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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR 

BILDENDE  KUNST 

MIT  DEN  BEIBLÄTTERN 

KUNSTCHRONIK  UND  KUNSTMARKT 


NEUE  EOLGE 

SECHZEHNTER  JAHRGANG 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  E.  A.  SEEMANN 


1905 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi40unse 


Inhalt  des  sechzehnten  Jahrgangs 


Seite 

Aufsätze  über  moderne  Kunst 
Klingens  Dramagruppe.  Von  Georg  Treu.  Mit  i  Licht¬ 


druck  und  5  Abbildungen  i 

Max  Klingens  dekorative  Malereien  in  der  Villa  Albers 
in  Steglitz.  Von  F.  Becker.  Mit  i  Dreifarbendruck 

und  7  Abbildungen .  8 

Käthe  Kollwitz.  Von  Werner  Weisbach.  Mit  i  Ori¬ 
ginalradierung,  2  Lichtdrucken  und  6  Abbildungen  85 
Bruno  Liljefors.  Von  Tor  Hedberg.  Mit  2  Dreifarben¬ 


drucken  und  2  Abbildungen . 116 

Franz  von  Lenbach.  Eine  Gedächtnisrede.  Von  Theodor 

Schreiber.  Mit  5  Abbildungen . 127 

Eugene  Laermans.  Von  Robert  Breuer.  Mit  1  Ori¬ 
ginalradierung  und  3  Abbildungen  ......  145 

Neue  Schweizer  Kunst.  Von  Hermann  Kesser.  Mit 

8  Abbildungen . 14g 

Jules  Dalou  und  sein  Denkmal  der  Arbeit.  Von  Kurl 

Eugen  Schmidt.  Mit  18  Abbildungen . 158 

Eugen  Bejot.  Von  August  Marguillier.  Mit  1  Ori¬ 
ginalradierung  und  3  Abbildungen . 171 

Weltkunst.  Der  dänische  Maler  Vilhelm  Hammershöi. 

Von  Alfred  Bramsen.  Mit  1  Dreifarbendruck  und 

11  Abbildungen . 177 

Constantin  Meunier  f-  Von  Henri  Hymans.  Mit 
1  Originalholzschnitt,  1  Heliogravüre  und  11  Ab¬ 
bildungen  . 205 

Woldemar  Hottenroth.  Von  J.  E.  H.  Mit  6  Abbil¬ 
dungen  . 223 

Otto  Wagners  moderne  Kirche.  Von  Ludwig  Hevesi. 

Mit  1  Abbildung . 236 

Valentin  Ruths.  Von  H.  E.  Wallsee.  Mit  4  Abbil¬ 
dungen  . 243 

Friedrich  Drake.  Erinnerungen  zu  seinem  100.  Ge¬ 
burtstage.  Von  Paul  Meyerheim.  Mit  5  Abbil¬ 
dungen  . 257 

Bernhard  Hötger.  Von  K.  E.  Schmidt.  Mit  9  Ab¬ 
bildungen  . 277 

Das  Leipziger  Ratsbild.  Von  Theodor  Schreiber.  Mit 

1  Abbildung . 284 

Domenico  Morelli.  Von  Arnold  Ruesch.  Mit  7  Ab¬ 
bildungen  . 285 


Seite 


Forschungen  zur  älteren  Kunstgesehichte 

Vergessene  und  neuentdeckte  Bilder  von  Gains- 
borough.  Von  Gustav  Pauli  und  Konrad  Lange. 

Mit  1  Heliogravüre  in  6  Abbildungen .  14 

Sigilgaita  und  die  Flachbilder  der  Kanzel  von  Ravello. 

Von  Wilhelm  Rolfs.  Mit  4  Abbildungen  ....  93 

Neue  Forschungen  über  italienische  Renaissance¬ 
bronzen.  Von  W.  Bode.  Mit  4  Abbildungen  .  .  122 

Die  Giebelzeichnung  vom  Heidelberger  Ottoheinrichs- 
bau  im  Wetzlarer  Skizzenbuch.  Eine  Entgegnung. 

Von  A.  von  Oechelhaeuser.  Mit  1  Lichtdruck  .  .  137 

Die  Wiedergabe  griechischer  Kunstwerke  durch  Bild¬ 
hauer  des  römischen  Trevererlandes.  Von  Hans 

Graeven.  Mit  5  Abbildungen  . . 165 

Die  Echtheit  der  »Wetzlarer«  Zeichnung  des  Otto- 
Heinrichbau-Giebels.  Von  Albrecht  Haupt  .  .  .  170 

Das  Winckelmannporträt  von  Anton  Raphael  Mengs. 

VonJuliusBrann.  Miti  Heliogravüren. 2  Abbildungen  173 
Bemerkungen  über  einige  Meisterwerke.  Von  Wilhelm 

Suida.  Mit  1  Abbildung . 190 

Die  Wiederherstellung  des  päpstlichen  Palastes  in 
VM&xho.  Von  Eederico  Hermanin.  Mit  3  Abbildungen  192 
Ein  Handbuch  der  bürgerlichen  Baukunst  in  Frank¬ 
reich.  Von  H.  Bergner.  Mit  6  Abbildungen  .  .  195 

Kritik  und  Chronologie  der  Gemälde  von  Peter  Paul 

Rubens.  Von  W.  Bode . 200 

Eine  Komposition  von  Giovanni  Bellini.  Von  Ph.  M. 

Halm.  Mit  5  Abbildungen . 238 

Die  romanischen  Wandmalereien  der  Rheinlande.  Von 

Paul  Weber.  Mit  4  Abbildungen . 249 

Der  neue  Rembrandt  im  Städelschen  Kunstinstitut. 

Von  Ludwig  Jiisti.  Mit  2  Heliogravüren  ....  253 
Eine  Variante  des  Marienbildes  bei  Sir  F.  Cook  in 
Richmond,  in  Petersburger  Privatbesitz.  Von  A. 

Neustroieff.  Mit  1  Abbildung . 292 

Tizians  Bildnis  des  Pietro  Aretino  in  London.  Von 

Georg  Gronau.  Mit  1  Abbildung . 294 

Neuere  Erwerbungen  vlämischer  Kunst  in  der  Galerie 
zu  Brüssel.  Von  Emil  Jacobsen.  Mit  7  Abbildungen  297 
Die  neue  Grünewald-Monographie.  Von  Eritz  Baum¬ 
garten  . 307 


IV 


INHALTSVERZEICHNIS 


Seite 

Ausstellungen,  Sammlungen  und  Stiftungen 


Das  Kaiser- Friedrich- Museum  zu  Berlin.  Erläutert 
in  Gemeinschaft  mit  Adolph  Goldschmidt,  Ludwig 
Justi  und  Paul  Schiibritig  von  Paul  deinen.  Mit 
2  Originalradierungen,  5  Dreifarbendrucken  und 

30  Abbildungen . 25 

Die  Ausstellungen  alter  sienesischer  Kunst  in  London 
und'ixem..  Von  Louise  M.  Richter.  Mit  12  Abbildungen  99 
Das  Wallace-Museum  in  London.  Von  J.  Paul  Richter. 

Mit  7  Abbildungen . 215 

Ausstellung  von  Werken  Karl  Zieglers  im  Kaiser- 
Friedrich -Museum  zu  Posen.  Von  Ludwig  Kaeni- 

merer.  Mit  9  Abbildungen . 229 

Die  Galerie  Speck  von  Sternburg.  Von  Felix  Becker. 

Mit  13  Abbildungen . 263 


Seite 

Die  Ausstellung  von  Werken  deutscher  Landschafter 
in  Berlin.  Von  Walther  Gensei.  Mit  30  Abbildungen  309 
Die  internationale  Kunstausstellung  in  München.  Von 

L.  von  Biierkel.  Mit  5  Abbildungen . 323 

Die  Künstlerkolonie  Villa  Romana  in  Florenz.  Von 

R.  G.  Mit  2  Abbildungen . 

Die  zweite  Ausstellung  des  Deutschen  Künstlerbundes 
in  1  Dreifarbendruck  und  15  Abbildungen  .  .  . 

Biographisches 

Nekrolog  für  Ernst  Arthur  Seemann.  Von  G.  K-  Mit 


1  Abbildung . 25 

Ein  Heldenleben.  Von  Hans  Mackowsky  ...  109 

Zum  Tode  Menzels.  Mit  1  Abbildung  und  1  Drei¬ 
farbendruck  .  144 


Kunstbeilagen 


Seite 

Eugen  Bejot,  An  der  Themse.  Originalradierung  zu  172 
/.  Beiirdeley,  Wäscherinnen.  Originalradierung  .  zu  109 
Margarete  Braumiiller-Haveniann,  Flatternde  Win¬ 
deln.  Originalholzschnitt . zu  108 

Anna  Costenoble,  Sturm.  Originalradierung  .  .  zu  308 

Lukas  Cranach,  Ruhe  auf  der  Flucht.  Dreifarben¬ 
druck  . zu  64 

Donatello,  Engel  vom  Taufbrunnen  in  Siena.  Ra¬ 
dierung  von  Peter  Halm . zu  56 

/.  V.  Diitczyiiska,  Originalholzschnitt . zu  276 

[an  van  Eyck,  Der  Mann  mit  den  Nelken.  Drei¬ 
farbendruck  . zu  84 

Gainsboroiigh,  Georg  III.  und  sein  Hof.  Helio¬ 
gravüre  . zu  16 

H.  V.  d.  Goes,  Anbetung.  Dreifarbendruck  .  .  zu  48 

V.  Haniniershöi,  Stille  Stunden.  Dreifarbendruck  zu  180 
Walther  Hampel,  Bildnis  der  M>ie.  Tanguay.  Drei¬ 
farbendruck  .  zu  340 

Max  Heilmann,  Vor  dtr  K\rcW.  Originalradierung  zu  252 
Gustav  Klimt,  Bildnis.  Dreifarbendruck  ...  zu  309 
Max  Klinger,  Das  Drama.  Lichtdruck  ....  zu  1 
Max  Klinger,  ln  der  Brandung.  Dreifarbendruck  zu  8 
Karl  Köpping,  Radierung  nach  Jan  van  Beers  zu  204 
Käthe  Kollwitz,  Am  Parktor.  Originalradierung  zu  85 


Seite 

Käthe  Kollwitz,  Entwurf  der  Radierung  »Bauern¬ 


aufstand«.  Lichtdruck . zu  88 

Eugene  Laernians,  Sonnenuntergang.  Original¬ 
radierung  .  zu  145 


Bruno  Liljefors,  Junge  Möwen.  Dreifarbendruck  zu  116 
Bruno  Liljefors,  Sonnenaufgang.  Dreifarbendruck  zu  121 
Raphael  Mengs,  Bildnis  Winckelmanns.  Helio¬ 


gravüre .  zu  173 

Adolph  von  Menzel,  König  Wilhelms  Abreise  zur 

Armee.  Dreifarbendruck . zu  144 

Constantin  Meiinier,  Studie.  Heliogravüre  .  .  zu  212 

Hans  Neumann  Jr.,  Originalholzschnitt  ....  zu  229 
Giebel  des  Ottheinrichbaues.  Lichtdruck  aus  dem 

Wetzlarer  Skizzenbuch . zu  137 

Rembrandt,  Triumph  der  Dalila.  2  Heliogravüren  zu  253 
Antonio  Rossellino,  Knabenbüste.  Radierung  von 

Albert  Krüger . zu  27 

Jakob  Riiisdael,  Blick  auf  Harlem.  Dreifarbendruck  zu  72 
Martin  Schoiigaiier,  Die  Anbetung.  Dreifarben¬ 
druck  . zu  40 

Marie  Stein,  Bildnis.  Originalradierung  ...  zu  24 
Canalegrande.  Originalradierung  zu  285 
Pierre  Vibert,  Constantin  Meunier.  Originalholz¬ 
schnitt  .  zu  205 


ZEITSCHRIFI  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI 


MAX  KLINOER.  DAS  DRAMA 


M.  KLINQER,  STEGLITZER  VILLA,  FRIESBILD  ÜBER  DEM  KAMIN  (HAMBURG,  KUNSTHALLE) 


KLINOERS  DRAMAORUPPE 

Von  Georg  Treu 


Am  31.  Juli  1904  hat  Max  Klinger  nach  sechs¬ 
jähriger  Arbeit  eine  Kolossalgruppe  in  Marmor 
vollendet,  die  er  »Drama«  nennt.  Bestellerin 
des  Werkes  ist  die  Dresdener  Tiedgestiftung,  nach 
deren  Wunsch  es  dereinst  in  der  Skulpturensamm¬ 
lung  des  Albertinums  seinen  Platz  finden  soll.  Vor¬ 
her  aber  wird  die  Gruppe  der  Öffentlichkeit  zuerst 
in  der  Dresdener  Großen  Kunstausstellung  zugänglich 
gemacht  werden. 

Vielleicht  ist  der  Augenblick,  in  dem  diese  neue 
Schöpfung  Klingers  aus  der  Stille  der  Werkstatt  in 
den  Streit  der  Meinungen  hinaustritt,  am  geeignetsten 
dazu,  die  äußere  und  innere  Geschichte  der  Gruppe 
zu  erzählen.  Kenntnis  der  Eindrücke  und  Gedanken, 
Erfahrungen  und  Absichten  des  Künstlers  selbst 
pflegen  ja  doch  am  ehesten  zu  teilnehmender  und 
verständnisvoller  Freude  an  seiner  Schöpfung  anzu¬ 
regen. 

fk  * 

Sk 

Den  ersten  Anlaß  zur  Entstehung  des  Werkes 
gab  ein  starker  Natureindruck:  der  Anblick  eines  her¬ 
vorragend  schönen  Athletenkörpers.  Über  diese  Schön¬ 
heit  zu  urteilen,  vergönnt  uns  der  Künstler  durch 
eine  Aufnahme,  die  das  Urbild  neben  das  Nach¬ 
bild  stellt  (Abb.  S.  7). 

Die  Pracht  dieser  Schultern  und  Arme  mit  dem 
von  der  Anstrengung  bis  zum  Platzen  gefüllten  Adern¬ 
geflecht  darüber,  die  Wucht  des  zusammengekrümmten 
Rumpfes,  die  in  höchster  Kraftanspannung  gestreckten 
Beine,  die  ausdrucksvoll  klammernden  Finger  und 
Zehen,  kurz  die  ganze  Flerrlichkeit  dieses  durchge¬ 
bildeten  Athletenkörpers,  sie  war  es,  die  den  Künstler 
gerade  zum  plastischen  Nachschaffen  »des  schönen 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  i 


Körpers  in  schönem  Stein«  hinriß,  ja  zu  einer  Dar¬ 
stellung  in  überlebensgroßem  Maßstab  drängte. 

Diesem  klaren  Muskelgefüge  gegenüber,  von  dem 
stete  Übung  jede  Spur  von  trägem  Fett  weggearbeitet 
hat,  kommen  einem  auch  die  Worte  Klingers  wieder 
in  den  Sinn:  von  der  wunderbaren  Einfachheit  des 
menschlichen  Körpers,  die  keine  Künstelei  dulde,  die 
zur  Einfachheit  zwinge  und  dessen  Nachbildung 
»Kern  und  Mittelpunkt«  aller  Kunst  großen  Stiles  sei. 

Ein  gutes  Glück  fügte  es,  daß  der  Künstler  die 
Arbeit  wiederholt  vor  dem  Urbild  seiner  Hauptgestalt, 
dem  Athleten  Rasso,  aufnehmen  und  monatelang 
durchführen  konnte,  —  freilich  unter  bedeutenden,  der 
Höhe  der  » Artisten «gehälter  entsprechenden  Opfern. 

Übrigens  fand  Klinger  in  seinem  Modell  zugleich 
den  schärfsten  Beurteiler  seiner  Arbeit.  Der  Athlet 
kannte  alle  seine  Muskeln  nach  Lage  und  Form  zu 
gut  auswendig,  um  hier  nicht  jede  Abweichung  so¬ 
gleich  zu  bemerken  und  zu  rügen.  Es  wiederholt 
sich  auf  diese  Weise  die  alte  Erfahrung  aus  helle¬ 
nischer  Welt,  daß  Sports-  und  berufsmäßige  Kenner¬ 
schaft  des  Menschenleibes  seiner  bildnerischen  Dar¬ 
stellung  eine  leidenschaftliche  Teilnahme  entgegen¬ 
zubringen  pflegt.  Dies  allein  erklärt  Art  und  Höhe 
der  antiken  Athletenplastik. 

Auch  bei  unserem  Künstler  galten  Teilnahme  und 
Arbeit  zunächst  dem  schön  durchgebildeten  Körper. 
Bezeichnend  hierfür  ist,  daß  der  Kopf  des  Mannes 
erst  ganz  zuletzt  ausgeführt  wurde. 

Dies  Haupt  ist  eine  ganz  persönliche,  geistreiche 
Schöpfung  Klingers,  die  er  hier  an  die  Stelle  des 
glatten  Schnurrbartgesichtes  seines  Artisten  setzte.  Aus 
den  erregten  Zügen  ließ  er  mißtrauischen  Ingrimm 
und  finstere  Entschlossenheit  blicken.  Auch  hob  er 


1 


Max  KLINGERS  »DRAMA. 


MAX  KLINOERS  »DRAMA. 


4 


KLINGERS  DRAMAGRUPPE 


den  Kopf,  im  Gegensatz  zu  dessen  gesenkter  Haltung 
im  Urbild;  offenbar  wollte  er  hiermit  die  Beziehung 
zu  dem  vorauszusetzenden  Gegner  zum  Ausdruck 
bringen.  Um  seinen  Angreifer  abzuwehren,  bricht 
der  nackte  Riese,  wie  im  Verzweiflungskampf  um 
Tod  und  Leben,  mit  gewaltiger  Kraftanstrengung  sich 
den  starken  Ast  zur  Waffe  vom  Baumstumpf  los. 

Veranlassung,  Art  und  Ziel  dieses  Kampfes  an¬ 
zudeuten  fühlte  der  Künstler  weiter  das  Bedürfnis 
und  fügte  daher,  als  er  vor  fünf  Jahren  gebeten 
wurde,  den  Entwurf  seines  Athleten  für  die  Dresdener 
Kunstausstellung  von  189g  herzugeben,  in  wenig 
Tagen  die  liegende  weibliche  Gestalt  hinzu. 

Zum  Tode  verwundet  hält  das  Weib  einen  der 
Eelszacken  umklammert.  Ihre  Verwundung  war  ur¬ 
sprünglich  durch  einen  Pfeil  angedeutet.  Dieser 
wurde  später  als  zu  aufdringlich  und  spielig  in  der 
Wirkung  weggelassen.  Den  Gedankenkreis  aber,  den 
Klinger  mit  jener  Sterbenden  andeutet,  hat  er  in  der 
Eolge  nur  noch  reicher  ausgestaltet. 

Begebenheiten,  die  um  die  Wende  des  Jahr¬ 
hunderts  unser  Volk  zu  leidenschaftlicher  Teilnahme 
erregten,  spielten  herein.  Sie  waren  es,  die  sich  für 
den  Künstler  in  der  Gestalt  seines  baumausreißenden 
Kämpfers  verkörperten.  Er  wurde  für  ihn  zum  Ver¬ 
treter  des  heldenmütigen  Burenstammes  und  dessen 
Verteidigung  von  Volkstum  und  Heimat,  von  Weib 
und  Kind  gegen  Einbruch  und  Gewalt. 

Eine  Zeitlang  beabsichtigte  Klinger  sogar,  dieser 
Deutung  inschriftlichen  Ausdruck  zu  geben:  BELLI 
BOERORUM  IMAGO  sollte  an  dem  Felsen  einge¬ 
meißelt  zu  lesen  stehen.  Diese  Absicht  wurde  je¬ 
doch  aufgegeben,  um  die  weite  und  dauernde  Ge¬ 
dankenwelt,  die  das  Werk  mit  seiner  ins  Allgemein¬ 
menschliche  erhöhten  Form  anregt,  nicht  auf  den 
zufälligen  Anlaß  seiner  Entstehung  einzuschränken. 

Umfang  und  Gestalt  der  Gruppe  aber  waren  in 
ihrem  ersten  Entwurf  näher  bedingt  durch  die  schräg¬ 
gestellte  Rechtecksform  eines  Marmorblockes,  den 
Klinger  auf  seinen  griechischen  Inselfahrten  durch 
die  Kykladen  auf  Paros  hatte  liegen  sehen. 

Auf  Grund  jenes  Entwurfs,  der  auf  Tafel  4  des 
Schriftchens  über  »Klinger  als  Bildhauer«  wieder¬ 
gegeben  ist,  bestellte  der  leitende  Ausschuß  der 
Tiedgestiftung  bei  Klinger  die  Gruppe  in  Marmor. 

Die  Geschichte  dieses  Auftrages  und  seiner  Aus¬ 
führung  durch  den  Künstler  gehört  zu  sehr  zu  den 
seltenen,  völlig  erfreulichen  Erfahrungen  auf  dem  Ge¬ 
biete  von  Kunstaufträgen  durch  eine  Körperschaft,  als 
daß  ihrer  hier  nicht  mit  warmem  Dank  gedacht 
werden  müßte. 

Der  mit  Klinger  abgeschlossene  Vertrag  enthielt, 
außer  den  notwendigsten  geschäftlichen  Festsetzungen, 
in  bezug  auf  die  Art  der  Ausführung  des  Werkes 
nur  die  sehr  nachahmungswerte  Bestimmung,  daß 
hierfür  lediglich  die  künstlerische  Überzeugung  des 
Schöpfers  der  Gruppe  maßgebend  sein  solle.  Das 
Vertrauen,  das  diese  Worte  eingab,  hat  der  Künstler 
in  reichem  Maße  dadurch  gerechtfertigt,  daß  er  in 
dem  ausgeführten  Werke  nach  Umfang  und  innerem 


Reichtum  der  Kunstform  unvergleichlich  mehr  gab, 
als  er  verheißen. 

Die  Füglichkeit  hierzu  erwuchs  aus  zunächst  sehr 
unwillkommenen  Umständen:  den  Block,  den  Klinger 
anfänglich  für  die  Gruppe  in  Aussicht  genommen, 
fand  er  bei  erneuter  Anwesenheit  in  Paros  zu  Platten 
zersägt.  Zur  Herbeischaffung  eines  neuen  Steines 
war  1899,  dem  Jahre  des  Vertragsabschlusses,  die 
Herbstzeit  allmählich  schon  zu  weit  vorgeschritten, 
um  eine  Verschiffung  des  Blockes  in  den  kleinen 
griechischen  Kai'ks  noch  zu  gestatten.  Gesellschaften, 
die  sich  zur  Gewinnung  von  Marmor  auf  Paros  ge¬ 
bildet  hatten,  waren  an  dem  verkehrten  und  die  Eigen¬ 
tümlichkeit  des  parischen  Steins  verkennenden  Bestre¬ 
ben  gescheitert,  möglichst  Carrara-ähnlichen  »schönen« 
Marmor  zu  finden.  Bruchversuche  an  von  Klinger 
auf  der  Insel  selbst  gewählten  Stellen  blieben  leider 
erfolglos;  den  Leuten  dort  schien  endlich  Geduld 
und  Mut  ausgegangen  zu  sein,  da  sie  nicht  rasch 
genug  Gewinn  sahen.  »Glückliches  Zeitalter  der  Speku¬ 
lation,«  ruft  Klinger  in  einem  seiner  Briefe  aus,  in 
dem  er  aller  der  mißglückten  Versuche  gedachte,  aus 
Griechenland  einen  Block  für  seine  Gruppe  zu  ge¬ 
winnen. 

So  mußte  sich  der  Künstler  denn  zur  Verwendung 
von  Tiroler  Marmor  entschließen.  Ein  glücklicher 
Kauf  in  Laas  sicherte  ihm  einen  Block  von  schönem, 
parosähnlichem  Korn  und  bedeutender  Härte.  Diese 
setzte  zwar  der  Bearbeitung  die  größten  Schwierig¬ 
keiten  entgegen,  verbürgt  dem  Werke  dafür  aber  eine 
um  so  längere  Dauer.  Der  durch  und  durch  ge¬ 
sunde  Stein  klingt  beim  Anschlägen  wie  eine  Glocke. 

Bei  der  Ausmessung  in  der  Werkstatt  stellte  sich 
heraus,  daß  der  über  dreihundert  Zentner  wiegende 
Block  bedeutend  umfangreicher  war,  als  der  ursprüng¬ 
liche  Entwurf  dies  erforderte.  Statt  in  ein  schräggestelltes 
Rechteck  eingeengt  zu  sein,  konnte  die  Gruppe  nun¬ 
mehr  einem  aufrechtstehenden  bequem  eingeordnet 
werden.  Der  Stein  gestattete  sogar,  die  Gestalten  um 
volle  fünfzig  Zentimeter  zu  heben.  Dies  steigerte 
den  Rhythmus  des  Ganzen  außerordentlich  und  sicherte 
ihm  ein  besseres  Gleichgewicht  der  Massen.  Auch 
konnte  der  untere  Umriß  der  sitzenden  Mannesgestalt 
jetzt  in  Augenhöhe  gebracht  werden.  Das  war  für 
den  Künstler  wichtig,  da  ihm  daran  lag,  die  Gestalt 
in  ihrer  Bewegung  besser  zu  verdeutlichen,  als  es 
im  ersten  Entwurf  hatte  geschehen  können.  Beine 
und  Gesäß  wurden  nun  möglichst  vom  Fels  gelöst, 
damit  auf  diese  Weise  klarer  zum  Ausdruck  komme, 
wie  der  Mann  sich  vom  Sitz  hebt,  um  mit  Anstem- 
mung  seiner  ganzen  Körperlast  den  Ast  loszubrechen. 

Zum  Hauptgewinn  wurde  es  dem  Werke  aber, 
daß  der  größere  Block  dem  Künstler  den  Gedanken 
eingab,  noch  eine  dritte  Gestalt  hinzuzufügen  und  so 
die  Gruppe  nach  Form  und  Gedanken  abzurunden. 
Dem  Gewaltmenschen  auf  der  Höhe  des  Steines  setzte 
er  an  dessen  Rückseite  ein  Bild  zartester  Innigkeit 
gegenüber:  eine  Mädchengestalt,  die,  gleichsam  im 
Schutze  des  Felsens  zusammengekauert,  die  Sterbende 
mit  töchterlicher  Zärtlichkeit  auffängt  und  ihr  bang 
tröstende  Worte  zuzuflüstern  scheint. 


MAX  KLINGERS  »DRAMA 


6 


KLINGERS  DRAMAGRUPPE 


So  entstanden  die  beiden,  in  erhabener  Arbeit 
ausgeführten  Sockelgestalten.  Fast  nur  die  Häupter 
ließ  der  Künstler  im  Vollrund  ausladen;  die  Körper 
aber  wahren  den  Zusammenhang  mit  dem  Stein. 
Der  jugendlich  schmiegsame  Leib  der  Sitzenden 
scheint  aus  ihm  herauszuwachsen;  die  Beine  ver¬ 
schwinden,  halb  ausgearbeitet,  im  Fels.  Auch  der 
rechte  Arm  der  liegenden  Frau  wurde  nicht  vom 
Block  gelöst.  Eine  dünne  Marmorwand  ist  zwischen 
Unterarm  und  Fels  stehen  geblieben,  die  in  dem 
doppelten  Seitenlicht,  das  Klinger  für  seine  Gruppe 
wünscht,  einen  weichen  Schimmer  über  die  Brust  der 
Sterbenden  wirft. 

Aber  diese  Steinwüchsigkeit  beschränkt  sich  nicht 
auf  dergleichen  Einzelheiten;  sie  durchdringt  die 
ganze  Körperform  der  Gestalten.  Man  empfindet 
dies  recht,  wenn  man  sie  mit  früheren  Arbeiten  des 
Künstlers,  etwa  mit  den  Sockelfiguren  vom  Christus 
im  Olymp  oder  mit  der  Badenden  vergleicht.  Das 
Modellmäßige  ist  einer  großflächigen  Behandlung  ge¬ 
wichen;  die  Wirklichkeitsnachahmung  im  einzelnen 
hat  einer  plastischen  Objektivität  Platz  gemacht, 
die  doch  wieder  ganz  persönlich  belebte  Natur  gibt. 
Besonders  bezeichnend  sind  hierfür  die  Köpfe  der 
Frauen.  Von  den  Körperformen  rühmte  der  Künstler 
selbst  mit  Recht,  sie  liebevoll  streichelnd,  daß  sie 
das  allseitige  Sonnenlicht  vertrügen  —  seien  sie  doch 
auch  in  solchem  fertig  gemacht. 

Jeder  Zoll  der  Marmoroberfläche  ist  hier  eigen¬ 
händige  Neuarbeit.  Die  ersten  Gipsmodelle  lagen 
schon  während  des  Meißelns  zerbrochen  und  ver¬ 
staubt  im  Winkel. 

Allerdings  brachte  dies  schöpferische  Arbeiten  im 
Stein  neben  den  Freuden  des  Schaffens  auch  Sorgen 
und  Gefahren.  Mit  dem  rechten  Arm  der  Liegenden 
war  der  Künstler  zu  tief  in  den  Stein  geraten.  Er 
habe  hier  nur  noch  Millimeterdicke  zur  Verfügung, 
schrieb  er  einst,  jeder  Meißelschlag  wolle  überlegt 
sein  und  könne  Unheil  bringen.  Sei  das  überwunden, 
so  arbeite  er  sicher  weiter. 

An  der  Sitzenden  vollends  war  kein  Maß  ihres  ur¬ 
sprünglichen  Entwurfs  dasselbe  geblieben.  Die  fort¬ 
schreitende  Arbeit  selbst  ergab  erst  allmählich,  wie 
weit  Leib  und  Beine  aus  dem  Stein  herauszuholen 
und  fertig  zu  meißeln  seien. 

Einen  Augenblick  dachte  Klinger  sogar  daran, 
noch  eine  dritte  weibliche  Gestalt  zur  Linken  des 
Sockels  einzufügen.  Aber  diese  Absicht  gab  er  zu¬ 
gunsten  einer  ausgedehnteren  landschaftlichen  Aus¬ 
gestaltung  des  Felsens  auf  —  wohl  zum  Vorteil  des 
Ganzen. 

Zwar  machte  die  Schichtung  des  Gesteins  viel 
Arbeit,  so  daß  der  Künstler  gelegentlich  äußerte,  er 
wolle  lieber  einen  Figurenteil  meißeln,  als  ein  Stück 
Fels.  Dafür  half  ihm  das  Gestein  aber,  den  Raum 
zwischen  der  oberen  und  den  unteren  Gestalten  zu 
beleben,  ln  den  vorragenden  Baumstümpfen  wurde 
eine  Ausladung  gewonnen,  die  derjenigen  der  beiden 
Frauenköpfe  an  der  Rückseite  entspricht  und  auch  der 
Vorderansicht  das  Gleichgewicht  sichert. 

Kraftvolles  Wurzelgeflecht  greift  weit  über  den 


Stein  aus;  Eppich  wuchert  dazwischen.  In  der  ge¬ 
schmackvollen  Andeutung  dieser  Dinge  kommt  der 
Maler  zu  Wort. 

Für  die  so  viel  mißverstandene  Handlung  der 
Hauptgestalt  aber  ergab  dies  den  Gewinn,  daß  auch 
hierdurch  das  Losreißen  des  Astes  zum  klarsten  Aus¬ 
druck  gebracht  werden  konnte. 

Die  landschaftliche  Stimmung,  die  durch  den  Fels 
und  seine  Höhlungen,  durch  Baum-  und  Pflanzen¬ 
wuchs  in  die  Gruppe  kam,  war  dem  Künstler  als 
solche  willkommen.  Galt  es  doch  den  Heimatsboden 
anzudeuten,  mit  dem  die  drei  Gestalten  verwachsen 
sind  und  den  sie  mit  Einsetzung  ihres  Lebens  ver¬ 
teidigen. 

* 

Den  besten  Standpunkt  für  die  Betrachtung  des 
vollendeten  Werkes  gewinnt  man,  wenn  man  sich 
seiner  rechten  vorderen  Ecke  schräg  gegenüberstellt, 
also  in  der  Ansicht,  die  unsere  Tafel  1  gibt.  Hier 
bauen  sich  die  Massen  am  gleichgewogensten  auf; 
hier  überschneiden  sich  die  Umrisse  des  Mannes  am 
schönsten  zu  dem  Bilde  im  engsten  Raume  zusammen¬ 
gedrängter  und  gegeneinander  gespannter  Kräfte.  Der 
liegende  Frauenleib  wiederholt  die  gestreckte  Linie 
der  Beine  ihres  Verteidigers  in  verstärkendem  Nach¬ 
klang,  ebenso  wie  an  der  Rückseite  der  Gruppe  die 
zweite  Sockelfigur  das  Motiv  der  sitzenden  Haupt¬ 
gestalt  in  reliefmäßiger  Abwandlung  und  gegensätz¬ 
licher  Stimmung  wiederholt. 

Der  Zusammenschluß  der  beiden  Frauengestalten 
enthüllt  sich  dem  Blick  erst,  wenn  man  den  Fels  um¬ 
schritten.  Man  hat  dann  die  beste  Übersicht  des 
Ganzen  vor  der  linken  hinteren  Ecke  der  Gruppe 
(Abb.  S.  5). 

Wer  von  vornherein  der  Meinung  ist,  daß  ein 
Bildwerk  sich  bereits  in  der  Vorderansicht  voll  aus¬ 
sprechen  müsse,  der  mag  die  Ausstattung  der  Rück¬ 
seite  mit  jener  zartempfundenen  Frauengruppe  tadeln. 
Aber  er  wünscht  damit  zugleich  den  Reichtum  gegen¬ 
sätzlicher  Stimmungen  und  Formen  weg,  den  das 
Werk  in  seiner  gegenwärtigen  Ausgestaltung  ein¬ 
schließt.  Ungewürdigt  bliebe  dabei  auch  der  gegen¬ 
ständlich  feine  Zug,  der  die  Frauen  gleichsam  Halt 
und  Schutz  des  Heimatfelsens  suchen  läßt,  dessen 
Gipfel  der  Mann  verteidigt.  Formell  betrachtet  aber 
unterliegen  jene  weiblichen  Gestalten  als  Sockelfiguren 
wohl  überhaupt  ihren  eigenen  Gesetzen.  Und  schlie߬ 
lich  ist  doch  auch  eine  Freigruppe  eben  darum  kein 
Relief,  weil  sie  mehr  zu  geben  hat  als  ein  solches 
und  weil  sie  einen  Formenreichtum  in  sich  birgt,  den 
sie  erst  dem  voll  zu  offenbaren  gewillt  ist,  der  sie 
im  Schauen  umkreist. 

Noch  weniger  vermögen  wir  das  Recht  derjenigen 
anzuerkennen,  die  leidenschaftliche  Bewegung  aus 
dem  Gebiet  des  plastisch  Darstellbaren  überhaupt 
ausschließen  wollen. 

Wir  verstehen  das  Entzücken  nur  zu  sehr,  durch 
das  bedeutende  Meister  in  alter  und  neuer  Zeit  sich 
getrieben  fühlen,  in  freier  und  gesehmackvoller  Nach¬ 
empfindung  den  Kreis  jener  stillen  und  schönen 


KLINGERS  DRAMAGRUPPE 


7 


Stellungen  und  Formen  zu  wiederholen,  die  Antike 
und  Frührenaissance  geschaffen  haben.  Aber  diese 
strengen  oder  anmutigen  Gestalten  vermögen  Stim¬ 
mungen  und  Strebungen  innerlich  stark  erregter  Zeiten 
nicht  voll  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Der  Drang 
solcher  Stimmungen  hat  daher  stets  jenen  eng  um¬ 
schriebenen  Kreis  zu  erweitern,  ja  zu  sprengen  gesucht. 

ln  unserem  Falle  vollends  gilt  es  Gerechtigkeit 
zu  üben  einer  neuschaffenden  Kunst  gegenüber,  die 
auf  ihren  ungebahnten  Wegen  der  Gefahr  des  Irrens 
zwar  leichter  unterliegt,  als  jene,  die  einer  sicheren 
Überlieferung  folgt,  die  dafür  aber  den  Ausblick  in  das 
Land  der  Schönheit  in  ungeahnter  Weise  erweitert. 

Was  sollen  wir  endlich  zu  denen  sagen,  die  für 
den  gewählten  Gegenstand  eine  ausführliche  Wirklich¬ 
keitsdarstellung  verlangen?  Die,  wie  sie  bei  Klingers 
Beethoven  Rock  und  Hose  vermißten,  so  auch  hier 
Schlapphut  und  Flinte  des  Buren  und  den  wollenen 
Unterrock  der  Burenfrau  fordern.  Sollen  denn  unter 
allen  Umständen  Tuch  und  Leder  mehr  gelten  als 
die  ganze  ausdrucksvolle  Herrlichkeit  des  Menschen¬ 
leibes?  Auch  dann  gelten,  wenn,  wie  hier,  ein  Kunst¬ 
werk  durch  seine  gesteigerte  Formenwelt  aus  dem 
Gebiet  zufälliger  Anregungen  und  Nebengedanken 


auf  die  Höhe  allgemein-menschlichen  Mitempfindens 
hinausgehoben  wird? 

Daß  unser  Künstler  ein  solches  Mitkiingen  der 
Empfindung  so  mächtig  zu  erregen  weiß,  wie  kaum 
einer,  ist  ein  Stück  seiner  eigenherrlichen  Größe. 
Seine  Kunst  ist  nicht  eine  Kunst  nur  für  Künstler, 
und  noch  weniger  von  der  Art  derjenigen,  die  aus 
der  Bildhauerei  bloß  geschicktes  und  prächtiges  Zier¬ 
werk  machen  wollen. 

Aber  es  ist  ebensoleicht  zu  sagen,  was  Klingers 
Gruppe  nicht  ist,  als  schwer,  ihre  Eigenart  in  Worten 
auszusprechen.  Es  ist  dies  auch  nicht  vonnöten. 
Denn  das  Werk  läßt  seine  .  Macht  jeden  fühlen,  der 
davor  getreten.  Es  übt  seine  siegreiche  Wirkung 
auch  auf  die,  die  ihm  zunächst  mit  Fragen  und 
Zweifeln  und  Anderswünschen  nahen,  zum  besten 
Beweis  dafür,  daß  der  Genius  sich  mit  dem  neuen 
Werke  auch  neue  Gesetze  schafft. 

So  vertrauen  wir  denn,  daß  Klingers  Dramagruppe 
bestehen  bleiben  werde  im  Streite  der  Meinungen 
und  der  Zeiten.  Daß  das  Werk  mir  ein  Klinger  ist, 
wird  einst  nicht  als  der  geringste  seiner  Vorzüge 
gelten. 

Juist,  August  1904. 


KI-INGER,  STEGLITZER  VILLA,  FRIESBILD  (NATIONALGALERIE,  BERLIN) 


MAX  KLINOERS  DEKORATIVE  MALEREIEN  IN  DER 
VILLA  ALBERS  IN  STEGLITZ 


Max  KLINOERS  Jugendwerk,  der  reiche  künst¬ 
lerische  Ertrag  der  acht  Studienjahre  in  Berlin, 
bedarf  nicht  riickstrahlenden  Glanzes  von  den 
späteren  Meisterwerken  her,  um  Beachtung  und  Bewun¬ 
derung  zu  finden.  Denn  was  der  junge  Künstler  damals 
mit  unerschöpflicher  Inspiration,  mit  überraschender 
Selbständigkeit  und  Produktivität  in  seinen  neun  ersten 
radierten  Eolgen,  in  Einzelblättern,  Zeichnungen  und 
Gemälden  geschaffen  hat,  ist  volle  Geniearbeit,  deren 
beglückende  Schönheiten  jetzt  erst  ihre  Wirkungen 
auf  weitere  Kunstkreise  auszuüben  beginnen.  Als  der 
junge  Meister  1884  nach  Paris  ging,  um  unter  neuen 
Verhältnissen  neue  Kunstbahnen  zu  betreten  und  seine 
ganze  Schaffenslust  und  Schaffenskraft  an  eine  große 
malerische  Aufgabe;  das  Parisurteil,  zu  setzen,  hatte  er 
kurz  vorher  die  ziemlich  umfangreiche  Arbeit  der  deko¬ 
rativen  Malereien  im  Vestibül  einer  Villa  in  Steglitz  für 
einen  Ereund,  den  Juristen  Albers,  vollendet.  Auch 
hier,  wo  die  Bedingungen  der  Innendekoration  es  noch 
besonders  nahelegten,  hatte  er  zur  zyklischen  Anordnung 
gegriffen  und  drei  Darstellungsfolgen  gemalt,  die  in  Geist 
und  Stimmung  mit  den  radierten  Eolgen  die  mannig¬ 
fachsten  und  interessanten  Beziehungen  haben.  Ein 
ungünstiger  Stern  hat  über  dieser  entzückend  heiteren, 
farbenfrohen  und  phantasiereichen  Schöpfung  gewaltet, 
die  noch  deshalb  besonderes  Interesse  erweckt,  weil 
hier  schon  ein  praktisches  Beispiel  zu  Klingers  viel¬ 
erörtertem  Begriff  der  Raumkunst,  das  heißt  der 
Malerei  im  Dienste  der  Innenwirkung  eines  Raumes, 
gegeben  war.  Das  Vestibül  selbst  ist  nur  wenige 
Monate  intakt  geblieben,  da  das  Balkenwerk  des 
Hauses  vom  Schwamm  zerstört  wurde,  und  der 
Besitzer  seinen  Hausstand  auflöste  und  die  ganze 
Dekoration,  soweit  sie  abnehmbar  war,  mit  nach 
seinem  neuen  Wohnsitz  Graz  führte,  wo  er  wenige 
Jahre  später  starb.  Bei  dem  großen  und  stets  wach¬ 
senden  Umfange  von  Klingers  künstlerischem  Werke 


konnte  es  geschehen,  daß  dieser  ganze  Zyklus  von 
zirka  fünfzig  Eries-,  Wand-,  Sockel-  und  Türbildern 
in  Vergessenheit  geriet.  Erst  1898  erschienen  vier¬ 
zehn  Bilder  davon,  zehn  Eries-  und  vier  Wandfelder, 
in  der  Wiener  Sezessionsausstellung,  gelangten  dann 
in  den  Besitz  der  Schulteschen  Kunsthandlung  in 
Berlin,  die  sie  zu  gleichen  Teilen  an  die  National¬ 
galerie  und  an  die  Hamburger  Kunsthalle  verkaufte. 
Das  schöne,  stimmungsvolle  Kaminbild  mit  der  Dar¬ 
stellung  von  drei  musizierenden  Frauen  im  Schatten 
eines  mächtigen  Baumes  (Abb.  S.  24),  das  an  des  Mei¬ 
sters  Frühbild  »Der  Abend«,  aber  auch  an  Böcklin- 
sche  Kompositionen  erinnert,  nimmt  durch  seinen 
Inhalt  und  seine  staffeleibildmäßige  Ausführung  eine 
Sonderstellung  unter  diesen  dekorativen  Arbeiten  ein. 
Es  gelangte  in  den  Besitz  der  Gurlittschen  Kunst¬ 
handlung  in  Berlin,  während  die  Menge  der  kleinen 
Sockel-  und  Türbilder  nach  England  gekommen 
sein  soll.  —  So  tief  beklagenswert  die  Vernich¬ 
tung  dieser  ganz  aparten  und  künstlerisch  bedeut¬ 
samen  Raumausstattung  bleibt,  so  kann  man  sich  doch 
wenigstens  noch  der  nun  leicht  zugänglichen  Haupt¬ 
bilder  freuen  und  unter  Zuhilfenahme  von  Photo¬ 
graphien  der  Gesamtansicht  eine  Vorstellung  von  der 
ursprünglichen  Wirkung  gewinnen.  Ein  Blick  auf 
die  Innenansichten  zeigt  einen  rechteckigen  Raum  von 
mäßigen  Dimensionen  nur  mit  Oberlicht  und  einer  Art 
von  Renaissancearchitektur,  die  in  ihrer  nüchternen 
Gliederung  eigentlich  einer  malerisch  einheitlichen, 
modernen  Ausstattung  die  fühlbarsten  Hindernisse  be¬ 
reiten  mußte.  Für  den  Schmuck  boten  sich  vier 
schmale  Wandfelder,  die  Kaminecke,  die  Sockelfelder, 
fünf  Türen  und  der  am  besten  beleuchtete  Deckenfries. 
Der  letztere  zerfiel  an  jeder  Seite  in  drei  ungleiche  Teile 
(lang-kurz-lang  und  kurz-lang-kurz).  Von  den  so  ent¬ 
standenen  zwölf,  durch  ionische  Pilaster  getrennten, 
breiten  Feldern  trugen  neun  figürliche  Kompositionen, 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI  MAX  KLIKOER.  IN  DER  SRANDüNCS 


MAX  KLINGERS  DEKORATIVE  MALEREIEN  IN  DER  VILLA  ALBERS  IN  STEGLITZ 


9 


während  je  ein  schmales  Mittelstück  am  Kamin  und 
der  gegenüberliegenden  Wand  als  Füllstücke  behandelt 
waren  (jetzt  verschollen)  und  ein  drittes  Stück  rechts 
vom  Kamin  mehr  als  Farbenfleck  zur  Isolierung  der 
Kaminecke  verwertet  war.  Sämtliche  Fries-  und  die 
vier  Wandbilder  sind  in  Öl  auf  Leinen  ausgeführt, 
während  die  Sockel-  und  Türendekorationen  unmittel¬ 
bar  auf  die  betreffenden  Holzteile  aufgemalt  waren. 
Um  eine  ausgesprochene  koloristische  Einheit  der  Ge¬ 
samtstimmung  zu  erreichen,  wählte  der  Künstler  für  die 
Sockelpartien  Tiefblau,  für  die  obere  Voute  und  für  die 
Türen  Hellblau,  das  auch  in  den  Meerlandschaften  des 
Frieses  wiederkehrte  und  mit 
dem  Weiß  und  Altgold  der 
Pilaster  und  dem  Weiß  und 
Gelb  der  Leiber  und  dem 
Grün  der  unteren  Landschaf¬ 
ten  harmonisch  zusammen¬ 
ging.  Es  muß  ein  wunder¬ 
voller  Farbenzauber  gewesen 
sein,  ein  Interieur  von  fest¬ 
lichster  Totalwirkung  und 
voll  des  entzückendsten  De¬ 
tails,  wohin  das  Auge  auch 
traf.  —  Der  feinsinnige  Be¬ 
sitzer  hatte  dem  jungen  Künst¬ 
ler  volle  Freiheit  gelassen, 
seine  Vorstellungen  von  einer 
neuartigen,  idealen  Raumkunst 
zu  verwirklichen.  Es  darf 
nicht  Wunder  nehmen,  daß 
damals,  unter  dem  Zeichen 
der  »stilvollen  deutschen  Re¬ 
naissance«,  diese  dem  Zeit¬ 
geschmack  weit  vorauseilende 
Raumkunst  nur  von  wenigen 
verstanden  wurde.  Nicht  ein¬ 
mal  die  Künstler  begriffen  den 
Wert,  sondern  machten  sich 
über  »dieblauenTüren«  lustig. 

Über  die  künstlerische  Berech¬ 
tigung  dieser  »Phantasie  in 
Blau«  gab  Klinger  später  in  sei¬ 
ner  Schrift»Malerei  undZeich- 
nung«  (S.  ig)  eine  dahinzie¬ 
lende  Erklärung  mit  den  Wor¬ 
ten:  »Die  Einheit  des  Raumes  und  die  Eindringlichkeit 
seiner  Bedeutung  fordern  geradezu  auf,  die  sonst  so 
streng  einzuhaltenden  Formen-  und  Farbengesetze  der 
Natur  aufzulösen  zugunsten  einer  rein  dichterischen 
Verwendung  der  Mittel.«  —  Je  mehr  man  sich  in 
diese  Raumkunst  hineinversetzt,  desto  mehr  erkennt 
man,  wie  fein  und  klug  und  wie  natürlich  der  Künstler 
alle  Zufälligkeiten  des  Raumes  berücksichtigte  und 
künstlerisch  verwertete.  Man  kann  das  deutlich  an 
der  außerordentlich  sinnigen  Ausgestaltung  der  Kamin¬ 
ecke  als  eines  bevorzugten  und  zum  Verweilen  und 
Träumen  einladenden  Platzes  wahrnehmen.  Hier  fällt 
der  Blick  auf  das  gemalte  Idyll  mit  den  musizierenden 
Jungfrauen  in  abendlicher  Sommerlandschaft  und  lockt 
die  Phantasie  in  weite  Fernen,  und  auch  das  Wand- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVt.  H.  i 


bild  zur  Seite  mit  der  italienischen  Ruinenlandschaft 
dient  diesem  Zwecke.  Über  dem  Kamin  begann  die 
Reihe  der  Friesbilder  mit  der  Darstellung  von  drei  auf 
felsiger  Höhe  sich  lagernder,  derbknochiger  Jungfrauen 
(Abb.  S.  i).  Dieses  Bild  steht  noch  in  einer  gewissen 
Beziehung  zum  Kaminbilde  und,  in  Rücksicht  auf 
seinen  Platz,  im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Friesbildern, 
die  einen  Zyklus  von  Meeresidyllen  mit  dem  über¬ 
mütig  humorvollen  Treiben  urwüchsiger  Meerkentauren 
und  Nereiden  darstellen.  Es  geht  durch  alle  diese 
Bilder  ein  Böcklinscher  Geist,  und  man  fühlt,  daß 
hier  das  aufstrebende  Genie  dem  verehrten  Meister 

und  Entdecker  solcher  Phan¬ 
tasiereiche  in  aller  persön¬ 
lichen  Freiheit  und  Örigina- 
lität  seine  Huldigung  dar¬ 
bringt.  Man  sieht  auch  hier 
wieder  mit  Überraschung,  wie 
fein  und  tief  Klinger  in  Böck- 
lins  Kunst  eingedrungen  ist, 
wie  dessen  Meereswunderwelt 
in  ihm  eine  schier  unendliche 
Fülle  solcher  Phantasiegebilde 
auslöste,  die  er  mit  einer 
verblüffenden  Wahrheit  der 
Vision  und  mit  entzückender 
Anmut  und  Frische  des  Vor¬ 
trags  festzuhalten  weiß.  Be¬ 
trachten  wir  die  Bilder  im  ein¬ 
zelnen,  so  sehen  wir  links 
vom  Kamin  eine  neckische 
Szene  (Abb.  S.  8).  Auf  schau¬ 
kelnden  Wellen  treibt  eine 
schlafende  Nixe  und  hinter  ihr 
taucht  aus  einem  Wellenberge 
das  tückisch-begehrliche  Ant¬ 
litz  eines  Tritonen  auf.  Nie¬ 
mand  ist  Zeuge  als  ein  See¬ 
adler,  der  mit  weitem  Fittich¬ 
schlag  davoneilt.  Wie  herr¬ 
lich  ist  der  rosige  Leib  auf 
dem  glitzernden  Wasser,  wie 
fein  Licht  und  Luft  des 
Sommertages  auf  See  mit 
wenigen,  ganz  meisterhaf¬ 
ten  Strichen  dargestellt!  Im 
nächsten  Bilde  (Abb.  S.  1 3)  sehen  wir  in  spiegelblanker 
See  einen  Kentaurenvater  zum  Gaudium  von  Nereiden  und 
zur  Sorge  der  Mutter  mit  seinem  Söhnchen  übermütige 
Kunststücke  machen.  Daran  schließt  sich  als  Mittel¬ 
stück  der  Wand,  über  der  Tür  zum  Speisezimmer, 
die  allerschönste  dieser  Idyllen,  eine  Fahrt  der  Amphitrite 
im  Muschelwagen  durch  die  hellblaue  See.  Von  schnee¬ 
weißen  Möven  umschwärmt  gleitet  die  Muschel  da¬ 
hin,  gezogen  von  zwei  milchweißen  Rossen,  die  Amor 
als  Kutscher  nur  mit  äußerster  Anstrengung  zu  zügeln 
vermag.  Es  erinnert  an  die  herrliche  Vision  der 
Venusfahrt  in  der  Radierung  zu  Amor  und  Psyche. 
Links  davon  sieht  man  eine  schöne  Nereide  auf  dem 
Rücken  eines  finsteren  Seekentauren  durch  die  Wogen 
ziehen,  begleitet  von  dem  Schalle  mächtiger  Muschel- 


KLINGER,  DIE  STEGLITZER  VILLA.  GEMÄLDE 


KLINGER,  STEGLITZER  VILLA,  KAMINECKE 


KLINOER,  STEGLITZER  VILLA,  TÜR  ZUM  SPEISEZIMMER 


;v  nGkrs  dekorative  Malereien  in  der  villa  albers  in  steglitz 


KLINGER,  FRIESBILD  AUS  DER  STEGLITZER  VILLA  (HAMBURGER  KUNSTHALLE) 


hörner  seiner  Freunde.  Auf  dem  nächsten  Bilde  reitet 
ein  junger  Triton  keck  auf  einem  Haifisch  durch  die 
Flut.  Daran  reilit  sich  das  übermütige  Kentaurenbild, 
auf  dem  die  derben  Burschen  sich  unbändig  freuen, 
daß  die  von  ihren  sehnigen  Armen  geschleuderte  Nixe 
in  weitem  Bogen  auf  die  aufspritzenden  Wellen  auf¬ 
plumpst.  Wie  sich  dieses  ulkige  Spiel  entwickelt, 
zeigt  das  übernächste  Bild,  wo  die  Nixe  noch  auf 
den  schaukelnden  Armen  der  Kentauren  ruht  und 
schreiend  vor  dem  Sturze  bangt.  Auf  dem  dazwischen¬ 
liegenden  Bilde  zeigt  sich  ein  Seekentaur  verliebt  und 
stürmisch,  indem  er  eine  üppige  Nixe  vom  Roß  herab¬ 
zureißen  sucht.  Ob  auch  der  Triton,  der  sich  an  der 
Mähne  des  mächtigen  milchweißen  Rosses  hält,  auf 
dem  träumerisch  eine  schöne  Nixe  mit  der  Leier  im 
Arm  daherreitet,  verliebte  Absichten  hat? 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  vier  schmalen  land¬ 
schaftlichen  Hochbildern,  die  zwischen  kräftigen  Pila¬ 
sterumrahmungen  stehen,  und  beginnen  wir  wieder 
mit  dem  Rundgang  von  der  Kaminecke,  so  sehen  wir 
rechts  eine  groß  aufgebaute,  bewaldete  Bergschlucht, 
die  mit  ihren  wilden  Felsblöcken  im  Vordergrund, 
ihren  hochragenden  Silberpappeln  und  der  grell  be¬ 
leuchteten  Tempelruine  hoch  oben  wie  ein  Motiv 
aus  Tivoli  und  wie  eine  Komposition  von  Claude 
Lorrain  anmutet.  Klinger  hatte  damals  Italien  noch 
nicht  gesehen,  und  so  haben  wir  in  diesem  Bilde 
eins  der  wundervollen,  mit  dem  Seherblick  der  Phan¬ 
tasie  geschauten  Landschaftsgebilde,  wie  sie  auch  in 
den  Intermezzi,  in  der  Folge  der  vier  radierten  Land¬ 
schaften  und  in  den  Rettungen  ovidischer  Opfer  und 
gelegentlich  noch  sonst  in  seinen  Arbeiten  dieser  Zeit 
wiederkehren.  Die  beiden  Seiten  des  inneren  Eingangs, 
den  die  Venusfahrt  krönt,  werden  von  zwei  weiteren 
Landschaften  flankiert  (Abb.  S.  1 1).  Die  rechte  gehört  in 
den  Ideenkreis  der  wilden  Kentaurenlandschaften,  wie 


wir  sie  in  den  Intermezzi  finden;  die  linke,  auch  noch 
in  großen  massigen  Formationen,  erhält  doch  durch 
das  Grün  im  Vordergründe  und  die  blühenden  Rispen 
der  Gräser  einen  etwas  milderen  Charakter.  Es  fehlt 
noch  jede  Andeutung  von  menschlicher  Kultur,  aber 
man  ahnt,  daß  dieser  Erdenwinkel  bald  vom  Jäger 
oder  Hirten  durchstreift  werden  wird.  Die  vierte 
Landschaft  versetzt  uns  auch  ohne  Haus-,  Eeld  oder 
Staffageandeutung  unmittelbar  in  die  Gegenwart  durch 
das  primitive  Geländer,  das  sich  die  Höhe  heraufzieht 
und  von  Obstbäumen,  Birken  und  blühenden  Malven 
begleitet  wird.  Es  ist  ein  Motiv  aus  Meißen,  das  der 
Künstler  auch  in  einem  kleinen,  nicht  weiter  bekannt 
gewordenen  Ölgemälde  verwertet  hat.  —  So  haben 
wir  in  diesen  Landschaften  einen  Zyklus,  der  in  geist¬ 
vollster  Weise  vier  Epochen,  die  mythologische,  die 
prähistorische,  die  klassisch-antike  Zeit  und  die  Gegen¬ 
wart  umschließt.  Aber  vor  allem  wirken  sie  in  ihrer 
Farbigkeit  und  ihrem  feierlichen  Stil  höchst  dekorativ, 
das  Auge  fesselnd  und  die  Phantasie  mächtig  erregend. 

Die  Flügeltüren  in  langweiligem  Schreinerstil  mit 
den  üblichen  sechs  Blindfüllungen  und  Leistenum¬ 
rahmungen  müssen  dem  Künstler  bei  der  Einbeziehung 
in  die  Gesamtdekoration  viel  Kopfzerbrechen  bereitet 
haben.  Er  half  sich  energisch,  indem  er  ihnen,  wie 
schon  bemerkt,  einen  blauen  Anstrich  gab,  die  lang¬ 
weiligen  Mittelpartien  durch  aufgemalte  Palmwedel 
belebte  und  die  rechteckigen  Füllungen  mit  reizen¬ 
den  ornamentalen,  landschaftlichen  und  figürlichen 
Kompositionen  schmückte.  Der  Palmwedel  ist  ein 
dekoratives  Lieblingsrequisit  Kllngerscher  Kunst  schon 
in  den  Randleisten  der  frühen  Radierungen  und  kehrt 
auch  in  den  späteren  großen  Werken  z.  B.  beim 
Christus  im  Olymp  als  Rahmenwerk  und  am  Beelhoven¬ 
sessel  wieder.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  die  Palm¬ 
wedeldekoration  hier,  ohne  Rücksicht  auf  die  Punktion 


MAX  KLINGERS  DEKORATIVE  MALEREIEN  IN  DE  VILLA  ALBERS  IN  STEGLITZ 


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KLiNGER,  FRIESBILD  AUS  DER  STEGLITZER  VILLA  (NATIONALGALERIE,  BERLIN) 


der  Türflügel,  in  der  Idee  nicht  ganz  einwandfrei  ist, 
aber  sie  wirkt  außerordentlich  für  den  festlichen  Ein¬ 
druck  des  Raumes.  Mit  besonderer  Hingabe  malte  der 
Künstler  auf  den  kaum  eine  Spanne  breiten,  hohen  Mittel¬ 
füllungen  der  Tür  rechts  vom  Kamin  Bildchen  voll  geist¬ 
reicher  Beziehungen  und  jenem  Formenreiz,  den  man 
in  den  Randleisten  vieler  seiner  Radierungen  bewundert. 
Venus  und  Mars,  die  Göttin  im  Reize  ihrer  unver¬ 
hüllten  Schönheit,  von  Blütenzweigen  umrahmt;  der 
Kriegsgott  als  gewappneter  Ritter,  auf  dessen  Lanze 
sich  Eroten  tummeln,  schweben  beide  in  Muscheln 
stehend  auf  den  Fittichen  silberweißer  Möwen  hoch 
über  dem  Meeresspiegel  dahin,  während  unten  in  der 
Flut  ein  verliebtes  Delphinenpaar  denselben  Weg  zieht 
(Abb.  S.  10).  Selbst  die  kleinen  Kassetten  am  untersten 
Teile  der  Tür  erfüllte  der  Künstler  noch  mit  energischem 
Leben  durch  die  Darstellung  von  Jünglingen,  die  auf 
bäumenden  Rossen  bergan  reiten.  Eine  andere  Tür  ist  in 
den  mittleren  Kassetten  mit  schönen  Blumensträußen 
mit  Maskaron-Vasen,  eine  dritte  und  vierte  mit  blumen¬ 
tragenden,  fischschwänzigen  Sirenen  und  durch  reizende 
Landschaften  mit  Figurengruppen  oben  und  unten  ge¬ 
schmückt.  Für  mehrere  dieser  entzückenden,  jetzt  mit 
den  Türen  verschollenen  Bildchen  besitzen  wir  die 
Skizzen  in  den  Randzeichnungen  zu  den  nicht  zur 
Ausgabe  gekommenen  »Fragmenten  einer  klassischen 
Anthologie«,  jetzt  in  der  Nationalgalerie  in  Berlin. 

Auch  der  Sockelfries  erhielt  noch  einen  feinen, 
plastisch  wirkenden  ornamentalen  Schmuck  durch  ge¬ 
zeichnete  Masken  bärtiger  Männer  an  den  Pilasterbasen 
und  durch  kleine  figürliche  Zeichnungen  z.  B.  einer 


Maraboutgesandtschaft  bei  einem  Jüngling  und  einer 
Storchgesandtschaft  bei  einem  Löwen. 

Schon  damals  war  sich  der  junge  Künstler  klar, 
daß  in  einer  solchen  auf  harmonische  Gesamtwirkung 
berechneten  Innenausstattung  auch  die  plastischen 
Werke  farbig  sein  müssen  und  bemalte  die  für  den 
Raum  bestimmten  idealen  Frauenbüsten,  die  Artur 
Volkmann  ausführte.  Der  Versuch  wurde  zuerst  an 
den  Gipsentwürfen  gemacht,  die  sich  jetzt  in  der 
Nationalgalerie  befinden,  dann  von  Hermann  Prell 
an  den  Marmorausführungen,  die  im  Leipziger  Mu¬ 
seum  aufbewahrt  werden,  wiederholt. 

Diese  künstlerisch  so  wohl  durchdachte  Innen¬ 
dekoration,  zu  einer  Zeit  entstanden,  wo  eine  zusammen¬ 
gestoppelte  Renaissanceausstattung  für  allein  geschmack¬ 
voll  galt,  hätte,  wenn  sie  erhalten  geblieben  wäre,  in 
der  bewegten  Zeit  des  modernen  Kunstgewerbes  für 
die  Ästhetik  der  Raumausstattung  gradezu  vorbildlich 
wirken  können.  Noch  heute  erzählen  die  erhaltenen 
Teile  von  der  einzigartigen  Schönheit  des  Ganzen, 
das  ein  tückischer  Zufall  vernichtet  hat.  An  einem 
Zufall  scheiterte  auch  des  Künstlers  Plan,  das  ganze 
Werk,  das  ihm  mehr  wie  manches  andere  ans  Herz 
gewachsen  ist,  in  seinen  eignen  Räumen  wieder  her¬ 
zustellen.  Nun  aber  freuen  wir  uns  der  Hoffnung, 
daß  die  nächsten  Jahre  große  Monumentalmalereien 
Klingers  in  der  Aula  der  Leipziger  Universität  und 
im  Treppenhause  des  Museums  bringen  werden,  und 
daß  der  große  Künstler  da  noch  viel  Bedeutenderes 
darzustellen  hat  als  in  jenem  lieblichen  Jugendtraume 
in  der  Steglitzer  Villa.  F.  BECKER- 


VERGESSENE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON 

GAINSBOROUGH  ) 


Die  Engländer  dürfen  stolz  darauf  sein,  daß  sie  die 
Meisterwerke,  die  den  Ruhm  ihrer  Malerei  be¬ 
gründen,  beinahe  vollzählig  in  ihrer  Heimat  be¬ 
sitzen.  Was  sie  in  der  jüngsten  Zeit  an  Gemälden  ihrer 
Großen  an  das  Ausland,  namentlich  an  Amerika,  ab¬ 
gegeben  haben,  können  sie,  allem  Geschrei  der  Tages¬ 
presse  zum  Trotz,  getrost  verschmerzen.  Wie  mag 
das  so  gekommen  sein?  wie  ist  es  zu  erklären,  daß 
unsere  größten  Galerien  gar  nichts  von  Gainsborough 
und  Reynolds,  nichts  von  Romney,  Raeburn  und 
Hoppner  erworben  haben?  —  Vielleicht,  weil  diese 
Meister  den  fürstlichen  Begründern  unserer  Galerien 
nach  nicht  als  klassisch  galten,  vielleicht  auch,  weil 
sie  in  den  Augen  der  Sammlungsdirektoren  einer 
späteren  Zeit  wenigstens  nicht  den  Wert  besaßen, 
der  ihnen  durch  die  rapid  steigenden  Kurse  des  Lon¬ 
doner  Kunstmarktes  beigelegt  wurde.  So  sind  es 
denn  spärliche  Brosamen,  die  ein  freundlicher  Zufall 
uns  von  der  reich  besetzten  Tafel  der  großen  eng¬ 
lischen  Malerei  in  die  Hände  gespielt  hat.  Mit  solchen 
müssen  wir  uns  auch  heute  begnügen. 

Von  Gainsborough  besitzt  Deutschland,  soviel  ich 
weiß,  neun  oder  zehn  Bilder.  Zwei  von  ihnen  hängen 
in  den  Empfangsräunien  der  Lenbachischen  Villa  in 
München.  Das  eine  ist  die  in  wenigen  neutralen 
Tönen  hingeworfene  Landschaftsskizze  eines  hügeligen 
Geländes  mit  ein  paar  Rindern  und  einem  Hirten  als 
Staffage,  das  andere  ein  Brustbild  einer  dunkeläugigen 
Dame  im  blaugrauen  Seidenkleid  mit  heller  gold¬ 
betreßter  Mantille,  ein  wenig  bedeutendes  Werk,  dessen 
Echtheit  nicht  über  allen  Zweifel  erhaben  ist.  Unser 
dritter  Gainsborough  wäre  die  Landschaft,  welche  die 
Kasseler  Galerie  auf  der  Versteigerung  der  Habich- 
schen  Sammlung  erworben  hat.  Dazu  kommen  sieben 
Bildnisse  der  königlichen  Familie,  die  als  Geschenke 
an  fürstliche  Verwandte  gelangt  sind  —  die  lebens¬ 
großen  Figuren  des  Königspaares  in  der  welfischen 
Ahnengalerie  zu  Herrenhausen  und  im  königlich 
württembergischen  Besitze,  das  Brustbild  des  Prinzen 
Octavius,  das  neben  dem  seiner  Mutter  in  der  Stutt¬ 
garter  Galerie  hängt,  und  endlich  die  beiden  Brust¬ 
bilder  des  Königspaares  im  Schlosse  zu  Arolsen,  die 
auf  unseren  Reproduktionen  erscheinen. 


i)  Die  besprochenen  Gemälde  sind  zwar  von  Parthey 
im  deutschen  Bildersaal  kurz  notiert,  indessen  unter  einer 
Nummer,  was  den  Irrtum  vermuten  läßt,  die  Dargestellten 
seien  in  einem  Rahmen  vereinigt.  In  der  späteren  Literatur 
über  Gainsborough  werden  sie  nicht  mehr  erwähnt.  —  Der 
Verfasser,  der  eine  Monographie  über  Gainsborough  ge¬ 
schrieben  hat,  die  demnächst  im  Verlage  von  Velhagen  & 
Klasing  erscheinen  wird,  lernte  die  Bilder  erst  nach  Beendi¬ 
gung  seiner  Arbeit  kennen,  so  daß  er  sich  an  jener  Stelle 
mit  einer  Schlußnotiz  begnügen  mußte.  Die  Reproduktion 
der  Bilder  an  dieser  Stelle  gibt  erwünschte  Gelegenheit, 
noch  einmal  zu  ihnen  zurückzukehren. 


Alle  diese  Fürstenbilder  sind  nicht  in  dem  strengsten 
Sinne  originale  Schöpfungen,  daß  sie  lediglich  in  den 
genannten  Exemplaren  vor  der  Natur  entstanden  seien. 
Vielmehr  haben  wir  es  mit  Wiederholungen  zu  tun, 
deren  Urbilder  in  England,  und  zwar  fast  sämtlich 
im  Besitze  des  Königshauses  geblieben  sind.  Aber 
freilich  rühren  die  allermeisten  Wiederholungen  und 
insbesondere  die  Arolsener  Bilder  von  Gainsboroughs 
eigener  Hand  her.  Das  zeigt  ihre  Technik  deut¬ 
lich  genug,  die  künstlerische  Handschrift,  die  kein 
Kopist  kopieren  kann,  am  wenigsten  bei  Gainsborough. 
Sogar  die  Reproduktion  verrät  noch  etwas  davon. 
Das  flimmernde  Gestrichel  des  Pinsels,  das  den 
Haaren  lockere  Fülle,  dem  Munde  Leben  und  den 
Augen  feuchten  Glanz  verleiht,  die  kalligraphische 
Sicherheit,  mit  der  in  flüssigen  Zickzackschwüngen 
das  Gefältel  des  Musselins  hingeworfen  ist  —  die 
ganze  scheinbare  Nonchalance  der  Arbeit,  in  Wahr¬ 
heit  lauter  Weisheit  und  Berechnung  —  das  alles 
verkündet  den  Meister.  Dem  Farbenton  unserer  Ge¬ 
mälde  ist  es  zustatten  gekommen,  daß  sie  augen¬ 
scheinlich  seit  ihrem  Entstehen  von  keines  Bilder¬ 
doktors  Hand  berührt  worden  sind.  So  ist  zwar  die 
Farbenschicht,  namentlich  bei  dem  Gemälde  der  Königin, 
gesprungen  in  einer  stellenweise  allzu  starken  Craque- 
ture,  aber  die  kühle  rosige  Frische  von  Gainsboroughs 
Kolorit  blieb  ungetrübt. 

Das  Bild  der  Königin  ist  in  jedem  Betracht  das 
bessere.  Gainsborough  verstand  die  Frauen  gut  — 
besser  als  irgend  ein  anderer  unter  den  großen  Malern 
seines  Landes,  und  das  will  viel  sagen.  Reynolds 
hat  die  Frauen  manchmal  pathetischer,  manchmal 
sentimentaler  und  manchmal  verführerischer  geschil¬ 
dert,  Romney  hat  sie  sinnlicher  gemalt,  Lawrence  ele¬ 
ganter,  aber  keiner  von  ihnen  hat  so  wie  Gainsborough 
das  Wesen  der  Dame  begriffen  —  der  Dame,  nicht 
des  Weibes.  Die  Distinktion,  die  Leichtigkeit  und 
Anmut  des  Auftretens,  das  schwebende  Lächeln,  das 
nervöse  Spiel  müßiger  schlanker  Finger,  die  Reize, 
die  sich  nicht  in  Worte  zwingen  lassen,  die  allem 
plumpen  Zugreifen  entschwinden,  die  hat  Gainsbo¬ 
rough  gesehen  und  im  Flug  erhascht.  Etwas  von 
diesen  Reizen  verschönt  auch  das  müde  leere  Gesicht 
der  von  ewigen  Wochenbetten  erschöpften  Königin. 

Die  Entstehungszeit  der  Arolsener  Gemälde  läßt 
sich  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  bestimmen.  1774 
siedelte  Gainsborough  von  dem  Modebade  Bath,  das 
ihn  berühmt  gemacht  hatte,  nach  London  über. 
König  Georg  III.,  der  den  Maler  bereits  in  einigen 
Bildern  kennen  und  bewundern  gelernt  hatte,  wendete 
ihm  bald  seine  Gunst  zu.  Wann  er  ihm  zuerst  ge¬ 
sessen  haben  mag,  das  dürfte  sich  kaum  mehr  fest¬ 
stellen  lassen.  Gewiß  ist  nur  so  viel,  daß  ein  Bildnis 
des  Königs  in  ganzer  Figur  zuerst  auf  der  Ausstellung 
der  Akademie  im  Jahre  1781  erschien.  1 783  folgte  dann 


VERGESSENE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON  GAINSBOROUGH 


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in  der  gleichen  Ausstellung  die  Serie  der  Brustbilder 
der  königlichen  Familie,  die  sich  heutzutage  in  Windsor 
befindet.  Ihr  gehören  auch  die  Urbilder  der  Arolsener 
Gemälde  an.  Und  in  der  Tat  würden  wir  in  dem 
Könige,  der  1 738  geboren  war,  auf  diesem  Bilde  einen 
rüstigen  Vierziger  erkennen.  GUSTAV  PAULI. 

*  * 

Die  Publikation  zweier  bisher  verschollener  Por¬ 
träts  von  Gainsborough  im  Schlosse  zu  Arolsen  (siehe 
den  vorigen  Artikel)  gibt  mir  Veranlassung,  um  den  Stoff 
nicht  zu  sehr  zu  zersplittern,  an  derselben  Stelle  ein 
paar  Angaben  über  die  anderen  neuerdings  wieder  ent¬ 
deckten  Bilder  des  Meisters  zu  machen,  die  gelegent¬ 
lich  jener  Publikation  en  passant  erwähnt  worden 
sind.  Ich  beschränke  mich  dabei  auf  das  kunsthisto¬ 
risch  Interessante,  da  ich  speziell  die  Stuttgarter  Bilder 
demnächst  in  den  Württembergischen  Vierteljahrsheften 
für  Landesgeschichte  ausführlich  behandeln  und  dabei 
alle  archivalischen  und  sonstigen  historischen  Auf¬ 
klärungen,  die  ich  mir  darüber  habe  verschaffen  können, 
mitteilen  werde. 

Die  meisten  Bilder  von  Gainsborough,  die  sich 
gegenwärtig  in  Deutschland  befinden,  sind  Porträts 
der  englischen  Königsfamilie.  Nur  fünf  andere  Werke 
sind  mir  bekannt  geworden:  Eine  kleine  auf  Papier  ge¬ 
malte  Landschaft,  die  vor  einigen  Jahren  aus  der  Habich- 
schen  Sammlung  in  die  Kasseler  Gemäldegalerie  ge¬ 
kommen  ist,  eine  Landschaft  und  ein  —  übrigens  an- 
gezweifeltes  —  Damenporträt  in  der  Sammlung  Lenbach 
in  München,  ein  Herrenbrustbild  in  der  Galerie  Liechten¬ 
stein  in  Wien,  das  aber  nicht  unbestritten  ist,  und 
ein  Damenporträt,  das  sich  vor  zwei  Jahren  im  Besitz 
der  Kunsthandlung  von  Casper  in  Berlin  befand  und 
mir  nach  der  Photographie  echt  und  aus  der  früheren 
Zeit  zu  sein  schien.  Von  den  letzteren  Bildern  wollen 
wir  hier  absehen. 

Auffallenderweise  sind  die  aus  England  stammenden 
Porträts  bis  zum  Jahre  1902,  wo  es  mir  gelang,  zwei 
davon  im  königlichen  Schlosse  zu  Ludwigsburg  wieder 
aufzufinden,  ganz  unbekannt  geblieben,  obwohl  schon 
die  verwandtschaftlichen  Beziehungen  deutscher  Für¬ 
stenhäuser  zu  der  englischen  Dynastie  wenigstens  die 
Spezialforscher  auf  ihre  Spur  hätten  leiten  sollen.  Aber 
in  den  großen  englischen  Biographien  des  Meisters, 
zuletzt  in  denjenigen  von  Mrs.  Bell  und  Sir  Walter  Arm¬ 
strong,  ist  kein  einziges  Bild  des  Meisters  in  Deutsch¬ 
land  aufgeführt.  Und  man  hat  sich  bei  uns  der 
Autorität  dieser  Schriftsteller  wohl  deshalb  bisher  gefügt, 
weil  Gainsborough  noch  vor  kurzem  in  öffentlichen 
Galerien  des  Festlandes  überhaupt  nicht  vertreten  war, 
der  gewöhnliche  Sterbliche  sich  also  ohne  eine  Reise 
nach  England  keine  Vorstellung  an  seinem  Stil  bilden 
konnte.  In  Ludwigsburg,  wo  die  betreffenden  Bilder 
allerdings  in  den  dem  Publikum  zugänglichen  Paterre- 
Sälen  des  neuen  Corps  de  Logis  hingen,  kamen 
noch  besonders  ungünstige  Umstände  hinzu,  um  die 
Entdeckung  hintan  zu  halten,  nämlich  daß  das  eine 
Porträt  fast  außer  Sehweite  über  einem  hohen  Schranke 
hing,  das  andere  aber  einem  Porträt  des  Königs 


Georg  111.  als  Gegenstück  diente,  das  sich  schon  bei 
flüchtiger  Untersuchung  als  untergeordnete  Kopie  kund¬ 
gab  und  damit  auch  das  Urteil  über  das  Gegenstück 
in  den  Augen  der  Meisten  ungünstig  beeinflußte. 

Da  die  Aufklärung  von  den  früheren  Ludwigs¬ 
burger,  jetzt  Stuttgarter  Bildern  ausgegangen  ist  und 
diese  jetzt  die  einzigen  Porträts  von  Gainsborough  sind, 
die  sich  in  einer  öffentlichen  Sammlung  des  Fest¬ 
landes  befinden,  ist  es  billig,  mit  ihnen  anzufangen. 
In  der  Stuttgarter  Gemäldegalerie  hängen  seit  1902, 
leihweise  aus  dem  Besitz  der  Königin  Charlotte 
Mathilde- Stiftung  überwiesen,  drei  englische  Bilder  des 
18.  Jahrhunderts,  das  lebensgroße  Porträt  der  Königin 
Charlotte  von  England  in  ganzer  Figur,  das  eben¬ 
falls  lebensgroße  Brustbild  ihres  Sohnes,  des  Prin¬ 
zen  Octavius  und  ein  figurenreiches  Bild  kleineren 
Maßstabes,  König  Georg  III.  mit  seiner  Familie 
und  seinem  Hof  auf  der  Terrasse  des  Schlosses  von 
Windsor  (Tafel  3).  Von  diesen  dreien  sind  die 
beiden  ersten  eigenhändige  Werke  von  Gainsborough, 
deren  Authentizität  auch  von  den  englischen  Forschern, 
die  die  Originale  oder  Photographien  seitdem  gesehen 
haben,  allgemein  anerkannt  wird,  während  das  letztere 
zwar  von  einigen  englischen  Kennern  ebenfalls  für 
ein  Werk  des  Meisters  gehalten  wird,  in  Wirklichkeit 
aber  wahrscheinlich  nur  das  Werk  eines  zeitgenössischen 
Nachahmers  desselben  ist.  Daß  wir  das  bisherige  Gegen¬ 
stück  der  Königin  Charlotte,  das  lebensgroße  Bildnis 
ihres  Gemahls,  König  Georgs  IIL,  im  Schlosse  zu 
Ludwigsburg  belassen  haben,  beruht  darauf,  daß  ich  es 
wie  gesagt  nur  für  eine  Kopie  nach  Gainsborough 
halten  kann.  Es  hängt  jetzt  in  Ludwigsburg  gegenüber 
einer  modernen  Kopie  der  Königin  Charlotte,  die  als 
Ersatz  für  das  Original  an  die  Stelle  des  letzteren  ge¬ 
treten  ist. 

Äußerlich  sind  die  beiden  Stuttgarter  Gainsbo- 
roughs  allerdings  nicht  beglaubigt.  Der  Maler  hat, 
einer  damals  herrschenden  englischen  Sitte  folgend, 
seine  Bilder  fast  niemals  mit  seinem  Namen  bezeichnet, 
und  so  fehlt  seine  Signatur  auch  auf  diesen  Werken. 
Ein  eigentümlicher  Zufall,  auf  den  ich  hier  nicht 
näher  eingehen  kann,  hat  es  ferner  verschuldet,  daß 
auch  in  den  archivalischen  Quellen  sein  Name  nicht 
in  Verbindung  mit  diesen  Bildern  genannt  wird.  Da¬ 
für  sind  sie  aber  durch  ihre  Provenienz  so  gut  be¬ 
glaubigt,  wie  dies  bei  Bildern  Gainsboroughs  nur  immer 
möglich  ist.  Sie  stellen  nämlich  nicht  nur  Personen 
derselben  Königsfamilie  dar,  bei  der  der  Maler  persona 
gratissima  war,  und  deren  Mitglieder  er  wer  weiß  wie 
oft  porträtiert  hat,  sondern  sie  stammen  auch  aus  dem 
Besitz  der  württembergischen  Königin  Charlotte  Ma¬ 
thilde,  der  ältesten  Tochter  der  dargestellten  Königin 
Charlotte  und  Schwester  des  dargestellten  Prinzen 
Octavius.  Das  heißt  also,  sie  befanden  sich  früher 
im  Besitz  der  englischen  Königsfamilie  und  sind  aus 
diesem  in  königlich  württembergischen  Besitz  über¬ 
gegangen.  Wann  sie  nach  Ludwigsburg  gekommen 
sind,  ist  zwar  nicht  mehr  bestimmt  nachzuweisen, 
jedenfalls  waren  sie  aber  beim  Tode  der  Königin 
Charlotte  Mathilde  im  Jahre  1828,  wie  aus  dem 
Inventar  ihres  Nachlasses  hervorgeht,  dort  und  sind 


vergesse;  und  neuentdeckte  bieder  von  gainsborough 


I  6 


also  entweder  bei  ihrer  ‘^erheiratiing  rdt  dem  da¬ 
maligen  Erbprinzen,  späteren  Herzog,  Kurfürsten  und 
König  Friedrich  im  Jahre  1797  oder  bei  irgend  einem 
späteren  Anlaß  nach  Württemberg  gekommen. 

Das  beste  der  beiden  Bilder  ist  ohne  Zweifel 
das  Profilporträt  des  Prinzen  Octavius.  Dieser  war 
einer  der  beiden  jüngsten  frühverstorbenen  Prinzen 
des  königlichen  Hauses.  Er  war  1779  geboren 
und  starb  1783.  Da  er  hier  als  etwa  vierjähriger 
Knabe  erscheint,  muß  das  Bild  ungefähr  in  seinem 
T odesjahre  entstanden  sein. 

Diese  Datierung  wird  da¬ 
durch  bestätigt,  daß  Gains¬ 
borough  gerade  im  Jahre 
1783  jene  bekannte  Serie 
von  Brustbildern  der  könig¬ 
lichen  Familie  ausstellte, 
die  sich  noch  jetzt  in 
Windsor  Castle  befindet 
und  die  in  Format  (Oval), 

Größe  und  technischer 
Behandlung  genau  mit 
unserem  Bilde  überein¬ 
stimmt.  Darunter  ist  auch 
ein  Porträt  desselben 
Prinzen,  das  ihn  aber  en 
face  darstellt.  Daß  Gains¬ 
borough  gerade  ihn  zwei¬ 
mal  gemalt  hat,  kann  ver¬ 
schiedene  Gründe  haben. 

Vielleicht  war  er  das  Lieb¬ 
lingsbrüderchen  der  Prin- 
cess  Royal  und  bestellte 
diese,  die  damals  17  Jahre 
alt  war,  ein  besonderes 
Exemplar  für  sich  —  das¬ 
selbe,  das  sie  später  mit 
nach  Württemberg  nahm 
—  vielleicht  regte  der  ge¬ 
rade  damals  erfolgte  Tod 
des  Kleinen  die  Eltern  zur 
Bestellung  eines  zweiten 
Porträts  im  Profil  an. 

Und  dann  würde  das 
Stuttgarter  Porträt  wahr¬ 
scheinlich  dasjenige  sein, 
das  Gainsborough  laut 
einer  von  Fulcher  erzähl¬ 
ten  gut  beglaubigten  Ge¬ 
schichte  nach  einem  der  beiden  jüngsten  Prinzen 
auf  dem  Totenbette  gemalt  hat. 

Daraus  würde  sich  dann  auch  der  etwas  konven¬ 
tionelle  Ausdruck  des  Gesichtes  erklären,  das,  wenn  auch 
lebendig  durchgeführt,  doch  nicht  ganz  so  individuell 
aufgefaßt  ist  wie  einige  andere  Porträts  der  Serie, 
und  ein  wenig  von  jenem  puppenhaften  Schönheits¬ 
ideal  zeigt,  das  dem  englischen  Geschmack  so  sehr 
zusagt.  Im  übrigen  liegt  das  Verdienst  dieses  Werkes 
weniger  in  der  Zeichnung  —  das  Profil  weist  sogar 
ein  bei  Gainsborough  seltenes  Pentimento  auf  — 
als  im  Kolorit  und  in  der  Technik.  Die  Wahl  und 


Zusammenstellung  der  Farben  zeugt  von  auserlesenem 
Geschmack.  Das  braungelbe  Jäckchen,  die  lichtblaue 
Schärpe,  die  um  den  Leib  geschlungen  ist,  der  frische 
rosa  Teint  der  Wangen,  die  blonden  lang  auf  die 
Schultern  herabfallenden  Locken,  der  violette  Wolken¬ 
hintergrund  und  das  graugrüne  Laub  der  Bäume, 
alles  das  vereinigt  sich  zu  einer  entzückenden  Har¬ 
monie  von  leichtem,  heiterem  Charakter.  Das  Ganze 
wirkt  fast  wie  ein  Pastell,  wofür  ich  es  auch  anfangs, 
als  ich  es  nur  aus  der  Ferne  sehen  konnte,  hielt.  Es 

scheint,  daß  Gainsborough 
sich  hier  durch  die  in 
seiner  Zeit  blühende  Pa¬ 
stelltechnik  in  seiner  Far¬ 
benwahl  und  auch  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  in 
der  malerischen  Behand¬ 
lung  hat  beeinflussen  las¬ 
sen.  Letztere  ist  von 
einer  Leichtigkeit  und 
Grazie,  daß  man  sich 
kaum  etwas  Schöneres 
denken  kann.  Zum  Bei¬ 
spiel  ist  das  Auge  so  frei 
und  wie  zufällig  hinge¬ 
zeichnet,  daß  man  die 
feine  Überlegung  gar  nicht 
merkt,  mit  der  jeder  Strich 
an  seine  richtige  Stelle 
gesetzt  ist. 

Natürlich  darf  man  auch 
an  dieses  Werk,  wie  über¬ 
haupt  an  die  Porträtkunst 
Gainsboroughs,  nicht  den 
strengen  Maßstab  einer 
realistisch  -  monumentalen 
Porträtmalerei  anlegen. 
Gainsborough  ist,  wie 
man  nie  vergessen  sollte, 
echter  Rokokomaler  und 
teilt  als  solcher  mit  der 
Kunst  seiner  Zeit  den 
leichten,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  oberfläch¬ 
lichen  Charakter.  Ich  ver¬ 
stehe  es  durchaus,  daß  mo¬ 
derne  Künstler,  die  selbst 
eine  ernste  herbe  Rich¬ 
tung  vertreten,  hier  von 
»Decadence  ,  ja  sogar  von  »Kitsch«  sprechen.  Allein 
es  führen  gar  viele  Wege  nach  Rom,  und  wir  Kunst¬ 
historiker  sind  gewiß  am  ersten  verpflichtet,  solche 
Werke  nicht  bloß  nach  ihrem  Verhältnis  zu  einer 
grade  herrschenden  modernen  Kunstrichtung,  sondern 
nach  ihrem  ewigen  historischen  Gehalt  zu  würdigen. 
Und  da  müssen  wir  doch  sagen,  daß  das  Ideal  der 
Rokokokunst  niemals  einen  malerisch  schöneren  Aus¬ 
druck  gefunden  hat  als  in  diesem  liebenswürdigen, 
unschuldig  naiven  Köpfchen,  das  mit  dem  ganzen  Duft 
und  Zauber  der  raffinierten  Farbenempfindung  eines 
bedeutenden  Koloristen  auf  die  Leinwand  gezaubert 


ALLAN  RAMSAY.  PORTRÄT  DER  KÖNIGIN  CHARLOTTE  VON 
ENGLAND  IM  KGL.  SCHLOSSE  WILHELMSHÖHE  BEI  KASSEL 


GEORG  E  L'ND  SEIN  HOF 


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S  .  l- 


VERGESSENE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON  QAINSBOROUGH 


17 


ist.  Man  hat  wohl  gesagt,  daß  die  Bilder  des  Königs¬ 
paares  und  der  Prinzen  und  Prinzessinnen  nicht  die¬ 
jenigen  seien,  an  denen  das  Herz  des  Malers  am 
meisten  beteiligt  war,  und  schon  die  zeitgenössische 
Kritik  z.  B.  eines  Walpole  hatte  an  den  Bildern  dieser 
Serie  auszusetzen,  daß  sie  zum  großen  Teil  leblos 
seien.  Aber  vielleicht  war  das  Leben,  das  hier  pul¬ 
sierte,  nur  ein  feineres,  durch  die  höfische  Etikette  zu¬ 
rückgehaltenes,  dessen  realistische  Wiedergabe  dem 
oberflächlichen  Blick  nicht  so  zum  Bewußtsein  kam, 
obwohl  sie  gewiß  viel 
mehr  Mühe  machte,  als 
die  Charakteristik  eines 
biederen  Reverend  oder 
einer  stattlichen  Schau¬ 
spielerin.  Und  wenn  man 
gerecht  sein  will,  so  muß 
man  sagen:  es  war  wirk¬ 
lich  eine  etwas  undankbare 
Aufgabe  für  den  Künstler, 
die  ganze  große  königliche 
Familie,  siebzehn  Per¬ 
sonen,  in  lauter  gleich 
großen  und  in  der  Auffas¬ 
sung  ziemlich  überein¬ 
stimmenden  Brustbildern 
zu  verewigen.  Und  beim 
Anblick  derschönen  Braun- 
schenPhotographien  dieser 
Bilder  kommt  man  wohl 
eher  zu  dem  Ergebnis,  er 
habe  die  allerhöchste  Kunst 
dazu  gebraucht,  um  aus 
diesen  teilweise  matten 
und  temperamentlosen  Ge¬ 
sichtern  wenigstens  so 
viel  zu  machen,  wie  er 
daraus  gemacht  hat. 

Wieder  in  anderer 
Richtung  interessant,  wenn 
auch  nicht  ganz  so  er¬ 
freulich  ist  das  lebens¬ 
große  Porträt  der  Königin 
Charlotte,  die  in  ganzer 
Figur,  mit  einem  wei߬ 
seidenen  Kleide  angetan, 
einen  durchsichtigen 
schwarzen  Spitzenshawl 
um  die  Schultern  ge¬ 
schlungen,  neben  einer  Säule  und  einem  großen 
rotbraunen  Vorhang  steht,  der  das  Bild  auf  der  rechten 
Seite  abschließt,  während  sich  links  der  Blick  in  einen 
Park  öffnet,  in  welchem  die  Ecke  eines  Renaissance¬ 
palastes  sichtbar  wird.  Die  Erscheinung  der  Königin 
ist  höchst  einfach,  entsprechend  ihrer  Abneigung  gegen 
allen  Pomp  und  überflüssigen  Schmuck.  Die  Perlen¬ 
ketten  am  Halse  und  den  Armen,  ein  Geschenk  des 
Königs,  hat  sie  gewiß  nur  angelegt,  weil  ihr  Gemahl 
es  wünschte  —  kostete  es  doch  manche  Träne,  bis 
er  sie  gewöhnt  hatte,  sie  auch  beim  Empfang  des 
Abendmahles  zu  tragen  —  und  das  übertrieben  sorg- 

Zeitsclirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  i 


fähig  ausgeführte  Porträtmedaillon  des  Königs  auf  ihrer 
Brust  legt  Zeugnis  von  dem  guten  Verhältnis  der 
Ehegatten  zueinander  ab. 

Gainsborough  hat  diese  Komposition  öfters  wieder¬ 
holt.  Das  Exemplar  beim  Earl  of  Powis  in  London 
zeigt  im  Hintergründe  noch  eine  Krone,  hat  also  einen 
weniger  familiären  Charakter.  Auch  eines  oder  zwei 
andere  der  von  Armstrong  erwähnten  Bildnisse  scheinen 
damit  übereinzustimmen,  ein  Beweis,  daß  gerade  diese 
Auffassung  der  Königin  in  der  Familie  als  besonders 

gelungen  galt.  Auch 
Deutschland  besitzt  noch 
eine  Replik  derselben  in 
dem  Bilde  der  Ahnen¬ 
galerie  im  Fürstenhause  zu 
Herrenhausen  bei  Han¬ 
nover,  das  ich  mit  der 
gnädigen  Erlaubnis  Seiner 
Königlichen  Hoheit  des 
Herzogs  von  Cumberland 
und  des  Königlichen  Ober¬ 
präsidiums  der  Provinz 
Hannover  auf  S.  18  ab¬ 
bilde.  Ein  Vergleich  mit 
dem  Stuttgarter  Bilde 
würde  das  Verhältnis  der 
beiden  Porträts  zuein¬ 
ander,  das  oben  nicht 
ganz  richtig  dargestellt 
worden  ist,  sofort  auf¬ 
klären.  Der  Kopf  auf 
dem  Herrenhäuser  Bilde 
zeigt  nämlich  entschieden 
ältere  Züge  und  jenen 
etwas  müden  und  resig¬ 
nierten  Ausdruck,  den  das 
Gesicht  der  Königin  erst 
nach  dem  Tode  der  beiden 
jüngsten  Prinzen  (1782 
und  1783)  annahm.  Das 
Bild  in  Stuttgart,  das  noch 
volle  Züge  und  einen  fri¬ 
schen  jugendlichen  Aus¬ 
druck  zeigt,  muß  mehrere 
Jahre  früher  entstanden 
sein. 

Sehr  interessant  ist 
der  Vergleich  des  Ge¬ 
wandes  nach  der  Seite  der 
malerischen  Ausführung  hin.  Dieses  ist  zwar  auch 
bei  dem  Stuttgarter  Exemplar  sehr  rasch  und  impres¬ 
sionistisch  hingemalt,  zeigt  aber  trotzdem  eine  treffliche 
Charakteristik  des  seidenen  Stoffes  und  völlige  Be¬ 
herrschung  der  plastischen  Form,  so  daß  man  hier 
nur  an  ein  Arbeiten  unmittelbar  nach  der  Natur  denken 
kann.  Das  Kleid  auf  dem  Bilde  in  Herrenhausen  da¬ 
gegen  ist  flüchtig  und  ohne  tieferes  Verständnis  des 
Faltenwurfs  hingepinselt,  so  wie  man  es  etwa  tut, 
wenn  man  nach  einem  anderen  Bilde  arbeitet,  ohne 
sich  die  Mühe  zu  machen,  sich  über  alle  Einzelheiten 
von  neuem  auf  Grundlage  der  Natur  Rechenschaft  zu 


THOMAS  OAINSBOROUGH.  PORTRÄT  DER  KÖNIGIN  CHARLOTTE  VON  ENGLAND  IN  DER  AHNENGALERIE 
DES  FÜRSTENHAUSES  ZU  HERRENHAUSEN  BEI  HANNOVER 


THOMAS  GAINSBOROUGH.  PORTRÄT  KÖNIG  GEORGS  III.  VON  ENGLAND  IN  DER  AHNENGALERIE 
DES  FÜRSTENHAUSES  ZU  HERRENHAUSEN  BEI  HANNOVER 


3 


20 


'^ERr-ESSPNE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON  GAINSBOROUOH 


geben.  Man  darf  daraus  schließen,  daß  das  Herren¬ 
häuser  Bild  nach  dem  Stuttgarter  Bilde  (oder  nach 
einem  ihnen  beiden  zugrunde  liegenden  Original?) 
gemalt  ist,  wobei  der  Künstler  nur  den  Kopf  ent¬ 
sprechend  dem  inzwischen  erreichten  höheren  Alter 
der  Königin  neu  nach  dem  Leben  durchmodel¬ 
lierte,  die  Tracht,  den  Hintergrund  u.  s.  w.  aber  in 
der  früheren  Fassung  beibehielt.  Man  wird  ihm 
dieses  Verfahren  schwerlich  zum  Vorwurf  machen 
können.  Denn  bei  der  großen  Überhäufung  mit 
Aufträgen,  unter  der  er  in  den  achtziger  Jahren  des 
Jahrhunderts  auf  dem  Zenith  seines  Ruhmes  — 
zu  leiden  hatte,  konnte  er  nicht  alle  Exemplare  dieser 
Porträts,  die  ihm  überdies  wahrscheinlich  nicht  sehr 
hoch  bezahlt  wurden,  mit  gleicher  Sorgfalt  ausführen. 
Da  ihm  ohne  Zweifel  das  Original,  nach  dem  man 
eine  Kopie  zu  haben  wünschte,  namhaft  gemacht 
wurde,  ist  es  begreiflich,  daß  er  sich  die  Arbeit 
so  viel  wie  möglich  erleichterte,  und  man  kann  es  ihm 
schon  hoch  anrechnen,  daß  er  wenigstens  den  Kopf, 
wie  es  scheint,  immer  neu  nach  der  Natur  durch¬ 
arbeitete. 

Diese  Repliken  dienten  teilweise  als  Geschenke 
für  dem  Hofe  nahestehende  Personen,  teilweise 
wurden  sie  den  Prinzen  und  Prinzessinnen  mit¬ 
gegeben,  wenn  sie  sich  verheirateten  oder  den  Hof 
resp.  das  Vaterland  verließen.  So  erhielt  die  Prin- 
cess  Royal  wahrscheinlich  bei  ihrer  Verheiratung 
das  jetzige  Stuttgarter  Exemplar  als  Geschenk,  und  so 
werden  wir  annehmen  müssen  —  nachweisen  läßt 
es  sich  leider  nicht  mehr  —  daß  das  Exemplar  in 
Herrenhausen  aus  dem  Besitz  ihres  Bruders  Ernst 
August,  Herzogs  von  Cumberland,  späteren  Königs 
von  Hannover  stammt,  der  den  Hof  seiner  Eltern  zu¬ 
erst  1786  verließ,  um  die  Universität  Göttingen  zu 
beziehen.  Daß  die  Princess  Royal  das  beste  der  aus 
England  herauskommenden  Exemplare  erhalten  hat, 
ist  wohl  natürlich,  wir  wissen  übrigens  aus  ihrem 
Testament,  daß  sie  außer  den  beiden  noch  in  Würt¬ 
temberg  befindlichen  Porträts  ihrer  Eltern  noch  zwei 
andere  besessen  hat,  von  denen  eines,  ein  kleines  Kniestück 
der  Königin,  das  ihre  Schwester,  die  Prinzessin  Elisa¬ 
beth,  spätere  Landgräfin  von  Hessen,  von  ihr  erbte, 
in  ihrem  Testament  ausdrücklich  als  Werk  des  Qains- 
boroiigh  bezeichnet  wird.  Außerdem  hatte  sie  viele 
sehr  schöne  Miniaturporträts  und  Kupferstiche  nach 
ihren  englischen  Verwandten,  die  alle  noch,  teils  im 
neuen  Residenzschloß  in  Stuttgart,  teils  in  den  Schlös¬ 
sern  zu  Ludwigsburg  und  Monrepos  erhalten  sind. 
Da  sie  erst  1797,  also  lange  nach  dem  Tode  Gains- 
boroughs  (f  1 788)  heiratete,  kann  das  ihr  gehörige 
Porträt  der  Königin  natürlich  nicht  erst  gelegentlich 
ihrer  Verheiratung  gemalt  sein,  sondern  man  hat  es 
wahrscheinlich  bei  dieser  Gelegenheit  aus  dem  früheren 
Bestand  von  Familienbildnissen_  in  den  königlichen 
Schlössern  ausgesucht. 

Aus  der  häufigen  Wiederholung  dieser  Kompo¬ 
sition  würde  sich  auch  erklären,  daß  die  meisten  dieser 
Repliken  nicht  gerade  zu  den  besten  Werken  Gains- 
boroughs  gehören.  Es  müßte  mit  sonderbaren  Dingen 
zugehen,  wenn  ihnen  nicht  etwas  von  dem  Fabrik¬ 


betriebe  dieser  späteren  Zeit  anhaftete,  und  es  wäre, 
um  dem  Kunstwert  der  einzelnen  Exemplare  gerecht 
zu  werden,  zunächst  einmal  nötig  festzustellen,  welches 
von  ihnen  den  Archetypus  repräsentiert,  und  wie  sich 
die  anderen  Exemplare  zu  ihm  verhalten.  Da  die  in 
England  verbliebenen  Bilder,  soweit  ich  in  Erfahrung 
bringen  konnte,  nicht  photographiert  sind,  ist  diese 
Frage  vorläufig  nicht  zu  entscheiden.  Soviel  aber 
scheint  sicher,  daß  das  Stuttgarter  Bild  schon  wegen 
der  verhältnismäßig  jugendlichen  Erscheinung  der 
Königin  eines  der  früheren  Exemplare  sein  muß.  Und 
damit  stimmt  auch  die  plastische  Modellierung  des 
Gesichts,  die  z.  B.  im  Vergleich  mit  der  weichen  und 
lockeren  Behandlung  des  Prinzen  Octavius  vom  Jahre 
1783  darauf  hinweist,  daß  das  Bild  mindestens  einige 
Jahre  früher  entstanden  ist.  Dies  wird  auch  durch 
den  Vergleich  mit  dem  Brustbilde  der  Königin  in 
der  Windsorer  Serie  der  Brustbilder  der  königlichen 
Familie  und  in  Arolsen  bestätigt.  Denn  dieses  zeigt, 
wie  man  an  den  Photographien  sehen  kann,  ent¬ 
schieden  ältere  Züge,  und  da  sie,  wie  gesagt,  im  Jahre 
1783  gemalt  sind,  muß  das  Stuttgarter  Bild  mindestens 
zwei,  vielleicht  sogar  mehr  Jahre  früher  entstanden 
sein.  Die  ersten  Bildnisse  des  Königs  und  der  Königin, 
die  Gainsborough  ausgestellt  hat,  stammten  vom  Jahre 
1781.  Doch  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  er  schon 
vorher  den  einen  oder  anderen  Auftrag  vom  Hofe 
erhalten  hat.  Einige  Prinzen,  die  mit  Frauen  unter 
ihrem  Stande  verheiratet  waren,  hat  er  schon  in  den 
siebziger  Jahren  porträtiert,  woraus  man  schließen  darf, 
daß  er  bald  nach  seiner  Übersiedelung  von  Bath  nach 
London  im  Jahre  1774,  in  Beziehungen  zum  Hofe 
getreten  ist.  Ja  es  heißt,  daß  er  einen  der  Prinzen 
schon  während  seines  Aufenthaltes  in  Bath  porträtiert 
habe,  und  daß  der  König  schon  in  den  sechziger 
Jahren  durch  Bilder  von  ihm,  die  in  London  ausgestellt 
waren,  auf  ihn  aufmerksam  geworden  sei.  Man  wird 
also  vorläufig  nur  soviel  sagen  können,  daß  das  Por¬ 
trät  der  Königin  in  Stuttgart  um  1780,  vielleicht  auch 
noch  etwas  früher  gemalt  ist.  Dies  würde  auch  mit 
dem  Alter  der  Königin,  die  1744  geboren  war  und 
hier  als  eine  Frau  um  die  Mitte  der  Dreißiger  erscheint, 
sehr  gut  stimmen. 

Auf  jeden  Fall  dürfen  wir  die  Entstehung  des 
Stuttgarter  Bildes  in  die  beste  Zeit  des  Künstlers 
setzen.  Drmit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  daß  es 
seinen  besten  Werken,  dem  blue  boy,  der  Mrs.  Siddons, 
der  Miss  Graham,  den  Schwestern  Linley  u.  s.  w.  eben¬ 
bürtig  sei.  Das  ist  bei  einem  Porträt  höfischen  Cha¬ 
rakters  von  vornherein  nicht  sehr  wahrscheinlich.  Trotz 
der  viel  gerühmten  Leutseligkeit  der  Königin  wird  die 
Steifheit  des  Hofzeremoniells,  auf  dessen  Innehaltung 
streng  gesehen  wurde,  gerade  auf  eine  so  naive  Natur 
wie  Gainsborough  lähmend  gewirkt  haben.  Es  war 
auch  nicht  ganz  leicht,  die  Königin,  die  ja  bekannt¬ 
lich  keine  Schönheit  war,  so  zu  charakterisieren,  daß 
sie  ähnlich  und  doch  nicht  geradezu  häßlich  erschien. 
Aber  dazu  war  Gainsborough  gerade  der  richtige  Mann. 
Ein  Kritiker  der  Zeit  rühmte  ihm  nach,  daß  er  sogar 
»der  alten  Königin  einen  gewissen  malerischen  Reiz 
abzugewinnen  verstände«,  und  wenn  wir  von  Walpole 


GAINSBOROUGH.  KÖNIG  GEORG  III.  UND  KÖNIGIN  ANNA.  SCHLOSS  AROLSEN 


VERGESSENE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON  GAINSBOROUGH 


21 


hören,  daß  die  Königin  wenigstens  zur  Zeit  ihrer 
Verheiratung  blaß  gewesen  sei  und  einen  großen 
Mund  und  eine  breite  Nase  gehabt  habe,  Züge,  die  hier 
nur  andeutungsweise  wiedergegeben  sind,  so  werden 
wir  geneigt  sein,  Gainsborough  zu  den  idealisierenden 
Porträtmalern  zu  rechnen,  die  aus  höfischer  Schmeichelei 
oder  künstlerischer  Schwäche  ihre  Modelle  verschönern. 
Ich  glaube  in  der  Tat,  daß  seine  Fähigkeit,  das  Hä߬ 
liche  weniger  häßlich  erscheinen  zu  lassen,  wesent¬ 
lich  zu  seiner  Beliebtheit  am  Hofe  beigetragen  hat, 
und  verstehe  es  wiederum,  daß  diese  Eigenschaft 
unseren  modernen  realistisch  empfindenden  Porträt¬ 
malern  wie  ein  Verrat  an  der  Kunst  erscheint,  so  daß 
sie  für  diese  Art  »Schönmalerei«  nicht  sehr  viel  übrig 
haben.  Aber  wer  die  Dinge  historisch  aufzufassen 
gelernt  hat,  wird  zunächst  konstatieren,  daß  den  Zeit¬ 
genossen  diese  Idealisierung  durchaus  nicht  zum  Be¬ 
wußtsein  kam,  im  Gegenteil,  daß  sie,  wie  wir  aus 
dem  Munde  von  Reynolds  wissen,  gerade  die  Ähn¬ 
lichkeit  der  Gainsboroughschen  Porträts  besonders 
schätzten.  Allerdings  war  diese  Ähnlichkeit  anderer 
Art  als  diejenige  seiner  Vorgänger.  Wenn  man  sich 
davon  überzeugen  will,  braucht  man  nur  das  Porträt 
derselben  Königin  von  Allan  Ramsay,  dem  Vorgänger 
Gainsboroughs  in  der  Gunst  des  Hofes,  das  ich 
nach  einer  von  Herrn  Direktor  Dr.  Seidel  mir 
gütigst  zur  Verfügung  gestellten  Photographie  des 
im  Schloß  Wilhelmshöhe  befindlichen  Exemplars 
auf  Seite  i6  publiziere,  zu  vergleichen.  Es  gehört 
der  älteren  nüchtern  realistischen  Richtung  eines  Sir 
Godefroy  Kneller  und  Sir  Peter  Lely  an,  die  eben 
durch  Gainsborough  überwunden  wurde.  Und  wie 
viel  höher  steht  der  letztere!  Beim  älteren  Meister 
eine  leblose  und  mechanische  Übereinstimmung  mit 
der  Natur,  peinlich  bis  in  die  Einzelheiten  des  prunk¬ 
vollen  Krönungsornates  hinein,  ohne  Fähigkeit,  das 
Wichtige  vom  Unwichtigen  zu  unterscheiden;  der 
Mensch  nicht  aufgefaßt  als  der  dominierende,  geistige 
Träger  des  Ganzen,  sondern  als  Kleiderständer,  als 
Mittel  zur  Entfaltung  kostümlichen  Prunkes.  Beim  jünge¬ 
ren  Meister  größte  Einfachheit  des  Kostüms,  absichtliche 
Vernachlässigung  des  Schmucks  —  wie  unkörperlich 
sind  z.  B.  die  Perlen  gemalt!  —  dagegen  bewußte 
Konzentration  der  Wirkung  auf  den  geistigen  Ausdruck 
des  Gesichts,  kurz  wahre  Kunst  an  Stelle  bloßer 
handwerklicher  Kunstfertigkeit.  Man  kann  die  Richtung, 
in  der  Gainsborough  epochemachend  für  die  höfische 
Porträtmalerei  seiner  Zeit  wurde,  nicht  besser  als  durch 
diese  Nebeneinanderstellung  charakterisieren. 

Dabei  brauchen  wir  aber  für  die  Schwächen  dieser 
Richtung  keineswegs  blind  zu  sein.  Dem  modernen 
Realisten  sind  schon  die  Versatzstücke  der  van  Dyck- 
schen  Porträtkunst,  die  Säule  mit  dem  pompösen 
Vorhang,  der  Blick  in  den  Park  mit  der  Palastarchi¬ 
tektur  unsympathisch.  Aber  der  vornehme  und  geist¬ 
reiche  van  Dyck  war  eben  der  Lehrmeister,  der  Gains¬ 
borough  den  Weg  zeigte,  auf  dem  er  die  ältere,  nüchterne 
Richtung  überwinden  konnte.  So  ist  es  natürlich,  daß 
auch  die  Schwächen  des  Vorbildes  in  die  Kunst  des 
Nachahmers  übergingen,  und  man  muß  wenigstens 
zugeben,  daß  diese  Requisiten  niemals  passender  an¬ 


gewendet  worden  sind  als  bei  diesem  Porträt  einer 
Königin.  Bedenklicher  ist  die  puppenhaft  leere  Aus¬ 
führung  der  Arme  und  Hände,  der  gegenüber  man 
wohl  von  Decadence  sprechen  kann,  wenn  man  auch 
zugeben  muß,  daß  Gainsborough  hier  nur  etwas 
weiter  auf  der  schiefen  Ebene  fortgeschritten  ist,  auf 
die  van  Dyck  mit  seinen  leeren  konventionellen  Hän¬ 
den  die  Kunst  gelenkt  hatte.  Unverhältnismäßig  sorg¬ 
fältig,  fast  zudringlich  ist  dann  wieder  das  Porträt 
des  Königs  in  dem  Medaillon  ausgeführt,  wiederum 
wahrscheinlich  eine  Konzession  an  die  höfische  Eti¬ 
kette  und  eine  Rücksicht  auf  den  hohen  Gemahl. 

Im  übrigen  ist  hier  mit  vollem  Bewußtsein  das 
Prinzip  durchgeführt,  nur  die  Hauptsache,  das  Gesicht 
sorgfältig  durchzumodellieren,  alles  übrige  dagegen 
skizzenhaft  zu  behandeln.  An  dem  aufgesprungenen 
Farbkörper  erkennt  man,  daß  der  Kopf  sehr  pastös 
in  mehreren  übereinanderliegenden  Farbschichten  aus¬ 
geführt  ist,  wobei  der  Künstler  sich  der  Lasur  in  sehr 
wirksamer  Weise  bedient  hat,  um  den  Charakter  der 
gepuderten  Haut  und  der  Haare  hervorzubringen.  Es 
scheint,  daß  ihm  die  Ähnlichkeit  nicht  gleich  gelang, 
und  daß  er  wiederholt  übermalen  mußte,  ehe  er  seine 
Intention  erreichte.  Um  so  leichter  und  flüssiger  ist 
alles  andere  gemalt. 

Man  hat  Gainsborough  mit  einem  gewissen  Recht 
den  ersten  Impressionisten  genannt,  womit  man  spe¬ 
ziell  den  freien  malerischen  Farbauftrag  bei  der  Aus¬ 
führung  der  Akzessorien  andeuten  wollte,  jenen 
breiten,  flotten  Pinselstrich,  bei  dem  die  Töne  erst  in 
einiger  Entfernung  Zusammengehen,  dann  aber  um  so 
frischer  und  lebhafter  wirken.  Er  ist  zwar  nicht  der 
erste,  der  die  Pinselstriche  stehen  gelassen  und  die 
Lokalfarben  in  mosaikartig  nebeneinander  gestellte  Far¬ 
bentöne  aufgelöst  hat  —  die  Niederländer  des  17.  Jahr¬ 
hunderts,  ebenfalls  seine  großen  Lehrmeister,  waren 
ihm  hierin  vorangegangen  —  aber  er  war  der  erste, 
der  die  Vernachlässigung  der  Nebendinge  und  die 
Konzentration  der  Ausführung  auf  die  Hauptsache, 
nämlich  das  Gesicht,  zum  Prinzip  erhob:  Lenbach  ist 
hierin  sein  getreuer  Schüler  gewesen.  Und  daß  selbst 
ein  so  gescheuter  und  weitherziger  Kritiker  wie  Rey¬ 
nolds  in  seiner  klassischen  Gedächtnisrede  auf  seinen 
großen  Rivalen  diese  Art  und  Weise,  deren  illusio¬ 
nistische  Wirkung  er  wohl  empfand,  mehr  entschul¬ 
digen  als  loben  zu  müssen  glaubte,  ist  ein  Beweis, 
wie  neu  und  ungewohnt  sie  in  der  englischen  Malerei 
jener  Zeit  war.  Man  kann  sich  keine  bessere  Illu¬ 
stration  zu  der  Reynoldsschen  Charakteristik  dieser 
Malweise  denken  als  unser  Porträt.  Die  Gefahren, 
die  diese  Technik  mit  sich  bringt,  sind  hier  noch  völlig 
vermieden,  dagegen  kann  man  sie  an  dem  Herren¬ 
häuser  Porträt  erkennen,  bei  dem  man  den  Eindruck 
hat,  daß  das  »Streichen«  Selbstzweck  geworden  ist, 
nicht  mehr  zur  Veranschaulichung  der  plastischen 
Form  dient. 

Sehr  viel  weniger  gut  als  die  beiden  Porträts  der 
Königin  sind  die  zwei  ihnen  als  Gegenstücke  die¬ 
nenden  Porträts  des  Königs  Georg  ///.  in  Ludwigs¬ 
burg  und  Herrenhausen.  Ich  publiziere  deshalb  von 
ihnen  nur  auf  S.  19  das  letztere,  indem  ich  bemerke. 


22 


VERGESSENE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON  GAINSBOROUGH 


da!)  das  Ludwigsburger  Exemplar  in  der  Stellung 
und  irn  Kostüm  nur  wenig  davon  abweicht.  Der 
König  trägt  nämlich  hier  statt  der  Stulpenstiefel  weiße 
Strümpfe  und  Schnallenschuhe,  und  die  Haltung  der 
Arme  ist  etwas  verschieden.  Die  Tracht  ist  bei  beiden 
Bildern  die  sogenannte  Windsoruniform,  blau  mit 
Goldtressen  und  roten  Aufschlägen.  Bei  dem  Lud¬ 
wigsburger  Porträt  bin  ich  sicher,  daß  es,  wenigstens 
in  dem  Zustande,  in  dem  es  sich  jetzt  befindet,  nicht 
von  Gainsborough  ist.  Vielleicht  war,  als  die  Princess 
Royal  heiratete,  kein  Originalporträt  des  Königs  mehr 
disponibel  und  mußte  deshalb  eine  Kopie  nach  einer  auch 
sonst  in  England  mehrfach  vorkommenden  Komposition 
Gainsboroughs  angefertigt  werden.  Vielleicht  ist  das 
Bild  auch  einmal  in  Ludwigsburg  übermalt  worden. 
Jedenfalls  kann  nur  die  Komposition  auf  Gainsborough 
zurückgeführt  werden.  Das  Herrenhäuser  Porträt  mag 
wenigstens  teilweise  eigenhändig  sein,  ist  aber,  wie 
schon  die  Abbildung  zeigt,  keine  erfreuliche  Leistung. 
Die  Stiefel  und  der  Erdboden  sind  unerlaubt  lang¬ 
weilig  gemalt,  und  wenn  man  auch  zugeben  mag, 
daß  Gainsborough  an  dem  Porträt  des  Königs  we¬ 
niger  Freude  gehabt  hat  als  an  dem  der  Königin,  so 
kann  man  doch  angesichts  dieser  Schwächen  an  der 
Eigenhändigkeit  nur  festhalten  mit  der  Entschuldigung: 
Quandoque  bonus  dormitat  Homerus.  Die  Steifheit 
und  das  Zeremonielle  der  Haltung  ist  freilich  nicht 
Gainsboroughs  Schuld.  Im  Gegenteil,  es  scheint,  daß 
er  damit  das  hochmütige  und  dabei  etwas  bornierte 
Wesen  des  Königs  zum  Ausdruck  hat  bringen  wollen. 
Und  das  ist  ihm  ganz  gut  gelungen.  Auch  hier  ist  ein 
Vergleich  mit  dem  Bilde  von  Allan  Ramsay  (S.  17)  sehr 
instruktiv.  Man  fühlt,  auch  ohne  das  Modell  gesehen 
zu  haben,  daß  Gainsborough  die  Persönlichkeit  des 
Königs  viel  besser  getroffen  hat  als  sein  Vorgänger 
mit  der  leeren  und  konventionellen  Schönheitspose. 

*  ^ 

* 

Ein  besonders  interessantes,  kunst-  und  kultur¬ 
historisch  wichtiges  Bild  ist  das  auf  Tafel  3  abgebildete, 
das  bisher  nur  durch  den  Katalog  der  Stuttgarter 
Gemäldegalerie  in  die  Kunstliteratur  eingeführt  war: 
Georg  III.  und  sein  Hof  auf  der  Terrasse  des  Schlosses 
von  Windsor.  Es  gehört  ebenfalls  der  Königin  Char¬ 
lotte  Mathilde-Stiftung  und  ist  der  Stuttgarter  Galerie 
etwa  gleichzeitig  mit  den  beiden  besprochenen  Por¬ 
träts  überwiesen  worden.  Als  ich  es  zum  erstenmal 
sah,  hing  es  in  einem  der  dem  Publikum  nicht  zu¬ 
gänglichen  Zimmer  des  oberen  Geschosses  des  Lud¬ 
wigsburger  Schlosses,  ist  also  vor  dem  Jahre  1902 
wohl  niemals  von  einem  Kunsthistoriker  gesehen 
worden. 

Das  Bild  verdankt  seine  Entstehung  offenbar  einer 
privaten  Bestellung  der  königlichen  Familie,  da  es  ja 
ebenso  wie  die  beiden  anderen  Bilder,  von  der  eng¬ 
lischen  Prinzessin  mit  nach  Württemberg  gebracht 
worden  ist.  Nach  dem  Gegenstände  der  Darstellung 
begreift  man  wohl,  daß  die  Princess  Royal,  für  die 
sich  die  schönsten  Jugenderinnerungen  damit  ver¬ 
knüpften,  Wert  auf  seinen  Besitz  legen  mußte.  Der 


familiäre  Charakter  des  Bildes  ist  wohl  die  Ursache, 
daß  es  nie  öffentlich  ausgestellt  war,  woraus  sich 
auch  erklärt,  daß  es  in  der  gleichzeitigen  englischen 
Literatur  nicht  erwähnt  wird. 

Dargestellt  ist  eine  der  häufigen  Promenaden  der 
königlichen  Familie  auf  der  Terrasse  von  Windsor 
Castle,  die  uns  in  gleichzeitigen  Memoiren  genau  so 
beschrieben  werden,  wie  wir  sie  hier  sehen.  Diese 
Promenaden  pflegten  nachmittags  um  5  Uhr  stattzu¬ 
finden,  und  die  bei  Hofe  Eingeführten  oder  in  Windsor 
Vorzustellenden  waren  dabei  zugelassen,  so  daß  die 
Terrasse  oft  von  vornehmen  Personen  wimmelte,  die  sich 
beim  Herannahen  des  königlichen  Zuges  respektvoll 
gegen  die  Mauer  des  Schlosses  zurückzogen  und  nach 
Passieren  desselben  hinten  anschlossen.  Alles  das  war 
genau  geregelt,  und  ein  Verstoß  gegen  die  Sitte  wäre  sehr 
übel  vermerkt  worden,  wie  denn  überhaupt  das  Leben 
des  Hofes  in  Windsor  genau  nach  der  Uhr  geordnet 
und  allem  Anschein  nach  bodenlos  langweilig  war. 
Es  gehörte  schon  eine  gewisse  künstlerische  Kraft 
dazu,  aus  dieser  echten  Hofszene  ein  so  hübsches 
malerisches  Bild  zu  machen,  wie  es  unser  Künstler 
getan  hat.  Die  »lustigen  Weiber  von  Windsor« 
könnte  man  es  nennen,  denn  das  weibliche  Element 
und  die  bunten  malerischen  Toiletten  überwiegen 
durchaus.  Nur  die  Damen  der  königlichen  Familie 
unterscheiden  sich  durch  ihre  schlichten  weißen  Reif¬ 
röcke  und  ihre  gradrandigen  weißgarnierten  Stroh¬ 
hüte  in  charakteristischer  Weise  von  allen  anderen 
Damen  der  Szene. 

Es  ist  der  Moment  dargestellt,  wo  der  Zug  der 
königlichen  Eamilie,  aus  dem  im  Hintergründe  sicht¬ 
baren  Gebüsch  des  Parkes  hervorkommend,  die  Ter¬ 
rasse  eben  betritt.  An  der  Spitze  schreitet  der  König 
in  Windsoruniform,  die  Königin  am  Arme  führend. 
Während  er  durch  Abnehmen  des  Hutes  in  besonders 
gnädigerWeise  einen  jungen,  vornehm  gekleideten  Mann 
in  rotem  Rocke,  weißer  Weste,  Hosen  und  Strümpfen 
grüßt,  der  den  Hut  tief  vor  ihm  abzieht,  wendet  sich 
die  Königin  nach  links,  wo  innerhalb  einer  Gruppe 
von  zwei  Damen  mit  einem  kleinen  Mädchen  und 
zwei  Herren  ganz  im  Vordergründe  die  berühmte 
Schauspielerin  Mrs.  Sarah  Siddons  erscheint.  Ihr 
Äußeres,  besonders  die  stark  vorspringende  gekrümmte 
Nase,  ist  uns  aus  zahlreichen  Bildnissen  bekannt,  so 
daß  über  ihre  Identifikation  kein  Zweifel  sein  kann. 
Wenn  man  es  nicht  wüßte,  daß  sie  Tragödin  war, 
würde  man  es  aus  ihrer  Haltung  erkennen:  Jeder 
Zoll  eine  Königin. 

Hinter  dem  Königspaare  schreitet  zunächst  allein 
die  Princess  Royal,  dann  folgen  zwei  weitere  Prin¬ 
zessinen,  hinter  ihnen  kommt  ein  noch  sehr  jugend¬ 
licher  Prinz,  neben  dem  eine  wie  es  scheint  ältere 
Dame  geht,  die  sich  durch  ein  dunkles  Brusttuch  von 
den  übrigen  Damen  der  Familie  unterscheidet.  Viel¬ 
leicht  ist  es  die  Prinzessin  von  Wales,  die  Mutter 
des  Königs.  Dann  folgen  wieder  zwei  Damen,  die  ent¬ 
weder  zur  Familie  oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  zum 
engeren  Hofstaat  gehören.  Denn  die  meisten  Prin¬ 
zessinnen  waren  damals  noch  nicht  erwachsen,  die 
älteste  erst  17  Jahre  alt. 


VERGESSENE  UND  NEUENTDECKTE  BILDER  VON  OAINSBOROUGH 


23 


Von  den  übrigen  Personen  der  Szene  ist  mit 
Sicherheit  nur  noch  zu  identifizieren  der  kleine  Prinz 
Octavius,  der  etwas  rechts  vom  Könige  vor  einer 
Gruppe  von  drei  wie  es  scheint  nicht  der  könig¬ 
lichen  Familie  angehörigen  Damen  steht.  An  den  vom 
König  gegrüßten  jungen  Herrn  schließen  sich  rechts 
wieder  eine  Reihe  von  Damen  an,  über  denen  auf 
der  Treppe  zur  »Lodge«  die  Musik,  sechs  Bläser,  die 
wahrscheinlich  einen  Marsche  aufspielen,  postiert  sind. 
Die  zwei  Kinder,  die  außer  dem  Prinzen  Octavius 
auf  dem  Bilde  erscheinen,  sind  wahrscheinlich  uner¬ 
wachsene  Prinzen  oder  Prinzessinnen,  doch  ist  es 
nicht  ganz  leicht,  sie  zu  identifizieren,  da  die  Datie¬ 
rung  des  Bildes  einige  Schwierigkeiten  macht. 

Da  der  Prinz  Octavius  am  3.  Mai  1783  starb, 
liegt  es  am  nächsten,  die  dargestellte  Szene,  wenn 
man  in  ihr  überhaupt  ein  bestimmtes  Ereignis  am 
Hofe  erkennen  will,  vor  diesen  Tag  zu  datieren. 
Nun  ist  aber  die  Jahreszeit,  die  dem  Künstler  bei  der 
Charakterisierung  der  Landschaft  vorschwebte,  offen¬ 
bar  der  Hochsommer,  wie  man  aus  der  Farbe  des 
Laubes  deutlich  erkennen  kann.  An  den  Sommer  des 
Jahres  1782  oder  gar  1781  zu  denken,  geht  aber  des¬ 
halb  nicht  an,  weil  die  Sarah  Siddons,  wie  wir  aus 
ihren  Memoiren  wissen,  erst  seit  Januar  1783  bei 
Hofe  eingeführt  war,  und  zwar  infolge  der  Triumphe, 
die  sie  während  ihrer  ersten  Londoner  Saison  am 
Drury  Lane-Theater  seit  Oktober  1782  errungen  hatte. 
Sie  erzählt  selbst,  daß  sie  seit  dem  Jahre  1783  sehr 
häufig  nach  Buckingham  Palace  und  Windsor  ein¬ 
geladen  worden  sei,  um  den  Majestäten  vorzulesen, 
und  ihr  Biograph  Campeil  meint  sogar,  sie  habe  eine 
Art  Anstellung  als  Vorleserin  bei  den  Prinzessinnen 
gehabt,  wofür  indessen  die  Beweise  fehlen.  Jeden¬ 
falls  darf  man  aus  ihrem  Auftreten  in  dem  Bilde 
schließen,  daß  dieses  nicht  vor  dem  Sommer  1783 
gemalt  sein  kann,  also  in  einer  Zeit,  als  der  Prinz 
Octavius  schon  tot  war,  so  daß  also  sein  Auftreten 
ein  kleiner  Anachronismus  sein  würde.  Eine  be¬ 
trächtlich  spätere  Datierung  ist  dagegen  ganz  ausge¬ 
schlossen,  da  der  Maler  das  Kind  dann  gewiß  nicht 
mehr  unter  den  Lebenden  dargestellt  hätte.  Aus 
Londoner  Zeitungsnotizen,  die  mir  Herr  Vine  Cronin 
in  London  so  liebenswürdig  war  zur  Verfügung  zu 
stellen,  entnehme  ich,  daß  die  königliche  Familie  am 
5.  Juni  des  Jahres  wieder  nach  Windsor  übersiedelte, 
um  den  Rest  des  Sommers  dort  zuzubringen. 

Kommen  wir  damit  auf  den  Juni  oder  Juli  des 
Jahres  1783  als  die  wahrscheinliche  Entstehungszeit 
des  Bildes,  so  liegt  es  nahe,  in  dem  jungen  Manne, 
der  hier  offenbar  zum  erstenmal  bei  Hofe  vorgestellt 
wird,  den  damals  vierundzwanzigjährigen  Kapitän 
Nelson  zu  erkennen,  der,  wie  wir  aus  seiner  eigenen 
Korrespondenz  wissen,  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem 
spanisch-amerikanischen  Kriege  ungefähr  am  15.  Juli 
des  Jahres  1783  nach  Windsor  befohlen  wurde,  um 
von  seinem  Zögling  und  Freunde,  dem  Prinzen 
William  Henry,  vor  dessen  Einschiffung  nach  dem 
Kontinent  Abschied  zu  nehmen.  Diesen  würde  man 
dann  also  in  dem  jungen  Prinzen  im  Hintergründe 
zu  erkennen  haben,  was  mit  dessen  Alter  ganz  gut 


stimmen  würde.  Doch  steht  dieser  Hypothese,  die 
ich  schon  in  dem  Katalog  der  Stuttgarter  Gemälde¬ 
galerie  frageweise  ausgesprochen  habe,  entgegen,  daß 
die  Tracht  des  jungen  Mannes  nicht  die  blaue  Uniform 
der  damaligen  Marinekapitäne  ist,  sondern  mehr  einem 
vornehmen  Hofmann,  etwa  einem  Gesandten  oder  frem¬ 
den  Prinzen  zu  gehören  scheint.  Vielleicht  hängt  die  An¬ 
wesenheit  dieses  Mannes  mit  einer  der  allerdings  erfolg¬ 
los  gebliebenen  Werbungen  um  englische  Prinzessinnen 
zusammen,  von  denen  wir  gerade  in  den  achtziger 
Jahren  hören.  Vielleicht  halte  der  Maler  auch  gar 
nicht  die  Absicht,  eine  bestimmte  Szene  darzustellen, 
sondern  nur  im  allgemeinen  ein  höfisches  Genrebild  zu 
geben,  auf  dem  allerlei  Personen  vereinigt  sein  konnten, 
die  zu  verschiedenen  Zeiten  am  Hofe  verkehrt  hatten. 

Mag  dem  nun  sein,  wie  ihm  wolle,  jedenfalls  sind 
wir  zu  dem  interessanten  Ergebnis  gekommen,  daß 
das  Bild  gerade  im  Sommer  des  Jahres  gemalt  worden 
ist,  in  welchem  sich  Gainsborough,  um  die  oben  er¬ 
wähnten  Porträts  der  königlichen  Familie  zu  malen, 
längere  Zeit  in  Windsor  aufgehalten  hat.  Es  läßt 
sich  nicht  leugnen,  daß  dadurch  der  Blick  zuerst  auf 
ihn  als  vermutlichen  Urheber  des  Werkes  gelenkt  wird, 
und  ich  muß  offen  gestehen,  daß  ich  selbst  das  Bild 
schon  ehe  ich  diese  Kombination  angestellt  hatte, 
wenn  auch  mit  einem  starken  Fragezeichen,  ihm 
zugeschrieben  habe.  Ich  wurde  dazu  noch  durch 
andere  Erwägungen  veranlaßt.  Gerade  Gainsborough 
hat  mehrere  Bilder  dieser  Art,  das  heißt  in  diesem 
Verhältnis  der  Figuren  zur  Landschaft,  gemalt.  Ich 
erinnere  nur  an  den  bekannten  Spaziergang  des  Herzogs 
von  Cumberland,  des  Bruders  des  Königs,  mit  seiner 
Gemahlin  und  in  Anwesenheit  von  deren  Schwester 
in  einem  Park,  und  an  die  Gruppe  der  Prinzessinnen 
und  Hofdamen  im  S.  James-Park,  genannt  the  Mall, 
die  ja  zu  seinen  schönsten  Bildern  gehören.  Herr 
Vine  Cronin  teilt  mir  sogar  mit,  daß  ein  verschollenes 
Bild  Gainsboroughs  die  Prinzessinnen  auf  der  Treppe 
des  Schlosses  in  Windsor  dargestellt  habe,  also  eine 
Szene,  die  der  unserigen  in  der  Auffassung  gewiß 
ziemlich  ähnlich  war.  Dazu  kommt,  daß  die  im¬ 
pressionistische,  wenn  auch  etwas  grobe  Art,  wie  die 
Gewänder  behandelt  sind,  und  vor  allem  die  leeren 
spitzfingerigen  Hände  sehr  an  den  Künstler  erinnern. 
Im  übrigen  ist  das  Bild  nicht  ohne  künstlerisches  Ver¬ 
dienst.  Die  Art,  wie  der  königliche  Zug  aus  dem 
Hintergründe  nach  vorn  kommt,  zeugt  von  einer  be¬ 
merkenswerten  Fähigkeit,  Raumillusion  zu  erzeugen, 
und  die  Gruppe  zur  Linken  ist  koloristisch  sehr  fein 
behandelt,  wie  überhaupt  die  Farben  der  bunten  ma¬ 
lerischen  Kostüme  dem  Ganzen  einen  höchst  lustigen 
Charakter  geben.  Ich  begreife  deshalb  wohl,  daß 
mehrere  Kenner  der  englischen  Malerei  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  beim  Anblick  der  Photographie  am  meisten 
an  Gainsborough  erinnert  wurden. 

Dennoch  glaube  ich,  daß  eine  Untersuchung  des 
Originals  zu  einem  anderen  Ergebnis  führen  muß. 
Für  einen  Porträtmaler  von  der  feinen  Charakte- 
risierungsfähigkeit  Gainsboroughs  sind  die  meisten 
Köpfe  denn  doch  zu  puppenhaft  mit  ihrem  insipiden 
Lächeln  und  ihren  rotgescliminkten  Wangen.  Und 


24 


zu  MARIE  STEINS  PREISRADIERUNG 


die  starke  Vernachlässigung  der  rechten  Hälfte  des 
Bildes,  die  langweilige  Ausführung  der  Architektur, 
die  kompakte  Behandlung  des  Laubes,  vor  allem  aber 
die  poesielose  Stimmung,  die  über  dem  Ganzen  liegt, 
und  eine  gewisse  nüchterne  Sachlichkeit  des  Vortrags, 
alles  das  will  nicht  recht  zu  seiner  geistreichen  Art 
stimmen.  Ich  möchte  deshalb  annehmen,  daß  das  Bild, 
wenn  Gainsboroiigh  es  auch  möglicherweise  entworfen 
und  vielleicht  sogar  einzelne  Teile  daran  ausgeführt  hat, 
doch  im  wesentlichen  von  einem  Maler  der  jüngeren 
Generation  gemalt  worden  ist,  die  unter  seinem  Ein¬ 
fluß  stand,  etwa  von  Hoppner  oder  Beechey  oder 


Opie,  dem  jüngeren  Ramberg  u.  s.  w.  Doch  fehlt 
mir  das  bildliche  Material,  um  die  Frage  durch  Ver¬ 
gleichung  zu  entscheiden,  und  besonders  bin  ich 
außerstande,  das  Porträt  des  jungen  en  face  dar¬ 
gestellten  etwa  zwanzig-  bis  fünfundzwanzigjährigen 
Mannes  zur  Linken,  in  dem  wir  wie  es  scheint  ein 
Selbstporträt  des  Malers  erkennen  dürfen,  zu  identi¬ 
fizieren.  Daß  es  nicht  Gainsborough  sein  kann,  der 
damals  schon  sechsundfünfzig  Jahre  alt  war,  liegt  auf 
der  Hand.  Ich  möchte  die  Frage  deshalb  den  eng¬ 
lischen  Kennern  der  Malerei  des  1 8.  Jahrhunderts  ans 
Herz  legen.  Vielleicht  sind  sie  glücklicher  als  ich. 

KON  RAD  LANGE. 


ZU  MARIE  STEINS  PREISRADIERUNG 

Der  diesem  Hefte  beigegebenen  Originalradierung  von  Fräulein  Marie  Stein-Oldenburg  wurde  von 
der  Jury  unseres  vorjährigen  Wettbewerbes,  den  Herren  Professoren  Klinger,  Liebermann,  Köpping,  Tschudi, 
Lehrs  und  Graul,  der  dritte  Preis  zuerkannt.  Den  älteren  Abonnenten  der  »Zeitschrift  für  bildende  Kunst« 
wird  Marie  Steins  geistvolle  Auffassung  in  der  Darstellung  und  sichere  Beherrschung  der  Technik  bereits  bekannt 
sein,  da  wir  schon  im  Jahre  1899  eine  preisgekrönte  Kaltnadelarbeit  der  Künstlerin  veröffentlichen  konnten. 


MAX  KLINGER.  DER  ABEND 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf,,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI 


MARIE  STEIN, 


ORIGINAI.RADIERIJNG 


Am  5.  Oktober  ist  Ernst  Arthur  Seemann,  der 
Begründer  dieser  Zeitschrift  und  des  Hauses 
E.  A.  Seemann  im  gesegneten  Alter  von  fünf¬ 
undsiebzig  Jahren  entschlafen. 

Es  darf  heute  gesagt  werden,  daß  der  Verstorbene 
diese  Zeitschrift  geschaffen  hat;  denn  ihre  Entstehung 
ist  in  seinem  Kopfe  zu  suchen.  Carl  von  Lützow, 
mit  dem  Seemann  seit  Mitte  1864  persönlich  bekannt 
geworden  war,  wandte  sich  an  seinen  Verleger  wegen 
Fortführung  der  »Recensionen  und  Mittheilungen  über 
bildende  Kunst«  unterm  27.  Oktober  1865.  Darauf 
erwiderte  Seemann  am  30.  Oktober: 

»Ich  hatte  mir  schon  vorgenommen.  Ihnen  heute  zu 
schreiben,  um  endlich  eine  alte  Briefschuld  einzulösen,  als 
Ihr  Brief  vom  27.  Oktober  eintraf.  Die  darin  enthaltenen 
Mitteilungen  spornen  mich  natürlich  an  nicht  länger  zu 
säumen.  Ich  komme  der  Reihe  nach  auf  die  einzelnen 
Gegenstände,  welche  erledigt  sein  wollen,  und  fange  mit 
demjenigen  an,  welcher  vielleicht  am  wenigsten  Aufschub 
erleiden  kann:  die  zu  ermöglichende  Fortsetzung  der 
»Recensionen«,  deren  Eingehen  ich  natürlich  ebensosehr 
bedauern  muß,  als  alle  Freunde  der  Kunstwissenschaft. 
Allerdings  wird  es  nicht  leicht  sein,  ein  ähnliches  Organ 
an  die  Stelle  zu  setzen,  wenn  dasselbe  rentabel  werden 
oder  wenigstens  die  Kosten  der  Herstellung  decken  soll. 
Aber  es  geht  doch  —  es  muß  meines  Erachtens  gehen, 
wenn  gewisse  Konzessionen  im  Interesse  des  großen 
Publikums  gemacht  werden,  welches  gern  von  Kunst  und 
Künstlern  sprechen  hört  oder  selbst  spricht,  ohne  gerade 
mit  wissenschaftlichem  Ernst  dabei  zu  sein.  Die  erste 
große  Hauptsache  ist  die,  daß  das  Blatt  illustriert  wird. 


und  daß  diese  Illustrationen  zunächst  sich  auf  die  Gegen¬ 
wart,  auf  hervorragende  Erzeugnisse  der  modernsten  Kunst 
stützen,  ähnlich  wie  es  in  Frankreich  die  Gaz.  des  beaux 
arts  mit  ihren  Salonberichten  macht.« 

Hierauf  folgt  ein  Programmentwurf,  der  mit  ge¬ 
nauen  Einzelheiten  entwickelt  wird,  just  so,  wie  das 
Blatt  hernachmals  in  die  Erscheinung  trat.  Umfang, 
Format,  Inhalt,  Gliederung,  Abwechselung,  Bilder¬ 
schmuck,  Preisberechnung,  alles  wird  mit  Deutlich¬ 
keit  sogleich  vorgestellt.  Alsdann  lautet  der  Brief 
weiter: 

»Bei  einer  Subvention  von  1500  Thlrn.  würde  ich  gerne 
bereit  sein,  das  Unternehmen  ins  Leben  zu  rufen  und  auf 
ein  Jahr  fortzusetzen,  wenn  Sie  die  Redaktion  übernehmen 
wollten.  Für  das  Arrangement  würde  ich  selbst  Sorge 
tragen,  eventuell  wird  gewiß  auch  Herr  von  Zahn  bereit 
sein,  gegen  eine  mäßige  Vergütung  das  redaktionelle 
Arrangement  jeder  Nummer  zu  übernehmen.  Ich  würde 
mich  dann  verpflichten,  die  subventionirte  Summe  mit 
Zinsen  zurückzuzahlen,  sobald  der  Absatz  die  normale 
Höhe  erreicht.« 

Aus  der  Subvention  wurde  nichts.  Das  Projekt 
kam  aber  ohne  solche  zu  stände,  und  zwar  ist  aus 
der  nachfolgenden  Korrespondenz  ersichtlich  wie  ge¬ 
schickt  der  Verleger  die  einzelnen  Kapazitäten  heran¬ 
zieht,  ihnen  bestimmte  Aufgaben  stellt,  vermittelnd, 
ordnend,  beschwichtigend  eingreift,  wo  es  nötig  scheint. 

Die  Regierung  widmete  dem  neuen  Unternehmen 
schon  ehe  es  erschien,  eine  besondere  Aufmerksamkeit. 
Sie  verlangte  nämlich  eine  Kaution  von  800  Talern, 


BIiMW 


»SB 


was  dem  etwas  erschreckten  Verleger  am  24.  Dezember 
1865  als  Weihnachtsüberraschung  mitgeteilt  wird, 
■^rotz  des  dagegen  ergriffenen  Rekurses  mußte  die 
Hälfte  der  Summe  alsbald  erlegt  werden;  sie  wurde 
aber  später  mit  Zinsen  für  einen  Monat  zurück¬ 
erstattet:  offenbar  lag  kein  staatsgefährliches  Unter¬ 
nehmen  vor.  Anfangs  sollte  das  Blatt  auf  Vorschlag 
des  Verlegers  Propyläen'  genannt  werden,  wobei  an 
die  Goethische  Schöpfung  gedacht  wurde;  C.  von 
Lützow  wünschte  dagegen  lieber  Athenäum«  — dieser 
Titel  war  einst  von  den  Gebrüdern  Schlegel  für  ihre 
Zeitschrift  gewählt  worden.  Schließlich  einigte  man 
sich  dahin,  die  fremdartigen  Bezeichnungen  fallen  zu 
lassen  und  den  ursprünglich  beabsichtigten  Neben¬ 
titel  »Zeitschrift  für  bildende  Kunst«  zum  Haupttitel 
zu  machen. 

Für  das  erste  Heft  hatte  v.  Lützow  einen  Aufsatz 
eingesandt,  der  dem  Verleger  der  Zeitschrift  als  Debüt 
recht  mißfiel.  Er  schreibt  am  3.  Januar  1866: 

Den  .  .  .  Artikel  bitte  ich  in  Nr.  2  zu  schieben  oder 
nur  bruchstückweise  in  zwei  späteren  Nummern  zu  geben. 
Ich  muß  gestehen,  ich  liabe  mich  über  das  behagliche 
Geistreichtun  des  Mannes  ein  wenig  entsetzt.  Das  ist  ja 
der  burschikoseste  Feiiilletonstil  den  jemand  schreiben 
kann!  Ich  glaube,  Sie  werden  selbst  fühlen,  daß  wir 
damit  nicht  debütieren  können  .  .  .  Wenn  wir  ja  den 
Artikel  für  später  verwenden,  so  muß  darin  manches  unter¬ 
drückt  und  manches  gemildert  werden.  Gleich  Eingangs 
fällt  die  Behauptung,  die  gesamte  moderne  Malerei  mache 
einen  , unausstehlich  plebejischen*  Eindruck  höchst  unan¬ 
genehm  auf;  da  ist  doch  die  pars  pro  toto  etwas  zu  kühn 
gegriffen!  Bisweilen  kam  es  mir  vor,  als  wolle  der  Ver¬ 
fasser  sich  bloß  einen  schlechten  Spaß  mit  seinen  Lesern 
machen  und  zur  Kontroverse  herausfordern.  Es  tut  mir 
leid,  daß  Ihnen  dies  Urteil  vielleicht  nicht  angenehm  ist, 
zumal  da  N.  N.,  wie  ich  vermute.  Ihnen  nahe  steht  und 
viel  Interesse  für  das  Blatt  hat.  Er  ist  ein  guter  Mann 
—  aber  ein  schlechter  Musikant,  dem  wir  wenigstens  für 
Nr.  1  kein  Solo  übertragen  dürfen,  ohne  uns  eine  Blöße 
zu  geben.  Ich  bin  ganz  dafür,  daß  wir  ab  und  zu  einen 
munteren  mit  Humor  gewürzten  Artikel  bringen,  der  von 
dem  Ernst  der  Arbeit  nichts  merken  läßt;  aber  dann  muß 
das  Ding  blitzen  und  perlen  und  nicht  zu  sehr  nach  Bier¬ 
krug  und  Tabak  schmecken.  Auch  der  derbe  Ausdruck, 
die  feste  Faust  ist  mir  recht;  nur  muß  beides  am  rechten 
Orte  angewandt  sein.  Wer  aber  über  klassische  Malerei 
schreibt,  sollte  wenigstens  etwas  Klassizität  auch  in  seinem 
Stile  durchblicken  lassen.  Nehmen  Sie  mir  diesen  Aus¬ 
druck  meiner  sittlichen  Entrüstung  nicht  übel.  Ich  schreibe 
wie  mirs  gerade  in  die  Feder  kommt  und  messe  die  Worte 
nicht  ab.« 

Neben  solcher  negativen  Kritik  finden  sich  zahl¬ 
reiche  positive  Anregungen.  Seemann  weist  auf 
Fechner  hin,  von  dessen  Psychophysik  man  damals 
wenig  wissen  wollte;  es  gelingt  ihm  Beiträge  von 
diesem  merkwürdigen  Mann  in  die  Zeitschrift  zu 
bringen. 

Ich  sprach  Professor  Fechner  um  Beiträge  an,  falls 
er  etwas  Geeignetes  hat.  Kennen  Sie  ihn?  Er  ist  ein 
feiner  Kopf,  nicht  ohne  Witz  und  hat  einen  sehr  gewandten 
Vortrag,  der  ungemein  fesselt.« 

Am  13.  Januar  folgt  die  Anregung: 

=  Sollten  wir  übrigens  nicht  Grimm  um  Beiträge  an- 
gehen?  Er  ist  doch  trotz  seiner  hochgereckten  Nase  immer 


ein  Mann  von  vielem  Wissen  und  großer  Sprach¬ 
gewandtheit.« 

Herman  Grimm  hatte  damals  mit  den  zünftigen 
Kunsthistorikern  viel  Streit.  Er  galt  als  ein  phan¬ 
tastischer  Schöngeist;  sein  Roman:  »Unüberwindliche 
Mächte«  hatte  ihn  bei  der  exakten  Wissenschaft  in 
Mißkredit  gebracht. 

Am  10.  Januar  schreibt  Seemann  an  seinen  neu 
geworbenen  Herausgeber: 

»Beifolgend  eine  Probe  eines  Kunsthandelsberichts. 
Ich  habe  natürlich  keine  Zeit  zu  solchen  Dingen,  auch 
fehlen  mir  technische  Kenntnisse  um  einen  ordentlichen 
Rapport  zu  geben.  Sie  werden  aus  dem  flüchtigen  Kon¬ 
zept  sehen,  wie  ich  mir  die  Sache  ungefähr  denke.« 

Das  flüchtige  Konzept  fand  der  Herausgeber  den¬ 
noch  brauchbar;  es  wurde  in  die  erste  Nummer  der 
»Kunstchronik«  aufgenommen. 

Das  waren  die  Anfänge  dieser  Zeitschrift,  die  der 
Verleger  fünfundzwanzig  Jahre  mit  hingebender  Sorg¬ 
falt  betreut  hat.  Sie  umschließt  ein  beträchtliches 
Maß  stiller,  ernsthafter  Arbeit,  und  das  Bild  des  Mannes, 
der  sich  unverdrossen  seiner  Schöpfung  gewidmet 
hat,  darf  wohl  jetzt  nach  fast  vierzig  Jahren  hier  ge¬ 
zeichnet  werden. 

Ernst  Eiert  Arthur  Heinrich  Seemann  wurde  am 
9.  März  182g  als  Sohn  des  Gerichtsrats  Justus  See¬ 
mann  in  Herford  geboren.  Im  Jahre  1844  starb  der 
Vater  und  hinterließ  sieben  unversorgte  Kinder.  Die 
Pension  der  Mutter  betrug  200  Taler;  es  war  schwer, 
die  Kinder  alle  durchzubringen.  Ernst,  der  inzwischen 
das  Gymnasium  fast  absolviert  hatte,  kam  nach  Biele¬ 
feld  zu  Velhagen  &  Klasing  in  die  buchhändlerische 
Lehre,  ging  später  nach  Leipzig  zu  E.  Volckmar  und 
war  hierauf  mehrere  Jahre  als  Redakteur  des  Pierer- 
schen  Konversationslexikons  mit  tätig.  Dort  sammelte 
er  die  Erfahrungen,  die  er  später  verwertete. 

Ein  kleines  sauberes  Ölbild  von  Lorenz  Glasen, 
1855  "1  Berlin  gemalt,  zeigt  ihn  als  wohlgebildeten 
jungen  Mann  mit  blauen  Augen,  vollem  dunkel¬ 
blondem  Haar  und  einem  wunderschön  geformten 
Munde.  Das  volle  Haar  ist  ihm  bis  ins  Alter  ge¬ 
blieben;  wie  denn  überhaupt  sein  Antlitz,  wenn  ihn 
nicht  gerade  ein  vorübergehendes  Leiden  beschlich, 
in  der  Umrahmung  seines  kurz  gehaltenen  blond¬ 
weißen  Vollbarts  bis  ans  Ende  eine  frische  Eärbung 
und  einen  elastischen  Ausdruck  bewahrte.  Er  war 
von  kräftig  untersetzter  Gestalt  und  nicht  sehr  stark. 

Im  Jahre  1858  ging  Ernst  Seemann  nach  Essen, 
wo  er  eine  Verlags-  und  Sortimentsbuchhandlung 
begründete;  das  Sortiment  verkaufte  er  1861  an 
Julius  Deiter  und  siedelte  mit  dem  Verlage  nach 
Leipzig  über.  Schon  vor  der  Niederlassung  in  Essen 
hatte  er  sich  mit  Luise  Graul  vermählt.  Der  Ehe, 
die  das  Paar  fast  fünfzig  Jahre  verbunden  hat,  sind 
zwei  Söhne  und  sieben  Töchter  entsprossen. 

In  Leipzig  kam  die  junge  Eirma  rasch  in  Elor, 
und  bald  sollte  sich  das  EAS,  zu  gut  deutsch:  »Du 
mögest  gehen«,  an  den  Büchern  des  Verlages  tapfer 
bewähren. 


Schon  zur  Zeit,  als  das  erste  Heft  dieser  Zeitsclirift 
im  Entstehen  war,  gab  es  einige  wichtige  Werke  im 
Druck;  Lübkes  Architekturgeschichte,  Lemckes  Ästhetik, 
Woltmanns  Holbein,  Julius  Meyers  Geschichte  der 
modernen  französischen  Malerei,  ein  Buch  von  dem  man 
sagen  möchte,  es  sei  zu  früh  erschienen;  denn  für  seine 
Qualität  war  das  Publikum  damals  noch  nicht  reif.  Heute 
ist  es  längst  vergriffen.  Neben  die  Geschichte  der  Plastik, 
deren  erste  Auflage  1 863  erschienen  war,  hoffte  Seemann 
schon  damals  eine  umfangreiche  Geschichte  der 
Malerei  setzen  zu  können.  Er  trug  den  Plan  Wilhelm 
Lübke  an,  der  aber  mit  Seufzern  und  Klagen  über 
den  geringen  materiellen  Lohn  der  Schriftstellerei 
antwortete;  auch  wird  er  vermutlich  geäutJert  haben, 
daß  er  erst  eine  Reise  nach  Spanien  machen  müsse, 
denn  in  einem  beschwichtigenden  Briefe  sandte  See¬ 
mann  seinem  Autor  ein  Extrahonorar  von  200  Talern, 
um  ihm  die  geplante  Reise  zu  ermöglichen.  Den 
Gedanken  einer  Geschichte  der  Malerei  griff  dann 
aber  Alfred  Woltmann  auf,  dessen  frühzeitiger  Tod 
das  große  Werk  unterbrach.  Unter  Benutzung  der 
von  Woltmann  hinterlassenen  Materialien  führte  Karl 
Woermann,  der  bereits  den  ersten  Band  (Antike)  ver¬ 
faßt  hatte,  die  bedeutende,  schwierige  Arbeit  liebevoll 
und  sorgfältig  durch. 

Einige  der  Seemannschen  Unternehmungen  sind 
so  sehr  sein  eigenes  Werk,  daß  sie  wie  wichtige  Charakter¬ 
züge  zu  seinem  Bilde  gehören.  Hier  sind  vor  allem  die 
»Deutsche  Renaissance«,  Dohmes  »Kunst  und  Künstler 
und  die  »Kunsthistorischen  Bilderbogen«  zu  nennen. 
Den  Anlaß  zur  »Deutschen  Renaissance«  gab  A.  Ort¬ 
wein,  der  einen  bescheidenen  Band  über  die  Re¬ 
naissance  Nürnbergs  veröffentlicht  hatte.  Der  Erfolg 
dieses  Werkchens  war  bestimmend  für  die  Weiter¬ 
führung  des  Unternehmens.  Seine  Grenzen  wurden 
weit  gesteckt  und  schließlich  eine  Renaissance  in 
Österreich  angegliedert.  Der  Plan  ging  darauf  aus,  die 
wichtigsten  Baudenkmäler  der  Renaissance  in  Deutsch¬ 
land,  sowie  einige  Musterstücke  des  Hausrates,  in 
großendetaillierten  Federzeichnungen, die  lithographisch 
vervielfältigt  wurden,  durch  einen  Stab  von  Zeichnern 
aufnehmen  zu  lassen.  Anfangs  führte  A.  Ortwein 
die  Redaktion;  nach  dessen  schwerer  Erkrankung 
setzte  sich  der  Verleger  selbst  als  Redakteur  ein.  Das 
große,  zuletzt  neun  Riesenbände  starke  Unter¬ 
nehmen  führte  ihn  in  fast  alle  deutschen  Städte,  wo 
die  Vorzeit  künstlerische  Spuren  hinterlassen  hat, 
und  so  erwarb  er  sich  jene  umfassende  und  intime 
Kenntnis  der  deutschen  Städte  und  ihrer  kunstgeschicht¬ 
lichen  Vergangenheit,  mit  der  er  manches  mal  seine 
erstaunten  Autoren  überraschte. 

Die  Seemannschen  Bilderbogen  haben  den  Namen 
ihres  Vaters  populär  gemacht  und  in  alle  Weltteile 
getragen.  Es  war  in  jener  reproduktionsarmen  Zeit 
ein  glücklicher  Griff,  den  Schatz  von  Holzschnitten, 
der  sich  durch  den  systematisch  gepflegten  Verlag 
kunsthistorischer  Werke  bei  ihm  anhäufte,  in  Form 
loser  Bilderbogen  für  wenige  Pfennige  zu  vulgari¬ 
sieren.  Aber  eine  seiner  glücklichsten  Ideen  hatte  er 
doch  erst,  als  er  Anton  Springer  bat,  ihm  einen  Leitfaden 
zu  dieser  losen  Bilderfolge  zu  schreiben.  Daraus  ist 


nach  und  nach  das  Handbuch  der  Kunstgeschichte 
erwachsen  —  heute  und  hoffentlich  lange  noch  der 
Stolz  des  Hauses. 

Hier  darf  auch  nicht  der  Seemannsche  Literarische 
Jahresbericht  übergangen  werden,  der  1871  zura 
erstenmal  ausgegeben  wurde  und  an  dem  sich  der 
Verleger  daneben  als  Kritiker  viele  Jahre  lang  beteiligt 
hat.  Diese  kritische  Rundschau,  die  seitdem  alljähr¬ 
lich  zu  Weihnachten  erscheint,  fand  sogleich  leb¬ 
haften  Beifall,  und  wie  natürlich  wagten  sich  sehr 
bald  Nachahmungen  hervor. 

Immer  blieb  die  Zeitschrift  für  bildende  Kunst 
und  das  später  angegliederte  Kunstgewerbeblatt  das 
belebende  Element  des  Geschäftes.  Die  alte  Wahrheit, 
daß  alles  fließt,  trat  auch  hier  in  Wirkung.  Wo  jedes 
Ereignis  der  Kunstbewegung  aufgefaßt  und  registriert 
werden  muß,  kann  es  kein  Stillstehen  geben.  Und 
das  ist  der  Schlüssel  von  Seemanns  Erfolgen:  er  ver¬ 
kalkte  nie. 

Diese  Fähigkeit  umschloß  noch  eine  andere:  was 
ihm  nicht  taugte,  ließ  er  fahren.  Er  hatte  von  An¬ 
fang  an  zwei  Eisen  im  Feuer,  Kunst  und  Gewerbe. 
Bald  schürte  er  das  eine  oder  ließ  das  andere  er¬ 
kalten  —  je  nachdem  der  Wind  stand. 

Die  friesisch  -  westfälische  Stammesart  kam  in 
seinem  Wesen  deutlich  zum  Ausdrucke;  er  war  kein 
Schönredner,  überhaupt  gar  kein  Causeur,  aber  sein 
Ja  war  Ja.  Und  wenn  ich  Ernst  Seemanns  Charakter 
in  eine  Formel  fassen  sollte,  so  hieße  sie:  Er  sprach 
wenig  und  tat  viel! 

Er  sprach  wenig.  —  Diese  Schweigsamkeit  ver¬ 
blüffte  zunächst.  Jedes  Gespräch  mit  ihm  erlosch 
bald,  wenn  es  der  Gegenpart  nicht  anfachte.  Aber 
seine  Schweigsamkeit  war  durchaus  nicht  von  jener 
Art,  die  auf  eine  Gesellschaft  langsam  vereisend 
wirkt.  Im  Gegenteil,  man  empfand  sofort,  daß  es 
ihm  behaglich  war,  stiller  Teilnehmer  eines  anregenden 
Gespräches  zu  sein;  er  hatte  da  so  eine  undefinier¬ 
bare  Art  freundlichen  Zuhörens,  das  sein  interessiertes 
Festhalten  ausdrückte.  Und  dann,  bei  irgend  einer 
Wendung,  umspielte  seinen  Mund  jenes  wundervoll 
liebenswürdige  Lächeln  —  das  wir  nun  auf  ewig 
entbehren  werden.  Seine  Art  zu  sprechen  war  klar 
und  einfach.  Er  operierte  selten  mit  Stilblüten  oder 
Witzworten,  ausgenommen  bei  Tischreden,  und  war 
nur  in  feiner  Nüance  sarkastisch.  Aber  er  hatte 
kaum  etwas  zurückzunehmen;  dazu  war  er  zu  be¬ 
sinnlich.  Er  hatte  Freude  an  der  Geselligkeit,  be¬ 
sonders  wenn  sie  durch  gute  Musik  und  ein  gutes 
Glas  Wein  veredelt  war;  im  übrigen  war  er  ein 
äußerst  mäßiger  Mensch  und  haßte  geradezu  die 
Schlemmerei. 

Er  tat  viel.  —  Er  war  ein  Frühaufsteher  und 
machte  schon  vor  Geschäftsbeginn  einen  Spaziergang. 
Notabene  war  er  ein  passionierter  Fußgänger  von 
größter  Ausdauer.  Von  morgens  um  8  bis  abends 
um  7,  mit  kurzer  Mittagspause,  stand  er,  ohne  sich 
einen  Augenblick  zu  setzen,  an  seinem  hohen  Schreib¬ 
tische  und  erledigte  in  völliger  Ruhe,  ohne  Über¬ 
eilung,  Stück  vor  Stück  seines  Tagewerkes.  Ich 
sagte  eben:  bis  abends  7,  und  gedenke  dabei  des 


letzten  Dezenniums;  früher  freilich,  als  es  noch  galt, 
den  Berg  hinaufzuklimmen,  war  das  anders.  Da  hat 
man  in  seinem  Kontor,  das  damals  neben  den 
Wohnräumen  lag,  noch  oft  um  2  Uhr  nachts  Licht 
gesehen.  Die  ganze  Korrespondenz  besorgte  er 
selbst.  Das  war  seine  Stärke.  So  ungern  nämlich 
und  zurückhaltend  er  redete,  so  leicht,  fließend,  klar 
und  ausführlich  schrieb  er.  Diese  Differenz  ging  so 
weit,  daß  er  alle  Diskussionen  schriftlich  zu  führen 
pflegte  und  der  mündlichen  oft  auswich.  Er  schrieb 
ein  ausgezeichnetes  Deutsch  und  hielt  so  sehr  darauf, 
daß  auch  die  Bücher  seines  Verlages  keine  Sprach- 
dummheiten  aufwiesen,  indem  er,  besonders  in  früheren 
Jahren,  wie  ein  Gärtner  im  Blütengarten  der  Sprache 
seiner  Verlagsmanuskripte  jätete. 

Im  Jahre  1898  legte  er  nach  vierzigjähriger  Tätig¬ 
keit  die  Leitung  des  Geschäftes  ganz  in  die  Hand 
seines  Sohnes  Artur  und  setzte  sich  zur  Ruhe.  Eigent¬ 
lich  möchte  ich  sagen:  er  setzte  sich  zur  ruhigen 
Arbeit.  Denn  nun  begann  er,  frei  von  den  Fesseln  des 
Geschäftes,  sich  ohne  jedes  pekuniäre  Interesse,  nur 
aus  reiner  Lust  an  der  Sache,  mit  der  Durchsicht  und 
Illustrierung  solcher  kunsthistorischen  Werke  des  Ver¬ 
lages  zu  befassen,  die  ihm  besonders  zusagten.  Der 
Fleiß,  mit  dem  dies  alles  geschah,  spottete  geradezu 
seines  Alters.  Für  uns,  die  wir  in  seinen  Fußtapfen 


standen,  blieb  er  immer  der  gütige,  nie  sich  auf- 
drängende  Berater.  Es  ist  mir  immer  erstaunlich 
gewesen,  wie  er  nach  seinem  Rücktritte  sich  so  voll¬ 
ständig  mit  der  Rolle  eines  heiter  und  gelassen  Zu¬ 
schauenden  beschied.  Auch  bei  der  ästhetischen 
Wertung  künstlerischer  Dinge,  wie  sie  täglich  an  uns 
herantritt  und  oft  anders  gelöst  werden  muß,  als  es 
zu  seinen  älteren  Zeiten  der  Fall  war,  hielt  er  sich 
zurück.  Er  konnte  mit  der  Kunst  nach  1890  nicht 
mehr  mitgehen,  aber  er  schwieg,  wo  er  nicht  begreifen 
konnte.  Das  waren  Eigenschaften,  die  ihn  hoch  über 
die  alten  Herren  gängigen  Kalibers  erhoben.  Wir 
liebten  ihn  darum  doppelt. 

Bescheidenheit  zierte  auch  durchaus  sein  ganzes 
Wesen.  Wenige  nur  werden  wissen,  daß  hinter 
Adolf  Biebers  Abriß  der  Geschichte  der  Baustile, 
hinter  Beckers  Charakterbildern  aus  der  Kunstgeschichte, 
hinter  dem  E.  S.  der  Fingerzeige  zur  Abschätzung 
buchhändlerischer  Geschäfte  und  hinter  der  Hälfte 
manches  seiner  Verlagswerke  kein  anderer  steckt  als 
Ernst  Seemann.  Ich  will  deshalb  ihm  keinen  Weih¬ 
rauch  streuen;  er  hätte  im  Leben  abgewehrt.  Soll 
ich  diesen  Scheidegruß  in  die  Ewigkeit  in  seinem 
Sinne  schließen,  so  wäre  es  wohl  mit  dem  Worte: 

Enkel  mögen  kraftvoll  walten 

Schwer  Errungnes  zu  erhalten! 


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•  DAS  •  KAISER  •  FRI  EDRiCH  • 

•  MUSEUM  •  ZU  •  BERLIN  • 


ERLÄUTERT  IN  GEMEINSCHAFT  MIT 
ADOLPH  GOLDSCHMIDT,  LUDWIG  JUSTI  UND  PAUL  SCHUBRING 

VON 


PAUL  CLEMEN 


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I.  DER  BAU  UND  SEINE  GESCHICHTE. 


AUS  dem  Geburtsjahre  des  ig.  Jahrhunderts,  aus 
dem  Jahre  1800,  stammt  ein  Entwurf  Schinkels, 
in  dem  zum  erstenmal  ein  selbständiges 
Museumsgebäude  dargestellt  ist.  Der  Neunzehn¬ 
jährige,  der  damals  noch  Schüler  des  alten  Gilly 
war,  hat  hier  am  Beginn  seiner  Laufbahn  und  am 
Beginn  des  neuen  Jahrhunderts  einem  bis  dahin  noch 
ungekannten  Baugedanken  künstlerischen  Ausdruck 
geben  wollen,  der  für  dies  Jahrhundert  eine  der 
neuen  Aufgaben  bezeichnet,  die  neben  der  Errichtung 
von  Theatern  und  Bahnhöfen  jetzt  an  die  Architekten 
herantreten  sollten.  Es  gab  vordem  keinen  Museums¬ 
bau  —  deren  ganze  Geschichte  gehört  dem  ig.  Jahr¬ 
hundert  an.  Als  im  vorigen  Jahre  zur  Einleitung 
des  merkwürdigen  Mannheimer  Kongresses  über  die 
Museen  als  Volksbildungsstätten  Alfred  Lichtwark 
über  die  Museumsbauten  sprach,  nannte  er  den 
ältesten  Museumstypus  den  des  Speichers,  -  und 
kam  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Museen  so  weit  ge¬ 
kommen  wären,  daß  sie  nicht  einmal  als  Speicher 
etwas  taugten.  Haben  wir  heute  für  die  Geschichte 
dieses  neuen  Bauorganismus,  des  Museums,  so  etwas 
wie  eine  Entwickelung,  gibt  es  da  schon  eine  feste 
Tradition,  gibt  es  einen  oder  mehrere  Normaltypen 
—  oder  haben  wir  nur  eine  Reihe  von  Erfahrungen, 
gute  und  schlechte? 

Dreißig  Jahre  nach  jenem  ersten  Entwurf  konnte 
Schinkel  den  stolzen  Bau  seines  Museums  am  Lust¬ 
garten  einweihen  —  noch  heute  und  vielleicht  gerade 


heute  das  vornehmste  unter  den  architektonischen 
Denkmälern  Berlins  aus  der  ersten  Hälfte  des  Jahr¬ 
hunderts.  Der  gesamte  deutsche  Klassizismus  hat 
keine  Säulenhalle  von  solcher  einfachen  Größe  ge¬ 
schaffen,  wie  diese  86  Meter  lange  Front  mit  ihren 
achtzehn  ionischen  Säulen  -  und  man  hat  mit  Recht 
von  ihr  gerühmt,  daß  nie  wieder  eine  Säule  mit  so 
sicherem  künstlerischen  Gefühl  für  alle  Verhältnisse 
erdacht  worden  sei.  Auch  der  Grundriß  von  der 
gleichen  bewußten  Einfachheit,  ln  der  Mittelachse 
hinter  dem  Treppenhaus  die  Rotunde,  deren  vier¬ 
eckiger  Um-  und  Überbau  auch  nach  außen  sich 
siegreich  über  der  Fassade  geltend  machte  —  zwei 
quadratische  Höfe,  an  den  Langseiten  Säle,  an  den 
Schmalseiten  kleinere  gestreckte  Kabinette  symmetrisch 
einander  gegenüber  gestellt. 

Schon  bei  seiner  Eröffnung  war  dies  Gebäude 
für  die  gesamten  Königlichen  Kunst-  und  Altertums¬ 
sammlungen  eigentlich  zu  klein.  Wie  rasch  hatten 
sich  diese  Sammlungen  auch  vermehrt  in  den  ersten 
drei  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts,  seit  zum  ersten¬ 
mal  der  Gedanke  ihrer  Vereinigung  in  einem  eigenen 
Prachtbau  ausgesprochen  worden  war.  Und  dabei 
waren  die  Anfänge  dieser  Sammlungen  doch  so 
bescheidene.  Die  Museen  des  Louvre  gehen  ja 
eigentlich  noch  auf  Franz  1.  und  Heinrich  11.  zurück, 
und  im  17.  Jahrhundert  treten  neben  den  königlichen 
Mäcenen  schon  die  privaten  Sammler  auf,  Mazarin 
und  Crozat  an  der  Spitze,  deren  Schätze  allmählich 

4* 


2S 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


von  zeniraien  Samtnlung  aufgesogen  werden. 
Der  ■  itgenosse  des  französischen  Königs  Heinrich  II., 
der  brandenburgische  Kurfürst  Joachim  II.,  begann 
Seltenheiten  und  merkwürdige  Dinge<  in  der  Fremde 
anzukanfen  aber  diese  scheinen  eben  mehr  für 
eine  Raritätenkammer  als  für  eine  Kunstkammer  be- 
stimmi  gewesen  zu  sein,  denn  —  wie  noch  1727 
C.  F.  Jenckel  in  seiner  Anleitung  zum  rechten  Begriff 
und  nützlichen  Anlegung  der  Museorum  oder  Rari¬ 
tätenkammern  schrieb:  »In  einer  Kunstkammer  wird 
aufgehoben  Alles,  was  die  Kunst  in  allerlei  Species 
und  Materien  nur  immer  der  curieusen  Welt  ver¬ 
fertigen  mag:  wobey  auch  dieses  in  Acht  zu  nehmen, 
daß,  je  schwerer  eine  Materie  an  und  für  sich  zu 
bearbeiten,  um  desto  mehr  die  Rarität  und  Kunst 
dabei  zu  admiriren  sey«.  Aber  es  mag  als  eine 
gute  Vorbedeutung  für  den  ganzen  künftigen  Charakter 
der  Berliner  Sammlungen  angesehen  werden,  daß 
des  Kurfürsten  künstlerischer  Berater,  der  Graf  Rochus 
Guerini  von  Lynar  an  den  Höfen  der  Medici  und 
Este  aufgewachsen  war.  Erst  der  Vater  des  neuen 
brandenburgischen  Staates,  der  große  Kurfürst,  ist 
auch  der  eigentliche  Begründer  der  Berliner  Kunst¬ 
sammlungen,  der  Antikensammlung,  des  Antiquariums, 
der  Gemäldegalerie,  ja  man  möchte  selbst  sagen:  er 
hat  dem  Museum  für  Völkerkunde  schon  vorgearbeitet. 
König  Friedrich  1.  hatte  dann  vor  allem  die  Alter¬ 
tumssammlungen  erweitert,  die  Kollektion  des  be¬ 
rühmten  Archäologen  Bellori  erworben,  der  vordem 
die  Sammlungen  der  Königin  Christina  geleitet  hatte 
-  quantae  tantillo  tempore  gazae  durfte  sein  Lob¬ 
redner  Beger  im  Thesaurus  Brandenburgicus  ausrufen. 
Einen  Zuwachs  von  ganz  persönlichem  Charakter 
erhielten  dann  die  Sammlungen  unter  dem  großen 
Friedrich,  ln  den  kleinen  Reliefs  am  Sockel  seines 
Denkmals  hat  Rauch  auch  eine  der  schönsten  antiken 
Bronzestatuen  abgebildet,  den  betenden  Knaben,  den 
der  König  von  dem  Fürsten  von  Liechtenstein  er¬ 
stand  als  einen  monumentalen  Beweis  seiner  Kunst¬ 
liebe.  Bei  seiner  Hochzeitsfeier  im  Schlosse  zu 
Salzdalum  hatte  der  Kronprinz  die  schöne  Gemälde¬ 
galerie  bewundert,  die  jetzt  das  Braunschweiger 
Museum  ziert  —  die  Bildergalerie  in  Sanssouci  sollte 
eine  Nachahmung  dieser  Sammlung  sein,  und  wo 
der  König  eine  starke  persönliche  Neigung  hatte,  wie 
für  Watteau  und  seine  Schule,  da  scheute  er  auch  vor 
erheblichen  Opfern  nicht  zurück. 

»Der  Staat  muß  durch  geistige  Kräfte  ersetzen, 
was  er  an  physischen  verloren  hat«  —  dies  Wort 
Friedrich  Wilhelms  IIL,  das  nach  der  tiefsten  Er¬ 
niedrigung  Preußens  in  Memel  im  Jahre  1807  aus¬ 
gesprochen  ward,  wurde  auch  bezeichnend  für  die 
Anschauungen,  aus  denen  der  neue  Museumsgedanke 
des  19.  Jahrhunderts  herauswuchs.  Man  faßte  das 
Museum  schon  als  eine  moralische  Bildungsstätte 
auf.  Als  drittes  Element  und  Ferment  der  höchsten 
humanen  Bildung  tritt  es  jetzt  neben  die  Universi¬ 
täten  und  Akademien,  die  schon  den  früheren  Jahr¬ 
hunderten  Gründung  und  Ausbildung  verdanken. 
Als  die  wiedereroberten  aus  Paris  zurückgekehrten 
Kunstwerke  vorläufig  im  Gebäude  der  Akademie  der 


Künste  ausgestellt  waren,  wuchs  der  Gedanke,  alle 
diese  zerstreuten  Werke  in  einem  einzigen  Gebäude 
zu  vereinigen,  sich  immer  lebhafter  aus:  die  beiden 
Humboldts,  Niebuhr  und  Bunsen,  der  Generalkonsul 
Bartholdy  und  der  Bildhauer  Emil  Wolff,  die  Grafen 
Ingenheim  und  Sack,  Rumohr  und  Rauch  wirkten 
dafür,  der  Minister  von  Altenstein  trat  für  den  Plan 
ein  —  vor  allem  aber  war  es  immer  wieder  Schinkel, 
der  die  Idee  nährte.  Der  Plan,  einen  Prachtbau  im 
Lustgarten,  dem  Schlosse  gegenüber,  aufzuführen,  ge¬ 
hört  ihm  allein  an  —  er  war  auch  der  einzige, 
der  es  wagen  konnte  und  wagen  durfte,  hier  dem 
Königlichen  Schloß  und  Schlüter  gegenüber  und 
an  die  Seite  zu  treten.  Und  mit  welchem  Eifer 
ward  in  diesen  Jahrzehnten  gesammelt.  Ganz  neue 
Abteilungen  wurden  begründet,  so  die  ägyptische, 
die  heute  eine  der  bedeutendsten  in  ganz  Europa  ist, 
aber  vor  allem  fand  die  Gemäldegalerie  eine  reich¬ 
haltige  Vermehrung.  Die  Sammlung  des  Marchese 
Vincenzo  Giustiniani  brachte  die  späten  Italiener  und 
als  glückliche  Ergänzung  dazu  die  Sammlung  Solly 
die  Meister  des  Quattrocento  und  schon  eine  der 
Hauptperlen  der  heutigen  Galerie:  den  Genter  Altar. 

Als  alle  diese  neu  zusammengebrachten  Schätze 
in  den  neuen  Schinkelschen  Prachtbau  einziehen 
sollten,  ergab  es  sich  sehr  bald,  daß  das  Gebäude 
längst  nicht  mehr  ausreichend  war:  die  heimischen 
und  die  ägyptischen  Altertümer,  die  sogenannten 
Kunstkammern,  konnten  nicht  Aufnahme  finden,  sie 
verblieben  im  Königlichen  Schloß  und  im  benach¬ 
barten  Schloß  Monbijou.  Schon  in  den  nächsten 
Jahren  entstand  der  Plan,  unmittelbar  hinter  dem 
alten  Museum  eine  Reihe  von  Neubauten  zu  errichten, 
schon  1835  wurden  die  ersten  Grundstücke  ange¬ 
kauft,  und  in  einer  Kabinettsordre  vom  8.  März  1841 
bezeichnet  der  König  Friedrich  Wilhelm  IV.  es  als 
seinen  Plan,  die  ganze  Spreeinsel  hinter  dem  Museum 
zu  einer  »Freistätte  für  Kunst  und  Wissenschaft« 
umzuschaffen.  In  den  Jahren  1841  — 1847  ward  nun 
zunächst  unter  Stüler  das  neue  Museum  errichtet. 
Es  war  ein  Annexbau  und  er  konnte  deshalb  auf  die 
prunkende  Fassade  verzichten.  Das  große  Treppenhaus 
aber  ließ  sich  der  Architekt  nicht  nehmen.  Es  liegt 
genau  in  der  Querachse  der  ganzen  Anlage  und  füllt 
den  mittleren  Verbindungstrakt  zwischen  den  beiden 
rechtwinkligen  Höfen  vollkommen  aus.  Von  Anfang  an 
war  es  bestimmt,  zugleich  der  monumentalen  Malerei 
zu  dienen,  und  von  seinen  Wänden  grüßen  jetzt  die 
großen  historischen  Visionen  Wilhelm  von  Kaulbachs, 
der  die  ganze  Weltgeschichte  hier  nach  dem  gleich¬ 
mäßigen  Kompositionsschema  einer  doppelten  Bühne 
abgehandelt  hat.  Eines  der  unglücklichsten  Treppen¬ 
häuser,  zu  groß  und  doch  noch  zu  kleinlich  in  den 
Treppenläufen,  die  aus  einem  dunklen  Souterrain 
emporsteigen  und  gegen  eine  Wand  laufen.  Im 
Grundriß  in  nichts  eine  Neuerung  —  parallele 
Galerien  von  gleicher  Breite  ohne  Teilung,  recht¬ 
eckige  Binnenhöfe,  die  nur  die  gute  Eigenschaft 
hatten,  daß  man  sie  überdecken  konnte.  Das  Ge¬ 
bäude  schien  jetzt  hinreichenden  Raum  für  alle  vor¬ 
handenen  Sammlungen  zu  bieten:  die  prähistorische. 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


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die  ethnographische,  die  ägyptische  Abteilung  waren 
im  Erdgeschoß  untergebracht,  die  Kunstkammer  und 
das  Kupferstichkabinett  im  obersten  Stockwerk,  das 
ganze  mittlere  Geschoß  ward  der  neugebildeten 
Oipssammlung  eingeräumt.  Es  war,  abgesehen  von 
dem  Treppenhaus,  ein  bescheidener  Nutzbau,  ent¬ 
sprechend  den  geringen  künstlerischen  Ansprüchen 
der  Periode,  und  klug  suchte  die  Architektur  im 
Inneren  überall  zu  schweigen  und  den  Kunst¬ 
werken  allein  das  Wort  zu  lassen.  Der  Neubau 
der  Dresdener  Galerie  durch  Gottfried  Semper, 
der  beiden  Wiener  kunsthistorischen  Hofmuseen 
durch  Hasenauer  war  dann  eher  ein  Rückschritt  — 
denn  wieder  bestimmten  hier  die  Rücksichten  auf 
die  Fassade,  auf  das  Treppenhaus,  auf  das  Repräsen¬ 
tative,  die  Disposition  und  schädigten  die  Räume 
durch  diese  Rücksichtnahme.  Vielleicht  stellt  das 
Wiener  Museum,  gerade  weil  es  ein  einheitliches 
architektonisches  Kunstwerk  ist  und  sein  will,  nach 
dieser  Richtung  hin  überhaupt  das  äußerste  Maß  von 
Rücksichtslosigkeit  auf  die  Kunstwerke  dar,  denen  es 
doch  nur  ein  Schutz  und  ein  Rahmen  sein  sollte. 

Unterdessen  wuchsen  die  Sammlungen  und 
wuchsen.  Zunächst  tauchten  ganz  neue  Bedürfnisse 
auf.  Ziemlich  abweisend  hatte  Wilhelm  von  Hum¬ 
boldt  in  einer  Denkschrift  vom  Jahre  1833  sich 
ausgelassen:  »Der  Zweck  des  Museums  ist  offen¬ 
bar  die  Beförderung  der  Kunst,  die  Verbreitung 
des  Geschmackes  derselben  und  die  Gewährung 
ihres  Genusses.  Wenn  aber  von  Kunst  die  Rede 
ist,  so  muß  man  zuerst  und  hauptsächlich  an 
die  antike  Skulptur  und  die  Malerei  in  allen  ihren 
Schulen  und  Epochen  denken.  Die  Antiken-  und 
Gemäldegalerie  müssen  daher  den  Kern  der  Anstalt, 
ja  eigentlich  die  ganze  Anstalt  selbst  ausmachen,  und 
der  Organismus  derselben  muß  zunächst  auf  sie  und 
auf  ihr  Bedürfnis  berechnet  sein.  Die  anderen 
Zweige  sind  nur  als  Nebenzweige  zu  betrachten, 
doch  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  sie  von  sehr 
verschiedener  Wichtigkeit  sind,  die  sich  aber  gerade 
nach  ihrem  Verhältnis  zu  jenen  Hauptzweigen  richtet.« 
Aber  in  dem  nächsten  halben  Jahrhundert  war  man 
vorsichtiger  und  zurückhaltender  geworden  in  der 
Abgrenzung  der  Aufgaben,  man  hatte  gelernt,  die 
Zeit  nach  ihren  Forderungen  zu  befragen  und  suchte 
allen  entgegenzukommen.  Es  ist  jetzt  ein  Viertel¬ 
jahrhundert  her,  daß  Richard  Schoene  über  die  ihm 
untergeordneten  Berliner  Sammlungen  schrieb:  »Es 
ist  gewagt,  die  Aufgaben  und  die  Ziele  einer  so 
reichen  und  vielseitigen  Anstalt  in  feste  Grenzen 
bannen  zu  wollen.  Ein  solches  Institut  hat  die 
Pflicht,  jeden  irgend  möglichen  Nutzen  zu  schaffen, 
den  es  schaffen  kann,  und  den  Bedürfnissen  der 
Kunst,  der  Wissenschaft,  unserer  Bildung  überhaupt 
zu  folgen.  Es  hat  den  lebendigen  Mächten  des 
Geistes  zu  dienen;  und  eben  dieser  Dienst  allein  ist 
es,  der  ihm  selber  Leben  und  Entwickelung  geben 
kann. « 

Das  Kupferstichkabinett,  die  Sammlung  der  ita¬ 
lienischen  Skulpturen,  die  deutsche  plastische,  die  alt¬ 
christliche  Abteilung  —  alles  das  waren  neue  Gruppen, 


die  jetzt  eine  nach  der  anderen  sich  bildeten,  nach 
Ausdehnung  und  dabei  nach  Raum  und  Licht  ver¬ 
langten.  Im  Jahre  1830  bestand  die  Sammlung  der 
plastischen  Bildwerke  außerhalb  der  Antike  aus  den 
im  Majolikenkabinett  aufgestellten  zehn  Werken  der 
della  Robbia  und  dazu  aus  acht  nordischen  Skulp¬ 
turen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.  Schon  im  Jahre 
1841  hatte  Waagen  eine  Anzahl  von  plastischen 
Werken  des  italienischen  Mittelalters  erworben,  er 
hatte  vor  allem  die  ganze  Sammlung  Pajaro  in 
Venedig  gekauft,  darunter  die  herrlichen  beiden 
Schildhalter  vom  Grabmal  Vendramin,  und  eine  kleine 
gewählte  Kollektion  in  Florenz.  Aber  die  Zeit  der 
Haupterwerbungen  begann  doch  erst  in  den  siebziger 
Jahren.  Der  erste  Triumph  war  hier  die  Erwerbung 
der  Büsten  aus  dem  Palazzo  Strozzi  im  Jahre  1877 
—  drei  der  ersten  Marmorbildhauer  des  florentinischen 
Quattrocento  waren  jetzt  sofort  glänzend  vertreten. 
Dazu  begann  die  Sammlung  der  Stucchi,  die  sich 
schnell  vergrößerte  und  alles  das  forderte  Raum. 
Und  ebenso  rasch  wuchs  die  Gemäldegalerie:  die 
Holländer  und  Vlamen,  die  im  Anfang  kaum  ver¬ 
treten  waren,  fanden  ihre  Vertretung,  die  spanische 
Gruppe  mußte  überhaupt  erst  geschaffen  werden. 
Unter  den  Italienern  galt  es  vor  allem  die  Venezianer 
zu  ergänzen.  Dann  brachte  der  Ankauf  der  Galerie 
Suermondt  im  Jahre  1874  mit  einem  Schlage  eine 
Ergänzung,  die  für  alle  Abteilungen  köstliche  Be¬ 
reicherungen  bot.  Der  Ankauf  fiel  bereits  in  die 
Periode  des  jüngsten  und  kräftigsten  Aufschwungs 
der  Museen.  Im  Juli  des  Jahres  1871  war  der  Kron¬ 
prinz  zum  Protektor  der  Königlichen  Museen  ernannt 
worden,  der  fortan  die  Fürsorge  für  die  Entwickelung 
der  Museen  und  für  die  Ausbildung  des  Museums¬ 
gedankens  als  eine  seiner  Hauptaufgaben  erfaßte,  die 
er  zu  pflegen  nicht  müde  ward.  Das  Hohenzollern- 
museum  war  seine  ganz  persönliche  Schöpfung,  die 
Gründung  des  Gewerbemuseums  wuchs  zum  guten 
Teil  aus  den  Anregungen  heraus,  die  die  englische  Be¬ 
wegung  for  practical  art  gegeben  hatte  —  und  der  leb¬ 
hafteste  Vermittler  dieser  Anregungen  war  der  Kronprinz 
selbst  mit  seiner  hohen  Gemahlin.  Die  Verstaatlichung 
dieser  Sammlung,  ihr  Neubau  erfolgten  unter  seiner 
ganz  persönlichen  Teilnahme  --  und  unvergessen 
wird  seine  Unterstützung  der  großen  Ausgrabungen 
in  Olympia  und  Pergamon,  der  Erwerbung  der 
Sammlungen  Sabouroff,  Posony,  Hamilton  und  des 
Ankaufs  des  Lüneburger  Silberschatzes  bleiben.  Und 
indem  er  immer  wieder  Wert  legte  auf  die  Qualität 
der  Erwerbungen,  nur  durch  auserlesene  Stücke  eine 
Bereicherung  anstrebte,  ward  er  der  vornehmste 
Förderer  der  Grundsätze,  die  gleichzeitig  von  den 
verantwortlichen  Redakteuren  der  Berliner  Museen  als 
künftighin  maßgebend  aufgestellt  wurden.  Aus  dem 
Aufsatz  von  Hans  Delbrück  über  die  geschichts¬ 
schreibende  Tätigkeit  des  Kaisers  Friedrich  wissen 
wir,  wie  stark  er  auch  schon  Denkmäler  der  Dynastie 
in  allen  diesen  künstlerischen  Schöpfungen  sah  und 
gesehen  haben  wollte.  Und  in  dem  Kreise  des  Kron¬ 
prinzen  und  seiner  Gemahlin  ward  vor  allem  der 
Plan  einer  Vereinigung  der  Gemäldegalerie  und  der 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


pla^uschen  Sammlungen  in  einem  eigenen  Renaissance- 
riiuseum  immer  s^■ieder  besprochen  und  durchberaten 
—  jener  Fhm,  ans  dem  jetzt  das  Kaiser- Friedrich¬ 
museum  herausgewachsen  ist.  Noch  in  einer  Nieder¬ 
schrift  aus  den  letzten  Schmerzenswochen  in  San 
Remo  hat  der  Kronprinz  seinem  warmen  Interesse 
an  diesem  Projekte  Ausdruck  gegeben. 

In  dieselbe  Zeit  fallen  nun  die  Anhänge  des 
Mannes,  als  dessen  persönliche  Leistung,  als  dessen 
Lebenswerk  die  Durchführung  dieser  Pläne,  die 
Schöpfung  des  neuen  Museums  erscheint:  Wilhelm 
Bodes.  Im  Jahr  1872  trat  der  damals  Sechsund¬ 
zwanzigjährige  zuerst  als  Direktorialassistent  bei  der 
Gemäldegalerie  ein  und  er  hat  dann  in  langsamer 
Arbeit  erst  die  plastische  Abteilung,  dann  die  Gemälde¬ 
galerie  sich  erobert,  ja  die  erste  überhaupt  neu  ge¬ 
schaffen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  seine  Tätigkeit 
und  seine  Verdienste  zu  würdigen  —  und  es  hielte 
Denkmäler  nach  Berlin  tragen,  das  zu  wiederholen, 
was  in  diesen  Tagen  auf  aller  Lippen  liegt:  sein 
Werk  spricht  gerade  jetzt  lauter  als  je  und  bedarf 
nicht  des  Herolds. 

Aus  der  berufenen  Feder  von  Woldemar  von 
Seidlitz  hat  die  Zeitschrift  für  bildende  Kunst  im 
Jahre  1897,  als  Bode  ein  volles  Vierteljahrhundert  an 
den  Berliner  Sammlungen  tätig  war,  eine  Charakteristik 
des  Feuergeistes  gebracht,  der  ein  leidenschaftlicher 
Sammler  und  ein  genialer  Feldherr,  der  Gelehrter  und 
Kritiker  zugleich  ist  und  der  den  Typus  des  modernen 
Sammlungsbeamten  überhaupt  erst  geschaffen  hat. 
Was  Preußen  versäumt  hat,  versäumen  mußte  im 
17.  und  18.  Jahrhundert,  als  die  anderen  europäischen 
Hauptstädte  den  Grundstock  zu  ihren  Sammlungen 
legten,  das  hat  er,  soweit  es  noch  möglich  war,  in 
zielbewußter  dreißigjähriger  Arbeit  wieder  eingebracht. 
Was  Madrid  und  Petersburg,  was  Florenz  und 
Paris  an  altem  Kunstbesitz  aufweisen,  das  läßt  sich 
nie  ersetzen  —  aber  wenn  trotzdem  heute  das  Berliner 
Museum  mit  Ehren  unter  den  ersten  europäischen 
Sammlungen  genannt  werden  darf,  wenn  es,  was 
Vollständigkeit  aller  Richtungen  betrifft,  die  erste 
kunsthistorische  Sammlung  Europas  genannt  werden 
darf,  so  ist  das  sein  Werk.  Wenn  man  übersieht, 
was  in  allen  Abteilungen  durch  ihn  zu  dem  alten 
Bestände  Neues  und  Kostbares  hinzugekommen  ist, 
wenn  man  erwägt,  wie  viele  Gruppen  unter  ihm 
überhaupt  neu  geschaffen  sind,  möchte  man  jedes 
Wort  aus  dem  Thesaurus  Brandenburgicus  für  die 
Ara  Bode  wiederholen:  Quantae  tantillo  tempore 

gazae!  ln  ihm  lebt  im  höchsten  Sinne  das,  was 

Wilhelm  von  Humboldt  die  einzige  Tugend  genannt 
hat:  Energie.  Was  er  erreicht  hat,  wäre  freilich  nicht 
möglich  gewesen  ohne  die  ständige  Unterstützung  und 
ohne  die  weitgehende  weise  und  verständnisvolle 
Förderung  des  Mannes,  der  der  Organisator  der 

Berliner  Museen  seit  einem  Vierteljalirhundert  schon 
;st:  Richard  Schoenes.  Von  ihm  selbst  darf  man 

sagen,  was  er  vor  zwei  Jahren  bei  der  Gedächtnis¬ 
feier  für  den  Kaiser  Friedrich  im  Kunstgewerbe¬ 
museum  von  dem  verewigten  Protektor  äußerte:  weit 
schwerer  als  alles,  was  in  die  Öffentlichkeit  heraus¬ 


trat,  fällt  die  unablässig  anregende  und  ermutigende 
Fürsorge,  die  bei  keiner  Schwierigkeit  versagende 
Hülfe  und  Förderung  ins  Gewicht,  die  aller  Öffent¬ 
lichkeit  sich  entzog.  Wenn  jetzt  bei  der  Einweihung 
des  Kaiser  Friedrich -Museums  die  kunsthistorische 
Welt,  Deutschlands  vor  allem,  voll  aufrichtigen  Dankes 
vor  dem  neugeschaffenen  Werke  steht,  so  gelten  ihre 
aufrichtigen  Glückwünsche  der  gesamten  Verwaltung 
der  Museen,  nicht  zum  wenigsten  auch  dem  Stab, 
den  der  Feldherr  sich  geschaffen,  seinen  längst  er¬ 
probten  Helfern ,  die  ihm  Schüler  nnd  Freunde  zu¬ 
gleich  geworden  sind. 

Auch  des  Kaiser  Friedrich-Museums-Vereins  muß 
bei  dieser  Gelegenheit  dankbar  gedacht  werden,  der 
im  Jahre  i8g6  begründet  ward,  um  gefährdete  Kunst¬ 
werke  zu  erwerben  und  dem  Museum  dauernd  zur 
Aufstellung  zu  überlassen  und  um  bei  größeren 
Käufen  selbst  einzuspringen,  die  umworbenen  Objekte 
für  das  Museum  festzuhalten.  Der  Kreis  der  Berliner 
Sammler,  für  die  Bode  unermüdlich  tätig  war,  war 
es,  der  hier  die  meisten  Mitglieder  stellte,  die  so 
gewissermaßen  ihren  Dank  für  diese  Hilfe  abstatteten. 
Denn  Mittel  waren  jetzt  in  ganz  anderem  Maße  er¬ 
forderlich  als  wenige  Jahrzehnte  vorher.  Wenn  man 
in  Proksch  hübschem  Buche  über  den  Freiherrn 
August  Bernhard  von  Lindenau  liest,  mit  wie  geringen 
Summen  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren  eine 
ganze  Galerie  gegründet  werden  konnte,  oder  wenn 
man  nur  die  Taxen  für  die  Sammlung  Solly  oder 
Waagens  italienische  Rechnungen  vergleicht  — 
eine  grimmige  Wehmut  ergreift  dann  einen  jeden 
Museumsbeamten  über  jede  einzelne  versäumte  Ge¬ 
legenheit.  Kunstwerke,  die  vor  vier  Jahrzehnten  ab¬ 
gelehnt  wurden,  müssen  jetzt  für  den  fünf-  und  zehn¬ 
fachen,  gelegentlich  für  den  fünfzigfachen  Preis  er¬ 
worben  werden.  Und  seit  Amerika  auf  dem  euro¬ 
päischen  Kunstmarkt  als  gefährlichster  Konkurrent 
erschienen  ist,  haben  wir  eine  Hausse  vor  allem  der 
Bilderpreise  zu  verzeichnen,  die  noch  ihren  Gipfel 
nicht  erreicht  zu  haben  scheint.  Mit  Mrs.  Gardner, 
mit  M.  Pierpont  Morgan  können  freilich  auch  die 
größten  europäischen  Sammlungen  nicht  wetteifern. 
Aber  trotzdem  sind  für  einzelne  der  letzten  Berliner 
Ankäufe  Vermögen  ausgegeben  worden:  das  war 
freilich  auch  der  einzige  Weg,  um  die  Sammlung, 
auf  ihre  Höhe  zu  bringen.  Große  Legate,  wie  sie 
in  Amerika  an  der  Tagesordnung,  gehören  in  Deutsch¬ 
land  noch  zu  den  größten  Seltenheiten,  und  auch 
ganze  Sammlungen,  wie  das  in  Frankreich  und 
England  üblich,  sind  —  denn  die  jetzt  nach  Posen 
gewanderte  Raczynskische  Fideikommißgalerie  war 
nur  leihweise  ausgestellt  —  den  Berliner  Museen 
bisher  noch  nie  als  Erbschaften  zugefallen;  erst 
in  den  beiden  letzten  Jahren  sind  vier  feine  und 
bedeutende  Privatsammlungen  dem  Kaiser  Friedrich- 
Museum  überwiesen  worden,  um  jetzt  zum  ersten¬ 
mal  öffentlich  ausgestellt  zu  werden,  die  Sammlungen 
von  Carstanjen,  Wesendonk,  Simon  und  Thiem.  Die 
mageren  Jahre  sind  für  Preußen  vorüber,  in  denen 
der  Staat  sich  den  Luxus  solcher  großen  Kunstankäufe 
versagen  mußte.  Im  Jahr  1754  schrieb  der  große 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


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Friedrich,  als  ihm  ein  sehr  teurer  Raphael  angeboten 
war:  »Dem  König  in  Pohlen  stehet  frey,  vor  ein 
Tableau  30  mille  Dukaten  zu  bezahlen,  und  in  Sachsen 
vor  100  mille  Reichsthaler  Kopfsteuer  auszuschreiben, 
aber  das  ist  meine  Methode  nicht.  Was  ich  bezahlen 
kann,  nach  einem  resonablen  Preis,  das  kaufe  ich, 
aber  was  zu  theuer  ist,  laB  ich  dem  König  in  Pohlen 
über,  denn  Geld  kann  ich  nicht  machen  und  Imposten 
aufzulegen  ist  meine  Sache  nicht.«  Wir  freuen  uns 
dafür  heute  jenes  kaiserlichen  Wortes,  das  vor  zwei 
Jahren  bei  der  Gedächtnisfeier  für  Kaiser  Friedrich 
im  Kunstgewerbemuseum  gesprochen  ward  -  jenes 
Wortes,  das  von  den  Zeiten  sprach,  da  wir  wieder 
so  weit  gelangt  sind,  daß  unser  Volk  mehr  für  die 
Kunst  zu  tun  vermag  als  in  früheren  trüberen  Zeiten 
geschehen  konnte. 

Im  Staatshaushaltsetat  für  das  Jahr  1897/98  waren 
gleichzeitig  die  ersten  Raten  für  zwei  neue  Museums¬ 
gebäude  eingestellt,  für  das  Pergamenische  Museum 
und  das  Museum,  das  die  Gemäldegalerie,  die  Samm¬ 
lung  der  Skulpturen  der  christlichen  Epoche  und  ur¬ 
sprünglich  das  Kupferstichkabinett  aufnehmen  sollte. 
Auf  den  Befehl  des  Kaisers  sollte  es  den  Namen 
Kaiser  Friedrich-Museum  tragen;  seinem  Eingang  gegen¬ 
über  sollte  das  Reiterdenkmal  des  verewigten  Monarchen 
auf  der  äußersten  Spitze  der  Museumsinsel  Platz 
finden.  Ein  längst  gehegter  Wunsch  ging  damit  in 
Erfüllung.  Längst  auch  waren  die  Pläne  in  allen  Einzel¬ 
heiten  durchberaten,  der  Grundriß  ausstudiert,  die 
Erfahrungen  aller  anderen  großen  Museen  zu  Rate 
gezogen  worden.  Auch  der  Architekt  war  schon 
längst  gewählt,  der  Geheime  Oberhofbaurat  Ihne,  der 
eben  den  Umbau  des  Berliner  Schlosses  im  wesent¬ 
lichen  durchgeführt  hatte.  Das  Projekt  hatte  alle 
Instanzen  durchlaufen,  war  revidiert  und  superrevidiert 
-  im  Jahr  1898  konnte  endlich  der  Bau  beginnen. 


Das  Museum  ist,  wie  die  Inschrift  auf  der  Rück¬ 
seite  nach  der  Stadtbahn  zu  meldet,  im  Jahre  1898 
begonnen  und  nach  sechsjähriger  Bauzeit  im  Jahre  1904 
zu  Ende  geführt.  Die  künstlerische  Leitung  lag  dauernd 
in  den  Händen  des  Schöpfers,  des  Geheimen  Oberhof¬ 
baurates  Ihne,  die  Detaillierung  erfolgte  zum  großen 
Teil  unter  seiner  Leitung  durch  den  Architekten  Lodder. 
Die  Bauausführung  war  dem  Regierungs-  und  Baurat 
Hasak  übertragen,  der,  Künstler  und  Schriftsteller  zu¬ 
gleich  in  vielen  Sätteln  gerecht  ist,  in  einigen  sich  als 
wagehalsiger  Reiter  erwiesen  hat,  und  dem  hier  eine,  vor 
allem  nach  der  technischen  Seite  hin,  ganz  besonders 
schwierige  und  verantwortungsvolle  Aufgabe  zufiel. 

Der  dreieckige  Zipfel  der  Museumsinsel,  der  durch 
die  Stadtbahn  abgeschnitten  war,  erzeigte  sich  von 
vornherein  als  eine  Grundfläche,  die  an  und  für 
sich  als  die  denkbar  ungünstigste  für  einen  großen 
Monumentalbau  erschien.  Bode  hat  einmal  geäußert, 
einen  Monumentalbau  an  solcher  Stelle  könne  man 
sich  eigentlich  nur  als  Preisaufgabe  für  Bauschüler 
denken.  Nicht  einmal  die  beiden  Schenkelseiten  des 
spitzen  Winkels  waren  gleich  lang.  Dazu  kam  die 
vollständige  Unmöglichkeit,  für  die  Rückfront  eine 


Ansicht  zu  schaffen,  da  diese  von  der  Stadtbahn  In 
der  Höhe  des  ersten  Stockwerkes  mitten  durch¬ 
geschnitten  wird.  Für  die  Seitenansichten  gab  es 
keine  hinreichende  Distanz,  überhaupt  kaum  einen 
Aufstellungspunkt,  von  dem  aus  man  die  ganze  Fassade 
zu  übersehen  imstande  war.  Die  Hauptansicht  mußte 
an  dem  Scheitel  des  Winkels  angelegt  werden,  wo 
naturgemäß  für  eine  Fassade  gar  kein  Platz  war. 
Dazu  kamen  die  Schwierigkeiten  in  der  Grundri߬ 
disposition.  Die  Museumsverwaltung  forderte  Räume 
mit  Oberlicht  und  mit  Seitenlicht;  sie  verlangte  große 
Säle  von  verschiedener  Höhe  und  eine  lange  Reihe 
kleinerer  Kabinette  und  diese  alle  galt  es  in  dem 
Grundriß  unterzubringen  und  sie  einer  Generalidee 
unterzuordnen.  Die  Grundfläche  war  auf  der  anderen 
Seite  wieder  so  groß,  daß  eine  vollständige  Bebauung 
ausgeschlossen  war.  Man  mußte  also  zu  dem  System 
der  Hofanlagen  greifen,  die  der  gesamten  Disposition 
entsprechend  natürlich  auch  eine  unregelmäßige  Grund- 
rißform  erhalten  mußten. 

Alles  dieses  muß  man  sich  bei  der  Betrachtung 
des  Gebäudes,  bei  der  Würdigung  der  Fassadenlösung 
und  bei  der  Beurteilung  der  Grundrißdisposition  vor 
Augen  halten  und  zwar  auf  Schritt  und  Tritt  vor 
Augen  halten.  Was  an  Mängeln  und  Unzuträglich¬ 
keiten,  zumal  in  der  Grundrißlösung,  dem  Besucher 
auf  den  ersten  Blick  entgegenzutreten  scheint,  das 
ergibt  sich  fast  alles  aus  der  Unmöglichkeit,  der  hier 
vorhandenen  Schwierigkeiten  vollständig  Herr  zu 
werden.  Man  hatte  oft  nur  die  Wahl  zwischen  zwei 
Möglichkeiten,  die  beide  nicht  vollständig  befriedigten; 
und  man  hat  sich  damit  begnügen  müssen,  wenn 
man  keine  ideale  Lösung  finden  konnte,  dann  wenig¬ 
stens  das  kleinere  Übel  zu  wählen.  Gerade  in  der 
Überwindung  vieler,  im  Anfang  wohl  unbesiegbar 
erscheinender  Schwierigkeiten,  bei  der  Gestaltung  des 
Grundrisses  dürfte  das  Hauptverdienst  des  Architekten 
liegen.  Einiges  würde  vielleicht  schon  heute  gegen¬ 
über  der  veränderten  Bestimmung  ganzer  Trakte  anders 
geplant  worden  sein.  Man  darf  eben  auch  nicht  über¬ 
sehen,  daß  das  Programm  während  dieser  sechs  Bau¬ 
jahre  wiederholt  verändert  ward.  Für  das  Münz¬ 
kabinett,  das  jetzt  im  Erdgeschoß  Aufnahme  gefunden 
hat,  war  im  Anfang  gar  kein  Platz  vorgesehen.  Eine 
Reihe  von  Räumen  war  dem  Kupferstichkabinett  zu¬ 
gedacht,  wurde  aber  dann  für  die  Sammlung  der 
Abgüsse  des  Mittelalters  und  der  Renaissance  be¬ 
stimmt;  zuletzt  brachte  die  riesige  Fassade  von 
M’schetta  die  Notwendigkeit,  für  dieses  Wunderwerk 
ein  Unterkommen  zu  schaffen,  und  man  wird  es  dem 
Raum,  in  dem  sie  jetzt  aufgestellt  ist,  immer  ansehen, 
daß  er  eben  nicht  für  sie  erdacht  und  geschaffen  war. 

Die  Architektur  Ihnes  schöpft  aus  zwei  Quellen, 
der  Renaissance  Italiens  und  der  Schlüterschen  und 
friedericianischen  Architektur  Preußens  —  und  es  ist 
für  den  Kenner  der  Schöpfungen  dieses  fruchtbaren 
Künstlers  nicht  ohne  Reiz,  die  einzelnen  Vorbilder, 
das  Maß  ihrer  Benutzung  und  auch  die  Art  ihrer 
Verwendung  und  Vermählung  bei  seinen  Werken 
zu  verfolgen.  Für  den  Außenbau  des  Museums  hat 
Ihne  die  Formensprache  des  frühen  italienischen 


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DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


Bivrock  gewählt.  Mit  großem  Geschick  ist  der  aus¬ 
gedehnten  Anlage  ein  monumentaler  Zug  gegeben 
worden,  indem  ein  einziges  Motiv  mit  eiserner,  manch¬ 
mal  vielleicht  etwas  starrer  Konsequenz  um  den  ganzen 
Bau  herumgeführt  ist.  Über  dem  in  Rustika  ausgeführten 
Untergeschoß,  das  auf  den  Wasserseiten  direkt  aus  der 
Spree  aufsteigt  und  nur  von  einfachen,  rechteckigen 
Fenstern  durchbrochen  ist,  erhebt  sich  der  Aufbau  der 
beiden  oberen  Geschosse,  die  durch  durchgezogene 
Säulen  und  Pilasterstellungen  zusammengefaßt  sind. 
Ein  einziges  Hauptgesims  mit  der  überall  gleichen 
Profilierung  zieht  sich  in  der  gleichen  Höhe  um  den 
ganzen  Bau  herum.  Das  muß  eine  gewisse  Eintönig¬ 
keit  geben,  zugleich  liegt  aber  in  dieser  Eintönigkeit 
auch  die  ernste  Ruhe  und  Geschlossenheit  des  Ein¬ 
druckes  der  Fassaden.  Das  System  macht  man  sich 


zu  stören,  Schlüter  am  Zeughaus  an  der  gleichen 
Stelle  hier  jene  prachtvollen  individuell  belebten 
Masken  seiner  sterbenden  Krieger  geschaffen  hat. 
Die  oberen  Fenster  sind  quadratisch  und  zeigen  ganz 
schlichte  Gewände  mit  nur  mäßig  betontem  oberen 
Schlußstein.  In  den  Risaliten  liegen  die  unteren 
Fenster  im  Gegensatz  hierzu  in  rechteckigen  Um¬ 
rahmungen,  über  ihnen  schlichte  viereckige  Kartuschen, 
die  von  Adlerflügeln  gehalten  werden.  Gegen  den 
Himmel  hebt  sich  klar  und  ohne  Unterbrechung  auf 
der  ganzen  Linie  der  Fassade  die  einfache  kräftige 
Balustrade,  die  das  Gesims  krönt,  ab. 

Die  Nordseite  war  wesentlich  länger  als  die  Süd¬ 
seite.  Hätte  hier  der  Risalit,  was  am  nächsten  lag, 
die  Ecke  markiert,  so  wäre  die  Fassade,  die  auf  der 
Südseite  so  klug  und  sorgfältig  abgewogen  erschien. 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  VON  DER  NORDWESTSEITE 


am  besten  klar  an  der  Fassade  der  Südseite,  die  dem 
Kupfergraben  zugekehrt  ist.  Zwei  kräftig  vortretende 
Risalite  fassen  hier  die  Wand  zusammen,  sie  sind 
flankiert  von  zwei  Paaren  von  Halbsäulen  mit 
korinthischen  Kapitälen,  während  an  der  langen  Wand 
selbst  zwischen  den  zehn  Fensterachsen  Pilaster  die 
Gliederung  bilden.  Über  den  beiden  Risaliten  flache 
Giebel,  aber  ohne  irgend  welchen  Schmuck  im  Giebel¬ 
felde,  auf  den  Ecken  an  Stelle  der  Akroterien  Gruppen 
von  allegorischen  weiblichen  Figuren  mit  jugend¬ 
lichen  Genien  und  etwas  reichlicher  Zutat  von 
Trophäen,  die  Wappen  der  Großstädte  der  Künste 
haltend.  Die  Fenster  des  unteren  Erdgeschosses  sind 
rundbogig  und  zeigen  nur  in  den  Schlußsteinen 
mächtige  Köpfe  des  bärtigen  Dionysos  und  Medusen¬ 
häupter.  Die  Abwechselung  erscheint  hier  etwas  all¬ 
zu  gering.  Man  erinnert  sich,  wie,  ohne  den  Rhythmus 


wohl  überlang  geworden,  die  Risalite  hätten  dabei  zu 
schmal  ausgesehen.  Außerdem  aber  bildet  die  Nordost¬ 
ecke  keinen  rechten,  sondern  einen  spitzen  Winkel, 
und  es  hätte  dann  eine  sofortige  Brechung  des 
Risalits  eintreten  müssen.  Alle  diese  Schwierigkeiten 
hat  der  Künstler  einfach  dadurch  umgangen,  daß  er 
die  beiden  Risalite  an  der  Nordseite  in  der  gleichen 
Entfernung  voneinander  angeordnet  hat  wie  an  der 
Südseite.  So  springt  gewissermaßen  an  der  Nordost¬ 
ecke  über  den  geschlossenen  Hauptbau  nur  noch 
ein  dreieckiger  Anbau  vor,  und  dieser  konnte  an  der 
gefährlichen  Nordostecke  selbst  nun  auch  in  einem 
polygonalen  Abschluß  enden.  Am  schlichtesten  ist 
naturgemäß  die  Rückfassade  nach  der  Stadtbahn  zu 
gegliedert.  Hier  sind  die  Pilaster  glatt  durchgezogen; 
an  Stelle  der  Fenster  im  Obergeschoß  gibt  es  hier, 
wie  auf  der  Nordseite,  nur  viereckige  Felder.  Ein 


a/i'iip/ergrn.beri  -i2/'roi:  f. 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


3  ; 

MiUclri-salit  erscheint  der  Fassade  vorgeklebl;  vier 
Halbsäiilcn  tragen  einen  leeren  Giebel,  in  dem  Mittel¬ 
felde  das  Bronzemedaillon  des  Kaiser  Friedrichs 
zwischen  zwei  ornamentalen  steinernen  Adlern  und 
darunter  die  Tafel  mit  der  Inschrift:  »Kaiser  Wil¬ 
helm  II.  dem  Andenken  Kaiser  Friedrichs  III.« 

Den  Hauptnachdruck  hat  der  Architekt  natur¬ 
gemäß  auf  die  Ausbildung  der  Westspitze  seiner 
Halbinsel  legen  müssen.  An  einer  Stelle,  die  die 
denkbar  ungünstigste  für  eine  Fassade  war,  mußte 
er  eine  solche  errichten,  und  er  hat  auch  erst  die 
Vorbedingungen  zu  einer  solchen  schaffen  müssen: 
den  Vorplatz,  die  gleichmäßigen  Zugänge  und  den 
Standpunkt  für  die  Betrachtung  der  Fassade.  Es  ist 
an  diesem  Punkte  eine  Unsumme  von  Nachdenken, 
künstlerischer  Überlegung  und  technischer  Berechnung 
verschwendet,  um  zuletzt  doch  nur  eine  halbe  Wir¬ 
kung  zu  erzielen. 

