz ohne Prätension geleistet ist — ist ein
Versuch, ein höchst merkwürdiger und, mir deucht,
nachahmenswerter Versuch, die bedeutendsten Kunst¬
werke nicht nur durch den Ehrenplatz, sondern auch
durch eine würdige Umgebung aus der Zahl der
übrigen hervorzuheben. Manche der Räume sehen
trotz der hier und da aufgestellten Möbel noch etwas
kahl aus. Ein wohnlicher, anheimelnder Charakter
wird sich eben nie mit einem Male schaffen lassen;
man fühlt sich — trotz der alten Möbel — manch¬
mal wie bei einem jungen Ehepaar in der neu ein¬
gerichteten Wohnung: auf Tischen und Schränken der
Ausstattung stehen die Hochzeitsgeschenke, aber das
junge Paar ist noch nicht recht heimisch geworden
in den neuen Räumen. Aber Wohnungen, die am
ersten Tag fertig sind, ohne daß man eiü Stück m:::
hinzusetzen muß oder hinsetzen kann, wirken nur
erkältend und unpersönlich — viel anmutiger ist es,
wenn die Räume sich allmählig füllen und aus-
wachsen, und dann jedes Stück seine besondere und
seine neue Geschichte erzählt. Und wenn viele der
Räume auch seit Jahren als Ganzes vor dem geistigen
Auge ihres Schöpfers standen, wenn er für ganz be¬
stimmte Plätze und Gegensätze schon seit langem
gekauft, gesammelt, — die Wirkung ausprobieren kann
man doch erst mit den Originalen selbst. Bode selbst
hat jüngst in »Kunst und Künstler« einen vorläufigen
Kommentar zu der Einrichtung gegeben: die leitenden
Grundsätze waren bei Einhaltung der historischen
Richtung der Sammlungen doch, möglichst nur künst¬
lerisch Hervorragendes anfzustellen, jedes Kunstwerk
durch seinen Platz, seine Umgebung und Beleuchtung
in seiner Bedeutung möglichst herauszuheben, in der
Form und Ausstattung der Räume wie in ihrer Lage
eine gefällige Erscheinung derselben anzustreben, und
bei der Aufstellung den Kunstwerken einigermaßen
die Wirkung zu geben, die sie an ihrem ursprüng¬
lichen Platze hatten. -Die Berliner Museen besitzen
nicht die Fülle von Meisterwerken wie die alten
groben Museen; sie müssen daher jedes einzelne Stück
möglichst zur Geltung zu bringen suchen. Das, was
erreicht worden ist, bleibt freilich in vielen Fällen
mehr oder weniger hinter der guten Absicht zurück;
dessen sind wir uns selbst am besten bewußt und haben
es schmerzlich empfunden bei jedem Stück, daß in
Farbe und Motiv, in Ton und Qualität nicht zu
seiner Nachbarschaft oder zum Ganzen paßte, bei
jeder Wand, die zu groß oder zu klein war für die
Bilder, die daran aufgestellt werden mußten, bei jedem
mittelmäßigen Stück, das aus irgend einem Grunde
noch zur Aufstellung kommen mußte. Hier bleibt
für die Zukunft noch manches zu tun: auszumerzen, zu
erwerben, zu verändern; wir konnten eben nur mit
dem rechnen, was uns zur Verfügung stand«.
Nach einer Seite hin ist es vielleicht ein großes
Verdienst, daß in den Räumen mit so weisem Ma߬
halten die Möbel verteilt sind. Es wäre ein Leichtes
gewesen, förmliche Zimmereinrichtungen zu schaffen,
wie sie vor allem das Amsterdamer Rijksmuseum,
das Züricher Landesmuseum in solcher langen Reihe
bergen und wie sie fast ein jedes neuere Kunst¬
gewerbemuseum — die allerneuesten nicht mehr —
aufzuweisen hat, wie unter anderen auch das Ber¬
liner Kunstgewerbemuseum ein paar mit feinem Stilge¬
fühl arrangierte besitzt. Aber in diesen gehen die Werke
der großen Kunst meist ganz unter — und es ist
charakteristisch, daß in den meisten solcher Räume
nur Bilder dritten und vierten Ranges aufgehängt
sind, aus den Depots der Gemäldegalerie stammend,
weil man hier eben nur einen Fleck von der und
der Farbe und von der und der Helligkeit — oder
gewöhnlich Dunkelheit — braucht, und die Qualität
hierbei etwas ziemlich Nebensächliches ist.
Auf eines möchte man besonders im Kaiser
Friedrich -Museum hinweisen, worin die Berliner
Gemäldegalerie es allen anderen voraus tut: das ist
46
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
LÜe Rahmenfrage. In unseren großen Sammlungen
wiegen zwei Gattungen von Rahmen vor: das sind
die schweren Barockrahmen mit den saftigen, flei¬
schigen Ornamenten und den derben Profilen —
und die mageren klassizistischen Ralimen mit den
schlichten Kehlen, dem bis zur Ermüdnng wiederholten
Eierstab und der oft zu einer Gattung Seestern
degenerierten Palmette in den Ecken. Uniformierung
in den Rahmen ist etwas Fürchterliches — zumal wenn
eine Normalleiste durch ein ganzes Museum, nicht
nur dureil einen Raum durchgeht, und es gibt in
dieser Beziehung nichts Trostloseres als das Kunst¬
historische Hofmuseum in Wien mit dem immer
wiederkehrenden K. K. Profil und den aufdringlichen
lehrhaften Überschriften über dem Kopfstück. Seit
Jahrzehnten ist es Bodes Fürsorge gewesen, bei
Hauptstücken aus dem alten Besitz die Schinkelschen
Rahmen, die sie zumeist trugen, auszuwechseln , für
die Neuerwerbungen die passenden Einrahmungen zu
finden. Eine große Serie kostbarer alter, zumal
florentinischer Rahmen, ist hier erworben, für große
Stücke sind alte Rahmen kopiert oder zusammen¬
geschnitten worden. Das Ganze dann mit aller Kunst
des Vergolders getönt, zusammengestimmt, das Gold
verrieben oder lasiert, so daß der Rahmen das Bild
möglichst heraushebt und er doch wieder dezent zurück¬
tritt. Mit erlesenem Geschmack ist hier in jahrelanger
stiller Arbeit der Neuverteilung der Bilder schon vor¬
gearbeitet worden.
Eine Tribuna oder einen Salon carre wird heute
wohl niemand mehr schaffen wollen und es wäre
ein wunderlicher Anachronismus gewesen, eine
solche Auslese heute noch bieten zu wollen. Der
Salon carre im Louvre ist vor vier Jahren durch
Lafenestre aufgelöst und wird heute mehr als je von
den Venezianern beherrscht: nur mit einer wunder¬
lichen Pietät hat man je ein Bild der auswärtigen
Schulen beibehalten. Und der Tribuna, dem viel zu
kleinen achteckigen Saal, den Bernardo Buontalento
in den Uffizien für die Gemmensammlung des Gro߬
herzogs Ferdinand I. geschaffen hatte, und in dem
erst der österreichische Hof vor fast einem Jahrhundert
die auserlesensten Stücke der Hochrenaissance maga¬
ziniert hatte, hat eben jetzt der unermüdliche neue
Direktor, dem schon die Brera ihre Neuordnung
verdankt, Corrado Ricci, ein endliches Ende bereitet,
ln dem kleinen Cinquecento-Saal des Kaiser Friedrich-
Museums ist mit weiser Berechnung nur für die Hoch¬
renaissance eine ähnliche Zusammenstellung angestrebt,
die Gruppen sind sorgfältig abgewogen: in der Mitte
der einen Schmalwand dominiert der anmutige mar¬
morne Giovannino Michelangelos, die Längswand be¬
herrscht der schöne große Andrea del Sarto.
Eine Stellung ganz für sich gebührt der soge¬
nannten Basilika. In dem großen Raume ist eine
Reihe von plastischen und malerischen Werken an¬
gebracht, die durchaus nicht etwa die Perlen der
Sammlung darstellen wollen. In den zehn Nischen
sind große Altarwerke und Skulpturen aufgestellt,
die für die einzelnen Abteilungen zu gewaltige Ab¬
messungen hatten. Sie sollen zugleich — zum Teil
in corpore vili — zeigen, wie diese großen Werke
an den Plätzen, in der Beleuchtung, in der Um¬
gebung wirkten , für die sie geschaffen waren. Ein
sorgfältig beachteter Rhythmus geht durch die De¬
koration der Nischen durch: in dem mittelsten Paar
zwei Robbiaaltäre, der eine, mit den alten Marmor¬
schränken davor, mit einer thronenden Madonna
zwischen Heiligen, ein Hauptwerk des Andrea della
Robbia aus seiner mittleren Zeit, zur Seite vier große
Altartafeln von Fra Bartolomeo und Francia, von
Luigi Vivarini und Paris Bordone, in den letzten äußeren
Nischen wieder Plastik, ln den Nischen nächst der Apsis
eine etwas unruhige und zappelige Kreuzigungsgruppe
von Begarelli, gegenüber der schöne ruhige Steinaltar aus
Brescia mit der edlen Figur der h. Dorothea von Andrea
della Robbia, zunächst dem Ausgang eine hölzerne
bemalte Prozessionsmadonna aus der Mark Ancona
und eine große Beweinung Christi in bemaltem Ton
von Giovanni della Robbia. Kleinere Werke da¬
zwischen, an den Stirnseiten der Wandpfeiler Wappen¬
schilder wie im Hofe des Bargello, an der Schmal¬
seite neben dem Schauportal zwei schöne mar¬
morne Sakristei - Lavabos eingemauert. Auf der
Balkonbrüstung stehen die jugendlich schlanken
Schildhalter vom Grabmal Vendramin, in der
richtigen Höhe und von dem Balkon selbst aus auch
in der Nähe zu bewundern, über dem oberen Aus¬
tritt ein großer Schild mit dem Wappen der Medici,
unter dem Balkon in dem Tympanon der Tür die
überlebensgroße Büste des Papstes Alexander VI.
Borgia durch das runde goldene Mosaikfeld
dahinter hat sie einen Heiligenschein erhalten, der
dem doch ziemlich unheiligen Papst etwas wunderlich
zu Gesicht steht.
In der Mitte sind frei aufgestellt, wie auf der
Piazetta von Venedig, zwei alte hohe Säulen — von
der einen grüßt der Marzocco, von der anderen die
Lupa, Löwe und Wölfin, die Wappentiere von
Florenz und Siena. Zwischen diesen soll endlich
seinen Platz finden das alte herrliche italienische
Chorgestühl vom Ende des 15. Jahrhunderts mit der
kostbaren Intarsia, das bislang in dem langen Korri¬
dor der Cinquecentoräume im alten Museum eher im
Wege stand als glücklich wirkte.
Groltes ist geleistet. Vieles ein Vorbild, Manches
ein Versuch, Alles ein Werk intensiver, rastloser
Arbeit. Wenn Reihen von Kunstwerken, die man
als zusammengehörend und untrennbar angesehen
hatte, weil man sich gewöhnt hatte, sie zusammen
zu sehen, aufgelöst sind, wenn hier die Entwicklung
unterbrochen erscheint, das Vergleichen, das Studium
beschwerlicher deucht, so sind andere wichtige Paral¬
lelen, wertvolle Vergleiche neu erschlossen. Es ist auch
ganz lehrreich, gute alte Freunde einmal in neuer
und fremder Umgebung zu beobachten, ob sie sich
bewähren und wie sie sich bewähren.
Wie das im verschiedenen gelöst, das soll der Rund¬
gang durch die einzelnen Abteilungen zeigen , in
denen unbefangene Beobachter die Führung über¬
nehmen. Nur über eine wichtige und an innerem
Wert wahrlich keiner Abteilung nachstehende Gruppe
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
47
läßt sich an clieserStelle nichts sagen, weil die Aufstellung,
dem Charakter der Objekte entsprechend, nichts, die
Auswahl wenig Neues bieten kann. Das ist die Ab¬
teilung der Münzen und Medaillen. Die übrigen
Räume aber haben im folgenden kürzere oder
längere Würdigung gefunden. Und es schadet auch
nichts, wenn sich in verschiedenen Temperamenten
das Kunstwerk der neuen Aufstellung in einzelnen
Punkten etwas verschieden spiegelt.
Der geniale Vater dieser ganzen Neuordnung und
der Schöpfer eines so bedeutenden Teiles dieser
Sammlungen überhaupt hat bei dem Aufbau der Kunst¬
werke nur Anfangs persönlich Hand anlegen können.
Seit einem Vierteljahr fest an sein Lager gefesselt,
hat Wilhelm Bode von diesem aus mit immer gleicher
nie aussetzender stählerner Elastizität wie ein Feldherr
alles geleitet, über jede Wand bis ins einzelne genau dis¬
poniert. Sein rastloser Geist ist ständig bei seinen Arbeits¬
gefährten gewesen: man möchte sagen, daß er in sie
gefahren ist. Aber ohne diese Mitarbeiter wäre diese er¬
staunliche Gesamtleistung auch nicht möglich ge¬
wesen. Allen voran steht hier Max Friedländer, seit
Jahren schon Bodes rechte Hand, zu einem unserer
besten und besonnensten Kenner herangewachsen und
jetzt auch zweiter Direktor an der Gemäldegalerie,
und neben ihm Wilhelm Vöge für die plastische
Abteilung, die italienische wie die deutsche, Fritz Knapp
für die Bronzen, Oskar Wulff für die byzantinisch¬
altchristliche Abteilung, Artur Haseloff und Dr. Schulze.
Sie alle dürfen sich jetzt des glücklich vollendeten
Werkes freuen.
PAUI. Cl.PMF.N.
III. ALTCHRISTLICH-BYZANTINISCHE KUNSTWERKE
Man erinnert sich an den immer in geheimnis¬
volles Dunkel gehaltenen Durchgangsraum zu dem
im alten Museum neugeschaffenen Oberlichtsaal der
italienischen Plastik, in dem die aus der dunkelsten
Zeit des frühen Mittelalters stammenden plastischen
Arbeiten Italiens, die zum großen Teil auf die Ankäufe
Waagens zurückgingen, ihren Platz gefunden hatten.
Es waren außer zwei langobardischen Sarkophagen
wenige in die Augen fallende Stücke, und sie konnten
auf nichts weniger als den Namen einer besonderen
Abteilung Anspruch erheben, jetzt ist, zumal durch
die Erwerbungen des letzten Jahrzehnts, namentlich
vermittelt durch Strzygowski und Wiegand, eine solche
Fülle von Denkmälern zusammengebracht, daß fast
alle Perioden und alle Stile durch charakteristische
Stücke vertreten sind. Dabei ist noch besonders her¬
vorzuheben, daß hier, wie in der islamitischen Ab¬
teilung alle Hauptstücke Geschenke sind.
Am Abschluß des langen Hauptsaales ist eine
vollständige Apsis eingebaut, in der das Apsis¬
mosaik aus San Michele in Affricisco zu Ravenna
seine Aufstellung gefunden hat. Berlin ist damit das
einzige Museum, das überhaupt ein größeres Mosaik¬
werk der altchristlichen Kunst sein eigen nennen
darf. Das Monument hat eine lange Leidensgeschichte
gehabt. Es war im Jahre 1843 durch Friedrich
Wilhelm IV. angekauft worden, aber nie zur Auf¬
stellung gekommen, und hat seitdem ein trübes Dasein
im Dunkel geführt, nicht ohne große Gefahr für seine
Erhaltung überhaupt. Aus dieser Finsternis ist es
jetzt erlöst und als ein Geschenk des Kaisers im
Kaiser Friedrich-Museum aufgestellt worden, ln der
Apsis das Bild des jugendlichen Christus zwischen
zwei anbetenden Erzengeln, auf der Stirnseite des
Triumphbogens rechts und links die Heiligen Cosmas
und Damian, darüber in der Mitte der Salvator als
Weltrichter, neben ihm die Engel Michael und Gabriel
mit den Leidenswerkzeugen und die sieben Engel
des Zornes aus der Apokalypse. Das Werk, das aus
der besten Zeit der Ravennatischen Kunst, aus dem
Jahre 545, stammt, damit aus der Periode des großen
Justinian, ist mit viel Geschick wieder zusammen¬
gesetzt. Das Seitenlicht, das durch ein rechts ein¬
gesetztes dreiteiliges Fenster von etwas charakterlosen
Profilen fällt, ist ziemlich düster und ist zugunsten
des Studiums dieses prächtigen dekorativen Stückes
durch elektrische Beleuchtung unterstützt worden. Der
ganze Saal davor hat durch eine Anzahl von großen
Säulen, auf denen altchristliche und byzantinische
Kapitäle Aufstellung gefunden haben, eine überaus
geschickte Gliederung gefunden. Es ist in diesen
Kapitälen eine vollständige Geschichte des altchristlichen
und byzantinischen Kapitäls gegeben, von den strengen
Formen des 5. Jahrhunderts bis zu den gezackten
und ausgezahnten, gleichsam ausgesägten degenerierten
Akanthusblattbildungen der späteren Jahrhunderte.
Zwischen den beiden mittleren Säulen ist über dem
Eingang zu dem koptischen Saal ein Tympanon ge¬
bildet, in das ein unteritalienisches Christusbild in
Glasmosaik auf Goldgrund geschickt eingelassen ist.
Nur flüchtig erwähnt werden kann, was an Skulpturen
hier zusammengebracht ist. Es ist ein allmähliger
Übergang aus der altchristlichen zur byzantipischen
Kunst und von dieser zur frühitalienischen, zur lango¬
bardischen und venezianischen des frühen Mittelalters
angestrebt. Unter den altbyzantinischen Werken, die
noch der griechischen Überlieferung angehören, ist
jenes von Strzygowski publizierte Stück eines Sarko¬
phags aus Konstantinopel mit dem jugendlichen
Christus zwischen zwei Aposteln aus dem 5. und
6. Jahrhundert das merkwürdigste. Es reiht sich das
Sarkophagfragment mit der Gestalt des Petrus in einer
Wunderszene an und jener byzantinische Grabstein
mit Moses, der die Gesetzestafeln empfängt; darüber
der schöne und wirkungsvolle ornamentale Ambo.
Jenseits des Portals eine Anzahl von spätbyzan¬
tinischen Plastiken, die durch ihr flaches Relief aus¬
gezeichnet sind. Die Abteilung darf jetzt schon
neben der von Hamdi Bey angelegten Sammlung im
Tschinili Kiosk zu Konstantinopel als die nächst-
48
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
bedeutende genannt werden. Die ganze Zalil solcher
Skulpturen ist ja eine außerordentlich geringe und
noch geringer war, was für den Ankauf in Betracht
kam. Das Relief tler Maria Orans und die Tafel
mit dem Erzengel Michael im kaiserlichen Ornat sind
besonders zu nennen. L'nier den Brüstungsplatten
zeigt eine frei aufgcstelüc, die sich an eine schöne
Verdeanticosäule auielml, Motive aus tiem sara¬
zenischen Kunstschatzo; die beiden Füchse mit dem
Hahn und ein Reh mit einem Adler in feiner Ranken¬
umrahmung. Der langobardischen Plastik gehören
altbyzantinischen Bronzen und endlich die Werke
der altbyzantinischcn Kleinkunst zur Aufstellung ge¬
bracht. Erst jetzt wird in der vereinigten und syste¬
matischen Vorführung die geschlossene Reihe dieser
Werke klar.
Auch der koptische Saal, der sich an die altchrist¬
lich-byzantinische Abteilung anschließt, bietet etwas
völlig Neues, noch kein Stück aus den hier ver¬
einigten Gruppen war im alten Gebäude ausgestellt.
Es ist das zugleich eine Abteilung, die in keiner
europäischen Sammlung eine Parallele hat. Es handelt
DER SAAL MIT DEM APSIS-MOSAIK AUS S. MICHELE IN AFFRICISCO ZU RAVENNA
vor allem die beiden Ciboriumbögen an, der kleinere
mit einer Weihinschrift des Papstes Johannes. In
einer höchst geschickt aufgestellten Gruppe über einem
der Sarkophage zwischen zwei Säulen und unter dem
einen der Ciboriumbögen hat die hölzerne Madonna
des Presbyters Martinus vom Jahre 1 1 gg ihre Auf¬
stellung gefunden, ein Werk der strengsten archaisch¬
hieratischen Kunst Toskanas. Noch ahnt man hier
nichts von dem Leben, das bald diesen erstarrten
Formenschatz erfüllen und sprengen sollte, ln den
Vitrinen sind die Werke der mittelbyzantinischen
Elfenbeinplastik, die altchristlichen Pyxiden und die
sich um die Kunst der eingeborenen christlichen Be¬
wohner Ägyptens aus dem ersten Jahrtausend. Auf
den ersten Blick erscheint alles, was sie geschaffen,
von einer erstaunlichen Roheit, und einer ganzen
Reihe der Holz- und Beinschnitzereien möchte man
eher im Völkerkundemuseum begegnen neben den
primitiven Kunstversuehen der Südseeinsulaner, als
hier in dem Hause der hohen Kunst. In dem großen
geschichtlichen Zusammenhang, in den diese Ab¬
teilung aber hier gerückt ist, gewinnt sie eine be¬
sondere Bedeutung als ein wichtiges Glied bei der
Ausbildung dessen, was wir bisher byzantinischen
AUS DEM KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
49
Stil im allgemeinen nannten, und auch zur vorder¬
asiatischen Kunst steht sie in enger Beziehung als
eine der wichtigsten Vorstufen der arabischen Kunst.
Das rein künstlerische Element tritt freilich arg zurück.
Es ist eine beispiellose Barbarisierung des helleni¬
stischen Formenschatzes, viel roher als die gallo-römi-
schen Arbeiten der
gleichen Zeit. Die
ganze Begabung der
Handwerker hat sich
auf das ornamentale
Gebiet geflüchtet,
und hier ist allein
ein selbstcändiges Le¬
ben, eine interes¬
sante eigene Ent¬
wickelung zu verfol¬
gen: alles wird dem
dekorativen Empfin¬
den untergeordnet,
zuletzt eben auch
die menschliche und
die tierische Gestalt.
An den Wänden
und in der Mitte
wieder einige Kapi¬
tale auf hohen Säu¬
len mit merkwürdig
flachem schemati¬
sierten Ornament,
über einer Gruppe
von drei Säulen an
der Wand die merk¬
würdigen Teile eines
Frieses mit Ranken
und kranzhaltenden
Genien. Unter den
plastischen Werken
ist nur das Hochrelief
einer Stadtgottheit zu
nennen und ein spä¬
ter Kaiserkopf mit
leeren Augenhöhlen,
einen Lorbeerkranz
um das Haupt.T rotz der geri ngen Kunstfertigkeit lebt doch
in dem bartlosen strengen Gesicht mit dem schmalen
etwas gekniffenen herben Mund ein gewisser indivi¬
dueller Ausdruck. Dabei ist das Starre der Formen
wieder den alten ägyptischen Porträts nachgebildet.
In den Wandschränken Proben von Malerei auf
Holz und Papyros, sowie kleinere Holz- und Bein¬
schnitzereien, darunter das bekannte von Strzygowski
zum Mittelpunkt einer alexandrinischen Gruppe er¬
nannte Hochrelief, das den Einzug einer christlichen
Kriegerschar in eine von Barbaren belagerte Stadt
darstellt. In dem zweiten Wandschrank andere
Schöpfungen des Kunstgewerbes und der Kleinkunst,
zumal aus Bronze
und Ton, eine große
Menge von Lampen,
Pilgerandenken,
Stempel zum Fla¬
schenverschluß. Da¬
neben bemalte Teller
des 5. bis 8. Jahr¬
hunderts, die merk¬
würdig an die einer
ähnlichen primitiven
Bauernkunst ange-
hörigen deutschen
und holländischen
Schöpfungen der
letzten Jahrhunderte
erinnern.
Den farbigen
Schmuck des Saales
bilden die großen
koptisch - byzantini¬
schen Stoffe, die in
mächtigen Rahmen
aufgehängt sind. Sie
stammen vor allem
von den Toten¬
feldern in Achmim
und Antinoe. Es
sind zum Teil ganze
Gewänder in Leinen
mit farbigen eiuge-
webten oder gewirk¬
ten Darstellungen
von Szenen des
Neuen Testaments,
Darstellungen von
Heiligen, aber auch
ganz unchristlichen
Tänzerinnen. Natürlich kann hier nur ein ganz ge¬
ringer Teil der vorhandenen Schätze zur Ausstellung
kommen. Diese ganze Gruppe wird freilich erst ver¬
standen werden in Verbindung mit der durch Julius
Lessingseitjahrzehnten angelegten großen textilen Samm¬
lung der koptischen-sassanidischen-byzantinischen Ge¬
webe des 1. Jahrtausends im Kunstgewerbemuseum.
PAUL CLEMEN.
EINBLICK IN DEN KOPTISCHEN SAAL
Zeitschrift für bildende Kunst. N F. XV!. II. 2
7
50
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
IV. DIE PERSISCH-ARABISCHE KUNST
Vor einigen Jahren hat Woldemar von Seidlitz
eine als Manuskript gedruckte Denkschrift veröffent¬
licht, in der er ein Deutsclics Museum für asiatische
Kunst:^ forderte. Er will derjenigen Kunst Asiens,
die unabhängig von dem Umkreis der Mittelmeer¬
völker emporgeblüht ist, der Kunst Chinas mit ihren
Nebengebieten, der japanischen mit der indischen,
hinterindischen, indonesischen und der weitverzweigten
Kunst des Islam hier eine Heimstätte an weisen. Man
muß, wenn man die deutschen Sammlungen über¬
sieht, sofort zugestehen, daß hier bis jetzt eine ge¬
waltige Lücke klafft. Es liegt die Gefahr vor, daß
wir, wenn einmal der Gedanke eines solchen Museums
Gestalt gewinnt, zu spät kommen. England hat seit
Jahrzehnten sein indisches Museum, das freilich mehr
nach Rücksichten der Kolonialpolitik, als der Kunst¬
pflege angelegt ist und verwaltet wird, im South
Kensington-Museum sind zudem herrliche Werke der
asiatischen Kunst versteckt. Frankreich besitzt das
Musee Guimet und dazu jetzt das Musee de l’extreme
Orient und in beiden die Keime zu solchen, die ganze
asiatische Kultur umfassenden Sammlungen. In Deutsch¬
land hat man bisher diese ganze Kultur mehr oder
weniger als zum Kunstgewerbe gehörig angesehen,
und die Kollektionen dieser Erzeugnisse aus dem äußer¬
sten Osten sind deshalb den Kunstgewerbemuseen an¬
gegliedert worden, ln erster Linie steht hier die Samm¬
lung, die Justus Brinkmann in Hamburg angelegt hat.
Aber alle diese Abteilungen gelten doch immer mehr
China und Japan und höchstens noch Indien. Der islami¬
tische Orient schien für unsere Museen tot zu sein oder
nur spärliche Beute zu bieten. Nachdem jetzt mit
dem Wachsen der deutschen Interessensphären im
Orient auch die Forschung sich immer mehr dieser
Gebiete bemächtigt, nachdem zu der alten Deutschen
morgenländischen Gesellschaft die Orientalische Ge¬
sellschaft und das Orientkomitee getreten sind, dürfen
wir hier nicht länger zögern, auch die späteren
monumentalen Zeugen dieser vergangenen Kulturen
zu sammeln und für unsere Zwecke zu verwerten.
Ein einfacher Privatmann, Fritz Sarre, der über breite
Mittel gebietet, hat auf Grund seiner Forschungsreisen
in einem kleinen privaten orientalischen Institut, das
aber allen Fachgenossen und Interessenten offen steht,
und einer über das Gebiet der arabischen und persi¬
schen Kultur sich ausdehnenden Sammlung hiermit
den Anfang gemacht. Berlin besaß im Kunstgewerbe¬
museum seit Jahren schon eine langsam wachsende
Sammlung von orientalischen Metall- und Fayence-
Arbeiten, Fließen, keramische Schöpfungen und vor
allem eine ausgezeichnete Textilsammlung, aber es
fehlten die Stücke und mußten dem Charakter der
Sammlung entsprechend naturgemäß fehlen, die den
Übergang zur monumentalen Kunst bildeten. Hier
sucht die neu geschaffene persisch-arabische Abteilung
des Kaiser-Friedrich-Museums einzusetzen. Sie zeigt
die Anfänge einer groß angelegten Sammlung; der
Rahmen ist seh.r weit gespannt: mir einzelne Plätze
auf dem weiten Schachbrett sind besetzt und fast alle
nur provisorisch, aber man sieht den gewaltigen
Willen lind das wissenschaftliche Programm, das hier
zugrunde liegt.
ln dem einen großen Quertrakt, der von der
Spreeseite auf das schöne kleine Treppenhaus
zu führt, ist ein riesiges Werk aufgestellt, das erst
im vorigen Jahre nach Berlin gelangt ist, ein Ge¬
schenk des Sultans an den Kaiser: die Palastfassade
von M’schetta. Nicht die ganze Fassade ist abge¬
brochen und hierher überführt, nur der eine Flügel
und die beiden polygonalen Türme, die das Mitteltor
zwischen sich schließen. Diese Aufstellung ist natür¬
lich nur eine provisorische. Das große Mittelportal
ist arg verengt worden zu einem schmalen Schlitze.
Wie wunderbar würde sich die ganze Fassade machen
in einem mächtigen Raume, entsprechend der Halle,
wie sie für das Pergamon-Museum geplant war, aber
nicht zur Ausführung gekommen war, in voller
Ausdehnung als Front eines asiatischen Museums!
Aber das sind fromme Wünsche für die spätere Zu¬
kunft. Die aus porösem Kalkstein ausgeführten Mauern
sind durchweg und bis auf die beiden untersten
Steinlagen mit freigearbeiteten Ornamenten bedeckt.
Der Rhythmus der Fassade wird bestimmt durch große
Zickzacklinien, die zwischen Sockel und Gesims hin¬
laufen, und kräftig vortretende Rosetten in den ein¬
zelnen Dreiecken. Die ganze Fläche ist aber daneben
noch übersponnen und gleichsam zernagt von den
üppigsten Ornamenten. Es ist ein horror vacui, der
hier auch nicht eines der architektonischen Glieder
freigelassen hat. Zwischen den pflanzlichen Orna¬
menten, die die Fläche überranken, finden sich Greife
und Löwen , Centauren und andere Fabeltiere in
munterem Spiele. Das Werk ist nie ganz fertig ge¬
worden; einzelne der Steine tragen nur eine Art Vor¬
zeichnung, während andere Partien völlig in einer
mehr kunstgewerblichen als monumentalen Technik
durchgearbeitet sind. Dieses »Winterlager« (denn
das heißt M’schetta) lag östlich vom Jordan und vom
Nordrand des Toten Meeres und war den Reisenden
und Archäologen längst bekannt. Es galt als ein
Bau des letzten Sassanidenkönigs Chosroes 11. aus der
Zeit der syrischen Okkupation, und mit dem Sturz
der Sassanidenherrschaft glaubte man auch das Un¬
vollendetsein am besten erklären zu können. Man
fragt sich allerdings, wie ein Fürst dazu kam, in
diesem abgelegenen Winkel ein so kostbares Schloß
sich zu erbauen. Freilich war dies Gebiet im ersten
Jahrtausend außerordentlich wildreich, und man denkt
an die im Ostjordanlande gelegenen arabischen Lust-
und Jagdschlösser der Abbasidenprinzen, die ebenso
in die Einöde gesetzt waren, an das von Dr. Musil
entdeckte arabische Märchenschloß Amra. Neuerdings
hat Josef Strzygowski diesen späten Ursprung in Frage
gezogen und glaubt eine viel frühere Zeit, den Be¬
ginn des 5. Jahrhunderts, als Zeit der Erbauung in
Anspruch nehmen zn können. Baumeister aus Meso-
DAS KAISER ERIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
5
DIE PALASTFASSADE VON M’SCHETTA
potamien und byzantinische Arbeiter hätten den Palast
aufgeführt. Eine Veröffentlichung von Strzygowski
wird das Oktoberheft des Jahrbuches der Preußischen
Kunstsammlungen enthalten.
In dem arabischen Saal, der der Spree zugekehrt
ist, ist an den Wänden eine ausgesuchte Kollektion
von vorderasiatischen und persischen Teppichen zur
Ausstellung gebracht, vom 14. bis zum 17. Jahr¬
hundert, durchweg Geschenke von Bode, die er
seit Jahrzehnten zumal in Italien gesammelt hat, dar¬
unter ausgezeichnete Stücke, so jener Persertepjüch
unter chinesischem Einfluß, der die Wappentiere der
Ming-Dynastie aufweist. Das ergäbe dann die Periode
der Mongolenherrschaft, das 14. oder 1 5. Jahrhundert
als Zeit des Ursprungs. An den Wänden sind Wand¬
schränke mit Arbeiten in Ton und Elfenbein aufge¬
stellt, sowie Holz- und Elfenbeinmosaiken vom 2. bis
zum 8. Jahrhundert, die Tonarbeiten bis zur Mame¬
lukenzeit reichend; in einem zweiten Schrank dann die
großen Koraneinbände, herrliche und ausgesuchte
7
52
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
Lederarbeiteil, darunter ein Exemplar von fast ein
Meter Höhe. In dem Mittelpunkt ein viereckiger
Kasten in Metall um 1400, der zur Aufnahme eines
Korans in dreißig Bänden bestimmt ist, ein außer¬
ordentlich seltenes und kiinstgeschichtlich wichtiges
Stück; daneben der Deckel .-ines solchen, auf dem
die Gold- und Silber-Tauschierung noch vortrefflich
erhalten. An den Schmalwänden außerdem Proben
der arabischen Holzschnitzereien, zum großen Teil
aus Ägypten, im 8. Jahrhundert mit Stücken aus der
Tuhm-iMoschee in Kairo beginnend, dann eine kleine
Kollektion aus der Fatimidenzeit, ferner eine Samm¬
lung der ältesten Grabsteine, die die antike Stelenform
fortsetzen, die ältesten in Marmor, darunter der früheste
der überhaupt bisher bekannten Grabsteine aus dem
Jahre 207 nach der Hedschra = 82 1 . Von den
drei freistehenden Schränken enthält der erste kleinere
Lederarbeiten mit arabischen Ornamenten des 14. und
15. Jahrhunderts, der zweite eine Sammlung von
Fayence- Fragmenten aus Ägypten und Nordafrika,
darunter auch eine kunstgeschichtlich wichtige Samm¬
lung von Scherben mit Künstlernamen, und endlich
der dritte eine Kollektion von Mosulgefäßen, Vasen
der bekannten Form, getrieben und mit eingeritzten
oder in Silber und Gold tauschierten Einlagen ver¬
sehen, zumeist aus dem 13. bis 14. Jahrhundert, auch
einige ältere Exemplare darunter. Zuletzt eine Kollek¬
tion arabischer Gewichte und Maße, einige Hundert
Glaspasten mit Namen der Fatimiden- Kalifen, ferner
arabische Gläser und Fayencegefäße. Der Wert dieser
ganzen Sammlung liegd nicht so sehr in den einzelnen
Stücken, als in der systematischen Anlage; auch hier
ist noch vieles auszubauen und hinzuzutun. Professor
Moritz, der energische Direktor der Khedivial-Biblio-
tliek in Kairo, hat den größeren Teil der Samm¬
lung zusammengebracht, einzelne kleinere Abteilungen
haben Strzygowski und Wiegand (aus den Aus¬
grabungen von Priene und Milet) beigesteuert.
Auch in dem Nebensaal hat sich vorläufig die
arabische und daneben die persisch-sassanidische Kunst
eingenistet. An den Wänden sind provisorisch jene
großen Kopien der Fließen aus den Moscheen Erdebil
bei Ispahan und Nachitschewan, sowie aus Konia
aufgestellt, die Sarre auf seinen letzten Expeditionen
an Ort und Stelle hat anfertigen lassen. Sie geben,
bis sie etwa durch Originale ersetzt werden können,
wenigstens einen ungefähren Begriff von der Leucht¬
kraft und der Pracht dieser keramischen Dekorationen.
Die ganze Sammlung ist noch im Entstehen begriffen:
was ihr fehlt, das sind - außer der einen Fassade
von M’schetta — die großen imponierenden Werke
der monumentalen Kunst. Sollte es nicht möglich
sein, einmal einen ganzen Mihrab aus einer aufge¬
gebenen Moschee zu erwerben — oder etwa die
ganze Schauseite und die Portalnische einer der in
Trümmern liegenden Moscheen am jetzigen Endpunkte
der anatolischen Bahn? Das sieht freilich wie eine
seltsame Art von Denkmalpflege aus - aber es
handelt sich hier wirklich zumeist um eine Rettung;
und auch das Wunderwerk von M’schetta hätte man
sich lieber noch weiterhin im Wüstensande von
Palästina vorgestellt, wenn hier nicht mit der Gefahr zu
rechnen gewesen wäre, daß es für den Dammbau in
der Nähe abgebrochen worden wäre. Dann ist es
schon besser, die Skulpturen wandern direkt in das
Berliner Museum, als daß sie wie der Altar von
Pergamon erst in eine Mauer verbaut und aus dieser
dann nach Jahrhunderten erlöst werden.
PAUL CLEMEN.
V. ITALIENISCHE PLASTIK
Für die große Sammlung italienischer Skulpturen,
welche das Berliner Museum besitzt, war die Be¬
schaffung eines neuen Heims eine noch dringlichere
Notwendigkeit als für die Gemälde. Bedrängte diese
der Platzmangel nur relativ, so fehlten in Schinkels Bau
die Säle für die Skulpturen der christlichen Epoche
gänzlich. Die kleinen plastischen Bestände der Kgl.
Kunstkammer führten im Erdgeschoß neben den An¬
tiken, zusammen mit einigen Majoliken, Bronzen und
Elfenbeinen lange Zeit ein sehr bescheidenes, allzu
gemütvolles Dasein. Die retrospektive Ausstellung
im Pariser Trocadero von 1878 gab für die Sammler
und Museen den Anstoß, sich der bisher nur wenig
begehrten und auch wenig gekannten italienischen
Quattrocentoskulptur systematisch zuzuwenden. Vor¬
her aber hatte Wilhelm Bode bereits mit sicherem
Instinkt diese Plastik in einer besonderen Abteilung
der Berliner Sammlungen zu sammeln begonnen,
ohne dabei sofort die Unterstützung zu finden, die
eine umfassende Ausgestaltung dieser viel versprechen¬
den Neugründung ermöglicht hätte. Erst nach seiner
Ernennung zum Direktor der plastischen Abteilung
(1880) konnte er im größeren Stil daran gehen, seine
Vertrautheit mit dem italienischen Privatbesitz und
Kunstmarkt im Interesse der jungen Sammlung aus¬
zunutzen. Verdanken die Londoner und Pariser
Staatssammlungen ihre Bestände an Renaissanceplastik
— abgesehen von altem Besitz — glücklichen Ramsch¬
ankäufen, bei denen viel Minderwertiges und auch
einiges Moderne mit unterlief, so hat Bode stets nur
einzelnes erworben und auf diese Weise langsamer,
aber lückenloser und vorsichtiger gesammelt. Wenn
er den Schwerpunkt seiner Bemühungen in das
Quattrocento legte, so lag das weniger am Charakter
des damaligen Kunstmarktes, als weil hier wirklich
eine in sich geschlossene, in Vergleich mit der gleich¬
zeitigen Malerei Toskanas bedeutend reifere Kunst sich
anbietet, neben der die Plastik des Cinquecento trotz
aller Glanzleistungen einseitig, zum Teil manieriert
und jedenfalls weniger frisch und unmittelbar er¬
scheint. Es galt aber nicht nur, die italienische, speziell
toskanische Quattrocentoplastik zu erwerben, sondern
auch zu erforschen und den Nordländern lieb zu
machen. Wie spröde die Kunstfreunde im Anfang
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
53
von Bodes Wirksamkeit dieser Kunst gegenüber-
gestanden haben mögen, kann man an dem Befremden
ermessen, das vor einigen Jahren die Krefelder Museums¬
freunde überfiel, als ihnen die plastische Quattrocento-
Sammlung des Herrn von Beckerath angeboten wurde,
die doch viel feine, muntere und liebenswürdige
Sachen enthielt.
Nach drei Seiten hin dehnte Bode seine Sammler¬
tätigkeit aus. Das Wichtigste war die Sammlung der
Marmore, die namentlich durch die Erwerbung be¬
deutender Rorträtbüsten bald ein schönes Niveau er¬
reichte. Gleichzeitig ging der Unermüdliche an die
Bronzen, die er früher als irgend ein anderer Museums¬
direktor systematisch gesammelt hat. Die Medaillen
blieben freilich dem Münzkabinett Vorbehalten; aber
die Bronzestatuetten, mit denen die Kamine und Wand¬
bretter der Quattrocento -Palazzi besetzt waren, die
großen Büsten und Reliefs, die kleinen Geräte wie
Leuchter, Schreibzeuge, Taschenbronzen und anderes
wurden nun in stattlicher Fülle und fast immer in
guten Exemplaren erworben. Dazu kam eine von
Bardini znsam mengetragene Sammlung von Plaketten, die
den Grundstock einer Abteilung bilden sollte, die heute
an Vollständigkeit alle anderen Sammlungen dieser
Art überholt. Eine dritte Gruppe endlich bildete die
Holz-, Ton- und Stuccoplastik. Diese war, was bisher
verkannt worden war, namentlich um der Farbe
willen für eine Epoche der malerischen Halb¬
plastik, wie sie die Bildnerei des Quattrocento
darstellt, ungemein wichtig, ganz abgesehen
davon, daß sehr viele Marmorarbeiten jener
Zeit uns nur im Tonmodell oder der Stnck-
nachbildung erhalten sind. Die Tonplastiken
bieten, soweit sie Originalmodelle sind, noch
dazu den besonderen Reiz, daß sie die Impro¬
visation der künstlerischen Schöpfung viel
treuer festhalten, als der spröde, nur dem
zähen langsamen Angriff weichende Stein.
Diese kostbaren Tonsachen hatte bisher nie¬
mand gesammelt; bis heutigen Tages sind die
Sammlungen des Bargello und des Louvre
arm an diesen Arbeiten und die wenigen
Stücke im Viktoria-Albert-Museum sind zwar
zum Teil sehr gut, aber allzu verstreut, um ein
Bild der Gesamtleistung zu geben.
Für diese farbige Plastik war, als die
Schätze sich häuften, im alten Museum ein
Oberlichtsaal eingebaut worden, bei dem Bode
eine besonders glückliche Raumwirkung zu
erzielen gewußt hatte. Das freilich an be¬
deckten Tagen nicht ganz genügende Oberlicht
verhalt den bunten Reliefs, Statuen und Büsten
zu einer verhaltenen Wirkung und entschleierte
nicht schonungslos die Schäden, welche diesen
wenig dauerhaften Stücken von der unsanften
Behandlung während vier Jahrhunderten zuge¬
fügt waren. Dieser Oberlichtsaal, in dem die
große Stuckmadonna Benedetto da Maianos
feierlich erhaben vor einem herrlichen Perser¬
teppiche thronte, wird uns allen unvergeßlich
bleiben. Nur wenige Marmorbüsten waren
vor die flachen, die Wände teilenden Tuchstreifen ge¬
stellt; sie markierten in all der bunten Fülle eine stille
Rhythmik des Saales, dessen geweihte Stimmung auch
den redseligsten Schwätzer verstummen ließ. Hier
war auch der Anfang mit den Versuchen gemaclil,
dem Raum die Nüchternheit eines Magazins zu
nehmen durch die Aufstellung alter Truhen, Tische,
Sessel und einer großen Cassapanca.
Ursprünglich bestand nun der Plan, beim neuen
Museum die Bestände dieser drei Abteilungen (Mar¬
more, Bronzen und farbige Plastik) untereinander und
mit Bildern zu mischen. Mehrere Ausstellungen aus
Berliner Privatbesitz, die von Bode während der letzten
zwanzig Jahre inszeniert waren, hatten gezeigt, wie
vorteilhaft bei solcher Mischung die einzelnen Mate¬
riale sich steigern - - namentlich Bronze und Majolika,
Marmor und Bild. Die deutsche Plastik ist denn
auch in der Tat mit den mittelalterlichen Bildern in
glücklicher Weise verbunden worden. Dagegen mußte
man bei der italienischen Plastik es im großen und
ganzen bei der Scheidung der Materiale lassen. Ein¬
mal durften die Fehler des Münchener Nationalmuseums,
das infolge seiner Bemühungen um malerische An¬
ordnung ein Bazar geworden ist, nicht wiederholt
werden. Das Kabinett James Simon, das Geschenk
eines mannigfach interessierten Sammlers, führt diese
TAMAONINI, BÜSTE DES GENUESER BANKIERS ACELINO SALVAGIO
Aus dem Besitz der Kaiserin Friedrich
54
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
Mischung \'or Augen und zeigt am besten, daß es
untunlich war, alle Kabinette in diesem Stil zu
arrangieren. Aniiertlem aber ergab sich, daß die
farbigen Stncchi neben den Marmoren schmutzig und
verstoßen aussahen, daß die Bronzen in dieser Trias
nicht gewannen, sondern schwer und tintig wirkten,
kurz daß eine Misdumg nur ganz ausnahmsweise zu
glücklichen Wirkungen füliren könne. Die Michel-
angelovv'and des Cinquecentosaales stellt eine glück-
liciie Probe dieser Versuche dar — hier wirken
Marmor, bunter Stuck nnd Bild sehr eigenartig zu-
die ganze Außenwand einnehmenden Fenstern auf
die auf den gegenüberliegenden großen Wänden
hängenden Sachen. An gut belichteten Tagen denkt
man durch helle Vorhänge diese Fenster so weit ab¬
zublenden, daß nur die Lünetten frei sind, um so
eine Art Oberlicht zu erzielen. Die Zimmer sind
durchweg mit hellgrünem, festen, ungemusterten Stoff
bespannt, der einen ruliigen, wenn auch nicht über¬
all gleich günstigen Grund abgibt. Scherwände
fehlen; die wenigen Zwischenwände haben zum Teil
alte Portale. Der große Durchblick fällt auf der
DONATELLO-SAAL MIT DEM BLICK IN DEN SAAL DER ÜBEROANOSMEISTER
sammen und schaffen einen Rhythmus, der lebendig
reizt, ohne Unruhe zu verraten. Man hat in den
übrigen Kabinetten des Oberstocks die Marmore
allein aufgestellt und sie diskret mit Bildern und
wenigen Buntplastiken gemischt. Die Bronzen sind
in zwei Sondersälen arrangiert. Die Ton-, Holz-
und Stückarbeiten sind dagegen in die lange Galerie
des Erdgeschosses, nach dem Kupfergraben zu, in
zwei großen und drei kleinen Sälen aufgestellt.
Es kann nicht geleugnet werden, daß die Wir¬
kungen des alten Oberlichtsaales hier in diesen letzt¬
genannten fünf Räumen nicht wieder erreicht worden
sind. Ein allzu reichliches Licht fällt von den großen.
einen Seite auf die hohe Madonna Benedetto da
Maianos, die auch hier wieder, wie im alten Ober¬
lichtsaal, als Herrin das Ganze anführt; sie steht vor
dunkelrotem Sammet in mäßig hellem Licht. Auf
der entgegengesetzten Schlußwand sieht man die
schönen Sieneser Holzstatuen der Verkündigung, die ja
freilich ihre alte Bemalung eingebüßt haben, zwischen
ihnen ein ferraresisches Kreuzigungsrelief von statt¬
lichen Dimensionen, das erst kürzlich erworben wurde.
Der Mittelsaal, der künftig die Arbeiten der Verrochio-
Gruppe aufnehmen wird, war bei der Einweihung
für die Geschenke, mit denen die Freunde des Museums
seinen Geburtstag feierten, reserviert worden. Der Eck-
BEOARELLI. KREUZIGUNOSQRUPPE MIT ZWEI KANDELABERENOELN
BASILIKA. SÜDWESTLICHE KAPELLE
56
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
raum mit den Arbeiten aus dem Cinquecento, wo
das eine Fenster verstellt werden mußte, hat kein be¬
sonders gutes Licht.
Die Belebung der Räume durch die kostbaren
alten Möbel ist glänzend geglückt und viel breiter
durchgeführt als im alten Museum. Die Möbel gehen
mit einem Stück noch in die gotische Zeit zurück;
die meisten gehören dem florentiner Quattro- und
Cinquecento an, aber auch die so seltenen Venezianer
Truhen fehlen nicht. Dazu kommen große Verdura-
teppiche, der größte und wirksamste im zweiten
Hauptsaal. Auch die Kamine wirken hier freier und
monumentaler als im alten, zu schmalen Oberlicht¬
saal; es fehlt ihnen auch die charakteristische Relief¬
platte über der Feuerstelle zwischen den Feuerböcken
nicht, wo einmal ein Ganymed, das andere Mal ein
Phönix in die Lüfte steigt.
Bei einem so reichen Bestand an Buntskulpturen, die
ursprünglich doch für eine isolierte Aufstellung gedacht
sind, geht es, zumal die historische Gruppierung ge¬
wahrt bleiben sollte, naturgemäß nicht ohne Unruhe
und Widerspruch ab. Am einheitlichsten wirkt der west¬
liche Ecksaal mit den primitiven Arbeiten, am unruhigsten
das entgegengesetzte Zimmer mit den Cinquecento¬
sachen. In den beiden Hauptsälen hat Dr. Voege die
Riesenwände durch je drei symmetrische Gruppenbilder
rhythmisiert. Im westlichen Saal enthält die große
Wand zwei Donatello- und eine Luca Robbia-Gruppe.
Natürlich steht die große farbige Stuckmadonna Dona-
tellos im Mittelpunkt; das zweite donatelleske Zentrum
bildet ein feiner, hellfarbiger Stucco nach der Madonna
der Via Pietra piana in Florenz. Zwischen die vielen
Reliefs und Madonnen sind auf die Kamine, Tische und
Konsolen sieben Büsten verteilt, von denen einige aus dem
Depot wieder hervorgeholt sind. Frischbewegte Ton¬
statuetten stehen zum Teil sehr reizvoll auf hölzernen
Ständern und nicht mehr wie früher eng zusammen auf
langen Wandbrettern. Die Luca Robbia-Gruppe hat
zum Mittelpunkt die wundervolle farbige Stuckmadonna,
ein Prachtstück, das der glasierten Madonna der
limocenti verwandt ist. Sie hat in dem scharfen
Licht gegen früher wesentlich verloren und man wird
für sie mit der Zeit noch einen anderen Platz finden.
Tiefer und sichtbarer als früher hängt das schöne
Lünettenrelief Lucas aus Palazzo Alessandri. Manche
Stucchi sind gesäubert worden, so daß ihr goldener
Glanz wieder leuchtet. Hoffentlich wird nicht wieder
der Staub der Heizung, wie im alten Museum, die
hellen Stücke bronzieren.
Der Eckraum mit den Werken der Tonplastiker
der Übergangszeit wirkt, wie gesagt, besonders günstig;
selbst stark bestoßene und entblätterte Stücke stören
die feierliche Wirkung nicht. Bode ist jahrelang
vergeblich für diese frühen, nicht immer reifen und
bisher noch namenlosen, aber sehr bezeichnenden
Werke der gotisierenden Nachzügler des 15. Jahr¬
hunderts in Florenz und Verona eingetreten. Ihre
dekorative Schönheit kommt jetzt sehr glücklich zur
Geltung.
Im zweiten östlichen Hauptsaal waren mehr als
öoSkulpturen unterzubringen ; Antonio Rossellino,Bene-
detto da Maiano, die Bolognesen, Ferraresen und
Venezianer sind hier versammelt. Sperandios klotzige
Professorenbüste bildet den schweren Mittelpunkt;
sie steht auf einer prächtigen Florentiner Kredenz mit
Messingbeschlag - freilich reichlich niedrig! Ein
Teil der hier aufgestellten Stucchi, z. B. die schöne
Bologneser Madonna und eine Tonmadonna, die man
mit Bramante in Zusammenhang gebracht hat, schmach¬
tete früher, nahezu unsichtbar, in einem dunkeln
Saal neben dem Oberlichtsaal des alten Museums.
Im letzten Saal hängen oben an drei Wänden die
sieben mythologischen Fresken Bernardino Luinis aus
der Villa Pelucca, um 1520 gemalt; zwei derselben
waren eine Zeit lang im Kupferstichkabinett ausgestellt
gewesen, die anderen nie. Auch in diesem Saal
kommt vieles Vergessene aus dem Depot wieder zum
Vorschein — leider allzu viele kleine Stücke; fünfzig
Nummern. — Die fünf Säle liegen unmittelbar neben
den Zimmern der deutschen Frühkunst; diese ge¬
währen einen glänzenderen Aspekt und das deutsche
Publikum, das natürlich der deutschen Kunst sich
leichter zuwendet, als der romanischen, wird in den
italienischen Sälen sich erst einleben müssen. Einem
Bedauern würden wir Ausdruck geben, wenn wir
nicht wüßten, daß diese Frage reichlich durchdacht
und nur ungern negativ entschieden ist: Man hat es
nicht gewagt, die reiche Sammlung der Robbia-
glasuren unter die Stucchi zu mischen. Diese letzteren
hätten dann zu stumpf und benagt gewirkt.
Die Mehrzahl der Robbiaarbeiten — 24 Num¬
mern, das Museum besitzt etwa 40 Stücke! - hängt
jetzt in einem der kleinen Kabinette auf der Spree¬
seite im Oberstock zusammen, nahe den primitiven
Bildern und Marmoren des Quattrocento. Wie viel
stärker sie in der Vereinzelung und namentlich als
glänzende Augen stumpfer Wände wirken, merkt man
an der schönen Lünette, die über der Medicitür in
einem der Bilderkabinette steht und ebenso in der
Basilika. Die Robbiaarbeiten verlangen eine starke
Profilumrahmung, womöglich groben Mauergrund
und architektonisch markierte Plätze. Ein Museum
hat derartige Plätze nur ausnahmsweise zu vergeben;
es hat vor allem das Interesse, die einzelnen Stücke
dem Auge nahe zu bringen. Wie wir hören, wird die
hellblaue Tuchbespannung des Robbiakabinetts später
gegen einen tieferen Ton, der zu dem Blau der
Gründe besser paßt, geändert werden. Die beiden
Seitenwände sind Luca und Andrea zugeteilt; nament¬
lich die erstere Wand ist geglückt, mit dem Zentrum
der Frescobaldimadonna. Vielleicht wird für den
herrlichen jünglingskopf (Tondo), der ausnahmsweise
an der Andreawand hängt, noch eine architektonische
Rahmung gefunden werden. Ein größeres Tondo
Giovanni della Robbias mit der hl. Verdiana in einem
schweren Fruchtkranz ist von Herrn von Beckerath
der Sammlung neu geschenkt worden.
Einen sehr distinguierten Eindruck macht das an¬
stoßende Donatellokabinett. Zwischen die Marmore
der Madonnen Pazzi und Orlandini hat man die
farbig so bestechende Giovanninobüste gestellt; an
den Ecken zwei Desideriobüsten, von denen die viel-
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI
DONATELLO, ENGEL VOM TAUFBRUNNEN IN SIENA
RADIERT VON PETER HALM
AUS DEM KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
57
genannte Marietta ein allzu weißes Licht hat. Ganz
besonders schön ist die Rückwand gelungen, wo ein
sienesisches Marmorrelief Giovanni di Stefanos mit
zwei kleinen Sieneser Bildern von Neroccio und Matteo
di Giovanni ungemein fein steht. Darunter Büsten
und Reliefs von Federighi und Civitale. Seitlich wird
die freundliche Gruppe durch zwei auf hohen Posta¬
menten stehende Madonnenstatuetten abgegrenzt. In
der Ecke auf einem prächtigen donatellesken Baluster die
beseelte Statue König Davids vom Florentiner Dom.
Diese Wand ist meines Erachtens die beste in den
Skulptur-Kabinetten des Oberstockes. Die dritte Wand
beherrscht dann Desiderio, der unter den Stucchi nur
dürftig (dreimal) vertreten ist. Die Mitte nimmt die
köstliche urbinatische Prinzessin ein, die sehr fein
beleuchtet wird.
Über den Aspekt der beiden Bronzekabinette ist
schon geschrieben worden. Die bisher so schlimm
zusammengepferchte glänzende Sammlung bietet sich
nun, auseinander gezogen, schön verteilt, in ganz
neuem Werte an. Die Plaketten hat man, wie im
alten Raum, zum Teil wieder in Wandkästen auf¬
gereiht. Bei den Statuetten sind die größeren und
bedeutenderen Stücke nicht in den Vitrinen, sondern
frei aufgestellt. So steht der schöne Putto Donatellos
vom Sieneser Taufbrunnen vor der auch sonst kost¬
baren rechten Wand des größeren Saales; als Gegen¬
stücke eine glänzende Neuerwerbung, eine Sieneser
Bronze der gleichen frühen Zeit, eine nackte dovizia
mit Füllhorn. Die Sammlung der Statuetten in den
leider sehr hohen Vitrinen hat in letzter Zeit noch
einige beste Stücke hinzuerhalten; eine kleine Gruppe
derselben ist in der schönen alten Libreria des Plaketten¬
zimmers ausgestellt. Für die Bronzen liegt nun die
Neuausgabe des großen Katalogs vor, die einen ge¬
wissen Abschluß der von Bode und Knapp besonders
geförderten Forschung auf diesem Gebiete bedeutet.
Bei dem Kabinett James Simon, der größten
Schenkung, die das Museum an seinem Ehrentage
erlebte, war der Wunsch des Besitzers, daß die Samm¬
lung vereinigt bleiben sollte, maßgebend. Es konnte
also hier das Experiment erprobt werden, wie italie¬
nische Bilder, Marmore, Stucchi, Bronzen, Medaillen,
Majoliken und Möbel sich miteinander vertragen. Das
Kabinett leidet etwas an seiner Fülle; namentlich die
Vitrine auf dem schönen alten Tische besetzt den Raum
allzustark. Auch sonst ergab sich hier eine Häufung
schöner Dinge, die eben nur in der Ausnahme
statthaft ist. Über die Sammlung selbst wird ein be¬
sonderer Katalog erscheinen. Der in der Bemalung
so wunderbar erhaltenen Madonna Andrea Robbias
wünschte man einen noch bevorzugteren Platz. Über
der großen Cassapanca hängen einige nordische, farbig
sehr hervorstechende Bilder von den Bruyns und
Gerard David. Darüber steht feierlich und milde eine
heilige Frau im schönen alten Tabernakel. Das Relief¬
porträt eines jungen Mädchens in pietra serena steht
Desiderio nahe. Ganz besonders erfreulich für das
Museum sind die Medaillen und kunstgewerblichen
Stücke dieses Kabinetts, da diese Sachen ja im übrigen
prinzipiell ausgeschlossen sind. Die Medaillensamm-
Zeitsdirift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 2
lung von James Simon ist seit lange berühm.t; es
befinden sich Unika darunter, und alle Stücke sind
von wunderbarer Erhaltung und besonderer Schön¬
heit. Wer die Medaillensammlungen der italienischen
Museen durchmustert hat, weiß, welche Unterschiede
es hier gibt; namentlich ein Besuch des Argus-Saales
im Mailänder Castello Sforzesco ist sehr geeignet,
den Wert unserer kleinen, aber ausgezeichneten Samm¬
lung zu verdeutlichen. — Über die Aufstellung des
Münzkabinetts kann ich nicht berichten, da sie bei
der Niederschrift dieser Zeilen noch nicht vollendet war.
Von den beiden letzten Quattrocentokabinetten
birgt das eine die reiche Sammlung der Arbeiten
A. Rossellinos und Mino da Fiesoles. Hier haben
die Büsten wieder das erste Wort. Der Kunst¬
historiker hätte natürlich gern die kostbare Büsten¬
sammlung unseres Museums an einer Stelle vereint
gesehen; die herrlichen Stücke sind jetzt auf viele
Plätze verteilt, wirken hier aber als Solisten sehr per¬
sönlich. Freilich wirft das seitliche Licht mitunter
starke Schatten. Über der Intarsiatür des Rossellino-
Kabinetts steht äußerst frisch und heiter eine Stuck¬
büste Desiderios. Weniger glücklich und zu tief steht
der Christuskopf des Meisters der Marmormadonnen
in einer Ecke dieses Kabinetts. Hervorzuheben ist
noch Benedetto da Maianos reizende Lünette mit den
beiden Putten. Die Mino -Wand hat zwischen den
beiden auf alten Konsolen lastenden Männerbüsten
dieses Meisters ein feines farbiges Stuckrelief der so¬
genannten russischen Madonna Rossellinos, das Frau
Hainauer geschenkt hat. Daneben ein von Bode
geschenktes Fresko von Filippino, ein männlicher
Kopf, der den Fresken in der Brancaccikapelle nahe
steht.
Im letzten Zimmer dieser Reihe hat man in die Decke
die schönen vier Bilder Paolo Veroneses eingelassen, die
einst im Fondaco dei Tedeschi in Venedig saßen. Hier
kommt die außerflorentinische Plastik (Francesco Lau-
rana, Matteo Civitale, Tamagnino und andere) zur Auf¬
stellung. Man hat hier mit Bildern und bunten Holz¬
reliefs absichtlich mehr abgewechselt als in den floren-
tinischen Kabinetten; denn die lombardische Plastik
fordert den bunten Wechsel, während der Florentiner
Geschmack das Kühle und Monumentale bevorzugt.
Drei kleine Venezianer Bilder und drei lombardische
Holzskulpturen werden von Marmorgruppen umzogen.
Einen fast bizarren Gegensatz zu der empfindsamen
Neapeler Prinzessin Francesco Lauranas bildet die
herausfordernde Physiognomie des Genueser Bankiers
Acelino von Tamagnini.
Über die interessante Michelangelo-Wand ist schon
berichtet. Dagegen ist noch der neue Altar unter
dem neugerahmten Riesenbilde Luigi Vivarinis im
großen Venezianer Bildersaal zu erwähnen. Hier hat
man die Reliefs des sogenannten Meisters von San
Trovaso eingelassen, die freilich durch die davor¬
stehenden Baluster etwas verdeckt werden. Man darf
die Aufstellung dieses Bildes als einen der Schlager
des Museums bezeichnen; abgesehen von dem neuen
Rahmen trägt dieser Altar davor zu der ausgezeich¬
neten Wirkung viel bei.
S
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
Über die Basilika ist in anderem Zusammenhang
■i.usführlich berichtet worden. Die plastischen Kunst¬
werke dieses Raumes sollen weniger sich selbst zeigen,
als den Eindruck des Raumganzen beleben. Dazu ist
Andrea Robbias schöner Altar aus Varramista fast zu
schade — ein herrliches frühes Stück, das noch unter
den Augen von Andreas Onkel und Meister Luca
entstanden ist. Ausgezeichnet stehen die beiden
Wappenhalter auf der Brüstung über dem Portal.
Von der Basilika führt im rechten Winkel ein großer
Saal nördlich zu den byzantinischen, islamitischen,
sassanidischen und frühchristlichen Abteilungen herüber,
ln diesem Vorsaal, der noch ziemlich leer geblieben
ist, sind drei große Brunnen aus Venedig (14. und
15. Jahrhundert) in der Mitte aufgestellt; hier hängt
außerdem ein großes venezianisches Kruzifix aus dem
Trecento. Mehrere Vitrinen bergen die italienischen
Elfenbeine des späteren Mittelalters. Die Großplastik
dieser Epoche ist in dem anstoßenden äußerst lebhaften
Saal ausgestellt. Ein herrlicher französischer Kamin
und ein venezianisches Portal sind eingemauert. Hier
finden wir eine höchst bedeutende Sammlung von
italienischen Marmoren des 13. und 14. Jahrhunderts.
Die Mehrzahl der Stücke (20) vertritt die Kunst der
Pisani, von denen Giovannis beide Sibyllen (aus der
Sammlung von Beckerath) wohl die bedeutendsten
sind. Gerade diese Figuren haben keinen besonders
günstigen Platz. Die Eiüste aus Scala, das Schwester¬
stück der sogenannten Sigilgaita, und der römische
Fürstenkopf stehen auf alten Postamenten. Die prächtig
erhaltene frische Verkündigungsgruppe (Holz, bemalt)
aus dem endenden Pisaner Trecento wirkt zwischen
den gelben und grünen Steinen doppelt munter.
Zwischen ihr, unter Andrea Pisanos Kruzifix, steht
Giovanni Pisanos cdelschöne Marmormadonna. Auch
die prächtigen Durchblicke aus diesem Saal auf die
Perserteppiche links und das ravennatische Mosaik
rechts tragen zur Stimmung des Raumes glücklich bei.
Der Direktor des Kaiser Friedrich-Museums wird,
wenn er die neuen Räume der italienischen Plastik
durchschreitet, sich sagen dürfen, daß er nicht nur
aus bescheidensten Anfängen Großes und Einzig¬
artiges entwickelt hat; daß er nicht nur durch eine
jahrzehntelange, stets erneute Forschung eine bisher
vergessene und übergangene Kunstprovinz wieder
entdeckt und deren Ziele und Gedanken vielen nahe
gebracht hat, die ihm so ein Stück neuen geistigen
Lebens danken, sondern daß er nun auch diesen
Kostbarkeiten den Rahmen gab, der ihren Wert
steigert, und eine Heimat, die das Exil, in dem sich
mm einmal alles Italienische diesseits der Alpen be¬
findet, fast vergessen macht. paul schubrino.
VI. ABTEILUNG DER NORDISCHEN SKULPTUREN
Die Sammlung der deutschen und niederländischen
Skulpturen des Mittelalters und der späteren Jahrhunderte
hat in dem Saale Platz gefunden, der unmittelbar zur
Rechten an die Aj^sis der sogenannten Basilika sich
anschließt, in zwei ebenfalls dem Hofe zugekehrten
Seitensälen und zwei Nebenkabinetten. Es sind durch¬
weg die am wenigsten günstig beleuchteten Gelasse,
in denen jetzt etwas von dem Dämmerlicht der nordi¬
schen Kirchenräume herrscht. Eine mittelstarke Beleuch¬
tung ist an sich ja für die nordischen Werke der Gro߬
plastik nicht ungünstig. Bei der Bedeutung der ganzen
Abteilung erscheint der Platz aber ein wenig dürftig.
Es ist etwa ein Viertel des Raumes, der den italienischen
Skulpturen insgesamt zugewiesen ist, und das ist doch
wohl etwas wenig. In der Aufstellung ist mit großem
Geschick versucht worden, aus der Not eine Tugend zu
machen und diesen an sich nicht übermäßig glücklichen
Räumen noch besondere Reize abzugewinnen. Der
erste große Saal hat die Skulpturen der deutschen
Spätgotik und Frührenaissance aufgenommen. Der
Raum empfängt von jeder Seite durch drei große
Fenster sein Licht von den kleinen Höfen her.
Zwischen jedem der Fenster sind Scherwände aufge¬
stellt, auf einem Marmorsockel, einfach mit grünem
Stoff überzogen und möglichst unscheinbar und un¬
architektonisch gehalten. Die Decke in dem Raume,
der vielleicht am ehesten etwas Reflexlicht von oben
gebraucht hätte, ist von braunem Eichenholz in einer
tiefen und satten Farbe und scheint allzuschwer
über dem ganzen Raume zu lasten. An den Scher¬
wänden sind in geschickter Verteilung die kleinen
Altäre und Einzelfiguren aufgestellt, die ehemals in
jenen winzigen Räumen zusammengepfercht waren,
die für die deutsche Plastik im alten Bau allein übrig
geblieben waren. Zwischen ihnen haben die deutschen
Gemälde Platz gefunden, die das Museum aus der
Zeit vor dem Eintritt in die große klassische Periode
barg. Die Wechselbeziehungen, die zwischen der
Plastik und der gleichzeitigen Malerei bestehen, sollen
durch diese Gegenüberstellung in das rechte Licht
gesetzt werden, und zugleich ist hier, wie auch in
einzelnen der oberen Kabinette der italienischen Ge¬
mäldegalerie der Versuch gemacht, aus malerischen
und plastischen Werken ein harmonisches Bild zu
arrangieren. Dieser Versuch ist glänzend gelungen.
Gemälde und Skulpturen stehen vortrefflich zu ein¬
ander und beide gleich gut auf dem gemeinsamen
Grunde — und vielleicht ist hier im ganzen Museum
überhaupt die glücklichste Gesamtwirkung erzielt. Dabei
ist freilich zugunsten der dekorativen Wirkung auch
die frühere Übersichtlichkeit über die Entwickelung
der alten deutschen Malerei vollständig aufgehoben.
Die Bilder sind auseinandergerissen, und der Platz, den
sie zwischen plastischen Werken erhalten haben, ist
naturgemäß nicht immer in erster Linie durch ihren
künstlerischen Wert, sondern oft auch nur durch
einen besonderen farbigen Klang bestimmt worden.
Die auf der Rückseite der letzten Scherwände nach
Süden zu hängenden Bilder kommen bei trüber Wit¬
terung nicht mehr recht zur Geltung.
An der Vorderwand zur Seite des großen rund-
bogigen Eingangsportals prangen die vier Tafeln
'{*
DER SAAL DER ITALIENISCHEN TRECENTO-SKULPTUREN MIT DURCHBLICK AUF DEN SAAL DER PERSERTEPPICHE
6o
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
des Meisters Hans Miiltscher. In der vortrefflichen
Beleuchtung, mit der Möglichkeit, das gesamte
Werk auf einen Blick zu übersehen, wirken trotz
der derben Ausführung, die die handfeste Eilig¬
keit des an große Flächen gewöhnten Monumental¬
malers verrät, wie Fricdlaender sie charakterisiert hat,
und trotz des trüben Farbenauftrags doch die leiden¬
schaftlichen und erregten Kompositionen mit höchster
Anschaulichkeit. Die untersetzten groben Figuren
agieren in den dicht gedrängten Szenen mit einer
packenden Lebendigkeit. Seit Reber den Blick
erneut auf diesen Meister gelenkt, und seit schon
i8g8 die kunsthistorische Gesellschaft für photo¬
graphische Publikationen seine Werke veröffentlicht,
ist dieser schwäbische Zeitgenosse des Jan van
Eyck neben Conrad Witz und Lucas Moser uns die
wichtigste künstlerische Persönlichkeit am Oberrhein
geworden. Es ist keine vornehme Hofkunst, aber der
bäurische Meister hat hier mit derber Kraft sich be¬
müht, in seinen wüsten Gesellen eben soviel Ausdruck
und Leben darzustellen, als es seinem noch dumpfen
Empfinden nur aufging.
ln der Aufeinanderfolge der Skulpturen ist eine
gewisse Reihenfolge sorgsam eingehalten. In der
ersten Koje sind bayrische nnd Tyroler Werke auf¬
gestellt, in der zweiten hauptsächlich schwäbische,
in der dritten fränkische Werke. Über den ganzen
Raum verteilt sind die fünfzehn wundervollen, leider
zum Teil etwas stark restaurierten Büsten, die aus
der Fuggerkapelle in der Annenkirche zu Augsburg
stammen, Arbeiten des Adolf Daucher (oder Dauher,
wie wir ihn jetzt nennen sollenjvon Augsburg. Die unver¬
gleichliche Serie der Büsten, von denen einige durch
männliche Kraft und durch den Ausdruck des zartesten
Liebreizes zu den Schönsten gehören, was die beiden
ersten Jahrzehnte des 1 6. Jahrhunderts in Süddeutschland
überhaupt geschaffen, ist leider etwas auseinanderge¬
rissen; der imposante Eindruck wird dadurch ge¬
schmälert. Nur auf einige der neueren Erwerbungen soll
hier noch hingewiesen werden. Da ist am Eingang aus
der Sammlung des Berliners Karl Becker ein Tiroler
heiliger Papst — eine charaktervolle Arbeit im Stile
des Michael Pacher, die 1898 in Berlin auf der Re¬
naissance-Ausstellung auffiel — in alter Bemalung als
Gegenstück zu der reich bewegten Madonna mit der
üppigen, überreich aufgerefften Gewandung, ln der
mittleren Koje sind die vier Altarflügel des Bernhard
Striegel mit ihren Heiligenpaaren jetzt wieder ver¬
einigt sämtlich aufgehängt. Zwischen zweien von ihnen
steht die entzückende schwäbische Madonna in dem
Typus der Mantelmadonna, der Jan Veth kürzlich
in »Kunst und Künstler« einen so fein empfundenen
Lobpsalm gewidmet hat. Auf der anderen Seite die
früheste beglaubigte Arbeit Tilman Riemenschneiders,
die igo2 erworbene Reliefplatte aus Schloß Mainberg
vom Jahre 1490; Christus der Magdalena im Garten
erscheinend. Das dazu gehörige Stück befindet sich
in Berliner Privatbesitz. Unter den Neuerwerbungen
weiter ein heiliger Eligius als Hufschmied, eine ganz
genreartige, schlichte Darstellung, dann das sitzende
Bild eines fränkischen heiligen Bischofs in alter Poly-
chromie, in der Art der Darstellung noch mit An¬
klängen an das 14. Jahrhundert. Endlich ein heiliger
Georg aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, eine süd¬
deutsche Arbeit, außerordentlich fein in der alten
Polychromie, mit den dezenten grauen, goldenen,
silberigen und stumpfroten ^Tönen eine fast japanische
Farbenharmonie darbietend.
In dem rechts anstoßenden großen Raum ist
an der Schmalseite die große Westempore aus
der Benediktinerkirche zu Kloster Gröningen ein¬
gemauert, die den ganzen Raum beherrscht. Das
aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
stammende Werk mit Christus als Weltrichter
zwischen den Aposteln ist in jener festen Stuck¬
masse ausgeführt mit Resten alter Bemalung, wie sie
gleichzeitig eine ganze Gruppe in Obersachsen auf¬
weist, in Hamersleben, in Hecklingen und vor allem
an den Chorschranken in der Michaeliskirche zu Hildes¬
heim und in der Liebfrauenkirche zu Halberstadt. An
den Wandflächen ist alles aufgestellt, was von romani¬
schen und im eigentlichen Sinne gotischen Skulp¬
turen im Museum vorhanden ist, durchweg aus¬
erlesene und ausgesuchte Stücke. Zwischen ihnen
die frühesten Werke der deutschen Tafelmalerei, —
die die Berliner Sammlung glänzender vertreten
zeigt als irgend eine andere — die beiden
schon in der alten Aufstellung zwischen den Skulp¬
turen aufgehängten Soester Antependien, das eine
in dem stark byzantinisierenden Stile mit den drei
Medaillon - Darstellungen und das andere in jenem
manierierten zipfeligen Stile, wie er um die Mitte
des Jahrhunderts in Westfalen sowie am Niederrhein
herrscht, und wie er sich in Soest vor allem
in den Wandmalereien in St. Maria zur Höhe
ausspricht. Aus dem Provinzialmuseum zu Münster
zurückgekehrt ist der große, der sächsischen Schule
des 13. Jahrhunderts angehörige und aus Quedlin¬
burg stammende, kleeblattartige Altaraufsatz, der im
vorigen Jahr auf der kunsthistorischen Ausstellung in
Erfurt erschien.
Endlich ist noch ein ganz neues Werk hinzuge¬
kommen, das hier zum ersten Male ausgestellt ist:
die Glatzer thronende Madonna. Das Werk, das der
böhmischen Schule um 1350 angehört, zeigt einen
ganz erstaunlichen Farbenreiz und ist von herrlichster
Erhaltung. Alle die westlichen und südlichen (italieni¬
schen) Einflüsse, die in der böhmischen Schule mit¬
sprechen, haben hier zusammengewirkt, um ein Werk
von so hohem künstlerischen Reiz zu schaffen. Von
entzückender Feinheit sind die Engelsfigürchen, die
in der Architektur ihr Spiel treiben, von wunder¬
barer Brillanz die hellen und leuchtenden Töne. Die
etwas späteren Erstlingswerke der kölnischen Schule,
so das aus einerkölnischen Kirche stammendeDiptychon,
das vor wenigen Jahren aus der Sammlung Robinson er¬
worben ward und das in diesem Sommer die kunst¬
historische Ausstellung zu Düsseldorf zierte, stehen mit
den viel dezenteren und gedämpfteren Farben fast
stumpf neben dieser lauten böhmischen Pracht.
In den drei zur Linken sich anschließenden
Räumen sind die deutschen, französischen und nieder-
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
6i
ländischen Skulpturen des l6. bis zum i8. Jahr¬
hundert untergebracht. In der Mitte des ersten
kleinen Raumes die große dekorativ wirkungsvolle
Bronzekopie des Schlüterschen Großen Kurfürsten
von Jakobi, dem Oießkünstler des Denkmals. An
den Wänden die Arbeiten in feinem Stein, rechts der
bekannte Hausaltar aus der Antoniuskapelle des
Imhoffschen Hauses zu Augsburg von Hans Daucher
in Kelheimer Stein, gegenüber Specksteinreliefs
und verwandte Arbeiten. Die Rückwand wird in
ihrer Wirkung bestimmt durch die beiden großen
für die Aufstellung von so feinen und aus¬
erlesenen Werken der Kleinkunst, wie sie in ihm
neben den größeren Skulpturen und Gemälden unter¬
gebracht sind. Der Eindruck der ganzen Dekoration
ist dagegen ein höchst geschickter und bedeutender. Die
Langswände beherrscht der mächtige westfälische
Flügelaltar von dem sogenannten Meister von Schöp¬
pingen. Die Mitteltafel war längst im alten Museum
aufgestellt, jetzt sind die Flügel wieder damit ver¬
einigt, die an das Provinzialmuseum in Münster ab¬
gegeben waren. Das" in der alten Lebhaftigkeit und
GOTISCHE SKULPTUREN IN VERBINDUNG MIT DEN FRÜHESTEN TAFELMALEREIEN
lebensvollen Büsten des bärtigen Willibald Imhoff,
der ernsthaft den Ring in seiner Hand besieht, und
seiner Ehefrau Anna, die die beiden Hände über
dem Gebetbuch zusammengelegt hat, Schöpfungen
des Niederländers Jan de Zar, die auch das Haus¬
backene in den Gestalten so vortrefflich wieder¬
geben. An der linken Wand auch die reizvolle
Tonstatuette der sitzenden Maria mit dem Kinde an
der Brust, vielleicht nur die Makette für ein größeres
Werk, bei der Cranachs bekannte Komposition Pate
gestanden hat.
Der nächste Raum mit dem gotisierenden Ge¬
wölbe ist vielleicht der am wenigsten günstige
Frische der Farben leuchtende Bild ist hier von
überraschenderWirkung. Zwei der feinsten rheinischen
Tafeln, die Muttergottes im Grünen vom Meister des
Marienlebens und die Anbetung des Kindes vom
Meister der Glorifikation, sind durch dieses große
Stück freilich arg gedrückt und treten ziemlich
zurück. In der Mitte des Raumes erhebt sich der
schöne bronzene Springbrunnen aus der Werkstatt
Peter Vischers, hoch aufgestellt, so hoch, daß man
die feinen drei nackten weiblichen Figürchen un¬
gezwungen bewundern kann, die am Halse des Fußes
unmittelbar unter dem Becken zwischen den Delphinen-
köpfen stehen. In die Fenster sind die wundervollen
BLICK IN DEN SAAL DER DEUTSCHEN MITTELALTERLICHEN PLASTIK
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
63
Olasgemälde nach den Entwürfen von Hans Baidung
eingelassen, die aus der Sammlung Douglas erworben
waren. Sie kommen in ihrer brillanten und kräftigen
Farbengebung hier, zumal an etwas düsteren Tagen,
vortrefflich zur Geltung, aber der an sich schon un¬
günstige Raum verliert dadurch vieles und kostbares
Licht, und die an den abgeschrägten Ecken neben
der Fensterwand aufgestellten Wandschränke werden
wohl an trüben Wintertagen sich in ein geheimnis¬
volles Helldunkel einhüllen, dem auch das Luxfergias
in den Fenstern nicht völlig steuern kann.
Was das Museum an Elfenbeinwerken des frühen
und des späten Mittelalters, sowie der Renaissancezeit
besitzt, ist in Vitrinen zu anmutigen Gruppen ver¬
einigt. Erst jetzt, nachdem die byzantinischen und
sonstigen Arbeiten abgetrennt sind, sieht man, welche
Fülle und welche geschlossene Reihe an Elfenbein¬
arbeiten das Berliner Museum besitzt; geschickte und
glückliche Erwerbungen der letzten Jahre haben hier
die letzten Lücken ausgefüllt. Der vortreffliche Elfen¬
beinkatalog von Wilhelm Vöge, der nach Bodes An¬
gaben diese gesamten Räume liebevoll und feinsinnig
aufgestellt hat, hat hier auch schon das wissenschaft¬
liche Rüstzeug für diese Gruppe geliefert. Eine ganze
Reihe wertvoller und kostbarer Werke der späten
Plastik in den verschiedensten Techniken ist in dem
unglücklich schmalen Treppenraum daneben auf dem
Gang aufgestellt, und die feinen Buchse, Speckstein¬
arbeiten, Bronzen und Plaketten, die in der mittleren
Vitrine des gewölbten Raumes untergebracht sind, sind
leider bei dem wenig günstigen Licht nur zur Hälfte
sichtbar. Gerade in diesen Werken der Kleinplastik
liegt aber eine Hauptstärke der Berliner Sammlungen.
Es sind hier ausschließlich Arbeiten der besten Qualität
vereinigt, nicht mit Kuriositäten und historischen Re¬
liquien gemischt wie in den alten Kunstkammern —
und aus dem 16. Jahrhundert sind wohl alle hervor¬
ragenden Schulen und Meister vertreten. In nichts
sprechen Erfindungslust und Schönheitssinn der deut¬
schen Renaissancekünstler so lebhaft wie in diesen
kleinen Werken.
Diese ganze Abteilung der nordischen Plastik ist
wohl die, die noch am lautesten nach Erweiterung
und Ergänzung ruft, und gerade nach der Vollendung
der Aufstellung im Kaiser Friedrich-Museum fällt das
Mißverhältnis gegenüber der italienischen Abteilung
um so schneidender auf. Das Niveau der plastischen
deutschen Abteilung ist dabei durchschnittlich ein sehr
hohes, ebenso hoch wie bei den Italienern, und die Auf¬
nahmebedingungen sind schärfere gewesen als bei den
Stucchi duri der langen italienischen Säle: die ersten und
feinsten der deutschen Arbeiten dürfen sich ruhig neben
die italienischen wagen. Man stelle einmal jene ent¬
zückende schwäbische Mantelmadonna neben die viel¬
gerühmte sitzende Madonna von Benedetto da Majano;
den Ruhm der vollendeteren Formen, der runderen
schöneren Bildung wird niemand dem italienischen
Werke absprechen, aber an Tiefe und Reinheit des
Ausdrucks, an Innigkeit und Keuschheit der Em¬
pfindung stellt das deutsche Werk den Italiener wieder
in Schatten. Ausländische Besucher, die hier in der
ersten hauptstädtischen und der ersten norddeutschen
Sammlung ein Bild von der ganzen deutschen Plastik
zu bekommen hoffen, werden in etwas enttäuscht
sein. Man kann wohl einwenden, daß die Vorführung
dieser Kunst den provinzialen Museen überlassen sei,
und daß hier Hannover und Köln, Breslau und
Münster eintreten müssen, denen man ja auch die
Vorführung ihrer einheimischen Malerschulen fast aus¬
schließlich überlassen hat. Was die Königlichen Mu¬
seen an den Werken solcher Provinzialschulen be¬
saßen, das haben sie sogar an die Provinzialmuseen
abgegeben. Es sind nur ausgesuchte Proben, freilich
von allem das Beste, was hier vorgeführt wird,
während die kleinen, durchaus provinzialen nord¬
italienischen Schulen des Trecento doch beispielsweise
in der Gemäldegalerie recht ausführlich vertreten sind.
Gerade gegenüber diesem Überwiegen der italienischen
Abteilung wird es eine künftige Ehrenpflicht sein, auch
die deutsche weiter auszubauen; sie ist ja zum großen
Teil erst eine Schöpfung Bodes.
Was ganz fehlt, das sind die großen und für den
Norden so überaus charakteristischen figurenreichen
Schnitzaltäre; nur aus Süddeutschland ist eine statt¬
liche Anzahl kleinerer Altäre, durchweg von sehr
hoher künstlerischer Qualität, vorhanden. Es wird ja
auf diesem einen engen Gebiete ein Wetteifern etwa
mit dem Museum schlesischer Altertümer in Breslau
nie möglich sein, aber es dürfte doch nicht ausge¬
schlossen sein, ein gutes Werk der schlesischen
Schule, eines der mitteldeutschen oder rheinischen
Richtung und endlich einen jener massenhaft herge¬
stellten, aber in so virtuoser Technik ausgeführten
Antwerpener oder Brüsseler Altäre des beginnenden
16. Jahrhunderts zu erwerben, die ja bis über das
ganze Ostseegebiet verstreut sind. Wenn es jetzt sehr
schwer hält, in Deutschland ein Stück ersten Ranges
zu finden, so ergibt sich vielleicht die Gelegenheit,
in Schweden, in den baltischen Ostseeprovinzen eines
zu kaufen. Man darf für eine Sammlung solcher
Altäre gar nicht an einen Vergleich mit dem
bayrischen Nationalmuseum oder mit dem Nürnberger
Germanischen Museum denken; die Zeit, in der solch
große Werke erworben werden oder in Museen
gerettet werden konnten, ist schon seit Jahrzehnten
vorüber, aber die Bedeutung des Berliner Zentral¬
museums verlangt hier doch eine breitere Behandlung
dieser wichtigen und so reichen Kunst. Freilich:
wohin mit so großen Stücken? Der der deutschen
Plastik zugefallene Raum ist hier viel zu eng. Über
kurz oder lang wird man die gut beleuchteten, glück¬
lich disponierten Säle, in denen jetzt die Münzsamm¬
lung untergebracht ist, doch noch der Skulpturen¬
abteilung zuweisen müssen. Und auch der armen
Abgußsammlung nach nordischen und italienischen
Skulpturen, die sich jetzt in allzu engen Räumen
herumstoßen lassen muß, schlägt vielleicht bald ein¬
mal die Erlösungsstunde. Wann wird endlich nach
dem Vorbilde des Trocadero Berlin das große Ab¬
gußmuseum geschenkt werden, das längst schon eine
gebieterische Forderung der vergleichenden Kunst¬
wissenschaft ist? PAUL CLEMF.N.
64
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
VII. DIE DEUTSCHEN GEMÄLDE
In dem einzigen großen Oberliclitsaal, der im
alten Museum den Deutschen Rüdem gewidmet war,
bekam man von der Bcvieutung und dem Reichtum
dieser ganzen Scluile doch einen überzeugenden Be¬
griff, wenn der künstlerische Eindruck auch trotz
aller Umstellungen ein unbefriedigender blieb. Un¬
mittelbar am Eingang begann die Reihe mit den
frühesten rtieinischen und westfälischen Meistern, um
dann in den Werken Dürers und Holbeins zu gipfeln.
An der einen Schmalwand dominierte in der Mitte
der Dürerschen Werke die herrliche Madonna mit
dem Zeisig, in der Mitte der Längswand Holbeins
Georg Gize. Auf einen Blick läßt sich in der Neu¬
aufstellung diese Reihe nicht mehr übersehen. Man
hat nicht mehr den Eindruck einer geschlossenen
Entwickelimgsreihe, einer durch drei Jahrhunderte fast
sich hinziehenden und sich immer steigernden Tra¬
dition. Der ganze Nachdruck ist auf die Haupt¬
meister aus dem goldenen Zeitalter gelegt, die allein
in die Gemäldegalerie Aufnahme gefunden haben.
Alle früheren Werke, die älteren Franken und Schwaben,
die Werke der älteren rheinischen und westfälischen
Kunst sind in die Sammlung der Skulpturen auf¬
geteilt. Die meisten wirken dort ohne Zweifel günstiger,
ihr Wert wird durch die Nachbarschaft verwandter
Skulpturen gehoben, einzelne freilich erscheinen dort
etwas verloren und versteckt. Was die Museumsver¬
waltung bei dieser Aufstellung bezweckte, war außer der
dekorativen Gesamtwirkung der Wunsch, die engen Be¬
ziehungen zwischen Plastik und Malerei in den ein¬
zelnen Hauptprovinzen derdeutschen Kunstentwickelung
zu veranschaulichen. Das ergibt zum Teil die inter¬
essantesten und merkwürdigsten kunstgeschichtlichen
Parallelen. Man wird hier immer wieder vor die
Frage gestellt, ob die Malerei oder die Plastik den
neuen Stil, die neuen Typen zuerst geschaffen und
welcher hier die stärkere Ausdrucksmögiiehkeit eignet.
Aber dabei ist freilich die Entwickelung für die
Malerei selbst zerrissen und zerschnitten. Hat Meister
Berthold von Nürnberg beispielsweise nicht doch noch
mehr Bedeutung als künstlerischer Urahn Dürers, denn
als Vergleichsstück mit ein paar fränkischen Figuren?
In die Gemäldegalerie ist nur aufgenommen, was an
Bildern etwa heute ein fortgeschrittener Sammler kaufen
und am höchsten einschätzen würde. Um die Bedeu¬
tung der Abteilung zu ermessen, muß man diese im
Erdgeschoß liegenden Säle eben mit in Betracht
ziehen.
Drei kleine Kabinette sind es, die im ersten Stock¬
werk der deutschen Malerei gewidmet sind. Das
erste birgt fast alle Perlen der Sammlung, und es
ist freilich ein unvergleichlicher Raum, wie ihn kein
deutsches Museum wieder besitzt. An der Mitte der
Rückwand (freilich in nicht ganz vollkommener Be¬
leuchtung, weil das Glas über den Bildern blendet)
Dürers Madonna mit dem Zeisig in all ihrer wun¬
dervollen Farbenfrische zwischen den Porträts des
alten Holzschuher und des alten Muffel. Über dem
Mittelstück die etwas bunte und harte anbetende
Madonna, rechts oben das Dürersche Mädchenbildnis
von 1507 und links dazu als Gegenstück der Greisen-
kopf von Hans Baidung. Es ist der Ruhm und
der Vorzug der Berliner Galerie, daß sie gerade
die glücklichste Lebenszeit Dürers reicher als
irgend eine andere Sammlung illustriert, seinen
venezianischen Aufenthalt, in dem er sich als ein
Gentiluomo fühlte, und während dessen unter dem Ein¬
fluß der südlichen Sonne und in der endlich erkämpften
Bewundernng der Malerkollegen aus der Lagunen¬
stadt in dem durch die Sorgen niedergedrückten
Manne zum erstenmal der Künstlerstolz erwachte.
Es war einer der glücklichsten Coups Bodes, die
Madonna aus dem Besitz des Marquis of Lothian zu
erwerben. Ist das Bild doch, das unter Aloys Hausers
Händen seine Auferstehung gefeiert hat, neben dem
Rosenkranzbild in Prag die vollkommenste Kompo¬
sition des Meisters, und da das Prager Bild eine Ruine
oder schlimmer als eine Ruine, eine restaurierte Ruine
ist, das einzige Werk, aus dem in aller Unmittelbar¬
keit Dürers Ringen nach der vollen und weichen
Formenschönheit der Italiener sich offenbart, jenes
kokette Bildnis eines blonden Mädchens in dem roten
Barett, das man auf den ersten Blick für einen jungen
Burschen halten könnte, kommt hinzu, vor allem aber
das 1893 aus englischem Privatbesitz in London
erstandene herrliche Frauenporträt. Die Züge sind
so deutsch, daß man an eine deutsche Kaufmanns¬
frau, eine Nürnbergerin oder Augsburgerin in Vene¬
dig, denken möchte, etwa an die Gattin eines der
reichen Kaufherrn aus dem Fondaco dei Tedeschi.
Oder sollte es die Agnes Dürerin sein, worauf
das A D im Brustlatz, das schwerlich eine Meister¬
signatur ist, schließen ließe? Dieses Bildnis hängt
in einem breiten Rahmen, der ganz mit dünnem
Renaissanceranken bemalt ist. In der Mitte der rechten
Seitenwand darüber der große farbige Baldungsche
Altar mit der Anbetung der Könige, zur Seite drei
der Altdorfer. Das feine Bildchen mit der Ruhe auf
der Flucht ist in der glücklichsten Beleuchtung zu
studieren. Dem treuherzigen Regensburger Meister
geht hier die Phantasie mit seinem Renaissanceformen¬
schatz durch. Mit entzückender Kindlichkeit planscht
der Christusknabe in dem breiten Wasserbecken, und
eine ganze Menge kleiner dicker Putten krabbelt um
diese Fontaine in munterem Spiele herum. Auf der
gegenüberliegenden Wand, in der Mitte, eines der
Hauplstücke der Sammlung, der Kaufmann Georg
Gize von Holbein. Auch dieses brillant sichtbar.
In der Charakteristik der schönen männlichen Er¬
scheinung wie in der wunderbar minutiösen Aus¬
führung der überreichen Beigaben doch das voll¬
kommenste und vielleicht das deutscheste Porträt, das
Holbein geschaffen. Daneben wieder zwei Altdorfers:
die Kreuzigung und die entzückende Geburt Christi
mit der Nachtstimmung und dem Paar, das sich hier
in die zertrümmerte eingestürzte Hütte geflüchtet hat.
LUKAS CRANACH. RUHE AUF DER FLUCHT
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI
AUS DEM KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
■I
DAS KAISER FF<1EDR1CH-MUSEUM ZU BERLIN
6 5
love among the ruins. Die drei übrigen Holbein-
Porträts und Ambergers Bildnis des Kosmographen
Sebastian Münster bilden gewissermaßen die Pfeiler,
die diese Längswand Zusammenhalten.
Vor den abgeschrägten Ecken sind nur noch zwei
Perlen aufgehängt unter dem unerfreulichen Kurfürst
Friedrich dem Weisen von Dürer: der feine kleine Martin
Schongauer, der noch
Eigentum des Kaiser Fried¬
rich - Museumsvereins ist :
Die Anbetung des Kindes,
und gegenüber eines der
allerköstlichsten deutschen
Bilder überhaupt: Lukas
Cranachs frühestes datier¬
tes Werk: Die Ruhe auf
der Flucht, die Konrad
Fiedler aus dem Palazzo
Sciarra für Deutschland
gerettet halte und die jetzt
von seiner Witwe — der
Tochter Julius Meyers, des
verdienten Leiters der Ber¬
liner Gemäldegalerie in
den siebziger Jahren —
dem Museum übergeben
ist. Es stammt aus dem
gleichen Jahre wie Dürers
Anbetung der Könige in
den Uffizien, und an Far¬
benfrische wetteifern sie
beide miteinander. Einen
Vorläufer der schönsten
Bilder Böcklins hat das
Werk Karl Woermann
genannt; ganz einzig ist
der Zusammenklang der
Landschaft m it der Figuren¬
gruppe, der ganz Mutter¬
glück atmenden Madonna
und dem nachdenklichen,
ernsten, ein wenig ver¬
drießlichen Joseph. ln
welcher allerliebsten Fri¬
sche sind die Engel ge¬
geben, die drei ernsthaften,
musizierenden, bekleideten
Knaben , die sich alle
Mühe geben, nicht aus der
Fassung zu kommen, zwi¬
schen die sich der kleine
Nackedei drängt, und die
drei nackten Kerlchen zur
Linken. Dem Zweiunddreißigjährigen müssen hier
schon Einflüsse der oberitalienischen Renaissance zu¬
geströmt sein.
In den zwei deutschen Kabinetten nehmen die
Mitten der Längswände Stücke ein, die mehr gegen¬
ständlich amüsant sind, die aber von alter Zeit her
gute Bekannte des Berliner Publikums sind. Es sind
die beiden Cranachtafeln mit dem jüngsten Gericht
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 2
und dem Jungbrunnen. Das Triptychon mß dem
jüngsten Gericht schwelgt ganz in Höllenphantasien
und kopiert hier eine der großen Teufeleien mit der
Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus
Bosch. Die Phantasie ist hier eine ebenso uner¬
schöpfliche wie schrankenlose, und um wieviel derb¬
lustiger geht es hier zu als bei Rops und Beardsley,
bei denen selbst die Teufel
müde sind, marode und
malcontent ausschauen.
Gegenüber Cranachsjung-
brunnen; Alt und Jung
hat von je seine Freude
daran gehabt, wie die alten
Vetteln hier heranschlei¬
chen, in Wagen, Trag¬
bahren und Schubkarren
herangeschleppt werden,
wie sich in der Mitte am
Wasser die Metamorphose
vollzieht und wie dann
die Jungferchen sehr rasch
und sehr ausgiebig sich
der wiedergewonnenen Ju¬
gend erfreuen. Ein paar
Cranachs sind an den
Wänden noch verstreut.
Links neben dem Bildnis
des ehrenfesten Johannes
von Ryth von Barthel Bruyn
Apollo und Diana und
Adam und Eva, die an¬
mutige Gegenstücke dar¬
stellen. Gegenüber die
beiden Hieronymi, der
echte Kirchenvater und der
Kardinal Albrecht von
Brandenburg als solcher
kostümiert. An der einen
Schmalwand neben der
Tür unter dem schönen
Georg Breu Altdorfers
kleine Landschaft mit der
Satyrfamilie, in der Schwind
und Thoma schon zu
spuken scheinen. Hinter
diesem Kabinett nun ein
kleines, etwas arg vollge¬
stopftes Oberlichtsälchen.
Geradeaus in schönem
alten eingelegten Rah¬
men die Anbetung der
Könige von Hans von
Kulmbach, eines der besten Bilder der Dürerschule,
das deren koloristische Vorzüge vereinigt zeigt, dazu
Hans Baidung und Georg Pencz. Die übrigen Süd¬
deutschen und Mitteldeutschen des i6. Jahrhunderts
an der Wand links. Als Gegenstücke wieder zwei
Cranachs, beidemale die Liebesgöttin mit dem schalk¬
haften Amorknaben zeigend. Die Gegenüberstellung
auch für den Wechsel und Wandel in Cranachs
DIE QLATZER MADONNA
66
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
Schönheitsideal sehr charakteristisch. Die Meister des
beginnenden i6. Jahrhunderts sind eben nicht be¬
sonders vertreten. Dar. größte koloristische Genie,
der gewaltige Grünevv^dd, fehlt vollkommen, und auch
von den Meistern zweiten Ranges unter den Süd¬
deutschen und den Nordwestdeutschen möchte man
gern noch ein paar Tafeln zur Ergänzung sehen:
vielleicht daß hier ein glücklicher Kauf in künftigen
Jahren ergänzt, was jetzt in großen Zügen angestrebt
erscheint. paul clemen.
VIII. DIE NIEDERLÄNDISCHEN GEMÄLDE
Die Sammlung niederländischer Bilder hat gegen¬
über ihrer Aufstellung im alten Museum am
wenigsten in die Augen fallende Änderungen auf¬
zuweisen. Schon der Umstand, daß bei ihr nicht
der Doppelzweig von Plastik und Malerei vorhanden
ist wie in der italienischen und der deutschen Ab¬
teilung, hat die Möglichkeit der Veränderungen sehr
verringert. Die einfache Verteilung in kleine Kabinette
und einige größere Säle war hier wieder das Ge¬
gebene, und nur die Zusammenstellung im einzelnen,
die Art des Hintergrundes und die Beleuchtung
konnten modifiziert werden.
Die Beleuchtung ist im ganzen hier stärker als im
alten Museum, in der Reihe der Kabinette schon da¬
durch, daß volles Seiten- und volles Oberlicht vor¬
handen sind, und man nun dem Bedürfnis nach das
eine oder das andere dämpfen kann. Wie sich die
Wirkung dieser Einrichtung in der Praxis heraus¬
steilen wird, muß erst die künftige Beobachtung zeigen.
Eine andere Neuerung ist die grüne Tapete,
welche die Wände der Kabinette bedeckt. Die Ta¬
petenfrage ist wichtig und schwer zu lösen. Soll
die Tapete möglichst indifferent dem Bilde gegen¬
über sein oder soll sie seinen Ton heben? Mir
scheint das erstere richtiger. Und wenn sie in
einem bestimmten Verhältnis zu einem der aufzu¬
hängenden Gemälde steht, so steht sie zu einem
anderen eben in einem anderen Verhältnis, es handelt
sich im besten Fall also um einen Kompromiß.
Sammelt man in einem Kabinett Gemälde von ähn¬
licher Farbenwirkung und ähnlicher Größe, so könnte
man diesen Kabinetten auch ihre bestimmten Tapeten
geben, eine für die Bilder des Frans Hals, eine andere
für Rembrandt, eine dritte für bestimmte Landschafter,
eine vierte für die bunten Frühniederländer u. s. w.
Das gibt aber in sich wieder eine bunte Reihe, die
man im Kaiser Friedrich-Museum, wie es scheint, ver¬
meiden wollte, und so ist ein letzter Kompromiß
nötig gewesen, und das Resultat war ein nicht sehr
warmes, ziemlich intensives Grün. Nur die beiden
großen vlämischen und der große holländische Saal
machen mit Rot eine Ausnahme davon. Auch das
Muster der Tapete ist nicht ohne Bedeutung, für sehr
kleine Bilder ist es vielleicht etwas groß geraten.
Richtig sieht man ein Staffeleibild ja aber doch erst,
wenn man sich soweit konzentriert hat, daß man es
ohne Umgebung aufnimmt.
Die dritte Variable endlich, die Zusammenstellung
der Bilder, muß man bei einem Rundgang im einzelnen
verfolgen.
Vom Treppenhaus betritt man rechts im Ober¬
stock den Flügel der niederländischen Gemälde. Die
Bilder sind im großen und ganzen in chronologischer
Reihenfolge verteilt, und bei einem Gang durch die
lange Flucht der Kabinette und der anstoßenden
größeren Säle hält man Schritt mit dem Entwicke¬
lungsgang der Malerei. Allerdings wird der größte
Teil der Besucher gemäß der Baudisposition mit den
spätesten Sälen an der entgegengesetzten Seite be¬
ginnen.
Die Reihe setzt ein mit den Brüdern van Eyck,
und die Sammlung kann gleich ihren höchsten Trumpf
ausspielen, den Genfer Altar. Dieser hat schon ver¬
schiedene Phasen durchgemacht in der Art, wie er
aufgehängt worden ist. In dem ursprünglichen Zu¬
sammenhang seiner Teile, wie er an dem Original¬
platz in Gent stand, war er selbst, wenn man alle
fehlenden Teile durch Kopien ersetzte, nicht aufzu¬
stellen, da dann entweder nur die Innen- oder die
Außenansicht zur Zeit sichtbar und ein beständiges
Bewegen notwendig gewesen wäre. Bei den doppel¬
seitig bemalten Tafeln hatte man sich früher damit
geholfen, daß man sie in die Wand zwischen zwei
Kabinette einließ, so daß sie von beiden Seiten sicht¬
bar waren. Auf der einen Seite wurde aber dadurch
die Stellung der Flügelteile zueinander umgekehrt.
Seitdem die Seiten nun auseinander gesägt sind,
wäre es allerdings möglich, mit Hilfe der Kopien,
die Ansichten des geschlossenen und des geöffneten
Altars in ihrer Vollständigkeit getrennt und gleich¬
zeitig zu geben, dann käme man aber in die Lage,
die besten Originalstücke wie die Verkündigung und
die musizierenden Engel hochhängen zu müssen und
so den Vorzug wieder aufzuheben, der gerade daraus
hervorwächst, daß sich das Bild im Museum und
nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz be¬
findet, den Vorzug, das Werk deutlich zu sehen
und aus nächster Nähe studieren zu können. Man
breitete daher die Stücke im alten Museum an einer
langen Wand aus, gut für das Studium, weniger be¬
friedigend für den Gesamteindruck. Der ist in der
neuen Gestaltung günstiger.
Zunächst hat man hier das Werk ganz für sich.
Dann sind Außen- und Innenansicht in der Erschei¬
nung voneinander isoliert. Die Ansicht des Altares
mit geschlossenen Flügeln war vom Künstler möglichst
einfach in den Farben gestimmt, neben den Grisaille-
figuren der beiden Johannes war die Verkündigung
möglichst unter der Herrschaft der weißen und grauen
Nüancen gehalten und selbst die farbigen Porträts waren
ganz ausgeglichen und den Steinnischen eingeordnet.
Diesen gedämpften Tönen gegenüber entfaltete sich
DER GROSSE RUBENSSAAL
KABINETT DES FRANS HALS
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DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
beim Öffnen die Innenseite in größter Farbigkeit.
Während im alten Museum die farbigen musizieren¬
den Engel der Innenseite dicht neben die Verkündi¬
gung der Außenseite zu stehen kamen, gegen die
Absicht des Malers, sind die Engel jetzt auf die
Abschrägungen der Mittelwand neben die übrigen
Innenstücke gerückt, so daß man dort fast alles bei¬
sammen hat, die Außenbilder sind dagegen auf die
beiden Seitenwände verteilt, die untere Hälfte mit
Stifterpaar und Johannesfiguren auf die eine, die
Verkündigung, bei der jetzt durch eine Kopie der
fehlenden schmalen Mittelteile (in Brüssel) das In¬
terieur zur Vollständigkeit ergänzt worden ist, auf die
andere Seite.
In dem nächsten Kabinett hat man eine Blütenlese
kleiner altniederländischer Bilder^ zusammengestellt,
wie sie sich an keinem Ort der Welt auf so geringem
Raum beisammen findet, links eine holländische Wand
mit dem einzigen beglaubigten Ouwater in der Mitte
und zwei authentischen Bouts zur Seite, den Flügel¬
stücken des Löwener Abendmahlsaltares, rechts eine
flandrische Wand mit der Eyckschen Kreuzigung
zwischen zwei Erwerbungen neueren Datums, dem
Täufer in der Landschaft von Gertgen van Sint Jans
und der kleinen Beweinung Christi unter dem Kreuz
mit einem knieenden Stifter. Gerade das letzte Bild
zeigt in der neuen Umgebung seine guten Qualitäten.
Es leuchtet in auffallender Weise zwischen den anderen
Bildern hervor. Wer mag es sein? Die Komposition
scheint von Roger van der Weyden und findet sich
mehrfach wiederholt, die Landschaft trägt mehr den
Charakter des Meisters von Flemalle, an den auch
der Faltenwurf erinnert. Die Anatomie des Körpers
Christi ist nicht gut genug für Roger. Der sehr ge¬
dämpfte Farbenkomplex des hellroten Madonnen -
mantels mit dem Gelb des Christuskörpers zwischen
den beiden starken Noten des Blau und Rot der
Seitenfiguren ist etwas ganz Ungewöhnliches.
An diese Mitte reihen sich Porträts und Madonnen¬
bilder, Porträts von Petrus Christus, Roger (Schul¬
bild?), Meister von Flemalle und Memling. Es sind
alles Bildnisse, die innerhalb eines Menschenalters
liegen, etwa zwischen 1440 und 1470, und gerade
dieser kleine Komplex ist durch die erstaunliche Ver¬
schiedenheit belehrend über die Mannigfaltigkeit des
künstlerischen Sehens, die sich schon während dieser
ersten großen Phase zeigt, das ganz zusammen¬
fassende, vereinfachende und schon mit raffinierten
Reflextönen ausgestattete Porträt der angeblichen Lady
Talbot von Petrus Christus, das sich an die spätesten
Bilder von Jan van Eyck, wie das Porträt seiner Frau
in Brügge und den Berliner Arnolfini anschließt, neben
den in drastischer Plastik modellierten Köpfen des
Flemallemeisters und dem frühen Memling, der durch
das feine detaillierte und malerische Oberflächenstudium
wieder zu der frühen Art des Jan van Eyck zurück¬
kehrt.
Darüber erscheint dann das große Fouquetporträt-
stück fast wie ein Resümee all dieser Studien in einer
gewissen vergrößernden Breite. Mit einem Schlage
erhält man auf diese Weise eine Orientierung. Zwischen
Gq
die Porträts sind drei Madonnenbilder eingestreut,
und die Inkonsequenz, die eine holländische Madonna
auf die südniederländische Seite gesetzt hat, ist sehr
willkommen, denn so haben wir den steiflinigen Bouts
neben dem stark modellierenden Roger und dem
sanften Memling.
Nach dem Haupteindruck des Meisters van Eyck
im Kabinett des Genter Altares wird man hier wieder
zu ihm zurückgeführt durch seine kleinen Bilder. Sie
hängen an den schmalen Schrägeckseiten, die den Ecken
vorgesetzt worden sind und die in ihrem architektoni¬
schen Zusammenhang mit der oberen Raumbildung
häßlich, für das Vorführen der Bilder aber praktisch
sind. Nur dürfen sie nicht zu dicht besetzt sein, weil
dann die Rückseite des betreffenden Kabinetts leicht
überladen aussieht. An ihnen bietet sich der Bildein¬
druck dem Eintretenden am ungestörtesten und an
ihnen müssen daher eigentlich die Dinge hängen, auf
die man stolz ist. So präsidiert denn auch an der
einen Seite der Mann mit der Nelke, dem der neue
Platz vielleicht hilft, seine Gegner zu besiegen. Sein
Pendant auf der anderen Seite ist eine neue Erwer¬
bung, die im alten Museum noch nicht ausgestellt
war, eine Madonna von Gerard David. Sie gehört
seiner mittleren Zeit an. Im Typus paßt sie noch
ganz zu den Bildern dieses Raumes, ähnelt sogar
merkwürdig den Madonnenköpfen Rogers, in der
Landschaft dagegen ist schon eine Wandlung ange¬
bahnt zur späteren Zeit, das Grau in seinen Nüancen
macht sich dort mehr bemerkbar und wird auch in
der Gewandung der Madonna stärker betont. Das
Bild zeigt die Halbfigur der sitzenden Maria, die im
Begriff ist, das Kind zu nähren. Ein erzählendes
Element tritt durch den Hintergrund in dies Andachts¬
bild, denn die Hauptfigur bildet nur eine Episode
auf der Flucht der heiligen Familie, die in der Land¬
schaft dargestellt ist. Interessant ist es, die breiten
festen Baummassen, die eine beabsichtigte geschlossene
Folie für den roten Madonnenmantel bilden, mit dem
detaillierten und mehr ornamentalen Pflanzenspiel zu
vergleichen, das auf der darüber hängenden Eyckschen
Komposition demselben Zweck dient.
Auf der Rückwand, der ungünstigsten in bezug auf
die Lichtverhältnisse, hängen um die Kreuzigung des
Flemallemeisters Bilder von Malern geringerer Be¬
deutung.
Der Gerard David leitet über in das nächste
Kabinett, das den Anfang des 1 6. Jahrhunderts reprä¬
sentiert. Die linke Wand allerdings gehört durch
Rogers Bladelinaltar und die Triptychonflügel des
Petrus Christus noch ganz dem 15. Jahrhundert an,
und man tut am besten, von ihr aus gleich den da¬
hinter liegenden größeren Saal zu betreten, in dem
diejenigen altniederländischen Bilder Platz gefunden
haben, die schon ihrer Ausdehnung wegen nicht in
die Kabinette passen. Mit großem Geschick hat man
hier wenigstens drei Wänden einen ganz einheitlichen
Charakter gegeben.
Die alte Kopie der großen Rogerschen Kreuzab¬
nahme hängt wie zuletzt im alten Museum über dem
neuen van der Goes, der ungefähr dieselbe Breite
70
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
besitzt, und da dieser zu seinen Seiten den Johannes¬
altar und den Middelburger Altar Rogers hat, so ist
der Meister ganz von seinem Vorgänger umschlossen.
Das bringt seine Eigenlieiten stark zum Ausdruck,
ln der Buntfarbigkeit paßt er im Qesamteindruck noch
vollständig zu den Bildern Rogers, im einzelnen aber
sind die Farben feiner differenziert, stärker der Luft¬
perspektive untergeordnet, auch ist das Ganze mehr
nach Farben komponiert. Die Weichheit, welche
dieses Spätwerk des Meisters charakterisiert, macht sich
gegenüber der Schärfe Rogers stark geltend, ein ähn¬
licher nach beiden Seiten gerundeter Kompositionsab¬
schluß tritt bei Goes wie bei der Kreuzabnahme
Rogers deutlich hervor, der bedeutende Fortschritt in
der Entwickelung aber liegt darin, daß die Differenzen
der Raumtiefe innerhalb der Goesschen Gruppe viel
größer und mannigfaltiger sind, als bei Roger, bei
dem die Figuren stärker in gleichen Ebenen stehen.
Auch die beiden mächtigen Propheten rechts und
links, die gleichsam als Vordergrundkulissen dienen,
deuten schon auf eine neue Zeit. Trotzdem bleibt
die Komposition Rogers als die gewaltigere bestehen
und beherrscht den Goes, so daß für die absolute
Schätzung dieses letzteren nicht der günstigste Platz
gewählt ist. Die Wand links ist dem Quintin Massys
gewidmet, diejenige rechts anderen Meistern vom An¬
fang des i6. Jahrhunderts wie Scorel und Mabuse.
Wendet man den Blick von der großen Rückwand
zu diesen Seitenwänden, so ist sofort der Farbenein¬
druck ein ganz anderer, viel weniger bunt, das Grau¬
blau und Braun machen sich als Gesamtton viel
stärker geltend und zeigen den Wandel im Geschmack.
Auf der Massyswand tritt zum leuchtenden Rot der
Madonna und des Hieronymus das feine gleichmäßige
Blaugrün der Landschaft, das Braun des Interieurs,
auf dem Bild der hl. Magdalena hat das Braun die
ganze Figur durchsetzt. Das Sfumato Quintins klingt
wieder in der Anbetung der Könige vom Meister des
Todes der Maria und im Patinir, seine Pflege des
Genrehaften in dem Dudelsackpfeifer eines Schülers,
des Pieter Huys, das aus Stettin in die Galerie zurück¬
gekommen ist. Auch die andere Kurzwand wird be¬
herrscht durch die blauen und braunen Töne des
großen Bellegambeschen Triptychons mit dem jüngsten
Gericht und das schlichte groß empfundene Porträt
Scorels. Das Nachtstück von Mabuse, Christus am
Ölberg, bei dem die Mondscheinwirkung in der Land¬
schaft überraschend gut wiedergegeben ist, kommt
erst jetzt zur Geltung, da es im alten Museum auf
der dunklen Wand des Ganges hing. Ein Porträt
und eine Madonna ergänzen das Bild des Meisters
und ein großes Paar nackter Figuren, Neptun und
Amphitrite, in vollständig antikisierender Architektur
sind aus dem Depot wieder in die Galerie gewandert
(an die Eingangswand), so daß der Maler auch als
Bahnbrecher für die antikisierende Richtung in einem
der eklatantesten Beispiele zur Geltung kommt. Der
Beschauer kann aus diesen Bildern ganz verschiedener
Phasen des Meisters doch das allen Gemeinsame in
der Modellierung heraussehen. Ein anderes mit Mabuse
verwandtes Bild ist ebenfalls aus dem Depot geholt.
daneben gehängt und gibt Gelegenheit, den Gegen¬
satz der spielenden ornamentalen Renaissancearchitektur
zur theoretisch korrekt sein sollenden des Neptunbildes
zu beobachten. Im übrigen ist diese Eingangswand
ungleichmäßiger als die andere, ihr Hauptbild ist der
späte Gerard David mit der Kreuzigung, zu dem sich
als neuer Bestand noch eine kleine Madonna in der
Landschaft gesellt hat, ebenfalls ein späteres Bild (viel¬
leicht nur Schulbild) in abgeschwächten Farben, das
aus Düsseldorf zurückgeholt ist, so daß auch dieser
Meister jetzt im neuen Museum vollständiger zur Er¬
scheinung kommt als im alten. Noch mehr, wenn
man die vier kleinen Heiligen hinzu rechnet, die sich
in der Schenkung James Simon befinden, die ihrem
Hauptinhalt nach auf der italienischen Seite aufge¬
stellt ist.
Kehrt man nun zurück in das kleinere Kabinett,
so trifft man die Holländer vom Anfang des 1 6. Jahr¬
hunderts beisammen. Zu der selten großen Zahl von
Bildern des Lukas von Leyden hat sich Cornelis Engel¬
brechtszen gesellt. Sein Bild der Dornenkrönung hing
früher versteckt im Korridor, ist jetzt aber nicht nur
gut sichtbar, sondern erhält noch einen besonderen
Wert dadurch, daß ein zweites Bild desselben Meisters
aus dem Depot hinzugekommen ist, das eine ganz
andere spätere Phase seiner Entwickelung zeigt. Es
ist die Berufung des Matthäus, ziemlich stark an ein¬
zelnen Stellen ausgebessert, im ganzen aber durch¬
aus von ursprünglichem Charakter. Engelbrechtszen
ist hier auf das stärkste beeinflußt von seinem Schüler
Lukas van Leyden, dessen Entwickelung er folgt, und
in der Farbe und Lichtbehandlung ist zwischen seinen
beiden Bildern ein ähnliches Verhältnis wie bei Lukas
zwischen dessen frühem Bild der Schachspieler und
der späteren Madonna. Das kleine Triptychon von
Jakob van Amsterdam und das Porträt des Mannes
mit den weißen Handschuhen vom mutmaßlichen
Mostaert vervollständigen den holländischen Komplex,
zwischen den allerdings ein paar belgische Porträts
eingestreut sind.
Die Rückseite dieses Kabinetts ist deswegen be¬
sonders bemerkenswert, weil auf ihr eine Reihe von
Bildern angebracht sind, die im Depot lagerten, über
deren Wiedererscheinen man aber zum mindesten aus
kunstgeschichtlichen Rücksichten froh sein kann.
Bei dem Nachdruck, den man aus künstlerischen
Interessen auf das 15. und 17. Jahrhundert zu legen
hat, ist das 16. in seiner Mitte und zweiten Hälfte
meist schlecht behandelt worden. Die manierierten
italienisierenden Bilder, die affektiert posierten Gestalten
und die übertriebenen Muskelmenschen sind allerdings
unsympathisch, aber unter ihrem Deckmantel führen
sich eine ganze Reihe von Faktoren ein, die die
Malerei des 17. Jahrhunderts vorbereiten.
Die Lücke, die auch die Berliner Galerie in dieser
Beziehung zeigte, ist durch die wieder ausgestellten
Bilder im Kaiser Friedrich-Museum zum Teil ausgefüllt.
Für das Studium der Landschaft tritt zu dem Patinir
und dem kleinen Pseudo-Mostaert oder Ysenbrant
jetzt das Bild von Cornelis Massys, eines Sohnes des
Quintin. Das religiöse Motiv, die Ankunft der Eltern
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
71
RUBENS. DIANA UND NYMPHEN VON SATYRN ÜBERFALLEN
Christi in Bethlehem, tritt so sehr zurück, daß es
kaum zu finden ist, die Staffage wirkt rein genrehaft,
und die Landschaft mit ihrem schon zusammenge¬
faßten blauen und braunen Tönen wird zur Hauptsache.
Sie ist 1543 datiert. Der Einfluß der italienischen
Pose ist außer durch den schon erwähnten Mabuse
durch die Taufe Christi von Scorel gekennzeichnet, es
tauchen Erinnerungen an den Schlachtkarton Michel¬
angelos auf, die ganze Landschaft ist in Kulissen auf¬
gebaut.
Im Wertgrade aber viel höher steht ein Frag¬
ment von dem Holländer Pieter Aertszen. Dieser
hatte ein Gemälde für den Hochaltar der Oudekerk
in Amsterdam gemalt, von dem nur noch Bruch¬
stücke erhalten sind. Zu ihnen gehört auch die
Berliner Tafel. Die Frau mit dem nackten Kinde auf
der Schulter blickte zum neugeborenen Christuskind
hinüber. Unter den ausgestellten Niederländern ist
es das erste modern gemalte Bild, der Einfluß der
Venezianer ist unverkennbar, links glaubt man ein
Stück Bassano zu sehen, die Farben sind dort ganz
breit, fast skizzenhaft aufgesetzt. Von diesem selben
für Holland so wichtigen Maler ist im größeren Saal
noch ein zweites und zwar bezeichnetes und 1552
datiertes Gemälde hinzugekommen, das in anderer
Weise bedeutsam ist, nämlich in der genrehaften Auf¬
fassung der biblischen Erzählungen. Die Kreuztra¬
gung ist hier nur der Vorwand, um in einer Menge
von kleinen Figuren uns allerlei aus dem täglichen
Leben vorzuführen, den Gemüsewagen mit verkaufen¬
den und schwatzenden Frauen, die Gefangennahme
eines Spitzbuben, der seiner Familie entrissen wird,
und daneben sind die Episoden der Schächer mehr
in den Vordergrund gerückt, als die Begebenheiten
Christi. Aertszen ist darin ganz die holländische
Parallelerscheinung zum Pieter Brueghel in Belgien,
von dem die Galerie leider noch kein Werk besitzt.
Gerade mit diesen Bildern sind hier Töne angeschlagen,
die die Vermittelung bilden zur Abteilung des 17. Jahr¬
hunderts, und man würde es nicht mehr als Sprung
empfinden, wenn man jetzt gleich in den nächsten
Räumen zu den späteren Meistern hineingeführt würde.
Aber das geschieht doch nicht, wir haben erst zwei
deutsche Kabinette zu durchschreiten und finden dann
in gerader Flucht in dem größeren Kaminsaal die
Holländer wieder, und zwar nicht in genau chrono¬
logischem Anschluß, sondern gleich in einer Zu¬
sammenstellung verschiedener Stücke aus der weitest
entwickelten Zeit.
Vor allem wird gleich Rembrandt antizipiert. Man
hat dadurch das eigentliche Rembrandt-Kabinett ent¬
lastet, indem man die Jugendbilder vorweggenommen
hat, wie den Geldwechsler, die Diana und den Raub
der Proserpina, und die größeren, wie den Simson,
Jakobs Ringen und Moses mit den Gesetzestafeln, die
einen weiteren Raum erforderten. Das wichtigste
Bild, der Anslo, hat natürlich den besten Platz er¬
halten und hat hier ein Licht, das ihn ganz anders
zur Geltung bringt, als dies im alten Museum ge¬
schah, der Hintergrund rechts kommt deutlicher heraus,
die Raumwirkung ist stärker und die Eintönigkeit in
der Farbe durch den Firnis, die früher den Eindruck
schwächte, verschwindet vollständig. Um ihm ein
einigermaßen gewichtiges Gegenüber zu schaffen, hat
man auch das Ruysdaelsche Seestück mit dem braunen
Segel hier hineingehängt. Im übrigen sind einzelne
Schüler Rembrandts, wie Eeckhout und Landschaften
von Everdingen, Brouwer, Aert van der Neer und
72
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
Livens, die in ihren braunen Tönen zu Rembrandt
stimmen, dem Meister angereiht.
Gegenüber dem Kamin steht auf einem Schrank
des 17. Jahrhunderts ein kleiner bogenschnitzender
Amor aus Marmor von Duquesnoy. Er ist durch
die lange Flucht der Türen hindurch sichtbar und
markiert für den Heranschreitenden gleichsam eine
Pause, die Stelle, an der sich die Querachse des Ge¬
bäudes abzweigt. Es bleibt die Wahl, dieser Ab¬
zweigung zu folgen oder noch weiter geradeaus zu
gehen. Folgt man ihr, so gelangt man in den großen
Rubenssaal.
Im Rubenssaal steht der Raum zu den Bildern
in ausgezeichnetem Größenverhältnis, leider findet
sich wie an anderen Stellen des Baues auch hier
das stark vorragende Gesims, hinter dem sich der
Ansatz der leicht angewölbten Decke verbirgt. Die
rotgemusterte Tapete ist durch den grauen Grund,
der infolge der Komplementärwirkung grünlich er¬
scheint, stark in ihrer Intensität gemildert. Rubens
hätte vielleicht eher einen kräftigen Ton vertragen
können als die anderen. Die Bilder aber hängen
so vortrefflich wie nur möglich. Der Rubens- und
Van Dyck-Besitz der Galerie geht in eine prachtvolle
Symmetrie auf. Die Mitte der einen Längswand
nimmt das erst kürzlich aus Sanssouci übertragene
Bild der Diana mit Nymphen und Satyrn ein. Der
eine Satyr scheint Diana um die noch freie Nymphe
zu bitten, die ängstlich der Entscheidung entgegen¬
sieht. Wie bei allen späten Werken von Rubens, hat
auch hier das Fleisch eine gewaltige Leuchtkraft, es
wird etwas kraß herausgehoben durch das intensive
Blau auf der linken Seite, und man kann nicht recht
glauben, daß dies Blau in seiner jetzigen Form von
Rubens selbst herrührt oder nicht wenigstens seine
mildernden Lasuren verloren haben sollte. Der Glanz
der Haut stimmt zu dem der hl. Cäcilie gegenüber
und zur Andromeda auf derselben Seite. Doch wird
letztere noch lange nicht in den Schatten gestellt und
steht weiter an der Spitze. Sie bildet wie früher in
ihrer duftigen malerischen Behandlung ein lehrreiches
Gegenstück zum frühen glatter und schwerer gemalten
Sebastianus.
Eine Kurzseite wird durch die Bekehrung des
Paulus eingenommen. Dies der Galerie noch nicht
lange angehörige Bild war zwar schon zuletzt im
alten Museum ausgestellt, aber es trat nicht so hervor
wie auf seinem neuen Platz, wo es für den draußen
in der Basilika Stehenden eine glänzende Perspektive
bildet. Es repräsentiert am stärksten in der Samm¬
lung das Stürmisch-Aktive in Rubens’ Darstellungskraft.
Van Dyck ist zwischen die Rubensschen Bilder
verteilt; seine zwei dunkel und einfarbig gehaltenen
Porträts rahmen das helle und farbige Bild der hl.
Cäcilie ein. Beide Maler bilden hier starke Gegen¬
sätze, während auf der Seite gegenüber die Dornen¬
krönung Christi und die beiden Johannes gerade den
jüngeren Meister im Zusammenhang mit seinem
Lehrer zeigen. Ein Nebenkabinett beherbergt einige
Rubenssche Entwürfe und Skizzen, Teniersche Bilder
und Miniaturporträts und leitet hinüber zum kleineren
vlämischen Saal mit gleicher Tapete und Gesims¬
schema wie im Rubenssaal. Die vier kleinen Schräg¬
wände in den Ecken, die hier nicht wie in den
Seitenkabinetten vorgesetzt sind, sondern mit der
Deckenkonstruktion Zusammengehen, bilden je mit
einem Porträt (Rubens, Van Dyck, Cornelis de Vos,
Ferd. Voet) und einem Blumenstück darüber ganz
feste Teilungen. Dazwischen erstreckt sich oben ein
Kranz größerer, unten eine Kette kleinerer Bilder,
Van Dycks Beweinung Christi und Cornelis de Vos’
Ehepaar bilden die Mittelachsen der Langseiten.
Manche Bilder, wie die frühe Rubenslandschaft, der
hl. Hubertus von Jan Brueghel, die früher hoch
hingen, sind jetzt bequem zu studieren. Neu hinzu¬
gekommen ist außer einigen Rubensschulbildern ein
interessantes 1633 datiertes Männerporträt von dem
Brügger Maler Jakob van Oost, das durch seine gelb¬
braune Gesamtfärbung eine Berührung mit hollän¬
dischen Kreisen der Zeit vermuten läßt, ferner ein
Porträtkopf von Van Dyck, der bisher ausgeliehen
war. Es ist ein Jünglingsbildnis, das wohl noch in
die frühe Zeit des Meisters gehört, aber schon den
glänzenden erregten Blick hat, der Van Dyck so
eigentümlich ist.
Das Ende des Saales mündet wieder in die
Sammlung der holländischen Bilder. Will man aber
der chronologischen Reihe folgen, so muß man
zurückkehren zum Anslosaal. Der erste, der uns
hiernach empfängt, ist Frans Hals. Seine Bilder
sind ähnlich verteilt wie im alten Museum, nur die
beiden frühen Bilder des Ehepaares sind an hervor¬
ragende Stelle auf die Eckplätze gerückt, jeden¬
falls mehr, weil sie die besten Gegenstücke, als weil
sie die bedeutendsten Bilder unter den Werken sind,
die die Galerie von Hals besitzt. Denn unter diesem
Gesichtspunkt müßte der Oosdorp vorangehen. Ganz
neu hinzugekommen ist ein Bild der besten hol¬
ländischen Malerin des 17. Jahrhunderts, der Judith
Leyster, einer Schülerin des Frans Hals. Es ist die
Halbfigur eines Trinkers mit rotem Barett und Pfeife,
den Bildern ihres Ehegatten Jan Miense Molenaer
in der Malweise sehr ähnlich.
Es sind ferner Bilder von Brouwer und zwei
Terborghs in dies Kabinett gebracht und einige Still¬
leben und Landschaften, die durch ihren zusammen¬
fassenden Ton und die kräftigen Reflexlichter zur
Art des Frans Hals stimmen.
Die richtige Tonmalerei aber, wie sie in Holland
hauptsächlich in den dreißiger und vierziger Jahren
des 1 7. Jahrhunderts Mode war, hat ihren Schauplatz
im nächsten Kabinett. Jan van Goyen ist hier ma߬
gebend, ihm folgt ein früher Aelbert Cuyp und auch
von Jan Gerritsz und von Benjamin Cuyp Bilder
ganz im gelbbraunen Ton. Ein Stilleben von Pieter
Claesz bringt dazu den Hauptmeister, der auf diesem
Gebiet den bräunlichen Gesamtton vertritt und ihn
durch ein feines Silbergrau belebt. Porträtmaler, die
parallel zu Hals einsetzen, wie Palamedesz und Tho¬
mas de Keyzer, kommen hinzu, letzterer in den beiden
kleinen Altarflügeln aus seiner Frühzeit auf Rubenssche
Schulung weisend, in seinem Familienbild dann schon
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N, F. XVI ; . ' , ^ ' JAKOB RUISDAEL. BLICK AUF HAARLEM
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
73
von viel stärkerem holländischen Charakter. Ein
großes Frauenporträt von Jac. Gerritz Cuyp von 1524
gibt uns ein Bild von dem, was man damals in
Holland noch ohne die Kunst von Hals und Rem-
brandt im Bildnis leisten konnte, und so ist dieser
Raum in der Hauptsache der Vorbereitungszeit für
die Glanzepoche gewidmet. Der Sommer und Winter
von Adriaen van de Venne weisen noch mehr auf
das 16. Jahrhundert zurück, ebenso das Vorjahren
schon einmal ausgestellte, dazwischen aber entfernte
Langbild von Gillis de Hondecoeter, das für die
kunstgeschichtliche Beurteilung dieser Übergangsphase
Daniels mit dem strahlenden Weiß des Engels kommt
besonders wirkungsvoll zur Geltung, auch der Mann
mit dem Helm könnte nicht besser hängen, da die
gemalten Reflexe hier mit dem Lichteinfall stimmen.
In der Gesamtheit wirken die Bilder durch Aus¬
scheidung der Stücke im Anslosaal hier jetzt ent¬
schieden reicher und intensiver als im alten Museum.
Im nächsten Raum rückt die Landschaft an die
Hauptstelle, Ruysdael, Hobbema, Adriaen van de
Velde, Capelle, Cuyp’’ und Jan van der Meer von
Haarlem. Die beiden Hasenbilder von Weenix in
den Ecken machen sich daneben fast zu sehr geltend.
GASPARD DUOHET. HEROISCHE LANDSCHAFT
sehr instruktiv ist, besonders für die Zeit, in der das
Bestreben, leuchtend in den Landschaftstönen zu sein,
nur zu einer Art glasiger Durchsichtigkeit führt.
Wie schlagend ist der Gegensatz, wenn man aus
diesem Zimmer der Vorbereitung in das nächste tritt,
das der Vollendung. Über dem Ton steht hier die
vollkommene Leuchtwirkung. Es gehört fast voll¬
ständig Rembrandt, vierzehn Bilder, und darunter die
besten, welche die Galerie besitzt, hängen beisammen,
und nur die Hinterwand ist Gemälden von einem dem
Rembrandtschen ähnlichen Effekt eingeräumt, unter
denen vor allem die Apfelsinen Kalfs hervorleuchten.
Bis auf die beiden Selbstporträts gehören alle Bilder
Rembrandts vorgeschrittener Zeit an. Die Vision
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 2
In diesem Kabinett ist das Grün der Tapete am
ehesten störend, denn die feinen Nuancen der Bäume
und Wiesen gehen gegenüber der starken Grundfarbe
verloren. Man kann dies besonders an dem Bild
des Adriaen van de Velde beobachten, dessen hohe
Qualität man erst wiederfindet, wenn man sich ganz
in das Bild vertieft hat.
Den Schluß der langen Reihe, auf den man wie
auf ein Ziel hinsteuert, sollte eigentlich der Rem-
brandtsaal bilden, aber das Licht, die lange Rück¬
wand waren nicht günstig, und ein Zusammenfassen
gestaltete sich viel schwieriger.
Dafür hat man nun die mehr verschiedenartigen
Genrebilder hier untergebracht, und zwar diejenigen,
10
74
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BEREIN
die als gleichzeitig der Rembrandtschen Kunst auf
der Höhe der Entwickelung stehen. Auch hier leuchtet
es in den Interieurs von Pieter de Hoogh und dem
Delfter Vermeer, auf der Seide Terborghs, und das
Abendlichi gleitet über das bunte Gefieder der Vögel
von Melchior Hondecoeter. Das farbige Bild von
Vermeer aus der Clinton Hope-Sammlung ist zur
größo'^ 'n Wirkung zwischen zwei ganz dunkle Ruys-
d.'u . ; - 'lg. dru über die früher infolge einer falschen
öezi iciiiumg dem Nicolaus Maes, jetzt von der Mu¬
sen msverwaltung richtiger auch dem Pieter de Hoogh
zugeschriebene
Küche ebenso
zwischen zwei
Porträts von Ter-
borgh mit tief¬
stem Helldunkel.
Auch die Tauf¬
mahlzeit von
Steen macht sich
als Mittelpunkt
durch ihre schar¬
fe Plastik ein¬
dringlich be¬
merkbar, die Osta-
des dagegen tre¬
ten bescheidener
zurück.
Kehrt man
aus diesem Sitten¬
bildsaal wieder
zurück, so ge¬
langt man durch
ein kleines Ka¬
binett, das sich
an die belgischen
Räume anschließt
und das die mehr
süßlichen und
glatten Genrebil¬
der der Netscher-
undMierisgruppe
enthält, in den
rechtwinkelig zur
bisherigen Reihe
gelegenen größ-
tenHolländersaal,
für den sich
schwer ein ganz
bestimmter künstlerischer Charakter feststellen läßt,
besonders da hier die Größe des Formats bei der
Auswahl stark entscheidend war. Allerdings deckt
sich in diesem Fall das Format bis zu einem ge¬
wissen Grade mit dem Künstlerischen, da die Maler
großer Historien vorwiegend unter dem Einfluß
Rembrandts standen. So sind in verstärkter Zahl die
Rembrandtschüler und Nachahmer wieder eingezogen,
die teilweise ins Depot verbannt waren, das große Bild
»Die Großmut des Scipio» von Horst, »Krösus und
Solon von Köninck, Der Segen Jakobs« von Mol,
'Hannah und SamueF von Jan Victors und andere.
Man konnte diese holländische Gattung im alten
Museum kaum kennen lernen, und wurde dort fast
nur auf Kabinettstücke hingewiesen, so liegt auch
darin entschieden eine Bereicherung. Das große
Porträtstück von Abraham van den Tempel führt
einen der glänzendsten Porträtisten der holländischen
Kunst ein, welche, ähnlich wie van der Heist in
seiner späteren Zeit, die prunkvolle äußere Erscheinung
betonten, der die elegante Welt lieber huldigte als
der Rembrandtischen Kunst. Es zeigt sich in dem
Bild das pompösere Zurückgehen auf die klare und
glättere Mal weise,
wie sie aus der
Frühzeit desjahr-
hunderts durch
die großen Por¬
träts des Nikolaus
Elias auf der
Langseite vertre¬
ten sind, und in
die Zwischenzeit
fallen die mehr
Rembrandtischen
großen Mittel¬
bilder der dritten
und vierten Seite
(Livens und das
unberechtigt
Meert genannte
Ehepaar). In An¬
betracht der gro¬
ßen ungeteilten
Wände ist es hier
überraschend gut
gelungen, Bilder
zu einer geschlos¬
senen Gesamt¬
form zusammen¬
zufassen.
Die Reihe
der Niederländer
wird damit ge¬
schlossen, denn
im letzten Saal
dieses Flügels
sind Spanier und
Franzosen ver¬
einigt. Sie sind
dort etwas zu¬
sammengedrängt, vor allem würde man für die
kleineren französischen Bilder, die Watteau und Laueret,
ein Kabinett für sich wünschen, während sie jetzt
auf der einen Kurzwand eines für sie zu großen
Saales vereint sind. Über ihnen erscheint als neuer
Ankömmling das vorzügliche Selbstporträt des Malers
Pesne mit seinen Töchtern. Auch die gegenüber¬
liegende Wand würde imposanter wirken, wenn dort
der ungewöhnlich schöne Ribera, der hl. Sebastian,
allein hinge. So muß er den Platz teilen mit den
Gemälden von Goya, die für sich selbst auch schon
die größte Aufmerksamkeit beanspruchen. Beide Por-
GOYA. PORTRÄT EINES MÖNCHES
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
75
träts sind neue Erwerbungen. Die übrigen Spanier,
Velazquez, Zurbaran und wieder Ribera gruppieren
sich um Murillos hl. Antonius. Der standfeste Haupt¬
mann, der früher neben diesen Bildern hing, ist zu
den Italienern hinübergegangen, nachdem seine Natio¬
nalität erkannt worden ist. Frankreich ist besonders
für das 17. Jahrhundert durch einzelne Bilder sehr
ansehnlich vertreten und kann daher auch in seiner
Stellung zu der gleichzeitigen niederländischen Kunst
gut beobachtet werden.
Mit dem spanisch-französischen Saal verläßt man
die Abteilung, doch hat die Galerie in ihrem vlämi-
schen und holländischen Bestand noch eine wesent¬
liche Bereicherung erfahren durch die Ausstellung
zweier Privatsammlungen, einer geliehenen Auswahl
der Wesendonckschen Galerie in Berlin und der teils
geschenkten, teils angekauften Thiemschen Sammlung
aus San Remo. Die bedeutendsten Bilder der Wesen¬
donckschen Gruppe sind wohl die schöne Landschaft
von Patinir, die durch verschiedene Leihausstellungen
der letzten Jahre bekannt geworden ist, eine Backstein-
riiine am Fluß von Ruysdael, die der berühmten Dres¬
dener Ruine an Wirkung nahe kommt, ein ziemlich frühes
Bild von Adriaen van Ostade, Tanz vor einem Bauern¬
hause, in das ein zuschauendes Ehepaar von anderer
Hand hineinporträtiert ist, und schließlich eine kleine
scharf beleuchtete Dorfstraße von Hobbema. Daneben
spielen Sittenbilder der Art des Steen und Metsu die
Hauptrolle. Die Sammlung ist in dem ersten oder,
wenn man will, letzten Kabinett der niederländischen
Seite untergebracht. Man muß durch dies weniger gut
beleuchtete Zimmer hindurch, wenn man sich zuerst
zum Eyckkabinett begibt.
Die Sammlung Thiem befindet sich dagegen
in der italienischen Abteilung, hinter dem Tiepolo-
zimmer. Ihr Glanzstück ist das imposante van
Dycksche Frauenporträt aus seiner Genueser Zeit,
eine Marchesa Spinola, die, in ganzer Gestalt sichtbar,
nach links schreitet, den Fuß auf eine Stufe setzt
und dadurch an Bewegung und Grandezza gewinnt.
Es ist dies ein Geschenk des bisherigen Besitzers.
Bekannt durch die Brügger Ausstellung ist von den
anderen Bildern ein kleines, aber sehr charakteristisches
Bild von Dirk Bouts, Christus im Hause des Simon.
Sonst bilden den größten Bestandteil die mannig¬
faltigsten Stilleben von Fyt, Mignon, Kalf, Heda,
Snyders, auch von dem aus der Abteilung schon als
Rembrandtischer Historienmaler bekannten Horst.
Nach der Richtung des Stillebens hin wird die Galerie
durch diese Erwerbung also ganz wesentlich vermehrt
und ergänzt.
Die gesamte niederländische Sammlung kommt
so in den neuen Räumen zur allerbesten Ent¬
faltung, in künstlerischer wie in kunstgeschichtlicher
Hinsicht wird ihr die Aufstellung gerecht. Überall
ist man auf zentrale Gruppierung ausgegangen mit
möglichst symmetrischer Flächengliederung durch Bil¬
der, die sich in der Größe entsprechen. Es ist das
ein in der Aufstellung ganz klar waltendes Prinzip,
das besonders den Wert hat, daß es eine gewisse
Ruhe für das Objekt und für den Beschauer zur
Folge hat, die für die Würdigung alter Kunst an¬
gebracht ist. Ein kleiner Teil der früher sichtbaren
Bilder ist allerdings wieder ins Depot gewandert,
und man wird gelegentlich dies oder jenes vergeb¬
lich suchen. Aber selbst in den neuen erweiterten
Räumen ist es, wenn man die Wände nicht mit Bil¬
dern austapezieren will, unmöglich, den ganzen Be¬
sitz auszustellen, einschließlich alle Bilder vierten und
fünften Ranges. Das künstlerische Niveau der Samm¬
lung würde dadurch auch nur erniedrigt werden und
das Publikum geschädigt durch den Dienst, den man
dadurch den Kunsthistorikern erwiese. Ein beständiger
Kampf herrscht zwischen den beiden Wünschen, den
Eindruck der Bilder durch Isolierung und freiräumiges
Hängen zu heben und andererseits das nicht ganz
auf der Höhe Stehende aber doch Sehenswerte nicht
zu verstecken. Über das, was zur Ausstellung kommt,
ist natürlich in erster Linie die Qualität entscheidend,
bei den minderwertigen Stücken dagegen kommen
andere Rücksichten mit in Frage, eine Richtung oder
ein gegenständliches Gebiet sind gerade beliebter
als andere, oder zu einem ausgestellten Bild ist
ein Gegenstück nötig von gleicher Größe, von
gleicher Farbe oder gleichem Sujet. So kann man
bei diesen Sachen keinen ganz festen Maßstab ansetzen.
Irgend etwas Wesentliches aber fehlt in der neuen
Aufstellung nicht. Der Besucher wird seine alten
Bekannten fast alle wieder entdecken und neue dazu,
und er wird fast alles besser sehen können und
das meiste wirkungsvoller und lehrreicher gruppiert
finden.
Daß ein solches Resultat erreicht worden ist, ist
allein das Verdienst von Wilhelm Bode, und zwar
nicht nur durch diese letzte Aufstellung selbst, son¬
dern durch eine lange glänzende Vorarbeit, die in
den letzten fünfundzwanzig Jahren die Zahl der Bilder
ersten Ranges wohl um das Doppelte vermehrte. Die
Vlamen der ursprünglichen Oranischen Erbschaft, die
Holländer der Suermondt- Sammlung, waren gering
im Vergleich zu der jetzigen Fülle. Die Hälfte der
Rembrandtbilder, und zwar die unvergleichlich schönere
Hälfte ist Bodes Erwerbung, ebenso der schönste
Rubens (die Andromeda) und der schönste Hals
(Oosdorp). Die Sammlung verdankt ihm ihre Ab¬
rundung und eine gewisse Gleichmäßigkeit, und bei
den Ankäufen wird oft das Zukunftsbild einer neu
zu schließenden Gruppe der Antrieb gewesen sein.
Wichtige Künstler, besonders aus der Frühzeit,
sind dadurch erst in die Lücken eingerückt, wie der
bis dahin unbekannte Älteste unter den holländischen
Malern, Ouwater, dann Geertgen van Sint Jans, der
Meister von Flemalle, Hugo van der Goes, von an¬
deren Malern werden Phasen ihrer Kunst vorgeführt,
die noch nicht vertreten waren. Die neue Madonna
von Lucas van Leyden zeigt ihn erst auf der Höhe
seiner Wirksamkeit, die Rubenssche Kunst wird nacli
der frühen und späten Zeit hin ergänzt, das Bild der
Sittenmaler aus der Blütezeit wird viel reicher, das
Stilleben in seiner Vielseitigkeit überhaupt erst deir
Beschauer geboten.
10*
76
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
iManche Galerien haben schönere Gemälde als die
Berliner, aber wohl keine entrollt ein so vollständiges
Bild der gesamten holländisch-belgischen Kunst, keine
auch kann sich in ihrer Aufstellung so fest ge¬
schlossener Kreise rühmen.
Es war gewiß eine große Erschwerung, daß seit
Monaten, während der meisten Zeit der Neuordnung,
Herr Geheimrat Bode an das Bett gefesselt war und
es bedurfte sicher einer ganz besonderen Sorgfalt der
ausführenden Kräfte, die Intentionen und Wünsche
des Direktors ungeschmälert in die Tat umzusetzen.