Man  erhält  die  volle  Wirkung  erst,  wenn  man 
sich  die  gesamten  Fassaden  —  die  der  Spitze  und 
die  der  Seiten  —  gewissermaßen  aufgerollt  vorstellt. 
Diese  Hauptfassade  wendet  sich  im  Grunde  einer 
sehr  unerfreulichen  Gegend  zu.  Die  Kasernen  links, 
die  Kliniken  rechts  der  Zugang  erfolgt  durch 
ziemlich  gleichgültige  Straßen.  Man  kommt  an  dieser 
Fassade  und  damit  auch  an  diesem  Museum  nicht 
vorbei,  muß  nicht  vorbei  man  muß  erst  den  Weg 
zu  ihm  sich  suchen;  die  Fassade  hat  nicht  einmal 
einen  Augenpunkt,  von  dem  sie  gesehen  werden 
will,  gesehen  werden  soll,  —  und  der  Umstand,  daß 
das  Leibpferd  des  Kaisers  Friedrich  dem,  der  die 
Fassade  aus  angemessener  Entfernung  betrachten  will, 
seine  breite  Kehrseite  zudreht,  scheint  von  solcher 
Würdigung  des  Ganzen  eher  abzuraten.  Das  sind 
Schwierigkeiten,  mit  denen  die  große  Künstlerkraft 
des  Architekten  ganz  vergeblich  kämpfte.  Die  ein¬ 
fache  Klarheit  seiner  Marstallfassaden  konnte  er  hier 
an  dieser  verlorenen  Ecke  nicht  erreichen. 

Das  den  ganzen  Bau  krönende  Gesims  zieht  sich 
auch  im  Halbrund  um  diese  abgerundete  Westecke. 
Sechs  Dreiviertelsäulen  treten  den  Mauerflächen  vor, 
zwischen  ihnen  öffnen  sich  sieben  Bogen,  von  denen 
die  mittelsten  drei  als  mächtige  Portale  ausgebildet 
sind,  zu  denen  sechs  Stufen  emporführen.  Die  Fen¬ 
ster  des  Obergeschosses  liegen  in  einer  reicheren 
barocken  Umrahmung,  darüber  eine  Kartusche,  von 
der  stilisierte  Lorbeerkränze  herunterhängen,  vor  jedem 
der  oberen  Fenster  ein  Balkon  mit  einer  steinernen 
Balustrade  auf  einer  weitausladenden  Platte,  die  nicht 
auf  Konsolen,  sondern  auf  einer  Art  von  Triglyphen- 
glied  sitzt.  Jeder  der  Zwickel  wird  durch  ein  Löwen¬ 
fell  gefüllt,  während  der  mächtige  Löwenkopf  sich 
gerade  über  dem  Scheitel  der  Bögen  im  Schlußstein 
erhebt.  Alles  ist  an  dieser  Fassade  kräftig,  einfach 
und  groß  gehalten.  Das  Hauptgesims  wirkt,  da  die 
Mauerflächen  darunter  weiter  zurücktreten  als  auf  den 
Langseiten,  viel  saftiger  und  wuchtiger.  Die  glatten 
Abschlußgeländer  auf  der  Seite  bereiten  geschickt  auf 
die  drei  Eingänge  vor.  Die  Bekrönung  der  Balustrade 
bilden  hier  auf  den  einzelnen  Pfeilerchen  große  alle¬ 
gorische  Gestalten,  die  die  einzelnen  Künste  vergegen¬ 


wärtigen.  Über  dem  Haupteingang  begrüßen  natur¬ 
gemäß  Malerei  und  Plastik  den  Besucher.  Es  sind 
Gestalten  von  klaren  und  sicheren  Umrissen,  geschickt 
auf  das  Fernbild  berechnet,  barock  und  doch  modern, 
ohne  Koketterie  und  ohne  aufdringliches  Pathos. 
Die  Schöpfer  des  gesamten  plastischen  Schmuckes 
sind  die  Bildhauer  Vogel  und  Wiedemann,  die  schon 
an  Wallots  Reichstagshause  mitgearbeitet  hatten.  Hinter 
dieser  Balustrade  steigt  dann,  unmittelbar  über  der 
Vierung  des  großen  Treppenhauses  errichtet,  die 
Hauptkuppel  auf.  Der  Tambour  ist  durch  Doppel¬ 
paare  von  Pilastern  gegliedert,  die  in  leicht  ge¬ 
schwungenen  Voluten  auslaufen,  wie  sie  seit  der 
Schule  Vignolas  in  der  italienischen  Hochrenaissance 
üblich  sind,  zwischen  ihnen  große  ovale  Fenster.  Das 
obere  Gesims  ist  um  diese  Pilasterpaare  herum  ver- 
kröpft.  Auf  der  kupfernen  Kuppel  erscheint  diese 
Gliederung  fortgesetzt;  die  Zwischenfelder  sind  nur 
nach  innen  abgesetzt  und  unten  mit  Tropfen  ab¬ 
geschlossen  ,  sehr  kleine  Fenster  in  barocker  Um¬ 
rahmung  mit  Königskronen,  auf  dem  glatten  Ab- 
schlußgeländer  etwas  kleinlich  wirkende  dekorative 
Vasen.  Dieser  Hauptkuppel  entsprechend  erhebt  sich 
auf  der  Rückseite  über  dem  kleineren  Treppenhaus 
eine  kleine  Nebenkuppel,  die  aber  auf  der  Ansicht 
von  der  Museumsinsel  her  die  ganze  Fassade  be¬ 
herrschen  muß. 

In  einem  stumpfen  Winkel  führen  von  der  neben 
dem  Schloß  Monbijou  neu  durchgebrochenen  Straße 
und  vom  Kupfergraben  zwei  neue  Brücken  auf  die 
Spitze  der  Museumsinsel  zu,  die  eine  auf  einem, 
die  andere  auf  zwei  Bogen  ruhend.  Die  Bogen 
sind  leicht  gedrückt,  die  Fahrbahn  mäßig  gehoben. 
Schlichte,  durchbrochene  Balustraden  mit  Pfeilern 
dazwischen  geben  die  Umrahmung.  Im  Scheitel 
des  Bogens  eine  Kartusche  mit  einem  weiblichen 
Haupt.  Mil  einem  reichen  Grundriß  springt  in  dem 
stumpfen  Winkel  der  Sockel  des  Kaiser-Friedrich- 
Denkmals  weit  in  das  Wasser  vor.  Alle  Formen 
sind  hier  als  Vorbereitung  auf  das  plastische  Werk 
gedrungen  und  massiv  gehalten,  keinerlei  reicher 
Schmuck  an  dem  Unterbau,  nur  an  der  Spitze  eine 
große  Kartusche  mit  einem  Adler,  der  Königskrone, 
zur  Seite  je  ein  männliches  bärtiges  Haupt.  Von 
dem  mächtigen  hochgezogenen  Sockel ,  der  in  ein¬ 
fachen  und  klaren  Linien  nur  mäßig  gegliedert  auf¬ 
steigt,  grüßt  dann  nach  dem  Museum  herüber  die 
schlichte  Heldengestalt  des  Kaisers  Friedrich,  die  letzte 
große  Schöpfung  des  Müncheners  Rudolf  Maison. 
Schon  gegenüber  den  Skizzen  und  dem  Hilfsmodell 
im  Atelier  ward  den  Besuchern  seltsam  klar,  wie  dieser 
Künstler,  den  es  in  seinem  schrankenlosen  Naturalis¬ 
mus  zu  so  unruhig  bewegten  Vorwürfen  und  fast 
unplastischen  Motiven  trieb,  dort,  wo  er  monumentale 
Wirkung  anstrebte,  solch  große  Ruhe  und  Einfachheit 
bewahren  konnte.  Noch  klarer  und  imposanter  er¬ 
scheint  jetzt  der  eherne  Reiter  auf  dem  mächtigen 
geradlinigen  Sockel  in  seiner  monumentalen  Größe. 
Nur  die  Beziehung  zu  dem  Museum  selbst  vermißt 
man  schmerzlich.  Wenn  der  Reiter  nicht,  was  man 
ja  zunächst  im  Zusammenhang  der  ganzen  Gruppe 


DAS  GROSSE  TREPPENHAUS 

5* 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


3Ö 

vielleicht  erwarfpt,  "’as  aber  bei  dem  Mangel  eines 
Aufstellungspunktes  frr  den  Beschauer  eine  Unmög¬ 
lichkeit  war,  vor  dem  Bau  stand,  so  hätte  irgend 
eine  innere  Verbindung  zwischen  dem  Kaiser  und 
der  idealen  Stätte,  die  seinen  Namen  für  alle  Zeiten 
tragen  soll,  gegeben  werden  müssen.  Aber  es  ist 
nur  das  Bildnis  des  siegreichen  Oeneralfeldmarschalls: 
nichts  mahnt  hier  an  den  hochgemuten  und  be¬ 
geisterten  Schutzherrn  dieses  Hauses  der  Schönheit. 

Bei  der  schwierigen  Form  des  Grundrisses,  der 
in  etwa  ja  dem  des  Museums  für  Völkerkunde 
gleicht,  galt  es  nun  zunächst  eine  Orientierung  zu 
schaffen  durch  eine  Hauptachse,  auf  die  die  ein¬ 
zelnen  Trakte  mündeten,  die  die  Verbindung  zwischen 
ihnen  darstellte,  die  zugleich  auch  gewissermaßen  die 
Repräsentationsräume  des  Baues  enthielt.  Diese  Haupt¬ 
orientierung  wird  durch  die  goldene  Achse  dargestellt, 
die  durch  das  ganze  Dreieck  hindurch  gelegt  ist,  von 
dem  großen  Treppenhause  zu  dem  kleinen  führt  und 
in  der  Mitte  die  sogenannte  Basilika  aufnimmt.  Es 
gehört  zu  den  charakteristischen  Eigenschaften  dieser 
Gruppe  von  Museumsbauten,  zu  denen  auch  das  Kaiser- 
Frieclrich-Museum  gehört,  und  als  dessen  letzter,  viel¬ 
leicht  höchster  Typus  es  erscheint,  daß  die  Repräsen¬ 
tationsräume,  vor  allem  die  Treppenhäuser,  einen  so 
außerordentlich  breiten  Raum  einnehmen.  Bei  dem 
Ihneschen  Bau  darf  man  von  den  beiden  Treppen¬ 
häusern  wenigstens  sagen,  daß  sie,  jedes  für  sich, 
bedeutende  und  klar  durchdachte  künstlerische  Lei¬ 
stungen  sind. 

ln  dem  großen  Treppenhaus,  zu  dem  man  aus 
dem  gewölbten  Umgang  durch  eine  schmale  Vor¬ 
halle  von  der  Hauptfassade  tritt,  öffnet  sich  der  Blick 
sofort  auf  den  aus  dem  Viereck  durch  Pendentifs  in 
das  Rund  übergeführten  Kuppelraum  selbst.  Halb¬ 
kuppeln  lehnen  sich  auf  beiden  Seiten  an,  in  der 
Hauptachse  rechtwinkelige  Räume  mitTonnengewölben. 
Der  ganze  Raum  ist  in  Weiß  und  Hell  gehalten,  nur 
die  Gewände  in  dem  Erdgeschoß  neben  den  Treppen¬ 
läufen,  die  Säulen,  die  die  Treppen  und  die  ein¬ 
gebauten  Galerien  tragen  und  die  Pilasterpaare,  die 
die  Wandflächen  in  den  Seitenapsiden  gliedern,  sind 
in  rötlichem  Stuckmarmor  ausgeführt  und  tragen  ver¬ 
goldete  Kupferkapitäle.  Die  Kuppel  selbst,  die  durch 
ein  feingegliedertes  Oberlicht  ihre  Hauptbeleuchtung 
erhält,  ist  ganz  schlicht  in  acht  glatte  Felder  zerlegt, 
die  Rahmen  nur  mit  Rosetten  besetzt,  ln  den  vier 
Pendentifs  viermal  der  brandenburgische  Adler  auf¬ 
fahrend  und  Spruchbänder  tragend  mit  den  Wahl¬ 
sprüchen  der  Hohenzollern;  von  jedem  hängt  die 
Kette  des  Schwarzen  Adlerordens  hernieder,  die  den 
Zwickel  füllt,  ln  der  inneren  abgeschrägten  Seite 
der  Eckpfeiler  unter  diesen  dann  vergoldete  Bronze¬ 
medaillons  mit  den  Bildnissen  der  vier  Hauptförderer 
der  Sammlungen,  des  großen  Kurfürsten,  Friedrichs 
des  Großen,  Friedrich  Wilhelms  IV.,  Friedrichs  111. 
Ein  kräftiges  Hauptgesims,  scharf  profiliert,  aber  nur 
mäßig  um  die  Wandgliederung  verkröpft,  zieht  sich 
durch  den  ganzen  Raum.  Man  erwartet  zunächst 
wohl  beim  Betreten  des  Raumes  den  Zugang  zur 
Freitreppe  gerade  vor  sich  zu  haben.  In  zwei  ge¬ 


schwungenen  Bogen  hätte  man  dann  die  Höhe  des 
ersten  Stockwerkes  erklommen  und  hätte  hier  durch  eine 
monumentale  Tür  in  der  Mittelachse  den  hinter  dem 
Treppenhaus  gelegenen,  mit  den  Raphaelschen  Tapeten 
jetzt  gefüllten  langgestreckten  Saal  betreten,  aus  dem 
wieder  der  Zugang  in  die  verbindenden  Seitentrakte 
möglich  gewesen  wäre.  Dieser  Gedanke  ist  aber  auf¬ 
gegeben  worden,  bewußt  aufgegeben,  aber  man  möchte 
sagen:  leider  aufgegeben.  Die  Treppe  führt  auf  beiden 
Seiten  wieder  nach  der  Front  zu.  Man  tritt  von  der 
mittleren  Galerie  auf  den  oberen  Umgang  heraus  und 
betritt  von  dieser  aus  die  lange  Reihe  der  schmalen  und 
gleichmäßigen  Kabinette,  die  sich  auf  beiden  Seiten 
unmittelbar  am  Wasser  hinziehen.  Es  ist  ein  etwas 
seltsamer  Eindruck,  wenn  man  in  diesem  prunkhaften 
Treppenhause  aufgestiegen  ist,  dann  in  die  vornehme 
weiße  obere  Vorhalle  tritt  und  sich  zuletzt  plötzlich  am 
Ende  dieses  Korridors  vor  zwei  sehr  schlichten,  nur 
1,40  m  im  Lichten  messenden  Türen  sieht,  die  in  ziem¬ 
lich  dunkle  Räume  führen,  —  den  alleinigen  Zugängen 
zu  der  Reihe  der  Gemäldesäle.  Maßgebend  bei  dieser 
Umgestaltung  des  Grundrisses  war  der  Wunsch,  die 
Besucher  zu  zwingen,  die  Kabinette  in  historischer 
Folge  zu  besuchen,  bei  den  frühesten  Werken,  die  in 
jedem  der  Flügel  dem  Treppenhause  zunächst  auf¬ 
gestellt  sind,  zu  beginnen  und  von  dort  aus  weiter 
zu  schreiten,  während  man  sonst  das  Publikum  in 
der  Mitte  der  langen  Galerie  entladen  hätte.  Aber 
es  will  vielen  scheinen,  daß  man  hier  um  dieses 
pädagogischen  und  polizeilichen  Zweckes  willen  doch 
allzuviel  von  dem  Künstlerischen  und  dem  Prak¬ 
tischen  aufgegeben  hätte. 

Wenn  man  das  Treppenhaus  als  eine  Schöpfung 
für  sich  betrachtet,  fällt  dieser  Gesichtspunkt  natürlich 
weg.  Die  beiden  Treppenläufe  münden  auf  eine  von 
drei  Bogen  getragene  Galerie.  Ihr  gegenüber  ist  auf 
Säulen  toskanischer  Ordnung  eine  geradlinige  Empore 
angeordnet.  Über  der  Empore,  wie  über  dem  mitt¬ 
leren  Treppenlauf,  flankiert  von  gekuppelten  Halb¬ 
säulen  große  Portale,  überdeckt  von  gebrochenen 
und  geschwungenen  Giebeln,  auf  denen  die  allego¬ 
rischen  Figuren  der  einzelnen  Künste  gelagert  er¬ 
scheinen,  in  der  Mitte  jedesmal  eine  große  vergoldete 
Kartusche.  Unter  diesem  Prachtportal  öffnet  sich 
nach  Osten  hin  über  der  Galerie  eine  ganz  kleine, 
fast  verkümmerte  Tür,  die  den  Zugang  zu  dem 
Tapetenraum  vermittelt.  In  der  Mitte  des  Raumes 
erhebt  sich  auf  dem  alten  Sockel  (der  bei  der  Um¬ 
gestaltung  der  Schloßbrücke  erneuert  ward)  eine 
galvanoplastische  Nachbildung  von  Schlüters  Großem 
Kurfürsten,  trotz  der  fremdartigen  Umgebung  und 
des  zur  Zeit  noch  unerfreulichen  kupferfarbenen  Metalls 
immer  von  der  gleichen  monumentalen  Wirkung. 
Freilich  frägt  man  sich,  wozu  eigentlich  der  Große 
Kurfürst  hier  steht,  da  man  doch  in  zehn  Minuten 
die  lange  Brücke  erreichen  kann,  auf  der  das  Schlütersche 
Original  mit  seinen  doch  unlöslich  damit  verbundenen 
gefesselten  Trabanten  steht. 

Durch  einen  schmalen  fünfteiligen  Raum,  der  im 
Erdgeschoß  mit  einem  fast  flachen  gedrückten  Tonnen¬ 
gewölbe  überspannt  ist,  betritt  man  dann  die  so- 


DAS  KLEINE  TREPPENHAUS 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


3S 

genannte  Basilika,  einen  30  Meter  langen,  17  Meter 
breiten  und  16  Meter  hohen  Raum,  der  zugleich  eine 
Art  Lunge  des  ganzen  Gebäudes  darstellt  und  daher 
auch  de^  Festsaal  des  Museums  ist.  Man  muß  frei¬ 
lich  alle  Erinnerungen  an  basilikaähnliche  Gebäude 
hier  hinter  sich  lassen.  Die  einfachen  toskanischen 
Hallenkirchen  mit  flachen  Nischen  an  den  Seiten,  die 
gewissermaßen  verkümmerte  Kapellen  darstellen,  wie 
sie  sich  seit  dem  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  finden, 
haben  hier  das  Muster  abgegeben  und  Pate  gestanden, 
etwa  San  Francesco  unterhalb  San  Miniato  zu  Florenz; 
im  Außenbau  haben  für  die  gestreckten  Voluten  wohl 
wieder  die  Bauten  Vignolas  und  Scamozzis  als  Vor¬ 
bilder  gedient.  Man  betritt  den  Bau  von  der  Apsis 
aus  durch  ein  rundbogiges  Tor,  das  von  aulten  in 
rotem  Marmor  eingefaßt,  innen  von  zwei  schwarzen 
Säulen  mit  korintischen  Kapitälen  flankiert  ist.  Die 
Empore,  die  die  ganze  Apsis  füllt,  hat  eine  flache 
Decke  und  ruht  mit  drei  Bögen  auf  zwei  alten  Säulen 
von  grauem  Marmor.  Eine  Balustrade  mit  sehr  dünnen 
und  schlanken  Balustern  schließt  die  Empore  ab; 
darüber  öffnet  sich  der  Blick  in  die  Halbkuppel,  die 
mit  vertieften  Kassetten  verziert  ist,  in  der  seltsamer¬ 
weise  auf  stumpfem  blauen  Ton  aufgemalt  sich  große 
Rosetten  befinden,  in  der  Mitte  ein  Muschelornament 
mit  einem  Lorbeerkranz.  Das  Tonnengewölbe  ist 
ganz  ungegliedert,  nur  durch  vier  Gurte  zerschnitten, 
auf  jeder  Seite  unter  dem  sehr  reichen  Gebälk  fünf 
Nischen  unter  fein  profilierten  Bögen.  Vor  die  vor¬ 
deren  Stirnseiten  der  Mauerpfeiler  treten  Pilaster,  um 
die  das  weit  ausladende  Gesims  herumgeführt  ist. 
In  der  Mitte  der  Rückwand,  dem  kleinen  Treppen¬ 
haus  zugewendet,  ein  großes  Schauportal.  Über  der 
rundbogigen  Tür  ein  Balkon,  auf  den  sich  eine  Tür 
mit  reicher  schöner  Deckplatte  öffnet.  Der  ganze 
Raum  hat  wohl  am  stärksten  von  allen  Innenräumen 
des  ganzen  Museums  italienischen  Charakter.  Die 
Gesamtwirkung  ist  eine  sehr  feine  und  ruhige;  das 
warme  Graubraun  des  Steines  geht  vortrefflich  mit 
den  weißlich  gesprenkelten  Putzflächen  in  den  Nischen 
und  an  der  Decke  zusammen,  und  auch  die  blau¬ 
graue  Malerei  in  der  Apsis  gliedert  sich  hier  glück¬ 
lich  ein.  Auch  die  Profilierung  ist  von  hoher  Fein¬ 
heit  und  Zartheit. 

Am  Schluß  der  goldenen  Achse  schließt  sich  nun 
endlich  der  hintere  Kuppelraum  an,  der  das  zweite 
kleine  Treppenhaus  enthält.  Es  trägt  am  stärksten 
von  allen  Teilen  des  Baues  friederizianischen  Cha¬ 
rakter.  Das  Stadtschloß  zu  Potsdam  und  Schloß 
Sanssouci  haben  hier  einzelne  Motive  abgegeben.  Ein 
runder  Raum,  in  dem  in  der  Mitte  mit  geschwungenen 
Wangen  ein  Treppenlauf  aufsteigt,  der  sich  dann  von 
dem  mittleren  Podest  in  zwei  Läufen  an  der  Wand 
hinzieht,  um  oben  wieder  auf  eine  gemeinschaftliche 
Galerie  zu  münden.  Der  Raum  im  Erdgeschoß  ist 
ziemlich  kahl,  nur  die  drei  Türöffnungen  sind  in 
grauem  Marmor  ausgeführt,  die  Wangen  der  Treppen¬ 
läufe  selbst  in  echtem  grauen  Marmor,  über  ihnen 
die  Wandflächen,  die  nur  leicht  durch  Streifen  ge¬ 
gliedert  sind,  in  dunkelrotem  Stuckmarmor.  Der 
Tambour  des  oberen  Kuppelraumes  ist  durch  zehn 


Nischen  belebt,  die  durch  Paare  von  glatten  Pilastern 
mit  Basen  und  jonischen  Kapitälen  aus  vergoldeter 
Bronze  getrennt  sind.  Ein  fein  profiliertes  Gesims 
zieht  sich  darüber  hin,  über  ihm  steigt  unmittelbar 
die  zehnteilige  Kuppel  auf.  Hier  ist  auch  im  Gegen¬ 
satz  zu  der  großen  Kuppel  die  Fläche  selbst  reicher 
detailliert:  die  Felder  sind  kassettiert,  in  ein  jedes  ist 
ein  ovales  Fenster  eingeschnitten,  Kartuschen,  Kon¬ 
solen  und  Trophäen  sind  geschickt  und  maßvoll  als 
Dekorationsmotive  hinzugenommen.  In  dem  Tam¬ 
bour  herrscht  noch  der  Stuckmarmor  vor.  Die  zehn 
Nischen  zeigen  einen  gelben  speckigen  Fonds,  die 
Wandflächen  sind  rotbraun,  doch  geht  auch  hier 
durch  die  Rahmen  und  die  architektonischen  Glieder 
das  Weiß  als  leitende  Farbe  hindurch,  das  dann 
oberhalb  des  Hauptgesimses  in  der  Kuppel  selbst 
vollständig  dominiert.  Einen  glücklichen  Schmuck 
hat  das  Treppenhaus  gefunden  durch  die  Statuen 
von  sechs  der  friederizianischen  Feldherren  von 
Schadow  und  seinen  Genossen,  die  ursprünglich 
auf  dem  Wilhelmsplatz  zu  Berlin  aufgestellt  waren 
und  1862  durch  Bronzekopien  ersetzt  worden  sind; 
sie  sind  aus  dem  Kadettenhause  in  Großlichter¬ 
felde,  wo  sie  bisher  standen,  hierher  übertragen.  Es 
sind  der  Fürst  Leopold  von  Anhalt-Dessau,  General¬ 
feldmarschall  von  Keith,  Seidlitz,  Ziethen  und  dann 
die  wunderlichen,  im  römischen  Kostüm  dargestellten 
Figuren  des  Generalleutnants  von  Winterfeldt  und 
des  Generalfeldmarschalls  Grafen  von  Schwerin,  die 
nicht  durch  Kopien  auf  dem  Wilhelmsplatz  ersetzt, 
sondern  nach  neueren  Entwürfen  von  Kiß  im  Zeit¬ 
kostüm  ausgeführt  sind,  ln  der  Mitte  endlich  hat 
eine  Kopie  des  schönen  Marmorbildes  vom  alten 
Schadow  aus  Stettin  Platz  gefunden,  der  hier  mitten 
unter  seinen  Generalen  erscheint.  Auf  den  runden 
Sockeln  am  Fuße  der  Treppenwange  treten  dann  die 
bekannten  Marmorfiguren  des  Merkur  und  der  Venus 
von  Pigalle  aus  Sanssouci  hinzu.  Der  Raum  scheint 
in  den  Verhältnissen,  wie  in  dem  Maßstab  der  Details 
ganz  auf  diese  plastischen  Werke  zugeschnitten,  — 
und  doch  sind  sie  als  Geschenke  des  Kaisers  erst 
hinzugekommen,  als  das  Treppenhaus  im  Rohbau 
schon  fertig  war.  Auch  Durchblicke  und  Einblicke 
sind  hier  von  einer  sorgfältig  berechneten  und  glück¬ 
lich  abgewogenen  Wirkung. 

Wenn  man  den  Bau  als  einheitliche  Anlage  über¬ 
sieht,  so  fällt  als  schlimmster  Mangel  die  Unüber¬ 
sichtlichkeit  des  Grundrisses  auf.  Sie  erklärt  sich 
zum  Teil  aus  der  verzwickten  Grundfläche  —  alle 
Schwierigkeiten  konnten  hier  eben  nicht  überwunden 
werden.  Es  wird  für  einen  jeden  Besucher  viel,  recht 
viel  Zeit  brauchen,  ehe  er  sich  zurechtfinden  wird. 
Hier  waren  die  alten  rechteckigen  Museumsgebäude 
mit  ihrem  Normalgrundriß  sogar  besser  daran:  dort 
konnte  man  bei  einem  einzigen  Rundgang  alle  Räume 
bequem  durchmessen.  Wer  könnte  aber  im  Kaiser 
Friedrich-Museum  nach  einem  solchen  Umgänge  — 
denn  von  einem  eigentlichen  Rundgang  darf  man 
hier  gar  nicht  mehr  sprechen  —  einen  Eid  darauf 
ablegen,  daß  er  wirklich  alle  Räume  betreten  habe? 
Nun  wird  man  entgegnen:  Dazu  sind  die  Grund- 


BLICK  IN  DIE  BASILIKA 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


im  ührer  da.  Aber  in  den  Händen  von 
’vie  viel  Besuchern  finden  wir  denn  die  Führer, 
wie  viel  Käufer  können  überhaupt  einen  Grundriß 
lesen  —  und  erhöht  es  den  ästhetischen  Genuß 
übermäßig,  wenn  man  wie  auf  einem  Ritt  durch 
kupiertes  Terrain  allerorten  Generalstabskarte  und 
Kompaß  ziehen  muß?  Böse  Menschen  sprechen  von 
Rettungsstationen  des  Roten  Kreuzes  für  verzweifelte 
Verirrte,  die  vergeblich  den  Ausgang  in  diesem  Laby¬ 
rinth  suchen  (ach  nirgendwo,  in  keinem  der  Museen 
ist  an  eine  Stätte  der  leiblichen  Erquickung  gedacht) 
—  und  wie  oft  werden  die  Aufseher  den  Wegweiser 
machen  müssen  auf  die  Frage:  Wo  komme  ich  zum 
Ausgang?  Wo  geht  der  nächste  Weg  zum  Rubens¬ 
saal  oder  zu  den  Spaniern? 

Unsere  modernen  Kunstausstellungsgebäude  haben 
ja  gezeigt,  daß  die  Räume,  die  nicht  direkt  in  der 
Zirkulation  der  Masse  liegen,  am  glücklichsten  und 
intimsten  wirken  und  am  besten  für  stillen  und  be¬ 
schaulichen  Kunstgenuß  geeignet  erscheinen.  Das 
hatte  am  schönsten  wohl  Friedrich  Ratzel  in  seinem 
Karlsruher  Kunstausstellungsgebäude  erreicht.  Im 
Kaiser  Friedrich -Museum  ist  es  nun  vielleicht  ein 
Mißstand,  daß  die  Zirkulation  gerade  durch  die  kleinen 
Kabinette  mit  den  allzu  engen  Türen  erfolgen  muß, 
die  doch  mit  ihren  feinen  Kabinettstücken  gerade 
zum  Genuß  für  zurückgezogene  Beschauer  einladen 
sollten,  während  die  großen  Säle  mit  den  zum  Teil 
derberen  Stücken  von  dem  sich  vorwärtsschiebenden 
Publikum  frei  bleiben.  Wie  wird  an  Sonn-  und 
Festtagen  in  den  schmalen  ersten  Kabinetten  neben 
dem  großen  Treppenhaus  sich  die  Menge  stauen. 
Und  auch  hier  empfindet  man  wieder  das  Mißver¬ 
hältnis  zwischen  dem  Hauptkuppelraum  und  den 
Räumen,  zu  denen  diese  Treppen  direkt  führen  — 
es  liegt  in  dieser  Architektur  eine  gewisse  Ähnlichkeit 
mit  den  Berliner  Zinshäusern,  in  denen  die  prunk¬ 
vollen  Treppenhäuser  auf  enge  und  dunkle  Korridore 
führen.  In  der  Wirklichkeit  wird  das  Publikum  diese 
Prachttreppe,  die  hinter  dem  Rücken  des  Eintretenden 
aufsteigt,  eben  gar  nicht  benutzen  -  es  läuft,  wie 
selbstverständlich,  gerade  aus  und  steigt  dann  im 
kleinen  Treppenhaus  in  die  Höhe,  um  die  historische 
Folge  —  von  hinten  mit  dem  i8.  Jahrhundert  zu 
beginnen. 

Die  Lichtzuführung  zu  den  Räumen  ist  auf  das  Sorg¬ 
samste  erwogen  und  ausprobiert  worden.  Die  Seiten¬ 
beleuchtung  im  Erdgeschoß  erfolgt  durch  hinreichend 
große  rundbogige  Fenster,  die  bei  starker  Bestrahlung 


durch  von  unten  aufzuziehende  Vorhänge  geschlossen 
werden  können,  so  daß  nur  noch  durch  das  Bogen¬ 
feld  von  oben  ein  Licht  in  den  Raum  fällt.  Im 
ersten  Geschoß  haben  alle  Haupträume  Oberlicht. 
Die  langen  Galerien  mit  den  kleinen  Kabinetten  haben 
Seitenlicht,  die  der  Südseite  (wo  die  deutschen  und 
niederländischen  Bilder  hängen)  haben  außerdem  noch 
Oberlicht.  Die  Anlage  des  Oberlichtes  ist  nach 
den  Erfahrungen  am  Pergamon-Museum  geschehen 
(Hasak  hat  sie  und  ebenso  seine  Erfahrungen  über 
Heizung  und  Arrangement  in  den  »Berliner  Blättern 
für  Architektur  und  Kunsthandwerk«  in  den  beiden 
letzten  Jahren  veröffentlicht).  Man  hatte  in  dem  eben 
fertig  gewordenen  Pergamon  -  Museum  probeweise 
einen  Saal  geschaffen,  der  dem  der  Raffaelschen 
Tapeten  im  Kaiser  Friedrich-Museum  entsprach,  und 
die  Tapeten  selbst  dort  zur  Ausprobierung  des  Maßes 
der  Lichtzufuhr  und  des  Winkels  der  Bestrahlung  provi¬ 
sorisch  aufgehängt.  Das  oberste  Oberlicht  besteht 
aus  starkem  Rohglas  mit  eingelassenem  Drahtnetz: 
es  würde  selbst  dem  schlimmsten  Hagelwetter  stand¬ 
halten.  Mit  Rücksicht  auf  die  verschiedenen  Gruppen 
von  Gemälden  sind  im  oberen  Stockwerk  vier  ver¬ 
schiedene  Arten  von  Heizkörpern  für  die  Warmwasser¬ 
heizung  angeordnet  —  in  den  Wänden,  unter  den 
Fenstern,  im  Fußboden  und  nur  in  den  großen  Sälen 
des  Quattrocento  unter  den  leidigen  freistehenden 
Sitzkästen  in  der  Mitte. 

In  der  Architektur  der  Fassaden,  die  in  Sandstein 
von  der  Heuscheuer  und  aus  Niederschlesien  durch¬ 
geführt  ist,  wirken  die  schweren,  kräftigen  Profile  mit 
berechneter  Wucht  —  im  Inneren  zeigt  die  Profilierung 
oft  genug  die  Spuren  des  überhasteten  Baubetriebs. 
Wie  derb  sind  viele  der  Decken  in  den  italienischen 
Kabinetten  behandelt  —  wie  schwer  behauptet  sich 
so  eine  moderne  Kassettendecke  mit  den  aufdring¬ 
lichen,  viel  zu  schweren  Rosetten  neben  den  feinen 
alten  Kassettendecken  mit  ihren  so  sicher  abge¬ 
messenen  Verhältnissen  und  ihren  dezenten  Tönen 
—  und  wie  lieblos  sind  die  Türgewände,  die  gleich¬ 
mäßig  in  der  ganzen  Flucht  dasselbe  aus  dem  Stein 
ins  Holz  übersetzte  schwere  Profil  zeigen:  die  Nach¬ 
barschaft  der  dem  Bau  eingefügten  alten  floren- 
tinischen  und  venetianischen  Portale  ist  hier  eine 
sehr  gefährliche.  Man  tut  angesichts  dieser  großen 
und  kleinen  Mängel  dann  gut,  sich  zu  erinnern,  daß 
die  Hauptsache  in  einem  Museum  doch  immer  die 
ausgestellten  Kunstwerke  sind. 

PAUL  CLEMEN. 


II.  DIE  NEUAUFSTELLUNG  UND  IHRE  GRUNDSÄTZE. 


Im  Katalog  zu  der  im  Jahre  1883  in  Berlin  ver¬ 
anstalteten  Ausstellung  von  Gemälden  älterer  Meister 
aus  Privatbesitz  war  ein  Abschnitt  aus  einer  Denk¬ 
schrift  abgedruckt,  in  der  die  Kronprinzessin  Viktoria 
selbst,  aus  den  Besprechungen  ihres  Freundeskreises 
heraus,  diejenigen  Grundsätze  aufgezeichnet  hatte,  die 
für  eine  Erweiterung  der  Museen  und  für  eine 


künftige  Neuordnung  der  Sammlungen  maßgebend 
sein  sollten. 

»Die  Frage  der  Erweiterung  der  Königlichen 
Museen  und  der  eingreifenden  und  kostspieligen  Ver¬ 
änderungen,  die  getroffen  werden  sollen,  regt  unwill¬ 
kürlich  den  Gedanken  an,  wie  die  schönen  Samm¬ 
lungen  nicht  nur  am  praktischsten  und  Übersicht- 


ZElTSCHRirr  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI 


AUS  DEM  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


MARTIN  SCHONOAUER.  DIE  ANBETUNO 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


41 


liebsten,  sondern  auch  am  schönsten  aufgestellt  werden 
können. 

Bisher  scheint  man  in  den  Aufstellungen  von 
Kunstsammlungen  innerhalb  von  Museen  immer  nur 
den  Standpunkt  der  Wissenschaft  zur  Richtschnur  ge¬ 
nommen  zu  haben.  Die  strenge  Klassifizierung,  die 
Trennung  der  bildenden  Künste  ist  immer  auf¬ 
recht  erhalten  worden.  Dies  scheint  doch  für  das 
unendlich  wertvolle  Kunstmaterial  ein  etwas  einseitiger 
Standpunkt.  Statuen  und  Bilder  sind  etwas  anderes, 
als  die  GegensLände  eines  Naturalienkabinelts.  Sollten 
unsere  Museen  grobe  Bildungsschulen  für  das  Publi¬ 
kum  sein,  so  können  sie  in  zweifacher  Weise  bildend 
und  zivilisierend  wirken:  einmal  durch  die  gebotene 
Möglichkeit  zu  eingehendem  Studium,  und  zweitens 
durch  die  Darstellung  des  wahrhaft  Schönen  in  mög¬ 
lichster  Vollkommenheit.  Daher  will  es  scheinen,  als 
ob  die  kostbaren  Originale,  von  Meisterhand  ge¬ 
schaffen,  ihren  Zweck,  durch  ihre  Schönheit  zu  wirken, 
nicht  erfüllen,  wenn  sie  bloß  als  Nummer  in  der 
Sammlung  oder  Exemplar  dieser  oder  jener  Schule, 
dieses  oder  jenes  Meisters  aufgestellt  sind.  Erreichen, 
daß  sie  ihrem  Werte  nach,  im  Sinne  des  Künstlers, 
der  sie  geschaffen  hat,  in  möglichst  schöner  Um¬ 
gebung  und  Beleuchtung  auf  den  Beschauer  wirken, 
heißt  erst  wahren  Nutzen  aus  ihrem  Besitz  ziehen. 
Man  bedauert  oft  geradezu,  Kunstwerke,  die  man 
früher  in  Palästen  und  Kirchen  gekannt  hat,  nun  in 
den  Galerien  nüchtern  fortgestellt  oder  in  Reihen  an 
der  Wand  geordnet  zu  sehen,  während  sie  als  Schmuck 
eines  schönen  Raumes  prangen  und  auf  uns  wirken 
sollten  durch  ihre  Schönheit,  die  nun  in  der  Masse 
verborgen  wird.  Ähnlich  ergeht  es  den  Altären, 
Bildern  und  Grabdenkmälern,  welche  aus  den  Kirchen 
entfernt,  einen  bis  zur  Unkenntlichkeit  verminderten 
Eindruck  in  den  Sälen  eines  Museums  machen,  die 
häufig  mehr  oder  minder  den  Räumen  eines  Hospi¬ 
tals  nicht  unähnlich  sind. 

Was  macht  den  Besuch  eines  Museums  für  Laien 
so  unendlich  ermüdend,  und  warum  verwirren  sich 
in  der  Erinnerung  die  Eindrücke  des  Gesehenen  so 
störend  bei  dem  nach  Kunstgenuß  durstenden  Be¬ 
sucher?  Weil  die  Masse  des  zu  Betrachtenden  so 
aufeinandergehäuft,  als  Ganzes  so  wenig  schön  ist, 
daß  man  gezwungen  ist,  sehr  scharf  zu  sehen,  um 
all  die  Schönheiten  der  einzelnen  Kunstwerke  recht 
gewahr  zu  werden;  eine  Arbeit,  die  nur  dem  sehr 
geübten  Auge  gut  gelingt.  So  gehen  wir  an  einer 
Menge  der  herrlichsten  Dinge  allzu  rasch  vorbei,  weil 
man  den  Wald  vor  Bäumen  nicht  mehr  sieht. 

Kann  aber  einer  nationalen  Baukunst  eine  schönere 
und  sympathischere  Aufgabe  werden,  als  die  herr¬ 
lichen  Kunstwerke  vergangener  Zeiten  richtig  zur 
Geltung  zu  bringen?  Sollen  denn  die  Museen  nur 
Speicher  sein,  worin  die  Schätze  weggestellt  sind,  die 
man  mit  so  ungeheueren  Kosten,  großer  Mühe,  Ge¬ 
schick  und  Wissen  gesammelt  hat?  Sollte  man  nicht 
ebenso  glücklich  aufstellen  als  sammeln  können  im 
Sinne  der  ausübenden  Künstler,  die  ihren  Rat  ja  im 
Interesse  der  älteren  Kunst  gewiß  gern  gewähren 
werden.  Ein  grauer  Stuck-  oder  Steinraum,  angefüllt 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVl.  H.  2 


mit  häßlichen  Postamenten  und  grauen  Statuen,  ist 
für  niemand  ein  erfreulicher  Anblick.  Ein  großer 
viereckiger  Raum  mit  kleinen,  noch  so  wertvollen 
Bildchen  bis  zur  Decke  tapeziert,  ist  nicht  schön  und 
macht  keinen  Eindruck.  Es  darf  nicht  verkannt 
werden,  wie  viel  schon  nach  dieser  Richtung  hin  ge¬ 
schehen  ist,  es  ist  aber  noch  lange  nicht  genug. 
Könnte  man  nicht  ein  herrliches  und  harmonisches 
Ganzes  hersteilen,  wenn  man  Statuen  und  Bilder, 
Büsten,  Reliefs  in  schöne  Räume  zusammenstellte,  in 
welchen  auch  geschmackvolle  Vitrinen  zur  Aufnahme 
von  Medaillen,  Gemmen  usw.  ihren  Platz  fänden? 

Würden  nicht  die  Raffaelschen  Wandtapeten  mit 
einigen  Hauptstücken  der  Renaissance  -  Skulptur  und 
vielleicht  einem  echten  alten  Plafond  und  einigen 
vornehmen  Möbeln  einen  herrlichen  Eindruck  machen 
und  pietätsvoller  aufgehoben  sein,  als  in  ihrer  jetzigen 
Stellung? 

Das  oben  angedeutefe  Prinzip  der  möglichst 
künstlerischen  und  günstigen  Aufstellung  von  Kunst¬ 
werken  scheint  sich  auf  unseren  modernen  Ausstel¬ 
lungen  immer  mehr  Bahn  zu  brechen.  Da  ist  denn 
zu  hoffen,  daß  die  Museen  sich  ihm  nicht  ganz  ver¬ 
schließen  und  die  berechtigten  Anforderungen  der 
Künstler  und  Kunstliebhaber  nach  dieser  Richtung 
berücksichtigen  werden.  -  Natürlich  ist  es  nicht  mög¬ 
lich,  alle  Kunstwerke  unserer  Museen  so  aufzustellen; 
aber  es  kann  doch  mit  den  besten  geschehen,  so  daß 
mehrere  Säle  nach  Art  der  »Tribuna«  für  die  einzelnen 
Hauptschulen  entstünden.  Könnte  man  den  übrigen 
wenigstens  teils  Nordlicht,  teils  eine  Beleuchtung  von 
oben  in  nicht  zu  hohen  Räumen  sichern,  so  wäre 
schon  das  Nötigste  erreicht.  Wäre  dann  weiter  mög¬ 
lich,  eine  noch  strengere  Auswahl  zu  treffen,  sowie 
auf  manches  gute  und  kunsthistorisch  interessante 
Stück  zugunsten  der  Provinzialmuseen  zu  verzichten, 
würden  endlich  die  schlechtesten  Rahmen  ganz  ver¬ 
bannt,  so  würde  der  gesamte  Effekt  und  Wert  der 
Galerie  nur  noch  zunehmen. 

Das  schönste  Ziel  wäre  wohl  ein  ganz  neues 
Gebäude  für  die  Bildergalerie  und  die  Renaissance- 
Skulpturen  nach  oben  erwähntem  Prinzip. 

Je  mehr  man  anfängt,  die  Werke  vergangener 
Zeiten  zu  würdigen  und  ihren  wahren  Wert  zu  er¬ 
kennen,  desto  pietätsvoller  müßte  man  mit  ihnen  um¬ 
gehen,  desto  mehr  ihnen  Geltung  verschaffen«  — . 

Alle  Kunstwerke  der  alten  und  der  neuen  Zeit, 
der  hohen  oder  der  angewandten  Kunst,  der  Malerei 
oder  der  plastischen  Darstellungsweisen  sind,  wenn  nicht 
für  einen  bestimmten  Raum,  so  doch  für  eine  be¬ 
stimmte  Gruppe  oder  Gattung  von  Räumen  geschaffen 
worden  —  und  sicher  kein  einziges  für  einen  Speicher, 
für  die  Einreihung  in  endlose  Serien  gleichartiger 
Werke,  für  die  gleichmäßige  Tapezierung  der  Wand¬ 
flächen  von  Korridoren.  Die  alten  fürstlichen  Kunst¬ 
kammern,  aus  denen  die  heutigen  hauptstädtischen 
Museen  zum  größten  Teil  herausgewachsen  sind, 
waren  da  noch  besser  dran:  sie  nahmen  ursprünglich 
nur  einzelne  Räume  der  Residenzschlösser  ein,  denen 
der  wohnliche  Charakter  immer  noch  geblieben  war: 
sie  waren  zunächst  möbliert,  wenn  auch  maßvoll 

6 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


_■  ;!a'  voi-  ;llem  dem  italienischen  Ge- 

;  ,  I  .*  ;s  -d  Jahrhunderts  entsprach  —  und  die 
■  :_  'erke  traten  dann  als  Dekoration  hin- 
:  v-eiiKiide,  Skulpturen,  Tapisserien,  Edelinetall- 
arbeitcn.  Erst  die  Spätrenaissance  hat  uns  jene  voll¬ 
gestopften  Säle  geschenkt,  in  denen  in  drei  und  mehr 
Reihen  die  Bilder  an  den  Wänden  übereinander  hängen. 
Der  Palazzo  Pitti  in  Florenz  zeigt  noch  heut  dies 
System,  die  Wandfläche  bis  unter  das  AbschluH- 
gesiins  mit  Bildern  gieichmäbig  zu  decken.  Die  fürst¬ 


hatten  eine  Wanddekoration  für  die  endlosen  Flächen 
der  Festsäle  zu  bilden  —  und  die  längste  aller 
solchen  Galerien  im  engeren  Sinne,  die  den  Louvre 
mit  den  Tuilerien  verband,  hat  wohl  nie  besser  ihrem 
Zweck  gedient,  als  da  im  Jahre  1812  bei  der  Heirat 
zwischen  Napoleon  und  Marie  Louise  der  cortege 
nuptial  aus  dem  Salon  carre  sich  in  feierlichem 
Zug  durch  sie  hindurch  nach  den  Tuilerien  be¬ 
gab.  Wie  wenig  geeignet  sind  die  Riesenräume 
des  Louvre  für  ihre  heutigen  Zwecke.  Ein  festes 


KABINETT  DER  SAMMLUNG  JAMES  SIMON 


liehen  Galerien  und  Privatsammlungen  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  sind  hierin  noch  weiter  gegangen  es  lälit 
sich  kaum  etwas  Unglücklicheres  und  für  die  Bilder 
Verhängnisvolleres  denken  als  jene  Antwerpener  und 
Brüsseler  Bilderkammern,  wie  wir  sie  aus  den  Ge¬ 
mälden  der  vlämischen  Kleinmeister  kennen:  sie  er¬ 
innern  an  Watteaus  Firmenschilder  Gersaints  —  aber 
Gersaint  war  eben  zunächst  Bilderhändler  und  dann 
erst  Liebhaber.  Es  ist  das  System  der  Magazinierung 
in  einem  groben  Bilderladen,  das  wir  in  all  diesen 
Galerien  vor  uns  haben.  Das  18.  Jahrhundert  hat 
dann  den  Begriff  der  -Galerie  geschaffen;  die  Bilder 


Schlot),  ein  Palais,  eine  Vereinigung  von  Akademien 
und  eine  Sammlungsheimstätte,  so  nennt  Alfred  Babeau 
den  Bau  in  seinem  Buch  über  den  Louvre  —  aber 
die  Akademien  und  die  Sammlungen  durften  hier 
nur  logieren,  durften  sich  nicht  wohnlich  einrichten. 
Nachdem  die  Verwaltung  des  Louvre  jahrzehntelang 
mit  einer  gewissen  konservativen  Starrheit  an  der 
überkommenen  Einrichtung  festgehalten,  weht  auch 
dort  seit  dem  Ende  des  Jahrhunderts  ein  frischerer 
Wind,  und  man  hat  den  Versuch  gemacht,  wenigstens 
eine  Reihe  von  Kunstwerken  in  einer  Umgebung 
vorzuführen,  die  der  ursprünglichen  ähnelt  —  aber 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


der  Architekt  Recion,  der  den  neuen  Rubens- Saal  in 
der  von  der  Kommune  zerstörten  Salle  des  Etats  her¬ 
gestellt  hat,  hat  darauf  verzichtet,  die  Architektur  des 
Saales  im  Palais  Luxembourg  nachzuahmen  und  hat 
dafür  eine  ganz  freie  eigene  Architektur  gegeben. 
Und  doch  waren  die  Museen,  die  gezwungen  waren, 
sich  in  alten  Fürstensitzen  einzuquartieren,  in  einem 
Punkte  noch  gut  dran:  sie  fanden  wenigstens  einen 
würdigen  Rahmen  für  die  Bilder,  eine  Umgebung,  in 
der  sich  wenigstens  eine  grobe  Gruppe  von  ihnen 
zu  Hause  fühlen  konnte.  Das  Schlimmste  hat  das 


4r 

Goethe  führt  schon  im  Jahr  1815  die  ersten  schüch¬ 
ternen  Versuche  nach  dieser  Richtung  in  den  be¬ 
scheidenen  westdeutschen  Kunstkabinetten  an:  Alle 
die  aus  den  Kirchen  genommenen  Kunstwerke  ,  sagt 
er,  »erschienen  in  Privathäusern  nicht  ganz  am  Platz; 
daher  der  heitere,  erfinderische  Geist  der  Besitzer 
und  Künstler  an  schickliche  Umgebung  dachte,  um 
dem  Geschmack  zu  erstatten,  was  der  Frömmigkeit 
entrissen  war.«  Als  in  den  siebziger  Jahren  die  Be¬ 
wegung  für  das  deutsche  Kunstgewerbe  mit  erneuter 
Stärke  einsetzte,  suchten  die  Ausstellungen  die  ge- 


ROSSELLINO-SAAL  MIT  DEM  BLICK  AUF  BENEDETTO  DA  MAIANOS  GROSSE  STUCK-MADONNA 


beginnende  1 9.  Jahrhundert  geleistetmitseinen  verzweifelt 
nüchternen,  kahlen,  weiß -grauen  Räumen,  in  denen 
die  alten  Kunstwerke  wie  Könige  im  Exil  erschienen. 

Seit  dem  Wiedererwachen,  oder  eigentlich  seit 
dem  Erstarken  des  Sinnes  für  das  Malerische  in  der 
Gesamtanordnung  von  Innenräumen  ist  nun  auch  der 
Wunsch  immer  stärker  und  lebhafter  geworden,  hier 
Wandel  zu  schaffen  und  die  Kunstwerke  aus  ihrer 
Isolierung  zu  erlösen,  sie  einander  wieder  zu  nähern 
und  sie  in  eine  Umgebung  zu  versetzen,  die  wenigstens 
annähernd  die  Stimmung  wieder  zu  schaffen  suchte, 
die  jene  an  ihren  alten  Plätzen  ausgestrahlt  hatten. 


samten  Schöpfungen  der  hohen  und  angewandten 
Kunst  in  malerischen  Bildern  zu  vereinigen  - —  viel¬ 
leicht  hat  die  Ausstellung  von  Unserer  Väter  Werke«, 
die  Gedon  und  seine  Freunde  in  München  geschaffen, 
hier  den  stärksten  Anstoß  gegeben.  Für  die  Auf¬ 
stellung  von  Gemälden  und  Skulpturen  erschienen 
dann  die  fürstlichen  Privatsammlungen  des  Südens, 
denen  eben  der  Charakter  des  Wohnlichen  nicht  ganz 
genommen  war,  als  Vorbilder.  Eine  Reihe  solcher 
Sammlungen  sind  erst  in  der  letzten  Zeit  öffentlicher 
Besitz  geworden:  die  Galerie  Brignole-Sale  und  die 
Schätze  des  Palazzo  Bianco  und  I^alazzo  Rosso  in 

6‘ 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


r  Ja.  Museum  des  Fürsten  Filangeri  in  Neapel, 

die  Gründ-.uig  Querini  Stampaglia  in  Venedig.  Am 
glückiicl.den  wirkt  aber  heute  noch  das  Museo  Poldi 
Pezzoli  in  Mailand,  die  Stiftung  des  Don  Giacomo 
Poldi  Pezzoli ,  zumal  seit  die  ordnende  Hand  eines 
feinen  Kenners  hier  mit  sicherem  Geschmack  etwas 
Ruhe  in  die  allzu  bunten  Rcäume  gebracht  hat.  Aber 
noch  immer  will  das  Museum  die  Wohnung  eines 
reichen  Liebhabers  sein,  die  bis  in  das  Schlafzimmer 
hinein  mit  Kunstwerken  gefüllt  ist  und  den  Eindruck 
erwecken  will,  als  habe  der  Besitzer  nur  eben  die 
behaglichen  Räume  verlassen. 

Auch  ganz  neue  private  Sammlungen  machen 
den  Versuch,  die  Kunstwerke  in  ihre  alte  Umgebung 
zurückzuversetzen.  Das  anmutigste  Denkmal  dieser 
Gattung  von  Kunstpalästen  ist  wohl  Hertford  House, 
das  wahrhaft  fürstliche  Geschenk,  das  1897  die  Witwe 
von  Sir  Richard  Wallace  der  englischen  Nation  ge¬ 
macht.  A  palace  of  fancy,  beauty  and  laste  nannte 
Lord  Beaconsfield  das  Haus  —  und  es  ist  der  Palast 
eines  Grandseigneurs,  in  den  hier  alte  und  neue 
Kunstwerke  verstreut  sind.  Den  Hintergrund  und  die 
Umgebung,  die  Sir  Wallace  für  seine  Bilder  geschaffen, 
das  Porzellan,  die  Penduleu  und  Bronzen  und  vor 
allem  die  unvergleichlichen  Möbel  aus  den  Räumen 
Ludwigs  XIV.  und  Ludwigs  XV.,  die  Werke  von 
Boulle,  Gouthiere  und  Riesener,  die  auf  dem  Um¬ 
wege  über  Rußland  in  London  gelandet  sind,  —  das 
ist  freilich  etwas,  was  heute  ein  deutscher  Musen ms- 
direktor  ganz  vergeblich  hervorzuzaubern  trachten 
würde.  Aber  Paris  birgt  im  alten  gardemeuble  noch 
so  viele  kostbare  und  ausgezeichnete  Stücke:  warum 
nicht  mit  ihnen  ein  klein  wenig  die  allzu  große  Ruhe 
und  Öde  einiger  der  großen  Säle  im  Louvre  unter¬ 
brechen? 

Die  wunderbarste  Vereinigung  von  Arehitektur  und 
Kunstwerken  aller  Art  zu  den  glücklichsten  Gesamt¬ 
bildern  bietet  ein  erst  vor  wenigen  Jahren  jenseits 
des  großen  Wassers  entstandenes  Museum:  Fenway 
Court,  die  Stiftung  von  Mrs.  Isabella  Stewart  Gardner 
im  Fenway  -  Park  zu  Boston.  Ein  mächtiger  Palast, 
der  einen  venetianischen  Hof  in  sich  schließt  — 
den  einzelnen  Räumen  ist  mit  raffiniertem  Geschmack 
ein  einheitlicher  Charakter  gegeben,  aber  doch  so, 
daß  die  Werke  der  hohen  Kunst  dominieren.  Es  gibt 
einen  gotischen  (etwas  bunt  gemischten),  einen  hol¬ 
ländischen,  einen  chinesischen  Raum  -  und  daneben 
einen  Raffael-,  einen  Tizian-,  einen  Paolo  Veronese- 
Saal,  in  denen  Originale  und  Schulbilder  in  eine 
wohnliche  Umgebung  gebracht  sind.  Das  Museum 
of  fine  arts,  das  jetzt  neben  diesem  Palast  empor¬ 
wachsen  soll,  für  dessen  Bau  die  umfänglichsten 
Studien  der  neueren  Museumseinrichtungen  gemacht 
werden,  wird  vielleicht  einmal  für  größere  systemati¬ 
sche  Sammlungen  ähnliche  Ziele  verfolgen  —  und  es 
ist  nicht  unmöglich,  daß  es  dem  Lande  der  un¬ 
begrenzten  Möglichkeiten  Vorbehalten  bleiben  wird, 
auch  einen  ganz  neuen  Typus  für  ein  modernes 
Sammlungsheim  zu  schaffen. 

ln  Deutschland  hat  beim  Neubau  des  bayrischen 
Nationalniuseums  von  Anfang  an  der  Gedanke  be¬ 


stimmend  geherrscht,  tunlichst  geschlossene  Kultur¬ 
bilder  zu  schaffen.  Bei  der  Möglichkeit,  aus  einem 
fast  unerschöpflichen  Material  auszuwählen,  bei  der 
Verfügung  über  Kunstwerke  aller  Gattungen  sind 
Wirkungen  geschaffen  worden,  die  von  keinem  unserer 
nordischen  Museen  erreicht  werden.  Eines  vor  allem 
hat  das  Museum  vor  dem  Berliner  voraus,  das  den 
harmonischen  und  warmen  Eindruck  der  Räume  so 
wesentlich  mit  bestimmt:  das  ist  die  Fülle  der  kost¬ 
barsten  Gobelins  in  geschlossenen  Folgen.  Max  Fried¬ 
länder  hat  einmal  —  bei  der  Besprechung  der 
Münchener  Renaissance  -  Ausstellung  —  die  beiden 
Feinde  der  Kunstwerke  bei  der  Aufstelluug  charakte¬ 
risiert:  die  nmseologische  Nüchternheit  und  die  ma¬ 
lerische  Willkür.  Und,  mir  scheint,  mau  kann  auch 
in  dem  Bestreben,  Stimmung  und  Stimmung  um 
jeden  Preis  zu  sehaffen,  über  das  Ziel  hinausschießen. 

Unsere  modernen  Kunstausstellungen  und  mehr 
noch  die  kleinen  Kunstsalons  haben  ja  auch  eine 
Zeitlaug  dies  Nebeneinander  von  Bildern  und  Skulp¬ 
turen  mit  Möbeln,  Stickereien  und  allen  Werken  der 
angewandten  Kunst  gesucht  nnd  gefördert.  Aber 
nicht  wenige  gerade  von  den  ersten  Künstlern  haben 
selbst  dagegen  protestiert:  sie  fanden,  daß  ihre  Werke, 
die  sie  mit  Recht  als  die  wichtigeren  Kunst- 
schöpfimgen  ansahen,  dann  nicht  klar  zur  Geltung 
kamen  —  und  die  heutige  Ausstellungstechnik,  wie 
sie  etwa  in  den  fast  allzu  raffiniert  ausgeklügelten 
Arrangements  der  Sezession  und  des  Hagenbundes 
in  Wien  zum  Ausdruck  kommt,  sucht  beinahe 
alles  Beiwerk  zurückzudrängen,  die  Kunstwerke  mög¬ 
lichst  voneinander  zu  isolieren  und  sie  fast  ohne 
Rahmen  im  engeren  und  weiteren  Sinne  für  sich 
zur  Wirkung  zu  bringen. 

All  das  hatte  die  Verwaltung  der  Berliner 
Museen  erwogen  und  ausprobiert.  Seit  über  zwanzig 
Jahren,  schon  seit  jener  Ausstellung  von  1883,  für  die 
die  Kronprinzessin  in  der  oben  angeführten  Denk¬ 
schrift  das  Programm  aufgestellt,  ist  in  jeder  der 
Leihausstellungen  und  der  Oruppenausstellungen,  zu¬ 
letzt  noch  in  der  glänzend  gelungenen  Renaissance- 
Ausstellung,  diese  Art  der  malerischen  Aufstellung 
befolgt  worden,  und  es  war  einer  der  Lieblings¬ 
gedanken  des  hohen  Protektors  der  Museen  und 
seiner  Gemahlin,  auch  in  dem  neuen  Renaissance¬ 
museum  diesen  Plan  zur  Durchführung  zu  bringen. 
Es  ist  fast  alles  in  jener  Denkschrift  gesagt,  was 
man  auch  heute  an  Wünschen  äußern  möchte.  Und 
man  darf  jene  Worte  billig  als  eine  Art  Motto  für 
die  Neuaufstellung  der  Kunstwerke  im  Kaiser  Friedrich- 
Museum  an  die  Spitze  dieses  Kapitels  stellen.  Nicht 
alle  Kunstwerke  können  in  einer  so  ausgedehnten 
Sammlung  solchermaßen  zu  malerischen  Gruppen 
vereinigt  werden,  aber  die  73  Räume,  die  das  neue 
Museum  birgt,  verlangten  nach  Abwechselung,  die 
lange  Reihe  nach  Gliederung,  nach  Unterbrechung. 

Zunächst  ist  dem  ganzen  Bau  der  Charakter  des 
Uniformierten  in  seiner  Innenwirkung  in  etwas  dadurch 
genommen,  daß  mit  den  modernen  Normalportalen, 
die  nur  in  den  —  oft  recht  kuriosen  —  Verhält¬ 
nissen,  nicht  aber  in  den  Gewänden  Verschiedenheit 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


zeigen,  eine  Anzahl  der  köstlichsten  alten  Portale  der 
italienischen  Gotik  und  der  frühen  und  späten 
Renaissance,  zumal  aus  Genua  und  Venedig,  ab¬ 
wechseln,  die  Bode  seit  Jahren  erworben  und  auf¬ 
gespeichert  hatte.  Dazu  kommen  italienische  und 
niederländische  grobe  und  kleine  Kamine,  ein  paar 
alte  Decken  und  Plafonds,  einer  aus  dem  Palazzo  Gri- 
mani,  eine  venetianische  Decke  mit  eingelassenen 
Bildern  Paolo  Veroneses,  ein  ganzer  Raum  mit  Wand- 
und  Deckengemälden  von  Tiepolo  in  fein  abge¬ 
stimmten  weichen  Tönen:  silbergrau  auf  gelb  in 
weißer  Umrahmung.  Und  endlich  sind,  in  erster  Linie 
für  die  italienischen  Säle,  eine  grobe  Anzahl  von 
alten  niedrigen  zumal  Florentiner  Credenzeu,  von 
Sockeln  und  Piedestals,  von  Truhen  und  Sitzbänken 
beschafft  worden,  die  unter  und  zwischen  den  Bildern 
und  Skulpturen  aufgestellt  sind.  Die  langen  Truhen 
ersetzen  zugleich  zum  Teil  die  so  wenig  glücklichen 
Schranken,  die  die  Besucher  von  den  Wänden  fern¬ 
halten  sollen.  Bode  selbst  hat  als  Grundsatz  für 
diese  Anordnung  aufgestellt:  ein  Prinzip  nicht  zu 
Tode  zu  hetzen.  In  einem  so  groben  Museum  kann 
man  nicht  wirklich  wohnliche  Räume  schaffen  wie 
im  Museum  Poldi  Pezzoli  -  vor  allem,  weil  der 
wohnliche  Charakter  hier  eine  Lüge  sein  würde. 
Nur  in  dem  Kabinett,  das  James  Simon  mit  seinen 
auserlesensten  Schätzen  gefüllt  und  dem  neuen 
Museum  zur  Eröffnung  übergeben  hat,  ist  ein  solcher 
Versuch  gemacht  —  das  könnte  wirklich  ein  Raum 
aus  dem  Hause  eines  privaten  Kunstliebhabers  sein. 
Aber  diese  Kunstkammern,  in  denen  man  dann  auch 
das  Viel  und  Allzuviel  und  selbst  ein  wenig  Bric- 
a-Brac  erträgt,  verlangen  doch  eigentlich  auch  ihren 
Herrn,  eben  den  Liebhaber,  auf  dessen  persön¬ 
lichen  Geschmack  ein  solches  Durcheinander  ge¬ 
stimmt  ist.  Man  möchte  an  die  Worte  denken,  die 
Goethe  dem  kunstliebenden  Kanonikus  Pick  in  Bonn 
gewidmet  hat:  dem  heiteren  geistreichen  Mann,  der 
alles  und  jedes,  was  ihm  als  altertümlich  in  die 

Hand  kam,  gewissenhaft  gesammelt  hat,  welches 
schon  ein  grobes  Verdienst  wäre.  »Ein  gröberes 
aber  hat  er  sich  erworben«,  fährt  er  fort,  »daß  er, 
mit  Ernst  und  Scherz,  gefühlvoll  und  geistreich,  heiter 
und  witzig,  ein  Chaos  von  Trümmern  geordnet,  be¬ 
lebt,  nützlich  und  genießbar  gemacht  hat.« 

Was  im  Kaiser-Friedrich-Museum  geleistet  ist  — 
und  ganz  ohne  Prätension  geleistet  ist  —  ist  ein 

Versuch,  ein  höchst  merkwürdiger  und,  mir  deucht, 
nachahmenswerter  Versuch,  die  bedeutendsten  Kunst¬ 
werke  nicht  nur  durch  den  Ehrenplatz,  sondern  auch 
durch  eine  würdige  Umgebung  aus  der  Zahl  der 
übrigen  hervorzuheben.  Manche  der  Räume  sehen 
trotz  der  hier  und  da  aufgestellten  Möbel  noch  etwas 
kahl  aus.  Ein  wohnlicher,  anheimelnder  Charakter 
wird  sich  eben  nie  mit  einem  Male  schaffen  lassen; 

man  fühlt  sich  —  trotz  der  alten  Möbel  —  manch¬ 

mal  wie  bei  einem  jungen  Ehepaar  in  der  neu  ein¬ 
gerichteten  Wohnung:  auf  Tischen  und  Schränken  der 
Ausstattung  stehen  die  Hochzeitsgeschenke,  aber  das 
junge  Paar  ist  noch  nicht  recht  heimisch  geworden 
in  den  neuen  Räumen.  Aber  Wohnungen,  die  am 


ersten  Tag  fertig  sind,  ohne  daß  man  eiü  Stück  m::: 
hinzusetzen  muß  oder  hinsetzen  kann,  wirken  nur 
erkältend  und  unpersönlich  —  viel  anmutiger  ist  es, 
wenn  die  Räume  sich  allmählig  füllen  und  aus- 
wachsen,  und  dann  jedes  Stück  seine  besondere  und 
seine  neue  Geschichte  erzählt.  Und  wenn  viele  der 
Räume  auch  seit  Jahren  als  Ganzes  vor  dem  geistigen 
Auge  ihres  Schöpfers  standen,  wenn  er  für  ganz  be¬ 
stimmte  Plätze  und  Gegensätze  schon  seit  langem 
gekauft,  gesammelt, —  die  Wirkung  ausprobieren  kann 
man  doch  erst  mit  den  Originalen  selbst.  Bode  selbst 
hat  jüngst  in  »Kunst  und  Künstler«  einen  vorläufigen 
Kommentar  zu  der  Einrichtung  gegeben:  die  leitenden 
Grundsätze  waren  bei  Einhaltung  der  historischen 
Richtung  der  Sammlungen  doch,  möglichst  nur  künst¬ 
lerisch  Hervorragendes  anfzustellen,  jedes  Kunstwerk 
durch  seinen  Platz,  seine  Umgebung  und  Beleuchtung 
in  seiner  Bedeutung  möglichst  herauszuheben,  in  der 
Form  und  Ausstattung  der  Räume  wie  in  ihrer  Lage 
eine  gefällige  Erscheinung  derselben  anzustreben,  und 
bei  der  Aufstellung  den  Kunstwerken  einigermaßen 
die  Wirkung  zu  geben,  die  sie  an  ihrem  ursprüng¬ 
lichen  Platze  hatten.  -Die  Berliner  Museen  besitzen 
nicht  die  Fülle  von  Meisterwerken  wie  die  alten 
groben  Museen;  sie  müssen  daher  jedes  einzelne  Stück 
möglichst  zur  Geltung  zu  bringen  suchen.  Das,  was 
erreicht  worden  ist,  bleibt  freilich  in  vielen  Fällen 
mehr  oder  weniger  hinter  der  guten  Absicht  zurück; 
dessen  sind  wir  uns  selbst  am  besten  bewußt  und  haben 
es  schmerzlich  empfunden  bei  jedem  Stück,  daß  in 
Farbe  und  Motiv,  in  Ton  und  Qualität  nicht  zu 
seiner  Nachbarschaft  oder  zum  Ganzen  paßte,  bei 
jeder  Wand,  die  zu  groß  oder  zu  klein  war  für  die 
Bilder,  die  daran  aufgestellt  werden  mußten,  bei  jedem 
mittelmäßigen  Stück,  das  aus  irgend  einem  Grunde 
noch  zur  Aufstellung  kommen  mußte.  Hier  bleibt 
für  die  Zukunft  noch  manches  zu  tun:  auszumerzen,  zu 
erwerben,  zu  verändern;  wir  konnten  eben  nur  mit 
dem  rechnen,  was  uns  zur  Verfügung  stand«. 

Nach  einer  Seite  hin  ist  es  vielleicht  ein  großes 
Verdienst,  daß  in  den  Räumen  mit  so  weisem  Ma߬ 
halten  die  Möbel  verteilt  sind.  Es  wäre  ein  Leichtes 
gewesen,  förmliche  Zimmereinrichtungen  zu  schaffen, 
wie  sie  vor  allem  das  Amsterdamer  Rijksmuseum, 
das  Züricher  Landesmuseum  in  solcher  langen  Reihe 
bergen  und  wie  sie  fast  ein  jedes  neuere  Kunst¬ 
gewerbemuseum  —  die  allerneuesten  nicht  mehr  — 
aufzuweisen  hat,  wie  unter  anderen  auch  das  Ber¬ 
liner  Kunstgewerbemuseum  ein  paar  mit  feinem  Stilge¬ 
fühl  arrangierte  besitzt.  Aber  in  diesen  gehen  die  Werke 
der  großen  Kunst  meist  ganz  unter  —  und  es  ist 
charakteristisch,  daß  in  den  meisten  solcher  Räume 
nur  Bilder  dritten  und  vierten  Ranges  aufgehängt 
sind,  aus  den  Depots  der  Gemäldegalerie  stammend, 
weil  man  hier  eben  nur  einen  Fleck  von  der  und 
der  Farbe  und  von  der  und  der  Helligkeit  —  oder 
gewöhnlich  Dunkelheit  —  braucht,  und  die  Qualität 
hierbei  etwas  ziemlich  Nebensächliches  ist. 

Auf  eines  möchte  man  besonders  im  Kaiser 
Friedrich -Museum  hinweisen,  worin  die  Berliner 
Gemäldegalerie  es  allen  anderen  voraus  tut:  das  ist 


46 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


LÜe  Rahmenfrage.  In  unseren  großen  Sammlungen 
wiegen  zwei  Gattungen  von  Rahmen  vor:  das  sind 
die  schweren  Barockrahmen  mit  den  saftigen,  flei¬ 
schigen  Ornamenten  und  den  derben  Profilen  — 
und  die  mageren  klassizistischen  Ralimen  mit  den 
schlichten  Kehlen,  dem  bis  zur  Ermüdnng  wiederholten 
Eierstab  und  der  oft  zu  einer  Gattung  Seestern 
degenerierten  Palmette  in  den  Ecken.  Uniformierung 
in  den  Rahmen  ist  etwas  Fürchterliches  —  zumal  wenn 
eine  Normalleiste  durch  ein  ganzes  Museum,  nicht 
nur  dureil  einen  Raum  durchgeht,  und  es  gibt  in 
dieser  Beziehung  nichts  Trostloseres  als  das  Kunst¬ 
historische  Hofmuseum  in  Wien  mit  dem  immer 
wiederkehrenden  K.  K.  Profil  und  den  aufdringlichen 
lehrhaften  Überschriften  über  dem  Kopfstück.  Seit 
Jahrzehnten  ist  es  Bodes  Fürsorge  gewesen,  bei 
Hauptstücken  aus  dem  alten  Besitz  die  Schinkelschen 
Rahmen,  die  sie  zumeist  trugen,  auszuwechseln ,  für 
die  Neuerwerbungen  die  passenden  Einrahmungen  zu 
finden.  Eine  große  Serie  kostbarer  alter,  zumal 
florentinischer  Rahmen,  ist  hier  erworben,  für  große 
Stücke  sind  alte  Rahmen  kopiert  oder  zusammen¬ 
geschnitten  worden.  Das  Ganze  dann  mit  aller  Kunst 
des  Vergolders  getönt,  zusammengestimmt,  das  Gold 
verrieben  oder  lasiert,  so  daß  der  Rahmen  das  Bild 
möglichst  heraushebt  und  er  doch  wieder  dezent  zurück¬ 
tritt.  Mit  erlesenem  Geschmack  ist  hier  in  jahrelanger 
stiller  Arbeit  der  Neuverteilung  der  Bilder  schon  vor¬ 
gearbeitet  worden. 

Eine  Tribuna  oder  einen  Salon  carre  wird  heute 
wohl  niemand  mehr  schaffen  wollen  und  es  wäre 
ein  wunderlicher  Anachronismus  gewesen,  eine 
solche  Auslese  heute  noch  bieten  zu  wollen.  Der 
Salon  carre  im  Louvre  ist  vor  vier  Jahren  durch 
Lafenestre  aufgelöst  und  wird  heute  mehr  als  je  von 
den  Venezianern  beherrscht:  nur  mit  einer  wunder¬ 
lichen  Pietät  hat  man  je  ein  Bild  der  auswärtigen 
Schulen  beibehalten.  Und  der  Tribuna,  dem  viel  zu 
kleinen  achteckigen  Saal,  den  Bernardo  Buontalento 
in  den  Uffizien  für  die  Gemmensammlung  des  Gro߬ 
herzogs  Ferdinand  I.  geschaffen  hatte,  und  in  dem 
erst  der  österreichische  Hof  vor  fast  einem  Jahrhundert 
die  auserlesensten  Stücke  der  Hochrenaissance  maga¬ 
ziniert  hatte,  hat  eben  jetzt  der  unermüdliche  neue 
Direktor,  dem  schon  die  Brera  ihre  Neuordnung 
verdankt,  Corrado  Ricci,  ein  endliches  Ende  bereitet, 
ln  dem  kleinen  Cinquecento-Saal  des  Kaiser  Friedrich- 
Museums  ist  mit  weiser  Berechnung  nur  für  die  Hoch¬ 
renaissance  eine  ähnliche  Zusammenstellung  angestrebt, 
die  Gruppen  sind  sorgfältig  abgewogen:  in  der  Mitte 
der  einen  Schmalwand  dominiert  der  anmutige  mar¬ 
morne  Giovannino  Michelangelos,  die  Längswand  be¬ 
herrscht  der  schöne  große  Andrea  del  Sarto. 

Eine  Stellung  ganz  für  sich  gebührt  der  soge¬ 
nannten  Basilika.  In  dem  großen  Raume  ist  eine 
Reihe  von  plastischen  und  malerischen  Werken  an¬ 
gebracht,  die  durchaus  nicht  etwa  die  Perlen  der 
Sammlung  darstellen  wollen.  In  den  zehn  Nischen 
sind  große  Altarwerke  und  Skulpturen  aufgestellt, 
die  für  die  einzelnen  Abteilungen  zu  gewaltige  Ab¬ 
messungen  hatten.  Sie  sollen  zugleich  —  zum  Teil 


in  corpore  vili  —  zeigen,  wie  diese  großen  Werke 
an  den  Plätzen,  in  der  Beleuchtung,  in  der  Um¬ 
gebung  wirkten ,  für  die  sie  geschaffen  waren.  Ein 
sorgfältig  beachteter  Rhythmus  geht  durch  die  De¬ 
koration  der  Nischen  durch:  in  dem  mittelsten  Paar 
zwei  Robbiaaltäre,  der  eine,  mit  den  alten  Marmor¬ 
schränken  davor,  mit  einer  thronenden  Madonna 
zwischen  Heiligen,  ein  Hauptwerk  des  Andrea  della 
Robbia  aus  seiner  mittleren  Zeit,  zur  Seite  vier  große 
Altartafeln  von  Fra  Bartolomeo  und  Francia,  von 
Luigi  Vivarini  und  Paris  Bordone,  in  den  letzten  äußeren 
Nischen  wieder  Plastik,  ln  den  Nischen  nächst  der  Apsis 
eine  etwas  unruhige  und  zappelige  Kreuzigungsgruppe 
von  Begarelli,  gegenüber  der  schöne  ruhige  Steinaltar  aus 
Brescia  mit  der  edlen  Figur  der  h.  Dorothea  von  Andrea 
della  Robbia,  zunächst  dem  Ausgang  eine  hölzerne 
bemalte  Prozessionsmadonna  aus  der  Mark  Ancona 
und  eine  große  Beweinung  Christi  in  bemaltem  Ton 
von  Giovanni  della  Robbia.  Kleinere  Werke  da¬ 
zwischen,  an  den  Stirnseiten  der  Wandpfeiler  Wappen¬ 
schilder  wie  im  Hofe  des  Bargello,  an  der  Schmal¬ 
seite  neben  dem  Schauportal  zwei  schöne  mar¬ 
morne  Sakristei  -  Lavabos  eingemauert.  Auf  der 
Balkonbrüstung  stehen  die  jugendlich  schlanken 
Schildhalter  vom  Grabmal  Vendramin,  in  der 
richtigen  Höhe  und  von  dem  Balkon  selbst  aus  auch 
in  der  Nähe  zu  bewundern,  über  dem  oberen  Aus¬ 
tritt  ein  großer  Schild  mit  dem  Wappen  der  Medici, 
unter  dem  Balkon  in  dem  Tympanon  der  Tür  die 
überlebensgroße  Büste  des  Papstes  Alexander  VI. 
Borgia  durch  das  runde  goldene  Mosaikfeld 
dahinter  hat  sie  einen  Heiligenschein  erhalten,  der 
dem  doch  ziemlich  unheiligen  Papst  etwas  wunderlich 
zu  Gesicht  steht. 

In  der  Mitte  sind  frei  aufgestellt,  wie  auf  der 
Piazetta  von  Venedig,  zwei  alte  hohe  Säulen  —  von 
der  einen  grüßt  der  Marzocco,  von  der  anderen  die 
Lupa,  Löwe  und  Wölfin,  die  Wappentiere  von 
Florenz  und  Siena.  Zwischen  diesen  soll  endlich 
seinen  Platz  finden  das  alte  herrliche  italienische 
Chorgestühl  vom  Ende  des  15.  Jahrhunderts  mit  der 
kostbaren  Intarsia,  das  bislang  in  dem  langen  Korri¬ 
dor  der  Cinquecentoräume  im  alten  Museum  eher  im 
Wege  stand  als  glücklich  wirkte. 

Groltes  ist  geleistet.  Vieles  ein  Vorbild,  Manches 
ein  Versuch,  Alles  ein  Werk  intensiver,  rastloser 
Arbeit.  Wenn  Reihen  von  Kunstwerken,  die  man 
als  zusammengehörend  und  untrennbar  angesehen 
hatte,  weil  man  sich  gewöhnt  hatte,  sie  zusammen 
zu  sehen,  aufgelöst  sind,  wenn  hier  die  Entwicklung 
unterbrochen  erscheint,  das  Vergleichen,  das  Studium 
beschwerlicher  deucht,  so  sind  andere  wichtige  Paral¬ 
lelen,  wertvolle  Vergleiche  neu  erschlossen.  Es  ist  auch 
ganz  lehrreich,  gute  alte  Freunde  einmal  in  neuer 
und  fremder  Umgebung  zu  beobachten,  ob  sie  sich 
bewähren  und  wie  sie  sich  bewähren. 

Wie  das  im  verschiedenen  gelöst,  das  soll  der  Rund¬ 
gang  durch  die  einzelnen  Abteilungen  zeigen ,  in 
denen  unbefangene  Beobachter  die  Führung  über¬ 
nehmen.  Nur  über  eine  wichtige  und  an  innerem 
Wert  wahrlich  keiner  Abteilung  nachstehende  Gruppe 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


47 


läßt  sich  an  clieserStelle  nichts  sagen,  weil  die  Aufstellung, 
dem  Charakter  der  Objekte  entsprechend,  nichts,  die 
Auswahl  wenig  Neues  bieten  kann.  Das  ist  die  Ab¬ 
teilung  der  Münzen  und  Medaillen.  Die  übrigen 

Räume  aber  haben  im  folgenden  kürzere  oder 

längere  Würdigung  gefunden.  Und  es  schadet  auch 
nichts,  wenn  sich  in  verschiedenen  Temperamenten 
das  Kunstwerk  der  neuen  Aufstellung  in  einzelnen 

Punkten  etwas  verschieden  spiegelt. 

Der  geniale  Vater  dieser  ganzen  Neuordnung  und 
der  Schöpfer  eines  so  bedeutenden  Teiles  dieser 
Sammlungen  überhaupt  hat  bei  dem  Aufbau  der  Kunst¬ 
werke  nur  Anfangs  persönlich  Hand  anlegen  können. 
Seit  einem  Vierteljahr  fest  an  sein  Lager  gefesselt, 
hat  Wilhelm  Bode  von  diesem  aus  mit  immer  gleicher 
nie  aussetzender  stählerner  Elastizität  wie  ein  Feldherr 


alles  geleitet,  über  jede  Wand  bis  ins  einzelne  genau  dis¬ 
poniert.  Sein  rastloser  Geist  ist  ständig  bei  seinen  Arbeits¬ 
gefährten  gewesen:  man  möchte  sagen,  daß  er  in  sie 
gefahren  ist.  Aber  ohne  diese  Mitarbeiter  wäre  diese  er¬ 
staunliche  Gesamtleistung  auch  nicht  möglich  ge¬ 
wesen.  Allen  voran  steht  hier  Max  Friedländer,  seit 
Jahren  schon  Bodes  rechte  Hand,  zu  einem  unserer 
besten  und  besonnensten  Kenner  herangewachsen  und 
jetzt  auch  zweiter  Direktor  an  der  Gemäldegalerie, 
und  neben  ihm  Wilhelm  Vöge  für  die  plastische 
Abteilung,  die  italienische  wie  die  deutsche,  Fritz  Knapp 
für  die  Bronzen,  Oskar  Wulff  für  die  byzantinisch¬ 
altchristliche  Abteilung,  Artur  Haseloff  und  Dr.  Schulze. 
Sie  alle  dürfen  sich  jetzt  des  glücklich  vollendeten 
Werkes  freuen. 

PAUI.  Cl.PMF.N. 


III.  ALTCHRISTLICH-BYZANTINISCHE  KUNSTWERKE 


Man  erinnert  sich  an  den  immer  in  geheimnis¬ 
volles  Dunkel  gehaltenen  Durchgangsraum  zu  dem 
im  alten  Museum  neugeschaffenen  Oberlichtsaal  der 
italienischen  Plastik,  in  dem  die  aus  der  dunkelsten 
Zeit  des  frühen  Mittelalters  stammenden  plastischen 
Arbeiten  Italiens,  die  zum  großen  Teil  auf  die  Ankäufe 
Waagens  zurückgingen,  ihren  Platz  gefunden  hatten. 
Es  waren  außer  zwei  langobardischen  Sarkophagen 
wenige  in  die  Augen  fallende  Stücke,  und  sie  konnten 
auf  nichts  weniger  als  den  Namen  einer  besonderen 
Abteilung  Anspruch  erheben,  jetzt  ist,  zumal  durch 
die  Erwerbungen  des  letzten  Jahrzehnts,  namentlich 
vermittelt  durch  Strzygowski  und  Wiegand,  eine  solche 
Fülle  von  Denkmälern  zusammengebracht,  daß  fast 
alle  Perioden  und  alle  Stile  durch  charakteristische 
Stücke  vertreten  sind.  Dabei  ist  noch  besonders  her¬ 
vorzuheben,  daß  hier,  wie  in  der  islamitischen  Ab¬ 
teilung  alle  Hauptstücke  Geschenke  sind. 

Am  Abschluß  des  langen  Hauptsaales  ist  eine 
vollständige  Apsis  eingebaut,  in  der  das  Apsis¬ 
mosaik  aus  San  Michele  in  Affricisco  zu  Ravenna 
seine  Aufstellung  gefunden  hat.  Berlin  ist  damit  das 
einzige  Museum,  das  überhaupt  ein  größeres  Mosaik¬ 
werk  der  altchristlichen  Kunst  sein  eigen  nennen 
darf.  Das  Monument  hat  eine  lange  Leidensgeschichte 
gehabt.  Es  war  im  Jahre  1843  durch  Friedrich 
Wilhelm  IV.  angekauft  worden,  aber  nie  zur  Auf¬ 
stellung  gekommen,  und  hat  seitdem  ein  trübes  Dasein 
im  Dunkel  geführt,  nicht  ohne  große  Gefahr  für  seine 
Erhaltung  überhaupt.  Aus  dieser  Finsternis  ist  es 
jetzt  erlöst  und  als  ein  Geschenk  des  Kaisers  im 
Kaiser  Friedrich-Museum  aufgestellt  worden,  ln  der 
Apsis  das  Bild  des  jugendlichen  Christus  zwischen 
zwei  anbetenden  Erzengeln,  auf  der  Stirnseite  des 
Triumphbogens  rechts  und  links  die  Heiligen  Cosmas 
und  Damian,  darüber  in  der  Mitte  der  Salvator  als 
Weltrichter,  neben  ihm  die  Engel  Michael  und  Gabriel 
mit  den  Leidenswerkzeugen  und  die  sieben  Engel 
des  Zornes  aus  der  Apokalypse.  Das  Werk,  das  aus 
der  besten  Zeit  der  Ravennatischen  Kunst,  aus  dem 


Jahre  545,  stammt,  damit  aus  der  Periode  des  großen 
Justinian,  ist  mit  viel  Geschick  wieder  zusammen¬ 
gesetzt.  Das  Seitenlicht,  das  durch  ein  rechts  ein¬ 
gesetztes  dreiteiliges  Fenster  von  etwas  charakterlosen 
Profilen  fällt,  ist  ziemlich  düster  und  ist  zugunsten 
des  Studiums  dieses  prächtigen  dekorativen  Stückes 
durch  elektrische  Beleuchtung  unterstützt  worden.  Der 
ganze  Saal  davor  hat  durch  eine  Anzahl  von  großen 
Säulen,  auf  denen  altchristliche  und  byzantinische 
Kapitäle  Aufstellung  gefunden  haben,  eine  überaus 
geschickte  Gliederung  gefunden.  Es  ist  in  diesen 
Kapitälen  eine  vollständige  Geschichte  des  altchristlichen 
und  byzantinischen  Kapitäls  gegeben,  von  den  strengen 
Formen  des  5.  Jahrhunderts  bis  zu  den  gezackten 
und  ausgezahnten,  gleichsam  ausgesägten  degenerierten 
Akanthusblattbildungen  der  späteren  Jahrhunderte. 
Zwischen  den  beiden  mittleren  Säulen  ist  über  dem 
Eingang  zu  dem  koptischen  Saal  ein  Tympanon  ge¬ 
bildet,  in  das  ein  unteritalienisches  Christusbild  in 
Glasmosaik  auf  Goldgrund  geschickt  eingelassen  ist. 
Nur  flüchtig  erwähnt  werden  kann,  was  an  Skulpturen 
hier  zusammengebracht  ist.  Es  ist  ein  allmähliger 
Übergang  aus  der  altchristlichen  zur  byzantipischen 
Kunst  und  von  dieser  zur  frühitalienischen,  zur  lango¬ 
bardischen  und  venezianischen  des  frühen  Mittelalters 
angestrebt.  Unter  den  altbyzantinischen  Werken,  die 
noch  der  griechischen  Überlieferung  angehören,  ist 
jenes  von  Strzygowski  publizierte  Stück  eines  Sarko¬ 
phags  aus  Konstantinopel  mit  dem  jugendlichen 
Christus  zwischen  zwei  Aposteln  aus  dem  5.  und 
6.  Jahrhundert  das  merkwürdigste.  Es  reiht  sich  das 
Sarkophagfragment  mit  der  Gestalt  des  Petrus  in  einer 
Wunderszene  an  und  jener  byzantinische  Grabstein 
mit  Moses,  der  die  Gesetzestafeln  empfängt;  darüber 
der  schöne  und  wirkungsvolle  ornamentale  Ambo. 

Jenseits  des  Portals  eine  Anzahl  von  spätbyzan¬ 
tinischen  Plastiken,  die  durch  ihr  flaches  Relief  aus¬ 
gezeichnet  sind.  Die  Abteilung  darf  jetzt  schon 
neben  der  von  Hamdi  Bey  angelegten  Sammlung  im 
Tschinili  Kiosk  zu  Konstantinopel  als  die  nächst- 


48 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


bedeutende  genannt  werden.  Die  ganze  Zalil  solcher 
Skulpturen  ist  ja  eine  außerordentlich  geringe  und 
noch  geringer  war,  was  für  den  Ankauf  in  Betracht 
kam.  Das  Relief  tler  Maria  Orans  und  die  Tafel 
mit  dem  Erzengel  Michael  im  kaiserlichen  Ornat  sind 
besonders  zu  nennen.  L'nier  den  Brüstungsplatten 
zeigt  eine  frei  aufgcstelüc,  die  sich  an  eine  schöne 
Verdeanticosäule  auielml,  Motive  aus  tiem  sara¬ 
zenischen  Kunstschatzo;  die  beiden  Füchse  mit  dem 
Hahn  und  ein  Reh  mit  einem  Adler  in  feiner  Ranken¬ 
umrahmung.  Der  langobardischen  Plastik  gehören 


altbyzantinischen  Bronzen  und  endlich  die  Werke 
der  altbyzantinischcn  Kleinkunst  zur  Aufstellung  ge¬ 
bracht.  Erst  jetzt  wird  in  der  vereinigten  und  syste¬ 
matischen  Vorführung  die  geschlossene  Reihe  dieser 
Werke  klar. 

Auch  der  koptische  Saal,  der  sich  an  die  altchrist¬ 
lich-byzantinische  Abteilung  anschließt,  bietet  etwas 
völlig  Neues,  noch  kein  Stück  aus  den  hier  ver¬ 
einigten  Gruppen  war  im  alten  Gebäude  ausgestellt. 
Es  ist  das  zugleich  eine  Abteilung,  die  in  keiner 
europäischen  Sammlung  eine  Parallele  hat.  Es  handelt 


DER  SAAL  MIT  DEM  APSIS-MOSAIK  AUS  S.  MICHELE  IN  AFFRICISCO  ZU  RAVENNA 


vor  allem  die  beiden  Ciboriumbögen  an,  der  kleinere 
mit  einer  Weihinschrift  des  Papstes  Johannes.  In 
einer  höchst  geschickt  aufgestellten  Gruppe  über  einem 
der  Sarkophage  zwischen  zwei  Säulen  und  unter  dem 
einen  der  Ciboriumbögen  hat  die  hölzerne  Madonna 
des  Presbyters  Martinus  vom  Jahre  1 1  gg  ihre  Auf¬ 
stellung  gefunden,  ein  Werk  der  strengsten  archaisch¬ 
hieratischen  Kunst  Toskanas.  Noch  ahnt  man  hier 
nichts  von  dem  Leben,  das  bald  diesen  erstarrten 
Formenschatz  erfüllen  und  sprengen  sollte,  ln  den 
Vitrinen  sind  die  Werke  der  mittelbyzantinischen 
Elfenbeinplastik,  die  altchristlichen  Pyxiden  und  die 


sich  um  die  Kunst  der  eingeborenen  christlichen  Be¬ 
wohner  Ägyptens  aus  dem  ersten  Jahrtausend.  Auf 
den  ersten  Blick  erscheint  alles,  was  sie  geschaffen, 
von  einer  erstaunlichen  Roheit,  und  einer  ganzen 
Reihe  der  Holz-  und  Beinschnitzereien  möchte  man 
eher  im  Völkerkundemuseum  begegnen  neben  den 
primitiven  Kunstversuehen  der  Südseeinsulaner,  als 
hier  in  dem  Hause  der  hohen  Kunst.  In  dem  großen 
geschichtlichen  Zusammenhang,  in  den  diese  Ab¬ 
teilung  aber  hier  gerückt  ist,  gewinnt  sie  eine  be¬ 
sondere  Bedeutung  als  ein  wichtiges  Glied  bei  der 
Ausbildung  dessen,  was  wir  bisher  byzantinischen 


AUS  DEM  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


49 


Stil  im  allgemeinen  nannten,  und  auch  zur  vorder¬ 
asiatischen  Kunst  steht  sie  in  enger  Beziehung  als 
eine  der  wichtigsten  Vorstufen  der  arabischen  Kunst. 
Das  rein  künstlerische  Element  tritt  freilich  arg  zurück. 
Es  ist  eine  beispiellose  Barbarisierung  des  helleni¬ 
stischen  Formenschatzes,  viel  roher  als  die  gallo-römi- 
schen  Arbeiten  der 
gleichen  Zeit.  Die 
ganze  Begabung  der 
Handwerker  hat  sich 
auf  das  ornamentale 
Gebiet  geflüchtet, 
und  hier  ist  allein 
ein  selbstcändiges  Le¬ 
ben,  eine  interes¬ 
sante  eigene  Ent¬ 
wickelung  zu  verfol¬ 
gen:  alles  wird  dem 
dekorativen  Empfin¬ 
den  untergeordnet, 
zuletzt  eben  auch 
die  menschliche  und 
die  tierische  Gestalt. 

An  den  Wänden 
und  in  der  Mitte 
wieder  einige  Kapi¬ 
tale  auf  hohen  Säu¬ 
len  mit  merkwürdig 
flachem  schemati¬ 
sierten  Ornament, 
über  einer  Gruppe 
von  drei  Säulen  an 
der  Wand  die  merk¬ 
würdigen  Teile  eines 
Frieses  mit  Ranken 
und  kranzhaltenden 
Genien.  Unter  den 
plastischen  Werken 
ist  nur  das  Hochrelief 
einer  Stadtgottheit  zu 
nennen  und  ein  spä¬ 
ter  Kaiserkopf  mit 
leeren  Augenhöhlen, 
einen  Lorbeerkranz 
um  das  Haupt.T rotz  der  geri  ngen  Kunstfertigkeit  lebt  doch 
in  dem  bartlosen  strengen  Gesicht  mit  dem  schmalen 
etwas  gekniffenen  herben  Mund  ein  gewisser  indivi¬ 
dueller  Ausdruck.  Dabei  ist  das  Starre  der  Formen 
wieder  den  alten  ägyptischen  Porträts  nachgebildet. 
In  den  Wandschränken  Proben  von  Malerei  auf 
Holz  und  Papyros,  sowie  kleinere  Holz-  und  Bein¬ 


schnitzereien,  darunter  das  bekannte  von  Strzygowski 
zum  Mittelpunkt  einer  alexandrinischen  Gruppe  er¬ 
nannte  Hochrelief,  das  den  Einzug  einer  christlichen 
Kriegerschar  in  eine  von  Barbaren  belagerte  Stadt 
darstellt.  In  dem  zweiten  Wandschrank  andere 
Schöpfungen  des  Kunstgewerbes  und  der  Kleinkunst, 

zumal  aus  Bronze 
und  Ton,  eine  große 
Menge  von  Lampen, 
Pilgerandenken, 
Stempel  zum  Fla¬ 
schenverschluß.  Da¬ 
neben  bemalte  Teller 
des  5.  bis  8.  Jahr¬ 
hunderts,  die  merk¬ 
würdig  an  die  einer 
ähnlichen  primitiven 
Bauernkunst  ange- 
hörigen  deutschen 
und  holländischen 
Schöpfungen  der 
letzten  Jahrhunderte 
erinnern. 

Den  farbigen 
Schmuck  des  Saales 
bilden  die  großen 
koptisch  -  byzantini¬ 
schen  Stoffe,  die  in 
mächtigen  Rahmen 
aufgehängt  sind.  Sie 
stammen  vor  allem 
von  den  Toten¬ 
feldern  in  Achmim 
und  Antinoe.  Es 
sind  zum  Teil  ganze 
Gewänder  in  Leinen 
mit  farbigen  eiuge- 
webten  oder  gewirk¬ 
ten  Darstellungen 
von  Szenen  des 
Neuen  Testaments, 
Darstellungen  von 
Heiligen,  aber  auch 
ganz  unchristlichen 
Tänzerinnen.  Natürlich  kann  hier  nur  ein  ganz  ge¬ 
ringer  Teil  der  vorhandenen  Schätze  zur  Ausstellung 
kommen.  Diese  ganze  Gruppe  wird  freilich  erst  ver¬ 
standen  werden  in  Verbindung  mit  der  durch  Julius 
Lessingseitjahrzehnten  angelegten  großen  textilen  Samm¬ 
lung  der  koptischen-sassanidischen-byzantinischen  Ge¬ 
webe  des  1.  Jahrtausends  im  Kunstgewerbemuseum. 

PAUL  CLEMEN. 


EINBLICK  IN  DEN  KOPTISCHEN  SAAL 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N  F.  XV!.  II.  2 


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50 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


IV.  DIE  PERSISCH-ARABISCHE  KUNST 


Vor  einigen  Jahren  hat  Woldemar  von  Seidlitz 
eine  als  Manuskript  gedruckte  Denkschrift  veröffent¬ 
licht,  in  der  er  ein  Deutsclics  Museum  für  asiatische 
Kunst:^  forderte.  Er  will  derjenigen  Kunst  Asiens, 
die  unabhängig  von  dem  Umkreis  der  Mittelmeer¬ 
völker  emporgeblüht  ist,  der  Kunst  Chinas  mit  ihren 
Nebengebieten,  der  japanischen  mit  der  indischen, 
hinterindischen,  indonesischen  und  der  weitverzweigten 
Kunst  des  Islam  hier  eine  Heimstätte  an  weisen.  Man 
muß,  wenn  man  die  deutschen  Sammlungen  über¬ 
sieht,  sofort  zugestehen,  daß  hier  bis  jetzt  eine  ge¬ 
waltige  Lücke  klafft.  Es  liegt  die  Gefahr  vor,  daß 
wir,  wenn  einmal  der  Gedanke  eines  solchen  Museums 
Gestalt  gewinnt,  zu  spät  kommen.  England  hat  seit 
Jahrzehnten  sein  indisches  Museum,  das  freilich  mehr 
nach  Rücksichten  der  Kolonialpolitik,  als  der  Kunst¬ 
pflege  angelegt  ist  und  verwaltet  wird,  im  South 
Kensington-Museum  sind  zudem  herrliche  Werke  der 
asiatischen  Kunst  versteckt.  Frankreich  besitzt  das 
Musee  Guimet  und  dazu  jetzt  das  Musee  de  l’extreme 
Orient  und  in  beiden  die  Keime  zu  solchen,  die  ganze 
asiatische  Kultur  umfassenden  Sammlungen.  In  Deutsch¬ 
land  hat  man  bisher  diese  ganze  Kultur  mehr  oder 
weniger  als  zum  Kunstgewerbe  gehörig  angesehen, 
und  die  Kollektionen  dieser  Erzeugnisse  aus  dem  äußer¬ 
sten  Osten  sind  deshalb  den  Kunstgewerbemuseen  an¬ 
gegliedert  worden,  ln  erster  Linie  steht  hier  die  Samm¬ 
lung,  die  Justus  Brinkmann  in  Hamburg  angelegt  hat. 
Aber  alle  diese  Abteilungen  gelten  doch  immer  mehr 
China  und  Japan  und  höchstens  noch  Indien.  Der  islami¬ 
tische  Orient  schien  für  unsere  Museen  tot  zu  sein  oder 
nur  spärliche  Beute  zu  bieten.  Nachdem  jetzt  mit 
dem  Wachsen  der  deutschen  Interessensphären  im 
Orient  auch  die  Forschung  sich  immer  mehr  dieser 
Gebiete  bemächtigt,  nachdem  zu  der  alten  Deutschen 
morgenländischen  Gesellschaft  die  Orientalische  Ge¬ 
sellschaft  und  das  Orientkomitee  getreten  sind,  dürfen 
wir  hier  nicht  länger  zögern,  auch  die  späteren 
monumentalen  Zeugen  dieser  vergangenen  Kulturen 
zu  sammeln  und  für  unsere  Zwecke  zu  verwerten. 
Ein  einfacher  Privatmann,  Fritz  Sarre,  der  über  breite 
Mittel  gebietet,  hat  auf  Grund  seiner  Forschungsreisen 
in  einem  kleinen  privaten  orientalischen  Institut,  das 
aber  allen  Fachgenossen  und  Interessenten  offen  steht, 
und  einer  über  das  Gebiet  der  arabischen  und  persi¬ 
schen  Kultur  sich  ausdehnenden  Sammlung  hiermit 
den  Anfang  gemacht.  Berlin  besaß  im  Kunstgewerbe¬ 
museum  seit  Jahren  schon  eine  langsam  wachsende 
Sammlung  von  orientalischen  Metall-  und  Fayence- 
Arbeiten,  Fließen,  keramische  Schöpfungen  und  vor 
allem  eine  ausgezeichnete  Textilsammlung,  aber  es 
fehlten  die  Stücke  und  mußten  dem  Charakter  der 
Sammlung  entsprechend  naturgemäß  fehlen,  die  den 
Übergang  zur  monumentalen  Kunst  bildeten.  Hier 
sucht  die  neu  geschaffene  persisch-arabische  Abteilung 
des  Kaiser-Friedrich-Museums  einzusetzen.  Sie  zeigt 
die  Anfänge  einer  groß  angelegten  Sammlung;  der 
Rahmen  ist  seh.r  weit  gespannt:  mir  einzelne  Plätze 


auf  dem  weiten  Schachbrett  sind  besetzt  und  fast  alle 
nur  provisorisch,  aber  man  sieht  den  gewaltigen 
Willen  lind  das  wissenschaftliche  Programm,  das  hier 
zugrunde  liegt. 

ln  dem  einen  großen  Quertrakt,  der  von  der 
Spreeseite  auf  das  schöne  kleine  Treppenhaus 
zu  führt,  ist  ein  riesiges  Werk  aufgestellt,  das  erst 
im  vorigen  Jahre  nach  Berlin  gelangt  ist,  ein  Ge¬ 
schenk  des  Sultans  an  den  Kaiser:  die  Palastfassade 
von  M’schetta.  Nicht  die  ganze  Fassade  ist  abge¬ 
brochen  und  hierher  überführt,  nur  der  eine  Flügel 
und  die  beiden  polygonalen  Türme,  die  das  Mitteltor 
zwischen  sich  schließen.  Diese  Aufstellung  ist  natür¬ 
lich  nur  eine  provisorische.  Das  große  Mittelportal 
ist  arg  verengt  worden  zu  einem  schmalen  Schlitze. 
Wie  wunderbar  würde  sich  die  ganze  Fassade  machen 
in  einem  mächtigen  Raume,  entsprechend  der  Halle, 
wie  sie  für  das  Pergamon-Museum  geplant  war,  aber 
nicht  zur  Ausführung  gekommen  war,  in  voller 
Ausdehnung  als  Front  eines  asiatischen  Museums! 
Aber  das  sind  fromme  Wünsche  für  die  spätere  Zu¬ 
kunft.  Die  aus  porösem  Kalkstein  ausgeführten  Mauern 
sind  durchweg  und  bis  auf  die  beiden  untersten 
Steinlagen  mit  freigearbeiteten  Ornamenten  bedeckt. 
Der  Rhythmus  der  Fassade  wird  bestimmt  durch  große 
Zickzacklinien,  die  zwischen  Sockel  und  Gesims  hin¬ 
laufen,  und  kräftig  vortretende  Rosetten  in  den  ein¬ 
zelnen  Dreiecken.  Die  ganze  Fläche  ist  aber  daneben 
noch  übersponnen  und  gleichsam  zernagt  von  den 
üppigsten  Ornamenten.  Es  ist  ein  horror  vacui,  der 
hier  auch  nicht  eines  der  architektonischen  Glieder 
freigelassen  hat.  Zwischen  den  pflanzlichen  Orna¬ 
menten,  die  die  Fläche  überranken,  finden  sich  Greife 
und  Löwen ,  Centauren  und  andere  Fabeltiere  in 
munterem  Spiele.  Das  Werk  ist  nie  ganz  fertig  ge¬ 
worden;  einzelne  der  Steine  tragen  nur  eine  Art  Vor¬ 
zeichnung,  während  andere  Partien  völlig  in  einer 
mehr  kunstgewerblichen  als  monumentalen  Technik 
durchgearbeitet  sind.  Dieses  »Winterlager«  (denn 
das  heißt  M’schetta)  lag  östlich  vom  Jordan  und  vom 
Nordrand  des  Toten  Meeres  und  war  den  Reisenden 
und  Archäologen  längst  bekannt.  Es  galt  als  ein 
Bau  des  letzten  Sassanidenkönigs  Chosroes  11.  aus  der 
Zeit  der  syrischen  Okkupation,  und  mit  dem  Sturz 
der  Sassanidenherrschaft  glaubte  man  auch  das  Un¬ 
vollendetsein  am  besten  erklären  zu  können.  Man 
fragt  sich  allerdings,  wie  ein  Fürst  dazu  kam,  in 
diesem  abgelegenen  Winkel  ein  so  kostbares  Schloß 
sich  zu  erbauen.  Freilich  war  dies  Gebiet  im  ersten 
Jahrtausend  außerordentlich  wildreich,  und  man  denkt 
an  die  im  Ostjordanlande  gelegenen  arabischen  Lust- 
und  Jagdschlösser  der  Abbasidenprinzen,  die  ebenso 
in  die  Einöde  gesetzt  waren,  an  das  von  Dr.  Musil 
entdeckte  arabische  Märchenschloß  Amra.  Neuerdings 
hat  Josef  Strzygowski  diesen  späten  Ursprung  in  Frage 
gezogen  und  glaubt  eine  viel  frühere  Zeit,  den  Be¬ 
ginn  des  5.  Jahrhunderts,  als  Zeit  der  Erbauung  in 
Anspruch  nehmen  zn  können.  Baumeister  aus  Meso- 


DAS  KAISER  ERIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


5 


DIE  PALASTFASSADE  VON  M’SCHETTA 


potamien  und  byzantinische  Arbeiter  hätten  den  Palast 
aufgeführt.  Eine  Veröffentlichung  von  Strzygowski 
wird  das  Oktoberheft  des  Jahrbuches  der  Preußischen 
Kunstsammlungen  enthalten. 

In  dem  arabischen  Saal,  der  der  Spree  zugekehrt 
ist,  ist  an  den  Wänden  eine  ausgesuchte  Kollektion 
von  vorderasiatischen  und  persischen  Teppichen  zur 
Ausstellung  gebracht,  vom  14.  bis  zum  17.  Jahr¬ 
hundert,  durchweg  Geschenke  von  Bode,  die  er 
seit  Jahrzehnten  zumal  in  Italien  gesammelt  hat,  dar¬ 


unter  ausgezeichnete  Stücke,  so  jener  Persertepjüch 
unter  chinesischem  Einfluß,  der  die  Wappentiere  der 
Ming-Dynastie  aufweist.  Das  ergäbe  dann  die  Periode 
der  Mongolenherrschaft,  das  14.  oder  1 5.  Jahrhundert 
als  Zeit  des  Ursprungs.  An  den  Wänden  sind  Wand¬ 
schränke  mit  Arbeiten  in  Ton  und  Elfenbein  aufge¬ 
stellt,  sowie  Holz-  und  Elfenbeinmosaiken  vom  2.  bis 
zum  8.  Jahrhundert,  die  Tonarbeiten  bis  zur  Mame¬ 
lukenzeit  reichend;  in  einem  zweiten  Schrank  dann  die 
großen  Koraneinbände,  herrliche  und  ausgesuchte 


7 


52 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


Lederarbeiteil,  darunter  ein  Exemplar  von  fast  ein 
Meter  Höhe.  In  dem  Mittelpunkt  ein  viereckiger 
Kasten  in  Metall  um  1400,  der  zur  Aufnahme  eines 
Korans  in  dreißig  Bänden  bestimmt  ist,  ein  außer¬ 
ordentlich  seltenes  und  kiinstgeschichtlich  wichtiges 
Stück;  daneben  der  Deckel  .-ines  solchen,  auf  dem 
die  Gold-  und  Silber-Tauschierung  noch  vortrefflich 
erhalten.  An  den  Schmalwänden  außerdem  Proben 
der  arabischen  Holzschnitzereien,  zum  großen  Teil 
aus  Ägypten,  im  8.  Jahrhundert  mit  Stücken  aus  der 
Tuhm-iMoschee  in  Kairo  beginnend,  dann  eine  kleine 
Kollektion  aus  der  Fatimidenzeit,  ferner  eine  Samm¬ 
lung  der  ältesten  Grabsteine,  die  die  antike  Stelenform 
fortsetzen,  die  ältesten  in  Marmor,  darunter  der  früheste 
der  überhaupt  bisher  bekannten  Grabsteine  aus  dem 
Jahre  207  nach  der  Hedschra  =  82 1 .  Von  den 
drei  freistehenden  Schränken  enthält  der  erste  kleinere 
Lederarbeiten  mit  arabischen  Ornamenten  des  14.  und 
15.  Jahrhunderts,  der  zweite  eine  Sammlung  von 
Fayence- Fragmenten  aus  Ägypten  und  Nordafrika, 
darunter  auch  eine  kunstgeschichtlich  wichtige  Samm¬ 
lung  von  Scherben  mit  Künstlernamen,  und  endlich 
der  dritte  eine  Kollektion  von  Mosulgefäßen,  Vasen 
der  bekannten  Form,  getrieben  und  mit  eingeritzten 
oder  in  Silber  und  Gold  tauschierten  Einlagen  ver¬ 
sehen,  zumeist  aus  dem  13.  bis  14.  Jahrhundert,  auch 
einige  ältere  Exemplare  darunter.  Zuletzt  eine  Kollek¬ 
tion  arabischer  Gewichte  und  Maße,  einige  Hundert 
Glaspasten  mit  Namen  der  Fatimiden- Kalifen,  ferner 
arabische  Gläser  und  Fayencegefäße.  Der  Wert  dieser 
ganzen  Sammlung  liegd  nicht  so  sehr  in  den  einzelnen 
Stücken,  als  in  der  systematischen  Anlage;  auch  hier 
ist  noch  vieles  auszubauen  und  hinzuzutun.  Professor 
Moritz,  der  energische  Direktor  der  Khedivial-Biblio- 


tliek  in  Kairo,  hat  den  größeren  Teil  der  Samm¬ 
lung  zusammengebracht,  einzelne  kleinere  Abteilungen 
haben  Strzygowski  und  Wiegand  (aus  den  Aus¬ 
grabungen  von  Priene  und  Milet)  beigesteuert. 

Auch  in  dem  Nebensaal  hat  sich  vorläufig  die 
arabische  und  daneben  die  persisch-sassanidische  Kunst 
eingenistet.  An  den  Wänden  sind  provisorisch  jene 
großen  Kopien  der  Fließen  aus  den  Moscheen  Erdebil 
bei  Ispahan  und  Nachitschewan,  sowie  aus  Konia 
aufgestellt,  die  Sarre  auf  seinen  letzten  Expeditionen 
an  Ort  und  Stelle  hat  anfertigen  lassen.  Sie  geben, 
bis  sie  etwa  durch  Originale  ersetzt  werden  können, 
wenigstens  einen  ungefähren  Begriff  von  der  Leucht¬ 
kraft  und  der  Pracht  dieser  keramischen  Dekorationen. 
Die  ganze  Sammlung  ist  noch  im  Entstehen  begriffen: 
was  ihr  fehlt,  das  sind  -  außer  der  einen  Fassade 
von  M’schetta  —  die  großen  imponierenden  Werke 
der  monumentalen  Kunst.  Sollte  es  nicht  möglich 
sein,  einmal  einen  ganzen  Mihrab  aus  einer  aufge¬ 
gebenen  Moschee  zu  erwerben  —  oder  etwa  die 
ganze  Schauseite  und  die  Portalnische  einer  der  in 
Trümmern  liegenden  Moscheen  am  jetzigen  Endpunkte 
der  anatolischen  Bahn?  Das  sieht  freilich  wie  eine 
seltsame  Art  von  Denkmalpflege  aus  -  aber  es 
handelt  sich  hier  wirklich  zumeist  um  eine  Rettung; 
und  auch  das  Wunderwerk  von  M’schetta  hätte  man 
sich  lieber  noch  weiterhin  im  Wüstensande  von 
Palästina  vorgestellt,  wenn  hier  nicht  mit  der  Gefahr  zu 
rechnen  gewesen  wäre,  daß  es  für  den  Dammbau  in 
der  Nähe  abgebrochen  worden  wäre.  Dann  ist  es 
schon  besser,  die  Skulpturen  wandern  direkt  in  das 
Berliner  Museum,  als  daß  sie  wie  der  Altar  von 
Pergamon  erst  in  eine  Mauer  verbaut  und  aus  dieser 
dann  nach  Jahrhunderten  erlöst  werden. 

PAUL  CLEMEN. 


V.  ITALIENISCHE  PLASTIK 


Für  die  große  Sammlung  italienischer  Skulpturen, 
welche  das  Berliner  Museum  besitzt,  war  die  Be¬ 
schaffung  eines  neuen  Heims  eine  noch  dringlichere 
Notwendigkeit  als  für  die  Gemälde.  Bedrängte  diese 
der  Platzmangel  nur  relativ,  so  fehlten  in  Schinkels  Bau 
die  Säle  für  die  Skulpturen  der  christlichen  Epoche 
gänzlich.  Die  kleinen  plastischen  Bestände  der  Kgl. 
Kunstkammer  führten  im  Erdgeschoß  neben  den  An¬ 
tiken,  zusammen  mit  einigen  Majoliken,  Bronzen  und 
Elfenbeinen  lange  Zeit  ein  sehr  bescheidenes,  allzu 
gemütvolles  Dasein.  Die  retrospektive  Ausstellung 
im  Pariser  Trocadero  von  1878  gab  für  die  Sammler 
und  Museen  den  Anstoß,  sich  der  bisher  nur  wenig 
begehrten  und  auch  wenig  gekannten  italienischen 
Quattrocentoskulptur  systematisch  zuzuwenden.  Vor¬ 
her  aber  hatte  Wilhelm  Bode  bereits  mit  sicherem 
Instinkt  diese  Plastik  in  einer  besonderen  Abteilung 
der  Berliner  Sammlungen  zu  sammeln  begonnen, 
ohne  dabei  sofort  die  Unterstützung  zu  finden,  die 
eine  umfassende  Ausgestaltung  dieser  viel  versprechen¬ 
den  Neugründung  ermöglicht  hätte.  Erst  nach  seiner 
Ernennung  zum  Direktor  der  plastischen  Abteilung 


(1880)  konnte  er  im  größeren  Stil  daran  gehen,  seine 
Vertrautheit  mit  dem  italienischen  Privatbesitz  und 
Kunstmarkt  im  Interesse  der  jungen  Sammlung  aus¬ 
zunutzen.  Verdanken  die  Londoner  und  Pariser 
Staatssammlungen  ihre  Bestände  an  Renaissanceplastik 
—  abgesehen  von  altem  Besitz  —  glücklichen  Ramsch¬ 
ankäufen,  bei  denen  viel  Minderwertiges  und  auch 
einiges  Moderne  mit  unterlief,  so  hat  Bode  stets  nur 
einzelnes  erworben  und  auf  diese  Weise  langsamer, 
aber  lückenloser  und  vorsichtiger  gesammelt.  Wenn 
er  den  Schwerpunkt  seiner  Bemühungen  in  das 
Quattrocento  legte,  so  lag  das  weniger  am  Charakter 
des  damaligen  Kunstmarktes,  als  weil  hier  wirklich 
eine  in  sich  geschlossene,  in  Vergleich  mit  der  gleich¬ 
zeitigen  Malerei  Toskanas  bedeutend  reifere  Kunst  sich 
anbietet,  neben  der  die  Plastik  des  Cinquecento  trotz 
aller  Glanzleistungen  einseitig,  zum  Teil  manieriert 
und  jedenfalls  weniger  frisch  und  unmittelbar  er¬ 
scheint.  Es  galt  aber  nicht  nur,  die  italienische,  speziell 
toskanische  Quattrocentoplastik  zu  erwerben,  sondern 
auch  zu  erforschen  und  den  Nordländern  lieb  zu 
machen.  Wie  spröde  die  Kunstfreunde  im  Anfang 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


53 


von  Bodes  Wirksamkeit  dieser  Kunst  gegenüber- 
gestanden  haben  mögen,  kann  man  an  dem  Befremden 
ermessen,  das  vor  einigen  Jahren  die  Krefelder  Museums¬ 
freunde  überfiel,  als  ihnen  die  plastische  Quattrocento- 
Sammlung  des  Herrn  von  Beckerath  angeboten  wurde, 
die  doch  viel  feine,  muntere  und  liebenswürdige 
Sachen  enthielt. 

Nach  drei  Seiten  hin  dehnte  Bode  seine  Sammler¬ 
tätigkeit  aus.  Das  Wichtigste  war  die  Sammlung  der 
Marmore,  die  namentlich  durch  die  Erwerbung  be¬ 
deutender  Rorträtbüsten  bald  ein  schönes  Niveau  er¬ 
reichte.  Gleichzeitig  ging  der  Unermüdliche  an  die 
Bronzen,  die  er  früher  als  irgend  ein  anderer  Museums¬ 
direktor  systematisch  gesammelt  hat.  Die  Medaillen 
blieben  freilich  dem  Münzkabinett  Vorbehalten;  aber 
die  Bronzestatuetten,  mit  denen  die  Kamine  und  Wand¬ 
bretter  der  Quattrocento -Palazzi  besetzt  waren,  die 
großen  Büsten  und  Reliefs,  die  kleinen  Geräte  wie 
Leuchter,  Schreibzeuge,  Taschenbronzen  und  anderes 
wurden  nun  in  stattlicher  Fülle  und  fast  immer  in 
guten  Exemplaren  erworben.  Dazu  kam  eine  von 
Bardini  znsam  mengetragene  Sammlung  von  Plaketten,  die 
den  Grundstock  einer  Abteilung  bilden  sollte,  die  heute 
an  Vollständigkeit  alle  anderen  Sammlungen  dieser 
Art  überholt.  Eine  dritte  Gruppe  endlich  bildete  die 
Holz-,  Ton-  und  Stuccoplastik.  Diese  war,  was  bisher 
verkannt  worden  war,  namentlich  um  der  Farbe 
willen  für  eine  Epoche  der  malerischen  Halb¬ 
plastik,  wie  sie  die  Bildnerei  des  Quattrocento 
darstellt,  ungemein  wichtig,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  sehr  viele  Marmorarbeiten  jener 
Zeit  uns  nur  im  Tonmodell  oder  der  Stnck- 
nachbildung  erhalten  sind.  Die  Tonplastiken 
bieten,  soweit  sie  Originalmodelle  sind,  noch 
dazu  den  besonderen  Reiz,  daß  sie  die  Impro¬ 
visation  der  künstlerischen  Schöpfung  viel 
treuer  festhalten,  als  der  spröde,  nur  dem 
zähen  langsamen  Angriff  weichende  Stein. 

Diese  kostbaren  Tonsachen  hatte  bisher  nie¬ 
mand  gesammelt;  bis  heutigen  Tages  sind  die 
Sammlungen  des  Bargello  und  des  Louvre 
arm  an  diesen  Arbeiten  und  die  wenigen 
Stücke  im  Viktoria-Albert-Museum  sind  zwar 
zum  Teil  sehr  gut,  aber  allzu  verstreut,  um  ein 
Bild  der  Gesamtleistung  zu  geben. 

Für  diese  farbige  Plastik  war,  als  die 
Schätze  sich  häuften,  im  alten  Museum  ein 
Oberlichtsaal  eingebaut  worden,  bei  dem  Bode 
eine  besonders  glückliche  Raumwirkung  zu 
erzielen  gewußt  hatte.  Das  freilich  an  be¬ 
deckten  Tagen  nicht  ganz  genügende  Oberlicht 
verhalt  den  bunten  Reliefs,  Statuen  und  Büsten 
zu  einer  verhaltenen  Wirkung  und  entschleierte 
nicht  schonungslos  die  Schäden,  welche  diesen 
wenig  dauerhaften  Stücken  von  der  unsanften 
Behandlung  während  vier  Jahrhunderten  zuge¬ 
fügt  waren.  Dieser  Oberlichtsaal,  in  dem  die 
große  Stuckmadonna  Benedetto  da  Maianos 
feierlich  erhaben  vor  einem  herrlichen  Perser¬ 
teppiche  thronte,  wird  uns  allen  unvergeßlich 
bleiben.  Nur  wenige  Marmorbüsten  waren 


vor  die  flachen,  die  Wände  teilenden  Tuchstreifen  ge¬ 
stellt;  sie  markierten  in  all  der  bunten  Fülle  eine  stille 
Rhythmik  des  Saales,  dessen  geweihte  Stimmung  auch 
den  redseligsten  Schwätzer  verstummen  ließ.  Hier 
war  auch  der  Anfang  mit  den  Versuchen  gemaclil, 
dem  Raum  die  Nüchternheit  eines  Magazins  zu 
nehmen  durch  die  Aufstellung  alter  Truhen,  Tische, 
Sessel  und  einer  großen  Cassapanca. 

Ursprünglich  bestand  nun  der  Plan,  beim  neuen 
Museum  die  Bestände  dieser  drei  Abteilungen  (Mar¬ 
more,  Bronzen  und  farbige  Plastik)  untereinander  und 
mit  Bildern  zu  mischen.  Mehrere  Ausstellungen  aus 
Berliner  Privatbesitz,  die  von  Bode  während  der  letzten 
zwanzig  Jahre  inszeniert  waren,  hatten  gezeigt,  wie 
vorteilhaft  bei  solcher  Mischung  die  einzelnen  Mate¬ 
riale  sich  steigern  -  -  namentlich  Bronze  und  Majolika, 
Marmor  und  Bild.  Die  deutsche  Plastik  ist  denn 
auch  in  der  Tat  mit  den  mittelalterlichen  Bildern  in 
glücklicher  Weise  verbunden  worden.  Dagegen  mußte 
man  bei  der  italienischen  Plastik  es  im  großen  und 
ganzen  bei  der  Scheidung  der  Materiale  lassen.  Ein¬ 
mal  durften  die  Fehler  des  Münchener  Nationalmuseums, 
das  infolge  seiner  Bemühungen  um  malerische  An¬ 
ordnung  ein  Bazar  geworden  ist,  nicht  wiederholt 
werden.  Das  Kabinett  James  Simon,  das  Geschenk 
eines  mannigfach  interessierten  Sammlers,  führt  diese 


TAMAONINI,  BÜSTE  DES  GENUESER  BANKIERS  ACELINO  SALVAGIO 
Aus  dem  Besitz  der  Kaiserin  Friedrich 


54 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


Mischung  \'or  Augen  und  zeigt  am  besten,  daß  es 
untunlich  war,  alle  Kabinette  in  diesem  Stil  zu 
arrangieren.  Aniiertlem  aber  ergab  sich,  daß  die 
farbigen  Stncchi  neben  den  Marmoren  schmutzig  und 
verstoßen  aussahen,  daß  die  Bronzen  in  dieser  Trias 
nicht  gewannen,  sondern  schwer  und  tintig  wirkten, 
kurz  daß  eine  Misdumg  nur  ganz  ausnahmsweise  zu 
glücklichen  Wirkungen  füliren  könne.  Die  Michel- 
angelovv'and  des  Cinquecentosaales  stellt  eine  glück- 
liciie  Probe  dieser  Versuche  dar  —  hier  wirken 
Marmor,  bunter  Stuck  nnd  Bild  sehr  eigenartig  zu- 


die  ganze  Außenwand  einnehmenden  Fenstern  auf 
die  auf  den  gegenüberliegenden  großen  Wänden 
hängenden  Sachen.  An  gut  belichteten  Tagen  denkt 
man  durch  helle  Vorhänge  diese  Fenster  so  weit  ab¬ 
zublenden,  daß  nur  die  Lünetten  frei  sind,  um  so 
eine  Art  Oberlicht  zu  erzielen.  Die  Zimmer  sind 
durchweg  mit  hellgrünem,  festen,  ungemusterten  Stoff 
bespannt,  der  einen  ruliigen,  wenn  auch  nicht  über¬ 
all  gleich  günstigen  Grund  abgibt.  Scherwände 
fehlen;  die  wenigen  Zwischenwände  haben  zum  Teil 
alte  Portale.  Der  große  Durchblick  fällt  auf  der 


DONATELLO-SAAL  MIT  DEM  BLICK  IN  DEN  SAAL  DER  ÜBEROANOSMEISTER 


sammen  und  schaffen  einen  Rhythmus,  der  lebendig 
reizt,  ohne  Unruhe  zu  verraten.  Man  hat  in  den 
übrigen  Kabinetten  des  Oberstocks  die  Marmore 
allein  aufgestellt  und  sie  diskret  mit  Bildern  und 
wenigen  Buntplastiken  gemischt.  Die  Bronzen  sind 
in  zwei  Sondersälen  arrangiert.  Die  Ton-,  Holz- 
und  Stückarbeiten  sind  dagegen  in  die  lange  Galerie 
des  Erdgeschosses,  nach  dem  Kupfergraben  zu,  in 
zwei  großen  und  drei  kleinen  Sälen  aufgestellt. 

Es  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  die  Wir¬ 
kungen  des  alten  Oberlichtsaales  hier  in  diesen  letzt¬ 
genannten  fünf  Räumen  nicht  wieder  erreicht  worden 
sind.  Ein  allzu  reichliches  Licht  fällt  von  den  großen. 


einen  Seite  auf  die  hohe  Madonna  Benedetto  da 
Maianos,  die  auch  hier  wieder,  wie  im  alten  Ober¬ 
lichtsaal,  als  Herrin  das  Ganze  anführt;  sie  steht  vor 
dunkelrotem  Sammet  in  mäßig  hellem  Licht.  Auf 
der  entgegengesetzten  Schlußwand  sieht  man  die 
schönen  Sieneser  Holzstatuen  der  Verkündigung,  die  ja 
freilich  ihre  alte  Bemalung  eingebüßt  haben,  zwischen 
ihnen  ein  ferraresisches  Kreuzigungsrelief  von  statt¬ 
lichen  Dimensionen,  das  erst  kürzlich  erworben  wurde. 
Der  Mittelsaal,  der  künftig  die  Arbeiten  der  Verrochio- 
Gruppe  aufnehmen  wird,  war  bei  der  Einweihung 
für  die  Geschenke,  mit  denen  die  Freunde  des  Museums 
seinen  Geburtstag  feierten,  reserviert  worden.  Der  Eck- 


BEOARELLI.  KREUZIGUNOSQRUPPE  MIT  ZWEI  KANDELABERENOELN 
BASILIKA.  SÜDWESTLICHE  KAPELLE 


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DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


raum  mit  den  Arbeiten  aus  dem  Cinquecento,  wo 
das  eine  Fenster  verstellt  werden  mußte,  hat  kein  be¬ 
sonders  gutes  Licht. 

Die  Belebung  der  Räume  durch  die  kostbaren 
alten  Möbel  ist  glänzend  geglückt  und  viel  breiter 
durchgeführt  als  im  alten  Museum.  Die  Möbel  gehen 
mit  einem  Stück  noch  in  die  gotische  Zeit  zurück; 
die  meisten  gehören  dem  florentiner  Quattro-  und 
Cinquecento  an,  aber  auch  die  so  seltenen  Venezianer 
Truhen  fehlen  nicht.  Dazu  kommen  große  Verdura- 
teppiche,  der  größte  und  wirksamste  im  zweiten 
Hauptsaal.  Auch  die  Kamine  wirken  hier  freier  und 
monumentaler  als  im  alten,  zu  schmalen  Oberlicht¬ 
saal;  es  fehlt  ihnen  auch  die  charakteristische  Relief¬ 
platte  über  der  Feuerstelle  zwischen  den  Feuerböcken 
nicht,  wo  einmal  ein  Ganymed,  das  andere  Mal  ein 
Phönix  in  die  Lüfte  steigt. 

Bei  einem  so  reichen  Bestand  an  Buntskulpturen,  die 
ursprünglich  doch  für  eine  isolierte  Aufstellung  gedacht 
sind,  geht  es,  zumal  die  historische  Gruppierung  ge¬ 
wahrt  bleiben  sollte,  naturgemäß  nicht  ohne  Unruhe 
und  Widerspruch  ab.  Am  einheitlichsten  wirkt  der  west¬ 
liche  Ecksaal  mit  den  primitiven  Arbeiten, am  unruhigsten 
das  entgegengesetzte  Zimmer  mit  den  Cinquecento¬ 
sachen.  In  den  beiden  Hauptsälen  hat  Dr.  Voege  die 
Riesenwände  durch  je  drei  symmetrische  Gruppenbilder 
rhythmisiert.  Im  westlichen  Saal  enthält  die  große 
Wand  zwei  Donatello-  und  eine  Luca  Robbia-Gruppe. 
Natürlich  steht  die  große  farbige  Stuckmadonna  Dona- 
tellos  im  Mittelpunkt;  das  zweite  donatelleske  Zentrum 
bildet  ein  feiner,  hellfarbiger  Stucco  nach  der  Madonna 
der  Via  Pietra  piana  in  Florenz.  Zwischen  die  vielen 
Reliefs  und  Madonnen  sind  auf  die  Kamine,  Tische  und 
Konsolen  sieben  Büsten  verteilt,  von  denen  einige  aus  dem 
Depot  wieder  hervorgeholt  sind.  Frischbewegte  Ton¬ 
statuetten  stehen  zum  Teil  sehr  reizvoll  auf  hölzernen 
Ständern  und  nicht  mehr  wie  früher  eng  zusammen  auf 
langen  Wandbrettern.  Die  Luca  Robbia-Gruppe  hat 
zum  Mittelpunkt  die  wundervolle  farbige  Stuckmadonna, 
ein  Prachtstück,  das  der  glasierten  Madonna  der 
limocenti  verwandt  ist.  Sie  hat  in  dem  scharfen 
Licht  gegen  früher  wesentlich  verloren  und  man  wird 
für  sie  mit  der  Zeit  noch  einen  anderen  Platz  finden. 
Tiefer  und  sichtbarer  als  früher  hängt  das  schöne 
Lünettenrelief  Lucas  aus  Palazzo  Alessandri.  Manche 
Stucchi  sind  gesäubert  worden,  so  daß  ihr  goldener 
Glanz  wieder  leuchtet.  Hoffentlich  wird  nicht  wieder 
der  Staub  der  Heizung,  wie  im  alten  Museum,  die 
hellen  Stücke  bronzieren. 

Der  Eckraum  mit  den  Werken  der  Tonplastiker 
der  Übergangszeit  wirkt,  wie  gesagt,  besonders  günstig; 
selbst  stark  bestoßene  und  entblätterte  Stücke  stören 
die  feierliche  Wirkung  nicht.  Bode  ist  jahrelang 
vergeblich  für  diese  frühen,  nicht  immer  reifen  und 
bisher  noch  namenlosen,  aber  sehr  bezeichnenden 
Werke  der  gotisierenden  Nachzügler  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  in  Florenz  und  Verona  eingetreten.  Ihre 
dekorative  Schönheit  kommt  jetzt  sehr  glücklich  zur 
Geltung. 

Im  zweiten  östlichen  Hauptsaal  waren  mehr  als 
öoSkulpturen unterzubringen ;  Antonio Rossellino,Bene- 


detto  da  Maiano,  die  Bolognesen,  Ferraresen  und 
Venezianer  sind  hier  versammelt.  Sperandios  klotzige 
Professorenbüste  bildet  den  schweren  Mittelpunkt; 
sie  steht  auf  einer  prächtigen  Florentiner  Kredenz  mit 
Messingbeschlag  -  freilich  reichlich  niedrig!  Ein 
Teil  der  hier  aufgestellten  Stucchi,  z.  B.  die  schöne 
Bologneser  Madonna  und  eine  Tonmadonna,  die  man 
mit  Bramante  in  Zusammenhang  gebracht  hat,  schmach¬ 
tete  früher,  nahezu  unsichtbar,  in  einem  dunkeln 
Saal  neben  dem  Oberlichtsaal  des  alten  Museums. 
Im  letzten  Saal  hängen  oben  an  drei  Wänden  die 
sieben  mythologischen  Fresken  Bernardino  Luinis  aus 
der  Villa  Pelucca,  um  1520  gemalt;  zwei  derselben 
waren  eine  Zeit  lang  im  Kupferstichkabinett  ausgestellt 
gewesen,  die  anderen  nie.  Auch  in  diesem  Saal 
kommt  vieles  Vergessene  aus  dem  Depot  wieder  zum 
Vorschein  —  leider  allzu  viele  kleine  Stücke;  fünfzig 
Nummern.  —  Die  fünf  Säle  liegen  unmittelbar  neben 
den  Zimmern  der  deutschen  Frühkunst;  diese  ge¬ 
währen  einen  glänzenderen  Aspekt  und  das  deutsche 
Publikum,  das  natürlich  der  deutschen  Kunst  sich 
leichter  zuwendet,  als  der  romanischen,  wird  in  den 
italienischen  Sälen  sich  erst  einleben  müssen.  Einem 
Bedauern  würden  wir  Ausdruck  geben,  wenn  wir 
nicht  wüßten,  daß  diese  Frage  reichlich  durchdacht 
und  nur  ungern  negativ  entschieden  ist:  Man  hat  es 
nicht  gewagt,  die  reiche  Sammlung  der  Robbia- 
glasuren  unter  die  Stucchi  zu  mischen.  Diese  letzteren 
hätten  dann  zu  stumpf  und  benagt  gewirkt. 

Die  Mehrzahl  der  Robbiaarbeiten  —  24  Num¬ 
mern,  das  Museum  besitzt  etwa  40  Stücke!  -  hängt 
jetzt  in  einem  der  kleinen  Kabinette  auf  der  Spree¬ 
seite  im  Oberstock  zusammen,  nahe  den  primitiven 
Bildern  und  Marmoren  des  Quattrocento.  Wie  viel 
stärker  sie  in  der  Vereinzelung  und  namentlich  als 
glänzende  Augen  stumpfer  Wände  wirken,  merkt  man 
an  der  schönen  Lünette,  die  über  der  Medicitür  in 
einem  der  Bilderkabinette  steht  und  ebenso  in  der 
Basilika.  Die  Robbiaarbeiten  verlangen  eine  starke 
Profilumrahmung,  womöglich  groben  Mauergrund 
und  architektonisch  markierte  Plätze.  Ein  Museum 
hat  derartige  Plätze  nur  ausnahmsweise  zu  vergeben; 
es  hat  vor  allem  das  Interesse,  die  einzelnen  Stücke 
dem  Auge  nahe  zu  bringen.  Wie  wir  hören,  wird  die 
hellblaue  Tuchbespannung  des  Robbiakabinetts  später 
gegen  einen  tieferen  Ton,  der  zu  dem  Blau  der 
Gründe  besser  paßt,  geändert  werden.  Die  beiden 
Seitenwände  sind  Luca  und  Andrea  zugeteilt;  nament¬ 
lich  die  erstere  Wand  ist  geglückt,  mit  dem  Zentrum 
der  Frescobaldimadonna.  Vielleicht  wird  für  den 
herrlichen  jünglingskopf  (Tondo),  der  ausnahmsweise 
an  der  Andreawand  hängt,  noch  eine  architektonische 
Rahmung  gefunden  werden.  Ein  größeres  Tondo 
Giovanni  della  Robbias  mit  der  hl.  Verdiana  in  einem 
schweren  Fruchtkranz  ist  von  Herrn  von  Beckerath 
der  Sammlung  neu  geschenkt  worden. 

Einen  sehr  distinguierten  Eindruck  macht  das  an¬ 
stoßende  Donatellokabinett.  Zwischen  die  Marmore 
der  Madonnen  Pazzi  und  Orlandini  hat  man  die 
farbig  so  bestechende  Giovanninobüste  gestellt;  an 
den  Ecken  zwei  Desideriobüsten,  von  denen  die  viel- 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI 


DONATELLO,  ENGEL  VOM  TAUFBRUNNEN  IN  SIENA 
RADIERT  VON  PETER  HALM 


AUS  DEM  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


57 


genannte  Marietta  ein  allzu  weißes  Licht  hat.  Ganz 
besonders  schön  ist  die  Rückwand  gelungen,  wo  ein 
sienesisches  Marmorrelief  Giovanni  di  Stefanos  mit 
zwei  kleinen  Sieneser  Bildern  von  Neroccio  und  Matteo 
di  Giovanni  ungemein  fein  steht.  Darunter  Büsten 
und  Reliefs  von  Federighi  und  Civitale.  Seitlich  wird 
die  freundliche  Gruppe  durch  zwei  auf  hohen  Posta¬ 
menten  stehende  Madonnenstatuetten  abgegrenzt.  In 
der  Ecke  auf  einem  prächtigen  donatellesken  Baluster  die 
beseelte  Statue  König  Davids  vom  Florentiner  Dom. 
Diese  Wand  ist  meines  Erachtens  die  beste  in  den 
Skulptur-Kabinetten  des  Oberstockes.  Die  dritte  Wand 
beherrscht  dann  Desiderio,  der  unter  den  Stucchi  nur 
dürftig  (dreimal)  vertreten  ist.  Die  Mitte  nimmt  die 
köstliche  urbinatische  Prinzessin  ein,  die  sehr  fein 
beleuchtet  wird. 

Über  den  Aspekt  der  beiden  Bronzekabinette  ist 
schon  geschrieben  worden.  Die  bisher  so  schlimm 
zusammengepferchte  glänzende  Sammlung  bietet  sich 
nun,  auseinander  gezogen,  schön  verteilt,  in  ganz 
neuem  Werte  an.  Die  Plaketten  hat  man,  wie  im 
alten  Raum,  zum  Teil  wieder  in  Wandkästen  auf¬ 
gereiht.  Bei  den  Statuetten  sind  die  größeren  und 
bedeutenderen  Stücke  nicht  in  den  Vitrinen,  sondern 
frei  aufgestellt.  So  steht  der  schöne  Putto  Donatellos 
vom  Sieneser  Taufbrunnen  vor  der  auch  sonst  kost¬ 
baren  rechten  Wand  des  größeren  Saales;  als  Gegen¬ 
stücke  eine  glänzende  Neuerwerbung,  eine  Sieneser 
Bronze  der  gleichen  frühen  Zeit,  eine  nackte  dovizia 
mit  Füllhorn.  Die  Sammlung  der  Statuetten  in  den 
leider  sehr  hohen  Vitrinen  hat  in  letzter  Zeit  noch 
einige  beste  Stücke  hinzuerhalten;  eine  kleine  Gruppe 
derselben  ist  in  der  schönen  alten  Libreria  des  Plaketten¬ 
zimmers  ausgestellt.  Für  die  Bronzen  liegt  nun  die 
Neuausgabe  des  großen  Katalogs  vor,  die  einen  ge¬ 
wissen  Abschluß  der  von  Bode  und  Knapp  besonders 
geförderten  Forschung  auf  diesem  Gebiete  bedeutet. 

Bei  dem  Kabinett  James  Simon,  der  größten 
Schenkung,  die  das  Museum  an  seinem  Ehrentage 
erlebte,  war  der  Wunsch  des  Besitzers,  daß  die  Samm¬ 
lung  vereinigt  bleiben  sollte,  maßgebend.  Es  konnte 
also  hier  das  Experiment  erprobt  werden,  wie  italie¬ 
nische  Bilder,  Marmore,  Stucchi,  Bronzen,  Medaillen, 
Majoliken  und  Möbel  sich  miteinander  vertragen.  Das 
Kabinett  leidet  etwas  an  seiner  Fülle;  namentlich  die 
Vitrine  auf  dem  schönen  alten  Tische  besetzt  den  Raum 
allzustark.  Auch  sonst  ergab  sich  hier  eine  Häufung 
schöner  Dinge,  die  eben  nur  in  der  Ausnahme 
statthaft  ist.  Über  die  Sammlung  selbst  wird  ein  be¬ 
sonderer  Katalog  erscheinen.  Der  in  der  Bemalung 
so  wunderbar  erhaltenen  Madonna  Andrea  Robbias 
wünschte  man  einen  noch  bevorzugteren  Platz.  Über 
der  großen  Cassapanca  hängen  einige  nordische,  farbig 
sehr  hervorstechende  Bilder  von  den  Bruyns  und 
Gerard  David.  Darüber  steht  feierlich  und  milde  eine 
heilige  Frau  im  schönen  alten  Tabernakel.  Das  Relief¬ 
porträt  eines  jungen  Mädchens  in  pietra  serena  steht 
Desiderio  nahe.  Ganz  besonders  erfreulich  für  das 
Museum  sind  die  Medaillen  und  kunstgewerblichen 
Stücke  dieses  Kabinetts,  da  diese  Sachen  ja  im  übrigen 
prinzipiell  ausgeschlossen  sind.  Die  Medaillensamm- 

Zeitsdirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  2 


lung  von  James  Simon  ist  seit  lange  berühm.t;  es 
befinden  sich  Unika  darunter,  und  alle  Stücke  sind 
von  wunderbarer  Erhaltung  und  besonderer  Schön¬ 
heit.  Wer  die  Medaillensammlungen  der  italienischen 
Museen  durchmustert  hat,  weiß,  welche  Unterschiede 
es  hier  gibt;  namentlich  ein  Besuch  des  Argus-Saales 
im  Mailänder  Castello  Sforzesco  ist  sehr  geeignet, 
den  Wert  unserer  kleinen,  aber  ausgezeichneten  Samm¬ 
lung  zu  verdeutlichen.  —  Über  die  Aufstellung  des 
Münzkabinetts  kann  ich  nicht  berichten,  da  sie  bei 
der  Niederschrift  dieser  Zeilen  noch  nicht  vollendet  war. 

Von  den  beiden  letzten  Quattrocentokabinetten 
birgt  das  eine  die  reiche  Sammlung  der  Arbeiten 
A.  Rossellinos  und  Mino  da  Fiesoles.  Hier  haben 
die  Büsten  wieder  das  erste  Wort.  Der  Kunst¬ 
historiker  hätte  natürlich  gern  die  kostbare  Büsten¬ 
sammlung  unseres  Museums  an  einer  Stelle  vereint 
gesehen;  die  herrlichen  Stücke  sind  jetzt  auf  viele 
Plätze  verteilt,  wirken  hier  aber  als  Solisten  sehr  per¬ 
sönlich.  Freilich  wirft  das  seitliche  Licht  mitunter 
starke  Schatten.  Über  der  Intarsiatür  des  Rossellino- 
Kabinetts  steht  äußerst  frisch  und  heiter  eine  Stuck¬ 
büste  Desiderios.  Weniger  glücklich  und  zu  tief  steht 
der  Christuskopf  des  Meisters  der  Marmormadonnen 
in  einer  Ecke  dieses  Kabinetts.  Hervorzuheben  ist 
noch  Benedetto  da  Maianos  reizende  Lünette  mit  den 
beiden  Putten.  Die  Mino -Wand  hat  zwischen  den 
beiden  auf  alten  Konsolen  lastenden  Männerbüsten 
dieses  Meisters  ein  feines  farbiges  Stuckrelief  der  so¬ 
genannten  russischen  Madonna  Rossellinos,  das  Frau 
Hainauer  geschenkt  hat.  Daneben  ein  von  Bode 
geschenktes  Fresko  von  Filippino,  ein  männlicher 
Kopf,  der  den  Fresken  in  der  Brancaccikapelle  nahe 
steht. 

Im  letzten  Zimmer  dieser  Reihe  hat  man  in  die  Decke 
die  schönen  vier  Bilder  Paolo  Veroneses  eingelassen,  die 
einst  im  Fondaco  dei  Tedeschi  in  Venedig  saßen.  Hier 
kommt  die  außerflorentinische  Plastik  (Francesco  Lau- 
rana,  Matteo  Civitale,  Tamagnino  und  andere)  zur  Auf¬ 
stellung.  Man  hat  hier  mit  Bildern  und  bunten  Holz¬ 
reliefs  absichtlich  mehr  abgewechselt  als  in  den  floren- 
tinischen  Kabinetten;  denn  die  lombardische  Plastik 
fordert  den  bunten  Wechsel,  während  der  Florentiner 
Geschmack  das  Kühle  und  Monumentale  bevorzugt. 
Drei  kleine  Venezianer  Bilder  und  drei  lombardische 
Holzskulpturen  werden  von  Marmorgruppen  umzogen. 
Einen  fast  bizarren  Gegensatz  zu  der  empfindsamen 
Neapeler  Prinzessin  Francesco  Lauranas  bildet  die 
herausfordernde  Physiognomie  des  Genueser  Bankiers 
Acelino  von  Tamagnini. 

Über  die  interessante  Michelangelo-Wand  ist  schon 
berichtet.  Dagegen  ist  noch  der  neue  Altar  unter 
dem  neugerahmten  Riesenbilde  Luigi  Vivarinis  im 
großen  Venezianer  Bildersaal  zu  erwähnen.  Hier  hat 
man  die  Reliefs  des  sogenannten  Meisters  von  San 
Trovaso  eingelassen,  die  freilich  durch  die  davor¬ 
stehenden  Baluster  etwas  verdeckt  werden.  Man  darf 
die  Aufstellung  dieses  Bildes  als  einen  der  Schlager 
des  Museums  bezeichnen;  abgesehen  von  dem  neuen 
Rahmen  trägt  dieser  Altar  davor  zu  der  ausgezeich¬ 
neten  Wirkung  viel  bei. 

S 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


Über  die  Basilika  ist  in  anderem  Zusammenhang 
■i.usführlich  berichtet  worden.  Die  plastischen  Kunst¬ 
werke  dieses  Raumes  sollen  weniger  sich  selbst  zeigen, 
als  den  Eindruck  des  Raumganzen  beleben.  Dazu  ist 
Andrea  Robbias  schöner  Altar  aus  Varramista  fast  zu 
schade  —  ein  herrliches  frühes  Stück,  das  noch  unter 
den  Augen  von  Andreas  Onkel  und  Meister  Luca 
entstanden  ist.  Ausgezeichnet  stehen  die  beiden 
Wappenhalter  auf  der  Brüstung  über  dem  Portal. 

Von  der  Basilika  führt  im  rechten  Winkel  ein  großer 
Saal  nördlich  zu  den  byzantinischen,  islamitischen, 
sassanidischen  und  frühchristlichen  Abteilungen  herüber, 
ln  diesem  Vorsaal,  der  noch  ziemlich  leer  geblieben 
ist,  sind  drei  große  Brunnen  aus  Venedig  (14.  und 
15.  Jahrhundert)  in  der  Mitte  aufgestellt;  hier  hängt 
außerdem  ein  großes  venezianisches  Kruzifix  aus  dem 
Trecento.  Mehrere  Vitrinen  bergen  die  italienischen 
Elfenbeine  des  späteren  Mittelalters.  Die  Großplastik 
dieser  Epoche  ist  in  dem  anstoßenden  äußerst  lebhaften 
Saal  ausgestellt.  Ein  herrlicher  französischer  Kamin 
und  ein  venezianisches  Portal  sind  eingemauert.  Hier 
finden  wir  eine  höchst  bedeutende  Sammlung  von 
italienischen  Marmoren  des  13.  und  14.  Jahrhunderts. 
Die  Mehrzahl  der  Stücke  (20)  vertritt  die  Kunst  der 
Pisani,  von  denen  Giovannis  beide  Sibyllen  (aus  der 
Sammlung  von  Beckerath)  wohl  die  bedeutendsten 


sind.  Gerade  diese  Figuren  haben  keinen  besonders 
günstigen  Platz.  Die  Eiüste  aus  Scala,  das  Schwester¬ 
stück  der  sogenannten  Sigilgaita,  und  der  römische 
Fürstenkopf  stehen  auf  alten  Postamenten.  Die  prächtig 
erhaltene  frische  Verkündigungsgruppe  (Holz,  bemalt) 
aus  dem  endenden  Pisaner  Trecento  wirkt  zwischen 
den  gelben  und  grünen  Steinen  doppelt  munter. 
Zwischen  ihr,  unter  Andrea  Pisanos  Kruzifix,  steht 
Giovanni  Pisanos  cdelschöne  Marmormadonna.  Auch 
die  prächtigen  Durchblicke  aus  diesem  Saal  auf  die 
Perserteppiche  links  und  das  ravennatische  Mosaik 
rechts  tragen  zur  Stimmung  des  Raumes  glücklich  bei. 

Der  Direktor  des  Kaiser  Friedrich-Museums  wird, 
wenn  er  die  neuen  Räume  der  italienischen  Plastik 
durchschreitet,  sich  sagen  dürfen,  daß  er  nicht  nur 
aus  bescheidensten  Anfängen  Großes  und  Einzig¬ 
artiges  entwickelt  hat;  daß  er  nicht  nur  durch  eine 
jahrzehntelange,  stets  erneute  Forschung  eine  bisher 
vergessene  und  übergangene  Kunstprovinz  wieder 
entdeckt  und  deren  Ziele  und  Gedanken  vielen  nahe 
gebracht  hat,  die  ihm  so  ein  Stück  neuen  geistigen 
Lebens  danken,  sondern  daß  er  nun  auch  diesen 
Kostbarkeiten  den  Rahmen  gab,  der  ihren  Wert 
steigert,  und  eine  Heimat,  die  das  Exil,  in  dem  sich 
mm  einmal  alles  Italienische  diesseits  der  Alpen  be¬ 
findet,  fast  vergessen  macht.  paul  schubrino. 


VI.  ABTEILUNG  DER  NORDISCHEN  SKULPTUREN 


Die  Sammlung  der  deutschen  und  niederländischen 
Skulpturen  des  Mittelalters  und  der  späteren  Jahrhunderte 
hat  in  dem  Saale  Platz  gefunden,  der  unmittelbar  zur 
Rechten  an  die  Aj^sis  der  sogenannten  Basilika  sich 
anschließt,  in  zwei  ebenfalls  dem  Hofe  zugekehrten 
Seitensälen  und  zwei  Nebenkabinetten.  Es  sind  durch¬ 
weg  die  am  wenigsten  günstig  beleuchteten  Gelasse, 
in  denen  jetzt  etwas  von  dem  Dämmerlicht  der  nordi¬ 
schen  Kirchenräume  herrscht.  Eine  mittelstarke  Beleuch¬ 
tung  ist  an  sich  ja  für  die  nordischen  Werke  der  Gro߬ 
plastik  nicht  ungünstig.  Bei  der  Bedeutung  der  ganzen 
Abteilung  erscheint  der  Platz  aber  ein  wenig  dürftig. 
Es  ist  etwa  ein  Viertel  des  Raumes,  der  den  italienischen 
Skulpturen  insgesamt  zugewiesen  ist,  und  das  ist  doch 
wohl  etwas  wenig.  In  der  Aufstellung  ist  mit  großem 
Geschick  versucht  worden,  aus  der  Not  eine  Tugend  zu 
machen  und  diesen  an  sich  nicht  übermäßig  glücklichen 
Räumen  noch  besondere  Reize  abzugewinnen.  Der 
erste  große  Saal  hat  die  Skulpturen  der  deutschen 
Spätgotik  und  Frührenaissance  aufgenommen.  Der 
Raum  empfängt  von  jeder  Seite  durch  drei  große 
Fenster  sein  Licht  von  den  kleinen  Höfen  her. 
Zwischen  jedem  der  Fenster  sind  Scherwände  aufge¬ 
stellt,  auf  einem  Marmorsockel,  einfach  mit  grünem 
Stoff  überzogen  und  möglichst  unscheinbar  und  un¬ 
architektonisch  gehalten.  Die  Decke  in  dem  Raume, 
der  vielleicht  am  ehesten  etwas  Reflexlicht  von  oben 
gebraucht  hätte,  ist  von  braunem  Eichenholz  in  einer 
tiefen  und  satten  Farbe  und  scheint  allzuschwer 
über  dem  ganzen  Raume  zu  lasten.  An  den  Scher¬ 
wänden  sind  in  geschickter  Verteilung  die  kleinen 


Altäre  und  Einzelfiguren  aufgestellt,  die  ehemals  in 
jenen  winzigen  Räumen  zusammengepfercht  waren, 
die  für  die  deutsche  Plastik  im  alten  Bau  allein  übrig 
geblieben  waren.  Zwischen  ihnen  haben  die  deutschen 
Gemälde  Platz  gefunden,  die  das  Museum  aus  der 
Zeit  vor  dem  Eintritt  in  die  große  klassische  Periode 
barg.  Die  Wechselbeziehungen,  die  zwischen  der 
Plastik  und  der  gleichzeitigen  Malerei  bestehen,  sollen 
durch  diese  Gegenüberstellung  in  das  rechte  Licht 
gesetzt  werden,  und  zugleich  ist  hier,  wie  auch  in 
einzelnen  der  oberen  Kabinette  der  italienischen  Ge¬ 
mäldegalerie  der  Versuch  gemacht,  aus  malerischen 
und  plastischen  Werken  ein  harmonisches  Bild  zu 
arrangieren.  Dieser  Versuch  ist  glänzend  gelungen. 
Gemälde  und  Skulpturen  stehen  vortrefflich  zu  ein¬ 
ander  und  beide  gleich  gut  auf  dem  gemeinsamen 
Grunde  —  und  vielleicht  ist  hier  im  ganzen  Museum 
überhaupt  die  glücklichste  Gesamtwirkung  erzielt.  Dabei 
ist  freilich  zugunsten  der  dekorativen  Wirkung  auch 
die  frühere  Übersichtlichkeit  über  die  Entwickelung 
der  alten  deutschen  Malerei  vollständig  aufgehoben. 
Die  Bilder  sind  auseinandergerissen,  und  der  Platz,  den 
sie  zwischen  plastischen  Werken  erhalten  haben,  ist 
naturgemäß  nicht  immer  in  erster  Linie  durch  ihren 
künstlerischen  Wert,  sondern  oft  auch  nur  durch 
einen  besonderen  farbigen  Klang  bestimmt  worden. 
Die  auf  der  Rückseite  der  letzten  Scherwände  nach 
Süden  zu  hängenden  Bilder  kommen  bei  trüber  Wit¬ 
terung  nicht  mehr  recht  zur  Geltung. 

An  der  Vorderwand  zur  Seite  des  großen  rund- 
bogigen  Eingangsportals  prangen  die  vier  Tafeln 


'{* 


DER  SAAL  DER  ITALIENISCHEN  TRECENTO-SKULPTUREN  MIT  DURCHBLICK  AUF  DEN  SAAL  DER  PERSERTEPPICHE 


6o 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


des  Meisters  Hans  Miiltscher.  In  der  vortrefflichen 
Beleuchtung,  mit  der  Möglichkeit,  das  gesamte 
Werk  auf  einen  Blick  zu  übersehen,  wirken  trotz 
der  derben  Ausführung,  die  die  handfeste  Eilig¬ 
keit  des  an  große  Flächen  gewöhnten  Monumental¬ 
malers  verrät,  wie  Fricdlaender  sie  charakterisiert  hat, 
und  trotz  des  trüben  Farbenauftrags  doch  die  leiden¬ 
schaftlichen  und  erregten  Kompositionen  mit  höchster 
Anschaulichkeit.  Die  untersetzten  groben  Figuren 
agieren  in  den  dicht  gedrängten  Szenen  mit  einer 
packenden  Lebendigkeit.  Seit  Reber  den  Blick 
erneut  auf  diesen  Meister  gelenkt,  und  seit  schon 
i8g8  die  kunsthistorische  Gesellschaft  für  photo¬ 
graphische  Publikationen  seine  Werke  veröffentlicht, 
ist  dieser  schwäbische  Zeitgenosse  des  Jan  van 
Eyck  neben  Conrad  Witz  und  Lucas  Moser  uns  die 
wichtigste  künstlerische  Persönlichkeit  am  Oberrhein 
geworden.  Es  ist  keine  vornehme  Hofkunst,  aber  der 
bäurische  Meister  hat  hier  mit  derber  Kraft  sich  be¬ 
müht,  in  seinen  wüsten  Gesellen  eben  soviel  Ausdruck 
und  Leben  darzustellen,  als  es  seinem  noch  dumpfen 
Empfinden  nur  aufging. 

ln  der  Aufeinanderfolge  der  Skulpturen  ist  eine 
gewisse  Reihenfolge  sorgsam  eingehalten.  In  der 
ersten  Koje  sind  bayrische  nnd  Tyroler  Werke  auf¬ 
gestellt,  in  der  zweiten  hauptsächlich  schwäbische, 
in  der  dritten  fränkische  Werke.  Über  den  ganzen 
Raum  verteilt  sind  die  fünfzehn  wundervollen,  leider 
zum  Teil  etwas  stark  restaurierten  Büsten,  die  aus 
der  Fuggerkapelle  in  der  Annenkirche  zu  Augsburg 
stammen,  Arbeiten  des  Adolf  Daucher  (oder  Dauher, 
wie  wir  ihn  jetzt  nennen  sollenjvon  Augsburg.  Die  unver¬ 
gleichliche  Serie  der  Büsten,  von  denen  einige  durch 
männliche  Kraft  und  durch  den  Ausdruck  des  zartesten 
Liebreizes  zu  den  Schönsten  gehören,  was  die  beiden 
ersten  Jahrzehnte  des  1 6.  Jahrhunderts  in  Süddeutschland 
überhaupt  geschaffen,  ist  leider  etwas  auseinanderge¬ 
rissen;  der  imposante  Eindruck  wird  dadurch  ge¬ 
schmälert.  Nur  auf  einige  der  neueren  Erwerbungen  soll 
hier  noch  hingewiesen  werden.  Da  ist  am  Eingang  aus 
der  Sammlung  des  Berliners  Karl  Becker  ein  Tiroler 
heiliger  Papst  —  eine  charaktervolle  Arbeit  im  Stile 
des  Michael  Pacher,  die  1898  in  Berlin  auf  der  Re¬ 
naissance-Ausstellung  auffiel  —  in  alter  Bemalung  als 
Gegenstück  zu  der  reich  bewegten  Madonna  mit  der 
üppigen,  überreich  aufgerefften  Gewandung,  ln  der 
mittleren  Koje  sind  die  vier  Altarflügel  des  Bernhard 
Striegel  mit  ihren  Heiligenpaaren  jetzt  wieder  ver¬ 
einigt  sämtlich  aufgehängt.  Zwischen  zweien  von  ihnen 
steht  die  entzückende  schwäbische  Madonna  in  dem 
Typus  der  Mantelmadonna,  der  Jan  Veth  kürzlich 
in  »Kunst  und  Künstler«  einen  so  fein  empfundenen 
Lobpsalm  gewidmet  hat.  Auf  der  anderen  Seite  die 
früheste  beglaubigte  Arbeit  Tilman  Riemenschneiders, 
die  igo2  erworbene  Reliefplatte  aus  Schloß  Mainberg 
vom  Jahre  1490;  Christus  der  Magdalena  im  Garten 
erscheinend.  Das  dazu  gehörige  Stück  befindet  sich 
in  Berliner  Privatbesitz.  Unter  den  Neuerwerbungen 
weiter  ein  heiliger  Eligius  als  Hufschmied,  eine  ganz 
genreartige,  schlichte  Darstellung,  dann  das  sitzende 
Bild  eines  fränkischen  heiligen  Bischofs  in  alter  Poly- 


chromie,  in  der  Art  der  Darstellung  noch  mit  An¬ 
klängen  an  das  14.  Jahrhundert.  Endlich  ein  heiliger 
Georg  aus  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts,  eine  süd¬ 
deutsche  Arbeit,  außerordentlich  fein  in  der  alten 
Polychromie,  mit  den  dezenten  grauen,  goldenen, 
silberigen  und  stumpfroten  ^Tönen  eine  fast  japanische 
Farbenharmonie  darbietend. 

In  dem  rechts  anstoßenden  großen  Raum  ist 
an  der  Schmalseite  die  große  Westempore  aus 
der  Benediktinerkirche  zu  Kloster  Gröningen  ein¬ 
gemauert,  die  den  ganzen  Raum  beherrscht.  Das 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts 
stammende  Werk  mit  Christus  als  Weltrichter 
zwischen  den  Aposteln  ist  in  jener  festen  Stuck¬ 
masse  ausgeführt  mit  Resten  alter  Bemalung,  wie  sie 
gleichzeitig  eine  ganze  Gruppe  in  Obersachsen  auf¬ 
weist,  in  Hamersleben,  in  Hecklingen  und  vor  allem 
an  den  Chorschranken  in  der  Michaeliskirche  zu  Hildes¬ 
heim  und  in  der  Liebfrauenkirche  zu  Halberstadt.  An 
den  Wandflächen  ist  alles  aufgestellt,  was  von  romani¬ 
schen  und  im  eigentlichen  Sinne  gotischen  Skulp¬ 
turen  im  Museum  vorhanden  ist,  durchweg  aus¬ 
erlesene  und  ausgesuchte  Stücke.  Zwischen  ihnen 
die  frühesten  Werke  der  deutschen  Tafelmalerei,  — 
die  die  Berliner  Sammlung  glänzender  vertreten 
zeigt  als  irgend  eine  andere  —  die  beiden 
schon  in  der  alten  Aufstellung  zwischen  den  Skulp¬ 
turen  aufgehängten  Soester  Antependien,  das  eine 
in  dem  stark  byzantinisierenden  Stile  mit  den  drei 
Medaillon  -  Darstellungen  und  das  andere  in  jenem 
manierierten  zipfeligen  Stile,  wie  er  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts  in  Westfalen  sowie  am  Niederrhein 
herrscht,  und  wie  er  sich  in  Soest  vor  allem 
in  den  Wandmalereien  in  St.  Maria  zur  Höhe 
ausspricht.  Aus  dem  Provinzialmuseum  zu  Münster 
zurückgekehrt  ist  der  große,  der  sächsischen  Schule 
des  13.  Jahrhunderts  angehörige  und  aus  Quedlin¬ 
burg  stammende,  kleeblattartige  Altaraufsatz,  der  im 
vorigen  Jahr  auf  der  kunsthistorischen  Ausstellung  in 
Erfurt  erschien. 

Endlich  ist  noch  ein  ganz  neues  Werk  hinzuge¬ 
kommen,  das  hier  zum  ersten  Male  ausgestellt  ist: 
die  Glatzer  thronende  Madonna.  Das  Werk,  das  der 
böhmischen  Schule  um  1350  angehört,  zeigt  einen 
ganz  erstaunlichen  Farbenreiz  und  ist  von  herrlichster 
Erhaltung.  Alle  die  westlichen  und  südlichen  (italieni¬ 
schen)  Einflüsse,  die  in  der  böhmischen  Schule  mit¬ 
sprechen,  haben  hier  zusammengewirkt,  um  ein  Werk 
von  so  hohem  künstlerischen  Reiz  zu  schaffen.  Von 
entzückender  Feinheit  sind  die  Engelsfigürchen,  die 
in  der  Architektur  ihr  Spiel  treiben,  von  wunder¬ 
barer  Brillanz  die  hellen  und  leuchtenden  Töne.  Die 
etwas  späteren  Erstlingswerke  der  kölnischen  Schule, 
so  das  aus  einerkölnischen  Kirche  stammendeDiptychon, 
das  vor  wenigen  Jahren  aus  der  Sammlung  Robinson  er¬ 
worben  ward  und  das  in  diesem  Sommer  die  kunst¬ 
historische  Ausstellung  zu  Düsseldorf  zierte,  stehen  mit 
den  viel  dezenteren  und  gedämpfteren  Farben  fast 
stumpf  neben  dieser  lauten  böhmischen  Pracht. 

In  den  drei  zur  Linken  sich  anschließenden 
Räumen  sind  die  deutschen,  französischen  und  nieder- 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


6i 


ländischen  Skulpturen  des  l6.  bis  zum  i8.  Jahr¬ 
hundert  untergebracht.  In  der  Mitte  des  ersten 
kleinen  Raumes  die  große  dekorativ  wirkungsvolle 
Bronzekopie  des  Schlüterschen  Großen  Kurfürsten 
von  Jakobi,  dem  Oießkünstler  des  Denkmals.  An 
den  Wänden  die  Arbeiten  in  feinem  Stein,  rechts  der 
bekannte  Hausaltar  aus  der  Antoniuskapelle  des 
Imhoffschen  Hauses  zu  Augsburg  von  Hans  Daucher 
in  Kelheimer  Stein,  gegenüber  Specksteinreliefs 
und  verwandte  Arbeiten.  Die  Rückwand  wird  in 
ihrer  Wirkung  bestimmt  durch  die  beiden  großen 


für  die  Aufstellung  von  so  feinen  und  aus¬ 
erlesenen  Werken  der  Kleinkunst,  wie  sie  in  ihm 
neben  den  größeren  Skulpturen  und  Gemälden  unter¬ 
gebracht  sind.  Der  Eindruck  der  ganzen  Dekoration 
ist  dagegen  ein  höchst  geschickter  und  bedeutender.  Die 
Langswände  beherrscht  der  mächtige  westfälische 
Flügelaltar  von  dem  sogenannten  Meister  von  Schöp¬ 
pingen.  Die  Mitteltafel  war  längst  im  alten  Museum 
aufgestellt,  jetzt  sind  die  Flügel  wieder  damit  ver¬ 
einigt,  die  an  das  Provinzialmuseum  in  Münster  ab¬ 
gegeben  waren.  Das" in  der  alten  Lebhaftigkeit  und 


GOTISCHE  SKULPTUREN  IN  VERBINDUNG  MIT  DEN  FRÜHESTEN  TAFELMALEREIEN 


lebensvollen  Büsten  des  bärtigen  Willibald  Imhoff, 
der  ernsthaft  den  Ring  in  seiner  Hand  besieht,  und 
seiner  Ehefrau  Anna,  die  die  beiden  Hände  über 
dem  Gebetbuch  zusammengelegt  hat,  Schöpfungen 
des  Niederländers  Jan  de  Zar,  die  auch  das  Haus¬ 
backene  in  den  Gestalten  so  vortrefflich  wieder¬ 
geben.  An  der  linken  Wand  auch  die  reizvolle 
Tonstatuette  der  sitzenden  Maria  mit  dem  Kinde  an 
der  Brust,  vielleicht  nur  die  Makette  für  ein  größeres 
Werk,  bei  der  Cranachs  bekannte  Komposition  Pate 
gestanden  hat. 

Der  nächste  Raum  mit  dem  gotisierenden  Ge¬ 
wölbe  ist  vielleicht  der  am  wenigsten  günstige 


Frische  der  Farben  leuchtende  Bild  ist  hier  von 
überraschenderWirkung.  Zwei  der  feinsten  rheinischen 
Tafeln,  die  Muttergottes  im  Grünen  vom  Meister  des 
Marienlebens  und  die  Anbetung  des  Kindes  vom 
Meister  der  Glorifikation,  sind  durch  dieses  große 
Stück  freilich  arg  gedrückt  und  treten  ziemlich 
zurück.  In  der  Mitte  des  Raumes  erhebt  sich  der 
schöne  bronzene  Springbrunnen  aus  der  Werkstatt 
Peter  Vischers,  hoch  aufgestellt,  so  hoch,  daß  man 
die  feinen  drei  nackten  weiblichen  Figürchen  un¬ 
gezwungen  bewundern  kann,  die  am  Halse  des  Fußes 
unmittelbar  unter  dem  Becken  zwischen  den  Delphinen- 
köpfen  stehen.  In  die  Fenster  sind  die  wundervollen 


BLICK  IN  DEN  SAAL  DER  DEUTSCHEN  MITTELALTERLICHEN  PLASTIK 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


63 


Olasgemälde  nach  den  Entwürfen  von  Hans  Baidung 
eingelassen,  die  aus  der  Sammlung  Douglas  erworben 
waren.  Sie  kommen  in  ihrer  brillanten  und  kräftigen 
Farbengebung  hier,  zumal  an  etwas  düsteren  Tagen, 
vortrefflich  zur  Geltung,  aber  der  an  sich  schon  un¬ 
günstige  Raum  verliert  dadurch  vieles  und  kostbares 
Licht,  und  die  an  den  abgeschrägten  Ecken  neben 
der  Fensterwand  aufgestellten  Wandschränke  werden 
wohl  an  trüben  Wintertagen  sich  in  ein  geheimnis¬ 
volles  Helldunkel  einhüllen,  dem  auch  das  Luxfergias 
in  den  Fenstern  nicht  völlig  steuern  kann. 

Was  das  Museum  an  Elfenbeinwerken  des  frühen 
und  des  späten  Mittelalters,  sowie  der  Renaissancezeit 
besitzt,  ist  in  Vitrinen  zu  anmutigen  Gruppen  ver¬ 
einigt.  Erst  jetzt,  nachdem  die  byzantinischen  und 
sonstigen  Arbeiten  abgetrennt  sind,  sieht  man,  welche 
Fülle  und  welche  geschlossene  Reihe  an  Elfenbein¬ 
arbeiten  das  Berliner  Museum  besitzt;  geschickte  und 
glückliche  Erwerbungen  der  letzten  Jahre  haben  hier 
die  letzten  Lücken  ausgefüllt.  Der  vortreffliche  Elfen¬ 
beinkatalog  von  Wilhelm  Vöge,  der  nach  Bodes  An¬ 
gaben  diese  gesamten  Räume  liebevoll  und  feinsinnig 
aufgestellt  hat,  hat  hier  auch  schon  das  wissenschaft¬ 
liche  Rüstzeug  für  diese  Gruppe  geliefert.  Eine  ganze 
Reihe  wertvoller  und  kostbarer  Werke  der  späten 
Plastik  in  den  verschiedensten  Techniken  ist  in  dem 
unglücklich  schmalen  Treppenraum  daneben  auf  dem 
Gang  aufgestellt,  und  die  feinen  Buchse,  Speckstein¬ 
arbeiten,  Bronzen  und  Plaketten,  die  in  der  mittleren 
Vitrine  des  gewölbten  Raumes  untergebracht  sind,  sind 
leider  bei  dem  wenig  günstigen  Licht  nur  zur  Hälfte 
sichtbar.  Gerade  in  diesen  Werken  der  Kleinplastik 
liegt  aber  eine  Hauptstärke  der  Berliner  Sammlungen. 
Es  sind  hier  ausschließlich  Arbeiten  der  besten  Qualität 
vereinigt,  nicht  mit  Kuriositäten  und  historischen  Re¬ 
liquien  gemischt  wie  in  den  alten  Kunstkammern  — 
und  aus  dem  16.  Jahrhundert  sind  wohl  alle  hervor¬ 
ragenden  Schulen  und  Meister  vertreten.  In  nichts 
sprechen  Erfindungslust  und  Schönheitssinn  der  deut¬ 
schen  Renaissancekünstler  so  lebhaft  wie  in  diesen 
kleinen  Werken. 

Diese  ganze  Abteilung  der  nordischen  Plastik  ist 
wohl  die,  die  noch  am  lautesten  nach  Erweiterung 
und  Ergänzung  ruft,  und  gerade  nach  der  Vollendung 
der  Aufstellung  im  Kaiser  Friedrich-Museum  fällt  das 
Mißverhältnis  gegenüber  der  italienischen  Abteilung 
um  so  schneidender  auf.  Das  Niveau  der  plastischen 
deutschen  Abteilung  ist  dabei  durchschnittlich  ein  sehr 
hohes,  ebenso  hoch  wie  bei  den  Italienern,  und  die  Auf¬ 
nahmebedingungen  sind  schärfere  gewesen  als  bei  den 
Stucchi  duri  der  langen  italienischen  Säle:  die  ersten  und 
feinsten  der  deutschen  Arbeiten  dürfen  sich  ruhig  neben 
die  italienischen  wagen.  Man  stelle  einmal  jene  ent¬ 
zückende  schwäbische  Mantelmadonna  neben  die  viel¬ 
gerühmte  sitzende  Madonna  von  Benedetto  da  Majano; 
den  Ruhm  der  vollendeteren  Formen,  der  runderen 
schöneren  Bildung  wird  niemand  dem  italienischen 
Werke  absprechen,  aber  an  Tiefe  und  Reinheit  des 
Ausdrucks,  an  Innigkeit  und  Keuschheit  der  Em¬ 
pfindung  stellt  das  deutsche  Werk  den  Italiener  wieder 
in  Schatten.  Ausländische  Besucher,  die  hier  in  der 


ersten  hauptstädtischen  und  der  ersten  norddeutschen 
Sammlung  ein  Bild  von  der  ganzen  deutschen  Plastik 
zu  bekommen  hoffen,  werden  in  etwas  enttäuscht 
sein.  Man  kann  wohl  einwenden,  daß  die  Vorführung 
dieser  Kunst  den  provinzialen  Museen  überlassen  sei, 
und  daß  hier  Hannover  und  Köln,  Breslau  und 
Münster  eintreten  müssen,  denen  man  ja  auch  die 
Vorführung  ihrer  einheimischen  Malerschulen  fast  aus¬ 
schließlich  überlassen  hat.  Was  die  Königlichen  Mu¬ 
seen  an  den  Werken  solcher  Provinzialschulen  be¬ 
saßen,  das  haben  sie  sogar  an  die  Provinzialmuseen 
abgegeben.  Es  sind  nur  ausgesuchte  Proben,  freilich 
von  allem  das  Beste,  was  hier  vorgeführt  wird, 
während  die  kleinen,  durchaus  provinzialen  nord¬ 
italienischen  Schulen  des  Trecento  doch  beispielsweise 
in  der  Gemäldegalerie  recht  ausführlich  vertreten  sind. 
Gerade  gegenüber  diesem  Überwiegen  der  italienischen 
Abteilung  wird  es  eine  künftige  Ehrenpflicht  sein,  auch 
die  deutsche  weiter  auszubauen;  sie  ist  ja  zum  großen 
Teil  erst  eine  Schöpfung  Bodes. 

Was  ganz  fehlt,  das  sind  die  großen  und  für  den 
Norden  so  überaus  charakteristischen  figurenreichen 
Schnitzaltäre;  nur  aus  Süddeutschland  ist  eine  statt¬ 
liche  Anzahl  kleinerer  Altäre,  durchweg  von  sehr 
hoher  künstlerischer  Qualität,  vorhanden.  Es  wird  ja 
auf  diesem  einen  engen  Gebiete  ein  Wetteifern  etwa 
mit  dem  Museum  schlesischer  Altertümer  in  Breslau 
nie  möglich  sein,  aber  es  dürfte  doch  nicht  ausge¬ 
schlossen  sein,  ein  gutes  Werk  der  schlesischen 
Schule,  eines  der  mitteldeutschen  oder  rheinischen 
Richtung  und  endlich  einen  jener  massenhaft  herge¬ 
stellten,  aber  in  so  virtuoser  Technik  ausgeführten 
Antwerpener  oder  Brüsseler  Altäre  des  beginnenden 
16.  Jahrhunderts  zu  erwerben,  die  ja  bis  über  das 
ganze  Ostseegebiet  verstreut  sind.  Wenn  es  jetzt  sehr 
schwer  hält,  in  Deutschland  ein  Stück  ersten  Ranges 
zu  finden,  so  ergibt  sich  vielleicht  die  Gelegenheit, 
in  Schweden,  in  den  baltischen  Ostseeprovinzen  eines 
zu  kaufen.  Man  darf  für  eine  Sammlung  solcher 
Altäre  gar  nicht  an  einen  Vergleich  mit  dem 
bayrischen  Nationalmuseum  oder  mit  dem  Nürnberger 
Germanischen  Museum  denken;  die  Zeit,  in  der  solch 
große  Werke  erworben  werden  oder  in  Museen 
gerettet  werden  konnten,  ist  schon  seit  Jahrzehnten 
vorüber,  aber  die  Bedeutung  des  Berliner  Zentral¬ 
museums  verlangt  hier  doch  eine  breitere  Behandlung 
dieser  wichtigen  und  so  reichen  Kunst.  Freilich: 
wohin  mit  so  großen  Stücken?  Der  der  deutschen 
Plastik  zugefallene  Raum  ist  hier  viel  zu  eng.  Über 
kurz  oder  lang  wird  man  die  gut  beleuchteten,  glück¬ 
lich  disponierten  Säle,  in  denen  jetzt  die  Münzsamm¬ 
lung  untergebracht  ist,  doch  noch  der  Skulpturen¬ 
abteilung  zuweisen  müssen.  Und  auch  der  armen 
Abgußsammlung  nach  nordischen  und  italienischen 
Skulpturen,  die  sich  jetzt  in  allzu  engen  Räumen 
herumstoßen  lassen  muß,  schlägt  vielleicht  bald  ein¬ 
mal  die  Erlösungsstunde.  Wann  wird  endlich  nach 
dem  Vorbilde  des  Trocadero  Berlin  das  große  Ab¬ 
gußmuseum  geschenkt  werden,  das  längst  schon  eine 
gebieterische  Forderung  der  vergleichenden  Kunst¬ 
wissenschaft  ist?  PAUL  CLEMF.N. 


64 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


VII.  DIE  DEUTSCHEN  GEMÄLDE 


In  dem  einzigen  großen  Oberliclitsaal,  der  im 
alten  Museum  den  Deutschen  Rüdem  gewidmet  war, 
bekam  man  von  der  Bcvieutung  und  dem  Reichtum 
dieser  ganzen  Scluile  doch  einen  überzeugenden  Be¬ 
griff,  wenn  der  künstlerische  Eindruck  auch  trotz 
aller  Umstellungen  ein  unbefriedigender  blieb.  Un¬ 
mittelbar  am  Eingang  begann  die  Reihe  mit  den 
frühesten  rtieinischen  und  westfälischen  Meistern,  um 
dann  in  den  Werken  Dürers  und  Holbeins  zu  gipfeln. 
An  der  einen  Schmalwand  dominierte  in  der  Mitte 
der  Dürerschen  Werke  die  herrliche  Madonna  mit 
dem  Zeisig,  in  der  Mitte  der  Längswand  Holbeins 
Georg  Gize.  Auf  einen  Blick  läßt  sich  in  der  Neu¬ 
aufstellung  diese  Reihe  nicht  mehr  übersehen.  Man 
hat  nicht  mehr  den  Eindruck  einer  geschlossenen 
Entwickelimgsreihe,  einer  durch  drei  Jahrhunderte  fast 
sich  hinziehenden  und  sich  immer  steigernden  Tra¬ 
dition.  Der  ganze  Nachdruck  ist  auf  die  Haupt¬ 
meister  aus  dem  goldenen  Zeitalter  gelegt,  die  allein 
in  die  Gemäldegalerie  Aufnahme  gefunden  haben. 
Alle  früheren  Werke,  die  älteren  Franken  und  Schwaben, 
die  Werke  der  älteren  rheinischen  und  westfälischen 
Kunst  sind  in  die  Sammlung  der  Skulpturen  auf¬ 
geteilt.  Die  meisten  wirken  dort  ohne  Zweifel  günstiger, 
ihr  Wert  wird  durch  die  Nachbarschaft  verwandter 
Skulpturen  gehoben,  einzelne  freilich  erscheinen  dort 
etwas  verloren  und  versteckt.  Was  die  Museumsver¬ 
waltung  bei  dieser  Aufstellung  bezweckte,  war  außer  der 
dekorativen  Gesamtwirkung  der  Wunsch,  die  engen  Be¬ 
ziehungen  zwischen  Plastik  und  Malerei  in  den  ein¬ 
zelnen  Hauptprovinzen derdeutschen  Kunstentwickelung 
zu  veranschaulichen.  Das  ergibt  zum  Teil  die  inter¬ 
essantesten  und  merkwürdigsten  kunstgeschichtlichen 
Parallelen.  Man  wird  hier  immer  wieder  vor  die 
Frage  gestellt,  ob  die  Malerei  oder  die  Plastik  den 
neuen  Stil,  die  neuen  Typen  zuerst  geschaffen  und 
welcher  hier  die  stärkere  Ausdrucksmögiiehkeit  eignet. 
Aber  dabei  ist  freilich  die  Entwickelung  für  die 
Malerei  selbst  zerrissen  und  zerschnitten.  Hat  Meister 
Berthold  von  Nürnberg  beispielsweise  nicht  doch  noch 
mehr  Bedeutung  als  künstlerischer  Urahn  Dürers,  denn 
als  Vergleichsstück  mit  ein  paar  fränkischen  Figuren? 
In  die  Gemäldegalerie  ist  nur  aufgenommen,  was  an 
Bildern  etwa  heute  ein  fortgeschrittener  Sammler  kaufen 
und  am  höchsten  einschätzen  würde.  Um  die  Bedeu¬ 
tung  der  Abteilung  zu  ermessen,  muß  man  diese  im 
Erdgeschoß  liegenden  Säle  eben  mit  in  Betracht 
ziehen. 

Drei  kleine  Kabinette  sind  es,  die  im  ersten  Stock¬ 
werk  der  deutschen  Malerei  gewidmet  sind.  Das 
erste  birgt  fast  alle  Perlen  der  Sammlung,  und  es 
ist  freilich  ein  unvergleichlicher  Raum,  wie  ihn  kein 
deutsches  Museum  wieder  besitzt.  An  der  Mitte  der 
Rückwand  (freilich  in  nicht  ganz  vollkommener  Be¬ 
leuchtung,  weil  das  Glas  über  den  Bildern  blendet) 
Dürers  Madonna  mit  dem  Zeisig  in  all  ihrer  wun¬ 
dervollen  Farbenfrische  zwischen  den  Porträts  des 
alten  Holzschuher  und  des  alten  Muffel.  Über  dem 


Mittelstück  die  etwas  bunte  und  harte  anbetende 
Madonna,  rechts  oben  das  Dürersche  Mädchenbildnis 
von  1507  und  links  dazu  als  Gegenstück  der  Greisen- 
kopf  von  Hans  Baidung.  Es  ist  der  Ruhm  und 
der  Vorzug  der  Berliner  Galerie,  daß  sie  gerade 
die  glücklichste  Lebenszeit  Dürers  reicher  als 
irgend  eine  andere  Sammlung  illustriert,  seinen 
venezianischen  Aufenthalt,  in  dem  er  sich  als  ein 
Gentiluomo  fühlte,  und  während  dessen  unter  dem  Ein¬ 
fluß  der  südlichen  Sonne  und  in  der  endlich  erkämpften 
Bewundernng  der  Malerkollegen  aus  der  Lagunen¬ 
stadt  in  dem  durch  die  Sorgen  niedergedrückten 
Manne  zum  erstenmal  der  Künstlerstolz  erwachte. 
Es  war  einer  der  glücklichsten  Coups  Bodes,  die 
Madonna  aus  dem  Besitz  des  Marquis  of  Lothian  zu 
erwerben.  Ist  das  Bild  doch,  das  unter  Aloys  Hausers 
Händen  seine  Auferstehung  gefeiert  hat,  neben  dem 
Rosenkranzbild  in  Prag  die  vollkommenste  Kompo¬ 
sition  des  Meisters,  und  da  das  Prager  Bild  eine  Ruine 
oder  schlimmer  als  eine  Ruine,  eine  restaurierte  Ruine 
ist,  das  einzige  Werk,  aus  dem  in  aller  Unmittelbar¬ 
keit  Dürers  Ringen  nach  der  vollen  und  weichen 
Formenschönheit  der  Italiener  sich  offenbart,  jenes 
kokette  Bildnis  eines  blonden  Mädchens  in  dem  roten 
Barett,  das  man  auf  den  ersten  Blick  für  einen  jungen 
Burschen  halten  könnte,  kommt  hinzu,  vor  allem  aber 
das  1893  aus  englischem  Privatbesitz  in  London 
erstandene  herrliche  Frauenporträt.  Die  Züge  sind 
so  deutsch,  daß  man  an  eine  deutsche  Kaufmanns¬ 
frau,  eine  Nürnbergerin  oder  Augsburgerin  in  Vene¬ 
dig,  denken  möchte,  etwa  an  die  Gattin  eines  der 
reichen  Kaufherrn  aus  dem  Fondaco  dei  Tedeschi. 
Oder  sollte  es  die  Agnes  Dürerin  sein,  worauf 
das  A  D  im  Brustlatz,  das  schwerlich  eine  Meister¬ 
signatur  ist,  schließen  ließe?  Dieses  Bildnis  hängt 
in  einem  breiten  Rahmen,  der  ganz  mit  dünnem 
Renaissanceranken  bemalt  ist.  In  der  Mitte  der  rechten 
Seitenwand  darüber  der  große  farbige  Baldungsche 
Altar  mit  der  Anbetung  der  Könige,  zur  Seite  drei 
der  Altdorfer.  Das  feine  Bildchen  mit  der  Ruhe  auf 
der  Flucht  ist  in  der  glücklichsten  Beleuchtung  zu 
studieren.  Dem  treuherzigen  Regensburger  Meister 
geht  hier  die  Phantasie  mit  seinem  Renaissanceformen¬ 
schatz  durch.  Mit  entzückender  Kindlichkeit  planscht 
der  Christusknabe  in  dem  breiten  Wasserbecken,  und 
eine  ganze  Menge  kleiner  dicker  Putten  krabbelt  um 
diese  Fontaine  in  munterem  Spiele  herum.  Auf  der 
gegenüberliegenden  Wand,  in  der  Mitte,  eines  der 
Hauplstücke  der  Sammlung,  der  Kaufmann  Georg 
Gize  von  Holbein.  Auch  dieses  brillant  sichtbar. 
In  der  Charakteristik  der  schönen  männlichen  Er¬ 
scheinung  wie  in  der  wunderbar  minutiösen  Aus¬ 
führung  der  überreichen  Beigaben  doch  das  voll¬ 
kommenste  und  vielleicht  das  deutscheste  Porträt,  das 
Holbein  geschaffen.  Daneben  wieder  zwei  Altdorfers: 
die  Kreuzigung  und  die  entzückende  Geburt  Christi 
mit  der  Nachtstimmung  und  dem  Paar,  das  sich  hier 
in  die  zertrümmerte  eingestürzte  Hütte  geflüchtet  hat. 


LUKAS  CRANACH.  RUHE  AUF  DER  FLUCHT 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI 


AUS  DEM  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU BERLIN 


■I 


DAS  KAISER  FF<1EDR1CH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


6  5 


love  among  the  ruins.  Die  drei  übrigen  Holbein- 
Porträts  und  Ambergers  Bildnis  des  Kosmographen 
Sebastian  Münster  bilden  gewissermaßen  die  Pfeiler, 
die  diese  Längswand  Zusammenhalten. 

Vor  den  abgeschrägten  Ecken  sind  nur  noch  zwei 
Perlen  aufgehängt  unter  dem  unerfreulichen  Kurfürst 
Friedrich  dem  Weisen  von  Dürer:  der  feine  kleine  Martin 
Schongauer,  der  noch 
Eigentum  des  Kaiser  Fried¬ 
rich  -  Museumsvereins  ist : 

Die  Anbetung  des  Kindes, 
und  gegenüber  eines  der 
allerköstlichsten  deutschen 
Bilder  überhaupt:  Lukas 
Cranachs  frühestes  datier¬ 
tes  Werk:  Die  Ruhe  auf 
der  Flucht,  die  Konrad 
Fiedler  aus  dem  Palazzo 
Sciarra  für  Deutschland 
gerettet  halte  und  die  jetzt 
von  seiner  Witwe  —  der 
Tochter  Julius  Meyers,  des 
verdienten  Leiters  der  Ber¬ 
liner  Gemäldegalerie  in 
den  siebziger  Jahren  — 
dem  Museum  übergeben 
ist.  Es  stammt  aus  dem 
gleichen  Jahre  wie  Dürers 
Anbetung  der  Könige  in 
den  Uffizien,  und  an  Far¬ 
benfrische  wetteifern  sie 
beide  miteinander.  Einen 
Vorläufer  der  schönsten 
Bilder  Böcklins  hat  das 
Werk  Karl  Woermann 
genannt;  ganz  einzig  ist 
der  Zusammenklang  der 
Landschaft  m  it  der  Figuren¬ 
gruppe,  der  ganz  Mutter¬ 
glück  atmenden  Madonna 
und  dem  nachdenklichen, 
ernsten,  ein  wenig  ver¬ 
drießlichen  Joseph.  ln 
welcher  allerliebsten  Fri¬ 
sche  sind  die  Engel  ge¬ 
geben,  die  drei  ernsthaften, 
musizierenden,  bekleideten 
Knaben ,  die  sich  alle 
Mühe  geben,  nicht  aus  der 
Fassung  zu  kommen,  zwi¬ 
schen  die  sich  der  kleine 
Nackedei  drängt,  und  die 
drei  nackten  Kerlchen  zur 
Linken.  Dem  Zweiunddreißigjährigen  müssen  hier 
schon  Einflüsse  der  oberitalienischen  Renaissance  zu¬ 
geströmt  sein. 

In  den  zwei  deutschen  Kabinetten  nehmen  die 
Mitten  der  Längswände  Stücke  ein,  die  mehr  gegen¬ 
ständlich  amüsant  sind,  die  aber  von  alter  Zeit  her 
gute  Bekannte  des  Berliner  Publikums  sind.  Es  sind 
die  beiden  Cranachtafeln  mit  dem  jüngsten  Gericht 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  2 


und  dem  Jungbrunnen.  Das  Triptychon  mß  dem 
jüngsten  Gericht  schwelgt  ganz  in  Höllenphantasien 
und  kopiert  hier  eine  der  großen  Teufeleien  mit  der 
Versuchung  des  heiligen  Antonius  von  Hieronymus 
Bosch.  Die  Phantasie  ist  hier  eine  ebenso  uner¬ 
schöpfliche  wie  schrankenlose,  und  um  wieviel  derb¬ 
lustiger  geht  es  hier  zu  als  bei  Rops  und  Beardsley, 

bei  denen  selbst  die  Teufel 
müde  sind,  marode  und 
malcontent  ausschauen. 
Gegenüber  Cranachsjung- 
brunnen;  Alt  und  Jung 
hat  von  je  seine  Freude 
daran  gehabt,  wie  die  alten 
Vetteln  hier  heranschlei¬ 
chen,  in  Wagen,  Trag¬ 
bahren  und  Schubkarren 
herangeschleppt  werden, 
wie  sich  in  der  Mitte  am 
Wasser  die  Metamorphose 
vollzieht  und  wie  dann 
die  Jungferchen  sehr  rasch 
und  sehr  ausgiebig  sich 
der  wiedergewonnenen  Ju¬ 
gend  erfreuen.  Ein  paar 
Cranachs  sind  an  den 
Wänden  noch  verstreut. 
Links  neben  dem  Bildnis 
des  ehrenfesten  Johannes 
von  Ryth  von  Barthel  Bruyn 
Apollo  und  Diana  und 
Adam  und  Eva,  die  an¬ 
mutige  Gegenstücke  dar¬ 
stellen.  Gegenüber  die 
beiden  Hieronymi,  der 
echte  Kirchenvater  und  der 
Kardinal  Albrecht  von 
Brandenburg  als  solcher 
kostümiert.  An  der  einen 
Schmalwand  neben  der 
Tür  unter  dem  schönen 
Georg  Breu  Altdorfers 
kleine  Landschaft  mit  der 
Satyrfamilie,  in  der  Schwind 
und  Thoma  schon  zu 
spuken  scheinen.  Hinter 
diesem  Kabinett  nun  ein 
kleines,  etwas  arg  vollge¬ 
stopftes  Oberlichtsälchen. 
Geradeaus  in  schönem 
alten  eingelegten  Rah¬ 
men  die  Anbetung  der 
Könige  von  Hans  von 
Kulmbach,  eines  der  besten  Bilder  der  Dürerschule, 
das  deren  koloristische  Vorzüge  vereinigt  zeigt,  dazu 
Hans  Baidung  und  Georg  Pencz.  Die  übrigen  Süd¬ 
deutschen  und  Mitteldeutschen  des  i6.  Jahrhunderts 
an  der  Wand  links.  Als  Gegenstücke  wieder  zwei 
Cranachs,  beidemale  die  Liebesgöttin  mit  dem  schalk¬ 
haften  Amorknaben  zeigend.  Die  Gegenüberstellung 
auch  für  den  Wechsel  und  Wandel  in  Cranachs 


DIE  QLATZER  MADONNA 


66 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


Schönheitsideal  sehr  charakteristisch.  Die  Meister  des 
beginnenden  i6.  Jahrhunderts  sind  eben  nicht  be¬ 
sonders  vertreten.  Dar.  größte  koloristische  Genie, 
der  gewaltige  Grünevv^dd,  fehlt  vollkommen,  und  auch 
von  den  Meistern  zweiten  Ranges  unter  den  Süd¬ 


deutschen  und  den  Nordwestdeutschen  möchte  man 
gern  noch  ein  paar  Tafeln  zur  Ergänzung  sehen: 
vielleicht  daß  hier  ein  glücklicher  Kauf  in  künftigen 
Jahren  ergänzt,  was  jetzt  in  großen  Zügen  angestrebt 
erscheint.  paul  clemen. 


VIII.  DIE  NIEDERLÄNDISCHEN  GEMÄLDE 


Die  Sammlung  niederländischer  Bilder  hat  gegen¬ 
über  ihrer  Aufstellung  im  alten  Museum  am 
wenigsten  in  die  Augen  fallende  Änderungen  auf¬ 
zuweisen.  Schon  der  Umstand,  daß  bei  ihr  nicht 
der  Doppelzweig  von  Plastik  und  Malerei  vorhanden 
ist  wie  in  der  italienischen  und  der  deutschen  Ab¬ 
teilung,  hat  die  Möglichkeit  der  Veränderungen  sehr 
verringert.  Die  einfache  Verteilung  in  kleine  Kabinette 
und  einige  größere  Säle  war  hier  wieder  das  Ge¬ 
gebene,  und  nur  die  Zusammenstellung  im  einzelnen, 
die  Art  des  Hintergrundes  und  die  Beleuchtung 
konnten  modifiziert  werden. 

Die  Beleuchtung  ist  im  ganzen  hier  stärker  als  im 
alten  Museum,  in  der  Reihe  der  Kabinette  schon  da¬ 
durch,  daß  volles  Seiten-  und  volles  Oberlicht  vor¬ 
handen  sind,  und  man  nun  dem  Bedürfnis  nach  das 
eine  oder  das  andere  dämpfen  kann.  Wie  sich  die 
Wirkung  dieser  Einrichtung  in  der  Praxis  heraus¬ 
steilen  wird,  muß  erst  die  künftige  Beobachtung  zeigen. 

Eine  andere  Neuerung  ist  die  grüne  Tapete, 
welche  die  Wände  der  Kabinette  bedeckt.  Die  Ta¬ 
petenfrage  ist  wichtig  und  schwer  zu  lösen.  Soll 
die  Tapete  möglichst  indifferent  dem  Bilde  gegen¬ 
über  sein  oder  soll  sie  seinen  Ton  heben?  Mir 
scheint  das  erstere  richtiger.  Und  wenn  sie  in 
einem  bestimmten  Verhältnis  zu  einem  der  aufzu¬ 
hängenden  Gemälde  steht,  so  steht  sie  zu  einem 
anderen  eben  in  einem  anderen  Verhältnis,  es  handelt 
sich  im  besten  Fall  also  um  einen  Kompromiß. 
Sammelt  man  in  einem  Kabinett  Gemälde  von  ähn¬ 
licher  Farbenwirkung  und  ähnlicher  Größe,  so  könnte 
man  diesen  Kabinetten  auch  ihre  bestimmten  Tapeten 
geben,  eine  für  die  Bilder  des  Frans  Hals,  eine  andere 
für  Rembrandt,  eine  dritte  für  bestimmte  Landschafter, 
eine  vierte  für  die  bunten  Frühniederländer  u.  s.  w. 
Das  gibt  aber  in  sich  wieder  eine  bunte  Reihe,  die 
man  im  Kaiser  Friedrich-Museum,  wie  es  scheint,  ver¬ 
meiden  wollte,  und  so  ist  ein  letzter  Kompromiß 
nötig  gewesen,  und  das  Resultat  war  ein  nicht  sehr 
warmes,  ziemlich  intensives  Grün.  Nur  die  beiden 
großen  vlämischen  und  der  große  holländische  Saal 
machen  mit  Rot  eine  Ausnahme  davon.  Auch  das 
Muster  der  Tapete  ist  nicht  ohne  Bedeutung,  für  sehr 
kleine  Bilder  ist  es  vielleicht  etwas  groß  geraten. 
Richtig  sieht  man  ein  Staffeleibild  ja  aber  doch  erst, 
wenn  man  sich  soweit  konzentriert  hat,  daß  man  es 
ohne  Umgebung  aufnimmt. 

Die  dritte  Variable  endlich,  die  Zusammenstellung 
der  Bilder,  muß  man  bei  einem  Rundgang  im  einzelnen 
verfolgen. 

Vom  Treppenhaus  betritt  man  rechts  im  Ober¬ 


stock  den  Flügel  der  niederländischen  Gemälde.  Die 
Bilder  sind  im  großen  und  ganzen  in  chronologischer 
Reihenfolge  verteilt,  und  bei  einem  Gang  durch  die 
lange  Flucht  der  Kabinette  und  der  anstoßenden 
größeren  Säle  hält  man  Schritt  mit  dem  Entwicke¬ 
lungsgang  der  Malerei.  Allerdings  wird  der  größte 
Teil  der  Besucher  gemäß  der  Baudisposition  mit  den 
spätesten  Sälen  an  der  entgegengesetzten  Seite  be¬ 
ginnen. 

Die  Reihe  setzt  ein  mit  den  Brüdern  van  Eyck, 
und  die  Sammlung  kann  gleich  ihren  höchsten  Trumpf 
ausspielen,  den  Genfer  Altar.  Dieser  hat  schon  ver¬ 
schiedene  Phasen  durchgemacht  in  der  Art,  wie  er 
aufgehängt  worden  ist.  In  dem  ursprünglichen  Zu¬ 
sammenhang  seiner  Teile,  wie  er  an  dem  Original¬ 
platz  in  Gent  stand,  war  er  selbst,  wenn  man  alle 
fehlenden  Teile  durch  Kopien  ersetzte,  nicht  aufzu¬ 
stellen,  da  dann  entweder  nur  die  Innen-  oder  die 
Außenansicht  zur  Zeit  sichtbar  und  ein  beständiges 
Bewegen  notwendig  gewesen  wäre.  Bei  den  doppel¬ 
seitig  bemalten  Tafeln  hatte  man  sich  früher  damit 
geholfen,  daß  man  sie  in  die  Wand  zwischen  zwei 
Kabinette  einließ,  so  daß  sie  von  beiden  Seiten  sicht¬ 
bar  waren.  Auf  der  einen  Seite  wurde  aber  dadurch 
die  Stellung  der  Flügelteile  zueinander  umgekehrt. 
Seitdem  die  Seiten  nun  auseinander  gesägt  sind, 
wäre  es  allerdings  möglich,  mit  Hilfe  der  Kopien, 
die  Ansichten  des  geschlossenen  und  des  geöffneten 
Altars  in  ihrer  Vollständigkeit  getrennt  und  gleich¬ 
zeitig  zu  geben,  dann  käme  man  aber  in  die  Lage, 
die  besten  Originalstücke  wie  die  Verkündigung  und 
die  musizierenden  Engel  hochhängen  zu  müssen  und 
so  den  Vorzug  wieder  aufzuheben,  der  gerade  daraus 
hervorwächst,  daß  sich  das  Bild  im  Museum  und 
nicht  mehr  an  seinem  ursprünglichen  Platz  be¬ 
findet,  den  Vorzug,  das  Werk  deutlich  zu  sehen 
und  aus  nächster  Nähe  studieren  zu  können.  Man 
breitete  daher  die  Stücke  im  alten  Museum  an  einer 
langen  Wand  aus,  gut  für  das  Studium,  weniger  be¬ 
friedigend  für  den  Gesamteindruck.  Der  ist  in  der 
neuen  Gestaltung  günstiger. 

Zunächst  hat  man  hier  das  Werk  ganz  für  sich. 
Dann  sind  Außen-  und  Innenansicht  in  der  Erschei¬ 
nung  voneinander  isoliert.  Die  Ansicht  des  Altares 
mit  geschlossenen  Flügeln  war  vom  Künstler  möglichst 
einfach  in  den  Farben  gestimmt,  neben  den  Grisaille- 
figuren  der  beiden  Johannes  war  die  Verkündigung 
möglichst  unter  der  Herrschaft  der  weißen  und  grauen 
Nüancen  gehalten  und  selbst  die  farbigen  Porträts  waren 
ganz  ausgeglichen  und  den  Steinnischen  eingeordnet. 
Diesen  gedämpften  Tönen  gegenüber  entfaltete  sich 


DER  GROSSE  RUBENSSAAL 


KABINETT  DES  FRANS  HALS 


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DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


beim  Öffnen  die  Innenseite  in  größter  Farbigkeit. 
Während  im  alten  Museum  die  farbigen  musizieren¬ 
den  Engel  der  Innenseite  dicht  neben  die  Verkündi¬ 
gung  der  Außenseite  zu  stehen  kamen,  gegen  die 
Absicht  des  Malers,  sind  die  Engel  jetzt  auf  die 
Abschrägungen  der  Mittelwand  neben  die  übrigen 
Innenstücke  gerückt,  so  daß  man  dort  fast  alles  bei¬ 
sammen  hat,  die  Außenbilder  sind  dagegen  auf  die 
beiden  Seitenwände  verteilt,  die  untere  Hälfte  mit 
Stifterpaar  und  Johannesfiguren  auf  die  eine,  die 
Verkündigung,  bei  der  jetzt  durch  eine  Kopie  der 
fehlenden  schmalen  Mittelteile  (in  Brüssel)  das  In¬ 
terieur  zur  Vollständigkeit  ergänzt  worden  ist,  auf  die 
andere  Seite. 

In  dem  nächsten  Kabinett  hat  man  eine  Blütenlese 
kleiner  altniederländischer  Bilder^  zusammengestellt, 
wie  sie  sich  an  keinem  Ort  der  Welt  auf  so  geringem 
Raum  beisammen  findet,  links  eine  holländische  Wand 
mit  dem  einzigen  beglaubigten  Ouwater  in  der  Mitte 
und  zwei  authentischen  Bouts  zur  Seite,  den  Flügel¬ 
stücken  des  Löwener  Abendmahlsaltares,  rechts  eine 
flandrische  Wand  mit  der  Eyckschen  Kreuzigung 
zwischen  zwei  Erwerbungen  neueren  Datums,  dem 
Täufer  in  der  Landschaft  von  Gertgen  van  Sint  Jans 
und  der  kleinen  Beweinung  Christi  unter  dem  Kreuz 
mit  einem  knieenden  Stifter.  Gerade  das  letzte  Bild 
zeigt  in  der  neuen  Umgebung  seine  guten  Qualitäten. 
Es  leuchtet  in  auffallender  Weise  zwischen  den  anderen 
Bildern  hervor.  Wer  mag  es  sein?  Die  Komposition 
scheint  von  Roger  van  der  Weyden  und  findet  sich 
mehrfach  wiederholt,  die  Landschaft  trägt  mehr  den 
Charakter  des  Meisters  von  Flemalle,  an  den  auch 
der  Faltenwurf  erinnert.  Die  Anatomie  des  Körpers 
Christi  ist  nicht  gut  genug  für  Roger.  Der  sehr  ge¬ 
dämpfte  Farbenkomplex  des  hellroten  Madonnen - 
mantels  mit  dem  Gelb  des  Christuskörpers  zwischen 
den  beiden  starken  Noten  des  Blau  und  Rot  der 
Seitenfiguren  ist  etwas  ganz  Ungewöhnliches. 

An  diese  Mitte  reihen  sich  Porträts  und  Madonnen¬ 
bilder,  Porträts  von  Petrus  Christus,  Roger  (Schul¬ 
bild?),  Meister  von  Flemalle  und  Memling.  Es  sind 
alles  Bildnisse,  die  innerhalb  eines  Menschenalters 
liegen,  etwa  zwischen  1440  und  1470,  und  gerade 
dieser  kleine  Komplex  ist  durch  die  erstaunliche  Ver¬ 
schiedenheit  belehrend  über  die  Mannigfaltigkeit  des 
künstlerischen  Sehens,  die  sich  schon  während  dieser 
ersten  großen  Phase  zeigt,  das  ganz  zusammen¬ 
fassende,  vereinfachende  und  schon  mit  raffinierten 
Reflextönen  ausgestattete  Porträt  der  angeblichen  Lady 
Talbot  von  Petrus  Christus,  das  sich  an  die  spätesten 
Bilder  von  Jan  van  Eyck,  wie  das  Porträt  seiner  Frau 
in  Brügge  und  den  Berliner  Arnolfini  anschließt,  neben 
den  in  drastischer  Plastik  modellierten  Köpfen  des 
Flemallemeisters  und  dem  frühen  Memling,  der  durch 
das  feine  detaillierte  und  malerische  Oberflächenstudium 
wieder  zu  der  frühen  Art  des  Jan  van  Eyck  zurück¬ 
kehrt. 

Darüber  erscheint  dann  das  große  Fouquetporträt- 
stück  fast  wie  ein  Resümee  all  dieser  Studien  in  einer 
gewissen  vergrößernden  Breite.  Mit  einem  Schlage 
erhält  man  auf  diese  Weise  eine  Orientierung.  Zwischen 


Gq 

die  Porträts  sind  drei  Madonnenbilder  eingestreut, 
und  die  Inkonsequenz,  die  eine  holländische  Madonna 
auf  die  südniederländische  Seite  gesetzt  hat,  ist  sehr 
willkommen,  denn  so  haben  wir  den  steiflinigen  Bouts 
neben  dem  stark  modellierenden  Roger  und  dem 
sanften  Memling. 

Nach  dem  Haupteindruck  des  Meisters  van  Eyck 
im  Kabinett  des  Genter  Altares  wird  man  hier  wieder 
zu  ihm  zurückgeführt  durch  seine  kleinen  Bilder.  Sie 
hängen  an  den  schmalen  Schrägeckseiten,  die  den  Ecken 
vorgesetzt  worden  sind  und  die  in  ihrem  architektoni¬ 
schen  Zusammenhang  mit  der  oberen  Raumbildung 
häßlich,  für  das  Vorführen  der  Bilder  aber  praktisch 
sind.  Nur  dürfen  sie  nicht  zu  dicht  besetzt  sein,  weil 
dann  die  Rückseite  des  betreffenden  Kabinetts  leicht 
überladen  aussieht.  An  ihnen  bietet  sich  der  Bildein¬ 
druck  dem  Eintretenden  am  ungestörtesten  und  an 
ihnen  müssen  daher  eigentlich  die  Dinge  hängen,  auf 
die  man  stolz  ist.  So  präsidiert  denn  auch  an  der 
einen  Seite  der  Mann  mit  der  Nelke,  dem  der  neue 
Platz  vielleicht  hilft,  seine  Gegner  zu  besiegen.  Sein 
Pendant  auf  der  anderen  Seite  ist  eine  neue  Erwer¬ 
bung,  die  im  alten  Museum  noch  nicht  ausgestellt 
war,  eine  Madonna  von  Gerard  David.  Sie  gehört 
seiner  mittleren  Zeit  an.  Im  Typus  paßt  sie  noch 
ganz  zu  den  Bildern  dieses  Raumes,  ähnelt  sogar 
merkwürdig  den  Madonnenköpfen  Rogers,  in  der 
Landschaft  dagegen  ist  schon  eine  Wandlung  ange¬ 
bahnt  zur  späteren  Zeit,  das  Grau  in  seinen  Nüancen 
macht  sich  dort  mehr  bemerkbar  und  wird  auch  in 
der  Gewandung  der  Madonna  stärker  betont.  Das 
Bild  zeigt  die  Halbfigur  der  sitzenden  Maria,  die  im 
Begriff  ist,  das  Kind  zu  nähren.  Ein  erzählendes 
Element  tritt  durch  den  Hintergrund  in  dies  Andachts¬ 
bild,  denn  die  Hauptfigur  bildet  nur  eine  Episode 
auf  der  Flucht  der  heiligen  Familie,  die  in  der  Land¬ 
schaft  dargestellt  ist.  Interessant  ist  es,  die  breiten 
festen  Baummassen,  die  eine  beabsichtigte  geschlossene 
Folie  für  den  roten  Madonnenmantel  bilden,  mit  dem 
detaillierten  und  mehr  ornamentalen  Pflanzenspiel  zu 
vergleichen,  das  auf  der  darüber  hängenden  Eyckschen 
Komposition  demselben  Zweck  dient. 

Auf  der  Rückwand,  der  ungünstigsten  in  bezug  auf 
die  Lichtverhältnisse,  hängen  um  die  Kreuzigung  des 
Flemallemeisters  Bilder  von  Malern  geringerer  Be¬ 
deutung. 

Der  Gerard  David  leitet  über  in  das  nächste 
Kabinett,  das  den  Anfang  des  1 6.  Jahrhunderts  reprä¬ 
sentiert.  Die  linke  Wand  allerdings  gehört  durch 
Rogers  Bladelinaltar  und  die  Triptychonflügel  des 
Petrus  Christus  noch  ganz  dem  15.  Jahrhundert  an, 
und  man  tut  am  besten,  von  ihr  aus  gleich  den  da¬ 
hinter  liegenden  größeren  Saal  zu  betreten,  in  dem 
diejenigen  altniederländischen  Bilder  Platz  gefunden 
haben,  die  schon  ihrer  Ausdehnung  wegen  nicht  in 
die  Kabinette  passen.  Mit  großem  Geschick  hat  man 
hier  wenigstens  drei  Wänden  einen  ganz  einheitlichen 
Charakter  gegeben. 