Wird diese Tat für Bode selbst auch wieder nur ein
Übergang sein zu neuen Dingen, der Besucher kann
jetzt erst einmal darangehen, die alten Bilder in
frischer Weise anzuschauen und damit neue Freuden
zu genießen. adoi.ph goldschmidt.
IX. DIE ITALIENISCHEN GEMÄLDE
Die italienische Abteilung der Gemäldegalerie hat
sich vielleicht am stärksten, ihrem Eindruck nach, ver¬
ändert. Holländische Bilder verlangen gutes Licht
und verständige Anordnung, das übrige spielt daneben
eine geringere Rolle. Die italienischen Gemälde der
Renaissance verlangen aber außerdem noch mehr. Sie
sind weniger isolierte Kunstwerke: sie rechnen mit
einer bestimmten Umgebung, und, vor allem, sie sind
meistens in hohem Grade architektonisch empfunden.
Es ist also klar, daß man für die künstlerische Wir¬
kung dieser Bilder durch die Andeutung einer ent¬
sprechenden Umgebung und durch die Herausschä¬
lung ihres architektonischen Charakters sehr viel tun
kann. Für einen Rembrandt etwa wird es nicht viel
ausmachen, ob man ihn in Gesellschaft holländischer
Möbel sieht, oder in einer effektvollen Perspektive —
ganz anders bei einem Andrea del Sarto.
Man durfte von Wilhelm Bode, dem glänzen¬
den Kenner der italienischen Renaissance, dem Schö¬
pfer der wundervollen Sammlung italienischer Pla¬
stik, in diesen Richtungen Hervorragendes erwarten:
in der Ausstattung bemerkte man seit Jahren ein
systematisches Hinarbeiten auf die Einrichtung des
neuen Museums, man sah, wie die häßlichen Galerie¬
rahmen verschwanden, und durch schöne alte Rahmen
ersetzt wurden, man wußte, daß alte Marmortüren
und prachtvolle Möbel für die neuen Sammlungs¬
räume gekauft wurden; und es ließ sich annehmen,
daß für die architektonische Anordnung in dem Neu¬
bau die nötige Bewegungsfreiheit gegeben war.
Es sei gleich hier gesagt, daß diese Erwartungen
in glänzender Weise erfüllt sind, daß etwas ge¬
schaffen ist, dem sich zur Zeit keine andere Galerie
auch nur annähernd vergleichen läßt.
Bei Beurteilung einer solchen Leistung, bei der
hunderte, ja tausende von Rücksichten schließlich
irgendwie erledigt werden müssen, darf man sich
natürlich nicht an einzelnen Kleinigkeiten stoßen,
Kleinigkeiten lassen sich schon ändern! jeder Be¬
sucher hat seine bestimmten Geschmacksrichtungen
und Liebhabereien, das eine Bild möchte er tiefer
haben, das andere heller, und was sonst. Und noch
anspruchsvoller sind die Gemälde selbst: wer jemals
ein Dutzend gegebene Bilder in einem gegebenen
Raume aufgehängt hat, der weiß, daß nach jeder
Permutation wieder neue Interessenrichtungen auf¬
tauchen und eine andere Aufstellung verlangen.
Die Bilder hängen jetzt sehr viel freier und weit¬
räumiger als bisher. Plastische und kunstgewerbliche
Werke beleben die sonst einförmige Erscheinung der
Bildersäle. — Das alte Prinzip der Symmetrie hat man
beibehalten, obwohl ja der moderne Geschmack die
freie Anordnung vorzieht. Doch möchte gerade für
diese Italiener eben wegen ihres architektonischen
Charakters die architektonische Anordnung berechtigt
sein. Daß in vereinzelten Fällen diese Rücksicht auf
Symmetrie andere, feinere Rücksichten zurückgedrängt
hat, darüber wird man sich nicht wundern, wenn
man die geradezu stupende Leistung bedenkt, die hier
in wenigen Wochen vollbracht werden mußte.
Wo wir also irgend eine Lösung nicht glücklich
finden, werden wir uns mit ziemlicher Sicherheit sagen
können, daß die Galerieleitung ganz derselben An¬
sicht ist, daß jedoch andere Momente wichtiger waren,
an die wir nicht haben denken können.
Diese Bemerkung soll übrigens nicht etwa im
allgemeinen zu milderer Beurteilung stimmen, sie
bezieht sich nur auf ganz vereinzelte Fälle: im all¬
gemeinen hat die Anordnung eine milde Beurteilung
nicht nötig, sie ist im Gegenteil vortrefflich, und das
gerade in allen wesentlichen Dingen, die einen end¬
gültigen Charakter tragen. Solche vereinzelte Fälle
finde ich eigentlich nur in dem ersten Raum, durch
den man, vom großen Treppenhause her, die ita¬
lienische Abteilung betritt. Hier hängen einige er¬
lesene Werke — Simone Martini, Fra Angelico, Ma-
saccio, Fra Filippo - ungünstiger, als zu wünschen
wäre; der Grund liegt hier in der Art des Raumes:
er hat einen etwas korridorartigen Charakter, und ist
nicht hell genug, da das Oberlicht vom Schatten der
großen Kuppel getroffen wird. Von allen übrigen
Räumen kann man sagen, daß die Bilder durchweg
wenigstens ebensogut hängen wie bisher, zum großen
Teil jedoch besser. Und man weiß, daß das außer¬
ordentlich viel heißen will.
Aus dem ersten Saal (in dem übrigens inter¬
essante Neuerwerbungen hängen, Ugo da Siena und
Giovanni di Paolo) kommen wir in eine Flucht
von neun Kabinetten mit Seitenlicht; das fünfte,
mittlere, ist etwas größer. Skulpturen und kleinere
Bilder sind hier aufgestellt. Die Ausstattung ist sehr
sorgfältig. Der Fußboden ist mit Fliesen belegt, rot
und weiß; der Eindruck der Farbigkeit wird dadurch
geschlossener, und der Lärm der Schritte, der gerade
in dieser langen Flucht gefährlich ist, wird nicht so
stark sein wie auf dem Parkett.
DAS TIEPOLO-ZIMAIER
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DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
79
Das erste dieser Kabinette enthält meist Florentiner
Gemälde des Quattrocento, die früher in mehreren
Räumen verteilt waren. Man wird selten so viel Kost¬
bares in einem kleinen Zimmer beisammen finden;
doch ist es hier nicht meine Sache, von den Bildern
selbst zu sprechen, sondern nur ihre Erscheinung in
der neuen Umgebung anzudeuten. Die alten Rahmen,
von denen sich gerade in diesem Kabinett einige
besonders schöne finden, wirken in der geräumigeren
Anordnung vielfach besser als früher. Unter den
Bildern stehen alte Truhen, oben ist eine schöne
alte Decke eingebaut. In der Rückwand ist die
prachtvolle alte Holztür aus dem Medicipalast ein¬
gesetzt, die bisher in dem Cinquecentosaal eine
ziemlich schlechte Figur machte; sie nimmt zugleich
die Stelle ein, an der die Bilder spiegeln würden.
Das große Muster der Wandbekleidung schadet hier
einigen Bildern etwas, wie namentlich der feinen
Predella des Domenico Veneziano. Die herrliche
Madonna des Verrocchio hätte man vielleicht gern
etwas näher dem Fenster. Die Seitenwände der Ka¬
binette stehen nämlich nicht schräg, sondern senkrecht
zu den Fenstern.
Unsere Abbildung zeigt zwei Wände dieses Ka-
binettes; doch wollen alle unsere Innenansichten mit
einem gewissen Vorbehalte vom Leser betrachtet sein:
alle Linien und Verhältnisse sind durch den geringen
Abstand, der sich für die Aufstellung des photographi¬
schen Apparates ergab, verschoben; und die Hauptsache,
die Farbe, fehlt, die Farbe der Bilder und der Rahmen,
der Intarsiatür und des Robbiareliefs, der Wandbe¬
kleidung und des Fußbodens. Nur als Notbehelf
sind also unsere Abbildungen anzusehen.
Es folgt ein Kabinett mit kleineren Robbiaarbeiten.
Der große Altar des Andrea steht in der sogenannten
Basilika. Dafür kommt jetzt die herbe und zugleich
so unendlich feine Madonna des Luca (sitzend in
ganzer Figur) wirkungsvoller heraus als früher. Dann
ein Kabinett mit Marmorplastik, namentlich Donatello.
Das nächste Kabinett und der darauf folgende
größere Mittelraum enthalten die Bronzesammlung,
deren Schöpfung ja eines der vielen außerordentlichen
Verdienste Wilhelm Bodes ist. Diese Sammlung, in
kurzer Zeit zu kaum übertroffener Höhe gebracht,
führte bisher, in engem, dunklem Raume zusammen¬
gedrängt, ein embryonenhaftes Dasein. Jetzt ist sie
freier entwickelt, feine alte Möbel nehmen sie auf.
Von diesen wird man besonders bewundern in dem
ersten Raume ein schönes und sehr seltenes Stück,
einen Bücherschrank (jetzt vorn mit Glas versehen).
Die modernen Vitrinen haben hier einen schweren Stand.
Als Raum ist der zweite, größere, von besonders an¬
genehmer Wirkung; die schöne alte Decke stammt
aus einem Palazzo Pesaro in Venedig, ln der Mitte
steht, außerordentlich günstig, Donatellos Johannes. An
der langen Rückwand, zwischen zwei Türen, ein
Kamin, mehrere größere Stücke tragend; darüber
das interessante Architekturbild (früher P. d. Francesca
genannt); rechts und links Bronzebüsten des Cinque¬
cento. An der südlichen Schmalwand ein elegantes
Wandbrett von feiner Farbigkeit, auf dem einige be¬
wegte Gruppen stehen, oben ein Wappen von schönem
Ton, rechts und links alte Rahmen, zur Aufnahme
von kleinen Bronzen dienend; in der Ecke Donatellos
Gonzagabüste auf schönem Sockel — eine Wand
von ganz prachtvoller Wirkung. An den übrigen
Wänden dieser Bronzezimmer habe ich die Aufstel¬
lung noch nicht vollendet gesehen. Bronzen auf¬
zustellen ist vielleicht die schwierigste Aufgabe für
den Museumsbeamten, doch lag sie hier in bester
Hand.
Das nächste Kabinett enthält die Sammlung James
Simon, die der bisherige Besitzer hierher geschenkt
hat. Es braucht nicht auf die Schätze dieser Samm¬
lung, wie etwa den Mantegna, hingewiesen zu werden,
es sei hier nur betont, daß mit ihr einige kunstgewerb¬
liche Gruppen in das Museum gekommen sind, die
mit der sogenannten hohen Kunst Zusammenhängen,
aber doch, bei der Abgrenzung der Gebiete, von der
Skulpturenabteilung nicht gekauft werden konnten,
z. B. die Bronzeglocken, die Türklopfer; unter ihnen
ganz exzellente Stücke. In der Mitte des Zimmers
steht ein prachtvoller Renaissancetisch.
Wir kommen dann in zwei Kabinette mit Plastik,
meist in Marmor, ln dem ersten hängt als Mittel¬
stück der Nordwand die schöne farbige Madonna aus
der Sammlung Hainauer, von Frau Hainauer jetzt
hierher geschenkt. Der zweite Raum enthält meist
oberitalienische Plastik. An der Decke Gemälde von
Veronese. (Die farbigen stucchi hängen im Erdge¬
schoß, in einer langen Flucht an der Westseite des
Gebäudes.)
Wir kehren zurück in den größeren Bronzeraum
und treten links in einen der Säle, gehen zunächst
durch diesen und den folgenden hindurch und wenden
uns dann rechts in den Raffaelsaal.
Das ist ein mächtiger Raum; unten herum zieht
sich ein größtenteils altes Gestühl, darüber hängen
die neun Raffaelteppiche. Diese sind unter Leitung
von Ida und Carlotta Brinckmann in jahrelanger,
unendlich mühevoller Arbeit restauriert worden. Der
Faden war vielfach verdorben, die Kette dadurch von¬
einander gelöst, oft sogar durchlöchert. Es wurden
nun alle schadhaften Stellen von der Rückseite her
mit einer durchgehend gleichen grauen Seide wieder
befestigt. So wurde einerseits in die alte Farbigkeit
nirgends hineingegriffen, man kann jederzeit sehen,
was neu ist, anderseits haben die Teppiche ihre alte
Konsistenz und Festigkeit zurückerhalten — eine
ideale Art der Restaurierung: Erhaltung, Rettung vor
dem Verfall ohne Eingriff in das Alte.
Dieser prachtvolle Raffaelsaal wäre nach dem ur¬
sprünglichen Plan der Galerieleitung und der Bau¬
leitung der monumentale glänzende Eingang zur
Galerie gewesen; von ganz anderer Wirkung als der
Eingang durch den nicht sehr glücklichen ersten Raum,
von dem wir vorhin sprachen. Nach jenem Plan
hätte die Haupttreppe in den Raffaelsaal geführt; von
da tritt man dann auf einen Vorraum, aus dem man
geradeaus in die sogenannte Basilika blickt, während
sich rechts und links Durchblicke eröffnen von außer¬
ordentlicher Wirkung: rechts, nach der niederländi-
AUS DEM BOTTICELLI-SAAL
SIGNORELLI-SAAL MIT DURCHBLICK IN DAS BRONZEZIMMER
QUATTROCFNTO-KABINETT MIT DER TÜR AUS PALAZZO MEDICI UND DEM RELIEF ANDREA DELLA ROBBIAS
DER CINQUECENTO-SAAL MIT DEM OIOVANNINO MICHELANGELOS
82
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
sehen Seite hin, auf den riesigen, kürzlich erworbenen
Rubens, Sturz Pauli, nach links, durch die beiden
vorhin genannten Säle hindurch, auf den herrlichen
Signorelli, Pm und die Hirten. Wir treten nun
also von hWr .us in die beiden vorhin durchschrit¬
tenen Säle in, oLirch ein monumentales Portal, ein
altes Stück aus Florenz, in pietra serena.
’^otticelli ist der Haupteindruck, den uns der erste
Saal ."'t. Hie rechte Langwand enthält hauptsächlich
Werke von Botticelli, und nur in einer Reihe, so daß
man alle trefflich sehen kann. Das Mittelstück ist der
Tondo mit der stehenden Madonna; es hat sehr
gewonnen durch einen Rahmen, der nach einem
der Botticellirahmen in den Uffizien kopiert ist. (Die
alten Schinkelrahmen waren auch bei Rundbildern
viereckig, in den Ecken entstanden natürlich breite
Füllflächen, so daß der harte Goldton in besonders
großer Masse auftrat; daher denn gerade die Rund¬
bilder, wo sie aus den Schinkelrahmen herausge-
konnnen sind, besonders gewonnen haben, so der
Raffaelino in dem ersten Kabinett. An Raffaels
Terranuova - Madonna kann man noch die Wir¬
kung des alten Rahmens sehen.) Für Botticellis
prachtvollen, kräftigen Altar, die thronende Madonna
mit den beiden Johannes, hat man den Rahmen des
Ghirlandaio in der Florentiner Akademie kopiert (der
Spruch paßt allerdings nicht). Das Gegenstück dazu
ist der farbenfreudige Raffaelino del Garbo, mit dem
schönen (nicht zugehörigen) alten Rahmen. Als
Abschluß rechts und links die beiden nackten Figuren
von Botticelli, Venus und Sebastian.
Das Mittelstück der gegenüberliegenden Langwand
ist wieder ein Tondo von Botticelli, aus der Samm¬
lung Raczinsky. Es ist ein großes Verdienst Bodes,
daß dies Bild nicht mit nach Posen gekommen ist.
Der Rahmen ist ebenfalls nach einem alten Botticelli¬
rahmen kopiert, der sich in England befindet. Dies
außerordentliche Bild wirkt farbig sehr glücklich, da
ein etwas matter Ghirlandaio darüber hängt, die
weißen Lilien kommen ganz wundervoll heraus. Ein
kleines Bild der Verkündigung von Botticelli ist aus
Kassel zurückgekommen; nicht hervorragend, aber die
Reihe in wünschenswerter Weise vervollständigend.
Man wird auch sonst gerade in den größeren Sälen
manche Bilder finden, die früher aus der Galerie aus¬
geschieden waren, entweder in den Berliner Depots
standen, oder an kleinere Sammlungen abgegeben
waren. Manche strenge Richter werden das bedauern,
das Niveau für geschädigt halten. Im allgemeinen
finde ich das nicht, wenn man auch das eine oder
andere Stück entbehren könnte, z. B. in diesem Saal
den Cassone, der aus dem Kunstgewerbemuseum
zurückgekommen ist. Doch wird wohl manches aus
äußeren Gründen aufgehängt sein, weil es an einem
anderen geeigneten Gegenstück oder dergleichen fehlte,
bei späterem Umhängen, infolge von Ankäufen etwa,
wird man solche Stücke wieder ausscheiden können.
Aus dem Botticellisaal gehen wir in den nächsten,
an dessen östlicher Schmalwand der Pan des Signo¬
relli hängt, zwischen zwei alten Türen aus Bergamo.
Beim Heraustreten aus dem Raffaelsaal fiel ja unser
Blick schon auf diese Wand. Der Saal enthält Umbrer
und Oberitaliener. Aus dem Depot ist eine Anbetung
von Palmezzano hierher gekommen. Neu erworben
sind zwei interessante Predellen von Parentino.
Diese beiden Säle, der Botticelli- und der Signo*
rellisaal, sind durch eine sehr breite offene Tür ver¬
bunden, ein äußerst glückliches Motiv; die Mittel¬
perspektive ist frei, man empfindet beide Säle noch
als einen großen Raum, ohne doch die Bilder an
den Langwänden gleichzeitig zu sehen, so daß nicht
die unendlich langen magazinartigen Bilderwände ent¬
stehen, wie sie etwa die großen Wiener Säle zeigen.
Wir wenden uns vor dem Signorelli links in
einen langen, etwas dunklen Saal. In der Perspektive
hängt Turas großes Meisterwerk; darunter steht eine
prachtvolle Cassapanca. Die Mittelslücke der Lang¬
wände bilden Costa und Francia. Auch hier sind
einige Bilder aus dem Depot wieder erschienen. Das
interessante Bild Nr. go A, der sogenannte Tomrnaso
di Stefano, ist aus beträchtlicher Höhe herabgestiegen
und kann jetzt studiert werden. — Neben dem Tura
führt links eine Türe in einen kleinen Raum mit
lombardischen Bildern.
Wir kehren in den Signoreil isaal zurück, da er¬
öffnet sich wieder eine Perspektive, in rechtem Winkel
zur Achse des Botticelli- und Signorellisaales; durch
zwei Säle hindurch, die ebenso wie die beiden ge¬
nannten durch eine breite Tür halb getrennt, halb
verbunden sind, sieht man den großen Luigi Vivarini.
Man hat diesem einen Rahmen gegeben, der mit der
gemalten Architektur im Bilde zusammengeht, in der
Art, wie es bei erhaltenen venezianischen Rahmen
der Zeit bekannt ist. Es ist kaum zu glauben, wie
das Bild durch diese zwei Momente gewinnt, den
Rahmen und die Perspektive, in der es hängt: die
Tiefe und die Architektonik des Bildes sind außer¬
ordentlich gesteigert.
Der erste der beiden Räume enthält besonders
viele ungewohnte Bilder. Vor allem ist der schöne
Montagna zu nennen, der vor einiger Zeit in London
erworben wurde, aber noch nicht ausgestellt werden
konnte. Dazu ein großer Marcello Fogolino, ein be-
zeichneter Vincenzo Foppa, zwei Bilder von Sacchi,
dann Ferramola, Francesco Morone und ein be¬
sonders glücklicher Mazzuola, diese alle bisher im
Depot; ferner eine Himmelfahrt von Giolfino, aus
Kassel zurückgekonnnen, ein »Monsignori« aus Breslau;
ebendaher ein Pseudo-Boccacino, aus Königsberg ein
Basaiti.
Der nächste Saal, der also mit dem Vivarini an
der Schmalwand abschließt, enthält die größeren ve¬
nezianischen Bilder der Bellinizeit. Die westliche
Langwand ist besonders glänzend. In der Mitte das
herrliche dreiteilige Bild vom Pseudo-Basaiti, links
davon der große Carpaccio (Stephanlegende) in einem
äußerst feinen alten Rahmen, dann die thronende
Madonna von Cima; rechts von der Milte der leuch¬
tende Crivelli aus der Sammlung Dudley, endlich
Cimas Ansanus. Wer die Bilder kennt, wird sich
aus dieser Tafelordnung einen ungefähren Begriff von
der vornehmen und prachtvollen Wirkung dieser Wand
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
83
machen können. Neben der breiten Tür hängt eine
Himmelfahrt der Maria Magdalena, in der Art des
Cima, bisher im Depot. An der östlichen Langwand
sieht man ein ziemlich geringes Polyptichon »aus der
Werkstatt der Vivarini«, ebenfalls aus dem Depot.
Diese Wand ist unterbrochen durch eine in Aufbau
und Durchführung sehr geschmackvolle alte Tür aus
Genua, mit einem hl. Georg in Relief. Sie führt in
die Reihe der Kabinette zurück, und zwar in das
letzte Kabinett mit den kleineren venezianischen
Bildern.
Dies steht auf demselben außerordentlich hohen
Niveau wie das florentinische Kabinett am Anfang
der Reihe. Zwei kostbare Gemälde von Bellini sind
die Mittelstücke der beiden Seitenwände: die Be¬
weinung und die Auferstehung, diese in dem feinen
alten Originalrahmen. An der Rückwand hängt eine
neuerlich vom Museumsverein erworbene Madonna
von Maineri.
Die Reihe der Kabinette mündet hier in den Cin¬
quecentosaal. Durch die Tür fällt schon der Blick
auf den reizenden Giovannino des Michelangelo, der
die Mitte der Schmalwand einnimmt. Doch führt
keine Perspektive auf ihn zu wie früher, das ist auch
besser, da er nicht monumental, architektonisch ge¬
dacht ist, sondern, wie man heute sagen würde, intim.
Man hat ihm durch ein Stück roten Stoffes einen
besonders warmen und brillanten Hintergrund ge¬
geben, doch scheint mir dieser in Farbe und Muster
zu verwandt mit der Wandbekleidung, man wird
wohl mit der Zeit etwas besseres finden. Auch einen
schöneren und leichteren Sockel verdient diese wunder¬
volle Figur. Rechts und links von ihr hängen Por¬
träts von Franciabigio und Bronzino, das letztere eins
der raffiniertesten Werke der Florentiner Hochrenais¬
sance, gerade im Kolorit, so sehr wir auf den vene¬
zianischen und holländischen Ton eingeschult sind.
Über diesen Porträts zwei große Relief - Madonnen
der Hochrenaissance, in den Ecken Marmorbüsten,
(ln der Abbildung ist die schöne Proportion verzerrt,
in der diese Stücke zueinander stehen.) Eine pracht¬
volle Wand!
An der Schmalwand gegenüber die beiden Cor¬
reggios, und in der Ecke, neben der Tür, Michel¬
angelos Apollo, sehr glücklich aufgestellt. Die west¬
liche Langwand ist durch eine Tür geteilt; auf der
einen Hälfte die Raffaels, wie in einer Parade: aus
einiger Entfernung gleichen sie sich mehr als man
es bei einem erfindungsreichen Künstler erwartet.
Man hätte sie ja leicht auseinander hängen können:
doch wird der Kundige an dieser kleinen Bosheit
gegen den verehrten Meister seine kleine Freude haben.
An der östlichen Langwand hängt in der Mitte
der schöne große Sarto, rechts und links wieder zwei
Porträts, Franciabigio und Bronzino, in feinen Rahmen
aus der Zeit, unter ihnen die beiden wundervollen
figurenreichen Truhen, die seit einigen Jahren in dem
Oberlichtsaal der bisherigen plastischen Abteilung
standen; in der Mitte des Raumes, vor dem Sarto
also, ein graziöser Tisch und eine Schale darauf —
wie das alles zusammengeht!
Man muß nur an den alten Cinquecentoraum
denken, um sich den Fortschritt klar zu machen.
Diese vielen großfigurigen Bilder, von denen doch
jedes allein seine eigene Nische haben wollte, jetzt
hat man einen Teil in andere Säle gegeben, einen
Teil in die sogenannte Basilika, und hat so einen
Raum geschaffen, der das Cinquecento in günstigster
Weise zeigt. Mit alten Räumen wie der Farnesina
oder den Stanzen darf man ihn natürlich nicht ver¬
gleichen, aber man denke an Museen, und da wird
man sich an nichts ähnliches erinnern. Wie wunder¬
voll erscheint jetzt der Sarto! Und nun, ein förm¬
licher Effekt: wir gehen durch die Tür nach Westen
in den nächsten Saal, den Tiziansaal, und drehen uns
nach dem Sarto herum, da steht er eingerahmt von
einer mächtigen, in Weiß und Schwarz gehaltenen
Cinquecentotür (aus Venedig): wie wirken da die
architektonischen Eigenschaften des Bildes, die großen
Linien und die feine Verteilung der Massen!
Der Tiziansaal enthält die bekannten Werke Tizians,
von denen die Lavinia als Mittelstück einer Langwand
für mein Gefühl besser wirkt, kleiner und daher
feiner als früher in dem Kabinett. Die beiden kunst¬
geschichtlich interessanten Waldlandschaften von Schia-
vone, früher in ihrer Höhe nicht zu sehen, können
jetzt studiert werden. Ferner hängen hier Moretto,
Sebastiano del Piombo, Lotto usw. An der west¬
lichen Schmalwand die prachtvolle Verkündigung von
Tintoretto, die vor einigen Jahren gekauft wurde,
aber wegen Raummangels nur kurze Zeit ausgestellt
werden konnte.
Zwei schmale Türen führen rechts und links von
diesem Bilde in den Barocksaal. Sie sind nach
diesem hin verkleidet mit alten Marmortüren aus
Venedig von sehr lebendiger Wirkung: im Grund¬
ton hellbräunlich, gehoben durch schwarz, rot
und weiß; in der Form lebhaft, oben mit einer
Vase schließend. Zwischen diesen eleganten Türen
posiert der famose Feldhauptmann Borro, der also
jetzt von den Spaniern zu den Italienern versetzt
ist; rechts und links davon zwei Marmorbüsten, die
eine erst kürzlich erworben (Kardinal Tesla von Al-
gardi). Auch diese Wand ist von äußerst charakte¬
ristischer und prachtvoller Wirkung. — Im übrigen
sind in diesen Barocksaal wieder eine ganze Anzahl
interessanter Bilder aus dem Depot zurückgekommen:
zwei große Caravaggios, Matthäus und Grablegung;
der sogenannte Sebastiano, Beweinung, den Hermann
Grimm gelegentlich für das schönste Bild der Galerie
erklärt hat. Südlich führt eine Tür in das Tiepolo-
zimmer, einen kleinen hellen Raum, ganz mit Gri-
saillen Tiepolos von 174g ausgestattet, die man aus
einer Villa bei Vicenza hierher übertragen hat; sehr
interessant in der Technik, und in der heiteren lichten
Wirkung zeigend, wie man sich in diese späten Ar¬
beiten hineinempfinden soll, ganz anders als in die
Werke des Quattrocento und des Cinquecento.
Damit beenden wir unseren Rundgang. Rundgang
ist freilich nicht das richtige Wort, unser Weg war
nichts weniger als rund. Der Leser, der den Bau
nicht kennt, wird von der Konfiguration der Räume
84
DAS KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
einen höchst konfusen Eindruck haben. Man hat so¬
gar ganz ruhig mit dem großen Vivarini eine Tür zu¬
gestellt, um die schöne Perspektive zu benutzen; will
man von hier jetzt weiterkommen, in den Tiziansaal,
so muß man dreimal um die Ecke biegen. Aber
für die Wirkung der Sammlung ist dieser unregel¬
mäßige Grundriß (den man gewiß viel tadeln wird)
sehr günstig, die Räume verlieren so das Kasernen¬
mäßige, die Bilder scheinen nicht die fatale Re¬
signation zu haben, mit der sie uns in anderen
Galerien anschauen. Jeder Raum hat seinen eigenen
Charakter. Wer möchte in seinem Gedächtnis etwa
den ersten und zweiten Venezianer-Saal der Wiener
Galerie auseinander halten, wenn er es nicht beson¬
ders memoriert hat? Wie belebend wirkt hier der
Wechsel der Perspektiven, dasUmbrechen derRichtungs-
achsen!
Und diesen Vorzug des komplizierten Grundrisses
hat man gesteigert durch die Anbringung der Türen.
Sonst findet man die Schmalseiten der Galeriesäle von
gleichmäßigen monumentalen Türen durchbrochen,
gerade in der Mitte, wo das beste Licht ist. Hier
dagegen hat man die schönen Flächen und Perspek¬
tiven gerettet, nur in den beiden vorhin genannten
Fällen ganz breite Wandöffnungen gegeben, sonst
kleine Türen, bald an einer Seite, bald an zwei Seiten
einer Wand.
Gewiß, man hat im Münchener Nationalmuseum
auch lauter individuelle Räume geschaffen, sehr viel
individueller als in Berlin, und in wechselvoll be¬
wegtem Grundriß, und hat dabei trotzdem eine gleich¬
mäßige Richtung für das Durchtreiben der Masse be¬
wahrt. Aber, wenn es auf dies Durchtreiben nicht
ankommt, so scheint es mir doch besser, daß der
Besucher auch Quer- und Diagonalbewegungen in
dem Gebäude ausführen kann, nach seinem Geschmack,
daß er von einem Raum zu irgend einem anderen
nicht immer die Zwangsreihe durchlaufen muß.
Uber die architektonischen Formen im einzelnen
habe ich mich nicht zu äußern. Im alten Bau waren
sie so diskret und distinguiert, daß hierin eine Ver¬
besserung nicht möglich war. Ob die Heizkörper
in den Sälen von gefälliger Form sind, das vermag
nur ein Architekt zu beurteilen, jedenfalls sind sie zu
hoch; man wird hier wohl bald eine andere Lösung
der schwierigen Heizfrage finden. Die wichtigste Auf¬
gabe des Museumsarchitekten ist die Zuführung des
Lichtes, und das Licht ist durchweg stärker als früher,
außer in den Räumen , die der Kuppelschatten trifft.
Ob ein modernes Monumentalgebäude auch ohne
Kuppel möglich ist, diese Frage wage ich nicht auf¬
zurollen.
Die weitere Ausstattung, die der Galerieleitung zu¬
kommt, ist in ihren Prinzipien zum Teil bereits be¬
kannt. Da ist einmal die Verwendung alter Rahmen,
die man ja meist schon früher gesehen hat, die aber
jetzt durchweg noch besser wirken; dann die Ver¬
wendung alter Möbel, namentlich Truhen, als eine
Art von Ersatz für die früher üblichen Gitter, um
Distanz vor den Bilderwänden zu gebieten, zugleich
um die Räume vornehmer und charaktervoller zu ge¬
stalten; in der alten plastischen Abteilung hatte man
ja schon damit angefangen.
Anders die Wandbekleidung. Man hat sich, nach
jahrelangen Proben und Überlegungen, schließlich dazu
entschlossen, auf derben Stoff, grün oder rot, kräftige
Muster aufzuschablonieren, in der bekannten Münchener
Art. Die gestrengen Richter werden sagen, diese
Nachahmung kostbarer Stoffe sei eine Fälschung,
wertvolle Bilder darauf zu hängen eine Sünde. Aber
soll man diese Riesenflächen mit echten alten Stoffen
bekleiden — welcher Trustkönig möchte das be¬
zahlen? oder soll man ehrlich sein und die glatte
Wand zeigen? In Wien war man so ehrlich, die
Wände einfach zu tünchen, überall in einer Farbe —
aber das wirkt tötlich auf die Bilder, und wo einmal
etwas mehr Wand zu sehen ist als gewöhnlich, bei
der Madonna im Grünen, von der man die Nachbar¬
bilder abgerückt hat, da möchte man diesen freien
Raum wieder zu schließen dringend bitten. Anders
hier: die Bilder hängen frei und weiträumig, aber die
Wand gähnt nicht dazwischen, sondern sie regt sich
und lebt. Es gibt gewiß auch noch andere Lösungen
des schwierigen Problems; aber daß zu echten Bil¬
dern unbedingt eine »echte« Wandbekleidung gehöre,
das scheint mir logisch nicht ganz so selbstverständ¬
lich, wie es hie und da angenommen wird.
Wenn ein Künstler in seinem Atelier drei alte
Stücke hat, und ein Menschenalter hindurch an ihrer
Aufstellung und Inszenierung herumprobiert, so wird
er vielleicht Vollkommenes zustande bringen. So
etwas dürfte man aber mit dieser Galerie nicht ver¬
gleichen, man wolle vielmehr an andere große
Galerien denken, Bildergefängnisse wie man sie wohl
nennt; in ihnen sagt man sich oft: wenn das alles
ganz anders wäre, dann müßte dies Bild wundervoll
wirken. Die Räume dagegen, die wir eben durch¬
schritten haben, sind kein Gefängnis und kein Ma¬
gazin. Die Benutzung der Perspektiven, die geschickte
Anbringung der Türen, die Ausstattung der Räume
mit alten Decken, Türverkleidungen und Möbeln, die
Verwendung alter Rahmen, die weiträumige Anordnung
der Bilder, die Zuziehung plastischer Kunstwerke —
das alles macht den Gesamteindruck oft geschlossen
und behaglich, immer sehr vornehm und sehr gro߬
artig. Und außerdem haben die einzelnen Werke
der Mehrzahl nach viel, einige sogar ganz außer¬
ordentlich gewonnen.
Und nun zum Schluß dieser »musealen« Betrach¬
tungen, von denen jetzt die ganze Museumswelt er¬
füllt ist, eine höchst banale, aber nicht zu vergessende
Weisheit: die Hauptsache in einer Gemäldegalerie
sind die Gemälde. Und deren Lob zu singen ist hier
nicht meine Sache. Wenn ich vollends die Differenz
gegen früher hervorheben wollte, schildern wollte,
was unter der jetzigen Direktion, unter Wilhelm Bode,
für die Sammlung der italienischen Malerei und
Plastik geschehen ist, so würde das eine Cumulierung
von Lobeserhebungen erfordern, die dem Nahestehen¬
den nichts Neues sagen, dem Fernerstehenden aber
geschmacklos scheinen möchte — bis zur Unglaub¬
würdigkeit. LUDWIG JUSTI.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
JAN VAN EYCK. DER MANN MIT DEN NELKEN
TSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI
AUS DEM KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU BERLIN
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I
KÄTHE KOLLWITZ. STUDIE MIT FEDER UND PINSEL
KÄTHE KOLLWITZ
Von Werner Weisbach
Nur selten erzählt die Geschichte der Vergangen¬
heit von Frauen, die in das geistige oder
künstlerische Leben einer Zeit, sich selbst be¬
tätigend, mit starker Hand eingegriffen haben. In
Deutschland geschah es zum erstenmal wohl in
weiterem Umfang zur Zeit der Romantik am Anfang
des vorigen Jahrhunderts. Die Anfänge einer geistigen
Emanzipation der Frau datieren hier seit den Tagen
der Romantik.
Günstiger als in Deutschland war weit früher die
Stellung der Frau in den romanischen Ländern; und
die Bildungsmöglichkeiten für sie waren reichere. In
Italien hat die Renaissance eine bedeutende geistige
Emanzipation der Frau herbeigeführt. Es gab Frauen
und Mädchen, die in bezug auf humanistische Bildung
ganz auf der Höhe der Zeit standen, die klassischen
Sprachen erlernten und mit den Männern in jeder
Beziehung rivalisierend auch ihrerseits das Ideal des
freien Kulturmenschen zu verwirklichen strebten, nach
dem die ganze Epoche sich sehnte. In die glanzvolle
Geschichte der Kunst jener großen Zeit spielen sie
fast nur in der Mäcenatenrolle hinein; ausübend haben
sie sich in bedeutender Weise jedenfalls nicht betätigt,
wenn sich auch einige, wie überliefert ist, dem
Künstlerberufe widmeten — doch nur ausnahmsweise
und ohne eine deutliche Spur hinterlassen zu haben.
Es dauerte lange, bis die Kultivierung der Frau
im Norden einen ähnlichen Umfang annahm wie da¬
mals im Süden. Die Rolle, welche die Frauen in
Deutschland zur Zeit der Romantik in dem geistigen
Leben spielten, hat manches Verwandte mit ihrer
Stellung in der italienischen Renaissance. Aufgehalten
und zum Teil gehemmt wurde der Fortschritt solcher
Bestrebungen durch eine Reaktionszeit. Erst gegen
Ende des Jahrhunderts nahmen die Frauen einen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 4
neuen und weit stärkeren Anlauf auf allen Kultur¬
gebieten — und gerade in den germanisch-deutschen
Ländern, während das alte Kulturland Italien zurück¬
stand. ln Deutschland haben sie begonnen, sich auf
wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet intensiver
zu betätigen, zum Teil mit dem Anspruch, sich diesen
Zweigen als Lebensberuf zu widmen. Das Gelingen
ist ein verschiedenes; ein maßgebendes Urteil läßt
sich natürlich noch nicht abgeben. In der Kunst,
der bildenden wie der Poesie, haben sich einige,
in der Wissenschaft und der schaffenden Musik, so¬
viel ich weiß, noch keine einen weiter klingenden
Namen gemacht. Wenn die entsagungsvolle Hingabe
an eine exakte Wissenschaft in der Frauenseele oft
etwas — und nicht das Schlechteste — ertötet oder
verkümmern läßt, so ist künstlerische Betätigung bei
der Frau nur die höchste Potenz einer Entwickelung
von Kräften, die in ihrer Natur liegen. Von Natur
ist die Frau, ganz abgesehen von dem Grad der Be¬
gabung, in gewissem Sinne Künstlerin; sie bringt
wenigstens die Anlagen dazu mit. Sie ist die ge¬
borene Dilettantin. Selten ist in ihr der Kunsttrieb
so stark, daß sie ihn als Lebenszweck ansieht und mit
der Kunstübung der Männer in Konkurrenz tritt.
Und selten ist die Begabung so groß, daß eine solche
Konkurrenz von Erfolg begleitet ist.
Das ist aber der Fall bei der Zeichnerin und
Radiererin Käthe Kollwitz, der markantesten Erschei¬
nung unter den deutschen Künstlerinnen unserer Zeit.
Sie hat alles Dilettantische abgestreift, und man darf
an ihre Werke den Maßstab großer Kunst legen.
Wer ein Blatt von ihr zu Gesicht bekommt, würde
kaum auf die Arbeit einer Frau schließen. Für jeden,
der ihrem Schaffen näher getreten, ist die Männlich¬
keit ihrer Kunst ein Problem gewesen.
86
KÄTHE KOLLWITZ
C .
STUDIE VON KÄTHE KOLLWITZ
Und steht man dann der Künstlerin selbst gegen¬
über mit dem Bilde von ihrer Kunst im Innern, so
ist man überrascht, eine bewegliche Frau von kleiner,
zarter Statur vor sich zu sehen, mit großen, milden
Augen, die dem hartgeschnittenen Gesicht etwas Wei¬
ches verleihen — weiblich in Allüren und Gesinnung.
Sie ist Gattin und Mutter, und ihre menschlichen
und natürlichen Pflichten schätzt sie ebenso hoch ein
wie ihren Künstlerberuf. Aber sie ist Künstlerin mit
Leib und Seele.
ln Königsberg in Preußen wurde Käthe Schmidt,
wie ihr Mädchenname lautet, am 8. Juli 1867 geboren.
Ihr Vater hatte sich ursprünglich dem juristischen
Studium gewidmet. Teilnahme an der Bewegung des
Jahres 1848 hinderte ihn, seine Studien fortzusetzen.
Er wurde Maurermeister. Seine Verheiratung mit der
Tochter des Predigers Rupp, des Gründers der frei¬
religiösen Gemeinde in Königsberg, wirkte auf seinen
späieren Lebensberuf bestimmend. Nach dem Tode
seines Schwiegervaters übernahm er das Amt des
freireligiösen Predigers.
ln einem Kreise moderner Ideen wuchs das junge
Mädchen auf. Ihre sorgsam überwachte Erziehung,
die sie nicht genug rühmen kann, wurde davon be¬
einflußt und nach einer bestimmten Richtung geleitet.
Das Vaterhaus umschloß einen Kulturkreis, an den
sie später anknüpfte.
Es erscheint nur natürlich, daß in dieser Um¬
gebung ihrer schon früh erwachenden Neigung zum
Künstlerberuf keine Schwierigkeiten entgegengestellt
wurden. Mit dreizehn Jahren gaben sie die Eltern
zu dem Kupferstecher Mauer in Königsberg, um sich
im Zeichnen nach Gips auszubilden.
Eine neue Welt eröffnete sich ihr in Berlin, wo
sie mit siebzehn Jahren ihre Studien fortsetzte. Auf
den >akademischen« Unterricht in Königsberg folgte
die freiere, nach realistischen Prinzipien geleitete Unter¬
weisung durch Stauf f er- Bern, in dessen Künstlerinnen¬
schule sie die Grundlage für ihr Zeichnen legte.
Diese Lehrmethode war ihr höchst sympathisch.
Stauffers feste, bestimmte, mit stetiger Zugrundelegung
der Natur und in engem Anschluß an sie geübte
Zeichenweise wurde für sie ein nacheifernswertes Vor¬
bild. Die Stärke seines Einflusses lassen die frühen
selbständigen Arbeiten der Künstlerin deutlich er¬
kennen. Auch abgesehen von dem Staufferschen
Unterricht bot ihr Berlin maßgebende, auf ihre weitere
Entwickelung einwirkende Anregungen. Die Kunst¬
ausstellung des Jahres 1884 machte sie mit Klingers
Radierungszyklus »Ein Leben« bekannt. Seitdem war
sie für Klingers Kunst von Bewunderung erfüllt und
hat sie immer lebhaft verfolgt.
Nach den Berliner Eindrücken war es nur natür¬
lich, daß sie, nach Königsberg zurückgekehrt, sich
in den Unterricht des Akademieprofessors Neide,
dessen Kunst auf eine gewisse Sensationslüsternheit
spekulierte, nicht zu finden vermochte. Das »Malen«
unter seiner Leitung befriedigte sie nicht; sie fühlte,
daß sie hier nicht weiter kam. Dieser sie deprimierende
Zustand fand volle Teilnahme und Verständnis bei
ihren Eltern. Um ihm ein Ende zu machen, sandten
sie die Tochter — was damals immerhin ein Entschluß
und durchaus nichts Gewöhnliches war — zu ihrer
weiteren Ausbildung nach München. Hier, in den
Jahren 1888 und 188g, in Ludwig Herterichs Künst¬
lerinnenatelier, fand sie, was sie brauchte.
Wie auf jeden empfänglichen Menschen, der vom
Norden kommt, übte auch auf sie München seinen
Zauber aus. Es liegt dort gleichsam etwas in der
Luft, was auf den künstlerisch Veranlagten faszinierend
wirkt. Es liegt auch wirklich etwas in der Luft, was
vermöge athmosphärischer Lichtwirkungen dem ganzen
Umkreis Münchens einen so eigenartigen, für das
Auge höchst reizvollen Anstrich verleiht. Welches
Künstlerauge genösse sie nicht voll Entzücken die
bedeckten Tage im Frühling oder Herbst: wenn der
Wind Wolkenballen, deren Färbung von einem dunklen
Grau bis zu einem lichten Weiß spielt, über den
Himmel peitscht, wenn plötzlich ein Loch in dem
wallenden Gewoge sich öffnet, durch das blendende
Sonnenstrahlen Pfeilen gleich hervorschießen und die
Gegenstände, die sie treffen, aus dem grauen Gesamt¬
ton scharf herausheben, hell und farbig erglänzen
lassen. Und dann die Stadt selbst — namentlich
wie sie damals noch war — mit ihrem ruhigen,
einheitlichen, nüchternen Ensemble, nur hier und da
dem Sehenden reizvolle Details bietend, gewiß etwas
einförmig, was der hastig durchreisende nordländische
Philister mit Vorliebe der Isarstadt nachsagt, aber auch
ein Ort, an dem der einzelne sich auf sich selbst zu
besinnen vermag, wenn er durch die Straßen mit den
flachen Häuserfassaden wandelt, wo er sich nicht von
KÄTHE KOLLWITZ. KOHLEZEICHNUNG
12
KÄTHE KOLLWITZ. DAS ENDE. AUS DEM WEBERZYKLUS (RADIERUNG)
KÄTHE KOLLWiTZ
ENTWURF DER RADIERUNG .BAUERNAUFSTAND.
KÄTHE KOLLWITZ
89
den wildesten Vorsprüngen, Ausladungen und Ver¬
kröpfungen massiver Fronten bedrängt fühlt wie in
den nördlichen Großstädten. Und welch ein Leben
schließt diese Stadt in sich. Der Künstler bedeutet
hier etwas; er geht nicht unter im großstädtischen
Getriebe. Er fühlt sich an seinem Platz. Den ver¬
schiedensten Veranstaltungen, Festen, Maskeraden drückt
er seinen Stempel auf. Der Bohemien spielt eine
Rolle; er findet Gesellschaft — und oft nicht die
schlechteste. Jeder einzelne kann seinem Leben den
Anstrich geben, wie es ihm beliebt. Daher die Bunt¬
heit und Mannigfaltigkeit der Existenzen: der »inter¬
essante« Ausländer und der behäbige Maßkrug¬
philister, Künstler und Modelle, Studenten und Musiker,
angehende Dichter und fertige Gelehrte. Alles hört
voneinander, kommt in Berührung, zieht sich an und
stößt sich ab, wogt durcheinander mit den verschieden¬
sten Interessen, Lebensabsichten und Zielen. Auch
die Lebenslust scheint in dieser Luft zu liegen. Und
wenn der Fasching kommt, so vermag diese Lust zu
bacchantischem Rausch und Taumel sich zu stei¬
gern. — Wieder eine neue Welt für die junge, bisher
immerhin als höhere Tochter erzogene Königsbergerin,
reich an Erfahrungen und Erlebnissen. Wenn sie
heute von jener Münchener Zeit erzählt, dann leuchten
ihre Augen in glücklicher Erinnerung. Auch sie hatte
jener genius loci gefangen genommen. Anregender
Verkehr, den sie fand, wirkte auf sie »wie frisches
Wasser«. Die Münchener Eindrücke sind ein köstlicher
Lebensbesitz für sie und werfen noch jetzt ihre
Strahlen nach auf das bescheidene Heim, das sie im
Norden Berlins bewohnt. Für die Lust, die Freuden
des menschlichen Lebens ist die Schilderin mensch¬
lichen Elends durchaus nicht unempfänglich.
Von München ging sie wieder nach Königsberg
und arbeitete hier in einem »handgroßen Atelierchen«.
Von ihrem früheren Lehrer Mauer ließ sie sich in
die Technik des Plattengrundierens einführen. Aber
weit gedieh dieser Unterricht nicht. Bald, im Jahre
1891, siedelte sie als Gattin des Arztes Dr. Kollwitz
nach Berlin über, ln ihrer Kunst mußte sie sich
nun selbst weiterbringen. Und dabei wurde ihre
Zeit nicht zum geringsten durch die Sorge für zwei
Kinder, die ihr geboren wurden, in Anspruch ge¬
nommen. Je mehr die Kinder heranwuchsen, desto
mehr Zeit wußte sie sich wieder für ihre Kunst zu
erübrigen.
Diese Kunst ist aus einer Strömung erwachsen,
die in den achtziger und neunziger Jahren in
Deutschland eine weitgreifende Bewegung hervor¬
rief: dem Naturalismus. Zwei Richtungen sind es
namentlich, die sich aus dem Getriebe des geistigen
Lebens um die Wende des Jahrhunderts als besonders
einflußreich und folgenschwer herauskristallisierten:
eine naturalistische und eine neuromantische. Diese
neue Romantik hat auch in einer Frau — auf literari¬
schem Gebiet — eine hervorragende und feinfühlige
Vertreterin gefunden, in Ricarda Huch. Das Roman¬
tische liegt der Natur der Frau jedenfalls näher. An
Käthe Kollwitz überrascht ihr konsequenter, kon¬
zessionsloser, nicht selten etwas brutaler Naturalismus.
Abgesehen von dem in ihr liegenden Zuge waren
es literarische Eindrücke, die sie dem Naturalismus
zuführten, ln Berlin erlebte sie auf literarischem Ge¬
biet die Hochflut des Naturalismus. In den Auf¬
führungen der »Freien Bühne« lernte sie jung und
eindrucksfähig die dramatischen Werke kennen, die
sich mit dem Leben und Leiden der niedrigen Volks¬
schichten beschäftigten und diese Kreise mit einem
intimen Verständnis realistisch schilderten, wie es in
der Weise früher noch nicht geschehen war. Und
eine neue Art schauspielerischer Darstellung suchte
den Anforderungen dieses realistischen Stils gerecht
zu werden. Eine hoffnungsfrohe Begeisterung für
den Naturalismus beherrschte die modernen literari¬
schen Kreise. Man begrüßte ihn als den Anfang
einer neuen Kunst. — Tempi passati!
Unsere Zeichnerin wurde in den Strudel dieser
Begeisterung mit hineingerissen. Da ihre Liebe dem
Volke gehörte, so zogen sie solche poetischen Werke
vor allem an, in denen das Volk, so wie es wirk¬
lich ist, bei seiner Arbeit und in seinem Elend, un¬
geschminkt zur Darstellung gebracht wurde. Zolas
Germinal wurde ein Lieblingsbuch von ihr. Den
größten Eindruck machte ihr die Erstaufführung von
Gerhart Hauptmanns »Weber« auf der »Freien
Bühne«. Und dieser Eindruck war so nachhaltig,
daß er für sie der Anlaß wurde, einen Zyklus von
Radierungen und Lithographien zu schaffen, den sie
»ein Weberaufstand« nannte. Es sind keine unmittel¬
baren Illustrationen zu Hauptmanns Stück, sondern
mehr freie Variationen über ein gleiches Thema.
Teile dieses Zyklus, die in der Berliner Großen
Kunstausstellung des Jahres 1898 hingen, haben sie
hauptsächlich bekannt und berühmt gemacht.
Auf den einzelnen Blättern der Folge werden
wir zunächst Zeugen des Elends einer armen, vom
Hunger gequälten, an den Rand der Verzweiflung
gebrachten Weberfamilie; wir erhalten dann Einblick
in eine düstere Stube, in der von einem paar un¬
heimlicher, um einen Tisch sitzender Gesellen der
unheilvolle Aufstand geplant wird; die wilde Horde
der Streikenden zieht an uns vorüber; wir erleben
den wütenden Angriff auf das Haus des Fabrikherrn;
das Schlußblatt bringt die ergreifende Aufbahrung
der Gefallenen in einer Weberstube.
Zu größter Wucht erhebt sich die Darstellungs¬
kunst der Zeichnerin, wenn sie erregte Massenbe¬
wegungen veranschaulicht. In ihnen kommt der
blinde instinktive Wille, von dem eine durch einen
gemeinsamen leidenschaftlichen Impuls angefeuerte
Volksmenge beherrscht wird, meisterhaft zum Aus¬
druck. Bei dem Auszug der Streikenden meint man
eine unsichtbare Macht zu spüren, welche die Massen
stößt und vorwärts drängt. Und in dem Massen¬
getriebe nimmt man jede einzelne Physiognomie als
treu nach der Natur beobachtet wahr. Stummer
Schmerz, innerlich verhaltener Zorn, wild aufbrausende
Verzweiflung malt sich auf den Gesichtern der ver¬
schiedenen Figuren und bestimmt ihre Haltung. Es
sind Volkstypen von echtem Schrot und Korn. Ganz
auf einen dramatischen Moment zugespitzt ist die
90
KÄTHE KOLLWITZ
Szene, wie die Arbeiter das Tor zur Villa des Fabrik¬
herrn stürmen. Hier bildet der Gewaltakt der Masse
ausschließlich das Darstellungsmotiv. Die meisten
Figuren kehren dem Beschauer den Rücken zu. Nur
der eine im Miüelpimkt der Menschengruppe stehende
Arbeiter v/endet, mit furchtbarer Gebärde Steine
heischend, sein wildes, von elementarer Wut ins
Tierisf.' e verzerrtes Gesicht zurück, auf dem gleich¬
sam die Stimmung konzentriert ist, welche die ganze
Masse beherrscht.
Ein wirkungsvoller
Kontrasteffekt ist
geschaffen durch
das auf der rasen¬
den Menge lastende
Dunkel von Schat¬
ten vorn und die
helle Front des hin¬
ter dem Gittertor
sichtbaren, in stum¬
mer Ruhe mit herab¬
gelassenen Jalousien
scheinbar gleich¬
gültig daliegenden
Herrenhauses. An
dieser Macht wird
die zügellose, un-
gebändigte Kraft der
Massen zerschellen
— meint man her¬
auszulesen. Der Vor¬
gang ist auf eine
dramatische Aktion
zugeschnitten, ähn¬
lich wie in Klingers
»Dramen«, denen
dieses Bild in der
Auffassung teilweise
verwandt ist. Wie
überhaupt Arbeiten
von Käthe Koll-
witz mit Klinger-
schen Radierungen
aus jener Zeit auch
in der Technik
manches gemein
haben.
Das Problem
eines Massenauf¬
ruhrs hat sie dann
noch öfter künstlerisch zu bewältigen gesucht. Der
Bauernkrieg bildet den Vorwurf für zwei Radierungen
verschiedenen Formats, von denen die frühere als der
kleine, die spätere umfangreichere als der große Bauern¬
krieg bezeichnet wird. Die vorbereitende Zeichnung
der letzteren, welche der Lichtdruck verkleinert wieder¬
gibt, ist vielleicht noch eindrucksvoller als die endgültige
Fassung in der Radierung. Von der Größe der
künstlerischen Leistung vermag nur das Original
eine volle Vorstellung zu geben. Als Furie des Auf¬
ruhrs erscheint hier das Weib, ein Weib, vom Rücken
FEDERZEICHNUNG ZU DER RADIERUNG »ZERTRETENE
gesehen, aber durch das Übergewicht der Masse dieser
Rückenansicht, den ausdrucksvollen Kontur, die auf¬
reizende Gebärde der hochgeschwungenen Arme als
Spiritus rector für die wild dahinbrausende, mit Dresch¬
flegeln und Stöcken bewaffnete Menge gezeichnet und
ihr koinpositionell das Gleichgewicht haltend. Welch
unvergleichliche Kraft steckt in dem Sturm des An¬
laufs dieser Bauern, einer vertierten Horde, der niedrige
Instinkte jede menschliche Regung von den blöden
Gesichtern wegge¬
blasen, die nur eine
Tendenz hat: vor¬
wärts. Das Indivi¬
duum bedeutet hier
nichts, die Masse ist
alles.
Wie die Zeich¬
nerin in genialer
Weise die Massen¬
instinktekünstlerisch
deutlich zu machen
versteht, so weiß sie
an der einzelnen
Persönlichkeit über¬
zeugend und mit¬
empfindend Ele¬
mentargefühle der
menschlichen Seele
zu künden: Mutter¬
liebe, tiefes Wehe
um ein gestorbenes
Kind. Sie weist
solche Gefühle auf
an Gliedern der nied¬
rigen Volksklassen,
wo sie sich mög¬
lichst wenig kompli¬
ziert mit einer in¬
stinktiven Unmittel¬
barkeit äußern und
infolge des engeren
Zusammenhangs
dieserKlassen mit der
Natur wie elementare
Gewalten wirken.
Nach dieser Rich¬
tung liegen zum Teil
ihre größten Leistun¬
gen. Einzelnen der
ergreifendsten Blät¬
ter gegenüber kann man sich des Eindrucks, als
träte irgend ein dumpfes, das Geheimnis alles Mensch¬
lichen berührendes Ürgefühl zutage, nicht erwehren.
Regungen eines namenlosen Schmerzes, ein unstill¬
bares Weh, von dem arme, gequälte Wesen durch¬
wühlt werden, bringt sie ohne jede Sentimentalität,
die ihr gänzlich fremd ist, packend zum Bewußtsein.
Eine der grandiosesten Erfindungen ihrer letzten Zeit
ist die Mutter mit ihrem toten Kind im Arm, einem
animalischen Schmerz ganz hingegeben.
Mit einer leidvollen Note klingt der Weberzyklus ■
KÄTHE KOLLWITZ
93
KÄTHE KOLLWITZ. HAMBURGER KNEIPE. (RADIERUNG MIT VERNIS MOU)
aus. In lähmende Trauer versunken, keiner äußeren
Erregung mehr fähig, vom Schicksal gebeugt und
zerknirscht, steht das Weib in der Weberwerkstatt
und brütet vor sich hin, während man einen Leichnam
nach dem andern zur Tür hereinbringt und vor ihr
aufbahrt — >Das Ende« (Abb. S. 88). — Bedrückung
durch unabwendbares Leid, das bis zum Rande des
Todes führt, gibt den Vorwurf ab für die Radierung
»Zertretene«, zu der die sitzende Frau (Abb. S. go)
eine Studie bildet.
Hin und wieder öffnet die Künstlerin aber einmal
den Freuden des Volkes ihr Auge. Und die Freuden¬
ausbrüche sind dann ebenso elementar wie die
Schmerzen. Welch eine urwüchsige Lust beherrscht
die beiden tanzenden Männer auf der Radierung:
Hamburger Kneipe. Und wie ist hier das Milieu
getroffen: die Spelunke, in deren trübem Licht sich
die beiden ungeschlachten alten Gesellen umfaßt
haben, um ein Tänzchen zu wagen, während eine
Alte — ein köstlicher Typus — grinsend zuschaut
und ein im Hintergrund sitzender Mann mit der
Ziehharmonika aufspielt. Ein Stück unmittelbar mit
künstlerischem Temperament geschautes Leben vibriert
in diesem Bilde und ist breit und in großen Zügen
zur Darstellung gebracht. Die Leute aus dem Volk,
die sie schildert, sind ihr von Grund aus bekannt;
sie lebt mit ihnen in stetem Umgang. Ihre boden¬
wüchsige Kunst steht zu dem, was sie darstellt, in
engster Beziehung.
Die meisten Arbeiten von Käthe Kollwitz ver¬
raten die innere seelische Anteilnahme der Künstlerin
an ihrem Stoff. Sie sind mit Herzblut getränkt.
Wenn auch heute von gewissen Kreisen, welche die
rein artistischen Momente in den Vordergrund stellen,
eine seelische Aussprache als etwas für die bildende
Kunst kaum in Betracht kommendes angesehen wird,
so dürfen wir uns trotzdem wohl dazu bekennen,
daß wir den seelischen Gehalt bei einzelnen dieser
Leistungen besonders genießen. Sie lassen auf eine
fein organisierte Psyche bei ihrer Schöpferin schließen.
Ihre starke Persönlichkeit weiß uns auch bei
manchem Abstoßenden für sich zu gewinnen. Daß
einiges outriert ist, manches die Grenze des Karikierten
streift, kann nicht geleugnet werden. Aber das liegt
mehr in der früheren Zeit ihrer Tätigkeit, während
sich ihre Auffassung in den letzten Jahren erheblich
92
KÄTHE KOLLWITZ
verfeinert hat. Auf gröbere sensationelle Effekte ver¬
zichtet sie jetzt fast ganz.
Ihre große Begabung, Natureindrücke unmittelbar
vviederzugel- , scUl sie in stand, mit all ihren Motiven
von der : -clikeit auszugehen und allem, was sie
darsi.' ', S' nein der Wahrheit zu verleihen. Wie
die 'rgk-il in Kunst umgesetzt ist, das ist das
E^tsl^ ■ ' "k bei aller Kunst. Die Art des Sehens
ist ef; ' bc den Künstler macht und vom Dilettanten
tren: ^ Eine über jedes sonst gewohnte weibliche
Mail iiinausgehende Fähigkeit zur Konzentration auf
ein Objekt zeichnet Käthe Kollwitz aus und erhebt sie
über alles Dilettantische. Jede Arbeit wird von ihr
durch sorgfältige und eingehende Naturstudien in
umfassender Weise vorbereitet; Studien, die von un¬
gewöhnlicher künstlerischer Veranlagung zu sehen
zeugen und eine vortreffliche zeichnerische Schulung
verraten. Als Beispiele sind hier abgebildet ein paar
flüchtige Augenblicksimpressionen, wie der Lastträger,
ein Straßeneindruck, oder die grabende Frau, mit
wenigen skizzenhaften Strichen in Bleistift oder Kohle
scharf und sicher zur Anschauung gebracht; und eine
nach dem Modell Zug für Zug sorgfältig und in
Staufferscher Manier streng herausgearbeitete Feder¬
zeichnung: die sitzende Frau. Mit Feder und Pinsel
gezeichnet und laviert ist die Studie »Mutter und Kind«,
ein Selbstbildnis der Künstlerin mit ihrem Töchterchen,
beim Schein einer Lampe aufgenommen, eine Beleuch¬
tungsstudie, nach den Valeurs in schwarz und weiß
malerisch abgetönt. Ein großer Wurf von meister¬
licher Breite, Tiefe der Auffassung und rührender
Intimität der Beobachtung ist das Blatt mit den
beiden Knabenköpfen, in Kohle auf braunem Papier,
mit weißer Farbe gelichtet; eine Ar¬
beit, die zeigt, daß auch bestrickender
Liebreiz nichts Unerreichbares für die
Künstlerin ist. '
Die graphischen Blätter, die als ab- ; k „ V
geschlossene Leistungen von ihr heraus-
gegeben sind, Radierungen und Lithogra¬
phien, haben fast alle einen großen Zug. ^ ^ ‘
I
f
Neben den rein zeichnerischen Qualitäten zeigen sie
eine glückliche Anlage in der Verteilung von Hell
und Dunkel, eine klar modellierende Disposition der
Licht- und Schattenmassen, worauf ja bei Werken der
graphischen Künste ein großer Teil der Wirkung be¬
ruht. Eine sicher und fein abwägende künstlerische
Hand waltet da meist. In dem Technischen ist sie
ganz auf der Höhe und macht auf diesem Oebiet
auch eigene selbständige Versuche. Neben der reinen
Radierung, wie sie die diesem Aufsatz beigegebene
Originalarbeit zeigt, bevorzugt sie ein Aquatintaver¬
fahren, in dem »das Ende« (Abb. S. 88) ausgeführt
ist. Mit Hilfe dieses Verfahrens liebt sie es, ihren
Arbeiten wie Klinger ein stark toniges Aussehen zu
verleihen, mit flächenhaft abgestuften Valeurs und zur
Erzielung besonderer Lichteffekte. Die Hamburger
Kneipenszene ist ein Vernis mou, bei dem die hell¬
sten Lichter lithographisch eingedruckt sind.
Wer das Lebenswerk der Künstlerin überblickt, für
das von Max Lehrs, der eine reichhaltige Sammlung
ihrer Werke für das Dresdener Kupferstichkabinett
zusammengebracht hat, ein bis zum Jahre igo2 rei¬
chendes Oeuvre in den »Graphischen Künsten« (1903)
im Anschluß an eine feinsinnige Würdigung ihrer
Kunst aufgestellt ist, der gewinnt den Eindruck einer
ernsten, rastlos emporstrebenden und sich vervoll¬
kommnenden, aber stets sich selber treu bleibenden
Persönlichkeit. Auf ihre Weiterentwickelung darf
man die größten Hoffnungen setzen, zumal sie
selbst an sich die höchsten Anforderungen stellt und
in ihrer stillen, der strengen Arbeit gewidmeten Zurück¬
gezogenheit auf leichte und billige Tageserfolge gern
verzichtet. Um so mehr scheint es geboten, solche,
welche das Echte und Wahre in der Kunst
schätzen und sich durch das manchem
vielleicht nicht immer sympathische so¬
ziale Milieu nicht abschrecken lassen, mit
der herben Kunst dieser Frau bekannt zu
machen. Unter den Künstlerinnen und
Künstlern, die wir augenblicklich in
Deutschland haben, ist sie der besten eine.
/!
KÄTHE KOLLWITZ. STUDIENBLATT
ABB. 1. NIKLAS UND SIOILGAITA RUFOLO, VON DER KANZEL IM DOM ZU RAVELLO
SIOILGAITA UND DIE FLACHBILDER DER KANZEL
VON RAVELLO
Von Wilhelm Rolfs
Die Kanzel von Ravello aus dem Jahre 1272 mit
dem Kopf der sogenannten Sigilgaita, Werke
von hoher Bedeutung für die Kunst der Hohen¬
staufen in Süditalien, ist in neuerer Zeit wiederholt
Gegenstand umfangreicher Untersuchungen gewor¬
den. Den Reigen eröffnet Graf Filangieri di Candida^);
Venturi bespricht die Kanzel des längeren im dritten
Bande seiner Kunstgeschichte^) und Emil Bertaux
schließt sich beiden an in dem unförmlichen ersten
Bande seines umfangreichen Werkes über die Kunst
in Süditalien'’).
Es handelt sich vor allen Dingen um den bild¬
hauerischen Schmuck der Kanzel, in erster Linie um
das »Sigilgaita« getaufte Brustbild, das über dem Ein¬
gang der Kanzel steht; dann um die beiden Köpfe
in Flachbildnerei, die sich in den Zwickeln dieses
Eingangs auf Mosaikgrund befinden (Abb. 4).
Die auf dem Denkmal eingegrabenen Inschriften
geben folgende Auskunft:
1) Del preteso busto di Sigilgaita Rufolo nel Duomo
di Ravello. Napoli Nobilissima 1903, S. 3—9, 34—37. Auch
Sonderdruck Trani 1903, zustimmend besprochen von
C. V. Fabriczy, Repert. 1904, S. 377.
2) Storia delF Arte Italiana. Mailand 1904. 111. S. 677 ff.
3) L’Art dans l’ltalie ineridionale. Paris 1904. 1. S. yySff.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. 11. 4
t Virginis istud opus Rufulus Nicolaus amore
Vir Sigilgayte, patrieque dicavit honore.
Est Matheus ab hiis, Urso, jacobus quoque natus,
Maurus et a Prinio Laurentius est generaius.
Hoc tibi sit gratum, pia virgo, precareque^) natum,
Ut post ista bona‘^) det eis celesla dona.
Lapsis millenis bis centum bisque tricenis
XPl. bissenis annis ab origine plenis. t
Darunter etwas tiefer:
t Ego magister Nicolatis ■ de Bariholomeo • de • Fogia •
Marmorariiis ■ hoc • opus • feci f
Daß diese Inschrift sich auf die wohlerhaltene
Kanzel bezieht, ist unbestreitbar; daß sie auch auf
das weibliche Brustbild über der Tür bezogen wurde,
geht daraus hervor, daß man ihm den Namen
Sigilgaita gab. Bertaux meint (S. 780), Schulz sei
der Urheber dieser Bestimmung; das ist ein Irrtum,
1) Bertaux gibt wie Schulz, Denkmäler der Kunst in
Süditalien, 1860, 11. S. 271 und L. Mansi, Ravello Sacro-
Monumentale, Ravello 1887, S. 71., den fünften Vers in
dieser Form; Filangieri liest precarem natum; Venturi läßt
die mittleren Verse weg.
2) Mit denen die Rufolo, die Fugger Ravellos, reich¬
lichst gesegnet waren.
'3
94
SIGILGAITA UND DIE FLACHBILDER DER KANZEL VON RAVELLO
denn Schulz drückt sich (S. 272) vorsichtig genug
aus: man könnte an die auf der Inschrift erwähnte
Sigilgaita denk : -, die jedoch auch mit ihrem Gemahle
auf den unir-_ i,? der Ecke des Eingangs angebrachte [«]
Mcd'.ido.-jc hdts ■nrrgestellt sein möchte. Crowe und
Cr ''■•i -o. -i dagegen nehmen sie ohne jede Ein-
Swur--: ang als das Brustbild der Gemahlin des Stifters;
''■ann Camera-), Mansi an der angegebenen
Si. ' nid ihre zahlreichen Nachfolger. Verantwortlich
sind also in erster Linie Crowe und Cavalcaselle.
Diese Deutung ziehen nun Filangieri und in
seinem Sinne Bertaux, dann auch Venturi in Zweifel.
Erstere sehen darin einen Bildnis-, letzterer einen Ideal¬
kopf.
Niklas Rufolo gehörte einer der angesehensten
und reichsten Familien Ravellos an. Er war der
Sohn des Sergius Rufolo, seine Gemahlin Sigilgaita,
die Tochter Johanns della Marra, aus einer ebenso
angesehenen Familie der Stadt. Der Inschrift nach
hatte sie bereits 1272 vier Söhne und einen Gro߬
sohn Lorenz. Das Schicksal wollte es, daß Karl II.
dessen und seines Vaters Matthäus unermeßliche
Reichtüiner im Jahre 1283 einzog, wodurch er weit
einfacher zu Gelde kam als dadurch, daß er seine
Kronjuwelen den reichen Geldleuten Rufolo ver¬
pfändete, wie es von seinem Vater geschehen sein
soll. Auch Lorenz mußte um diese Zeit schon er¬
wachsen sein, wie aus der von Camera^) angezogenen
Urkunde hervorgeht, nach der Matthäus mit seinem
Sohne Lorenz, Angelo della Marra, seine Brüder
Roger und Galgano, sowie andere Beamte des Reiches
(in Barletta und Trani) angeblich wegen ihrer zahl¬
reichen Schandtaten gegen die Bevölkerung durch
Karl mit Gefängnis und Beschlagnahme ihres Ver¬
mögens bestraft wurden. Zum Überfluß erfahren
wir aber auch aus der erhaltenen Inschrift eines
von Matthäus Rufolo 1279 für denselben Dom in
Ravello gestifteten, 1773'*) zerstörten Tabernakels,
daß auch Lorenz in diesem Jahre 1279 bereits vier
Kinder, sein Bruder eins besaß. Hieraus folgt, daß
Sigilgaita 1272 aller Wahrscheinlichkeit nach schon
Urgroßmutter war. Denn nehmen wir an, Lorenz habe
im Jahre 1279 mit zwanzig Jahren schon vier Kinder
gehabt, so war er etwa 1259 geboren. Sein Vater
mochte damals, da er der erstgeborene des Niklas
und der Sigilgaita war, erst achtzehn Jahre zählen,
wäre also 1241 geboren. Wenn nun Sigilgaita mit
fünfzehn Jahren geheiratet hätte, so würde ihre Ge¬
burt günstigsten Falles etwa in das Jahr 1225 fallen,
das heißt sie wäre zur Zeit der Stiftung der Kanzel
mindestens siebenundvierzig Jahre alt gewesen. Da¬
mit stimme nun, meinen Filangieri (und Bertaux),
keineswegs das in voller Jugendkraft strotzende Brust¬
bild in Ravello überein. Dagegen sprächen ferner
die beiden Bildnisköpfe in Flacharbeit der Tür¬
zwickel. Crowe und Cavalcaselle, die offenbar das
1) Storia etc. 1864. I. S. 129.
2) Memorie . . di Amalfi, Salerno. 1881. II. S. 313.
3) a. a. O. II, 381.
4) Camera a. a. O. II, 315.
Denkmal überhaupt nur ganz flüchtig angesehen
haben, erklären sie kurzweg für die Kinder der Sigil¬
gaita. Mit Recht fragt Filangieri : warum wären
dann nur ihrer zwei dargestellt und der Stifter
selbst gar nicht? Außerdem sei das Flachbild rechts
ein männlicher, das links ein weiblicher Kopf^-
Stifter und Stifterin hatten aber nur vier Söhne (und
einen Großsö//«). Folglich sind das nicht die Söhne
des stiftenden Ehepaares, und da auch das Brustbild
nicht Sigilgaita sein kann, so fällt das ganze Karten¬
haus zusammen, und Filangieri will nun die Stifter
in diesen Flachbildern, Niklas rechts, Sigilgaita links
erkennen. Er fühlt indes selbst, daß nach dem er¬
folgreichen Bemühen, Sigilgaita als eine, wenn auch
junge Urgroßmutter festzulegen, dies noch weit jugend¬
lichere, fast kindliche Paar doch noch viel un¬
wahrscheinlicher ausschaut. Dem Einwand begegnet
er wenig stichhaltig mit der Unvollkommenheit der
Arbeit und dem Streben nach klassischer Stilisierung.
Mit der letzteren Begründung könnte auch das Brustbild
die Urgroßmutter Sigilgaita von siebenundvierzig Jahren
darstellen. Seine Beweisführung wird ganz hinfällig,
wenn er des längeren die weiblichen Eigenheiten des
männlichen Kopfes — die männlichen des weiblichen
vergißt er — auseinandersetzt und folgert, daß seine Ein¬
fachheit ihn in die Zeit der Hohenstaufen verweise.
Wen stellt nun das Brustbild dar? Zunächst
braucht es nach Filangieri nicht ebenfalls vom Meister
der Kanzel, Niklas Bartel von Foggia, zu sein. Es
sei sogar höchst unwahrscheinlich; denn die Flach¬
bilder seien von sehr mittelmäßiger, das Brustbild
dagegen von ganz hervorragender Arbeit. Bertaux
glaubt dies dem Unterschiede von Voll- und Flach¬
bild zuschreiben zu sollen und findet in der Gesichts¬
linie der Köpfe eine Ähnlichkeit, die Filangieri, wie
es so oft mit Ähnlichkeiten geht, nicht anerkennt.
Nach Bertaux sind alle drei unzweifelhaft von der¬
selben Hand, also von Meister Niklas; nach Filan¬
gieri kann man höchstens zugeben, daß die Flach¬
bilder schwächliche und rohe Wiederholungen der
Formen einer großen Kunst sind, die um jene Zeit
entstand, und von der das Brustbild eins der wich¬
tigsten Denkmäler bildet. Auch die Löwen der
Kanzel, die von Dobbert und Lübke so hoch gestellt
werden, könnten sich in der Arbeit keineswegs mit
dem Brustbilde messen. Sein Meister sei ein über¬
ragendes Talent vom Schlage des Niklas von Pisa,
des vielumstrittenen Sohnes Peters de Apulia. Man
müsse an klassische Vorbilder, wie die der Juno,
denken, und es stehe schließlich gar nichts entgegen,
die Sigilgaita dem Niklas von Pisa selbst zu geben-).
1) Ebenso irrt unbegreiflicherweise auch Venturi (III,
678): rechts un giovane con ciifßa 0 maiata, links itna
donna con i capelli a trecce. Aber hier sind nur die Seiten
verwechselt, während Filangieri das Geschlecht selbst falsch
anspricht. Daher berichtigt ihn Bertaux: links sei der
männliche mit der Mütze bekleidete Kopf, rechts der weib¬
liche mit der Haarflechte.
2) Die auch von Bertaux, Venturi und anderen als
unbedingt angenommene Behauptung, Meister Niklas sei
der Sohn desjenigen Bartel von Foggia, der als Baumeister
SIGILGAITA UND DIE FLACHBILDER DER KANZEL VON RAVELLO
95
Nicht diese aber sei dargestellt, sondern die Frau
des Matthäus Rufolo , Anna della Marra , deren
Schönheit ebenso berühmt gewesen sei, wie des Gatten
Liebe zu ihr. (Hier beruft sich Filangieri auf das
Zeugnis Cameras, der diese Einzelheiten indes nicht
belegt). Der Reichtum ihres Geschmeides, ihre Schön¬
heit stimmen mit dem Brustbild. Dieses sei dann,
als die Dargestellte im Laufe harter Schicksalsschläge
ihrer Reichtümer beraubt 1295 als Witwe gestorben
sei, in die Kirche gelangt, wo man es aus Stammes¬
liebe zu den Rufolos auf deren glanzvollsten Stiftung,
der Kanzel, aufgestellt habe. Wenn nun schon diese
ganze Vermutung, Niklas oder Matthäus Rufolo habe
Anna della Marra in der angegebenen Weise verewigt,
unbelegt bleibt, so ist die Aufstellung ganz unerklär¬
bar. Tatsächlich stand das Brustbild schon 1540’)
an dieser Stelle, und doch erglänzte dicht nebenan
das prachtvolle Tabernakel des Matthäus Rufolo, des
Oemahls der Anna della Marra: ihr Platz wäre also
doch wohl auf diesem Denkmale gewesen! Was
endlich das bekannte Brustbild aus Skala betreffe, das
seit 1880 von ^/«^/' /yö«s/?/sc//^ gegenüber dem Dome
von Skala ins Berliner Museum geraten sei, so dürfte
es eine spätere Wiederholung von schwächerer Hand
eben dieses Werkes Niklas’ von Pisa, der Anna della
Marra, vorstellen. Warum die eifersüchtigen und mit
ihren mächtigen Nachbarn in stetem Hader lebenden
Skalesen gerade diese so hätten auszeichnen sollen,
bleibt unerfindlich.
Bertaux folgt, wie wir sehen, Filangieri nicht in
bezug auf die Urheberschaft durch Niklas von Pisa;
vielmehr sind ihm Brustbild und Kanzel von der
Hand des Niklas Bartel von Foggia. Dagegen ist er
ebenfalls der Ansicht, die Flachbilder stellten das
stiftende Ehepaar Niklas und Sigilgaita Rufolo dar.
Zu der Anna della Marra- Lehre kann er sich indes
nicht entschließen, sondern erblickt in den Brustbildern
von Ravello ünd Skala unbekannte Bildnisse.
Daß die Bildwerke alle von einer Hand seien, ist
auch Venturis Ansicht^), ln der Krone der »Sigilgaita«
findet er gotische Anklänge, wie nach ihm Bertaux,
(dem es offenbar alle Überwindung kostet, nicht auch
hier sein Schiboleth von französischer Kunst in An¬
wendung zu bringen). Richtig weist Venturi auf das
Blattwerk der Rahmen und die Kapitelle der Kanzel¬
säulen hin, die durchaus apulischer Kunstübung ent¬
sprechen. Das seltsame Diadem, meint dann Venturi
weiter, erinnere an eine sinnbildliche V\g\ir, und läßt
ihn an das Exultet Barberini, jetzt im Vatikan, denken,
wo die Mater Ecclesia ähnlich dargestellt werde.
Friedrichs II. bekannt ist, wird von Filangieri in ihre
richtigen Grenzen gewiesen. Unter König Robert kommt
in Ravello auch ein Kaufmann namens Bartel von Foggia
vor: es ist also immerhin möglich, daß Niklas aus einer
Familie dieses Namens, die sich in Ravello ansässig ge¬
macht hatte, stammte. Man kann daher nicht mehr be¬
haupten, als daß der Zusammenhang unseres Ravelleser
Meisters mit dem Baumeister Friedrichs II. möglich, ja
wahrscheinlich, nicht aber unbedingt sicher sei.
1) Camera, a. a. O. II, 313.
2) a. a. O. III, 678.
Ganz ebenso finde sie sich im Exultet von Gaeta,
deren phantastische Kopfbedeckung freilich wenig mit
unserem, noch weniger mit dem Brustbilde von Skala
gemein hat. Diesen Mater-Ecclesiafiguren (und anderen,
die Venturi erwähnt) entspräche das weibliche Brust¬
bild auf der Kanzel von Ravello, das auch insofern
damit übereinstimme, als es oberhalb des Stifterpaares,
auch nach ihm des Niklas und der Sigilgaita Rufolo,
diese sozusagen in ihren Schutz nähme. Das gleiche
bedeute das Brustbild von Skala, ob wir gleich hier
keine Schützlinge finden. Venturis Ansicht geht
also dahin, daß die Bildwerke von Ravello, die in
Stein (und zwar in Brustbilder!) übersetzte Mater-
Ecclesia mit ihrem Schützlingpaar der Exultet dar¬
stellen — eine, wie mir scheinen will, an dieser Stelle
ganz einzigartige Verwendung, die nirgends ihr
Gegenstück findet und an Gezwungenheit nichts zu
wünschen übrig läßt. Vergessen wir auch nicht, daß,
abgesehen von der seltsamen Fügung eines vollen
Brustbildes mit zwei Köpfen in Flachbildnerei zu
einem bildnerischen und sinnbildlichen Zusammen¬
hänge, die Voraussetzung dazu sein muß, daß der
Platz, den das Brustbild einnimmt, ursprünglich ist.
Dies ist zunächst zu bestreiten. Ein Blick auf
die Architektur des Eingangs der Kanzel beweist dies.
ABB. 2. DAS STADTBILD VON RAVELLO
13*
SIGILGAITA UND DIE FLACHBILDER DER KANZEL VON RAVELLO
wie auch Berlaux'), allerdings mit der ihm eigenen
beneidenswerten Zuversicht, bemerkt; es ist sicher,
daß das Brustbild nicht an seinem ursprünglichen
Platze steht: um es auf die Marmorplatte zu stellen,
die es heute trägt, mußte man ein Stück musivisch
geschmückten Marmors entfernen, das vielleicht den
Teil einer Art überhöhten Giebels bildete. Aber auch
dies ist bloße Vermutung. Sicher ist nur, was der
hatte, ebensowenig wie das Bild von Skala, das man
in der Nische eines Hauses fand. Damit würde
auch die Mater- Ecclesiadeutung zusammenbrechen,
wenn sie überhaupt innerlich und äußerlich besser
haltbar wäre. Alles in allem; den Ravellesen war wohl
schon in früherer Zeit die »Sigilgaita« ein ebenso
unerklärliches, rätselhaftes Bildwerk, wie ihren gelehrten
Deutern, die sechs Jahrhunderte später kamen.
ABB. 3 DIE KANZEL IM DOM VON RAVELLO
Augenschein lehrt, daß die Stücke abgesägt sind, daß
sie an dieser Stelle formlos und ohne Zusammenhang
dastehen, und daß, wenn man sie fortnimmt, das
Brustbild noch einsamer und unerklärlicher von oben
herabschaut, als jetzt. Es ist offenbar eine Verlegen¬
heitsstelle: man wußte nicht anders wohin damit, und
dies würde dann mit ziemlicher Sicherheit beweisen,
daß es einen überlieferten Platz in der Kirche nicht
i) a. a. O. S. 782.
Übersieht man von hier ab den gesamten Beweis¬
stoff, so ist erst das eine unbedingt klar, daß von
einer Darstellung der Gemahlin Rufolos, Sigilgaitas,
nicht die Rede sein kann: es bleibt nun der große
Gegensatz in der Meinung unserer Kenner übrig,
daß die einen darin einen Bildniskopf, die anderen
ein Sinnbild sehen wollen.
Es ist hierauf zurückzukommen, wenn die Rufolo-
frage gelöst ist. Und dies dürfte leichter sein, als
man bisher annahm. Denn, außer den bisher von
SIQILOAITA UND DIE FLACHBILDER DER KANZEL VON RAVELLO
97
allen Schriftstellern seit fünfundvierzig Jahren er¬
wähnten Bildwerken befinden sich an der Kanzel
noch zwei Köpfe, die in einer mir unbegreiflichen
Weise den Blicken aller, die über das bedeutende
Werk geschrieben haben, entgangen sind! Dabei sind
diese Köpfe nicht etwa versteckt, sondern liegen so
offen da, daß man sozusagen mit der Nase darauf
stößt: sie befinden sich eingerahmt von ähnlichem
Blattwerk wie die Flachbilder des Eingangs in zwei
ansprechbar. Daß auch bei ihnen der Bohrer, nament¬
lich an den Mundwinkeln, eine so hervorragende Rolle
spielt, entspricht auch den Flachbildern der Tür-
zwickel, dem Blätterschmuck wie der ganzen apu-
lischen Kunststübung. Daher; wenn das Ehepaar der
Stifter an der Kanzel überhaupt angebracht wurde, so
ist es keines wahrscheinlicher als dies: möge es auch
in der Kunstforschung nunmehr die wohlverdiente
Ruhe finden!
ABB. 4. DER EINGANG DER KANZEL IM DOM VON RAVELLO
viereckigen Kassetten unterhalb der rechteckig vor¬
springenden Ausbuchtung, wovor der Adler das Lese¬
pult trägt (Abb. 3), und sind von mir, so gut es
gehen wollte, photographiert worden (Abb. 1). Dar¬
nach scheinen die Rufolo keine Schönheiten gewesen
zu sein, und der Künstler stellte die Reichlinge
Ravellos mit derselben grimmen Laune dar, wie es
heute etwa ein Zeichner des Simplicissimus tun würde.
Aber ohne Zweifel sind es Bildnisköpfe eines Mannes
und einer Frau, eines heraldisch richtig gestellten
Ehepaares, und dem Alter nach als Fünfzigjährige
Was aber stellen dann die jugendlichen Köpfe des
Eingangs dar, die doch der bescheidenen Stelle der
Stifter gegenüber so glänzend hervortreten? Man
könnte ohne Zwang an Matthäus und seine Gemahlin
Anna della Marra denken; wenigstens würde auf
letztere nun alles das vortrefflich passen, was Filangieri
für die »Sigilgaita« anführt. Matthäus war ja sicher¬
lich der Stolz der Familie, der Erstgeborene, Vater
des Lorenz, der seinerseits bereits 1279 das Haus
der Rufolo mit vier Kindern fortsetzen konnte! Ich
möchte aber auf diese Mutmaßung überhaupt kein
98
SIOILGAITA UND DIE FLACHBILDER DER KANZEL VON RAVELLO
Gewicht legen, schon um der F^-age aus dem Wege
zu gehen, wo denn die vielen anderen Söhne und
Schwiegertöchter der Familie Rufolo geblieben seien,
warum sie nicht auch ihre Darstellung gefunden
hätten, ü aI dergleichen mehr. Ich neige vielmehr zu
der AneiCu, daß die beiden Flachbildköpfe des Ein¬
gangs reine Schnuickformen sind und keine Bildnisse.
Ganz besonders macht diesen Eindruck der rechte Kopf,
den ich als die apulische Übersetzung eines in bekannter
antiker Haartracht die Flechte um den Kopf legenden
Apollon ansehe, also ebenfalls als ein männliches
Wesen, so daß auf diese Weise Crowes und Caval-
caselles "figli wieder zu ihrem Rechte kommen wür¬
den. Ihm wäre ein in zierlichsten Schmuckformen ge¬
haltener moderner Kopf der 1200 gegenübergestellt,
und wir würden hier einer Eigenart der Kunst Frie¬
drichs II. wieder begegnen, die nicht nur klassische
Vorbilder nachahmt, sondern auch die Gegenwart
realistisch anpackt, und sich auch hierin mit den
Bestrebungen der Auflebung der 1400 deckt! Wie
denn ja stets alle ernstliche Beschäftigung mit der
Antike ganz unmittelbar zur Erforschung der Natur
geführt hat und umgekehrt.
Und so leitet uns denn auch das Brustbild der
Sigilgaita in die Staufenkunst hinüber. Es stellt sich
neben das der benachbarten Nebenbuhlerin von Skala,
und beide finden wohl ihre ungezwungene Erklärung
in dem Bildwerke, das dreißig Jahre früher entstanden
den Torbogen Friedrichs II. in Kapua schmückte, dem
im Kampanischen Museum aufbewahrten Sinnbilde der
kaiserlichen Stadt Kcijnia (abgebildet bei Bertaux, S.
714). Aus der gleichen Zeit wie die »Sigilgaita« stammt
dieAugusta Perusia des Johann Pisano (1278 — 80), die
Roma capud mundi, die Pisa, die auch ich diesem
großen Meister und seiner Kanzel von Pisa geben
möchte'). Nicht umsonst ruft Bertaux die Ähnlichkeit mit
einer antiken Juno wach, die Filangieri, wie wir sahen,
in seiner Anna della Marra fand. Unter diesem
Gesichtspunkte erklären sich ungezwungen auch andere
Einzelheiten, die hier nur kurz berührt werden mögen.
Dahin gehört vor allen Dingen das fremdartige Wesen
des heidnischen Geist atmenden Bildwerkes. Dieser
Seite der erstaunlichen Kunsttätigkeit Friedrichs II. stan¬
den schon die Zeitgenossen ziemlich verständnislos
gegenüber, und daß sie nach dem Sturze der Staufen¬
herrschaft durch die bigotten Anjoinen nicht weiter
um sich griff, dafür sorgten Kirche und Bettelorden.
Dennoch war die innere Kraft derartiger Bildwerke
groß genug, daß sie im Herzen des Volkes, namen¬
los und unverstanden, wie sie waren, festen Fuß
faßten. Ist unser Brustbild ein Sinnbild der Stadt
Ravello in dem Sinne, wie jenes das von Kapua, so
1) Mit Ludwig Justi, Giovanni Pisano und die toska¬
nischen Skulpturen des 14. Jahrhunderts im Berliner Mu¬
seum. Jahrb. der Kgl. pr. Kunstsamml. XXIV, Berlin 1903,
S. 260 f.
war es wohl im Freien an der Stadtmauer aufgestellt,
vermutlich zwischen den Türmen, die den Eingang
zum ältesten Teile von Ravello, dem Toro, bewachten.
Die Erinnerung an seine Bedeutung und die künst¬
lerische Gewalt einer Kunst, die notwendig mit
Friedrich II. erschien und erlosch (man denke an
Niklas Peter von Apulien, den Pisaner!), verschwand aber
nicht vollständig mehr. Das Bild war die Schutzherrin
ihrer Stadt geworden ; keine mittelalterliche Heilige, auch
keine Muttergottes, aber eine schöne klassische Herrin,
welche die eifersüchtigen Nachbarn von Skala sich flugs
nachgebildet hatten, und der eine dunkle Macht zukam:
was wunder, daß sie schließlich dort landete, wo
alles Wertvolle im Mittelalter Schutz suchen mußte
und fand: in der Kirche! Dabei muß der Ruf ihrer
Schönheit groß gewesen sein, denn Peter von Toledo
gab sich zwei Jahre lang (1540 — 1 54 1 ) die größte Mühe,
sie nach Neapel zu bekommen. Die Ravellesen wehrten
sich höflich, aber äußerst zäh: umsonst; nach wieder¬
holten vergeblichen Versuchen wurde ihr geliebtes
Stadtbild, das zu keiner Zeit etwa als Muttergottes oder
auch nur ähnlich bezeichnet wird, nach der Hauptstadt
entführt. Mochte nun der Statthalter weniger an dem
Kunstwerke finden, als die treuen Ravellesen, am
wenigsten etwas Religiöses, oder haben ihre Ver¬
trauten besonders geschickt verhandelt: es gelang, die
Ravello zurückzugewinnen; und mit lautem Jubel und
großen Festen wurde ihre Rückkehr in die Heimat¬
stadt begrüßt. Alles das hat uns einer der vielen
fleißigen Notare dieser Gegend aufbewahrt, und der
Wortlaut der Urkunde') spricht nur von la testa di
marmora al lictorio (also der Kanzel) de lo epis-
copato. Per gratia della gloriosa Vergine Maria, hebt
er ausdrücklich hervor, e loro (d. h. der Unterhändler)
virtu dalla (di lä) ritornö dicta testa. Die Erwähnung
der Hilfe der Muttergottes scheint mir im Gegensatz
zu Bertaux erst recht anzudeuten, daß die Ravellesen
bei ihrem Stadtbilde an eine Heilige gar nicht dachten,
denn die hätte sich selber helfen können. Auch
der Nachsatz des trefflichen Notars ist beachtenswert:
et la iinlversitä nci dispese de boni diicati, und
die Gemeinde gab dafür schöne Dukaten aus. Wofür?
Sollte man etwa jetzt den Ehrenplatz auf der Kanzel
des Niklas Rufolo dafür hergerichtet haben; oder galten
diese Dukaten nur den Kosten und Festen, die man
freudig beging bei der Rückkehr des geliebten alten
Stadtbildes von Ravello aus der Zeit des Niklas Bartel
von Foggia?
Ob nun dieser wirklich sein Verfertiger ist, und
welcher künstlerische Zusammenhang zwischen unserem
Stadtbilde und den Werken der apulischen Kunst in
Kapua und in Apulien besteht: diese und ähnliche
Fragen müssen einer weiteren Untersuchung Vorbe¬
halten bleiben.
1) Bei Camera II, 313, Anm. 1.
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN
LONDON UND SIENA')
ES ist bezeichnend für das große Interesse, das
gegenwärtig der alten sienesischen Kunst ent¬
gegengebracht wird, daß in diesem Jahre zwei
retrospektive sienesische Kunstausstellungen zugleich,
die eine im Burlington Fine Arts’ Club in London,
die andere im Palazzo Pubblico in Siena, ins Leben
gerufen worden sind. Zahlreiche Publikationen “)
über die Geschichte und die Kunst dieser einzig in
ihrer Art uns erhaltenen mittelalterlichen Stadt, die
in den letzten fünf Jahren in rascher Reihenfolge er¬
schienen sind und die üblichen Kontroversen hervor¬
gerufen, mögen wohl viel dazu beigetragen haben,
dieses Interesse höher zu spannen. Ist es doch nicht
zu leugnen, daß seitdem der Florentiner Cimabue
immer mehr in problematische Nebel versinkt, der
Sienese Duccio nun das Frontispice der italienischen
Malerschule einnimmt. In seinen verhältnismäßig
zahlreich uns erhaltenen Werken können wir die all-
mählige Entwickelung der gotischen Kunst aus der
byzantinischen und römischen wahrnehmen, bevor
noch diese Entwickelung durch die mächtige Er¬
scheinung eines Giotto zur vollendeten Tatsache
wurde. Es ist wohl diese erst seit kurzem anerkannte
Priorität, die den alten Sienesen gegenwärtig eine
ganz besondere Anziehung
verleiht, eine Anziehung,
die sich von den Trecen-
tisten nun neuerdings auch
auf die sienesischen Quattro¬
centisten erstreckt hat.
Ja man könnte sogar
behaupten, daß in diesen
i) Die Initialen B. F. A. C.
beziehen sich im beifolgen¬
den Text auf die sienesische
Ausstellung im Burlington
Fine Arts' Club zu London,
während mit der Bezeichnung
Saal mit Ziffern der betref¬
fende Raum der sienesischen
Ausstellung in Siena angege¬
ben ist.
2) Luise M. Richter, Siena
als Kunststätte, Seemann igoi,
R. Hobart Cust, The Pave-
ment Masters of Siena, Bell
IQ01, E. G. Gardner, the story
of Siena and S. Gimignano,
Dent 1902, Langton Douglas,
A History of Siena, Murray
igo2, Heywood & Olcott,
Guide to Siena, Torrini 1903,
Walter Rothes, Die Blüte in
der Sienesischen Malerei, H.
G. Mündel 1904 usw.
beiden sienesischen Ausstellungen, in London sowohl
als in Siena, besonders darauf geachtet wurde, die
bisher so wenig geschätzten Werke dieser sogenannten
zurückgebliebenen Maler des Quattrocento besonders
in den Vordergrund zu bringen.
Überaus glücklich war die Wahl des Ausstellungs¬
raumes in Siena, ln den herrlichen Räumen des
Palazzo Pubblico, dem alten Rathaus, dessen Stirnseite
jene heitere italienische Gotik aufweist, die wohl das
Prototyp der vielen mittelalterlichen Paläste von Siena
gewesen sein mag, sind die zahlreichen Kunstschätze
ausgestellt, die teils aus der unmittelbaren Umgegend,
teils aus Rom, Orvieto, Montepulciano, Montalcino und
Siena selbst zusammengebracht worden sind; ein Unter¬
nehmen, an dem sich in rühmlicher Weise die Be¬
hörden der Stadt, mit dem kunstverständigen Bürger¬
meister Com. Lisini an der Spitze, die Grafen Picco¬
lomini Filangeri und Magazzi, Kanonikus Dr. Lusini,
Professor Franchi und last not least Signor Corrado Ricci,
jetzt Generaldirektor der Sammlungen von Florenz,
beteiligt haben. Diesem letzteren ist es wohl haupt¬
sächlich zu verdanken, daß die berühmte Fonte Qaia
von Jacopo della Quercia, deren Fragmente bisher
nur wenig vorteilhaft im Dommuseum untergebracht
waren, jetzt auf der schö¬
nen weiten Loggia des Pa¬
lazzo Pubblico zur Ausstel¬
lung gekommen sind. In
derselben Beleuchtung, in
welcher dieses Kunstwerk
einst unten auf der Piazza
stand, und mit all den noch
übrigen Fragmenten wieder
kunstvoll zusammengefügt,
ist diese Fonte Gaia mit
Recht als Clou der Aus¬
stellung bezeichnet worden.
Die herrliche Aussicht von
den Zinnen dieses mittel¬
alterlichen Palastes, in das
weite an Olivengärten und
Cypressen so reiche Tal,
mit den Silhouetten von
Kirchen und alten Kastellen
und dem hochragenden
Monte Amiata im Hinter¬
grund, trägt jedenfalls dazu
bei, den Eindruck, den
dieses neuerstandene Kunst¬
werk auf den Beschauer
ausübt, noch zu erhöhen
Anmutig und doch zugleich
majestätisch thronen in ihren
Nischen die Tugenden
ABB. 1. DUCCIO. MADONNA AUS DER SAMMLUNG STROGANOFF
Photogr.ipliie von H. Burton
100
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
ABB. 2. AMBROGIO LORENZETTI. MADONNA MIT KIND
SAMMLUNG ORICCIOLI
ABB. 3. MADONNABÜSTE AUS DER
PALMIERI NUTI-SAMMLUNG
Quercias mit den faltenreichen Gewandungen. Am
anziehendsten erscheint die Sapientia, deren weiter
Mantel vom Spiel der Winde gehoben erscheint.
Sie ist auch die besterhaltene. Nach ihr ist es die
Fides, die ebenfalls von den Stürmen der Zeit
weniger mitgenommen worden ist, als ihre Ge¬
fährtinnen. Von der Fortitudo und der Caritas sind
nur noch Blöcke vorhanden, und von der Spes bloß
der liebliche Profilkopf, der zu dem Symbol der
Hostie, ein Kreis mit einem Kindergesicht, aufblickt,
eine Komposition, die sein Schüler Matteo Civitali
ganz ähnlich wiederholte. Wie traurig hat aber der
Zahn der Zeit, bei dem Mittelstück, der Madonnen¬
figur, den zu ihren Seiten stehenden Engeln und
den beiden Reliefs, die Erschaffung Adams und die
Vertreibung aus dem Paradies, gehaust! Nur die
beiden Freistatuen: Rhea Silvia und Acca Laurentia
mit den römischen Zwillingen, sind verhältnismäßig
gut erhalten; aber auch sie zeigen Spuren von
Restauration, die im i8. Jahrhundert, wie dokumen¬
tarisch bewiesen ist, von einem gewissen A. Mazzanti
gemacht worden sind. Obwohl nur als Stückwerk
auf uns gekommen, so erregt die Fonte Gaia, Freuden¬
quelle, wie sie die Sienesen zu nennen liebten, unsere
ganze Bewunderung. Sie bezeichnet mit den Portal-
reliefs von San Petronio in Bologna, den Zenit von
Quercias Kunst. Er schuf sie nachdem er das Grab¬
denkmal der Ilaria im Dom zu Lucca vollendet hatte.
Wenn sich zuerst bei dieser wunderbaren, im Tode
lächelnden Frauengestalt das Individuelle von Quercias
Schöpfungskraft zeigt, so trat dies noch mächtiger und
vorgeschrittener in seinen Brunnenfiguren hervor.
Denn hier zeigt er sich schon an der Schwelle des
15. Jahrhunderts (1414 — M'S) entschiedener
Vorbote der Renaissance. So ist die liebliche Figur
seiner Eva in dem Seitenrelief, die uns wie durch
ein Wunder erhalten geblieben ist, eine der
ersten unbekleideten Gestalten der Frührenaissance,
die frei und ungehemmt vom schweren Faltenwurf,
in dem Quercia sonst so gerne wühlte, auf uns ge¬
kommen ist. In keinem anderen Skulpturwerk, außer
vielleicht in Quercias Taufbrunnen in der Kirche San
Giovanni, sehen wir die Gotik und Renaissance so
vorteilhaft, ja man möchte fast sagen so schwesterlich
verbunden, wie in der uns jetzt wiedergegebenen
Fonte Gaia.
Eine mächtige Treppe führt an der Freistatue der
Acca Laurentia vorbei in andere Palasträume, wo
sämtliche Werke dieses großen sienesischen Künstlers
in guten Abgüssen ausgestellt sind. Unwillkürlich
muß man beim Überblick dieser vergeistigten Bild¬
hauerwerke, wo alles auf Seelenausdruck und Charakter
hinzielt, daran denken, daß wohl der junge Michel¬
angelo, als er seine Kolossalfigur von Julius II. in
Bologna schuf, öfters vor dem Portal von San Petronio
in Gedanken vertieft gestanden haben mag. Scheint
doch der Eindruck, den diese pathetische Kunst der
Genesiserzählungen auf ihn gemacht hat, an der Decke
der Sistina in Rom nachzuklingen. Michelangelo ist mit
Recht als der geistige Bruder Quercias bezeichnet wor-
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
101
den, als sein wahrer Schüler, dessen Erscheinen erst nach
einem halben Jahrhundert erfolgen sollte. Wohl hatte
aber der große Jacopo della Qucrcia auch zeitgenössische
Schüler gehabt, die sein Vorbild zwar nachahmten,
aber nicht erreichen konnten. Dies wird uns klar,
wenn wir die vergoldeten Holzstatuen aus der Kirche
San Martino betrachten (Saal IX, Nr. 15 — 19), die
Jungfrau mit dem Kinde und die vier Apostelfiguren;
oder den Niccolo da Bari (Nr. 12), eine bemalte
Holzstatue, welche den Heiligen Petronius und
Ambrosius über dem Portal von San Petronio (die
nach Karl Corneillus ebenfalls von Schülerhand her¬
rühren dürften), in mancher Hinsicht nahe kommt.
Von der Hand des Meisters selbst dürften wohl die
beiden weiß angestrichenen Holzstatuen desS. Ambrogio
und S. Antonio sein (Saal VIII, Nr. 34 — 35); sie
sind größeren Stils als die Statuen von San Martino
und denselben jedenfalls überlegen.
Hochinteressant sind die Verkündigungsstatuen
(Saal Vlll, Nr. 42—43), mit der Jahreszahl 1368 und
1370 bezeichnet, welche in ihrer gotischen Strenge
jenem Kunstzentrum anzugehören scheinen, aus dem
Quercia entsprungen ist. Aus derselben Zeit, viel¬
leicht etwas früher, ist auch die majestätische Statue
des Erzengel Gabriel (Nr. 1 3), welcher der sich leise
verneigenden Jungfrau (Nr. 14), ebenfalls eine lebens¬
große Figur, die göttliche Botschaft bringt. Diese
Statuen tragen noch deutlich das Gepräge von Simone
Martinis Kunst an sich.
Es ist wohl anzunehmen, daß Jacopo della
Quercias erste künstlerische Anleitung teilweise von
seinem Vater Pietro d’AgnoIo herrühren dürfte, der
ein angesehener Goldschmied war. Daß aber die
sienesischen Goldschmiede im 14. und 15. Jahr¬
hundert Ausgezeichnetes geleistet haben, wird uns
besonders durch diese Ausstellungen klargelegt. In
dem mystischen Helldunkel der Palastkapelle, wo
Fresken von Taddeo Bartolo, Szenen aus dem Leben
der Jungfrau Maria schildern, und eines der an¬
mutigsten Madonnenbilder Sodomas über dem Altäre
hängt, sind in einer von elektrischem Licht be¬
leuchteten Vitrine, die sonst schwer zugänglichen
Reliquienschreine von San Galgano, San Giovanni,
San Bernardino, San Savinso usw. ausgestellt. Von
Ugolino da Vieri, demselben, der das Tabernakel des
S.S. Corporale in der Kathedrale von Orvieto ge¬
schaffen hat, und um 1326 tätig war, ist das
vollendete Reliquiarium von S. Savino das er in
Gemeinschaft mit Viva di Lando, eines anderen
sienesischen Goldschmiedes, gearbeitet haben soll.
Im architektonischen Aufbau verrät es ein überaus
feines Verständnis für die gotischen Linien und ist
ebenso wie sein Meisterwerk in Orvieto mit kost¬
baren Emailarbeiten geschmückt. Die Urne, welche
den Arm des Johannes des Täufers verwahren soll,
ist das Werk des Sienesen Antonio Francesco, dessen
Tätigkeit in die Mitte des 15. Jahrhunderts fällt.
Dem Lando di Pietro, demselben, der die eiserne
Krone für Heinrich VII. geschaffen hat, und der Ur¬
heber jener Domruinen war, die heute noch neben
der Kathedrale in Siena allgemeine Bewunderung er-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 4
regen, wird der Reliquienschrein von San Galgano
zugeschrieben, eine Arbeit von größter Feinheit und
Mannigfaltigkeit, die ursprünglich zum Kirchenschatz
der Abteikirche von S. Galgano gehörte.
Überhaupt scheinen die Kirchen und Klöster mit
rühmlicher Bereitwilligkeit ihre Schätze für die Aus¬
stellung in Siena zur Verfügung gestellt zu haben.
Neben einem Prozessionskreuz aus Val di Chiano,
das mit Edelsteinen und künstlich auf Pergament
ausgeführten Miniaturen geschmückt ist, sind sogar
die goldenen Rosen ausgestellt, welche einst die
sienesischen Päpste Pius II. und Alexander VII. ihrer
Vaterstadt verehrten. Bemerkenswert ist der Stamm¬
baum Jesse in vergoldeter Bronze mit Korallen und
Emailschmuck geziert (Saal V, Nr. 17), ein mehr gran¬
dioses als kunstvolles Werk, das auf Gabriello di Antonio
di Lorenzo da Siena zurückgeführt wird. In einer Vitrine
links daneben ist ein vollständiger Allarschmuck in
Bronze und Kristall mit Emailarbeit zu sehen, der
von Benvenuto Cellini für die Familie Chigi gearbeitet
worden sein soll, ln demselben Saal, Mappamondo
genannt, wo Simone Martinis Bild der Majestas links
von der Fensterwand majestätisch thront, und gegen¬
über sein kühnes Reiterbildnis des Guidoriccio dar¬
gestellt ist, sind in großer Fülle reiche Priester¬
gewänder, kunstvoll gestickte Taufschleier, alte Spitzen,
kostbare Altaraufsätze, meist Reliquien aus alten siene¬
sischen Adelsfamilien, ausgestellt. Daß sowohl hier
als auch in der Sala della Pace nebenan, so genannt
wegen Ambrogio Lorenzettis weißgekleideter Figur
der Pax, davon abgesehen worden ist, Gemälde aus-
ABB 4 SIMONE MARTINI. VERKÜNDIGUNGS.MADONN A
GALERIE VON ANTWERPEN
’4
1 02
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
zustellen, weil es Räume sind, die in ihrem eigenen
Freskenschmucke prangen, ist wohl bedacht gewesen.
Sie fanden aber reiclilich Platz und wohl auch besseres
Licht im Stockwerk darüber.
je der Florentiner Cimabue uns zur Mythe
wird, so mehr scheint der Sienese Duccio di
Buoninsegna eine deutlich ausgeprägte Künstlergestalt
anzunebmen. Unter den zahlreichen hier zusammen¬
gebrachten, dem Meister zugeschriebenen Bildern kann
jedoch nur eines ernstlichen Anspruch auf seine
Autorschaft erheben, während die anderen, mit einigen
Ausnahmen von Fälschungen, immerhin Schulbilder
sind. Unverkennbare Ähnlichkeit mit dem jetzt dem
Duccio zugeschriebenen Altarbild in der Rucellaikapelle
in Santa Maria Novella in Florenz zeigt ein wohl¬
erhaltenes Madonnenbild in Saal XXVI, Nr. 17. Ein
anderes Heiligenbild (Nr, 20) mit einem sich zärtlich an
die Madonna anschmiegenden Bambino, weist dagegen
auf des Meisters spätere Zeit hin. Ein durchaus
unbestrittener echter Duccio (Abb. 1) aber ist das
kleine Bildchen aus der Sammlung Stroganoff (Saal
XXVll, Nr. 37). Der edle Madonnenkopf scheint
eng verwandt mit des Meisters Majestas im Dom¬
museum, während der muntere Christusknabe, der
kosend nach dem Schleier seiner Mutter greift, große
Analogie mit den unschuldigen Kindlein, auf seinen
erzählenden Bilderserien, zeigt. Die überaus feine
Ausführung dieses Werkes läßt auf die letzte Periode
Duccios schließen, die als seine gotische bezeichnet wird.
Auf der Ausstellung in London sind mehrere
höchst interessante Duccios zusammengebracht wor-
ABB. 5. VERKÜNDIOUNOSENOEL VON SIMONE MARTINI
GALERIE VON ANTWERPEN
den. Unter diesen wäre vorerst die Kreuzigung,
im Besitz von Lord Crawford, zu nennen (B. F.
A. C, Nr. 4), die wohl als das späteste uns be¬
kannte Werk des Meisters angesehen werden dürfte.
Die sorgfältige Technik zeigt einen großen Fortschritt
über die vier Bilder der Bensonschen Sammlung,
Szenen aus dem Leben Christi darstellend, die in
dem Katalog mit Recht als zur Predella der eben¬
erwähnten Majestas gehörend, bezeichnet worden sind.
Denn bekanntlich bestand das berühmte Dombild Duccios
nicht aus zwei großen abgetrennten Flächen, so wie
dasselbe jetzt zu sehen ist. Es war vielmehr eine
mit Flügelbildchen und einer doppelten Reihe von
Predellen geschmückte Ancona, wie sie noch heute
auf einem alten Bücherdeckel im Archiv zu Siena
abgebildet ist. Ein anderes höchst interessantes und
bisher wenig bekanntes Bild, das dem Meister zu¬
geschrieben wird, ist das Triptychon (B. F. A. C,
Nr. 5), das in den Gemächern der Königin Viktoria in
Osborne verborgen geblieben und vom Prinzen Consort
im Jahre 1845 von einem Dr. Metzger erworben
worden war. Leider ist es nicht frei von Übermalung,
auch scheint der Goldgrund erneuert zu sein. Wir
sehen die Madonna zu beiden Seiten der Kreuzigung
auf kosmatischen Thronen sitzend. Sie ist von
Engeln umgeben, die stark an jene von Torriti in der
Abside von Santa Maria Maggiore erinnern , ein Be¬
weis, daß die Kunst der Cosmaten in Rom, Duccio
durchaus nicht fremd war. In den oberen Teilen dieses
Triptychon ist links die Verkündigung und rechts der
hl. Franziskus, der die Stigmata erhält, dargestellt, ein
Motiv, das Duccio merkwürdigerweise sonst auf keinem
seiner anderen Bilder behandelt zu haben scheint. Wir
sehen hier gleichsam den römischen Einfluß der
Cosmaten über die byzantinischen Traditionen, an
denen Duccio sonst so sehr festhielt, triumphieren.
Von Ugolino da Siena und Segna, Schüler Duccios,
sind mehrere bemerkenswerte Bilder auf beiden Aus¬
stellungen vorhanden. Vor allem aber ist es der
größte unter ihnen, Simone Martini, der durch seine
reizenden Schöpfungen unsere ganze Aufmerksamkeit
auf sich zieht (Abb. 4).
In erster Linie wäre von ihm die Verkündigungs¬
madonna aus der Sammlung Stroganoff (Saal XXVII,
Nr. 38) zu nennen, die an Feinheit der Auffassung
und der Farbenharmonie dem kreuztragenden Christus
in der Benson-Sammlung (B. F. A. C. Nr. 22) besonders
nahe kommt, der zwar dem Berna zugeschrieben wird,
aber wohl eher von Simone selbst sein dürfte. Die
auf einem Kissen sitzende Madonna auf dem Stroga-
noffschen Bilde hält ein Buch in der linken Hand,
während sie mit der rechten den in knappen Falten
herabwallenden Mantel zusammenhält. Die elegante
Pose, die miniaturartige, sorgfältige Malerei deuten
auf des Meisters französische Periode in Avignon
und betonen gewissermaßen den Einfluß, den die
französischen Miniaturisten auf ihn ausgeübt haben.
Durch die Ausstellung der französischen Primitiven
in Paris ist andererseits auch klargelegt worden, daß
die Kunst Simone Martinis und seiner Schüler durch¬
aus nicht ohne Einfluß auf die französische Malerei
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
103
ABB. 6. SIMONE MARTINI. MADONNA
SAMMLUNG STROGANOFF
des 14. Jahrhunderts geblieben ist. Einen neuen Be¬
weis dafür liefert das Diptych (B. F. A. C. Nr. 20),
Kreuzigung und Pieta darstellend; ein Bild, das
wohl von einem französischen Schüler Simones her¬
rühren dürfte. Höchst interessant und augen¬
scheinlich ebenfalls aus des Meisters Avignonzeit
ist die Kreuzigung und Kreuzabnahme zwischen
einer Verkündigung (B. F. A. C. Nr. 21; Abb. 5 — 6),
kleine Serienbilder, ursprünglich aus Dijon stammend,
und jetzt im Museum zu Antwerpen, zu denen das
kleine Bildchen Simones im Louvre, den Kreuzgang
darstellend, ebenfalls gehören dürfte. Wir können in
dieser ganz reizenden Verkündigung, wenn wir sie mit
jener anderen in den Uffizien vergleichen, die Simone
mit seinem Mitarbeiter Lippo Memmi im Jahre 1333 ge¬
malt hat, als er noch unter dem Einfluß von Duccio
war, des Meisters allmähliche Entwicklung verfolgen und
den Eindruck nachfühlen, den die französische Kunst
des Trecento mit ihren gotischen Tendenzen auf ihn
ausgeübt. Besonders in dem knieenden Engel, der
mit graziöser Bewegung die Lilie hält, ist ein Zug
jenes feinen Qoiit frangais zu erkennen, der in Mäßi¬
gung und Würde seinen Ausdruck findet. Eine
Schöpfung aus derselben Periode des Meisters und
augenscheinlich kurz vor seinem in Avignon erfolgten
Tode gemalt, ist sein signiertes und 1342 datiertes
Bild aus Liverpool (B. F. A. C. Nr. 18), die Rückkehr
Jesus vom Tempel darstellend, ein Bild, in dem
Simone jedoch auf seine erste Periode zurückzugreifen
scheint, als ob den Künstler, der bald im fremden Lande
sterben sollte, noch kurz vor seinem Tode die Er¬
innerung an seine Heimat gefangen hielte. Lippo
Memmi, sein Schwager und Mitarbeiter, der Simone
augenscheinlich nicht nach Avignon begleitete, ver¬
harrte vielmehr als Simone Martini selbst, bei den alten
Traditionen, so wie wir es bei seinem signierten
Madonnenbild aus der Kirche dei Servi (Saal XXVIII,
Nr. 10) wahrnehmen können. Er muß auch großen
Anteil an den fünf Bildern Simones von Orvieto
gehabt haben (Saal XXVII, Nr. 8 — 12), die Madonna,
Maria Magdalena, Petrus, Paulus und den hl. Dominik
darstellend, Bilder, die noch ganz zu des Meisters
erster Periode gehören.
Pietro Lorenzetti und sein Bruder Ambrogio,
welche die Kunst eines Duccio, Simone Martini und
Giotto in sich aufnahmen und weiter entwickelten,
sind auf der Ausstellung von Siena sowohl als von
London nur mittelmäßig und meist durch Schul¬
bilder vertreten. Bemerkenswert ist allerdings das
dem Ambrogio Lorenzetti zugeschriebene Bild auf
Goldgrund (B. F. A. C. Nr. 11) aus der Stroganoff-
Sammlung, das in sechs Abteilungen Szenen aus
dem Leben Christi: Kreuzabnahme, Pieta, Vorhölle,
Auferstehung, Himmelfahrt und die Ausgießung
des heiligen Geistes darstellt. Obwohl die Pieta
mit der in Schmerz aufgelösten Maria Magdalena
entfernt an Ambrogio Lorenzetti erinnert, so macht
sich andererseits in den breiten Typen der Apostel¬
köpfe und in den an die Kosmatenkunst erinnern¬
den Engelsgestalten ein anderer Einfluß geltend,
den wir in der Unterkirche von Santa Cecilia bei
den Fresken Cavallinis suchen müssen. Die Halb¬
figur des Christus in den Wolken, mit dem breiten
Nimbus und umringt von fünf Engeln, in der Him¬
melfahrt auf dem Stroganoffschen Bilde ist jedenfalls
verwandt mit dem Christus auf Cavallinis Fresken
und deutet somit auf einen Meister der römischen
Schule, der sowohl von Simone Martini als von
Lorenzetti beeinflußt war und einer jener großen un¬
bekannten Künstler sein könnte, der in der zweiten
Hälfte des Trecento in den Wölbungen der Spanischen
Kapelle eine Farbenharmonie entwickelt hat, die wir
nicht unähnlich auf diesem, dem Ambrogio Lorenzetti
zugeschriebenen Bilde wiederfinden. Ein Bild in den
Uffizien, mit der hl. Cecilie im Mittelpunkt, das früher
dem Cimabue zugeschrieben wurde, aber viel eher
verwandt ist mit Giottos Schule, dürfte hier vergleichs¬
weise herbeigezogen werden. — Ein unbestrittener
Ambrogio dagegen ist das leider stark übermalte aber
echte Madonnenbild mit dem großäugigen Christus¬
kind aus der Sammlung Griccioli (Saal XXVII, Nr. 28),
wo das zärtliche Verhältnis zwischen dem Jesusknaben
und der Mutter Gottes, das auf den frühen Duccio-
bildern zuerst Ausdruck fand, ganz besonders akzentuiert
ist (Abb. 2). Ein ähnliches dem älteren Lorenzetti, Pietro,
zugeschriebenes Madonnenbild (Saal XXVIll, Nr. 15)
aus der Loeser- Sammlung verdient ebenfalls Erwäh¬
nung und betont den Typenunterschied in den Werken
dieser beiden Künstler. Mit ihrem Tode riß der Ver¬
fall der sienesischen Malerschule, gefördert durch die
ungünstigen politischen Verhältnisse der Stadt, in er¬
schreckender Weise um sich. Der Mißkredit, in den
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
1 04
ABB. 7. SASSETTA. GEBURT DER MARIA
ALTARBILD AUS ASCIANO
die sienesische Malerschule des Quattrocento verfiel, ist
hauptsächlich auf die schwachen Nachfolger des
Simone Martini und der Lorenzetti, wie Bartolo di
Fredi und dessen Sohn Andrea di Bartolo, Luca di
Tomme, Andrea Vanni usw. zurückzuführen ; ihre Werke
sind ziemlich zahlreich besonders auf der Ausstellung in
Siena vertreten; dagegen ist von Barna, Taddeo Bartolo
und dem talentvollen Domenico Bartolo kaum etwas
Echtes vorhanden. Allerdings möchte man fast diesem
letzteren das Bild des predigenden hl. Bernardinus(B. F. A.
C. Nr. 34) aus Liverpool zuschreiben. Die gedrungenen
Gestalten im Vordergrund, die wir ganz ähnlich wieder
auf seinen Hospitalfresken in Siena finden, ebenso
wie die reiche Renaissancearchitektur im Hintergrund,
lassen jedenfalls vielmehr auf ihn als auf Vecchietta
schließen (dem es im Katalog zugeschrieben wird),
der es im Gegenteil liebte, wie auf seiner Assunta in
Pienza, seine Figuren in die Länge zu ziehen.
Als einer der bedeutendsten Quattrocentisten, der
neuerdings besonders in Vordergrund gekommen ist,
wäre Stefano Giovanni genannt Sassetta zu bezeichnen.
Obwohl jetzt die Gefahr nahe liegt, daß dieser aller¬
dings bisher nur wenig geschätzte Künstler augen¬
blicklich fast überschätzt worden ist, so ist andererseits
nicht zu leugnen, daß derselbe hauptsächlich deshalb
nicht genügend anerkannt war, weil er überhaupt kaum
gekannt war. Sind doch seine Werke in den meisten
größeren Galerien, wie z. B. in Berlin und in Siena
selbst, entweder nicht genügend, oder wie im Louvre
und der National Gallery, gar nicht vertreten.
Während unzählige Bilder von seinem Schüler Sano
di Pietro mehrere Säle der Akademie in Siena füllen,
so muß man, um die Ancona Sassettas zu sehen,
nach der entfernt gelegenen Klosterkirche der Osser-
vanza pilgern. Durch diese Ausstellungen sind
nun allerdings eine Reihe interessanter Bilder und
Bildchen dieses Meisters ans Tageslicht gefördert wor¬
den. ln erster Linie wäre in diesem Zusammenhang
sein Altarbild aus Asciano (Abb. 7) zu nennen, die
Geburt Marias darstellend (Saal XXXllI, Nr. 7). Es
ist dies ein Jugendwerk des Meisters, das nicht ohne
einige Analogie mit der Geburt Marias von Pietro
Lorenzetti in der Opera del Duome ist und auch
einige Ähnlichkeit verrät mit den Bildern von Bar¬
tolo di Fredi und Paolo di Giovanni Fei in der
Akademie, dasselbe Sujet darstellend. Sassetta über¬
trifft aber seine Vorgänger, weitaus an Anmut und
Grazie der Formen. Mit erfrischender Naivität
führt er uns in das Gemach der hl. Anna, um
die sich ihre Gefährtinnen bemühen, während im
Vordergrund das neugeborene Marienkind gebadet
wird. Durch eine offene Tür im Mittelgrund
sieht man eine jugendliche Mädchengestalt im rei¬
chen Brokatkleid Erfrischungen für die Wöchnerin
herbeibringen, während im linken Flügelbild Joachim
mit einem alten Manne das Ereignis bespricht und
ein junger Knabe an der Gartentür lauscht. In dem
oberen Teil der Ancona sind Szenen aus dem Leben
der Jungfrau in feinem Miniaturstil ausgeführt (Abb. 8),
nach welchen man ein anderes, früher dem Fra Angelico
gegebenes Bild, eine Anbetung der Könige (Saal XXXV,
Nr. 4), dem Sassetta zuschreiben könnte. Es unter¬
liegt jedenfalls keinem Zweifel, daß dieser viel mit Fra
Angelico gemein hat. Doch geht durch seine Bilder
ein mehr weltlicher realistischer Zug als dies bei dem
göttlichen Fiesoie der Fall ist, und der sich besonders in
diesem reizenden Bildchen der Anbetung der Magier gel¬
tend macht. Nur bei der Madonna selbst hat Sassetta den
traditionellen Mantel beibehalten, während die übrigen
Frauen mit pelzverbrämten Ärmeln und hohen Gürteln
in der Tracht der Zeit dargestellt sind. Zierliche
Pagen stehen als Waffenträger hinter dem jungen
König, der mit der Krone auf dem Haupt, in kost¬
baren Mantel gekleidet, dem Christuskind eine Gabe
darreicht. Ein Kriegsknecht macht sich mit den
Flossen im Hintergrund zu schaffen, während zur
Seite Windhunde ihr Spiel treiben. Wie bei einem
anderen ihm zugeschriebenen Bilde in Barnard Castle
(B. F. A. C.), wo die bunten Glasfenster eine ganz
besondere Anziehung sind, so sind auch hier
gerade die akzessorischen Teile von größter Wir¬
kung. Außer einem Madonnenbild aus der Kathe¬
drale von Grosseto (Saal XXXV, Nr. 11) sind
auch zwei Serienbilder (Saal XXXIV, Nr. 3 — 4) von
seiner für Borgo San Sepolcro gemalten Ancona aus¬
gestellt, mit Szenen aus dem Leben des hl. Franziskus.
Verglichen mit dem Bild in Chantilly, »das Bündnis
des hl. Franziskus mit der Armut darstellend«, ist
nicht zu leugnen, daß die Erhaltung dieser beiden,
jetzt in der Sammlung Chalendon sich befinden¬
den Bilder nicht befriedigend ist. Man möchte fast
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
105
behaupten, daß Sassetta hier möglicherweise mit
seinem Schüler Sano di Pietro gearbeitet hat, vergleicht
man sie mit des Letzteren: Traum des Hieronymus
im Louvre. M. Chalendon besitzt sechs dieser Serien¬
bilder, während ein anderes bei Comte Märtel in Paris
ist und das achte und bei weitem das schönste unter
dem Namen von Sano di Pietro sich seit Jahren im
Musee Conde in Chantilly befindet. Das Mittelstück
aber, eine Madonna mit Kind, ist im Besitz von
B. Berenson dem das Verdienst gehört, diese noch vor
kurzem verschwunden geglaubten Ancona Sassettas,
wieder identifiziert zu haben.
Ein anderer sienesischer Maler, der als Schüler
Sassettas gelten dürfte und ebenfalls mehr Anerkennung
verdiente, als ihm bis jetzt zuteil geworden, ist Gio¬
vanni di Paolo, von dem zahlreiche Bilder in der
Akademie zu Siena und anderwärts zu finden sind.
Angesichts der Tatsache, daß sich seine Tätigkeit bis
in das Jahr 1482 erstreckte, wurde er bisher, be¬
sonders was seine Tafelbilder betrifft, gerade so wie
Sano di Pietro, unter die Ziirnckgebliebenen gerechnet.
Doch in unserer gegenwärtigen Zeit, wo das Mittel-
alter und die Kunst der Primitiven so viel Anziehung
ausübt, ist es nicht zu verwundern, wenn neuerdings
auch den sienesischen Quattrocentisten, die sich von
den alten Kunsttraditionen nicht losmachen konnten,
mehr Interesse entgegengebracht wird. Daß sie in
den großen Vorbildern des Trecento viel mehr als in
der hereinbrechenden Renaissance ihre Ideale fanden,
gereicht ihnen jetzt nicht mehr wie früher zum Tadel,
sondern eher zum Lobe, ja man möchte sogar, und
vielleicht nicht mit Unrecht, so weit gehen, ihnen
eine vollendetere Technik zuzutrauen als sie auf ihren
Bildern entwickeln, nur daß sie eine solche mit ihren
retrospektiven Tendenzen nicht anwenden konnten.
Nun ist es nicht zu leugnen, daß in
vielen Fällen ein mystisch angehauchtes
Heiligenbild den modernen Menschen
wohl mehr anzieht als die klassisch
aufgefaßten Madonnen der Hochrenais¬
sance, die meist nur schöne Frauen der
Zeit darstellen. So erregt z. B. Sassettas
feines Madonnenbild in der Osservanza
und die Madonna mit dem großäugigen
Christuskind von Sano di Pietro eben¬
daselbst neuerdings ungeteilte Bewun¬
derung. Auch die Verkündigung von
Giovanni di Paolo in der Benson-Samm-
lung (B. F. A. C. Nr. 30) gehört in diese
Kategorie stimmungsvoller Heiligenbilder.
Trotz ungeschickter Formenbehandlung
wird sie wegen ihrer Farbenpracht, der
feinen Architektur, der liebevollen Dar¬
stellung von Gräsern und Blumen als
ein höchst anziehendes Bild hervorge¬
hoben. Überhaupt zeigt dieser siene-
sische Quattrocentist eine unbegrenzte
Imagination, die ihn dermaßen mit sich
fortreißt, daß seine Zeichnung öfters
flüchtig erscheint. Er erzielt mit seiner
ihm eigenen naiven Darstellungsart
Wirkungen, die uns wie japanische Kunst anmuten,
wie z. B. seine Vertreibung aus dem Paradies (Saal
XXXIV, Nr. 13) und sein Sturm (Saal XXXV, Nr. 7)
aus der Palmieri Nuti- Sammlung. Wir sehen ein
Schiff mit gebrochenen Masten und Segeln, darauf
eine schreiende Masse von furchtsamen Menschen;
in den Lüften aber erscheint schon der hl. Bernardin,
der die stürmenden Wellen im Handumdrehen in
wogende Wiesen verwandelt hat.
Matteo di Giovanni, der produktivste, wenn nicht
der bedeutendste, sienesische Quattrocentist, ist mit
einem bisher nur wenig bekannten Heiligenbild (Saal
XXXIV, Nr. 11) aus der Kirche Santa Eugenia ver¬
treten (Abb. 11). Von großem Liebreiz, und nicht
ohne Anflug von Realismus, ist die blondgelockte
Heilige rechts von der Madonna, mit dem Perlen¬
schmuck im Haar. Auch sein bethlehemitischer Kinder¬
mord, dem Gabriel d’Estree ') so viel abzugewinnen
weiß, ist unvernünftigerweise aus der Kirche San
Agostino, wo das Bild in gutem Lichte zu sehen
war, in den Ausstellungsraum gebracht worden, und
seine Wirkung weniger vorteilhaft erscheint. Wenn
je eine Tat in ihrer ganzen abstoßenden Grausamkeit
geschildert worden ist, so ist es dieser Kindermord
des Matteo. Mit hohnlaehender Wut stürzen sich
die Henkersknechte auf die zarten Kindlein und unter
die schreienden Frauen, um im Totschlag zu schwelgen.
Befriedigt grinsend sieht König Herodes dem schauer¬
lichen Vorgang zu, während ein Mädehen und vier
Knaben von den Säulenbogen des königlichen Palastes
lachend und aufs höchste amüsiert zusehen. Nur ein
Mann, der nachdenkend aus dem Bilde rechts den Be¬
schauer fixiert, scheint der grausigen Szene entrückt
io6
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
zu sein; man hat das Gefühl, daß man es hier mit
einem Porträtkopf, der vielleicht auf Matteo di Gio¬
vanni selbst zu führen wäre, zu tun hat. Ebenso
ließe seine hl. Barbara zwischen den musizierenden
Engeln, ein anderer -ndividualisierter Kopf, auf seiner
Anconr ir: der Kirche San Domenico wohl auch
auf riii Porträt scliließen. Ob nun verglichen mit
diese;' der weibliche Profilkopf aus der Mondschen
Satnr.diiiig in London (B. F. A. C. Nr. 4) eine gewisse
Annäiieiu ig hat und somit, wie im Katalog nahe
gelegt wird, von der Hand Matteos wäre, bleibt
allerdings eine unbeantwortete Frage, zu deren Lösung
die nötigen Anhaltspunkte nicht vorhanden sind.
Ein anderes Frauenporträt (B. F. A. C. Nr. 52) wird
ebendaselbst dem Girolamo di Benvenuto zuge¬
schrieben, einem Maler, der bis ungefähr 1524 lebte
und somit zwei Jahrzehnte an der Seite Sodomas in
Siena war, ohne merkwürdigerweise sich von dem beherr¬
schenden Genius dieses großen Künstlers im geringsten
beeinflussen zu lassen. Wenn dieses Porträt, das übrigens
stark restauriert ist, wirklich von Girolamo, dem
Schüler Benvenutos, sein sollte, so hätte dieser hier
vielmehr auf Simone Martini zurückgegriffen, dem es
als Porträt der Laura früher zugeschrieben war. — Ein
unbestrittenes Bild Girolamos ist dagegen das Lünetten¬
bild (Saal XXlII.Nr. 1 2), welches die Abreise aus Avignon
von Papst Gregor XL in Begleitung der Caterina von
Siena darstellt. Er sowohl als sein Vater Benvenuto liebten
es, ihren Madonnen und Heiligen in reichen kost¬
baren Gewändern darzustellcn und mochten somit jene
hierarchische Kunst weitergeführt haben, die später noch
in den jesuiten-
kirchen so sehr
florierte. Auch von
Giudoccio Cozza-
relli, dem talent¬
vollen Schüler Mat¬
teos, sind auf bei¬
den Ausstellungen
beachtenswerte
Werke vorhanden,
darunter ein ge¬
lungenes Genre¬
bildchen (Saal
XXXIV, Nr. 34),
Zisterzienser Mön¬
che darstellend, die
sich mit dem Auf¬
bau einergotischen
Kirche befassen.
Mit diesem Giu¬
doccio darf übri¬
gens der Architekt
und BildhauerGia-
como Cozzarelli
nicht verwechselt
werden: von ihm
ist die Statue des
hl. Sigismund (Saal
VIII, Nr.30), ebenso
ABB 9. BACCHUSSTATUE VON FEDERiGHi die kniende Johau-
nesfigur (Saal IX, Nr. 10), die zu der Gruppe seiner
Pieta in der Osservanza gehört, aber merkwürdiger¬
weise jetzt im Dommuseum aufbewahrt wird. Be¬
merkenswert sind in demselben Saal die zwei Ver¬
kündigungsstatuen (Saal VIII, Nr. 44 — 45) aus dem
1 5. Jahrhundert, die wohl auf Giovanni di Stefano, einem
Neffen von Sassetta, zurückzuführen sind. Haben doch
die hochgeschürzten eleganten Figuren eine auffallende
Ähnlichkeit mit der dienenden Mädchengestalt, die
durch die offene Tür hereintritt, in Sassettas Ancona
von Asciano. Es dürften hier vergleichsweise Gio¬
vanni di Stefanos, Bronzeengel auf dem Hochaltar der
Kathedrale hinzugezogen werden, sowie seine Mar¬
morstatue des hl. Ansano in der Kapelle von San
Giovanni im Dom. Von Federighi, einem sienesischen
Bildhauer jener Zeit, der zuweilen die Antike sklavisch
nachzuahinenwußte,wiez.B. in der kleinen Bacchusstatue
aus dem Hause d’EIci (Saal II, Nr. 311) ist die höchst
realistisch aufgefaßte Mosesstatue im Treppenhaus, die
dermaßen individualisiert ist, daß man den Eindruck
hat, man hätte es mit einem Porträt aus dem Ghetto
zu tun. Bartolomeo Landi, genannt Neroccio, war
Maler und Bildhauer zugleich. Von ihm ist die in Siena
so beliebte Holzstatue der hl. Caterina von Siena (Saal IX,
Nr. 1, Abb. 3), die verglichen mit seiner überaus klas¬
sisch aufgefaßten Marmorstatue der Caterina von Alexan¬
drien im Dom sehr realistisch und individualisiert er¬
scheint. Die Provenienz der bisher dem Mino da Fiesoie
zugeschriebenen Madonnenbüste aus der Palmieri-Nuti
Sammlung wird wohl vorderhand noch eine offene
Frage bleiben. Der feine, auf langem Halse sich wiegende
Kopf, der sich leise zur Seite neigt, dürfte aber allerdings
auf sienesischen Ursprung zurückzuführen sein, obwohl
andererseits ein Anklang an Mino da Fiesoie nicht
zu leugnen ist. Während Neroccio als Bildhauer
schon der Renaissance angehörte, so blieb er als
Maler mit seinen süßlächelnden Madonnen ein noch
mit den Trecentisten liebäugelnder Sienese. Er, sowie
sein Mitarbeiter Francesco di Giorgio, waren Schüler
des Vecchietta, der als Bildhauer unter dem Einfluß des
Donatello stand, wie diesaus seiner vergoldetenjohannes-
statue (Saal IX, Nr. 5) hervorgeht. Die Bilder Neroccios
sind meist Kirchenbilder, Madonnen mit langge¬
streckten Fingern, überschlanken Hälsen und feinen
Köpfchen. Eines seiner bedeutendsten Werke, das er
wohl gemeinschaftlich mit Francesco di Giorgio ge¬
malt haben mag, ist die Madonna mit dem Christkind
zwischen Johannes dem Evangelisten und dem hl.
Michael (Saal XXXV, Nr. 16) (Abb. 10) in schön ge¬
schnitztem, mit Grisaillen von tanzenden Putten orna¬
mentiertem Rahmen.
Mit der Neige des 1 5. Jahrhunderts fand ein plötz¬
licher Umschwung in der sienesischen Malerei
statt, durch die Erscheinung von fremden Künstlern
wie Pinturricchio, Signorelii und besonders Sodoma
welche durch sienesische Mäcene, die in Rom und
Mailand verkehrten, herbeigezogen wurden. In der
sogenannten Sala Grande della Signoria, wo die Decke
mit Fresken später sienesischer Künstler des 17. und
18. Jahrhunderts, wie Francesco Vanni, Salimbeni,
Rustici usw. bemalt ist, sind Bilder von Fungai,
DIE AUSSTELLUNGEN ALTER SIENESISCHER KUNST IN LONDON UND SIENA
107
ABB. 10. MADONNENBILD VON FRANCESCO Dl OIOROIO
UND VERROCCHIO
ABB. 11. HEILIGENBILD VON MATTEO DI GIOVANNI
AUS DER KIRCHE SANTA EUGENIA IN SIENA
Photographie von H. Burton
Matteo Balducci, Pachiorotto, Girolamo del Pacchio,
Domenico Beccafumi ausgestellt, Meister, in denen
der Einfluß dieser hergebrachten neuen Richtung
klar hervortritt. Auch von Andrea Brescianino,
einem sienesischen Maler, der besonders unter um-
brischem Einfluß stand, ist ein anmutiges Ma¬
donnenbild auf der sienesischen Ausstellung vorhan¬
den, das stark beeinflußt erscheint von dem Raffael
aus dem Hause Orleans, genannt La Madonne avec
l’Enfant debout, dasselbe, das vor einigen Jahren auf
der Altmeister- Winterausstellung in London Aufsehen
erregte und jetzt in der Makintosch- Sammlung ist.
Sehr zahlreich sind die Werke von Beccafumi vertreten,
ein Maler, der zwei Jahre lang in Rom die Antike,
Raffael und Michelangelo studierte, und nach seiner
Heimkehr mit Sodoma zu wetteifern versuchte. Ganz
raffaelisch sind seine beiden Madonnen im Saal XXXVll,
während sein hl. Michael, der den Luzifer verjagt, ein
zwar farbenprächtiges, aber grotesk erscheinendes Bild
ist. Girolamo del Pacchia, der begabte Mitarbeiter
Sodomas, ist nicht mit seinen besten Bildern vertreten.
Nennenswert ist seine Verkündigung, und eine von
Putten umgebene Venus (B. F. A. C.), die stark an
eine dem Sodoma zugeschriebene Frauengestalt,
(eine Personifikation von Siena darstellend) erinnert.
Interessant ist es, neben dieser von Sodoma in¬
spirierten Malergruppe auch Bilder dieses Meisters
selbst zu sehen, wie uns auf der Ausstellung in
Siena Gelegenheit geboten wird. Von seinen zahl¬
reichen Werken sind zwar nur wenige, und nicht
die besten , ausgestellt worden. Sein » Kreuz¬
tragender Christus« (Saal XXXVll, Nr. 2) aus der
Contradenkirche della Torre ist leider sehr ruiniert;
auch seine »Geburt der Maria« aus der Karmeliten-
kirche ist in wenig gutem Zustand, vielleicht ein
Grund, weshalb im Katalog diese beiden Werke des
Meisters irrtümlich als Schulbilder bezeichnet worden
sind. Von großer Schönheit und tiefer religiöser
Stimmung ist dagegen sein »Toter Christus« zwischen
zwei Engeln aus der Kirche S. Donato (Saal XXXVl,
Nr. 26), eine sogenannte Testata di Bara, dazu bestimmt,
den Sarg eines Toten zu schmücken. Obwohl Giov.
Antonio Bazzi genannt Sodoma, Vercellese von Geburt
war und der Lombardischen Schule angehörte, so
war ihm doch Siena zur eigentlichen Heimat geworden;
und ist es nicht zu leugnen, daß in seinen dort entstan¬
denen Werken öfters ein entfernter Einfluß der großen
sienesischen Meister desTrecento nicht nur, sondern auch
desjacopo della Quercia sich bemerkbar macht. So hat
z. B. seine Caritas in Berlin eine unverkennbare Ana¬
logie mit der Freistatue der Acca Laurentia auf der
Fonte Gaia; ein Umstand, der Vasaris Erzählung,
»daß der junge Sodoma, als er zuerst nach Siena
kam, oft müßig ging und nur darauf bedacht ge¬
wesen sei, Zeichnungen nach den Brunnenfiguren
Jacopo della Quercias zu machen , bestätigen würde.
Auch zeigt seine Eva in der Vorhölle, die neben seiner
Roxane wohl die anziehendste weibliche Gestalt ist,
welche Sodoma geschaffen, einen nicht zu leugnenden
Anklang mit der obenerwähnten Eva Quercias auf dem
MARGARETE BRAUMÜLLER-HAVEMANN
1 o8
Briinnenrelief. Wie groß andererseits Sodomas Ein¬
fluß auf die sienesische Malerschule des i6. Jahr¬
hunderts war, können wir hier nicht näher er¬
örtern; doch 'löchien wir in diesem Zusammenhänge
nur noch Baliliasar Peruzzi erwähnen, der als Architekt
große Berülimtheit erlangte und sowohl von Pin-
turricchioals besonders auch von Sodoma beeinflußt war.
Sehr beachtenswert ist sein aus der Kirche San Ansano
a Dofano (Saal XXXVl, Nr. 14) stammendes Madonnen¬
bildchen Jnit dem stark an Bazzi anklingenden
munteren Christuskinde. Es ist von vollendeter
Technik und erinnert in seiner Farbenharmonie an
das Porträt von Alberto Pioda Carpi in der Mondschen
Sammlung (B. F. A. C, Nr. 61). Der schöne archi¬
tektonische Hintergrund auf diesem Bilde, mit einem,
laut Inschrift, dem Gott Dionysius geweihten Tempel,
deutet allerdings auf einen Meister, der wie Peruzzi
mit architektonischen Linien vertraut war. Mit ihm
stirbt der letzte große Künstler Sienas.
Auch an kunstindustriellen Werken bieten die siene-
nesischen Ausstellungen viel Bemerkenswertes. Leider
erlaubt uns der Raum nicht, eingehend auf die inter¬
essanten Medaillen von Pastorino Pastorin! einzugehen,
die uns eine Reihe interessanter Männer und Frauen
der Zeit vorführen. Auch die in Siena entstandenen
Majoliken, die auf beiden Ausstellungen in schönen
Exemplaren vorhanden sind und auf eine bedeutende
Porzellanindustrie schließen lassen, die schon im
1 3. Jahrhundert ins Leben gerufen war, können wir leider
nur eben erwähnen. Zum Schlüsse müssen wir aber
noch einige der zahlreichen Manuskripte hervorheben,
welche in dem von Beccafumi- Fresken dekorierten
Saal VII zusammengebracht worden sind: in erster
Linie wäre eine Biblia Sacra aus dem 1 2. Jahrhundert
zu erwähnen, mit byzantinischen Initialen und Ara¬
besken auf Goldgrund; ferner eine Arbeit aus dem
1 4. Jahrhundert (Nr. 20), die besonders beachtenswert
erscheint wegen der schönen Miniaturen im Stil Simone
Martinis. Hochinteressant ist auch der Kodex Caleffo
delP Assunta (Nr. 29) aus dem Staatsarchiv mit seinem
herrlichen Frontispice der Himmelfahrt der Maria, die
in einer Mandorla, von zahlreichen Engeln umgeben,
dargestellt ist; es ist dies eine überaus feine Miniatur
auf Goldgrund, die überdies folgende mit gotischen
Buchstaben geschriebene Signatur trägt: Nicolavs Ser
Sozzi de Senes me pinxit anno 1334 und einen Beweis
liefert, daß auch die Miniaturmalerei in Siena sich zu
hoher Blüte entfaltete. LOUISE M. RICHTER.
TEIL DER RESTAURIERTEN FONTE OAIA IN SIENA
MARGARETE BRAUAAULLER-HAVEMANN
Seitdem Otto Eckmann, durch die Japaner an¬
geregt, mit seinen Farbenholzsclmitten exzellierte,
hat sich in Deutschland eine Reihe jüngerer Kräfte
mit besonderer Vorliebe diesem Zweige der graphischen
Kunst zugewandt. Besonders in München kämpfen
seit einigen Jahren tüchtige Künstler, an ihrer Spitze
die Brüder Ernst und Hans Neumann, eifrig dafür,
daß der Farbenholzschnitt als gleichberechtigtes Sammel¬
objekt neben die Radierung eingesetzt werde. Die
Mappen der Sammler und Kabinette haben sich denn
auch in letzter Zeit mehr und mehr dem Farben¬
holzschnitt geöffnet.
Aus der Schule von Ernst Neumann ist Margarete
Braumüller- Havemann hervorgegangen. Sie ist in
Mecklenburg gebürtig und hat sich zuerst im An¬
schauen der weiten wald- und wasserreichen Ebene
ihres Heimatlandes gebildet. Seit sie sich vor einigen
Jahren in München mit dem Holzschnitt beschäftigte,
ist sie dieser Technik ganz ergeben und hält sie für
das geeignetste Ausdrucksmittel ihrer Begabung. Wie
das amüsante Blatt, das wir hier von ihr bringen,
zeigt, ist der Künstlerin ein verfeinertes Farbenempfinden
und eine sichere Schnittführung eigen. Neuerdings
wohnt Margarete Braumüller-Havemann in Berlin und
läßt sich dadurch anregen, auch kompliziertere Bilder des
großstädtischen Treibens in ihre Technik zu übersetzen.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
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HOLZSCHNITT VON MARGARETE BRAUMÜLLER-HAVEMANN
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EIN HELDENLEBEN
zu ANSELM FEUERBACHS 25. TODESTAGE
Von Hans Mackowsky
JULIUS ALLGEYER gehört zu der Eamilie der
Eckermänner, von denen das Schicksal immer
einen bereit zu halten scheint, wo irgend etwas
Goetheartiges aufragt. Feuerbach hat sein Bildnis
gemalt. Aber das weiche, etwas kraftlose Gesicht des
Durchschnittkünstlers, Vollbart und halblanges Haar,
ist durch eine energische Kopfwendung und einen
blitzenden Seitenblick ins Pathetische gehöht, zum
Feuerbachischen erhoben. Zu diesem Bilde paßt
Allgeyers Leben schlecht. In der Jugend kränklich,
kam er 1856 nach Rom und betrieb dort den lang¬
weilig sauberen Linienstich nach religiösen Vorlagen
gleichgültiger Herkunft. In demselben Jahre lernte
er Feuerbach kennen; mit ihm fand er, was von nun
an seines Lebens Glück und Inhalt wurde. Gegen
den Schluß seines Daseins unternahm er die Bio¬
graphie Feuerbachs. Das Buch erschien 1894, doch
ohne die Originalbriefe, deren Benutzung litera¬
rische Eifersucht ihm damals verwehrte. Er er¬
lebte noch die Freude, dies Hindernis behoben zu
sehen, arbeitete um, gestaltete aus, schaltete ein und
wollte drucken lassen, als er starb. Nun hat Professor
Neumann dies zweite Manuskript, das alles Material
zur Lebensgeschichte Feuerbachs enthält, heraus¬
gegeben ^).
Das Buch ist allerdings so wenig die Biographie
Feuerbachs, wie etwa Schindler die Beethovens hat
schreiben können. Allgeyer war nicht der Geist,
Feuerbachs Wesen frei und groß in sich aufleben zu
lassen. Ein philiströses Bedürfnis nach Reinlichkeit der
Einzelheiten hinderte ihn, dem hinreißenden großen
Zuge, der dieses Leben auf alle Höhen der Tragik
führt, zu folgen. Auch steckt er in moralischen Vor¬
urteilen, die ihn unversehens zum Richter machen,
wo er doch nur Berichterstatter sein soll. Dem treten
aber auch die Vorzüge seiner Art von Biographen
gegenüber: das treue Gedächtnis, das unermüdliche
Sammeln, Aufspüren, Nachforschen und über alles
hinaus die weiblich leidenschaftliche Hingabe an sein
Unternehmen und an seinen Helden. Das Wort
»Held« steht hier mit gutem Bedacht. Je weiter
Allgeyer in seiner Arbeit vorschritt, je reicher sich
ihm der briefliche Nachlaß erschloß, je tiefer empfand
er’s: »es ist bis jetzt das reine Heldenbuch, und ich
glaube, es wird’s bleiben bis zu Ende. Ich muß mich
augenblicklich zu den beneidenswertesten Menschen
rechnen, weil mir vergönnt ist, meine bescheidenen
1) Anselm Feuerbach von Julius Allgeyer. Zweite Auf¬
lage mit den Originalbriefen. Aus dem Nachlaß des Ver¬
fassers herausgegeben von Professor Dr. Karl Neumann.
Berlin und Stuttgart IQ04. W. Spemann. Zwei Bände.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 5
Kräfte einer großen und schönen Sache widmen zu
dürfen.«
Feuerbach selbst hat nicht gewußt, daß in Allgeyer
sein Biograph schon neben ihm herging. Vielmehr
hat er, nach schwerer Krankheit, von einem ernsten
Blick des Todes gestreift, selbst Sorge getragen, daß
sein Mitteilbares auf die Nachwelt kam. Die Frau,
die den Namen seiner Mutter mehr verdient als jene
»schöne stille«, welche daran starb, daß sie ihm das
Leben gab, hat diese handschriftlichen Mitteilungen
redigiert, mit Auszügen aus den Briefen ergänzt und
wenige Jahre nach dem Tode des Stiefsohnes als sein
vVermächtnis« herausgegeben.
Manche von dorther bekannte Angaben werden
jetzt aus den Briefen widerlegt. Das hat Allgeyer zu
einem übertriebenen Mißtrauen gegen das Vermächtnis
überhaupt verleitet. Als aber Feuerbach diese Auf¬
zeichnungen »für seine Freunde und Schüler^ schrieb,
wollte er mehr die Summe seines Lebens ziehen als
den Prozeß vor der Nachwelt eröffnen. Diese Seiten
sollten keine Anklageschrift enthalten, und was dennoch
an Bitterkeit mit hineinfloß, das hat die gütige Frau
bei der Redaktion eher zu mildern als zu verschärfen
gesucht; »mit den fortgesetzten Negationen werden
die Gegner selbst in die Höhe gezogen und stärken
sich an ihrer Gemeinsamkeit«, dachte sie. So enthält
denn dies kurze Vermächtnis mehr, was er geleistet,
als was ihn gehemmt hat. Es ist die Apologie eines
Siegreichen mit dem immer variierten Motiv: und
doch!
In Allgeyers Buch aber weht die Gewitterluft
des Kampfes, der Tragik, des furchtbaren Ringens.
Da sieht man den Helden in der ganzen Pracht seiner
Lebensnöte, im Trotz seines Glückes und in dem
Prunk seines Schmerzes, über alle Höhen und Tiefen
geführt, gerissen, bis er am skäischen Tor fallend
sein Schicksal erfüllt«. Wie hieß sein Feind? Feuer¬
bach glaubte ihn erkannt zu haben. »Was die gütige
Natur mir in die Seele legte, das hat die Härte und
das Unverständnis meiner Zeitgenossen in seinem
Wachstum aufgehalten und verkümmert.« Kam ihm
nie eine Stunde höchster innerer Klarheit, in der er
diesen Irrtum einsah? War er sich im tiefsten selber
zu fremd, um zu verstehen: Gott hat dich nicht ge¬
schaffen zu Pein und Lust — du selber schaffst dich
selber zu Lust und Pein? »Niemand braucht ein
Märtyrer zu sein«, sagt er gelegentlich, »es liegt nur
im Blute«. In seinem Blute lag’s von Anbeginn und
von den Vorfahren her, daß er ein Märtyrer wurde,
nicht der Welt, sondern seiner eigenen Natur. Dieser
große Künstler vermochte nur das eine nicht: sein
Leben in Schönheit zu formen. Eines gab es, die
>5
1 10
EIN HELDENLEBEN
Gegensätze in ihm zu versöhnen, einen himmlischen
Bogen des Eriedens über seine Höhen und Tiefen
zu spannen, Feuerbach wußte wohl, was Humor
ist, und viel Sehnsucht klingt durch die Worte, mit
denen er es sagt. »Der Humor trägt die Seele über
Abgrüncv? hinweg und lehrt sie mit ihrem eigenen
Leid spielen . Er selbst besaß ihn nicht. Er hatte
Schlagfertigkeit, muntere Laune, Geist, Witz, Sarkasmus
und führte wie wenige die scharfe Klinge des Spottes;
aber ruimor besaß er nicht. Und deshalb wurde er
ein Märtyrer, ein tragischer Held, ein großartig Unter¬
gehender. So lehren ihn seine Briefe kennen, dieser
wesentlichste und edelste Bestandteil des Allgeyerschen
Buches.
Ganz lückenlos liegt diese Sammlung nicht vor.
Manches hat die Mutter vernichtet, niemals aus klein¬
lichen Gründen. So oft wirkten des Sohnes Briefe
»wie Dolchstöße« und die Frau, die sich dann »arm
und gedemütigt« vorkam, wollte durch Vernichten
der ärgsten das Gedächtnis daran verwischen. Man
Iiat nicht den Eindruck, daß Wesentliches unterdrückt
wurde, Unersetzliches verloren ist.
Wie spiegeln diese Briefe den Menschen! »Wir
sind und müssen Stimmungsmenschen sein; so kommt
es, daß ich über große Verluste, die mir ferne liegen,
hinwegsehen kann, während kleine Plackereien, die
mir jeder Tag bringt, mir alles rauben, da ich allem
nicht gerecht werden kann . Wenn je einer, war
Eeuerbach Stimmungsmensch mit all den Klippen
und Gefahren, den Abgründen und den Aufschwüngen
solcher Naturen. Der Vater einer seiner flüchtigen
Jugendlieben spöttelte über den jungen Mann mit
den Stimmungen Und wie dieser klare nüchterne
Gelehrtenkopf nur verwöhnte Launenhaftigkeit sah,
wo eine geniale Natur in Jubel oder Schluchzen ihres
Reichtums Übermaß genoß, so stand der vernünftige
Durchschnitt in der behäbigen Sicherheit seines ge¬
sunden Menschenverstandes dem Künstler gegenüber,
immer ablehnend, teils spöttisch, teils verletzt.
Feuerbach aber war eine psychopathische Natur;
sein Problematisches verliert sich ins Gebiet des geistig
Krankhaften. Die Geschichte seiner Familie zeigt, daß
er erblich belastet zur Welt kam. Lauter glänzende
Begabungen, aber mit einem Stich ins Anormale, zu
sinnlosem Jähzorn neigend, grüblerisch und men¬
schenscheu, von einem plötzlichen Tode weggerafft
oder im Wahnsinn verdämmernd.
Bei Feuerbach scheint das Selbstbewußtsein krank¬
haft entartet gewesen zu sein. Das schuf Konflikte,
Zusammenstöße, wo er sich sehen ließ. Schon bei den
ersten Schritten der Selbständigkeit glaubte Schirmer ihn
mahnen zu müssen, dn gesunder, uneitler Weise weder
verzagend, noch trotzend weiterzustreben«. Er duldete
keinen Zwang, weder von Freunden wie Scheffel,
noch von Bestellern, wie dem Grafen Schack, Aber
dies gesteigerte Selbstgefühl war zugleich sein Lebens¬
nerv, in dem seine Spannkraft beruhte. Eine solche
Natur denkt nie an Flucht, an Ende, an Selbstaufgabe.
Kein Seelenkundiger wird auch nur für einen Augen¬
blick den jähen Tod Eeuerbachs im Hotel Luna zu
Venedig mit Selbstmord zusammenbringen. Er starb
schnell, plötzlich geknickt, wie der Großvater und
ein Onkel gestorben sind.
Sein Menschlichstes, seine Eitelkeit, war nur eine
Eolge dieses hohen Selbstgefühles. Eine Schwäche
gewiß, doch keine, die ihn unliebenswürdig macht.
Seine Gestalt war klein und zierlich, sein Gang
rasch und federnd, am meisten fiel der Kopf auf, wo
er sich sehen ließ. Eein durchgeformt, in reiner
Schärfe modelliert, mit den Maleraugen, in denen sich
Beobachten und Träumen ablösen, und mit dem wunder¬
voll dichten Haar, auf das er stolz war, und dessen
Ergrauen er mit Bitterkeit empfand. Er war kein
Aufsteigender, in dessen Zügen eine dumpfe Herkunft
ihre Spuren noch hinterlassen hat, sondern die
letzte zart und fein entwickelte Blüte eines geistigen
Patriziates. Nicht für den brutalen Kampf mit der
stumpfen Welt geschaffen und doch von Gottes
Gnaden ihr Eeind und Angreifer. Ein Apollinisches
umleuchtete ihn. Nicht umsonst trug der Vater, als
der Sohn zur Welt kam, das lichte Bild des vatika¬
nischen Apollo in der Seele, über den er das schöne
Buch geschrieben.
In Eeuerbachs Äußerem war der Künstlertyp der
Zeit mit dem »schönen Mann« vereinigt. Gefährlich
für die Frauen, aber auch gefährlich für ihn selbst.
Seiner Macht über Frauen war er sich wohl bewußt
und freute sich ihrer. Dennoch (oder deswegen?) hat
er Frauenliebe, scheu noch in ihrer Hingabe, geheim¬
nisvoll noch in ihrer Offenbarung, nie gekostet. Der
Künstler in ihm verriet ihn stets an die schöne Form,
an die Gebärde der Leidenschaft. Der Mensch, schwächer
in ihm entwickelt, ging leer aus. Zu Ende der sech¬
ziger Jahre, nach dem Treubruch Nannas, überkam
es ihn hin und wieder mit heißer Not: »ich möchte
Garten, See und eine anständige Frau; an der Seite
einer guten Frau wird es besser; was sind die kleinen
Plackereien des Lebens gegenüber einem einzigen
freundlichen Wort zur rechten Stunde«. Es blieb ihm
versagt, der Garten, der See und vor allem die an¬
ständige Frau. Und schließlich disputierte er sich das
Verlangen, die Sehnsucht selber weg. »Was Heirat
anbelangt, so ist das, was man in Deutschland Ver¬
mögen nennt, für mich nichts. Entweder Reichtum
(allein welche Erziehung dann!) oder nichts.« Er
verzichtete, aber die Leere blieb, und er litt an ihr
sein Lebenlang. Nur Selbsttäuschung, der glänzende
Selbstbetrug einer starken Natur war es, wenn er die
Maske »großartiger Heiterkeit' anlegte. Dahinter sieht
man doch die Verbitterung und den heimlichen Gram.
Diese Künstlerhände waren zu zart und zu fein, um
mit so schwerem Lebensleid zu spielen. Mit dem
Fanatismus der Heiligen hat dieser im Innern wunde
Mann den Menschen in sich getötet, »überwunden«,
wie es in der Sprache der Heiligen heißt, um den
Künstler ganz zu retten.
Für ihn war es keine Redensart von der »strengen,
göttlichen Geliebten«, zu der er seine Kunst erhob.
Wie er ihr diente, stolz und schweigsam, selig ver¬
sunken und qualvoll durchbebt, in unbeirrter Treue,
in nie gebeugtem Trotz, in unerschüttertem Glauben
— das macht ihn groß, macht ihn nicht selten dä-
EIN HELDENLEBEN
r 1 i
monisch. Und manchmal möchte man glauben,
es sei mehr als ein holder Wahnsinn gewesen, der
von ihm Besitz genommen hatte. Hausrath (Er¬
innerungen an Gelehrte und Künstler der badischen
Heimat, S. 163) erzählt, wie den kleinen Anselm mit
zwölf Jahren die erste leidenschaftliche Gemüts¬
bewegung befallen habe vor einem Stück Papier von
so beträchtlicher Größe, um einen lebensgroßen Bar¬
barossa im Kyffhäuser darauf zu zeichnen. Das war
das eine, das in ihm lag, der Zug zum Großen, zum
Kolossalen. Das Lebensgroße war sein Format, und
man schalt ihn anmaßend. Er konnte nicht anders
und schließlich wollte er’s auch nicht. Kompro¬
misse waren nicht seine Sache. Lieber verdarb er
es sich, wie mit dem Grafen Schack, dem er
rund heraus erklärte, die Stoffe hätten ihr Maß in
sich und nicht in der Laune des Bestellers. Werke
mit lebensgroßen Figuren — Iphigenie, Gastmahl,
Medea, Konzert — sind die Träger seines Ruhmes.
Wenn Graf Schack sich bei Frau Feuerbach beschwert,
daß ein großer Teil der für ihn gemalten Bilder
»durchaus nicht so ausgefallen sei, daß sie mich zu
neuen Bestellungen reizen konnten' , so hatte er vielleicht
zu solcher Klage Grund, aber sein Literatengeschmack:
viel Vorgang auf bescheidenem Raum war auch die
Ursache, daß Feuerbach bei einigen dieser Aufträge
hinter dem zurückblieb, was er leisten konnte. Werke,
wie der Garten des Ariost oder die Laura in der
Kirche mit vielen nur handgroßen Figuren lagen
ihm nicht.
Sein Höchstes hat Feuerbach geleistet, wo es ihm
gelang, einen Seelenzustand in einer Figur, die ihn
ganz ausdrückt, zu konzentrieren. Iphigenie — die
Sehnsucht; Medea — die Melancholie. Sparsamkeit
im Figürlichen hieß das zweite Grundgesetz seines
Schaffens. Nicht auf Handlung, auf das reiche, blen¬
dende Geschehen kam es ihm an, sondern auf die
zwingende seelische Kraft, auf die Stimmung. Darin
war er von je Meister gewesen, der »junge Mann mit
den Stimmungen«. Für ihn hieß künstlerisches Schaffen
Herausstellen der eigenen Empfindung. Sich selbst
befreien von einer Last, von dem Zuviel eines Glückes,
von der Einsamkeit des Genießens, des Schauens,
Erlebens, das wollte er. Bekenntnis ablegen von
innerem Reichtum, auch von innerer Not. Auf Musik
und Lyrik stand sein Talent, und er glaubte Epiker
und Dramatiker zu sein. Wollte er seine Produktionen
einordnen in einen der landläufigen Schulbegriffe, so
fand er keinen anderen als Historienmalerei. Er fühlte
wohl, daß sich das nicht deckte, und so dehnte er
den Begriff für seinen Zweck aus. »Die echte Historie
muß in erster Linie das Epische, menschlich Große
festhalten, gleichviel in welchem Kostüm sie sich be¬
wegt. Ein geistvolles Porträt der Neuzeit in moderner
Kleidung kann somit im besten Sinne des Wortes ein
Historienbild genannt werden«. War es wirklich das
Übelwollen der Zeitgenossen, wenn sie diese Definition
ablehnten? Geschichte und Geschehen, das hing für
sie eng zusammen. Aber auf Feuerbachs Bildern
geschah nichts. Da war Iphigenie, statuenhaft un¬
bewegt am Meeresufer sitzend, mit dem halbver-
schatteten Kopf, als zögen Sehnsucht und Schwermut
über sie hin. Und das Griechenschiff? fragten die
Leute. »Öd und leer das Meer.« . . . Dann kam das
Gastmahl. Und sie fragten: wo ist Platon? Und
weiter suchten sie nach Sokrates und zerbrachen sich
den Kopf über den Lorbeergekrönten, Weißgewandeten,
der so auffällig den Mittelpunkt der Komposition ein¬
nahm. Agathon? Wer ist Agathon? Man war bereit
zuzuhören, aber da mußte auch einer erzählen können
wie Lessing, Piloty, Makart. Aus ihrer aller Herzen
kam, was Lessing früh schon von Feuerbach meinte:
»Talent hat Feuerbach reichlich für zehn andere, wenn
er nur endlich zur Einsicht kommen und vernünftige
Dinge malen wollte«. Vernünftige Dinge waren Huß
vor dem Scheiterhaufen, die Ermordung Wallensteins,
Venedig huldigt Katharina Cornaro. In all dem
konnte Feuerbach nichts sehen als das ihm verhaßte
Theater. Rücksichtslos zog er zu Felde gegen die
»verhängnisvolle Verwechselung der Grundprinzipien
unserer Kunst, daß lebensgroße theatralisch aufgeputzte
Genrebilder als Historienbilder aufgetischt werden«.
Die Zeit, in der Feuerbach sein Reifstes schuf, ist in
Deutschland die Periode der Verwilderung der Form
zu gunsten einer überwältigenden Farbigkeit, die kolori¬
stische Reaktion auf die formale Dürre der Kartonzeichner.
Sie macht sich Luft in einer barbarischen, indianer¬
haften Freude am Prunkenden, Glänzenden, in die
Augen Funkelnden. Ihr höchster Ausdruck, nach der
Seite der Vollendung wie der Entartung, ist die Kunst
Richard Wagners. Aber die seelische Musik Feuer¬
bachs hat Mozartischen Klang. Die derben Sinne und
der unwählerische Geschmack Wagners fehlten Feuer¬
bach. Ihm fehlte auch das Zupacken, Vollstopfen,
das Überwältigen durch die Masse. In Wagner, wohl
verstanden als Vertreter des unbewußten künst¬
lerischen Wollens der Zeit, und Feuerbach stand Un¬
versöhnliches im Kampfe: Brunst und Keuschheit,
Willkür und Gesetz, Macht und Gewissen. Oder, um
den Gegensatz kulturhistorisch zu benennen, Barbar
und Hellene.
Nur einmal hat Feuerbach eine wirkliche Historie,
einen im Sinne Lessings »vernünftigen Gegenstand«
gemalt. Das war schon gegen das Ende seines Lebens,
als ihm die Nürnberger Handelskammer auftrug, für
ihren Sitzungssaal Kaiser Ludwig den Bayer dar¬
zustellen, wie er der Stadt Nürnberg Privilegien er¬
teilt. Man muß annehmen, daß Feuerbach mit der
Lösung dieser Aufgabe ein Musterbeispiel geben
wollte, wie derartiges zu malen sei. Vor allem nahm
er Rücksicht, das Gemälde architektonisch dem Raum
einzuordnen, den es schmücken sollte. Er kom¬
ponierte es als einen langen Fries und hielt alles
kostümlich Realistische, alles Vorlaute der beliebten
theatermäßigen Wirkung zurück. Das spezifisch Hi¬
storische des Ereignisses mit seiner begrenzten lokal¬
geschichtlichen Bedeutung sollte nach des Künstlers
Absicht in dem typischen Vorgang einer feierlichen
Huldigung ganz untergehen. Die Figuren, zu Repräsen¬
tanten gehöht und verallgemeinert, stehen in gedämpfter
Farbigkeit gegen den matten Goldton des Hinter¬
grundes. Nur die Burg von Nürnberg weist an
15*
1 1 2
EIN HELDENLEBEN
Stelle der sonst breit geschilderten landschaftlichen
Szenerie in einer symbolischen Art auf den Ort der
Handlung<^ hin. Adle Bewegung ist maßvoll und edel:
ein hoheitsv des Thronen, ein feierlich huldigendes
Hera'.; ’ ’-piten. Keine kostümgeschichtliche Belesenheit
inaci -, si h bi pit, die Figuren sind nicht die Träger kost-
b.Trer Stoffe, sondern der verschieden gestaltete Ausdruck
^T.er '^esiiich hohen Stimmung. Auch der Humor in
dem Dickbauch vom Bäckermeister zerreißt nicht mit
breitem Grinsen die getragen hinschwebenden Feier¬
klänge, wie etwa Wagner mit der grotesken Albern¬
heit der fein angelegten Figur Beckmessers sich die
Festfreude des letzten Meistersingeraktes verdarb.
Feuerbach durfte von Glück sagen, daß er nicht auf
ungeheuchelte Ablehnung, nur auf ein eisiges Schweigen
stieß. Den Deutschen liegt Repräsentation im Sinne
der italienischen Kultur vor allem fern. Sie sind ge¬
gebenen Falles steif und hölzern; das Bewußtsein
des gehobenen Augenblickes läßt ihren natürlichen
Mangel an Haltung oft in lächerlicher Weise hervor¬
treten. Was Feuerbach ihnen da als Festgesang vor¬
trug, war nicht Musik für ihre Ohren; ihr patriotisches
Herz schlug nur höher, wenn sie immer wieder hörten
vom Reich, das uns doch bleiben soll«.
Der kleine Hynais, Feuerbachs Schüler von Wien
her, hatte es schnell heraus, weshalb man sich
gegenseitig nicht verstand: Zur Beurteilung dieser
Werke gehört ein hoher Bildungsgrad, der hier nicht
ist . Die überragende Bildung — das war das dritte,
was Feuerbach um den lebendigen Zusammenhang
mit den Zeitgenossen brachte und damit um die An¬
erkennung, ohne die auch die stärkste und trotzigste
Kraft allmählich erlahmt. Die Deutschen mit ihrem
anmaßenden Bildungsprivilegium stehen dennoch einer
wahren und tiefen Bildung immer ablehnend gegen¬
über. Sie vertragen es nicht, daß ihnen jemand den
Unterschied zwischen Belesenheit und Wissen, zwischen
Buchweisheit und geistigem Besitz demonstriert. Immer
rächt sich der Bildungsphilister an dem wahrhaft Ge¬
bildeten, noch dazu wenn dieser ein Künstler ist. Ein
Künstler und gebildet? da blinzelten sie mit heim¬
licher Bosheit. Gebildet sagten sie und gelehrt ver¬
standen sie darunter.
Feuerbach war kein gelehrter Kopf, aber ge¬
bildet, voll von edelster Kultur und feinstem Ge¬
schmack. Poesie, bildende Kunst und Musik waren
in seinem Elternhause heimisch. Als der kleine Anselm,
siebenjährig, krank am Typhus lag, saß der Vater
täglich eine Stunde an seinem Bett und erzählte dem
Knaben in seiner plastisch weichen Art die Leiden
des Odysseus. Die Flaxmannschen Blätter lagen dann
immer auf der Bettdecke. Die Sonne Homers schien
warm und begeisternd schon in seine Kindheit. Als
der Vater dann von seiner späten Fahrt nach Italien
melancholisch und von schwerer Erkenntnis müde
als ein ziemlich stiller Mann« heimkehrte, brachte
er Gipse, Münzen und Stiche nach Michelagniolo mit,
und auf den Zwölfjährigen begann nun ganz unbewußt
diese edle, formvollendete und gewaltige Kunstwelt zu
wirken. Daneben erklangen Mozart, Haydn, Beethoven.
Der Vater hatte zwar seine Harfe mit zerrissenen Saiten
für immer in eine Ecke des Studierzimmers gestellt;
um so häufiger aber saß er neben der Mutter am
Flügel. Frau Feuerbach war eine tief musikalische
Natur; ihr Lieblingsmeister wurde später Brahms, der
ihr in Verehrung ihres Sohnes sein Chorwerk über
Schillers Nänie gewidmet hat. Wie oft mag sie sich mit
diesen Tönen am Flügel darüber getröstet haben, »daß
das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt«! Feuer¬
bach selbst scheute das technische Lernen, aber sein Ohr
war gebildet auch für die in Tönen sich offenbarende
Formung des Schönen. Zudem besaß er einen wohl¬
klingenden Tenor. Mit Allgeyer, Böcklin und Begas
hatte er in Rom sein Gesangsquartett, das sich gern
in dem alten Lokal des deutschen Künstlervereins über
den rauschenden Wassermassen der Fontana Trevi
hören ließ. Aber weit mehr verraten seine Bilder,
daß ein Musiker in ihm lebte. Ein zartes Getön
herrscht auf vielen seiner Gemälde. Der sehnsuchts¬
volle Gesang einer Geige, die Vogellaute der Flöte,
das Geschwirr von Guitarre und Mandoline hallt aus
ihnen heraus. Und mehr als dies Äußerliche; seine
Kompositionen haben ein inneres musikalisches Tempo,
wobei er ein ruhig schreitendes Andante bevorzugt,
das sich bis zu einem schweren Largo verlangsamen
kann. Der Fluß seiner Linie hat Musik; wie oft
scheint in ihr eine elegische Melodie eingefangen!
Gleich musikalischen Modulationen behandelt er die
Ausweichungen des Umrisses. Auch der Musiker
in Feuerbach ist Anti -Wagnerianer. Sein lebendiges
Formgewissen, seine Sehnsucht nach Harmonie und
Heiterkeit drängte ihn zu Mozart. Musik heilte ihn,
wie Shakespeare seine Helden durch Musik zu neuen
Taten genesen läßt. Raffaels Cäcilie gehörte zu seinen
Lieblingen. Wie sie dasteht über den zerbrochenen
Instrumenten, während unerhört glückselige Klänge
aus den offenen Himmeln zu ihr niedersteigen, das
ergriff ihn immer aufs neue. »Es ist ein Friede in
dem Bilde, den wir unruhigen Modernen weder nach
außen noch nach innen erjagen können«, schreibt er
an die Mutter, nachdem er wieder einmal in Bologna
lange vor dem Gemälde zugebracht.
Seine Lektüre blieben die Alten, Homer, Platon,
Dante, Ariost, Cervantes. Vor allem auch die Bibel.
Neben ihr galt ihm der Don Quichote als ein »Buch
der Bücher«. An Goethe und Shakespeare erholte
er sich in Zeiten der strengen Arbeit. Wenn er ruhte
oder müde war, griff er zu leichter Kost, gern zu
modernen fränzösischen Romanen, deren schwächere
noch die graziöse Form zu wahren wissen. Der
starke bühnenwirksame Zug bei Schiller stieß ihn ab;
vielleicht witterte er darin schon den Keim zu den
»theatralisch aufgeputzten Genrebildern«, die seine Zeit
ihm als große Historie vorsetzte. Theoretischen
Schriften war er abhold; vergebens würde man bei
ihm ein philosophisches Werk gesucht haben. Wenn
er mit tiefer Rührung bei seinem ersten römischen
Aufenthalte seines Vaters »Vatikanischen Apollo« las,
so war es auch in diesem Buche neben der kindlichen
Pietät die Künstlernatur, die aus seinen Seiten ver¬
traut redete und ihm die Lektüre zu einem »stillen
Glück und einer Seelenarzenei« machte.
EIN HELDENLEBEN
313
Welches Land der Welt, wenn nicht das alte
Kulturland Italien, hätte diesem reichen und tiefen
Geiste Anregung und jene Abgeschiedenheit bieten
können, in der allein große Werke reifen? Feuerbach
war nur gehorsam dem »Gesetz, nach dem er ange¬
treten«, als er in Rom seine Werkstätte aufschlug.
Denen daheim aber schien diese Übersiedelung wie
eine herausfordernd stolze Abkehr von den berech¬
tigten Ansprüchen des Lebens, und die Entfremdung,
die in siebzehn langen Jahren zwischen ihn und sein
Vaterland trat, war das letzte, was die Katastrophe
herbeiführte.
Ohne diese Vereinsamung in Rom aber wäre
Feuerbach nie geworden, was er ist. Schon bei
seinen ersten Schritten auf italienischem Boden fühlte er,
daß er seines Geistes Muttererde unter den Füßen hatte,
ln Rom ward ihm das letzte und höchste Glück, das
dem Künstler beschieden sein kann: er fand sich
selbst und drang in immer erneuten Siegen über das
trotzige und verzagte Menschenherz zu der großartigen
Heiterkeit« vor, die er als den Inhalt seiner Kunst ge¬
kennzeichnet hat. Nicht als die Folge eines glücklich¬
sanguinischen Temperaments wollte er diese Heiterkeit
geschätzt sehen, sondern als Ausdruck einer schwer
errungenen Ruhe. »Ruhe ist das, was den Künstler
macht«, schrieb er damals. Kein Pessimismus, kein
müder Verzicht lag in seiner Lebensphilosophie —
»die ruhende Leidenschaft , das war sein Ideal und
seine Sehnsucht. Den Stempel dieser ruhenden Lei¬
denschaft fand er dem Lande aufgedrückt, das er zum
Wohnsitz erwählt hatte. Und aus den Werken der
alten Meister sahen ihn große ruhige Künstleraugen
an, deren Blick durch alle Trübungen des Daseins
sieghaft durchgedrungen war.
An keinem Meister des ig. jahrhunders hat sich
die stilbildende Kraft eines langen römischen Aufent¬
haltes glänzender bewährt als an Feuerbach. »Wer
nach Rom kommt, heißt es im Vermächtnis, und sich
einbildet. Form zu haben, der wird, wenn er ein ein¬
sichtiger Mensch ist, bald finden, daß er von neuem
sehen lernen muß«. Feuerbach, der als ein Gereifter
mit dem sicheren Besitz der modernen Maltechnik
anlangte, hat dort mit einer Willensstärke ohnegleichen
umgelernt. Seine Bemühungen um die Form galten
vor allem der »positiven Erscheinung« des Menschen,
wie er es nannte. Von dem schönen Schein der
Dinge wandte er sich bewußt ab zur Darstellung des
Notwendigen. Für ihn hieß Bilden, Schaffen nichts
als Auswählen des Unerläßlichen, Weglassen des Über¬
flüssigen, Vereinfachung des komplizierten ersten Ein¬
drucks. An der Natur und den alten Meistern schulte er
sich in unermüdlichem Studium. Er hatte als Modelle
die schöne römische Menschenart um sich, die noch
so viel von dem animalischen Adel aller Kreatur be¬
wahrt hat. Und er blickte hinüber zu den alten
Meistern, zur Antike, zu Raffael und zu Michelagniolo,
die ihm auf dem Wege zur hohen Vereinfachung der
Form vorangewandelt waren. Schon sie hatten mit
ruhigem Meisterauge aus der Verworrenheit der Er¬
scheinungswelt das Ewige, Typische herausgesehen
und sich an der möglichst einfachen Formulierung
des künstlerischen Ausdrucks gemüht. Die moderne
Malerei mit ihrem Hang zum Nebensächlichen, Anek¬
dotischen , zum Beiwerk verlor mehr und mehr für
ihn an Gültigkeit.
Auch seine Farbe vereinfachte er hier in Rom.
ln seiner Jugend hatte Feuerbach als einer der ersten
sich die farbenreiche Palette des neuen französisch¬
belgischen Kolorismus zu eigen gemacht. Dann
war er, schon ein fertiger Meister, noch einmal in
Venedig als ein demütiger Novize bei jener Bruder¬
schaft der echten Farbe« eingetreten, die sich um
Tizian und Veronese scharte. Nun bildete er neben
der eigenen Form auch die eigene Farbengebung
aus. Auch hier ging er streng auf die positive Er¬
scheinung. Er verabscheute die rein konventionelle
Farbe der modischen Historienmaler. Sein Realismus
wollte das Leben im klaren Licht des Alltags, nicht
in dem Rampenflimmer der Kulissen darstellen. Er
verspottete die, welche selbstgefällig ihre koloristischen
Kartenhäuser< bauten. Nach ihm verlangte die Würde
des historischen Vortrages Dämpfung der Farbe, um
das Auge nicht abzulenken vom Wesentlichen auf
Nebensächliches. Er ließ nur jene Farbigkeit gelten,
die die Form rund und deutlich macht, nicht jene
Aufdringlickeit, die das Gestaltete wie mit einem un¬
gehörigen, wenn auch reizvollen Schmuck überlädt.
»Kolorit, sagt er, ist das vergeistigte Spiegelbild der
in der Schöpfung zerstreut umherliegenden Dinge in
ihrer Gesamtheit, ihr verklärter Abglanz in einer
künstlerisch begabten poetischen Seele . Sein Kolorit
sollte nur die Wirkung des seelischen Ausdrucks er¬
höhen, das Dichterische der Intention zu klarer Er¬
scheinung bringen. Er meidet die glänzenden und
leuchtenden Stoffe, die scharfen Schatten, die explo¬
dierenden Lichter. Die Kraft seines Kolorits liegt in
der strengen Einheitlichkeit des Lokaltones, in der
sanften Dunkelheit seiner Verschattungen, in dem matten
Weiß und Gold, mit dem er die Lichtpartien heraus¬
hebt. Auch als Maler ist er Musiker, der die Reize
der mezza voce und des con sordino meisterlich be¬
herrscht. Man denke nur an die graue Morgen¬
stimmung des Symposion oder an den halbver-
schatteten Kopf der Dresdener Madonna, dieses ohne
Widerspruch schönsten Madonnenbildes der neuesten
Kunst. Vielleicht, daß die Nähe der großen alten
Fresken seine viel getadelte graue Periode herbei¬
führte. Mehr aber noch kam das Mißverständnis
zwischen seiner Malerei und dem Publikum daher,
daß niemand in Deutschland die italienische Atmosphäre
kannte, in der das Licht gedämpft und wie von
silbergrauen Olivenwipfeln sanft zurückgestrahlt dahin¬
gleitet.
Aus seiner immer tieferen Einsamkeit entließ Feuer¬
bach ein Jahr ums andere seine Werke nach Deutsch¬
land, stolze und schweigsame Sendboten einer künst¬
lerischen Herrschgewalt, die man nicht anerkennen
wollte. Man fühlte nur, wie viel Selbstsicherheit und
trotzige Verachtung der Mode in ihnen lebte, wie viel
bewußte Abwendung von den Bestrebungen der Mit¬
welt. Und das verzieh die Mitwelt, die von ihren
Künstlern immer umworben werden will, weder den
EIN HELDENLEBEN
1 14
Werken noch ihrem Schöpfer. Man wies auf offen¬
kundige Anlehnung an alte Meister, ohne zu bedenken,
daß ein Maler, der wie Feuerbach inwendig voller
Figur- Vr-' *, Anleihen nicht nötig hatte. Kunsthisto¬
rische ^cl 'ser.heit blähte sich selbstgefällig vor diesen
WerKi auf und sah nicht, wie sehr das tatsächlich
Über '''rr!n’ene innerlich verarbeitet und für den
HiUen 7\veck umgestaltet war. Die akademischen
Mandarinen verhöhnten die gelegentlich mit unter¬
gelaufenen Verstöße gegen Form und Proportion,
während sie ihresgleichen die gefährlichsten Knochen¬
brüche und Gliedverrenkungen, ohne mit der Wimper
zu zucken, hingehen ließen. Sie baten immer wie¬
der Barabbam los, um Jesum zu kreuzigen. Mehr
und mehr befestigte sich das Vorurteil: hier gefalle
sich ein anmaßender Besserwisser in der Rolle des
Hohenpriesters der monumentalen Kunst.
Was wußte man von dem Gesetz, nach dem sich
Feuerbachs Produktion abspielte? Wer erfuhr etwas
von der qualvollen Zeit, in der die Gedanken schliefen,
und die Augen mut- und freudlos nach innen blickten,
des unbefriedigten Geistes düstre Wege zu spähn ?
Irgend eine zufällige Anschauung brachte dann den
lange getragenen künstlerischen Stoff zur Klärung.
Alle meine Werke sind aus der Verschmelzung irgend
einer seelischen Veranlassung mit einer zufälligen An¬
schauung entstanden gesteht Feuerbach selbst. Das
Entscheidende war aber immer der unerwartete Eindruck.
Eine Erau vom Eande, auf den Stufen der Peters¬
kirche gefunden, erweckte ihm die Pieta; der scharf
von hinten beleuchtete Kahlkopf eines einsam zechen¬
den Alten rückte die Welt des platonischen Gastmahls
ihm in die Phantasie. Nun entstand die erste Skizze,
fast immer frisch, hinreißend, mit dem Reiz ver¬
heißungsvoller Größe, der Skizzen aus Meisterhand
eigen zu sein pflegt. Dann folgte das mühsame
Studium nach der Natur, am Modell. Schnell füllten
sich Mappen mit großen Zeichnungen. In einem
Sturm von Leidenschaft ging es schließlich an die Aus¬
führung, wobei das Modell vor der inneren, in so
viel Studien gewonnenen Anschauung zurücktrat. Ein
Arbeitsfieber, eine furia kam über den Meister, deren
Reflex in den Briefen beängstigt. »Ich bin halb toll
vor Müdigkeit — es geht rasend brillant« — »ich
war die letzten Tage unwohl, faule Todesgedanken
und Weinen vor Anstrengung«. Hinzu kam, um die
seelische Spannung zu mehren, daß Feuerbachs Phan¬
tasie, wie man das auch von Beethoven weiß, sich in
einem merkwürdigen Parallelismus künstlerischer Kon¬
zeptionen erging. Während das Gastmahl entstand
mit seinem tief nachdenklichen und heiter erregten
Gruppenspiel, wogte auch schon die Amazonenschlacht
in seinem Gemüt; mit der am düster aufrauschenden
Meere trauernden Medea entstand als Gegensatz
das bukolisch heitere Parisurteil. Man merkt die
Leidenschaft des Miterlebens ebenso sehr wie die
Augenblicke der Ermattung, in der sich der fieber¬
hafte Schaffenstrieb nicht die notwendige Ruhe gönnte.
Dann erlahmt die Vorstellungskraft und die Erinnerungs¬
bilder werden nicht mehr in voller Schärfe und Deut¬
lichkeit wahrgenommen.
Hier hätte eine Ereundeshand den Ermüdeten aus
der überhitzten Atmosphäre der Werkstatt herausleiten,
ein Ereundesauge ihm den bösen Blick leihen müssen,
mit dem jeder Meister einmal sein geliebtes Werk
bedrohen muß. Aber Ereunde hatte Eeuerbach nicht,
und wenn er sie hatte, verstand er nicht sie zu halten.
Nicht daß er ungesellig gewesen wäre, aber die
fromme Tasse Tee der Ereundschaft ersetzte ihm nicht
den Trank, nach dem er uneingestandenermaßen
lechzte. Sein Selbstgefühl verlangte Unterordnung;
wo er sie nicht fand, wandte er sich ab; wo er sie
fand, machte sein Interesse bald der Gleichgültigkeit
Platz. Nur Trauen haben in seinem Leben eine Rolle
gespielt. Er brauchte weibliche Hingabe, die be¬
ruhigende Nähe eines Herzens, das ihn verstand.
Ausruhen und Vergessen suchte er, nicht Beunruhigung
durch Hinweis und Vorwurf.
Wie sein Atelier für jeden Besuch fest verschlossen
blieb, so hat er bald auch die Besuche bei Kol¬
legen eingestellt. Es verdroß ihn, wenn er Mittel¬
mäßiges sah, machte ihn verwirrt, stieß er auf Be¬
deutendes wie einmal bei Böcklin. Auch bei seinen
jährlichen Reisen in die Heimat nahm er von zeitge¬
nössischer Kunst wenig Notiz. Trotzdem hatte er ein
lebhaftes Gefühl für alles Echte und Ursprüngliche,
auch wenn es seiner Richtung schnurstracks zuwider¬
lief. Schwind z. B: hielt er für den ersten und bloß
weil er das Herz bewegt mit seinen Sachen. Ich
kann lernen von ihm, wie man heiter bleibt und ge¬
sund«.
Aber er hat es nicht gelernt. Die Einsamkeit
fraß an ihm und brachte ihm ihre bösen Wunden,
eine nach der anderen, bei: Überschätzung des eigenen
Ichs, Verletzbarkeit, Selbstqual und Mißtrauen. Mit
einem Mal fühlte er’s, wie er’s nicht mehr aushalten
könne »ganz allein mit meinem immer schaffenden
Kopfe , er vermißte »Menschen, die lehrreich sind und
befruchtend«. »Das ewige Zehren an großen Ideen,
ohne als Mensch mit Menschen heiter leben zu können,
wird nachgerade aufreibend.« In seinem schmuck¬
losen Studio vor den großen unverkauften Bildern
brachte er trübe Stunden hin in brütender Melancholie:
Nun sitz’ ich still allein, von einer
Stunde zur anderen, und Gestalten
Aus Lieb’ und Leid der helleren Tage schafft,
Zur eignen Freude, nun mein Gedanke sich.
Und ferne lausch’ ich hin, ob nicht ein
Freundlicher Retter vielleicht mir komme.
Da tat das Schicksal seinen Meisterstreich und half
ihm heraus aus der Versunkenheit ins eigene Ich,
aber nur, um schließlich das Leben selbst zu rächen
an dem, der ihm so lange stolz den Rücken gewandt
hatte. Mit der Berufung an die Akademie nach Wien
setzt die Katastrophe ein.
. . . Ein Mann so hat es ein Dichter einmal
erzählt — trug Liebe zu einem Weibe. Und als die
Stunde kam, da er mit heißem Atem diese Liebe ge¬
stand, fing das Weib an zu lachen, zuerst in silbernen
Tönen, überrascht und geschmeichelt, dann ausgelassen
EIN HELDENLEBEN
115
und toll aus Freude an diesen kecken, gesunden
Lauten, die sich überschlugen, zuletzt rasend und
herzlos, in gurgelnden, halberstickten Schreien, boshaft
und quälend, bis der Mann sich das Leben nahm
zu den Füßen des lachenden Weibes. . . .
So ging es Feuerbach mit Wien. Dies kichernde,
tändelnde, lachende, oberflächliche Wien nahm ihm
den Glauben an den Ernst der Kunst. Dies Wien,
wie es sich in übermütig gesunder Sinnenlust seinem
großen Verführer Makart an den Hals warf, machte
ihn irre an den Idealen, denen er in Einsamkeit und
Schmerzen treu nachgehangen hatte. Feuerbach
stutzte, prüfte und verglich — da feierte alles, was
er gemieden und verachtet hatte, den Sieg: die
übertriebene Größe, die konventionelle Form, die
Schminke und die Sentimentalität des Theaters. Er¬
schüttert liest man die Worte seiner Selbstkritik: »in
meiner Kunst war ich bis jetzt zu einfach, weil
ich nicht glaubte mit Seidenmagazinen konkurrieren
zu müssen; einer prunkhaften glücklichen Zusammen¬
stellung der mnanigfachsten Stoffe der Welt ist schwer
mit meinen Gegenständen stand zu halten. War das
das Leben, so hatte er es mißverstanden von Grund
aus; wenn das der Menschen Sehnen stillte, was
konnte er ihnen bringen! Diese Wunde war nicht
zu heilen, nicht mit der treuen Anhänglichkeit einiger
Schüler, nicht mit dem Vertrauensvotum der Vor¬
gesetzten Behörde. Den großen Deckenbildern für die
Aula der neuen Wiener Kunstakademie sieht man den
Zwiespalt des Künstlers an. Er neigt in ihnen zu
größerer Farbigkeit und zu einer gefälligeren Formen-
gebung. Aber Wien lachte, lachte »vom Professor
bis zum Hausknecht«. Noch in seine italienische
Zurückgezogenheit klang dies tolle, verletzende Lachen.
Der Adel und die Zurückhaltung seiner Natur kämpften
mit seinem Zorn. Und er schreit ihn hinaus in die ge-
ängstigten Ohren der Mutter mit den einzigen unedlen
Worten, die man bei ihm finden kann. »Wenn ich
an die großen Wiener Bilder denke, dann faßt mich
namenloser Grimm, und es wird und wird sich rächen,
das glaube mir, wenn es zu spät ist«.
Wien, wo, wie Lützow sagte, »lauter Weiber«
sind, hatte ihm das eine für immer genommen, ohne
das er nicht schaffen konnte: Stimmung. Er hat sie
auch in Italien nicht wiedergefunden, wie er sie vor¬
dem besaß. Rom wollte er nicht Wiedersehen; das
drückte mit seinem Ernst und seinen Erinnerungen
auf ihn. Auch aus Venedig, das ihn vor zwanzig
Jahren mit seiner Grazie bezaubert hatte, trieb es ihn
mit heimlicher Sehnsucht fort. »Landschaft mit viel
Vieh und wenig Menschen, das ist das wahre Leben,
da stirbt man dann ohne Konflikte, die das Leben
verbittern und nach denen kein Hahn kräht, wenn
man tot ist«. Die Mutter litt seine Qual mit. »An¬
selm dauert mich in seiner stummen Resignation, daß
mir fast das Herz bricht«. Ihn verlangte nach Ein¬
samkeit, wo er nur die Sonne zur Freundin hätte.
»Der Anlauf zum neuen Leben muß jetzt von außen
kommen; Werke sind genug da . Eine Insel im
Lago d’Iseo ward ihm zum Kauf angeboten; er spielte
mit dem Gedanken dort zu sterben und dichtete sich
eine ironisch manierierte Grabschrift. Ein paar Monate
später betteten sie ihn wenige Schritte von Albrecht
Dürer auf dem alten Johanniskirchhof in Nürnberg.
. . . »O, wie wird mich nach der Sonnen frieren!' . . .
Denselben Kampf, den Feuerbach in Rom durch¬
hielt, bestanden dicht neben ihm zwei andere, von
denen er wohl gewußt hat: Hans von Marees und
Arnold Böcklin. Jeder erlebt schließlich den Triumph
oder die Tragödie seines Körpers. Der robuste Böcklin
allein ist Sieger geblieben in dem Kampf mit der
Trivialität des Alltags, in dem die beiden anderen,
schwächer gearteten unterlagen. Wie das Gutachten
des Klinikers klingt, was Billroth einem Freunde
schrieb, als er das Vermächtnis Feuerbachs gelesen:
'Hätte dieser Geist und dieses Talent in einem kräf¬
tigeren Körper gesteckt!
Feuerbachs Kunst mit ihrem großartigen Ernst
kann nie volkstümlich werden. Einen kleinen Kreis
Auserwählter wird sie dafür um so tiefer beglücken,
je länger sie wirksam ist. Von ihr darf man sagen,
was Feuerbach von Raffaels Cäcilie geschrieben: Das
ist Kunst; man wird selbst edler, wenn man es an¬
sieht«. Die Menge wird stets mit blöden Sinnen
vor den großen Leinwänden stehen. Auch darin
trog ihn die innere Stimme, als sie ihn prophezeien
ließ: »Und später, wenn der launenhafte, leicht erreg¬
bare, zaghafte Mensch nicht mehr ist, dann steht eben
die Malerseele rein da und niemand wird fragen, wie
hat er gelebt und gerungen, sondern — was hat er
gemacht' .
Für die Menge ist sein Andenken gerettet durch seine
menschlichen Dokumente, seine Briefe, deren prachtvolles
Deutsch so rein die Stimmung des Augenblicks vermittelt.
Hier wird man ihn als einen Bruder im Leiden und
Irren erkennen, als einen wahrhaft modernen Geist,
der im Kampfe mit der inneren Unruhe sein Leben
verzehrt hat. Die Großartigkeit seines Wollens wird
erschüttern und zur Verehrung hinreißen, wen die
feierliche Unnahbarkeit des Geleisteten kühl läßt. Für
viele wird es ein Trost sein, zu wissen, wie er gelebt
hat und gerungen , um das höchste zu erlangen, was
der moderne Pessimismus dem Menschen zuerkennt:
einen heroischen Lebenslauf.
LILJEFORS. DER JAGER
SAMML. DES PRINZEN KARL, STOCKHOLM
BRUNO LILJEFORS
Von Tor Hedberg in Stockholm
Bruno LILJEFORS’ Großvater, der den jetzt
so berühmten Namen annahm, war ein Bauer,
der Vater, Anders Liljefors, ein Kaufmann in
Upsala. Die Familie der Mutter — sie war die
Tochter des seiner Zeit angesehenen Steinmetzen
Lindbäck — hat wallonisches Blut in den Adern.
Der Großvater soll ein eifriger und sicherer Jäger
vom alten Schlage gewesen sein — dagegen bestand
des Vaters einzige Verbindung mit dem Jagdsport
darin, daß er einen Pulverhandel betrieb. Aber er
besaß eine künstlerische und mechanische Begabung
und war ein leidenschaftlicher Bewunderer Tegners,
den er täglich zu zitieren pflegte. Fr war ein un¬
gewöhnlich starker Mann und erreichte ein Alter von
fast So Jahren.
Bruno, der älteste von vier Brüdern, von denen
auch der Musiker sich einen Namen gemacht hat,
wurde am 14. Mai 1860 geboren. Bis zu seinem
zehnten Jahre war er sehr kränklich, wurde aber
nachher immer frischer und stärker — wozu sein
Leben in freier Luft natürlich in hohem Grade beitrug.
Denn schon frühzeitig äußerten sich bei ihm die
Eigenschaften, die später für sein Leben entscheidend
wurden: Natursinn und Künstlertrieb. Zu kritzeln
und im Walde herumzustreifen — das waren seine
Lieblingsbeschäftigungen. Im Alter von fünf bis zehn
Jahren zeichnete und malte er ein Meer im Sturm,
Schiffbrüche und Helden aus der griechischen Ge¬
schichte. Das Meer, das er damals nie gesehen, hat
ihn später ganz gewonnen — die griechischen Helden,
glaube ich, hat er aufgegeben. Das erstemal, als er
ein Tier im Walde sah, wurde er — wie er mir
selbst erzählt hat — völlig verhext; ebenso als er ein
Vogelnest zu sehen bekam. Besonders reizten ihn
Vögel, die fleckig waren und sogenannte schützende
Ähnlichkeit hatten. Als ein eigenartiger Zug sei hier
erwähnt, daß er, der werdende große Nimrod, lange
Zeit die größte Angst vor dem Schießen hatte, so
daß er nicht einmal in der Nähe zu stehen wagte, wenn
ein anderer schoß. Jedoch nach und nach und durch
eifrige Selbsterziehung glückte es ihm, diese Schwäche
zu überwinden. Seine Waffen waren deshalb lange Zeit
der Flitzbogen oder ganz einfach der geworfene Stein
— keines von beiden zu verachten, sobald sie von
einer geübten und festen Hand geführt werden. Eine
seiner stolzesten Erinnerungen ist es, daß er einst
als Knabe mit nicht weniger als sechs Vögeln heim¬
kehrte, die er mit Steinwürfen erlegt hatte.
Indessen nahm die Schule seine Zeit in Anspruch.
Er besuchte — mit welchem Interesse sei dahin¬
gestellt — die Kathedralschule zu Upsala, jedoch nur
bis zur siebenten Klasse. Sein Abiturium machte er
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BRUNO LILJEFORS
nie. Von der Schule ging er zur Kunstakademie
in Stockholm über, wo er drei Jahre, 187g bis
1882, verblieb. Georg Nordensvan berichtet in
seiner vortrefflichen Arbeit, »Schwedische Kunst im
19. Jahrhundert«, daß er gemeinsam mit einigen
anderen Kameraden wegen der vernachlässigten
Studien von der Akademie gejagt wurde. Dies soll
jedoch nicht der Fall gewesen sein; er ging nach
erteilter Verwarnung freiwillig ab, da er es ziemlich
sinnlos fand, daß er noch ein Jahr — das dritte —
in der »Antike« zubringen sollte. Und darin muß
man ihm wohl Recht geben. Einer im Jahre 1882 — 83
unternommenen Reise nach Bayern, Italien und Frank¬
reich, während deren er unter anderem einige Monate
bei dem Tiermaler Prof. C. F. Deyker in Düsseldorf
studierte, schreibt er selbst keine größere Bedeutung
für seine künstlerische Entwickelung zu. Es würde
auch schwer halten, in seiner künstlerischen Pro¬
duktion, auch der zeitigsten, eine direkte Schul¬
bildung zu entdecken. Am stärksten beeinflußt
scheint er in seinen früheren Erzeugnissen von der
japanischen Kunst. ln der Wahl des Stoffes, der
Begrenzung auf ein kleines, intim aufgefaßtes und
wiedergegebenes »Winkelchen« der Natur, und in
der lebensvollen, den Bewegungsmoment meisterhaft
festhaltenden Zeichnung findet man oft eine ver¬
blüffende Ähnlichkeit. Ein direktes, eindringendes
Studium der japanischen Kunst liegt diesem Umstande
jedoch nicht zugrunde. Gleich so vielen anderen
Künstlern der Gegenwart erfuhr er den Einfluß einer
geistigen Strömung. Die Atmosphäre war damals
sozusagen mit japanischem Kunstsamen erfüllt; wo
er gutes Erdreich fand, drang er ein, wuchs und
schoß in die Höhe. Liljefors studierte die Natur
mit demselben Interesse und zu demselben Zweck
wie die japanische Kunst, und er kam zu dem un¬
gefähr gleichen Resultat. Wie tiefliegend sein Interesse
besonders für die Wiedergabe der Bewegung war,
geht unter anderen aus seinen vorzüglichen Karikatur¬
zeichnungen hervor, die, streng genommen, nichts
weiter sind als Bewegungsstudien.
Während der letzten zwanzig Jahre ist er ununter¬
brochen in seiner Heimat auf dem Lande ansässig
gewesen, zuerst in Qvarnbo in der Nähe von Upsala,
dann in verschiedenen Orten der östlichen Schären.
Es ist eine Art Pionierleben, das er führt, um¬
geben von seiner Familie, seinen Hunden, seinen
zahmen und wilden Tieren, seine Zeit teilend zwischen
dem Walde, der See und dem Atelier, unermüdlich
wo er auch ist. Was er als Jäger und Naturkenner
gilt, davon sprechen seine Jagdkameraden mit Ver¬
ehrung und Bewunderung. Meine Aufgabe ist, zu
schildern, was er als Künstler war und ist.
Er ist auch hier ein Pionier. Wenn ich mit der
Erziehung der Jugend etwas zu tun hätte und die
Macht und Mittel besäße, meine Pläne auszuführen,
würde ich ein Liljeforsmuseum begründen. Ich würde
es jetzt tun, ohne des Künstlers Tod, Begräbnis und
Wiederauferstehung in der Kunstgeschichte abzuwarten,
und nachdem ich möglichst viele seiner älteren und
neueren Arbeiten gesammelt, würde ich in ruhigem
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 5
1 17
Vertrauen auch für seine werdende Produktion Platz
lassen, und zwar einen ordentlichen Raum. Dort
würde ich dann die Jugend hinlocken — auch die
Jugend, deren Haar zu ergrauen beginnt — ich würde
sie sogar bitten, Aug’ und Sinn zu öffnen und sie
nachher allein lassen mit ihrem Kameraden und Lehrer,
dem unermüdlichen Schilderer, Kundschafter und Er¬
zähler von Wald und Feld und Luft und Wasser.
Nirgends würde sie sich besser zweierlei Dinge an¬
eignen können, die imstande sind, Licht über das
Leben zu verbreiten: Liebe zur und Verständnis für
die Natur, Liebe zur und Verständnis für die Kunst.
Sie würde dort den Gang seiner ganzen Ent¬
wickelung verfolgen können: von der einfachen direkten
Naturbeobachtung zu einem immer größeren und
reicheren Naturgefühl, von der Lebensanschauung des
abenteuerlustigen Knaben oder Jägers bis zu der des
phantasievollen Künstlers. Er würde sie erst durch seine
echte strahlende Freiluftnatur, seine Freiheit von jeder
Weichlichkeit, jeder Gefühlsduselei, seinem Reichtum an
Beobachtungen und seinem Interesse für Ereignisse ge¬
winnen. Er zeigt nicht nur die Natur in dieser oder
jener Stimmung, sondern was sich in der Natur ereignet
und geschieht; all die Dramen oder Wunder, die sich
in der Tierwelt abspielen, die unsere Wälder, Haine und
Wiesen noch erfüllen. Seine Künstlerschaft hat in dieser
Periode gerade viel von der Knabenart an sich: Er
streift weit umher, aber er sieht selten weite Horizonte:
einige Stämme oder ab und zu auch bloß einige
Zweige, ein Stück Feld, ein Waldesdickicht oder ein
Schilfbüschel, und innerhalb dieses kleinen Gebietes
ein Ereignis, es mag noch so unbedeutend sein, wenn
es nur Leben und Bewegung in das Bild bringt.
Er malt fast niemals seine Tiere in der Ruhe; was
er mit Vorliebe sieht und wiedergibt, das ist ihre
Bewegung, und das Charakteristische in der Bewegung.
Dies erfaßt sein Blick und bewahrt sein Gedächtnis
mit außerordentlicher Sicherheit, und er zeichnet den
Flug, den Sprung, oder die vorbereitende Muskel¬
spannung so lebhaft wie ein japanischer Meister.
Das ist seine japanische und realistische Periode,
japanisch in der Auffassung und Wiedergabe, realistisch
in dem genauen, sogar minutiösen Studium der Details.
Dann kommt eine Serie von Bildern, in denen
er die Freuden und die Spannung der Jagd, deren
frische Wildnispoesie schildert. Der Horizont er¬
weitert sich, das kleine Stückchen Feld breitet sich
zur offenen Ebene, aus dem Gebüsch wird ein
großer Wald, das Schilfbüschel entwickelt sich zu
binsenbestandenen Seeufern. Die Details werden nicht
mehr so genau wiedergegeben, aber was aufgenom¬
men wird, ist mit dem geschärften Sinn des Jägers
gesehen. Die Natur ist so aufgefaßt, wie sie sich dem
Jäger zeigt, wenn er in der Erwartung der Beute und
schußbereit dasteht. Das Sausen des Windes im Baum¬
geäst, das wechselnde Spiel von Sonne und Schatten,
der Geruch des Feldes nach Moos und Feuchtigkeit
— alles, was seine Umgebung an Form und Farbe, an
Stille und Bewegung aufzuweisen hat, ist in seinem
Bewußtsein gegenwärtig, ohne daß er jedoch irgend¬
wie darauf acht gibt; es erscheint ihm nur als der
16
BRUNO LILJEFORS
1 18
sichtbare und hörbare Ausdruck für das intensive
Lustgefühl, das seine Seele erfüllt.
Und dann wieder kam der Tag, da alles, was
er während dieses langjährigen intimen Umganges
mit der Natur für seine Phantasie und sein Be-
wunh.ei ■ aufgespeichert hatte, sich ihm zu großen
Bild i' und Visionen formte. Da hat er die Büchse
beisede gelegt und hat statt dessen geträumt und
gedaciä. ln das tiefste Waldesdunkel ist er gegangen
urni hat dort Aug’ in Aug’ dem LHiii gegen¬
übergestanden, wie er auf seinem Felsblock sitzt, in
seinem dunklen, flaumigen Gewände, unbeweglich,
mit seinen gelben lichtscheuen Augen vor sich hin¬
starrt, ein Bild des Schreckens und des Zaubers
der Einsamkeit. Oder er hat ihn als den Dämon der
Raubsucht geschildert, schnell, stumm und fürchterlich
wie das Verhängnis selbst, seine Beute mit unbändiger
Begierde ergreifend, ein Sagengeschöpf des Waldes,
schön und schreckenerregend.
Er hat an einem frühen Morgen die alte Tanne
fern am Bergeshang aufgesucht und die Auerhahn¬
balz betrachtet, und er hat sich gesagt: dies ist die
Liebe, die starke, ursprüngliche Liebe, die zu Kampf
und Gesang, zu wunderlichen Gebärden, lächerliehen
und sublimen, reizt. Er ist auf die Ebene hinaus¬
gegangen, wenn sie in der kalten Luft daliegt, an
frühen Lenztagen, noch braun und hart, den Frost
im Feldboden, sich in wellenförmigen Linien zum
dunkeln Waldeshorizont hindehnend. Und er hat
gedacht: dies ist mein Land, karg und arm, mit langen
Wintern und kurzen Sommern, das Land, das ich
liebe und nach dem ich mich stets zurücksehnen
werde. Und das Gefühl, das ihn erfüllte, hat sich
zu einem Bilde geformt, dem Bild von den wilden
Schwänen, die mit ausgestreckten Flälsen, den milden
Schimmer der Abendsonne auf dem weißen Feder¬
kleide, sich zu dem glänzenden Wasserspiegel her¬
niederbeugen.
Die Separatausstellung in Stockholm 1895 war
es, auf der Liljefors’ Künstlerschaft sich in ihrem
ganzen Umfange und Reichtum offenbarte. Unter
den ausgestellten Werken fanden sich damals auch
einige Bilder aus den Schären, wohin er ein paar
Jahre vorher gezogen war. ln den seither verflossenen
Jahren hat er sich immer intimer in ihre Natur hinein¬
gelebt, und mit seiner im Fferbst igoi arrangierten
Separatausstellung, derselben, die später ihre Runde
durch Europa machte, hat er, wie man wohl sagen
kann, die östlichen Schären der schwedischen Kunst
einverleibt. Wie die äußersten Felsinseln, das starke
und düstere Leben der Meeresgrenze hier geschildert
werden, hatte man noch nie vorher in der schwe¬
dischen Kunst gesehen. Flier offenbarte sich in
bezaubernder Weise die Fähigkeit des geborenen
Künstlers, Neues zu schaffen und zu entdecken, auch
wenn er auf scheinbar bekannten und gebahnten
Wegen geht. Er hat in dieser Natur Farben, Be¬
leuchtungen, Szenerien gesehen, die die Kunst bisher
nicht ausgedrückt hatte. Er ist, im wörtlichen und
bildlichen Sinne, wach gewesen, als wir anderen zu
schlafen pflegten. Mit ihm und in ihm ist der erste
unberührte Morgen gewesen, der Sonnenaufgang, der
das Meer aus seinem Schlummer erweckt und es in
ein Gewand von Licht kleidet, das wir nicht kennen.
Die Ausstellung von 1895 enthielt ein Bild, jetzt
im Besitz des Flerrn E. Thiel in Stockholm, das einen
Sonnenaufgang auf dem Meere mit einer Derbheit
und Frische ohnegleichen schilderte. Das Meer liegt
da, safrangelb, mit blaßblauen Reflexen des Flimmels
auf den Wellenabhängen. Denn die Morgenbrise
hat schon den Spiegel in Bewegung gebracht, und
es klingt und braust um die Kämme, wo die Seevögel
schlaftrunken ins Wasser hinab taumeln. Wenn man
dieses Bild sieht, so ist es einem, als schlüge man
selbst, schlaftrunken aber ausgeruht, frisch und froh,
seine Augen zum Meere und zum Lichte auf. Und
man wundert sich nicht darüber, daß das Wasser gelb
ist, denn alles ist neu, als sähe man es zum erstenmale.
(Unsere farbige Reproduktion vermag eine Vorstellung
davon zu geben.)
Und deshalb ist es auch so groß, so einheitlich,
so ursprünglich: Felsen, Himmel und Meer geschil¬
dert wie im Urgründe ihres Daseins, mit einer Auf¬
fassung, die ich elementar nennen möchte. Typisch
für diesen Fall sind die »Sägetaucher« von der
Ausstellung 1901. Das Bild dieses Himmels, dieses
Meeres und dieses Felsens, an dem es sich zu Schaum
bricht, ist jeder Zufälligkeit entkleidet; so ist es immer
gewesen, so wird es immer bleiben, es ist eine Art
Unvergänglichkeit in der Erscheinung. Aber im
Vordergründe erheben sich zwei Sägetaucher und
peitschen das Wasser zu Sehaum mit ihren schnellen
Schwingen. Es ist gleichsam ein Schrei, der sieh
aus der Stille erhebt, wild und ausgelassen, Jubel
oder Schreeken des Augenblicks, bald wieder ver¬
klingend.
Und wie er, der Sohn der Ebene, die Schären
liebt und versteht! Es befand sich ein kleines Bild
auf der Ausstellung, eine direkte Naturstudie, in der
Stimmung des Augenblickes gemalt, in dem Zustande
gelassen wie sie war, ohne Überarbeitung oder
Retusche (siehe unseren Farbendruck). Auf einem
Felsen im Vordergründe eine fast ausgewaehsene junge
Möwe, die stand und über den Inselsee hinausblickte.
Es wehte ein scharfer und böenhafter Wind, düstere
Windstöße zogen über den Wasserspiegel, der Himmel
war mit zerrissenen Wolken überzogen, die magere
Vegetation der Holme beugte sich unter dem Anprall
des Sturmes. So herb, so hart, so arm, aber so liebe¬
voll gesehen und wiedergegeben, so männlich und
mutig. Es wurde einem warm ums Herz, wenn
man es sah — das war schwedische Natur.
Und zuletzt seine »Brandungen«. Welehe gro߬
artige Vereinfachung des so oft gebrauchten und
mißbrauchten Motives! Hat man sich mit der mäch¬
tigen Behandlung erst richtig vertraut gemacht, dann
ist es, als hätte man das Motiv nie vorher gemalt
gesehen, und die vielen Leinwandstüeken mit weißem
Schaum über ordentlichen Klippen und netten Wogen
werden zum Kinderlallen diesem trotzigen Dithyrambus
gegenüber. Im Hintergründe liegt das Meer, ein
ferner, chaotischer Kraftborn, aus dem die Bran-
BRUNO LILJEFORS
IN DER BRANDUNG. ÖLGEMÄLDE
120
BRUNO LILJEFORS
düngen angeschrl'uen kommen, zwei weiße, mächtige
Kämme, nocli ■ ngebrochen in ihrer vorwärtsdrän¬
genden Kraft. Ganz vorn, innerhalb des Felsen-
o-rundes. iioH-t das Wasser wie in einem Kessel,
grün vom Salz, braun vom Tang, mit einem breiten,
ziscii.iiden nchaunikranz. Ein einsamer Seevogel
sch-- ' vorbei, in schwerem und eilenden Fluge.
Übvr '"esem Bilde liegt eine Größe und Mächtigkeit,
die :s für immer in der Erinnerung lebendig erhält.
-1c
Hier habe ich den Versuch gemacht, in weiten,
allgemeinen Zügen, mit einer Schematisierung, die
sich in einer übersichtlichen Darstellung nicht gut
vermeiden läßt, die Entwickelung von Liljefors’
Künstlerschaft zu zeichnen. Aus der frühesten Detail¬
schilderung, der novellistischen Kunst seiner Jugend,
hat sie sich zu einer immer größeren und mächtigeren
Breite im Vortrage entwickelt. Seine Tierschilderung
ist jetzt zum Epos geworden, in das das ganze
wechselnde Leben der Natur hineinspielt, der Kreis¬
lauf der Jahreszeiten, die ewig unveränderten, ewig
gleich jungen Gefühle: Liebe, Kraft, Hunger und
Mordlust. Aber jede Stimmung, die ihn erfüllt und
ihren Ausdruck im Bilde verlangt, sammelt sich doch
stets um eine bestimmte Erscheinung. Er spricht zu
uns als Künstler in derselben Weise wie der Bauer,
der Jäger, der Fischer von der Natur spricht: mit
Anführung anschaulicher Züge, von Ereignissen und
Zeitbestimmungen. Seine Phantasie ist mit der
Kenntnis des Lebens erfüllt, schwebt nie in un¬
bestimmte Träumereien hinaus, findet immer, jetzt
wie einst, einen Anhalt am Ereignis. Nur daß
der Rahmen um dieses Ereignis stets erweitert und
daß der Zusammenhang zwischen ihm und der Um¬
gebung stärker betont wird. Er ist stets, auch als
Phantast, der am meisten realistische unserer Natur-
schilderer und Naturdichter, seine Landschaft hat eine
ausgeprägte Lokalfarbe, und eines weiß man stets
ganz genau: daß die von ihm geschilderte Natur
schwedisch ist.
Charakteristisch für seine Auffassung in dieser
Hinsicht ist folgende Äußerung, die sich meinem Ge¬
dächtnis eingeprägt hat:
Wir betrachten im allgemeinen das Tier in der¬
selben Weise, wie ein auf unsere Erde versetzter
Marsbewohner, unserer Vorstellung nach, die Menschen
betrachten würde. Er würde bei ihnen nur die
Rassen, die Typen, die Kasten sehen, nicht die Indi¬
viduen. Was ich dagegen in meinen Tierbildern
darzustellen versuche, das sind gerade die Individuen.
Ich male Tierporträts. <
Und er gestand ein, daß die Unwissenheit des
Publikums in dieser Beziehung ihn kränke, und daß
es ihm Freude mache, wenn jemand z. B, sehen
konnte, wie alt ein junger Seevogel wäre, den er
gemalt hatte. Ich für mein Teil glaube nun, daß er
die Voraussetzungen des Publikums mit seinen eigenen
verwechselt — und das tun Maler oft. Das Wichtige
ist nicht, daß das Publikum weiß, wie alt das junge
Tier ist, sondern daß Liljefors es weiß. Dieses Wissen
ist es, das seinem Gemälde den überzeugenden Stempel
von Leben und Wahrheit verleiht, auch wenn er nicht
direkt offenbar wird. Der echte Künstler weiß immer
mehr als er zeigt, zum Unterschied von dem unechten,
der mehr zeigt als er weiß.
Aber es geht aus dieser Äußerung hervor, wie
intim der Jäger, der Naturforscher, der Gelehrte bei
ihm mit dem Maler vereint sind. Es geschieht hin
und wieder, daß die Neuheit und Schärfe der Be¬
obachtung das Interesse von der künstlerischen
Schöpfung abgelenkt haben, daß der Zoologe sich
auf Kosten des Künstlers geltend macht. In der
Regel besteht jedoch eine ungebrochene und unlösbare
Einheit zwischen Inhalt und Form, Kenntnis und
künstlerischer Eingebung.
Daß man nie oder fast nie den Beobachter, den
Betrachter anders als hinter dem Maler verspürt, ist
das Bewunderungswerte in Liljefors’ Schilderungen
aus dem Tierleben in ihrem gegenwärtigen Stadium.
Die Beobachtung, das Lernen, das Sammeln von Tat¬
sachen ist etwas, worüber er schon lange hinaus ist;
er steht nicht außerhalb seines Stoffes und schildert
ihn ~ er steckt mitten darin und lebt sein Leben;
oder der Stoff lebt in ihm, in seiner Phantasie, die
dermaßen mit Wirklichkeitsstoff gesättigt ist, daß sie
der Kontrolle der direkten Beobachtung nicht bedarf.
Daher die souveräne Freiheit und Unmittelbarkeit des
Vortrages. Er weiß nicht nur, wie die Vögel sich
in der Luft bewegen und auf dem Wasser ruhen,
wie sie sich verbergen und wie sie ihren Raub er¬
greifen, er kann es gleichsam selbst. Sie haben ihm
das innerste Geheimnis ihres Daseins mitgeteilt; es
ist das Gleichgewicht zwischen ihrer eigenen vitalen
Kraft und den äußeren Mächten, mit denen sie
kämpfen, das er uns mit einer bewundernswerten
Sicherheit klar macht. Man sehe z. B. seine meister¬
haften monumentalen »Seeadler« im Nationalmuseum,
wie der Flug der beiden Riesenvögel geschildert ist,
in seiner Wucht und seiner Kraft, seinem Zwange,
sich oben zu halten, sich nicht von dem empörten
Element greifen zu lassen, in dem der Raub ge¬
sucht werden muß. Und man vergleiche hiermit den
Flug der Möwe auf seinem Gemälde »Möwen«, gemalt
und ausgestellt im Jahre igoi, dieser Flug in seiner
halb schwebenden, halb sinkenden Bewegung, seinem
weichen Vorwärtsgleiten, seiner sicheren Zusammen¬
gehörigkeit mit der wogenden Oberfläche des Meeres.
Oder man sehe das grandiose Gemälde »Wildgänse«,
i8g8, im Besitz des Kopenhagener Museums, wie
meisterhaft der Übergang vom Fluge zur Ruhe in
seinen ungleichen Stadien bei den vier Vögeln in
der rechten Ecke geschildert ist. Von vielen anderen
Beispielen gar nicht zu reden. Den Flug zeichnet
Liljefors mit einer nie versagenden Sicherheit, einer
vollkommen einzig dastehenden Kenntnis, einer Ein¬
sicht in die Bewegungsgesetze, die, den mir gewor¬
denen Mitteilungen gemäß, die Folge eines mehr¬
jährigen rein wissenschaftlichen Studiums sind, die
aber doch, und das ist vielleicht das allermerkwür¬
digste, in seinem Werk das Resultat einer unmittelbaren
BRUNO LILJEFORS
121
Intuition zu sein scheinen. Dasselbe gilt von seinen
schwimmenden Seevögeln. Sie sind nicht auf das
Wasser gelegt, sie fließen wirklich, das Gleichgewicht,
die Art, in der sie sich von der Bewegung des
Wassers mitführen lassen oder gegen sie ankämpfen,
ihre Freiheit im und ihre Vertrautheit mit dem Element,
sind mit überzeugender Wahrheit gegeben.
Nie vorher — die japanische Kunst vielleicht aus¬
genommen — ist das Tierleben so in seiner Ein¬
samkeit und seiner ungestörten Zusammengehörigkeit
mit der Natur geschildert worden. Kein Auge bespäht
diese Enten, wenn sie sich in der Stille der Nacht
in dem dichten Schilf bewegen. In kleinen, spielenden
gebrochenen Spiegelbildern ahnt man die Weite des
Sommerhimmels, der sich in Klarheit und dunklen
und weichen, schmelzenden Farben ausbreitet, doch
das Schilf steht hoch und dicht und schützend, und
aus dem seichten Wasser schimmert der Grund hervor
mit seinen Schätzen und Geheimnissen. Es liegt ein
helles und friedliches und doch keineswegs sentimen¬
tales Lächeln über diesen Idyllen. Als der Künstler
dies malte, hat er mit den Augen der Tiere gesehen
und ihr Wohlbehagen an dem angenehmen Heim
im Schilfe hat ihn erfüllt.
Und dieselbe Intimität, nur noch ergreifender,
liegt über der Schilderung der mächtigen Einsamkeit
draußen auf dem Meere, wo die Riesentaucher auf
den Wogen schaukeln. Das ist das Meer, unend¬
lich in seiner Weite und seiner Tiefe, mit großen,
mächtigen grünlich schimmernden Wellen heran¬
rollend, von Wasserdampf umwölkt, schaukelnd,
brausend, lebend in majestätischer Unruhe. Und
auf der vordersten Woge pflügen sich die Riesen¬
taucher ihren Weg gegen den Wind, rätselhaft und
mystisch mit ihren schlangenförmig gebogenen Hälsen,
ihrem Federkleide, das sich die graugrünen Schattie¬
rungen des Meeres geliehen hat, einsam lebend in
dieser Verlassenheit. Dieses Gemälde enthält für mich
mehr von der Mystik des Meeres, als alle Meer¬
menschen Böcklins, und es ist doch mit dem un¬
mittelbarsten Wirklichkeitssinn gegeben. In der Größe
der Auffassung, in dem inspirierten Leben und der
stolzen Beherrschung nimmt es vielleicht den ersten
Platz in der gesamten Produktion von Liljefors ein,
ein Meisterwerk ohne Fehl und Tadel.
* :f!
*
Ich will nun zuletzt ein Wort über Liljefors Tech¬
nik sagen. Ich kann mich hier kurz fassen; das rein
Technische spielt in seiner Künstlerschaft keine her¬
vorragende, in die Augen fallende Rolle. Wo es am
besten ist, dient es gehorsam, ehrlich und tapfer den
Intentionen seines künstlerischen Willens, verlangt
aber keinerlei Aufmerksamkeit für sich allein und hat
auch nichts besonders Fesselndes. Wie ich eingangs
dieser Studie betonte, ist er in seltenem Grade frei
von aller Schulbildung. Wie seine Kenntnis des
Lebens stets eine Kenntnis aus erster Hand ist, so
entlockt er auch der Natur selbst seine Darstellungs-
niittel.
Damit soll nicht gesagt werden, daß seine Auf¬
fassung und Darstellungsweise um die zeitgenössischen
Bewegungen innerhalb der europäischen Kunst herum¬
gehen und von ihnen unberührt sind. Aber mit den
von außen geholten Voraussetzungen, den Künstlerwillen
auf ein gewisses allgemeines Ziel gerichtet, geht er
dann direkt zu der Natur und erläutert sie mit im¬
provisatorischer Frische und Ungebundenheit.
Dieses Fehlen jeder Manier ist in der Regel
eine Stärke, kann sich aber manchmal als eine
Schwäche äußern. Sie kann einen Zwiespalt her¬
beiführen zwischen Anlage und Ausführung oder
zwischen ungleichen Partien auf ein und demselben
Bilde, ln seinen im übrigen meisterhaften Seeadlern
vermisse ich in der Ausführung den leidenschaftlichen
Schwung, den die grandiose Komposition erfordert,
auf anderen seiner Gemälde brechen seine Tiere aus
dem Rahmen der Landschaft aus, sind mit zoolo¬
gischer Kurzsichtigkeit gesehen. Aber andererseits -
mit welcher jugendlichen Naivetät und Furchtlosigkeit
übermittelt er nicht, frei von Vorurteilen und voraus¬
gefaßten Meinungen, die Naturerscheinung so wie sie
ihm entgegengetreten ist, wie vergißt er nicht sich
selbst und seine erworbene Kenntnis in der neuen
Aufgabe und ringt mit ihr sozusagen Brust an Brust,
ohne Waffe und ohne Kunstgriff. Es liegt in seiner
Technik wie in seiner Auffassung etwas von der Macht
des Primitiven, zu überzeugen und zu bezaubern.
Dies hindert jedoch nicht, daß er Dinge von aus¬
gesuchter und künstlerisch verfeinerter Wirkung ge¬
schaffen hat. Sein Uhu auf der Ausstellung 1901
war ein koloristisches Meisterwerk in seiner mächtig
gestimmten Harmonie von Blau und Braun, und die
Vordergründe auf seinen Entenbildern auf derselben
Ausstellung legten Zeugnis ab für eine ebenso aus¬
gesuchte, wie originelle koloristische Phantasie.
Mit einer selten reichen Produktion hinter sich,
steht er nun im Alter von fünfundvierzig Jahren in un¬
gebrochener Arbeitskraft da. In welchem Grade er
die Gabe der Verjüngung besitzt, davon geben seine
letzten Werke eine imponierende Probe. Alle seine
großen Eigenschaften finden sich hier vereint, vor¬
wärtsgetragen von einer großen, stolzen, brausenden
Woge von Jugend und Kraft! Nie hat er so frisch
gesehen, so derb und unmittelbar, mit einer solchen
Inspiration und Sicherheit wiedergegeben, wie in
diesen Schöpfungen seiner Mannesjahre.
Dankt er dem Meere seine neue Jugend? Dann
wäre es nur recht und billig, daß er es liebt.
ANDREA RICCIO. SCHLAFENDE NYMPHE IM KAISER FRIEDRICH-MUSEUM, BERLIN
NEUE FORSCHUNGEN ÜBER ITALIENISCHE
RENAISSANCE- BRONZEN
G. M IG EON, Catalogne des Bronzes et Ciiivres du Moyen
Age, de la Renaissance et des tenips Modernes an Mnse'e
National da Louvre, Paris igo4 und
F. KNAPP lind W. BODE, Die italienischen Bronzen in
den Königlichen Museen zu Berlin, Berlin 1Q04.
Der Leidenschaft der Sammler für kleine
Bronzen, namentlich für Bronzestatuetten,
beginnt jetzt langsam auch die Wissen¬
schaft zu folgen. Abgesehen von den Plaketten,
über die wir Moliniers sorgfältig gearbeitetes und
für die Zeit seines Erscheinens fast vollständiges
Handbuch (1886) und den bald darauf erschienenen
Katalog der Bildwerke christlicher Epochen in den
Berliner Museen (1888) besitzen, sind die Bronzen
der Renaissance nur gelegentlich und vereinzelt in
allgemeineren Publikationen behandelt worden; so
namentlich von Jul. von Schlosser in seinem schönen
Prachtwerk »Ausgewählte Gegenstände der kunst¬
industriellen Sammlungen« des Wiener Hofmuseums
(igoi). Seit kurzem liegen nun die ersten wissen¬
schaftlichen Kataloge vor über ein paar der größten
Sammlungen von Renaissancebronzen in öffentlichen
Museen, über die Sammlungen des Louvre und des
Kaiser Eriedrich-Museums.
Beide Kataloge sind nicht unwesentlich verschie¬
den in Anlage und Ausführung. Der Katalog des
Louvre, von G. Molinier begonnen und vom jetzigen
Direktor der Abteilung Qaston Migeon, unter Beihilfe
von j. J. Marquet de Vasselot und Carle Dreyfus,
vollendet, gehört zu einer Eolge illustrierter Kataloge
der Abteilung der Objets d’Art des Louvre, von der
zwei bereits früher erschienen sind. Im Oktavformat
umfaßt er 485 Seiten. Papier und Ausstattung sind
nicht derart, wie man sie für Kataloge des Louvre
erwarten sollte, zumal bei einem Preise von 7 Francs.
NEUE FORSCHUNGEN ÜBER ITALIENISCHE RENAISSANCE-BRONZEN
123
Denn die Illustrationen, einige sechzig an der Zahl,
sind bis auf einen Lichtdruck nur Hochätzungen
nach mehr oder weniger flüchtigen Federzeichnungen.
Während in Deutschland und England jetzt die 1 Mark-
Kataloge, in England zum Teil schon die Six-Pence-
Kataloge, selbst bei bedeutendem Umfang, die allge¬
meine Regel für Museumskataloge bilden, hält die
Verwaltung des Louvre noch an ihren teuren, zum Teil
übertrieben weitläufigen Katalogen fest und hat bisher
auch zu billigen Führern, weder durch den ganzen Bau
noch durch einzelne Sammlungen, sich nicht verstehen
wollen. Hoffentlich tritt darin unter dem neuen
Generaldirektor Homolle ein Wandel ein. Ein Bronzen¬
katalog ist freilich kein Werk, das sich an das große
Publikum wendet, er findet daher nur mäßigen
Absatz selbst bei niedrigem Preise; aber auch wo
solche Publikationen in erster Linie für wissenschaft¬
liche Studien von Bedeutung sind, sollten Staats¬
institute den Gewinn, den sie an billigen Führern
und dergleichen machen, zur Ermäßigung des Preises
von solchen Werken benutzen.
Der Louvre-Katalog umfaßt 692 Nummern, von
denen etwa 600 auf die italienischen Bronzen kommen;
die übrigen sind französische, deutsche und flandrische
Arbeiten. Die Mehrzahl dieser Bronzen, namentlich
fast alle italienischen, gehören der Renaissance, die
französischen zum Teil dem Mittelalter, zumeist aber
dem Barock und (in einigen Bronzen von Barye) der
Neuzeit. Die Beschreibung aller dieser Stücke ist
sehr sorgfältig und ausführlich, selbst bei den Me¬
daillen, wo vielleicht größere Kürze unter Hinweis
auf das bekannte treffliche Handbuch von Armand
genügt hätte. Ebenso gründlich sind alle Angaben
über die Literatur und über die Herkunft der Bronzen.
Bei wichtigeren oder zweifelhaften Stücken hat Herr
Migeon seine Bestimmung ausführlich begründet.
Bei der großen Mehrzahl der Künstler- oder Schul¬
benennungen wird man dem Verfasser nur beistim¬
men können, einige Zuschreibungen werden dagegen
bestritten werden. So kann man die treffliche
Statuette des Täufers (Nr. 27) als ein Werk Dona-
tellos nicht gelten lassen, wenn sie auch seiner Schule
angehört; am nächsten steht sie wohl dem Bertoldo.
Dagegen habe ich den Bronzeausguß eines Wachs¬
modells des nackten David (Nr. 43), den L. Courajod
einst als ein Werk Michelangelos ansprach, und den
G. Migeon jetzt als »florentinisch, Ende des 15. Jahr¬
hunderts« bezeichnet, schon früher als ein kleines
Meisterwerk aus Donatellos späterer Zeit nachzuweisen
gesucht. Vielleicht ist es ein erstes Modell zu dem
David in Casa Martelli, von dem das Berliner Museum
den Bronzeausguß des letzten Modells besitzt.
Beanstanden möchte ich auch die Benennung des
sitzenden johannesknaben als florentinisch aus dem
Quattrocento. Die schwachen Proportionen und die
weichliche Auffassung sind nicht florentinisch und keines¬
falls quattrocentistisch. Der schlanke Flötenspieler ist
gleichfalls wohl nicht florentinisch, sondern paduanisch
und bereits vom Anfang des 16. Jahrhunderts; er
gehört zu einer Gruppe sehr graziler, fein bewegter
Figuren, die, wie der bezeichnete Herkules (Nr. 108),
auf den Goldschmied Francesco di Sant’ Agata zurück¬
gehen, wenn auch die sehr ungleichen Bronzegüsse
meist nicht von ihm selbst herrühren. Die Zuschrei¬
bung des kleinen, sehr schematischen Knabenkopfes,
eines Wasserspeiers, an G. Boldü möchte ich ebenso
wenig akzeptieren, wie die Zuweisung des »weinen¬
den Amor« (wohl eher ein Engel von einer Pieta)
an die Werkstatt Verrocchios; mir scheint diese Ar¬
beit schon aus dem 16. Jahrhundert. Die Reiter¬
statuette des Francesco Gonzaga von Sperandio, durch
dessen Medaillen beglaubigt, die Folge trefflicher Ar¬
beiten von Andrea Riccio und seiner Werkstatt, die
zahlreichen großen und kleinen Bronzen der Werk¬
statt des Gian Bologna, (die reichste Sammlung ihrer
Art neben der der Wallace Collection in London):
alle diese und manche andere Bestimmungen werden
sicher allgemeinste Zustimmung finden. Bedauerlich
ist, daß die Bronzen der Thiersschen Schenkung,
unter denen neben geringen und falschen sich treff¬
liche Stücke befinden, nicht mit in den Katalog auf¬
genommen sind; hoffentlich geschieht dies, wenn die
Sammlung einmal aufgelöst, gesichtet und an die
einzelnen Abteilungen verteilt wird. Bei einer spä¬
teren Auflage sollte dem Katalog auch ein Künstler¬
register beigegeben werden, um das tüchtige Werk
bequemer nutzbar zu machen.
Der Katalog der Berliner Bronzen enthält fast die
doppelte Zahl, obgleich er nur die italienischen Bronzen
(und einige wenige sich daran anschließende franzö¬
sische und flämische Stücke) umfaßt: die lebensgroßen
Büsten (6), die Statuetten (etwa 200 Stück), die Reliefs
(36) und die Plaketten (925). Von Medaillen ist nur
eine Anzahl einseitiger aufgenommen, die im Me¬
daillenkabinett nicht gesammelt werden (27 Num¬
mern). Den Schluß bilden einige kleine mit Plaketten
geschmückte Bronzegeräte. Der Band hat Großquart-
format; den Text von 138 Seiten begleiten 81 Licht¬
drucktafeln, deren Papier nicht zu dick ist, so daß
der Band noch ganz handlich ist. Die Beschrei¬
bung der Bildwerke ist von Dr. Fritz Knapp ver¬
faßt; die Bestimmung und Anordnung ist im wesent¬
lichen unter der Leitung des Unterzeichneten erfolgt;
die Zusammenstellung der Bronzen auf den Tafeln
ist Dr. Knapps Werk, der die schwierige Aufgabe
fast durchweg vortrefflich gelöst hat, ebenso wie er
die ermüdende Aufsicht der Aufnahmen aller Tafeln
ganz auf sich genommen hat. Wenn gelegentlich
Stücke von Meistern oder Schulen, deren Werke schon
auf früheren Tafeln zusammengestellt waren, vereinzelt
zwischen ganz abweichenden Stücken Vorkommen, so
hat das seinen Grund entweder darin, daß diese Stücke
erst später erworben wurden, oder daß sie durch
ihre abweichende Farbe, Vergoldung und dergleichen
mit den anderen nicht zusammen aufgenommen wer¬
den konnten.
Große Schwierigkeiten machte die Aufnahme der
Tafeln. Gehört die Wiedergabe von Bronzen über¬
haupt schon zu den heikelsten Aufgaben der Photo¬
graphie, so wurde sie hier noch erschwert durch die
Zahl der auf einer Tafel vereinigten Gegenstände
(bis zu vierzig und mehr), wie durch das verschie-
124
NEUE FORSCHUNGEN ÜBER ITALIENISCHE RENAISSANCE-BRONZEN
dene Material und uen sehr abweichenden Ton der¬
selben. Diese Schwierigkeiten und die Übelstände,
die sie mit sich führen, haben wohl die Direktion
des Louvre beslimnit, statt photographischer Drucke
Hochätzungen nach Zeichnungen als Illustrationen zu
wählen, .t-.llein um ein treues Bild zu geben für den
Genuß 'vie für das Studium, erschien uns die direkte
Wieder-abe weit vorzuziehen. Auch sind im Interesse
des Studiums alle Gegenstände aufgenommen wor¬
den. Die Tafeln sind nicht alle gleich gut ausge¬
fallen; die leidige Gewohnheit
der Photographen, alle Aufnah¬
men im Atelier bei Oberlicht
zu machen oder ihnen ein zu
scharfes Seitenlicht zu geben,
hat Dr. Knapp erst allmählich
überwinden können.
In den mehr als goo Pla¬
ketten, welche in unserem Kata¬
log beschrieben und abgebildet
sind, ist der Besitz dieser eigen¬
tümlichen Gattung italienischer
Kleinplastik ziemlich so voll¬
ständig dargestellt, wie er auf
uns gekommen ist. In Moliniers
Handbuch ist die Zahl der be¬
schriebenen italienischen Pla¬
ketten nicht einmal so groß;
aber immerhin besitzt die ge¬
wählteste Sammlung dieser Art,
die von Gustave Dreyfus, noch
an hundert Stück, die bei uns
fehlen, und reichlich ebensoviel
werden sich in den verschiedenen
Sammlungen, die sonst Plaketten
besitzen: in den Museen zu
Modena, Wien, Venedig, Neapel,
Paris, London, bei George Sal-
ting, beim Erzherzog Franz Fer¬
dinand und anderen noch zu¬
sammenfinden, deren gelegent¬
liche Publikation zur Vervoll¬
ständigung unserer Sammlung
sehr erwünscht wäre. Bei der
Orientierung in dieser fast un¬
übersehbaren Menge ganz klei¬
ner, unter sich sehr ähnlicher
Arbeiten, die sich in der Haupt¬
sache auf nur etwa achtzig Jahre
verteilen und die vorwiegend
Oberitalien, namentlich der Paduaner Schule angehören,
hat schon Molinier nur die kleinere Zahl auf bestimmte
Künstler zurückführen können. Diese ließen sich zu¬
meist durch die Bezeichnung auf den Plaketten oder
wenigstens auf einigen derselben, andere aus dem Ver¬
gleich mit den Rückseiten gleichzeitiger Medaillen fest¬
stellen. Über das, was Molinier festgelegt hat, sind
wir nicht weit hinausgekommen; gewisse Fragezeichen,
die er gerade bei einigen der Hauptmeister bestehen
lassen mußte, bestehen auch heute noch, ja es müssen
sogar einzelne der von ihm vorgeschlagenen Namen
als solche angezweifelt und die auf sie vereinigten
Stücke wieder anonymen Meistern gegeben werden.
Molinier hatte die Hypothese aufgestellt, daß der
Name Ulocrino (aus ryjXor und crinis zusammen¬
gesetzt), der etwa auf einem Dutzend Plaketten vor¬
kommt, mit Riccio (Krauskopf) identisch sein könne.
Beweise dafür lassen sich aber jetzt so wenig wie
früher beibringen, und der Charakter jener Arbeiten
spricht eher für einen dem Riccio sehr nahestehenden,
aber nüchterneren, einseitigeren Künstler. Ebensowenig
wissen wir, wer sich hinter dem
Pseudonym Moderno versteckt,
auf den sich eine sehr große
Zahl von Plaketten, nahe an
hundert, vereinigen läßt. Ge¬
legentlich steht er dem Riccio
in dessen späteren Arbeiten, wie
in der Großen Grablegung oder
in dem Antiken Opfer, so nahe,
daß wir glauben könnten, er sei
mit ihm eine Person. Dafür
könnte man auch den Umstand
anführen, daß sich an einzelnen
Tintenfässern (in der Wallace
Collection und bei Mr. Taylor
in London) Reliefs von Moderno
mit Figürchen und Gruppen
von Riccio vereinigt finden.
Andererseits sind die jüngeren
Arbeiten Modernos schon so
abweichend, so stark cinquecen-
tistisch, daß eine solche An¬
nahme dadurch so gut wie
ausgeschlossen wird.
Ein Name, der gesichert
schien, namentlich durch die
alte genaue Beschreibung der
Darstellungen an einer berühm¬
ten Arbeit seiner Hand: Cara-
dosso, wird durch den genauen
Vergleich der Rückseiten seiner
beglaubigten Medaillen, nament¬
lich der besonders in Betracht
kommenden frühen, noch in
Mailand gefertigten Medaillen,
fast ausgeschlossen für die ihm
zugeschriebenen Plaketten. Diese
haben einen viel derberen, grö¬
ßeren Charakter, gerade so wie
die auf Caradosso getaufte Ton¬
bildwerke in Mailand, namentlich in S. Satiro, und
stehen wie diese dem Bramante besonders nahe.
Ein anderer Meister, der Mantuaner Medailleur
Melioli, dem Molinier eine ziemlich beträchtliche Zahl
von Plaketten zugewiesen hat, muß jedenfalls auf¬
gegeben werden, da die Gestalten darauf viel trockener
und steifer sind wie auf den Rückseiten von Meliolis
Medaillen, in denen sich dieser Künstler als ein tüch¬
tiger Schüler des Mantuaners Cristoforo di Geremia
erweist. Ebensowenig läßt sich die Zuschreibung
einzelner dem Riccio nahestehender Plaketten auf Fra
DONATELLO. BRONZESTATUETTE DES DAVID
IM LOUVRE
NEUE EORSCHUNGEN UBER ITALIENISCHE RENAISSANCE-BRONZEN
125
Antonio da Brescia rechtfertigen. Dieser Medailleur
hat zwar eine dieser Plaketten auf der Rückseite einer
seiner Medaillen kopiert; mit seinem Stil hat aber weder
diese noch eine der anderen Kompositionen auf den
ihm von Molinier zugeschriebenen Plaketten Verwandt¬
schaft. Auch Antico ist als Plakettenkünstler nicht
gesichert, wie auch die ihm an¬
standslos zugeschriebenen Me¬
daillen, die mit den Buchstaben
A oder AN bezeichnet sind, mir
keineswegs sichere Arbeiten
dieses Künstlers scheinen, da sie
einen moderneren Charakter tra¬
gen und den Medaillen des G.
C. Romano zum Verwechseln
ähnlich sind.
Ein etwas jüngerer Künstler,
der seine Plaketten I O. E. F.
bezeichnet, wurde mit dem Flo¬
rentiner Steinschneider Giovanni
Fioretino identifiziert. Allein
einige sicher beglaubigte Steine
dieses Künstlers haben wesent¬
lich abweichenden Charakter;
auch läßt sich jener Plaketten¬
meister nach der schlanken Bil¬
dung seiner Figuren nicht nach
Florenz und Toskana, sondern
mit großer Wahrscheinlichkeit
mehr nach dem Norden Italiens
versetzen, am wahrscheinlichsten
nach den Marken. Seine Kom¬
positionen stehen dem Francia
nahe, ganz besonders aber dem
Meister, der die berühmten
Ochsenzungen und Dolche mit
seinen Ätzungen versehen hat
und in dem man einen Gold¬
schmied aus Faenza vermutet.
Da die Plakettenkompositionen
des Meisters lO F. F. fast sämt¬
lich für Knäufe von Schwer¬
tern, Dolchen und Ochsen¬
zungen bestimmt waren, so
liegt sogar die Annahme nahe,
daß sie ein und derselbe
Künstler anfertigte. Die von
italienischer Seite ausgespro¬
chene Vermutung, daß ein
Goldschmied Johannes Francis-
cus di Boggio, der in Bologna
1538 genannt wird, dieser
Künstler war, ist eine sehr un¬
gewisse Hypothese.
Einen der wenigen neuen Namen, die wir mit
Sicherheit unter die Plakettenkünstler neu einführen
konnten, verdanken wir der Aufschrift auf der großen
runden Plakette mit der Darstellung einer Opferung;
sie ist bezeichnet; MCCCCLXXXII. XXll. lANVARY,
TOMAS. CAL(1)STVS. Der Künstler ist dem Cristo-
foro di Geremia auffallend verwandt. Zwei andere,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 5
weniger selten vorkommende Plaketten, die Rückseiten
von Spiegeln sind, gleichfalls mit einfachen Dar¬
stellungen aus der Antike, stehen jener Arbeit so
nahe, daß sie vielleicht von der gleichen Hand sind.
Gleichfalls als Plakettenkünstler dokumentiert sich
Sperandio durch die Aufschrift auf einer großen
Plakette mit der Stäupung
Christi (Nr. gog unseres Kata¬
logs); das bezeichnete Exemplar
befindet sich in der Biblioteque
nationale zu Paris. Nach dem
Vergleich mit dieser echt padu-
anischen Komposition sind wahr¬
scheinlich auch die Auferstehung
(Nr. gio) und die Taufe Christi
(Nr. 85g), beide Unika der
Berliner Sammlung, von der
Hand Sperandios. Auch Arbei¬
ten wie der knieende Hierony¬
mus (Nr. 865), der Cincinnatus
(Nr. 888), Johannes der Täufer
im Rund (Nr. 860) und andere
wären unter Hinzuziehung des
Rückseiten seiner Medaillen auf
die Möglichkeit, ob sie von
Sperandio selbst herrühren oder
ihm nur nahe verwandt sind,
näher zu prüfen.
Ein dankenswerter Fortschritt
ist die Bestimmung der außer¬
ordentlich reichen Zahl von
Ausgüssen antiker Steine und
freier Nachbildungen nach sol¬
chen und anderen antiken Re¬
liefs, von denen die Berliner
Sammlung wieder die vollstän¬
digste ist; sie besitzt fast 150
Stück. Mit Hilfe des großen
Furtwänglerschen Gemmen¬
werkes haben Dr. Voege und
Dr. Knapp für die Mehrzahl
dieser kleinen Bronzen die Ori¬
ginale oder Vorbilder nach-
weisen können.
Erfolgreicher wie für die Pla¬
ketten konnte die Forschung
für die Bronzestatuetten sein,
deren Sammlung im Berliner
Museum überhaupt erst seit
der Publikation der ersten Auf¬
lage des Kataloges entstanden
ist. Sie zählt jetzt, einschließlich
einiger ausgezeichneter lebens¬
großer Büsten und der Statuetten
des Simonschen Kabinetts, fast 250 Stück. Von den
Bronzestatuetten ist zwar sehr selten und fast nur in
späterer Zeit einmal eine mit dem Künstlernamen be¬
zeichnet, und nur wenige sind urkundlich beglaubigt;
aber hier bieten die großen Bildwerke der Zeit besseren
Anhalt; ist doch die Mehrzahl dieser Figürchen auf
Bildhauer zurückzuführen, während die Plaketten zum
17
DONATELLO (?). BRONZESTATUETTE
JOHANNES D. T. IM LOUVRE
126
NEUE FORSCHUNGEN ÜBER ITALIENISCHE RENAISSANCE-BRONZEN
größten Teil von Goldschmieden ausgeführt wurden,
von deren Arbeiien in Edelmetallen und Halbedel¬
steinen nur noch ganz wenige erhalten sind. Von den
jiinrCi-i Künstlern wie Gian Bologna abgesehen,
für .Inn die bisher fast unbenutzten Inventare des
17. ; ' ihimderts sicheren Anhalt geben, werden da¬
her " isere Bestimmungen der Werke eines Ghiberti,
Donatello, Pallaiuolo, Bertoldo, Riccio, Bellano und
anderer mehr im wesentlichen nicht beanstandet wer¬
den, und die meist gelungenen Nachbildungen unserer
eben so reichhaltigen wie gewählten Sammlung wer¬
den dazu beitragen, daß die namenlosen oder falsch
benannten Bronzen mancher anderer Sammlungen in
Zukunft ihren wahren Meistern gegeben werden.
IV. BODE.
A. RICCIO. BRONZESTATUETTE DES ARION IM LOUVRE
F. VON LENBACH. CHARLOTTE, ERBPRINZESSIN VON MEININGEN, STUDIE
Photographie Hanfstängl
FRANZ VON LENBACH
EINE GEDÄCHTNISREDE
Von Theodor Schreiber
Die merkwürdige, nun auch schon hinter uns
liegende Zeit, welche man mit dem Ausdruck
»fin de siede« zu benennen pflegt, ist bei
ihrer außerordentlichen Produktionskraft, bei dem
Vielerlei ihrer Instinkte und Neigungen und bei
ihrem Streben nach außergewöhnlichen Ideen und
Formen doch nicht reich an starken Persönlichkeiten
gewesen. Auch auf dem Gebiete der Künste, der
subjektivsten aller Geistestätigkeiten, hat sie wenig
vollbürtige, ausgewirkte Charaktere hervorgebracht,
wenige Hauptakteure, denen wir schon jetzt eine
bleibende Bedeutung einzuräumen wagen. Unter den
Tausenden von Künstlern, die jährlich auftauchen
und später wieder verschwinden, die vorübergehend
auffallen und erfreuen, gerühmt und besprochen wer-
Der Vortrag wird hier in derselben Form, wie er bei
einer am 30. Oktober 1904 vom Leipziger Kunstverein
veranstalteten Feier gehalten worden ist, zum Abdruck ge¬
bracht. Nur die auf den Lebens- und Entwickelungsgang
des Künstlers bezüglichen Partien sind ausgelassen worden.
den, sind es immer nur einzelne, welche m der Zu¬
kunft nicht untergehen, welche ein Erbe hinterlassen
und unsere Phantasie und die der Nachlebenden
dauernd bereichern; Künstler, vor deren Werken wir
mit immer neuem Genuß und ohne Abschwächung
der Wirkung verweilen können. Zu diesen auser¬
wählten, erstgeborenen Söhnen der Kunst zählt in
erster Linie Meister Franz von Lenbach, den wir in
dieser Stunde feiern.
Wer sich jetzt, nachdem sein Schaffen abgeschlossen
ist, und keine neue Linie seinem Lebensbild hinzu¬
wachsen kann, die Faktoren seiner geistigen Ent¬
wickelung, seine Werke, sein Wirken und seinen
Einfluß vergegenwärtigt, steht naturgemäß noch unter
dem Eindruck des Streites der Meinungen über alte
und neue Kunst, in welchem Lenbach von Anfang
an Parteimann mit den entschiedensten Grundsätzen
gewesen ist. Ein gewaltiges Temperament, die Wurzel
seiner Kraft, hat ihn zeitlebens beherrscht. Dies und
seine Weltklugheit, seine Gabe, sich selbst in schwie-
17
128
FRANZ VON LENBACH
rigsten Fällen zur Geltung zu bringen, hat ihn in
der Vertretung der Künstlerinteressen zu einem Führer
gemacht, der auch im heftigsten Kampf der An¬
schauungen, bei aller Ungebärdigkeit der Elemente,
über tue er gebot, doch an Autorität nichts einbüßte.
Bis zul^ iz, war er das natürliche Haupt der Münchener
Küuf ::;schaft, und in gewissem Sinne ihr Regent
von lies Gnaden. Von diesem streitsamen, rück¬
sich '.dos handelnden und leidenschaftlich hassenden
Menschen müssen wir den Künstler unterscheiden,
der treu und ehrlich seiner Muse diente und aus der
Tiefe seines Geistes seine Werke schuf. Ihn unbe¬
fangen zu beurteilen, will noch heute manchem seiner
Gegner im Lager der Kunstschriftsteller nicht gelingen.
Noch wird er von den einen gepriesen und von den
anderen geringschätzig abgetan. Einer der Geist¬
reichsten von den Wortführern der Moderne hat neuer¬
dings von der kuriosen Altmeisterei Lenbachs« ge¬
sprochen und spöttisch ausgeführt, er habe ein
probates Mittel gefunden, die Alten mit einem Mini¬
mum von Zeit und Kosten zu modernisieren. »Groß,
so groß wie er werden konnte — heißt es da weiter
— war er, als er getreu kopierte« .
Vielleicht darf man noch nicht aussprechen, ohne
der Schönfärberei und altmodischer Gesinnung ver¬
dächtig zu werden, daß Lenbach — obgleich Führer
der vielgeschmähten Münchener Kunstgenossenschaft
und grundsätzlicher Gegner der Sezession — doch
eigentlich so gut modern war, wie nur einer der
Weimarer Kunstbündler, wenn man sich an seine
Werke hält und seine fanatische Verehrung der guten
Alten als das nimmt, was sie wirklich war: eine
Schwärmerei aus seinen Jugendjahren, an der er fest¬
hielt, als er selbst schon ein ganz anderer geworden
war und instinktiv in den großen Strom der vorwärts
strebenden neuen Kunst eingelenkt hatte.
Ich stelle Lenbach neben die großen, selbständigen
Charaktere der letzten Verjüngungsperiode unserer
Kunst, und ich muß eine Verwahrung vorausschicken,
damit diese Einschätzung nicht mißdeutet werde.
Nicht alles, was er gemalt hat, ist Gold, auch wenn
es glänzt und besticht, ja vielleicht mehr als bei an¬
deren Meistern, die viel geschaffen haben, ist es bei
ihm nötig, die Spreu von dem Weizen zu sondern,
die wahrhaft genialen Schöpfungen aufzusuchen und
auszuscheiden, was der Zufall veranlaßt hat, was die
spielende Hand in müßigen Stunden hervorbrachte,
dazu jene Bildnisse der vielen, alljährlich durch sein
Atelier hindurchgehenden Fremden, an denen er
wenig oder gar keinen inneren Anteil nahm, und die
er doch malte, weil er — der nie aufhörte, im Innern
schlicht und einfach zu bleiben — als ein wahrer
Fürst des Geistes an fürstliche Lebensweise gewöhnt
war und den feinsten Luxus künstlerischen Lebens
nicht entbehren konnte. Aber auch in der geringsten
Studie, in der flüchtigsten Skizze, wie er sie späterhin
mit der Sicherheit eines Routiniers in einer eigen¬
tümlich abkürzenden, merkwürdig suggestiven Manier
unglaublich schnell auf seine Pappdeckel zeichnend
und wischend hinwarf, in allen den unzähligen Frauen-
und Kinderköpfen, pflegt nicht jener Funke intensiven
Lebens zu fehlen, der aus einem heißen Künstler¬
naturell spontan auf die Malfläche überspringt.
Es ist wahr, die Zahl seiner Werke scheint ins
Unendliche zu wachsen, wenn man in der Ferne
sucht, zusammenrechnet, was er jahraus jahrein kol¬
lektionenweise in die deutschen Ausstellungen hinaus¬
gehen ließ, und hinzunimmt, wie viel sich außerdem
in die weite Welt verlaufen hat. Zu gleicher Zeit
konnte in diesem Jahre auf den Ausstellungen in
Berlin, Dresden und München eine Auswahl seiner
Bilder vorgeführt werden, ohne daß man mehr als
leicht zu Erreichendes vereinigte. In zwei aufeinander
folgenden Ausstellungen zeigte der Münchener Kunst¬
verein, was sich in Privatbesitz seiner dortigen Freunde
und Verehrer befindet. Aber allein das glänzende
Künstlerhaus Münchens, in dem sich so recht Len¬
bachs Dekorationskunst ein Denkmal gesetzt hat, be¬
wahrt als Schenkung des Meisters eine ganze, den
Eingangsaal füllende Galerie von Bildern seiner Hand.
Sein eigenes Atelier ist durch die pietätvolle Ent¬
schließung der Witwe zu einem Museum geworden,
in dem ein Teil der reifsten Werke älteren und
jüngeren Ursprungs und Studien in großer Anzahl
eine bleibende Stätte gefunden haben. Und welche
stolze Reihe würde entstehen, wenn man aus den
deutschen Museen zusammenbringen wollte, was sie
der Kunst Meister Lenbachs verdanken. Als eine
glückliche Fügung dürfen wir es jetzt preisen, daß
es unserer Stadt vergönnt war, sieben Meisterwerke
von ihm festzuhalten. Es sind sechs davon zu einem
Ehrensaal deutscher Heroen aus der Zeit des großen
Krieges vereinigt, ein Lenbach-Kabinett, wie es außer
München keine andere Stadt unseres Vaterlandes auf¬
zuweisen imstande ist.
Mit diesen Werken ist der Künstler für alle Zeiten
einer der Unsrigen geworden. Er hat dies immer
als einen ihn ehrenden Vorzug empfunden und un¬
serem Leipzig dafür eine warme Zuneigung entgegen¬
gebracht.
Vielfache Beziehungen zu hiesigen Kunstfreunden
erwuchsen daraus, sie führten ihn wiederholt in unsere
Stadt, und er kam gern zu uns. Wir wissen, wie
viel Anregung von ihm ausging, wo immer er ein¬
kehrte. Ist doch auch der Gedanke, eine deutsche
Tribuna — als Gegenstück zu jener Florentiner —
in unserem Museum einzurichten, in einem glück¬
lichen Moment seines Leipziger Aufenthaltes in ihm
aufgestiegen.
Es ist ein sonniger Künstlertraum geblieben, und
er gehört zu den nicht wenigen elegischen Erinne¬
rungen, die über dem Leipziger Museum schweben,
in welchem Wollen und Vollbringen nach dem Ge¬
setz irdischer Unzulänglichkeit so oft in unversöhn¬
lichen Gegensatz getreten sind. Mit ein paar Worten
mag dieser Episode gedacht werden.
Eines schönen Tages, während er mit mir die
Räume unseres Museums durchschritt, kam ihm der
Gedanke, hier fehle ein prächtiger Saal, der als ein
köstliches Gefäß den edelsten Inhalt aufnähme. Aus
der Unruhe der vollgestopften Galerieräume müsse
man künftig in ein königliches Gemach treten, ge-
FRANZ VON LENBACH
12g
schmückt mit Gobelins, Teppichen, geschnitzten Truhen
und Prunksesseln, und in diesem Saale sollten die
Meisterwerke des Museums ihren Bewunderern in
feierlicher Stille Audienz erteilen. Die Idee fand An¬
klang und begann zu reifen. Durch Lenbachs opfer¬
freudige Vermittelung wurden drei Altbrabanter Go¬
belins erworben — dieselben, welche jetzt zeitweise
den Oberlichtsaal des Kunstvereins und dauernd den
Saal der italienischen Meister des Museums schmücken
— und Gabriel Seidl, Lenbachs Freund und Gehilfe
bei so mancher seiner künstlerischen Veranstaltungen,
wurde aus München berufen, eine Skizze dieses ge¬
planten Festsaales zu entwerfen. Aber bei dieser,
aus der farbenfreudigen Renaissance inspirierten Skizze,
deren weiteres Schicksal ich nicht angeben kann, ist
es geblieben.
Für mich selbst wurde es ein unschätzbarer Ge¬
winn meines Lebens, daß ich von der ersten Begeg¬
nung an — es war am Tage der Erwerbung unseres
Bildes des alten Kaisers und einige Tage vor dem
Tode desselben — dem Künstler und dem Menschen
näher treten konnte, daß ich sein Freund ward und
daß ich in manchen Stunden intimen Verkehrs in
das Innere seiner, bei aller Leidenschaftlichkeit und
allem Zornesmut doch goldig klaren, tief und echt
empfindenden Seele blicken durfte.
Wir alle, die wir ihn noch als Lebenden verehrt,
die wir den mächtigen Eindruck seiner Bilder em¬
pfangen haben, fühlen uns ihm zu lebendigem Danke
verpflichtet, und dieser Empfindung öffentlich Aus¬
druck zu geben, ist der Anlaß der heutigen Feier
geworden. Es war ein Vorrecht und eine Pflicht
unseres Vereins, noch einmal in festlicher Stunde des
großen Meisters zu gedenken, dessen Bilder so oft
durch seine Räume gezogen sind, noch einmal den
Leipziger Kunstfreunden einen Überblick über sein
Schaffen durch eine Sammlung eingeladener Werke
zu vermitteln und ihnen in Erinnerung zu rufen,
was wir an ihm besessen haben und nie verlieren
werden.
Lenbach war kein Hofmaler im gewöhnlichen
Sinne des Wortes, wenn er auch oft genug Kaiser
und Könige porträtiert hat. Er wollte es nicht sein,
und wenn ihn die Umstände genötigt hätten, es zu
werden, so würde es sicher bei einem Versuche ge¬
blieben sein. Die Geduld wäre ihm schnell ausge¬
gangen, sich an der Inszenierung eines Repräsen¬
tationsbildes abzumühen; er hätte es wahrscheinlich
überflüssig gefunden, sich dazu durch Studien an
Uniformstücken und Prachtroben vorzubereiten. Was
für die kühle norddeutsche Art Adolf Menzels so
charakteristisch ist — die sichtliche Liebe, mit der er
den kleinsten Zug in der Kleidung des Kammerherrn
wie des einfachen Soldaten mit dem Bleistift festhält
das wäre bei Lenbachs süddeutschem Naturell
völlig undenkbar. Und so gewiß bei den Menzel-
schen Geschichtsbildern die sachliche Exaktheit im
Kostüm nicht entbehrt werden kann, wird man an
Lenbachschen Bildnissen geschichtlicher Größen Ge¬
nauigkeit in Äußerlichkeiten nicht vermissen, wenn
man sich der Wirkung, die von den Köpfen ausgeht,
rückhaltlos hingibt. Man weiß jetzt zur Genüge, daß
an seinen Bildern nichts zu lernen ist über die Einzel¬
heiten der Uniformen Bismarcks, über die Kleider,
mit denen Richard Wagner seine Leiblichkeit ver¬
hüllte oder über den speziellen Modegeschmack der
Damen, die Lenbach in seiner Galerie weiblicher
Schönheiten verewigt hat. Wer ihn bei der Arbeit
beobachten durfte und sah, wie er die ihm zum
Bilde Sitzenden meisterte, erkannte bald, daß diesem
Künstler von souveränem Geiste niemand — den
einzigen Bismarck ausgenommen — imponieren
konnte, weder ein Monarch, noch irgend eine Cele-
brität der Gegenwart, daß ihm keiner darein zu reden
wagte, und daß ein Wunsch, etwa um Verbesserung
und Verschönerung der Toilette, unzweifelhaft mit
dem verbindlichsten Lächeln abgelehnt worden wäre.
Mit seinem starken Instinkt für echte Kunst fühlte
Lenbach heraus, daß die Arbeit des Pinsels da auf¬
hören müsse, wo der Triumph des Schneiders be¬
ginnt. Er fühlte es, trotzdem er durch die Schule
Pilotys gegangen war, oder vielmehr gerade weil er
die innere Hohlheit virtuoser Stoffmalerei in der Nähe
beobachtet hatte. Er wußte, welche Gefahr darin
liegt, das Interesse von dem Lebensnerv eines Bildes,
welcher beim Porträt ausschließlich im Kopfe, in den
Augen steckt, abzulenken auf totes Beiwerk, auf
Kleider und Möbel, Orden und Geschmeide. Was
von solchen Requisiten höfischer Etikette unentbehr¬
lich war, pflegte er ganz flüchtig anzudeuten. Wie
oft fehlen an den Röcken seiner Helden sogar die
Knöpfe, z. B. auch an der Hamburger Wiederholung
unseres Kaiserbildes, die dadurch fast einen Vorzug
vor dem Leipziger beknöpften Exemplar erhalten hat.
Nur vereinzelt sind die Bilder, in denen er auf die
Ausstaffierung seiner Porträts etwas mehr Fleiß und
Ausdauer gewendet hat, und ein Bild, wie das pracht¬
volle, auf das sorgfältigste durchgeführte Bildnis
Björnstjerne Björnsons, gehört zu den Ausnahmen.
Wenn er den Liebreiz anmutiger Frauen nicht bloß
in Gesicht und Haltung zeigen, sondern auch durch
Federn, Perlen und Spitzen heben wollte, - ich
denke an die Bildnisse der Frau Eugenie Knorr und
der Frau Lilli Merck — so ist es ihm stets gelungen,
die subtilsten Effekte eines blitzenden Kolliers, eines
duftigen Schleiers oder die schillernden, über Pelz,
Samt und Seide liegenden Töne dem Beschauer vor¬
zutäuschen. Die volle Wirkung ist da, man glaubt
den Samt und die weichen Spitzen des Pelzes zu
fühlen, aber sieht man näher zu, so beruht der Ein¬
druck auf wenigen, mit dem breitesten Pinsel flüchtig
hingeworfenen, gleichsam über das Bild hinhuschen¬
den Tönen, auf gewischten Flecken, zitternden Linien
oder Punkten. Wir sind überzeugt, daß in sehr vielen
Fällen die von Lenbach porträtierten Personen, nament¬
lich seine Damen, seine Dichter und Maler, aber auch
manche von den Nebenfiguren seines Repertoirs,
gar nicht so vor ihm erschienen waren, wie er sie
schildert. Wenn ihm das Kostüm zur Verstärkung
der Charakteristik beitragen sollte, scheute er sich
nicht, es ebenso willkürlich umzugestalten oder neu
zu erfinden, wie er Stellung und Bewegung frei, im
130
FRANZ VON LENBACH
F. VON LENBACH. PAUL HEYSE. STUDIE
Photographie Haiifstängl
Sinne der Eigenart des Dargestellten zu erfinden
pflegte. So sind manche seiner Künstlerporträts -
ich erinnere an einige seiner Selbstbildnisse, an Bilder
Paul Heyses, des Malers Franz von Seitz, — gewisser¬
maßen ideale Charakterbilder geworden, in denen der
äußere und innere Mensch sich durchdringen, geisti¬
ges Wesen und leiblicher Ausdruck desselben einheit¬
lich verschmolzen sind.
Bei dieser Harmonisierung der Persönlichkeit war
ihm unter Umständen das Kolorit der Kleidung eben¬
so bedeutsam, wie der Ausdruck des Gesichtes, und
er nahm dann auf die Farbenstimmung des Kostüms
die sorgfältigste Rücksicht. In seinen Hauptwerken
ist jede Farbennuance berechnet und jeder Strich an
der richtigen Stelle. Dieses Gleichgewicht der Töne,
diese Rhythmisierung der Farbe erstrebt er in der
verschiedensten Weise. Seine Bismarckbilder erscheinen
zum Teil wie Versuche, das Problem der Farbe auf
dem Untergrund einer grandiosen Persönlichkeit zu
variieren, und wenn nicht in allen das gewaltige Ant¬
litz dominierte, könnte man diese Modulationen seines
Lieblingsthemas für bedenkliche Spiele der Phantasie
halten. Aber man merkt es kaum, wenn er in einem
bekannten Bilde des sitzenden Bismarck den weißen
Rock der Halberstädter Kürassiere mit dem Gesicht
zusammengestimmt hat, dem Weiß der Uniform zu¬
liebe auch den Teint des Gesichtes bleicht und dem
Kopf einen goldig glänzenden Helm statt des richti¬
gen weißen aufsetzt. Solche absichtliche, koloristisch
feine Verstöße gegen die geschichtliche Wahrheit sind
bei ihm häufiger, als dem Beschauer klar wird. Man
bemerkt sie nicht, wie man in einem anderen Falle
die Kleinheit der Reiter des Parthenonfrieses nicht
als Fehler empfindet. Es gibt ein Bild, worin der
perückenlose, kahlköpfige Moltke mit einem Pelz und
dem Orden Pour le merite an dem violett statt schwarz
gemalten Bande versehen ist, eine Maskerade von un-
gemeiner Wirkung, da das dunkelbraune Haar des
Pelzes und der weiße, blanke Schädel, das violette
Halsband des funkelnden Ordens und dieser selbst
die prächtigsten Kontraste bilden. Manchmal geht
eine solche Umformung der Wirklichkeit durch das
ganze Bild, auch durch das Gesicht, und namentlich
die Augen pflegt Lenbach mit schöpferischer Freiheit
wie kein anderer Maler zu behandeln. Das außer¬
ordentliche Temperament, das er seinen Köpfen ver¬
leiht, beruht zumeist auf dem höchst gesteigerten Aus¬
druck der Augen.
Was schon die Alten wußten — ich denke vor
allem an den Kopf des Laokoon — , was ein Michel¬
angelo, ein Klinger immer wieder verwenden, ist auch
bei Lenbach zum Hilfsmittel geworden, um das höchste
Pathos im Gesicht auszudrücken. An seinen Bismarck¬
köpfen zeigt er uns oft das Auge vergrößert und
verschoben bis an und über die Grenzen der Mög¬
lichkeit, Brauen und Lider rücken weit auseinander,
daß der Augapfel wie ein Feuerball in seinen Höhlen
liegt. Nun ist aber, wie niemand leugnen kann, das
schmerzlich verzerrte Auge des Laokoon durchaus
naturwidrig geformt und sicher liegt hierin ein wesent¬
licher Teil der erschütternden Wirkung dieses Kopfes.
Ebenso hat Lenbach die Augen in dem Leipziger
Bildnis des alten Kaisers in einer Weise dargestellt
- - mit starken Verschiebungen und größten Ungleich¬
heiten — , welche nach dem Zeugnis von Beobachtern
aus seiner nächsten militärischen Umgebung ihm
nicht eigen waren, ja unmöglich sind. Ich möchte
behaupten, daß an Lenbachs seelisch ergreifendsten
Männerbildnissen überhaupt nie ein Paar gleichge¬
bildeter Augen vorkommt, daß die bei jedem von
geistiger Energie erfüllten Kopfe natürliche Verschie¬
bung der Gesichtslinien von ihm bis zur äußersten
Grenze verstärkt wurde, und daß diese Asymmetrie
des Gesichts eigentlich den überwältigenden Reiz
seiner Bildnisse ausmacht. Hier kann man nicht
ändern und korrigieren, ohne zu zerstören. Die
Naturwidrigkeit steckt der echten Kunst im Blute.
Gewiß, Lenbach durfte der Wirklichkeit in seinen
Bildnissen Gewalt antun, wie es kein Hofmaler ge¬
wagt hätte. Wenn er unwahr wurde, geschah es aus
künstlerischen Gründen. Es lag ihm nie an einer
platten Naturabschrift, an nüchterner Ähnlichkeit, und
nicht bloß in seinen schönen Frauenbildnissen ist er
zuletzt, in der reifsten Zeit seiner Meisterjahre, immer
freier und von der Natur unabhängiger geworden,
gelegentlich bis zu vollkommener Umwertung der
von ihm porträtierten Personen. Da bricht auch die
Lust am Farbendichten mehr und mehr aus ihm
hervor.
Es wird von Ernst Würtenberger überliefert, daß
Böcklin in den achtziger Jahren, als er anfing Himmel¬
blau und Wiesengrün anders zu sehen, als irgend
FRANZ VON LENBACH
131
jemand vor ihm, und in seiner grüblerischen Weise
über die Gesetze seiner neuen Malkunst nachsann,
ein eigentümliches Verfahren erfand für seine Experi¬
mente über Licht- und Farbenverteilung eines Bildes.
Auf einem mit Kreide grundierten Zigarrenbrettchen
malte er eine kleine Farbenskizze, die ohne den Gegen¬
stand selbst deutlich zu machen, die Farbenwerte
nebeneinander zeigte. Ganz dasselbe Verfahren pflegte
Lenbach in den neunziger Jahren, wo ich ihn häufig
im Atelier besuchte, vor meinen Augen anzuwenden,
mit einer eigentümlichen Fähigkeit merkwürdig schnei!
verschiedene Möglichkeiten der Farbenkombination
und der Darstellungsform durchzuprüfen. Ich erinnere
mich einer Unterhaltung, in der er mir vor der
Staffelei mit leidenschaftlicher Wärme in Worten zu
erklären und mit dem Pinsel zu beweisen suchte,
wie viel Kraft und Temperament in der Farbe stecke.
Es waren Erläuterungen zu dem Tizianischen Aus¬
spruch le macchie sono l’anima del color. Ich sah
zunächst nur Flecken intensivster Farben, rot, violett,
gelb, die er zusammensetzte und durch einen Rahmen
bildmäßig abschloß. Diese Klecksbildchen entstanden
in Handfiächengröße dicht nebeneinander auf großen,
dunkel grundierten Holztafeln, die er, wenn er demon¬
strieren wollte, auf die Staffelei warf, um an einer
freigebliebenen Stelle mit Farbtupfen sofort ein Bildnis,
eine Landschaft oder einen Blütenstrauß zu beginnen,
ein etwas, das in der Nähe unklar, in einiger Ent¬
fernung eine Darstellung von frappanter Wirkung
wurde. Es mochten zum Teil Keime neuer Bilder
sein, die in ihm aufstiegen, wie Abendglühen oder
Gewitterleuchten und es war anmutig zu sehen, wie
sich eines aus dem anderen entwickelte, wie ein
venezianischer Edelmann da war, wenn er von Tizian
sprach und eine italienische Landschaft, wenn seine
Erinnerungen nach Florenz abschweiften. Damals
wurden mir zwei Grundzüge seiner künstlerischen
Begabung offenbar: Seine unbegrenzte Einbildungs¬
kraft, die er sich selbst mit Unrecht und wohl nur
im Hinblick auf die Einseitigkeit, mit der er das
Porträt pflegte, abgesprochen hat, und sein außer¬
ordentlich entwickelter Farbensinn.
In Lenbachs Atelier befinden sich noch mehrere
Skizzentafeln dieser Art. Auf der einen sieht man
links eine farbenprangende Landschaft, die an der
rechten Seite in Gewitternacht untertaucht; über dem
Wolkendunkel schwebt eine große Palette mit glühen¬
den Farbenflecken; glitzerndes Geschmeide hängt
darüber, bunte Schmetterlinge flattern vorbei. Darunter
breitet sich eine andere Landschaft klassischen Charak¬
ters aus, mit Tempeltrümmern auf kahlem Felsen,
von der Sonne bestrahlt, die durch einen Regenbogen
bricht. Dann Felsgipfel, unten drei kleine Porträt¬
bildchen, wie angelehnt an den Felsen. Das Ganze
ein geistsprühendes Capriccio erhitzter Künstlerphantasie.
Landschaften sind auch auf den übrigen Tafeln,
deren es eine Menge zu geben scheint, mehrfach vor¬
handen. Dazwischen finden sich Blumensträuße und
Stilleben anderer Art neben Porträtentwürfen, alles
durcheinander gewürfelt, und fast immer sind es fertige
Bildgedanken von berauschender Kraft des Kolorits.
Wenn man nach solchen Einfällen urteilen darf,
lag in Lenbach eine universelle Begabung für alle
Gebiete der Malerei, und wie er schon bei dem ersten
Griff ins Leben in dem Bilde des liegenden Hirten¬
knaben der Schackgalerie und in dem Preßburger
Gemälde des römischen Triumphbogens seine volle
Meisterschaft für das figürliche Genre und die Land¬
schaft bewiesen hat, würde er vielleicht unter anderen
Verhältnissen und bei gegebener Anregung auch im
Historienbild Hervorragendes geleistet haben. Aber
er zog es vor, dasjenige Stoffgebiet allein zu pflegen,
welches alle seine Fähigkeiten zugleich beschäftigte: sein
koloristisches Talent und seine Gestaltungskraft nicht
weniger, als seinen Scharfblick für die feinsten
Charakterzüge der Persönlichkeit.
Was hat ihm denn eigentlich den unbestrittenen
Vorrang vor allen anderen Bildnismalern unserer Zeit
und eine Ausnahmestellung in der Kunstgeschichte
überhaupt verschafft? Doch nicht die Sicherheit im
Treffen, die virtuose Technik, das Temperament seiner
Farben, Eigenschaften, welche auch andere Meister
neben ihm - die Kaulbach, Herkomer, Lazslo z. B.
— jeder in seiner Weise besitzen. Nein, es war seine
magische Kraft, die Seele aus dem Menschen heraus¬
zulocken, ehe er ihn malte.
Man kann drei Arten des Bildnisses unterscheiden,
je nach dem Verhältnis, in dem sich der Porträtierte
zu dem Maler befindet. Es gibt Bildnisse des un¬
beobachteten Menschen, Bildnisse, in denen der
Dargestellte so ruhig und gesammelt erscheint, als
F. VON LENBACH. KAISER WILHELM 1. STUDIE
Photographie Hanfstängl
132
FRANZ VON LENBACH
wenn zwischen ihm und dem Künstler oder Beschauer
kein Kontakt bestände und keine Aufnahme durch
den prüfenden Bück des Malers vorausgegangen wäre.
Wir fmden sie in der goldenen Zeit der Antike und
der h’pr, aissance, auch in manchem Werke der Gegen¬
wart, b i Lenbach in seiner ersten Periode, wo er
noch iiter dem Einfluß der Klassiker steht.
!d es gibt Bildnisse des beobachteten Men¬
schen, der sich gut angezogen hat und in Positur
stellt inni an dem man in Miene und Haltung erkennt,
daß er einen möglichst vorteilhaften Eindruck zu
machen bemüht ist. Solche Bilder schuf mit be¬
sonders naiver Absichtlichkeit die blutleere Kunst der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und die folgende
Epoche bis auf Makart und Angeli, auch schon
Barock und Rokoko. Wenn wir von Hofmalerei mit
einer gewissen Geringschätzung sprechen, meinen wir
die gespreizte Unnatur solcher Bildnisse.
Den höchsten Grad der Auffassung bezeichnet die
Darstellung des beobachtenden , des innerlich er¬
regten, geistig gespannten Menschen, und solche im
Atelier ungewöhnliche Momente hervorzurufen, darin
lag die Kraft, welche Lenbach über fast alle Vertreter
seines Faches hinaushob. Er verstand es durch Erzählen,
ein geistreiches Plaudern mit einem etwa zufällig im
Atelier anwesenden Freunde den zu Porträtierenden an¬
zuregen, ohne ihm die Ruhe des Modells zu nehmen;
er wußte seinen Geist und seine Energie zu wecken,
dann die Wirkung in Gesicht und Haltung momentan
zu erfassen und mit ungemeiner Schnelligkeit durch
Pinsel oder Kreide festzuhalten. Für diese Fixierung
flüchtigster Eindrücke hatte er sich eine eigene Technik
erfunden, wir kennen sie alle als Lenbachs Manier,
die jetzt von großen und kleinen Künstlern nach¬
geahmt wird. Es ist eine eigentümliche Mischung
von Zeichnen und Malen. Wenige auf rohe Papp¬
deckel in einem langen Zuge hingeworfene Linien,
die am Kontur des Gesichtes entlang gleiten und die
wesentlichsten Züge andeuten, dazwischen einige ge¬
wischte oder gemalte, Flächen deckende Farbtöne,
einige Kritzel und Drucker und die Illusion des
vollen Lebens war da.
Man muß ihm bei der Arbeit zugesehen haben,
wie aus den ersten Sitzungen die Studien zu Dutzen¬
den hervorgingen, wie er an den zur Ausführung
ausgewählten Skizzen versuchend und prüfend immer
wieder änderte, wohl auch Ausdruck, Haltung und
Geste rasch und mit wenigen Strichen wechselte, die
Töne umstimmte, um zu begreifen, daß er nicht, wie
vielfach geglaubt wird, von Photographien abhing
und dem Leben sklavisch folgte. Allerdings hat er,
der Vielbeschäftigte, der immer mit Aufträgen über¬
häuft war, die Beihilfe der Photographie nicht missen
mögen. Wohl um die Sitzungen abzukürzen, hat
er den Porträtierenden in der Regel von allen Seiten
aufnehmen und die Bilder auf einem Karton zu¬
sammenstellen lassen. So stand ihm beim Fortgang
der Arbeit, die er oft unterbrach, und zu gemäch¬
lichem Studium gleichsam ein Rundbild, die ganze
Figur des Darzustellenden vor Augen. Aber nicht
nach solchen Lichtbildern, sondern nach dem Leben
pflegte er das Bildnis anzulegen und zu vollenden.
Er fixierte das Original vorher mit Pinsel und Kreide
in wechselnden Posen und Beleuchtungen und war
in diesen Versuchen, in immer neuer Darstellung
seines Vorbildes um so glücklicher, je mehr es ihn
anzog und geistig beschäftigte.
Wie viel er dabei der Natur entnahm oder seinem
Genius verdankte, wer kann es noch feststellen? Und
gar vor der Heroengestalt eines Bismarck mußte seine
Einbildungskraft aufs höchste entflammt werden. In
Friedrichsruhe entstanden die Bismarckstudien in sol¬
chen Massen, daß er nur einen Teil mit fortzunehmen
für nötig fand, und einen anderen als wertlos bei¬
seite warf. Der vielhörende Heinrich von Poschinger
hat den kleinen Zug aufbewahrt, daß der Kanzler
diesen Abfall vom Tische des Reichen vernichten ließ,
damit nicht — wie in einem anderen wohlbekannten
Falle — hinter dem Rücken des Künstlers ein Mi߬
brauch getrieben würde.
Es ist bezeichnend für das gärende Ungestüm der
Phantasie Lenbachs, daß er sich auch bei bestimmten
Aufträgen mit einer einfachen Lösung selten begnügte,
sondern mehrere, ja mitunter eine ganze Reihe ab¬
weichender Entwürfe nebeneinander entstehen und
wohl auch zu fertigen Bildern ausreifen ließ, von
denen er nur eine einzelne Fassung dem Besteller
abgab, während er die übrigen in den weiten Räumen
seines Ateliers zurückstellte. So hat sich in seinem
Heim ein Reichtum von Bildern aufgehäuft, der noch
lange den Forscher beschäftigen und den Kunstfreund
mit Neuigkeiten überraschen wird, wenn es auch meist
nur alte Brillanten in neuer Fassung sind, die alten
Lieblinge der Lenbachschen Muße: ein Döllinger,
Moltke, Kronprinz Friedrich, Gladstone, vor allem
Bismarck, der Unerschöpfliche, dann die Bilder schöner
Frauen, die eigenen Bildnisse und die seiner Lieben.
Geradezu beispiellos und gar nicht mehr zu
übersehen ist die Anzahl seiner Bismarckstudien, der
großen und kleinen Entwürfe und der mehr oder
minder vollendeten Bilder. Es hat nie einen Künstler
gegeben, der imstande war ein und dasselbe Thema
so oft und immer neu, immer bedeutsam abzuwandeln,
wie es Lenbach in der Darstellung des Altreichs¬
kanzlers gelungen ist. Bismarck im Stehen und Sitzen,
Bismarck forschend, sinnend, lesend, in den ver¬
schiedensten Wendungen des Kopfes und in einem
Wechsel von Situationen, die nie genrehaft wirken
und nie trivial werden; Bismarck als schlichter Land¬
edelmann im Rock und Schlapphut, als Patriarch in
der Würde des Greisenalters, als Diplomat in kühler
Ruhe oder mit der stolzen Haltung des Militärs, der
kraftstrotzende Kanzler durch alle Phasen seines be¬
wegten Lebens bis zu dem müden Einsiedler des
Sachsen Waldes; welche Fülle höchster Eingebungen
des Genies und nicht eine Wiederholung, nie eine
Schablone, nie ein starrer Typus!
Es ist begreiflich, daß manche von diesen Skizzen
ihr Thema sehr frei und selbst willkürlich behandeln.
Ich will ausdrücklich hervorheben, daß sich mit den
Jahren namentlich in den Pastellbildern junger Mädchen
und Frauen eine gewisse leere, rein dekorative Schön-
FRANZ VON LENBACH
133
lieitskurve einmischt, welche nicht mehr der Natur
entlehnt ist und welche eben nur in jener, zum
Schminken und Aufputzen reizenden Boudoirtechnik
des Pastells entschuldbar wird. Er selbst hat zwischen
solchen Erzeugnissen der Künstlerlaune und seinen
galeriemäßigen Werken streng unterschieden. Aber
wie ein berühmter Schriftsteller wohl Aphorismen als
Autographen rasch hinschreibt und dem Sammler
preisgibt, hat Lenbach gelegentlich Skizzen und Bilder
weiblicher Schönheiten, seiner Freunde und Bewunderer
mit einer großzügigen, ganz seinem Charakter ent¬
sprechenden Pinselschrift entworfen und als Gnaden¬
beweise, auf Gewinn nicht achtend, von sich gegeben.
Die Anforderungen an den Meister wurden immer
größer, und dem Andrang zu wehren fiel ihm nicht
ein, war es ihm doch zum Lebensbedürfnis geworden,
in seinem Atelier vom Morgen bis zum Abend, eine
Mittagspause abgerechnet, vor der Staffelei zu stehen
mitten im Strom der Fremden, der München und
seine Villa allsommerlich durchflutete.
In dieser rastlosen Arbeit errang und befestigte
er allmählich seinen eigenen Stil, jene Sicherheit des
Blickes für die großen Züge des Charakters, jene
Breite des Vortrags, in welcher Beobachtung und
Pinselführung in eins zusammenfließen, jenen coup
de pinceau, der ihn trotz allen Widerspruchs der
Gegner in die Reihe der Modernsten gestellt hat.
Schon in den achtziger Jahren hatte er die Freude
am Lasieren und Verschmelzen der Töne, an der
sauberen, glatten Ausführung verloren. Er fühlte,
daß er mehr sah und wiedergab, wenn er entschlossen
der Natur zu Leibe ging und aufhörte, ein sogenanntes
gutes und schönes Bild zu malen. Das bedeutete
aber auch nicht weniger als einen Bruch mit der auf
der Akademie erzogenen und vom Publikum hoch-
geschätzten Korrektheit der Modellierung und Sauber¬
keit der Pinselführung. Jetzt galt es nur noch den
ersten, in der Skizze festgehaltenen Eindruck auch in
dem danach auszuführenden Bilde nicht abzuschwächen.
Und dies gelang ihm allmählich mit einer von wenig
anderen erreichten, von niemand überbotenen Meister¬
schaft. Hierin lag das Geheimnis seiner Größe, denn
es ist (wie nur die Künstler voll zu würdigen ver¬
stehen) in aller bildenden und darstellenden Kunst
das schwerste, die Inspiration des Erfindungsmomentes
während der zeitraubenden Ausgestaltung und bei der
Wiederholung nicht zu verlieren. Wenn Eugene
Delacroix den Grundsatz aufstellt: um ein Bild zu
vollenden, müsse man es immer etwas verderben, denn
durch die letzten Striche, welche die Harmonie zwischen
den einzelnen Teilen herstellen sollen, wird die Frische
der ersten Auffassung zerstört, so gibt dieser Aus¬
spruch das Credo der alten Kunst. Die neue Kunst,
die des Impressionismus, lernte umgekehrt rasch zu¬
greifen, Licht und Leben in ihrer Beweglichkeit er¬
fassen und dann die Hand vom Bilde zurückziehen,
um es nicht — wie Böcklin es nennt — »zu Tode zu
pinseln«. Die Sehnsucht des Künstlers wurde nun,
den im Augenblick erhaschten Eindruck flüchtigen
Lebens blitzschnell durch die Fingerspitzen und den
Pinsel auf die Malfläche zu bringen. Die Skizze wurde
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 5
F. VON LENBACH. SCHWIND UND SEMPER. STUDIE
Photographie Hanfstängl
zur Hauptsache, der sicher treffende »Pinselhieb«
Kennzeichen des wahren Künstlers. Von dieser Seite
betrachtet, sind die meisten Studien Lenbachs höchste
Leistungen derjenigen Kunst, welche sich vorzugs¬
weise unter dem Namen der Sezession zu sammeln
pflegt. Daher erfolgte bei Lenbach die Beseelung des
Bildes eigentlich erst in dem Momente, wo er das
Glanzlicht im Auge mit einer raschen Bewegung der
vorgestreckten Hand gleichsam auf das Bild warf.
So sorglos und nachlässig er das Beiwerk hinstrich,
bei dem Auge wurde die Hand ruhig und arbeitete
mit minutiöser Feinheit; aber erst der letzte, den Blick
hervorrufende Tupfen weißer Farbe vollendete den
Ausdruck.
Man untersuche nur, wie ein Lenbachsches Bildnis,
das aus richtiger Entfernung gesehen zu einheitlicher
Wirkung zusammengeht, in der Nähe sich auflöst in
scheinbar willkürliche Striche und Flecken. Da findet
man jene »glücklichen Nachlässigkeiten«, welche das
Entzücken des Künstlers hervorrufen, weil sie die
eigentlichen Lebenserreger im Bilde sind. Da wird
nicht mehr Linie an Linie gebunden, geformt und ge¬
rundet, Einheit der Fläche und Einheit der Technik
gewahrt, sondern Effekt neben Effekt gesetzt, mit jedem
Werkzeug, das ihm gerade in der Hand lag. Keine
18
134
FRANZ VON LENBACH
Untermalung m-'-, langsamem Aufsetzen der Töne und
keine fertige Zei» i.r.ung, ehe die Modellierung begann.
Es kam ■ •>!', -' 3 er, nachdem er mit einigen Blei-
stiftsi.’ZiCiL die wesentlichen Linien eines Kopfes an-
gedr; ■ ‘ haüe, sofort anfing mit dem Pinsel die Haupt¬
töne hinzusetzen und dann wieder zum Bleistift griff,
v/enu ihm der Pinsel zu glatt zu arbeiten schien.
An ien: Leipziger Bilde des alten Kaisers kann man
Bleistiftkritzel entdecken, mit denen an dem schon
fertigen Bilde Runzeln und Falten am Kinn und sonst
im Gesicht angegeben sind.
Gewiß, man darf nicht sagen, daß Lenbach ein
Schüler der Alten geblieben sei. Er war modern ge¬
worden, ohne es selber zu fühlen. Aber er hat die
Lehren der alten Kunst zeitlebens als ein Vermächtnis
betrachtet, an dem man nicht rütteln dürfe. Er war
der Überzeugung, daß Tizian und Rembrandt noch
für die Gegenwart höchste Muster seien, und darum
war er außerstande, zu der Bewegung im Lager der
Jungen das richtige Verhältnis zu gewinnen. Er liebte
es, über die Bedingungen und die Gesetze der Malerei
nachzusinnen, wie es andere neben und vor ihm ge¬
tan haben. Viel von dem, was er gegen Wymethal
über Wege und Ziele der Kunst, über die Führer
des modernen Impressionismus und ihre Nachfolger
geäußert hat, dürfen wir vergessen, denn es war ihm
weder die Tiefgründigkeit und das Hellgesicht eines
Böcklin, noch die logische Schärfe eines Klinger ge¬
geben. Lehrreich und frei von aller Schärfe persön¬
licher Verstimmungen wurde die Unterhaltung, wenn
man ihn auf das Gebiet technischer Fragen brachte
und er zu reden begann über die Malweise der
Alten, die er in mancherlei Versuchen zu ergrün¬
den strebte. Es ist mir in Erinnerung geblieben, wie
nahe er sich mit Ansichten und Beobachtungen be¬
rührte, welche mir Böcklin in ähnlichen Gesprächen
entwickelt hat.
So wenig Interesse Lenbach als Theoretiker erregt,
so sehr fesselt er in einer anderen Eigenschaft, die
mit seiner Vorliebe für die Alten eng zusammen¬
hängt. Er war ein Dekorationsgenie, das in der
Gegenwart kaum seinesgleichen hat. Zuerst in seinen
Ateliers, dann in verschiedenen, von ihm arrangierten
Ausstellungen, endlich in den Prachtsälen seiner in
den achtziger Jahren bei den Münchener Propyläen
erbauten Villa hat er die Kunst ausgebildet, festliche
Räume zu schaffen mit einem geringsten Aufwand
von Mitteln, die edelsten Stoffe in billigen Surrogaten
zu imitieren und einen märchenhaften Luxus zu ent¬
falten, zu dessen Herstellung die einfachsten Arbeiter
verwendet werden konnten. Wer ist nicht entzückt
worden von dem Zimmer im Eck des Eingangs zu
der langen Flucht seiner Münchener Atelierräume?