Die  alte  Kopie  der  großen  Rogerschen  Kreuzab¬ 
nahme  hängt  wie  zuletzt  im  alten  Museum  über  dem 
neuen  van  der  Goes,  der  ungefähr  dieselbe  Breite 


70 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


besitzt,  und  da  dieser  zu  seinen  Seiten  den  Johannes¬ 
altar  und  den  Middelburger  Altar  Rogers  hat,  so  ist 
der  Meister  ganz  von  seinem  Vorgänger  umschlossen. 
Das  bringt  seine  Eigenlieiten  stark  zum  Ausdruck, 
ln  der  Buntfarbigkeit  paßt  er  im  Qesamteindruck  noch 
vollständig  zu  den  Bildern  Rogers,  im  einzelnen  aber 
sind  die  Farben  feiner  differenziert,  stärker  der  Luft¬ 
perspektive  untergeordnet,  auch  ist  das  Ganze  mehr 
nach  Farben  komponiert.  Die  Weichheit,  welche 
dieses  Spätwerk  des  Meisters  charakterisiert,  macht  sich 
gegenüber  der  Schärfe  Rogers  stark  geltend,  ein  ähn¬ 
licher  nach  beiden  Seiten  gerundeter  Kompositionsab¬ 
schluß  tritt  bei  Goes  wie  bei  der  Kreuzabnahme 
Rogers  deutlich  hervor,  der  bedeutende  Fortschritt  in 
der  Entwickelung  aber  liegt  darin,  daß  die  Differenzen 
der  Raumtiefe  innerhalb  der  Goesschen  Gruppe  viel 
größer  und  mannigfaltiger  sind,  als  bei  Roger,  bei 
dem  die  Figuren  stärker  in  gleichen  Ebenen  stehen. 
Auch  die  beiden  mächtigen  Propheten  rechts  und 
links,  die  gleichsam  als  Vordergrundkulissen  dienen, 
deuten  schon  auf  eine  neue  Zeit.  Trotzdem  bleibt 
die  Komposition  Rogers  als  die  gewaltigere  bestehen 
und  beherrscht  den  Goes,  so  daß  für  die  absolute 
Schätzung  dieses  letzteren  nicht  der  günstigste  Platz 
gewählt  ist.  Die  Wand  links  ist  dem  Quintin  Massys 
gewidmet,  diejenige  rechts  anderen  Meistern  vom  An¬ 
fang  des  i6.  Jahrhunderts  wie  Scorel  und  Mabuse. 
Wendet  man  den  Blick  von  der  großen  Rückwand 
zu  diesen  Seitenwänden,  so  ist  sofort  der  Farbenein¬ 
druck  ein  ganz  anderer,  viel  weniger  bunt,  das  Grau¬ 
blau  und  Braun  machen  sich  als  Gesamtton  viel 
stärker  geltend  und  zeigen  den  Wandel  im  Geschmack. 
Auf  der  Massyswand  tritt  zum  leuchtenden  Rot  der 
Madonna  und  des  Hieronymus  das  feine  gleichmäßige 
Blaugrün  der  Landschaft,  das  Braun  des  Interieurs, 
auf  dem  Bild  der  hl.  Magdalena  hat  das  Braun  die 
ganze  Figur  durchsetzt.  Das  Sfumato  Quintins  klingt 
wieder  in  der  Anbetung  der  Könige  vom  Meister  des 
Todes  der  Maria  und  im  Patinir,  seine  Pflege  des 
Genrehaften  in  dem  Dudelsackpfeifer  eines  Schülers, 
des  Pieter  Huys,  das  aus  Stettin  in  die  Galerie  zurück¬ 
gekommen  ist.  Auch  die  andere  Kurzwand  wird  be¬ 
herrscht  durch  die  blauen  und  braunen  Töne  des 
großen  Bellegambeschen  Triptychons  mit  dem  jüngsten 
Gericht  und  das  schlichte  groß  empfundene  Porträt 
Scorels.  Das  Nachtstück  von  Mabuse,  Christus  am 
Ölberg,  bei  dem  die  Mondscheinwirkung  in  der  Land¬ 
schaft  überraschend  gut  wiedergegeben  ist,  kommt 
erst  jetzt  zur  Geltung,  da  es  im  alten  Museum  auf 
der  dunklen  Wand  des  Ganges  hing.  Ein  Porträt 
und  eine  Madonna  ergänzen  das  Bild  des  Meisters 
und  ein  großes  Paar  nackter  Figuren,  Neptun  und 
Amphitrite,  in  vollständig  antikisierender  Architektur 
sind  aus  dem  Depot  wieder  in  die  Galerie  gewandert 
(an  die  Eingangswand),  so  daß  der  Maler  auch  als 
Bahnbrecher  für  die  antikisierende  Richtung  in  einem 
der  eklatantesten  Beispiele  zur  Geltung  kommt.  Der 
Beschauer  kann  aus  diesen  Bildern  ganz  verschiedener 
Phasen  des  Meisters  doch  das  allen  Gemeinsame  in 
der  Modellierung  heraussehen.  Ein  anderes  mit  Mabuse 
verwandtes  Bild  ist  ebenfalls  aus  dem  Depot  geholt. 


daneben  gehängt  und  gibt  Gelegenheit,  den  Gegen¬ 
satz  der  spielenden  ornamentalen  Renaissancearchitektur 
zur  theoretisch  korrekt  sein  sollenden  des  Neptunbildes 
zu  beobachten.  Im  übrigen  ist  diese  Eingangswand 
ungleichmäßiger  als  die  andere,  ihr  Hauptbild  ist  der 
späte  Gerard  David  mit  der  Kreuzigung,  zu  dem  sich 
als  neuer  Bestand  noch  eine  kleine  Madonna  in  der 
Landschaft  gesellt  hat,  ebenfalls  ein  späteres  Bild  (viel¬ 
leicht  nur  Schulbild)  in  abgeschwächten  Farben,  das 
aus  Düsseldorf  zurückgeholt  ist,  so  daß  auch  dieser 
Meister  jetzt  im  neuen  Museum  vollständiger  zur  Er¬ 
scheinung  kommt  als  im  alten.  Noch  mehr,  wenn 
man  die  vier  kleinen  Heiligen  hinzu  rechnet,  die  sich 
in  der  Schenkung  James  Simon  befinden,  die  ihrem 
Hauptinhalt  nach  auf  der  italienischen  Seite  aufge¬ 
stellt  ist. 

Kehrt  man  nun  zurück  in  das  kleinere  Kabinett, 
so  trifft  man  die  Holländer  vom  Anfang  des  1 6.  Jahr¬ 
hunderts  beisammen.  Zu  der  selten  großen  Zahl  von 
Bildern  des  Lukas  von  Leyden  hat  sich  Cornelis  Engel¬ 
brechtszen  gesellt.  Sein  Bild  der  Dornenkrönung  hing 
früher  versteckt  im  Korridor,  ist  jetzt  aber  nicht  nur 
gut  sichtbar,  sondern  erhält  noch  einen  besonderen 
Wert  dadurch,  daß  ein  zweites  Bild  desselben  Meisters 
aus  dem  Depot  hinzugekommen  ist,  das  eine  ganz 
andere  spätere  Phase  seiner  Entwickelung  zeigt.  Es 
ist  die  Berufung  des  Matthäus,  ziemlich  stark  an  ein¬ 
zelnen  Stellen  ausgebessert,  im  ganzen  aber  durch¬ 
aus  von  ursprünglichem  Charakter.  Engelbrechtszen 
ist  hier  auf  das  stärkste  beeinflußt  von  seinem  Schüler 
Lukas  van  Leyden,  dessen  Entwickelung  er  folgt,  und 
in  der  Farbe  und  Lichtbehandlung  ist  zwischen  seinen 
beiden  Bildern  ein  ähnliches  Verhältnis  wie  bei  Lukas 
zwischen  dessen  frühem  Bild  der  Schachspieler  und 
der  späteren  Madonna.  Das  kleine  Triptychon  von 
Jakob  van  Amsterdam  und  das  Porträt  des  Mannes 
mit  den  weißen  Handschuhen  vom  mutmaßlichen 
Mostaert  vervollständigen  den  holländischen  Komplex, 
zwischen  den  allerdings  ein  paar  belgische  Porträts 
eingestreut  sind. 

Die  Rückseite  dieses  Kabinetts  ist  deswegen  be¬ 
sonders  bemerkenswert,  weil  auf  ihr  eine  Reihe  von 
Bildern  angebracht  sind,  die  im  Depot  lagerten,  über 
deren  Wiedererscheinen  man  aber  zum  mindesten  aus 
kunstgeschichtlichen  Rücksichten  froh  sein  kann. 

Bei  dem  Nachdruck,  den  man  aus  künstlerischen 
Interessen  auf  das  15.  und  17.  Jahrhundert  zu  legen 
hat,  ist  das  16.  in  seiner  Mitte  und  zweiten  Hälfte 
meist  schlecht  behandelt  worden.  Die  manierierten 
italienisierenden  Bilder,  die  affektiert  posierten  Gestalten 
und  die  übertriebenen  Muskelmenschen  sind  allerdings 
unsympathisch,  aber  unter  ihrem  Deckmantel  führen 
sich  eine  ganze  Reihe  von  Faktoren  ein,  die  die 
Malerei  des  17.  Jahrhunderts  vorbereiten. 

Die  Lücke,  die  auch  die  Berliner  Galerie  in  dieser 
Beziehung  zeigte,  ist  durch  die  wieder  ausgestellten 
Bilder  im  Kaiser  Friedrich-Museum  zum  Teil  ausgefüllt. 
Für  das  Studium  der  Landschaft  tritt  zu  dem  Patinir 
und  dem  kleinen  Pseudo-Mostaert  oder  Ysenbrant 
jetzt  das  Bild  von  Cornelis  Massys,  eines  Sohnes  des 
Quintin.  Das  religiöse  Motiv,  die  Ankunft  der  Eltern 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


71 


RUBENS.  DIANA  UND  NYMPHEN  VON  SATYRN  ÜBERFALLEN 


Christi  in  Bethlehem,  tritt  so  sehr  zurück,  daß  es 
kaum  zu  finden  ist,  die  Staffage  wirkt  rein  genrehaft, 
und  die  Landschaft  mit  ihrem  schon  zusammenge¬ 
faßten  blauen  und  braunen  Tönen  wird  zur  Hauptsache. 
Sie  ist  1543  datiert.  Der  Einfluß  der  italienischen 
Pose  ist  außer  durch  den  schon  erwähnten  Mabuse 
durch  die  Taufe  Christi  von  Scorel  gekennzeichnet,  es 
tauchen  Erinnerungen  an  den  Schlachtkarton  Michel¬ 
angelos  auf,  die  ganze  Landschaft  ist  in  Kulissen  auf¬ 
gebaut. 

Im  Wertgrade  aber  viel  höher  steht  ein  Frag¬ 
ment  von  dem  Holländer  Pieter  Aertszen.  Dieser 
hatte  ein  Gemälde  für  den  Hochaltar  der  Oudekerk 
in  Amsterdam  gemalt,  von  dem  nur  noch  Bruch¬ 
stücke  erhalten  sind.  Zu  ihnen  gehört  auch  die 
Berliner  Tafel.  Die  Frau  mit  dem  nackten  Kinde  auf 
der  Schulter  blickte  zum  neugeborenen  Christuskind 
hinüber.  Unter  den  ausgestellten  Niederländern  ist 
es  das  erste  modern  gemalte  Bild,  der  Einfluß  der 
Venezianer  ist  unverkennbar,  links  glaubt  man  ein 
Stück  Bassano  zu  sehen,  die  Farben  sind  dort  ganz 
breit,  fast  skizzenhaft  aufgesetzt.  Von  diesem  selben 
für  Holland  so  wichtigen  Maler  ist  im  größeren  Saal 
noch  ein  zweites  und  zwar  bezeichnetes  und  1552 
datiertes  Gemälde  hinzugekommen,  das  in  anderer 
Weise  bedeutsam  ist,  nämlich  in  der  genrehaften  Auf¬ 
fassung  der  biblischen  Erzählungen.  Die  Kreuztra¬ 
gung  ist  hier  nur  der  Vorwand,  um  in  einer  Menge 
von  kleinen  Figuren  uns  allerlei  aus  dem  täglichen 
Leben  vorzuführen,  den  Gemüsewagen  mit  verkaufen¬ 
den  und  schwatzenden  Frauen,  die  Gefangennahme 
eines  Spitzbuben,  der  seiner  Familie  entrissen  wird, 
und  daneben  sind  die  Episoden  der  Schächer  mehr 
in  den  Vordergrund  gerückt,  als  die  Begebenheiten 


Christi.  Aertszen  ist  darin  ganz  die  holländische 
Parallelerscheinung  zum  Pieter  Brueghel  in  Belgien, 
von  dem  die  Galerie  leider  noch  kein  Werk  besitzt. 
Gerade  mit  diesen  Bildern  sind  hier  Töne  angeschlagen, 
die  die  Vermittelung  bilden  zur  Abteilung  des  17.  Jahr¬ 
hunderts,  und  man  würde  es  nicht  mehr  als  Sprung 
empfinden,  wenn  man  jetzt  gleich  in  den  nächsten 
Räumen  zu  den  späteren  Meistern  hineingeführt  würde. 
Aber  das  geschieht  doch  nicht,  wir  haben  erst  zwei 
deutsche  Kabinette  zu  durchschreiten  und  finden  dann 
in  gerader  Flucht  in  dem  größeren  Kaminsaal  die 
Holländer  wieder,  und  zwar  nicht  in  genau  chrono¬ 
logischem  Anschluß,  sondern  gleich  in  einer  Zu¬ 
sammenstellung  verschiedener  Stücke  aus  der  weitest 
entwickelten  Zeit. 

Vor  allem  wird  gleich  Rembrandt  antizipiert.  Man 
hat  dadurch  das  eigentliche  Rembrandt-Kabinett  ent¬ 
lastet,  indem  man  die  Jugendbilder  vorweggenommen 
hat,  wie  den  Geldwechsler,  die  Diana  und  den  Raub 
der  Proserpina,  und  die  größeren,  wie  den  Simson, 
Jakobs  Ringen  und  Moses  mit  den  Gesetzestafeln,  die 
einen  weiteren  Raum  erforderten.  Das  wichtigste 
Bild,  der  Anslo,  hat  natürlich  den  besten  Platz  er¬ 
halten  und  hat  hier  ein  Licht,  das  ihn  ganz  anders 
zur  Geltung  bringt,  als  dies  im  alten  Museum  ge¬ 
schah,  der  Hintergrund  rechts  kommt  deutlicher  heraus, 
die  Raumwirkung  ist  stärker  und  die  Eintönigkeit  in 
der  Farbe  durch  den  Firnis,  die  früher  den  Eindruck 
schwächte,  verschwindet  vollständig.  Um  ihm  ein 
einigermaßen  gewichtiges  Gegenüber  zu  schaffen,  hat 
man  auch  das  Ruysdaelsche  Seestück  mit  dem  braunen 
Segel  hier  hineingehängt.  Im  übrigen  sind  einzelne 
Schüler  Rembrandts,  wie  Eeckhout  und  Landschaften 
von  Everdingen,  Brouwer,  Aert  van  der  Neer  und 


72 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


Livens,  die  in  ihren  braunen  Tönen  zu  Rembrandt 
stimmen,  dem  Meister  angereiht. 

Gegenüber  dem  Kamin  steht  auf  einem  Schrank 
des  17.  Jahrhunderts  ein  kleiner  bogenschnitzender 
Amor  aus  Marmor  von  Duquesnoy.  Er  ist  durch 
die  lange  Flucht  der  Türen  hindurch  sichtbar  und 
markiert  für  den  Heranschreitenden  gleichsam  eine 
Pause,  die  Stelle,  an  der  sich  die  Querachse  des  Ge¬ 
bäudes  abzweigt.  Es  bleibt  die  Wahl,  dieser  Ab¬ 
zweigung  zu  folgen  oder  noch  weiter  geradeaus  zu 
gehen.  Folgt  man  ihr,  so  gelangt  man  in  den  großen 
Rubenssaal. 

Im  Rubenssaal  steht  der  Raum  zu  den  Bildern 
in  ausgezeichnetem  Größenverhältnis,  leider  findet 
sich  wie  an  anderen  Stellen  des  Baues  auch  hier 
das  stark  vorragende  Gesims,  hinter  dem  sich  der 
Ansatz  der  leicht  angewölbten  Decke  verbirgt.  Die 
rotgemusterte  Tapete  ist  durch  den  grauen  Grund, 
der  infolge  der  Komplementärwirkung  grünlich  er¬ 
scheint,  stark  in  ihrer  Intensität  gemildert.  Rubens 
hätte  vielleicht  eher  einen  kräftigen  Ton  vertragen 
können  als  die  anderen.  Die  Bilder  aber  hängen 
so  vortrefflich  wie  nur  möglich.  Der  Rubens-  und 
Van  Dyck-Besitz  der  Galerie  geht  in  eine  prachtvolle 
Symmetrie  auf.  Die  Mitte  der  einen  Längswand 
nimmt  das  erst  kürzlich  aus  Sanssouci  übertragene 
Bild  der  Diana  mit  Nymphen  und  Satyrn  ein.  Der 
eine  Satyr  scheint  Diana  um  die  noch  freie  Nymphe 
zu  bitten,  die  ängstlich  der  Entscheidung  entgegen¬ 
sieht.  Wie  bei  allen  späten  Werken  von  Rubens,  hat 
auch  hier  das  Fleisch  eine  gewaltige  Leuchtkraft,  es 
wird  etwas  kraß  herausgehoben  durch  das  intensive 
Blau  auf  der  linken  Seite,  und  man  kann  nicht  recht 
glauben,  daß  dies  Blau  in  seiner  jetzigen  Form  von 
Rubens  selbst  herrührt  oder  nicht  wenigstens  seine 
mildernden  Lasuren  verloren  haben  sollte.  Der  Glanz 
der  Haut  stimmt  zu  dem  der  hl.  Cäcilie  gegenüber 
und  zur  Andromeda  auf  derselben  Seite.  Doch  wird 
letztere  noch  lange  nicht  in  den  Schatten  gestellt  und 
steht  weiter  an  der  Spitze.  Sie  bildet  wie  früher  in 
ihrer  duftigen  malerischen  Behandlung  ein  lehrreiches 
Gegenstück  zum  frühen  glatter  und  schwerer  gemalten 
Sebastianus. 

Eine  Kurzseite  wird  durch  die  Bekehrung  des 
Paulus  eingenommen.  Dies  der  Galerie  noch  nicht 
lange  angehörige  Bild  war  zwar  schon  zuletzt  im 
alten  Museum  ausgestellt,  aber  es  trat  nicht  so  hervor 
wie  auf  seinem  neuen  Platz,  wo  es  für  den  draußen 
in  der  Basilika  Stehenden  eine  glänzende  Perspektive 
bildet.  Es  repräsentiert  am  stärksten  in  der  Samm¬ 
lung  das  Stürmisch-Aktive  in  Rubens’  Darstellungskraft. 

Van  Dyck  ist  zwischen  die  Rubensschen  Bilder 
verteilt;  seine  zwei  dunkel  und  einfarbig  gehaltenen 
Porträts  rahmen  das  helle  und  farbige  Bild  der  hl. 
Cäcilie  ein.  Beide  Maler  bilden  hier  starke  Gegen¬ 
sätze,  während  auf  der  Seite  gegenüber  die  Dornen¬ 
krönung  Christi  und  die  beiden  Johannes  gerade  den 
jüngeren  Meister  im  Zusammenhang  mit  seinem 
Lehrer  zeigen.  Ein  Nebenkabinett  beherbergt  einige 
Rubenssche  Entwürfe  und  Skizzen,  Teniersche  Bilder 
und  Miniaturporträts  und  leitet  hinüber  zum  kleineren 


vlämischen  Saal  mit  gleicher  Tapete  und  Gesims¬ 
schema  wie  im  Rubenssaal.  Die  vier  kleinen  Schräg¬ 
wände  in  den  Ecken,  die  hier  nicht  wie  in  den 
Seitenkabinetten  vorgesetzt  sind,  sondern  mit  der 
Deckenkonstruktion  Zusammengehen,  bilden  je  mit 
einem  Porträt  (Rubens,  Van  Dyck,  Cornelis  de  Vos, 
Ferd.  Voet)  und  einem  Blumenstück  darüber  ganz 
feste  Teilungen.  Dazwischen  erstreckt  sich  oben  ein 
Kranz  größerer,  unten  eine  Kette  kleinerer  Bilder, 
Van  Dycks  Beweinung  Christi  und  Cornelis  de  Vos’ 
Ehepaar  bilden  die  Mittelachsen  der  Langseiten. 
Manche  Bilder,  wie  die  frühe  Rubenslandschaft,  der 
hl.  Hubertus  von  Jan  Brueghel,  die  früher  hoch 
hingen,  sind  jetzt  bequem  zu  studieren.  Neu  hinzu¬ 
gekommen  ist  außer  einigen  Rubensschulbildern  ein 
interessantes  1633  datiertes  Männerporträt  von  dem 
Brügger  Maler  Jakob  van  Oost,  das  durch  seine  gelb¬ 
braune  Gesamtfärbung  eine  Berührung  mit  hollän¬ 
dischen  Kreisen  der  Zeit  vermuten  läßt,  ferner  ein 
Porträtkopf  von  Van  Dyck,  der  bisher  ausgeliehen 
war.  Es  ist  ein  Jünglingsbildnis,  das  wohl  noch  in 
die  frühe  Zeit  des  Meisters  gehört,  aber  schon  den 
glänzenden  erregten  Blick  hat,  der  Van  Dyck  so 
eigentümlich  ist. 

Das  Ende  des  Saales  mündet  wieder  in  die 
Sammlung  der  holländischen  Bilder.  Will  man  aber 
der  chronologischen  Reihe  folgen,  so  muß  man 
zurückkehren  zum  Anslosaal.  Der  erste,  der  uns 
hiernach  empfängt,  ist  Frans  Hals.  Seine  Bilder 
sind  ähnlich  verteilt  wie  im  alten  Museum,  nur  die 
beiden  frühen  Bilder  des  Ehepaares  sind  an  hervor¬ 
ragende  Stelle  auf  die  Eckplätze  gerückt,  jeden¬ 
falls  mehr,  weil  sie  die  besten  Gegenstücke,  als  weil 
sie  die  bedeutendsten  Bilder  unter  den  Werken  sind, 
die  die  Galerie  von  Hals  besitzt.  Denn  unter  diesem 
Gesichtspunkt  müßte  der  Oosdorp  vorangehen.  Ganz 
neu  hinzugekommen  ist  ein  Bild  der  besten  hol¬ 
ländischen  Malerin  des  17.  Jahrhunderts,  der  Judith 
Leyster,  einer  Schülerin  des  Frans  Hals.  Es  ist  die 
Halbfigur  eines  Trinkers  mit  rotem  Barett  und  Pfeife, 
den  Bildern  ihres  Ehegatten  Jan  Miense  Molenaer 
in  der  Malweise  sehr  ähnlich. 

Es  sind  ferner  Bilder  von  Brouwer  und  zwei 
Terborghs  in  dies  Kabinett  gebracht  und  einige  Still¬ 
leben  und  Landschaften,  die  durch  ihren  zusammen¬ 
fassenden  Ton  und  die  kräftigen  Reflexlichter  zur 
Art  des  Frans  Hals  stimmen. 

Die  richtige  Tonmalerei  aber,  wie  sie  in  Holland 
hauptsächlich  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren 
des  1 7.  Jahrhunderts  Mode  war,  hat  ihren  Schauplatz 
im  nächsten  Kabinett.  Jan  van  Goyen  ist  hier  ma߬ 
gebend,  ihm  folgt  ein  früher  Aelbert  Cuyp  und  auch 
von  Jan  Gerritsz  und  von  Benjamin  Cuyp  Bilder 
ganz  im  gelbbraunen  Ton.  Ein  Stilleben  von  Pieter 
Claesz  bringt  dazu  den  Hauptmeister,  der  auf  diesem 
Gebiet  den  bräunlichen  Gesamtton  vertritt  und  ihn 
durch  ein  feines  Silbergrau  belebt.  Porträtmaler,  die 
parallel  zu  Hals  einsetzen,  wie  Palamedesz  und  Tho¬ 
mas  de  Keyzer,  kommen  hinzu,  letzterer  in  den  beiden 
kleinen  Altarflügeln  aus  seiner  Frühzeit  auf  Rubenssche 
Schulung  weisend,  in  seinem  Familienbild  dann  schon 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N,  F.  XVI  ;  .  '  ,  ^ '  JAKOB  RUISDAEL.  BLICK  AUF  HAARLEM 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


73 


von  viel  stärkerem  holländischen  Charakter.  Ein 
großes  Frauenporträt  von  Jac.  Gerritz  Cuyp  von  1524 
gibt  uns  ein  Bild  von  dem,  was  man  damals  in 
Holland  noch  ohne  die  Kunst  von  Hals  und  Rem- 
brandt  im  Bildnis  leisten  konnte,  und  so  ist  dieser 
Raum  in  der  Hauptsache  der  Vorbereitungszeit  für 
die  Glanzepoche  gewidmet.  Der  Sommer  und  Winter 
von  Adriaen  van  de  Venne  weisen  noch  mehr  auf 
das  16.  Jahrhundert  zurück,  ebenso  das  Vorjahren 
schon  einmal  ausgestellte,  dazwischen  aber  entfernte 
Langbild  von  Gillis  de  Hondecoeter,  das  für  die 
kunstgeschichtliche  Beurteilung  dieser  Übergangsphase 


Daniels  mit  dem  strahlenden  Weiß  des  Engels  kommt 
besonders  wirkungsvoll  zur  Geltung,  auch  der  Mann 
mit  dem  Helm  könnte  nicht  besser  hängen,  da  die 
gemalten  Reflexe  hier  mit  dem  Lichteinfall  stimmen. 
In  der  Gesamtheit  wirken  die  Bilder  durch  Aus¬ 
scheidung  der  Stücke  im  Anslosaal  hier  jetzt  ent¬ 
schieden  reicher  und  intensiver  als  im  alten  Museum. 

Im  nächsten  Raum  rückt  die  Landschaft  an  die 
Hauptstelle,  Ruysdael,  Hobbema,  Adriaen  van  de 
Velde,  Capelle,  Cuyp’’  und  Jan  van  der  Meer  von 
Haarlem.  Die  beiden  Hasenbilder  von  Weenix  in 
den  Ecken  machen  sich  daneben  fast  zu  sehr  geltend. 


GASPARD  DUOHET.  HEROISCHE  LANDSCHAFT 


sehr  instruktiv  ist,  besonders  für  die  Zeit,  in  der  das 
Bestreben,  leuchtend  in  den  Landschaftstönen  zu  sein, 
nur  zu  einer  Art  glasiger  Durchsichtigkeit  führt. 

Wie  schlagend  ist  der  Gegensatz,  wenn  man  aus 
diesem  Zimmer  der  Vorbereitung  in  das  nächste  tritt, 
das  der  Vollendung.  Über  dem  Ton  steht  hier  die 
vollkommene  Leuchtwirkung.  Es  gehört  fast  voll¬ 
ständig  Rembrandt,  vierzehn  Bilder,  und  darunter  die 
besten,  welche  die  Galerie  besitzt,  hängen  beisammen, 
und  nur  die  Hinterwand  ist  Gemälden  von  einem  dem 
Rembrandtschen  ähnlichen  Effekt  eingeräumt,  unter 
denen  vor  allem  die  Apfelsinen  Kalfs  hervorleuchten. 
Bis  auf  die  beiden  Selbstporträts  gehören  alle  Bilder 
Rembrandts  vorgeschrittener  Zeit  an.  Die  Vision 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  2 


In  diesem  Kabinett  ist  das  Grün  der  Tapete  am 
ehesten  störend,  denn  die  feinen  Nuancen  der  Bäume 
und  Wiesen  gehen  gegenüber  der  starken  Grundfarbe 
verloren.  Man  kann  dies  besonders  an  dem  Bild 
des  Adriaen  van  de  Velde  beobachten,  dessen  hohe 
Qualität  man  erst  wiederfindet,  wenn  man  sich  ganz 
in  das  Bild  vertieft  hat. 

Den  Schluß  der  langen  Reihe,  auf  den  man  wie 
auf  ein  Ziel  hinsteuert,  sollte  eigentlich  der  Rem- 
brandtsaal  bilden,  aber  das  Licht,  die  lange  Rück¬ 
wand  waren  nicht  günstig,  und  ein  Zusammenfassen 
gestaltete  sich  viel  schwieriger. 

Dafür  hat  man  nun  die  mehr  verschiedenartigen 
Genrebilder  hier  untergebracht,  und  zwar  diejenigen, 

10 


74 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BEREIN 


die  als  gleichzeitig  der  Rembrandtschen  Kunst  auf 
der  Höhe  der  Entwickelung  stehen.  Auch  hier  leuchtet 
es  in  den  Interieurs  von  Pieter  de  Hoogh  und  dem 
Delfter  Vermeer,  auf  der  Seide  Terborghs,  und  das 
Abendlichi  gleitet  über  das  bunte  Gefieder  der  Vögel 
von  Melchior  Hondecoeter.  Das  farbige  Bild  von 
Vermeer  aus  der  Clinton  Hope-Sammlung  ist  zur 
größo'^  'n  Wirkung  zwischen  zwei  ganz  dunkle  Ruys- 
d.'u  .  ;  -  'lg.  dru  über  die  früher  infolge  einer  falschen 
öezi  iciiiumg  dem  Nicolaus  Maes,  jetzt  von  der  Mu¬ 
sen  msverwaltung  richtiger  auch  dem  Pieter  de  Hoogh 
zugeschriebene 
Küche  ebenso 
zwischen  zwei 
Porträts  von  Ter- 
borgh  mit  tief¬ 
stem  Helldunkel. 

Auch  die  Tauf¬ 
mahlzeit  von 
Steen  macht  sich 
als  Mittelpunkt 
durch  ihre  schar¬ 
fe  Plastik  ein¬ 
dringlich  be¬ 
merkbar, die  Osta- 
des  dagegen  tre¬ 
ten  bescheidener 
zurück. 

Kehrt  man 
aus  diesem  Sitten¬ 
bildsaal  wieder 
zurück,  so  ge¬ 
langt  man  durch 
ein  kleines  Ka¬ 
binett,  das  sich 
an  die  belgischen 
Räume  anschließt 
und  das  die  mehr 
süßlichen  und 
glatten  Genrebil¬ 
der  der  Netscher- 
undMierisgruppe 
enthält,  in  den 
rechtwinkelig  zur 
bisherigen  Reihe 
gelegenen  größ- 
tenHolländersaal, 
für  den  sich 
schwer  ein  ganz 
bestimmter  künstlerischer  Charakter  feststellen  läßt, 
besonders  da  hier  die  Größe  des  Formats  bei  der 
Auswahl  stark  entscheidend  war.  Allerdings  deckt 
sich  in  diesem  Fall  das  Format  bis  zu  einem  ge¬ 
wissen  Grade  mit  dem  Künstlerischen,  da  die  Maler 
großer  Historien  vorwiegend  unter  dem  Einfluß 
Rembrandts  standen.  So  sind  in  verstärkter  Zahl  die 
Rembrandtschüler  und  Nachahmer  wieder  eingezogen, 
die  teilweise  ins  Depot  verbannt  waren,  das  große  Bild 
»Die  Großmut  des  Scipio»  von  Horst,  »Krösus  und 
Solon  von  Köninck,  Der  Segen  Jakobs«  von  Mol, 
'Hannah  und  SamueF  von  Jan  Victors  und  andere. 


Man  konnte  diese  holländische  Gattung  im  alten 
Museum  kaum  kennen  lernen,  und  wurde  dort  fast 
nur  auf  Kabinettstücke  hingewiesen,  so  liegt  auch 
darin  entschieden  eine  Bereicherung.  Das  große 
Porträtstück  von  Abraham  van  den  Tempel  führt 
einen  der  glänzendsten  Porträtisten  der  holländischen 
Kunst  ein,  welche,  ähnlich  wie  van  der  Heist  in 
seiner  späteren  Zeit,  die  prunkvolle  äußere  Erscheinung 
betonten,  der  die  elegante  Welt  lieber  huldigte  als 
der  Rembrandtischen  Kunst.  Es  zeigt  sich  in  dem 
Bild  das  pompösere  Zurückgehen  auf  die  klare  und 

glättere  Mal  weise, 
wie  sie  aus  der 
Frühzeit  desjahr- 
hunderts  durch 
die  großen  Por¬ 
träts  des  Nikolaus 
Elias  auf  der 
Langseite  vertre¬ 
ten  sind,  und  in 
die  Zwischenzeit 
fallen  die  mehr 
Rembrandtischen 
großen  Mittel¬ 
bilder  der  dritten 
und  vierten  Seite 
(Livens  und  das 
unberechtigt 
Meert  genannte 
Ehepaar).  In  An¬ 
betracht  der  gro¬ 
ßen  ungeteilten 
Wände  ist  es  hier 
überraschend  gut 
gelungen,  Bilder 
zu  einer  geschlos¬ 
senen  Gesamt¬ 
form  zusammen¬ 
zufassen. 

Die  Reihe 
der  Niederländer 
wird  damit  ge¬ 
schlossen,  denn 
im  letzten  Saal 
dieses  Flügels 
sind  Spanier  und 
Franzosen  ver¬ 
einigt.  Sie  sind 
dort  etwas  zu¬ 
sammengedrängt,  vor  allem  würde  man  für  die 
kleineren  französischen  Bilder,  die  Watteau  und  Laueret, 
ein  Kabinett  für  sich  wünschen,  während  sie  jetzt 
auf  der  einen  Kurzwand  eines  für  sie  zu  großen 
Saales  vereint  sind.  Über  ihnen  erscheint  als  neuer 
Ankömmling  das  vorzügliche  Selbstporträt  des  Malers 
Pesne  mit  seinen  Töchtern.  Auch  die  gegenüber¬ 
liegende  Wand  würde  imposanter  wirken,  wenn  dort 
der  ungewöhnlich  schöne  Ribera,  der  hl.  Sebastian, 
allein  hinge.  So  muß  er  den  Platz  teilen  mit  den 
Gemälden  von  Goya,  die  für  sich  selbst  auch  schon 
die  größte  Aufmerksamkeit  beanspruchen.  Beide  Por- 


GOYA.  PORTRÄT  EINES  MÖNCHES 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


75 


träts  sind  neue  Erwerbungen.  Die  übrigen  Spanier, 
Velazquez,  Zurbaran  und  wieder  Ribera  gruppieren 
sich  um  Murillos  hl.  Antonius.  Der  standfeste  Haupt¬ 
mann,  der  früher  neben  diesen  Bildern  hing,  ist  zu 
den  Italienern  hinübergegangen,  nachdem  seine  Natio¬ 
nalität  erkannt  worden  ist.  Frankreich  ist  besonders 
für  das  17.  Jahrhundert  durch  einzelne  Bilder  sehr 
ansehnlich  vertreten  und  kann  daher  auch  in  seiner 
Stellung  zu  der  gleichzeitigen  niederländischen  Kunst 
gut  beobachtet  werden. 

Mit  dem  spanisch-französischen  Saal  verläßt  man 
die  Abteilung,  doch  hat  die  Galerie  in  ihrem  vlämi- 
schen  und  holländischen  Bestand  noch  eine  wesent¬ 
liche  Bereicherung  erfahren  durch  die  Ausstellung 
zweier  Privatsammlungen,  einer  geliehenen  Auswahl 
der  Wesendonckschen  Galerie  in  Berlin  und  der  teils 
geschenkten,  teils  angekauften  Thiemschen  Sammlung 
aus  San  Remo.  Die  bedeutendsten  Bilder  der  Wesen¬ 
donckschen  Gruppe  sind  wohl  die  schöne  Landschaft 
von  Patinir,  die  durch  verschiedene  Leihausstellungen 
der  letzten  Jahre  bekannt  geworden  ist,  eine  Backstein- 
riiine  am  Fluß  von  Ruysdael,  die  der  berühmten  Dres¬ 
dener  Ruine  an  Wirkung  nahe  kommt,  ein  ziemlich  frühes 
Bild  von  Adriaen  van  Ostade,  Tanz  vor  einem  Bauern¬ 
hause,  in  das  ein  zuschauendes  Ehepaar  von  anderer 
Hand  hineinporträtiert  ist,  und  schließlich  eine  kleine 
scharf  beleuchtete  Dorfstraße  von  Hobbema.  Daneben 
spielen  Sittenbilder  der  Art  des  Steen  und  Metsu  die 
Hauptrolle.  Die  Sammlung  ist  in  dem  ersten  oder, 
wenn  man  will,  letzten  Kabinett  der  niederländischen 
Seite  untergebracht.  Man  muß  durch  dies  weniger  gut 
beleuchtete  Zimmer  hindurch,  wenn  man  sich  zuerst 
zum  Eyckkabinett  begibt. 

Die  Sammlung  Thiem  befindet  sich  dagegen 
in  der  italienischen  Abteilung,  hinter  dem  Tiepolo- 
zimmer.  Ihr  Glanzstück  ist  das  imposante  van 
Dycksche  Frauenporträt  aus  seiner  Genueser  Zeit, 
eine  Marchesa  Spinola,  die,  in  ganzer  Gestalt  sichtbar, 
nach  links  schreitet,  den  Fuß  auf  eine  Stufe  setzt 
und  dadurch  an  Bewegung  und  Grandezza  gewinnt. 
Es  ist  dies  ein  Geschenk  des  bisherigen  Besitzers. 
Bekannt  durch  die  Brügger  Ausstellung  ist  von  den 
anderen  Bildern  ein  kleines,  aber  sehr  charakteristisches 
Bild  von  Dirk  Bouts,  Christus  im  Hause  des  Simon. 
Sonst  bilden  den  größten  Bestandteil  die  mannig¬ 
faltigsten  Stilleben  von  Fyt,  Mignon,  Kalf,  Heda, 
Snyders,  auch  von  dem  aus  der  Abteilung  schon  als 
Rembrandtischer  Historienmaler  bekannten  Horst. 
Nach  der  Richtung  des  Stillebens  hin  wird  die  Galerie 
durch  diese  Erwerbung  also  ganz  wesentlich  vermehrt 
und  ergänzt. 

Die  gesamte  niederländische  Sammlung  kommt 
so  in  den  neuen  Räumen  zur  allerbesten  Ent¬ 
faltung,  in  künstlerischer  wie  in  kunstgeschichtlicher 
Hinsicht  wird  ihr  die  Aufstellung  gerecht.  Überall 
ist  man  auf  zentrale  Gruppierung  ausgegangen  mit 
möglichst  symmetrischer  Flächengliederung  durch  Bil¬ 
der,  die  sich  in  der  Größe  entsprechen.  Es  ist  das 
ein  in  der  Aufstellung  ganz  klar  waltendes  Prinzip, 
das  besonders  den  Wert  hat,  daß  es  eine  gewisse 


Ruhe  für  das  Objekt  und  für  den  Beschauer  zur 
Folge  hat,  die  für  die  Würdigung  alter  Kunst  an¬ 
gebracht  ist.  Ein  kleiner  Teil  der  früher  sichtbaren 
Bilder  ist  allerdings  wieder  ins  Depot  gewandert, 
und  man  wird  gelegentlich  dies  oder  jenes  vergeb¬ 
lich  suchen.  Aber  selbst  in  den  neuen  erweiterten 
Räumen  ist  es,  wenn  man  die  Wände  nicht  mit  Bil¬ 
dern  austapezieren  will,  unmöglich,  den  ganzen  Be¬ 
sitz  auszustellen,  einschließlich  alle  Bilder  vierten  und 
fünften  Ranges.  Das  künstlerische  Niveau  der  Samm¬ 
lung  würde  dadurch  auch  nur  erniedrigt  werden  und 
das  Publikum  geschädigt  durch  den  Dienst,  den  man 
dadurch  den  Kunsthistorikern  erwiese.  Ein  beständiger 
Kampf  herrscht  zwischen  den  beiden  Wünschen,  den 
Eindruck  der  Bilder  durch  Isolierung  und  freiräumiges 
Hängen  zu  heben  und  andererseits  das  nicht  ganz 
auf  der  Höhe  Stehende  aber  doch  Sehenswerte  nicht 
zu  verstecken.  Über  das,  was  zur  Ausstellung  kommt, 
ist  natürlich  in  erster  Linie  die  Qualität  entscheidend, 
bei  den  minderwertigen  Stücken  dagegen  kommen 
andere  Rücksichten  mit  in  Frage,  eine  Richtung  oder 
ein  gegenständliches  Gebiet  sind  gerade  beliebter 
als  andere,  oder  zu  einem  ausgestellten  Bild  ist 
ein  Gegenstück  nötig  von  gleicher  Größe,  von 
gleicher  Farbe  oder  gleichem  Sujet.  So  kann  man 
bei  diesen  Sachen  keinen  ganz  festen  Maßstab  ansetzen. 
Irgend  etwas  Wesentliches  aber  fehlt  in  der  neuen 
Aufstellung  nicht.  Der  Besucher  wird  seine  alten 
Bekannten  fast  alle  wieder  entdecken  und  neue  dazu, 
und  er  wird  fast  alles  besser  sehen  können  und 
das  meiste  wirkungsvoller  und  lehrreicher  gruppiert 
finden. 

Daß  ein  solches  Resultat  erreicht  worden  ist,  ist 
allein  das  Verdienst  von  Wilhelm  Bode,  und  zwar 
nicht  nur  durch  diese  letzte  Aufstellung  selbst,  son¬ 
dern  durch  eine  lange  glänzende  Vorarbeit,  die  in 
den  letzten  fünfundzwanzig  Jahren  die  Zahl  der  Bilder 
ersten  Ranges  wohl  um  das  Doppelte  vermehrte.  Die 
Vlamen  der  ursprünglichen  Oranischen  Erbschaft,  die 
Holländer  der  Suermondt- Sammlung,  waren  gering 
im  Vergleich  zu  der  jetzigen  Fülle.  Die  Hälfte  der 
Rembrandtbilder,  und  zwar  die  unvergleichlich  schönere 
Hälfte  ist  Bodes  Erwerbung,  ebenso  der  schönste 
Rubens  (die  Andromeda)  und  der  schönste  Hals 
(Oosdorp).  Die  Sammlung  verdankt  ihm  ihre  Ab¬ 
rundung  und  eine  gewisse  Gleichmäßigkeit,  und  bei 
den  Ankäufen  wird  oft  das  Zukunftsbild  einer  neu 
zu  schließenden  Gruppe  der  Antrieb  gewesen  sein. 

Wichtige  Künstler,  besonders  aus  der  Frühzeit, 
sind  dadurch  erst  in  die  Lücken  eingerückt,  wie  der 
bis  dahin  unbekannte  Älteste  unter  den  holländischen 
Malern,  Ouwater,  dann  Geertgen  van  Sint  Jans,  der 
Meister  von  Flemalle,  Hugo  van  der  Goes,  von  an¬ 
deren  Malern  werden  Phasen  ihrer  Kunst  vorgeführt, 
die  noch  nicht  vertreten  waren.  Die  neue  Madonna 
von  Lucas  van  Leyden  zeigt  ihn  erst  auf  der  Höhe 
seiner  Wirksamkeit,  die  Rubenssche  Kunst  wird  nacli 
der  frühen  und  späten  Zeit  hin  ergänzt,  das  Bild  der 
Sittenmaler  aus  der  Blütezeit  wird  viel  reicher,  das 
Stilleben  in  seiner  Vielseitigkeit  überhaupt  erst  deir 
Beschauer  geboten. 


10* 


76 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


iManche  Galerien  haben  schönere  Gemälde  als  die 
Berliner,  aber  wohl  keine  entrollt  ein  so  vollständiges 
Bild  der  gesamten  holländisch-belgischen  Kunst,  keine 
auch  kann  sich  in  ihrer  Aufstellung  so  fest  ge¬ 
schlossener  Kreise  rühmen. 

Es  war  gewiß  eine  große  Erschwerung,  daß  seit 
Monaten,  während  der  meisten  Zeit  der  Neuordnung, 
Herr  Geheimrat  Bode  an  das  Bett  gefesselt  war  und 


es  bedurfte  sicher  einer  ganz  besonderen  Sorgfalt  der 
ausführenden  Kräfte,  die  Intentionen  und  Wünsche 
des  Direktors  ungeschmälert  in  die  Tat  umzusetzen. 
Wird  diese  Tat  für  Bode  selbst  auch  wieder  nur  ein 
Übergang  sein  zu  neuen  Dingen,  der  Besucher  kann 
jetzt  erst  einmal  darangehen,  die  alten  Bilder  in 
frischer  Weise  anzuschauen  und  damit  neue  Freuden 
zu  genießen.  adoi.ph  goldschmidt. 


IX.  DIE  ITALIENISCHEN  GEMÄLDE 


Die  italienische  Abteilung  der  Gemäldegalerie  hat 
sich  vielleicht  am  stärksten,  ihrem  Eindruck  nach,  ver¬ 
ändert.  Holländische  Bilder  verlangen  gutes  Licht 
und  verständige  Anordnung,  das  übrige  spielt  daneben 
eine  geringere  Rolle.  Die  italienischen  Gemälde  der 
Renaissance  verlangen  aber  außerdem  noch  mehr.  Sie 
sind  weniger  isolierte  Kunstwerke:  sie  rechnen  mit 
einer  bestimmten  Umgebung,  und,  vor  allem,  sie  sind 
meistens  in  hohem  Grade  architektonisch  empfunden. 
Es  ist  also  klar,  daß  man  für  die  künstlerische  Wir¬ 
kung  dieser  Bilder  durch  die  Andeutung  einer  ent¬ 
sprechenden  Umgebung  und  durch  die  Herausschä¬ 
lung  ihres  architektonischen  Charakters  sehr  viel  tun 
kann.  Für  einen  Rembrandt  etwa  wird  es  nicht  viel 
ausmachen,  ob  man  ihn  in  Gesellschaft  holländischer 
Möbel  sieht,  oder  in  einer  effektvollen  Perspektive  — 
ganz  anders  bei  einem  Andrea  del  Sarto. 

Man  durfte  von  Wilhelm  Bode,  dem  glänzen¬ 
den  Kenner  der  italienischen  Renaissance,  dem  Schö¬ 
pfer  der  wundervollen  Sammlung  italienischer  Pla¬ 
stik,  in  diesen  Richtungen  Hervorragendes  erwarten: 
in  der  Ausstattung  bemerkte  man  seit  Jahren  ein 
systematisches  Hinarbeiten  auf  die  Einrichtung  des 
neuen  Museums,  man  sah,  wie  die  häßlichen  Galerie¬ 
rahmen  verschwanden,  und  durch  schöne  alte  Rahmen 
ersetzt  wurden,  man  wußte,  daß  alte  Marmortüren 
und  prachtvolle  Möbel  für  die  neuen  Sammlungs¬ 
räume  gekauft  wurden;  und  es  ließ  sich  annehmen, 
daß  für  die  architektonische  Anordnung  in  dem  Neu¬ 
bau  die  nötige  Bewegungsfreiheit  gegeben  war. 

Es  sei  gleich  hier  gesagt,  daß  diese  Erwartungen 
in  glänzender  Weise  erfüllt  sind,  daß  etwas  ge¬ 
schaffen  ist,  dem  sich  zur  Zeit  keine  andere  Galerie 
auch  nur  annähernd  vergleichen  läßt. 

Bei  Beurteilung  einer  solchen  Leistung,  bei  der 
hunderte,  ja  tausende  von  Rücksichten  schließlich 
irgendwie  erledigt  werden  müssen,  darf  man  sich 
natürlich  nicht  an  einzelnen  Kleinigkeiten  stoßen, 
Kleinigkeiten  lassen  sich  schon  ändern!  jeder  Be¬ 
sucher  hat  seine  bestimmten  Geschmacksrichtungen 
und  Liebhabereien,  das  eine  Bild  möchte  er  tiefer 
haben,  das  andere  heller,  und  was  sonst.  Und  noch 
anspruchsvoller  sind  die  Gemälde  selbst:  wer  jemals 
ein  Dutzend  gegebene  Bilder  in  einem  gegebenen 
Raume  aufgehängt  hat,  der  weiß,  daß  nach  jeder 
Permutation  wieder  neue  Interessenrichtungen  auf¬ 
tauchen  und  eine  andere  Aufstellung  verlangen. 

Die  Bilder  hängen  jetzt  sehr  viel  freier  und  weit¬ 


räumiger  als  bisher.  Plastische  und  kunstgewerbliche 
Werke  beleben  die  sonst  einförmige  Erscheinung  der 
Bildersäle.  —  Das  alte  Prinzip  der  Symmetrie  hat  man 
beibehalten,  obwohl  ja  der  moderne  Geschmack  die 
freie  Anordnung  vorzieht.  Doch  möchte  gerade  für 
diese  Italiener  eben  wegen  ihres  architektonischen 
Charakters  die  architektonische  Anordnung  berechtigt 
sein.  Daß  in  vereinzelten  Fällen  diese  Rücksicht  auf 
Symmetrie  andere,  feinere  Rücksichten  zurückgedrängt 
hat,  darüber  wird  man  sich  nicht  wundern,  wenn 
man  die  geradezu  stupende  Leistung  bedenkt,  die  hier 
in  wenigen  Wochen  vollbracht  werden  mußte. 

Wo  wir  also  irgend  eine  Lösung  nicht  glücklich 
finden,  werden  wir  uns  mit  ziemlicher  Sicherheit  sagen 
können,  daß  die  Galerieleitung  ganz  derselben  An¬ 
sicht  ist,  daß  jedoch  andere  Momente  wichtiger  waren, 
an  die  wir  nicht  haben  denken  können. 

Diese  Bemerkung  soll  übrigens  nicht  etwa  im 
allgemeinen  zu  milderer  Beurteilung  stimmen,  sie 
bezieht  sich  nur  auf  ganz  vereinzelte  Fälle:  im  all¬ 
gemeinen  hat  die  Anordnung  eine  milde  Beurteilung 
nicht  nötig,  sie  ist  im  Gegenteil  vortrefflich,  und  das 
gerade  in  allen  wesentlichen  Dingen,  die  einen  end¬ 
gültigen  Charakter  tragen.  Solche  vereinzelte  Fälle 
finde  ich  eigentlich  nur  in  dem  ersten  Raum,  durch 
den  man,  vom  großen  Treppenhause  her,  die  ita¬ 
lienische  Abteilung  betritt.  Hier  hängen  einige  er¬ 
lesene  Werke  —  Simone  Martini,  Fra  Angelico,  Ma- 
saccio,  Fra  Filippo  -  ungünstiger,  als  zu  wünschen 
wäre;  der  Grund  liegt  hier  in  der  Art  des  Raumes: 
er  hat  einen  etwas  korridorartigen  Charakter,  und  ist 
nicht  hell  genug,  da  das  Oberlicht  vom  Schatten  der 
großen  Kuppel  getroffen  wird.  Von  allen  übrigen 
Räumen  kann  man  sagen,  daß  die  Bilder  durchweg 
wenigstens  ebensogut  hängen  wie  bisher,  zum  großen 
Teil  jedoch  besser.  Und  man  weiß,  daß  das  außer¬ 
ordentlich  viel  heißen  will. 

Aus  dem  ersten  Saal  (in  dem  übrigens  inter¬ 
essante  Neuerwerbungen  hängen,  Ugo  da  Siena  und 
Giovanni  di  Paolo)  kommen  wir  in  eine  Flucht 
von  neun  Kabinetten  mit  Seitenlicht;  das  fünfte, 
mittlere,  ist  etwas  größer.  Skulpturen  und  kleinere 
Bilder  sind  hier  aufgestellt.  Die  Ausstattung  ist  sehr 
sorgfältig.  Der  Fußboden  ist  mit  Fliesen  belegt,  rot 
und  weiß;  der  Eindruck  der  Farbigkeit  wird  dadurch 
geschlossener,  und  der  Lärm  der  Schritte,  der  gerade 
in  dieser  langen  Flucht  gefährlich  ist,  wird  nicht  so 
stark  sein  wie  auf  dem  Parkett. 


DAS  TIEPOLO-ZIMAIER 


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DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


79 


Das  erste  dieser  Kabinette  enthält  meist  Florentiner 
Gemälde  des  Quattrocento,  die  früher  in  mehreren 
Räumen  verteilt  waren.  Man  wird  selten  so  viel  Kost¬ 
bares  in  einem  kleinen  Zimmer  beisammen  finden; 
doch  ist  es  hier  nicht  meine  Sache,  von  den  Bildern 
selbst  zu  sprechen,  sondern  nur  ihre  Erscheinung  in 
der  neuen  Umgebung  anzudeuten.  Die  alten  Rahmen, 
von  denen  sich  gerade  in  diesem  Kabinett  einige 
besonders  schöne  finden,  wirken  in  der  geräumigeren 
Anordnung  vielfach  besser  als  früher.  Unter  den 
Bildern  stehen  alte  Truhen,  oben  ist  eine  schöne 
alte  Decke  eingebaut.  In  der  Rückwand  ist  die 
prachtvolle  alte  Holztür  aus  dem  Medicipalast  ein¬ 
gesetzt,  die  bisher  in  dem  Cinquecentosaal  eine 
ziemlich  schlechte  Figur  machte;  sie  nimmt  zugleich 
die  Stelle  ein,  an  der  die  Bilder  spiegeln  würden. 
Das  große  Muster  der  Wandbekleidung  schadet  hier 
einigen  Bildern  etwas,  wie  namentlich  der  feinen 
Predella  des  Domenico  Veneziano.  Die  herrliche 
Madonna  des  Verrocchio  hätte  man  vielleicht  gern 
etwas  näher  dem  Fenster.  Die  Seitenwände  der  Ka¬ 
binette  stehen  nämlich  nicht  schräg,  sondern  senkrecht 
zu  den  Fenstern. 

Unsere  Abbildung  zeigt  zwei  Wände  dieses  Ka- 
binettes;  doch  wollen  alle  unsere  Innenansichten  mit 
einem  gewissen  Vorbehalte  vom  Leser  betrachtet  sein: 
alle  Linien  und  Verhältnisse  sind  durch  den  geringen 
Abstand,  der  sich  für  die  Aufstellung  des  photographi¬ 
schen  Apparates  ergab,  verschoben;  und  die  Hauptsache, 
die  Farbe,  fehlt,  die  Farbe  der  Bilder  und  der  Rahmen, 
der  Intarsiatür  und  des  Robbiareliefs,  der  Wandbe¬ 
kleidung  und  des  Fußbodens.  Nur  als  Notbehelf 
sind  also  unsere  Abbildungen  anzusehen. 

Es  folgt  ein  Kabinett  mit  kleineren  Robbiaarbeiten. 
Der  große  Altar  des  Andrea  steht  in  der  sogenannten 
Basilika.  Dafür  kommt  jetzt  die  herbe  und  zugleich 
so  unendlich  feine  Madonna  des  Luca  (sitzend  in 
ganzer  Figur)  wirkungsvoller  heraus  als  früher.  Dann 
ein  Kabinett  mit  Marmorplastik,  namentlich  Donatello. 

Das  nächste  Kabinett  und  der  darauf  folgende 
größere  Mittelraum  enthalten  die  Bronzesammlung, 
deren  Schöpfung  ja  eines  der  vielen  außerordentlichen 
Verdienste  Wilhelm  Bodes  ist.  Diese  Sammlung,  in 
kurzer  Zeit  zu  kaum  übertroffener  Höhe  gebracht, 
führte  bisher,  in  engem,  dunklem  Raume  zusammen¬ 
gedrängt,  ein  embryonenhaftes  Dasein.  Jetzt  ist  sie 
freier  entwickelt,  feine  alte  Möbel  nehmen  sie  auf. 
Von  diesen  wird  man  besonders  bewundern  in  dem 
ersten  Raume  ein  schönes  und  sehr  seltenes  Stück, 
einen  Bücherschrank  (jetzt  vorn  mit  Glas  versehen). 
Die  modernen  Vitrinen  haben  hier  einen  schweren  Stand. 
Als  Raum  ist  der  zweite,  größere,  von  besonders  an¬ 
genehmer  Wirkung;  die  schöne  alte  Decke  stammt 
aus  einem  Palazzo  Pesaro  in  Venedig,  ln  der  Mitte 
steht,  außerordentlich  günstig,  Donatellos  Johannes.  An 
der  langen  Rückwand,  zwischen  zwei  Türen,  ein 
Kamin,  mehrere  größere  Stücke  tragend;  darüber 
das  interessante  Architekturbild  (früher  P.  d.  Francesca 
genannt);  rechts  und  links  Bronzebüsten  des  Cinque¬ 
cento.  An  der  südlichen  Schmalwand  ein  elegantes 
Wandbrett  von  feiner  Farbigkeit,  auf  dem  einige  be¬ 


wegte  Gruppen  stehen,  oben  ein  Wappen  von  schönem 
Ton,  rechts  und  links  alte  Rahmen,  zur  Aufnahme 
von  kleinen  Bronzen  dienend;  in  der  Ecke  Donatellos 
Gonzagabüste  auf  schönem  Sockel  —  eine  Wand 
von  ganz  prachtvoller  Wirkung.  An  den  übrigen 
Wänden  dieser  Bronzezimmer  habe  ich  die  Aufstel¬ 
lung  noch  nicht  vollendet  gesehen.  Bronzen  auf¬ 
zustellen  ist  vielleicht  die  schwierigste  Aufgabe  für 
den  Museumsbeamten,  doch  lag  sie  hier  in  bester 
Hand. 

Das  nächste  Kabinett  enthält  die  Sammlung  James 
Simon,  die  der  bisherige  Besitzer  hierher  geschenkt 
hat.  Es  braucht  nicht  auf  die  Schätze  dieser  Samm¬ 
lung,  wie  etwa  den  Mantegna,  hingewiesen  zu  werden, 
es  sei  hier  nur  betont,  daß  mit  ihr  einige  kunstgewerb¬ 
liche  Gruppen  in  das  Museum  gekommen  sind,  die 
mit  der  sogenannten  hohen  Kunst  Zusammenhängen, 
aber  doch,  bei  der  Abgrenzung  der  Gebiete,  von  der 
Skulpturenabteilung  nicht  gekauft  werden  konnten, 
z.  B.  die  Bronzeglocken,  die  Türklopfer;  unter  ihnen 
ganz  exzellente  Stücke.  In  der  Mitte  des  Zimmers 
steht  ein  prachtvoller  Renaissancetisch. 

Wir  kommen  dann  in  zwei  Kabinette  mit  Plastik, 
meist  in  Marmor,  ln  dem  ersten  hängt  als  Mittel¬ 
stück  der  Nordwand  die  schöne  farbige  Madonna  aus 
der  Sammlung  Hainauer,  von  Frau  Hainauer  jetzt 
hierher  geschenkt.  Der  zweite  Raum  enthält  meist 
oberitalienische  Plastik.  An  der  Decke  Gemälde  von 
Veronese.  (Die  farbigen  stucchi  hängen  im  Erdge¬ 
schoß,  in  einer  langen  Flucht  an  der  Westseite  des 
Gebäudes.) 

Wir  kehren  zurück  in  den  größeren  Bronzeraum 
und  treten  links  in  einen  der  Säle,  gehen  zunächst 
durch  diesen  und  den  folgenden  hindurch  und  wenden 
uns  dann  rechts  in  den  Raffaelsaal. 

Das  ist  ein  mächtiger  Raum;  unten  herum  zieht 
sich  ein  größtenteils  altes  Gestühl,  darüber  hängen 
die  neun  Raffaelteppiche.  Diese  sind  unter  Leitung 
von  Ida  und  Carlotta  Brinckmann  in  jahrelanger, 
unendlich  mühevoller  Arbeit  restauriert  worden.  Der 
Faden  war  vielfach  verdorben,  die  Kette  dadurch  von¬ 
einander  gelöst,  oft  sogar  durchlöchert.  Es  wurden 
nun  alle  schadhaften  Stellen  von  der  Rückseite  her 
mit  einer  durchgehend  gleichen  grauen  Seide  wieder 
befestigt.  So  wurde  einerseits  in  die  alte  Farbigkeit 
nirgends  hineingegriffen,  man  kann  jederzeit  sehen, 
was  neu  ist,  anderseits  haben  die  Teppiche  ihre  alte 
Konsistenz  und  Festigkeit  zurückerhalten  —  eine 
ideale  Art  der  Restaurierung:  Erhaltung,  Rettung  vor 
dem  Verfall  ohne  Eingriff  in  das  Alte. 

Dieser  prachtvolle  Raffaelsaal  wäre  nach  dem  ur¬ 
sprünglichen  Plan  der  Galerieleitung  und  der  Bau¬ 
leitung  der  monumentale  glänzende  Eingang  zur 
Galerie  gewesen;  von  ganz  anderer  Wirkung  als  der 
Eingang  durch  den  nicht  sehr  glücklichen  ersten  Raum, 
von  dem  wir  vorhin  sprachen.  Nach  jenem  Plan 
hätte  die  Haupttreppe  in  den  Raffaelsaal  geführt;  von 
da  tritt  man  dann  auf  einen  Vorraum,  aus  dem  man 
geradeaus  in  die  sogenannte  Basilika  blickt,  während 
sich  rechts  und  links  Durchblicke  eröffnen  von  außer¬ 
ordentlicher  Wirkung:  rechts,  nach  der  niederländi- 


AUS  DEM  BOTTICELLI-SAAL 


SIGNORELLI-SAAL  MIT  DURCHBLICK  IN  DAS  BRONZEZIMMER 


QUATTROCFNTO-KABINETT  MIT  DER  TÜR  AUS  PALAZZO  MEDICI  UND  DEM  RELIEF  ANDREA  DELLA  ROBBIAS 


DER  CINQUECENTO-SAAL  MIT  DEM  OIOVANNINO  MICHELANGELOS 


82 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


sehen  Seite  hin,  auf  den  riesigen,  kürzlich  erworbenen 
Rubens,  Sturz  Pauli,  nach  links,  durch  die  beiden 
vorhin  genannten  Säle  hindurch,  auf  den  herrlichen 
Signorelli,  Pm  und  die  Hirten.  Wir  treten  nun 
also  von  hWr  .us  in  die  beiden  vorhin  durchschrit¬ 
tenen  Säle  in,  oLirch  ein  monumentales  Portal,  ein 
altes  Stück  aus  Florenz,  in  pietra  serena. 

’^otticelli  ist  der  Haupteindruck,  den  uns  der  erste 
Saal  ."'t.  Hie  rechte  Langwand  enthält  hauptsächlich 
Werke  von  Botticelli,  und  nur  in  einer  Reihe,  so  daß 
man  alle  trefflich  sehen  kann.  Das  Mittelstück  ist  der 
Tondo  mit  der  stehenden  Madonna;  es  hat  sehr 
gewonnen  durch  einen  Rahmen,  der  nach  einem 
der  Botticellirahmen  in  den  Uffizien  kopiert  ist.  (Die 
alten  Schinkelrahmen  waren  auch  bei  Rundbildern 
viereckig,  in  den  Ecken  entstanden  natürlich  breite 
Füllflächen,  so  daß  der  harte  Goldton  in  besonders 
großer  Masse  auftrat;  daher  denn  gerade  die  Rund¬ 
bilder,  wo  sie  aus  den  Schinkelrahmen  herausge- 
konnnen  sind,  besonders  gewonnen  haben,  so  der 
Raffaelino  in  dem  ersten  Kabinett.  An  Raffaels 
Terranuova  -  Madonna  kann  man  noch  die  Wir¬ 
kung  des  alten  Rahmens  sehen.)  Für  Botticellis 
prachtvollen,  kräftigen  Altar,  die  thronende  Madonna 
mit  den  beiden  Johannes,  hat  man  den  Rahmen  des 
Ghirlandaio  in  der  Florentiner  Akademie  kopiert  (der 
Spruch  paßt  allerdings  nicht).  Das  Gegenstück  dazu 
ist  der  farbenfreudige  Raffaelino  del  Garbo,  mit  dem 
schönen  (nicht  zugehörigen)  alten  Rahmen.  Als 
Abschluß  rechts  und  links  die  beiden  nackten  Figuren 
von  Botticelli,  Venus  und  Sebastian. 

Das  Mittelstück  der  gegenüberliegenden  Langwand 
ist  wieder  ein  Tondo  von  Botticelli,  aus  der  Samm¬ 
lung  Raczinsky.  Es  ist  ein  großes  Verdienst  Bodes, 
daß  dies  Bild  nicht  mit  nach  Posen  gekommen  ist. 
Der  Rahmen  ist  ebenfalls  nach  einem  alten  Botticelli¬ 
rahmen  kopiert,  der  sich  in  England  befindet.  Dies 
außerordentliche  Bild  wirkt  farbig  sehr  glücklich,  da 
ein  etwas  matter  Ghirlandaio  darüber  hängt,  die 
weißen  Lilien  kommen  ganz  wundervoll  heraus.  Ein 
kleines  Bild  der  Verkündigung  von  Botticelli  ist  aus 
Kassel  zurückgekommen;  nicht  hervorragend,  aber  die 
Reihe  in  wünschenswerter  Weise  vervollständigend. 
Man  wird  auch  sonst  gerade  in  den  größeren  Sälen 
manche  Bilder  finden,  die  früher  aus  der  Galerie  aus¬ 
geschieden  waren,  entweder  in  den  Berliner  Depots 
standen,  oder  an  kleinere  Sammlungen  abgegeben 
waren.  Manche  strenge  Richter  werden  das  bedauern, 
das  Niveau  für  geschädigt  halten.  Im  allgemeinen 
finde  ich  das  nicht,  wenn  man  auch  das  eine  oder 
andere  Stück  entbehren  könnte,  z.  B.  in  diesem  Saal 
den  Cassone,  der  aus  dem  Kunstgewerbemuseum 
zurückgekommen  ist.  Doch  wird  wohl  manches  aus 
äußeren  Gründen  aufgehängt  sein,  weil  es  an  einem 
anderen  geeigneten  Gegenstück  oder  dergleichen  fehlte, 
bei  späterem  Umhängen,  infolge  von  Ankäufen  etwa, 
wird  man  solche  Stücke  wieder  ausscheiden  können. 

Aus  dem  Botticellisaal  gehen  wir  in  den  nächsten, 
an  dessen  östlicher  Schmalwand  der  Pan  des  Signo¬ 
relli  hängt,  zwischen  zwei  alten  Türen  aus  Bergamo. 
Beim  Heraustreten  aus  dem  Raffaelsaal  fiel  ja  unser 


Blick  schon  auf  diese  Wand.  Der  Saal  enthält  Umbrer 
und  Oberitaliener.  Aus  dem  Depot  ist  eine  Anbetung 
von  Palmezzano  hierher  gekommen.  Neu  erworben 
sind  zwei  interessante  Predellen  von  Parentino. 

Diese  beiden  Säle,  der  Botticelli-  und  der  Signo* 
rellisaal,  sind  durch  eine  sehr  breite  offene  Tür  ver¬ 
bunden,  ein  äußerst  glückliches  Motiv;  die  Mittel¬ 
perspektive  ist  frei,  man  empfindet  beide  Säle  noch 
als  einen  großen  Raum,  ohne  doch  die  Bilder  an 
den  Langwänden  gleichzeitig  zu  sehen,  so  daß  nicht 
die  unendlich  langen  magazinartigen  Bilderwände  ent¬ 
stehen,  wie  sie  etwa  die  großen  Wiener  Säle  zeigen. 

Wir  wenden  uns  vor  dem  Signorelli  links  in 
einen  langen,  etwas  dunklen  Saal.  In  der  Perspektive 
hängt  Turas  großes  Meisterwerk;  darunter  steht  eine 
prachtvolle  Cassapanca.  Die  Mittelslücke  der  Lang¬ 
wände  bilden  Costa  und  Francia.  Auch  hier  sind 
einige  Bilder  aus  dem  Depot  wieder  erschienen.  Das 
interessante  Bild  Nr.  go  A,  der  sogenannte  Tomrnaso 
di  Stefano,  ist  aus  beträchtlicher  Höhe  herabgestiegen 
und  kann  jetzt  studiert  werden.  —  Neben  dem  Tura 
führt  links  eine  Türe  in  einen  kleinen  Raum  mit 
lombardischen  Bildern. 

Wir  kehren  in  den  Signoreil isaal  zurück,  da  er¬ 
öffnet  sich  wieder  eine  Perspektive,  in  rechtem  Winkel 
zur  Achse  des  Botticelli-  und  Signorellisaales;  durch 
zwei  Säle  hindurch,  die  ebenso  wie  die  beiden  ge¬ 
nannten  durch  eine  breite  Tür  halb  getrennt,  halb 
verbunden  sind,  sieht  man  den  großen  Luigi  Vivarini. 
Man  hat  diesem  einen  Rahmen  gegeben,  der  mit  der 
gemalten  Architektur  im  Bilde  zusammengeht,  in  der 
Art,  wie  es  bei  erhaltenen  venezianischen  Rahmen 
der  Zeit  bekannt  ist.  Es  ist  kaum  zu  glauben,  wie 
das  Bild  durch  diese  zwei  Momente  gewinnt,  den 
Rahmen  und  die  Perspektive,  in  der  es  hängt:  die 
Tiefe  und  die  Architektonik  des  Bildes  sind  außer¬ 
ordentlich  gesteigert. 

Der  erste  der  beiden  Räume  enthält  besonders 
viele  ungewohnte  Bilder.  Vor  allem  ist  der  schöne 
Montagna  zu  nennen,  der  vor  einiger  Zeit  in  London 
erworben  wurde,  aber  noch  nicht  ausgestellt  werden 
konnte.  Dazu  ein  großer  Marcello  Fogolino,  ein  be- 
zeichneter  Vincenzo  Foppa,  zwei  Bilder  von  Sacchi, 
dann  Ferramola,  Francesco  Morone  und  ein  be¬ 
sonders  glücklicher  Mazzuola,  diese  alle  bisher  im 
Depot;  ferner  eine  Himmelfahrt  von  Giolfino,  aus 
Kassel  zurückgekonnnen,  ein  »Monsignori«  aus  Breslau; 
ebendaher  ein  Pseudo-Boccacino,  aus  Königsberg  ein 
Basaiti. 

Der  nächste  Saal,  der  also  mit  dem  Vivarini  an 
der  Schmalwand  abschließt,  enthält  die  größeren  ve¬ 
nezianischen  Bilder  der  Bellinizeit.  Die  westliche 
Langwand  ist  besonders  glänzend.  In  der  Mitte  das 
herrliche  dreiteilige  Bild  vom  Pseudo-Basaiti,  links 
davon  der  große  Carpaccio  (Stephanlegende)  in  einem 
äußerst  feinen  alten  Rahmen,  dann  die  thronende 
Madonna  von  Cima;  rechts  von  der  Milte  der  leuch¬ 
tende  Crivelli  aus  der  Sammlung  Dudley,  endlich 
Cimas  Ansanus.  Wer  die  Bilder  kennt,  wird  sich 
aus  dieser  Tafelordnung  einen  ungefähren  Begriff  von 
der  vornehmen  und  prachtvollen  Wirkung  dieser  Wand 


DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


83 


machen  können.  Neben  der  breiten  Tür  hängt  eine 
Himmelfahrt  der  Maria  Magdalena,  in  der  Art  des 
Cima,  bisher  im  Depot.  An  der  östlichen  Langwand 
sieht  man  ein  ziemlich  geringes  Polyptichon  »aus  der 
Werkstatt  der  Vivarini«,  ebenfalls  aus  dem  Depot. 
Diese  Wand  ist  unterbrochen  durch  eine  in  Aufbau 
und  Durchführung  sehr  geschmackvolle  alte  Tür  aus 
Genua,  mit  einem  hl.  Georg  in  Relief.  Sie  führt  in 
die  Reihe  der  Kabinette  zurück,  und  zwar  in  das 
letzte  Kabinett  mit  den  kleineren  venezianischen 
Bildern. 

Dies  steht  auf  demselben  außerordentlich  hohen 
Niveau  wie  das  florentinische  Kabinett  am  Anfang 
der  Reihe.  Zwei  kostbare  Gemälde  von  Bellini  sind 
die  Mittelstücke  der  beiden  Seitenwände:  die  Be¬ 
weinung  und  die  Auferstehung,  diese  in  dem  feinen 
alten  Originalrahmen.  An  der  Rückwand  hängt  eine 
neuerlich  vom  Museumsverein  erworbene  Madonna 
von  Maineri. 

Die  Reihe  der  Kabinette  mündet  hier  in  den  Cin¬ 
quecentosaal.  Durch  die  Tür  fällt  schon  der  Blick 
auf  den  reizenden  Giovannino  des  Michelangelo,  der 
die  Mitte  der  Schmalwand  einnimmt.  Doch  führt 
keine  Perspektive  auf  ihn  zu  wie  früher,  das  ist  auch 
besser,  da  er  nicht  monumental,  architektonisch  ge¬ 
dacht  ist,  sondern,  wie  man  heute  sagen  würde,  intim. 
Man  hat  ihm  durch  ein  Stück  roten  Stoffes  einen 
besonders  warmen  und  brillanten  Hintergrund  ge¬ 
geben,  doch  scheint  mir  dieser  in  Farbe  und  Muster 
zu  verwandt  mit  der  Wandbekleidung,  man  wird 
wohl  mit  der  Zeit  etwas  besseres  finden.  Auch  einen 
schöneren  und  leichteren  Sockel  verdient  diese  wunder¬ 
volle  Figur.  Rechts  und  links  von  ihr  hängen  Por¬ 
träts  von  Franciabigio  und  Bronzino,  das  letztere  eins 
der  raffiniertesten  Werke  der  Florentiner  Hochrenais¬ 
sance,  gerade  im  Kolorit,  so  sehr  wir  auf  den  vene¬ 
zianischen  und  holländischen  Ton  eingeschult  sind. 
Über  diesen  Porträts  zwei  große  Relief  -  Madonnen 
der  Hochrenaissance,  in  den  Ecken  Marmorbüsten, 
(ln  der  Abbildung  ist  die  schöne  Proportion  verzerrt, 
in  der  diese  Stücke  zueinander  stehen.)  Eine  pracht¬ 
volle  Wand! 

An  der  Schmalwand  gegenüber  die  beiden  Cor¬ 
reggios,  und  in  der  Ecke,  neben  der  Tür,  Michel¬ 
angelos  Apollo,  sehr  glücklich  aufgestellt.  Die  west¬ 
liche  Langwand  ist  durch  eine  Tür  geteilt;  auf  der 
einen  Hälfte  die  Raffaels,  wie  in  einer  Parade:  aus 
einiger  Entfernung  gleichen  sie  sich  mehr  als  man 
es  bei  einem  erfindungsreichen  Künstler  erwartet. 
Man  hätte  sie  ja  leicht  auseinander  hängen  können: 
doch  wird  der  Kundige  an  dieser  kleinen  Bosheit 
gegen  den  verehrten  Meister  seine  kleine  Freude  haben. 

An  der  östlichen  Langwand  hängt  in  der  Mitte 
der  schöne  große  Sarto,  rechts  und  links  wieder  zwei 
Porträts,  Franciabigio  und  Bronzino,  in  feinen  Rahmen 
aus  der  Zeit,  unter  ihnen  die  beiden  wundervollen 
figurenreichen  Truhen,  die  seit  einigen  Jahren  in  dem 
Oberlichtsaal  der  bisherigen  plastischen  Abteilung 
standen;  in  der  Mitte  des  Raumes,  vor  dem  Sarto 
also,  ein  graziöser  Tisch  und  eine  Schale  darauf  — 
wie  das  alles  zusammengeht! 


Man  muß  nur  an  den  alten  Cinquecentoraum 
denken,  um  sich  den  Fortschritt  klar  zu  machen. 
Diese  vielen  großfigurigen  Bilder,  von  denen  doch 
jedes  allein  seine  eigene  Nische  haben  wollte,  jetzt 
hat  man  einen  Teil  in  andere  Säle  gegeben,  einen 
Teil  in  die  sogenannte  Basilika,  und  hat  so  einen 
Raum  geschaffen,  der  das  Cinquecento  in  günstigster 
Weise  zeigt.  Mit  alten  Räumen  wie  der  Farnesina 
oder  den  Stanzen  darf  man  ihn  natürlich  nicht  ver¬ 
gleichen,  aber  man  denke  an  Museen,  und  da  wird 
man  sich  an  nichts  ähnliches  erinnern.  Wie  wunder¬ 
voll  erscheint  jetzt  der  Sarto!  Und  nun,  ein  förm¬ 
licher  Effekt:  wir  gehen  durch  die  Tür  nach  Westen 
in  den  nächsten  Saal,  den  Tiziansaal,  und  drehen  uns 
nach  dem  Sarto  herum,  da  steht  er  eingerahmt  von 
einer  mächtigen,  in  Weiß  und  Schwarz  gehaltenen 
Cinquecentotür  (aus  Venedig):  wie  wirken  da  die 
architektonischen  Eigenschaften  des  Bildes,  die  großen 
Linien  und  die  feine  Verteilung  der  Massen! 

Der  Tiziansaal  enthält  die  bekannten  Werke  Tizians, 
von  denen  die  Lavinia  als  Mittelstück  einer  Langwand 
für  mein  Gefühl  besser  wirkt,  kleiner  und  daher 
feiner  als  früher  in  dem  Kabinett.  Die  beiden  kunst¬ 
geschichtlich  interessanten  Waldlandschaften  von  Schia- 
vone,  früher  in  ihrer  Höhe  nicht  zu  sehen,  können 
jetzt  studiert  werden.  Ferner  hängen  hier  Moretto, 
Sebastiano  del  Piombo,  Lotto  usw.  An  der  west¬ 
lichen  Schmalwand  die  prachtvolle  Verkündigung  von 
Tintoretto,  die  vor  einigen  Jahren  gekauft  wurde, 
aber  wegen  Raummangels  nur  kurze  Zeit  ausgestellt 
werden  konnte. 

Zwei  schmale  Türen  führen  rechts  und  links  von 
diesem  Bilde  in  den  Barocksaal.  Sie  sind  nach 
diesem  hin  verkleidet  mit  alten  Marmortüren  aus 
Venedig  von  sehr  lebendiger  Wirkung:  im  Grund¬ 
ton  hellbräunlich,  gehoben  durch  schwarz,  rot 
und  weiß;  in  der  Form  lebhaft,  oben  mit  einer 
Vase  schließend.  Zwischen  diesen  eleganten  Türen 
posiert  der  famose  Feldhauptmann  Borro,  der  also 
jetzt  von  den  Spaniern  zu  den  Italienern  versetzt 
ist;  rechts  und  links  davon  zwei  Marmorbüsten,  die 
eine  erst  kürzlich  erworben  (Kardinal  Tesla  von  Al- 
gardi).  Auch  diese  Wand  ist  von  äußerst  charakte¬ 
ristischer  und  prachtvoller  Wirkung.  —  Im  übrigen 
sind  in  diesen  Barocksaal  wieder  eine  ganze  Anzahl 
interessanter  Bilder  aus  dem  Depot  zurückgekommen: 
zwei  große  Caravaggios,  Matthäus  und  Grablegung; 
der  sogenannte  Sebastiano,  Beweinung,  den  Hermann 
Grimm  gelegentlich  für  das  schönste  Bild  der  Galerie 
erklärt  hat.  Südlich  führt  eine  Tür  in  das  Tiepolo- 
zimmer,  einen  kleinen  hellen  Raum,  ganz  mit  Gri- 
saillen  Tiepolos  von  174g  ausgestattet,  die  man  aus 
einer  Villa  bei  Vicenza  hierher  übertragen  hat;  sehr 
interessant  in  der  Technik,  und  in  der  heiteren  lichten 
Wirkung  zeigend,  wie  man  sich  in  diese  späten  Ar¬ 
beiten  hineinempfinden  soll,  ganz  anders  als  in  die 
Werke  des  Quattrocento  und  des  Cinquecento. 

Damit  beenden  wir  unseren  Rundgang.  Rundgang 
ist  freilich  nicht  das  richtige  Wort,  unser  Weg  war 
nichts  weniger  als  rund.  Der  Leser,  der  den  Bau 
nicht  kennt,  wird  von  der  Konfiguration  der  Räume 


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DAS  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


einen  höchst  konfusen  Eindruck  haben.  Man  hat  so¬ 
gar  ganz  ruhig  mit  dem  großen  Vivarini  eine  Tür  zu¬ 
gestellt,  um  die  schöne  Perspektive  zu  benutzen;  will 
man  von  hier  jetzt  weiterkommen,  in  den  Tiziansaal, 
so  muß  man  dreimal  um  die  Ecke  biegen.  Aber 
für  die  Wirkung  der  Sammlung  ist  dieser  unregel¬ 
mäßige  Grundriß  (den  man  gewiß  viel  tadeln  wird) 
sehr  günstig,  die  Räume  verlieren  so  das  Kasernen¬ 
mäßige,  die  Bilder  scheinen  nicht  die  fatale  Re¬ 
signation  zu  haben,  mit  der  sie  uns  in  anderen 
Galerien  anschauen.  Jeder  Raum  hat  seinen  eigenen 
Charakter.  Wer  möchte  in  seinem  Gedächtnis  etwa 
den  ersten  und  zweiten  Venezianer-Saal  der  Wiener 
Galerie  auseinander  halten,  wenn  er  es  nicht  beson¬ 
ders  memoriert  hat?  Wie  belebend  wirkt  hier  der 
Wechsel  der  Perspektiven,  dasUmbrechen  derRichtungs- 
achsen! 

Und  diesen  Vorzug  des  komplizierten  Grundrisses 
hat  man  gesteigert  durch  die  Anbringung  der  Türen. 
Sonst  findet  man  die  Schmalseiten  der  Galeriesäle  von 
gleichmäßigen  monumentalen  Türen  durchbrochen, 
gerade  in  der  Mitte,  wo  das  beste  Licht  ist.  Hier 
dagegen  hat  man  die  schönen  Flächen  und  Perspek¬ 
tiven  gerettet,  nur  in  den  beiden  vorhin  genannten 
Fällen  ganz  breite  Wandöffnungen  gegeben,  sonst 
kleine  Türen,  bald  an  einer  Seite,  bald  an  zwei  Seiten 
einer  Wand. 

Gewiß,  man  hat  im  Münchener  Nationalmuseum 
auch  lauter  individuelle  Räume  geschaffen,  sehr  viel 
individueller  als  in  Berlin,  und  in  wechselvoll  be¬ 
wegtem  Grundriß,  und  hat  dabei  trotzdem  eine  gleich¬ 
mäßige  Richtung  für  das  Durchtreiben  der  Masse  be¬ 
wahrt.  Aber,  wenn  es  auf  dies  Durchtreiben  nicht 
ankommt,  so  scheint  es  mir  doch  besser,  daß  der 
Besucher  auch  Quer-  und  Diagonalbewegungen  in 
dem  Gebäude  ausführen  kann,  nach  seinem  Geschmack, 
daß  er  von  einem  Raum  zu  irgend  einem  anderen 
nicht  immer  die  Zwangsreihe  durchlaufen  muß. 

Uber  die  architektonischen  Formen  im  einzelnen 
habe  ich  mich  nicht  zu  äußern.  Im  alten  Bau  waren 
sie  so  diskret  und  distinguiert,  daß  hierin  eine  Ver¬ 
besserung  nicht  möglich  war.  Ob  die  Heizkörper 
in  den  Sälen  von  gefälliger  Form  sind,  das  vermag 
nur  ein  Architekt  zu  beurteilen,  jedenfalls  sind  sie  zu 
hoch;  man  wird  hier  wohl  bald  eine  andere  Lösung 
der  schwierigen  Heizfrage  finden.  Die  wichtigste  Auf¬ 
gabe  des  Museumsarchitekten  ist  die  Zuführung  des 
Lichtes,  und  das  Licht  ist  durchweg  stärker  als  früher, 
außer  in  den  Räumen ,  die  der  Kuppelschatten  trifft. 
Ob  ein  modernes  Monumentalgebäude  auch  ohne 
Kuppel  möglich  ist,  diese  Frage  wage  ich  nicht  auf¬ 
zurollen. 

Die  weitere  Ausstattung,  die  der  Galerieleitung  zu¬ 
kommt,  ist  in  ihren  Prinzipien  zum  Teil  bereits  be¬ 
kannt.  Da  ist  einmal  die  Verwendung  alter  Rahmen, 
die  man  ja  meist  schon  früher  gesehen  hat,  die  aber 
jetzt  durchweg  noch  besser  wirken;  dann  die  Ver¬ 
wendung  alter  Möbel,  namentlich  Truhen,  als  eine 
Art  von  Ersatz  für  die  früher  üblichen  Gitter,  um 
Distanz  vor  den  Bilderwänden  zu  gebieten,  zugleich 
um  die  Räume  vornehmer  und  charaktervoller  zu  ge¬ 


stalten;  in  der  alten  plastischen  Abteilung  hatte  man 
ja  schon  damit  angefangen. 

Anders  die  Wandbekleidung.  Man  hat  sich,  nach 
jahrelangen  Proben  und  Überlegungen,  schließlich  dazu 
entschlossen,  auf  derben  Stoff,  grün  oder  rot,  kräftige 
Muster  aufzuschablonieren,  in  der  bekannten  Münchener 
Art.  Die  gestrengen  Richter  werden  sagen,  diese 
Nachahmung  kostbarer  Stoffe  sei  eine  Fälschung, 
wertvolle  Bilder  darauf  zu  hängen  eine  Sünde.  Aber 
soll  man  diese  Riesenflächen  mit  echten  alten  Stoffen 
bekleiden  —  welcher  Trustkönig  möchte  das  be¬ 
zahlen?  oder  soll  man  ehrlich  sein  und  die  glatte 
Wand  zeigen?  In  Wien  war  man  so  ehrlich,  die 
Wände  einfach  zu  tünchen,  überall  in  einer  Farbe  — 
aber  das  wirkt  tötlich  auf  die  Bilder,  und  wo  einmal 
etwas  mehr  Wand  zu  sehen  ist  als  gewöhnlich,  bei 
der  Madonna  im  Grünen,  von  der  man  die  Nachbar¬ 
bilder  abgerückt  hat,  da  möchte  man  diesen  freien 
Raum  wieder  zu  schließen  dringend  bitten.  Anders 
hier:  die  Bilder  hängen  frei  und  weiträumig,  aber  die 
Wand  gähnt  nicht  dazwischen,  sondern  sie  regt  sich 
und  lebt.  Es  gibt  gewiß  auch  noch  andere  Lösungen 
des  schwierigen  Problems;  aber  daß  zu  echten  Bil¬ 
dern  unbedingt  eine  »echte«  Wandbekleidung  gehöre, 
das  scheint  mir  logisch  nicht  ganz  so  selbstverständ¬ 
lich,  wie  es  hie  und  da  angenommen  wird. 

Wenn  ein  Künstler  in  seinem  Atelier  drei  alte 
Stücke  hat,  und  ein  Menschenalter  hindurch  an  ihrer 
Aufstellung  und  Inszenierung  herumprobiert,  so  wird 
er  vielleicht  Vollkommenes  zustande  bringen.  So 
etwas  dürfte  man  aber  mit  dieser  Galerie  nicht  ver¬ 
gleichen,  man  wolle  vielmehr  an  andere  große 
Galerien  denken,  Bildergefängnisse  wie  man  sie  wohl 
nennt;  in  ihnen  sagt  man  sich  oft:  wenn  das  alles 
ganz  anders  wäre,  dann  müßte  dies  Bild  wundervoll 
wirken.  Die  Räume  dagegen,  die  wir  eben  durch¬ 
schritten  haben,  sind  kein  Gefängnis  und  kein  Ma¬ 
gazin.  Die  Benutzung  der  Perspektiven,  die  geschickte 
Anbringung  der  Türen,  die  Ausstattung  der  Räume 
mit  alten  Decken,  Türverkleidungen  und  Möbeln,  die 
Verwendung  alter  Rahmen,  die  weiträumige  Anordnung 
der  Bilder,  die  Zuziehung  plastischer  Kunstwerke  — 
das  alles  macht  den  Gesamteindruck  oft  geschlossen 
und  behaglich,  immer  sehr  vornehm  und  sehr  gro߬ 
artig.  Und  außerdem  haben  die  einzelnen  Werke 
der  Mehrzahl  nach  viel,  einige  sogar  ganz  außer¬ 
ordentlich  gewonnen. 

Und  nun  zum  Schluß  dieser  »musealen«  Betrach¬ 
tungen,  von  denen  jetzt  die  ganze  Museumswelt  er¬ 
füllt  ist,  eine  höchst  banale,  aber  nicht  zu  vergessende 
Weisheit:  die  Hauptsache  in  einer  Gemäldegalerie 
sind  die  Gemälde.  Und  deren  Lob  zu  singen  ist  hier 
nicht  meine  Sache.  Wenn  ich  vollends  die  Differenz 
gegen  früher  hervorheben  wollte,  schildern  wollte, 
was  unter  der  jetzigen  Direktion,  unter  Wilhelm  Bode, 
für  die  Sammlung  der  italienischen  Malerei  und 
Plastik  geschehen  ist,  so  würde  das  eine  Cumulierung 
von  Lobeserhebungen  erfordern,  die  dem  Nahestehen¬ 
den  nichts  Neues  sagen,  dem  Fernerstehenden  aber 
geschmacklos  scheinen  möchte  —  bis  zur  Unglaub¬ 
würdigkeit.  LUDWIG  JUSTI. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


JAN  VAN  EYCK.  DER  MANN  MIT  DEN  NELKEN 


TSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI 


AUS  DEM  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  BERLIN 


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I 


KÄTHE  KOLLWITZ.  STUDIE  MIT  FEDER  UND  PINSEL 


KÄTHE  KOLLWITZ 

Von  Werner  Weisbach 


Nur  selten  erzählt  die  Geschichte  der  Vergangen¬ 
heit  von  Frauen,  die  in  das  geistige  oder 
künstlerische  Leben  einer  Zeit,  sich  selbst  be¬ 
tätigend,  mit  starker  Hand  eingegriffen  haben.  In 
Deutschland  geschah  es  zum  erstenmal  wohl  in 
weiterem  Umfang  zur  Zeit  der  Romantik  am  Anfang 
des  vorigen  Jahrhunderts.  Die  Anfänge  einer  geistigen 
Emanzipation  der  Frau  datieren  hier  seit  den  Tagen 
der  Romantik. 

Günstiger  als  in  Deutschland  war  weit  früher  die 
Stellung  der  Frau  in  den  romanischen  Ländern;  und 
die  Bildungsmöglichkeiten  für  sie  waren  reichere.  In 
Italien  hat  die  Renaissance  eine  bedeutende  geistige 
Emanzipation  der  Frau  herbeigeführt.  Es  gab  Frauen 
und  Mädchen,  die  in  bezug  auf  humanistische  Bildung 
ganz  auf  der  Höhe  der  Zeit  standen,  die  klassischen 
Sprachen  erlernten  und  mit  den  Männern  in  jeder 
Beziehung  rivalisierend  auch  ihrerseits  das  Ideal  des 
freien  Kulturmenschen  zu  verwirklichen  strebten,  nach 
dem  die  ganze  Epoche  sich  sehnte.  In  die  glanzvolle 
Geschichte  der  Kunst  jener  großen  Zeit  spielen  sie 
fast  nur  in  der  Mäcenatenrolle  hinein;  ausübend  haben 
sie  sich  in  bedeutender  Weise  jedenfalls  nicht  betätigt, 
wenn  sich  auch  einige,  wie  überliefert  ist,  dem 
Künstlerberufe  widmeten  —  doch  nur  ausnahmsweise 
und  ohne  eine  deutliche  Spur  hinterlassen  zu  haben. 

Es  dauerte  lange,  bis  die  Kultivierung  der  Frau 
im  Norden  einen  ähnlichen  Umfang  annahm  wie  da¬ 
mals  im  Süden.  Die  Rolle,  welche  die  Frauen  in 
Deutschland  zur  Zeit  der  Romantik  in  dem  geistigen 
Leben  spielten,  hat  manches  Verwandte  mit  ihrer 
Stellung  in  der  italienischen  Renaissance.  Aufgehalten 
und  zum  Teil  gehemmt  wurde  der  Fortschritt  solcher 
Bestrebungen  durch  eine  Reaktionszeit.  Erst  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  nahmen  die  Frauen  einen 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  4 


neuen  und  weit  stärkeren  Anlauf  auf  allen  Kultur¬ 
gebieten  —  und  gerade  in  den  germanisch-deutschen 
Ländern,  während  das  alte  Kulturland  Italien  zurück¬ 
stand.  ln  Deutschland  haben  sie  begonnen,  sich  auf 
wissenschaftlichem  und  künstlerischem  Gebiet  intensiver 
zu  betätigen,  zum  Teil  mit  dem  Anspruch,  sich  diesen 
Zweigen  als  Lebensberuf  zu  widmen.  Das  Gelingen 
ist  ein  verschiedenes;  ein  maßgebendes  Urteil  läßt 
sich  natürlich  noch  nicht  abgeben.  In  der  Kunst, 
der  bildenden  wie  der  Poesie,  haben  sich  einige, 
in  der  Wissenschaft  und  der  schaffenden  Musik,  so¬ 
viel  ich  weiß,  noch  keine  einen  weiter  klingenden 
Namen  gemacht.  Wenn  die  entsagungsvolle  Hingabe 
an  eine  exakte  Wissenschaft  in  der  Frauenseele  oft 
etwas  —  und  nicht  das  Schlechteste  —  ertötet  oder 
verkümmern  läßt,  so  ist  künstlerische  Betätigung  bei 
der  Frau  nur  die  höchste  Potenz  einer  Entwickelung 
von  Kräften,  die  in  ihrer  Natur  liegen.  Von  Natur 
ist  die  Frau,  ganz  abgesehen  von  dem  Grad  der  Be¬ 
gabung,  in  gewissem  Sinne  Künstlerin;  sie  bringt 
wenigstens  die  Anlagen  dazu  mit.  Sie  ist  die  ge¬ 
borene  Dilettantin.  Selten  ist  in  ihr  der  Kunsttrieb 
so  stark,  daß  sie  ihn  als  Lebenszweck  ansieht  und  mit 
der  Kunstübung  der  Männer  in  Konkurrenz  tritt. 
Und  selten  ist  die  Begabung  so  groß,  daß  eine  solche 
Konkurrenz  von  Erfolg  begleitet  ist. 

Das  ist  aber  der  Fall  bei  der  Zeichnerin  und 
Radiererin  Käthe  Kollwitz,  der  markantesten  Erschei¬ 
nung  unter  den  deutschen  Künstlerinnen  unserer  Zeit. 
Sie  hat  alles  Dilettantische  abgestreift,  und  man  darf 
an  ihre  Werke  den  Maßstab  großer  Kunst  legen. 

Wer  ein  Blatt  von  ihr  zu  Gesicht  bekommt,  würde 
kaum  auf  die  Arbeit  einer  Frau  schließen.  Für  jeden, 
der  ihrem  Schaffen  näher  getreten,  ist  die  Männlich¬ 
keit  ihrer  Kunst  ein  Problem  gewesen. 


86 


KÄTHE  KOLLWITZ 


C  . 


STUDIE  VON  KÄTHE  KOLLWITZ 


Und  steht  man  dann  der  Künstlerin  selbst  gegen¬ 
über  mit  dem  Bilde  von  ihrer  Kunst  im  Innern,  so 
ist  man  überrascht,  eine  bewegliche  Frau  von  kleiner, 
zarter  Statur  vor  sich  zu  sehen,  mit  großen,  milden 
Augen,  die  dem  hartgeschnittenen  Gesicht  etwas  Wei¬ 
ches  verleihen  —  weiblich  in  Allüren  und  Gesinnung. 

Sie  ist  Gattin  und  Mutter,  und  ihre  menschlichen 
und  natürlichen  Pflichten  schätzt  sie  ebenso  hoch  ein 
wie  ihren  Künstlerberuf.  Aber  sie  ist  Künstlerin  mit 
Leib  und  Seele. 

ln  Königsberg  in  Preußen  wurde  Käthe  Schmidt, 
wie  ihr  Mädchenname  lautet,  am  8.  Juli  1867  geboren. 
Ihr  Vater  hatte  sich  ursprünglich  dem  juristischen 
Studium  gewidmet.  Teilnahme  an  der  Bewegung  des 
Jahres  1848  hinderte  ihn,  seine  Studien  fortzusetzen. 
Er  wurde  Maurermeister.  Seine  Verheiratung  mit  der 
Tochter  des  Predigers  Rupp,  des  Gründers  der  frei¬ 
religiösen  Gemeinde  in  Königsberg,  wirkte  auf  seinen 
späieren  Lebensberuf  bestimmend.  Nach  dem  Tode 
seines  Schwiegervaters  übernahm  er  das  Amt  des 
freireligiösen  Predigers. 

ln  einem  Kreise  moderner  Ideen  wuchs  das  junge 
Mädchen  auf.  Ihre  sorgsam  überwachte  Erziehung, 
die  sie  nicht  genug  rühmen  kann,  wurde  davon  be¬ 
einflußt  und  nach  einer  bestimmten  Richtung  geleitet. 
Das  Vaterhaus  umschloß  einen  Kulturkreis,  an  den 
sie  später  anknüpfte. 

Es  erscheint  nur  natürlich,  daß  in  dieser  Um¬ 
gebung  ihrer  schon  früh  erwachenden  Neigung  zum 
Künstlerberuf  keine  Schwierigkeiten  entgegengestellt 
wurden.  Mit  dreizehn  Jahren  gaben  sie  die  Eltern 
zu  dem  Kupferstecher  Mauer  in  Königsberg,  um  sich 
im  Zeichnen  nach  Gips  auszubilden. 

Eine  neue  Welt  eröffnete  sich  ihr  in  Berlin,  wo 
sie  mit  siebzehn  Jahren  ihre  Studien  fortsetzte.  Auf 
den  >akademischen«  Unterricht  in  Königsberg  folgte 
die  freiere,  nach  realistischen  Prinzipien  geleitete  Unter¬ 
weisung  durch  Stauf f er- Bern,  in  dessen  Künstlerinnen¬ 
schule  sie  die  Grundlage  für  ihr  Zeichnen  legte. 
Diese  Lehrmethode  war  ihr  höchst  sympathisch. 
Stauffers  feste,  bestimmte,  mit  stetiger  Zugrundelegung 
der  Natur  und  in  engem  Anschluß  an  sie  geübte 
Zeichenweise  wurde  für  sie  ein  nacheifernswertes  Vor¬ 
bild.  Die  Stärke  seines  Einflusses  lassen  die  frühen 
selbständigen  Arbeiten  der  Künstlerin  deutlich  er¬ 
kennen.  Auch  abgesehen  von  dem  Staufferschen 


Unterricht  bot  ihr  Berlin  maßgebende,  auf  ihre  weitere 
Entwickelung  einwirkende  Anregungen.  Die  Kunst¬ 
ausstellung  des  Jahres  1884  machte  sie  mit  Klingers 
Radierungszyklus  »Ein  Leben«  bekannt.  Seitdem  war 
sie  für  Klingers  Kunst  von  Bewunderung  erfüllt  und 
hat  sie  immer  lebhaft  verfolgt. 

Nach  den  Berliner  Eindrücken  war  es  nur  natür¬ 
lich,  daß  sie,  nach  Königsberg  zurückgekehrt,  sich 
in  den  Unterricht  des  Akademieprofessors  Neide, 
dessen  Kunst  auf  eine  gewisse  Sensationslüsternheit 
spekulierte,  nicht  zu  finden  vermochte.  Das  »Malen« 
unter  seiner  Leitung  befriedigte  sie  nicht;  sie  fühlte, 
daß  sie  hier  nicht  weiter  kam.  Dieser  sie  deprimierende 
Zustand  fand  volle  Teilnahme  und  Verständnis  bei 
ihren  Eltern.  Um  ihm  ein  Ende  zu  machen,  sandten 
sie  die  Tochter  —  was  damals  immerhin  ein  Entschluß 
und  durchaus  nichts  Gewöhnliches  war  —  zu  ihrer 
weiteren  Ausbildung  nach  München.  Hier,  in  den 
Jahren  1888  und  188g,  in  Ludwig  Herterichs  Künst¬ 
lerinnenatelier,  fand  sie,  was  sie  brauchte. 

Wie  auf  jeden  empfänglichen  Menschen,  der  vom 
Norden  kommt,  übte  auch  auf  sie  München  seinen 
Zauber  aus.  Es  liegt  dort  gleichsam  etwas  in  der 
Luft,  was  auf  den  künstlerisch  Veranlagten  faszinierend 
wirkt.  Es  liegt  auch  wirklich  etwas  in  der  Luft,  was 
vermöge  athmosphärischer  Lichtwirkungen  dem  ganzen 
Umkreis  Münchens  einen  so  eigenartigen,  für  das 
Auge  höchst  reizvollen  Anstrich  verleiht.  Welches 
Künstlerauge  genösse  sie  nicht  voll  Entzücken  die 
bedeckten  Tage  im  Frühling  oder  Herbst:  wenn  der 
Wind  Wolkenballen,  deren  Färbung  von  einem  dunklen 
Grau  bis  zu  einem  lichten  Weiß  spielt,  über  den 
Himmel  peitscht,  wenn  plötzlich  ein  Loch  in  dem 
wallenden  Gewoge  sich  öffnet,  durch  das  blendende 
Sonnenstrahlen  Pfeilen  gleich  hervorschießen  und  die 
Gegenstände,  die  sie  treffen,  aus  dem  grauen  Gesamt¬ 
ton  scharf  herausheben,  hell  und  farbig  erglänzen 
lassen.  Und  dann  die  Stadt  selbst  —  namentlich 
wie  sie  damals  noch  war  —  mit  ihrem  ruhigen, 
einheitlichen,  nüchternen  Ensemble,  nur  hier  und  da 
dem  Sehenden  reizvolle  Details  bietend,  gewiß  etwas 
einförmig,  was  der  hastig  durchreisende  nordländische 
Philister  mit  Vorliebe  der  Isarstadt  nachsagt,  aber  auch 
ein  Ort,  an  dem  der  einzelne  sich  auf  sich  selbst  zu 
besinnen  vermag,  wenn  er  durch  die  Straßen  mit  den 
flachen  Häuserfassaden  wandelt,  wo  er  sich  nicht  von 


KÄTHE  KOLLWITZ.  KOHLEZEICHNUNG 


12 


KÄTHE  KOLLWITZ.  DAS  ENDE.  AUS  DEM  WEBERZYKLUS  (RADIERUNG) 


KÄTHE  KOLLWiTZ 

ENTWURF  DER  RADIERUNG  .BAUERNAUFSTAND. 


KÄTHE  KOLLWITZ 


89 


den  wildesten  Vorsprüngen,  Ausladungen  und  Ver¬ 
kröpfungen  massiver  Fronten  bedrängt  fühlt  wie  in 
den  nördlichen  Großstädten.  Und  welch  ein  Leben 
schließt  diese  Stadt  in  sich.  Der  Künstler  bedeutet 
hier  etwas;  er  geht  nicht  unter  im  großstädtischen 
Getriebe.  Er  fühlt  sich  an  seinem  Platz.  Den  ver¬ 
schiedensten  Veranstaltungen,  Festen,  Maskeraden  drückt 
er  seinen  Stempel  auf.  Der  Bohemien  spielt  eine 
Rolle;  er  findet  Gesellschaft  —  und  oft  nicht  die 
schlechteste.  Jeder  einzelne  kann  seinem  Leben  den 
Anstrich  geben,  wie  es  ihm  beliebt.  Daher  die  Bunt¬ 
heit  und  Mannigfaltigkeit  der  Existenzen:  der  »inter¬ 
essante«  Ausländer  und  der  behäbige  Maßkrug¬ 
philister,  Künstler  und  Modelle,  Studenten  und  Musiker, 
angehende  Dichter  und  fertige  Gelehrte.  Alles  hört 
voneinander,  kommt  in  Berührung,  zieht  sich  an  und 
stößt  sich  ab,  wogt  durcheinander  mit  den  verschieden¬ 
sten  Interessen,  Lebensabsichten  und  Zielen.  Auch 
die  Lebenslust  scheint  in  dieser  Luft  zu  liegen.  Und 
wenn  der  Fasching  kommt,  so  vermag  diese  Lust  zu 
bacchantischem  Rausch  und  Taumel  sich  zu  stei¬ 
gern.  —  Wieder  eine  neue  Welt  für  die  junge,  bisher 
immerhin  als  höhere  Tochter  erzogene  Königsbergerin, 
reich  an  Erfahrungen  und  Erlebnissen.  Wenn  sie 
heute  von  jener  Münchener  Zeit  erzählt,  dann  leuchten 
ihre  Augen  in  glücklicher  Erinnerung.  Auch  sie  hatte 
jener  genius  loci  gefangen  genommen.  Anregender 
Verkehr,  den  sie  fand,  wirkte  auf  sie  »wie  frisches 
Wasser«.  Die  Münchener  Eindrücke  sind  ein  köstlicher 
Lebensbesitz  für  sie  und  werfen  noch  jetzt  ihre 
Strahlen  nach  auf  das  bescheidene  Heim,  das  sie  im 
Norden  Berlins  bewohnt.  Für  die  Lust,  die  Freuden 
des  menschlichen  Lebens  ist  die  Schilderin  mensch¬ 
lichen  Elends  durchaus  nicht  unempfänglich. 

Von  München  ging  sie  wieder  nach  Königsberg 
und  arbeitete  hier  in  einem  »handgroßen  Atelierchen«. 
Von  ihrem  früheren  Lehrer  Mauer  ließ  sie  sich  in 
die  Technik  des  Plattengrundierens  einführen.  Aber 
weit  gedieh  dieser  Unterricht  nicht.  Bald,  im  Jahre 
1891,  siedelte  sie  als  Gattin  des  Arztes  Dr.  Kollwitz 
nach  Berlin  über,  ln  ihrer  Kunst  mußte  sie  sich 
nun  selbst  weiterbringen.  Und  dabei  wurde  ihre 
Zeit  nicht  zum  geringsten  durch  die  Sorge  für  zwei 
Kinder,  die  ihr  geboren  wurden,  in  Anspruch  ge¬ 
nommen.  Je  mehr  die  Kinder  heranwuchsen,  desto 
mehr  Zeit  wußte  sie  sich  wieder  für  ihre  Kunst  zu 
erübrigen. 

Diese  Kunst  ist  aus  einer  Strömung  erwachsen, 
die  in  den  achtziger  und  neunziger  Jahren  in 
Deutschland  eine  weitgreifende  Bewegung  hervor¬ 
rief:  dem  Naturalismus.  Zwei  Richtungen  sind  es 
namentlich,  die  sich  aus  dem  Getriebe  des  geistigen 
Lebens  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  als  besonders 
einflußreich  und  folgenschwer  herauskristallisierten: 
eine  naturalistische  und  eine  neuromantische.  Diese 
neue  Romantik  hat  auch  in  einer  Frau  —  auf  literari¬ 
schem  Gebiet  —  eine  hervorragende  und  feinfühlige 
Vertreterin  gefunden,  in  Ricarda  Huch.  Das  Roman¬ 
tische  liegt  der  Natur  der  Frau  jedenfalls  näher.  An 
Käthe  Kollwitz  überrascht  ihr  konsequenter,  kon¬ 
zessionsloser,  nicht  selten  etwas  brutaler  Naturalismus. 


Abgesehen  von  dem  in  ihr  liegenden  Zuge  waren 
es  literarische  Eindrücke,  die  sie  dem  Naturalismus 
zuführten,  ln  Berlin  erlebte  sie  auf  literarischem  Ge¬ 
biet  die  Hochflut  des  Naturalismus.  In  den  Auf¬ 
führungen  der  »Freien  Bühne«  lernte  sie  jung  und 
eindrucksfähig  die  dramatischen  Werke  kennen,  die 
sich  mit  dem  Leben  und  Leiden  der  niedrigen  Volks¬ 
schichten  beschäftigten  und  diese  Kreise  mit  einem 
intimen  Verständnis  realistisch  schilderten,  wie  es  in 
der  Weise  früher  noch  nicht  geschehen  war.  Und 
eine  neue  Art  schauspielerischer  Darstellung  suchte 
den  Anforderungen  dieses  realistischen  Stils  gerecht 
zu  werden.  Eine  hoffnungsfrohe  Begeisterung  für 
den  Naturalismus  beherrschte  die  modernen  literari¬ 
schen  Kreise.  Man  begrüßte  ihn  als  den  Anfang 
einer  neuen  Kunst.  —  Tempi  passati! 

Unsere  Zeichnerin  wurde  in  den  Strudel  dieser 
Begeisterung  mit  hineingerissen.  Da  ihre  Liebe  dem 
Volke  gehörte,  so  zogen  sie  solche  poetischen  Werke 
vor  allem  an,  in  denen  das  Volk,  so  wie  es  wirk¬ 
lich  ist,  bei  seiner  Arbeit  und  in  seinem  Elend,  un¬ 
geschminkt  zur  Darstellung  gebracht  wurde.  Zolas 
Germinal  wurde  ein  Lieblingsbuch  von  ihr.  Den 
größten  Eindruck  machte  ihr  die  Erstaufführung  von 
Gerhart  Hauptmanns  »Weber«  auf  der  »Freien 
Bühne«.  Und  dieser  Eindruck  war  so  nachhaltig, 
daß  er  für  sie  der  Anlaß  wurde,  einen  Zyklus  von 
Radierungen  und  Lithographien  zu  schaffen,  den  sie 
»ein  Weberaufstand«  nannte.  Es  sind  keine  unmittel¬ 
baren  Illustrationen  zu  Hauptmanns  Stück,  sondern 
mehr  freie  Variationen  über  ein  gleiches  Thema. 
Teile  dieses  Zyklus,  die  in  der  Berliner  Großen 
Kunstausstellung  des  Jahres  1898  hingen,  haben  sie 
hauptsächlich  bekannt  und  berühmt  gemacht. 

Auf  den  einzelnen  Blättern  der  Folge  werden 
wir  zunächst  Zeugen  des  Elends  einer  armen,  vom 
Hunger  gequälten,  an  den  Rand  der  Verzweiflung 
gebrachten  Weberfamilie;  wir  erhalten  dann  Einblick 
in  eine  düstere  Stube,  in  der  von  einem  paar  un¬ 
heimlicher,  um  einen  Tisch  sitzender  Gesellen  der 
unheilvolle  Aufstand  geplant  wird;  die  wilde  Horde 
der  Streikenden  zieht  an  uns  vorüber;  wir  erleben 
den  wütenden  Angriff  auf  das  Haus  des  Fabrikherrn; 
das  Schlußblatt  bringt  die  ergreifende  Aufbahrung 
der  Gefallenen  in  einer  Weberstube. 

Zu  größter  Wucht  erhebt  sich  die  Darstellungs¬ 
kunst  der  Zeichnerin,  wenn  sie  erregte  Massenbe¬ 
wegungen  veranschaulicht.  In  ihnen  kommt  der 
blinde  instinktive  Wille,  von  dem  eine  durch  einen 
gemeinsamen  leidenschaftlichen  Impuls  angefeuerte 
Volksmenge  beherrscht  wird,  meisterhaft  zum  Aus¬ 
druck.  Bei  dem  Auszug  der  Streikenden  meint  man 
eine  unsichtbare  Macht  zu  spüren,  welche  die  Massen 
stößt  und  vorwärts  drängt.  Und  in  dem  Massen¬ 
getriebe  nimmt  man  jede  einzelne  Physiognomie  als 
treu  nach  der  Natur  beobachtet  wahr.  Stummer 
Schmerz,  innerlich  verhaltener  Zorn,  wild  aufbrausende 
Verzweiflung  malt  sich  auf  den  Gesichtern  der  ver¬ 
schiedenen  Figuren  und  bestimmt  ihre  Haltung.  Es 
sind  Volkstypen  von  echtem  Schrot  und  Korn.  Ganz 
auf  einen  dramatischen  Moment  zugespitzt  ist  die 


90 


KÄTHE  KOLLWITZ 


Szene,  wie  die  Arbeiter  das  Tor  zur  Villa  des  Fabrik¬ 
herrn  stürmen.  Hier  bildet  der  Gewaltakt  der  Masse 
ausschließlich  das  Darstellungsmotiv.  Die  meisten 
Figuren  kehren  dem  Beschauer  den  Rücken  zu.  Nur 
der  eine  im  Miüelpimkt  der  Menschengruppe  stehende 
Arbeiter  v/endet,  mit  furchtbarer  Gebärde  Steine 
heischend,  sein  wildes,  von  elementarer  Wut  ins 
Tierisf.'  e  verzerrtes  Gesicht  zurück,  auf  dem  gleich¬ 
sam  die  Stimmung  konzentriert  ist,  welche  die  ganze 
Masse  beherrscht. 

Ein  wirkungsvoller 
Kontrasteffekt  ist 
geschaffen  durch 
das  auf  der  rasen¬ 
den  Menge  lastende 
Dunkel  von  Schat¬ 
ten  vorn  und  die 
helle  Front  des  hin¬ 
ter  dem  Gittertor 
sichtbaren,  in  stum¬ 
mer  Ruhe  mit  herab¬ 
gelassenen  Jalousien 
scheinbar  gleich¬ 
gültig  daliegenden 
Herrenhauses.  An 
dieser  Macht  wird 
die  zügellose,  un- 
gebändigte  Kraft  der 
Massen  zerschellen 
—  meint  man  her¬ 
auszulesen.  Der  Vor¬ 
gang  ist  auf  eine 
dramatische  Aktion 
zugeschnitten,  ähn¬ 
lich  wie  in  Klingers 
»Dramen«,  denen 
dieses  Bild  in  der 
Auffassung  teilweise 
verwandt  ist.  Wie 
überhaupt  Arbeiten 
von  Käthe  Koll- 
witz  mit  Klinger- 
schen  Radierungen 
aus  jener  Zeit  auch 
in  der  Technik 
manches  gemein 
haben. 

Das  Problem 
eines  Massenauf¬ 
ruhrs  hat  sie  dann 
noch  öfter  künstlerisch  zu  bewältigen  gesucht.  Der 
Bauernkrieg  bildet  den  Vorwurf  für  zwei  Radierungen 
verschiedenen  Formats,  von  denen  die  frühere  als  der 
kleine,  die  spätere  umfangreichere  als  der  große  Bauern¬ 
krieg  bezeichnet  wird.  Die  vorbereitende  Zeichnung 
der  letzteren,  welche  der  Lichtdruck  verkleinert  wieder¬ 
gibt,  ist  vielleicht  noch  eindrucksvoller  als  die  endgültige 
Fassung  in  der  Radierung.  Von  der  Größe  der 
künstlerischen  Leistung  vermag  nur  das  Original 
eine  volle  Vorstellung  zu  geben.  Als  Furie  des  Auf¬ 
ruhrs  erscheint  hier  das  Weib,  ein  Weib,  vom  Rücken 


FEDERZEICHNUNG  ZU  DER  RADIERUNG  »ZERTRETENE 


gesehen,  aber  durch  das  Übergewicht  der  Masse  dieser 
Rückenansicht,  den  ausdrucksvollen  Kontur,  die  auf¬ 
reizende  Gebärde  der  hochgeschwungenen  Arme  als 
Spiritus  rector  für  die  wild  dahinbrausende,  mit  Dresch¬ 
flegeln  und  Stöcken  bewaffnete  Menge  gezeichnet  und 
ihr  koinpositionell  das  Gleichgewicht  haltend.  Welch 
unvergleichliche  Kraft  steckt  in  dem  Sturm  des  An¬ 
laufs  dieser  Bauern,  einer  vertierten  Horde,  der  niedrige 
Instinkte  jede  menschliche  Regung  von  den  blöden 

Gesichtern  wegge¬ 
blasen,  die  nur  eine 
Tendenz  hat:  vor¬ 
wärts.  Das  Indivi¬ 
duum  bedeutet  hier 
nichts,  die  Masse  ist 
alles. 

Wie  die  Zeich¬ 
nerin  in  genialer 
Weise  die  Massen¬ 
instinktekünstlerisch 
deutlich  zu  machen 
versteht,  so  weiß  sie 
an  der  einzelnen 
Persönlichkeit  über¬ 
zeugend  und  mit¬ 
empfindend  Ele¬ 
mentargefühle  der 
menschlichen  Seele 
zu  künden:  Mutter¬ 
liebe,  tiefes  Wehe 
um  ein  gestorbenes 
Kind.  Sie  weist 
solche  Gefühle  auf 
an  Gliedern  der  nied¬ 
rigen  Volksklassen, 
wo  sie  sich  mög¬ 
lichst  wenig  kompli¬ 
ziert  mit  einer  in¬ 
stinktiven  Unmittel¬ 
barkeit  äußern  und 
infolge  des  engeren 
Zusammenhangs 
dieserKlassen  mit  der 
Natur  wie  elementare 
Gewalten  wirken. 
Nach  dieser  Rich¬ 
tung  liegen  zum  Teil 
ihre  größten  Leistun¬ 
gen.  Einzelnen  der 
ergreifendsten  Blät¬ 
ter  gegenüber  kann  man  sich  des  Eindrucks,  als 
träte  irgend  ein  dumpfes,  das  Geheimnis  alles  Mensch¬ 
lichen  berührendes  Ürgefühl  zutage,  nicht  erwehren. 
Regungen  eines  namenlosen  Schmerzes,  ein  unstill¬ 
bares  Weh,  von  dem  arme,  gequälte  Wesen  durch¬ 
wühlt  werden,  bringt  sie  ohne  jede  Sentimentalität, 
die  ihr  gänzlich  fremd  ist,  packend  zum  Bewußtsein. 
Eine  der  grandiosesten  Erfindungen  ihrer  letzten  Zeit 
ist  die  Mutter  mit  ihrem  toten  Kind  im  Arm,  einem 
animalischen  Schmerz  ganz  hingegeben. 

Mit  einer  leidvollen  Note  klingt  der  Weberzyklus  ■ 


KÄTHE  KOLLWITZ 


93 


KÄTHE  KOLLWITZ.  HAMBURGER  KNEIPE.  (RADIERUNG  MIT  VERNIS  MOU) 


aus.  In  lähmende  Trauer  versunken,  keiner  äußeren 
Erregung  mehr  fähig,  vom  Schicksal  gebeugt  und 
zerknirscht,  steht  das  Weib  in  der  Weberwerkstatt 
und  brütet  vor  sich  hin,  während  man  einen  Leichnam 
nach  dem  andern  zur  Tür  hereinbringt  und  vor  ihr 
aufbahrt  —  >Das  Ende«  (Abb.  S.  88).  —  Bedrückung 
durch  unabwendbares  Leid,  das  bis  zum  Rande  des 
Todes  führt,  gibt  den  Vorwurf  ab  für  die  Radierung 
»Zertretene«,  zu  der  die  sitzende  Frau  (Abb.  S.  go) 
eine  Studie  bildet. 

Hin  und  wieder  öffnet  die  Künstlerin  aber  einmal 
den  Freuden  des  Volkes  ihr  Auge.  Und  die  Freuden¬ 
ausbrüche  sind  dann  ebenso  elementar  wie  die 
Schmerzen.  Welch  eine  urwüchsige  Lust  beherrscht 
die  beiden  tanzenden  Männer  auf  der  Radierung: 
Hamburger  Kneipe.  Und  wie  ist  hier  das  Milieu 
getroffen:  die  Spelunke,  in  deren  trübem  Licht  sich 
die  beiden  ungeschlachten  alten  Gesellen  umfaßt 
haben,  um  ein  Tänzchen  zu  wagen,  während  eine 
Alte  —  ein  köstlicher  Typus  —  grinsend  zuschaut 
und  ein  im  Hintergrund  sitzender  Mann  mit  der 
Ziehharmonika  aufspielt.  Ein  Stück  unmittelbar  mit 
künstlerischem  Temperament  geschautes  Leben  vibriert 


in  diesem  Bilde  und  ist  breit  und  in  großen  Zügen 
zur  Darstellung  gebracht.  Die  Leute  aus  dem  Volk, 
die  sie  schildert,  sind  ihr  von  Grund  aus  bekannt; 
sie  lebt  mit  ihnen  in  stetem  Umgang.  Ihre  boden¬ 
wüchsige  Kunst  steht  zu  dem,  was  sie  darstellt,  in 
engster  Beziehung. 

Die  meisten  Arbeiten  von  Käthe  Kollwitz  ver¬ 
raten  die  innere  seelische  Anteilnahme  der  Künstlerin 
an  ihrem  Stoff.  Sie  sind  mit  Herzblut  getränkt. 
Wenn  auch  heute  von  gewissen  Kreisen,  welche  die 
rein  artistischen  Momente  in  den  Vordergrund  stellen, 
eine  seelische  Aussprache  als  etwas  für  die  bildende 
Kunst  kaum  in  Betracht  kommendes  angesehen  wird, 
so  dürfen  wir  uns  trotzdem  wohl  dazu  bekennen, 
daß  wir  den  seelischen  Gehalt  bei  einzelnen  dieser 
Leistungen  besonders  genießen.  Sie  lassen  auf  eine 
fein  organisierte  Psyche  bei  ihrer  Schöpferin  schließen. 

Ihre  starke  Persönlichkeit  weiß  uns  auch  bei 
manchem  Abstoßenden  für  sich  zu  gewinnen.  Daß 
einiges  outriert  ist,  manches  die  Grenze  des  Karikierten 
streift,  kann  nicht  geleugnet  werden.  Aber  das  liegt 
mehr  in  der  früheren  Zeit  ihrer  Tätigkeit,  während 
sich  ihre  Auffassung  in  den  letzten  Jahren  erheblich 


92 


KÄTHE  KOLLWITZ 


verfeinert  hat.  Auf  gröbere  sensationelle  Effekte  ver¬ 
zichtet  sie  jetzt  fast  ganz. 

Ihre  große  Begabung,  Natureindrücke  unmittelbar 
vviederzugel-  ,  scUl  sie  in  stand,  mit  all  ihren  Motiven 
von  der  :  -clikeit  auszugehen  und  allem,  was  sie 
darsi.'  ',  S' nein  der  Wahrheit  zu  verleihen.  Wie 
die  'rgk-il  in  Kunst  umgesetzt  ist,  das  ist  das 
E^tsl^  ■  '  "k  bei  aller  Kunst.  Die  Art  des  Sehens 
ist  ef;  ' bc  den  Künstler  macht  und  vom  Dilettanten 
tren:  ^  Eine  über  jedes  sonst  gewohnte  weibliche 
Mail  iiinausgehende  Fähigkeit  zur  Konzentration  auf 
ein  Objekt  zeichnet  Käthe  Kollwitz  aus  und  erhebt  sie 
über  alles  Dilettantische.  Jede  Arbeit  wird  von  ihr 
durch  sorgfältige  und  eingehende  Naturstudien  in 
umfassender  Weise  vorbereitet;  Studien,  die  von  un¬ 
gewöhnlicher  künstlerischer  Veranlagung  zu  sehen 
zeugen  und  eine  vortreffliche  zeichnerische  Schulung 
verraten.  Als  Beispiele  sind  hier  abgebildet  ein  paar 
flüchtige  Augenblicksimpressionen,  wie  der  Lastträger, 
ein  Straßeneindruck,  oder  die  grabende  Frau,  mit 
wenigen  skizzenhaften  Strichen  in  Bleistift  oder  Kohle 
scharf  und  sicher  zur  Anschauung  gebracht;  und  eine 
nach  dem  Modell  Zug  für  Zug  sorgfältig  und  in 
Staufferscher  Manier  streng  herausgearbeitete  Feder¬ 
zeichnung:  die  sitzende  Frau.  Mit  Feder  und  Pinsel 
gezeichnet  und  laviert  ist  die  Studie  »Mutter  und  Kind«, 
ein  Selbstbildnis  der  Künstlerin  mit  ihrem  Töchterchen, 
beim  Schein  einer  Lampe  aufgenommen,  eine  Beleuch¬ 
tungsstudie,  nach  den  Valeurs  in  schwarz  und  weiß 
malerisch  abgetönt.  Ein  großer  Wurf  von  meister¬ 
licher  Breite,  Tiefe  der  Auffassung  und  rührender 
Intimität  der  Beobachtung  ist  das  Blatt  mit  den 
beiden  Knabenköpfen,  in  Kohle  auf  braunem  Papier, 
mit  weißer  Farbe  gelichtet;  eine  Ar¬ 
beit,  die  zeigt,  daß  auch  bestrickender 
Liebreiz  nichts  Unerreichbares  für  die 
Künstlerin  ist.  ' 

Die  graphischen  Blätter,  die  als  ab-  ;  k  „  V 
geschlossene  Leistungen  von  ihr  heraus- 
gegeben  sind,  Radierungen  und  Lithogra¬ 
phien,  haben  fast  alle  einen  großen  Zug.  ^  ^  ‘ 


I 

f 


Neben  den  rein  zeichnerischen  Qualitäten  zeigen  sie 
eine  glückliche  Anlage  in  der  Verteilung  von  Hell 
und  Dunkel,  eine  klar  modellierende  Disposition  der 
Licht-  und  Schattenmassen,  worauf  ja  bei  Werken  der 
graphischen  Künste  ein  großer  Teil  der  Wirkung  be¬ 
ruht.  Eine  sicher  und  fein  abwägende  künstlerische 
Hand  waltet  da  meist.  In  dem  Technischen  ist  sie 
ganz  auf  der  Höhe  und  macht  auf  diesem  Oebiet 
auch  eigene  selbständige  Versuche.  Neben  der  reinen 
Radierung,  wie  sie  die  diesem  Aufsatz  beigegebene 
Originalarbeit  zeigt,  bevorzugt  sie  ein  Aquatintaver¬ 
fahren,  in  dem  »das  Ende«  (Abb.  S.  88)  ausgeführt 
ist.  Mit  Hilfe  dieses  Verfahrens  liebt  sie  es,  ihren 
Arbeiten  wie  Klinger  ein  stark  toniges  Aussehen  zu 
verleihen,  mit  flächenhaft  abgestuften  Valeurs  und  zur 
Erzielung  besonderer  Lichteffekte.  Die  Hamburger 
Kneipenszene  ist  ein  Vernis  mou,  bei  dem  die  hell¬ 
sten  Lichter  lithographisch  eingedruckt  sind. 

Wer  das  Lebenswerk  der  Künstlerin  überblickt,  für 
das  von  Max  Lehrs,  der  eine  reichhaltige  Sammlung 
ihrer  Werke  für  das  Dresdener  Kupferstichkabinett 
zusammengebracht  hat,  ein  bis  zum  Jahre  igo2  rei¬ 
chendes  Oeuvre  in  den  »Graphischen  Künsten«  (1903) 
im  Anschluß  an  eine  feinsinnige  Würdigung  ihrer 
Kunst  aufgestellt  ist,  der  gewinnt  den  Eindruck  einer 
ernsten,  rastlos  emporstrebenden  und  sich  vervoll¬ 
kommnenden,  aber  stets  sich  selber  treu  bleibenden 
Persönlichkeit.  Auf  ihre  Weiterentwickelung  darf 
man  die  größten  Hoffnungen  setzen,  zumal  sie 
selbst  an  sich  die  höchsten  Anforderungen  stellt  und 
in  ihrer  stillen,  der  strengen  Arbeit  gewidmeten  Zurück¬ 
gezogenheit  auf  leichte  und  billige  Tageserfolge  gern 
verzichtet.  Um  so  mehr  scheint  es  geboten,  solche, 
welche  das  Echte  und  Wahre  in  der  Kunst 
schätzen  und  sich  durch  das  manchem 
vielleicht  nicht  immer  sympathische  so¬ 
ziale  Milieu  nicht  abschrecken  lassen,  mit 
der  herben  Kunst  dieser  Frau  bekannt  zu 
machen.  Unter  den  Künstlerinnen  und 
Künstlern,  die  wir  augenblicklich  in 
Deutschland  haben,  ist  sie  der  besten  eine. 


/! 


KÄTHE  KOLLWITZ.  STUDIENBLATT 


ABB.  1.  NIKLAS  UND  SIOILGAITA  RUFOLO,  VON  DER  KANZEL  IM  DOM  ZU  RAVELLO 


SIOILGAITA  UND  DIE  FLACHBILDER  DER  KANZEL 

VON  RAVELLO 

Von  Wilhelm  Rolfs 


Die  Kanzel  von  Ravello  aus  dem  Jahre  1272  mit 
dem  Kopf  der  sogenannten  Sigilgaita,  Werke 
von  hoher  Bedeutung  für  die  Kunst  der  Hohen¬ 
staufen  in  Süditalien,  ist  in  neuerer  Zeit  wiederholt 
Gegenstand  umfangreicher  Untersuchungen  gewor¬ 
den.  Den  Reigen  eröffnet  Graf  Filangieri  di  Candida^); 
Venturi  bespricht  die  Kanzel  des  längeren  im  dritten 
Bande  seiner  Kunstgeschichte^)  und  Emil  Bertaux 
schließt  sich  beiden  an  in  dem  unförmlichen  ersten 
Bande  seines  umfangreichen  Werkes  über  die  Kunst 
in  Süditalien'’). 

Es  handelt  sich  vor  allen  Dingen  um  den  bild¬ 
hauerischen  Schmuck  der  Kanzel,  in  erster  Linie  um 
das  »Sigilgaita«  getaufte  Brustbild,  das  über  dem  Ein¬ 
gang  der  Kanzel  steht;  dann  um  die  beiden  Köpfe 
in  Flachbildnerei,  die  sich  in  den  Zwickeln  dieses 
Eingangs  auf  Mosaikgrund  befinden  (Abb.  4). 

Die  auf  dem  Denkmal  eingegrabenen  Inschriften 
geben  folgende  Auskunft: 


1)  Del  preteso  busto  di  Sigilgaita  Rufolo  nel  Duomo 
di  Ravello.  Napoli  Nobilissima  1903,  S.  3—9,  34—37.  Auch 
Sonderdruck  Trani  1903,  zustimmend  besprochen  von 
C.  V.  Fabriczy,  Repert.  1904,  S.  377. 

2)  Storia  delF  Arte  Italiana.  Mailand  1904.  111.  S.  677 ff. 

3)  L’Art  dans  l’ltalie  ineridionale.  Paris  1904.  1.  S.  yySff. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  11.  4 


t  Virginis  istud  opus  Rufulus  Nicolaus  amore 
Vir  Sigilgayte,  patrieque  dicavit  honore. 

Est  Matheus  ab  hiis,  Urso,  jacobus  quoque  natus, 
Maurus  et  a  Prinio  Laurentius  est  generaius. 

Hoc  tibi  sit  gratum,  pia  virgo,  precareque^)  natum, 
Ut  post  ista  bona‘^)  det  eis  celesla  dona. 

Lapsis  millenis  bis  centum  bisque  tricenis 
XPl.  bissenis  annis  ab  origine  plenis.  t 

Darunter  etwas  tiefer: 

t  Ego  magister  Nicolatis  ■  de  Bariholomeo  •  de  •  Fogia  • 
Marmorariiis  ■  hoc  •  opus  •  feci  f 

Daß  diese  Inschrift  sich  auf  die  wohlerhaltene 
Kanzel  bezieht,  ist  unbestreitbar;  daß  sie  auch  auf 
das  weibliche  Brustbild  über  der  Tür  bezogen  wurde, 
geht  daraus  hervor,  daß  man  ihm  den  Namen 
Sigilgaita  gab.  Bertaux  meint  (S.  780),  Schulz  sei 
der  Urheber  dieser  Bestimmung;  das  ist  ein  Irrtum, 


1)  Bertaux  gibt  wie  Schulz,  Denkmäler  der  Kunst  in 
Süditalien,  1860,  11.  S.  271  und  L.  Mansi,  Ravello  Sacro- 
Monumentale,  Ravello  1887,  S.  71.,  den  fünften  Vers  in 
dieser  Form;  Filangieri  liest  precarem  natum;  Venturi  läßt 
die  mittleren  Verse  weg. 

2)  Mit  denen  die  Rufolo,  die  Fugger  Ravellos,  reich¬ 
lichst  gesegnet  waren. 


'3 


94 


SIGILGAITA  UND  DIE  FLACHBILDER  DER  KANZEL  VON  RAVELLO 


denn  Schulz  drückt  sich  (S.  272)  vorsichtig  genug 
aus:  man  könnte  an  die  auf  der  Inschrift  erwähnte 
Sigilgaita  denk  :  -,  die  jedoch  auch  mit  ihrem  Gemahle 
auf  den  unir-_  i,?  der  Ecke  des  Eingangs  angebrachte  [«] 
Mcd'.ido.-jc  hdts  ■nrrgestellt  sein  möchte.  Crowe  und 
Cr ''■•i  -o. -i  dagegen  nehmen  sie  ohne  jede  Ein- 
Swur--:  ang  als  das  Brustbild  der  Gemahlin  des  Stifters; 

''■ann  Camera-),  Mansi  an  der  angegebenen 
Si. '  nid  ihre  zahlreichen  Nachfolger.  Verantwortlich 
sind  also  in  erster  Linie  Crowe  und  Cavalcaselle. 

Diese  Deutung  ziehen  nun  Filangieri  und  in 
seinem  Sinne  Bertaux,  dann  auch  Venturi  in  Zweifel. 
Erstere  sehen  darin  einen  Bildnis-,  letzterer  einen  Ideal¬ 
kopf. 

Niklas  Rufolo  gehörte  einer  der  angesehensten 
und  reichsten  Familien  Ravellos  an.  Er  war  der 
Sohn  des  Sergius  Rufolo,  seine  Gemahlin  Sigilgaita, 
die  Tochter  Johanns  della  Marra,  aus  einer  ebenso 
angesehenen  Familie  der  Stadt.  Der  Inschrift  nach 
hatte  sie  bereits  1272  vier  Söhne  und  einen  Gro߬ 
sohn  Lorenz.  Das  Schicksal  wollte  es,  daß  Karl  II. 
dessen  und  seines  Vaters  Matthäus  unermeßliche 
Reichtüiner  im  Jahre  1283  einzog,  wodurch  er  weit 
einfacher  zu  Gelde  kam  als  dadurch,  daß  er  seine 
Kronjuwelen  den  reichen  Geldleuten  Rufolo  ver¬ 
pfändete,  wie  es  von  seinem  Vater  geschehen  sein 
soll.  Auch  Lorenz  mußte  um  diese  Zeit  schon  er¬ 
wachsen  sein,  wie  aus  der  von  Camera^)  angezogenen 
Urkunde  hervorgeht,  nach  der  Matthäus  mit  seinem 
Sohne  Lorenz,  Angelo  della  Marra,  seine  Brüder 
Roger  und  Galgano,  sowie  andere  Beamte  des  Reiches 
(in  Barletta  und  Trani)  angeblich  wegen  ihrer  zahl¬ 
reichen  Schandtaten  gegen  die  Bevölkerung  durch 
Karl  mit  Gefängnis  und  Beschlagnahme  ihres  Ver¬ 
mögens  bestraft  wurden.  Zum  Überfluß  erfahren 
wir  aber  auch  aus  der  erhaltenen  Inschrift  eines 
von  Matthäus  Rufolo  1279  für  denselben  Dom  in 
Ravello  gestifteten,  1773'*)  zerstörten  Tabernakels, 
daß  auch  Lorenz  in  diesem  Jahre  1279  bereits  vier 
Kinder,  sein  Bruder  eins  besaß.  Hieraus  folgt,  daß 
Sigilgaita  1272  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  schon 
Urgroßmutter  war.  Denn  nehmen  wir  an,  Lorenz  habe 
im  Jahre  1279  mit  zwanzig  Jahren  schon  vier  Kinder 
gehabt,  so  war  er  etwa  1259  geboren.  Sein  Vater 
mochte  damals,  da  er  der  erstgeborene  des  Niklas 
und  der  Sigilgaita  war,  erst  achtzehn  Jahre  zählen, 
wäre  also  1241  geboren.  Wenn  nun  Sigilgaita  mit 
fünfzehn  Jahren  geheiratet  hätte,  so  würde  ihre  Ge¬ 
burt  günstigsten  Falles  etwa  in  das  Jahr  1225  fallen, 
das  heißt  sie  wäre  zur  Zeit  der  Stiftung  der  Kanzel 
mindestens  siebenundvierzig  Jahre  alt  gewesen.  Da¬ 
mit  stimme  nun,  meinen  Filangieri  (und  Bertaux), 
keineswegs  das  in  voller  Jugendkraft  strotzende  Brust¬ 
bild  in  Ravello  überein.  Dagegen  sprächen  ferner 
die  beiden  Bildnisköpfe  in  Flacharbeit  der  Tür¬ 
zwickel.  Crowe  und  Cavalcaselle,  die  offenbar  das 


1)  Storia  etc.  1864.  I.  S.  129. 

2)  Memorie  .  .  di  Amalfi,  Salerno.  1881.  II.  S.  313. 

3)  a.  a.  O.  II,  381. 

4)  Camera  a.  a.  O.  II,  315. 


Denkmal  überhaupt  nur  ganz  flüchtig  angesehen 
haben,  erklären  sie  kurzweg  für  die  Kinder  der  Sigil¬ 
gaita.  Mit  Recht  fragt  Filangieri :  warum  wären 
dann  nur  ihrer  zwei  dargestellt  und  der  Stifter 
selbst  gar  nicht?  Außerdem  sei  das  Flachbild  rechts 
ein  männlicher,  das  links  ein  weiblicher  Kopf^- 
Stifter  und  Stifterin  hatten  aber  nur  vier  Söhne  (und 
einen  Großsö//«).  Folglich  sind  das  nicht  die  Söhne 
des  stiftenden  Ehepaares,  und  da  auch  das  Brustbild 
nicht  Sigilgaita  sein  kann,  so  fällt  das  ganze  Karten¬ 
haus  zusammen,  und  Filangieri  will  nun  die  Stifter 
in  diesen  Flachbildern,  Niklas  rechts,  Sigilgaita  links 
erkennen.  Er  fühlt  indes  selbst,  daß  nach  dem  er¬ 
folgreichen  Bemühen,  Sigilgaita  als  eine,  wenn  auch 
junge  Urgroßmutter  festzulegen,  dies  noch  weit  jugend¬ 
lichere,  fast  kindliche  Paar  doch  noch  viel  un¬ 
wahrscheinlicher  ausschaut.  Dem  Einwand  begegnet 
er  wenig  stichhaltig  mit  der  Unvollkommenheit  der 
Arbeit  und  dem  Streben  nach  klassischer  Stilisierung. 
Mit  der  letzteren  Begründung  könnte  auch  das  Brustbild 
die  Urgroßmutter  Sigilgaita  von  siebenundvierzig  Jahren 
darstellen.  Seine  Beweisführung  wird  ganz  hinfällig, 
wenn  er  des  längeren  die  weiblichen  Eigenheiten  des 
männlichen  Kopfes  —  die  männlichen  des  weiblichen 
vergißt  er  —  auseinandersetzt  und  folgert,  daß  seine  Ein¬ 
fachheit  ihn  in  die  Zeit  der  Hohenstaufen  verweise. 

Wen  stellt  nun  das  Brustbild  dar?  Zunächst 
braucht  es  nach  Filangieri  nicht  ebenfalls  vom  Meister 
der  Kanzel,  Niklas  Bartel  von  Foggia,  zu  sein.  Es 
sei  sogar  höchst  unwahrscheinlich;  denn  die  Flach¬ 
bilder  seien  von  sehr  mittelmäßiger,  das  Brustbild 
dagegen  von  ganz  hervorragender  Arbeit.  Bertaux 
glaubt  dies  dem  Unterschiede  von  Voll-  und  Flach¬ 
bild  zuschreiben  zu  sollen  und  findet  in  der  Gesichts¬ 
linie  der  Köpfe  eine  Ähnlichkeit,  die  Filangieri,  wie 
es  so  oft  mit  Ähnlichkeiten  geht,  nicht  anerkennt. 
Nach  Bertaux  sind  alle  drei  unzweifelhaft  von  der¬ 
selben  Hand,  also  von  Meister  Niklas;  nach  Filan¬ 
gieri  kann  man  höchstens  zugeben,  daß  die  Flach¬ 
bilder  schwächliche  und  rohe  Wiederholungen  der 
Formen  einer  großen  Kunst  sind,  die  um  jene  Zeit 
entstand,  und  von  der  das  Brustbild  eins  der  wich¬ 
tigsten  Denkmäler  bildet.  Auch  die  Löwen  der 
Kanzel,  die  von  Dobbert  und  Lübke  so  hoch  gestellt 
werden,  könnten  sich  in  der  Arbeit  keineswegs  mit 
dem  Brustbilde  messen.  Sein  Meister  sei  ein  über¬ 
ragendes  Talent  vom  Schlage  des  Niklas  von  Pisa, 
des  vielumstrittenen  Sohnes  Peters  de  Apulia.  Man 
müsse  an  klassische  Vorbilder,  wie  die  der  Juno, 
denken,  und  es  stehe  schließlich  gar  nichts  entgegen, 
die  Sigilgaita  dem  Niklas  von  Pisa  selbst  zu  geben-). 


1)  Ebenso  irrt  unbegreiflicherweise  auch  Venturi  (III, 
678):  rechts  un  giovane  con  ciifßa  0  maiata,  links  itna 
donna  con  i  capelli  a  trecce.  Aber  hier  sind  nur  die  Seiten 
verwechselt,  während  Filangieri  das  Geschlecht  selbst  falsch 
anspricht.  Daher  berichtigt  ihn  Bertaux:  links  sei  der 
männliche  mit  der  Mütze  bekleidete  Kopf,  rechts  der  weib¬ 
liche  mit  der  Haarflechte. 

2)  Die  auch  von  Bertaux,  Venturi  und  anderen  als 
unbedingt  angenommene  Behauptung,  Meister  Niklas  sei 
der  Sohn  desjenigen  Bartel  von  Foggia,  der  als  Baumeister 


SIGILGAITA  UND  DIE  FLACHBILDER  DER  KANZEL  VON  RAVELLO 


95 


Nicht  diese  aber  sei  dargestellt,  sondern  die  Frau 
des  Matthäus  Rufolo ,  Anna  della  Marra ,  deren 
Schönheit  ebenso  berühmt  gewesen  sei,  wie  des  Gatten 
Liebe  zu  ihr.  (Hier  beruft  sich  Filangieri  auf  das 
Zeugnis  Cameras,  der  diese  Einzelheiten  indes  nicht 
belegt).  Der  Reichtum  ihres  Geschmeides,  ihre  Schön¬ 
heit  stimmen  mit  dem  Brustbild.  Dieses  sei  dann, 
als  die  Dargestellte  im  Laufe  harter  Schicksalsschläge 
ihrer  Reichtümer  beraubt  1295  als  Witwe  gestorben 
sei,  in  die  Kirche  gelangt,  wo  man  es  aus  Stammes¬ 
liebe  zu  den  Rufolos  auf  deren  glanzvollsten  Stiftung, 
der  Kanzel,  aufgestellt  habe.  Wenn  nun  schon  diese 
ganze  Vermutung,  Niklas  oder  Matthäus  Rufolo  habe 
Anna  della  Marra  in  der  angegebenen  Weise  verewigt, 
unbelegt  bleibt,  so  ist  die  Aufstellung  ganz  unerklär¬ 
bar.  Tatsächlich  stand  das  Brustbild  schon  1540’) 
an  dieser  Stelle,  und  doch  erglänzte  dicht  nebenan 
das  prachtvolle  Tabernakel  des  Matthäus  Rufolo,  des 
Oemahls  der  Anna  della  Marra:  ihr  Platz  wäre  also 
doch  wohl  auf  diesem  Denkmale  gewesen!  Was 
endlich  das  bekannte  Brustbild  aus  Skala  betreffe,  das 
seit  1880  von  ^/«^/' /yö«s/?/sc//^  gegenüber  dem  Dome 
von  Skala  ins  Berliner  Museum  geraten  sei,  so  dürfte 
es  eine  spätere  Wiederholung  von  schwächerer  Hand 
eben  dieses  Werkes  Niklas’  von  Pisa,  der  Anna  della 
Marra,  vorstellen.  Warum  die  eifersüchtigen  und  mit 
ihren  mächtigen  Nachbarn  in  stetem  Hader  lebenden 
Skalesen  gerade  diese  so  hätten  auszeichnen  sollen, 
bleibt  unerfindlich. 

Bertaux  folgt,  wie  wir  sehen,  Filangieri  nicht  in 
bezug  auf  die  Urheberschaft  durch  Niklas  von  Pisa; 
vielmehr  sind  ihm  Brustbild  und  Kanzel  von  der 
Hand  des  Niklas  Bartel  von  Foggia.  Dagegen  ist  er 
ebenfalls  der  Ansicht,  die  Flachbilder  stellten  das 
stiftende  Ehepaar  Niklas  und  Sigilgaita  Rufolo  dar. 
Zu  der  Anna  della  Marra- Lehre  kann  er  sich  indes 
nicht  entschließen,  sondern  erblickt  in  den  Brustbildern 
von  Ravello  ünd  Skala  unbekannte  Bildnisse. 

Daß  die  Bildwerke  alle  von  einer  Hand  seien,  ist 
auch  Venturis  Ansicht^),  ln  der  Krone  der  »Sigilgaita« 
findet  er  gotische  Anklänge,  wie  nach  ihm  Bertaux, 
(dem  es  offenbar  alle  Überwindung  kostet,  nicht  auch 
hier  sein  Schiboleth  von  französischer  Kunst  in  An¬ 
wendung  zu  bringen).  Richtig  weist  Venturi  auf  das 
Blattwerk  der  Rahmen  und  die  Kapitelle  der  Kanzel¬ 
säulen  hin,  die  durchaus  apulischer  Kunstübung  ent¬ 
sprechen.  Das  seltsame  Diadem,  meint  dann  Venturi 
weiter,  erinnere  an  eine  sinnbildliche  V\g\ir,  und  läßt 
ihn  an  das  Exultet  Barberini,  jetzt  im  Vatikan,  denken, 
wo  die  Mater  Ecclesia  ähnlich  dargestellt  werde. 


Friedrichs  II.  bekannt  ist,  wird  von  Filangieri  in  ihre 
richtigen  Grenzen  gewiesen.  Unter  König  Robert  kommt 
in  Ravello  auch  ein  Kaufmann  namens  Bartel  von  Foggia 
vor:  es  ist  also  immerhin  möglich,  daß  Niklas  aus  einer 
Familie  dieses  Namens,  die  sich  in  Ravello  ansässig  ge¬ 
macht  hatte,  stammte.  Man  kann  daher  nicht  mehr  be¬ 
haupten,  als  daß  der  Zusammenhang  unseres  Ravelleser 
Meisters  mit  dem  Baumeister  Friedrichs  II.  möglich,  ja 
wahrscheinlich,  nicht  aber  unbedingt  sicher  sei. 

1)  Camera,  a.  a.  O.  II,  313. 

2)  a.  a.  O.  III,  678. 


Ganz  ebenso  finde  sie  sich  im  Exultet  von  Gaeta, 
deren  phantastische  Kopfbedeckung  freilich  wenig  mit 
unserem,  noch  weniger  mit  dem  Brustbilde  von  Skala 
gemein  hat.  Diesen  Mater-Ecclesiafiguren  (und  anderen, 
die  Venturi  erwähnt)  entspräche  das  weibliche  Brust¬ 
bild  auf  der  Kanzel  von  Ravello,  das  auch  insofern 
damit  übereinstimme,  als  es  oberhalb  des  Stifterpaares, 
auch  nach  ihm  des  Niklas  und  der  Sigilgaita  Rufolo, 
diese  sozusagen  in  ihren  Schutz  nähme.  Das  gleiche 
bedeute  das  Brustbild  von  Skala,  ob  wir  gleich  hier 
keine  Schützlinge  finden.  Venturis  Ansicht  geht 
also  dahin,  daß  die  Bildwerke  von  Ravello,  die  in 
Stein  (und  zwar  in  Brustbilder!)  übersetzte  Mater- 
Ecclesia  mit  ihrem  Schützlingpaar  der  Exultet  dar¬ 
stellen  —  eine,  wie  mir  scheinen  will,  an  dieser  Stelle 
ganz  einzigartige  Verwendung,  die  nirgends  ihr 
Gegenstück  findet  und  an  Gezwungenheit  nichts  zu 
wünschen  übrig  läßt.  Vergessen  wir  auch  nicht,  daß, 
abgesehen  von  der  seltsamen  Fügung  eines  vollen 
Brustbildes  mit  zwei  Köpfen  in  Flachbildnerei  zu 
einem  bildnerischen  und  sinnbildlichen  Zusammen¬ 
hänge,  die  Voraussetzung  dazu  sein  muß,  daß  der 
Platz,  den  das  Brustbild  einnimmt,  ursprünglich  ist. 

Dies  ist  zunächst  zu  bestreiten.  Ein  Blick  auf 
die  Architektur  des  Eingangs  der  Kanzel  beweist  dies. 


ABB.  2.  DAS  STADTBILD  VON  RAVELLO 

13* 


SIGILGAITA  UND  DIE  FLACHBILDER  DER  KANZEL  VON  RAVELLO 


wie  auch  Berlaux'),  allerdings  mit  der  ihm  eigenen 
beneidenswerten  Zuversicht,  bemerkt;  es  ist  sicher, 
daß  das  Brustbild  nicht  an  seinem  ursprünglichen 
Platze  steht:  um  es  auf  die  Marmorplatte  zu  stellen, 
die  es  heute  trägt,  mußte  man  ein  Stück  musivisch 
geschmückten  Marmors  entfernen,  das  vielleicht  den 
Teil  einer  Art  überhöhten  Giebels  bildete.  Aber  auch 
dies  ist  bloße  Vermutung.  Sicher  ist  nur,  was  der 


hatte,  ebensowenig  wie  das  Bild  von  Skala,  das  man 
in  der  Nische  eines  Hauses  fand.  Damit  würde 
auch  die  Mater- Ecclesiadeutung  zusammenbrechen, 
wenn  sie  überhaupt  innerlich  und  äußerlich  besser 
haltbar  wäre.  Alles  in  allem;  den  Ravellesen  war  wohl 
schon  in  früherer  Zeit  die  »Sigilgaita«  ein  ebenso 
unerklärliches,  rätselhaftes  Bildwerk,  wie  ihren  gelehrten 
Deutern,  die  sechs  Jahrhunderte  später  kamen. 


ABB.  3  DIE  KANZEL  IM  DOM  VON  RAVELLO 


Augenschein  lehrt,  daß  die  Stücke  abgesägt  sind,  daß 
sie  an  dieser  Stelle  formlos  und  ohne  Zusammenhang 
dastehen,  und  daß,  wenn  man  sie  fortnimmt,  das 
Brustbild  noch  einsamer  und  unerklärlicher  von  oben 
herabschaut,  als  jetzt.  Es  ist  offenbar  eine  Verlegen¬ 
heitsstelle:  man  wußte  nicht  anders  wohin  damit,  und 
dies  würde  dann  mit  ziemlicher  Sicherheit  beweisen, 
daß  es  einen  überlieferten  Platz  in  der  Kirche  nicht 

i)  a.  a.  O.  S.  782. 


Übersieht  man  von  hier  ab  den  gesamten  Beweis¬ 
stoff,  so  ist  erst  das  eine  unbedingt  klar,  daß  von 
einer  Darstellung  der  Gemahlin  Rufolos,  Sigilgaitas, 
nicht  die  Rede  sein  kann:  es  bleibt  nun  der  große 
Gegensatz  in  der  Meinung  unserer  Kenner  übrig, 
daß  die  einen  darin  einen  Bildniskopf,  die  anderen 
ein  Sinnbild  sehen  wollen. 

Es  ist  hierauf  zurückzukommen,  wenn  die  Rufolo- 
frage  gelöst  ist.  Und  dies  dürfte  leichter  sein,  als 
man  bisher  annahm.  Denn,  außer  den  bisher  von 


SIQILOAITA  UND  DIE  FLACHBILDER  DER  KANZEL  VON  RAVELLO 


97 


allen  Schriftstellern  seit  fünfundvierzig  Jahren  er¬ 
wähnten  Bildwerken  befinden  sich  an  der  Kanzel 
noch  zwei  Köpfe,  die  in  einer  mir  unbegreiflichen 
Weise  den  Blicken  aller,  die  über  das  bedeutende 
Werk  geschrieben  haben,  entgangen  sind!  Dabei  sind 
diese  Köpfe  nicht  etwa  versteckt,  sondern  liegen  so 
offen  da,  daß  man  sozusagen  mit  der  Nase  darauf 
stößt:  sie  befinden  sich  eingerahmt  von  ähnlichem 
Blattwerk  wie  die  Flachbilder  des  Eingangs  in  zwei 


ansprechbar.  Daß  auch  bei  ihnen  der  Bohrer,  nament¬ 
lich  an  den  Mundwinkeln,  eine  so  hervorragende  Rolle 
spielt,  entspricht  auch  den  Flachbildern  der  Tür- 
zwickel,  dem  Blätterschmuck  wie  der  ganzen  apu- 
lischen  Kunststübung.  Daher;  wenn  das  Ehepaar  der 
Stifter  an  der  Kanzel  überhaupt  angebracht  wurde,  so 
ist  es  keines  wahrscheinlicher  als  dies:  möge  es  auch 
in  der  Kunstforschung  nunmehr  die  wohlverdiente 
Ruhe  finden! 


ABB.  4.  DER  EINGANG  DER  KANZEL  IM  DOM  VON  RAVELLO 


viereckigen  Kassetten  unterhalb  der  rechteckig  vor¬ 
springenden  Ausbuchtung,  wovor  der  Adler  das  Lese¬ 
pult  trägt  (Abb.  3),  und  sind  von  mir,  so  gut  es 
gehen  wollte,  photographiert  worden  (Abb.  1).  Dar¬ 
nach  scheinen  die  Rufolo  keine  Schönheiten  gewesen 
zu  sein,  und  der  Künstler  stellte  die  Reichlinge 
Ravellos  mit  derselben  grimmen  Laune  dar,  wie  es 
heute  etwa  ein  Zeichner  des  Simplicissimus  tun  würde. 
Aber  ohne  Zweifel  sind  es  Bildnisköpfe  eines  Mannes 
und  einer  Frau,  eines  heraldisch  richtig  gestellten 
Ehepaares,  und  dem  Alter  nach  als  Fünfzigjährige 


Was  aber  stellen  dann  die  jugendlichen  Köpfe  des 
Eingangs  dar,  die  doch  der  bescheidenen  Stelle  der 
Stifter  gegenüber  so  glänzend  hervortreten?  Man 
könnte  ohne  Zwang  an  Matthäus  und  seine  Gemahlin 
Anna  della  Marra  denken;  wenigstens  würde  auf 
letztere  nun  alles  das  vortrefflich  passen,  was  Filangieri 
für  die  »Sigilgaita«  anführt.  Matthäus  war  ja  sicher¬ 
lich  der  Stolz  der  Familie,  der  Erstgeborene,  Vater 
des  Lorenz,  der  seinerseits  bereits  1279  das  Haus 
der  Rufolo  mit  vier  Kindern  fortsetzen  konnte!  Ich 
möchte  aber  auf  diese  Mutmaßung  überhaupt  kein 


98 


SIOILGAITA  UND  DIE  FLACHBILDER  DER  KANZEL  VON  RAVELLO 


Gewicht  legen,  schon  um  der  F^-age  aus  dem  Wege 
zu  gehen,  wo  denn  die  vielen  anderen  Söhne  und 
Schwiegertöchter  der  Familie  Rufolo  geblieben  seien, 
warum  sie  nicht  auch  ihre  Darstellung  gefunden 
hätten,  ü  aI  dergleichen  mehr.  Ich  neige  vielmehr  zu 
der  AneiCu,  daß  die  beiden  Flachbildköpfe  des  Ein¬ 
gangs  reine  Schnuickformen  sind  und  keine  Bildnisse. 
Ganz  besonders  macht  diesen  Eindruck  der  rechte  Kopf, 
den  ich  als  die  apulische  Übersetzung  eines  in  bekannter 
antiker  Haartracht  die  Flechte  um  den  Kopf  legenden 
Apollon  ansehe,  also  ebenfalls  als  ein  männliches 
Wesen,  so  daß  auf  diese  Weise  Crowes  und  Caval- 
caselles  "figli  wieder  zu  ihrem  Rechte  kommen  wür¬ 
den.  Ihm  wäre  ein  in  zierlichsten  Schmuckformen  ge¬ 
haltener  moderner  Kopf  der  1200  gegenübergestellt, 
und  wir  würden  hier  einer  Eigenart  der  Kunst  Frie¬ 
drichs  II.  wieder  begegnen,  die  nicht  nur  klassische 
Vorbilder  nachahmt,  sondern  auch  die  Gegenwart 
realistisch  anpackt,  und  sich  auch  hierin  mit  den 
Bestrebungen  der  Auflebung  der  1400  deckt!  Wie 
denn  ja  stets  alle  ernstliche  Beschäftigung  mit  der 
Antike  ganz  unmittelbar  zur  Erforschung  der  Natur 
geführt  hat  und  umgekehrt. 

Und  so  leitet  uns  denn  auch  das  Brustbild  der 
Sigilgaita  in  die  Staufenkunst  hinüber.  Es  stellt  sich 
neben  das  der  benachbarten  Nebenbuhlerin  von  Skala, 
und  beide  finden  wohl  ihre  ungezwungene  Erklärung 
in  dem  Bildwerke,  das  dreißig  Jahre  früher  entstanden 
den  Torbogen  Friedrichs  II.  in  Kapua  schmückte,  dem 
im  Kampanischen  Museum  aufbewahrten  Sinnbilde  der 
kaiserlichen  Stadt  Kcijnia  (abgebildet  bei  Bertaux,  S. 
714).  Aus  der  gleichen  Zeit  wie  die  »Sigilgaita«  stammt 
dieAugusta  Perusia  des  Johann  Pisano  (1278 — 80),  die 
Roma  capud  mundi,  die  Pisa,  die  auch  ich  diesem 
großen  Meister  und  seiner  Kanzel  von  Pisa  geben 
möchte').  Nicht  umsonst  ruft  Bertaux  die  Ähnlichkeit  mit 
einer  antiken  Juno  wach,  die  Filangieri,  wie  wir  sahen, 
in  seiner  Anna  della  Marra  fand.  Unter  diesem 
Gesichtspunkte  erklären  sich  ungezwungen  auch  andere 
Einzelheiten,  die  hier  nur  kurz  berührt  werden  mögen. 
Dahin  gehört  vor  allen  Dingen  das  fremdartige  Wesen 
des  heidnischen  Geist  atmenden  Bildwerkes.  Dieser 
Seite  der  erstaunlichen  Kunsttätigkeit  Friedrichs  II.  stan¬ 
den  schon  die  Zeitgenossen  ziemlich  verständnislos 
gegenüber,  und  daß  sie  nach  dem  Sturze  der  Staufen¬ 
herrschaft  durch  die  bigotten  Anjoinen  nicht  weiter 
um  sich  griff,  dafür  sorgten  Kirche  und  Bettelorden. 
Dennoch  war  die  innere  Kraft  derartiger  Bildwerke 
groß  genug,  daß  sie  im  Herzen  des  Volkes,  namen¬ 
los  und  unverstanden,  wie  sie  waren,  festen  Fuß 
faßten.  Ist  unser  Brustbild  ein  Sinnbild  der  Stadt 
Ravello  in  dem  Sinne,  wie  jenes  das  von  Kapua,  so 

1)  Mit  Ludwig  Justi,  Giovanni  Pisano  und  die  toska¬ 
nischen  Skulpturen  des  14.  Jahrhunderts  im  Berliner  Mu¬ 
seum.  Jahrb.  der  Kgl.  pr.  Kunstsamml.  XXIV,  Berlin  1903, 
S.  260  f. 


war  es  wohl  im  Freien  an  der  Stadtmauer  aufgestellt, 
vermutlich  zwischen  den  Türmen,  die  den  Eingang 
zum  ältesten  Teile  von  Ravello,  dem  Toro,  bewachten. 
Die  Erinnerung  an  seine  Bedeutung  und  die  künst¬ 
lerische  Gewalt  einer  Kunst,  die  notwendig  mit 
Friedrich  II.  erschien  und  erlosch  (man  denke  an 
Niklas  Peter  von  Apulien,  den  Pisaner!),  verschwand  aber 
nicht  vollständig  mehr.  Das  Bild  war  die  Schutzherrin 
ihrer  Stadt  geworden ;  keine  mittelalterliche  Heilige,  auch 
keine  Muttergottes,  aber  eine  schöne  klassische  Herrin, 
welche  die  eifersüchtigen  Nachbarn  von  Skala  sich  flugs 
nachgebildet  hatten,  und  der  eine  dunkle  Macht  zukam: 
was  wunder,  daß  sie  schließlich  dort  landete,  wo 
alles  Wertvolle  im  Mittelalter  Schutz  suchen  mußte 
und  fand:  in  der  Kirche!  Dabei  muß  der  Ruf  ihrer 
Schönheit  groß  gewesen  sein,  denn  Peter  von  Toledo 
gab  sich  zwei  Jahre  lang  (1540 —  1 54 1 )  die  größte  Mühe, 
sie  nach  Neapel  zu  bekommen.  Die  Ravellesen  wehrten 
sich  höflich,  aber  äußerst  zäh:  umsonst;  nach  wieder¬ 
holten  vergeblichen  Versuchen  wurde  ihr  geliebtes 
Stadtbild,  das  zu  keiner  Zeit  etwa  als  Muttergottes  oder 
auch  nur  ähnlich  bezeichnet  wird,  nach  der  Hauptstadt 
entführt.  Mochte  nun  der  Statthalter  weniger  an  dem 
Kunstwerke  finden,  als  die  treuen  Ravellesen,  am 
wenigsten  etwas  Religiöses,  oder  haben  ihre  Ver¬ 
trauten  besonders  geschickt  verhandelt:  es  gelang,  die 
Ravello  zurückzugewinnen;  und  mit  lautem  Jubel  und 
großen  Festen  wurde  ihre  Rückkehr  in  die  Heimat¬ 
stadt  begrüßt.  Alles  das  hat  uns  einer  der  vielen 
fleißigen  Notare  dieser  Gegend  aufbewahrt,  und  der 
Wortlaut  der  Urkunde')  spricht  nur  von  la  testa  di 
marmora  al  lictorio  (also  der  Kanzel)  de  lo  epis- 
copato.  Per  gratia  della  gloriosa  Vergine  Maria,  hebt 
er  ausdrücklich  hervor,  e  loro  (d.  h.  der  Unterhändler) 
virtu  dalla  (di  lä)  ritornö  dicta  testa.  Die  Erwähnung 
der  Hilfe  der  Muttergottes  scheint  mir  im  Gegensatz 
zu  Bertaux  erst  recht  anzudeuten,  daß  die  Ravellesen 
bei  ihrem  Stadtbilde  an  eine  Heilige  gar  nicht  dachten, 
denn  die  hätte  sich  selber  helfen  können.  Auch 
der  Nachsatz  des  trefflichen  Notars  ist  beachtenswert: 
et  la  iinlversitä  nci  dispese  de  boni  diicati,  und 
die  Gemeinde  gab  dafür  schöne  Dukaten  aus.  Wofür? 
Sollte  man  etwa  jetzt  den  Ehrenplatz  auf  der  Kanzel 
des  Niklas  Rufolo  dafür  hergerichtet  haben;  oder  galten 
diese  Dukaten  nur  den  Kosten  und  Festen,  die  man 
freudig  beging  bei  der  Rückkehr  des  geliebten  alten 
Stadtbildes  von  Ravello  aus  der  Zeit  des  Niklas  Bartel 
von  Foggia? 

Ob  nun  dieser  wirklich  sein  Verfertiger  ist,  und 
welcher  künstlerische  Zusammenhang  zwischen  unserem 
Stadtbilde  und  den  Werken  der  apulischen  Kunst  in 
Kapua  und  in  Apulien  besteht:  diese  und  ähnliche 
Fragen  müssen  einer  weiteren  Untersuchung  Vorbe¬ 
halten  bleiben. 


1)  Bei  Camera  II,  313,  Anm.  1. 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN 

LONDON  UND  SIENA') 


ES  ist  bezeichnend  für  das  große  Interesse,  das 
gegenwärtig  der  alten  sienesischen  Kunst  ent¬ 
gegengebracht  wird,  daß  in  diesem  Jahre  zwei 
retrospektive  sienesische  Kunstausstellungen  zugleich, 
die  eine  im  Burlington  Fine  Arts’  Club  in  London, 
die  andere  im  Palazzo  Pubblico  in  Siena,  ins  Leben 
gerufen  worden  sind.  Zahlreiche  Publikationen  “) 

über  die  Geschichte  und  die  Kunst  dieser  einzig  in 
ihrer  Art  uns  erhaltenen  mittelalterlichen  Stadt,  die 
in  den  letzten  fünf  Jahren  in  rascher  Reihenfolge  er¬ 
schienen  sind  und  die  üblichen  Kontroversen  hervor¬ 
gerufen,  mögen  wohl  viel  dazu  beigetragen  haben, 
dieses  Interesse  höher  zu  spannen.  Ist  es  doch  nicht 
zu  leugnen,  daß  seitdem  der  Florentiner  Cimabue 
immer  mehr  in  problematische  Nebel  versinkt,  der 
Sienese  Duccio  nun  das  Frontispice  der  italienischen 
Malerschule  einnimmt.  In  seinen  verhältnismäßig 

zahlreich  uns  erhaltenen  Werken  können  wir  die  all- 
mählige  Entwickelung  der  gotischen  Kunst  aus  der 
byzantinischen  und  römischen  wahrnehmen,  bevor 
noch  diese  Entwickelung  durch  die  mächtige  Er¬ 
scheinung  eines  Giotto  zur  vollendeten  Tatsache 
wurde.  Es  ist  wohl  diese  erst  seit  kurzem  anerkannte 
Priorität,  die  den  alten  Sienesen  gegenwärtig  eine 
ganz  besondere  Anziehung 
verleiht,  eine  Anziehung, 
die  sich  von  den  Trecen- 
tisten  nun  neuerdings  auch 
auf  die  sienesischen  Quattro¬ 
centisten  erstreckt  hat. 

Ja  man  könnte  sogar 
behaupten,  daß  in  diesen 

i)  Die  Initialen  B.  F.  A.  C. 
beziehen  sich  im  beifolgen¬ 
den  Text  auf  die  sienesische 
Ausstellung  im  Burlington 
Fine  Arts'  Club  zu  London, 
während  mit  der  Bezeichnung 
Saal  mit  Ziffern  der  betref¬ 
fende  Raum  der  sienesischen 
Ausstellung  in  Siena  angege¬ 
ben  ist. 

2)  Luise  M.  Richter,  Siena 
als  Kunststätte,  Seemann  igoi, 

R.  Hobart  Cust,  The  Pave- 
ment  Masters  of  Siena,  Bell 
IQ01,  E.  G.  Gardner,  the  story 
of  Siena  and  S.  Gimignano, 

Dent  1902,  Langton  Douglas, 

A  History  of  Siena,  Murray 
igo2,  Heywood  &  Olcott, 

Guide  to  Siena,  Torrini  1903, 

Walter  Rothes,  Die  Blüte  in 
der  Sienesischen  Malerei,  H. 

G.  Mündel  1904  usw. 


beiden  sienesischen  Ausstellungen,  in  London  sowohl 
als  in  Siena,  besonders  darauf  geachtet  wurde,  die 
bisher  so  wenig  geschätzten  Werke  dieser  sogenannten 
zurückgebliebenen  Maler  des  Quattrocento  besonders 
in  den  Vordergrund  zu  bringen. 

Überaus  glücklich  war  die  Wahl  des  Ausstellungs¬ 
raumes  in  Siena,  ln  den  herrlichen  Räumen  des 
Palazzo  Pubblico,  dem  alten  Rathaus,  dessen  Stirnseite 
jene  heitere  italienische  Gotik  aufweist,  die  wohl  das 
Prototyp  der  vielen  mittelalterlichen  Paläste  von  Siena 
gewesen  sein  mag,  sind  die  zahlreichen  Kunstschätze 
ausgestellt,  die  teils  aus  der  unmittelbaren  Umgegend, 
teils  aus  Rom,  Orvieto,  Montepulciano,  Montalcino  und 
Siena  selbst  zusammengebracht  worden  sind;  ein  Unter¬ 
nehmen,  an  dem  sich  in  rühmlicher  Weise  die  Be¬ 
hörden  der  Stadt,  mit  dem  kunstverständigen  Bürger¬ 
meister  Com.  Lisini  an  der  Spitze,  die  Grafen  Picco¬ 
lomini  Filangeri  und  Magazzi,  Kanonikus  Dr.  Lusini, 
Professor  Franchi  und  last  not  least  Signor Corrado Ricci, 
jetzt  Generaldirektor  der  Sammlungen  von  Florenz, 
beteiligt  haben.  Diesem  letzteren  ist  es  wohl  haupt¬ 
sächlich  zu  verdanken,  daß  die  berühmte  Fonte  Qaia 
von  Jacopo  della  Quercia,  deren  Fragmente  bisher 
nur  wenig  vorteilhaft  im  Dommuseum  untergebracht 

waren,  jetzt  auf  der  schö¬ 
nen  weiten  Loggia  des  Pa¬ 
lazzo  Pubblico  zur  Ausstel¬ 
lung  gekommen  sind.  In 
derselben  Beleuchtung,  in 
welcher  dieses  Kunstwerk 
einst  unten  auf  der  Piazza 
stand,  und  mit  all  den  noch 
übrigen  Fragmenten  wieder 
kunstvoll  zusammengefügt, 
ist  diese  Fonte  Gaia  mit 
Recht  als  Clou  der  Aus¬ 
stellung  bezeichnet  worden. 
Die  herrliche  Aussicht  von 
den  Zinnen  dieses  mittel¬ 
alterlichen  Palastes,  in  das 
weite  an  Olivengärten  und 
Cypressen  so  reiche  Tal, 
mit  den  Silhouetten  von 
Kirchen  und  alten  Kastellen 
und  dem  hochragenden 
Monte  Amiata  im  Hinter¬ 
grund,  trägt  jedenfalls  dazu 
bei,  den  Eindruck,  den 
dieses  neuerstandene  Kunst¬ 
werk  auf  den  Beschauer 
ausübt,  noch  zu  erhöhen 
Anmutig  und  doch  zugleich 
majestätisch  thronen  in  ihren 
Nischen  die  Tugenden 


ABB.  1.  DUCCIO.  MADONNA  AUS  DER  SAMMLUNG  STROGANOFF 
Photogr.ipliie  von  H.  Burton 


100 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


ABB.  2.  AMBROGIO  LORENZETTI.  MADONNA  MIT  KIND 
SAMMLUNG  ORICCIOLI 


ABB.  3.  MADONNABÜSTE  AUS  DER 
PALMIERI  NUTI-SAMMLUNG 


Quercias  mit  den  faltenreichen  Gewandungen.  Am 
anziehendsten  erscheint  die  Sapientia,  deren  weiter 
Mantel  vom  Spiel  der  Winde  gehoben  erscheint. 
Sie  ist  auch  die  besterhaltene.  Nach  ihr  ist  es  die 
Fides,  die  ebenfalls  von  den  Stürmen  der  Zeit 
weniger  mitgenommen  worden  ist,  als  ihre  Ge¬ 
fährtinnen.  Von  der  Fortitudo  und  der  Caritas  sind 
nur  noch  Blöcke  vorhanden,  und  von  der  Spes  bloß 
der  liebliche  Profilkopf,  der  zu  dem  Symbol  der 
Hostie,  ein  Kreis  mit  einem  Kindergesicht,  aufblickt, 
eine  Komposition,  die  sein  Schüler  Matteo  Civitali 
ganz  ähnlich  wiederholte.  Wie  traurig  hat  aber  der 
Zahn  der  Zeit,  bei  dem  Mittelstück,  der  Madonnen¬ 
figur,  den  zu  ihren  Seiten  stehenden  Engeln  und 
den  beiden  Reliefs,  die  Erschaffung  Adams  und  die 
Vertreibung  aus  dem  Paradies,  gehaust!  Nur  die 
beiden  Freistatuen:  Rhea  Silvia  und  Acca  Laurentia 
mit  den  römischen  Zwillingen,  sind  verhältnismäßig 
gut  erhalten;  aber  auch  sie  zeigen  Spuren  von 
Restauration,  die  im  i8.  Jahrhundert,  wie  dokumen¬ 
tarisch  bewiesen  ist,  von  einem  gewissen  A.  Mazzanti 
gemacht  worden  sind.  Obwohl  nur  als  Stückwerk 
auf  uns  gekommen,  so  erregt  die  Fonte  Gaia,  Freuden¬ 
quelle,  wie  sie  die  Sienesen  zu  nennen  liebten,  unsere 
ganze  Bewunderung.  Sie  bezeichnet  mit  den  Portal- 
reliefs  von  San  Petronio  in  Bologna,  den  Zenit  von 
Quercias  Kunst.  Er  schuf  sie  nachdem  er  das  Grab¬ 
denkmal  der  Ilaria  im  Dom  zu  Lucca  vollendet  hatte. 
Wenn  sich  zuerst  bei  dieser  wunderbaren,  im  Tode 
lächelnden  Frauengestalt  das  Individuelle  von  Quercias 


Schöpfungskraft  zeigt,  so  trat  dies  noch  mächtiger  und 
vorgeschrittener  in  seinen  Brunnenfiguren  hervor. 
Denn  hier  zeigt  er  sich  schon  an  der  Schwelle  des 
15.  Jahrhunderts  (1414  —  M'S)  entschiedener 
Vorbote  der  Renaissance.  So  ist  die  liebliche  Figur 
seiner  Eva  in  dem  Seitenrelief,  die  uns  wie  durch 
ein  Wunder  erhalten  geblieben  ist,  eine  der 
ersten  unbekleideten  Gestalten  der  Frührenaissance, 
die  frei  und  ungehemmt  vom  schweren  Faltenwurf, 
in  dem  Quercia  sonst  so  gerne  wühlte,  auf  uns  ge¬ 
kommen  ist.  In  keinem  anderen  Skulpturwerk,  außer 
vielleicht  in  Quercias  Taufbrunnen  in  der  Kirche  San 
Giovanni,  sehen  wir  die  Gotik  und  Renaissance  so 
vorteilhaft,  ja  man  möchte  fast  sagen  so  schwesterlich 
verbunden,  wie  in  der  uns  jetzt  wiedergegebenen 
Fonte  Gaia. 

Eine  mächtige  Treppe  führt  an  der  Freistatue  der 
Acca  Laurentia  vorbei  in  andere  Palasträume,  wo 
sämtliche  Werke  dieses  großen  sienesischen  Künstlers 
in  guten  Abgüssen  ausgestellt  sind.  Unwillkürlich 
muß  man  beim  Überblick  dieser  vergeistigten  Bild¬ 
hauerwerke,  wo  alles  auf  Seelenausdruck  und  Charakter 
hinzielt,  daran  denken,  daß  wohl  der  junge  Michel¬ 
angelo,  als  er  seine  Kolossalfigur  von  Julius  II.  in 
Bologna  schuf,  öfters  vor  dem  Portal  von  San  Petronio 
in  Gedanken  vertieft  gestanden  haben  mag.  Scheint 
doch  der  Eindruck,  den  diese  pathetische  Kunst  der 
Genesiserzählungen  auf  ihn  gemacht  hat,  an  der  Decke 
der  Sistina  in  Rom  nachzuklingen.  Michelangelo  ist  mit 
Recht  als  der  geistige  Bruder  Quercias  bezeichnet  wor- 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


101 


den,  als  sein  wahrer  Schüler,  dessen  Erscheinen  erst  nach 
einem  halben  Jahrhundert  erfolgen  sollte.  Wohl  hatte 
aber  der  große  Jacopo  della  Qucrcia  auch  zeitgenössische 
Schüler  gehabt,  die  sein  Vorbild  zwar  nachahmten, 
aber  nicht  erreichen  konnten.  Dies  wird  uns  klar, 
wenn  wir  die  vergoldeten  Holzstatuen  aus  der  Kirche 
San  Martino  betrachten  (Saal  IX,  Nr.  15 — 19),  die 
Jungfrau  mit  dem  Kinde  und  die  vier  Apostelfiguren; 
oder  den  Niccolo  da  Bari  (Nr.  12),  eine  bemalte 
Holzstatue,  welche  den  Heiligen  Petronius  und 
Ambrosius  über  dem  Portal  von  San  Petronio  (die 
nach  Karl  Corneillus  ebenfalls  von  Schülerhand  her¬ 
rühren  dürften),  in  mancher  Hinsicht  nahe  kommt. 
Von  der  Hand  des  Meisters  selbst  dürften  wohl  die 
beiden  weiß  angestrichenen  Holzstatuen  desS.  Ambrogio 
und  S.  Antonio  sein  (Saal  VIII,  Nr.  34  —  35);  sie 
sind  größeren  Stils  als  die  Statuen  von  San  Martino 
und  denselben  jedenfalls  überlegen. 

Hochinteressant  sind  die  Verkündigungsstatuen 
(Saal  Vlll,  Nr.  42—43),  mit  der  Jahreszahl  1368  und 
1370  bezeichnet,  welche  in  ihrer  gotischen  Strenge 
jenem  Kunstzentrum  anzugehören  scheinen,  aus  dem 
Quercia  entsprungen  ist.  Aus  derselben  Zeit,  viel¬ 
leicht  etwas  früher,  ist  auch  die  majestätische  Statue 
des  Erzengel  Gabriel  (Nr.  1 3),  welcher  der  sich  leise 
verneigenden  Jungfrau  (Nr.  14),  ebenfalls  eine  lebens¬ 
große  Figur,  die  göttliche  Botschaft  bringt.  Diese 
Statuen  tragen  noch  deutlich  das  Gepräge  von  Simone 
Martinis  Kunst  an  sich. 

Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  Jacopo  della 
Quercias  erste  künstlerische  Anleitung  teilweise  von 
seinem  Vater  Pietro  d’AgnoIo  herrühren  dürfte,  der 
ein  angesehener  Goldschmied  war.  Daß  aber  die 
sienesischen  Goldschmiede  im  14.  und  15.  Jahr¬ 
hundert  Ausgezeichnetes  geleistet  haben,  wird  uns 
besonders  durch  diese  Ausstellungen  klargelegt.  In 
dem  mystischen  Helldunkel  der  Palastkapelle,  wo 
Fresken  von  Taddeo  Bartolo,  Szenen  aus  dem  Leben 
der  Jungfrau  Maria  schildern,  und  eines  der  an¬ 
mutigsten  Madonnenbilder  Sodomas  über  dem  Altäre 
hängt,  sind  in  einer  von  elektrischem  Licht  be¬ 
leuchteten  Vitrine,  die  sonst  schwer  zugänglichen 
Reliquienschreine  von  San  Galgano,  San  Giovanni, 
San  Bernardino,  San  Savinso  usw.  ausgestellt.  Von 
Ugolino  da  Vieri,  demselben,  der  das  Tabernakel  des 
S.S.  Corporale  in  der  Kathedrale  von  Orvieto  ge¬ 
schaffen  hat,  und  um  1326  tätig  war,  ist  das 
vollendete  Reliquiarium  von  S.  Savino  das  er  in 
Gemeinschaft  mit  Viva  di  Lando,  eines  anderen 
sienesischen  Goldschmiedes,  gearbeitet  haben  soll. 
Im  architektonischen  Aufbau  verrät  es  ein  überaus 
feines  Verständnis  für  die  gotischen  Linien  und  ist 
ebenso  wie  sein  Meisterwerk  in  Orvieto  mit  kost¬ 
baren  Emailarbeiten  geschmückt.  Die  Urne,  welche 
den  Arm  des  Johannes  des  Täufers  verwahren  soll, 
ist  das  Werk  des  Sienesen  Antonio  Francesco,  dessen 
Tätigkeit  in  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  fällt. 
Dem  Lando  di  Pietro,  demselben,  der  die  eiserne 
Krone  für  Heinrich  VII.  geschaffen  hat,  und  der  Ur¬ 
heber  jener  Domruinen  war,  die  heute  noch  neben 
der  Kathedrale  in  Siena  allgemeine  Bewunderung  er- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  4 


regen,  wird  der  Reliquienschrein  von  San  Galgano 
zugeschrieben,  eine  Arbeit  von  größter  Feinheit  und 
Mannigfaltigkeit,  die  ursprünglich  zum  Kirchenschatz 
der  Abteikirche  von  S.  Galgano  gehörte. 

Überhaupt  scheinen  die  Kirchen  und  Klöster  mit 
rühmlicher  Bereitwilligkeit  ihre  Schätze  für  die  Aus¬ 
stellung  in  Siena  zur  Verfügung  gestellt  zu  haben. 
Neben  einem  Prozessionskreuz  aus  Val  di  Chiano, 
das  mit  Edelsteinen  und  künstlich  auf  Pergament 
ausgeführten  Miniaturen  geschmückt  ist,  sind  sogar 
die  goldenen  Rosen  ausgestellt,  welche  einst  die 
sienesischen  Päpste  Pius  II.  und  Alexander  VII.  ihrer 
Vaterstadt  verehrten.  Bemerkenswert  ist  der  Stamm¬ 
baum  Jesse  in  vergoldeter  Bronze  mit  Korallen  und 
Emailschmuck  geziert  (Saal  V,  Nr.  17),  ein  mehr  gran¬ 
dioses  als  kunstvolles  Werk,  das  auf  Gabriello  di  Antonio 
di  Lorenzo  da  Siena  zurückgeführt  wird.  In  einer  Vitrine 
links  daneben  ist  ein  vollständiger  Allarschmuck  in 
Bronze  und  Kristall  mit  Emailarbeit  zu  sehen,  der 
von  Benvenuto  Cellini  für  die  Familie  Chigi  gearbeitet 
worden  sein  soll,  ln  demselben  Saal,  Mappamondo 
genannt,  wo  Simone  Martinis  Bild  der  Majestas  links 
von  der  Fensterwand  majestätisch  thront,  und  gegen¬ 
über  sein  kühnes  Reiterbildnis  des  Guidoriccio  dar¬ 
gestellt  ist,  sind  in  großer  Fülle  reiche  Priester¬ 
gewänder,  kunstvoll  gestickte  Taufschleier,  alte  Spitzen, 
kostbare  Altaraufsätze,  meist  Reliquien  aus  alten  siene¬ 
sischen  Adelsfamilien,  ausgestellt.  Daß  sowohl  hier 
als  auch  in  der  Sala  della  Pace  nebenan,  so  genannt 
wegen  Ambrogio  Lorenzettis  weißgekleideter  Figur 
der  Pax,  davon  abgesehen  worden  ist,  Gemälde  aus- 


ABB  4  SIMONE  MARTINI.  VERKÜNDIGUNGS.MADONN A 
GALERIE  VON  ANTWERPEN 

’4 


1  02 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


zustellen,  weil  es  Räume  sind,  die  in  ihrem  eigenen 
Freskenschmucke  prangen,  ist  wohl  bedacht  gewesen. 
Sie  fanden  aber  reiclilich  Platz  und  wohl  auch  besseres 
Licht  im  Stockwerk  darüber. 

je  der  Florentiner  Cimabue  uns  zur  Mythe 

wird,  so  mehr  scheint  der  Sienese  Duccio  di 
Buoninsegna  eine  deutlich  ausgeprägte  Künstlergestalt 
anzunebmen.  Unter  den  zahlreichen  hier  zusammen¬ 
gebrachten,  dem  Meister  zugeschriebenen  Bildern  kann 
jedoch  nur  eines  ernstlichen  Anspruch  auf  seine 
Autorschaft  erheben,  während  die  anderen,  mit  einigen 
Ausnahmen  von  Fälschungen,  immerhin  Schulbilder 
sind.  Unverkennbare  Ähnlichkeit  mit  dem  jetzt  dem 
Duccio  zugeschriebenen  Altarbild  in  der  Rucellaikapelle 
in  Santa  Maria  Novella  in  Florenz  zeigt  ein  wohl¬ 
erhaltenes  Madonnenbild  in  Saal  XXVI,  Nr.  17.  Ein 
anderes  Heiligenbild  (Nr,  20)  mit  einem  sich  zärtlich  an 
die  Madonna  anschmiegenden  Bambino,  weist  dagegen 
auf  des  Meisters  spätere  Zeit  hin.  Ein  durchaus 
unbestrittener  echter  Duccio  (Abb.  1)  aber  ist  das 
kleine  Bildchen  aus  der  Sammlung  Stroganoff  (Saal 
XXVll,  Nr.  37).  Der  edle  Madonnenkopf  scheint 
eng  verwandt  mit  des  Meisters  Majestas  im  Dom¬ 
museum,  während  der  muntere  Christusknabe,  der 
kosend  nach  dem  Schleier  seiner  Mutter  greift,  große 
Analogie  mit  den  unschuldigen  Kindlein,  auf  seinen 
erzählenden  Bilderserien,  zeigt.  Die  überaus  feine 
Ausführung  dieses  Werkes  läßt  auf  die  letzte  Periode 
Duccios  schließen,  die  als  seine  gotische  bezeichnet  wird. 

Auf  der  Ausstellung  in  London  sind  mehrere 
höchst  interessante  Duccios  zusammengebracht  wor- 


ABB.  5.  VERKÜNDIOUNOSENOEL  VON  SIMONE  MARTINI 
GALERIE  VON  ANTWERPEN 


den.  Unter  diesen  wäre  vorerst  die  Kreuzigung, 
im  Besitz  von  Lord  Crawford,  zu  nennen  (B.  F. 
A.  C,  Nr.  4),  die  wohl  als  das  späteste  uns  be¬ 
kannte  Werk  des  Meisters  angesehen  werden  dürfte. 
Die  sorgfältige  Technik  zeigt  einen  großen  Fortschritt 
über  die  vier  Bilder  der  Bensonschen  Sammlung, 
Szenen  aus  dem  Leben  Christi  darstellend,  die  in 
dem  Katalog  mit  Recht  als  zur  Predella  der  eben¬ 
erwähnten  Majestas  gehörend,  bezeichnet  worden  sind. 
Denn  bekanntlich  bestand  das  berühmte  Dombild  Duccios 
nicht  aus  zwei  großen  abgetrennten  Flächen,  so  wie 
dasselbe  jetzt  zu  sehen  ist.  Es  war  vielmehr  eine 
mit  Flügelbildchen  und  einer  doppelten  Reihe  von 
Predellen  geschmückte  Ancona,  wie  sie  noch  heute 
auf  einem  alten  Bücherdeckel  im  Archiv  zu  Siena 
abgebildet  ist.  Ein  anderes  höchst  interessantes  und 
bisher  wenig  bekanntes  Bild,  das  dem  Meister  zu¬ 
geschrieben  wird,  ist  das  Triptychon  (B.  F.  A.  C, 
Nr.  5),  das  in  den  Gemächern  der  Königin  Viktoria  in 
Osborne  verborgen  geblieben  und  vom  Prinzen  Consort 
im  Jahre  1845  von  einem  Dr.  Metzger  erworben 
worden  war.  Leider  ist  es  nicht  frei  von  Übermalung, 
auch  scheint  der  Goldgrund  erneuert  zu  sein.  Wir 
sehen  die  Madonna  zu  beiden  Seiten  der  Kreuzigung 
auf  kosmatischen  Thronen  sitzend.  Sie  ist  von 
Engeln  umgeben,  die  stark  an  jene  von  Torriti  in  der 
Abside  von  Santa  Maria  Maggiore  erinnern ,  ein  Be¬ 
weis,  daß  die  Kunst  der  Cosmaten  in  Rom,  Duccio 
durchaus  nicht  fremd  war.  In  den  oberen  Teilen  dieses 
Triptychon  ist  links  die  Verkündigung  und  rechts  der 
hl.  Franziskus,  der  die  Stigmata  erhält,  dargestellt,  ein 
Motiv,  das  Duccio  merkwürdigerweise  sonst  auf  keinem 
seiner  anderen  Bilder  behandelt  zu  haben  scheint.  Wir 
sehen  hier  gleichsam  den  römischen  Einfluß  der 
Cosmaten  über  die  byzantinischen  Traditionen,  an 
denen  Duccio  sonst  so  sehr  festhielt,  triumphieren. 

Von  Ugolino  da  Siena  und  Segna,  Schüler  Duccios, 
sind  mehrere  bemerkenswerte  Bilder  auf  beiden  Aus¬ 
stellungen  vorhanden.  Vor  allem  aber  ist  es  der 
größte  unter  ihnen,  Simone  Martini,  der  durch  seine 
reizenden  Schöpfungen  unsere  ganze  Aufmerksamkeit 
auf  sich  zieht  (Abb.  4). 

In  erster  Linie  wäre  von  ihm  die  Verkündigungs¬ 
madonna  aus  der  Sammlung  Stroganoff  (Saal  XXVII, 
Nr.  38)  zu  nennen,  die  an  Feinheit  der  Auffassung 
und  der  Farbenharmonie  dem  kreuztragenden  Christus 
in  der  Benson-Sammlung  (B.  F.  A.  C.  Nr.  22)  besonders 
nahe  kommt,  der  zwar  dem  Berna  zugeschrieben  wird, 
aber  wohl  eher  von  Simone  selbst  sein  dürfte.  Die 
auf  einem  Kissen  sitzende  Madonna  auf  dem  Stroga- 
noffschen  Bilde  hält  ein  Buch  in  der  linken  Hand, 
während  sie  mit  der  rechten  den  in  knappen  Falten 
herabwallenden  Mantel  zusammenhält.  Die  elegante 
Pose,  die  miniaturartige,  sorgfältige  Malerei  deuten 
auf  des  Meisters  französische  Periode  in  Avignon 
und  betonen  gewissermaßen  den  Einfluß,  den  die 
französischen  Miniaturisten  auf  ihn  ausgeübt  haben. 
Durch  die  Ausstellung  der  französischen  Primitiven 
in  Paris  ist  andererseits  auch  klargelegt  worden,  daß 
die  Kunst  Simone  Martinis  und  seiner  Schüler  durch¬ 
aus  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  französische  Malerei 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


103 


ABB.  6.  SIMONE  MARTINI.  MADONNA 
SAMMLUNG  STROGANOFF 

des  14.  Jahrhunderts  geblieben  ist.  Einen  neuen  Be¬ 
weis  dafür  liefert  das  Diptych  (B.  F.  A.  C.  Nr.  20), 
Kreuzigung  und  Pieta  darstellend;  ein  Bild,  das 
wohl  von  einem  französischen  Schüler  Simones  her¬ 
rühren  dürfte.  Höchst  interessant  und  augen¬ 
scheinlich  ebenfalls  aus  des  Meisters  Avignonzeit 
ist  die  Kreuzigung  und  Kreuzabnahme  zwischen 
einer  Verkündigung  (B.  F.  A.  C.  Nr.  21;  Abb.  5 — 6), 
kleine  Serienbilder,  ursprünglich  aus  Dijon  stammend, 
und  jetzt  im  Museum  zu  Antwerpen,  zu  denen  das 
kleine  Bildchen  Simones  im  Louvre,  den  Kreuzgang 
darstellend,  ebenfalls  gehören  dürfte.  Wir  können  in 
dieser  ganz  reizenden  Verkündigung,  wenn  wir  sie  mit 
jener  anderen  in  den  Uffizien  vergleichen,  die  Simone 
mit  seinem  Mitarbeiter  Lippo  Memmi  im  Jahre  1333  ge¬ 
malt  hat,  als  er  noch  unter  dem  Einfluß  von  Duccio 
war,  des  Meisters  allmähliche  Entwicklung  verfolgen  und 
den  Eindruck  nachfühlen,  den  die  französische  Kunst 
des  Trecento  mit  ihren  gotischen  Tendenzen  auf  ihn 
ausgeübt.  Besonders  in  dem  knieenden  Engel,  der 
mit  graziöser  Bewegung  die  Lilie  hält,  ist  ein  Zug 
jenes  feinen  Qoiit  frangais  zu  erkennen,  der  in  Mäßi¬ 
gung  und  Würde  seinen  Ausdruck  findet.  Eine 
Schöpfung  aus  derselben  Periode  des  Meisters  und 
augenscheinlich  kurz  vor  seinem  in  Avignon  erfolgten 
Tode  gemalt,  ist  sein  signiertes  und  1342  datiertes 
Bild  aus  Liverpool  (B.  F.  A.  C.  Nr.  18),  die  Rückkehr 
Jesus  vom  Tempel  darstellend,  ein  Bild,  in  dem 
Simone  jedoch  auf  seine  erste  Periode  zurückzugreifen 
scheint,  als  ob  den  Künstler,  der  bald  im  fremden  Lande 
sterben  sollte,  noch  kurz  vor  seinem  Tode  die  Er¬ 


innerung  an  seine  Heimat  gefangen  hielte.  Lippo 
Memmi,  sein  Schwager  und  Mitarbeiter,  der  Simone 
augenscheinlich  nicht  nach  Avignon  begleitete,  ver¬ 
harrte  vielmehr  als  Simone  Martini  selbst,  bei  den  alten 
Traditionen,  so  wie  wir  es  bei  seinem  signierten 
Madonnenbild  aus  der  Kirche  dei  Servi  (Saal  XXVIII, 
Nr.  10)  wahrnehmen  können.  Er  muß  auch  großen 
Anteil  an  den  fünf  Bildern  Simones  von  Orvieto 
gehabt  haben  (Saal  XXVII,  Nr.  8 — 12),  die  Madonna, 
Maria  Magdalena,  Petrus,  Paulus  und  den  hl.  Dominik 
darstellend,  Bilder,  die  noch  ganz  zu  des  Meisters 
erster  Periode  gehören. 

Pietro  Lorenzetti  und  sein  Bruder  Ambrogio, 
welche  die  Kunst  eines  Duccio,  Simone  Martini  und 
Giotto  in  sich  aufnahmen  und  weiter  entwickelten, 
sind  auf  der  Ausstellung  von  Siena  sowohl  als  von 
London  nur  mittelmäßig  und  meist  durch  Schul¬ 
bilder  vertreten.  Bemerkenswert  ist  allerdings  das 
dem  Ambrogio  Lorenzetti  zugeschriebene  Bild  auf 
Goldgrund  (B.  F.  A.  C.  Nr.  11)  aus  der  Stroganoff- 
Sammlung,  das  in  sechs  Abteilungen  Szenen  aus 
dem  Leben  Christi:  Kreuzabnahme,  Pieta,  Vorhölle, 
Auferstehung,  Himmelfahrt  und  die  Ausgießung 
des  heiligen  Geistes  darstellt.  Obwohl  die  Pieta 
mit  der  in  Schmerz  aufgelösten  Maria  Magdalena 
entfernt  an  Ambrogio  Lorenzetti  erinnert,  so  macht 
sich  andererseits  in  den  breiten  Typen  der  Apostel¬ 
köpfe  und  in  den  an  die  Kosmatenkunst  erinnern¬ 
den  Engelsgestalten  ein  anderer  Einfluß  geltend, 
den  wir  in  der  Unterkirche  von  Santa  Cecilia  bei 
den  Fresken  Cavallinis  suchen  müssen.  Die  Halb¬ 
figur  des  Christus  in  den  Wolken,  mit  dem  breiten 
Nimbus  und  umringt  von  fünf  Engeln,  in  der  Him¬ 
melfahrt  auf  dem  Stroganoffschen  Bilde  ist  jedenfalls 
verwandt  mit  dem  Christus  auf  Cavallinis  Fresken 
und  deutet  somit  auf  einen  Meister  der  römischen 
Schule,  der  sowohl  von  Simone  Martini  als  von 
Lorenzetti  beeinflußt  war  und  einer  jener  großen  un¬ 
bekannten  Künstler  sein  könnte,  der  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Trecento  in  den  Wölbungen  der  Spanischen 
Kapelle  eine  Farbenharmonie  entwickelt  hat,  die  wir 
nicht  unähnlich  auf  diesem,  dem  Ambrogio  Lorenzetti 
zugeschriebenen  Bilde  wiederfinden.  Ein  Bild  in  den 
Uffizien,  mit  der  hl.  Cecilie  im  Mittelpunkt,  das  früher 
dem  Cimabue  zugeschrieben  wurde,  aber  viel  eher 
verwandt  ist  mit  Giottos  Schule,  dürfte  hier  vergleichs¬ 
weise  herbeigezogen  werden.  —  Ein  unbestrittener 
Ambrogio  dagegen  ist  das  leider  stark  übermalte  aber 
echte  Madonnenbild  mit  dem  großäugigen  Christus¬ 
kind  aus  der  Sammlung  Griccioli  (Saal  XXVII,  Nr.  28), 
wo  das  zärtliche  Verhältnis  zwischen  dem  Jesusknaben 
und  der  Mutter  Gottes,  das  auf  den  frühen  Duccio- 
bildern  zuerst  Ausdruck  fand,  ganz  besonders  akzentuiert 
ist  (Abb.  2).  Ein  ähnliches  dem  älteren  Lorenzetti,  Pietro, 
zugeschriebenes  Madonnenbild  (Saal  XXVIll,  Nr.  15) 
aus  der  Loeser- Sammlung  verdient  ebenfalls  Erwäh¬ 
nung  und  betont  den  Typenunterschied  in  den  Werken 
dieser  beiden  Künstler.  Mit  ihrem  Tode  riß  der  Ver¬ 
fall  der  sienesischen  Malerschule,  gefördert  durch  die 
ungünstigen  politischen  Verhältnisse  der  Stadt,  in  er¬ 
schreckender  Weise  um  sich.  Der  Mißkredit,  in  den 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


1 04 


ABB.  7.  SASSETTA.  GEBURT  DER  MARIA 
ALTARBILD  AUS  ASCIANO 


die  sienesische  Malerschule  des  Quattrocento  verfiel,  ist 
hauptsächlich  auf  die  schwachen  Nachfolger  des 
Simone  Martini  und  der  Lorenzetti,  wie  Bartolo  di 
Fredi  und  dessen  Sohn  Andrea  di  Bartolo,  Luca  di 
Tomme,  Andrea  Vanni  usw.  zurückzuführen ;  ihre  Werke 
sind  ziemlich  zahlreich  besonders  auf  der  Ausstellung  in 
Siena  vertreten;  dagegen  ist  von  Barna,  Taddeo  Bartolo 
und  dem  talentvollen  Domenico  Bartolo  kaum  etwas 
Echtes  vorhanden.  Allerdings  möchte  man  fast  diesem 
letzteren  das  Bild  des  predigenden  hl.  Bernardinus(B.  F.  A. 
C.  Nr.  34)  aus  Liverpool  zuschreiben.  Die  gedrungenen 
Gestalten  im  Vordergrund,  die  wir  ganz  ähnlich  wieder 
auf  seinen  Hospitalfresken  in  Siena  finden,  ebenso 
wie  die  reiche  Renaissancearchitektur  im  Hintergrund, 
lassen  jedenfalls  vielmehr  auf  ihn  als  auf  Vecchietta 
schließen  (dem  es  im  Katalog  zugeschrieben  wird), 
der  es  im  Gegenteil  liebte,  wie  auf  seiner  Assunta  in 
Pienza,  seine  Figuren  in  die  Länge  zu  ziehen. 

Als  einer  der  bedeutendsten  Quattrocentisten,  der 
neuerdings  besonders  in  Vordergrund  gekommen  ist, 
wäre  Stefano  Giovanni  genannt  Sassetta  zu  bezeichnen. 
Obwohl  jetzt  die  Gefahr  nahe  liegt,  daß  dieser  aller¬ 
dings  bisher  nur  wenig  geschätzte  Künstler  augen¬ 
blicklich  fast  überschätzt  worden  ist,  so  ist  andererseits 
nicht  zu  leugnen,  daß  derselbe  hauptsächlich  deshalb 
nicht  genügend  anerkannt  war,  weil  er  überhaupt  kaum 
gekannt  war.  Sind  doch  seine  Werke  in  den  meisten 
größeren  Galerien,  wie  z.  B.  in  Berlin  und  in  Siena 
selbst,  entweder  nicht  genügend,  oder  wie  im  Louvre 
und  der  National  Gallery,  gar  nicht  vertreten. 


Während  unzählige  Bilder  von  seinem  Schüler  Sano 
di  Pietro  mehrere  Säle  der  Akademie  in  Siena  füllen, 
so  muß  man,  um  die  Ancona  Sassettas  zu  sehen, 
nach  der  entfernt  gelegenen  Klosterkirche  der  Osser- 
vanza  pilgern.  Durch  diese  Ausstellungen  sind 
nun  allerdings  eine  Reihe  interessanter  Bilder  und 
Bildchen  dieses  Meisters  ans  Tageslicht  gefördert  wor¬ 
den.  ln  erster  Linie  wäre  in  diesem  Zusammenhang 
sein  Altarbild  aus  Asciano  (Abb.  7)  zu  nennen,  die 
Geburt  Marias  darstellend  (Saal  XXXllI,  Nr.  7).  Es 
ist  dies  ein  Jugendwerk  des  Meisters,  das  nicht  ohne 
einige  Analogie  mit  der  Geburt  Marias  von  Pietro 
Lorenzetti  in  der  Opera  del  Duome  ist  und  auch 
einige  Ähnlichkeit  verrät  mit  den  Bildern  von  Bar¬ 
tolo  di  Fredi  und  Paolo  di  Giovanni  Fei  in  der 
Akademie,  dasselbe  Sujet  darstellend.  Sassetta  über¬ 
trifft  aber  seine  Vorgänger,  weitaus  an  Anmut  und 
Grazie  der  Formen.  Mit  erfrischender  Naivität 
führt  er  uns  in  das  Gemach  der  hl.  Anna,  um 
die  sich  ihre  Gefährtinnen  bemühen,  während  im 
Vordergrund  das  neugeborene  Marienkind  gebadet 
wird.  Durch  eine  offene  Tür  im  Mittelgrund 
sieht  man  eine  jugendliche  Mädchengestalt  im  rei¬ 
chen  Brokatkleid  Erfrischungen  für  die  Wöchnerin 
herbeibringen,  während  im  linken  Flügelbild  Joachim 
mit  einem  alten  Manne  das  Ereignis  bespricht  und 
ein  junger  Knabe  an  der  Gartentür  lauscht.  In  dem 
oberen  Teil  der  Ancona  sind  Szenen  aus  dem  Leben 
der  Jungfrau  in  feinem  Miniaturstil  ausgeführt  (Abb.  8), 
nach  welchen  man  ein  anderes,  früher  dem  Fra  Angelico 
gegebenes  Bild,  eine  Anbetung  der  Könige  (Saal  XXXV, 
Nr.  4),  dem  Sassetta  zuschreiben  könnte.  Es  unter¬ 
liegt  jedenfalls  keinem  Zweifel,  daß  dieser  viel  mit  Fra 
Angelico  gemein  hat.  Doch  geht  durch  seine  Bilder 
ein  mehr  weltlicher  realistischer  Zug  als  dies  bei  dem 
göttlichen  Fiesoie  der  Fall  ist,  und  der  sich  besonders  in 
diesem  reizenden  Bildchen  der  Anbetung  der  Magier  gel¬ 
tend  macht.  Nur  bei  der  Madonna  selbst  hat  Sassetta  den 
traditionellen  Mantel  beibehalten,  während  die  übrigen 
Frauen  mit  pelzverbrämten  Ärmeln  und  hohen  Gürteln 
in  der  Tracht  der  Zeit  dargestellt  sind.  Zierliche 
Pagen  stehen  als  Waffenträger  hinter  dem  jungen 
König,  der  mit  der  Krone  auf  dem  Haupt,  in  kost¬ 
baren  Mantel  gekleidet,  dem  Christuskind  eine  Gabe 
darreicht.  Ein  Kriegsknecht  macht  sich  mit  den 
Flossen  im  Hintergrund  zu  schaffen,  während  zur 
Seite  Windhunde  ihr  Spiel  treiben.  Wie  bei  einem 
anderen  ihm  zugeschriebenen  Bilde  in  Barnard  Castle 
(B.  F.  A.  C.),  wo  die  bunten  Glasfenster  eine  ganz 
besondere  Anziehung  sind,  so  sind  auch  hier 
gerade  die  akzessorischen  Teile  von  größter  Wir¬ 
kung.  Außer  einem  Madonnenbild  aus  der  Kathe¬ 
drale  von  Grosseto  (Saal  XXXV,  Nr.  11)  sind 
auch  zwei  Serienbilder  (Saal  XXXIV,  Nr.  3  —  4)  von 
seiner  für  Borgo  San  Sepolcro  gemalten  Ancona  aus¬ 
gestellt,  mit  Szenen  aus  dem  Leben  des  hl.  Franziskus. 

Verglichen  mit  dem  Bild  in  Chantilly,  »das  Bündnis 
des  hl.  Franziskus  mit  der  Armut  darstellend«,  ist 
nicht  zu  leugnen,  daß  die  Erhaltung  dieser  beiden, 
jetzt  in  der  Sammlung  Chalendon  sich  befinden¬ 
den  Bilder  nicht  befriedigend  ist.  Man  möchte  fast 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


105 


behaupten,  daß  Sassetta  hier  möglicherweise  mit 
seinem  Schüler  Sano  di  Pietro  gearbeitet  hat,  vergleicht 
man  sie  mit  des  Letzteren:  Traum  des  Hieronymus 
im  Louvre.  M.  Chalendon  besitzt  sechs  dieser  Serien¬ 
bilder,  während  ein  anderes  bei  Comte  Märtel  in  Paris 
ist  und  das  achte  und  bei  weitem  das  schönste  unter 
dem  Namen  von  Sano  di  Pietro  sich  seit  Jahren  im 
Musee  Conde  in  Chantilly  befindet.  Das  Mittelstück 
aber,  eine  Madonna  mit  Kind,  ist  im  Besitz  von 
B.  Berenson  dem  das  Verdienst  gehört,  diese  noch  vor 
kurzem  verschwunden  geglaubten  Ancona  Sassettas, 
wieder  identifiziert  zu  haben. 

Ein  anderer  sienesischer  Maler,  der  als  Schüler 
Sassettas  gelten  dürfte  und  ebenfalls  mehr  Anerkennung 
verdiente,  als  ihm  bis  jetzt  zuteil  geworden,  ist  Gio¬ 
vanni  di  Paolo,  von  dem  zahlreiche  Bilder  in  der 
Akademie  zu  Siena  und  anderwärts  zu  finden  sind. 
Angesichts  der  Tatsache,  daß  sich  seine  Tätigkeit  bis 
in  das  Jahr  1482  erstreckte,  wurde  er  bisher,  be¬ 
sonders  was  seine  Tafelbilder  betrifft,  gerade  so  wie 
Sano  di  Pietro,  unter  die  Ziirnckgebliebenen  gerechnet. 
Doch  in  unserer  gegenwärtigen  Zeit,  wo  das  Mittel- 
alter  und  die  Kunst  der  Primitiven  so  viel  Anziehung 
ausübt,  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn  neuerdings 
auch  den  sienesischen  Quattrocentisten,  die  sich  von 
den  alten  Kunsttraditionen  nicht  losmachen  konnten, 
mehr  Interesse  entgegengebracht  wird.  Daß  sie  in 
den  großen  Vorbildern  des  Trecento  viel  mehr  als  in 
der  hereinbrechenden  Renaissance  ihre  Ideale  fanden, 
gereicht  ihnen  jetzt  nicht  mehr  wie  früher  zum  Tadel, 
sondern  eher  zum  Lobe,  ja  man  möchte  sogar,  und 
vielleicht  nicht  mit  Unrecht,  so  weit  gehen,  ihnen 
eine  vollendetere  Technik  zuzutrauen  als  sie  auf  ihren 
Bildern  entwickeln,  nur  daß  sie  eine  solche  mit  ihren 
retrospektiven  Tendenzen  nicht  anwenden  konnten. 
Nun  ist  es  nicht  zu  leugnen,  daß  in 
vielen  Fällen  ein  mystisch  angehauchtes 
Heiligenbild  den  modernen  Menschen 
wohl  mehr  anzieht  als  die  klassisch 
aufgefaßten  Madonnen  der  Hochrenais¬ 
sance,  die  meist  nur  schöne  Frauen  der 
Zeit  darstellen.  So  erregt  z.  B.  Sassettas 
feines  Madonnenbild  in  der  Osservanza 
und  die  Madonna  mit  dem  großäugigen 
Christuskind  von  Sano  di  Pietro  eben¬ 
daselbst  neuerdings  ungeteilte  Bewun¬ 
derung.  Auch  die  Verkündigung  von 
Giovanni  di  Paolo  in  der  Benson-Samm- 
lung  (B.  F.  A.  C.  Nr.  30)  gehört  in  diese 
Kategorie  stimmungsvoller  Heiligenbilder. 

Trotz  ungeschickter  Formenbehandlung 
wird  sie  wegen  ihrer  Farbenpracht,  der 
feinen  Architektur,  der  liebevollen  Dar¬ 
stellung  von  Gräsern  und  Blumen  als 
ein  höchst  anziehendes  Bild  hervorge¬ 
hoben.  Überhaupt  zeigt  dieser  siene- 
sische  Quattrocentist  eine  unbegrenzte 
Imagination,  die  ihn  dermaßen  mit  sich 
fortreißt,  daß  seine  Zeichnung  öfters 
flüchtig  erscheint.  Er  erzielt  mit  seiner 
ihm  eigenen  naiven  Darstellungsart 


Wirkungen,  die  uns  wie  japanische  Kunst  anmuten, 
wie  z.  B.  seine  Vertreibung  aus  dem  Paradies  (Saal 
XXXIV,  Nr.  13)  und  sein  Sturm  (Saal  XXXV,  Nr.  7) 
aus  der  Palmieri  Nuti- Sammlung.  Wir  sehen  ein 
Schiff  mit  gebrochenen  Masten  und  Segeln,  darauf 
eine  schreiende  Masse  von  furchtsamen  Menschen; 
in  den  Lüften  aber  erscheint  schon  der  hl.  Bernardin, 
der  die  stürmenden  Wellen  im  Handumdrehen  in 
wogende  Wiesen  verwandelt  hat. 

Matteo  di  Giovanni,  der  produktivste,  wenn  nicht 
der  bedeutendste,  sienesische  Quattrocentist,  ist  mit 
einem  bisher  nur  wenig  bekannten  Heiligenbild  (Saal 
XXXIV,  Nr.  11)  aus  der  Kirche  Santa  Eugenia  ver¬ 
treten  (Abb.  11).  Von  großem  Liebreiz,  und  nicht 
ohne  Anflug  von  Realismus,  ist  die  blondgelockte 
Heilige  rechts  von  der  Madonna,  mit  dem  Perlen¬ 
schmuck  im  Haar.  Auch  sein  bethlehemitischer  Kinder¬ 
mord,  dem  Gabriel  d’Estree ')  so  viel  abzugewinnen 
weiß,  ist  unvernünftigerweise  aus  der  Kirche  San 
Agostino,  wo  das  Bild  in  gutem  Lichte  zu  sehen 
war,  in  den  Ausstellungsraum  gebracht  worden,  und 
seine  Wirkung  weniger  vorteilhaft  erscheint.  Wenn 
je  eine  Tat  in  ihrer  ganzen  abstoßenden  Grausamkeit 
geschildert  worden  ist,  so  ist  es  dieser  Kindermord 
des  Matteo.  Mit  hohnlaehender  Wut  stürzen  sich 
die  Henkersknechte  auf  die  zarten  Kindlein  und  unter 
die  schreienden  Frauen,  um  im  Totschlag  zu  schwelgen. 
Befriedigt  grinsend  sieht  König  Herodes  dem  schauer¬ 
lichen  Vorgang  zu,  während  ein  Mädehen  und  vier 
Knaben  von  den  Säulenbogen  des  königlichen  Palastes 
lachend  und  aufs  höchste  amüsiert  zusehen.  Nur  ein 
Mann,  der  nachdenkend  aus  dem  Bilde  rechts  den  Be¬ 
schauer  fixiert,  scheint  der  grausigen  Szene  entrückt 


io6 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


zu  sein;  man  hat  das  Gefühl,  daß  man  es  hier  mit 
einem  Porträtkopf,  der  vielleicht  auf  Matteo  di  Gio¬ 
vanni  selbst  zu  führen  wäre,  zu  tun  hat.  Ebenso 
ließe  seine  hl.  Barbara  zwischen  den  musizierenden 
Engeln,  ein  anderer  -ndividualisierter  Kopf,  auf  seiner 
Anconr  ir:  der  Kirche  San  Domenico  wohl  auch 
auf  riii  Porträt  scliließen.  Ob  nun  verglichen  mit 
diese;'  der  weibliche  Profilkopf  aus  der  Mondschen 
Satnr.diiiig  in  London  (B.  F.  A.  C.  Nr.  4)  eine  gewisse 
Annäiieiu  ig  hat  und  somit,  wie  im  Katalog  nahe 
gelegt  wird,  von  der  Hand  Matteos  wäre,  bleibt 
allerdings  eine  unbeantwortete  Frage,  zu  deren  Lösung 
die  nötigen  Anhaltspunkte  nicht  vorhanden  sind. 
Ein  anderes  Frauenporträt  (B.  F.  A.  C.  Nr.  52)  wird 
ebendaselbst  dem  Girolamo  di  Benvenuto  zuge¬ 
schrieben,  einem  Maler,  der  bis  ungefähr  1524  lebte 
und  somit  zwei  Jahrzehnte  an  der  Seite  Sodomas  in 
Siena  war,  ohne  merkwürdigerweise  sich  von  dem  beherr¬ 
schenden  Genius  dieses  großen  Künstlers  im  geringsten 
beeinflussen  zu  lassen.  Wenn  dieses  Porträt,  das  übrigens 
stark  restauriert  ist,  wirklich  von  Girolamo,  dem 
Schüler  Benvenutos,  sein  sollte,  so  hätte  dieser  hier 
vielmehr  auf  Simone  Martini  zurückgegriffen,  dem  es 
als  Porträt  der  Laura  früher  zugeschrieben  war.  —  Ein 
unbestrittenes  Bild  Girolamos  ist  dagegen  das  Lünetten¬ 
bild  (Saal  XXlII.Nr.  1 2),  welches  die  Abreise  aus  Avignon 
von  Papst  Gregor  XL  in  Begleitung  der  Caterina  von 
Siena  darstellt.  Er  sowohl  als  sein  Vater  Benvenuto  liebten 
es,  ihren  Madonnen  und  Heiligen  in  reichen  kost¬ 
baren  Gewändern  darzustellcn  und  mochten  somit  jene 
hierarchische  Kunst  weitergeführt  haben,  die  später  noch 

in  den  jesuiten- 
kirchen  so  sehr 
florierte.  Auch  von 
Giudoccio  Cozza- 
relli,  dem  talent¬ 
vollen  Schüler  Mat¬ 
teos,  sind  auf  bei¬ 
den  Ausstellungen 
beachtenswerte 
Werke  vorhanden, 
darunter  ein  ge¬ 
lungenes  Genre¬ 
bildchen  (Saal 
XXXIV,  Nr.  34), 
Zisterzienser  Mön¬ 
che  darstellend,  die 
sich  mit  dem  Auf¬ 
bau  einergotischen 
Kirche  befassen. 

Mit  diesem  Giu¬ 
doccio  darf  übri¬ 
gens  der  Architekt 
und  BildhauerGia- 
como  Cozzarelli 
nicht  verwechselt 
werden:  von  ihm 
ist  die  Statue  des 
hl.  Sigismund  (Saal 
VIII, Nr.30), ebenso 
ABB  9.  BACCHUSSTATUE  VON  FEDERiGHi  die  kniende  Johau- 


nesfigur  (Saal  IX,  Nr.  10),  die  zu  der  Gruppe  seiner 
Pieta  in  der  Osservanza  gehört,  aber  merkwürdiger¬ 
weise  jetzt  im  Dommuseum  aufbewahrt  wird.  Be¬ 
merkenswert  sind  in  demselben  Saal  die  zwei  Ver¬ 
kündigungsstatuen  (Saal  VIII,  Nr.  44 — 45)  aus  dem 
1 5.  Jahrhundert,  die  wohl  auf  Giovanni  di  Stefano,  einem 
Neffen  von  Sassetta,  zurückzuführen  sind.  Haben  doch 
die  hochgeschürzten  eleganten  Figuren  eine  auffallende 
Ähnlichkeit  mit  der  dienenden  Mädchengestalt,  die 
durch  die  offene  Tür  hereintritt,  in  Sassettas  Ancona 
von  Asciano.  Es  dürften  hier  vergleichsweise  Gio¬ 
vanni  di  Stefanos,  Bronzeengel  auf  dem  Hochaltar  der 
Kathedrale  hinzugezogen  werden,  sowie  seine  Mar¬ 
morstatue  des  hl.  Ansano  in  der  Kapelle  von  San 
Giovanni  im  Dom.  Von  Federighi,  einem  sienesischen 
Bildhauer  jener  Zeit,  der  zuweilen  die  Antike  sklavisch 
nachzuahinenwußte,wiez.B.  in  der  kleinen  Bacchusstatue 
aus  dem  Hause  d’EIci  (Saal  II,  Nr.  311)  ist  die  höchst 
realistisch  aufgefaßte  Mosesstatue  im  Treppenhaus,  die 
dermaßen  individualisiert  ist,  daß  man  den  Eindruck 
hat,  man  hätte  es  mit  einem  Porträt  aus  dem  Ghetto 
zu  tun.  Bartolomeo  Landi,  genannt  Neroccio,  war 
Maler  und  Bildhauer  zugleich.  Von  ihm  ist  die  in  Siena 
so  beliebte  Holzstatue  der  hl.  Caterina  von  Siena  (Saal  IX, 
Nr.  1,  Abb.  3),  die  verglichen  mit  seiner  überaus  klas¬ 
sisch  aufgefaßten  Marmorstatue  der  Caterina  von  Alexan¬ 
drien  im  Dom  sehr  realistisch  und  individualisiert  er¬ 
scheint.  Die  Provenienz  der  bisher  dem  Mino  da  Fiesoie 
zugeschriebenen  Madonnenbüste  aus  der  Palmieri-Nuti 
Sammlung  wird  wohl  vorderhand  noch  eine  offene 
Frage  bleiben.  Der  feine,  auf  langem  Halse  sich  wiegende 
Kopf,  der  sich  leise  zur  Seite  neigt,  dürfte  aber  allerdings 
auf  sienesischen  Ursprung  zurückzuführen  sein,  obwohl 
andererseits  ein  Anklang  an  Mino  da  Fiesoie  nicht 
zu  leugnen  ist.  Während  Neroccio  als  Bildhauer 
schon  der  Renaissance  angehörte,  so  blieb  er  als 
Maler  mit  seinen  süßlächelnden  Madonnen  ein  noch 
mit  den  Trecentisten  liebäugelnder  Sienese.  Er,  sowie 
sein  Mitarbeiter  Francesco  di  Giorgio,  waren  Schüler 
des  Vecchietta,  der  als  Bildhauer  unter  dem  Einfluß  des 
Donatello  stand,  wie  diesaus  seiner  vergoldetenjohannes- 
statue  (Saal  IX,  Nr.  5)  hervorgeht.  Die  Bilder  Neroccios 
sind  meist  Kirchenbilder,  Madonnen  mit  langge¬ 
streckten  Fingern,  überschlanken  Hälsen  und  feinen 
Köpfchen.  Eines  seiner  bedeutendsten  Werke,  das  er 
wohl  gemeinschaftlich  mit  Francesco  di  Giorgio  ge¬ 
malt  haben  mag,  ist  die  Madonna  mit  dem  Christkind 
zwischen  Johannes  dem  Evangelisten  und  dem  hl. 
Michael  (Saal  XXXV,  Nr.  16)  (Abb.  10)  in  schön  ge¬ 
schnitztem,  mit  Grisaillen  von  tanzenden  Putten  orna¬ 
mentiertem  Rahmen. 

Mit  der  Neige  des  1 5.  Jahrhunderts  fand  ein  plötz¬ 
licher  Umschwung  in  der  sienesischen  Malerei 
statt,  durch  die  Erscheinung  von  fremden  Künstlern 
wie  Pinturricchio,  Signorelii  und  besonders  Sodoma 
welche  durch  sienesische  Mäcene,  die  in  Rom  und 
Mailand  verkehrten,  herbeigezogen  wurden.  In  der 
sogenannten  Sala  Grande  della  Signoria,  wo  die  Decke 
mit  Fresken  später  sienesischer  Künstler  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts,  wie  Francesco  Vanni,  Salimbeni, 
Rustici  usw.  bemalt  ist,  sind  Bilder  von  Fungai, 


DIE  AUSSTELLUNGEN  ALTER  SIENESISCHER  KUNST  IN  LONDON  UND  SIENA 


107 


ABB.  10.  MADONNENBILD  VON  FRANCESCO  Dl  OIOROIO 
UND  VERROCCHIO 


ABB.  11.  HEILIGENBILD  VON  MATTEO  DI  GIOVANNI 
AUS  DER  KIRCHE  SANTA  EUGENIA  IN  SIENA 
Photographie  von  H.  Burton 


Matteo  Balducci,  Pachiorotto,  Girolamo  del  Pacchio, 
Domenico  Beccafumi  ausgestellt,  Meister,  in  denen 
der  Einfluß  dieser  hergebrachten  neuen  Richtung 
klar  hervortritt.  Auch  von  Andrea  Brescianino, 
einem  sienesischen  Maler,  der  besonders  unter  um- 
brischem  Einfluß  stand,  ist  ein  anmutiges  Ma¬ 
donnenbild  auf  der  sienesischen  Ausstellung  vorhan¬ 
den,  das  stark  beeinflußt  erscheint  von  dem  Raffael 
aus  dem  Hause  Orleans,  genannt  La  Madonne  avec 
l’Enfant  debout,  dasselbe,  das  vor  einigen  Jahren  auf 
der  Altmeister- Winterausstellung  in  London  Aufsehen 
erregte  und  jetzt  in  der  Makintosch- Sammlung  ist. 
Sehr  zahlreich  sind  die  Werke  von  Beccafumi  vertreten, 
ein  Maler,  der  zwei  Jahre  lang  in  Rom  die  Antike, 
Raffael  und  Michelangelo  studierte,  und  nach  seiner 
Heimkehr  mit  Sodoma  zu  wetteifern  versuchte.  Ganz 
raffaelisch  sind  seine  beiden  Madonnen  im  Saal  XXXVll, 
während  sein  hl.  Michael,  der  den  Luzifer  verjagt,  ein 
zwar  farbenprächtiges,  aber  grotesk  erscheinendes  Bild 
ist.  Girolamo  del  Pacchia,  der  begabte  Mitarbeiter 
Sodomas,  ist  nicht  mit  seinen  besten  Bildern  vertreten. 
Nennenswert  ist  seine  Verkündigung,  und  eine  von 
Putten  umgebene  Venus  (B.  F.  A.  C.),  die  stark  an 
eine  dem  Sodoma  zugeschriebene  Frauengestalt, 
(eine  Personifikation  von  Siena  darstellend)  erinnert. 
Interessant  ist  es,  neben  dieser  von  Sodoma  in¬ 
spirierten  Malergruppe  auch  Bilder  dieses  Meisters 
selbst  zu  sehen,  wie  uns  auf  der  Ausstellung  in 
Siena  Gelegenheit  geboten  wird.  Von  seinen  zahl¬ 
reichen  Werken  sind  zwar  nur  wenige,  und  nicht 


die  besten ,  ausgestellt  worden.  Sein  » Kreuz¬ 
tragender  Christus«  (Saal  XXXVll,  Nr.  2)  aus  der 
Contradenkirche  della  Torre  ist  leider  sehr  ruiniert; 
auch  seine  »Geburt  der  Maria«  aus  der  Karmeliten- 
kirche  ist  in  wenig  gutem  Zustand,  vielleicht  ein 
Grund,  weshalb  im  Katalog  diese  beiden  Werke  des 
Meisters  irrtümlich  als  Schulbilder  bezeichnet  worden 
sind.  Von  großer  Schönheit  und  tiefer  religiöser 
Stimmung  ist  dagegen  sein  »Toter  Christus«  zwischen 
zwei  Engeln  aus  der  Kirche  S.  Donato  (Saal  XXXVl, 
Nr.  26),  eine  sogenannte  Testata  di  Bara,  dazu  bestimmt, 
den  Sarg  eines  Toten  zu  schmücken.  Obwohl  Giov. 
Antonio  Bazzi  genannt  Sodoma,  Vercellese  von  Geburt 
war  und  der  Lombardischen  Schule  angehörte,  so 
war  ihm  doch  Siena  zur  eigentlichen  Heimat  geworden; 
und  ist  es  nicht  zu  leugnen,  daß  in  seinen  dort  entstan¬ 
denen  Werken  öfters  ein  entfernter  Einfluß  der  großen 
sienesischen  Meister  desTrecento  nicht  nur,  sondern  auch 
desjacopo  della  Quercia  sich  bemerkbar  macht.  So  hat 
z.  B.  seine  Caritas  in  Berlin  eine  unverkennbare  Ana¬ 
logie  mit  der  Freistatue  der  Acca  Laurentia  auf  der 
Fonte  Gaia;  ein  Umstand,  der  Vasaris  Erzählung, 
»daß  der  junge  Sodoma,  als  er  zuerst  nach  Siena 
kam,  oft  müßig  ging  und  nur  darauf  bedacht  ge¬ 
wesen  sei,  Zeichnungen  nach  den  Brunnenfiguren 
Jacopo  della  Quercias  zu  machen  ,  bestätigen  würde. 
Auch  zeigt  seine  Eva  in  der  Vorhölle,  die  neben  seiner 
Roxane  wohl  die  anziehendste  weibliche  Gestalt  ist, 
welche  Sodoma  geschaffen,  einen  nicht  zu  leugnenden 
Anklang  mit  der  obenerwähnten  Eva  Quercias  auf  dem 


MARGARETE  BRAUMÜLLER-HAVEMANN 


1  o8 

Briinnenrelief.  Wie  groß  andererseits  Sodomas  Ein¬ 
fluß  auf  die  sienesische  Malerschule  des  i6.  Jahr¬ 
hunderts  war,  können  wir  hier  nicht  näher  er¬ 
örtern;  doch  'löchien  wir  in  diesem  Zusammenhänge 
nur  noch  Baliliasar  Peruzzi  erwähnen,  der  als  Architekt 
große  Berülimtheit  erlangte  und  sowohl  von  Pin- 
turricchioals  besonders  auch  von  Sodoma  beeinflußt  war. 
Sehr  beachtenswert  ist  sein  aus  der  Kirche  San  Ansano 
a  Dofano  (Saal  XXXVl,  Nr.  14)  stammendes  Madonnen¬ 
bildchen  Jnit  dem  stark  an  Bazzi  anklingenden 
munteren  Christuskinde.  Es  ist  von  vollendeter 
Technik  und  erinnert  in  seiner  Farbenharmonie  an 
das  Porträt  von  Alberto  Pioda  Carpi  in  der  Mondschen 
Sammlung  (B.  F.  A.  C,  Nr.  61).  Der  schöne  archi¬ 
tektonische  Hintergrund  auf  diesem  Bilde,  mit  einem, 
laut  Inschrift,  dem  Gott  Dionysius  geweihten  Tempel, 
deutet  allerdings  auf  einen  Meister,  der  wie  Peruzzi 
mit  architektonischen  Linien  vertraut  war.  Mit  ihm 
stirbt  der  letzte  große  Künstler  Sienas. 

Auch  an  kunstindustriellen  Werken  bieten  die  siene- 
nesischen  Ausstellungen  viel  Bemerkenswertes.  Leider 
erlaubt  uns  der  Raum  nicht,  eingehend  auf  die  inter¬ 
essanten  Medaillen  von  Pastorino  Pastorin!  einzugehen, 
die  uns  eine  Reihe  interessanter  Männer  und  Frauen 


der  Zeit  vorführen.  Auch  die  in  Siena  entstandenen 
Majoliken,  die  auf  beiden  Ausstellungen  in  schönen 
Exemplaren  vorhanden  sind  und  auf  eine  bedeutende 
Porzellanindustrie  schließen  lassen,  die  schon  im 

1 3.  Jahrhundert  ins  Leben  gerufen  war,  können  wir  leider 
nur  eben  erwähnen.  Zum  Schlüsse  müssen  wir  aber 
noch  einige  der  zahlreichen  Manuskripte  hervorheben, 
welche  in  dem  von  Beccafumi- Fresken  dekorierten 
Saal  VII  zusammengebracht  worden  sind:  in  erster 
Linie  wäre  eine  Biblia  Sacra  aus  dem  1 2.  Jahrhundert 
zu  erwähnen,  mit  byzantinischen  Initialen  und  Ara¬ 
besken  auf  Goldgrund;  ferner  eine  Arbeit  aus  dem 

1 4.  Jahrhundert  (Nr.  20),  die  besonders  beachtenswert 
erscheint  wegen  der  schönen  Miniaturen  im  Stil  Simone 
Martinis.  Hochinteressant  ist  auch  der  Kodex  Caleffo 
delP  Assunta  (Nr.  29)  aus  dem  Staatsarchiv  mit  seinem 
herrlichen  Frontispice  der  Himmelfahrt  der  Maria,  die 
in  einer  Mandorla,  von  zahlreichen  Engeln  umgeben, 
dargestellt  ist;  es  ist  dies  eine  überaus  feine  Miniatur 
auf  Goldgrund,  die  überdies  folgende  mit  gotischen 
Buchstaben  geschriebene  Signatur  trägt:  Nicolavs  Ser 
Sozzi  de  Senes  me  pinxit  anno  1334  und  einen  Beweis 
liefert,  daß  auch  die  Miniaturmalerei  in  Siena  sich  zu 
hoher  Blüte  entfaltete.  LOUISE  M.  RICHTER. 


TEIL  DER  RESTAURIERTEN  FONTE  OAIA  IN  SIENA 


MARGARETE  BRAUAAULLER-HAVEMANN 


Seitdem  Otto  Eckmann,  durch  die  Japaner  an¬ 
geregt,  mit  seinen  Farbenholzsclmitten  exzellierte, 
hat  sich  in  Deutschland  eine  Reihe  jüngerer  Kräfte 
mit  besonderer  Vorliebe  diesem  Zweige  der  graphischen 
Kunst  zugewandt.  Besonders  in  München  kämpfen 
seit  einigen  Jahren  tüchtige  Künstler,  an  ihrer  Spitze 
die  Brüder  Ernst  und  Hans  Neumann,  eifrig  dafür, 
daß  der  Farbenholzschnitt  als  gleichberechtigtes  Sammel¬ 
objekt  neben  die  Radierung  eingesetzt  werde.  Die 
Mappen  der  Sammler  und  Kabinette  haben  sich  denn 
auch  in  letzter  Zeit  mehr  und  mehr  dem  Farben¬ 
holzschnitt  geöffnet. 

Aus  der  Schule  von  Ernst  Neumann  ist  Margarete 


Braumüller- Havemann  hervorgegangen.  Sie  ist  in 
Mecklenburg  gebürtig  und  hat  sich  zuerst  im  An¬ 
schauen  der  weiten  wald-  und  wasserreichen  Ebene 
ihres  Heimatlandes  gebildet.  Seit  sie  sich  vor  einigen 
Jahren  in  München  mit  dem  Holzschnitt  beschäftigte, 
ist  sie  dieser  Technik  ganz  ergeben  und  hält  sie  für 
das  geeignetste  Ausdrucksmittel  ihrer  Begabung.  Wie 
das  amüsante  Blatt,  das  wir  hier  von  ihr  bringen, 
zeigt,  ist  der  Künstlerin  ein  verfeinertes  Farbenempfinden 
und  eine  sichere  Schnittführung  eigen.  Neuerdings 
wohnt  Margarete  Braumüller-Havemann  in  Berlin  und 
läßt  sich  dadurch  anregen,  auch  kompliziertere  Bilder  des 
großstädtischen  Treibens  in  ihre  Technik  zu  übersetzen. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


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HOLZSCHNITT  VON  MARGARETE  BRAUMÜLLER-HAVEMANN 


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EIN  HELDENLEBEN 


zu  ANSELM  FEUERBACHS  25.  TODESTAGE 
Von  Hans  Mackowsky 


JULIUS  ALLGEYER  gehört  zu  der  Eamilie  der 
Eckermänner,  von  denen  das  Schicksal  immer 
einen  bereit  zu  halten  scheint,  wo  irgend  etwas 
Goetheartiges  aufragt.  Feuerbach  hat  sein  Bildnis 
gemalt.  Aber  das  weiche,  etwas  kraftlose  Gesicht  des 
Durchschnittkünstlers,  Vollbart  und  halblanges  Haar, 
ist  durch  eine  energische  Kopfwendung  und  einen 
blitzenden  Seitenblick  ins  Pathetische  gehöht,  zum 
Feuerbachischen  erhoben.  Zu  diesem  Bilde  paßt 
Allgeyers  Leben  schlecht.  In  der  Jugend  kränklich, 
kam  er  1856  nach  Rom  und  betrieb  dort  den  lang¬ 
weilig  sauberen  Linienstich  nach  religiösen  Vorlagen 
gleichgültiger  Herkunft.  In  demselben  Jahre  lernte 
er  Feuerbach  kennen;  mit  ihm  fand  er,  was  von  nun 
an  seines  Lebens  Glück  und  Inhalt  wurde.  Gegen 
den  Schluß  seines  Daseins  unternahm  er  die  Bio¬ 
graphie  Feuerbachs.  Das  Buch  erschien  1894,  doch 
ohne  die  Originalbriefe,  deren  Benutzung  litera¬ 
rische  Eifersucht  ihm  damals  verwehrte.  Er  er¬ 
lebte  noch  die  Freude,  dies  Hindernis  behoben  zu 
sehen,  arbeitete  um,  gestaltete  aus,  schaltete  ein  und 
wollte  drucken  lassen,  als  er  starb.  Nun  hat  Professor 
Neumann  dies  zweite  Manuskript,  das  alles  Material 
zur  Lebensgeschichte  Feuerbachs  enthält,  heraus¬ 
gegeben  ^). 

Das  Buch  ist  allerdings  so  wenig  die  Biographie 
Feuerbachs,  wie  etwa  Schindler  die  Beethovens  hat 
schreiben  können.  Allgeyer  war  nicht  der  Geist, 
Feuerbachs  Wesen  frei  und  groß  in  sich  aufleben  zu 
lassen.  Ein  philiströses  Bedürfnis  nach  Reinlichkeit  der 
Einzelheiten  hinderte  ihn,  dem  hinreißenden  großen 
Zuge,  der  dieses  Leben  auf  alle  Höhen  der  Tragik 
führt,  zu  folgen.  Auch  steckt  er  in  moralischen  Vor¬ 
urteilen,  die  ihn  unversehens  zum  Richter  machen, 
wo  er  doch  nur  Berichterstatter  sein  soll.  Dem  treten 
aber  auch  die  Vorzüge  seiner  Art  von  Biographen 
gegenüber:  das  treue  Gedächtnis,  das  unermüdliche 
Sammeln,  Aufspüren,  Nachforschen  und  über  alles 
hinaus  die  weiblich  leidenschaftliche  Hingabe  an  sein 
Unternehmen  und  an  seinen  Helden.  Das  Wort 
»Held«  steht  hier  mit  gutem  Bedacht.  Je  weiter 
Allgeyer  in  seiner  Arbeit  vorschritt,  je  reicher  sich 
ihm  der  briefliche  Nachlaß  erschloß,  je  tiefer  empfand 
er’s:  »es  ist  bis  jetzt  das  reine  Heldenbuch,  und  ich 
glaube,  es  wird’s  bleiben  bis  zu  Ende.  Ich  muß  mich 
augenblicklich  zu  den  beneidenswertesten  Menschen 
rechnen,  weil  mir  vergönnt  ist,  meine  bescheidenen 


1)  Anselm  Feuerbach  von  Julius  Allgeyer.  Zweite  Auf¬ 
lage  mit  den  Originalbriefen.  Aus  dem  Nachlaß  des  Ver¬ 
fassers  herausgegeben  von  Professor  Dr.  Karl  Neumann. 
Berlin  und  Stuttgart  IQ04.  W.  Spemann.  Zwei  Bände. 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  5 


Kräfte  einer  großen  und  schönen  Sache  widmen  zu 
dürfen.« 

Feuerbach  selbst  hat  nicht  gewußt,  daß  in  Allgeyer 
sein  Biograph  schon  neben  ihm  herging.  Vielmehr 
hat  er,  nach  schwerer  Krankheit,  von  einem  ernsten 
Blick  des  Todes  gestreift,  selbst  Sorge  getragen,  daß 
sein  Mitteilbares  auf  die  Nachwelt  kam.  Die  Frau, 
die  den  Namen  seiner  Mutter  mehr  verdient  als  jene 
»schöne  stille«,  welche  daran  starb,  daß  sie  ihm  das 
Leben  gab,  hat  diese  handschriftlichen  Mitteilungen 
redigiert,  mit  Auszügen  aus  den  Briefen  ergänzt  und 
wenige  Jahre  nach  dem  Tode  des  Stiefsohnes  als  sein 
vVermächtnis«  herausgegeben. 

Manche  von  dorther  bekannte  Angaben  werden 
jetzt  aus  den  Briefen  widerlegt.  Das  hat  Allgeyer  zu 
einem  übertriebenen  Mißtrauen  gegen  das  Vermächtnis 
überhaupt  verleitet.  Als  aber  Feuerbach  diese  Auf¬ 
zeichnungen  »für  seine  Freunde  und  Schüler^  schrieb, 
wollte  er  mehr  die  Summe  seines  Lebens  ziehen  als 
den  Prozeß  vor  der  Nachwelt  eröffnen.  Diese  Seiten 
sollten  keine  Anklageschrift  enthalten,  und  was  dennoch 
an  Bitterkeit  mit  hineinfloß,  das  hat  die  gütige  Frau 
bei  der  Redaktion  eher  zu  mildern  als  zu  verschärfen 
gesucht;  »mit  den  fortgesetzten  Negationen  werden 
die  Gegner  selbst  in  die  Höhe  gezogen  und  stärken 
sich  an  ihrer  Gemeinsamkeit«,  dachte  sie.  So  enthält 
denn  dies  kurze  Vermächtnis  mehr,  was  er  geleistet, 
als  was  ihn  gehemmt  hat.  Es  ist  die  Apologie  eines 
Siegreichen  mit  dem  immer  variierten  Motiv:  und 
doch! 

In  Allgeyers  Buch  aber  weht  die  Gewitterluft 
des  Kampfes,  der  Tragik,  des  furchtbaren  Ringens. 
Da  sieht  man  den  Helden  in  der  ganzen  Pracht  seiner 
Lebensnöte,  im  Trotz  seines  Glückes  und  in  dem 
Prunk  seines  Schmerzes,  über  alle  Höhen  und  Tiefen 
geführt,  gerissen,  bis  er  am  skäischen  Tor  fallend 
sein  Schicksal  erfüllt«.  Wie  hieß  sein  Feind?  Feuer¬ 
bach  glaubte  ihn  erkannt  zu  haben.  »Was  die  gütige 
Natur  mir  in  die  Seele  legte,  das  hat  die  Härte  und 
das  Unverständnis  meiner  Zeitgenossen  in  seinem 
Wachstum  aufgehalten  und  verkümmert.«  Kam  ihm 
nie  eine  Stunde  höchster  innerer  Klarheit,  in  der  er 
diesen  Irrtum  einsah?  War  er  sich  im  tiefsten  selber 
zu  fremd,  um  zu  verstehen:  Gott  hat  dich  nicht  ge¬ 
schaffen  zu  Pein  und  Lust  —  du  selber  schaffst  dich 
selber  zu  Lust  und  Pein?  »Niemand  braucht  ein 
Märtyrer  zu  sein«,  sagt  er  gelegentlich,  »es  liegt  nur 
im  Blute«.  In  seinem  Blute  lag’s  von  Anbeginn  und 
von  den  Vorfahren  her,  daß  er  ein  Märtyrer  wurde, 
nicht  der  Welt,  sondern  seiner  eigenen  Natur.  Dieser 
große  Künstler  vermochte  nur  das  eine  nicht:  sein 
Leben  in  Schönheit  zu  formen.  Eines  gab  es,  die 


>5 


1  10 


EIN  HELDENLEBEN 


Gegensätze  in  ihm  zu  versöhnen,  einen  himmlischen 
Bogen  des  Eriedens  über  seine  Höhen  und  Tiefen 
zu  spannen,  Feuerbach  wußte  wohl,  was  Humor 
ist,  und  viel  Sehnsucht  klingt  durch  die  Worte,  mit 
denen  er  es  sagt.  »Der  Humor  trägt  die  Seele  über 
Abgrüncv?  hinweg  und  lehrt  sie  mit  ihrem  eigenen 
Leid  spielen  .  Er  selbst  besaß  ihn  nicht.  Er  hatte 
Schlagfertigkeit,  muntere  Laune,  Geist,  Witz,  Sarkasmus 
und  führte  wie  wenige  die  scharfe  Klinge  des  Spottes; 
aber  ruimor  besaß  er  nicht.  Und  deshalb  wurde  er 
ein  Märtyrer,  ein  tragischer  Held,  ein  großartig  Unter¬ 
gehender.  So  lehren  ihn  seine  Briefe  kennen,  dieser 
wesentlichste  und  edelste  Bestandteil  des  Allgeyerschen 
Buches. 

Ganz  lückenlos  liegt  diese  Sammlung  nicht  vor. 
Manches  hat  die  Mutter  vernichtet,  niemals  aus  klein¬ 
lichen  Gründen.  So  oft  wirkten  des  Sohnes  Briefe 
»wie  Dolchstöße«  und  die  Frau,  die  sich  dann  »arm 
und  gedemütigt«  vorkam,  wollte  durch  Vernichten 
der  ärgsten  das  Gedächtnis  daran  verwischen.  Man 
Iiat  nicht  den  Eindruck,  daß  Wesentliches  unterdrückt 
wurde,  Unersetzliches  verloren  ist. 

Wie  spiegeln  diese  Briefe  den  Menschen!  »Wir 
sind  und  müssen  Stimmungsmenschen  sein;  so  kommt 
es,  daß  ich  über  große  Verluste,  die  mir  ferne  liegen, 
hinwegsehen  kann,  während  kleine  Plackereien,  die 
mir  jeder  Tag  bringt,  mir  alles  rauben,  da  ich  allem 
nicht  gerecht  werden  kann  .  Wenn  je  einer,  war 
Eeuerbach  Stimmungsmensch  mit  all  den  Klippen 
und  Gefahren,  den  Abgründen  und  den  Aufschwüngen 
solcher  Naturen.  Der  Vater  einer  seiner  flüchtigen 
Jugendlieben  spöttelte  über  den  jungen  Mann  mit 
den  Stimmungen Und  wie  dieser  klare  nüchterne 
Gelehrtenkopf  nur  verwöhnte  Launenhaftigkeit  sah, 
wo  eine  geniale  Natur  in  Jubel  oder  Schluchzen  ihres 
Reichtums  Übermaß  genoß,  so  stand  der  vernünftige 
Durchschnitt  in  der  behäbigen  Sicherheit  seines  ge¬ 
sunden  Menschenverstandes  dem  Künstler  gegenüber, 
immer  ablehnend,  teils  spöttisch,  teils  verletzt. 

Feuerbach  aber  war  eine  psychopathische  Natur; 
sein  Problematisches  verliert  sich  ins  Gebiet  des  geistig 
Krankhaften.  Die  Geschichte  seiner  Familie  zeigt,  daß 
er  erblich  belastet  zur  Welt  kam.  Lauter  glänzende 
Begabungen,  aber  mit  einem  Stich  ins  Anormale,  zu 
sinnlosem  Jähzorn  neigend,  grüblerisch  und  men¬ 
schenscheu,  von  einem  plötzlichen  Tode  weggerafft 
oder  im  Wahnsinn  verdämmernd. 

Bei  Feuerbach  scheint  das  Selbstbewußtsein  krank¬ 
haft  entartet  gewesen  zu  sein.  Das  schuf  Konflikte, 
Zusammenstöße,  wo  er  sich  sehen  ließ.  Schon  bei  den 
ersten  Schritten  der  Selbständigkeit  glaubte  Schirmer  ihn 
mahnen  zu  müssen,  dn  gesunder,  uneitler  Weise  weder 
verzagend,  noch  trotzend  weiterzustreben«.  Er  duldete 
keinen  Zwang,  weder  von  Freunden  wie  Scheffel, 
noch  von  Bestellern,  wie  dem  Grafen  Schack,  Aber 
dies  gesteigerte  Selbstgefühl  war  zugleich  sein  Lebens¬ 
nerv,  in  dem  seine  Spannkraft  beruhte.  Eine  solche 
Natur  denkt  nie  an  Flucht,  an  Ende,  an  Selbstaufgabe. 
Kein  Seelenkundiger  wird  auch  nur  für  einen  Augen¬ 
blick  den  jähen  Tod  Eeuerbachs  im  Hotel  Luna  zu 
Venedig  mit  Selbstmord  zusammenbringen.  Er  starb 


schnell,  plötzlich  geknickt,  wie  der  Großvater  und 
ein  Onkel  gestorben  sind. 

Sein  Menschlichstes,  seine  Eitelkeit,  war  nur  eine 
Eolge  dieses  hohen  Selbstgefühles.  Eine  Schwäche 
gewiß,  doch  keine,  die  ihn  unliebenswürdig  macht. 
Seine  Gestalt  war  klein  und  zierlich,  sein  Gang 
rasch  und  federnd,  am  meisten  fiel  der  Kopf  auf,  wo 
er  sich  sehen  ließ.  Eein  durchgeformt,  in  reiner 
Schärfe  modelliert,  mit  den  Maleraugen,  in  denen  sich 
Beobachten  und  Träumen  ablösen,  und  mit  dem  wunder¬ 
voll  dichten  Haar,  auf  das  er  stolz  war,  und  dessen 
Ergrauen  er  mit  Bitterkeit  empfand.  Er  war  kein 
Aufsteigender,  in  dessen  Zügen  eine  dumpfe  Herkunft 
ihre  Spuren  noch  hinterlassen  hat,  sondern  die 
letzte  zart  und  fein  entwickelte  Blüte  eines  geistigen 
Patriziates.  Nicht  für  den  brutalen  Kampf  mit  der 
stumpfen  Welt  geschaffen  und  doch  von  Gottes 
Gnaden  ihr  Eeind  und  Angreifer.  Ein  Apollinisches 
umleuchtete  ihn.  Nicht  umsonst  trug  der  Vater,  als 
der  Sohn  zur  Welt  kam,  das  lichte  Bild  des  vatika¬ 
nischen  Apollo  in  der  Seele,  über  den  er  das  schöne 
Buch  geschrieben. 

In  Eeuerbachs  Äußerem  war  der  Künstlertyp  der 
Zeit  mit  dem  »schönen  Mann«  vereinigt.  Gefährlich 
für  die  Frauen,  aber  auch  gefährlich  für  ihn  selbst. 
Seiner  Macht  über  Frauen  war  er  sich  wohl  bewußt 
und  freute  sich  ihrer.  Dennoch  (oder  deswegen?)  hat 
er  Frauenliebe,  scheu  noch  in  ihrer  Hingabe,  geheim¬ 
nisvoll  noch  in  ihrer  Offenbarung,  nie  gekostet.  Der 
Künstler  in  ihm  verriet  ihn  stets  an  die  schöne  Form, 
an  die  Gebärde  der  Leidenschaft.  Der  Mensch,  schwächer 
in  ihm  entwickelt,  ging  leer  aus.  Zu  Ende  der  sech¬ 
ziger  Jahre,  nach  dem  Treubruch  Nannas,  überkam 
es  ihn  hin  und  wieder  mit  heißer  Not:  »ich  möchte 
Garten,  See  und  eine  anständige  Frau;  an  der  Seite 
einer  guten  Frau  wird  es  besser;  was  sind  die  kleinen 
Plackereien  des  Lebens  gegenüber  einem  einzigen 
freundlichen  Wort  zur  rechten  Stunde«.  Es  blieb  ihm 
versagt,  der  Garten,  der  See  und  vor  allem  die  an¬ 
ständige  Frau.  Und  schließlich  disputierte  er  sich  das 
Verlangen,  die  Sehnsucht  selber  weg.  »Was  Heirat 
anbelangt,  so  ist  das,  was  man  in  Deutschland  Ver¬ 
mögen  nennt,  für  mich  nichts.  Entweder  Reichtum 
(allein  welche  Erziehung  dann!)  oder  nichts.«  Er 
verzichtete,  aber  die  Leere  blieb,  und  er  litt  an  ihr 
sein  Lebenlang.  Nur  Selbsttäuschung,  der  glänzende 
Selbstbetrug  einer  starken  Natur  war  es,  wenn  er  die 
Maske  »großartiger  Heiterkeit'  anlegte.  Dahinter  sieht 
man  doch  die  Verbitterung  und  den  heimlichen  Gram. 
Diese  Künstlerhände  waren  zu  zart  und  zu  fein,  um 
mit  so  schwerem  Lebensleid  zu  spielen.  Mit  dem 
Fanatismus  der  Heiligen  hat  dieser  im  Innern  wunde 
Mann  den  Menschen  in  sich  getötet,  »überwunden«, 
wie  es  in  der  Sprache  der  Heiligen  heißt,  um  den 
Künstler  ganz  zu  retten. 

Für  ihn  war  es  keine  Redensart  von  der  »strengen, 
göttlichen  Geliebten«,  zu  der  er  seine  Kunst  erhob. 
Wie  er  ihr  diente,  stolz  und  schweigsam,  selig  ver¬ 
sunken  und  qualvoll  durchbebt,  in  unbeirrter  Treue, 
in  nie  gebeugtem  Trotz,  in  unerschüttertem  Glauben 
—  das  macht  ihn  groß,  macht  ihn  nicht  selten  dä- 


EIN  HELDENLEBEN 


r  1  i 


monisch.  Und  manchmal  möchte  man  glauben, 
es  sei  mehr  als  ein  holder  Wahnsinn  gewesen,  der 
von  ihm  Besitz  genommen  hatte.  Hausrath  (Er¬ 
innerungen  an  Gelehrte  und  Künstler  der  badischen 
Heimat,  S.  163)  erzählt,  wie  den  kleinen  Anselm  mit 
zwölf  Jahren  die  erste  leidenschaftliche  Gemüts¬ 
bewegung  befallen  habe  vor  einem  Stück  Papier  von 
so  beträchtlicher  Größe,  um  einen  lebensgroßen  Bar¬ 
barossa  im  Kyffhäuser  darauf  zu  zeichnen.  Das  war 
das  eine,  das  in  ihm  lag,  der  Zug  zum  Großen,  zum 
Kolossalen.  Das  Lebensgroße  war  sein  Format,  und 
man  schalt  ihn  anmaßend.  Er  konnte  nicht  anders 
und  schließlich  wollte  er’s  auch  nicht.  Kompro¬ 
misse  waren  nicht  seine  Sache.  Lieber  verdarb  er 
es  sich,  wie  mit  dem  Grafen  Schack,  dem  er 
rund  heraus  erklärte,  die  Stoffe  hätten  ihr  Maß  in 
sich  und  nicht  in  der  Laune  des  Bestellers.  Werke 
mit  lebensgroßen  Figuren  —  Iphigenie,  Gastmahl, 
Medea,  Konzert  —  sind  die  Träger  seines  Ruhmes. 
Wenn  Graf  Schack  sich  bei  Frau  Feuerbach  beschwert, 
daß  ein  großer  Teil  der  für  ihn  gemalten  Bilder 
»durchaus  nicht  so  ausgefallen  sei,  daß  sie  mich  zu 
neuen  Bestellungen  reizen  konnten' ,  so  hatte  er  vielleicht 
zu  solcher  Klage  Grund,  aber  sein  Literatengeschmack: 
viel  Vorgang  auf  bescheidenem  Raum  war  auch  die 
Ursache,  daß  Feuerbach  bei  einigen  dieser  Aufträge 
hinter  dem  zurückblieb,  was  er  leisten  konnte.  Werke, 
wie  der  Garten  des  Ariost  oder  die  Laura  in  der 
Kirche  mit  vielen  nur  handgroßen  Figuren  lagen 
ihm  nicht. 

Sein  Höchstes  hat  Feuerbach  geleistet,  wo  es  ihm 
gelang,  einen  Seelenzustand  in  einer  Figur,  die  ihn 
ganz  ausdrückt,  zu  konzentrieren.  Iphigenie  —  die 
Sehnsucht;  Medea  —  die  Melancholie.  Sparsamkeit 
im  Figürlichen  hieß  das  zweite  Grundgesetz  seines 
Schaffens.  Nicht  auf  Handlung,  auf  das  reiche,  blen¬ 
dende  Geschehen  kam  es  ihm  an,  sondern  auf  die 
zwingende  seelische  Kraft,  auf  die  Stimmung.  Darin 
war  er  von  je  Meister  gewesen,  der  »junge  Mann  mit 
den  Stimmungen«.  Für  ihn  hieß  künstlerisches  Schaffen 
Herausstellen  der  eigenen  Empfindung.  Sich  selbst 
befreien  von  einer  Last,  von  dem  Zuviel  eines  Glückes, 
von  der  Einsamkeit  des  Genießens,  des  Schauens, 
Erlebens,  das  wollte  er.  Bekenntnis  ablegen  von 
innerem  Reichtum,  auch  von  innerer  Not.  Auf  Musik 
und  Lyrik  stand  sein  Talent,  und  er  glaubte  Epiker 
und  Dramatiker  zu  sein.  Wollte  er  seine  Produktionen 
einordnen  in  einen  der  landläufigen  Schulbegriffe,  so 
fand  er  keinen  anderen  als  Historienmalerei.  Er  fühlte 
wohl,  daß  sich  das  nicht  deckte,  und  so  dehnte  er 
den  Begriff  für  seinen  Zweck  aus.  »Die  echte  Historie 
muß  in  erster  Linie  das  Epische,  menschlich  Große 
festhalten,  gleichviel  in  welchem  Kostüm  sie  sich  be¬ 
wegt.  Ein  geistvolles  Porträt  der  Neuzeit  in  moderner 
Kleidung  kann  somit  im  besten  Sinne  des  Wortes  ein 
Historienbild  genannt  werden«.  War  es  wirklich  das 
Übelwollen  der  Zeitgenossen,  wenn  sie  diese  Definition 
ablehnten?  Geschichte  und  Geschehen,  das  hing  für 
sie  eng  zusammen.  Aber  auf  Feuerbachs  Bildern 
geschah  nichts.  Da  war  Iphigenie,  statuenhaft  un¬ 
bewegt  am  Meeresufer  sitzend,  mit  dem  halbver- 


schatteten  Kopf,  als  zögen  Sehnsucht  und  Schwermut 
über  sie  hin.  Und  das  Griechenschiff?  fragten  die 
Leute.  »Öd  und  leer  das  Meer.«  .  .  .  Dann  kam  das 
Gastmahl.  Und  sie  fragten:  wo  ist  Platon?  Und 
weiter  suchten  sie  nach  Sokrates  und  zerbrachen  sich 
den  Kopf  über  den  Lorbeergekrönten,  Weißgewandeten, 
der  so  auffällig  den  Mittelpunkt  der  Komposition  ein¬ 
nahm.  Agathon?  Wer  ist  Agathon?  Man  war  bereit 
zuzuhören,  aber  da  mußte  auch  einer  erzählen  können 
wie  Lessing,  Piloty,  Makart.  Aus  ihrer  aller  Herzen 
kam,  was  Lessing  früh  schon  von  Feuerbach  meinte: 
»Talent  hat  Feuerbach  reichlich  für  zehn  andere,  wenn 
er  nur  endlich  zur  Einsicht  kommen  und  vernünftige 
Dinge  malen  wollte«.  Vernünftige  Dinge  waren  Huß 
vor  dem  Scheiterhaufen,  die  Ermordung  Wallensteins, 
Venedig  huldigt  Katharina  Cornaro.  In  all  dem 
konnte  Feuerbach  nichts  sehen  als  das  ihm  verhaßte 
Theater.  Rücksichtslos  zog  er  zu  Felde  gegen  die 
»verhängnisvolle  Verwechselung  der  Grundprinzipien 
unserer  Kunst,  daß  lebensgroße  theatralisch  aufgeputzte 
Genrebilder  als  Historienbilder  aufgetischt  werden«. 
Die  Zeit,  in  der  Feuerbach  sein  Reifstes  schuf,  ist  in 
Deutschland  die  Periode  der  Verwilderung  der  Form 
zu  gunsten  einer  überwältigenden  Farbigkeit,  die  kolori¬ 
stische  Reaktion  auf  die  formale  Dürre  der  Kartonzeichner. 
Sie  macht  sich  Luft  in  einer  barbarischen,  indianer¬ 
haften  Freude  am  Prunkenden,  Glänzenden,  in  die 
Augen  Funkelnden.  Ihr  höchster  Ausdruck,  nach  der 
Seite  der  Vollendung  wie  der  Entartung,  ist  die  Kunst 
Richard  Wagners.  Aber  die  seelische  Musik  Feuer¬ 
bachs  hat  Mozartischen  Klang.  Die  derben  Sinne  und 
der  unwählerische  Geschmack  Wagners  fehlten  Feuer¬ 
bach.  Ihm  fehlte  auch  das  Zupacken,  Vollstopfen, 
das  Überwältigen  durch  die  Masse.  In  Wagner,  wohl 
verstanden  als  Vertreter  des  unbewußten  künst¬ 
lerischen  Wollens  der  Zeit,  und  Feuerbach  stand  Un¬ 
versöhnliches  im  Kampfe:  Brunst  und  Keuschheit, 
Willkür  und  Gesetz,  Macht  und  Gewissen.  Oder,  um 
den  Gegensatz  kulturhistorisch  zu  benennen,  Barbar 
und  Hellene. 

Nur  einmal  hat  Feuerbach  eine  wirkliche  Historie, 
einen  im  Sinne  Lessings  »vernünftigen  Gegenstand« 
gemalt.  Das  war  schon  gegen  das  Ende  seines  Lebens, 
als  ihm  die  Nürnberger  Handelskammer  auftrug,  für 
ihren  Sitzungssaal  Kaiser  Ludwig  den  Bayer  dar¬ 
zustellen,  wie  er  der  Stadt  Nürnberg  Privilegien  er¬ 
teilt.  Man  muß  annehmen,  daß  Feuerbach  mit  der 
Lösung  dieser  Aufgabe  ein  Musterbeispiel  geben 
wollte,  wie  derartiges  zu  malen  sei.  Vor  allem  nahm 
er  Rücksicht,  das  Gemälde  architektonisch  dem  Raum 
einzuordnen,  den  es  schmücken  sollte.  Er  kom¬ 
ponierte  es  als  einen  langen  Fries  und  hielt  alles 
kostümlich  Realistische,  alles  Vorlaute  der  beliebten 
theatermäßigen  Wirkung  zurück.  Das  spezifisch  Hi¬ 
storische  des  Ereignisses  mit  seiner  begrenzten  lokal¬ 
geschichtlichen  Bedeutung  sollte  nach  des  Künstlers 
Absicht  in  dem  typischen  Vorgang  einer  feierlichen 
Huldigung  ganz  untergehen.  Die  Figuren,  zu  Repräsen¬ 
tanten  gehöht  und  verallgemeinert,  stehen  in  gedämpfter 
Farbigkeit  gegen  den  matten  Goldton  des  Hinter¬ 
grundes.  Nur  die  Burg  von  Nürnberg  weist  an 

15* 


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EIN  HELDENLEBEN 


Stelle  der  sonst  breit  geschilderten  landschaftlichen 
Szenerie  in  einer  symbolischen  Art  auf  den  Ort  der 
Handlung<^  hin.  Adle  Bewegung  ist  maßvoll  und  edel: 
ein  hoheitsv  des  Thronen,  ein  feierlich  huldigendes 
Hera'.;  ’  ’-piten.  Keine  kostümgeschichtliche  Belesenheit 
inaci  -,  si  h  bi  pit,  die  Figuren  sind  nicht  die  Träger  kost- 
b.Trer  Stoffe,  sondern  der  verschieden  gestaltete  Ausdruck 
^T.er  '^esiiich  hohen  Stimmung.  Auch  der  Humor  in 
dem  Dickbauch  vom  Bäckermeister  zerreißt  nicht  mit 
breitem  Grinsen  die  getragen  hinschwebenden  Feier¬ 
klänge,  wie  etwa  Wagner  mit  der  grotesken  Albern¬ 
heit  der  fein  angelegten  Figur  Beckmessers  sich  die 
Festfreude  des  letzten  Meistersingeraktes  verdarb. 
Feuerbach  durfte  von  Glück  sagen,  daß  er  nicht  auf 
ungeheuchelte  Ablehnung,  nur  auf  ein  eisiges  Schweigen 
stieß.  Den  Deutschen  liegt  Repräsentation  im  Sinne 
der  italienischen  Kultur  vor  allem  fern.  Sie  sind  ge¬ 
gebenen  Falles  steif  und  hölzern;  das  Bewußtsein 
des  gehobenen  Augenblickes  läßt  ihren  natürlichen 
Mangel  an  Haltung  oft  in  lächerlicher  Weise  hervor¬ 
treten.  Was  Feuerbach  ihnen  da  als  Festgesang  vor¬ 
trug,  war  nicht  Musik  für  ihre  Ohren;  ihr  patriotisches 
Herz  schlug  nur  höher,  wenn  sie  immer  wieder  hörten 
vom  Reich,  das  uns  doch  bleiben  soll«. 

Der  kleine  Hynais,  Feuerbachs  Schüler  von  Wien 
her,  hatte  es  schnell  heraus,  weshalb  man  sich 
gegenseitig  nicht  verstand:  Zur  Beurteilung  dieser 
Werke  gehört  ein  hoher  Bildungsgrad,  der  hier  nicht 
ist  .  Die  überragende  Bildung  —  das  war  das  dritte, 
was  Feuerbach  um  den  lebendigen  Zusammenhang 
mit  den  Zeitgenossen  brachte  und  damit  um  die  An¬ 
erkennung,  ohne  die  auch  die  stärkste  und  trotzigste 
Kraft  allmählich  erlahmt.  Die  Deutschen  mit  ihrem 
anmaßenden  Bildungsprivilegium  stehen  dennoch  einer 
wahren  und  tiefen  Bildung  immer  ablehnend  gegen¬ 
über.  Sie  vertragen  es  nicht,  daß  ihnen  jemand  den 
Unterschied  zwischen  Belesenheit  und  Wissen,  zwischen 
Buchweisheit  und  geistigem  Besitz  demonstriert.  Immer 
rächt  sich  der  Bildungsphilister  an  dem  wahrhaft  Ge¬ 
bildeten,  noch  dazu  wenn  dieser  ein  Künstler  ist.  Ein 
Künstler  und  gebildet?  da  blinzelten  sie  mit  heim¬ 
licher  Bosheit.  Gebildet  sagten  sie  und  gelehrt  ver¬ 
standen  sie  darunter. 

Feuerbach  war  kein  gelehrter  Kopf,  aber  ge¬ 
bildet,  voll  von  edelster  Kultur  und  feinstem  Ge¬ 
schmack.  Poesie,  bildende  Kunst  und  Musik  waren 
in  seinem  Elternhause  heimisch.  Als  der  kleine  Anselm, 
siebenjährig,  krank  am  Typhus  lag,  saß  der  Vater 
täglich  eine  Stunde  an  seinem  Bett  und  erzählte  dem 
Knaben  in  seiner  plastisch  weichen  Art  die  Leiden 
des  Odysseus.  Die  Flaxmannschen  Blätter  lagen  dann 
immer  auf  der  Bettdecke.  Die  Sonne  Homers  schien 
warm  und  begeisternd  schon  in  seine  Kindheit.  Als 
der  Vater  dann  von  seiner  späten  Fahrt  nach  Italien 
melancholisch  und  von  schwerer  Erkenntnis  müde 
als  ein  ziemlich  stiller  Mann«  heimkehrte,  brachte 
er  Gipse,  Münzen  und  Stiche  nach  Michelagniolo  mit, 
und  auf  den  Zwölfjährigen  begann  nun  ganz  unbewußt 
diese  edle,  formvollendete  und  gewaltige  Kunstwelt  zu 
wirken.  Daneben  erklangen  Mozart,  Haydn,  Beethoven. 
Der  Vater  hatte  zwar  seine  Harfe  mit  zerrissenen  Saiten 


für  immer  in  eine  Ecke  des  Studierzimmers  gestellt; 
um  so  häufiger  aber  saß  er  neben  der  Mutter  am 
Flügel.  Frau  Feuerbach  war  eine  tief  musikalische 
Natur;  ihr  Lieblingsmeister  wurde  später  Brahms,  der 
ihr  in  Verehrung  ihres  Sohnes  sein  Chorwerk  über 
Schillers  Nänie  gewidmet  hat.  Wie  oft  mag  sie  sich  mit 
diesen  Tönen  am  Flügel  darüber  getröstet  haben,  »daß 
das  Schöne  vergeht,  daß  das  Vollkommene  stirbt«!  Feuer¬ 
bach  selbst  scheute  das  technische  Lernen,  aber  sein  Ohr 
war  gebildet  auch  für  die  in  Tönen  sich  offenbarende 
Formung  des  Schönen.  Zudem  besaß  er  einen  wohl¬ 
klingenden  Tenor.  Mit  Allgeyer,  Böcklin  und  Begas 
hatte  er  in  Rom  sein  Gesangsquartett,  das  sich  gern 
in  dem  alten  Lokal  des  deutschen  Künstlervereins  über 
den  rauschenden  Wassermassen  der  Fontana  Trevi 
hören  ließ.  Aber  weit  mehr  verraten  seine  Bilder, 
daß  ein  Musiker  in  ihm  lebte.  Ein  zartes  Getön 
herrscht  auf  vielen  seiner  Gemälde.  Der  sehnsuchts¬ 
volle  Gesang  einer  Geige,  die  Vogellaute  der  Flöte, 
das  Geschwirr  von  Guitarre  und  Mandoline  hallt  aus 
ihnen  heraus.  Und  mehr  als  dies  Äußerliche;  seine 
Kompositionen  haben  ein  inneres  musikalisches  Tempo, 
wobei  er  ein  ruhig  schreitendes  Andante  bevorzugt, 
das  sich  bis  zu  einem  schweren  Largo  verlangsamen 
kann.  Der  Fluß  seiner  Linie  hat  Musik;  wie  oft 
scheint  in  ihr  eine  elegische  Melodie  eingefangen! 
Gleich  musikalischen  Modulationen  behandelt  er  die 
Ausweichungen  des  Umrisses.  Auch  der  Musiker 
in  Feuerbach  ist  Anti -Wagnerianer.  Sein  lebendiges 
Formgewissen,  seine  Sehnsucht  nach  Harmonie  und 
Heiterkeit  drängte  ihn  zu  Mozart.  Musik  heilte  ihn, 
wie  Shakespeare  seine  Helden  durch  Musik  zu  neuen 
Taten  genesen  läßt.  Raffaels  Cäcilie  gehörte  zu  seinen 
Lieblingen.  Wie  sie  dasteht  über  den  zerbrochenen 
Instrumenten,  während  unerhört  glückselige  Klänge 
aus  den  offenen  Himmeln  zu  ihr  niedersteigen,  das 
ergriff  ihn  immer  aufs  neue.  »Es  ist  ein  Friede  in 
dem  Bilde,  den  wir  unruhigen  Modernen  weder  nach 
außen  noch  nach  innen  erjagen  können«,  schreibt  er 
an  die  Mutter,  nachdem  er  wieder  einmal  in  Bologna 
lange  vor  dem  Gemälde  zugebracht. 

Seine  Lektüre  blieben  die  Alten,  Homer,  Platon, 
Dante,  Ariost,  Cervantes.  Vor  allem  auch  die  Bibel. 
Neben  ihr  galt  ihm  der  Don  Quichote  als  ein  »Buch 
der  Bücher«.  An  Goethe  und  Shakespeare  erholte 
er  sich  in  Zeiten  der  strengen  Arbeit.  Wenn  er  ruhte 
oder  müde  war,  griff  er  zu  leichter  Kost,  gern  zu 
modernen  fränzösischen  Romanen,  deren  schwächere 
noch  die  graziöse  Form  zu  wahren  wissen.  Der 
starke  bühnenwirksame  Zug  bei  Schiller  stieß  ihn  ab; 
vielleicht  witterte  er  darin  schon  den  Keim  zu  den 
»theatralisch  aufgeputzten  Genrebildern«,  die  seine  Zeit 
ihm  als  große  Historie  vorsetzte.  Theoretischen 
Schriften  war  er  abhold;  vergebens  würde  man  bei 
ihm  ein  philosophisches  Werk  gesucht  haben.  Wenn 
er  mit  tiefer  Rührung  bei  seinem  ersten  römischen 
Aufenthalte  seines  Vaters  »Vatikanischen  Apollo«  las, 
so  war  es  auch  in  diesem  Buche  neben  der  kindlichen 
Pietät  die  Künstlernatur,  die  aus  seinen  Seiten  ver¬ 
traut  redete  und  ihm  die  Lektüre  zu  einem  »stillen 
Glück  und  einer  Seelenarzenei«  machte. 


EIN  HELDENLEBEN 


313 


Welches  Land  der  Welt,  wenn  nicht  das  alte 
Kulturland  Italien,  hätte  diesem  reichen  und  tiefen 
Geiste  Anregung  und  jene  Abgeschiedenheit  bieten 
können,  in  der  allein  große  Werke  reifen?  Feuerbach 
war  nur  gehorsam  dem  »Gesetz,  nach  dem  er  ange¬ 
treten«,  als  er  in  Rom  seine  Werkstätte  aufschlug. 
Denen  daheim  aber  schien  diese  Übersiedelung  wie 
eine  herausfordernd  stolze  Abkehr  von  den  berech¬ 
tigten  Ansprüchen  des  Lebens,  und  die  Entfremdung, 
die  in  siebzehn  langen  Jahren  zwischen  ihn  und  sein 
Vaterland  trat,  war  das  letzte,  was  die  Katastrophe 
herbeiführte. 

Ohne  diese  Vereinsamung  in  Rom  aber  wäre 
Feuerbach  nie  geworden,  was  er  ist.  Schon  bei 
seinen  ersten  Schritten  auf  italienischem  Boden  fühlte  er, 
daß  er  seines  Geistes  Muttererde  unter  den  Füßen  hatte, 
ln  Rom  ward  ihm  das  letzte  und  höchste  Glück,  das 
dem  Künstler  beschieden  sein  kann:  er  fand  sich 
selbst  und  drang  in  immer  erneuten  Siegen  über  das 
trotzige  und  verzagte  Menschenherz  zu  der  großartigen 
Heiterkeit«  vor,  die  er  als  den  Inhalt  seiner  Kunst  ge¬ 
kennzeichnet  hat.  Nicht  als  die  Folge  eines  glücklich¬ 
sanguinischen  Temperaments  wollte  er  diese  Heiterkeit 
geschätzt  sehen,  sondern  als  Ausdruck  einer  schwer 
errungenen  Ruhe.  »Ruhe  ist  das,  was  den  Künstler 
macht«,  schrieb  er  damals.  Kein  Pessimismus,  kein 
müder  Verzicht  lag  in  seiner  Lebensphilosophie  — 
»die  ruhende  Leidenschaft  ,  das  war  sein  Ideal  und 
seine  Sehnsucht.  Den  Stempel  dieser  ruhenden  Lei¬ 
denschaft  fand  er  dem  Lande  aufgedrückt,  das  er  zum 
Wohnsitz  erwählt  hatte.  Und  aus  den  Werken  der 
alten  Meister  sahen  ihn  große  ruhige  Künstleraugen 
an,  deren  Blick  durch  alle  Trübungen  des  Daseins 
sieghaft  durchgedrungen  war. 

An  keinem  Meister  des  ig.  jahrhunders  hat  sich 
die  stilbildende  Kraft  eines  langen  römischen  Aufent¬ 
haltes  glänzender  bewährt  als  an  Feuerbach.  »Wer 
nach  Rom  kommt,  heißt  es  im  Vermächtnis,  und  sich 
einbildet.  Form  zu  haben,  der  wird,  wenn  er  ein  ein¬ 
sichtiger  Mensch  ist,  bald  finden,  daß  er  von  neuem 
sehen  lernen  muß«.  Feuerbach,  der  als  ein  Gereifter 
mit  dem  sicheren  Besitz  der  modernen  Maltechnik 
anlangte,  hat  dort  mit  einer  Willensstärke  ohnegleichen 
umgelernt.  Seine  Bemühungen  um  die  Form  galten 
vor  allem  der  »positiven  Erscheinung«  des  Menschen, 
wie  er  es  nannte.  Von  dem  schönen  Schein  der 
Dinge  wandte  er  sich  bewußt  ab  zur  Darstellung  des 
Notwendigen.  Für  ihn  hieß  Bilden,  Schaffen  nichts 
als  Auswählen  des  Unerläßlichen,  Weglassen  des  Über¬ 
flüssigen,  Vereinfachung  des  komplizierten  ersten  Ein¬ 
drucks.  An  der  Natur  und  den  alten  Meistern  schulte  er 
sich  in  unermüdlichem  Studium.  Er  hatte  als  Modelle 
die  schöne  römische  Menschenart  um  sich,  die  noch 
so  viel  von  dem  animalischen  Adel  aller  Kreatur  be¬ 
wahrt  hat.  Und  er  blickte  hinüber  zu  den  alten 
Meistern,  zur  Antike,  zu  Raffael  und  zu  Michelagniolo, 
die  ihm  auf  dem  Wege  zur  hohen  Vereinfachung  der 
Form  vorangewandelt  waren.  Schon  sie  hatten  mit 
ruhigem  Meisterauge  aus  der  Verworrenheit  der  Er¬ 
scheinungswelt  das  Ewige,  Typische  herausgesehen 
und  sich  an  der  möglichst  einfachen  Formulierung 


des  künstlerischen  Ausdrucks  gemüht.  Die  moderne 
Malerei  mit  ihrem  Hang  zum  Nebensächlichen,  Anek¬ 
dotischen  ,  zum  Beiwerk  verlor  mehr  und  mehr  für 
ihn  an  Gültigkeit. 

Auch  seine  Farbe  vereinfachte  er  hier  in  Rom. 
ln  seiner  Jugend  hatte  Feuerbach  als  einer  der  ersten 
sich  die  farbenreiche  Palette  des  neuen  französisch¬ 
belgischen  Kolorismus  zu  eigen  gemacht.  Dann 
war  er,  schon  ein  fertiger  Meister,  noch  einmal  in 
Venedig  als  ein  demütiger  Novize  bei  jener  Bruder¬ 
schaft  der  echten  Farbe«  eingetreten,  die  sich  um 
Tizian  und  Veronese  scharte.  Nun  bildete  er  neben 
der  eigenen  Form  auch  die  eigene  Farbengebung 
aus.  Auch  hier  ging  er  streng  auf  die  positive  Er¬ 
scheinung.  Er  verabscheute  die  rein  konventionelle 
Farbe  der  modischen  Historienmaler.  Sein  Realismus 
wollte  das  Leben  im  klaren  Licht  des  Alltags,  nicht 
in  dem  Rampenflimmer  der  Kulissen  darstellen.  Er 
verspottete  die,  welche  selbstgefällig  ihre  koloristischen 
Kartenhäuser<  bauten.  Nach  ihm  verlangte  die  Würde 
des  historischen  Vortrages  Dämpfung  der  Farbe,  um 
das  Auge  nicht  abzulenken  vom  Wesentlichen  auf 
Nebensächliches.  Er  ließ  nur  jene  Farbigkeit  gelten, 
die  die  Form  rund  und  deutlich  macht,  nicht  jene 
Aufdringlickeit,  die  das  Gestaltete  wie  mit  einem  un¬ 
gehörigen,  wenn  auch  reizvollen  Schmuck  überlädt. 
»Kolorit,  sagt  er,  ist  das  vergeistigte  Spiegelbild  der 
in  der  Schöpfung  zerstreut  umherliegenden  Dinge  in 
ihrer  Gesamtheit,  ihr  verklärter  Abglanz  in  einer 
künstlerisch  begabten  poetischen  Seele  .  Sein  Kolorit 
sollte  nur  die  Wirkung  des  seelischen  Ausdrucks  er¬ 
höhen,  das  Dichterische  der  Intention  zu  klarer  Er¬ 
scheinung  bringen.  Er  meidet  die  glänzenden  und 
leuchtenden  Stoffe,  die  scharfen  Schatten,  die  explo¬ 
dierenden  Lichter.  Die  Kraft  seines  Kolorits  liegt  in 
der  strengen  Einheitlichkeit  des  Lokaltones,  in  der 
sanften  Dunkelheit  seiner  Verschattungen,  in  dem  matten 
Weiß  und  Gold,  mit  dem  er  die  Lichtpartien  heraus¬ 
hebt.  Auch  als  Maler  ist  er  Musiker,  der  die  Reize 
der  mezza  voce  und  des  con  sordino  meisterlich  be¬ 
herrscht.  Man  denke  nur  an  die  graue  Morgen¬ 
stimmung  des  Symposion  oder  an  den  halbver- 
schatteten  Kopf  der  Dresdener  Madonna,  dieses  ohne 
Widerspruch  schönsten  Madonnenbildes  der  neuesten 
Kunst.  Vielleicht,  daß  die  Nähe  der  großen  alten 
Fresken  seine  viel  getadelte  graue  Periode  herbei¬ 
führte.  Mehr  aber  noch  kam  das  Mißverständnis 
zwischen  seiner  Malerei  und  dem  Publikum  daher, 
daß  niemand  in  Deutschland  die  italienische  Atmosphäre 
kannte,  in  der  das  Licht  gedämpft  und  wie  von 
silbergrauen  Olivenwipfeln  sanft  zurückgestrahlt  dahin¬ 
gleitet. 

Aus  seiner  immer  tieferen  Einsamkeit  entließ  Feuer¬ 
bach  ein  Jahr  ums  andere  seine  Werke  nach  Deutsch¬ 
land,  stolze  und  schweigsame  Sendboten  einer  künst¬ 
lerischen  Herrschgewalt,  die  man  nicht  anerkennen 
wollte.  Man  fühlte  nur,  wie  viel  Selbstsicherheit  und 
trotzige  Verachtung  der  Mode  in  ihnen  lebte,  wie  viel 
bewußte  Abwendung  von  den  Bestrebungen  der  Mit¬ 
welt.  Und  das  verzieh  die  Mitwelt,  die  von  ihren 
Künstlern  immer  umworben  werden  will,  weder  den 


EIN  HELDENLEBEN 


1  14 

Werken  noch  ihrem  Schöpfer.  Man  wies  auf  offen¬ 
kundige  Anlehnung  an  alte  Meister,  ohne  zu  bedenken, 
daß  ein  Maler,  der  wie  Feuerbach  inwendig  voller 
Figur-  Vr-'  *,  Anleihen  nicht  nötig  hatte.  Kunsthisto¬ 
rische  ^cl  'ser.heit  blähte  sich  selbstgefällig  vor  diesen 
WerKi  auf  und  sah  nicht,  wie  sehr  das  tatsächlich 
Über  '''rr!n’ene  innerlich  verarbeitet  und  für  den 
HiUen  7\veck  umgestaltet  war.  Die  akademischen 
Mandarinen  verhöhnten  die  gelegentlich  mit  unter¬ 
gelaufenen  Verstöße  gegen  Form  und  Proportion, 
während  sie  ihresgleichen  die  gefährlichsten  Knochen¬ 
brüche  und  Gliedverrenkungen,  ohne  mit  der  Wimper 
zu  zucken,  hingehen  ließen.  Sie  baten  immer  wie¬ 
der  Barabbam  los,  um  Jesum  zu  kreuzigen.  Mehr 
und  mehr  befestigte  sich  das  Vorurteil:  hier  gefalle 
sich  ein  anmaßender  Besserwisser  in  der  Rolle  des 
Hohenpriesters  der  monumentalen  Kunst. 

Was  wußte  man  von  dem  Gesetz,  nach  dem  sich 
Feuerbachs  Produktion  abspielte?  Wer  erfuhr  etwas 
von  der  qualvollen  Zeit,  in  der  die  Gedanken  schliefen, 
und  die  Augen  mut-  und  freudlos  nach  innen  blickten, 
des  unbefriedigten  Geistes  düstre  Wege  zu  spähn  ? 
Irgend  eine  zufällige  Anschauung  brachte  dann  den 
lange  getragenen  künstlerischen  Stoff  zur  Klärung. 

Alle  meine  Werke  sind  aus  der  Verschmelzung  irgend 
einer  seelischen  Veranlassung  mit  einer  zufälligen  An¬ 
schauung  entstanden  gesteht  Feuerbach  selbst.  Das 
Entscheidende  war  aber  immer  der  unerwartete  Eindruck. 
Eine  Erau  vom  Eande,  auf  den  Stufen  der  Peters¬ 
kirche  gefunden,  erweckte  ihm  die  Pieta;  der  scharf 
von  hinten  beleuchtete  Kahlkopf  eines  einsam  zechen¬ 
den  Alten  rückte  die  Welt  des  platonischen  Gastmahls 
ihm  in  die  Phantasie.  Nun  entstand  die  erste  Skizze, 
fast  immer  frisch,  hinreißend,  mit  dem  Reiz  ver¬ 
heißungsvoller  Größe,  der  Skizzen  aus  Meisterhand 
eigen  zu  sein  pflegt.  Dann  folgte  das  mühsame 
Studium  nach  der  Natur,  am  Modell.  Schnell  füllten 
sich  Mappen  mit  großen  Zeichnungen.  In  einem 
Sturm  von  Leidenschaft  ging  es  schließlich  an  die  Aus¬ 
führung,  wobei  das  Modell  vor  der  inneren,  in  so 
viel  Studien  gewonnenen  Anschauung  zurücktrat.  Ein 
Arbeitsfieber,  eine  furia  kam  über  den  Meister,  deren 
Reflex  in  den  Briefen  beängstigt.  »Ich  bin  halb  toll 
vor  Müdigkeit  —  es  geht  rasend  brillant«  —  »ich 
war  die  letzten  Tage  unwohl,  faule  Todesgedanken 
und  Weinen  vor  Anstrengung«.  Hinzu  kam,  um  die 
seelische  Spannung  zu  mehren,  daß  Feuerbachs  Phan¬ 
tasie,  wie  man  das  auch  von  Beethoven  weiß,  sich  in 
einem  merkwürdigen  Parallelismus  künstlerischer  Kon¬ 
zeptionen  erging.  Während  das  Gastmahl  entstand 
mit  seinem  tief  nachdenklichen  und  heiter  erregten 
Gruppenspiel,  wogte  auch  schon  die  Amazonenschlacht 
in  seinem  Gemüt;  mit  der  am  düster  aufrauschenden 
Meere  trauernden  Medea  entstand  als  Gegensatz 
das  bukolisch  heitere  Parisurteil.  Man  merkt  die 
Leidenschaft  des  Miterlebens  ebenso  sehr  wie  die 
Augenblicke  der  Ermattung,  in  der  sich  der  fieber¬ 
hafte  Schaffenstrieb  nicht  die  notwendige  Ruhe  gönnte. 
Dann  erlahmt  die  Vorstellungskraft  und  die  Erinnerungs¬ 
bilder  werden  nicht  mehr  in  voller  Schärfe  und  Deut¬ 
lichkeit  wahrgenommen. 


Hier  hätte  eine  Ereundeshand  den  Ermüdeten  aus 
der  überhitzten  Atmosphäre  der  Werkstatt  herausleiten, 
ein  Ereundesauge  ihm  den  bösen  Blick  leihen  müssen, 
mit  dem  jeder  Meister  einmal  sein  geliebtes  Werk 
bedrohen  muß.  Aber  Ereunde  hatte  Eeuerbach  nicht, 
und  wenn  er  sie  hatte,  verstand  er  nicht  sie  zu  halten. 
Nicht  daß  er  ungesellig  gewesen  wäre,  aber  die 
fromme  Tasse  Tee  der  Ereundschaft  ersetzte  ihm  nicht 
den  Trank,  nach  dem  er  uneingestandenermaßen 
lechzte.  Sein  Selbstgefühl  verlangte  Unterordnung; 
wo  er  sie  nicht  fand,  wandte  er  sich  ab;  wo  er  sie 
fand,  machte  sein  Interesse  bald  der  Gleichgültigkeit 
Platz.  Nur  Trauen  haben  in  seinem  Leben  eine  Rolle 
gespielt.  Er  brauchte  weibliche  Hingabe,  die  be¬ 
ruhigende  Nähe  eines  Herzens,  das  ihn  verstand. 
Ausruhen  und  Vergessen  suchte  er,  nicht  Beunruhigung 
durch  Hinweis  und  Vorwurf. 

Wie  sein  Atelier  für  jeden  Besuch  fest  verschlossen 
blieb,  so  hat  er  bald  auch  die  Besuche  bei  Kol¬ 
legen  eingestellt.  Es  verdroß  ihn,  wenn  er  Mittel¬ 
mäßiges  sah,  machte  ihn  verwirrt,  stieß  er  auf  Be¬ 
deutendes  wie  einmal  bei  Böcklin.  Auch  bei  seinen 
jährlichen  Reisen  in  die  Heimat  nahm  er  von  zeitge¬ 
nössischer  Kunst  wenig  Notiz.  Trotzdem  hatte  er  ein 
lebhaftes  Gefühl  für  alles  Echte  und  Ursprüngliche, 
auch  wenn  es  seiner  Richtung  schnurstracks  zuwider¬ 
lief.  Schwind  z.  B:  hielt  er  für  den  ersten  und  bloß 
weil  er  das  Herz  bewegt  mit  seinen  Sachen.  Ich 
kann  lernen  von  ihm,  wie  man  heiter  bleibt  und  ge¬ 
sund«. 

Aber  er  hat  es  nicht  gelernt.  Die  Einsamkeit 
fraß  an  ihm  und  brachte  ihm  ihre  bösen  Wunden, 
eine  nach  der  anderen,  bei:  Überschätzung  des  eigenen 
Ichs,  Verletzbarkeit,  Selbstqual  und  Mißtrauen.  Mit 
einem  Mal  fühlte  er’s,  wie  er’s  nicht  mehr  aushalten 
könne  »ganz  allein  mit  meinem  immer  schaffenden 
Kopfe  ,  er  vermißte  »Menschen,  die  lehrreich  sind  und 
befruchtend«.  »Das  ewige  Zehren  an  großen  Ideen, 
ohne  als  Mensch  mit  Menschen  heiter  leben  zu  können, 
wird  nachgerade  aufreibend.«  In  seinem  schmuck¬ 
losen  Studio  vor  den  großen  unverkauften  Bildern 
brachte  er  trübe  Stunden  hin  in  brütender  Melancholie: 

Nun  sitz’  ich  still  allein,  von  einer 
Stunde  zur  anderen,  und  Gestalten 
Aus  Lieb’  und  Leid  der  helleren  Tage  schafft, 

Zur  eignen  Freude,  nun  mein  Gedanke  sich. 

Und  ferne  lausch’  ich  hin,  ob  nicht  ein 
Freundlicher  Retter  vielleicht  mir  komme. 

Da  tat  das  Schicksal  seinen  Meisterstreich  und  half 
ihm  heraus  aus  der  Versunkenheit  ins  eigene  Ich, 
aber  nur,  um  schließlich  das  Leben  selbst  zu  rächen 
an  dem,  der  ihm  so  lange  stolz  den  Rücken  gewandt 
hatte.  Mit  der  Berufung  an  die  Akademie  nach  Wien 
setzt  die  Katastrophe  ein. 

.  .  .  Ein  Mann  so  hat  es  ein  Dichter  einmal 
erzählt  —  trug  Liebe  zu  einem  Weibe.  Und  als  die 
Stunde  kam,  da  er  mit  heißem  Atem  diese  Liebe  ge¬ 
stand,  fing  das  Weib  an  zu  lachen,  zuerst  in  silbernen 
Tönen,  überrascht  und  geschmeichelt,  dann  ausgelassen 


EIN  HELDENLEBEN 


115 


und  toll  aus  Freude  an  diesen  kecken,  gesunden 
Lauten,  die  sich  überschlugen,  zuletzt  rasend  und 
herzlos,  in  gurgelnden,  halberstickten  Schreien,  boshaft 
und  quälend,  bis  der  Mann  sich  das  Leben  nahm 
zu  den  Füßen  des  lachenden  Weibes.  .  .  . 

So  ging  es  Feuerbach  mit  Wien.  Dies  kichernde, 
tändelnde,  lachende,  oberflächliche  Wien  nahm  ihm 
den  Glauben  an  den  Ernst  der  Kunst.  Dies  Wien, 
wie  es  sich  in  übermütig  gesunder  Sinnenlust  seinem 
großen  Verführer  Makart  an  den  Hals  warf,  machte 
ihn  irre  an  den  Idealen,  denen  er  in  Einsamkeit  und 
Schmerzen  treu  nachgehangen  hatte.  Feuerbach 
stutzte,  prüfte  und  verglich  —  da  feierte  alles,  was 
er  gemieden  und  verachtet  hatte,  den  Sieg:  die 
übertriebene  Größe,  die  konventionelle  Form,  die 
Schminke  und  die  Sentimentalität  des  Theaters.  Er¬ 
schüttert  liest  man  die  Worte  seiner  Selbstkritik:  »in 
meiner  Kunst  war  ich  bis  jetzt  zu  einfach,  weil 
ich  nicht  glaubte  mit  Seidenmagazinen  konkurrieren 
zu  müssen;  einer  prunkhaften  glücklichen  Zusammen¬ 
stellung  der  mnanigfachsten  Stoffe  der  Welt  ist  schwer 
mit  meinen  Gegenständen  stand  zu  halten.  War  das 
das  Leben,  so  hatte  er  es  mißverstanden  von  Grund 
aus;  wenn  das  der  Menschen  Sehnen  stillte,  was 
konnte  er  ihnen  bringen!  Diese  Wunde  war  nicht 
zu  heilen,  nicht  mit  der  treuen  Anhänglichkeit  einiger 
Schüler,  nicht  mit  dem  Vertrauensvotum  der  Vor¬ 
gesetzten  Behörde.  Den  großen  Deckenbildern  für  die 
Aula  der  neuen  Wiener  Kunstakademie  sieht  man  den 
Zwiespalt  des  Künstlers  an.  Er  neigt  in  ihnen  zu 
größerer  Farbigkeit  und  zu  einer  gefälligeren  Formen- 
gebung.  Aber  Wien  lachte,  lachte  »vom  Professor 
bis  zum  Hausknecht«.  Noch  in  seine  italienische 
Zurückgezogenheit  klang  dies  tolle,  verletzende  Lachen. 
Der  Adel  und  die  Zurückhaltung  seiner  Natur  kämpften 
mit  seinem  Zorn.  Und  er  schreit  ihn  hinaus  in  die  ge- 
ängstigten  Ohren  der  Mutter  mit  den  einzigen  unedlen 
Worten,  die  man  bei  ihm  finden  kann.  »Wenn  ich 
an  die  großen  Wiener  Bilder  denke,  dann  faßt  mich 
namenloser  Grimm,  und  es  wird  und  wird  sich  rächen, 
das  glaube  mir,  wenn  es  zu  spät  ist«. 

Wien,  wo,  wie  Lützow  sagte,  »lauter  Weiber« 
sind,  hatte  ihm  das  eine  für  immer  genommen,  ohne 
das  er  nicht  schaffen  konnte:  Stimmung.  Er  hat  sie 
auch  in  Italien  nicht  wiedergefunden,  wie  er  sie  vor¬ 
dem  besaß.  Rom  wollte  er  nicht  Wiedersehen;  das 
drückte  mit  seinem  Ernst  und  seinen  Erinnerungen 
auf  ihn.  Auch  aus  Venedig,  das  ihn  vor  zwanzig 
Jahren  mit  seiner  Grazie  bezaubert  hatte,  trieb  es  ihn 
mit  heimlicher  Sehnsucht  fort.  »Landschaft  mit  viel 
Vieh  und  wenig  Menschen,  das  ist  das  wahre  Leben, 
da  stirbt  man  dann  ohne  Konflikte,  die  das  Leben 


verbittern  und  nach  denen  kein  Hahn  kräht,  wenn 
man  tot  ist«.  Die  Mutter  litt  seine  Qual  mit.  »An¬ 
selm  dauert  mich  in  seiner  stummen  Resignation,  daß 
mir  fast  das  Herz  bricht«.  Ihn  verlangte  nach  Ein¬ 
samkeit,  wo  er  nur  die  Sonne  zur  Freundin  hätte. 
»Der  Anlauf  zum  neuen  Leben  muß  jetzt  von  außen 
kommen;  Werke  sind  genug  da  .  Eine  Insel  im 
Lago  d’Iseo  ward  ihm  zum  Kauf  angeboten;  er  spielte 
mit  dem  Gedanken  dort  zu  sterben  und  dichtete  sich 
eine  ironisch  manierierte  Grabschrift.  Ein  paar  Monate 
später  betteten  sie  ihn  wenige  Schritte  von  Albrecht 
Dürer  auf  dem  alten  Johanniskirchhof  in  Nürnberg. 
.  .  .  »O,  wie  wird  mich  nach  der  Sonnen  frieren!'  .  .  . 

Denselben  Kampf,  den  Feuerbach  in  Rom  durch¬ 
hielt,  bestanden  dicht  neben  ihm  zwei  andere,  von 
denen  er  wohl  gewußt  hat:  Hans  von  Marees  und 
Arnold  Böcklin.  Jeder  erlebt  schließlich  den  Triumph 
oder  die  Tragödie  seines  Körpers.  Der  robuste  Böcklin 
allein  ist  Sieger  geblieben  in  dem  Kampf  mit  der 
Trivialität  des  Alltags,  in  dem  die  beiden  anderen, 
schwächer  gearteten  unterlagen.  Wie  das  Gutachten 
des  Klinikers  klingt,  was  Billroth  einem  Freunde 
schrieb,  als  er  das  Vermächtnis  Feuerbachs  gelesen: 
'Hätte  dieser  Geist  und  dieses  Talent  in  einem  kräf¬ 
tigeren  Körper  gesteckt! 

Feuerbachs  Kunst  mit  ihrem  großartigen  Ernst 
kann  nie  volkstümlich  werden.  Einen  kleinen  Kreis 
Auserwählter  wird  sie  dafür  um  so  tiefer  beglücken, 
je  länger  sie  wirksam  ist.  Von  ihr  darf  man  sagen, 
was  Feuerbach  von  Raffaels  Cäcilie  geschrieben:  Das 
ist  Kunst;  man  wird  selbst  edler,  wenn  man  es  an¬ 
sieht«.  Die  Menge  wird  stets  mit  blöden  Sinnen 
vor  den  großen  Leinwänden  stehen.  Auch  darin 
trog  ihn  die  innere  Stimme,  als  sie  ihn  prophezeien 
ließ:  »Und  später,  wenn  der  launenhafte,  leicht  erreg¬ 
bare,  zaghafte  Mensch  nicht  mehr  ist,  dann  steht  eben 
die  Malerseele  rein  da  und  niemand  wird  fragen,  wie 
hat  er  gelebt  und  gerungen,  sondern  —  was  hat  er 
gemacht' . 

Für  die  Menge  ist  sein  Andenken  gerettet  durch  seine 
menschlichen  Dokumente,  seine  Briefe,  deren  prachtvolles 
Deutsch  so  rein  die  Stimmung  des  Augenblicks  vermittelt. 
Hier  wird  man  ihn  als  einen  Bruder  im  Leiden  und 
Irren  erkennen,  als  einen  wahrhaft  modernen  Geist, 
der  im  Kampfe  mit  der  inneren  Unruhe  sein  Leben 
verzehrt  hat.  Die  Großartigkeit  seines  Wollens  wird 
erschüttern  und  zur  Verehrung  hinreißen,  wen  die 
feierliche  Unnahbarkeit  des  Geleisteten  kühl  läßt.  Für 
viele  wird  es  ein  Trost  sein,  zu  wissen,  wie  er  gelebt 
hat  und  gerungen  ,  um  das  höchste  zu  erlangen,  was 
der  moderne  Pessimismus  dem  Menschen  zuerkennt: 
einen  heroischen  Lebenslauf. 


LILJEFORS.  DER  JAGER 


SAMML.  DES  PRINZEN  KARL,  STOCKHOLM 


BRUNO  LILJEFORS 

Von  Tor  Hedberg  in  Stockholm 


Bruno  LILJEFORS’  Großvater,  der  den  jetzt 
so  berühmten  Namen  annahm,  war  ein  Bauer, 
der  Vater,  Anders  Liljefors,  ein  Kaufmann  in 
Upsala.  Die  Familie  der  Mutter  —  sie  war  die 
Tochter  des  seiner  Zeit  angesehenen  Steinmetzen 
Lindbäck  —  hat  wallonisches  Blut  in  den  Adern. 
Der  Großvater  soll  ein  eifriger  und  sicherer  Jäger 
vom  alten  Schlage  gewesen  sein  —  dagegen  bestand 
des  Vaters  einzige  Verbindung  mit  dem  Jagdsport 
darin,  daß  er  einen  Pulverhandel  betrieb.  Aber  er 
besaß  eine  künstlerische  und  mechanische  Begabung 
und  war  ein  leidenschaftlicher  Bewunderer  Tegners, 
den  er  täglich  zu  zitieren  pflegte.  Fr  war  ein  un¬ 
gewöhnlich  starker  Mann  und  erreichte  ein  Alter  von 
fast  So  Jahren. 

Bruno,  der  älteste  von  vier  Brüdern,  von  denen 
auch  der  Musiker  sich  einen  Namen  gemacht  hat, 
wurde  am  14.  Mai  1860  geboren.  Bis  zu  seinem 
zehnten  Jahre  war  er  sehr  kränklich,  wurde  aber 
nachher  immer  frischer  und  stärker  —  wozu  sein 
Leben  in  freier  Luft  natürlich  in  hohem  Grade  beitrug. 
Denn  schon  frühzeitig  äußerten  sich  bei  ihm  die 
Eigenschaften,  die  später  für  sein  Leben  entscheidend 
wurden:  Natursinn  und  Künstlertrieb.  Zu  kritzeln 
und  im  Walde  herumzustreifen  —  das  waren  seine 
Lieblingsbeschäftigungen.  Im  Alter  von  fünf  bis  zehn 


Jahren  zeichnete  und  malte  er  ein  Meer  im  Sturm, 
Schiffbrüche  und  Helden  aus  der  griechischen  Ge¬ 
schichte.  Das  Meer,  das  er  damals  nie  gesehen,  hat 
ihn  später  ganz  gewonnen  —  die  griechischen  Helden, 
glaube  ich,  hat  er  aufgegeben.  Das  erstemal,  als  er 
ein  Tier  im  Walde  sah,  wurde  er  —  wie  er  mir 
selbst  erzählt  hat  —  völlig  verhext;  ebenso  als  er  ein 
Vogelnest  zu  sehen  bekam.  Besonders  reizten  ihn 
Vögel,  die  fleckig  waren  und  sogenannte  schützende 
Ähnlichkeit  hatten.  Als  ein  eigenartiger  Zug  sei  hier 
erwähnt,  daß  er,  der  werdende  große  Nimrod,  lange 
Zeit  die  größte  Angst  vor  dem  Schießen  hatte,  so 
daß  er  nicht  einmal  in  der  Nähe  zu  stehen  wagte,  wenn 
ein  anderer  schoß.  Jedoch  nach  und  nach  und  durch 
eifrige  Selbsterziehung  glückte  es  ihm,  diese  Schwäche 
zu  überwinden.  Seine  Waffen  waren  deshalb  lange  Zeit 
der  Flitzbogen  oder  ganz  einfach  der  geworfene  Stein 
—  keines  von  beiden  zu  verachten,  sobald  sie  von 
einer  geübten  und  festen  Hand  geführt  werden.  Eine 
seiner  stolzesten  Erinnerungen  ist  es,  daß  er  einst 
als  Knabe  mit  nicht  weniger  als  sechs  Vögeln  heim¬ 
kehrte,  die  er  mit  Steinwürfen  erlegt  hatte. 

Indessen  nahm  die  Schule  seine  Zeit  in  Anspruch. 
Er  besuchte  —  mit  welchem  Interesse  sei  dahin¬ 
gestellt  —  die  Kathedralschule  zu  Upsala,  jedoch  nur 
bis  zur  siebenten  Klasse.  Sein  Abiturium  machte  er 


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BRUNO  LILJEFORS 


nie.  Von  der  Schule  ging  er  zur  Kunstakademie 
in  Stockholm  über,  wo  er  drei  Jahre,  187g  bis 
1882,  verblieb.  Georg  Nordensvan  berichtet  in 
seiner  vortrefflichen  Arbeit,  »Schwedische  Kunst  im 
19.  Jahrhundert«,  daß  er  gemeinsam  mit  einigen 
anderen  Kameraden  wegen  der  vernachlässigten 
Studien  von  der  Akademie  gejagt  wurde.  Dies  soll 
jedoch  nicht  der  Fall  gewesen  sein;  er  ging  nach 
erteilter  Verwarnung  freiwillig  ab,  da  er  es  ziemlich 
sinnlos  fand,  daß  er  noch  ein  Jahr  —  das  dritte  — 
in  der  »Antike«  zubringen  sollte.  Und  darin  muß 
man  ihm  wohl  Recht  geben.  Einer  im  Jahre  1882 — 83 
unternommenen  Reise  nach  Bayern,  Italien  und  Frank¬ 
reich,  während  deren  er  unter  anderem  einige  Monate 
bei  dem  Tiermaler  Prof.  C.  F.  Deyker  in  Düsseldorf 
studierte,  schreibt  er  selbst  keine  größere  Bedeutung 
für  seine  künstlerische  Entwickelung  zu.  Es  würde 
auch  schwer  halten,  in  seiner  künstlerischen  Pro¬ 
duktion,  auch  der  zeitigsten,  eine  direkte  Schul¬ 
bildung  zu  entdecken.  Am  stärksten  beeinflußt 
scheint  er  in  seinen  früheren  Erzeugnissen  von  der 
japanischen  Kunst.  ln  der  Wahl  des  Stoffes,  der 
Begrenzung  auf  ein  kleines,  intim  aufgefaßtes  und 
wiedergegebenes  »Winkelchen«  der  Natur,  und  in 
der  lebensvollen,  den  Bewegungsmoment  meisterhaft 
festhaltenden  Zeichnung  findet  man  oft  eine  ver¬ 
blüffende  Ähnlichkeit.  Ein  direktes,  eindringendes 
Studium  der  japanischen  Kunst  liegt  diesem  Umstande 
jedoch  nicht  zugrunde.  Gleich  so  vielen  anderen 
Künstlern  der  Gegenwart  erfuhr  er  den  Einfluß  einer 
geistigen  Strömung.  Die  Atmosphäre  war  damals 
sozusagen  mit  japanischem  Kunstsamen  erfüllt;  wo 
er  gutes  Erdreich  fand,  drang  er  ein,  wuchs  und 
schoß  in  die  Höhe.  Liljefors  studierte  die  Natur 
mit  demselben  Interesse  und  zu  demselben  Zweck 
wie  die  japanische  Kunst,  und  er  kam  zu  dem  un¬ 
gefähr  gleichen  Resultat.  Wie  tiefliegend  sein  Interesse 
besonders  für  die  Wiedergabe  der  Bewegung  war, 
geht  unter  anderen  aus  seinen  vorzüglichen  Karikatur¬ 
zeichnungen  hervor,  die,  streng  genommen,  nichts 
weiter  sind  als  Bewegungsstudien. 

Während  der  letzten  zwanzig  Jahre  ist  er  ununter¬ 
brochen  in  seiner  Heimat  auf  dem  Lande  ansässig 
gewesen,  zuerst  in  Qvarnbo  in  der  Nähe  von  Upsala, 
dann  in  verschiedenen  Orten  der  östlichen  Schären. 

Es  ist  eine  Art  Pionierleben,  das  er  führt,  um¬ 
geben  von  seiner  Familie,  seinen  Hunden,  seinen 
zahmen  und  wilden  Tieren,  seine  Zeit  teilend  zwischen 
dem  Walde,  der  See  und  dem  Atelier,  unermüdlich 
wo  er  auch  ist.  Was  er  als  Jäger  und  Naturkenner 
gilt,  davon  sprechen  seine  Jagdkameraden  mit  Ver¬ 
ehrung  und  Bewunderung.  Meine  Aufgabe  ist,  zu 
schildern,  was  er  als  Künstler  war  und  ist. 

Er  ist  auch  hier  ein  Pionier.  Wenn  ich  mit  der 
Erziehung  der  Jugend  etwas  zu  tun  hätte  und  die 
Macht  und  Mittel  besäße,  meine  Pläne  auszuführen, 
würde  ich  ein  Liljeforsmuseum  begründen.  Ich  würde 
es  jetzt  tun,  ohne  des  Künstlers  Tod,  Begräbnis  und 
Wiederauferstehung  in  der  Kunstgeschichte  abzuwarten, 
und  nachdem  ich  möglichst  viele  seiner  älteren  und 
neueren  Arbeiten  gesammelt,  würde  ich  in  ruhigem 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  5 


1  17 

Vertrauen  auch  für  seine  werdende  Produktion  Platz 
lassen,  und  zwar  einen  ordentlichen  Raum.  Dort 
würde  ich  dann  die  Jugend  hinlocken  —  auch  die 
Jugend,  deren  Haar  zu  ergrauen  beginnt  —  ich  würde 
sie  sogar  bitten,  Aug’  und  Sinn  zu  öffnen  und  sie 
nachher  allein  lassen  mit  ihrem  Kameraden  und  Lehrer, 
dem  unermüdlichen  Schilderer,  Kundschafter  und  Er¬ 
zähler  von  Wald  und  Feld  und  Luft  und  Wasser. 
Nirgends  würde  sie  sich  besser  zweierlei  Dinge  an¬ 
eignen  können,  die  imstande  sind,  Licht  über  das 
Leben  zu  verbreiten:  Liebe  zur  und  Verständnis  für 
die  Natur,  Liebe  zur  und  Verständnis  für  die  Kunst. 

Sie  würde  dort  den  Gang  seiner  ganzen  Ent¬ 
wickelung  verfolgen  können:  von  der  einfachen  direkten 
Naturbeobachtung  zu  einem  immer  größeren  und 
reicheren  Naturgefühl,  von  der  Lebensanschauung  des 
abenteuerlustigen  Knaben  oder  Jägers  bis  zu  der  des 
phantasievollen  Künstlers.  Er  würde  sie  erst  durch  seine 
echte  strahlende  Freiluftnatur,  seine  Freiheit  von  jeder 
Weichlichkeit,  jeder  Gefühlsduselei,  seinem  Reichtum  an 
Beobachtungen  und  seinem  Interesse  für  Ereignisse  ge¬ 
winnen.  Er  zeigt  nicht  nur  die  Natur  in  dieser  oder 
jener  Stimmung,  sondern  was  sich  in  der  Natur  ereignet 
und  geschieht;  all  die  Dramen  oder  Wunder,  die  sich 
in  der  Tierwelt  abspielen,  die  unsere  Wälder,  Haine  und 
Wiesen  noch  erfüllen.  Seine  Künstlerschaft  hat  in  dieser 
Periode  gerade  viel  von  der  Knabenart  an  sich:  Er 
streift  weit  umher,  aber  er  sieht  selten  weite  Horizonte: 
einige  Stämme  oder  ab  und  zu  auch  bloß  einige 
Zweige,  ein  Stück  Feld,  ein  Waldesdickicht  oder  ein 
Schilfbüschel,  und  innerhalb  dieses  kleinen  Gebietes 
ein  Ereignis,  es  mag  noch  so  unbedeutend  sein,  wenn 
es  nur  Leben  und  Bewegung  in  das  Bild  bringt. 
Er  malt  fast  niemals  seine  Tiere  in  der  Ruhe;  was 
er  mit  Vorliebe  sieht  und  wiedergibt,  das  ist  ihre 
Bewegung,  und  das  Charakteristische  in  der  Bewegung. 
Dies  erfaßt  sein  Blick  und  bewahrt  sein  Gedächtnis 
mit  außerordentlicher  Sicherheit,  und  er  zeichnet  den 
Flug,  den  Sprung,  oder  die  vorbereitende  Muskel¬ 
spannung  so  lebhaft  wie  ein  japanischer  Meister. 
Das  ist  seine  japanische  und  realistische  Periode, 
japanisch  in  der  Auffassung  und  Wiedergabe,  realistisch 
in  dem  genauen,  sogar  minutiösen  Studium  der  Details. 

Dann  kommt  eine  Serie  von  Bildern,  in  denen 
er  die  Freuden  und  die  Spannung  der  Jagd,  deren 
frische  Wildnispoesie  schildert.  Der  Horizont  er¬ 
weitert  sich,  das  kleine  Stückchen  Feld  breitet  sich 
zur  offenen  Ebene,  aus  dem  Gebüsch  wird  ein 
großer  Wald,  das  Schilfbüschel  entwickelt  sich  zu 
binsenbestandenen  Seeufern.  Die  Details  werden  nicht 
mehr  so  genau  wiedergegeben,  aber  was  aufgenom¬ 
men  wird,  ist  mit  dem  geschärften  Sinn  des  Jägers 
gesehen.  Die  Natur  ist  so  aufgefaßt,  wie  sie  sich  dem 
Jäger  zeigt,  wenn  er  in  der  Erwartung  der  Beute  und 
schußbereit  dasteht.  Das  Sausen  des  Windes  im  Baum¬ 
geäst,  das  wechselnde  Spiel  von  Sonne  und  Schatten, 
der  Geruch  des  Feldes  nach  Moos  und  Feuchtigkeit 
—  alles,  was  seine  Umgebung  an  Form  und  Farbe,  an 
Stille  und  Bewegung  aufzuweisen  hat,  ist  in  seinem 
Bewußtsein  gegenwärtig,  ohne  daß  er  jedoch  irgend¬ 
wie  darauf  acht  gibt;  es  erscheint  ihm  nur  als  der 

16 


BRUNO  LILJEFORS 


1 18 

sichtbare  und  hörbare  Ausdruck  für  das  intensive 
Lustgefühl,  das  seine  Seele  erfüllt. 

Und  dann  wieder  kam  der  Tag,  da  alles,  was 
er  während  dieses  langjährigen  intimen  Umganges 
mit  der  Natur  für  seine  Phantasie  und  sein  Be- 
wunh.ei  ■  aufgespeichert  hatte,  sich  ihm  zu  großen 
Bild  i'  und  Visionen  formte.  Da  hat  er  die  Büchse 
beisede  gelegt  und  hat  statt  dessen  geträumt  und 
gedaciä.  ln  das  tiefste  Waldesdunkel  ist  er  gegangen 
urni  hat  dort  Aug’  in  Aug’  dem  LHiii  gegen¬ 
übergestanden,  wie  er  auf  seinem  Felsblock  sitzt,  in 
seinem  dunklen,  flaumigen  Gewände,  unbeweglich, 
mit  seinen  gelben  lichtscheuen  Augen  vor  sich  hin¬ 
starrt,  ein  Bild  des  Schreckens  und  des  Zaubers 
der  Einsamkeit.  Oder  er  hat  ihn  als  den  Dämon  der 
Raubsucht  geschildert,  schnell,  stumm  und  fürchterlich 
wie  das  Verhängnis  selbst,  seine  Beute  mit  unbändiger 
Begierde  ergreifend,  ein  Sagengeschöpf  des  Waldes, 
schön  und  schreckenerregend. 

Er  hat  an  einem  frühen  Morgen  die  alte  Tanne 
fern  am  Bergeshang  aufgesucht  und  die  Auerhahn¬ 
balz  betrachtet,  und  er  hat  sich  gesagt:  dies  ist  die 
Liebe,  die  starke,  ursprüngliche  Liebe,  die  zu  Kampf 
und  Gesang,  zu  wunderlichen  Gebärden,  lächerliehen 
und  sublimen,  reizt.  Er  ist  auf  die  Ebene  hinaus¬ 
gegangen,  wenn  sie  in  der  kalten  Luft  daliegt,  an 
frühen  Lenztagen,  noch  braun  und  hart,  den  Frost 
im  Feldboden,  sich  in  wellenförmigen  Linien  zum 
dunkeln  Waldeshorizont  hindehnend.  Und  er  hat 
gedacht:  dies  ist  mein  Land,  karg  und  arm,  mit  langen 
Wintern  und  kurzen  Sommern,  das  Land,  das  ich 
liebe  und  nach  dem  ich  mich  stets  zurücksehnen 
werde.  Und  das  Gefühl,  das  ihn  erfüllte,  hat  sich 
zu  einem  Bilde  geformt,  dem  Bild  von  den  wilden 
Schwänen,  die  mit  ausgestreckten  Flälsen,  den  milden 
Schimmer  der  Abendsonne  auf  dem  weißen  Feder¬ 
kleide,  sich  zu  dem  glänzenden  Wasserspiegel  her¬ 
niederbeugen. 

Die  Separatausstellung  in  Stockholm  1895  war 
es,  auf  der  Liljefors’  Künstlerschaft  sich  in  ihrem 
ganzen  Umfange  und  Reichtum  offenbarte.  Unter 
den  ausgestellten  Werken  fanden  sich  damals  auch 
einige  Bilder  aus  den  Schären,  wohin  er  ein  paar 
Jahre  vorher  gezogen  war.  ln  den  seither  verflossenen 
Jahren  hat  er  sich  immer  intimer  in  ihre  Natur  hinein¬ 
gelebt,  und  mit  seiner  im  Fferbst  igoi  arrangierten 
Separatausstellung,  derselben,  die  später  ihre  Runde 
durch  Europa  machte,  hat  er,  wie  man  wohl  sagen 
kann,  die  östlichen  Schären  der  schwedischen  Kunst 
einverleibt.  Wie  die  äußersten  Felsinseln,  das  starke 
und  düstere  Leben  der  Meeresgrenze  hier  geschildert 
werden,  hatte  man  noch  nie  vorher  in  der  schwe¬ 
dischen  Kunst  gesehen.  Flier  offenbarte  sich  in 
bezaubernder  Weise  die  Fähigkeit  des  geborenen 
Künstlers,  Neues  zu  schaffen  und  zu  entdecken,  auch 
wenn  er  auf  scheinbar  bekannten  und  gebahnten 
Wegen  geht.  Er  hat  in  dieser  Natur  Farben,  Be¬ 
leuchtungen,  Szenerien  gesehen,  die  die  Kunst  bisher 
nicht  ausgedrückt  hatte.  Er  ist,  im  wörtlichen  und 
bildlichen  Sinne,  wach  gewesen,  als  wir  anderen  zu 
schlafen  pflegten.  Mit  ihm  und  in  ihm  ist  der  erste 


unberührte  Morgen  gewesen,  der  Sonnenaufgang,  der 
das  Meer  aus  seinem  Schlummer  erweckt  und  es  in 
ein  Gewand  von  Licht  kleidet,  das  wir  nicht  kennen. 

Die  Ausstellung  von  1895  enthielt  ein  Bild,  jetzt 
im  Besitz  des  Flerrn  E.  Thiel  in  Stockholm,  das  einen 
Sonnenaufgang  auf  dem  Meere  mit  einer  Derbheit 
und  Frische  ohnegleichen  schilderte.  Das  Meer  liegt 
da,  safrangelb,  mit  blaßblauen  Reflexen  des  Flimmels 
auf  den  Wellenabhängen.  Denn  die  Morgenbrise 
hat  schon  den  Spiegel  in  Bewegung  gebracht,  und 
es  klingt  und  braust  um  die  Kämme,  wo  die  Seevögel 
schlaftrunken  ins  Wasser  hinab  taumeln.  Wenn  man 
dieses  Bild  sieht,  so  ist  es  einem,  als  schlüge  man 
selbst,  schlaftrunken  aber  ausgeruht,  frisch  und  froh, 
seine  Augen  zum  Meere  und  zum  Lichte  auf.  Und 
man  wundert  sich  nicht  darüber,  daß  das  Wasser  gelb 
ist,  denn  alles  ist  neu,  als  sähe  man  es  zum  erstenmale. 
(Unsere  farbige  Reproduktion  vermag  eine  Vorstellung 
davon  zu  geben.) 

Und  deshalb  ist  es  auch  so  groß,  so  einheitlich, 
so  ursprünglich:  Felsen,  Himmel  und  Meer  geschil¬ 
dert  wie  im  Urgründe  ihres  Daseins,  mit  einer  Auf¬ 
fassung,  die  ich  elementar  nennen  möchte.  Typisch 
für  diesen  Fall  sind  die  »Sägetaucher«  von  der 
Ausstellung  1901.  Das  Bild  dieses  Himmels,  dieses 
Meeres  und  dieses  Felsens,  an  dem  es  sich  zu  Schaum 
bricht,  ist  jeder  Zufälligkeit  entkleidet;  so  ist  es  immer 
gewesen,  so  wird  es  immer  bleiben,  es  ist  eine  Art 
Unvergänglichkeit  in  der  Erscheinung.  Aber  im 
Vordergründe  erheben  sich  zwei  Sägetaucher  und 
peitschen  das  Wasser  zu  Sehaum  mit  ihren  schnellen 
Schwingen.  Es  ist  gleichsam  ein  Schrei,  der  sieh 
aus  der  Stille  erhebt,  wild  und  ausgelassen,  Jubel 
oder  Schreeken  des  Augenblicks,  bald  wieder  ver¬ 
klingend. 

Und  wie  er,  der  Sohn  der  Ebene,  die  Schären 
liebt  und  versteht!  Es  befand  sich  ein  kleines  Bild 
auf  der  Ausstellung,  eine  direkte  Naturstudie,  in  der 
Stimmung  des  Augenblickes  gemalt,  in  dem  Zustande 
gelassen  wie  sie  war,  ohne  Überarbeitung  oder 
Retusche  (siehe  unseren  Farbendruck).  Auf  einem 
Felsen  im  Vordergründe  eine  fast  ausgewaehsene  junge 
Möwe,  die  stand  und  über  den  Inselsee  hinausblickte. 
Es  wehte  ein  scharfer  und  böenhafter  Wind,  düstere 
Windstöße  zogen  über  den  Wasserspiegel,  der  Himmel 
war  mit  zerrissenen  Wolken  überzogen,  die  magere 
Vegetation  der  Holme  beugte  sich  unter  dem  Anprall 
des  Sturmes.  So  herb,  so  hart,  so  arm,  aber  so  liebe¬ 
voll  gesehen  und  wiedergegeben,  so  männlich  und 
mutig.  Es  wurde  einem  warm  ums  Herz,  wenn 
man  es  sah  —  das  war  schwedische  Natur. 

Und  zuletzt  seine  »Brandungen«.  Welehe  gro߬ 
artige  Vereinfachung  des  so  oft  gebrauchten  und 
mißbrauchten  Motives!  Hat  man  sich  mit  der  mäch¬ 
tigen  Behandlung  erst  richtig  vertraut  gemacht,  dann 
ist  es,  als  hätte  man  das  Motiv  nie  vorher  gemalt 
gesehen,  und  die  vielen  Leinwandstüeken  mit  weißem 
Schaum  über  ordentlichen  Klippen  und  netten  Wogen 
werden  zum  Kinderlallen  diesem  trotzigen  Dithyrambus 
gegenüber.  Im  Hintergründe  liegt  das  Meer,  ein 
ferner,  chaotischer  Kraftborn,  aus  dem  die  Bran- 


BRUNO  LILJEFORS 
IN  DER  BRANDUNG.  ÖLGEMÄLDE 


120 


BRUNO  LILJEFORS 


düngen  angeschrl'uen  kommen,  zwei  weiße,  mächtige 
Kämme,  nocli  ■  ngebrochen  in  ihrer  vorwärtsdrän¬ 
genden  Kraft.  Ganz  vorn,  innerhalb  des  Felsen- 
o-rundes.  iioH-t  das  Wasser  wie  in  einem  Kessel, 
grün  vom  Salz,  braun  vom  Tang,  mit  einem  breiten, 
ziscii.iiden  nchaunikranz.  Ein  einsamer  Seevogel 
sch--  '  vorbei,  in  schwerem  und  eilenden  Fluge. 
Übvr  '"esem  Bilde  liegt  eine  Größe  und  Mächtigkeit, 
die  :s  für  immer  in  der  Erinnerung  lebendig  erhält. 

-1c 

Hier  habe  ich  den  Versuch  gemacht,  in  weiten, 
allgemeinen  Zügen,  mit  einer  Schematisierung,  die 
sich  in  einer  übersichtlichen  Darstellung  nicht  gut 
vermeiden  läßt,  die  Entwickelung  von  Liljefors’ 
Künstlerschaft  zu  zeichnen.  Aus  der  frühesten  Detail¬ 
schilderung,  der  novellistischen  Kunst  seiner  Jugend, 
hat  sie  sich  zu  einer  immer  größeren  und  mächtigeren 
Breite  im  Vortrage  entwickelt.  Seine  Tierschilderung 
ist  jetzt  zum  Epos  geworden,  in  das  das  ganze 
wechselnde  Leben  der  Natur  hineinspielt,  der  Kreis¬ 
lauf  der  Jahreszeiten,  die  ewig  unveränderten,  ewig 
gleich  jungen  Gefühle:  Liebe,  Kraft,  Hunger  und 
Mordlust.  Aber  jede  Stimmung,  die  ihn  erfüllt  und 
ihren  Ausdruck  im  Bilde  verlangt,  sammelt  sich  doch 
stets  um  eine  bestimmte  Erscheinung.  Er  spricht  zu 
uns  als  Künstler  in  derselben  Weise  wie  der  Bauer, 
der  Jäger,  der  Fischer  von  der  Natur  spricht:  mit 
Anführung  anschaulicher  Züge,  von  Ereignissen  und 
Zeitbestimmungen.  Seine  Phantasie  ist  mit  der 
Kenntnis  des  Lebens  erfüllt,  schwebt  nie  in  un¬ 
bestimmte  Träumereien  hinaus,  findet  immer,  jetzt 
wie  einst,  einen  Anhalt  am  Ereignis.  Nur  daß 
der  Rahmen  um  dieses  Ereignis  stets  erweitert  und 
daß  der  Zusammenhang  zwischen  ihm  und  der  Um¬ 
gebung  stärker  betont  wird.  Er  ist  stets,  auch  als 
Phantast,  der  am  meisten  realistische  unserer  Natur- 
schilderer  und  Naturdichter,  seine  Landschaft  hat  eine 
ausgeprägte  Lokalfarbe,  und  eines  weiß  man  stets 
ganz  genau:  daß  die  von  ihm  geschilderte  Natur 
schwedisch  ist. 

Charakteristisch  für  seine  Auffassung  in  dieser 
Hinsicht  ist  folgende  Äußerung,  die  sich  meinem  Ge¬ 
dächtnis  eingeprägt  hat: 

Wir  betrachten  im  allgemeinen  das  Tier  in  der¬ 
selben  Weise,  wie  ein  auf  unsere  Erde  versetzter 
Marsbewohner,  unserer  Vorstellung  nach,  die  Menschen 
betrachten  würde.  Er  würde  bei  ihnen  nur  die 
Rassen,  die  Typen,  die  Kasten  sehen,  nicht  die  Indi¬ 
viduen.  Was  ich  dagegen  in  meinen  Tierbildern 
darzustellen  versuche,  das  sind  gerade  die  Individuen. 
Ich  male  Tierporträts.  < 

Und  er  gestand  ein,  daß  die  Unwissenheit  des 
Publikums  in  dieser  Beziehung  ihn  kränke,  und  daß 
es  ihm  Freude  mache,  wenn  jemand  z.  B,  sehen 
konnte,  wie  alt  ein  junger  Seevogel  wäre,  den  er 
gemalt  hatte.  Ich  für  mein  Teil  glaube  nun,  daß  er 
die  Voraussetzungen  des  Publikums  mit  seinen  eigenen 
verwechselt  —  und  das  tun  Maler  oft.  Das  Wichtige 
ist  nicht,  daß  das  Publikum  weiß,  wie  alt  das  junge 


Tier  ist,  sondern  daß  Liljefors  es  weiß.  Dieses  Wissen 
ist  es,  das  seinem  Gemälde  den  überzeugenden  Stempel 
von  Leben  und  Wahrheit  verleiht,  auch  wenn  er  nicht 
direkt  offenbar  wird.  Der  echte  Künstler  weiß  immer 
mehr  als  er  zeigt,  zum  Unterschied  von  dem  unechten, 
der  mehr  zeigt  als  er  weiß. 

Aber  es  geht  aus  dieser  Äußerung  hervor,  wie 
intim  der  Jäger,  der  Naturforscher,  der  Gelehrte  bei 
ihm  mit  dem  Maler  vereint  sind.  Es  geschieht  hin 
und  wieder,  daß  die  Neuheit  und  Schärfe  der  Be¬ 
obachtung  das  Interesse  von  der  künstlerischen 
Schöpfung  abgelenkt  haben,  daß  der  Zoologe  sich 
auf  Kosten  des  Künstlers  geltend  macht.  In  der 
Regel  besteht  jedoch  eine  ungebrochene  und  unlösbare 
Einheit  zwischen  Inhalt  und  Form,  Kenntnis  und 
künstlerischer  Eingebung. 

Daß  man  nie  oder  fast  nie  den  Beobachter,  den 
Betrachter  anders  als  hinter  dem  Maler  verspürt,  ist 
das  Bewunderungswerte  in  Liljefors’  Schilderungen 
aus  dem  Tierleben  in  ihrem  gegenwärtigen  Stadium. 
Die  Beobachtung,  das  Lernen,  das  Sammeln  von  Tat¬ 
sachen  ist  etwas,  worüber  er  schon  lange  hinaus  ist; 
er  steht  nicht  außerhalb  seines  Stoffes  und  schildert 
ihn  ~  er  steckt  mitten  darin  und  lebt  sein  Leben; 
oder  der  Stoff  lebt  in  ihm,  in  seiner  Phantasie,  die 
dermaßen  mit  Wirklichkeitsstoff  gesättigt  ist,  daß  sie 
der  Kontrolle  der  direkten  Beobachtung  nicht  bedarf. 
Daher  die  souveräne  Freiheit  und  Unmittelbarkeit  des 
Vortrages.  Er  weiß  nicht  nur,  wie  die  Vögel  sich 
in  der  Luft  bewegen  und  auf  dem  Wasser  ruhen, 
wie  sie  sich  verbergen  und  wie  sie  ihren  Raub  er¬ 
greifen,  er  kann  es  gleichsam  selbst.  Sie  haben  ihm 
das  innerste  Geheimnis  ihres  Daseins  mitgeteilt;  es 
ist  das  Gleichgewicht  zwischen  ihrer  eigenen  vitalen 
Kraft  und  den  äußeren  Mächten,  mit  denen  sie 
kämpfen,  das  er  uns  mit  einer  bewundernswerten 
Sicherheit  klar  macht.  Man  sehe  z.  B.  seine  meister¬ 
haften  monumentalen  »Seeadler«  im  Nationalmuseum, 
wie  der  Flug  der  beiden  Riesenvögel  geschildert  ist, 
in  seiner  Wucht  und  seiner  Kraft,  seinem  Zwange, 
sich  oben  zu  halten,  sich  nicht  von  dem  empörten 
Element  greifen  zu  lassen,  in  dem  der  Raub  ge¬ 
sucht  werden  muß.  Und  man  vergleiche  hiermit  den 
Flug  der  Möwe  auf  seinem  Gemälde  »Möwen«,  gemalt 
und  ausgestellt  im  Jahre  igoi,  dieser  Flug  in  seiner 
halb  schwebenden,  halb  sinkenden  Bewegung,  seinem 
weichen  Vorwärtsgleiten,  seiner  sicheren  Zusammen¬ 
gehörigkeit  mit  der  wogenden  Oberfläche  des  Meeres. 
Oder  man  sehe  das  grandiose  Gemälde  »Wildgänse«, 
i8g8,  im  Besitz  des  Kopenhagener  Museums,  wie 
meisterhaft  der  Übergang  vom  Fluge  zur  Ruhe  in 
seinen  ungleichen  Stadien  bei  den  vier  Vögeln  in 
der  rechten  Ecke  geschildert  ist.  Von  vielen  anderen 
Beispielen  gar  nicht  zu  reden.  Den  Flug  zeichnet 
Liljefors  mit  einer  nie  versagenden  Sicherheit,  einer 
vollkommen  einzig  dastehenden  Kenntnis,  einer  Ein¬ 
sicht  in  die  Bewegungsgesetze,  die,  den  mir  gewor¬ 
denen  Mitteilungen  gemäß,  die  Folge  eines  mehr¬ 
jährigen  rein  wissenschaftlichen  Studiums  sind,  die 
aber  doch,  und  das  ist  vielleicht  das  allermerkwür¬ 
digste,  in  seinem  Werk  das  Resultat  einer  unmittelbaren 


BRUNO  LILJEFORS 


121 


Intuition  zu  sein  scheinen.  Dasselbe  gilt  von  seinen 
schwimmenden  Seevögeln.  Sie  sind  nicht  auf  das 
Wasser  gelegt,  sie  fließen  wirklich,  das  Gleichgewicht, 
die  Art,  in  der  sie  sich  von  der  Bewegung  des 
Wassers  mitführen  lassen  oder  gegen  sie  ankämpfen, 
ihre  Freiheit  im  und  ihre  Vertrautheit  mit  dem  Element, 
sind  mit  überzeugender  Wahrheit  gegeben. 

Nie  vorher  —  die  japanische  Kunst  vielleicht  aus¬ 
genommen  —  ist  das  Tierleben  so  in  seiner  Ein¬ 
samkeit  und  seiner  ungestörten  Zusammengehörigkeit 
mit  der  Natur  geschildert  worden.  Kein  Auge  bespäht 
diese  Enten,  wenn  sie  sich  in  der  Stille  der  Nacht 
in  dem  dichten  Schilf  bewegen.  In  kleinen,  spielenden 
gebrochenen  Spiegelbildern  ahnt  man  die  Weite  des 
Sommerhimmels,  der  sich  in  Klarheit  und  dunklen 
und  weichen,  schmelzenden  Farben  ausbreitet,  doch 
das  Schilf  steht  hoch  und  dicht  und  schützend,  und 
aus  dem  seichten  Wasser  schimmert  der  Grund  hervor 
mit  seinen  Schätzen  und  Geheimnissen.  Es  liegt  ein 
helles  und  friedliches  und  doch  keineswegs  sentimen¬ 
tales  Lächeln  über  diesen  Idyllen.  Als  der  Künstler 
dies  malte,  hat  er  mit  den  Augen  der  Tiere  gesehen 
und  ihr  Wohlbehagen  an  dem  angenehmen  Heim 
im  Schilfe  hat  ihn  erfüllt. 

Und  dieselbe  Intimität,  nur  noch  ergreifender, 
liegt  über  der  Schilderung  der  mächtigen  Einsamkeit 
draußen  auf  dem  Meere,  wo  die  Riesentaucher  auf 
den  Wogen  schaukeln.  Das  ist  das  Meer,  unend¬ 
lich  in  seiner  Weite  und  seiner  Tiefe,  mit  großen, 
mächtigen  grünlich  schimmernden  Wellen  heran¬ 
rollend,  von  Wasserdampf  umwölkt,  schaukelnd, 
brausend,  lebend  in  majestätischer  Unruhe.  Und 
auf  der  vordersten  Woge  pflügen  sich  die  Riesen¬ 
taucher  ihren  Weg  gegen  den  Wind,  rätselhaft  und 
mystisch  mit  ihren  schlangenförmig  gebogenen  Hälsen, 
ihrem  Federkleide,  das  sich  die  graugrünen  Schattie¬ 
rungen  des  Meeres  geliehen  hat,  einsam  lebend  in 
dieser  Verlassenheit.  Dieses  Gemälde  enthält  für  mich 
mehr  von  der  Mystik  des  Meeres,  als  alle  Meer¬ 
menschen  Böcklins,  und  es  ist  doch  mit  dem  un¬ 
mittelbarsten  Wirklichkeitssinn  gegeben.  In  der  Größe 
der  Auffassung,  in  dem  inspirierten  Leben  und  der 
stolzen  Beherrschung  nimmt  es  vielleicht  den  ersten 
Platz  in  der  gesamten  Produktion  von  Liljefors  ein, 
ein  Meisterwerk  ohne  Fehl  und  Tadel. 

*  :f! 

* 

Ich  will  nun  zuletzt  ein  Wort  über  Liljefors  Tech¬ 
nik  sagen.  Ich  kann  mich  hier  kurz  fassen;  das  rein 
Technische  spielt  in  seiner  Künstlerschaft  keine  her¬ 
vorragende,  in  die  Augen  fallende  Rolle.  Wo  es  am 
besten  ist,  dient  es  gehorsam,  ehrlich  und  tapfer  den 
Intentionen  seines  künstlerischen  Willens,  verlangt 
aber  keinerlei  Aufmerksamkeit  für  sich  allein  und  hat 


auch  nichts  besonders  Fesselndes.  Wie  ich  eingangs 
dieser  Studie  betonte,  ist  er  in  seltenem  Grade  frei 
von  aller  Schulbildung.  Wie  seine  Kenntnis  des 
Lebens  stets  eine  Kenntnis  aus  erster  Hand  ist,  so 
entlockt  er  auch  der  Natur  selbst  seine  Darstellungs- 
niittel. 

Damit  soll  nicht  gesagt  werden,  daß  seine  Auf¬ 
fassung  und  Darstellungsweise  um  die  zeitgenössischen 
Bewegungen  innerhalb  der  europäischen  Kunst  herum¬ 
gehen  und  von  ihnen  unberührt  sind.  Aber  mit  den 
von  außen  geholten  Voraussetzungen,  den  Künstlerwillen 
auf  ein  gewisses  allgemeines  Ziel  gerichtet,  geht  er 
dann  direkt  zu  der  Natur  und  erläutert  sie  mit  im¬ 
provisatorischer  Frische  und  Ungebundenheit. 

Dieses  Fehlen  jeder  Manier  ist  in  der  Regel 
eine  Stärke,  kann  sich  aber  manchmal  als  eine 
Schwäche  äußern.  Sie  kann  einen  Zwiespalt  her¬ 
beiführen  zwischen  Anlage  und  Ausführung  oder 
zwischen  ungleichen  Partien  auf  ein  und  demselben 
Bilde,  ln  seinen  im  übrigen  meisterhaften  Seeadlern 
vermisse  ich  in  der  Ausführung  den  leidenschaftlichen 
Schwung,  den  die  grandiose  Komposition  erfordert, 
auf  anderen  seiner  Gemälde  brechen  seine  Tiere  aus 
dem  Rahmen  der  Landschaft  aus,  sind  mit  zoolo¬ 
gischer  Kurzsichtigkeit  gesehen.  Aber  andererseits  - 
mit  welcher  jugendlichen  Naivetät  und  Furchtlosigkeit 
übermittelt  er  nicht,  frei  von  Vorurteilen  und  voraus¬ 
gefaßten  Meinungen,  die  Naturerscheinung  so  wie  sie 
ihm  entgegengetreten  ist,  wie  vergißt  er  nicht  sich 
selbst  und  seine  erworbene  Kenntnis  in  der  neuen 
Aufgabe  und  ringt  mit  ihr  sozusagen  Brust  an  Brust, 
ohne  Waffe  und  ohne  Kunstgriff.  Es  liegt  in  seiner 
Technik  wie  in  seiner  Auffassung  etwas  von  der  Macht 
des  Primitiven,  zu  überzeugen  und  zu  bezaubern. 

Dies  hindert  jedoch  nicht,  daß  er  Dinge  von  aus¬ 
gesuchter  und  künstlerisch  verfeinerter  Wirkung  ge¬ 
schaffen  hat.  Sein  Uhu  auf  der  Ausstellung  1901 
war  ein  koloristisches  Meisterwerk  in  seiner  mächtig 
gestimmten  Harmonie  von  Blau  und  Braun,  und  die 
Vordergründe  auf  seinen  Entenbildern  auf  derselben 
Ausstellung  legten  Zeugnis  ab  für  eine  ebenso  aus¬ 
gesuchte,  wie  originelle  koloristische  Phantasie. 

Mit  einer  selten  reichen  Produktion  hinter  sich, 
steht  er  nun  im  Alter  von  fünfundvierzig  Jahren  in  un¬ 
gebrochener  Arbeitskraft  da.  In  welchem  Grade  er 
die  Gabe  der  Verjüngung  besitzt,  davon  geben  seine 
letzten  Werke  eine  imponierende  Probe.  Alle  seine 
großen  Eigenschaften  finden  sich  hier  vereint,  vor¬ 
wärtsgetragen  von  einer  großen,  stolzen,  brausenden 
Woge  von  Jugend  und  Kraft!  Nie  hat  er  so  frisch 
gesehen,  so  derb  und  unmittelbar,  mit  einer  solchen 
Inspiration  und  Sicherheit  wiedergegeben,  wie  in 
diesen  Schöpfungen  seiner  Mannesjahre. 

Dankt  er  dem  Meere  seine  neue  Jugend?  Dann 
wäre  es  nur  recht  und  billig,  daß  er  es  liebt. 


ANDREA  RICCIO.  SCHLAFENDE  NYMPHE  IM  KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM,  BERLIN 


NEUE  FORSCHUNGEN  ÜBER  ITALIENISCHE 
RENAISSANCE- BRONZEN 


G.  M  IG  EON,  Catalogne  des  Bronzes  et  Ciiivres  du  Moyen 
Age,  de  la  Renaissance  et  des  tenips  Modernes  an  Mnse'e 
National  da  Louvre,  Paris  igo4  und 
F.  KNAPP  lind  W.  BODE,  Die  italienischen  Bronzen  in 
den  Königlichen  Museen  zu  Berlin,  Berlin  1Q04. 


Der  Leidenschaft  der  Sammler  für  kleine 
Bronzen,  namentlich  für  Bronzestatuetten, 
beginnt  jetzt  langsam  auch  die  Wissen¬ 
schaft  zu  folgen.  Abgesehen  von  den  Plaketten, 
über  die  wir  Moliniers  sorgfältig  gearbeitetes  und 
für  die  Zeit  seines  Erscheinens  fast  vollständiges 
Handbuch  (1886)  und  den  bald  darauf  erschienenen 
Katalog  der  Bildwerke  christlicher  Epochen  in  den 
Berliner  Museen  (1888)  besitzen,  sind  die  Bronzen 
der  Renaissance  nur  gelegentlich  und  vereinzelt  in 
allgemeineren  Publikationen  behandelt  worden;  so 
namentlich  von  Jul.  von  Schlosser  in  seinem  schönen 
Prachtwerk  »Ausgewählte  Gegenstände  der  kunst¬ 
industriellen  Sammlungen«  des  Wiener  Hofmuseums 
(igoi).  Seit  kurzem  liegen  nun  die  ersten  wissen¬ 


schaftlichen  Kataloge  vor  über  ein  paar  der  größten 
Sammlungen  von  Renaissancebronzen  in  öffentlichen 
Museen,  über  die  Sammlungen  des  Louvre  und  des 
Kaiser  Eriedrich-Museums. 

Beide  Kataloge  sind  nicht  unwesentlich  verschie¬ 
den  in  Anlage  und  Ausführung.  Der  Katalog  des 
Louvre,  von  G.  Molinier  begonnen  und  vom  jetzigen 
Direktor  der  Abteilung  Qaston  Migeon,  unter  Beihilfe 
von  j.  J.  Marquet  de  Vasselot  und  Carle  Dreyfus, 
vollendet,  gehört  zu  einer  Eolge  illustrierter  Kataloge 
der  Abteilung  der  Objets  d’Art  des  Louvre,  von  der 
zwei  bereits  früher  erschienen  sind.  Im  Oktavformat 
umfaßt  er  485  Seiten.  Papier  und  Ausstattung  sind 
nicht  derart,  wie  man  sie  für  Kataloge  des  Louvre 
erwarten  sollte,  zumal  bei  einem  Preise  von  7  Francs. 


NEUE  FORSCHUNGEN  ÜBER  ITALIENISCHE  RENAISSANCE-BRONZEN 


123 


Denn  die  Illustrationen,  einige  sechzig  an  der  Zahl, 
sind  bis  auf  einen  Lichtdruck  nur  Hochätzungen 
nach  mehr  oder  weniger  flüchtigen  Federzeichnungen. 
Während  in  Deutschland  und  England  jetzt  die  1  Mark- 
Kataloge,  in  England  zum  Teil  schon  die  Six-Pence- 
Kataloge,  selbst  bei  bedeutendem  Umfang,  die  allge¬ 
meine  Regel  für  Museumskataloge  bilden,  hält  die 
Verwaltung  des  Louvre  noch  an  ihren  teuren,  zum  Teil 
übertrieben  weitläufigen  Katalogen  fest  und  hat  bisher 
auch  zu  billigen  Führern,  weder  durch  den  ganzen  Bau 
noch  durch  einzelne  Sammlungen,  sich  nicht  verstehen 
wollen.  Hoffentlich  tritt  darin  unter  dem  neuen 
Generaldirektor  Homolle  ein  Wandel  ein.  Ein  Bronzen¬ 
katalog  ist  freilich  kein  Werk,  das  sich  an  das  große 
Publikum  wendet,  er  findet  daher  nur  mäßigen 
Absatz  selbst  bei  niedrigem  Preise;  aber  auch  wo 
solche  Publikationen  in  erster  Linie  für  wissenschaft¬ 
liche  Studien  von  Bedeutung  sind,  sollten  Staats¬ 
institute  den  Gewinn,  den  sie  an  billigen  Führern 
und  dergleichen  machen,  zur  Ermäßigung  des  Preises 
von  solchen  Werken  benutzen. 

Der  Louvre-Katalog  umfaßt  692  Nummern,  von 
denen  etwa  600  auf  die  italienischen  Bronzen  kommen; 
die  übrigen  sind  französische,  deutsche  und  flandrische 
Arbeiten.  Die  Mehrzahl  dieser  Bronzen,  namentlich 
fast  alle  italienischen,  gehören  der  Renaissance,  die 
französischen  zum  Teil  dem  Mittelalter,  zumeist  aber 
dem  Barock  und  (in  einigen  Bronzen  von  Barye)  der 
Neuzeit.  Die  Beschreibung  aller  dieser  Stücke  ist 
sehr  sorgfältig  und  ausführlich,  selbst  bei  den  Me¬ 
daillen,  wo  vielleicht  größere  Kürze  unter  Hinweis 
auf  das  bekannte  treffliche  Handbuch  von  Armand 
genügt  hätte.  Ebenso  gründlich  sind  alle  Angaben 
über  die  Literatur  und  über  die  Herkunft  der  Bronzen. 
Bei  wichtigeren  oder  zweifelhaften  Stücken  hat  Herr 
Migeon  seine  Bestimmung  ausführlich  begründet. 
Bei  der  großen  Mehrzahl  der  Künstler-  oder  Schul¬ 
benennungen  wird  man  dem  Verfasser  nur  beistim¬ 
men  können,  einige  Zuschreibungen  werden  dagegen 
bestritten  werden.  So  kann  man  die  treffliche 
Statuette  des  Täufers  (Nr.  27)  als  ein  Werk  Dona- 
tellos  nicht  gelten  lassen,  wenn  sie  auch  seiner  Schule 
angehört;  am  nächsten  steht  sie  wohl  dem  Bertoldo. 
Dagegen  habe  ich  den  Bronzeausguß  eines  Wachs¬ 
modells  des  nackten  David  (Nr.  43),  den  L.  Courajod 
einst  als  ein  Werk  Michelangelos  ansprach,  und  den 
G.  Migeon  jetzt  als  »florentinisch,  Ende  des  15.  Jahr¬ 
hunderts«  bezeichnet,  schon  früher  als  ein  kleines 
Meisterwerk  aus  Donatellos  späterer  Zeit  nachzuweisen 
gesucht.  Vielleicht  ist  es  ein  erstes  Modell  zu  dem 
David  in  Casa  Martelli,  von  dem  das  Berliner  Museum 
den  Bronzeausguß  des  letzten  Modells  besitzt. 

Beanstanden  möchte  ich  auch  die  Benennung  des 
sitzenden  johannesknaben  als  florentinisch  aus  dem 
Quattrocento.  Die  schwachen  Proportionen  und  die 
weichliche  Auffassung  sind  nicht  florentinisch  und  keines¬ 
falls  quattrocentistisch.  Der  schlanke  Flötenspieler  ist 
gleichfalls  wohl  nicht  florentinisch,  sondern  paduanisch 
und  bereits  vom  Anfang  des  16.  Jahrhunderts;  er 
gehört  zu  einer  Gruppe  sehr  graziler,  fein  bewegter 
Figuren,  die,  wie  der  bezeichnete  Herkules  (Nr.  108), 


auf  den  Goldschmied  Francesco  di  Sant’  Agata  zurück¬ 
gehen,  wenn  auch  die  sehr  ungleichen  Bronzegüsse 
meist  nicht  von  ihm  selbst  herrühren.  Die  Zuschrei¬ 
bung  des  kleinen,  sehr  schematischen  Knabenkopfes, 
eines  Wasserspeiers,  an  G.  Boldü  möchte  ich  ebenso 
wenig  akzeptieren,  wie  die  Zuweisung  des  »weinen¬ 
den  Amor«  (wohl  eher  ein  Engel  von  einer  Pieta) 
an  die  Werkstatt  Verrocchios;  mir  scheint  diese  Ar¬ 
beit  schon  aus  dem  16.  Jahrhundert.  Die  Reiter¬ 
statuette  des  Francesco  Gonzaga  von  Sperandio,  durch 
dessen  Medaillen  beglaubigt,  die  Folge  trefflicher  Ar¬ 
beiten  von  Andrea  Riccio  und  seiner  Werkstatt,  die 
zahlreichen  großen  und  kleinen  Bronzen  der  Werk¬ 
statt  des  Gian  Bologna,  (die  reichste  Sammlung  ihrer 
Art  neben  der  der  Wallace  Collection  in  London): 
alle  diese  und  manche  andere  Bestimmungen  werden 
sicher  allgemeinste  Zustimmung  finden.  Bedauerlich 
ist,  daß  die  Bronzen  der  Thiersschen  Schenkung, 
unter  denen  neben  geringen  und  falschen  sich  treff¬ 
liche  Stücke  befinden,  nicht  mit  in  den  Katalog  auf¬ 
genommen  sind;  hoffentlich  geschieht  dies,  wenn  die 
Sammlung  einmal  aufgelöst,  gesichtet  und  an  die 
einzelnen  Abteilungen  verteilt  wird.  Bei  einer  spä¬ 
teren  Auflage  sollte  dem  Katalog  auch  ein  Künstler¬ 
register  beigegeben  werden,  um  das  tüchtige  Werk 
bequemer  nutzbar  zu  machen. 

Der  Katalog  der  Berliner  Bronzen  enthält  fast  die 
doppelte  Zahl,  obgleich  er  nur  die  italienischen  Bronzen 
(und  einige  wenige  sich  daran  anschließende  franzö¬ 
sische  und  flämische  Stücke)  umfaßt:  die  lebensgroßen 
Büsten  (6),  die  Statuetten  (etwa  200  Stück),  die  Reliefs 
(36)  und  die  Plaketten  (925).  Von  Medaillen  ist  nur 
eine  Anzahl  einseitiger  aufgenommen,  die  im  Me¬ 
daillenkabinett  nicht  gesammelt  werden  (27  Num¬ 
mern).  Den  Schluß  bilden  einige  kleine  mit  Plaketten 
geschmückte  Bronzegeräte.  Der  Band  hat  Großquart- 
format;  den  Text  von  138  Seiten  begleiten  81  Licht¬ 
drucktafeln,  deren  Papier  nicht  zu  dick  ist,  so  daß 
der  Band  noch  ganz  handlich  ist.  Die  Beschrei¬ 
bung  der  Bildwerke  ist  von  Dr.  Fritz  Knapp  ver¬ 
faßt;  die  Bestimmung  und  Anordnung  ist  im  wesent¬ 
lichen  unter  der  Leitung  des  Unterzeichneten  erfolgt; 
die  Zusammenstellung  der  Bronzen  auf  den  Tafeln 
ist  Dr.  Knapps  Werk,  der  die  schwierige  Aufgabe 
fast  durchweg  vortrefflich  gelöst  hat,  ebenso  wie  er 
die  ermüdende  Aufsicht  der  Aufnahmen  aller  Tafeln 
ganz  auf  sich  genommen  hat.  Wenn  gelegentlich 
Stücke  von  Meistern  oder  Schulen,  deren  Werke  schon 
auf  früheren  Tafeln  zusammengestellt  waren,  vereinzelt 
zwischen  ganz  abweichenden  Stücken  Vorkommen,  so 
hat  das  seinen  Grund  entweder  darin,  daß  diese  Stücke 
erst  später  erworben  wurden,  oder  daß  sie  durch 
ihre  abweichende  Farbe,  Vergoldung  und  dergleichen 
mit  den  anderen  nicht  zusammen  aufgenommen  wer¬ 
den  konnten. 

Große  Schwierigkeiten  machte  die  Aufnahme  der 
Tafeln.  Gehört  die  Wiedergabe  von  Bronzen  über¬ 
haupt  schon  zu  den  heikelsten  Aufgaben  der  Photo¬ 
graphie,  so  wurde  sie  hier  noch  erschwert  durch  die 
Zahl  der  auf  einer  Tafel  vereinigten  Gegenstände 
(bis  zu  vierzig  und  mehr),  wie  durch  das  verschie- 


124 


NEUE  FORSCHUNGEN  ÜBER  ITALIENISCHE  RENAISSANCE-BRONZEN 


dene  Material  und  uen  sehr  abweichenden  Ton  der¬ 
selben.  Diese  Schwierigkeiten  und  die  Übelstände, 
die  sie  mit  sich  führen,  haben  wohl  die  Direktion 
des  Louvre  beslimnit,  statt  photographischer  Drucke 
Hochätzungen  nach  Zeichnungen  als  Illustrationen  zu 
wählen,  .t-.llein  um  ein  treues  Bild  zu  geben  für  den 
Genuß  'vie  für  das  Studium,  erschien  uns  die  direkte 
Wieder-abe  weit  vorzuziehen.  Auch  sind  im  Interesse 
des  Studiums  alle  Gegenstände  aufgenommen  wor¬ 
den.  Die  Tafeln  sind  nicht  alle  gleich  gut  ausge¬ 
fallen;  die  leidige  Gewohnheit 
der  Photographen,  alle  Aufnah¬ 
men  im  Atelier  bei  Oberlicht 
zu  machen  oder  ihnen  ein  zu 
scharfes  Seitenlicht  zu  geben, 
hat  Dr.  Knapp  erst  allmählich 
überwinden  können. 

In  den  mehr  als  goo  Pla¬ 
ketten,  welche  in  unserem  Kata¬ 
log  beschrieben  und  abgebildet 
sind,  ist  der  Besitz  dieser  eigen¬ 
tümlichen  Gattung  italienischer 
Kleinplastik  ziemlich  so  voll¬ 
ständig  dargestellt,  wie  er  auf 
uns  gekommen  ist.  In  Moliniers 
Handbuch  ist  die  Zahl  der  be¬ 
schriebenen  italienischen  Pla¬ 
ketten  nicht  einmal  so  groß; 
aber  immerhin  besitzt  die  ge¬ 
wählteste  Sammlung  dieser  Art, 
die  von  Gustave  Dreyfus,  noch 
an  hundert  Stück,  die  bei  uns 
fehlen,  und  reichlich  ebensoviel 
werden  sich  in  den  verschiedenen 
Sammlungen,  die  sonst  Plaketten 
besitzen:  in  den  Museen  zu 
Modena,  Wien,  Venedig,  Neapel, 

Paris,  London,  bei  George  Sal- 
ting,  beim  Erzherzog  Franz  Fer¬ 
dinand  und  anderen  noch  zu¬ 
sammenfinden,  deren  gelegent¬ 
liche  Publikation  zur  Vervoll¬ 
ständigung  unserer  Sammlung 
sehr  erwünscht  wäre.  Bei  der 
Orientierung  in  dieser  fast  un¬ 
übersehbaren  Menge  ganz  klei¬ 
ner,  unter  sich  sehr  ähnlicher 
Arbeiten,  die  sich  in  der  Haupt¬ 
sache  auf  nur  etwa  achtzig  Jahre 
verteilen  und  die  vorwiegend 
Oberitalien,  namentlich  der  Paduaner  Schule  angehören, 
hat  schon  Molinier  nur  die  kleinere  Zahl  auf  bestimmte 
Künstler  zurückführen  können.  Diese  ließen  sich  zu¬ 
meist  durch  die  Bezeichnung  auf  den  Plaketten  oder 
wenigstens  auf  einigen  derselben,  andere  aus  dem  Ver¬ 
gleich  mit  den  Rückseiten  gleichzeitiger  Medaillen  fest¬ 
stellen.  Über  das,  was  Molinier  festgelegt  hat,  sind 
wir  nicht  weit  hinausgekommen;  gewisse  Fragezeichen, 
die  er  gerade  bei  einigen  der  Hauptmeister  bestehen 
lassen  mußte,  bestehen  auch  heute  noch,  ja  es  müssen 
sogar  einzelne  der  von  ihm  vorgeschlagenen  Namen 


als  solche  angezweifelt  und  die  auf  sie  vereinigten 
Stücke  wieder  anonymen  Meistern  gegeben  werden. 

Molinier  hatte  die  Hypothese  aufgestellt,  daß  der 
Name  Ulocrino  (aus  ryjXor  und  crinis  zusammen¬ 
gesetzt),  der  etwa  auf  einem  Dutzend  Plaketten  vor¬ 
kommt,  mit  Riccio  (Krauskopf)  identisch  sein  könne. 
Beweise  dafür  lassen  sich  aber  jetzt  so  wenig  wie 
früher  beibringen,  und  der  Charakter  jener  Arbeiten 
spricht  eher  für  einen  dem  Riccio  sehr  nahestehenden, 
aber  nüchterneren,  einseitigeren  Künstler.  Ebensowenig 
wissen  wir,  wer  sich  hinter  dem 
Pseudonym  Moderno  versteckt, 
auf  den  sich  eine  sehr  große 
Zahl  von  Plaketten,  nahe  an 
hundert,  vereinigen  läßt.  Ge¬ 
legentlich  steht  er  dem  Riccio 
in  dessen  späteren  Arbeiten,  wie 
in  der  Großen  Grablegung  oder 
in  dem  Antiken  Opfer,  so  nahe, 
daß  wir  glauben  könnten,  er  sei 
mit  ihm  eine  Person.  Dafür 
könnte  man  auch  den  Umstand 
anführen,  daß  sich  an  einzelnen 
Tintenfässern  (in  der  Wallace 
Collection  und  bei  Mr.  Taylor 
in  London)  Reliefs  von  Moderno 
mit  Figürchen  und  Gruppen 
von  Riccio  vereinigt  finden. 
Andererseits  sind  die  jüngeren 
Arbeiten  Modernos  schon  so 
abweichend,  so  stark  cinquecen- 
tistisch,  daß  eine  solche  An¬ 
nahme  dadurch  so  gut  wie 
ausgeschlossen  wird. 

Ein  Name,  der  gesichert 
schien,  namentlich  durch  die 
alte  genaue  Beschreibung  der 
Darstellungen  an  einer  berühm¬ 
ten  Arbeit  seiner  Hand:  Cara- 
dosso,  wird  durch  den  genauen 
Vergleich  der  Rückseiten  seiner 
beglaubigten  Medaillen,  nament¬ 
lich  der  besonders  in  Betracht 
kommenden  frühen,  noch  in 
Mailand  gefertigten  Medaillen, 
fast  ausgeschlossen  für  die  ihm 
zugeschriebenen  Plaketten.  Diese 
haben  einen  viel  derberen,  grö¬ 
ßeren  Charakter,  gerade  so  wie 
die  auf  Caradosso  getaufte  Ton¬ 
bildwerke  in  Mailand,  namentlich  in  S.  Satiro,  und 
stehen  wie  diese  dem  Bramante  besonders  nahe. 

Ein  anderer  Meister,  der  Mantuaner  Medailleur 
Melioli,  dem  Molinier  eine  ziemlich  beträchtliche  Zahl 
von  Plaketten  zugewiesen  hat,  muß  jedenfalls  auf¬ 
gegeben  werden,  da  die  Gestalten  darauf  viel  trockener 
und  steifer  sind  wie  auf  den  Rückseiten  von  Meliolis 
Medaillen,  in  denen  sich  dieser  Künstler  als  ein  tüch¬ 
tiger  Schüler  des  Mantuaners  Cristoforo  di  Geremia 
erweist.  Ebensowenig  läßt  sich  die  Zuschreibung 
einzelner  dem  Riccio  nahestehender  Plaketten  auf  Fra 


DONATELLO.  BRONZESTATUETTE  DES  DAVID 
IM  LOUVRE 


NEUE  EORSCHUNGEN  UBER  ITALIENISCHE  RENAISSANCE-BRONZEN 


125 


Antonio  da  Brescia  rechtfertigen.  Dieser  Medailleur 
hat  zwar  eine  dieser  Plaketten  auf  der  Rückseite  einer 
seiner  Medaillen  kopiert;  mit  seinem  Stil  hat  aber  weder 
diese  noch  eine  der  anderen  Kompositionen  auf  den 
ihm  von  Molinier  zugeschriebenen  Plaketten  Verwandt¬ 
schaft.  Auch  Antico  ist  als  Plakettenkünstler  nicht 
gesichert,  wie  auch  die  ihm  an¬ 
standslos  zugeschriebenen  Me¬ 
daillen,  die  mit  den  Buchstaben 
A  oder  AN  bezeichnet  sind,  mir 
keineswegs  sichere  Arbeiten 
dieses  Künstlers  scheinen,  da  sie 
einen  moderneren  Charakter  tra¬ 
gen  und  den  Medaillen  des  G. 

C.  Romano  zum  Verwechseln 
ähnlich  sind. 

Ein  etwas  jüngerer  Künstler, 
der  seine  Plaketten  I  O.  E.  F. 
bezeichnet,  wurde  mit  dem  Flo¬ 
rentiner  Steinschneider  Giovanni 
Fioretino  identifiziert.  Allein 
einige  sicher  beglaubigte  Steine 
dieses  Künstlers  haben  wesent¬ 
lich  abweichenden  Charakter; 
auch  läßt  sich  jener  Plaketten¬ 
meister  nach  der  schlanken  Bil¬ 
dung  seiner  Figuren  nicht  nach 
Florenz  und  Toskana,  sondern 
mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
mehr  nach  dem  Norden  Italiens 
versetzen,  am  wahrscheinlichsten 
nach  den  Marken.  Seine  Kom¬ 
positionen  stehen  dem  Francia 
nahe,  ganz  besonders  aber  dem 
Meister,  der  die  berühmten 
Ochsenzungen  und  Dolche  mit 
seinen  Ätzungen  versehen  hat 
und  in  dem  man  einen  Gold¬ 
schmied  aus  Faenza  vermutet. 

Da  die  Plakettenkompositionen 
des  Meisters  lO  F.  F.  fast  sämt¬ 
lich  für  Knäufe  von  Schwer¬ 
tern,  Dolchen  und  Ochsen¬ 
zungen  bestimmt  waren,  so 
liegt  sogar  die  Annahme  nahe, 
daß  sie  ein  und  derselbe 
Künstler  anfertigte.  Die  von 
italienischer  Seite  ausgespro¬ 
chene  Vermutung,  daß  ein 
Goldschmied  Johannes  Francis- 
cus  di  Boggio,  der  in  Bologna 
1538  genannt  wird,  dieser 
Künstler  war,  ist  eine  sehr  un¬ 
gewisse  Hypothese. 

Einen  der  wenigen  neuen  Namen,  die  wir  mit 
Sicherheit  unter  die  Plakettenkünstler  neu  einführen 
konnten,  verdanken  wir  der  Aufschrift  auf  der  großen 
runden  Plakette  mit  der  Darstellung  einer  Opferung; 
sie  ist  bezeichnet;  MCCCCLXXXII.  XXll.  lANVARY, 
TOMAS.  CAL(1)STVS.  Der  Künstler  ist  dem  Cristo- 
foro  di  Geremia  auffallend  verwandt.  Zwei  andere, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  5 


weniger  selten  vorkommende  Plaketten,  die  Rückseiten 
von  Spiegeln  sind,  gleichfalls  mit  einfachen  Dar¬ 
stellungen  aus  der  Antike,  stehen  jener  Arbeit  so 
nahe,  daß  sie  vielleicht  von  der  gleichen  Hand  sind. 

Gleichfalls  als  Plakettenkünstler  dokumentiert  sich 
Sperandio  durch  die  Aufschrift  auf  einer  großen 
Plakette  mit  der  Stäupung 
Christi  (Nr.  gog  unseres  Kata¬ 
logs);  das  bezeichnete  Exemplar 
befindet  sich  in  der  Biblioteque 
nationale  zu  Paris.  Nach  dem 
Vergleich  mit  dieser  echt  padu- 
anischen  Komposition  sind  wahr¬ 
scheinlich  auch  die  Auferstehung 
(Nr.  gio)  und  die  Taufe  Christi 
(Nr.  85g),  beide  Unika  der 
Berliner  Sammlung,  von  der 
Hand  Sperandios.  Auch  Arbei¬ 
ten  wie  der  knieende  Hierony¬ 
mus  (Nr.  865),  der  Cincinnatus 
(Nr.  888),  Johannes  der  Täufer 
im  Rund  (Nr.  860)  und  andere 
wären  unter  Hinzuziehung  des 
Rückseiten  seiner  Medaillen  auf 
die  Möglichkeit,  ob  sie  von 
Sperandio  selbst  herrühren  oder 
ihm  nur  nahe  verwandt  sind, 
näher  zu  prüfen. 

Ein  dankenswerter  Fortschritt 
ist  die  Bestimmung  der  außer¬ 
ordentlich  reichen  Zahl  von 
Ausgüssen  antiker  Steine  und 
freier  Nachbildungen  nach  sol¬ 
chen  und  anderen  antiken  Re¬ 
liefs,  von  denen  die  Berliner 
Sammlung  wieder  die  vollstän¬ 
digste  ist;  sie  besitzt  fast  150 
Stück.  Mit  Hilfe  des  großen 
Furtwänglerschen  Gemmen¬ 
werkes  haben  Dr.  Voege  und 
Dr.  Knapp  für  die  Mehrzahl 
dieser  kleinen  Bronzen  die  Ori¬ 
ginale  oder  Vorbilder  nach- 
weisen  können. 

Erfolgreicher  wie  für  die  Pla¬ 
ketten  konnte  die  Forschung 
für  die  Bronzestatuetten  sein, 
deren  Sammlung  im  Berliner 
Museum  überhaupt  erst  seit 
der  Publikation  der  ersten  Auf¬ 
lage  des  Kataloges  entstanden 
ist.  Sie  zählt  jetzt,  einschließlich 
einiger  ausgezeichneter  lebens¬ 
großer  Büsten  und  der  Statuetten 
des  Simonschen  Kabinetts,  fast  250  Stück.  Von  den 
Bronzestatuetten  ist  zwar  sehr  selten  und  fast  nur  in 
späterer  Zeit  einmal  eine  mit  dem  Künstlernamen  be¬ 
zeichnet,  und  nur  wenige  sind  urkundlich  beglaubigt; 
aber  hier  bieten  die  großen  Bildwerke  der  Zeit  besseren 
Anhalt;  ist  doch  die  Mehrzahl  dieser  Figürchen  auf 
Bildhauer  zurückzuführen,  während  die  Plaketten  zum 

17 


DONATELLO  (?).  BRONZESTATUETTE 
JOHANNES  D.  T.  IM  LOUVRE 


126 


NEUE  FORSCHUNGEN  ÜBER  ITALIENISCHE  RENAISSANCE-BRONZEN 


größten  Teil  von  Goldschmieden  ausgeführt  wurden, 
von  deren  Arbeiien  in  Edelmetallen  und  Halbedel¬ 
steinen  nur  noch  ganz  wenige  erhalten  sind.  Von  den 
jiinrCi-i  Künstlern  wie  Gian  Bologna  abgesehen, 
für  .Inn  die  bisher  fast  unbenutzten  Inventare  des 
17.  ; '  ihimderts  sicheren  Anhalt  geben,  werden  da¬ 
her  "  isere  Bestimmungen  der  Werke  eines  Ghiberti, 


Donatello,  Pallaiuolo,  Bertoldo,  Riccio,  Bellano  und 
anderer  mehr  im  wesentlichen  nicht  beanstandet  wer¬ 
den,  und  die  meist  gelungenen  Nachbildungen  unserer 
eben  so  reichhaltigen  wie  gewählten  Sammlung  wer¬ 
den  dazu  beitragen,  daß  die  namenlosen  oder  falsch 
benannten  Bronzen  mancher  anderer  Sammlungen  in 
Zukunft  ihren  wahren  Meistern  gegeben  werden. 

IV.  BODE. 


A.  RICCIO.  BRONZESTATUETTE  DES  ARION  IM  LOUVRE 


F.  VON  LENBACH.  CHARLOTTE,  ERBPRINZESSIN  VON  MEININGEN,  STUDIE 
Photographie  Hanfstängl 


FRANZ  VON  LENBACH 

EINE  GEDÄCHTNISREDE 

Von  Theodor  Schreiber 


Die  merkwürdige,  nun  auch  schon  hinter  uns 
liegende  Zeit,  welche  man  mit  dem  Ausdruck 
»fin  de  siede«  zu  benennen  pflegt,  ist  bei 
ihrer  außerordentlichen  Produktionskraft,  bei  dem 
Vielerlei  ihrer  Instinkte  und  Neigungen  und  bei 
ihrem  Streben  nach  außergewöhnlichen  Ideen  und 
Formen  doch  nicht  reich  an  starken  Persönlichkeiten 
gewesen.  Auch  auf  dem  Gebiete  der  Künste,  der 
subjektivsten  aller  Geistestätigkeiten,  hat  sie  wenig 
vollbürtige,  ausgewirkte  Charaktere  hervorgebracht, 
wenige  Hauptakteure,  denen  wir  schon  jetzt  eine 
bleibende  Bedeutung  einzuräumen  wagen.  Unter  den 
Tausenden  von  Künstlern,  die  jährlich  auftauchen 
und  später  wieder  verschwinden,  die  vorübergehend 
auffallen  und  erfreuen,  gerühmt  und  besprochen  wer- 

Der  Vortrag  wird  hier  in  derselben  Form,  wie  er  bei 
einer  am  30.  Oktober  1904  vom  Leipziger  Kunstverein 
veranstalteten  Feier  gehalten  worden  ist,  zum  Abdruck  ge¬ 
bracht.  Nur  die  auf  den  Lebens-  und  Entwickelungsgang 
des  Künstlers  bezüglichen  Partien  sind  ausgelassen  worden. 


den,  sind  es  immer  nur  einzelne,  welche  m  der  Zu¬ 
kunft  nicht  untergehen,  welche  ein  Erbe  hinterlassen 
und  unsere  Phantasie  und  die  der  Nachlebenden 
dauernd  bereichern;  Künstler,  vor  deren  Werken  wir 
mit  immer  neuem  Genuß  und  ohne  Abschwächung 
der  Wirkung  verweilen  können.  Zu  diesen  auser¬ 
wählten,  erstgeborenen  Söhnen  der  Kunst  zählt  in 
erster  Linie  Meister  Franz  von  Lenbach,  den  wir  in 
dieser  Stunde  feiern. 

Wer  sich  jetzt,  nachdem  sein  Schaffen  abgeschlossen 
ist,  und  keine  neue  Linie  seinem  Lebensbild  hinzu¬ 
wachsen  kann,  die  Faktoren  seiner  geistigen  Ent¬ 
wickelung,  seine  Werke,  sein  Wirken  und  seinen 
Einfluß  vergegenwärtigt,  steht  naturgemäß  noch  unter 
dem  Eindruck  des  Streites  der  Meinungen  über  alte 
und  neue  Kunst,  in  welchem  Lenbach  von  Anfang 
an  Parteimann  mit  den  entschiedensten  Grundsätzen 
gewesen  ist.  Ein  gewaltiges  Temperament,  die  Wurzel 
seiner  Kraft,  hat  ihn  zeitlebens  beherrscht.  Dies  und 
seine  Weltklugheit,  seine  Gabe,  sich  selbst  in  schwie- 


17 


128 


FRANZ  VON  LENBACH 


rigsten  Fällen  zur  Geltung  zu  bringen,  hat  ihn  in 
der  Vertretung  der  Künstlerinteressen  zu  einem  Führer 
gemacht,  der  auch  im  heftigsten  Kampf  der  An¬ 
schauungen,  bei  aller  Ungebärdigkeit  der  Elemente, 
über  tue  er  gebot,  doch  an  Autorität  nichts  einbüßte. 
Bis  zul^  iz,  war  er  das  natürliche  Haupt  der  Münchener 
Küuf  ::;schaft,  und  in  gewissem  Sinne  ihr  Regent 
von  lies  Gnaden.  Von  diesem  streitsamen,  rück¬ 
sich '.dos  handelnden  und  leidenschaftlich  hassenden 
Menschen  müssen  wir  den  Künstler  unterscheiden, 
der  treu  und  ehrlich  seiner  Muse  diente  und  aus  der 
Tiefe  seines  Geistes  seine  Werke  schuf.  Ihn  unbe¬ 
fangen  zu  beurteilen,  will  noch  heute  manchem  seiner 
Gegner  im  Lager  der  Kunstschriftsteller  nicht  gelingen. 
Noch  wird  er  von  den  einen  gepriesen  und  von  den 
anderen  geringschätzig  abgetan.  Einer  der  Geist¬ 
reichsten  von  den  Wortführern  der  Moderne  hat  neuer¬ 
dings  von  der  kuriosen  Altmeisterei  Lenbachs«  ge¬ 
sprochen  und  spöttisch  ausgeführt,  er  habe  ein 
probates  Mittel  gefunden,  die  Alten  mit  einem  Mini¬ 
mum  von  Zeit  und  Kosten  zu  modernisieren.  »Groß, 
so  groß  wie  er  werden  konnte  —  heißt  es  da  weiter 
—  war  er,  als  er  getreu  kopierte«  . 

Vielleicht  darf  man  noch  nicht  aussprechen,  ohne 
der  Schönfärberei  und  altmodischer  Gesinnung  ver¬ 
dächtig  zu  werden,  daß  Lenbach  —  obgleich  Führer 
der  vielgeschmähten  Münchener  Kunstgenossenschaft 
und  grundsätzlicher  Gegner  der  Sezession  —  doch 
eigentlich  so  gut  modern  war,  wie  nur  einer  der 
Weimarer  Kunstbündler,  wenn  man  sich  an  seine 
Werke  hält  und  seine  fanatische  Verehrung  der  guten 
Alten  als  das  nimmt,  was  sie  wirklich  war:  eine 
Schwärmerei  aus  seinen  Jugendjahren,  an  der  er  fest¬ 
hielt,  als  er  selbst  schon  ein  ganz  anderer  geworden 
war  und  instinktiv  in  den  großen  Strom  der  vorwärts 
strebenden  neuen  Kunst  eingelenkt  hatte. 

Ich  stelle  Lenbach  neben  die  großen,  selbständigen 
Charaktere  der  letzten  Verjüngungsperiode  unserer 
Kunst,  und  ich  muß  eine  Verwahrung  vorausschicken, 
damit  diese  Einschätzung  nicht  mißdeutet  werde. 
Nicht  alles,  was  er  gemalt  hat,  ist  Gold,  auch  wenn 
es  glänzt  und  besticht,  ja  vielleicht  mehr  als  bei  an¬ 
deren  Meistern,  die  viel  geschaffen  haben,  ist  es  bei 
ihm  nötig,  die  Spreu  von  dem  Weizen  zu  sondern, 
die  wahrhaft  genialen  Schöpfungen  aufzusuchen  und 
auszuscheiden,  was  der  Zufall  veranlaßt  hat,  was  die 
spielende  Hand  in  müßigen  Stunden  hervorbrachte, 
dazu  jene  Bildnisse  der  vielen,  alljährlich  durch  sein 
Atelier  hindurchgehenden  Fremden,  an  denen  er 
wenig  oder  gar  keinen  inneren  Anteil  nahm,  und  die 
er  doch  malte,  weil  er  —  der  nie  aufhörte,  im  Innern 
schlicht  und  einfach  zu  bleiben  —  als  ein  wahrer 
Fürst  des  Geistes  an  fürstliche  Lebensweise  gewöhnt 
war  und  den  feinsten  Luxus  künstlerischen  Lebens 
nicht  entbehren  konnte.  Aber  auch  in  der  geringsten 
Studie,  in  der  flüchtigsten  Skizze,  wie  er  sie  späterhin 
mit  der  Sicherheit  eines  Routiniers  in  einer  eigen¬ 
tümlich  abkürzenden,  merkwürdig  suggestiven  Manier 
unglaublich  schnell  auf  seine  Pappdeckel  zeichnend 
und  wischend  hinwarf,  in  allen  den  unzähligen  Frauen- 
und  Kinderköpfen,  pflegt  nicht  jener  Funke  intensiven 


Lebens  zu  fehlen,  der  aus  einem  heißen  Künstler¬ 
naturell  spontan  auf  die  Malfläche  überspringt. 

Es  ist  wahr,  die  Zahl  seiner  Werke  scheint  ins 
Unendliche  zu  wachsen,  wenn  man  in  der  Ferne 
sucht,  zusammenrechnet,  was  er  jahraus  jahrein  kol¬ 
lektionenweise  in  die  deutschen  Ausstellungen  hinaus¬ 
gehen  ließ,  und  hinzunimmt,  wie  viel  sich  außerdem 
in  die  weite  Welt  verlaufen  hat.  Zu  gleicher  Zeit 
konnte  in  diesem  Jahre  auf  den  Ausstellungen  in 
Berlin,  Dresden  und  München  eine  Auswahl  seiner 
Bilder  vorgeführt  werden,  ohne  daß  man  mehr  als 
leicht  zu  Erreichendes  vereinigte.  In  zwei  aufeinander 
folgenden  Ausstellungen  zeigte  der  Münchener  Kunst¬ 
verein,  was  sich  in  Privatbesitz  seiner  dortigen  Freunde 
und  Verehrer  befindet.  Aber  allein  das  glänzende 
Künstlerhaus  Münchens,  in  dem  sich  so  recht  Len¬ 
bachs  Dekorationskunst  ein  Denkmal  gesetzt  hat,  be¬ 
wahrt  als  Schenkung  des  Meisters  eine  ganze,  den 
Eingangsaal  füllende  Galerie  von  Bildern  seiner  Hand. 
Sein  eigenes  Atelier  ist  durch  die  pietätvolle  Ent¬ 
schließung  der  Witwe  zu  einem  Museum  geworden, 
in  dem  ein  Teil  der  reifsten  Werke  älteren  und 
jüngeren  Ursprungs  und  Studien  in  großer  Anzahl 
eine  bleibende  Stätte  gefunden  haben.  Und  welche 
stolze  Reihe  würde  entstehen,  wenn  man  aus  den 
deutschen  Museen  zusammenbringen  wollte,  was  sie 
der  Kunst  Meister  Lenbachs  verdanken.  Als  eine 
glückliche  Fügung  dürfen  wir  es  jetzt  preisen,  daß 
es  unserer  Stadt  vergönnt  war,  sieben  Meisterwerke 
von  ihm  festzuhalten.  Es  sind  sechs  davon  zu  einem 
Ehrensaal  deutscher  Heroen  aus  der  Zeit  des  großen 
Krieges  vereinigt,  ein  Lenbach-Kabinett,  wie  es  außer 
München  keine  andere  Stadt  unseres  Vaterlandes  auf¬ 
zuweisen  imstande  ist. 

Mit  diesen  Werken  ist  der  Künstler  für  alle  Zeiten 
einer  der  Unsrigen  geworden.  Er  hat  dies  immer 
als  einen  ihn  ehrenden  Vorzug  empfunden  und  un¬ 
serem  Leipzig  dafür  eine  warme  Zuneigung  entgegen¬ 
gebracht. 

Vielfache  Beziehungen  zu  hiesigen  Kunstfreunden 
erwuchsen  daraus,  sie  führten  ihn  wiederholt  in  unsere 
Stadt,  und  er  kam  gern  zu  uns.  Wir  wissen,  wie 
viel  Anregung  von  ihm  ausging,  wo  immer  er  ein¬ 
kehrte.  Ist  doch  auch  der  Gedanke,  eine  deutsche 
Tribuna  —  als  Gegenstück  zu  jener  Florentiner  — 
in  unserem  Museum  einzurichten,  in  einem  glück¬ 
lichen  Moment  seines  Leipziger  Aufenthaltes  in  ihm 
aufgestiegen. 

Es  ist  ein  sonniger  Künstlertraum  geblieben,  und 
er  gehört  zu  den  nicht  wenigen  elegischen  Erinne¬ 
rungen,  die  über  dem  Leipziger  Museum  schweben, 
in  welchem  Wollen  und  Vollbringen  nach  dem  Ge¬ 
setz  irdischer  Unzulänglichkeit  so  oft  in  unversöhn¬ 
lichen  Gegensatz  getreten  sind.  Mit  ein  paar  Worten 
mag  dieser  Episode  gedacht  werden. 

Eines  schönen  Tages,  während  er  mit  mir  die 
Räume  unseres  Museums  durchschritt,  kam  ihm  der 
Gedanke,  hier  fehle  ein  prächtiger  Saal,  der  als  ein 
köstliches  Gefäß  den  edelsten  Inhalt  aufnähme.  Aus 
der  Unruhe  der  vollgestopften  Galerieräume  müsse 
man  künftig  in  ein  königliches  Gemach  treten,  ge- 


FRANZ  VON  LENBACH 


12g 


schmückt  mit  Gobelins,  Teppichen,  geschnitzten  Truhen 
und  Prunksesseln,  und  in  diesem  Saale  sollten  die 
Meisterwerke  des  Museums  ihren  Bewunderern  in 
feierlicher  Stille  Audienz  erteilen.  Die  Idee  fand  An¬ 
klang  und  begann  zu  reifen.  Durch  Lenbachs  opfer¬ 
freudige  Vermittelung  wurden  drei  Altbrabanter  Go¬ 
belins  erworben  —  dieselben,  welche  jetzt  zeitweise 
den  Oberlichtsaal  des  Kunstvereins  und  dauernd  den 
Saal  der  italienischen  Meister  des  Museums  schmücken 
—  und  Gabriel  Seidl,  Lenbachs  Freund  und  Gehilfe 
bei  so  mancher  seiner  künstlerischen  Veranstaltungen, 
wurde  aus  München  berufen,  eine  Skizze  dieses  ge¬ 
planten  Festsaales  zu  entwerfen.  Aber  bei  dieser, 
aus  der  farbenfreudigen  Renaissance  inspirierten  Skizze, 
deren  weiteres  Schicksal  ich  nicht  angeben  kann,  ist 
es  geblieben. 

Für  mich  selbst  wurde  es  ein  unschätzbarer  Ge¬ 
winn  meines  Lebens,  daß  ich  von  der  ersten  Begeg¬ 
nung  an  —  es  war  am  Tage  der  Erwerbung  unseres 
Bildes  des  alten  Kaisers  und  einige  Tage  vor  dem 
Tode  desselben  —  dem  Künstler  und  dem  Menschen 
näher  treten  konnte,  daß  ich  sein  Freund  ward  und 
daß  ich  in  manchen  Stunden  intimen  Verkehrs  in 
das  Innere  seiner,  bei  aller  Leidenschaftlichkeit  und 
allem  Zornesmut  doch  goldig  klaren,  tief  und  echt 
empfindenden  Seele  blicken  durfte. 

Wir  alle,  die  wir  ihn  noch  als  Lebenden  verehrt, 
die  wir  den  mächtigen  Eindruck  seiner  Bilder  em¬ 
pfangen  haben,  fühlen  uns  ihm  zu  lebendigem  Danke 
verpflichtet,  und  dieser  Empfindung  öffentlich  Aus¬ 
druck  zu  geben,  ist  der  Anlaß  der  heutigen  Feier 
geworden.  Es  war  ein  Vorrecht  und  eine  Pflicht 
unseres  Vereins,  noch  einmal  in  festlicher  Stunde  des 
großen  Meisters  zu  gedenken,  dessen  Bilder  so  oft 
durch  seine  Räume  gezogen  sind,  noch  einmal  den 
Leipziger  Kunstfreunden  einen  Überblick  über  sein 
Schaffen  durch  eine  Sammlung  eingeladener  Werke 
zu  vermitteln  und  ihnen  in  Erinnerung  zu  rufen, 
was  wir  an  ihm  besessen  haben  und  nie  verlieren 
werden. 

Lenbach  war  kein  Hofmaler  im  gewöhnlichen 
Sinne  des  Wortes,  wenn  er  auch  oft  genug  Kaiser 
und  Könige  porträtiert  hat.  Er  wollte  es  nicht  sein, 
und  wenn  ihn  die  Umstände  genötigt  hätten,  es  zu 
werden,  so  würde  es  sicher  bei  einem  Versuche  ge¬ 
blieben  sein.  Die  Geduld  wäre  ihm  schnell  ausge¬ 
gangen,  sich  an  der  Inszenierung  eines  Repräsen¬ 
tationsbildes  abzumühen;  er  hätte  es  wahrscheinlich 
überflüssig  gefunden,  sich  dazu  durch  Studien  an 
Uniformstücken  und  Prachtroben  vorzubereiten.  Was 
für  die  kühle  norddeutsche  Art  Adolf  Menzels  so 
charakteristisch  ist  —  die  sichtliche  Liebe,  mit  der  er 
den  kleinsten  Zug  in  der  Kleidung  des  Kammerherrn 
wie  des  einfachen  Soldaten  mit  dem  Bleistift  festhält 

das  wäre  bei  Lenbachs  süddeutschem  Naturell 
völlig  undenkbar.  Und  so  gewiß  bei  den  Menzel- 
schen  Geschichtsbildern  die  sachliche  Exaktheit  im 
Kostüm  nicht  entbehrt  werden  kann,  wird  man  an 
Lenbachschen  Bildnissen  geschichtlicher  Größen  Ge¬ 
nauigkeit  in  Äußerlichkeiten  nicht  vermissen,  wenn 
man  sich  der  Wirkung,  die  von  den  Köpfen  ausgeht, 


rückhaltlos  hingibt.  Man  weiß  jetzt  zur  Genüge,  daß 
an  seinen  Bildern  nichts  zu  lernen  ist  über  die  Einzel¬ 
heiten  der  Uniformen  Bismarcks,  über  die  Kleider, 
mit  denen  Richard  Wagner  seine  Leiblichkeit  ver¬ 
hüllte  oder  über  den  speziellen  Modegeschmack  der 
Damen,  die  Lenbach  in  seiner  Galerie  weiblicher 
Schönheiten  verewigt  hat.  Wer  ihn  bei  der  Arbeit 
beobachten  durfte  und  sah,  wie  er  die  ihm  zum 
Bilde  Sitzenden  meisterte,  erkannte  bald,  daß  diesem 
Künstler  von  souveränem  Geiste  niemand  —  den 
einzigen  Bismarck  ausgenommen  —  imponieren 
konnte,  weder  ein  Monarch,  noch  irgend  eine  Cele- 
brität  der  Gegenwart,  daß  ihm  keiner  darein  zu  reden 
wagte,  und  daß  ein  Wunsch,  etwa  um  Verbesserung 
und  Verschönerung  der  Toilette,  unzweifelhaft  mit 
dem  verbindlichsten  Lächeln  abgelehnt  worden  wäre. 
Mit  seinem  starken  Instinkt  für  echte  Kunst  fühlte 
Lenbach  heraus,  daß  die  Arbeit  des  Pinsels  da  auf¬ 
hören  müsse,  wo  der  Triumph  des  Schneiders  be¬ 
ginnt.  Er  fühlte  es,  trotzdem  er  durch  die  Schule 
Pilotys  gegangen  war,  oder  vielmehr  gerade  weil  er 
die  innere  Hohlheit  virtuoser  Stoffmalerei  in  der  Nähe 
beobachtet  hatte.  Er  wußte,  welche  Gefahr  darin 
liegt,  das  Interesse  von  dem  Lebensnerv  eines  Bildes, 
welcher  beim  Porträt  ausschließlich  im  Kopfe,  in  den 
Augen  steckt,  abzulenken  auf  totes  Beiwerk,  auf 
Kleider  und  Möbel,  Orden  und  Geschmeide.  Was 
von  solchen  Requisiten  höfischer  Etikette  unentbehr¬ 
lich  war,  pflegte  er  ganz  flüchtig  anzudeuten.  Wie 
oft  fehlen  an  den  Röcken  seiner  Helden  sogar  die 
Knöpfe,  z.  B.  auch  an  der  Hamburger  Wiederholung 
unseres  Kaiserbildes,  die  dadurch  fast  einen  Vorzug 
vor  dem  Leipziger  beknöpften  Exemplar  erhalten  hat. 
Nur  vereinzelt  sind  die  Bilder,  in  denen  er  auf  die 
Ausstaffierung  seiner  Porträts  etwas  mehr  Fleiß  und 
Ausdauer  gewendet  hat,  und  ein  Bild,  wie  das  pracht¬ 
volle,  auf  das  sorgfältigste  durchgeführte  Bildnis 
Björnstjerne  Björnsons,  gehört  zu  den  Ausnahmen. 
Wenn  er  den  Liebreiz  anmutiger  Frauen  nicht  bloß 
in  Gesicht  und  Haltung  zeigen,  sondern  auch  durch 
Federn,  Perlen  und  Spitzen  heben  wollte,  -  ich 
denke  an  die  Bildnisse  der  Frau  Eugenie  Knorr  und 
der  Frau  Lilli  Merck  —  so  ist  es  ihm  stets  gelungen, 
die  subtilsten  Effekte  eines  blitzenden  Kolliers,  eines 
duftigen  Schleiers  oder  die  schillernden,  über  Pelz, 
Samt  und  Seide  liegenden  Töne  dem  Beschauer  vor¬ 
zutäuschen.  Die  volle  Wirkung  ist  da,  man  glaubt 
den  Samt  und  die  weichen  Spitzen  des  Pelzes  zu 
fühlen,  aber  sieht  man  näher  zu,  so  beruht  der  Ein¬ 
druck  auf  wenigen,  mit  dem  breitesten  Pinsel  flüchtig 
hingeworfenen,  gleichsam  über  das  Bild  hinhuschen¬ 
den  Tönen,  auf  gewischten  Flecken,  zitternden  Linien 
oder  Punkten.  Wir  sind  überzeugt,  daß  in  sehr  vielen 
Fällen  die  von  Lenbach  porträtierten  Personen,  nament¬ 
lich  seine  Damen,  seine  Dichter  und  Maler,  aber  auch 
manche  von  den  Nebenfiguren  seines  Repertoirs, 
gar  nicht  so  vor  ihm  erschienen  waren,  wie  er  sie 
schildert.  Wenn  ihm  das  Kostüm  zur  Verstärkung 
der  Charakteristik  beitragen  sollte,  scheute  er  sich 
nicht,  es  ebenso  willkürlich  umzugestalten  oder  neu 
zu  erfinden,  wie  er  Stellung  und  Bewegung  frei,  im 


130 


FRANZ  VON  LENBACH 


F.  VON  LENBACH.  PAUL  HEYSE.  STUDIE 
Photographie  Haiifstängl 


Sinne  der  Eigenart  des  Dargestellten  zu  erfinden 
pflegte.  So  sind  manche  seiner  Künstlerporträts  - 
ich  erinnere  an  einige  seiner  Selbstbildnisse,  an  Bilder 
Paul  Heyses,  des  Malers  Franz  von  Seitz,  —  gewisser¬ 
maßen  ideale  Charakterbilder  geworden,  in  denen  der 
äußere  und  innere  Mensch  sich  durchdringen,  geisti¬ 
ges  Wesen  und  leiblicher  Ausdruck  desselben  einheit¬ 
lich  verschmolzen  sind. 

Bei  dieser  Harmonisierung  der  Persönlichkeit  war 
ihm  unter  Umständen  das  Kolorit  der  Kleidung  eben¬ 
so  bedeutsam,  wie  der  Ausdruck  des  Gesichtes,  und 
er  nahm  dann  auf  die  Farbenstimmung  des  Kostüms 
die  sorgfältigste  Rücksicht.  In  seinen  Hauptwerken 
ist  jede  Farbennuance  berechnet  und  jeder  Strich  an 
der  richtigen  Stelle.  Dieses  Gleichgewicht  der  Töne, 
diese  Rhythmisierung  der  Farbe  erstrebt  er  in  der 
verschiedensten  Weise.  Seine  Bismarckbilder  erscheinen 
zum  Teil  wie  Versuche,  das  Problem  der  Farbe  auf 
dem  Untergrund  einer  grandiosen  Persönlichkeit  zu 
variieren,  und  wenn  nicht  in  allen  das  gewaltige  Ant¬ 
litz  dominierte,  könnte  man  diese  Modulationen  seines 
Lieblingsthemas  für  bedenkliche  Spiele  der  Phantasie 
halten.  Aber  man  merkt  es  kaum,  wenn  er  in  einem 
bekannten  Bilde  des  sitzenden  Bismarck  den  weißen 
Rock  der  Halberstädter  Kürassiere  mit  dem  Gesicht 
zusammengestimmt  hat,  dem  Weiß  der  Uniform  zu¬ 
liebe  auch  den  Teint  des  Gesichtes  bleicht  und  dem 
Kopf  einen  goldig  glänzenden  Helm  statt  des  richti¬ 
gen  weißen  aufsetzt.  Solche  absichtliche,  koloristisch 
feine  Verstöße  gegen  die  geschichtliche  Wahrheit  sind 
bei  ihm  häufiger,  als  dem  Beschauer  klar  wird.  Man 


bemerkt  sie  nicht,  wie  man  in  einem  anderen  Falle 
die  Kleinheit  der  Reiter  des  Parthenonfrieses  nicht 
als  Fehler  empfindet.  Es  gibt  ein  Bild,  worin  der 
perückenlose,  kahlköpfige  Moltke  mit  einem  Pelz  und 
dem  Orden  Pour  le  merite  an  dem  violett  statt  schwarz 
gemalten  Bande  versehen  ist,  eine  Maskerade  von  un- 
gemeiner  Wirkung,  da  das  dunkelbraune  Haar  des 
Pelzes  und  der  weiße,  blanke  Schädel,  das  violette 
Halsband  des  funkelnden  Ordens  und  dieser  selbst 
die  prächtigsten  Kontraste  bilden.  Manchmal  geht 
eine  solche  Umformung  der  Wirklichkeit  durch  das 
ganze  Bild,  auch  durch  das  Gesicht,  und  namentlich 
die  Augen  pflegt  Lenbach  mit  schöpferischer  Freiheit 
wie  kein  anderer  Maler  zu  behandeln.  Das  außer¬ 
ordentliche  Temperament,  das  er  seinen  Köpfen  ver¬ 
leiht,  beruht  zumeist  auf  dem  höchst  gesteigerten  Aus¬ 
druck  der  Augen. 

Was  schon  die  Alten  wußten  —  ich  denke  vor 
allem  an  den  Kopf  des  Laokoon  — ,  was  ein  Michel¬ 
angelo,  ein  Klinger  immer  wieder  verwenden,  ist  auch 
bei  Lenbach  zum  Hilfsmittel  geworden,  um  das  höchste 
Pathos  im  Gesicht  auszudrücken.  An  seinen  Bismarck¬ 
köpfen  zeigt  er  uns  oft  das  Auge  vergrößert  und 
verschoben  bis  an  und  über  die  Grenzen  der  Mög¬ 
lichkeit,  Brauen  und  Lider  rücken  weit  auseinander, 
daß  der  Augapfel  wie  ein  Feuerball  in  seinen  Höhlen 
liegt.  Nun  ist  aber,  wie  niemand  leugnen  kann,  das 
schmerzlich  verzerrte  Auge  des  Laokoon  durchaus 
naturwidrig  geformt  und  sicher  liegt  hierin  ein  wesent¬ 
licher  Teil  der  erschütternden  Wirkung  dieses  Kopfes. 
Ebenso  hat  Lenbach  die  Augen  in  dem  Leipziger 
Bildnis  des  alten  Kaisers  in  einer  Weise  dargestellt 
-  -  mit  starken  Verschiebungen  und  größten  Ungleich¬ 
heiten  — ,  welche  nach  dem  Zeugnis  von  Beobachtern 
aus  seiner  nächsten  militärischen  Umgebung  ihm 
nicht  eigen  waren,  ja  unmöglich  sind.  Ich  möchte 
behaupten,  daß  an  Lenbachs  seelisch  ergreifendsten 
Männerbildnissen  überhaupt  nie  ein  Paar  gleichge¬ 
bildeter  Augen  vorkommt,  daß  die  bei  jedem  von 
geistiger  Energie  erfüllten  Kopfe  natürliche  Verschie¬ 
bung  der  Gesichtslinien  von  ihm  bis  zur  äußersten 
Grenze  verstärkt  wurde,  und  daß  diese  Asymmetrie 
des  Gesichts  eigentlich  den  überwältigenden  Reiz 
seiner  Bildnisse  ausmacht.  Hier  kann  man  nicht 
ändern  und  korrigieren,  ohne  zu  zerstören.  Die 
Naturwidrigkeit  steckt  der  echten  Kunst  im  Blute. 

Gewiß,  Lenbach  durfte  der  Wirklichkeit  in  seinen 
Bildnissen  Gewalt  antun,  wie  es  kein  Hofmaler  ge¬ 
wagt  hätte.  Wenn  er  unwahr  wurde,  geschah  es  aus 
künstlerischen  Gründen.  Es  lag  ihm  nie  an  einer 
platten  Naturabschrift,  an  nüchterner  Ähnlichkeit,  und 
nicht  bloß  in  seinen  schönen  Frauenbildnissen  ist  er 
zuletzt,  in  der  reifsten  Zeit  seiner  Meisterjahre,  immer 
freier  und  von  der  Natur  unabhängiger  geworden, 
gelegentlich  bis  zu  vollkommener  Umwertung  der 
von  ihm  porträtierten  Personen.  Da  bricht  auch  die 
Lust  am  Farbendichten  mehr  und  mehr  aus  ihm 
hervor. 

Es  wird  von  Ernst  Würtenberger  überliefert,  daß 
Böcklin  in  den  achtziger  Jahren,  als  er  anfing  Himmel¬ 
blau  und  Wiesengrün  anders  zu  sehen,  als  irgend 


FRANZ  VON  LENBACH 


131 


jemand  vor  ihm,  und  in  seiner  grüblerischen  Weise 
über  die  Gesetze  seiner  neuen  Malkunst  nachsann, 
ein  eigentümliches  Verfahren  erfand  für  seine  Experi¬ 
mente  über  Licht-  und  Farbenverteilung  eines  Bildes. 
Auf  einem  mit  Kreide  grundierten  Zigarrenbrettchen 
malte  er  eine  kleine  Farbenskizze,  die  ohne  den  Gegen¬ 
stand  selbst  deutlich  zu  machen,  die  Farbenwerte 
nebeneinander  zeigte.  Ganz  dasselbe  Verfahren  pflegte 
Lenbach  in  den  neunziger  Jahren,  wo  ich  ihn  häufig 
im  Atelier  besuchte,  vor  meinen  Augen  anzuwenden, 
mit  einer  eigentümlichen  Fähigkeit  merkwürdig  schnei! 
verschiedene  Möglichkeiten  der  Farbenkombination 
und  der  Darstellungsform  durchzuprüfen.  Ich  erinnere 
mich  einer  Unterhaltung,  in  der  er  mir  vor  der 
Staffelei  mit  leidenschaftlicher  Wärme  in  Worten  zu 
erklären  und  mit  dem  Pinsel  zu  beweisen  suchte, 
wie  viel  Kraft  und  Temperament  in  der  Farbe  stecke. 
Es  waren  Erläuterungen  zu  dem  Tizianischen  Aus¬ 
spruch  le  macchie  sono  l’anima  del  color.  Ich  sah 
zunächst  nur  Flecken  intensivster  Farben,  rot,  violett, 
gelb,  die  er  zusammensetzte  und  durch  einen  Rahmen 
bildmäßig  abschloß.  Diese  Klecksbildchen  entstanden 
in  Handfiächengröße  dicht  nebeneinander  auf  großen, 
dunkel  grundierten  Holztafeln,  die  er,  wenn  er  demon¬ 
strieren  wollte,  auf  die  Staffelei  warf,  um  an  einer 
freigebliebenen  Stelle  mit  Farbtupfen  sofort  ein  Bildnis, 
eine  Landschaft  oder  einen  Blütenstrauß  zu  beginnen, 
ein  etwas,  das  in  der  Nähe  unklar,  in  einiger  Ent¬ 
fernung  eine  Darstellung  von  frappanter  Wirkung 
wurde.  Es  mochten  zum  Teil  Keime  neuer  Bilder 
sein,  die  in  ihm  aufstiegen,  wie  Abendglühen  oder 
Gewitterleuchten  und  es  war  anmutig  zu  sehen,  wie 
sich  eines  aus  dem  anderen  entwickelte,  wie  ein 
venezianischer  Edelmann  da  war,  wenn  er  von  Tizian 
sprach  und  eine  italienische  Landschaft,  wenn  seine 
Erinnerungen  nach  Florenz  abschweiften.  Damals 
wurden  mir  zwei  Grundzüge  seiner  künstlerischen 
Begabung  offenbar:  Seine  unbegrenzte  Einbildungs¬ 
kraft,  die  er  sich  selbst  mit  Unrecht  und  wohl  nur 
im  Hinblick  auf  die  Einseitigkeit,  mit  der  er  das 
Porträt  pflegte,  abgesprochen  hat,  und  sein  außer¬ 
ordentlich  entwickelter  Farbensinn. 

In  Lenbachs  Atelier  befinden  sich  noch  mehrere 
Skizzentafeln  dieser  Art.  Auf  der  einen  sieht  man 
links  eine  farbenprangende  Landschaft,  die  an  der 
rechten  Seite  in  Gewitternacht  untertaucht;  über  dem 
Wolkendunkel  schwebt  eine  große  Palette  mit  glühen¬ 
den  Farbenflecken;  glitzerndes  Geschmeide  hängt 
darüber,  bunte  Schmetterlinge  flattern  vorbei.  Darunter 
breitet  sich  eine  andere  Landschaft  klassischen  Charak¬ 
ters  aus,  mit  Tempeltrümmern  auf  kahlem  Felsen, 
von  der  Sonne  bestrahlt,  die  durch  einen  Regenbogen 
bricht.  Dann  Felsgipfel,  unten  drei  kleine  Porträt¬ 
bildchen,  wie  angelehnt  an  den  Felsen.  Das  Ganze 
ein  geistsprühendes  Capriccio  erhitzter  Künstlerphantasie. 

Landschaften  sind  auch  auf  den  übrigen  Tafeln, 
deren  es  eine  Menge  zu  geben  scheint,  mehrfach  vor¬ 
handen.  Dazwischen  finden  sich  Blumensträuße  und 
Stilleben  anderer  Art  neben  Porträtentwürfen,  alles 
durcheinander  gewürfelt,  und  fast  immer  sind  es  fertige 
Bildgedanken  von  berauschender  Kraft  des  Kolorits. 


Wenn  man  nach  solchen  Einfällen  urteilen  darf, 
lag  in  Lenbach  eine  universelle  Begabung  für  alle 
Gebiete  der  Malerei,  und  wie  er  schon  bei  dem  ersten 
Griff  ins  Leben  in  dem  Bilde  des  liegenden  Hirten¬ 
knaben  der  Schackgalerie  und  in  dem  Preßburger 
Gemälde  des  römischen  Triumphbogens  seine  volle 
Meisterschaft  für  das  figürliche  Genre  und  die  Land¬ 
schaft  bewiesen  hat,  würde  er  vielleicht  unter  anderen 
Verhältnissen  und  bei  gegebener  Anregung  auch  im 
Historienbild  Hervorragendes  geleistet  haben.  Aber 
er  zog  es  vor,  dasjenige  Stoffgebiet  allein  zu  pflegen, 
welches  alle  seine  Fähigkeiten  zugleich  beschäftigte:  sein 
koloristisches  Talent  und  seine  Gestaltungskraft  nicht 
weniger,  als  seinen  Scharfblick  für  die  feinsten 
Charakterzüge  der  Persönlichkeit. 

Was  hat  ihm  denn  eigentlich  den  unbestrittenen 
Vorrang  vor  allen  anderen  Bildnismalern  unserer  Zeit 
und  eine  Ausnahmestellung  in  der  Kunstgeschichte 
überhaupt  verschafft?  Doch  nicht  die  Sicherheit  im 
Treffen,  die  virtuose  Technik,  das  Temperament  seiner 
Farben,  Eigenschaften,  welche  auch  andere  Meister 
neben  ihm  -  die  Kaulbach,  Herkomer,  Lazslo  z.  B. 
—  jeder  in  seiner  Weise  besitzen.  Nein,  es  war  seine 
magische  Kraft,  die  Seele  aus  dem  Menschen  heraus¬ 
zulocken,  ehe  er  ihn  malte. 

Man  kann  drei  Arten  des  Bildnisses  unterscheiden, 
je  nach  dem  Verhältnis,  in  dem  sich  der  Porträtierte 
zu  dem  Maler  befindet.  Es  gibt  Bildnisse  des  un¬ 
beobachteten  Menschen,  Bildnisse,  in  denen  der 
Dargestellte  so  ruhig  und  gesammelt  erscheint,  als 


F.  VON  LENBACH.  KAISER  WILHELM  1.  STUDIE 
Photographie  Hanfstängl 


132 


FRANZ  VON  LENBACH 


wenn  zwischen  ihm  und  dem  Künstler  oder  Beschauer 
kein  Kontakt  bestände  und  keine  Aufnahme  durch 
den  prüfenden  Bück  des  Malers  vorausgegangen  wäre. 
Wir  fmden  sie  in  der  goldenen  Zeit  der  Antike  und 
der  h’pr, aissance,  auch  in  manchem  Werke  der  Gegen¬ 
wart,  b  i  Lenbach  in  seiner  ersten  Periode,  wo  er 
noch  iiter  dem  Einfluß  der  Klassiker  steht. 

!d  es  gibt  Bildnisse  des  beobachteten  Men¬ 
schen,  der  sich  gut  angezogen  hat  und  in  Positur 
stellt  inni  an  dem  man  in  Miene  und  Haltung  erkennt, 
daß  er  einen  möglichst  vorteilhaften  Eindruck  zu 
machen  bemüht  ist.  Solche  Bilder  schuf  mit  be¬ 
sonders  naiver  Absichtlichkeit  die  blutleere  Kunst  der 
ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  und  die  folgende 
Epoche  bis  auf  Makart  und  Angeli,  auch  schon 
Barock  und  Rokoko.  Wenn  wir  von  Hofmalerei  mit 
einer  gewissen  Geringschätzung  sprechen,  meinen  wir 
die  gespreizte  Unnatur  solcher  Bildnisse. 

Den  höchsten  Grad  der  Auffassung  bezeichnet  die 
Darstellung  des  beobachtenden ,  des  innerlich  er¬ 
regten,  geistig  gespannten  Menschen,  und  solche  im 
Atelier  ungewöhnliche  Momente  hervorzurufen,  darin 
lag  die  Kraft,  welche  Lenbach  über  fast  alle  Vertreter 
seines  Faches  hinaushob.  Er  verstand  es  durch  Erzählen, 
ein  geistreiches  Plaudern  mit  einem  etwa  zufällig  im 
Atelier  anwesenden  Freunde  den  zu  Porträtierenden  an¬ 
zuregen,  ohne  ihm  die  Ruhe  des  Modells  zu  nehmen; 
er  wußte  seinen  Geist  und  seine  Energie  zu  wecken, 
dann  die  Wirkung  in  Gesicht  und  Haltung  momentan 
zu  erfassen  und  mit  ungemeiner  Schnelligkeit  durch 
Pinsel  oder  Kreide  festzuhalten.  Für  diese  Fixierung 
flüchtigster  Eindrücke  hatte  er  sich  eine  eigene  Technik 
erfunden,  wir  kennen  sie  alle  als  Lenbachs  Manier, 
die  jetzt  von  großen  und  kleinen  Künstlern  nach¬ 
geahmt  wird.  Es  ist  eine  eigentümliche  Mischung 
von  Zeichnen  und  Malen.  Wenige  auf  rohe  Papp¬ 
deckel  in  einem  langen  Zuge  hingeworfene  Linien, 
die  am  Kontur  des  Gesichtes  entlang  gleiten  und  die 
wesentlichsten  Züge  andeuten,  dazwischen  einige  ge¬ 
wischte  oder  gemalte,  Flächen  deckende  Farbtöne, 
einige  Kritzel  und  Drucker  und  die  Illusion  des 
vollen  Lebens  war  da. 

Man  muß  ihm  bei  der  Arbeit  zugesehen  haben, 
wie  aus  den  ersten  Sitzungen  die  Studien  zu  Dutzen¬ 
den  hervorgingen,  wie  er  an  den  zur  Ausführung 
ausgewählten  Skizzen  versuchend  und  prüfend  immer 
wieder  änderte,  wohl  auch  Ausdruck,  Haltung  und 
Geste  rasch  und  mit  wenigen  Strichen  wechselte,  die 
Töne  umstimmte,  um  zu  begreifen,  daß  er  nicht,  wie 
vielfach  geglaubt  wird,  von  Photographien  abhing 
und  dem  Leben  sklavisch  folgte.  Allerdings  hat  er, 
der  Vielbeschäftigte,  der  immer  mit  Aufträgen  über¬ 
häuft  war,  die  Beihilfe  der  Photographie  nicht  missen 
mögen.  Wohl  um  die  Sitzungen  abzukürzen,  hat 
er  den  Porträtierenden  in  der  Regel  von  allen  Seiten 
aufnehmen  und  die  Bilder  auf  einem  Karton  zu¬ 
sammenstellen  lassen.  So  stand  ihm  beim  Fortgang 
der  Arbeit,  die  er  oft  unterbrach,  und  zu  gemäch¬ 
lichem  Studium  gleichsam  ein  Rundbild,  die  ganze 
Figur  des  Darzustellenden  vor  Augen.  Aber  nicht 
nach  solchen  Lichtbildern,  sondern  nach  dem  Leben 


pflegte  er  das  Bildnis  anzulegen  und  zu  vollenden. 
Er  fixierte  das  Original  vorher  mit  Pinsel  und  Kreide 
in  wechselnden  Posen  und  Beleuchtungen  und  war 
in  diesen  Versuchen,  in  immer  neuer  Darstellung 
seines  Vorbildes  um  so  glücklicher,  je  mehr  es  ihn 
anzog  und  geistig  beschäftigte. 

Wie  viel  er  dabei  der  Natur  entnahm  oder  seinem 
Genius  verdankte,  wer  kann  es  noch  feststellen?  Und 
gar  vor  der  Heroengestalt  eines  Bismarck  mußte  seine 
Einbildungskraft  aufs  höchste  entflammt  werden.  In 
Friedrichsruhe  entstanden  die  Bismarckstudien  in  sol¬ 
chen  Massen,  daß  er  nur  einen  Teil  mit  fortzunehmen 
für  nötig  fand,  und  einen  anderen  als  wertlos  bei¬ 
seite  warf.  Der  vielhörende  Heinrich  von  Poschinger 
hat  den  kleinen  Zug  aufbewahrt,  daß  der  Kanzler 
diesen  Abfall  vom  Tische  des  Reichen  vernichten  ließ, 
damit  nicht  —  wie  in  einem  anderen  wohlbekannten 
Falle  —  hinter  dem  Rücken  des  Künstlers  ein  Mi߬ 
brauch  getrieben  würde. 

Es  ist  bezeichnend  für  das  gärende  Ungestüm  der 
Phantasie  Lenbachs,  daß  er  sich  auch  bei  bestimmten 
Aufträgen  mit  einer  einfachen  Lösung  selten  begnügte, 
sondern  mehrere,  ja  mitunter  eine  ganze  Reihe  ab¬ 
weichender  Entwürfe  nebeneinander  entstehen  und 
wohl  auch  zu  fertigen  Bildern  ausreifen  ließ,  von 
denen  er  nur  eine  einzelne  Fassung  dem  Besteller 
abgab,  während  er  die  übrigen  in  den  weiten  Räumen 
seines  Ateliers  zurückstellte.  So  hat  sich  in  seinem 
Heim  ein  Reichtum  von  Bildern  aufgehäuft,  der  noch 
lange  den  Forscher  beschäftigen  und  den  Kunstfreund 
mit  Neuigkeiten  überraschen  wird,  wenn  es  auch  meist 
nur  alte  Brillanten  in  neuer  Fassung  sind,  die  alten 
Lieblinge  der  Lenbachschen  Muße:  ein  Döllinger, 
Moltke,  Kronprinz  Friedrich,  Gladstone,  vor  allem 
Bismarck,  der  Unerschöpfliche,  dann  die  Bilder  schöner 
Frauen,  die  eigenen  Bildnisse  und  die  seiner  Lieben. 

Geradezu  beispiellos  und  gar  nicht  mehr  zu 
übersehen  ist  die  Anzahl  seiner  Bismarckstudien,  der 
großen  und  kleinen  Entwürfe  und  der  mehr  oder 
minder  vollendeten  Bilder.  Es  hat  nie  einen  Künstler 
gegeben,  der  imstande  war  ein  und  dasselbe  Thema 
so  oft  und  immer  neu,  immer  bedeutsam  abzuwandeln, 
wie  es  Lenbach  in  der  Darstellung  des  Altreichs¬ 
kanzlers  gelungen  ist.  Bismarck  im  Stehen  und  Sitzen, 
Bismarck  forschend,  sinnend,  lesend,  in  den  ver¬ 
schiedensten  Wendungen  des  Kopfes  und  in  einem 
Wechsel  von  Situationen,  die  nie  genrehaft  wirken 
und  nie  trivial  werden;  Bismarck  als  schlichter  Land¬ 
edelmann  im  Rock  und  Schlapphut,  als  Patriarch  in 
der  Würde  des  Greisenalters,  als  Diplomat  in  kühler 
Ruhe  oder  mit  der  stolzen  Haltung  des  Militärs,  der 
kraftstrotzende  Kanzler  durch  alle  Phasen  seines  be¬ 
wegten  Lebens  bis  zu  dem  müden  Einsiedler  des 
Sachsen  Waldes;  welche  Fülle  höchster  Eingebungen 
des  Genies  und  nicht  eine  Wiederholung,  nie  eine 
Schablone,  nie  ein  starrer  Typus! 

Es  ist  begreiflich,  daß  manche  von  diesen  Skizzen 
ihr  Thema  sehr  frei  und  selbst  willkürlich  behandeln. 
Ich  will  ausdrücklich  hervorheben,  daß  sich  mit  den 
Jahren  namentlich  in  den  Pastellbildern  junger  Mädchen 
und  Frauen  eine  gewisse  leere,  rein  dekorative  Schön- 


FRANZ  VON  LENBACH 


133 


lieitskurve  einmischt,  welche  nicht  mehr  der  Natur 
entlehnt  ist  und  welche  eben  nur  in  jener,  zum 
Schminken  und  Aufputzen  reizenden  Boudoirtechnik 
des  Pastells  entschuldbar  wird.  Er  selbst  hat  zwischen 
solchen  Erzeugnissen  der  Künstlerlaune  und  seinen 
galeriemäßigen  Werken  streng  unterschieden.  Aber 
wie  ein  berühmter  Schriftsteller  wohl  Aphorismen  als 
Autographen  rasch  hinschreibt  und  dem  Sammler 
preisgibt,  hat  Lenbach  gelegentlich  Skizzen  und  Bilder 
weiblicher  Schönheiten,  seiner  Freunde  und  Bewunderer 
mit  einer  großzügigen,  ganz  seinem  Charakter  ent¬ 
sprechenden  Pinselschrift  entworfen  und  als  Gnaden¬ 
beweise,  auf  Gewinn  nicht  achtend,  von  sich  gegeben. 
Die  Anforderungen  an  den  Meister  wurden  immer 
größer,  und  dem  Andrang  zu  wehren  fiel  ihm  nicht 
ein,  war  es  ihm  doch  zum  Lebensbedürfnis  geworden, 
in  seinem  Atelier  vom  Morgen  bis  zum  Abend,  eine 
Mittagspause  abgerechnet,  vor  der  Staffelei  zu  stehen 
mitten  im  Strom  der  Fremden,  der  München  und 
seine  Villa  allsommerlich  durchflutete. 

In  dieser  rastlosen  Arbeit  errang  und  befestigte 
er  allmählich  seinen  eigenen  Stil,  jene  Sicherheit  des 
Blickes  für  die  großen  Züge  des  Charakters,  jene 
Breite  des  Vortrags,  in  welcher  Beobachtung  und 
Pinselführung  in  eins  zusammenfließen,  jenen  coup 
de  pinceau,  der  ihn  trotz  allen  Widerspruchs  der 
Gegner  in  die  Reihe  der  Modernsten  gestellt  hat. 
Schon  in  den  achtziger  Jahren  hatte  er  die  Freude 
am  Lasieren  und  Verschmelzen  der  Töne,  an  der 
sauberen,  glatten  Ausführung  verloren.  Er  fühlte, 
daß  er  mehr  sah  und  wiedergab,  wenn  er  entschlossen 
der  Natur  zu  Leibe  ging  und  aufhörte,  ein  sogenanntes 
gutes  und  schönes  Bild  zu  malen.  Das  bedeutete 
aber  auch  nicht  weniger  als  einen  Bruch  mit  der  auf 
der  Akademie  erzogenen  und  vom  Publikum  hoch- 
geschätzten  Korrektheit  der  Modellierung  und  Sauber¬ 
keit  der  Pinselführung.  Jetzt  galt  es  nur  noch  den 
ersten,  in  der  Skizze  festgehaltenen  Eindruck  auch  in 
dem  danach  auszuführenden  Bilde  nicht  abzuschwächen. 
Und  dies  gelang  ihm  allmählich  mit  einer  von  wenig 
anderen  erreichten,  von  niemand  überbotenen  Meister¬ 
schaft.  Hierin  lag  das  Geheimnis  seiner  Größe,  denn 
es  ist  (wie  nur  die  Künstler  voll  zu  würdigen  ver¬ 
stehen)  in  aller  bildenden  und  darstellenden  Kunst 
das  schwerste,  die  Inspiration  des  Erfindungsmomentes 
während  der  zeitraubenden  Ausgestaltung  und  bei  der 
Wiederholung  nicht  zu  verlieren.  Wenn  Eugene 
Delacroix  den  Grundsatz  aufstellt:  um  ein  Bild  zu 
vollenden,  müsse  man  es  immer  etwas  verderben,  denn 
durch  die  letzten  Striche,  welche  die  Harmonie  zwischen 
den  einzelnen  Teilen  herstellen  sollen,  wird  die  Frische 
der  ersten  Auffassung  zerstört,  so  gibt  dieser  Aus¬ 
spruch  das  Credo  der  alten  Kunst.  Die  neue  Kunst, 
die  des  Impressionismus,  lernte  umgekehrt  rasch  zu¬ 
greifen,  Licht  und  Leben  in  ihrer  Beweglichkeit  er¬ 
fassen  und  dann  die  Hand  vom  Bilde  zurückziehen, 
um  es  nicht  —  wie  Böcklin  es  nennt  —  »zu  Tode  zu 
pinseln«.  Die  Sehnsucht  des  Künstlers  wurde  nun, 
den  im  Augenblick  erhaschten  Eindruck  flüchtigen 
Lebens  blitzschnell  durch  die  Fingerspitzen  und  den 
Pinsel  auf  die  Malfläche  zu  bringen.  Die  Skizze  wurde 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  5 


F.  VON  LENBACH.  SCHWIND  UND  SEMPER.  STUDIE 
Photographie  Hanfstängl 


zur  Hauptsache,  der  sicher  treffende  »Pinselhieb« 
Kennzeichen  des  wahren  Künstlers.  Von  dieser  Seite 
betrachtet,  sind  die  meisten  Studien  Lenbachs  höchste 
Leistungen  derjenigen  Kunst,  welche  sich  vorzugs¬ 
weise  unter  dem  Namen  der  Sezession  zu  sammeln 
pflegt.  Daher  erfolgte  bei  Lenbach  die  Beseelung  des 
Bildes  eigentlich  erst  in  dem  Momente,  wo  er  das 
Glanzlicht  im  Auge  mit  einer  raschen  Bewegung  der 
vorgestreckten  Hand  gleichsam  auf  das  Bild  warf. 
So  sorglos  und  nachlässig  er  das  Beiwerk  hinstrich, 
bei  dem  Auge  wurde  die  Hand  ruhig  und  arbeitete 
mit  minutiöser  Feinheit;  aber  erst  der  letzte,  den  Blick 
hervorrufende  Tupfen  weißer  Farbe  vollendete  den 
Ausdruck. 

Man  untersuche  nur,  wie  ein  Lenbachsches  Bildnis, 
das  aus  richtiger  Entfernung  gesehen  zu  einheitlicher 
Wirkung  zusammengeht,  in  der  Nähe  sich  auflöst  in 
scheinbar  willkürliche  Striche  und  Flecken.  Da  findet 
man  jene  »glücklichen  Nachlässigkeiten«,  welche  das 
Entzücken  des  Künstlers  hervorrufen,  weil  sie  die 
eigentlichen  Lebenserreger  im  Bilde  sind.  Da  wird 
nicht  mehr  Linie  an  Linie  gebunden,  geformt  und  ge¬ 
rundet,  Einheit  der  Fläche  und  Einheit  der  Technik 
gewahrt,  sondern  Effekt  neben  Effekt  gesetzt,  mit  jedem 
Werkzeug,  das  ihm  gerade  in  der  Hand  lag.  Keine 

18 


134 


FRANZ  VON  LENBACH 


Untermalung  m-'-,  langsamem  Aufsetzen  der  Töne  und 
keine  fertige  Zei»  i.r.ung,  ehe  die  Modellierung  begann. 
Es  kam  ■  •>!',  -'  3  er,  nachdem  er  mit  einigen  Blei- 
stiftsi.’ZiCiL  die  wesentlichen  Linien  eines  Kopfes  an- 
gedr;  ■  ‘  haüe,  sofort  anfing  mit  dem  Pinsel  die  Haupt¬ 
töne  hinzusetzen  und  dann  wieder  zum  Bleistift  griff, 
v/enu  ihm  der  Pinsel  zu  glatt  zu  arbeiten  schien. 
An  ien:  Leipziger  Bilde  des  alten  Kaisers  kann  man 
Bleistiftkritzel  entdecken,  mit  denen  an  dem  schon 
fertigen  Bilde  Runzeln  und  Falten  am  Kinn  und  sonst 
im  Gesicht  angegeben  sind. 

Gewiß,  man  darf  nicht  sagen,  daß  Lenbach  ein 
Schüler  der  Alten  geblieben  sei.  Er  war  modern  ge¬ 
worden,  ohne  es  selber  zu  fühlen.  Aber  er  hat  die 
Lehren  der  alten  Kunst  zeitlebens  als  ein  Vermächtnis 
betrachtet,  an  dem  man  nicht  rütteln  dürfe.  Er  war 
der  Überzeugung,  daß  Tizian  und  Rembrandt  noch 
für  die  Gegenwart  höchste  Muster  seien,  und  darum 
war  er  außerstande,  zu  der  Bewegung  im  Lager  der 
Jungen  das  richtige  Verhältnis  zu  gewinnen.  Er  liebte 
es,  über  die  Bedingungen  und  die  Gesetze  der  Malerei 
nachzusinnen,  wie  es  andere  neben  und  vor  ihm  ge¬ 
tan  haben.  Viel  von  dem,  was  er  gegen  Wymethal 
über  Wege  und  Ziele  der  Kunst,  über  die  Führer 
des  modernen  Impressionismus  und  ihre  Nachfolger 
geäußert  hat,  dürfen  wir  vergessen,  denn  es  war  ihm 
weder  die  Tiefgründigkeit  und  das  Hellgesicht  eines 
Böcklin,  noch  die  logische  Schärfe  eines  Klinger  ge¬ 
geben.  Lehrreich  und  frei  von  aller  Schärfe  persön¬ 
licher  Verstimmungen  wurde  die  Unterhaltung,  wenn 
man  ihn  auf  das  Gebiet  technischer  Fragen  brachte 
und  er  zu  reden  begann  über  die  Malweise  der 
Alten,  die  er  in  mancherlei  Versuchen  zu  ergrün¬ 
den  strebte.  Es  ist  mir  in  Erinnerung  geblieben,  wie 
nahe  er  sich  mit  Ansichten  und  Beobachtungen  be¬ 
rührte,  welche  mir  Böcklin  in  ähnlichen  Gesprächen 
entwickelt  hat. 