Ein kleines, durch bunte Oberlichter schillernd er¬
leuchtetes Gemach, mit einem wie Feuerwerk blitzen¬
den Muschelbrunnen zur Linken, einem goldenen
Kaiserstuhl im Hintergrund und allerlei antiken Bild¬
werken aus Ton, Marmor und Bronze zur Rechten,
gegenüber die Figur eines Pfaues mit funkelndem
Gefieder, an den Wänden glitzernde Mosaikbilder.
Über dem Thron bauscht sich noch ein lässig hin¬
geworfenes, rotseidenes Gewand, als wenn ein römi¬
scher Imperator eben erst seinen Sitz verlassen hätte.
Etwas wie Spinneweben und Staub von Jahrtausenden
liegt über dem kostbaren, vergilbten Hausrat. Ist es
nicht der Winkel eines verzauberten Schlosses aus
Tausend und einer Nacht, in den wir geraten sind?
Wir schreiten weiter und finden erstaunt in anderen
Zimmern kunstreiche Intarsien an den Deckenbalken,
frühchristliche Elfenbeinschnitzereien und edelste
griechisch-römische Gemmen in den Vertäfelungen
der Türen. Wir sehen auf den Renaissancetruhen
Rüstungsstücke aus der Ritterzeit neben alten Bischofs¬
mützen, japanische Vasen neben nordischem Kirchen¬
gerät. Und an den Wänden hängen über seidenen
Tapeten und Gobelins Bildnisse, die uns aus einem
Jahrhundert in das andere rufen, und die sich doch
so merkwürdig ähnlich sehen. Und ist dort nicht
auf dem Cranachschen Bilde der Flucht nach Ägypten
am Nährvater Joseph der wohlbekannte Kopf des
alten, so vielen Florenzkundigen lieb gewordenen
Liphart zu erkennen?
Wir stutzen und überlegen. Wo ist hier Wahr¬
heit und wo beginnt die Täuschung? Eine faustische
Phantasie scheint aus der Vergangenheit hervor¬
gelockt zu haben, was irgend das Herz eines Künst¬
lers erfreuen kann, und eine Feenhand scheint es
zusammengebaut und zusammengestimmt zu haben.
In der Tat, es ist Wahrheit und Dichtung in eins
verwoben. Echt sind viele der kostbarsten Alter¬
tümer, der Gewebe, der Truhen und Bilder, und
Täuschung, eine erstaunlich geschickte Täuschung, die
nur der in ihrer Verwendung sich kundgebende feinste
Geschmack rechtfertigt, sind die Intarsien, die wie
originale Bronzen und Skulpturen wirkenden getönten
Abgüsse, die in Stuck imitierten Mosaiken und Tür¬
füllungen, Täuschungen, das heißt Kopien oder Nach¬
ahmungen, sind auch viele der wie alt aussehenden
Bilder. Hier berühren wir neben der Stärke zugleich
eine Hauptschwäche der Lenbachschen Kunst.
Wie in Karnevalslaune — und das ist nach Gott¬
fried Sempers geistreichem Wort die rechte Stimmung
für alles Kunstbilden überhaupt — scheint die ganze
Villa mit ihrem Hausrat erschaffen zu sein, und der
sie entstehen ließ, war nicht bloß ein leidenschaft¬
licher Verehrer und Sammler alter Kunst, sondern er
war auch wunderbar begabt, alte Kunst zu improvi¬
sieren und neue alt zu machen.
Es erregt die Bewunderung des Kunstgelehrten,
mit welchem Geschick Lenbach ganz Italien durch¬
sucht hat, um Muster für seine dekorativen Bedürf¬
nisse aufzutreiben. Er ließ überall abformen und
besaß einen unglaublichen Vorrat von Ornament¬
stücken jeder Art, großen und kleinen Reliefs, Friesen,
Statuen und Büsten, die zum Teil in Nebenräumen
seiner Villa reihenweise und in schönster Unordnung
angebracht sind. Antike und Renaissance war ihm
dabei gleich wertvoll, die ursprüngliche Bedeutung
von Form und Inhalt des Gegenstandes ganz gleich¬
gültig; es genügte, wenn das Relief als Kunstwerk
eine leere Stelle passend ausfüllte, eine Büste als
Kontur und Farbenfleck die Gesamtwirkung abschloß.
FRANZ VON LENBACH
135
Denn immer zielte er auf den großen malerischen
Eindruck eines Raumes ab, dem sich alles Einzelne
unterordnen mußte. Wenn dieser geniale Leichtsinn,
dem alle Mittel zur Erreichung eines Zweckes recht
waren, dem Grundgefühl der nach Gesundung stre¬
benden Moderne »Echtheit im Material und Wahr¬
heit der Form« zuwiderläuft, wenn das künstliche
Altmachen seiner Bilder den heftigsten Widerspruch
Andersgläubiger hervorrief — war es zu verwundern?
Und eigentlich war der altertümelnde Schmuck¬
trieb Lenbachs doch nicht bloß eine vereinzelte
Künstlermarotte, sondern die Rückkehr zu einer ur¬
alten, historisch gerechtfertigten Formel, die er in
Rom und Florenz aufgefunden, vielleicht auch ahnungs¬
los neu konzipiert hatte. Jene Formel, die einst im
Nillande am Königshofe der Ptolemäer erdacht wurde,
von da nach Campanien und Rom wanderte, eine
ausgebildete Kunsttechnik, welche die Gelehrten in
Pompeji und in den Kaiserpalästen des Palatin als
alexandrinischen Inkrustationsstil studieren und die
einmal auch — zu Winckelmanns Zeit — in der
Villa Albani wieder praktisch erprobt worden ist.
Es ist eine inhaltsschwere Frage, ob nicht Len-
bach, der archaisierende Dekorationskünstler, der sich
und seinen mit ihm arbeitenden, aber von ihm ge¬
leiteten Freunden in dem Münchener Künstlerhaus
neben der Semperschen Synagoge ein so einzigartiges
Denkmal gesetzt hat, mit seinen rückschauenden Kunst¬
tendenzen den Fortschritt der Münchener Kunst auf
Jahrzehnte verzögert hat, und es ist ein schwacher
Trost, daß alle Imitation ein beschränktes Leben hat
und mit dem Abfallen der Tünche ihren Reiz ver¬
liert; war es doch auch eine Modekrankheit unserer
Zeit, die Ausstellungssucht, welche diese Kunst der
Improvisation und Imitation groß zog und zu immer
neuen Versuchen antrieb.
Aber verweilen wir nicht bei diesen Erinnerungen,
welche das Bild des Meisters in ein eigentümliches
Helldunkel hüllen. Wenden wir uns zu dem Kern¬
punkte seines Wesens, zu der Quelle, aus der ihm
seine Kraft zufloß.
Hinter jedem Künstler suchen wir den Menschen,
und wir vergleichen gern die Werke mit ihrem Schöpfer,
als wenn sie sich gegenseitig erläutern müßten. Und
in der Tat, so stark wie sein Geist und seine Kunst,
so urwüchsig und gesund wie sein Empfinden, sein
Urteil und sein Blick, war auch der äußere Mensch,
die Hünengestalt mit dem mächtig gewölbten Kopf
und den durchdringenden, im Gespräch über die
großen Brillengläser hinweg fixierenden Augen. Und
dieser gebieterischen Erscheinung eignete eine Ein¬
fachheit und Geradheit des Wesens, eine Freimütig¬
keit, die keine Schranken, kein Ansehen der Person
kannte, und die sich wohl auch bis zu verblüffender
Derbheit steigern konnte, worüber unter Freunden
und Feinden drastische Geschichten in Menge um¬
gehen. Im Verkehr mit Fremden zeigte er eine be¬
strickende Gabe der Unterhaltung, die feinsten Formen
und das reichste Wissen weltmännischer Bildung, die
doch nur einer Fähigkeit des Genies entsprang, sich
alles geistig Anregende anzueignen und zu assi¬
milieren. Allbekannt ist seine Schlagfertigkeit im
Redegefecht, sein Witz und sein Humor, aber nur in
engeren Kreisen weiß man von seinem Drang nach
Freundschaft, von der Tiefe seines Gemütes und von
seinem Bedürfnis zu helfen und zu fördern, wo und
wie er nur konnte. Fürstlich wie sein Leben, war
auch seine Art zu schenken. Er, dem für Bilder und
selbst für bloße Studien die höchsten Preise gezahlt
wurden, konnte unter Umständen seine Bilder und
Skizzen wie Bagatellen behandeln, die man dem Be¬
sucher zum Andenken mitgibt oder dem Freunde ins
Haus schickt. Im Künstlerhaus zu München findet
sich ein Saal voller Lenbachischer Gemälde — und
es sind Meisterwerke darunter — , die er zur Aus¬
stattung dieses Raumes aus den Schätzen seines
Ateliers gespendet hat, und im Leipziger Museum
trägt eines der vollendetsten Bilder Lenbachs, sein
Bismarck im Helm, die stolze Unterschrift: »Geschenk
des Künstlers.«
Denen, die ihn nicht persönlich gekannt haben,
steht in aller Zukunft eine lautere Quelle offen in
seinen Selbstbildnissen. Sie geleiten uns durch sein
ganzes Leben, von der Jugend bis dicht an sein
Sterbebett. Lenbach blickte auf den Grund seines
Herzens, wenn er sich selbst schilderte, und er liebte
es sich zu beschauen, wie ein Rembrandt und ein
Böcklin sich daran erfreut haben, während jene beiden
Einsamen, Menzel und Klinger, sich nie selbst por¬
trätierten, so wenig wie dies bei einem Michelangelo
denkbar wäre.
Man kann viel lernen aus den Selbstbildnissen
großer Künstler, denn es sind Beichten, die sie vor
sich selber ablegen, und sie verraten darin mehr, als
sie mit Worten bekennen würden. Im vorigen Sommer
erschien auf der Düsseldorfer Kunstausstellung ein
großes Familienbild, worin sich Meister Franz Stuck
mit seiner Frau im Gesellschaftskleid dargestellt hat;
man sah den Maler im Sonntagshabit an der Staffelei,
wie er die Gattin konterfeit, die im steifen Brokatrock
mit feierlicher Miene vor ihm steht, ein seltsamer Ge¬
danke des hochbegabten Künstlers, der uns einen
wesentlichen Zug in seinem Charakter enthüllt. Ganz
anders Meister Böcklin, der aus dem tiefsten Grunde
seines Gemüts sein eigenes Bildnis schöpft: er malt
sich jubilierend mit dem Weinglas in der erhobenen
Rechten, oder von der Staffelei aufblickend nach
dem hinter ihm fiedelnden Tode, oder sinnend auf
steiler Warte in'’ das Tal des Lebens hinabschauend.
Mit weniger Phantasie, aber temperamentvoll und
als treuester Beobachter seines Inneren pflegte Len¬
bach sein Bildnis zu erfassen. Die Ruhe klassischer
Kunstempfindung liegt noch auf dem Selbstporträt aus
dem Jahre 1865, aus der Zeit, wo er die alten Mei¬
ster studierte und im Aufträge des Grafen Schack
tätig war, der auch dieses Bild in seine Galerie auf
genommen hat. Ich kenne kein anderes Werk von
Lenbach, welches ihn so nahe an Rembrandt heran
rückt in der Macht, das Licht auf dem Antlitz in
einem Punkte zu sammeln, und in der köstlichen
Wärme und Durchsichtigkeit der Schatten, aus denen
die Augen scharf beobachtend hervorleuchten. Len-
iS*
136
FRANZ VON LENBACH
bachs neuer Stil ist fertig in den späteren, mir be¬
kannten Selbstbildnissen. Dort war es Ruhe ohne
Leidenschaft, jetzt ist es Leidenschaft ohne Unruhe
(ein Heinesches Wort), die aus den Köpfen spricht.
Nun bL-hen wir den glücklichen Vater mit dem ersten
Kinde scherzend, wir sehen ilm mit der zweiten
Gattin und dem Kinderpaare in trauten Familien-
gruppen, oder den Künstler allein, forschend aus
dem Bilde blickend, bis zuletzt eine trübe Ahnung
seines Schicksals die Züge zu verdüstern beginnt.
Und dieses Schicksal kam unerwartet und vollzog
sich, einmal erkannt, mit unheimlicher Schnelligkeit.
Am 6. Mai dieses Jahres ist Meister Lenbach einer
qualvollen, tückischen Krankheit erlegen. Fast hatte
es geschienen, als wenn seine robuste Natur sowenig
wie seine Kunst altern könnte, und auch als die
ersten Schatten des nahenden Todes in dieses sonnige,
an Glanz und Eliren überreiche Dasein fielen, wollte
niemand an eine ernste Gefahr glauben. Eine Reise
nach dem Süden, die ihn seiner aufreibenden Tätig¬
keit entrücken sollte, brachte vorübergehende Besse¬
rung und neue Hoffnungen. Wieder heimgekehrt,
griff er hastig nach dem ungern entbehrten Pinsel,
es war, als wollte er das Versäumte nachholen, und
der Zukunft noch so viel als möglich hinterlassen.
Mit beängstigendem Eifer hat er in dieser letzten
Zeit geschaffen. Seine Hand schien freier als bisher.
die Führung des Pinsels noch großzügiger zu werden,
als endlich die Kräfte ganz versagten. Bilder seiner
Lieben sind das letzte gewesen, was er mit matter
Hand auf die Leinwand gebracht hat. Wenige Linien
und wenige, wie hingehauchte Farbtöne, die ein
wunderbares Leben ausstrahlen — das Schwanenlied
des sterbenden Meisters.
Mit Ehren, wie sie die Münchener Künstlerschaft
noch keinem erwiesen, ist er bestattet worden. Man
fühlte etwas wie ein Verwaistsein, als habe sich eine
Kluft aufgetan an der Stelle, wo Münchens Kunst
am festesten gewurzelt hatte. Und auch anderwärts,
an allen Orten, wo Künstler sich rühren und auf das
Leben wirken, empfand man, daß mit Lenbach eine
Triebkraft von ungewöhnlicher Stärke, eine Gestalt,
die nicht vergessen werden kann, dahingeschieden
war. Wir aber bekennen, daß er uns nicht ge¬
nommen worden ist, denn wir haben sein Erbe in
seinen unsterblichen Schöpfungen. Und durch seine
Werke wird auch die Erinnerung an seine Persön¬
lichkeit erhalten bleiben.
Es ist nicht häufig, daß ein großer Künstler auch
ein großer Mensch ist — in Lenbach hat sich beides
zusammengefunden. Ein edler Mensch, ein Charakter,
eine harmonische, Kunst im Leben widerspiegelnde
Vollnatur und ein gottbegnadeter Maler. So wird er
in unserem Gedächtnis, in der Nachwelt fortleben.
F. VON LENBACH. FÜRST VON HOHENLOHE. STUDIE
Photographie Hanfst<ängl
Giebel des Ottheinrichbaues
(1616)
Aus dem Wetzlarer Skizzenbucli.
Zeitschrift für bildende Kunst 1905.
DIE OIEBELZEICHNUNO VOM HEIDELBERGER
OTTOHEINRICHSBAU IM WETZLARER SKIZZENBUCH
EINE ENTOEONUNO
VON A. VON Oeciielhaeuser
IM Sommer 1902 fand ein ehemaliger Schäfer-
Schüler, Regierungsbaumeister Ebel, in seinem
damaligen Aufenthaltsorte Wetzlar ein altes in
Schweinsleder gebundenes Buch (Kleinfolio) mit
Zeichnungen eines Architekten aus dem Anfänge des
17. Jahrhunderts. Eine besondere Bedeutung erhielt
dieser Fund durch den Umstand, daß sich auf der Vorder¬
seite von Blatt 57 die hier in Originalgröße wieder¬
gegebene Zeichnung eines Giebels mit folgender Auf¬
schrift (nach dem Original photographisch vergrößert)
NpfT
befindet, und als ein geradezu verblüffender Zufall
ist es zu bezeichnen, daß diese hochwichtige Zeich¬
nung gerade in einer Zeit zum Vorschein kam,
als die Wogen des Kampfes um das Heidelberger
Schloß am höchsten gingen, als es den Anschein
hatte, daß der Schäfersche Rekonstruktionsentwurf vom
Großherzoglichen Finanzministerium dem Landtage
endgültig zur Annahme empfohlen werden sollte.
Nachdem Ebel zunächst seinem ehemaligen Lehrer
von diesem Funde Mitteilung gemacht hatte, erschien
gleichzeitig mit der ersten Nachricht über das neu
entdeckte Skizzenbuch — wir behalten den unrichtigen
Namen ebenfalls bei — aus der Feder des glücklichen
Finders (in Nr. 71 des 22. Jahrganges des Zentral¬
blattes der Bauverwaltung vom 6. September 1902)
ein Aufsatz Karl Schäfers, in dem dieser zu dem
Funde Stellung nahm und auf Grund der betreffenden
Zeichnung einen neuen, von seinem bisherigen wesent¬
lich abweichenden Rekonstruktionsversuch vorlegte.
Schäfer schxxth damals: >Ich habe das Buch gesehen
und geprüft; die Echtheit ist über allen Zweifel er¬
haben«.^) Er rühmt den alten Giebeln, wie sie die Wetz-
1) Aus dem Zusammenhänge ist unzweifelhaft, daß
gemeint ist: die Echtheit der Giebelzeichnung.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 5
larer Zeichnung erkennen läßt, »eine außerordentliche
Schönheit^ nach und hofft, daß die Inangriffnahme
des Wiederaufbaues nunmehr nicht länger hinaus¬
geschoben werde, nachdem diese »durch eine unver¬
ständige, wenn auch teilweise wohlmeinende Gegner¬
schaft schon zu lange hintangehalten worden« sei.
Schäfer teilte somit offenbar die Meinung Friedrich
H. Hofmanns, der in Nr. 92 derselben Zeitschrift
nunmehr »die Angelegenheit (das heißt Giebelfrage)
vom kunstwissenschaftlichen Standpunkte aus als er¬
ledigt« bezeichnet hatte. In dem unmittelbar folgenden
Artikel derselben Nummer trat freilich bereits auch
die erste öffentliche Äußerung einer Opposition gegen
den neuen Schäferschen Entwurf auf. Albrecht Haupt,
mein verehrter Kollege in Hannover, der sich in
neuester Zeit bei der geschichtlichen Erforschung des
Heidelberger Schlosses erfolgreich hervorgetan hat,
erklärt dort, im Giebel des Wetzlarer Skizzenbuches
meinen Beweis stärkster Ungewandtheit und Willkür
in der Handhabung der antiken Regeln...« sehen zu
müssen und bezeichnet, in direktem Gegensatz zu
Schäfer, die »verworrene Häufung der verschieden¬
artigsten zusammengestoppelten Motive innerhalb der
Giebel« als »durchaus unerfreulich«. Von einer
künstlerischen Übereinstimmung des Giebels mit der
übrigen Fassade sei keine Spur vorhanden, gegen die
Art, in welcher Schäfer über die Schwierigkeiten der
Zeichnung hinweggehe, sei auf das Entschiedenste
Einspruch zu erheben.
Ohne an dieser Stelle näher auf die künstlerische
Bedeutung der Giebelzeichnung einzugehen, sei nur
Hofmann gegenüber betont, daß — ganz abgesehen
von dem Streit über die Echtheit — die Giebelfrage
durch den Wetzlarer Fund durchaus noch nicht er¬
ledigt erscheint, vielmehr die Hauptschwierigkeiten,
sowohl die Frage nach der Berechtigung eines Wieder¬
aufbaues von Giebeln überhaupt, wie auch die Frage,
ob man gegebenenfalls gezwungen ist, die Giebel
nach der Zeichnung im Skizzenbuche wieder aufzu¬
richten, in ihrer ganzen Tragweite bestehen bleiben.
Meines Erachtens ist durch den Fund zunächst
nur die alte, stets auch von mir, sowohl im Kolleg, wie
im »Schloßführer« vertretene Ansicht bestätigt worden,
daß der »Meriansche Doppelgiebel« nicht dem ur-
•9
138
DIE GIEBELZEICHNUNO VOM HEIDELBERGER OTTOHEINRICHSBAU
sprünglichen Plane des Ottoheinrichsbaues angehört,
sondern einen nach dem Tode des Kurfürsten (155g)
und dem Weggänge des Alexander Colins von der
Bauleitung — meinetwegen von Jakob Haider, auf
den das auf dem obersten Figurenpostament in unserer
Zeichnung angebrachte Monogramm i-i nacli Koß-
mann hindeuten soll — nachträglich zugefügten Auf¬
bau darstellt, eine Konzession an die deutsche Vorliebe
für den mittelalterlichen Giebelbau, eine Zutat, die
den ursprünglichen Baugedanken entstellt hat. Zu¬
gleich offenbart die Wetzlarer Zeichnung, daß der
Urheber der deutschen Giebelarchitektur im Vergleich
zu dem genialen Meister der italienischen Fassade
— ich stimme hierin mit Haupt vollkommen überein —
ein Stümper gewesen ist. Trotzdem aber wird man bei
einer eventuellen Wiederherstellung der Giebel um
diese vom Kunstgeschmack Karl Ludwigs glücklich
beseitigten Monstra nicht herum kommen, will man
nicht unhistorisch und willkürlich verfahren.
Eine selbstverständliche Vorbedingung dabei ist
die Echtheit unserer Zeichnung. Trotzdem sie wie
ein deus ex machina aufgetaucht war und dadurch von
vornherein mit einem erheblichen Verdachte belastet
erschien, hatte doch bisher niemand ernstliche, wissen¬
schaftlich begründete Zweifel in der Öffentlichkeit vor¬
zubringen gewagt, bis neuerdings A. Haupt, nachdem
er Gelegenheit genommen, das mittlerweile in den
Besitz meines hiesigen Kollegen, des Hofrates Pro¬
fessor Dr. M. Rosenberg, übergegangene Buch zu
sehen und eingehend zu studieren, in Nr. 1 1 der
Kunstchronik (vom 1 3. Januar d. J.) mit einem ganzen
Apparat von Angriffen gegen die Echtheit des Blattes
hervorgetreten ist; freilich — dies sei vorausgeschickt —
ohne bezüglich der Zeit der Fälschung zu irgend
einem Resultate zu kommen, ebensowenig wie über
eine möglicherweise dabei beteiligte Persönlichkeit.
Der Zweck dieser Zeilen ist, in Übereinstimmung
mit Karl Schäfers Auffassung, die Unhaltbarkeit der
vorgebrachten Argumente bis ins einzelne nach¬
zuweisen. —
Die Hauptschen Beweise lassen sich in zwei Arten
scheiden: die einen beziehen sich auf die äußere
Erscheinung des Blattes im Zusammenhänge des ganzen
Buches, die anderen haben den Inhalt der Zeichnung
zum Ausgangspunkte.
Ehe wir darauf eingehen, sei zunächst ein kleiner
Irrtum richtig gestellt, den auch die eingehende Be¬
schreibung des Buches von seiten des Entdeckers in
der Zeitschrift für Bauwesen (Jahrgang LIV, 1904
Sp. 257 ff. nebst Abbildungen auf Blatt 25 bis 27 im
Atlas) aufweist, ein Lesefehler, der nur für die Ent¬
stehungszeit des Buches von Bedeutung ist. Das
Skizzenbuch enthält nämlich nur die Jahreszahlen 1615,
1616 und 1617, die von den Genannten angegebene
Jahreszahl 1619 kommt nicht vor’). Was Ebel sonst
noch über den Ursprung und Zweck des Werkes,
sowie über den Zusammenhang mit dem Riedinger-
1) Der erste Bericht über das Buch im Zentralblatt
nennt auch nur die drei oben angegebenen Jahreszahlen.
sehen Atelier in Mainz angegeben hat, erscheint mir
im ganzen durchaus zutreffend.
Wenden wir uns nunmehr den durch die äußere
Erscheinung des Blattes begründeten Zweifeln Haupts
zu, so kann der Umstand, daß die Seitenzahl des
Giebelblattes in der Foliierung des Buches doppelt
erscheint, zunächst schon deshalb keinen Anlaß zur
Verdächtigung bieten, weil das Giebelblatt Fol. 57
nicht allein diese doppelte Zahl aufweist, sondern
ebenso das vorangehende Blatt Fol. 56, auf dem sich
eine in jeder Beziehung unanfechtbare Giebelzeichnung
befindet. Da ferner das Papier von Haupt selbst
nicht beanstandet wird und die Tatsache feststeht,
daß alle leeren Blätter des Buches ganz ebenso mit
durchlaufenden Zahlen versehen sind, wie die zu
Zeichnungen benutzten Blätter, so erscheint die Frage
der Echtheit schon deshalb ganz unabhängig von der
doppelten Foliierung. Dem Fälscher standen ja leere
Blätter genug zur Verfügung, so die ebenfalls unbe¬
nutzten Fol. 51 und 52 vor und Fol. 58 hinter der
Abteilung des Buches, die die Giebelzeichnungen ent¬
hält. Zudem ergibt aber auch eine Prüfung der Blatt¬
zahlen, daß die doppelt vorkommenden, sowohl unter¬
einander als auch mit den übrigen Blattzahlen des
Bandes vollkommen übereinstimmen, ja ein Ver¬
gleich mit den auf den Zeichnungen des Buches
vorkommenden Zahlzeichen läßt sogar unzweifelhaft
erkennen, daß es der Urheber der Zeichnungen selbst
gewesen ist, der die Foliierung des Buches vorge¬
nommen hat. Die doppelte Foliierung erklärt sich
somit einfach aus einem Irrtum beim Numerieren,
gerade so wie weiterhin irrtümlich die Zahl 82 zweimal
hintereinander vorkommt und 83 übersprungen er¬
scheint. Nebenbei sei noch bemerkt, daß es sich
bei Fol. 56 und 57 nicht etwa um eine Lage, also
zwei zusammenhängende Blätter handelt, die von einer
anderen Stelle des Buches hier nachträglich hätten
eingeschoben sein können, und daß auch der alte
Einband nicht die geringste Spur einer solchen späteren
Einheftung aufweist.
Das zweimalige Vorkommen der Blattzahl bietet
somit nach keiner Richtung hin Anlaß zur Beanstan¬
dung der Echtheit.
Ebensowenig ist dies aber auch bezüglich der oben
wiedergegebenen Aufschrift der Fall, deren vereinzeltes
Vorkommen im Buche Haupt höchst verdächtig erscheint.
Meines Erachtens sollte hier schon der Hinweis,
daß auf Fol. 104 eine zweite Aufschrift — unzweifel¬
haft von derselben Hand geschrieben — vorkommt,
allen Verdacht entwaffnen, denn die Ausrede, daß es
sich bei der y>Heuwag zu Speyer«, um eine Maschinen¬
zeichnung handelt, kann deshalb nicht in Betracht
kommen, weil unser Zeichner die Architektur-,
Maschinen- und Ingenieurwerke ganz gleichartig be¬
handelt, das heißt gleichwertig, mit gleicher Sorg¬
falt dargestellt hat. Weshalb derselbe gerade diese
beiden Blätter, und nur diese, mit Aufschriften ver¬
sehen hat, entzieht sich freilich unserer Kenntnis. Ver¬
mutungen darüber lassen sich aber genug aufstellen.
Wie Ebel bereits nachgewiesen hat, handelt es
sich bei einem großen Teile der Zeichnungen um
IM WETZLARER SKIZZENBUCH
139
Kopien aus den damals weit verbreiteten Architeklur-
werken eines Vignola, Ducerceau, Vredemann de Vries,
Wendel Dietterlin, Hans Blum und anderer. Ein kleinerer
Teil der Bilder dagegen beruht offenbar auf persön¬
licher Anschauung, das heißt auf Skizzen, die an Ort
und Stelle gefertigt sind. Hierzu dürften in erster
Linie unsere beiden bezeichneten Blätter zu rechnen
sein. Daß der Urheber des Buches tatsächlich in
Heidelberg gewesen ist, gewinnt an Wahrscheinlichkeit
dadurch, daß, wie auch schon Ebel bemerkt hat, die Ba¬
luster auf Fol. 66, samt den dazu gehörigen Details
auf Fol. 64 und 65, zweifellos dem Steingeländer
der zwischen der Außenfront des Friedrichsbaues und
dem Altanbau emporführenden Treppe genau (bis auf
die Voluten) nachgezeichnet ist’). Ähnlich wird ihm
wohl auch gelegentlich eines Besuches von Mainz aus
die mächtige Heuwage in Speyer, an der ein ganzer
Wagen aufgehängt werden konnte, Anlaß zu einer
Aufnahme und dadurch zu einer Bezeichnung des
Blattes im Skizzenbuche gegeben haben. Hinzu kommt,
daß letzteres, aus den vorhandenen unfertigen Blättern
und Lücken zu schließen, offenbar nicht fertig gewor¬
den ist und wahrscheinlich auch deshalb eine Bezeich¬
nung der übrigen Blätter unterblieben ist. Die von
Koch und Seitz erörterte Möglichkeit einer späteren
Zufügung unserer Inschrift hat Ebel bereits auf Grund
der Schriftvergleichung richtig zurückgewiesen.
Aber selbst wenn eine ganz außerordentlich ge¬
schickte Fälschung in dieser Beziehung vorläge 2), so
sollte doch auch gerade der Umstand, daß nur zwei
Aufschriften vorhanden sind, jeden Verdacht von vorn¬
herein entwaffnen. Einem Fälscher von dieser Schreib¬
fertigkeit wäre es ein Leichtes gewesen, eine Anzahl
weiterer Aufschriften, die ja leicht zu erfinden waren,
anzubringen und sein Blatt in dieser Hinsicht verdachts¬
frei zu machen. Daß einem Besucher des Heidel¬
berger Schlosses, noch dazu einem Architekten, im
Jahre 1616 die Riesengiebel des Ottoheinrichsbaues
besonders in die Augen gefallen sind und zum Fest¬
halten in einer Zeichnung veranlaßt haben, kann doch
nicht wundernehmen, ebensowenig dann aber auch,
daß er diese Zeichnung mit einer Aufschrift versah,
während er z. B. den vom alten Mainzer Gymnasium
entlehnten, einen sehr gebräuchlichen Typus dar¬
stellenden Renaissancegiebel zwei Blätter weiter vor¬
läufig unbezeichnet ließ.
Ebensowenig als Blattzahl und Aufschrift bietet
schließlich auch die von Haupt angeführte >•> verschie¬
dene Darstellungsmanier <!. Anlaß zu Zweifeln. Zu¬
nächst ist hier festzustellen, daß sich dies Kriterium
unmöglich auf die eigentliche Technik der Zeichnung,
die Art der Feder- und Pinselführung beziehen kann,
1) Offenbar ist die Baluster erst später hierher versetzt
worden. Auf der Zeichnung des Skizzenbuches ist nämlich
ein langes Stück Geländer dargestellt, während es sich jetzt
an der Treppe um zwei kurze Geländerstücke handelt.
2) Geheimrat Dr. von Weech, der Vorstand des Gro߬
herzoglichen General- Landesarchivs in Karlsruhe, hat die
Güte gehabt, meine Angaben, soweit sie das Paläogra-
phische und Bibliographische betreffen, zu prüfen und sein
volles Einverständnis damit erklärt.
da unser Blatt sich in dieser Hinsicht durchaus mit
den übrigen ähnlichen Zeichnungen des Bandes in
Übereinstimmung befindet, wie schon ein Vergleich
der Ebelschen Reproduktion in der Zeitschrift für
Bauwesen (siehe oben) mit unserer Wiedergabe des
Blattes zeigt. Auch der bräunliche, etwas hellere Ton
der Zeichnung kann als verdachterregend nicht in
Frage kommen, da er sich ebenso auf den Blättern
49, 80, 8g findet und lediglich auf dünneres Anreiben
der Tusche zurückzuführen ist.
Der einzige, wenn auch nur sehr wenig auffälligeäußere
Unterschied liegt in dem etwas bläulicher als sonst
gehaltenen grauen Schattentone. Aus dem Umstande
aber, daß zufällig bei unserem Blatt eine Spur von Blau
in den Pinsel geraten ist, die Unechtheit einer Zeich¬
nung herleiten zu wollen, die im übrigen technisch
durchaus alle Merkmale der Echtheit trägt, geht doch
in der Tat nicht an. Aus demselben Grunde könnten
noch viele andere Blätter des Buches angezweifelt
werden, die in dem einen oder anderen Punkte in
technischer Beziehung tatsächlich, und zwar viel mehr
voneinander abweichen.
Damit erscheinen die ^substantiellen Anhalts¬
punkte« für die Unechtheit des Blattes abgetan. Haupt
will ihnen zwar keinen entscheidenden Wert beigelegt
wissen, kommt aber gegen Schluß seines Aufsatzes
doch mit besonderer Betonung wenigstens auf das im
Beifügen einer Beischrift liegende Verdachtsmoment
zurück.
Und ebenso wie mit den äußeren, steht es mit
den inneren Gründen, die Haupt gegen die Echtheit
Vorbringen zu sollen glaubt und die es für ihn als
ganz unzweifelhaft erscheinen lassen, daß es sich »um
eine Vermutung späterer oder spätester Zeit« handelt,
um eine »Phantasiezeichnung«, die aufs Geratewohl,
möglicherweise in unseren Tagen erst entstanden sei
und deshalb aller Bedeutung entbehre.
Zu der von Haupt merkwürdigerweise gar nicht
erörterten Frage: welchem Zwecke kann die Fälschung
gedient haben? — meines Erachtens einer der ersten und
wichtigsten in solchem Falle — sei nur kurz bemerkt,
daß der Händler in Wetzlar, von dem Ebel das
Buch erstanden hat, in Rücksicht auf den geringen
Preis und die sonstigen Fundumstände von vornherein
bei der Untersuchung ausscheidet. Ebensowenig kann
aber auch eine der beiden Parteien, die sich im
Kampf um Heidelberg befehden, bei einer eventuellen
Fälschung in Frage kommen, da dem Anhänge Karl
Schäfers und dem Meister selber, so diplomatisch sich
letzterer auch damit abzufinden verstanden hat, im
Grunde doch nichts ungelegener kommen konnte,
als dieser Fund, der aller Welt zeigte, wie nahe man
davor gestanden hatte, eine unbeabsichtigte Fälschung
zu begehen, das heißt den Bau mit ganz anderen
Giebeln zu restaurieren, als er jemals getragen hat.
Wir »Ruinenschwärmer« aber würden das Buch
mit der Fälschung doch wohl schwerlich einem
Schäfer-Schüler in die Hände gespielt haben, der das
Blatt einfach hätte unterschlagen oder vernichten kön¬
nen, sondern würden wohl vorgezogen haben, es
selbst in unserem Sinne, das heißt gegen einen Wieder-
19*
140
DIE GIEBELZEICHNUNG VOM HEIDELBERGER OTTOHEINRICHSBAU
aufbau, ausziinutzen. Gegen die Möglichkeit einer
Mystifikation in iinsLivn Tagen spricht im allgemeinen
auch die Erwägung, daß das in der Tat recht wert¬
volle alte Skizzenbuch mit seinem interessanten Inhalt
vorher, vlv- .ik- Fälschung eingetragen sein könnte,
doch in irg^.^d jemandes Besitz und also bekannt ge¬
wesen seil! rp..''ß.e. Solche Bücher aus dem Anfänge des
17. Jahrhm.dcrts sind doch nichts Alltägliches. Irgend
jema.iu, Antiquar, Künstler oder Gelehrter müßte es
somit bislang absichtlich oder unabsichtlich ver¬
borgen gehalten haben. Alles dies ist im höchsten
Grade unwahrscheinlich, wenn nicht undenkbar.
Wer in aller Welt könnte also ein Interesse an
einer solchen virtuosen kimsfgeschichtlichen Fälschung
haben oder gehabt haben? Würde doch auch die An¬
fertigung der Zeichnung — abgesehen von der nur
durch lange Übung zu erlangenden Fertigkeit in der
Nachahmung der Zeichenweise und der Schriftzüge,
wie auch in der »Patinierung < des Blattes —
eine solche Kenntnis der kunsthistorischen und bau¬
geschichtlichen Einzelheiten dieser schwierigen Materie
voraussetzen, daß die Fachmänner an den Fingern
herzuzählen sind, die bei der Fälschung in Frage
kommen könnten. Diese Erwägungen allein schon
sollten genügen, das ganze Hauptsche Hypothesen-
Gebäude über den Haufen zu werfen.
Wir wollen es uns trotzdem nicht versagen, auch
noch die inneren Gründe, welche gegen die Echtheit
der Giebelzeichmmg zu Felde geführt werden, in
ihrer Unhaltbarkeit zu beleuchten.
Haupt geht von der stets erkannten und unbe¬
streitbaren Tatsache aus, daß die, seiner Ansicht nach
erst nach 166g, infolge der Baufälligkeit des alten
Doppelgiebeldaches neu errichteten Zwerchhäuser, die
der Kraussche Stich über dem Ottheinrichsbau zeigt,
und deren Reste heute noch oben auf der Front¬
mauer zu sehen sind, im Anschluß an die Giebel des
Friedrichsbaues entstanden sind.
Wenn er aber dabei behauptet, daß die Otthein-
richsbau-Zwerchhäuser, nach dem Krausschen Stiche
und den vorhandenen Resten zu urteilen, »mutatis
mutandis getreue Nachbildungen«- der Friedrichsbau-
Zwerchhäuser gewesen seien, so ist dies ein Irrtum.
Die einzige Übereinstimmung besteht darin, daß die
Fenster in beiden Zwerchhäusern mit Dreieckgiebeln
bedacht sind, alle übrigen Einzelheiten an Fenstern
und Pilastern, ebenso wie die Figurennischen des
oberen Aufbaues sind völlig verschieden. Die Ab¬
hängigkeit und Ähnlichkeit bezieht sich also nur ganz
allgemein auf die Gesamtdisposition, was, wie gesagt,
von jeher erkannt worden ist. Die Zwerchhäuser
des Frauenzimmerbaues hierbei mit ins Treffen
zu führen, halte ich nicht für zulässig, weil diese
bekanntlich, wie der ganze Bau, nur eine aufgemalte
Arehitektur besessen haben, worüber der Kraussche
Stich leicht hinwegtäuscht. Außerdem ist auch hier
nur die allgemeine Anordnung der Schochschen
Zwerchhäuser am Friedrichsbau vorbildlich gewesen.
Von Übereinstimmung der Einzelheiten kann auch
hier keine Rede sein.
Wie verhält sich nun aber die Wetzlarer Zeich¬
nung zu der zwischen 1670 und 1680 entstandenen
Darstellung der Giebel auf dem Krausschen Stiche und
den damit übereinstimmenden, heute noch vorhandenen
Resten der ehemaligen Zwerchhäuser des Ottoheinrichs-
baues? Sind wirklich, wie Haupt glauben machen
will, »die Einzelheiten der Giebelzeichnung, soweit sie
die gleichen sind wie auf dem Krausschen Stiche«,
genau nach letzterem gebildet?
Diese Frage ist zunächst in Bezug auf den Um¬
riß entschieden zu verneinen. Das einzige Ver-
gleiclnmgsobjekt bieten hier die Seitenvoluten des
zweiten Giebelstockwerkes auf unserer Zeichnung und
das Rollwerk an entsprechenden Stellen auf dem
Krausschen Stiche. Liegt nun auch dabei eine
ähnliche Linienführung vor, so besteht dafür ander¬
seits ein sehr bedeutsamer Unterschied in der Ver¬
wendungsweise dieses Motives, indem es in dem
einen Falle als Eckfüllornament (bei der Wetzlarer
Zeichnung), im andern Falle (bei Kraus) als seitliches
Begrenzungsstück in der ganzen Höhe des zweiten
Giebelstockwerkes verwendet erscheint. Von einer
Nachbildung kann also selbst bei dieser Volute keine
Rede sein; ebenso wenig zeigt aber auch die übrige
Silhouette, sowie die Horizontaleinteilung beider
Giebel — hier Drei-, dort Vierteilung — irgend
welche Übereinstimmung. Selbst der übliche Dreieck¬
abschluß zu oberst erscheint in dem einen Falle
(Wetzlarer Giebel) steil im Sinne der deutschen Früh¬
renaissance, während Kraus die flachere, griechische
Form des Giebels darstellt.
Was schließlich die Figur des lagernden Löwen
auf unserem Blatt anbetrifft, so kommt dieselbe — ganz
abgesehen davon, daß auch hier nur eine allgemeine
Übereinstimmung vorliegt und z. B. die Kopfhaltung
eine ganz andere ist — bei Kraus gar nicht am Giebel,
sondern an zwei Stellen über dem Hauptgesimse
vor, wohin die Tiere ursprünglich bestimmt waren
(siehe unten), und nach Abbruch des Doppelgiebels
auch richtig versetzt worden sind. Das Vorkommen
des Löwen auf unserer Zeichnung halte ich deshalb
sogar für einen Beweis von deren Echtheit.
Bietet somit der Umriß nicht den mindesten
Anhalt zugunsten der Hauptschen Annahme, so
zeigt dagegen die Fensterbildung des unteren Stock¬
werkes in der Tat eine solche Übereinstimmung, daß
diese vielleicht genügen könnte, um die von Haupt
behauptete Abhängigkeit unseres Blattes von dem
Krausschen Bilde zu beweisen, vorausgesetzt natürlich,
daß diese Formen nur vom Krausschen Stich ent¬
lehnt, das heißt nicht anderswo her genommen sein
könnten; diese Voraussetzung trifft jedoch keines¬
wegs zu. Meines Erachtens stammen nämlich die
betreffenden Fensterpaare in den Zwerchhäusern noch
vom alten Merianschen Doppelgiebel her. Beim Ab¬
bruch desselben hat man dies Fensterpaar beibehalten,
dabei aber an Stelle der Doppelpilaster, die unsere
Zeichnung aufweist, nach dem Vorbilde des Friedrichs¬
baues je eine Statuennische eingebrochen. Der bau¬
liche Befund der vorhandenen Reste läßt diese An¬
nahme durchaus zu - die Vorblendung des Konsol-
stückes vor der Nische ist sogar anders kaum zu
IM WETZLARER SKIZZENBUCH
141
erklären — ■ und bestätigt damit zugleich indirekt die
Echtheit unserer Zeichnung.
Also nicht vom Krausschen Stiche rührt die
Übereinstimmung her, sondern die Fenster sind in
dieser Form bereits im Jahre 1616 am Bau vor¬
handen gewesen, dort von unserem Architekten ge¬
sehen und aufgenommen worden. Kraus scheidet
also als Belastungszeuge in jeder Hinsicht aus.
Als ein weiteres Hauptargument gegen die Echt¬
heit unserer Zeichnung glaubt Haupt auch die Dar¬
stellung des Doppelgiebels auf dem Merianschen
Kupfer vom Jahre 1620, der den Blick auf die Nord¬
seite des Schlosses darstellt, ausspielen zu sollen.
Meines Erachtens ist es an sich ganz unzuläßig, ein so
winziges Stück einer großen Gesamtansicht mit Be¬
weiskraft für die Einzelheiten zu Felde zu führen
und sogar vermittelst mechanischer Vergrößerung diese
Beweiskraft noch erhöhen zu wollen. Von photo¬
graphischer Treue kann bei den Merianschen Stichen
überhaupt nicht die Rede sein, am wenigsten aber
bei Blättern, die, wie das vorliegende, höchstwahr¬
scheinlich nach fremden Vorlagen — bei dem zweiten
Merianschen Blatte von 1620 ist es ja bekanntlich
nachweislich der Fall — gearbeitet und von so ent¬
ferntem Standpunkt aus aufgenommen sind, daß dem
Zeichner alle Einzelheiten der Baulichkeiten ver¬
schwinden mußten. Unser Doppelgiebel nimmt auf
der Platte etwa den Raum eines mittleren Fingernagels
ein. Dem Zeichner konnte es bei seiner Darstellung
des Schlosses in so kleinem Maßstabe und bei solcher
Entfernung also nur darauf ankommen, die charakte¬
ristische Silhouette des Doppelgiebels im allgemeinen
richtig wiederzugeben, höchstens etwa noch die dunklen
Punkte hervorzuheben, die die Fenster innerhalb der
Giebelflächen bildeten; alle Einzelheiten verschwanden
dem Auge. Wie sorglos der Zeichner oder Stecher
bei Wiedergabe der Einzelheiten an den Giebeln
verfahren ist, beweist nun aber gerade die Vergröße¬
rung, die Haupt selbst in seiner Schrift: Zur Bau¬
geschichte des Heidelberger Schlosses (Frankfurt a. M.),
bei Seite 62 bringt, so schlagend, daß es unbe¬
greiflich erscheint, wie man immer noch diesem
Kupferausschnitt dokumentarische Bedeutung beizu¬
legen und ihn auch unserer Zeichnung gegenüber aus¬
zuspielen versuchen kann. Denn nicht nur, daß die
krause Umrißlinie bei beiden Giebeln verschieden
aussieht, soweit der ganz verschwommen gezeichnete
Kontur überhaupt einen Vergleich zuläßt, die Ver¬
größerung läßt ferner erkennen, und zwar mit voller
Deutlichkeit, daß auch die Vertikalteilung der Giebel
ganz verschieden dargestellt ist. Bei dem vorderen
Giebel entspricht diese ganz der Darstellung auf
unserer Zeichnung, bei dem hinteren geht eine Pilaster¬
teilung in der Mittelaxe des Giebels von unten bis
oben hinauf, wodurch ein ganz anderes architektoni¬
sches Bild entsteht.
Aus dem Merianschen Bilde ist somit schlechter¬
dings nichts anderes zu entnehmen, als die durch
den zweiten Merianschen Stich, die Darmstädter Ab¬
bildung und die Stuttgarter Zeichnungen übereinstim¬
mend bestätigte Tatsache des einstigen Vorhandenseins
von Doppelgiebeln über dem Ottoheinrichsbau, sowie
deren ungefähre Form und Verhältnis zu den übrigen
Bauten. Alles weitere steht in der Luft. Will man
aber die Beweiskraft des Merianschen Stiches trotz¬
dem nicht fahren lassen, so könnte diese meines
Erachtens nur zugunsten unserer Zeichnung verwertet
werden, da außer der oben angeführten Überein¬
stimmung auch in dem wichtigsten Punkte Zeichnung
und Kupfer Zusammengehen, nämlich darin, daß keine
Figiirennische im Giebel erscheint').
Wir kommen hiermit zu dem schwersten Ge¬
schütz, das Haupt gegen unsere Giebelzeichnung auf¬
gefahren hat.
Auch hier handelt es sich um eine freilich bisher
allgemein angenommene, meines Erachtens aber falsche
Voraussetzung, nämlich daß die Doppelgiebel bereits
Figurennischen gehabt haben müßten.
Der viel besprochene und durch seine Vieldeutig¬
keit nachgerade in Verruf gekommene Colinssche
Kontrakt vom Jahre 1558 spricht nur von 14 Stand¬
bildern und fünf Löwen. Von jeher habe ich hierin
einen Beweis für die Annahme gesehen, daß zur Zeit,
als mit dem Niederländer Colins dieses »Verding«
gemacht worden ist, von Giebelaufbauten noch keine
Rede war, weil die drei Stockwerke der Fassade nur
für 14 Figuren Nischen boten und die fünf Löwen
als obere Bekrönung den fünf Achsen der Fassade vor¬
trefflich entsprachen. Unsere Zeichnung beweist nun
die Richtigkeit dieser Annahme und zeigt, daß anläßlich
der nachträglichen Anordnung der Doppelgiebel eine
Vermehrung der Figurennischen noch nicht vorgenom¬
men worden ist. Erst als die Zwerchgiebel errichtet
wurden — sei es nun, wie Kossmann annimmt, noch
unter Friedrich V. (dann aber doch jedenfalls nach
1616, der Jahreszahl unserer Zeichnung), oder unter
Karl Ludwig 2) — hat man nach dem Vorbilde des
Friedrichsbaues auch hier oben je eine Figuren¬
nische angebracht, so wie sie im Krausschen
Stich erscheinen.
1) Das Blatt im Darmstädter Thesaurus picturarum
v. J. 1603 oder 1604, auf das Haupt so großen Wert legt,
daß er sogar eine Rekonstruktion des Giebels (a. a. O. S. 67)
danach veröffentlicht hat, ist meines Erachtens eine für Einzel¬
heiten ebenfalls völlig wertlose Dilettantenzeichnung, bei
deren Anfertigung so unverständig verfahren worden ist, daß
— wie Koßmann richtig nachgewiesen hat (die Bedachung
am Heidelberger Otto Heinrichsbau von 1689 [Karlsruhe
1902 S. 15]) — der vordere der beiden Giebel, der richtig auf
der Zeichnung angegeben war, durch Übertuschen wieder
entfernt worden ist. Der vorhandene zeigt zudem eine ganz
unmögliche Architektur, die mit der des Merianschen Blattes
nicht das mindeste gemeinsam hat. Das Blatt erachte ich
deshalb für völlig wertlos, sowohl für die Frage des
Wiederaufbaues, wie für unsere Streitfrage. Wie Haupt
hierin »durchaus den Stil Kaspar Vischers, des Meisters der
Giebel zu Heidelberg und später der Plassenburg«, erkennen
will, ist mir unerfindlich.
2) Haupt nimmt anscheinend seine Korrektur der
Krausschen Jahreszahl 1659 in 1669 als erwiesen an; die
Unwahrscheinlichkeit dieser Hypothese hat Kossmann (die
Bedachung usw. S. 19 f.) ausführlich erörtert.
142
DIE GIEBELZEICHNUNG VOM HEIDELBERGER OTTOHEINRICHSBAU
Wie läßt sich nun aber diese Annahme mit der
bisherigen vereinigen, daß sämtliche Statuen des Otto-
heinrichbaues von Alexander Colins herrühren, wie
läßt sich die Verminderung der obersten Statuenreihe
mit dem beka! ntlich von Starck so schön erklärten
Progra' i!':! u :s Statuenschmuckes ferner in Einklang
bringen?
D: Brand vom 24. Juni 1764, der den Ottohein-
riclidjau zur Ruine machte, hat Juppiter und Sol ver¬
schont. Ihrer Umgebung beraubt, thronen sie heute
noch einsam in ihrer luftigen Höhe über dem herr¬
lichen Bau.
Untersuchen wir die sieben obersten Figuren der
Fassade, so steht stilistisch und technisch unserer
Annahme nichts entgegen, daß Sol und Luna —
letztere hat natürlich den Platz gewechselt — spätere
Zutaten sind. Der Bildhauer, der, unserer Annahme
gemäß, aus Anlaß der Errichtung der Zwerchhäuser
den Auftrag erhielt, die bisherige Reihe der antiken
fünf Planeten durch Einfügung der genannten beiden
Statuen zur jetzigen Gruppe der sieben Wochentags¬
götter zu erweitern, hat zweifellos versucht, sich dem
Stile der alten Figurenreihe anszuschließen, wie
wenig ihm dies aber gelungen ist, zeigt ein Vergleich
der Luna (Diana) beispielsweise mit der Venus und
des Sol mit dem jetzt neben ihm thronenden Juppiter.
Wenn trotzdem diese beiden jüngern Figuren nicht
so sehr aus dem Rahmen fallen, daß sie von jeher als
spätere Zufügungen zu erkennen waren, so liegt dies
an der von mir bereits in meiner Abhandlung über
Sebastian Götz, den Bildhauer des Friedrichsbaues
(s. Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger
Schlosses 11, 1890) hervorgehobenen Ungleichheit und
Verschiedenartigkeit der Colinsschen Figurenreihe, die
sich auch in dieser Beziehung mit dem Statuenschmuck
des Friedrichsbaues nicht entfernt vergleichen läßt.
Mag nun auch die Feststellung einer solchen Un¬
gleichheit unter den Colinsschen Statuen die Beweis¬
kraft für die spätere Zufügung von Sol und Luna
entsprechend mindern, die Feststellung der Tatsache
genügt, daß der Befund der Figuren zum mindesten
nicht gegen unsere Annahme spricht, ebensowenig
wie in der Vermehrung der Planetenreihe eine Ände¬
rung des vermutlichen Programmes zu erblicken ist.
An sich folgt also aus der Tatsache, daß auf dem
Krausschen Stiche bereits sechszehn Figuren am Bau
vorhanden sind, keineswegs, daß der Meriansche Dop¬
pelgiebel auch schon Statuennischen enthalten haben
muß. Damit fällt aber auch das hieraus geschöpfte
Verdachtsmoment fort. Aus der gewissenhaften Art,
mit der unser Zeichner die Vorlagen aus den Archi¬
tekturwerken, so z. B. die Tür von Caprarola aus
Vignolas Werk, in sein Skizzenbuch übertragen hat,
ist zudem mit Sicherheit zu schließen, daß er die
Figurennische, einen so integrierenden Bestandteil des
Giebelaufbaues, bei dessen Aufnahme nicht weggelassen
hätte, wenn sie vorhanden gewesen wäre. Was nicht
vorhanden war, konnte er freilich nicht darstellen.
Bedenkt man, welche Schwierigkeiten das An¬
bringen der Figurennischen im Doppelgiebel bei den
bisherigen Rekonstruktionsversuchen gemacht hat, wie
insbesondere die unglückselige Verwachsung der
Giebel in der Mitte, abgesehen von der ungenauen
Darstellung Merlans, auf diese falsche Voraussetzung
allein zurückzuführen ist, wie dieselbe Anlaß gegeben
hat zu der monströsen Dachkonstruktion mit wind¬
schiefen Flächen, sowie zur Anordnung eines durch¬
gehenden untersten Giebelgeschosses, das niemals
vorhanden gewesen sein kann, erwägt man alle diese
Schwierigkeiten und vergleicht damit, wie einfach die
Dinge jetzt liegen, so ist das Auftauchen unserer
Zeichnung wie eine Erlösung zu betrachten.
Solange mein verehrter Gegner nicht nachweisen
kann, daß der Meriansche Doppelgiebel bereits
Statuen enthalten hat — ich wiederhole: seine ver¬
größerte Meriansche Zeichnung ist hierfür ebenso¬
wenig brauchbar, wie das Aquarell im Darmstädter
Thesaurus — , bleiben somit alle aus dem Fehlen
einer Figurennische gegen unsere Zeichnung er¬
hobenen Verdächtigungen gegenstandslos.
Aber schließlich: die beiden Figuren oben auf
unserem Blatte! Haupt sagt: »die beiden Figuren
finden sich ganz getreu ebenso — aber im Gegen¬
sinn, herumgedreht an der inneren Tür des Fried¬
richsbaues, die schon 1669 dorthin aus dem Otto-
heinrichsbau versetzt worden ist. Es ist eine Un¬
möglichkeit, daß dieselben Putten nochmals als freie
Figuren in Überlebensgröße auf dem Giebel des Otto-
heinrichsbaues gestanden haben können«. Ergo,
handelt es sich hierbei um Motive, die der Fälscher
in Heidelberg genommen und »durch Herumdrehen
unkenntlich zu machen« gesucht hat.
Zunächst ist hierzu zu bemerken, daß von zwei
nachgeahmten Figuren überhaupt nicht die Rede sein
kann, höchstens von einer ungefähren Übereinstimmung
der einen Figur rechts am Giebel mit der rechts oben
an der Tür. Kopfhaltung, Haltung des Horns, Profil¬
stellung, das Einstemmen des linken resp. rechten
Armes, alles dies ist zwar abweichend behandelt, trotz¬
dem aber eine allgemeine Ähnlichkeit und die Mög¬
lichkeit einer Abhängigkeit voneinander vorhanden.
Dagegen hat unsere zu oberst auf dem Giebel
in Vorderansicht ruhig dastehende Figur mit der
graziös hüpfenden Profilfigur links oben auf dem Tür-
gestell nur das eine gemein, daß beide Pulten eine
Trompete nach unten halten. Im übrigen sind sie, wie
ein Blick auf Tafel 94 bei Sauerwein zeigt, grund¬
verschieden.
Welcher Schluß ist nun aus der Ähnlichkeit dieses
einen Figurenpaares zu ziehen?
Zunächst ist festzustellen, daß unser Zeichner im
Jahre 1616 die von ihm angeblich als Vorbild be¬
nutzte Figur gekannt haben kann. Ob die Tür — was
sehr wahrscheinlich — wirklich aus dem Ottoheinrichs-
bau stammt, ist dabei belanglos, ebenso, ob sie nach
Haupt erst 1669 von dort versetzt worden ist. Die
Hauptsache ist, zu konstatieren, daß es sich bei der
Tür um Formen handelt, die mit den »mühsamen«
Türgestellen des Ottoheinrichsbaues sehr nahe verwandt
sind und also lange vor 1616, dem Jahre der Wetz-
larer Zeichnung entstanden sein müssen.
IM WETZLARER SKIZZENBUCH
143
Nachdem dies feststeht, ist es eigentlich belanglos,
die vielen Möglichkeiten zu erörtern, die zur Be¬
nutzung dieser einen Figur für die Giebelzeichnung
geführt haben können. Mir erscheint am wahr¬
scheinlichsten, daß der Architekt die in Wirklichkeit
hoch oben auf dem Giebel thronende Figur von unten
gar nicht hat erkennen können und deshalb, als er
seine Aufnahme daheim »ins Reine« zeichnete, ent¬
weder aus dem Gedächtnis oder nach einer Skizze
diesen kleinen Putto, der ihm an der Tür so gut ge¬
fallen haben mochte, obenauf gezeichnet hat.
Möglicherweise handelt es sich aber auch bei
den Türfiguren, die beinahe aussehen, als ob sie
nachträglich auf dem Gebälke aufgestellt seien, um
Nachahmungen der einst am Bau vorhandenen Giebel¬
figuren, vielleicht ist auch ein nicht mehr vorhandenes
gemeinsames Vorbild als Ursache der Ähnlichkeit zu
betrachten: man sieht, den Vermutungen ist Tür und
Tor geöffnet.
Unverständlich geradezu ist, was Haupt dabei be¬
züglich »der Unausführbarkeit dieser Figuren mit ihren
Trompeten in Überlebensgröße« vorbringt. Unser
Blatt enthält, wie alle anderen Giebelzeichnungen,
keinen Maßstab; aus dem Schäferschen Rekonstruktions-
Entwürfe im Zentralblatt ist aber ein solcher unschwer
zu gewinnen. Danach sind die Giebelputten nach
unserer Zeichnung nicht viel über einen Meter hoch
gewesen, während die auf den Zwerchgiebeln des
Friedrichsbaues tatsächlich vorhandenen steinernen
Genien über anderthalb Meter messen. Also auch in
technischer Hinsicht ist es nichts damit, »daß schon
diese zwei Putten die nachträgliche Erfindung des
Giebels (im Wetzlarer Skizzenbuch) beweisen«, und
damit fällt auch das letzte Argument in der langen
Reihe der Angriffe materieller und substantieller Art,
die in Vorstehendem beleuchtet worden sind.
Unser Blatt ist echt. Mag auch voraussichtlich
die Art und Weise seines plötzlichen Auftauchens nach
wie vor die denkbar stärkste Handhabe zu Zweifeln
bieten, die wissenschaftliche Forschung hat damit
nichts zu tun. Der Wetzlarer Zeichnung, die ihr zu¬
kommende kunstgeschichtliche Bedeutung im Kampfe
um die Erhaltung des Heidelberger Schlosses wieder
zu sichern, ist mir eine unabweisbare Pflicht er¬
schienen.
Karlsruhe, Ende Januar 1905.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
Nach einer Radierung von Max Klinger
Zum Augenblicke dürft ich sagen :
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn!
Menzel ist tot. Wie einen gütig gestundeten Zins hat ihn Hermes endlich doch mit
leiser Hand genommen.
Der Chronist schweigt — Adolph Menzel bedarf keines Nekrologes. Was er in
75 harten Jahren geschaffen mit einem Ernst, den keine Mühe bleichet, liegt offen und
lobt seinen Schöpfer. Sein Werk, das wir alle kennen und verstehen, spricht von seines
Wesens Art eindringlich und sachlich. Und Sachlichkeit war ja das Höchste, was er erstrebte.
Er, der das Leben belauscht, gepackt, bezwungen und verewigt hat, unterlag nun
doch dem Leben. Was ist das Genie, wenn es so hinfällig ist wie der letzte Taglöhner?
Uns schaudert, und — das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.
ADOLPH V. MENZEL
KÖNIG WILHELMS ABREISE ZUR ARMEE
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1905
SONNENUNTERGANG. ORlOtNALRADlERUNO VON E. LAERMANS j
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EUGENE LAERMANS
Lebhaft sich unterhaltende Menschen, deren
Worte nicht vernehmbar, wirken durch ihre
Gestikulationen grotesk; blicken wir in einen
Ballsaal, ohne die Musik zu hören, erscheinen
uns die hüpfenden Wirbelbewegungen der Paare
lächerlich. Ein verschlossener Gehörsinn bedeutet
eine Umwertung der Welt, eine Welt für sich.
Dies gilt bei dem belgischen Maler Eugene Laermans.
Im Jahre 1872, achtjährig, wurde er während einer
heftigen Krankheit völlig taub, gleichzeitig erlitten die
Sprechorgane eine starke Hemmung. Seit jenen un¬
glücklichen Tagen kam Laermans den Objekten fast
nur noch durch die Augen nahe, und so füllte sich
sein Gedächtnis mit einzigartigen Eindrücken von frap¬
pantester Deutlichkeit. Das im Gesicht konzentrierte
Wahrnehmungsvermögen vermittelte nicht nur die
Form, auch die Geräusche der Dinge, die Sprache
der Menschen. Fast könnte man sagen, seine gestei¬
gerte, wie mit einem Messer in die Welt schneidende
Sehfähigkeit habe das Ohr ersetzt, und es habe eine
völlige Umlegung der Sinne stattgefunden. Trotzdem
kennt der Künstler den Verlust, der ihn betroffen, nur
zu gut; aber er ist darob nicht ein verbitterter Welt¬
verächter geworden, das eigene Leid wandelte sich
zum Verständnis für die Trübsal der anderen, den
Mangel der Enterbten und der Krüppel. Mit wunder¬
feiner Innigkeit fühlt er sich ein in die Seele der des
Lichtes beraubten. Er empfindet, wie der Blinde
dank der verfeinerten Nervosität seiner Haut durch das
Leben gleitet. — Die geschlossenen Lider aufgehoben,
schreitet der Mann in Zurückhaltung und Zuversicht,
den Stab in der Linken, fahndet er nach etwaigen
Hindernissen, die Rechte faßt in ruhiger Kraft die
Hand der rüstig voran eilenden kleinen Führerin.
Quer über den Weg fällt ein Sonnenstrahl, das deut¬
liche Symbol der tiefen Sehnsucht des in Dunkelheit
Wandernden. Mit versöhnlicher Wehmut und schein¬
bar grundlosem, aber unverwüstlichem Optimismus
gestaltet Laermans die Not des Leibes und der Seele.
Er klagt nicht und beschuldigt niemanden. Aus dem
Grauen und aller Qual und Enge leuchtet die ruhige
Pracht der Sterne. Allmutter Natur ist gut und frei,
zum Trost der armen Kindlein stets bereit und gegen¬
wärtig. Auf keinem dieser Bilder fehlt ein Stück
Landschaft. Und wenn es nur ein Kirchturm, eine
von der Dämmerung halb verschlungene Hauswand
ist. Meist aber dehnt sich ein weiter Horizont, eine
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 6
Er zeigt nicht den Schweiß ihrer Arbeit,
sondern ihren Adel, nicht einen Menschen in
seiner Schicksalskleinheit, sondern die Rasse,
das Geschlecht der Arbeit, keine Episode,
sondern die Essenz dieser höchst ernsten Ge¬
schichte.
. . . und doch strömt aus ihrer Gesamtheit
eine gewaltige Idee, die Erneuerung des alten
Rufes der Kirche: Leide, um das Leben zu
empfangen. Meicr-Graefe über Mennicr.
mit Bäumen gesäumte Straße, ein gebuchteter Fluß
führen in die Tiefe, aus grünen Wiesen blüht der traute
Friede eines vom Abendrot überrieselten Dörfleins.
Durch einige dieser Landschaften geht ein feines Ver¬
klingen, die letzte Helle des »Herbstabends« spiegelt
sich in dem unter einem verfrühten Eiseshauch still
gewordenen Wasser, — andere sind von romantischer
Phantastik. Wie ein Geheimnis, das Milch und Honig
und alle Wunder birgt, liegt »das verheißene Land«
in sonnenumblendeter Ferne hinter den düsteren
Schatten der Waldeseinsamkeit, ein lockendes Harfen
jenseits des toten Meeres. Unwiderstehlich möchten
sich die Blicke durch die Wand bohren; es bedürfte
dazu kaum des verdeutlichenden, die Komposition zu
packender Geschlossenheit bringenden Hinausweisens
des lieben Gottes im geflickten Mantel. Wenn’s
übrigens nicht der gute Himmelsvater ist, den Boreas
zerzaust, kann’s auch ein biederer Landmann sein,
der seinem Nachbar um einer Guttat willen Verspruch
getan. Aber das Bild atmet eine solch zarte Reli¬
giosität, daß man fast meinen müßte, der liebe Gott
geht durch den Wald. — Mit all dem haben wir
keinen literarischen Inhalt erörtert, Laermans ist kein
Novellist; seine Figuren sind nicht in die Landschaft
gestellt, damit die Tafel amüsanter werde, sie sind
organisch herausgewachsen; auch wenn sie nicht da
wären, würde man sie sehen. Die Vorstellungen
und Empfindungen, die in Bäumen, Feldern, Flu߬
ufern, Häuserzeilen und Sonnenschein Form ge¬
wonnen, haben sich aus gleicher innerlicher Not¬
wendigkeit zu Personen verdichtet. Alle Einzelheiten
helfen die Stimmung des Ganzen erhöhen, die Bild¬
wirkung präzisieren. Dieses Sinnes kann, so paradox
es auch zunächst erscheint, von einer Wesensverwandt¬
schaft des Belgiers mit Böcklin gesprochen werden.
Die Natur lebt, und was wir Tritonen nennen oder
Seejungfrauen oder Menschen, ist nur eine bestimmte
materielle Form dieses Lebens, die Erdlinge wachsen
aus dem Boden heraus. Wie eine Lawine vom
Schneefeld löst sich die endlose Schaar des »Pro¬
phetenzuges« von der ins Unbegrenzte flutenden
Ebene, wie Lava, die aus einer Spalte hervorkriecht
und zum zermalmenden Strom schwillt. Dieser un¬
bedingte Pantheismus, dieses Sicheinsfühlen mit allen
Elementen offenbart gleichmäßig die Reinheit des
Weltempfindens, die glückliche und immer wache
Künstlerseele des sinnenfrohen Vlamen: die Welt ist
20
EUGENE LAERMANS. DAS BAD
EUGENE LAERMANS. DER PROPHETENZUG
EUGENE LAERMANS
147
schön trotz alledem und in allem. Machtvoll rauscht
der heroische Dithyrambus eines Abseitsgestellten, ein
Halleluja unter Tränen.
Das Schicksal nagte an des Lebens Wurzel,
Laermans blieb stärker und vermag zu lachen.
Mühsamer denn für jeden anderen war für ihn der
Weg; in unsäglicher Arbeit aber gelang es ihm, fast
ganz aus sich selbst heraus hinreichende Ausdrucks¬
mittel zu gewinnen. Wenig konnten ihm die Lehrer
geben. Den stillen, in sich gekehrten jungen Mann,
der 1886 die Brüsseler Akademie betritt, sehen die
Mitschüler mit Scheu und Verwunderung. Er aber
ist ganz bei der Sache, ohne irgend welche Ablenkung
müht er sich, die Kunstgriffe abzusehen, die Hand¬
fertigkeit zu erlernen. Die Weisheit der Professoren
war für ihn verloren, nur das Reale und Experimentelle,
die Exerzitien nützten ihm. Am meisten aber lernte
der Novize draußen, während er mit offenen Augen
durch die Straßen schritt. So blieb es. Noch heute
verrichtet der Künstler die Hauptarbeit — im Spa¬
zierengehen. Das zur Erde gebeugte Geschlecht der
Faubourgs, die Zwittergebilde einer zwischen Dorf
und Großstadt schwankenden Peripherie sammelt er
in den Kopf hinein, hier und da den Skizzenblock
zur Hilfe nehmend. Die unergründliche Fülle der Ein¬
drücke speichert sich in seinem Hirn, aus dem ständig
präsenten Reichtum kristallisieren lebensvolle Ge¬
sichte. Nur zum Studium benutzt er das Modell,
nie arbeitet er direkt nach der Natur, er malt stets
im Atelier, berechnete Bilder. Das Baumaterial hat
er jedoch nicht aus anderen herausgebrochen, sondern
alles, bis auf die winzigste Kleinigkeit selbst ersehen.
Was ihn vom Pleinairismus und Naturalismus im
strengen Sinne scheidet, ist das bewußte Arbeiten
mit Vorstellungen, die aus zahlreichen zeitlich ver¬
schiedenen, einander kontrollierenden und ergänzenden
Gesichtseindrücken geflossen. Er lebt im Innersten
und in der Tiefe seiner Augen das Leben des Prole¬
tariats von Molenbeek, wo seine Wiege gestanden
und wo er noch heute wohnt.
Abgemaitet, in stumpfsinnigem Gleichmut traben
die Männer nach ihren Hütten, wie Zugtiere zur
Krippe, unsichtbar schleppen sie das Joch ihres
kümmerlichen Daseins. Nur selten spüren sie es
nicht; im Sommer an schönen Sonntagsabenden
ziehen sie zu zweien und dreien durch die Dorfstraße
mit gemächlichen Schritten, schlürfend, sie schmauchen
und erzählen sich eins, — Einsam tappt der Kirmes¬
geiger daher, eintönig ist der Weg, still und unab¬
änderlich, gleich dem träge fließenden Fluß läuft die
Monotonie zu Ende, hinten liegt das bißchen Sonne.
— Der Trunkenbold ist ein schrilles Präludium des
Todes. Über den bläulich fahlen Schnee stolpert
der Unselige, dem das Laster im Nacken hockt, die
ausgemergelte Frau mit dem Säugling für die ver¬
welkte Brust, die entarteten Siechtum geweihten Kinder
. . . ecce homo. Und es vollendete sich. Die Arme
weit von sich gestreckt, liegt der Erschlagene am
Boden. Der Sturm fegt darüber hin. Eine kleine
Mikrocephale zeigt heimwärts. Des Dramas letzter
Akt. Der Leichnam wird in das Dorf geschleppt.
Voran ein Mädchen, krampfhaft weint es, man spürt
das Zucken des Leibes, hinterher, die Hände vor das
Gesicht geschlagen, die Frau — die Mutter — ein
Mensch, der den Toten liebte, ln tiefem Bogen, die
Gliedmaßen aus den Gelenken gedreht, hängt der
Körper schwer und massig, als strebe er nach der
Grube, der er verfallen ... Es müssen aber etliche
leiden, auf daß die Herrlichkeit wachse, welche aber
leiden, sind in der Herrlichkeit, ob sie dieselbige
auch nicht sehen, noch schmecken.
Das ist die Welt, wie sie Laermans malt. Anfangs
geriet ihm vieles zu hart, fast an die Karikatur streifend.
Da finden sich klobige Kerle, die auf dem Jahrmarkt
eine Schauermär anhören, eines Dorfpolitikers Arme
arbeiten wie Windmühlenflügel. Die Anatomie ist
eckig, hartsehnig und grobknochig, die Gesichter
starren in rot, dumm und aufgeblasen, die Kleider
ähneln Futteralen aus steifem Segeltuch. Aber auch
damals zeigen sich schon Vorzüge des späteren
Werkes, prägnante Charakteristik und ein ausge¬
sprochener Sinn für die Farbe. Die Leute bohren
die Fäuste in die Taschen, dadurch wird der Rumpf
förmlich auf die Erde niedergepreßt; die an die
Mauern geklebten Affichen, die Fensterläden sprühen
in freilich etwas greller Buntheit.
je schrankenloser des Künstlers Blick in die Dinge
fiel, je gefügiger seine Hand wurde, um so reiner
löste er die Dissonanzen der deformierten Parias, um
so innerlicher verwebte er zwei Häßlichkeiten zu
einer Schönheit. Das Bild wurde ihm zu einem
Rhythmus der Linien, zu einer Farbensymphonie.
Meisterhaft zügelt er die durch seine Konstitution be¬
dingte Heftigkeit der Bewegungen nach den vom
Ganzen benötigten Wertgraden, ohne daß jene an
Kraft etwas einbüßten. Der zurückgebogene Arm des
»Säemann« und die fortgeschleuderten Körner lassen
den Ruck am eigenen Körper spüren, die hastende
Wucht des »Karrenschiebers« löst bei uns die leb¬
haftesten imitatorischen Impulse aus. Das verrekelte
Mädchen, die sich biegenden Bäume des Hinter¬
grundes, der Zug der Wolken stützen die Illusion.
Die Füße stemmen den Boden fort, schieben den
Körper vorwärts, trotz aller Plumpheit federn die
Gelenke, wiegt der Brustkorb in den Hüften, der Kopf
stößt in die Luft, die Arme pendeln im Takt der
Schritte, wenn die Hände in die Taschen gesenkt,
schwankt der Schwerpunkt wie beim Paßgang. —
Unentrinnbar suggeriert wird die Bewegung der Massen.
Gleich einem vielzelligen Organismus, einer taiisend-
tropfigen Welle, wälzt sich der Menschenstrom, diclit
gedrängt, Kopf an Kopf, eine vom Wind gekräuselte
Wanderdüne. Am Vorabend des Streiks kriecht der Heer¬
wurm den Kai entlang, eine aus den Schranken ge¬
brochene Herde, deren Stampfen revolutionäre Musik.
Die Flut der Auswanderer ergießt sich nach dem
Hafen. Das Mittelbild des Antwerpener Triptychon
offenbart eine geradezu souveräne Beherrschung neben¬
einander gestapelter Körper in einer von den einzelnen
zwar geleisteten, aber dennoch gemeinsamen Bewegung.
Der rechte Flügel zeigt die Bewegung verborgen ruhend.
Schon auf dem Sprunge, haschen die von der Heimat
20
148
EUGENE LAERMANS
Scheidenden noch nach einem Trost- und Hoffnungs-
woi — wenn sie dann Seeluft wittern, stürzen sie wie
im '’'auinel zum Bollwerk. — Der elementaren Wucht
u 1;’ ^ (Iiiaren Straffheit der Bewegungen gesellt sich
ei 1: ■■Aid in Dur aufrauschende, bald in weichen aber
Vidi.Mi ' larmonien vibrierende Farbenpracht. Tief blau,
v.;.: . ■ ichem Lapislazuli strahlt der Himmel über
■ e:,. schwarzen Strom der Erbitterten, die rote Fahne
ein blutiger Fetzen, eine züngelnde Flamme.
Mit zielgewisser Sicherheit sind die scharfen Kontraste
gegeneinander gestellt. Im übrigen liebt der Maler
blau und violett in allen Tönen, schmutzig, hell
und satt, bordeaux auf nuanciertem Grau, warmes
Braun und strahlendes Gelb. Darin ist Laermans
immer weiter gekommen. Der Pinselstrich wird
flüssig, vertrcäumt, der Ton leuchtend, die Tafeln be¬
kommen einen unbestimmten, zwischen Samt, Metall
und Edelstein schwankenden Effekt, sie erinnern mehr
an Murillo als an Millet. Das Sehen mildert sich
zum Stil. Die scharf gerissene Linie wird natur¬
wahrer, ruhiger, harmonischer. Das Profil eines
Daches klingt mit einer menschlichen Rückensilhouette
und der Ausladung vom Wind gedrückter Bäume zu
einem Akkord zusammen. Doch dies alles verliert
an Aufdringlichkeit; die Verzeichnungen, auch wo sie
einem leicht erkennbaren Zwecke dienen, wie bei den
Händen und den Kindern, werden weniger fühlbar,
unter der typischen Maske des Gesichtes wächst Fleisch
und Blut, — das volle jauchzende Leben rollt herauf.
Vor allem zeigen dies die in letzter Zeit entstandenen
reinen Landschaften, deren melodiöses, auf einen
melancholischen Grundton gestimmtes Farbenkonzert
den Sinnen herzliche Freude schafft. Alle Schranken
fielen auf dem Bild, wo ein junges, blühendes Weib
dem Teich entstiegen, das weiße Linnen über den
taufrischen Körper streifen will. Der selbstverständ¬
liche Sieg der Schönheit ob alles Dürftigen und Ein¬
gepferchten. Unter den Lasten und Lappen, die aus
dem Menschen eine Schablone machen, ruht die reine,
freie Natur. Das ist eine Evokation und nicht nur
eine Interpretation, wie Meier-Graefe fehlgreifend von
Laermans sagt. Allerdings, pariserische Luft ist für
den Landgenossen der Brouwer, Teniers und Snayers
ungenießbar, und allerlei parfümierte Kunststückchen
vermag er nicht zu leisten, dafür aber gute, dauer¬
hafte, von einer abgeklärten Persönlichkeit erfüllte
Arbeiten. Am ausgeprägtesten zeigen dies vielleicht
seine Radierungen, die weder der Technik Unerhörtes
zumuten, noch durch Primitivität verblüffen, sondern
nichts weiter sein wollen als verständliche Dokumente
einer geschickten Hand von den Erlebnissen eines
köstlichen Auges, eines redlichen Herzens.
ROBERT BREUER.
EUGENE LAERMANS. VOR DEM STREIK
KUNO AMIET. BILDNIS
NEUE SCHWEIZER KUNST
Von Dr. Hermann Kesser (Zürich)
Die alten Schweizer Maler waren seßhafte Leute,
sie blieben gerne zu Hause. Das mag wohl
der Grund sein, warum ihr Name in den
Heldenbüchern der Kunst meist fehlt. Man kennt
sie wenig.
Dann kam eine jüngere Generation, die Umschau
hielt Sie reicht bis in unsere Tage und man kann
darüber sagen: alle Richtungen, die in den letzten fünf¬
zig Jahren bei der deutschen und französischen Malerei
registriert werden, haben in der Schweiz Resonanz
gefunden. So gibt es Schweizer Künstler, die an
Piloty, an Schwind erinnern, es gibt schweizerische
Düsseldorfer, schv/eizerische Gabriel Max und schwei¬
zerische Defregger. Als ich neulich einmal durch
das Musee Rath in Genf ging, war ich erstaunt über
die geradezu typischen Parallelerscheinungen deutscher
und französischer Kunst auf Schweizer Boden.
Das genannte Museum, die vornehmste Stätte zum
Studium eigentlicher Schweizer Heimatkunst, zeigt
fast von allen großen deutschen und französischen
Schulen irgend einen auf den ersten Blick erkenn¬
baren Schweizer jünger, der im Ausland in die Lehre
ging und das Gelernte dann in heimatlichen Stoff
umsetzte. Gesichter aus dieser Zeit, die über die
internere Bedeutung herauswachsen, sind noch recht
selten. Man hat darum lange Zeit draußen von der
Schweizer Kunst so gut wie gar keine Notiz genom¬
men, selbst verdiente Künstler der deutschen Schweiz
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 6
wie der Baseler Stückelberg, Rudolf Koller, der Zür¬
cher Tiermaler, und Hans Sandreuter, der Böcklin-
schüler, wurden lange ignoriert, die Künstler der fran¬
zösischen Schweiz waren wohl in Frankreich mit
Werken zu Gaste; die bedeutenden von ihnen wurden
zu Franzosen gemacht, der Mittelmäßigkeit tat man
keine Erwähnung.
Das ist seit zwanzig Jahren anders geworden. Die
literarischen Ereignisse, wie ein Gottfried Keller, ein
Konr. Ferd. Meyer, Künstler wie Böcklin, Vautier
haben Mut gemacht, an schweizerische Meister, an
Größen zu glauben. Wie allenthalben sammelt jetzt
die Schweiz ihre Namen für eine eigene Kunst¬
geschichte, man macht Rückblicke und findet, daß an
bedeutenden Namen kein Mangel ist. Besonderen
Ausdruck findet dieses begreifliche Bemühen in einem
Werk von stattlichen Dimensionen, einem großen
Schweizerischen Künstlerlexikon, das alle Namen der
heimatlichen Kunst sammeln soll. Wenn das umfang¬
reiche Kompendium, das der Zürcher Kunsthistoriker
Professor Karl Brun herausgibt, fertig ist, wird man
genügend darüber Auskunft bekommen, daß die
Schweiz nie arm an Künstlern war.
ln einem Lande von drei Sprachen und drei Nationen
inmitten romanischer und germanischer Kultur, ohne
künstlerische Wegweiser, werden indes die Charakter¬
köpfe immer selten sein, und wenn auch Rassen¬
kreuzungen ein gegebener Boden für starke Indivi-
21
150
NEUE SCHWEIZER KUNST
dualitäten sind, bringt es der Mangel an Kunstzentren
und fördernden Mäcenaten mit sich, daß die Könner
zum Studium ins Ausland gehen und im Ausland
ihr Brot suchen. Böcklin erhielt den Lorbeer nicht
in der Schweiz, Sandreuter, Adolf Stäbli, Stauffer-Bern
ist es nicht viel besser gegangen und Hodler kann
davon mancherlei erzählen. Erst in neuester Zeit
bilden sich unter Führung der Anerkannten kleine
Schulen und seit einigen Jahren kann man von einer
Anzahl besonders typischer und origineller Künstler
sprechen.
Man wird bei der überragenden Figur des Berners
Fcrd. Hodler einsetzen, um den Gang der Dinge zu
illustrieren.
Hodler wird heute mit den Großen der modernen
Kunst in einem Atem genannt, das erste Mal, daß
einem Künstler, der als solcher immer Schweizer ge¬
blieben ist, diese Ehre zuteil wird. Ich sagte: Hodler
ist als Künstler immer Schweizer geblieben, seine
derb geschnittene Physiognomie weist auf die natio¬
nalen Eigenschaften genügend hin.
Was ganze Generationen von Schweizer Künstlern
gesucht hatten, den künstlerischen Ausdruck für die
großen Taten der Nationalhelden, für die mächtige
heimische Hochgebirgswelt, für den nationalen Volks¬
charakter: Hodler vermochte ihn endlich zu finden und
dabei in einer Sprache zu reden, deren Ton so weit
trug, daß er auch außerhalb der Schweizer Grenzen
gehört wurde. Der Mehrzahl ist er als Schöpfer sym¬
bolischer Kompositionen bekannt. Wir dürfen dabei
nicht vergessen, daß er seine ersten ursprünglichen Ge¬
danken über Schweizer Stoffe niederlegte und gerade der
erste Erfolg des Unbekannten und Mißachteten war
die Ehrenerwähnung seines »Schwingerumzuges«, ein
Bild, das ausschließlich von der kernigen Derbheit
und der nationalen Urkraft schweizerischen Volkssinnes
lebt. Es erhielt schon Ende der achtziger Jahre in
Paris eine Ehrenerwähnung, zu einer Zeit, die an
Hodler noch mit Achselzucken vorbei ging. Weitere
Quittungen über den Respekt vor Hodlerscher Kunst
ließen lange auf sich warten, die Münchener Sezession
und die Pariser Weltausstellung waren die nächsten,
ln Mode gekommen ist Hodler jüngst durch Wien.
Die Ursache dieser Hodlerschen Erfolge wollen wie
seine gesamte Kunst im Zusammenhang betrachtet
sein, und die Psychologie der Mode erhält gerade
durch ihn einen bemerkenswerten Beitrag, sobald man
in dem Enthusiasmus, mit dem man ihn jetzt begrüßt,
ein sprechendes Symptom der Reaktion gegen das künst¬
lerische Dekadententum sieht: Vor so wuchtigen und
urkräftigen, von jeder Schwachheit freien Naturen
wie Hodler, hat das Publikum aller Zeiten, das von
differenzierter, übersensibler Kunst genug hatte, immer
seine Verbeugung gemacht und Hodler, der mit
Stentorstimme wie ein Agitator in die müde Gegen¬
wart hereinpredigt, mußte schließlich das leise Stammeln,
die zart schattierten Kauserien seiner Zeitgenossen
übertönen. Er imponierte. Um so mehr, als seine Kunst
voraussetzungslos ist, die Lettern, in denen er scheibt
lapidaren Stil haben und nicht so verschwommen und
verschnörkelt sind, daß sie ein Spezialwissen voraus¬
setzen.
Damit komme ich zu Hodlers Formensprache, zu
seinem Stil. Hodler steigert alles ins Große, ins
Monumentale, und bei seinen dekorativen Absichten
muß er starke ornamentale Akzente anbringen, darum
HANS BEAT WIELAND. DIE WITWE
FERD. HODLER. BILDNIS
21
152
NEUE SCHWEIZER KUNST
ALBERT WELTI. »DIE TEXTILINDUSTRIE«. ENTWURF ZU EINEM FENSTER IM BUNDESPALAIS ZU BERN
die Symmetrie in allen seinen Werken, in Figuren¬
bildern und Landschaften. Man spricht sogar von
einem Rhythmus Hodlerscher Bilder und bezeichnet
damit die Übereinstimmung in der Bewegung seiner
Figuren.
Ein Bild von ihm, es hängt im Berner Mu¬
seum, führt den Titel »Eurythmie , der Künstler hat
also auf diese symmetrischen Absichten selbst hin¬
gewiesen. Das Bild stellt fünf schreitende Greise dar.
Hodler mag dabei an die Monotonie und an den
freudlosen Gleichklang des Greisenalters, an den rhyth¬
mischen Ablauf der letzen Lebensepoche gedacht
haben. Der einfache Ausdruck der Idee in Gestalt
dieser fünf Greise ist übrigens vielleicht nur Neben¬
sache. Der Bildtitel »Eurythmie« weist darauf hin,
daß diese Formen wahrscheinlich Selbstzweck sind.
Bei Hodler eine Seltenheit. Meist sucht er einen ganz
bestimmten Inhalt auf eine Formel zu bringen und
die meisten Figurenbilder wollen daraufhin angesehen
werden.
In der »Nacht« und dem »Tag«, in den »Ent¬
täuschten Seelen« und im »Herbst« wird man einen
schweigenden Pessimisten erkennen, der nach dem
Ausdruck für die Tragödie des Menschengeschlechtes
sucht.
Die schicksalsschwere Bewegungslosigkeit dieser
Gestalten, ihre Gliederverdrehungen, die geheimnis¬
volle, dunkle Mystik der »Nacht«, das alles weist
unmittelbar auf Vorbilder hin, die wir in der Sakristei
von S. Lorenzo zu suchen haben. Dort sind die
Mediceer-Gräber des Capresen Michelangelo . . .
Hodlers tragische Weltanschauung wird man nicht
so überzeugend empfinden, wenn man neben dem
asketischen, in der Kutte predigenden Hodler den
Künstler kennen lernt, der zu allen Kraftproben des
Menschen bedingungslos »Ja« sagt.
Im Genfer Musee Rath hängt sein »Landsknecht«,
die Verherrlichung des miles gloriosus. Teil, der
Tyrannentöter, kündet die befreiende Tat mit Emphase
an und man würde von Renommisterei und Kraftmeier-
tum sprechen können, wenn dieser »Teil nicht mit
so übermenschlich großen Zügen ausgestattet wäre.
Verglichen mit zeitgenössischen Darstellungen des
schweizerischen Nationalheros nimmt sich Hodlers
Teil« wie ein Shakespearscher Dramenkönig gegen¬
über einer Meyerbeerschen Opernfigur aus.
Die ungeheure Achtung vor den starken Menschen,
das Mitleid mit den Gebrochenen lassen darauf
schließen, daß sich Hodler hin und wieder mit philo¬
sophischen Studien beschäftigt hat; er hat sich eine
anthropozentrische Weltanschauung zurecht gemacht,
darum wohl auch die fragmentarische Behandlung der
Landschaft auf den Figurenbildern.
Wenn er die Natur um der Natur willen malt,
zeigt er ein völlig anderes Gesicht; auch hier ist er
selbständig und tritt mit eigenen Absichten auf. Er
will nicht Gefühle erwecken, sondern nur auf die
großen Linien, auf den Ernst, die stumme, latente
Macht der Natur hinweisen. In der Kunst mit
wenigem Großes zu sagen, steht Hodler in der Land¬
schaftsmalerei allein da. Auch hier wieder das Unter¬
streichen des Großen und Ornamentalen, das Heraus-
NEUE SCHWEIZER KUNST
’53
heben der Kontur und der Symmetrie. Die Berge
werden zu einem ebenmäßigen Rahmen des Sees, die
Wolken zu einem flachen Ornament seines Spiegels,
die Bäume zu ebenmäßigen Durchschneidungen der
Horizontale.
Im übrigen liegt ein Hauptakzent bei seinen Land¬
schaften auf der Farbe. Sie ist hier nicht nur äußere
dekorative Zutat, in der Wiedergabe der Natur wird
auch ein Hodler zum Koloristen.
Die Landschaften sind im Gegensatz zu den
Schöpfungen seiner freien Erfindung vollkommen
farbig gedacht. Warmes Kolorit ist ihnen selten eigen,
ihr farbiges Element ist meist ein kaltes Violett und
ein kaltes Grün.
Violett ist die Farbe der Hodlerschen Kontur.
Die Vorliebe für diesen Farbenton zeigen besonders
seine neuesten Werke.
Auf der letzten nationalen Schweizer Ausstel¬
lungin Lausanne war von diesen letzten Werken
der »Teil« zu sehen und der nackte Jüngling mit
den fünf Frauen, »jeune homme admire par la
femme«, beides Werke, die immer stark zum
Widerspruch herausgefordert haben. Eine Kunst¬
ausstellung ist nicht der Ort sie zu würdigen, denn
es sind Schöpfungen, die wohl als Fresken gedacht
sind, und anstatt auf eine Mauer auf die Leinwand
kamen. Sie müßten im Rahmen einer stilgerechten
Umgebung gesehen werden, vor allem in der nötigen
Entfernung. Die Farbe macht sonst, verglichen mit
anderen Bildern, den Eindruck rohen Anstriches, das
weitgehende konsequente Hervorheben alles Linearen
sieht nach unbegreiflicher heraldischer Manier aus
und überdies macht das härene Gewand dieser Ge¬
danken, ihre herbe entsagende Asketik Mühe, so daß
kunsthistorische Polizisten Hodler schnei! für erledigt
halten. Trotzdem er auch den Konservativen gefallen
müßte, denn in dem Streben nach mathematischer
Symmetrie kann man ihn den Hochmeistern der
Renaissance, sonst in Technik und Ausdruck unver¬
gleichbar, an die Seite stellen.
Hodler ist heute ein fünfzigjähriger Mann, man
wird mit dem Urteil über diesen grundgermanischen
Mystiker noch zurückhalten müssen, denn »quid
ferat vesper incertum est«.
Wird Hodler ein zyklisch abgeschlossenes Lebens¬
werk hinterlassen?
Seine neueren Werke zeigen eine fortgesetzte künst¬
lerische Entwickelung mit einer Tendenz zu helleren
Akzenten. Das ist kein Zufall. Der Erfolg hat seinen
egoistischen unzufriedenen Zorn, die Quelle seines
Pessimismus, lahmgelegt.
■ii
*
Eine Persönlichkeit wie Hodler kann zu einer Zeit,
wo in der Schweiz eine aufstrebende Künstlerschar
heranwächst, nicht ohne Gemeinde bleiben. Eine
kleine Generation wird zu tun haben, um seine Ideen
zu verarbeiten. Einige Gleichgesinnte haben sich seit
Jahren um ihn geschart, und von Hodler führt der
Weg unmittelbar zu einigen Schweizer Künstlern, die
als selbständige Erscheinungen der Schweizer Kunst,
seit einigen Jahren vernehmbar das Wort ergreifen.
Als stärkstes Talent unter ihnen, der Solothurner
Kuno Amiet. Kein Nachahmer Hodlers, sondern
sein Bruder. Hodler war ihm Schrittmacher. In den
letzten Absichten sind sie grundverschieden. Siegt
bei Hodler die Linie, sucht seine gedankenschwere
Kunst Ewigkeitswerke zu schaffen, so betrachtet Kuno
MAX BURI. DIE POLITIKER
’54
NEUE SCHWEIZER KUNST
Amiet die Welt als eine malerische Erscheinung,
die Linie dient iläu nur zur Assistenz der farbigen
Fläche und der Inhalt ist Nebensache.
/.niiel, der uns schon mit einem Bild beschenkte,
in .ieii’ er Mocilers Stil verfeinert, — es ist das Tri-
ptyc'iOn «Hoffnung , die Verherrlichung kommenden
;viui:tc“giück(js, — hat sich nach Vollendung von künst-
ieriseiien Taten ausschließlich auf die malerische
l orscliung geworfen.
Seine neuesten Bilder sind die Resultate theo¬
retischer Nachdenklichkeit, frei von Idee, reine
Lösungen malerischer Fragen. In Lausanne zeigte
der Künstler ans Sensationelle streifende luminaristische
und malerische Probleme, Sonnenflecke auf Kleid
und Gesicht einer Dame im Grünen, einen Gemüse¬
garten mit einer Scheune im Hintergründe, der in
großen, breiten Flächen gemalt ist, eine Aneinander¬
reihung von dicken Pinselstrichen mit absichtlicher
Leugnung jeder Spur von Zeichnung und räumlicher
Tiefe.
Amiet setzt da ein, wo Hodler am schwächsten
ist ... Er will malerische Werte schaffen. Man
wünscht, daß dieses Talent der modernen Schweizer
Kunst seine Theorie wieder in Praxis umsetzt.
Daß man in Amiet einen der kraftvollsten Kolo¬
risten vor sich hat, der nach Abklärung seiner
malerischen Ideen Großes bringen wird, ist außer
Frage. An technischer Kühnheit steht er in seinen
impressionistischen Versuchen den Malpäpsten dieser
Richtung nicht nach, an Farbenfreudigkeit wetteifert
er mit den besten japonisierenden europäischen Malern.
Gegenwärtig hat seine brutal als Selbstzweck auf¬
tretende Technik etwas verstimmt. Seine Ekstasen des
Lichtrausches muten verspätet an.
Die Vorliebe, technische Probleme in den Vorder¬
grund zu stellen, beschränkt sich nicht nur auf Amiet
und man wird den Segantini- Schüler und -Freund,
Giovanni Giacometti, der mit dem pointillistischen
Vokabular arbeitet, im Anschluß an Amiet erwähnen,
weil er eines der typischen Beispiele dafür ist, daß
die jüngere Schweizer Künstlergeneration erst nach
dem Absterben Böcklins modern wurde, will sagen
zu malen anfing.
Man braucht sich nicht zu wundern, wenn bei
solchen Sturm- und Drangperioden Exzesse Vorkommen
und das Farbenschaos eines Giacometti manchmal
wenig mit bildmäßiger Darstellung zu tun hat.
Die eigentlichen »Künstler um Hodler«, zu denen
der Berner Landschafter Eduard Boß gehört, gehen
andere Wege, sie bemühen sich, wie ihr Vorbild,
alles groß zu sehen und auf einen großen Zuschnitt
hin zu arbeiten. Was man derb und kraftvoll nennt,
nähert sich dabei vielfach den Grenzen, wo das Derbe
zur Roheit wird, denn merkwürdigerweise zeigen die
wenigsten Schweizer Landschafter, — und dieses
Genre ist zurzeit in der Kunstausübung vorherrschend,
— Sinn für abgestufte Farbenzusammenstellungen, und
man ist versucht, die ausgesprochene Vorliebe der
Schweizer für die lauten und mitunter grellen Töne
für eine nationale Eigenschaft zu halten. Erfolgreichen
Bemühungen, auf Berglandschaften, dem naheliegen¬
den Stoffgebiet, das Ganze durch Lufttöne zusammen-
zidialten und auf einheitliche Stimmungen hin zu ar¬
beiten, begegnet man selten. Das Hauptgewicht liegt
auf der dekorativen Wirkung, dem kräftigen Kolorit,
wobei manche in das Fahrwasser unerfreulicher Bunt¬
heit kommen, manche verflachen. Wieder andere,
denen es an farbiger Poesie nicht fehlt, wie der
Berner Plinio Colombi, und Jacques Ruch, ein Freund
der morgenhellen Hochlandschaft, wissen in ihre
Farbendichtung wenig Harmonie zu bringen.
Daß Segantini bei der malenden Jung- Schweiz
stark umgeht, dafür sind außer Giacometti noch
manche Belege vorhanden. Direkte Nachahmer seiner
Technik gibt es nur wenige, dagegen viele, die sich
in Auswahl und Anordnung ihm anlehnen.
Mit besonderem Glück der in München lebende
Baseler Maler Hans Beatus Wieland, einer der wenigen,
der seine Hochlandschaften mit Figuren belebt und
zwar mit Gestalten, die einen Ton des stimmenden
Gesamtakkords bilden und aus der seelischen Gestalt
der Landschaft herauswachsen. Von der Stimmungs¬
gewalt der letzten Augenblicke vor Sonnenaufgang
erzählte ein Kolossalgemälde »Heimatland« auf der
Lausanner Ausstellung; auf den Grundfon einer feier¬
lichen Ergriffenheit ist ein Bild »Verglühen« (1904)
gestimmt. Meist sind die Figuren die Zuschauer bei
den Naturdramen, oder die Natur ist stumme Zeugin
menschlichen Leides, wie in dem Bilde der »Witwe«.
Wieland kann als der eigentliche Repräsentant
schweizerischer Heimatkunst gelten. Ohne sentimental
zu werden, trägt er mit einem starken Gefühlston vor.
Bilder, wie sein Feldherr Tod« im Züricher Künst¬
lergut' , die 'Teufelspredigt« (1901) und unser Bild
»Die Witwe«, zeigen, daß wir einen neuen Roman¬
tiker der Schweiz mit besonderer Bevorzugung des
heimatlichen Hintergrundes vor uns haben. Ab¬
gesehen vom Inhalt Wielandscher Schöpfungen ge¬
hören sie technisch und koloristisch zu den bemerkens¬
wertesten Erzeugnissen der Schweizer Kunst.
Die Genremalerei hat sich nach diesen Vorbildern
in der Schweiz endgültig schlafen gelegt. Wenn hei¬
matliche Stoffe behandelt werden, sind sie immer
frei von alter Salontirolerei.
Bnri hat im Vorjahre eine Gruppe von bieder¬
grobschlächtigen, politisierenden Bauern im Weinduft
einer Dorfschenke mit besonderer Herausarbeitung
stofflicher Einzelheiten gemalt, ein umfangreiches
Bild, auf dem man einen fleißigen Beobachter kennen
lernt.
ln seinen Landschaften etwas nüchtern und haus¬
backen ist er, vielleicht gerade wieder ein Beispiel
für viele junge Schweizer Künstler, die von dem Vor¬
wurf der Anekdote noch etwas zu sehr befangen sind,
um frei und malerisch zu gestalten.
Der Berner Fritz Widmann, ein Sohn des Berner
Dichters J. V. Widmann, bildet nach dieser Richtung
eine rühmenswerte Ausnahme.
Er gehört in die Gruppe der Schweizer Landschafter,
die sich im Zürcher Oberland, in Rüschlikon am Züricher
See niedergelassen haben. Widmann ging in seinen
Landschaften lange den gleichen Weg mit Hodler,
NEUE SCHWEIZER KUNST
155
von ihm hat er die große Plastik, die Behandlung des
Raumes, frei und selbständig arbeitet er aber mit
Farbe und Licht Die Sonne auf dem frischen Winter¬
schnee, die Abendstimmung des schattigen Hügellandes,
der Zauber einer windgepeitschten Mondnacht, das
sind die Ausschnitte, die Widmann mit breiter Be¬
haglichkeit auf die Leinwand bringt, immer mit einer
gewissen deutschen Treuherzigkeit, mitunter mit einem
Erzählerton von stark romantischer Färbung und hie
und da mit viel poetischem Sinn.
Widmann ist der glückliche Fall eines Land-
Auf der Düsseldorfer Schweizer Abteilung und
in Lausanne debütierte unter anderen ein junger Neu-
chäteler, Rene Auberjonois, aus Montagny bei Yverdon,
ein Künstler mit einer ausgesprochenen Vorliebe für
das Häßliche, Kecke, mit einem Stich zur Karikatur.
Was an ihm fesselt, sind die pikanten Farbenharmonien
seiner in schreienden Tönen gegebenen Pastellzeich¬
nungen; in anderen Bildern schlägt er feine matte
Akkorde an, die selbst den Anblick einer fetten, nackten
Frau bei der Morgentoilette zu einem ästhetischen
machen, und die Figur eines schneidigen jungen
FERD. HODLER. HERBST
schafters, der mit modernen, malerischen Ausdrucks¬
mitteln auf Stimmung hin arbeitet. Man wird diesem
Künstler künftig aufmerksam zuschauen müssen, denn
er ist ein Schöpfer von starkem Empfinden und viel¬
seitiger Begabung, ein Charakter unter den Schweizer
Landschaftern, der mit sicheren Schritten hervortritt.
Die Reihe dieser originellen Erscheinungen ist
mit Widmann, der nach seinem ganzen künstlerischen
Glaubensbekenntnis unter die malende Jung- Schweiz
einzureihen ist, noch nicht abgeschlossen. So zeigte
sich bei der letzten Revue der Schweizer Kunst in
Lausanne wieder manches neue Gesicht, das man
sich gerne näher besah.
Mädchens, die recht flott in den Raum komponiert
ist, durch malerische Momente zu einer exzeptionellen
Leistung in der Wiedergabe der ruhenden Bewegung
machen.
Leute, wie Aubejonois fügen sich keinem Schema
an. Die Nähe Frankreichs mag zwar zum Teil eine
Erklärung sein, warum solche Bilder in der Schweiz
entstehen können. Aus dem unvermittelten Auftauchen
von solchen Sonderlingen, wie Auberjonois, diesem
Künstler mit der Goja-Note, und mancher anderen,
die noch zu wenig gereift sind, darf man schließen,
daß die Schweiz in Kunstsachen bald nicht mehr
quantite negligable sein wird: Hier sind Symptome
156
NEUE SCHWEIZER KUNST
einer starken inneren Entwickelung, und sie lädt
folgern, daß die Schweiz neben Hodler vielleicht in
ein paar Jahren noch um einige Namen von Klang
reiclL>j' sein wird.
ivvt i Sch'veizer Künstler, von denen der eine
weiteren Kreisen als Franzose bekannt ist, Eugene
Diirnunä, — der andere. Albert Welti, in der Kunst
ein ’Jrschvveizer, sein Heim bei München aufgeschlagen
hat — gehören schon heule zu den Auserwählten.
■‘^/'elti ist sogar populär geworden. Seine Märchen¬
dichtungen in Lithographie und Radierung, so be¬
sonders das »Haus der Träume< , haben ihn überall
bekannt gemacht.
Albert Welti ist einer der wenigen Schweizer
Künstler, die nicht dokumentarische Stoffe geben.
Sein Reich hat nichts mit der anderen gemein, er ist
in der Welt der freien Erfindung, des Fabelwesens
der Dichtung und Romantik zu Hause. In das Land
der Phantastik, der volkstümlichen Märchenwelt führen
uns seine gemalten Geschichten vom »Geizteufel«
und dem »Prinzeßlein mit dem lockigen Goldhaar«,
in die Welt des Dichterhumors und des Volkswitzes
seine dekorativen Entwürfe.
Auf der Lausanner Ausstellung hat er Skizzen für
ein Standesamt ausgestellt, über deren geistreichen
Witz und köstliche Gestaltungskraft sich Seiten
schreiben ließen. Welti ist einer jener Romantiker,
die an der Dichtung, die sie illustrieren, weiter schaffen.
Der Vorwurf genügt ihm nicht, er baut ihn aus.
Urdeutsch ist sein Erzählerton, seine altmeisterliche
Freudigkeit am Kleinen und sein unermüdlicher Eifer,
um die ganze Pracht und Sonderbarkeit der Sagen¬
welt bis ins kleine zu erschöpfen.
In tollem Wirbel ziehen Hexen zum Blocksberg,
traumhaften Visionen gleich steigt alte sagenhafte
Ritterherrlichkeit vor seinen Augen auf, in gemütlicher,
epischer Breite zeichnet er die mittelalterliche Welt,
wie sie in der Phantasie der Dichter und Maler lebt:
so wie wir wünschen, daß sie gewesen sein sollte.
Wenn Welti von Volkssitten erzählt, geht ihm der
Faden nimmer aus. Tausend tolle Schurrpfeifereien
und Schwänke, alte Sprüche, alte Redensarten nehmen
Gestalt an, wie er über das Märchen seinen Zauber¬
nebel breitet, so gibt er dem Volkswitz lebendiges
Leben. Ein Tausendkünstler, überreich an blühender
Phantasie, ein Dichter von echter
sinnlicher Poetenfreudigkeit.
Als altdeutschen Romantiker
hat er sich mit seiner Familie
selbst gemalt, ein echtes Künstler¬
bild mit schön geträumter Staf¬
fage und Ideallandschaft, in das
er wie so häufig seine beschau¬
lichen, idyllischen Schilderungen
deutschen Familienlebens verwebt.
Welti, der Meister der klein¬
bürgerlichen Sagenwelt, söhnt mit
der spröden Trockenheit der
Schweizer Kunst aus, er ist einer
der wenigen, die »liebenswürdig«
sein können.
Unser Bild bringt den Entwurf für ein Bogen¬
fenster im Bundespalais zu Bern, die »Schweizer
Textilindustrie«, im Hintergründe der Zürichsee,
des Malers Heimat. Es ist für Weltis Stil typisch,
für seine Vielseitigkeit bezeichnend, für seine echte
Dichternaivität ein schönes Beispiel.
Im Anschluß an Welti soll ein Münchener Künst¬
ler nicht unerwähnt bleiben, der seit einigen Jahren
in Zürich lebt, ein Maler mit einer starken kolo¬
ristischen Begabung, Martin Schönberger, ein Schöpfer
der heiteren Kunst mit ausgesprochen dekorativen
Absichten. Kinderporträts und Puttenbilder sind sein
stoffliches Hauptgebiet.
Burnand geht grundverschiedene Wege, ein Retro¬
spektiver und ein Moderner zugleich, einer der
wenigen Künstler, die alles können, ein Zeichner und
Maler par excellence. Er hat Geschichtsbilder gemalt,
er hat Land und Volk der Schweiz dargestellt, er ist
einer der bekanntesten, religiösen Maler der Moderne,
in unseren Tagen des Spezialistentums eine Ausnahme¬
erscheinung. »Petrus und Johannes auf dem Wege
zum Grabe des Herrn«, »Die Flucht Karls des Kühnen«
sind seine gekanntesten Schöpfungen. Neuerdings
wendet er sich fast ausschließlich dem religiösen Genre
zu, in der Darstellung die Errungenschaften der Mo¬
derne geschickt verwertend.
Burnand hätte das Zeug, alle malerischen Moden
mitzumachen; er hat darauf verzichtet und schafft un¬
beirrt vom Sturme der Richtungen, auf jedem Werke
ein ganzer, ein großer Künstler, der alles in den
Dienst der Idee stellt und technische Spielereien igno¬
riert. Ich sehe die Zeit kommen, wo man ihn seiner
Bedeutung entsprechend einschätzen wird. Heute sind
wir noch nicht so weit.
Die Schweizer Kunst wird erst Boden fassen
müssen, es wird über das Mode-Dominieren hinaus¬
gehen müssen, damit man klar sehen kann.
Was ich im Vorstehenden gesagt habe, sind
nur Haupteindrücke aus einem weiten Gesichtsfeld.
Künstler wie Giron, Fritz Burger, Wilhelm Lehmann,
Otto Gampert, Schaltegger, Völlmy haben im süd¬
lichen Deutschland längst Boden gefaßt, ihre Zentrale
ist München und ihre Würdigung besorgt die deutsche
Kunstschreibung. Ich wollte absichtlich nur von den
augenfälligsten und neueren Schweizern reden, um
einmal im Zusammenhang mit der
rüstigen Schar der jungen Schwei¬
zer Künstler bekannt zu machen.
Wohin der Weg gehen wird?
Die Schweizer Künstler, die
erst seit einigen Jahren geschlos¬
sen auftreten, wissen es heute
selbst nicht. Daß sie etwas »wol¬
len <■< steht besonders nach ihrer
letzten Ausstellung, auf der alles
Minderwertige rücksichtslos in den
Seitensälen unschädlich gemacht
wurde, fest. Im eigenen Lager
strenge Kritik, das war immer
noch ein gutes Zeichen für ge¬
sunde Entwickelung.
EUGEN BURNAND. DAS GEBET DES HOHEN PRIESTERS
STADT- UND LANDARBEIT. TERRAKOTTEN VON JULES DALOU
JULES DALOU UND SEIN DENKMAL DER ARBEIT
Von Karl Eugen Schmidt
ICH glaube, mit dem Prinzip I’art ]:)Our l’art haben
wir jetzt bald ausgewirtschaftet. Wie es immer
zu gehen pflegt, war man aus Oppostion gegen
das eine in das andere Extrem geraten. Weil es
viele Maler gab, die nur durch ihr Thema, durch
ihre Anekdote, interessierten, sonst aber langweilige,
schlechte oder gar keine Künstler waren, stellte man
das Prinzip auf, daß ein Maler vor allen Dingen das
Malen verstehen muß. Das ist ganz richtig, aber
damit waren die Anekdotengegner noch nicht zu¬
frieden. Sie sagten jetzt, ein Kunstwerk dürfe über¬
haupt keinen Inhalt haben, und so oft ihnen ein
Bild oder eine Skulptur vorkam, die eine Idee, eine
Lehre enthielten, gerieten sie in Zorn und verdammten
das Werk von vorneherein, ohne sich im übrigen
um das in ihm niedergelegte Talent zu kümmern.
jetzt fangen wir an verständiger zu werden, und
vielleicht sind wir bald wieder am rechten Punkte
angelangt. Die Anekdotenkrämer sind aus dem Felde
geschlagen, über sie und ihr Prinzip werden keine
Worte mehr gemacht. Es ist also Zeit, daß man
das Extrem aufgebe und die in der Mitte liegende
Wahrheit suche. Diese Wahrheit aber heißt ganz
einfach, daß ein Kunstwerk deshalb nicht schlecht
wird, weil es einen Inhalt hat, der nichts mit der
Kunst zu tun hat. Für die Literatur wird das ohne
weiteres jeder zugeben. Theophil Gautier verlangte
als Priester des Art pour Part, daß ein Vers sauber
gefeilt und abgerundet sei, daß er voll und schön
klinge. Ob die Worte, aus denen er gebildet war,
außerdem auch noch etwas bedeuteten, war ihm
einerlei. Die Form war alles, der Inhalt nichts.
Diese Ansicht hat selbst in der hitzigsten Kampfeszeit
in Deutschland nur sehr wenige Vertreter gefunden,
was die Poesie anlangt. Der Deutsche wollte nach
wie vor nicht nur Worte hören, er wollte sich nicht
mit einem leeren Reimgeklingel, mit dem tönenden
Erze zufriedengeben, er wollte dabei auch etwas zu
denken haben. Aber für die bildende Kunst fand
man Gautiers Ansicht gut und maßgebend.
Warum dieses zweierlei Maß? Wenn die Poesie
und die Musik eine andere Aufgabe haben, als nur
dem Ohre zu schmeicheln, dann wird doch wohl auch
die bildende Kunst noch anderen Zielen nachgehen
dürfen, als nur dem Auge zu gefallen. Sie wird es
nicht nur dürfen, sie wird es sogar müssen, wenn
sie das höchste Ziel erreichen soll. Dieses höchste
Ziel sehe ich darin, daß Form und Inhalt gleich
vollkommen sind. Ich finde es erreicht bei Dürer,
bei Memling, bei van der Goes, deren Werke uns
innerlich ebenso bewegen wie äußerlich. Und es
war und ist nur dadurch zu erreichen, daß der große
Künstler von einer hohen, erhabenen Idee durch¬
drungen ist. Eine solche Idee war das Christentum,
als es noch lebendig unter uns war. Eine solche
Idee ist heute — der Sozialismus, der ja im Grunde
JULES DALOU UND SEIN DENKMAL DER ARBEIT
159
seines Wesens dem Christentum nahe verwandt ist.
Ich glaube daher, daß die bildende Kunst durch den
Sozialismus wieder einen ihrer höchsten Gipfel er¬
reichen wird. Konstantin Meunier in Belgien und
Jules Dalou in Frankreich scheinen mir bereits diese
kommende große Kunstepoche zu verkünden, eine
Epoche, wo der Künstler nicht nur für das kleine
Häuflein der Verständigen,
Kenner und Liebhaber ar¬
beiten wird, sondern wo er
bei jedermann, bei dem
Höchsten wie bei dem Ge¬
ringsten, verwandte Saiten
anschlagen wird. Und ge¬
rade hierin, wenn in sonst
nichts, halte ich Meunier
und Dalou für größere
Künstler als Rodin und
Klinger, die ihnen an tech¬
nischer Künstlerschaft ge¬
wiß nicht nachstehen, deren
Werke sich aber nur an
einen beschränkten Kreis
wenden.
Man zeige die kleine
Statuette von Meunier, die
über die Leiche des am Bo¬
den liegenden Bergmannes
gebeugte Frau, dem ersten
besten Arbeiter oder dem
feinstgebildeten Kunstken¬
ner. Beide werden bewegt
und entzückt sein, wie
beide die Grablegung von
Quentin Massys verstehen
und bewundern. Vor Klin-
gers Beethoven wie vor
Rodins Balzac wird der
Arbeiter verständnislos vor¬
übergehen. Nun ist es ja
eine alte Geschichte, daß
es nicht gerade die besten
Sachen sind, die dem grö߬
ten Haufen gefallen, aber
doch scheint mir, daß die
allerbesten und allergrößten
Werke in jeder Menschen¬
seele ein Echo finden müssen,
nicht nur bei dem raffinier¬
ten Kulturmenschen, son¬
dern auch bei dem unge¬
bildeten Arbeiterund Bauern. |. DALOU. DAS DENKMAL
Und dieses Echo wird eben
dadurch hervorgerufen, daß diese Meisterwerke Ge¬
fühle wecken, die in jeder Menschenseele vorhanden
sind. Schillers Wilhelm Teil, Shakespeares Othello,
Hiobs Klage bewegt den Gebildeten wie den Unge¬
bildeten, weil niemand gerne geknechtet ist, weil jeder
zur Liebe und zur Eifersucht fähig ist, weil jeder
schon einmal unglücklich gewesen ist und das Schick¬
sal angeklagt hat.
Das höchste der Kunst erreichbare Ziel scheint
mir also das Werk zu sein, das auf alle Menschen
wirkt. Und ich glaube, von dieser Ansicht sind wir
nur deshalb abgekommen, weil seit der Renaissance
der Künstler nur noch für Personen arbeitet, nicht
mehr für Ideen, oder was das nämliche ist, nicht
mehr für Gott. Und heutzutage steht die Kunst ganz
und gar im Dienste des
reichen Privatmannes und
richtet sich nach seinem
Geschmack. Ihre besten
Vertreter arbeiten für die
am feinsten gebildeten, mit
dem auserlesensten Ge-
schmacke ausgestatteten Pri¬
vatleute. Es handelt sich für
sie also nicht darum, eine
große Wahrheit auszuspre¬
chen, die in allen Seelen
Widerhall finden muß. Und
nur dadurch, daß die Kunst
auf diesen Weg gedrängt
wurde, war es überhaupt
möglich, daß man bis zu
dem absurden Extrem der
Forderung l’Art pour Part
kommen konnte. L’Art
pour Part ist die Kunst
für die beschränkte Zahl
der Feinschmecker, und sie
kann niemals zu dem höch¬
sten erreichbaren Gipfel ge¬
langen, wo die deutschen
und niederländischen Mei¬
ster des 15. und 16. Jahr-
, hunderts stehen, und dem
unsere Zeitgenossen Meu¬
nier und Dalou nahege¬
kommen sind.
Zu allen diesen Betrach¬
tungen werde ich durch
das Denkmal der Arbeit
verleitet, worin Jules Dalou
seinen schönsten Traum
zu verwirklichen gedachte
und das leider nie zur ersehn¬
ten Vollendung und Aus¬
führung gekommen ist.
Dalou hat in England, wo
er nach der Niederwerfung
der Kommune als politi-
DER ARBEIT. 1. ENTWURF scher Flüchtling lebte, die
anmutigsten und lebens¬
vollsten Büsten, Statuetten und Gruppen geschaffen,
die genügen würden, um ihn an die erste Stelle der
modernen Bildhauer zu bringen. Der Ruf von diesen
Arbeiten ist aber nicht über England hiuausgedrungen,
und selbst in Frankreich, geschweige denn in Deutsch¬
land, weiß man wenig oder nichts von ihnen. Erst
als nach dem Tode Dalous ein vortreffliches, mit zahl¬
reichen guten Abbildungen geschmücktes Werk über
22
i6o
JULES DALOU UND SEIN DENKMAL DER ARBEIT
ihn erschien^),
auf das ich
hier empfeh¬
lend hinwei-
sen möchte,
erfuhren die
Pariser, was
ihrLandsmann
während der
Verbannung
in England
getan hatte.
Seine nach der
Amnestie in
Paris entstan¬
denen Arbei¬
ten sind besser
bekannt, be¬
sonders das außerordentlich interessante und charak¬
tervolle Denkmal für Eugen Delacroix und dann der
große »Triumph der Republik<. Drei andere Denk¬
mäler Dalous, die ebenfalls in Paris
aufgestellt sind, das für Alphand in
der Avenue du Bois de Boulogne,
das für Boussingault im Conser-
vatoire des Arts et Metiers und das
für Jean Leclaire im wenig besuchten
Square des Epinettes, sind weniger
bekannt geworden, obgleich sich alle
drei nicht nur durch dekorative
Vorzüge, sondern auch durch eigen¬
artige und charakteristische Auffas¬
sung auszeichnen. Außerdem ist
Dalou der Urheber eines Denkmals
für Gambetta, das erst nach seinem
Tode in Bordeaux aufgestellt wor¬
den ist. In Erankreich ist neben dem
Triumphe der Republik am bekann¬
testen das durch Stich und Photo¬
graphie weitverbreitete, in allen öffentlichen Schulen
hängende Relief, welches die Szene darstellt, wie
Mirabeau den Marquis von Dreux- Breze aus der
Ständeversammlung weist.
Doch soll hier weder von diesen Arbeiten, noch
von der Bacchantengruppe im Luxembourggarten, noch
von dem an Carpeaux erinnernden Relief im städti¬
schen Gewächshause die Rede sein. In allen diesen
Arbeiten, wie auch in seinen zahlreichen Büsten, hat
Dalou nicht das zeigen können, was ihn am tiefsten
und stärksten bewegte. Selbst in seinem Triumphe
der Republik wird der innere Gehalt von der äußeren
Prachtentfaltung erdrückt, und nur die Figur der Repu¬
blik selbst zeigt, daß wir es hier nicht mit dem kalten
Werke eines offiziellen Bildhauers, sondern mit der
Herzensschöpfung eines innerlich bewegten Künstlers
zu tun haben. Während der Arbeiten an diesem
Denkmal kam dem Künstler der Gedanke, dem arbeiten¬
den Volke, dem er zugehörte, ein Denkmal zu er-
i) Dalou, sa vie et son oeuvre, par Maurice Dreyfous.
Paris, H. Laurens, 6 rue de Tournon.
richten. Zwar hatte er schon in dem Triumphe der
Republik angedeutet, wie großen Wert er dem Arbeiter,
als dem Träger des Staates und der Kultur, beilegte,
indem er all den symbolischen Figuren, welche den
Triumphwagen der Republik begleiten, als einzige der
Wirklichkeit entnomm.ene Gestalt einen Arbeiter in
Schurzfell und Holzschuhen beigesellte, aber ihm
selbst war nach der Aufstellung des Gipsmodelles
offenbar geworden, wie fremd der Symbolismus dem
Volke ist und wie wenig sein Denkmal, abgesehen
von dieser einzigen Figur und von der siegesfrohen
Republik, von dem Volke verstanden wurde. Und
so wollte er ein neues großes Werk ganz und ohne
Rückhalt dem arbeitenden Volke widmen, ein Werk,
das jedem Arbeiter, jedem Bauer, jedem Menschen
verständlich wäre.
Während er an seinen Aufträgen für Staat, Stadt
und Private arbeitete, ging er diesem Plane nach. Er
studierte die Arbeiter, wo immer sie zu finden waren,
auf der Straße, in der Werkstatt, in der Fabrik, auf
dem Acker, auf dem Meere. Im Laufe der Zeit
brachte er so eine ganze Armee von
kleinen Statuetten zusammen: Berg¬
leute, Pflasterer, Metzger, Erdarbeiter,
Fischer, Schnitter, Ährenleserinnen,
Wäscherinnen, Sackträger. Daneben
ging er an den Gesamtplan seines
Denkmals. Seine erste Skizze zeigt
ein massiges Postament, das von
einem Reiter gekrönt wird. Der
Reiter ist ein Bauer, der auf einem
schweren Ackergaul vom Felde
heimkehrt. Unten umgeben sech¬
zehn Statuen von Arbeitern aller
Berufe den Sockel, der auf einem
rundum von einem Arbeiterfriese
umgebenen Aufbaue ruht, zu dem
wiederum einige Stufen hinaufführen.
Dieses Modell baute er zwei Meter hoch
auf und quälte sich lange mit den Einzelheiten. Zu
dem Pferde modellierte er beispielsweise einen Muskel¬
gaul, um die Anatomie genau kennen zu lernen.
Bisher war Dalou nie aus den Städten Paris und
London heraus¬
gekommen. Trotz
seiner großen
Aufträge hatte er
nie genug ver¬
dient, um sich
und seiner Fa¬
milie den Land¬
aufenthalt zu ge¬
statten. Im Jahre
1895 schrieb er
mit Genugtuung
in sein Tagebuch,
daß er bisher
16023 Franken
erspart und im
letzten Jahre 7 300
Franken ausge-
JULES DALOU UND SEIN DENKMAL DER ARBEIT
geben habe.
Das war zu
der Zeit, wo
an offiziellen
Aufträgen
kein Mangel
war, wo er zu
den ersten
Bildhauern
Frankreichs
gezählt wurde,
und wo die of¬
fiziellen Bild¬
hauer vom
Schlage der
Mercie und
Falguiere all¬
jährlich Hun¬
derttausende
verdienten. Das Geheimnis seiner geringen Einnahmen
bestand darin, daß er sich nie genug tun konnte,
daß er eine Arbeit wieder und wie¬
der von vorne anfing, und daß er
die meisten seiner großen Arbeiten
zu Bedingungen ausgeführt hat, die
einen Verdienst gänzlich ausschlossen.
Sein großes Denkmal der Republik
hat er z. B. nicht weniger als dreimal
in der endgültigen Größe aufgebaut
und vollendet; zweimal hat er es als
ungenügend niedergerissen und zer¬
schlagen, bis es endlich seinen An¬
sprüchen genügte. In dieser Zeit,
wo andere Bildhauer ihre flüchtigsten
und unfertigsten Entwürfe ausstellen
und der blinden Bewunderung ihrer
Anbeter übergeben, muß dieses nim¬
merrastende Ringen eines der größten
Künstler unserer Zeit besonders unter¬
strichen werden.
Zur Ausführung seines Lieb¬
lingstraumes war es nötig, nicht nur
die Arbeiter der Großstadt zu kennen.
Dalou ging im Sommer 1891 zum erstenmale in die
Ferien. Er blieb einige Wochen in einem kleinen
Fischerdorfe der Bretagne und studierte dort die
arbeitende Bevölkerung der Küste. Im nächsten Jahre
nahm ihn ein Freund mit nach Toul, wo er in den
Eisenwerken Skizzen machte. Dann verlebte er einen
Sommer auf dem Lande unter Bauern, und so sam¬
melte er allmählich das große Skizzenmaterial, das
man nach seinem Tode in seiner Werkstatt auffand,
und das wir hier in einer Abbildung vereinigt wieder¬
geben. Man sehe diese Abbildung an, die trotz ihrer
Unzulänglichkeit eine Idee gibt von der Lebendigkeit,
von der quecksilbernen Beweglichkeit aller dieser
plastischen Momentaufnahmen. Es wimmelt und
zappelt da wie in einem Ameisenhaufen, und man
hat ganz den Eindruck, als sähe man eine nach dem
Leben aufgenommene Photographie. Alle diese Figür-
chen sind kaum eine Spanne hoch, aber viele von
ihnen sind sorgfältig durchgearbeitet und vollendet,
dergestalt, daß man sie ohne weiteres dem Marmor¬
arbeiter oder dem Gießer zur Vergrößerung und Aus¬
führung übergeben könnte. Eine dieser Figuren hat
Dalou zu einer eigenen Arbeit verwendet und daraus
den Säemann gemacht, den wir hier ebenfalls ab¬
bilden. Und eine einzige Figur, einen auf die Hacke
gestützten Bauer, hat er in der definitiven Größe von
zwei Metern vollendet.
Alle diese Figürchen sollten indessen nur Vor¬
arbeiten zu dem endgültigen Werke sein, und dieses
Werk hatte inzwischen schon verschiedene Änderungen
durchgemacht. Der erste Entwurf des etwas schwer¬
fälligen Postamentes mit dem reitenden Bauer war
verworfen worden, und in zwanzig aufeinander folgen¬
den Skizzen nahm das Denkmal nach und nach die
letzte und beibehaltene Gestalt an. Der breite und
schwere Sockel wurde schlanker und gefälliger, der
Reiter, als zu sehr an die gewöhnlichen Denkmäler
von Fürsten und Kriegsleuten mahnend, verschwand.
Aus dem breiten Postament wurde eine hohe Säule,
die zuerst vier, dann acht Seiten hatte
und schließlich rund mit verjüngen¬
der Spitze wurde. Wie man von den
militärischen Monumenten Waffen
und Rüstungen herabhängen ließ, so
sollten von den Denkmale der Arbeit
als Trophäen Werkzeuge aller Art
herabhängen. Diese Werkzeuge ma¬
chen den Schmuck der eigentlichen
Säule aus, wie sie uns in dem letzten,
hier abgebildeten Entwürfe gezeigt
wird. Den unteren Säulenschaft um¬
geben dann die in Nischen stehenden
sechzehn Vertreter der Arbeit, die
in dem Werke lebensgroß werden
sollten. Die Säule steht auf einem
quadratischen Unterbaue, der an den
vier Seiten von Reliefdarstellungen
geschmückt wird, die Arbeit auf dem
Felde, unter der Erde, auf dem Wasser
und in der Fabrik.
In dieser Gestalt, leider nur als
Entwurf, aber als Entwurf, der ohne weiteres den
ausführenden Gießern hätte übergeben werden können,
wurde das
Denkmal der
Arbeit nach dem
Tode des Künst¬
lers in seiner
Werkstatt auf-
gefunden. Da¬
lou, der die
Reklame und
alles, was ihr
ähnlich sah,
ebensosehr
scheute, wie sie
von anderen
Künstlern ge¬
liebt wird, hatte
JULES DALOU UND SEIN DENKMAL DER ARBEIT
1 62
FELDARBEITER. TONRELIEF VON |. DALOU
nur mit seinen vertrautesten Freunden von dem Entwürfe
gesprochen. Als im Jahre 1898 der Gedanke auftauchte,
bei Gelegenheit der kommenden Weltausstellung ein
Denkmal der Arbeit zu errichten, schickte ein Pariser
Blatt einen Berichterstatter zn den bekanntesten Bild¬
hauern der Stadt. Der Mann kam auch zu Dalou,
und der Künstler, der sich seit neun Jahren mit
diesem nämliclien Gedanken beschäftigte, der seine
definitive Skizze seit vier Jah¬
ren in der Werkstatt stehen
hatte, sagte dem Manne kein
Wort von dieser Tatsache und
beschränkte sich damit, den
Gedanken im allgemeinen gut-
zuheillen. Offenbar war Dalou
der Ansicht, daß man sich nur mit ganz fertigen
Werken, nicht aber mit Hoffnungen und Entwürfen
in der Öffentlichkeit zeigen dürfe. Erst nach seinem
Tode sind die Studien und Entwürfe zu dem Denkmal
Dalous bekannt geworden, und ohne seinen Tod
hätten wir die größte Anzahl dieser Skizzen nie ge¬
sehen, denn dieser in unserer Zeit wirklich seltsame
Mensch hatte die Angewohnheit, alle Vorarbeiten, die
ihm nicht genügten, erbar¬
mungslos zu vernichten. Einer
seiner Mitarbeiter und Freunde,
August Becker, hat einige Ar¬
beiten dadurch gerettet, daß er
sie im Atelier versteckte und
vor den Augen des Meisters
STUDIEN IN TERRAKOTTA VON J. DALOU
JULES DALOU UND SEIN DENKMAL DER ARBEIT
163
verbarg. Andere sind auf inständiges Bitten seiner
Ereunde verschont geblieben, aber immer nur unter
der Bedingung, daß der Bittende die in den Augen
des Meisters unvollkommene Arbeit alsbald wegschaffte
und mit nach Hause nahm, wo sie Dalous Auge nicht
mehr traf.
Dalous Name wird in der Geschichte der modernen
Skulptur immer an einer der ersten Stellen genannt
werden. Er ist mit Rüde und Carpeaux der größte
französische Bildhauer des 19. Jahrhunderts. Vielleicht
würde man ihn an die allererste Stelle rücken müssen.
wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, dasjenige Werk,
das aus seinem tiefsten Herzensgründe erwachsen war,
das für ihn die Verwirklichung seines liebsten Ge¬
dankens gewesen wäre, das Denkmal der Arbeit, zur
endgültigen Vollendung zu führen. Kein Zweifel,
daß diese Arbeit durch die vollendete Meisterschaft
des Künstlers die Kenner und die Gebildeten, durch
die hinreißende Gewalt der Idee das Volk begeistert
und so jenes höchste Ziel der bildenden Kunst er¬
reicht hätte, in dem Herzen eines jeden Beschauers
ein Echo zu erwecken.
J.'DALOU. DAS DENKMAL DER ARBEIT. 3. ENTWURF
STUDIEN IN TERRAKOTTA VON JULES DALOU
DIE WIEDERGABE GRIECHISCHER KUNSTWERKE DURCH
BILDHAUER DES RÖMISCHEN TREVERERLANDES
Von Hans Graeven
Die Grabdenkmäler, die zur Römerzeit im Lande
der Treverer, dem Gebiet des späteren Erz¬
bistums Trier, entstanden sind, trugen viel¬
fach als Schmuck Darstellungen aus der griechischen
Mythologie. Das Provinzialmuseum in Trier besitzt
eine ganze Reihe solcher Skulpturen i), z. B. Perseus
die Andromeda befreiend, Apollo die Daphne ver¬
folgend, Herakles den Apollinischen Dreifuß raubend,
Iphigenie das Artemisidol aus Tauris forttragend,
aber diese Skulpturen finden sich alle auf vereinzelten
Blöcken. Ein vollständig erhaltenes Grabdenkmal in
der Art derjenigen, von denen jene Blöcke stammen,
steht nur noch in dem eine Meile oberhalb Triers
an der Mosel gelegenen Dörfchen Igel, darnach die
Igeler Säule benannt (Abb i).
Es ist ein gewaltiger Bau von 23 Meter Höhe,
der die Dächer der umgebenden Häuser weit über¬
ragt. Die Mosel fließt unweit vom Fuß des Denk¬
mals parallel der heutigen Landstraße, die den Lauf
der römischen hat. Der Platz ist ausgesucht, damit
sowohl die auf der Straße Wandernden als die den
Fluß Befahrenden das Denkmal schauen sollten und
demgemäß ist die dem Fluß und der Straße zuge¬
kehrte Seite die Hauptseite, die die Inschrift trägt.
Nach ihr haben zwei Brüder, L. Secundinius Aventinus
und L. Secundinius Securus, bei Lebzeiten den Bau
errichtet, als Grabdenkmal für sich und eine Reihe
verstorbener Angehöriger. Namhaft gemacht werden
die Eltern der Brüder, die Gattin des Aventinus,
zwei Kinder des Securus und zwei Familienglieder,
Vater und Sohn, über deren verwandtschaftliches
Verhältnis zu den Denkmalserbauern nichts näheres
gesagt ist. Die heute herrschende Sitte, in der Grab¬
schrift das Todesjahr anzugeben, war im Altertum
nicht verbreitet, daher erfahren wir auch aus der In¬
schrift der Igeler Säule nichts über deren Alter, aber
der Vergleich mit anderen Skulpturen lehrt, daß sie
ungefähr ums Jahr 200 n. Chr. entstanden ist.
Gleich der Hauptseite, die unsere Abbildung
wiedergibt, sind alle übrigen Seiten vollständig be¬
deckt mit Reliefs, aber der Zahn der Zeit hat er¬
barmungslos die Steine benagt. Ursprünglich ist die
ganze Oberfläche mit einer Kreideschicht überzogen
und bemalt gewesen, die Figuren in dunklerer Farbe
haben sich kräftig von dem hellen Hintergründe ab¬
gehoben. Der Kreideüberzug ist allmählich abgeblättert
und später hat der weiche Sandstein, aus dem der
Bau besteht, auch die harte Silikatschicht eingebüßt,
die sich auf ihm gebildet hatte und die ihm lange
eine schützende Decke war. Ältere Abbildungen
1) Vgl. Hcltner, Die römischen Steindenkmäler des
Provinzialmuseums zu Trier (Trier 1893) Nr. 206; West¬
deutsche Zeitschrift XVI (1897) Taf. 22, Heltner, Illustrierter
ABB. 1. SÄULE VON IGEL Führer durch das Provinzialmuseum inTrier (Trier 1903) S.9.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVl. H. h
23
i66
DIE WIEDERGABE GRIECHISCHER KUNSTWERKE
veranschaulichen’), wie in den letzten Jahrhunderten
die Zerstörung fortgeschritten ist, der sich jetzt kein
Einhalt mehr gebieten läßt. Hoffentlich finden sich
die Mittel dazu, eine Abformung zu machen und
wenigstens in Gipsabgüssen den heutigen Zustand
festzuhalten -).
Auf dem untersten Sockel ist an der Vorderseite,
deren rechte Ecke in neuerer Zeit völlig hat ergänzt
werden müssen, keine erkennbare Spur der Reliefs
mehr übrig geblieben, auf den anderen Seiten sieht
man, daß der unterste Sockel ein ringsumlaufendes
Band von Schiffen und Wasserbewohnern gehabt hat.
Die Schiffe nehmen die mittlere Quaderschicht ein,
die untere trägt Tritonen, Hippokampen und andere
phantastische Meerwesen, die obere Delphine, die von
Eroten begleitet sind und ihnen als Reittiere dienen.
Der obere Sockel enthält auf allen vier Seiten je
ein Bild aus dem täglichen Leben der Denkmals¬
erbauer, Bilder derselben Art sind für den Eries des
Hauptgebälks und für die Attika gewählt. Auf der
Vorderseite der Attika ist dargestellt, wie zwei Diener
ein Tuch zur Probe ausbreiten, ein dritter weitere
Tücher herbeiträgt. Wir dürfen daraus schließen,
daß der Tuchhandel von den Secundiniern betrieben
wurde und eine der Quellen des Reichtums war, der
ihnen ermöglichte, solch kostspieliges Grabdenkmal zu
errichten. Der Sockel zeigt an der Vorderseite eine
figurenreiche Zahlszene im Kontor, andere Reliefs
schildern die Verpackung und den Versand der Waren.
Auf der einen Seite des Erieses sehen wir die Liefe¬
rung von Naturalabgaben seitens der Pächter, eine
zweite Seite des Erieses gewährt uns einen Blick in
die Küche, wo das Mahl bereitet wird und die Vor¬
derseite des Frieses führt uns das Speisezimmer vor,
in dem die Familie das Mahl einnimmt. Alle diese
Reliefs, die sich durch packenden Realismus aus¬
zeichnen, geben uns ein sehr getreues Bild vom Leben
und Treiben im Trevererland zur Zeit der F^ömer-
herrschaft. Die Typen der Reliefs, die teilweise auf
anderen Denkmälern der Gegend wiederkehren, sind
hier im Lande selbst von Künstlern, die gute Be¬
obachtungsgabe besaßen, geschaffen worden im Ge¬
gensatz zu den mythologischen Bildwerken, deren
Typen aus der Fremde bezogen sind.
Die mythologischen Bildwerke der Igeler Säule
haben zum Teil eine bestimmte symbolische Be¬
deutung. Das Ganze wird bekrönt durch die -
jetzt ihrer oberen Hälfte beraubte — Gruppe des
Adlers mit dem Ganymed, das Relief des Giebel-
1) Eine vollständige Aufzählung der Vorgängerinnen
enthält die Publikation: Abbildung des römischen Monu¬
mentes in Igel von Chr. Hawich, mit einem erläuternden
Text von /. M. Neiirohr (Trier 1826).
2) Die Abformung würde zugleich Gelegenheit bieten,
alle Teile zu photographieren und eine heutigen Anforde¬
rungen entsprechende Publikation zu machen, die Abbil¬
dungen der älteren Publikationen sind sehr unzuverlässig
und viele Darstellungen sind bislang falsch gedeutet worden.
Die Archäologie der letzten Jahrzehnte, deren Interesse
durch die großen Entdeckungen in den Mittelmeerländern
völlig absorbiert war, hat das einheimische Monument
gänzlich vernachlässigt.
dreiecks an der Vorderseite stellt den Hylas dar, der
beim Wasserholen von den Nymphen, die in Liebe
zu dem schönen Knaben entbrennen, in den Quell
herabgezogen wird. Eltern, die wie L. Secundinius
Securus den vorzeitigen Tod geliebter Kinder zu be¬
klagen hatten, ließen an deren Grabdenkmälern mit
Vorliebe den Raub des Hylas oder des Ganymedes
bilden, die beide in zartem Alter dieser Welt entrückt
waren, um in der Gemeinschaft der Götter ein ewiges
seliges Leben zu führen. Aus den Bildern schöpften
die Eltern den Trost, daß auch ihren Kindern ein
gleiches Los zu teil geworden sei. Zur Zeit des
Denkmalbaues war die Menschheit erfüllt von dem
sehnlichen Wunsche nach einer festen Gewähr für
das Fortleben nach dem Tode. Mysterien und Ge¬
heimkulte wie der Mithrasdienst fanden so viele An¬
hänger, weil den Eingeweihten die Unsterblichkeit
verheißen wurde, und jener Wunsch hat mehr als
alles andere den Boden bereitet für die Aufnahme
des Christentums, das die sicherste Anwartschaft gab
auf ein ewiges Leben. An der Igeler Säule zeugt
außer dem Raube des Hylas und des Ganymedes
noch ein drittes Relief von den Unsterblichkeitshoff¬
nungen der Erbauer; im Mittelstück der Rückseite ist
eine große Darstellung der Himmelfahrt des Herakles
angebracht. Es war ein Vorrecht der Kaiser und
ihrer Angehörigen, daß sie apotheosiert, daß ihre
Apotheose dargestellt wurde, aber die Untertanen
stellten sich das Bild des Herakles vor Augen, der
nach dornenvoller Erdenlaufbahn den Himmel er¬
rungen hatte, und fanden darin eine Bürgschaft, daß
auch ihnen die Aufnahme unter die Himmlischen
gewährt werden könne.
Die übrigen mythologischen Reliefs des Denkmals
entbehren eines tieferen Sinnes, sie haben lediglich
dekorativen Zweck. Dargestellt ist der Besuch des
Mars bei Rhea Sylvia, die Eintauchung des kleinen
Achill in die Styx, die Erlösung der von Argos be¬
wachten Jo durch Hermes, die Befreiung der Andro¬
meda durch Perseus. An das letzte Relief schließt
sich die idyllische Szene, wie Perseus der befreiten
Andromeda in einem Quell das Spiegelbild des
Medusenhauptes zeigt, dessen unmittelbarer Anblick
die Menschen versteinerte. Für alle diese Reliefs
lassen sich unter den uns überlieferten griechisch-
römischen Kunstwerken die Vorbilder nachweisen, es
wäre lohnend und lehrreich, eine Vergleichung durch¬
zuführen, aber sie muß verschoben werden, bis von
den Igeler Skulpturen gute Abbildungen vorgelegt
werden können. Wenn die erhoffte Abformung zu¬
stande kommt, wird das für sie aufzuschlagende Gerüst
zugleich Gelegenheit bieten, brauchbare Photographien
herzustellen und eine den heutigen Anforderungen
entsprechende Publikation vorzubereiten, die das Denk¬
mal in hohem Grade verdient.
Der Einfluß griechischer Originale beschränkt sich
an der Igeler Säule indes nicht auf die mythologischen
Reliefs, er ist nicht minder zu spüren in den vielen
ornamental verwendeten Einzelfiguren, er ist auch
zu spüren in dem Hauptrelief der Vorderseite, das
sich gerade oberhalb der Inschrift befindet (Abb. 2).
DIE WIEDERGABE GRIECHISCHER KUNSTWERKE
167
SÄULE VON IGEL, HAUPTRELIEF DER VORDERSEITE
An dieser Stelle pflegen die Grabdenkmäler die Porträts
der Verstorbenen zu haben bezw. die Porträts derer,
die bei Lebzeiten die Denk¬
mäler erbaut haben. In Igel
erscheinen hier drei über¬
lebensgroße männliche Figu¬
ren und zu ihren Häuptern
drei Medaillons mit Brustbil¬
dern. Das größte in der
Mitte zeigt den Kopf einer
Frau, sie hat zur Rechten
ein junges Mädchen, zur
Linken einen noch jüngeren
Knaben. Die Inschrift ge¬
stattet den Schluß, daß die
beiden letzten die Kinder des
Securus sind, daß im mittleren
Medaillon die Gattin des
Aventinus porträtiert ist.
Von den drei Vollfiguren
sind zwei in die Toga ge¬
kleidet und reichen sich die
Rechte, die dritte anders ge¬
kleidete Figur hält nach An¬
sicht älterer Erklärer ein
Tuch ausgebreitet, in dem
man eine weitere Anspielung
an den im Attikarelief dar¬
gestellten Tuchhandel sah. orpheus und eurydike.
Eine genaue Betrachtung des Reliefs lehrte, was auch
die Photographie deutlich erkennen läßt, daß die in
Frage stehende Figur den
»Chlamys« benannten Mantel
trägt, der auf der rechten
Schulter gefibelt wurde, den
rechten Arm frei ließ aber
den linken vollständig be¬
deckte. Wollte der Träger
solchen Mantels mit der Lin¬
ken etwas greifen, mußte er
den Mantel hoch heben. So
tut es die Figur der Igeler
Säule und diese Bewegung
hat bei den früheren Er-
klärern den Anschein er¬
weckt, der Mann halte ein
Tuch, aber in Wahrheit hält
seine Linke einen runden
stabartigen Gegenstand; des¬
sen unteres Ende schaut aus
der Hand hervor, der obere
Teil, der auf der Brust lag,
ist infolge der hier eingetre¬
tenen Beschädigung des Steins
weggebrochen. Das kleine
erhaltene Ende genügt nicht,
den Gegenstand zu bestim-
MARMORRELIEF NEAPEL nieii, aber wir werden doch
23
i68
DIE WIEDERGABE GRIECHISCHER KUNSTWERKE
zu dessen Bestimmung gelangen, da die Tracht der
Figur über deren Wesen keinen Zweifel läßt.
Ältere Erklärer haben in dem Chlamysträger und
in einem der beiden anderen Männer die Erbauer
des Denkmals erkennen wollen, die von ihrem ver¬
storbenen Vater Abschied nehmen. Da aber in den
Hauptreliefs der großen Grabdenkmäler die porträtierten
Männer nie anders als in der Toga erscheinen, müssen
wir annehmen, daß an der Igeler Säule die beiden
Togati die Brüder Securus und Aventinus sind. Zu
ihrer Zeit war in ihrem Lande die Chlamys nicht in
Gebrauch, keines der Bildwerke, in denen Szenen
des realen Lebens dargesteltt sind, enthält einen mit der
Chlamys Bekleideten. Dies Bekleidungsstück treffen
wir in Skulpturen des Trevererlandes nur bei Ideal¬
figuren, die griechischer Kunst entlehnt sind, ganz
besonders in Bildern des Merkur, der dem Hermes
der Griechen entspricht. Für ihn kann die Chlamys
geradezu als Charakteristikum gelten. Daß der Ver¬
fertiger des Igeler Reliefs den Chlamysträger wirklich
als den Gott gedacht hat, wird bestätigt durch einen
Vergleich mit dem Orpheusrelief, von dessen Berühmt¬
heit im Altertum die Zahl der Repliken Zeugnis ab¬
legt'). Drei Repliken sind vollständig auf unsere Tage
gekommen und das Bruchstück einer vierten; die best¬
erhaltene Replik, die sich im Neapler Museum be¬
findet, gibt unsere Abbildung 3'“) wieder.