So  wenig  Interesse  Lenbach  als  Theoretiker  erregt, 
so  sehr  fesselt  er  in  einer  anderen  Eigenschaft,  die 
mit  seiner  Vorliebe  für  die  Alten  eng  zusammen¬ 
hängt.  Er  war  ein  Dekorationsgenie,  das  in  der 
Gegenwart  kaum  seinesgleichen  hat.  Zuerst  in  seinen 
Ateliers,  dann  in  verschiedenen,  von  ihm  arrangierten 
Ausstellungen,  endlich  in  den  Prachtsälen  seiner  in 
den  achtziger  Jahren  bei  den  Münchener  Propyläen 
erbauten  Villa  hat  er  die  Kunst  ausgebildet,  festliche 
Räume  zu  schaffen  mit  einem  geringsten  Aufwand 
von  Mitteln,  die  edelsten  Stoffe  in  billigen  Surrogaten 
zu  imitieren  und  einen  märchenhaften  Luxus  zu  ent¬ 
falten,  zu  dessen  Herstellung  die  einfachsten  Arbeiter 
verwendet  werden  konnten.  Wer  ist  nicht  entzückt 
worden  von  dem  Zimmer  im  Eck  des  Eingangs  zu 
der  langen  Flucht  seiner  Münchener  Atelierräume? 
Ein  kleines,  durch  bunte  Oberlichter  schillernd  er¬ 
leuchtetes  Gemach,  mit  einem  wie  Feuerwerk  blitzen¬ 
den  Muschelbrunnen  zur  Linken,  einem  goldenen 
Kaiserstuhl  im  Hintergrund  und  allerlei  antiken  Bild¬ 
werken  aus  Ton,  Marmor  und  Bronze  zur  Rechten, 
gegenüber  die  Figur  eines  Pfaues  mit  funkelndem 
Gefieder,  an  den  Wänden  glitzernde  Mosaikbilder. 
Über  dem  Thron  bauscht  sich  noch  ein  lässig  hin¬ 


geworfenes,  rotseidenes  Gewand,  als  wenn  ein  römi¬ 
scher  Imperator  eben  erst  seinen  Sitz  verlassen  hätte. 
Etwas  wie  Spinneweben  und  Staub  von  Jahrtausenden 
liegt  über  dem  kostbaren,  vergilbten  Hausrat.  Ist  es 
nicht  der  Winkel  eines  verzauberten  Schlosses  aus 
Tausend  und  einer  Nacht,  in  den  wir  geraten  sind? 
Wir  schreiten  weiter  und  finden  erstaunt  in  anderen 
Zimmern  kunstreiche  Intarsien  an  den  Deckenbalken, 
frühchristliche  Elfenbeinschnitzereien  und  edelste 
griechisch-römische  Gemmen  in  den  Vertäfelungen 
der  Türen.  Wir  sehen  auf  den  Renaissancetruhen 
Rüstungsstücke  aus  der  Ritterzeit  neben  alten  Bischofs¬ 
mützen,  japanische  Vasen  neben  nordischem  Kirchen¬ 
gerät.  Und  an  den  Wänden  hängen  über  seidenen 
Tapeten  und  Gobelins  Bildnisse,  die  uns  aus  einem 
Jahrhundert  in  das  andere  rufen,  und  die  sich  doch 
so  merkwürdig  ähnlich  sehen.  Und  ist  dort  nicht 
auf  dem  Cranachschen  Bilde  der  Flucht  nach  Ägypten 
am  Nährvater  Joseph  der  wohlbekannte  Kopf  des 
alten,  so  vielen  Florenzkundigen  lieb  gewordenen 
Liphart  zu  erkennen? 

Wir  stutzen  und  überlegen.  Wo  ist  hier  Wahr¬ 
heit  und  wo  beginnt  die  Täuschung?  Eine  faustische 
Phantasie  scheint  aus  der  Vergangenheit  hervor¬ 
gelockt  zu  haben,  was  irgend  das  Herz  eines  Künst¬ 
lers  erfreuen  kann,  und  eine  Feenhand  scheint  es 
zusammengebaut  und  zusammengestimmt  zu  haben. 

In  der  Tat,  es  ist  Wahrheit  und  Dichtung  in  eins 
verwoben.  Echt  sind  viele  der  kostbarsten  Alter¬ 
tümer,  der  Gewebe,  der  Truhen  und  Bilder,  und 
Täuschung,  eine  erstaunlich  geschickte  Täuschung,  die 
nur  der  in  ihrer  Verwendung  sich  kundgebende  feinste 
Geschmack  rechtfertigt,  sind  die  Intarsien,  die  wie 
originale  Bronzen  und  Skulpturen  wirkenden  getönten 
Abgüsse,  die  in  Stuck  imitierten  Mosaiken  und  Tür¬ 
füllungen,  Täuschungen,  das  heißt  Kopien  oder  Nach¬ 
ahmungen,  sind  auch  viele  der  wie  alt  aussehenden 
Bilder.  Hier  berühren  wir  neben  der  Stärke  zugleich 
eine  Hauptschwäche  der  Lenbachschen  Kunst. 

Wie  in  Karnevalslaune  —  und  das  ist  nach  Gott¬ 
fried  Sempers  geistreichem  Wort  die  rechte  Stimmung 
für  alles  Kunstbilden  überhaupt  —  scheint  die  ganze 
Villa  mit  ihrem  Hausrat  erschaffen  zu  sein,  und  der 
sie  entstehen  ließ,  war  nicht  bloß  ein  leidenschaft¬ 
licher  Verehrer  und  Sammler  alter  Kunst,  sondern  er 
war  auch  wunderbar  begabt,  alte  Kunst  zu  improvi¬ 
sieren  und  neue  alt  zu  machen. 

Es  erregt  die  Bewunderung  des  Kunstgelehrten, 
mit  welchem  Geschick  Lenbach  ganz  Italien  durch¬ 
sucht  hat,  um  Muster  für  seine  dekorativen  Bedürf¬ 
nisse  aufzutreiben.  Er  ließ  überall  abformen  und 
besaß  einen  unglaublichen  Vorrat  von  Ornament¬ 
stücken  jeder  Art,  großen  und  kleinen  Reliefs,  Friesen, 
Statuen  und  Büsten,  die  zum  Teil  in  Nebenräumen 
seiner  Villa  reihenweise  und  in  schönster  Unordnung 
angebracht  sind.  Antike  und  Renaissance  war  ihm 
dabei  gleich  wertvoll,  die  ursprüngliche  Bedeutung 
von  Form  und  Inhalt  des  Gegenstandes  ganz  gleich¬ 
gültig;  es  genügte,  wenn  das  Relief  als  Kunstwerk 
eine  leere  Stelle  passend  ausfüllte,  eine  Büste  als 
Kontur  und  Farbenfleck  die  Gesamtwirkung  abschloß. 


FRANZ  VON  LENBACH 


135 


Denn  immer  zielte  er  auf  den  großen  malerischen 
Eindruck  eines  Raumes  ab,  dem  sich  alles  Einzelne 
unterordnen  mußte.  Wenn  dieser  geniale  Leichtsinn, 
dem  alle  Mittel  zur  Erreichung  eines  Zweckes  recht 
waren,  dem  Grundgefühl  der  nach  Gesundung  stre¬ 
benden  Moderne  »Echtheit  im  Material  und  Wahr¬ 
heit  der  Form«  zuwiderläuft,  wenn  das  künstliche 
Altmachen  seiner  Bilder  den  heftigsten  Widerspruch 
Andersgläubiger  hervorrief  —  war  es  zu  verwundern? 

Und  eigentlich  war  der  altertümelnde  Schmuck¬ 
trieb  Lenbachs  doch  nicht  bloß  eine  vereinzelte 
Künstlermarotte,  sondern  die  Rückkehr  zu  einer  ur¬ 
alten,  historisch  gerechtfertigten  Formel,  die  er  in 
Rom  und  Florenz  aufgefunden,  vielleicht  auch  ahnungs¬ 
los  neu  konzipiert  hatte.  Jene  Formel,  die  einst  im 
Nillande  am  Königshofe  der  Ptolemäer  erdacht  wurde, 
von  da  nach  Campanien  und  Rom  wanderte,  eine 
ausgebildete  Kunsttechnik,  welche  die  Gelehrten  in 
Pompeji  und  in  den  Kaiserpalästen  des  Palatin  als 
alexandrinischen  Inkrustationsstil  studieren  und  die 
einmal  auch  —  zu  Winckelmanns  Zeit  —  in  der 
Villa  Albani  wieder  praktisch  erprobt  worden  ist. 

Es  ist  eine  inhaltsschwere  Frage,  ob  nicht  Len- 
bach,  der  archaisierende  Dekorationskünstler,  der  sich 
und  seinen  mit  ihm  arbeitenden,  aber  von  ihm  ge¬ 
leiteten  Freunden  in  dem  Münchener  Künstlerhaus 
neben  der  Semperschen  Synagoge  ein  so  einzigartiges 
Denkmal  gesetzt  hat,  mit  seinen  rückschauenden  Kunst¬ 
tendenzen  den  Fortschritt  der  Münchener  Kunst  auf 
Jahrzehnte  verzögert  hat,  und  es  ist  ein  schwacher 
Trost,  daß  alle  Imitation  ein  beschränktes  Leben  hat 
und  mit  dem  Abfallen  der  Tünche  ihren  Reiz  ver¬ 
liert;  war  es  doch  auch  eine  Modekrankheit  unserer 
Zeit,  die  Ausstellungssucht,  welche  diese  Kunst  der 
Improvisation  und  Imitation  groß  zog  und  zu  immer 
neuen  Versuchen  antrieb. 

Aber  verweilen  wir  nicht  bei  diesen  Erinnerungen, 
welche  das  Bild  des  Meisters  in  ein  eigentümliches 
Helldunkel  hüllen.  Wenden  wir  uns  zu  dem  Kern¬ 
punkte  seines  Wesens,  zu  der  Quelle,  aus  der  ihm 
seine  Kraft  zufloß. 

Hinter  jedem  Künstler  suchen  wir  den  Menschen, 
und  wir  vergleichen  gern  die  Werke  mit  ihrem  Schöpfer, 
als  wenn  sie  sich  gegenseitig  erläutern  müßten.  Und 
in  der  Tat,  so  stark  wie  sein  Geist  und  seine  Kunst, 
so  urwüchsig  und  gesund  wie  sein  Empfinden,  sein 
Urteil  und  sein  Blick,  war  auch  der  äußere  Mensch, 
die  Hünengestalt  mit  dem  mächtig  gewölbten  Kopf 
und  den  durchdringenden,  im  Gespräch  über  die 
großen  Brillengläser  hinweg  fixierenden  Augen.  Und 
dieser  gebieterischen  Erscheinung  eignete  eine  Ein¬ 
fachheit  und  Geradheit  des  Wesens,  eine  Freimütig¬ 
keit,  die  keine  Schranken,  kein  Ansehen  der  Person 
kannte,  und  die  sich  wohl  auch  bis  zu  verblüffender 
Derbheit  steigern  konnte,  worüber  unter  Freunden 
und  Feinden  drastische  Geschichten  in  Menge  um¬ 
gehen.  Im  Verkehr  mit  Fremden  zeigte  er  eine  be¬ 
strickende  Gabe  der  Unterhaltung,  die  feinsten  Formen 
und  das  reichste  Wissen  weltmännischer  Bildung,  die 
doch  nur  einer  Fähigkeit  des  Genies  entsprang,  sich 
alles  geistig  Anregende  anzueignen  und  zu  assi¬ 


milieren.  Allbekannt  ist  seine  Schlagfertigkeit  im 
Redegefecht,  sein  Witz  und  sein  Humor,  aber  nur  in 
engeren  Kreisen  weiß  man  von  seinem  Drang  nach 
Freundschaft,  von  der  Tiefe  seines  Gemütes  und  von 
seinem  Bedürfnis  zu  helfen  und  zu  fördern,  wo  und 
wie  er  nur  konnte.  Fürstlich  wie  sein  Leben,  war 
auch  seine  Art  zu  schenken.  Er,  dem  für  Bilder  und 
selbst  für  bloße  Studien  die  höchsten  Preise  gezahlt 
wurden,  konnte  unter  Umständen  seine  Bilder  und 
Skizzen  wie  Bagatellen  behandeln,  die  man  dem  Be¬ 
sucher  zum  Andenken  mitgibt  oder  dem  Freunde  ins 
Haus  schickt.  Im  Künstlerhaus  zu  München  findet 
sich  ein  Saal  voller  Lenbachischer  Gemälde  —  und 
es  sind  Meisterwerke  darunter  — ,  die  er  zur  Aus¬ 
stattung  dieses  Raumes  aus  den  Schätzen  seines 
Ateliers  gespendet  hat,  und  im  Leipziger  Museum 
trägt  eines  der  vollendetsten  Bilder  Lenbachs,  sein 
Bismarck  im  Helm,  die  stolze  Unterschrift:  »Geschenk 
des  Künstlers.« 

Denen,  die  ihn  nicht  persönlich  gekannt  haben, 
steht  in  aller  Zukunft  eine  lautere  Quelle  offen  in 
seinen  Selbstbildnissen.  Sie  geleiten  uns  durch  sein 
ganzes  Leben,  von  der  Jugend  bis  dicht  an  sein 
Sterbebett.  Lenbach  blickte  auf  den  Grund  seines 
Herzens,  wenn  er  sich  selbst  schilderte,  und  er  liebte 
es  sich  zu  beschauen,  wie  ein  Rembrandt  und  ein 
Böcklin  sich  daran  erfreut  haben,  während  jene  beiden 
Einsamen,  Menzel  und  Klinger,  sich  nie  selbst  por¬ 
trätierten,  so  wenig  wie  dies  bei  einem  Michelangelo 
denkbar  wäre. 

Man  kann  viel  lernen  aus  den  Selbstbildnissen 
großer  Künstler,  denn  es  sind  Beichten,  die  sie  vor 
sich  selber  ablegen,  und  sie  verraten  darin  mehr,  als 
sie  mit  Worten  bekennen  würden.  Im  vorigen  Sommer 
erschien  auf  der  Düsseldorfer  Kunstausstellung  ein 
großes  Familienbild,  worin  sich  Meister  Franz  Stuck 
mit  seiner  Frau  im  Gesellschaftskleid  dargestellt  hat; 
man  sah  den  Maler  im  Sonntagshabit  an  der  Staffelei, 
wie  er  die  Gattin  konterfeit,  die  im  steifen  Brokatrock 
mit  feierlicher  Miene  vor  ihm  steht,  ein  seltsamer  Ge¬ 
danke  des  hochbegabten  Künstlers,  der  uns  einen 
wesentlichen  Zug  in  seinem  Charakter  enthüllt.  Ganz 
anders  Meister  Böcklin,  der  aus  dem  tiefsten  Grunde 
seines  Gemüts  sein  eigenes  Bildnis  schöpft:  er  malt 
sich  jubilierend  mit  dem  Weinglas  in  der  erhobenen 
Rechten,  oder  von  der  Staffelei  aufblickend  nach 
dem  hinter  ihm  fiedelnden  Tode,  oder  sinnend  auf 
steiler  Warte  in'’ das  Tal  des  Lebens  hinabschauend. 
Mit  weniger  Phantasie,  aber  temperamentvoll  und 
als  treuester  Beobachter  seines  Inneren  pflegte  Len¬ 
bach  sein  Bildnis  zu  erfassen.  Die  Ruhe  klassischer 
Kunstempfindung  liegt  noch  auf  dem  Selbstporträt  aus 
dem  Jahre  1865,  aus  der  Zeit,  wo  er  die  alten  Mei¬ 
ster  studierte  und  im  Aufträge  des  Grafen  Schack 
tätig  war,  der  auch  dieses  Bild  in  seine  Galerie  auf 
genommen  hat.  Ich  kenne  kein  anderes  Werk  von 
Lenbach,  welches  ihn  so  nahe  an  Rembrandt  heran 
rückt  in  der  Macht,  das  Licht  auf  dem  Antlitz  in 
einem  Punkte  zu  sammeln,  und  in  der  köstlichen 
Wärme  und  Durchsichtigkeit  der  Schatten,  aus  denen 
die  Augen  scharf  beobachtend  hervorleuchten.  Len- 

iS* 


136 


FRANZ  VON  LENBACH 


bachs  neuer  Stil  ist  fertig  in  den  späteren,  mir  be¬ 
kannten  Selbstbildnissen.  Dort  war  es  Ruhe  ohne 
Leidenschaft,  jetzt  ist  es  Leidenschaft  ohne  Unruhe 
(ein  Heinesches  Wort),  die  aus  den  Köpfen  spricht. 
Nun  bL-hen  wir  den  glücklichen  Vater  mit  dem  ersten 
Kinde  scherzend,  wir  sehen  ilm  mit  der  zweiten 
Gattin  und  dem  Kinderpaare  in  trauten  Familien- 
gruppen,  oder  den  Künstler  allein,  forschend  aus 
dem  Bilde  blickend,  bis  zuletzt  eine  trübe  Ahnung 
seines  Schicksals  die  Züge  zu  verdüstern  beginnt. 

Und  dieses  Schicksal  kam  unerwartet  und  vollzog 
sich,  einmal  erkannt,  mit  unheimlicher  Schnelligkeit. 
Am  6.  Mai  dieses  Jahres  ist  Meister  Lenbach  einer 
qualvollen,  tückischen  Krankheit  erlegen.  Fast  hatte 
es  geschienen,  als  wenn  seine  robuste  Natur  sowenig 
wie  seine  Kunst  altern  könnte,  und  auch  als  die 
ersten  Schatten  des  nahenden  Todes  in  dieses  sonnige, 
an  Glanz  und  Eliren  überreiche  Dasein  fielen,  wollte 
niemand  an  eine  ernste  Gefahr  glauben.  Eine  Reise 
nach  dem  Süden,  die  ihn  seiner  aufreibenden  Tätig¬ 
keit  entrücken  sollte,  brachte  vorübergehende  Besse¬ 
rung  und  neue  Hoffnungen.  Wieder  heimgekehrt, 
griff  er  hastig  nach  dem  ungern  entbehrten  Pinsel, 
es  war,  als  wollte  er  das  Versäumte  nachholen,  und 
der  Zukunft  noch  so  viel  als  möglich  hinterlassen. 
Mit  beängstigendem  Eifer  hat  er  in  dieser  letzten 
Zeit  geschaffen.  Seine  Hand  schien  freier  als  bisher. 


die  Führung  des  Pinsels  noch  großzügiger  zu  werden, 
als  endlich  die  Kräfte  ganz  versagten.  Bilder  seiner 
Lieben  sind  das  letzte  gewesen,  was  er  mit  matter 
Hand  auf  die  Leinwand  gebracht  hat.  Wenige  Linien 
und  wenige,  wie  hingehauchte  Farbtöne,  die  ein 
wunderbares  Leben  ausstrahlen  —  das  Schwanenlied 
des  sterbenden  Meisters. 

Mit  Ehren,  wie  sie  die  Münchener  Künstlerschaft 
noch  keinem  erwiesen,  ist  er  bestattet  worden.  Man 
fühlte  etwas  wie  ein  Verwaistsein,  als  habe  sich  eine 
Kluft  aufgetan  an  der  Stelle,  wo  Münchens  Kunst 
am  festesten  gewurzelt  hatte.  Und  auch  anderwärts, 
an  allen  Orten,  wo  Künstler  sich  rühren  und  auf  das 
Leben  wirken,  empfand  man,  daß  mit  Lenbach  eine 
Triebkraft  von  ungewöhnlicher  Stärke,  eine  Gestalt, 
die  nicht  vergessen  werden  kann,  dahingeschieden 
war.  Wir  aber  bekennen,  daß  er  uns  nicht  ge¬ 
nommen  worden  ist,  denn  wir  haben  sein  Erbe  in 
seinen  unsterblichen  Schöpfungen.  Und  durch  seine 
Werke  wird  auch  die  Erinnerung  an  seine  Persön¬ 
lichkeit  erhalten  bleiben. 

Es  ist  nicht  häufig,  daß  ein  großer  Künstler  auch 
ein  großer  Mensch  ist  —  in  Lenbach  hat  sich  beides 
zusammengefunden.  Ein  edler  Mensch,  ein  Charakter, 
eine  harmonische,  Kunst  im  Leben  widerspiegelnde 
Vollnatur  und  ein  gottbegnadeter  Maler.  So  wird  er 
in  unserem  Gedächtnis,  in  der  Nachwelt  fortleben. 


F.  VON  LENBACH.  FÜRST  VON  HOHENLOHE.  STUDIE 
Photographie  Hanfst<ängl 


Giebel  des  Ottheinrichbaues 

(1616) 

Aus  dem  Wetzlarer  Skizzenbucli. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst  1905. 


DIE  OIEBELZEICHNUNO  VOM  HEIDELBERGER 
OTTOHEINRICHSBAU  IM  WETZLARER  SKIZZENBUCH 

EINE  ENTOEONUNO 

VON  A.  VON  Oeciielhaeuser 


IM  Sommer  1902  fand  ein  ehemaliger  Schäfer- 
Schüler,  Regierungsbaumeister  Ebel,  in  seinem 
damaligen  Aufenthaltsorte  Wetzlar  ein  altes  in 
Schweinsleder  gebundenes  Buch  (Kleinfolio)  mit 
Zeichnungen  eines  Architekten  aus  dem  Anfänge  des 
17.  Jahrhunderts.  Eine  besondere  Bedeutung  erhielt 
dieser  Fund  durch  den  Umstand,  daß  sich  auf  der  Vorder¬ 
seite  von  Blatt  57  die  hier  in  Originalgröße  wieder¬ 
gegebene  Zeichnung  eines  Giebels  mit  folgender  Auf¬ 
schrift  (nach  dem  Original  photographisch  vergrößert) 

NpfT 

befindet,  und  als  ein  geradezu  verblüffender  Zufall 
ist  es  zu  bezeichnen,  daß  diese  hochwichtige  Zeich¬ 
nung  gerade  in  einer  Zeit  zum  Vorschein  kam, 
als  die  Wogen  des  Kampfes  um  das  Heidelberger 
Schloß  am  höchsten  gingen,  als  es  den  Anschein 
hatte,  daß  der  Schäfersche  Rekonstruktionsentwurf  vom 
Großherzoglichen  Finanzministerium  dem  Landtage 
endgültig  zur  Annahme  empfohlen  werden  sollte. 

Nachdem  Ebel  zunächst  seinem  ehemaligen  Lehrer 
von  diesem  Funde  Mitteilung  gemacht  hatte,  erschien 
gleichzeitig  mit  der  ersten  Nachricht  über  das  neu 
entdeckte  Skizzenbuch  —  wir  behalten  den  unrichtigen 
Namen  ebenfalls  bei  —  aus  der  Feder  des  glücklichen 
Finders  (in  Nr.  71  des  22.  Jahrganges  des  Zentral¬ 
blattes  der  Bauverwaltung  vom  6.  September  1902) 
ein  Aufsatz  Karl  Schäfers,  in  dem  dieser  zu  dem 
Funde  Stellung  nahm  und  auf  Grund  der  betreffenden 
Zeichnung  einen  neuen,  von  seinem  bisherigen  wesent¬ 
lich  abweichenden  Rekonstruktionsversuch  vorlegte. 
Schäfer  schxxth  damals:  >Ich  habe  das  Buch  gesehen 
und  geprüft;  die  Echtheit  ist  über  allen  Zweifel  er¬ 
haben«.^)  Er  rühmt  den  alten  Giebeln,  wie  sie  die  Wetz- 


1)  Aus  dem  Zusammenhänge  ist  unzweifelhaft,  daß 
gemeint  ist:  die  Echtheit  der  Giebelzeichnung. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  5 


larer  Zeichnung  erkennen  läßt,  »eine  außerordentliche 
Schönheit^  nach  und  hofft,  daß  die  Inangriffnahme 
des  Wiederaufbaues  nunmehr  nicht  länger  hinaus¬ 
geschoben  werde,  nachdem  diese  »durch  eine  unver¬ 
ständige,  wenn  auch  teilweise  wohlmeinende  Gegner¬ 
schaft  schon  zu  lange  hintangehalten  worden«  sei. 

Schäfer  teilte  somit  offenbar  die  Meinung  Friedrich 
H.  Hofmanns,  der  in  Nr.  92  derselben  Zeitschrift 
nunmehr  »die  Angelegenheit  (das  heißt  Giebelfrage) 
vom  kunstwissenschaftlichen  Standpunkte  aus  als  er¬ 
ledigt«  bezeichnet  hatte.  In  dem  unmittelbar  folgenden 
Artikel  derselben  Nummer  trat  freilich  bereits  auch 
die  erste  öffentliche  Äußerung  einer  Opposition  gegen 
den  neuen  Schäferschen  Entwurf  auf.  Albrecht  Haupt, 
mein  verehrter  Kollege  in  Hannover,  der  sich  in 
neuester  Zeit  bei  der  geschichtlichen  Erforschung  des 
Heidelberger  Schlosses  erfolgreich  hervorgetan  hat, 
erklärt  dort,  im  Giebel  des  Wetzlarer  Skizzenbuches 
meinen  Beweis  stärkster  Ungewandtheit  und  Willkür 
in  der  Handhabung  der  antiken  Regeln...«  sehen  zu 
müssen  und  bezeichnet,  in  direktem  Gegensatz  zu 
Schäfer,  die  »verworrene  Häufung  der  verschieden¬ 
artigsten  zusammengestoppelten  Motive  innerhalb  der 
Giebel«  als  »durchaus  unerfreulich«.  Von  einer 
künstlerischen  Übereinstimmung  des  Giebels  mit  der 
übrigen  Fassade  sei  keine  Spur  vorhanden,  gegen  die 
Art,  in  welcher  Schäfer  über  die  Schwierigkeiten  der 
Zeichnung  hinweggehe,  sei  auf  das  Entschiedenste 
Einspruch  zu  erheben. 

Ohne  an  dieser  Stelle  näher  auf  die  künstlerische 
Bedeutung  der  Giebelzeichnung  einzugehen,  sei  nur 
Hofmann  gegenüber  betont,  daß  —  ganz  abgesehen 
von  dem  Streit  über  die  Echtheit  —  die  Giebelfrage 
durch  den  Wetzlarer  Fund  durchaus  noch  nicht  er¬ 
ledigt  erscheint,  vielmehr  die  Hauptschwierigkeiten, 
sowohl  die  Frage  nach  der  Berechtigung  eines  Wieder¬ 
aufbaues  von  Giebeln  überhaupt,  wie  auch  die  Frage, 
ob  man  gegebenenfalls  gezwungen  ist,  die  Giebel 
nach  der  Zeichnung  im  Skizzenbuche  wieder  aufzu¬ 
richten,  in  ihrer  ganzen  Tragweite  bestehen  bleiben. 

Meines  Erachtens  ist  durch  den  Fund  zunächst 
nur  die  alte,  stets  auch  von  mir,  sowohl  im  Kolleg,  wie 
im  »Schloßführer«  vertretene  Ansicht  bestätigt  worden, 
daß  der  »Meriansche  Doppelgiebel«  nicht  dem  ur- 


•9 


138 


DIE  GIEBELZEICHNUNO  VOM  HEIDELBERGER  OTTOHEINRICHSBAU 


sprünglichen  Plane  des  Ottoheinrichsbaues  angehört, 
sondern  einen  nach  dem  Tode  des  Kurfürsten  (155g) 
und  dem  Weggänge  des  Alexander  Colins  von  der 
Bauleitung  —  meinetwegen  von  Jakob  Haider,  auf 
den  das  auf  dem  obersten  Figurenpostament  in  unserer 
Zeichnung  angebrachte  Monogramm  i-i  nacli  Koß- 
mann  hindeuten  soll  —  nachträglich  zugefügten  Auf¬ 
bau  darstellt,  eine  Konzession  an  die  deutsche  Vorliebe 
für  den  mittelalterlichen  Giebelbau,  eine  Zutat,  die 
den  ursprünglichen  Baugedanken  entstellt  hat.  Zu¬ 
gleich  offenbart  die  Wetzlarer  Zeichnung,  daß  der 
Urheber  der  deutschen  Giebelarchitektur  im  Vergleich 
zu  dem  genialen  Meister  der  italienischen  Fassade 
—  ich  stimme  hierin  mit  Haupt  vollkommen  überein  — 
ein  Stümper  gewesen  ist.  Trotzdem  aber  wird  man  bei 
einer  eventuellen  Wiederherstellung  der  Giebel  um 
diese  vom  Kunstgeschmack  Karl  Ludwigs  glücklich 
beseitigten  Monstra  nicht  herum  kommen,  will  man 
nicht  unhistorisch  und  willkürlich  verfahren. 

Eine  selbstverständliche  Vorbedingung  dabei  ist 
die  Echtheit  unserer  Zeichnung.  Trotzdem  sie  wie 
ein  deus  ex  machina  aufgetaucht  war  und  dadurch  von 
vornherein  mit  einem  erheblichen  Verdachte  belastet 
erschien,  hatte  doch  bisher  niemand  ernstliche,  wissen¬ 
schaftlich  begründete  Zweifel  in  der  Öffentlichkeit  vor¬ 
zubringen  gewagt,  bis  neuerdings  A.  Haupt,  nachdem 
er  Gelegenheit  genommen,  das  mittlerweile  in  den 
Besitz  meines  hiesigen  Kollegen,  des  Hofrates  Pro¬ 
fessor  Dr.  M.  Rosenberg,  übergegangene  Buch  zu 
sehen  und  eingehend  zu  studieren,  in  Nr.  1 1  der 
Kunstchronik  (vom  1 3.  Januar  d.  J.)  mit  einem  ganzen 
Apparat  von  Angriffen  gegen  die  Echtheit  des  Blattes 
hervorgetreten  ist;  freilich  —  dies  sei  vorausgeschickt  — 
ohne  bezüglich  der  Zeit  der  Fälschung  zu  irgend 
einem  Resultate  zu  kommen,  ebensowenig  wie  über 
eine  möglicherweise  dabei  beteiligte  Persönlichkeit. 

Der  Zweck  dieser  Zeilen  ist,  in  Übereinstimmung 
mit  Karl  Schäfers  Auffassung,  die  Unhaltbarkeit  der 
vorgebrachten  Argumente  bis  ins  einzelne  nach¬ 
zuweisen.  — 

Die  Hauptschen  Beweise  lassen  sich  in  zwei  Arten 
scheiden:  die  einen  beziehen  sich  auf  die  äußere 
Erscheinung  des  Blattes  im  Zusammenhänge  des  ganzen 
Buches,  die  anderen  haben  den  Inhalt  der  Zeichnung 
zum  Ausgangspunkte. 

Ehe  wir  darauf  eingehen,  sei  zunächst  ein  kleiner 
Irrtum  richtig  gestellt,  den  auch  die  eingehende  Be¬ 
schreibung  des  Buches  von  seiten  des  Entdeckers  in 
der  Zeitschrift  für  Bauwesen  (Jahrgang  LIV,  1904 
Sp.  257  ff.  nebst  Abbildungen  auf  Blatt  25  bis  27  im 
Atlas)  aufweist,  ein  Lesefehler,  der  nur  für  die  Ent¬ 
stehungszeit  des  Buches  von  Bedeutung  ist.  Das 
Skizzenbuch  enthält  nämlich  nur  die  Jahreszahlen  1615, 
1616  und  1617,  die  von  den  Genannten  angegebene 
Jahreszahl  1619  kommt  nicht  vor’).  Was  Ebel  sonst 
noch  über  den  Ursprung  und  Zweck  des  Werkes, 
sowie  über  den  Zusammenhang  mit  dem  Riedinger- 


1)  Der  erste  Bericht  über  das  Buch  im  Zentralblatt 
nennt  auch  nur  die  drei  oben  angegebenen  Jahreszahlen. 


sehen  Atelier  in  Mainz  angegeben  hat,  erscheint  mir 
im  ganzen  durchaus  zutreffend. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  den  durch  die  äußere 
Erscheinung  des  Blattes  begründeten  Zweifeln  Haupts 
zu,  so  kann  der  Umstand,  daß  die  Seitenzahl  des 
Giebelblattes  in  der  Foliierung  des  Buches  doppelt 
erscheint,  zunächst  schon  deshalb  keinen  Anlaß  zur 
Verdächtigung  bieten,  weil  das  Giebelblatt  Fol.  57 
nicht  allein  diese  doppelte  Zahl  aufweist,  sondern 
ebenso  das  vorangehende  Blatt  Fol.  56,  auf  dem  sich 
eine  in  jeder  Beziehung  unanfechtbare  Giebelzeichnung 
befindet.  Da  ferner  das  Papier  von  Haupt  selbst 
nicht  beanstandet  wird  und  die  Tatsache  feststeht, 
daß  alle  leeren  Blätter  des  Buches  ganz  ebenso  mit 
durchlaufenden  Zahlen  versehen  sind,  wie  die  zu 
Zeichnungen  benutzten  Blätter,  so  erscheint  die  Frage 
der  Echtheit  schon  deshalb  ganz  unabhängig  von  der 
doppelten  Foliierung.  Dem  Fälscher  standen  ja  leere 
Blätter  genug  zur  Verfügung,  so  die  ebenfalls  unbe¬ 
nutzten  Fol.  51  und  52  vor  und  Fol.  58  hinter  der 
Abteilung  des  Buches,  die  die  Giebelzeichnungen  ent¬ 
hält.  Zudem  ergibt  aber  auch  eine  Prüfung  der  Blatt¬ 
zahlen,  daß  die  doppelt  vorkommenden,  sowohl  unter¬ 
einander  als  auch  mit  den  übrigen  Blattzahlen  des 
Bandes  vollkommen  übereinstimmen,  ja  ein  Ver¬ 
gleich  mit  den  auf  den  Zeichnungen  des  Buches 
vorkommenden  Zahlzeichen  läßt  sogar  unzweifelhaft 
erkennen,  daß  es  der  Urheber  der  Zeichnungen  selbst 
gewesen  ist,  der  die  Foliierung  des  Buches  vorge¬ 
nommen  hat.  Die  doppelte  Foliierung  erklärt  sich 
somit  einfach  aus  einem  Irrtum  beim  Numerieren, 
gerade  so  wie  weiterhin  irrtümlich  die  Zahl  82  zweimal 
hintereinander  vorkommt  und  83  übersprungen  er¬ 
scheint.  Nebenbei  sei  noch  bemerkt,  daß  es  sich 
bei  Fol.  56  und  57  nicht  etwa  um  eine  Lage,  also 
zwei  zusammenhängende  Blätter  handelt,  die  von  einer 
anderen  Stelle  des  Buches  hier  nachträglich  hätten 
eingeschoben  sein  können,  und  daß  auch  der  alte 
Einband  nicht  die  geringste  Spur  einer  solchen  späteren 
Einheftung  aufweist. 

Das  zweimalige  Vorkommen  der  Blattzahl  bietet 
somit  nach  keiner  Richtung  hin  Anlaß  zur  Beanstan¬ 
dung  der  Echtheit. 

Ebensowenig  ist  dies  aber  auch  bezüglich  der  oben 
wiedergegebenen  Aufschrift  der  Fall,  deren  vereinzeltes 
Vorkommen  im  Buche  Haupt  höchst  verdächtig  erscheint. 

Meines  Erachtens  sollte  hier  schon  der  Hinweis, 
daß  auf  Fol.  104  eine  zweite  Aufschrift  —  unzweifel¬ 
haft  von  derselben  Hand  geschrieben  —  vorkommt, 
allen  Verdacht  entwaffnen,  denn  die  Ausrede,  daß  es 
sich  bei  der  y>Heuwag  zu  Speyer«,  um  eine  Maschinen¬ 
zeichnung  handelt,  kann  deshalb  nicht  in  Betracht 
kommen,  weil  unser  Zeichner  die  Architektur-, 
Maschinen-  und  Ingenieurwerke  ganz  gleichartig  be¬ 
handelt,  das  heißt  gleichwertig,  mit  gleicher  Sorg¬ 
falt  dargestellt  hat.  Weshalb  derselbe  gerade  diese 
beiden  Blätter,  und  nur  diese,  mit  Aufschriften  ver¬ 
sehen  hat,  entzieht  sich  freilich  unserer  Kenntnis.  Ver¬ 
mutungen  darüber  lassen  sich  aber  genug  aufstellen. 

Wie  Ebel  bereits  nachgewiesen  hat,  handelt  es 
sich  bei  einem  großen  Teile  der  Zeichnungen  um 


IM  WETZLARER  SKIZZENBUCH 


139 


Kopien  aus  den  damals  weit  verbreiteten  Architeklur- 
werken  eines  Vignola,  Ducerceau,  Vredemann  de  Vries, 
Wendel  Dietterlin,  Hans  Blum  und  anderer.  Ein  kleinerer 
Teil  der  Bilder  dagegen  beruht  offenbar  auf  persön¬ 
licher  Anschauung,  das  heißt  auf  Skizzen,  die  an  Ort 
und  Stelle  gefertigt  sind.  Hierzu  dürften  in  erster 
Linie  unsere  beiden  bezeichneten  Blätter  zu  rechnen 
sein.  Daß  der  Urheber  des  Buches  tatsächlich  in 
Heidelberg  gewesen  ist,  gewinnt  an  Wahrscheinlichkeit 
dadurch,  daß,  wie  auch  schon  Ebel  bemerkt  hat,  die  Ba¬ 
luster  auf  Fol.  66,  samt  den  dazu  gehörigen  Details 
auf  Fol.  64  und  65,  zweifellos  dem  Steingeländer 
der  zwischen  der  Außenfront  des  Friedrichsbaues  und 
dem  Altanbau  emporführenden  Treppe  genau  (bis  auf 
die  Voluten)  nachgezeichnet  ist’).  Ähnlich  wird  ihm 
wohl  auch  gelegentlich  eines  Besuches  von  Mainz  aus 
die  mächtige  Heuwage  in  Speyer,  an  der  ein  ganzer 
Wagen  aufgehängt  werden  konnte,  Anlaß  zu  einer 
Aufnahme  und  dadurch  zu  einer  Bezeichnung  des 
Blattes  im  Skizzenbuche  gegeben  haben.  Hinzu  kommt, 
daß  letzteres,  aus  den  vorhandenen  unfertigen  Blättern 
und  Lücken  zu  schließen,  offenbar  nicht  fertig  gewor¬ 
den  ist  und  wahrscheinlich  auch  deshalb  eine  Bezeich¬ 
nung  der  übrigen  Blätter  unterblieben  ist.  Die  von 
Koch  und  Seitz  erörterte  Möglichkeit  einer  späteren 
Zufügung  unserer  Inschrift  hat  Ebel  bereits  auf  Grund 
der  Schriftvergleichung  richtig  zurückgewiesen. 

Aber  selbst  wenn  eine  ganz  außerordentlich  ge¬ 
schickte  Fälschung  in  dieser  Beziehung  vorläge  2),  so 
sollte  doch  auch  gerade  der  Umstand,  daß  nur  zwei 
Aufschriften  vorhanden  sind,  jeden  Verdacht  von  vorn¬ 
herein  entwaffnen.  Einem  Fälscher  von  dieser  Schreib¬ 
fertigkeit  wäre  es  ein  Leichtes  gewesen,  eine  Anzahl 
weiterer  Aufschriften,  die  ja  leicht  zu  erfinden  waren, 
anzubringen  und  sein  Blatt  in  dieser  Hinsicht  verdachts¬ 
frei  zu  machen.  Daß  einem  Besucher  des  Heidel¬ 
berger  Schlosses,  noch  dazu  einem  Architekten,  im 
Jahre  1616  die  Riesengiebel  des  Ottoheinrichsbaues 
besonders  in  die  Augen  gefallen  sind  und  zum  Fest¬ 
halten  in  einer  Zeichnung  veranlaßt  haben,  kann  doch 
nicht  wundernehmen,  ebensowenig  dann  aber  auch, 
daß  er  diese  Zeichnung  mit  einer  Aufschrift  versah, 
während  er  z.  B.  den  vom  alten  Mainzer  Gymnasium 
entlehnten,  einen  sehr  gebräuchlichen  Typus  dar¬ 
stellenden  Renaissancegiebel  zwei  Blätter  weiter  vor¬ 
läufig  unbezeichnet  ließ. 

Ebensowenig  als  Blattzahl  und  Aufschrift  bietet 
schließlich  auch  die  von  Haupt  angeführte  >•>  verschie¬ 
dene  Darstellungsmanier <!.  Anlaß  zu  Zweifeln.  Zu¬ 
nächst  ist  hier  festzustellen,  daß  sich  dies  Kriterium 
unmöglich  auf  die  eigentliche  Technik  der  Zeichnung, 
die  Art  der  Feder-  und  Pinselführung  beziehen  kann, 


1)  Offenbar  ist  die  Baluster  erst  später  hierher  versetzt 
worden.  Auf  der  Zeichnung  des  Skizzenbuches  ist  nämlich 
ein  langes  Stück  Geländer  dargestellt,  während  es  sich  jetzt 
an  der  Treppe  um  zwei  kurze  Geländerstücke  handelt. 

2)  Geheimrat  Dr.  von  Weech,  der  Vorstand  des  Gro߬ 
herzoglichen  General- Landesarchivs  in  Karlsruhe,  hat  die 
Güte  gehabt,  meine  Angaben,  soweit  sie  das  Paläogra- 
phische  und  Bibliographische  betreffen,  zu  prüfen  und  sein 
volles  Einverständnis  damit  erklärt. 


da  unser  Blatt  sich  in  dieser  Hinsicht  durchaus  mit 
den  übrigen  ähnlichen  Zeichnungen  des  Bandes  in 
Übereinstimmung  befindet,  wie  schon  ein  Vergleich 
der  Ebelschen  Reproduktion  in  der  Zeitschrift  für 
Bauwesen  (siehe  oben)  mit  unserer  Wiedergabe  des 
Blattes  zeigt.  Auch  der  bräunliche,  etwas  hellere  Ton 
der  Zeichnung  kann  als  verdachterregend  nicht  in 
Frage  kommen,  da  er  sich  ebenso  auf  den  Blättern 
49,  80,  8g  findet  und  lediglich  auf  dünneres  Anreiben 
der  Tusche  zurückzuführen  ist. 

Der  einzige,  wenn  auch  nur  sehr  wenig  auffälligeäußere 
Unterschied  liegt  in  dem  etwas  bläulicher  als  sonst 
gehaltenen  grauen  Schattentone.  Aus  dem  Umstande 
aber,  daß  zufällig  bei  unserem  Blatt  eine  Spur  von  Blau 
in  den  Pinsel  geraten  ist,  die  Unechtheit  einer  Zeich¬ 
nung  herleiten  zu  wollen,  die  im  übrigen  technisch 
durchaus  alle  Merkmale  der  Echtheit  trägt,  geht  doch 
in  der  Tat  nicht  an.  Aus  demselben  Grunde  könnten 
noch  viele  andere  Blätter  des  Buches  angezweifelt 
werden,  die  in  dem  einen  oder  anderen  Punkte  in 
technischer  Beziehung  tatsächlich,  und  zwar  viel  mehr 
voneinander  abweichen. 

Damit  erscheinen  die  ^substantiellen  Anhalts¬ 
punkte«  für  die  Unechtheit  des  Blattes  abgetan.  Haupt 
will  ihnen  zwar  keinen  entscheidenden  Wert  beigelegt 
wissen,  kommt  aber  gegen  Schluß  seines  Aufsatzes 
doch  mit  besonderer  Betonung  wenigstens  auf  das  im 
Beifügen  einer  Beischrift  liegende  Verdachtsmoment 
zurück. 

Und  ebenso  wie  mit  den  äußeren,  steht  es  mit 
den  inneren  Gründen,  die  Haupt  gegen  die  Echtheit 
Vorbringen  zu  sollen  glaubt  und  die  es  für  ihn  als 
ganz  unzweifelhaft  erscheinen  lassen,  daß  es  sich  »um 
eine  Vermutung  späterer  oder  spätester  Zeit«  handelt, 
um  eine  »Phantasiezeichnung«,  die  aufs  Geratewohl, 
möglicherweise  in  unseren  Tagen  erst  entstanden  sei 
und  deshalb  aller  Bedeutung  entbehre. 

Zu  der  von  Haupt  merkwürdigerweise  gar  nicht 
erörterten  Frage:  welchem  Zwecke  kann  die  Fälschung 
gedient  haben?  —  meines  Erachtens  einer  der  ersten  und 
wichtigsten  in  solchem  Falle  —  sei  nur  kurz  bemerkt, 
daß  der  Händler  in  Wetzlar,  von  dem  Ebel  das 
Buch  erstanden  hat,  in  Rücksicht  auf  den  geringen 
Preis  und  die  sonstigen  Fundumstände  von  vornherein 
bei  der  Untersuchung  ausscheidet.  Ebensowenig  kann 
aber  auch  eine  der  beiden  Parteien,  die  sich  im 
Kampf  um  Heidelberg  befehden,  bei  einer  eventuellen 
Fälschung  in  Frage  kommen,  da  dem  Anhänge  Karl 
Schäfers  und  dem  Meister  selber,  so  diplomatisch  sich 
letzterer  auch  damit  abzufinden  verstanden  hat,  im 
Grunde  doch  nichts  ungelegener  kommen  konnte, 
als  dieser  Fund,  der  aller  Welt  zeigte,  wie  nahe  man 
davor  gestanden  hatte,  eine  unbeabsichtigte  Fälschung 
zu  begehen,  das  heißt  den  Bau  mit  ganz  anderen 
Giebeln  zu  restaurieren,  als  er  jemals  getragen  hat. 

Wir  »Ruinenschwärmer«  aber  würden  das  Buch 
mit  der  Fälschung  doch  wohl  schwerlich  einem 
Schäfer-Schüler  in  die  Hände  gespielt  haben,  der  das 
Blatt  einfach  hätte  unterschlagen  oder  vernichten  kön¬ 
nen,  sondern  würden  wohl  vorgezogen  haben,  es 
selbst  in  unserem  Sinne,  das  heißt  gegen  einen  Wieder- 

19* 


140 


DIE  GIEBELZEICHNUNG  VOM  HEIDELBERGER  OTTOHEINRICHSBAU 


aufbau,  ausziinutzen.  Gegen  die  Möglichkeit  einer 
Mystifikation  in  iinsLivn  Tagen  spricht  im  allgemeinen 
auch  die  Erwägung,  daß  das  in  der  Tat  recht  wert¬ 
volle  alte  Skizzenbuch  mit  seinem  interessanten  Inhalt 
vorher,  vlv-  .ik-  Fälschung  eingetragen  sein  könnte, 
doch  in  irg^.^d  jemandes  Besitz  und  also  bekannt  ge¬ 
wesen  seil!  rp..''ß.e.  Solche  Bücher  aus  dem  Anfänge  des 
17.  Jahrhm.dcrts  sind  doch  nichts  Alltägliches.  Irgend 
jema.iu,  Antiquar,  Künstler  oder  Gelehrter  müßte  es 
somit  bislang  absichtlich  oder  unabsichtlich  ver¬ 
borgen  gehalten  haben.  Alles  dies  ist  im  höchsten 
Grade  unwahrscheinlich,  wenn  nicht  undenkbar. 
Wer  in  aller  Welt  könnte  also  ein  Interesse  an 
einer  solchen  virtuosen  kimsfgeschichtlichen  Fälschung 
haben  oder  gehabt  haben?  Würde  doch  auch  die  An¬ 
fertigung  der  Zeichnung  —  abgesehen  von  der  nur 
durch  lange  Übung  zu  erlangenden  Fertigkeit  in  der 
Nachahmung  der  Zeichenweise  und  der  Schriftzüge, 
wie  auch  in  der  »Patinierung  <  des  Blattes  — 
eine  solche  Kenntnis  der  kunsthistorischen  und  bau¬ 
geschichtlichen  Einzelheiten  dieser  schwierigen  Materie 
voraussetzen,  daß  die  Fachmänner  an  den  Fingern 
herzuzählen  sind,  die  bei  der  Fälschung  in  Frage 
kommen  könnten.  Diese  Erwägungen  allein  schon 
sollten  genügen,  das  ganze  Hauptsche  Hypothesen- 
Gebäude  über  den  Haufen  zu  werfen. 

Wir  wollen  es  uns  trotzdem  nicht  versagen,  auch 
noch  die  inneren  Gründe,  welche  gegen  die  Echtheit 
der  Giebelzeichmmg  zu  Felde  geführt  werden,  in 
ihrer  Unhaltbarkeit  zu  beleuchten. 

Haupt  geht  von  der  stets  erkannten  und  unbe¬ 
streitbaren  Tatsache  aus,  daß  die,  seiner  Ansicht  nach 
erst  nach  166g,  infolge  der  Baufälligkeit  des  alten 
Doppelgiebeldaches  neu  errichteten  Zwerchhäuser,  die 
der  Kraussche  Stich  über  dem  Ottheinrichsbau  zeigt, 
und  deren  Reste  heute  noch  oben  auf  der  Front¬ 
mauer  zu  sehen  sind,  im  Anschluß  an  die  Giebel  des 
Friedrichsbaues  entstanden  sind. 

Wenn  er  aber  dabei  behauptet,  daß  die  Otthein- 
richsbau-Zwerchhäuser,  nach  dem  Krausschen  Stiche 
und  den  vorhandenen  Resten  zu  urteilen,  »mutatis 
mutandis  getreue  Nachbildungen«-  der  Friedrichsbau- 
Zwerchhäuser  gewesen  seien,  so  ist  dies  ein  Irrtum. 
Die  einzige  Übereinstimmung  besteht  darin,  daß  die 
Fenster  in  beiden  Zwerchhäusern  mit  Dreieckgiebeln 
bedacht  sind,  alle  übrigen  Einzelheiten  an  Fenstern 
und  Pilastern,  ebenso  wie  die  Figurennischen  des 
oberen  Aufbaues  sind  völlig  verschieden.  Die  Ab¬ 
hängigkeit  und  Ähnlichkeit  bezieht  sich  also  nur  ganz 
allgemein  auf  die  Gesamtdisposition,  was,  wie  gesagt, 
von  jeher  erkannt  worden  ist.  Die  Zwerchhäuser 
des  Frauenzimmerbaues  hierbei  mit  ins  Treffen 
zu  führen,  halte  ich  nicht  für  zulässig,  weil  diese 
bekanntlich,  wie  der  ganze  Bau,  nur  eine  aufgemalte 
Arehitektur  besessen  haben,  worüber  der  Kraussche 
Stich  leicht  hinwegtäuscht.  Außerdem  ist  auch  hier 
nur  die  allgemeine  Anordnung  der  Schochschen 
Zwerchhäuser  am  Friedrichsbau  vorbildlich  gewesen. 
Von  Übereinstimmung  der  Einzelheiten  kann  auch 
hier  keine  Rede  sein. 

Wie  verhält  sich  nun  aber  die  Wetzlarer  Zeich¬ 


nung  zu  der  zwischen  1670  und  1680  entstandenen 
Darstellung  der  Giebel  auf  dem  Krausschen  Stiche  und 
den  damit  übereinstimmenden,  heute  noch  vorhandenen 
Resten  der  ehemaligen  Zwerchhäuser  des  Ottoheinrichs- 
baues?  Sind  wirklich,  wie  Haupt  glauben  machen 
will,  »die  Einzelheiten  der  Giebelzeichnung,  soweit  sie 
die  gleichen  sind  wie  auf  dem  Krausschen  Stiche«, 
genau  nach  letzterem  gebildet? 

Diese  Frage  ist  zunächst  in  Bezug  auf  den  Um¬ 
riß  entschieden  zu  verneinen.  Das  einzige  Ver- 
gleiclnmgsobjekt  bieten  hier  die  Seitenvoluten  des 
zweiten  Giebelstockwerkes  auf  unserer  Zeichnung  und 
das  Rollwerk  an  entsprechenden  Stellen  auf  dem 
Krausschen  Stiche.  Liegt  nun  auch  dabei  eine 
ähnliche  Linienführung  vor,  so  besteht  dafür  ander¬ 
seits  ein  sehr  bedeutsamer  Unterschied  in  der  Ver¬ 
wendungsweise  dieses  Motives,  indem  es  in  dem 
einen  Falle  als  Eckfüllornament  (bei  der  Wetzlarer 
Zeichnung),  im  andern  Falle  (bei  Kraus)  als  seitliches 
Begrenzungsstück  in  der  ganzen  Höhe  des  zweiten 
Giebelstockwerkes  verwendet  erscheint.  Von  einer 
Nachbildung  kann  also  selbst  bei  dieser  Volute  keine 
Rede  sein;  ebenso  wenig  zeigt  aber  auch  die  übrige 
Silhouette,  sowie  die  Horizontaleinteilung  beider 
Giebel  —  hier  Drei-,  dort  Vierteilung  —  irgend 
welche  Übereinstimmung.  Selbst  der  übliche  Dreieck¬ 
abschluß  zu  oberst  erscheint  in  dem  einen  Falle 
(Wetzlarer  Giebel)  steil  im  Sinne  der  deutschen  Früh¬ 
renaissance,  während  Kraus  die  flachere,  griechische 
Form  des  Giebels  darstellt. 

Was  schließlich  die  Figur  des  lagernden  Löwen 
auf  unserem  Blatt  anbetrifft,  so  kommt  dieselbe  —  ganz 
abgesehen  davon,  daß  auch  hier  nur  eine  allgemeine 
Übereinstimmung  vorliegt  und  z.  B.  die  Kopfhaltung 
eine  ganz  andere  ist  —  bei  Kraus  gar  nicht  am  Giebel, 
sondern  an  zwei  Stellen  über  dem  Hauptgesimse 
vor,  wohin  die  Tiere  ursprünglich  bestimmt  waren 
(siehe  unten),  und  nach  Abbruch  des  Doppelgiebels 
auch  richtig  versetzt  worden  sind.  Das  Vorkommen 
des  Löwen  auf  unserer  Zeichnung  halte  ich  deshalb 
sogar  für  einen  Beweis  von  deren  Echtheit. 

Bietet  somit  der  Umriß  nicht  den  mindesten 
Anhalt  zugunsten  der  Hauptschen  Annahme,  so 
zeigt  dagegen  die  Fensterbildung  des  unteren  Stock¬ 
werkes  in  der  Tat  eine  solche  Übereinstimmung,  daß 
diese  vielleicht  genügen  könnte,  um  die  von  Haupt 
behauptete  Abhängigkeit  unseres  Blattes  von  dem 
Krausschen  Bilde  zu  beweisen,  vorausgesetzt  natürlich, 
daß  diese  Formen  nur  vom  Krausschen  Stich  ent¬ 
lehnt,  das  heißt  nicht  anderswo  her  genommen  sein 
könnten;  diese  Voraussetzung  trifft  jedoch  keines¬ 
wegs  zu.  Meines  Erachtens  stammen  nämlich  die 
betreffenden  Fensterpaare  in  den  Zwerchhäusern  noch 
vom  alten  Merianschen  Doppelgiebel  her.  Beim  Ab¬ 
bruch  desselben  hat  man  dies  Fensterpaar  beibehalten, 
dabei  aber  an  Stelle  der  Doppelpilaster,  die  unsere 
Zeichnung  aufweist,  nach  dem  Vorbilde  des  Friedrichs¬ 
baues  je  eine  Statuennische  eingebrochen.  Der  bau¬ 
liche  Befund  der  vorhandenen  Reste  läßt  diese  An¬ 
nahme  durchaus  zu  -  die  Vorblendung  des  Konsol- 
stückes  vor  der  Nische  ist  sogar  anders  kaum  zu 


IM  WETZLARER  SKIZZENBUCH 


141 


erklären  — ■  und  bestätigt  damit  zugleich  indirekt  die 
Echtheit  unserer  Zeichnung. 

Also  nicht  vom  Krausschen  Stiche  rührt  die 
Übereinstimmung  her,  sondern  die  Fenster  sind  in 
dieser  Form  bereits  im  Jahre  1616  am  Bau  vor¬ 
handen  gewesen,  dort  von  unserem  Architekten  ge¬ 
sehen  und  aufgenommen  worden.  Kraus  scheidet 
also  als  Belastungszeuge  in  jeder  Hinsicht  aus. 

Als  ein  weiteres  Hauptargument  gegen  die  Echt¬ 
heit  unserer  Zeichnung  glaubt  Haupt  auch  die  Dar¬ 
stellung  des  Doppelgiebels  auf  dem  Merianschen 
Kupfer  vom  Jahre  1620,  der  den  Blick  auf  die  Nord¬ 
seite  des  Schlosses  darstellt,  ausspielen  zu  sollen. 
Meines  Erachtens  ist  es  an  sich  ganz  unzuläßig,  ein  so 
winziges  Stück  einer  großen  Gesamtansicht  mit  Be¬ 
weiskraft  für  die  Einzelheiten  zu  Felde  zu  führen 
und  sogar  vermittelst  mechanischer  Vergrößerung  diese 
Beweiskraft  noch  erhöhen  zu  wollen.  Von  photo¬ 
graphischer  Treue  kann  bei  den  Merianschen  Stichen 
überhaupt  nicht  die  Rede  sein,  am  wenigsten  aber 
bei  Blättern,  die,  wie  das  vorliegende,  höchstwahr¬ 
scheinlich  nach  fremden  Vorlagen  —  bei  dem  zweiten 
Merianschen  Blatte  von  1620  ist  es  ja  bekanntlich 
nachweislich  der  Fall  —  gearbeitet  und  von  so  ent¬ 
ferntem  Standpunkt  aus  aufgenommen  sind,  daß  dem 
Zeichner  alle  Einzelheiten  der  Baulichkeiten  ver¬ 
schwinden  mußten.  Unser  Doppelgiebel  nimmt  auf 
der  Platte  etwa  den  Raum  eines  mittleren  Fingernagels 
ein.  Dem  Zeichner  konnte  es  bei  seiner  Darstellung 
des  Schlosses  in  so  kleinem  Maßstabe  und  bei  solcher 
Entfernung  also  nur  darauf  ankommen,  die  charakte¬ 
ristische  Silhouette  des  Doppelgiebels  im  allgemeinen 
richtig  wiederzugeben,  höchstens  etwa  noch  die  dunklen 
Punkte  hervorzuheben,  die  die  Fenster  innerhalb  der 
Giebelflächen  bildeten;  alle  Einzelheiten  verschwanden 
dem  Auge.  Wie  sorglos  der  Zeichner  oder  Stecher 
bei  Wiedergabe  der  Einzelheiten  an  den  Giebeln 
verfahren  ist,  beweist  nun  aber  gerade  die  Vergröße¬ 
rung,  die  Haupt  selbst  in  seiner  Schrift:  Zur  Bau¬ 
geschichte  des  Heidelberger  Schlosses  (Frankfurt  a.  M.), 
bei  Seite  62  bringt,  so  schlagend,  daß  es  unbe¬ 
greiflich  erscheint,  wie  man  immer  noch  diesem 
Kupferausschnitt  dokumentarische  Bedeutung  beizu¬ 
legen  und  ihn  auch  unserer  Zeichnung  gegenüber  aus¬ 
zuspielen  versuchen  kann.  Denn  nicht  nur,  daß  die 
krause  Umrißlinie  bei  beiden  Giebeln  verschieden 
aussieht,  soweit  der  ganz  verschwommen  gezeichnete 
Kontur  überhaupt  einen  Vergleich  zuläßt,  die  Ver¬ 
größerung  läßt  ferner  erkennen,  und  zwar  mit  voller 
Deutlichkeit,  daß  auch  die  Vertikalteilung  der  Giebel 
ganz  verschieden  dargestellt  ist.  Bei  dem  vorderen 
Giebel  entspricht  diese  ganz  der  Darstellung  auf 
unserer  Zeichnung,  bei  dem  hinteren  geht  eine  Pilaster¬ 
teilung  in  der  Mittelaxe  des  Giebels  von  unten  bis 
oben  hinauf,  wodurch  ein  ganz  anderes  architektoni¬ 
sches  Bild  entsteht. 

Aus  dem  Merianschen  Bilde  ist  somit  schlechter¬ 
dings  nichts  anderes  zu  entnehmen,  als  die  durch 
den  zweiten  Merianschen  Stich,  die  Darmstädter  Ab¬ 
bildung  und  die  Stuttgarter  Zeichnungen  übereinstim¬ 
mend  bestätigte  Tatsache  des  einstigen  Vorhandenseins 


von  Doppelgiebeln  über  dem  Ottoheinrichsbau,  sowie 
deren  ungefähre  Form  und  Verhältnis  zu  den  übrigen 
Bauten.  Alles  weitere  steht  in  der  Luft.  Will  man 
aber  die  Beweiskraft  des  Merianschen  Stiches  trotz¬ 
dem  nicht  fahren  lassen,  so  könnte  diese  meines 
Erachtens  nur  zugunsten  unserer  Zeichnung  verwertet 
werden,  da  außer  der  oben  angeführten  Überein¬ 
stimmung  auch  in  dem  wichtigsten  Punkte  Zeichnung 
und  Kupfer  Zusammengehen,  nämlich  darin,  daß  keine 
Figiirennische  im  Giebel  erscheint'). 

Wir  kommen  hiermit  zu  dem  schwersten  Ge¬ 
schütz,  das  Haupt  gegen  unsere  Giebelzeichnung  auf¬ 
gefahren  hat. 

Auch  hier  handelt  es  sich  um  eine  freilich  bisher 
allgemein  angenommene,  meines  Erachtens  aber  falsche 
Voraussetzung,  nämlich  daß  die  Doppelgiebel  bereits 
Figurennischen  gehabt  haben  müßten. 

Der  viel  besprochene  und  durch  seine  Vieldeutig¬ 
keit  nachgerade  in  Verruf  gekommene  Colinssche 
Kontrakt  vom  Jahre  1558  spricht  nur  von  14  Stand¬ 
bildern  und  fünf  Löwen.  Von  jeher  habe  ich  hierin 
einen  Beweis  für  die  Annahme  gesehen,  daß  zur  Zeit, 
als  mit  dem  Niederländer  Colins  dieses  »Verding« 
gemacht  worden  ist,  von  Giebelaufbauten  noch  keine 
Rede  war,  weil  die  drei  Stockwerke  der  Fassade  nur 
für  14  Figuren  Nischen  boten  und  die  fünf  Löwen 
als  obere  Bekrönung  den  fünf  Achsen  der  Fassade  vor¬ 
trefflich  entsprachen.  Unsere  Zeichnung  beweist  nun 
die  Richtigkeit  dieser  Annahme  und  zeigt,  daß  anläßlich 
der  nachträglichen  Anordnung  der  Doppelgiebel  eine 
Vermehrung  der  Figurennischen  noch  nicht  vorgenom¬ 
men  worden  ist.  Erst  als  die  Zwerchgiebel  errichtet 
wurden  —  sei  es  nun,  wie  Kossmann  annimmt,  noch 
unter  Friedrich  V.  (dann  aber  doch  jedenfalls  nach 
1616,  der  Jahreszahl  unserer  Zeichnung),  oder  unter 
Karl  Ludwig  2)  —  hat  man  nach  dem  Vorbilde  des 
Friedrichsbaues  auch  hier  oben  je  eine  Figuren¬ 
nische  angebracht,  so  wie  sie  im  Krausschen 
Stich  erscheinen. 


1)  Das  Blatt  im  Darmstädter  Thesaurus  picturarum 
v.  J.  1603  oder  1604,  auf  das  Haupt  so  großen  Wert  legt, 
daß  er  sogar  eine  Rekonstruktion  des  Giebels  (a.  a.  O.  S.  67) 
danach  veröffentlicht  hat,  ist  meines  Erachtens  eine  für  Einzel¬ 
heiten  ebenfalls  völlig  wertlose  Dilettantenzeichnung,  bei 
deren  Anfertigung  so  unverständig  verfahren  worden  ist,  daß 
—  wie  Koßmann  richtig  nachgewiesen  hat  (die  Bedachung 
am  Heidelberger  Otto  Heinrichsbau  von  1689  [Karlsruhe 
1902  S.  15])  —  der  vordere  der  beiden  Giebel,  der  richtig  auf 
der  Zeichnung  angegeben  war,  durch  Übertuschen  wieder 
entfernt  worden  ist.  Der  vorhandene  zeigt  zudem  eine  ganz 
unmögliche  Architektur,  die  mit  der  des  Merianschen  Blattes 
nicht  das  mindeste  gemeinsam  hat.  Das  Blatt  erachte  ich 
deshalb  für  völlig  wertlos,  sowohl  für  die  Frage  des 
Wiederaufbaues,  wie  für  unsere  Streitfrage.  Wie  Haupt 
hierin  »durchaus  den  Stil  Kaspar  Vischers,  des  Meisters  der 
Giebel  zu  Heidelberg  und  später  der  Plassenburg«,  erkennen 
will,  ist  mir  unerfindlich. 

2)  Haupt  nimmt  anscheinend  seine  Korrektur  der 
Krausschen  Jahreszahl  1659  in  1669  als  erwiesen  an;  die 
Unwahrscheinlichkeit  dieser  Hypothese  hat  Kossmann  (die 
Bedachung  usw.  S.  19  f.)  ausführlich  erörtert. 


142 


DIE  GIEBELZEICHNUNG  VOM  HEIDELBERGER  OTTOHEINRICHSBAU 


Wie  läßt  sich  nun  aber  diese  Annahme  mit  der 
bisherigen  vereinigen,  daß  sämtliche  Statuen  des  Otto- 
heinrichbaues  von  Alexander  Colins  herrühren,  wie 
läßt  sich  die  Verminderung  der  obersten  Statuenreihe 
mit  dem  beka!  ntlich  von  Starck  so  schön  erklärten 
Progra'  i!':!  u  :s  Statuenschmuckes  ferner  in  Einklang 
bringen? 

D:  Brand  vom  24.  Juni  1764,  der  den  Ottohein- 
riclidjau  zur  Ruine  machte,  hat  Juppiter  und  Sol  ver¬ 
schont.  Ihrer  Umgebung  beraubt,  thronen  sie  heute 
noch  einsam  in  ihrer  luftigen  Höhe  über  dem  herr¬ 
lichen  Bau. 

Untersuchen  wir  die  sieben  obersten  Figuren  der 
Fassade,  so  steht  stilistisch  und  technisch  unserer 
Annahme  nichts  entgegen,  daß  Sol  und  Luna  — 
letztere  hat  natürlich  den  Platz  gewechselt  —  spätere 
Zutaten  sind.  Der  Bildhauer,  der,  unserer  Annahme 
gemäß,  aus  Anlaß  der  Errichtung  der  Zwerchhäuser 
den  Auftrag  erhielt,  die  bisherige  Reihe  der  antiken 
fünf  Planeten  durch  Einfügung  der  genannten  beiden 
Statuen  zur  jetzigen  Gruppe  der  sieben  Wochentags¬ 
götter  zu  erweitern,  hat  zweifellos  versucht,  sich  dem 
Stile  der  alten  Figurenreihe  anszuschließen,  wie 
wenig  ihm  dies  aber  gelungen  ist,  zeigt  ein  Vergleich 
der  Luna  (Diana)  beispielsweise  mit  der  Venus  und 
des  Sol  mit  dem  jetzt  neben  ihm  thronenden  Juppiter. 
Wenn  trotzdem  diese  beiden  jüngern  Figuren  nicht 
so  sehr  aus  dem  Rahmen  fallen,  daß  sie  von  jeher  als 
spätere  Zufügungen  zu  erkennen  waren,  so  liegt  dies 
an  der  von  mir  bereits  in  meiner  Abhandlung  über 
Sebastian  Götz,  den  Bildhauer  des  Friedrichsbaues 
(s.  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Heidelberger 
Schlosses  11,  1890)  hervorgehobenen  Ungleichheit  und 
Verschiedenartigkeit  der  Colinsschen  Figurenreihe,  die 
sich  auch  in  dieser  Beziehung  mit  dem  Statuenschmuck 
des  Friedrichsbaues  nicht  entfernt  vergleichen  läßt. 

Mag  nun  auch  die  Feststellung  einer  solchen  Un¬ 
gleichheit  unter  den  Colinsschen  Statuen  die  Beweis¬ 
kraft  für  die  spätere  Zufügung  von  Sol  und  Luna 
entsprechend  mindern,  die  Feststellung  der  Tatsache 
genügt,  daß  der  Befund  der  Figuren  zum  mindesten 
nicht  gegen  unsere  Annahme  spricht,  ebensowenig 
wie  in  der  Vermehrung  der  Planetenreihe  eine  Ände¬ 
rung  des  vermutlichen  Programmes  zu  erblicken  ist. 

An  sich  folgt  also  aus  der  Tatsache,  daß  auf  dem 
Krausschen  Stiche  bereits  sechszehn  Figuren  am  Bau 
vorhanden  sind,  keineswegs,  daß  der  Meriansche  Dop¬ 
pelgiebel  auch  schon  Statuennischen  enthalten  haben 
muß.  Damit  fällt  aber  auch  das  hieraus  geschöpfte 
Verdachtsmoment  fort.  Aus  der  gewissenhaften  Art, 
mit  der  unser  Zeichner  die  Vorlagen  aus  den  Archi¬ 
tekturwerken,  so  z.  B.  die  Tür  von  Caprarola  aus 
Vignolas  Werk,  in  sein  Skizzenbuch  übertragen  hat, 
ist  zudem  mit  Sicherheit  zu  schließen,  daß  er  die 
Figurennische,  einen  so  integrierenden  Bestandteil  des 
Giebelaufbaues,  bei  dessen  Aufnahme  nicht  weggelassen 
hätte,  wenn  sie  vorhanden  gewesen  wäre.  Was  nicht 
vorhanden  war,  konnte  er  freilich  nicht  darstellen. 

Bedenkt  man,  welche  Schwierigkeiten  das  An¬ 
bringen  der  Figurennischen  im  Doppelgiebel  bei  den 
bisherigen  Rekonstruktionsversuchen  gemacht  hat,  wie 


insbesondere  die  unglückselige  Verwachsung  der 
Giebel  in  der  Mitte,  abgesehen  von  der  ungenauen 
Darstellung  Merlans,  auf  diese  falsche  Voraussetzung 
allein  zurückzuführen  ist,  wie  dieselbe  Anlaß  gegeben 
hat  zu  der  monströsen  Dachkonstruktion  mit  wind¬ 
schiefen  Flächen,  sowie  zur  Anordnung  eines  durch¬ 
gehenden  untersten  Giebelgeschosses,  das  niemals 
vorhanden  gewesen  sein  kann,  erwägt  man  alle  diese 
Schwierigkeiten  und  vergleicht  damit,  wie  einfach  die 
Dinge  jetzt  liegen,  so  ist  das  Auftauchen  unserer 
Zeichnung  wie  eine  Erlösung  zu  betrachten. 

Solange  mein  verehrter  Gegner  nicht  nachweisen 
kann,  daß  der  Meriansche  Doppelgiebel  bereits 
Statuen  enthalten  hat  —  ich  wiederhole:  seine  ver¬ 
größerte  Meriansche  Zeichnung  ist  hierfür  ebenso¬ 
wenig  brauchbar,  wie  das  Aquarell  im  Darmstädter 
Thesaurus  — ,  bleiben  somit  alle  aus  dem  Fehlen 
einer  Figurennische  gegen  unsere  Zeichnung  er¬ 
hobenen  Verdächtigungen  gegenstandslos. 

Aber  schließlich:  die  beiden  Figuren  oben  auf 
unserem  Blatte!  Haupt  sagt:  »die  beiden  Figuren 
finden  sich  ganz  getreu  ebenso  —  aber  im  Gegen¬ 
sinn,  herumgedreht  an  der  inneren  Tür  des  Fried¬ 
richsbaues,  die  schon  1669  dorthin  aus  dem  Otto- 
heinrichsbau  versetzt  worden  ist.  Es  ist  eine  Un¬ 
möglichkeit,  daß  dieselben  Putten  nochmals  als  freie 
Figuren  in  Überlebensgröße  auf  dem  Giebel  des  Otto- 
heinrichsbaues  gestanden  haben  können«.  Ergo, 
handelt  es  sich  hierbei  um  Motive,  die  der  Fälscher 
in  Heidelberg  genommen  und  »durch  Herumdrehen 
unkenntlich  zu  machen«  gesucht  hat. 

Zunächst  ist  hierzu  zu  bemerken,  daß  von  zwei 
nachgeahmten  Figuren  überhaupt  nicht  die  Rede  sein 
kann,  höchstens  von  einer  ungefähren  Übereinstimmung 
der  einen  Figur  rechts  am  Giebel  mit  der  rechts  oben 
an  der  Tür.  Kopfhaltung,  Haltung  des  Horns,  Profil¬ 
stellung,  das  Einstemmen  des  linken  resp.  rechten 
Armes,  alles  dies  ist  zwar  abweichend  behandelt,  trotz¬ 
dem  aber  eine  allgemeine  Ähnlichkeit  und  die  Mög¬ 
lichkeit  einer  Abhängigkeit  voneinander  vorhanden. 

Dagegen  hat  unsere  zu  oberst  auf  dem  Giebel 
in  Vorderansicht  ruhig  dastehende  Figur  mit  der 
graziös  hüpfenden  Profilfigur  links  oben  auf  dem  Tür- 
gestell  nur  das  eine  gemein,  daß  beide  Pulten  eine 
Trompete  nach  unten  halten.  Im  übrigen  sind  sie,  wie 
ein  Blick  auf  Tafel  94  bei  Sauerwein  zeigt,  grund¬ 
verschieden. 

Welcher  Schluß  ist  nun  aus  der  Ähnlichkeit  dieses 
einen  Figurenpaares  zu  ziehen? 

Zunächst  ist  festzustellen,  daß  unser  Zeichner  im 
Jahre  1616  die  von  ihm  angeblich  als  Vorbild  be¬ 
nutzte  Figur  gekannt  haben  kann.  Ob  die  Tür  —  was 
sehr  wahrscheinlich  —  wirklich  aus  dem  Ottoheinrichs- 
bau  stammt,  ist  dabei  belanglos,  ebenso,  ob  sie  nach 
Haupt  erst  1669  von  dort  versetzt  worden  ist.  Die 
Hauptsache  ist,  zu  konstatieren,  daß  es  sich  bei  der 
Tür  um  Formen  handelt,  die  mit  den  »mühsamen« 
Türgestellen  des  Ottoheinrichsbaues  sehr  nahe  verwandt 
sind  und  also  lange  vor  1616,  dem  Jahre  der  Wetz- 
larer  Zeichnung  entstanden  sein  müssen. 


IM  WETZLARER  SKIZZENBUCH 


143 


Nachdem  dies  feststeht,  ist  es  eigentlich  belanglos, 
die  vielen  Möglichkeiten  zu  erörtern,  die  zur  Be¬ 
nutzung  dieser  einen  Figur  für  die  Giebelzeichnung 
geführt  haben  können.  Mir  erscheint  am  wahr¬ 
scheinlichsten,  daß  der  Architekt  die  in  Wirklichkeit 
hoch  oben  auf  dem  Giebel  thronende  Figur  von  unten 
gar  nicht  hat  erkennen  können  und  deshalb,  als  er 
seine  Aufnahme  daheim  »ins  Reine«  zeichnete,  ent¬ 
weder  aus  dem  Gedächtnis  oder  nach  einer  Skizze 
diesen  kleinen  Putto,  der  ihm  an  der  Tür  so  gut  ge¬ 
fallen  haben  mochte,  obenauf  gezeichnet  hat. 

Möglicherweise  handelt  es  sich  aber  auch  bei 
den  Türfiguren,  die  beinahe  aussehen,  als  ob  sie 
nachträglich  auf  dem  Gebälke  aufgestellt  seien,  um 
Nachahmungen  der  einst  am  Bau  vorhandenen  Giebel¬ 
figuren,  vielleicht  ist  auch  ein  nicht  mehr  vorhandenes 
gemeinsames  Vorbild  als  Ursache  der  Ähnlichkeit  zu 
betrachten:  man  sieht,  den  Vermutungen  ist  Tür  und 
Tor  geöffnet. 

Unverständlich  geradezu  ist,  was  Haupt  dabei  be¬ 
züglich  »der  Unausführbarkeit  dieser  Figuren  mit  ihren 
Trompeten  in  Überlebensgröße«  vorbringt.  Unser 
Blatt  enthält,  wie  alle  anderen  Giebelzeichnungen, 


keinen  Maßstab;  aus  dem  Schäferschen  Rekonstruktions- 
Entwürfe  im  Zentralblatt  ist  aber  ein  solcher  unschwer 
zu  gewinnen.  Danach  sind  die  Giebelputten  nach 
unserer  Zeichnung  nicht  viel  über  einen  Meter  hoch 
gewesen,  während  die  auf  den  Zwerchgiebeln  des 
Friedrichsbaues  tatsächlich  vorhandenen  steinernen 
Genien  über  anderthalb  Meter  messen.  Also  auch  in 
technischer  Hinsicht  ist  es  nichts  damit,  »daß  schon 
diese  zwei  Putten  die  nachträgliche  Erfindung  des 
Giebels  (im  Wetzlarer  Skizzenbuch)  beweisen«,  und 
damit  fällt  auch  das  letzte  Argument  in  der  langen 
Reihe  der  Angriffe  materieller  und  substantieller  Art, 
die  in  Vorstehendem  beleuchtet  worden  sind. 

Unser  Blatt  ist  echt.  Mag  auch  voraussichtlich 
die  Art  und  Weise  seines  plötzlichen  Auftauchens  nach 
wie  vor  die  denkbar  stärkste  Handhabe  zu  Zweifeln 
bieten,  die  wissenschaftliche  Forschung  hat  damit 
nichts  zu  tun.  Der  Wetzlarer  Zeichnung,  die  ihr  zu¬ 
kommende  kunstgeschichtliche  Bedeutung  im  Kampfe 
um  die  Erhaltung  des  Heidelberger  Schlosses  wieder 
zu  sichern,  ist  mir  eine  unabweisbare  Pflicht  er¬ 
schienen. 

Karlsruhe,  Ende  Januar  1905. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


Nach  einer  Radierung  von  Max  Klinger 


Zum  Augenblicke  dürft  ich  sagen : 
Verweile  doch,  du  bist  so  schön! 

Es  kann  die  Spur  von  meinen  Erdetagen 
Nicht  in  Aeonen  untergehn! 

Menzel  ist  tot.  Wie  einen  gütig  gestundeten  Zins  hat  ihn  Hermes  endlich  doch  mit 
leiser  Hand  genommen. 

Der  Chronist  schweigt  —  Adolph  Menzel  bedarf  keines  Nekrologes.  Was  er  in 
75  harten  Jahren  geschaffen  mit  einem  Ernst,  den  keine  Mühe  bleichet,  liegt  offen  und 
lobt  seinen  Schöpfer.  Sein  Werk,  das  wir  alle  kennen  und  verstehen,  spricht  von  seines 
Wesens  Art  eindringlich  und  sachlich.  Und  Sachlichkeit  war  ja  das  Höchste,  was  er  erstrebte. 

Er,  der  das  Leben  belauscht,  gepackt,  bezwungen  und  verewigt  hat,  unterlag  nun 
doch  dem  Leben.  Was  ist  das  Genie,  wenn  es  so  hinfällig  ist  wie  der  letzte  Taglöhner? 
Uns  schaudert,  und  —  das  Schaudern  ist  der  Menschheit  bestes  Teil. 


ADOLPH  V.  MENZEL 
KÖNIG  WILHELMS  ABREISE  ZUR  ARMEE 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1905 


SONNENUNTERGANG.  ORlOtNALRADlERUNO  VON  E.  LAERMANS  j 


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EUGENE  LAERMANS 


Lebhaft  sich  unterhaltende  Menschen,  deren 
Worte  nicht  vernehmbar,  wirken  durch  ihre 
Gestikulationen  grotesk;  blicken  wir  in  einen 
Ballsaal,  ohne  die  Musik  zu  hören,  erscheinen 
uns  die  hüpfenden  Wirbelbewegungen  der  Paare 
lächerlich.  Ein  verschlossener  Gehörsinn  bedeutet 
eine  Umwertung  der  Welt,  eine  Welt  für  sich. 
Dies  gilt  bei  dem  belgischen  Maler  Eugene  Laermans. 
Im  Jahre  1872,  achtjährig,  wurde  er  während  einer 
heftigen  Krankheit  völlig  taub,  gleichzeitig  erlitten  die 
Sprechorgane  eine  starke  Hemmung.  Seit  jenen  un¬ 
glücklichen  Tagen  kam  Laermans  den  Objekten  fast 
nur  noch  durch  die  Augen  nahe,  und  so  füllte  sich 
sein  Gedächtnis  mit  einzigartigen  Eindrücken  von  frap¬ 
pantester  Deutlichkeit.  Das  im  Gesicht  konzentrierte 
Wahrnehmungsvermögen  vermittelte  nicht  nur  die 
Form,  auch  die  Geräusche  der  Dinge,  die  Sprache 
der  Menschen.  Fast  könnte  man  sagen,  seine  gestei¬ 
gerte,  wie  mit  einem  Messer  in  die  Welt  schneidende 
Sehfähigkeit  habe  das  Ohr  ersetzt,  und  es  habe  eine 
völlige  Umlegung  der  Sinne  stattgefunden.  Trotzdem 
kennt  der  Künstler  den  Verlust,  der  ihn  betroffen,  nur 
zu  gut;  aber  er  ist  darob  nicht  ein  verbitterter  Welt¬ 
verächter  geworden,  das  eigene  Leid  wandelte  sich 
zum  Verständnis  für  die  Trübsal  der  anderen,  den 
Mangel  der  Enterbten  und  der  Krüppel.  Mit  wunder¬ 
feiner  Innigkeit  fühlt  er  sich  ein  in  die  Seele  der  des 
Lichtes  beraubten.  Er  empfindet,  wie  der  Blinde 
dank  der  verfeinerten  Nervosität  seiner  Haut  durch  das 
Leben  gleitet.  —  Die  geschlossenen  Lider  aufgehoben, 
schreitet  der  Mann  in  Zurückhaltung  und  Zuversicht, 
den  Stab  in  der  Linken,  fahndet  er  nach  etwaigen 
Hindernissen,  die  Rechte  faßt  in  ruhiger  Kraft  die 
Hand  der  rüstig  voran  eilenden  kleinen  Führerin. 
Quer  über  den  Weg  fällt  ein  Sonnenstrahl,  das  deut¬ 
liche  Symbol  der  tiefen  Sehnsucht  des  in  Dunkelheit 
Wandernden.  Mit  versöhnlicher  Wehmut  und  schein¬ 
bar  grundlosem,  aber  unverwüstlichem  Optimismus 
gestaltet  Laermans  die  Not  des  Leibes  und  der  Seele. 
Er  klagt  nicht  und  beschuldigt  niemanden.  Aus  dem 
Grauen  und  aller  Qual  und  Enge  leuchtet  die  ruhige 
Pracht  der  Sterne.  Allmutter  Natur  ist  gut  und  frei, 
zum  Trost  der  armen  Kindlein  stets  bereit  und  gegen¬ 
wärtig.  Auf  keinem  dieser  Bilder  fehlt  ein  Stück 
Landschaft.  Und  wenn  es  nur  ein  Kirchturm,  eine 
von  der  Dämmerung  halb  verschlungene  Hauswand 
ist.  Meist  aber  dehnt  sich  ein  weiter  Horizont,  eine 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  6 


Er  zeigt  nicht  den  Schweiß  ihrer  Arbeit, 
sondern  ihren  Adel,  nicht  einen  Menschen  in 
seiner  Schicksalskleinheit,  sondern  die  Rasse, 
das  Geschlecht  der  Arbeit,  keine  Episode, 
sondern  die  Essenz  dieser  höchst  ernsten  Ge¬ 
schichte. 

.  .  .  und  doch  strömt  aus  ihrer  Gesamtheit 
eine  gewaltige  Idee,  die  Erneuerung  des  alten 
Rufes  der  Kirche:  Leide,  um  das  Leben  zu 
empfangen.  Meicr-Graefe  über  Mennicr. 

mit  Bäumen  gesäumte  Straße,  ein  gebuchteter  Fluß 
führen  in  die  Tiefe,  aus  grünen  Wiesen  blüht  der  traute 
Friede  eines  vom  Abendrot  überrieselten  Dörfleins. 
Durch  einige  dieser  Landschaften  geht  ein  feines  Ver¬ 
klingen,  die  letzte  Helle  des  »Herbstabends«  spiegelt 
sich  in  dem  unter  einem  verfrühten  Eiseshauch  still 
gewordenen  Wasser,  —  andere  sind  von  romantischer 
Phantastik.  Wie  ein  Geheimnis,  das  Milch  und  Honig 
und  alle  Wunder  birgt,  liegt  »das  verheißene  Land« 
in  sonnenumblendeter  Ferne  hinter  den  düsteren 
Schatten  der  Waldeseinsamkeit,  ein  lockendes  Harfen 
jenseits  des  toten  Meeres.  Unwiderstehlich  möchten 
sich  die  Blicke  durch  die  Wand  bohren;  es  bedürfte 
dazu  kaum  des  verdeutlichenden,  die  Komposition  zu 
packender  Geschlossenheit  bringenden  Hinausweisens 
des  lieben  Gottes  im  geflickten  Mantel.  Wenn’s 
übrigens  nicht  der  gute  Himmelsvater  ist,  den  Boreas 
zerzaust,  kann’s  auch  ein  biederer  Landmann  sein, 
der  seinem  Nachbar  um  einer  Guttat  willen  Verspruch 
getan.  Aber  das  Bild  atmet  eine  solch  zarte  Reli¬ 
giosität,  daß  man  fast  meinen  müßte,  der  liebe  Gott 
geht  durch  den  Wald.  —  Mit  all  dem  haben  wir 
keinen  literarischen  Inhalt  erörtert,  Laermans  ist  kein 
Novellist;  seine  Figuren  sind  nicht  in  die  Landschaft 
gestellt,  damit  die  Tafel  amüsanter  werde,  sie  sind 
organisch  herausgewachsen;  auch  wenn  sie  nicht  da 
wären,  würde  man  sie  sehen.  Die  Vorstellungen 
und  Empfindungen,  die  in  Bäumen,  Feldern,  Flu߬ 
ufern,  Häuserzeilen  und  Sonnenschein  Form  ge¬ 
wonnen,  haben  sich  aus  gleicher  innerlicher  Not¬ 
wendigkeit  zu  Personen  verdichtet.  Alle  Einzelheiten 
helfen  die  Stimmung  des  Ganzen  erhöhen,  die  Bild¬ 
wirkung  präzisieren.  Dieses  Sinnes  kann,  so  paradox 
es  auch  zunächst  erscheint,  von  einer  Wesensverwandt¬ 
schaft  des  Belgiers  mit  Böcklin  gesprochen  werden. 
Die  Natur  lebt,  und  was  wir  Tritonen  nennen  oder 
Seejungfrauen  oder  Menschen,  ist  nur  eine  bestimmte 
materielle  Form  dieses  Lebens,  die  Erdlinge  wachsen 
aus  dem  Boden  heraus.  Wie  eine  Lawine  vom 
Schneefeld  löst  sich  die  endlose  Schaar  des  »Pro¬ 
phetenzuges«  von  der  ins  Unbegrenzte  flutenden 
Ebene,  wie  Lava,  die  aus  einer  Spalte  hervorkriecht 
und  zum  zermalmenden  Strom  schwillt.  Dieser  un¬ 
bedingte  Pantheismus,  dieses  Sicheinsfühlen  mit  allen 
Elementen  offenbart  gleichmäßig  die  Reinheit  des 
Weltempfindens,  die  glückliche  und  immer  wache 
Künstlerseele  des  sinnenfrohen  Vlamen:  die  Welt  ist 


20 


EUGENE  LAERMANS.  DAS  BAD 


EUGENE  LAERMANS.  DER  PROPHETENZUG 


EUGENE  LAERMANS 


147 


schön  trotz  alledem  und  in  allem.  Machtvoll  rauscht 
der  heroische  Dithyrambus  eines  Abseitsgestellten,  ein 
Halleluja  unter  Tränen. 

Das  Schicksal  nagte  an  des  Lebens  Wurzel, 
Laermans  blieb  stärker  und  vermag  zu  lachen. 
Mühsamer  denn  für  jeden  anderen  war  für  ihn  der 
Weg;  in  unsäglicher  Arbeit  aber  gelang  es  ihm,  fast 
ganz  aus  sich  selbst  heraus  hinreichende  Ausdrucks¬ 
mittel  zu  gewinnen.  Wenig  konnten  ihm  die  Lehrer 
geben.  Den  stillen,  in  sich  gekehrten  jungen  Mann, 
der  1886  die  Brüsseler  Akademie  betritt,  sehen  die 
Mitschüler  mit  Scheu  und  Verwunderung.  Er  aber 
ist  ganz  bei  der  Sache,  ohne  irgend  welche  Ablenkung 
müht  er  sich,  die  Kunstgriffe  abzusehen,  die  Hand¬ 
fertigkeit  zu  erlernen.  Die  Weisheit  der  Professoren 
war  für  ihn  verloren,  nur  das  Reale  und  Experimentelle, 
die  Exerzitien  nützten  ihm.  Am  meisten  aber  lernte 
der  Novize  draußen,  während  er  mit  offenen  Augen 
durch  die  Straßen  schritt.  So  blieb  es.  Noch  heute 
verrichtet  der  Künstler  die  Hauptarbeit  —  im  Spa¬ 
zierengehen.  Das  zur  Erde  gebeugte  Geschlecht  der 
Faubourgs,  die  Zwittergebilde  einer  zwischen  Dorf 
und  Großstadt  schwankenden  Peripherie  sammelt  er 
in  den  Kopf  hinein,  hier  und  da  den  Skizzenblock 
zur  Hilfe  nehmend.  Die  unergründliche  Fülle  der  Ein¬ 
drücke  speichert  sich  in  seinem  Hirn,  aus  dem  ständig 
präsenten  Reichtum  kristallisieren  lebensvolle  Ge¬ 
sichte.  Nur  zum  Studium  benutzt  er  das  Modell, 
nie  arbeitet  er  direkt  nach  der  Natur,  er  malt  stets 
im  Atelier,  berechnete  Bilder.  Das  Baumaterial  hat 
er  jedoch  nicht  aus  anderen  herausgebrochen,  sondern 
alles,  bis  auf  die  winzigste  Kleinigkeit  selbst  ersehen. 
Was  ihn  vom  Pleinairismus  und  Naturalismus  im 
strengen  Sinne  scheidet,  ist  das  bewußte  Arbeiten 
mit  Vorstellungen,  die  aus  zahlreichen  zeitlich  ver¬ 
schiedenen,  einander  kontrollierenden  und  ergänzenden 
Gesichtseindrücken  geflossen.  Er  lebt  im  Innersten 
und  in  der  Tiefe  seiner  Augen  das  Leben  des  Prole¬ 
tariats  von  Molenbeek,  wo  seine  Wiege  gestanden 
und  wo  er  noch  heute  wohnt. 

Abgemaitet,  in  stumpfsinnigem  Gleichmut  traben 
die  Männer  nach  ihren  Hütten,  wie  Zugtiere  zur 
Krippe,  unsichtbar  schleppen  sie  das  Joch  ihres 
kümmerlichen  Daseins.  Nur  selten  spüren  sie  es 
nicht;  im  Sommer  an  schönen  Sonntagsabenden 
ziehen  sie  zu  zweien  und  dreien  durch  die  Dorfstraße 
mit  gemächlichen  Schritten,  schlürfend,  sie  schmauchen 
und  erzählen  sich  eins,  —  Einsam  tappt  der  Kirmes¬ 
geiger  daher,  eintönig  ist  der  Weg,  still  und  unab¬ 
änderlich,  gleich  dem  träge  fließenden  Fluß  läuft  die 
Monotonie  zu  Ende,  hinten  liegt  das  bißchen  Sonne. 
—  Der  Trunkenbold  ist  ein  schrilles  Präludium  des 
Todes.  Über  den  bläulich  fahlen  Schnee  stolpert 
der  Unselige,  dem  das  Laster  im  Nacken  hockt,  die 
ausgemergelte  Frau  mit  dem  Säugling  für  die  ver¬ 
welkte  Brust,  die  entarteten  Siechtum  geweihten  Kinder 
.  .  .  ecce  homo.  Und  es  vollendete  sich.  Die  Arme 
weit  von  sich  gestreckt,  liegt  der  Erschlagene  am 
Boden.  Der  Sturm  fegt  darüber  hin.  Eine  kleine 
Mikrocephale  zeigt  heimwärts.  Des  Dramas  letzter 
Akt.  Der  Leichnam  wird  in  das  Dorf  geschleppt. 


Voran  ein  Mädchen,  krampfhaft  weint  es,  man  spürt 
das  Zucken  des  Leibes,  hinterher,  die  Hände  vor  das 
Gesicht  geschlagen,  die  Frau  —  die  Mutter  —  ein 
Mensch,  der  den  Toten  liebte,  ln  tiefem  Bogen,  die 
Gliedmaßen  aus  den  Gelenken  gedreht,  hängt  der 
Körper  schwer  und  massig,  als  strebe  er  nach  der 
Grube,  der  er  verfallen  ...  Es  müssen  aber  etliche 
leiden,  auf  daß  die  Herrlichkeit  wachse,  welche  aber 
leiden,  sind  in  der  Herrlichkeit,  ob  sie  dieselbige 
auch  nicht  sehen,  noch  schmecken. 

Das  ist  die  Welt,  wie  sie  Laermans  malt.  Anfangs 
geriet  ihm  vieles  zu  hart,  fast  an  die  Karikatur  streifend. 
Da  finden  sich  klobige  Kerle,  die  auf  dem  Jahrmarkt 
eine  Schauermär  anhören,  eines  Dorfpolitikers  Arme 
arbeiten  wie  Windmühlenflügel.  Die  Anatomie  ist 
eckig,  hartsehnig  und  grobknochig,  die  Gesichter 
starren  in  rot,  dumm  und  aufgeblasen,  die  Kleider 
ähneln  Futteralen  aus  steifem  Segeltuch.  Aber  auch 
damals  zeigen  sich  schon  Vorzüge  des  späteren 
Werkes,  prägnante  Charakteristik  und  ein  ausge¬ 
sprochener  Sinn  für  die  Farbe.  Die  Leute  bohren 
die  Fäuste  in  die  Taschen,  dadurch  wird  der  Rumpf 
förmlich  auf  die  Erde  niedergepreßt;  die  an  die 
Mauern  geklebten  Affichen,  die  Fensterläden  sprühen 
in  freilich  etwas  greller  Buntheit. 

je  schrankenloser  des  Künstlers  Blick  in  die  Dinge 
fiel,  je  gefügiger  seine  Hand  wurde,  um  so  reiner 
löste  er  die  Dissonanzen  der  deformierten  Parias,  um 
so  innerlicher  verwebte  er  zwei  Häßlichkeiten  zu 
einer  Schönheit.  Das  Bild  wurde  ihm  zu  einem 
Rhythmus  der  Linien,  zu  einer  Farbensymphonie. 
Meisterhaft  zügelt  er  die  durch  seine  Konstitution  be¬ 
dingte  Heftigkeit  der  Bewegungen  nach  den  vom 
Ganzen  benötigten  Wertgraden,  ohne  daß  jene  an 
Kraft  etwas  einbüßten.  Der  zurückgebogene  Arm  des 
»Säemann«  und  die  fortgeschleuderten  Körner  lassen 
den  Ruck  am  eigenen  Körper  spüren,  die  hastende 
Wucht  des  »Karrenschiebers«  löst  bei  uns  die  leb¬ 
haftesten  imitatorischen  Impulse  aus.  Das  verrekelte 
Mädchen,  die  sich  biegenden  Bäume  des  Hinter¬ 
grundes,  der  Zug  der  Wolken  stützen  die  Illusion. 
Die  Füße  stemmen  den  Boden  fort,  schieben  den 
Körper  vorwärts,  trotz  aller  Plumpheit  federn  die 
Gelenke,  wiegt  der  Brustkorb  in  den  Hüften,  der  Kopf 
stößt  in  die  Luft,  die  Arme  pendeln  im  Takt  der 
Schritte,  wenn  die  Hände  in  die  Taschen  gesenkt, 
schwankt  der  Schwerpunkt  wie  beim  Paßgang.  — 
Unentrinnbar  suggeriert  wird  die  Bewegung  der  Massen. 
Gleich  einem  vielzelligen  Organismus,  einer  taiisend- 
tropfigen  Welle,  wälzt  sich  der  Menschenstrom,  diclit 
gedrängt,  Kopf  an  Kopf,  eine  vom  Wind  gekräuselte 
Wanderdüne.  Am  Vorabend  des  Streiks  kriecht  der  Heer¬ 
wurm  den  Kai  entlang,  eine  aus  den  Schranken  ge¬ 
brochene  Herde,  deren  Stampfen  revolutionäre  Musik. 
Die  Flut  der  Auswanderer  ergießt  sich  nach  dem 
Hafen.  Das  Mittelbild  des  Antwerpener  Triptychon 
offenbart  eine  geradezu  souveräne  Beherrschung  neben¬ 
einander  gestapelter  Körper  in  einer  von  den  einzelnen 
zwar  geleisteten,  aber  dennoch  gemeinsamen  Bewegung. 
Der  rechte  Flügel  zeigt  die  Bewegung  verborgen  ruhend. 
Schon  auf  dem  Sprunge,  haschen  die  von  der  Heimat 


20 


148 


EUGENE  LAERMANS 


Scheidenden  noch  nach  einem  Trost-  und  Hoffnungs- 
woi —  wenn  sie  dann  Seeluft  wittern,  stürzen  sie  wie 
im  '’'auinel  zum  Bollwerk.  —  Der  elementaren  Wucht 
u  1;’  ^  (Iiiaren  Straffheit  der  Bewegungen  gesellt  sich 
ei  1:  ■■Aid  in  Dur  aufrauschende,  bald  in  weichen  aber 
Vidi.Mi  '  larmonien  vibrierende  Farbenpracht.  Tief  blau, 
v.;.:  .  ■  ichem  Lapislazuli  strahlt  der  Himmel  über 
■  e:,.  schwarzen  Strom  der  Erbitterten,  die  rote  Fahne 
ein  blutiger  Fetzen,  eine  züngelnde  Flamme. 
Mit  zielgewisser  Sicherheit  sind  die  scharfen  Kontraste 
gegeneinander  gestellt.  Im  übrigen  liebt  der  Maler 
blau  und  violett  in  allen  Tönen,  schmutzig,  hell 
und  satt,  bordeaux  auf  nuanciertem  Grau,  warmes 
Braun  und  strahlendes  Gelb.  Darin  ist  Laermans 
immer  weiter  gekommen.  Der  Pinselstrich  wird 
flüssig,  vertrcäumt,  der  Ton  leuchtend,  die  Tafeln  be¬ 
kommen  einen  unbestimmten,  zwischen  Samt,  Metall 
und  Edelstein  schwankenden  Effekt,  sie  erinnern  mehr 
an  Murillo  als  an  Millet.  Das  Sehen  mildert  sich 
zum  Stil.  Die  scharf  gerissene  Linie  wird  natur¬ 
wahrer,  ruhiger,  harmonischer.  Das  Profil  eines 
Daches  klingt  mit  einer  menschlichen  Rückensilhouette 
und  der  Ausladung  vom  Wind  gedrückter  Bäume  zu 
einem  Akkord  zusammen.  Doch  dies  alles  verliert 
an  Aufdringlichkeit;  die  Verzeichnungen,  auch  wo  sie 
einem  leicht  erkennbaren  Zwecke  dienen,  wie  bei  den 


Händen  und  den  Kindern,  werden  weniger  fühlbar, 
unter  der  typischen  Maske  des  Gesichtes  wächst  Fleisch 
und  Blut,  —  das  volle  jauchzende  Leben  rollt  herauf. 
Vor  allem  zeigen  dies  die  in  letzter  Zeit  entstandenen 
reinen  Landschaften,  deren  melodiöses,  auf  einen 
melancholischen  Grundton  gestimmtes  Farbenkonzert 
den  Sinnen  herzliche  Freude  schafft.  Alle  Schranken 
fielen  auf  dem  Bild,  wo  ein  junges,  blühendes  Weib 
dem  Teich  entstiegen,  das  weiße  Linnen  über  den 
taufrischen  Körper  streifen  will.  Der  selbstverständ¬ 
liche  Sieg  der  Schönheit  ob  alles  Dürftigen  und  Ein¬ 
gepferchten.  Unter  den  Lasten  und  Lappen,  die  aus 
dem  Menschen  eine  Schablone  machen,  ruht  die  reine, 
freie  Natur.  Das  ist  eine  Evokation  und  nicht  nur 
eine  Interpretation,  wie  Meier-Graefe  fehlgreifend  von 
Laermans  sagt.  Allerdings,  pariserische  Luft  ist  für 
den  Landgenossen  der  Brouwer,  Teniers  und  Snayers 
ungenießbar,  und  allerlei  parfümierte  Kunststückchen 
vermag  er  nicht  zu  leisten,  dafür  aber  gute,  dauer¬ 
hafte,  von  einer  abgeklärten  Persönlichkeit  erfüllte 
Arbeiten.  Am  ausgeprägtesten  zeigen  dies  vielleicht 
seine  Radierungen,  die  weder  der  Technik  Unerhörtes 
zumuten,  noch  durch  Primitivität  verblüffen,  sondern 
nichts  weiter  sein  wollen  als  verständliche  Dokumente 
einer  geschickten  Hand  von  den  Erlebnissen  eines 
köstlichen  Auges,  eines  redlichen  Herzens. 

ROBERT  BREUER. 


EUGENE  LAERMANS.  VOR  DEM  STREIK 


KUNO  AMIET.  BILDNIS 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 

Von  Dr.  Hermann  Kesser  (Zürich) 


Die  alten  Schweizer  Maler  waren  seßhafte  Leute, 
sie  blieben  gerne  zu  Hause.  Das  mag  wohl 
der  Grund  sein,  warum  ihr  Name  in  den 
Heldenbüchern  der  Kunst  meist  fehlt.  Man  kennt 
sie  wenig. 

Dann  kam  eine  jüngere  Generation,  die  Umschau 
hielt  Sie  reicht  bis  in  unsere  Tage  und  man  kann 
darüber  sagen:  alle  Richtungen,  die  in  den  letzten  fünf¬ 
zig  Jahren  bei  der  deutschen  und  französischen  Malerei 
registriert  werden,  haben  in  der  Schweiz  Resonanz 
gefunden.  So  gibt  es  Schweizer  Künstler,  die  an 
Piloty,  an  Schwind  erinnern,  es  gibt  schweizerische 
Düsseldorfer,  schv/eizerische  Gabriel  Max  und  schwei¬ 
zerische  Defregger.  Als  ich  neulich  einmal  durch 
das  Musee  Rath  in  Genf  ging,  war  ich  erstaunt  über 
die  geradezu  typischen  Parallelerscheinungen  deutscher 
und  französischer  Kunst  auf  Schweizer  Boden. 

Das  genannte  Museum,  die  vornehmste  Stätte  zum 
Studium  eigentlicher  Schweizer  Heimatkunst,  zeigt 
fast  von  allen  großen  deutschen  und  französischen 
Schulen  irgend  einen  auf  den  ersten  Blick  erkenn¬ 
baren  Schweizer  jünger,  der  im  Ausland  in  die  Lehre 
ging  und  das  Gelernte  dann  in  heimatlichen  Stoff 
umsetzte.  Gesichter  aus  dieser  Zeit,  die  über  die 
internere  Bedeutung  herauswachsen,  sind  noch  recht 
selten.  Man  hat  darum  lange  Zeit  draußen  von  der 
Schweizer  Kunst  so  gut  wie  gar  keine  Notiz  genom¬ 
men,  selbst  verdiente  Künstler  der  deutschen  Schweiz 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  6 


wie  der  Baseler  Stückelberg,  Rudolf  Koller,  der  Zür¬ 
cher  Tiermaler,  und  Hans  Sandreuter,  der  Böcklin- 
schüler,  wurden  lange  ignoriert,  die  Künstler  der  fran¬ 
zösischen  Schweiz  waren  wohl  in  Frankreich  mit 
Werken  zu  Gaste;  die  bedeutenden  von  ihnen  wurden 
zu  Franzosen  gemacht,  der  Mittelmäßigkeit  tat  man 
keine  Erwähnung. 

Das  ist  seit  zwanzig  Jahren  anders  geworden.  Die 
literarischen  Ereignisse,  wie  ein  Gottfried  Keller,  ein 
Konr.  Ferd.  Meyer,  Künstler  wie  Böcklin,  Vautier 
haben  Mut  gemacht,  an  schweizerische  Meister,  an 
Größen  zu  glauben.  Wie  allenthalben  sammelt  jetzt 
die  Schweiz  ihre  Namen  für  eine  eigene  Kunst¬ 
geschichte,  man  macht  Rückblicke  und  findet,  daß  an 
bedeutenden  Namen  kein  Mangel  ist.  Besonderen 
Ausdruck  findet  dieses  begreifliche  Bemühen  in  einem 
Werk  von  stattlichen  Dimensionen,  einem  großen 
Schweizerischen  Künstlerlexikon,  das  alle  Namen  der 
heimatlichen  Kunst  sammeln  soll.  Wenn  das  umfang¬ 
reiche  Kompendium,  das  der  Zürcher  Kunsthistoriker 
Professor  Karl  Brun  herausgibt,  fertig  ist,  wird  man 
genügend  darüber  Auskunft  bekommen,  daß  die 
Schweiz  nie  arm  an  Künstlern  war. 

ln  einem  Lande  von  drei  Sprachen  und  drei  Nationen 
inmitten  romanischer  und  germanischer  Kultur,  ohne 
künstlerische  Wegweiser,  werden  indes  die  Charakter¬ 
köpfe  immer  selten  sein,  und  wenn  auch  Rassen¬ 
kreuzungen  ein  gegebener  Boden  für  starke  Indivi- 


21 


150 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 


dualitäten  sind,  bringt  es  der  Mangel  an  Kunstzentren 
und  fördernden  Mäcenaten  mit  sich,  daß  die  Könner 
zum  Studium  ins  Ausland  gehen  und  im  Ausland 
ihr  Brot  suchen.  Böcklin  erhielt  den  Lorbeer  nicht 
in  der  Schweiz,  Sandreuter,  Adolf  Stäbli,  Stauffer-Bern 
ist  es  nicht  viel  besser  gegangen  und  Hodler  kann 
davon  mancherlei  erzählen.  Erst  in  neuester  Zeit 
bilden  sich  unter  Führung  der  Anerkannten  kleine 
Schulen  und  seit  einigen  Jahren  kann  man  von  einer 
Anzahl  besonders  typischer  und  origineller  Künstler 
sprechen. 

Man  wird  bei  der  überragenden  Figur  des  Berners 
Fcrd.  Hodler  einsetzen,  um  den  Gang  der  Dinge  zu 
illustrieren. 

Hodler  wird  heute  mit  den  Großen  der  modernen 
Kunst  in  einem  Atem  genannt,  das  erste  Mal,  daß 
einem  Künstler,  der  als  solcher  immer  Schweizer  ge¬ 
blieben  ist,  diese  Ehre  zuteil  wird.  Ich  sagte:  Hodler 
ist  als  Künstler  immer  Schweizer  geblieben,  seine 
derb  geschnittene  Physiognomie  weist  auf  die  natio¬ 
nalen  Eigenschaften  genügend  hin. 

Was  ganze  Generationen  von  Schweizer  Künstlern 
gesucht  hatten,  den  künstlerischen  Ausdruck  für  die 
großen  Taten  der  Nationalhelden,  für  die  mächtige 
heimische  Hochgebirgswelt,  für  den  nationalen  Volks¬ 
charakter:  Hodler  vermochte  ihn  endlich  zu  finden  und 
dabei  in  einer  Sprache  zu  reden,  deren  Ton  so  weit 
trug,  daß  er  auch  außerhalb  der  Schweizer  Grenzen 
gehört  wurde.  Der  Mehrzahl  ist  er  als  Schöpfer  sym¬ 
bolischer  Kompositionen  bekannt.  Wir  dürfen  dabei 
nicht  vergessen,  daß  er  seine  ersten  ursprünglichen  Ge¬ 
danken  über  Schweizer  Stoffe  niederlegte  und  gerade  der 


erste  Erfolg  des  Unbekannten  und  Mißachteten  war 
die  Ehrenerwähnung  seines  »Schwingerumzuges«,  ein 
Bild,  das  ausschließlich  von  der  kernigen  Derbheit 
und  der  nationalen  Urkraft  schweizerischen  Volkssinnes 
lebt.  Es  erhielt  schon  Ende  der  achtziger  Jahre  in 
Paris  eine  Ehrenerwähnung,  zu  einer  Zeit,  die  an 
Hodler  noch  mit  Achselzucken  vorbei  ging.  Weitere 
Quittungen  über  den  Respekt  vor  Hodlerscher  Kunst 
ließen  lange  auf  sich  warten,  die  Münchener  Sezession 
und  die  Pariser  Weltausstellung  waren  die  nächsten, 
ln  Mode  gekommen  ist  Hodler  jüngst  durch  Wien. 
Die  Ursache  dieser  Hodlerschen  Erfolge  wollen  wie 
seine  gesamte  Kunst  im  Zusammenhang  betrachtet 
sein,  und  die  Psychologie  der  Mode  erhält  gerade 
durch  ihn  einen  bemerkenswerten  Beitrag,  sobald  man 
in  dem  Enthusiasmus,  mit  dem  man  ihn  jetzt  begrüßt, 
ein  sprechendes  Symptom  der  Reaktion  gegen  das  künst¬ 
lerische  Dekadententum  sieht:  Vor  so  wuchtigen  und 
urkräftigen,  von  jeder  Schwachheit  freien  Naturen 
wie  Hodler,  hat  das  Publikum  aller  Zeiten,  das  von 
differenzierter,  übersensibler  Kunst  genug  hatte,  immer 
seine  Verbeugung  gemacht  und  Hodler,  der  mit 
Stentorstimme  wie  ein  Agitator  in  die  müde  Gegen¬ 
wart  hereinpredigt,  mußte  schließlich  das  leise  Stammeln, 
die  zart  schattierten  Kauserien  seiner  Zeitgenossen 
übertönen.  Er  imponierte.  Um  so  mehr,  als  seine  Kunst 
voraussetzungslos  ist,  die  Lettern,  in  denen  er  scheibt 
lapidaren  Stil  haben  und  nicht  so  verschwommen  und 
verschnörkelt  sind,  daß  sie  ein  Spezialwissen  voraus¬ 
setzen. 

Damit  komme  ich  zu  Hodlers  Formensprache,  zu 
seinem  Stil.  Hodler  steigert  alles  ins  Große,  ins 
Monumentale,  und  bei  seinen  dekorativen  Absichten 
muß  er  starke  ornamentale  Akzente  anbringen,  darum 


HANS  BEAT  WIELAND.  DIE  WITWE 


FERD.  HODLER.  BILDNIS 


21 


152 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 


ALBERT  WELTI.  »DIE  TEXTILINDUSTRIE«.  ENTWURF  ZU  EINEM  FENSTER  IM  BUNDESPALAIS  ZU  BERN 


die  Symmetrie  in  allen  seinen  Werken,  in  Figuren¬ 
bildern  und  Landschaften.  Man  spricht  sogar  von 
einem  Rhythmus  Hodlerscher  Bilder  und  bezeichnet 
damit  die  Übereinstimmung  in  der  Bewegung  seiner 
Figuren. 

Ein  Bild  von  ihm,  es  hängt  im  Berner  Mu¬ 
seum,  führt  den  Titel  »Eurythmie  ,  der  Künstler  hat 
also  auf  diese  symmetrischen  Absichten  selbst  hin¬ 
gewiesen.  Das  Bild  stellt  fünf  schreitende  Greise  dar. 
Hodler  mag  dabei  an  die  Monotonie  und  an  den 
freudlosen  Gleichklang  des  Greisenalters,  an  den  rhyth¬ 
mischen  Ablauf  der  letzen  Lebensepoche  gedacht 
haben.  Der  einfache  Ausdruck  der  Idee  in  Gestalt 
dieser  fünf  Greise  ist  übrigens  vielleicht  nur  Neben¬ 
sache.  Der  Bildtitel  »Eurythmie«  weist  darauf  hin, 
daß  diese  Formen  wahrscheinlich  Selbstzweck  sind. 
Bei  Hodler  eine  Seltenheit.  Meist  sucht  er  einen  ganz 
bestimmten  Inhalt  auf  eine  Formel  zu  bringen  und 
die  meisten  Figurenbilder  wollen  daraufhin  angesehen 
werden. 

In  der  »Nacht«  und  dem  »Tag«,  in  den  »Ent¬ 
täuschten  Seelen«  und  im  »Herbst«  wird  man  einen 
schweigenden  Pessimisten  erkennen,  der  nach  dem 
Ausdruck  für  die  Tragödie  des  Menschengeschlechtes 
sucht. 

Die  schicksalsschwere  Bewegungslosigkeit  dieser 
Gestalten,  ihre  Gliederverdrehungen,  die  geheimnis¬ 
volle,  dunkle  Mystik  der  »Nacht«,  das  alles  weist 
unmittelbar  auf  Vorbilder  hin,  die  wir  in  der  Sakristei 
von  S.  Lorenzo  zu  suchen  haben.  Dort  sind  die 
Mediceer-Gräber  des  Capresen  Michelangelo  .  .  . 


Hodlers  tragische  Weltanschauung  wird  man  nicht 
so  überzeugend  empfinden,  wenn  man  neben  dem 
asketischen,  in  der  Kutte  predigenden  Hodler  den 
Künstler  kennen  lernt,  der  zu  allen  Kraftproben  des 
Menschen  bedingungslos  »Ja«  sagt. 

Im  Genfer  Musee  Rath  hängt  sein  »Landsknecht«, 
die  Verherrlichung  des  miles  gloriosus.  Teil,  der 
Tyrannentöter,  kündet  die  befreiende  Tat  mit  Emphase 
an  und  man  würde  von  Renommisterei  und  Kraftmeier- 
tum  sprechen  können,  wenn  dieser  »Teil  nicht  mit 
so  übermenschlich  großen  Zügen  ausgestattet  wäre. 

Verglichen  mit  zeitgenössischen  Darstellungen  des 
schweizerischen  Nationalheros  nimmt  sich  Hodlers 
Teil«  wie  ein  Shakespearscher  Dramenkönig  gegen¬ 
über  einer  Meyerbeerschen  Opernfigur  aus. 

Die  ungeheure  Achtung  vor  den  starken  Menschen, 
das  Mitleid  mit  den  Gebrochenen  lassen  darauf 
schließen,  daß  sich  Hodler  hin  und  wieder  mit  philo¬ 
sophischen  Studien  beschäftigt  hat;  er  hat  sich  eine 
anthropozentrische  Weltanschauung  zurecht  gemacht, 
darum  wohl  auch  die  fragmentarische  Behandlung  der 
Landschaft  auf  den  Figurenbildern. 

Wenn  er  die  Natur  um  der  Natur  willen  malt, 
zeigt  er  ein  völlig  anderes  Gesicht;  auch  hier  ist  er 
selbständig  und  tritt  mit  eigenen  Absichten  auf.  Er 
will  nicht  Gefühle  erwecken,  sondern  nur  auf  die 
großen  Linien,  auf  den  Ernst,  die  stumme,  latente 
Macht  der  Natur  hinweisen.  In  der  Kunst  mit 
wenigem  Großes  zu  sagen,  steht  Hodler  in  der  Land¬ 
schaftsmalerei  allein  da.  Auch  hier  wieder  das  Unter¬ 
streichen  des  Großen  und  Ornamentalen,  das  Heraus- 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 


’53 


heben  der  Kontur  und  der  Symmetrie.  Die  Berge 
werden  zu  einem  ebenmäßigen  Rahmen  des  Sees,  die 
Wolken  zu  einem  flachen  Ornament  seines  Spiegels, 
die  Bäume  zu  ebenmäßigen  Durchschneidungen  der 
Horizontale. 

Im  übrigen  liegt  ein  Hauptakzent  bei  seinen  Land¬ 
schaften  auf  der  Farbe.  Sie  ist  hier  nicht  nur  äußere 
dekorative  Zutat,  in  der  Wiedergabe  der  Natur  wird 
auch  ein  Hodler  zum  Koloristen. 

Die  Landschaften  sind  im  Gegensatz  zu  den 
Schöpfungen  seiner  freien  Erfindung  vollkommen 
farbig  gedacht.  Warmes  Kolorit  ist  ihnen  selten  eigen, 
ihr  farbiges  Element  ist  meist  ein  kaltes  Violett  und 
ein  kaltes  Grün. 

Violett  ist  die  Farbe  der  Hodlerschen  Kontur. 
Die  Vorliebe  für  diesen  Farbenton  zeigen  besonders 
seine  neuesten  Werke. 

Auf  der  letzten  nationalen  Schweizer  Ausstel¬ 
lungin  Lausanne  war  von  diesen  letzten  Werken 
der  »Teil«  zu  sehen  und  der  nackte  Jüngling  mit 
den  fünf  Frauen,  »jeune  homme  admire  par  la 
femme«,  beides  Werke,  die  immer  stark  zum 
Widerspruch  herausgefordert  haben.  Eine  Kunst¬ 
ausstellung  ist  nicht  der  Ort  sie  zu  würdigen,  denn 
es  sind  Schöpfungen,  die  wohl  als  Fresken  gedacht 
sind,  und  anstatt  auf  eine  Mauer  auf  die  Leinwand 
kamen.  Sie  müßten  im  Rahmen  einer  stilgerechten 
Umgebung  gesehen  werden,  vor  allem  in  der  nötigen 
Entfernung.  Die  Farbe  macht  sonst,  verglichen  mit 
anderen  Bildern,  den  Eindruck  rohen  Anstriches,  das 
weitgehende  konsequente  Hervorheben  alles  Linearen 
sieht  nach  unbegreiflicher  heraldischer  Manier  aus 
und  überdies  macht  das  härene  Gewand  dieser  Ge¬ 
danken,  ihre  herbe  entsagende  Asketik  Mühe,  so  daß 


kunsthistorische  Polizisten  Hodler  schnei!  für  erledigt 
halten.  Trotzdem  er  auch  den  Konservativen  gefallen 
müßte,  denn  in  dem  Streben  nach  mathematischer 
Symmetrie  kann  man  ihn  den  Hochmeistern  der 
Renaissance,  sonst  in  Technik  und  Ausdruck  unver¬ 
gleichbar,  an  die  Seite  stellen. 

Hodler  ist  heute  ein  fünfzigjähriger  Mann,  man 
wird  mit  dem  Urteil  über  diesen  grundgermanischen 
Mystiker  noch  zurückhalten  müssen,  denn  »quid 
ferat  vesper  incertum  est«. 

Wird  Hodler  ein  zyklisch  abgeschlossenes  Lebens¬ 
werk  hinterlassen? 

Seine  neueren  Werke  zeigen  eine  fortgesetzte  künst¬ 
lerische  Entwickelung  mit  einer  Tendenz  zu  helleren 
Akzenten.  Das  ist  kein  Zufall.  Der  Erfolg  hat  seinen 
egoistischen  unzufriedenen  Zorn,  die  Quelle  seines 
Pessimismus,  lahmgelegt. 

■ii 

* 

Eine  Persönlichkeit  wie  Hodler  kann  zu  einer  Zeit, 
wo  in  der  Schweiz  eine  aufstrebende  Künstlerschar 
heranwächst,  nicht  ohne  Gemeinde  bleiben.  Eine 
kleine  Generation  wird  zu  tun  haben,  um  seine  Ideen 
zu  verarbeiten.  Einige  Gleichgesinnte  haben  sich  seit 
Jahren  um  ihn  geschart,  und  von  Hodler  führt  der 
Weg  unmittelbar  zu  einigen  Schweizer  Künstlern,  die 
als  selbständige  Erscheinungen  der  Schweizer  Kunst, 
seit  einigen  Jahren  vernehmbar  das  Wort  ergreifen. 

Als  stärkstes  Talent  unter  ihnen,  der  Solothurner 
Kuno  Amiet.  Kein  Nachahmer  Hodlers,  sondern 
sein  Bruder.  Hodler  war  ihm  Schrittmacher.  In  den 
letzten  Absichten  sind  sie  grundverschieden.  Siegt 
bei  Hodler  die  Linie,  sucht  seine  gedankenschwere 
Kunst  Ewigkeitswerke  zu  schaffen,  so  betrachtet  Kuno 


MAX  BURI.  DIE  POLITIKER 


’54 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 


Amiet  die  Welt  als  eine  malerische  Erscheinung, 
die  Linie  dient  iläu  nur  zur  Assistenz  der  farbigen 
Fläche  und  der  Inhalt  ist  Nebensache. 

/.niiel,  der  uns  schon  mit  einem  Bild  beschenkte, 
in  .ieii’  er  Mocilers  Stil  verfeinert,  —  es  ist  das  Tri- 
ptyc'iOn  «Hoffnung  ,  die  Verherrlichung  kommenden 
;viui:tc“giück(js,  —  hat  sich  nach  Vollendung  von  künst- 
ieriseiien  Taten  ausschließlich  auf  die  malerische 
l  orscliung  geworfen. 

Seine  neuesten  Bilder  sind  die  Resultate  theo¬ 
retischer  Nachdenklichkeit,  frei  von  Idee,  reine 
Lösungen  malerischer  Fragen.  In  Lausanne  zeigte 
der  Künstler  ans  Sensationelle  streifende  luminaristische 
und  malerische  Probleme,  Sonnenflecke  auf  Kleid 
und  Gesicht  einer  Dame  im  Grünen,  einen  Gemüse¬ 
garten  mit  einer  Scheune  im  Hintergründe,  der  in 
großen,  breiten  Flächen  gemalt  ist,  eine  Aneinander¬ 
reihung  von  dicken  Pinselstrichen  mit  absichtlicher 
Leugnung  jeder  Spur  von  Zeichnung  und  räumlicher 
Tiefe. 

Amiet  setzt  da  ein,  wo  Hodler  am  schwächsten 
ist  ...  Er  will  malerische  Werte  schaffen.  Man 
wünscht,  daß  dieses  Talent  der  modernen  Schweizer 
Kunst  seine  Theorie  wieder  in  Praxis  umsetzt. 

Daß  man  in  Amiet  einen  der  kraftvollsten  Kolo¬ 
risten  vor  sich  hat,  der  nach  Abklärung  seiner 
malerischen  Ideen  Großes  bringen  wird,  ist  außer 
Frage.  An  technischer  Kühnheit  steht  er  in  seinen 
impressionistischen  Versuchen  den  Malpäpsten  dieser 
Richtung  nicht  nach,  an  Farbenfreudigkeit  wetteifert 
er  mit  den  besten  japonisierenden  europäischen  Malern. 
Gegenwärtig  hat  seine  brutal  als  Selbstzweck  auf¬ 
tretende  Technik  etwas  verstimmt.  Seine  Ekstasen  des 
Lichtrausches  muten  verspätet  an. 

Die  Vorliebe,  technische  Probleme  in  den  Vorder¬ 
grund  zu  stellen,  beschränkt  sich  nicht  nur  auf  Amiet 
und  man  wird  den  Segantini- Schüler  und  -Freund, 
Giovanni  Giacometti,  der  mit  dem  pointillistischen 
Vokabular  arbeitet,  im  Anschluß  an  Amiet  erwähnen, 
weil  er  eines  der  typischen  Beispiele  dafür  ist,  daß 
die  jüngere  Schweizer  Künstlergeneration  erst  nach 
dem  Absterben  Böcklins  modern  wurde,  will  sagen 
zu  malen  anfing. 

Man  braucht  sich  nicht  zu  wundern,  wenn  bei 
solchen  Sturm-  und  Drangperioden  Exzesse  Vorkommen 
und  das  Farbenschaos  eines  Giacometti  manchmal 
wenig  mit  bildmäßiger  Darstellung  zu  tun  hat. 

Die  eigentlichen  »Künstler  um  Hodler«,  zu  denen 
der  Berner  Landschafter  Eduard  Boß  gehört,  gehen 
andere  Wege,  sie  bemühen  sich,  wie  ihr  Vorbild, 
alles  groß  zu  sehen  und  auf  einen  großen  Zuschnitt 
hin  zu  arbeiten.  Was  man  derb  und  kraftvoll  nennt, 
nähert  sich  dabei  vielfach  den  Grenzen,  wo  das  Derbe 
zur  Roheit  wird,  denn  merkwürdigerweise  zeigen  die 
wenigsten  Schweizer  Landschafter,  —  und  dieses 
Genre  ist  zurzeit  in  der  Kunstausübung  vorherrschend, 
—  Sinn  für  abgestufte  Farbenzusammenstellungen,  und 
man  ist  versucht,  die  ausgesprochene  Vorliebe  der 
Schweizer  für  die  lauten  und  mitunter  grellen  Töne 
für  eine  nationale  Eigenschaft  zu  halten.  Erfolgreichen 
Bemühungen,  auf  Berglandschaften,  dem  naheliegen¬ 


den  Stoffgebiet,  das  Ganze  durch  Lufttöne  zusammen- 
zidialten  und  auf  einheitliche  Stimmungen  hin  zu  ar¬ 
beiten,  begegnet  man  selten.  Das  Hauptgewicht  liegt 
auf  der  dekorativen  Wirkung,  dem  kräftigen  Kolorit, 
wobei  manche  in  das  Fahrwasser  unerfreulicher  Bunt¬ 
heit  kommen,  manche  verflachen.  Wieder  andere, 
denen  es  an  farbiger  Poesie  nicht  fehlt,  wie  der 
Berner  Plinio  Colombi,  und  Jacques  Ruch,  ein  Freund 
der  morgenhellen  Hochlandschaft,  wissen  in  ihre 
Farbendichtung  wenig  Harmonie  zu  bringen. 

Daß  Segantini  bei  der  malenden  Jung- Schweiz 
stark  umgeht,  dafür  sind  außer  Giacometti  noch 
manche  Belege  vorhanden.  Direkte  Nachahmer  seiner 
Technik  gibt  es  nur  wenige,  dagegen  viele,  die  sich 
in  Auswahl  und  Anordnung  ihm  anlehnen. 

Mit  besonderem  Glück  der  in  München  lebende 
Baseler  Maler  Hans  Beatus  Wieland,  einer  der  wenigen, 
der  seine  Hochlandschaften  mit  Figuren  belebt  und 
zwar  mit  Gestalten,  die  einen  Ton  des  stimmenden 
Gesamtakkords  bilden  und  aus  der  seelischen  Gestalt 
der  Landschaft  herauswachsen.  Von  der  Stimmungs¬ 
gewalt  der  letzten  Augenblicke  vor  Sonnenaufgang 
erzählte  ein  Kolossalgemälde  »Heimatland«  auf  der 
Lausanner  Ausstellung;  auf  den  Grundfon  einer  feier¬ 
lichen  Ergriffenheit  ist  ein  Bild  »Verglühen«  (1904) 
gestimmt.  Meist  sind  die  Figuren  die  Zuschauer  bei 
den  Naturdramen,  oder  die  Natur  ist  stumme  Zeugin 
menschlichen  Leides,  wie  in  dem  Bilde  der  »Witwe«. 

Wieland  kann  als  der  eigentliche  Repräsentant 
schweizerischer  Heimatkunst  gelten.  Ohne  sentimental 
zu  werden,  trägt  er  mit  einem  starken  Gefühlston  vor. 
Bilder,  wie  sein  Feldherr  Tod«  im  Züricher  Künst¬ 
lergut' ,  die  'Teufelspredigt«  (1901)  und  unser  Bild 
»Die  Witwe«,  zeigen,  daß  wir  einen  neuen  Roman¬ 
tiker  der  Schweiz  mit  besonderer  Bevorzugung  des 
heimatlichen  Hintergrundes  vor  uns  haben.  Ab¬ 
gesehen  vom  Inhalt  Wielandscher  Schöpfungen  ge¬ 
hören  sie  technisch  und  koloristisch  zu  den  bemerkens¬ 
wertesten  Erzeugnissen  der  Schweizer  Kunst. 

Die  Genremalerei  hat  sich  nach  diesen  Vorbildern 
in  der  Schweiz  endgültig  schlafen  gelegt.  Wenn  hei¬ 
matliche  Stoffe  behandelt  werden,  sind  sie  immer 
frei  von  alter  Salontirolerei. 

Bnri  hat  im  Vorjahre  eine  Gruppe  von  bieder¬ 
grobschlächtigen,  politisierenden  Bauern  im  Weinduft 
einer  Dorfschenke  mit  besonderer  Herausarbeitung 
stofflicher  Einzelheiten  gemalt,  ein  umfangreiches 
Bild,  auf  dem  man  einen  fleißigen  Beobachter  kennen 
lernt. 

ln  seinen  Landschaften  etwas  nüchtern  und  haus¬ 
backen  ist  er,  vielleicht  gerade  wieder  ein  Beispiel 
für  viele  junge  Schweizer  Künstler,  die  von  dem  Vor¬ 
wurf  der  Anekdote  noch  etwas  zu  sehr  befangen  sind, 
um  frei  und  malerisch  zu  gestalten. 

Der  Berner  Fritz  Widmann,  ein  Sohn  des  Berner 
Dichters  J.  V.  Widmann,  bildet  nach  dieser  Richtung 
eine  rühmenswerte  Ausnahme. 

Er  gehört  in  die  Gruppe  der  Schweizer  Landschafter, 
die  sich  im  Zürcher  Oberland,  in  Rüschlikon  am  Züricher 
See  niedergelassen  haben.  Widmann  ging  in  seinen 
Landschaften  lange  den  gleichen  Weg  mit  Hodler, 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 


155 


von  ihm  hat  er  die  große  Plastik,  die  Behandlung  des 
Raumes,  frei  und  selbständig  arbeitet  er  aber  mit 
Farbe  und  Licht  Die  Sonne  auf  dem  frischen  Winter¬ 
schnee,  die  Abendstimmung  des  schattigen  Hügellandes, 
der  Zauber  einer  windgepeitschten  Mondnacht,  das 
sind  die  Ausschnitte,  die  Widmann  mit  breiter  Be¬ 
haglichkeit  auf  die  Leinwand  bringt,  immer  mit  einer 
gewissen  deutschen  Treuherzigkeit,  mitunter  mit  einem 
Erzählerton  von  stark  romantischer  Färbung  und  hie 
und  da  mit  viel  poetischem  Sinn. 

Widmann  ist  der  glückliche  Fall  eines  Land- 


Auf  der  Düsseldorfer  Schweizer  Abteilung  und 
in  Lausanne  debütierte  unter  anderen  ein  junger  Neu- 
chäteler,  Rene  Auberjonois,  aus  Montagny  bei  Yverdon, 
ein  Künstler  mit  einer  ausgesprochenen  Vorliebe  für 
das  Häßliche,  Kecke,  mit  einem  Stich  zur  Karikatur. 
Was  an  ihm  fesselt,  sind  die  pikanten  Farbenharmonien 
seiner  in  schreienden  Tönen  gegebenen  Pastellzeich¬ 
nungen;  in  anderen  Bildern  schlägt  er  feine  matte 
Akkorde  an,  die  selbst  den  Anblick  einer  fetten,  nackten 
Frau  bei  der  Morgentoilette  zu  einem  ästhetischen 
machen,  und  die  Figur  eines  schneidigen  jungen 


FERD.  HODLER.  HERBST 


schafters,  der  mit  modernen,  malerischen  Ausdrucks¬ 
mitteln  auf  Stimmung  hin  arbeitet.  Man  wird  diesem 
Künstler  künftig  aufmerksam  zuschauen  müssen,  denn 
er  ist  ein  Schöpfer  von  starkem  Empfinden  und  viel¬ 
seitiger  Begabung,  ein  Charakter  unter  den  Schweizer 
Landschaftern,  der  mit  sicheren  Schritten  hervortritt. 

Die  Reihe  dieser  originellen  Erscheinungen  ist 
mit  Widmann,  der  nach  seinem  ganzen  künstlerischen 
Glaubensbekenntnis  unter  die  malende  Jung- Schweiz 
einzureihen  ist,  noch  nicht  abgeschlossen.  So  zeigte 
sich  bei  der  letzten  Revue  der  Schweizer  Kunst  in 
Lausanne  wieder  manches  neue  Gesicht,  das  man 
sich  gerne  näher  besah. 


Mädchens,  die  recht  flott  in  den  Raum  komponiert 
ist,  durch  malerische  Momente  zu  einer  exzeptionellen 
Leistung  in  der  Wiedergabe  der  ruhenden  Bewegung 
machen. 

Leute,  wie  Aubejonois  fügen  sich  keinem  Schema 
an.  Die  Nähe  Frankreichs  mag  zwar  zum  Teil  eine 
Erklärung  sein,  warum  solche  Bilder  in  der  Schweiz 
entstehen  können.  Aus  dem  unvermittelten  Auftauchen 
von  solchen  Sonderlingen,  wie  Auberjonois,  diesem 
Künstler  mit  der  Goja-Note,  und  mancher  anderen, 
die  noch  zu  wenig  gereift  sind,  darf  man  schließen, 
daß  die  Schweiz  in  Kunstsachen  bald  nicht  mehr 
quantite  negligable  sein  wird:  Hier  sind  Symptome 


156 


NEUE  SCHWEIZER  KUNST 


einer  starken  inneren  Entwickelung,  und  sie  lädt 
folgern,  daß  die  Schweiz  neben  Hodler  vielleicht  in 
ein  paar  Jahren  noch  um  einige  Namen  von  Klang 
reiclL>j'  sein  wird. 

ivvt  i  Sch'veizer  Künstler,  von  denen  der  eine 
weiteren  Kreisen  als  Franzose  bekannt  ist,  Eugene 
Diirnunä,  —  der  andere.  Albert  Welti,  in  der  Kunst 
ein  ’Jrschvveizer,  sein  Heim  bei  München  aufgeschlagen 
hat  —  gehören  schon  heule  zu  den  Auserwählten. 

■‘^/'elti  ist  sogar  populär  geworden.  Seine  Märchen¬ 
dichtungen  in  Lithographie  und  Radierung,  so  be¬ 
sonders  das  »Haus  der  Träume<  ,  haben  ihn  überall 
bekannt  gemacht. 

Albert  Welti  ist  einer  der  wenigen  Schweizer 
Künstler,  die  nicht  dokumentarische  Stoffe  geben. 
Sein  Reich  hat  nichts  mit  der  anderen  gemein,  er  ist 
in  der  Welt  der  freien  Erfindung,  des  Fabelwesens 
der  Dichtung  und  Romantik  zu  Hause.  In  das  Land 
der  Phantastik,  der  volkstümlichen  Märchenwelt  führen 
uns  seine  gemalten  Geschichten  vom  »Geizteufel« 
und  dem  »Prinzeßlein  mit  dem  lockigen  Goldhaar«, 
in  die  Welt  des  Dichterhumors  und  des  Volkswitzes 
seine  dekorativen  Entwürfe. 

Auf  der  Lausanner  Ausstellung  hat  er  Skizzen  für 
ein  Standesamt  ausgestellt,  über  deren  geistreichen 
Witz  und  köstliche  Gestaltungskraft  sich  Seiten 
schreiben  ließen.  Welti  ist  einer  jener  Romantiker, 
die  an  der  Dichtung,  die  sie  illustrieren,  weiter  schaffen. 
Der  Vorwurf  genügt  ihm  nicht,  er  baut  ihn  aus. 
Urdeutsch  ist  sein  Erzählerton,  seine  altmeisterliche 
Freudigkeit  am  Kleinen  und  sein  unermüdlicher  Eifer, 
um  die  ganze  Pracht  und  Sonderbarkeit  der  Sagen¬ 
welt  bis  ins  kleine  zu  erschöpfen. 

In  tollem  Wirbel  ziehen  Hexen  zum  Blocksberg, 
traumhaften  Visionen  gleich  steigt  alte  sagenhafte 
Ritterherrlichkeit  vor  seinen  Augen  auf,  in  gemütlicher, 
epischer  Breite  zeichnet  er  die  mittelalterliche  Welt, 
wie  sie  in  der  Phantasie  der  Dichter  und  Maler  lebt: 
so  wie  wir  wünschen,  daß  sie  gewesen  sein  sollte. 
Wenn  Welti  von  Volkssitten  erzählt,  geht  ihm  der 
Faden  nimmer  aus.  Tausend  tolle  Schurrpfeifereien 
und  Schwänke,  alte  Sprüche,  alte  Redensarten  nehmen 
Gestalt  an,  wie  er  über  das  Märchen  seinen  Zauber¬ 
nebel  breitet,  so  gibt  er  dem  Volkswitz  lebendiges 
Leben.  Ein  Tausendkünstler,  überreich  an  blühender 
Phantasie,  ein  Dichter  von  echter 
sinnlicher  Poetenfreudigkeit. 

Als  altdeutschen  Romantiker 
hat  er  sich  mit  seiner  Familie 
selbst  gemalt,  ein  echtes  Künstler¬ 
bild  mit  schön  geträumter  Staf¬ 
fage  und  Ideallandschaft,  in  das 
er  wie  so  häufig  seine  beschau¬ 
lichen,  idyllischen  Schilderungen 
deutschen  Familienlebens  verwebt. 

Welti,  der  Meister  der  klein¬ 
bürgerlichen  Sagenwelt,  söhnt  mit 
der  spröden  Trockenheit  der 
Schweizer  Kunst  aus,  er  ist  einer 
der  wenigen,  die  »liebenswürdig« 
sein  können. 


Unser  Bild  bringt  den  Entwurf  für  ein  Bogen¬ 
fenster  im  Bundespalais  zu  Bern,  die  »Schweizer 
Textilindustrie«,  im  Hintergründe  der  Zürichsee, 
des  Malers  Heimat.  Es  ist  für  Weltis  Stil  typisch, 
für  seine  Vielseitigkeit  bezeichnend,  für  seine  echte 
Dichternaivität  ein  schönes  Beispiel. 

Im  Anschluß  an  Welti  soll  ein  Münchener  Künst¬ 
ler  nicht  unerwähnt  bleiben,  der  seit  einigen  Jahren 
in  Zürich  lebt,  ein  Maler  mit  einer  starken  kolo¬ 
ristischen  Begabung,  Martin  Schönberger,  ein  Schöpfer 
der  heiteren  Kunst  mit  ausgesprochen  dekorativen 
Absichten.  Kinderporträts  und  Puttenbilder  sind  sein 
stoffliches  Hauptgebiet. 

Burnand  geht  grundverschiedene  Wege,  ein  Retro¬ 
spektiver  und  ein  Moderner  zugleich,  einer  der 
wenigen  Künstler,  die  alles  können,  ein  Zeichner  und 
Maler  par  excellence.  Er  hat  Geschichtsbilder  gemalt, 
er  hat  Land  und  Volk  der  Schweiz  dargestellt,  er  ist 
einer  der  bekanntesten,  religiösen  Maler  der  Moderne, 
in  unseren  Tagen  des  Spezialistentums  eine  Ausnahme¬ 
erscheinung.  »Petrus  und  Johannes  auf  dem  Wege 
zum  Grabe  des  Herrn«,  »Die  Flucht  Karls  des  Kühnen« 
sind  seine  gekanntesten  Schöpfungen.  Neuerdings 
wendet  er  sich  fast  ausschließlich  dem  religiösen  Genre 
zu,  in  der  Darstellung  die  Errungenschaften  der  Mo¬ 
derne  geschickt  verwertend. 

Burnand  hätte  das  Zeug,  alle  malerischen  Moden 
mitzumachen;  er  hat  darauf  verzichtet  und  schafft  un¬ 
beirrt  vom  Sturme  der  Richtungen,  auf  jedem  Werke 
ein  ganzer,  ein  großer  Künstler,  der  alles  in  den 
Dienst  der  Idee  stellt  und  technische  Spielereien  igno¬ 
riert.  Ich  sehe  die  Zeit  kommen,  wo  man  ihn  seiner 
Bedeutung  entsprechend  einschätzen  wird.  Heute  sind 
wir  noch  nicht  so  weit. 

Die  Schweizer  Kunst  wird  erst  Boden  fassen 
müssen,  es  wird  über  das  Mode-Dominieren  hinaus¬ 
gehen  müssen,  damit  man  klar  sehen  kann. 

Was  ich  im  Vorstehenden  gesagt  habe,  sind 
nur  Haupteindrücke  aus  einem  weiten  Gesichtsfeld. 
Künstler  wie  Giron,  Fritz  Burger,  Wilhelm  Lehmann, 
Otto  Gampert,  Schaltegger,  Völlmy  haben  im  süd¬ 
lichen  Deutschland  längst  Boden  gefaßt,  ihre  Zentrale 
ist  München  und  ihre  Würdigung  besorgt  die  deutsche 
Kunstschreibung.  Ich  wollte  absichtlich  nur  von  den 
augenfälligsten  und  neueren  Schweizern  reden,  um 
einmal  im  Zusammenhang  mit  der 
rüstigen  Schar  der  jungen  Schwei¬ 
zer  Künstler  bekannt  zu  machen. 
Wohin  der  Weg  gehen  wird? 
Die  Schweizer  Künstler,  die 
erst  seit  einigen  Jahren  geschlos¬ 
sen  auftreten,  wissen  es  heute 
selbst  nicht.  Daß  sie  etwas  »wol¬ 
len  <■<  steht  besonders  nach  ihrer 
letzten  Ausstellung,  auf  der  alles 
Minderwertige  rücksichtslos  in  den 
Seitensälen  unschädlich  gemacht 
wurde,  fest.  Im  eigenen  Lager 
strenge  Kritik,  das  war  immer 
noch  ein  gutes  Zeichen  für  ge¬ 
sunde  Entwickelung. 


EUGEN  BURNAND.  DAS  GEBET  DES  HOHEN  PRIESTERS 


STADT-  UND  LANDARBEIT.  TERRAKOTTEN  VON  JULES  DALOU 


JULES  DALOU  UND  SEIN  DENKMAL  DER  ARBEIT 

Von  Karl  Eugen  Schmidt 


ICH  glaube,  mit  dem  Prinzip  I’art  ]:)Our  l’art  haben 
wir  jetzt  bald  ausgewirtschaftet.  Wie  es  immer 
zu  gehen  pflegt,  war  man  aus  Oppostion  gegen 
das  eine  in  das  andere  Extrem  geraten.  Weil  es 
viele  Maler  gab,  die  nur  durch  ihr  Thema,  durch 
ihre  Anekdote,  interessierten,  sonst  aber  langweilige, 
schlechte  oder  gar  keine  Künstler  waren,  stellte  man 
das  Prinzip  auf,  daß  ein  Maler  vor  allen  Dingen  das 
Malen  verstehen  muß.  Das  ist  ganz  richtig,  aber 
damit  waren  die  Anekdotengegner  noch  nicht  zu¬ 
frieden.  Sie  sagten  jetzt,  ein  Kunstwerk  dürfe  über¬ 
haupt  keinen  Inhalt  haben,  und  so  oft  ihnen  ein 
Bild  oder  eine  Skulptur  vorkam,  die  eine  Idee,  eine 
Lehre  enthielten,  gerieten  sie  in  Zorn  und  verdammten 
das  Werk  von  vorneherein,  ohne  sich  im  übrigen 
um  das  in  ihm  niedergelegte  Talent  zu  kümmern. 

jetzt  fangen  wir  an  verständiger  zu  werden,  und 
vielleicht  sind  wir  bald  wieder  am  rechten  Punkte 
angelangt.  Die  Anekdotenkrämer  sind  aus  dem  Felde 
geschlagen,  über  sie  und  ihr  Prinzip  werden  keine 
Worte  mehr  gemacht.  Es  ist  also  Zeit,  daß  man 
das  Extrem  aufgebe  und  die  in  der  Mitte  liegende 
Wahrheit  suche.  Diese  Wahrheit  aber  heißt  ganz 
einfach,  daß  ein  Kunstwerk  deshalb  nicht  schlecht 
wird,  weil  es  einen  Inhalt  hat,  der  nichts  mit  der 
Kunst  zu  tun  hat.  Für  die  Literatur  wird  das  ohne 
weiteres  jeder  zugeben.  Theophil  Gautier  verlangte 
als  Priester  des  Art  pour  Part,  daß  ein  Vers  sauber 


gefeilt  und  abgerundet  sei,  daß  er  voll  und  schön 
klinge.  Ob  die  Worte,  aus  denen  er  gebildet  war, 
außerdem  auch  noch  etwas  bedeuteten,  war  ihm 
einerlei.  Die  Form  war  alles,  der  Inhalt  nichts. 
Diese  Ansicht  hat  selbst  in  der  hitzigsten  Kampfeszeit 
in  Deutschland  nur  sehr  wenige  Vertreter  gefunden, 
was  die  Poesie  anlangt.  Der  Deutsche  wollte  nach 
wie  vor  nicht  nur  Worte  hören,  er  wollte  sich  nicht 
mit  einem  leeren  Reimgeklingel,  mit  dem  tönenden 
Erze  zufriedengeben,  er  wollte  dabei  auch  etwas  zu 
denken  haben.  Aber  für  die  bildende  Kunst  fand 
man  Gautiers  Ansicht  gut  und  maßgebend. 

Warum  dieses  zweierlei  Maß?  Wenn  die  Poesie 
und  die  Musik  eine  andere  Aufgabe  haben,  als  nur 
dem  Ohre  zu  schmeicheln,  dann  wird  doch  wohl  auch 
die  bildende  Kunst  noch  anderen  Zielen  nachgehen 
dürfen,  als  nur  dem  Auge  zu  gefallen.  Sie  wird  es 
nicht  nur  dürfen,  sie  wird  es  sogar  müssen,  wenn 
sie  das  höchste  Ziel  erreichen  soll.  Dieses  höchste 
Ziel  sehe  ich  darin,  daß  Form  und  Inhalt  gleich 
vollkommen  sind.  Ich  finde  es  erreicht  bei  Dürer, 
bei  Memling,  bei  van  der  Goes,  deren  Werke  uns 
innerlich  ebenso  bewegen  wie  äußerlich.  Und  es 
war  und  ist  nur  dadurch  zu  erreichen,  daß  der  große 
Künstler  von  einer  hohen,  erhabenen  Idee  durch¬ 
drungen  ist.  Eine  solche  Idee  war  das  Christentum, 
als  es  noch  lebendig  unter  uns  war.  Eine  solche 
Idee  ist  heute  —  der  Sozialismus,  der  ja  im  Grunde 


JULES  DALOU  UND  SEIN  DENKMAL  DER  ARBEIT 


159 


seines  Wesens  dem  Christentum  nahe  verwandt  ist. 
Ich  glaube  daher,  daß  die  bildende  Kunst  durch  den 
Sozialismus  wieder  einen  ihrer  höchsten  Gipfel  er¬ 
reichen  wird.  Konstantin  Meunier  in  Belgien  und 
Jules  Dalou  in  Frankreich  scheinen  mir  bereits  diese 
kommende  große  Kunstepoche  zu  verkünden,  eine 
Epoche,  wo  der  Künstler  nicht  nur  für  das  kleine 
Häuflein  der  Verständigen, 

Kenner  und  Liebhaber  ar¬ 
beiten  wird,  sondern  wo  er 
bei  jedermann,  bei  dem 
Höchsten  wie  bei  dem  Ge¬ 
ringsten,  verwandte  Saiten 
anschlagen  wird.  Und  ge¬ 
rade  hierin,  wenn  in  sonst 
nichts,  halte  ich  Meunier 
und  Dalou  für  größere 
Künstler  als  Rodin  und 
Klinger,  die  ihnen  an  tech¬ 
nischer  Künstlerschaft  ge¬ 
wiß  nicht  nachstehen,  deren 
Werke  sich  aber  nur  an 
einen  beschränkten  Kreis 
wenden. 

Man  zeige  die  kleine 
Statuette  von  Meunier,  die 
über  die  Leiche  des  am  Bo¬ 
den  liegenden  Bergmannes 
gebeugte  Frau,  dem  ersten 
besten  Arbeiter  oder  dem 
feinstgebildeten  Kunstken¬ 
ner.  Beide  werden  bewegt 
und  entzückt  sein,  wie 
beide  die  Grablegung  von 
Quentin  Massys  verstehen 
und  bewundern.  Vor  Klin- 
gers  Beethoven  wie  vor 
Rodins  Balzac  wird  der 
Arbeiter  verständnislos  vor¬ 
übergehen.  Nun  ist  es  ja 
eine  alte  Geschichte,  daß 
es  nicht  gerade  die  besten 
Sachen  sind,  die  dem  grö߬ 
ten  Haufen  gefallen,  aber 
doch  scheint  mir,  daß  die 
allerbesten  und  allergrößten 
Werke  in  jeder  Menschen¬ 
seele  ein  Echo  finden  müssen, 
nicht  nur  bei  dem  raffinier¬ 
ten  Kulturmenschen,  son¬ 
dern  auch  bei  dem  unge¬ 
bildeten  Arbeiterund  Bauern.  |.  DALOU.  DAS  DENKMAL 
Und  dieses  Echo  wird  eben 

dadurch  hervorgerufen,  daß  diese  Meisterwerke  Ge¬ 
fühle  wecken,  die  in  jeder  Menschenseele  vorhanden 
sind.  Schillers  Wilhelm  Teil,  Shakespeares  Othello, 
Hiobs  Klage  bewegt  den  Gebildeten  wie  den  Unge¬ 
bildeten,  weil  niemand  gerne  geknechtet  ist,  weil  jeder 
zur  Liebe  und  zur  Eifersucht  fähig  ist,  weil  jeder 
schon  einmal  unglücklich  gewesen  ist  und  das  Schick¬ 
sal  angeklagt  hat. 


Das  höchste  der  Kunst  erreichbare  Ziel  scheint 
mir  also  das  Werk  zu  sein,  das  auf  alle  Menschen 
wirkt.  Und  ich  glaube,  von  dieser  Ansicht  sind  wir 
nur  deshalb  abgekommen,  weil  seit  der  Renaissance 
der  Künstler  nur  noch  für  Personen  arbeitet,  nicht 
mehr  für  Ideen,  oder  was  das  nämliche  ist,  nicht 
mehr  für  Gott.  Und  heutzutage  steht  die  Kunst  ganz 

und  gar  im  Dienste  des 
reichen  Privatmannes  und 
richtet  sich  nach  seinem 
Geschmack.  Ihre  besten 
Vertreter  arbeiten  für  die 
am  feinsten  gebildeten,  mit 
dem  auserlesensten  Ge- 
schmacke  ausgestatteten  Pri¬ 
vatleute.  Es  handelt  sich  für 
sie  also  nicht  darum,  eine 
große  Wahrheit  auszuspre¬ 
chen,  die  in  allen  Seelen 
Widerhall  finden  muß.  Und 
nur  dadurch,  daß  die  Kunst 
auf  diesen  Weg  gedrängt 
wurde,  war  es  überhaupt 
möglich,  daß  man  bis  zu 
dem  absurden  Extrem  der 
Forderung  l’Art  pour  Part 
kommen  konnte.  L’Art 
pour  Part  ist  die  Kunst 
für  die  beschränkte  Zahl 
der  Feinschmecker,  und  sie 
kann  niemals  zu  dem  höch¬ 
sten  erreichbaren  Gipfel  ge¬ 
langen,  wo  die  deutschen 
und  niederländischen  Mei¬ 
ster  des  15.  und  16.  Jahr- 
,  hunderts  stehen,  und  dem 
unsere  Zeitgenossen  Meu¬ 
nier  und  Dalou  nahege¬ 
kommen  sind. 

Zu  allen  diesen  Betrach¬ 
tungen  werde  ich  durch 
das  Denkmal  der  Arbeit 
verleitet,  worin  Jules  Dalou 
seinen  schönsten  Traum 
zu  verwirklichen  gedachte 
und  das  leider  nie  zur  ersehn¬ 
ten  Vollendung  und  Aus¬ 
führung  gekommen  ist. 
Dalou  hat  in  England,  wo 
er  nach  der  Niederwerfung 
der  Kommune  als  politi- 
DER  ARBEIT.  1.  ENTWURF  scher  Flüchtling  lebte,  die 

anmutigsten  und  lebens¬ 
vollsten  Büsten,  Statuetten  und  Gruppen  geschaffen, 
die  genügen  würden,  um  ihn  an  die  erste  Stelle  der 
modernen  Bildhauer  zu  bringen.  Der  Ruf  von  diesen 
Arbeiten  ist  aber  nicht  über  England  hiuausgedrungen, 
und  selbst  in  Frankreich,  geschweige  denn  in  Deutsch¬ 
land,  weiß  man  wenig  oder  nichts  von  ihnen.  Erst 
als  nach  dem  Tode  Dalous  ein  vortreffliches,  mit  zahl¬ 
reichen  guten  Abbildungen  geschmücktes  Werk  über 


22 


i6o 


JULES  DALOU  UND  SEIN  DENKMAL  DER  ARBEIT 


ihn  erschien^), 
auf  das  ich 
hier  empfeh¬ 
lend  hinwei- 
sen  möchte, 
erfuhren  die 
Pariser,  was 
ihrLandsmann 
während  der 
Verbannung 
in  England 
getan  hatte. 
Seine  nach  der 
Amnestie  in 
Paris  entstan¬ 
denen  Arbei¬ 
ten  sind  besser 
bekannt,  be¬ 
sonders  das  außerordentlich  interessante  und  charak¬ 
tervolle  Denkmal  für  Eugen  Delacroix  und  dann  der 
große  »Triumph  der  Republik<.  Drei  andere  Denk¬ 
mäler  Dalous,  die  ebenfalls  in  Paris 
aufgestellt  sind,  das  für  Alphand  in 
der  Avenue  du  Bois  de  Boulogne, 
das  für  Boussingault  im  Conser- 
vatoire  des  Arts  et  Metiers  und  das 
für  Jean  Leclaire  im  wenig  besuchten 
Square  des  Epinettes,  sind  weniger 
bekannt  geworden,  obgleich  sich  alle 
drei  nicht  nur  durch  dekorative 
Vorzüge,  sondern  auch  durch  eigen¬ 
artige  und  charakteristische  Auffas¬ 
sung  auszeichnen.  Außerdem  ist 
Dalou  der  Urheber  eines  Denkmals 
für  Gambetta,  das  erst  nach  seinem 
Tode  in  Bordeaux  aufgestellt  wor¬ 
den  ist.  In  Erankreich  ist  neben  dem 
Triumphe  der  Republik  am  bekann¬ 
testen  das  durch  Stich  und  Photo¬ 
graphie  weitverbreitete,  in  allen  öffentlichen  Schulen 
hängende  Relief,  welches  die  Szene  darstellt,  wie 
Mirabeau  den  Marquis  von  Dreux- Breze  aus  der 
Ständeversammlung  weist. 

Doch  soll  hier  weder  von  diesen  Arbeiten,  noch 
von  der  Bacchantengruppe  im  Luxembourggarten,  noch 
von  dem  an  Carpeaux  erinnernden  Relief  im  städti¬ 
schen  Gewächshause  die  Rede  sein.  In  allen  diesen 
Arbeiten,  wie  auch  in  seinen  zahlreichen  Büsten,  hat 
Dalou  nicht  das  zeigen  können,  was  ihn  am  tiefsten 
und  stärksten  bewegte.  Selbst  in  seinem  Triumphe 
der  Republik  wird  der  innere  Gehalt  von  der  äußeren 
Prachtentfaltung  erdrückt,  und  nur  die  Figur  der  Repu¬ 
blik  selbst  zeigt,  daß  wir  es  hier  nicht  mit  dem  kalten 
Werke  eines  offiziellen  Bildhauers,  sondern  mit  der 
Herzensschöpfung  eines  innerlich  bewegten  Künstlers 
zu  tun  haben.  Während  der  Arbeiten  an  diesem 
Denkmal  kam  dem  Künstler  der  Gedanke,  dem  arbeiten¬ 
den  Volke,  dem  er  zugehörte,  ein  Denkmal  zu  er- 


i)  Dalou,  sa  vie  et  son  oeuvre,  par  Maurice  Dreyfous. 
Paris,  H.  Laurens,  6  rue  de  Tournon. 


richten.  Zwar  hatte  er  schon  in  dem  Triumphe  der 
Republik  angedeutet,  wie  großen  Wert  er  dem  Arbeiter, 
als  dem  Träger  des  Staates  und  der  Kultur,  beilegte, 
indem  er  all  den  symbolischen  Figuren,  welche  den 
Triumphwagen  der  Republik  begleiten,  als  einzige  der 
Wirklichkeit  entnomm.ene  Gestalt  einen  Arbeiter  in 
Schurzfell  und  Holzschuhen  beigesellte,  aber  ihm 
selbst  war  nach  der  Aufstellung  des  Gipsmodelles 
offenbar  geworden,  wie  fremd  der  Symbolismus  dem 
Volke  ist  und  wie  wenig  sein  Denkmal,  abgesehen 
von  dieser  einzigen  Figur  und  von  der  siegesfrohen 
Republik,  von  dem  Volke  verstanden  wurde.  Und 
so  wollte  er  ein  neues  großes  Werk  ganz  und  ohne 
Rückhalt  dem  arbeitenden  Volke  widmen,  ein  Werk, 
das  jedem  Arbeiter,  jedem  Bauer,  jedem  Menschen 
verständlich  wäre. 

Während  er  an  seinen  Aufträgen  für  Staat,  Stadt 
und  Private  arbeitete,  ging  er  diesem  Plane  nach.  Er 
studierte  die  Arbeiter,  wo  immer  sie  zu  finden  waren, 
auf  der  Straße,  in  der  Werkstatt,  in  der  Fabrik,  auf 
dem  Acker,  auf  dem  Meere.  Im  Laufe  der  Zeit 
brachte  er  so  eine  ganze  Armee  von 
kleinen  Statuetten  zusammen:  Berg¬ 
leute,  Pflasterer,  Metzger,  Erdarbeiter, 
Fischer,  Schnitter,  Ährenleserinnen, 
Wäscherinnen,  Sackträger.  Daneben 
ging  er  an  den  Gesamtplan  seines 
Denkmals.  Seine  erste  Skizze  zeigt 
ein  massiges  Postament,  das  von 
einem  Reiter  gekrönt  wird.  Der 
Reiter  ist  ein  Bauer,  der  auf  einem 
schweren  Ackergaul  vom  Felde 
heimkehrt.  Unten  umgeben  sech¬ 
zehn  Statuen  von  Arbeitern  aller 
Berufe  den  Sockel,  der  auf  einem 
rundum  von  einem  Arbeiterfriese 
umgebenen  Aufbaue  ruht,  zu  dem 
wiederum  einige  Stufen  hinaufführen. 
Dieses  Modell  baute  er  zwei  Meter  hoch 
auf  und  quälte  sich  lange  mit  den  Einzelheiten.  Zu 
dem  Pferde  modellierte  er  beispielsweise  einen  Muskel¬ 
gaul,  um  die  Anatomie  genau  kennen  zu  lernen. 

Bisher  war  Dalou  nie  aus  den  Städten  Paris  und 
London  heraus¬ 
gekommen.  Trotz 
seiner  großen 
Aufträge  hatte  er 
nie  genug  ver¬ 
dient,  um  sich 
und  seiner  Fa¬ 
milie  den  Land¬ 
aufenthalt  zu  ge¬ 
statten.  Im  Jahre 
1895  schrieb  er 
mit  Genugtuung 
in  sein  Tagebuch, 
daß  er  bisher 
16023  Franken 
erspart  und  im 
letzten  Jahre  7  300 
Franken  ausge- 


JULES  DALOU  UND  SEIN  DENKMAL  DER  ARBEIT 


geben  habe. 
Das  war  zu 
der  Zeit,  wo 
an  offiziellen 
Aufträgen 
kein  Mangel 
war,  wo  er  zu 
den  ersten 
Bildhauern 
Frankreichs 
gezählt  wurde, 
und  wo  die  of¬ 
fiziellen  Bild¬ 
hauer  vom 
Schlage  der 
Mercie  und 
Falguiere  all¬ 
jährlich  Hun¬ 
derttausende 

verdienten.  Das  Geheimnis  seiner  geringen  Einnahmen 
bestand  darin,  daß  er  sich  nie  genug  tun  konnte, 
daß  er  eine  Arbeit  wieder  und  wie¬ 
der  von  vorne  anfing,  und  daß  er 
die  meisten  seiner  großen  Arbeiten 
zu  Bedingungen  ausgeführt  hat,  die 
einen  Verdienst  gänzlich  ausschlossen. 

Sein  großes  Denkmal  der  Republik 
hat  er  z.  B.  nicht  weniger  als  dreimal 
in  der  endgültigen  Größe  aufgebaut 
und  vollendet;  zweimal  hat  er  es  als 
ungenügend  niedergerissen  und  zer¬ 
schlagen,  bis  es  endlich  seinen  An¬ 
sprüchen  genügte.  In  dieser  Zeit, 
wo  andere  Bildhauer  ihre  flüchtigsten 
und  unfertigsten  Entwürfe  ausstellen 
und  der  blinden  Bewunderung  ihrer 
Anbeter  übergeben,  muß  dieses  nim¬ 
merrastende  Ringen  eines  der  größten 
Künstler  unserer  Zeit  besonders  unter¬ 
strichen  werden. 

Zur  Ausführung  seines  Lieb¬ 
lingstraumes  war  es  nötig,  nicht  nur 
die  Arbeiter  der  Großstadt  zu  kennen. 

Dalou  ging  im  Sommer  1891  zum  erstenmale  in  die 
Ferien.  Er  blieb  einige  Wochen  in  einem  kleinen 
Fischerdorfe  der  Bretagne  und  studierte  dort  die 
arbeitende  Bevölkerung  der  Küste.  Im  nächsten  Jahre 
nahm  ihn  ein  Freund  mit  nach  Toul,  wo  er  in  den 
Eisenwerken  Skizzen  machte.  Dann  verlebte  er  einen 
Sommer  auf  dem  Lande  unter  Bauern,  und  so  sam¬ 
melte  er  allmählich  das  große  Skizzenmaterial,  das 
man  nach  seinem  Tode  in  seiner  Werkstatt  auffand, 
und  das  wir  hier  in  einer  Abbildung  vereinigt  wieder¬ 
geben.  Man  sehe  diese  Abbildung  an,  die  trotz  ihrer 
Unzulänglichkeit  eine  Idee  gibt  von  der  Lebendigkeit, 
von  der  quecksilbernen  Beweglichkeit  aller  dieser 
plastischen  Momentaufnahmen.  Es  wimmelt  und 
zappelt  da  wie  in  einem  Ameisenhaufen,  und  man 
hat  ganz  den  Eindruck,  als  sähe  man  eine  nach  dem 
Leben  aufgenommene  Photographie.  Alle  diese  Figür- 
chen  sind  kaum  eine  Spanne  hoch,  aber  viele  von 


ihnen  sind  sorgfältig  durchgearbeitet  und  vollendet, 
dergestalt,  daß  man  sie  ohne  weiteres  dem  Marmor¬ 
arbeiter  oder  dem  Gießer  zur  Vergrößerung  und  Aus¬ 
führung  übergeben  könnte.  Eine  dieser  Figuren  hat 
Dalou  zu  einer  eigenen  Arbeit  verwendet  und  daraus 
den  Säemann  gemacht,  den  wir  hier  ebenfalls  ab¬ 
bilden.  Und  eine  einzige  Figur,  einen  auf  die  Hacke 
gestützten  Bauer,  hat  er  in  der  definitiven  Größe  von 
zwei  Metern  vollendet. 

Alle  diese  Figürchen  sollten  indessen  nur  Vor¬ 
arbeiten  zu  dem  endgültigen  Werke  sein,  und  dieses 
Werk  hatte  inzwischen  schon  verschiedene  Änderungen 
durchgemacht.  Der  erste  Entwurf  des  etwas  schwer¬ 
fälligen  Postamentes  mit  dem  reitenden  Bauer  war 
verworfen  worden,  und  in  zwanzig  aufeinander  folgen¬ 
den  Skizzen  nahm  das  Denkmal  nach  und  nach  die 
letzte  und  beibehaltene  Gestalt  an.  Der  breite  und 
schwere  Sockel  wurde  schlanker  und  gefälliger,  der 
Reiter,  als  zu  sehr  an  die  gewöhnlichen  Denkmäler 
von  Fürsten  und  Kriegsleuten  mahnend,  verschwand. 
Aus  dem  breiten  Postament  wurde  eine  hohe  Säule, 
die  zuerst  vier,  dann  acht  Seiten  hatte 
und  schließlich  rund  mit  verjüngen¬ 
der  Spitze  wurde.  Wie  man  von  den 
militärischen  Monumenten  Waffen 
und  Rüstungen  herabhängen  ließ,  so 
sollten  von  den  Denkmale  der  Arbeit 
als  Trophäen  Werkzeuge  aller  Art 
herabhängen.  Diese  Werkzeuge  ma¬ 
chen  den  Schmuck  der  eigentlichen 
Säule  aus,  wie  sie  uns  in  dem  letzten, 
hier  abgebildeten  Entwürfe  gezeigt 
wird.  Den  unteren  Säulenschaft  um¬ 
geben  dann  die  in  Nischen  stehenden 
sechzehn  Vertreter  der  Arbeit,  die 
in  dem  Werke  lebensgroß  werden 
sollten.  Die  Säule  steht  auf  einem 
quadratischen  Unterbaue,  der  an  den 
vier  Seiten  von  Reliefdarstellungen 
geschmückt  wird,  die  Arbeit  auf  dem 
Felde,  unter  der  Erde,  auf  dem  Wasser 
und  in  der  Fabrik. 

In  dieser  Gestalt,  leider  nur  als 
Entwurf,  aber  als  Entwurf,  der  ohne  weiteres  den 
ausführenden  Gießern  hätte  übergeben  werden  können, 
wurde  das 
Denkmal  der 
Arbeit  nach  dem 
Tode  des  Künst¬ 
lers  in  seiner 
Werkstatt  auf- 
gefunden.  Da¬ 
lou,  der  die 
Reklame  und 
alles,  was  ihr 
ähnlich  sah, 
ebensosehr 
scheute,  wie  sie 
von  anderen 
Künstlern  ge¬ 
liebt  wird,  hatte 


JULES  DALOU  UND  SEIN  DENKMAL  DER  ARBEIT 


1 62 


FELDARBEITER.  TONRELIEF  VON  |.  DALOU 


nur  mit  seinen  vertrautesten  Freunden  von  dem  Entwürfe 
gesprochen.  Als  im  Jahre  1898  der  Gedanke  auftauchte, 
bei  Gelegenheit  der  kommenden  Weltausstellung  ein 
Denkmal  der  Arbeit  zu  errichten,  schickte  ein  Pariser 
Blatt  einen  Berichterstatter  zn  den  bekanntesten  Bild¬ 
hauern  der  Stadt.  Der  Mann  kam  auch  zu  Dalou, 
und  der  Künstler,  der  sich  seit  neun  Jahren  mit 
diesem  nämliclien  Gedanken  beschäftigte,  der  seine 
definitive  Skizze  seit  vier  Jah¬ 
ren  in  der  Werkstatt  stehen 
hatte,  sagte  dem  Manne  kein 
Wort  von  dieser  Tatsache  und 
beschränkte  sich  damit,  den 
Gedanken  im  allgemeinen  gut- 
zuheillen.  Offenbar  war  Dalou 


der  Ansicht,  daß  man  sich  nur  mit  ganz  fertigen 
Werken,  nicht  aber  mit  Hoffnungen  und  Entwürfen 
in  der  Öffentlichkeit  zeigen  dürfe.  Erst  nach  seinem 
Tode  sind  die  Studien  und  Entwürfe  zu  dem  Denkmal 
Dalous  bekannt  geworden,  und  ohne  seinen  Tod 
hätten  wir  die  größte  Anzahl  dieser  Skizzen  nie  ge¬ 
sehen,  denn  dieser  in  unserer  Zeit  wirklich  seltsame 
Mensch  hatte  die  Angewohnheit,  alle  Vorarbeiten,  die 
ihm  nicht  genügten,  erbar¬ 
mungslos  zu  vernichten.  Einer 
seiner  Mitarbeiter  und  Freunde, 
August  Becker,  hat  einige  Ar¬ 
beiten  dadurch  gerettet,  daß  er 
sie  im  Atelier  versteckte  und 
vor  den  Augen  des  Meisters 


STUDIEN  IN  TERRAKOTTA  VON  J.  DALOU 


JULES  DALOU  UND  SEIN  DENKMAL  DER  ARBEIT 


163 


verbarg.  Andere  sind  auf  inständiges  Bitten  seiner 
Ereunde  verschont  geblieben,  aber  immer  nur  unter 
der  Bedingung,  daß  der  Bittende  die  in  den  Augen 
des  Meisters  unvollkommene  Arbeit  alsbald  wegschaffte 
und  mit  nach  Hause  nahm,  wo  sie  Dalous  Auge  nicht 
mehr  traf. 

Dalous  Name  wird  in  der  Geschichte  der  modernen 
Skulptur  immer  an  einer  der  ersten  Stellen  genannt 
werden.  Er  ist  mit  Rüde  und  Carpeaux  der  größte 
französische  Bildhauer  des  19.  Jahrhunderts.  Vielleicht 
würde  man  ihn  an  die  allererste  Stelle  rücken  müssen. 


wenn  es  ihm  vergönnt  gewesen  wäre,  dasjenige  Werk, 
das  aus  seinem  tiefsten  Herzensgründe  erwachsen  war, 
das  für  ihn  die  Verwirklichung  seines  liebsten  Ge¬ 
dankens  gewesen  wäre,  das  Denkmal  der  Arbeit,  zur 
endgültigen  Vollendung  zu  führen.  Kein  Zweifel, 
daß  diese  Arbeit  durch  die  vollendete  Meisterschaft 
des  Künstlers  die  Kenner  und  die  Gebildeten,  durch 
die  hinreißende  Gewalt  der  Idee  das  Volk  begeistert 
und  so  jenes  höchste  Ziel  der  bildenden  Kunst  er¬ 
reicht  hätte,  in  dem  Herzen  eines  jeden  Beschauers 
ein  Echo  zu  erwecken. 


J.'DALOU.  DAS  DENKMAL  DER  ARBEIT.  3.  ENTWURF 


STUDIEN  IN  TERRAKOTTA  VON  JULES  DALOU 


DIE  WIEDERGABE  GRIECHISCHER  KUNSTWERKE  DURCH 
BILDHAUER  DES  RÖMISCHEN  TREVERERLANDES 

Von  Hans  Graeven 


Die  Grabdenkmäler,  die  zur  Römerzeit  im  Lande 
der  Treverer,  dem  Gebiet  des  späteren  Erz¬ 
bistums  Trier,  entstanden  sind,  trugen  viel¬ 
fach  als  Schmuck  Darstellungen  aus  der  griechischen 
Mythologie.  Das  Provinzialmuseum  in  Trier  besitzt 
eine  ganze  Reihe  solcher  Skulpturen  i),  z.  B.  Perseus 
die  Andromeda  befreiend,  Apollo  die  Daphne  ver¬ 
folgend,  Herakles  den  Apollinischen  Dreifuß  raubend, 
Iphigenie  das  Artemisidol  aus  Tauris  forttragend, 
aber  diese  Skulpturen  finden  sich  alle  auf  vereinzelten 
Blöcken.  Ein  vollständig  erhaltenes  Grabdenkmal  in 
der  Art  derjenigen,  von  denen  jene  Blöcke  stammen, 
steht  nur  noch  in  dem  eine  Meile  oberhalb  Triers 
an  der  Mosel  gelegenen  Dörfchen  Igel,  darnach  die 
Igeler  Säule  benannt  (Abb  i). 

Es  ist  ein  gewaltiger  Bau  von  23  Meter  Höhe, 
der  die  Dächer  der  umgebenden  Häuser  weit  über¬ 
ragt.  Die  Mosel  fließt  unweit  vom  Fuß  des  Denk¬ 
mals  parallel  der  heutigen  Landstraße,  die  den  Lauf 
der  römischen  hat.  Der  Platz  ist  ausgesucht,  damit 
sowohl  die  auf  der  Straße  Wandernden  als  die  den 
Fluß  Befahrenden  das  Denkmal  schauen  sollten  und 
demgemäß  ist  die  dem  Fluß  und  der  Straße  zuge¬ 
kehrte  Seite  die  Hauptseite,  die  die  Inschrift  trägt. 
Nach  ihr  haben  zwei  Brüder,  L.  Secundinius  Aventinus 
und  L.  Secundinius  Securus,  bei  Lebzeiten  den  Bau 
errichtet,  als  Grabdenkmal  für  sich  und  eine  Reihe 
verstorbener  Angehöriger.  Namhaft  gemacht  werden 
die  Eltern  der  Brüder,  die  Gattin  des  Aventinus, 
zwei  Kinder  des  Securus  und  zwei  Familienglieder, 
Vater  und  Sohn,  über  deren  verwandtschaftliches 
Verhältnis  zu  den  Denkmalserbauern  nichts  näheres 
gesagt  ist.  Die  heute  herrschende  Sitte,  in  der  Grab¬ 
schrift  das  Todesjahr  anzugeben,  war  im  Altertum 
nicht  verbreitet,  daher  erfahren  wir  auch  aus  der  In¬ 
schrift  der  Igeler  Säule  nichts  über  deren  Alter,  aber 
der  Vergleich  mit  anderen  Skulpturen  lehrt,  daß  sie 
ungefähr  ums  Jahr  200  n.  Chr.  entstanden  ist. 

Gleich  der  Hauptseite,  die  unsere  Abbildung 
wiedergibt,  sind  alle  übrigen  Seiten  vollständig  be¬ 
deckt  mit  Reliefs,  aber  der  Zahn  der  Zeit  hat  er¬ 
barmungslos  die  Steine  benagt.  Ursprünglich  ist  die 
ganze  Oberfläche  mit  einer  Kreideschicht  überzogen 
und  bemalt  gewesen,  die  Figuren  in  dunklerer  Farbe 
haben  sich  kräftig  von  dem  hellen  Hintergründe  ab¬ 
gehoben.  Der  Kreideüberzug  ist  allmählich  abgeblättert 
und  später  hat  der  weiche  Sandstein,  aus  dem  der 
Bau  besteht,  auch  die  harte  Silikatschicht  eingebüßt, 
die  sich  auf  ihm  gebildet  hatte  und  die  ihm  lange 
eine  schützende  Decke  war.  Ältere  Abbildungen 


1)  Vgl.  Hcltner,  Die  römischen  Steindenkmäler  des 
Provinzialmuseums  zu  Trier  (Trier  1893)  Nr.  206;  West¬ 
deutsche  Zeitschrift  XVI  (1897)  Taf.  22,  Heltner,  Illustrierter 
ABB.  1.  SÄULE  VON  IGEL  Führer  durch  das  Provinzialmuseum  inTrier  (Trier  1903)  S.9. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVl.  H.  h 


23 


i66 


DIE  WIEDERGABE  GRIECHISCHER  KUNSTWERKE 


veranschaulichen’),  wie  in  den  letzten  Jahrhunderten 
die  Zerstörung  fortgeschritten  ist,  der  sich  jetzt  kein 
Einhalt  mehr  gebieten  läßt.  Hoffentlich  finden  sich 
die  Mittel  dazu,  eine  Abformung  zu  machen  und 
wenigstens  in  Gipsabgüssen  den  heutigen  Zustand 
festzuhalten  -). 

Auf  dem  untersten  Sockel  ist  an  der  Vorderseite, 
deren  rechte  Ecke  in  neuerer  Zeit  völlig  hat  ergänzt 
werden  müssen,  keine  erkennbare  Spur  der  Reliefs 
mehr  übrig  geblieben,  auf  den  anderen  Seiten  sieht 
man,  daß  der  unterste  Sockel  ein  ringsumlaufendes 
Band  von  Schiffen  und  Wasserbewohnern  gehabt  hat. 
Die  Schiffe  nehmen  die  mittlere  Quaderschicht  ein, 
die  untere  trägt  Tritonen,  Hippokampen  und  andere 
phantastische  Meerwesen,  die  obere  Delphine,  die  von 
Eroten  begleitet  sind  und  ihnen  als  Reittiere  dienen. 

Der  obere  Sockel  enthält  auf  allen  vier  Seiten  je 
ein  Bild  aus  dem  täglichen  Leben  der  Denkmals¬ 
erbauer,  Bilder  derselben  Art  sind  für  den  Eries  des 
Hauptgebälks  und  für  die  Attika  gewählt.  Auf  der 
Vorderseite  der  Attika  ist  dargestellt,  wie  zwei  Diener 
ein  Tuch  zur  Probe  ausbreiten,  ein  dritter  weitere 
Tücher  herbeiträgt.  Wir  dürfen  daraus  schließen, 
daß  der  Tuchhandel  von  den  Secundiniern  betrieben 
wurde  und  eine  der  Quellen  des  Reichtums  war,  der 
ihnen  ermöglichte,  solch  kostspieliges  Grabdenkmal  zu 
errichten.  Der  Sockel  zeigt  an  der  Vorderseite  eine 
figurenreiche  Zahlszene  im  Kontor,  andere  Reliefs 
schildern  die  Verpackung  und  den  Versand  der  Waren. 
Auf  der  einen  Seite  des  Erieses  sehen  wir  die  Liefe¬ 
rung  von  Naturalabgaben  seitens  der  Pächter,  eine 
zweite  Seite  des  Erieses  gewährt  uns  einen  Blick  in 
die  Küche,  wo  das  Mahl  bereitet  wird  und  die  Vor¬ 
derseite  des  Frieses  führt  uns  das  Speisezimmer  vor, 
in  dem  die  Familie  das  Mahl  einnimmt.  Alle  diese 
Reliefs,  die  sich  durch  packenden  Realismus  aus¬ 
zeichnen,  geben  uns  ein  sehr  getreues  Bild  vom  Leben 
und  Treiben  im  Trevererland  zur  Zeit  der  F^ömer- 
herrschaft.  Die  Typen  der  Reliefs,  die  teilweise  auf 
anderen  Denkmälern  der  Gegend  wiederkehren,  sind 
hier  im  Lande  selbst  von  Künstlern,  die  gute  Be¬ 
obachtungsgabe  besaßen,  geschaffen  worden  im  Ge¬ 
gensatz  zu  den  mythologischen  Bildwerken,  deren 
Typen  aus  der  Fremde  bezogen  sind. 

Die  mythologischen  Bildwerke  der  Igeler  Säule 
haben  zum  Teil  eine  bestimmte  symbolische  Be¬ 
deutung.  Das  Ganze  wird  bekrönt  durch  die  - 
jetzt  ihrer  oberen  Hälfte  beraubte  —  Gruppe  des 
Adlers  mit  dem  Ganymed,  das  Relief  des  Giebel- 

1)  Eine  vollständige  Aufzählung  der  Vorgängerinnen 
enthält  die  Publikation:  Abbildung  des  römischen  Monu¬ 
mentes  in  Igel  von  Chr.  Hawich,  mit  einem  erläuternden 
Text  von  /.  M.  Neiirohr  (Trier  1826). 

2)  Die  Abformung  würde  zugleich  Gelegenheit  bieten, 
alle  Teile  zu  photographieren  und  eine  heutigen  Anforde¬ 
rungen  entsprechende  Publikation  zu  machen,  die  Abbil¬ 
dungen  der  älteren  Publikationen  sind  sehr  unzuverlässig 
und  viele  Darstellungen  sind  bislang  falsch  gedeutet  worden. 
Die  Archäologie  der  letzten  Jahrzehnte,  deren  Interesse 
durch  die  großen  Entdeckungen  in  den  Mittelmeerländern 
völlig  absorbiert  war,  hat  das  einheimische  Monument 
gänzlich  vernachlässigt. 


dreiecks  an  der  Vorderseite  stellt  den  Hylas  dar,  der 
beim  Wasserholen  von  den  Nymphen,  die  in  Liebe 
zu  dem  schönen  Knaben  entbrennen,  in  den  Quell 
herabgezogen  wird.  Eltern,  die  wie  L.  Secundinius 
Securus  den  vorzeitigen  Tod  geliebter  Kinder  zu  be¬ 
klagen  hatten,  ließen  an  deren  Grabdenkmälern  mit 
Vorliebe  den  Raub  des  Hylas  oder  des  Ganymedes 
bilden,  die  beide  in  zartem  Alter  dieser  Welt  entrückt 
waren,  um  in  der  Gemeinschaft  der  Götter  ein  ewiges 
seliges  Leben  zu  führen.  Aus  den  Bildern  schöpften 
die  Eltern  den  Trost,  daß  auch  ihren  Kindern  ein 
gleiches  Los  zu  teil  geworden  sei.  Zur  Zeit  des 
Denkmalbaues  war  die  Menschheit  erfüllt  von  dem 
sehnlichen  Wunsche  nach  einer  festen  Gewähr  für 
das  Fortleben  nach  dem  Tode.  Mysterien  und  Ge¬ 
heimkulte  wie  der  Mithrasdienst  fanden  so  viele  An¬ 
hänger,  weil  den  Eingeweihten  die  Unsterblichkeit 
verheißen  wurde,  und  jener  Wunsch  hat  mehr  als 
alles  andere  den  Boden  bereitet  für  die  Aufnahme 
des  Christentums,  das  die  sicherste  Anwartschaft  gab 
auf  ein  ewiges  Leben.  An  der  Igeler  Säule  zeugt 
außer  dem  Raube  des  Hylas  und  des  Ganymedes 
noch  ein  drittes  Relief  von  den  Unsterblichkeitshoff¬ 
nungen  der  Erbauer;  im  Mittelstück  der  Rückseite  ist 
eine  große  Darstellung  der  Himmelfahrt  des  Herakles 
angebracht.  Es  war  ein  Vorrecht  der  Kaiser  und 
ihrer  Angehörigen,  daß  sie  apotheosiert,  daß  ihre 
Apotheose  dargestellt  wurde,  aber  die  Untertanen 
stellten  sich  das  Bild  des  Herakles  vor  Augen,  der 
nach  dornenvoller  Erdenlaufbahn  den  Himmel  er¬ 
rungen  hatte,  und  fanden  darin  eine  Bürgschaft,  daß 
auch  ihnen  die  Aufnahme  unter  die  Himmlischen 
gewährt  werden  könne. 

Die  übrigen  mythologischen  Reliefs  des  Denkmals 
entbehren  eines  tieferen  Sinnes,  sie  haben  lediglich 
dekorativen  Zweck.  Dargestellt  ist  der  Besuch  des 
Mars  bei  Rhea  Sylvia,  die  Eintauchung  des  kleinen 
Achill  in  die  Styx,  die  Erlösung  der  von  Argos  be¬ 
wachten  Jo  durch  Hermes,  die  Befreiung  der  Andro¬ 
meda  durch  Perseus.  An  das  letzte  Relief  schließt 
sich  die  idyllische  Szene,  wie  Perseus  der  befreiten 
Andromeda  in  einem  Quell  das  Spiegelbild  des 
Medusenhauptes  zeigt,  dessen  unmittelbarer  Anblick 
die  Menschen  versteinerte.  Für  alle  diese  Reliefs 
lassen  sich  unter  den  uns  überlieferten  griechisch- 
römischen  Kunstwerken  die  Vorbilder  nachweisen,  es 
wäre  lohnend  und  lehrreich,  eine  Vergleichung  durch¬ 
zuführen,  aber  sie  muß  verschoben  werden,  bis  von 
den  Igeler  Skulpturen  gute  Abbildungen  vorgelegt 
werden  können.  Wenn  die  erhoffte  Abformung  zu¬ 
stande  kommt,  wird  das  für  sie  aufzuschlagende  Gerüst 
zugleich  Gelegenheit  bieten,  brauchbare  Photographien 
herzustellen  und  eine  den  heutigen  Anforderungen 
entsprechende  Publikation  vorzubereiten,  die  das  Denk¬ 
mal  in  hohem  Grade  verdient. 

Der  Einfluß  griechischer  Originale  beschränkt  sich 
an  der  Igeler  Säule  indes  nicht  auf  die  mythologischen 
Reliefs,  er  ist  nicht  minder  zu  spüren  in  den  vielen 
ornamental  verwendeten  Einzelfiguren,  er  ist  auch 
zu  spüren  in  dem  Hauptrelief  der  Vorderseite,  das 
sich  gerade  oberhalb  der  Inschrift  befindet  (Abb.  2). 


DIE  WIEDERGABE  GRIECHISCHER  KUNSTWERKE 


167 


SÄULE  VON  IGEL,  HAUPTRELIEF  DER  VORDERSEITE 


An  dieser  Stelle  pflegen  die  Grabdenkmäler  die  Porträts 
der  Verstorbenen  zu  haben  bezw.  die  Porträts  derer, 
die  bei  Lebzeiten  die  Denk¬ 
mäler  erbaut  haben.  In  Igel 
erscheinen  hier  drei  über¬ 
lebensgroße  männliche  Figu¬ 
ren  und  zu  ihren  Häuptern 
drei  Medaillons  mit  Brustbil¬ 
dern.  Das  größte  in  der 
Mitte  zeigt  den  Kopf  einer 
Frau,  sie  hat  zur  Rechten 
ein  junges  Mädchen,  zur 
Linken  einen  noch  jüngeren 
Knaben.  Die  Inschrift  ge¬ 
stattet  den  Schluß,  daß  die 
beiden  letzten  die  Kinder  des 
Securus  sind,  daß  im  mittleren 
Medaillon  die  Gattin  des 
Aventinus  porträtiert  ist. 

Von  den  drei  Vollfiguren 
sind  zwei  in  die  Toga  ge¬ 
kleidet  und  reichen  sich  die 
Rechte,  die  dritte  anders  ge¬ 
kleidete  Figur  hält  nach  An¬ 
sicht  älterer  Erklärer  ein 
Tuch  ausgebreitet,  in  dem 
man  eine  weitere  Anspielung 
an  den  im  Attikarelief  dar¬ 
gestellten  Tuchhandel  sah.  orpheus  und  eurydike. 


Eine  genaue  Betrachtung  des  Reliefs  lehrte,  was  auch 
die  Photographie  deutlich  erkennen  läßt,  daß  die  in 

Frage  stehende  Figur  den 
»Chlamys«  benannten  Mantel 
trägt,  der  auf  der  rechten 
Schulter  gefibelt  wurde,  den 
rechten  Arm  frei  ließ  aber 
den  linken  vollständig  be¬ 
deckte.  Wollte  der  Träger 
solchen  Mantels  mit  der  Lin¬ 
ken  etwas  greifen,  mußte  er 
den  Mantel  hoch  heben.  So 
tut  es  die  Figur  der  Igeler 
Säule  und  diese  Bewegung 
hat  bei  den  früheren  Er- 
klärern  den  Anschein  er¬ 
weckt,  der  Mann  halte  ein 
Tuch,  aber  in  Wahrheit  hält 
seine  Linke  einen  runden 
stabartigen  Gegenstand;  des¬ 
sen  unteres  Ende  schaut  aus 
der  Hand  hervor,  der  obere 
Teil,  der  auf  der  Brust  lag, 
ist  infolge  der  hier  eingetre¬ 
tenen  Beschädigung  des  Steins 
weggebrochen.  Das  kleine 
erhaltene  Ende  genügt  nicht, 
den  Gegenstand  zu  bestim- 
MARMORRELIEF  NEAPEL  nieii,  aber  wir  werden  doch 


23 


i68 


DIE  WIEDERGABE  GRIECHISCHER  KUNSTWERKE 


zu  dessen  Bestimmung  gelangen,  da  die  Tracht  der 
Figur  über  deren  Wesen  keinen  Zweifel  läßt. 

Ältere  Erklärer  haben  in  dem  Chlamysträger  und 
in  einem  der  beiden  anderen  Männer  die  Erbauer 
des  Denkmals  erkennen  wollen,  die  von  ihrem  ver¬ 
storbenen  Vater  Abschied  nehmen.  Da  aber  in  den 
Hauptreliefs  der  großen  Grabdenkmäler  die  porträtierten 
Männer  nie  anders  als  in  der  Toga  erscheinen,  müssen 
wir  annehmen,  daß  an  der  Igeler  Säule  die  beiden 
Togati  die  Brüder  Securus  und  Aventinus  sind.  Zu 
ihrer  Zeit  war  in  ihrem  Lande  die  Chlamys  nicht  in 
Gebrauch,  keines  der  Bildwerke,  in  denen  Szenen 
des  realen  Lebens  dargesteltt  sind,  enthält  einen  mit  der 
Chlamys  Bekleideten.  Dies  Bekleidungsstück  treffen 
wir  in  Skulpturen  des  Trevererlandes  nur  bei  Ideal¬ 
figuren,  die  griechischer  Kunst  entlehnt  sind,  ganz 
besonders  in  Bildern  des  Merkur,  der  dem  Hermes 
der  Griechen  entspricht.  Für  ihn  kann  die  Chlamys 
geradezu  als  Charakteristikum  gelten.  Daß  der  Ver¬ 
fertiger  des  Igeler  Reliefs  den  Chlamysträger  wirklich 
als  den  Gott  gedacht  hat,  wird  bestätigt  durch  einen 
Vergleich  mit  dem  Orpheusrelief,  von  dessen  Berühmt¬ 
heit  im  Altertum  die  Zahl  der  Repliken  Zeugnis  ab¬ 
legt').  Drei  Repliken  sind  vollständig  auf  unsere  Tage 
gekommen  und  das  Bruchstück  einer  vierten;  die  best¬ 
erhaltene  Replik,  die  sich  im  Neapler  Museum  be¬ 
findet,  gibt  unsere  Abbildung  3'“)  wieder. 

Orpheus  hat  durch  seinen  Gesang  und  sein  Saiten¬ 
spiel  die  sonst  unerbittlichen  Herrscher  des  Toten¬ 
reichs  erweicht,  sein  Flehen  hat  Erhörung  gefunden, 
die  geliebte  Gattin  darf  ihm  wieder  zur  Oberwelt 
folgen,  doch  ihm  wird  verboten  sich  nach  ihr  um¬ 
zuschauen,  ehe  er  nicht  die  Schwelle  des  Hades 
überschritten  hat.  Liebe  und  Sehnsucht  sind  in  ihm 
zu  mächtig  geworden,  vor  seinem  Ziel  hat  er  sich 
zurückgewendet.  Diesen  Augenblick  hat  der  Künstler 
zur  Darstellung  gewählt;  in  inniger  Zärtlichkeit  neigen 
sich  die  Köpfe  der  Gatten  gegeneinander,  Eurydike 
legt,  wie  um  den  Gatten  festzuhalten,  die  Linke  auf 
seine  Schulter  und  er  greift  nach  ihrem  Handgelenk, 
aber  der  Moment  des  Wiedersehens,  der  Wieder¬ 
vereinigung  ist  zugleich  der  Moment  der  unabweis¬ 
baren  Trennung.  Schon  hat  der  Totenführer,  der 
dem  Paare  nachgeschritten  ist,  seine  Hand  auf  die 
Rechte  der  Eurydike  gelegt,  um  sie  zurückzuführen 
ins  Totenreich.  Mitleid  malt  sich  in  seinen  Zügen, 
die  Bewegung  seiner  Rechten,  die  in  das  Gewand 
faßt,  läßt  erkennen,  wie  schwer  es  ihm  wird,  seine 
Pflicht  zu  tun. 

Das  Igeler  Relief  lehnt  sich  eng  an  das  Orpheus¬ 
relief  an.  Wir  können  auf  den  Grabdenkmälern  des 
Trevererlandes  eine  bestimmte  Entwickelung  in  dem 
Arrangement  der  Porträtfiguren  aufweisen.  Steif  stehen 
auf  den  älteren  Denkmälern  die  Figuren  nebeneinander, 
es  sind  gleichsam  die  zu  Vollfiguren  ausgewachsenen 
Ahnenbilder,  die  römischer  Sitte  gemäß  in  den  Häusern 
aufgestellt  wurden.  Die  bevorzugte  Darstellung 

1)  Vgl.  z.  B.  B.  ColUgnon,  Geschichte  der  griechischen 
Plastik,  deutsch  von  Baumgarten  (Straßburg  1898)  II  153. 

2)  Abb.  3  ist  entnommen  aus  Springer,  Handbuch  der 
Kunstgeschichte  (7.  Aufl.,  Leipzig  1904)  1. 


griechischer  Grabstelen  ist  es,  daß  die  Figuren  ein¬ 
ander  die  Hand  reichen  zum  Abschied,  und  dies 
Motiv  ist  an  den  jüngeren  Grabdenkmälern  des 
Trevererlandes  aufgegriffen.  Das  Igeler  Relief  geht 
noch  einen  Schritt  weiter,  indem  es  den  Totenführer 
hinzugesellt,  der  den  Abschied  als  eine  Trennung  für 
immer  charakterisiert. 

Die  Gruppierung  ist  dieselbe  wie  auf  dem 
Orpheusrelief,  Hermes  steht  links  neben  dem  Paare, 
die  Stellung  der  Brüder  entspricht  vollständig  der  des 
Orpheus  und  der  Eurydike,  nur  ist  die  einfache  Hand¬ 
reichung  an  die  Stelle  der  zärtlicheren  Handbewegung 
der  Gatten  getreten.  Geändert  ist  auch  die  Bewegung 
des  Hermes.  Er  berührt  in  dem  Orpheusrelief  die 
dem  Hades  verfallene  Eurydike,  aber  das  Igeler  Denk¬ 
mal  haben  die  beiden  Sekundinier  zu  Lebzeiten  er¬ 
richtet,  wer  von  ihnen  zuerst  aus  dieser  Welt  ab¬ 
gerufen  würde  war  nicht  vorauszusehen,  deshalb 
mußte  der  Totenführer  in  abwartender  Haltung  dabei 
stehen.  Daß  die  Figur  aber  in  der  Tat  dem  Orpheus¬ 
relief  entlehnt  ist,  ergibt  sich  aus  der  Übereinstimmung 
der  Tracht.  Der  Schöpfer  des  Orpheusreliefs,  der 
in  die  Periode  des  Phidias  gehört,  hat  noch  älterem 
Brauche  folgend  dem  Hermes  außer  der  Chlamys  ein 
Untergewand  gegeben,  andere  Hermesdarstellungen 
der  phidiasischen  Zeit  lassen  schon  das  Untergewand 
fort,  was  in  der  Folgezeit  die  ausschließliche  Regel 
wurde,  ln  Igel  tritt  uns  der  Gott  wieder  mit  beiden 
Kleidungsstücken  entgegen,  doch  ist  der  gegürtete 
feingefaltete  griechische  Chiton  durch  den  trierischen 
Steinmetzen  verwandelt  in  das  übliche  Gewand  seiner 
Gegend,  das  sagum,  das  ohne  Gürtel,  weit  und  sack¬ 
artig  den  Körper  umhüllt.  Der  Petasos  ferner,  den 
der  Hermes  des  Orpheusreliefs  im  Nacken  trägt,  ist 
fortgelassen,  er  war  den  Söhnen  des  nördlichen  Klimas 
nicht  vertraut,  unter  ihrem  Himmel  schützten  sich  die 
Männer  wohl  gegen  Wind  und  Wetter  durch  Kapuzen, 
die  wir  in  vielen  Reliefdarstellungen  des  täglichen 
Lebens  sehen,  aber  breitrandige  Sonnenhüte,  die  im 
alten  Griechenland  zur  Reiseausrüstung  gehörten, 
waren  hier  überflüssig. 

Noch  in  einem  anderen  Punkte  weicht  der  Hermes 
in  Igel  von  dem  des  Orpheusreliefs  ab.  Dieser  ist 
attribütlos,  den  Betrachtern  der  Igeler  Säule  wäre  die 
Figur  ohne  Attribut  schwer  verständlich  gewesen,  und 
es  ist  daher  mit  Bestimmtheit  anzunehmen,  daß  der 
stabartige  Gegenstand  in  der  Linken  der  Figur  der 
Rest  des  Kerykeions,  des  Schlangenstabes,  ist.  Wahr¬ 
scheinlich  hat  die  Rechte  an  dessen  Oberteil  gefaßt. 
Diese  Bewegung  war  der  Situation  sehr  angemessen, 
sie  drückte  deutlich  aus,  daß  der  Totenführer  seines 
Amtes  noch  nicht  walten  will,  daß  er  noch  zögert, 
einen  der  Brüder  zu  berühren  mit  dem  Stabe,  der 
nach  der  antiken  Vorstellung  die  Macht  hatte,  die 
Augen  der  Menschen  zu  schließen  zum  ewigen  Schlafe. 

Ähnlich  wie  das  Verhältnis  der  Igeler  Figur  zu 
dem  Hermes  des  Orpheusreliefs  ist  das  Verhältnis 
zwischen  dem  berühmten  Hermes,  den  die  deutschen 
Äusgrabungen  in  Olympia  ans  Licht  gezogen  haben 
(Abb.  4)1),  und  dem  Merkur  eines  Sandsteinreliefs,  das 

1)  Vgl.  a.  a.  O.  Fig.  462,  darnach  oben  Abb.  4. 


DIE  WIEDERGABE  GRIECHISCHER  KUNSTWERKE 


169 


ABB.  4 


1825  bei  Onsdorf,  etwa  eine  Meile  südwestlich  von 
Igel,  gefunden  ist  (Abb.  5)  ’).  Die  Abhängigkeit  von 
der  Gruppe  des  Praxiteles  wird  durch  die  Haltung 
der  Relieffigur,  vor  allem  durch  das  außergewöhnliche 
Motiv,  daß  sie  ein  Kindchen  auf  dem  linken  Arm 
hält,  deutlich  und  klar  erwiesen. 

Das  Kindchen  der  Praxitelischen  Gruppe  ist  der 
jugendliche  Bacchus,  den  sein  göttlicher  Halbbruder 
den  Nymphen  zur  Pflege  überbringen  will.  Auf  dem 


2)  Vgl.  Hettner,  Die  römischen  Steindenkmäler  des 
Provinzialmuseums  zu  Trier  (Trier  1893)  Nr.  68. 


ABB.  5 


ABB.  4.  HERMES  DES  PRAXITELES.  OLYMPIA 
ABB.  5.  MERKUR.  SANDSTEINRELIEF  VON  ONSDORF 


Wege  hat  er  Rast  gemacht  und  stützt  den  das  Kind 
tragenden  Arm  auf  einen  Baumstamm,  über  den  er 
seinen  Mantel  gehängt  hat.  Die  erhobene  Rechte  des 
Hermes,  die  leider  nicht  mit  aufgefunden  ist,  hielt 
dem  Kinde  einen  Gegenstand  hin,  vermutlich  eine 
Traube,  die  Durchbohrung  der  Linken  deutet  darauf, 
daß  hier  ein  bronzenes  Kerykeion  eingefügt  war,  das 
einzige  Attribut,  das  Praxiteles  seinem  Hermes  ge¬ 
geben  hatte.  In  dem  Onsdorfer  Relief  sind  zu  den 
Füßen  des  Gottes  seine  heiligen  Tiere  angebracht, 
links  der  Bock  —  kaum  noch  erkennbar  -  rechts 
der  Hahn.  Die  gesenkte  Rechte  hat  zweifellos  einen 


DIE  WIEDERGABE  GRIECHISCHER  KUNSTWERKE 


170 

großen  Schlangenstab  aufgestützt.  Das  Kind  der 
Praxitelischen  Gruppe  richtet  sich  energisch  auf,  strebt 
mit  hochgestrecktem  Händchen  die  von  Hermes  dar¬ 
gebotene  Frucht  zu  erhaschen,  auf  dem  Relief  sitzt 
das  Knäbchen  mit  vorgebeugtem  Oberkörper  und  legt 
die  Hand  an  einen  wohlgefüllten  Geldbeutel.  Merkur 
erscheint  nicht  in  völliger  Nacktheit  wie  der  Praxi- 
telische  Hermes,  er  hat  die  Chlamys  angelegt,  damit 
in  ihrem  Bausch  der  große  straffe  Beutel  ruhen  kann. 
Der  Beutel  zwingt  uns  auch,  in  dem  Kinde  nicht 
den  jugendlichen  Bacchus  zu  sehen,  sondern  die 
Personifikation  des  Reichtums,  den  Plutos,  den  die 
antike  Kunst  als  kleinen  Knaben  zu  bilden  pflegte 
mit  einem  Symbol  seiner  Gaben,  sei  es  mit  einem 
Füllhorn,  sei  es  mit  einem  Geldbeutel  i).  Der  Plutos 
im  Arm  des  Merkur  verstärkt  den  Eindruck  von  der 
Macht  des  Gottes,  Gewinn  und  Reichtum  zu  ge¬ 
währen,  und  eben  wegen  dieser  Macht  wurde  Merkur 

1)  Die  älteste  und  bekannteste  Darstellung  des  Plutos- 
knaben  bietet  die  von  Kephisodot,  dem  Vater  des  Praxiteles, 
gefertigte  Gruppe  der  Eirene,  die  den  Plutos  auf  dem  Arm 
hält,  abgeb.  z.  B.  bei  Springer  a.  a.  O.  Fig  438.  Plutos, 


von  den  materiell  gesinnten  Bewohnern  des  Treverer- 
landes  mehr  als  andere  Götter  verehrt. 

Trotz  der  erlittenen  Umwandlungen  nimmt  der 
Abkömmling  des  Praxitelischen  Hermes  auf  dem 
Onsdorfer  Relief  unter  den  landesüblichen  Merkur¬ 
bildern  einen  hervorragenden  Platz  ein  und  wirkt 
dank  seiner  Anlehnung  an  das  herrliche  Vorbild  er¬ 
freulicher  als  die  meisten  anderen  Merkurbilder  der 
Gegend.  In  noch  höherem  Grade  zeichnet  sich  das 
Hauptrelief  der  Igeler  Säule  vor  anderen  Grabdenk¬ 
mälern  aus,  die  Hinzufügung  des  Totenführers,  der 
den  edlen  Jünglingskopf  mit  dem  mitleidsvollen  Aus¬ 
druck  der  Originalfigur  auf  dem  Orpheusrelief  be¬ 
wahrt  hat,  verleiht  dem  Relief  einen  eigenen  stimmungs¬ 
vollen  Reiz.  Die  tiefe  Wirkung  edler  griechischer 
Schöpfungen  kann  selbst  in  der  Wiedergabe  durch 
die  halbbarbarischen  Bildhauer  des  Trevererlandes 
nicht  ganz  verloren  gehen. 

als  Knabe  personifiziert,  erscheint  aber  auch  noch  auf 
byzantinischen  Elfenbeinkästchen,  die  ums  Jahr  1000  n.  Cr. 
entstanden  sind,  abgeb.  z.  B.  in  der  Zeitschrift  V Arte,  giä 
archivio  storico  dell'  arte,  11  1S99,  S  301. 


DIE  ECHTHEIT  DER  »WETZLARER«  ZEICHNUNG  DES 
OTTO-HEINRICHBAU-GIEBELS 


Die  Redaktion  der  Zeitschrift  für  bildende 
Kunst«  sieht  sich  außerstande,  den  erforder¬ 
lichen  Raum  zur  Widerlegung  der  Ausfüh¬ 
rungen  A.  von  Oechelhäusers  gegen  mich  zu  gewähren. 
Ich  muß  mich  daher  darauf  beschränken,  zu  erklären, 
daß  ich  an  einem  anderen  Orte  die  völlige  Unhalt¬ 
barkeit  der  Oechelhäuserschen  Beweisführung  nach¬ 
zuweisen  mir  Vorbehalte,  und  hier  nur  in  den  Haupt¬ 
punkten  nachfolgendes  zu  berichtigen: 

1.  Oechelhäuser  begründet  in  dem  wichtigsten 
Punkte  seine  gegenteilige  Ansicht  auf  die  erstaun¬ 
liche  Behauptung,  die  beiden  obersten  Figuren  der 
Ottoheinrichsbau-Fassade  seien  hundert  Jahre  jünger, 
als  die  übrigen  Statuen. 

Diese  Behauptung  ist  ganz  willkürlich.  Nach 
dem  Urteil  aller  Kenner  steht  auf  Grund  sorgfältigster 
Vergleichung  und  Untersuchung  unerschüttert  fest, 
daß  alle  freistehenden  Statuen  aus  der  Colinsschen 
Werkstatt  stammen. 

2.  Oechelhäuser  behauptet,  ausschließlich  auf  Grund 
der  (doch  als  bestritten  nicht  beweiskräftigen)  »Wetz- 
larer«  Zeichnung,  daß  die  heute  noch  stehenden,  auch 
durch  Kraus  abgebildeten  Fenster  und  Pilaster  der 
kleinen  Zwerchgiebel  bereits  einen  Bestandteil  der  großen 
ältesten  Giebel  von  1560  gebildet  hätten,  akzeptiert 
also  gutgläubig,  was  der  Fälscher  weismachen  will. 

Die  genannten  Giebelreste  entstammen  aber  nach 
Material,  Bearbeitung  und  Details  der  Zeit  um  1659, 
was  schon  Koch  und  Seitz,  hier  die  sicherste  Autorität, 
feststellten,  was  auch  der  gänzliche  Mängel  an  Stein¬ 


metzzeichen,  die  sonst  nicht  fehlen  durften  und  selbst 
am  Friedrichsbau  noch  vorhanden  sind,  einwandsfrei 
bestätigt. 

Ein  Bauwerk,  welches  erst  1 659  errichtet  ist,  kann 
nicht  1616  abgezeichnet  werden. 

Schon  diese  zwei  tatsächlichen  Feststellungen  er¬ 
schüttern  das  ganze  Gebäude  Oechelhäusers,  das 
übrigens  auch  sonst  gar  zu  oft  auf  »meines  Erachtens« 
aufgebaut  ist. 

Hannover,  Februar  190's. 

ALBRECH  T  HA  UPT. 

Nachschrift  der  Redaktion.  Nachdem  der  Gegner 
des  Skizzenbuches  und  sein  Verteidiger  jeder  in  voller 
Ruhe  und  ohne  irgend  eine  Raumbeschränkung  in 
der  »Kunstchronik«  Nr.  11  und  im  vorigen  Hefte  der 
»Zeitschrift  für  bildende  Kunst«  sich  aussprechen 
konnten  und  Herrn  Professor  Haupt  außerdem  hier 
noch  Gelegenheit  zu  einem  kurzen  Schlußworte  ge¬ 
geben  ist,  erachtet  es  die  Redaktion  nunmehr  für 
ihre  Pflicht,  von  einer  weiteren  Erörterung  dieses 
Themas  abzusehen.  Für  jetzt  muß  es  demjenigen 
Teile  unserer  Leser,  welcher  sich  für  diese  Spezial¬ 
frage  interessiert,  überlassen  bleiben,  durch  Ver¬ 
gleichung  der  beiden  Auseinandersetzungen  und  des 
originalgetreu  reproduzierten  Blattes  sich  ein  eigenes 
Urteil  zu  bilden.  Kenntnis  steht  hier  gegen  Kenntnis, 
Autorität  gegen  Autorität.  Auf  diesem  Punkte  müssen 
wir  den  Fall  verlassen,  es  sei  denn,  daß  einst  neue 
Tatsachen  auftauchen,  die  eine  bestimmte  Entscheidung 
herbeiführen.  Die  Redaktion. 


EUGEN  BEJOT 

Eugen  BEJOT  ist  heute  einer  der  am  häufigsten 
genannten  Namen  unter  den  französischen  Radierern. 
So  jung  wie  er  ist  —  er  ward  am  1.  September  1867 
in  Paris  geboren  —  hat  er  doch  schon  auf  seinem  Konto, 
ungerechnet  einen  ansehnlichen  Posten  einzelner  Radie¬ 
rungen,  mehrere  gewichtige  Serien,  die  ihm  vor  zwei 
Jahren  die  Ernennung  zum  Mitglied  der  Societe  nationale 
des  Bearix  Arts  eintrug,  wo  er  seit  1893  regelmäßig  aus¬ 
stellt;  seit  1900  ist  er  auch  Mitglied  der  englischen 
»Painters-Etchers«. 

Höchst  einfach  ist  die  Geschichte  seines  Studiengangs. 
Als  er  noch  in  den  Kinderschuhen  steckte,  griff  er  schon 
zum  Bleistift.  Als  Jüngling  illustrierte  er  dann  die  delikaten 
Gedichte  seines  früh  verstorbenen  Bruders.  Später  geht 
er  auf  die  Akademie  Julian  und  studiert  bei  Gustav  Bou- 
langer,  bis  er  schließlich  seinen  Weg  gefunden  hat  und 
bei  den  Aquafortisten  Henri  Guerard  und  Felix  Buhot 
sich  in  die  Lehre  begibt.  Zwei  Jahre  später,  1893,  nach¬ 
dem  schon  seine  ersten  Radierversuche  rasch  von  den 
Kennern  bemerkt  waren,  zog  er  die  Aufmerksamkeit  des 
des  größeren  Publikums  auf  der  Ausstellung  der  »Peintres- 
Graveurs«  mit  einigen  seiner  Ansichten  von  Paris  auf  sich, 
ein  Thema,  das  er  von  Anfang  an  bevorzugt  hatte  und 
das  er  nun  nicht  mehr  verließ.  Es  steckte  in  diesen 


PARISER  STADTBILDER  NACH  ORIOINALRADIERUNOEN  VON  EUGEN  BEJOT 


Blättern  ein  gewisser  Sinn  für  das  Pitto¬ 
reske,  der  rasch  bestach.  Andere  —  z.  B. 
Lepere  —  haben  die  Gabe  des  Lebens, 
verstehen  es,  in  ihren  Straßenbildern  von 
Paris  den  Eindruck  der  Bewegung,  das 
Zittern  des  Rauches  und  den  Zug  der  Wol¬ 
ken  wiederzugeben;  Bejot  exzelliert,  indem 
er  die  Dinge  von  der  interessanten  Seite 
anpackt,  den  unerwarteten  Effekt,  das 
eigentümlich  Anziehende  mit  den  einfach¬ 
sten  Mitteln  wiedergibt,  mit  ein  paar  andeu¬ 
tenden  Strichen,  die  er  direkt  vor  der  Natur 
mit  außerordentlichster  Sicherheit  auf  die 
Platte  setzt.  Außer  zahlreichen  Einzeltafeln, 
La  Samaritaine  et  le  Pont-Neiif  (1893), 
Joinville-le-Pont  (1894),  Le  qiiai  de  VHorloge 
(1896),  La  Sainte  Chapelle  (1898),  Le  Pont 
Royal,  hat  der  Künstler  fünf  Albums  dem 
Stadtbilde  von  Paris  gewidmet,  nicht  als 
Stadt  des  Lebens  und  der  Tätigkeit,  son¬ 
dern  dem  wechselvollen  Bilde  seiner  Bau¬ 
werke,  seiner  Wasserflächen  und  grünen 
Bäume,  zwischen  denen  da  und  dort  als 
belebende  Staffage  einige  Silhouetten  auf¬ 
tauchen.  Die  Seine  in  Paris  ,  das  ist  der 
Titel  seiner  ersten  Sammlung,  datiert  von 
1892,  sechs  Radierungen  ln  einem  ebenfalls 
radierten  Umschlag.  Es  folgten  Squares 
und  Gärten  (1896),  acht  Lithographien, 
dann  (1899)  elf  Radierungen  (einschließlich 
des  Umschlags)  für  ein  Buch,  in  welchem 
unter  dem  ein  wenig  getüftelten  Titel 
Zwischenakte  der  Steine  der  Schrift¬ 
steller  Maurice  Guillemot  von  den  ver¬ 
achteten  Reizen  der  Flora  des  Pariser  Pfla¬ 
sters,  von  der  Vegetation,  die  plötzlich  und 
zufällig  zwischen  den  Steinen  der  großen 


172 


EUGEN  BEJOT 


Stadt  emporscliießt,  erzcählt  hat:  die  Standhallen  des  Blumen¬ 
marktes,  die  Geraniumtöpfe  auf  dem  Fenster  des  kleinen 
Nähmädchens  vom  Afontmartre,  die  Quirlande  von  Clematis, 
die  einen  Balkon  oder  irgend  einen  alten  Brunnen  um¬ 
windet,  kleine  Orangenbäume  in  Töpfen  auf  den  Schiffen 
der  Waschanstalten,  bescheidene  Gärtchen  der  alten  In¬ 
validen,  grüne  Ecken  irgend  eines  Bahnwärters  am  Stadt¬ 
rand  —  alles  Motive,  eins  pittoresker  als  das  andere,  von 
jenem  Geist  kleiner  liebenswürdiger  Überraschungen,  die 
unser  Künstler  liebt. 

Die  Schiffe  von  Paris  boten  noch  eine  Quelle  und 
sogar  noch  eine  ergiebigere  für  Bejot.  Hier  galt  es  nicht 
nur  den  Schmuck  der  Seine  und  ihrer  Ufer  wiederzugeben, 
sondern  das  Leben  des  Flusses  selbst,  das  der  dieser  Ra¬ 
dierungsserie  beigegebene  Text  von  Gustav  Geffroy  packend 
heraufzaubert.  Bejot  hat  sich  für  diese  Serie  mit  dem 
äußerst  exakten  Charakteristiker  Charles  Iluard  verbunden, 
derart,  daß  der  eine  die  Landschaft,  der  andere  in  völliger 
künstlerischer  Übereinstimmung  die  Personen  hineinzeich¬ 
nete.  Aus  dieser  gemeinsamen  Arbeit,  wo  jeder  der  beiden 
Künstler  sein  Bestes  beisteuerte,  entstand  eine  Reihe  äußerst 
bunter  und  eindrucksvoller  Bilder:  die  wartenden  Passa¬ 
giere  auf  dem  Brückenschiffe;  die  flinken  Fährschiffe;  die 
langsamen  Penichen,  die  schwergeladenen  Flandelsboote 
an  den  Kais;  die  stämmigen  Schleppboote;  die  Wasch¬ 
anstalten;  kurz  alles,  was  auf  dem  Wasser  oder  um  das 
Wasser  herum  lebt  und  sich  bewegt,  lebt  ebenso  in  den 
14  Radierungen  und  den  10  Zeichnungen,  die  ein  dritter 
Alitarbeiter,  Jacques  Beltrand,  in  Holz  geschnitten  hat. 

Noch  im  gleichen  Jahre  1903  veröffentlichte  Bejot  ein 
ferneres  Werk  Du  1  au  XX  ,  das  die  charakteristischen 
Stadtbilder  der  20  Bezirke  von  Paris  wiedergibt').  Diese 


Arbeit  ist  unter  den  bisherigen  des  Künstlers  Hauptstück. 
Ganz  Paris  ist  hier  zusammengefaßt,  das  Paris  des  Pont 
neuf  und  das  des  Pont  Arcol,  das  Paris  der  alten  Quartiere 
und  das  des  Trocadero,  das  Paris  von  Notre  Dame  und 
das  vom  Alontmartre,  Paris  von  einem  Künstler  gesehen; 
das  ist  in  unserem  Fall,  da  es  sich  nm  Eugene  Bejot  han¬ 
delt,  Enthüllung  oft  ungeahnter  Reize.  Das  ungemein 
reiche  Werk  bildet  ein  Album  der  interessantesten  Art, 
das  alle  Kenner  des  pittoresken  Paris  zu  schätzen  wissen, 
jenes  Paris,  das  mehr  und  mehr  durch  den  Eortschritt 
verschwindet. 

Das  wären  so  die  hauptsächlichsten  Dinge,  die  über 
Eugen  Bejot  zu  erzählen  wären.  Indessen  er  hat  sich 
nicht  ausschließlich  auf  Paris  beschränkt.  Die  LJmgebungen 
der  Stadt,  Marktszenen  aus  der  Provinz,  zahlreiche  An¬ 
sichten  von  Cannes,  Tierbilder,  Porträts  und  Interieurs 
sind  in  seinem  Lebenswerk  vertreten  und  zeigen  ihn,  wie 
es  die  Ausstellung  1896  in  den  American  Art  Galleries  von 
New  York,  wo  er  neben  Paul  Jobert  und  Guerard  mit 
100  Zeichnungen  und  Radierungen  vertreten  war,  bewies, 
als  eine  Künstlerseele,  die  jedem  malerischen  Eindruck 
offen  ist.  Schließlich  seit  einigen  Jahren  zieht  ihn  insbe¬ 
sondere  London  an,  mit  welchem  Erfolg,  davon  gibt  die 
Radierung,  mit  der  er  dieses  Heft  geschmückt  hat,  eine 
schöne  Probe,  und  es  steht  zu  erwarten,  daß  er  uns  in 
Bälde  als  Gegenstück  zu  seinem  Album  von  Paris  ein 
solches  von  der  Themsestadt  bescheren  wird. 

AUGUST  MARGUILLIER. 


i)  20  eaux-fortes  avec  preface  de  Jules  Claretie,  de 
l’Academie  frangaise.  Paris,  Societe  de  propagation  des 
livres  d’art,  MCMIII. 


Cttvii.  /r,  ... 

PARIS.  LE  COURS  DE  LA  REINE.  NACH  EINER  ORIOINALRADIERUNO  VON  EUGEN  BEJOT 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leijrzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  g.  m.  b.  h.,  Leijrzig 


ilTSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1905 


AN  DER  THEMSE.  ORIQINALRADIERUNO  VON  E.  BEJOT  IN  PARIS 


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BILDNIS  WINCKELMANNS  VON  A.  R.  MENGS 

DAS  ORIGINAL  IM  BESITZE  DES  FÜRSTEN  CASIMIR  v.  LUBOMIRSKI  IN  KRAKAU 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  ig05 


PHOTOGRAPHIE  E. 


DELDEN  (BRESLAU) 


DAS  WINCKELMANN-PORTRAT  VON 
ANTON  RAPHAEL  MENGS 


Die  Bildnisse  Winckelmanns  sind  von  Otto  Jahn 
in  den  Biographischen  Aufsätzen  1866  und 
von  Professor  Julius  Vogel  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  (N.  F.  X.,  Heft  6  und  XI,  Heft  4)  im  Zu¬ 
sammenhang  besprochen  vt^orden.  Das  Porträt,  w^el- 
ches  Anton  Raphael  Mengs  in  Rom  von  seinem 
Freunde  malte,  war  beiden 
Ikonographen  nur  aus  drei 
Nachbildungen  bekannt, 
nämlich  1.  dem  Stich  in 
der  von  Jansen  herausge¬ 
gebenen  französischen  Aus¬ 
gabe  der  Kunstgeschichte, 

Paris  1794,  nach  einer 
Zeichnung  des  Bonaventura 
Salesa,  2.  dem  von  C.  Senff 
in  Dorpat  als  Titelbild  der 
Rede  von  Morgenstern, 

Leipzig  1805,  und  3.  dem 
Blatte  von  Maurice  Blot 
in  Paris,  181 5.  Das  letz¬ 
tere  trägt  die  Unterschrift: 

D’apres  le  iableau  original 
qui  se  trouve  dans  la  Col¬ 
lection  de  son  altesse  ma- 
darae  la  princesse  de  Lubo- 
mirska  a  Vienne.  Nach¬ 
forschungen  in  dem  Kunst¬ 
besitz  der  alten  polnischen 
Adelsfamilie  Lubomirski 
haben  erst  kürzlich  das 
wohlerhaltene  Original  im 
Besitz  des  Fürsten  Casimir 
von  Lubomirski  in  Krakau 
zutage  gefördert.  Unbedeu¬ 
tende  Schäden,  zum  Glück 
nicht  im  eigentlichen  Por¬ 
trät,  sondern  im  Hinter¬ 
gründe,  machten  eine  Ren- 
toilage  durch  die  sachkun¬ 
dige  Hand  des  Kgl.  Konser¬ 
vators  Professor  Hauser  in 
Berlin  notwendig.  Daß  es 
sich  um  das  verschollen 
geglaubte  Original  handelt,  darüber  kann  bei  ein¬ 
gehender  Betrachtung  des  Gemäldes,  eines  Meister¬ 
werkes  der  Porträtmalerei  des  18.  Jahrhunderts,  ein 
Zweifel  nicht  bestehen.  Auch  bestätigt  die  Kenntnis 
des  Originals  das  Urteil  Jahns,  daß  der  Kupferstich 
Blots  von  den  drei  genannten  der  beste  ist.  Aber 
er  behandelt  Einzelheiten  sehr  frei  und  gibt  das 
Spiegelbild;  was  im  Original  rechts  ist,  ist  in  ihm 
links. 


Auf  der  Originalleinwand  (4g  :  63  Centimeter) 
hebt  sich  von  graugrünem  Hintergründe  das  Brust¬ 
bild  Winckelmanns,  annähernd  in  Lebensgröße,  ab. 
Der  Kopf  ist  nach  links  gewandt,  der  Blick  aber 
sieht  über  das  Buch  hinweg  auf  den  Beschauer,  wel¬ 
chen  Standpunkt  man  auch  einnehmen  mag.  Dieser 

Blick  ist  klar  und  fesselnd, 
außerordentlich  sympa¬ 
thisch,  und  wie  schon  Mor¬ 
genstern  in  der  Einleitung 
seiner  Gedächtnisrede  sagte, 
so  recht  der  Spiegel  seiner 
Seele.  Ein  edler  Gedanke, 
angeregt  durch  die  Lektüre, 
scheint  seinen  Geist  zu  be¬ 
schäftigen.  Es  ist  die  Ilias, 
die  er  in  der  rechten  Hand 
hält,  seines  Lieblingsautors 
Werk,  das  ihn  selbst  auf 
Reisen  begleitete  und  das 
sich  auch  bei  seinem  jähen 
Ende  im  albergo  grande 
in  Triest  unter  seinen  Hab¬ 
seligkeiten  vorfand.  Das 
Alter  des  Dargestellten  ist 
zwischen  fünfunddreißig 
und  vierzig  Jahren,  die 
Stirn  ist  hoch,  das  Haar 
dunkel  und  dünn ,  das 
Fleisch,  in  der  Manier  des 
18.  Jahrhunderts  gemalt, 
erscheint  elastisch,  voll 
jugendlicher  Frische.  Die 
Kleidung  ist  ein  Ideal¬ 
kostüm,  das  weiße  Hemd 
mit  feiner  Spitze  läßt  (wie 
auf  den  Darstellungen  Win¬ 
ckelmanns  durch  Angel ica 
Kauffmann  und  Maron) 
den  Hals  frei.  Über  die 
linke  Schulter  ist  ein  gelb¬ 
brauner  Mantel  geschlagen 
(ein  Mengssches  Requisit, 
vergleiche  sein  Selbst¬ 
porträt  nach  links  in  der  Dresdener  Galerie),  dem 
als  Farbenkontrapunkt  ein  dunkelgrüner,  in  Blau  über¬ 
gehender  Stoff  über  dem  rechten  Unterarm  dient. 
Die  harmonische  Farbengebung,  die  technische  Voll¬ 
endung  und  der  treffende  Ausdruck  der  geistigen 
Potenz  des  Dargestellten  lassen  uns  die  Hand  eines 
großen  Künstlers  —  und  das  war  Mengs  als  Porträt¬ 
maler  --  erkennen. 

Um  so  auffallender  erscheint  es,  daß  dieses  Werk 


KUPFERSTICH  VON  MAURICE  BLOT  (PARIS,  1815) 
NACH  DEM  PORTRÄT  WINCKELMANNS  VON  A.  R.  MENOS 
(*|o  der  nalürl.  Größe) 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  7 


24 


174 


DAS  WINCKELMANN-PORTRÄT  VON  ANTON  RAPHAEL  MENGS 


außer  in  oben  genannter  französischer  Ausgabe  der 
Kunstgeschichte  Winckelmanns:  Histoire  de  Part  chez 
les  anciens,  2  Bände,  Paris  1794,  chez  H.J.  Jansen  &  Co.  i), 
nirgends  ausdrücklich  Erwähnung  findet.  Winckel- 
mann  selbst,  der  mit  dem  Beifall  über  sein  Porträt 
von  Angelica  Kauffmann  1764  und  von  Maron  1767 
nicht  kargt,  erwähnt  die  Tatsache,  daß  Mengs  ihn 
malte,  mit  keinem  Wort,  ln  der  Liste  der  Gemälde 
des  Mengs,  die  Azara  in  seinen  Opere  di  A.  R.  Mengs, 
Parma  1780,  aufstellt,  sowie  in  der,  welche  der  Leib¬ 
arzt  Augusts  111.,  Bianconi  in  seinem  Elogio  storico 
del  Cavaliere  A.  R.  Mengs,  1780  (2.  Ausg.  1797), 

gibt,  die  auf  Informationen  der  Sohne  des  Mengs 

beruhte,  suchen  wir  vergeblich  das  Winckelmann- 
porträt.  Hier  findet  sich  nur  fol.  93  die  allgemeine 
Bemerkung:  Molte  altre  cose  di  questo  pittore  si 
conservano  dal  Sig.  Cavaliere  Don  Nicola  di 
Azara,  ministro  di  Spagna  in  Roma.  Weder  die 

Memoiren,  die  Azara  hinterlassen,  noch  die  zwei¬ 
bändige  Lebensbeschreibung  Azaras  durch  Don  Basilio 
de  Losada,  Madrid  1849,  geben  uns  den  geringsten 
Anhalt.  Wir  wissen  nicht,  was  Carlo  Fea  veran- 

lasste,  seiner  italienischen  Ausgabe  der  Kunstgeschichte 
in  drei  Bänden,  die  im  Jahre  1783/84  auf  Kosten 
des  Azara  in  Rom  erschien,  das  Maronsche  Winckel- 
mannbild  voranzusetzen,  obwohl  er  im  zweiten  Bande 
einen  Kupferstich  nach  dem  Bilde  des  Azara  von 
Mengs  gibt,  also  sicher  das  Winckelmannbildnis 
kannte.  Aber  müssen  wir  darum  notwendig  zu  der 
Ansicht  Rosettis  in  seinem  an  Winckelmanns  Geist 
gerichteten  Briefe  (11  sepolcro  di  Winckelmann  in 
Trieste,  Venezia  1823)  kommen:  11  quarto  de’  tuoi 
ritratti,  quello  che  egregiamente  esegui  il  tuo  equi- 
voco  amico  Mengs,  stimasi  a  te  poco  somigliante? 
Verrät  doch  das  Beiwort  equivoco  seine  Voreinge¬ 
nommenheit  gegen  Mengs,  die  er  auch  bei  der  Be¬ 
sprechung  der  Winckelmannbildnisse  S.  160  nicht 
unterdrücken  kann.  Da  sich  ferner  in  dem  Archiv 
der  Familie  Lubomirski  und  in  dem  der  Azaras  in 
Burbaüales  in  Spanien  (nach  Mitteilungen  eines  Nach¬ 
kommen  jenes  früheren  Besitzers,  des  Professor  Jose 
Jordan  de  Urries  y  Azara  in  Barcelona)  Angaben 
über  das  Porträt  nicht  finden,  so  sind  wir  über  Ent¬ 
stehung  und  Schicksale  des  Bildes  ohne  genauere 
Kenntnis  und  lediglich  auf  Vermutungen  angewiesen. 

Am  wahrscheinlichsten  ist  die  Entstehung  des 
Bildes  in  das  Jahr  1756  zu  setzen.  Hierfür  spricht 
das  Alter  des  Dargestellten,  der  die  Vierzig  noch 
nicht  erreicht  haben  dürfte  (geb.  1717).  Im  No- 


1)  Dies  geschieht  in  einer  Anmerkung  der  Einleitung: 
Memoires  sur  la  vie  et  les  ouvrages  de  Winckelmann  p. 
M.  Huber,  fol.  LXXV.  Ni  ce  buste  ni  aucun  des  portraits 
donnes  jusqu’  ä  present  de  Winckelmann  ne  lui  ressemble, 
ainsi  que  cela  nous  a  ete  confirme  par  M.  le  Chevalier 
d’Azara,  ministre  plenipotentiaire  de  la  cour  d’Espagne 
pres  le  Saint-Siege.  Ce  genereux  amateur  des  beaux-arts 
a  bien  voulu  nous  envoyer  un  dessin  precieux  qu’il  a  fait 
faire  au  crayon  noir  d’ltalie  par  M.  Salesa,  d’apres  le 
tableau  de  Mengs  qu’il  possede  et  qui  nous  a  servi  ä 
faire  graver  le  portrait  de  notre  auteur,  qui  se  trouve  ä 
la  tete  de  ce  volume.  J. 


vember  1755  kam  Winckelmann  in  Rom  an  und  von 
dem  Dresdener  Maler  dir.  W.  E.  Dietrich  an  Mengs 
empfohlen,  schloß  er  mit  diesem  jene  intime  Freund¬ 
schaft,  von  der  seine  Briefe  besonders  im  Jahre  1756 
beredtes  Zeugnis  geben,  so  der  Brief 

an  Berends,  Rom,  20.  Dezember  1755. 

Mein  gutes  Glück  hat  gewollt,  daß  mir  der  Hofmaler 
Dieterich,  mein  sehr  guter  Freund,  ein  Schreiben  an  Herrn 
Mengs,  Premier  peintre  du  roi  de  Pologne  gegeben,  worin 
er  ihn  gebeten,  mich  als  seinen  besten  Freund  anzusehen. 
Ohne  diesen  Mann  würde  ich  hier,  da  man  mich  mit 
keiner  Adresse  versehen,  wie  in  einer  Einöde  gewesen 
sein.  Ich  bringe  die  meiste  Zeit  bei  ihm  zu;  und  durch 
ihn  habe  ich  verschiedene  Adressen  erhalten  und  er  ist 
der  Mann,  der  mir  hier  in  allem  nützlich  sein  kann.  Selbst 
diesen  Brief  schreibe  ich  in  seinem  Zimmer  unter  der  Zeit, 
daß  er  die  Akademie  in  seinem  Hause  hält. 

An  Franke,  Rom,  20.  Januar  1756. 

Ich  bringe  fast  den  ganzen  Tag  bei  Herrn  Mengs  zu, 
wenigstens  esse  ich  alle  Fasttage  bei  ihm.  Ich  trinke 
nicht  einmal  Kaffee  anderwärts,  als  bei  ihm,  und  ich  habe 
sogar  meine  Bücher  und  Schriften  in  seinem  Zimmer. 

An  Genzmar,  Rom,  1.  Juni  1756. 

Ich  habe  das  Glück,  bei  dem  größten  Maler  unserer 
Zeit,  Herrn  Mengs  zu  wohnen  und,  wenn  es  mir  gefällt, 
zu  essen.  Es  lebt  derselbe  mit  einem  gewissen  Vorzug 
in  Rom  (er  hat  sich  an  11  Jahre  in  Rom  aufgehalten)  und 
dieses  ist  mir  eine  Gelegenheit,  das  Schöne  des  Landes  mit 
aller  Zufriedenheit  zu  genießen. 

Das  Bild  ging  offenbar  im  Herbst  1761  mit 
Mengs  nach  Spanien.  Nach  dessen  Tode  (1779) 
kaufte  Azara  aus  dem  Nachlaß  mehrere  Werke  des 
Malers,  um  die  Familie  seines  Freundes  zu  unter¬ 
stützen,  die  der  Künstler  trotz  seiner  hohen  Einkünfte 
bei  seiner  Sorglosigkeit  in  Geldangelegenheiten  in 
dürftigen  Verhältnissen  zurückgelassen  hatte.  Als 
Azara  1804  in  Paris  starb,  schickte  sein  Neffe,  der 
Kardinal  Bardaje,  an  die  Erben  alle  Kunstgegenstände, 
die  jener  in  Rom  gelassen  hatte.  In  dem  noch  er¬ 
haltenen  kurzgefaßten  Katalog,  welcher  die  Sendung 
begleitete,  figuriert  ein  Brustbild  Winckelmanns.  Es 
ist  merkwürdig,  daß  alle  anderen  in  jenem  Kataloge 
verzeichneten  Gemälde  sich  noch  im  Besitz  des  Herrn 
Professor  de  Azara  in  Barcelona  befinden,  nur  nicht 
das  Winckelmannbild.  Es  muß  wohl  kurz  nach 
1804  verschenkt  worden  sein,  doch  läßt  sich  der  Zeit¬ 
punkt  leider  nicht  feststellen.  Eine  interessante  Notiz 
bei  Charles  Blanc,  Histoire  des  peintres  de  toutes  les 
ecoles.  Ecole  allemande,  Paris  1875,  am  Schlüsse  des 
Aufsatzes  über  Mengs  (verfaßt  von  Paul  Maniz)  lautet: 
Vente  Lebrun  1 810.  Portrait  de  Winckelmann  166  Eres. 
Ce  portrait  est  peut-etre  celui  que  Blot  a  grave  en 
1815  d’apres  un  original  appartenant  ä  la  princesse 
de  Lubomirska  ä  Vienne.  Diese  Notiz,  im  wesent¬ 
lichen  schon  abgedruckt  bei  Ch.  Blanc,  Tresor  de 
la  curiosite,  Paris  1858,  Bd.  II,  fol.  275,  stimmt  mit 
dem  Originalkatalog  der  Versteigerung  des  Kunst¬ 
händlers  J.  B.  P.  Lebrun  aus  dem  Jahre  1810  über- 


DAS  WINCKELMANN-PORTRAT  VON  ANTON  RAPHAEL  MENGS 


175 


ein.  Ein  Exemplar  befindet  sich  in  der  Pariser 
Nationalbibliolhek  und  trägt  den  TiteP):  Vente  et 
ordre  de  la  rare  et  precieuse  collection  de  M.  Lebrun. 
Der  Katalog  enthält  26  Seiten.  Auf  fol.  19  Raphael 
Mengs  Nr.  218  notice,  186  le  portrait  de  Winckel- 
mann,  grave  ä  la  tete  de  ses  oeuvres,  de  la  collection 
d’Azara,  sur  toile.  Am  Rande  handschriftlich  166 
und  Le  Rochen  Ob  die  Zahl  den  Preis  und  der 
Name  den  Käufer  bedeutet,  ließ  sich  nicht  feststellen. 
Vielleicht  ist  Le  Rocher  eine  vorgeschobene  Person 
und  das  Bild  bei  dieser  Gelegenheit  von  der  Fürstin 
Isabella  Lubomirska,  genannt  Princesse  Marechale,  er¬ 
worben  worden.  Sicher  ist,  daß  die  kunstliebende 
Fürstin,  die  auf  ihren  Reisen  oft  in  Paris  weilte,  bei 
dem  Kunsthändler  Lebrun  verkehrte;  stand  doch  dessen 
Frau,  die  bekannte  Malerin  Madame  Vigee-Lebrun  zu 
ihr  in  naher  Beziehung.  Sie  malte  die  durch  Schönheit 
und  Geist  ausgezeichnete  Dame  im  Jahre  1793  und 
wenige  Jahre  vorher  den  bildschönen  Adoptivsohn 
Prinz  Heinrich,  ganz  nackt  auf  einem  roten  Kissen 
knieend,  als  Genius  des  Ruhmes  eine  Lorbeerkrone 
in  den  Händen  haltend.  Beide  Gemälde  befinden 
sich  noch  im  Besitz  der  Familie  Lubomirski  in 
Krakau  2).  Es  ist  zu  bedauern,  daß  der  Briefwechsel 


1)  Louis  Soullie,  Les  ventes  etc.  au  XlXe  siede,  Paris 
i8g6,  gibt  den  Titel  irrtümlich  an:  Dessins  du  plus  beau 
choix  des  diverses  ecoles. 

2)  Nach  freundlichen  Mitteilungen  des  kunstsinnigen 
Vetters  des  Besitzers,  des  Grafen  Georg  von  Mycielski, 


der  Fürstin  Isabella,  die  1816  starb,  nicht  geordnet 
ist,  vielleicht  findet  sich  in  ihm  eine  Notiz  über  die 
Erwerbung  des  Winckelmannbildes.  Die  vorläufig 
sehr  lückenhafte  Kenntnis  der  Schicksale  dieses  Bildes 
können  uns  in  der  Überzeugung  nicht  erschüttern, 
daß  wir  ein  Werk  hohen  künstlerischen  Könnens 
vor  uns  haben  und  daß  es  unter  den  Bildnissen 
Winckelmanns  an  erster  Stelle  zu  nennen  ist. 

Hier  möge  noch  eine  andere  zeitgenössische  Dar¬ 
stellung  des  großen  Archäologen  ihren  Platz  finden, 
die  zwar  von  Andresen,  der  deutsche  peintre-graveur 
1878,  Bd.  V.  fol.  380  besprochen  wurde,  aber  durch 
ihre  Seltenheit  den  Winckelmannforschern  bisher  ent¬ 
gangen  zu  sein  scheint.  Es  ist  die  kleine  Vorstudie 
der  Angelica  Kauffmann,  Ischia  1763,  zu  ihrem  im 
folgenden  Jahre  gemalten  Bilde,  das  sich  in  der 
Kunsthalle  in  Zürich  befindet.  Die  anspruchslose, 
unzweifelhaft  nach  dem  Leben  in  die  Kupferplatte 
radierte  Skizze  leitet  mit  der  eigenartigen  Kopfbedeckung 
einmal  zu  dem  bekanntesten  Winckelmannporträt, 
dem  Maronschen  (in  Weimar),  dann  aber  auch  zu 
einem  wenig  bekannten  Bilde  in  der  Großherzoglichen 
Galerie  in  Karlsruhe  (Nr.  484),  das  für  den  Ikono- 
graphen  Winckelmanns  vielleicht  nicht  ohne  Interesse  ist. 

Breslau,  Februar  1905. 

JULIUS  BRANN. 

Professors  in  Krakau.  Vergleiche  auch:  Voyage  de  deux 
Frangais  dans  le  Nord  de  FEurope.  Paris  1796,  Bd.  V, 
fol.  55. 


ANGELICA  KAUFFMANN.  BRUSTBILD  WINCKELMANNS 
RADIERUNG,  ORIGINALGRÖSSE 


24 


VILH.  HAMMERSHÖI  (KOPENHAGEN).  SELBSTBILDNIS 


WELTKUNST 

DER  DÄNISCHE  MALER  VILHELM  HAMMERSHÖl 

Von  Alfred  Bramsen  in  Kopenhagen 


Kunst  kann  in  Schulkunst  und  Weltkunst  ein¬ 
geteilt  werden.  Die  eine  hängt  zäh  am  Kon¬ 
ventionellen,  die  andere  sprengt  das  Herkömm¬ 
liche:  Jene  schwört  zum  überlieferten  künstlerischen 
Glaubensbekenntnis,  diese  ist  Ketzerei.  Die  Schul¬ 
künstler  sammeln  sich  Schulter  an  Schulter  unter  den 
Bannern  ihrer  nationalen  Schulen,  die  anderen  sind 
sonderbare  und  isolierte  Persönlichkeiten,  von  denen 
jede  für  sich  eine  eigene  Technik  hat.  Sie  ist  ihnen 
nicht  von  anderen  überkommen,  und  keiner  kann 
ihnen  die  Kunst  ablernen.  Der  Diamant  muß  ja  be¬ 
kanntlich  mit  seinem  eigenen  Staub  geschliffen  wer¬ 
den.  —  An  sie  muß  Ibsen  gedacht  haben,  als  er 
schrieb:  Wer  am  einsamsten  steht,  ist  der  Stärkste! 
Die  Stärke  ist  nun  freilich  nicht  sogleich  fühlbar; 
das  hängt  vom  Zeitpunkt  ab.  ln  der  ersten  Zeit  geht 
es  diesen  Starken  meist  erbärmlich  genug,  zuletzt 
kann  man  es  erleben,  sie  mit  den  Siegespalmen  in 
den  Händen  zu  sehen. 

Die  Sache  ist  die,  daß  ein  Künstler,  der  der  na¬ 
tionalen  Schule  angehört,  in  der  Heimat  Popularität 
erlangt,  wogegen  der  Ketzer  sich  seine  Bewunderer, 
die  in  alle  Lande  zerstreut  sind,  von  weit  her  holen 
muß,  was  natürlich  gehörig  lange  dauert.  Jeder  ein¬ 
zelne  Volksstamm,  der  künstlerisch  mitzählt,  hat  seine 
Ketzer.  Die  Angelsachsen  hatten  ihren  Constable,  den 
Vorläufer  der  modernen  französischen  Landschafts¬ 
malerei,  und  nun  kürzlich  Whistler,  dessen  Meisterwerk 
»Meine  Matter«  vom  Chantrey-Komitee  verworfen 
wurde,  um  endlich,  1892,  in  der  Sammlung  des  fran¬ 
zösischen  Staates  (Luxembourg)  zu  landen.  Für  noch 
nicht  4000  Francs  kaufte  man  dieses  herrliche  Bild 
von  dem  fast  sechzigjährigen  Meister!  Hollands  eigen¬ 
artigster  Maler,  der  sechsundsechzigjährige  Thijs  Maris, 
genießt  weit  größeres  Ansehen  in  England,  wo  auch 
der  größte  Teil  seiner  Werke  zu  finden  ist,  als  in 
Holland.  Der  geniale  Spanier  Zuloaga  hat  in  seiner 
Heimat  keinen  besonders  großen  Ruf,  und  Rodin 
zählt  mehr  wirkliche  Bewunderer  im  Auslande  als  in 
Frankreich. 

Wenn  diese  Künstlerpersönlichkeiten  Ketzer  ge¬ 
nannt  werden,  so  ist  dies  nicht  so  aufzufassen,  als 
ob  nicht  auch  sie  zu  einem  Teil  in  Rapport  mit 
Tradition  und  Konvention  gestanden  haben.  Mancher 
Typus  und  manches  überlieferte  Genre  sind  ja  logisch 
notwendig,  weil  sie  gleichsam  die  gemeinsame  Sprache 


Contemporain  de  tous  les  hommes 
Et  citoyen  de  tous  les  lieux. 

sind,  um  die  kein  Künstler  herumkommen  kann;  und 
ein  neuer  Gedanke  nimmt  sich  ja  oft  am  besten  aus, 
wenn  er  in  die  ältesten  Worte  der  Sprache  gekleidet 
wird,  weil  diese  einen  Klang,  eine  Klarheit  haben, 
die  oft  den  später  gebildeten  Worten  abgehen.  Was 
wir  originale  Kunst  nennen,  ist  gewissermaßen  eine 
neue  künstlerische  Variation  eines  älteren  Themas; 
aber  eine  solche  Variante  kann  freilich  so  eigenartig 
und  inhaltsreich  sein,  daß  sie  späterhin  selbst  zu 
einem  ganz  neuen  künstlerischen  Ausgangspunkt  wird. 

Ein  Kunstwerk  enthält  also  eine  Mischung  von 
etwas  uns  schon  Bekanntem  und  Vertrautem  und 
einer  größeren  oder  kleineren  Portion  Neuem,  Un- 
vorgesehenem.  »L’imprevue«  nennen  die  Franzosen 
dieses  Neue,  das  diejenigen  entzückt  und  bezaubert, 
die  den  Künstler  begreifen  und  mit  ihm  sympathi¬ 
sieren,  das  aber  alle  anderen  empört  und  abstößt, 
sobald  es  sich  um  mehr  als  gerade  eine  Minimaldosis 
handelt.  Das  Verhältnis  zwischen  dem  Altbekannten 
und  dem  Neuen  ist  deshalb  für  das  Schicksal  des 
Werkes  entscheidend.  Die  Originalität  kann  ja  näm¬ 
lich  so  wenig  auffällig  sein,  daß  sie  nur  als  ein 
leichtes  und  angenehmes  Gewürz  wirkt,  oder  sie  kann 
so  tief  und  seltsam  sein,  daß  die  Umgebung  sich 
unverstehend  und  verdrossen  abwendet. 

Ein  klassisches  Beispiel  eines  Erzketzers  war  Rem- 
brandt,  der  als  Modemaler  begann,  aber  in  Holland 
allmählich,  in  dem  Maße  wie  seine  Persönlichkeit 
wuchs,  immer  weniger  populär  wurde,  und  der  zu¬ 
letzt,  als  er  seinen  Gipfel  erreichte,  die  Staalmeesters 
malte  und  die  Judenbraut,  unbemerkt  starb,  ohne 
daß  eine  einzige  Stimme  sich  aus  diesem  Anlaß  er¬ 
hoben  hätte.  England,  Deutschland,  Frankreich  und 
Rußland  besitzen  heutigen  Tages  mehr  Werke  des 
Meisters  als  Holland  selbst.  Er  spielte  mit  seinen 
Landsleuten  Hund  und  Hase:  Jedesmal,  sobald  sie 
ihn  einholten  und  dachten,  nun  hätten  sie  ihn,  ent¬ 
täuschte  er  sie,  indem  er  neue,  noch  »sonderbarere« 
Bilder  malte.  Es  ging  ihm,  wie  es  Beethoven  ging, 
wenn  er  eine  neue  Symphonie  spielen  ließ.  Jedesmal 
widersetzte  und  ärgerte  man  sich,  und  die  Kritik 
wurde  nie  müde,  ihm  zu  erzählen,  wie  viel  besser 
und  klarer  das  vorhergehende  Werk  wäre. 

Wäre  Rembrandts  nicht  gerade  sanftes  Schicksal 
heutzutage  denkbar?  Kann  man  es  sich  vorstellen, 
daß  ein  so  eminentes  Genie  unbeachtet  fortgehen 


178 


WELTKUNST 


könnte,  nachdem  es  über  40  Jahre  gewirkt  und  in 
all  der  Zeit  in  ununterbrochenem  künstlerischen  Wachs¬ 
tum  begriffen  gewesen  ist? 

Kaum!  Doch  nicht  weil  seine  Kunst  heute  mehr 
als  ehemals  zum  Eigentum  des  Volkes,  das  heißt  der 
holländischen  Nation,  geworden  wäre,  wie  es  Steens 
und  Goyens  Kunst  sofort  wurde.  Sondern  weil  die 
internationalen  Verhältnisse  von  den  damaligen  so 
sehr  verschieden  sind.  Es  läßt  sich  ja  nicht  leugnen, 
daß  das  kunstinteressierte  Publikum  ständig  wächst, 
oder  richtiger,  daß  der  Kreis,  für  den  der  Künstler 
arbeitet,  und  dessen  Meinung  für  ihn  Wert  hat,  sich 
von  Tag  zu  Tag  erweitert.  Dieser  Zuwachs  entsteht 
dadurch,  daß  die  Grenzen  der  Stadt,  des  Landesteils, 
ja  des  ganzen  Landes  beständig  weiter  herausgeschoben 
werden;  jene  engen  Grenzen,  hinter  denen  man  kaum 
eine  Mutterseele  erblickte,  mit  der  man  sich  geistig 
verwandt  fühlte  oder  künstlerische  Anschauungen 
teilte  und  hinter  denen  Künstler  und  Dichter  nur 
Barbaren-  erblickten. 

Schrieben  Racine  und  Goethe  für  Tausende  von 
Lesern,  so  werden  Victor  Hugo  und  Ibsen  von 
Hunderttausenden  gelesen  —  nicht  von  einer  be¬ 
grenzten  Anzahl  von  Landsleuten,  sondern  von  einer 
ganzen  Welt  höchst  kultivierter  Menschen.  Mit  kurzen 
Worten:  die  Schollenpflicht  der  Kunst  ist  ein  für  alle¬ 
mal  vorüber. 

ln  Zeiten  wie  der  unseren,  wo  das  Gefühl  für 
Religion  und  Heimat  sichtlich  geschwächt  wird,  ent¬ 
steht  eine  Art  künstlerischer  Verbrüderung  zwischen 
Individuen  von  verschiedener  Nationalität;  es  ist,  als 
ob  ein  Band  um  die  Erde  geschlungen  würde,  das 
Menschen  miteinander  verbindet,  die  sich  sonst  nie 
gefunden  hätten,  ein  Band,  das  inniger  ist,  als  es 
Handel  und  Industrie  jemals  hätten  knüpfen  können.  — 
Jahrzehnte  hindurch  standen  Engländer  und  Deutsche 
mit  denselben  Ausländern  in  Handelsverbindung,  ohne 
daß  sie  deshalb  einander  sonderlich  näher  gerückt 
wären;  wogegen  die  Schar  Wagnerianer,  die  im  Laufe 
der  Jahre  nach  Bayreuth  zog,  wie  Pilger  nach  dem 
heiligen  Lande  wallfahren,  sich  allmählich  zu  einer 
Art  Gemeinde  verbanden,  die  aus  wildfremden  Men¬ 
schen  von  Norden,  Süden,  Osten,  Westen  besteht. 

Eine  gleiche  Gemeinde  hätte  Rembrandt  heute  um 
sich  geschart,  eine  Gemeinde  aus  begeisterten  Kunst¬ 
freunden  aller  Länder. 

Sk 

sf: 

Dieses  Freimaurertum  kennt  ein  jeder,  der  an  den 
Bewegungen  auf  dem  Gebiete  der  heutigen  Kunst 
ein  lebhaftes  Interesse  nimmt  und  ausländische  Kunst¬ 
freunde^  hat,  deren  Sympathien  er  teilt.  Gerade  sol¬ 
chen  von  außen  kommenden  Sympathien  ist  es  haupt¬ 
sächlich  zu  verdanken,  das  ein  hervorragendes  Talent 
wie  Vilhelm  Hammershöi  jetzt,  in  seinem  40.  Jahre, 
den  Platz  in  der  Kunst  Europas  einzunehmen  beginnt, 
der  ihm  zukommt. 

*^Auch  er  nimmt  ja  eine  isolierte  Stellung  ein,  ge¬ 
hört  keiner  Schule  oder  Richtung  an,  hat  keine  deut¬ 
lich  erkennbaren  Vorgänger  in  der  dänischen  Kunst, 


und  wird  kaum  einen  Schüler  bekommen  —  wenn 
auch  viele  schon  jetzt  vergeblich  bemüht  sind,  ihn 
nachzuahmen.  Er  signiert  seine  Bilder  nicht,  was 
der  Sammler  bedauert,  weil  die  aufklärende  Jahreszahl 
fehlt  —  im  übrigen  ist  keine  Signatur  nötig,  wo  kein 
Misverständnis  möglich  ist,  weil  jeder  Pinselstrich 
den  Namen  so  deutlich  flüstert,  daß  ihn  alle  hören 
können. 

Auch  er  hat  seine  wärmsten  Bewunderer  außer¬ 
halb  der  Grenzen  des  Landes,  in  dem  er  geboren 
wurde  und  wirkt  —  in  Deutschland  z.  B.  den  aus¬ 
gezeichneten  Kunstkenner  Alfred  Lichtwark  und  den 
Dichter  R.  M.  Rilke,  den  Verfasser  des  Buches  über 
Rodin.  Verschiedene  seiner  Bilder  sind  schon  nach 
England,  Schweden  und  Rußland  gewandert  —  jetzt 
kommt  vermutlich  die  Reihe  an  Deutschland. 

Auch  er  hätte  es  leicht  zur  Popularität  in  der 
Heimat  bringen  können,  wenn  er  sich  dem  Geschmack 
des  Publikums  gebeugt  und  ausschließlich  die  ent¬ 
zückenden  Interieurs  gemalt  hätte,  die  die  Kunsthändler 
schneller  verkaufen,  als  die  Maler  sie  fertig  machen 
können.  So  machten  es  ja  Terborch  und  Hoogh 
und  die  meisten  anderen  vortrefflichen  holländischen 
Maler,  weshalb  also  ein  »Sonderling«  sein  und  seiner 
Zeit  ununterbrochen  anstrengende  Überraschungen  be¬ 
reiten,  für  die  nicht  eher  Vergebung  zu  erwarten  ist, 
als  bis  die  Jahre  verstrichen  sind  und  das  Verständ¬ 
nis  sich  allmählich  einfindet? 

Weshalb?  Weil  Ketzerblut  in  den  Adern  dieses 
echten  Künstlers  rinnt.  So  selten  ist  die  ganz  ur¬ 
sprüngliche  Künstlerseele  und  so  verschieden  von 
dem  allgemeinen  Künstlertypus,  daß  ihr  künstlerisches 
Unabhängigkeitsgefühl  und  ihr  unablässiges  Sinnen 
und  Trachten  nach  noch  vollkommenerem,  noch  we¬ 
niger  konventionellem  Ausdruck  der  Umgebung  un¬ 
natürlich,  ja  fast  als  eine  Form  von  Geisteskrankheit 
erscheint.  Wie  unmöglich  es  für  ein  solches  Talent 
ist,  gegen  den  Schaffensdrang  anzukämpfen,  das  hat 
Goethe  mit  folgendem  treffenden  Ausdruck  be¬ 
zeichnet: 

Verbiete  du  dem  Seidenwurm  zu  spinnen, 

Wenn  er  sich  schon  dem  Tode  näher  spinnt. 

Das  köstliche  Oeweb’  entwickelt  er 
Aus  seinem  Innersten,  und  läßt  nicht  ab. 

Bis  er  in  seinen  Sarg  sich  eingeschlossen. 

(Tasso.) 

Ohne  das  internationale  Freimaurertum  oder  die 
Verbrüderung,  wie  sie  sich  in  unserer  Zeit  entwickelt 
haben,  wäre  ein  so  seltsames  Genie  in  einem  kleinen 
Lande  kaum  dem  Schicksal  entgangen,  allmählich 
isoliert  zu  werden,  um  zuletzt  ganz  in  Vergessenheit 
zu  geraten. 

Kaum  einer  der  erwähnten  großen  Künstler  hat 
im  Alter  von  20  Jahren  etwas  Originaleres  geschaffen 
als  das  Porträt  eines  jungen  Mädchens,  mit  dem 
Hammershöi  auf  der  Ausstellung  in  Kopenhagen  1885 
debütierte'). 


1)  Das  Bild,  das  sich  im  Besitz  einer  Privatsammiuug 
befindet,  die  jahrelang  im  Speicher  aufgehoben  und  unzu- 


VII  II.  riAMMTRSHÖI  (KOITNI I AOTN).  |UN(iF.S  MAnClir.N 


i8o 


WELTKUNST 


VILH.  HAMMERSHÖI.  DER  KÜNSTLER  UND  SEINE  GATTIN 


Wenn  irgendwo,  so  zeigte  es  sich  hier,  daß  man 
entweder  ein  Künstler  von  Gottes  Gnaden  oder  gar 
kein  Künstler  ist.  Und  wie  Eugene  Delacroix  einmal 
sagte:  On  sait  son  melier  tout  de  suite,  ou  on  ne 

le  sait  jamais  !  Immer  ist  mir  wunderbar  erschienen, 
daß  schon  diese  erste  Arbeit  gleich  und  vollkommen 
die  bestrickende  und  durchaus  persönliche  Technik 
des  Malers  offenbarte. 

Daß  das  Bild  Verstimmung  erregte,  ist  selbstver¬ 
ständlich,  —  ebenso,  daß  man  jetzt,  20  Jahre  später, 
sich  über  seine  vortrefflichen  Eigenschaften  klar  ist. 
Heute  ärgert  man  sich  natürlich  über  die  späteren 
Arbeiten  des  Meisters. 

Es  liegt  eine  Freiheit,  eine  ausgesuchte  Anmut 
über  der  Haltung  dieses  jungen  Mädchens,  wie  sie 
der  Maler  kaum  in  einem  der  späteren  Porträts  über¬ 
troffen  hat,  die  fast  statuarisch  wirken  und  den  Ge- 


gänglich  war,  hat  deshalb  nicht  photographiert  werden 
können.  Die  Reproduktion  hier  ist  nach  einer  Kohlen¬ 
zeichnung  angefertigt  und  gibt  nur  zum  Teil  einen  Begriff 
von  der  Schönheit  des  Bildes. 


danken  an  die  archaische  Kunst  in  uns  wachrufen, 
wogegen  diese  feine  nervöse  Mädchengestalt  dasitzt, 
als  ob  sie  eben  im  Begriff  sei,  sich  zu  erheben.  In 
anderen  Beziehungen  stehen  die  meisten  der  späteren 
Porträts,  z.  B.  das  der  Mutter  und  das  eigenartige, 
in  hohem  Grade  fesselnde  Porträt  seiner  zukünftigen 
Gattin,  das  Doppelporträt  des  Malers  und  seiner 
Gattin,  und  nicht  zum  wenigsten  das  süperbe  Porträt 
des  Malers  Holsöe  sowohl  in  bezug  auf  den  Aus¬ 
druck  und  die  Kraft  in  der  Charakteristik  wie  auf 
den  Lichtgehalt  und  die  Schönheit  der  Farbe  höher. 

Man  sollte  meinen,  daß  in  einer  Nation,  die 
gewißlich  über  große  künstlerische  Gaben  verfügt 
und  die  Kunst  mit  Verständnis  auffaßt,  sich  viele 
gefunden  hätten,  die  schon  in  diesem  ersten  Stadium 
erkennen  konnten,  daß  hier  eine  Offenbarung  aller¬ 
seltenster  Art  stattfand.  Selbst  wenn  man  die  Kunst¬ 
ausstellungen  Europas  durchforschte,  fände  man  ja 
niemand  mit  der  künstlerischen  Anschauung  dieses 
Zwanzigjährigen,  keinen,  der  größeren  Charme  und 
größere  Feinheit  besäße.  Aber  Akademieprofessoren 
und  Aussteihmgsjuroren  haben  sicherlich  niemals 


WELTKUNST 


i8i 


junge  Verehrer  der  Schönheit  entdeckt  oder  beschützt, 
wenn  diese  nicht  schon  vorher  vielfach  katalogisiert 
und  rubriziert  worden  waren.  Daß  die  Akademie 
ihn  bei  der  Prämienverteilung  übersprang,  kann  des¬ 
halb  nicht  wundernehmen.  Derartige  Institutionen 
belohnen  Fleiß  und  Respektabilität,  nicht  Genie;  und 
an  dem  Tage,  an  dem  alle  akademischen  Auszeich¬ 
nungen  und  Preise  abgeschafft  würden,  hätte  die 
Mittelmäßigkeit,  nicht  das  Talent,  Grund  zu  jammern. 

In  den  nachfolgenden  Jahren  verwarf  die  Aus¬ 
stellungsjury  zwei  entzückende  kleinere  Arbeiten,  ein 
junges  Mädchen  mit  dem  Nähzeug  und  ein  Stuben¬ 
interieur,  was  zur  Folge  hatte,  daß  der  junge  Künstler 
sich  der  eben  gegründeten  Sezession  (»Die  freie  Aus¬ 
stellung«)  in  die  Arme  warf,  wo  er  eigentlich  nicht 
hingehörte,  weil  er  sich  in  unruhiger  und  bunter 
Umgebung  nicht  gut  ausnimmt.  Seine  aristokra¬ 
tische  Kunst  verlangt  einen  ruhigen  harmonischen 
Hintergrund,  und  die  Gesellschaft  stellt  sich  am 
besten  im  stilvollen  und  festlichen  Gewände  ein 

—  schwarzer  Frack  und  weiße  Krawatte.  Schwarz 
und  Weiß  sind  ja  auch  seine  Favorits  auf  der  Pa¬ 
lette,  denn  er  wendet  sich  von  allem  ab,  was  das 
Schreiende,  das  Grelle  oder  Bunte  auch  nur  tangiert, 

—  was  robustere  Naturen  nicht  abschreckt,  ja  für 
seine  verfeinerten  Nerven  sind  selbst  die  starke  äußere 
Bewegung  und  das,  was  man  die  »Erzählung«  im 
Bilde  nennt,  allzu  grobkörnige  künstlerische  Ausdrucks¬ 
mitte!.  In  seinen  Porträts  fehlt  es  keinesm^egs  an  Be¬ 
wegung,  aber  sie  ist  nicht  von  äußerer  Art;  die  Ge¬ 
stalten  wirken  manchmal  im  ersten  Augenblick  etwas 
steif,  weil  sie  sich  in  absoluter  und  selbständiger 
Ruhe  befinden  —  sie  wirken  nur  von  innen  nach 
außen. 

In  dem  großen  Gruppenbilde  bei  künstlichem 
Licht  »Fünf  Porträts«,  das  letzten  Sommer  in  Berlin 
ausgestellt  war,  treten  diese  Eigenschaften  stark  her¬ 
vor.  Dieses  Bild  ist  es,  von  dem  der  bekannte  Dichter 
und  Kunstfreund  Sophus  Michaelis  folgendes  schrieb: 
Wir  sind  hier  weit  entfernt  von  dem  Leben,  wie  es 
sich  in  einem  gewöhnlichen  Menschenauge  spiegelt. 
Hier  gibt  es  kein  flimmerndes  Sonnenlicht  über  einem 
malerischen  Interieur.  Das  Licht  ist  im  Gegenteil  auf 
den  allernotwendigsten  Behelf  heruntergeschraubt.  Das 
Licht  scheint  nur  angezündet,  um  die  Stärke  des 
Schattens  zu  malen.  Ein  paar  ruhige  Lichtschnuppen 
leuchten  über  einer  weißen  Decke  —  schmal  und 
hart  wie  das  Tuch  über  einer  Bahre  ■ —  und  über 
einer  Reihe  von  Gesichtern,  deren  Nachtseite  sich 
ernsterfüllt  zu  zeigen  scheint  in  dem  gelbgrauen  Clair- 
obscure,  das  zwischen  den  pechschwarzen  Fenstern 
und  den  weißen  Kanten  des  Leinenzeuges  schwebt. 
Hier  ist  kein  goldenes  Glück,  kein  Rausch  in  rei¬ 
chen  Farben,  keine  festliche  Ausgelassenheit,  nur 
ein  still  tönender  Mollakkord  zwischen  dem  steifen 
weißen  Wachslicht  und  dem  gedämpften  wech¬ 
selnden  Spiel  der  grauen  Schatten,  die  von  der  Mauer 
der  ewigen  Dunkelheit  zurückgeworfen  werden,  die 
hinter  den  uns  entgegengähnenden  Fensterscheiben 
steht.  Sollte  ein  Hoch  ausgebracht  werden  bei  den 
becherförmigen  Schnapsgläsern,  die  mystisch  aus  dem 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  K.  7 


weißen  Tuche  hervorschießen,  so  wäre  es  »ein  Hoch 
auf  das  Glück,  ehe  es  käme  —  ein  Hoch  auf  die 
Armut  der  Hoffnung  —  ein  Hoch  der  Träume!« 

Das  Schöne  kann  zuweilen  rechte  Schwierigkeiten 
bereiten,  nicht  zum  wenigsten,  wenn  es  wie  hier  auf¬ 
steigt:  fast  befreit  von  der  Konvention,  chemisch  rein 
von  Routine  und  ohne  die  geringste  Spur  eines  Ver¬ 
suches,  sich  mit  Hilfe  von  technischem  Hokuspokus 
herumzudrücken.  Wie  merkwürdig,  daß  gerade  die 
vollkommene  Natürlichkeit  als  Affektation  aufgefaßt 
wird,  weil  sie  so  sehr  selten  ist.  Die  Bezeichnung 
»affektiert«  hat  man  nämlich  gleich  von  Anfang  an 
mehreren  der  bedeutendsten  Werke  anzuhängen  ver¬ 
sucht,  die  dieser  Künstler,  der  so  natürlich  und  echt 
ist,  wie  nur  einer,  geschaffen  hat.  Sogar  eine  Ka¬ 
pazität  wie  Julius  Lange  beging  diesen  grausamen 
Irrtum,  was  noch  einmal  zum  Überfluß  beweist,  daß 
man  Kunsthistoriker  sein  kann,  ohne  deshalb  sonder¬ 
lich  viel  von  der  Kunst  zu  verstehen,  die  mit  uns 
gleichzeitig  geboren  wird  und  lebt,  und  die  schlie߬ 
lich  für  uns  von  größerer  Bedeutung  ist  als  der 
ganze  Rest. 

Ein  anderer  ausgezeichneter  dänischer  Kunst- 
forscher,  Karl  Madsen,  der  im  Gegensatz  zu  Lange 
Hammershöis  Kunst  von  Anfang  an  zu  schätzen 
wußte,  begeht  einen  neuen  Irrtum,  wenn  er,  um  der 
Beschuldigung  der  Affektation  zu  begegnen,  diesen  in 
künstlerischer  Beziehung  gerade  so  kühnen  Maler  eine 
Mimose  nennt.  Wenn  die  Kartoffel  denken  könnte, 
—  schreibt  Madsen  —  so  würde  sie  ebenfalls,  ohne 


V.  HAMMERSHÖI.  BILDNIS 

25 


V.  HAMMERSHOI  iKOPENHAGEN) 


DER  DÄNISCHE  CELLIST  BRAMSEN 


WELTKUNST 


183 


Zweifel,  die  Mimose  affektiert  finden!  Die  »Mimose« 

in  Verbindung  mit’Hammershöis  Kunst  zu  nennen, 
ist  in  demselben  Grade  daneben  gehauen,  wie  es 
verblüffend  witzig  ist,  das  »man«  mit  Kartoffel  zu 
umschreiben. 

Das  Mißverständnis  hat  zweifellos  seinen  Grund 
in  der  feinen,*  nervösen  Person  des  Malers  und  in 
seinem  in  äußerer  Beziehung  stark  zurückgezogenen 
Wesen,  das  sich  leider  in  den  letzten  Jahren  infolge 
einer  zunehmenden  Schwerhörigkeit  zur  Menschen¬ 
scheu  zu  entwickeln  droht. 

Einen  etwas  isolierten  Platz  in  der  Produktion 
des  Malers  nimmt  auf  Grund  seiner  außergewöhnlichen, 
fast  prachtvollen  malerischen  Wirkung  das  große  Bild 
von  Henry  Dramsen  ein,  des  dänischen  Cellisten.  Es 
ist,  als  ginge  von  dem  Amati-Cello  ein  Strom  schöner 
Töne  aus,  die  das  ganze  Bild  durchdringen.  Das 
weiße  Chemisett  und  das  Cello  selbst  sind  so  köst¬ 
lich  gemalt,  daß  einem  unwillkürlich  Rembrandts  Name 
auf  die  Lippen  kommt^). 

Hätte  Hammershöi  keine  Interieurs  gemalt,  so 
würde  seine  Kunst  jetzt  nur  von  einigen  wenigen 
Eeinschmeckern  goutiert  werden,  ja  er  würde  kaum 
existieren  können.  Denn  diese  einschmeichelnden 
Bilder  haben  ihm  manche  Bewunderer  und  Käufer 
verschafft,  besonders  unter  denen,  die  von  der  Kunst 
entzückt  sind,  sobald  sie  ihnen  keine  Anstrengung 
bereitet  —  und  das  ist  mehr  als  die  Hälfte  des  kunst¬ 
kaufenden  Publikums.  Was  diese  Bilder  auszeichnet, 
ist  ein  unbeschreiblicher  Toncharme  und  eine  Anord¬ 
nung,  die  ebenso  einfach  wie  stilvoll  und  wirkungs¬ 
voll  ist.  Er  hat  begriffen,  daß  die  Selbstbeschränkung 
des  Malers  seine  Stärke  wird.  Nur  die  großen  Künstler 
haben  den  Mut,  Opfer  zu  bringen,  wo  die  gewöhn¬ 
lichen  alles  mitnehmen.  Sie  errichten  eine  Grenze 
zwischen  dem,  was  der  Malerei  ansteht,  was  sie  auf 
die  ausgesuchteste  Weise  geben  kann  —  und  allem 
übrigen.  Und  sie  haben  den  Mut,  nur  jenes  zu 
geben.  In  anderen  Kunstarten  ist  diese  Methode  ja 
wohlbekannt  und  erregt  kein  Erstaunen.  Was  der 
Violine  ansteht,  paßt  nicht  für  das  Horn  oder  das 
Cello,  und  will  man  durchaus  versuchen,  alles  zu 
geben,  so  flüchtet  man  zum  Klavier,  das  die  großen 
Schwächen  des  Kompromiß-Instrumentes  besitzt.  Der 
Dichter  kommt  leichter  über  die  Aufgabe  fort  als  der 
Maler,  weil  er  über  das  schweigen  kann,  was  er  im 
Schatten  zu  lassen  wünscht;  aber  für  den  Maler  ist 
es  oft  schwer,  ja  fast  eine  Hexenkunst,  uns  häufig 
das  erraten  zu  lassen,  was  die  Augen  nicht  sehen. 
Lionardo  und  Rembrandt  waren  vollendete  Meister  in 
dieser  Kunst,  aber  auch  unser  Maler  weiß  die  Auf¬ 
merksamkeit  auf  das  Ausgesuchte  zu  konzentrieren. 
Während  er  gleichzeitig  so  kühn  ist,  vieles  zu  strei¬ 
chen,  was  andere  mitgenommen  hätten,  wodurch  er 
seine  Wirkung  erzielt. 

Ohne  Wirkung,  ohne  »Impression«  keine  künst¬ 
lerische  Bedeutung.  So  heißt  es,  und  das  hat  freilich 
seine  Richtigkeit;  aber  die  Gesamtwirkung  ist  nicht 


i)  Die  Reproduktion  ist  nach  einer  Kohlenzeiclinung, 
nicht  nach  dem  Ölgemälde  hergestellt. 


alles,  auch  die  Einzelheiten  haben  ihre  relative  Selb¬ 
ständigkeit,  Schönheit  und  Bedeutung.  Und  dies  ist 
eine  der  anziehendsten  Eigenschaften  von  Hammershöis 
Bildern,  daß  sie  sich  ebenso  gut  von  weitem  aus¬ 
nehmen  wie  in  der  Nähe.  Man  weiß  nicht,  was  man 
höher  stellen  soll:  die  Impression  oder  die  Schönheit 
der  Einzelheiten.  Er  sieht  allzu  gut,  dieser  Maler, 
und  das  kann  zu  Zeiten  eine  Plage  werden.  Deshalb 
scheut  er  auch  die  Aufgaben,  bei  denen  es  von  Einzel¬ 
heiten  wimmelt,  und  flüchtet  am  liebsten  dahin,  wo 
die  Gesamtwirkung  hervortritt,  ohne  daß  er  genötigt 
wird,  allzuviele  Details  auszulassen,  zu  deren  Aus¬ 
pinselung  ihn  seine  künstlerische  Gewissenhaftigkeit 
sonst  verlocken  würde.  Denn  diese  Einzelheiten, 
z.  B.  ein  Stück  altes  Porzellan,  die  Mahagonirahmen 
an  der  Wand,  ein  Spiegel,  ein  altes  Porträt,  ein  Sofa, 
ein  Mahagonitisch,  all  dies  arbeitet  er  mit  einer  Schön¬ 
heitsauffassung,  einer  Eeinheit  aus,  die  ihnen  einen 
Duft  verleihen,  verwandt  mit  dem,  den  wir  aus  Ver¬ 
meers  herrlichen  Bildern  kennen.  Aber  alles  wird 
der  Stimmung  untergeordnet,  die  nur  sehr  selten  in 
diesen  Interieurs  fehlt.  Selbst  eine  ganz  leere  Stube, 
ja  nicht  zum  wenigsten  eine  solche,  erfüllt  er  mit 
Stimmung.  Mehrere  seiner  besten  Interieurs,  z.  B. 
»Sonnenstäubchen«,  sind  ohne  menschliche  Gestalt,  ja 
ohne  Möbel  oder  irgendwelche  Gegenstände.  Die 
Aufmerksamkeit  des  Beschauers  wird  unwiderstehlich 
von  dem  einen  Phänomen  gefesselt:  Dem  Tanz  der 
Stäubchen  in  der  Sonne,  die  durch  das  Fenster  in 
den  halbdunklen  Raum  dringt.  Soviel  ich  weiß,  ist 
es  keinem  anderen  Maler  geglückt,  die  Sonnenstrahlen¬ 
poesie  in  gerade  dieser  Form  wiederzugeben,  an  der 
er  jahrelang  arbeitete,  ehe  es  ihm  gelang,  das  heraus¬ 
zubekommen,  was  er  hier  gibt. 

Hat  man  ein  solches  Hammershöisches  Interieur 
betrachtet,  so  wird  man  vorsichtig  mit  der  Bezeich¬ 
nung  »leer«.  Denn  es  ist  augenscheinlich  nicht  die 
Anzahl  von  Menschen  oder  Dingen,  die  der  Leere 
entgegenwirkt,  ebensowenig  wie  die  geringe  Anzahl 
sie  hervorruft.  Worauf  es  dagegen  ankommt,  ist,  daß 
selbst  das  geringste  Ding  lebt  und  atmet,  daß  die 
Luft  ins  Bild  hineingehext  wird  und  sich  um  die 
Dinge  schmiegt,  daß  die  Linien  verschleiert  werden 
und  alles  weich  und  harmonisch  dasteht.  Denn  von 
allen  Arten  der  Leere  ist  die  Luftleere  in  einem  Bilde 
die  fürchterlichste.  Die  Menschen,  die  in  der  Stube 
leben  und  vielleicht  auf  dem  Bilde  gar  nicht  zu  sehen 
sind,  müssen  etwas  von  ihrem  seelischen  Inhalte 
hinterlassen  haben,  gleichsam  einen  Hauch  von  ihrem 
Lebensatem,  eine  Spur  ihres  Schattens,  ein  Echo  ihrer 
Schritte.  Man  erwartet,  sie  eintreten  zu  sehen,  und 
die  Erwartung,  die  die  Gewißheit  enthält,  daß  sie, 
die  ihr  ruhiges  Leben  dort  drinnen  leben,  gute  Men¬ 
schen  sind,  chemisch  rein  von  aller  Geziertheit,  — 
stimmt  unser  Herz  weich. 

ln  den  Landschaften  sind  die  Motive  so  bescheiden 
wie  nur  denkbar;  aber  auch  hier  offenbart  die  Stim¬ 
mung  schnell,  daß  das,  was  auf  den  ersten  Blick  dem 
gewöhnlichen  Sterblichen  gering,  fast  unbedeutend 
erschien,  in  Wirklichkeit  neue  Schönheitswerte  enthält, 
die  keineswegs  hinter  den  schon  zum  Allgemeingut 

25* 


i84 


WELTKUNST 


VILH.  HAMMERSHÖl 


gewordenen  znrückstelien.  Ja,  es  ist  kaum  übertrieben, 
wenn  man  sagt,  dal)  ein  grober  Teil  von  Hammers- 
höis  Bildern  uns  eine  Bereicherung  unserer  Menschen- 
und  Naturauffassung  bringt.  Die  Kunst  bildet  ja  die 
Brücke  zwischen  der  Natur  und  uns,  und  jedesmal 
wenn  der  Künstler  uns  den  Blick  für  neue  Schön¬ 
heiten  in  unserer  Umgebung  öffnet,  wird  uns  etwas 
zugeführt,  was  unserem  Leben  größeren  Wert  verleiht. 
Hammershöis  Kunst  versetzt  uns  in  Erstaunen  über 
die  Wirklichkeit,  die  vorher  so  nüchtern  war,  aber 
jetzt  voller  Schönheit  zu  sein  scheint.  Wie  alle  ehr¬ 
lichen  Künstler  begibt  auch  er  sich  auf  die  Pfade 
der  Naturbeobachtung,  wo  er  Schönheiten  findet,  an 
denen  andere  gleichgültig  vorüber  gehen.  Was  er 
uns  in  seinen  Bildern  gibt,  ist  trotzdem  nicht  die 
Wirklichkeit  schlecht  und  recht,  sondern  eine  Mischung 
von  Wahrheit  und  Dichtung.  Denn  auf  der  Grund¬ 
lage  von  einer  Reihe  feiner  und  treffender  Beobach¬ 
tungen  steigt  das  Bild  in  der  verklärten  Lorm  der 
Dichtung  hervor.  Gewißlich  enthält  die  Natur  sämt¬ 
liche  Bestandteile  eines  solchen  Bildes;  sowohl  die 
Lorm-  als  die  Larbenelemente,  aber  in  ähnlicher  Weise 
wie  das  Notensystem  alle  Töne  der  schönsten  und 
originalsten  Kompositionen  enthält.  Andere  große 
Maler,  wie  Whistler,  Maris  und  Corot  bedienen  sich 
derselben  künstlerischen  Methode  der  Wiedergabe,  die 
wohl  auch  die  ideale  genannt  werden  muß. 


Wir  können  auf  diese  Weise  der  Kunst  dafür 
danken,  daß  die  Welt  Tag  für  Tag  größer  und  das 
Leben  reicher  wird.  Und  ebenso  sicher  wie  der 
Nordpol  einmal  erobert  und  das  Innere  Tibets  er¬ 
forscht  werden  wird,  ebenso  gewiß  werden  Maler  von 
diesem  Typus  (ganz  friedlich,  ohne  kostspielige  Ex¬ 
peditionen  auszurüsten)  das  Reich  der  Schönheit  an¬ 
dauernd  erweitern. 

Hammershöi  hat  einige  der  schönsten  Schlösser 
und  monumentalen  Gebäude  Dänemarks  gemalt  — 
z.  B.  einen  Teil  des  alten  Christiansborg  in  Kopen¬ 
hagen,  das  königliche  Palais  Amalienborg  mit  Salys 
vortrefflicher  Reiterstatue,  das  prächtige  Ki'onborg 
bei  Helsingör,  Frederiksborg  mit  den  herrlichen 
Turmspitzen,  und  die  Gebäude  der  früheren  ost- 
asiatischen  Compagnie  in  Christianshavn,  dem  alten 
Teil  Kopenhagens,  wo  der  Maler  selbst  wohnt,  und 
das  ihn  den  Stoff  für  viele  seiner  ergötzlichsten  In¬ 
terieurs  geliefert  hat.  Kein  Künstler  der  Gegenwart 
fühlt  sich  mehr  an  den  Heimatsort  gebunden  als  er. 
Trotzdem  er  längere  Zeit  in  Lrankreich,  England  und 
Italien  geweilt,  hat  er,  seltsam  genug,  nur  ein  ein¬ 
zelnes  architektonisches  Bild  aus  dem  Auslande  ge¬ 
malt,  nämlich  das  Innere  der  alten  Kirche  St.  Stefano 
rotondo  in  Rom.  Ist  es  nicht  merkwürdig,  daß  er, 
den  die  fremden  Künstler  und  Kunstkenner  besser 
verstehen  und  höher  schätzen  als  jeden  anderen  dä- 


WELTKUNST 


185 


nischen  Maler,  sich  außerhalb  seines  Vaterlandes  so 
wurzellos,  so  ohnmächtig  fühlt,  daß  er  fast  nicht  zu 
arbeiten  vermag,  jedenfalls  nicht  draußen  in  der 
Natur?  Es  ist  ihm  z.  B.  unmöglich  gewesen,  eine  Land¬ 
schaft  aus  dem  südlichen  England  (Sussex)  zu  malen, 
obwohl  er  eingesteht,  daß  es  dort  schöner  ist,  als  in 
Dänemark!  Angesichts  der  fremden  Natur  ergreift 
ihn  das  Gefühl  des  Heimwehs  so  heftig,  und  das 
Fehlen  der  Ideenassoziation,  wie  alte  Sagen,  literarische 
Anknüpfungen,  und  im  ganzen  all  dessen,  was  sich 
gleichsam  organisch  an  den  heimatlichen  Erdboden 
knüpft,  wird  so  fühlbar,  daß  die  Arbeit  stockt. 

In  dem  großen  monumentalen  Bilde  von  Christians¬ 
borg  hat  er  das  Großartige  in  der  Architektur  meister¬ 
haft  wiedergegeben,  ja,  das  alte  Schloß  mit  seinen 
mächtigen  grünspanbedeckten  Kupferdächern  ist  bei 
ihm  der  Stoff  eines  herrlichen  Gedichtes  in  grauen, 
graugrünen  und  grünen  Farben  geworden,  das  für 
diejenigen,  die  Gedicht  und  Schloß  kennen,  dies 
letztere  noch  mächtiger  und  stim¬ 
mungsvoller  macht,  als  es  vor  der 
Entstehung  des  Bildes  war. 

Es  ist  ein  hervorragendes  Werk 
nicht  allein  auf  Grund  der  voll¬ 
kommenen  Harmonie  der  Farben, 
sondern  auch  durch  die  Art  des 
Ausschnittes,  der  übrigens  in  seinen 
Bildern  fast  immer  ideal  ist.  Alles 
ist  durchdacht,  nichts  dem  Zufall 
überlassen,  alles  steht  in  dem  Bilde 
auf  seinem  rechten  Platz  (man  be¬ 
achte  z.  B.  die  Toröffnungen  des 
Pavillons);  nicht  ein  Zoll  kann  fort¬ 
genommen,  nicht  ein  Zoll  kann 
hinzugefügt  werden,  ohne  der  Wir¬ 
kung  zu  schaden. 

Wie  die  allermeisten  seiner  Bil¬ 
der,  Porträts  wie  Schlösser,  Interieurs 
wie  Landschaften,  ist  diese  Lein¬ 
wand  von  großer  dekorativer  Wir¬ 
kung.  Ein  einziges  solches  Bild  an 
der  Wand  genügt,  damit  das  Zimmer 
einen  dem  Auge  so  wohltuenden 
Eindruck  macht,  wie  ihn  sonst  nur 
die  schönste  Tapete  hervorbringt. 

Dieses  ausgeprägt  dekorative  Talent 
ist  natürlich  von  den  heimatlichen 
Autoritäten  ebenfalls  nicht  geschätzt 
oder  ausgenützt  worden.  Nur  ein 
einziges  Mal  ist  ihm  eine  kleinere 
Aufgabe  zugefallen,  nämlich  ein  ab¬ 
seits  gelegenes  Bürgermeisterzimmer 
in  dem  neuen  Kopenhagener  Rat¬ 
hause  mit  zwei  Wandgemälden  zu 
versehen,  die  das  große  neue  Armen¬ 
hospital  und  das  malerische  alte 
Armenhaus  —  das  jetzt  abgerissen 
werden  soll  —  darstellen.  Beson¬ 
ders  das  Armenhaus  ist  von  ent¬ 
zückender  Wirkung,  und  erhebt  sich 
durch  seine  vornehm  stilvolle  Art 


hoch  über  die  bunte  prätentiöse  »Dekoration«,  die 
leider  bei  den  großen  Prachtbauten  unserer  Zeit  un¬ 
vermeidlich  zu  sein  scheint. 

* 

5k 

In  Dänemark  hat  man  es  dem  Künstler  vor¬ 
gehalten,  daß  sein  Feld  so  äußerst  begrenzt  sei. 
Gegenüber  einem  hervorragenden  Porträtmaler,  der 
gleichzeitig  entzückende  Interieurs,  imposante  Archi¬ 
tekturbilder  und  Landschaften  von  so  eigenartiger 
Schönheit  malt,  wie  nur  irgend  einer  unserer  heutigen 
Künstler,  scheint  diese  Behauptung  recht  obenhin  ge¬ 
sprochen  und  verlangt  unter  allen  Umständen  eine 
nähere  Erklärung.  Man  würde  sonst  den  Eindruck 
hervorrufen,  daß  der  Künstler  beständig  sich  selbst 
wiederholte  —  und  das  kann  unmöglich  gemeint 
sein.  Richtig  aufgefaßt,  wird  die  Begrenzung  auf 
eine  ganz  originale,  »unique«  Kunst  gar  nicht  als 


VILH.  HAMMERSHÖI.  EINE  STUBE 


HAMMnRSHÖI  SCHLOSS  CHRISTI ANSBORO.  KOPLNHAOEN 


WELTKUNST 


187 


ein  Minus  betrachtet,  und  am  allerwenigsten  dann, 
wenn  sie,  wie  schon  nachgewiesen,  parii  pris  oder 
Selbsthtgrtmung  ist.  Alfred  de  Müsset  schrieb  des¬ 
halb  mit  berechtigtem  Selbstgefühl;  Mon  verre  n’est 
pas  grand,  mais  je  bois  dans  mon  verre. 

Was  Hammershöi  anbelangt,  so  trägt  er,  wie 
andere  der  hervorragendsten  heutigen  Künstler,  den 
Kraftgürtel  der  Einseitigkeit.  Alles  was  er  sieht,  wird 
eine  Erscheinung  für  sich,  alles  was  er  malt,  erhält 
seinen  besonderen  Stempel.  Sein  Schönheitsideal  ist 
so  ausgeprägt,  so  fest  geformt,  daß  es  zuweilen 
scheint,  als  wären  es  dieselben  Saiten,  die  ange- 


Sage  mir,  mit  wem  du  umgehst,  und  ich  werde 
dir  sagen,  wer  du  bist  —  so  heißt  es  ja.  Zum 
Künstler  kann  man  sagen:  Zeige  uns  die  Kunst,  die 
du  liebst  und  die  dich  inspiriert,  und  wir  werden 
dir  sagen  was  du  wert  bist. 

Die  moderne  Kunst  hat  nicht  so  außerordentlich 
vieles,  was  Hammershöi  anzöge.  Am  liebsten  sind 
ihm  wohl  Ingres’  Porträts  mit  ihrer  wunderbaren 
Rechtschaffenheit  (probite)  und  Schönheit  in  der  Zeich¬ 
nung,  und  Whistlers  frühere  Porträts  mit  ihrer  ruhigen 
Ton-  und  Farbenvision  und  der  Poesie,  die  mit  ihnen 
verbunden  ist.  Sein  Liebling  unter  den  dänischen 


V.  HAMMERSHÖI.  SONNENSTÄUBCHEN 


schlagen  werden,  derselbe  Grundton,  der  durch  die 
ganze  Produktion  erklingt. 

Ohne  viel  Worte  an  eine  Frage  zu  verschwenden, 
die  zu  guterletzt  nur  von  dem  entschieden  w^erden 
kann,  der  allen  Hauptwerken  gegenüber  steht,  dürfte 
es  vielleicht  doch  gestattet  sein,  um  Erklärung  für 
eine  Erscheinung  zu  bitten,  die  man  im  Laufe  von 
20  Jahren  nun  mehrmals  vor  Augen  gehabt  hat: 
die  allgemeine  Verwunderung,  ja  Empörung  über 
das  zuletzt  geschaffene  Werk,  die  man  doch  wahr¬ 
haftig  gegenüber  einem  Künstler  nicht  vermutet,  wo 
angeblich  das  Talent  so  begrenzt  sein  soll,  daß  es 
sich  auf  einer  Untertasse  servieren  ließe! 


Künstlern  ist  der  kürzlich  verstorbene  »alte  Kyhn«, 
dessen  Ungekünsteltheit  und  seltene  Gabe,  Schönheit 
und  Poesie  in  bescheidenen  und  altmodischen  Motiven 
zu  entdecken,  mit  Hammershöis  Naturell  verwandt  ist. 

Aber  wir  müssen  in  der  Zeit  weit  zurückgehen, 
um  die  Kunst  zu  finden,  die  diesem  unverfälschten 
Künstlerherzen  am  nächsten  steht. 

Im  Parterregeschoß  des  Louvre  steht  ein  Archai¬ 
sches  Basrelief  aus  einem  Tempel  auf  der  Insel 
Thasos  (5.  Jahrhundert  v.  Chr.).  Es  stellt  drei  Göttinnen 
oder  Nymphen  vor,  die  Apollon  ein  Blumenopfer 
bringen.  Ein  Meisterwerk  ohne  Tadel,  das  Hammershöi 
zu  einer  Farbenübertragung  auf  die  Leinwand  inspiriert 


i88 


WELTKUNST 


V.  HAMMERSHÖI.  GEMÄLDE  NACH  EINEM  ARCHAISCHEN  BASRELIEF  DES  LOUVRE 


hat,  die  außer  ihrer  bezaubernden  Schönheit  an  und 
für  sich,  uns  gleichsam  eine  Offenbarung  seiner  Muse 
gibt,  die  friedlich,  ohne  großen  Trara,  vielleicht  etwas 
steif,  aber  in  vollkommener  Harmonie,  und  in  das 
stilvollste  Gewand  gekleidet,  vortritt  und  uns  über 
das  einzig  Notwendige  in  der  Kunst  belehrt:  Schön¬ 
heit  und  nichts  außer  der  Offenbarung  der  Schönheit. 

Die  merkwürdige  Form  von  Talent,  von  dessen 
Produktion,  bis  hinauf  zu  seiner  jetzigen  Entwickelungs¬ 
stufe  —  dem  Alter  von  40  Jahren  —  hier  eine  kurz¬ 
gefaßte  Darlegung  gegeben  worden,  ist  charakteristisch 
für  unser  Zeitalter. 

Der  geniale  Typus  muß  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
den  Charakter  gewechselt  haben.  Im  1 5.  Jahrhundert 
waren  die  italienischen  Künstler  zugleich  die  höchst 
begabten  Menschen,  und  die  hervorragendsten  unter 


ihnen  besaßen  umfassende  Kenntnisse  und  zeichneten 
sich  auf  mannigfache  Weise  aus,  ebenso  wie  die  großen 
Menschen  im  alten  Griechenland.  Lionardo  im  16.  Jahr¬ 
hundert  war  der  letzte  Typus  eines  solchen  großen 
und  allseitigen  Genies,  und  Voltaire  und  Goethe  waren 
vermutlich  die  letzten  wirklichen  Übermenschen,  die 
die  Welt  zu  sehen  bekam. 

Aus  anderem  Gusse  sind  die  hervorragenden  Ta¬ 
lente  der  neueren  Zeit,  z.  B.  Allan  Poe,  Charles  Dickens, 
Baudelaire,  Jean  Paul,  J.  P.  Jacobsen,  Berlioz,  Goya, 
Thijs  Maris,  Klinger,  Rodin,  Whistler,  Carriere  und 
der  Maler,  mit  dem  wir  uns  hier  beschäftigen.  Sofort 
bei  ihrem  Auftauchen  ruft  man  ihnen  nach:  »Künstelei!« 
aber  späterhin  gelten  gerade  sie  als  genial  im  eigent¬ 
lichen  Sinne,  weil  ihre  Originalität  so  augenfällig  ist. 
Sie  ist  so  seltsam,  ja  bei  mehreren  von  ihnen  so  ex- 


0 


v.v  -5*  - 


WELTKUNST 


189 


zentrisch,  daß  sie  an  Geisteskrankheit  streift,  —  und 
eine  solche  stark  ausgeprägte  Ursprünglichkeit  ist  und 
bleibt  doch  das,  was  im  allgemeinen  Urteil  für  den 
eigentlichen  Kern  des  Genies  angesehen  wird. 

Talent  zu  haben,  selbst  im  höheren  Grade,  scheint 
nicht  mehr  genug  zu  sein,  um  allein  dem  Künstler 
dauernden  Ruhm  zu  schaffen.  Gedanke  und  Form 
müssen  nicht  nur  vortrefflich  an  und  für  sich,  sondern 
auch  wesensverschieden  sein  von  denen  der  anderen. 
Die  Franzosen  bezeichnen  dies  mit  dem  Wort  anique, 
das  in  den  Kultursprachen  Bürgerrecht  erworben  hat. 
Diese  Form  von  Talent  gründet  nie  —  und  kann  es 
niemals  —  eine  Schule.  Denn  die  Nachahmung 
seiner  ausgeprägten,  persönlichen,  aber  durchaus  echten 
Manier  wird  bei  anderen  zur  bloßen  und  puren  Af- 
fektation. 

Seltene  Seelen  müssen  diejenigen  genannt  werden, 
die  den  künstlerischen  Ausdrucksmitteln  oder  Aus¬ 
drucksweisen  neue  Bedeutung  oder  auch  nur  größere 
Vertiefung  und  Klarheit  zu  geben  vermögen  —  mag 
nun  im  übrigen  dieses  Neue  noch  so  begrenzt  ge¬ 
nannt  werden  oder  wirklich  sein.  Selbst  wenn  es 
nur  verhältnismäßig  kleinere  Beiträge  zu  dem  Großen 
sind,  die  man  einem  solchen  ursprünglichen  Geiste 
verdankt,  so  wird  sein  Name  doch  mit  dem  der 
Großen  zusammen  genannt,  und  was  er  gibt,  nicht 
so  bald  vergessen  werden. 


VERZEICHNIS  DER  HAUPTWERKE 
(Die  Maße  in  Centimetern,  die  Höhe  zuerst). 

Von  1885 — 1Q05  hat  der  Künstler  ca.  135  Bilder  gemalt. 

Porträt  eines  jungen  Mädchens,  1885.  in  X  90,5- 

Eine  alte  Frau,  1886.  71  X  58-  Hirschsprung,  Kopenhagen. 

Ans  einem  Bäckerladen,  1888.  114  XQ*-  Ausgestellt  Paris 
188g,  Bronzene  Medaille. 

Stille  Stunden,  1889.  54  X  49i5- 

Selbstporträt,  1890.  55  X  40- 

Fräulein  Ida  Ilsted  (die  spätere  Gattin  des  Künstlers),  1890. 
160X86.  Ausstellung  Düsseldorf  1904. 

Altgriechisclies  Relief  (Louvre),  Paris  1891.  93  X  96- 

Christiansborg,  1890—92.  ii5Xi49- 

Die  Chaussee,  1892.  149  X  U«-  Ausstellung  Berlin  1900. 

Henry  Bramsen  am  Cello,  1 893.  143  X  1 1 0. 

Artemis,  1893—94.  192  X  250.  Im  Besitz  des  Künstlers. 

Die  Mutter  des  Künstlers,  1894.  97,5  X  77-  Ausstellung 
Berlin  1900. 

Drei  junge  Frauen,  1895.  125  X  156.  Ausstellung  Paris 

1900.  E.  Hjort,  Kopenhagen. 

Amalienborg,  1896.  Vom  dänischen  Staat  angekauft. 

Kronborg,  1897.  85  X  86,5. 

Zwei  Figuren  (der  Künstler  und  seine  Gattin).  87,5  X  73- 
London  1898. 

Sonnenstäubchen,  1902.  74  X  61. 

Gebäude  der  asiatischen  Kompagnie,  1902.  160  X  UO- 

Sonnenregen,  1903.  79  X  76. 

Fünf  Porträts,  1902.  Ausstellung  Berlin  1904.  194X300- 
Thiel,  Stockholm. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H 


26 


BEMERKUNGEN  UBER  EINIGE  MEISTERWERKE 

Von  Wilhelm  Suida 


Die  folgenden  Bemerkungen  über  einzelne  Bilder 
haben  den  Zweck,  weitere  Kreise  auf  Werke 
von  hervorragendem  Kunstwert  aufmerksam 
zu  machen,  die  noch  unpubliziert,  zum  Teil  wohl 
auch  noch  unbestimmt  sind.  Keineswegs  will  der 
Verfasser  als  -^»Entdeckungen«  ausgeben,  was  im  besten 
Eall  dienliche  Beobachtungen  sein  können. 

1.  ANDREA  MANTEQNA 

Im  Palazzo  Pitti  hat  vor  Jahresfrist  ein  Brustbild 
eines  bartlosen  Mannes,  früher  in  ungünstigem  Licht 
allzuhoch  gehängt,  in  dem  kleinen  Korridor,  der  nach 
den  rückwärtigen  Zimmern  führt,  Aufstellung  gefunden. 
Den  meisten  Eorscherri  fiel  die  Verwandtschaft  des 
Werkes  mit  den  Schöpfungen  des  Andrea  Mantegna 
auf.  Schon  Kristeller  erwähnt  das  Bild,  ohne  es 
genauer  untersucht  zu  haben,  als  »schwache  Kopie 
aus  dem  1 6.  Jahrhundert,  augenscheinlich  nach  einem 
verlorenen  Originalbild  Mantegnas  . 

Wir  wollen  doch  zusehen,  ob  dies  Urteil  stich¬ 
haltig  ist.  Von  blaugrünem  Grunde  hebt  sich  das 
Brustbild  des  etwa  fünfzigjährigen  bartlosen  Mannes 
etwas  unter  Lebensgröße  ab.  Karminrotes  Gewand, 
ebensolche  Kappe,  und  orangeroter  über  die  Schulter 
geschlagener  Mantel  geben  mit  dem  Grunde  einen 
hellklingenden  Farbenakkord.  Das  Inkarnat  ist  beinahe 
lederfarben  bräunlich,  die  Lippen  blaß  rötlich.  Das 


1)  Paul  Krisleller,  Andrea  Mantegna,  Berlin  iqo2,  S.  480 
Brieflicher  Mitteilung  von  Corrado  Ricci  zufolge  ist  das 
Bild  seit  kurzem  schon  unter  dem  Namen  des  Mantegna  als 
Original  ausgestellt. 


Haar  ist  mit  größter  Feinheit  gezeichnet,  alle  kleinen 
Furchen  der  Haut  an  der  Stirn,  um  die  Augen  aufs 
prägnanteste  wiedergegeben.  Und  in  dem  Auge  selbst 
eine  Schärfe  und  Klarheit,  wie  sie  nur  auf  den  Por¬ 
träts  der  großen  Meister  vorkommt.  Unterhalb  der 
Augen  wird  alles  flauer,  nur  die  großen  Linien  sind 
noch  zu  sehen,  alles  andere  verrieben,  alle  Feinheit 
im  Einzelnen  verloren  gegangen.  Die  von  den  Nasen¬ 
flügeln  herabgehenden  Falten,  die  den  streng  geschlos¬ 
senen  Mund  mit  feinen  Lippen  umrahmen,  deuten 
noch  jene  Kraft  und  Geschlossenheit  an,  die  sich 
aus  dem  scharfen  Blick  der  blauen  Augen  uns  schon 
mitteilte. 

Wir  vermögen  da  an  keine  Kopie  zu  denken, 
sondern  nur  an  ein  in  seinen  unteren  Partien  völlig 
verriebenes  Original  des  Andrea  Mantegna.  Abgesehen 
von  den  eminenten  künstlerischen  Qualitäten,  wider¬ 
sprechen  auch  technische  Eigentümlichkeiten,  wie  die 
feine  Detailausführung  in  den  oberen  unbeschädigten 
Partien,  und  die  an  dem  Gewand  zutage  tretende 
sorgfältige  Untermalung  mit  dünnen  Strichen  (gleich 
als  sei  das  Ganze  zunächst  als  Zeichnung  vollendet 
worden,  bevor  noch  die  Farbenlasuren  darüber  kamen), 
endlich  der  Farbenausdruck  durchaus  der  Annahme, 
es  könne  sich  um  eine  Kopie  handeln. 

Dürfte  es  auch  schwer  sein,  diesem  Bilde  mit  Be¬ 
stimmtheit  seinen  Platz  in  der  chronologischen  Folge 
von  Mantegnas  Werken  anzuweisen,  so  kann  doch 
die  nahe  Beziehung  zu  den  Fresken  der  Camera  degli 
Sposi  betont  werden.  Sind  dort  die  großen  Bildnis¬ 
gruppen  im  Jahre  1474  vollendet  worden,  so  mag 
wohl  in  den  siebziger  Jahren  auch  noch  das  Porträt 
des  Unbekannten  im  Palazzo  Pitti  entstanden  sein. 


(Weitere  Beobachtungen  werden  folgen) 


FLORENZ,  PALAZZO  PITTI 


MÄNNLICHES  BILDNIS  VON  ANDREA  MANTEONA 


VITERBO,  DIE  PÄPSTLICHE  LOGGIA  UND  DER  SAAL  DES  KONKLAVES  VOR  DER  RESTAURIERUNG 
(Photographie  des  italienischen  Unterrichtsministeriums) 


DIE  WIEDERHERSTELLUNG 
DES  PÄPSTLICHEN  PALASTES  IN  VITERBO 


IN  Viterbo,  der  kleinen  Stadt  in  der  Nähe  Roms, 
ist  in  diesen  Tagen  eines  der  schönsten  und 
interessantesten  Gebäude  aus  dem  italienischen 
Mittelalter  sozusagen  zu  neuem  Leben  erstanden.  Die 
Architekten  des  Königlichen  Aufsichtsrats  zur  Erhaltung 
der  Kunstdenkmäler  in  der  römischen  Provinz  haben 
dort,  unter  der  Leitung  des  Direktors  Giulio  de 
Angelis,  die  äußerst  schwierige  Wiederherstellung  der 
sogenannten  Loggia  dei  papi  beendigt,  und  schon 
haben  die  Arbeiten  in  der  angrenzenden  Sala  del 
conclave  begonnen,  um  darin  die  alten  weiten  Fenster¬ 
bögen  wieder  zu  öffnen  und  den  Raum  von  den 
später  eingefügten  Bauten  zu  befreien.  In  nicht  allzu 
langer  Zeit  werden  wir  das  ganze  Gebäude  in  seiner 
ursprünglichen  Form  bewundern  können,  das  den 
Kunstfreund  wie  den  Geschichtsforscher  gleichmäßig 
anziehen  muß,  denn  wenn  die  schlanken  Spitzbögen 
der  Loggia  mit  ihren  leichten  Säulchen  ein  wertvolles 
Beispiel  liefern  für  die  Vollendung,  die  schon  in  der 
zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  der  gotische 


Stil  in  Mittelitalien  erreicht  hatte,  so  erinnert  dagegen 
der  Saal  daneben  an  das  erste  Konklave,  das  in  jener 
speziellen  Form  abgehalten  wurde,  die  sich  mit  ganz 
geringen  Änderungen  bis  auf  den  heutigen  Tag  er¬ 
halten  hat. 

Die  häßlichen  Mauern,  die  in  verschiedenen  For¬ 
men  vom  15.  Jahrhundert  bis  auf  die  Neuzeit,  um 
die  Bogen  der  Loggia  zu  unterstützen,  errichtet  worden 
waren,  sind  jetzt  entfernt  und  heute  erscheint  die¬ 
selbe  wie  sie  im  13.  Jahrhundert  erbaut  wurde; 
nur  das  Dach,  das  sie  damals  jedenfalls  bedeckt  haben 
muß,  hat  man  nicht  wieder  darauf  gesetzt.  Von  zwei 
Seiten  offen,  nach  dem  Domplatz  zu  sowohl  wie  nach 
der  Campagna,  wurde  von  ihr  aus  der  Segen  erteilt, 
den  der  Papst  nach  der  im  Saal  erfolgten  Wahl  über 
das  auf  dem  großen  Platz  versammelte  Volk  aussprach. 
Hier  ergingen  sich  die  Kardinäle  in  freier  Luft,  vor 
Sonne  und  Regen  geschützt,  um  sich  von  den  langen 
Verhandlungen  der  Papstwahl  zu  erholen.  Im 
Mittelpunkt  dieser  Halle  befindet  sich  ein  tiefer 


DIE  WIEDERHERSTELLUNG  DES  PÄPSTLICHEN  PALASTES  IN  VITERBO 


193 


VITERBO,  MITTELALTERLICHE  HÄUSER 
(Photographie  des  italienischen  Unterrichtsministeriums) 


Brunnen,  auf  dessen  zugedeckte  Öffnung  im  16.  Jahr¬ 
hundert  eine  schöne  Brunnenschale  gesetzt  wurde. 
Die  Brüstung  war  bis  vor  kurzem  ganz  von  ver¬ 
schiedenen  in  Stein  gehauenen  Wappen  umgeben,  die 
man  in  neuerer  Zeit  aus  der  zerfallenen  Krönung  der 
Halle  entfernt  hatte,  wo  sie  jetzt  wieder  ihren  recht¬ 
mäßigen  Platz  gefunden  haben.  Die  Wappenschilder 
zeigen  die  Mitra  und  die  Schlüssel,  um  den  Zweck 
des  Gebäudes  zu  bezeichnen,  den  Adler  als  Abzeichen 
des  kaiserlichen  Viterbo,  den  Löwen  mit  der  drei¬ 
zackigen  Lanze,  das  Bild  der  Viterbesergemeinde,  die 
die  Mittel  zur  Ausführung  des  Baues  gegeben  hatte, 
und  die  Balken  des  Raniero  aus  der  edlen  Familie 
der  Gatti.  Dieser  war  Volkshauptmann  und  hatte  ein¬ 
gesehen,  welchen  Nutzen  es  der  Stadt  bringen  würde, 
wenn  die  Päpste,  denen  der  Aufenthalt  im  Lateran¬ 
palast  durch  die  Unruhen  der  fortwährend  sich  be¬ 
fehdenden  römischen  Adels-  und  Volksparteien  fast 
unmöglich  gemacht  wurde  und  die  schon  einmal  in 
Viterbo  ihre  Zuflucht  gesucht  hatten,  dort  für  längere 
Zeit  ihren  Wohnsitz  aufschlagen  könnten. 

Er  begann  also  den  Bau  des  Palastes,  welcher 
ebenso  wie  die  große  für  das  Konklave  bestimmte 
Aula  1266  beendigt  wurde;  die  Loggia  wurde  1267 
von  Andrea  dei  Gatti  angebaut.  In  der  Wand  des 


Saales  öffneten  sich  sechs  riesige  Spitzbogenfenster, 
die  jetzt  die  Hacke  des  Maurers  wieder  von  der 
Vermauerung  befreit  hat,  durch  die  sie  geschlossen 
worden  waren,  als  im  Anfang  des  15.  Jahrhunderts 
der  Palast  vom  Rang  eines  päpstlichen  zu  dem  eines 
bischöflichen  herabsank.  Interessant  ist  das  große, 
vollkommen  freie  Gebälk  des  Daches.  In  den  Wänden 
sind  noch  die  Löcher  zu  sehen,  in  die  man  die  kleinen 
Stangen  steckte,  die  die  Wappenschilder  der  im  Kon¬ 
klave  versammelten  Kardinale  trugen.  Wenn  man 
aus  dem  Halbdunkel  des  Saales  auf  die  Piazza  hinaus¬ 
tritt,  steigen  in  der  Phantasie  des  Besuchers  die  alten 
historischen  Begebenheiten  des  Ortes  auf.  Zwischen 
den  gotischen  Bögen  der  Loggia  erblickt  man  das 
Tal  von  FauIIe,  wo  so  viel  italienisches  und  deutsches 
Blut  in  harten  Kämpfen  geflossen  ist.  Man  könnte 
wohl  meinen,  die  Gestalten  Barbarossas  und  Friedrichs 
des  zweiten,  von  dessen  Schloß  das  Auge  unten  in 
der  Ferne  noch  die  Ruinen  entdeckt,  müßten  unter 
den  Bögen  erscheinen  im  Glanz  ihrer  Waffen  und 
ihres  Purpurs,  neben  den  von  Gold  und  Edelsteinen 
funkelnden  Gewändern  der  Päpste  und  Gegenpäpste, 
mit  denen  sie  so  oft  in  Viterbo  ihre  Zusammenkünfte 
hatten,  wenn  die  Wut  des  römischen  Volkes  den  einen 
oder  den  anderen  den  Eingang  in  die  ewige  Stadt 


194 


DiE  WIEDERHERSTELLUNG  DES  PÄPSTLICHEN  PALASTES  IN  VITERBO 


VITERBO,  DIE  WIEDERHERGESTELLTE  PÄPSTLICHE  LOGGIA 
(Photographie  des  italienischen  Unterrichtsministeriums) 


verwehrte.  Jetzt  herrscht  auf  dem  Platz  zwischen 
Dom  und  Palast  Ruhe  und  das  Gras  wächst  in  den 
Ritzen  des  Pflasters.  Vom  Kirchturm  herab  schwärmen 
die  Tauben  durch  die  helle  Luft  über  die  alten 
Schlachtfelder,  wo  einst  mit  ausgebreiteten  Flügeln 
die  goldglänzenden  Adler  der  kaiserlichen  Banner  sich 
emporschwangen,  der  roten  Wölfin  der  römischen 
Guelfen  entgegen.  Die  Geschichte  des  kleinen  Viterbo, 
das  im  1 1.  Jahrhundert  eigentlich  nur  eine  Burg  mit 
wenigen  Häusern  war,  erhob  sich  im  12.  und  13. 
Jahrhundert  zu  hoher  Bedeutung  durch  die  häufige 
Residenz  der  Päpste,  durch  die  dort  abgehaltenen 
Konklave  und  durch  die  deutschen  Kaiser,  die  es  immer 
mehr  als  ihren  Hauptstützpunkt  im  päpstlichen  Gebiet 
ansahen. 

Von  der  jetzt  wiederhergestellten  Loggia  wurde 
der  Bannfluch  proklamiert,  den  am  5.  April  1268  der 
französische  Papst  Clemens  IV.  gegen  Konradin 
schleuderte,  der  in  jenen  selben  Tagen  im  Gesichts¬ 


kreis  Viterbos  auf  der  Via  Cassia  dahinritt,  dem  Tode 
entgegen.  Bei  dem  Konklave,  das  nach  dem  Tode 
Clemens’  abgehalten  wurde,  diente  zum  erstenmal  der 
Saal  des  Raniero  del  Gatti  seinen  eigentlichen  Zwecken. 
Raniero  ließ  nämlich  die  Kardinäle,  die  bisher  im 
Dom  ihre  Versammlungen  hielten,  aber  nach  zwei¬ 
jähriger  Beratung  noch  nicht  zum  Schluß  über  die 
Papstwahl  gekommen  waren,  einfach  in  den  Saal 
sperren  und  suchte  sie  durch  Hunger  und  durch  Ab¬ 
deckung  des  Daches  zu  einem  Entschluß  zu  bewegen. 

Der  Saal  in  Viterbo  diente  dann  noch  seinem 
Zwecke  bei  der  Wahl  Hadrians  V.  und  Martins  V. 
und  seine  gewaltsame  Einweihung  ist  vielleicht  das 
merkwürdigste  Vorkommnis  in  der  Geschichte  dieser 
kleinen  Stadt,  die  mit  ihren  alten  Häusern,  ihrem 
großartigen  Rathaus,  ihren  Kirchen,  die  noch  herrliche 
Papstgräber  bergen,  mit  ihren  Mauern  und  Türmen 
wohl  das  Siena  der  römischen  Provinz  genannt  werden 
kann.  FEDERICO  HERMANIN. 


ABB.  1.  CHATEAU  DE  LUCHEUX  (SOMME).  MITTE  DES  13.  JAHRHUNDERTS.  FENSTER  DES  GROSSEN  SAALES 


EIN  HANDBUCH  DER  BÜRGERLICHEN  BAUKUNST 

IN  FRANKREICH 


Ein  Handbuch  der  bürgerlichen  Altertümer  ist 
jedenfalls  ein  wissenschaftliches  Wagnis.  Denn 
im  Verhältnis  zu  den  kirchlichen  Kunstalter¬ 
tümern  sind  die  bürgerlichen  so  lücken-  und  trümmer- 
haft  überliefert,  daß  sich  oft  für  ganze  Gruppen  und 
Gebiete  überhaupt  keine  Beispiele  mehr  nachweisen 
lassen.  Dies  liegt  in  der  Natur  der  Verhältnisse  und 
der  Entwickelung.  Denn  wenn  eine  Kirche  mit  Ab¬ 
sicht  auf  ewige  Dauer  erbaut  wurde  und  in  ihrem 
Bestände  vom  Willen  einer  ganzen  Gemeinde  ab¬ 
hängig  war,  so  sind  Wohn-  und  Nutzbauten  oft  nur 
zu  vorübergehenden  Bedürfnissen  errichtet  und  viel 
mehr  der  Abnutzung,  dem  Verfall,  dem  Wechsel  der 
Bedürfnisse  und  des  Geschmacks,  der  Laune  und  dem 
Behagen  des  Privatmannes  überlassen,  gar  nicht  zu 
reden  von  der  Ausstattung,  die  erfahrungsgemäß  in 
jeder  zweiten  Generation  zu  wechseln  pflegt.  So  hat 
sich  denn  auch  die  Forschung  fleißig  und  erfolgreich 
auf  einzelne  Gebiete  geworfen,  für  welche  die  Quellen 
reichlicher  fließen,  wie  die  Burgenkunde,  die  Holz- 
architektur,  das  Bauernhaus.  Einer  systematischen 
Darstellung  der  ganzen  bürgerlichen  Archäologie 
stellen  sich  aber  die  größten  Schwierigkeiten  in  den 
Weg.  Gilt  es  doch  eine  fast  versunkene  Welt  aus 
sekundären  Quellen,  Urkunden,  Chronisten  und  ge¬ 
legentlichen  Beschreibungen,  im  günstigsten  Fall  aus 
Zeichnungen  von  oft  zweifelhafter  Treue  wieder  auf¬ 


zurichten.  Wenn  man  bedenkt,  daß  z.  B.  von  der 
Schiffsbaukunst  der  Vergangenheit  lediglich  ein  paar 
Wikingerbote  in  natura  erhalten  sind,  so  wird  man 
die  Größe  der  rekonstruktiven  Arbeit  ermessen. 

Herr  C.  Enlart,  Direktor  der  Skulpturen  im 
Trocadero,  dem  wir  eine  Reihe  ausgezeichneter  Unter¬ 
suchungen  über  die  Ausstrahlungen  der  Zisterzienser¬ 
gotik  fast  über  ganz  Europa  verdanken,  hat  für  Frank¬ 
reich  diese  Arbeit  mit  einer  so  weitblickenden  Umsicht, 
Sachkunde  und  Gelehrsamkeit  in  Angriff  genommen, 
daß  man  den  stattlichen  Band  über  die  Profan¬ 
architektur^)  zunächst  nur  mit  neidischer  Bewunderung 
betrachten  kann.  Es  kann  nicht  fehlen,  daß  sein 
Buch  das  archäologische  Studium  anderer  Länder  be¬ 
fruchtet  und  auf  Unterlassungssünden  hinweist,  und 
deshalb  dürfte  eine  skizzenhafte  Wiedergabe  des  weit¬ 
läufigen  und  interessanten  Inhalts  willkommen  sein. 
Enlart  konnte  allerdings  unter  so  günstigen  Umständen 
arbeiten  wie  sie  kein  anderes  Land  bietet.  Denn  in 
Frankreich  haben  die  älteren  Archäologen,  Viollet-le- 
Duc  voran,  die  profanen  Denkmäler  schon  ganz  als 
gleichberechtigt  behandelt.  Für  die  Architektur  stand 


i)  C.  Enlart,  Manuel  d’Archeologie  fran^aise  depuis 
les  temps  merovingiens  jusqu’ä  la  Renaissance.  Rre  Partie 
Architecture.  II.  Architecture  civile  et  militaire.  856  p. 
292  grav.  et  fig.  Paris,  1904,  A.  Picard  et  fils,  fr.  15. 


EIN  HANDBUCH  DER  BÜRGERLICHEN  BAUKUNST  IN  FRANKREICH 


196 


ABB.  2.  BRUNNEN  DES  ALTEN  SCHLOSSES  VON  COURTRAS 
(GIRONDE) 

besonders  das  verdienstliche  Werk  von  Verdier  und 
Cattois,  Architecture  civile  et  domestique  au  moyen 
äge  et  ä  la  Renaissance  Paris  1855 — 57  zu  Verfügung, 
für  die  Schiffsbaukunst  die  Werke  von  A.  Jal,  Ar- 
cheologie  navale  P.  1840,  Glossaire  nautique  P.  1848 
und  Ch.  de  La  Ronciere,  Histoire  de  la  marine  fran- 
gaise  P.  1900.  Außerdem  ist  durch  das  Classement 
und  den  zentralisierten  Denkmalschutz  in  Paris  ein  so 
umfassendes  Material  gesammelt  wie  wir  es  in  Deutsch¬ 
land  nirgends  an  einer  Stelle  finden.  Hieraus  erklärt 
sich  nebenbei,  daß  Elsaß-Lothringen  in  der  Übersicht 
der  Denkmäler  noch  als  französische  Provinz  erscheint. 
Und  mit  dem  Stand  der  Vorarbeiten  hängt  wohl  auch 
der  einzige  schwere  Fehler  der  Arbeit  zusammen, 
die  Beschränkung  auf  das  Mittelalter.  Enlart  verliert 
darüber  gar  kein  Wort.  Archäologie  und  Mittelalter 
sind  ihm  einfach  identische  Begriffe.  Zuweilen  glüht 
der  Enthusiasmus  Viollets  für  die  Gotik  wieder  durch. 
Mit  Behagen  verweilt  Enlart  bei  jenen  Schöpfungen, 
welche  das  Mittelalter  nicht  ganz  so  finster,  beschränkt 
und  unreinlich  erscheinen  lassen  wie  viele  Leute 
denken.  Aber  zwischen  den  Zeilen  kann  man  doch 
überall  die  Wahrheit  lesen,  daß  erst  die  Spätgotik  und 
die  Renaissance  eine  unabhängige  und  selbständige 
bürgerliche  Kunst  geboren  und  die  weite  Sphäre  des 
profanen  Lebens  mit  ihrem  verklärenden  Hauch  in 
Arbeit  genommen  haben.  Über  diese  durch  nichts 
zu  rechtfertigende  Einseitigkeit  sind  wir  in  Deutsch¬ 


land  glücklicherweise  längst  hinausgewachsen,  und 
ein  Handbuch  der  deutschen  bürgerlichen  Kunstalter¬ 
tümer  würde  im  Gegenteil  den  Nachdruck  auf  die 
nachgotischen  Denkmäler  legen  müssen,  wenn  es  dem 
Reichtum  und  der  Hochblüte  deutscher  Kunst  gerecht 
werden  will. 

Enlart  teilt  seinen  Stoff  in  fünf  Kapitel,  denen 
jedesmal  ein  umfängliches  Literaturverzeichnis  folgt. 
Angehängt  ist  ein  nach  Departements  geordnetes 
Verzeichnis  der  erhaltenen  Denkmäler  und  ein  sehr 
eingehendes  von  M.  G.  Gazier  gearbeitetes  Register 
zugleich  für  den  ersten  Band  des  Handbuches,  die 
kirchliche  Architektur,  welche  schon  1902  erschien. 

Das  erste  Kapitel,  Klosterbaiiten  und  Hospitäler 
umfassend,  ist  etwas  dürftig  ausgefallen.  Wenn  der 
Verfasser  den  Grundsatz  aufstellt,  daß  das  Mittelalter 
im  wesentlichen  bei  der  Gruppierung  des  Planes  von 
St.  Gallen  stehen  geblieben  sei,  so  wird  er  dem 
r^eichtum  und  der  vielseitigen  Entwickelung,  wie  sie 
uns  neuerdings  G.  Hager  aufgedeckt  hat,  entschieden 
nicht  gerecht. 

Das  zweite  Kapitel  ist  dem  städtischen  Wohnbau 
gewidmet.  Auch  hier  geht  der  Verfasser  über  den 
Plan  und  die  Einteilung  des  Bürgerhauses,  dessen 
Entwickelung  und  provinzielle  Verschiedenheit  ziem¬ 
lich  schnell  hinweg,  natürlich  weil  die  Beispiele  für 
das  schlicht  bürgerliche  Wohnhaus  des  Mittelalters  in 
Frankreich  genau  so  selten  sind  wie  in  Deutschland. 
Auch  für  alles  folgende  gewähren  immer  nur  die 
vornehmeren  Bauten,  die  Klosterhöfe,  Bischofs-  und 
Herrensitze  einige  Anschauung.  Die  Denkmäler 
spiegeln  eben  den  feudalen  und  aristokratischen  Zug 
des  Mittelalters  trotz  aller  Verluste  ziemlich  treu  wieder. 
Frankreich  ist  nicht  arm  an  Stadtpalästen,  bei  denen 
das  Erdgeschoß  oft  in  Lauben  geöffnet  ist,  während 
die  Obergeschosse  mit  reichen  Fenstergruppen  aus¬ 
gestattet  sind.  Ein  stolzer  Quaderbau  des  13.  Jahr¬ 
hunderts  in  Cordes  (Tarn)  könnte  als  Vorbild  des 
Dogenpalastes  in  Venedig  gelten  und  die  prachtvolle 
Fensterarchitektur  des  »großen  Saales«  im  Schloß  zu 
Lucheux  (Somme,  Abb.  1)  dürfte  überhaupt  ohne  Bei¬ 
spiel  sein.  Es  ist  interessant,  daß  neben  den  ein¬ 
fachen  Schlafzimmern  doch  schon  im  Mittelalter  jene 
Prunklevers  zu  finden  sind,  in  denen  der  Fürst  auf 
dem  Paradebett  sitzend  seine  Toilette  beendet  und 
Audienzen  erteilt.  Recht  stattlich  waren  dann  in  den 
Herrenhäusern  die  Küchen,  turmartige  Gewölbebauten 
mit  Herd,  Brunnen  und  Galerien  für  Räucherzwecke; 
nicht  weniger  die  Bäder,  öffentliche  wie  private,  die 
erst  unter  dem  Einfluß  der  wasserscheuen  Bettelmönche 
unter  dem  Vorwurf  der  Unsittlichkeit  zurückgingen. 
Paris  hatte  1292  deren  25,  unter  Ludwig  XIV.  nur 
noch  zwei.  An  privaten  Aborten,  getrennt  nach  Ge¬ 
schlechtern,  selbst  solchen  mit  Wasserspülung,  und 
öffentlichen  Bedürfnisanstalten  war  kein  Mangel.  Große 
Herren  hatten  Prachtstühle,  auf  denen  sie  im  Angesicht 
ihrer  Freunde  und  Klienten  saßen.  On  sait  sur  quel 
tröne  Henri  III.  fut  assassine!  In  Schlössern  waren 
einzelne  Türme  wie  im  deutschen  Osten  die  Dantzker 
diesem  Zweck  geweiht.  Hier  trifft  es  zu,  daß  die 
Kultur  der  heimlichen  Orte  in  Frankreich  eher  Rück- 


EIN  HANDBUCH  DER  BÜRGERLICHEN  BAUKUNST  IN  FRANKREICH 


197 


schritte  gemacht  hat.  Häusliche  Brunnen  haben  die 
beliebten  architektonischen  Einfassungen  und  Über¬ 
bauten,  in  der  Renaissance  in  Form  eleganterTempelchen 
(Abb.  2).  Auch  die  Stiegen,  Treppenhäuser,  Türmchen 
und  Wendelsteine  sind  wie  bei  uns  reicher  ausgestattet. 
Im  übrigen  sind  die  Fassaden  gern  durch  Lauben¬ 
gänge,  Baikone  und  Logen  gegliedert,  die  Läden  und 
Werkstätten  meist  durch  breite  Fenster  gegen  die 
Straße  geöffnet.  Der  Hauptschmuck  konzentriert  sich 
indes  auf  Türen  und  Fenster  und  hier  lassen  die 
Denkmäler  eine  fortlaufende  reiche  Entwickelung  von 
den  romanischen  Arkaden  bis  zu  den  spätgotischen 
Kreuzfenstern  feststellen.  Auch  in  der  Belebung  des 
Daches  spielen  die  Erker  und  Luken  die  Hauptrolle 
und  die  Spätgotik  glänzt  mit  zierlichen  und  malerischen 


deren  Stoff  wie  bei  uns  der  Mythologie  und  den 
Heldenliedern  entnommen  ist.  Mehr  zur  Zierde  als 
zur  Verteidigung  dienten  an  vornehmen  Häusern  die 
Ehrentürme  und  Zinnenkrönungen.  Allgemein  ver¬ 
breitet  ist  die  Sitte  der  Hausmarken,  Wahrzeichen, 
Wappen,  Bildnischen,  in  der  Renaissance  der  Medaillon¬ 
bilder,  von  denen  das  Haus  meist  seinen  Namen  hatte. 
Recht  arm  ist  der  Bestand  an  Fachwerkhäusern,  worin 
Deutschland  mit  gewaltiger  Fülle  aufwarten  kann. 
Und  auch  die  ländliche  Baukunst  weiß  Enlart  nur 
mit  karolingischen  Pfalzen  und  späteren  unbefestigten 
Edelsitzen  (manoirs)  zu  belegen,  die  meist  um  einen 
Hof  gruppiert  und  an  den  Ecken  mit  Türmen  flankiert 
sind  (Abb.  4).  Eine  französische  Spezialität  sind  die 
bedeutenden  Taubenhäuser  (colombiers)  in  Form  von 


ABB.  3.  SCHLOSS  lOSSELIN  (MORBIHAN).  ENDE  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


Erfindungen  (Abb.  3).  Im  Innern  bemächtigt  sich  die 
Kunst  besonders  der  Kamine,  die  seit  dem  15.  Jahr¬ 
hundert  mit  gefälligem  Reliefschmuck  auftreten,  der 
Konsolen,  Schlußsteine  und  getäfelten  Balkendecken. 
Hier  wird  die  gemalte  Decke  aus  der  Ponceletstraße 
in  Metz  mit  den  wüsten  Bestien  erwähnt  und  fort¬ 
gefahren:  des  plafonds  analogues,  du  XIIP  et  du 
XIV®  siecles  existent  ä  Wildesheim,  ä  Zillis,  en  Suisse 
u.  s.  w.  und  im  Register  begegnet  Wildesheim  (Suisse) 
Mais.,  plafond,  ebenso  Zillis  (Suisse)  Mais,  plafond. 
Das  ist  schon  eine  ganz  artige  Legende,  wenn  man 
bedenkt,  daß  es  sich  vorerst  um  St.  Michael  in  Hildes¬ 
heim  (Hannover)  und  in  beiden  Fällen  um  gemalte 
Kirchendecken  des  1 2.  Jahrhunderts  handelt,  von  denen 
die  Hildesheimer  in  Hinsicht  auf  den  Gegenstand 
nicht  im  mindesten  analog  ist.  Von  Wandmalereien 
hat  Frankreich  anscheinend  auch  nur  geringe  Reste, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  7 


Rundtürmen,  innen  mit  künstlichen  Brutanlagen  und 
einer  drehbaren  Leiter.  Was  über  sonstige  Nutzbauten, 
Ställe,  Vorratshäuser,  Gärten  u.  s.  w.  beigebracht  wird, 
hat  nur  kulturgeschichtlichen  Wert.  Über  das  Bauern¬ 
haus  erfahren  wir  nichts.  Erhalten  haben  sich  einige 
ältere  Mühlen,  Wind-  und  Wassermühlen. 

Die  öjf entliehen  Bauten  des  Mittelalters  (Kap.  IIl) 
mißt  Enlart  ganz  richtig  an  der  eigenartigen  Zeitlage. 
Eine  energische  Entfaltung  und  Zusammenfassung  der 
Kräfte  für  das  Gemeinwohl  war  überall  unterbunden 
durch  die  Zersplitterung  und  gegenseitige  Verfeindung 
der  regierenden  Gewalten.  Am  besten  gediehen  immer 
noch  die  kirchlich  organisierten  und  fundierten  Unter¬ 
nehmungen.  Umsomehr  ist  das  Geleistete  oder 
wenigstens  der  gute  Wille  anzuerkennen.  So  war 
z.  B.  der  Plan  einer  neuen  Stadt  keineswegs  der  Will¬ 
kür  überlassen,  sondern  wie  uns  jüngst  auch  Camillo 

27 


EIN  HANDBUCH  DER  BÜRGERLICHEN  BAUKUNST  IN  FRANKREIjCH 


198 


ABB.  4.  SCHLOSS  AZAY-LE-RIDEAU  (INDRE-ET-LOIRE).  16.  JAHRHUNDERT 


Sitte  gezeigt  hat,  mit  kluger  Einsicht  und  Berechnung 
abgesteckt,  an  vorhandene  Kastelle,  Straßenzüge,  Flu߬ 
läufe  u.  s.  w.  angelehnt.  Um  den  Markt  mit  dem 
Stadtbaum  (palum),  dem  Rathaus,  den  Gerichts-  und 
Kaufhallen  gruppiert  sich  das  Straßennetz  mit  breiteren 
Zufahrtswegen  und  schmalen  Quergassen.  Und  es 
gibt  genügende  Zeugnisse  dafür,  daß  die  Stadtherren 
für  Sicherheit,  Reinlichkeit,  Verkehr,  Bewässerung, 
Kanalisation,  Schlachthäuser,  Bäder,  Feuerlöschanstalten 
und  selbst  für  Beleuchtung  sehr  viel  getan  haben, 
ln  Seestädten  findet  man  frühzeitig  Leuchttürme  und 
Kais.  Alle  Achtung  nötigt  uns  der  romanische  und 
gotische  Brückenbau  ab,  selbst  einige  nach  Römerart 
angelegte  Wasserleitungen  sind  erhalten.  Öffentliche 
Brunnen  sind  zahlreich  und  in  den  verschiedensten 
Formen  angelegt,  wenn  auch  keiner  derselben  sich 
mit  den  glänzenden  deutschen  Beispielen  vergleichen 
läßt.  Das  Rathaus  scheint  eine  ähnliche  Entwickelung 
wie  bei  uns  durchlaufen  zu  haben.  Das  Unter¬ 
geschoß  dient  meist  dem  Markt-  und  Handelswesen 
mit  offenen  Lauben,  Wechselstuben  und  Kaufständen. 
Das  Obergeschoß  wird  von  dem  großen  Saal  (mit 
anstoßender  Kapelle)  eingenommen.  Ein  vorge¬ 
bauter  Altan  oder  Erker  dient  für  öffentliche  Be¬ 
kanntmachungen.  Selten  fehlt  ein  Ratsturm  (beffroi) 
mit  der  Wohnung  des  Stadtwächters  und  der  Normal¬ 
uhr,  welche  gern  mit  automatischen  Figuren  (Jaquemart) 
eingerichtet  war.  An  den  Mauern  findet  man  noch 
Sonnenuhren  und  immerwährende  Kalender.  Den 
Typ  der  Rathäuser  befolgen  auch  die  Gerichtshallen, 
deren  glänzendstes  Beispiel  sich  in  Rouen  findet 
(Abb.  5).  Gefängnisse  und  Folterkammern,  Pranger 
und  Galgen  sind  in  der  Revolution  meist  zerstört. 
Eine  großartige,  auf  Massenbetrieb  eingerichte  Anlage 


war  der  massive,  dreistöckige  und  dreiflügelige  »könig¬ 
liche  Galgen«  von  Montfaucon.  Seltener  sind  die 
Kauf-  und  Warenhallen  mitten  auf  dem  Markt,  von 
denen  sich  einige  recht  primitive  (in  Gremien,  Arlane 
und  Evron)  aber  auch  recht  stattliche  wie  die  Loge 
in  Perpignan  erhalten  haben.  Ein  Marktkreuz  wird 
nur  in  Saint  Antonin  erwähnt,  die  Rolande  fehlen 
anscheinend  ganz.  Daß  an  Kirchen  und  öffentlichen 
Gebäuden  die  Normalmaße  und  -gewichte  angebracht 
waren  ist  ganz  wie  bei  uns.  Auch  die  Sitte  der 
Grenz-  und  Hoheitszeichen,  der  Steinkreuze,  Martein, 
Siegesmäler,  Bildsäulen  und  Erinnerungszeichen  aller 
Art  läßt  sich  in  Frankreich  mit  Denkmälern  belegen, 
die  den  Deutschen  ganz  konform  sind.  Von  öffent¬ 
lichen  Schulen  und  Bibliotheken  sind  nur  wenige 
Beispiele  von  Kunstwert  gerettet.  Was  man  über 
Vergnügungsorte,  Schützen-  und  Spielplätze,  Theater, 
festliche  Dekorationen,  Ball-,  Juden-  und  Frauenhäuser 
weiß,  ist  nur  sekundären  Quellen  zu  verdanken. 

Das  vierte  Kapitel,  Kriegsbaakunst,  wird  eingeleitet 
durch  interessante  Ausführungen  über  das  Kriegsrecht 
und  die  größeren  Angriffswaffen,  Bailisten,  Katapulte, 
Dreiböcke  u.  s.  w.  und  dann  werden  die  Anlagen 
und  die  einzelnen  Verteidigungsstücke  vielfach  refe¬ 
rierend  nach  Viollet-le-Duc  beschrieben.  Ich  unter¬ 
lasse  hier  die  Inhaltsangabe,  weil  das  Kapitel  eigent¬ 
lich  nichts  enthält  was  nicht  von  unseren  deutschen 
intimen  Burgenkennern,  in  erster  Linie  von  Piper, 
zuverlässiger  und  vielseitiger  dargestellt  wäre.  Auch 
über  Dorfwälle  und  Landwehren,  Schlupfhöhlen,  be¬ 
festigte  Kirchen  und  Brücken  sind  wir  in  Deutschland 
besser  unterrichtet,  wenn  wir  auch  nicht  so  stattliche 
Festungskirchen  wie  die  Kathedrale  in  Albi  oder  den 
klotzigen,  fast  öffnungslosen  Donjon  in  Rudelle  und 


EIN  HANDBUCH  DER  BÜRGERLICHEN  BAUKUNST  IN  FRANKREICH 


Kjg 


ABB.  5.  JUSTIZGEBÄUDE  ZU  ROUEN.  ENDE  DES  15.  UND  ANFANG  DES  16.  JAHRHUNDERTS 


ebensowenig  befestigte  Brücken  wie  etwa  in  Cahors 
aufweisen  können. 

Höchst  lehrreich  ist  dagegen  wieder  das  fünfte 
Kapitel  über  die  Schiffsbaukunst.  Wenn  die  Franzosen 
auch  keine  seefahrende  Nation  wie  Normannen, 
Genuesen  und  Venezianer  gewesen  sind,  so  haben 
sie  doch  durch  Lage  und  Volksmischung  frühzeitig 
die  Mittlerrolle  zwischen  morgen-  und  abendländischer 
Schiffahrt  ausgeübt  und  in  den  Kreuzzügen  nicht 
unbedeutende  Flotten  über  Meer  gesandt.  Was  Enlart 
nach  seinen  Gewährsmännern  über  Seerecht,  Fracht- 
und  Personenverkehr,  Schiffsbau,  Bemastung  und 
Takelage,  Kajüten,  Verteidigungsbauten  und  Bestückung 
und  die  mannigfaltigen  Schiffsgattungen  beibringt, 
liest  sich  in  hohem  Maße  anregend  und  belehrend. 

Man  gewinnt  auch  aus  diesem  Werke  einen  starken 
Eindruck  von  der  internationalen  Gleichartigkeit  der 
mittelalterlichen  Kultur.  In  dieser  Hinsicht  ist  das 
Buch  für  uns  Deutsche  sehr  wertvoll.  Auch  die 
Denkmäler  der  profanen  Kunst  legen  davon  Zeugnis 
ab,  daß  die  Gegensätze  des  Volkstums  weit  mehr  als 
heute  überbrückt  wurden  durch  die  gemeinsame 
Frömmigkeit,  die  geistlich  gefärbte  Bildung,  die  aristo¬ 
kratische  Kultur,  Dichtung  und  Kunst  und  die  wesent¬ 
lich  gleichen  sozialen  Verhältnisse.  Daß  sich  hierbei 
Deutschland  im  frühen  Mittelalter  vielfach  lernend 
verhält,  ist  bekannt.  Aber  schon  im  14.  Jahrhundert 
wird  dieser  Rückstand  reichlich  ausgeglichen  und 
zwar  durch  ein  Element,  welches  in  Frankreich  nie 


zu  rechter  Entfaltung  gekommen  ist,  das  Bürgertum 
und  die  freien  Städte.  Was  auf  diesem  Boden  bei 
uns  erwachsen  ist,  wird  sich  wohl  den  Schöpfungen 
des  französischen  Hochadels  und  des  Klerus  eben¬ 
bürtig  zur  Seite  stellen  dürfen  und  wenn  wir  ein¬ 
mal  dem  Enlartschen  Werke  eine  deutsche  Profan¬ 
archäologie  entgegenhalten  können,  werden  wir  uns 
ob  des  Reichtums,  der  Fülle  und  Schönheit  unserer 
Denkmäler  nicht  zu  schämen  brauchen. 

Enlart  hat  auch  diese  Zusammenhänge  gestreift 
und  oft  deutsche  Sachen  zum  Beleg  herangezogen, 
wie  er  auch  kleine  Ausflüge  auf  englisches,  italienisches 
und  levantisches  Gebiet  nicht  scheut.  Was  Deutsch¬ 
land  anlangt,  so  hätte  er  sich  leicht  etwas  besser 
unterrichten  können.  Ähnliche  Entgleisungen  wie 
oben  bei  Hildesheim  begegnen  ihm  öfter.  Grund¬ 
legende  Arbeiten  wie  Heynes  Hausaltertümer,  Stephanis 
Wohnbau,  Lachners  und  Uhdes  Holzbaukunst,  Pipers 
Burgenkunde,  A.  Schultz’  Deutsches  Leben  sind  ihm 
unbekannt,  die  wenigen  im  Verzeichnis  genannten 
Arbeiten  sind  offenbar  nur  flüchtig  benutzt.  Das  be¬ 
rührt  an  dem  sonst  so  tüchtigen  Werke  nicht  wohl¬ 
tuend.  Der  wissenschaftliche  Nachbarverkehr  erfordert 
etwas  peinlichere  Achtung  und  ernstere  Höflichkeit. 

Auf  die  Fortsetzung  des  Werkes,  von  welchem 
das  Mobiliar  von  Enlart  und  die  vorgeschichtlichen 
Altertümer  von  j.  Dechelette  angekündigt  werden, 
hoffen  wir  bei  Gelegenheit  zurückzukommen. 

DR.  H.  BERGNER. 


27* 


KRITIK  UND  CHRONOLOGIE 
DER  GEMÄLDE  VON  PETER  PAUL  RUBENS 

(KLASSIKER  DER  KUNST:  V.  RUBENS  VON  ADOLE  ROSENBERQ) 


•  • 

UBER  keinen  alten  Künstler  hat  die  neuere 
Literatur  uns  so  reichlich  bedacht  wie 
über  Rubens.  Dem  großen  fundamentalen 
Werke  von  Max  Rooses:  »L’oeuvre  de  P.  P.  Ru¬ 
bens«  (vollendet  1892),  ist  das  unhandliche,  aber 
anregend  geschriebene  und  auf  dem  fleißigen 
Selbststudium  eines  Künstlers  beruhende  Werk  von 
Emile  Michel  (igoo)  gefolgt,  und  ein  ähnliches  Werk 
hat  Max  Rooses  vor  zwei  Jahren  veröffentlicht,  das 
seither  in  mehrere  Sprachen,  auch  ins  Deutsche,  über¬ 
setzt  ist.  Unter  den  nachgelassenen  Werken  von  Ja¬ 
kob  Burckhardt  fand  sich  auch  ein  Band  über  Rubens, 
»Erinnerungen  aus  Rubens«  betitelt  (1898),  der  über 
Burckhardts  Lieblingskünstler  unter  den  nordischen 
Meistern  eine  Eülle  der  anregendsten  Betrachtungen 
enthält.  In  ähnlicher  Richtung  bewegt  sich  der  In¬ 
halt  des  kleinen  Büchleins  von  Robert  Vischer,  kurz¬ 
weg  »Peter  Paul  Rubens«  benannt  (1904);  ein  Torso, 
da  offenbar  eine  größere  Rubensbiographie  geplant 
war,  von  der  neben  einer  kurzen,  etwas  gesucht 
blumig  geschriebenen  Biographie  leider  nur  die 
membra  disjecta  in  den  trefflichen  Notizen  des  »Bei¬ 
werks«  und  der  »Anmerkungen«  gegeben  werden. 
Als  die  jüngste  Arbeit  ist  in  den  »Klassikern  der 
Kunst'  ein  umfangreicher  Band  mit  den  Werken  des 
Rubens  unter  Redaktion  von  Adolf  Rosenberg  er¬ 
schienen. 

Diese  letztgenannte  Publikation,  mit  der  wir  uns 
hier  zu  beschäftigen  haben,  hat  sich  die  Aufgabe  gesetzt, 
das  Malerwerk  des  Künstlers  in  möglichster  Voll¬ 
ständigkeit  kritisch  nach  der  Zeit  der  Entstehung  der 
einzelnen  Werke  in  Nachbildungen  derselben  vorzu¬ 
führen,  zu  denen  außer  einer  biographischen  Ein¬ 
leitung  und  kurzen  Verzeichnissen  am  Schluß  knappe 
Erläuterungen  gegeben  werden.  Die  Vorwürfe,  welche 
man  den  Publikationen  der  »Klassiker  der  Kunst« 
im  allgemeinen  gemacht  hat,  scheinen  mir  diesem 
Werke  wie  den  früheren  gegenüber  wenig  gerecht¬ 
fertigt.  Solche  gedrängte  Zusammenstellungen  sämt¬ 
licher  Werke  großer  Meister  in  Nachbildungen,  und 
wenn  es  nur  Autotypien  sind  wie  hier,  sind  freilich  nicht 
grade  zum  Genuß,  aber  doch  zum  Studium  sehr  geeignet 
und  sind  in  vieler  Beziehung  anregend.  Auch  sind  die 
Autotypien  dieser  Publikationen  so  gut,  wie  man  von 
dieser  unerfreulichen,  aber  bisher  unentbehrlichen  Re¬ 
produktionsart  irgend  verlangen  kann.  Dagegen  hat 
das  neue  Rubenswerk  in  der  Tat  einen  wesentlichen 
Fehler,  den  alle  früheren  Bände  der  »Klassiker  der 


Kunst«  nicht  haben:  den  Mangel  an  Kritik  in  der 
Bestimmung  und  Chronologie  der  Gemälde.  Gerade 
hier  hätten  wir  diesen  Fehler  am  wenigsten  erwartet, 
da  ein  Spezialforscher  über  Rubens,  Adolf  Rosenberg, 
von  dem  die  bekannte  Ausgabe  von  Rubens’  Briefen 
herrührt,  der  Herausgeber  ist. 

Freilich,  die  Kritik  der  Werke  von  Rubens  ist  heute 
noch  keineswegs  so  weit  vorgeschritten  als  die  mancher 
anderer  Künstler.  Die  außerordentliche  Zahl  seiner 
Gemälde,  ihre  Zerstreuung  über  ganz  Europa  (in 
Amerika  befindet  sich  erst  etwa  ein  Dutzend  von 
Rubens’  Werken),  die  Mitarbeit  der  verschiedensten 
Schüler  und  die  zahlreichen  Schulkopien  wirken  dabei 
erschwerend.  Selbst  ein  so  gründliches  Werk  wie 
das  von  Rooses  ist  für  die  Kritik  und  Zeitbestimmung 
der  Bilder  noch  keineswegs  auf  der  Höhe.  Aber 
Verstöße,  wie  sie  bei  Rosenberg  zu  Dutzenden  Vor¬ 
kommen,  sind  doch  nicht  zu  entschuldigen.  Hat 
doch  das  Werk  von  Emile  Michel  über  Rubens  im 
wesentlichen  schon  das  Richtige  getroffen;  auch 
Max  Rooses  hat  in  seiner  neuen  Biographie  manche 
frühere  Irrtümer  eingebessert.  Eine  eingehende  Kritik 
würde  zu  einem  neuen  Werk  über  Rubens  anwachsen; 
ich  muß  mich  daher  hier  auf  einige  kurze  Andeu¬ 
tungen  beschränken. 

In  dem  Rubensbande  der  »Klassiker  der  Kunst« 
sind  551  Gemälde  nachgebildet,  eingerechnet  eine 
kleine  Zahl,  die  als  »Schülerarbeiten  oder  unecht« 
bezeichnet  werden.  Damit  ist  das  Rubenswerk  kaum 
zur  Hälfte  vollständig  gegeben,  wenn  auch  von  wich¬ 
tigen  Gemälden  wenige  fehlen.  Aber  daß  z.  B.  das 
Musee  Plantin  in  Antwerpen  ganz  übergangen  ist, 
daß  aus  den  englischen  Privatsammlungen  nur  einige 
wenige  Bilder  gebracht  werden,  daß  zahlreiche  der 
prächtigen  Skizzen  fehlen,  ist  doch  nur  mit  dem 
Wunsche,  den  Band  nicht  zu  dick  und  zu  teuer 
werden  zu  lassen,  zu  beschönigen.  Platz  hätte  sich 
aber  wohl  schaffen  lassen,  wenn  z.  B.  eine  Reihe 
kleiner  Porträts  nur  in  Halbtafeln  gebracht  wären  und 
wenn  ein  paar  Dutzend  Bilder  fortgelassen  wären, 
die  sicher  nicht  von  Rubens  oder  doch  sehr  zweifel¬ 
haft  sind.  Daß  die  »Eherne  Schlange«  in  Madrid 
(180)  ein  Meisterwerk  des  van  Dyck  und  nicht  von 
Rubens  ist,  ist  jetzt  allgemein  anerkannt.  Auch  die 
Negerköpfe  in  Brüssel  (146)  und  die  Dame  mit  dem 
Kinde  in  St.  Petersburg  (317)  sind  charakteristische 
frühe  Arbeiten  des  van  Dyck,  dem  verschiedene  Bild¬ 
nisse  wie  172,  173  und  143  auch  mit  größerer  Wahr- 


KRITIK  UND  CHRONOLOGIE  DER  GEMÄLDE  VON  PETER  PAUL  RUBENS 


201 


scheinlichkeit  zuzuschreiben  sind  als  Rubens.  Mehrere 
Frauen-  und  Kinderköpfe  gehören  einem  Rubens¬ 
nachahmer  und  Kopisten,  von  dem  die  großen  Fa¬ 
milienbilder  unter  Rubens’  Namen  in  Windsor  und 
Brüssel  herrühren;  so  die  als  H.  Fourment  bezeichnete 
Frau  bei  Konsul  Weber  (31g,  auch  in  den  Uffizien)  und 
das  Kind  in  Althorp.  Der  »Hahn«  im  Suermondt- 
Museum  zu  Aachen  (27)  ist  von  F.  Snyders.  Ver¬ 
schiedene  männliche  Bildnisse  (wie  Nr.  29,  141,  275, 
232  und  andere)  sind  viel  zu  gering  für  Rubens. 
Das  bekannte  kleine  Borghese  -  Bild  der  »Begeg¬ 
nung«  (39)  ist  eine  treffliche  Kopie  von  einem 
Schüler  wie  Th.  van  Thulden.  Die  Landschaft  bei 
Liechtenstein  (398)  Ist  eine  mäßige  Schülerarbeit; 
»Meleager  und  Ätalante«  in  Kassel  (101)  ist  eine  gute 
Schulkopie  des  weit  feineren  Bildes  in  der  Sammlung 
von  R.  Kann  in  Paris.  Das  Porträt  von  Wovertius  (5) 
ist  eine  Kopie  aus  den  sogenannten  Vier  Philosophen 
des  Pal.  Pitti.  Aus  dieser  Sammlung  ist  die  mäßige  Kopie 
des  Duke  of  Buckingham  als  Original  aufgenommen 
(257).  Die  »Flora«  in  Madrid  (415)  ist  gewiß  kein 
Rubens  (wohl  von  Janßens  mit  J.  Brueghel  und  D. 
Seghers  zusammen),  geschweige  ein  spätes  Bild  von 
ihm,  sowenig  wie  die  kleine  Auferstehung  in  München 
(33)  ein  frühes  Bild  oder  überhaupt  ein  Rubens  ist, 
und  so  fort.  Eigentümlicherweise  finden  wir  in  den 
Anhang  unter  die  »unechten  Bilder«  einige  treffliche 
Originale  von  Rubens  verbannt;  so  das  prächtige 
Bildnis  seines  Sohnes  mit  dem  Falken  im  Bucking¬ 
ham  Palace  und  das  kleine  reizende  Bild  mit  »Venus 
und  Adonis«  in  den  Uffizien,  das  um  1616/18  gemalt 
sein  wird. 

Schwächer  noch  als  mit  der  Kritik  der  Echtheit 
steht  es  mit  der  Kritik  der  Entstehung  der  Bilder,  auf 
die  ich  etwas  näher  eingehen  muß.  Rubens’  Gemälde 
genau  aufs  Jahr  zu  bestimmen,  wird  bei  manchen  wohl 
nie  gelingen;  man  muß  sich  oft  begnügen,  einen  Zeit¬ 
raum  von  drei  bis  fünf  Jahren  und  selbst  mehr  dafür 
anzugeben,  was  auch  deshalb  schon  gerechtfertigt  ist, 
weil  Rubens  manche  seiner  Bilder  lange  stehen  ließ, 
ehe  er  die  letzte  Hand  anlegte. 

Als  das  einzige  noch  vor  Rubens’  Reise  nach 
Italien  gemalte  Gemälde  bezeichnet  Rosenberg  nach 
der  herkömmlichen  Annahme  die  Verkündigung  in 
den  Wiener  Hofmuseen  (Nr.  1).  Anordnung  wie 
Typen,  namentlich  der  Kinderengel,  weisen  das  Bild 
meines  Erachtens  mit  Sicherheit  in  den  Anfang  der 
Antwerpener  Zeit  und  vielleicht  nicht  einmal  in  das 
erste  Jahr. 

Am  buntesten  und  verwirrtesten  flimmert  das  Bild 
von  Rubens’  Tätigkeit  in  Italien,  obgleich  wir  jetzt 
durch  die  beglaubigten  Bilder  in  Mantua,  Grenoble, 
Madrid,  Rom,  Genua  und  so  fort,  deren  Nachbildungen 
R.  gibt,  den  sichersten  Anhalt  für  die  Zuschreibung 
anderer,  nicht  beglaubigter  Bilder  dieser  Zeit  besitzen. 
Fast  alle  Bestimmungen,  die  Rosenberg  daraufhin 
trifft,  scheinen  mir  irrtümlich.  Die  Vermählung  der 
hl.  Katharina  (Nr.  2),  die  Rubens  in  Venedig  oder  gleich 
darnach  in  Mantua  gemalt  haben  soll,  zeigt  fast  das 
gleiche  Kind  wie  die  1609/10  entstandene  Anbetung 
der  Könige  in  Madrid,  gehört  also  in  die  ersten  Jahre 


nach  seiner  Rückkehr.  Die  »Vier  Philosophen«  im 
Pal.  Pitti  (6)  sind  gewiß  nicht  in  Italien,  geschweige 
im  Jahre  1602  entstanden,  so  wenig  wie  das  Selbst¬ 
bildnis  der  Uffizien  (7);  schon  der  Vergleich  mit  dem 
Selbstporträt  in  München  und  in  der  eben  genannten 
Anbetung  in  Madrid,  die  ihn  um  acht  bis  zwölf  Jahre 
jünger  zeigen,  beweist,  daß  diese  Bilder  fünfzehn  bis 
zwanzig  Jahre  später  entstanden  sein  müssen  als 
Rosenberg  meint.  Der  Jan  Woverius  (5)  ist  nur 
eine  Kopie  aus  dem  Bilde  der  »Vier  Philosophen«. 
Der  Triumph  des  Julius  Cäsar  in  der  National 
Gallery  (8)  hat  ganz  die  blonde,  blumige  Färbung 
und  die  malerische  Behandlung  der  unter  Tizians 
Einfluß  bei  seinem  zweiten  Aufenthalt  in  Madrid 
ausgebildeten  Kunst  des  Meisters;  das  Bild  wird  also 
in  London  entstanden  sein,  als  die  Kartons  von 
Mantegna,  nach  denen  es  eine  freie  Nachdichtung 
ist,  in  den  Besitz  von  König  Karl  gelangt  waren. 
Mit  dem  Demokrit  und  Heraklit  (16)  zusammen  hätte 
auch  der  »Archimedes«  im  Pradomuseum  (411)  ge¬ 
nannt  werden  müssen,  der  gleichfalls  1603  und  nicht 
1636/37  entstanden  ist.  Dagegen  ist  das  Altarblatt 
in  der  Akademie  zu  Madrid  (17)  erst  in  Antwerpen 
gemalt  worden,  etwa  um  1615,  wie  Typen  und  Be¬ 
handlung  beweisen.  Auch  die  beiden  allegorischen 
Darstellungen  von  Tugend  und  Laster,  jetzt  in  Dres¬ 
den  (18  und  ig,  Wiederholungen  in  München  und 
Kassel),  scheinen  mir  nicht  schon  um  1604  in  Mantua, 
sondern  etwa  zehn  Jahre  später  in  Antwerpen  auf 
Bestellung  des  Herzogs  gemalt  worden  zu  sein,  etwa 
gleichzeitig  mit  dem  hl.  Laurentius  der  Pinakothek  (206), 
der  erst  um  1620  gesetzt  wird.  Man  vergleiche, 
ganz  abgesehen  von  Typen  und  Technik,  die  gar 
nicht  zur  italienischen  Zeit  passen,  die  »Venus  mit 
dem  Spiegel«  und  die  »Findung  des  Erichtonius« 
in  der  Liechtenstein-Galerie,  worin  die  gleiche  Figur 
wie  hier  auf  der  Krönung  des  Siegers  rechts  vor¬ 
kommt.  Die  »Grazien«  in  den  Uffizien  (20)  und  die 
»Satyrn«  der  Münchener  Pinakothek  (20)  gehören  in  die¬ 
selbe  Zeit,  um  1615.  Auch  der  hl.  Franz,  der  hl.  Hierony¬ 
mus  und  die  Palatinlandschaft  (Nr.  24  und  25),  wie  der 
»sterbende  Seneca«  (28)  sind  Arbeiten  dieser  Epoche 
und  nicht  der  italienischen,  während  die  farbenpräch¬ 
tige  »Landschaft  mit  dem  Regenbogen«  (26)  sogar 
ein  ganz  charakteristisches  Werk  der  letzten  Jahre  des 
Meisters  ist.  Statt  des  schwachen  »Jungen  Genuesen« 
(2g)  von  einem  untergeordneten  Vlamen  hätten  die 
zwei  Spinolabildnisse  in  ganzer  Figur,  jetzt  in  King¬ 
ston  Lacy,  als  charakteristische  Arbeiten  des  Genueser 
Aufenthalts  abgebildet  werden  sollen.  Dagegen  sind 
Bilder  wie  die  »Grablegung«  bei  Liechtenstein  (29), 
die  »Beweinung«  in  Berlin  (38),  »Romulus  und  Re- 
mus«  in  der  Galerie  des  Kapitols  (31)  und  der  »hl. 
Sebastian«  in  Berlin  (32)  gewiß  nicht  schon  in  Rom 
entstanden,  sondern  um  1614/18  in  Antwerpen. 
Man  vergleiche  nur  den  in  Rom  gemalten,  sehr 
bezeichnenden  Sebastian  der  Doriagalerie  in  Rom,  der 
leider  nicht  wiedergegeben  ist.  Daß  die  Liechten- 
steinsche  »Grablegung«  eine  Kopie  nach  Caravaggios 
bekanntem  Gemälde  in  Rom  ist,  beweist  keineswegs, 
daß  Rubens  dieses  Bild  gerade  in  Rom  gemalt  haben 


202 


KRITIK  UND  CHRONOLOGIE  DER  GEMÄLDE  VON  PETER  PAUL  RUBENS 


muß;  er  konnte  es  sehr  wohl  auch  später  nach 
Studien  ausführen,  die  er  dort  gemalt  hatte,  denn  die 
geistreiche  breite  Behandlung  weist  für  dieses  wie 
für  das  ähnliche  kleine  Berliner  Bild  der  Beweinung 
mit  Bestimmtheit  auf  die  Zeit  um  1615. 

Gieich  nach  Rubens’  Rückkehr  in  seine  Vater¬ 
stadt  hat  er  nach  urkundlichen  Nachrichten  das  große 
Altarbild  der  Anbetung  der  Könige  (Madrid)  gemalt. 
Mit  den  mächtigen  Formen,  den  knubbeligen  Kon¬ 
turen,  den  flackernden  Lichtern  in  diesem  Gemälde 
stimmen  der  hl.  Georg«  des  Pradomuseums  (30),  die 
»Susanna  in  der  Akademie  zu  Madrid  (51),  der 
»Tod  des  Argus-  in  Köln  (42)  und  der  »Prometheus« 
in  Oldenburg  (50,  Studie  desselben  Modells  wie  in 
42)  so  sehr  überein,  daß  sie  gleichzeitig,  also  um 
1 60g  1 0,  entstanden  sein  müssen. 

Mit  Recht  hat  Rosenberg  ein  bisher  kaum  be¬ 
kanntes  Werk,  das  Opfer  Abrahams,  im  Besitz  von 
Herrn  Julius  Unger  in  Kannstadt  (47),  aufgenommen 
und  unter  die  Bilder  dieser  Zeit  eingereiht;  es  könnte 
selbst  noch  im  letzten  Jahr  in  Rom  entstanden  sein. 
Wie  er  dagegen  das  Bildnis  der  Isabella  Brant  in 
der  Berliner  Galerie  (43,  von  Rooses  als  Bildnis  der 
Gattin  bezweifelt  und  für  eine  Schwester  derselben 
erklärt)  nur  ein  Jahr  später  ansetzen  kann,  wo  sie 
um  zehn  Jahre  älter  aussieht  und  die  Malerei  schon 
grundverschieden  ist,  erscheint  schwer  verständlich, 
ln  die  Zeit  bald  nach  Rubens’  Rückkehr  gehören  da¬ 
gegen  die  beiden  großen  Bildnisse  des  Erzherzogs 
Albrecht  und  seiner  Gemahlin  im  Pradomuseum 
(168  f.,  nach  Rosenberg  um  1616/20),  sowie  ein  noch 
altertümlicheres  interessantes  großes  Familienbild  der 
Karlsruher  Galerie,  das  bisher  ganz  unberücksichtigt 
geblieben  ist  und  auch  von  Rosenberg  nicht  erwähnt 
wird. 

Für  das  erste  Jahrzehnt  seiner  Tätigkeit  in  Ant¬ 
werpen  haben  wir  sehr  guten  Anhalt  an  den  Urkunden 
über  zahlreiclie  Altarbilder  wie  an  der  reichen  Korre¬ 
spondenz  des  Künstlers,  gelegentlich  auch  an  Daten 
auf  den  Bildern.  Die  Zeitfolge  der  Bilder  gibt  der 
Verfasser  daher  für  diese  Zeit  wesentlich  richtiger  als 
für  die  Zeit  des  italienischen  Aufenthalts  an.  Dennoch 
ist  auch  hier  manches  gefehlt.  Ich  will  nicht  darüber 
rechten,  wenn  nach  meiner  Empfindung  Bilder  wie 
die  drei  Kruzifixe  (45  und  46)  oder  der  »Sanherib«, 
der  Saulus«  (83  f.)  und  die  »Amazonenschlacht«  (103) 
in  München  und  andere  um  etwa  vier  oder  fünf 
Jahre  zu  früh  angesetzt  sind;  einige  wesentlichere  Irr- 
tümer  müssen  aber  namhaft  gemacht  werden.  So 
gehört  der  »Arion-  in  der  Sammlung  Schloß  zu 
Paris  (55)  mit  dem  »Orpheus«  in  Sanssouci  (394) 
zusammen,  der  ganz  richtig  erst  um  1635  angesetzt  ist. 
Die  »Auferweckung  des  Lazarus«  in  Berlin  (264)  ist  eines 
der  Bilder,  die  durch  ihre  tiefen  bräunlichen  Schatten 
und  ihr  starkes  Helldunkel  die  Ausführung  durch  den 
jungen  van  Dyck  verraten,  also  um  1618/20  entstan¬ 
den  sind.  Dasselbe  gilt  meines  Erachtens  auch  für 
»Simsons  Gefangennehmung«  und  die  Ausgießung 
des  hl.  Geistes«  in  München  (68  und  182),  den 
»Christus  am  Kreuz«  in  der  Antwerpener  Galerie 
(1620),  die  Madonna  in  Kassel  (227)  und  andere 


mehr.  Die  »Bekehrung  des  hl.  Bavo«  in  der  National 
Gallery  (63)  hat  gewissermaßen  Gegenstücke  in  den 
gleichfalls  als  ausgeführte  Skizze  behandelten  »Wun¬ 
dern  des  hl.  Franz  de  Paula«  in  Dresden  (329,  datiert 
»um  1630  32«),  und  in  dem  »Wunder  des  hl. 
Benoit-  im  Privatbesitz  des  Königs  von  Belgien,  das 
leider  nicht  wiedergegeben  ist.  Während  letzteres  in 
der  älteren  Literatur  der  Zeit  nach  Rubens’  zweiter 
Heirat  gegeben  wird,  datiert  Rosenberg  das  erstere  in 
das  Jahr  1612.  Beide  Bilder  sind  aber  in  der  Kom¬ 
position,  wie  in  Typen  und  Behandlung  aufs  engste 
verwandt  mit  den  Wundern  des  hl.  Ignaz  im  Wiener 
Hofmuseum  und  in  Genua  (187 — 191),  sind  also  wie 
diese  um  1620  entstanden.  Das  skizzenhafte  kleine  Bild 
mit  dem  »hl.  Christoph  und  dem  Eremiten  in  Mün¬ 
chen  (62),  das  Rosenberg  mit  den  Rückseiten  der  Ant¬ 
werpener  Kreuzabnahme  in  Beziehung  bringt,  hat 
mir  immer  den  Eindruck  gemacht,  als  ob  es  erst  in 
die  dreißiger  Jahre  gehöre,  ebenso  wie  die  große 
Kreuzigung  im  Museum  zu  Toulouse  (77),  die  ich 
leider  nicht  aus  eigener  Anschauung  kenne.  Das 
köstliche  kleine  Bild  der  Verstoßung  der  Hagar  in 
der  Eremitage  (64),  vom  Verfasser  um  1612  datiert, 
möchte  ich  nach  der  warmen,  leuchtenden  Färbung 
erst  in  das  Jahr  1618  setzen.  Etwas  später  noch  die  »Ehe¬ 
brecherin«  des  Brüsseler  Museums  (65),  in  der  Aus¬ 
führung  ein  Schulbild,  wohl  von  A.  van  Diepenbeeck. 
Zu  der  Hauptfigur  dieses  Bildes,  wie  zu  der  Mag¬ 
dalena  in  Wien,  den  Frauen  am  Grabe  in  der  Galerie 
Czernin  ebenda  (204)  und  zu  mehreren  anderen  Bil¬ 
dern  hat  Rubens  das  schöne  Modell  benutzt,  von 
dem  Baron  Gustave  Rothschild- Paris  das  pikante 
Bildnis  besitzt  (331);  dieses  ist,  wie  die  Gemälde, 
für  die  es  benutzt  ist,  schon  um  etwa  zwölf  Jahre 
früher  entstanden,  als  es  der  Verfasser  ansetzt.  Die 
berühmte  hl.  Familie  in  der  Antwerpener  Galerie  (68) 
ist  gewiß  erst  in  den  zwanziger  Jahren  gemalt  (66) 
ebenso  wie  die  Landschaften  »Sommer«  und  »Winter¬ 
in  Windsor  (85  und  86),  während  der  »Regenbogen 
der  Eremitage  (121,  »um  1615  18  )  sogar  erst  der 
letzten  Periode  des  Künstlers  angehört.  Die  Skizze 
des  Martyriums  der  hl.  Ursula  in  Brüssel  (110)  er¬ 
innert  in  Aufbau  und  Bewegung  so  sehr  an  die 
»Marter  des  hl.  Lievin-  und  an  die  »Kreuztragung« 
ebenda  (362  und  369),  daß  diese  Komposition  etwa 
gleichzeitig  entstanden  sein  wird.  Andere  Bilder  der 
mittleren  Zeit  scheinen  mir  vom  Verfasser  zu  spät 
angesetzt  zu  sein;  so  unter  anderen  die  herrliche 
»Wildschweinsjagd«  in  Dresden  (214),  die  »Vier  Welt¬ 
teile«  in  Wien  (218),  die  »Venus«  in  Brüssel  und 
Dresden  (260),  der  »Lazarus«  in  Berlin  (264),  der  »Silen« 
der  National  Gallery  (280),  die  hl.  Familie  bei  W. 
Crocker  (281)  und  eine  Reihe  von  einfachen  Porträts, 
die  über  den  ganzen  Band  zerstreut  sind  (272,  301, 
377.  375  und  andere),  während  sie  um  1615 — 1620 
entstanden  sein  müssen.  Dasselbe  ist  der  Fall  mit 
den  Kopien  nach  Vorfahren  des  österreichischen 
Kaiserhauses  (360  und  276),  die  —  wie  der  »Para¬ 
celsus«  (130)  —  schon  um  1615  gemalt  sind. 

Die  zwanziger  Jahre  des  1 7.  Jahrhunderts  werden 
für  Rubens  namentlich  durch  die  großen  dekorativen 


KRITIK  UND  CHRONOLOGIE  DER  GEMÄLDE  VON  PETER  PAUL  RUBENS 


203 


Folgen  ausgefüllt  und  gekennzeichnet,  die  er  für 
Maria  von  Medicis,  Kart  1.  und  andere  teils  selbst 
ausführte,  teils  zur  Ausführung  durch  Schüler  oder  in 
Webereien  entwarf.  Sie  sind  uns  nach  der  Zeit  ihrer 
Entstehung  genau  gesichert.  Unter  den  Altargemälden, 
Tafelbildern  und  Bildnissen,  die  Rosenberg  der  glei¬ 
chen  Zeit  zuschreibt,  sind  wieder  eine  Reihe,  die  ent¬ 
schieden  beanstandet  werden  müssen.  Weshalb  ist 
die  hübsche  kleine  Dresdener  Schulkopie  (266)  nach 
dem  berühmten  Parisurteil  ln  der  National  Gallery 
(383)  überhaupt  aufgenommen  und  zehn  Jahre  früher 
datiert  als  das  Original?  Dasselbe  sehen  wir  bei  der 
»Fortuna«  des  Pradomuseums  von  1636/37  (413), 
deren  Skizze  im  Berliner  Museum  (270)  um  1625 
angesetzt  ist.  Von  den  Spinolaporträts  befindet  sich 
das  beste,  allein  ganz  eigenhändige  Exemplar  ln  der 
Galerie  Nostiz  zu  Prag. 

Die  letzte  Epoche  von  Rubens’  Tätigkeit,  die  be¬ 
deutendste  und  zugleich  umfangreichste,  steht  unter 
dem  Einflüsse  der  jungen  Helene  Fourment,  mit  der 
sich  der  Künstler  Ende  des  Jahres  1630  vermählte.  Die 
Mehrzahl  der  Bilder,  die  in  den  letzten  zehn  Jahren 
seines  Lebens  entstanden,  ist  in  ihrer  Datierung  ge¬ 
sichert,  teils  durch  die  uns  bekannten  Aufträge  von 
Philipp  IV.,  Karl  I.  und  anderen  Fürsten,  sowie  von 
einzelnen  Kirchen,  teils  durch  die  Rolle,  welche  seine 
Gattin  und  die  Landschaft  um  das  Schloß  Steen,  das 
er  damals  erwarb,  darin  spielen.  Unter  diese  ge¬ 
sicherten  Bilder  haben  sich  in  Rosenbergs  Rubens- 
Werk  aber  doch  eine  Anzahl  Gemälde  eingeschlichen, 
die  in  dieser  Zeit  ganz  fremdartig  erscheinen.  So 
ist  die  »Judith«  der  Braunschweiger  Galerie  (338) 
nach  den  blauen  Halbschatten  und  roten  und  gelben 
Lichtern  im  Fleisch  ein  besonders  charakteristisches 
Werk  um  1615/20.  »Thomyris  und  Cyrus«  im  Louvre 
(340)  ist  Gemälden  wie  das  Urteil  Salomos  in  Kopen¬ 
hagen  (176),  der  »Achill«  im  Pradomuseum  (139)  und 
anderen  so  verwandt,  daß  es  in  der  gleichen  Zeit, 
um  1620,  entstanden  sein  muß.  Die  Skizze  der 
»Psyche,  zum  Olymp  getragen«  in  der  Galerie  Liech¬ 
tenstein  (366)  hat  den  Charakter  der  Skizzen  zur 
Luxembourg-Galerie  und  wird  eher  noch  ein  paar 
Jahre  früher  entstanden  sein;  der  Künstler  hat  diese 
Komposition  frei  benutzt  für  ein  ähnliches  späteres 
Deckenbild:  die  Apotheose  des  Fürsten  Wilhelm  von 


Oranien  (402).  Gemälde  wie  die  »Beweinung  Christi ^ 
im  Pradomuseum  (391),  die  »Diana«  in  Kassel  (336), 
die  Thomyris  des  Louvre  (340),  die  Skizze  der  Grab¬ 
legung  (452)  und  die  hl.  Familie  im  Kölner  Museum 
(420)  oder  wie  die  Landschaft  mit  »Philemon  und 
Baucis«  im  Wiener  Hofmuseum  (450)  und  die  »Land¬ 
schaft  mit  den  Kühen«  in  der  Münchener  Pinakothek 
(426)  gehören  nicht  zu  den  spätesten  Werken  von 
Rubens,  sondern  sind  anfangs  der  zwanziger  Jahre 
oder  noch  etwas  früher  entstanden.  In  der  vielbe¬ 
wunderten  Landschaft  mit  der  Jagd  des  Meieagar, 
einer  neueren  Erwerbung  des  Brüsseler  Museums 
{443),  vermag  ich  die  Hand  von  Rubens  nicht  zu 
erkennen;  sie  scheint  mir  eine  freie  Nachbildung  nach 
dem  bekannten  Bilde  mit  dem  gleichen  Motiv  in  der 
Dresdener  Galerie.  Über  verschiedene  vom  Verfasser 
dieser  Epoche  eingereihte  Bilder  habe  ich  schon  oben 
mich  ausgesprochen. 

Diese  ermüdende  Aufzählung,  die  ich  auf  das 
Hauptsächlichste  beschränkt  habe,  schien  mir  uner¬ 
läßlich,  selbst  gegenüber  einem  Buche,  das  sich  in 
erster  Linie  an  das  große  Publikum  wendet,  weil  es 
als  bequemes  Nachschlagewerk  von  vielen  benutzt 
wird  und  dadurch  Irrtümer  sich  gar  zu  leicht  ein¬ 
wurzeln.  Gerade  solche  Werke,  die  in  jedermanns 
Hand  kommen,  sollten  auf  ganz  kritischer  Grundlage 
aufgebaut  werden.  Dies  ist  aber  leider  die  Ausnahme; 
in  unseren  billigen  Kunstbüchern  und  Kunstbüchlein, 
die  den  Markt  überschwemmen  und  heute  Anschauung 
und  Wissen  von  Kunst  beherrschen,  kommen  nur 
selten  wirkliche  Fachmänner  zum  Wort,  und  dann 
auch  in  der  Regel  nicht  für  die  großen,  gottbegna¬ 
deten  Künstler,  da  sie  die  Redakteure  solcher  »Serien« 
für  sich  zu  reservieren  pflegen  und  in  ihren  banalen, 
unkritischen  Monographien  der  Menge  der  Gebildeten 
nahe  zu  bringen  wissen.  Die  »Klassiker  der  Kunst« 
sind  ein  ernsteres  und  bedeutungsvolleres  Unternehmen, 
dem  wir  den  besten  Erfolg  wünschen,  das  aber,  ge¬ 
rade  weil  es  das  Oeuvre  der  Künstler  gibt  und  diese 
nach  der  Zeit  der  Entstehung  der  Werke  anordnet, 
nur  auf  kritischer  Basis  von  Nutzen  sein  kann.  Ich 
zweifle  nicht,  daß  Dr.  Adolf  Rosenberg  in  dem  vor¬ 
liegenden  Rubens-Werk  besonders  kritisch  hat  zu  Werke 
gehen  wollen,  seine  Kritik  erscheint  mir  aber  gar  zu 
eigenartig.  ]V.  BODE. 


zu  DER  RADIERUNG 


Wir  haben  die  Freude,  heute  unsere  Zeitschrift  wieder  mit  einer  Radierung  von  Karl  Köpping 
schmücken  zu  können.  Gelegentlich  einer  Durchsicht  seiner  Mappen  fanden  sich  einige  entzückende  kleine 
Landschaften  vor,  die  unsere  besondere  Aufmerksamkeit  erregten.  Der  Künstler  erzählte,  daß  es  Arbeiten 
jüngerer  Jahre  seien,  etwa  1877  entstanden,  die  er  nie  veröffentlicht  habe.  Die  Blätter  sind  aber  so  schön, 
daß  wir  sie  unbedingt  ans  Licht  ziehen  wollten.  Hier  ist  wenigstens  eines  davon. 

Der  Schöpfer  des  Urbildes  ist  Jan  van  Beers,  der  etwas  seltsame  belgische  Kolorist,  dessen  arg  buntes 
großes  Historienbild  im  Amsterdamer  Museum  bekannt  ist.  Er  hatte  Mitte  der  siebziger  Jahre,  angestachelt 
durch  den  Effekt  einiger  miniaturartig  in  der  sonderbarsten  Technik  ausgefülirter  Eandschaften  des  jungen 
Kerkhove,  eine  gröltere  Zahl  derartiger  kleiner  Bildchen  geschaffen  und  regte  Köpping  an,  sie  zu  radieren 
und  als  Serie  herauszugeben.  Dieser  Herausgabe  stellten  sich  aber  gewisse  Schwierigkeiten  entgegen,  so  daß 
die  Arbeit  abgebrochen  wurde,  und  die  Platten  vom  Künstler  beiseite  gelegt  wurden.  Die  Radierung  zeigt, 
wie  der  damals  noch  nicht  dreißigjährige  Meister  schon  in  seiner  Kunst  die  Eigentümlichkeiten  fremder  Vor¬ 
bilder  zu  erfassen  wußte. 

ln  bezug  auf  des  Künstlers  gegenwärtige  Beschäftigung  sei  gleich  mitgeteilt,  daß  er  die  jahrelange 
Arbeit  an  der  Platte  nach  Rembrandts  Susanna  jetzt  abgeschlossen  hat  und  das  Blatt  demnächst  im  Berliner 
Galeriewerk  erscheinen  wird. 


DIE  BRÜCKE  VALENTRE  BEI  CAHORS.  VOR  DER  RESTAURATION 
Zu  dem  Aufsatze  >Ein  Handbuch  der  bürgerlichen  Baukunst  in  Frankreich 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  g.  m.  b.  h.,  Leipzig 


CONSTANTIN  MEUNIER 

ORIGINALHOLZSCHNITT  VON  PIERRE  VIBERT  IN  PARIS 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  I905 


CONSTANTIN  MEUNIER  f 

Von  Henri  Hymans  in  Brüssel 


MEUNIER  ist  am  4.  April  in  Brüssel  gestorben. 
Seinen  Sarg  grüßten  in  Ehrerbietung  offi¬ 
zielle  Persönlichkeiten,  Leuchten  der  Politik, 
der  Wissenschaft,  der  Künste,  der  Literatur;  Bürger, 
Männer  des  Volkes,  Vertreter  aller  Parteien  und  aller 
Klassen,  sie  alle  bewegten  sich  in  langem  Zuge  vom 
Trauerhause  zur  Kirche,  von  der  Kirche  zum  Fried¬ 
hof  und  hoben  so  seine  Leichenfeier  weit  über  das 
übliche  Maß  empor.  Die  Beileidsbezeugungen  des 
Auslandes,  aus  Deutschland  wie  aus  Frankreich,  wett¬ 
eiferten  es  auszusprechen,  wie  der  Verlust  dieses 
großen  Künstlers  nicht  nur  sein  Land,  sondern  die 
ganze  Welt  erschütterte.  Auch  seine  Schöpfungen 
haben  zur  ganzen  Welt  gesprochen. 

Wenn  das  Verschwinden  eines  großen  Künstlers 
eine  Trauer  für  die  Menschheit  ist,  dann  ganz  be¬ 
sonders  der  Tod  Meuniers.  Seine  durchaus  moderne 
künstlerische  Auffassung  begnügte  sich  nicht  damit, 
zeitgemäß  zu  sein,  sie  scheint  sich  mit  prophetischer 
Ahnung  mehr  noch  als  an  die  Gegenwart  an  die 
Zukunft  zu  wenden.  Dies  hindert  nicht,  daß  sie  sich 
durch  die  Jahrhunderte  in  gerader  Linie  auf  die 
größten  Überlieferungen  der  Vergangenheit  berufen 
kann. 

Die  zweite  Flälfte  des  1  g.  Jahrhunderts  ist  nament¬ 
lich  für  die  belgische  Bildhauerei  eine  Zeit  der  Er¬ 
neuerung  gewesen,  das  Ideal  wurde  umgestaltet,  eine 
neue  und  freie  Anschauung  von  der  Natur  triumphiert 
mit  unwiderstehlicher  Gewalt  über  eine  mit  der  eng¬ 
herzigsten  Strenge  vom  hellenistischen  Schönheits¬ 
kanon  gelenkten  Ästhetik.  Mit  der  Wucht  ihrer 
Theorien  erhob  die  Schulkunst  den  Anspruch,  Werke 
des  Phidias  und  Praxiteles  zu  wiederholen.  Wie 
viele  Bannflüche  haben  die  Emanzipationsbestrebungen 
getroffen!  Rüde  und  David  d’Angers  waren  ebenso 
wie  in  der  Politik  auch  die  Geächteten  der  Kunst. 
Die  Geschichte  wird  staunen,  daß  Meunier,  gestorben 
im  20.  Jahrhundert,  im  Alter  von  75  Jahren,  dem 
Feldzug  gegen  die  Routine  fern  geblieben,  obwohl  er 
doch  zum  Streiter  berechtigter  war  als  jeder  andere. 
Das  kommt  daher,  weil  er  bis  zu  seinem  50.  Jahre 
fast  nur  ein  Scheindasein  ohne  künstlerische  Tat 
führte.  Nicht,  daß  ihm  die  Berufung  zu  spät  kam; 
Meunier  war  Künstler  von  seinen  ersten  Schritten  ins 
Leben.  Sein  zehn  Jahre  älterer  Bruder  Jean  Baptist, 
ein  hervorragender  Kupferstecher,  lehrte  ihn  den 
Zeichenstift  zu  halten  und  meisterhaft  zu  führen.  Für 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  8 


Meunier  war  dies  der  Ausgangspunkt  für  seine  Zu¬ 
kunft.  Die  Bildhauer  jener  Zeit  pflegten  sich  nur 
des  Modellierholzes  zu  bedienen,  nicht  zu  zeichnen. 

Auf  dem  Felde  der  Bildhauerei  ereignete  sich  die 
erste  Waffentat  des  jungen  Constantin.  Da  er  gleich¬ 
zeitig  Schüler  der  Akademie  von  Brüssel  und  des 
Bildhauers  Fraikin  war,  wurde  er  in  den  Stand  ge¬ 
setzt,  eine  Statue  zur  Ausstellung  von  1851  zu  schicken. 
Der  Titel  dieses  Erstlingswerkes  »Guirlande«  ruft  den 
Gedanken  an  einen  graziösen  Vorwurf  wach.  Der 
Lehrer  Meuniers  tat  sich  besonders  in  diesem  Genre 
hervor.  »Der  gefesselte  Amor«,  sein  bekanntestes 
Werk,  läßt  an  Pradier  denken. 

Bis  an  die  Dreißig  bildhauerte  Meunier.  Unter 


28 


206 


CONSTANTIN  MEUNIER  f 


CONSTANTIN  MEUNIER.  DER  HL.  FRANZ  (1862) 


den  Figuren,  die  den  Fries  der  Aula  des  Akademie¬ 
palastes  in  Brüssel  zieren,  ist  eine  von  ihm.  Das 
Stück  ist  nicht  besser  und  nicht  schlechter  als  seine 
Umgebung;  es  ist  aus  seiner  Epoche,  das  heißt  nicht 
aus  seiner  Zeit. 

Selbst  die  freiesten  Geister  glaubten  damals  nicht 
an  die  Möglichkeit  einer  neuen  Entwickelung  der 
Bildhauerei.  Meunier  war  durch  die  Unterweisungen 
seines  Bruders,  der  ein  Schüler  von  Calamatta  war, 
groß  geworden  in  einem  Kultus  der  Antike,  ln  einem 
Alter,  wo  für  den  jungen  Künstler  der  erste  Schritt 
der  Befreiung  eine  Ablehnung  der  Schule  ist,  zeichnete 
Meunier  mit  Leidenschaft  an  der  Akademie  zu  Brüssel 
nach  der  Antike.  Ihn  ergriff  dabei  die  Größe  und 
der  Stil.  Übrigens  schien  es,  daß  unter  seiner  Hand 
der  Bleistift  ein  gelehrigeres  Instrument  wäre,  als  das 
Modelholz,  und  niemand  fand  es  seltsam,  daß  ihm 
seine  Vorliebe  der  Malerei  blieb. 

Die  belgische  Schule  machte  in  jenem  Augen¬ 
blicke  eine  Krisis  durch.  Die  offizielle  Kunstpflege 
lähmte  die  Tatkraft  der  Jüngeren  und  schmälerte  das 
Feld,  das  sich  ihnen  eröffnet  hatte.  Der  Kunstunter¬ 
richt,  der  in  den  Händen  des  Staates  vereinigt  war, 
mußte  diese,  wenngleich  sehr  schüchternen  Neuerungs¬ 
versuche  wie  eine  revolutionäre  Tat  ansehen.  Die 


Prinzipien  Davids  herrschten  ohne  Ausnahme  an  der 
Akademie  zu  Brüssel,  die  von  Navez,  einem  ehe¬ 
maligen  Schüler  des  Meisters,  geleitet  wurde.  Um 
1855  herum  taten  sich  einige  Überläufer  der  offiziellen 
Schulen  zu  einer  freien  Werkstatt  zusammen.  Diese 
neue  Schule  war,  ohne  eine  Pflanzstätte  berühmter 
Künstler  zu  werden,  der  Ausgangspunkt  für  eine 
fruchtbare  Bewegung.  Hier  ertönte  der  Sammelruf 
für  alle  diejenigen,  die  für  die  Kunst  eine  neue  Be¬ 
stimmung  und  eine  wahrhaft  menschlichere  Auffassung 
des  Lebens  erträumten.  An  dem  Tage,  wo  Meunier 
es  unternahm,  seine  Fähigkeiten  in  den  Dienst  der 
Malerei  zu  stellen,  wurde  er  durch  die  Macht  der 
Dinge  in  die  junge  Bewegung  hineingerissen.  Seine 
Kunst  konnte  nur  diese  Existenzberechtigung  haben. 

Der  Maler  überschattet  in  dieser  Zeit  den  kom¬ 
menden  Bildhauer.  Indessen  jedoch  muß  man  zur 
Kenntnis  des  Meisters  eingehend  Rechenschaft  halten 
mit  dem  malerischen  Abschnitt  seiner  Laufbahn,  denn 
man  muß  sagen,  die  Eigenart  Meuniers  läßt  sich  in 
seinen  gemalten  Werken  mit  derselben  Wucht  aus, 
wie  in  seinem  plastischen  Oeuvre  fühlen.  Das  »Mar¬ 
tyrium  des  hl.  Stephan <  im  Museum  zu  Gent  ist 
eines  der  Hauptbilder  der  belgischen  Schule.  Es  ist 
ein  Werk  von  geradezu  lapidarem  Stile.  Ferner  muß 
man  sich  in  dem  Bildungsgang  Meuniers  über  den 
Einfluß  seines  Lehrers  de  Groux  Rechenschaft  geben, 
der  vielleicht  der  größte  Meister  war,  den  Belgien 
hervorgebracht  hat,  wie  Muther  sagt.  Er  war  sechs 
Jahre  älter  als  Meunier,  ein  ehemaliger  Schüler  von 
Navez  und  der  Akademie  von  Düsseldorf  und  begann 
als  Maler  religiöser  Vorwürfe.  Einfach  und  zart, 
dem  Mitleid  tief  zugänglich,  war  de  Groux  der  erste 
Maler  in  Belgien,  der  sich  in  einer  mehr  menschlichen 
Kunst  betätigte,  der  den  Formelkram  verwarf,  den 
die  Überlieferung  allen  denen  aufzwängte,  die  den 
Wunsch  hatten,  dem  realen  Leben  seine  Vorwürfe 
abzufordern.  Gleichfalls  war  er  die  Zielscheibe  der 
leidenschaftlichsten  Angriffe  der  offiziellen  Kritik.  Er 
malte  das  Volk,  ohne  sich  zu  seinem  Diener  zu 
machen,  ohne  weder  seinen  Sitten  noch  seinen  Phy¬ 
siognomien  zu  schmeicheln.  Da  man  sich  aber  an 
der  Form  stieß,  so  wurde  er  im  Namen  der  großen 
Kunst  angeklagt,  die  Natur  zu  parodieren  und  der 
Ästhetik  des  Häßlichen  zu  fröhnen.  Und  das  in 
Belgien,  nachdem  die  berühmtesten  Kritiker  Frank¬ 
reichs,  Theophil  Gautier  an  der  Spitze,  ihn  bei  der 
Weltausstellung  von  1855  als  den  ausgezeichnetsten 
der  in  Brüssel  lebenden  Maler  gepriesen  hatten! 

Meunier  verdankte  ihm  nicht  alles,  aber  er  ver¬ 
dankte  ihm  viel.  Gemeinsam  liebten  sie  die  Alten 
und  bekannten  sie  sich  zum  Kultus  der  Primitiven. 
Beide  fanden  Anregung  in  den  sehr  zahlreichen 
Kartons  zu  Kirchenfenstern,  die  Capronnier  für  die 
Hauptkirchen  Europas  ausführte! 

Die  ersten  Gemälde  Meuniers  verrieten  diesen 
zwiefachen  Einfluß.  Dem  klösterlichen  Leben,  dem 
asketischen  Typus  gilt  seine  Vorliebe.  Als  Bildhauer 
reizt  ihn  mehr  die  Form,  als  der  Effekt.  Er  liebt  es, 
seine  Gestalten  im  Profil  darzustellen.  Sein  erstes 
Gemälde,  »Die  Krankenschwester«  (1857),  das  in 


CONSTANTIN  MEUNIER  f 


207 


Brüssel  ausgestellt  wurde,  dann  »Das  Begräbnis  eines 
Trappisten«  (1860),  »Die  ewige  Ruhe«,  »Das  Gebet« 
(1862),  »Der  hl.  Franz  von  Assisi  in  Verzückung« 
(1862)  sehen  beinahe  wie  Flachreliefs  aus.  Mit  dem 
»Hl.  Franz«  tritt  der  Meister  in  die  Reihe  der  leiden¬ 
schaftlichsten  Interpreten  dieses  Vorwurfs,  kommt  er 
den  Spaniern  nahe,  die  er  einige  Jahre  nachher  in 
Madrid  und  Sevilla  studieren  sollte. 

Meunier  nahm  einen  längeren  Aufenthalt  in  dem 
Kloster  von  la  Trappe.  Mönche,  junge  und  alte,  die 
den  Pflug  ziehen,  die  bei  der  Totenmesse  singen  und 
die  Verstorbenen  zu  ihrer  letzten  Ruhe  geleiten,  alles 
das  verdichtet  sich  bei  ihm  zu  einer  mehr  als  tief 
empfundenen  und  großartig  wiedergegebenen  Im¬ 
pression.  Im  ganzen  waren  die  Erfolge  des  Gemäldes 
beträchtlich  gewesen,  auch  an  offizieller  Anerkennung 
fehlte  es  nicht. 

Da  plötzlich  ließ  das  Wetterleuchten  des  Genies 
die  Flamme  emporlodern,  die  die  Welt  erleuchten 
sollte.  Die  Weltausstellung  von  1885  zu  Antwerpen 
verkündete  Meunier  mit  einem  Male  als  Maler  und 
Bildhauer.  Vier  Gemälde  legten  Zeugnis  von  seinem 
Genius  ab;  »Die  Ausladung  eines  Schiffes  im  Hafen 
zu  Antwerpen«,  »Die  Tabakfabrik  zu  Sevilla«,  »Die 
Einfahrt  in  ein  Bergwerk  zu  Liege«  und  »Der  zer¬ 
brochene  Schmelztiegel  (Glashütte  im  Tale  von  St. 
Lambert)«.  Von  seinen  plastischen  Werken  sah  man: 
»Die  Gipsfigur  des  Puddler«  und  »Das  Pferd  der 
Antwerpener  Korporation«. 

Der  Eindruck  dieser  Werke,  die  zu  den  schönsten 
des  Meisters  gehören,  überschritt  aber  nicht  die  Grenze 
eines  Achtungserfolges.  Im  folgenden  Jahre  erschien 
die  mächtige  Figur  des  »Hammerschmieds«,  die  sich 
jetzt  im  Berliner  Museum  befindet.  Ein  maßgebender 
belgischer  Kritiker  fragte  noch,  ob  dies  hier  der 
Stoff  eines  Bildhauers  sei.  Das  belgische  Publikum 
hatte  viel  zu  verlernen,  um  sich  zum  Verständnis 
einer  Kunst  zu  erheben,  deren  vornehme  Einfachheit 
den  »Mondains«  nicht  gefallen  konnte.  Der  Schönheits¬ 
sinn,  den  die  Erziehung  ausbildet,  ordnet  sich  zahl¬ 
reichen  Forderungen  unter,  die  Freigeister  ungestraft 
nicht  verletzen.  Es  hat  Jahrhunderte  bedurft,  um 
einige  Zierden  der  Menschheit  auf  den  rechten  Platz 
zu  stellen.  Velazquez,  Rembrandt,  Frans  Hals  sind 
glückliche  Funde  der  Neuzeit. 

Die  Kunst  Meuniers,  die  Frucht  langen  und 
schmerzlichen  Reifens,  ist  ihrem  Wesen  nach  syn¬ 
thetisch.  Sie  konnte  nur  die  eines  im  Denken  und 
in  der  Beobachtung  der  Natur  gereiften  Mannes  sein, 
oder  besser  noch  die  eines  Mannes,  der  zu  vergessen 
wei  ß. 

Meunier  hat  selbst  mit  der  Aufrichtigkeit,  die  den 
Grund  seines  Charakters  wie  seiner  Kunst  ausmacht, 
Georg  Treu  erzählt,  wie  die  Umwandlung  sich  bei 
ihm  durch  den  Anblick  der  »tragischen  und  un- 
gezähmten  Schönheit«  des  Industriearbeiters  vollzog. 

Durch  die  Zeichnungen  für  Camille  Lemonniers 
Buch  über  Belgien  wurde  er  in  das  »schwarze  Land« 
geführt.  Da  dringt  er  ein  in  die  Hochöfen,  die 
Schmieden,  in  die  Metallwerke,  die  Glashütten  und 
in  die  Bergwerke.  Es  war  wie  eine  Danteske  Vision 


der  modernen  Hölle,  wo  inmitten  der  Flammen  und 
Ströme  flüssigen  Eisens  sich  nackt  in  der  Fülle 
ihrer  Kraft  die  durch  die  Phantasie  des  Poeten  herauf¬ 
beschworenen  Cyklopen  bewegten.  Plötzlich  und 
unwiderstehlich  stiegen  in  seinem  Geiste  diese  antiken 
Gebilde  auf,  mit  denen  er  sich  in  seiner  Jugend  als 
Schüler  befaßt  hatte.  Das,  was  er  erblickte,  wurde 
ihm  zur  Vision,  was  andere  nur  in  Träumen  gesehen 
hätten,  wurde  für  ihn  die  Wirklichkeit,  die  ein 
dichterisches  Fühlen  verklärte.  So  entstand  diese 
unsterbliche  Kunst.  Aber  noch  zehn  Jahre  wartete 
Meunier  auf  seinen  Ruhm,  der  schließlich  vom  Aus¬ 
lande,  nicht  von  Belgien  verkündet  wurde.  Man 
kann  ihn  von  dem  Tage  an  bestimmen,  wo  Bing  es 
unternahm  in  den  Salons  de  l’Art  nouveau  zu  Paris 
die  gesamten  Werke  Meuniers  zu  vereinigen.  Hier 
war  in  einer  neuen  und  eigenartigen  Form  trotz 
Millet,  trotz  Rodin  das  Gesicht  der  Menschheit  in 
all  ihrem  Schrecken,  all  ihrer  Größe  heraufbeschworen. 
Das  war  Kunst  wie  die  Werke  der  Alten.  Eine 
Bronze  Meuniers,  die  künstlich  alt  gemacht,  könnte 
man  für  ein  etruskisches  Werk  halten,  wie  man  ohne 
Überraschung  seinen  Namen  unter  dem  »Redner« 
in  Florenz  sehen  würde. 

Mehr  noch  als  seine  berühmten  Genossen  es  tun, 
drückt  Meunier  in  der  äußeren  Form  die  Seele  des 
dargestellten  Individuums  aus.  Das  ist  keineswegs 
das  bloße  Modell,  es  ist  ein  Jemand,  man  errät  ihn. 
Meuniers  Kraft  ist  bewußt;  die  Arbeit,  welche  er  voll¬ 
bringt,  ist  von  einer  höheren  Gewalt  geleitet  und 
berechnet,  notwendig  und  unerbittlich.  Er  weiß  es 
und  ergibt  sich  darin.  Hier  liegt  die  tragische  Seite 


MEUNIER.  DER  VERLORENE  SOHN 


V 


CONSTANTIN  MEUNIER 


DER  PFLUOER 


CONSTANTIN  MEUNIER 


DER  LASTTRÄGER 


CONSTANTIN  MEUNIER.  STUDIE  CONSTANTIN  MEUNIER.  AN  DER  TRÄNKE 


CONSTANTIN  MEUNIER  f 


211 


des  Werkes.  Er  appelliert  keineswegs  an  unser  Mit¬ 
leid,  er  appelliert  an  unser  Nachdenken  mit  einer 
Beredsamkeit,  die  um  so  größer  ist,  als  die  Form 
vollendeter  wird.  Meunier  dramatisiert  nicht:  Er  er¬ 
zählt  und  tut  dies  mit  einem  Akzent  instinktiver 
Größe.  Ich  sagte,  daß  er  durchaus  nicht  an  unser 
Mitleid  appelliere,  ich  hörte  von  ihm,  dies  sei  keines¬ 
wegs  der  Zweck  seiner  Kunst.  Sicherlich  gibt  es  in 
der  modernen  Bildhauerei  kein  Werk,  das  so  er¬ 
schüttert  wie  »le  Grisou«  (das  Grubengas).  Wie  eine 
neue  »Mater  dolorosa«  betrachtet  die  Mutter  des 
Opfers  bei  der  Katastrophe  die  leblosen  Überreste 
des  Sohnes,  der  zu  ihren  Füßen  liegt.  Unwillkür¬ 
lich  denkt  man  an  jene  Erzeugnisse  der  kastilianischen 
Plastik,  die  die  Szenen  der  Passion  in  einer  Sprache 
schildert,  deren  Ausdruck  an  Wahnsinn  grenzt. 
Meunier  ist  keineswegs  so  weit  gegangen.  Er  hat  ge- 


tungen  zur  Skulptur -Ausstellung  von  1897  nach 
Belgien.  Mir  war  es  vergönnt,  sie  mit  Meunier  in 
Berührung  zu  bringen.  Treu  fühlte  sich  im  Anblick 
dieser  vornehm  einfachen  Kunst,  die  ihn  gefangen 
nahm,  tief  ergriffen.  Und  der  kenntnisreiche  Archäo¬ 
loge,  der  gelehrte  Historiograph  der  griechischen 
Plastik,  glaubte  in  dieser  Form  des  Ausdruckes,  der 
gleichzeitig  so  modern  und  so  tief  klassisch  war,  eine 
Rückkehr  der  hellenischen  Kunst  zu  erleben.  Zuerst 
machte  er  im  »Pan«  (Oktober  1897),  dann  in  dem 
reizenden  Bande  »Constantin  Meunier«  (Dresden, 
E.  Richter,  1898)  Deutschland  mit  dem  großen  bel¬ 
gischen  Bildhauer  bekannt.  Die  Dresdener  Ausstel¬ 
lung  wurde  für  Meunier  ein  wahrer  Triumph.  Seit 
damals  ist  ein  ganzer  Saal  im  Albertinum  seiner 
Kunst  gewidmet.  So  war  Meunier  schon  bei  Leb¬ 
zeiten  unsterblich.  Auf  einigen  Seiten,  die  von  seiner 


CONSTANTIN  MEUNIER.  STUDIE 


sehen,  er  hat  gefühlt.  Die  Betrachtung  seines  Werkes 
erregt  mehr  innerlich.  Man  glaubt  den  gebeugten 
Körper  der  armen  Mutter  durch  das  Schluchzen  er¬ 
schüttert  zu  sehen.  Niemals,  ohne  Zweifel,  ging  die 
Skulptur  so  weit  im  Pathetischen.  Nur  einen  Blick 
auf  das  Werk  und  man  erkennt  den  ganzen  Künstler; 
man  begreift  ihn.  Und  wie  sein  Mitleid  nur  weicht, 
wo  der  Schmerz  weicht,  so  gibt  er  in  seiner  prächtigen 
und  besonders  berühmten  Figur  das  alte  Minenpferd 
wieder,  ein  gewissermaßen  entartetes  Geschöpf,  das 
nur  im  Dunklen  arbeitet,  wo  es  immer  leben  wird, 
bis  der  Tod  seinem  Leiden  ein  Ziel  setzt,  ln  dem 
Mitempfinden  seines  Herzens  liegt  die  Hauptquelle 
für  die  Kunst  des  Meisters. 

Verdankt  Meunier  Frankreich  seinen  ersten  künst¬ 
lerischen  Ruf,  so  schuldet  er  Deutschland  die  Ver¬ 
breitung  seines  Ruhmes,  Dresden  ist  Paris  gefolgt. 
Georg  Treu  und  Robert  Diez  führten  die  Vorberei- 


Bescheidenheit  zeugen,  hat  er  seine  Laufbahn  ge¬ 
zeichnet.  Man  findet  sie  im  Anhang  des  Werkes 
von  Professor  Treu.  Er  sagt  dort  mit  Recht,  daß 
es  zwei  Leben  in  seinem  Leben  gab.  Die  Zeit,  so 
schließt  er,  ist  kurz. 

Die  Jahre,  die  bis  zu  seinem  Tode  verrinnen 
sollten,  konnten  zweifellos  keine  Steigerung  seines 
Ruhmes  mehr  bringen.  Ich  habe,  so  schrieb  er,  an 
Treu  die  höchste  Genugtuung  meiner  Eigenliebe  er¬ 
reicht.  Hatte  Meunier  auch  bereits  sein  Genie  in 
ganzem  vollem  Maße  bestätigt,  so  sind  aber  doch  zu 
seinem  schon  so  reichen  Werke  noch  andere  hervor¬ 
ragende  Schöpfungen  hinzugekommen.  Eine  Gesamt¬ 
ausstellung  seiner  Werke  zu  Brüssel  im  November 
1902  war  ein  Ereignis.  Der  Meister  hatte  hier  in 
120  Stücken  die  Werke  aus  seiner  Entwickelungs¬ 
periode:  Gemälde,  Zeichnungen,  Pastelle  und  Aquarelle 
vereinigt.  Von  der  Plastik  sah  man  Statuen,  Büsten 


CONSTANTIN  MEUNIER 


STUDIE  ZU  DEM  BILDE  »GRUBENGAS. 


STUDIE  VON  CONSTANTIN  MEUNIER 


CONSTANTIN  MEUNIER  f 


213 


und  Hochreliefs.  Aus  dieser  deutlichen  Probe  ging 
Meunier  —  wenn  auch  nicht  noch  größer  für  die 
Künstler,  denn  das  hatte  er  nicht  mehr  nötig  —  aber 
geweiht  für  die  Menge  hervor,  die  sich  stets  an  fertige 
Berühmtheiten  hält.  In  der  Mitte  des  Saales  erhob 
sich  die  wundervolle  Statue  des  »Sämanns«,  deren 
Bestimmung  es  sein  sollte,  jenes  Denkmal  zur  Ver¬ 
herrlichung  der  Arbeit  zu  krönen,  das  der  Künstler 
erträumt  und  das  allein  der  Tod  seines  Urhebers  un¬ 
vollendet  gelassen  hat. 

Alle  Welt  kennt  heute  die  wundervollen  Flach¬ 
reliefs,  die  für  den  Sockel  dieses  Werkes  geschaffen 
wurden.  Allein  wie  am  Denkmal  Julius  II.  von 
Michelangelo,  das  zu  gewaltig  war,  um  in  einem 
Menschenleben  verwirklicht  zu  werden,  so  gab  auch 
schließlich  hier  nur  der  Plan  seinem  Urheber  recht. 


den  Künstler  keine  Hoffnung  mehr  existieren  konnte, 
über  seinen  ersten  Gedanken,  der  im  übrigen  schwer 
definierbar  war,  hinauszugehen.  Es  handelte  sich  um 
einen  einfachen  Pylon,  um  den  herum  sich  die  Fi¬ 
guren  gruppierten  und  die  der  »Sämann«  bekrönte. 

Der  belgische  Staat  faßte  damals  den  Plan,  das 
gesamte  plastische  Material  des  erträumten  Monu¬ 
mentes  zu  vereinigen,  um  daraus  mit  den  übrigen 
künstlerischen  Schätzen,  die  er  vom  Meister  besaß, 
einen  Meunier- Saal  in  dem  Museum  zu  füllen,  das 
Brüssel  auf  dem  Mont  des  arts  einrichten  wird. 
Meunier  hat  nur  zwei  Monumente  hinterlassen,  eine 
Bronze,  die  im  Park  von  Löwen  einem  Missionar 
errichtet  war,  der  als  Opfer  seiner  Hingebung  bei 
der  Pflege  von  Leprakranken  starb;  diese  Schöpfung 
schönsten  Stiles,  die  zu  wenig  bekannt  ist,  ruft  die 


CONSTANTIN  MEUNIER.  STUDIE 


Die  höchste  Verherrlichung  der  Arbeit  waren  die 
Werke  Meuniers,  die  hier  den  weiten  Saal  des  Künst¬ 
lerklubs  füllten.  Hier  war  alles  ein  Leben  voll  Ar¬ 
beit,  voll  Leiden,  voll  Vorurteil,  das  mit  einem  glän¬ 
zenden  Triumphe  endigte,  und  in  der  Mitte  von  dem 
allen,  bescheiden  und  einfach,  und  wie  überrascht 
sich  hier  zu  sehen,  stand  der  wahre,  der  eigentliche 
Sämann,  der  Urheber  dieser  reichen  Ernte.  Armer 
Mann,  die  Klinge  hat  die  Scheide  verbraucht.  Man 
hatte  ihn,  der  durch  die  rauhe,  mühevolle  plastische 
Arbeit  entstellt,  dessen  Gesichtsfarbe  fahl,  dessen 
Rücken  gebeugt,  dessen  Auge  matt  war,  den  zweiten 
Michelangelo  genannt.  Schon  seit  einigen  Jahren 
arbeitete  er  nur  sitzend.  Ein  kleines  Modell  zu  einem 
Denkmal  der  Arbeit  war  während  einiger  Tage  auf 
dieser  Ausstellung  zu  sehen.  Es  zeigte  klar,  daß  für 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  8 


Erinnerung  an  die  Zeit  wach,  die  man  die  mönchi¬ 
sche  in  der  Laufbahn  des  Künstlers  nennen  könnte. 
Als  Meunier  dieses  Werk  schuf,  leuchtete  über  ihm 
erst  die  Morgenröte  seines  Ruhmes.  Die  andere  Figur, 
die  einen  öffentlichen  Platz  schmückt,  »die  Tränke«, 
ist  eine  der  reifsten  Schöpfungen  aus  der  Zeit  seiner 
Blüte.  Ein  Arbeitspferd,  das  ein  junger  robuster 
Mann  reitet,  der  nackt  bis  zum  Gürtel  ist,  neigt  sich 
zu  einem  fließenden  Wasser  herab,  um  zu  trinken. 
Diese  schöne  Brunnengruppe  ziert  einen  Platz  im 
Nordwesten  von  Brüssel. 

Unzweifelhaft  hatte  Meunier  seine  Gründe,  um 
als  Professor  an  der  Akademie  in  Löwen  mit  Traurig¬ 
keit  an  die  Jahre  des  Exils  zurückzudenken,  die  er  in 
dieser  brabanter  Stadt  verbrachte.  Dort  war  es,  wo 
er  im  Jahre  1894  in  der  vollen  Reife  des  Talentes 

29 


214 


CONSTANTIN  MEUNIER  f 


als  Maler  und  Zeichner  seinen  Sohn  Karl  verlor.  Das 
war  für  den  armen  Vater  ein  unersetzlicher  Verlust. 
Jedoch  muß  man  sagen,  er  erfuhr  in  diesem  Provinz¬ 
zentrum  den  wohltätigen  Einfluß  jener  für  das  künst¬ 
lerische  Schaffen  so  unentbehrlichen  Ruhe. 

ln  dieser  ruhigen  Zurückgezogenheit,  fern  von 
allem  Lärm,  wurden  die  schönsten  seiner  plastischen 
Werke  geschaffen,  »der  ruhende  Puddler«,  der  »Ham¬ 
merschmied«  und  sogar  das  Grubengas<. 

Löwen  gab  ihm  übrigens  Gelegenheit  zu  bedeu¬ 
tenden  Arbeiten,  denn  er  schmückte  hier  die  Kirche 
des  hl.  Joseph  mit  Fresken,  dieselbe,  in  der  am  22. 


März  1894  die  trauernden  Freunde  des  Meisters  der 
Leiche  seines  Sohnes  folgten. 

Meunier  hatte  beinahe  sein  75.  Lebensjahr  erreicht. 
Allen,  die  ihn  gekannt  haben,  scheint  es,  daß  das 
Schicksal  ihn  durch  ein  längeres  Leben  für  die  erste 
Periode  seines  Daseins  hätte  entschädigen  müssen. 
Und  bei  mir  mischt  sich  mit  dem  Gefühl  so  tiefer, 
allgemeiner  Trauer,  die  sein  Verlust  verursacht  hat, 
die  Bitterkeit,  ihn  so  wenig  gesehen  zu  haben,  um 
von  der  Frucht  seiner  Arbeit  zu  genießen,  die  zu¬ 
gleich  so  vornehm  und  so  uneigennützig  war,  wie 
sie  uns  seine  Werke  zeigt. 


CONSTANTIN  MEUNIER  FABRIKARBEITER 


Über  Conslantin  Meunier  und  sein  Werk  ist  vor  Jaliresfrist  im  Verlage  von 
H.  Floury  in  Paris  ein  außerordentlich  schönes  Buch  von  Camille  Lemonnier 
erschienen.  Diesem  sind  die  meisten  Abbildungen  unseres  Aufsatzes  entnommen. 


GABRIEL  METSU.  SCHLAFENDER  lÄGER 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 

{Siehe  auch  Zeitschrift,  N.  F.  XIH,  tieft  12) 


Einer  der  besten  Kenner  der  holländischen 
Malerschulen  hat  einmal  treffend  gesagt,  daß 
alle  englischen  Privatsammlungen  zusammen¬ 
genommen  an  Perlen  ersten  Ranges  von  der  Hand 
niederländischer  Meister  nicht  so  viel  enthalten, 
wie  die  Wallace-Sammlung  allein  in  sich  faßt.  Nur 
die  Londoner  Nationalgalerie  kann  in  dieser  Beziehung 
ihr  als  ebenbürtig  an  die  Seite  treten.  Wenn  man 
nun  bedenkt,  daß  jetzt  die  eine  wie  die  andere  Ge¬ 
mäldesammlung  Eigentum  der  Nation  sind,  so  wird 
man  sagen  dürfen,  daß  für  die  Direktion  kein  Anlaß 
mehr  vorhanden  ist,  vom  Parlament  hohe  Summen 
sich  bewilligen  zu  lassen  zur  Anschaffung  von  irgend¬ 
welchen  Meisterwerken  der  Landschaftsmalerei  eines 
Hobbema,  eines  Jakob  von  Ruysdael,  eines  Wynants 
oder  eines  Albert  Cuyp.  Von  letzterem  besitzt  die 
Wallace-Sammlung  elf,  die  Nationalgalerie  zehn  Werke, 
von  Hobbema  sind  sieben  Werke  in  der  National¬ 
galerie,  fünf  in  der  Wallace-Sammlung.  Wer  diese 
anspruchslosen  sonnigen  Waldszenerien  gesehen  hat, 
wird  den  Eindruck  nicht  leicht  vergessen  können. 
Die  Wertschätzung  Hobbemas  bei  den  Engländern 
hat  vielleicht  unter  anderen  auch  einen  zufälligen 
Grund.  Die  Motive  seiner  Landschaften,  die  hohen, 
weit  auseinander  stehenden  Bäume  mit  dem  Wiesen¬ 


grund  darunter,  welche  in  seinen  Bildern  immer 
wiederkehren,  sind  auch  charakteristisch  für  die  Land¬ 
schaft  Südenglands.  Bei  keinem  anderen  holländischen 
Landschaftsmaler  besteht  diese  intime  Beziehung. 

Die  unübertroffene  Kunst  des  Willem  van  de  Velde 
in  der  Darstellung  der  unbewegten  See  mit  dem 
meilenweit  sich  ausdehnenden  Wasserspiegel,  den 
mit  der  Gewissenhaftigkeit  eines  Fachmannes  präzis 
gezeichneten  großen  und  kleinen  Schiffen,  und  der 
warmen  dunstigen  Luft,  —  wir  finden  sie  hier  in  einer 
stattlichen  Reihe  von  Bildern,  welche  zu  seinen  besten 
gehören:  acht  in  der  Wallace-Sammlung,  nicht  weniger 
als  vierzehn  in  der  Nationalgalerie.  Unter  den  hol¬ 
ländischen  Kleinmeistern  ist  in  der  Wallace-Sammlung 
Terborch  nicht  so  gut  wie  Metsu  vertreten.  Unter 
den  fünf  Werken  des  letzteren  ist  es  schwer  zu  ent¬ 
scheiden,  welches  das  vollendetste  sei.  Das  be¬ 
rühmteste  davon  ist  wohl  der  schlafende  Jäger 
aus  der  Sammlung  des  Kardinals  Fesch,  auf  der  es 
der  Marquis  von  Hertford  für  13850  Scudi  (etwa 
55400  Mark)  erwarb,  und  als  Tags  darauf  König 
Ludwig  1.  von  Bayern,  dem  dieses  Bild  auf  der 
Auktion  entgangen  war,  einen  Kammerherrn  zu  dem 
noblen  Lord  mit  der  Anfrage  schickte,  ob  und  zu 
welchem  Preis  er  noch  das  Bild  für  seine  Münchner 

29* 


2i6 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


Galerie  erwerben  könne,  lautete  die  unhöfliche  Ant¬ 
wort,  der  Lord  sei  noch  nicht  so  arm,  daß  er  an 
den  Wiederverkauf  seiner  Bilder  dächte ‘). 

Die  außerordentlich  feine  Stimmung  der  Farbe 
mit  den  zart  abgestuften  roten  Tönen  in  der  Ge¬ 
wandung  ist  verbunden  mit  einer  meisterhaften  Be¬ 
stimmtheit  der  Zeichnung  und  einer  gleich  hoch¬ 
stehenden  Charakterisierung  des  Psychologischen. 
Metsu  geht  hier  nicht  an  die  Grenze  seines  Kunst¬ 
vermögens,  wie  in  der  dramatischen  Komposition  der 
beim  Schreiben  eines  verfänglichen  Briefes  von  ihrem 
Gemahl  überraschten  Dame,  ein  Bild,  welches  in 
seinen  rein  malerischen  Qualitäten  jenem  kaum  nach¬ 
steht.  Wir  übergehen  die  zahlreiclien,  in  ihrer  Art 
nicht  minder  vollendeten,  aber  dem  Geschmack  des 
Tages  weniger  zusagenden  Bilder  eines  Mieris,  eines 
Dujardin  und  eines  Berchem.  Nicht  wenig  seltene, 
und  doch  sehr  tüchtige  Maler  zweiten  Ranges,  wie 
Bonrße  mit  seinem  Bilde  einer  kochenden  Frau, 
findet  man  inmitten  jener  berühmten  Meister.  Da  die 
Aufstellung  der  Werke  holländischer  Maler  keine 
systematische  ist  —  man  hat  sie  verteilt  unter  die 
Spanier,  Franzosen  und  Italiener,  und  nur  in  zwei 
Räumen  sind  sie,  von  diesen  getrennt,  nur  mit  ihren 
Brüdern,  den  Flämen  gemischt  — ,  so  bemerkt  man 
auch  kaum,  daß  eine  Richtung  der  holländischen 
Malerei  hier  wenig  oder  gar  nicht  vertreten  ist,  was 
nicht  ohne  Absicht  geschehen  sein  kann.  Von 
Brouwer  ist  hier  ein  einziges,  ein  unbedeutendes  Bild 
zu  finden,  Dusard  fehlt  ganz,  und  von  Adrian  von 


i)  Ich  würde  die  Geschichte  kaum  für  glaubhaft  halten, 
wenn  Sir  R.  Wallace  sie  mir  nicht  selbst  erzählt  hätte. 


Ostade  begegnet  man  nur  zwei,  nicht  gerade  hervor¬ 
ragenden  Werken:  es  fehlen  also  gerade  die  Haupt¬ 
vertreter  der  plumpen  und  wüsten  Bauernfreuden. 
Nur  mit  Teniers  ist  eine  Ausnahme  gemacht,  aber 
auch  nur  scheinbar:  unter  den  neun  Bildern  von 
seiner  Hand  ist  die  größere  Hälfte  nach  berühmten 
Mustern  italienischer  Meister,  nur  zwei  Bilder  schildern 
Bauernleben  in  seiner  bekannten,  mehr  zahmen,  aber 
immer  geistreichen  Manier,  welche  sich  mit  dem  fran¬ 
zösischen  Geschmacke  am  nächsten  berührt.  Mit  be¬ 
sonderer  Sorgfalt  scheinen  die  Bilder  von  Wouwerman 
ausgewählt  zu  sein,  neben  Terborch  wohl  der  einzige 
holländische  Figurenmaler,  der  einem  rigorosen 
aristokratischen  Geschmack  völlig  Genüge  leistet.  Die 
sieben  Bilder  von  seiner  Hand  sind  —  sellener¬ 
weise  unter  sich  so  verschieden,  daß  sie  ein  voll¬ 
ständigeres  Bild  von  seiner  Vielseitigkeit  geben,  als 
die  Wouwermans  in  anderen  berühmten  Sammlungen, 
welche,  wie  z.  B.  Dresden,  eine  größere  Anzahl  von 
seinen  Werken  enthalten. 

Nur  ein  einziger  Frans  Hals!  aber  ein  Bild  von 
solcher  Bedeutung,  daß  es  jedem  anderen  Kunstwerke 
irgend  einer  Zeit  oder  Schule  an  die  Seite  gestellt 
werden  kann,  und  keinen  auch  noch  so  einseitigen 
Geschmack  unbefriedigt  lassen  wird.  Es  ist  das  die 
lebensgroße  Halbfigur  eines  holländischen  Offiziers 
in  schmucker  Tracht,  ein  jugendlicher  Geck,  voll 
Witz,  aber  harmlos,  eine  kerngesunde  Natur  mit 
einem  Blick,  der  mehr  sagt  als  die  lächelnd  zucken¬ 
den,  dabei  festgcschlossenen  Lippen.  Irre  ich  nicht, 
so  ist  es  dieses  Bild  gewesen,  welches  Frans  Hals 
im  vorigen  Jahrhundert  berühmt  gemacht  hat.  Auf 
ein  einziges  Gebot  hin  war  dem  Marquis  das  Bild 


P.  P.  RUBENS.  REOENBOGENLANDSCHAFT 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


217 


auf  einer  Pariser  Auktion  im  Jahre  1865  zugeschlagen 
worden,  auf  das  Gebot  von  51000  Franken,  und  es 
war  kein  Geheimnis,  daß  der  frühere  Besitzer  es  von 
dem  Kenner  Nieuwenhuis  für  nur  zweitausend  Franken 
erworben  hatte! 

Es  ist  unmöglich,  auf  gedrängtem  Raum  die  Be¬ 
deutung  der  Rembrandt-Bilder  auch  nur  anzudeuten. 
Es  sind  deren  elf.  Etwa  ebensoviele  hatte  also  der 
Marquis  zusammengebracht,  als  zu  seinen  Lebzeiten 
ganz  Holland  in  öffentlichen  und  Privatsammlungen 
besaß.  Einen  geradezu  monumentalen  Charakter 
besitzt  die  große  Komposition 
des  vor  seinen  Herrn  vorge¬ 
führten  Schalksknechtes  ^),  ein 
Werk  von  ebenso  packender 
malerischer  Wirkung,  wie  von 
tiefem  psychologischen  Gehalt. 

Die  daneben  hängenden  reli¬ 
giösen  Bilder  eines  Rubens,  so 
berühmt  sie  auch  sein  mögen, 
erscheinen  dagegen  als  ebenso 
seichte  wie  geschmacklose  Bra¬ 
vourstücke.  Doch  wird  niemand 
die  große  Regenbogenlandschaft 
von  Rubens  näher  betrachtet 
haben,  ohne  von  dem  giganti¬ 
schen  Wesen  dieser  genialen 
Schöpfung  einen  Hauch  verspürt 
zu  haben. 

Wenn  man  es  die  Aufgabe 
der  Direktionen  von  Gemälde¬ 
sammlungen  nennen  will,  aus 
allen  Schulen  repräsentative 
Werke  zu  sammeln,  wie  das  ja 
bei  den  meisten  größeren  staat¬ 
lichen  Sammlungen  der  Fall 
ist,  so  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  der  französischen  Maler¬ 
schule  die  Existenzberechtigung 
in  den  maßgebenden  englischen 
Kreisen  bisher  geradezu  versagt 
war.  Als  französische  Schule 
hat  man  da  bisher  nur  Claude 
le  Lorrain  und  die  Poussin 
geachtet  gehabt,  also  italiani- 
sierte  Franzosen.  Ein  paar 
vereinzelte  unbedeutende  Bild¬ 
chen  von  Boucher  und  Lau¬ 
eret,  von  Greuze  und  Chardin  haben  zwar  in  den 

weiten  Räumen  am  Trafalgar  Square  Aufnahme  ge¬ 
funden,  sie  hatten  sich  dahin  als  Geschenke  oder 

Vermächtnisse  verloren,  aber  man  lese  nur  in  dem 
offiziellen  Katalog  auch  der  neuesten  Auflage  die  in 
der  Form  einer  Biographie  oder  Charakteristik  den¬ 
selben  angehängte,  von  moralischer  Indignation  über¬ 
fließende  Warnungstafel!  Selbst  von  Watteau,  der 
übrigens  da  gar  nicht  einmal  vertreten  ist,  heißt  es 
dort,  er  sei  der  Maler  frivoler  Sujets.  Mit  dem  Ge- 


1)  Vergleiche  die  Abbildung  in  dem  ersten  Teil;  ebenda 
auch  das  Porträt  von  Rembrandts  Sohn  Titus. 


schenk  der  Wallace-Sammlung  ist  mit  einem  Mal  die 
englische  Nation  in  den  Besitz  von  so  zahlreichen 
Meisterwerken  der  französischen  Schule  der  zwei 
letzten  Jahrhunderte  gelangt,  wie  sie  nicht  einmal 
das  Louvre-  und  das  Luxembourgmuseum  aufzuweisen 
haben,  —  natürlich  mit  Ausschluß  der  letzten  fünfzig 
Jahre,  deren  Hauptrepräsentanten  in  der  Wallace- 
Sammlung  fehlen.  Die  englische  Nationalgalerie  hat 
auf  diese  Weise  eine  Ergänzung  ihrer  empfindlichsten 
Lücke  erhalten,  wie  sie  auch  fanatische  Parteigänger 
des  französischen  Geschmackes  in  England,  mit  den 
Rothschilds  als  Bannerträger, 
besser  sich  nicht  hätten  wün¬ 
schen  können. 

Man  kann  zwar  auch  der 
Wallace-Sammlung  französischer 
Gemälde  den  Vorwurf  der  Ein¬ 
seitigkeit  machen,  aber  es  ist 
die  Einseitigkeit  des  guten  Ge¬ 
schmackes;  Wer  für  Watteau 
und  seinen  Anhang,  für  Boucher 
und  Greuze  Partei  nimmt,  der 
wird  für  die  strengen  Prediger 
der  politischen  Tugenden,  wie 
sie  die  Revolution  gezeitigt  hat. 
einen  Jacques  Louis  David,  einen 
Guerin  oder  Girodet,  nichts  übrig 
haben.  Auch  Ingres  fehlt;  über¬ 
haupt  der  Klassizismus.  Schon 
in  der  Zusammenstellung  der 
französischen  Schule  des  1 7. 
Jahrhunderts  ist  eine  ähnliche 
Tendenz  maßgebend  gewesen. 
Claude  ist  nur  mit  zwei,  die  bei¬ 
den  Poussin  sind  nur  mit  je 
einem  Bilde  hier  vertreten.  Aber 
die  großen  Porträtmaler  der  Zeit 
LudwigsXlV.,  PhilippedeCham- 
paigne,  Largilliere,  auch  Rigaud, 
findet  man  hier  in  ihren  besten 
Leistungen.  Wie  hoch  stehen 
diese  über  den  gleichzeitigen 
Porträtisten  Englands,  Kneller 
und  Lely  —  jener  bekanntlich 
aus  Lübeck  und  dieser  aus  Soest 
—  welche  ein  halbes  Jahrhun¬ 
dert  hindurch  mit  ihrer  schwäch¬ 
lichen  Manier  die  englische 
Kunst  monopolisiert  haben,  und  jetzt  noch  in  allen 
englischen  Sammlungen  anzutreffen  sind,  nur  hier 
nicht. 