Orpheus hat durch seinen Gesang und sein Saiten¬
spiel die sonst unerbittlichen Herrscher des Toten¬
reichs erweicht, sein Flehen hat Erhörung gefunden,
die geliebte Gattin darf ihm wieder zur Oberwelt
folgen, doch ihm wird verboten sich nach ihr um¬
zuschauen, ehe er nicht die Schwelle des Hades
überschritten hat. Liebe und Sehnsucht sind in ihm
zu mächtig geworden, vor seinem Ziel hat er sich
zurückgewendet. Diesen Augenblick hat der Künstler
zur Darstellung gewählt; in inniger Zärtlichkeit neigen
sich die Köpfe der Gatten gegeneinander, Eurydike
legt, wie um den Gatten festzuhalten, die Linke auf
seine Schulter und er greift nach ihrem Handgelenk,
aber der Moment des Wiedersehens, der Wieder¬
vereinigung ist zugleich der Moment der unabweis¬
baren Trennung. Schon hat der Totenführer, der
dem Paare nachgeschritten ist, seine Hand auf die
Rechte der Eurydike gelegt, um sie zurückzuführen
ins Totenreich. Mitleid malt sich in seinen Zügen,
die Bewegung seiner Rechten, die in das Gewand
faßt, läßt erkennen, wie schwer es ihm wird, seine
Pflicht zu tun.
Das Igeler Relief lehnt sich eng an das Orpheus¬
relief an. Wir können auf den Grabdenkmälern des
Trevererlandes eine bestimmte Entwickelung in dem
Arrangement der Porträtfiguren aufweisen. Steif stehen
auf den älteren Denkmälern die Figuren nebeneinander,
es sind gleichsam die zu Vollfiguren ausgewachsenen
Ahnenbilder, die römischer Sitte gemäß in den Häusern
aufgestellt wurden. Die bevorzugte Darstellung
1) Vgl. z. B. B. ColUgnon, Geschichte der griechischen
Plastik, deutsch von Baumgarten (Straßburg 1898) II 153.
2) Abb. 3 ist entnommen aus Springer, Handbuch der
Kunstgeschichte (7. Aufl., Leipzig 1904) 1.
griechischer Grabstelen ist es, daß die Figuren ein¬
ander die Hand reichen zum Abschied, und dies
Motiv ist an den jüngeren Grabdenkmälern des
Trevererlandes aufgegriffen. Das Igeler Relief geht
noch einen Schritt weiter, indem es den Totenführer
hinzugesellt, der den Abschied als eine Trennung für
immer charakterisiert.
Die Gruppierung ist dieselbe wie auf dem
Orpheusrelief, Hermes steht links neben dem Paare,
die Stellung der Brüder entspricht vollständig der des
Orpheus und der Eurydike, nur ist die einfache Hand¬
reichung an die Stelle der zärtlicheren Handbewegung
der Gatten getreten. Geändert ist auch die Bewegung
des Hermes. Er berührt in dem Orpheusrelief die
dem Hades verfallene Eurydike, aber das Igeler Denk¬
mal haben die beiden Sekundinier zu Lebzeiten er¬
richtet, wer von ihnen zuerst aus dieser Welt ab¬
gerufen würde war nicht vorauszusehen, deshalb
mußte der Totenführer in abwartender Haltung dabei
stehen. Daß die Figur aber in der Tat dem Orpheus¬
relief entlehnt ist, ergibt sich aus der Übereinstimmung
der Tracht. Der Schöpfer des Orpheusreliefs, der
in die Periode des Phidias gehört, hat noch älterem
Brauche folgend dem Hermes außer der Chlamys ein
Untergewand gegeben, andere Hermesdarstellungen
der phidiasischen Zeit lassen schon das Untergewand
fort, was in der Folgezeit die ausschließliche Regel
wurde, ln Igel tritt uns der Gott wieder mit beiden
Kleidungsstücken entgegen, doch ist der gegürtete
feingefaltete griechische Chiton durch den trierischen
Steinmetzen verwandelt in das übliche Gewand seiner
Gegend, das sagum, das ohne Gürtel, weit und sack¬
artig den Körper umhüllt. Der Petasos ferner, den
der Hermes des Orpheusreliefs im Nacken trägt, ist
fortgelassen, er war den Söhnen des nördlichen Klimas
nicht vertraut, unter ihrem Himmel schützten sich die
Männer wohl gegen Wind und Wetter durch Kapuzen,
die wir in vielen Reliefdarstellungen des täglichen
Lebens sehen, aber breitrandige Sonnenhüte, die im
alten Griechenland zur Reiseausrüstung gehörten,
waren hier überflüssig.
Noch in einem anderen Punkte weicht der Hermes
in Igel von dem des Orpheusreliefs ab. Dieser ist
attribütlos, den Betrachtern der Igeler Säule wäre die
Figur ohne Attribut schwer verständlich gewesen, und
es ist daher mit Bestimmtheit anzunehmen, daß der
stabartige Gegenstand in der Linken der Figur der
Rest des Kerykeions, des Schlangenstabes, ist. Wahr¬
scheinlich hat die Rechte an dessen Oberteil gefaßt.
Diese Bewegung war der Situation sehr angemessen,
sie drückte deutlich aus, daß der Totenführer seines
Amtes noch nicht walten will, daß er noch zögert,
einen der Brüder zu berühren mit dem Stabe, der
nach der antiken Vorstellung die Macht hatte, die
Augen der Menschen zu schließen zum ewigen Schlafe.
Ähnlich wie das Verhältnis der Igeler Figur zu
dem Hermes des Orpheusreliefs ist das Verhältnis
zwischen dem berühmten Hermes, den die deutschen
Äusgrabungen in Olympia ans Licht gezogen haben
(Abb. 4)1), und dem Merkur eines Sandsteinreliefs, das
1) Vgl. a. a. O. Fig. 462, darnach oben Abb. 4.
DIE WIEDERGABE GRIECHISCHER KUNSTWERKE
169
ABB. 4
1825 bei Onsdorf, etwa eine Meile südwestlich von
Igel, gefunden ist (Abb. 5) ’). Die Abhängigkeit von
der Gruppe des Praxiteles wird durch die Haltung
der Relieffigur, vor allem durch das außergewöhnliche
Motiv, daß sie ein Kindchen auf dem linken Arm
hält, deutlich und klar erwiesen.
Das Kindchen der Praxitelischen Gruppe ist der
jugendliche Bacchus, den sein göttlicher Halbbruder
den Nymphen zur Pflege überbringen will. Auf dem
2) Vgl. Hettner, Die römischen Steindenkmäler des
Provinzialmuseums zu Trier (Trier 1893) Nr. 68.
ABB. 5
ABB. 4. HERMES DES PRAXITELES. OLYMPIA
ABB. 5. MERKUR. SANDSTEINRELIEF VON ONSDORF
Wege hat er Rast gemacht und stützt den das Kind
tragenden Arm auf einen Baumstamm, über den er
seinen Mantel gehängt hat. Die erhobene Rechte des
Hermes, die leider nicht mit aufgefunden ist, hielt
dem Kinde einen Gegenstand hin, vermutlich eine
Traube, die Durchbohrung der Linken deutet darauf,
daß hier ein bronzenes Kerykeion eingefügt war, das
einzige Attribut, das Praxiteles seinem Hermes ge¬
geben hatte. In dem Onsdorfer Relief sind zu den
Füßen des Gottes seine heiligen Tiere angebracht,
links der Bock — kaum noch erkennbar - rechts
der Hahn. Die gesenkte Rechte hat zweifellos einen
DIE WIEDERGABE GRIECHISCHER KUNSTWERKE
170
großen Schlangenstab aufgestützt. Das Kind der
Praxitelischen Gruppe richtet sich energisch auf, strebt
mit hochgestrecktem Händchen die von Hermes dar¬
gebotene Frucht zu erhaschen, auf dem Relief sitzt
das Knäbchen mit vorgebeugtem Oberkörper und legt
die Hand an einen wohlgefüllten Geldbeutel. Merkur
erscheint nicht in völliger Nacktheit wie der Praxi-
telische Hermes, er hat die Chlamys angelegt, damit
in ihrem Bausch der große straffe Beutel ruhen kann.
Der Beutel zwingt uns auch, in dem Kinde nicht
den jugendlichen Bacchus zu sehen, sondern die
Personifikation des Reichtums, den Plutos, den die
antike Kunst als kleinen Knaben zu bilden pflegte
mit einem Symbol seiner Gaben, sei es mit einem
Füllhorn, sei es mit einem Geldbeutel i). Der Plutos
im Arm des Merkur verstärkt den Eindruck von der
Macht des Gottes, Gewinn und Reichtum zu ge¬
währen, und eben wegen dieser Macht wurde Merkur
1) Die älteste und bekannteste Darstellung des Plutos-
knaben bietet die von Kephisodot, dem Vater des Praxiteles,
gefertigte Gruppe der Eirene, die den Plutos auf dem Arm
hält, abgeb. z. B. bei Springer a. a. O. Fig 438. Plutos,
von den materiell gesinnten Bewohnern des Treverer-
landes mehr als andere Götter verehrt.
Trotz der erlittenen Umwandlungen nimmt der
Abkömmling des Praxitelischen Hermes auf dem
Onsdorfer Relief unter den landesüblichen Merkur¬
bildern einen hervorragenden Platz ein und wirkt
dank seiner Anlehnung an das herrliche Vorbild er¬
freulicher als die meisten anderen Merkurbilder der
Gegend. In noch höherem Grade zeichnet sich das
Hauptrelief der Igeler Säule vor anderen Grabdenk¬
mälern aus, die Hinzufügung des Totenführers, der
den edlen Jünglingskopf mit dem mitleidsvollen Aus¬
druck der Originalfigur auf dem Orpheusrelief be¬
wahrt hat, verleiht dem Relief einen eigenen stimmungs¬
vollen Reiz. Die tiefe Wirkung edler griechischer
Schöpfungen kann selbst in der Wiedergabe durch
die halbbarbarischen Bildhauer des Trevererlandes
nicht ganz verloren gehen.
als Knabe personifiziert, erscheint aber auch noch auf
byzantinischen Elfenbeinkästchen, die ums Jahr 1000 n. Cr.
entstanden sind, abgeb. z. B. in der Zeitschrift V Arte, giä
archivio storico dell' arte, 11 1S99, S 301.
DIE ECHTHEIT DER »WETZLARER« ZEICHNUNG DES
OTTO-HEINRICHBAU-GIEBELS
Die Redaktion der Zeitschrift für bildende
Kunst« sieht sich außerstande, den erforder¬
lichen Raum zur Widerlegung der Ausfüh¬
rungen A. von Oechelhäusers gegen mich zu gewähren.
Ich muß mich daher darauf beschränken, zu erklären,
daß ich an einem anderen Orte die völlige Unhalt¬
barkeit der Oechelhäuserschen Beweisführung nach¬
zuweisen mir Vorbehalte, und hier nur in den Haupt¬
punkten nachfolgendes zu berichtigen:
1. Oechelhäuser begründet in dem wichtigsten
Punkte seine gegenteilige Ansicht auf die erstaun¬
liche Behauptung, die beiden obersten Figuren der
Ottoheinrichsbau-Fassade seien hundert Jahre jünger,
als die übrigen Statuen.
Diese Behauptung ist ganz willkürlich. Nach
dem Urteil aller Kenner steht auf Grund sorgfältigster
Vergleichung und Untersuchung unerschüttert fest,
daß alle freistehenden Statuen aus der Colinsschen
Werkstatt stammen.
2. Oechelhäuser behauptet, ausschließlich auf Grund
der (doch als bestritten nicht beweiskräftigen) »Wetz-
larer« Zeichnung, daß die heute noch stehenden, auch
durch Kraus abgebildeten Fenster und Pilaster der
kleinen Zwerchgiebel bereits einen Bestandteil der großen
ältesten Giebel von 1560 gebildet hätten, akzeptiert
also gutgläubig, was der Fälscher weismachen will.
Die genannten Giebelreste entstammen aber nach
Material, Bearbeitung und Details der Zeit um 1659,
was schon Koch und Seitz, hier die sicherste Autorität,
feststellten, was auch der gänzliche Mängel an Stein¬
metzzeichen, die sonst nicht fehlen durften und selbst
am Friedrichsbau noch vorhanden sind, einwandsfrei
bestätigt.
Ein Bauwerk, welches erst 1 659 errichtet ist, kann
nicht 1616 abgezeichnet werden.
Schon diese zwei tatsächlichen Feststellungen er¬
schüttern das ganze Gebäude Oechelhäusers, das
übrigens auch sonst gar zu oft auf »meines Erachtens«
aufgebaut ist.
Hannover, Februar 190's.
ALBRECH T HA UPT.
Nachschrift der Redaktion. Nachdem der Gegner
des Skizzenbuches und sein Verteidiger jeder in voller
Ruhe und ohne irgend eine Raumbeschränkung in
der »Kunstchronik« Nr. 11 und im vorigen Hefte der
»Zeitschrift für bildende Kunst« sich aussprechen
konnten und Herrn Professor Haupt außerdem hier
noch Gelegenheit zu einem kurzen Schlußworte ge¬
geben ist, erachtet es die Redaktion nunmehr für
ihre Pflicht, von einer weiteren Erörterung dieses
Themas abzusehen. Für jetzt muß es demjenigen
Teile unserer Leser, welcher sich für diese Spezial¬
frage interessiert, überlassen bleiben, durch Ver¬
gleichung der beiden Auseinandersetzungen und des
originalgetreu reproduzierten Blattes sich ein eigenes
Urteil zu bilden. Kenntnis steht hier gegen Kenntnis,
Autorität gegen Autorität. Auf diesem Punkte müssen
wir den Fall verlassen, es sei denn, daß einst neue
Tatsachen auftauchen, die eine bestimmte Entscheidung
herbeiführen. Die Redaktion.
EUGEN BEJOT
Eugen BEJOT ist heute einer der am häufigsten
genannten Namen unter den französischen Radierern.
So jung wie er ist — er ward am 1. September 1867
in Paris geboren — hat er doch schon auf seinem Konto,
ungerechnet einen ansehnlichen Posten einzelner Radie¬
rungen, mehrere gewichtige Serien, die ihm vor zwei
Jahren die Ernennung zum Mitglied der Societe nationale
des Bearix Arts eintrug, wo er seit 1893 regelmäßig aus¬
stellt; seit 1900 ist er auch Mitglied der englischen
»Painters-Etchers«.
Höchst einfach ist die Geschichte seines Studiengangs.
Als er noch in den Kinderschuhen steckte, griff er schon
zum Bleistift. Als Jüngling illustrierte er dann die delikaten
Gedichte seines früh verstorbenen Bruders. Später geht
er auf die Akademie Julian und studiert bei Gustav Bou-
langer, bis er schließlich seinen Weg gefunden hat und
bei den Aquafortisten Henri Guerard und Felix Buhot
sich in die Lehre begibt. Zwei Jahre später, 1893, nach¬
dem schon seine ersten Radierversuche rasch von den
Kennern bemerkt waren, zog er die Aufmerksamkeit des
des größeren Publikums auf der Ausstellung der »Peintres-
Graveurs« mit einigen seiner Ansichten von Paris auf sich,
ein Thema, das er von Anfang an bevorzugt hatte und
das er nun nicht mehr verließ. Es steckte in diesen
PARISER STADTBILDER NACH ORIOINALRADIERUNOEN VON EUGEN BEJOT
Blättern ein gewisser Sinn für das Pitto¬
reske, der rasch bestach. Andere — z. B.
Lepere — haben die Gabe des Lebens,
verstehen es, in ihren Straßenbildern von
Paris den Eindruck der Bewegung, das
Zittern des Rauches und den Zug der Wol¬
ken wiederzugeben; Bejot exzelliert, indem
er die Dinge von der interessanten Seite
anpackt, den unerwarteten Effekt, das
eigentümlich Anziehende mit den einfach¬
sten Mitteln wiedergibt, mit ein paar andeu¬
tenden Strichen, die er direkt vor der Natur
mit außerordentlichster Sicherheit auf die
Platte setzt. Außer zahlreichen Einzeltafeln,
La Samaritaine et le Pont-Neiif (1893),
Joinville-le-Pont (1894), Le qiiai de VHorloge
(1896), La Sainte Chapelle (1898), Le Pont
Royal, hat der Künstler fünf Albums dem
Stadtbilde von Paris gewidmet, nicht als
Stadt des Lebens und der Tätigkeit, son¬
dern dem wechselvollen Bilde seiner Bau¬
werke, seiner Wasserflächen und grünen
Bäume, zwischen denen da und dort als
belebende Staffage einige Silhouetten auf¬
tauchen. Die Seine in Paris , das ist der
Titel seiner ersten Sammlung, datiert von
1892, sechs Radierungen ln einem ebenfalls
radierten Umschlag. Es folgten Squares
und Gärten (1896), acht Lithographien,
dann (1899) elf Radierungen (einschließlich
des Umschlags) für ein Buch, in welchem
unter dem ein wenig getüftelten Titel
Zwischenakte der Steine der Schrift¬
steller Maurice Guillemot von den ver¬
achteten Reizen der Flora des Pariser Pfla¬
sters, von der Vegetation, die plötzlich und
zufällig zwischen den Steinen der großen
172
EUGEN BEJOT
Stadt emporscliießt, erzcählt hat: die Standhallen des Blumen¬
marktes, die Geraniumtöpfe auf dem Fenster des kleinen
Nähmädchens vom Afontmartre, die Quirlande von Clematis,
die einen Balkon oder irgend einen alten Brunnen um¬
windet, kleine Orangenbäume in Töpfen auf den Schiffen
der Waschanstalten, bescheidene Gärtchen der alten In¬
validen, grüne Ecken irgend eines Bahnwärters am Stadt¬
rand — alles Motive, eins pittoresker als das andere, von
jenem Geist kleiner liebenswürdiger Überraschungen, die
unser Künstler liebt.
Die Schiffe von Paris boten noch eine Quelle und
sogar noch eine ergiebigere für Bejot. Hier galt es nicht
nur den Schmuck der Seine und ihrer Ufer wiederzugeben,
sondern das Leben des Flusses selbst, das der dieser Ra¬
dierungsserie beigegebene Text von Gustav Geffroy packend
heraufzaubert. Bejot hat sich für diese Serie mit dem
äußerst exakten Charakteristiker Charles Iluard verbunden,
derart, daß der eine die Landschaft, der andere in völliger
künstlerischer Übereinstimmung die Personen hineinzeich¬
nete. Aus dieser gemeinsamen Arbeit, wo jeder der beiden
Künstler sein Bestes beisteuerte, entstand eine Reihe äußerst
bunter und eindrucksvoller Bilder: die wartenden Passa¬
giere auf dem Brückenschiffe; die flinken Fährschiffe; die
langsamen Penichen, die schwergeladenen Flandelsboote
an den Kais; die stämmigen Schleppboote; die Wasch¬
anstalten; kurz alles, was auf dem Wasser oder um das
Wasser herum lebt und sich bewegt, lebt ebenso in den
14 Radierungen und den 10 Zeichnungen, die ein dritter
Alitarbeiter, Jacques Beltrand, in Holz geschnitten hat.
Noch im gleichen Jahre 1903 veröffentlichte Bejot ein
ferneres Werk Du 1 au XX , das die charakteristischen
Stadtbilder der 20 Bezirke von Paris wiedergibt'). Diese
Arbeit ist unter den bisherigen des Künstlers Hauptstück.
Ganz Paris ist hier zusammengefaßt, das Paris des Pont
neuf und das des Pont Arcol, das Paris der alten Quartiere
und das des Trocadero, das Paris von Notre Dame und
das vom Alontmartre, Paris von einem Künstler gesehen;
das ist in unserem Fall, da es sich nm Eugene Bejot han¬
delt, Enthüllung oft ungeahnter Reize. Das ungemein
reiche Werk bildet ein Album der interessantesten Art,
das alle Kenner des pittoresken Paris zu schätzen wissen,
jenes Paris, das mehr und mehr durch den Eortschritt
verschwindet.
Das wären so die hauptsächlichsten Dinge, die über
Eugen Bejot zu erzählen wären. Indessen er hat sich
nicht ausschließlich auf Paris beschränkt. Die LJmgebungen
der Stadt, Marktszenen aus der Provinz, zahlreiche An¬
sichten von Cannes, Tierbilder, Porträts und Interieurs
sind in seinem Lebenswerk vertreten und zeigen ihn, wie
es die Ausstellung 1896 in den American Art Galleries von
New York, wo er neben Paul Jobert und Guerard mit
100 Zeichnungen und Radierungen vertreten war, bewies,
als eine Künstlerseele, die jedem malerischen Eindruck
offen ist. Schließlich seit einigen Jahren zieht ihn insbe¬
sondere London an, mit welchem Erfolg, davon gibt die
Radierung, mit der er dieses Heft geschmückt hat, eine
schöne Probe, und es steht zu erwarten, daß er uns in
Bälde als Gegenstück zu seinem Album von Paris ein
solches von der Themsestadt bescheren wird.
AUGUST MARGUILLIER.
i) 20 eaux-fortes avec preface de Jules Claretie, de
l’Academie frangaise. Paris, Societe de propagation des
livres d’art, MCMIII.
Cttvii. /r, ...
PARIS. LE COURS DE LA REINE. NACH EINER ORIOINALRADIERUNO VON EUGEN BEJOT
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leijrzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., g. m. b. h., Leijrzig
ilTSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1905
AN DER THEMSE. ORIQINALRADIERUNO VON E. BEJOT IN PARIS
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BILDNIS WINCKELMANNS VON A. R. MENGS
DAS ORIGINAL IM BESITZE DES FÜRSTEN CASIMIR v. LUBOMIRSKI IN KRAKAU
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST ig05
PHOTOGRAPHIE E.
DELDEN (BRESLAU)
DAS WINCKELMANN-PORTRAT VON
ANTON RAPHAEL MENGS
Die Bildnisse Winckelmanns sind von Otto Jahn
in den Biographischen Aufsätzen 1866 und
von Professor Julius Vogel in dieser Zeit¬
schrift (N. F. X., Heft 6 und XI, Heft 4) im Zu¬
sammenhang besprochen vt^orden. Das Porträt, w^el-
ches Anton Raphael Mengs in Rom von seinem
Freunde malte, war beiden
Ikonographen nur aus drei
Nachbildungen bekannt,
nämlich 1. dem Stich in
der von Jansen herausge¬
gebenen französischen Aus¬
gabe der Kunstgeschichte,
Paris 1794, nach einer
Zeichnung des Bonaventura
Salesa, 2. dem von C. Senff
in Dorpat als Titelbild der
Rede von Morgenstern,
Leipzig 1805, und 3. dem
Blatte von Maurice Blot
in Paris, 181 5. Das letz¬
tere trägt die Unterschrift:
D’apres le iableau original
qui se trouve dans la Col¬
lection de son altesse ma-
darae la princesse de Lubo-
mirska a Vienne. Nach¬
forschungen in dem Kunst¬
besitz der alten polnischen
Adelsfamilie Lubomirski
haben erst kürzlich das
wohlerhaltene Original im
Besitz des Fürsten Casimir
von Lubomirski in Krakau
zutage gefördert. Unbedeu¬
tende Schäden, zum Glück
nicht im eigentlichen Por¬
trät, sondern im Hinter¬
gründe, machten eine Ren-
toilage durch die sachkun¬
dige Hand des Kgl. Konser¬
vators Professor Hauser in
Berlin notwendig. Daß es
sich um das verschollen
geglaubte Original handelt, darüber kann bei ein¬
gehender Betrachtung des Gemäldes, eines Meister¬
werkes der Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts, ein
Zweifel nicht bestehen. Auch bestätigt die Kenntnis
des Originals das Urteil Jahns, daß der Kupferstich
Blots von den drei genannten der beste ist. Aber
er behandelt Einzelheiten sehr frei und gibt das
Spiegelbild; was im Original rechts ist, ist in ihm
links.
Auf der Originalleinwand (4g : 63 Centimeter)
hebt sich von graugrünem Hintergründe das Brust¬
bild Winckelmanns, annähernd in Lebensgröße, ab.
Der Kopf ist nach links gewandt, der Blick aber
sieht über das Buch hinweg auf den Beschauer, wel¬
chen Standpunkt man auch einnehmen mag. Dieser
Blick ist klar und fesselnd,
außerordentlich sympa¬
thisch, und wie schon Mor¬
genstern in der Einleitung
seiner Gedächtnisrede sagte,
so recht der Spiegel seiner
Seele. Ein edler Gedanke,
angeregt durch die Lektüre,
scheint seinen Geist zu be¬
schäftigen. Es ist die Ilias,
die er in der rechten Hand
hält, seines Lieblingsautors
Werk, das ihn selbst auf
Reisen begleitete und das
sich auch bei seinem jähen
Ende im albergo grande
in Triest unter seinen Hab¬
seligkeiten vorfand. Das
Alter des Dargestellten ist
zwischen fünfunddreißig
und vierzig Jahren, die
Stirn ist hoch, das Haar
dunkel und dünn , das
Fleisch, in der Manier des
18. Jahrhunderts gemalt,
erscheint elastisch, voll
jugendlicher Frische. Die
Kleidung ist ein Ideal¬
kostüm, das weiße Hemd
mit feiner Spitze läßt (wie
auf den Darstellungen Win¬
ckelmanns durch Angel ica
Kauffmann und Maron)
den Hals frei. Über die
linke Schulter ist ein gelb¬
brauner Mantel geschlagen
(ein Mengssches Requisit,
vergleiche sein Selbst¬
porträt nach links in der Dresdener Galerie), dem
als Farbenkontrapunkt ein dunkelgrüner, in Blau über¬
gehender Stoff über dem rechten Unterarm dient.
Die harmonische Farbengebung, die technische Voll¬
endung und der treffende Ausdruck der geistigen
Potenz des Dargestellten lassen uns die Hand eines
großen Künstlers — und das war Mengs als Porträt¬
maler -- erkennen.
Um so auffallender erscheint es, daß dieses Werk
KUPFERSTICH VON MAURICE BLOT (PARIS, 1815)
NACH DEM PORTRÄT WINCKELMANNS VON A. R. MENOS
(*|o der nalürl. Größe)
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 7
24
174
DAS WINCKELMANN-PORTRÄT VON ANTON RAPHAEL MENGS
außer in oben genannter französischer Ausgabe der
Kunstgeschichte Winckelmanns: Histoire de Part chez
les anciens, 2 Bände, Paris 1794, chez H.J. Jansen & Co. i),
nirgends ausdrücklich Erwähnung findet. Winckel-
mann selbst, der mit dem Beifall über sein Porträt
von Angelica Kauffmann 1764 und von Maron 1767
nicht kargt, erwähnt die Tatsache, daß Mengs ihn
malte, mit keinem Wort, ln der Liste der Gemälde
des Mengs, die Azara in seinen Opere di A. R. Mengs,
Parma 1780, aufstellt, sowie in der, welche der Leib¬
arzt Augusts 111., Bianconi in seinem Elogio storico
del Cavaliere A. R. Mengs, 1780 (2. Ausg. 1797),
gibt, die auf Informationen der Sohne des Mengs
beruhte, suchen wir vergeblich das Winckelmann-
porträt. Hier findet sich nur fol. 93 die allgemeine
Bemerkung: Molte altre cose di questo pittore si
conservano dal Sig. Cavaliere Don Nicola di
Azara, ministro di Spagna in Roma. Weder die
Memoiren, die Azara hinterlassen, noch die zwei¬
bändige Lebensbeschreibung Azaras durch Don Basilio
de Losada, Madrid 1849, geben uns den geringsten
Anhalt. Wir wissen nicht, was Carlo Fea veran-
lasste, seiner italienischen Ausgabe der Kunstgeschichte
in drei Bänden, die im Jahre 1783/84 auf Kosten
des Azara in Rom erschien, das Maronsche Winckel-
mannbild voranzusetzen, obwohl er im zweiten Bande
einen Kupferstich nach dem Bilde des Azara von
Mengs gibt, also sicher das Winckelmannbildnis
kannte. Aber müssen wir darum notwendig zu der
Ansicht Rosettis in seinem an Winckelmanns Geist
gerichteten Briefe (11 sepolcro di Winckelmann in
Trieste, Venezia 1823) kommen: 11 quarto de’ tuoi
ritratti, quello che egregiamente esegui il tuo equi-
voco amico Mengs, stimasi a te poco somigliante?
Verrät doch das Beiwort equivoco seine Voreinge¬
nommenheit gegen Mengs, die er auch bei der Be¬
sprechung der Winckelmannbildnisse S. 160 nicht
unterdrücken kann. Da sich ferner in dem Archiv
der Familie Lubomirski und in dem der Azaras in
Burbaüales in Spanien (nach Mitteilungen eines Nach¬
kommen jenes früheren Besitzers, des Professor Jose
Jordan de Urries y Azara in Barcelona) Angaben
über das Porträt nicht finden, so sind wir über Ent¬
stehung und Schicksale des Bildes ohne genauere
Kenntnis und lediglich auf Vermutungen angewiesen.
Am wahrscheinlichsten ist die Entstehung des
Bildes in das Jahr 1756 zu setzen. Hierfür spricht
das Alter des Dargestellten, der die Vierzig noch
nicht erreicht haben dürfte (geb. 1717). Im No-
1) Dies geschieht in einer Anmerkung der Einleitung:
Memoires sur la vie et les ouvrages de Winckelmann p.
M. Huber, fol. LXXV. Ni ce buste ni aucun des portraits
donnes jusqu’ ä present de Winckelmann ne lui ressemble,
ainsi que cela nous a ete confirme par M. le Chevalier
d’Azara, ministre plenipotentiaire de la cour d’Espagne
pres le Saint-Siege. Ce genereux amateur des beaux-arts
a bien voulu nous envoyer un dessin precieux qu’il a fait
faire au crayon noir d’ltalie par M. Salesa, d’apres le
tableau de Mengs qu’il possede et qui nous a servi ä
faire graver le portrait de notre auteur, qui se trouve ä
la tete de ce volume. J.
vember 1755 kam Winckelmann in Rom an und von
dem Dresdener Maler dir. W. E. Dietrich an Mengs
empfohlen, schloß er mit diesem jene intime Freund¬
schaft, von der seine Briefe besonders im Jahre 1756
beredtes Zeugnis geben, so der Brief
an Berends, Rom, 20. Dezember 1755.
Mein gutes Glück hat gewollt, daß mir der Hofmaler
Dieterich, mein sehr guter Freund, ein Schreiben an Herrn
Mengs, Premier peintre du roi de Pologne gegeben, worin
er ihn gebeten, mich als seinen besten Freund anzusehen.
Ohne diesen Mann würde ich hier, da man mich mit
keiner Adresse versehen, wie in einer Einöde gewesen
sein. Ich bringe die meiste Zeit bei ihm zu; und durch
ihn habe ich verschiedene Adressen erhalten und er ist
der Mann, der mir hier in allem nützlich sein kann. Selbst
diesen Brief schreibe ich in seinem Zimmer unter der Zeit,
daß er die Akademie in seinem Hause hält.
An Franke, Rom, 20. Januar 1756.
Ich bringe fast den ganzen Tag bei Herrn Mengs zu,
wenigstens esse ich alle Fasttage bei ihm. Ich trinke
nicht einmal Kaffee anderwärts, als bei ihm, und ich habe
sogar meine Bücher und Schriften in seinem Zimmer.
An Genzmar, Rom, 1. Juni 1756.
Ich habe das Glück, bei dem größten Maler unserer
Zeit, Herrn Mengs zu wohnen und, wenn es mir gefällt,
zu essen. Es lebt derselbe mit einem gewissen Vorzug
in Rom (er hat sich an 11 Jahre in Rom aufgehalten) und
dieses ist mir eine Gelegenheit, das Schöne des Landes mit
aller Zufriedenheit zu genießen.
Das Bild ging offenbar im Herbst 1761 mit
Mengs nach Spanien. Nach dessen Tode (1779)
kaufte Azara aus dem Nachlaß mehrere Werke des
Malers, um die Familie seines Freundes zu unter¬
stützen, die der Künstler trotz seiner hohen Einkünfte
bei seiner Sorglosigkeit in Geldangelegenheiten in
dürftigen Verhältnissen zurückgelassen hatte. Als
Azara 1804 in Paris starb, schickte sein Neffe, der
Kardinal Bardaje, an die Erben alle Kunstgegenstände,
die jener in Rom gelassen hatte. In dem noch er¬
haltenen kurzgefaßten Katalog, welcher die Sendung
begleitete, figuriert ein Brustbild Winckelmanns. Es
ist merkwürdig, daß alle anderen in jenem Kataloge
verzeichneten Gemälde sich noch im Besitz des Herrn
Professor de Azara in Barcelona befinden, nur nicht
das Winckelmannbild. Es muß wohl kurz nach
1804 verschenkt worden sein, doch läßt sich der Zeit¬
punkt leider nicht feststellen. Eine interessante Notiz
bei Charles Blanc, Histoire des peintres de toutes les
ecoles. Ecole allemande, Paris 1875, am Schlüsse des
Aufsatzes über Mengs (verfaßt von Paul Maniz) lautet:
Vente Lebrun 1 810. Portrait de Winckelmann 166 Eres.
Ce portrait est peut-etre celui que Blot a grave en
1815 d’apres un original appartenant ä la princesse
de Lubomirska ä Vienne. Diese Notiz, im wesent¬
lichen schon abgedruckt bei Ch. Blanc, Tresor de
la curiosite, Paris 1858, Bd. II, fol. 275, stimmt mit
dem Originalkatalog der Versteigerung des Kunst¬
händlers J. B. P. Lebrun aus dem Jahre 1810 über-
DAS WINCKELMANN-PORTRAT VON ANTON RAPHAEL MENGS
175
ein. Ein Exemplar befindet sich in der Pariser
Nationalbibliolhek und trägt den TiteP): Vente et
ordre de la rare et precieuse collection de M. Lebrun.
Der Katalog enthält 26 Seiten. Auf fol. 19 Raphael
Mengs Nr. 218 notice, 186 le portrait de Winckel-
mann, grave ä la tete de ses oeuvres, de la collection
d’Azara, sur toile. Am Rande handschriftlich 166
und Le Rochen Ob die Zahl den Preis und der
Name den Käufer bedeutet, ließ sich nicht feststellen.
Vielleicht ist Le Rocher eine vorgeschobene Person
und das Bild bei dieser Gelegenheit von der Fürstin
Isabella Lubomirska, genannt Princesse Marechale, er¬
worben worden. Sicher ist, daß die kunstliebende
Fürstin, die auf ihren Reisen oft in Paris weilte, bei
dem Kunsthändler Lebrun verkehrte; stand doch dessen
Frau, die bekannte Malerin Madame Vigee-Lebrun zu
ihr in naher Beziehung. Sie malte die durch Schönheit
und Geist ausgezeichnete Dame im Jahre 1793 und
wenige Jahre vorher den bildschönen Adoptivsohn
Prinz Heinrich, ganz nackt auf einem roten Kissen
knieend, als Genius des Ruhmes eine Lorbeerkrone
in den Händen haltend. Beide Gemälde befinden
sich noch im Besitz der Familie Lubomirski in
Krakau 2). Es ist zu bedauern, daß der Briefwechsel
1) Louis Soullie, Les ventes etc. au XlXe siede, Paris
i8g6, gibt den Titel irrtümlich an: Dessins du plus beau
choix des diverses ecoles.
2) Nach freundlichen Mitteilungen des kunstsinnigen
Vetters des Besitzers, des Grafen Georg von Mycielski,
der Fürstin Isabella, die 1816 starb, nicht geordnet
ist, vielleicht findet sich in ihm eine Notiz über die
Erwerbung des Winckelmannbildes. Die vorläufig
sehr lückenhafte Kenntnis der Schicksale dieses Bildes
können uns in der Überzeugung nicht erschüttern,
daß wir ein Werk hohen künstlerischen Könnens
vor uns haben und daß es unter den Bildnissen
Winckelmanns an erster Stelle zu nennen ist.
Hier möge noch eine andere zeitgenössische Dar¬
stellung des großen Archäologen ihren Platz finden,
die zwar von Andresen, der deutsche peintre-graveur
1878, Bd. V. fol. 380 besprochen wurde, aber durch
ihre Seltenheit den Winckelmannforschern bisher ent¬
gangen zu sein scheint. Es ist die kleine Vorstudie
der Angelica Kauffmann, Ischia 1763, zu ihrem im
folgenden Jahre gemalten Bilde, das sich in der
Kunsthalle in Zürich befindet. Die anspruchslose,
unzweifelhaft nach dem Leben in die Kupferplatte
radierte Skizze leitet mit der eigenartigen Kopfbedeckung
einmal zu dem bekanntesten Winckelmannporträt,
dem Maronschen (in Weimar), dann aber auch zu
einem wenig bekannten Bilde in der Großherzoglichen
Galerie in Karlsruhe (Nr. 484), das für den Ikono-
graphen Winckelmanns vielleicht nicht ohne Interesse ist.
Breslau, Februar 1905.
JULIUS BRANN.
Professors in Krakau. Vergleiche auch: Voyage de deux
Frangais dans le Nord de FEurope. Paris 1796, Bd. V,
fol. 55.
ANGELICA KAUFFMANN. BRUSTBILD WINCKELMANNS
RADIERUNG, ORIGINALGRÖSSE
24
VILH. HAMMERSHÖI (KOPENHAGEN). SELBSTBILDNIS
WELTKUNST
DER DÄNISCHE MALER VILHELM HAMMERSHÖl
Von Alfred Bramsen in Kopenhagen
Kunst kann in Schulkunst und Weltkunst ein¬
geteilt werden. Die eine hängt zäh am Kon¬
ventionellen, die andere sprengt das Herkömm¬
liche: Jene schwört zum überlieferten künstlerischen
Glaubensbekenntnis, diese ist Ketzerei. Die Schul¬
künstler sammeln sich Schulter an Schulter unter den
Bannern ihrer nationalen Schulen, die anderen sind
sonderbare und isolierte Persönlichkeiten, von denen
jede für sich eine eigene Technik hat. Sie ist ihnen
nicht von anderen überkommen, und keiner kann
ihnen die Kunst ablernen. Der Diamant muß ja be¬
kanntlich mit seinem eigenen Staub geschliffen wer¬
den. — An sie muß Ibsen gedacht haben, als er
schrieb: Wer am einsamsten steht, ist der Stärkste!
Die Stärke ist nun freilich nicht sogleich fühlbar;
das hängt vom Zeitpunkt ab. ln der ersten Zeit geht
es diesen Starken meist erbärmlich genug, zuletzt
kann man es erleben, sie mit den Siegespalmen in
den Händen zu sehen.
Die Sache ist die, daß ein Künstler, der der na¬
tionalen Schule angehört, in der Heimat Popularität
erlangt, wogegen der Ketzer sich seine Bewunderer,
die in alle Lande zerstreut sind, von weit her holen
muß, was natürlich gehörig lange dauert. Jeder ein¬
zelne Volksstamm, der künstlerisch mitzählt, hat seine
Ketzer. Die Angelsachsen hatten ihren Constable, den
Vorläufer der modernen französischen Landschafts¬
malerei, und nun kürzlich Whistler, dessen Meisterwerk
»Meine Matter« vom Chantrey-Komitee verworfen
wurde, um endlich, 1892, in der Sammlung des fran¬
zösischen Staates (Luxembourg) zu landen. Für noch
nicht 4000 Francs kaufte man dieses herrliche Bild
von dem fast sechzigjährigen Meister! Hollands eigen¬
artigster Maler, der sechsundsechzigjährige Thijs Maris,
genießt weit größeres Ansehen in England, wo auch
der größte Teil seiner Werke zu finden ist, als in
Holland. Der geniale Spanier Zuloaga hat in seiner
Heimat keinen besonders großen Ruf, und Rodin
zählt mehr wirkliche Bewunderer im Auslande als in
Frankreich.
Wenn diese Künstlerpersönlichkeiten Ketzer ge¬
nannt werden, so ist dies nicht so aufzufassen, als
ob nicht auch sie zu einem Teil in Rapport mit
Tradition und Konvention gestanden haben. Mancher
Typus und manches überlieferte Genre sind ja logisch
notwendig, weil sie gleichsam die gemeinsame Sprache
Contemporain de tous les hommes
Et citoyen de tous les lieux.
sind, um die kein Künstler herumkommen kann; und
ein neuer Gedanke nimmt sich ja oft am besten aus,
wenn er in die ältesten Worte der Sprache gekleidet
wird, weil diese einen Klang, eine Klarheit haben,
die oft den später gebildeten Worten abgehen. Was
wir originale Kunst nennen, ist gewissermaßen eine
neue künstlerische Variation eines älteren Themas;
aber eine solche Variante kann freilich so eigenartig
und inhaltsreich sein, daß sie späterhin selbst zu
einem ganz neuen künstlerischen Ausgangspunkt wird.
Ein Kunstwerk enthält also eine Mischung von
etwas uns schon Bekanntem und Vertrautem und
einer größeren oder kleineren Portion Neuem, Un-
vorgesehenem. »L’imprevue« nennen die Franzosen
dieses Neue, das diejenigen entzückt und bezaubert,
die den Künstler begreifen und mit ihm sympathi¬
sieren, das aber alle anderen empört und abstößt,
sobald es sich um mehr als gerade eine Minimaldosis
handelt. Das Verhältnis zwischen dem Altbekannten
und dem Neuen ist deshalb für das Schicksal des
Werkes entscheidend. Die Originalität kann ja näm¬
lich so wenig auffällig sein, daß sie nur als ein
leichtes und angenehmes Gewürz wirkt, oder sie kann
so tief und seltsam sein, daß die Umgebung sich
unverstehend und verdrossen abwendet.
Ein klassisches Beispiel eines Erzketzers war Rem-
brandt, der als Modemaler begann, aber in Holland
allmählich, in dem Maße wie seine Persönlichkeit
wuchs, immer weniger populär wurde, und der zu¬
letzt, als er seinen Gipfel erreichte, die Staalmeesters
malte und die Judenbraut, unbemerkt starb, ohne
daß eine einzige Stimme sich aus diesem Anlaß er¬
hoben hätte. England, Deutschland, Frankreich und
Rußland besitzen heutigen Tages mehr Werke des
Meisters als Holland selbst. Er spielte mit seinen
Landsleuten Hund und Hase: Jedesmal, sobald sie
ihn einholten und dachten, nun hätten sie ihn, ent¬
täuschte er sie, indem er neue, noch »sonderbarere«
Bilder malte. Es ging ihm, wie es Beethoven ging,
wenn er eine neue Symphonie spielen ließ. Jedesmal
widersetzte und ärgerte man sich, und die Kritik
wurde nie müde, ihm zu erzählen, wie viel besser
und klarer das vorhergehende Werk wäre.
Wäre Rembrandts nicht gerade sanftes Schicksal
heutzutage denkbar? Kann man es sich vorstellen,
daß ein so eminentes Genie unbeachtet fortgehen
178
WELTKUNST
könnte, nachdem es über 40 Jahre gewirkt und in
all der Zeit in ununterbrochenem künstlerischen Wachs¬
tum begriffen gewesen ist?
Kaum! Doch nicht weil seine Kunst heute mehr
als ehemals zum Eigentum des Volkes, das heißt der
holländischen Nation, geworden wäre, wie es Steens
und Goyens Kunst sofort wurde. Sondern weil die
internationalen Verhältnisse von den damaligen so
sehr verschieden sind. Es läßt sich ja nicht leugnen,
daß das kunstinteressierte Publikum ständig wächst,
oder richtiger, daß der Kreis, für den der Künstler
arbeitet, und dessen Meinung für ihn Wert hat, sich
von Tag zu Tag erweitert. Dieser Zuwachs entsteht
dadurch, daß die Grenzen der Stadt, des Landesteils,
ja des ganzen Landes beständig weiter herausgeschoben
werden; jene engen Grenzen, hinter denen man kaum
eine Mutterseele erblickte, mit der man sich geistig
verwandt fühlte oder künstlerische Anschauungen
teilte und hinter denen Künstler und Dichter nur
Barbaren- erblickten.
Schrieben Racine und Goethe für Tausende von
Lesern, so werden Victor Hugo und Ibsen von
Hunderttausenden gelesen — nicht von einer be¬
grenzten Anzahl von Landsleuten, sondern von einer
ganzen Welt höchst kultivierter Menschen. Mit kurzen
Worten: die Schollenpflicht der Kunst ist ein für alle¬
mal vorüber.
ln Zeiten wie der unseren, wo das Gefühl für
Religion und Heimat sichtlich geschwächt wird, ent¬
steht eine Art künstlerischer Verbrüderung zwischen
Individuen von verschiedener Nationalität; es ist, als
ob ein Band um die Erde geschlungen würde, das
Menschen miteinander verbindet, die sich sonst nie
gefunden hätten, ein Band, das inniger ist, als es
Handel und Industrie jemals hätten knüpfen können. —
Jahrzehnte hindurch standen Engländer und Deutsche
mit denselben Ausländern in Handelsverbindung, ohne
daß sie deshalb einander sonderlich näher gerückt
wären; wogegen die Schar Wagnerianer, die im Laufe
der Jahre nach Bayreuth zog, wie Pilger nach dem
heiligen Lande wallfahren, sich allmählich zu einer
Art Gemeinde verbanden, die aus wildfremden Men¬
schen von Norden, Süden, Osten, Westen besteht.
Eine gleiche Gemeinde hätte Rembrandt heute um
sich geschart, eine Gemeinde aus begeisterten Kunst¬
freunden aller Länder.
Sk
sf:
Dieses Freimaurertum kennt ein jeder, der an den
Bewegungen auf dem Gebiete der heutigen Kunst
ein lebhaftes Interesse nimmt und ausländische Kunst¬
freunde^ hat, deren Sympathien er teilt. Gerade sol¬
chen von außen kommenden Sympathien ist es haupt¬
sächlich zu verdanken, das ein hervorragendes Talent
wie Vilhelm Hammershöi jetzt, in seinem 40. Jahre,
den Platz in der Kunst Europas einzunehmen beginnt,
der ihm zukommt.
*^Auch er nimmt ja eine isolierte Stellung ein, ge¬
hört keiner Schule oder Richtung an, hat keine deut¬
lich erkennbaren Vorgänger in der dänischen Kunst,
und wird kaum einen Schüler bekommen — wenn
auch viele schon jetzt vergeblich bemüht sind, ihn
nachzuahmen. Er signiert seine Bilder nicht, was
der Sammler bedauert, weil die aufklärende Jahreszahl
fehlt — im übrigen ist keine Signatur nötig, wo kein
Misverständnis möglich ist, weil jeder Pinselstrich
den Namen so deutlich flüstert, daß ihn alle hören
können.
Auch er hat seine wärmsten Bewunderer außer¬
halb der Grenzen des Landes, in dem er geboren
wurde und wirkt — in Deutschland z. B. den aus¬
gezeichneten Kunstkenner Alfred Lichtwark und den
Dichter R. M. Rilke, den Verfasser des Buches über
Rodin. Verschiedene seiner Bilder sind schon nach
England, Schweden und Rußland gewandert — jetzt
kommt vermutlich die Reihe an Deutschland.
Auch er hätte es leicht zur Popularität in der
Heimat bringen können, wenn er sich dem Geschmack
des Publikums gebeugt und ausschließlich die ent¬
zückenden Interieurs gemalt hätte, die die Kunsthändler
schneller verkaufen, als die Maler sie fertig machen
können. So machten es ja Terborch und Hoogh
und die meisten anderen vortrefflichen holländischen
Maler, weshalb also ein »Sonderling« sein und seiner
Zeit ununterbrochen anstrengende Überraschungen be¬
reiten, für die nicht eher Vergebung zu erwarten ist,
als bis die Jahre verstrichen sind und das Verständ¬
nis sich allmählich einfindet?
Weshalb? Weil Ketzerblut in den Adern dieses
echten Künstlers rinnt. So selten ist die ganz ur¬
sprüngliche Künstlerseele und so verschieden von
dem allgemeinen Künstlertypus, daß ihr künstlerisches
Unabhängigkeitsgefühl und ihr unablässiges Sinnen
und Trachten nach noch vollkommenerem, noch we¬
niger konventionellem Ausdruck der Umgebung un¬
natürlich, ja fast als eine Form von Geisteskrankheit
erscheint. Wie unmöglich es für ein solches Talent
ist, gegen den Schaffensdrang anzukämpfen, das hat
Goethe mit folgendem treffenden Ausdruck be¬
zeichnet:
Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen,
Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt.
Das köstliche Oeweb’ entwickelt er
Aus seinem Innersten, und läßt nicht ab.
Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen.
(Tasso.)
Ohne das internationale Freimaurertum oder die
Verbrüderung, wie sie sich in unserer Zeit entwickelt
haben, wäre ein so seltsames Genie in einem kleinen
Lande kaum dem Schicksal entgangen, allmählich
isoliert zu werden, um zuletzt ganz in Vergessenheit
zu geraten.
Kaum einer der erwähnten großen Künstler hat
im Alter von 20 Jahren etwas Originaleres geschaffen
als das Porträt eines jungen Mädchens, mit dem
Hammershöi auf der Ausstellung in Kopenhagen 1885
debütierte').
1) Das Bild, das sich im Besitz einer Privatsammiuug
befindet, die jahrelang im Speicher aufgehoben und unzu-
VII II. riAMMTRSHÖI (KOITNI I AOTN). |UN(iF.S MAnClir.N
i8o
WELTKUNST
VILH. HAMMERSHÖI. DER KÜNSTLER UND SEINE GATTIN
Wenn irgendwo, so zeigte es sich hier, daß man
entweder ein Künstler von Gottes Gnaden oder gar
kein Künstler ist. Und wie Eugene Delacroix einmal
sagte: On sait son melier tout de suite, ou on ne
le sait jamais ! Immer ist mir wunderbar erschienen,
daß schon diese erste Arbeit gleich und vollkommen
die bestrickende und durchaus persönliche Technik
des Malers offenbarte.
Daß das Bild Verstimmung erregte, ist selbstver¬
ständlich, — ebenso, daß man jetzt, 20 Jahre später,
sich über seine vortrefflichen Eigenschaften klar ist.
Heute ärgert man sich natürlich über die späteren
Arbeiten des Meisters.
Es liegt eine Freiheit, eine ausgesuchte Anmut
über der Haltung dieses jungen Mädchens, wie sie
der Maler kaum in einem der späteren Porträts über¬
troffen hat, die fast statuarisch wirken und den Ge-
gänglich war, hat deshalb nicht photographiert werden
können. Die Reproduktion hier ist nach einer Kohlen¬
zeichnung angefertigt und gibt nur zum Teil einen Begriff
von der Schönheit des Bildes.
danken an die archaische Kunst in uns wachrufen,
wogegen diese feine nervöse Mädchengestalt dasitzt,
als ob sie eben im Begriff sei, sich zu erheben. In
anderen Beziehungen stehen die meisten der späteren
Porträts, z. B. das der Mutter und das eigenartige,
in hohem Grade fesselnde Porträt seiner zukünftigen
Gattin, das Doppelporträt des Malers und seiner
Gattin, und nicht zum wenigsten das süperbe Porträt
des Malers Holsöe sowohl in bezug auf den Aus¬
druck und die Kraft in der Charakteristik wie auf
den Lichtgehalt und die Schönheit der Farbe höher.
Man sollte meinen, daß in einer Nation, die
gewißlich über große künstlerische Gaben verfügt
und die Kunst mit Verständnis auffaßt, sich viele
gefunden hätten, die schon in diesem ersten Stadium
erkennen konnten, daß hier eine Offenbarung aller¬
seltenster Art stattfand. Selbst wenn man die Kunst¬
ausstellungen Europas durchforschte, fände man ja
niemand mit der künstlerischen Anschauung dieses
Zwanzigjährigen, keinen, der größeren Charme und
größere Feinheit besäße. Aber Akademieprofessoren
und Aussteihmgsjuroren haben sicherlich niemals
WELTKUNST
i8i
junge Verehrer der Schönheit entdeckt oder beschützt,
wenn diese nicht schon vorher vielfach katalogisiert
und rubriziert worden waren. Daß die Akademie
ihn bei der Prämienverteilung übersprang, kann des¬
halb nicht wundernehmen. Derartige Institutionen
belohnen Fleiß und Respektabilität, nicht Genie; und
an dem Tage, an dem alle akademischen Auszeich¬
nungen und Preise abgeschafft würden, hätte die
Mittelmäßigkeit, nicht das Talent, Grund zu jammern.
In den nachfolgenden Jahren verwarf die Aus¬
stellungsjury zwei entzückende kleinere Arbeiten, ein
junges Mädchen mit dem Nähzeug und ein Stuben¬
interieur, was zur Folge hatte, daß der junge Künstler
sich der eben gegründeten Sezession (»Die freie Aus¬
stellung«) in die Arme warf, wo er eigentlich nicht
hingehörte, weil er sich in unruhiger und bunter
Umgebung nicht gut ausnimmt. Seine aristokra¬
tische Kunst verlangt einen ruhigen harmonischen
Hintergrund, und die Gesellschaft stellt sich am
besten im stilvollen und festlichen Gewände ein
— schwarzer Frack und weiße Krawatte. Schwarz
und Weiß sind ja auch seine Favorits auf der Pa¬
lette, denn er wendet sich von allem ab, was das
Schreiende, das Grelle oder Bunte auch nur tangiert,
— was robustere Naturen nicht abschreckt, ja für
seine verfeinerten Nerven sind selbst die starke äußere
Bewegung und das, was man die »Erzählung« im
Bilde nennt, allzu grobkörnige künstlerische Ausdrucks¬
mitte!. In seinen Porträts fehlt es keinesm^egs an Be¬
wegung, aber sie ist nicht von äußerer Art; die Ge¬
stalten wirken manchmal im ersten Augenblick etwas
steif, weil sie sich in absoluter und selbständiger
Ruhe befinden — sie wirken nur von innen nach
außen.
In dem großen Gruppenbilde bei künstlichem
Licht »Fünf Porträts«, das letzten Sommer in Berlin
ausgestellt war, treten diese Eigenschaften stark her¬
vor. Dieses Bild ist es, von dem der bekannte Dichter
und Kunstfreund Sophus Michaelis folgendes schrieb:
Wir sind hier weit entfernt von dem Leben, wie es
sich in einem gewöhnlichen Menschenauge spiegelt.
Hier gibt es kein flimmerndes Sonnenlicht über einem
malerischen Interieur. Das Licht ist im Gegenteil auf
den allernotwendigsten Behelf heruntergeschraubt. Das
Licht scheint nur angezündet, um die Stärke des
Schattens zu malen. Ein paar ruhige Lichtschnuppen
leuchten über einer weißen Decke — schmal und
hart wie das Tuch über einer Bahre ■ — und über
einer Reihe von Gesichtern, deren Nachtseite sich
ernsterfüllt zu zeigen scheint in dem gelbgrauen Clair-
obscure, das zwischen den pechschwarzen Fenstern
und den weißen Kanten des Leinenzeuges schwebt.
Hier ist kein goldenes Glück, kein Rausch in rei¬
chen Farben, keine festliche Ausgelassenheit, nur
ein still tönender Mollakkord zwischen dem steifen
weißen Wachslicht und dem gedämpften wech¬
selnden Spiel der grauen Schatten, die von der Mauer
der ewigen Dunkelheit zurückgeworfen werden, die
hinter den uns entgegengähnenden Fensterscheiben
steht. Sollte ein Hoch ausgebracht werden bei den
becherförmigen Schnapsgläsern, die mystisch aus dem
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. K. 7
weißen Tuche hervorschießen, so wäre es »ein Hoch
auf das Glück, ehe es käme — ein Hoch auf die
Armut der Hoffnung — ein Hoch der Träume!«
Das Schöne kann zuweilen rechte Schwierigkeiten
bereiten, nicht zum wenigsten, wenn es wie hier auf¬
steigt: fast befreit von der Konvention, chemisch rein
von Routine und ohne die geringste Spur eines Ver¬
suches, sich mit Hilfe von technischem Hokuspokus
herumzudrücken. Wie merkwürdig, daß gerade die
vollkommene Natürlichkeit als Affektation aufgefaßt
wird, weil sie so sehr selten ist. Die Bezeichnung
»affektiert« hat man nämlich gleich von Anfang an
mehreren der bedeutendsten Werke anzuhängen ver¬
sucht, die dieser Künstler, der so natürlich und echt
ist, wie nur einer, geschaffen hat. Sogar eine Ka¬
pazität wie Julius Lange beging diesen grausamen
Irrtum, was noch einmal zum Überfluß beweist, daß
man Kunsthistoriker sein kann, ohne deshalb sonder¬
lich viel von der Kunst zu verstehen, die mit uns
gleichzeitig geboren wird und lebt, und die schlie߬
lich für uns von größerer Bedeutung ist als der
ganze Rest.
Ein anderer ausgezeichneter dänischer Kunst-
forscher, Karl Madsen, der im Gegensatz zu Lange
Hammershöis Kunst von Anfang an zu schätzen
wußte, begeht einen neuen Irrtum, wenn er, um der
Beschuldigung der Affektation zu begegnen, diesen in
künstlerischer Beziehung gerade so kühnen Maler eine
Mimose nennt. Wenn die Kartoffel denken könnte,
— schreibt Madsen — so würde sie ebenfalls, ohne
V. HAMMERSHÖI. BILDNIS
25
V. HAMMERSHOI iKOPENHAGEN)
DER DÄNISCHE CELLIST BRAMSEN
WELTKUNST
183
Zweifel, die Mimose affektiert finden! Die »Mimose«
in Verbindung mit’Hammershöis Kunst zu nennen,
ist in demselben Grade daneben gehauen, wie es
verblüffend witzig ist, das »man« mit Kartoffel zu
umschreiben.
Das Mißverständnis hat zweifellos seinen Grund
in der feinen,* nervösen Person des Malers und in
seinem in äußerer Beziehung stark zurückgezogenen
Wesen, das sich leider in den letzten Jahren infolge
einer zunehmenden Schwerhörigkeit zur Menschen¬
scheu zu entwickeln droht.
Einen etwas isolierten Platz in der Produktion
des Malers nimmt auf Grund seiner außergewöhnlichen,
fast prachtvollen malerischen Wirkung das große Bild
von Henry Dramsen ein, des dänischen Cellisten. Es
ist, als ginge von dem Amati-Cello ein Strom schöner
Töne aus, die das ganze Bild durchdringen. Das
weiße Chemisett und das Cello selbst sind so köst¬
lich gemalt, daß einem unwillkürlich Rembrandts Name
auf die Lippen kommt^).
Hätte Hammershöi keine Interieurs gemalt, so
würde seine Kunst jetzt nur von einigen wenigen
Eeinschmeckern goutiert werden, ja er würde kaum
existieren können. Denn diese einschmeichelnden
Bilder haben ihm manche Bewunderer und Käufer
verschafft, besonders unter denen, die von der Kunst
entzückt sind, sobald sie ihnen keine Anstrengung
bereitet — und das ist mehr als die Hälfte des kunst¬
kaufenden Publikums. Was diese Bilder auszeichnet,
ist ein unbeschreiblicher Toncharme und eine Anord¬
nung, die ebenso einfach wie stilvoll und wirkungs¬
voll ist. Er hat begriffen, daß die Selbstbeschränkung
des Malers seine Stärke wird. Nur die großen Künstler
haben den Mut, Opfer zu bringen, wo die gewöhn¬
lichen alles mitnehmen. Sie errichten eine Grenze
zwischen dem, was der Malerei ansteht, was sie auf
die ausgesuchteste Weise geben kann — und allem
übrigen. Und sie haben den Mut, nur jenes zu
geben. In anderen Kunstarten ist diese Methode ja
wohlbekannt und erregt kein Erstaunen. Was der
Violine ansteht, paßt nicht für das Horn oder das
Cello, und will man durchaus versuchen, alles zu
geben, so flüchtet man zum Klavier, das die großen
Schwächen des Kompromiß-Instrumentes besitzt. Der
Dichter kommt leichter über die Aufgabe fort als der
Maler, weil er über das schweigen kann, was er im
Schatten zu lassen wünscht; aber für den Maler ist
es oft schwer, ja fast eine Hexenkunst, uns häufig
das erraten zu lassen, was die Augen nicht sehen.
Lionardo und Rembrandt waren vollendete Meister in
dieser Kunst, aber auch unser Maler weiß die Auf¬
merksamkeit auf das Ausgesuchte zu konzentrieren.
Während er gleichzeitig so kühn ist, vieles zu strei¬
chen, was andere mitgenommen hätten, wodurch er
seine Wirkung erzielt.
Ohne Wirkung, ohne »Impression« keine künst¬
lerische Bedeutung. So heißt es, und das hat freilich
seine Richtigkeit; aber die Gesamtwirkung ist nicht
i) Die Reproduktion ist nach einer Kohlenzeiclinung,
nicht nach dem Ölgemälde hergestellt.
alles, auch die Einzelheiten haben ihre relative Selb¬
ständigkeit, Schönheit und Bedeutung. Und dies ist
eine der anziehendsten Eigenschaften von Hammershöis
Bildern, daß sie sich ebenso gut von weitem aus¬
nehmen wie in der Nähe. Man weiß nicht, was man
höher stellen soll: die Impression oder die Schönheit
der Einzelheiten. Er sieht allzu gut, dieser Maler,
und das kann zu Zeiten eine Plage werden. Deshalb
scheut er auch die Aufgaben, bei denen es von Einzel¬
heiten wimmelt, und flüchtet am liebsten dahin, wo
die Gesamtwirkung hervortritt, ohne daß er genötigt
wird, allzuviele Details auszulassen, zu deren Aus¬
pinselung ihn seine künstlerische Gewissenhaftigkeit
sonst verlocken würde. Denn diese Einzelheiten,
z. B. ein Stück altes Porzellan, die Mahagonirahmen
an der Wand, ein Spiegel, ein altes Porträt, ein Sofa,
ein Mahagonitisch, all dies arbeitet er mit einer Schön¬
heitsauffassung, einer Eeinheit aus, die ihnen einen
Duft verleihen, verwandt mit dem, den wir aus Ver¬
meers herrlichen Bildern kennen. Aber alles wird
der Stimmung untergeordnet, die nur sehr selten in
diesen Interieurs fehlt. Selbst eine ganz leere Stube,
ja nicht zum wenigsten eine solche, erfüllt er mit
Stimmung. Mehrere seiner besten Interieurs, z. B.
»Sonnenstäubchen«, sind ohne menschliche Gestalt, ja
ohne Möbel oder irgendwelche Gegenstände. Die
Aufmerksamkeit des Beschauers wird unwiderstehlich
von dem einen Phänomen gefesselt: Dem Tanz der
Stäubchen in der Sonne, die durch das Fenster in
den halbdunklen Raum dringt. Soviel ich weiß, ist
es keinem anderen Maler geglückt, die Sonnenstrahlen¬
poesie in gerade dieser Form wiederzugeben, an der
er jahrelang arbeitete, ehe es ihm gelang, das heraus¬
zubekommen, was er hier gibt.
Hat man ein solches Hammershöisches Interieur
betrachtet, so wird man vorsichtig mit der Bezeich¬
nung »leer«. Denn es ist augenscheinlich nicht die
Anzahl von Menschen oder Dingen, die der Leere
entgegenwirkt, ebensowenig wie die geringe Anzahl
sie hervorruft. Worauf es dagegen ankommt, ist, daß
selbst das geringste Ding lebt und atmet, daß die
Luft ins Bild hineingehext wird und sich um die
Dinge schmiegt, daß die Linien verschleiert werden
und alles weich und harmonisch dasteht. Denn von
allen Arten der Leere ist die Luftleere in einem Bilde
die fürchterlichste. Die Menschen, die in der Stube
leben und vielleicht auf dem Bilde gar nicht zu sehen
sind, müssen etwas von ihrem seelischen Inhalte
hinterlassen haben, gleichsam einen Hauch von ihrem
Lebensatem, eine Spur ihres Schattens, ein Echo ihrer
Schritte. Man erwartet, sie eintreten zu sehen, und
die Erwartung, die die Gewißheit enthält, daß sie,
die ihr ruhiges Leben dort drinnen leben, gute Men¬
schen sind, chemisch rein von aller Geziertheit, —
stimmt unser Herz weich.
ln den Landschaften sind die Motive so bescheiden
wie nur denkbar; aber auch hier offenbart die Stim¬
mung schnell, daß das, was auf den ersten Blick dem
gewöhnlichen Sterblichen gering, fast unbedeutend
erschien, in Wirklichkeit neue Schönheitswerte enthält,
die keineswegs hinter den schon zum Allgemeingut
25*
i84
WELTKUNST
VILH. HAMMERSHÖl
gewordenen znrückstelien. Ja, es ist kaum übertrieben,
wenn man sagt, dal) ein grober Teil von Hammers-
höis Bildern uns eine Bereicherung unserer Menschen-
und Naturauffassung bringt. Die Kunst bildet ja die
Brücke zwischen der Natur und uns, und jedesmal
wenn der Künstler uns den Blick für neue Schön¬
heiten in unserer Umgebung öffnet, wird uns etwas
zugeführt, was unserem Leben größeren Wert verleiht.
Hammershöis Kunst versetzt uns in Erstaunen über
die Wirklichkeit, die vorher so nüchtern war, aber
jetzt voller Schönheit zu sein scheint. Wie alle ehr¬
lichen Künstler begibt auch er sich auf die Pfade
der Naturbeobachtung, wo er Schönheiten findet, an
denen andere gleichgültig vorüber gehen. Was er
uns in seinen Bildern gibt, ist trotzdem nicht die
Wirklichkeit schlecht und recht, sondern eine Mischung
von Wahrheit und Dichtung. Denn auf der Grund¬
lage von einer Reihe feiner und treffender Beobach¬
tungen steigt das Bild in der verklärten Lorm der
Dichtung hervor. Gewißlich enthält die Natur sämt¬
liche Bestandteile eines solchen Bildes; sowohl die
Lorm- als die Larbenelemente, aber in ähnlicher Weise
wie das Notensystem alle Töne der schönsten und
originalsten Kompositionen enthält. Andere große
Maler, wie Whistler, Maris und Corot bedienen sich
derselben künstlerischen Methode der Wiedergabe, die
wohl auch die ideale genannt werden muß.
Wir können auf diese Weise der Kunst dafür
danken, daß die Welt Tag für Tag größer und das
Leben reicher wird. Und ebenso sicher wie der
Nordpol einmal erobert und das Innere Tibets er¬
forscht werden wird, ebenso gewiß werden Maler von
diesem Typus (ganz friedlich, ohne kostspielige Ex¬
peditionen auszurüsten) das Reich der Schönheit an¬
dauernd erweitern.
Hammershöi hat einige der schönsten Schlösser
und monumentalen Gebäude Dänemarks gemalt —
z. B. einen Teil des alten Christiansborg in Kopen¬
hagen, das königliche Palais Amalienborg mit Salys
vortrefflicher Reiterstatue, das prächtige Ki'onborg
bei Helsingör, Frederiksborg mit den herrlichen
Turmspitzen, und die Gebäude der früheren ost-
asiatischen Compagnie in Christianshavn, dem alten
Teil Kopenhagens, wo der Maler selbst wohnt, und
das ihn den Stoff für viele seiner ergötzlichsten In¬
terieurs geliefert hat. Kein Künstler der Gegenwart
fühlt sich mehr an den Heimatsort gebunden als er.
Trotzdem er längere Zeit in Lrankreich, England und
Italien geweilt, hat er, seltsam genug, nur ein ein¬
zelnes architektonisches Bild aus dem Auslande ge¬
malt, nämlich das Innere der alten Kirche St. Stefano
rotondo in Rom. Ist es nicht merkwürdig, daß er,
den die fremden Künstler und Kunstkenner besser
verstehen und höher schätzen als jeden anderen dä-
WELTKUNST
185
nischen Maler, sich außerhalb seines Vaterlandes so
wurzellos, so ohnmächtig fühlt, daß er fast nicht zu
arbeiten vermag, jedenfalls nicht draußen in der
Natur? Es ist ihm z. B. unmöglich gewesen, eine Land¬
schaft aus dem südlichen England (Sussex) zu malen,
obwohl er eingesteht, daß es dort schöner ist, als in
Dänemark! Angesichts der fremden Natur ergreift
ihn das Gefühl des Heimwehs so heftig, und das
Fehlen der Ideenassoziation, wie alte Sagen, literarische
Anknüpfungen, und im ganzen all dessen, was sich
gleichsam organisch an den heimatlichen Erdboden
knüpft, wird so fühlbar, daß die Arbeit stockt.
In dem großen monumentalen Bilde von Christians¬
borg hat er das Großartige in der Architektur meister¬
haft wiedergegeben, ja, das alte Schloß mit seinen
mächtigen grünspanbedeckten Kupferdächern ist bei
ihm der Stoff eines herrlichen Gedichtes in grauen,
graugrünen und grünen Farben geworden, das für
diejenigen, die Gedicht und Schloß kennen, dies
letztere noch mächtiger und stim¬
mungsvoller macht, als es vor der
Entstehung des Bildes war.
Es ist ein hervorragendes Werk
nicht allein auf Grund der voll¬
kommenen Harmonie der Farben,
sondern auch durch die Art des
Ausschnittes, der übrigens in seinen
Bildern fast immer ideal ist. Alles
ist durchdacht, nichts dem Zufall
überlassen, alles steht in dem Bilde
auf seinem rechten Platz (man be¬
achte z. B. die Toröffnungen des
Pavillons); nicht ein Zoll kann fort¬
genommen, nicht ein Zoll kann
hinzugefügt werden, ohne der Wir¬
kung zu schaden.
Wie die allermeisten seiner Bil¬
der, Porträts wie Schlösser, Interieurs
wie Landschaften, ist diese Lein¬
wand von großer dekorativer Wir¬
kung. Ein einziges solches Bild an
der Wand genügt, damit das Zimmer
einen dem Auge so wohltuenden
Eindruck macht, wie ihn sonst nur
die schönste Tapete hervorbringt.
Dieses ausgeprägt dekorative Talent
ist natürlich von den heimatlichen
Autoritäten ebenfalls nicht geschätzt
oder ausgenützt worden. Nur ein
einziges Mal ist ihm eine kleinere
Aufgabe zugefallen, nämlich ein ab¬
seits gelegenes Bürgermeisterzimmer
in dem neuen Kopenhagener Rat¬
hause mit zwei Wandgemälden zu
versehen, die das große neue Armen¬
hospital und das malerische alte
Armenhaus — das jetzt abgerissen
werden soll — darstellen. Beson¬
ders das Armenhaus ist von ent¬
zückender Wirkung, und erhebt sich
durch seine vornehm stilvolle Art
hoch über die bunte prätentiöse »Dekoration«, die
leider bei den großen Prachtbauten unserer Zeit un¬
vermeidlich zu sein scheint.
*
5k
In Dänemark hat man es dem Künstler vor¬
gehalten, daß sein Feld so äußerst begrenzt sei.
Gegenüber einem hervorragenden Porträtmaler, der
gleichzeitig entzückende Interieurs, imposante Archi¬
tekturbilder und Landschaften von so eigenartiger
Schönheit malt, wie nur irgend einer unserer heutigen
Künstler, scheint diese Behauptung recht obenhin ge¬
sprochen und verlangt unter allen Umständen eine
nähere Erklärung. Man würde sonst den Eindruck
hervorrufen, daß der Künstler beständig sich selbst
wiederholte — und das kann unmöglich gemeint
sein. Richtig aufgefaßt, wird die Begrenzung auf
eine ganz originale, »unique« Kunst gar nicht als
VILH. HAMMERSHÖI. EINE STUBE
HAMMnRSHÖI SCHLOSS CHRISTI ANSBORO. KOPLNHAOEN
WELTKUNST
187
ein Minus betrachtet, und am allerwenigsten dann,
wenn sie, wie schon nachgewiesen, parii pris oder
Selbsthtgrtmung ist. Alfred de Müsset schrieb des¬
halb mit berechtigtem Selbstgefühl; Mon verre n’est
pas grand, mais je bois dans mon verre.
Was Hammershöi anbelangt, so trägt er, wie
andere der hervorragendsten heutigen Künstler, den
Kraftgürtel der Einseitigkeit. Alles was er sieht, wird
eine Erscheinung für sich, alles was er malt, erhält
seinen besonderen Stempel. Sein Schönheitsideal ist
so ausgeprägt, so fest geformt, daß es zuweilen
scheint, als wären es dieselben Saiten, die ange-
Sage mir, mit wem du umgehst, und ich werde
dir sagen, wer du bist — so heißt es ja. Zum
Künstler kann man sagen: Zeige uns die Kunst, die
du liebst und die dich inspiriert, und wir werden
dir sagen was du wert bist.
Die moderne Kunst hat nicht so außerordentlich
vieles, was Hammershöi anzöge. Am liebsten sind
ihm wohl Ingres’ Porträts mit ihrer wunderbaren
Rechtschaffenheit (probite) und Schönheit in der Zeich¬
nung, und Whistlers frühere Porträts mit ihrer ruhigen
Ton- und Farbenvision und der Poesie, die mit ihnen
verbunden ist. Sein Liebling unter den dänischen
V. HAMMERSHÖI. SONNENSTÄUBCHEN
schlagen werden, derselbe Grundton, der durch die
ganze Produktion erklingt.
Ohne viel Worte an eine Frage zu verschwenden,
die zu guterletzt nur von dem entschieden w^erden
kann, der allen Hauptwerken gegenüber steht, dürfte
es vielleicht doch gestattet sein, um Erklärung für
eine Erscheinung zu bitten, die man im Laufe von
20 Jahren nun mehrmals vor Augen gehabt hat:
die allgemeine Verwunderung, ja Empörung über
das zuletzt geschaffene Werk, die man doch wahr¬
haftig gegenüber einem Künstler nicht vermutet, wo
angeblich das Talent so begrenzt sein soll, daß es
sich auf einer Untertasse servieren ließe!
Künstlern ist der kürzlich verstorbene »alte Kyhn«,
dessen Ungekünsteltheit und seltene Gabe, Schönheit
und Poesie in bescheidenen und altmodischen Motiven
zu entdecken, mit Hammershöis Naturell verwandt ist.
Aber wir müssen in der Zeit weit zurückgehen,
um die Kunst zu finden, die diesem unverfälschten
Künstlerherzen am nächsten steht.
Im Parterregeschoß des Louvre steht ein Archai¬
sches Basrelief aus einem Tempel auf der Insel
Thasos (5. Jahrhundert v. Chr.). Es stellt drei Göttinnen
oder Nymphen vor, die Apollon ein Blumenopfer
bringen. Ein Meisterwerk ohne Tadel, das Hammershöi
zu einer Farbenübertragung auf die Leinwand inspiriert
i88
WELTKUNST
V. HAMMERSHÖI. GEMÄLDE NACH EINEM ARCHAISCHEN BASRELIEF DES LOUVRE
hat, die außer ihrer bezaubernden Schönheit an und
für sich, uns gleichsam eine Offenbarung seiner Muse
gibt, die friedlich, ohne großen Trara, vielleicht etwas
steif, aber in vollkommener Harmonie, und in das
stilvollste Gewand gekleidet, vortritt und uns über
das einzig Notwendige in der Kunst belehrt: Schön¬
heit und nichts außer der Offenbarung der Schönheit.
Die merkwürdige Form von Talent, von dessen
Produktion, bis hinauf zu seiner jetzigen Entwickelungs¬
stufe — dem Alter von 40 Jahren — hier eine kurz¬
gefaßte Darlegung gegeben worden, ist charakteristisch
für unser Zeitalter.
Der geniale Typus muß im Laufe der Jahrhunderte
den Charakter gewechselt haben. Im 1 5. Jahrhundert
waren die italienischen Künstler zugleich die höchst
begabten Menschen, und die hervorragendsten unter
ihnen besaßen umfassende Kenntnisse und zeichneten
sich auf mannigfache Weise aus, ebenso wie die großen
Menschen im alten Griechenland. Lionardo im 16. Jahr¬
hundert war der letzte Typus eines solchen großen
und allseitigen Genies, und Voltaire und Goethe waren
vermutlich die letzten wirklichen Übermenschen, die
die Welt zu sehen bekam.
Aus anderem Gusse sind die hervorragenden Ta¬
lente der neueren Zeit, z. B. Allan Poe, Charles Dickens,
Baudelaire, Jean Paul, J. P. Jacobsen, Berlioz, Goya,
Thijs Maris, Klinger, Rodin, Whistler, Carriere und
der Maler, mit dem wir uns hier beschäftigen. Sofort
bei ihrem Auftauchen ruft man ihnen nach: »Künstelei!«
aber späterhin gelten gerade sie als genial im eigent¬
lichen Sinne, weil ihre Originalität so augenfällig ist.
Sie ist so seltsam, ja bei mehreren von ihnen so ex-
0
v.v -5* -
WELTKUNST
189
zentrisch, daß sie an Geisteskrankheit streift, — und
eine solche stark ausgeprägte Ursprünglichkeit ist und
bleibt doch das, was im allgemeinen Urteil für den
eigentlichen Kern des Genies angesehen wird.
Talent zu haben, selbst im höheren Grade, scheint
nicht mehr genug zu sein, um allein dem Künstler
dauernden Ruhm zu schaffen. Gedanke und Form
müssen nicht nur vortrefflich an und für sich, sondern
auch wesensverschieden sein von denen der anderen.
Die Franzosen bezeichnen dies mit dem Wort anique,
das in den Kultursprachen Bürgerrecht erworben hat.
Diese Form von Talent gründet nie — und kann es
niemals — eine Schule. Denn die Nachahmung
seiner ausgeprägten, persönlichen, aber durchaus echten
Manier wird bei anderen zur bloßen und puren Af-
fektation.
Seltene Seelen müssen diejenigen genannt werden,
die den künstlerischen Ausdrucksmitteln oder Aus¬
drucksweisen neue Bedeutung oder auch nur größere
Vertiefung und Klarheit zu geben vermögen — mag
nun im übrigen dieses Neue noch so begrenzt ge¬
nannt werden oder wirklich sein. Selbst wenn es
nur verhältnismäßig kleinere Beiträge zu dem Großen
sind, die man einem solchen ursprünglichen Geiste
verdankt, so wird sein Name doch mit dem der
Großen zusammen genannt, und was er gibt, nicht
so bald vergessen werden.
VERZEICHNIS DER HAUPTWERKE
(Die Maße in Centimetern, die Höhe zuerst).
Von 1885 — 1Q05 hat der Künstler ca. 135 Bilder gemalt.
Porträt eines jungen Mädchens, 1885. in X 90,5-
Eine alte Frau, 1886. 71 X 58- Hirschsprung, Kopenhagen.
Ans einem Bäckerladen, 1888. 114 XQ*- Ausgestellt Paris
188g, Bronzene Medaille.
Stille Stunden, 1889. 54 X 49i5-
Selbstporträt, 1890. 55 X 40-
Fräulein Ida Ilsted (die spätere Gattin des Künstlers), 1890.
160X86. Ausstellung Düsseldorf 1904.
Altgriechisclies Relief (Louvre), Paris 1891. 93 X 96-
Christiansborg, 1890—92. ii5Xi49-
Die Chaussee, 1892. 149 X U«- Ausstellung Berlin 1900.
Henry Bramsen am Cello, 1 893. 143 X 1 1 0.
Artemis, 1893—94. 192 X 250. Im Besitz des Künstlers.
Die Mutter des Künstlers, 1894. 97,5 X 77- Ausstellung
Berlin 1900.
Drei junge Frauen, 1895. 125 X 156. Ausstellung Paris
1900. E. Hjort, Kopenhagen.
Amalienborg, 1896. Vom dänischen Staat angekauft.
Kronborg, 1897. 85 X 86,5.
Zwei Figuren (der Künstler und seine Gattin). 87,5 X 73-
London 1898.
Sonnenstäubchen, 1902. 74 X 61.
Gebäude der asiatischen Kompagnie, 1902. 160 X UO-
Sonnenregen, 1903. 79 X 76.
Fünf Porträts, 1902. Ausstellung Berlin 1904. 194X300-
Thiel, Stockholm.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H
26
BEMERKUNGEN UBER EINIGE MEISTERWERKE
Von Wilhelm Suida
Die folgenden Bemerkungen über einzelne Bilder
haben den Zweck, weitere Kreise auf Werke
von hervorragendem Kunstwert aufmerksam
zu machen, die noch unpubliziert, zum Teil wohl
auch noch unbestimmt sind. Keineswegs will der
Verfasser als -^»Entdeckungen« ausgeben, was im besten
Eall dienliche Beobachtungen sein können.
1. ANDREA MANTEQNA
Im Palazzo Pitti hat vor Jahresfrist ein Brustbild
eines bartlosen Mannes, früher in ungünstigem Licht
allzuhoch gehängt, in dem kleinen Korridor, der nach
den rückwärtigen Zimmern führt, Aufstellung gefunden.
Den meisten Eorscherri fiel die Verwandtschaft des
Werkes mit den Schöpfungen des Andrea Mantegna
auf. Schon Kristeller erwähnt das Bild, ohne es
genauer untersucht zu haben, als »schwache Kopie
aus dem 1 6. Jahrhundert, augenscheinlich nach einem
verlorenen Originalbild Mantegnas .
Wir wollen doch zusehen, ob dies Urteil stich¬
haltig ist. Von blaugrünem Grunde hebt sich das
Brustbild des etwa fünfzigjährigen bartlosen Mannes
etwas unter Lebensgröße ab. Karminrotes Gewand,
ebensolche Kappe, und orangeroter über die Schulter
geschlagener Mantel geben mit dem Grunde einen
hellklingenden Farbenakkord. Das Inkarnat ist beinahe
lederfarben bräunlich, die Lippen blaß rötlich. Das
1) Paul Krisleller, Andrea Mantegna, Berlin iqo2, S. 480
Brieflicher Mitteilung von Corrado Ricci zufolge ist das
Bild seit kurzem schon unter dem Namen des Mantegna als
Original ausgestellt.
Haar ist mit größter Feinheit gezeichnet, alle kleinen
Furchen der Haut an der Stirn, um die Augen aufs
prägnanteste wiedergegeben. Und in dem Auge selbst
eine Schärfe und Klarheit, wie sie nur auf den Por¬
träts der großen Meister vorkommt. Unterhalb der
Augen wird alles flauer, nur die großen Linien sind
noch zu sehen, alles andere verrieben, alle Feinheit
im Einzelnen verloren gegangen. Die von den Nasen¬
flügeln herabgehenden Falten, die den streng geschlos¬
senen Mund mit feinen Lippen umrahmen, deuten
noch jene Kraft und Geschlossenheit an, die sich
aus dem scharfen Blick der blauen Augen uns schon
mitteilte.
Wir vermögen da an keine Kopie zu denken,
sondern nur an ein in seinen unteren Partien völlig
verriebenes Original des Andrea Mantegna. Abgesehen
von den eminenten künstlerischen Qualitäten, wider¬
sprechen auch technische Eigentümlichkeiten, wie die
feine Detailausführung in den oberen unbeschädigten
Partien, und die an dem Gewand zutage tretende
sorgfältige Untermalung mit dünnen Strichen (gleich
als sei das Ganze zunächst als Zeichnung vollendet
worden, bevor noch die Farbenlasuren darüber kamen),
endlich der Farbenausdruck durchaus der Annahme,
es könne sich um eine Kopie handeln.
Dürfte es auch schwer sein, diesem Bilde mit Be¬
stimmtheit seinen Platz in der chronologischen Folge
von Mantegnas Werken anzuweisen, so kann doch
die nahe Beziehung zu den Fresken der Camera degli
Sposi betont werden. Sind dort die großen Bildnis¬
gruppen im Jahre 1474 vollendet worden, so mag
wohl in den siebziger Jahren auch noch das Porträt
des Unbekannten im Palazzo Pitti entstanden sein.
(Weitere Beobachtungen werden folgen)
FLORENZ, PALAZZO PITTI
MÄNNLICHES BILDNIS VON ANDREA MANTEONA
VITERBO, DIE PÄPSTLICHE LOGGIA UND DER SAAL DES KONKLAVES VOR DER RESTAURIERUNG
(Photographie des italienischen Unterrichtsministeriums)
DIE WIEDERHERSTELLUNG
DES PÄPSTLICHEN PALASTES IN VITERBO
IN Viterbo, der kleinen Stadt in der Nähe Roms,
ist in diesen Tagen eines der schönsten und
interessantesten Gebäude aus dem italienischen
Mittelalter sozusagen zu neuem Leben erstanden. Die
Architekten des Königlichen Aufsichtsrats zur Erhaltung
der Kunstdenkmäler in der römischen Provinz haben
dort, unter der Leitung des Direktors Giulio de
Angelis, die äußerst schwierige Wiederherstellung der
sogenannten Loggia dei papi beendigt, und schon
haben die Arbeiten in der angrenzenden Sala del
conclave begonnen, um darin die alten weiten Fenster¬
bögen wieder zu öffnen und den Raum von den
später eingefügten Bauten zu befreien. In nicht allzu
langer Zeit werden wir das ganze Gebäude in seiner
ursprünglichen Form bewundern können, das den
Kunstfreund wie den Geschichtsforscher gleichmäßig
anziehen muß, denn wenn die schlanken Spitzbögen
der Loggia mit ihren leichten Säulchen ein wertvolles
Beispiel liefern für die Vollendung, die schon in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts der gotische
Stil in Mittelitalien erreicht hatte, so erinnert dagegen
der Saal daneben an das erste Konklave, das in jener
speziellen Form abgehalten wurde, die sich mit ganz
geringen Änderungen bis auf den heutigen Tag er¬
halten hat.
Die häßlichen Mauern, die in verschiedenen For¬
men vom 15. Jahrhundert bis auf die Neuzeit, um
die Bogen der Loggia zu unterstützen, errichtet worden
waren, sind jetzt entfernt und heute erscheint die¬
selbe wie sie im 13. Jahrhundert erbaut wurde;
nur das Dach, das sie damals jedenfalls bedeckt haben
muß, hat man nicht wieder darauf gesetzt. Von zwei
Seiten offen, nach dem Domplatz zu sowohl wie nach
der Campagna, wurde von ihr aus der Segen erteilt,
den der Papst nach der im Saal erfolgten Wahl über
das auf dem großen Platz versammelte Volk aussprach.
Hier ergingen sich die Kardinäle in freier Luft, vor
Sonne und Regen geschützt, um sich von den langen
Verhandlungen der Papstwahl zu erholen. Im
Mittelpunkt dieser Halle befindet sich ein tiefer
DIE WIEDERHERSTELLUNG DES PÄPSTLICHEN PALASTES IN VITERBO
193
VITERBO, MITTELALTERLICHE HÄUSER
(Photographie des italienischen Unterrichtsministeriums)
Brunnen, auf dessen zugedeckte Öffnung im 16. Jahr¬
hundert eine schöne Brunnenschale gesetzt wurde.
Die Brüstung war bis vor kurzem ganz von ver¬
schiedenen in Stein gehauenen Wappen umgeben, die
man in neuerer Zeit aus der zerfallenen Krönung der
Halle entfernt hatte, wo sie jetzt wieder ihren recht¬
mäßigen Platz gefunden haben. Die Wappenschilder
zeigen die Mitra und die Schlüssel, um den Zweck
des Gebäudes zu bezeichnen, den Adler als Abzeichen
des kaiserlichen Viterbo, den Löwen mit der drei¬
zackigen Lanze, das Bild der Viterbesergemeinde, die
die Mittel zur Ausführung des Baues gegeben hatte,
und die Balken des Raniero aus der edlen Familie
der Gatti. Dieser war Volkshauptmann und hatte ein¬
gesehen, welchen Nutzen es der Stadt bringen würde,
wenn die Päpste, denen der Aufenthalt im Lateran¬
palast durch die Unruhen der fortwährend sich be¬
fehdenden römischen Adels- und Volksparteien fast
unmöglich gemacht wurde und die schon einmal in
Viterbo ihre Zuflucht gesucht hatten, dort für längere
Zeit ihren Wohnsitz aufschlagen könnten.
Er begann also den Bau des Palastes, welcher
ebenso wie die große für das Konklave bestimmte
Aula 1266 beendigt wurde; die Loggia wurde 1267
von Andrea dei Gatti angebaut. In der Wand des
Saales öffneten sich sechs riesige Spitzbogenfenster,
die jetzt die Hacke des Maurers wieder von der
Vermauerung befreit hat, durch die sie geschlossen
worden waren, als im Anfang des 15. Jahrhunderts
der Palast vom Rang eines päpstlichen zu dem eines
bischöflichen herabsank. Interessant ist das große,
vollkommen freie Gebälk des Daches. In den Wänden
sind noch die Löcher zu sehen, in die man die kleinen
Stangen steckte, die die Wappenschilder der im Kon¬
klave versammelten Kardinale trugen. Wenn man
aus dem Halbdunkel des Saales auf die Piazza hinaus¬
tritt, steigen in der Phantasie des Besuchers die alten
historischen Begebenheiten des Ortes auf. Zwischen
den gotischen Bögen der Loggia erblickt man das
Tal von FauIIe, wo so viel italienisches und deutsches
Blut in harten Kämpfen geflossen ist. Man könnte
wohl meinen, die Gestalten Barbarossas und Friedrichs
des zweiten, von dessen Schloß das Auge unten in
der Ferne noch die Ruinen entdeckt, müßten unter
den Bögen erscheinen im Glanz ihrer Waffen und
ihres Purpurs, neben den von Gold und Edelsteinen
funkelnden Gewändern der Päpste und Gegenpäpste,
mit denen sie so oft in Viterbo ihre Zusammenkünfte
hatten, wenn die Wut des römischen Volkes den einen
oder den anderen den Eingang in die ewige Stadt
194
DiE WIEDERHERSTELLUNG DES PÄPSTLICHEN PALASTES IN VITERBO
VITERBO, DIE WIEDERHERGESTELLTE PÄPSTLICHE LOGGIA
(Photographie des italienischen Unterrichtsministeriums)
verwehrte. Jetzt herrscht auf dem Platz zwischen
Dom und Palast Ruhe und das Gras wächst in den
Ritzen des Pflasters. Vom Kirchturm herab schwärmen
die Tauben durch die helle Luft über die alten
Schlachtfelder, wo einst mit ausgebreiteten Flügeln
die goldglänzenden Adler der kaiserlichen Banner sich
emporschwangen, der roten Wölfin der römischen
Guelfen entgegen. Die Geschichte des kleinen Viterbo,
das im 1 1. Jahrhundert eigentlich nur eine Burg mit
wenigen Häusern war, erhob sich im 12. und 13.
Jahrhundert zu hoher Bedeutung durch die häufige
Residenz der Päpste, durch die dort abgehaltenen
Konklave und durch die deutschen Kaiser, die es immer
mehr als ihren Hauptstützpunkt im päpstlichen Gebiet
ansahen.
Von der jetzt wiederhergestellten Loggia wurde
der Bannfluch proklamiert, den am 5. April 1268 der
französische Papst Clemens IV. gegen Konradin
schleuderte, der in jenen selben Tagen im Gesichts¬
kreis Viterbos auf der Via Cassia dahinritt, dem Tode
entgegen. Bei dem Konklave, das nach dem Tode
Clemens’ abgehalten wurde, diente zum erstenmal der
Saal des Raniero del Gatti seinen eigentlichen Zwecken.
Raniero ließ nämlich die Kardinäle, die bisher im
Dom ihre Versammlungen hielten, aber nach zwei¬
jähriger Beratung noch nicht zum Schluß über die
Papstwahl gekommen waren, einfach in den Saal
sperren und suchte sie durch Hunger und durch Ab¬
deckung des Daches zu einem Entschluß zu bewegen.
Der Saal in Viterbo diente dann noch seinem
Zwecke bei der Wahl Hadrians V. und Martins V.
und seine gewaltsame Einweihung ist vielleicht das
merkwürdigste Vorkommnis in der Geschichte dieser
kleinen Stadt, die mit ihren alten Häusern, ihrem
großartigen Rathaus, ihren Kirchen, die noch herrliche
Papstgräber bergen, mit ihren Mauern und Türmen
wohl das Siena der römischen Provinz genannt werden
kann. FEDERICO HERMANIN.
ABB. 1. CHATEAU DE LUCHEUX (SOMME). MITTE DES 13. JAHRHUNDERTS. FENSTER DES GROSSEN SAALES
EIN HANDBUCH DER BÜRGERLICHEN BAUKUNST
IN FRANKREICH
Ein Handbuch der bürgerlichen Altertümer ist
jedenfalls ein wissenschaftliches Wagnis. Denn
im Verhältnis zu den kirchlichen Kunstalter¬
tümern sind die bürgerlichen so lücken- und trümmer-
haft überliefert, daß sich oft für ganze Gruppen und
Gebiete überhaupt keine Beispiele mehr nachweisen
lassen. Dies liegt in der Natur der Verhältnisse und
der Entwickelung. Denn wenn eine Kirche mit Ab¬
sicht auf ewige Dauer erbaut wurde und in ihrem
Bestände vom Willen einer ganzen Gemeinde ab¬
hängig war, so sind Wohn- und Nutzbauten oft nur
zu vorübergehenden Bedürfnissen errichtet und viel
mehr der Abnutzung, dem Verfall, dem Wechsel der
Bedürfnisse und des Geschmacks, der Laune und dem
Behagen des Privatmannes überlassen, gar nicht zu
reden von der Ausstattung, die erfahrungsgemäß in
jeder zweiten Generation zu wechseln pflegt. So hat
sich denn auch die Forschung fleißig und erfolgreich
auf einzelne Gebiete geworfen, für welche die Quellen
reichlicher fließen, wie die Burgenkunde, die Holz-
architektur, das Bauernhaus. Einer systematischen
Darstellung der ganzen bürgerlichen Archäologie
stellen sich aber die größten Schwierigkeiten in den
Weg. Gilt es doch eine fast versunkene Welt aus
sekundären Quellen, Urkunden, Chronisten und ge¬
legentlichen Beschreibungen, im günstigsten Fall aus
Zeichnungen von oft zweifelhafter Treue wieder auf¬
zurichten. Wenn man bedenkt, daß z. B. von der
Schiffsbaukunst der Vergangenheit lediglich ein paar
Wikingerbote in natura erhalten sind, so wird man
die Größe der rekonstruktiven Arbeit ermessen.
Herr C. Enlart, Direktor der Skulpturen im
Trocadero, dem wir eine Reihe ausgezeichneter Unter¬
suchungen über die Ausstrahlungen der Zisterzienser¬
gotik fast über ganz Europa verdanken, hat für Frank¬
reich diese Arbeit mit einer so weitblickenden Umsicht,
Sachkunde und Gelehrsamkeit in Angriff genommen,
daß man den stattlichen Band über die Profan¬
architektur^) zunächst nur mit neidischer Bewunderung
betrachten kann. Es kann nicht fehlen, daß sein
Buch das archäologische Studium anderer Länder be¬
fruchtet und auf Unterlassungssünden hinweist, und
deshalb dürfte eine skizzenhafte Wiedergabe des weit¬
läufigen und interessanten Inhalts willkommen sein.
Enlart konnte allerdings unter so günstigen Umständen
arbeiten wie sie kein anderes Land bietet. Denn in
Frankreich haben die älteren Archäologen, Viollet-le-
Duc voran, die profanen Denkmäler schon ganz als
gleichberechtigt behandelt. Für die Architektur stand
i) C. Enlart, Manuel d’Archeologie fran^aise depuis
les temps merovingiens jusqu’ä la Renaissance. Rre Partie
Architecture. II. Architecture civile et militaire. 856 p.
292 grav. et fig. Paris, 1904, A. Picard et fils, fr. 15.
EIN HANDBUCH DER BÜRGERLICHEN BAUKUNST IN FRANKREICH
196
ABB. 2. BRUNNEN DES ALTEN SCHLOSSES VON COURTRAS
(GIRONDE)
besonders das verdienstliche Werk von Verdier und
Cattois, Architecture civile et domestique au moyen
äge et ä la Renaissance Paris 1855 — 57 zu Verfügung,
für die Schiffsbaukunst die Werke von A. Jal, Ar-
cheologie navale P. 1840, Glossaire nautique P. 1848
und Ch. de La Ronciere, Histoire de la marine fran-
gaise P. 1900. Außerdem ist durch das Classement
und den zentralisierten Denkmalschutz in Paris ein so
umfassendes Material gesammelt wie wir es in Deutsch¬
land nirgends an einer Stelle finden. Hieraus erklärt
sich nebenbei, daß Elsaß-Lothringen in der Übersicht
der Denkmäler noch als französische Provinz erscheint.
Und mit dem Stand der Vorarbeiten hängt wohl auch
der einzige schwere Fehler der Arbeit zusammen,
die Beschränkung auf das Mittelalter. Enlart verliert
darüber gar kein Wort. Archäologie und Mittelalter
sind ihm einfach identische Begriffe. Zuweilen glüht
der Enthusiasmus Viollets für die Gotik wieder durch.
Mit Behagen verweilt Enlart bei jenen Schöpfungen,
welche das Mittelalter nicht ganz so finster, beschränkt
und unreinlich erscheinen lassen wie viele Leute
denken. Aber zwischen den Zeilen kann man doch
überall die Wahrheit lesen, daß erst die Spätgotik und
die Renaissance eine unabhängige und selbständige
bürgerliche Kunst geboren und die weite Sphäre des
profanen Lebens mit ihrem verklärenden Hauch in
Arbeit genommen haben. Über diese durch nichts
zu rechtfertigende Einseitigkeit sind wir in Deutsch¬
land glücklicherweise längst hinausgewachsen, und
ein Handbuch der deutschen bürgerlichen Kunstalter¬
tümer würde im Gegenteil den Nachdruck auf die
nachgotischen Denkmäler legen müssen, wenn es dem
Reichtum und der Hochblüte deutscher Kunst gerecht
werden will.
Enlart teilt seinen Stoff in fünf Kapitel, denen
jedesmal ein umfängliches Literaturverzeichnis folgt.
Angehängt ist ein nach Departements geordnetes
Verzeichnis der erhaltenen Denkmäler und ein sehr
eingehendes von M. G. Gazier gearbeitetes Register
zugleich für den ersten Band des Handbuches, die
kirchliche Architektur, welche schon 1902 erschien.
Das erste Kapitel, Klosterbaiiten und Hospitäler
umfassend, ist etwas dürftig ausgefallen. Wenn der
Verfasser den Grundsatz aufstellt, daß das Mittelalter
im wesentlichen bei der Gruppierung des Planes von
St. Gallen stehen geblieben sei, so wird er dem
r^eichtum und der vielseitigen Entwickelung, wie sie
uns neuerdings G. Hager aufgedeckt hat, entschieden
nicht gerecht.
Das zweite Kapitel ist dem städtischen Wohnbau
gewidmet. Auch hier geht der Verfasser über den
Plan und die Einteilung des Bürgerhauses, dessen
Entwickelung und provinzielle Verschiedenheit ziem¬
lich schnell hinweg, natürlich weil die Beispiele für
das schlicht bürgerliche Wohnhaus des Mittelalters in
Frankreich genau so selten sind wie in Deutschland.
Auch für alles folgende gewähren immer nur die
vornehmeren Bauten, die Klosterhöfe, Bischofs- und
Herrensitze einige Anschauung. Die Denkmäler
spiegeln eben den feudalen und aristokratischen Zug
des Mittelalters trotz aller Verluste ziemlich treu wieder.
Frankreich ist nicht arm an Stadtpalästen, bei denen
das Erdgeschoß oft in Lauben geöffnet ist, während
die Obergeschosse mit reichen Fenstergruppen aus¬
gestattet sind. Ein stolzer Quaderbau des 13. Jahr¬
hunderts in Cordes (Tarn) könnte als Vorbild des
Dogenpalastes in Venedig gelten und die prachtvolle
Fensterarchitektur des »großen Saales« im Schloß zu
Lucheux (Somme, Abb. 1) dürfte überhaupt ohne Bei¬
spiel sein. Es ist interessant, daß neben den ein¬
fachen Schlafzimmern doch schon im Mittelalter jene
Prunklevers zu finden sind, in denen der Fürst auf
dem Paradebett sitzend seine Toilette beendet und
Audienzen erteilt. Recht stattlich waren dann in den
Herrenhäusern die Küchen, turmartige Gewölbebauten
mit Herd, Brunnen und Galerien für Räucherzwecke;
nicht weniger die Bäder, öffentliche wie private, die
erst unter dem Einfluß der wasserscheuen Bettelmönche
unter dem Vorwurf der Unsittlichkeit zurückgingen.
Paris hatte 1292 deren 25, unter Ludwig XIV. nur
noch zwei. An privaten Aborten, getrennt nach Ge¬
schlechtern, selbst solchen mit Wasserspülung, und
öffentlichen Bedürfnisanstalten war kein Mangel. Große
Herren hatten Prachtstühle, auf denen sie im Angesicht
ihrer Freunde und Klienten saßen. On sait sur quel
tröne Henri III. fut assassine! In Schlössern waren
einzelne Türme wie im deutschen Osten die Dantzker
diesem Zweck geweiht. Hier trifft es zu, daß die
Kultur der heimlichen Orte in Frankreich eher Rück-
EIN HANDBUCH DER BÜRGERLICHEN BAUKUNST IN FRANKREICH
197
schritte gemacht hat. Häusliche Brunnen haben die
beliebten architektonischen Einfassungen und Über¬
bauten, in der Renaissance in Form eleganterTempelchen
(Abb. 2). Auch die Stiegen, Treppenhäuser, Türmchen
und Wendelsteine sind wie bei uns reicher ausgestattet.
Im übrigen sind die Fassaden gern durch Lauben¬
gänge, Baikone und Logen gegliedert, die Läden und
Werkstätten meist durch breite Fenster gegen die
Straße geöffnet. Der Hauptschmuck konzentriert sich
indes auf Türen und Fenster und hier lassen die
Denkmäler eine fortlaufende reiche Entwickelung von
den romanischen Arkaden bis zu den spätgotischen
Kreuzfenstern feststellen. Auch in der Belebung des
Daches spielen die Erker und Luken die Hauptrolle
und die Spätgotik glänzt mit zierlichen und malerischen
deren Stoff wie bei uns der Mythologie und den
Heldenliedern entnommen ist. Mehr zur Zierde als
zur Verteidigung dienten an vornehmen Häusern die
Ehrentürme und Zinnenkrönungen. Allgemein ver¬
breitet ist die Sitte der Hausmarken, Wahrzeichen,
Wappen, Bildnischen, in der Renaissance der Medaillon¬
bilder, von denen das Haus meist seinen Namen hatte.
Recht arm ist der Bestand an Fachwerkhäusern, worin
Deutschland mit gewaltiger Fülle aufwarten kann.
Und auch die ländliche Baukunst weiß Enlart nur
mit karolingischen Pfalzen und späteren unbefestigten
Edelsitzen (manoirs) zu belegen, die meist um einen
Hof gruppiert und an den Ecken mit Türmen flankiert
sind (Abb. 4). Eine französische Spezialität sind die
bedeutenden Taubenhäuser (colombiers) in Form von
ABB. 3. SCHLOSS lOSSELIN (MORBIHAN). ENDE DES 15. JAHRHUNDERTS
Erfindungen (Abb. 3). Im Innern bemächtigt sich die
Kunst besonders der Kamine, die seit dem 15. Jahr¬
hundert mit gefälligem Reliefschmuck auftreten, der
Konsolen, Schlußsteine und getäfelten Balkendecken.
Hier wird die gemalte Decke aus der Ponceletstraße
in Metz mit den wüsten Bestien erwähnt und fort¬
gefahren: des plafonds analogues, du XIIP et du
XIV® siecles existent ä Wildesheim, ä Zillis, en Suisse
u. s. w. und im Register begegnet Wildesheim (Suisse)
Mais., plafond, ebenso Zillis (Suisse) Mais, plafond.
Das ist schon eine ganz artige Legende, wenn man
bedenkt, daß es sich vorerst um St. Michael in Hildes¬
heim (Hannover) und in beiden Fällen um gemalte
Kirchendecken des 1 2. Jahrhunderts handelt, von denen
die Hildesheimer in Hinsicht auf den Gegenstand
nicht im mindesten analog ist. Von Wandmalereien
hat Frankreich anscheinend auch nur geringe Reste,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 7
Rundtürmen, innen mit künstlichen Brutanlagen und
einer drehbaren Leiter. Was über sonstige Nutzbauten,
Ställe, Vorratshäuser, Gärten u. s. w. beigebracht wird,
hat nur kulturgeschichtlichen Wert. Über das Bauern¬
haus erfahren wir nichts. Erhalten haben sich einige
ältere Mühlen, Wind- und Wassermühlen.
Die öjf entliehen Bauten des Mittelalters (Kap. IIl)
mißt Enlart ganz richtig an der eigenartigen Zeitlage.
Eine energische Entfaltung und Zusammenfassung der
Kräfte für das Gemeinwohl war überall unterbunden
durch die Zersplitterung und gegenseitige Verfeindung
der regierenden Gewalten. Am besten gediehen immer
noch die kirchlich organisierten und fundierten Unter¬
nehmungen. Umsomehr ist das Geleistete oder
wenigstens der gute Wille anzuerkennen. So war
z. B. der Plan einer neuen Stadt keineswegs der Will¬
kür überlassen, sondern wie uns jüngst auch Camillo
27
EIN HANDBUCH DER BÜRGERLICHEN BAUKUNST IN FRANKREIjCH
198
ABB. 4. SCHLOSS AZAY-LE-RIDEAU (INDRE-ET-LOIRE). 16. JAHRHUNDERT
Sitte gezeigt hat, mit kluger Einsicht und Berechnung
abgesteckt, an vorhandene Kastelle, Straßenzüge, Flu߬
läufe u. s. w. angelehnt. Um den Markt mit dem
Stadtbaum (palum), dem Rathaus, den Gerichts- und
Kaufhallen gruppiert sich das Straßennetz mit breiteren
Zufahrtswegen und schmalen Quergassen. Und es
gibt genügende Zeugnisse dafür, daß die Stadtherren
für Sicherheit, Reinlichkeit, Verkehr, Bewässerung,
Kanalisation, Schlachthäuser, Bäder, Feuerlöschanstalten
und selbst für Beleuchtung sehr viel getan haben,
ln Seestädten findet man frühzeitig Leuchttürme und
Kais. Alle Achtung nötigt uns der romanische und
gotische Brückenbau ab, selbst einige nach Römerart
angelegte Wasserleitungen sind erhalten. Öffentliche
Brunnen sind zahlreich und in den verschiedensten
Formen angelegt, wenn auch keiner derselben sich
mit den glänzenden deutschen Beispielen vergleichen
läßt. Das Rathaus scheint eine ähnliche Entwickelung
wie bei uns durchlaufen zu haben. Das Unter¬
geschoß dient meist dem Markt- und Handelswesen
mit offenen Lauben, Wechselstuben und Kaufständen.
Das Obergeschoß wird von dem großen Saal (mit
anstoßender Kapelle) eingenommen. Ein vorge¬
bauter Altan oder Erker dient für öffentliche Be¬
kanntmachungen. Selten fehlt ein Ratsturm (beffroi)
mit der Wohnung des Stadtwächters und der Normal¬
uhr, welche gern mit automatischen Figuren (Jaquemart)
eingerichtet war. An den Mauern findet man noch
Sonnenuhren und immerwährende Kalender. Den
Typ der Rathäuser befolgen auch die Gerichtshallen,
deren glänzendstes Beispiel sich in Rouen findet
(Abb. 5). Gefängnisse und Folterkammern, Pranger
und Galgen sind in der Revolution meist zerstört.
Eine großartige, auf Massenbetrieb eingerichte Anlage
war der massive, dreistöckige und dreiflügelige »könig¬
liche Galgen« von Montfaucon. Seltener sind die
Kauf- und Warenhallen mitten auf dem Markt, von
denen sich einige recht primitive (in Gremien, Arlane
und Evron) aber auch recht stattliche wie die Loge
in Perpignan erhalten haben. Ein Marktkreuz wird
nur in Saint Antonin erwähnt, die Rolande fehlen
anscheinend ganz. Daß an Kirchen und öffentlichen
Gebäuden die Normalmaße und -gewichte angebracht
waren ist ganz wie bei uns. Auch die Sitte der
Grenz- und Hoheitszeichen, der Steinkreuze, Martein,
Siegesmäler, Bildsäulen und Erinnerungszeichen aller
Art läßt sich in Frankreich mit Denkmälern belegen,
die den Deutschen ganz konform sind. Von öffent¬
lichen Schulen und Bibliotheken sind nur wenige
Beispiele von Kunstwert gerettet. Was man über
Vergnügungsorte, Schützen- und Spielplätze, Theater,
festliche Dekorationen, Ball-, Juden- und Frauenhäuser
weiß, ist nur sekundären Quellen zu verdanken.
Das vierte Kapitel, Kriegsbaakunst, wird eingeleitet
durch interessante Ausführungen über das Kriegsrecht
und die größeren Angriffswaffen, Bailisten, Katapulte,
Dreiböcke u. s. w. und dann werden die Anlagen
und die einzelnen Verteidigungsstücke vielfach refe¬
rierend nach Viollet-le-Duc beschrieben. Ich unter¬
lasse hier die Inhaltsangabe, weil das Kapitel eigent¬
lich nichts enthält was nicht von unseren deutschen
intimen Burgenkennern, in erster Linie von Piper,
zuverlässiger und vielseitiger dargestellt wäre. Auch
über Dorfwälle und Landwehren, Schlupfhöhlen, be¬
festigte Kirchen und Brücken sind wir in Deutschland
besser unterrichtet, wenn wir auch nicht so stattliche
Festungskirchen wie die Kathedrale in Albi oder den
klotzigen, fast öffnungslosen Donjon in Rudelle und
EIN HANDBUCH DER BÜRGERLICHEN BAUKUNST IN FRANKREICH
Kjg
ABB. 5. JUSTIZGEBÄUDE ZU ROUEN. ENDE DES 15. UND ANFANG DES 16. JAHRHUNDERTS
ebensowenig befestigte Brücken wie etwa in Cahors
aufweisen können.
Höchst lehrreich ist dagegen wieder das fünfte
Kapitel über die Schiffsbaukunst. Wenn die Franzosen
auch keine seefahrende Nation wie Normannen,
Genuesen und Venezianer gewesen sind, so haben
sie doch durch Lage und Volksmischung frühzeitig
die Mittlerrolle zwischen morgen- und abendländischer
Schiffahrt ausgeübt und in den Kreuzzügen nicht
unbedeutende Flotten über Meer gesandt. Was Enlart
nach seinen Gewährsmännern über Seerecht, Fracht-
und Personenverkehr, Schiffsbau, Bemastung und
Takelage, Kajüten, Verteidigungsbauten und Bestückung
und die mannigfaltigen Schiffsgattungen beibringt,
liest sich in hohem Maße anregend und belehrend.
Man gewinnt auch aus diesem Werke einen starken
Eindruck von der internationalen Gleichartigkeit der
mittelalterlichen Kultur. In dieser Hinsicht ist das
Buch für uns Deutsche sehr wertvoll. Auch die
Denkmäler der profanen Kunst legen davon Zeugnis
ab, daß die Gegensätze des Volkstums weit mehr als
heute überbrückt wurden durch die gemeinsame
Frömmigkeit, die geistlich gefärbte Bildung, die aristo¬
kratische Kultur, Dichtung und Kunst und die wesent¬
lich gleichen sozialen Verhältnisse. Daß sich hierbei
Deutschland im frühen Mittelalter vielfach lernend
verhält, ist bekannt. Aber schon im 14. Jahrhundert
wird dieser Rückstand reichlich ausgeglichen und
zwar durch ein Element, welches in Frankreich nie
zu rechter Entfaltung gekommen ist, das Bürgertum
und die freien Städte. Was auf diesem Boden bei
uns erwachsen ist, wird sich wohl den Schöpfungen
des französischen Hochadels und des Klerus eben¬
bürtig zur Seite stellen dürfen und wenn wir ein¬
mal dem Enlartschen Werke eine deutsche Profan¬
archäologie entgegenhalten können, werden wir uns
ob des Reichtums, der Fülle und Schönheit unserer
Denkmäler nicht zu schämen brauchen.
Enlart hat auch diese Zusammenhänge gestreift
und oft deutsche Sachen zum Beleg herangezogen,
wie er auch kleine Ausflüge auf englisches, italienisches
und levantisches Gebiet nicht scheut. Was Deutsch¬
land anlangt, so hätte er sich leicht etwas besser
unterrichten können. Ähnliche Entgleisungen wie
oben bei Hildesheim begegnen ihm öfter. Grund¬
legende Arbeiten wie Heynes Hausaltertümer, Stephanis
Wohnbau, Lachners und Uhdes Holzbaukunst, Pipers
Burgenkunde, A. Schultz’ Deutsches Leben sind ihm
unbekannt, die wenigen im Verzeichnis genannten
Arbeiten sind offenbar nur flüchtig benutzt. Das be¬
rührt an dem sonst so tüchtigen Werke nicht wohl¬
tuend. Der wissenschaftliche Nachbarverkehr erfordert
etwas peinlichere Achtung und ernstere Höflichkeit.
Auf die Fortsetzung des Werkes, von welchem
das Mobiliar von Enlart und die vorgeschichtlichen
Altertümer von j. Dechelette angekündigt werden,
hoffen wir bei Gelegenheit zurückzukommen.
DR. H. BERGNER.
27*
KRITIK UND CHRONOLOGIE
DER GEMÄLDE VON PETER PAUL RUBENS
(KLASSIKER DER KUNST: V. RUBENS VON ADOLE ROSENBERQ)
• •
UBER keinen alten Künstler hat die neuere
Literatur uns so reichlich bedacht wie
über Rubens. Dem großen fundamentalen
Werke von Max Rooses: »L’oeuvre de P. P. Ru¬
bens« (vollendet 1892), ist das unhandliche, aber
anregend geschriebene und auf dem fleißigen
Selbststudium eines Künstlers beruhende Werk von
Emile Michel (igoo) gefolgt, und ein ähnliches Werk
hat Max Rooses vor zwei Jahren veröffentlicht, das
seither in mehrere Sprachen, auch ins Deutsche, über¬
setzt ist. Unter den nachgelassenen Werken von Ja¬
kob Burckhardt fand sich auch ein Band über Rubens,
»Erinnerungen aus Rubens« betitelt (1898), der über
Burckhardts Lieblingskünstler unter den nordischen
Meistern eine Eülle der anregendsten Betrachtungen
enthält. In ähnlicher Richtung bewegt sich der In¬
halt des kleinen Büchleins von Robert Vischer, kurz¬
weg »Peter Paul Rubens« benannt (1904); ein Torso,
da offenbar eine größere Rubensbiographie geplant
war, von der neben einer kurzen, etwas gesucht
blumig geschriebenen Biographie leider nur die
membra disjecta in den trefflichen Notizen des »Bei¬
werks« und der »Anmerkungen« gegeben werden.
Als die jüngste Arbeit ist in den »Klassikern der
Kunst' ein umfangreicher Band mit den Werken des
Rubens unter Redaktion von Adolf Rosenberg er¬
schienen.
Diese letztgenannte Publikation, mit der wir uns
hier zu beschäftigen haben, hat sich die Aufgabe gesetzt,
das Malerwerk des Künstlers in möglichster Voll¬
ständigkeit kritisch nach der Zeit der Entstehung der
einzelnen Werke in Nachbildungen derselben vorzu¬
führen, zu denen außer einer biographischen Ein¬
leitung und kurzen Verzeichnissen am Schluß knappe
Erläuterungen gegeben werden. Die Vorwürfe, welche
man den Publikationen der »Klassiker der Kunst«
im allgemeinen gemacht hat, scheinen mir diesem
Werke wie den früheren gegenüber wenig gerecht¬
fertigt. Solche gedrängte Zusammenstellungen sämt¬
licher Werke großer Meister in Nachbildungen, und
wenn es nur Autotypien sind wie hier, sind freilich nicht
grade zum Genuß, aber doch zum Studium sehr geeignet
und sind in vieler Beziehung anregend. Auch sind die
Autotypien dieser Publikationen so gut, wie man von
dieser unerfreulichen, aber bisher unentbehrlichen Re¬
produktionsart irgend verlangen kann. Dagegen hat
das neue Rubenswerk in der Tat einen wesentlichen
Fehler, den alle früheren Bände der »Klassiker der
Kunst« nicht haben: den Mangel an Kritik in der
Bestimmung und Chronologie der Gemälde. Gerade
hier hätten wir diesen Fehler am wenigsten erwartet,
da ein Spezialforscher über Rubens, Adolf Rosenberg,
von dem die bekannte Ausgabe von Rubens’ Briefen
herrührt, der Herausgeber ist.
Freilich, die Kritik der Werke von Rubens ist heute
noch keineswegs so weit vorgeschritten als die mancher
anderer Künstler. Die außerordentliche Zahl seiner
Gemälde, ihre Zerstreuung über ganz Europa (in
Amerika befindet sich erst etwa ein Dutzend von
Rubens’ Werken), die Mitarbeit der verschiedensten
Schüler und die zahlreichen Schulkopien wirken dabei
erschwerend. Selbst ein so gründliches Werk wie
das von Rooses ist für die Kritik und Zeitbestimmung
der Bilder noch keineswegs auf der Höhe. Aber
Verstöße, wie sie bei Rosenberg zu Dutzenden Vor¬
kommen, sind doch nicht zu entschuldigen. Hat
doch das Werk von Emile Michel über Rubens im
wesentlichen schon das Richtige getroffen; auch
Max Rooses hat in seiner neuen Biographie manche
frühere Irrtümer eingebessert. Eine eingehende Kritik
würde zu einem neuen Werk über Rubens anwachsen;
ich muß mich daher hier auf einige kurze Andeu¬
tungen beschränken.
In dem Rubensbande der »Klassiker der Kunst«
sind 551 Gemälde nachgebildet, eingerechnet eine
kleine Zahl, die als »Schülerarbeiten oder unecht«
bezeichnet werden. Damit ist das Rubenswerk kaum
zur Hälfte vollständig gegeben, wenn auch von wich¬
tigen Gemälden wenige fehlen. Aber daß z. B. das
Musee Plantin in Antwerpen ganz übergangen ist,
daß aus den englischen Privatsammlungen nur einige
wenige Bilder gebracht werden, daß zahlreiche der
prächtigen Skizzen fehlen, ist doch nur mit dem
Wunsche, den Band nicht zu dick und zu teuer
werden zu lassen, zu beschönigen. Platz hätte sich
aber wohl schaffen lassen, wenn z. B. eine Reihe
kleiner Porträts nur in Halbtafeln gebracht wären und
wenn ein paar Dutzend Bilder fortgelassen wären,
die sicher nicht von Rubens oder doch sehr zweifel¬
haft sind. Daß die »Eherne Schlange« in Madrid
(180) ein Meisterwerk des van Dyck und nicht von
Rubens ist, ist jetzt allgemein anerkannt. Auch die
Negerköpfe in Brüssel (146) und die Dame mit dem
Kinde in St. Petersburg (317) sind charakteristische
frühe Arbeiten des van Dyck, dem verschiedene Bild¬
nisse wie 172, 173 und 143 auch mit größerer Wahr-
KRITIK UND CHRONOLOGIE DER GEMÄLDE VON PETER PAUL RUBENS
201
scheinlichkeit zuzuschreiben sind als Rubens. Mehrere
Frauen- und Kinderköpfe gehören einem Rubens¬
nachahmer und Kopisten, von dem die großen Fa¬
milienbilder unter Rubens’ Namen in Windsor und
Brüssel herrühren; so die als H. Fourment bezeichnete
Frau bei Konsul Weber (31g, auch in den Uffizien) und
das Kind in Althorp. Der »Hahn« im Suermondt-
Museum zu Aachen (27) ist von F. Snyders. Ver¬
schiedene männliche Bildnisse (wie Nr. 29, 141, 275,
232 und andere) sind viel zu gering für Rubens.
Das bekannte kleine Borghese - Bild der »Begeg¬
nung« (39) ist eine treffliche Kopie von einem
Schüler wie Th. van Thulden. Die Landschaft bei
Liechtenstein (398) Ist eine mäßige Schülerarbeit;
»Meleager und Ätalante« in Kassel (101) ist eine gute
Schulkopie des weit feineren Bildes in der Sammlung
von R. Kann in Paris. Das Porträt von Wovertius (5)
ist eine Kopie aus den sogenannten Vier Philosophen
des Pal. Pitti. Aus dieser Sammlung ist die mäßige Kopie
des Duke of Buckingham als Original aufgenommen
(257). Die »Flora« in Madrid (415) ist gewiß kein
Rubens (wohl von Janßens mit J. Brueghel und D.
Seghers zusammen), geschweige ein spätes Bild von
ihm, sowenig wie die kleine Auferstehung in München
(33) ein frühes Bild oder überhaupt ein Rubens ist,
und so fort. Eigentümlicherweise finden wir in den
Anhang unter die »unechten Bilder« einige treffliche
Originale von Rubens verbannt; so das prächtige
Bildnis seines Sohnes mit dem Falken im Bucking¬
ham Palace und das kleine reizende Bild mit »Venus
und Adonis« in den Uffizien, das um 1616/18 gemalt
sein wird.
Schwächer noch als mit der Kritik der Echtheit
steht es mit der Kritik der Entstehung der Bilder, auf
die ich etwas näher eingehen muß. Rubens’ Gemälde
genau aufs Jahr zu bestimmen, wird bei manchen wohl
nie gelingen; man muß sich oft begnügen, einen Zeit¬
raum von drei bis fünf Jahren und selbst mehr dafür
anzugeben, was auch deshalb schon gerechtfertigt ist,
weil Rubens manche seiner Bilder lange stehen ließ,
ehe er die letzte Hand anlegte.
Als das einzige noch vor Rubens’ Reise nach
Italien gemalte Gemälde bezeichnet Rosenberg nach
der herkömmlichen Annahme die Verkündigung in
den Wiener Hofmuseen (Nr. 1). Anordnung wie
Typen, namentlich der Kinderengel, weisen das Bild
meines Erachtens mit Sicherheit in den Anfang der
Antwerpener Zeit und vielleicht nicht einmal in das
erste Jahr.
Am buntesten und verwirrtesten flimmert das Bild
von Rubens’ Tätigkeit in Italien, obgleich wir jetzt
durch die beglaubigten Bilder in Mantua, Grenoble,
Madrid, Rom, Genua und so fort, deren Nachbildungen
R. gibt, den sichersten Anhalt für die Zuschreibung
anderer, nicht beglaubigter Bilder dieser Zeit besitzen.
Fast alle Bestimmungen, die Rosenberg daraufhin
trifft, scheinen mir irrtümlich. Die Vermählung der
hl. Katharina (Nr. 2), die Rubens in Venedig oder gleich
darnach in Mantua gemalt haben soll, zeigt fast das
gleiche Kind wie die 1609/10 entstandene Anbetung
der Könige in Madrid, gehört also in die ersten Jahre
nach seiner Rückkehr. Die »Vier Philosophen« im
Pal. Pitti (6) sind gewiß nicht in Italien, geschweige
im Jahre 1602 entstanden, so wenig wie das Selbst¬
bildnis der Uffizien (7); schon der Vergleich mit dem
Selbstporträt in München und in der eben genannten
Anbetung in Madrid, die ihn um acht bis zwölf Jahre
jünger zeigen, beweist, daß diese Bilder fünfzehn bis
zwanzig Jahre später entstanden sein müssen als
Rosenberg meint. Der Jan Woverius (5) ist nur
eine Kopie aus dem Bilde der »Vier Philosophen«.
Der Triumph des Julius Cäsar in der National
Gallery (8) hat ganz die blonde, blumige Färbung
und die malerische Behandlung der unter Tizians
Einfluß bei seinem zweiten Aufenthalt in Madrid
ausgebildeten Kunst des Meisters; das Bild wird also
in London entstanden sein, als die Kartons von
Mantegna, nach denen es eine freie Nachdichtung
ist, in den Besitz von König Karl gelangt waren.
Mit dem Demokrit und Heraklit (16) zusammen hätte
auch der »Archimedes« im Pradomuseum (411) ge¬
nannt werden müssen, der gleichfalls 1603 und nicht
1636/37 entstanden ist. Dagegen ist das Altarblatt
in der Akademie zu Madrid (17) erst in Antwerpen
gemalt worden, etwa um 1615, wie Typen und Be¬
handlung beweisen. Auch die beiden allegorischen
Darstellungen von Tugend und Laster, jetzt in Dres¬
den (18 und ig, Wiederholungen in München und
Kassel), scheinen mir nicht schon um 1604 in Mantua,
sondern etwa zehn Jahre später in Antwerpen auf
Bestellung des Herzogs gemalt worden zu sein, etwa
gleichzeitig mit dem hl. Laurentius der Pinakothek (206),
der erst um 1620 gesetzt wird. Man vergleiche,
ganz abgesehen von Typen und Technik, die gar
nicht zur italienischen Zeit passen, die »Venus mit
dem Spiegel« und die »Findung des Erichtonius«
in der Liechtenstein-Galerie, worin die gleiche Figur
wie hier auf der Krönung des Siegers rechts vor¬
kommt. Die »Grazien« in den Uffizien (20) und die
»Satyrn« der Münchener Pinakothek (20) gehören in die¬
selbe Zeit, um 1615. Auch der hl. Franz, der hl. Hierony¬
mus und die Palatinlandschaft (Nr. 24 und 25), wie der
»sterbende Seneca« (28) sind Arbeiten dieser Epoche
und nicht der italienischen, während die farbenpräch¬
tige »Landschaft mit dem Regenbogen« (26) sogar
ein ganz charakteristisches Werk der letzten Jahre des
Meisters ist. Statt des schwachen »Jungen Genuesen«
(2g) von einem untergeordneten Vlamen hätten die
zwei Spinolabildnisse in ganzer Figur, jetzt in King¬
ston Lacy, als charakteristische Arbeiten des Genueser
Aufenthalts abgebildet werden sollen. Dagegen sind
Bilder wie die »Grablegung« bei Liechtenstein (29),
die »Beweinung« in Berlin (38), »Romulus und Re-
mus« in der Galerie des Kapitols (31) und der »hl.
Sebastian« in Berlin (32) gewiß nicht schon in Rom
entstanden, sondern um 1614/18 in Antwerpen.
Man vergleiche nur den in Rom gemalten, sehr
bezeichnenden Sebastian der Doriagalerie in Rom, der
leider nicht wiedergegeben ist. Daß die Liechten-
steinsche »Grablegung« eine Kopie nach Caravaggios
bekanntem Gemälde in Rom ist, beweist keineswegs,
daß Rubens dieses Bild gerade in Rom gemalt haben
202
KRITIK UND CHRONOLOGIE DER GEMÄLDE VON PETER PAUL RUBENS
muß; er konnte es sehr wohl auch später nach
Studien ausführen, die er dort gemalt hatte, denn die
geistreiche breite Behandlung weist für dieses wie
für das ähnliche kleine Berliner Bild der Beweinung
mit Bestimmtheit auf die Zeit um 1615.
Gieich nach Rubens’ Rückkehr in seine Vater¬
stadt hat er nach urkundlichen Nachrichten das große
Altarbild der Anbetung der Könige (Madrid) gemalt.
Mit den mächtigen Formen, den knubbeligen Kon¬
turen, den flackernden Lichtern in diesem Gemälde
stimmen der hl. Georg« des Pradomuseums (30), die
»Susanna in der Akademie zu Madrid (51), der
»Tod des Argus- in Köln (42) und der »Prometheus«
in Oldenburg (50, Studie desselben Modells wie in
42) so sehr überein, daß sie gleichzeitig, also um
1 60g 1 0, entstanden sein müssen.
Mit Recht hat Rosenberg ein bisher kaum be¬
kanntes Werk, das Opfer Abrahams, im Besitz von
Herrn Julius Unger in Kannstadt (47), aufgenommen
und unter die Bilder dieser Zeit eingereiht; es könnte
selbst noch im letzten Jahr in Rom entstanden sein.
Wie er dagegen das Bildnis der Isabella Brant in
der Berliner Galerie (43, von Rooses als Bildnis der
Gattin bezweifelt und für eine Schwester derselben
erklärt) nur ein Jahr später ansetzen kann, wo sie
um zehn Jahre älter aussieht und die Malerei schon
grundverschieden ist, erscheint schwer verständlich,
ln die Zeit bald nach Rubens’ Rückkehr gehören da¬
gegen die beiden großen Bildnisse des Erzherzogs
Albrecht und seiner Gemahlin im Pradomuseum
(168 f., nach Rosenberg um 1616/20), sowie ein noch
altertümlicheres interessantes großes Familienbild der
Karlsruher Galerie, das bisher ganz unberücksichtigt
geblieben ist und auch von Rosenberg nicht erwähnt
wird.
Für das erste Jahrzehnt seiner Tätigkeit in Ant¬
werpen haben wir sehr guten Anhalt an den Urkunden
über zahlreiclie Altarbilder wie an der reichen Korre¬
spondenz des Künstlers, gelegentlich auch an Daten
auf den Bildern. Die Zeitfolge der Bilder gibt der
Verfasser daher für diese Zeit wesentlich richtiger als
für die Zeit des italienischen Aufenthalts an. Dennoch
ist auch hier manches gefehlt. Ich will nicht darüber
rechten, wenn nach meiner Empfindung Bilder wie
die drei Kruzifixe (45 und 46) oder der »Sanherib«,
der Saulus« (83 f.) und die »Amazonenschlacht« (103)
in München und andere um etwa vier oder fünf
Jahre zu früh angesetzt sind; einige wesentlichere Irr-
tümer müssen aber namhaft gemacht werden. So
gehört der »Arion- in der Sammlung Schloß zu
Paris (55) mit dem »Orpheus« in Sanssouci (394)
zusammen, der ganz richtig erst um 1635 angesetzt ist.
Die »Auferweckung des Lazarus« in Berlin (264) ist eines
der Bilder, die durch ihre tiefen bräunlichen Schatten
und ihr starkes Helldunkel die Ausführung durch den
jungen van Dyck verraten, also um 1618/20 entstan¬
den sind. Dasselbe gilt meines Erachtens auch für
»Simsons Gefangennehmung« und die Ausgießung
des hl. Geistes« in München (68 und 182), den
»Christus am Kreuz« in der Antwerpener Galerie
(1620), die Madonna in Kassel (227) und andere
mehr. Die »Bekehrung des hl. Bavo« in der National
Gallery (63) hat gewissermaßen Gegenstücke in den
gleichfalls als ausgeführte Skizze behandelten »Wun¬
dern des hl. Franz de Paula« in Dresden (329, datiert
»um 1630 32«), und in dem »Wunder des hl.
Benoit- im Privatbesitz des Königs von Belgien, das
leider nicht wiedergegeben ist. Während letzteres in
der älteren Literatur der Zeit nach Rubens’ zweiter
Heirat gegeben wird, datiert Rosenberg das erstere in
das Jahr 1612. Beide Bilder sind aber in der Kom¬
position, wie in Typen und Behandlung aufs engste
verwandt mit den Wundern des hl. Ignaz im Wiener
Hofmuseum und in Genua (187 — 191), sind also wie
diese um 1620 entstanden. Das skizzenhafte kleine Bild
mit dem »hl. Christoph und dem Eremiten in Mün¬
chen (62), das Rosenberg mit den Rückseiten der Ant¬
werpener Kreuzabnahme in Beziehung bringt, hat
mir immer den Eindruck gemacht, als ob es erst in
die dreißiger Jahre gehöre, ebenso wie die große
Kreuzigung im Museum zu Toulouse (77), die ich
leider nicht aus eigener Anschauung kenne. Das
köstliche kleine Bild der Verstoßung der Hagar in
der Eremitage (64), vom Verfasser um 1612 datiert,
möchte ich nach der warmen, leuchtenden Färbung
erst in das Jahr 1618 setzen. Etwas später noch die »Ehe¬
brecherin« des Brüsseler Museums (65), in der Aus¬
führung ein Schulbild, wohl von A. van Diepenbeeck.
Zu der Hauptfigur dieses Bildes, wie zu der Mag¬
dalena in Wien, den Frauen am Grabe in der Galerie
Czernin ebenda (204) und zu mehreren anderen Bil¬
dern hat Rubens das schöne Modell benutzt, von
dem Baron Gustave Rothschild- Paris das pikante
Bildnis besitzt (331); dieses ist, wie die Gemälde,
für die es benutzt ist, schon um etwa zwölf Jahre
früher entstanden, als es der Verfasser ansetzt. Die
berühmte hl. Familie in der Antwerpener Galerie (68)
ist gewiß erst in den zwanziger Jahren gemalt (66)
ebenso wie die Landschaften »Sommer« und »Winter¬
in Windsor (85 und 86), während der »Regenbogen
der Eremitage (121, »um 1615 18 ) sogar erst der
letzten Periode des Künstlers angehört. Die Skizze
des Martyriums der hl. Ursula in Brüssel (110) er¬
innert in Aufbau und Bewegung so sehr an die
»Marter des hl. Lievin- und an die »Kreuztragung«
ebenda (362 und 369), daß diese Komposition etwa
gleichzeitig entstanden sein wird. Andere Bilder der
mittleren Zeit scheinen mir vom Verfasser zu spät
angesetzt zu sein; so unter anderen die herrliche
»Wildschweinsjagd« in Dresden (214), die »Vier Welt¬
teile« in Wien (218), die »Venus« in Brüssel und
Dresden (260), der »Lazarus« in Berlin (264), der »Silen«
der National Gallery (280), die hl. Familie bei W.
Crocker (281) und eine Reihe von einfachen Porträts,
die über den ganzen Band zerstreut sind (272, 301,
377. 375 und andere), während sie um 1615 — 1620
entstanden sein müssen. Dasselbe ist der Fall mit
den Kopien nach Vorfahren des österreichischen
Kaiserhauses (360 und 276), die — wie der »Para¬
celsus« (130) — schon um 1615 gemalt sind.
Die zwanziger Jahre des 1 7. Jahrhunderts werden
für Rubens namentlich durch die großen dekorativen
KRITIK UND CHRONOLOGIE DER GEMÄLDE VON PETER PAUL RUBENS
203
Folgen ausgefüllt und gekennzeichnet, die er für
Maria von Medicis, Kart 1. und andere teils selbst
ausführte, teils zur Ausführung durch Schüler oder in
Webereien entwarf. Sie sind uns nach der Zeit ihrer
Entstehung genau gesichert. Unter den Altargemälden,
Tafelbildern und Bildnissen, die Rosenberg der glei¬
chen Zeit zuschreibt, sind wieder eine Reihe, die ent¬
schieden beanstandet werden müssen. Weshalb ist
die hübsche kleine Dresdener Schulkopie (266) nach
dem berühmten Parisurteil ln der National Gallery
(383) überhaupt aufgenommen und zehn Jahre früher
datiert als das Original? Dasselbe sehen wir bei der
»Fortuna« des Pradomuseums von 1636/37 (413),
deren Skizze im Berliner Museum (270) um 1625
angesetzt ist. Von den Spinolaporträts befindet sich
das beste, allein ganz eigenhändige Exemplar ln der
Galerie Nostiz zu Prag.
Die letzte Epoche von Rubens’ Tätigkeit, die be¬
deutendste und zugleich umfangreichste, steht unter
dem Einflüsse der jungen Helene Fourment, mit der
sich der Künstler Ende des Jahres 1630 vermählte. Die
Mehrzahl der Bilder, die in den letzten zehn Jahren
seines Lebens entstanden, ist in ihrer Datierung ge¬
sichert, teils durch die uns bekannten Aufträge von
Philipp IV., Karl I. und anderen Fürsten, sowie von
einzelnen Kirchen, teils durch die Rolle, welche seine
Gattin und die Landschaft um das Schloß Steen, das
er damals erwarb, darin spielen. Unter diese ge¬
sicherten Bilder haben sich in Rosenbergs Rubens-
Werk aber doch eine Anzahl Gemälde eingeschlichen,
die in dieser Zeit ganz fremdartig erscheinen. So
ist die »Judith« der Braunschweiger Galerie (338)
nach den blauen Halbschatten und roten und gelben
Lichtern im Fleisch ein besonders charakteristisches
Werk um 1615/20. »Thomyris und Cyrus« im Louvre
(340) ist Gemälden wie das Urteil Salomos in Kopen¬
hagen (176), der »Achill« im Pradomuseum (139) und
anderen so verwandt, daß es in der gleichen Zeit,
um 1620, entstanden sein muß. Die Skizze der
»Psyche, zum Olymp getragen« in der Galerie Liech¬
tenstein (366) hat den Charakter der Skizzen zur
Luxembourg-Galerie und wird eher noch ein paar
Jahre früher entstanden sein; der Künstler hat diese
Komposition frei benutzt für ein ähnliches späteres
Deckenbild: die Apotheose des Fürsten Wilhelm von
Oranien (402). Gemälde wie die »Beweinung Christi ^
im Pradomuseum (391), die »Diana« in Kassel (336),
die Thomyris des Louvre (340), die Skizze der Grab¬
legung (452) und die hl. Familie im Kölner Museum
(420) oder wie die Landschaft mit »Philemon und
Baucis« im Wiener Hofmuseum (450) und die »Land¬
schaft mit den Kühen« in der Münchener Pinakothek
(426) gehören nicht zu den spätesten Werken von
Rubens, sondern sind anfangs der zwanziger Jahre
oder noch etwas früher entstanden. In der vielbe¬
wunderten Landschaft mit der Jagd des Meieagar,
einer neueren Erwerbung des Brüsseler Museums
{443), vermag ich die Hand von Rubens nicht zu
erkennen; sie scheint mir eine freie Nachbildung nach
dem bekannten Bilde mit dem gleichen Motiv in der
Dresdener Galerie. Über verschiedene vom Verfasser
dieser Epoche eingereihte Bilder habe ich schon oben
mich ausgesprochen.
Diese ermüdende Aufzählung, die ich auf das
Hauptsächlichste beschränkt habe, schien mir uner¬
läßlich, selbst gegenüber einem Buche, das sich in
erster Linie an das große Publikum wendet, weil es
als bequemes Nachschlagewerk von vielen benutzt
wird und dadurch Irrtümer sich gar zu leicht ein¬
wurzeln. Gerade solche Werke, die in jedermanns
Hand kommen, sollten auf ganz kritischer Grundlage
aufgebaut werden. Dies ist aber leider die Ausnahme;
in unseren billigen Kunstbüchern und Kunstbüchlein,
die den Markt überschwemmen und heute Anschauung
und Wissen von Kunst beherrschen, kommen nur
selten wirkliche Fachmänner zum Wort, und dann
auch in der Regel nicht für die großen, gottbegna¬
deten Künstler, da sie die Redakteure solcher »Serien«
für sich zu reservieren pflegen und in ihren banalen,
unkritischen Monographien der Menge der Gebildeten
nahe zu bringen wissen. Die »Klassiker der Kunst«
sind ein ernsteres und bedeutungsvolleres Unternehmen,
dem wir den besten Erfolg wünschen, das aber, ge¬
rade weil es das Oeuvre der Künstler gibt und diese
nach der Zeit der Entstehung der Werke anordnet,
nur auf kritischer Basis von Nutzen sein kann. Ich
zweifle nicht, daß Dr. Adolf Rosenberg in dem vor¬
liegenden Rubens-Werk besonders kritisch hat zu Werke
gehen wollen, seine Kritik erscheint mir aber gar zu
eigenartig. ]V. BODE.
zu DER RADIERUNG
Wir haben die Freude, heute unsere Zeitschrift wieder mit einer Radierung von Karl Köpping
schmücken zu können. Gelegentlich einer Durchsicht seiner Mappen fanden sich einige entzückende kleine
Landschaften vor, die unsere besondere Aufmerksamkeit erregten. Der Künstler erzählte, daß es Arbeiten
jüngerer Jahre seien, etwa 1877 entstanden, die er nie veröffentlicht habe. Die Blätter sind aber so schön,
daß wir sie unbedingt ans Licht ziehen wollten. Hier ist wenigstens eines davon.
Der Schöpfer des Urbildes ist Jan van Beers, der etwas seltsame belgische Kolorist, dessen arg buntes
großes Historienbild im Amsterdamer Museum bekannt ist. Er hatte Mitte der siebziger Jahre, angestachelt
durch den Effekt einiger miniaturartig in der sonderbarsten Technik ausgefülirter Eandschaften des jungen
Kerkhove, eine gröltere Zahl derartiger kleiner Bildchen geschaffen und regte Köpping an, sie zu radieren
und als Serie herauszugeben. Dieser Herausgabe stellten sich aber gewisse Schwierigkeiten entgegen, so daß
die Arbeit abgebrochen wurde, und die Platten vom Künstler beiseite gelegt wurden. Die Radierung zeigt,
wie der damals noch nicht dreißigjährige Meister schon in seiner Kunst die Eigentümlichkeiten fremder Vor¬
bilder zu erfassen wußte.
ln bezug auf des Künstlers gegenwärtige Beschäftigung sei gleich mitgeteilt, daß er die jahrelange
Arbeit an der Platte nach Rembrandts Susanna jetzt abgeschlossen hat und das Blatt demnächst im Berliner
Galeriewerk erscheinen wird.
DIE BRÜCKE VALENTRE BEI CAHORS. VOR DER RESTAURATION
Zu dem Aufsatze >Ein Handbuch der bürgerlichen Baukunst in Frankreich
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., g. m. b. h., Leipzig
CONSTANTIN MEUNIER
ORIGINALHOLZSCHNITT VON PIERRE VIBERT IN PARIS
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST I905
CONSTANTIN MEUNIER f
Von Henri Hymans in Brüssel
MEUNIER ist am 4. April in Brüssel gestorben.
Seinen Sarg grüßten in Ehrerbietung offi¬
zielle Persönlichkeiten, Leuchten der Politik,
der Wissenschaft, der Künste, der Literatur; Bürger,
Männer des Volkes, Vertreter aller Parteien und aller
Klassen, sie alle bewegten sich in langem Zuge vom
Trauerhause zur Kirche, von der Kirche zum Fried¬
hof und hoben so seine Leichenfeier weit über das
übliche Maß empor. Die Beileidsbezeugungen des
Auslandes, aus Deutschland wie aus Frankreich, wett¬
eiferten es auszusprechen, wie der Verlust dieses
großen Künstlers nicht nur sein Land, sondern die
ganze Welt erschütterte. Auch seine Schöpfungen
haben zur ganzen Welt gesprochen.
Wenn das Verschwinden eines großen Künstlers
eine Trauer für die Menschheit ist, dann ganz be¬
sonders der Tod Meuniers. Seine durchaus moderne
künstlerische Auffassung begnügte sich nicht damit,
zeitgemäß zu sein, sie scheint sich mit prophetischer
Ahnung mehr noch als an die Gegenwart an die
Zukunft zu wenden. Dies hindert nicht, daß sie sich
durch die Jahrhunderte in gerader Linie auf die
größten Überlieferungen der Vergangenheit berufen
kann.
Die zweite Flälfte des 1 g. Jahrhunderts ist nament¬
lich für die belgische Bildhauerei eine Zeit der Er¬
neuerung gewesen, das Ideal wurde umgestaltet, eine
neue und freie Anschauung von der Natur triumphiert
mit unwiderstehlicher Gewalt über eine mit der eng¬
herzigsten Strenge vom hellenistischen Schönheits¬
kanon gelenkten Ästhetik. Mit der Wucht ihrer
Theorien erhob die Schulkunst den Anspruch, Werke
des Phidias und Praxiteles zu wiederholen. Wie
viele Bannflüche haben die Emanzipationsbestrebungen
getroffen! Rüde und David d’Angers waren ebenso
wie in der Politik auch die Geächteten der Kunst.
Die Geschichte wird staunen, daß Meunier, gestorben
im 20. Jahrhundert, im Alter von 75 Jahren, dem
Feldzug gegen die Routine fern geblieben, obwohl er
doch zum Streiter berechtigter war als jeder andere.
Das kommt daher, weil er bis zu seinem 50. Jahre
fast nur ein Scheindasein ohne künstlerische Tat
führte. Nicht, daß ihm die Berufung zu spät kam;
Meunier war Künstler von seinen ersten Schritten ins
Leben. Sein zehn Jahre älterer Bruder Jean Baptist,
ein hervorragender Kupferstecher, lehrte ihn den
Zeichenstift zu halten und meisterhaft zu führen. Für
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 8
Meunier war dies der Ausgangspunkt für seine Zu¬
kunft. Die Bildhauer jener Zeit pflegten sich nur
des Modellierholzes zu bedienen, nicht zu zeichnen.
Auf dem Felde der Bildhauerei ereignete sich die
erste Waffentat des jungen Constantin. Da er gleich¬
zeitig Schüler der Akademie von Brüssel und des
Bildhauers Fraikin war, wurde er in den Stand ge¬
setzt, eine Statue zur Ausstellung von 1851 zu schicken.
Der Titel dieses Erstlingswerkes »Guirlande« ruft den
Gedanken an einen graziösen Vorwurf wach. Der
Lehrer Meuniers tat sich besonders in diesem Genre
hervor. »Der gefesselte Amor«, sein bekanntestes
Werk, läßt an Pradier denken.