Die  hier  zahlreicher  als  selbst  in  französischen 
Galerien  vertretenen  Werke  Bouchers,  zweiundzwanzig 
meist  große  Bilder,  schildern,  wie  gewöhnlich,  das 
mythologische  Götterleben  oder  Schäferidyllen.  Die 
Oberflächlichkeit  seiner  Kunst  ist  ja  mit  Händen  zu 
greifen,  aber  niemand  kann  die  Wirkung  dieser  zahl¬ 
reichen  Bilder  hier  störend  nennen.  Man  vergesse 
nur  nicht,  daß  Boucher  der  Direktor  der  Gobelin¬ 
fabrik  war.  Hier  in  der  Zusammenstellung  mit  großen 
Prachtstücken  von  altem  Sevres- Porzellan,  mit  eie- 


THOMAS  GAINSBOROUOH 


MRS.  ROBINSON  (PERDITA) 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


ganten  Möbeln  aus  polierten  hellen  Hölzern  mit  zier¬ 
lichen  vergoldeten  Bronzebeschlägen,  inmitten  der 
Sofas  und  Armstühle  mit  blassen  Brokatpolstern, 
möchte  man  sie  schwerlich  missen.  Wir  haben  zwei 
seiner  Bilder  eingangs  beschrieben,  und  das  wird  ge¬ 
nügen.  Natürlich  neben  Watteau  sinken  Bouchers 
Bilder  fast  zur  Bedeutungslosigkeit  herab.  Und  Watteau, 
seine  kleinen  bescheidenen  Bilder  nicht  ausgenom¬ 
men,  stellt  alles  in  den  Schatten,  zumal  inmitten  seiner 
Zeitgenossen  und  Rivalen.  Hier  findet  man  Watteaus 
in  allen  Größen.  Die  beiden  umfangreichsten 
darunter  sind  gerade  Hauptwerke,  ein  Beweis,  daß 
die  Ausführung  großer  Kompositionen  diesen  Maler 
der  Intimität  nicht  in  Verlegenheit  gesetzt  hat.  Wer 
mit  der  venezianischen  Malerei  des  Cinquecento  ver¬ 
traut  ist,  wird  fast  in  allen  seinen  Bildern  den  Ein¬ 
fluß  des  Paolo  Veronese  entdecken  können,  im  Ton 
der  Farben,  in  den  landschaftlichen  Hintergründen, 
selbst  in  Typen,  besonders  der  hellblonden  Damen, 
aber  bei  alledem  ist  und  bleibt  er  ein  durchaus 
originales  Genie.  Er  ist  der  Begründer  der  modernen 
französischen  Malerei.  Keiner  vor  ihm  ist  ein  echter 
Interpret  französischen  Wesens  gewesen.  Es  wird 
gewöhnlich  behauptet,  sein  Hauptverdienst  bestehe 
darin,  daß  er  die  »fetes  galantes«  erfunden  habe. 
Aber  damit  ist  wenig  gesagt.  Giorgiones  Bild  im 
Louvre  und  viele  Kompositionen  des  Bonifazio 
Veronese  bieten  im  wesentlichen  schon  dasselbe. 
Das  Neue  bei  Watteau  ist  das  ultra-verfeinerte  Wesen, 
die  vornehme  Eleganz  in  Gebärde  und  Kleidung, 
dabei  immer  jene  Mäßigung  und  Reserve,  welche 
das  Kennzeichen  der  vornehmen  Welt  ist.  Damen 
und  Herren  sitzen  unter  hohen  Bäumen  in  Gruppen 
zu  drei  oder  vier  —  es  sind  keine  Tete-ä-tetes  — 
und  besprechen  wahrscheinlich  nicht  tiefe  Probleme, 
sondern  sehr  oberflächliche  Dinge,  aber  mit  Witz  und 
Geist.  Warum  das  galante  Feste  heißen  soll,  kann 
ich  nicht  sehen.  Doch  nicht  deshalb,  weil  hier  und 
da  einer  seine  Guitarre  stimmt,  oder  auf  einer  Flöte 
bläst?  Wohl  jede  vornehme  Weltdame  unserer  Zeit 
würde  sich  ja  gern  in  solch  eine  Rolle  versetzt 
sehen,  wie  sie  Watteau  geschildert  hat.  Vornehme 
Frauen  sind  die  Sonne  an  seinem  Firmament,  um  die 
sich  alles  gruppiert  Kein  Wunder,  daß  man  ein 
ähnliches  Gebahren  in  den  Gruppen  kleiner  Mädchen 
entdeckt,  welche  auch  schon  damenhaft  gekleidet  ihre 
harmlose  Tändelei  für  sich  haben. 

Warum  aber,  so  frage  ich  erstaunt,  hat  man  das 
Werk  dieses  hohen,  edlen  und  wahrhaft  poetischen 
Malers,  jenes  größten  französischen  Künstlers,  in 
eine  solche  erbärmliche,  gemeine  und  oft  schmutzige 
Gesellschaft  gebracht,  wie  das  in  der  Wallace- 
Sammlung  der  Fall  ist  Wo  ein  Watteau  glänzt, 
hängt  auch  gleich  ein  Pater  daneben!  ln  den  Büchern 
über  Kunst  findet  man  zwar  Pater  immer  mit  Watteau 
verglichen,  aber  die  Ähnlichkeit  geht  nicht  viel  weiter, 
als  die  zwischen  Affe  und  Mensch.  Pater,  so  heißt 
es,  war  Watteaus  Schüler,  aber  wegen  Watteaus 
reizbarem  und  ungeduldigem  Wesen  konnte  es  Pater 
bei  ihm  nicht  lange  aushalten.  So  belehrt  uns  auch 
der  mit  großem  Fleiß  und  viel  Gelehrsamkeit  be- 


2ig 

arbeitete  neue  Katalog  der  Wallace-Sammlung.  Ich 
wage  hier  zur  Ehre  Watteaus  die  Vermutung  aus¬ 
zusprechen,  daß  für  den  armen  Watteau  die  Travestien 
seiner  eigenen  Muse,  wie  sie  dieser  sein  um  zehn 
Jahre  jüngerer  Landsmann  gleichsam  aus  den  Ärmeln 
schüttelte,  eine  Zumutung  waren,  die  ihm  auf  die 
Nerven  fiel;  ein  Kunsthistoriker  aber  sollte  ihm 

das  zu  allerletzt  übelnehmen. 

Man  hätte  wohl  besser  getan,  wenn  man  die 

vierzehn  Bilder  von  Pater,  mit  solchen  von  Grenze  — 
es  sind  deren  nicht  weniger  als  einundzwanzig  da 
dazu  mehrere  geistesverwandte  Fragonards,  in  einem 
besonderen  Saal  vereinigt  hätte,  ln  Hertfort  House 
war  zu  den  Zeiten  des  Sir  Richard  Wallace  ein  ähn¬ 
liches  Arrangement,  und  man  täte  gut,  darauf  wieder 
zurückzukommen. 

Die  Bilder  französischer  Maler  aus  der  ersten 

Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  haben  eine  große  kunst¬ 
geschichtliche  Bedeutung,  auch  für  Deutschland,  be¬ 
sonders  die  Hauptmeister  jener  Zeit,  wie  Delaroche, 
Delacroix,  Decamps  und  andere.  Piloty  und  viele 
seiner  Zeitgenossen  haben  sich  an  solchen  Vorbildern 
selbst  gebildet.  Hier  sind  die  Originale  solcher  einst 
weltberühmter  Bilder,  wie  Kardinal  Mazarin  auf  dem 
Sterbebette,  das  Staatsschiff  des  Kardinals  Richelieu 
auf  dem  Rhonefluß,  Paolo  und  Francesca  von  Ary 
Scheffer,  Kompositionen,  welche  als  Kunstdruckblätter 
noch  heute  in  vielen  Häusern  den  Zimmerschmuck 
bilden.  So  auch  die  Bilder  des  Brigantenmalers 
Robert,  dessen  Modelle  noch  heute  auf  der  spanischen 
Treppe  in  Rom  den  Fremden  ihre  Soldi  abnehmen. 

Der  Glanzpunkt  der  französischen  Sammlung  des 
ig.  Jahrhunderts  ist  die  Gruppe  der  Bilder  von 
Meissonier.  Ihre  Zahl  ist  überraschend  groß.  Wohl 
nirgends  findet  man  so  viele  Werke  von  ihm,  wie 
hier.  Auch  sein  Lehrer  Cogniet,  der  auch  Bonnats 
Lehrer  war,  ist  in  ein  paar  interessanten  klassizistischen 
Werken  vertreten.  Cogniet  ist  1794  geboren,  Meissonier 
1815,  und  1891  gestorben.  In  ihm,  der  seinen  Stil 
eigentlich  nie  verändert  hat,  ist  die  französische 
Kunst  bis  auf  unsere  Tage  herabgeführt,  und  das 
gilt  im  vollen  Sinne  des  Wortes;  Meissonier  wird 
immer  modern  sein.  Nicht  Horace  Vernet,  sondern 
Meissonier  hat  die  adäquate  künstlerische  Auffassung 
der  Person  Napoleons  I.  für  alle  Zeiten  festgesetzt. 
Napoleon  und  sein  Generalstab  ist  ein  Bild  von  nur 
kleinem  Format,  gemalt  wie  ein  Gerard  Dou  oder 
ein  Mieris,  aber  mit  dem  Esprit  des  Franzosen;  — 
der  Heros  der  Geschichte,  nicht  der  brütende  Mi¬ 
santhrop,  als  den  ihn  moderne  englische  Maler,  wie 
Orchardson,  in  ihren  viel  reproduzierten  Bildern 
populär  machen  möchten. 

Von  den  französischen  Landschaftsmalern  der 
Schule  von  Barbizon  ist  vor  allen  Rousseau  zu  nennen 
mit  einer  duftigen  Landschaft,  den  Wald  von  Fon¬ 
tainebleau  mit  weidenden  Kühen  darstellend.  Die 
Hauptvertreter  dieser  Schule  sind  in  glänzenden  Werken 
vollständig  vertreten;  nur  Millet  fehlt. 

Rousseau  ist  zweifellos  von  Constable  beeinflußt 
gewesen.  Um  so  befremdlicher  ist  es,  daß  dieser 
große  englische  Landschaftsmaler  in  der  Wallace- 


JEAN  HONORE  FRAOONARD 


DIE  INSCHRIFT 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


221 


Sammlung  ganz  fehlt.  Aber  auch  andere  bekannteste 
englische  Landschaftsmaler,  Wilson,  die  ganze  Schule 
von  Norwich  und  Sir  George  Beaumont  fehlen.  Da¬ 
gegen  ist  Turner  glänzend  vertreten  in  verschiedenen 
Aquarellmalereien,  welche  weit  besser  als  seine  Öl¬ 
bilder  die  Vorzüge  seiner  Technik  zur  Geltung 
bringen,  insbesondere  seine  magische  Darstellung 
dunstiger  Atmosphäre,  in  der  er  unübertroffen  ist. 

Was  der  Wallace-Sammlung  ihre  große  Popularität 
in  England  sichert,  und  mit  Recht,  ist  die  vortreff¬ 
liche  Auswahl  von  Werken  der  großen  englischen 
Porträtmaler  vom  Ende  des  i8.  Jahrhunderts;  denn 
die  Auswahl  ist  derart,  wie  sie  besser  kaum  hätte 
getroffen  werden  können:  Nur  die  größten  Meister! 
Nur  Bilder  in  bester  Erhaltung.  Lauter  Porträts 
aristokratischer  Damen  in 
der  Blüte  der  Jahre.  Rey¬ 
nolds  und  Gainsborough 
ringen  auch  hier  um  die 
Palme.  Es  dürfte  schwer 
fallen,  Einmütigkeit  zu  er¬ 
langen,  wollte  man  zu 
entscheiden  versuchen,  wel¬ 
ches  unter  diesen  Porträts 
alle  anderen  überrage.  Von 
Gainsborough  haben  wir 
übrigens  hier  nur  zwei 
Bilder,  darunter  das  un¬ 
vergleichliche  überlebens¬ 
große  Porträt  der  Mrs. 

Robinson,  ein  Bild,  bei 
dem  geistreiche  technische 
Ausführung  und  glück¬ 
liches  Arrangement  der 
Komposition  und  ge¬ 

winnende,  fast  bestrickende 
Erscheinung  sich  verbin¬ 
den  mit  geschichtlichem 
Interesse  an  der  Persön¬ 
lichkeit.  Mrs.  Robinson 
»Perdita«  —  lautet  die 
Inschrift  unter  der  Lein¬ 
wand.  In  dieser  Rolle 
aus  Shakespeares  Winter¬ 
märchen  soll  sie  auf 
den  Prinzen  von  Wales,  den  späteren  König 

Georg  IV.,  einen  tiefen  Eindruck  gemacht  haben, 
um  nicht  lang  nachher  wieder  seine  Gunst  zu  ver¬ 
lieren.  Träumerisch  vor  sich  hinblickend,  hält  die 
Dame  ein  Medaillon  in  der  Rechten,  wohl  ein  Porträt 
des  Prinzen  Florizel.  Auch  Reynolds,  und  auch 
Romney  haben  sie  gemalt,  zwei  Brustbilder,  welche 
hier  ebenfalls  sich  befinden  in  unmittelbarer  Nähe. 
Das  Romneysche  Bild  ist  unter  diesen  wohl  das 
charaktervollste.  —  Das  überlebensgroße  Porträt  der 
Mrs.  Carnac  von  Reynolds  ist  unbestritten  eines  seiner 
Hauptwerke,  durchaus  harmonisch  im  Ton,  und  von 
feinster  Stimmung  der  Farben.  Viel  einfacher  in  den 
künstlerischen  Mitteln,  aber  in  der  Auffassung  jenem 
überlegen,  ist  das  Brustbild  der  Mrs.  Braddyll.  Es 
zeugt  von  der  außerordentlichen  Beweglichkeit  des 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVl.  H.  8 


Meisters,  daß  beide  unter  sich  so  verschiedene  Bilder 
demselben  Jahre  1777  angehören.  Nicht  mindere  Be¬ 
wunderung  verdienen  Kinderporträts  von  Reynolds, 
hier  vor  allen  Miß  Bowles.  Die  Kleine,  am  Boden 
sitzend,  schaut  mit  ihrem  frischen  runden  Gesicht 
und  dem  lebhaften,  naiven  Blick  gerade  aus  dem 
Bilde  heraus,  dabei  einen  großen  Hund  um  den 
Hals  fassend.  »Love  me,  love  my  dog«  steht  als 
Motto  darunter. 

Die  beiden  Namen  Velazquez  und  Murillo  re¬ 
präsentieren  in  einer  stattlichen  Reihe  von  Werken 
die  reichlich  ein  Jahrhundert  ältere  Schule  Spaniens 
auf  der  Höhe  ihres  Ruhmes.  Es  ist  interessant,  bei 
dem  Nebeneinander  von  Porträts  so  verschiedener 
Schulen  zu  beobachten,  daß  das  geistige  Niveau  bei 

den  eben  genannten  eng¬ 
lischen  Malern  ungefähr 
dasselbe  ist,  wie  bei  dem 
großen  spanischen  Por¬ 
trätmaler,  wogegen  die 
äußerliche  Eleganz  eines 
van  Dyck  auch  in  seinen 
besten  Bildern  einer  durch¬ 
schlagenden  Wirkung  nicht 
fähig  ist.  Die  Bilder  der 
genannten  beiden  Spanier 
haben  in  den  Werken 
Justis  eine  so  eingehende 
Würdigung  erfahren,  daß 
jeder,  der  daran  ein  In¬ 
teresse  nimmt,  bei  ihm 
sich  Belehrung  holen 
wird.  Niemand  ist  so 
wie  Justi  in  den  Geist 
des  einen  wie  des  an¬ 
deren  Malers  eingegangen, 
niemandem  ist  es  so 
wie  ihm  gelungen,  die 
Kulturverhältnisse  der  Zeit 
zu  schildern,  welche  die 
spanische  Malerei  zur 
Voraussetzung  haben.  Es 
erübrigt  uns  noch,  einige 
Bemerkungen  anzuschlie¬ 
ßen  über  die  wenigen 
Bilder  der  italienischen  Malerschulen.  Sie  sind 
das  Stiefkind  der  Sammlung.  Mehr  als  ein  Ankauf 
ist  ein  Fehlgriff  gewesen.  Zunächst  Tizian.  Die 
neue  Direktion  hat  recht  daran  getan,  die  kleine 
Skizze  des  Raubes  der  Europa  —  das  Original  ist 
jetzt  in  Boston  —  als  Kopie  zu  stigmatisieren.  Der 
Schaden  sollte  durch  eine  glänzende  Neuentdeckung 
gut  gemacht  werden,  aber  wir  kommen  dabei  nur 
aus  dem  Regen  in  die  Traufe.  Der  Marquis  of  Hert- 
ford  hatte  einmal  ein  großes  Bild,  Perseus  und 
Andromeda  schildernd,  gekauft,  das  von  Waagen  dem 
Paolo  Veronese  zugeschrieben  wurde.  Aber  in  Hert- 
ford  House  hatte  es  Sir  Richard  Wallace  nicht  auf¬ 
gehängt.  Man  weiß  nicht  warum.  Ich  vermute, 
daß  weder  Zeichnung,  noch  Kolorit  ihn  ahnen  ließen, 
daß  der  Pinsel  eines  großen  Venezianers  damit 


J.  REYNOLDS.  MRS.  BRADDYLL 


30 


222 


DAS  WALLACE-MUSEUM  IN  LONDON 


etwas  zu  tun  gehabt  habe^).  Jetzt  hat  diese  große 
Leinwand  einen  Ehrenplatz  in  der  Galerie  gefunden, 
und  der  Katalog  belehrt  uns  darüber,  daß  wir  hier 
ein  Original  von  Tizian  vor  uns  haben.  Im  Vorder¬ 
grund  hängt  die  unglückliche  überlebensgroße  Andro¬ 
meda  an  Ketten,  tänzelnd,  mit  einem  fast  schenkeldick 
geschwollenen  Oberarm.  Die  Meeresfluten  mit  dem 
Ungetüm  sind  ein  theatralisches  Gewirr  von  Spritz¬ 
wellen  von  monoton  grauer  Farbe.  Darüber  schwebt 
Perseus.  Dies  für  ein  Originalwerk  Tizians  zu  er¬ 
klären,  scheint  mir  eine  Häresie  zu  sein.  Aber  ein 
Verdienst  wollen  wir  dem  Entdecker  nicht  bestreiten, 
nämlich  erkannt  zu  haben,  daß  das  Bild  mehr  an 
Tizian,  als  an  Paolo  Veronese  erinnert. 

Kennern  und  Spezialisten  empfehlen  wir  zum 
Studium  die  mehr  pikanten  Entdeckungen  von  Meistern 
zweiten  Ranges  der  oberitalienischen  Schulen  unter 
den  Bildern,  welche  Sir  Richard  Wallace  als  hübsche 
dekorative  Stücke  namenlos  gelassen  hatte.  Kenner 
wie  Morelli-Lermolief  hatten  ihn  darin  noch  bestärkt. 
Von  dem  seltenen  Mailänder  Bramantino  sollen  sich 
nach  dem  neuen  Katalog  hier  zwei  Werke  befinden: 
eines,  »der  junge  Gian  Galeazzo  Sforza  im  Cicero 
lesend«,  ist  eigentlich  eine  Doppelentdeckung;  denn 
ein  authentisches  Porträt  des  genannten  Mailänder 
Prinzen  als  fünfjähriger  Knabe  war,  soviel  ich  weiß, 
bisher  nicht  bekannt.  Die  beiden  neuentdeckten 
Bramantini  hängen  dicht  nebeneinander.  Doch  wer, 
wie  ich,  nicht  einmal  im  stände  ist,  einzusehen,  daß 
dieselbe  Hand  die  beiden  Bilder  gemalt  habe,  der 

i)  Nachdem  Obiges  niedergeschrieben  war,  habe  ich 
in  der  Eremitagegalerie  in  Petersburg  das  schöne  Tizianische 
Bild  mit  dem  gleichen  Gegenstände  gesehen.  Ebendort 
mag  auch  Sir  R.  Wallace  sich  überzeugt  haben,  daß  sein 
Ankauf  ein  Fehlgriff  gewesen  war. 


tut  besser,  hier  zu  schweigen.  Andere  problematische 
Neubenennungen  werden  Kennern  sicher  nicht  beim 
Besuch  der  Sammlung  entgehen.  Die  Mailänder 
Schule  ist  zweifellos  glänzend  vertreten  in  zwei  echten 
und  vortrefflich  erhaltenen  Tafelbildern  von  Luini, 
beide  die  Jungfrau  mit  dem  Kinde  darstellend,  eines 
aus  seiner  leonardesken  Zeit,  ein  Hauptwerk,  von  dem 
es  viele  Schulwiederholungen  gibt,  und  ein  in  der 
Komposition  mehr  einfaches  Jugendwerk  von  un¬ 
gewöhnlich  hellem  Farbton. 

So  häufig  in  England  Bilder  Luinis  anzutreffen 
sind  —  häufiger  als  in  Mailand  — ,  so  selten  sind 
da  die  Werke  des  Andrea  del  Santo,  von  dem  hier 
ebenfalls  ein  Original  in  sehr  guter  Erhaltung  vor¬ 
handen  ist;  wieder  ein  Madonnenbild  mit  dem  Christ¬ 
kind,  dem  Johannesknaben  und  zwei  Engeln. 

Dekorative  Ansichten  von  Venedig  von  der  Hand 
des  Bernardo  Belotto  oder  Canaletto  es  sind  deren 
nicht  weniger  als  achtzehn  füllen  einen  ganzen 
Saal  der  Sammlung  in  Zusammenstellung  mit  neun 
ähnlichen  Ansichten  von  Guardi.  Wem  noch  Zweifel 
darüber  bestehen,  welcher  von  beiden  der  größere 
Künstler  gewesen  sei,  dem  werden  sie  hier  wohl 
schwinden.  Beleuchtungseffekte,  unmittelbare  Be¬ 
obachtung  und  Fixierung  des  Momentanen  in  den 
zahlreichen  Figuren,  und  der  Reiz  poetischer  Auf¬ 
fassung  des  Geschauten  fehlen  bei  Guardi  niemals. 

Obwohl  das  italienische  Quattrocento  nicht  in  der 
Geschmacksrichtung  des  sammelnden  Lords  gelegen 
war,  so  hat  doch  ein  repräsentatives  Hauptwerk  des 
Cima  da  Conegliano  hier  Aufnahme  gefunden. 
Zwischen  einem  Murillo  und  einem  Velazquez 
hängend,  ist  diese  heilige  Katharina  von  Alexandrien, 
mit  ihrem  überzeugten  Ernst  den  Blick  gen  Himmel 
richtend,  ein  gar  fremdartiger  Gast  aus  einer  anderen 
Welt.  J.  PAUL  RICHTER. 


ANTOINE  WATTEAU.  MUSIKALISCHE  UNTERHALTUNG 


Abb.  1.  Studie  von  W.  Hottenroth 


WOLDEMAR  HOTTENROTH 


WOLDEMAR  HOTTENROTH  ist  am  20.  August 
1802  als  drittes  von  sieben  Geschwistern  in 
Blasewitz  bei  Dresden  geboren.  Sein  Vater 
Franz  Aloys,  welcher  aus  einer  ziemlich  begüterten 
Familie  stammte,  denn  seit  langer  Zeit  war  sie  im 
Besitz  ansehnlicher  Pulvermühlen  in  Zwenkau  und 
Bautzen,  bekleidete  als  Jurist  die  Stelle  eines  Aktuarius 
im  Kloster  Marienstern  in  Sachsen,  bis  er  diese 
aufgab  und  das  Stadtgut  in  Blasewitz  erwarb,  um 
sich  ganz  der  Landwirtschaft  zu  widmen.  Vater 
Hottenroth  hatte  einen  sanften,  liebenswürdigen  Cha¬ 
rakter  und  eine  alles  hintansetzende  Liebe  zur  Natur, 
die  ihn  hinaustrieb  in  Wald  und  Flur,  um  dort  zu 
zeichnen  und  in  Wasserfarben  zu  malen.  Diese  Eigen¬ 
schaften  haben  sich  auf  den  Sohn  vererbt.  Seine 
Mutter  josepha  geborene  Bussetti  war  mit  ihren 
Eltern  aus  Ralo  bei  Trient  nach  Dresden  über¬ 
siedelt,  woselbst  ihr  Vater  Antonio  italienischer  »Kauf¬ 
und  Handelsherr«  war.  Er  besaß  im  »italienischen 
Dörfchen«  ein  kleines  Haus  mit  einem  Gärtchen  und 
hier  war  Woldemar,  der  Liebling  der  viel  italienisch 
sprechenden  Großmutter,  oft  zu  Besuch.  Von  der 
Mutter,  welche  sehr  musikalisch  war,  Klavier  und 
Harfe  besonders  gut  spielte,  hatte  Woldemar  seine 
musikalische  Begabung  und  seine  Liebe  zur  Musik. 
Aber  auch  ein  Tröpflein  heißen  italienischen  Blutes, 
welches  —  allerdings  äußerst  selten  und  nur  bei 
ganz  besonderen  Ereignissen  —  anfing  zu  kochen. 

Franz  Aloys  scheint  indessen  mit  der  Landwirt¬ 
schaft  kein  rechtes  Glück  gehabt  zu  haben,  denn  er 
verkaufte  bald  sein  Anwesen  für  einen  billigen  Preis 
und  siedelte  mit  dem  zusammengeschmolzenen  kleinen 
Vermögen  nach  Dresden  ins  italienische  Dörfchen  über. 
Er  erhielt  eine  niedere  Hofbeamtenstelle,  welche  ihm 
einige  hundert  Taler  jährlich  einbrachte.  Die  Kriegsnot, 


welche  über  Sachsen  durch  Napoleon  1.  hereingebrochen 
war,  verschlang  nach  und  nach  das  Vorhandene,  so 
daß  nach  dem  Tode  der  Großmutter  Bussetti  die 
Familie  Hottenroth  in  eine  äußerst  bedrängte  Lage 
kam  und  in  eine  vierte  Etage  einer  engen  Straße 
Alt-Dresdens  übersiedeln  mußte.  Von  hier  aus  be¬ 
suchte  Woldemar  die  am  »Zwinger«  gelegene  katho¬ 
lische  Schule  und  hier  entwickelte  sich  die  Freund¬ 
schaft  mit  seinem  Schulkameraden  Ludwig  Richter. 
Der  Tummelplatz  der  Schuljugend  war  der  Zwinger¬ 
wall  und  manche  »Schlacht«  mag  hier  unblutig  ge¬ 
schlagen  worden  sein  zwischen  den  »flachsköpfigen 
Kameraden  und  den  schwarzlockigen  Halbitalienern, 
die  als  »Juden«  oder  »verhungerte  Franzosen«  ange¬ 
sprochen  wurden.  Im  Sommer  ging’s  hinaus  in  die 
Dresdener  Heide  und  während  der  Vater  die  kleinen 
Kaskaden  der  kristallhellen  Priesnitz  zeichnete,  fing 
Woldemar  mit  seinen  Brüdern  und  Gespielen  Schmetter¬ 
linge.  Sorgfältig  aufgespannt,  wurden  dieselben  dann 
zu  Hause  in  Wasserfarben  gemalt.  Es  ist  bewunderns¬ 
wert,  mit  welcher  Genauigkeit  der  Beobachtung  und 
mit  welchem  Geschick  diese  ersten  Zeichen-  und  Mal¬ 
versuche  ausgeführt  sind.  Die  Sammlung  gemalter 
Schmetterlinge  ist  bis  an  200  Stück  angewachsen. 
Sie  befindet  sich  in  Privatbesitz. 

Die  Herrschaft  Napoleons  in  Dresden  mit  ihrer 
Pracht  und  ihren  Greueltaten  hat  einen  tiefen  Ein¬ 
druck  auf  das  Gemüt  des  elfjährigen  Woldemar  ge¬ 
macht,  denn  die  Schilderungen  derselben,  die  Schlacht 
bei  Dresden,  die  Sprengung  der  Elbbrücke,  die  Hungers¬ 
not,  der  Einzug  der  Russen  nach  der  Schlacht  bei 
Leipzig  usw.  füllen  einen  breiten  Raum  seiner  späte¬ 
ren  Niederschriften  aus. 

So  war  denn  die  Zeit  gekommen,  wo  die  Kinder 
ans  Geldverdienen  denken  mußten.  Woldemar  sollte 


30 


224 


WOLDEMAR  HOTTENROTH 


zu  einem  Sattler  in  die  Lehre  kommen,  während  sein 
jüngerer  Bruder  Edmund  als  Lehrling  in  ein  Seiden¬ 
warengeschäft  eintrat.  Die  unbezwingliche  Liebe  zur 
Kunst  aber,  welche  nach  und  nach  Woldemars  ganzes 
Sein  und  Denken  erfüllt  hatte,  trug  den  Sieg  davon 
und  er  bezog  1817  die  Malerakademie  in  Dresden. 
Edmund  gab  auch  bald  seine  Kaufmannslaufbahn  auf 
und  folgte  seinem  künstlerischen  Triebe,  welcher  ihn 
später  zu  einem  geschätzten  Landschaftsmaler  machte. 
Bald  war  Woldemars  Können  soweit  vorgeschritten, 
daß  er  sich  durch  Zeichenstunden  etwas  verdienen 
konnte,  bald  auch  sehnte  er  sich  nach  einem  »Winkel, 
in  dem  er  seine  Lieblingslektüre:  Homer,  Tasso  und 
Ariost  und  die  über  alles  geliebte  Guitarre  ungestört 
zur  Hand  nehmen  konnte«.  Mit  einem  des  Humors 
nicht  entbehrenden  Akte 
verließ  er  das  Elternhaus 
und  mietete  sich  bei  der 
Mutter  eines  Studiengenos¬ 
sen  ein.  »Sehr  geheimnisvoll 
ging  ich  mit  meinem  Plane 
um.  Eines  Abends,  als 
niemand  zu  Hause  war,  ließ 
ich  mein  Bett  und  meine 
wenigen  Habseligkeiten  in 
mein  ermietetes  Stübchen 
schaffen.  Die  erstaunten 
Eltern  fanden  bei  ihrer 
Rückkehr  nach  Hause,  dort 
wo  mein  Bette  gestanden, 
einen  Zettel  am  Eioden 
liegen,  worauf  geschrieben 
stand:  ,äußere  Rampische 
Gasse  Nr.  2g,  dritter  Stock“ 

-  meine  Adresse.«  —  Die 
Studienjahre  auf  der  Aka¬ 
demie  fanden  1828  ihren 
Abschluß,  als  Hottenroth 
ein  Reisestipendium  nach 
Paris  für  ein  Bild  erhal¬ 
ten,  zu  welchem  ihn  eine 
Strophe  aus  dem  »befrei¬ 
ten  Jerusalem«  begeistert 
hatte.  »Erminia  bei  dem 
korbflechtenden  Hirten«  ist 
aus  der  Schule  Matthäis  entstanden;  dieser  Einfluß 
ist  unverkennbar. 

Und  nun  ging’s  hinaus  in  die  Welt!  Mit  Ränzel 
und  Wanderstab  und  einem  fröhlichen  Liede  und  dem 
Segen  der  Eltern.  Größtenteils  zu  Fuß,  nur  bei  billi¬ 
gen  Gelegenheiten  die  Diligence  benutzend,  führte 
der  Weg  unseren  Wanderer  über  Hof,  Bayreuth,  Bam¬ 
berg,  Nürnberg  nach  Augsburg.  Mit  offenem  Auge 
hat  Woldemar  das  Land  mit  seinen  Naturschönheiten 
und  die  Städte  mit  ihren  Kunstschätzen  durchstreift. 
Manch  schöne  Zeichnung  ist  zum  Vater  nach  Dresden 
geschickt  worden,  um  dem  Generaldirektor  der  Aka¬ 
demie  vorgelegt  zu  werden,  welcher  über  das  Tun 
und  Treiben  des  Stipendiaten  genauen  Bericht  ver¬ 
langte.  Diese  Zeichnungen  wurden  dann  meist  vom 
Kunsthändler  Arnold  angekauft.  Von  Augsburg  ging’s 


nach  München  und  dann  mit  einem  Dresdener  Freund, 
dem  Blumenmaler  Starke,  hinein  »ins  Tirol«:  über 
Mittenwald  nach  Innsbruck  und  über  Achensee  zurück 
nach  München.  Nach  einigen  Tagen  Aufenthalt  da¬ 
selbst,  bei  welcher  Gelegenheit  Cornelius  sich  außer¬ 
ordentlich  lobend  über  die  schönen  Zeichnungen  in 
Woldemars  Skizzenbüchern  aussprach,  wurde  die  Wan¬ 
derung  fortgesetzt  über  Ulm,  Stuttgart,  Heilbronn  und 
Heidelberg.  Hier  machte  Woldemar  die  Bekanntschaft 
eines  wohlhabenden  Herrn,  welcher  versprach,  den 
jungen  Maler  unentgeltlich  mit  nach  Köln  zu  nehmen, 
wenn  er  dort  das  Porträt  seiner  Frau  malen  wolle. 
Ohne  Zögern  wurde  eingewilligt  und  der  Umweg 
über  Frankfurt — Mainz  angetreten,  um  von  da  mit 
dem  ersten  Rheindampfer  »Concordia«  nach  Köln 

weiter  zu  reisen.  Welchen 
Eindruck  Tirol  und  der 
Rhein  auf  den  jungen 
Künstler  gemacht  hat,  mö¬ 
gen  seine  eigenen  Worte 
schildern.  Er  schreibt  seinem 
Bruder:  »O  Edmund,  Ed¬ 
mund!  spare  ja  recht  zu 
einer  Reise  und  weiter  gib 
Stunden  und  spiele  den 
Geizhals,  nur  suche  Geld 
zu  bekommen,  denn  es  ist 
zu  herrlich  in  Tirol,  Schwa¬ 
ben  und  am  Rheine!  Ed¬ 
mund,  denke  ja  allen  Ern¬ 
stes  an  eine  Reise  übers 
Jahr,  denn  es  ist  göttlich\o. 
—  Über  Aachen,  Lüttich 
und  Brüssel  ging  die  Reise 
nach  Paris,  das  Wolde¬ 
mar  Anfang  November  1828 
erreichte. 

Der  Aufenthalt  in  Paris, 
woselbst  unser  Künstler 
in  eine  Malerakademie  ein¬ 
trat,  ist  von  außerordent¬ 
lichen  Einfluß  auf  ihn  ge¬ 
wesen.  Eine  Anlehnung  an 
die  Werke  Ary  Scheffers, 
welche  nicht  der  religiösen 
Sphäre  angehören,  ist  in  dem  später  gemalten  Bilde 
»ein  Gewitter  (Abb.  5)  unverkennbar,  aber  auch 
Horace  Vernet  scheint  Woldemar  beeinflußt  zu  haben. 
Das  in  Paris  entstandene  große  Gemälde  »Macbeth 
und  die  Hexen  ,  welches  von  dem  bekannten  Phil¬ 
hellenen  Eynard  in  Genf  angekauft  und  dem  Museum 
in  Lausanne  einverleibt  wurde,  ist  ganz  im  Charakter 
des  französischen  Meisters  erfaßt  und  behandelt.  Die 
kühne  Reitergestalt  des  Macbeth,  der  sich  sträubende 
Schimmel,  dahinter  die  lebhaft  bewegte  Figur  Banquos 
und  die  aus  glühendem  Erz  gebildet  scheinenden 
Hexen  sind  vorzüglich  in  der  Bewegung  und  Zeich¬ 
nung  und  von  einer  Farbengebung,  welche  gegen 
die  Mal  weise  der  »Erminia«  vorteilhaft  absticht.  Für 
die  Dresdener  Akademische  Ausstellung  malte  Wolde¬ 
mar  ein  Bild:  Leukothea,  dem  ertrinkenden  Odysseus 


ABB.  3.  W.  HOTTENROTH.  BILDNIS  SEINER  GATTIN  ABB.  4.  W.  HOTTENROTH.  ALBANESERINNEN,  GOLDFISCHE  FÜTTERND 


226 


WOLDEMAR  HOTTENROTH 


den  Schleier  reichend«.  Dieses  Bild  trug  ihm  einen 
Zuschuß  zu  dem  bestehenden  Stipendium  ein,  so  daß 
der  Aufenthalt  in  Paris  auf  ein  Jahr  verlängert  wer¬ 
den  konnte.  Auch  fand  Woldemar  Gelegenheit,  durch 
Porträtmalen  und  Kopieren  besonders  beliebter  Bilder 
des  Louvre-  und  Luxembourg-Museums  seine  pekuniäre 
Lage  zu  einer  erträglichen  zu  gestalten.  Es  entstanden 
noch  die  Bilder:  >Simeon  mit  dem  Christuskinde' 
und  Erminia  legt  die  Waffen  Clorindens  an«. 

Der  Drang  aber,  die  Welt  zu  sehen,  trieb  Wol¬ 
demar  zu  einer  kurzen  Reise  über  Rouen  nach  Havre 
und  Anfang  September  1829  wanderte  er  mit  seinem 
Bruder  Edmund,  den  er  mit  den  Worten:  Du 
hättest  es  bei  den  Göttern  zu  verantworten,  wenn  Du 
nicht  kämst  zu  einem  Zusammentreffen  in  Paris 
veranlaßt  hatte,  nach  der  Schweiz.  Über  Basel  führte 
der  Weg  nach  Luzern,  dem  Gotthard,  von  da  über 
Thun,  Vevey,  Lausanne  nach  Genf,  um  nach  einem 
Aufenthalt  daselbst  beim  Herrn  von  Eynard,  dessen 
Neffe  Alfred  in  Dresden  im  Hause  der  Eltern  Hotten- 
roth  verkehrte,  nach  Paris  zurückzukehren. 

Groß  war  Woldemars  Freude,  als  er  die  Nach¬ 
richt  erhielt,  die  Mittel  zu  einer  Reise  und  zu  einem 
längeren  Aufenthalt  in  Italien  wären  ihm  bewilligt 
worden.  So  verließ  er  denn  nach  Ablauf  des  zweiten 
Jahres  Paris,  um  »ins  gelobte  Land  zu  ziehen«.  Über 
Lyon  führte  zunächst  wieder  der  Weg  nach  Genf 
zum  Besuche  seiner  Schwester  Mina,  welche  sich  in¬ 
zwischen  mit  Alfred  Eynard  verheiratet  hatte. 

Im  Oktober  1830  zog  Woldemar  in  Rom  ein! 
Bald  hatte  er  sich  auf  der  Via  Babuino  ein  beschei¬ 
denes  Atelier  gemietet  und  sich  in  der  ewigen  Stadt 
häuslich  eingerichtet.  Wie  für  viele  Künstler  bedeutete 
auch  für  ihn  der  Aufenthalt  in  Italien  —  er  ging 
auch  bald  vorübergehend  nach  Neapel,  Ischia  und 
Capri  -  einen  Umschwung  in  seiner  künstlerischen 
Tätigkeit.  Das  Volksleben  zog  ihn  derart  an,  daß 
von  diesem  Zeitpunkte  an  die  Kompositionen  nach 
historischen  Motiven  fast  ganz  in  den  Hintergrund 
treten.  Mit  glücklicher  Hand  fand  er  im  bunten  Ge¬ 
triebe  des  Landlebens,  im  beschaulichen  Sich-gehen- 
lassen  des  Volkes  am  Strande  des  Meeres,  im  rau¬ 
schenden  Pinienhaine,  in  der  rosenberankten  Villa  mit 
ihren  ernsten  Zypressen,  in  der  olympischen  Ruhe 
der  Campagna  Vorwürfe  für  Zeichnungen  und  Bilder. 
Aus  dieser  Zeit  stammen  unter  anderem  die  Bilder: 

Pilger  vor  Rom«:  andächtig  ist  die  Schar  im  An¬ 
blick  der  ewigen  Stadt  im  Gebet  versunken;  die  hinter 
St.  Peter  untergehende  Sonne  hüllt  die  Figuren  in 
goldenes  Licht  ^  Am  Brunnen '  :  ein  figurenreiches 
Bild  wahrsten  Volkslebens —  Oktoberfest  in  NeapeL  : 
eine  Szene,  welche  ein  Tarantella  tanzendes  Paar  zum 
Mittelpunkte  hat  —  »Überfahrt  in  den  pontinischen 
Sümpfen  :  charakteristisch  in  den  Kostümen  und  vor¬ 
trefflich  in  der  Auffassung  des  Landschaftlichen  -  im 
Aufträge  eines  Lord  Kilmoury  »Dolce  far  niente  : 
eine  weibliche  Figur  in  der  Tracht  einer  Albaneserin, 
welche  in  einer  Laube  sitzend,  dem  Schnäbeln  zweier 
Tauben  zusieht  —  »Schmückung  einer  albanesischen 
Braut  —  »Ausschiffung  von  Reisenden  aus  einer 
Barke  bei  Ebbe  in  Capri  :  ein  Bild,  in  welchem 


Woldemar  seinem  gesunden  Humor  die  Zügel  schießen 
läßt  —  »Albaneserinnen,  Goldfische  fütternd  (Abb.  4) 

im  Aufträge  eines  Fürsten  Demidow  mehrere 
Szenen  aus  dem  römischen  Karneval  und  »die  Fischer¬ 
kinder«:  zwei  kleine  Neapolitaner,  die  am  Strande 
des  Meeres  auf  einem  großen  Stein  sitzen  und  dort 
ihr  Spiel  treiben.  Mit  diesem  Motive  hatte  Woldemar 
Glück,  denn  er  mußte  es  auf  Bestellung  —  mit 
kleinen  Veränderungen  —  wohl  einhalbdutzendmal 
malen.  Die  meisten  dieser  Bilder  wurden  von  durch¬ 
reisenden  Engländern,  Amerikanern  und  Russen  an¬ 
gekauft. 

Es  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  Wolde¬ 
mars  Bilder  aus  dieser  Zeit  sich  an  Werke  Leop. 
Roberts  anlehnen,  doch  sie  haben  eines  unverkennbar 
voraus:  die  außerordentliche  Naturwahrheit  und  Natür¬ 
lichkeit  in  der  Auffassung  der  Volkstypen,  die  nicht 
in  gesuchter  Pose  zu  einem  Bilde  zusammenkom¬ 
poniert  sind,  sondern  bei  aller  Geschlossenheit  der 
Komposition  ungezwungen  sich  zu  bewegen  scheinen 
(Abb.  1).  Hohenroth  hatte  sich  eine  ganz  besondere 
Geschicklichkeit  angeeignet,  Momentaufnahmen',  wie 
ich  es  nennen  möchte,  zu  machen,  und  hierin  liegt 
in  gewissem  Sinne  auch  seine  Bedeutung.  Seine  Öl¬ 
studien  nach  der  Natur:  Volkstypen,  Studienköpfe, 
Landschaften  sind  ganz  vorzüglich  in  Farbe,  Zeich¬ 
nung  und  Auffassung.  Viele  seiner  Bilder,  aus  diesen 
Studien  entstanden,  stehen  an  Frische  und  Originalität 
hinter  diesen  oft  zurück.  Seine  Porträts  haben  bei 
manchmal  etwas  zu  großer  Weichheit  der  Auffassung 
den  großen  Vorteil  der  »verblüffenden«  Ähnlichkeit 
und  des  hellen  und  leuchtenden  Kolorits.  Hier 
sind  unter  anderen  noch  die  Porträts  des  Fürsten 
Demidow  und  der  Gräfin  Potocka  zu  nennen.  Im 
Aufträge  eines  Grafen  Moltke,  der  sich,  von  Kopen¬ 
hagen  kommend,  in  Italien  aufhielt,  malte  Woldemar 
mehrere  Familienporträts,  von  denen  eines  auf  die 
Ausstellung  nach  Dresden  geschickt,  vom  Akademi¬ 
schen  Rate  wie  folgt  beurteilt  wurde:  ...  gleiches 
Anerkenntnis  findet  das  von  Ihnen  eingesendete  Bild, 
namentlich  in  Hinsicht  auf  die  entsprechende  Grup¬ 
pierung  der  drei  Figuren,  die  ganze  sehr  gelungene 
Ausführung  des  älteren  Knaben,  der  Ausdruck  in  den 
Mienen  beider  Kinder  und  sämtlicher  Stoffe  .  (Im 
Besitz  der  Familie  Graf  Moltke  in  Kopenhagen.) 

ln  rastloser  Arbeit  vergingen  die  Jahre.  Italien 
wurde  nach  allen  Himmelsrichtungen  hin  durchstreift 
—  in  die  Berge,  ans  Meer,  nach  Sizilien  —  und  mit 
köstlichen  Studien  füllte  Woldemar  seine  Mappen. 
Im  Aufträge  eines  Grafen  Clouet  malte  er  ein  Altar¬ 
bild:  »Mariä  Verkündigung  für  die  Kirche  in  Nyon 
bei  Genf.  Diesem  Bilde  wurde  die  Weihe  durch  den 
Segen  des  Papstes  Gregor  XVI.  zuteil.  Er  gesteht 
selbst,  daß  ihm  der  heilige  Stoff  etwas  fern  lag'  . 
Dann  reizte  es  ihn,  wieder  einmal  den  Boden  der 
Komposition  zu  betreten  und  es  entstanden  mehrere 
Bilder  aus  Wielands  Oberon,  z.  B.  »Rezia  wird  von 
den  Piraten  geraubt  ,  zu  welchem  Bilde  ihm  die 
Gestade  von  Ischia  die  landschaftliche  Szenerie  lieferten 
und  dem  Schweinehirten  wird  die  Papstwürde  — 
Sixtus  V.  —  geweissagt' .  Im  Verkehr  mit  Thor- 


WOLDEMAR  HOTTENROTH 


227 


waldsen,  Koch,  Overbeck  und  vielen  anderen  Künst¬ 
lern  fand  er  künstlerische  und  geistige  Anregung. 

Im  Herbst  1842  machte  er  die  Bekanntschaft  einer 
vermögenden  Qroßkaufmannswitwe  aus  Hamburg, 
Frau  Willert,  in  deren  Hause  an  der  spanischen 
Treppe  Woldemar  Eintritt  und  gesellschaftlichen  Ver¬ 
kehrfand.  Die  liebreizende,  echt  weibliche  und  hoch¬ 
gebildete  Tochter  des  Hauses,  Agnes,  hatte  es  ihm 
bald  angetan  und  bei  Gelegenheit  des  Malens  ihres 
Porträts  in  der  Tracht  einer  Albaneserin  (Abb.  3)  ver- 


geschienen.  Nur  einmal  trübte  sich  der  Himmel,  als 
im  Jahre  1853  während  eines  zweiten,  mehrjährigen 
Aufenthaltes  in  Rom  der  älteste  Sohn  starb  und  dicht 
neben  der  Pyramide  des  Cajus  Cestius  seine  letzte 
Ruhestätte  fand.  Kurz  vorher  war  in  Rom  die  zweite 
Tochter,  Roma,  geboren.  —  Woldemar  übersiedelte 
1843  nach  Hamburg,  woselbst  er  nach  seiner  Ver¬ 
heiratung  mit  seiner  Familie  einige  Jahre  blieb.  Aus 
dieser  Zeit  stammen  hauptsächlich  landschaftliche 
Studien  vom  alten  Hamburg  und  dessen  Umgegend 


ABB.  5.  W.  HOTTENROTH.  DAS  GEWITTER 


lobte  er  sich  mit  ihr.  Auch  bei  diesem  wichtigen 
Schritte  lächelte  der  liebenswürdige  Humor,  den 
Woldemar  sich  bis  an  sein  Lebensende  bewahrte, 
durch  die  ernste  Situation:  er  hatte  Agnes  zu  besserer 
Beleuchtung  auf  einem  erhöhten  Stuhl  in  seinem 
Atelier  Platz  nehmen  lassen,  von  welchem  sie  nach 
beendeter  Schlußsitzung  nicht  allein  herabsteigen 
konnte.  Er  reichte  ihr  nicht  eher  seine  helfende 
Hand,  als  bis  Agnes  ihm  versprochen,  ihm  die  ihre 
fürs  Leben  zu  geben.  In  diese  fast  fünfzigjährige 
Ehe,  welcher  zwei  Söhne  und  drei  Töchter  entsprossen, 
hat  fast  ohne  Unterbrechung  die  Sonne  des  Glücks 


und  der  Kopf  eines  armenischen  Geistlichen  (Kunst¬ 
halle  in  Hamburg),  viele  von  Privatpersonen  bestellte 
Porträts,  von  denen  besonders  sein  Selbstporträt  im 
Kreise  von  Weib  und  Kindern  hervorgehoben  werden 
muß.  Es  zeichnet  sich  durch  geschickte  Grup¬ 
pierung  und  Frische  der  Farbe  aus.  Von  Hamburg 
unternahm  er  mehrere  Reisen,  nach  Paris,  England 
und  Schottland,  und  1854  kehrte  er  mit  seiner  Familie 
endgültig  in  die  Heimat  nach  Dresden  zurück.  Das 
seltene  Fest  der  goldenen  Hochzeit  seiner  bejahrten 
Eltern  fixierte  er  durch  ein  reizendes  Doppelporträt 
des  Jubelpaares  (Privatbesitz). 


228 


WOLDEMAR  HOTTENROTH 


Während  der  Wintermonate  wohnte  Waldemar 
mit  seiner  Eamilie  in  Dresden,  im  Sommer  auf  seinem 
idyllischen  Landsitze  in  Wachwitz,  und  hier  hat  er 
sein  Q2.  Lebensjahr  erreicht.  Der  schöne  alte  Mann 
war  noch  fast  bis  an  sein  Lebensende  künstlerisch 
tätig  und  wenn  auch  aus  seiner  letzten  Schaffens¬ 
periode  nicht  viel  Nennenswertes  zu  erwähnen  ist,  so 
hat  er  doch  eine  große  Eülle  flott  hingeworfener 
landschaftlicher  Studien  gemacht  und  das  Landleben 
bot  manchen  Stoff  zu  humorvollen  Impromptus.  Außer¬ 
ordentlich  sinnig  ist  ein  1861  entstandenes  Bild  auf¬ 
gefaßt,  welches  in  Lebensgröße  der  Figuren  den  Hei¬ 
land  darstellt,  wie  er  aus  Wolken  tretend  und  von 
einem  Regenbogen  überstrahlt  die  Kinder  des  Künst¬ 
lers  segnet.  Mit  Blumen  und  Früchten  spielend  sind 
die  frischen  Kindergestalten  in  den  unteren  Teil  des 
Bildes  sehr  geschickt  hineinkomponiert.  Ganz  be¬ 
sonders  lebhaft  in  der  Komposition  ist  ein  Fries  länd¬ 
licher  Gestalten,  der  für  die  Giebelseite  seines  Land¬ 
hauses  bestimmt  war,  aber  nicht  zur  Ausführung  kam. 

ln  seinem  malerischen  Sommersitze  fanden  sich 
häufig  Künstler  aller  Art  ein:  Ignaz  Moscheies,  Wil¬ 
helm  Friedrich,  Wolf  Graf  Baudissin,  sein  Jugend¬ 
freund  Münzgraveur  Krüger  (»der  Einsiedler  von 
Loschwitz«,  wie  ihn  Ludw.  Richter  verewigt  hat), 
Robert  Waldmüller,  Carl  Schlüter,  Hermann  Prell 
und  viele  andere,  und  im  ungezwungenen  Verkehr 
bildete  das  Landhaus  Hottenroth  einen  gewissen  Mittel¬ 
punkt  für  die  Künste,  in  dem  die  Musik  —  die  alte 
Guitarre  aus  der  Jugendzeit!  —  auch  nicht  stiefmüt¬ 
terlich  behandelt  wurde. 

1892  war  Agnes  gestorben.  Der  fast  neunzig¬ 
jährige  silberlockige  Greis  stand  an  ihrer  Bahre  mit 
den  oft  wiederholten  Worten:  »Wie  schön  sie  aus¬ 
sieht! 

Dann  ging  auch  seine  Wanderung  zu  Ende!  Ohne 


eigentlich  krank  gewesen  zu  sein,  entschlummerte  er 
in  Wachwitz  am  6.  September  1894.  Der  sinkende 
Sonnenball  grüßte  noch  einmal  durch  das  geöffnete 
Fenster  herein  sein  letztes  Lager  und  füllte  seine 
Sterbekammer  mit  einem  rosigen  Scheine.  Vom  Dorfe 
her  erklangen  die  feierlichen  Töne  einer  konzertieren¬ 
den  Kapelle:  Wagners  Pilgerchor.  Unter  solch  poeti¬ 
schem  und  stimmungsvollem  Beiwerk  endete  eines 
Künstlers  Erdenwallen.  — 

Blicken  wir  zum  Schluß  noch  einmal  zurück  auf 
Woldemar  Hohenroths  Bedeutung  als  Künstler,  so 
müssen  wir  gestehen,  daß  er  nicht  zu  den  »Führen¬ 
den«  seiner  Zeit  gehört  hat.  Seine  Anlehnung  an 
berühmte  Vorbilder  wurde  schon  erwähnt.  Aber  da¬ 
durch  soll  sein  Können  nicht  geschmälert  werden, 
beileibe  nicht!  ln  einem  Zweige  seiner  Kunst  ist  er 
durchaus  selbständig:  in  der  Landschaft.  Die  mir  vor¬ 
liegenden  Studien  aus  der  jünglingszeit  sind  von 
einer  Naturwahrheit  und  trotz  der  Ausführung  mit 
dem  härtesten  Bleistift  von  einer  überraschenden  ma¬ 
lerischen  Wirkung. 

Vielen  der  Leser  wird  Woldemar  Hottenroth  kaum 
dem  Namen  nach  bekannt  gewesen  sein,  noch  weni¬ 
ger  seine  Werke.  Das  ist  unter  anderem  auch  dem 
Umstande  zuzuschreiben,  daß  seine  Hauptschaffens¬ 
periode  60  Jahre  zurückliegt,  seine  Bilder  meist  ins 
Ausland  gewandert  sind  und  daß  die  zweite  Hälfte 
seines  Lebens  keine  schäumenden  Wogen  schlug, 
sondern  wie  ein  ungetrübtes  Bächlein  durch  blühende 
Auen  floß.  Wer  Hohenroths  Studien  durchblättert, 
findet  bei  außerordentlicher  Vielseitigkeit  herrliche 
Früchte  eines  großen  Talentes,  und  wer  das  Glück 
gehabt  hat,  ihm  als  Mensch  näher  zu  stehen,  der 
wird  den  Zauber  seiner  herzgewinnenden  Liebens¬ 
würdigkeit,  seinen  feinen  Humor  und  den  Glanz 
seines  schönen  Auges  nie  vergessen.  y.  //. 


ABB.  6.  STUDIE  VON  W.  HOTTENROTH 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion :  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


w 


V 


ORIGINAL-FARBENHOLZSCHNITT  VON  HANS  NEUMANN  JR. 


KARL  ZIEGLER.  SELBSTBILDNIS.  BUDAPEST,  NATIONALOALERIE 


AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  KARL  ZIEGLERS  IM 
KAISER  FRIEDRICH-MUSEUM  ZU  POSEN 


Der  Versuch,  durch  Einrichtung  von  Samm¬ 
lungen  einer  kunstarmen  Provinz  zu  Hilfe  zu 
kommen,  wie  er  unlängst  von  der  preußischen 
Staatsregierung  in  Posen  unternommen  wurde,  wird 
je  nach  dem  Standpunkt  der  Prognostizierenden  ver¬ 
schieden  beurteilt  werden.  Die  Vorstellung  aber,  daß 
ein  Museum  im  landläufigen,  überkommenen  Stil 
alsobald  ein  Geschlecht  von  Kunstfreunden  aus  dem 
spröden  Boden  stampfen,  eine  Erweckung  aller 
künstlerischen  Anlagen  und  ein  Gelingen  aller  künst¬ 
lerischen  Unternehmungen  erzielen  könne,  wird  sicher¬ 
lich  den  meisten  Sachkundigen  von  heute  als  eitler 
Wahn  gelten.  Solche  Kulturaufgaben  verlangen  un¬ 
gewöhnliche  Gunst  der  Verhältnisse:  reiche  Mittel, 
geeignete  Persönlichkeiten,  die  sich  ihnen  mit  zäh 
ausdauerndem  Fleiß  widmen,  und  —  auch  dann  noch 
—  dreimal  Geduld  auf  Seite  der  Schaffenden,  der 
Genießenden,  der  Beurteilenden.  Das  Bestreben,  die 
bildende  Kunst  zum  Sauerteig  deutschen  Lebens  zu 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  tj 


machen,  wird  nur  dann  auf  Erfolg  rechnen  können, 
wenn  unsere  neu  eingerichteten  Museen  nicht  aus¬ 
schließlich  Grabkammern  und  Hamsterbauten  alter, 
sondern  auch  Heimstätten  lebender  Kunst  zu  sein  den 
Ehrgeiz  besitzen.  Anschluß  zu  suchen  an  die  Fragen, 
die  im  Kunstleben  der  Gegenwart  heftig  umstritten 
werden,  sie  zum  Brennpunkt  der  öffentlichen  Diskussion 
zu  machen,  das  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
provinzieller  Kunstanstalten,  die  vor  denen  unserer 
Hauptstädte  den  Vorzug  haben,  daß  ihre  Besucher 
solchen  Fragen  mehr  Muße  und  Unbefangenheit  zu¬ 
wenden  können  als  die  abgehetzten,  jeden  Tag  durch 
neue  Sensationen  bedrängten  und  verwirrten  Gro߬ 
städter. 

Aus  diesen  Gründen  wurde  im  Obergeschoß  des 
Posener  Kaiser  Friedrich-Museums  ein  zentral  gelegener 
Oberlichtraum  zur  Aufnahme  wechselnder  Ausstellungen 
bestimmt,  deren  Veranstaltung  den  Besuch  auch  der 
stabilen  Sammlungen  heben  und  das  Interesse  des 


31 


230 


AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  KARL  ZIEGLERS 


kunstfreundlichen  Publikums  andauernd  wachhalten 
und  an  das  Museum  ketten  soll.  Eine  Ausstellung 
von  Entwürfen  und  Erzeugnissen  moderner  Wohnungs¬ 
kunst  -  insbesondere  aus  dem  Nachlaß  Patriz  Hubers, 
der  kurz  vor  seinem  allzu  frühen  Tode  sich  mit  einem 
Projekt  für  eine  Villenvorstadt  Posens  beschäftigt 
hatte  —  führte  die  Besucher  des  am  5.  Oktober  1904 
eröffneten  Museums  von  der  stillen  Beschaulichkeit 
der  Betrachtung,  wie  sie  in  den  historisch  geweihten 
Räumen  der  Raczynskigalerie  am  Platze  ist,  vor  die 
brennenden  Fragen  der  Ausgestaltung  unseres  modernen 
Heims  und  weckte  auch  bei  bisher  Gleichgültigen 
und  Überklugen  manche  neue  Überlegung,  die 
hoffentlich  Frucht  tragen  wird.  Die  darauf  folgende 
Ausstellung  von  Gemälden  und  Studien  Karl  Zieg¬ 
lers  stellte  sodann  das  Posener  Kunstpublikum  vor 
die  ziemlich  ungewohnte  Aufgabe,  sich  mit  einem 
malenden  Heimatgenossen  zu  beschäftigen.  Sie  ver¬ 
dient  auch  außerhalb  der  Mauern  Posens,  in  denen 
Ziegler,  der  von  dem  preußischen  Kultusministerium 
für  diesen  künstlerischen  Vorposten  ausersehen  wurde, 
seit  Oktober  1904  sein  Heim  aufgeschlagen  hat, 
Beachtung,  weil  sie  zum  erstenmal  in  einem  wür¬ 


digen  Rahmen  vereinigte,  was  der  glücklicher¬ 
weise  nicht  mehr  auf  Posener  Nachruhm  An¬ 
gewiesene  in  der  verhältnismäßig  kurzen  Zeit 
seines  Schaffens  hervorgebracht  hat. 

Die  Kritik  hat  Karl  Ziegler,  der  am  7.  De¬ 
zember  1866  in  dem  siebenbürgischen  Städt¬ 
chen  Schäßburg  geboren  und  in  Berliner 
akademischen  Ateliers  —  incredibile  dictu  — 
zum  Künstler  erzogen  wurde,  seit  seinem 
ersten  Auftreten  1895  immer  mit  einem  ge¬ 
wissen  Wohlwollen  behandelt,  aber  sich  nicht 
die  Mühe  genommen,  dem  Wesen  seiner 
Kunst  ernster  nachzuspüren.  Das  sei  bei 
dieser  Gelegenheit,  wo  etwa  dreißig  Werke 
seiner  Hand  und  die  Ruhe  der  Umgebung 
dazu  einladen,  nachgeholt. 

Das  Ziel  seines  Strebens  kündet  sich  viel¬ 
leicht  in  keiner  Arbeit  deutlicher  an,  als  in 
dem  unter  dem  Motto  »Andante«  1895  in 
Berlin  ausgestellten  und  damals  mit  fast  un¬ 
gläubigem  Staunen  als  Werk  eines  Berliner 
Akademikers  begrüßten  Bilde,  das  seine  beiden 
Schwestern,  im  Schatten  des  heimatlichen  Pfarr¬ 
gartens  sich  ergehend,  darstellt  (Abb.S.  231).  Zwei 
Töchter  eines  siebenbürgischen  Landpfarrers 
von  ihrem  —  anfangs  auch  der  Pfarrerlauf¬ 
bahn  zusteuernden  —  Bruder  belauscht  und 
gemalt,  sind  hier  mit  einer  Empfindungstiefe, 
wie  sie  nur  wenigen  ganz  keuschen  Künstler¬ 
gemütern  eigen  ist,  und  einer  ungewöhnlichen 
Größe  der  Formenauffassung  zu  unvergeßlichen 
Gestalten  umgewandelt.  Man  möchte  anfangs 
von  Stil,  von  Anempfinden  an  englische  prä- 
raffaelitische  Vorbilder  sprechen,  und  doch 
drängt  immer  wieder  die  schlichte,  aus  sich 
selbst  geborene  Feinsinnigkeit  und  Eigenkraft 
solche  vergleichende  Betrachtung  zurück.  Man 
liebt  es  ja  heute,  den  Malern  ihre  Farbenwerte, 
Komposition  und  Linienführung  —  wie  in  den  Tagen 
der  Eklektiker  —  vorzurechnen  und  zu  zerfasern,  je¬ 
doch  ein  Kunstwerk,  das  nur  zu  solcher  Schnüffelei 
auffordert,  ist  vielleicht  ein  gutes  Demonstrations¬ 
objekt,  niemals  aber  läßt  es  sich  mit  Schöpfungen  in 
eine  Reihe  stellen,  deren  nachhaltiger  Eindruck  auf 
unmittelbarer  Anschauung  des  Ganzen  ruht.  Als  eine 
solche  Schöpfung  empfinde  ich  Zieglers  »Andante«. 

»Andante  con  sentimento«  dürfte  auch  die  beste 
Tempobezeichnung  für  seine  ganze  Künstlerarbeit  sein. 
Wer  ein  Allegro  con  brio  vorzieht,  wird  ihr  vielleicht 
vorschnell  den  Rücken  kehren,  von  Trägheit  des  Tem¬ 
peraments,  Empfindsamkeit,  Zaghaftigkeit  und  Glätte 
des  malerischen  Vortrags  sprechen.  Noch  andere 
Vorwürfe  könnten  Unbesonnene  vor  Zieglers  Bildern 
erheben,  ln  den  letzten  Jahren  seines  Berliner  Auf¬ 
enthalts  hat  der  Zufall  es  gefügt,  daß  er  den  Aus¬ 
stellungsbesuchern  meist  als  Maler  weiblicher  Eleganz 
erschien.  Sein  großes  Können  auf  diesem  Gebiet 
wurde  von  vielen  nur  allzulebhaft  anerkannt,  von 
andern  als  hohle  Virtuosität  abgetan.  Er  ist  aber 
weder  ein  selbstgefälliger  Virtuos,  noch  ein  kraftloser 
Süßling,  vielmehr  ein  mannhafter  ehrlicher  Künstler 


3' 


KARL  ZIEGLER 

ANDANTE.  POSEN,  KAISER  FRIEDRICH-.MUSEL'M  BILDNIS  DER  GATTIN  DES  BILDHAUERS  WENCK 


232 


AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  KARL  ZIEGLERS 


KARL  ZIEGLER.  BILDNIS  SEINES  VATERS 


mit  ernsten  Ansprüchen  an  sich  und  seine  Kunst,  mit 
weitem  und  sicherem  Filick,  heißem  Bemühen  und 
gerechtem  Selbstbewußtsein,  das  Bescheidenheit  in 
der  Beurteilung  anderer  niemals  ausschließt.  Daß  ein 
Maler,  der  lange  Zeit  von  Porträtaufträgen  leben 
mußte,  gelegentlich  seine  Arbeit  als  Pflichtleistung 
auffaßt,  daß  gleichgültige  Aufgaben  auch  ihn  gleich¬ 
gültig  lassen,  ist  so  natürlich,  daß  man  darüber  kein 
Wort  verlieren  sollte. 

Zieglers  malerische  Gewandtheit  erhellt  vielleicht 
am  besten  aus  dem  Bildnis  eines  Studenten  in  höheren 
Semestern,  das  er  —  einen  zufälligen  Atelierbesuch 
benutzend  —  mit  der  verblüffenden  Faustfertigkeit  eines 
Anders  Zorn  hingestrichen  hat,  unbesorgt  um  Pose  und 
malerische  Haltung  (Abb,  S.  233).  Die  Modellierung  des 
von  zahlreichen  Schmissen  bedeckten  Schädels,  die 
Schärfe  im  Blick  und  Ausdruck  des  Gesichts,  die 
Flottheit  des  Beiwerks  erhärten  zur  Genüge  die  Fähig¬ 
keit  des  Malers,  das  Wesentliche,  Kennzeichnende  einer 
Persönlichkeit  schnell  zu  erfassen  und  festzuhalten. 
Eine  Improvisation,  die  trotz  aller  Flüchtigkeit  den 
Beschauer  nicht  nur  im  Augenblick  frappiert,  sondern 
innerlich  fesselt,  zeugt  stets  für  ihren  Urheber. 

Der  Studienkopf  eines  kränklichen  blonden  Knaben 
(Abb.  S.  230)  —  ebenfalls  eine  Gelegenheitsarbeit  aus  dem 
Jahre  1892  —  gibt  uns,  wie  im  Auszuge,  die  andere 
Hälfte  der  Begabung  Zieglers;  die  Feinheit  seines  Far¬ 


bengefühls.  In  einer  ganz  kurzen  Skala  von  grauen  und 
gelbbraunen  Tönen  ist  hier  feinste  malerische  Stimmung 
erzielt,  die  mit  der  breiten  sorglosen  Pinselführung 
merkwürdig  kontrastiert.  Dazu  ein  rührender,  weil 
unbewußter,  Ausdruck  des  Empfindens  in  dem  rachi¬ 
tisch  verquollenen  Antlitz,  der  uns  zur  Anteilnahme 
am  Unerquicklichen  reizt  wiederum  eine  untrüg¬ 
liche  Kunstkraftprobe. 

Das  ernste  Erfassen  eines  Vorwurfs,  wie  ihn  die 
Gestalt  seines  Vaters  in  siebenbürgischer  Pastorentracht 
dem  Sohne  bot,  begreift  sich  aus  dem  besonderen  Anlaß 
(Abb.  S.  232).  Freilich  steht  die  Lebhaftigkeit  des  Kopfes 
in  merklichem  Gegensatz  zu  der  lässigen  Haltung; 
man  möchte  meinen,  die  Aktivität  des  Dargestellten 
komme  nicht  voll  zum  Ausdruck.  Das  Brustbild  einer 
seiner  Schwestern  in  roter  Bluse  und  dunklem 
Hut  besitzt  dagegen  Qualitäten,  deren  Keim  immer 
wieder  im  Nachempfinden  zartester  Seelenregung  zu 
suchen  ist.  —  Und  doch  wird  unser  Maler  das  innere 
Leben  seiner  Modelle  niemals  unzart  entblößen,  er 
gibt  dem  Bildnis  einen  Zug  von  Geschlossenheit  und 
Vornehmheit,  der  jede  indiskrete  Frage  abweist.  Dies 
Einschmelzen  der  dargestellten  Persönlichkeit  in  eine 
künstlerisch  -  —  und  nur  künstlerisch  —  fesselnde  Ge¬ 
stalt,  die  uns  mehr  vom  Maler  und  seinen  Empfin¬ 
dungen,  als  von  ihren  eignen  Schicksalen  erzählt,  hat 
fast  etwas  Klassisches,  was  allmählich  wieder  als  Vor- 


AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  KARL  ZIEGLERS 


233 


zug  empfunden  wird.  Es  braucht  hier  ja  nicht  erst 
feierlich  festgestellt  zu  werden,  daß  unsere  Zeit  aus 
dem  Übermut  revolutionärer  Schaumschlägerei  in 
stille  Selbstbesinnung  zurückzusteuern  beginnt,  und 
an  Anzeichen  für  das  Einlenken  der  Malerei  in  sti¬ 
listische  Bahnen  fehlt  es  bekanntlich  auch  sonst  nicht. 
Die  Bildniskunst  ist  vielleicht  der  empfindlichste  Grad¬ 
messer  für  solche  Schwankungen,  und  Zieglers  Art 
der  Porträtauffassung  verdient  unter  diesem  Gesichts¬ 
punkt  Aufmerksamkeit.  Was  ihn  als  Menschen  und 
Maler  unserer  Übergangszeit  kennzeichnet,  ist  die  ihm 
selbst  kaum  bewußte  Mischung  von  Naivität  und 
Nachdenklichkeit  bei  der  Arbeit. 

Ein  Motiv  oder  Modell,  daß  ihn  anregt  oder 
lockt,  löst  zunächst  stilles  Behagen  in  ihm  aus, 
und  —  wie  es  schwerblütigen  Menschen  zu  gehen 
pflegt  —  verbraucht  er  bei  diesem  Genießen  schon 
ein  gut  Teil  seiner  Künstlerkraft.  Bei  der  Arbeit  dann, 
die  er  mit  der  Zähigkeit  eines  siebenbürger  Sachsen 
verrichtet,  wacht  eine  andere  Freude  auf,  die  im  Re¬ 
produzieren  eben  jenes  betrachtenden  Genusses  be¬ 
steht,  aber  differenziert,  fast  möchte  man  sagen: 
gedämpft  durch  die  Absicht  auf  sanfte  dekorative 
Farbenstimmung.  Er  tönt  unwillkürlich  alles  wieder 
möglichst  auf  die  Werte  ab,  die  seinem  Auge  und 
Sinn  am  meisten  Zusagen.  So  erhalten  auch  seine 
Porträts  durchweg  einen  gemeinsamen  Zug,  der  sie 
von  anderen  unterscheidet  —  und  das  ist  gewiß  kein 
Vorwurf  —  aber  auch  einen  Schleier,  der  dem  Be¬ 
schauer,  zumal  einem  Anhänger  des  Naturalismus 
Sans  phrase,  gelegentlich  lästig  wird.  Daher  die  nach¬ 
denklichen  Urteile  blinder  Seher  über  die  müden, 
sentimentalen  Gestalten,  die  Eintönigkeit  der  Farben¬ 
stellung,  die  Wiederholung  erprobter  Motive,  die  dann 
zu  dem  wohlfeilen  Schluß  kommen,  ein  Nerven- 
schwächling  wolle  uns  seine  Mattherzigkeit  als  Ge¬ 
schmack  aufzwingen.  Wer  Ziegler  persönlich  kennt,  oder 
auch  nur  eines  seiner  Selbstporträts  (Abb.  S.  22g)  genauer 
anschaut,  wird  mit  ihm  selber  in  ein  schallendes  Ge¬ 
lächter  ob  solcher  Trugschlüsse  ausbrechen.  Ein  Hüne 
an  Gestalt,  der  Flinte  und  Säbel  fast  lieber  noch  führt 
als  den  Pinsel,  voll  Nerv  und  Muskel,  aber  ohne 
anfällige  Nerven  und  rheumatische  Beschwerden,  ein 
Naturkind,  das  sich  selbst  im  Sündenpfuhl  Berlin 
nicht  die  Freude  an  seiner  Mutter  hat  verderben 
lassen  —  und  dennoch  mit  feinem  Sinn  für  zarteste 
Stimmungen  begabt,  ja  in  sie  verliebt,  das  ist  ein 
Problem,  das  den  Psychologen  reizen  muß  und  auch 
uns  bisher  mehr  von  dem  Seelenleben  des  Malers 
als  von  seinen  Werken  sprechen  ließ.  Die  sprechen 
für  sich  selbst:  das  Bildnis  der  Gattin  des  Bildhauers 
Wenck,  eine  duftige  Umschreibung  jugendlicher  An¬ 
mut  (Abb.  S.  231),  die  üppige  Heroine,  die  in  schwarzem 
Schleppkleid  eine  Treppe  emporsteigt  und  den  Kopf 
zum  Beschauer  zurückwendet,  die  von  verhaltener  Sinn¬ 
lichkeit  durchbebte,  sprungbereite  Dame  in  Grün 
(Budapest,  Nationalgalerie),  die  Verkörperung  mütter¬ 
licher  Fürsorge  und  gesunder  WeibIichkeit(Frau  Rossner- 
Zeitz),  die  eidechsenhafte  Elastizität  der  Tänzerin 
Marietta  di  Rigardo,  die  ja  auch  Slevogts  Malerauge 
gefesselt  hat,  die  junonische  Gestalt  von  Frau  Walter 


Schott,  die  in  lässiger  Haltung  auf  einem  graugrünen 
Sofa  Figur  macht,  die  pointierte  Liebenswürdigkeit 
einer  jugendlichen  Jüdin  neben  der  empfindsamen 
Träumerei  einer  blonden  Mädchenseele  und  der  whist- 
lerisch  müden  Nonchalance  einer  Dame  der  Frank¬ 
furter  Finanzaristokratie  —  das  sind  so  einige  Proben 
von  der  vorgeblichen  Einseitigkeit  des  Frauenmalers 
Ziegler. 

Die  Gestalt  seiner  Gattin,  einer  fesselnden  Blon¬ 
dine  von  ebenmäßigem  Wuchs  und  klugem  Blick,  be¬ 
gegnet  uns  zweimal  unter  den  zahlreichen  Frauen, 
die  er  gemalt  hat,  und  es  ist  bezeichnend,  daß  selbst 
bei  diesem  Vorwurf  sein  Temperament  nicht  mit  dem 
Künstlerverstand  durchgegangen  ist.  Das  malerische 
Wohlgefallen  beherrscht  alle  anderen  Gefühle  und 
Triebe  bei  ihm.  Das  ist  ernste,  echte  Künstlerart,  die 
Respekt  einflößt,  zumal  nicht  etwa  die  Gewissenhaftig¬ 
keit  im  Einzelnen,  sondern  der  Blick  für  das  Ganze 
ausschlaggebend  für  die  Durchführung  seiner  Ar¬ 
beiten  ist. 

Stil,  Geschmack,  Vornehmheit  des  malerischen 
Empfindens  —  lauter  Begriffe  einer  überwundenen, 
mit  Schmach  und  Schande  vom  Hof  der  naturalisti¬ 
schen  Moderne  vertriebenen  Ästhetik  -  -  kehren  hier 
wie  treue,  wenn  auch  oft  mißverstandene,  Freunde 
der  Künstlerphantasie  zurück,  nicht  etwa  als  bewußte 
reaktionäre  Kampfesmittel,  sondern  als  ganz  natürlich 
aufsprießende  Keime  einer  anders  gearteten,  starken 


KARL  ZIEGLER.  BILDSKIZZE  EINES  STUDENTEN 


234 


AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  KARL  ZIEGLERS 


KARL  ZIEGLER.  BÜFFELSCHWEMME.  ERSTE  FASSUNG 


Begabung.  Zieglers  Art  zu  stilisieren  sei  noch  kurz 
an  einem  kennzeichnenden  Beispiel  erläutert:  ein  Motiv 
aus  der  siebenbürgischen  Heimat,  eine  Büffel¬ 
schwemme,  bei  der  lustige  Landkinder  auf  dem  Rücken 
des  starkgehörnten,  glatthäutigen  und  gutmütigen  Viehs 
ihr  Reitertalent  erproben,  ist  dreimal  von  ihm  gemalt 
worden.  Die  erste  Fassung  (im  Besitz  des  Verlagsbuch¬ 
händlers  Stilke  in  Berlin,  Abb.  S.  234)  zeigt  auf  Grund 
zahlreicher  Skizzen  vor  der  Natur  die  Szenerie  so, 
wie  sie  dem  genießenden  Malerauge  sich  bot.  Das 
nah  herandrängende  waldige  Flußufer  ist  belebt  mit 
zahlreichen  hockenden,  liegenden,  knieenden  und 
stehenden  nackten  Buben;  in  naiver  Freude  an  diesem 
Spiel  jugendlicher  Formen  läßt  der  Maler  keines  der 
Motive  fallen.  Die  Gruppe  von  vier  sich  ankleiden¬ 
den  Knaben  schließt  er  in  schönem  Linienfluß  zu¬ 
sammen.  Arkadische  Stimmung  und  koloristisches 
Bedürfnis  rufen  eine  weibliche  Gestalt  in  lang  herab¬ 
fließendem  roten  Gewand  auf  die  Bühne,  ein  ge¬ 
heimnisvolles  Fragezeichen,  das  dem  Ganzen  bereits 
die  Harmlosigkeit  der  Naturaufnahme  nimmt.  Hier 
liegt  der  Keim  zur  künstlerischen  Weiterbildung  des 
Beobachteten  zum  Geschauten. 

In  kleinerem  Format  vereinfacht  der  Künstler 
dann  die  Motive,  drängt  die  Zufälligkeiten  zurück, 
macht  eine  Probe  auf  den  malerischen  Gehalt  des 
Ganzen,  sucht  die  Raumelemente  und  die  Struktur 
des  Bildes  zu  klären,  indem  er  es  räumlich  vertieft 
und  entlastet  (Abb.  S.  235). 

Dann  in  der  dritten  Fassung  wird  alles  figürliche 
Beiwerk  restlos  dem  einen  Motiv  eines  auf  dem 
Büffel  reitenden  Knaben  geopfert;  in  stiller,  einsam¬ 
feierlicher  Landschaft,  die,  von  warmem  Sommerlicht 


überstrahlt,  noch  mehr  sich  weitet  und  vertieft,  ist  die 
Grundstimmung  festgehalten,  die  schwerfällig  im 
Wasser  einherschreitenden  Tiere  sind  wie  der  Knaben¬ 
körper  plastisch  stilisiert,  mit  breitem  Pinsel  die  Wasser¬ 
spiegelung  gegeben,  die  geschlossenen  Baummassen 
und  die  den  Horizont  abschließenden  Hügelketten 
des  Himmels  verstärken  den  Eindruck  räumlicher 
Tiefe  und  Größe  (Abb.  S.  235). 

Aus  einem  schlichten  Naturausschnitt  ist  so  ein 
in  feierlichen  Linien  und  Formen  sich  aufbauendes 
Bild  geworden,  dessen  Entstehung  uns  lehrt,  wie  weit 
oft  der  Weg  von  der  Beobachtung  zum  Stil  ist,  aber 
zugleich  auch,  wie  künstlerische  Intuition  durch  Über¬ 
legung  und  Weiterdenken  gefördert  werden  kann, 
was  heute  so  viele  Maler  als  Widersinn  beiseite  schie¬ 
ben  möchten. 

Ein  anderes  großes  Bild  Zieglers,  der  verlorene 
Sohn,  der  mit  weißem  Schafspelz  angetan  in  der  weiten 
grauen  Öde  der  ungarischen  Pußta  bei  seiner  Schweine¬ 
herde  hockt  —  es  ist  ursprünglich  als  Mittelstück 
eines  Triptychons  gedacht  —  beweist,  daß  auch  dem 
Bedächtigen  der  große  Wurf  zuweilen  ohne  Klügelei 
gelingt.  Das  ist  steile  Tragik,  die  mit  Naturgewalt 
an  den  Empfindenden  herandringt,  weil  sie  aus  hei¬ 
ligster  Tiefe  eines  tief  empfindenden  Gemüts  geschöpft 
ist,  ohne  Vor-  und  Nachdenken  das  Fühlen  eines 
vom  Leid  des  Lebens  innerlich  erfaßten  Menschen 
offenbart. 

Die  Sehnsucht  nach  freiem  ungehemmten  Schaffen 
klingt  auch  aus  zahlreichen  Entwürfen  und  Studien 
heraus,  die  Zieglers  Mappen  füllen.  Möge  solcher 
Sehnsucht  Erfüllung  beschieden  sein. 

LUDWIG  KAEMMERER. 


KARL  ZIEGLER.  BÜFFELSCHWEMME.  ZWEITE  FASSUNG 


KARL  ZIEGLER.  BÜFFELSCHWEMME.  DRITTE  FASSUNG 


OTTO  WAGNERS  MODERNE  KIRCHE 

Von  Ludwig  Hevesi 


IN  der  reichen  Frühjahrsausstellung  der  Wiener 
Sezession  ist  das  Haiiptstück  die  neue  Kirche  Otto 
Wagners  für  die  niederösterreichischen  Heil-  und 
Pflegeanstalten.  Eines  jener  im  Material  appetitlichen 
(und  kostspieligen)  Modelle,  wie  Wagner  sie  sich 
und  dem  Publikum  gönnt;  verschiedene  Zeichnungen 
geben  reichliche  Vorstellung  von  diesem  für  Wien 
bahnbrechenden  Bau.  Sein  platonisch  verbliebener  Ent¬ 
wurf  für  eine  Kirche  in  Währing  (Wien)  hat  denn  doch 
den  Urteilssinn  der  Leute  aufgewühlt.  Sie  sehen  jetzt 
ein,  daß  der  Mensch  und  Kirchenbesucher  nicht  von 
frommen  Imponderabilien  allein  lebt,  sondern  auch 
auf  Ponderabilien  der  Zweckmäßigkeit,  Bequemlich¬ 
keit,  Gesundheit  und  ästhetischen  Zeitgemäßheit  ange¬ 
wiesen  ist.  ln  Westeuropa  fängt  man  auch  bereits 
an,  so  weit  zu  sein.  Voriges  Jahr  weihte  der  Erz¬ 
bischof  von  Paris  Baudots  Kirche  St.  Jean  de  Mont¬ 
martre,  die  sozusagen  mit  den  Mitteln  eines . . .  Zeitungs¬ 
kiosks  gebaut  ist.  Eisen,  Monier,  Rabitz,  7  Zentimeter 
dicke  Mauern  aus  Backstein  und  ciment  arme.  Die 
reine  Gotteslästerung,  hätte  man  einst  gesagt.  Und 
der  Archdean  of  London,  W.  M.  Sinclair,  schrieb  vor 
einigen  Monaten  ganz  entzückt  über  die  hochmodern, 
ja  sezessionistisch  durchgestaltele  Kirche  St.  Mary  the 
Virgin  zu  Great  Varley,  Grafschaft  Essex,  wo  ein 
Neukünstler  wie  W.  Reynolds  Stephens  allen  seinen 
Talenten  die  Zügel  schießen  ließ.  Von  der  malerischen 
Ausschmückung  zu  geschweigen,  deren  sich  die  fort¬ 
schrittlichen  Farbenleute  schon  früher  zu  bemächtigen 
begannen.  Albert  Besnard  will  sich  das  Himmelreich 
verdienen,  indem  er  die  Kirche  in  seinem  Berck-sur- 
Mer  ausmalt.  Und  Maurice  Denis,  der  Neu -Stilist, 
darf  die  Kirche  im  Vesinet  ausmalen,  das  so  nahe 
bei  Paris  liegt. 

Es  ist  zwar  anzunehmen,  daß  diese  Beispiele  dem 
niederösterreichischen  Landesausschuß  nicht  geläufig 
sind,  item  er  glaubt  an  Otto  Wagner,  und  das 
ist  ein  großer  Eortschritt.  Auch  die  Stadt  Wien 
glaubt  an  ihn  und  wird  denn  doch  sein  umgearbeitetes 
Projekt  für  das  Stadtmuseum,  das  vor  zwei  Jahren 
einen  so  blutigen  Bürgerkrieg  entfesselte  (casus  Wag¬ 
ner —  Schachner!)  ausführen  lassen.  Und  mit  der 
Postsparkasse  hat  er  auch  glänzend  gesiegt,  sie  ist 
bereits  im  Bau.  Und  ein  großes  modernes  Verkaufs¬ 
haus  ist  jetzt  in  seinem  ersten  Stadium  und  noch  ein 
anderes,  geheimnisvolles  Demokiesschwert  hängt  auch 
über  den  wackligen  Köpfen  derer,  .  .  .  deren  Köpfe 
eben  wacklig  sind.  So  ist  denn  doch  Otto  Wagners 
Sonne  in  seinem  62.  Lebensjahre  endlich  aufgegangen. 
Der  geborene  Großbaumeister  wird  denn  doch,  ehe 
er  zur  Grube  fährt,  groß  gebaut  haben. 

Die  niederösterreichischen  Heil-  und  Pflegeanstalten 
sollen  am  sogenannten  Baumgartener  Spiegel  erstehen 
und  in  etwa  100  Hektar  parkierter  Landschaft  nicht 
weniger  als  63  Gebäude  umfassen.  Die  größte  der¬ 


artige  Anlage  der  Welt.  Die  Kirche  nimmt  den 
höchsten  Punkt  des  ansteigenden  Geländes  ein  und 
wird,  bis  an  die  Kreuzspitze  46  m  hoch,  ein  weithin 
sichtbares,  wahrzeichenartiges  Element  im  Stadtbilde 
von  Neu-  und  Großwien  bilden.  Daher  die  reiche 
Vergoldung  der  Kuppel,  die  einen  fixen  Goldblitz  in 
die  Landschaft  bringen  soll.  Der  Bodengestalt  ent¬ 
sprechend  steht  die  Kirche  1,50  m  über  das  Terrain 
hinauf  und  hat  eine  Unterkirche  von  5  m  Höhe,  schon 
wegen  der  Bodenfeuchtigkeit,  aber  auch  zur  Unter¬ 
bringung  verschiedener  liturgischer  (heil.  Grab  usw.) 
und  praktischer  Veranstaltungen.  Der  Bau  bildet 
einen  Würfel  mit  ganz  kurzem  Querschiff,  überragt 
von  einer  halbkugelförmigen,  aber  stark  überhöhten 
Kuppel.  Die  Fassade  hat  ein  dreitüriges  Portal  mit 
vorgestellten,  kapitällosen,  statuentragenden  Freisäulen, 
die  das  Vordach  tragend  durchsetzen.  An  den  Ecken 
der  Eassade  stehen  kurze  Türme,  von  Statuen  der 
beiden  Landespatrone  St.  Severinus  und  St.  Leopold 
gekrönt.  Die  äußere  Bekleidung  besteht  unten  aus 
ortswüchsigem  Stein,  in  der  Hauptsache  aber  aus 
2  cm  dicken,  senkrecht  gestellten,  weißen  Marmorplatten, 
durch  Rienienschichten  gehalten,  die  durch  Kupferknöpfe 
befestigt  sind.  Alles  Eisen  ist  mit  Kupfer  verkleidet, 
auch  die  ganz  summarisch  gegebenen  Kränze,  die  in 
langen  Reihen  den  äußeren  Fries  schmücken.  Die 
Kuppel  samt  Trommel  ist  mit  gefalzten  Kupferplatten 
bekleidet,  die  also  beweglich  bleiben  und  eine  reiche 
Vergoldung  aus  senkrechten  Reihen  kugelförmiger  Ele¬ 
mente  haben.  Die  große  einfache  Form  und  das 
Weiß -und -Gold  werden  in  der  sonnigen  grünen 
Landschaft  so  recht  freilichtmäßig  wirken.  Der  qua¬ 
dratische  Innenraum  ist  20  m  hoch  und  durch  eine 
ganz  moderne  Konstruktion  aus  Eisen  und  Rabitz¬ 
platten  gedeckt,  die  auf  den  vier  Pfeilerpaaren  der 
Ecken  ruht.  Die  Höhe  entspricht  genau  der  Pfeiler¬ 
distanz,  so  daß,  um  Wagners  Ausdruck  zu  gebrauchen, 
»ein  pantheonisches  Verhältnis  von  1:1«  herauskommt. 
Die  Belastung  ist  nicht  ganz  2  kg  auf  den  qcm. 
Leichtigkeit,  Eestigkeit  und  Billigkeit  (die  Baukosten 
betragen  nur  550000  Kronen)  sind  maßgebend.  Der 
»Kuppelschlauch«  ist  vermieden,  um  die  Akustik  nicht 
zu  stören.  Aus  diesem  Grunde  sind  auch  die  Ecken 
und  Flächen  gerundet  und  der  Putz  rauh  gehalten. 
Wie  fürs  Hören,  ist  auch  fürs  Sehen  ideal  gesorgt;  Wag¬ 
ner  geht  darin  so  weit,  daß  er  der  Apsis  keine  Fenster 
gibt,  weil  diese  immer  das  ganze  Publikum  blenden.  Alles 
Detail  ist  streng  erwogen,  sogar  die  Länge  der  Bänke, 
die  800  Personen  fassen.  Sie  sind  ungewöhnlich 
kurz,  um  etwa  notwendiges  Eingreifen  der  Wärter 
(bei  Geistesgestörten!)  zu  erleichtern.  Eür  das  Per¬ 
sonal  der  Anstalt  ist  eine  eigene  Empore  angebracht. 
Kanzel  und  Hochaltar  sind  reizende  moderne  Eisen¬ 
konstruktionen,  die  sich  nicht  hinter  Schulformen  ver¬ 
heimlichen.  Überhaupt  ist  alles  neu  gedacht  und  nach 


OTTO  WAGNERS  MODERNE  KIRCHE 


237 


Bedarf  erfunden.  In  überraschender  Weise  zum  Bei¬ 
spiel  die  bildliclien  Darstellungen,  welche  Wagner, 
da  Klimt  nicht  zu  haben  war,  Kolo  Moser  aufgetragen 
hat.  Schon  die  Lünette  über  dem  Portal  ist  eine 
große  Szene,  vollends  das  Hochaltarbild  von  75  qm 
Flächeninhalt.  Für  Fresken  ist  Wagner  nicht  einge¬ 
nommen,  wegen  der  Schwierigkeit  und  Unverläßlich¬ 
keit.  Aufgespaiiute  Leinwänden,  mit  ihrem  fatalen 
Slaffeleigeschmack,  stören  gar  das  bauliche  Wesen 
des  Raumes.  So  hat  er  Mosaiken  aus  Tonplatten, 
für  die  Gewänder  Marmorplatten,  kombiniert;  weiß 
oder  farbig,  poliert  oder  rauh,  auch  mit  Glasflüssen 


und  Bronze  inkrustiert,  so  daß  dekorative  Mannig¬ 
faltigkeit  entsteht.  Die  landschaftlichen  Teile  bestehen 
aus  Tonfliesen,  der  große  Glorienhimmel  aus  Reihen 
bombierter  Goldglasscheiben,  in  weißen  polierten 
Stuck  eingelassen.  Die  Wirkung  ist  ausgiebig  und 
neu,  aber  auch  unleugbar  monumental.  Die  Wagner¬ 
kirche  wird  jedenfalls  eine  lebendig  fortwirkende 
Neuerung  im  Wiener  Kirchenbau  bedeuten.  Der  im 
Bau  begriffenen  großen  Jubiläumskirche  (vom  ver¬ 
storbenen  Professor  Luntz  aus  der  gotischen  Schmidt¬ 
schule)  erschwert  sie  im  Vorhinein  die  Existenz.  Die 
Jubelkirche  ist  unser  Berliner  Dom. 


Zeilsclinlt  fiii  liilileiulL'  Kuiisl.  N  r  XVI.  II.  () 


32 


AB[5.  1.  GIOVANNI  BtLLINI  (?).  MADONNA.  MÜNCHEN,  BARONIN  MOLTKE  f 


EINE  KOMPOSITION  VON  GIOVANNI  BELLINI 

Von  Pii.  M.  Hai  m 


UNTER  den  zahlreiclien  Madonnenbildern,  die 
im  Ausgange  des  15.  Jalirlnmderls  und  im 
Beginne  des  1 6.  Jahrhunderts  in  Venedig  ent¬ 
standen,  kehrt  häufig  eine  Komposition  wieder,  die 
deutlich  besagt,  dab  wir  es  mit  Nachbildungen  nach 
einem  —  wie  es  scheint  nun  verscliollenen  Ori¬ 
ginal  zn  tun  haben.  Die  hier  in  Frage  kommenden 
Bilder  haben  bereits  Berenson  (Lorenzo  Lotto  S.  5, 
Anmerkung)  und  Georg  Gronau  (Gaz.  d.  B-Arts  1895, 
I,  S.  260  und  f'^epertorium  für  Kunstwissenschaft 
1897,  S.  301)  zusammengestellt.  Die  Komposition 
ist  folgende:  Rechts  vom  Beschauer  sitzt,  nach  links 
gewendet,  Maria;  ihr  Kopf  ist  nach  vorn  geneigt;  ein 
reich  gefalteter  Mantel  umhüllt  den  Körper,  um  den 
Kopf  legt  sich  ein  Tuch.  Auf  ihrem  linken  Knie 
sitzt  das  nackte,  segnende  Jesuskind,  das  Maria  mit 
ihrer  Linken,  die  unter  dem  Arm  des  Kindes  hervor¬ 
greift  und  sich  über  seinen  Körper  legt,  festhält.  Die 
rechte  Hand  der  Maria  berührt  mit  den  Fingerspitzen 
entweder  die  Stirne  eines  Stifters  oder  eines  Heiligen 
oder  ruht  auf  einem  aufrecht  stehenden  Buche.  Dies 
sind  die  allen  derartigen  Bildern  gemeinsamen  Punkte, 


die  nur  im  Detail  variiert  werden,  wie  z.  B.  im  Kopf¬ 
tuch  der  Madonna,  während  andere  Einzelheiten  wieder, 
wie  namentlich  der  Faltenwurf  des  Mantels  Mariä,  eine 
geradezu  sklavische  Wiedergabe  erfahren.  Die  Kom¬ 
position  wird  meist  noch  durch  assistierende  Heilige 
(bis  zu  vieren)  erweitert;  auch  der  Hintergrund  wird 
verschiedentlich  behandelt. 

Gronau  wies  schon  darauf  hin,  daß  sich  die 
Komposition  gleichermaßen  auf  Bildern  aus  der  Schule 
Giovanni  Bellinis  wie  aus  der  des  Alvise  Vivarini 
findet,  und  glaubt  sich  bei  der  anerkannten  Stellung 
des  Giovanni  fiellini  als  Vormannes  der  Maler  be¬ 
rechtigt,  diesem  die  Komposition  zuzuschreiben«. 
Ich  stehe  nicht  an,  dieser  Vermutung  Gronaus  bei¬ 
zupflichten,  um  so  mehr,  als  mir  auch  stilistische 
Gründe  für  die  Autorschaft  Giambellinis  zu  sprechen 
scheinen.  Das  verschollene  Original  halte  sich  wohl 
nicht,  wie  bei  dem  einen  Stuttgarter  Bild  Nr.  428  ( Abb.  2), 
mit  einer  Heiligen  begnügt,  sondern  zum  mindesten 
war  noch  ein  knieender  Heiliger  oder  ein  Stifter  vor¬ 
handen,  denn  sonst  hätte  der  mehr  nach  vor-  und 
abwärts  gerichtete  Blick  des  Christuskindes  kein  eigent- 


EINE  KOMPOSITION  VON  GIOVANNI  BELLINI 


239 


liches  Ziel.  Aus  Kompositionsgründen  ergibt  sich 
aber  dann  von  selbst,  daß  das  Original  nicht  etwa 
im  Hochformat  wie  das  Stuttgarter  Büd  Nr.  428,  sondern 
im  Breitformat  gehalten  war;  die  meisten  der  Kopien 
haben  auch  ausgesprochenes  Breitformat  Ohne  nun 
dieses  für  die  Venezianer  des  späten  1 5.  und  frühen 

16.  Jahrhunderts  charakteristische  Format  von  Ma¬ 
donnenbildern  mit  Halbfiguren  dem  Giovanni  Bellini 
als  Erfinder  vindizieren  zu  wollen,  sei  doch  darauf 
hingewiesen,  daß  wir  bei  ihm  ähnlichen  Komposi¬ 
tionen  nicht  selten  und  doch  wohl  öfter  als  bei  irgend 
einem  anderen  zeitgenössischen  Venezianer  begegnen. 
Ich  nenne  nur  die  beiden  Bilder  in  der  Akademie  zu 
Venedig,  Maria  mit  der  hl 
Katharina  und  Magdalena 
und  Maria  mit  dem  hl. 

Paulus  und  dem  hl.  Libe- 
ralis;  ferner  die  Madonna 
in  S.  Francesco  della 
Vigna  in  Venedig  mit 
dem  hl.  Sebastian,  Hiero¬ 
nymus,  Johannes  Baptista 
und  Franziskus,  sowie 
einem  Stifter,  der  hier 
ganz  in  der  Art  unserer 
Bilder  nur  mit  der  Hälfte 
des  Oberkörpers  sichtbar 
ist^).  Dem  Umstande,  daß 
bei  diesen  Madonnen  Bel- 
linis  noch  eine  symme¬ 
trische  Anordnung  der  Fi¬ 
guren  obwaltet,  möchte 
ich  keine  allzu  große  Be¬ 
deutung  beimessen.  Die 
Gesichtszüge  der  Madonna 
hier  auf  ihre  Verwandt¬ 
schaft  mit  Bellini  prüfen 
zu  wollen,  erscheint  mir 
nicht  minder  unmöglich 
wie  untunlich,  da  doch 
einerseits  kein  Kopist  sein 
eigenes  Ich  so  ganz  und 
gar  zu  verleugnen  imstande 
sein  wird,  andererseits 
aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  auch  gar  nicht  die  feste  Absicht  einer  getreuen 
und  täuschenden  Kopie  bestand. 

Weiter  sei  auf  die  Art,  v/ie  das  Kind  sitzt  be¬ 
ziehungsweise  wie  Maria  dasselbe  hält,  hingewiesen. 
Wenn  auch  nicht  typisch  getreue,  so  finden  wir  bei 
Bellini  doch  verwandte  Sitzstellungen  des  Kindes,  z.  B. 
auf  der  Madonna  der  Nationalgalerie  in  London,  auf 
der  Madonna  mit  dem  Engelreigen  in  der  Akademie 
in  Venedig,  dann  auf  dem  herrlichen  Bild  in  der 
Sammlung  Morelli  in  Bergamo;  man  vergleiche  nament¬ 
lich  hier  das  linke  Beinchen.  Ähnlich  wie  auf  unseren 
Bildern  erscheint  dann  die  linke  Hand  der  Maria 
unter  dem  Ärmchen  des  Kindes  durchgeschoben  auf  der 

i)  Morelli  1,  344,  hält  den  Stifter  für  eine  Zutat  des 

17.  Jahrhunderts. 


Madonna  mit  St.  Katharina  und  Magdalena  der  Aka¬ 
demie  in  Venedig,  auf  der  Madonna  mit  St.  Paulus 
und  Georg  und  auf  der  Madonna  von  1487  (Nr.  94) 
in  der  gleichen  Sammlung.  Auf  diesen  Madonnen 
sowohl  als  auch  auf  der  Madonna  in  Bergamo 
läßt  das  Kind  mehr  oder  weniger  lässig  den  Arm  herab¬ 
hängen;  bei  den  in  Frage  stehenden  Kopien  ist  er  nur 
um  einiges  mehr  abgebogen,  auch  erscheint  das  Händ¬ 
chen  entgegen  der  bellinischen  Weise  ausgestreckt 
Mich  bedünkt,  daß  die  hier  berührten  Punkte  in 
ihrer  Gesamtheit  sehr  wohl  Giambelüno  als  Meister 
des  verschollenen  Originals  erscheinen  lassen  können, 
jedenfalls  ihn  mehr  als  etwa  Alvise  Vivarini,  seinen 

Nebenbuhler,  von  dem 
mir  keine  Madonnenbilder 
mit  Heiligen  im  Sinne  der 
hier  in  Frage  stehenden 
bekannt  sind.  Bezeichnen¬ 
derweise  lief  auch  eine 
der  Kopien,  und  zwar  eine 
der  reichsten,  jene  der 
Sammlung  Pourtales- Paris, 
unter  dem  Namen  Gio¬ 
vanni  Bellinis  (Abb.  3). 
Emile  Galichon  nennt  sie 
eine  Perle  (gloire)  der 
Galerie,  die  würdig  wäre 
in  den  Louvre  aufgenom¬ 
men  zu  werden  ^).  Gro¬ 
nau  a.  a.  O.  bezeichnet 
das  Bild  als  Catena,  frei¬ 
lich  mit  einem  Fragezei¬ 
chen.  Das  Bild,  das  mir 
nur  aus  Gaillards  Stich 
bekannt  ist,  bietet  mit 
seinen  zwei  weiblichen 
und  zwei  männlichen 
Heiligen  und  dem  Stifter 
die  abgerundetste  und 
glücklichste  Komposition. 
Ich  wage  aber  nicht,  mich 
nur  auf  Grund  dieser 
allein  für  Bellinis  Autor¬ 
schaft  zu  entscheiden. 
Gegen  ihn  spricht  nament¬ 
lich  das  etwas  kleinlich  behandelte,  geblümte  und  mit 
Perlen  besetzte  Kopftuch;  Bellini  liebt  ganz  schmuck¬ 
lose,  einfarbige,  höchstens  mit  einer  schmalen  Bordüre 
besetzte  Tücher.  Auf  zwei  Bildern,  dem  Previtali 
der  Berliner  Galerie  (Abb.  5)  und  dem  sogenannten 
Basaiti  der  Stuttgarter  Galerie  (Nr.  428)  erblicken  wir 
die  gleiche  betende  Heilige;  das  Stuttgarter  Bild  gibt 
sie  ziemlich  genau,  nur  in  vereinfachter  Kleidung, 
Previtali  in  freier  Übersetzung  wieder.  Außerdem 
entlehnt  auch  Previtali  den  lesenden  Paulus.  Irre  ich 
nicht,  so  gehen  also  beide  Bilder  auf  das  Pariser 
Bild  oder  das  jenem  zugrunde  liegende,  wohl  ebenso 
reiche  Original  Bellinis  zurück. 

Die  beiden  Bilder  der  Stuttgarter  Galerie  wurden 


1)  Gazette  des  Beaiix-Arts  XVIIl  (1S65),  S.  11. 


ABB.  2.  BASAITI  (?).  MADONNA.  STUTTGART, 
GEMÄLDESAMMLUNG 


32 


240 


EINE  KOMPOSITION  VON  GIOVANNI  BELLINI 


ABB.  3  CATENA  (?).  MADONNA  MIT  HEILIGEN.  PARIS,  SAMMLUNG  POURTALES 


bisher  dem  Marco  Basaiti  zugeschrieben  ’).  Den  Be¬ 
weis,  daß  das  eine  mit  der  assistierenden,  oben  er¬ 
wähnten  Eieiligen  eher  ein  früher  Lorenzo  Lotto  zu 
nennen  ist,  von  dem  ein  verwandtes  Bild  in  Neapel 
(Abb.  4;  nach  Berenson  zwischen  1503  und  1505 
gemalt)  sich  befindet,  hat  Franz  Rieffel  mit  kurzen, 
aber  treffenden  Worten  bereits  erbracht  (Repertorium 
für  Kunstwissenschaft  1897,  S.  168).  Hier  ist  darauf 
hinzuweisen,  daß  nicht  —  wie  die  Erläuterungen  des 
Klassischen  Bilderschatzes  zu  Nr.  1400  besagen  —  das 
Bild  Nr.  428  die  »Marco  Basaiti«  gelesene  Inschrift  trägt, 
sondern  das  Bild  Nr.  429,  das  die  einfachste  Form 
unserer  in  Frage  stehenden  Madonnenbilder  reprä¬ 
sentiert.  Die  stark  retuschierte  Inschrift  lautet:  marcho 
•  d  ioa®  B  P  (oder  p?).  Crowe  und  Cavalcaselle 
(Geschichte  der  italienischen  Malerei,  Band  V,  S.  285 
bezw.  186)  schreiben  das  eine  Mal  das  Bild,  das 
ehemals  von  Ridolfi  (Marav.  I,  94)  als  Bellini  an¬ 
gesprochen  worden  war  und  aus  S.  Maria  degli  Angel i 
zu  Murano  stammt,  dem  Basaiti  zu,  während  sie  das 
andere  Mal  es  als  fraglich  hinstellen,  ob  es  von  Marco 
Basaiti,  Marco  Pensaben  oder  Marco  Belli  herrührt. 
Der  Zustand  des  Bildes  —  es  ist  sehr  stark  be¬ 
schädigt  und  übermalt,  namentlich  im  Mantel  der 
Madonna,  an  ihrer  linken  Hand  und  am  Kind  — 
verbietet  geradezu  ein  bestimmtes  Urteil.  Am  ehesten 
möchte  man  noch  durch  die  freilich  stark  retuschierte 
Landschaft,  die  hinter  dem  den  Hintergrund  der 
Madonna  bildenden  Vorhang  sichtbar  wird,  an  Basaiti 
erinnert  werden.  Doch  widerspricht  dieser  Vermutung 
auf  das  entschiedenste  die  noch  verhältnismäßig  gut 
erhaltene,  entsetzlich  fade,  langweilige,  knochenlose 
rechte  Hand  der  Maria;  man  vergleiche  sie  nur  mit 

3)  Verzeichnis  der  Gemäldesammlung  in  Stuttgart,  von 
Lange  (1903),  Nr.  428  und  429. 


den  lebendigen  Händen  auf  den  Bildern  der  Berufung 
der  Söhne  Zebedäi  in  Venedig  und  Wien  oder  mit 
den  Berliner  Madonnenbildern.  Auch  spricht  mir  der 
Cartellino  dagegen.  Basaiti  signiert  gewöhnlich  in 
Antiqua  MARCVS  BAXAITVS  oder  BASAITI,  aber 
nie  in  so  fremdartiger  Weise  in  Kursiv- Minuskel. 
Wie  schon  erwähnt,  verbietet  nach  meinem  Bedünken 
der  schlechte  Zustand  des  Bildes  eine  bestimmte  Taufe. 
Von  Interesse  ist  mir  der  zweite  Teil  der  Inschrift: 

d  ioa=  B.  P«.  Crowe  und  Cavalcaselle  (Geschichte  der 
italienischen  Malerei  V,  S.  285)  lösen  sie  auf:  »Marcus 
de  Joannes  Bellini  pinxit  von  Reber  und  Bayers- 
dorfer  bei  der  Erläuterung  des  Stuttgarter  Bildes 
Nr.  428  (Klassischer  Bilderschatz  Nr.  1400):  »Marcus  de 
Joanne  Bellini  pinxit«^).  Ich  stehe  nicht  an,  mich 
dieser  Leseart  anzuschließen;  scheint  sie  mir  doch 
ein  weiterer  Beweis  des  Schulzusammenhanges  unserer 
Bilder  mit  Bellini  zu  sein.  Ich  verkenne  hierbei 
durchaus  nicht  die  grammatikalischen  Schwierigkeiten; 
doch  könnte  das  s  in  ioas  nicht  erst  bei  der  Retusche 
der  Inschrift  entstanden  und  ursprünglich  ein  e  ge¬ 
wesen  sein,  wie  auch  von  Reber  und  Bayersdorfer 
»de  Joanne  Bellini«  zu  lesen  geneigt  sind.  Soll  nun 
dieses  de  nur  die  Schülereigenschaft  des  Marcus  be¬ 
kunden  oder  direkt  besagen,  daß  Marcus  das  Bild 
nach  Bellini  gemalt  habe?  Weder  Crowe  und  Caval¬ 
caselle,  noch  von  Reber  und  Bayersdorfer  treten  dieser 
heiklen  Frage  näher.  Beides  ist  ja  wohl  möglich. 

Gronau  sagt  nun  a.  a.  O.  S.  302,  daß  seine  Zu¬ 
sammenstellung  ganz  sicher  noch  nicht  alle  Kunst¬ 
werke  mit  dieser  Komposition'  aufzähle.  Ich  bin  in  der 
Lage,  ein  weiteres  Bild  seinem  Verzeichnisse  beizufügen. 
Es  befand  sich  in  München  in  Privatbesitz  (Baronin 

4)  Das  Verzeichnis  der  Gemäldesammlung  in  Stuttgart 
von  Lange  (1903),  S.  95,  liest  »marcho  d  ioa  b.  T*.« 


EINE  KOMPOSITION  VON  GIOVANNI  BELLINI 


241 


Moltke)^)  und  schließt  sich  im  großen  und  ganzen  in 
der  Komposition  dem  bezeichneten  Stuttgarter  Bilde 
Nr.  42g  an  (Abb.  1).  Maria  sitzt  rechts  vor  einem 
an  einer  Stange  hängenden  Vorhänge,  der  mit  seinem 
unteren  Teile  eine  Brüstung  verdeckt,  hinter  welcher 
links  eine  hügelige  Landschaft  sichtbar  wird.  Die 
Hand  der  Mutter  legt  sich  auf  ein  auf  der  Brüstung 
stehendes  Buch.  Also  eine  Komposition  ähnlich  wie 
auf  den  beiden  Stuttgarter  Bildern,  und  wenn  ich 
Gronau  folgen  darf,  auch  des  Londoner  Bildes  von 
Cima  (?)  bei  Mr.  L.  besser.  An  der  Brüstung  ist  ein 
kleiner  in  sechs  Teile  ge¬ 
falteter  Cartellino  mit  der 
Inschrift:  lOANNES  BEL- 
LINVS  befestigt.  Die  Er¬ 
haltung  des  Bildes  ist  eine 
ziemlich  gute  zu  nennen. 

Am  Mantel  erscheinen 
einige  Stellen  übermalt; 
bei  zwei  Sprüngen,  die 
an  unwesentlichen  Stellen 
sich  zeigten,  beschränkte 
man  sich  klugerweise  auf 
Verkitten  und  ein  ober¬ 
flächliches  Abtönen  des 
Grundes.  In  den  Maßen 
(Höhe  0,66  m,  Breite  0,97 
m)  entspricht  das  Bild  im 
allgemeinen  den  bereits 
bekannten  Bildern. 

Das  Kolorit  ist  ein 
ruhiges,  einheitliches.  Der 
an  der  Stange  hängende, 
in  das  Rote  hinüberspie¬ 
lende  grüne  Vorhang,  der 
jenem  auf  dem  Bilde  Bel- 
linis  von  1487  in  der  Aka¬ 
demie  zu  Venedig  ähnelt, 
teilt  das  Bild  in  beinahe 
gleiche  Hälften.  Das  Kopf¬ 
tuch  der  Maria  ist  fast 
weiß,  ihr  Mantel  blau,  das 
Futter  unter  der  rechten 
Hand  von  ziemlich  roter 
Orangefarbe,  ihr  Kleid 
von  leuchtendem  Karmoi- 
sin.  Das  Karnat  von 
Mutter  und  Kind,  ein 
warmes  Goldgelb,  erhält  in  den  Wangen  und  anderen 
Stellen  einen  roten  Anflug.  In  der  koloristischen  Wir¬ 
kung  gemahnt  diese  Gruppe  viel  an  die  eben  er¬ 
wähnte  Madonna  Bellinis  von  1487  in  der  Akademie 
zu  Venedig. 

Auf  der  linken  Seite  des  Bildes  erblicken  wir 
hinter  einer  rotbraunen  Marmorbrüstung  eine  Land¬ 
schaft  mit  meist  kegelförmigen,  langweiligen  Bergen, 
einen  Fluß  mit  befestigter  Brücke  im  Mittelgründe 
und  eine  wandernde  Schafherde  mit  Hirtenpaar  im 

1)  Über  den  Verbleib  des  Bildes,  das  im  Jahre  igoo 
gelegentlich  der  Renaissance-Ausstellung  der  Sezession  in 
München  verkauft  wurde,  fehlen  mir  sichere  Nachrichten. 


Vordergründe.  Für  die  wenig  detaillierten  Berge  mit 
ihren  geraden,  gleichmäßig  ansteigenden  Konturen 
fehlt  mir  jeder  Vergleich  mit  auch  nur  entfernt  ähn¬ 
lichen  Veduten.  Im  Hintergründe  sind  sie  blau,  im 
Mittelgründe  grün  gehalten,  so  zwar,  daß  die  Färbung 
gegen  die  Grate  hin  rasch  an  Intensität,  im  Grün  fast 
bis  zu  Schwarz,  zunimmt.  Mit  dieser  wenig  intimen 
Behandlung  steht  die  Landschaft  in  scharfem  Kontrast 
zu  den  Figuren  der  Madonna  und  des  Kindes  unseres 
Bildes  und  zu  den  viel  sorgfältigeren  Landschaften 
Bellinis.  Wie  ich  oben  entwickelte,  scheint  mir 

Giambellino  der  Meister 
des  verschollenen  Origi¬ 
nals  zu  sein,  auf  den  alle 
diese  kompositioneil  ver¬ 
wandten  Bilder  zurück¬ 
gehen.  Gronaus  Vermu¬ 
tung  gewinnt  durch  das 
letzte  Bild  nur  noch  an 
Wahrscheinlichkeit,  wenn 
ich  auch  weit  entfernt  bin, 
in  ihm  das  verschollene 
Original,  das  zweifellos 
noch  assistierende  Heilige 
und  einen  Stifter  enthielt, 
zu  erblicken.  Der  Cartel¬ 
lino  nennt  Bellini  als 
Meister;  doch  man  weiß, 
wie  skeptisch  man  gerade 
bei  diesem  Meister  der 

Namensbezeichnung  ge¬ 

genüberzutreten  hat,  da 
eine  große  Anzahl  Schul¬ 
bilder  mit  dem  Meister¬ 
namen  signiert  ist.  Mit 
vollem  Rechte  aber  können 
wir  das  Bild  zum  min¬ 

desten  als  ein  Schulbild 
und  zwar,  die  Landschaft 
ausgenommen,  als  ein 
sehr  gutes  bezeichnen.  An 
Stelle  der  Landschaft  war 
sicher  eine  Figur  beab¬ 

sichtigt,  die  ganze  Raum¬ 
verteilung  spricht  dafür. 
Das  Stuttgarter  Bild  Nr. 
42g,  das  sich  nur  auf 
Mutter  und  Kind  be¬ 

schränkt,  räumt  der  Landschaft  dagegen  weit  weniger 
Raum  ein,  so  daß  bei  diesem  eint  Figur  kaum 

gedacht  war;  es  ist  kompositioneil  abgerundeter. 

Meine  Skepsis  bezüglich  des  Cartellino  gründet 
sich  nur  auf  der  allgemeinen  Wahrnehmung,  daß  viele 

Schulbilder  die  Signatur  Bellinis  tragen.  Am  Car¬ 
tellino  unseres  Bildes  selbst  läßt  sich  nichts  Auf¬ 

fallendes  konstatieren;  er  erscheint  als  der  Entstehungs¬ 
zeit  des  Bildes  angehörig,  nicht  als  spätere  Zutat.  Die 
Schreibweise  ist  die  bekannte  in  Antiqua:  lOANNES 
BELLINVS,  jedoch  ohne  die  Vergrößerung  des  einen 
L,  welche  Morelli  I,  353  als  Kennzeichen  einer  echten 
Bellini-Signatur  ansieht.  Doch  möchte  ich  hier  dieser 


ABB.  4.  LORENZO  LOTTO.  MADONNA.  NEAPEL,  MUSEUM 


ABB.  5.  PREVITALI.  MADONNA.  BERLIN,  KGL.  MUSEUM 


242 


EINE  KOMPOSITION  VON  GIOVANNI  BELLINI 


Behauptung  des  trefflichen  Bilderkenners  nicht  bei¬ 
pflichten.  Ebensowenig  möchte  ich  aber  nun  auf 
Grund  des  Monogramms  für  die  Autorschaft  Bellinis 
mit  aller  Sicherheit  und  vollem  Nachdruck  eintreten, 
so  verlockend  es  auch  wäre,  einen  neuen  Bell  in  i  ent¬ 
deckt  zu  haben.  Das  eine  aber  darf  wohl  kühn 
behauptet  werden,  daß  unser  Bild  gerade  in  der  Auf¬ 
fassung  der  Madonna  am  meisten  der  bellinesken  Art 
entspricht,  jedenfalls  viel  mehr,  als  etwa  der  Berliner 
Previtali,  der  Pariser  Catena  oder  der  Lorenzo  Lotto 
in  Neapel. 

Giovanni  Bellini  harrt  immer  noch  einer  stilkriti¬ 
schen  Abhandlung;  eine  solche  dürfte  nicht  versäumen, 
auch  der  einschneidenden,  hier  erörterten  Frage  näher 
zu  treten.  Es  handelt  sich  nach  meinem  Bedünken 
nicht  allein  um  Kopien  der  zwei  wichtigsten  Figuren, 
sondern  auch  um  freiere  Übersetzungen  i).  So  darf  zu 
den  Kopien  keinesfalls  die  Nummer  2  des  Gronau- 
schen  Verzeichnisses  (Repertorium  1897,  S.  301),  der 
Previtali  der  Londoner  Nationalgalerie,  gerechnet 
werden,  der  schon  wesentlich  andere  Kompositions¬ 
elemente —  vergleiche  die  >en  face<  -Stellung  der  Maria, 
die  Sitzart  des  Kindes  —  zum  Ausdruck  bringt.  Ein 


1)  Zu  diesem  Zcählt  auch  die  Verlobung  der  hl.  Katha¬ 
rina  von  Andrea  Previtali  in  S.  Oiobbe  zu  Venedig. 


anderes  Bild,  die  als  Cima  da  Conegliano  bezeichnete 
Madonna  mit  einem  Stifter  des  Berliner  Museums 
beansprucht,  wie  ein  Blick  auf  das  Christuskind  be¬ 
weist,  weit  mehr  diesen  Platz. 

Mir  war  es  nur  darum  zu  tun,  Georg  Gro¬ 
naus  Vermutung,  daß  Bellini  der  Meister  des  ver¬ 
schollenen  Originals  war,  durch  einige  Beobach¬ 
tungen  zu  festigen,  und  dazu  bot  sich  als  ein 
treffliches  Argument  das  Münchener  Bild.  Meines 
Wissens  tragen  nur  zwei  der  bisher  bekannten  Kopien 
eine  Signatur,  der  Lorenzo  Lotto  in  Neapel  und  der 
sogenannte  Basaiti  in  Stuttgart.  Durch  die  Bezeich¬ 
nung  auf  dem  Münchener  Bilde  nun  wird  aber 
Berensons  und  Rieffels  Annahme  (Repertorium  1897, 
S.  168),  daß  Lorenzo  Lotto  und  Marco  Basaiti  bei 
demselben  Meister,  nämlich  dem  Alvise  Vivarini  ge¬ 
lernt  hätten,  erschüttert,  und  überdies  gewinnt  auch 
der  schon  vermutete  und  angenommene  Schulzu¬ 
sammenhang  Lottos  und  Basaitis  mit  Giambellino  an 
Sicherheit.  Das  hier  neu  eingeführte  Bild  erweist  sich 
nach  den  angedeuteten  Punkten  für  die  Geschichte 
der  venezianischen  Malerei  von  besonderer  Bedeutung 
und  zweifellos  als  ein  wichtiges  Glied  für  die  noch 
keineswegs  genügend  aufgeklärten  Beziehungen  der 
um  Giovanni  Bellini  sich  gruppierenden  und  von  ihm 
abhängigen  Maler  untereinander. 


VALENTIN  r^UTHS.  DER  SCHAARMARKT  IN  HAMBURG 


VALENTIN  RUTHS 

Von  H.  E.  Wallsee-Hamburo 


VIELE  halten  das  Jahrzehnt  nach  dem  Tode 
eines  hervorragenden  Künstlers  als  für  eine  un¬ 
befangene  Schätzung  seiner  Bedeutung  am  un¬ 
geeignetsten.  Ich  möchte  diese  Annahme  nur  mit 
einiger  Einschränkung  gelten  lassen.  Sie  trifft  zu, 
wenn  es  sich  um  Begabungen  handelt,  die  in  ein¬ 
schneidender  Weise  in  die  Kunstbewegung  ihrer  Zeit 
eingegriffen  haben  und  mitten  im  Flusse  dieser  Be¬ 
wegung  hinweggestorben  sind,  wie  etwa  Feuerbach 
und  Makart  und  in  neuerer  Zeit  Böcklin,  und  sie 
trifft  wieder  nicht  zu  bei  Künstlern,  deren  Lebens¬ 
werk  schon  vor  ihrem  Ableben  in  geschlossener 
Kurve  Vorgelegen  hat.  An  dem  künstlerischen  Lebens¬ 
bild  von  Ludwig  Richter,  Menzel,  Leibi,  Lenbach  z.  B. 
hätten  auch  weitere,  mit  arbeitsvoller  Tätigkeit  aus¬ 
gefüllte  Jahrzehnte  nichts  abzuändern  vermocht,  weil, 
was  die  entscheidungsvollsten  Maßstäbe  abgibt,  für 
ihre  Beurteilung  nicht  erst  am  Ausgang  ihres  Lebens 
gefördert  worden  ist. 

Und  ähnlich  so  verhält  es  sich  auch  mit  dem 
hamburgischen  Landschaftsmaler  Valentin  Ruths.  Die 
wichtigsten  Grundlagen  für  die  Gewinnung  eines  Urteils 
über  die  ihm  zustehende  künstlerische  Bedeutung  sind 


nicht  erst  in  dem  Ausgangsjahrzehnt  seines  Lebens 
zu  suchen.  So  wertvolle  Lichter  das  in  diesem  Jahr¬ 
zehnt  Geschaffene  seinem  Lebenswerk  auch  hinzu¬ 
gefügt  hat,  dieses  Werk  selbst  lag  lange  vorher  in 
schon  gefesteten  Umrissen  abgeschlossen  vor.  Man 
kann  von  Valentin  Ruths  zu  dem  in  den  nieder¬ 
sächsischen  Kunstverhältnissen  Unbewanderten  nicht 
sprechen,  ohne  zur  Orientierung  einiges  Allgemeine 
über  diese  Verhältnisse  vorauszuschicken.  Es  hat  der 
Landschaftsmalerei  in  Hamburg  auch  schon  im  Be¬ 
ginn  des  vorigen  Jahrhunderts  an  Freunden  nicht  ge¬ 
fehlt,  obwohl  das  hauptsächlichere  Interesse  dem 
Sittenbild  und  mehr  noch  dem  Bildnis  zugewendet 
war.  Gleichwohl  konnte  Hamburg  Hauptpflege¬ 
stätte  werden  eines  erst  in  unseren  Tagen  verallge¬ 
meinert  zur  Geltung  gekommenen  Kunstzweiges:  der 
landschaftlichen  Panoramamalerei.  So  z.  B.  hat  in  den 
dreißiger  Jahren  ein  von  den  Gebrüdern  Suhr  ge¬ 
maltes  Panorama  von  Hamburg  und  Umgebung  einen 
Siegeszug  durch  ganz  Europa  angetreten.  Da  nun 
diese  Brüder  Suhr  (es  waren  drei)  in  ihrem  Fache 
ganz  tüchtig,  aber  doch  nicht  so  hervorragend  waren, 
daß  angenommen  werden  könnte,  das  ihrem  Ham- 


244 


VALENTIN  RUTHS 


burger  Panorama  auch  auswärts  entgegengebrachle 
Interesse  sei  auf  dessen  künstlerische  Beschaffenheit 
zurückzuführen  gewesen,  erübrigt  doch  wohl  nur 
die  Annahme,  daß  hierfür  die  architektonische  Eigen¬ 
art  ihrer  Vaterstadt  und  mehr  noch  die  ganz  außer¬ 
ordentliche  Schönheit  ihrer  Umgebung  bestimmend 
gewesen  ist.  Was  die  niedersächsische  Landschaft  an 
sich  für  die  Kunst  bedeutet,  ist  vielleicht  am  ehesten 
dem  Verständnis  nahe  gebracht,  wenn  wir  auf  die 
Dichter  hinweisen,  die  aus  Niedersachsen  hervor¬ 
gegangen  sind.  Die  Namen  Hebbel,  Storni,  Frenssen, 
Liliencron  genügen.  Diese  Männer  erscheinen  in 
ihren  Werken  Schöpfungen  derselben  Elemente,  die 
den  Boden  ihrer  Heimat  gestaltet  haben.  Sturm  und 
Wellen  haben  diesen  Boden  geschaffen,  zerrissen  und 
geformt,  auf  dem  im  Laufe  von  ungezählten  Jahr¬ 
tausenden  Mengen  blühender  Waldstriche  neben  schwer¬ 
mütigen  Ödflächen,  Dünen  und  Moore  erstanden 
sind,  um  die  her  silberne  Wasserbänder  tiefe  Rinnen 
zogen. 

Die  Kultur  Iiat  manches  an  diesem  Bilde  ver¬ 
schoben,  manches  abgeändert  und  manches  Neue 
hinzugetan,  an  seiner  Grundnote  hat  sie  nichts  um¬ 
zugestalten  vermocht,  und  wer  heute  im  Sachsenwald 
streift  und  wer  in  der  Heide  herwärts  Lüneburg  des 
Weges  zieht,  der  kann  ohne  Phantasie  sich  in  weit 
zurückliegende  Alterszeiten  versetzt  glauben.  Die 
Malerei  ist  im  Erkennen  des  hohen  schönheitlichen 
Wertes  dieser  heimischen  Landschaft  hinter  den  Schrift¬ 
stellern  dreingezogen.  Wenn  wir  von  der  schon  er¬ 
wähnten  Panoramamalerei  absehen,  die  schließlich 
doch  ein  anderes  ist,  als  im  allgemeinen  unter  rich¬ 
tiger  Landschaftsbildnerei  verstanden  wird,  so  sehen 
wir  die  Erkenntnis  und  das  Verständnis  für  die 
Schönheit  ihrer  heimatlichen  Landschaft  im  beson¬ 
deren  und  den  Wert  der  Neubelebung  der  Land¬ 
schafterei  für  die  Zukunft  der  Kunst  im  allgemeinen 
erst  bei  dem  im  Jahre  1777  geborenen  Otto  Runge 
einsetzen.  Verwandte  Anklänge  finden  sich  bei  Julius 
Oldach,  zur  Stimmungsschilderung  entwickelt  ist  die 
Landschaftsmalerei  in  den  dreißiger  Jahren  des  vo¬ 
rigen  Jahrhunderts  bei  Christian  Morgenstern  und 
Adolf  Friedrich  Vollmer.  Dem  letzteren  steht  über¬ 
dies  das  Verdienst  zu,  als  Erster  die  schönheitlichen 
Werte  des  hamburgischen  Hafens  erkannt  und  — 
als  Radierung  —  künstlerisch  als  Erster  frei  behandelt 
zu  haben. 

»In  den  dreißiger  Jahren  vollzog  sich  innerhalb 
des  Hamburger  Künstlerkreises  die  entscheidende 
Krisis.  Die  Führer  der  Präraffaelitengruppe  waren 
jung  gestorben.  Die  Stimmungslandschafter  wie 
Morgenstern  und  Vollmer  ausgewandert.  Morgen¬ 
stern  gründete  eine  eigene  Schule  in  München, 
Vollmer  verlor  in  der  Fremde  seine  früh  entwickelte 
Eigenart  und  kehrte  als  ein  anderer  nach  Hamburg 
zurück.  So  blieb  das  Feld  Jakob  Gensler  und  Herr¬ 
mann  Kauffmann,  die,  von  Hause  aus  auf  das  Leben 
der  Gegenwart  gerichtet  und  weder  von  der  Alter¬ 
tümelei  der  Präraffaeliten ,  noch  von  der  Sentimen¬ 
talität  der  Romantiker  im  geringsten  angekränkelt,  in 
den  Münchener  Realisten  ihre  gleichgearteten  Führer 


fanden.  Als  sie  in  ihre  Heimat  zurückkehrten,  rissen 
sie  ihre  Genossen  mit  sich  fort.  Die  Landschaft  und 
das  Volksleben  der  Heimat  wurden  von  der  jungen 
Kunst  auf  das  mannigfaltigste  widerspiegelt.  Den 
Sachinhalt  des  täglichen  Tuns  und  Treibens  unseres 
Volkes  und  der  hügeligen  Wald-  und  Heidelandschaft 
hat  das  Geschlecht  völlig  erschöpft.  Dagegen  kam 
der  Ansatz  zu  einer  Schilderung  des  Stimmungs¬ 
gehaltes,  den  wir  bei  Morgenstern  und  Vollmer  kon¬ 
statieren  können,  bei  ihnen  nicht  zur  Entfaltung.  Wir 
dürfen  angesichts  der  Werke  von  Kauffmann,  der 
Gebrüder  Gensler,  der  beiden  Haeselich,  Otto  Speckters 
und  anderer  mehr  die  Bezeichnung  Hamburger  Schule 
für  diese  Künstlergruppe  wohl  anwenden,  denn  weder 
in  früherer,  noch  in  späterer  Zeit  ist  der  Mensch 
und  die  Natur  unseres  Landes  so  ernsthaft  und  um¬ 
fassend  dargestellt  worden,  und  neben  den  wahlver¬ 
wandten  Münchener  Realisten  gibt  es  weder  in  Berlin, 
Dresden  noch  Düsseldorf  eine  Gruppe  von  Künstlern, 
die  zu  jener  Zeit  für  ihre  Provinz  geleistet  haben, 
was  von  1830  bis  1850  Kauffmann  und  sein  Kreis 
in  Hamburg  gewesen  sind.  Daß  es  von  der  deut¬ 
schen  Kunstgeschichte  übersehen  und  in  Hamburg 
vergessen  werden  konnte,  liegt  an  tlern  Kreis,  für  den 
die  Künstler  schufen.  Fast  alle  ihre  Arbeiten  be¬ 
finden  sich  in  Privatbesitz.  Wir  haben  aber  heute 
die  Pflicht,  uns  dieser  eigenartigen  Leistungen  be¬ 
wußt  zu  werden,  die  sicherlich  von  den  kommenden 
Geschlechtern  zu  dem  gesündesten  gerechnet  werden, 
was  unser  Jahrhundert  in  Deutschland  hervorge¬ 
bracht  hat.« 

So  schreibt  A.  Lichtwark  in  seinem  Buche  über 
»Herrmann  Kauffmann  und  die  Kunst  in  Hamburg.« 

Auf  die  hier  genannten  Künstler  des  näheren  ein¬ 
zugehen,  würde  uns  von  dem  eigentlichen  Zweck 
dieser  Zeilen,  unseren  Lesern  die  Persönlichkeit  des 
bedeutendsten  hamburgischen  Landschaftsmalers  aus 
unseren  Tagen  nahe  zu  bringen,  ablenken.  Daß  er 
in  dieser  seiner  Bedeutung  nicht  auch  außerhalb 
Hamburgs  längst  erkannt  ist,  dafür  geben  die  Schlu߬ 
sätze  in  dem  dem  Lichtwarkschen  Buch  entnommenen 
Auszug  die  Erklärung.  Über  Berlin  und  Dresden 
sind  die  nennenswerten  Werke  Ruths  auf  Aus¬ 
stellungen  nicht  hinausgekommen  und  just  die  für 
die  Kenntnis  seiner  künstlerischen  Eigenart  bezeich¬ 
nendsten  befinden  sich  in  privaten  Fländen.  Wie  so 
mancher  der  aus  Hamburg  hervorgegangenen  Künstler 
begann  die  Laufbahn  auch  Valentin  Ruths’  im  Kauf¬ 
mannskontor.  Er  war  dahin  gebracht  worden,  weil 
seinen  Eltern  die  Mittel  zum  Bezahlen  des  Lehrgeldes 
fehlten,  das  ein  Maleramtsmeister  für  die  angesuchte 
Übernahme  des  Knaben  als  Lehrling  gefordert  hatte. 
Der  kleine  Ruths  aber,  in  dem  der  Künstler  sich 
schon  frühzeitig  regte,  hielt  scharfen  Ausguck  nach 
irgend  einer  Gelegenheit,  seine  Sehnsucht  verwirk¬ 
lichen  zu  können.  Diese  Gelegenheit  fand  sich 
in  einer  Bekanntschaft  mit  einem  Lithographen 
namens  Beer.  Dieser  erbot  sich  auch,  ihn  in  die 
Lehre  zu  nehmen,  obwohl  Ruths  erklärte,  die  Litho¬ 
graphie  nur  als  Mittel  zum  Zweck  zu  betrachten, 
da  er  Landschaftsmaler  werden  wolle  und  müsse. 


VALENTIN  RUTHS 


245 


Ruths  bedang  sich  für  die  ersten  zwei  Jahre  die 
Hälfte  des  Ertrages  seiner  Arbeiten  aus  und  forderte 
für  später  die  halbe  Zeit  zu  seinem  alleinigen  Nutzen. 
Beer  ging  auf  beides  ein.  Nachdem  Ruths  den  ersten 
Winter  nach  Gips  und  nach  Vorlagen  gezeichnet 
hatte,  fing  er  im  Frühjahr  1844  an,  Aufnahmen  nach 
der  Natur  zu  machen.  Der  Aufbau  des  im  Jahre  1842 
abgebrannten  Stadtteiles  stand  damals  im  Vordergrund 
des  allgemeinen  Interesses,  und  Ansichten  davon  als 
Kopfleisten  für  Briefbogen  fanden  guten  Absatz.  Der 
eifrige  Kunstnovize  zeichnete  allmählich  größere  An¬ 
sichten,  nachmittags  und  Sonntags  auch  landschaft¬ 
liche  Studien.  Das  Verhältnis  mit  Beer  zerschlug 
sich,  als  Ruths  im  Frühjahr  1846  der  Absprache  ge¬ 
mäß  die  Hälfte  der  Zeit  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
wollte,  und  er  arbeitete  nun  den  Sommer  für  sich 
allein.  Im  Herbst  hatte  er  ungefähr  hundert  Thaler 
erübrigt.  Diese  Summe  schien  ihm  ausreichend  ge¬ 
nug,  darauf  seine  künstlerische  Zukunft  zu  bauen. 
Nun  machte  er  sich  Anfang  Oktober,  meist  zu  Fuße 
wandernd,  zeichnend  und  skizzierend,  über  den  Rhein 
und  durch  Süddeutschland  auf  den  Weg  nach 
München,  wo  er  am  1.  November  1846  eintraf. 
Er  fand  hier  Aufnahme  in  der  polytechnischen 
Schule;  die  Reise  und  der  Winter  hatten  aber  trotz 
der  größten  Einschränkung  seine  kleine  Barschaft 
bald  aufgezehrt.  Die  Lithographie  ermöglichte  es  ihm 
zunächst,  wenn  auch  nur  kümmerlich,  in  München 
zu  existieren.  Seine  Lage  besserte  sich  sogar  vorüber¬ 
gehend  im  Jahre  1848,  wo  ihm  die  politische  Be¬ 
wegung  Gelegenheit  gab,  Tagesereignisse  und  po¬ 
litische  Karikaturen  zu  zeichnen.  Die  zunehmenden 
Wirren  machten  indes  auch  dem  und  einigen  anderen 
guten  Aussichten  wieder  ein  Ende,  und  so  kehrte  er 
nach  fast  zweijährigem  Aufenthalt  in  München  im 
Sommer  1848  nach  Hamburg  zurück.  Hier  fand 
er  zunächst  Beschäftigung  in  der  lithographischen 
Anstalt  von  Ch.  Fuchs,  zog  sodann  im  Sommer  nach 
dem  bei  Hamburg  gelegenen  Vorort  Großborstel, 
wohin  er  die  Steine  kommen  ließ,  und  zeichnete  und 
malte  in  freier  Zeit  landschaftliche  Studien.  Zwischen¬ 
durch  —  es  war  dies  im  Jahre  1849  und  1850  — 
malte  er  seine  ersten  Bilder. 

1850  ging  Ruths  nach  Düsseldorf  zu  J.  W.  Schirmer. 
Hier  gehörte  Valentin  Ruths  mit  zu  jenen  Künstlern, 
die  in  ihren  Werken  Lessings  Worte:  »daß  die  Land¬ 
schaft,  weil  sie  keine  Seele  habe,  für  die  Malerei 
kein  Vorwurf  sein  könne«,  zuerst  ins  Unrecht  stellten. 
Freilich  stand  die  Naturliebe  jener  Zeit  noch  unter 
dem  Zeichen  der  Romantik,  es  war  die  Blüteperiode 
der  stilisierten  Landschaft,  in  der  die  wirkliche  Natur 
sich  den  jeweiligen  Neigungen  des  darstellenden 
Künstlers  unterordnen  mußte. 

Was  Ruths  unter  Schirmer  in  Düsseldorf  empfangen, 
entwickelte  er  weiter  durch  eigene  Anschauungen,  zu¬ 
nächst  auf  seiner  ersten  Italienfahrt,  als  deren  Frucht 
er  unter  anderem  eine  derzeit  im  Besitz  der  ham- 
burgischen  Kunsthalle  befindliche,  im  Abendsonnen¬ 
schein  erglühende  kleine  Landschaft  aus  den  Sabiner¬ 
bergen  heimbrachte.  Schon  in  diesem  Gemälde  tritt 
in  bestimmter  Form  zutage,  was  in  der  Folge  so 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  g 


häufig  in  seinen  Werken  wiederkehrte,  daß  hier  wohl 
von  einer  dauernden  Eigenart  unseres  Künstlers  ge¬ 
sprochen  werden  kann:  das  ist  der  bei  Lessing  am 
sichtbarsten,  bei  Schadow  weit  abgeschwächter,  aber 
noch  immer  in  seinen  Ausklängen  bei  V.  Ruths  deut¬ 
lich  wahrnehmbare  Einfluß  Schinkels:  von  erhöhten 
Standpunkten  aus  eine  möglichst  große  Fläche  mit 
Bergen,  Hügeln,  Tälern,  Flüssen,  Saatfeldern  und 
Landwegen  zu  umfassen.  Hierzu  gesellte  sich  bei 
Ruths  eine  kräftige  Durchbildung  der  Form,  Energie 
des  Kolorits  und  die  vorschlagende  Neigung,  in  das 
in  der  Landschaft  Gegebene  und  tatsächlich  Vor¬ 
handene  seine  eigenen  Ideen  hinein  zu  konstruieren, 
womit  jedes  seiner  Gemälde  ein  Persönliches  er¬ 
hielt,  das  auch  ohne  Namensfertigung  jedes  seiner 
Werke  sofort  als  von  seiner  Hand  herrührend  er¬ 
kennen  läßt. 

Im  Jahre  1857  kehrte  Valentin  Ruths  nach  seiner 
Vaterstadt  zurück,  wo  er  seither,  mit  Unterbrechungen, 
dauernd  verblieb.  Diese  Anhänglichkeit  entsprang 
dem  reinsten  Heimatgefühl,  denn  künstlerisch,  wie 
in  seiner  menschlichen  Eigenart  zog  es  Ruths  weit 
mehr  auf  stille,  von  Menschengewühl  und  dem  Ge¬ 
triebe  der  großen  Städte  abseits  gelegene  Bahnen. 
Im  Treppenhause  der  Kunsthalle  in  Hamburg  sind 
acht  Gemälde  von  seiner  Hand  aufgemacht,  acht  aka¬ 
demische  Paradestücke,  ihrem  räumlichen  Umfang 
nach  wohl  die  größten  Leinwänden,  die  er  bemalt, 
in  dem,  was  sie  von  dem  Poeten  sagen,  der  in  dem 
Künstler  steckte,  wohl  die  zurückhaltendsten  unter 
allen  seinen  Werken.  Nicht  daß  er  dem  an  sich 
Großen  ausgewichen  wäre,  aber  dieses  erkannte  er 
nicht  in  großen  Maßen,  sondern  in  dem  Widerhall, 
den  die  von  außen  herantretende  Erscheinung 
weckt.  Die  Heide,  der  Urwald,  das  Hochgebirge 
---  diese  bleibenden  Stätten  des  Naturgrößen  — 
waren  seine  künstlerischen  Lieblingsaufenthalte,  aus 
denen  heraus  sein  Geist  reichste  Befruchtung  empfing. 
Der  Baum  stand  ihm  —  künstlerisch  —  näher  als 
der  Mensch,  und  vor  die  Wahl  gestellt,  wen  von 
den  beiden  er  in  seinen  Gemälden  im  Vordergründe 
anbringen  solle,  entschied  er  sich  immer  für  den 
ersten.  So  befanden  sich  unter  den  einhundertund- 
siebzig  oder  mehr  nachgelassenen  Ölgemälden,  Aqua¬ 
rellen  und  Zeichnungen  (fertige  Arbeiten  und  Studien), 
die  während  der  Monate  März  und  April  dieses  Jahres 
in  der  Kunsthalle  ausgestellt  waren,  alles  in  allem 
etwa  vier  oder  fünf  Tafeln  mit  einiger  figürlicher 
Staffage,  die  aber  selbst  dort,  wo  im  Titel  darauf 
Bezug  genommen  war  —  wie  z.  B.  auf  dem  als 
»Künstlers  Erdenwallen«  bezeichneten  Gemälde,  das 
vier  Wanderkünstler  in  öder  Dünenlandschaft  zum 
Mittelpunkte  hat  — ,  nur  zur  Unterstützung  des  be¬ 
sonderen  Charakters  der  betreffenden  Landschaft 
dienten. 

Die  großen  Schönheiten  der  eigentlichen  ham- 
burgischen  Landschaft  sind  in  unseren  Tagen  von 
vielen  neu  entdeckt  worden  und  nicht  nur  von  Ham¬ 
burgern  allein.  Elbauf-  und  elbabwärts,  in  den  Niede¬ 
rungen  des  Alstertales  und  im  eigentlichen  ham- 
burgischen  Hafenbecken  selbst  kann  man  mit  dem 


33 


VALENTIN  RUTHS 


WALDBACH 


VALENTIN  RUTHS 


WESTFÄLISCHE 


248 


VALENTIN  RUTHS 


Wiederbeginn  der  guten  Jahreszeit  hamburgische  und 
auch  von  weither  zugereiste  Künstler,  Lehrende  und 
Lernende,  einzeln  und  in  Gruppen  darauf  ausgehen 
sehen,  sich  vornehmlich  der  malerischen  Reize  dieser 
Landschaft  zu  versichern.  Aber  eben  nur  der  male¬ 
rischen  Reize.  Das,  was  über  den  Farbenklang  hinaus 
und  was  in  dieser  Landschaft  lebendig,  daß  eine 
Seele  da  ist,  das  haben  die  meisten  nicht  erkannt, 
und  so  können  wir  es  von  ihnen  auch  nicht  er¬ 
fahren.  Man  wird,  wenn  der  Umformungsprozeß, 
in  dem  Hamburg,  Stadt  und  Land,  sich  zur  Zeit 
befindet,  abgeschlossen  sein  wird,  um  zu  erfahren, 
wieviel  Heimeliges  es  hier  herum  gegeben  hat,  sich 
bei  den  Blättern  und  Tafeln  Valentin  Ruths’  Rats 
erholen  müssen. 

ln  seinen  letzten  Lebensjahrzehnten  war  Ruths 
Zeuge  der  großen  Reformbewegung  auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Malerei,  die  ganz  besonders  in  Hamburg 
bei  qualitativ  weit  auseinanderstehenden  Begabungen 
lärmvolle  Zustimmung  fand.  Doch  stalt  vor  den 


turbulenten  Äußerungen  dieser  Bewegung  in  kühler 
Abkehr,  wie  so  viele  andere  Alte  taten,  scheu  oder 
im  Trutze  zurückzu  weichen,  suchte  er  nach  der  Mög¬ 
lichkeit  einer  Verständigung,  die  er  auch  in  der 
Weise  fand,  daß,  was  er  an  den  Modernen  für  gut 
erkannte,  er  seiner  eigenen  Art  verband.  Dadurch 
hat  er  für  sich  erreicht,  daß  es  seiner  Kunst  bis  in 
unsere  Tage  herein  nicht  an  werktätigen  Freunden 
fehlte,  und  für  seine  jungen  Berufsgenossen,  daß  sie 
an  dem  Beispiel  lernten,  das  er  ihnen  bot.  Und  so 
ist,  indem  er,  ohne  von  seiner  erprobten  alten  Art 
zu  lassen,  von  dem  Neuen  an-  und  aufgenommen 
hat,  was  ihm  gesund  und  mit  seiner  Naturanschauung 
im  Einklang  stehend  geschienen,  er  der  ungestümen 
Jugend  geworden,  was  das  Alter  der  Jugend  stets 
sein  soll:  ein  Beispiel  Gebender  und  Wegweisender 
in  dem  schweren  Kampf  des  Lebens. 

Valentin  Ruths  war  am  6.  März  1825  geboren 
worden  und  ist  am  18.  Januar  1905  gestorben. 


VALENTIN  RUTHS.  AUS  DEM  SABINERGEBIROE 


VOM  GEWÖLBE  DER  TAUEKIRCHE  ST.  GEREON  IN  KÖLN 


DIE  ROMANISCHEN  WANDMALEREIEN  DER  RHEINLANDE 


Die  Veröffentlichung  mittelalterlicher  Wand¬ 
malereien  ist  zwar  eine  sehr  nötige  und  ver¬ 
dienstliche,  dabei  aber  recht  mühselige  und 
undankbare  Arbeit,  die  von  jeher  nur  in  geringem 
Grade  den  Ehrgeiz  der  Fachgenossen  zu  entflammen 
vermocht  hat.  Die  Tatsache,  daß  die  Kenntnis 
des  Entwickelungsganges  der  mittelalterlichen  Malerei 
irrig  und  lückenhaft  bleibt,  solange  sie  sich  nur  auf 
das  Studium  der  Miniaturen  stützt,  wird  zwar  willig 
anerkannt,  aber  zugleich  mit  größter  Geduld  ertragen. 

Es  gehört  eine  ganz  besondere  Liebe  zur  Sache 
und  eine  unermüdliche  Ausdauer  dazu,  um  diese 
sprödeste  Klasse  von  Kunstdenkmälern  sich  zum 
Arbeitsfelde  zu  erwählen.  Mit  dem  photographischen 
Apparate  ist  in  vielen  Fällen  gar  nichts  zu  erreichen, 
des  Standortes,  der  Flächengestaltung  und  der  Be¬ 
leuchtungsverhältnisse  wegen.  Die  mühselige  und 
kostspielige  Durchpausung  erfordert  geradezu  fach¬ 
männisch  geschulte  Augen  und  Hände,  die  nur  in 
den  seltensten  Fällen  zur  Verfügung  stehen.  Und 
selbst  dann  schleichen  sich  leicht  noch  Irrtümer  in 
die  Darstellung  ein,  weil  ja  die  Zusammenhänge  der 
Linien  oft  nur  erraten  werden  müssen.  Die  meist 
trümmerhaft  erhaltenen  Farbenreste  müssen  wieder 
besonders  und  aus  freier  Hand  eingetragen  werden. 
Die  farbige  Reproduktion  endlich  erfordert  große 
Mittel  und  ganz  besondere  Mühewaltung.  Und  das 
Resultat  so  vieler  hingebender  Arbeit  ist  schließlich 
doch  in  vielen  Fällen  nur  ein  künstlerisch  wenig  be¬ 
friedigender,  trümmerhafter  Gesamteindruck.  Kurzum: 
Ein  undankbares  Gebiet!  Zahlreiche  große  und  kleine 
Wandbilderzyklen,  die  in  der  lebhaften  Umbau-  und 
Restauriertätigkeit  der  letzten  Jahrzehnte  zutage  ge¬ 
treten  waren,  sind  daher  wieder  unter  der  Tünche 
verschwunden  oder  durch  den  Pinsel  des  Restaurators 
ihres  dokumentarischen  Wertes  beraubt  worden,  ohne 
daß  sie  vorher  in  einwandfreien  Aufnahmen  für  die 
Forschung  festgelegt  worden  wären.  Nur  innerhalb 


größerer  Verbände  und  bei  sehr  reichlichen  Mitteln 
ist  eine  entsprechende  Pflege  dieser  wichtigen  Klasse 
mittelalterlicher  Kunstdenkmäler  möglich. 

Der  Provinzial- Konservator  der  Rheinprovinz  hat 
sich  ein  besonderes  Verdienst  dadurch  erworben,  daß 
er  seit  einem  Jahrzehnt  eifrig  bemüht  gewesen  ist, 
die  gerade  im  Rheinlande  zahlreich  zutage  tretenden 
Reste  mittelalterlicher  Wandmalereien  vor  ihrer  Ver¬ 
nichtung  oder  Restaurierung  in  guten  Nachbildungen 
zu  retten.  Über  250  Blätter  der  Art  sind  jetzt  be¬ 
reits  im  Denkmälerarchiv  der  Rheinprovinz  vereinigt. 
Ein  ganzer  Stab  besonders  geschulter  und  ausge¬ 
bildeter  Maler  war  dauernd  für  diesen  Zweck  be¬ 
schäftigt.  Es  bleibt  ein  Ruhmestitel  der  rheinischen 
Provinzialverwaltung,  die  Mittel  für  diese  Aufgabe 
bereitgestellt  zu  haben.  Mit  Ungeduld  wurde  die 
Veröffentlichung  der  kostbaren  Funde  von  der  For¬ 
schung  erwartet.  Der  große  Zug,  der  durch  die 
rheinische  Wandmalerei  des  Mittelalters  hindurchgeht, 
war  ja  schon  einigermaßen  bekannt  durch  die  drei 
großen  Wandbilder- Zyklen  von  Schwarzrheindorf, 
Brau  Weiler  und  Ramersdorf,  die  aus' m  Weerth  vor 
fast  einem  halben  Jahrhundert,  allerdings  erst  im  Zu¬ 
stande  nach  der  Restauration,  veröffentlicht  hat'). 
Ferner  waren  die  schönen  Dekorationen  der  St.  Se- 
verikirche  zu  Boppard  und  der  Chorschranken  des 
Kölner  Domes,  die  interessanten  Reste  im  Westchor 
des  Münsters  zu  Essen  und  in  der  Kirche  zu  Knecht¬ 
steden  auf  der  großen  Ausstellung  niittclalterlichcr 
Wand-  und  Glasmalereien  im  Berliner  Kunstgewerbe¬ 
museum  (Frühjahr  1 895)  durch  charakteristische 
Proben  vertreten'-).  Diese  Proben  sind  inzwischen 
in  dem  verdienstvollen  und  reichhaltigen  Werke  Borr- 

1)  E.  aus’m  Weerth,  Kunstdenkiiiäler  des  christlichen 
Mittelalters  in  den  Rheinlanden.  Atlas  mit  40  Tafeln  und 
Textband.  Leipzig  1857-1860. 

2)  Vergl.  Repertorium  für  Kunstwissenschaft  XVIII, 
148-  159, 


250 


DIE  ROMANISCHEN  WANDMALEREIEN  DER  RHEINLANDE 


manns  »Aufnahmen  mittelalter¬ 
licher  Wand-  und  Deckenmalereien 
in  Deutschland»  (Berlin  1897 
bis  1900)  in  farbigen  Nachbil¬ 
dungen  veröffentlicht  worden. 
Einen  vollen  Eindruck  dessen 
aber,  was  für  die  Kenntnis  der 
mittelalterlichen  Monurnentalma- 
lerei  aus  den  rheinischen  Denk¬ 
mälern  zu  erwarten  sei,  vermittel¬ 
ten  doch  erst  die  zahlreichen  far¬ 
bigen  Kopien  aus  dem  rheinischen 
Denkmälerarchiv,  welche  auf  den 
Düsseldorfer  Ausstellungen  der 
Jahre  1902  und  1904  zu  sehen 
waren. 

Nun  liegt  der  erste  Tafelband 
des  seit  Jahren  von  Pani  Clemeti 
sorgfältig  vorbereiteten  großen 
Werkes  vor.  Er  umfaßt  auf  64 
Tafeln  die  rheinischen  Wandmale¬ 
reien  der  romanischen  Epoche  ^). 
Man  muß  gestehen,  daß  die  Er¬ 
wartungen  noch  bedeutend  über¬ 
troffen  werden,  sowohl  was  die 
Reichhaltigkeit  und  Bedeutung 
der  Denkmäler,  als  die  Art  ihrer 
Wiedergabe  an  belangt.  Bis  zurück 
ins  9.  und  10.  Jahrhundert,  zu 
den  Malereien  im  Oktogon  und 

1)  Die  romanischen  Wandmale¬ 
reien  der  Rheinlande,  von  Paul  Gie¬ 
men.  Publikation  XXV  der  Gesell¬ 
schaft  für  rheinische  Geschichts¬ 
kunde.  Tafelband  in  größtem  Folio 
(64X49  cm).  Verlag  von  L.  Schwann, 
Düsseldorf,  1905.  Preis  mit  dem 
später  erscheinenden  Textband  75  M. 


AUS  DER  TAUFKAPELLE  ST.  GEREON,  KÖLN 


in  der  Kaiserloge  des  Aachener 
Münsters,  geleiten  uns  die  ersten 
Tafeln.  Bringen  sie  auch  nur 
dürftige  Überreste  zur  Anschau¬ 
ung,  es  sind  doch  wertvolle  Er¬ 
gänzungen  zu  den  einzigen  bis 
jetzt  bekannten  Denkmälern  deut¬ 
scher  Wandmalerei  aus  dem  ersten 
Jahrtausend,  den  beiden  Zyklen 
in  der  Bodenseegegend. 

Das  1 1.  Jahrhundert  ist  durch 
die  ganz  besonders  gut  wieder¬ 
gegebenen,  bisher  noch  nicht 
veröffentlichten  Heiligengeslalten 
aus  der  ehemaligen  Luciuskirche 
zu  Werden  und  durch  die  nun 
zum  erstenmal  vollständig  repro¬ 
duzierten  Szenen  aus  dem  West¬ 
chor  der  Münsterkirche  zu  Essen 
vertreten.  Aus  dem  12.  Jahrhun¬ 
dert  werden  die  große  Apsis¬ 
malerei  der  Abteikirche  zu  Knecht¬ 
steden,  die  Dekoration  der  Krypta 
in  der  Münsterkirche  zu  Emme¬ 
rich,  die  erst  jüngst  aufgedeckten 
Gemälde  in  der  Krypta  von  St. 
Maria  im  Kapitol  und  aus  dem 
Chor  von  St.  Gereon  zu  Köln 
vorgeführt.  Wir  müssen  dem 
Herausgeber  dankbar  sein,  daß 
er  auch  die  Bilderkreise  aus  der 
Schwarzrheindorfer  Doppelkirche 
und  aus  dem  Kapitelsaal  von 
Brauweiler  in  diesem  Zusammen¬ 
hänge  vollständig  und  übersicht¬ 
lich  wiederholt  hat.  Es  mußten 
dabei  die  von  aus’m  Weerth  be¬ 
nutzten  Zeichnungen  zugrunde 


MALEREI  IN  DER  KRYPTA  DER  MÜNSTERKIRCHE  ST.  MARTIN  ZU  EMMERICH 


DIE  ROMANISCHEN  WANDMALEREIEN  DER  RHEINLANDE 


251 


WANDGEMÄLDE  IN  DER  TAUFKAPELLE  VON  ST.  KUNIBERT  IN  KÖLN 


gelegt  werden,  da  die  Originale  rettungslos  vcrrestaii- 
riert  sind.  Gesamtansichten  des  jetzigen  Zustandes 
wurden  hinzugefügt.  Zwei  mächtige  Christophorus- 
gestalten  aus  der  Peterskirche  zu  Bacharach  und  aus 
dem  Bonner  Münster  (die  letztere  umstehend  ab¬ 
gebildet)  gehören  ebenfalls  noch  dem  1 2.  Jahrhundert  an. 

Mit  dem  13.  Jahrhundert  wird  die  Fülle  der  er¬ 
haltenen  Denkmäler  noch  größer.  Clemen  bringt  in 
diesem  Bande  nur  die,  welche  ihrem  Charakter  nach 
noch  der  romanischen  Epoche  zuzurechnen  sind: 
die  große  Dekoration  der  Bopparder  Severikirche, 
die  bisher  meist  noch  unveröffentlichten  Wand¬ 
gemälde  aus  Sayn,  Carden,  Andernach,  Linz,  Neuß, 
Limburg  und  endlich  die  Zyklen  in  der  Taufkapelle 
St.  Gereon,  in  St.  Maria  Lyskirchen  und  in  St.  Kuni¬ 
bert  zu  Köln. 

Aus  dieser  knappen  Aufzählung  ist  schon  zu  ent¬ 


nehmen  ,  welche  Fülle  neuen  kunstgeschichtlichen 
Urkundenmaterials  durch  die  Clemensche  Publikation 
der  Forschung  zugeführt  wird.  Die  Anschauungen 
über  den  Entwickelungsgang  der  deutschen  Malerei 
im  Mittelalter,  speziell  auch  nach  der  Seite  des  Farben¬ 
sinnes  hin,  wird  in  wesentlichen  Punkten  Berich¬ 
tigungen  daraus  entnehmen.  Näher  auf  die  kunst¬ 
geschichtlichen  Ergebnisse  einzugehen,  ist  jetzt  noch 
nicht  die  Zeit,  da  der  ausführliche  Textband,  der  die 
Forschungsergebnisse  und  die  eingehende  Beschreibung 
der  einzelnen  Denkmäler  nebst  vielen  Detailaufnahmen 
enthalten  soll,  erst  binnen  Jahresfrist  ausgegeben  wer¬ 
den  wird.  Er  soll  auch  einige  Kapitel  über  Technik 
und  Stil,  über  das  monumentale  Dekorationsprinzip, 
über  das  Verhältnis  der  rheinischen  Wandmalerei  zu 
Westfalen  und  Frankreich,  zur  byzantinischen  Kunst 
und  zur  rheinischen  Buchmalerei  bringen.  Dem  jetzt 


252 


DIE  ROMANISCHEN  WANDMALEREIEN  DER  RHEINLANDE 


ausgegebenen  Tafelbande  ist  nur  ein  kurzes  Vorwort 
und  eine  knappe  Beschreibung  der  Tafeln  beigegeben. 

Die  unserer  Anzeige  eingefügten  Bildproben  wollen 
von  der  Sorgfalt  der  Aufnahmen  und  ihrer  Wieder¬ 
gabe  eine  Vorstellung  vermitteln.  Wer  jemals  mit 
der  Veröffentlichung  alter  Wandmalereien  zu  tun  ge¬ 
habt  hat,  wird  die  Unsumme  von  Arbeit  abzuschätzen 
wissen,  die  in  den  zwanzig  vielfarbigen  und  vierimd- 
vierzig  einfarbigen  Tafeln  des 
Clemenschen  Werkes  niedergelegt 
ist.  Je  nach  der  Art  des  Denk¬ 
males,  nach  seiner  Wiclitigkeit  und 
seinem  Erhaltungszustände  oder 
nach  den  zur  Verfügung  stehenden 
Vorlagen  sind  die  verschiedensten 
Techniken  zur  Anwendung  gebracht 
worden:  Lichtdruck,  Lithographie, 

Farbenlichtdruck,  Dreifarbendruck. 

Entsprechend  wechselt  auch  das 
zu  den  Tafeln  verwendete  Papier. 

Das  sehr  grolle  Format  hat  leider 
die  Unhandlichkeit  der  ganzen 
Mappe  zur  Folge,  —  ein  Tisch 
von  ausschweifender  Größe  ist  zu 
ihrer  Entfaltung  erforderlich.  Aber 
andererseits  ist  durch  die  Größe 
der  Tafeln  eine  so  deutliche  Wie¬ 
dergabe  auch  der  kleineren  Einzel¬ 
heiten  der  Darstellung  ermöglicht 
worden,  daß  für  diesen  Vorzug 
die  Unbequemlichkeit  gern  in  Kauf 
genommen  wird. 

Da  das  Werk  neben  der  kunst¬ 
historischen  Betrachtung  auch  den 
praktischen  Zwecken  der  heutigen 
Monumentalmalerei  zu  dienen 
wünscht,  wurden  eine  Anzahl 
großer  Kirchendekorationen  im  Gan¬ 
zen  wiedergegeben,  so  die  aus  der 
Severikirche  zu  Boppard  (Tafel  32), 
aus  dem  Limburger  Dome  (Tafel  49), 
aus  der  Liebfrauenkirche  in  Ander¬ 
nach  (Tafel  47).  Die  Außendekora¬ 
tion  an  der  Stiftskirche  zu  Garden 
(Tafel  36)  ist  ein  interessantes  Beispiel  für  die  bisher 
wenig  beachtete,  aber  in  der  Zeit  des  romanischen 
Stiles  sicher  vielfach  geübte  farbige  Tönung  hervor¬ 
ragender  Bauglieder  an  der  Außenseite  monumentaler 
Gebäude.  Auffallenderweise  befindet  sich  unter  den 
sämtlichen  in  diesem  ersten  Tafelbande  veröffentlichten 
Wandmalereien  nur  ein  einziges  Denkmal  der  Profan¬ 
kunst,  nämlich  zwei,  leider  sehr  beschädigte  Szenen, 
die  im  Jahre  188g  in  einem  Hause  am  Holzmarkte 


zu  Köln  entdeckt  und  in  das  Museum  Wallraff- 
Richartz  übertragen  wurden.  Sie  stellen  wohl  Vor¬ 
gänge  aus  einer  ritterlichen  Romandichtung  dar. 

Viele  Kräfte  haben  unter  Clemens  umsichtiger 
und  sachkundiger  Leitung  zusammengewirkt,  um 
dieses  monumentale  Denkmälerwerk  zustande  zu 
bringen.  Elf  verschiedene  Künstler  waren  bei  der 
Herstellung  der  Vorlagen  tätig;  drei  Kunstanstalten 
leisteten  die  Arbeit  der  Reproduk¬ 
tion.  Die  Dreifarbendrucke  wur¬ 
den  in  der  Kunstanstalt  Unie  in 
Prag  hergestellt,  die  Lichtdruck¬ 
tafeln  bei  Albert  Frisch  in  Berlin, 
die  Lithographien  bei  L.  Schwann 
in  Düsseldorf,  m  dessen  Verlage 
auch  das  ganze  Werk  erschienen 
ist.  Die  Gesellschaft  für  rheinische 
Gcschichtskiincie  nahm  das  Unter¬ 
nehmen  in  die  Reihen  ihrer  Ver¬ 
öffentlichungen  auf.  Es  trägt  die 
Nummer  XXV.  Zugleich  ist  es 
die  vierte  große  Veröffentlichung 
kunstgeschichtlichen  Inhaltes,  die 
wir  der  rührigen  Gesellschaft  ver¬ 
danken.  Die  erste  war  die  präch¬ 
tige  Ausgabe  der  Trierer  Adahand- 
schrift  (i88g).  Dann  folgte  die 
von  Firmenich-Richartz  und  Keußen 
besorgte  Neuausgabe  von  Merlos 
»Kölnischen  Künstlernachrichten« 
(1895)  und  im  Jahre  1902  die  Ge¬ 
schichte  der  Kölner  Malerschule 
von  Scheibler  und  Aldenhoven. 
Der  große  Clemensche  Tafel  band 
bezeichnet  technisch  wohl  den 
Höhepunkt  des  bisher  Geleisteten. 
Um  diese  monumentale  Veröffent¬ 
lichung  in  solcher  Ausstattung  zu 
ermöglichen,  bedurfte  es  allerdings 
noch  besonderer  Mittel,  wie  sie 
selbst  die  Gesellschaft  für  rheinische 
Geschichtskunde  nichtaufzubringen 
vermochte.  Hier  sprang  der  be¬ 
kannte  rheinische  Mäcen  Emil  vom 
Rath  in  Köln  ein,  der  sich  damit  wieder  ein  schönes 
Denkmal  in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  errichtet 
hat.  Darum  ist  ihm  mit  Recht  das  Werk  zugeeignet. 
Dem  energischen  Organisator  und  kenntnisreichen 
Herausgeber  Giemen  wünschen  wir  einen  gedeihlichen 
Fortgang  und  Abschluß  des  groß  angelegten  Unter¬ 
nehmens,  für  das  ihn  die  kunstgeschichtliche  For¬ 
schung  dauernd  zu  Dank  verpflichtet  bleibt. 

Jena,  im  Mai  1905.  PAUL  WEBER. 


Die  dem  Hefte  beigegebenen  Kunstblätter:  Original-Farbenholzschnitt  von  Hans  Neumann  jr.-München 
und  Originalradierung  von  Max  Heilmann-Frankfurt  a.  O.  sind  aus  dem  von  der  Zeitschrift  für  bildende 
Kunst  1904  ausgeschriebenen  Wettbewerbe  hervorgegangen. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  ig05  VOR  DER  KIRCHE.  ORIOINALRADIERUNQ  VON  M.  HEILMANN,  FRANKFURT  A. 


nt 


X, 


DER  NEUE  REMBRANDT  IM  STADELSCHEN  KUNSTINSTITUT 

BEMERKUNGEN  ZU  DEN  ZWEI  HELIOGRAVÜREN 
Von  Ludwig  Justi 


WENN  man  neben  unsere  beiden  Heliogravüren 
irgend  eine  ältere  Reproduktion  dieses  Rem- 
brandtschen  Gemäldes  legt,  so  hat  man  im 
kleinen  eine  ähnliche  Metamorphose  vor  sich,  wie  sie 
das  Original  erlebte,  als  es  von  seinem  hohen  finstern 
Platz  im  Schönbornschen  Salon  in  den  hellen  Ober¬ 
lichtsaal  des  Städelschen  Instituts  wanderte').  Eine 
ähnliche  Metamorphose,  aus  ähnlichen  Gründen;  die 
älteren  Aufnahmen  sind  offenbar  bei  zu  schwachem 
Licht  gemacht  worden.  Der  Unterschied  ist  am 
Original  selbstverständlich  viel  größer,  aber  er  ist 
doch  auch  in  der  Reproduktion  noch  so  überraschend, 
daß  der  Leser  wohl  den  Entschluß  fassen  wird,  recht 
bald  nach  der  schönen  alten  Mainstadt  zu  kommen, 
um  dies  Werk  zu  studieren,  das  seit  Generationen 
nicht  den  Platz  einnehmen  konnte,  der  ihm  gebührt. 

Das  Bild  ist  bezeichnet  und  datiert  1636.  Seit 
1634  war  Rembrandt  mit  Saskia  verheiratet.  Aus 
seinen  Werken  dürfen  wir  schließen,  daß  er  damals 
sehr  glücklich  mit  ihr  lebte.  Ihr  beträchtliches  Ver¬ 
mögen  befreite  ihn  vom  Zwang  des  Verdienenmüssens. 
Mit  dreißig  Jahren  war  er  damals  der  gefeiertste 
Künstler  seines  Volkes.  Er  malte,  wie  alle  Holländer, 
zumeist  kleine  Bilder  für  kleine  holländische  Zimmer, 
während  die  katholischen  Maler  jener  Zeit,  in  Belgien 
und  Italien,  umfangreiche  Martyrien  und  Mythologien 
für  Kirchen  und  Paläste  lieferten.  So  kommt  Rem¬ 
brandt,  in  dieser  seiner  glänzenden  Zeit,  zu  dem  Ent¬ 
schluß,  ohne  Bestellung  ein  mächtiges  Werk  zu 
schaffen,  mächtig  in  Format  und  Aktion,  mächtig 
auch  im  Können.  Als  Gegenstand  wählt  er,  im  Geist 
jener  Zeit,  ein  Martyrium,  natürlich  aus  dem  Alten 
Testament.  Alle  künstlerischen  Prinzipien,  die  er  in 
jenen  Jahren  entwickelt  hatte,  bringt  er  hier  in  höch¬ 
ster  Feinheit,  Steigerung  und  Verschlingung  hinein. 

Es  scheint,  daß  er  163g  das  Bild  an  Constantin 
Huygens  verschenkte,  man  muß  wenigstens  eine  Brief¬ 
stelle  darauf  beziehen,  nach  den  Maßangaben  (wenn 
nicht  irgend  ein  Gemälde  desselben  Formates  ver¬ 
loren  sein  sollte).  Rembrandt  schreibt  dort,  das  Bild 
solle  hell  in  einem  großen  Raum  hängen  (was  nun¬ 
mehr  der  Fall  ist).  Es  muß  schon  früh  nach  Wien 
gekommen  sein,  von  wo  es  der  berühmte  Friedrich 
Karl  von  Schönborn  nach  Würzburg  brachte;  nach 
dessen  Tod  kam  es  nach  einigem  Streit  1746  in  die 
gräflich  Schönbornsche  Galerie  zu  Wien  (nach  ur¬ 
kundlichen  Forschungen,  deren  Resultate  mir  vor¬ 
läufig  mitgeteilt  wurden).  1760  wird  es  dort  erwähnt 
auf  einem  Stich  von  Länderer. 

Die  Szene  spielt  in  einem  holzgedielten  Gemach, 
das  sich  links  in  gewölbtem  Bogen  nach  einem 


1)  Vergl.  Kunstchronik,  26.  Mai  1905. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVl.  H.  lo 


helleren  Raum  öffnet;  dorther  kommt  das  Licht.  Drei 
schwere  Vorhänge  fallen  von  oben  in  mächtig  rah¬ 
menden  Kurven  herab,  sie  verleihen  dem  Raum  den 
Eindruck  von  Luxus  und  Abgeschlossenheit;  für  die 
Komposition  geben  sie  die  ruhigen  großen  Flächen 
tiefer  Farbe,  die  Rembrandt  als  Folie  braucht,  und 
zugleich  bedingen  sie  die  feine  Abstufung  der  Hellig¬ 
keit  nach  rechts  hin.  Links  steht  ein  Tischchen  mit 
goldverzierter  Decke,  darauf  eine  goldene  Schale  und 
Kanne,  und  ein  lässig  abgeworfener  Gürtel;  am  Boden 
liegt  Dalilas  Oberkleid  —  blaßblaue  Seide  mit  Silber. 
Rechts  neben  Dalila,  zwischen  zwei  schweren  Vor¬ 
hängen,  sieht  man  die  Lehne  eines  großen  Sessels, 
dessen  grüner  Bezug  mit  Metallknöpfen  genagelt  ist. 
Hier  hat  Dalila  zuletzt  gesessen,  den  Kopf  des  schla¬ 
fenden  Simson  auf  ihrem  Schoße  haltend;  die 
Gruppe  wäre  ähnlich  zu  denken  wie  auf  dem  Bild¬ 
chen  in  Sanssouci,  *  und  zwar  würde  man  Simson 
etwas  schräg  vom  Rücken  her  gesehen  haben. 

Nun  hat  das  Weib  die  Philister  gerufen,  die  zu 
vieren  von  rechts  herbeigesprungen  sind,  Simson  in 
den  Rücken  fallend:  einer  hat  ihn  umklammert,  und 
sich  mit  ihm  nach  hinten  übergeworfen,  daß  heißt 
im  Gemälde  nach  rechts  vorne.  Dalila  springt  im 
selben  Moment  in  der  entgegengesetzten  Richtung 
vom  Lehnstuhl  auf.  Das  Auseinandergehen  der  Be¬ 
wegung  in  diesen  beiden  Mittelfiguren  ist  ein  be¬ 
deutungsvolles  und  sehr  großartiges  Motiv,  ungleich 
lebendiger  als  in  den  entsprechenden  Darstellungen 
des  Rubens  und  van  Dyck,  die  sich  nicht  entschließen 
können,  auf  die  Pikanterie  des  halb  gelagerten  Weibes 
und  der  parallelen  Körperaxen  zu  verzichten. 

Ein  zweiter  Philister  fesselt  Simsons  rechten  Arm 
(der  so  viele  Philister  geschlagen  hatte),  ein  dritter 
sticht  dem  Helden  ein  Auge  aus,  indem  er  den  Kopf 
mit  der  Linken  am  Bart  fest  hält;  er  ist  auf  dem 
linken  Bein  weit  ausgefallen,  mit  dem  ganzen  Körper¬ 
gewicht  seine  Aktion  verstärkend.  Der  vierte  kommt 
rechts  herbei  gestürzt,  brüllend,  mit  Schild  und  hoch¬ 
gehobenem  Schwert,  vom  Rahmen  überschnitten’). 


1)  Hier  wie  auf  der  linken  Seite  sind  spätestens  um 
die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  schmale  Streifen  ange¬ 
setzt  worden,  wohl  um  das  ursprünglich  steile  Format  des 
Bildes  dem  üblichen  Schema  anzunähern,  zum  Schaden 
der  Komposition;  die  Bewegung  dieses  Mannes  wirkt  nur, 
wenn  er  hereinkommt,  daß  heißt  vom  Rahmen  überschnitten 
wird.  Beide  Streifen  sind  in  der  Heliogravüre  wegge¬ 
nommen;  an  dem  Original  werden  sie  jetzt  vom  Rahmen 
verdeckt.  Vor  dieser  Verbreiterung  hatte  man  bereits 
einmal  auf  einfachere  Weise  die  gewohnte  Proportion  her¬ 
gestellt,  indem  man  oben  ein  breites  Stück  umschlug, 
ebenfalls  sehr  zum  Schaden  der  Komposition.  Nach  diesem 
Zustand  ist  die  Kasseler  Kopie  gemacht,  also  an  allen  drei 

34 


254 


DER  NEUE  REMBRANDT  IM  STÄDELSCHEN  INSTITUT 


Diese  Figur  nimmt  der  Hauptgruppe  das  Ab¬ 
sichtliche,  Gestellte,  deutet  vorhergehende  und  nach¬ 
folgende  Bewegungen  an,  jedoch  mit  aller  Reserve, 
die  bei  dem  großen  Maler  selbstverständlich  ist. 

Gegenüber,  links,  eine  einzelne  Gestalt,  mit  vor¬ 
gehaltener  Pike  die  Aktion  seiner  Kameraden  sichernd 
(aber  welche  Angst  in  den  aufgerissenen  Augen!). 
Die  Figur  steht  ungefähr  in  der  Bildfläche,  gibt 
damit  dem  Auge  den  ruhigen  Anhalt  für  die  eminent 
unruhig  gerichteten  Axen  der  übrigen  Körper.  Zu¬ 
gleich  ist  sie  in  der  Fläche  völlig  ausgebreitet,  wie 
man  eine  Pflanze  im  Herbarium  ausbreitet,  so  daß 
sie  einen  interessanten  und  reich  bewegten  Umriß 
bildet  —  wälirend  rechts  die  Gepanzerten  plastisch, 
als  Formmassen,  wirken.  So  sind  die  diagonal  aus¬ 
einandergerissenen  Mittelfiguren  eingerahmt  links  von 
der  flachen  Umrißfigur,  rechts  von  dem  Knäuel  durch¬ 
einander  gesteckter  Formen. 

Dieser  Reichtum  des  Aufbaus  vollendet  sich  durch 
die  Ökonomie  des  Lichtes  und  der  Farbe.  Natürlich 
nicht  in  nachträglichem  Zusatz,  sondern  alles  bedingt 
sich  gegenseitig. 

Das  Licht  kommt  diagonal  aus  der  Tiefe  herein, 
von  links.  Man  sieht  gleich  eine  neue  Funktion  für 
die  Figur  mit  der  Pike:  in  der  Bildfläche  ausgebreitet, 
und  von  reichbewegtem  Umriß  steht  sie  wirkungs¬ 
voll  gegen  das  hier  hereinkommende  Licht,  das  hinter 
ihr  am  stärksten  ist:  es  zehrt  hier  auf  dem  abge¬ 
worfenen  Oberkleid  der  Dalila  die  Lokalfarbe  ganz 
auf,  die  sich  erst  unten  nahe  dem  Bildrand  wieder 
erholt.  Auf  den  auseinandergehenden  Mittelfiguren 
differenziert  sich  das  Licht:  die  Dalila  trifft  es  von 
unten,  den  Simson  von  oben.  Dann  stuft  es  sich 
auf  den  drei  Kriegern  in  klaren  Absätzen  nach  rechts 
oben  hin  ab.  Dies  sind  nur  die  Hauptmomente  der 
Lichtverteilung,  die  mit  fabelhafter  Sicherheit  zu  ein¬ 
ander  wie  zur  Bildfläche  gestimmt  sind.  Gerade  hier¬ 
über  mußte  man  im  Schönbornschen  Salon,  wie  nach 
den  alten  Photographien,  besonders  falsch  urteilen. 
Wie  nun  von  diesen  Hauptmomenten  aus  das  Licht 
weiter  in  alle  Einzelformen  und  Farben  hinein  ver¬ 
teilt  ist,  in  ruhigen  Flächen  und  launigen  Flecken, 
von  Schatten  überschnitten  oder  durch  Reflexe  auf¬ 
gehellt,  auf  trüben  Stoffen  ermattend  oder  in  Glanz¬ 
lichtern  aufleuchtend,  all  das  kann  nicht  geschildert 
werden. 

Endlich  die  Farbe.  Sie  ist  von  besonderer  Kraft 

Seiten  kleiner  als  der  Zustand  seit  spätestens  1760  (Datum 
des  Landererschen  Stiches),  wo  das  echte  obere  Stück 
wieder  aufgeschlagen  und  die  unechten  Seitenstreifen  an¬ 
gesetzt  waren.  Man  kann  heute  noch  die  beiden  Falten 
oben  erkennen,  wo  die  alte  Leinwand  um  den  Keilrahmen 
herumgelegt  war;  bei  ungeschickter  Beleuchtung  können 
sie  in  der  f^hotographie  störend  hervortreten,  und  so  er¬ 
klärt  es  sich,  daß  man  in  modernen  Reproduktionen  zu¬ 
weilen  ganz  einfach  ein  großes  Stück  des  Bildes  wegge¬ 
lassen  hat!  —  Die  Maße  sind  nach  Wegnahme  der  un¬ 
echten  Streifen:  Höhe  2,38  Meter,  Breite  2,72  Meter;  die 
oberen  Ecken  leicht  abgerundet.  An  jenen  Streifen  ist  die 
Farbe  stark  abgesplittert,  während  die  alte  Rembrandtsche 
Malerei  durchgehends  ganz  ausgezeichnet  erhalten  ist, 
selbst  in  dem  einst  umgeschlagenen  Stück! 


und  Brillanz.  Auch  hier  kann  ich  nur  das  wundervolle 
Zusammenwirken  der  Hauptmomente  andeuten,  die 
farblose  Reproduktion  gibt  ja  keine  Stütze  wie  etwa 
bei  der  Beschreibung  der  Bewegung. 

Dalilas  Oberkörper  erscheint  in  leuchtendem 
hellbraun;  darum  legt  sich  ein  breiter  Ring  wunder¬ 
voll  fortschreitender  Farben:  von  tiefem  Grün  rechts 
beginnend  folgt  nach  links  hin  Blaugrau,  Dunkelgrau, 
Hellgrau,  dann,  die  klarste  Stelle,  reines  Hellblau  (die 
Partie  um  die  Schere,  ein  Stück  straffgespannten 
Stoffes),  dann  geht  es  unten  über  dunkleres  Blau  zum 
Grün  zurück.  An  diesen  Ring  kräftiger  kühler  Farben 
schließen  sich  nach  unten  hin  ganz  blasse  Töne: 
links  das  schon  erwähnte,  vom  Licht  fast  verzehrte 
Blaßblau  in  Dalilas  abgeworfenem  Kleid;  rechts  da¬ 
neben  reich  nuanciertes  Blaßgelb  in  der  Bekleidung 
Simsons.  Gegen  diesen  ganzen  kühlen  Farbenblock 
in  der  Mittelpartie  steht  links  die  Figur  mit  der  Pike 
in  mächtigem  warmem  Rot  verschiedenster  Tönung 
(wovon  man  bisher  nichts  ahnen  konnte);  die  stärkste 
Note  darin,  am  rechten  Ellbogen,  ist  gegen  das  Hell¬ 
blau  gesetzt,  also  gegen  die  klarste  Note  des  kühlen 
Farbenkreises.  Dagegen  sind  auf  der  rechten  Seite 
die  Farben  matter:  braunes  Leder,  und,  als  herrschen¬ 
der  Ton,  das  Stahlgrau  der  Rüstungen,  das  in  einer 
außerordentlich  feinen  Proportion  zu  dem  mehrfach 
genannten  Hellblau  steht. 

Man  sieht  wie  alles  ineinander  greift:  der  Formen¬ 
knäuel  rechts  kann  in  der  Gesamtwirkung  der  Kom¬ 
position  durch  die  eine  Figur  mit  der  Pike  balanciert 
werden,  weil  auf  der  rechten  Seite  weniger  starke 

Lichtkontraste  sind,  und  weniger  starke  Farben¬ 
kontraste.  Oder,  wenn  man  eine  einzelne  Figur 

nimmt:  den  Mann  mit  der  Pike  fanden  wir  in  einer 
ganzen  Reihe  von  Funktionen  Markieren  der  Bild¬ 
fläche,  Hineinbringen  bewegter  Linie,  Verstärken  des 
kräftigsten  Lichts,  Entgegenwirken  gegen  den  kühlen 
Farbenring  um  Dalila,  Balancieren  des  Formenge¬ 
dränges  auf  der  rechten  Seite  -  aber  alle  diese 

feinen  und  komplizierten  Funktionen  kümmern  unseren 
Philister  gar  nicht,  er  scheint  nur  auf  Simson  zu 

achten,  alles  übrige  dünkt  ihm  selbstverständlich:  das 
ist  gerade  das  Wunderbare.  Man  findet  hier  künst¬ 
lerische  Prinzipien,  wie  man  sie  auch  sonst  in  Rem- 
brandts  Werken  jener  Zeit  konstatieren  kann,  ja  über¬ 
haupt  in  der  Kunst  des  Barock;  diese  Prinzipien  sind 
mit  größter  Kraft  und  Sicherheit  angewendet  und  in¬ 
einander  verschlungen  —  und  doch  möchte  man 
glauben,  der  Künstler  hätte  nichts  weiter  getan,  als 
einen  Vorgang  äußerst  lebendig  sich  vorzustellen  und 
festzuhalten  —  so  selbstverständlich,  so  erlebt  wirkt 
das  Ganze.  Man  nehme  die  Figur  des  Simson.  Als 
Bewegung  großartig,  in  heftigstem  Kontrapost,  ganz 
im  Sinn  der  Zeit.  In  dem  Jahrhundert  seit  Michel¬ 
angelos  Medicigräbern  ist  der  Winkel  zwischen 
Schulterlinie  und  Knielinie  immer  größer  geworden. 
Die  beiden  Oberarme  bilden  eine  Gerade  von  kraft¬ 
voller  Wirkung,  die  Unterarme  treten  stark  vor. 
Arme  und  Beine  gehen  rechts  zusammen,  links  aus¬ 
einander.  So  geht  es  fort,  dabei  alles  in  kühnster 
Verkürzung.  Das  rechte  Bein  nun  ist  hochgehoben, 


DER  NEUE  REMBRANDT  IM  STÄDELSCHEN  INSTITUT 


255 


dadurch  ist  die  Figur  mit  Dalila  verbunden  (man  er¬ 
kennt  erst  die  Wichtigkeit  dieser  Bewegung,  wenn 
man  sie  einmal  wegdenkt);  und  ferner:  der  springende 
Punkt  im  Bilde  ist  Dalila,  sie  bildet,  mit  dem  schönen 
Farbenkreis  um  sie  herum,  das  Zentrum  des  Bildes. 
Und  während  nun  der  Kopf  des  Simson  und  das 
Ausstechen  des  Auges  für  den  Gesamteindruck  des 
Bildes  durchaus  in  dem  Formenknäuel  der  rechten 
Bildhälfte  untergehen,  so  ist  der  zusammengekrampfte 
Fuß  Simsons  in  das  Zentrum  des  Bildes  hineinge¬ 
hoben  als  erträglicher  Repräsentant  des  Martyriums. 
Also  wiederum,  allein  in  der  Bewegung  dieser  einen 
Figur,  eine  ganze  Verschlingung  künstlerischer  Mo¬ 
mente  —  und  doch  ist  der  Eindruck  der  Figur  ganz 
einfach:  Donnerwetter!  wo  hat  er  das  nur  gesehn? 
Vielleicht  glaubt  mancher  Leser,  Rembrandt  habe  tat¬ 
sächlich  bloß  den  Vorgang  lebendig  gestaltet,  »natura¬ 
listisch«,  alles  übrige  sei  Zufall  —  durchaus  und  voll¬ 
kommen  mit  Unrecht.  Wir  armen  Teufel  können  uns 
bloß  nicht  vorstellen,  wie  er  den  Knoten  geschlungen 
hat.  Ich  kann  mir  wohl  vorstellen,  wie  es  beim 
durchschnittlichen  Kunstschaffen  im  Gehirn  des  Künst¬ 
lers  zugeht.  Es  handelt  sich  um  einen  mehr  oder 
minder  großen  Gradunterschied  in  der  Stärke  und 
Feinheit  des  psychischen  Geschehens.  Aber  wie  es 
etwa  in  Mozarts  Gehirn  zugegangen  sein  mag,  wenn 
dort  komponiert  wurde,  das  kann  ich  mir  schlechter¬ 
dings  nicht  vorstellen.  Du  auch  nicht,  lieber  Leser. 
Wir  können  nur  im  fertigen  Werke  konstatieren,  wie 
reich  und  wie  fein  und  wie  balanciert  alles  ist.  Die 
Entfernung  von  den  Fähigkeiten  des  normalen  Ge¬ 
hirns  ist  so  groß,  daß  man  sie  nicht  mehr  mit  irgend 
einem  Maß  messen  kann.  Früher  hatte  man  für 
solche  außerordentlichen  Fälle  das  Wort  Genie,  das 
jetzt  leider  völlig  abgegriffen  ist. 

Es  gibt  heute  viele  Kunstfreunde,  denen  diese  Art 
des  künstlerischen  Reichtums  gleichgültig  ist,  deren 
Alpha  und  Omega  die  Farbe  und  die  Malweise  ist. 
Von  der  Farbe  war  schon  die  Rede.  Sie  ist  im  Ge¬ 
samteindruck  ganz  ungewöhnlich  kräftig  und  reich  -  - 
was  man  im  Palais  Schönborn  nicht  sehen  konnte. 
Aber  wohlgemerkt,  diese  Kraft  des  Farbeneindrucks 
ergibt  sich  durch  die  Zusammenordnung,  durch  die 
künstlerische  Weisheit:  die  Einzelfarben  an  sich  sind, 
wie  immer  in  der  alten  Kunst,  sehr  zart  und  fein, 
sie  verhalten  sich  zu  den  Einzelfarben  etwa  bei 
Böcklin  wie  der  Zephyr  zum  Taifun.  Dann  gibt  es 
in  den  Farbenzentren  sehr  schöne  Nuancierungen 
(in  Rot:  die  Figur  mit  der  Pike,  in  Gelb:  Simson), 
des  weiteren  feine  Kontraste,  auch  treffliche  Verbin¬ 
dungen  mit  der  Linie  (also  farbige  »Ausschnitte«  oder 
»Flecken«  im  Sinne  einiger  moderner  Künstler;  in 
unserer  Detailaufnahme  findet  man  sehr  charakte¬ 
ristische  Ausschnitte  derart,  leider  fehlt  die  Farbe). 

Ebenso  konnte  man  bei  Schönborn  von  der  Mal¬ 
weise  nichts  sehen,  die  durchaus  meisterhaft  ist.  Die 
Technik  paßt  sich  überall  dem  Stoff  und  der  Be¬ 
tonung  an,  man  findet  eine  ganze  Skala  von  Vor¬ 
tragsweisen,  durchweg  sehr  flott;  aber  darin  alle 
Möglichkeiten  von  feinem  Vertreiben  bis  zu  lebhaftem 


Herumfahren,  von  flüssigem  Ineinander  der  Farben 
bis  zu  grobkörnigem  Nebeneinanderstehen  komple¬ 
mentärer  Farbenklexe. 

Im  Gesamteindruck  —  des  farbigen  Originals, 
nicht  der  farblosen  Nachbildung  —  steht  Dalila,  wie 
schon  bemerkt,  im  Zentrum  des  Bildes.  Die  Diago¬ 
nalen  der  Bildfläche  kreuzen  sich  in  ihrem  Leib.  Ihre 
Figur  ist  am  meisten  isoliert,  von  den  lebhaftesten 
Farben  umgeben,  hat  eigene  und  sehr  leichte  Be¬ 
wegung;  die  kämpfenden  Männer  umgeben  sie  als 
heftig  bewegter  formenreicher  Halbring.  Die  Malerei 
ist  hier  am  reichsten.  Es  ist  wunderbar  gemalt,  wie 
das  Licht  durch  den  zarten  plissierten  und  gestickten 
Hemdstoff  zwischen  den  Armen  hindurchgeht,  und 
den  Kopf  von  unten  her  trifft,  in  dem  interessanten 
Rampenlicht,  das  unsere  zivilisierten  Bühnen  nicht 
mehr  kennen.  Unendlich  weich  ist  dies  Licht.  Der 
Ausdruck  des  Gesichts  ist  fabelhaft;  weniger  gesund, 
aber  sehr  viel  geistreicher  erfaitt  als  in  dem  etwas 
blöden  Lächeln  der  Dalila  bei  Rubens.  Auch  psycho¬ 
logisch  ist  hier  das  Zentrum.  Saskias  gewohnte  Züge 
erscheinen  in  starker  Erregung  (wie  die  ganze  Figur, 
in  der  lebhaften  Bewegung,  der  unvollständigen 
Toilette  und  der  verschobenen  Frisur):  der  etwas 
starre  Glanz  der  Augen  erzählt  von  der  Sinnlichkeit 
dieses  Weibes,  die  den  Feind  ihres  Volkes  zum  Ver¬ 
rat  seines  lange  bewahrten  Geheimnisses  zu  verführen 
wußte;  in  dem  emporgezogenen  Mund  zeigt  sich  die 
Freude  über  das  Gelingen  ihres  Verrats  an  seiner 
Liebe  -  und  Freude  in  diesem  Moment  ist  höchste 
Grausamkeit.  Dieser  Ausdruck,  die  Mischung  von 
Sinnlichkeit  und  Grausamkeit,  spricht  sehr  unmittelbar 
und  kräftig,  man  vergißt  ihn  nicht  wieder.  Es  ist 
die  sehr  tiefe  und  seltene  Kenntnis  von  menschlicher 
Leidenschaft,  wo  Liebe  und  Grausamkeit  einander 
nahe  benachbart  sind  oder,  wie  hier,  gegeneinander 
eingetauscht  werden.  Dies  Gemälde  ist  in  allen  Be¬ 
ziehungen  charakteristisch  für  den  Rembrandt  der 
dreißiger  Jahre  —  in  Komposition,  Licht,  Farbe  - 
so  auch  in  der  psychologischen  Richtung.  Ein  Werk 
der  späten  Zeit,  das  in  ähnlichem  Grade  in  Tiefen 
der  menschlichen  Seele  führt,  ist  der  »Segen  Jakobs« 
—  aber  in  wie  verschiedener  Richtung:  1636  inter¬ 
essieren  ihn  die  erotischen  Fatalitäten,  1656  der 
Generationenwechsel;  beidemal  rührt  er  an  den  tiefsten 
Instinkt  unserer  Spezies,  aber  er  trifft  ihn  an  ganz 
verschiedener  Stelle,  weil  er  mit  ganz  verschiedenem 
Interesse  herantritt.  Der  Dreißigjährige  malt  den 
flackernden  Blick  einer  politischen  Kurtisane  (dieses 
gefährlichsten  und  interessantesten  Genres,  noch  dazu 
im  alten  Orient),  die  ihren  betrogenen  Liebhaber 
martern  läßt  —  der  Fünfzigjährige  malt  den  erlöschen¬ 
den  Blick  des  aus  dem  Leben  Scheidenden,  der  seine 
ins  Leben  hineinwachsenden  verständnislosen  Enkel 
segnet. 

Dies  psychische  Moment  drängt  sich  jedoch  keines¬ 
wegs  vor:  die  formalen  Momente,  Bewegung,  Licht, 
Farbe  alles  wirkt  mit  gleicher  suggestiver  Kraft 
zusammen  und  ineinander,  den  Beschauer  von  immer 
neuen  Seiten  her  fesselnd  und  bezaubernd. 


34 


FRIEDRICH  DRAKE 


KAISER  WILHELM-DENKMAL 
AUF  DER  RHEINBRÜCKE  BEI  KÖLN 


FRIEDRICH  DRAKE 

OEB.  AM  23.  JUNI  1805  -  GEST.  AM  6.  APRII.  1882 

ERINNERUNGEN  ZU  SEINEM  loo.  GEBURTSTAGE 

Von  Paul  Meyerheim 


Die  alten  Ägypter  stellten  unendlich  viele  Denk¬ 
mäler  auf.  Vom  Luxortempel  zum  Karnak¬ 
tempel  reitet  man  eine  gute  halbe  Stunde 
durch  eine  Allee  von  kolossalen  steinernen  Widdern, 
an  deren  Vorderseite  jedesmal  eine  Rhamses-Statue 
angebracht  ist,  und  eine  ebensolche  Allee  führt  von 
dem  Karnaktempel  an  das  Nilufer  herab,  ln  allen 
Tempeln  stehen  zahllose  riesenhafte  Steinbilder  von 
Königen  und  Göttern,  und  von  der  herrlichen  Stadt 
Memphis  ist  nichts  weiter  übrig  geblieben  als  zwei 
riesengroße  Kolosse  von  Rhamses  I.,  welche  lang  aus¬ 
gestreckt  am  Boden  liegend  in  das  blaue  Jenseits 
schauen.  Wieviele  Bildhauer  muß  es  in  Ägypten 
gegeben  haben!  Ganz  so  weit  sind  wir  im  kälteren 
Deutschland  noch  nicht;  aber  es  gab  eine  Zeit  um 
die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts,  wo  eine  Denk¬ 
malserrichtung  noch  ein  Ereignis  war,  wo  es  noch 
wenig  Bildhauer  gab,  die  aber  herrliches  leisteten. 

Von  einem  solchen  möchte  ich  hier  erzählen,  da 
ich  von  Kindheit  an  die  Entstehung  seiner  Werke 
miterlebt  habe.  Mein  Onkel  Friedrich  Drake  wurde 
1805  in  Pyrmont  geboren.  An  seinem  Geburtshaus 
ist  heut  eine  Gedenktafel  angebracht.  Sein  Vater  war 
ein  einfacher  Mechaniker,  welcher  Metallteile  für  Heiz- 
und  Wassereinrichtungen  arbeitete.  Das  erste  Interesse 
für  die  Kunst  wurde  bei  dem  Knaben  dadurch  ge¬ 
weckt,  daß  er  zu  einer  Sommertheater-Vorstellung  in 
Pyrmont,  einer  Aufführung  des  eingebildeten  Kranken, 
ein  notwendiges  Metallinstrument  aus  des  Vaters 
Werkstatt  leihweise  auf  die  Bühne  bringen  mußte. 
Er  durfte  zur  Belohnung  diese  Vorstellung,  und  später 
manche  andere  mit  ansehen. 

Zunächst  erlernte  er  das  Drechslerhandwerk,  die 
Metallarbeit  und  das  Stempelschneiden,  wobei  die 
ersten  künstlerischen  Ansprüche  an  ihn  herantraten. 
Im  Jahre  1824  ging  Drake  nach  Kassel  und  arbeitete 
dort  zweieinhalb  Jahre  in  der  Werkstatt  eines  Mecha¬ 
nikers  an  der  Herstellung  mathematischer  Instrumente. 
1827  traf  ihn  das  Los  zum  Militärdienst,  doch  in 
jener  idealen  Zeit  war  es  möglich,  daß  ein  Gönner 
ihn  von  dieser  Pflicht  befreite.  Drake  hatte  in¬ 
zwischen  einige  plastische  Arbeiten  in  Holz  und 
Alabaster  gefertigt,  welche  der  Bildhauer  Christian 
Rauch,  der  auch  in  Pyrmont  geboren,  bei  einem  Be¬ 
such  in  seiner  Heimat  besichtigte.  Dieser  große 
Meister  war  von  einer  Porträtbüste  in  Holz,  einem 
Christus  in  Alabaster  von  Drake  so  entzückt,  daß  er 
den  Jüngling  sofort  nach  Berlin  kommen  ließ,  in  sein 


Atelier  aufnahm  und  ihn  am  Modellierunterricht  in 
der  Akademie  teilnehmen  ließ. 

Meister  Rauch  hatte  aber  das  Prinzip,  solchen 
Anfängern  nichts  zu  bezahlen  und  verlangte  sogar 
die  Zusicherung,  daß  die  Kunstnovizen  genügend 
Geld  für  ihren  Unterhalt  besaßen.  Drake  hatte  sich 
30  Taler  erspart,  die  ihm  ein  großes  Kapital  dünkten. 
Er  arbeitete  daher  die  ganze  Nacht  in  der  Feilner- 
schen  Tonwarenfabrik,  um  für  seinen  Unterhalt  täg¬ 
lich  zehn  Silbergroschen  zu  verdienen,  und  trotzdem 
am  Tage  in  des  Meisters  Atelier.  Natürlich  lebte  er 
außerordentlich  sparsam,  und  seine  Schlafstelle  be¬ 
stand  aus  einem  mit  Laub  und  Stroh  gefüllten  Sack, 
welcher  in  einem  Winkel  eines  Gemüsekellers  zum 
schlafen  einlud.  Es  ist  eine  in  der  Landwirtschaft 
bekannte  Tatsache,  daß  diejenige  Wintersaat,  welche 
einen  besonders  rauhen  und  harten  Winter  hindurch 
in  der  Erde  ruht,  besonders  reiche  und  gute  Frucht 
dem  Landmann  bringt.  Und  so  hat  diese  an  Ent¬ 
behrungen  reiche  Jugend  Fritz  Drakes,  so  wie  manchem 
anderen  großen  Künstler,  zu  seinem  späteren  taten¬ 
reichen  Leben  den  Keim  entwickelt.  Er  hatte  sich 
inzwischen  zu  einem  stattlich  großen  Mann  entwickelt, 
mit  kurzem  blonden  Vollbart  und  langen  glatten 
Haaren.  Sein  Gesicht  war  nicht  edel  geformt,  aber 
seine  etwas  kleinen  Augen  blickten  forschend,  frei 
und  beobachtend  auf  seine  Umgebung.  Seine  ganze 
Erscheinung  hatte  namentlich  in  seinen  späteren  Jahren 
etwas  sehr  Imponierendes.  Er  war  als  Künstler  und 
Mensch  ein  ganzer  Mann. 

Sehr  bald  bekam  der  junge  Künstler  Aufträge, 
die  seine  Verhältnisse  verbesserten  und  ihn  bekannt 
machten.  Man  bestellte  bei  ihm  Porträtbüsten  in 
Marmor  und  Bronze.  Er  schuf  eine  große,  stehende 
Madonna  mit  dem  Kind  und  erhielt  den  ersten  be¬ 
deutenden  Auftrag:  die  Gruppe  eines  sterbenden 
Kriegers,  dem  der  Genius  den  Sieg  verkündigt.  Das 
einfache  und  ergreifende  Denkmal  steht  auf  dem  Platz 
am  Bahnhof  in  Aachen.  Diesem  letzteren  folgt  ein 
Relief  nach  Goethes  fünfter  römischer  Elegie.  Dem 
30jährigen  Künstler  wurde  die  Bestellung,  für  Osna¬ 
brück  ein  Denkmal  von  Justus  Möser  zu  modellieren. 
Nach  Vollendung  des  Möser-Denkmals  machte  Drake 
eine  Reise  nach  Italien.  Mit  einem  Empfehlungsbrief 
von  Rauch  ging  er  zu  Thorwaldsen,  den  er  in  voller 
Arbeit  traf.  Der  Meister  steckte  den  Brief  ungelesen 
in  die  Tasche  seines  Kittels  und  sagte  zu  dem  jungen 
Künstler,  da  er  die  Hände  voller  Ton  hatte:  »Sehen 


258 


FRIEDRICH  DRAKE 


Sie  sich  inzwischen  diese  Mappe  an.«  Als  Drake 
dieselbe  aufschlug,  fiel  ein  Blatt  heraus,  und  Thor- 
v/aldsen  fuhr  fort;  »Das  ist  einmal  wieder  ein  echtes 
Kunstwerk.«  Dieses  Blatt  aber  war  eine  Reproduk- 
üon  von  Drakes  fünfter  Elegie,  die  ihn  Zeit  seines 
Lebens  beschäftigte.  Die  Freundschaft  der  beiden 
war  damit  besiegelt.  Aus  Italien  heimgekehrt  1837, 
ließ  Drake  seine  Schwester  Karoline  nach  Berlin 
kommen,  damit  sie  ihm  die  Wirtschaft  führen  möchte. 
Von  seinen  vielen  Brüdern,  es 
waren  1 7  Geschwister,  kamen 
allmählich  Georg  und  Louis,  die 
ihm  bei  seiner  Arbeit  zur  Hand 
gingen,  nach  Berlin,  und  um 
ihn  und  seine  schöne  Schwester 
gruppierte  sich  bald  ein  fröh¬ 
licher  Kreis  von  bedeutenden, 
jungen  Künstlern.  Zu  den  in¬ 
timsten  gehörten  Strack,  der 
Dichter  Scherenberg,  Magnus, 

Wilhelm  Schirmer,  Franz  Kug- 
1er,  Menzel  und  mein  Vater 
Eduard  Meyerheim,  dessen  stille 
Neigung  zu  Karoline  bald  Er- 
hörung  fand.  Der  große  Mei¬ 
ster  Christian  Rauch,  der  herr¬ 
lichste  und  imposanteste  Mann 
der  damaligen  Berliner  Gesell¬ 
schaft,  richtete  die  Hochzeit 
meiner  Eltern  aus  und  hat  mich 
später  über  die  Taufe  gehalten. 

An  der  Ausschmückung  der 
ersten  Wohnung  meiner  Eltern 
an  der  Stralauer  Brücke,  betei¬ 
ligten  sich  die  Freunde  dieses 
Kreises  und  schufen,  der  An¬ 
ordnung  von  Strack  folgend,  ein 
so  bezaubernd  künstlerisches 
Heim,  in  welchem  mein  Vater 
die  Wandmalereien  ausführte, 
daß  dieses,  mit  äußerst  beschei¬ 
denen  Möbeln  aus  Birkenholz 
nach  Zeichnungen  von  Strack 
ausgestattet  eine  Sehenswürdig¬ 
keit  Berlins  bildete.  Ein  nie 
endender  Schmerz  blieb  es  für 
meine  Mutter,  als  dies  alles 
nach  dem  Verlassen  der  kleinen 
Wohnung,  von  dem  neuen 
Mieter,  einem  Major,  einfach  blau  überstrichen  wurde. 

Im  Jahre  1845  hatte  sich  Drake  mit  einer  sehr 
schönen  Bäckerstochter,  Marie  Schönherr,  verheiratet, 
welche  ihm  in  kurzen  Zwischenräumen  sechs  Kinder 
bescherte.  Der  König  Friedrich  Wilhelm  IV.  fand 
großes  Gefallen  an  dem  talentvollen,  fleißigen  Künstler 
und  seiner  hübschen  lustigen  Frau.  Er  errichtete 
dem  jungen  Bildhauer  ein  poetisch  gelegenes  Atelier 
am  Tiergarten,  in  der  Bellevue-Allee,  in  dem  er  oft 
vorsprach  und  versicherte  dann,  daß  das  Schönste  im 
Atelier  immer  die  muntere  junge  Erau  sei.  Dem 
äußerst  sparsamen  Meister  war  es  sehr  angenehm. 


daß  an  diesem  Gebäude  eine  sehr  sonderbare  Kontrakt¬ 
verpflichtung  haftete:  Reparaturen  unter  100  Talern 
hatte  er  machen  zu  lassen,  alle  Arbeiten,  die  diesen 
Etat  überschritten,  wurden  auf  Staatskosten  ausgeführt. 
Selbstverständlich  ließ  Drake  alle  Schäden  zur  rich¬ 
tigen  Summe  an  wachsen. 

In  meiner  frühesten  Kindheit  bot  dieses  poetische 
Eldorado  mir,  dem  zukünftigen  Tiermaler,  einige  ganz 
besondere  Reize;  denn  der  Gärtner  hielt  Ziegen, 
Hühner,  Gänse  und  Hunde, 
und  im  Atelier  spazierte  ein 
zahmer  Rabe  herum,  der  mei¬ 
nem  Onkel  und  seinen  Schü¬ 
lern  dadurch  viel  Verdruß  be¬ 
reitete,  daß  er  Fleischreste  und 
erlegte  Mäuse  zwischen  den  Ton¬ 
stücken  verbarg,  welche  dann 
bei  der  Verarbeitung  den  Bild¬ 
hauern  unangenehme  Über¬ 
raschungen  bereiteten. 

Auf  seinem  täglichen  Gange 
zum  Atelier  unterhielt  sich  mein 
Onkel  gern  mit  den  vielen  Kin¬ 
dern,  die  im  Tiergarten  spielten 
und  hatte  ein  besonderes  Gefal¬ 
len  an  zwei  kleinen  Zwillings¬ 
mädchen,  die  in  einem  eigen¬ 
artigen,  großen  Kinderwagen 
gefahren  wurden.  Einige  Zeit, 
nachdem  er  die  Kleinen  lange 
vermißt,  besuchte  ihn  Graf  Kanitz 
und  fragte  den  Künstler,  ob  er 
wohl  ein  Doppelporträt  seiner 
verstorbenen  Kinder  machen 
könne,  von  denen  aber  kaum 
eine  bemerkenswerte  Zeichnung 
vorhanden  sei.  Drake  lehnte 
diesen  Auftrag  ab,  machte  jedoch 
dem  betrübten  Vater  bald  einen 
Gegenbesuch  in  der  Wilhelm¬ 
straße.  Hier  bemerkte  er  im 
Flur  den  eigentümlichen,  großen 
Kinderwagen  und  erhielt  auf 
seine  Frage,  ob  die  Kleinen 
etwa  in  diesem  Kinderwagen 
gefahren  worden  seien,  ein  zu¬ 
stimmendes  Kopfnicken.  ja, 
dann  will  ich  die  Porträts  gern 
machen,  denn  ich  habe  mit 
diesen  lieben  Kleinen  oft  im  Tiergarten  mich  unter¬ 
halten.  Das  Doppelrelief  wurde  zum  Entzücken 
der  Eltern  ausgeführt. 

Drake  hatte  sich  kaum  die  für  einen  Bildhauer 
nötige  Kenntnis  der  Anatomie  angeeignet,  auch  war 
er  nicht  ein  sogenannter  geschickter  Modelleur,  der 
rasch  und  entschlossen  ein  Stück  Natur  mit  ver¬ 
blüffender  Genauigkeit  kopieren  konnte,  bei  ihm  war 
die  Empfindung  stets  vorherrschend,  sowie  das  feinste 
Gefühl  für  Silhouette,  Verteilung  der  Maße  und 
Wirkung  in  die  Ferne.  Seine  Werke  entstanden  ge¬ 
wöhnlich  sehr  langsam.  Stundenlang  konnte  er  über- 


ijmSl-m—niiiHi  I  IW  iiiniiinii  im'i  i  “  _ _ ^ 

FRIEDRICH  DRAKE.  HUMBOLDT  DENKMAL  FÜR 
PHILADELPHIA 


FRIEDRICH  DRAKE 


259 


legen,  ehe  er  das  Modellierholz  in  Gebrauch  nahm. 
Es  kam  ihm  niemals  auf  absolute  Richtigkeit  an,  die 
manchem  modernen  Denkmal  zum  Unheil  wurde. 
Er  berechnete  aber  alle  Maße  genau  mit  Hinblick 
darauf,  wie  hoch  oder  niedrig  das  Werk  aufgestellt 
werden  sollte  und  tat  es  hierin  den  alten  Griechen 
gleich,  welche  auch  stets  die  Körperverhältnisse  so 
einrichteten,  daß  sie  aus  der  Ferne  und  aus  der  Tiefe 
ebenmäßig  und  richtig  aussähen.  Drake  hatte  nur 
wenig  Schüler  und  Gehilfen.  Seine  zu  große  Spar¬ 
samkeit  und  oft  rauhe  Behandlung  hielt  jüngere  Ta- 


lautete;  ich  komme  überhaupt  nicht  mehr  zu  Ihnen, 
denn  erstens  bezahlen  Sie  mir  zu  wenig,  und  zwei¬ 
tens  amüsiere  ich  mich  nicht  bei  Ihnen,  Herr  Pro¬ 
fessor. 

Sein  Freund  Strack  erbaute  ihm  ein  sehr  reizvolles 
Haus  in  der  ehemaligen  Schulgartenstraße  (jetzige 
Königgrätzerstraße),  dessen  Vorbau  an  der  Front  Drake 
durch  vier  prachtvolle  Karyatiden  zierte,  welche  an 
die  des  Erechtheion  erinnerten.  Dieser  feine  Bau  ist 
leider  verschwunden,  wie  so  manches  Schöne,  Vor¬ 
nehme  vom  alten  Berlin.  Ebenfalls  zertrümmert  wur- 


FRIEDRICH  DRAKE.  VOM  SOCKEL  DES  DENKMALS  FRIEDRICH  WILHELMS  Ul.  IM  BERLINER  TIERGARTEN 


lente  ab,  für  ihn  zu  arbeiten.  Am  längsten  half  ihm 
Calandrelli,  und  zwei  sehr  geduldige  und  ergebene 
nassauische  Künstler  Schieß  und  Keil. 

Seine  Sparsamkeit  hatte  ihn  zum  Helden  mancher 
Anekdote  gemacht.  So  erzählte  man,  daß  er  in  einer 
großmütigen  Anwandlung  einen  Droschkenkutscher 
mit  einer  Zigarre  als  Extrabelohnung  beglücken  wollte. 
Dieser  aber  verweigerte  die  Annahme  derselben  mit 
der  Bemerkung:  »Nee,  sone  Zigarre,  wie  Sie,  Herr 
Professor,  kann  ick  nich  rochen.«  Ein  berühmtes 
weibliches  Modell,  das  er  bestellt  hatte,  war  zu  seiner 
großen  Empörung  nicht  gekommen.  Der  Absage¬ 
brief,  den  ihm  seine  Frau  zu  spät  ins  Atelier  brachte. 


den  die  acht  schönen  Gruppen  der  preußischen  Pro¬ 
vinzen,  welche  Drake  für  den  weißen  Saal  des 
Schlosses  in  Stuck  an  Ort  und  Stelle  modelliert  hatte. 
Adolph  Menzel  hat  dieselben  so  schön  gefunden,  daß 
er  acht  große  Kreidezeichnungen  von  äußerster  Durch¬ 
führung  nach  diesen  Skulpturen  vollendete.  Beim 
Umbau  des  weißen  Saales  beachtete  leider  niemand 
diese  Meisterwerke,  sie  wurden  einfach  in  Schutt  ver¬ 
wandelt. 

Drake  war  bei  rauher  Außenseite  eine  feinfühlige 
echte  Künstlernatur.  Er  konnte  Tag  und  Nacht  über 
seine  Arbeit  nachdenken  und  war  unermüdlich  im 
Abändern  und  Niederreißen  des  Geschaffenen,  wenn 


200 


FRIEDRICH  DRAKE 


es  ihm  nicht  gefiel.  Seinen  größten  Ruf  hat  er  sich 
mit  dem  Denkmal  Friedrich  Wilhelms  III.  erworben, 
dessen  Relief-Fries  am  Postament  sich  die  Herzen  der 
Bevölkerung  eroberte,  und  wohl  zum  schönsten  ge¬ 
hört,  was  die  deutsche  Bildhauerei  hervorgebracht  hat. 
Das  Hauptinteresse  der  Beschauer  des  Denkmals  war 
zu  Anfang  auf  den  Stiefel  des  Königs  gerichtet.  Man 
bewunderte,  daß  der  Künstler  die  Einfachheit  des 
Landesvaters  dadurch  charakterisiert  hat,  daß  er  ganz 
genau  einen  »Rüster  am  Stiefel  angebracht  hat,  und 
niemand  konnte  glauben,  daß  dies  nur  ein  Schaden 
im  Marmor  war. 