Bis an die Dreißig bildhauerte Meunier. Unter
28
206
CONSTANTIN MEUNIER f
CONSTANTIN MEUNIER. DER HL. FRANZ (1862)
den Figuren, die den Fries der Aula des Akademie¬
palastes in Brüssel zieren, ist eine von ihm. Das
Stück ist nicht besser und nicht schlechter als seine
Umgebung; es ist aus seiner Epoche, das heißt nicht
aus seiner Zeit.
Selbst die freiesten Geister glaubten damals nicht
an die Möglichkeit einer neuen Entwickelung der
Bildhauerei. Meunier war durch die Unterweisungen
seines Bruders, der ein Schüler von Calamatta war,
groß geworden in einem Kultus der Antike, ln einem
Alter, wo für den jungen Künstler der erste Schritt
der Befreiung eine Ablehnung der Schule ist, zeichnete
Meunier mit Leidenschaft an der Akademie zu Brüssel
nach der Antike. Ihn ergriff dabei die Größe und
der Stil. Übrigens schien es, daß unter seiner Hand
der Bleistift ein gelehrigeres Instrument wäre, als das
Modelholz, und niemand fand es seltsam, daß ihm
seine Vorliebe der Malerei blieb.
Die belgische Schule machte in jenem Augen¬
blicke eine Krisis durch. Die offizielle Kunstpflege
lähmte die Tatkraft der Jüngeren und schmälerte das
Feld, das sich ihnen eröffnet hatte. Der Kunstunter¬
richt, der in den Händen des Staates vereinigt war,
mußte diese, wenngleich sehr schüchternen Neuerungs¬
versuche wie eine revolutionäre Tat ansehen. Die
Prinzipien Davids herrschten ohne Ausnahme an der
Akademie zu Brüssel, die von Navez, einem ehe¬
maligen Schüler des Meisters, geleitet wurde. Um
1855 herum taten sich einige Überläufer der offiziellen
Schulen zu einer freien Werkstatt zusammen. Diese
neue Schule war, ohne eine Pflanzstätte berühmter
Künstler zu werden, der Ausgangspunkt für eine
fruchtbare Bewegung. Hier ertönte der Sammelruf
für alle diejenigen, die für die Kunst eine neue Be¬
stimmung und eine wahrhaft menschlichere Auffassung
des Lebens erträumten. An dem Tage, wo Meunier
es unternahm, seine Fähigkeiten in den Dienst der
Malerei zu stellen, wurde er durch die Macht der
Dinge in die junge Bewegung hineingerissen. Seine
Kunst konnte nur diese Existenzberechtigung haben.
Der Maler überschattet in dieser Zeit den kom¬
menden Bildhauer. Indessen jedoch muß man zur
Kenntnis des Meisters eingehend Rechenschaft halten
mit dem malerischen Abschnitt seiner Laufbahn, denn
man muß sagen, die Eigenart Meuniers läßt sich in
seinen gemalten Werken mit derselben Wucht aus,
wie in seinem plastischen Oeuvre fühlen. Das »Mar¬
tyrium des hl. Stephan < im Museum zu Gent ist
eines der Hauptbilder der belgischen Schule. Es ist
ein Werk von geradezu lapidarem Stile. Ferner muß
man sich in dem Bildungsgang Meuniers über den
Einfluß seines Lehrers de Groux Rechenschaft geben,
der vielleicht der größte Meister war, den Belgien
hervorgebracht hat, wie Muther sagt. Er war sechs
Jahre älter als Meunier, ein ehemaliger Schüler von
Navez und der Akademie von Düsseldorf und begann
als Maler religiöser Vorwürfe. Einfach und zart,
dem Mitleid tief zugänglich, war de Groux der erste
Maler in Belgien, der sich in einer mehr menschlichen
Kunst betätigte, der den Formelkram verwarf, den
die Überlieferung allen denen aufzwängte, die den
Wunsch hatten, dem realen Leben seine Vorwürfe
abzufordern. Gleichfalls war er die Zielscheibe der
leidenschaftlichsten Angriffe der offiziellen Kritik. Er
malte das Volk, ohne sich zu seinem Diener zu
machen, ohne weder seinen Sitten noch seinen Phy¬
siognomien zu schmeicheln. Da man sich aber an
der Form stieß, so wurde er im Namen der großen
Kunst angeklagt, die Natur zu parodieren und der
Ästhetik des Häßlichen zu fröhnen. Und das in
Belgien, nachdem die berühmtesten Kritiker Frank¬
reichs, Theophil Gautier an der Spitze, ihn bei der
Weltausstellung von 1855 als den ausgezeichnetsten
der in Brüssel lebenden Maler gepriesen hatten!
Meunier verdankte ihm nicht alles, aber er ver¬
dankte ihm viel. Gemeinsam liebten sie die Alten
und bekannten sie sich zum Kultus der Primitiven.
Beide fanden Anregung in den sehr zahlreichen
Kartons zu Kirchenfenstern, die Capronnier für die
Hauptkirchen Europas ausführte!
Die ersten Gemälde Meuniers verrieten diesen
zwiefachen Einfluß. Dem klösterlichen Leben, dem
asketischen Typus gilt seine Vorliebe. Als Bildhauer
reizt ihn mehr die Form, als der Effekt. Er liebt es,
seine Gestalten im Profil darzustellen. Sein erstes
Gemälde, »Die Krankenschwester« (1857), das in
CONSTANTIN MEUNIER f
207
Brüssel ausgestellt wurde, dann »Das Begräbnis eines
Trappisten« (1860), »Die ewige Ruhe«, »Das Gebet«
(1862), »Der hl. Franz von Assisi in Verzückung«
(1862) sehen beinahe wie Flachreliefs aus. Mit dem
»Hl. Franz« tritt der Meister in die Reihe der leiden¬
schaftlichsten Interpreten dieses Vorwurfs, kommt er
den Spaniern nahe, die er einige Jahre nachher in
Madrid und Sevilla studieren sollte.
Meunier nahm einen längeren Aufenthalt in dem
Kloster von la Trappe. Mönche, junge und alte, die
den Pflug ziehen, die bei der Totenmesse singen und
die Verstorbenen zu ihrer letzten Ruhe geleiten, alles
das verdichtet sich bei ihm zu einer mehr als tief
empfundenen und großartig wiedergegebenen Im¬
pression. Im ganzen waren die Erfolge des Gemäldes
beträchtlich gewesen, auch an offizieller Anerkennung
fehlte es nicht.
Da plötzlich ließ das Wetterleuchten des Genies
die Flamme emporlodern, die die Welt erleuchten
sollte. Die Weltausstellung von 1885 zu Antwerpen
verkündete Meunier mit einem Male als Maler und
Bildhauer. Vier Gemälde legten Zeugnis von seinem
Genius ab; »Die Ausladung eines Schiffes im Hafen
zu Antwerpen«, »Die Tabakfabrik zu Sevilla«, »Die
Einfahrt in ein Bergwerk zu Liege« und »Der zer¬
brochene Schmelztiegel (Glashütte im Tale von St.
Lambert)«. Von seinen plastischen Werken sah man:
»Die Gipsfigur des Puddler« und »Das Pferd der
Antwerpener Korporation«.
Der Eindruck dieser Werke, die zu den schönsten
des Meisters gehören, überschritt aber nicht die Grenze
eines Achtungserfolges. Im folgenden Jahre erschien
die mächtige Figur des »Hammerschmieds«, die sich
jetzt im Berliner Museum befindet. Ein maßgebender
belgischer Kritiker fragte noch, ob dies hier der
Stoff eines Bildhauers sei. Das belgische Publikum
hatte viel zu verlernen, um sich zum Verständnis
einer Kunst zu erheben, deren vornehme Einfachheit
den »Mondains« nicht gefallen konnte. Der Schönheits¬
sinn, den die Erziehung ausbildet, ordnet sich zahl¬
reichen Forderungen unter, die Freigeister ungestraft
nicht verletzen. Es hat Jahrhunderte bedurft, um
einige Zierden der Menschheit auf den rechten Platz
zu stellen. Velazquez, Rembrandt, Frans Hals sind
glückliche Funde der Neuzeit.
Die Kunst Meuniers, die Frucht langen und
schmerzlichen Reifens, ist ihrem Wesen nach syn¬
thetisch. Sie konnte nur die eines im Denken und
in der Beobachtung der Natur gereiften Mannes sein,
oder besser noch die eines Mannes, der zu vergessen
wei ß.
Meunier hat selbst mit der Aufrichtigkeit, die den
Grund seines Charakters wie seiner Kunst ausmacht,
Georg Treu erzählt, wie die Umwandlung sich bei
ihm durch den Anblick der »tragischen und un-
gezähmten Schönheit« des Industriearbeiters vollzog.
Durch die Zeichnungen für Camille Lemonniers
Buch über Belgien wurde er in das »schwarze Land«
geführt. Da dringt er ein in die Hochöfen, die
Schmieden, in die Metallwerke, die Glashütten und
in die Bergwerke. Es war wie eine Danteske Vision
der modernen Hölle, wo inmitten der Flammen und
Ströme flüssigen Eisens sich nackt in der Fülle
ihrer Kraft die durch die Phantasie des Poeten herauf¬
beschworenen Cyklopen bewegten. Plötzlich und
unwiderstehlich stiegen in seinem Geiste diese antiken
Gebilde auf, mit denen er sich in seiner Jugend als
Schüler befaßt hatte. Das, was er erblickte, wurde
ihm zur Vision, was andere nur in Träumen gesehen
hätten, wurde für ihn die Wirklichkeit, die ein
dichterisches Fühlen verklärte. So entstand diese
unsterbliche Kunst. Aber noch zehn Jahre wartete
Meunier auf seinen Ruhm, der schließlich vom Aus¬
lande, nicht von Belgien verkündet wurde. Man
kann ihn von dem Tage an bestimmen, wo Bing es
unternahm in den Salons de l’Art nouveau zu Paris
die gesamten Werke Meuniers zu vereinigen. Hier
war in einer neuen und eigenartigen Form trotz
Millet, trotz Rodin das Gesicht der Menschheit in
all ihrem Schrecken, all ihrer Größe heraufbeschworen.
Das war Kunst wie die Werke der Alten. Eine
Bronze Meuniers, die künstlich alt gemacht, könnte
man für ein etruskisches Werk halten, wie man ohne
Überraschung seinen Namen unter dem »Redner«
in Florenz sehen würde.
Mehr noch als seine berühmten Genossen es tun,
drückt Meunier in der äußeren Form die Seele des
dargestellten Individuums aus. Das ist keineswegs
das bloße Modell, es ist ein Jemand, man errät ihn.
Meuniers Kraft ist bewußt; die Arbeit, welche er voll¬
bringt, ist von einer höheren Gewalt geleitet und
berechnet, notwendig und unerbittlich. Er weiß es
und ergibt sich darin. Hier liegt die tragische Seite
MEUNIER. DER VERLORENE SOHN
V
CONSTANTIN MEUNIER
DER PFLUOER
CONSTANTIN MEUNIER
DER LASTTRÄGER
CONSTANTIN MEUNIER. STUDIE CONSTANTIN MEUNIER. AN DER TRÄNKE
CONSTANTIN MEUNIER f
211
des Werkes. Er appelliert keineswegs an unser Mit¬
leid, er appelliert an unser Nachdenken mit einer
Beredsamkeit, die um so größer ist, als die Form
vollendeter wird. Meunier dramatisiert nicht: Er er¬
zählt und tut dies mit einem Akzent instinktiver
Größe. Ich sagte, daß er durchaus nicht an unser
Mitleid appelliere, ich hörte von ihm, dies sei keines¬
wegs der Zweck seiner Kunst. Sicherlich gibt es in
der modernen Bildhauerei kein Werk, das so er¬
schüttert wie »le Grisou« (das Grubengas). Wie eine
neue »Mater dolorosa« betrachtet die Mutter des
Opfers bei der Katastrophe die leblosen Überreste
des Sohnes, der zu ihren Füßen liegt. Unwillkür¬
lich denkt man an jene Erzeugnisse der kastilianischen
Plastik, die die Szenen der Passion in einer Sprache
schildert, deren Ausdruck an Wahnsinn grenzt.
Meunier ist keineswegs so weit gegangen. Er hat ge-
tungen zur Skulptur -Ausstellung von 1897 nach
Belgien. Mir war es vergönnt, sie mit Meunier in
Berührung zu bringen. Treu fühlte sich im Anblick
dieser vornehm einfachen Kunst, die ihn gefangen
nahm, tief ergriffen. Und der kenntnisreiche Archäo¬
loge, der gelehrte Historiograph der griechischen
Plastik, glaubte in dieser Form des Ausdruckes, der
gleichzeitig so modern und so tief klassisch war, eine
Rückkehr der hellenischen Kunst zu erleben. Zuerst
machte er im »Pan« (Oktober 1897), dann in dem
reizenden Bande »Constantin Meunier« (Dresden,
E. Richter, 1898) Deutschland mit dem großen bel¬
gischen Bildhauer bekannt. Die Dresdener Ausstel¬
lung wurde für Meunier ein wahrer Triumph. Seit
damals ist ein ganzer Saal im Albertinum seiner
Kunst gewidmet. So war Meunier schon bei Leb¬
zeiten unsterblich. Auf einigen Seiten, die von seiner
CONSTANTIN MEUNIER. STUDIE
sehen, er hat gefühlt. Die Betrachtung seines Werkes
erregt mehr innerlich. Man glaubt den gebeugten
Körper der armen Mutter durch das Schluchzen er¬
schüttert zu sehen. Niemals, ohne Zweifel, ging die
Skulptur so weit im Pathetischen. Nur einen Blick
auf das Werk und man erkennt den ganzen Künstler;
man begreift ihn. Und wie sein Mitleid nur weicht,
wo der Schmerz weicht, so gibt er in seiner prächtigen
und besonders berühmten Figur das alte Minenpferd
wieder, ein gewissermaßen entartetes Geschöpf, das
nur im Dunklen arbeitet, wo es immer leben wird,
bis der Tod seinem Leiden ein Ziel setzt, ln dem
Mitempfinden seines Herzens liegt die Hauptquelle
für die Kunst des Meisters.
Verdankt Meunier Frankreich seinen ersten künst¬
lerischen Ruf, so schuldet er Deutschland die Ver¬
breitung seines Ruhmes, Dresden ist Paris gefolgt.
Georg Treu und Robert Diez führten die Vorberei-
Bescheidenheit zeugen, hat er seine Laufbahn ge¬
zeichnet. Man findet sie im Anhang des Werkes
von Professor Treu. Er sagt dort mit Recht, daß
es zwei Leben in seinem Leben gab. Die Zeit, so
schließt er, ist kurz.
Die Jahre, die bis zu seinem Tode verrinnen
sollten, konnten zweifellos keine Steigerung seines
Ruhmes mehr bringen. Ich habe, so schrieb er, an
Treu die höchste Genugtuung meiner Eigenliebe er¬
reicht. Hatte Meunier auch bereits sein Genie in
ganzem vollem Maße bestätigt, so sind aber doch zu
seinem schon so reichen Werke noch andere hervor¬
ragende Schöpfungen hinzugekommen. Eine Gesamt¬
ausstellung seiner Werke zu Brüssel im November
1902 war ein Ereignis. Der Meister hatte hier in
120 Stücken die Werke aus seiner Entwickelungs¬
periode: Gemälde, Zeichnungen, Pastelle und Aquarelle
vereinigt. Von der Plastik sah man Statuen, Büsten
CONSTANTIN MEUNIER
STUDIE ZU DEM BILDE »GRUBENGAS.
STUDIE VON CONSTANTIN MEUNIER
CONSTANTIN MEUNIER f
213
und Hochreliefs. Aus dieser deutlichen Probe ging
Meunier — wenn auch nicht noch größer für die
Künstler, denn das hatte er nicht mehr nötig — aber
geweiht für die Menge hervor, die sich stets an fertige
Berühmtheiten hält. In der Mitte des Saales erhob
sich die wundervolle Statue des »Sämanns«, deren
Bestimmung es sein sollte, jenes Denkmal zur Ver¬
herrlichung der Arbeit zu krönen, das der Künstler
erträumt und das allein der Tod seines Urhebers un¬
vollendet gelassen hat.
Alle Welt kennt heute die wundervollen Flach¬
reliefs, die für den Sockel dieses Werkes geschaffen
wurden. Allein wie am Denkmal Julius II. von
Michelangelo, das zu gewaltig war, um in einem
Menschenleben verwirklicht zu werden, so gab auch
schließlich hier nur der Plan seinem Urheber recht.
den Künstler keine Hoffnung mehr existieren konnte,
über seinen ersten Gedanken, der im übrigen schwer
definierbar war, hinauszugehen. Es handelte sich um
einen einfachen Pylon, um den herum sich die Fi¬
guren gruppierten und die der »Sämann« bekrönte.
Der belgische Staat faßte damals den Plan, das
gesamte plastische Material des erträumten Monu¬
mentes zu vereinigen, um daraus mit den übrigen
künstlerischen Schätzen, die er vom Meister besaß,
einen Meunier- Saal in dem Museum zu füllen, das
Brüssel auf dem Mont des arts einrichten wird.
Meunier hat nur zwei Monumente hinterlassen, eine
Bronze, die im Park von Löwen einem Missionar
errichtet war, der als Opfer seiner Hingebung bei
der Pflege von Leprakranken starb; diese Schöpfung
schönsten Stiles, die zu wenig bekannt ist, ruft die
CONSTANTIN MEUNIER. STUDIE
Die höchste Verherrlichung der Arbeit waren die
Werke Meuniers, die hier den weiten Saal des Künst¬
lerklubs füllten. Hier war alles ein Leben voll Ar¬
beit, voll Leiden, voll Vorurteil, das mit einem glän¬
zenden Triumphe endigte, und in der Mitte von dem
allen, bescheiden und einfach, und wie überrascht
sich hier zu sehen, stand der wahre, der eigentliche
Sämann, der Urheber dieser reichen Ernte. Armer
Mann, die Klinge hat die Scheide verbraucht. Man
hatte ihn, der durch die rauhe, mühevolle plastische
Arbeit entstellt, dessen Gesichtsfarbe fahl, dessen
Rücken gebeugt, dessen Auge matt war, den zweiten
Michelangelo genannt. Schon seit einigen Jahren
arbeitete er nur sitzend. Ein kleines Modell zu einem
Denkmal der Arbeit war während einiger Tage auf
dieser Ausstellung zu sehen. Es zeigte klar, daß für
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 8
Erinnerung an die Zeit wach, die man die mönchi¬
sche in der Laufbahn des Künstlers nennen könnte.
Als Meunier dieses Werk schuf, leuchtete über ihm
erst die Morgenröte seines Ruhmes. Die andere Figur,
die einen öffentlichen Platz schmückt, »die Tränke«,
ist eine der reifsten Schöpfungen aus der Zeit seiner
Blüte. Ein Arbeitspferd, das ein junger robuster
Mann reitet, der nackt bis zum Gürtel ist, neigt sich
zu einem fließenden Wasser herab, um zu trinken.
Diese schöne Brunnengruppe ziert einen Platz im
Nordwesten von Brüssel.
Unzweifelhaft hatte Meunier seine Gründe, um
als Professor an der Akademie in Löwen mit Traurig¬
keit an die Jahre des Exils zurückzudenken, die er in
dieser brabanter Stadt verbrachte. Dort war es, wo
er im Jahre 1894 in der vollen Reife des Talentes
29
214
CONSTANTIN MEUNIER f
als Maler und Zeichner seinen Sohn Karl verlor. Das
war für den armen Vater ein unersetzlicher Verlust.
Jedoch muß man sagen, er erfuhr in diesem Provinz¬
zentrum den wohltätigen Einfluß jener für das künst¬
lerische Schaffen so unentbehrlichen Ruhe.
ln dieser ruhigen Zurückgezogenheit, fern von
allem Lärm, wurden die schönsten seiner plastischen
Werke geschaffen, »der ruhende Puddler«, der »Ham¬
merschmied« und sogar das Grubengas<.
Löwen gab ihm übrigens Gelegenheit zu bedeu¬
tenden Arbeiten, denn er schmückte hier die Kirche
des hl. Joseph mit Fresken, dieselbe, in der am 22.
März 1894 die trauernden Freunde des Meisters der
Leiche seines Sohnes folgten.
Meunier hatte beinahe sein 75. Lebensjahr erreicht.
Allen, die ihn gekannt haben, scheint es, daß das
Schicksal ihn durch ein längeres Leben für die erste
Periode seines Daseins hätte entschädigen müssen.
Und bei mir mischt sich mit dem Gefühl so tiefer,
allgemeiner Trauer, die sein Verlust verursacht hat,
die Bitterkeit, ihn so wenig gesehen zu haben, um
von der Frucht seiner Arbeit zu genießen, die zu¬
gleich so vornehm und so uneigennützig war, wie
sie uns seine Werke zeigt.
CONSTANTIN MEUNIER FABRIKARBEITER
Über Conslantin Meunier und sein Werk ist vor Jaliresfrist im Verlage von
H. Floury in Paris ein außerordentlich schönes Buch von Camille Lemonnier
erschienen. Diesem sind die meisten Abbildungen unseres Aufsatzes entnommen.
GABRIEL METSU. SCHLAFENDER lÄGER
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
{Siehe auch Zeitschrift, N. F. XIH, tieft 12)
Einer der besten Kenner der holländischen
Malerschulen hat einmal treffend gesagt, daß
alle englischen Privatsammlungen zusammen¬
genommen an Perlen ersten Ranges von der Hand
niederländischer Meister nicht so viel enthalten,
wie die Wallace-Sammlung allein in sich faßt. Nur
die Londoner Nationalgalerie kann in dieser Beziehung
ihr als ebenbürtig an die Seite treten. Wenn man
nun bedenkt, daß jetzt die eine wie die andere Ge¬
mäldesammlung Eigentum der Nation sind, so wird
man sagen dürfen, daß für die Direktion kein Anlaß
mehr vorhanden ist, vom Parlament hohe Summen
sich bewilligen zu lassen zur Anschaffung von irgend¬
welchen Meisterwerken der Landschaftsmalerei eines
Hobbema, eines Jakob von Ruysdael, eines Wynants
oder eines Albert Cuyp. Von letzterem besitzt die
Wallace-Sammlung elf, die Nationalgalerie zehn Werke,
von Hobbema sind sieben Werke in der National¬
galerie, fünf in der Wallace-Sammlung. Wer diese
anspruchslosen sonnigen Waldszenerien gesehen hat,
wird den Eindruck nicht leicht vergessen können.
Die Wertschätzung Hobbemas bei den Engländern
hat vielleicht unter anderen auch einen zufälligen
Grund. Die Motive seiner Landschaften, die hohen,
weit auseinander stehenden Bäume mit dem Wiesen¬
grund darunter, welche in seinen Bildern immer
wiederkehren, sind auch charakteristisch für die Land¬
schaft Südenglands. Bei keinem anderen holländischen
Landschaftsmaler besteht diese intime Beziehung.
Die unübertroffene Kunst des Willem van de Velde
in der Darstellung der unbewegten See mit dem
meilenweit sich ausdehnenden Wasserspiegel, den
mit der Gewissenhaftigkeit eines Fachmannes präzis
gezeichneten großen und kleinen Schiffen, und der
warmen dunstigen Luft, — wir finden sie hier in einer
stattlichen Reihe von Bildern, welche zu seinen besten
gehören: acht in der Wallace-Sammlung, nicht weniger
als vierzehn in der Nationalgalerie. Unter den hol¬
ländischen Kleinmeistern ist in der Wallace-Sammlung
Terborch nicht so gut wie Metsu vertreten. Unter
den fünf Werken des letzteren ist es schwer zu ent¬
scheiden, welches das vollendetste sei. Das be¬
rühmteste davon ist wohl der schlafende Jäger
aus der Sammlung des Kardinals Fesch, auf der es
der Marquis von Hertford für 13850 Scudi (etwa
55400 Mark) erwarb, und als Tags darauf König
Ludwig 1. von Bayern, dem dieses Bild auf der
Auktion entgangen war, einen Kammerherrn zu dem
noblen Lord mit der Anfrage schickte, ob und zu
welchem Preis er noch das Bild für seine Münchner
29*
2i6
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
Galerie erwerben könne, lautete die unhöfliche Ant¬
wort, der Lord sei noch nicht so arm, daß er an
den Wiederverkauf seiner Bilder dächte ‘).
Die außerordentlich feine Stimmung der Farbe
mit den zart abgestuften roten Tönen in der Ge¬
wandung ist verbunden mit einer meisterhaften Be¬
stimmtheit der Zeichnung und einer gleich hoch¬
stehenden Charakterisierung des Psychologischen.
Metsu geht hier nicht an die Grenze seines Kunst¬
vermögens, wie in der dramatischen Komposition der
beim Schreiben eines verfänglichen Briefes von ihrem
Gemahl überraschten Dame, ein Bild, welches in
seinen rein malerischen Qualitäten jenem kaum nach¬
steht. Wir übergehen die zahlreiclien, in ihrer Art
nicht minder vollendeten, aber dem Geschmack des
Tages weniger zusagenden Bilder eines Mieris, eines
Dujardin und eines Berchem. Nicht wenig seltene,
und doch sehr tüchtige Maler zweiten Ranges, wie
Bonrße mit seinem Bilde einer kochenden Frau,
findet man inmitten jener berühmten Meister. Da die
Aufstellung der Werke holländischer Maler keine
systematische ist — man hat sie verteilt unter die
Spanier, Franzosen und Italiener, und nur in zwei
Räumen sind sie, von diesen getrennt, nur mit ihren
Brüdern, den Flämen gemischt — , so bemerkt man
auch kaum, daß eine Richtung der holländischen
Malerei hier wenig oder gar nicht vertreten ist, was
nicht ohne Absicht geschehen sein kann. Von
Brouwer ist hier ein einziges, ein unbedeutendes Bild
zu finden, Dusard fehlt ganz, und von Adrian von
i) Ich würde die Geschichte kaum für glaubhaft halten,
wenn Sir R. Wallace sie mir nicht selbst erzählt hätte.
Ostade begegnet man nur zwei, nicht gerade hervor¬
ragenden Werken: es fehlen also gerade die Haupt¬
vertreter der plumpen und wüsten Bauernfreuden.
Nur mit Teniers ist eine Ausnahme gemacht, aber
auch nur scheinbar: unter den neun Bildern von
seiner Hand ist die größere Hälfte nach berühmten
Mustern italienischer Meister, nur zwei Bilder schildern
Bauernleben in seiner bekannten, mehr zahmen, aber
immer geistreichen Manier, welche sich mit dem fran¬
zösischen Geschmacke am nächsten berührt. Mit be¬
sonderer Sorgfalt scheinen die Bilder von Wouwerman
ausgewählt zu sein, neben Terborch wohl der einzige
holländische Figurenmaler, der einem rigorosen
aristokratischen Geschmack völlig Genüge leistet. Die
sieben Bilder von seiner Hand sind — sellener¬
weise unter sich so verschieden, daß sie ein voll¬
ständigeres Bild von seiner Vielseitigkeit geben, als
die Wouwermans in anderen berühmten Sammlungen,
welche, wie z. B. Dresden, eine größere Anzahl von
seinen Werken enthalten.
Nur ein einziger Frans Hals! aber ein Bild von
solcher Bedeutung, daß es jedem anderen Kunstwerke
irgend einer Zeit oder Schule an die Seite gestellt
werden kann, und keinen auch noch so einseitigen
Geschmack unbefriedigt lassen wird. Es ist das die
lebensgroße Halbfigur eines holländischen Offiziers
in schmucker Tracht, ein jugendlicher Geck, voll
Witz, aber harmlos, eine kerngesunde Natur mit
einem Blick, der mehr sagt als die lächelnd zucken¬
den, dabei festgcschlossenen Lippen. Irre ich nicht,
so ist es dieses Bild gewesen, welches Frans Hals
im vorigen Jahrhundert berühmt gemacht hat. Auf
ein einziges Gebot hin war dem Marquis das Bild
P. P. RUBENS. REOENBOGENLANDSCHAFT
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
217
auf einer Pariser Auktion im Jahre 1865 zugeschlagen
worden, auf das Gebot von 51000 Franken, und es
war kein Geheimnis, daß der frühere Besitzer es von
dem Kenner Nieuwenhuis für nur zweitausend Franken
erworben hatte!
Es ist unmöglich, auf gedrängtem Raum die Be¬
deutung der Rembrandt-Bilder auch nur anzudeuten.
Es sind deren elf. Etwa ebensoviele hatte also der
Marquis zusammengebracht, als zu seinen Lebzeiten
ganz Holland in öffentlichen und Privatsammlungen
besaß. Einen geradezu monumentalen Charakter
besitzt die große Komposition
des vor seinen Herrn vorge¬
führten Schalksknechtes ^), ein
Werk von ebenso packender
malerischer Wirkung, wie von
tiefem psychologischen Gehalt.
Die daneben hängenden reli¬
giösen Bilder eines Rubens, so
berühmt sie auch sein mögen,
erscheinen dagegen als ebenso
seichte wie geschmacklose Bra¬
vourstücke. Doch wird niemand
die große Regenbogenlandschaft
von Rubens näher betrachtet
haben, ohne von dem giganti¬
schen Wesen dieser genialen
Schöpfung einen Hauch verspürt
zu haben.
Wenn man es die Aufgabe
der Direktionen von Gemälde¬
sammlungen nennen will, aus
allen Schulen repräsentative
Werke zu sammeln, wie das ja
bei den meisten größeren staat¬
lichen Sammlungen der Fall
ist, so ist nicht zu leugnen,
daß der französischen Maler¬
schule die Existenzberechtigung
in den maßgebenden englischen
Kreisen bisher geradezu versagt
war. Als französische Schule
hat man da bisher nur Claude
le Lorrain und die Poussin
geachtet gehabt, also italiani-
sierte Franzosen. Ein paar
vereinzelte unbedeutende Bild¬
chen von Boucher und Lau¬
eret, von Greuze und Chardin haben zwar in den
weiten Räumen am Trafalgar Square Aufnahme ge¬
funden, sie hatten sich dahin als Geschenke oder
Vermächtnisse verloren, aber man lese nur in dem
offiziellen Katalog auch der neuesten Auflage die in
der Form einer Biographie oder Charakteristik den¬
selben angehängte, von moralischer Indignation über¬
fließende Warnungstafel! Selbst von Watteau, der
übrigens da gar nicht einmal vertreten ist, heißt es
dort, er sei der Maler frivoler Sujets. Mit dem Ge-
1) Vergleiche die Abbildung in dem ersten Teil; ebenda
auch das Porträt von Rembrandts Sohn Titus.
schenk der Wallace-Sammlung ist mit einem Mal die
englische Nation in den Besitz von so zahlreichen
Meisterwerken der französischen Schule der zwei
letzten Jahrhunderte gelangt, wie sie nicht einmal
das Louvre- und das Luxembourgmuseum aufzuweisen
haben, — natürlich mit Ausschluß der letzten fünfzig
Jahre, deren Hauptrepräsentanten in der Wallace-
Sammlung fehlen. Die englische Nationalgalerie hat
auf diese Weise eine Ergänzung ihrer empfindlichsten
Lücke erhalten, wie sie auch fanatische Parteigänger
des französischen Geschmackes in England, mit den
Rothschilds als Bannerträger,
besser sich nicht hätten wün¬
schen können.
Man kann zwar auch der
Wallace-Sammlung französischer
Gemälde den Vorwurf der Ein¬
seitigkeit machen, aber es ist
die Einseitigkeit des guten Ge¬
schmackes; Wer für Watteau
und seinen Anhang, für Boucher
und Greuze Partei nimmt, der
wird für die strengen Prediger
der politischen Tugenden, wie
sie die Revolution gezeitigt hat.
einen Jacques Louis David, einen
Guerin oder Girodet, nichts übrig
haben. Auch Ingres fehlt; über¬
haupt der Klassizismus. Schon
in der Zusammenstellung der
französischen Schule des 1 7.
Jahrhunderts ist eine ähnliche
Tendenz maßgebend gewesen.
Claude ist nur mit zwei, die bei¬
den Poussin sind nur mit je
einem Bilde hier vertreten. Aber
die großen Porträtmaler der Zeit
LudwigsXlV., PhilippedeCham-
paigne, Largilliere, auch Rigaud,
findet man hier in ihren besten
Leistungen. Wie hoch stehen
diese über den gleichzeitigen
Porträtisten Englands, Kneller
und Lely — jener bekanntlich
aus Lübeck und dieser aus Soest
— welche ein halbes Jahrhun¬
dert hindurch mit ihrer schwäch¬
lichen Manier die englische
Kunst monopolisiert haben, und jetzt noch in allen
englischen Sammlungen anzutreffen sind, nur hier
nicht.
Die hier zahlreicher als selbst in französischen
Galerien vertretenen Werke Bouchers, zweiundzwanzig
meist große Bilder, schildern, wie gewöhnlich, das
mythologische Götterleben oder Schäferidyllen. Die
Oberflächlichkeit seiner Kunst ist ja mit Händen zu
greifen, aber niemand kann die Wirkung dieser zahl¬
reichen Bilder hier störend nennen. Man vergesse
nur nicht, daß Boucher der Direktor der Gobelin¬
fabrik war. Hier in der Zusammenstellung mit großen
Prachtstücken von altem Sevres- Porzellan, mit eie-
THOMAS GAINSBOROUOH
MRS. ROBINSON (PERDITA)
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
ganten Möbeln aus polierten hellen Hölzern mit zier¬
lichen vergoldeten Bronzebeschlägen, inmitten der
Sofas und Armstühle mit blassen Brokatpolstern,
möchte man sie schwerlich missen. Wir haben zwei
seiner Bilder eingangs beschrieben, und das wird ge¬
nügen. Natürlich neben Watteau sinken Bouchers
Bilder fast zur Bedeutungslosigkeit herab. Und Watteau,
seine kleinen bescheidenen Bilder nicht ausgenom¬
men, stellt alles in den Schatten, zumal inmitten seiner
Zeitgenossen und Rivalen. Hier findet man Watteaus
in allen Größen. Die beiden umfangreichsten
darunter sind gerade Hauptwerke, ein Beweis, daß
die Ausführung großer Kompositionen diesen Maler
der Intimität nicht in Verlegenheit gesetzt hat. Wer
mit der venezianischen Malerei des Cinquecento ver¬
traut ist, wird fast in allen seinen Bildern den Ein¬
fluß des Paolo Veronese entdecken können, im Ton
der Farben, in den landschaftlichen Hintergründen,
selbst in Typen, besonders der hellblonden Damen,
aber bei alledem ist und bleibt er ein durchaus
originales Genie. Er ist der Begründer der modernen
französischen Malerei. Keiner vor ihm ist ein echter
Interpret französischen Wesens gewesen. Es wird
gewöhnlich behauptet, sein Hauptverdienst bestehe
darin, daß er die »fetes galantes« erfunden habe.
Aber damit ist wenig gesagt. Giorgiones Bild im
Louvre und viele Kompositionen des Bonifazio
Veronese bieten im wesentlichen schon dasselbe.
Das Neue bei Watteau ist das ultra-verfeinerte Wesen,
die vornehme Eleganz in Gebärde und Kleidung,
dabei immer jene Mäßigung und Reserve, welche
das Kennzeichen der vornehmen Welt ist. Damen
und Herren sitzen unter hohen Bäumen in Gruppen
zu drei oder vier — es sind keine Tete-ä-tetes —
und besprechen wahrscheinlich nicht tiefe Probleme,
sondern sehr oberflächliche Dinge, aber mit Witz und
Geist. Warum das galante Feste heißen soll, kann
ich nicht sehen. Doch nicht deshalb, weil hier und
da einer seine Guitarre stimmt, oder auf einer Flöte
bläst? Wohl jede vornehme Weltdame unserer Zeit
würde sich ja gern in solch eine Rolle versetzt
sehen, wie sie Watteau geschildert hat. Vornehme
Frauen sind die Sonne an seinem Firmament, um die
sich alles gruppiert Kein Wunder, daß man ein
ähnliches Gebahren in den Gruppen kleiner Mädchen
entdeckt, welche auch schon damenhaft gekleidet ihre
harmlose Tändelei für sich haben.
Warum aber, so frage ich erstaunt, hat man das
Werk dieses hohen, edlen und wahrhaft poetischen
Malers, jenes größten französischen Künstlers, in
eine solche erbärmliche, gemeine und oft schmutzige
Gesellschaft gebracht, wie das in der Wallace-
Sammlung der Fall ist Wo ein Watteau glänzt,
hängt auch gleich ein Pater daneben! ln den Büchern
über Kunst findet man zwar Pater immer mit Watteau
verglichen, aber die Ähnlichkeit geht nicht viel weiter,
als die zwischen Affe und Mensch. Pater, so heißt
es, war Watteaus Schüler, aber wegen Watteaus
reizbarem und ungeduldigem Wesen konnte es Pater
bei ihm nicht lange aushalten. So belehrt uns auch
der mit großem Fleiß und viel Gelehrsamkeit be-
2ig
arbeitete neue Katalog der Wallace-Sammlung. Ich
wage hier zur Ehre Watteaus die Vermutung aus¬
zusprechen, daß für den armen Watteau die Travestien
seiner eigenen Muse, wie sie dieser sein um zehn
Jahre jüngerer Landsmann gleichsam aus den Ärmeln
schüttelte, eine Zumutung waren, die ihm auf die
Nerven fiel; ein Kunsthistoriker aber sollte ihm
das zu allerletzt übelnehmen.
Man hätte wohl besser getan, wenn man die
vierzehn Bilder von Pater, mit solchen von Grenze —
es sind deren nicht weniger als einundzwanzig da
dazu mehrere geistesverwandte Fragonards, in einem
besonderen Saal vereinigt hätte, ln Hertfort House
war zu den Zeiten des Sir Richard Wallace ein ähn¬
liches Arrangement, und man täte gut, darauf wieder
zurückzukommen.
Die Bilder französischer Maler aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts haben eine große kunst¬
geschichtliche Bedeutung, auch für Deutschland, be¬
sonders die Hauptmeister jener Zeit, wie Delaroche,
Delacroix, Decamps und andere. Piloty und viele
seiner Zeitgenossen haben sich an solchen Vorbildern
selbst gebildet. Hier sind die Originale solcher einst
weltberühmter Bilder, wie Kardinal Mazarin auf dem
Sterbebette, das Staatsschiff des Kardinals Richelieu
auf dem Rhonefluß, Paolo und Francesca von Ary
Scheffer, Kompositionen, welche als Kunstdruckblätter
noch heute in vielen Häusern den Zimmerschmuck
bilden. So auch die Bilder des Brigantenmalers
Robert, dessen Modelle noch heute auf der spanischen
Treppe in Rom den Fremden ihre Soldi abnehmen.
Der Glanzpunkt der französischen Sammlung des
ig. Jahrhunderts ist die Gruppe der Bilder von
Meissonier. Ihre Zahl ist überraschend groß. Wohl
nirgends findet man so viele Werke von ihm, wie
hier. Auch sein Lehrer Cogniet, der auch Bonnats
Lehrer war, ist in ein paar interessanten klassizistischen
Werken vertreten. Cogniet ist 1794 geboren, Meissonier
1815, und 1891 gestorben. In ihm, der seinen Stil
eigentlich nie verändert hat, ist die französische
Kunst bis auf unsere Tage herabgeführt, und das
gilt im vollen Sinne des Wortes; Meissonier wird
immer modern sein. Nicht Horace Vernet, sondern
Meissonier hat die adäquate künstlerische Auffassung
der Person Napoleons I. für alle Zeiten festgesetzt.
Napoleon und sein Generalstab ist ein Bild von nur
kleinem Format, gemalt wie ein Gerard Dou oder
ein Mieris, aber mit dem Esprit des Franzosen; —
der Heros der Geschichte, nicht der brütende Mi¬
santhrop, als den ihn moderne englische Maler, wie
Orchardson, in ihren viel reproduzierten Bildern
populär machen möchten.
Von den französischen Landschaftsmalern der
Schule von Barbizon ist vor allen Rousseau zu nennen
mit einer duftigen Landschaft, den Wald von Fon¬
tainebleau mit weidenden Kühen darstellend. Die
Hauptvertreter dieser Schule sind in glänzenden Werken
vollständig vertreten; nur Millet fehlt.
Rousseau ist zweifellos von Constable beeinflußt
gewesen. Um so befremdlicher ist es, daß dieser
große englische Landschaftsmaler in der Wallace-
JEAN HONORE FRAOONARD
DIE INSCHRIFT
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
221
Sammlung ganz fehlt. Aber auch andere bekannteste
englische Landschaftsmaler, Wilson, die ganze Schule
von Norwich und Sir George Beaumont fehlen. Da¬
gegen ist Turner glänzend vertreten in verschiedenen
Aquarellmalereien, welche weit besser als seine Öl¬
bilder die Vorzüge seiner Technik zur Geltung
bringen, insbesondere seine magische Darstellung
dunstiger Atmosphäre, in der er unübertroffen ist.
Was der Wallace-Sammlung ihre große Popularität
in England sichert, und mit Recht, ist die vortreff¬
liche Auswahl von Werken der großen englischen
Porträtmaler vom Ende des i8. Jahrhunderts; denn
die Auswahl ist derart, wie sie besser kaum hätte
getroffen werden können: Nur die größten Meister!
Nur Bilder in bester Erhaltung. Lauter Porträts
aristokratischer Damen in
der Blüte der Jahre. Rey¬
nolds und Gainsborough
ringen auch hier um die
Palme. Es dürfte schwer
fallen, Einmütigkeit zu er¬
langen, wollte man zu
entscheiden versuchen, wel¬
ches unter diesen Porträts
alle anderen überrage. Von
Gainsborough haben wir
übrigens hier nur zwei
Bilder, darunter das un¬
vergleichliche überlebens¬
große Porträt der Mrs.
Robinson, ein Bild, bei
dem geistreiche technische
Ausführung und glück¬
liches Arrangement der
Komposition und ge¬
winnende, fast bestrickende
Erscheinung sich verbin¬
den mit geschichtlichem
Interesse an der Persön¬
lichkeit. Mrs. Robinson
»Perdita« — lautet die
Inschrift unter der Lein¬
wand. In dieser Rolle
aus Shakespeares Winter¬
märchen soll sie auf
den Prinzen von Wales, den späteren König
Georg IV., einen tiefen Eindruck gemacht haben,
um nicht lang nachher wieder seine Gunst zu ver¬
lieren. Träumerisch vor sich hinblickend, hält die
Dame ein Medaillon in der Rechten, wohl ein Porträt
des Prinzen Florizel. Auch Reynolds, und auch
Romney haben sie gemalt, zwei Brustbilder, welche
hier ebenfalls sich befinden in unmittelbarer Nähe.
Das Romneysche Bild ist unter diesen wohl das
charaktervollste. — Das überlebensgroße Porträt der
Mrs. Carnac von Reynolds ist unbestritten eines seiner
Hauptwerke, durchaus harmonisch im Ton, und von
feinster Stimmung der Farben. Viel einfacher in den
künstlerischen Mitteln, aber in der Auffassung jenem
überlegen, ist das Brustbild der Mrs. Braddyll. Es
zeugt von der außerordentlichen Beweglichkeit des
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVl. H. 8
Meisters, daß beide unter sich so verschiedene Bilder
demselben Jahre 1777 angehören. Nicht mindere Be¬
wunderung verdienen Kinderporträts von Reynolds,
hier vor allen Miß Bowles. Die Kleine, am Boden
sitzend, schaut mit ihrem frischen runden Gesicht
und dem lebhaften, naiven Blick gerade aus dem
Bilde heraus, dabei einen großen Hund um den
Hals fassend. »Love me, love my dog« steht als
Motto darunter.
Die beiden Namen Velazquez und Murillo re¬
präsentieren in einer stattlichen Reihe von Werken
die reichlich ein Jahrhundert ältere Schule Spaniens
auf der Höhe ihres Ruhmes. Es ist interessant, bei
dem Nebeneinander von Porträts so verschiedener
Schulen zu beobachten, daß das geistige Niveau bei
den eben genannten eng¬
lischen Malern ungefähr
dasselbe ist, wie bei dem
großen spanischen Por¬
trätmaler, wogegen die
äußerliche Eleganz eines
van Dyck auch in seinen
besten Bildern einer durch¬
schlagenden Wirkung nicht
fähig ist. Die Bilder der
genannten beiden Spanier
haben in den Werken
Justis eine so eingehende
Würdigung erfahren, daß
jeder, der daran ein In¬
teresse nimmt, bei ihm
sich Belehrung holen
wird. Niemand ist so
wie Justi in den Geist
des einen wie des an¬
deren Malers eingegangen,
niemandem ist es so
wie ihm gelungen, die
Kulturverhältnisse der Zeit
zu schildern, welche die
spanische Malerei zur
Voraussetzung haben. Es
erübrigt uns noch, einige
Bemerkungen anzuschlie¬
ßen über die wenigen
Bilder der italienischen Malerschulen. Sie sind
das Stiefkind der Sammlung. Mehr als ein Ankauf
ist ein Fehlgriff gewesen. Zunächst Tizian. Die
neue Direktion hat recht daran getan, die kleine
Skizze des Raubes der Europa — das Original ist
jetzt in Boston — als Kopie zu stigmatisieren. Der
Schaden sollte durch eine glänzende Neuentdeckung
gut gemacht werden, aber wir kommen dabei nur
aus dem Regen in die Traufe. Der Marquis of Hert-
ford hatte einmal ein großes Bild, Perseus und
Andromeda schildernd, gekauft, das von Waagen dem
Paolo Veronese zugeschrieben wurde. Aber in Hert-
ford House hatte es Sir Richard Wallace nicht auf¬
gehängt. Man weiß nicht warum. Ich vermute,
daß weder Zeichnung, noch Kolorit ihn ahnen ließen,
daß der Pinsel eines großen Venezianers damit
J. REYNOLDS. MRS. BRADDYLL
30
222
DAS WALLACE-MUSEUM IN LONDON
etwas zu tun gehabt habe^). Jetzt hat diese große
Leinwand einen Ehrenplatz in der Galerie gefunden,
und der Katalog belehrt uns darüber, daß wir hier
ein Original von Tizian vor uns haben. Im Vorder¬
grund hängt die unglückliche überlebensgroße Andro¬
meda an Ketten, tänzelnd, mit einem fast schenkeldick
geschwollenen Oberarm. Die Meeresfluten mit dem
Ungetüm sind ein theatralisches Gewirr von Spritz¬
wellen von monoton grauer Farbe. Darüber schwebt
Perseus. Dies für ein Originalwerk Tizians zu er¬
klären, scheint mir eine Häresie zu sein. Aber ein
Verdienst wollen wir dem Entdecker nicht bestreiten,
nämlich erkannt zu haben, daß das Bild mehr an
Tizian, als an Paolo Veronese erinnert.
Kennern und Spezialisten empfehlen wir zum
Studium die mehr pikanten Entdeckungen von Meistern
zweiten Ranges der oberitalienischen Schulen unter
den Bildern, welche Sir Richard Wallace als hübsche
dekorative Stücke namenlos gelassen hatte. Kenner
wie Morelli-Lermolief hatten ihn darin noch bestärkt.
Von dem seltenen Mailänder Bramantino sollen sich
nach dem neuen Katalog hier zwei Werke befinden:
eines, »der junge Gian Galeazzo Sforza im Cicero
lesend«, ist eigentlich eine Doppelentdeckung; denn
ein authentisches Porträt des genannten Mailänder
Prinzen als fünfjähriger Knabe war, soviel ich weiß,
bisher nicht bekannt. Die beiden neuentdeckten
Bramantini hängen dicht nebeneinander. Doch wer,
wie ich, nicht einmal im stände ist, einzusehen, daß
dieselbe Hand die beiden Bilder gemalt habe, der
i) Nachdem Obiges niedergeschrieben war, habe ich
in der Eremitagegalerie in Petersburg das schöne Tizianische
Bild mit dem gleichen Gegenstände gesehen. Ebendort
mag auch Sir R. Wallace sich überzeugt haben, daß sein
Ankauf ein Fehlgriff gewesen war.
tut besser, hier zu schweigen. Andere problematische
Neubenennungen werden Kennern sicher nicht beim
Besuch der Sammlung entgehen. Die Mailänder
Schule ist zweifellos glänzend vertreten in zwei echten
und vortrefflich erhaltenen Tafelbildern von Luini,
beide die Jungfrau mit dem Kinde darstellend, eines
aus seiner leonardesken Zeit, ein Hauptwerk, von dem
es viele Schulwiederholungen gibt, und ein in der
Komposition mehr einfaches Jugendwerk von un¬
gewöhnlich hellem Farbton.
So häufig in England Bilder Luinis anzutreffen
sind — häufiger als in Mailand — , so selten sind
da die Werke des Andrea del Santo, von dem hier
ebenfalls ein Original in sehr guter Erhaltung vor¬
handen ist; wieder ein Madonnenbild mit dem Christ¬
kind, dem Johannesknaben und zwei Engeln.
Dekorative Ansichten von Venedig von der Hand
des Bernardo Belotto oder Canaletto es sind deren
nicht weniger als achtzehn füllen einen ganzen
Saal der Sammlung in Zusammenstellung mit neun
ähnlichen Ansichten von Guardi. Wem noch Zweifel
darüber bestehen, welcher von beiden der größere
Künstler gewesen sei, dem werden sie hier wohl
schwinden. Beleuchtungseffekte, unmittelbare Be¬
obachtung und Fixierung des Momentanen in den
zahlreichen Figuren, und der Reiz poetischer Auf¬
fassung des Geschauten fehlen bei Guardi niemals.
Obwohl das italienische Quattrocento nicht in der
Geschmacksrichtung des sammelnden Lords gelegen
war, so hat doch ein repräsentatives Hauptwerk des
Cima da Conegliano hier Aufnahme gefunden.
Zwischen einem Murillo und einem Velazquez
hängend, ist diese heilige Katharina von Alexandrien,
mit ihrem überzeugten Ernst den Blick gen Himmel
richtend, ein gar fremdartiger Gast aus einer anderen
Welt. J. PAUL RICHTER.
ANTOINE WATTEAU. MUSIKALISCHE UNTERHALTUNG
Abb. 1. Studie von W. Hottenroth
WOLDEMAR HOTTENROTH
WOLDEMAR HOTTENROTH ist am 20. August
1802 als drittes von sieben Geschwistern in
Blasewitz bei Dresden geboren. Sein Vater
Franz Aloys, welcher aus einer ziemlich begüterten
Familie stammte, denn seit langer Zeit war sie im
Besitz ansehnlicher Pulvermühlen in Zwenkau und
Bautzen, bekleidete als Jurist die Stelle eines Aktuarius
im Kloster Marienstern in Sachsen, bis er diese
aufgab und das Stadtgut in Blasewitz erwarb, um
sich ganz der Landwirtschaft zu widmen. Vater
Hottenroth hatte einen sanften, liebenswürdigen Cha¬
rakter und eine alles hintansetzende Liebe zur Natur,
die ihn hinaustrieb in Wald und Flur, um dort zu
zeichnen und in Wasserfarben zu malen. Diese Eigen¬
schaften haben sich auf den Sohn vererbt. Seine
Mutter josepha geborene Bussetti war mit ihren
Eltern aus Ralo bei Trient nach Dresden über¬
siedelt, woselbst ihr Vater Antonio italienischer »Kauf¬
und Handelsherr« war. Er besaß im »italienischen
Dörfchen« ein kleines Haus mit einem Gärtchen und
hier war Woldemar, der Liebling der viel italienisch
sprechenden Großmutter, oft zu Besuch. Von der
Mutter, welche sehr musikalisch war, Klavier und
Harfe besonders gut spielte, hatte Woldemar seine
musikalische Begabung und seine Liebe zur Musik.
Aber auch ein Tröpflein heißen italienischen Blutes,
welches — allerdings äußerst selten und nur bei
ganz besonderen Ereignissen — anfing zu kochen.
Franz Aloys scheint indessen mit der Landwirt¬
schaft kein rechtes Glück gehabt zu haben, denn er
verkaufte bald sein Anwesen für einen billigen Preis
und siedelte mit dem zusammengeschmolzenen kleinen
Vermögen nach Dresden ins italienische Dörfchen über.
Er erhielt eine niedere Hofbeamtenstelle, welche ihm
einige hundert Taler jährlich einbrachte. Die Kriegsnot,
welche über Sachsen durch Napoleon 1. hereingebrochen
war, verschlang nach und nach das Vorhandene, so
daß nach dem Tode der Großmutter Bussetti die
Familie Hottenroth in eine äußerst bedrängte Lage
kam und in eine vierte Etage einer engen Straße
Alt-Dresdens übersiedeln mußte. Von hier aus be¬
suchte Woldemar die am »Zwinger« gelegene katho¬
lische Schule und hier entwickelte sich die Freund¬
schaft mit seinem Schulkameraden Ludwig Richter.
Der Tummelplatz der Schuljugend war der Zwinger¬
wall und manche »Schlacht« mag hier unblutig ge¬
schlagen worden sein zwischen den »flachsköpfigen
Kameraden und den schwarzlockigen Halbitalienern,
die als »Juden« oder »verhungerte Franzosen« ange¬
sprochen wurden. Im Sommer ging’s hinaus in die
Dresdener Heide und während der Vater die kleinen
Kaskaden der kristallhellen Priesnitz zeichnete, fing
Woldemar mit seinen Brüdern und Gespielen Schmetter¬
linge. Sorgfältig aufgespannt, wurden dieselben dann
zu Hause in Wasserfarben gemalt. Es ist bewunderns¬
wert, mit welcher Genauigkeit der Beobachtung und
mit welchem Geschick diese ersten Zeichen- und Mal¬
versuche ausgeführt sind. Die Sammlung gemalter
Schmetterlinge ist bis an 200 Stück angewachsen.
Sie befindet sich in Privatbesitz.
Die Herrschaft Napoleons in Dresden mit ihrer
Pracht und ihren Greueltaten hat einen tiefen Ein¬
druck auf das Gemüt des elfjährigen Woldemar ge¬
macht, denn die Schilderungen derselben, die Schlacht
bei Dresden, die Sprengung der Elbbrücke, die Hungers¬
not, der Einzug der Russen nach der Schlacht bei
Leipzig usw. füllen einen breiten Raum seiner späte¬
ren Niederschriften aus.
So war denn die Zeit gekommen, wo die Kinder
ans Geldverdienen denken mußten. Woldemar sollte
30
224
WOLDEMAR HOTTENROTH
zu einem Sattler in die Lehre kommen, während sein
jüngerer Bruder Edmund als Lehrling in ein Seiden¬
warengeschäft eintrat. Die unbezwingliche Liebe zur
Kunst aber, welche nach und nach Woldemars ganzes
Sein und Denken erfüllt hatte, trug den Sieg davon
und er bezog 1817 die Malerakademie in Dresden.
Edmund gab auch bald seine Kaufmannslaufbahn auf
und folgte seinem künstlerischen Triebe, welcher ihn
später zu einem geschätzten Landschaftsmaler machte.
Bald war Woldemars Können soweit vorgeschritten,
daß er sich durch Zeichenstunden etwas verdienen
konnte, bald auch sehnte er sich nach einem »Winkel,
in dem er seine Lieblingslektüre: Homer, Tasso und
Ariost und die über alles geliebte Guitarre ungestört
zur Hand nehmen konnte«. Mit einem des Humors
nicht entbehrenden Akte
verließ er das Elternhaus
und mietete sich bei der
Mutter eines Studiengenos¬
sen ein. »Sehr geheimnisvoll
ging ich mit meinem Plane
um. Eines Abends, als
niemand zu Hause war, ließ
ich mein Bett und meine
wenigen Habseligkeiten in
mein ermietetes Stübchen
schaffen. Die erstaunten
Eltern fanden bei ihrer
Rückkehr nach Hause, dort
wo mein Bette gestanden,
einen Zettel am Eioden
liegen, worauf geschrieben
stand: ,äußere Rampische
Gasse Nr. 2g, dritter Stock“
- meine Adresse.« — Die
Studienjahre auf der Aka¬
demie fanden 1828 ihren
Abschluß, als Hottenroth
ein Reisestipendium nach
Paris für ein Bild erhal¬
ten, zu welchem ihn eine
Strophe aus dem »befrei¬
ten Jerusalem« begeistert
hatte. »Erminia bei dem
korbflechtenden Hirten« ist
aus der Schule Matthäis entstanden; dieser Einfluß
ist unverkennbar.
Und nun ging’s hinaus in die Welt! Mit Ränzel
und Wanderstab und einem fröhlichen Liede und dem
Segen der Eltern. Größtenteils zu Fuß, nur bei billi¬
gen Gelegenheiten die Diligence benutzend, führte
der Weg unseren Wanderer über Hof, Bayreuth, Bam¬
berg, Nürnberg nach Augsburg. Mit offenem Auge
hat Woldemar das Land mit seinen Naturschönheiten
und die Städte mit ihren Kunstschätzen durchstreift.
Manch schöne Zeichnung ist zum Vater nach Dresden
geschickt worden, um dem Generaldirektor der Aka¬
demie vorgelegt zu werden, welcher über das Tun
und Treiben des Stipendiaten genauen Bericht ver¬
langte. Diese Zeichnungen wurden dann meist vom
Kunsthändler Arnold angekauft. Von Augsburg ging’s
nach München und dann mit einem Dresdener Freund,
dem Blumenmaler Starke, hinein »ins Tirol«: über
Mittenwald nach Innsbruck und über Achensee zurück
nach München. Nach einigen Tagen Aufenthalt da¬
selbst, bei welcher Gelegenheit Cornelius sich außer¬
ordentlich lobend über die schönen Zeichnungen in
Woldemars Skizzenbüchern aussprach, wurde die Wan¬
derung fortgesetzt über Ulm, Stuttgart, Heilbronn und
Heidelberg. Hier machte Woldemar die Bekanntschaft
eines wohlhabenden Herrn, welcher versprach, den
jungen Maler unentgeltlich mit nach Köln zu nehmen,
wenn er dort das Porträt seiner Frau malen wolle.
Ohne Zögern wurde eingewilligt und der Umweg
über Frankfurt — Mainz angetreten, um von da mit
dem ersten Rheindampfer »Concordia« nach Köln
weiter zu reisen. Welchen
Eindruck Tirol und der
Rhein auf den jungen
Künstler gemacht hat, mö¬
gen seine eigenen Worte
schildern. Er schreibt seinem
Bruder: »O Edmund, Ed¬
mund! spare ja recht zu
einer Reise und weiter gib
Stunden und spiele den
Geizhals, nur suche Geld
zu bekommen, denn es ist
zu herrlich in Tirol, Schwa¬
ben und am Rheine! Ed¬
mund, denke ja allen Ern¬
stes an eine Reise übers
Jahr, denn es ist göttlich\o.
— Über Aachen, Lüttich
und Brüssel ging die Reise
nach Paris, das Wolde¬
mar Anfang November 1828
erreichte.
Der Aufenthalt in Paris,
woselbst unser Künstler
in eine Malerakademie ein¬
trat, ist von außerordent¬
lichen Einfluß auf ihn ge¬
wesen. Eine Anlehnung an
die Werke Ary Scheffers,
welche nicht der religiösen
Sphäre angehören, ist in dem später gemalten Bilde
»ein Gewitter (Abb. 5) unverkennbar, aber auch
Horace Vernet scheint Woldemar beeinflußt zu haben.
Das in Paris entstandene große Gemälde »Macbeth
und die Hexen , welches von dem bekannten Phil¬
hellenen Eynard in Genf angekauft und dem Museum
in Lausanne einverleibt wurde, ist ganz im Charakter
des französischen Meisters erfaßt und behandelt. Die
kühne Reitergestalt des Macbeth, der sich sträubende
Schimmel, dahinter die lebhaft bewegte Figur Banquos
und die aus glühendem Erz gebildet scheinenden
Hexen sind vorzüglich in der Bewegung und Zeich¬
nung und von einer Farbengebung, welche gegen
die Mal weise der »Erminia« vorteilhaft absticht. Für
die Dresdener Akademische Ausstellung malte Wolde¬
mar ein Bild: Leukothea, dem ertrinkenden Odysseus
ABB. 3. W. HOTTENROTH. BILDNIS SEINER GATTIN ABB. 4. W. HOTTENROTH. ALBANESERINNEN, GOLDFISCHE FÜTTERND
226
WOLDEMAR HOTTENROTH
den Schleier reichend«. Dieses Bild trug ihm einen
Zuschuß zu dem bestehenden Stipendium ein, so daß
der Aufenthalt in Paris auf ein Jahr verlängert wer¬
den konnte. Auch fand Woldemar Gelegenheit, durch
Porträtmalen und Kopieren besonders beliebter Bilder
des Louvre- und Luxembourg-Museums seine pekuniäre
Lage zu einer erträglichen zu gestalten. Es entstanden
noch die Bilder: >Simeon mit dem Christuskinde'
und Erminia legt die Waffen Clorindens an«.
Der Drang aber, die Welt zu sehen, trieb Wol¬
demar zu einer kurzen Reise über Rouen nach Havre
und Anfang September 1829 wanderte er mit seinem
Bruder Edmund, den er mit den Worten: Du
hättest es bei den Göttern zu verantworten, wenn Du
nicht kämst zu einem Zusammentreffen in Paris
veranlaßt hatte, nach der Schweiz. Über Basel führte
der Weg nach Luzern, dem Gotthard, von da über
Thun, Vevey, Lausanne nach Genf, um nach einem
Aufenthalt daselbst beim Herrn von Eynard, dessen
Neffe Alfred in Dresden im Hause der Eltern Hotten-
roth verkehrte, nach Paris zurückzukehren.
Groß war Woldemars Freude, als er die Nach¬
richt erhielt, die Mittel zu einer Reise und zu einem
längeren Aufenthalt in Italien wären ihm bewilligt
worden. So verließ er denn nach Ablauf des zweiten
Jahres Paris, um »ins gelobte Land zu ziehen«. Über
Lyon führte zunächst wieder der Weg nach Genf
zum Besuche seiner Schwester Mina, welche sich in¬
zwischen mit Alfred Eynard verheiratet hatte.
Im Oktober 1830 zog Woldemar in Rom ein!
Bald hatte er sich auf der Via Babuino ein beschei¬
denes Atelier gemietet und sich in der ewigen Stadt
häuslich eingerichtet. Wie für viele Künstler bedeutete
auch für ihn der Aufenthalt in Italien — er ging
auch bald vorübergehend nach Neapel, Ischia und
Capri - einen Umschwung in seiner künstlerischen
Tätigkeit. Das Volksleben zog ihn derart an, daß
von diesem Zeitpunkte an die Kompositionen nach
historischen Motiven fast ganz in den Hintergrund
treten. Mit glücklicher Hand fand er im bunten Ge¬
triebe des Landlebens, im beschaulichen Sich-gehen-
lassen des Volkes am Strande des Meeres, im rau¬
schenden Pinienhaine, in der rosenberankten Villa mit
ihren ernsten Zypressen, in der olympischen Ruhe
der Campagna Vorwürfe für Zeichnungen und Bilder.
Aus dieser Zeit stammen unter anderem die Bilder:
Pilger vor Rom«: andächtig ist die Schar im An¬
blick der ewigen Stadt im Gebet versunken; die hinter
St. Peter untergehende Sonne hüllt die Figuren in
goldenes Licht ^ Am Brunnen ' : ein figurenreiches
Bild wahrsten Volkslebens — Oktoberfest in NeapeL :
eine Szene, welche ein Tarantella tanzendes Paar zum
Mittelpunkte hat — »Überfahrt in den pontinischen
Sümpfen : charakteristisch in den Kostümen und vor¬
trefflich in der Auffassung des Landschaftlichen - im
Aufträge eines Lord Kilmoury »Dolce far niente :
eine weibliche Figur in der Tracht einer Albaneserin,
welche in einer Laube sitzend, dem Schnäbeln zweier
Tauben zusieht — »Schmückung einer albanesischen
Braut — »Ausschiffung von Reisenden aus einer
Barke bei Ebbe in Capri : ein Bild, in welchem
Woldemar seinem gesunden Humor die Zügel schießen
läßt — »Albaneserinnen, Goldfische fütternd (Abb. 4)
im Aufträge eines Fürsten Demidow mehrere
Szenen aus dem römischen Karneval und »die Fischer¬
kinder«: zwei kleine Neapolitaner, die am Strande
des Meeres auf einem großen Stein sitzen und dort
ihr Spiel treiben. Mit diesem Motive hatte Woldemar
Glück, denn er mußte es auf Bestellung — mit
kleinen Veränderungen — wohl einhalbdutzendmal
malen. Die meisten dieser Bilder wurden von durch¬
reisenden Engländern, Amerikanern und Russen an¬
gekauft.
Es darf nicht verschwiegen werden, daß Wolde¬
mars Bilder aus dieser Zeit sich an Werke Leop.
Roberts anlehnen, doch sie haben eines unverkennbar
voraus: die außerordentliche Naturwahrheit und Natür¬
lichkeit in der Auffassung der Volkstypen, die nicht
in gesuchter Pose zu einem Bilde zusammenkom¬
poniert sind, sondern bei aller Geschlossenheit der
Komposition ungezwungen sich zu bewegen scheinen
(Abb. 1). Hohenroth hatte sich eine ganz besondere
Geschicklichkeit angeeignet, Momentaufnahmen', wie
ich es nennen möchte, zu machen, und hierin liegt
in gewissem Sinne auch seine Bedeutung. Seine Öl¬
studien nach der Natur: Volkstypen, Studienköpfe,
Landschaften sind ganz vorzüglich in Farbe, Zeich¬
nung und Auffassung. Viele seiner Bilder, aus diesen
Studien entstanden, stehen an Frische und Originalität
hinter diesen oft zurück. Seine Porträts haben bei
manchmal etwas zu großer Weichheit der Auffassung
den großen Vorteil der »verblüffenden« Ähnlichkeit
und des hellen und leuchtenden Kolorits. Hier
sind unter anderen noch die Porträts des Fürsten
Demidow und der Gräfin Potocka zu nennen. Im
Aufträge eines Grafen Moltke, der sich, von Kopen¬
hagen kommend, in Italien aufhielt, malte Woldemar
mehrere Familienporträts, von denen eines auf die
Ausstellung nach Dresden geschickt, vom Akademi¬
schen Rate wie folgt beurteilt wurde: ... gleiches
Anerkenntnis findet das von Ihnen eingesendete Bild,
namentlich in Hinsicht auf die entsprechende Grup¬
pierung der drei Figuren, die ganze sehr gelungene
Ausführung des älteren Knaben, der Ausdruck in den
Mienen beider Kinder und sämtlicher Stoffe . (Im
Besitz der Familie Graf Moltke in Kopenhagen.)
ln rastloser Arbeit vergingen die Jahre. Italien
wurde nach allen Himmelsrichtungen hin durchstreift
— in die Berge, ans Meer, nach Sizilien — und mit
köstlichen Studien füllte Woldemar seine Mappen.
Im Aufträge eines Grafen Clouet malte er ein Altar¬
bild: »Mariä Verkündigung für die Kirche in Nyon
bei Genf. Diesem Bilde wurde die Weihe durch den
Segen des Papstes Gregor XVI. zuteil. Er gesteht
selbst, daß ihm der heilige Stoff etwas fern lag' .
Dann reizte es ihn, wieder einmal den Boden der
Komposition zu betreten und es entstanden mehrere
Bilder aus Wielands Oberon, z. B. »Rezia wird von
den Piraten geraubt , zu welchem Bilde ihm die
Gestade von Ischia die landschaftliche Szenerie lieferten
und dem Schweinehirten wird die Papstwürde —
Sixtus V. — geweissagt' . Im Verkehr mit Thor-
WOLDEMAR HOTTENROTH
227
waldsen, Koch, Overbeck und vielen anderen Künst¬
lern fand er künstlerische und geistige Anregung.
Im Herbst 1842 machte er die Bekanntschaft einer
vermögenden Qroßkaufmannswitwe aus Hamburg,
Frau Willert, in deren Hause an der spanischen
Treppe Woldemar Eintritt und gesellschaftlichen Ver¬
kehrfand. Die liebreizende, echt weibliche und hoch¬
gebildete Tochter des Hauses, Agnes, hatte es ihm
bald angetan und bei Gelegenheit des Malens ihres
Porträts in der Tracht einer Albaneserin (Abb. 3) ver-
geschienen. Nur einmal trübte sich der Himmel, als
im Jahre 1853 während eines zweiten, mehrjährigen
Aufenthaltes in Rom der älteste Sohn starb und dicht
neben der Pyramide des Cajus Cestius seine letzte
Ruhestätte fand. Kurz vorher war in Rom die zweite
Tochter, Roma, geboren. — Woldemar übersiedelte
1843 nach Hamburg, woselbst er nach seiner Ver¬
heiratung mit seiner Familie einige Jahre blieb. Aus
dieser Zeit stammen hauptsächlich landschaftliche
Studien vom alten Hamburg und dessen Umgegend
ABB. 5. W. HOTTENROTH. DAS GEWITTER
lobte er sich mit ihr. Auch bei diesem wichtigen
Schritte lächelte der liebenswürdige Humor, den
Woldemar sich bis an sein Lebensende bewahrte,
durch die ernste Situation: er hatte Agnes zu besserer
Beleuchtung auf einem erhöhten Stuhl in seinem
Atelier Platz nehmen lassen, von welchem sie nach
beendeter Schlußsitzung nicht allein herabsteigen
konnte. Er reichte ihr nicht eher seine helfende
Hand, als bis Agnes ihm versprochen, ihm die ihre
fürs Leben zu geben. In diese fast fünfzigjährige
Ehe, welcher zwei Söhne und drei Töchter entsprossen,
hat fast ohne Unterbrechung die Sonne des Glücks
und der Kopf eines armenischen Geistlichen (Kunst¬
halle in Hamburg), viele von Privatpersonen bestellte
Porträts, von denen besonders sein Selbstporträt im
Kreise von Weib und Kindern hervorgehoben werden
muß. Es zeichnet sich durch geschickte Grup¬
pierung und Frische der Farbe aus. Von Hamburg
unternahm er mehrere Reisen, nach Paris, England
und Schottland, und 1854 kehrte er mit seiner Familie
endgültig in die Heimat nach Dresden zurück. Das
seltene Fest der goldenen Hochzeit seiner bejahrten
Eltern fixierte er durch ein reizendes Doppelporträt
des Jubelpaares (Privatbesitz).
228
WOLDEMAR HOTTENROTH
Während der Wintermonate wohnte Waldemar
mit seiner Eamilie in Dresden, im Sommer auf seinem
idyllischen Landsitze in Wachwitz, und hier hat er
sein Q2. Lebensjahr erreicht. Der schöne alte Mann
war noch fast bis an sein Lebensende künstlerisch
tätig und wenn auch aus seiner letzten Schaffens¬
periode nicht viel Nennenswertes zu erwähnen ist, so
hat er doch eine große Eülle flott hingeworfener
landschaftlicher Studien gemacht und das Landleben
bot manchen Stoff zu humorvollen Impromptus. Außer¬
ordentlich sinnig ist ein 1861 entstandenes Bild auf¬
gefaßt, welches in Lebensgröße der Figuren den Hei¬
land darstellt, wie er aus Wolken tretend und von
einem Regenbogen überstrahlt die Kinder des Künst¬
lers segnet. Mit Blumen und Früchten spielend sind
die frischen Kindergestalten in den unteren Teil des
Bildes sehr geschickt hineinkomponiert. Ganz be¬
sonders lebhaft in der Komposition ist ein Fries länd¬
licher Gestalten, der für die Giebelseite seines Land¬
hauses bestimmt war, aber nicht zur Ausführung kam.
ln seinem malerischen Sommersitze fanden sich
häufig Künstler aller Art ein: Ignaz Moscheies, Wil¬
helm Friedrich, Wolf Graf Baudissin, sein Jugend¬
freund Münzgraveur Krüger (»der Einsiedler von
Loschwitz«, wie ihn Ludw. Richter verewigt hat),
Robert Waldmüller, Carl Schlüter, Hermann Prell
und viele andere, und im ungezwungenen Verkehr
bildete das Landhaus Hottenroth einen gewissen Mittel¬
punkt für die Künste, in dem die Musik — die alte
Guitarre aus der Jugendzeit! — auch nicht stiefmüt¬
terlich behandelt wurde.
1892 war Agnes gestorben. Der fast neunzig¬
jährige silberlockige Greis stand an ihrer Bahre mit
den oft wiederholten Worten: »Wie schön sie aus¬
sieht!
Dann ging auch seine Wanderung zu Ende! Ohne
eigentlich krank gewesen zu sein, entschlummerte er
in Wachwitz am 6. September 1894. Der sinkende
Sonnenball grüßte noch einmal durch das geöffnete
Fenster herein sein letztes Lager und füllte seine
Sterbekammer mit einem rosigen Scheine. Vom Dorfe
her erklangen die feierlichen Töne einer konzertieren¬
den Kapelle: Wagners Pilgerchor. Unter solch poeti¬
schem und stimmungsvollem Beiwerk endete eines
Künstlers Erdenwallen. —
Blicken wir zum Schluß noch einmal zurück auf
Woldemar Hohenroths Bedeutung als Künstler, so
müssen wir gestehen, daß er nicht zu den »Führen¬
den« seiner Zeit gehört hat. Seine Anlehnung an
berühmte Vorbilder wurde schon erwähnt. Aber da¬
durch soll sein Können nicht geschmälert werden,
beileibe nicht! ln einem Zweige seiner Kunst ist er
durchaus selbständig: in der Landschaft. Die mir vor¬
liegenden Studien aus der jünglingszeit sind von
einer Naturwahrheit und trotz der Ausführung mit
dem härtesten Bleistift von einer überraschenden ma¬
lerischen Wirkung.
Vielen der Leser wird Woldemar Hottenroth kaum
dem Namen nach bekannt gewesen sein, noch weni¬
ger seine Werke. Das ist unter anderem auch dem
Umstande zuzuschreiben, daß seine Hauptschaffens¬
periode 60 Jahre zurückliegt, seine Bilder meist ins
Ausland gewandert sind und daß die zweite Hälfte
seines Lebens keine schäumenden Wogen schlug,
sondern wie ein ungetrübtes Bächlein durch blühende
Auen floß. Wer Hohenroths Studien durchblättert,
findet bei außerordentlicher Vielseitigkeit herrliche
Früchte eines großen Talentes, und wer das Glück
gehabt hat, ihm als Mensch näher zu stehen, der
wird den Zauber seiner herzgewinnenden Liebens¬
würdigkeit, seinen feinen Humor und den Glanz
seines schönen Auges nie vergessen. y. //.
ABB. 6. STUDIE VON W. HOTTENROTH
Herausgeber und verantwortliche Redaktion : E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
w
V
ORIGINAL-FARBENHOLZSCHNITT VON HANS NEUMANN JR.
KARL ZIEGLER. SELBSTBILDNIS. BUDAPEST, NATIONALOALERIE
AUSSTELLUNG VON WERKEN KARL ZIEGLERS IM
KAISER FRIEDRICH-MUSEUM ZU POSEN
Der Versuch, durch Einrichtung von Samm¬
lungen einer kunstarmen Provinz zu Hilfe zu
kommen, wie er unlängst von der preußischen
Staatsregierung in Posen unternommen wurde, wird
je nach dem Standpunkt der Prognostizierenden ver¬
schieden beurteilt werden. Die Vorstellung aber, daß
ein Museum im landläufigen, überkommenen Stil
alsobald ein Geschlecht von Kunstfreunden aus dem
spröden Boden stampfen, eine Erweckung aller
künstlerischen Anlagen und ein Gelingen aller künst¬
lerischen Unternehmungen erzielen könne, wird sicher¬
lich den meisten Sachkundigen von heute als eitler
Wahn gelten. Solche Kulturaufgaben verlangen un¬
gewöhnliche Gunst der Verhältnisse: reiche Mittel,
geeignete Persönlichkeiten, die sich ihnen mit zäh
ausdauerndem Fleiß widmen, und — auch dann noch
— dreimal Geduld auf Seite der Schaffenden, der
Genießenden, der Beurteilenden. Das Bestreben, die
bildende Kunst zum Sauerteig deutschen Lebens zu
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. tj
machen, wird nur dann auf Erfolg rechnen können,
wenn unsere neu eingerichteten Museen nicht aus¬
schließlich Grabkammern und Hamsterbauten alter,
sondern auch Heimstätten lebender Kunst zu sein den
Ehrgeiz besitzen. Anschluß zu suchen an die Fragen,
die im Kunstleben der Gegenwart heftig umstritten
werden, sie zum Brennpunkt der öffentlichen Diskussion
zu machen, das ist eine der wichtigsten Aufgaben
provinzieller Kunstanstalten, die vor denen unserer
Hauptstädte den Vorzug haben, daß ihre Besucher
solchen Fragen mehr Muße und Unbefangenheit zu¬
wenden können als die abgehetzten, jeden Tag durch
neue Sensationen bedrängten und verwirrten Gro߬
städter.
Aus diesen Gründen wurde im Obergeschoß des
Posener Kaiser Friedrich-Museums ein zentral gelegener
Oberlichtraum zur Aufnahme wechselnder Ausstellungen
bestimmt, deren Veranstaltung den Besuch auch der
stabilen Sammlungen heben und das Interesse des
31
230
AUSSTELLUNG VON WERKEN KARL ZIEGLERS
kunstfreundlichen Publikums andauernd wachhalten
und an das Museum ketten soll. Eine Ausstellung
von Entwürfen und Erzeugnissen moderner Wohnungs¬
kunst - insbesondere aus dem Nachlaß Patriz Hubers,
der kurz vor seinem allzu frühen Tode sich mit einem
Projekt für eine Villenvorstadt Posens beschäftigt
hatte — führte die Besucher des am 5. Oktober 1904
eröffneten Museums von der stillen Beschaulichkeit
der Betrachtung, wie sie in den historisch geweihten
Räumen der Raczynskigalerie am Platze ist, vor die
brennenden Fragen der Ausgestaltung unseres modernen
Heims und weckte auch bei bisher Gleichgültigen
und Überklugen manche neue Überlegung, die
hoffentlich Frucht tragen wird. Die darauf folgende
Ausstellung von Gemälden und Studien Karl Zieg¬
lers stellte sodann das Posener Kunstpublikum vor
die ziemlich ungewohnte Aufgabe, sich mit einem
malenden Heimatgenossen zu beschäftigen. Sie ver¬
dient auch außerhalb der Mauern Posens, in denen
Ziegler, der von dem preußischen Kultusministerium
für diesen künstlerischen Vorposten ausersehen wurde,
seit Oktober 1904 sein Heim aufgeschlagen hat,
Beachtung, weil sie zum erstenmal in einem wür¬
digen Rahmen vereinigte, was der glücklicher¬
weise nicht mehr auf Posener Nachruhm An¬
gewiesene in der verhältnismäßig kurzen Zeit
seines Schaffens hervorgebracht hat.
Die Kritik hat Karl Ziegler, der am 7. De¬
zember 1866 in dem siebenbürgischen Städt¬
chen Schäßburg geboren und in Berliner
akademischen Ateliers — incredibile dictu —
zum Künstler erzogen wurde, seit seinem
ersten Auftreten 1895 immer mit einem ge¬
wissen Wohlwollen behandelt, aber sich nicht
die Mühe genommen, dem Wesen seiner
Kunst ernster nachzuspüren. Das sei bei
dieser Gelegenheit, wo etwa dreißig Werke
seiner Hand und die Ruhe der Umgebung
dazu einladen, nachgeholt.
Das Ziel seines Strebens kündet sich viel¬
leicht in keiner Arbeit deutlicher an, als in
dem unter dem Motto »Andante« 1895 in
Berlin ausgestellten und damals mit fast un¬
gläubigem Staunen als Werk eines Berliner
Akademikers begrüßten Bilde, das seine beiden
Schwestern, im Schatten des heimatlichen Pfarr¬
gartens sich ergehend, darstellt (Abb.S. 231). Zwei
Töchter eines siebenbürgischen Landpfarrers
von ihrem — anfangs auch der Pfarrerlauf¬
bahn zusteuernden — Bruder belauscht und
gemalt, sind hier mit einer Empfindungstiefe,
wie sie nur wenigen ganz keuschen Künstler¬
gemütern eigen ist, und einer ungewöhnlichen
Größe der Formenauffassung zu unvergeßlichen
Gestalten umgewandelt. Man möchte anfangs
von Stil, von Anempfinden an englische prä-
raffaelitische Vorbilder sprechen, und doch
drängt immer wieder die schlichte, aus sich
selbst geborene Feinsinnigkeit und Eigenkraft
solche vergleichende Betrachtung zurück. Man
liebt es ja heute, den Malern ihre Farbenwerte,
Komposition und Linienführung — wie in den Tagen
der Eklektiker — vorzurechnen und zu zerfasern, je¬
doch ein Kunstwerk, das nur zu solcher Schnüffelei
auffordert, ist vielleicht ein gutes Demonstrations¬
objekt, niemals aber läßt es sich mit Schöpfungen in
eine Reihe stellen, deren nachhaltiger Eindruck auf
unmittelbarer Anschauung des Ganzen ruht. Als eine
solche Schöpfung empfinde ich Zieglers »Andante«.
»Andante con sentimento« dürfte auch die beste
Tempobezeichnung für seine ganze Künstlerarbeit sein.
Wer ein Allegro con brio vorzieht, wird ihr vielleicht
vorschnell den Rücken kehren, von Trägheit des Tem¬
peraments, Empfindsamkeit, Zaghaftigkeit und Glätte
des malerischen Vortrags sprechen. Noch andere
Vorwürfe könnten Unbesonnene vor Zieglers Bildern
erheben, ln den letzten Jahren seines Berliner Auf¬
enthalts hat der Zufall es gefügt, daß er den Aus¬
stellungsbesuchern meist als Maler weiblicher Eleganz
erschien. Sein großes Können auf diesem Gebiet
wurde von vielen nur allzulebhaft anerkannt, von
andern als hohle Virtuosität abgetan. Er ist aber
weder ein selbstgefälliger Virtuos, noch ein kraftloser
Süßling, vielmehr ein mannhafter ehrlicher Künstler
3'
KARL ZIEGLER
ANDANTE. POSEN, KAISER FRIEDRICH-.MUSEL'M BILDNIS DER GATTIN DES BILDHAUERS WENCK
232
AUSSTELLUNG VON WERKEN KARL ZIEGLERS
KARL ZIEGLER. BILDNIS SEINES VATERS
mit ernsten Ansprüchen an sich und seine Kunst, mit
weitem und sicherem Filick, heißem Bemühen und
gerechtem Selbstbewußtsein, das Bescheidenheit in
der Beurteilung anderer niemals ausschließt. Daß ein
Maler, der lange Zeit von Porträtaufträgen leben
mußte, gelegentlich seine Arbeit als Pflichtleistung
auffaßt, daß gleichgültige Aufgaben auch ihn gleich¬
gültig lassen, ist so natürlich, daß man darüber kein
Wort verlieren sollte.
Zieglers malerische Gewandtheit erhellt vielleicht
am besten aus dem Bildnis eines Studenten in höheren
Semestern, das er — einen zufälligen Atelierbesuch
benutzend — mit der verblüffenden Faustfertigkeit eines
Anders Zorn hingestrichen hat, unbesorgt um Pose und
malerische Haltung (Abb, S. 233). Die Modellierung des
von zahlreichen Schmissen bedeckten Schädels, die
Schärfe im Blick und Ausdruck des Gesichts, die
Flottheit des Beiwerks erhärten zur Genüge die Fähig¬
keit des Malers, das Wesentliche, Kennzeichnende einer
Persönlichkeit schnell zu erfassen und festzuhalten.
Eine Improvisation, die trotz aller Flüchtigkeit den
Beschauer nicht nur im Augenblick frappiert, sondern
innerlich fesselt, zeugt stets für ihren Urheber.
Der Studienkopf eines kränklichen blonden Knaben
(Abb. S. 230) — ebenfalls eine Gelegenheitsarbeit aus dem
Jahre 1892 — gibt uns, wie im Auszuge, die andere
Hälfte der Begabung Zieglers; die Feinheit seines Far¬
bengefühls. In einer ganz kurzen Skala von grauen und
gelbbraunen Tönen ist hier feinste malerische Stimmung
erzielt, die mit der breiten sorglosen Pinselführung
merkwürdig kontrastiert. Dazu ein rührender, weil
unbewußter, Ausdruck des Empfindens in dem rachi¬
tisch verquollenen Antlitz, der uns zur Anteilnahme
am Unerquicklichen reizt wiederum eine untrüg¬
liche Kunstkraftprobe.
Das ernste Erfassen eines Vorwurfs, wie ihn die
Gestalt seines Vaters in siebenbürgischer Pastorentracht
dem Sohne bot, begreift sich aus dem besonderen Anlaß
(Abb. S. 232). Freilich steht die Lebhaftigkeit des Kopfes
in merklichem Gegensatz zu der lässigen Haltung;
man möchte meinen, die Aktivität des Dargestellten
komme nicht voll zum Ausdruck. Das Brustbild einer
seiner Schwestern in roter Bluse und dunklem
Hut besitzt dagegen Qualitäten, deren Keim immer
wieder im Nachempfinden zartester Seelenregung zu
suchen ist. — Und doch wird unser Maler das innere
Leben seiner Modelle niemals unzart entblößen, er
gibt dem Bildnis einen Zug von Geschlossenheit und
Vornehmheit, der jede indiskrete Frage abweist. Dies
Einschmelzen der dargestellten Persönlichkeit in eine
künstlerisch - — und nur künstlerisch — fesselnde Ge¬
stalt, die uns mehr vom Maler und seinen Empfin¬
dungen, als von ihren eignen Schicksalen erzählt, hat
fast etwas Klassisches, was allmählich wieder als Vor-
AUSSTELLUNG VON WERKEN KARL ZIEGLERS
233
zug empfunden wird. Es braucht hier ja nicht erst
feierlich festgestellt zu werden, daß unsere Zeit aus
dem Übermut revolutionärer Schaumschlägerei in
stille Selbstbesinnung zurückzusteuern beginnt, und
an Anzeichen für das Einlenken der Malerei in sti¬
listische Bahnen fehlt es bekanntlich auch sonst nicht.
Die Bildniskunst ist vielleicht der empfindlichste Grad¬
messer für solche Schwankungen, und Zieglers Art
der Porträtauffassung verdient unter diesem Gesichts¬
punkt Aufmerksamkeit. Was ihn als Menschen und
Maler unserer Übergangszeit kennzeichnet, ist die ihm
selbst kaum bewußte Mischung von Naivität und
Nachdenklichkeit bei der Arbeit.
Ein Motiv oder Modell, daß ihn anregt oder
lockt, löst zunächst stilles Behagen in ihm aus,
und — wie es schwerblütigen Menschen zu gehen
pflegt — verbraucht er bei diesem Genießen schon
ein gut Teil seiner Künstlerkraft. Bei der Arbeit dann,
die er mit der Zähigkeit eines siebenbürger Sachsen
verrichtet, wacht eine andere Freude auf, die im Re¬
produzieren eben jenes betrachtenden Genusses be¬
steht, aber differenziert, fast möchte man sagen:
gedämpft durch die Absicht auf sanfte dekorative
Farbenstimmung. Er tönt unwillkürlich alles wieder
möglichst auf die Werte ab, die seinem Auge und
Sinn am meisten Zusagen. So erhalten auch seine
Porträts durchweg einen gemeinsamen Zug, der sie
von anderen unterscheidet — und das ist gewiß kein
Vorwurf — aber auch einen Schleier, der dem Be¬
schauer, zumal einem Anhänger des Naturalismus
Sans phrase, gelegentlich lästig wird. Daher die nach¬
denklichen Urteile blinder Seher über die müden,
sentimentalen Gestalten, die Eintönigkeit der Farben¬
stellung, die Wiederholung erprobter Motive, die dann
zu dem wohlfeilen Schluß kommen, ein Nerven-
schwächling wolle uns seine Mattherzigkeit als Ge¬
schmack aufzwingen. Wer Ziegler persönlich kennt, oder
auch nur eines seiner Selbstporträts (Abb. S. 22g) genauer
anschaut, wird mit ihm selber in ein schallendes Ge¬
lächter ob solcher Trugschlüsse ausbrechen. Ein Hüne
an Gestalt, der Flinte und Säbel fast lieber noch führt
als den Pinsel, voll Nerv und Muskel, aber ohne
anfällige Nerven und rheumatische Beschwerden, ein
Naturkind, das sich selbst im Sündenpfuhl Berlin
nicht die Freude an seiner Mutter hat verderben
lassen — und dennoch mit feinem Sinn für zarteste
Stimmungen begabt, ja in sie verliebt, das ist ein
Problem, das den Psychologen reizen muß und auch
uns bisher mehr von dem Seelenleben des Malers
als von seinen Werken sprechen ließ. Die sprechen
für sich selbst: das Bildnis der Gattin des Bildhauers
Wenck, eine duftige Umschreibung jugendlicher An¬
mut (Abb. S. 231), die üppige Heroine, die in schwarzem
Schleppkleid eine Treppe emporsteigt und den Kopf
zum Beschauer zurückwendet, die von verhaltener Sinn¬
lichkeit durchbebte, sprungbereite Dame in Grün
(Budapest, Nationalgalerie), die Verkörperung mütter¬
licher Fürsorge und gesunder WeibIichkeit(Frau Rossner-
Zeitz), die eidechsenhafte Elastizität der Tänzerin
Marietta di Rigardo, die ja auch Slevogts Malerauge
gefesselt hat, die junonische Gestalt von Frau Walter
Schott, die in lässiger Haltung auf einem graugrünen
Sofa Figur macht, die pointierte Liebenswürdigkeit
einer jugendlichen Jüdin neben der empfindsamen
Träumerei einer blonden Mädchenseele und der whist-
lerisch müden Nonchalance einer Dame der Frank¬
furter Finanzaristokratie — das sind so einige Proben
von der vorgeblichen Einseitigkeit des Frauenmalers
Ziegler.
Die Gestalt seiner Gattin, einer fesselnden Blon¬
dine von ebenmäßigem Wuchs und klugem Blick, be¬
gegnet uns zweimal unter den zahlreichen Frauen,
die er gemalt hat, und es ist bezeichnend, daß selbst
bei diesem Vorwurf sein Temperament nicht mit dem
Künstlerverstand durchgegangen ist. Das malerische
Wohlgefallen beherrscht alle anderen Gefühle und
Triebe bei ihm. Das ist ernste, echte Künstlerart, die
Respekt einflößt, zumal nicht etwa die Gewissenhaftig¬
keit im Einzelnen, sondern der Blick für das Ganze
ausschlaggebend für die Durchführung seiner Ar¬
beiten ist.
Stil, Geschmack, Vornehmheit des malerischen
Empfindens — lauter Begriffe einer überwundenen,
mit Schmach und Schande vom Hof der naturalisti¬
schen Moderne vertriebenen Ästhetik - - kehren hier
wie treue, wenn auch oft mißverstandene, Freunde
der Künstlerphantasie zurück, nicht etwa als bewußte
reaktionäre Kampfesmittel, sondern als ganz natürlich
aufsprießende Keime einer anders gearteten, starken
KARL ZIEGLER. BILDSKIZZE EINES STUDENTEN
234
AUSSTELLUNG VON WERKEN KARL ZIEGLERS
KARL ZIEGLER. BÜFFELSCHWEMME. ERSTE FASSUNG
Begabung. Zieglers Art zu stilisieren sei noch kurz
an einem kennzeichnenden Beispiel erläutert: ein Motiv
aus der siebenbürgischen Heimat, eine Büffel¬
schwemme, bei der lustige Landkinder auf dem Rücken
des starkgehörnten, glatthäutigen und gutmütigen Viehs
ihr Reitertalent erproben, ist dreimal von ihm gemalt
worden. Die erste Fassung (im Besitz des Verlagsbuch¬
händlers Stilke in Berlin, Abb. S. 234) zeigt auf Grund
zahlreicher Skizzen vor der Natur die Szenerie so,
wie sie dem genießenden Malerauge sich bot. Das
nah herandrängende waldige Flußufer ist belebt mit
zahlreichen hockenden, liegenden, knieenden und
stehenden nackten Buben; in naiver Freude an diesem
Spiel jugendlicher Formen läßt der Maler keines der
Motive fallen. Die Gruppe von vier sich ankleiden¬
den Knaben schließt er in schönem Linienfluß zu¬
sammen. Arkadische Stimmung und koloristisches
Bedürfnis rufen eine weibliche Gestalt in lang herab¬
fließendem roten Gewand auf die Bühne, ein ge¬
heimnisvolles Fragezeichen, das dem Ganzen bereits
die Harmlosigkeit der Naturaufnahme nimmt. Hier
liegt der Keim zur künstlerischen Weiterbildung des
Beobachteten zum Geschauten.
In kleinerem Format vereinfacht der Künstler
dann die Motive, drängt die Zufälligkeiten zurück,
macht eine Probe auf den malerischen Gehalt des
Ganzen, sucht die Raumelemente und die Struktur
des Bildes zu klären, indem er es räumlich vertieft
und entlastet (Abb. S. 235).
Dann in der dritten Fassung wird alles figürliche
Beiwerk restlos dem einen Motiv eines auf dem
Büffel reitenden Knaben geopfert; in stiller, einsam¬
feierlicher Landschaft, die, von warmem Sommerlicht
überstrahlt, noch mehr sich weitet und vertieft, ist die
Grundstimmung festgehalten, die schwerfällig im
Wasser einherschreitenden Tiere sind wie der Knaben¬
körper plastisch stilisiert, mit breitem Pinsel die Wasser¬
spiegelung gegeben, die geschlossenen Baummassen
und die den Horizont abschließenden Hügelketten
des Himmels verstärken den Eindruck räumlicher
Tiefe und Größe (Abb. S. 235).
Aus einem schlichten Naturausschnitt ist so ein
in feierlichen Linien und Formen sich aufbauendes
Bild geworden, dessen Entstehung uns lehrt, wie weit
oft der Weg von der Beobachtung zum Stil ist, aber
zugleich auch, wie künstlerische Intuition durch Über¬
legung und Weiterdenken gefördert werden kann,
was heute so viele Maler als Widersinn beiseite schie¬
ben möchten.
Ein anderes großes Bild Zieglers, der verlorene
Sohn, der mit weißem Schafspelz angetan in der weiten
grauen Öde der ungarischen Pußta bei seiner Schweine¬
herde hockt — es ist ursprünglich als Mittelstück
eines Triptychons gedacht — beweist, daß auch dem
Bedächtigen der große Wurf zuweilen ohne Klügelei
gelingt. Das ist steile Tragik, die mit Naturgewalt
an den Empfindenden herandringt, weil sie aus hei¬
ligster Tiefe eines tief empfindenden Gemüts geschöpft
ist, ohne Vor- und Nachdenken das Fühlen eines
vom Leid des Lebens innerlich erfaßten Menschen
offenbart.
Die Sehnsucht nach freiem ungehemmten Schaffen
klingt auch aus zahlreichen Entwürfen und Studien
heraus, die Zieglers Mappen füllen. Möge solcher
Sehnsucht Erfüllung beschieden sein.
LUDWIG KAEMMERER.
KARL ZIEGLER. BÜFFELSCHWEMME. ZWEITE FASSUNG
KARL ZIEGLER. BÜFFELSCHWEMME. DRITTE FASSUNG
OTTO WAGNERS MODERNE KIRCHE
Von Ludwig Hevesi
IN der reichen Frühjahrsausstellung der Wiener
Sezession ist das Haiiptstück die neue Kirche Otto
Wagners für die niederösterreichischen Heil- und
Pflegeanstalten. Eines jener im Material appetitlichen
(und kostspieligen) Modelle, wie Wagner sie sich
und dem Publikum gönnt; verschiedene Zeichnungen
geben reichliche Vorstellung von diesem für Wien
bahnbrechenden Bau. Sein platonisch verbliebener Ent¬
wurf für eine Kirche in Währing (Wien) hat denn doch
den Urteilssinn der Leute aufgewühlt. Sie sehen jetzt
ein, daß der Mensch und Kirchenbesucher nicht von
frommen Imponderabilien allein lebt, sondern auch
auf Ponderabilien der Zweckmäßigkeit, Bequemlich¬
keit, Gesundheit und ästhetischen Zeitgemäßheit ange¬
wiesen ist. ln Westeuropa fängt man auch bereits
an, so weit zu sein. Voriges Jahr weihte der Erz¬
bischof von Paris Baudots Kirche St. Jean de Mont¬
martre, die sozusagen mit den Mitteln eines . . . Zeitungs¬
kiosks gebaut ist. Eisen, Monier, Rabitz, 7 Zentimeter
dicke Mauern aus Backstein und ciment arme. Die
reine Gotteslästerung, hätte man einst gesagt. Und
der Archdean of London, W. M. Sinclair, schrieb vor
einigen Monaten ganz entzückt über die hochmodern,
ja sezessionistisch durchgestaltele Kirche St. Mary the
Virgin zu Great Varley, Grafschaft Essex, wo ein
Neukünstler wie W. Reynolds Stephens allen seinen
Talenten die Zügel schießen ließ. Von der malerischen
Ausschmückung zu geschweigen, deren sich die fort¬
schrittlichen Farbenleute schon früher zu bemächtigen
begannen. Albert Besnard will sich das Himmelreich
verdienen, indem er die Kirche in seinem Berck-sur-
Mer ausmalt. Und Maurice Denis, der Neu -Stilist,
darf die Kirche im Vesinet ausmalen, das so nahe
bei Paris liegt.
Es ist zwar anzunehmen, daß diese Beispiele dem
niederösterreichischen Landesausschuß nicht geläufig
sind, item er glaubt an Otto Wagner, und das
ist ein großer Eortschritt. Auch die Stadt Wien
glaubt an ihn und wird denn doch sein umgearbeitetes
Projekt für das Stadtmuseum, das vor zwei Jahren
einen so blutigen Bürgerkrieg entfesselte (casus Wag¬
ner — Schachner!) ausführen lassen. Und mit der
Postsparkasse hat er auch glänzend gesiegt, sie ist
bereits im Bau. Und ein großes modernes Verkaufs¬
haus ist jetzt in seinem ersten Stadium und noch ein
anderes, geheimnisvolles Demokiesschwert hängt auch
über den wackligen Köpfen derer, . . . deren Köpfe
eben wacklig sind. So ist denn doch Otto Wagners
Sonne in seinem 62. Lebensjahre endlich aufgegangen.
Der geborene Großbaumeister wird denn doch, ehe
er zur Grube fährt, groß gebaut haben.
Die niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalten
sollen am sogenannten Baumgartener Spiegel erstehen
und in etwa 100 Hektar parkierter Landschaft nicht
weniger als 63 Gebäude umfassen. Die größte der¬
artige Anlage der Welt. Die Kirche nimmt den
höchsten Punkt des ansteigenden Geländes ein und
wird, bis an die Kreuzspitze 46 m hoch, ein weithin
sichtbares, wahrzeichenartiges Element im Stadtbilde
von Neu- und Großwien bilden. Daher die reiche
Vergoldung der Kuppel, die einen fixen Goldblitz in
die Landschaft bringen soll. Der Bodengestalt ent¬
sprechend steht die Kirche 1,50 m über das Terrain
hinauf und hat eine Unterkirche von 5 m Höhe, schon
wegen der Bodenfeuchtigkeit, aber auch zur Unter¬
bringung verschiedener liturgischer (heil. Grab usw.)
und praktischer Veranstaltungen. Der Bau bildet
einen Würfel mit ganz kurzem Querschiff, überragt
von einer halbkugelförmigen, aber stark überhöhten
Kuppel. Die Fassade hat ein dreitüriges Portal mit
vorgestellten, kapitällosen, statuentragenden Freisäulen,
die das Vordach tragend durchsetzen. An den Ecken
der Eassade stehen kurze Türme, von Statuen der
beiden Landespatrone St. Severinus und St. Leopold
gekrönt. Die äußere Bekleidung besteht unten aus
ortswüchsigem Stein, in der Hauptsache aber aus
2 cm dicken, senkrecht gestellten, weißen Marmorplatten,
durch Rienienschichten gehalten, die durch Kupferknöpfe
befestigt sind. Alles Eisen ist mit Kupfer verkleidet,
auch die ganz summarisch gegebenen Kränze, die in
langen Reihen den äußeren Fries schmücken. Die
Kuppel samt Trommel ist mit gefalzten Kupferplatten
bekleidet, die also beweglich bleiben und eine reiche
Vergoldung aus senkrechten Reihen kugelförmiger Ele¬
mente haben. Die große einfache Form und das
Weiß -und -Gold werden in der sonnigen grünen
Landschaft so recht freilichtmäßig wirken. Der qua¬
dratische Innenraum ist 20 m hoch und durch eine
ganz moderne Konstruktion aus Eisen und Rabitz¬
platten gedeckt, die auf den vier Pfeilerpaaren der
Ecken ruht. Die Höhe entspricht genau der Pfeiler¬
distanz, so daß, um Wagners Ausdruck zu gebrauchen,
»ein pantheonisches Verhältnis von 1:1« herauskommt.
Die Belastung ist nicht ganz 2 kg auf den qcm.
Leichtigkeit, Eestigkeit und Billigkeit (die Baukosten
betragen nur 550000 Kronen) sind maßgebend. Der
»Kuppelschlauch« ist vermieden, um die Akustik nicht
zu stören. Aus diesem Grunde sind auch die Ecken
und Flächen gerundet und der Putz rauh gehalten.
Wie fürs Hören, ist auch fürs Sehen ideal gesorgt; Wag¬
ner geht darin so weit, daß er der Apsis keine Fenster
gibt, weil diese immer das ganze Publikum blenden. Alles
Detail ist streng erwogen, sogar die Länge der Bänke,
die 800 Personen fassen. Sie sind ungewöhnlich
kurz, um etwa notwendiges Eingreifen der Wärter
(bei Geistesgestörten!) zu erleichtern. Eür das Per¬
sonal der Anstalt ist eine eigene Empore angebracht.
Kanzel und Hochaltar sind reizende moderne Eisen¬
konstruktionen, die sich nicht hinter Schulformen ver¬
heimlichen. Überhaupt ist alles neu gedacht und nach
OTTO WAGNERS MODERNE KIRCHE
237
Bedarf erfunden. In überraschender Weise zum Bei¬
spiel die bildliclien Darstellungen, welche Wagner,
da Klimt nicht zu haben war, Kolo Moser aufgetragen
hat. Schon die Lünette über dem Portal ist eine
große Szene, vollends das Hochaltarbild von 75 qm
Flächeninhalt. Für Fresken ist Wagner nicht einge¬
nommen, wegen der Schwierigkeit und Unverläßlich¬
keit. Aufgespaiiute Leinwänden, mit ihrem fatalen
Slaffeleigeschmack, stören gar das bauliche Wesen
des Raumes. So hat er Mosaiken aus Tonplatten,
für die Gewänder Marmorplatten, kombiniert; weiß
oder farbig, poliert oder rauh, auch mit Glasflüssen
und Bronze inkrustiert, so daß dekorative Mannig¬
faltigkeit entsteht. Die landschaftlichen Teile bestehen
aus Tonfliesen, der große Glorienhimmel aus Reihen
bombierter Goldglasscheiben, in weißen polierten
Stuck eingelassen. Die Wirkung ist ausgiebig und
neu, aber auch unleugbar monumental. Die Wagner¬
kirche wird jedenfalls eine lebendig fortwirkende
Neuerung im Wiener Kirchenbau bedeuten. Der im
Bau begriffenen großen Jubiläumskirche (vom ver¬
storbenen Professor Luntz aus der gotischen Schmidt¬
schule) erschwert sie im Vorhinein die Existenz. Die
Jubelkirche ist unser Berliner Dom.
Zeilsclinlt fiii liilileiulL' Kuiisl. N r XVI. II. ()
32
AB[5. 1. GIOVANNI BtLLINI (?). MADONNA. MÜNCHEN, BARONIN MOLTKE f
EINE KOMPOSITION VON GIOVANNI BELLINI
Von Pii. M. Hai m
UNTER den zahlreiclien Madonnenbildern, die
im Ausgange des 15. Jalirlnmderls und im
Beginne des 1 6. Jahrhunderts in Venedig ent¬
standen, kehrt häufig eine Komposition wieder, die
deutlich besagt, dab wir es mit Nachbildungen nach
einem — wie es scheint nun verscliollenen Ori¬
ginal zn tun haben. Die hier in Frage kommenden
Bilder haben bereits Berenson (Lorenzo Lotto S. 5,
Anmerkung) und Georg Gronau (Gaz. d. B-Arts 1895,
I, S. 260 und f'^epertorium für Kunstwissenschaft
1897, S. 301) zusammengestellt. Die Komposition
ist folgende: Rechts vom Beschauer sitzt, nach links
gewendet, Maria; ihr Kopf ist nach vorn geneigt; ein
reich gefalteter Mantel umhüllt den Körper, um den
Kopf legt sich ein Tuch. Auf ihrem linken Knie
sitzt das nackte, segnende Jesuskind, das Maria mit
ihrer Linken, die unter dem Arm des Kindes hervor¬
greift und sich über seinen Körper legt, festhält. Die
rechte Hand der Maria berührt mit den Fingerspitzen
entweder die Stirne eines Stifters oder eines Heiligen
oder ruht auf einem aufrecht stehenden Buche. Dies
sind die allen derartigen Bildern gemeinsamen Punkte,
die nur im Detail variiert werden, wie z. B. im Kopf¬
tuch der Madonna, während andere Einzelheiten wieder,
wie namentlich der Faltenwurf des Mantels Mariä, eine
geradezu sklavische Wiedergabe erfahren. Die Kom¬
position wird meist noch durch assistierende Heilige
(bis zu vieren) erweitert; auch der Hintergrund wird
verschiedentlich behandelt.
Gronau wies schon darauf hin, daß sich die
Komposition gleichermaßen auf Bildern aus der Schule
Giovanni Bellinis wie aus der des Alvise Vivarini
findet, und glaubt sich bei der anerkannten Stellung
des Giovanni fiellini als Vormannes der Maler be¬
rechtigt, diesem die Komposition zuzuschreiben«.
Ich stehe nicht an, dieser Vermutung Gronaus bei¬
zupflichten, um so mehr, als mir auch stilistische
Gründe für die Autorschaft Giambellinis zu sprechen
scheinen. Das verschollene Original halte sich wohl
nicht, wie bei dem einen Stuttgarter Bild Nr. 428 ( Abb. 2),
mit einer Heiligen begnügt, sondern zum mindesten
war noch ein knieender Heiliger oder ein Stifter vor¬
handen, denn sonst hätte der mehr nach vor- und
abwärts gerichtete Blick des Christuskindes kein eigent-
EINE KOMPOSITION VON GIOVANNI BELLINI
239
liches Ziel. Aus Kompositionsgründen ergibt sich
aber dann von selbst, daß das Original nicht etwa
im Hochformat wie das Stuttgarter Büd Nr. 428, sondern
im Breitformat gehalten war; die meisten der Kopien
haben auch ausgesprochenes Breitformat Ohne nun
dieses für die Venezianer des späten 1 5. und frühen
16. Jahrhunderts charakteristische Format von Ma¬
donnenbildern mit Halbfiguren dem Giovanni Bellini
als Erfinder vindizieren zu wollen, sei doch darauf
hingewiesen, daß wir bei ihm ähnlichen Komposi¬
tionen nicht selten und doch wohl öfter als bei irgend
einem anderen zeitgenössischen Venezianer begegnen.
Ich nenne nur die beiden Bilder in der Akademie zu
Venedig, Maria mit der hl
Katharina und Magdalena
und Maria mit dem hl.
Paulus und dem hl. Libe-
ralis; ferner die Madonna
in S. Francesco della
Vigna in Venedig mit
dem hl. Sebastian, Hiero¬
nymus, Johannes Baptista
und Franziskus, sowie
einem Stifter, der hier
ganz in der Art unserer
Bilder nur mit der Hälfte
des Oberkörpers sichtbar
ist^). Dem Umstande, daß
bei diesen Madonnen Bel-
linis noch eine symme¬
trische Anordnung der Fi¬
guren obwaltet, möchte
ich keine allzu große Be¬
deutung beimessen. Die
Gesichtszüge der Madonna
hier auf ihre Verwandt¬
schaft mit Bellini prüfen
zu wollen, erscheint mir
nicht minder unmöglich
wie untunlich, da doch
einerseits kein Kopist sein
eigenes Ich so ganz und
gar zu verleugnen imstande
sein wird, andererseits
aller Wahrscheinlichkeit
nach auch gar nicht die feste Absicht einer getreuen
und täuschenden Kopie bestand.
Weiter sei auf die Art, v/ie das Kind sitzt be¬
ziehungsweise wie Maria dasselbe hält, hingewiesen.
Wenn auch nicht typisch getreue, so finden wir bei
Bellini doch verwandte Sitzstellungen des Kindes, z. B.
auf der Madonna der Nationalgalerie in London, auf
der Madonna mit dem Engelreigen in der Akademie
in Venedig, dann auf dem herrlichen Bild in der
Sammlung Morelli in Bergamo; man vergleiche nament¬
lich hier das linke Beinchen. Ähnlich wie auf unseren
Bildern erscheint dann die linke Hand der Maria
unter dem Ärmchen des Kindes durchgeschoben auf der
i) Morelli 1, 344, hält den Stifter für eine Zutat des
17. Jahrhunderts.
Madonna mit St. Katharina und Magdalena der Aka¬
demie in Venedig, auf der Madonna mit St. Paulus
und Georg und auf der Madonna von 1487 (Nr. 94)
in der gleichen Sammlung. Auf diesen Madonnen
sowohl als auch auf der Madonna in Bergamo
läßt das Kind mehr oder weniger lässig den Arm herab¬
hängen; bei den in Frage stehenden Kopien ist er nur
um einiges mehr abgebogen, auch erscheint das Händ¬
chen entgegen der bellinischen Weise ausgestreckt
Mich bedünkt, daß die hier berührten Punkte in
ihrer Gesamtheit sehr wohl Giambelüno als Meister
des verschollenen Originals erscheinen lassen können,
jedenfalls ihn mehr als etwa Alvise Vivarini, seinen
Nebenbuhler, von dem
mir keine Madonnenbilder
mit Heiligen im Sinne der
hier in Frage stehenden
bekannt sind. Bezeichnen¬
derweise lief auch eine
der Kopien, und zwar eine
der reichsten, jene der
Sammlung Pourtales- Paris,
unter dem Namen Gio¬
vanni Bellinis (Abb. 3).
Emile Galichon nennt sie
eine Perle (gloire) der
Galerie, die würdig wäre
in den Louvre aufgenom¬
men zu werden ^). Gro¬
nau a. a. O. bezeichnet
das Bild als Catena, frei¬
lich mit einem Fragezei¬
chen. Das Bild, das mir
nur aus Gaillards Stich
bekannt ist, bietet mit
seinen zwei weiblichen
und zwei männlichen
Heiligen und dem Stifter
die abgerundetste und
glücklichste Komposition.
Ich wage aber nicht, mich
nur auf Grund dieser
allein für Bellinis Autor¬
schaft zu entscheiden.
Gegen ihn spricht nament¬
lich das etwas kleinlich behandelte, geblümte und mit
Perlen besetzte Kopftuch; Bellini liebt ganz schmuck¬
lose, einfarbige, höchstens mit einer schmalen Bordüre
besetzte Tücher. Auf zwei Bildern, dem Previtali
der Berliner Galerie (Abb. 5) und dem sogenannten
Basaiti der Stuttgarter Galerie (Nr. 428) erblicken wir
die gleiche betende Heilige; das Stuttgarter Bild gibt
sie ziemlich genau, nur in vereinfachter Kleidung,
Previtali in freier Übersetzung wieder. Außerdem
entlehnt auch Previtali den lesenden Paulus. Irre ich
nicht, so gehen also beide Bilder auf das Pariser
Bild oder das jenem zugrunde liegende, wohl ebenso
reiche Original Bellinis zurück.
Die beiden Bilder der Stuttgarter Galerie wurden
1) Gazette des Beaiix-Arts XVIIl (1S65), S. 11.
ABB. 2. BASAITI (?). MADONNA. STUTTGART,
GEMÄLDESAMMLUNG
32
240
EINE KOMPOSITION VON GIOVANNI BELLINI
ABB. 3 CATENA (?). MADONNA MIT HEILIGEN. PARIS, SAMMLUNG POURTALES
bisher dem Marco Basaiti zugeschrieben ’). Den Be¬
weis, daß das eine mit der assistierenden, oben er¬
wähnten Eieiligen eher ein früher Lorenzo Lotto zu
nennen ist, von dem ein verwandtes Bild in Neapel
(Abb. 4; nach Berenson zwischen 1503 und 1505
gemalt) sich befindet, hat Franz Rieffel mit kurzen,
aber treffenden Worten bereits erbracht (Repertorium
für Kunstwissenschaft 1897, S. 168). Hier ist darauf
hinzuweisen, daß nicht — wie die Erläuterungen des
Klassischen Bilderschatzes zu Nr. 1400 besagen — das
Bild Nr. 428 die »Marco Basaiti« gelesene Inschrift trägt,
sondern das Bild Nr. 429, das die einfachste Form
unserer in Frage stehenden Madonnenbilder reprä¬
sentiert. Die stark retuschierte Inschrift lautet: marcho
• d ioa® B P (oder p?). Crowe und Cavalcaselle
(Geschichte der italienischen Malerei, Band V, S. 285
bezw. 186) schreiben das eine Mal das Bild, das
ehemals von Ridolfi (Marav. I, 94) als Bellini an¬
gesprochen worden war und aus S. Maria degli Angel i
zu Murano stammt, dem Basaiti zu, während sie das
andere Mal es als fraglich hinstellen, ob es von Marco
Basaiti, Marco Pensaben oder Marco Belli herrührt.
Der Zustand des Bildes — es ist sehr stark be¬
schädigt und übermalt, namentlich im Mantel der
Madonna, an ihrer linken Hand und am Kind —
verbietet geradezu ein bestimmtes Urteil. Am ehesten
möchte man noch durch die freilich stark retuschierte
Landschaft, die hinter dem den Hintergrund der
Madonna bildenden Vorhang sichtbar wird, an Basaiti
erinnert werden. Doch widerspricht dieser Vermutung
auf das entschiedenste die noch verhältnismäßig gut
erhaltene, entsetzlich fade, langweilige, knochenlose
rechte Hand der Maria; man vergleiche sie nur mit
3) Verzeichnis der Gemäldesammlung in Stuttgart, von
Lange (1903), Nr. 428 und 429.
den lebendigen Händen auf den Bildern der Berufung
der Söhne Zebedäi in Venedig und Wien oder mit
den Berliner Madonnenbildern. Auch spricht mir der
Cartellino dagegen. Basaiti signiert gewöhnlich in
Antiqua MARCVS BAXAITVS oder BASAITI, aber
nie in so fremdartiger Weise in Kursiv- Minuskel.
Wie schon erwähnt, verbietet nach meinem Bedünken
der schlechte Zustand des Bildes eine bestimmte Taufe.
Von Interesse ist mir der zweite Teil der Inschrift:
d ioa= B. P«. Crowe und Cavalcaselle (Geschichte der
italienischen Malerei V, S. 285) lösen sie auf: »Marcus
de Joannes Bellini pinxit von Reber und Bayers-
dorfer bei der Erläuterung des Stuttgarter Bildes
Nr. 428 (Klassischer Bilderschatz Nr. 1400): »Marcus de
Joanne Bellini pinxit«^). Ich stehe nicht an, mich
dieser Leseart anzuschließen; scheint sie mir doch
ein weiterer Beweis des Schulzusammenhanges unserer
Bilder mit Bellini zu sein. Ich verkenne hierbei
durchaus nicht die grammatikalischen Schwierigkeiten;
doch könnte das s in ioas nicht erst bei der Retusche
der Inschrift entstanden und ursprünglich ein e ge¬
wesen sein, wie auch von Reber und Bayersdorfer
»de Joanne Bellini« zu lesen geneigt sind. Soll nun
dieses de nur die Schülereigenschaft des Marcus be¬
kunden oder direkt besagen, daß Marcus das Bild
nach Bellini gemalt habe? Weder Crowe und Caval¬
caselle, noch von Reber und Bayersdorfer treten dieser
heiklen Frage näher. Beides ist ja wohl möglich.
Gronau sagt nun a. a. O. S. 302, daß seine Zu¬
sammenstellung ganz sicher noch nicht alle Kunst¬
werke mit dieser Komposition' aufzähle. Ich bin in der
Lage, ein weiteres Bild seinem Verzeichnisse beizufügen.
Es befand sich in München in Privatbesitz (Baronin
4) Das Verzeichnis der Gemäldesammlung in Stuttgart
von Lange (1903), S. 95, liest »marcho d ioa b. T*.«
EINE KOMPOSITION VON GIOVANNI BELLINI
241
Moltke)^) und schließt sich im großen und ganzen in
der Komposition dem bezeichneten Stuttgarter Bilde
Nr. 42g an (Abb. 1). Maria sitzt rechts vor einem
an einer Stange hängenden Vorhänge, der mit seinem
unteren Teile eine Brüstung verdeckt, hinter welcher
links eine hügelige Landschaft sichtbar wird. Die
Hand der Mutter legt sich auf ein auf der Brüstung
stehendes Buch. Also eine Komposition ähnlich wie
auf den beiden Stuttgarter Bildern, und wenn ich
Gronau folgen darf, auch des Londoner Bildes von
Cima (?) bei Mr. L. besser. An der Brüstung ist ein
kleiner in sechs Teile ge¬
falteter Cartellino mit der
Inschrift: lOANNES BEL-
LINVS befestigt. Die Er¬
haltung des Bildes ist eine
ziemlich gute zu nennen.
Am Mantel erscheinen
einige Stellen übermalt;
bei zwei Sprüngen, die
an unwesentlichen Stellen
sich zeigten, beschränkte
man sich klugerweise auf
Verkitten und ein ober¬
flächliches Abtönen des
Grundes. In den Maßen
(Höhe 0,66 m, Breite 0,97
m) entspricht das Bild im
allgemeinen den bereits
bekannten Bildern.
Das Kolorit ist ein
ruhiges, einheitliches. Der
an der Stange hängende,
in das Rote hinüberspie¬
lende grüne Vorhang, der
jenem auf dem Bilde Bel-
linis von 1487 in der Aka¬
demie zu Venedig ähnelt,
teilt das Bild in beinahe
gleiche Hälften. Das Kopf¬
tuch der Maria ist fast
weiß, ihr Mantel blau, das
Futter unter der rechten
Hand von ziemlich roter
Orangefarbe, ihr Kleid
von leuchtendem Karmoi-
sin. Das Karnat von
Mutter und Kind, ein
warmes Goldgelb, erhält in den Wangen und anderen
Stellen einen roten Anflug. In der koloristischen Wir¬
kung gemahnt diese Gruppe viel an die eben er¬
wähnte Madonna Bellinis von 1487 in der Akademie
zu Venedig.
Auf der linken Seite des Bildes erblicken wir
hinter einer rotbraunen Marmorbrüstung eine Land¬
schaft mit meist kegelförmigen, langweiligen Bergen,
einen Fluß mit befestigter Brücke im Mittelgründe
und eine wandernde Schafherde mit Hirtenpaar im
1) Über den Verbleib des Bildes, das im Jahre igoo
gelegentlich der Renaissance-Ausstellung der Sezession in
München verkauft wurde, fehlen mir sichere Nachrichten.
Vordergründe. Für die wenig detaillierten Berge mit
ihren geraden, gleichmäßig ansteigenden Konturen
fehlt mir jeder Vergleich mit auch nur entfernt ähn¬
lichen Veduten. Im Hintergründe sind sie blau, im
Mittelgründe grün gehalten, so zwar, daß die Färbung
gegen die Grate hin rasch an Intensität, im Grün fast
bis zu Schwarz, zunimmt. Mit dieser wenig intimen
Behandlung steht die Landschaft in scharfem Kontrast
zu den Figuren der Madonna und des Kindes unseres
Bildes und zu den viel sorgfältigeren Landschaften
Bellinis. Wie ich oben entwickelte, scheint mir
Giambellino der Meister
des verschollenen Origi¬
nals zu sein, auf den alle
diese kompositioneil ver¬
wandten Bilder zurück¬
gehen. Gronaus Vermu¬
tung gewinnt durch das
letzte Bild nur noch an
Wahrscheinlichkeit, wenn
ich auch weit entfernt bin,
in ihm das verschollene
Original, das zweifellos
noch assistierende Heilige
und einen Stifter enthielt,
zu erblicken. Der Cartel¬
lino nennt Bellini als
Meister; doch man weiß,
wie skeptisch man gerade
bei diesem Meister der
Namensbezeichnung ge¬
genüberzutreten hat, da
eine große Anzahl Schul¬
bilder mit dem Meister¬
namen signiert ist. Mit
vollem Rechte aber können
wir das Bild zum min¬
desten als ein Schulbild
und zwar, die Landschaft
ausgenommen, als ein
sehr gutes bezeichnen. An
Stelle der Landschaft war
sicher eine Figur beab¬
sichtigt, die ganze Raum¬
verteilung spricht dafür.
Das Stuttgarter Bild Nr.
42g, das sich nur auf
Mutter und Kind be¬
schränkt, räumt der Landschaft dagegen weit weniger
Raum ein, so daß bei diesem eint Figur kaum
gedacht war; es ist kompositioneil abgerundeter.
Meine Skepsis bezüglich des Cartellino gründet
sich nur auf der allgemeinen Wahrnehmung, daß viele
Schulbilder die Signatur Bellinis tragen. Am Car¬
tellino unseres Bildes selbst läßt sich nichts Auf¬
fallendes konstatieren; er erscheint als der Entstehungs¬
zeit des Bildes angehörig, nicht als spätere Zutat. Die
Schreibweise ist die bekannte in Antiqua: lOANNES
BELLINVS, jedoch ohne die Vergrößerung des einen
L, welche Morelli I, 353 als Kennzeichen einer echten
Bellini-Signatur ansieht. Doch möchte ich hier dieser
ABB. 4. LORENZO LOTTO. MADONNA. NEAPEL, MUSEUM
ABB. 5. PREVITALI. MADONNA. BERLIN, KGL. MUSEUM
242
EINE KOMPOSITION VON GIOVANNI BELLINI
Behauptung des trefflichen Bilderkenners nicht bei¬
pflichten. Ebensowenig möchte ich aber nun auf
Grund des Monogramms für die Autorschaft Bellinis
mit aller Sicherheit und vollem Nachdruck eintreten,
so verlockend es auch wäre, einen neuen Bell in i ent¬
deckt zu haben. Das eine aber darf wohl kühn
behauptet werden, daß unser Bild gerade in der Auf¬
fassung der Madonna am meisten der bellinesken Art
entspricht, jedenfalls viel mehr, als etwa der Berliner
Previtali, der Pariser Catena oder der Lorenzo Lotto
in Neapel.
Giovanni Bellini harrt immer noch einer stilkriti¬
schen Abhandlung; eine solche dürfte nicht versäumen,
auch der einschneidenden, hier erörterten Frage näher
zu treten. Es handelt sich nach meinem Bedünken
nicht allein um Kopien der zwei wichtigsten Figuren,
sondern auch um freiere Übersetzungen i). So darf zu
den Kopien keinesfalls die Nummer 2 des Gronau-
schen Verzeichnisses (Repertorium 1897, S. 301), der
Previtali der Londoner Nationalgalerie, gerechnet
werden, der schon wesentlich andere Kompositions¬
elemente — vergleiche die >en face< -Stellung der Maria,
die Sitzart des Kindes — zum Ausdruck bringt. Ein
1) Zu diesem Zcählt auch die Verlobung der hl. Katha¬
rina von Andrea Previtali in S. Oiobbe zu Venedig.
anderes Bild, die als Cima da Conegliano bezeichnete
Madonna mit einem Stifter des Berliner Museums
beansprucht, wie ein Blick auf das Christuskind be¬
weist, weit mehr diesen Platz.
Mir war es nur darum zu tun, Georg Gro¬
naus Vermutung, daß Bellini der Meister des ver¬
schollenen Originals war, durch einige Beobach¬
tungen zu festigen, und dazu bot sich als ein
treffliches Argument das Münchener Bild. Meines
Wissens tragen nur zwei der bisher bekannten Kopien
eine Signatur, der Lorenzo Lotto in Neapel und der
sogenannte Basaiti in Stuttgart. Durch die Bezeich¬
nung auf dem Münchener Bilde nun wird aber
Berensons und Rieffels Annahme (Repertorium 1897,
S. 168), daß Lorenzo Lotto und Marco Basaiti bei
demselben Meister, nämlich dem Alvise Vivarini ge¬
lernt hätten, erschüttert, und überdies gewinnt auch
der schon vermutete und angenommene Schulzu¬
sammenhang Lottos und Basaitis mit Giambellino an
Sicherheit. Das hier neu eingeführte Bild erweist sich
nach den angedeuteten Punkten für die Geschichte
der venezianischen Malerei von besonderer Bedeutung
und zweifellos als ein wichtiges Glied für die noch
keineswegs genügend aufgeklärten Beziehungen der
um Giovanni Bellini sich gruppierenden und von ihm
abhängigen Maler untereinander.
VALENTIN r^UTHS. DER SCHAARMARKT IN HAMBURG
VALENTIN RUTHS
Von H. E. Wallsee-Hamburo
VIELE halten das Jahrzehnt nach dem Tode
eines hervorragenden Künstlers als für eine un¬
befangene Schätzung seiner Bedeutung am un¬
geeignetsten. Ich möchte diese Annahme nur mit
einiger Einschränkung gelten lassen. Sie trifft zu,
wenn es sich um Begabungen handelt, die in ein¬
schneidender Weise in die Kunstbewegung ihrer Zeit
eingegriffen haben und mitten im Flusse dieser Be¬
wegung hinweggestorben sind, wie etwa Feuerbach
und Makart und in neuerer Zeit Böcklin, und sie
trifft wieder nicht zu bei Künstlern, deren Lebens¬
werk schon vor ihrem Ableben in geschlossener
Kurve Vorgelegen hat. An dem künstlerischen Lebens¬
bild von Ludwig Richter, Menzel, Leibi, Lenbach z. B.
hätten auch weitere, mit arbeitsvoller Tätigkeit aus¬
gefüllte Jahrzehnte nichts abzuändern vermocht, weil,
was die entscheidungsvollsten Maßstäbe abgibt, für
ihre Beurteilung nicht erst am Ausgang ihres Lebens
gefördert worden ist.
Und ähnlich so verhält es sich auch mit dem
hamburgischen Landschaftsmaler Valentin Ruths. Die
wichtigsten Grundlagen für die Gewinnung eines Urteils
über die ihm zustehende künstlerische Bedeutung sind
nicht erst in dem Ausgangsjahrzehnt seines Lebens
zu suchen. So wertvolle Lichter das in diesem Jahr¬
zehnt Geschaffene seinem Lebenswerk auch hinzu¬
gefügt hat, dieses Werk selbst lag lange vorher in
schon gefesteten Umrissen abgeschlossen vor. Man
kann von Valentin Ruths zu dem in den nieder¬
sächsischen Kunstverhältnissen Unbewanderten nicht
sprechen, ohne zur Orientierung einiges Allgemeine
über diese Verhältnisse vorauszuschicken. Es hat der
Landschaftsmalerei in Hamburg auch schon im Be¬
ginn des vorigen Jahrhunderts an Freunden nicht ge¬
fehlt, obwohl das hauptsächlichere Interesse dem
Sittenbild und mehr noch dem Bildnis zugewendet
war. Gleichwohl konnte Hamburg Hauptpflege¬
stätte werden eines erst in unseren Tagen verallge¬
meinert zur Geltung gekommenen Kunstzweiges: der
landschaftlichen Panoramamalerei. So z. B. hat in den
dreißiger Jahren ein von den Gebrüdern Suhr ge¬
maltes Panorama von Hamburg und Umgebung einen
Siegeszug durch ganz Europa angetreten. Da nun
diese Brüder Suhr (es waren drei) in ihrem Fache
ganz tüchtig, aber doch nicht so hervorragend waren,
daß angenommen werden könnte, das ihrem Ham-
244
VALENTIN RUTHS
burger Panorama auch auswärts entgegengebrachle
Interesse sei auf dessen künstlerische Beschaffenheit
zurückzuführen gewesen, erübrigt doch wohl nur
die Annahme, daß hierfür die architektonische Eigen¬
art ihrer Vaterstadt und mehr noch die ganz außer¬
ordentliche Schönheit ihrer Umgebung bestimmend
gewesen ist. Was die niedersächsische Landschaft an
sich für die Kunst bedeutet, ist vielleicht am ehesten
dem Verständnis nahe gebracht, wenn wir auf die
Dichter hinweisen, die aus Niedersachsen hervor¬
gegangen sind. Die Namen Hebbel, Storni, Frenssen,
Liliencron genügen. Diese Männer erscheinen in
ihren Werken Schöpfungen derselben Elemente, die
den Boden ihrer Heimat gestaltet haben. Sturm und
Wellen haben diesen Boden geschaffen, zerrissen und
geformt, auf dem im Laufe von ungezählten Jahr¬
tausenden Mengen blühender Waldstriche neben schwer¬
mütigen Ödflächen, Dünen und Moore erstanden
sind, um die her silberne Wasserbänder tiefe Rinnen
zogen.
Die Kultur Iiat manches an diesem Bilde ver¬
schoben, manches abgeändert und manches Neue
hinzugetan, an seiner Grundnote hat sie nichts um¬
zugestalten vermocht, und wer heute im Sachsenwald
streift und wer in der Heide herwärts Lüneburg des
Weges zieht, der kann ohne Phantasie sich in weit
zurückliegende Alterszeiten versetzt glauben. Die
Malerei ist im Erkennen des hohen schönheitlichen
Wertes dieser heimischen Landschaft hinter den Schrift¬
stellern dreingezogen. Wenn wir von der schon er¬
wähnten Panoramamalerei absehen, die schließlich
doch ein anderes ist, als im allgemeinen unter rich¬
tiger Landschaftsbildnerei verstanden wird, so sehen
wir die Erkenntnis und das Verständnis für die
Schönheit ihrer heimatlichen Landschaft im beson¬
deren und den Wert der Neubelebung der Land¬
schafterei für die Zukunft der Kunst im allgemeinen
erst bei dem im Jahre 1777 geborenen Otto Runge
einsetzen. Verwandte Anklänge finden sich bei Julius
Oldach, zur Stimmungsschilderung entwickelt ist die
Landschaftsmalerei in den dreißiger Jahren des vo¬
rigen Jahrhunderts bei Christian Morgenstern und
Adolf Friedrich Vollmer. Dem letzteren steht über¬
dies das Verdienst zu, als Erster die schönheitlichen
Werte des hamburgischen Hafens erkannt und —
als Radierung — künstlerisch als Erster frei behandelt
zu haben.
»In den dreißiger Jahren vollzog sich innerhalb
des Hamburger Künstlerkreises die entscheidende
Krisis. Die Führer der Präraffaelitengruppe waren
jung gestorben. Die Stimmungslandschafter wie
Morgenstern und Vollmer ausgewandert. Morgen¬
stern gründete eine eigene Schule in München,
Vollmer verlor in der Fremde seine früh entwickelte
Eigenart und kehrte als ein anderer nach Hamburg
zurück. So blieb das Feld Jakob Gensler und Herr¬
mann Kauffmann, die, von Hause aus auf das Leben
der Gegenwart gerichtet und weder von der Alter¬
tümelei der Präraffaeliten , noch von der Sentimen¬
talität der Romantiker im geringsten angekränkelt, in
den Münchener Realisten ihre gleichgearteten Führer
fanden. Als sie in ihre Heimat zurückkehrten, rissen
sie ihre Genossen mit sich fort. Die Landschaft und
das Volksleben der Heimat wurden von der jungen
Kunst auf das mannigfaltigste widerspiegelt. Den
Sachinhalt des täglichen Tuns und Treibens unseres
Volkes und der hügeligen Wald- und Heidelandschaft
hat das Geschlecht völlig erschöpft. Dagegen kam
der Ansatz zu einer Schilderung des Stimmungs¬
gehaltes, den wir bei Morgenstern und Vollmer kon¬
statieren können, bei ihnen nicht zur Entfaltung. Wir
dürfen angesichts der Werke von Kauffmann, der
Gebrüder Gensler, der beiden Haeselich, Otto Speckters
und anderer mehr die Bezeichnung Hamburger Schule
für diese Künstlergruppe wohl anwenden, denn weder
in früherer, noch in späterer Zeit ist der Mensch
und die Natur unseres Landes so ernsthaft und um¬
fassend dargestellt worden, und neben den wahlver¬
wandten Münchener Realisten gibt es weder in Berlin,
Dresden noch Düsseldorf eine Gruppe von Künstlern,
die zu jener Zeit für ihre Provinz geleistet haben,
was von 1830 bis 1850 Kauffmann und sein Kreis
in Hamburg gewesen sind. Daß es von der deut¬
schen Kunstgeschichte übersehen und in Hamburg
vergessen werden konnte, liegt an tlern Kreis, für den
die Künstler schufen. Fast alle ihre Arbeiten be¬
finden sich in Privatbesitz. Wir haben aber heute
die Pflicht, uns dieser eigenartigen Leistungen be¬
wußt zu werden, die sicherlich von den kommenden
Geschlechtern zu dem gesündesten gerechnet werden,
was unser Jahrhundert in Deutschland hervorge¬
bracht hat.«
So schreibt A. Lichtwark in seinem Buche über
»Herrmann Kauffmann und die Kunst in Hamburg.«
Auf die hier genannten Künstler des näheren ein¬
zugehen, würde uns von dem eigentlichen Zweck
dieser Zeilen, unseren Lesern die Persönlichkeit des
bedeutendsten hamburgischen Landschaftsmalers aus
unseren Tagen nahe zu bringen, ablenken. Daß er
in dieser seiner Bedeutung nicht auch außerhalb
Hamburgs längst erkannt ist, dafür geben die Schlu߬
sätze in dem dem Lichtwarkschen Buch entnommenen
Auszug die Erklärung. Über Berlin und Dresden
sind die nennenswerten Werke Ruths auf Aus¬
stellungen nicht hinausgekommen und just die für
die Kenntnis seiner künstlerischen Eigenart bezeich¬
nendsten befinden sich in privaten Fländen. Wie so
mancher der aus Hamburg hervorgegangenen Künstler
begann die Laufbahn auch Valentin Ruths’ im Kauf¬
mannskontor. Er war dahin gebracht worden, weil
seinen Eltern die Mittel zum Bezahlen des Lehrgeldes
fehlten, das ein Maleramtsmeister für die angesuchte
Übernahme des Knaben als Lehrling gefordert hatte.
Der kleine Ruths aber, in dem der Künstler sich
schon frühzeitig regte, hielt scharfen Ausguck nach
irgend einer Gelegenheit, seine Sehnsucht verwirk¬
lichen zu können. Diese Gelegenheit fand sich
in einer Bekanntschaft mit einem Lithographen
namens Beer. Dieser erbot sich auch, ihn in die
Lehre zu nehmen, obwohl Ruths erklärte, die Litho¬
graphie nur als Mittel zum Zweck zu betrachten,
da er Landschaftsmaler werden wolle und müsse.
VALENTIN RUTHS
245
Ruths bedang sich für die ersten zwei Jahre die
Hälfte des Ertrages seiner Arbeiten aus und forderte
für später die halbe Zeit zu seinem alleinigen Nutzen.
Beer ging auf beides ein. Nachdem Ruths den ersten
Winter nach Gips und nach Vorlagen gezeichnet
hatte, fing er im Frühjahr 1844 an, Aufnahmen nach
der Natur zu machen. Der Aufbau des im Jahre 1842
abgebrannten Stadtteiles stand damals im Vordergrund
des allgemeinen Interesses, und Ansichten davon als
Kopfleisten für Briefbogen fanden guten Absatz. Der
eifrige Kunstnovize zeichnete allmählich größere An¬
sichten, nachmittags und Sonntags auch landschaft¬
liche Studien. Das Verhältnis mit Beer zerschlug
sich, als Ruths im Frühjahr 1846 der Absprache ge¬
mäß die Hälfte der Zeit für sich in Anspruch nehmen
wollte, und er arbeitete nun den Sommer für sich
allein. Im Herbst hatte er ungefähr hundert Thaler
erübrigt. Diese Summe schien ihm ausreichend ge¬
nug, darauf seine künstlerische Zukunft zu bauen.
Nun machte er sich Anfang Oktober, meist zu Fuße
wandernd, zeichnend und skizzierend, über den Rhein
und durch Süddeutschland auf den Weg nach
München, wo er am 1. November 1846 eintraf.
Er fand hier Aufnahme in der polytechnischen
Schule; die Reise und der Winter hatten aber trotz
der größten Einschränkung seine kleine Barschaft
bald aufgezehrt. Die Lithographie ermöglichte es ihm
zunächst, wenn auch nur kümmerlich, in München
zu existieren. Seine Lage besserte sich sogar vorüber¬
gehend im Jahre 1848, wo ihm die politische Be¬
wegung Gelegenheit gab, Tagesereignisse und po¬
litische Karikaturen zu zeichnen. Die zunehmenden
Wirren machten indes auch dem und einigen anderen
guten Aussichten wieder ein Ende, und so kehrte er
nach fast zweijährigem Aufenthalt in München im
Sommer 1848 nach Hamburg zurück. Hier fand
er zunächst Beschäftigung in der lithographischen
Anstalt von Ch. Fuchs, zog sodann im Sommer nach
dem bei Hamburg gelegenen Vorort Großborstel,
wohin er die Steine kommen ließ, und zeichnete und
malte in freier Zeit landschaftliche Studien. Zwischen¬
durch — es war dies im Jahre 1849 und 1850 —
malte er seine ersten Bilder.
1850 ging Ruths nach Düsseldorf zu J. W. Schirmer.
Hier gehörte Valentin Ruths mit zu jenen Künstlern,
die in ihren Werken Lessings Worte: »daß die Land¬
schaft, weil sie keine Seele habe, für die Malerei
kein Vorwurf sein könne«, zuerst ins Unrecht stellten.
Freilich stand die Naturliebe jener Zeit noch unter
dem Zeichen der Romantik, es war die Blüteperiode
der stilisierten Landschaft, in der die wirkliche Natur
sich den jeweiligen Neigungen des darstellenden
Künstlers unterordnen mußte.
Was Ruths unter Schirmer in Düsseldorf empfangen,
entwickelte er weiter durch eigene Anschauungen, zu¬
nächst auf seiner ersten Italienfahrt, als deren Frucht
er unter anderem eine derzeit im Besitz der ham-
burgischen Kunsthalle befindliche, im Abendsonnen¬
schein erglühende kleine Landschaft aus den Sabiner¬
bergen heimbrachte. Schon in diesem Gemälde tritt
in bestimmter Form zutage, was in der Folge so
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. g
häufig in seinen Werken wiederkehrte, daß hier wohl
von einer dauernden Eigenart unseres Künstlers ge¬
sprochen werden kann: das ist der bei Lessing am
sichtbarsten, bei Schadow weit abgeschwächter, aber
noch immer in seinen Ausklängen bei V. Ruths deut¬
lich wahrnehmbare Einfluß Schinkels: von erhöhten
Standpunkten aus eine möglichst große Fläche mit
Bergen, Hügeln, Tälern, Flüssen, Saatfeldern und
Landwegen zu umfassen. Hierzu gesellte sich bei
Ruths eine kräftige Durchbildung der Form, Energie
des Kolorits und die vorschlagende Neigung, in das
in der Landschaft Gegebene und tatsächlich Vor¬
handene seine eigenen Ideen hinein zu konstruieren,
womit jedes seiner Gemälde ein Persönliches er¬
hielt, das auch ohne Namensfertigung jedes seiner
Werke sofort als von seiner Hand herrührend er¬
kennen läßt.
Im Jahre 1857 kehrte Valentin Ruths nach seiner
Vaterstadt zurück, wo er seither, mit Unterbrechungen,
dauernd verblieb. Diese Anhänglichkeit entsprang
dem reinsten Heimatgefühl, denn künstlerisch, wie
in seiner menschlichen Eigenart zog es Ruths weit
mehr auf stille, von Menschengewühl und dem Ge¬
triebe der großen Städte abseits gelegene Bahnen.
Im Treppenhause der Kunsthalle in Hamburg sind
acht Gemälde von seiner Hand aufgemacht, acht aka¬
demische Paradestücke, ihrem räumlichen Umfang
nach wohl die größten Leinwänden, die er bemalt,
in dem, was sie von dem Poeten sagen, der in dem
Künstler steckte, wohl die zurückhaltendsten unter
allen seinen Werken. Nicht daß er dem an sich
Großen ausgewichen wäre, aber dieses erkannte er
nicht in großen Maßen, sondern in dem Widerhall,
den die von außen herantretende Erscheinung
weckt. Die Heide, der Urwald, das Hochgebirge
--- diese bleibenden Stätten des Naturgrößen —
waren seine künstlerischen Lieblingsaufenthalte, aus
denen heraus sein Geist reichste Befruchtung empfing.
Der Baum stand ihm — künstlerisch — näher als
der Mensch, und vor die Wahl gestellt, wen von
den beiden er in seinen Gemälden im Vordergründe
anbringen solle, entschied er sich immer für den
ersten. So befanden sich unter den einhundertund-
siebzig oder mehr nachgelassenen Ölgemälden, Aqua¬
rellen und Zeichnungen (fertige Arbeiten und Studien),
die während der Monate März und April dieses Jahres
in der Kunsthalle ausgestellt waren, alles in allem
etwa vier oder fünf Tafeln mit einiger figürlicher
Staffage, die aber selbst dort, wo im Titel darauf
Bezug genommen war — wie z. B. auf dem als
»Künstlers Erdenwallen« bezeichneten Gemälde, das
vier Wanderkünstler in öder Dünenlandschaft zum
Mittelpunkte hat — , nur zur Unterstützung des be¬
sonderen Charakters der betreffenden Landschaft
dienten.
Die großen Schönheiten der eigentlichen ham-
burgischen Landschaft sind in unseren Tagen von
vielen neu entdeckt worden und nicht nur von Ham¬
burgern allein. Elbauf- und elbabwärts, in den Niede¬
rungen des Alstertales und im eigentlichen ham-
burgischen Hafenbecken selbst kann man mit dem
33
VALENTIN RUTHS
WALDBACH
VALENTIN RUTHS
WESTFÄLISCHE
248
VALENTIN RUTHS
Wiederbeginn der guten Jahreszeit hamburgische und
auch von weither zugereiste Künstler, Lehrende und
Lernende, einzeln und in Gruppen darauf ausgehen
sehen, sich vornehmlich der malerischen Reize dieser
Landschaft zu versichern. Aber eben nur der male¬
rischen Reize. Das, was über den Farbenklang hinaus
und was in dieser Landschaft lebendig, daß eine
Seele da ist, das haben die meisten nicht erkannt,
und so können wir es von ihnen auch nicht er¬
fahren. Man wird, wenn der Umformungsprozeß,
in dem Hamburg, Stadt und Land, sich zur Zeit
befindet, abgeschlossen sein wird, um zu erfahren,
wieviel Heimeliges es hier herum gegeben hat, sich
bei den Blättern und Tafeln Valentin Ruths’ Rats
erholen müssen.
ln seinen letzten Lebensjahrzehnten war Ruths
Zeuge der großen Reformbewegung auf dem Ge¬
biete der Malerei, die ganz besonders in Hamburg
bei qualitativ weit auseinanderstehenden Begabungen
lärmvolle Zustimmung fand. Doch stalt vor den
turbulenten Äußerungen dieser Bewegung in kühler
Abkehr, wie so viele andere Alte taten, scheu oder
im Trutze zurückzu weichen, suchte er nach der Mög¬
lichkeit einer Verständigung, die er auch in der
Weise fand, daß, was er an den Modernen für gut
erkannte, er seiner eigenen Art verband. Dadurch
hat er für sich erreicht, daß es seiner Kunst bis in
unsere Tage herein nicht an werktätigen Freunden
fehlte, und für seine jungen Berufsgenossen, daß sie
an dem Beispiel lernten, das er ihnen bot. Und so
ist, indem er, ohne von seiner erprobten alten Art
zu lassen, von dem Neuen an- und aufgenommen
hat, was ihm gesund und mit seiner Naturanschauung
im Einklang stehend geschienen, er der ungestümen
Jugend geworden, was das Alter der Jugend stets
sein soll: ein Beispiel Gebender und Wegweisender
in dem schweren Kampf des Lebens.
Valentin Ruths war am 6. März 1825 geboren
worden und ist am 18. Januar 1905 gestorben.
VALENTIN RUTHS. AUS DEM SABINERGEBIROE
VOM GEWÖLBE DER TAUEKIRCHE ST. GEREON IN KÖLN
DIE ROMANISCHEN WANDMALEREIEN DER RHEINLANDE
Die Veröffentlichung mittelalterlicher Wand¬
malereien ist zwar eine sehr nötige und ver¬
dienstliche, dabei aber recht mühselige und
undankbare Arbeit, die von jeher nur in geringem
Grade den Ehrgeiz der Fachgenossen zu entflammen
vermocht hat. Die Tatsache, daß die Kenntnis
des Entwickelungsganges der mittelalterlichen Malerei
irrig und lückenhaft bleibt, solange sie sich nur auf
das Studium der Miniaturen stützt, wird zwar willig
anerkannt, aber zugleich mit größter Geduld ertragen.
Es gehört eine ganz besondere Liebe zur Sache
und eine unermüdliche Ausdauer dazu, um diese
sprödeste Klasse von Kunstdenkmälern sich zum
Arbeitsfelde zu erwählen. Mit dem photographischen
Apparate ist in vielen Fällen gar nichts zu erreichen,
des Standortes, der Flächengestaltung und der Be¬
leuchtungsverhältnisse wegen. Die mühselige und
kostspielige Durchpausung erfordert geradezu fach¬
männisch geschulte Augen und Hände, die nur in
den seltensten Fällen zur Verfügung stehen. Und
selbst dann schleichen sich leicht noch Irrtümer in
die Darstellung ein, weil ja die Zusammenhänge der
Linien oft nur erraten werden müssen. Die meist
trümmerhaft erhaltenen Farbenreste müssen wieder
besonders und aus freier Hand eingetragen werden.
Die farbige Reproduktion endlich erfordert große
Mittel und ganz besondere Mühewaltung. Und das
Resultat so vieler hingebender Arbeit ist schließlich
doch in vielen Fällen nur ein künstlerisch wenig be¬
friedigender, trümmerhafter Gesamteindruck. Kurzum:
Ein undankbares Gebiet! Zahlreiche große und kleine
Wandbilderzyklen, die in der lebhaften Umbau- und
Restauriertätigkeit der letzten Jahrzehnte zutage ge¬
treten waren, sind daher wieder unter der Tünche
verschwunden oder durch den Pinsel des Restaurators
ihres dokumentarischen Wertes beraubt worden, ohne
daß sie vorher in einwandfreien Aufnahmen für die
Forschung festgelegt worden wären. Nur innerhalb
größerer Verbände und bei sehr reichlichen Mitteln
ist eine entsprechende Pflege dieser wichtigen Klasse
mittelalterlicher Kunstdenkmäler möglich.
Der Provinzial- Konservator der Rheinprovinz hat
sich ein besonderes Verdienst dadurch erworben, daß
er seit einem Jahrzehnt eifrig bemüht gewesen ist,
die gerade im Rheinlande zahlreich zutage tretenden
Reste mittelalterlicher Wandmalereien vor ihrer Ver¬
nichtung oder Restaurierung in guten Nachbildungen
zu retten. Über 250 Blätter der Art sind jetzt be¬
reits im Denkmälerarchiv der Rheinprovinz vereinigt.
Ein ganzer Stab besonders geschulter und ausge¬
bildeter Maler war dauernd für diesen Zweck be¬
schäftigt. Es bleibt ein Ruhmestitel der rheinischen
Provinzialverwaltung, die Mittel für diese Aufgabe
bereitgestellt zu haben. Mit Ungeduld wurde die
Veröffentlichung der kostbaren Funde von der For¬
schung erwartet. Der große Zug, der durch die
rheinische Wandmalerei des Mittelalters hindurchgeht,
war ja schon einigermaßen bekannt durch die drei
großen Wandbilder- Zyklen von Schwarzrheindorf,
Brau Weiler und Ramersdorf, die aus' m Weerth vor
fast einem halben Jahrhundert, allerdings erst im Zu¬
stande nach der Restauration, veröffentlicht hat').
Ferner waren die schönen Dekorationen der St. Se-
verikirche zu Boppard und der Chorschranken des
Kölner Domes, die interessanten Reste im Westchor
des Münsters zu Essen und in der Kirche zu Knecht¬
steden auf der großen Ausstellung niittclalterlichcr
Wand- und Glasmalereien im Berliner Kunstgewerbe¬
museum (Frühjahr 1 895) durch charakteristische
Proben vertreten'-). Diese Proben sind inzwischen
in dem verdienstvollen und reichhaltigen Werke Borr-
1) E. aus’m Weerth, Kunstdenkiiiäler des christlichen
Mittelalters in den Rheinlanden. Atlas mit 40 Tafeln und
Textband. Leipzig 1857-1860.
2) Vergl. Repertorium für Kunstwissenschaft XVIII,
148- 159,
250
DIE ROMANISCHEN WANDMALEREIEN DER RHEINLANDE
manns »Aufnahmen mittelalter¬
licher Wand- und Deckenmalereien
in Deutschland» (Berlin 1897
bis 1900) in farbigen Nachbil¬
dungen veröffentlicht worden.
Einen vollen Eindruck dessen
aber, was für die Kenntnis der
mittelalterlichen Monurnentalma-
lerei aus den rheinischen Denk¬
mälern zu erwarten sei, vermittel¬
ten doch erst die zahlreichen far¬
bigen Kopien aus dem rheinischen
Denkmälerarchiv, welche auf den
Düsseldorfer Ausstellungen der
Jahre 1902 und 1904 zu sehen
waren.
Nun liegt der erste Tafelband
des seit Jahren von Pani Clemeti
sorgfältig vorbereiteten großen
Werkes vor. Er umfaßt auf 64
Tafeln die rheinischen Wandmale¬
reien der romanischen Epoche ^).
Man muß gestehen, daß die Er¬
wartungen noch bedeutend über¬
troffen werden, sowohl was die
Reichhaltigkeit und Bedeutung
der Denkmäler, als die Art ihrer
Wiedergabe an belangt. Bis zurück
ins 9. und 10. Jahrhundert, zu
den Malereien im Oktogon und
1) Die romanischen Wandmale¬
reien der Rheinlande, von Paul Gie¬
men. Publikation XXV der Gesell¬
schaft für rheinische Geschichts¬
kunde. Tafelband in größtem Folio
(64X49 cm). Verlag von L. Schwann,
Düsseldorf, 1905. Preis mit dem
später erscheinenden Textband 75 M.
AUS DER TAUFKAPELLE ST. GEREON, KÖLN
in der Kaiserloge des Aachener
Münsters, geleiten uns die ersten
Tafeln. Bringen sie auch nur
dürftige Überreste zur Anschau¬
ung, es sind doch wertvolle Er¬
gänzungen zu den einzigen bis
jetzt bekannten Denkmälern deut¬
scher Wandmalerei aus dem ersten
Jahrtausend, den beiden Zyklen
in der Bodenseegegend.
Das 1 1. Jahrhundert ist durch
die ganz besonders gut wieder¬
gegebenen, bisher noch nicht
veröffentlichten Heiligengeslalten
aus der ehemaligen Luciuskirche
zu Werden und durch die nun
zum erstenmal vollständig repro¬
duzierten Szenen aus dem West¬
chor der Münsterkirche zu Essen
vertreten. Aus dem 12. Jahrhun¬
dert werden die große Apsis¬
malerei der Abteikirche zu Knecht¬
steden, die Dekoration der Krypta
in der Münsterkirche zu Emme¬
rich, die erst jüngst aufgedeckten
Gemälde in der Krypta von St.
Maria im Kapitol und aus dem
Chor von St. Gereon zu Köln
vorgeführt. Wir müssen dem
Herausgeber dankbar sein, daß
er auch die Bilderkreise aus der
Schwarzrheindorfer Doppelkirche
und aus dem Kapitelsaal von
Brauweiler in diesem Zusammen¬
hänge vollständig und übersicht¬
lich wiederholt hat. Es mußten
dabei die von aus’m Weerth be¬
nutzten Zeichnungen zugrunde
MALEREI IN DER KRYPTA DER MÜNSTERKIRCHE ST. MARTIN ZU EMMERICH
DIE ROMANISCHEN WANDMALEREIEN DER RHEINLANDE
251
WANDGEMÄLDE IN DER TAUFKAPELLE VON ST. KUNIBERT IN KÖLN
gelegt werden, da die Originale rettungslos vcrrestaii-
riert sind. Gesamtansichten des jetzigen Zustandes
wurden hinzugefügt. Zwei mächtige Christophorus-
gestalten aus der Peterskirche zu Bacharach und aus
dem Bonner Münster (die letztere umstehend ab¬
gebildet) gehören ebenfalls noch dem 1 2. Jahrhundert an.
Mit dem 13. Jahrhundert wird die Fülle der er¬
haltenen Denkmäler noch größer. Clemen bringt in
diesem Bande nur die, welche ihrem Charakter nach
noch der romanischen Epoche zuzurechnen sind:
die große Dekoration der Bopparder Severikirche,
die bisher meist noch unveröffentlichten Wand¬
gemälde aus Sayn, Carden, Andernach, Linz, Neuß,
Limburg und endlich die Zyklen in der Taufkapelle
St. Gereon, in St. Maria Lyskirchen und in St. Kuni¬
bert zu Köln.
Aus dieser knappen Aufzählung ist schon zu ent¬
nehmen , welche Fülle neuen kunstgeschichtlichen
Urkundenmaterials durch die Clemensche Publikation
der Forschung zugeführt wird. Die Anschauungen
über den Entwickelungsgang der deutschen Malerei
im Mittelalter, speziell auch nach der Seite des Farben¬
sinnes hin, wird in wesentlichen Punkten Berich¬
tigungen daraus entnehmen. Näher auf die kunst¬
geschichtlichen Ergebnisse einzugehen, ist jetzt noch
nicht die Zeit, da der ausführliche Textband, der die
Forschungsergebnisse und die eingehende Beschreibung
der einzelnen Denkmäler nebst vielen Detailaufnahmen
enthalten soll, erst binnen Jahresfrist ausgegeben wer¬
den wird. Er soll auch einige Kapitel über Technik
und Stil, über das monumentale Dekorationsprinzip,
über das Verhältnis der rheinischen Wandmalerei zu
Westfalen und Frankreich, zur byzantinischen Kunst
und zur rheinischen Buchmalerei bringen. Dem jetzt
252
DIE ROMANISCHEN WANDMALEREIEN DER RHEINLANDE
ausgegebenen Tafelbande ist nur ein kurzes Vorwort
und eine knappe Beschreibung der Tafeln beigegeben.
Die unserer Anzeige eingefügten Bildproben wollen
von der Sorgfalt der Aufnahmen und ihrer Wieder¬
gabe eine Vorstellung vermitteln. Wer jemals mit
der Veröffentlichung alter Wandmalereien zu tun ge¬
habt hat, wird die Unsumme von Arbeit abzuschätzen
wissen, die in den zwanzig vielfarbigen und vierimd-
vierzig einfarbigen Tafeln des
Clemenschen Werkes niedergelegt
ist. Je nach der Art des Denk¬
males, nach seiner Wiclitigkeit und
seinem Erhaltungszustände oder
nach den zur Verfügung stehenden
Vorlagen sind die verschiedensten
Techniken zur Anwendung gebracht
worden: Lichtdruck, Lithographie,
Farbenlichtdruck, Dreifarbendruck.
Entsprechend wechselt auch das
zu den Tafeln verwendete Papier.
Das sehr grolle Format hat leider
die Unhandlichkeit der ganzen
Mappe zur Folge, — ein Tisch
von ausschweifender Größe ist zu
ihrer Entfaltung erforderlich. Aber
andererseits ist durch die Größe
der Tafeln eine so deutliche Wie¬
dergabe auch der kleineren Einzel¬
heiten der Darstellung ermöglicht
worden, daß für diesen Vorzug
die Unbequemlichkeit gern in Kauf
genommen wird.
Da das Werk neben der kunst¬
historischen Betrachtung auch den
praktischen Zwecken der heutigen
Monumentalmalerei zu dienen
wünscht, wurden eine Anzahl
großer Kirchendekorationen im Gan¬
zen wiedergegeben, so die aus der
Severikirche zu Boppard (Tafel 32),
aus dem Limburger Dome (Tafel 49),
aus der Liebfrauenkirche in Ander¬
nach (Tafel 47). Die Außendekora¬
tion an der Stiftskirche zu Garden
(Tafel 36) ist ein interessantes Beispiel für die bisher
wenig beachtete, aber in der Zeit des romanischen
Stiles sicher vielfach geübte farbige Tönung hervor¬
ragender Bauglieder an der Außenseite monumentaler
Gebäude. Auffallenderweise befindet sich unter den
sämtlichen in diesem ersten Tafelbande veröffentlichten
Wandmalereien nur ein einziges Denkmal der Profan¬
kunst, nämlich zwei, leider sehr beschädigte Szenen,
die im Jahre 188g in einem Hause am Holzmarkte
zu Köln entdeckt und in das Museum Wallraff-
Richartz übertragen wurden. Sie stellen wohl Vor¬
gänge aus einer ritterlichen Romandichtung dar.
Viele Kräfte haben unter Clemens umsichtiger
und sachkundiger Leitung zusammengewirkt, um
dieses monumentale Denkmälerwerk zustande zu
bringen. Elf verschiedene Künstler waren bei der
Herstellung der Vorlagen tätig; drei Kunstanstalten
leisteten die Arbeit der Reproduk¬
tion. Die Dreifarbendrucke wur¬
den in der Kunstanstalt Unie in
Prag hergestellt, die Lichtdruck¬
tafeln bei Albert Frisch in Berlin,
die Lithographien bei L. Schwann
in Düsseldorf, m dessen Verlage
auch das ganze Werk erschienen
ist. Die Gesellschaft für rheinische
Gcschichtskiincie nahm das Unter¬
nehmen in die Reihen ihrer Ver¬
öffentlichungen auf. Es trägt die
Nummer XXV. Zugleich ist es
die vierte große Veröffentlichung
kunstgeschichtlichen Inhaltes, die
wir der rührigen Gesellschaft ver¬
danken. Die erste war die präch¬
tige Ausgabe der Trierer Adahand-
schrift (i88g). Dann folgte die
von Firmenich-Richartz und Keußen
besorgte Neuausgabe von Merlos
»Kölnischen Künstlernachrichten«
(1895) und im Jahre 1902 die Ge¬
schichte der Kölner Malerschule
von Scheibler und Aldenhoven.
Der große Clemensche Tafel band
bezeichnet technisch wohl den
Höhepunkt des bisher Geleisteten.
Um diese monumentale Veröffent¬
lichung in solcher Ausstattung zu
ermöglichen, bedurfte es allerdings
noch besonderer Mittel, wie sie
selbst die Gesellschaft für rheinische
Geschichtskunde nichtaufzubringen
vermochte. Hier sprang der be¬
kannte rheinische Mäcen Emil vom
Rath in Köln ein, der sich damit wieder ein schönes
Denkmal in der Geschichte der Wissenschaft errichtet
hat. Darum ist ihm mit Recht das Werk zugeeignet.
Dem energischen Organisator und kenntnisreichen
Herausgeber Giemen wünschen wir einen gedeihlichen
Fortgang und Abschluß des groß angelegten Unter¬
nehmens, für das ihn die kunstgeschichtliche For¬
schung dauernd zu Dank verpflichtet bleibt.
Jena, im Mai 1905. PAUL WEBER.
Die dem Hefte beigegebenen Kunstblätter: Original-Farbenholzschnitt von Hans Neumann jr.-München
und Originalradierung von Max Heilmann-Frankfurt a. O. sind aus dem von der Zeitschrift für bildende
Kunst 1904 ausgeschriebenen Wettbewerbe hervorgegangen.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST ig05 VOR DER KIRCHE. ORIOINALRADIERUNQ VON M. HEILMANN, FRANKFURT A.
nt
X,
DER NEUE REMBRANDT IM STADELSCHEN KUNSTINSTITUT
BEMERKUNGEN ZU DEN ZWEI HELIOGRAVÜREN
Von Ludwig Justi
WENN man neben unsere beiden Heliogravüren
irgend eine ältere Reproduktion dieses Rem-
brandtschen Gemäldes legt, so hat man im
kleinen eine ähnliche Metamorphose vor sich, wie sie
das Original erlebte, als es von seinem hohen finstern
Platz im Schönbornschen Salon in den hellen Ober¬
lichtsaal des Städelschen Instituts wanderte'). Eine
ähnliche Metamorphose, aus ähnlichen Gründen; die
älteren Aufnahmen sind offenbar bei zu schwachem
Licht gemacht worden. Der Unterschied ist am
Original selbstverständlich viel größer, aber er ist
doch auch in der Reproduktion noch so überraschend,
daß der Leser wohl den Entschluß fassen wird, recht
bald nach der schönen alten Mainstadt zu kommen,
um dies Werk zu studieren, das seit Generationen
nicht den Platz einnehmen konnte, der ihm gebührt.
Das Bild ist bezeichnet und datiert 1636. Seit
1634 war Rembrandt mit Saskia verheiratet. Aus
seinen Werken dürfen wir schließen, daß er damals
sehr glücklich mit ihr lebte. Ihr beträchtliches Ver¬
mögen befreite ihn vom Zwang des Verdienenmüssens.
Mit dreißig Jahren war er damals der gefeiertste
Künstler seines Volkes. Er malte, wie alle Holländer,
zumeist kleine Bilder für kleine holländische Zimmer,
während die katholischen Maler jener Zeit, in Belgien
und Italien, umfangreiche Martyrien und Mythologien
für Kirchen und Paläste lieferten. So kommt Rem¬
brandt, in dieser seiner glänzenden Zeit, zu dem Ent¬
schluß, ohne Bestellung ein mächtiges Werk zu
schaffen, mächtig in Format und Aktion, mächtig
auch im Können. Als Gegenstand wählt er, im Geist
jener Zeit, ein Martyrium, natürlich aus dem Alten
Testament. Alle künstlerischen Prinzipien, die er in
jenen Jahren entwickelt hatte, bringt er hier in höch¬
ster Feinheit, Steigerung und Verschlingung hinein.
Es scheint, daß er 163g das Bild an Constantin
Huygens verschenkte, man muß wenigstens eine Brief¬
stelle darauf beziehen, nach den Maßangaben (wenn
nicht irgend ein Gemälde desselben Formates ver¬
loren sein sollte). Rembrandt schreibt dort, das Bild
solle hell in einem großen Raum hängen (was nun¬
mehr der Fall ist). Es muß schon früh nach Wien
gekommen sein, von wo es der berühmte Friedrich
Karl von Schönborn nach Würzburg brachte; nach
dessen Tod kam es nach einigem Streit 1746 in die
gräflich Schönbornsche Galerie zu Wien (nach ur¬
kundlichen Forschungen, deren Resultate mir vor¬
läufig mitgeteilt wurden). 1760 wird es dort erwähnt
auf einem Stich von Länderer.
Die Szene spielt in einem holzgedielten Gemach,
das sich links in gewölbtem Bogen nach einem
1) Vergl. Kunstchronik, 26. Mai 1905.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVl. H. lo
helleren Raum öffnet; dorther kommt das Licht. Drei
schwere Vorhänge fallen von oben in mächtig rah¬
menden Kurven herab, sie verleihen dem Raum den
Eindruck von Luxus und Abgeschlossenheit; für die
Komposition geben sie die ruhigen großen Flächen
tiefer Farbe, die Rembrandt als Folie braucht, und
zugleich bedingen sie die feine Abstufung der Hellig¬
keit nach rechts hin. Links steht ein Tischchen mit
goldverzierter Decke, darauf eine goldene Schale und
Kanne, und ein lässig abgeworfener Gürtel; am Boden
liegt Dalilas Oberkleid — blaßblaue Seide mit Silber.
Rechts neben Dalila, zwischen zwei schweren Vor¬
hängen, sieht man die Lehne eines großen Sessels,
dessen grüner Bezug mit Metallknöpfen genagelt ist.
Hier hat Dalila zuletzt gesessen, den Kopf des schla¬
fenden Simson auf ihrem Schoße haltend; die
Gruppe wäre ähnlich zu denken wie auf dem Bild¬
chen in Sanssouci, * und zwar würde man Simson
etwas schräg vom Rücken her gesehen haben.
Nun hat das Weib die Philister gerufen, die zu
vieren von rechts herbeigesprungen sind, Simson in
den Rücken fallend: einer hat ihn umklammert, und
sich mit ihm nach hinten übergeworfen, daß heißt
im Gemälde nach rechts vorne. Dalila springt im
selben Moment in der entgegengesetzten Richtung
vom Lehnstuhl auf. Das Auseinandergehen der Be¬
wegung in diesen beiden Mittelfiguren ist ein be¬
deutungsvolles und sehr großartiges Motiv, ungleich
lebendiger als in den entsprechenden Darstellungen
des Rubens und van Dyck, die sich nicht entschließen
können, auf die Pikanterie des halb gelagerten Weibes
und der parallelen Körperaxen zu verzichten.
Ein zweiter Philister fesselt Simsons rechten Arm
(der so viele Philister geschlagen hatte), ein dritter
sticht dem Helden ein Auge aus, indem er den Kopf
mit der Linken am Bart fest hält; er ist auf dem
linken Bein weit ausgefallen, mit dem ganzen Körper¬
gewicht seine Aktion verstärkend. Der vierte kommt
rechts herbei gestürzt, brüllend, mit Schild und hoch¬
gehobenem Schwert, vom Rahmen überschnitten’).
1) Hier wie auf der linken Seite sind spätestens um
die Mitte des 18. Jahrhunderts schmale Streifen ange¬
setzt worden, wohl um das ursprünglich steile Format des
Bildes dem üblichen Schema anzunähern, zum Schaden
der Komposition; die Bewegung dieses Mannes wirkt nur,
wenn er hereinkommt, daß heißt vom Rahmen überschnitten
wird. Beide Streifen sind in der Heliogravüre wegge¬
nommen; an dem Original werden sie jetzt vom Rahmen
verdeckt. Vor dieser Verbreiterung hatte man bereits
einmal auf einfachere Weise die gewohnte Proportion her¬
gestellt, indem man oben ein breites Stück umschlug,
ebenfalls sehr zum Schaden der Komposition. Nach diesem
Zustand ist die Kasseler Kopie gemacht, also an allen drei
34
254
DER NEUE REMBRANDT IM STÄDELSCHEN INSTITUT
Diese Figur nimmt der Hauptgruppe das Ab¬
sichtliche, Gestellte, deutet vorhergehende und nach¬
folgende Bewegungen an, jedoch mit aller Reserve,
die bei dem großen Maler selbstverständlich ist.
Gegenüber, links, eine einzelne Gestalt, mit vor¬
gehaltener Pike die Aktion seiner Kameraden sichernd
(aber welche Angst in den aufgerissenen Augen!).
Die Figur steht ungefähr in der Bildfläche, gibt
damit dem Auge den ruhigen Anhalt für die eminent
unruhig gerichteten Axen der übrigen Körper. Zu¬
gleich ist sie in der Fläche völlig ausgebreitet, wie
man eine Pflanze im Herbarium ausbreitet, so daß
sie einen interessanten und reich bewegten Umriß
bildet — wälirend rechts die Gepanzerten plastisch,
als Formmassen, wirken. So sind die diagonal aus¬
einandergerissenen Mittelfiguren eingerahmt links von
der flachen Umrißfigur, rechts von dem Knäuel durch¬
einander gesteckter Formen.
Dieser Reichtum des Aufbaus vollendet sich durch
die Ökonomie des Lichtes und der Farbe. Natürlich
nicht in nachträglichem Zusatz, sondern alles bedingt
sich gegenseitig.
Das Licht kommt diagonal aus der Tiefe herein,
von links. Man sieht gleich eine neue Funktion für
die Figur mit der Pike: in der Bildfläche ausgebreitet,
und von reichbewegtem Umriß steht sie wirkungs¬
voll gegen das hier hereinkommende Licht, das hinter
ihr am stärksten ist: es zehrt hier auf dem abge¬
worfenen Oberkleid der Dalila die Lokalfarbe ganz
auf, die sich erst unten nahe dem Bildrand wieder
erholt. Auf den auseinandergehenden Mittelfiguren
differenziert sich das Licht: die Dalila trifft es von
unten, den Simson von oben. Dann stuft es sich
auf den drei Kriegern in klaren Absätzen nach rechts
oben hin ab. Dies sind nur die Hauptmomente der
Lichtverteilung, die mit fabelhafter Sicherheit zu ein¬
ander wie zur Bildfläche gestimmt sind. Gerade hier¬
über mußte man im Schönbornschen Salon, wie nach
den alten Photographien, besonders falsch urteilen.
Wie nun von diesen Hauptmomenten aus das Licht
weiter in alle Einzelformen und Farben hinein ver¬
teilt ist, in ruhigen Flächen und launigen Flecken,
von Schatten überschnitten oder durch Reflexe auf¬
gehellt, auf trüben Stoffen ermattend oder in Glanz¬
lichtern aufleuchtend, all das kann nicht geschildert
werden.
Endlich die Farbe. Sie ist von besonderer Kraft
Seiten kleiner als der Zustand seit spätestens 1760 (Datum
des Landererschen Stiches), wo das echte obere Stück
wieder aufgeschlagen und die unechten Seitenstreifen an¬
gesetzt waren. Man kann heute noch die beiden Falten
oben erkennen, wo die alte Leinwand um den Keilrahmen
herumgelegt war; bei ungeschickter Beleuchtung können
sie in der f^hotographie störend hervortreten, und so er¬
klärt es sich, daß man in modernen Reproduktionen zu¬
weilen ganz einfach ein großes Stück des Bildes wegge¬
lassen hat! — Die Maße sind nach Wegnahme der un¬
echten Streifen: Höhe 2,38 Meter, Breite 2,72 Meter; die
oberen Ecken leicht abgerundet. An jenen Streifen ist die
Farbe stark abgesplittert, während die alte Rembrandtsche
Malerei durchgehends ganz ausgezeichnet erhalten ist,
selbst in dem einst umgeschlagenen Stück!
und Brillanz. Auch hier kann ich nur das wundervolle
Zusammenwirken der Hauptmomente andeuten, die
farblose Reproduktion gibt ja keine Stütze wie etwa
bei der Beschreibung der Bewegung.
Dalilas Oberkörper erscheint in leuchtendem
hellbraun; darum legt sich ein breiter Ring wunder¬
voll fortschreitender Farben: von tiefem Grün rechts
beginnend folgt nach links hin Blaugrau, Dunkelgrau,
Hellgrau, dann, die klarste Stelle, reines Hellblau (die
Partie um die Schere, ein Stück straffgespannten
Stoffes), dann geht es unten über dunkleres Blau zum
Grün zurück. An diesen Ring kräftiger kühler Farben
schließen sich nach unten hin ganz blasse Töne:
links das schon erwähnte, vom Licht fast verzehrte
Blaßblau in Dalilas abgeworfenem Kleid; rechts da¬
neben reich nuanciertes Blaßgelb in der Bekleidung
Simsons. Gegen diesen ganzen kühlen Farbenblock
in der Mittelpartie steht links die Figur mit der Pike
in mächtigem warmem Rot verschiedenster Tönung
(wovon man bisher nichts ahnen konnte); die stärkste
Note darin, am rechten Ellbogen, ist gegen das Hell¬
blau gesetzt, also gegen die klarste Note des kühlen
Farbenkreises. Dagegen sind auf der rechten Seite
die Farben matter: braunes Leder, und, als herrschen¬
der Ton, das Stahlgrau der Rüstungen, das in einer
außerordentlich feinen Proportion zu dem mehrfach
genannten Hellblau steht.
Man sieht wie alles ineinander greift: der Formen¬
knäuel rechts kann in der Gesamtwirkung der Kom¬
position durch die eine Figur mit der Pike balanciert
werden, weil auf der rechten Seite weniger starke
Lichtkontraste sind, und weniger starke Farben¬
kontraste. Oder, wenn man eine einzelne Figur
nimmt: den Mann mit der Pike fanden wir in einer
ganzen Reihe von Funktionen Markieren der Bild¬
fläche, Hineinbringen bewegter Linie, Verstärken des
kräftigsten Lichts, Entgegenwirken gegen den kühlen
Farbenring um Dalila, Balancieren des Formenge¬
dränges auf der rechten Seite - aber alle diese
feinen und komplizierten Funktionen kümmern unseren
Philister gar nicht, er scheint nur auf Simson zu
achten, alles übrige dünkt ihm selbstverständlich: das
ist gerade das Wunderbare. Man findet hier künst¬
lerische Prinzipien, wie man sie auch sonst in Rem-
brandts Werken jener Zeit konstatieren kann, ja über¬
haupt in der Kunst des Barock; diese Prinzipien sind
mit größter Kraft und Sicherheit angewendet und in¬
einander verschlungen — und doch möchte man
glauben, der Künstler hätte nichts weiter getan, als
einen Vorgang äußerst lebendig sich vorzustellen und
festzuhalten — so selbstverständlich, so erlebt wirkt
das Ganze. Man nehme die Figur des Simson. Als
Bewegung großartig, in heftigstem Kontrapost, ganz
im Sinn der Zeit. In dem Jahrhundert seit Michel¬
angelos Medicigräbern ist der Winkel zwischen
Schulterlinie und Knielinie immer größer geworden.
Die beiden Oberarme bilden eine Gerade von kraft¬
voller Wirkung, die Unterarme treten stark vor.
Arme und Beine gehen rechts zusammen, links aus¬
einander. So geht es fort, dabei alles in kühnster
Verkürzung. Das rechte Bein nun ist hochgehoben,
DER NEUE REMBRANDT IM STÄDELSCHEN INSTITUT
255
dadurch ist die Figur mit Dalila verbunden (man er¬
kennt erst die Wichtigkeit dieser Bewegung, wenn
man sie einmal wegdenkt); und ferner: der springende
Punkt im Bilde ist Dalila, sie bildet, mit dem schönen
Farbenkreis um sie herum, das Zentrum des Bildes.
Und während nun der Kopf des Simson und das
Ausstechen des Auges für den Gesamteindruck des
Bildes durchaus in dem Formenknäuel der rechten
Bildhälfte untergehen, so ist der zusammengekrampfte
Fuß Simsons in das Zentrum des Bildes hineinge¬
hoben als erträglicher Repräsentant des Martyriums.
Also wiederum, allein in der Bewegung dieser einen
Figur, eine ganze Verschlingung künstlerischer Mo¬
mente — und doch ist der Eindruck der Figur ganz
einfach: Donnerwetter! wo hat er das nur gesehn?
Vielleicht glaubt mancher Leser, Rembrandt habe tat¬
sächlich bloß den Vorgang lebendig gestaltet, »natura¬
listisch«, alles übrige sei Zufall — durchaus und voll¬
kommen mit Unrecht. Wir armen Teufel können uns
bloß nicht vorstellen, wie er den Knoten geschlungen
hat. Ich kann mir wohl vorstellen, wie es beim
durchschnittlichen Kunstschaffen im Gehirn des Künst¬
lers zugeht. Es handelt sich um einen mehr oder
minder großen Gradunterschied in der Stärke und
Feinheit des psychischen Geschehens. Aber wie es
etwa in Mozarts Gehirn zugegangen sein mag, wenn
dort komponiert wurde, das kann ich mir schlechter¬
dings nicht vorstellen. Du auch nicht, lieber Leser.
Wir können nur im fertigen Werke konstatieren, wie
reich und wie fein und wie balanciert alles ist. Die
Entfernung von den Fähigkeiten des normalen Ge¬
hirns ist so groß, daß man sie nicht mehr mit irgend
einem Maß messen kann. Früher hatte man für
solche außerordentlichen Fälle das Wort Genie, das
jetzt leider völlig abgegriffen ist.
Es gibt heute viele Kunstfreunde, denen diese Art
des künstlerischen Reichtums gleichgültig ist, deren
Alpha und Omega die Farbe und die Malweise ist.
Von der Farbe war schon die Rede. Sie ist im Ge¬
samteindruck ganz ungewöhnlich kräftig und reich - -
was man im Palais Schönborn nicht sehen konnte.
Aber wohlgemerkt, diese Kraft des Farbeneindrucks
ergibt sich durch die Zusammenordnung, durch die
künstlerische Weisheit: die Einzelfarben an sich sind,
wie immer in der alten Kunst, sehr zart und fein,
sie verhalten sich zu den Einzelfarben etwa bei
Böcklin wie der Zephyr zum Taifun. Dann gibt es
in den Farbenzentren sehr schöne Nuancierungen
(in Rot: die Figur mit der Pike, in Gelb: Simson),
des weiteren feine Kontraste, auch treffliche Verbin¬
dungen mit der Linie (also farbige »Ausschnitte« oder
»Flecken« im Sinne einiger moderner Künstler; in
unserer Detailaufnahme findet man sehr charakte¬
ristische Ausschnitte derart, leider fehlt die Farbe).
Ebenso konnte man bei Schönborn von der Mal¬
weise nichts sehen, die durchaus meisterhaft ist. Die
Technik paßt sich überall dem Stoff und der Be¬
tonung an, man findet eine ganze Skala von Vor¬
tragsweisen, durchweg sehr flott; aber darin alle
Möglichkeiten von feinem Vertreiben bis zu lebhaftem
Herumfahren, von flüssigem Ineinander der Farben
bis zu grobkörnigem Nebeneinanderstehen komple¬
mentärer Farbenklexe.
Im Gesamteindruck — des farbigen Originals,
nicht der farblosen Nachbildung — steht Dalila, wie
schon bemerkt, im Zentrum des Bildes. Die Diago¬
nalen der Bildfläche kreuzen sich in ihrem Leib. Ihre
Figur ist am meisten isoliert, von den lebhaftesten
Farben umgeben, hat eigene und sehr leichte Be¬
wegung; die kämpfenden Männer umgeben sie als
heftig bewegter formenreicher Halbring. Die Malerei
ist hier am reichsten. Es ist wunderbar gemalt, wie
das Licht durch den zarten plissierten und gestickten
Hemdstoff zwischen den Armen hindurchgeht, und
den Kopf von unten her trifft, in dem interessanten
Rampenlicht, das unsere zivilisierten Bühnen nicht
mehr kennen. Unendlich weich ist dies Licht. Der
Ausdruck des Gesichts ist fabelhaft; weniger gesund,
aber sehr viel geistreicher erfaitt als in dem etwas
blöden Lächeln der Dalila bei Rubens. Auch psycho¬
logisch ist hier das Zentrum. Saskias gewohnte Züge
erscheinen in starker Erregung (wie die ganze Figur,
in der lebhaften Bewegung, der unvollständigen
Toilette und der verschobenen Frisur): der etwas
starre Glanz der Augen erzählt von der Sinnlichkeit
dieses Weibes, die den Feind ihres Volkes zum Ver¬
rat seines lange bewahrten Geheimnisses zu verführen
wußte; in dem emporgezogenen Mund zeigt sich die
Freude über das Gelingen ihres Verrats an seiner
Liebe - und Freude in diesem Moment ist höchste
Grausamkeit. Dieser Ausdruck, die Mischung von
Sinnlichkeit und Grausamkeit, spricht sehr unmittelbar
und kräftig, man vergißt ihn nicht wieder. Es ist
die sehr tiefe und seltene Kenntnis von menschlicher
Leidenschaft, wo Liebe und Grausamkeit einander
nahe benachbart sind oder, wie hier, gegeneinander
eingetauscht werden. Dies Gemälde ist in allen Be¬
ziehungen charakteristisch für den Rembrandt der
dreißiger Jahre — in Komposition, Licht, Farbe -
so auch in der psychologischen Richtung. Ein Werk
der späten Zeit, das in ähnlichem Grade in Tiefen
der menschlichen Seele führt, ist der »Segen Jakobs«
— aber in wie verschiedener Richtung: 1636 inter¬
essieren ihn die erotischen Fatalitäten, 1656 der
Generationenwechsel; beidemal rührt er an den tiefsten
Instinkt unserer Spezies, aber er trifft ihn an ganz
verschiedener Stelle, weil er mit ganz verschiedenem
Interesse herantritt. Der Dreißigjährige malt den
flackernden Blick einer politischen Kurtisane (dieses
gefährlichsten und interessantesten Genres, noch dazu
im alten Orient), die ihren betrogenen Liebhaber
martern läßt — der Fünfzigjährige malt den erlöschen¬
den Blick des aus dem Leben Scheidenden, der seine
ins Leben hineinwachsenden verständnislosen Enkel
segnet.
Dies psychische Moment drängt sich jedoch keines¬
wegs vor: die formalen Momente, Bewegung, Licht,
Farbe alles wirkt mit gleicher suggestiver Kraft
zusammen und ineinander, den Beschauer von immer
neuen Seiten her fesselnd und bezaubernd.
34
FRIEDRICH DRAKE
KAISER WILHELM-DENKMAL
AUF DER RHEINBRÜCKE BEI KÖLN
FRIEDRICH DRAKE
OEB. AM 23. JUNI 1805 - GEST. AM 6. APRII. 1882
ERINNERUNGEN ZU SEINEM loo. GEBURTSTAGE
Von Paul Meyerheim
Die alten Ägypter stellten unendlich viele Denk¬
mäler auf. Vom Luxortempel zum Karnak¬
tempel reitet man eine gute halbe Stunde
durch eine Allee von kolossalen steinernen Widdern,
an deren Vorderseite jedesmal eine Rhamses-Statue
angebracht ist, und eine ebensolche Allee führt von
dem Karnaktempel an das Nilufer herab, ln allen
Tempeln stehen zahllose riesenhafte Steinbilder von
Königen und Göttern, und von der herrlichen Stadt
Memphis ist nichts weiter übrig geblieben als zwei
riesengroße Kolosse von Rhamses I., welche lang aus¬
gestreckt am Boden liegend in das blaue Jenseits
schauen. Wieviele Bildhauer muß es in Ägypten
gegeben haben! Ganz so weit sind wir im kälteren
Deutschland noch nicht; aber es gab eine Zeit um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts, wo eine Denk¬
malserrichtung noch ein Ereignis war, wo es noch
wenig Bildhauer gab, die aber herrliches leisteten.
Von einem solchen möchte ich hier erzählen, da
ich von Kindheit an die Entstehung seiner Werke
miterlebt habe. Mein Onkel Friedrich Drake wurde
1805 in Pyrmont geboren. An seinem Geburtshaus
ist heut eine Gedenktafel angebracht. Sein Vater war
ein einfacher Mechaniker, welcher Metallteile für Heiz-
und Wassereinrichtungen arbeitete. Das erste Interesse
für die Kunst wurde bei dem Knaben dadurch ge¬
weckt, daß er zu einer Sommertheater-Vorstellung in
Pyrmont, einer Aufführung des eingebildeten Kranken,
ein notwendiges Metallinstrument aus des Vaters
Werkstatt leihweise auf die Bühne bringen mußte.
Er durfte zur Belohnung diese Vorstellung, und später
manche andere mit ansehen.
Zunächst erlernte er das Drechslerhandwerk, die
Metallarbeit und das Stempelschneiden, wobei die
ersten künstlerischen Ansprüche an ihn herantraten.
Im Jahre 1824 ging Drake nach Kassel und arbeitete
dort zweieinhalb Jahre in der Werkstatt eines Mecha¬
nikers an der Herstellung mathematischer Instrumente.
1827 traf ihn das Los zum Militärdienst, doch in
jener idealen Zeit war es möglich, daß ein Gönner
ihn von dieser Pflicht befreite. Drake hatte in¬
zwischen einige plastische Arbeiten in Holz und
Alabaster gefertigt, welche der Bildhauer Christian
Rauch, der auch in Pyrmont geboren, bei einem Be¬
such in seiner Heimat besichtigte. Dieser große
Meister war von einer Porträtbüste in Holz, einem
Christus in Alabaster von Drake so entzückt, daß er
den Jüngling sofort nach Berlin kommen ließ, in sein
Atelier aufnahm und ihn am Modellierunterricht in
der Akademie teilnehmen ließ.
Meister Rauch hatte aber das Prinzip, solchen
Anfängern nichts zu bezahlen und verlangte sogar
die Zusicherung, daß die Kunstnovizen genügend
Geld für ihren Unterhalt besaßen. Drake hatte sich
30 Taler erspart, die ihm ein großes Kapital dünkten.
Er arbeitete daher die ganze Nacht in der Feilner-
schen Tonwarenfabrik, um für seinen Unterhalt täg¬
lich zehn Silbergroschen zu verdienen, und trotzdem
am Tage in des Meisters Atelier. Natürlich lebte er
außerordentlich sparsam, und seine Schlafstelle be¬
stand aus einem mit Laub und Stroh gefüllten Sack,
welcher in einem Winkel eines Gemüsekellers zum
schlafen einlud. Es ist eine in der Landwirtschaft
bekannte Tatsache, daß diejenige Wintersaat, welche
einen besonders rauhen und harten Winter hindurch
in der Erde ruht, besonders reiche und gute Frucht
dem Landmann bringt. Und so hat diese an Ent¬
behrungen reiche Jugend Fritz Drakes, so wie manchem
anderen großen Künstler, zu seinem späteren taten¬
reichen Leben den Keim entwickelt. Er hatte sich
inzwischen zu einem stattlich großen Mann entwickelt,
mit kurzem blonden Vollbart und langen glatten
Haaren. Sein Gesicht war nicht edel geformt, aber
seine etwas kleinen Augen blickten forschend, frei
und beobachtend auf seine Umgebung. Seine ganze
Erscheinung hatte namentlich in seinen späteren Jahren
etwas sehr Imponierendes. Er war als Künstler und
Mensch ein ganzer Mann.
Sehr bald bekam der junge Künstler Aufträge,
die seine Verhältnisse verbesserten und ihn bekannt
machten. Man bestellte bei ihm Porträtbüsten in
Marmor und Bronze. Er schuf eine große, stehende
Madonna mit dem Kind und erhielt den ersten be¬
deutenden Auftrag: die Gruppe eines sterbenden
Kriegers, dem der Genius den Sieg verkündigt. Das
einfache und ergreifende Denkmal steht auf dem Platz
am Bahnhof in Aachen. Diesem letzteren folgt ein
Relief nach Goethes fünfter römischer Elegie. Dem
30jährigen Künstler wurde die Bestellung, für Osna¬
brück ein Denkmal von Justus Möser zu modellieren.
Nach Vollendung des Möser-Denkmals machte Drake
eine Reise nach Italien. Mit einem Empfehlungsbrief
von Rauch ging er zu Thorwaldsen, den er in voller
Arbeit traf. Der Meister steckte den Brief ungelesen
in die Tasche seines Kittels und sagte zu dem jungen
Künstler, da er die Hände voller Ton hatte: »Sehen
258
FRIEDRICH DRAKE
Sie sich inzwischen diese Mappe an.« Als Drake
dieselbe aufschlug, fiel ein Blatt heraus, und Thor-
v/aldsen fuhr fort; »Das ist einmal wieder ein echtes
Kunstwerk.« Dieses Blatt aber war eine Reproduk-
üon von Drakes fünfter Elegie, die ihn Zeit seines
Lebens beschäftigte. Die Freundschaft der beiden
war damit besiegelt. Aus Italien heimgekehrt 1837,
ließ Drake seine Schwester Karoline nach Berlin
kommen, damit sie ihm die Wirtschaft führen möchte.
Von seinen vielen Brüdern, es
waren 1 7 Geschwister, kamen
allmählich Georg und Louis, die
ihm bei seiner Arbeit zur Hand
gingen, nach Berlin, und um
ihn und seine schöne Schwester
gruppierte sich bald ein fröh¬
licher Kreis von bedeutenden,
jungen Künstlern. Zu den in¬
timsten gehörten Strack, der
Dichter Scherenberg, Magnus,
Wilhelm Schirmer, Franz Kug-
1er, Menzel und mein Vater
Eduard Meyerheim, dessen stille
Neigung zu Karoline bald Er-
hörung fand. Der große Mei¬
ster Christian Rauch, der herr¬
lichste und imposanteste Mann
der damaligen Berliner Gesell¬
schaft, richtete die Hochzeit
meiner Eltern aus und hat mich
später über die Taufe gehalten.
An der Ausschmückung der
ersten Wohnung meiner Eltern
an der Stralauer Brücke, betei¬
ligten sich die Freunde dieses
Kreises und schufen, der An¬
ordnung von Strack folgend, ein
so bezaubernd künstlerisches
Heim, in welchem mein Vater
die Wandmalereien ausführte,
daß dieses, mit äußerst beschei¬
denen Möbeln aus Birkenholz
nach Zeichnungen von Strack
ausgestattet eine Sehenswürdig¬
keit Berlins bildete. Ein nie
endender Schmerz blieb es für
meine Mutter, als dies alles
nach dem Verlassen der kleinen
Wohnung, von dem neuen
Mieter, einem Major, einfach blau überstrichen wurde.
Im Jahre 1845 hatte sich Drake mit einer sehr
schönen Bäckerstochter, Marie Schönherr, verheiratet,
welche ihm in kurzen Zwischenräumen sechs Kinder
bescherte. Der König Friedrich Wilhelm IV. fand
großes Gefallen an dem talentvollen, fleißigen Künstler
und seiner hübschen lustigen Frau. Er errichtete
dem jungen Bildhauer ein poetisch gelegenes Atelier
am Tiergarten, in der Bellevue-Allee, in dem er oft
vorsprach und versicherte dann, daß das Schönste im
Atelier immer die muntere junge Erau sei. Dem
äußerst sparsamen Meister war es sehr angenehm.
daß an diesem Gebäude eine sehr sonderbare Kontrakt¬
verpflichtung haftete: Reparaturen unter 100 Talern
hatte er machen zu lassen, alle Arbeiten, die diesen
Etat überschritten, wurden auf Staatskosten ausgeführt.
Selbstverständlich ließ Drake alle Schäden zur rich¬
tigen Summe an wachsen.
In meiner frühesten Kindheit bot dieses poetische
Eldorado mir, dem zukünftigen Tiermaler, einige ganz
besondere Reize; denn der Gärtner hielt Ziegen,
Hühner, Gänse und Hunde,
und im Atelier spazierte ein
zahmer Rabe herum, der mei¬
nem Onkel und seinen Schü¬
lern dadurch viel Verdruß be¬
reitete, daß er Fleischreste und
erlegte Mäuse zwischen den Ton¬
stücken verbarg, welche dann
bei der Verarbeitung den Bild¬
hauern unangenehme Über¬
raschungen bereiteten.
Auf seinem täglichen Gange
zum Atelier unterhielt sich mein
Onkel gern mit den vielen Kin¬
dern, die im Tiergarten spielten
und hatte ein besonderes Gefal¬
len an zwei kleinen Zwillings¬
mädchen, die in einem eigen¬
artigen, großen Kinderwagen
gefahren wurden. Einige Zeit,
nachdem er die Kleinen lange
vermißt, besuchte ihn Graf Kanitz
und fragte den Künstler, ob er
wohl ein Doppelporträt seiner
verstorbenen Kinder machen
könne, von denen aber kaum
eine bemerkenswerte Zeichnung
vorhanden sei. Drake lehnte
diesen Auftrag ab, machte jedoch
dem betrübten Vater bald einen
Gegenbesuch in der Wilhelm¬
straße. Hier bemerkte er im
Flur den eigentümlichen, großen
Kinderwagen und erhielt auf
seine Frage, ob die Kleinen
etwa in diesem Kinderwagen
gefahren worden seien, ein zu¬
stimmendes Kopfnicken. ja,
dann will ich die Porträts gern
machen, denn ich habe mit
diesen lieben Kleinen oft im Tiergarten mich unter¬
halten. Das Doppelrelief wurde zum Entzücken
der Eltern ausgeführt.
Drake hatte sich kaum die für einen Bildhauer
nötige Kenntnis der Anatomie angeeignet, auch war
er nicht ein sogenannter geschickter Modelleur, der
rasch und entschlossen ein Stück Natur mit ver¬
blüffender Genauigkeit kopieren konnte, bei ihm war
die Empfindung stets vorherrschend, sowie das feinste
Gefühl für Silhouette, Verteilung der Maße und
Wirkung in die Ferne. Seine Werke entstanden ge¬
wöhnlich sehr langsam. Stundenlang konnte er über-
ijmSl-m—niiiHi I IW iiiniiinii im'i i “ _ _ ^
FRIEDRICH DRAKE. HUMBOLDT DENKMAL FÜR
PHILADELPHIA
FRIEDRICH DRAKE
259
legen, ehe er das Modellierholz in Gebrauch nahm.
Es kam ihm niemals auf absolute Richtigkeit an, die
manchem modernen Denkmal zum Unheil wurde.
Er berechnete aber alle Maße genau mit Hinblick
darauf, wie hoch oder niedrig das Werk aufgestellt
werden sollte und tat es hierin den alten Griechen
gleich, welche auch stets die Körperverhältnisse so
einrichteten, daß sie aus der Ferne und aus der Tiefe
ebenmäßig und richtig aussähen. Drake hatte nur
wenig Schüler und Gehilfen. Seine zu große Spar¬
samkeit und oft rauhe Behandlung hielt jüngere Ta-
lautete; ich komme überhaupt nicht mehr zu Ihnen,
denn erstens bezahlen Sie mir zu wenig, und zwei¬
tens amüsiere ich mich nicht bei Ihnen, Herr Pro¬
fessor.
Sein Freund Strack erbaute ihm ein sehr reizvolles
Haus in der ehemaligen Schulgartenstraße (jetzige
Königgrätzerstraße), dessen Vorbau an der Front Drake
durch vier prachtvolle Karyatiden zierte, welche an
die des Erechtheion erinnerten. Dieser feine Bau ist
leider verschwunden, wie so manches Schöne, Vor¬
nehme vom alten Berlin. Ebenfalls zertrümmert wur-
FRIEDRICH DRAKE. VOM SOCKEL DES DENKMALS FRIEDRICH WILHELMS Ul. IM BERLINER TIERGARTEN
lente ab, für ihn zu arbeiten. Am längsten half ihm
Calandrelli, und zwei sehr geduldige und ergebene
nassauische Künstler Schieß und Keil.
Seine Sparsamkeit hatte ihn zum Helden mancher
Anekdote gemacht. So erzählte man, daß er in einer
großmütigen Anwandlung einen Droschkenkutscher
mit einer Zigarre als Extrabelohnung beglücken wollte.
Dieser aber verweigerte die Annahme derselben mit
der Bemerkung: »Nee, sone Zigarre, wie Sie, Herr
Professor, kann ick nich rochen.« Ein berühmtes
weibliches Modell, das er bestellt hatte, war zu seiner
großen Empörung nicht gekommen. Der Absage¬
brief, den ihm seine Frau zu spät ins Atelier brachte.
den die acht schönen Gruppen der preußischen Pro¬
vinzen, welche Drake für den weißen Saal des
Schlosses in Stuck an Ort und Stelle modelliert hatte.
Adolph Menzel hat dieselben so schön gefunden, daß
er acht große Kreidezeichnungen von äußerster Durch¬
führung nach diesen Skulpturen vollendete. Beim
Umbau des weißen Saales beachtete leider niemand
diese Meisterwerke, sie wurden einfach in Schutt ver¬
wandelt.
Drake war bei rauher Außenseite eine feinfühlige
echte Künstlernatur. Er konnte Tag und Nacht über
seine Arbeit nachdenken und war unermüdlich im
Abändern und Niederreißen des Geschaffenen, wenn
200
FRIEDRICH DRAKE
es ihm nicht gefiel. Seinen größten Ruf hat er sich
mit dem Denkmal Friedrich Wilhelms III. erworben,
dessen Relief-Fries am Postament sich die Herzen der
Bevölkerung eroberte, und wohl zum schönsten ge¬
hört, was die deutsche Bildhauerei hervorgebracht hat.
Das Hauptinteresse der Beschauer des Denkmals war
zu Anfang auf den Stiefel des Königs gerichtet. Man
bewunderte, daß der Künstler die Einfachheit des
Landesvaters dadurch charakterisiert hat, daß er ganz
genau einen »Rüster am Stiefel angebracht hat, und
niemand konnte glauben, daß dies nur ein Schaden
im Marmor war.
Nicht minder schön sind die Reliefs am Posta¬
ment des Beuth-Denkmals am Schinkelplatz, an dem
Millionen schon vorüber gegangen sind, ohne sie zu
beachten. Hier hat Drake einen sehr glücklichen Ver¬
such gemacht, rein genrehafte, moderne Szenen plastisch
darzustellen. Die Perle in diesem Schmuckstück ist
der Photograph Daguerre, welcher eine Mutter mit
ihren Kindern photographiert. Aber auch die land¬
wirtschaftlichen Szenen mit der Schafherde, ferner
Humboldt und seine Freunde sind ungemein an¬
ziehende Reliefs.
Alle seine Schöpfungen hier aufzuzählen, würde
zu weit führen. Ein Beweis dafür, wieviel große
Denkmäler Drake auch in anderen Fürstentümern er¬
richtet hat, lieferte seine breite Mannesbriist und seine
linke Frackseite, welche mit Orden wahrhaft über¬
sät war, an denen er eine große, kindliche Freude
hatte.
An der Eingangstür des alten Museums steht die
imposante Gestalt Christian Rauchs im faltenreichen
Mantel, welche Drake wohl mit ganz besonderer
Liebe und Verehrung gemeißelt hat. Die edle Schön¬
heit dieser Figur ist geradezu überwältigend. Noch
einige Arbeiten möchte ich hier wenigstens aufzählen:
die Statue Melanchthons in Breiten und Wittenberg,
des Kurfürsten Johann Friedrich in Jena, das Denk¬
mal Schinkels in Berlin, die Kolossalstatue Alexander
von Humboldts in Philadelphia, die letzte der Gruppen
auf der Schloßbrücke, eine Viktoria, welche den
Sieger krönt, der das Schwert in die Scheide zurück¬
stößt.
Erwähnt seien Bildnisstatuetten von Rauch, Schinkel,
Gebrüder Humboldt, Büsten von Goethe und Schiller,
und die an Donatello erinnernden neun musizierenden
Knaben in der Taufkapelle in der Schloßkirche zu
Wittenberg, sowie die Bronzetüren zu dieser Kirche.
Den Besuchern von Potsdams Gärten macht in den
römischen Bädern eine kleine bronzene Brunnenfigur
eine ganz besondere Freude, deren Idee dem Künstler
vom König gegeben wurde. Ein kleiner, nackter
Faun in hockender Stellung auf die Ärmchen gestützt,
der übrigens sonst ganz gesund aussieht, übergibt
das Wasser einem tiefer gelegenen Becken. Sehr
erstaunlich ist, daß dieser so produktive Künstler
kaum eine Arbeit geschaffen, welche alle seine
Kollegen für die Schönste und Größte erachten, die
Verherrlichung des nackten weiblichen Körpers. Nur
zwei Statuetten, eine tanzende Mohrin und ein Mäd¬
chen, welches einen Schmetterling auf ihrem Knie zu
haschen sucht, geben Zeugnis, daß Drake Goethes
fünfte Elegie, die er bis zu seinem Ende immer aufs
neue bearbeitete, wohl verstanden hat. Ein Entwurf
eines Beethoven- Denkmals stellt diesen sitzend mit
nacktem Oberkörper, mit Gewand über den Knien
dar, den olympischen Adler hatte Drake nicht zu den
Füßen des Genius angebracht, wie Klinger, sondern
über ihm schwebend gedacht, so daß Beethoven den
Blick zu ihm erhebt. Dies Werk ist uns nur durch
eine Zeichnung Menzels erhalten.
Drakes erste Frau war nach der Geburt des letzten
Kindes gestorben und etwa sechs Jahre später, un¬
gefähr 1860, entschloß er sich zu einer neuen Ver¬
mählung mit der Gräfin Marie zu Waldeck und Pyr¬
mont. Die schöne und stattliche Frau war von feinem
Geist und großer Herzensgüte, voll Bewunderung für
die Kunst. Aber sie hatte sich das Leben mit einem
großen Künstler viel idealer gedacht und arbeitete
ganz vergeblich daran, ihrem Gatten, abends nach
getaner Arbeit, höhere geistige und geistliche Ge¬
nüsse durch Vorlesen beizubringen. Es verfing bei
ihm, der eine Art mittelalterliche Ritternatur hatte,
nichts dergleichen, und wenn in das eine Ohr zu
viel Geist hinein getrichtert wurde, der zum anderen
Ohr hinaus erfolglos verrann, dann pflegte er all¬
abendlich eine große, rohe Zwiebel zu verzehren, um
die zu geistvolle Frau etwas zu distanzieren. Sie
hatte ihn, der sich bisher nicht um Himmel und
Hölle gekümmert, dazu vermocht, jeden Sonntag zum
Generalsuperintendenten Büchsei in die Matthäikirche
zu gehen. Die Reden wirkten aber nicht recht auf
sein Herz und Gemüt, es kann wohl auch die kalte
Kirche gewesen sein denn er besuchte mich
so manchen Sonntag vormittag nach der Predigt mit
einer heiligen Verzweiflung, gab mir aber dann er¬
leichtert sehr gute Ratschläge für meine Bilder. Sein
Atelier wurde allmählich immer mehr vergrößert, be¬
sonders als Drake den Auftrag bekam, im Verein mit
seinem Freunde Bläser, die beiden unteren Denk¬
mäler für die neue große F^heinbrücke bei Köln aus¬
zuführen. Von den Erbauern des Parthenon an, bis
auf die heutige Zeit, haben sich die Architekten nur
zu oft als Feinde der übrigen Künste gezeigt und
bedeutenden Kunstwerken Plätze angewiesen, zu denen
kein menschlicher Blick dringt. Genießen wir doch
den göttlichen Fries des Parthenon erst, nachdem wir
seine Trümmer in europäischen Museen in der Nähe
betrachten können.
Wenn schon es Kunstwerke gibt, die man »gar
nicht hoch genug stellen kann«, so scheint es
mir unwürdig, wirklich schöne Meisterwerke himmel¬
hoch auf den Simsen großer Bauwerke zu placieren.
Über diesen Punkt war Drake mit seinem intimen
Freunde Strack in beständigem Kampf, und doch
mußte er sowohl, wie Bläser, beständig unterliegen;
ihre beiden herrlichen Reiterstandbilder wurden je
zwischen zwei dicken Türmen hoch über der darunter
sausenden Eisenbahn aufgestellt. Einen Standpunkt
zur Besichtigung kann nur ein Waghals finden, der
sich unten auf den Geleisen seinen Standpunkt sucht.
Drake hatte sich, um die sämtlichen Maße Wilhelms
FRIEDRICH DRAKE
261
des Großen genau zu haben, eine ganz intime Privat¬
audienz erbeten, und in derselben eine detaillierte
Tabelle der Maße des Kaisers aufgenommen. Im
Verlauf der Arbeit empfand er jedoch die Notwendig¬
keit, von diesen Maßen erheblich abzuweichen, und
hat er den Oberkörper des Reiters wiederholte Male
demoliert, um ihn stets bedeutungsvoller und höher
über dem Pferde neu zu gestalten. Es kam ihm für
die Wirkung des Ganzen sehr zu statten, daß er den
viermal lebensgroßen Reiter aus seinem Atelier in den
Garten, ins Freie rollen konnte, und hier draußen
arbeitete er bis in den Winter hinein vier Jahre lang
unermüdlich, hoch oben auf der Leiter. Er war der
erste Bildhauer, der es wagte, eine solche Arbeit in
einer Art Stuck zu verfertigen, und er wurde hierzu
genötigt, weil ihm an dem großen Tonmodell enorme
Stücke erfroren und abgefallen waren. Als ich ihn
einmal besuchte, hatte er grade als Modell einen
dicken Percheronschimmel der Charlottenburger Omni¬
bus-Gesellschaft. Er sagte erfreut zu mir: »Du kommst
mir grade gelegen; bitte, nimm einmal den Kaiser¬
mantel um, und reite vor dem Atelier ein paarmal
auf und ab.« Ich bestieg das starke Roß, aber es
hatte keinen Sinn für Auf und Ab, sondern lief nur
auf und davon im flotten Trabe zum Stalle nach
Charlottenburg. Es half kein Zügeln und Zerren an
der Trense; der nacheilende Kutscher konnte uns
nicht mehr einholen, und ich muß den Vorrüber-
gehenden, im Kaisermantel, in der Winterlandschaft
ein schönes Bild geboten haben. Das Modell dieses,
wie ich glaube, nicht übertroffenen Reiterstandbildes
stand im Jahre 1867 auf der Pariser Weltausstellung
in Goldbronzierung auf
niederem Sockel, wie jedes
Reiterstandbild aufgestellt
sein sollte im Ausstellungs-
park. Als ich meinen
Onkel mit seiner Frau
dorthin führte, fiel an dem
nebligen Tage, grade als
wir uns dem Werke näher¬
ten, ein herrlich goldner
Sonnenstrahl auf seine
Schöpfung, welche auf
alle Besucher einen tiefen
Eindruck machte. Bei
dieser Gelegenheit hatte
Drake zum erstenmal in
seinem Leben Paris be¬
sucht, und genoß in vollen
Zügen mit wahrhaft kind¬
licher Freude die dort
versammelten herrlichen
Kunstschätze. Ihn, wie
seine Freunde Strack, Men¬
zel und andere hatte ich
in der Nähe meines
Ateliers in einem kleinen
Hotel der rue Larochefou-
cauld sehr billig unterge¬
bracht. DersparsameOnkel
Zeitschrift für bildende Kunst.
war erfreut, wie bescheiden man in Paris leben
konnte. Eines Abends gingen wir, Drake mit Frau
und Tochter sowie Strack, nach dem Theater. Ich
sollte die Billette nehmen, wollte aber, da ich das
Stück kannte, selbst nicht mit hinein. Wir näherten
uns der Kasse, ich voran und sagte: »das Billett kostet
sieben Franks, du hast also 21 Franks zu bezahlen
und Strack sieben.« Drake hielt sein 20 Frankstück
und 1 Frank krampfhaft in der Hand, und Strack
ein 20 Frankstück. Während ich sagte: drei Billette
für jenen Herrn und eins für diesen, nahm der
Billetteur den einen Frank meines Onkels, gab ihn
rasch an Strack und noch 12 Franks dazu. Dies
Manöver konnte mein Onkel nicht begreifen, und
rief: »das ist ja mein Frank«, worauf er denselben
dem Freunde mit Gewalt entriß; es war vergeblich,
ihm das Unrecht dieses Raubes klar zu machen.
Ganz begeistert war mein Onkel von der lieblichen
Umgebung von Paris, die wir oft aufsuchten, um
uns von den Anstrengungen der Ausstellung zu er¬
holen.
Nach all den deutschen Siegen im Jahre 1870
begann Drake einen Entwurf für das Siegesdenkmal
auf dem Königsplatz zu modellieren und hatte dabei
eine sehr originelle Idee, indem er einen Kuppelbau
erdachte, der zur Aufnahme der Siegestrophäen und
Aufstellung der Kriegsheldenstandbilder dienen sollte;
rechts und links, auf Ausbauten, freistehende Schlacht¬
szenen, und auf der Kuppel die soviel angefeindete
Siegesgöttin. Aber sein Freund Strack, der Architekt,
erklärte dies alles für ein Unding, wie schon Pater
profundus im zweiten Teil des Faust sagt: »Wie
strack mit eignem kräf¬
tigen Triebe, der Stamm
sich in die Lüfte hebt,«
so siegte Stracks Ansicht,
und aus der Kuppel wurde
jene Säule, an die sich bis
heute das Publikum nicht
gewöhnen will, und doch
ist jene Viktoria, genau
betrachtet, in ihrer grandio¬
sen Einfachheit viel besser
als ihr Ruf.
In späteren Jahren
kehrte der Künstler zu
einer Jugendliebe zurück
und meißelte in schön¬
stem griechischen Marmor
eine Wiederholung jener
Winzerin aus Sandstein,
welche unweit seines Ate¬
liers an der großen Quer¬
allee im Tiergarten steht.
Dieses Meisterwerk harrt
noch heute, in einem
Schuppen verborgen, sei¬
ner Befreiung, um die
Zierde eines öffentlichen
Parks zu werden. Auch
an einer größeren Wie-
35
FRIEDRICH DRAKE
N. F. XVI. H. 10
202
FRIEDRICH DRAKE
derholung des Marmorreliefs der Goethischen fünften
römischen Elegie arbeitete er bis zu seinem Ende.
Kurz vor seinem Tode im Jahre 1882 äußerte
er einmal zu mir: »Eigentlich habe ich nie etwas
Besseres gemacht, als jene kleine Holzbüste, durch
welche ich zu Rauch kam.« — Seine Gattin hat ihn
noch viele Jahre überlebt.
Die heutige Künstlerjugend hat leider wenig Re¬
spekt vor den Meistern der Malerei und Bildhauer¬
kunst jener Epoche. Viele der Besten sind unsern
Kunstjüngern kaum dem Namen nach bekannt, und
das edle Selbstbewußtsein, daß wir es so herrlich
weit gebracht, erhält nur dann und wann einen
Dämpfer, wenn auf den retrospektiven Ausstellungen
einige Werke jener veralteten Meister in die Erschei¬
nung treten und dabei jenen Veranstaltungen erst
einen eigentümlichen Reiz verleihen, eine Würze für
die Eeinschmecker der Kunst. Doch wenn wir die
breite Treppe zum erhabenen Kunsttempel, dem alten
Museum, das Schinkel uns geschenkt, hinauf steigen
und in der weihevollen Vorhalle die Reihe jener
großen Männer überblicken, die als Priester der
schönsten und dauerndsten Kultur gewirkt haben, so
wollen wir vor Christian Rauch den Hut abziehen
und ihn fragen: »Soll dein Drake hier bei euch in
eurer hehren Gesellschaft der nächste, würdigste Gast
sein?« Dann wird Rauch mit dem Kopfe nicken und
ein tiefes Ja ertönen lassen.
FRIEDRICH DRAKE. BÜSTE DER FRAU v. QUAST
NACH DER TOTENMASKE
DIE GALERIE SPECK VON STERNBURO
Die Gemäldesammlung der Freiherrlichen Familie
Speck von Sternburg auf dem Rittergute
Lützschena bei Leipzig ist eine der ältesten
und bedeutendsten Privatgalerien Deutschlands. Ihre
Begründung fällt in die stürmische Zeit der napo-
leonischen Kriege und in das Jahrzehnt nach dem
großen Freiheitskampfe. Freiherr Maximilian Speck
von Sternburg war, neben Sammlern wie Goethe und
den Brüdern Boisseree, einer der wenigen begeisterten
und weitsichtigen Kunstfreunde, die in jener spar¬
samen Zeit von dem beweglich gewordenen Kunst¬
besitz retteten, was ihnen erreichbar war und in ihrer
Interessensphäre lag. Er sammelte mit feinem Ge¬
schmack und einer für die Zeit sehr respektablen
Kennerschaft in erster Linie die Werke der Blüte der
holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in ihren
Hauptvertretern, und interessantesten Stoffgebieten,
ferner aber auch erlesene Proben der altniederländi¬
schen, altdeutschen und altitalienischen, der vlämischen,
französischen und spanischen Schulen, insgesamt etwa
200 alte Meisterwerke, zu denen noch gegen 80 Ge¬
mälde bekannter deutscher Meister aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen. Aus einer
langen Reihe renommierter, im ersten Drittel des
vorigen Jahrhunderts sich auflösenden Sammlungen,
z. B. dem Wincklerschen und Richterschen Kabinett
zu Leipzig, den Galerien des Grafen Fries, des Fürsten
Zinsendorf, des Grafen Sicking, des Fürsten von
Khevenhüller-Metsch, des Fürsten Kaunitz, alle fünf
in Wien; ferner aus der Gustinianischen Sammlung
und der des Kardinals Valenti in Rom, aus den Ka¬
binetten Le Brun, Glume und Clos in Paris und aus
der Sammlung des bekannten Kunstkenners Conseiller
Dr. de Burtin in Brüssel erwarb er bezeichnende und
schöne Gemälde, die die Künstler charakteristisch
vertraten, tadellos erhalten, meist signiert und sonst
beglaubigt waren. Durch diese weise Beschränkung
auf das Beste erhielt seine Galerie ein für eine Privat¬
sammlung ungewöhnlich hohes Niveau. Wie bei
vielseitig und genial veranlagten Männern häufig
das Spiel ihrer Muße eine bedeutende und wertvolle
Form annimmt, so verfolgte auch Baron Maximilian
Speck von Sternburg beim Kunstsammeln von vorn¬
herein sehr hohe Ziele, und zwar mit einer wunder¬
vollen Klarheit des Blickes und einer durch kein
äußerer Hindernis abzuhaltenden Energie. Ist es an
sich interessant, einen Blick auf das Leben eines sol¬
chen Selfmade-Mannes seltenster Art zu werfen, so
gehört es fast notwendig zum rechten Verständnis
einer Privatsammlung als Ganzes, als Geschmacks¬
ausdruck, etwas Persönliches von dem Gründer
zu erfahren. Er wurde am 30. Juli 1776 in dem
sächsischen Dörfchen Gröba bei Riesa, in kleinländ¬
lichen Verhältnissen geboren, kam fünfzehnjährig in
ein Leipziger Handelshaus und entfaltete nun seine
reiche geistige Begabung in fabelhaft schneller Ent¬
wickelung. Noch als ganz junger Mann wurde er
Teilhaber und Leiter einer großen Leipziger Woll-
handlung, für die er fortgesetzt große Auslandsreisen
machte, Filialen gründete und einen großartigen inter¬
nationalen Warenaustausch einrichtete, Sein über¬
legener, die politischen Ereignisse überblickender
Unternehmungsgeist vermochte selbst im Drange der
napoleonischen Kriege den Weg zu großen kauf¬
männischen Erfolgen zu finden. Vom Großkaufmann
entwickelte er sich dann zu einem Bahnbrecher für
rationellen Landwirtschafts- und Viehzuchtsbetrieb,
gründete vielgerühmte Musterwirtschaften mit Rasse¬
tieren und wirkte mit Vorträgen und Schriften so
eifrig für den Fortschritt auf diesen Gebieten, daß
ihn Kaiser Alexander von Rußland 1825 zur land¬
wirtschaftlichen Erschließung seines Riesenreiches ein¬
lud und in den Ritterstand erhob. Zu ähnlichen Auf¬
gaben wurde er einige Jahre darauf von König Lud¬
wig I. nach Bayern berufen und seine Verdienste
durch Erhebung in den erblichen Freiherrnstand eines
Königl. Bayrischen Barons von Sternburg belohnt.
Es berührt ganz eigentümlich, aus seinen Worten und
Schriften wahrzunehmen, wie er die Überlast seiner
Geschäfte als Großkaufmann und Großgrundbesitzer
in den schwierigsten Zeitläuften mit der Ruhe eines
Philosophen erträgt, immer in der Vorstellung, daß
er nicht für sich, sondern für die Menschheit zu
wirken habe. Und unbegreiflich ist, wie er Zeit ge¬
funden hat, von ca. hundert Akademien, wissenschaft¬
lichen Vereinen und Gesellschaften die Pflichten eines
Ehren- oder korrespondierenden Mitgliedes zu erfüllen
und dabei noch mannigfach literarisch tätig zu sein,
sich zu einem feinen Kunstkenner auszubilden und
seine erlesene Gemäldegalerie samt Kupferstich- und
Handzeichnungssammlung und Kunstbibliothek zu¬
sammenzubringen. Nachdem er 1821 das Rittergut
Lützschena erworben hatte, das er zu einer landwirt¬
schaftlichen Musteranstalt machte und mit herrlichen,
heute noch bewunderten Parkanlagen umgab, baute
er sich dort seine kleine Galerie, aus der dann Ende
der fünfziger Jahre die Gemälde in den Schloßneubau
übergeführt wurden. Hier geben sie diesem reizend
gelegenen, in gotisierenden Formen errichteten Land¬
edelsitze im Innern eine Weihe durch die Kunst, die
heute noch ihren Zauber auf jeden Besucher ausübt.
Die großen, mehr dekorativen Gemälde schmücken
die Treppen- und Korridorwände, während die Ka¬
binettstücke in einem gut beleuchteten, durch Scher¬
wände gegliederten Saale untergebracht und einzelne
erlesene Gemälde zum Schmucke der Wohnzimmer
verwandt sind, die im übrigen Gemälde zumeist aus
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Familien¬
porträts aus dieser und späterer Zeit enthalten. Wie
Baron Maximilan Speck von Sternburg jener den
Besten seiner Zeit eigenen kosmopolitischen und
philantropischen Weltanschauung huldigte, so wollte
35
DIE GALEF^IE SPECK VON STERNBURG
264
er auch seine Kunstsammlung in den Dienst des
Guten und Schönen, der Bildung und der Ereude an
der Kunst stellen. Er verfaßte selbst in dem Jahre
1827 zwei ausführliche, mit vielen Kunstnotizen und
eigenen Kunstanschauungen ausgezeichnete Kataloge
seiner Gemälde und sonstigen Kunstwerke mit litho¬
graphischen Nachbildungen in stattlichem EolioformaP),
die er den hervorragendsten Kunstfreunden des In-
und Auslandes dedizierte. ln gleichem Sinne traf er
die liberalsten Bestimmungen für den Besuch der
Galerie, besonders für ernstere Studien von Kunst¬
verständigen und Künstlern und sorgte auch letzt¬
willig für die dauernde Erhaltung der Gemäldesamm¬
lung, während die Kupferstich- und Handzeichnungs-
sammlung aufgegeben wurde. Er endete sein reich¬
bewegtes Leben am 22. Dezember 1856 im 81. Lebens¬
jahre und ruht in einem kleinen Mausoleum im
Hintergründe seines schönen Schloßparkes, den er
selbst in einem 1836 erschienenen Poem gefeiert hat.
Noch heute werden, den guten Traditionen treu,
diese Gemäldeschätze allen Kunstfreunden leicht und
unentgeltlich zugänglich gemacht. Der jetzt hoch¬
betagte Sohn des Begründers, Baron Alexander Speck
von Sternburg, hat auch seinerseits seiner Liebe zur
Kunst und seiner Verehrung für die Schöpfung seines
hochgesinnten Vaters dadurch Ausdruck gegeben, daß
er selbst wieder (188g) einen handlichen, gut orien¬
tierenden Katalog der Galerie verfaßte und den Be¬
suchern zur Verfügung stellte. Es mag wohl haupt¬
sächlich durch die etwas abseits vom Verkehr in länd¬
licher Abgeschiedenheit versteckte Lage bewirkt sein,
daß diese Gemäldesammlung nur selten besucht und
auch in der Kunstliteratur nur wenig erwähnt wird,
so in neuerer Zeit nur einige italienische Bilder von
Morelli, von Crowe und Cavalcaselle in der Geschichte
der italienischen Malerei, von Eritz Harck im Archivio
storico d. arte 111 und einzelne niederländische Bilder
von Hofstede de Groot, W. Bode, H. v. Tschudi,
Eirmenich-Richartz und Th. von Erimmel. Daher
dürfte es Kunstforschern und weiteren Kreisen der
Kunstfreunde willkommen sein, daß die Kunsthisto¬
rische Gesellschaft für photographische Publikationen
in den beiden kürzlich erschienenen Jahrgängen eine
Auswahl von vierzig der bedeutendsten Gemälde der
Galerie in großen, schönen Lichtdrucken herausgegeben
hat 2), auf die unsere Abbildungen hier zurückgehen.
Beginnen wir die Einzelbetrachtung der wich¬
tigsten Gemälde mit den Italienern, so finden wir
unter diesen das früheste der Sammlung, ein kleines,
fein ausgeführtes florentinisches Trecentobild in Tem¬
pera auf Holz, das Martyrium des hl. Laurentius dar¬
stellend, strahlend in traditionellem grellen Blau, Rosa
1) Ein kleines, 320 Nummern umfassendes Verzeichnis
erschien dann 1840.
2) Kunsthistorische Gesellschaft für Photographische
Publikation unter Leitung von A. Schmarsow, F. von Reber,
C. Hofstede de Groot, Jahrgang X und XI Die Galerie
Speck von Sternburg, 40 ausgewählte Meisterwerke mit
Text von F. Becker. Leipzig, 1904 und 1905. (Auch separat
in Prachtmappe, Verlag von A. Twietmeyer.)
und Grün, interessant wegen der sehr stattlichen Fi¬
guren, und der für die Zeit in Perspektive und Weit¬
räumigkeit schon sehr fortgeschrittenen Architektur. Es
ging früher unter Taddeo Gaddis Namen, wurde
aber von Morelli richtig als eine Arbeit des Spinello
Aretino bestimmt. Man braucht nur an Spinellos
überbunte Kapelle in San Miniato in Florenz und
seine bekannten Gestalten mit den ehernen Köpfen und
starren, großartigen Faltenzügen zu denken, um all
seine ausgeprägte Eigenart in diesem Bildchen wieder¬
zufinden. Es ist in den Farben sehr gut erhalten,
scheint aber an der rechten Seite etwas verkürzt
zu sein (Abb. 6).
An die Blütezeit der venezianischen Malerei er¬
innert uns das stattliche Repräsentationsbild Cimas da
Conegliano, eine Madonna mit Kind und zu den
beiden Seiten Johannes der Täufer und Hieronymus
vor einer weiten Hügellandschaft mit einer festen
Stadt rechts. Es ist eine Variante seiner bekannten
bellinesken Madonnenbilder in Halbfiguren und zwar
in ihrer ruhigen ungezwungenen Komposition, in
der eindringlichen Charakteristik, in dem harmonischen,
durch kräftige Schatten gehobenen Kolorit besonders
wirkungsvoll. Der untere Streifen mit einer falschen
Bellini-Signatur scheint gelegentlich der Befestigung
der Leinwand auf Holz hinzugekommen zu sein. Im
übrigen ist es bis auf einige Retuschen gut erhalten;
es kann aber nicht, wie der Katalog vermerkt, aus
der Gräflich Sickingschen Sammlung erworben sein,
da es noch 1828 als in der Galerie Wendelsladt be¬
findlich in Umrißslich publiziert worden ist (Abb. 5).
Ungefähr zur selben Zeit, im ersten Jahrzehnt des
16. Jahrhunderts, wird ein anderes Hauptstück der
Sammlung, die lebensgroße Halbfigur des Schmerzens¬
mannes von Andrea Solari entstanden sein. Obwohl
das Gemälde durch Übertragung von der Leinwand
auf Holz^) gelitten hat und stark durch alten gelben
französischen Firnis beeinträchtigt wird, kommt immer
noch die außerordentliche Feinheit der Ausführung
und die in Lionardos Schule gewonnene Kraft und
Tiefe der Auffassung zur Geltung. Die Signatur
Andre(as) de Solario fa in Goldbuchstaben links unten
mag nicht original sein, aber an der Autorschaft So¬
laris zu zweifeln liegt kein Grund vor, und mit Recht
traten Crowe und Cavalcaselle und Fritz Harck für
die Echtheit entschieden ein. Es scheint ursprünglich
der etwas veränderten Fassung des Ecce homo in
Mailand, Museum Poldi Pezzoli, wesentlich an künst¬
lerischer Durchbildung überlegen gewesen zu sein.
Ein liebliches Madonnenbildchen von Francesco Francia
erinnert in Typen von Mutter und Kind, in der
frommen, sinnigen Stimmung, in der zierlichen, um-
brischen Landschaft lebhaft an Peruginos und auch
des jungen Raffaels Weise. Die Datierung der In¬
schrift auf 1517 (das Todesjahr Francias) verträgt sich
aber nicht mit dem starken Anklang an Peruginos
Einfluß und daher muß dies Bildchen über ein Jahr¬
zehnt früher gemalt sein. Die Temperafarben zeigen
hier einen Schmelz und eine Tiefe wie ein altnieder-
i) 1785 von Hacquin in Paris ausgeführt.
SAMMLUNG SPECK VON STERNBURO
1. BARTH. V. D HELST. FRAUENPORTRÄT
2. FERD. BOL. PORTRÄT EINES RATSHERRN
3. HENDRIK VAN VLIET. ALTE KIRCHE IN DELFT
4. PIETER DE HOOOH. INTERIEUR
266
DIE GALERIE SPECK VON STERNBURO
ländisches Ölbild; leider ist die Lackschicht fleckig
geworden (Abb. i o).
Raffaels Namen trägt in der Galerie eine mei¬
sterhaft ausgeführte Wiederholung des berühmten
Porträts der Johanna von Aragonien im Louvre,
aber kunstgeschichtlich interessanter ist ein Ma¬
donnenbildchen aus Raffaels nächstem Schülerkreise.
Vorn auf der Eensterbrüstung im Zimmer Marias
sitzt das Knäblein nackt auf weißem Kissen mit
blauer Unterlage und die jungfräuliche Madonna
reicht ihm dahinterstehend die Rechte und hält wie
dieses Nelken in der Hand. Reiche modische Tracht
mit geschlitzten Ärmeln und von überaus sorgfältig
durchgebildetem Faltenwerk ziert die junge, blonde
Mutter, die wie das Kind ganz und gar den Typus
aus Raffaels Frühzeit zeigt. Mit feinem Pinsel ist
alles peinlich und doch flüssig und verschmolzen
durchgeführt, aber das Kolorit hat besonders in den
verschiedenen Nüaiiceii des Blau etwas Kaltes. Leider
beeinträchtigt ein Sprung durch die ganze Tafel das
sonst in den Farben wohlerhaltene Kabinettstück
fühlbar.
Einen Nachklang von f^affaels Schule, wenn auch
nur noch teilweise und schwach, verrät das Madonnen¬
bild von der Hand des Veronesers Giov. Franc. Ca-
roto (1476 1546), eine in Formen und Farben etwas
derbe Arbeit, die von Morelli, ebenso wie die Dres¬
dener Madonna von Caroto, diesem so verschiedenen
Einflüssen unterworfenen Künstler wohl mit Recht
zugewiesen wurde.
Unter den übrigen älteren italienischen Gemälden
verdienen ein interessanter, dem Giorgione zuge¬
schriebener und aus der ehemaligen Sammlung des
Grafen Fries in Wien erworbener dornengekrönter
Christuskopf und ein nur spannenlanges Bildchen mit
zwei blondlockigen Kinderköpfen (Christus- und jo-
hannesknabe) von Parmigianino, frisch gemalt und mit
der gewinnenden Anmut von Correggio-Putten aus¬
gestattet, besondere Aufmerksamkeit. — Wenn die
Namen Verrocchio, Luini, Giovanni da Udine, Pierino
del Vaga mit wenig interessanten und ihnen fern
stehenden Bildern im Katalog nach alter Tradition
zusammengebracht werden, so findet man wieder
unter den Italienern des 17. und 18. Jahrhunderts
charakteristische Proben bekannter Meister wie Schi-
done, Sassoferrato, Guido Reni, Carlo Dolce, Alex.
Turchi, Annibale Carracci, Carlo Maratta, J. P. Pannini
und anderer.
Aber die Hauptstärke der Galerie beruht doch in
den niederländischen, insbesondere den holländischen
Gemälden des 17. Jahrhunderts. Sehr würdig steht
an der Spitze der niederländischen Gruppe ein wunder¬
feines Werk von der Hand Rogiers van der Weyden. Es
stellt die Begegnung der Maria nnd der Elisabeth dar
und ist den Lesern dieser Zeitschrift schon im X. Bande,
S. 141 von Firmenich-Richartz in Abbildung vorgeführt
worden, zugleich mit der älteren eigenhändigen Fas¬
sung desselben Vorgangs auf dem Flügel eines Di¬
ptychons in der Turiner Galerie. Während Rogier es
sonst liebt, sein phantasievolles Erzählertalent und die
Feinheit seiner Hand an der Darstellung reichen Skulp¬
turenwerkes zu zeigen, exzelliert er hier in der minu¬
tiösen Ausführung einer zierlich staffierten Landschaft,
bei der selbst noch die Spiegelung eines Schwans
im Weiher des Mittelgrundes und die Schatten unter
den Bäumen des Hintergrundes im unermüdlichen
Streben nach Wahrheit im Schein wiedergegeben sind.
In sehr guter Erhaltung bietet uns dieses Bild auch
eine charakteristische Probe von Rogiers klarem, etwas
hartem Kolorit, das hier von dem Hellblau des Him¬
mels, dem Azur und Rubinrot der Kleider, dem
Waclisgelb des Inkarnats und dem Gelbgrün der Land¬
schaft beherrscht wird. Auf Einzelheiten brauchen
wir hier nicht einzugehen, da schon Firmenich-Richartz
an genannter Stelle das Bild genau beschrieben und
auch die dem Turiner Pendant gegenüber wesentlich
spätere Entstehung im Oeuvre Rogiers nachgewiesen
hat. Nur ist schwer zuzugeben, daß die Typen auf
dem Lützschenaer Bilde an frischer Lebenswahrheit
nachstehen sollen und der Hintergrund bloß kulissen¬
artig wirke. Eher dürfte umgekehrt das Turiner Bild
hierin nachstehen. In ihm ist alles altertümlicher und
enger, in Typen und Falten knifflicher, in den Gesten
lahmer, in der Architektur winkliger; in dem Lütz¬
schenaer Bilde dagegen ist schon durch die anderen
Dimensionen (bei gleicher Breite eine um ein Drittel
verminderte Höhe) ein im Verhältnis breiterer Schau¬
platz gewonnen und auch alle Körper im Raume sind
breiter und klarer ausgeführt. Ganz deutlich gibt
sich unser Bild als eine mit größter Sorgfalt und mit
reiferer Kunsterfahrung vorgenommene Revision des
alten Themas. Manche Reize des Jugendwerkes z. B.,
die fein differenzierte Licht- und Schattenwirkung hat
Rogier im Lützschenaer Bilde nicht wieder erreicht,
aber dafür stattete er es mit der ganzen Sicherheit
und Klarheit aus, wie sie nur die reife Meisterschaft
gewährt. Für seine Kunstentwickelung kann also
dieses Bild im Vergleich mit dem Turiner einen be¬
sonders interessanten Anhalt geben.
Schon in das erste Viertel des 16. Jahrhunderts
führt uns ein farbenprächtiger und figurenreicher
Flügelaltar eines niederländischen Übergangsmeisters,
der das altniederländische Schulerbe durch modische
Äußerlichkeiten und theatralischen Ausdruck zu stei¬
gern meint (Abb. 8 u. g). Bei geöffneten Flügeln sieht
man innen das Leiden Christi: Kreuztragung, Klage unter
dem Kreuz und Beweinung nach der Abnahme; außen
links Kaiser Konstantins Sieg über Licinius, rechts den
Einzug Gottfrieds von Bouillon in Jerusalem dar¬
gestellt. Die festlichen, überreich gezierten Kostüme,
der phantastische Waffenschmuck, das mehrfach wie¬
derkehrende Doppeladler-Wappen, die eleganten Posen
und Gesten, die übertriebene Charakteristik, das blühende,
etwas bunte Kolorit verraten dieHofkunst unter Margarete
von Österreich und deutliche Beziehungen zu Barend von
Orley und noch mehr zum Meister von d’Oultremont
(Jan Mostaert). — Unter Martin van Heemkercks Namen
verzeichnet der Katalog das lebensgroße Idealporträt
eines phantastisch gepanzerten Ritters in ausgeprägt
ilalienisierendem Geschmacke. Da wirkt eine kleine
Winterlandschaft aus der Werkstatt des alten Pieter
Brueghel natürlicher und selbst Dionys Calvaert mit
SAMMLUNG SPECK VON STERNBURO
5. CIMA DA CONEOLIANO. MADONNA MIT KIND UND HEILIGEN
6. SPINELLO ARETINO
MARTYRIUM DES HL, LAURENTIUS
7. L. CRANACH D. Ä. FLÜOELBII D MIT DEN
HL. DOROTHEA, AGNES UND KUNIGUNDE
268
DIE GALERIE SPECK VON STERNBURG
seiner Verlobung der hl. Katharina und Hendrick von
Baien mit den Kindern Israels in der Wüste sagen
uns mehr. Der Vlamen Ruhm und Stolz, Peter Paul
Rubens, ist mit einer prächtigen, kraftvollen Skizze
eines Mönchskopfes in Lebensgröße vertreten, während
im übrigen zwei alte, gute Repliken, das Schiff im
Sturme und eine Waldlandschaft mit Hirt und Herde
(Original im Besitze des Earl Carlisle, Castle Howard),
an ihn erinnern. Von dem ihm so nahestehenden
Jakob Jordaens enthält die Sammlung ein kräftiges
dekoratives Bild mit den vier Aposteln in lebens¬
großen Kniestücken, aber die dem A. van Dyck im
Katalog zugeschriebene Beweinung Christi hat durch¬
aus nichts mit ihm zu tun, ist schwach in der Zeich¬
nung, eher spanisch als vlämisch und durch Über¬
malung beeinträchtigt. Natürlich fehlt unter den
Vlamen nicht der populäre Teniers d. j., hier mit
einer kleinen Landschaft vertreten, und von dem
schon selteneren Gonzales Cocques enthält die Samm¬
lung sogar ein ungewöhnlich schönes und vornehm
wirkendes Familienporträt von acht Personen (darunter
ein Neger) signiert und 1656 datiert.
Wenden wir uns nun zu den holländischen Bil¬
dern, so können aus der großen Zahl derselben hier
nur wenige, besonders interessante als Vertreter der
Gruppen hervorgehoben werden.
Von Rembrandt verzeichnet der Katalog vier
Nummern, einen Porträtkopf und zwei Brustbilder
alter Frauen und den lebensgroßen Kopf eines Greises
mit Knebelbart. Unzweifelhaft von des Meisters Hand
ist dieser bei aller Einfachheit malerisch sehr pikant
dargestellte Charakterkopf, voll bezeichnet und 1651
datiert, und in W. Bodes Rembrandtwerke unter Nr.
377 abgebildet.
Mit Rembrandt scheint Ferdinand Bol hier in
einem lebensgroßen Brustbilde eines holländischen
Ratsherrn in mittleren Jahren rivalisieren zu wollen,
ln voller Vorderansicht, in eindrucksvoller Charak¬
teristik hebt sich dieses imponierende Bildnis von
dunkelgrünem Grunde ab und wirkt farbig tief und
ernst durch ein feines Sfumato, durch das dominierende
Schwarz und Weiß der Kleidung und ein purpurrotes
Kissen (Abb. 2).
Wieder mit ganz anderen Mitteln sehen wir hier
die Porträtkünstler B. van der Heist und G. Terborch
zu höchst originellen und fesselnden Lösungen von
Bildnisaufgaben kommen. Der erste überrascht in
dem lebensgroßen Brustbilde einer resoluten, alten
Witwe 1) durch den kecken Realismus und das ganz
auf das Momentane gestellte Motiv und die kontrast¬
reichen Farben, während der vornehme Gerard Ter¬
borch in einem Herren- und einem Damenporträt in
drittellebensgroßen Ganzfiguren durch äußersteSchlicht-
heit im Motiv und Kolorit eine sehr aparte Wirkung
erzielt (Abb. 1,12,13). Sein eigenes, lebensgroßes Porträt
aber mit allerhand persiflierenden Andeutungen auf
1) Ein sehr ähnliches Porträt, wahrscheinlich die Vor¬
studie zu diesem Bilde, besitzt die Dresdener Galerie
(Nr. 1596), worauf Dr. Hofstede de Oroot aufmerksam
machte.
K. Netscher scheint bei aller Schärfe der Arbeit nicht
von Terborchs Hand zu sein. — An der Spitze der
holländischen Interieurs steht hier das kostbare Bild
von Pieter de Hooch, die Äpfel schälende junge
Mutter, der die Magd das kleine Töchterchen am
Gängelbande zuführt; es zeigt die bekannten Vor¬
züge der fast modern wirkenden Malweise dieses
Künstlers, wird aber leider durch einen alten gelb
gewordenen Firnis in der vollen Licht- und Luft-
wirkuiig beeinträchtigt (Abb. 4). Diesem Werke gegen¬
über kommen dann die an sich feinen Interieur-
Genrebilder von Jan Steen (streitende Bauern), G.
Metsu (kranke Mutter), Jac. Ochtervelt (die Schach¬
partie), F. van Mieris (die reuige Tochter) erst in
weiterem Abstande.
Wieder ein vollendetes Meisterwerk in durchsich¬
tigem Clairobscur und delikater malerischer Gesamt¬
behandlung ist Adriaen van Ostades Zeitungsleserin
vor einem Bauernhause. Dieses koloristisch feine,
an Rembrandts Einfluß erinnernde Bild mag uns den
Übergang zur eigentlichen Landschaftsmalerei ver¬
mitteln, die hier viele gute Namen wie Jacob Isaaksz
van Ruisdael (große felsige Landschaft), Aert van der
Neer (Winter- und Mondscheinlandschaft), Corn. Dusart,
Adriaen van de Velde, Berchen, Dubois, Does, Wou-
werman unter anderen zählt, abgesehen von manchen
irrtümlichen Zuweisungen. Aber als eine Perle der
Galerie kann man die kleine luftige Marine von
Willem van de Velde bezeichnen. Die religiöse
Historie finden wir durch Joan van Noordts Su-
sanna im Bade, ein lebensgroßes, sehr farbig und
dekorativ wirkendes Hauptstück dieses von Hofstede de
Groot wieder bekannt gemachten Meisters vertreten,
während von dem ihm kunstverwandten Jan Weenix
ein vornehmes Konversationsstück, Kavaliere und
Damen in reichster Tracht im Parke vor einem Schlosse
lagernd, in großer Feinheit und Farbenpracht aus¬
geführt, zu bewundern ist. Gegen Jan Weenix kann
hier der akademische Gerard Hoet mit seiner zierlich
und bunt gemalten Götterversammlung nicht recht
aufkommen; eher noch bringen sich Huchtenburg mit
einem ungewöhnlich schönen Schlachtenbilde (signiert
und 1715 datiert) und C. Ruthart mit einer leiden¬
schaftlich aufgefaßlen und vortrefflich gemalten Bären¬
hatz zur Geltung. Auffallend reich und gewählt ist
die Sammlung an Blumen- und Fruchlstilleben von
Aelst, den beiden de Heems, Huysum, R. Ruysch,
Gillemans, Roepel und anderen, und darunter das
Hauptstück, ein Fruchtstilleben mit einem Hummer
von J. D. de Heem, offenbar das Original für die
in den Farben und in der Arbeit geringere Wieder¬
holung in der Dresdener Galerie Nr. 1260. Unter
den Jagdstilleben finden wir interessante Arbeiten
von J. B. Weenix, dem seltenen Matthijs Bloem und
Dirk Valkenbiirg. Und nicht unerwähnt sollen die
in Perspektive, Licht- und Luftwirkung so stimmungs¬
vollen Kircheninterieurs von Steenwijck, von Deelen,
H. van Vliet, Anthony de Lorme unter anderen
bleiben (Abb. 3).
Unter den altdeutschen Gemälden ist das frühste
ein sehr umfangreiches Triptychon mit dem segnen-
SAMMLUNG SPECK VON STERNBURG
8. HAARLEMER MEISTER UM
1510 (?). SIEG KONSTANTINS
UND EINZUG GOTTFRIEDS v.
BOUILLON. AUSSENFLÜGEL
9. HAARLEMER MEISTER UM 1510 (?). KREUZTRAGUNG, KREUZIGUNG UND BEWEINUNG CHRISTI. INNENSEITEN
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. lo oft
270
DIE GALERIE SPECK VON STERNBURG
den Christus inmitten der zwölf Apostel und einem
anbetenden Stifter auf den Innenbildern und der An¬
betung der Weisen auf den Außenflügeln, inwendig
auf Goldgrund, außen mit landschaftlichem Hinter¬
grund. Dieses interessante, bis auf den erneuerten
Goldgrund wohlerhaltene Temperabild ist im Kata¬
loge als ein Werk des Wohlgemuth aufgeführt, zeigt
aber in Typen, Formen, Komposition und Farben die
charakteristischen Merkmale der Arbeiten eines Anony¬
mus der kölnischen Schule um 1470, des Meisters
des Marienlebens, und muß sich zeitlich nahe an die
Himmelfahrt Christi dieses Meisters in der Galerie
Weber in Hamburg anschließen.
Das hübsche Porträt der sogenannten Katharine
Fürlegerin mit Dürers Monogramm und der Bei¬
schrift: Also pin ich gestalt in athcethe Jor altt. 1497
dürfte keine Originalarbeit, sondern nur eine alte,
gute Replik nach Dürer sein und es gehört zu einer
Reihe von fünf Porträtdarstellungen derselben Jungfrau
in wechselnder Kostümierung, zweimal mit gefloch¬
tenem, dreimal mit offenem Haar, wozu noch eine echte
Skizze Dürers aus seiner frühen Zeit kommt i). Diese
Bilder, unter sich wieder verschieden und die einen
in Wasserfarben, die anderen in Öl gemalt und alle
in ihrer Echtheit bestritten, befinden sich bei Charles
Robinson, London; im Städelschen Institut in Frank¬
furt; in der Augsburger und Budapester Galerie. —
Ein sehr kostbares Originalgcmälde von Lukas Cra-
nach d. ä. ist die Tafel mit drei weiblichen Heiligen
Dorothea, Agnes und Kunigunde und einem Kind
fast in Lebensgröße. Der Katalog verzeichnet das
Werk unter Baidung Grüns Namen, es ist aber ein
Flügel eines Altars, dessen Mittelstück mit der Marter
der heiligen Katharina und dessen anderen Flügel mit
den Heiligen Barbara, Ursula und Margaretha sich in
der Dresdener Galerie befinden. Das Mittelbild trägt
die Bezeichnung L C 1 506, und es steht dieses Werk
seiner vielgepriesenen Ruhe auf der Flucht von 1504
(in der Berliner Galerie) nicht nur zeitlich, sondern
auch künstlerisch in Farbe, Typen und Stimmung
nahe. Ganz entzückend ist auf dem Lützschenaer
Flügel das barfüßige, rosenbekränzte Knäblein in
seiner Lieblichkeit und Naivetät (Abb. 7). Von L.
Cranach d. j. schließen sich die lebensgroßen Figuren
Adams und Evas an, die in so vielen Wiederholungen
existieren, und hier das Monogramm und die Datie¬
rung 1533 tragen. — Auch Hans Holbeins d. ä. Name
wird im Katalog bei einer thronenden Madonna und
einem Männerporträt genannt, aber in beiden Fällen
ohne eigentlichen Grund. Von späteren Deutschen: Elz-
1) Vergl. Soldans Dürerwerk Nr. ig.
heimer (?), Lingelbach und Mignon, Kupetzky, Denner,
Seibold, C. W. Dietrich und Ant. Graff sind zum
Teil sehr interessante Arbeiten vorhanden.
Unter den wenigen Proben älterer französischer
Malerei ist in erster Linie ein Hafenbild von Joseph
Vernet und die Madonna unter dem Kreuz von dem
in Paris tätigen Vlamen, dem ernsten und schwer¬
mütigen Philippe de Champaigne zu nennen.
Seltsamerweise bezeichnet der Katalog als das
interessanteste Gemälde der Sammlung eine Kreuz¬
abnahme, angeblich von der Hand des Fernando
Gallegos, des tonangebenden Vertreters der Eyckschen
Richtung in Salamanca in der zweiten Hälfte des
1 5. Jahrhunderts. Dies Bild kann aber nicht viel vor
1600 gemalt sein und verrät in nichts eine interessante
Künstlerpersönlichkeit. Viel höher stehen die schöne,
charakteristisch spanisch aufgefaßte Madonna mit Kind
von Alonso Cano und vor allem die Verkündigung an
Maria von Murillo, eine wirkliche Perle der Samm¬
lung. Unsere Abbildung zeigt den so naiv und
fromm dargestellten Vorgang, vermag aber keine Vor¬
stellung von der hohen malerischen Ausführung zu
geben. Alles ist auf einen gedämpften Silberton ge¬
stimmt, der selbst die Farbe der Nelken zu einem
verblichenen Blaßrot mildert; weiche, tiefe Schatten
in den Falten bewirken eine starke Plastik der Figur
und ein feines Helldunkel läßt die Wundererscheinung
mehr ahnen als deutlich wahrnehmen. — Auch von
Murillos Nachfolger im Ruhme, dem außerhalb
Spaniens nur selten durch Gemälde bekannten Juan
de Valdes Leal ist hier ein großes, virtuos gemaltes
Altarbild, die Darstellung des Wunders des heiligen
Bruno mit lebensgroßen Figuren zu sehen.
Unter den ca. 80 neueren Gemälden, meist aus dem
ersten Drittel des ig. Jahrhunderts wird man keine
Überraschungen erwarten und auch keine finden, denn
es handelt sich zumeist um Porträts und Landschaften
der Münchener und Düsseldorfer Schule. Aber wir
fangen an, wieder Augen auch für die kleinen Reize der
Malerei dieser Zeit bekommen, und freuen uns, wenn
der Blick auf eine Landschaft von J. Schnorr von
Carolsfeld oder Rottmann oder gar auf die kleinen,
so ganz modern empfundenen Stimmungslandschaften
Caspar David Friedrichs fallen. Zum Schluß sei noch
auf die prächtigen Porträts des Begründers der Galerie
und seiner Gemahlin hingewiesen, feine Arbeiten des
als Bildnis- und Schönheitenmalers seinerzeit hoch-
geschätzten Friedrich von Amerling (Wien, 1803 bis
1887), datiert 1832, also aus demselben Jahre, in dem
er das Porträt des Kaisers Franz malte und der Kai¬
serin Karolina Augusta im Künstlerstolz abschlug,
auch nur das Geringste am Ausdrucke zu mildern.
Dr. FELIX BECKER.
SAMMLUNG SPECK VON STERNBURO
12. GERARD TERBORCH. HERRENPORTRÄT
13. GERARD TERBORCH. DAMENPORTRÄT
36’
10. ERANCESCO FRANCIA. MADONNA MIT KIND
11. MURILLO. VERKÜNDIGUNG
STUDIE VON B. HÖTGER
B. HÖTGER
HAUSWEBER
DAS LEIPZIGER RATSBILD
Die im Oktober dieses Jahres bevorstehende
Übersiedelung der Leipziger Stadtverwaltung
in das mächtige, von Hugo Licht erbaute Rat¬
haus gegenüber dem Reichgerichtsgebäude ist der Anlaß
geworden zur Stiftung eines Gruppenbildes von außer¬
gewöhnlichen Verhältnissen, das künftig den neuen
Sitzungssaal des Ratskollegiums schmücken soll und
die Bildnisse der gegenwärtig amtierenden Stadträte
mit denen der beiden Bürgermeister der Nachwelt
überliefern wird. Wir geben das Gemälde in einer
Abbildung auf nebenstehender Seite wieder. Es ist
die Schöpfung des aus Leipzig gebürtigen Malers
Eugen Urban, der eine Zeitlang in Berlin lebte, jetzt
wieder in seiner Heimat tätig ist. Das Thema, die
sämtlichen Mitglieder einer Korporation in einem Ge¬
nossenschaftsbilde zusammenzufassen, ist in der hol¬
ländischen Malerei des i6. und 17. Jahrhunderts
ebensosehr beliebt gewesen, wie es in der neueren
Kunst vermieden wird. Die Ursachen für die mo¬
derne Rückständigkeit sind leicht zu begreifen. Wenn
auch die Scheu vor dem eigenen Bildnis in unseren
bürgerlichen Kreisen allmählich zu schwinden be¬
ginnt, so gehört doch für eine im öffentlichen Leben
stehende Gemeinschaft noch ein gewisses Maß von
unbefangener Selbstschätzung zu dem Entschluß, sich
korporativ porträtieren zu lassen, und ist dazu der
gute Wille vorhanden, so wird die Abneigung bei
den Künstlern beginnen. Denn es gibt wohl kaum
eine härtere Probe auf die Leistungsfähigkeit der dar¬
stellenden Kunst als die Aufgabe, eine größere An¬
zahl unserer in ihrer Alltagstracht oder gar im ge¬
sellschaftlichen Frack keineswegs malerisch erschei¬
nenden Mitbürger zu einer Gruppe von künstlerischer
Wirkung zu vereinigen. Die Hauptschwierigkeit liegt
in der Wahl eines unmittelbar verständlichen Mo¬
mentes, im Auffinden eines den ganzen Figuren¬
apparat zusammenhaltenden Gedankens, und gerade
darin kann dem Urheber des Leipziger »Regenten¬
stückes« die Anerkennung, einen glücklichen Griff
getan zu haben, kaum versagt werden.
Wir haben auf den deutschen Ausstellungen in
jüngster Zeit zwei andere Behandlungen desselben
Gegenstandes kennen gelernt, die in der Lösung
dieser Schwierigkeit von unserem Gemälde völlig
abweichen. Hugo Vogel hat in einem vielbewun¬
derten Kolossalbild die Hamburger Senatoren darge¬
stellt, wie sie in ihrer altertümlichen Amtstracht, im
steifen Radmantel mit der gefältelten Halskrause und
mit schwarzen Kniehosen, gemessenen Schrittes die
Freitreppe herabsteigen, also aus einer Sitzung kommen.
Der Ernst der eben gefaßten Beschlüsse scheint noch
auf ihren Gesichtern zu liegen; nur erkennen wir nichts
von dem, was vorausgegangen ist. Was vor unseren
Augen geschieht, ist an sich nicht bedeutsam, aber es ist
der Entfaltung der Einzelheiten des Bildes, der zwang¬
losen Aneinanderreihung der Figuren in wechselnden,
bewegten Stellungen ausnehmend günstig, und vor
allem gewinnt das Bild durch die Wirkung und die
Ideenverbindung, welche das altspanische Kostüm der
Senatoren hervorruft, jener fürstlichen Kaufherren,
die in ihrer selbstbewußten Grandezza an venezia¬
nische Nobili und an die Granden des Hofes von
Madrid erinnern.
Ganz anders hat Hubert von Herkomer seine
Ratsherren von Landsberg geschildert. Die geräumige
Ratsstube ist vor uns aufgetan; im Hintergrund
zwischen zwei Fenstern, welche den Marktplatz zeigen,
sitzt am Tisch der Bürgermeister mit dem Proto¬
kollanten, an den Seitenwänden auf chorstuhlartigen
Bänken, vor langen, streng symmetrisch zur Vertikal¬
achse des Bildes gestellten Tischen sitzen die übrigen
Ratsmitglieder. Die Schilderung hat in ihrer haus¬
backenen Deutlichkeit etwas vom Chronistenstil alt¬
deutscher Holzschnitte, wird aber poetisch durch
den Schimmer des aus den Fenstern eindringenden,
alle Köpfe umspielenden Lichtes und durch die
Rhythmik der Haltung, die Feinheit der Belebung
der Gestalten, namentlich der Köpfe.
Weder die frei dichtende, noch die sachliche be¬
schreibende Auffassung seiner beiden Vorgänger hat
sich der Leipziger Maler zunutze gemacht. Er ent¬
schied sich — nach einigen Versuchen, die gegebene
Örtlichkeit, das heißt, den alten, in seiner Ausstattung
so ehrwürdigen Ratssaal im Bilde möglichst genau
wiederzugeben — für einen mittleren Weg, der Wahr¬
heit und Dichtung gleichmäßig zu ihrem Rechte
kommen läßt. Beibehalten ist von der Wirklichkeit
noch genug, um die Situation zu veranschaulichen.
Man erkennt den Sitzungssaal an dem Hinter¬
gründe, wo weder der historische Ofen noch die
Fürstenbilder und die alten Wandschränke fehlen;
aber das sachliche Detail wird in ein rembrandti-
sches Helldunkel gerückt, um es dem Vorgang
im Vordergrund unterzuordnen. Der Künstler führt
uns das Ende einer Ratssitzung vor, in welcher die
Erbauung des neuen Rathauses beschlossen worden
ist. Noch mustert der regierende Oberbürgermeister
Dr. Tröndlin, dessen scharf geschnittener Charakter¬
kopf am rechten Rande des Bildes hervorsticht, sein
Kollegium, noch hält der Protekollant an seiner Seite
GEMALT VON EUGEN URBAN IN LEIPZIG
276
DAS LEIPZIGER RATSBILD
die Feder in der Hand. In der Mitte sammelt sich an dem
Sitzungstisch eine Gruppe von Ratsherren um den Bau¬
plan, den Meister Licht mit vorgestreckter Hand lebhaft
erläutert. Der lebensprühende Kopf dieses Erneuerers
der Leipziger Stadtsilhouette ist mit seinen triumphieren¬
den Zügen dem Maler ausgezeichnet gelungen. Aber
schon haben sich einige Gruppen aus der Versamm¬
lung abgesondert. In der rechten vorderen Ecke
hat sich ein Ratsmitglied (Legationsrat Dr. Göhring),
dessen sprechend ähnliches Porträt einen der Licht¬
punkte des Gemäldes bildet, zu dem Protokoll¬
führer gesetzt. In der linken unteren Ecke korre¬
spondiert mit dieser Gruppe eine andere von drei
Personen, die in der vorgebeugten Gestalt des Stadt¬
baurates Scharenberg gipfelt, des ehemaligen Genossen
Ludwig Hoffmanns bei dem Bau des Leipziger Reichs¬
gerichts. In der Herausarbeitung solcher Gegensätze,
in der Verteilung der Gruppen und der Lichtzentren
hat der Maler viel Überlegung und Geschick be¬
wiesen. Wer die dargestellten Persönlichkeiten kennt,
wird auch der Ähnlichkeit der Bildnisse — nicht
bloß der rein äußerlichen, sondern auch derjenigen
in Mienen und Haltungen - unbedingtes Lob spenden.
Eine gewisse Härte und Ungleichheit im Kolorit und
einige Dissonanzen im Linienfluß sind nicht zu leugnen,
fallen aber nicht sehr in die Augen. Auch die Schwierig¬
keit, die Größenverhältnisse der Figuren nach dem
Hintergründe zu gleichmäßig abnehmen zu lassen —
das Hauptmittel, eine Tiefenwirkung im Bilde zu er¬
reichen — , ist nicht an allen Stellen mit demselben
Erfolg überwunden. Aber wie wenige Maler würden
gegenwärtig den Mut haben, sich an eine solche Auf¬
gabe heranzuwagen und ihr so viel abgewinnen, als
es Eugen Urban gelungen ist? Das Bild ist noch
nicht in der Öffentlichkeit gezeigt worden und wird
erst mit der Einweihung des Rathauses dem Publikum
zugänglich werden. Hoffentlich wird es seinem
Schöpfer Förderer und Nachfolger erregen.
THEODOR SCHREIBER.
B. HÖTGER. BLIND
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ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1905
ORIOINALHOLZSCHNITT VON J. v- DUTCZVjjSI^
WIEN
STUDIE VON B. HÖTOER
BERNHARD HÖTOER
Bernhard HÖTGER ist zwar kein Schüler
von Rodin, aber ich glaube doch, daß oline
die Einwirkung Rodins seine Entwickelung
einen anderen Weg genommen hätte. Und in diesem
Falle hat die Einwirkung nichts geschadet, denn Höt-
gers Persönlichkeit ist stark genug, um sie zu ver¬
dauen, wie sie für seine Individualität nützlich sein
kann. Darin unterscheidet sich Hötger ganz beträcht¬
lich von den allermeisten jungen Bildhauern, die von
Rodin beeinflußt sind. Rodin teilt eben das Schick¬
sal aller stark und entschieden ausgeprägten Persön¬
lichkeiten *in der Kunst: die Schüler halten sich bei
den Äußerlichkeiten auf und nehmen die Schale für
den Kern, ln London liefen die Schüler Whistlers
alle mit der nämlichen langen schwanken Gerte herum,
die dem Meister als Spazierstock diente, sie steckten
ungeheure Sonnenblumen vor die Brust, weil der
Meister das schön fand, und sie bemühten sich, ge¬
nau ebensolche Witze zu machen wie John Mac Neil
höchstselbst. Aber gemalt hat keiner von ihnen wie
Whistler. Und allen ganz großen Meistern ist es
ebenso ergangen. Was haben die Barockleute aus
der gewaltigen Kunst Michelangelos gemacht! Welche
lächerliche Grimassen und unmögliche Verrenkungen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F, XVI. H. lo
haben sie ersonnen, um dem Größten ähnlich zu
werden! Und was für ein ledernes, langweiliges,
schulmeisterliches Gemale haben die Nachfolger
Raffaels bis auf unsere Tage geliefert, selbst wenn
sie so stark begabt waren wie Ingres und Flandrin!
Rodin und Whistler aber haben hier noch ein
besonderes voraus, erstens weil sie in ihrer Kunst
und zweitens weil sie auch in ihrer Person gar
wunderlich aussehen. Whistler wurde das Vorbild
des ästhetischen Snobs, wenn der Ausdruck bei einem
so begabten Manne gestattet ist. Rodin, der sich in
der majestätischen Pose Gott Vaters gefällt, hat eine
ganze Schar olympischer Nichtskönner zutage ge¬
fördert. Und beide haben dazu beigetragen, daß der
geaichte Kenner sich heute zu der Lehre bekennt,
eine Skulptur müsse, um recht gut zu sein, möglichst
unfertig aussehen. Mit dem Fertigmachen hat das
seine eigne Bewandtnis. Weil es Stümper gab und
gibt, die ihre unfertige Arbeit glattstrichen und polierten,
hält man es jetzt für ein Zeichen von Stümperei,
wenn ein Bildhauer seine Arbeit glättet und poliert.
Ebenso erklärt man ein Bild von vorneherein für
schlecht, wenn es eine Anekdote erzählt, nur weil
einige Jahrzehnte lang schlechte Maler ihre miserablen
37
278
BERNHARD HOTGER
Bilder durch die mehr oder weniger amüsante Anek¬
dote retteten. In Wahrheit hat die Politur so wenig
mit der Güte oder Schlechtigkeit einer Skulptur zu
tun wie die Anekdote mit der Güte oder Schlechtig¬
keit einer Malerei. Und ich für mein Teil bin der
Ansicht, daß es einer schönen Skulptur, wo sich der
Gegenstand dazu eignet, nur nützen kann, wenn sie
glatt und eben scheint
wie die blühende Haut
eines jungen Weibes, und
daß es ebenso einer guten
Malerei nur nützt, wenn
sie zugleich einen inter¬
essanten Inhalt hat. Und
wenn es auch nichts nützen
mag, so ist doch sicher,
daß es nichts schaden
kann, und daß es ebenso
töricht ist, eine Skulptur
wegen ihrer Politur oder
ein Bild wegen seiner
Anekdote zu verdammen,
wie es aus den nämlichen
Gründen zu lobpreisen.
Rodin ist der Ansicht,
daß man in der Skulptur
nur die große Masse, nur
die Hauptsache, auf die
es allein ankommt, wie¬
dergeben, die Einzelheiten
dagegen ganz weglassen
soll. Vermutlich deckt
sich diese Anschauung
nicht mit der Meinung
der größten Bildhauer,
deren Werke auf uns ge¬
kommen sind. Es ist na¬
türlich wahr, daß die Er¬
scheinung des Ganzen, der
Masse, die Hauptsache ist,
aber das schließt ein sorg¬
fältiges Durcharbeiten der
nebensächlichen Einzel¬
heiten durchaus nicht aus.
Man darf sich nicht in
Einzelheiten verlieren, wie
es zum Beispiel Denner
tat. Bei Denner sieht man
überhaupt nur die einzel¬
nen Runzeln, die Här¬
chen, die Poren der Haut.
Bei van Eycks Adam aber,
wo auch jedes Härchen
gemalt ist, sieht man das erst bei genauem Einzel¬
studium, gerade wie man es auch bei einem wirk¬
lichen Menschen erst bei näherm Hinschauen gewahr
wird. Bei Quentin Matsys’ Grablegung sieht man nur
die schöne Masse der Komposition, dann den Schmerz
der um den toten Sohn und Freund Weinenden,
endlich entdeckt man, daß die Stickereien an den Ge¬
wändern so genau und fein nachgemalt sind, daß
man sie direkt als Muster irgend einer Stickerin über¬
geben könnte. Die sorgfältige Durchführung der
Einzelheiten schadet also durchaus nichts, wenn der
Künstler nur Manns genug ist, die Hauptsache, das
Ganze, voll und unbehindert wirken zu lassen. Und
mir für mein Teil verschafft es hinterher noch einen
ganz besonderen Genuß, wenn ich nach der Gesamt¬
wirkung auch die Einzel¬
heiten beschauen darf und
sehe, daß der Künstler
hier mit der gleichen
Freude und Liebe wie an
der Masse des Ganzen ge¬
arbeitet hat. Bei der er¬
wähnten Grablegung von
Matsys entdeckt man dann
eine ganze Anzahl kleiner
Histörchen und Anekdo¬
ten: da sitzt ein Hand¬
werksbursche, der sich
die Stiefel anzieht, dort
kräht ein Hahn auf seiner
Leiter, da reitet ein Bür¬
gersmann die Landstraße
entlang, und in der Ferne
sieht man auf einmal eine
ganze Stadt, wo Leute in
den Straßen wimmeln, aus
den Fenstern schauen usw.
Und all dieser liebe klein¬
bürgerliche Krimskram
schadet der gewaltigen
Wirkung des Bildes nicht
im allergeringsten, ein Be¬
weis, daß selbst die aller¬
sorgfältigste Ausführung
nebensächlicherund durch¬
aus belangloser, gar nicht
zu der Sache gehöriger
Dinge einem Kunstwerke
nicht schaden kann, wenn
es von einem wirklichen
Meister geschaffen ist.
Und wie es früher
Bildhauer gegeben hat und
heute noch gibt, die durch
eifriges Glattmachen und
Polieren ihre Mängel, Feh¬
ler und Unfertigkeiten zu
verstecken suchten und
suchen, so ist durch den
Einfluß Rodins jetzt eine
ganze Bildhauerschule ent¬
standen, die ihr Nichtskönnen und ihre Faulheit für
absichtliche und ganz besonders künstlerische Genialität
ausgibt, wobei der gute Publikus sich natürlich wie¬
der an der Nase herumführen läßt. Wenn heute eine
Skulptur recht roh aussieht, wenn man nicht nur
die Eindrücke der modellierenden Finger an ihr
wahrnimmt, sondern wenn ganze unverdaut in den
Marmor oder in die Bronze übernommene Ton-
B. HÖTQER
BERNHARD HOTGER
279
klumpen an ihr herumkleben und hängen, dann meint
der Snob, das sei eine ganz besonders geniale Arbeit,
weil er wie der Nachahmer Rodins jetzt schon nahe
daran ist, diese genialen Allüren des Meisters für
die Quintessenz seiner Kunst zu halten. Und da
Rodin auf diese Weise für ein gutes Schock schlechter
Bildhauer verantwortlich ist, so freut man sich um so
mehr, wenn man sieht, daß er hie und da auch einen
ganzen Mann, wenn nicht geschaffen, so doch beein¬
flußt und auf den rechten Weg gebracht hat. Bern¬
hard Hötger ist nicht an der Schale der Kunst Rodins
hängen geblieben, sondern er hat das Wesen dieser
Kunst erfaßt, um dann auf diesem Boden seiner per¬
sönlichen Eigenart gemäß weiter zu arbeiten. Er ver¬
schmäht wie Rodin das sogenannte »Fertigmachen«,
welches ja in der Tat gar nichts fertig macht, denn
mit Glaspapier kann man kein verpfuschtes Werk
»vollenden«, aber er glaubt nicht wie die große Heer¬
schar der Rodinisten, daß damit alles getan sei. Er
hat von Rodin gelernt, die wesentlichen Massen und
Linien von den unwesentlichen Nebendingen zu unter¬
scheiden, und diese Hauptsachen in lebensvoller, nervös
zitternder Modellierung wiederzugeben, und wie Rodin
verzichtet er dann darauf, auch noch die Nebensachen
durchzuarbeiten und »fertigzumachen«.
Wer also polierte Skulpturen verlangt, findet bei
Hötger nicht, was er sucht. Er findet es bei ihm
noch weniger als bei Rodin, der sich mitunter den
billigen Spaß gemacht hat, einen Kopf aufs sorg¬
fältigste und sauberste in allen Einzelheiten zu voll¬
enden und zu polieren, um mit der danebenstehen¬
den, grob behauenen Masse des Marmors desto
größeren Effekt zu erzielen. Aber man findet bei
Hötger auch keine Arbeit, welche diese Politur ver¬
missen ließe. Alles, was nötig ist, alles, worauf es
ankommt, ist da und sitzt an der rechten Stelle in
der rechten Stärke, wie es für die beabsichtigte Wir¬
kung nötig ist, und hierin unterscheidet sich Hötger
ganz gewaltig von dem Heerhaufen der Rodinisten,
die ihr Nichtskönnen für eine neue Richtung aus¬
geben möchten.
Bernhard Hötger ist in Hörde in Westfalen ge¬
boren und erhielt seine erste Ausbildung bei einem
gewöhnlichen Steinmetz, in dessen Werkstatt er half,
Inschriften in Leichensteine zu hauen und ähnliche
erbauliche Arbeiten zu liefern. Indessen fand er doch
hier gleich Gelegenheit zum Modellieren und zum
Ausführen von frei entworfenen Skulpturen. Nach¬
dem er mehrere Jahre mehr oder weniger künst¬
lerische Grabmonumente gemeißelt hatte, kam er als
junger, unbekannter Bildhauer nach Paris, wo es ihm
zunächst herzlich schlecht ging. In Paris kann man
die Straßen mit Künstlern pflastern, und selbstver¬
ständlich ist es für einen Ausländer noch ganz be¬
deutend schwerer, sich durchzuarbeiten, als für einen
Franzosen. Jede offizielle Unterstützung umgeht natür¬
lich den Ausländer, und auch in den Ausstellungen
werden die Ausländer durchaus nicht gerne gesehen.
Indessen muß doch beiläufig bemerkt werden, ob¬
schon das wenigstens vorläufig auf Bernhard Hötger
nicht zutrifft, daß der in Paris lebende Ausländer
doch einen gewissen Vorteil vor seinen in der Hei¬
mat gebliebenen Kollegen voraus hat. Paris ist ein
außerordentlich starker Resonanzboden, und wer hier
bekannt wird, dessen Ruhm wird alsbald in der ganzen
Welt ausposaunt. Wer aber in Leipzig oder in
Frankfurt, in Karlsruhe oder in Stuttgart tüchtiges
leistet, den kennt man kaum in ganz Deutschland,
geschweige denn im Ausland. Aber während man
sich in Paris durcharbeitet, kann man gar leicht zu¬
grunde gehen, und das ist in einer deutschen Stadt
nicht so schlimm. Da kann man doch immer noch
sein Brot verdienen, und zwar weit leichter als in
Paris. Hötger hat es zwar fertig gebracht, in den
ersten zwei oder drei Jahren seines Pariser Aufent¬
haltes sein Brot zu verdienen, aber sehr oft war das
Brot nur trocken, es fehlte die Butter darauf, von
Fleisch gar nicht zu reden. Daß er trotzdem aushielt
und sich durchrang, beweist, mit welcher hartnäckigen
Energie er an dem einmal für richtig erkannten Wege
festhält und ein wie starkes Vertrauen in seine künst¬
lerische Berufung ihn stützt. Damals wohnte er auf
dem Montmartre, und da kein Mensch seine Skulp¬
turen kaufen wollte, verfiel er auf einen Ausweg,
durch den ich zum erstenmale etwas von ihm zu
sehen bekam. Er modellierte damals kleine Figürchen
von der Straße: Lumpensammler, Bettler, Gemüse¬
händler, Obstfrauen, Sackträger und was dergleichen
charakteristische Figuren der Pariser Straße mehr sind.
Diese Figürchen bot er anderen, schon bekannten
Künstlern, die er in den Kneipen des Montmartre
kennen lernte, im Tausche an, und so sah ich seine
ersten Arbeiten bei Leandre und Steinlen, die ihm
dafür Zeichnungen gegeben hatten. Und diese Zeich¬
nungen trug der Bildhauer spornstreichs zu den
Händlern der Rue Laffitte, die ihm seine Skulpturen
nicht abnehmen wollten, aber sehr gerne die leicht
verkäuflichen Arbeiten der bekannten Zeichner kauften.
Nun sind es nicht die schlechtesten Sachen, die
sich die Künstler im Tausch oder für Geld anschaffen,
und als ich die Statuetten bei Leandre und Steinlen
gesehen und erfahren hatte, daß ihr Urheber ein
Deutscher war, hätte ich den Mann gerne kennen ge¬
lernt. Ich weiß nicht mehr, was dazwischen kam,
aber das ist jetzt schon vier oder fünf Jahre her, und
jetzt, wo ich endlich Gelegenheit habe, Hötger und
seine Arbeiten dem kunstliebenden deutschen Publi¬
kum vorzustellen, ist er schon lange nicht mehr un¬
bekannt — wenigstens nicht in Paris. Seit drei oder
vier Jahren stellt er regelmäßig bei den Unabhängigen
und im Champ de Mars aus, und im gegenwärtigen
Jahre hat er eine große, seine ganze bisherige Pariser
Arbeit zeigende Ausstellung bei den Unabhängigen
gehabt, worauf ich, wie früher schon, so oft ich seine
Sachen in den Ausstellungen sah, in meinen Berichten
in der Kunstchronik gebührend hingewiesen habe.
Auch die Händler sind inzwischen auf ihn aufmerk¬
sam geworden, und er braucht jetzt seine kleinen
Bronzen nicht erst in gangbarere künstlerische Münze
umzuwechseln, um ihnen Aufnahme in den Läden zu
verschaffen.
Aber in Deutschland weiß man noch recht wenig
B. HÖTGER
STUDIE
B. HÖTQER
STUDIE
282
BERNHARD HOTGER
von ihm. Ein einziges deutsches Museum besitzt
etu^as von ihm. Natürlich ist es jenes Privatmuseum
in Hagen, dessen Besitzer sich aller jungen und
frischen Regungen annimmt und eine der trefflichsten
Sammlungen moderner und neuer Kunst zusammen¬
gebracht hat. Unter diesen Umständen ist der Bild¬
hauer in Deutschland so gut wie unbekannt, und die
diesem Aufsatze beigegebenen Abbildungen werden
dem Leser willkommen sein. Die Beeinflussung
durch Rodin wird jedem auf den ersten Blick auf¬
fallen, weniger leicht ist die Feststellung des großen
Unterschiedes zwischen den Werken beider Künstler.
Vor allem ist da ein innerlicher Unterschied: von der
bebenden Erotik Rodins findet man nichts bei Hötger.
Er ist, möchte ich sagen, männlicher, herber, trotziger
als Rodin. Und seine sozialen und seelischen Pro¬
bleme scheinen mir fester und tiefer erfaßt und ein¬
dringlicher dargestellt als bei Rodin. Und dann hat
Hötger eine Gabe, die Rodin stark mangelt. Rodin
ist ein Fremdling in aller Komposition. Wenn er
eine Gruppe zu machen hat, wird dieser Mangel
jedesmal sehr deutlich. Und er selbst scheint ihn zu
fühlen, sonst würde er nicht Einzelfiguren aus seinen
Gruppen, wie einzelne Gestalten der »Bürger von
Calais«, für sich allein gießen lassen und ausstellen.
Sonst würde er nicht immer wieder neue Fragmente
von seinem Höllentor ohne Zusammenhang mit dem
Ganzen der Öffentlichkeit übergeben. Hötger ver¬
steht es dagegen meisterhaft, mehrere Figuren har¬
monisch und einheitlich zusammenzubringen, so daß
man sich die eine nicht ohne die andere vorstellen
kann. Gegenwärtig arbeitet er an einer solchen
großen Gruppe, die seine Kunst überzeugend zur
Anschauung bringen wird. Bisher mußte er seine
Arbeiten in einem leichter verkäuflichen Maßstabe
halten.
Endlich gestatten ihm die Umstände, eine Arbeit
zu schaffen, bei der die Verkäuflichkeit nicht berück¬
sichtigt zu werden braucht, und so steht der Künstler
jetzt zum erstenmal vor einer lebensgroßen Gruppe.
Nach der Anlage zu urteilen, wird diese Gruppe den
vorläufigen Gipfel der Hötgerschen Kunst bedeuten,
und ich hoffe sehr, daß man sie auch in Deutsch¬
land sehen wird, damit man ihrem Urheber den ge¬
bührenden Platz in der zeitgenössischen deutschen
Kunst einräume. KARL EUGEN SCHMIDT.
B. HÖTGER. FIGUR VON DER STRASSE
B. HÖTGER
LEBENSGROSSE BRONZEBÜSTE
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ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1905 CANALE GRANDE. ORIOINALRADIERUNO VON HERMANN STRUCK
DOMENICO MORELLI. DAS BOOT DES LEBENS
DOMENICO MORELLI
VON Arnold Ruesch
Der italienischen Regierung ist es kürzlich
gelungen, den ganzen Nachlaß in Morellis
Atelier für die »Galleria d’arte moderna« in
Rom zum Preise von nur hunderttausend Lire zu
erwerben, obgleich sich im Auslande zur Verwertung
dieses Vermächtnisses weit günstigere Gelegenheiten
boten. Die Erben haben somit dem größten Wunsche
des Verstorbenen entsprochen und ihrem Vaterlande
in hochherziger Weise den Besitz eines kostbaren
Kunstschatzes gesichert.
Besser als all seine berühmten Werke geben diese
zahlreichen Skizzen und Zeichnungen über das eigent¬
liche Wesen des so vielfach verkannten neapolitanischen
Meisters Aufschluß. In der freundlichen Malerwerkstatt
der ehemaligen Via Pace, jetzt Via Domenico Morelli
genannt, wo in wenigen Jahren die ganze italienische
Kunst des 19. Jahrhunderts von gewaltiger Hand
umgeschmiedet wurde, offenbart sich dem Besucher
ein rastloser, scharf urteilender, mit sich selber stets
unzufriedener Geist, der selbst die mit scheinbar
spielender Leichtigkeit ausgeführten Arbeiten vor ihrer
Kristallisierung zum vollendeten Kunstwerke unzählige-
male umgestaltet und verbessert hat.
Für uns Deutsche ist dies um so überraschender,
als unsere Künstler und Kunstkritiker die moderne
italienische Malerei gewöhnlich nicht recht ernst zu
nehmen vermögen. Als dem noch wenig bekannten
Morelli auf seiner Reise durch Deutschland im Jahre 1 855
unsere Kunst von einer »über die Maßen akademischen
Gelehrsamkeit« erschienen war, glaubte Christian Rauch
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. ii
die Ursache davon in der allgemeinen Oberflächlich¬
keit der romanischen Rasse zu erblicken, indem er
den an ihn empfohlenen jungen Künstler mit den
Worten abfertigte: »Ihr Italiener gebt euch eben mit der
malerischen Wirkung zufrieden, ohne über das Kunst¬
werk recht nachdenken zu wollen«. Diese Bemerkung,
die wohl noch heute der vorherrschenden Meinung
in Deutschland entspricht, erwähnte der inzwischen
ergraute Maler fast ein halbes Jahrhundert später in
einem Vortrage über die künstlerischen Bestrebungen
in seiner Heimat. »Ob der deutsche Bildhauer wohl
recht hatte?« fuhr er dann fort. »Ich glaubte es nicht,
und als mir das Glück zuteil wurde, Rembrandts
, Nachtwache’ zu sehen, fühlte ich mich wie ent¬
schädigt für die von der deutschen Kunst verursachte
Entmutigung. Das war ein Bild, das ich verstehen
und genießen konnte, das nannte ich eine Malerei,
hier waren Männer, die atmen und leben. Der Aus¬
druck der Farbe und des Lichtes waren die Vision
eines Genies, und dieses Genie war das Haupt einer
Familie, der ich selbst als letzter anzugehören stolz
gewesen wäre.«
Aus diesen Worten Morellis geht seine Stellung
zu den bestehenden Kunstrichtungen unzweideutig
hervor. Seine große Bewunderung für die Gemälde
Delacroix, die er bald nach seiner Reise durch Deutsch¬
land zu sehen Gelegenheit fand, bestätigte ihn von
neuem als einen Künstler, der allerdings auf malerische
Wirkung ausging, aber nichtsdestoweniger seinen
Werken echten poetischen Gehalt zu verleihen suchte.
38
286
DOMENICO MORELLI
Man denke nur an sein »Boot des Lebens«, diese
köstliche Allegorie, die allein dem Geiste eines großen,
philosophisch veranlagten Dichters entsprungen sein
kann.
Den Ernst und die Gewissenhaftigkeit, die Morellis
Schaffen als Ganzes betrachtet auszeichnen, erkennt
man auch schon aus seiner sich nur allmählich von
den Traditionen des Akademismus befreienden Technik,
die ein unausgesetztes Ringen nach künstlerischer
Wahrheit verrät, bis sie dem Maler schließlich in schein¬
bar rasch hingeworfenen Entwürfen die getreueste
Wiedergabe seiner Eingebungen ermöglichte. Ehe er
seine mystischen Christusbilder malte, hat er die
Bilderstürmer« und den »Tasso« geschaffen, ehe er
mit wenigen Pinselstrichen noch ungeahnte Wirkungen
erzielte, hat er die Meisterschaft in der herkömmlichen
Malweise offenbart. Nur wer in den vierziger Jahren
in seine ärmliche Dachstube stieg, konnte schon am
Knaben den eigentlichen Ausdruck seiner Künstlerseele
erkennen. Dort fand er sich stets selber wieder, wenn
ihn die Lehrer des Instituts mit den Regeln der Antike
und einer Unmenge akademischer Gemeinplätze gequält
hatten, dort ließ er seiner Einbildungskraft die Zügel
schießen, dort arbeitete er frei und ungehindert an
Zeichnungen und Entwürfen, die keinem Professor,
keiner Autorität und keinem Publikum unterbreitet
werden mußten. Da hing ein in hundert Earben
schillerndes Bild, worauf ein siegreicher Troubadour
mit den Gesichtszügen des jungen Künstlers aus den
Händen der heimlich verehrten Königin einen goldenen
Palmenzweig empfängt, dort, grau in grau, die Skizze
zu einer nächtlichen Szene, worin ein Franziskaner-
mönch von gespensterhaftem Aussehen den Leichnam
der Geliebten in schwankendem Boot zum Friedhof
auf dem jenseitigen Ufer überführt, daneben wieder
ein anderes Gemälde, das wohl die erste Fassung
des »KorsarenkusseS' sein mochte, der seiner reali¬
stischen Darstellung wegen unter dem Lehrerkollegium
einen Sturm der Entrüstung entfesselt hatte.
Das Gefühl, in seinen künstlerischen Bestrebungen
unverstanden zu bleiben, und wohl auch die mannig¬
fachen Hindernisse, die sich seiner Heirat mit einer
Tochter aus angesehener Patrizierfamilie zunächst ent¬
gegensetzten, hatten im Jüngling allmählich eine un¬
gewöhnliche Niedergeschlagenheit erzeugt. Dieser
Stimmung entsprachen auch die größeren Arbeiten
aus jener Zeit, die alle von einem weltschmerzlichen
Hauche berührt zu sein scheinen. Die erste stellt
einen inbrünstig betenden Gläubigen in den Katakomben
dar, eine andere ein Märtyrerpaar, das mit gefesselten
Händen, in sich selbst zusammengeknickt, am Boden
liegt, während sich im Hintergründe der Qualm
des Scheiterhaufens bereits zu dichten Wolken zusam¬
menballt; auf einem dritten Gemälde, dessen Entwurf
das eigentliche Werk an Wirkung bei weitem über¬
trifft und für Morellis Kunst höchst charakteristisch
ist, werden dieselben zwei Märtyrer von Engeln aus
den Mauern des Kolosseums zum Himmel empor¬
getragen.
Aber gleich den Opfern auf seinen Bildern fühlt
sich der Künstler noch immer in Ketten geschlagen.
Wie sehr er auch an ihnen reißt und zerrt, der
Akademismus, der in ihm von Kind auf großgezogen
worden war, ließ sich nun nicht mit einem Schlage
überwinden, und leicht wäre der schon stark zu Trüb¬
sinn hinneigende Künstler an sich selbst und der
Mitwelt verzweifelt, wenn er nicht gerade damals in
dem realistischen Tiermaler Filippo Palizzi einen Freund
gefunden hätte, der ihm in technischer Beziehung auf
den rechten Weg zu helfen vermochte, während seine
mit schweren Kämpfen errungene Gattin das edelste
Vorbild einer Frauenseele gab. Ihre schrankenlose
Mutterliebe, die sich durch den tragischen Verlust
der ersten zwei Söhne bis zur Leidenschaft gesteigert
hatte, ist es, die dem Beschauer in seiner »Madonna
auf goldenen Stufen« entgegenjubelt, die ihn vor
seiner »Mater purissima«, »Mater creatoris«, »Rosa
mistica«, »Salve regina«, all den andern Madonnenbil¬
dern und vielen Darstellungen aus der heiligen Schrift
so tief ergreift. »Le coeur de la femme vous a guide«,
schrieb Alma Tadema an Morelli, als dieser in einer
Zeichnung für die in Amsterdam erschienene Bibel
der grauenhaft unnatürlichen Salomeszene ethischen
Wert zu verleihen gewußt, indem er die Tochter
erschrocken derjudith zueilend dargestellt hatte, während
das am Boden liegende Haupt des Johannes ein sanfter
Heiligenschein umstrahlt. »Merci, bien merci, pour
le bonheur que vous m’avez procure de nouveau
avec votre art«, schloß der englische Maler, der für
dasselbe Werk gearbeitet hatte, seinen begeisterten
Brief. »Enfin nous voilä embarques ensemble, et
j’en suis fier, car vous etes le roi du noir et du blanc.«
Am ergreifendsten offenbart sich Morellis »mensch¬
liche« Auffassung, im besten Sinne des Wortes, in der be¬
rühmten »Versuchung des heiligen Antonius- , die seiner¬
zeit in Paris großes Aufsehen machte, während der
Schöpfer in seinem Vaterlande als »Caposcuola dell’arte
italiana gefeiert wurde. Die Leidenschaft und Begierde
in der eigenen Brust sind es, die in seinem Gemälde
den Heiligen peinigen, im Gegensätze zu allen älteren
Darstellungen, auf welchen die Versuchung in Gestalt
von allerhand Ungeheuern und ekelerregenden Hexen
erscheint. »Den Verlockungen solcher Schreckens¬
bilder zu widerstehen, ist wahrlich keine Kunst«, soll
Morelli schon als Knabe öfters bemerkt haben.
Obgleich die letzte und beste der verschieden¬
artigen Fassungen dieses Gegenstandes, auf welcher
der asketische Mönch am Boden kauert und in seiner
äußersten Verzweiflung die Hände in die Brust sich
krallt, erst im Jahre 1878 entstanden ist, wird das
Bild von den Kritikern meistens zusammen mit den
Werken einer früheren Zeit genannt. Es bildet in
gewisser Hinsicht den Übergang von der historischen
Periode, in welcher »die Bilderstürmer«, »Sizilianische
Vesper , »florentinisches Morgenständchen«, »Graf
Lara«, »die Flüchtlinge von Aquileia«, »der Mini-
strel«, »das Boot des Lebens«, »Potiphars Frau«,
»Abendkühle in Venedig« und als bestes »Tasso mit
Eleonora d’Este« entstanden sind, zu der letzten und
großartigsten Aera morellianischer Kunst, die mit dem
Erscheinen des »Christus auf dem Meere« im Jahre 1867
beginnt und sich von der ersten sowohl durch die
DOMENICO MORELLI. SIZILIANISCHE VESPER
DOMENICO MORELLI. GRAF LARA. (AUS BYRONS GEDICHT)
38*
288
DOMENICO MORELLI
DOMENICO MORELLI. KREUZABNAHME
Technik als durch den Inhalt ihrer Schöpfungen
unterscheidet. Ihren größten Erfolg feierte sie bereits
im Jahre 1868 mit der »Kreuzabnahme«, die zweifellos
zu den besten Arbeiten des Meisters gehört. Der
Leichnam des Erlösers, von einer auf dem Bilde un¬
sichtbaren Laterne beleuchtet, und gleich einer ägyp¬
tischen Mumie in Tücher gewickelt, im Helldunkel
die verzweifelten Frauengesichter, die gespensterhaft
aufragenden Kreuze der beiden Missetäter und die
aufgehende Mondscheibe im Hintergründe, die bald
wieder von schwarzen Gewitterwolken verdeckt sein
wird, verleihen der dargestellten Szene einen unsäglich
traurigen Ausdruck. Ein Seitenstück zu diesem Ge¬
mälde bildet »Christi Verspottung«, deren Hauptfigur
zunächst nur an ihrem Schatten erkannt wird und in
ihrer äußeren Hilflosigkeit nicht tragischer gedacht
werden kann. Es folgten dann das treffliche Gemälde
des -sterbenden Christus« und »die Tochter des jairus«,
welche die Vorzüge des bereits weithin berühmten
Künstlers von neuem bestätigten, ferner »die Besessenen«,
»die Ehebrecherin«, »Charfreitag«, »frohe Kunde«,
»Christus in der Wüste«, »Jesus ruft die Söhne Zebedäi«
und »die Marien auf der Schädelstätte«, sowie die
teils unter Fortunys Einfluß geschaffenen »Odalisken
auf dem Weg zum Bade«, Auferstehung der ge¬
fallenen Frauen aus dem Bosporus«, »Straße in Konstan¬
tinopel« und »Gebet in der Wüste«, nebst zahlreichen
Studien orientalischer Typen. Von Zeit zu Zeit wandte
er sich auch wieder dem Romantizismus und seinen
früheren Idealen zu, schilderte in vier Bildern die
Liebesgeschichte eines Pagen, illustrierte zwei Szenen
aus Shakespeares »König Lear«, schuf mehrere Ver¬
sionen der »Engelliebe« nach Thomas Moores Dichtung,
versuchte sich mit wenigen Pinselstrichen an dem
beliebten Thema »Susanne im Bade« und erreichte
schließlich mit seinem »arabischen Improvisator« und
»Mohammed vor der Schlacht« in der Darstellung
orientalischer Sujets das höchste. Als Bildnismaler
kennzeichnet ihn das bestechende Porträt der Frau
Maglione-Oneto.
Nicht zu vergessen sind in einer Würdigung Morellis
seine Verdienste um das Kunstgewerbe als Leiter des
nunmehr mustergültigen Kunstgewerbemuseums des
Prinzen Filangieri und der Einfluß auf seinen großen
Verehrer Giuseppe Verdi, der sich oft eine kleine
Malerei oder rasch hingeworfene Skizze als Inspirations¬
mittel von ihm erbat. Die Bewunderung, die der
Musiker für den Maler hegte, offenbart sich am
DOMENICO MORELLI. MADONNA DELLA SCALA D’ORO
2Q0
DOMENICO MORELLI
rührendsten in einem Telegramm aus Turin, wo ein
Werk Morellis ausgestellt war. »Alle sagen, es gleiche
einem Velasquez«, teilte Verdi seinem Freunde darin
mit, »ich behaupte, es sei ein Morelli, und damit basta«.
Als Senator des Königreichs, als Leiter des Instituts
der schönen Künste und des Gewerbemuseums, als
Mitglied der königlichen Akademie, der Prüfungs¬
kommission für Monumente und des obersten Aus¬
schusses für schöne Künste konnte Morelli am
Ende seines Lebens auf die tatenreiche Laufbahn
zurückblicken, die er als Kind eines Tagelöhners
begonnen hatte. Ein Prophet im eigenen Lande hat
er die Künstler seiner Heimat vom Akademismus erlöst,
und es gibt heutzutage keinen italienischen Maler,
der sich nicht rühmte, ein Schüler des neapolitanischen
Meisters zu sein. Diese unbeschränkte und ausnahms¬
lose Anerkennung, die ihm schon zu Lebzeiten von
seinen Berufsgenossen in der eigenen Heimat gezollt
wurde, ist ein Erfolg, der in der Kunstgeschichte
seinesgleichen sucht.
Für Neapel bedeutete Morellis Tod am Abend
des 24. August 1901 den Verlust seiner Hegemonie
auf dem Gebiete der italienischen Kunst, zumal da
gleichzeitig die besten Werke des Malers nach
Oberitalien und in das Ausland gerieten. Durch
den Verkauf des Nachlasses werden fast die letzten
Spuren seines Schaffens aus der sonnigen Stadt ver¬
schwinden, die nun der großen Gemeinde seiner Ver¬
ehrer — um ein Wortbild des Meisters selbst zu
gebrauchen — gleich den vier nackten Wänden eines
Festsaales erscheinen mag, von denen nach beendigter
Feier die Kränze und Flaggen heruntergerissen wurden.
DOMENICO MORELLI. STERBENDER CHRISTUS
EINE VARIANTE DES MARIENBILDES BEI SIR F. COOK
IN RICHMOND, IN PETERSBURGER PRIVATBESITZ
Allen Kunstforschern ist das Bild im Besitze des
Sir Frederik Cook in Richmond, die drei Marien
am Grabe Christi darstellend, bekannt. In der
Benennung des Bildes gehen die Meinungen ziemlich
auseinander; während einige es für eine Arbeit Hubert
van Eycks halten, teilen es andere seinem Bruder Jan
zu, andere noch gehen so weit, es überhaupt nicht
der van Eyckschen, ja sogar nicht der niederländi¬
schen Schule zuzuschreiben. In der Sammlung der
Gräfin A. A. Komarowsky (der früheren bekannten
Sammlung des Grafen Bludow) in St. Petersburg be¬
findet sich eine Variante des Cookschen Bildes, welche
insofern interessant ist, als sie einige Abweichungen
von dem in England befindlichen Bilde aufweist.
Beim ersten Anblick macht das recht gut erhaltene
Bild‘) der Sammlung Komarowsky einen sehr günsti¬
gen Eindruck durch sein ungemein weiches, harmo¬
nisches Kolorit. Der rosafarbene Mantel des Christus,
das rosarote Kleid der knienden Maria, der etwas
dunklere karminrote Mantel der mittleren Maria, der
gelbe Rock mit roten Schattierungen des liegenden
Wächters, zusammengestellt mit dem bleichblauen
Tone des Mantels der dritten weiblichen Eigur und
dem bleichen, bläulichen, mit weiß untermischten
Tone des Himmels ergeben einen ruhigen, harmoni¬
schen Gesamtton.
Wenn man die Komposition der beiden Marien¬
bilder in Richmond und Petersburg vergleicht, so
sind folgende Verschiedenheiten ersichtlich. Die
Stellung der drei Marien ist beinahe dieselbe, der
Engel nimmt auf dem englischen Bilde den Mittel¬
platz ein, auf dem Petersburger dagegen ist er zur
Seite gedrängt, und statt mit breiter Geste Segen zu
erteilen, weist er auf den neben ihm auf dem Grab¬
steine stehenden Christus; dieser letztere fehlt auf
dem Richmonder Bilde. Da hier die Komposition
Hochformat hat, ist der Künstler gezwungen worden,
seine Eiguren etwas zusammenzudrängen. Um den
in die Breite genommenen Raum, wie ihn das Bild
bei Sir F. Cook aufweist, mit Figuren auszufüllen,
hat der Künstler drei Wächter angebracht; diese
letzteren, sowie die Wächterfigur auf dem Peters-
i) Auf Holz 0,405X0,25 m.
burger Bilde verderben durch ihre ungelenken, gro¬
tesken Stellungen den Gesamteindruck der edel durch¬
geführten Komposition. Der zu sehr ausgedehnte
und künstliche Gebäudekomplex in der Landschaft
ist auf dem Petersburger Bilde viel einfacher und
ruhiger.
Die zwei stehenden weiblichen Figuren haben
eine an alte Sienesen anklingende Süßigkeit des Ge¬
sichtsausdrucks. Der Christus ist voll unaussprech¬
licher Grazie und ernsten, edlen Tiefsinnes. Der
Ausdruck göttlicher, allvergebender Trauer des Hei¬
landes, seiner überirdischen Herrlichkeit, seiner maje¬
stätischen Ruhe harmoniert vortrefflich mit der sü߬
schmachtenden, sanften, trauervollen Gottergebenheit
der Marien und wird durch den mit solchen Ge¬
fühlen konstrastierenden Ausdruck der jungfräulich
frischen Mutwilligkeit des Engels noch mehr hervor¬
gehoben. Der unschöne, plumpe, unedle Wächter
stellt einen zu groben Kontrast zu dem edlen Zu¬
sammenklang der anderen Eiguren dar; die grelle
rote Earbe seiner Beinkleider berührt uns unangenehm
als ein zu schriller Ton.
Die Landschaft im Hintergründe des Bildes fällt
nicht in die Augen durch das Aufeinandertürmen und
einen unnötigen Überfluß an Gebäuden, das ist kein
Jerusalem«, sondern ein an Gebirgsstädtchen er¬
innerndes »Adlernest«. Der reiche olivgrüne, hügelige
Grund der Landschaft ist mit dunklen Baumgruppen
bedeckt, über denen sich blaue Berge am Horizonte
erheben.
Die sorgfältig ausgeführte Zeichnung ist von un-
gemeiner Eeinheit. Der Ealtenwurf an den Mänteln
und an der Kopfbedeckung ist voll Stil und einfacher
Größe.
Bei dem Bilde der Sammlung Komarowsky wird
wohl die Meinungsverschiedenheit noch größer sein
als bei dem Cookschen Bilde, da in ihm Einflüsse
der Eyckschen Schule mit einigen Anklängen an die
alte französische Schule untermischt sind. Das Rich¬
monder Bild, bedeutend weniger gut erhalten, ist das
ältere von den beiden Bildern. Das Petersburger ist
entweder nach ihm oder vielleicht nach einem nicht
mehr erhaltenen Originale, das beiden Bildern zur
Vorlage gedient hat, angefertigt worden.
A. NEUSTROIEFF.
DIE MARIEN AM GRABE. SAMMLUNG DER GRÄFIN KOMAROWSKY, ST. PETERSBURG
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. ii
30
TIZIAN. BILDNIS ARETINOS (AUSSCHNITT). FLORENZ, PAL. PITTI
TIZIANS BILDNIS DES PIETRO ARETINO IN LONDON
Von Georg Gronau
Die Bezieliungen zwisclien Tizian und Aretino
knüpften sich an, kaum daß Messer Pietro
1527 die Lagunenstadt sich zum Wohnsitze
erkoren hatte; sie haben ungetrübt dreißig Jahre bis
zu seinem Tode gedauert. Es war ein wunderliches
Verhältnis, in dem gemeinsame Interessen nicht das
letzte Wort mitsprachen: der Schriftsteller hielt der
Welt durch seine weit verbreiteten Schriften den
Namen und den Ruhm des Malers in dauernder Er¬
innerung; Tizian wieder erwies sich gefällig, wenn
Aretino ein Kunstwerk als Geschenk für einen seiner
Gönner brauchte.
Es gehörte zu Aretinos vielen Schwächen, daß er
überallhin sein Bildnis zum Geschenk sandte. Die
Mehrzahl der Künstler, mit denen er in Berührung
kam, haben ihn malen müssen: außer Tizian Seba-
stiano del Piombo, Moretto und Salviati. Es schmei¬
chelte ihm zu hören, daß die Vaterstadt Arezzo sein
Bild im Stadthause aufstellte (wo es noch heutigen
Tages zu finden ist), mehr vielleicht noch, daß an
den Höfen von Mantua und Urbino, daß selbst am
französischen Hofe sein Porträt inmitten anderer Kunst¬
schätze hing.
Das früheste Bild, das Tizian von dem »Gevatter«
gemalt hat, für die Gonzagen, ist seit langer Zeit
verschollen. Bekannt blieb, von Porträts Aretinos ab¬
gesehen, die sich auf tizianischen Kompositionen be¬
finden — auf dem großen Wiener >Ecce homo«
und der »Allokution des Marchese del Vasto« in
Madrid — nur jenes grandiose Bildnis, das Tizian
kurz vor seiner Abreise nach Rom (1545) rasch auf
die Leinwand hinstrich, und das Aretino mit einem
halb gekränkten Brief, eben wegen der nicht ge¬
nügenden Durchführung, Cosimo I. zum Geschenk
machte. Einer der ältesten Bestandteile der Eloren-
tiner Sammlungen hängt es noch heute im Palazzo
Pitti.
Ein zweites Bildnis Aretinos von Tizian blieb da¬
gegen bis auf die Gegenwart fast unbekannt. Selbst
Crowe und Cavalcaselle führen es in ihrer Mono¬
graphie nicht auf. Dagegen haben Cavalcaselle in
einem Aufsatz im »Archivio storico delT arte« und
Morelli es als echtes Werk des Meisters erwähnt.
Bis vor kurzem war es im Palast des Eürsten Chigi
in Rom bewahrt, daher der Öffentlichkeit entrückt,
jetzt ist es in den Besitz der Firma P. und D. Col-
naghi in London übergegangen und wird zum ersten¬
mal allgemein zugänglich gemacht, bis es wieder in
Privathände übergehend, den Augen entschwinden
wird.
Das Chigi-Bild, dessen Geschichte nicht bekannt
ist (eine Andeutung läßt darauf schließen, daß es
TIZIAN. BILDNIS DES PIETRO ARETINO
Zurzeit im Besitze von P. und D. Colnaghi in London
39
296
TIZIANS BILDNIS DES PIETRO ARETINO IN LONDON
bereits im 17. Jahrhundert der römischen Fürsten¬
familie gehört hat), ist von dem Florentiner Bildnis
wesentlich verschieden. Erscheint dieses wie eine
Augenblicksimpression, so ist jenes geschlossener,
künstlerisch gereifter: eine Komposition gegenüber
einer Improvisation. Nicht daß Tizian verschleiert
hätte, was die Natur an gemeinen Zügen in diesem
Kopfe zeigte; der Mund mit den sinnlichen Lippen
ist sogar koloristisch betont; aber die Haltung und
Beleuchtung sind so bewußt künstlerisch, daß man
das Kunstwerk, nicht den Gegenstand sieht*).
Die linke, im Handschuh steckende Hand greift
in den Mantel und zieht ihn etwas nach vorn; die
Rechte (die man nicht sieht) scheint in die Hüfte ge¬
stützt: so entsteht ein eindrucksvoller, abgerundeter
Oesamtkontur.
Das volle Licht ist auf den Kopf konzentriert,
der leicht nach oben gerichtet ist, der Blick geht wie
in Gedanken links herüber. Ein breites Licht wölbt
die Stirn und dominiert als stärkste Helligkeit im
Bild. Backe und Ohr liegen im wirkungsvoll durch¬
leuchteten Halbschatten.
Nichts aber ist, technisch koloristisch gesprochen,
i) Die folgenden Bemerkungen beruhen auf Notizen,
die ich mir vor zwei Jahren machte. Das Bild hing im
Pal. Chigi ziemlich hoch und mußte von einer Leiter aus
studiert werden. Es ist fast genau einen Meter hoch. Die
Erhaltung ist, von geringfügigen Retuschen abgesehen,
sehr gut.
in diesem Bild so geistvoll, als die Behandlung des
Stofflichen. Aretino trägt einen schwarzen Rock mit
braunen Pelzaufschlägen über dunkelorangefarbenem
Gewand. Hier spielt und glitzert das Licht in jener
Nuance, die wir »Altgold« nennen. In Hellorange,
in Sepia sind Licht und Schatten gesetzt; man kann
sehen, wie der Pinsel in Tizians Hand herunterglitt
und dieses glanzvolle Spiel hinsetzte. Nie ist, auch
von Tizian selbst nicht, etwas Geistvolleres gemalt
worden. Übrigens findet sich dieser selbe Orange¬
ton, doch versteckter, auch auf dem Florentiner Bild.
Das Verhältnis beider Bilder ist gewiß nicht das
von Skizze zu Ausführung. Sie sind unter sich zu
weit verschieden. Ich habe den Eindruck, als ob
Aretino auf dem Chigi-Bild etwas älter aussieht; er
erscheint gesetzter, nicht mehr ganz so voll über¬
schäumender Lebenskraft; der Bart geht stärker ins
Graue. Und stilistisch, glaube ich, gehört es in die
zweite Hälfte der vierziger Jahre. Während das Pitti-
Bild jene koloristische Brillanz, jene Freudigkeit besitzt,
die alle Werke Tizians in der Periode von 1 535 bis
1545 (ungefähr) auszeichnet, ist das andere Bildnis,
man möchte sagen, zurückhaltender, alles auf eine
große Wirkung berechnet. Es hat seine stilistischen
Verwandten an Bildnissen, wie dem »jungen Eng¬
länder« des Pitti, dem Granvella in Besangon. Schon
die unnachahmliche Gesamtkontur dieser Bilder gibt
ihnen das Gemeinsame. Ich möchte daher als Datum
für das Chigi-Bild etwa das Jahr 1548 annehmen.
P. P. RUBENS. CHRISTUS VOR DER EHEBRECHERIN (BRÜSSELER MUSEUM)
NEUERE ERWERBUNGEN
VLÄMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
Von Emil Jacobsen
Die Brüsseler Galerie hat sich in den letzten Jahren mit einer großen Anzahl wichtiger Werke
vlämischer Malerei bereichert Ich möchte einige interessante dieser Neuerwerbungen den Lesern dieser
Zeitschrift vorjähren und werde mit den drei Koryphäen: Rubens, jordaens und van Dyck beginnen.
PETRUS PAULUS RUBENS
Dem großen Meister ist ein neuerworbenes Bild¬
nis, Paracelsus genannt, zugeschrieben (Nr. 388).
Der Mann ist bartlos, mit kastanienbraunen, auf die
Schultern niederfallenden Locken; auf dem Kopfe
eine von Pelzwerk umgebene rote Mütze. Ist dies
Porträt von Rubens? Das Unsichere und Vage in
der Modellierung der Gesichtsformen, das Unent¬
schiedene, ja Blöde des Ausdrucks, was durch den
halbgeöffneten Mund noch verstärkt erscheint, können
Zweifel erregen. Auch der landschaftliche Hinter¬
grund stimmt nicht; er ist weder von Wildens, noch
von Uden und noch weniger von Rubens selbst;
andererseits kommt die Behandlung des Fleisches
Rubens nahe. Meisterhaft ist auch die Pelzmütze,
desgleichen das niederfallende Lockenhaar gemalt.
Dasselbe gilt für die rechte Hand mit dem Notiz¬
buch.
Die vier Negerköpfe {Nv. 38g) sind wohl als Studien
für eine Anbetung der Könige hingeworfen. Rubens
hatte eine Vorliebe für diese Rasse, welche von der
ferocen Natürlichkeit und naiven Schönheit des Tieres
so viel besitzt. Er liebte das Feuer ihres Blickes, das gute,
zärtliche Lächeln ihrer dicken Lippen mit den hervor¬
blitzenden weißen Zähnen. Die vier Köpfe sind mit
voller Meisterschaft entworfen. Doch wird das Werk
neuerdings nicht ohne Wahrscheinlichkeit als eine
Jugendarbeit Dycks bezeichnet.
Das bedeutendste von den Neuerwerbungen Rubens¬
scher Werke ist doch das große Bild: »Christus vor
dem ehebrüchigen Weibe«^ (Nr. 381). Hier feiert
298
NEUERE ERWERBUNGEN VLAMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
seine malerische Kraft und seine eminente Ausdrucks¬
fähigkeit einen wahren Triumph. Das Momentane
ist so glücklich ergriffen und festgehalten, wie z. B.
in Tintorettos » Markusmirakel < der venezianischen
Akademie. Es ist diese Augenblicklichkeit, welche
einer dramatischen Handlung in einer Malerei erst
die Berechtigung verleiht. Wenn die Handlung in
einem Momente aufblitzt, von einem Blicke aufgefaßt
werden muß und wenn sie, wäre der Knoten der
Begebenheit in Erzählung aufgelöst, ihre ganze Macht
einbüßen würde, dann ist der Pinsel und nicht das
Wort an seinem Platze.
Die Ehebrecherin, eine schöne Frau von vollen
Formen, wird von einem würdigen Greise mit wallen¬
dem weißem Barte Christus vorgeführt; und als sie
vor dem Heilande steht, errötet sie tief und voller
Scham sucht sie ihr Antlitz hinter ihrem Kopftuche
zu verbergen.
Der Greis berührt zart die junge Frau, die voll
Angst und Spannung auf Christus blickt. Es geht
nicht aus dem Berichte des Evangelisten hervor, daß
der Ehemann bei dem Auftritte gegenwärtig war, es
scheint mir jedoch möglich zu sein, daß bei Rubens mit
dem würdigen Greise, der nur widerstrebend, von
dem Gesetze gezwungen, seine junge Frau vor das
Gericht führt, der Ehemann gemeint ist. In vollem
Gegensätze zu ihm erscheinen die beiden Schrift¬
gelehrten rechts. Prachtvolle Charaktergestalten. Der
eine, reich gekleidet, mit blitzenden Augen, langem
weißen, unkultivierten Bart, auf der Kopfbedeckung
eine hebräische Inschrift, gestikuliert eifrig mit den
Händen. Er ist ein Talmudist, ein Fanatiker, der
räsoniert. Spitzfindigkeit, mit Grausamkeit gepaart,
offenbart sich schon in den fieberisch bewegten
Fingern und der Wahnsinn des Fanatismus leuchtet
aus seinen Augen. Der andere ist eine mehr passive
Figur. Er schließt sich ganz seinem Freunde an,
aber er läßt diesen demonstrieren. Sein aufgedunsenes
fettes Gesicht, worauf allerhand gemeine Laster ihren
Stempel gedrückt haben, hat eine merkwürdige
Ähnlichkeit mit Leo X., so wie Raffael ihn darge¬
stellt hat.
Die Christusgestalt, voller Würde und Güte, ist,
wie immer bei Rubens, wenig charaktervoll; dagegen
ist sein Gestus unnachahmlich beredsam und schön.
Das Bild weicht im ganzen vielfach von der nament¬
lich von den Venezianern festgeschlagenen traditionellen
Behandlung dieses Gegenstandes ab. Besonders sind
viele neue und zarte Züge hinzugekommen, z. B. die
Art und Weise, in welcher der Greis die junge Frau
Christus vorführt, wie seine Hand leise und milde
auf ihrem Arme ruht; das tiefe Erröten der jungen
Frau; denn das Rot, welches ihr Gesicht und ihren
Busen bedeckt, ist ganz verschieden von dem Rot,
mit welchem Rubens sonst die Wangen seiner Frauen
schmückt. Der Künstler hat es verstanden, das Er¬
röten vor Scham meisterhaft zu charakterisieren. Man
vergleiche auch die konvulsivisch bewegten Hände
des einen Pharisäers mit dem edlen, beredsamen und
sehr einfachen Handgestus Christi. Der ganze Vor¬
gang dürfte wohl nie so tief aufgefaßt und glänzend
geschildert worden sein, auch nicht von den Italienern.
Man vergleiche es mit dem Bilde von Tintoretto in
der Akademie zu Venedig, wo die Ehebrecherin ganz
deutlich mit Christus kokettiert. Auch nicht das Bild
des sonst so feinen Lotto im Louvre kann sich dem
seelischen Gehalte nach mit Rubens messen. In
Ausdruck und malerischem Leben dürfte es gar dem
Fhlde von Rembrandt in der Kollektion E. F. Weber
überlegen sein. Der Kaufpreis soll 60000 Francs
gewesen sein.
JACOB JORDAENS
Von diesem Künstler besitzt die Galerie schon
von früher bedeutende Bilder, darunter die pracht¬
volle »Fecondite«. jetzt ist eine ganze Reihe von
vortrefflichen Gemälden hinzugekommen. Das wenigst
bedeutende ist wohl das Porträt einer reichgekleideten,
älteren behäbigen Frau. Das recht vulgäre Gesicht
ist von bläulichen Reflexen umspielt, das Ganze von
einem bläulichen Ton beleuchtet. Es ist, wenn ich
mich nicht täusche, 1642 datiert.
Das farbenprächtigste der neuen Bilder dürfte
»Suzanne et les Vieillards<-'~ sein (Nr. 241). In der
Mitte des strahlenden Bildes sitzt die junge Frau
und sucht vergebens ihre schwellenden Körperformen
vor den beiden lüsternen Greisen zu verbergen.
Aber ist hier wirklich eine keusche Susanna darge¬
stellt? Kann man mit solch üppigem Körper, mit
solchen schwellenden Lippen, mit diesem feurigen
Blicke keusch sein? Doch das ist Nebensache und hat
den Meister sehr wenig gekümmert. Er hat es nicht
als seine Aufgabe betrachtet, die keusche Erregung
einer jungen Frau darzustellen, nein, ein nacktes
Weib mit schwellendem, von Saft strotzendem, rosig
angehauchtem, tief aufleuchtendem, alles überstrahlen¬
dem weißen Körper wollte er malen, und das ist ihm
meisterhaft gelungen. Alles gruppiert sich um dies
junge Weib, alles zielt nur darauf hin, diese prachtvollen
Glieder, diesen Busen, diesen rosigen Lockenkopf
hervorzuheben. Ihre feuerrote, tiefglühende Draperie
verbirgt nichts, bringt vielmehr die matt leuchtende,
intensiv strahlende Haut wunderbar zur Geltung.
Die beiden Greise, charakteristische Gestalten von
ausgeprägtem jüdischen Typus heben ihrerseits den
jungen üppigen Körper durch Kontrastwirkung hervor.
Und die ganze übrige Pracht des Bildes; die große
goldene Kanne, das goldene Gefäß von künstlicher
Arbeit, der Pfau, der hoch oben auf einem Posta¬
mente stolziert und sein prächtiges Gefieder nieder¬
hängen läßt, der Marmoramorin, der als Brunnenfigur
in eine Muschel bläst, aus der Wasser hervorquillt —
alles das scheint nur da zu sein, um zu zeigen, daß
der blühende Körper einer jungen Frau selbst die
herrlichsten und schönsten Sachen der Welt überstrahlt.
Die Züge Susannas haben viel Ähnlichkeit mit
einer weiblichen hübschen Figur, die häufig in den
weltlichen Bildern Jordaens’ vorkommt. Man hat
diese Figur mit seiner Frau Katharina van Noort
identifiziert, der Tochter seines und Rubens’ Lehrers,
Adam van Noorts; vielleicht haben wir auch ein
RUBENS (VAN DYCK?). NEGERKÖPFE (BRÜSSELER MUSEUM)
300
NEUERE ERWERBUNGEN VLÄMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
Porträt dieser jungen Frau vor uns. Denn sowenig
wie Isabella Brant und Helene Fourment hat Katharina
van Noort sich geweigert, ihrem Geniahle als Modell
zu dienen. Diese wenig bürgerliche und sehr kühne
Sitte wirft auf die leichten Moralbegriffe dieser üppigen
und kraftvollen Zeit, aber ebensosehr auf das hohe
Ansehen, in dem die Kunst stand, ein helles Licht.
Das Bild
wurde für
20000 Frcs.
von Madame
Stevens er¬
worben.
Einige Kri¬
tiker haben
keinen Reiz
an dem Bilde
gefunden,
indem sie
die Typen
vulgär ge¬
funden ha¬
ben. Als ob
dies ein Ein¬
wand gegen
Jordaens
wäre! ■)
Auch ein
anderes neu¬
erworbenes
Bild: »Pan,
die Nymphe
Syrinx ver¬
folgend
(Nr. 240),
stellt eine
nackte weib¬
liche Gestalt
dar. Es zeigt
nicht die
Feuerpracht
der Farben
des Susanna-
bildes, übt
aber auf eine
andereWeise
eine ebenso
bedeutende
koloristische
Wirkung
aus. Aus
dem tiefen
Halbdunkel,
in dem der ganze untere Teil des Bildes liegt, erhebt
sich der schlanke Leib der Syrinx, desgleichen der
viel dunklere Körper des hastig dahinstürmenden
Pans, sowie auch der braunrote Rücken des zu¬
sammengekauerten Wassergottes (wohl der arka-
JAKOB lORDAENS. PAN, DIE NYMPHE SYRINX VERFOLGEND
(BRÜSSELER MUSEUM)
1) Eine Replik in der Kopenhagener Galerie, datiert
1653, eine Kopie im Museum zu Lille.
dische Flußgott Ladon) und seiner Nymphe hervor.
Es ist der Augenblick dargestellt, in dem Syrinx in
ein Schilfrohr verwandelt wird. Hymenäos, der an
der Verfolgung teilgenommen hatte, sucht eben seine
Fackel in dem Sumpfe zu löschen. Die klassische
Abrundung der fein abgewogenen Komposition zeugt
von dem Schönheitssinne dieses Vlamen, dessen
andere Ei¬
genschaften
in der Regel
mehr be¬
kannt und
gepriesen
sind.
Man darf
sich jedoch
dadurch
nicht verlei¬
ten lassen,
an andere
italienische
Einwirkun¬
gen zu glau¬
ben, als die¬
jenigen, die
ihm durch
die Bekannt¬
schaft mit
Rubens und
dessen
Kunst¬
schätze ver¬
mittelt wer¬
den konnten.
Endlich
hat auch die
Galerie ein
kolossales
Dreikönigs¬
fest, welches
hier »Le Roi
boit« ge¬
nannt wird,
erworben
(Nr. 242).
Man weiß,
daß sein
Dreikönigs¬
fest neben
seinen bac¬
chantischen
und diesen
verwandten
Darstellungen zum Zentralsten in Jordaens’ Kunst
gehört. Er hat sie häufig variiert. Man findet
Exemplare im Louvre, in der Braunschweiger Galerie,
in der kaiserlichen Galerie zu Wien, in der Akademie
zu St. Petersburg, in der Kasseler Galerie, in der
Galerie des Herzogs von Devonshire u. s. w. Sie
ähneln sich sehr, diese fröhlichen Bilder. Einmal
sitzt der dicke lustige Bohnenkönig in der Mitte des
NEUERE ERWERBUNGEN VLÄMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
301
Bildes, einmal rechts am Ende des Tisches und sein
Platz wird dann von einer sehr hübschen und sehr
üppigen jungen Erau eingenommen. Der alte König
erinnert in vielen Bildern an die Züge des Lehrers
und Schwiegervaters, des kraft- und saftvollen Adam
van Noort. Das Dreikönigsfest unserer Galerie ge-
gut bekommen ist, erbricht sich, während eine andere
lachende Frau ihr den Kopf hält. Ein dickes, fast
nacktes Knäblein auf dem Schoße einer jungen üppigen
Frau ist in seiner Unschuld mitten im Getümmel in
Schlaf verfallen. Die Nachwirkungen des unbändigen
Festes zeigen sich aber auch bei ihm: ein dicker
JAKOB jORDAENS. SUSANNE UND DIE BEIDEN GREISE
(BRÜSSELER MUSEUM)
hört ZU den besten Exemplaren. Der höchste
Moment des fröhlichen Festes: »der König trinkt«,
ist geschildert, ein Höllenlärm steigt aus dem
Feste empor: alles jubelt, alles schreit, eine ma߬
lose, mit Weingeruch vermischte Huldigung der
Lebensfreude strömt uns aus dem Bilde entgegen.
Doch nein, nicht alle schreien; einige haben schon
genug. Eine alte Frau, der die Kreidepfeife nicht
Zeilsclirift für bildende Kunst. N. F. XVI. II. 11
Strahl ergießt sich über den Schoß und Unterrock
der nichtsahnenden, ganz im Taumel des Festes auf¬
gehenden Mutter.
Die ganze prachtvolle Darstellung steigt wirkungs¬
voll aus dem Halbdunkel des Hintergrundes hervor.
Das Kolorit ist von einem kühlen bläulichen Ton
beherrscht. Bläuliches Weiß und tiefes, bräunliches
Rot sind die bestimmenden Farben.
40
302
NEUERE ERWERBUNGEN VLÄMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
In diesen Bildern erscheint Jordaens als der
vlämische Jan Steen. Er ist aber saftiger, tempera¬
mentvoller, maßloser als dieser. Wie verhält jordaens
sich zu Rubens? Sein Schüler war er in keiner Weise;
aber wurde er von ihm beeinflußt? jordaens war
eine zu ursprüngliche, kräftige und sichere Natur,
um sich viel beeinflussen zu lassen. Was bei ihm
von Rubens erscheint, hat er wohl eher von ihrem
gemeinsamen Lehrer Adam van Noort. Es war für
den Ruhm jordaens’ ein Verhängnis, daß Rubens nach
Antwerpen kam, wo sein mächtiges Genie alles über¬
strahlte. Denn jordaens war eigentlich durch seine
vorherrschenden Eigenschaften zum Haupte und zen¬
tralen Meister Flanderns designiert. Kein leichtflüssiges,
transalpinisches Blut floß in seinen Künstleradern ; er war
durch und
durch Vla-
me, während
Rubens, wie
groß er auch
war - - und
er war sehr
groß — mit
Jordaensver-
glichen, ein
italisiereuder
Niederlän¬
der war. Des¬
halb kann
ich auf die
Bedenken,
welche die
vielen neu-
angeschaff-
ten und teue¬
ren jordaens
bei einem
Kritiker er¬
regt hatten,
nur die Ant¬
wort geben:
je mehr jor¬
daens, desto
besser; es können gar nicht genug jordaens in der
Galerie der Hauptstadt der Belgier sein!
ANTHON VAN DYCK
Von diesem Meister besitzt unsere Galerie keine
große Anzahl Gemälde, doch kann man in wenigen
Sammlungen seine Entwickelung — jedenfalls bis er
nach England zog — so bequem verfolgen wir hier.
Aus seiner frühesten Zeit stammt die ■ Kreuzerrichtung
Petri«. Die noch sehr mangelhafte und unsichere
Behandlung der Körperformen, das feuerrote Fleisch
zeigen den Anfänger. Doch der junge Meister ent¬
wickelte sich frühzeitig zu voller Meisterschaft. Van
Dyck war eine sehr sensitive Natur; der Einwirkung
seiner Umgebung setzte er geringen Widerstand ent¬
gegen. ln seinen jugendjahren in Flandern war er
derb mit den Derbsten, in Italien wurde er hoch¬
sinnig, edel und fein. Nach Flandern zurückgekehrt
zeigt sich in seinen Werken wieder eine Tendenz
nach Derbheit, die aber durch italienische Erinne¬
rungen sehr gemäßigt auftritt; in England zuletzt
wurde er blasiert und vornehm, mitunter bis zur
Kränklichkeit.
Aus seiner italienischen Periode stammt das als
neue Erwerbung gleich zu erwähnende vornehm-
prachtvolle Porträt des Genuesers Giovanni Vincenzio
Imperiale; bald nach seiner Zurückkunft nach Antwerpen
muß sein »Trunkener Silen« entstanden sein. Hier
begegnet uns einerseits die derbe, saftige flandrische
Weise, andererseits die klassische Reinheit und Ab¬
rundung der Komposition, die er seinen italienischen
Studien verdankt, dann kommt aus einem späteren
Zeitpunkt
derselben
Epoche das
ziemlich
langweilige
Bildnis eines
Antwerpe-
ner Bürger¬
meisters.
Aus der
englischen
Periode be¬
sitzt die Ga¬
lerie leider
kein Werk.
Ein neu er¬
worbenes
großes Fa¬
milienbild
stammt auch
aus der
zweiten Ant-
werpener
Periode. Die
Anordnung
der Fami-
liengruppe
ist sehr
schön und dem Auge wohlgefällig, nur könnte
man einwenden, daß sie vielleicht zu arrangiert er¬
scheint; sie gibt sich nicht als ein schnell festgehal¬
tenes, glückliches Zusammenfinden von Personen, die
als Gruppe zusammengehören, sondern zeigt vielmehr
zu deutlich, daß der Künstler mit feiner Berechnung
jeden auf seinen Platz gestellt hat. Dies gilt ins¬
besondere von der rechten Hälfte mit der von Mutter¬
sorgen etwas mitgenommenen, wenn auch noch jungen
Frau und von den drei Kindern, die neben ihr stehen.
Die Gruppe links: der guitarrespielende Hausherr mit
seinem goldlockigen Kinde, das auf sein Trommelchen
eifrig loshämmert, ist die Perle des ganzen Werkes.
Es gibt wenige Kinderporträts, welche sich an Frische
der Auffassung, Leichtigkeit und Naivität mit diesem
vergleichen lassen. Das Kind lächelt weder, noch
wirft es einen rührenden oder schüchternen Blick
auf den Beschauer; es steht da sehr ernst, sehr ver-
A. VAN DYCK (?). FAMILIENBILD
NEUERE ERWERBUNGEN VLÄMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
303
tieft in seine Beschäftigung und hämmert auf die
Trommel los. Van Dyck hat sonst sehr viel an den
Beschauer appelliert (während sein großer Meister
dies in der Regel verschmäht hat). Wir bemerken
auch bei diesem Bilde an den anderen Kindern, daß
sie durch ausdrucksvolle oder melancholische Blicke
bei dem Beschauer Teilnahme mit ihrer zarten Schön¬
heit zu erwecken suchen. Diese nervösen, fast krank¬
haften Schöpfungen antezipieren schon seine letzte
englische Periode^). Das Kolorit mit seinen sehr
doucen, sehr gebrochenen Farben: Oliven, Bronze,
Schwarz, Weiß, die von der tief weinroten Draperie
hinter den Figuren und
der tiefroten Sammetdecke
des Stuhles ihre Wirkung
erhalten, ist von höchster
Schönheit und Vornehm¬
heit.
DerTradition nach soll
das Bild die Familie des
Kanzlers Christyn, einen
der Vorfahren der Ribau-
court (1622 — 1690) dar¬
stellen. Van Dyck, ge¬
storben 1641, konnte ihn
aber nicht (als Familien¬
vater) gemalt haben. »Wie
steht es«, fragt ein hoch
angesehener Forscher,
»nach dem Wegfall dieser
Hypothese mit dem An¬
teil des Malers an unserem
Gemälde?« Wie zuvor,
meine ich, denn die Tra¬
dition kann sehr wohl
irrig sein. »Es erinnert
viel mehr an Rubens (die
Hände der Frau und des
Kindes); auch das Kolorit
paßt nicht auf van Dyck,
weder auf das Braun seiner
Jugend noch auf das Sil¬
bergrau seiner späteren
Zeit.« Sehr richtig, aber
es stimmt sehr gut mit
dem Kolorit seiner mitt¬
leren Zeit, seines zweiten
Antwerpener Aufenthalts.
Eine große Anzahl Gemälde aus dieser Periode hatte
man Gelegenheit auf der Antwerpener Ausstellung
1899 zu studieren.
Ich leugne nicht, daß es im Bilde etwas für van
Dyck Fremdartiges gibt. Kenner der vlämischen
1) Über diese letzte Periode van Dycks erlaube man
mir eine kleine Bemerkung. Man erinnere sich, daß Shake¬
speare 1616 gestorben ist. Diese eleganten, blasiert vor¬
nehmen, müden Männer, diese weltlich gesinnten, koketten
und nervösen Frauen: das war Shakespeares Publikum.
Viele von ihnen haben Shakespeare auf der Straße gegrüßt
und ihm die Hand gedrückt. Alle haben sie sein Theater
gestürmt. Die entsetzlichen Szenen im »King Lear« und
Malerei wie Bode, Bredius, Emile Michel, Max Rooses,
Hymans zweifeln an der Autorschaft van Dycks und
Wauters hat klüglich diesen Autoritäten folgend in
seinem neuen Katalog das Bild einem sogenannten
Maitre de Ribaucourt zugeschrieben. Hat er darin Recht
gehabt? Ich möchte dies mit Bestimmtheit weder
bejahen noch verneinen. Das Wahrscheinlichste
scheint mir jedoch dies zu sein: Auf van Dyck geht das
Bild vielleicht, was die Erfindung und die Komposition,
teilweise aber nur was die Ausführung betrifft, zurück.
Ein unbekannter aber ausgezeichneter Gehilfe hat
mitgearbeitet, wahrscheinlich derselbe, der auch in
den anderen von Wauters
dem Maitre de Ribaucourt
zugeschriebenen Bildern
wirksam gewesen ist. Cor¬
nelius de Vos, von dem
die Galerie ein prächtiges
Familienbild zum Ver¬
gleich besitzt, kann meines
Erachtens nicht in Be¬
tracht kommen. Die
Gruppe rechts soll iden¬
tisch sein mit der Mittel¬
gruppe der Familienpor¬
träts des Balthasar Gerbier
zu Windsor. Das Bild
in Windsor ist die erwei¬
terte Komposition eines
Rubensschen Bildes, ge¬
stochen von Mac Ardell
als die Familie des B.
Gerbier. Dies Gemälde
ist von Rooses dem Ru¬
bens zugeschrieben (Nr.
956)^). Da aber die Per¬
sonen keine Ähnlichkeit
mit denen auf unserem
Bilde haben, beweist dies
nur, daß van Dyck eine
Komposition von Rubens
benutzt hat.
Das Bild wurde von
der Familie Ribaucourt
für 200 000 Francs er¬
worben.
Aus van Dycks italieni¬
scher Epoche stammt das
imponirende lebensgroße Bildnis von Giovanni Vin-
cenzio Imperiale, Doge von Genua, (Nr. 161). Gewiß
ein Repräsentationsbild, aber kein gewöhnliches. Man
sieht dem Manne das Herrschen an; etwas von der
Größe und Macht der Republik hat der Maler ins
Bild gelegt. Wenn der Doge auch etwas steif sitzt,
etwas beschwert von der weitläufigen Seidenrobe
und dem engen Mühlkragen, so sieht man doch an
seinem stolzen Blicke, daß er gebietet und an seinem
»Richard III.« haben sie mit Schauder erfüllt, Hamlet
haben sie beklatseht und debattiert, Romeo und Julia haben
sie belauscht.
1) Vergl. Repertorium f. Kunstwissenschaft. XVII.S.310.
40*
MABUSE. ADAM UND EVA
304
NEUERE ERWERBUNGEN VLAMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
Gestus mit der Rechten, die auf den Harnisch zu
seinen Füßen deutet, daß er zu fürchten ist. Im
Hintergründe auf dem wogenden Meere erblickt man
den Reichtum der Republik, ihre Schiffe.
Das Kolorit ist, wenn man mir den Ausdruck
gestattet, von einem prachtvollen Ernste. Mit wenigen
Farben ist dieser Eindruck erzielt. Ein bläuliches
Schwarz beherrscht das ganze Bild; es ist über das
Gesicht und die Hände hingehaucht und tangiert auch
die niederhängende rote Draperie. Das Bild, welches
eine der hervorragendsten Erscheinungen auf der Ant-
werpener Ausstellung war, wurde im Jahre iSgg,
wenn ich recht unterrichtet bin, für 40000 Francs Rir
die Galerie erworben.
Von den übrigen Werken ist in erster Linie die dem
Jan Gossart oder Mabiise zugeschriebene lebensgroße
Darstellung von Adam und Eva hervorzuheben (Nr. 1 gß).
In Vertraulicherstellung, einander zärtlich umschlingend,
steht das erste Menschenpaar vor unseren Augen.
Der Künstler hat sich hier die Aufgabe gestellt, den
menschlichen Körper in freier ungezwungener Be¬
wegung darzustellen'). Die Absicht ist deutlich genug,
wenn auch nicht erreicht. Aller Anstrengungen zum
Trotze erscheint die Haltung der Körper gequält und
gezwungen; ja ich fürchte, daß, wenn die Gestalten
sich nicht gegenseitig stützten, sie nicht imstande
wären, sicli aufrecht zu erhalten. Andererseits sind es
gut modellierte Akte und man erkennt, daß der
Maler nicht allein die männliche, sondern auch die
weibliche Figur nach dem lebenden Modell studiert
hat. Adam zeigt plumpe und vulgäre, Eva, wenn
auch nicht schöne, so doch gefällige Züge. Das
Kolorit ist warm und tief; das Nackte von goldigem
Gelb, die ernste Landschaft goldbraun. Im Mittel¬
gründe erhebt sich eine mit Skulpturen reich¬
geschmückte gotische Fontäne. Die Gestalt Evas ist
gewiß eines der ersten Beispiele des Studiums nach
dem lebenden nackten weiblichen Modell in nordischen
Ländern. Es liegt nahe, die beiden nackten Gestalten
mit den bekannten Gemälden desselben Gegenstandes
von seinem deutschen Zeitgenossen Cranach dem älteren
zu vergleichen. Wir sehen dann bei dem mit ita¬
lienischer Kunst vertrauten Vlamländer ein weit tieferes
Verständnis der menschlichen Körperformen. Wir
stehen hier einem strebenden Geiste gegenüber, der
große Vorbilder vor Augen gehabt hat und ehrlich
kämpft. Hier ist gewiß viel mehr gewollt.
Bei Cranach begegnet uns dagegen eine viel
größere Naivität. Das Problem des Nackten hat ihn
nicht tief ergriffen; was er aber von dem nackten
Körper weiß, stellt er uns ungezwungen vor Augen.
Er hat weniger erstrebt, doch mehr erreicht.
Die Zuschreibung an Mabuse scheint mir haltbar.
Eine ähnliche Fontäne kommt im Gemälde der Prager
Galerie vor. Hymans denkt an Mabuse oder — Massys.
Im Hampton Court habe ich eine Wiederholung des
1 ) Andere Kenner halten dies Bild nur für eine schwache
Kopie des Originals in Hampton Court. D. Red.
Bildes, auch mit der Fontäne, in der Berliner Galerie
eine Schulwiederholung gesehen; daselbst noch eine
andere Darstellung desselben Gegenstandes von diesem
Meister.
Dem Joachim Patenier ist eine neue Erwerbung
»St. Hieronymus vor dem Kruzifix sich kasteiend«
irrtümlich zugeschrieben (Nr. 348). ln der Wüste,
wohin der Heilige sich zurückgezogen hat, geht es
recht lebhaft zu. Im Mittelgründe zieht eine Kara-
vane vorbei mit Pferden und Kamelen; im Hinter¬
gründe erhebt sich an einem Flusse, der sich lief in
die Landschaft hineinwindet, eine ansehnliche Stadt.
Das interessante Bild ist nicht von Patenier, sondern
von einem Meister aus der früheren Generation. Nur
Linienperspektive ist beobachtet. Alles ist hier gleich
scharf und gleich deutlich, während Patenier es ver¬
stand, die ferneren Pläne in Duft und Nebel einzu¬
hüllen, wodurch er ein Innovator der Landschaft
wurde.
Echt ist dagegen die kleine, ebenfalls neu er¬
worbene »Ruhe auf der Flucht nach Ägypten« (Nr.
350). Patenier hat diesen Gegenstand häufig variiert.
Die Galerie besitzt noch ein anderes größeres Exem¬
plar. Der aus Stroh fein geflochtene Reisekorb
Marias neben dem doppelten Reisesack und dem
Knüttelstabe Josephs kommt fast immer in diesen
Bildern vor.
Von Hendrick de Bles ist eine »Predigt Johannes
des Tänfers' erworben (Nr. 40). Die Landschaft zeigt
durchbrochene Felsenpartien , wie häufig bei dem
Meister. Den drei Farbenplänen, die noch recht deut¬
lich hervortreten, hat er einen vierten hinzugefügt,
in dem die fernen Berge des Hintergrundes in zarten
weißlichen, kaum von einem Schimmer von Blau an¬
gehauchten Nebel eingehüllt sind, ln einer Felsen¬
höhle glaube ich das Käuzchen zu erkennen.
»Der verlorene Sohn« von J. Beiickelaer kann nur
uneigentlich ein religiöses Bild genannt werden (Nr. 34).
Der Maler hat nur die Legende als Motiv für ein
drastisches Sittenbild benutzt. An einem gedeckten
Tische sitzend, worauf Früchte und Wein in reicher
Fülle, macht der junge Verschwender einer Dirne
den Hof; eine Magd macht das Bett zurecht. Das
Bild ist in einem kühlen bläulichen Ton gemalt. Die
Karnation ist rötlich; das Figürliche hebt sich scharf
von dem fast schwarzen Hintergründe ab. In der
Auffassung steht er P. Aertsen, der ihm aber im
Kolorit und Ausdruck überlegen ist, ganz nahe. Sehr
steht er auch hinter dem temperamentvollen und
kräftigen Hemessen, der in dieselbe Künstlergruppe
gehört, zurück. Von demselben Gegenstände gibt
dieser in Nr. 217 unserer Galerie ein ungleich macht¬
volleres Bild. Alles ist hier wirklich Leben geworden
und heißer Liebesdrang, wenn auch von der gemein¬
sten Art. Mit welchem Feuer blickt nicht der Jüng¬
ling die Dirne an, während er sie inbrünstig umfaßt.
Die Leidenschaftlichkeit seines Ausdrucks ist selten
übertroffen worden. Dies Bild ist im figürlichen
Teile warm und tief im Ton. Erst der landschaft¬
liche Hintergrund zeigt die vlämische Kühle. Selbst
A. VAN DYCK. GIOVANNI VINCENZIO IMPERIALE
(BRÜSSELER MUSEUM)
3o6 neuere ERWERBUNGEN VLÄMISCHER KUNST IN DER GALERIE ZU BRÜSSEL
die rußigen Schatten im Fleisch, die sonst nicht zu
loben sind, machen hier den Eindruck von Feuer und
brutaler Lebensfülle, ln diese Gruppe gehört auch
der Braunschweiger Monogrammist, welcher neuer¬
dings mit Hemessen identifiziert worden ist.
Endlich ist noch ein Jan Breiighel dem jüngeren
irrtümlich zugeschriebenes Stilleben zu erwähnen.
Sollte nicht dies aus Töpfen, Krügen, zerschnittenen
Heringen bestehende, in einem kräftigen braunen Ton
gemalte Bild eher von Pieter Breughel dem jün¬
geren sein?
Unter den nachrubenschen Bildern werde ich jetzt
einige Künstler erwähnen, die wohl ihrer Herkunft
nach Vlamen sind, in ihrer Kunst jedoch vielfach
mit der holländischen Art und Weise verwandt
scheinen.
ln erster Linie ist hier A. Brouwer zu nennen.
Der Flötenspieler« heißt das neue Bild. Der Inhalt
könnte nicht anspruchsloser sein: ein verkommener
Geselle hält einen Augenblick mit seinem Spiele inne,
indem er lächelnd den Beschauer anblickt. Der un¬
bedeutende Gegenstand ist jedoch von dem Meister
mit großer Zartheit und Feinheit ausgeführt; der
Farbenauftrag ist so weich, die wenigen zarten Tinten
so fein gestimmt, daß ein kleines Meisterwerk zutage
gefördert ist: der Gegenstand von größter Vulgarität,
die Ausführung von höchster Vornehmheit^).
Wenn Brouwer genannt wird, dann ist es natür¬
lich, daß man auch seines treuen Genossen Craesbecck
gedenkt. Von diesem ist ein besonders ausgezeich¬
netes Bild in die Galerie gekommen: »Reunion de
rhetoriciens (Klub der Literaten und Musikunter¬
nehmer Nr. 121). Eine ausgelassene Gesellschaft von
reich und bunt gekleideten jungen Leuten, die sich
mit Musik und Trinken unterhalten. Wir sehen hier
auf vlämischem Boden diese eleganten und bunten
Gesellschaftsstücke, die Esajas van de Velde schon
frühzeitig auf holländischem Boden geschaffen hatte.
Alles glitzert, leuchtet und blitzt, schäumet über von
1) Das Bild wurde im Jahre iSgg in der Versteigerung
Roussel erworben.
Jugend und Lebenslust. Die Farben scheinen aus
dem dunklen Hintergründe von dichtem Wald hervor--
zujubeln! Das Bild ist auf das unmittelbar Glänzende
und Packende angelegt, dabei sind die Schatten tief
schwarz, doch weder stumpf noch undurchsichtig.
Glanz, Taumel und Leben! Es ist dieselbe Tendenz,
die uns in Hals’ glänzenden Werken begegnet. Rechts
der Blick auf eine leicht hingetuschte Landschaft,
Brouwer sehr nahestehend. Die Pinselführung ist
breit und küim bis zum Exzeß. Alles ist mühelos
und mit größter Treffsicherheit geschaffen; die Farben
fein nuanciert und mannigfaltig gebrochen. Tausend
Töne treten hervor, verschmelzen sich aber für das
Auge zu einer hinreißenden silbertönigen Harmonie.
Von Q. van Tilborch ist eine Serie farbenfroher
Bilder, die fünf Sinne darstellend, in die Galerie ge¬
kommen (Nr. 471). Tilborch ist ein Nachfolger Teniers,
aber sein Malerblut ist schwerflüssiger, seine Typen
haben nicht die Vitalität und gehen nicht wie die
jenes Meisters mit Leib und Seele in die Situation
auf; er befindet sich schon auf dem halben Wege zu
Ryckaerts vollständiger Philisterei. Vortrefflich ist er
in seinen Familieninterieurs, wo man einen inter¬
essanten Einblick in die Wohnung der reichen Stände
erhält, wo auch die in der Regel sehr zahlreiche
Familie mit größter Natürlichkeit, Treffsicherheit und
Anmut dargestellt ist. Von dieser Art Bilder ist
wohl das bedeutendste das in der Haager Galerie;
diesem sehr nahe kommend ist das in der Galerie zu
Rotterdam, sowie dasjenige in unserer Galerie Nr. 470.
Hiermit habe ich noch nicht die reiche Fülle von
Neuerwerbungen vlämischer Kunst in der Brüsseler
Galerie erschöpft.
Ein besonders interessantes, das Triptychon von
dem Meister von d’Oultremont, habe ich vor längerer
Zeit in der Kunstchronik erwähnt.
Aber auch von dem feinen Porträtmaler Gonzales
Coques, von de Crayer, von dem Tiermaler Paul
de Vos, von Th. van Loon, von A. Lens, von
P. von Lint und von den Stillebenmalern A. von
Utrecht, A. Coosemans und J. P. Gilemanns sind
bemerkenswerte Bilder in die Galerie gekommen.
DIE NEUE GRUNEWALD-MONOGRAPHIE
Die Grünewald-Oemeinde ist im Wachsen. Und das
nicht nur in Deutschland. Es ist zwar immer noch so,
daß der unbefangene Beschauer zunächst ein starkes Mi߬
behagen empfindet, und daß im besonderen jeder, der von
der Betrachtung italienischer Kunstwerke herkommt, sich
mit Schaudern von Grünewalds Passionsbildern abwendet
— aber vergessen kann sie keiner, der sie einmal gesehen.
Und dann die Farben! Diese geradezu Böcklinschen Farben!
Wo hat er sie her? Wo sind die Jugendwerke, die uns
das Werden dieses großen Koloristen begreifen lassen?
Wie stand er zu Dürer, wie zu den anderen Malern seiner
Tage?
Zumal die Frage nach Grünewalds Jugendwerken ist
neuerdings eine brennende geworden; wiederholt und fast
mit Ungeduld aufgeworfen, hat sie trotz heißen Bemühens
eine wirklich befriedigende Beantwortung bis heute nicht
erfahren. Bei dieser Sachlage ist es nun entschieden zu
begrüßen, daß Franz Bock in einer umfangreichen Studie b
die gesamte bisherige, zum Teil recht verzettelte Forschung
über Grünewald zusammenstellt und zum erstenmal das
Wagnis unternimmt, Grünewalds Entwickelungsgang ein¬
gehend zu zeichnen.
Das Material für seine Studie hat Bock mit erschöpfen¬
der Vollständigkeit gesammelt und alles berücksichtigt, was
irgend für seines Meisters Beurteilung in Betracht kommt.
Entgangen ist ihm, soweit ich sehe, nur die Handzeichnung,
die Herr Professor Ehlers in Göttingen besitzt^). Und er
hat auch fast alle Werke Grünewalds, die sicheren und die
vermeintlichen, mit eigenen Augen geschaut, und diese
Autopsie ist bei einem Maler von so ausgesprochen kolo¬
ristischer Richtung natürlich besonders viel wert. Wenn
Bock nun freilich (S. 3) von der Kritik eine ebensolche
Kenntnis der Originale erwartet, so macht er eine Beur¬
teilung seiner Arbeit fast jedermann unmöglich. Ich
wenigstens kann mich solcher Autopsie nur in beschränktem
Umfang rühmen.
Dies Hauptbestreben der Grünewald-Forschung geht
heute, wie schon bemerkt, dahin, Jugendwerke des Meisters
aufzufinden, Werke, die vor dem Isenheimer Altar ge¬
schaffen wurden. Das Bedürfnis, solche Frühwerke nach¬
zuweisen, muß um so größer sein, je früher man die Ge¬
burt des Meisters ansetzt, und ich möchte für recht früh,
für das Jahr 1460 etwa, plädieren (s. unten). In sorg¬
fältigen Studien sind vor allem H. A. Schmid und erheblich
kühner Franz Rieffel, desgleichen Kautzsch und Thode
diesem Problem nachgegangen. Wie stellt sich Bock zu
ihnen?
Ausgestattet mit dem frischen Wagemut der Jugend
hat Bock keine Freude am Verneinen. Er will weiter
kommen; er hat mit einer Ausnahme^) sämtliche Attri¬
butionen seiner Vorgänger sich zu eigen gemacht, und
zwar mit einer gewissen Emphase. Wiederholt bringt er
es über sich, was jene früheren Forscher mit allem Vor¬
behalt als Möglichkeit ausgesprochen haben, für sicher
und ausgemacht hinzustellen, ohne daß in den meisten
dieser Fälle die Zahl oder Kraft seiner Argumente eine
1) Franz Bock, Die Werke des Mathias Grünewald.
Studien zur deutschen Kunstgeschichte. Heft 54. Stra߬
burg, bei Heitz, 1Q04. 178 S., 31 Lichtdrucktafeln. 12 M.
2) Abgebildet in den Handzeichnungen der Albertina
Nr. 965 und in meinem Aufsatz über Grünewald in der
Zeitschrift für Kunstgewerbe in Elsaß-Lothringen 1 904, S. 1 52.
3) Wenn ich nicht irre, verhält er sich nur gegen die
Attribution Thodes, der die Mainzer Anbetung dem Grüne¬
wald gibt, entschieden ur. 1 wohl mit Recht ablehnend.
andere, größere geworden wäre. Einige Beispiele mögen
das zeigen.
Franz RieffeU) hatte früher und hat, wie er mir
schreibt, noch heute vor den besten Tafeln des Darm¬
städter Dominikusaltars den Eindruck, daß hier des jungen
Grünewald Mitwirkung angenommen werden dürfe. Es
hat ihn ferner »bedünken wollen, als ob man diesen Do¬
minikusaltar mit dem sogenannten Meister der Bergmann-
schen Offizin in Basel, oder doch wenigstens mit seiner
Werkstatt, in Verbindung bringen dürfe«. Er äußerte bei
diesem Anlaß die Vermutung, daß die Kunst dieses Berg-
mannschen Illustrators nicht auf Baseler, sondern auf Stra߬
burger Boden wurzeln dürfe. Er trägt dieses alles mit
allen Kautelen vor: ganz anders Bock. Bei ihm lesen wir
Seite 17 gesperrt gedruckt: »Diesen (Straßburger) Stil
des Holzschnittes brachte Grünewald nach Basel.« Das
klingt in der Tat sehr schneidig. Aber ob ein solches
Zutrauen zu den Ergebnissen der bloßen Stilvergleichung
und Stilkritik berechtigt ist, möchte ich meinerseits ent¬
schieden in Frage stellen.
Rieffel hatte die sieben Schmerzen Mariä der Dres¬
dener Galerie in seinen mehrerwähnten Studien^) dem
jungen Grünewald zugeteilt; er hatte dann aber Gelegen¬
heit genommen'^), »feierlich vor versammeltem Kriegsvolk
Thodes Zuweisung der sieben Schmerzen an Dürer offen
zuzustimmen«. Bock dagegen, päpstlicher als der Papst,
hält auch an dieser Attribution mit aller Entschiedenheit
fest und zieht daraus weitgehende Konsequenzen.
In den Studien von Schmid und Rieffel sieht man
immer klar den Weg, der von den sicheren Werken zu den
mutmaßlichen leitet: bei Bock ist dieser Weg meist ver¬
weht und verschleiert. Ganz besonders auch dadurch, daß
er die gewagtesten Attributionen mit den sicheren Werken
auf eine Linie stellt und alle zusammen in einer chrono¬
logischen Reihe anordnet. Als schüchterner Versuch, als
Vorschlag ist ja gegen solches Verfahren gewiß nichts ein¬
zuwenden; aber die apodiktische Gewißheit, mit der bei
Bock der Entwickelungsgang des Meisters chronologisch
aufgebaut wird, muß auf viele Leser im höchsten Grade
verwirrend wirken.
Kann ich somit die zuversichtliche Methode Bocks
nicht für glücklich erachten, so vermag ich auch im ein¬
zelnen den neuen, von ihm zuerst vorgeschlagenen Attri¬
butionen, soweit ich die betreffenden Werke kenne, nicht
beizustimmen. Die zwei Tafeln des Straßburger Museums,
dort mit bestem Recht als »Schule Schongauers« bezeichnet,
scheinen mir von den charakteristischen Eigenheiten Grüne¬
walds, dem Bock sie zuweist, nichts zu enthalten, auch
nicht in keimhaften Anfängen. Die vier Freuden Mariä
in Erlangen lassen sich nicht mehr für Grünewald in An¬
spruch nehmen, wenn man sich mit Rieffel davon über¬
zeugt hat, daß die sieben Schmerzen in Dresden dürerisch
sind. Das Liebespaar in Gotha gehört meines Erachtens
dem Meister des Hausbuches und nicht dem Grünewald^).
Die Skulpturen des Isenheimer Altars, und zwar die
archaischen Halbfiguren der Predella ebenso wie die drei
lebensgroßen, will Bock unserem Maler zuweisen, den er
damit auch noch zum genialsten deutschen Bildschnitzer
seines Jahrhunderts stempelt! Wir tragen so schon schwer
an der phänomenalen Größe Grünewalds; aber ehe wir
1) Zeitschrift für christliche Kunst 1897, S. 103.
2) Ebenda S. 33 ff.
3) Vgl. diese Zeitschrift 1902, S. 208.
4) Vgl. die von Lehrs im Jahrbuch 1S99, S. 176 publi¬
zierte Handzeichnung des Hausbuchmeisters.
3o8
DIE NEUE GRÜNEWALD-MONOQRAPHIE
uns dazu verstehen, ihn für einen zweiten Michelangelo
anzusehen, müssen doch andere, zwingendere Argumente
vorliegen, als Bock sie für seine kühne These beibringt.
Die Chroniken, welche nur einen Meister für den ganzen
Altar, Bilder und Schnitzwerk, kennen, machen als solchen
den Albrecht Dürer namhaft und beweisen damit deutlich,
daß sie nichts wissen. Die Formen der Gotik, auf die sich
Bock außerdem beruft, scheinen mir auf den Gemälden viel
barockere, phantastischere als an den Skulpturen. Was
Bock als das nächstliegende bezeichnet, daß bei solchen
Altären die Maler- und Bildschnitzerarbeit womöglich einer
und derselben Hand anvertraut wurde, das dürfte in praxi
recht selten vorgekommen sein. Mir ist im Augenblick als
Beispiel eines deutschen Meisters von so gleictmiäßiger
Beherrschung der Bildschnitzerei und Malerei aus der frag¬
lichen Zeit nur Michael Pacher bekannt. Ich lehne also
den Bildschnitzer« Grünewald mit Entschiedenheit ab.
Wir haben aus dem 15. und 16. Jahrhundert so viele erst¬
klassige Anonymi, daß wir uns nicht zu wundern brauchen,
wenn auch der Meister der drei Isenheimer Vollfiguren ein
großer Unbekannter bleibt. Daß ich auch bei den Holz¬
büsten von St. Marx in Straßbnrg die von Bock beantragte
Autorschaft Grünewalds rundweg ablehne, versteht sich
danach von selbst.
Zürn Schluß möchte ich noch zu einigen Einzel-
bemerkiingen Bocks Steilung nehmen. Wie groß unsere
Unwissenheit über den genialen Aschaffenburger Meister
ist, erhellt unter anderem daraus, daß über sein Geburts¬
jahr keinerlei Einigkeit besteht. Nach dem betagten Aus¬
sehen auf späteren Selbstporträts,« sagt Bock Seite 88,
»dürfen wir dafür bis vor 1470 zuriiekgehen.« Dem
möchte ich entschieden beipflichten. Auf dem Freiburger
Bild der Gründung von Maria Maggiore, das aller Wahr¬
scheinlichkeit nach anno 1519 vollendet wurde, trägt der
Patrizier Johannes nach allgemeiner Ansicht des Meisters
eigene Züge. Dieser Patrizier sieht nun aber mindestens
wie ein Sechziger aus. Ein Grund, die eigenen Züge ins
Greisenhafte zu steigern, lag für den Maler hier nicht vor.
Auf Murillos berühmter Darstellung desselben Vorganges
erscheint der Patrizier Johannes als ein Mann in den
besten Jahren. Somit wird also Grünewald im Jahre 1519
etwa ein Sechziger gewesen sein, seine Geburt also ver¬
mutlich ins Jahr 1460 fallen. Mir ist das besonders auch
darum ein ansprechendes Ergebnis, weil ich mir, im
Gegensatz zu RieffeU), den Meister des Isenheimer Altars
nicht als gärenden, erst werdenden Malerjüngling, son¬
dern nur als einen Mann in gereiften Jahren vorstellen
kann. Die viel ventilierte Frage nach Grünewalds Schüler¬
verhältnis zu Dürer erledigt sich bei so frühem Geburts¬
ansatz höchst einfach: wenn Dürer zehn Jahre jünger war
als Grünewald, dann hat letzterer ja kaum sein Lehrling sein
können. Auch daran möchte ich festhalten, was ich vor
zwei Jahren vorgeschlagen habe^), daß der Paulus Eremita
des Isenheimer Alters gleichfalls des Malers Züge trägt,
diesmal freilich ins Greisenhafte gesteigert, wie es die
Darstellung des mehr als hundertjährigen Einsiedlers for¬
derte. Die Ähnlichkeit zwischen dem hl. Sebastian des¬
selben Altars und dem Jugendbildnis Grünewalds bei
Sandrart^) scheint mir dagegen nicht evident, ganz abge¬
sehen davon, daß Sandrarts Kupferstiche auf Porträttreue
keine allzu großen Ansprüche erheben dürfen.
Sehr einverstanden bin ich mit Bock, wenn er sich
1) Vergleiche diese Zeitschrift 1897, S. 108.
2) Ebenda 1903, S. 284.
3) Sandrart, Teutsche Akademie, II. Teil, 3. Buch,
Taf. CG.
dagegen verwahrt, daß man Baidungs malerische Begabung
gemeiniglich zu hoch einschätze. Wenn man von Dürer
kommt, ist Baidung ja zweifellos der größere Kolorist.
Aber wenn man ihn neben Grünewald stellt, erbleichen
seine Farben. Er ist übrigens nicht, wie bei Bock Seite 147
steht, in Weyerstein, sondern in Weyersheim im Elsaß
geboren.
Mit sehr schönen Worten würdigt Bock Seite 71 f. das
Gothaer Liebespaar’). Aber den Text der Spruchbänder,
den er so sinnig findet, hat er schwerlich richtig inter¬
pretiert. Das »Schnürlein« , das die Braut dem Liebsten
gemacht hat, muß die Blumenschnur sein, die er in den
Locken trägt. Eine Primel hält sie von dieser Arbeit her
ja noch in der Linken. Die Worte des Bräutigams aber:
>Un byllich het sye ess gedan, want ich hau ess sye ge-
nisse lan können sich nur auf die köstlich gefaßte Hut¬
feder beziehen, die er der Braut darreicht und die sie be¬
wundernd entgegennimmt. Die Worte: »ich han ess sye
genisse lan« wollen nur besagen, ich habe sie Vorteil davon
haben lassen, indem ich für ihre Gabe, den schlichten
Kranz, die kostbare Hutzier ihr verehrte; Daß der frag¬
liche Gegenstand in ihrer Rechten wirklich eine solche
Hutzier ist, scheint mir der Vergleich mit der von Lehrs
im Jahrbuch 1899 Seite 176 publizierten Handzeichnung
zu ergeben.
Die Sprache, in der Bock den Ruhm seines Grüne¬
wald verkündet, ist eine gewählte, gehobene. Die Analysen
der besprochenen Bilder sind stets fesselnd und bieten
meist auch neue, wertvolle Gesichtspunkte. Stellenweise
erscheint mir freilich der Ausdruck zu gehoben, zu gesucht
rhetorisch. Aber das ist ein Zug, der überhaupt der
Sprache unserer jüngeren Gelehrten vielfach eigen ist.
Wir geben uns jetzt sehr viel Mühe, die steife Langeweile
des früheren Gelehrtendeutsch um jeden Preis abzustreifen
und verfallen dabei leicht in den entgegengesetzten Fehler
zu großer Lebendigkeit und gestelzter, gesuchter Ausdrucks¬
weise. Schäufelein ist gewiß kein Grünewald; aber daß
er mm gleich »ein seichter Laffe« sein muß, berührt mich
unsympathisch. Desgleichen wenn eine abweichende, gar
nicht der Begründung entbehrende Ansicht auf Seite 118
»als einfältige Behauptung« abgetan wird. Reichlich prä¬
tentiös will es mich bedünken, wenn die schlichte Berliner
Handzeichnung Grünewalds vom Jahre 1512 folgender¬
maßen analysiert wird: »Bei Maria werden die großen
Flächen des Mantels noch von kleinerem Gekräusel unter¬
brochen, letztem fernen Donnern der abziehenden Gotik;
beim Engel fällt und wallt es schon breit und mächtig,
volle Akkorde, großes Orchester mit Orgel« (S. 80).
In Summa: aus Bocks Buch wird der Kenner viel
Anregung schöpfen, wenn es ihn auch, oder eben weil es
ihn an allen Ecken zum Widerspruch reizen dürfte. Dem
Laien aber darf das Buch nicht ohne eindringliche Mah¬
nung zur Vorsicht in die Hand gegeben werden. Gewiß
ist es lehrreich und förderlich, alle mit Grünewald wesens¬
verwandten gleichzeitigen Gemälde vergleichend zusammen¬
zustellen, wie dies vor allem Rieffel vortrefflich getan hat.
Aber aus jeder leisen Möglichkeit des Zusammenhanges
gleich eine unumstößliche Gewißheit zu machen, das för¬
dert die Erkenntnis nicht, das muß verwirren. Im Gegen¬
satz zu Bock, dem es zuwider ist, daß die Grünewald¬
forscher immer nur um den Isenheimer Altar kreisen (S. 3),
muß ich mich also entschieden zu Rieffels Überzeugung
bekennen, daß »am erfolgreichsten, weil am vorsichtigsten,
bisher H. A. Schmid über die Entwickelungsgeschichte
Grünewalds gearbeitet hat«. pritz bavmoartf.n.
1) Abgebildet in dieser Zeitschrift, Jahrg. 1897, S. 16.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von ERNST IlEnRicn Nachf., g. m. b. h., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST N. F. XVI. 1905
C. D. FRIEDRICH. DER KÜNSTLER IN SEINEM ATELIER
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER
LANDSCHAFTER IN BERLIN
Von Walther Gensel
SEIT dem außerordentlichen Erfolge, den die
Jahrhundertausslellung der französischen Kunst
1889 davontrug, ist der Wert derartiger Ver¬
anstaltungen nicht nur für die Kenner und Liebhaber,
sondern auch für die schaffenden Künstler immer
mehr erkannt worden. Auf die Epoche der Nach¬
ahmung alter Meister war eine Zeit gefolgt, wo die
jungen Künstler am liebsten alle Überlieferungen über
Bord geworfen hätten. Dann aber sah man ein, wie
töricht es war, die Entwickelung gewissermaßen von
vorn anfangen zu wollen, und daß sich aus dem
liebevollen Studium der Art, wie andere der Natur
zu Leibe gegangen waren und sie zu Kunstwerken
umgeformt hatten, unschätzbare Anregungen ziehen
ließen. Solchen Erwägungen verdankt auch die jetzige
Ausstellung von Werken deutscher Landschafter des
ig. Jahrhunderts ihre Entstehung. Daneben aber galt
es eine Ehrenschuld einzulösen. Nicht nur in der
gelesensten modernen Kunstgeschichte unserer Zeit
und in radikalen Künstlerkreisen, sondern auch von
Männern, von denen man ein weitsichtigeres Urteil
erwarten durfte, sind viele unserer besten Meister mit
Gleichgültigkeit, ja beinahe mit Geringschätzung be-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 12
handelt worden. So konnte es kommen, daß selbst
der hundertste Geburtstag eines Friedrich Preller in
Berlin völlig sang- und klanglos verlief. Von Meistern
wie Karl Friedrich Lessing und Franz Dreber wußte
die jüngere Generation überhaupt so gut wie nichts
mehr, von Rottmann nur, daß seine Anschauungsweise
längst überwunden sei, und von Andreas Achenbach,
daß er alljährlich so und so viele Bilder auf den
Markt bringe, die anzuschauen sich der Mühe nicht
verlohne. Hier einen Wandel zu schaffen, erschien
als eine ungemein dankbare Aufgabe.
Der Plan zu der gegenwärtigen Ausstellung war
von ihrem Veranstalter, Friedrich Kallmorgen, schon
vor zwei Jahren gefaßt worden, als die Große Kunst¬
ausstellung auch den Teil des Berliner Publikums,
das den Cassirerschen Salon und die Sezession nicht
zu besuchen pflegt, mit einer größeren Anzahl vor¬
züglicher Werke der französischen und belgischen
Impressionisten bekannt gemacht hatte. Er wurde
dabei von dem Gedanken geleitet, daß wohl die uns
in vielem wesensverwandten Meister von Barbizon,
nicht aber die eigentlichen Impressionisten für den
Deutschen vorbildlich sein könnten, der in den Herr-
41
310
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
lichkeiten der heimischen Natur doch noch etwas
anderes zu sehen gewohnt ist als Farben- und Licht¬
werte, daß aber vor allem der Deutsche dem Deutschen
näher stehe als der Ausländer. Und wenn man sieht,
zu welchen unpersönlichen Nachahmungen die Kunst
der Manet und Monet bei uns in den meisten Fällen
geführt hat, so kann man ihm bei aller Hochschätzimg
dieser französischen Meister und bei aller Abneigung
gegen sentimentale Deutschtümelei nur beipflichten,
jedenfalls aber sind Kallmorgen und seine Mitarbeiter,
unter denen sich der Landschafter Hoffmann-Fallers-
leben besonders verdient gemacht hat, gegen den
Vorwurf in Schutz zu nehmen, als hätten sie mit der
für den nächsten Winter geplanten großen Jahrhundert-
ausstellimg in der Nationalgalerie in Wettbewerb treten
oder, wie man es ausgedrückt hat, ihr das Wasser
abgraben wollen. Eine von wenigen Männern in
ein paar Monaten zusammengebrachte Ausstellung
kann nicht einer von langer Hand mit aller erdenk¬
licher Sorgfalt unter Hinzuziehung eines gewaltigen
Kreises von Sachverständigen vorbereiteten, eine nur
ein umschränktes Gebiet berücksichtigende nicht einer
alle Gebiete der deutschen Kunst gleichmäßig um¬
fassenden Abbruch tun. Es ist sogar anzunehmen
und zu hoffen, daß die jetzt im Rahmen der so zahl¬
reich besuchten Großen Berliner Ausstellung statt¬
findende Rückschau für die größere Schwester einen
günstigen Boden schaffen wird.
Unsere Kenntnis der Kunstgeschichte des ig. Jahr¬
hunderts setzte sich in erster Linie aus den Werken
zusammen, die die Schlager auf den Ausstellungen
gebildet und deshalb den Weg in die öffentlichen
Sammlungen gefunden hatten. Wie wenig aber die
Ausstellungen und das Urteil der Zeitgenossen ma߬
gebend sind, wird schon dadurch bewiesen, daß, von
den hier vertretenen, Preller freiwillig überhaupt
kein Werk auf die Kunstjahrmärkte geschickt hat.
Schleich wegen Talentlosigkeit von der Akademie
zurückgewiesen wurde, Blechen gleich nach seinem
Tode in eine Vergessenheit geriet, die fast fünfzig
Jahre anhalten sollte, und der Weimaraner Buchholz,
der fleißig ausstellte, zum Selbstmord getrieben wurde,
weil er kein Bild verkaufen konnte. Galerien wie
die Berliner und die Hamburger sind deshalb seit
Jahren bemüht, die Lücken auszufüllen, um, statt einen
Überblick über die jeweiligen Kunstmoden zu geben,
die Männer zu Worte kommen zu lassen, die wahrhaft
Neues und Bedeutendes geschaffen haben. Sollten
also durch die jetzige Ausstellung unsere Kenntnisse
wirklich bereichert werden, so mußte es sich darum
handeln, statt der allgemein bekannten, verstecktere
Bilder zu gewinnen. Die von der Münchener Neuen
Pinakothek hergeliehenen Werke von Rottmann, Lier
und anderen sind natürlich mit dem allergrößten Danke
aufgenommen worden, der Schwerpunkt der Aus¬
stellung aber liegt in ihnen ebensowenig wie in
den aus den Sammlungen von Köln, Düsseldorf,
Hannover, Karlsruhe und anderen Städten stammenden
Bildern. An allererster Stelle ist Seine Königl. Hoheit
der Großherzog von Oldenburg zu nennen, der in
der huldreichsten Weise die herrlichen Schätze seines
Schlosses und selbst seiner Privatgemächer hergegeben
hat. Aus dem Weimarer Schlosse stammen einige
prächtige Bilder von Preller, vor allem die schönste
Fassung seines Lieblingsmotivs, der Eichen auf Rügen.
Von den Privatsammlern sei an dieser Stelle wenig¬
stens einer genannt, der jüngst verstorbene Ehrenbürger
der Stadt Eisenach, Julius von Eichel -Streiber, der
die seit Prellers Tode wohl zum erstenmal öffentlich
sichtbar gemachten Farbenskizzen zur Odyssee ge¬
liehen hat. Sehr bedeutend ist natürlich die Zahl der
Berliner Sammler. Endlich haben sich viele Hinter¬
bliebene oder Nachkommen von Künstlern an dem
Werke beteiligt.
Die Zahl der ausgestellten Gemälde beträgt etwa
zweihundertundvierzig. Dazu kommen eine Anzahl
Aquarelle, Zeichnungen und Radierungen, die zum
größten Teil von dem Direktor des Weimarer Museums,
Hofrat Ruland, zusammengestellt worden sind. Nicht
jede Nummer ist ein Meisterwerk. Manches Bild
hätte man wohl lieber zurückgesandt, wenn dies
möglich gewesen wäre, ohne den Besitzer zu kränken.
Anderseits war von einigen Meistern, die man gerne
vertreten gesehen hätte, in der Kürze der Zeit kein
genügendes Werk aufzutreiben. Und endlich hätte
man von vielen Künstlern gern noch charakteristischere
Bilder gehabt. So sähe man vom alten Reinhart, der
schon vor Carstens nach Rom gekommen war, lieber ein
Bild aus dem Ende des 1 8. Jahrhunderts als eins aus
dem Jahre 1846, von Christian Morgenstern lieber
einen seiner naiven Erstlinge als sein letztes Werk,
das obendrein noch von Schleich vollendet worden
ist, von dem jüngst verstorbenen Valentin Ruths lieber
einige Bilder aus der Lüneburger Heide als aus der
Campagna, von Eugen Bracht lieber ein frühes und
ein spätes als zwei frühe Werke. Aber solche nach¬
trägliche Einwendungen sind ebenso billig wie unnütz.
Freuen wir uns, daß trotz aller Schwierigkeiten eine
Ausstellung zustande gekommen ist, die geeignet er¬
scheint, das Verständnis für viele unserer älteren
Meister und die Liebe zu ihnen ganz neu zu wecken.
Um Schlüsse zu ziehen, dazu ist das gebotene
Material allerdings nicht reichhaltig genug und ver¬
dankt zu sehr dem Zufall seine Vereinigung. Es ist
mehr dazu angetan, Anregungen zu weiterem Studium
zu geben. Deshalb seien an dieser Stelle, statt einer
zusammenfassenden Würdigung, an der Hand des von
dem Verfasser geschriebenen, chronologisch geordneten
Kataloges zu den als besonders wichtig erscheinenden
Bildern einige ausblickende und rückblickende Be¬
merkungen gegeben.
Nr. 1. »/. C. Reinhart Curia Regnitianus f. Romae
1846 annum agens 85um.« So also sehen die
späten Bilder dieses Mannes aus, der gegen die »in
Deutschland herrschende Kunstschreiberei« seine ge¬
harnischten Philippiken losließ. In unseren Tagen
hätte er mit solchen Bildern, die um mindestens ein
Menschenalter hinter seiner Zeit zurückgeblieben sind,
ganz andere Dinge erleben können als die ruhigen
und maßvollen Einwendungen des Dr. Schorn. Die
Landschaft ist viel flauer als bei Koch, die Figuren
erinnern an schwächliche Werke aus dem Ende
/
J. J. BIDERMANN. PARTENKIRCHEN
FRIEDR. EDUARD MEYERHEIM. MOTIV BEI DANZIG
C. D. FRIEDRICH. KLOSTERRUINE ELDENA
C. D. FRIEDRICH. DER REGENBOGEN. MUSEUM WEIMAR
CONSTANTIN SCHMIDT. LANDSCHAFT BEI WEINHEIM
FRIEDRICH PRELLER D. Ä. EICHENGRUPPE
GROSSHERZOGL. SCHLOSS WEIMAR
41
312
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
des i8. Jahrhunderts, nur der Hund ist wirklich be¬
obachtet.
Nr. 2. Johann Jakob Bidermann, Partenkirchen
(1794). Ein sehr merkwürdiges kleines Bild, das man
ohne die Signatur um ein Menschenalter später an¬
setzen würde. Das bräunliche Felsengebirge links
von dem breiten Talgrunde spielt leicht ins Violette,
während über den Bergen und Schneegipfeln des
Hintergrundes ein feiner blauer Duft liegt. Die Häuser,
Bäume und Büsche und die anmutige Staffage vorn
sind aufs zierlichste ausgeführt, ordnen sich aber dem
Oesamteindruck unter, der einer gewissen Stimmung
nicht entbehrt. Man wird diesen liebenswürdigen
Schweizer Künstler, der 1804 von Bern nach Konstanz
übersiedelte und hier 1828 starb, gern im Auge be¬
halten.
Nr. 3 — 5. Joseph Anton Koch. Zwei Bilder aus der
Münchener Pinakothek und ein unbekanntes » Dank¬
opfer Noahs< aus Frankfurter Privatbesitz mit sehr
kindlichen Tierfiguren. Es würde interessant sein
festzustellen, wie sich aus dem freskoartigen, asketischen
Kolorit dieses Bildes die saftigen, fast bunten Farben
des »Winzerfestes« und anderer Bilder des Meisters
entwickelten, die dann für Ludwig Richter, Ernst
Fries und andere Maler vorbildlich wurden.
Nr. 6 — 10. Caspar David Friedrich. Dieser
prächtige, erst in unserer Zeit wieder voll gewürdigte
Meister ist mit fünf Bildern vorzüglich vertreten. Das
eine, der Künstler in seinem Atelier«, ist zwar keine
Landschaft, aber ungemein charakteristisch für diesen
Sonderling. Ein ganz schmuckloser, graugetünchter
Raum, in dem der Meister, eine höchst originelle
Erscheinung mit krausem Vollbart, an seiner Staffelei
arbeitet. Friedrich hatte es allerdings nicht nötig,
sich durch prächtige Stoffe und andere Requisiten
anregen zu lassen. Das bekannteste der fünf Werke
ist der »Regenbogen aus dem Weimarer Museum,
dieser köstliche Blick über den Strand und die Wellen
der Ostsee mit dem ganz in das Naturschauspiel ver¬
lorenen Wanderer rechts auf der Düne. Ein gutes
Stück Thoma’scher Poesie ist in diesem sorgsam aus-
geführten Bilde vorweggenomtnen. Ganz merkwürdig
sind zwei Bilder aus Greifswalder Privatbesitz, in
denen es Friedrich unternommen hat, die Nebeldünste
des Gebirges zu schildern. Skizzen ähnlicher Art
finden wir z. B. auch bei dem gleichzeitigen Nor¬
weger Dahl, aber eine rein atmosphärische Erscheinung
zum Vorwurf eines größeren Gemäldes zu machen,
dafür dürfte es wenige andere Beispiele aus der Zeit
geben. Auf dem einen Werke ist in der Tat weiter
nichts dargestellt als eine Reihe von im Dunste ver¬
schwimmenden, zart abgestuften Höhenzügen mit dem
goldenen Himmel darüber. Ob die Farben ganz
wahr sind, sei dahingestellt; jedenfalls ist die Vor¬
stellung der wogenden, durchleuchteten Dunstmassen
vollkommen erreicht. Um die »wahre Wirklichkeit«
kümmerte sich der Meister überhaupt herzlich wenig;
hat er doch auf dem anderen Bilde die ganz in der
Ebene liegende Klosterruine Eldena bei Greifswald
vor den Höhenzug des Riesengebirges gestellt! Ihm
kam es lediglich darauf an, Stimmungen auszudrücken
und Stimmungen in der Seele des Beschauers zu er¬
wecken. Manchmal wurde er ein wenig handgreiflich
damit. Bei dem fünften Bilde hat es ihm nicht ge¬
nügt, ein paar einfache Staffagefiguren vor dem von
Segelschiffen belebten Meere anzubringen, sondern
seine Figuren müssen ausdrücklich die »Lebensstufen«
darstellen, so daß sich allerlei Gedanken über die
Fahrt des Lebens usw. anspinnen. Die Ausstellung
enthält auch eine Landschaft mit gut gemalten weiden¬
den Kühen von seinem Sohne Gustav Adolph Fried¬
rich (1824 — 1889).
Nr. 11. Johann Heinrich Ferdinand von Olivier.
Eine Hochgebirgslandschaft in Hochformat, die leider
nicht bezeichnet und datiert ist. Die Staffage im
Vordergründe ist ganz nazarenisch und besteht eigent¬
lich für sich, aber die zarten grünen Töne des Mittel¬
grundes sind mit der grauen Gebirgsmasse und dem
bewölkten Himmel darüber sehr fein zusammen¬
gestimmt.
Nr. 14- 15. Ferdinand Georg Waldmiiller. Zwei
hübsche kleine Bilder, die eine wertvolle Ergänzung
zu den prächtigen Werken in der Nationalgalerie
bilden, für sich allein aber keine Vorstellung von dem
trefflichen Meister zu geben vermögen. Auch die
»Winterlandschaft von Dahl (Nr. 13) bietet nichts
Neues.
Nr. 21 — 28. Karl Blechen. Es scheint fast, als
ob man das an diesem Künstler begangene Unrecht
ein wenig gar zu reichlich gut zu machen versucht
hat. Er war doch mehr ein Sucher neuer Pfade und
ein Vorläufer als ein wirklich ausgereifter Künstler.
Schwache Stellen sind sehr häufig bei ihm, und zu
bezwingender Stimmung ist er eigentlich nur auf
einigen ganz kleinen Bildern und Studien gekommen.
Die Art, wie er den Sonnenbrand Italiens in einer
leuchtenden Skala gelber und graugelber Töne mit
ganz durchsichtigen Schatten wiedergibt, war damals
für Deutschland allerdings etwas ganz Neues. Ich
wurde vor solchen Werken schon vor Jahren an
William Turner erinnert, ehe ich wußte, daß andere
deutsche Künstler, wie der Berliner Schirmer, gerade
zu der Zeit, wo auch Blechen in Rom weilte, dort
mit dem großen Engländer verkehrt haben. So ge¬
winnt diese Vermutung an Wahrscheinlichkeit. Übrigens
wirkt auch hier die kleine Landschaft aus dem Besitze
des Herrn G. Brose wesentlich feiner und über¬
zeugender als das große »Assisi«. Von dem »intimen«
Blechen, der von seinem Fenster aus die gegenüber¬
liegenden Dächer malte und auch eine Fabrik mit
rauchendem Schornstein nicht zu gemein fand, um sie
auf einer Landschaft anzubringen, erfahren wir hier
nichts Neues.
Nr. 29. Heinrich Gaetke. Ältere Leute, die in
den fünfziger und sechziger Jahren auf Helgoland
waren, können sich noch gut des originellen Mannes
entsinnen, der ein ebenso leidenschaftlicher Natur¬
forscher wie Maler war und dessen prächtige Vogel¬
sammlung vom preußischen Staate erworben worden
ist. In den Katalogen der Berliner Kunstausstellungen
erscheint er von 1832 bis 1840, mit dem Vermerk
»aus Pritzwalk«, erst mit einer Berliner Adresse, dann
H. FERDINAND VON OLIVIER
GEBIRGSLANDSCHAFT
JOH. W. SCHIRMER. CAMPAGNASTURM. KUNSTHALLE KARLSRUHE
HEINRICH EUNCK. EIFELLANDSCHAFT. MUSEUM, KÖLN
C. FRIEDRICH LESSINQ. GROSSE LANDSCHAFT IM EIFEL¬
CHARAKTER. GEMÄLDEGALERIE DÜSSELDORF
HEINR. OAETKE. HELGOLAND
314
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
»auf Helgoland«. Weiterhin finden wir ihn nur noch
einmal und zwar erst im Jahre 1860. Ob er in der
Zwischenzeit das Malen aufgegeben oder nur nichts
nach Berlin geschickt hat, habe ich noch nicht er¬
mittelt. In den ersten Jahren wechseln märkische
Motive mit solchen vom Ostseestrande, später scheint
Helgoland ihm ausschließlich die Vorwürfe geliefert
zu haben. Auf dem jetzt ausgestellten sehr großen
Werke ist der leuchtend helle Strand in einen wirk¬
samen Gegensatz zu den dunkelgraublauen Wolken
gestellt. In der Mitte werden gestrandete Schiffe aus¬
geladen. Jedenfalls ist das Bild für die Zeit (1836)
sehr bemerkenswert.
Nr. 37 — 40. Heinrich Biirkel. Von Bürkel war
uns immer erzählt worden, daß die in Privatbesitz
befindlichen Bilder viel besser seien als die den
Museen gehörenden. Die aus dem Kunsthandel
stammende Einsiedelei im Gebirge ist in der Tat
wohl das hübscheste der vier ausgestellten Werke,
sagt uns im Grunde genommen jedoch nicht mehr
als die anderen. Sie ist sehr sauber und niedlich, auch
im Tone recht hübsch zusammengehalten, aber nichts
weiter. Bürkel scheint denn doch mehr ein Nachfolger
der Johann Adam Klein und Albrecht Adam als ein
Vorläufer der Stimnumgslandschaft zu sein.
Nr. 41-43. Ludwig Richter. Von den drei hier
gezeigten Bildern befand sich nur eins, die italienische
Landschaft aus dem Besitze des Generaldirektors der
königl. Museen Dr. Schöne, 1903 auf der Dresdener
Gedächtnisausstellung. Auf dem größeren der beiden
anderen, »Abend in den Apenninen , liegt der Vorder¬
grund, eine Alm mit Hirtinnen, im tiefen Abend¬
schatten; darüber erblickt man das Hochgebirge im
leuchtenden Glanze der Abendsonne. Das kleinere,
sehr helle und freundliche Bildchen ist eine Sommer¬
landschalt mit einem Flüßchen, über das eine leichte
Holzbrücke führt, und mit Staffage.
Nr. 44 69. Friedrich Preller d. ä. Die sechs¬
undzwanzig Bilder, unter denen sich allerdings ein
paar kleine Studien befinden, gewähren einen vor¬
züglichen Überblick über das Schaffen des Meisters.
Das älteste stammt aus dem Jahre 1833, also aus der
Zeit der ersten Odysseebilder im Römischen Hause,
das letzte, Rebekka am Brunnen, aus dem Jahre 1875.
Bei den Rehen im Walde ist der Baumschlag noch
ganz wie bei Koch und Richter; jedes einzelne Blatt
ist reliefartig aufgesetzt, in der Auffassung des Wald¬
grundes aber und in der Art der Komposition ist
schon der ganze künftige Meister enthalten. Auch
das große Wartburgbild, bei dem die Staffagefiguren
(Landgraf Friedrich mit der gebissenen Wange) nicht
recht glaubhaft wirken, hat noch viel Ähnlichkeit
damit, während bei der Tannenfällung im Winter
(Herzog Wilhelm fällt im Tambachsgrund die erste
Tanne zum Schloßbau) von 1850 die Behandlung viel
freier geworden ist. Von Preller als Maler des
Meeres gibt das große »Skudesnäs« von 1846 eine
vortreffliche Vorstellung, von seinen Eichengruppen
im Sturm oder nach dem Sturme, in denen er wohl
das Höchste seines landschaftlichen Könnens gegeben
hat, sind nicht weniger als drei vertreten, darunter
die schönste von allen aus dem Großherzoglichen
Schloß in Weimar. Aber obwohl es sich um eine
Landschafter- Ausstellung handelte, durfte auch des
Meisters Odyssee, sein eigentliches Lebenswerk, nicht
fehlen. Die sechzehn Farbenskizzen, die sein ganzes
Können und Wollen auf dem Gebiete der heroischen
Monumentalmalerei zusammenfassen, verdienen das
eingehendste Studium.
Nr. 72 a. Friedrich Eduard Meyerheim. Sein
»Motiv bei Danzig« ist ein niedliches, mit sehr
spitzem Pinsel hingesetztes Bildchen mit ganz zier¬
licher Staffage. Vorn ist alles in grünen Tönen ge¬
halten - also ganz ohne das beliebte Braun
hinten verschwimmen das Wasser und die Dünen
beinahe in demselben Blau. Meyerheim hat vielleicht
auch die Figuren auf dem Bildchen seines wohl früh
verstorbenen Freundes Otto Reinhold Jacobi gemalt,
von dessen Leben wir so gut wie gar nichts wissen
(Nr. 89). Auf einem Baumstamm am Wege ruhen
sich die Reisigsammler aus und betrachten die lieb¬
liche Landschaft mit dem See und den bläulichen
Bergen, ein echt Richtersches Motiv. Im Mittelgründe
kommt hinter einem Hügel eine von einer Kuppel¬
kirche überragte Ortschaft zum Vorschein.
Nr. 73 — 76. K.arl Spitzweg. Vier ganz kleine
Bildchen, die aber einen trefflichen Begriff von der
Landschaftsauffassung des Meisters geben. Er ist der
deutsche Maler des Waldgrundes, der »Dessous du
bois< . Besonders reizend ist der Eremit bei seiner
Waldkapelle, der die Flinte auf irgend ein jagdbares
Tierlein angelegt hat, eine echt Spitzwegsche Gestalt,
und die beiden Mägdlein, die auf einem Gebirgspfad
lustwandeln, ganz winzige Figürchen, die aber in
ihrer Haltung und den fröhlichen Farben ihrer Kleider
die Stimmung der Landschaft noch einmal zusammen¬
fassen und so erhöhen.
Nr. 77 - 83. Carl Friedrich Lessing. Der Haupt-
meister der romantischen Landschaft ist mit mehreren
Werken ersten Ranges vertreten, die ihn zu ganz
neuem Leben erwecken. Er ist der deutscheste und
zugleich der romantischste unter unseren Meistern,
er besitzt die Innigkeit und auch den Schwung, der
die besten unter den romantischen Dichtern und
Musikern auszeichnet. Freilich müssen wir uns in
seine Bilder erst wieder etwas hineinsehen lernen.
Gewiß, so sieht die Natur für unsere Augen nicht
aus, so goldige, braune, altmeisterliche Töne besitzt
sie nicht; naturwahr in diesem Sinne sind indes auch
Claude Lorrain, Turner, selbst Ruisdael nicht. Aber
wie prachtvoll sind diese großen Bilder in der einmal
gewählten Farbenskala zusammengehalten, ist selbst
ihre oft etwas bunte Staffage diesem goldbraunen
Gesamtton untergeordnet! Wie lebt es und leuchtet
es in ihnen, und wie meisterlich ist das Materielle
wiedergegeben! Diese Felsen sind keine Theater¬
kulissen, sondern wirkliches sprödes Gestein, diese
Bäume wachsen und recken sich nach allen Seiten,
aus diesen Wolken bricht wirklicher Regen hervor.
Romantisch, das heißt bei Lessing in den meisten
Fällen soviel wie tragisch. Sehr oft ist die Natur im
oder dicht vorm Aufruhr. Schwarzgraue Wolken
KARL BLECHEN. LANDSCHAFT
O.R. JAKOBI. LANDSCHAFT
G. F. WALDMÜLLER. VETERANEN IM PRATER
HEINR. BÜRKEL. EINSIEDELEI IM GEBIRGE
HEINR. FRANZ-DREBER. ITALIENISCHE LANDSCHAFT
C. FRIEDRICH LESSING. EIFELLANDSCHAFT
3i6
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
haben sich zusammengeballt, um sich im nächsten
Augenblick zu entladen. Dazu passen die trotzigen
Felsen, die knorrigen Föhren, die verfallenen Ruinen
und auch die Landsknechte, die von ihm so gern
als Staffage verwendet worden sind und durchaus
keinen fremden, anekdotischen Zug hineinbringen.
Zuweilen, wie auf dem herrlichen Bilde aus der
Sammlung des Konsuls Weber, kreist auch nur ein
Geier über der verödeten Stätte. Daneben gibt es
auch Bilder voll lieblicher Ruhe. Wundervoll weiß
er den Glanz der Abendsonne zu schildern, der die
Bergkuppen vergoldet, wundervoll den traulichen
Schatten des Talgrundes. Auf dem Karlsruher Bilde
Bodetal im Harz< befindet sich ein Stück im Mittel¬
gründe, das herausgescimitten fast wie ein köstlicher
Spitzweg anmuten würde. Vielleicht würde Lessing
das Entzücken der Modernen bilden, wenn er nur
solche intime Ausschnitte gemalt hätte. Aber das
Kleine war bei ihm nur ein Teil des Großen. Und
daß er das Große nicht immer erreichte, das nahmen
ihm die übel, die es gar nicht versuchten oder ihre
quadratmetergroßen Studien für Bilder ausgaben.
Lessing gehört zu den Meistern, denen wir vieles
abzubitten haben. Obwohl er altmeisterlich malte,
war er einer der selbständigsten von allen. Die
Stimmungslandschafter ahmten die Franzosen nach
und blieben meist weit hinter ihnen zurück, bei
Lessing denkt man überhaupt an keinen Ausländer.
Nr. 72. Heinrich Funck. Seine Eifellandschaft
ist entschieden unter Lessingschem Einfluß entstanden,
erinnert in vielem aber auch an Rottmann, der übrigens
ebenfalls mit vier Bildern und einer Zeichnung
(Nr. 16 — 20), meist bekannten Werken vertreten
ist. Die riesigen flackernden Wolken, die blitzartig
beleuchteten Partien im Mittelgründe sind ganz roman¬
tisch. Prächtig ist die Ferne mit den nur angedeu¬
teten und doch deutlich erkennbaren Hügeln, Burgen
und Ortschaften.
Nr. 71. Johann Wilhelm Schirmer, Campagna-
sturm. Das Bild ist ein interessanter Kompromiß
zwischen Klassizismus und Romantik. Aber Sturm¬
wind und klassisch abgewogene Komposition ver¬
tragen sich schlecht; so wackelt das Bild etwas, wie
man zu sagen pflegt.
Nr. g6 — 111. Andreas Achenbach. Nach den
hier ausgestellten Proben scheint es, daß die Eigen¬
art der frühesten Achenbachschen Bilder doch etwas
überschätzt worden ist. Die beiden Marinen von
1836 gehen jedenfalls nicht wesentlich über das hin¬
aus, was gleichzeitig oder schon vorher in Berlin
von Wilhelm Krause geschaffen worden war. Über¬
haupt wäre es sehr lehrreich gewesen, ein paar
Bilder dieses fast vergessenen Marinemalers, der schon
1830 und i83i Rügen und Norwegen bereist und
mit seinen schlicht realistischen Bildern Aufsehen er¬
regt hatte, zum Vergleich neben die Achenbachschen
zu hängen. Nicht also wegen der Neuheit seiner
Bilder erregte Achenbach in Düsseldorf Anstoß,
sondern wegen der anspruchslosen Schlichtheit, der
Poesielosigkeit seiner Motive. Ebenso falsch ist es,
ihn gegen Lessing auszuspielen. Sein norwegisches
Motiv von 1838 mit den drohenden Gewitter¬
wolken, der fahl beleuchteten Sumpflandschaft mit
den abgestorbenen Bäumen und Baumwurzeln und
dem Runenstein im Mittelpunkte könnte beinahe von
diesem gemalt sein. Der echte Achenbach kommt
dagegen in dem Untergang des Präsidenten« (1843)
mit den bläulichen Eisbergen zwischen den hoch¬
schäumenden Wellen zum Vorschein. Der Strand
von Scheveningen (1855) zeigt, daß auch er sich der
koloristischen Richtung nicht entzogen hat. Die
Farbenstimnumg dieses übrigens vortrefflichen Bildes
entspricht ganz der von Isabey und Hoguet. Die
gleichzeitigen Faraglioni (Capri) sind mehr dekorativ
gehalten, es ist eins von den Bildern, in denen er
seinem Bruder Oswald am ähnlichsten ist. Hervor¬
heben möchte ich außerdem die Waldlandschaft bei
aufziehendem Gewitter, eine so durchaus intime
Landschaft, wie man sie bei Achenbach nicht sehr
häufig findet. Auch aus seiner späteren Zeit finden
wir einige sehr charakteristische Bilder.
Das Urteil über den jüngeren, kürzlich verstorbenen
Bruder Oswald Achenbach, der mit acht, zum Teil
sehr großen Bildern vertreten ist (Nr. 161 — 167 a),
wird durch die Ausstellung nicht wesentlich geändert.
Willig gestehen wir alles zu, was zu seinen Gunsten
angeführt wird — und das ist nicht wenig — , der
opernhafte Zug seiner Kompositionen und Beleuch¬
tungen aber ist und bleibt uns heute fremd.
Nr. 112. Johann Gottfried Steffan. Herren¬
chiemsee. Das reizende Werk bildete nicht nur für
die Besucher, sondern auch für die Veranstalter der
Ausstellung eine Überraschung; war doch selbst der
Name des Künstlers den meisten unbekannt. Im
Singerschen Künstler - Lexikon steht, daß er am
13. Dezember 1815, also fünf Tage nach Menzel
und im selben Jahre wie Andreas Achenbach ge¬
boren war, Italien und Paris besucht und besonders
Hochgebirgsbilder gemalt hat; weitere Erkundigungen
lehrten, daß er noch am Leben war. Wenige
Tage darauf aber kam die Nachricht von seinem
Tode. Wenn die anderen Bilder von seiner Hand,
die nun gewiß überall auftauchen werden, den jetzt
ausgestellten ebenbürtig sind, dann wird die deutsche,
speziell die deutsch - schweizerische Kunstgeschichte
wieder um einen guten Namen bereichert sein. Der
Blick über den spiegelglatten See nach der Insel und
dem fernen, ganz im Dufte verschwimmenden Gestade
ist von zauberhafter Zartheit.
Nr. 116. Constantin Schmidt. Ebenfalls ein fast
ganz in Vergessenheit geratener Maler, der aber wohl
schon vor einem halben Jahrhundert gestorben ist.
Man möchte gern erfahren, ob er das in unserer
kleinen Tallandschaft bei Weinheim gegebene Ver¬
sprechen in größeren Bildern eingelöst hat. Die
warmen Töne des Sommers mit den bläulichen
Schatten sind vorzüglich getroffen und sehr harmonisch
verschmolzen.
Nr. 120 — 124. Eduard Hildebrandt. Die unter
der jüngeren Generation ziemlich allgemeine Ab¬
neigung gegen den ausgesprochensten Koloristen
unter den Berliner Landschaftern wird durch die jetzt
KARL BLECHEN. PARK VON TERNI
KARL SPITZWEG. MÄDCHEN AUF EINEM GEBIRGSWEG
I. O. STEFFAN. HERRENCHIEMSEE
ANDREAS ACHENBACH. NORWEGISCHE LANDSCHAFT
KUNSTHALLE KARLSRUHE
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 12
42
3i8
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
ausgestellten Bilder nicht vermindert werden. Trotz
der warmen Töne seiner Palette wirken sie kalt; denn
sie sind nur mit der Hand, einer ungemein geschick¬
ten Hand, ohne rechten Anteil des Herzens, ohne
liebevolle Versenkung in die Natur, gemalt. Das
feinste ist das kleine Nachtbild aus Shanghai. Hilde¬
brandt hatte mit seinem Freunde Charles Hoguet
(Nr. 126 — 130) zusammen bei Isabey in Paris studiert,
dem beide das beste ihres Könnens verdanken. Wie
stark Hoguet auch noch lange nach seiner Rückkehr
unter dem Einfluß seines französischen Lehrers stand,
beweisen die große und die kleine Strandlandschaft
von 1854, die beide fast dasselbe Motiv behandeln.
Nr. 132 137. Heinrich Dreher genannt Franz-
Dreher. Keiner von denen, die in dem an Kunst¬
schätzen reichen Hause des Generaldirektors der
Berliner Museen verweilen durften, hat sich dem
machtvollen Eindruck der großen italienischen Land¬
schaft Drehers entziehen können. Trotzdem wirkt
das Bild in der vorzüglichen Aufstellung und Be¬
leuchtung der Ausstellung mit ganz neuer Kraft. Es
verdient durchaus den Ehrenplatz, der ihm eingeräumt
worden ist. Ganz wenige Meister nur haben es seit
Poussin verstanden, eine große landschaftliche Kom¬
position so wundervoll abzuwägen. Jeder Teil ist
für sich genommen ein vollkommenes Bild — man
betrachte daraufhin besonders die Hauptgruppe der
Bäume, den Rasenhang mit dem Ausblick in die
Ferne, die Felsgruppe mit den Büschen rechts im
Vordergründe — , und doch ordnet sich jeder dem
Ganzen unter. Auch die Figuren sind in Linie wie
Farbe völlig harmonisch mit der Landschaft ver¬
schmolzen. Alles atmet klassische Erhabenheit ohne
Steifheit. Ich wüßte keinen lebenden Meister, der
sich an eine ähnliche Aufgabe auch nur wagen dürfte.
Nr. 13g. Wilhelm Gentz. Mit der Ausgrabung
dieses Abends am Nil hätten wir lieber verschont
bleiben sollen. Niemand geschieht ein Gefallen
damit, am wenigsten dem Künstler selbst, der so
empfindungslos und unleidlich in der Farbe hoffent¬
lich nur selten gewesen ist. Dagegen war es sehr
verdienstvoll, uns einige Werke von anderen älteren
Berlinern vorzuführen, die dem heutigen Geschlechte
gar nicht oder nur aus schwächeren Alterswerken
bekannt sind, ihre einstige Beliebtheit aber vollauf
verdienen. An erster Stelle ist hier Bennewitz von
Loefen d. A. zu nennen, der sich in den sechs aus¬
gestellten kleinen Bildern als ein ganz prächtiger
Meister erweist (Nr. 153 — 158). Während andere in
der Zartheit der Töne mit den Franzosen wetteifern
wollten und zumeist weit hinter ihnen zurückblieben,
hat er seine echt preußische Natur nie verleugnet.
Zuweilen ein wenig nüchtern, immer aber ehrlich,
gerade, solid, gut beobachtet und sicher hingesetzt
sind seine Bilder. Fontanescher Geist spricht aus
diesen märkischen und pommerschen Landschaften,
die seinerzeit wegen ihrer Schlichtheit dem Vor¬
wurf des » krassen Realismus nicht entgingen.
Hermann Eschke, der Berliner Marinemaler, ist
nur mit einem, aber mit einem sehr guten Bilde von
der englischen Küste vertreten (Elisabeth Castle,
Nr. 140), bei dem die Behandlung des mit den
Nebelmassen kämpfenden Sonnenlichtes, das glitzernde
Wasser und die feine graubraune Tönung des Ganzen
gleiche Bewunderung verdienen. Ähnliche atmo¬
sphärische Stimmungen über weiten Wasserflächen
liebte auch der jetzt oft unterschätzte Norweger Hans
Gilde, der ja zuletzt auch zum Berliner geworden
war (Nr. 146 — 148). Ganz entzückend ist ein See¬
stück von 1876. Diese zarten Abstufungen von
silbrigem Grau bei den halbverhüllten Bergen und
den Wolken, diesen Glanz auf dem leicht gekräusel¬
ten Wasser hat damals sicher niemand besser gemalt.
Eine Überraschung bereitet das Bild eines etwas
jüngeren Berliners, des jetzigen Vorstehers des Meister¬
ateliers für Landschaftsmalerei an der Akademie, Alhert
Hertel (Nr. 203). Die großen Gruppen buntgekleide¬
ter Italienerinnen sind im kühlen Schatten des Morgens
mit erstaunlicher Kraft zusammengehalten und zu den
strahlenden Bergen hinten in einen sehr wirksamen
Kontrast gestellt.
Nr. 149 152. Adolf Lier. Wie die Werke
Eduard Schleichs (Nr. 90 — 95), so bereiten auch die
seines jüngeren Nebenbuhlers auf dem Gebiete der
Münchener Stimmungslandschaft eine leise Ent¬
täuschung. Sie haben beinahe etwas Flaues. An die
präzise Zeichnung, die Leuchtkraft und das reiche
Leben der Bilder von Roussau und Dupre darf man
jedenfalls vor ihnen nicht denken. Am meisten Kraft
besitzt noch Liers »Abend«. Ähnliche Betrachtungen
kann man bei dem Tiermaler Richard Biirnier
(Nr. 159 — 160) anstellen, der bei Troyon in die
Schule gegangen war und auch viel von ihm gelernt
hat. Der goldige Abendhimmel auf seinem großen
»Mondaufgang< macht zunächst einen bezaubernden
Eindruck, von den Tieren aber hält bei näherer Prü¬
fung kaum eins stand. Im allgemeinen scheint es,
daß die ältere Cronberger Schule der älteren Münchener
überlegen ist; sie ist schlichter, feiner und wahrer.
Peter Barnitz (Nr. 142 — 143) hat die zarten grünen
und grauen Töne der Wiesen und Bäume jedenfalls
viel überzeugender gemalt als Lier. Auch die Cron¬
berger haben von den Franzosen gelernt, sind aber
nicht von ihnen abhängig. Bei der jüngeren Genera¬
tion, das heißt der um 1840 geborenen, entwickelten
sich übrigens gerade zwischen Frankfurt und München
zahlreiche Beziehungen. Immer deutlicher tritt es
hervor, wieviel die deutsche Kunst dem um 1870 in
München arbeitenden Kreise unabhängiger junger
Maler verdankt, den man als den Leibl-Thoma-Kreis
bezeichnen kann, in dem Sinne, daß diese beiden
Künstler zwei entgegengesetzte Punkte in ihm be¬
deuten. Leibi ist der größte Maler in ihm, Thoma
der innigste Poet. Aber nicht nur Thoma ging später
nach Frankfurt, sondern auch Trübner, der Leibi am
nächsten steht. Von Leibi, der größere selbständige
Landschaften überhaupt nicht gemalt hat, ist kein Bild
ausgestellt, dagegen drei hübsche kleine Bilder von
seinem Genossen Johann Sperl (Nr. 187 -189), dem
er ja zuweilen Figuren in seine oberbayerischen Land¬
schaften hineingemalt hat, und ferner ein Bauernhaus
und eine sehr feine Waldlandschaft mit Teich von
W. B. H. ESCHKE. ELISABETH CASTLE
BENNEWITZ VON LOEFEN D. Ä. AM VIETZIGER SEE
CHARLES SCHUCH.
BAUERNHAUS IN FERSCH
BENNEWITZ VON LOEFEN D. Ä. WALDBLÖSSE L. H. BECKER. KORNFELD
42
320
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
seinem Freunde Charles Schuch (Nr. 216 — 217), der
seine höchste Kraft allerdings in den in Paris ge¬
malten Stilleben entfaltet hat. Von Leibi und Trübner
wurde auch der in Manchester geborene Louis Eysen
(Nr. 204 — 205) angeregt, vom Holzschneiden und
Lithographieren zur Ölmalerei überzugehen; auch bei
ihm kreuzen sich Cronberger, Münchener und Pariser
Einflüsse. Die beiden von ihm ausgestellten Bilder
reichen zwar nicht an das igoi von der National¬
galerie erworbene heran, zeigen aber dasselbe Streben
nach Wahrheit der Lufttöne. Seinen Bildern wiederum
steht eine schöne Abendlandschaft von Wilhelm Stein-
hausen nahe (Nr. 210 — 211), ein Talgrund, über den
die Nacht ihre Fittiche zu breiten beginnt. Auch
hier besteht das ganze Bild eigentlich nur aus ver¬
schiedenen grünen Tönen, die zu einer Harmonie von
schwermütiger Weichheit zusammengestimmt sind.
Thoma selbst ist leider recht ungenügend vertreten,
insbesondere erscheint sein Rheintal von iSgg als
eine schlimme Verwässerung des kürzlich von der
Nationalgalerie erworbenen Bildes. Wie sehnlich
wünschte man hier einige von seinen frühen Land¬
schaften herbei, die igo2 in Karlsruhe das allge¬
meinste Entzücken hervorriefen! Endlich ist noch
der eigentümliche Emil Lugo zu nennen (Nr. 186),
dessen herbe und kräftige Bilder mit den starken
Konturen etwas merkwürdig Archaistisches und doch
zugleich wieder ganz Modernes haben.
Von den Düsseldorfern sind Eugen Diicker
(Nr. igo ig2) und Ludwig Munthe (Nr. ig3 — ig?)
reich vertreten. Gröberes Interesse als ihre Bilder
erwecken aber die des jung verstorbenen Ludwig
Hugo Becker (1833 — 1868; Nr. 172 174). Das
größte stellt einen verschneiten Dorfweg mit ein paar
Leuten dar, die beim ersten Morgengrauen zur Christ¬
messe in die rechts hinter hohen Bäumen ein wenig
höher liegende, hell erleuchtete Kirche gehen; das
von uns abgebildete »Kornfeld« ist in kräftigen Tönen
ziemlich breit gemalt. Zu dem leuchtenden Getreide
und den roten Ziegeldächern, die besonders heraus¬
treten, gesellen sich die violetten Töne der Kohlköpfe
als eine aparte Note. Von den Karlsruhern ist Her¬
mann Baisch (Nr. 212—215) an erster Stelle zu
nennen, der 1868 in Paris vor den Bildern Dupres
und Rousseaus bestimmende Eindrücke empfangen,
aber doch erst in Holland, vielleicht unter dem Ein¬
fluß von Mauve und den Maris, seine reizende silber¬
graue Weise gefunden hat. Von Schönleber (Nr.
237 240) ziehe ich die beiden schlichten Bilder aus
Holland dem großen Venedig und dem besonders im
Verhältnis zum Vorwurf zu großen Enzwehr vor.
Von dem größten Wiener Stimmungslandschafter,
Emil Jakob Schindler, den man hier gern einmal
gründlich kennen gelernt hätte, ist leider nur ein Bild
ausgestellt (Nr. 201). Eugen Jettei war so ganz zum
Pariser geworden, daß seine Werke in dieser deut¬
schen Ausstellung beinahe fremdartig wirken.
Nr. 220 — 235. Karl Buchholz. Die fünfzehn
Bilder dieses in Berlin von nur ganz wenigen gekannten
Weimaraners bilden die größte Überraschung und
einen der dauerndsten Anziehungspunkte der Aus¬
stellung, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern
auch, weil sie uns ahnen lassen, welch köstliche
Schätze bei tieferem Nachgraben im Boden der deut¬
schen Kunst noch zu heben sein werden. Da es
über den Meister keine »Literatur« gibt, seien hier
außer einer kurzen Würdigung der ausgestellten Werke
auch die wichtigsten Daten aus seinem Leben ge¬
geben, die wir der Mitteilung eines seiner besten
Freunde, des Landschaftsmalers Hoffmann-Fallersleben,
verdanken. Wie Millet ist auch Buchholz vom Pfluge
weg zur Malerei gekommen, wie der große Franzose
hat auch er zeitlebens mit schweren Sorgen zu kämpfen
gehabt. Unglücklicher aber als jener, der wenigstens
an seinem Lebensabend einen wenn auch sehr be¬
scheidenen Wohlstand und die Anerkennung der
besten seines Volkes fand, erfuhr er immer schwerere
Enttäuschungen, die ihn schließlich in den Tod
trieben. Der Rittergutsbesitzer Collenbusch in Schloß
Vippach bei Weimar, wo er am 23. Februar 184g
geboren war, hatte zuerst sein Talent entdeckt und
ihn die Weimarer Kunstschule besuchen lassen. Hier
genoß er hauptsächlich den Unterricht von Max
Schmidt, begann aber sehr bald selbständig zu malen.
Auch als 1871 Theodor Hagen nach Weimar berufen
worden war und bald einen großen Kreis begeisterter
Schüler um sich sammelte, hielt er sich abseits in
der Überzeugung, daß ihm kein Lehrer mehr zu
sagen vermöge als die Natur und die alten Meister.
Das erste der ausgestellten Bilder, eine kleine Früh¬
lingslandschaft, zeugt von köstlicher Naivität in der
Naturbeobachtung. Der Himmel, die blühenden Obst¬
bäume, die Vögel, die sich auf den zarten Zweigen
wiegen, alles atmet heiterste Frühlingsstimmung, und
das Ganze ist in jenen lichten grauen Tönen ge¬
halten, wie wir sie mehr als ein Jahrzehnt später in
den frühen Bildern eines Uhde finden. Ein unbe¬
fangenes Naturkind hat hier ohne alle Reflexion einen
Ausschnitt aus dem gegeben, was ihm das vertrauteste
war, und so ohne es zu wissen ein kleines Meisterwerk
geschaffen. Ist hier die eine Quelle, aus der der
Meister schöpfte, am ungetrübtesten, so zeigt der
daneben hängende »Hörselberg« von 1876 die zweite,
die alten Meister, am deutlichsten. Streben nach Ton¬
schönheit und nach großartiger Einfachheit der Kom¬
position beherrschen es vollkommen. In flüssigem
Golde glänzt der Abendhimmel über der dunklen
weiten Ebene, und dieses Gold flutet auch um die
großen, an Claude Lorrain erinnernden Bäume, die
den Blick in die Ferne führen. Buchholz konnte sich
in Lasuren nicht genug tun, um diesen satten Glanz
herauszubekommen. Zwischen den beiden Werken
liegt die Sonnenregenstimmung »aus der goldenen
Au« (1874), ^ine ganz merkwürdige, höchst stim¬
mungsvolle Übersetzung des Natureindrucks. Der
hügelige Vordergrund ist in einem eigentümlichen
Graubraun gehalten, die Bäume sind fast schwarz,
während die Ferne in lichten goldigen Tönen ge¬
badet ist. Denkt man hier unwillkürlich an gewisse
Bilder aus der graubraunen Periode von Daubigny,
so möchte man bei dem »Herbstlichen Wald« von
1882 auf einen Einfluß von Diaz schwören. Dieser
HANS GUDE, SEESTÜCK
KARL BUCHHOLZ. AUS DER GOLDENEN AU
KARL BUCHHOLZ. HERBSTLICHER WALD. MUSEUM WEIMAR
KARL BUCHHOLZ. WINTERABEND
322
DIE AUSSTELLUNG VON WERKEN DEUTSCHER LANDSCHAFTER IN BERLIN
ausgeholzte Wald mit den einzeln nebeneinander
stehenden Bäumen und dem bewölkten Himmel dar¬
über, der dazwischen in die Tiefe führende Weg mit
der Bäuerin, ja noch mehr die Art des Bildaus¬
schnittes und selbst die Farben, alles erinnert an die
Landschaften von Diaz, die Chauchard in Paris be¬
sitzt. Hat Buchholz Bilder von den Meistern von
Barbizon gesehen? Seine Freunde verneinen es so
bestimmt, daß wir ihnen glauben müssen. Dann
haben also ähnliche Vorbilder unter den alten Meistern
und ähnliche Vorwürfe in der Natur zu so ähnlichen
Kunstwerken geführt. Übrigens ist es sehr töricht
zu glauben, daß solche gelegentlichen Beeinflussungen
den Ruhm eines Meisters beeinträchtigen. Es kommt
nur darauf an, ob er stark genug ist, sie dem eigenen
Wesen zu assimilieren oder ob er zum bloßen Nach¬
treter herabsinkt. Und Buchholz ist sich selbst treu
geblieben sein Leben lang. Man betrachte nur seinen
»Winterabend« mit dem eben aufgegangenen Voll¬
mond. Da ist nicht die Spur von Fremdem darin,
das hat nur einer malen können, der vor der Natur
sich selbst und alles andere vergaß und nur von dem
einen Wunsche beseelt war, das zauberhafte Schau¬
spiel, das er gesehen, so redlich und treu, so innig
und keusch wie nur möglich wiederzugeben. Buch¬
holz wurzelte so tief im heimischen Boden wie nur
je ein Künstler. Er hat nur eine einzige größere
Reise in seinem Leben unternommen, nach München
und dem bayrischen Hochgebirge, und diese verlief
völlig ergebnislos für sein Schaffen. Und als ihn
später seine Freunde aus dem Weimar, das ihn ver¬
kannte, nach Berlin und Düsseldorf zu ziehen suchten,
da schlug er es ihnen rund ab, wohl wissend, daß
er in fremden Boden verpflanzt nicht gedeihen konnte.
Selbst solche Ausflüge wie in die goldene Au waren
bei ihm eine Seltenheit; fand er doch in der nächsten
Umgebung Weimars vollauf das, was er suchte. Vor
allem zog ihn der Webichtwald, in den ihm dann
so viele gefolgt sind, immer von neuem an. Dann
hat er weite Blicke über die Ebene gemalt, gern in
der Stimmung des Vorfrühlings oder in der Abend¬
dämmerung bei aufgehendem Vollmond, und ent¬
zückende Dorfansichten. Aber ihm, der sie so innig
liebte, war die Heimat nicht treu. Abseits von allem
Cliquenwesen stehend, zu aufrichtig, um eine Schmei¬
chelei über die Lippen zu bringen, wohl auch kein guter
Geschäftsmann, verlor er nach und nach völlig den
Boden. Einzelne Weimaraner Bürger und befreundete
Künstler hielten ihn lange, und insbesondere haben
auch der damalige Großherzog und die Großherzogin
Sophie ihm mehrfach Bilder abgekauft, aber_ schlie߬
lich flössen die Quellen immer spärlicher. Seine
bewundernswerte Leichtigkeit im Schaffen blieb ihm,
doch was half sie, da er seine Bilder auch zu den
allergeringsten Preisen (man spricht von fünfzig Mark)
nicht mehr los werden konnte? Dazu kamen allerlei
beabsichtigte und unbeabsichtigte Kränkungen. So
hat er am ag. Mai i88g, im Alter von kaum vierzig
Jahren, durch Aufschneiden der Pulsadern seinem
Leben freiwillig ein Ende gemacht. Ein völlig ab¬
schließendes Urteil über sein Schaffen erlaubt die
Ausstellung nicht. Aber sie wird dazu beitragen,
weitere Werke von ihm ans Tageslicht zu ziehen.
Dann wird man ihm, der zweifellos einer der feinsten
deutschen Stinmmngslandschafter seiner Zeit war, wie
auch den anderen Weimaranern, Weichberger, Freies¬
ieben usw., seinen Platz in der Geschichte der
deutschen Kunst endgültig anweisen können.
KARL BUCHHOLZ. FRÜHLING IN EHRINOSDORF
DIE INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG
IN MÜNCHEN
Von Dr. Ludwig von Buerkel
Die Kunstausstellungen großen Stiles sind die
Märkte der lebenden Künstler. In alten Zeiten
war der Verkehr zwischen Maler und Käufer
bedeutend einfacher und für beide Teile vorteilhafter.
Wer es verstanden hatte, durch Fleiß und Können
zum Meister aufzusteigen, der war mit seiner Schule
genügender Beschäftigung sicher. Der Käufer kam
in die Malerwerkstatt, äußerte seine Wünsche, darunter
ganz persönliche — auf die, als selbstverständliches
Recht des Bestellers, jeder, auch der größte Künstler
einging — und machte den Künstler mit dem Auf¬
stellungsort des bestellten Werkes bekannt. Die An¬
nehmlichkeiten solchen direkten Verkehres waren für
den Maler wie für den Besteller die größten. Der
Meister war durch die Wünsche des Käufers an¬
genehm beschränkt und konnte sein Bild mit aller
Sorgfalt der künftigen Umgebung anpassen, der Be¬
steller bekam just das, was er wollte, und hatte die
Gewißheit, wirklich befriedigt zu werden.
Der zunehmende Absatz in Zimmerbildern und
der Beginn des Sammelns machten dieser ersten Ver¬
kehrsart ein Ende. Die Käufer wollten Auswahl und
die Malergilden entschlossen sich, die Stücke ihrer
Mitglieder in Verkauf zu stellen. Auswüchse ließen
nicht lange auf sich warten, ln den Niederlanden
spekulierte der Bauer mit Bildern, in Italien wurden
in der einen Stadt Bilder von beliebten Malern ge¬
kauft und in der anderen Stadt wissentlich als Werke
anderer Meister, die höher im Preis standen, weiter¬
gegeben. Der Händler trat auf den Markt, weniger
bedacht den Künstler in seiner Existenz zu schützen,
als für sich so viel als möglich zu gewinnen.
Akademien und Kunstvereine versuchten, als die
Gilden längst aufgelöst waren, den Marktverkehr zu
regulieren; trotzdem dehnte sich das Händlertum aus.
Der Händler trat in direkten Verkehr mit dem Künst¬
ler, kaufte weniger fest, als er in Kommission nahm.
Übervorteilungen waren an der Tagesordnung und
nur die Vereinigung in einem Verband — leider auf
Grund der geänderten Verhältnisse nicht mehr der
Gilde entsprechend — konnte die Maler schützen.
So entstanden die Künstlergenossenschaften, die nun
in ihren Vorständen den Handel mit dem Publikum
selbst besorgten und auf eine reelle Geschäftsbasis
bedacht waren.
Im Anfänge hatten verständlicherweise die großen
Kunstausstellungen bedeutende Markterfolge, weil sie
den Handel der Professionskäufer lahm legten. Heute
aber sind die Verhältnisse völlig geändert. Man wird
wahrnehmen, daß gerade die Namen der anerkannten,
gesuchten Münchener Künstler in den Ausstellungen
fehlen. Nur Chancen auf goldene Medaillen oder
Staatsverkäufe oder saure Komiteepflichten erweichen
sie, von Fall zu Fall doch etwas zu schicken. Gerade
diese besseren Maler haben sich längst mit den bösen
Händlern versöhnt und sie benutzen günstigere Ver¬
kaufsgelegenheiten, als sie eine große Ausstellung
bietet. Das eine haben alle besseren Maler längst
empfunden, daß die Folie der minderen Malereien,
welche zu 50 Prozent solche Ausstellungen füllen,
für ihre Bilder nicht günstig sei. Sie trennten sich
von den konventionellen »Kunstmalern , aber auch
die Trennungen führten nicht zu den gewünschten
Resultaten, die Wiedervereinigung hat dieses Jahr
wieder — zunächst aus äußerem Anlaß — statt¬
gefunden. Was nun? Wird jetzt der jahresmarkt die
Früchte tragen, die er bisher schuldig blieb? Zieht
heute der Staat die Hand aus besserer Einsicht vom
Unternehmen, entbindet er sich von der im Staats¬
interesse unverständlichen Verpflichtung, für 100000
Mark jährlich da zu kaufen, wo meist nichts Be¬
gehrenswertes zu kaufen ist — wird dann die große
Ausstellung weiter bestehen? Ich glaube nicht und
hoffe, daß sie aufhöre zu sein. Wir Nichtkünstler
wollen heute nicht Ausstellungen von Verbänden, die
sich wahllos zusammensetzen. Wir wollen eine feine
Auswahl des Besten, die nicht ein Bild für gut aus¬
gibt, weil es vom Mitglied N. N. ist, der einer be¬
stimmten Gruppe angehört. Wir wollen wirklich
sehen, was von Gutem in jeder Richtung geleistet
worden ist und wollen uns nicht in zwanzig Sälen
ermüden, bis wir zum ersten Bild uns durchgerungen
haben, das beschauenswert ist. Eine Künstlergruppe
kann zwar das Schlechte beschränken, aber nicht aus¬
schließen. Eine Auswahl des besten jährlich pro¬
duzierten Kunstgutes könnte nur der Kunstfreund
bringen, nicht der Künstler. Wir haben in Deutsch¬
land Männer, denen Vertrauen in ihre Kenntnis, in
ihren Geschmack entgegengebracht wird. Einer von
ihnen möge den Anfang machen, das Hervorragendste
324
DIE INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG IN MÜNCHEN
sammeln und die Auswahl ausstellen und zum Ver¬
kauf bieten lassen. Es wäre gewiß verlockend, ein
Unternehmen anzubahrien, durch das dem Künstler
Gelegenheit würde, mit den geistig feinsten Schichten
zu verkehren, welche nur sein Publikum bilden können;
und der Künstler würde sich vielleicht wieder dessen
bewußt, daß seine Werke seine Kinder sind, bestimmt,
seinen Ruhm in die Welt zu tragen — Kinder, die
er nicht schlechter Umgebung preisgeben darf, sondern
so unterbringen muß, daß sie ihm Ehre machen.
Recht klein würde die Kollektion von Bildern
der Ausstellung sein, welche einer strengen Sichtung
standhalten. Den Gästen den Vortritt. Die Schweizer
sind ein wahrhaft freies Volk. Von einer Gebunden¬
heit nicht die Spur. Wer über Individualitäten sprechen
will, hat hier reiche Ausbeute. Meinen Standpunkt
will ich gleich hier präzisieren: Solange die künst¬
lerische Form eines Werkes nicht entspricht, lebt auch
sein Gedankeninhalt nicht auf. Der Genfer Hodler
wird als neue Größe verkündet. Der Rückzug von
Marignan, der hier zu sehen ist, kann nicht über¬
zeugen. Er scheint in seinen harten Konturen für
ein buntes Fenster gedacht; dann fehlt es an den
Farben, die keine Leuchtkraft haben. Ist das Bild als
Wandfülhmg gedacht, so wäre ein neues Beispiel des
Fresko auf Leinwand gegeben; das Beginnen wäre
unsinnig und formfremd im Prinzip. Pflichtschuldigst
verschweigt der Katalog alle wissenswerte Erläute¬
rung. Einige hübsche Kleinigkeiten findet man von
E. Kceidolf.
Signorina Emma Ciardi von Venezia läßt auf an¬
mutige Art die Zeit des Rokoko wieder auferstehen.
Sie hat Phantasie und Farbensinn, in ihrer Vereinigung
heute selten gewordene Eigenschaften. Segantini
scheint in seiner Art das letzte gesagt zu haben.
Im italienischen Hauptsaal wimmelt es von schwachen
Reminiszenzen.
Im französischen Saal sind viele geschickte Arbeiten.
Gehaltvoll, kräftig und anmutig zugleich ist das
Damenbildnis Blanches. Der Maßstab, den dieses
farbschöne, bedeutende Stück gibt, an die Bilder der
Ausstellung angelegt, würde zu beschämenden Resul¬
taten führen. Das Bild ist fertig, hat Raum und
köstliches Licht, das die schwarze Bluse des Mäd¬
chens belebt und auf dem Silberflitter ihres Rockes
spielt, hat Geschmack und Anmut. Es ist das Werk
eines feinen, bewußten Künstlers, in dem die Grazie
der Pariser Welt lebt, ohne daß er sie äußerlich
faßte, denn er ist kernig zugleich. Sehr hübsch ist
ein Porträtstück des delikaten Aman Jean im selben
Saal. Das Gros der französischen Arbeiten verleugnet
die großen Maler der Wiedergeburt völlig und kann
ebensogut in Berlin oder Wien oder München gemalt
sein. Auch Frankreichs Kunst hat heute ihre nationale
Eigenart verloren.
Die Engländer sind die einzigen, die geschlossen,
national eigentümlich erscheinen. Das Abgeklärte,
vornehm Ruhige der englischen Stadt, der Landschaft,
der Gesellschaft auch hier. Nichts Brutales, nichts
Aufdringliches, Grelles. Dabei nichts besonders
Gutes. Im Figürlichen Reminiszenzen an die Prä-
raffaeliten und die gewohnten Landschaften mit dem
Stich ins Langweilige. Mit gutem Verständnis für
Whistlers Werte ist ein Damenbildnis in Rosa mit
silbergrauen Tönen von George Sanier.
Der ungarische Staat hat einige vortreffliche Kopf¬
studien Ähinkacsys geliehen.
Es folgt das Kabinett der Polen, in der Dekoration
einer Weinstube untersten Stiles gleichend. Dem
Geschmack entsprechend das Ausgestellte.
Das beste Kunstwerk im folgenden Saal der Böhmen
ist ein alter Silberbrokat, der als Rahmen um ein
Bild gespannt ist.
Unbarmherzig mit den Sehnerven normaler Men¬
schen verfahren die Gruppen der deutschen Aus¬
steller Österreichs. Ein Licht, das man nur mit
blauer Brille vertragen kann, schafft die Sezession.
Soll schon ein Wohnraum, für den doch die aus¬
gestellten Zimmerbilder bestimmt sind, geschaffen
werden, so mag mau ihn auch mit dem für ständigen
Aufenthalt passenden Licht ausstatten. Das feinste
Stück im Saal ist Hohenbergers Chinesin. Es ist
Ausdruck einer farbigen Kultur.
Die Wiener Künstlergenossenschaft und der Hagen-
bund muten dem Beschauer aufdringliche gedanken¬
lose Teppiche zu. In der erstgenannten Gruppe ver¬
derben sie nichts, während sie in den Hagenbund-
zimmern Walter Hampels delikate Stücke schädigen.
Seine Temperabilder sind voll Geschmack und treff¬
licher Beobachtung. Die Themen sind völlig ver¬
schieden. Das Hauptstück stellt eine Dame Mlle.
Tanguay beim Vortrag dar. Der Ausdruck ist lebendig,
die Bewegung vorzüglich gesehen, im Stofflichen eine
Delikatesse, ein Farbgeschmack, eine Zartheit, die
entzückt. Ausgezeichnet beobachtet ist auch die
Cake- Walk- Bewegung der creolischen Chansonette,
witzig ist ihr Gesichtsausdruck, vollendet geschmack¬
voll die Farbenstimmung. Dabei alle Bilder Hampels
anspruchslos, aus dem Vollen geschaffen.
Der schlechte Geschmack in allen Nuancen wird
in den norwegischen, schwedischen, belgischen und
holländischen Sälen auf seine Rechnung kommen;
der gute, trotz drückender Überfüllung, nur schwer.
Auch wer in Spanien etwas leistet, ist der Ausstellung
ferne geblieben.
Teilnahmslos wandelt man durch die ersten Säle
der Deutschen. Ein gutes Bildnis der Freifrau
Celestine von der tleydte ist mir aufgefallen.
Den Ehrenplatz im Flauptsaal nimmt Franz Stuck
mit wertlosen Stücken ein. Rechts davon ist ein
malerisch anregendes großes Frauenporträt von K'drr,
daneben eines von den bekannten stimmungsvollen
Landschaftsbildern Toni Stadlers. Schade, daß dieser
liebenswürdige Künstler auf das Komponieren seiner
Bilder verzichtet. Die Himmel sind zu hoch, die
Abschnitte nach den Seiten willkürlich.
Als Lichtstudie sehr vorzüglich sind Landenbergers
Badende Jungen in der Mittagssonne, aber doch nur
als Studie, denn als Bild kann man die Arbeit nicht
gelten lassen, die auf sehr entfernte Position erst
verständlich wird und dann wieder schlechten oberen
Abschluß hat. Freiherr von Habermann weiß mit
DIE INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG IN MÜNCHEN
325
seinem wohl überall gekannten, stets selben Modell
immer wieder zu interessieren. Diesmal ist die Dame
scheinbar durch eine Gesichtsoperation entstellt. Wie
Befreiung wirkt es, daß der geschmackvolle Farben¬
künstler in einer kleinen Gartenstudie den Beweis
eines bisher unausgenützten Könnens gibt. Angenehme
Malereien von Zumbusch und Hengeler, welch letzterer
in seiner Art recht hübsch zu erzählen weiß, sind
noch im Saal.
Ein Reitersmann von Christian Speyer hat male¬
rische Qualität. Doch kann ich mir ein längeres
Zusammensein mit so großen Figuren in engem
Rahmen eingezwängt, die auf den Beschauer losmar¬
schieren, nicht vorstellen.
Angela Jank ist in seinem beschränkten Gebiet
sehr geschickt. Leider sagt er Dinge, die sich auf
kleinem Raum recht gut ausdrücken ließen, auf vielen
Quadratmeter großen Flächen. Zwei beachtenswerte
Porträtstücke von Weisgerber sind das Beste im
nächsten Saal.
Eine beneidenswerte Stellung im Münchener Kunst¬
leben haben sich die Mitglieder der Scholle mit
ihren Skizzen errungen. Zur größten Überraschung
hält es der Staat für nötig, seine überfüllte neue
Pinakothek mit riesengroßen Skizzen von Münzer
und Leo Putz zu versehen. Ich bin der letzte, der
solchen Stücken künstlerischen Gehalt abspricht, aber
es ist Illustrationskunst, die nun zu Bildern vergrößert
wird. Dabei in einem Zustand der Unfertigkeit, der
sie von einer großen Ausstellung ausschließen müßte.
Auch ist diese Art von Malerei nur im künstlich
hellem Licht des Ausstellungssales möglich. Man
wird das Fiasko bei der Aufstellung in der Pinakothek
erleben. Unverständlich auch ist, warum der Staat
sich eines von Sambergers unfertigen, aufgeregten
Porträtstücken erwarb. Ist die Reue über den An¬
kauf der Kohlezeichnungen — Porträts der Münche¬
ner Künstler, — die heute im Kupferstichkabinett
verstimmen, noch nicht aufgegangen?
An Walter Geffkens Gruppenbild der Kunstkenner
hängt gute, ehrliche Arbeit. Schade, daß man sie
noch sieht. Vom selben Maler findet man in einem
anderen Saal eine seiner geschmackvollen Bieder¬
meierszenen »Die Visite«. Nicht weit davon entfernt
ein reizendes kleines Mädchenköpfchen von Karl Marr.
A. Heller schafft angenehme Frauenbilder mit Sinn
für Eleganz und Stofflichkeit. Besonders hübsch liegt
der rosa Schal auf der steifen, grünen Seide in einem
Bild. Bemerkenswerte vornehme Anlagen hat das
Porträtstück A. Sterners. Die Bildnisgruppe, der
Knabe mit dem Windhund, ist wohl geglückt, aber
in der Landschaft ist zu viel verschwiegen.
Freier und eindringlich ist das Porträt eines jungen
Menschen von Carl Bios.
Alles in allem gibt es einige geschickte Porträtisten,
Leute, die beachtenswerte Skizzen arbeiten, aber niemand,
der große Gedanken künstlerisch umsetzen kann.
Unsere Zeit der Hochkultur ist so unverständlich be¬
scheiden in künstlerischen Dingen. Die wenigen, die
etwas können, sind in ihrem Stoff aufs engste be¬
schränkt. Der eine malt immer dieselbe Frau seit
Jahrzehnten, der andere nur badende Buben in der
Sonne, der dritte nur Jagdszenen, ein vierter nur
Schafe und so fort. Drum wirken Hengelers Kleinig¬
keiten erfreulich, weil Gedanken so selten geworden
sind. Man rüstet sich in Berlin, das Beste aus der
Kunst des verflossenen Jahrhunderts in einer Aus¬
stellung zu vereinigen. Unsere zeitgenössischen Maler
werden große Augen machen, wenn sie sehen, daß
ihr Können verschwindend ist gegen das der Meister
der Altmünchener Schule. Sie werden erstaunt sein,
wie vielseitig diese Maler waren, wie sie nimmermüde
immer wieder neues lernten. Nur die Beschränkung
ist fortgeschritten und der Maßstab des Publikums
ist bescheidener geworden. Möge die Jahrhundert-
aussteliung Begriffe davon wiedergeben, was von einem
Bilde zu verlangen ist. Möge sie wieder lehren,
was Komposition ist, die natürlich bleibt. Möge sie
scheiden lernen zwischen Dekoration, Illustration und
Bildkunst. Und dann sollten Künstler kommen, die
wieder Bilder malen.
ALBERT STERNER, MÜNCHEN.
KNABENBILDNIS
INTERNATIONALE
KUNSTAUSSTELLUNG
Zeitschrift für bildende Kunst. N. E. XVI. H. 12
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MAX KLINGER. BRANDES. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO
VILLA ROMANA
DIE KÜNSTLERKOLONIE VILLA ROMANA IN FLORENZ
Als bei der Eröffnung der Ausstellung des Deut¬
schen Künstlerbundes in Berlin am 19. Mai be¬
kannt gegeben wurde, daß am 4. April die
Villa Romana in Florenz erworben worden sei, um
Künstlern deutscher Zunge eine sorgenfreie Arbeits¬
stätte zu bieten, fand diese Verwirklichung eines schon
lange angeregten Planes unter vielen Künstlern und
Kunstfreunden begeisterte Zustimmung. Man em¬
pfand, daß der in hartem Kampf geborene Künstler¬
bund damit einen Schritt weit hinaus über den
Parteistreit getan habe und hörte, daß es sich um
eine Einrichtung handelt, die dem Talente nutzen
will, gleichviel welcher Richtung der Kunst es ange¬
hören mag. Den tüchtigen Künstlern, den strebenden
jungen, die sich ausgezeichnet haben, und den be¬
währten älteren soll diese erste deutsche Kunstheimstätte
auf italienischem Boden in gleichem Maße dienen, —
dienen zu ihren Studien und zu innerlicher Kräftigung,
in einer Umgebung von Natur und Kunst, wie sie
reicher nirgends wieder anzutreffen ist, als eben in
Florenz. Kein akademischer Zwang soll den Sti¬
pendiaten des Deutschen Künstlerbundes Ziel und
Richtung ihrer Arbeit vorschreiben: aus eigenem sollen
sie frei schaffen und treiben, wozu Neigung und Be¬
gabung sie drängen. Denn aus denen, die über die
Alpen pilgern werden, sollen keine Romanisten wer¬
den, die ihre deutsche Art im Studium italienischer
Kunst aufgeben, sondern wir wünschen, daß ihr Selbst¬
gefühl gesteigert, ihre Natur gestählt werde in der
freieren Entfaltung ihrer Kräfte und im Zusammen¬
leben mit anderen Künstlern.
In dem Schreiben, mit dem sich der Gesamt¬
vorstand des deutschen Künstlerbundes an die För¬
derer des Unternehmens wendet, heißt es: »Weder
Alter, Richtung noch Lebenslage, sondern Talent
und Arbeitskraft sollen für die Stipendiaten des
Deutschen Künstlerbundes maßgebend sein. Weder
eine Schule für Unreife, noch eine Versorgungs¬
anstalt für Unbemittelte wollen wir schaffen. Wir
wollen vielmehr jüngeren, noch mit sich und dem
Leben ringenden Künstlern eine Zeit ruhiger, sor¬
genfreier Arbeit ermöglichen . . . Wir wollen aber
auch den fertigen älteren Künstlern eine Zeit der
Arbeit und Kräftigung an der Kunst und Landschaft
Italiens bieten: als Auszeichnung für hervorragende
Leistungen auf den Ausstellungen des Deutschen
Künstlerbundes soll ihnen die Benutzung der Villa
Romana ermöglicht werden.«
Die jeweilige Jury des Künstlerbundes verteilt als
Ehrung an Stelle der bei offiziellen Kunstausstellungen
üblichen Medaillen einige Ateliers mit Wohnung in
der Villa Romana. In diesem Jahre hat sie Th. Th.
Heine, Gustav Klhnt und Ulrich Hübner auf diese
Weise ausgezeichnet, während der engere Vorstand
des deutschen Künstlerbundes noch an Henry van de
Velde, Georg Kolbe, Fritz Erter und Richard Tuch
Plätze in der Villa Romana vergeben hat.
Allein aus diesen Wahlen sehr verschiedenartiger
Künstler geht zur Genüge hervor, daß nur künst¬
lerische Rücksichten bestimmend waren, und wer nur
etwas von den Arbeiten und dem Charakter der ge¬
nannten Künstler weiß, wird nicht die Befürchtung
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DIE KÜNSTLERKOLONIE VILLA ROMANA IN FLORENZ
hegen, daß sie uns italienisch oder klassiziert aus
Italien wiederkommen werden. Gewiß wird es immer
Leute geben, die nicht begreifen werden, warum das
Institut gerade in Florenz seinen Platz haben soll.
Sie fürchten, es könnte die zarte Blüte moderner Kunst
im Kontakt mit den »Alten« Schaden nehmen und es
möchte die Würze heimisch deutscher Art verloren
gehen unter der Sonne Italiens. Viel lieber wäre
diesen patriotischen Greinern irgend ein Idyll im
deutschen Süden oder Norden oder wenn sie inter¬
national denken, ein Haus in Paris oder London in¬
mitten weltstädtischer Unrast.
Aber wir wüßten nicht, welche bessere Wahl der
Künstlerbund fürs erste hätte treffen können. Florenz
bietet, ganz abgesehen von seiner Kunst und der herr¬
lichen Lage, so viel günstige Bedingungen zur Er¬
richtung eines solchen Instituts, daß kaum — selbst in
Italien — eine andere Stadt in Betracht kommen könnte.
Es gibt Leute, die die ganze Unternehmung für
überflüssig halten und sich wohl auch zu der Be¬
hauptung versteigen, daß es eine Versündigung an
der -Eigenart« eines Künstlers wäre, wenn man ihn
verführe oder zwänge, nacli Italien zu gehen, während
ihm vielleicht ein Aufenthaft in Kanada oder in den
nordischen Fjorden viel sympathischer wäre. Wer
aber das Stipendiat, das als Ehrung verteilt wird,
nicht ausüben will, soll nach dem Statut berechtigt
sein, nach seiner Wahl einen anderen Künstler dafür
vorzuschlagen. Es wird also niemand gezwungen,
wenn es ihm gegen die Natur ist, nach Italien zu
gehen. Solche Käuze, denen vor einem Besuch Italiens
graut, mag es ja geben; aber für jeden Geschmack
kann und will der Künstlerbund auch nicht sorgen.
Es ist wohl noch von vorwiegend praktisch denken¬
den Künstlern angeregt worden, lieber den von der
Jury prämiierten Künstlern Arbeiten abzukaufen, als
Gelder für eine Gründung aufzubringen, die doch
nur wenigen nutzen kann. Aber mit diesen und ähn¬
lichen »praktischen« Erwägungen fallen wir auf den
platten Boden mehr geschäftlicher als idealer Inter¬
essen. Wir wissen, daß es unter den besten unserer
Künstlerschaft viele gibt, die beglückt sein würden,
wenn auf sie die Künstlerehrung eines Stipendiums in
der Villa Romana fiele. Welche Lust, einmal hinaus
zu können aus dem Zwang aller Tage, um an einer
Stätte, die noch jedes Auge, das darauf fiel, entzückte,
nach freier Wahl Lieblingsgedanken verfolgen und
gestalten zu können! Und wer da weiß, welcher Un¬
fug mit falsch verteilten Stipendien nach Italien aus
privaten und öffentlichen Mitteln getrieben worden
ist und noch immer getrieben wird, der wird es
dankbar begrüßen, wenn die Jury und der Vorstand
des Deutschen Künstlerbundes sich bemühen, daß
eingedenk des idealen Zweckes die Stipendien in die
Hände solcher gelangen, die es kraft ihres Talentes
und ihrer Arbeitslust auch verdienen.
Die Villa Romana ist ein in den sechziger Jahren
gebautes Haus, das vierzig Räume faßt. Sie liegt
wenige Minuten vor der Porta Romana an der Via
Senese so hoch, daß sie über weiten Gärten das
ganze alte Florenz mit Fiesoie und den Apenninen
dahinter überschauen läßt. Von dem zur Villa ge¬
hörenden Gelände sind zunächst 13000 Quadratmeter
mit angekauft worden, aber da Erweiterungen der
Baulichkeiten geplant sind, wird es sich empfehlen,
auf eine Vergrößerung des Areals Bedacht zu nehmen.
Ausfindig gemacht hat diesen entzückenden Fleck
Erde Dr. Hartwig, und die Ankaufsbedingungen lagen
so günstig, daß sich die ersten Förderer der Idee,
Max Klinger und Georg Hirzel, schnell zum Ankauf
der Villa für den Künstlerbund entschlossen hatten.
Hoffentlich gelingt es bald, das schöne Unter¬
nehmen so finanziell zu stützen, daß seine Entwicke¬
lung für alle Zukunft gesichert erscheint!
VILLA ROMANA
MAX LIEBERMANN. BIERQARTEN. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO
OTTO HETTNER, BERLIN IDYLL. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG
WALTER CONZ, KARLSRUHE. DER HOFOARTEN. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG
CARL STRATHMANN, MÜNCHEN. VOLKSAUFLAUF. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO
THEODOR HAGEN, WEIMAR. LANDSCHAFT. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO
HEINRICH HÜBNER, BERLIN. INTERIEUR. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG
THEO VON BROKHUSEN, BERLIN. LANDSCHAFT. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO
ULRICH HÜBNER, BERLIN. DIE HEILIGE OEISTKIRCHE IN POTSDAM. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI. H. 12
44
HERMANN HAHN,
MÜNCHEN.
BILDNISHERME.
KÜNSTLERBLIND-
AUSSTELLUNO
THEODOR HUMMEL, BERLIN. AM HAFENPLATZ. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG
44
REINHOLD LEPSIUS, BERLIN. BILDNIS DES PROE. DILTHEY. KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNQ
■
ANDREAS DIRKS, DÜSSELDORF. MARINE, KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUN O
HEINE RATH, BERLIN. SCHWEDISCHES INTERIEUR. KÜNSTLERRUNDAUSSTELI UNO
CHRISTIAN SPEYER, STUTTGART. REITER MIT HUND. INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG MÜNCHEN
LEO PUTZ, MÜNCHEN. HINTER DEN KULISSEN. INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG MÜNCHEN
WALTER GEFFCKEN, MÜNCHEN. GRUPPENBILDNIS. INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG, MÜNCHEN
EMMA CIARDI, VENEDIG. DIE SÄNFTE. INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG MÜNCHEN
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., g. m. b. h., Leipzig
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ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQ05
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WALTER HAMPEL-WIEN. PORTRAT DER M'-i-k- TANOAY
(INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG MÜNCHEN)
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