Nicht  minder  schön  sind  die  Reliefs  am  Posta¬ 
ment  des  Beuth-Denkmals  am  Schinkelplatz,  an  dem 
Millionen  schon  vorüber  gegangen  sind,  ohne  sie  zu 
beachten.  Hier  hat  Drake  einen  sehr  glücklichen  Ver¬ 
such  gemacht,  rein  genrehafte,  moderne  Szenen  plastisch 
darzustellen.  Die  Perle  in  diesem  Schmuckstück  ist 
der  Photograph  Daguerre,  welcher  eine  Mutter  mit 
ihren  Kindern  photographiert.  Aber  auch  die  land¬ 
wirtschaftlichen  Szenen  mit  der  Schafherde,  ferner 
Humboldt  und  seine  Freunde  sind  ungemein  an¬ 
ziehende  Reliefs. 

Alle  seine  Schöpfungen  hier  aufzuzählen,  würde 
zu  weit  führen.  Ein  Beweis  dafür,  wieviel  große 
Denkmäler  Drake  auch  in  anderen  Fürstentümern  er¬ 
richtet  hat,  lieferte  seine  breite  Mannesbriist  und  seine 
linke  Frackseite,  welche  mit  Orden  wahrhaft  über¬ 
sät  war,  an  denen  er  eine  große,  kindliche  Freude 
hatte. 

An  der  Eingangstür  des  alten  Museums  steht  die 
imposante  Gestalt  Christian  Rauchs  im  faltenreichen 
Mantel,  welche  Drake  wohl  mit  ganz  besonderer 
Liebe  und  Verehrung  gemeißelt  hat.  Die  edle  Schön¬ 
heit  dieser  Figur  ist  geradezu  überwältigend.  Noch 
einige  Arbeiten  möchte  ich  hier  wenigstens  aufzählen: 
die  Statue  Melanchthons  in  Breiten  und  Wittenberg, 
des  Kurfürsten  Johann  Friedrich  in  Jena,  das  Denk¬ 
mal  Schinkels  in  Berlin,  die  Kolossalstatue  Alexander 
von  Humboldts  in  Philadelphia,  die  letzte  der  Gruppen 
auf  der  Schloßbrücke,  eine  Viktoria,  welche  den 
Sieger  krönt,  der  das  Schwert  in  die  Scheide  zurück¬ 
stößt. 

Erwähnt  seien  Bildnisstatuetten  von  Rauch,  Schinkel, 
Gebrüder  Humboldt,  Büsten  von  Goethe  und  Schiller, 
und  die  an  Donatello  erinnernden  neun  musizierenden 
Knaben  in  der  Taufkapelle  in  der  Schloßkirche  zu 
Wittenberg,  sowie  die  Bronzetüren  zu  dieser  Kirche. 
Den  Besuchern  von  Potsdams  Gärten  macht  in  den 
römischen  Bädern  eine  kleine  bronzene  Brunnenfigur 
eine  ganz  besondere  Freude,  deren  Idee  dem  Künstler 
vom  König  gegeben  wurde.  Ein  kleiner,  nackter 
Faun  in  hockender  Stellung  auf  die  Ärmchen  gestützt, 
der  übrigens  sonst  ganz  gesund  aussieht,  übergibt 
das  Wasser  einem  tiefer  gelegenen  Becken.  Sehr 
erstaunlich  ist,  daß  dieser  so  produktive  Künstler 
kaum  eine  Arbeit  geschaffen,  welche  alle  seine 
Kollegen  für  die  Schönste  und  Größte  erachten,  die 
Verherrlichung  des  nackten  weiblichen  Körpers.  Nur 
zwei  Statuetten,  eine  tanzende  Mohrin  und  ein  Mäd¬ 
chen,  welches  einen  Schmetterling  auf  ihrem  Knie  zu 


haschen  sucht,  geben  Zeugnis,  daß  Drake  Goethes 
fünfte  Elegie,  die  er  bis  zu  seinem  Ende  immer  aufs 
neue  bearbeitete,  wohl  verstanden  hat.  Ein  Entwurf 
eines  Beethoven- Denkmals  stellt  diesen  sitzend  mit 
nacktem  Oberkörper,  mit  Gewand  über  den  Knien 
dar,  den  olympischen  Adler  hatte  Drake  nicht  zu  den 
Füßen  des  Genius  angebracht,  wie  Klinger,  sondern 
über  ihm  schwebend  gedacht,  so  daß  Beethoven  den 
Blick  zu  ihm  erhebt.  Dies  Werk  ist  uns  nur  durch 
eine  Zeichnung  Menzels  erhalten. 

Drakes  erste  Frau  war  nach  der  Geburt  des  letzten 
Kindes  gestorben  und  etwa  sechs  Jahre  später,  un¬ 
gefähr  1860,  entschloß  er  sich  zu  einer  neuen  Ver¬ 
mählung  mit  der  Gräfin  Marie  zu  Waldeck  und  Pyr¬ 
mont.  Die  schöne  und  stattliche  Frau  war  von  feinem 
Geist  und  großer  Herzensgüte,  voll  Bewunderung  für 
die  Kunst.  Aber  sie  hatte  sich  das  Leben  mit  einem 
großen  Künstler  viel  idealer  gedacht  und  arbeitete 
ganz  vergeblich  daran,  ihrem  Gatten,  abends  nach 
getaner  Arbeit,  höhere  geistige  und  geistliche  Ge¬ 
nüsse  durch  Vorlesen  beizubringen.  Es  verfing  bei 
ihm,  der  eine  Art  mittelalterliche  Ritternatur  hatte, 
nichts  dergleichen,  und  wenn  in  das  eine  Ohr  zu 
viel  Geist  hinein  getrichtert  wurde,  der  zum  anderen 
Ohr  hinaus  erfolglos  verrann,  dann  pflegte  er  all¬ 
abendlich  eine  große,  rohe  Zwiebel  zu  verzehren,  um 
die  zu  geistvolle  Frau  etwas  zu  distanzieren.  Sie 
hatte  ihn,  der  sich  bisher  nicht  um  Himmel  und 
Hölle  gekümmert,  dazu  vermocht,  jeden  Sonntag  zum 
Generalsuperintendenten  Büchsei  in  die  Matthäikirche 
zu  gehen.  Die  Reden  wirkten  aber  nicht  recht  auf 
sein  Herz  und  Gemüt,  es  kann  wohl  auch  die  kalte 
Kirche  gewesen  sein  denn  er  besuchte  mich 
so  manchen  Sonntag  vormittag  nach  der  Predigt  mit 
einer  heiligen  Verzweiflung,  gab  mir  aber  dann  er¬ 
leichtert  sehr  gute  Ratschläge  für  meine  Bilder.  Sein 
Atelier  wurde  allmählich  immer  mehr  vergrößert,  be¬ 
sonders  als  Drake  den  Auftrag  bekam,  im  Verein  mit 
seinem  Freunde  Bläser,  die  beiden  unteren  Denk¬ 
mäler  für  die  neue  große  F^heinbrücke  bei  Köln  aus¬ 
zuführen.  Von  den  Erbauern  des  Parthenon  an,  bis 
auf  die  heutige  Zeit,  haben  sich  die  Architekten  nur 
zu  oft  als  Feinde  der  übrigen  Künste  gezeigt  und 
bedeutenden  Kunstwerken  Plätze  angewiesen,  zu  denen 
kein  menschlicher  Blick  dringt.  Genießen  wir  doch 
den  göttlichen  Fries  des  Parthenon  erst,  nachdem  wir 
seine  Trümmer  in  europäischen  Museen  in  der  Nähe 
betrachten  können. 

Wenn  schon  es  Kunstwerke  gibt,  die  man  »gar 
nicht  hoch  genug  stellen  kann«,  so  scheint  es 
mir  unwürdig,  wirklich  schöne  Meisterwerke  himmel¬ 
hoch  auf  den  Simsen  großer  Bauwerke  zu  placieren. 
Über  diesen  Punkt  war  Drake  mit  seinem  intimen 
Freunde  Strack  in  beständigem  Kampf,  und  doch 
mußte  er  sowohl,  wie  Bläser,  beständig  unterliegen; 
ihre  beiden  herrlichen  Reiterstandbilder  wurden  je 
zwischen  zwei  dicken  Türmen  hoch  über  der  darunter 
sausenden  Eisenbahn  aufgestellt.  Einen  Standpunkt 
zur  Besichtigung  kann  nur  ein  Waghals  finden,  der 
sich  unten  auf  den  Geleisen  seinen  Standpunkt  sucht. 
Drake  hatte  sich,  um  die  sämtlichen  Maße  Wilhelms 


FRIEDRICH  DRAKE 


261 


des  Großen  genau  zu  haben,  eine  ganz  intime  Privat¬ 
audienz  erbeten,  und  in  derselben  eine  detaillierte 
Tabelle  der  Maße  des  Kaisers  aufgenommen.  Im 
Verlauf  der  Arbeit  empfand  er  jedoch  die  Notwendig¬ 
keit,  von  diesen  Maßen  erheblich  abzuweichen,  und 
hat  er  den  Oberkörper  des  Reiters  wiederholte  Male 
demoliert,  um  ihn  stets  bedeutungsvoller  und  höher 
über  dem  Pferde  neu  zu  gestalten.  Es  kam  ihm  für 
die  Wirkung  des  Ganzen  sehr  zu  statten,  daß  er  den 
viermal  lebensgroßen  Reiter  aus  seinem  Atelier  in  den 
Garten,  ins  Freie  rollen  konnte,  und  hier  draußen 
arbeitete  er  bis  in  den  Winter  hinein  vier  Jahre  lang 
unermüdlich,  hoch  oben  auf  der  Leiter.  Er  war  der 
erste  Bildhauer,  der  es  wagte,  eine  solche  Arbeit  in 
einer  Art  Stuck  zu  verfertigen,  und  er  wurde  hierzu 
genötigt,  weil  ihm  an  dem  großen  Tonmodell  enorme 
Stücke  erfroren  und  abgefallen  waren.  Als  ich  ihn 
einmal  besuchte,  hatte  er  grade  als  Modell  einen 
dicken  Percheronschimmel  der  Charlottenburger  Omni¬ 
bus-Gesellschaft.  Er  sagte  erfreut  zu  mir:  »Du  kommst 
mir  grade  gelegen;  bitte,  nimm  einmal  den  Kaiser¬ 
mantel  um,  und  reite  vor  dem  Atelier  ein  paarmal 
auf  und  ab.«  Ich  bestieg  das  starke  Roß,  aber  es 
hatte  keinen  Sinn  für  Auf  und  Ab,  sondern  lief  nur 
auf  und  davon  im  flotten  Trabe  zum  Stalle  nach 
Charlottenburg.  Es  half  kein  Zügeln  und  Zerren  an 
der  Trense;  der  nacheilende  Kutscher  konnte  uns 
nicht  mehr  einholen,  und  ich  muß  den  Vorrüber- 
gehenden,  im  Kaisermantel,  in  der  Winterlandschaft 
ein  schönes  Bild  geboten  haben.  Das  Modell  dieses, 
wie  ich  glaube,  nicht  übertroffenen  Reiterstandbildes 
stand  im  Jahre  1867  auf  der  Pariser  Weltausstellung 
in  Goldbronzierung  auf 
niederem  Sockel,  wie  jedes 
Reiterstandbild  aufgestellt 
sein  sollte  im  Ausstellungs- 
park.  Als  ich  meinen 
Onkel  mit  seiner  Frau 
dorthin  führte,  fiel  an  dem 
nebligen  Tage,  grade  als 
wir  uns  dem  Werke  näher¬ 
ten,  ein  herrlich  goldner 
Sonnenstrahl  auf  seine 
Schöpfung,  welche  auf 
alle  Besucher  einen  tiefen 
Eindruck  machte.  Bei 
dieser  Gelegenheit  hatte 
Drake  zum  erstenmal  in 
seinem  Leben  Paris  be¬ 
sucht,  und  genoß  in  vollen 
Zügen  mit  wahrhaft  kind¬ 
licher  Freude  die  dort 
versammelten  herrlichen 
Kunstschätze.  Ihn,  wie 
seine  Freunde  Strack,  Men¬ 
zel  und  andere  hatte  ich 
in  der  Nähe  meines 
Ateliers  in  einem  kleinen 
Hotel  der  rue  Larochefou- 
cauld  sehr  billig  unterge¬ 
bracht.  DersparsameOnkel 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst. 


war  erfreut,  wie  bescheiden  man  in  Paris  leben 
konnte.  Eines  Abends  gingen  wir,  Drake  mit  Frau 
und  Tochter  sowie  Strack,  nach  dem  Theater.  Ich 
sollte  die  Billette  nehmen,  wollte  aber,  da  ich  das 
Stück  kannte,  selbst  nicht  mit  hinein.  Wir  näherten 
uns  der  Kasse,  ich  voran  und  sagte:  »das  Billett  kostet 
sieben  Franks,  du  hast  also  21  Franks  zu  bezahlen 
und  Strack  sieben.«  Drake  hielt  sein  20  Frankstück 
und  1  Frank  krampfhaft  in  der  Hand,  und  Strack 
ein  20  Frankstück.  Während  ich  sagte:  drei  Billette 
für  jenen  Herrn  und  eins  für  diesen,  nahm  der 
Billetteur  den  einen  Frank  meines  Onkels,  gab  ihn 
rasch  an  Strack  und  noch  12  Franks  dazu.  Dies 
Manöver  konnte  mein  Onkel  nicht  begreifen,  und 
rief:  »das  ist  ja  mein  Frank«,  worauf  er  denselben 
dem  Freunde  mit  Gewalt  entriß;  es  war  vergeblich, 
ihm  das  Unrecht  dieses  Raubes  klar  zu  machen. 
Ganz  begeistert  war  mein  Onkel  von  der  lieblichen 
Umgebung  von  Paris,  die  wir  oft  aufsuchten,  um 
uns  von  den  Anstrengungen  der  Ausstellung  zu  er¬ 
holen. 

Nach  all  den  deutschen  Siegen  im  Jahre  1870 
begann  Drake  einen  Entwurf  für  das  Siegesdenkmal 
auf  dem  Königsplatz  zu  modellieren  und  hatte  dabei 
eine  sehr  originelle  Idee,  indem  er  einen  Kuppelbau 
erdachte,  der  zur  Aufnahme  der  Siegestrophäen  und 
Aufstellung  der  Kriegsheldenstandbilder  dienen  sollte; 
rechts  und  links,  auf  Ausbauten,  freistehende  Schlacht¬ 
szenen,  und  auf  der  Kuppel  die  soviel  angefeindete 
Siegesgöttin.  Aber  sein  Freund  Strack,  der  Architekt, 
erklärte  dies  alles  für  ein  Unding,  wie  schon  Pater 
profundus  im  zweiten  Teil  des  Faust  sagt:  »Wie 

strack  mit  eignem  kräf¬ 
tigen  Triebe,  der  Stamm 
sich  in  die  Lüfte  hebt,« 
so  siegte  Stracks  Ansicht, 
und  aus  der  Kuppel  wurde 
jene  Säule,  an  die  sich  bis 
heute  das  Publikum  nicht 
gewöhnen  will,  und  doch 
ist  jene  Viktoria,  genau 
betrachtet,  in  ihrer  grandio¬ 
sen  Einfachheit  viel  besser 
als  ihr  Ruf. 

In  späteren  Jahren 
kehrte  der  Künstler  zu 
einer  Jugendliebe  zurück 
und  meißelte  in  schön¬ 
stem  griechischen  Marmor 
eine  Wiederholung  jener 
Winzerin  aus  Sandstein, 
welche  unweit  seines  Ate¬ 
liers  an  der  großen  Quer¬ 
allee  im  Tiergarten  steht. 
Dieses  Meisterwerk  harrt 
noch  heute,  in  einem 
Schuppen  verborgen,  sei¬ 
ner  Befreiung,  um  die 
Zierde  eines  öffentlichen 
Parks  zu  werden.  Auch 
an  einer  größeren  Wie- 

35 


FRIEDRICH  DRAKE 

N.  F.  XVI.  H.  10 


202 


FRIEDRICH  DRAKE 


derholung  des  Marmorreliefs  der  Goethischen  fünften 
römischen  Elegie  arbeitete  er  bis  zu  seinem  Ende. 
Kurz  vor  seinem  Tode  im  Jahre  1882  äußerte 
er  einmal  zu  mir:  »Eigentlich  habe  ich  nie  etwas 
Besseres  gemacht,  als  jene  kleine  Holzbüste,  durch 
welche  ich  zu  Rauch  kam.«  —  Seine  Gattin  hat  ihn 
noch  viele  Jahre  überlebt. 

Die  heutige  Künstlerjugend  hat  leider  wenig  Re¬ 
spekt  vor  den  Meistern  der  Malerei  und  Bildhauer¬ 
kunst  jener  Epoche.  Viele  der  Besten  sind  unsern 
Kunstjüngern  kaum  dem  Namen  nach  bekannt,  und 
das  edle  Selbstbewußtsein,  daß  wir  es  so  herrlich 
weit  gebracht,  erhält  nur  dann  und  wann  einen 
Dämpfer,  wenn  auf  den  retrospektiven  Ausstellungen 


einige  Werke  jener  veralteten  Meister  in  die  Erschei¬ 
nung  treten  und  dabei  jenen  Veranstaltungen  erst 
einen  eigentümlichen  Reiz  verleihen,  eine  Würze  für 
die  Eeinschmecker  der  Kunst.  Doch  wenn  wir  die 
breite  Treppe  zum  erhabenen  Kunsttempel,  dem  alten 
Museum,  das  Schinkel  uns  geschenkt,  hinauf  steigen 
und  in  der  weihevollen  Vorhalle  die  Reihe  jener 
großen  Männer  überblicken,  die  als  Priester  der 
schönsten  und  dauerndsten  Kultur  gewirkt  haben,  so 
wollen  wir  vor  Christian  Rauch  den  Hut  abziehen 
und  ihn  fragen:  »Soll  dein  Drake  hier  bei  euch  in 
eurer  hehren  Gesellschaft  der  nächste,  würdigste  Gast 
sein?«  Dann  wird  Rauch  mit  dem  Kopfe  nicken  und 
ein  tiefes  Ja  ertönen  lassen. 


FRIEDRICH  DRAKE.  BÜSTE  DER  FRAU  v.  QUAST 
NACH  DER  TOTENMASKE 


DIE  GALERIE  SPECK  VON  STERNBURO 


Die  Gemäldesammlung  der  Freiherrlichen  Familie 
Speck  von  Sternburg  auf  dem  Rittergute 
Lützschena  bei  Leipzig  ist  eine  der  ältesten 
und  bedeutendsten  Privatgalerien  Deutschlands.  Ihre 
Begründung  fällt  in  die  stürmische  Zeit  der  napo- 
leonischen  Kriege  und  in  das  Jahrzehnt  nach  dem 
großen  Freiheitskampfe.  Freiherr  Maximilian  Speck 
von  Sternburg  war,  neben  Sammlern  wie  Goethe  und 
den  Brüdern  Boisseree,  einer  der  wenigen  begeisterten 
und  weitsichtigen  Kunstfreunde,  die  in  jener  spar¬ 
samen  Zeit  von  dem  beweglich  gewordenen  Kunst¬ 
besitz  retteten,  was  ihnen  erreichbar  war  und  in  ihrer 
Interessensphäre  lag.  Er  sammelte  mit  feinem  Ge¬ 
schmack  und  einer  für  die  Zeit  sehr  respektablen 
Kennerschaft  in  erster  Linie  die  Werke  der  Blüte  der 
holländischen  Malerei  des  17.  Jahrhunderts  in  ihren 
Hauptvertretern,  und  interessantesten  Stoffgebieten, 
ferner  aber  auch  erlesene  Proben  der  altniederländi¬ 
schen,  altdeutschen  und  altitalienischen,  der  vlämischen, 
französischen  und  spanischen  Schulen,  insgesamt  etwa 
200  alte  Meisterwerke,  zu  denen  noch  gegen  80  Ge¬ 
mälde  bekannter  deutscher  Meister  aus  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  kommen.  Aus  einer 
langen  Reihe  renommierter,  im  ersten  Drittel  des 
vorigen  Jahrhunderts  sich  auflösenden  Sammlungen, 
z.  B.  dem  Wincklerschen  und  Richterschen  Kabinett 
zu  Leipzig,  den  Galerien  des  Grafen  Fries,  des  Fürsten 
Zinsendorf,  des  Grafen  Sicking,  des  Fürsten  von 
Khevenhüller-Metsch,  des  Fürsten  Kaunitz,  alle  fünf 
in  Wien;  ferner  aus  der  Gustinianischen  Sammlung 
und  der  des  Kardinals  Valenti  in  Rom,  aus  den  Ka¬ 
binetten  Le  Brun,  Glume  und  Clos  in  Paris  und  aus 
der  Sammlung  des  bekannten  Kunstkenners  Conseiller 
Dr.  de  Burtin  in  Brüssel  erwarb  er  bezeichnende  und 
schöne  Gemälde,  die  die  Künstler  charakteristisch 
vertraten,  tadellos  erhalten,  meist  signiert  und  sonst 
beglaubigt  waren.  Durch  diese  weise  Beschränkung 
auf  das  Beste  erhielt  seine  Galerie  ein  für  eine  Privat¬ 
sammlung  ungewöhnlich  hohes  Niveau.  Wie  bei 
vielseitig  und  genial  veranlagten  Männern  häufig 
das  Spiel  ihrer  Muße  eine  bedeutende  und  wertvolle 
Form  annimmt,  so  verfolgte  auch  Baron  Maximilian 
Speck  von  Sternburg  beim  Kunstsammeln  von  vorn¬ 
herein  sehr  hohe  Ziele,  und  zwar  mit  einer  wunder¬ 
vollen  Klarheit  des  Blickes  und  einer  durch  kein 
äußerer  Hindernis  abzuhaltenden  Energie.  Ist  es  an 
sich  interessant,  einen  Blick  auf  das  Leben  eines  sol¬ 
chen  Selfmade-Mannes  seltenster  Art  zu  werfen,  so 
gehört  es  fast  notwendig  zum  rechten  Verständnis 
einer  Privatsammlung  als  Ganzes,  als  Geschmacks¬ 
ausdruck,  etwas  Persönliches  von  dem  Gründer 
zu  erfahren.  Er  wurde  am  30.  Juli  1776  in  dem 
sächsischen  Dörfchen  Gröba  bei  Riesa,  in  kleinländ¬ 
lichen  Verhältnissen  geboren,  kam  fünfzehnjährig  in 
ein  Leipziger  Handelshaus  und  entfaltete  nun  seine 
reiche  geistige  Begabung  in  fabelhaft  schneller  Ent¬ 


wickelung.  Noch  als  ganz  junger  Mann  wurde  er 
Teilhaber  und  Leiter  einer  großen  Leipziger  Woll- 
handlung,  für  die  er  fortgesetzt  große  Auslandsreisen 
machte,  Filialen  gründete  und  einen  großartigen  inter¬ 
nationalen  Warenaustausch  einrichtete,  Sein  über¬ 
legener,  die  politischen  Ereignisse  überblickender 
Unternehmungsgeist  vermochte  selbst  im  Drange  der 
napoleonischen  Kriege  den  Weg  zu  großen  kauf¬ 
männischen  Erfolgen  zu  finden.  Vom  Großkaufmann 
entwickelte  er  sich  dann  zu  einem  Bahnbrecher  für 
rationellen  Landwirtschafts-  und  Viehzuchtsbetrieb, 
gründete  vielgerühmte  Musterwirtschaften  mit  Rasse¬ 
tieren  und  wirkte  mit  Vorträgen  und  Schriften  so 
eifrig  für  den  Fortschritt  auf  diesen  Gebieten,  daß 
ihn  Kaiser  Alexander  von  Rußland  1825  zur  land¬ 
wirtschaftlichen  Erschließung  seines  Riesenreiches  ein¬ 
lud  und  in  den  Ritterstand  erhob.  Zu  ähnlichen  Auf¬ 
gaben  wurde  er  einige  Jahre  darauf  von  König  Lud¬ 
wig  I.  nach  Bayern  berufen  und  seine  Verdienste 
durch  Erhebung  in  den  erblichen  Freiherrnstand  eines 
Königl.  Bayrischen  Barons  von  Sternburg  belohnt. 
Es  berührt  ganz  eigentümlich,  aus  seinen  Worten  und 
Schriften  wahrzunehmen,  wie  er  die  Überlast  seiner 
Geschäfte  als  Großkaufmann  und  Großgrundbesitzer 
in  den  schwierigsten  Zeitläuften  mit  der  Ruhe  eines 
Philosophen  erträgt,  immer  in  der  Vorstellung,  daß 
er  nicht  für  sich,  sondern  für  die  Menschheit  zu 
wirken  habe.  Und  unbegreiflich  ist,  wie  er  Zeit  ge¬ 
funden  hat,  von  ca.  hundert  Akademien,  wissenschaft¬ 
lichen  Vereinen  und  Gesellschaften  die  Pflichten  eines 
Ehren-  oder  korrespondierenden  Mitgliedes  zu  erfüllen 
und  dabei  noch  mannigfach  literarisch  tätig  zu  sein, 
sich  zu  einem  feinen  Kunstkenner  auszubilden  und 
seine  erlesene  Gemäldegalerie  samt  Kupferstich-  und 
Handzeichnungssammlung  und  Kunstbibliothek  zu¬ 
sammenzubringen.  Nachdem  er  1821  das  Rittergut 
Lützschena  erworben  hatte,  das  er  zu  einer  landwirt¬ 
schaftlichen  Musteranstalt  machte  und  mit  herrlichen, 
heute  noch  bewunderten  Parkanlagen  umgab,  baute 
er  sich  dort  seine  kleine  Galerie,  aus  der  dann  Ende 
der  fünfziger  Jahre  die  Gemälde  in  den  Schloßneubau 
übergeführt  wurden.  Hier  geben  sie  diesem  reizend 
gelegenen,  in  gotisierenden  Formen  errichteten  Land¬ 
edelsitze  im  Innern  eine  Weihe  durch  die  Kunst,  die 
heute  noch  ihren  Zauber  auf  jeden  Besucher  ausübt. 
Die  großen,  mehr  dekorativen  Gemälde  schmücken 
die  Treppen-  und  Korridorwände,  während  die  Ka¬ 
binettstücke  in  einem  gut  beleuchteten,  durch  Scher¬ 
wände  gegliederten  Saale  untergebracht  und  einzelne 
erlesene  Gemälde  zum  Schmucke  der  Wohnzimmer 
verwandt  sind,  die  im  übrigen  Gemälde  zumeist  aus 
der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  und  Familien¬ 
porträts  aus  dieser  und  späterer  Zeit  enthalten.  Wie 
Baron  Maximilan  Speck  von  Sternburg  jener  den 
Besten  seiner  Zeit  eigenen  kosmopolitischen  und 
philantropischen  Weltanschauung  huldigte,  so  wollte 


35 


DIE  GALEF^IE  SPECK  VON  STERNBURG 


264 

er  auch  seine  Kunstsammlung  in  den  Dienst  des 
Guten  und  Schönen,  der  Bildung  und  der  Ereude  an 
der  Kunst  stellen.  Er  verfaßte  selbst  in  dem  Jahre 
1827  zwei  ausführliche,  mit  vielen  Kunstnotizen  und 
eigenen  Kunstanschauungen  ausgezeichnete  Kataloge 
seiner  Gemälde  und  sonstigen  Kunstwerke  mit  litho¬ 
graphischen  Nachbildungen  in  stattlichem  EolioformaP), 
die  er  den  hervorragendsten  Kunstfreunden  des  In- 
und  Auslandes  dedizierte.  ln  gleichem  Sinne  traf  er 
die  liberalsten  Bestimmungen  für  den  Besuch  der 
Galerie,  besonders  für  ernstere  Studien  von  Kunst¬ 
verständigen  und  Künstlern  und  sorgte  auch  letzt¬ 
willig  für  die  dauernde  Erhaltung  der  Gemäldesamm¬ 
lung,  während  die  Kupferstich-  und  Handzeichnungs- 
sammlung  aufgegeben  wurde.  Er  endete  sein  reich¬ 
bewegtes  Leben  am  22.  Dezember  1856  im  81.  Lebens¬ 
jahre  und  ruht  in  einem  kleinen  Mausoleum  im 
Hintergründe  seines  schönen  Schloßparkes,  den  er 
selbst  in  einem  1836  erschienenen  Poem  gefeiert  hat. 

Noch  heute  werden,  den  guten  Traditionen  treu, 
diese  Gemäldeschätze  allen  Kunstfreunden  leicht  und 
unentgeltlich  zugänglich  gemacht.  Der  jetzt  hoch¬ 
betagte  Sohn  des  Begründers,  Baron  Alexander  Speck 
von  Sternburg,  hat  auch  seinerseits  seiner  Liebe  zur 
Kunst  und  seiner  Verehrung  für  die  Schöpfung  seines 
hochgesinnten  Vaters  dadurch  Ausdruck  gegeben,  daß 
er  selbst  wieder  (188g)  einen  handlichen,  gut  orien¬ 
tierenden  Katalog  der  Galerie  verfaßte  und  den  Be¬ 
suchern  zur  Verfügung  stellte.  Es  mag  wohl  haupt¬ 
sächlich  durch  die  etwas  abseits  vom  Verkehr  in  länd¬ 
licher  Abgeschiedenheit  versteckte  Lage  bewirkt  sein, 
daß  diese  Gemäldesammlung  nur  selten  besucht  und 
auch  in  der  Kunstliteratur  nur  wenig  erwähnt  wird, 
so  in  neuerer  Zeit  nur  einige  italienische  Bilder  von 
Morelli,  von  Crowe  und  Cavalcaselle  in  der  Geschichte 
der  italienischen  Malerei,  von  Eritz  Harck  im  Archivio 
storico  d.  arte  111  und  einzelne  niederländische  Bilder 
von  Hofstede  de  Groot,  W.  Bode,  H.  v.  Tschudi, 
Eirmenich-Richartz  und  Th.  von  Erimmel.  Daher 
dürfte  es  Kunstforschern  und  weiteren  Kreisen  der 
Kunstfreunde  willkommen  sein,  daß  die  Kunsthisto¬ 
rische  Gesellschaft  für  photographische  Publikationen 
in  den  beiden  kürzlich  erschienenen  Jahrgängen  eine 
Auswahl  von  vierzig  der  bedeutendsten  Gemälde  der 
Galerie  in  großen,  schönen  Lichtdrucken  herausgegeben 
hat  2),  auf  die  unsere  Abbildungen  hier  zurückgehen. 

Beginnen  wir  die  Einzelbetrachtung  der  wich¬ 
tigsten  Gemälde  mit  den  Italienern,  so  finden  wir 
unter  diesen  das  früheste  der  Sammlung,  ein  kleines, 
fein  ausgeführtes  florentinisches  Trecentobild  in  Tem¬ 
pera  auf  Holz,  das  Martyrium  des  hl.  Laurentius  dar¬ 
stellend,  strahlend  in  traditionellem  grellen  Blau,  Rosa 


1)  Ein  kleines,  320  Nummern  umfassendes  Verzeichnis 
erschien  dann  1840. 

2)  Kunsthistorische  Gesellschaft  für  Photographische 
Publikation  unter  Leitung  von  A.  Schmarsow,  F.  von  Reber, 
C.  Hofstede  de  Groot,  Jahrgang  X  und  XI  Die  Galerie 
Speck  von  Sternburg,  40  ausgewählte  Meisterwerke  mit 
Text  von  F.  Becker.  Leipzig,  1904  und  1905.  (Auch  separat 
in  Prachtmappe,  Verlag  von  A.  Twietmeyer.) 


und  Grün,  interessant  wegen  der  sehr  stattlichen  Fi¬ 
guren,  und  der  für  die  Zeit  in  Perspektive  und  Weit¬ 
räumigkeit  schon  sehr  fortgeschrittenen  Architektur.  Es 
ging  früher  unter  Taddeo  Gaddis  Namen,  wurde 
aber  von  Morelli  richtig  als  eine  Arbeit  des  Spinello 
Aretino  bestimmt.  Man  braucht  nur  an  Spinellos 
überbunte  Kapelle  in  San  Miniato  in  Florenz  und 
seine  bekannten  Gestalten  mit  den  ehernen  Köpfen  und 
starren,  großartigen  Faltenzügen  zu  denken,  um  all 
seine  ausgeprägte  Eigenart  in  diesem  Bildchen  wieder¬ 
zufinden.  Es  ist  in  den  Farben  sehr  gut  erhalten, 
scheint  aber  an  der  rechten  Seite  etwas  verkürzt 
zu  sein  (Abb.  6). 

An  die  Blütezeit  der  venezianischen  Malerei  er¬ 
innert  uns  das  stattliche  Repräsentationsbild  Cimas  da 
Conegliano,  eine  Madonna  mit  Kind  und  zu  den 
beiden  Seiten  Johannes  der  Täufer  und  Hieronymus 
vor  einer  weiten  Hügellandschaft  mit  einer  festen 
Stadt  rechts.  Es  ist  eine  Variante  seiner  bekannten 
bellinesken  Madonnenbilder  in  Halbfiguren  und  zwar 
in  ihrer  ruhigen  ungezwungenen  Komposition,  in 
der  eindringlichen  Charakteristik,  in  dem  harmonischen, 
durch  kräftige  Schatten  gehobenen  Kolorit  besonders 
wirkungsvoll.  Der  untere  Streifen  mit  einer  falschen 
Bellini-Signatur  scheint  gelegentlich  der  Befestigung 
der  Leinwand  auf  Holz  hinzugekommen  zu  sein.  Im 
übrigen  ist  es  bis  auf  einige  Retuschen  gut  erhalten; 
es  kann  aber  nicht,  wie  der  Katalog  vermerkt,  aus 
der  Gräflich  Sickingschen  Sammlung  erworben  sein, 
da  es  noch  1828  als  in  der  Galerie  Wendelsladt  be¬ 
findlich  in  Umrißslich  publiziert  worden  ist  (Abb.  5). 

Ungefähr  zur  selben  Zeit,  im  ersten  Jahrzehnt  des 
16.  Jahrhunderts,  wird  ein  anderes  Hauptstück  der 
Sammlung,  die  lebensgroße  Halbfigur  des  Schmerzens¬ 
mannes  von  Andrea  Solari  entstanden  sein.  Obwohl 
das  Gemälde  durch  Übertragung  von  der  Leinwand 
auf  Holz^)  gelitten  hat  und  stark  durch  alten  gelben 
französischen  Firnis  beeinträchtigt  wird,  kommt  immer 
noch  die  außerordentliche  Feinheit  der  Ausführung 
und  die  in  Lionardos  Schule  gewonnene  Kraft  und 
Tiefe  der  Auffassung  zur  Geltung.  Die  Signatur 
Andre(as)  de  Solario  fa  in  Goldbuchstaben  links  unten 
mag  nicht  original  sein,  aber  an  der  Autorschaft  So¬ 
laris  zu  zweifeln  liegt  kein  Grund  vor,  und  mit  Recht 
traten  Crowe  und  Cavalcaselle  und  Fritz  Harck  für 
die  Echtheit  entschieden  ein.  Es  scheint  ursprünglich 
der  etwas  veränderten  Fassung  des  Ecce  homo  in 
Mailand,  Museum  Poldi  Pezzoli,  wesentlich  an  künst¬ 
lerischer  Durchbildung  überlegen  gewesen  zu  sein. 
Ein  liebliches  Madonnenbildchen  von  Francesco  Francia 
erinnert  in  Typen  von  Mutter  und  Kind,  in  der 
frommen,  sinnigen  Stimmung,  in  der  zierlichen,  um- 
brischen  Landschaft  lebhaft  an  Peruginos  und  auch 
des  jungen  Raffaels  Weise.  Die  Datierung  der  In¬ 
schrift  auf  1517  (das  Todesjahr  Francias)  verträgt  sich 
aber  nicht  mit  dem  starken  Anklang  an  Peruginos 
Einfluß  und  daher  muß  dies  Bildchen  über  ein  Jahr¬ 
zehnt  früher  gemalt  sein.  Die  Temperafarben  zeigen 
hier  einen  Schmelz  und  eine  Tiefe  wie  ein  altnieder- 


i)  1785  von  Hacquin  in  Paris  ausgeführt. 


SAMMLUNG  SPECK  VON  STERNBURO 


1.  BARTH.  V.  D  HELST.  FRAUENPORTRÄT 


2.  FERD.  BOL.  PORTRÄT  EINES  RATSHERRN 


3.  HENDRIK  VAN  VLIET.  ALTE  KIRCHE  IN  DELFT 


4.  PIETER  DE  HOOOH.  INTERIEUR 


266 


DIE  GALERIE  SPECK  VON  STERNBURO 


ländisches  Ölbild;  leider  ist  die  Lackschicht  fleckig 
geworden  (Abb.  i  o). 

Raffaels  Namen  trägt  in  der  Galerie  eine  mei¬ 
sterhaft  ausgeführte  Wiederholung  des  berühmten 
Porträts  der  Johanna  von  Aragonien  im  Louvre, 
aber  kunstgeschichtlich  interessanter  ist  ein  Ma¬ 
donnenbildchen  aus  Raffaels  nächstem  Schülerkreise. 
Vorn  auf  der  Eensterbrüstung  im  Zimmer  Marias 
sitzt  das  Knäblein  nackt  auf  weißem  Kissen  mit 
blauer  Unterlage  und  die  jungfräuliche  Madonna 
reicht  ihm  dahinterstehend  die  Rechte  und  hält  wie 
dieses  Nelken  in  der  Hand.  Reiche  modische  Tracht 
mit  geschlitzten  Ärmeln  und  von  überaus  sorgfältig 
durchgebildetem  Faltenwerk  ziert  die  junge,  blonde 
Mutter,  die  wie  das  Kind  ganz  und  gar  den  Typus 
aus  Raffaels  Frühzeit  zeigt.  Mit  feinem  Pinsel  ist 
alles  peinlich  und  doch  flüssig  und  verschmolzen 
durchgeführt,  aber  das  Kolorit  hat  besonders  in  den 
verschiedenen  Nüaiiceii  des  Blau  etwas  Kaltes.  Leider 
beeinträchtigt  ein  Sprung  durch  die  ganze  Tafel  das 
sonst  in  den  Farben  wohlerhaltene  Kabinettstück 
fühlbar. 

Einen  Nachklang  von  f^affaels  Schule,  wenn  auch 
nur  noch  teilweise  und  schwach,  verrät  das  Madonnen¬ 
bild  von  der  Hand  des  Veronesers  Giov.  Franc.  Ca- 
roto  (1476  1546),  eine  in  Formen  und  Farben  etwas 

derbe  Arbeit,  die  von  Morelli,  ebenso  wie  die  Dres¬ 
dener  Madonna  von  Caroto,  diesem  so  verschiedenen 
Einflüssen  unterworfenen  Künstler  wohl  mit  Recht 
zugewiesen  wurde. 

Unter  den  übrigen  älteren  italienischen  Gemälden 
verdienen  ein  interessanter,  dem  Giorgione  zuge¬ 
schriebener  und  aus  der  ehemaligen  Sammlung  des 
Grafen  Fries  in  Wien  erworbener  dornengekrönter 
Christuskopf  und  ein  nur  spannenlanges  Bildchen  mit 
zwei  blondlockigen  Kinderköpfen  (Christus-  und  jo- 
hannesknabe)  von  Parmigianino,  frisch  gemalt  und  mit 
der  gewinnenden  Anmut  von  Correggio-Putten  aus¬ 
gestattet,  besondere  Aufmerksamkeit.  —  Wenn  die 
Namen  Verrocchio,  Luini,  Giovanni  da  Udine,  Pierino 
del  Vaga  mit  wenig  interessanten  und  ihnen  fern 
stehenden  Bildern  im  Katalog  nach  alter  Tradition 
zusammengebracht  werden,  so  findet  man  wieder 
unter  den  Italienern  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
charakteristische  Proben  bekannter  Meister  wie  Schi- 
done,  Sassoferrato,  Guido  Reni,  Carlo  Dolce,  Alex. 
Turchi,  Annibale  Carracci,  Carlo  Maratta,  J.  P.  Pannini 
und  anderer. 

Aber  die  Hauptstärke  der  Galerie  beruht  doch  in 
den  niederländischen,  insbesondere  den  holländischen 
Gemälden  des  17.  Jahrhunderts.  Sehr  würdig  steht 
an  der  Spitze  der  niederländischen  Gruppe  ein  wunder¬ 
feines  Werk  von  der  Hand  Rogiers  van  der  Weyden.  Es 
stellt  die  Begegnung  der  Maria  nnd  der  Elisabeth  dar 
und  ist  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  schon  im  X.  Bande, 
S.  141  von  Firmenich-Richartz  in  Abbildung  vorgeführt 
worden,  zugleich  mit  der  älteren  eigenhändigen  Fas¬ 
sung  desselben  Vorgangs  auf  dem  Flügel  eines  Di¬ 
ptychons  in  der  Turiner  Galerie.  Während  Rogier  es 
sonst  liebt,  sein  phantasievolles  Erzählertalent  und  die 
Feinheit  seiner  Hand  an  der  Darstellung  reichen  Skulp¬ 


turenwerkes  zu  zeigen,  exzelliert  er  hier  in  der  minu¬ 
tiösen  Ausführung  einer  zierlich  staffierten  Landschaft, 
bei  der  selbst  noch  die  Spiegelung  eines  Schwans 
im  Weiher  des  Mittelgrundes  und  die  Schatten  unter 
den  Bäumen  des  Hintergrundes  im  unermüdlichen 
Streben  nach  Wahrheit  im  Schein  wiedergegeben  sind. 
In  sehr  guter  Erhaltung  bietet  uns  dieses  Bild  auch 
eine  charakteristische  Probe  von  Rogiers  klarem,  etwas 
hartem  Kolorit,  das  hier  von  dem  Hellblau  des  Him¬ 
mels,  dem  Azur  und  Rubinrot  der  Kleider,  dem 
Waclisgelb  des  Inkarnats  und  dem  Gelbgrün  der  Land¬ 
schaft  beherrscht  wird.  Auf  Einzelheiten  brauchen 
wir  hier  nicht  einzugehen,  da  schon  Firmenich-Richartz 
an  genannter  Stelle  das  Bild  genau  beschrieben  und 
auch  die  dem  Turiner  Pendant  gegenüber  wesentlich 
spätere  Entstehung  im  Oeuvre  Rogiers  nachgewiesen 
hat.  Nur  ist  schwer  zuzugeben,  daß  die  Typen  auf 
dem  Lützschenaer  Bilde  an  frischer  Lebenswahrheit 
nachstehen  sollen  und  der  Hintergrund  bloß  kulissen¬ 
artig  wirke.  Eher  dürfte  umgekehrt  das  Turiner  Bild 
hierin  nachstehen.  In  ihm  ist  alles  altertümlicher  und 
enger,  in  Typen  und  Falten  knifflicher,  in  den  Gesten 
lahmer,  in  der  Architektur  winkliger;  in  dem  Lütz¬ 
schenaer  Bilde  dagegen  ist  schon  durch  die  anderen 
Dimensionen  (bei  gleicher  Breite  eine  um  ein  Drittel 
verminderte  Höhe)  ein  im  Verhältnis  breiterer  Schau¬ 
platz  gewonnen  und  auch  alle  Körper  im  Raume  sind 
breiter  und  klarer  ausgeführt.  Ganz  deutlich  gibt 
sich  unser  Bild  als  eine  mit  größter  Sorgfalt  und  mit 
reiferer  Kunsterfahrung  vorgenommene  Revision  des 
alten  Themas.  Manche  Reize  des  Jugendwerkes  z.  B., 
die  fein  differenzierte  Licht-  und  Schattenwirkung  hat 
Rogier  im  Lützschenaer  Bilde  nicht  wieder  erreicht, 
aber  dafür  stattete  er  es  mit  der  ganzen  Sicherheit 
und  Klarheit  aus,  wie  sie  nur  die  reife  Meisterschaft 
gewährt.  Für  seine  Kunstentwickelung  kann  also 
dieses  Bild  im  Vergleich  mit  dem  Turiner  einen  be¬ 
sonders  interessanten  Anhalt  geben. 

Schon  in  das  erste  Viertel  des  16.  Jahrhunderts 
führt  uns  ein  farbenprächtiger  und  figurenreicher 
Flügelaltar  eines  niederländischen  Übergangsmeisters, 
der  das  altniederländische  Schulerbe  durch  modische 
Äußerlichkeiten  und  theatralischen  Ausdruck  zu  stei¬ 
gern  meint  (Abb.  8  u.  g).  Bei  geöffneten  Flügeln  sieht 
man  innen  das  Leiden  Christi:  Kreuztragung,  Klage  unter 
dem  Kreuz  und  Beweinung  nach  der  Abnahme;  außen 
links  Kaiser  Konstantins  Sieg  über  Licinius,  rechts  den 
Einzug  Gottfrieds  von  Bouillon  in  Jerusalem  dar¬ 
gestellt.  Die  festlichen,  überreich  gezierten  Kostüme, 
der  phantastische  Waffenschmuck,  das  mehrfach  wie¬ 
derkehrende  Doppeladler-Wappen,  die  eleganten  Posen 
und  Gesten,  die  übertriebene  Charakteristik,  das  blühende, 
etwas  bunte  Kolorit  verraten  dieHofkunst  unter  Margarete 
von  Österreich  und  deutliche  Beziehungen  zu  Barend  von 
Orley  und  noch  mehr  zum  Meister  von  d’Oultremont 
(Jan  Mostaert).  —  Unter  Martin  van  Heemkercks  Namen 
verzeichnet  der  Katalog  das  lebensgroße  Idealporträt 
eines  phantastisch  gepanzerten  Ritters  in  ausgeprägt 
ilalienisierendem  Geschmacke.  Da  wirkt  eine  kleine 
Winterlandschaft  aus  der  Werkstatt  des  alten  Pieter 
Brueghel  natürlicher  und  selbst  Dionys  Calvaert  mit 


SAMMLUNG  SPECK  VON  STERNBURO 


5.  CIMA  DA  CONEOLIANO.  MADONNA  MIT  KIND  UND  HEILIGEN 


6.  SPINELLO  ARETINO 
MARTYRIUM  DES  HL,  LAURENTIUS 


7.  L.  CRANACH  D.  Ä.  FLÜOELBII  D  MIT  DEN 
HL.  DOROTHEA,  AGNES  UND  KUNIGUNDE 


268 


DIE  GALERIE  SPECK  VON  STERNBURG 


seiner  Verlobung  der  hl.  Katharina  und  Hendrick  von 
Baien  mit  den  Kindern  Israels  in  der  Wüste  sagen 
uns  mehr.  Der  Vlamen  Ruhm  und  Stolz,  Peter  Paul 
Rubens,  ist  mit  einer  prächtigen,  kraftvollen  Skizze 
eines  Mönchskopfes  in  Lebensgröße  vertreten,  während 
im  übrigen  zwei  alte,  gute  Repliken,  das  Schiff  im 
Sturme  und  eine  Waldlandschaft  mit  Hirt  und  Herde 
(Original  im  Besitze  des  Earl  Carlisle,  Castle  Howard), 
an  ihn  erinnern.  Von  dem  ihm  so  nahestehenden 
Jakob  Jordaens  enthält  die  Sammlung  ein  kräftiges 
dekoratives  Bild  mit  den  vier  Aposteln  in  lebens¬ 
großen  Kniestücken,  aber  die  dem  A.  van  Dyck  im 
Katalog  zugeschriebene  Beweinung  Christi  hat  durch¬ 
aus  nichts  mit  ihm  zu  tun,  ist  schwach  in  der  Zeich¬ 
nung,  eher  spanisch  als  vlämisch  und  durch  Über¬ 
malung  beeinträchtigt.  Natürlich  fehlt  unter  den 
Vlamen  nicht  der  populäre  Teniers  d.  j.,  hier  mit 
einer  kleinen  Landschaft  vertreten,  und  von  dem 
schon  selteneren  Gonzales  Cocques  enthält  die  Samm¬ 
lung  sogar  ein  ungewöhnlich  schönes  und  vornehm 
wirkendes  Familienporträt  von  acht  Personen  (darunter 
ein  Neger)  signiert  und  1656  datiert. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  holländischen  Bil¬ 
dern,  so  können  aus  der  großen  Zahl  derselben  hier 
nur  wenige,  besonders  interessante  als  Vertreter  der 
Gruppen  hervorgehoben  werden. 

Von  Rembrandt  verzeichnet  der  Katalog  vier 
Nummern,  einen  Porträtkopf  und  zwei  Brustbilder 
alter  Frauen  und  den  lebensgroßen  Kopf  eines  Greises 
mit  Knebelbart.  Unzweifelhaft  von  des  Meisters  Hand 
ist  dieser  bei  aller  Einfachheit  malerisch  sehr  pikant 
dargestellte  Charakterkopf,  voll  bezeichnet  und  1651 
datiert,  und  in  W.  Bodes  Rembrandtwerke  unter  Nr. 
377  abgebildet. 

Mit  Rembrandt  scheint  Ferdinand  Bol  hier  in 
einem  lebensgroßen  Brustbilde  eines  holländischen 
Ratsherrn  in  mittleren  Jahren  rivalisieren  zu  wollen, 
ln  voller  Vorderansicht,  in  eindrucksvoller  Charak¬ 
teristik  hebt  sich  dieses  imponierende  Bildnis  von 
dunkelgrünem  Grunde  ab  und  wirkt  farbig  tief  und 
ernst  durch  ein  feines  Sfumato,  durch  das  dominierende 
Schwarz  und  Weiß  der  Kleidung  und  ein  purpurrotes 
Kissen  (Abb.  2). 

Wieder  mit  ganz  anderen  Mitteln  sehen  wir  hier 
die  Porträtkünstler  B.  van  der  Heist  und  G.  Terborch 
zu  höchst  originellen  und  fesselnden  Lösungen  von 
Bildnisaufgaben  kommen.  Der  erste  überrascht  in 
dem  lebensgroßen  Brustbilde  einer  resoluten,  alten 
Witwe  1)  durch  den  kecken  Realismus  und  das  ganz 
auf  das  Momentane  gestellte  Motiv  und  die  kontrast¬ 
reichen  Farben,  während  der  vornehme  Gerard  Ter¬ 
borch  in  einem  Herren-  und  einem  Damenporträt  in 
drittellebensgroßen  Ganzfiguren  durch  äußersteSchlicht- 
heit  im  Motiv  und  Kolorit  eine  sehr  aparte  Wirkung 
erzielt  (Abb.  1,12,13).  Sein  eigenes,  lebensgroßes  Porträt 
aber  mit  allerhand  persiflierenden  Andeutungen  auf 


1)  Ein  sehr  ähnliches  Porträt,  wahrscheinlich  die  Vor¬ 
studie  zu  diesem  Bilde,  besitzt  die  Dresdener  Galerie 
(Nr.  1596),  worauf  Dr.  Hofstede  de  Oroot  aufmerksam 
machte. 


K.  Netscher  scheint  bei  aller  Schärfe  der  Arbeit  nicht 
von  Terborchs  Hand  zu  sein.  —  An  der  Spitze  der 
holländischen  Interieurs  steht  hier  das  kostbare  Bild 
von  Pieter  de  Hooch,  die  Äpfel  schälende  junge 
Mutter,  der  die  Magd  das  kleine  Töchterchen  am 
Gängelbande  zuführt;  es  zeigt  die  bekannten  Vor¬ 
züge  der  fast  modern  wirkenden  Malweise  dieses 
Künstlers,  wird  aber  leider  durch  einen  alten  gelb 
gewordenen  Firnis  in  der  vollen  Licht-  und  Luft- 
wirkuiig  beeinträchtigt  (Abb.  4).  Diesem  Werke  gegen¬ 
über  kommen  dann  die  an  sich  feinen  Interieur- 
Genrebilder  von  Jan  Steen  (streitende  Bauern),  G. 
Metsu  (kranke  Mutter),  Jac.  Ochtervelt  (die  Schach¬ 
partie),  F.  van  Mieris  (die  reuige  Tochter)  erst  in 
weiterem  Abstande. 

Wieder  ein  vollendetes  Meisterwerk  in  durchsich¬ 
tigem  Clairobscur  und  delikater  malerischer  Gesamt¬ 
behandlung  ist  Adriaen  van  Ostades  Zeitungsleserin 
vor  einem  Bauernhause.  Dieses  koloristisch  feine, 
an  Rembrandts  Einfluß  erinnernde  Bild  mag  uns  den 
Übergang  zur  eigentlichen  Landschaftsmalerei  ver¬ 
mitteln,  die  hier  viele  gute  Namen  wie  Jacob  Isaaksz 
van  Ruisdael  (große  felsige  Landschaft),  Aert  van  der 
Neer  (Winter-  und  Mondscheinlandschaft),  Corn.  Dusart, 
Adriaen  van  de  Velde,  Berchen,  Dubois,  Does,  Wou- 
werman  unter  anderen  zählt,  abgesehen  von  manchen 
irrtümlichen  Zuweisungen.  Aber  als  eine  Perle  der 
Galerie  kann  man  die  kleine  luftige  Marine  von 
Willem  van  de  Velde  bezeichnen.  Die  religiöse 
Historie  finden  wir  durch  Joan  van  Noordts  Su- 
sanna  im  Bade,  ein  lebensgroßes,  sehr  farbig  und 
dekorativ  wirkendes  Hauptstück  dieses  von  Hofstede  de 
Groot  wieder  bekannt  gemachten  Meisters  vertreten, 
während  von  dem  ihm  kunstverwandten  Jan  Weenix 
ein  vornehmes  Konversationsstück,  Kavaliere  und 
Damen  in  reichster  Tracht  im  Parke  vor  einem  Schlosse 
lagernd,  in  großer  Feinheit  und  Farbenpracht  aus¬ 
geführt,  zu  bewundern  ist.  Gegen  Jan  Weenix  kann 
hier  der  akademische  Gerard  Hoet  mit  seiner  zierlich 
und  bunt  gemalten  Götterversammlung  nicht  recht 
aufkommen;  eher  noch  bringen  sich  Huchtenburg  mit 
einem  ungewöhnlich  schönen  Schlachtenbilde  (signiert 
und  1715  datiert)  und  C.  Ruthart  mit  einer  leiden¬ 
schaftlich  aufgefaßlen  und  vortrefflich  gemalten  Bären¬ 
hatz  zur  Geltung.  Auffallend  reich  und  gewählt  ist 
die  Sammlung  an  Blumen-  und  Fruchlstilleben  von 
Aelst,  den  beiden  de  Heems,  Huysum,  R.  Ruysch, 
Gillemans,  Roepel  und  anderen,  und  darunter  das 
Hauptstück,  ein  Fruchtstilleben  mit  einem  Hummer 
von  J.  D.  de  Heem,  offenbar  das  Original  für  die 
in  den  Farben  und  in  der  Arbeit  geringere  Wieder¬ 
holung  in  der  Dresdener  Galerie  Nr.  1260.  Unter 
den  Jagdstilleben  finden  wir  interessante  Arbeiten 
von  J.  B.  Weenix,  dem  seltenen  Matthijs  Bloem  und 
Dirk  Valkenbiirg.  Und  nicht  unerwähnt  sollen  die 
in  Perspektive,  Licht-  und  Luftwirkung  so  stimmungs¬ 
vollen  Kircheninterieurs  von  Steenwijck,  von  Deelen, 
H.  van  Vliet,  Anthony  de  Lorme  unter  anderen 
bleiben  (Abb.  3). 

Unter  den  altdeutschen  Gemälden  ist  das  frühste 
ein  sehr  umfangreiches  Triptychon  mit  dem  segnen- 


SAMMLUNG  SPECK  VON  STERNBURG 


8.  HAARLEMER  MEISTER  UM 
1510  (?).  SIEG  KONSTANTINS 


UND  EINZUG  GOTTFRIEDS  v. 
BOUILLON.  AUSSENFLÜGEL 


9.  HAARLEMER  MEISTER  UM  1510  (?).  KREUZTRAGUNG,  KREUZIGUNG  UND  BEWEINUNG  CHRISTI.  INNENSEITEN 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  lo  oft 


270 


DIE  GALERIE  SPECK  VON  STERNBURG 


den  Christus  inmitten  der  zwölf  Apostel  und  einem 
anbetenden  Stifter  auf  den  Innenbildern  und  der  An¬ 
betung  der  Weisen  auf  den  Außenflügeln,  inwendig 
auf  Goldgrund,  außen  mit  landschaftlichem  Hinter¬ 
grund.  Dieses  interessante,  bis  auf  den  erneuerten 
Goldgrund  wohlerhaltene  Temperabild  ist  im  Kata¬ 
loge  als  ein  Werk  des  Wohlgemuth  aufgeführt,  zeigt 
aber  in  Typen,  Formen,  Komposition  und  Farben  die 
charakteristischen  Merkmale  der  Arbeiten  eines  Anony¬ 
mus  der  kölnischen  Schule  um  1470,  des  Meisters 
des  Marienlebens,  und  muß  sich  zeitlich  nahe  an  die 
Himmelfahrt  Christi  dieses  Meisters  in  der  Galerie 
Weber  in  Hamburg  anschließen. 

Das  hübsche  Porträt  der  sogenannten  Katharine 
Fürlegerin  mit  Dürers  Monogramm  und  der  Bei¬ 
schrift:  Also  pin  ich  gestalt  in  athcethe  Jor  altt.  1497 
dürfte  keine  Originalarbeit,  sondern  nur  eine  alte, 
gute  Replik  nach  Dürer  sein  und  es  gehört  zu  einer 
Reihe  von  fünf  Porträtdarstellungen  derselben  Jungfrau 
in  wechselnder  Kostümierung,  zweimal  mit  gefloch¬ 
tenem,  dreimal  mit  offenem  Haar,  wozu  noch  eine  echte 
Skizze  Dürers  aus  seiner  frühen  Zeit  kommt i).  Diese 
Bilder,  unter  sich  wieder  verschieden  und  die  einen 
in  Wasserfarben,  die  anderen  in  Öl  gemalt  und  alle 
in  ihrer  Echtheit  bestritten,  befinden  sich  bei  Charles 
Robinson,  London;  im  Städelschen  Institut  in  Frank¬ 
furt;  in  der  Augsburger  und  Budapester  Galerie.  — 
Ein  sehr  kostbares  Originalgcmälde  von  Lukas  Cra- 
nach  d.  ä.  ist  die  Tafel  mit  drei  weiblichen  Heiligen 
Dorothea,  Agnes  und  Kunigunde  und  einem  Kind 
fast  in  Lebensgröße.  Der  Katalog  verzeichnet  das 
Werk  unter  Baidung  Grüns  Namen,  es  ist  aber  ein 
Flügel  eines  Altars,  dessen  Mittelstück  mit  der  Marter 
der  heiligen  Katharina  und  dessen  anderen  Flügel  mit 
den  Heiligen  Barbara,  Ursula  und  Margaretha  sich  in 
der  Dresdener  Galerie  befinden.  Das  Mittelbild  trägt 
die  Bezeichnung  L  C  1 506,  und  es  steht  dieses  Werk 
seiner  vielgepriesenen  Ruhe  auf  der  Flucht  von  1504 
(in  der  Berliner  Galerie)  nicht  nur  zeitlich,  sondern 
auch  künstlerisch  in  Farbe,  Typen  und  Stimmung 
nahe.  Ganz  entzückend  ist  auf  dem  Lützschenaer 
Flügel  das  barfüßige,  rosenbekränzte  Knäblein  in 
seiner  Lieblichkeit  und  Naivetät  (Abb.  7).  Von  L. 
Cranach  d.  j.  schließen  sich  die  lebensgroßen  Figuren 
Adams  und  Evas  an,  die  in  so  vielen  Wiederholungen 
existieren,  und  hier  das  Monogramm  und  die  Datie¬ 
rung  1533  tragen.  —  Auch  Hans  Holbeins  d.  ä.  Name 
wird  im  Katalog  bei  einer  thronenden  Madonna  und 
einem  Männerporträt  genannt,  aber  in  beiden  Fällen 
ohne  eigentlichen  Grund.  Von  späteren  Deutschen:  Elz- 


1)  Vergl.  Soldans  Dürerwerk  Nr.  ig. 


heimer  (?),  Lingelbach  und  Mignon,  Kupetzky,  Denner, 
Seibold,  C.  W.  Dietrich  und  Ant.  Graff  sind  zum 
Teil  sehr  interessante  Arbeiten  vorhanden. 

Unter  den  wenigen  Proben  älterer  französischer 
Malerei  ist  in  erster  Linie  ein  Hafenbild  von  Joseph 
Vernet  und  die  Madonna  unter  dem  Kreuz  von  dem 
in  Paris  tätigen  Vlamen,  dem  ernsten  und  schwer¬ 
mütigen  Philippe  de  Champaigne  zu  nennen. 

Seltsamerweise  bezeichnet  der  Katalog  als  das 
interessanteste  Gemälde  der  Sammlung  eine  Kreuz¬ 
abnahme,  angeblich  von  der  Hand  des  Fernando 
Gallegos,  des  tonangebenden  Vertreters  der  Eyckschen 
Richtung  in  Salamanca  in  der  zweiten  Hälfte  des 
1  5.  Jahrhunderts.  Dies  Bild  kann  aber  nicht  viel  vor 
1600  gemalt  sein  und  verrät  in  nichts  eine  interessante 
Künstlerpersönlichkeit.  Viel  höher  stehen  die  schöne, 
charakteristisch  spanisch  aufgefaßte  Madonna  mit  Kind 
von  Alonso  Cano  und  vor  allem  die  Verkündigung  an 
Maria  von  Murillo,  eine  wirkliche  Perle  der  Samm¬ 
lung.  Unsere  Abbildung  zeigt  den  so  naiv  und 
fromm  dargestellten  Vorgang,  vermag  aber  keine  Vor¬ 
stellung  von  der  hohen  malerischen  Ausführung  zu 
geben.  Alles  ist  auf  einen  gedämpften  Silberton  ge¬ 
stimmt,  der  selbst  die  Farbe  der  Nelken  zu  einem 
verblichenen  Blaßrot  mildert;  weiche,  tiefe  Schatten 
in  den  Falten  bewirken  eine  starke  Plastik  der  Figur 
und  ein  feines  Helldunkel  läßt  die  Wundererscheinung 
mehr  ahnen  als  deutlich  wahrnehmen.  —  Auch  von 
Murillos  Nachfolger  im  Ruhme,  dem  außerhalb 
Spaniens  nur  selten  durch  Gemälde  bekannten  Juan 
de  Valdes  Leal  ist  hier  ein  großes,  virtuos  gemaltes 
Altarbild,  die  Darstellung  des  Wunders  des  heiligen 
Bruno  mit  lebensgroßen  Figuren  zu  sehen. 

Unter  den  ca.  80  neueren  Gemälden,  meist  aus  dem 
ersten  Drittel  des  ig.  Jahrhunderts  wird  man  keine 
Überraschungen  erwarten  und  auch  keine  finden,  denn 
es  handelt  sich  zumeist  um  Porträts  und  Landschaften 
der  Münchener  und  Düsseldorfer  Schule.  Aber  wir 
fangen  an,  wieder  Augen  auch  für  die  kleinen  Reize  der 
Malerei  dieser  Zeit  bekommen,  und  freuen  uns,  wenn 
der  Blick  auf  eine  Landschaft  von  J.  Schnorr  von 
Carolsfeld  oder  Rottmann  oder  gar  auf  die  kleinen, 
so  ganz  modern  empfundenen  Stimmungslandschaften 
Caspar  David  Friedrichs  fallen.  Zum  Schluß  sei  noch 
auf  die  prächtigen  Porträts  des  Begründers  der  Galerie 
und  seiner  Gemahlin  hingewiesen,  feine  Arbeiten  des 
als  Bildnis-  und  Schönheitenmalers  seinerzeit  hoch- 
geschätzten  Friedrich  von  Amerling  (Wien,  1803  bis 
1887),  datiert  1832,  also  aus  demselben  Jahre,  in  dem 
er  das  Porträt  des  Kaisers  Franz  malte  und  der  Kai¬ 
serin  Karolina  Augusta  im  Künstlerstolz  abschlug, 
auch  nur  das  Geringste  am  Ausdrucke  zu  mildern. 

Dr.  FELIX  BECKER. 


SAMMLUNG  SPECK  VON  STERNBURO 


12.  GERARD  TERBORCH.  HERRENPORTRÄT 


13.  GERARD  TERBORCH.  DAMENPORTRÄT 

36’ 


10.  ERANCESCO  FRANCIA.  MADONNA  MIT  KIND 


11.  MURILLO.  VERKÜNDIGUNG 


STUDIE  VON  B.  HÖTGER 


B.  HÖTGER 


HAUSWEBER 


DAS  LEIPZIGER  RATSBILD 


Die  im  Oktober  dieses  Jahres  bevorstehende 
Übersiedelung  der  Leipziger  Stadtverwaltung 
in  das  mächtige,  von  Hugo  Licht  erbaute  Rat¬ 
haus  gegenüber  dem  Reichgerichtsgebäude  ist  der  Anlaß 
geworden  zur  Stiftung  eines  Gruppenbildes  von  außer¬ 
gewöhnlichen  Verhältnissen,  das  künftig  den  neuen 
Sitzungssaal  des  Ratskollegiums  schmücken  soll  und 
die  Bildnisse  der  gegenwärtig  amtierenden  Stadträte 
mit  denen  der  beiden  Bürgermeister  der  Nachwelt 
überliefern  wird.  Wir  geben  das  Gemälde  in  einer 
Abbildung  auf  nebenstehender  Seite  wieder.  Es  ist 
die  Schöpfung  des  aus  Leipzig  gebürtigen  Malers 
Eugen  Urban,  der  eine  Zeitlang  in  Berlin  lebte,  jetzt 
wieder  in  seiner  Heimat  tätig  ist.  Das  Thema,  die 
sämtlichen  Mitglieder  einer  Korporation  in  einem  Ge¬ 
nossenschaftsbilde  zusammenzufassen,  ist  in  der  hol¬ 
ländischen  Malerei  des  i6.  und  17.  Jahrhunderts 
ebensosehr  beliebt  gewesen,  wie  es  in  der  neueren 
Kunst  vermieden  wird.  Die  Ursachen  für  die  mo¬ 
derne  Rückständigkeit  sind  leicht  zu  begreifen.  Wenn 
auch  die  Scheu  vor  dem  eigenen  Bildnis  in  unseren 
bürgerlichen  Kreisen  allmählich  zu  schwinden  be¬ 
ginnt,  so  gehört  doch  für  eine  im  öffentlichen  Leben 
stehende  Gemeinschaft  noch  ein  gewisses  Maß  von 
unbefangener  Selbstschätzung  zu  dem  Entschluß,  sich 
korporativ  porträtieren  zu  lassen,  und  ist  dazu  der 
gute  Wille  vorhanden,  so  wird  die  Abneigung  bei 
den  Künstlern  beginnen.  Denn  es  gibt  wohl  kaum 
eine  härtere  Probe  auf  die  Leistungsfähigkeit  der  dar¬ 
stellenden  Kunst  als  die  Aufgabe,  eine  größere  An¬ 
zahl  unserer  in  ihrer  Alltagstracht  oder  gar  im  ge¬ 
sellschaftlichen  Frack  keineswegs  malerisch  erschei¬ 
nenden  Mitbürger  zu  einer  Gruppe  von  künstlerischer 
Wirkung  zu  vereinigen.  Die  Hauptschwierigkeit  liegt 
in  der  Wahl  eines  unmittelbar  verständlichen  Mo¬ 
mentes,  im  Auffinden  eines  den  ganzen  Figuren¬ 
apparat  zusammenhaltenden  Gedankens,  und  gerade 
darin  kann  dem  Urheber  des  Leipziger  »Regenten¬ 
stückes«  die  Anerkennung,  einen  glücklichen  Griff 
getan  zu  haben,  kaum  versagt  werden. 

Wir  haben  auf  den  deutschen  Ausstellungen  in 
jüngster  Zeit  zwei  andere  Behandlungen  desselben 
Gegenstandes  kennen  gelernt,  die  in  der  Lösung 
dieser  Schwierigkeit  von  unserem  Gemälde  völlig 
abweichen.  Hugo  Vogel  hat  in  einem  vielbewun¬ 
derten  Kolossalbild  die  Hamburger  Senatoren  darge¬ 
stellt,  wie  sie  in  ihrer  altertümlichen  Amtstracht,  im 
steifen  Radmantel  mit  der  gefältelten  Halskrause  und 
mit  schwarzen  Kniehosen,  gemessenen  Schrittes  die 
Freitreppe  herabsteigen,  also  aus  einer  Sitzung  kommen. 


Der  Ernst  der  eben  gefaßten  Beschlüsse  scheint  noch 
auf  ihren  Gesichtern  zu  liegen;  nur  erkennen  wir  nichts 
von  dem,  was  vorausgegangen  ist.  Was  vor  unseren 
Augen  geschieht,  ist  an  sich  nicht  bedeutsam,  aber  es  ist 
der  Entfaltung  der  Einzelheiten  des  Bildes,  der  zwang¬ 
losen  Aneinanderreihung  der  Figuren  in  wechselnden, 
bewegten  Stellungen  ausnehmend  günstig,  und  vor 
allem  gewinnt  das  Bild  durch  die  Wirkung  und  die 
Ideenverbindung,  welche  das  altspanische  Kostüm  der 
Senatoren  hervorruft,  jener  fürstlichen  Kaufherren, 
die  in  ihrer  selbstbewußten  Grandezza  an  venezia¬ 
nische  Nobili  und  an  die  Granden  des  Hofes  von 
Madrid  erinnern. 

Ganz  anders  hat  Hubert  von  Herkomer  seine 
Ratsherren  von  Landsberg  geschildert.  Die  geräumige 
Ratsstube  ist  vor  uns  aufgetan;  im  Hintergrund 
zwischen  zwei  Fenstern,  welche  den  Marktplatz  zeigen, 
sitzt  am  Tisch  der  Bürgermeister  mit  dem  Proto¬ 
kollanten,  an  den  Seitenwänden  auf  chorstuhlartigen 
Bänken,  vor  langen,  streng  symmetrisch  zur  Vertikal¬ 
achse  des  Bildes  gestellten  Tischen  sitzen  die  übrigen 
Ratsmitglieder.  Die  Schilderung  hat  in  ihrer  haus¬ 
backenen  Deutlichkeit  etwas  vom  Chronistenstil  alt¬ 
deutscher  Holzschnitte,  wird  aber  poetisch  durch 
den  Schimmer  des  aus  den  Fenstern  eindringenden, 
alle  Köpfe  umspielenden  Lichtes  und  durch  die 
Rhythmik  der  Haltung,  die  Feinheit  der  Belebung 
der  Gestalten,  namentlich  der  Köpfe. 

Weder  die  frei  dichtende,  noch  die  sachliche  be¬ 
schreibende  Auffassung  seiner  beiden  Vorgänger  hat 
sich  der  Leipziger  Maler  zunutze  gemacht.  Er  ent¬ 
schied  sich  —  nach  einigen  Versuchen,  die  gegebene 
Örtlichkeit,  das  heißt,  den  alten,  in  seiner  Ausstattung 
so  ehrwürdigen  Ratssaal  im  Bilde  möglichst  genau 
wiederzugeben  —  für  einen  mittleren  Weg,  der  Wahr¬ 
heit  und  Dichtung  gleichmäßig  zu  ihrem  Rechte 
kommen  läßt.  Beibehalten  ist  von  der  Wirklichkeit 
noch  genug,  um  die  Situation  zu  veranschaulichen. 
Man  erkennt  den  Sitzungssaal  an  dem  Hinter¬ 
gründe,  wo  weder  der  historische  Ofen  noch  die 
Fürstenbilder  und  die  alten  Wandschränke  fehlen; 
aber  das  sachliche  Detail  wird  in  ein  rembrandti- 
sches  Helldunkel  gerückt,  um  es  dem  Vorgang 
im  Vordergrund  unterzuordnen.  Der  Künstler  führt 
uns  das  Ende  einer  Ratssitzung  vor,  in  welcher  die 
Erbauung  des  neuen  Rathauses  beschlossen  worden 
ist.  Noch  mustert  der  regierende  Oberbürgermeister 
Dr.  Tröndlin,  dessen  scharf  geschnittener  Charakter¬ 
kopf  am  rechten  Rande  des  Bildes  hervorsticht,  sein 
Kollegium,  noch  hält  der  Protekollant  an  seiner  Seite 


GEMALT  VON  EUGEN  URBAN  IN  LEIPZIG 


276 


DAS  LEIPZIGER  RATSBILD 


die  Feder  in  der  Hand.  In  der  Mitte  sammelt  sich  an  dem 
Sitzungstisch  eine  Gruppe  von  Ratsherren  um  den  Bau¬ 
plan,  den  Meister  Licht  mit  vorgestreckter  Hand  lebhaft 
erläutert.  Der  lebensprühende  Kopf  dieses  Erneuerers 
der  Leipziger  Stadtsilhouette  ist  mit  seinen  triumphieren¬ 
den  Zügen  dem  Maler  ausgezeichnet  gelungen.  Aber 
schon  haben  sich  einige  Gruppen  aus  der  Versamm¬ 
lung  abgesondert.  In  der  rechten  vorderen  Ecke 
hat  sich  ein  Ratsmitglied  (Legationsrat  Dr.  Göhring), 
dessen  sprechend  ähnliches  Porträt  einen  der  Licht¬ 
punkte  des  Gemäldes  bildet,  zu  dem  Protokoll¬ 
führer  gesetzt.  In  der  linken  unteren  Ecke  korre¬ 
spondiert  mit  dieser  Gruppe  eine  andere  von  drei 
Personen,  die  in  der  vorgebeugten  Gestalt  des  Stadt¬ 
baurates  Scharenberg  gipfelt,  des  ehemaligen  Genossen 
Ludwig  Hoffmanns  bei  dem  Bau  des  Leipziger  Reichs¬ 
gerichts.  In  der  Herausarbeitung  solcher  Gegensätze, 
in  der  Verteilung  der  Gruppen  und  der  Lichtzentren 
hat  der  Maler  viel  Überlegung  und  Geschick  be¬ 


wiesen.  Wer  die  dargestellten  Persönlichkeiten  kennt, 
wird  auch  der  Ähnlichkeit  der  Bildnisse  —  nicht 
bloß  der  rein  äußerlichen,  sondern  auch  derjenigen 
in  Mienen  und  Haltungen  -  unbedingtes  Lob  spenden. 
Eine  gewisse  Härte  und  Ungleichheit  im  Kolorit  und 
einige  Dissonanzen  im  Linienfluß  sind  nicht  zu  leugnen, 
fallen  aber  nicht  sehr  in  die  Augen.  Auch  die  Schwierig¬ 
keit,  die  Größenverhältnisse  der  Figuren  nach  dem 
Hintergründe  zu  gleichmäßig  abnehmen  zu  lassen  — 
das  Hauptmittel,  eine  Tiefenwirkung  im  Bilde  zu  er¬ 
reichen  — ,  ist  nicht  an  allen  Stellen  mit  demselben 
Erfolg  überwunden.  Aber  wie  wenige  Maler  würden 
gegenwärtig  den  Mut  haben,  sich  an  eine  solche  Auf¬ 
gabe  heranzuwagen  und  ihr  so  viel  abgewinnen,  als 
es  Eugen  Urban  gelungen  ist?  Das  Bild  ist  noch 
nicht  in  der  Öffentlichkeit  gezeigt  worden  und  wird 
erst  mit  der  Einweihung  des  Rathauses  dem  Publikum 
zugänglich  werden.  Hoffentlich  wird  es  seinem 
Schöpfer  Förderer  und  Nachfolger  erregen. 

THEODOR  SCHREIBER. 


B.  HÖTGER.  BLIND 


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ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1905 


ORIOINALHOLZSCHNITT  VON  J.  v-  DUTCZVjjSI^ 


WIEN 


STUDIE  VON  B.  HÖTOER 


BERNHARD  HÖTOER 


Bernhard  HÖTGER  ist  zwar  kein  Schüler 
von  Rodin,  aber  ich  glaube  doch,  daß  oline 
die  Einwirkung  Rodins  seine  Entwickelung 
einen  anderen  Weg  genommen  hätte.  Und  in  diesem 
Falle  hat  die  Einwirkung  nichts  geschadet,  denn  Höt- 
gers  Persönlichkeit  ist  stark  genug,  um  sie  zu  ver¬ 
dauen,  wie  sie  für  seine  Individualität  nützlich  sein 
kann.  Darin  unterscheidet  sich  Hötger  ganz  beträcht¬ 
lich  von  den  allermeisten  jungen  Bildhauern,  die  von 
Rodin  beeinflußt  sind.  Rodin  teilt  eben  das  Schick¬ 
sal  aller  stark  und  entschieden  ausgeprägten  Persön¬ 
lichkeiten  *in  der  Kunst:  die  Schüler  halten  sich  bei 
den  Äußerlichkeiten  auf  und  nehmen  die  Schale  für 
den  Kern,  ln  London  liefen  die  Schüler  Whistlers 
alle  mit  der  nämlichen  langen  schwanken  Gerte  herum, 
die  dem  Meister  als  Spazierstock  diente,  sie  steckten 
ungeheure  Sonnenblumen  vor  die  Brust,  weil  der 
Meister  das  schön  fand,  und  sie  bemühten  sich,  ge¬ 
nau  ebensolche  Witze  zu  machen  wie  John  Mac  Neil 
höchstselbst.  Aber  gemalt  hat  keiner  von  ihnen  wie 
Whistler.  Und  allen  ganz  großen  Meistern  ist  es 
ebenso  ergangen.  Was  haben  die  Barockleute  aus 
der  gewaltigen  Kunst  Michelangelos  gemacht!  Welche 
lächerliche  Grimassen  und  unmögliche  Verrenkungen 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F,  XVI.  H.  lo 


haben  sie  ersonnen,  um  dem  Größten  ähnlich  zu 
werden!  Und  was  für  ein  ledernes,  langweiliges, 
schulmeisterliches  Gemale  haben  die  Nachfolger 
Raffaels  bis  auf  unsere  Tage  geliefert,  selbst  wenn 
sie  so  stark  begabt  waren  wie  Ingres  und  Flandrin! 

Rodin  und  Whistler  aber  haben  hier  noch  ein 
besonderes  voraus,  erstens  weil  sie  in  ihrer  Kunst 
und  zweitens  weil  sie  auch  in  ihrer  Person  gar 
wunderlich  aussehen.  Whistler  wurde  das  Vorbild 
des  ästhetischen  Snobs,  wenn  der  Ausdruck  bei  einem 
so  begabten  Manne  gestattet  ist.  Rodin,  der  sich  in 
der  majestätischen  Pose  Gott  Vaters  gefällt,  hat  eine 
ganze  Schar  olympischer  Nichtskönner  zutage  ge¬ 
fördert.  Und  beide  haben  dazu  beigetragen,  daß  der 
geaichte  Kenner  sich  heute  zu  der  Lehre  bekennt, 
eine  Skulptur  müsse,  um  recht  gut  zu  sein,  möglichst 
unfertig  aussehen.  Mit  dem  Fertigmachen  hat  das 
seine  eigne  Bewandtnis.  Weil  es  Stümper  gab  und 
gibt,  die  ihre  unfertige  Arbeit  glattstrichen  und  polierten, 
hält  man  es  jetzt  für  ein  Zeichen  von  Stümperei, 
wenn  ein  Bildhauer  seine  Arbeit  glättet  und  poliert. 
Ebenso  erklärt  man  ein  Bild  von  vorneherein  für 
schlecht,  wenn  es  eine  Anekdote  erzählt,  nur  weil 
einige  Jahrzehnte  lang  schlechte  Maler  ihre  miserablen 


37 


278 


BERNHARD  HOTGER 


Bilder  durch  die  mehr  oder  weniger  amüsante  Anek¬ 
dote  retteten.  In  Wahrheit  hat  die  Politur  so  wenig 
mit  der  Güte  oder  Schlechtigkeit  einer  Skulptur  zu 
tun  wie  die  Anekdote  mit  der  Güte  oder  Schlechtig¬ 
keit  einer  Malerei.  Und  ich  für  mein  Teil  bin  der 
Ansicht,  daß  es  einer  schönen  Skulptur,  wo  sich  der 
Gegenstand  dazu  eignet,  nur  nützen  kann,  wenn  sie 
glatt  und  eben  scheint 
wie  die  blühende  Haut 
eines  jungen  Weibes,  und 
daß  es  ebenso  einer  guten 
Malerei  nur  nützt,  wenn 
sie  zugleich  einen  inter¬ 
essanten  Inhalt  hat.  Und 
wenn  es  auch  nichts  nützen 
mag,  so  ist  doch  sicher, 
daß  es  nichts  schaden 
kann,  und  daß  es  ebenso 
töricht  ist,  eine  Skulptur 
wegen  ihrer  Politur  oder 
ein  Bild  wegen  seiner 
Anekdote  zu  verdammen, 
wie  es  aus  den  nämlichen 
Gründen  zu  lobpreisen. 

Rodin  ist  der  Ansicht, 
daß  man  in  der  Skulptur 
nur  die  große  Masse,  nur 
die  Hauptsache,  auf  die 
es  allein  ankommt,  wie¬ 
dergeben,  die  Einzelheiten 
dagegen  ganz  weglassen 
soll.  Vermutlich  deckt 
sich  diese  Anschauung 
nicht  mit  der  Meinung 
der  größten  Bildhauer, 
deren  Werke  auf  uns  ge¬ 
kommen  sind.  Es  ist  na¬ 
türlich  wahr,  daß  die  Er¬ 
scheinung  des  Ganzen,  der 
Masse,  die  Hauptsache  ist, 
aber  das  schließt  ein  sorg¬ 
fältiges  Durcharbeiten  der 
nebensächlichen  Einzel¬ 
heiten  durchaus  nicht  aus. 

Man  darf  sich  nicht  in 
Einzelheiten  verlieren,  wie 
es  zum  Beispiel  Denner 
tat.  Bei  Denner  sieht  man 
überhaupt  nur  die  einzel¬ 
nen  Runzeln,  die  Här¬ 
chen,  die  Poren  der  Haut. 

Bei  van  Eycks  Adam  aber, 
wo  auch  jedes  Härchen 
gemalt  ist,  sieht  man  das  erst  bei  genauem  Einzel¬ 
studium,  gerade  wie  man  es  auch  bei  einem  wirk¬ 
lichen  Menschen  erst  bei  näherm  Hinschauen  gewahr 
wird.  Bei  Quentin  Matsys’  Grablegung  sieht  man  nur 
die  schöne  Masse  der  Komposition,  dann  den  Schmerz 
der  um  den  toten  Sohn  und  Freund  Weinenden, 
endlich  entdeckt  man,  daß  die  Stickereien  an  den  Ge¬ 
wändern  so  genau  und  fein  nachgemalt  sind,  daß 


man  sie  direkt  als  Muster  irgend  einer  Stickerin  über¬ 
geben  könnte.  Die  sorgfältige  Durchführung  der 
Einzelheiten  schadet  also  durchaus  nichts,  wenn  der 
Künstler  nur  Manns  genug  ist,  die  Hauptsache,  das 
Ganze,  voll  und  unbehindert  wirken  zu  lassen.  Und 
mir  für  mein  Teil  verschafft  es  hinterher  noch  einen 
ganz  besonderen  Genuß,  wenn  ich  nach  der  Gesamt¬ 
wirkung  auch  die  Einzel¬ 
heiten  beschauen  darf  und 
sehe,  daß  der  Künstler 
hier  mit  der  gleichen 
Freude  und  Liebe  wie  an 
der  Masse  des  Ganzen  ge¬ 
arbeitet  hat.  Bei  der  er¬ 
wähnten  Grablegung  von 
Matsys  entdeckt  man  dann 
eine  ganze  Anzahl  kleiner 
Histörchen  und  Anekdo¬ 
ten:  da  sitzt  ein  Hand¬ 
werksbursche,  der  sich 
die  Stiefel  anzieht,  dort 
kräht  ein  Hahn  auf  seiner 
Leiter,  da  reitet  ein  Bür¬ 
gersmann  die  Landstraße 
entlang,  und  in  der  Ferne 
sieht  man  auf  einmal  eine 
ganze  Stadt,  wo  Leute  in 
den  Straßen  wimmeln,  aus 
den  Fenstern  schauen  usw. 
Und  all  dieser  liebe  klein¬ 
bürgerliche  Krimskram 
schadet  der  gewaltigen 
Wirkung  des  Bildes  nicht 
im  allergeringsten,  ein  Be¬ 
weis,  daß  selbst  die  aller¬ 
sorgfältigste  Ausführung 
nebensächlicherund  durch¬ 
aus  belangloser,  gar  nicht 
zu  der  Sache  gehöriger 
Dinge  einem  Kunstwerke 
nicht  schaden  kann,  wenn 
es  von  einem  wirklichen 
Meister  geschaffen  ist. 

Und  wie  es  früher 
Bildhauer  gegeben  hat  und 
heute  noch  gibt,  die  durch 
eifriges  Glattmachen  und 
Polieren  ihre  Mängel,  Feh¬ 
ler  und  Unfertigkeiten  zu 
verstecken  suchten  und 
suchen,  so  ist  durch  den 
Einfluß  Rodins  jetzt  eine 
ganze  Bildhauerschule  ent¬ 
standen,  die  ihr  Nichtskönnen  und  ihre  Faulheit  für 
absichtliche  und  ganz  besonders  künstlerische  Genialität 
ausgibt,  wobei  der  gute  Publikus  sich  natürlich  wie¬ 
der  an  der  Nase  herumführen  läßt.  Wenn  heute  eine 
Skulptur  recht  roh  aussieht,  wenn  man  nicht  nur 
die  Eindrücke  der  modellierenden  Finger  an  ihr 
wahrnimmt,  sondern  wenn  ganze  unverdaut  in  den 
Marmor  oder  in  die  Bronze  übernommene  Ton- 


B.  HÖTQER 


BERNHARD  HOTGER 


279 


klumpen  an  ihr  herumkleben  und  hängen,  dann  meint 
der  Snob,  das  sei  eine  ganz  besonders  geniale  Arbeit, 
weil  er  wie  der  Nachahmer  Rodins  jetzt  schon  nahe 
daran  ist,  diese  genialen  Allüren  des  Meisters  für 
die  Quintessenz  seiner  Kunst  zu  halten.  Und  da 
Rodin  auf  diese  Weise  für  ein  gutes  Schock  schlechter 
Bildhauer  verantwortlich  ist,  so  freut  man  sich  um  so 
mehr,  wenn  man  sieht,  daß  er  hie  und  da  auch  einen 
ganzen  Mann,  wenn  nicht  geschaffen,  so  doch  beein¬ 
flußt  und  auf  den  rechten  Weg  gebracht  hat.  Bern¬ 
hard  Hötger  ist  nicht  an  der  Schale  der  Kunst  Rodins 
hängen  geblieben,  sondern  er  hat  das  Wesen  dieser 
Kunst  erfaßt,  um  dann  auf  diesem  Boden  seiner  per¬ 
sönlichen  Eigenart  gemäß  weiter  zu  arbeiten.  Er  ver¬ 
schmäht  wie  Rodin  das  sogenannte  »Fertigmachen«, 
welches  ja  in  der  Tat  gar  nichts  fertig  macht,  denn 
mit  Glaspapier  kann  man  kein  verpfuschtes  Werk 
»vollenden«,  aber  er  glaubt  nicht  wie  die  große  Heer¬ 
schar  der  Rodinisten,  daß  damit  alles  getan  sei.  Er 
hat  von  Rodin  gelernt,  die  wesentlichen  Massen  und 
Linien  von  den  unwesentlichen  Nebendingen  zu  unter¬ 
scheiden,  und  diese  Hauptsachen  in  lebensvoller,  nervös 
zitternder  Modellierung  wiederzugeben,  und  wie  Rodin 
verzichtet  er  dann  darauf,  auch  noch  die  Nebensachen 
durchzuarbeiten  und  »fertigzumachen«. 

Wer  also  polierte  Skulpturen  verlangt,  findet  bei 
Hötger  nicht,  was  er  sucht.  Er  findet  es  bei  ihm 
noch  weniger  als  bei  Rodin,  der  sich  mitunter  den 
billigen  Spaß  gemacht  hat,  einen  Kopf  aufs  sorg¬ 
fältigste  und  sauberste  in  allen  Einzelheiten  zu  voll¬ 
enden  und  zu  polieren,  um  mit  der  danebenstehen¬ 
den,  grob  behauenen  Masse  des  Marmors  desto 
größeren  Effekt  zu  erzielen.  Aber  man  findet  bei 
Hötger  auch  keine  Arbeit,  welche  diese  Politur  ver¬ 
missen  ließe.  Alles,  was  nötig  ist,  alles,  worauf  es 
ankommt,  ist  da  und  sitzt  an  der  rechten  Stelle  in 
der  rechten  Stärke,  wie  es  für  die  beabsichtigte  Wir¬ 
kung  nötig  ist,  und  hierin  unterscheidet  sich  Hötger 
ganz  gewaltig  von  dem  Heerhaufen  der  Rodinisten, 
die  ihr  Nichtskönnen  für  eine  neue  Richtung  aus¬ 
geben  möchten. 

Bernhard  Hötger  ist  in  Hörde  in  Westfalen  ge¬ 
boren  und  erhielt  seine  erste  Ausbildung  bei  einem 
gewöhnlichen  Steinmetz,  in  dessen  Werkstatt  er  half, 
Inschriften  in  Leichensteine  zu  hauen  und  ähnliche 
erbauliche  Arbeiten  zu  liefern.  Indessen  fand  er  doch 
hier  gleich  Gelegenheit  zum  Modellieren  und  zum 
Ausführen  von  frei  entworfenen  Skulpturen.  Nach¬ 
dem  er  mehrere  Jahre  mehr  oder  weniger  künst¬ 
lerische  Grabmonumente  gemeißelt  hatte,  kam  er  als 
junger,  unbekannter  Bildhauer  nach  Paris,  wo  es  ihm 
zunächst  herzlich  schlecht  ging.  In  Paris  kann  man 
die  Straßen  mit  Künstlern  pflastern,  und  selbstver¬ 
ständlich  ist  es  für  einen  Ausländer  noch  ganz  be¬ 
deutend  schwerer,  sich  durchzuarbeiten,  als  für  einen 
Franzosen.  Jede  offizielle  Unterstützung  umgeht  natür¬ 
lich  den  Ausländer,  und  auch  in  den  Ausstellungen 
werden  die  Ausländer  durchaus  nicht  gerne  gesehen. 
Indessen  muß  doch  beiläufig  bemerkt  werden,  ob¬ 
schon  das  wenigstens  vorläufig  auf  Bernhard  Hötger 
nicht  zutrifft,  daß  der  in  Paris  lebende  Ausländer 


doch  einen  gewissen  Vorteil  vor  seinen  in  der  Hei¬ 
mat  gebliebenen  Kollegen  voraus  hat.  Paris  ist  ein 
außerordentlich  starker  Resonanzboden,  und  wer  hier 
bekannt  wird,  dessen  Ruhm  wird  alsbald  in  der  ganzen 
Welt  ausposaunt.  Wer  aber  in  Leipzig  oder  in 
Frankfurt,  in  Karlsruhe  oder  in  Stuttgart  tüchtiges 
leistet,  den  kennt  man  kaum  in  ganz  Deutschland, 
geschweige  denn  im  Ausland.  Aber  während  man 
sich  in  Paris  durcharbeitet,  kann  man  gar  leicht  zu¬ 
grunde  gehen,  und  das  ist  in  einer  deutschen  Stadt 
nicht  so  schlimm.  Da  kann  man  doch  immer  noch 
sein  Brot  verdienen,  und  zwar  weit  leichter  als  in 
Paris.  Hötger  hat  es  zwar  fertig  gebracht,  in  den 
ersten  zwei  oder  drei  Jahren  seines  Pariser  Aufent¬ 
haltes  sein  Brot  zu  verdienen,  aber  sehr  oft  war  das 
Brot  nur  trocken,  es  fehlte  die  Butter  darauf,  von 
Fleisch  gar  nicht  zu  reden.  Daß  er  trotzdem  aushielt 
und  sich  durchrang,  beweist,  mit  welcher  hartnäckigen 
Energie  er  an  dem  einmal  für  richtig  erkannten  Wege 
festhält  und  ein  wie  starkes  Vertrauen  in  seine  künst¬ 
lerische  Berufung  ihn  stützt.  Damals  wohnte  er  auf 
dem  Montmartre,  und  da  kein  Mensch  seine  Skulp¬ 
turen  kaufen  wollte,  verfiel  er  auf  einen  Ausweg, 
durch  den  ich  zum  erstenmale  etwas  von  ihm  zu 
sehen  bekam.  Er  modellierte  damals  kleine  Figürchen 
von  der  Straße:  Lumpensammler,  Bettler,  Gemüse¬ 
händler,  Obstfrauen,  Sackträger  und  was  dergleichen 
charakteristische  Figuren  der  Pariser  Straße  mehr  sind. 
Diese  Figürchen  bot  er  anderen,  schon  bekannten 
Künstlern,  die  er  in  den  Kneipen  des  Montmartre 
kennen  lernte,  im  Tausche  an,  und  so  sah  ich  seine 
ersten  Arbeiten  bei  Leandre  und  Steinlen,  die  ihm 
dafür  Zeichnungen  gegeben  hatten.  Und  diese  Zeich¬ 
nungen  trug  der  Bildhauer  spornstreichs  zu  den 
Händlern  der  Rue  Laffitte,  die  ihm  seine  Skulpturen 
nicht  abnehmen  wollten,  aber  sehr  gerne  die  leicht 
verkäuflichen  Arbeiten  der  bekannten  Zeichner  kauften. 

Nun  sind  es  nicht  die  schlechtesten  Sachen,  die 
sich  die  Künstler  im  Tausch  oder  für  Geld  anschaffen, 
und  als  ich  die  Statuetten  bei  Leandre  und  Steinlen 
gesehen  und  erfahren  hatte,  daß  ihr  Urheber  ein 
Deutscher  war,  hätte  ich  den  Mann  gerne  kennen  ge¬ 
lernt.  Ich  weiß  nicht  mehr,  was  dazwischen  kam, 
aber  das  ist  jetzt  schon  vier  oder  fünf  Jahre  her,  und 
jetzt,  wo  ich  endlich  Gelegenheit  habe,  Hötger  und 
seine  Arbeiten  dem  kunstliebenden  deutschen  Publi¬ 
kum  vorzustellen,  ist  er  schon  lange  nicht  mehr  un¬ 
bekannt  —  wenigstens  nicht  in  Paris.  Seit  drei  oder 
vier  Jahren  stellt  er  regelmäßig  bei  den  Unabhängigen 
und  im  Champ  de  Mars  aus,  und  im  gegenwärtigen 
Jahre  hat  er  eine  große,  seine  ganze  bisherige  Pariser 
Arbeit  zeigende  Ausstellung  bei  den  Unabhängigen 
gehabt,  worauf  ich,  wie  früher  schon,  so  oft  ich  seine 
Sachen  in  den  Ausstellungen  sah,  in  meinen  Berichten 
in  der  Kunstchronik  gebührend  hingewiesen  habe. 
Auch  die  Händler  sind  inzwischen  auf  ihn  aufmerk¬ 
sam  geworden,  und  er  braucht  jetzt  seine  kleinen 
Bronzen  nicht  erst  in  gangbarere  künstlerische  Münze 
umzuwechseln,  um  ihnen  Aufnahme  in  den  Läden  zu 
verschaffen. 

Aber  in  Deutschland  weiß  man  noch  recht  wenig 


B.  HÖTGER 


STUDIE 


B.  HÖTQER 


STUDIE 


282 


BERNHARD  HOTGER 


von  ihm.  Ein  einziges  deutsches  Museum  besitzt 
etu^as  von  ihm.  Natürlich  ist  es  jenes  Privatmuseum 
in  Hagen,  dessen  Besitzer  sich  aller  jungen  und 
frischen  Regungen  annimmt  und  eine  der  trefflichsten 
Sammlungen  moderner  und  neuer  Kunst  zusammen¬ 
gebracht  hat.  Unter  diesen  Umständen  ist  der  Bild¬ 
hauer  in  Deutschland  so  gut  wie  unbekannt,  und  die 
diesem  Aufsatze  beigegebenen  Abbildungen  werden 
dem  Leser  willkommen  sein.  Die  Beeinflussung 
durch  Rodin  wird  jedem  auf  den  ersten  Blick  auf¬ 
fallen,  weniger  leicht  ist  die  Feststellung  des  großen 
Unterschiedes  zwischen  den  Werken  beider  Künstler. 
Vor  allem  ist  da  ein  innerlicher  Unterschied:  von  der 
bebenden  Erotik  Rodins  findet  man  nichts  bei  Hötger. 
Er  ist,  möchte  ich  sagen,  männlicher,  herber,  trotziger 
als  Rodin.  Und  seine  sozialen  und  seelischen  Pro¬ 
bleme  scheinen  mir  fester  und  tiefer  erfaßt  und  ein¬ 
dringlicher  dargestellt  als  bei  Rodin.  Und  dann  hat 
Hötger  eine  Gabe,  die  Rodin  stark  mangelt.  Rodin 
ist  ein  Fremdling  in  aller  Komposition.  Wenn  er 
eine  Gruppe  zu  machen  hat,  wird  dieser  Mangel 
jedesmal  sehr  deutlich.  Und  er  selbst  scheint  ihn  zu 
fühlen,  sonst  würde  er  nicht  Einzelfiguren  aus  seinen 


Gruppen,  wie  einzelne  Gestalten  der  »Bürger  von 
Calais«,  für  sich  allein  gießen  lassen  und  ausstellen. 
Sonst  würde  er  nicht  immer  wieder  neue  Fragmente 
von  seinem  Höllentor  ohne  Zusammenhang  mit  dem 
Ganzen  der  Öffentlichkeit  übergeben.  Hötger  ver¬ 
steht  es  dagegen  meisterhaft,  mehrere  Figuren  har¬ 
monisch  und  einheitlich  zusammenzubringen,  so  daß 
man  sich  die  eine  nicht  ohne  die  andere  vorstellen 
kann.  Gegenwärtig  arbeitet  er  an  einer  solchen 
großen  Gruppe,  die  seine  Kunst  überzeugend  zur 
Anschauung  bringen  wird.  Bisher  mußte  er  seine 
Arbeiten  in  einem  leichter  verkäuflichen  Maßstabe 
halten. 

Endlich  gestatten  ihm  die  Umstände,  eine  Arbeit 
zu  schaffen,  bei  der  die  Verkäuflichkeit  nicht  berück¬ 
sichtigt  zu  werden  braucht,  und  so  steht  der  Künstler 
jetzt  zum  erstenmal  vor  einer  lebensgroßen  Gruppe. 
Nach  der  Anlage  zu  urteilen,  wird  diese  Gruppe  den 
vorläufigen  Gipfel  der  Hötgerschen  Kunst  bedeuten, 
und  ich  hoffe  sehr,  daß  man  sie  auch  in  Deutsch¬ 
land  sehen  wird,  damit  man  ihrem  Urheber  den  ge¬ 
bührenden  Platz  in  der  zeitgenössischen  deutschen 
Kunst  einräume.  KARL  EUGEN  SCHMIDT. 


B.  HÖTGER.  FIGUR  VON  DER  STRASSE 


B.  HÖTGER 


LEBENSGROSSE  BRONZEBÜSTE 


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ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1905  CANALE  GRANDE.  ORIOINALRADIERUNO  VON  HERMANN  STRUCK 


DOMENICO  MORELLI.  DAS  BOOT  DES  LEBENS 


DOMENICO  MORELLI 

VON  Arnold  Ruesch 


Der  italienischen  Regierung  ist  es  kürzlich 
gelungen,  den  ganzen  Nachlaß  in  Morellis 
Atelier  für  die  »Galleria  d’arte  moderna«  in 
Rom  zum  Preise  von  nur  hunderttausend  Lire  zu 
erwerben,  obgleich  sich  im  Auslande  zur  Verwertung 
dieses  Vermächtnisses  weit  günstigere  Gelegenheiten 
boten.  Die  Erben  haben  somit  dem  größten  Wunsche 
des  Verstorbenen  entsprochen  und  ihrem  Vaterlande 
in  hochherziger  Weise  den  Besitz  eines  kostbaren 
Kunstschatzes  gesichert. 

Besser  als  all  seine  berühmten  Werke  geben  diese 
zahlreichen  Skizzen  und  Zeichnungen  über  das  eigent¬ 
liche  Wesen  des  so  vielfach  verkannten  neapolitanischen 
Meisters  Aufschluß.  In  der  freundlichen  Malerwerkstatt 
der  ehemaligen  Via  Pace,  jetzt  Via  Domenico  Morelli 
genannt,  wo  in  wenigen  Jahren  die  ganze  italienische 
Kunst  des  19.  Jahrhunderts  von  gewaltiger  Hand 
umgeschmiedet  wurde,  offenbart  sich  dem  Besucher 
ein  rastloser,  scharf  urteilender,  mit  sich  selber  stets 
unzufriedener  Geist,  der  selbst  die  mit  scheinbar 
spielender  Leichtigkeit  ausgeführten  Arbeiten  vor  ihrer 
Kristallisierung  zum  vollendeten  Kunstwerke  unzählige- 
male  umgestaltet  und  verbessert  hat. 

Für  uns  Deutsche  ist  dies  um  so  überraschender, 
als  unsere  Künstler  und  Kunstkritiker  die  moderne 
italienische  Malerei  gewöhnlich  nicht  recht  ernst  zu 
nehmen  vermögen.  Als  dem  noch  wenig  bekannten 
Morelli  auf  seiner  Reise  durch  Deutschland  im  Jahre  1 855 
unsere  Kunst  von  einer  »über  die  Maßen  akademischen 
Gelehrsamkeit«  erschienen  war,  glaubte  Christian  Rauch 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  ii 


die  Ursache  davon  in  der  allgemeinen  Oberflächlich¬ 
keit  der  romanischen  Rasse  zu  erblicken,  indem  er 
den  an  ihn  empfohlenen  jungen  Künstler  mit  den 
Worten  abfertigte:  »Ihr  Italiener  gebt  euch  eben  mit  der 
malerischen  Wirkung  zufrieden,  ohne  über  das  Kunst¬ 
werk  recht  nachdenken  zu  wollen«.  Diese  Bemerkung, 
die  wohl  noch  heute  der  vorherrschenden  Meinung 
in  Deutschland  entspricht,  erwähnte  der  inzwischen 
ergraute  Maler  fast  ein  halbes  Jahrhundert  später  in 
einem  Vortrage  über  die  künstlerischen  Bestrebungen 
in  seiner  Heimat.  »Ob  der  deutsche  Bildhauer  wohl 
recht  hatte?«  fuhr  er  dann  fort.  »Ich  glaubte  es  nicht, 
und  als  mir  das  Glück  zuteil  wurde,  Rembrandts 
, Nachtwache’  zu  sehen,  fühlte  ich  mich  wie  ent¬ 
schädigt  für  die  von  der  deutschen  Kunst  verursachte 
Entmutigung.  Das  war  ein  Bild,  das  ich  verstehen 
und  genießen  konnte,  das  nannte  ich  eine  Malerei, 
hier  waren  Männer,  die  atmen  und  leben.  Der  Aus¬ 
druck  der  Farbe  und  des  Lichtes  waren  die  Vision 
eines  Genies,  und  dieses  Genie  war  das  Haupt  einer 
Familie,  der  ich  selbst  als  letzter  anzugehören  stolz 
gewesen  wäre.« 

Aus  diesen  Worten  Morellis  geht  seine  Stellung 
zu  den  bestehenden  Kunstrichtungen  unzweideutig 
hervor.  Seine  große  Bewunderung  für  die  Gemälde 
Delacroix,  die  er  bald  nach  seiner  Reise  durch  Deutsch¬ 
land  zu  sehen  Gelegenheit  fand,  bestätigte  ihn  von 
neuem  als  einen  Künstler,  der  allerdings  auf  malerische 
Wirkung  ausging,  aber  nichtsdestoweniger  seinen 
Werken  echten  poetischen  Gehalt  zu  verleihen  suchte. 

38 


286 


DOMENICO  MORELLI 


Man  denke  nur  an  sein  »Boot  des  Lebens«,  diese 
köstliche  Allegorie,  die  allein  dem  Geiste  eines  großen, 
philosophisch  veranlagten  Dichters  entsprungen  sein 
kann. 

Den  Ernst  und  die  Gewissenhaftigkeit,  die  Morellis 
Schaffen  als  Ganzes  betrachtet  auszeichnen,  erkennt 
man  auch  schon  aus  seiner  sich  nur  allmählich  von 
den  Traditionen  des  Akademismus  befreienden  Technik, 
die  ein  unausgesetztes  Ringen  nach  künstlerischer 
Wahrheit  verrät,  bis  sie  dem  Maler  schließlich  in  schein¬ 
bar  rasch  hingeworfenen  Entwürfen  die  getreueste 
Wiedergabe  seiner  Eingebungen  ermöglichte.  Ehe  er 
seine  mystischen  Christusbilder  malte,  hat  er  die 
Bilderstürmer«  und  den  »Tasso«  geschaffen,  ehe  er 
mit  wenigen  Pinselstrichen  noch  ungeahnte  Wirkungen 
erzielte,  hat  er  die  Meisterschaft  in  der  herkömmlichen 
Malweise  offenbart.  Nur  wer  in  den  vierziger  Jahren 
in  seine  ärmliche  Dachstube  stieg,  konnte  schon  am 
Knaben  den  eigentlichen  Ausdruck  seiner  Künstlerseele 
erkennen.  Dort  fand  er  sich  stets  selber  wieder,  wenn 
ihn  die  Lehrer  des  Instituts  mit  den  Regeln  der  Antike 
und  einer  Unmenge  akademischer  Gemeinplätze  gequält 
hatten,  dort  ließ  er  seiner  Einbildungskraft  die  Zügel 
schießen,  dort  arbeitete  er  frei  und  ungehindert  an 
Zeichnungen  und  Entwürfen,  die  keinem  Professor, 
keiner  Autorität  und  keinem  Publikum  unterbreitet 
werden  mußten.  Da  hing  ein  in  hundert  Earben 
schillerndes  Bild,  worauf  ein  siegreicher  Troubadour 
mit  den  Gesichtszügen  des  jungen  Künstlers  aus  den 
Händen  der  heimlich  verehrten  Königin  einen  goldenen 
Palmenzweig  empfängt,  dort,  grau  in  grau,  die  Skizze 
zu  einer  nächtlichen  Szene,  worin  ein  Franziskaner- 
mönch  von  gespensterhaftem  Aussehen  den  Leichnam 
der  Geliebten  in  schwankendem  Boot  zum  Friedhof 
auf  dem  jenseitigen  Ufer  überführt,  daneben  wieder 
ein  anderes  Gemälde,  das  wohl  die  erste  Fassung 
des  »KorsarenkusseS'  sein  mochte,  der  seiner  reali¬ 
stischen  Darstellung  wegen  unter  dem  Lehrerkollegium 
einen  Sturm  der  Entrüstung  entfesselt  hatte. 

Das  Gefühl,  in  seinen  künstlerischen  Bestrebungen 
unverstanden  zu  bleiben,  und  wohl  auch  die  mannig¬ 
fachen  Hindernisse,  die  sich  seiner  Heirat  mit  einer 
Tochter  aus  angesehener  Patrizierfamilie  zunächst  ent¬ 
gegensetzten,  hatten  im  Jüngling  allmählich  eine  un¬ 
gewöhnliche  Niedergeschlagenheit  erzeugt.  Dieser 
Stimmung  entsprachen  auch  die  größeren  Arbeiten 
aus  jener  Zeit,  die  alle  von  einem  weltschmerzlichen 
Hauche  berührt  zu  sein  scheinen.  Die  erste  stellt 
einen  inbrünstig  betenden  Gläubigen  in  den  Katakomben 
dar,  eine  andere  ein  Märtyrerpaar,  das  mit  gefesselten 
Händen,  in  sich  selbst  zusammengeknickt,  am  Boden 
liegt,  während  sich  im  Hintergründe  der  Qualm 
des  Scheiterhaufens  bereits  zu  dichten  Wolken  zusam¬ 
menballt;  auf  einem  dritten  Gemälde,  dessen  Entwurf 
das  eigentliche  Werk  an  Wirkung  bei  weitem  über¬ 
trifft  und  für  Morellis  Kunst  höchst  charakteristisch 
ist,  werden  dieselben  zwei  Märtyrer  von  Engeln  aus 
den  Mauern  des  Kolosseums  zum  Himmel  empor¬ 
getragen. 

Aber  gleich  den  Opfern  auf  seinen  Bildern  fühlt 
sich  der  Künstler  noch  immer  in  Ketten  geschlagen. 


Wie  sehr  er  auch  an  ihnen  reißt  und  zerrt,  der 
Akademismus,  der  in  ihm  von  Kind  auf  großgezogen 
worden  war,  ließ  sich  nun  nicht  mit  einem  Schlage 
überwinden,  und  leicht  wäre  der  schon  stark  zu  Trüb¬ 
sinn  hinneigende  Künstler  an  sich  selbst  und  der 
Mitwelt  verzweifelt,  wenn  er  nicht  gerade  damals  in 
dem  realistischen  Tiermaler  Filippo  Palizzi  einen  Freund 
gefunden  hätte,  der  ihm  in  technischer  Beziehung  auf 
den  rechten  Weg  zu  helfen  vermochte,  während  seine 
mit  schweren  Kämpfen  errungene  Gattin  das  edelste 
Vorbild  einer  Frauenseele  gab.  Ihre  schrankenlose 
Mutterliebe,  die  sich  durch  den  tragischen  Verlust 
der  ersten  zwei  Söhne  bis  zur  Leidenschaft  gesteigert 
hatte,  ist  es,  die  dem  Beschauer  in  seiner  »Madonna 
auf  goldenen  Stufen«  entgegenjubelt,  die  ihn  vor 
seiner  »Mater  purissima«,  »Mater  creatoris«,  »Rosa 
mistica«,  »Salve  regina«,  all  den  andern  Madonnenbil¬ 
dern  und  vielen  Darstellungen  aus  der  heiligen  Schrift 
so  tief  ergreift.  »Le  coeur  de  la  femme  vous  a  guide«, 
schrieb  Alma  Tadema  an  Morelli,  als  dieser  in  einer 
Zeichnung  für  die  in  Amsterdam  erschienene  Bibel 
der  grauenhaft  unnatürlichen  Salomeszene  ethischen 
Wert  zu  verleihen  gewußt,  indem  er  die  Tochter 
erschrocken  derjudith  zueilend  dargestellt  hatte,  während 
das  am  Boden  liegende  Haupt  des  Johannes  ein  sanfter 
Heiligenschein  umstrahlt.  »Merci,  bien  merci,  pour 
le  bonheur  que  vous  m’avez  procure  de  nouveau 
avec  votre  art«,  schloß  der  englische  Maler,  der  für 
dasselbe  Werk  gearbeitet  hatte,  seinen  begeisterten 
Brief.  »Enfin  nous  voilä  embarques  ensemble,  et 
j’en  suis  fier,  car  vous  etes  le  roi  du  noir  et  du  blanc.« 

Am  ergreifendsten  offenbart  sich  Morellis  »mensch¬ 
liche«  Auffassung,  im  besten  Sinne  des  Wortes,  in  der  be¬ 
rühmten  »Versuchung  des  heiligen  Antonius- ,  die  seiner¬ 
zeit  in  Paris  großes  Aufsehen  machte,  während  der 
Schöpfer  in  seinem  Vaterlande  als  »Caposcuola  dell’arte 
italiana  gefeiert  wurde.  Die  Leidenschaft  und  Begierde 
in  der  eigenen  Brust  sind  es,  die  in  seinem  Gemälde 
den  Heiligen  peinigen,  im  Gegensätze  zu  allen  älteren 
Darstellungen,  auf  welchen  die  Versuchung  in  Gestalt 
von  allerhand  Ungeheuern  und  ekelerregenden  Hexen 
erscheint.  »Den  Verlockungen  solcher  Schreckens¬ 
bilder  zu  widerstehen,  ist  wahrlich  keine  Kunst«,  soll 
Morelli  schon  als  Knabe  öfters  bemerkt  haben. 

Obgleich  die  letzte  und  beste  der  verschieden¬ 
artigen  Fassungen  dieses  Gegenstandes,  auf  welcher 
der  asketische  Mönch  am  Boden  kauert  und  in  seiner 
äußersten  Verzweiflung  die  Hände  in  die  Brust  sich 
krallt,  erst  im  Jahre  1878  entstanden  ist,  wird  das 
Bild  von  den  Kritikern  meistens  zusammen  mit  den 
Werken  einer  früheren  Zeit  genannt.  Es  bildet  in 
gewisser  Hinsicht  den  Übergang  von  der  historischen 
Periode,  in  welcher  »die  Bilderstürmer«,  »Sizilianische 
Vesper  ,  »florentinisches  Morgenständchen«,  »Graf 
Lara«,  »die  Flüchtlinge  von  Aquileia«,  »der  Mini- 
strel«,  »das  Boot  des  Lebens«,  »Potiphars  Frau«, 
»Abendkühle  in  Venedig«  und  als  bestes  »Tasso  mit 
Eleonora  d’Este«  entstanden  sind,  zu  der  letzten  und 
großartigsten  Aera  morellianischer  Kunst,  die  mit  dem 
Erscheinen  des  »Christus  auf  dem  Meere«  im  Jahre  1867 
beginnt  und  sich  von  der  ersten  sowohl  durch  die 


DOMENICO  MORELLI.  SIZILIANISCHE  VESPER 


DOMENICO  MORELLI.  GRAF  LARA.  (AUS  BYRONS  GEDICHT) 

38* 


288 


DOMENICO  MORELLI 


DOMENICO  MORELLI.  KREUZABNAHME 


Technik  als  durch  den  Inhalt  ihrer  Schöpfungen 
unterscheidet.  Ihren  größten  Erfolg  feierte  sie  bereits 
im  Jahre  1868  mit  der  »Kreuzabnahme«,  die  zweifellos 
zu  den  besten  Arbeiten  des  Meisters  gehört.  Der 
Leichnam  des  Erlösers,  von  einer  auf  dem  Bilde  un¬ 
sichtbaren  Laterne  beleuchtet,  und  gleich  einer  ägyp¬ 
tischen  Mumie  in  Tücher  gewickelt,  im  Helldunkel 
die  verzweifelten  Frauengesichter,  die  gespensterhaft 
aufragenden  Kreuze  der  beiden  Missetäter  und  die 
aufgehende  Mondscheibe  im  Hintergründe,  die  bald 
wieder  von  schwarzen  Gewitterwolken  verdeckt  sein 
wird,  verleihen  der  dargestellten  Szene  einen  unsäglich 
traurigen  Ausdruck.  Ein  Seitenstück  zu  diesem  Ge¬ 
mälde  bildet  »Christi  Verspottung«,  deren  Hauptfigur 
zunächst  nur  an  ihrem  Schatten  erkannt  wird  und  in 
ihrer  äußeren  Hilflosigkeit  nicht  tragischer  gedacht 
werden  kann.  Es  folgten  dann  das  treffliche  Gemälde 
des  -sterbenden  Christus«  und  »die  Tochter  des  jairus«, 
welche  die  Vorzüge  des  bereits  weithin  berühmten 
Künstlers  von  neuem  bestätigten,  ferner  »die  Besessenen«, 
»die  Ehebrecherin«,  »Charfreitag«,  »frohe  Kunde«, 
»Christus  in  der  Wüste«,  »Jesus  ruft  die  Söhne  Zebedäi« 
und  »die  Marien  auf  der  Schädelstätte«,  sowie  die 
teils  unter  Fortunys  Einfluß  geschaffenen  »Odalisken 


auf  dem  Weg  zum  Bade«,  Auferstehung  der  ge¬ 
fallenen  Frauen  aus  dem  Bosporus«,  »Straße  in  Konstan¬ 
tinopel«  und  »Gebet  in  der  Wüste«,  nebst  zahlreichen 
Studien  orientalischer  Typen.  Von  Zeit  zu  Zeit  wandte 
er  sich  auch  wieder  dem  Romantizismus  und  seinen 
früheren  Idealen  zu,  schilderte  in  vier  Bildern  die 
Liebesgeschichte  eines  Pagen,  illustrierte  zwei  Szenen 
aus  Shakespeares  »König  Lear«,  schuf  mehrere  Ver¬ 
sionen  der  »Engelliebe«  nach  Thomas  Moores  Dichtung, 
versuchte  sich  mit  wenigen  Pinselstrichen  an  dem 
beliebten  Thema  »Susanne  im  Bade«  und  erreichte 
schließlich  mit  seinem  »arabischen  Improvisator«  und 
»Mohammed  vor  der  Schlacht«  in  der  Darstellung 
orientalischer  Sujets  das  höchste.  Als  Bildnismaler 
kennzeichnet  ihn  das  bestechende  Porträt  der  Frau 
Maglione-Oneto. 

Nicht  zu  vergessen  sind  in  einer  Würdigung  Morellis 
seine  Verdienste  um  das  Kunstgewerbe  als  Leiter  des 
nunmehr  mustergültigen  Kunstgewerbemuseums  des 
Prinzen  Filangieri  und  der  Einfluß  auf  seinen  großen 
Verehrer  Giuseppe  Verdi,  der  sich  oft  eine  kleine 
Malerei  oder  rasch  hingeworfene  Skizze  als  Inspirations¬ 
mittel  von  ihm  erbat.  Die  Bewunderung,  die  der 
Musiker  für  den  Maler  hegte,  offenbart  sich  am 


DOMENICO  MORELLI.  MADONNA  DELLA  SCALA  D’ORO 


2Q0 


DOMENICO  MORELLI 


rührendsten  in  einem  Telegramm  aus  Turin,  wo  ein 
Werk  Morellis  ausgestellt  war.  »Alle  sagen,  es  gleiche 
einem  Velasquez«,  teilte  Verdi  seinem  Freunde  darin 
mit,  »ich  behaupte,  es  sei  ein  Morelli,  und  damit  basta«. 

Als  Senator  des  Königreichs,  als  Leiter  des  Instituts 
der  schönen  Künste  und  des  Gewerbemuseums,  als 
Mitglied  der  königlichen  Akademie,  der  Prüfungs¬ 
kommission  für  Monumente  und  des  obersten  Aus¬ 
schusses  für  schöne  Künste  konnte  Morelli  am 
Ende  seines  Lebens  auf  die  tatenreiche  Laufbahn 
zurückblicken,  die  er  als  Kind  eines  Tagelöhners 
begonnen  hatte.  Ein  Prophet  im  eigenen  Lande  hat 
er  die  Künstler  seiner  Heimat  vom  Akademismus  erlöst, 
und  es  gibt  heutzutage  keinen  italienischen  Maler, 
der  sich  nicht  rühmte,  ein  Schüler  des  neapolitanischen 
Meisters  zu  sein.  Diese  unbeschränkte  und  ausnahms¬ 


lose  Anerkennung,  die  ihm  schon  zu  Lebzeiten  von 
seinen  Berufsgenossen  in  der  eigenen  Heimat  gezollt 
wurde,  ist  ein  Erfolg,  der  in  der  Kunstgeschichte 
seinesgleichen  sucht. 

Für  Neapel  bedeutete  Morellis  Tod  am  Abend 
des  24.  August  1901  den  Verlust  seiner  Hegemonie 
auf  dem  Gebiete  der  italienischen  Kunst,  zumal  da 
gleichzeitig  die  besten  Werke  des  Malers  nach 
Oberitalien  und  in  das  Ausland  gerieten.  Durch 
den  Verkauf  des  Nachlasses  werden  fast  die  letzten 
Spuren  seines  Schaffens  aus  der  sonnigen  Stadt  ver¬ 
schwinden,  die  nun  der  großen  Gemeinde  seiner  Ver¬ 
ehrer  —  um  ein  Wortbild  des  Meisters  selbst  zu 
gebrauchen  —  gleich  den  vier  nackten  Wänden  eines 
Festsaales  erscheinen  mag,  von  denen  nach  beendigter 
Feier  die  Kränze  und  Flaggen  heruntergerissen  wurden. 


DOMENICO  MORELLI.  STERBENDER  CHRISTUS 


EINE  VARIANTE  DES  MARIENBILDES  BEI  SIR  F.  COOK 
IN  RICHMOND,  IN  PETERSBURGER  PRIVATBESITZ 


Allen  Kunstforschern  ist  das  Bild  im  Besitze  des 
Sir  Frederik  Cook  in  Richmond,  die  drei  Marien 
am  Grabe  Christi  darstellend,  bekannt.  In  der 
Benennung  des  Bildes  gehen  die  Meinungen  ziemlich 
auseinander;  während  einige  es  für  eine  Arbeit  Hubert 
van  Eycks  halten,  teilen  es  andere  seinem  Bruder  Jan 
zu,  andere  noch  gehen  so  weit,  es  überhaupt  nicht 
der  van  Eyckschen,  ja  sogar  nicht  der  niederländi¬ 
schen  Schule  zuzuschreiben.  In  der  Sammlung  der 
Gräfin  A.  A.  Komarowsky  (der  früheren  bekannten 
Sammlung  des  Grafen  Bludow)  in  St.  Petersburg  be¬ 
findet  sich  eine  Variante  des  Cookschen  Bildes,  welche 
insofern  interessant  ist,  als  sie  einige  Abweichungen 
von  dem  in  England  befindlichen  Bilde  aufweist. 

Beim  ersten  Anblick  macht  das  recht  gut  erhaltene 
Bild‘)  der  Sammlung  Komarowsky  einen  sehr  günsti¬ 
gen  Eindruck  durch  sein  ungemein  weiches,  harmo¬ 
nisches  Kolorit.  Der  rosafarbene  Mantel  des  Christus, 
das  rosarote  Kleid  der  knienden  Maria,  der  etwas 
dunklere  karminrote  Mantel  der  mittleren  Maria,  der 
gelbe  Rock  mit  roten  Schattierungen  des  liegenden 
Wächters,  zusammengestellt  mit  dem  bleichblauen 
Tone  des  Mantels  der  dritten  weiblichen  Eigur  und 
dem  bleichen,  bläulichen,  mit  weiß  untermischten 
Tone  des  Himmels  ergeben  einen  ruhigen,  harmoni¬ 
schen  Gesamtton. 

Wenn  man  die  Komposition  der  beiden  Marien¬ 
bilder  in  Richmond  und  Petersburg  vergleicht,  so 
sind  folgende  Verschiedenheiten  ersichtlich.  Die 
Stellung  der  drei  Marien  ist  beinahe  dieselbe,  der 
Engel  nimmt  auf  dem  englischen  Bilde  den  Mittel¬ 
platz  ein,  auf  dem  Petersburger  dagegen  ist  er  zur 
Seite  gedrängt,  und  statt  mit  breiter  Geste  Segen  zu 
erteilen,  weist  er  auf  den  neben  ihm  auf  dem  Grab¬ 
steine  stehenden  Christus;  dieser  letztere  fehlt  auf 
dem  Richmonder  Bilde.  Da  hier  die  Komposition 
Hochformat  hat,  ist  der  Künstler  gezwungen  worden, 
seine  Eiguren  etwas  zusammenzudrängen.  Um  den 
in  die  Breite  genommenen  Raum,  wie  ihn  das  Bild 
bei  Sir  F.  Cook  aufweist,  mit  Figuren  auszufüllen, 
hat  der  Künstler  drei  Wächter  angebracht;  diese 
letzteren,  sowie  die  Wächterfigur  auf  dem  Peters- 


i)  Auf  Holz  0,405X0,25  m. 


burger  Bilde  verderben  durch  ihre  ungelenken,  gro¬ 
tesken  Stellungen  den  Gesamteindruck  der  edel  durch¬ 
geführten  Komposition.  Der  zu  sehr  ausgedehnte 
und  künstliche  Gebäudekomplex  in  der  Landschaft 
ist  auf  dem  Petersburger  Bilde  viel  einfacher  und 
ruhiger. 

Die  zwei  stehenden  weiblichen  Figuren  haben 
eine  an  alte  Sienesen  anklingende  Süßigkeit  des  Ge¬ 
sichtsausdrucks.  Der  Christus  ist  voll  unaussprech¬ 
licher  Grazie  und  ernsten,  edlen  Tiefsinnes.  Der 
Ausdruck  göttlicher,  allvergebender  Trauer  des  Hei¬ 
landes,  seiner  überirdischen  Herrlichkeit,  seiner  maje¬ 
stätischen  Ruhe  harmoniert  vortrefflich  mit  der  sü߬ 
schmachtenden,  sanften,  trauervollen  Gottergebenheit 
der  Marien  und  wird  durch  den  mit  solchen  Ge¬ 
fühlen  konstrastierenden  Ausdruck  der  jungfräulich 
frischen  Mutwilligkeit  des  Engels  noch  mehr  hervor¬ 
gehoben.  Der  unschöne,  plumpe,  unedle  Wächter 
stellt  einen  zu  groben  Kontrast  zu  dem  edlen  Zu¬ 
sammenklang  der  anderen  Eiguren  dar;  die  grelle 
rote  Earbe  seiner  Beinkleider  berührt  uns  unangenehm 
als  ein  zu  schriller  Ton. 

Die  Landschaft  im  Hintergründe  des  Bildes  fällt 
nicht  in  die  Augen  durch  das  Aufeinandertürmen  und 
einen  unnötigen  Überfluß  an  Gebäuden,  das  ist  kein 
Jerusalem«,  sondern  ein  an  Gebirgsstädtchen  er¬ 
innerndes  »Adlernest«.  Der  reiche  olivgrüne,  hügelige 
Grund  der  Landschaft  ist  mit  dunklen  Baumgruppen 
bedeckt,  über  denen  sich  blaue  Berge  am  Horizonte 
erheben. 

Die  sorgfältig  ausgeführte  Zeichnung  ist  von  un- 
gemeiner  Eeinheit.  Der  Ealtenwurf  an  den  Mänteln 
und  an  der  Kopfbedeckung  ist  voll  Stil  und  einfacher 
Größe. 

Bei  dem  Bilde  der  Sammlung  Komarowsky  wird 
wohl  die  Meinungsverschiedenheit  noch  größer  sein 
als  bei  dem  Cookschen  Bilde,  da  in  ihm  Einflüsse 
der  Eyckschen  Schule  mit  einigen  Anklängen  an  die 
alte  französische  Schule  untermischt  sind.  Das  Rich¬ 
monder  Bild,  bedeutend  weniger  gut  erhalten,  ist  das 
ältere  von  den  beiden  Bildern.  Das  Petersburger  ist 
entweder  nach  ihm  oder  vielleicht  nach  einem  nicht 
mehr  erhaltenen  Originale,  das  beiden  Bildern  zur 
Vorlage  gedient  hat,  angefertigt  worden. 

A.  NEUSTROIEFF. 


DIE  MARIEN  AM  GRABE.  SAMMLUNG  DER  GRÄFIN  KOMAROWSKY,  ST.  PETERSBURG 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  ii 


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TIZIAN.  BILDNIS  ARETINOS  (AUSSCHNITT).  FLORENZ,  PAL.  PITTI 


TIZIANS  BILDNIS  DES  PIETRO  ARETINO  IN  LONDON 

Von  Georg  Gronau 


Die  Bezieliungen  zwisclien  Tizian  und  Aretino 
knüpften  sich  an,  kaum  daß  Messer  Pietro 
1527  die  Lagunenstadt  sich  zum  Wohnsitze 
erkoren  hatte;  sie  haben  ungetrübt  dreißig  Jahre  bis 
zu  seinem  Tode  gedauert.  Es  war  ein  wunderliches 
Verhältnis,  in  dem  gemeinsame  Interessen  nicht  das 
letzte  Wort  mitsprachen:  der  Schriftsteller  hielt  der 
Welt  durch  seine  weit  verbreiteten  Schriften  den 
Namen  und  den  Ruhm  des  Malers  in  dauernder  Er¬ 
innerung;  Tizian  wieder  erwies  sich  gefällig,  wenn 
Aretino  ein  Kunstwerk  als  Geschenk  für  einen  seiner 
Gönner  brauchte. 

Es  gehörte  zu  Aretinos  vielen  Schwächen,  daß  er 
überallhin  sein  Bildnis  zum  Geschenk  sandte.  Die 
Mehrzahl  der  Künstler,  mit  denen  er  in  Berührung 
kam,  haben  ihn  malen  müssen:  außer  Tizian  Seba- 
stiano  del  Piombo,  Moretto  und  Salviati.  Es  schmei¬ 
chelte  ihm  zu  hören,  daß  die  Vaterstadt  Arezzo  sein 
Bild  im  Stadthause  aufstellte  (wo  es  noch  heutigen 
Tages  zu  finden  ist),  mehr  vielleicht  noch,  daß  an 
den  Höfen  von  Mantua  und  Urbino,  daß  selbst  am 
französischen  Hofe  sein  Porträt  inmitten  anderer  Kunst¬ 
schätze  hing. 

Das  früheste  Bild,  das  Tizian  von  dem  »Gevatter« 
gemalt  hat,  für  die  Gonzagen,  ist  seit  langer  Zeit 
verschollen.  Bekannt  blieb,  von  Porträts  Aretinos  ab¬ 


gesehen,  die  sich  auf  tizianischen  Kompositionen  be¬ 
finden  —  auf  dem  großen  Wiener  >Ecce  homo« 
und  der  »Allokution  des  Marchese  del  Vasto«  in 
Madrid  —  nur  jenes  grandiose  Bildnis,  das  Tizian 
kurz  vor  seiner  Abreise  nach  Rom  (1545)  rasch  auf 
die  Leinwand  hinstrich,  und  das  Aretino  mit  einem 
halb  gekränkten  Brief,  eben  wegen  der  nicht  ge¬ 
nügenden  Durchführung,  Cosimo  I.  zum  Geschenk 
machte.  Einer  der  ältesten  Bestandteile  der  Eloren- 
tiner  Sammlungen  hängt  es  noch  heute  im  Palazzo 
Pitti. 

Ein  zweites  Bildnis  Aretinos  von  Tizian  blieb  da¬ 
gegen  bis  auf  die  Gegenwart  fast  unbekannt.  Selbst 
Crowe  und  Cavalcaselle  führen  es  in  ihrer  Mono¬ 
graphie  nicht  auf.  Dagegen  haben  Cavalcaselle  in 
einem  Aufsatz  im  »Archivio  storico  delT  arte«  und 
Morelli  es  als  echtes  Werk  des  Meisters  erwähnt. 
Bis  vor  kurzem  war  es  im  Palast  des  Eürsten  Chigi 
in  Rom  bewahrt,  daher  der  Öffentlichkeit  entrückt, 
jetzt  ist  es  in  den  Besitz  der  Firma  P.  und  D.  Col- 
naghi  in  London  übergegangen  und  wird  zum  ersten¬ 
mal  allgemein  zugänglich  gemacht,  bis  es  wieder  in 
Privathände  übergehend,  den  Augen  entschwinden 
wird. 

Das  Chigi-Bild,  dessen  Geschichte  nicht  bekannt 
ist  (eine  Andeutung  läßt  darauf  schließen,  daß  es 


TIZIAN.  BILDNIS  DES  PIETRO  ARETINO 
Zurzeit  im  Besitze  von  P.  und  D.  Colnaghi  in  London 


39 


296 


TIZIANS  BILDNIS  DES  PIETRO  ARETINO  IN  LONDON 


bereits  im  17.  Jahrhundert  der  römischen  Fürsten¬ 
familie  gehört  hat),  ist  von  dem  Florentiner  Bildnis 
wesentlich  verschieden.  Erscheint  dieses  wie  eine 
Augenblicksimpression,  so  ist  jenes  geschlossener, 
künstlerisch  gereifter:  eine  Komposition  gegenüber 
einer  Improvisation.  Nicht  daß  Tizian  verschleiert 
hätte,  was  die  Natur  an  gemeinen  Zügen  in  diesem 
Kopfe  zeigte;  der  Mund  mit  den  sinnlichen  Lippen 
ist  sogar  koloristisch  betont;  aber  die  Haltung  und 
Beleuchtung  sind  so  bewußt  künstlerisch,  daß  man 
das  Kunstwerk,  nicht  den  Gegenstand  sieht*). 

Die  linke,  im  Handschuh  steckende  Hand  greift 
in  den  Mantel  und  zieht  ihn  etwas  nach  vorn;  die 
Rechte  (die  man  nicht  sieht)  scheint  in  die  Hüfte  ge¬ 
stützt:  so  entsteht  ein  eindrucksvoller,  abgerundeter 
Oesamtkontur. 

Das  volle  Licht  ist  auf  den  Kopf  konzentriert, 
der  leicht  nach  oben  gerichtet  ist,  der  Blick  geht  wie 
in  Gedanken  links  herüber.  Ein  breites  Licht  wölbt 
die  Stirn  und  dominiert  als  stärkste  Helligkeit  im 
Bild.  Backe  und  Ohr  liegen  im  wirkungsvoll  durch¬ 
leuchteten  Halbschatten. 

Nichts  aber  ist,  technisch  koloristisch  gesprochen, 

i)  Die  folgenden  Bemerkungen  beruhen  auf  Notizen, 
die  ich  mir  vor  zwei  Jahren  machte.  Das  Bild  hing  im 
Pal.  Chigi  ziemlich  hoch  und  mußte  von  einer  Leiter  aus 
studiert  werden.  Es  ist  fast  genau  einen  Meter  hoch.  Die 
Erhaltung  ist,  von  geringfügigen  Retuschen  abgesehen, 
sehr  gut. 


in  diesem  Bild  so  geistvoll,  als  die  Behandlung  des 
Stofflichen.  Aretino  trägt  einen  schwarzen  Rock  mit 
braunen  Pelzaufschlägen  über  dunkelorangefarbenem 
Gewand.  Hier  spielt  und  glitzert  das  Licht  in  jener 
Nuance,  die  wir  »Altgold«  nennen.  In  Hellorange, 
in  Sepia  sind  Licht  und  Schatten  gesetzt;  man  kann 
sehen,  wie  der  Pinsel  in  Tizians  Hand  herunterglitt 
und  dieses  glanzvolle  Spiel  hinsetzte.  Nie  ist,  auch 
von  Tizian  selbst  nicht,  etwas  Geistvolleres  gemalt 
worden.  Übrigens  findet  sich  dieser  selbe  Orange¬ 
ton,  doch  versteckter,  auch  auf  dem  Florentiner  Bild. 

Das  Verhältnis  beider  Bilder  ist  gewiß  nicht  das 
von  Skizze  zu  Ausführung.  Sie  sind  unter  sich  zu 
weit  verschieden.  Ich  habe  den  Eindruck,  als  ob 
Aretino  auf  dem  Chigi-Bild  etwas  älter  aussieht;  er 
erscheint  gesetzter,  nicht  mehr  ganz  so  voll  über¬ 
schäumender  Lebenskraft;  der  Bart  geht  stärker  ins 
Graue.  Und  stilistisch,  glaube  ich,  gehört  es  in  die 
zweite  Hälfte  der  vierziger  Jahre.  Während  das  Pitti- 
Bild  jene  koloristische  Brillanz,  jene  Freudigkeit  besitzt, 
die  alle  Werke  Tizians  in  der  Periode  von  1 535  bis 
1545  (ungefähr)  auszeichnet,  ist  das  andere  Bildnis, 
man  möchte  sagen,  zurückhaltender,  alles  auf  eine 
große  Wirkung  berechnet.  Es  hat  seine  stilistischen 
Verwandten  an  Bildnissen,  wie  dem  »jungen  Eng¬ 
länder«  des  Pitti,  dem  Granvella  in  Besangon.  Schon 
die  unnachahmliche  Gesamtkontur  dieser  Bilder  gibt 
ihnen  das  Gemeinsame.  Ich  möchte  daher  als  Datum 
für  das  Chigi-Bild  etwa  das  Jahr  1548  annehmen. 


P.  P.  RUBENS.  CHRISTUS  VOR  DER  EHEBRECHERIN  (BRÜSSELER  MUSEUM) 


NEUERE  ERWERBUNGEN 

VLÄMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 

Von  Emil  Jacobsen 


Die  Brüsseler  Galerie  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  mit  einer  großen  Anzahl  wichtiger  Werke 
vlämischer  Malerei  bereichert  Ich  möchte  einige  interessante  dieser  Neuerwerbungen  den  Lesern  dieser 
Zeitschrift  vorjähren  und  werde  mit  den  drei  Koryphäen:  Rubens,  jordaens  und  van  Dyck  beginnen. 


PETRUS  PAULUS  RUBENS 

Dem  großen  Meister  ist  ein  neuerworbenes  Bild¬ 
nis,  Paracelsus  genannt,  zugeschrieben  (Nr.  388). 
Der  Mann  ist  bartlos,  mit  kastanienbraunen,  auf  die 
Schultern  niederfallenden  Locken;  auf  dem  Kopfe 
eine  von  Pelzwerk  umgebene  rote  Mütze.  Ist  dies 
Porträt  von  Rubens?  Das  Unsichere  und  Vage  in 
der  Modellierung  der  Gesichtsformen,  das  Unent¬ 
schiedene,  ja  Blöde  des  Ausdrucks,  was  durch  den 
halbgeöffneten  Mund  noch  verstärkt  erscheint,  können 
Zweifel  erregen.  Auch  der  landschaftliche  Hinter¬ 
grund  stimmt  nicht;  er  ist  weder  von  Wildens,  noch 
von  Uden  und  noch  weniger  von  Rubens  selbst; 
andererseits  kommt  die  Behandlung  des  Fleisches 
Rubens  nahe.  Meisterhaft  ist  auch  die  Pelzmütze, 


desgleichen  das  niederfallende  Lockenhaar  gemalt. 
Dasselbe  gilt  für  die  rechte  Hand  mit  dem  Notiz¬ 
buch. 

Die  vier  Negerköpfe  {Nv.  38g)  sind  wohl  als  Studien 
für  eine  Anbetung  der  Könige  hingeworfen.  Rubens 
hatte  eine  Vorliebe  für  diese  Rasse,  welche  von  der 
ferocen  Natürlichkeit  und  naiven  Schönheit  des  Tieres 
so  viel  besitzt.  Er  liebte  das  Feuer  ihres  Blickes,  das  gute, 
zärtliche  Lächeln  ihrer  dicken  Lippen  mit  den  hervor¬ 
blitzenden  weißen  Zähnen.  Die  vier  Köpfe  sind  mit 
voller  Meisterschaft  entworfen.  Doch  wird  das  Werk 
neuerdings  nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  als  eine 
Jugendarbeit  Dycks  bezeichnet. 

Das  bedeutendste  von  den  Neuerwerbungen  Rubens¬ 
scher  Werke  ist  doch  das  große  Bild:  »Christus  vor 
dem  ehebrüchigen  Weibe«^  (Nr.  381).  Hier  feiert 


298 


NEUERE  ERWERBUNGEN  VLAMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


seine  malerische  Kraft  und  seine  eminente  Ausdrucks¬ 
fähigkeit  einen  wahren  Triumph.  Das  Momentane 
ist  so  glücklich  ergriffen  und  festgehalten,  wie  z.  B. 
in  Tintorettos  » Markusmirakel <  der  venezianischen 
Akademie.  Es  ist  diese  Augenblicklichkeit,  welche 
einer  dramatischen  Handlung  in  einer  Malerei  erst 
die  Berechtigung  verleiht.  Wenn  die  Handlung  in 
einem  Momente  aufblitzt,  von  einem  Blicke  aufgefaßt 
werden  muß  und  wenn  sie,  wäre  der  Knoten  der 
Begebenheit  in  Erzählung  aufgelöst,  ihre  ganze  Macht 
einbüßen  würde,  dann  ist  der  Pinsel  und  nicht  das 
Wort  an  seinem  Platze. 

Die  Ehebrecherin,  eine  schöne  Frau  von  vollen 
Formen,  wird  von  einem  würdigen  Greise  mit  wallen¬ 
dem  weißem  Barte  Christus  vorgeführt;  und  als  sie 
vor  dem  Heilande  steht,  errötet  sie  tief  und  voller 
Scham  sucht  sie  ihr  Antlitz  hinter  ihrem  Kopftuche 
zu  verbergen. 

Der  Greis  berührt  zart  die  junge  Frau,  die  voll 
Angst  und  Spannung  auf  Christus  blickt.  Es  geht 
nicht  aus  dem  Berichte  des  Evangelisten  hervor,  daß 
der  Ehemann  bei  dem  Auftritte  gegenwärtig  war,  es 
scheint  mir  jedoch  möglich  zu  sein,  daß  bei  Rubens  mit 
dem  würdigen  Greise,  der  nur  widerstrebend,  von 
dem  Gesetze  gezwungen,  seine  junge  Frau  vor  das 
Gericht  führt,  der  Ehemann  gemeint  ist.  In  vollem 
Gegensätze  zu  ihm  erscheinen  die  beiden  Schrift¬ 
gelehrten  rechts.  Prachtvolle  Charaktergestalten.  Der 
eine,  reich  gekleidet,  mit  blitzenden  Augen,  langem 
weißen,  unkultivierten  Bart,  auf  der  Kopfbedeckung 
eine  hebräische  Inschrift,  gestikuliert  eifrig  mit  den 
Händen.  Er  ist  ein  Talmudist,  ein  Fanatiker,  der 
räsoniert.  Spitzfindigkeit,  mit  Grausamkeit  gepaart, 
offenbart  sich  schon  in  den  fieberisch  bewegten 
Fingern  und  der  Wahnsinn  des  Fanatismus  leuchtet 
aus  seinen  Augen.  Der  andere  ist  eine  mehr  passive 
Figur.  Er  schließt  sich  ganz  seinem  Freunde  an, 
aber  er  läßt  diesen  demonstrieren.  Sein  aufgedunsenes 
fettes  Gesicht,  worauf  allerhand  gemeine  Laster  ihren 
Stempel  gedrückt  haben,  hat  eine  merkwürdige 
Ähnlichkeit  mit  Leo  X.,  so  wie  Raffael  ihn  darge¬ 
stellt  hat. 

Die  Christusgestalt,  voller  Würde  und  Güte,  ist, 
wie  immer  bei  Rubens,  wenig  charaktervoll;  dagegen 
ist  sein  Gestus  unnachahmlich  beredsam  und  schön. 
Das  Bild  weicht  im  ganzen  vielfach  von  der  nament¬ 
lich  von  den  Venezianern  festgeschlagenen  traditionellen 
Behandlung  dieses  Gegenstandes  ab.  Besonders  sind 
viele  neue  und  zarte  Züge  hinzugekommen,  z.  B.  die 
Art  und  Weise,  in  welcher  der  Greis  die  junge  Frau 
Christus  vorführt,  wie  seine  Hand  leise  und  milde 
auf  ihrem  Arme  ruht;  das  tiefe  Erröten  der  jungen 
Frau;  denn  das  Rot,  welches  ihr  Gesicht  und  ihren 
Busen  bedeckt,  ist  ganz  verschieden  von  dem  Rot, 
mit  welchem  Rubens  sonst  die  Wangen  seiner  Frauen 
schmückt.  Der  Künstler  hat  es  verstanden,  das  Er¬ 
röten  vor  Scham  meisterhaft  zu  charakterisieren.  Man 
vergleiche  auch  die  konvulsivisch  bewegten  Hände 
des  einen  Pharisäers  mit  dem  edlen,  beredsamen  und 
sehr  einfachen  Handgestus  Christi.  Der  ganze  Vor¬ 
gang  dürfte  wohl  nie  so  tief  aufgefaßt  und  glänzend 


geschildert  worden  sein,  auch  nicht  von  den  Italienern. 
Man  vergleiche  es  mit  dem  Bilde  von  Tintoretto  in 
der  Akademie  zu  Venedig,  wo  die  Ehebrecherin  ganz 
deutlich  mit  Christus  kokettiert.  Auch  nicht  das  Bild 
des  sonst  so  feinen  Lotto  im  Louvre  kann  sich  dem 
seelischen  Gehalte  nach  mit  Rubens  messen.  In 
Ausdruck  und  malerischem  Leben  dürfte  es  gar  dem 
Fhlde  von  Rembrandt  in  der  Kollektion  E.  F.  Weber 
überlegen  sein.  Der  Kaufpreis  soll  60000  Francs 
gewesen  sein. 

JACOB  JORDAENS 

Von  diesem  Künstler  besitzt  die  Galerie  schon 
von  früher  bedeutende  Bilder,  darunter  die  pracht¬ 
volle  »Fecondite«.  jetzt  ist  eine  ganze  Reihe  von 
vortrefflichen  Gemälden  hinzugekommen.  Das  wenigst 
bedeutende  ist  wohl  das  Porträt  einer  reichgekleideten, 
älteren  behäbigen  Frau.  Das  recht  vulgäre  Gesicht 
ist  von  bläulichen  Reflexen  umspielt,  das  Ganze  von 
einem  bläulichen  Ton  beleuchtet.  Es  ist,  wenn  ich 
mich  nicht  täusche,  1642  datiert. 

Das  farbenprächtigste  der  neuen  Bilder  dürfte 
»Suzanne  et  les  Vieillards<-'~  sein  (Nr.  241).  In  der 
Mitte  des  strahlenden  Bildes  sitzt  die  junge  Frau 
und  sucht  vergebens  ihre  schwellenden  Körperformen 
vor  den  beiden  lüsternen  Greisen  zu  verbergen. 
Aber  ist  hier  wirklich  eine  keusche  Susanna  darge¬ 
stellt?  Kann  man  mit  solch  üppigem  Körper,  mit 
solchen  schwellenden  Lippen,  mit  diesem  feurigen 
Blicke  keusch  sein?  Doch  das  ist  Nebensache  und  hat 
den  Meister  sehr  wenig  gekümmert.  Er  hat  es  nicht 
als  seine  Aufgabe  betrachtet,  die  keusche  Erregung 
einer  jungen  Frau  darzustellen,  nein,  ein  nacktes 
Weib  mit  schwellendem,  von  Saft  strotzendem,  rosig 
angehauchtem,  tief  aufleuchtendem,  alles  überstrahlen¬ 
dem  weißen  Körper  wollte  er  malen,  und  das  ist  ihm 
meisterhaft  gelungen.  Alles  gruppiert  sich  um  dies 
junge  Weib,  alles  zielt  nur  darauf  hin,  diese  prachtvollen 
Glieder,  diesen  Busen,  diesen  rosigen  Lockenkopf 
hervorzuheben.  Ihre  feuerrote,  tiefglühende  Draperie 
verbirgt  nichts,  bringt  vielmehr  die  matt  leuchtende, 
intensiv  strahlende  Haut  wunderbar  zur  Geltung. 

Die  beiden  Greise,  charakteristische  Gestalten  von 
ausgeprägtem  jüdischen  Typus  heben  ihrerseits  den 
jungen  üppigen  Körper  durch  Kontrastwirkung  hervor. 
Und  die  ganze  übrige  Pracht  des  Bildes;  die  große 
goldene  Kanne,  das  goldene  Gefäß  von  künstlicher 
Arbeit,  der  Pfau,  der  hoch  oben  auf  einem  Posta¬ 
mente  stolziert  und  sein  prächtiges  Gefieder  nieder¬ 
hängen  läßt,  der  Marmoramorin,  der  als  Brunnenfigur 
in  eine  Muschel  bläst,  aus  der  Wasser  hervorquillt  — 
alles  das  scheint  nur  da  zu  sein,  um  zu  zeigen,  daß 
der  blühende  Körper  einer  jungen  Frau  selbst  die 
herrlichsten  und  schönsten  Sachen  der  Welt  überstrahlt. 

Die  Züge  Susannas  haben  viel  Ähnlichkeit  mit 
einer  weiblichen  hübschen  Figur,  die  häufig  in  den 
weltlichen  Bildern  Jordaens’  vorkommt.  Man  hat 
diese  Figur  mit  seiner  Frau  Katharina  van  Noort 
identifiziert,  der  Tochter  seines  und  Rubens’  Lehrers, 
Adam  van  Noorts;  vielleicht  haben  wir  auch  ein 


RUBENS  (VAN  DYCK?).  NEGERKÖPFE  (BRÜSSELER  MUSEUM) 


300 


NEUERE  ERWERBUNGEN  VLÄMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


Porträt  dieser  jungen  Frau  vor  uns.  Denn  sowenig 
wie  Isabella  Brant  und  Helene  Fourment  hat  Katharina 
van  Noort  sich  geweigert,  ihrem  Geniahle  als  Modell 
zu  dienen.  Diese  wenig  bürgerliche  und  sehr  kühne 
Sitte  wirft  auf  die  leichten  Moralbegriffe  dieser  üppigen 
und  kraftvollen  Zeit,  aber  ebensosehr  auf  das  hohe 
Ansehen,  in  dem  die  Kunst  stand,  ein  helles  Licht. 
Das  Bild 
wurde  für 
20000  Frcs. 
von  Madame 
Stevens  er¬ 
worben. 

Einige  Kri¬ 
tiker  haben 
keinen  Reiz 
an  dem  Bilde 
gefunden, 
indem  sie 
die  Typen 
vulgär  ge¬ 
funden  ha¬ 
ben.  Als  ob 
dies  ein  Ein¬ 
wand  gegen 
Jordaens 
wäre!  ■) 

Auch  ein 
anderes  neu¬ 
erworbenes 
Bild:  »Pan, 
die  Nymphe 
Syrinx  ver¬ 
folgend 
(Nr.  240), 
stellt  eine 
nackte  weib¬ 
liche  Gestalt 
dar.  Es  zeigt 
nicht  die 
Feuerpracht 
der  Farben 
des  Susanna- 
bildes,  übt 
aber  auf  eine 
andereWeise 
eine  ebenso 
bedeutende 
koloristische 
Wirkung 
aus.  Aus 
dem  tiefen 
Halbdunkel, 

in  dem  der  ganze  untere  Teil  des  Bildes  liegt,  erhebt 
sich  der  schlanke  Leib  der  Syrinx,  desgleichen  der 
viel  dunklere  Körper  des  hastig  dahinstürmenden 
Pans,  sowie  auch  der  braunrote  Rücken  des  zu¬ 
sammengekauerten  Wassergottes  (wohl  der  arka- 


JAKOB  lORDAENS.  PAN,  DIE  NYMPHE  SYRINX  VERFOLGEND 
(BRÜSSELER  MUSEUM) 


1)  Eine  Replik  in  der  Kopenhagener  Galerie,  datiert 
1653,  eine  Kopie  im  Museum  zu  Lille. 


dische  Flußgott  Ladon)  und  seiner  Nymphe  hervor. 
Es  ist  der  Augenblick  dargestellt,  in  dem  Syrinx  in 
ein  Schilfrohr  verwandelt  wird.  Hymenäos,  der  an 
der  Verfolgung  teilgenommen  hatte,  sucht  eben  seine 
Fackel  in  dem  Sumpfe  zu  löschen.  Die  klassische 
Abrundung  der  fein  abgewogenen  Komposition  zeugt 
von  dem  Schönheitssinne  dieses  Vlamen,  dessen 

andere  Ei¬ 
genschaften 
in  der  Regel 
mehr  be¬ 
kannt  und 
gepriesen 
sind. 

Man  darf 
sich  jedoch 
dadurch 
nicht  verlei¬ 
ten  lassen, 
an  andere 
italienische 
Einwirkun¬ 
gen  zu  glau¬ 
ben,  als  die¬ 
jenigen,  die 
ihm  durch 
die  Bekannt¬ 
schaft  mit 
Rubens  und 
dessen 
Kunst¬ 
schätze  ver¬ 
mittelt  wer¬ 
den  konnten. 

Endlich 
hat  auch  die 
Galerie  ein 
kolossales 
Dreikönigs¬ 
fest,  welches 
hier  »Le  Roi 
boit«  ge¬ 
nannt  wird, 
erworben 
(Nr.  242). 
Man  weiß, 
daß  sein 
Dreikönigs¬ 
fest  neben 
seinen  bac¬ 
chantischen 
und  diesen 
verwandten 

Darstellungen  zum  Zentralsten  in  Jordaens’  Kunst 
gehört.  Er  hat  sie  häufig  variiert.  Man  findet 
Exemplare  im  Louvre,  in  der  Braunschweiger  Galerie, 
in  der  kaiserlichen  Galerie  zu  Wien,  in  der  Akademie 
zu  St.  Petersburg,  in  der  Kasseler  Galerie,  in  der 
Galerie  des  Herzogs  von  Devonshire  u.  s.  w.  Sie 
ähneln  sich  sehr,  diese  fröhlichen  Bilder.  Einmal 
sitzt  der  dicke  lustige  Bohnenkönig  in  der  Mitte  des 


NEUERE  ERWERBUNGEN  VLÄMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


301 


Bildes,  einmal  rechts  am  Ende  des  Tisches  und  sein 
Platz  wird  dann  von  einer  sehr  hübschen  und  sehr 
üppigen  jungen  Erau  eingenommen.  Der  alte  König 
erinnert  in  vielen  Bildern  an  die  Züge  des  Lehrers 
und  Schwiegervaters,  des  kraft-  und  saftvollen  Adam 
van  Noort.  Das  Dreikönigsfest  unserer  Galerie  ge- 


gut  bekommen  ist,  erbricht  sich,  während  eine  andere 
lachende  Frau  ihr  den  Kopf  hält.  Ein  dickes,  fast 
nacktes  Knäblein  auf  dem  Schoße  einer  jungen  üppigen 
Frau  ist  in  seiner  Unschuld  mitten  im  Getümmel  in 
Schlaf  verfallen.  Die  Nachwirkungen  des  unbändigen 
Festes  zeigen  sich  aber  auch  bei  ihm:  ein  dicker 


JAKOB  jORDAENS.  SUSANNE  UND  DIE  BEIDEN  GREISE 
(BRÜSSELER  MUSEUM) 


hört  ZU  den  besten  Exemplaren.  Der  höchste 
Moment  des  fröhlichen  Festes:  »der  König  trinkt«, 
ist  geschildert,  ein  Höllenlärm  steigt  aus  dem 
Feste  empor:  alles  jubelt,  alles  schreit,  eine  ma߬ 
lose,  mit  Weingeruch  vermischte  Huldigung  der 
Lebensfreude  strömt  uns  aus  dem  Bilde  entgegen. 
Doch  nein,  nicht  alle  schreien;  einige  haben  schon 
genug.  Eine  alte  Frau,  der  die  Kreidepfeife  nicht 

Zeilsclirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  II.  11 


Strahl  ergießt  sich  über  den  Schoß  und  Unterrock 
der  nichtsahnenden,  ganz  im  Taumel  des  Festes  auf¬ 
gehenden  Mutter. 

Die  ganze  prachtvolle  Darstellung  steigt  wirkungs¬ 
voll  aus  dem  Halbdunkel  des  Hintergrundes  hervor. 
Das  Kolorit  ist  von  einem  kühlen  bläulichen  Ton 
beherrscht.  Bläuliches  Weiß  und  tiefes,  bräunliches 
Rot  sind  die  bestimmenden  Farben. 


40 


302 


NEUERE  ERWERBUNGEN  VLÄMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


In  diesen  Bildern  erscheint  Jordaens  als  der 
vlämische  Jan  Steen.  Er  ist  aber  saftiger,  tempera¬ 
mentvoller,  maßloser  als  dieser.  Wie  verhält  jordaens 
sich  zu  Rubens?  Sein  Schüler  war  er  in  keiner  Weise; 
aber  wurde  er  von  ihm  beeinflußt?  jordaens  war 
eine  zu  ursprüngliche,  kräftige  und  sichere  Natur, 
um  sich  viel  beeinflussen  zu  lassen.  Was  bei  ihm 
von  Rubens  erscheint,  hat  er  wohl  eher  von  ihrem 
gemeinsamen  Lehrer  Adam  van  Noort.  Es  war  für 
den  Ruhm  jordaens’  ein  Verhängnis,  daß  Rubens  nach 
Antwerpen  kam,  wo  sein  mächtiges  Genie  alles  über¬ 
strahlte.  Denn  jordaens  war  eigentlich  durch  seine 
vorherrschenden  Eigenschaften  zum  Haupte  und  zen¬ 
tralen  Meister  Flanderns  designiert.  Kein  leichtflüssiges, 
transalpinisches  Blut  floß  in  seinen  Künstleradern ;  er  war 
durch  und 
durch  Vla- 
me,  während 
Rubens,  wie 
groß  er  auch 
war  -  -  und 
er  war  sehr 
groß  —  mit 
Jordaensver- 
glichen,  ein 
italisiereuder 
Niederlän¬ 
der  war.  Des¬ 
halb  kann 
ich  auf  die 
Bedenken, 
welche  die 
vielen  neu- 
angeschaff- 
ten  und  teue¬ 
ren  jordaens 
bei  einem 
Kritiker  er¬ 
regt  hatten, 
nur  die  Ant¬ 
wort  geben: 
je  mehr  jor¬ 
daens,  desto 

besser;  es  können  gar  nicht  genug  jordaens  in  der 
Galerie  der  Hauptstadt  der  Belgier  sein! 

ANTHON  VAN  DYCK 

Von  diesem  Meister  besitzt  unsere  Galerie  keine 
große  Anzahl  Gemälde,  doch  kann  man  in  wenigen 
Sammlungen  seine  Entwickelung  —  jedenfalls  bis  er 
nach  England  zog  —  so  bequem  verfolgen  wir  hier. 
Aus  seiner  frühesten  Zeit  stammt  die  ■  Kreuzerrichtung 
Petri«.  Die  noch  sehr  mangelhafte  und  unsichere 
Behandlung  der  Körperformen,  das  feuerrote  Fleisch 
zeigen  den  Anfänger.  Doch  der  junge  Meister  ent¬ 
wickelte  sich  frühzeitig  zu  voller  Meisterschaft.  Van 
Dyck  war  eine  sehr  sensitive  Natur;  der  Einwirkung 
seiner  Umgebung  setzte  er  geringen  Widerstand  ent¬ 
gegen.  ln  seinen  jugendjahren  in  Flandern  war  er 
derb  mit  den  Derbsten,  in  Italien  wurde  er  hoch¬ 


sinnig,  edel  und  fein.  Nach  Flandern  zurückgekehrt 
zeigt  sich  in  seinen  Werken  wieder  eine  Tendenz 
nach  Derbheit,  die  aber  durch  italienische  Erinne¬ 
rungen  sehr  gemäßigt  auftritt;  in  England  zuletzt 
wurde  er  blasiert  und  vornehm,  mitunter  bis  zur 
Kränklichkeit. 

Aus  seiner  italienischen  Periode  stammt  das  als 
neue  Erwerbung  gleich  zu  erwähnende  vornehm- 
prachtvolle  Porträt  des  Genuesers  Giovanni  Vincenzio 
Imperiale;  bald  nach  seiner  Zurückkunft  nach  Antwerpen 
muß  sein  »Trunkener  Silen«  entstanden  sein.  Hier 
begegnet  uns  einerseits  die  derbe,  saftige  flandrische 
Weise,  andererseits  die  klassische  Reinheit  und  Ab¬ 
rundung  der  Komposition,  die  er  seinen  italienischen 
Studien  verdankt,  dann  kommt  aus  einem  späteren 

Zeitpunkt 
derselben 
Epoche  das 
ziemlich 
langweilige 
Bildnis  eines 
Antwerpe- 
ner  Bürger¬ 
meisters. 

Aus  der 
englischen 
Periode  be¬ 
sitzt  die  Ga¬ 
lerie  leider 
kein  Werk. 
Ein  neu  er¬ 
worbenes 
großes  Fa¬ 
milienbild 
stammt  auch 
aus  der 
zweiten  Ant- 
werpener 
Periode.  Die 
Anordnung 
der  Fami- 
liengruppe 
ist  sehr 

schön  und  dem  Auge  wohlgefällig,  nur  könnte 
man  einwenden,  daß  sie  vielleicht  zu  arrangiert  er¬ 
scheint;  sie  gibt  sich  nicht  als  ein  schnell  festgehal¬ 
tenes,  glückliches  Zusammenfinden  von  Personen,  die 
als  Gruppe  zusammengehören,  sondern  zeigt  vielmehr 
zu  deutlich,  daß  der  Künstler  mit  feiner  Berechnung 
jeden  auf  seinen  Platz  gestellt  hat.  Dies  gilt  ins¬ 
besondere  von  der  rechten  Hälfte  mit  der  von  Mutter¬ 
sorgen  etwas  mitgenommenen,  wenn  auch  noch  jungen 
Frau  und  von  den  drei  Kindern,  die  neben  ihr  stehen. 
Die  Gruppe  links:  der  guitarrespielende  Hausherr  mit 
seinem  goldlockigen  Kinde,  das  auf  sein  Trommelchen 
eifrig  loshämmert,  ist  die  Perle  des  ganzen  Werkes. 
Es  gibt  wenige  Kinderporträts,  welche  sich  an  Frische 
der  Auffassung,  Leichtigkeit  und  Naivität  mit  diesem 
vergleichen  lassen.  Das  Kind  lächelt  weder,  noch 
wirft  es  einen  rührenden  oder  schüchternen  Blick 
auf  den  Beschauer;  es  steht  da  sehr  ernst,  sehr  ver- 


A.  VAN  DYCK  (?).  FAMILIENBILD 


NEUERE  ERWERBUNGEN  VLÄMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


303 


tieft  in  seine  Beschäftigung  und  hämmert  auf  die 
Trommel  los.  Van  Dyck  hat  sonst  sehr  viel  an  den 
Beschauer  appelliert  (während  sein  großer  Meister 
dies  in  der  Regel  verschmäht  hat).  Wir  bemerken 
auch  bei  diesem  Bilde  an  den  anderen  Kindern,  daß 
sie  durch  ausdrucksvolle  oder  melancholische  Blicke 
bei  dem  Beschauer  Teilnahme  mit  ihrer  zarten  Schön¬ 
heit  zu  erwecken  suchen.  Diese  nervösen,  fast  krank¬ 
haften  Schöpfungen  antezipieren  schon  seine  letzte 
englische  Periode^).  Das  Kolorit  mit  seinen  sehr 
doucen,  sehr  gebrochenen  Farben:  Oliven,  Bronze, 
Schwarz,  Weiß,  die  von  der  tief  weinroten  Draperie 
hinter  den  Figuren  und 
der  tiefroten  Sammetdecke 
des  Stuhles  ihre  Wirkung 
erhalten,  ist  von  höchster 
Schönheit  und  Vornehm¬ 
heit. 

DerTradition  nach  soll 
das  Bild  die  Familie  des 
Kanzlers  Christyn,  einen 
der  Vorfahren  der  Ribau- 
court  (1622  —  1690)  dar¬ 
stellen.  Van  Dyck,  ge¬ 
storben  1641,  konnte  ihn 
aber  nicht  (als  Familien¬ 
vater)  gemalt  haben.  »Wie 
steht  es«,  fragt  ein  hoch 
angesehener  Forscher, 

»nach  dem  Wegfall  dieser 
Hypothese  mit  dem  An¬ 
teil  des  Malers  an  unserem 
Gemälde?«  Wie  zuvor, 
meine  ich,  denn  die  Tra¬ 
dition  kann  sehr  wohl 
irrig  sein.  »Es  erinnert 
viel  mehr  an  Rubens  (die 
Hände  der  Frau  und  des 
Kindes);  auch  das  Kolorit 
paßt  nicht  auf  van  Dyck, 
weder  auf  das  Braun  seiner 
Jugend  noch  auf  das  Sil¬ 
bergrau  seiner  späteren 
Zeit.«  Sehr  richtig,  aber 
es  stimmt  sehr  gut  mit 
dem  Kolorit  seiner  mitt¬ 
leren  Zeit,  seines  zweiten 
Antwerpener  Aufenthalts. 

Eine  große  Anzahl  Gemälde  aus  dieser  Periode  hatte 
man  Gelegenheit  auf  der  Antwerpener  Ausstellung 
1899  zu  studieren. 

Ich  leugne  nicht,  daß  es  im  Bilde  etwas  für  van 
Dyck  Fremdartiges  gibt.  Kenner  der  vlämischen 

1)  Über  diese  letzte  Periode  van  Dycks  erlaube  man 
mir  eine  kleine  Bemerkung.  Man  erinnere  sich,  daß  Shake¬ 
speare  1616  gestorben  ist.  Diese  eleganten,  blasiert  vor¬ 
nehmen,  müden  Männer,  diese  weltlich  gesinnten,  koketten 
und  nervösen  Frauen:  das  war  Shakespeares  Publikum. 
Viele  von  ihnen  haben  Shakespeare  auf  der  Straße  gegrüßt 
und  ihm  die  Hand  gedrückt.  Alle  haben  sie  sein  Theater 
gestürmt.  Die  entsetzlichen  Szenen  im  »King  Lear«  und 


Malerei  wie  Bode,  Bredius,  Emile  Michel,  Max  Rooses, 
Hymans  zweifeln  an  der  Autorschaft  van  Dycks  und 
Wauters  hat  klüglich  diesen  Autoritäten  folgend  in 
seinem  neuen  Katalog  das  Bild  einem  sogenannten 
Maitre  de  Ribaucourt  zugeschrieben.  Hat  er  darin  Recht 
gehabt?  Ich  möchte  dies  mit  Bestimmtheit  weder 
bejahen  noch  verneinen.  Das  Wahrscheinlichste 
scheint  mir  jedoch  dies  zu  sein:  Auf  van  Dyck  geht  das 
Bild  vielleicht,  was  die  Erfindung  und  die  Komposition, 
teilweise  aber  nur  was  die  Ausführung  betrifft,  zurück. 
Ein  unbekannter  aber  ausgezeichneter  Gehilfe  hat 
mitgearbeitet,  wahrscheinlich  derselbe,  der  auch  in 

den  anderen  von  Wauters 
dem  Maitre  de  Ribaucourt 
zugeschriebenen  Bildern 
wirksam  gewesen  ist.  Cor¬ 
nelius  de  Vos,  von  dem 
die  Galerie  ein  prächtiges 
Familienbild  zum  Ver¬ 
gleich  besitzt,  kann  meines 
Erachtens  nicht  in  Be¬ 
tracht  kommen.  Die 
Gruppe  rechts  soll  iden¬ 
tisch  sein  mit  der  Mittel¬ 
gruppe  der  Familienpor¬ 
träts  des  Balthasar  Gerbier 
zu  Windsor.  Das  Bild 
in  Windsor  ist  die  erwei¬ 
terte  Komposition  eines 
Rubensschen  Bildes,  ge¬ 
stochen  von  Mac  Ardell 
als  die  Familie  des  B. 
Gerbier.  Dies  Gemälde 
ist  von  Rooses  dem  Ru¬ 
bens  zugeschrieben  (Nr. 
956)^).  Da  aber  die  Per¬ 
sonen  keine  Ähnlichkeit 
mit  denen  auf  unserem 
Bilde  haben,  beweist  dies 
nur,  daß  van  Dyck  eine 
Komposition  von  Rubens 
benutzt  hat. 

Das  Bild  wurde  von 
der  Familie  Ribaucourt 
für  200  000  Francs  er¬ 
worben. 

Aus  van  Dycks  italieni¬ 
scher  Epoche  stammt  das 
imponirende  lebensgroße  Bildnis  von  Giovanni  Vin- 
cenzio  Imperiale,  Doge  von  Genua,  (Nr.  161).  Gewiß 
ein  Repräsentationsbild,  aber  kein  gewöhnliches.  Man 
sieht  dem  Manne  das  Herrschen  an;  etwas  von  der 
Größe  und  Macht  der  Republik  hat  der  Maler  ins 
Bild  gelegt.  Wenn  der  Doge  auch  etwas  steif  sitzt, 
etwas  beschwert  von  der  weitläufigen  Seidenrobe 
und  dem  engen  Mühlkragen,  so  sieht  man  doch  an 
seinem  stolzen  Blicke,  daß  er  gebietet  und  an  seinem 

»Richard  III.«  haben  sie  mit  Schauder  erfüllt,  Hamlet 
haben  sie  beklatseht  und  debattiert,  Romeo  und  Julia  haben 
sie  belauscht. 

1)  Vergl. Repertorium  f. Kunstwissenschaft.  XVII.S.310. 

40* 


MABUSE.  ADAM  UND  EVA 


304 


NEUERE  ERWERBUNGEN  VLAMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


Gestus  mit  der  Rechten,  die  auf  den  Harnisch  zu 
seinen  Füßen  deutet,  daß  er  zu  fürchten  ist.  Im 
Hintergründe  auf  dem  wogenden  Meere  erblickt  man 
den  Reichtum  der  Republik,  ihre  Schiffe. 

Das  Kolorit  ist,  wenn  man  mir  den  Ausdruck 
gestattet,  von  einem  prachtvollen  Ernste.  Mit  wenigen 
Farben  ist  dieser  Eindruck  erzielt.  Ein  bläuliches 
Schwarz  beherrscht  das  ganze  Bild;  es  ist  über  das 
Gesicht  und  die  Hände  hingehaucht  und  tangiert  auch 
die  niederhängende  rote  Draperie.  Das  Bild,  welches 
eine  der  hervorragendsten  Erscheinungen  auf  der  Ant- 
werpener  Ausstellung  war,  wurde  im  Jahre  iSgg, 
wenn  ich  recht  unterrichtet  bin,  für  40000  Francs  Rir 
die  Galerie  erworben. 


Von  den  übrigen  Werken  ist  in  erster  Linie  die  dem 
Jan  Gossart  oder  Mabiise  zugeschriebene  lebensgroße 
Darstellung  von  Adam  und  Eva  hervorzuheben  (Nr.  1  gß). 
In  Vertraulicherstellung,  einander  zärtlich  umschlingend, 
steht  das  erste  Menschenpaar  vor  unseren  Augen. 
Der  Künstler  hat  sich  hier  die  Aufgabe  gestellt,  den 
menschlichen  Körper  in  freier  ungezwungener  Be¬ 
wegung  darzustellen').  Die  Absicht  ist  deutlich  genug, 
wenn  auch  nicht  erreicht.  Aller  Anstrengungen  zum 
Trotze  erscheint  die  Haltung  der  Körper  gequält  und 
gezwungen;  ja  ich  fürchte,  daß,  wenn  die  Gestalten 
sich  nicht  gegenseitig  stützten,  sie  nicht  imstande 
wären,  sicli  aufrecht  zu  erhalten.  Andererseits  sind  es 
gut  modellierte  Akte  und  man  erkennt,  daß  der 
Maler  nicht  allein  die  männliche,  sondern  auch  die 
weibliche  Figur  nach  dem  lebenden  Modell  studiert 
hat.  Adam  zeigt  plumpe  und  vulgäre,  Eva,  wenn 
auch  nicht  schöne,  so  doch  gefällige  Züge.  Das 
Kolorit  ist  warm  und  tief;  das  Nackte  von  goldigem 
Gelb,  die  ernste  Landschaft  goldbraun.  Im  Mittel¬ 
gründe  erhebt  sich  eine  mit  Skulpturen  reich¬ 
geschmückte  gotische  Fontäne.  Die  Gestalt  Evas  ist 
gewiß  eines  der  ersten  Beispiele  des  Studiums  nach 
dem  lebenden  nackten  weiblichen  Modell  in  nordischen 
Ländern.  Es  liegt  nahe,  die  beiden  nackten  Gestalten 
mit  den  bekannten  Gemälden  desselben  Gegenstandes 
von  seinem  deutschen  Zeitgenossen  Cranach  dem  älteren 
zu  vergleichen.  Wir  sehen  dann  bei  dem  mit  ita¬ 
lienischer  Kunst  vertrauten  Vlamländer  ein  weit  tieferes 
Verständnis  der  menschlichen  Körperformen.  Wir 
stehen  hier  einem  strebenden  Geiste  gegenüber,  der 
große  Vorbilder  vor  Augen  gehabt  hat  und  ehrlich 
kämpft.  Hier  ist  gewiß  viel  mehr  gewollt. 

Bei  Cranach  begegnet  uns  dagegen  eine  viel 
größere  Naivität.  Das  Problem  des  Nackten  hat  ihn 
nicht  tief  ergriffen;  was  er  aber  von  dem  nackten 
Körper  weiß,  stellt  er  uns  ungezwungen  vor  Augen. 
Er  hat  weniger  erstrebt,  doch  mehr  erreicht. 

Die  Zuschreibung  an  Mabuse  scheint  mir  haltbar. 
Eine  ähnliche  Fontäne  kommt  im  Gemälde  der  Prager 
Galerie  vor.  Hymans  denkt  an  Mabuse  oder  —  Massys. 
Im  Hampton  Court  habe  ich  eine  Wiederholung  des 


1 )  Andere  Kenner  halten  dies  Bild  nur  für  eine  schwache 
Kopie  des  Originals  in  Hampton  Court.  D.  Red. 


Bildes,  auch  mit  der  Fontäne,  in  der  Berliner  Galerie 
eine  Schulwiederholung  gesehen;  daselbst  noch  eine 
andere  Darstellung  desselben  Gegenstandes  von  diesem 
Meister. 

Dem  Joachim  Patenier  ist  eine  neue  Erwerbung 
»St.  Hieronymus  vor  dem  Kruzifix  sich  kasteiend« 
irrtümlich  zugeschrieben  (Nr.  348).  ln  der  Wüste, 
wohin  der  Heilige  sich  zurückgezogen  hat,  geht  es 
recht  lebhaft  zu.  Im  Mittelgründe  zieht  eine  Kara- 
vane  vorbei  mit  Pferden  und  Kamelen;  im  Hinter¬ 
gründe  erhebt  sich  an  einem  Flusse,  der  sich  lief  in 
die  Landschaft  hineinwindet,  eine  ansehnliche  Stadt. 
Das  interessante  Bild  ist  nicht  von  Patenier,  sondern 
von  einem  Meister  aus  der  früheren  Generation.  Nur 
Linienperspektive  ist  beobachtet.  Alles  ist  hier  gleich 
scharf  und  gleich  deutlich,  während  Patenier  es  ver¬ 
stand,  die  ferneren  Pläne  in  Duft  und  Nebel  einzu¬ 
hüllen,  wodurch  er  ein  Innovator  der  Landschaft 
wurde. 

Echt  ist  dagegen  die  kleine,  ebenfalls  neu  er¬ 
worbene  »Ruhe  auf  der  Flucht  nach  Ägypten«  (Nr. 
350).  Patenier  hat  diesen  Gegenstand  häufig  variiert. 
Die  Galerie  besitzt  noch  ein  anderes  größeres  Exem¬ 
plar.  Der  aus  Stroh  fein  geflochtene  Reisekorb 
Marias  neben  dem  doppelten  Reisesack  und  dem 
Knüttelstabe  Josephs  kommt  fast  immer  in  diesen 
Bildern  vor. 

Von  Hendrick  de  Bles  ist  eine  »Predigt  Johannes 
des  Tänfers'  erworben  (Nr.  40).  Die  Landschaft  zeigt 
durchbrochene  Felsenpartien ,  wie  häufig  bei  dem 
Meister.  Den  drei  Farbenplänen,  die  noch  recht  deut¬ 
lich  hervortreten,  hat  er  einen  vierten  hinzugefügt, 
in  dem  die  fernen  Berge  des  Hintergrundes  in  zarten 
weißlichen,  kaum  von  einem  Schimmer  von  Blau  an¬ 
gehauchten  Nebel  eingehüllt  sind,  ln  einer  Felsen¬ 
höhle  glaube  ich  das  Käuzchen  zu  erkennen. 

»Der  verlorene  Sohn«  von  J.  Beiickelaer  kann  nur 
uneigentlich  ein  religiöses  Bild  genannt  werden  (Nr.  34). 
Der  Maler  hat  nur  die  Legende  als  Motiv  für  ein 
drastisches  Sittenbild  benutzt.  An  einem  gedeckten 
Tische  sitzend,  worauf  Früchte  und  Wein  in  reicher 
Fülle,  macht  der  junge  Verschwender  einer  Dirne 
den  Hof;  eine  Magd  macht  das  Bett  zurecht.  Das 
Bild  ist  in  einem  kühlen  bläulichen  Ton  gemalt.  Die 
Karnation  ist  rötlich;  das  Figürliche  hebt  sich  scharf 
von  dem  fast  schwarzen  Hintergründe  ab.  In  der 
Auffassung  steht  er  P.  Aertsen,  der  ihm  aber  im 
Kolorit  und  Ausdruck  überlegen  ist,  ganz  nahe.  Sehr 
steht  er  auch  hinter  dem  temperamentvollen  und 
kräftigen  Hemessen,  der  in  dieselbe  Künstlergruppe 
gehört,  zurück.  Von  demselben  Gegenstände  gibt 
dieser  in  Nr.  217  unserer  Galerie  ein  ungleich  macht¬ 
volleres  Bild.  Alles  ist  hier  wirklich  Leben  geworden 
und  heißer  Liebesdrang,  wenn  auch  von  der  gemein¬ 
sten  Art.  Mit  welchem  Feuer  blickt  nicht  der  Jüng¬ 
ling  die  Dirne  an,  während  er  sie  inbrünstig  umfaßt. 
Die  Leidenschaftlichkeit  seines  Ausdrucks  ist  selten 
übertroffen  worden.  Dies  Bild  ist  im  figürlichen 
Teile  warm  und  tief  im  Ton.  Erst  der  landschaft¬ 
liche  Hintergrund  zeigt  die  vlämische  Kühle.  Selbst 


A.  VAN  DYCK.  GIOVANNI  VINCENZIO  IMPERIALE 
(BRÜSSELER  MUSEUM) 


3o6  neuere  ERWERBUNGEN  VLÄMISCHER  KUNST  IN  DER  GALERIE  ZU  BRÜSSEL 


die  rußigen  Schatten  im  Fleisch,  die  sonst  nicht  zu 
loben  sind,  machen  hier  den  Eindruck  von  Feuer  und 
brutaler  Lebensfülle,  ln  diese  Gruppe  gehört  auch 
der  Braunschweiger  Monogrammist,  welcher  neuer¬ 
dings  mit  Hemessen  identifiziert  worden  ist. 

Endlich  ist  noch  ein  Jan  Breiighel  dem  jüngeren 
irrtümlich  zugeschriebenes  Stilleben  zu  erwähnen. 
Sollte  nicht  dies  aus  Töpfen,  Krügen,  zerschnittenen 
Heringen  bestehende,  in  einem  kräftigen  braunen  Ton 
gemalte  Bild  eher  von  Pieter  Breughel  dem  jün¬ 
geren  sein? 

Unter  den  nachrubenschen  Bildern  werde  ich  jetzt 
einige  Künstler  erwähnen,  die  wohl  ihrer  Herkunft 
nach  Vlamen  sind,  in  ihrer  Kunst  jedoch  vielfach 
mit  der  holländischen  Art  und  Weise  verwandt 
scheinen. 

ln  erster  Linie  ist  hier  A.  Brouwer  zu  nennen. 

Der  Flötenspieler«  heißt  das  neue  Bild.  Der  Inhalt 
könnte  nicht  anspruchsloser  sein:  ein  verkommener 
Geselle  hält  einen  Augenblick  mit  seinem  Spiele  inne, 
indem  er  lächelnd  den  Beschauer  anblickt.  Der  un¬ 
bedeutende  Gegenstand  ist  jedoch  von  dem  Meister 
mit  großer  Zartheit  und  Feinheit  ausgeführt;  der 
Farbenauftrag  ist  so  weich,  die  wenigen  zarten  Tinten 
so  fein  gestimmt,  daß  ein  kleines  Meisterwerk  zutage 
gefördert  ist:  der  Gegenstand  von  größter  Vulgarität, 
die  Ausführung  von  höchster  Vornehmheit^). 

Wenn  Brouwer  genannt  wird,  dann  ist  es  natür¬ 
lich,  daß  man  auch  seines  treuen  Genossen  Craesbecck 
gedenkt.  Von  diesem  ist  ein  besonders  ausgezeich¬ 
netes  Bild  in  die  Galerie  gekommen:  »Reunion  de 
rhetoriciens  (Klub  der  Literaten  und  Musikunter¬ 
nehmer  Nr.  121).  Eine  ausgelassene  Gesellschaft  von 
reich  und  bunt  gekleideten  jungen  Leuten,  die  sich 
mit  Musik  und  Trinken  unterhalten.  Wir  sehen  hier 
auf  vlämischem  Boden  diese  eleganten  und  bunten 
Gesellschaftsstücke,  die  Esajas  van  de  Velde  schon 
frühzeitig  auf  holländischem  Boden  geschaffen  hatte. 
Alles  glitzert,  leuchtet  und  blitzt,  schäumet  über  von 


1)  Das  Bild  wurde  im  Jahre  iSgg  in  der  Versteigerung 
Roussel  erworben. 


Jugend  und  Lebenslust.  Die  Farben  scheinen  aus 
dem  dunklen  Hintergründe  von  dichtem  Wald  hervor-- 
zujubeln!  Das  Bild  ist  auf  das  unmittelbar  Glänzende 
und  Packende  angelegt,  dabei  sind  die  Schatten  tief 
schwarz,  doch  weder  stumpf  noch  undurchsichtig. 
Glanz,  Taumel  und  Leben!  Es  ist  dieselbe  Tendenz, 
die  uns  in  Hals’  glänzenden  Werken  begegnet.  Rechts 
der  Blick  auf  eine  leicht  hingetuschte  Landschaft, 
Brouwer  sehr  nahestehend.  Die  Pinselführung  ist 
breit  und  küim  bis  zum  Exzeß.  Alles  ist  mühelos 
und  mit  größter  Treffsicherheit  geschaffen;  die  Farben 
fein  nuanciert  und  mannigfaltig  gebrochen.  Tausend 
Töne  treten  hervor,  verschmelzen  sich  aber  für  das 
Auge  zu  einer  hinreißenden  silbertönigen  Harmonie. 

Von  Q.  van  Tilborch  ist  eine  Serie  farbenfroher 
Bilder,  die  fünf  Sinne  darstellend,  in  die  Galerie  ge¬ 
kommen  (Nr.  471).  Tilborch  ist  ein  Nachfolger  Teniers, 
aber  sein  Malerblut  ist  schwerflüssiger,  seine  Typen 
haben  nicht  die  Vitalität  und  gehen  nicht  wie  die 
jenes  Meisters  mit  Leib  und  Seele  in  die  Situation 
auf;  er  befindet  sich  schon  auf  dem  halben  Wege  zu 
Ryckaerts  vollständiger  Philisterei.  Vortrefflich  ist  er 
in  seinen  Familieninterieurs,  wo  man  einen  inter¬ 
essanten  Einblick  in  die  Wohnung  der  reichen  Stände 
erhält,  wo  auch  die  in  der  Regel  sehr  zahlreiche 
Familie  mit  größter  Natürlichkeit,  Treffsicherheit  und 
Anmut  dargestellt  ist.  Von  dieser  Art  Bilder  ist 
wohl  das  bedeutendste  das  in  der  Haager  Galerie; 
diesem  sehr  nahe  kommend  ist  das  in  der  Galerie  zu 
Rotterdam,  sowie  dasjenige  in  unserer  Galerie  Nr.  470. 

Hiermit  habe  ich  noch  nicht  die  reiche  Fülle  von 
Neuerwerbungen  vlämischer  Kunst  in  der  Brüsseler 
Galerie  erschöpft. 

Ein  besonders  interessantes,  das  Triptychon  von 
dem  Meister  von  d’Oultremont,  habe  ich  vor  längerer 
Zeit  in  der  Kunstchronik  erwähnt. 

Aber  auch  von  dem  feinen  Porträtmaler  Gonzales 
Coques,  von  de  Crayer,  von  dem  Tiermaler  Paul 
de  Vos,  von  Th.  van  Loon,  von  A.  Lens,  von 
P.  von  Lint  und  von  den  Stillebenmalern  A.  von 
Utrecht,  A.  Coosemans  und  J.  P.  Gilemanns  sind 
bemerkenswerte  Bilder  in  die  Galerie  gekommen. 


DIE  NEUE  GRUNEWALD-MONOGRAPHIE 


Die  Grünewald-Oemeinde  ist  im  Wachsen.  Und  das 
nicht  nur  in  Deutschland.  Es  ist  zwar  immer  noch  so, 
daß  der  unbefangene  Beschauer  zunächst  ein  starkes  Mi߬ 
behagen  empfindet,  und  daß  im  besonderen  jeder,  der  von 
der  Betrachtung  italienischer  Kunstwerke  herkommt,  sich 
mit  Schaudern  von  Grünewalds  Passionsbildern  abwendet 
—  aber  vergessen  kann  sie  keiner,  der  sie  einmal  gesehen. 
Und  dann  die  Farben!  Diese  geradezu  Böcklinschen  Farben! 
Wo  hat  er  sie  her?  Wo  sind  die  Jugendwerke,  die  uns 
das  Werden  dieses  großen  Koloristen  begreifen  lassen? 
Wie  stand  er  zu  Dürer,  wie  zu  den  anderen  Malern  seiner 
Tage? 

Zumal  die  Frage  nach  Grünewalds  Jugendwerken  ist 
neuerdings  eine  brennende  geworden;  wiederholt  und  fast 
mit  Ungeduld  aufgeworfen,  hat  sie  trotz  heißen  Bemühens 
eine  wirklich  befriedigende  Beantwortung  bis  heute  nicht 
erfahren.  Bei  dieser  Sachlage  ist  es  nun  entschieden  zu 
begrüßen,  daß  Franz  Bock  in  einer  umfangreichen  Studie  b 
die  gesamte  bisherige,  zum  Teil  recht  verzettelte  Forschung 
über  Grünewald  zusammenstellt  und  zum  erstenmal  das 
Wagnis  unternimmt,  Grünewalds  Entwickelungsgang  ein¬ 
gehend  zu  zeichnen. 

Das  Material  für  seine  Studie  hat  Bock  mit  erschöpfen¬ 
der  Vollständigkeit  gesammelt  und  alles  berücksichtigt,  was 
irgend  für  seines  Meisters  Beurteilung  in  Betracht  kommt. 
Entgangen  ist  ihm,  soweit  ich  sehe,  nur  die  Handzeichnung, 
die  Herr  Professor  Ehlers  in  Göttingen  besitzt^).  Und  er 
hat  auch  fast  alle  Werke  Grünewalds,  die  sicheren  und  die 
vermeintlichen,  mit  eigenen  Augen  geschaut,  und  diese 
Autopsie  ist  bei  einem  Maler  von  so  ausgesprochen  kolo¬ 
ristischer  Richtung  natürlich  besonders  viel  wert.  Wenn 
Bock  nun  freilich  (S.  3)  von  der  Kritik  eine  ebensolche 
Kenntnis  der  Originale  erwartet,  so  macht  er  eine  Beur¬ 
teilung  seiner  Arbeit  fast  jedermann  unmöglich.  Ich 
wenigstens  kann  mich  solcher  Autopsie  nur  in  beschränktem 
Umfang  rühmen. 

Dies  Hauptbestreben  der  Grünewald-Forschung  geht 
heute,  wie  schon  bemerkt,  dahin,  Jugendwerke  des  Meisters 
aufzufinden,  Werke,  die  vor  dem  Isenheimer  Altar  ge¬ 
schaffen  wurden.  Das  Bedürfnis,  solche  Frühwerke  nach¬ 
zuweisen,  muß  um  so  größer  sein,  je  früher  man  die  Ge¬ 
burt  des  Meisters  ansetzt,  und  ich  möchte  für  recht  früh, 
für  das  Jahr  1460  etwa,  plädieren  (s.  unten).  In  sorg¬ 
fältigen  Studien  sind  vor  allem  H.  A.  Schmid  und  erheblich 
kühner  Franz  Rieffel,  desgleichen  Kautzsch  und  Thode 
diesem  Problem  nachgegangen.  Wie  stellt  sich  Bock  zu 
ihnen? 

Ausgestattet  mit  dem  frischen  Wagemut  der  Jugend 
hat  Bock  keine  Freude  am  Verneinen.  Er  will  weiter 
kommen;  er  hat  mit  einer  Ausnahme^)  sämtliche  Attri¬ 
butionen  seiner  Vorgänger  sich  zu  eigen  gemacht,  und 
zwar  mit  einer  gewissen  Emphase.  Wiederholt  bringt  er 
es  über  sich,  was  jene  früheren  Forscher  mit  allem  Vor¬ 
behalt  als  Möglichkeit  ausgesprochen  haben,  für  sicher 
und  ausgemacht  hinzustellen,  ohne  daß  in  den  meisten 
dieser  Fälle  die  Zahl  oder  Kraft  seiner  Argumente  eine 


1)  Franz  Bock,  Die  Werke  des  Mathias  Grünewald. 
Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte.  Heft  54.  Stra߬ 
burg,  bei  Heitz,  1Q04.  178  S.,  31  Lichtdrucktafeln.  12  M. 

2)  Abgebildet  in  den  Handzeichnungen  der  Albertina 
Nr.  965  und  in  meinem  Aufsatz  über  Grünewald  in  der 
Zeitschrift  für  Kunstgewerbe  in  Elsaß-Lothringen  1 904,  S.  1 52. 

3)  Wenn  ich  nicht  irre,  verhält  er  sich  nur  gegen  die 
Attribution  Thodes,  der  die  Mainzer  Anbetung  dem  Grüne¬ 
wald  gibt,  entschieden  ur.  1  wohl  mit  Recht  ablehnend. 


andere,  größere  geworden  wäre.  Einige  Beispiele  mögen 
das  zeigen. 

Franz  RieffeU)  hatte  früher  und  hat,  wie  er  mir 
schreibt,  noch  heute  vor  den  besten  Tafeln  des  Darm¬ 
städter  Dominikusaltars  den  Eindruck,  daß  hier  des  jungen 
Grünewald  Mitwirkung  angenommen  werden  dürfe.  Es 
hat  ihn  ferner  »bedünken  wollen,  als  ob  man  diesen  Do¬ 
minikusaltar  mit  dem  sogenannten  Meister  der  Bergmann- 
schen  Offizin  in  Basel,  oder  doch  wenigstens  mit  seiner 
Werkstatt,  in  Verbindung  bringen  dürfe«.  Er  äußerte  bei 
diesem  Anlaß  die  Vermutung,  daß  die  Kunst  dieses  Berg- 
mannschen  Illustrators  nicht  auf  Baseler,  sondern  auf  Stra߬ 
burger  Boden  wurzeln  dürfe.  Er  trägt  dieses  alles  mit 
allen  Kautelen  vor:  ganz  anders  Bock.  Bei  ihm  lesen  wir 
Seite  17  gesperrt  gedruckt:  »Diesen  (Straßburger)  Stil 
des  Holzschnittes  brachte  Grünewald  nach  Basel.«  Das 
klingt  in  der  Tat  sehr  schneidig.  Aber  ob  ein  solches 
Zutrauen  zu  den  Ergebnissen  der  bloßen  Stilvergleichung 
und  Stilkritik  berechtigt  ist,  möchte  ich  meinerseits  ent¬ 
schieden  in  Frage  stellen. 

Rieffel  hatte  die  sieben  Schmerzen  Mariä  der  Dres¬ 
dener  Galerie  in  seinen  mehrerwähnten  Studien^)  dem 
jungen  Grünewald  zugeteilt;  er  hatte  dann  aber  Gelegen¬ 
heit  genommen'^),  »feierlich  vor  versammeltem  Kriegsvolk 
Thodes  Zuweisung  der  sieben  Schmerzen  an  Dürer  offen 
zuzustimmen«.  Bock  dagegen,  päpstlicher  als  der  Papst, 
hält  auch  an  dieser  Attribution  mit  aller  Entschiedenheit 
fest  und  zieht  daraus  weitgehende  Konsequenzen. 

In  den  Studien  von  Schmid  und  Rieffel  sieht  man 
immer  klar  den  Weg,  der  von  den  sicheren  Werken  zu  den 
mutmaßlichen  leitet:  bei  Bock  ist  dieser  Weg  meist  ver¬ 
weht  und  verschleiert.  Ganz  besonders  auch  dadurch,  daß 
er  die  gewagtesten  Attributionen  mit  den  sicheren  Werken 
auf  eine  Linie  stellt  und  alle  zusammen  in  einer  chrono¬ 
logischen  Reihe  anordnet.  Als  schüchterner  Versuch,  als 
Vorschlag  ist  ja  gegen  solches  Verfahren  gewiß  nichts  ein¬ 
zuwenden;  aber  die  apodiktische  Gewißheit,  mit  der  bei 
Bock  der  Entwickelungsgang  des  Meisters  chronologisch 
aufgebaut  wird,  muß  auf  viele  Leser  im  höchsten  Grade 
verwirrend  wirken. 

Kann  ich  somit  die  zuversichtliche  Methode  Bocks 
nicht  für  glücklich  erachten,  so  vermag  ich  auch  im  ein¬ 
zelnen  den  neuen,  von  ihm  zuerst  vorgeschlagenen  Attri¬ 
butionen,  soweit  ich  die  betreffenden  Werke  kenne,  nicht 
beizustimmen.  Die  zwei  Tafeln  des  Straßburger  Museums, 
dort  mit  bestem  Recht  als  »Schule  Schongauers«  bezeichnet, 
scheinen  mir  von  den  charakteristischen  Eigenheiten  Grüne¬ 
walds,  dem  Bock  sie  zuweist,  nichts  zu  enthalten,  auch 
nicht  in  keimhaften  Anfängen.  Die  vier  Freuden  Mariä 
in  Erlangen  lassen  sich  nicht  mehr  für  Grünewald  in  An¬ 
spruch  nehmen,  wenn  man  sich  mit  Rieffel  davon  über¬ 
zeugt  hat,  daß  die  sieben  Schmerzen  in  Dresden  dürerisch 
sind.  Das  Liebespaar  in  Gotha  gehört  meines  Erachtens 
dem  Meister  des  Hausbuches  und  nicht  dem  Grünewald^). 
Die  Skulpturen  des  Isenheimer  Altars,  und  zwar  die 
archaischen  Halbfiguren  der  Predella  ebenso  wie  die  drei 
lebensgroßen,  will  Bock  unserem  Maler  zuweisen,  den  er 
damit  auch  noch  zum  genialsten  deutschen  Bildschnitzer 
seines  Jahrhunderts  stempelt!  Wir  tragen  so  schon  schwer 
an  der  phänomenalen  Größe  Grünewalds;  aber  ehe  wir 


1)  Zeitschrift  für  christliche  Kunst  1897,  S.  103. 

2)  Ebenda  S.  33  ff. 

3)  Vgl.  diese  Zeitschrift  1902,  S.  208. 

4)  Vgl.  die  von  Lehrs  im  Jahrbuch  1S99,  S.  176  publi¬ 
zierte  Handzeichnung  des  Hausbuchmeisters. 


3o8 


DIE  NEUE  GRÜNEWALD-MONOQRAPHIE 


uns  dazu  verstehen,  ihn  für  einen  zweiten  Michelangelo 
anzusehen,  müssen  doch  andere,  zwingendere  Argumente 
vorliegen,  als  Bock  sie  für  seine  kühne  These  beibringt. 
Die  Chroniken,  welche  nur  einen  Meister  für  den  ganzen 
Altar,  Bilder  und  Schnitzwerk,  kennen,  machen  als  solchen 
den  Albrecht  Dürer  namhaft  und  beweisen  damit  deutlich, 
daß  sie  nichts  wissen.  Die  Formen  der  Gotik,  auf  die  sich 
Bock  außerdem  beruft,  scheinen  mir  auf  den  Gemälden  viel 
barockere,  phantastischere  als  an  den  Skulpturen.  Was 
Bock  als  das  nächstliegende  bezeichnet,  daß  bei  solchen 
Altären  die  Maler-  und  Bildschnitzerarbeit  womöglich  einer 
und  derselben  Hand  anvertraut  wurde,  das  dürfte  in  praxi 
recht  selten  vorgekommen  sein.  Mir  ist  im  Augenblick  als 
Beispiel  eines  deutschen  Meisters  von  so  gleictmiäßiger 
Beherrschung  der  Bildschnitzerei  und  Malerei  aus  der  frag¬ 
lichen  Zeit  nur  Michael  Pacher  bekannt.  Ich  lehne  also 
den  Bildschnitzer«  Grünewald  mit  Entschiedenheit  ab. 
Wir  haben  aus  dem  15.  und  16.  Jahrhundert  so  viele  erst¬ 
klassige  Anonymi,  daß  wir  uns  nicht  zu  wundern  brauchen, 
wenn  auch  der  Meister  der  drei  Isenheimer  Vollfiguren  ein 
großer  Unbekannter  bleibt.  Daß  ich  auch  bei  den  Holz¬ 
büsten  von  St.  Marx  in  Straßbnrg  die  von  Bock  beantragte 
Autorschaft  Grünewalds  rundweg  ablehne,  versteht  sich 
danach  von  selbst. 

Zürn  Schluß  möchte  ich  noch  zu  einigen  Einzel- 
bemerkiingen  Bocks  Steilung  nehmen.  Wie  groß  unsere 
Unwissenheit  über  den  genialen  Aschaffenburger  Meister 
ist,  erhellt  unter  anderem  daraus,  daß  über  sein  Geburts¬ 
jahr  keinerlei  Einigkeit  besteht.  Nach  dem  betagten  Aus¬ 
sehen  auf  späteren  Selbstporträts,«  sagt  Bock  Seite  88, 
»dürfen  wir  dafür  bis  vor  1470  zuriiekgehen.«  Dem 
möchte  ich  entschieden  beipflichten.  Auf  dem  Freiburger 
Bild  der  Gründung  von  Maria  Maggiore,  das  aller  Wahr¬ 
scheinlichkeit  nach  anno  1519  vollendet  wurde,  trägt  der 
Patrizier  Johannes  nach  allgemeiner  Ansicht  des  Meisters 
eigene  Züge.  Dieser  Patrizier  sieht  nun  aber  mindestens 
wie  ein  Sechziger  aus.  Ein  Grund,  die  eigenen  Züge  ins 
Greisenhafte  zu  steigern,  lag  für  den  Maler  hier  nicht  vor. 
Auf  Murillos  berühmter  Darstellung  desselben  Vorganges 
erscheint  der  Patrizier  Johannes  als  ein  Mann  in  den 
besten  Jahren.  Somit  wird  also  Grünewald  im  Jahre  1519 
etwa  ein  Sechziger  gewesen  sein,  seine  Geburt  also  ver¬ 
mutlich  ins  Jahr  1460  fallen.  Mir  ist  das  besonders  auch 
darum  ein  ansprechendes  Ergebnis,  weil  ich  mir,  im 
Gegensatz  zu  RieffeU),  den  Meister  des  Isenheimer  Altars 
nicht  als  gärenden,  erst  werdenden  Malerjüngling,  son¬ 
dern  nur  als  einen  Mann  in  gereiften  Jahren  vorstellen 
kann.  Die  viel  ventilierte  Frage  nach  Grünewalds  Schüler¬ 
verhältnis  zu  Dürer  erledigt  sich  bei  so  frühem  Geburts¬ 
ansatz  höchst  einfach:  wenn  Dürer  zehn  Jahre  jünger  war 
als  Grünewald,  dann  hat  letzterer  ja  kaum  sein  Lehrling  sein 
können.  Auch  daran  möchte  ich  festhalten,  was  ich  vor 
zwei  Jahren  vorgeschlagen  habe^),  daß  der  Paulus  Eremita 
des  Isenheimer  Alters  gleichfalls  des  Malers  Züge  trägt, 
diesmal  freilich  ins  Greisenhafte  gesteigert,  wie  es  die 
Darstellung  des  mehr  als  hundertjährigen  Einsiedlers  for¬ 
derte.  Die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  hl.  Sebastian  des¬ 
selben  Altars  und  dem  Jugendbildnis  Grünewalds  bei 
Sandrart^)  scheint  mir  dagegen  nicht  evident,  ganz  abge¬ 
sehen  davon,  daß  Sandrarts  Kupferstiche  auf  Porträttreue 
keine  allzu  großen  Ansprüche  erheben  dürfen. 

Sehr  einverstanden  bin  ich  mit  Bock,  wenn  er  sich 


1)  Vergleiche  diese  Zeitschrift  1897,  S.  108. 

2)  Ebenda  1903,  S.  284. 

3)  Sandrart,  Teutsche  Akademie,  II.  Teil,  3.  Buch, 
Taf.  CG. 


dagegen  verwahrt,  daß  man  Baidungs  malerische  Begabung 
gemeiniglich  zu  hoch  einschätze.  Wenn  man  von  Dürer 
kommt,  ist  Baidung  ja  zweifellos  der  größere  Kolorist. 
Aber  wenn  man  ihn  neben  Grünewald  stellt,  erbleichen 
seine  Farben.  Er  ist  übrigens  nicht,  wie  bei  Bock  Seite  147 
steht,  in  Weyerstein,  sondern  in  Weyersheim  im  Elsaß 
geboren. 

Mit  sehr  schönen  Worten  würdigt  Bock  Seite  71  f.  das 
Gothaer  Liebespaar’).  Aber  den  Text  der  Spruchbänder, 
den  er  so  sinnig  findet,  hat  er  schwerlich  richtig  inter¬ 
pretiert.  Das  »Schnürlein« ,  das  die  Braut  dem  Liebsten 
gemacht  hat,  muß  die  Blumenschnur  sein,  die  er  in  den 
Locken  trägt.  Eine  Primel  hält  sie  von  dieser  Arbeit  her 
ja  noch  in  der  Linken.  Die  Worte  des  Bräutigams  aber: 
>Un  byllich  het  sye  ess  gedan,  want  ich  hau  ess  sye  ge- 
nisse  lan  können  sich  nur  auf  die  köstlich  gefaßte  Hut¬ 
feder  beziehen,  die  er  der  Braut  darreicht  und  die  sie  be¬ 
wundernd  entgegennimmt.  Die  Worte:  »ich  han  ess  sye 
genisse  lan«  wollen  nur  besagen,  ich  habe  sie  Vorteil  davon 
haben  lassen,  indem  ich  für  ihre  Gabe,  den  schlichten 
Kranz,  die  kostbare  Hutzier  ihr  verehrte;  Daß  der  frag¬ 
liche  Gegenstand  in  ihrer  Rechten  wirklich  eine  solche 
Hutzier  ist,  scheint  mir  der  Vergleich  mit  der  von  Lehrs 
im  Jahrbuch  1899  Seite  176  publizierten  Handzeichnung 
zu  ergeben. 

Die  Sprache,  in  der  Bock  den  Ruhm  seines  Grüne¬ 
wald  verkündet,  ist  eine  gewählte,  gehobene.  Die  Analysen 
der  besprochenen  Bilder  sind  stets  fesselnd  und  bieten 
meist  auch  neue,  wertvolle  Gesichtspunkte.  Stellenweise 
erscheint  mir  freilich  der  Ausdruck  zu  gehoben,  zu  gesucht 
rhetorisch.  Aber  das  ist  ein  Zug,  der  überhaupt  der 
Sprache  unserer  jüngeren  Gelehrten  vielfach  eigen  ist. 
Wir  geben  uns  jetzt  sehr  viel  Mühe,  die  steife  Langeweile 
des  früheren  Gelehrtendeutsch  um  jeden  Preis  abzustreifen 
und  verfallen  dabei  leicht  in  den  entgegengesetzten  Fehler 
zu  großer  Lebendigkeit  und  gestelzter,  gesuchter  Ausdrucks¬ 
weise.  Schäufelein  ist  gewiß  kein  Grünewald;  aber  daß 
er  mm  gleich  »ein  seichter  Laffe«  sein  muß,  berührt  mich 
unsympathisch.  Desgleichen  wenn  eine  abweichende,  gar 
nicht  der  Begründung  entbehrende  Ansicht  auf  Seite  118 
»als  einfältige  Behauptung«  abgetan  wird.  Reichlich  prä¬ 
tentiös  will  es  mich  bedünken,  wenn  die  schlichte  Berliner 
Handzeichnung  Grünewalds  vom  Jahre  1512  folgender¬ 
maßen  analysiert  wird:  »Bei  Maria  werden  die  großen 
Flächen  des  Mantels  noch  von  kleinerem  Gekräusel  unter¬ 
brochen,  letztem  fernen  Donnern  der  abziehenden  Gotik; 
beim  Engel  fällt  und  wallt  es  schon  breit  und  mächtig, 
volle  Akkorde,  großes  Orchester  mit  Orgel«  (S.  80). 

In  Summa:  aus  Bocks  Buch  wird  der  Kenner  viel 
Anregung  schöpfen,  wenn  es  ihn  auch,  oder  eben  weil  es 
ihn  an  allen  Ecken  zum  Widerspruch  reizen  dürfte.  Dem 
Laien  aber  darf  das  Buch  nicht  ohne  eindringliche  Mah¬ 
nung  zur  Vorsicht  in  die  Hand  gegeben  werden.  Gewiß 
ist  es  lehrreich  und  förderlich,  alle  mit  Grünewald  wesens¬ 
verwandten  gleichzeitigen  Gemälde  vergleichend  zusammen¬ 
zustellen,  wie  dies  vor  allem  Rieffel  vortrefflich  getan  hat. 
Aber  aus  jeder  leisen  Möglichkeit  des  Zusammenhanges 
gleich  eine  unumstößliche  Gewißheit  zu  machen,  das  för¬ 
dert  die  Erkenntnis  nicht,  das  muß  verwirren.  Im  Gegen¬ 
satz  zu  Bock,  dem  es  zuwider  ist,  daß  die  Grünewald¬ 
forscher  immer  nur  um  den  Isenheimer  Altar  kreisen  (S.  3), 
muß  ich  mich  also  entschieden  zu  Rieffels  Überzeugung 
bekennen,  daß  »am  erfolgreichsten,  weil  am  vorsichtigsten, 
bisher  H.  A.  Schmid  über  die  Entwickelungsgeschichte 
Grünewalds  gearbeitet  hat«.  pritz  bavmoartf.n. 

1)  Abgebildet  in  dieser  Zeitschrift,  Jahrg.  1897,  S.  16. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  ERNST  IlEnRicn  Nachf.,  g.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  N.  F.  XVI.  1905 


C.  D.  FRIEDRICH.  DER  KÜNSTLER  IN  SEINEM  ATELIER 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER 
LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 

Von  Walther  Gensel 


SEIT  dem  außerordentlichen  Erfolge,  den  die 
Jahrhundertausslellung  der  französischen  Kunst 
1889  davontrug,  ist  der  Wert  derartiger  Ver¬ 
anstaltungen  nicht  nur  für  die  Kenner  und  Liebhaber, 
sondern  auch  für  die  schaffenden  Künstler  immer 
mehr  erkannt  worden.  Auf  die  Epoche  der  Nach¬ 
ahmung  alter  Meister  war  eine  Zeit  gefolgt,  wo  die 
jungen  Künstler  am  liebsten  alle  Überlieferungen  über 
Bord  geworfen  hätten.  Dann  aber  sah  man  ein,  wie 
töricht  es  war,  die  Entwickelung  gewissermaßen  von 
vorn  anfangen  zu  wollen,  und  daß  sich  aus  dem 
liebevollen  Studium  der  Art,  wie  andere  der  Natur 
zu  Leibe  gegangen  waren  und  sie  zu  Kunstwerken 
umgeformt  hatten,  unschätzbare  Anregungen  ziehen 
ließen.  Solchen  Erwägungen  verdankt  auch  die  jetzige 
Ausstellung  von  Werken  deutscher  Landschafter  des 
ig.  Jahrhunderts  ihre  Entstehung.  Daneben  aber  galt 
es  eine  Ehrenschuld  einzulösen.  Nicht  nur  in  der 
gelesensten  modernen  Kunstgeschichte  unserer  Zeit 
und  in  radikalen  Künstlerkreisen,  sondern  auch  von 
Männern,  von  denen  man  ein  weitsichtigeres  Urteil 
erwarten  durfte,  sind  viele  unserer  besten  Meister  mit 
Gleichgültigkeit,  ja  beinahe  mit  Geringschätzung  be- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  12 


handelt  worden.  So  konnte  es  kommen,  daß  selbst 
der  hundertste  Geburtstag  eines  Friedrich  Preller  in 
Berlin  völlig  sang-  und  klanglos  verlief.  Von  Meistern 
wie  Karl  Friedrich  Lessing  und  Franz  Dreber  wußte 
die  jüngere  Generation  überhaupt  so  gut  wie  nichts 
mehr,  von  Rottmann  nur,  daß  seine  Anschauungsweise 
längst  überwunden  sei,  und  von  Andreas  Achenbach, 
daß  er  alljährlich  so  und  so  viele  Bilder  auf  den 
Markt  bringe,  die  anzuschauen  sich  der  Mühe  nicht 
verlohne.  Hier  einen  Wandel  zu  schaffen,  erschien 
als  eine  ungemein  dankbare  Aufgabe. 

Der  Plan  zu  der  gegenwärtigen  Ausstellung  war 
von  ihrem  Veranstalter,  Friedrich  Kallmorgen,  schon 
vor  zwei  Jahren  gefaßt  worden,  als  die  Große  Kunst¬ 
ausstellung  auch  den  Teil  des  Berliner  Publikums, 
das  den  Cassirerschen  Salon  und  die  Sezession  nicht 
zu  besuchen  pflegt,  mit  einer  größeren  Anzahl  vor¬ 
züglicher  Werke  der  französischen  und  belgischen 
Impressionisten  bekannt  gemacht  hatte.  Er  wurde 
dabei  von  dem  Gedanken  geleitet,  daß  wohl  die  uns 
in  vielem  wesensverwandten  Meister  von  Barbizon, 
nicht  aber  die  eigentlichen  Impressionisten  für  den 
Deutschen  vorbildlich  sein  könnten,  der  in  den  Herr- 


41 


310 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


lichkeiten  der  heimischen  Natur  doch  noch  etwas 
anderes  zu  sehen  gewohnt  ist  als  Farben-  und  Licht¬ 
werte,  daß  aber  vor  allem  der  Deutsche  dem  Deutschen 
näher  stehe  als  der  Ausländer.  Und  wenn  man  sieht, 
zu  welchen  unpersönlichen  Nachahmungen  die  Kunst 
der  Manet  und  Monet  bei  uns  in  den  meisten  Fällen 
geführt  hat,  so  kann  man  ihm  bei  aller  Hochschätzimg 
dieser  französischen  Meister  und  bei  aller  Abneigung 
gegen  sentimentale  Deutschtümelei  nur  beipflichten, 
jedenfalls  aber  sind  Kallmorgen  und  seine  Mitarbeiter, 
unter  denen  sich  der  Landschafter  Hoffmann-Fallers- 
leben  besonders  verdient  gemacht  hat,  gegen  den 
Vorwurf  in  Schutz  zu  nehmen,  als  hätten  sie  mit  der 
für  den  nächsten  Winter  geplanten  großen  Jahrhundert- 
ausstellimg  in  der  Nationalgalerie  in  Wettbewerb  treten 
oder,  wie  man  es  ausgedrückt  hat,  ihr  das  Wasser 
abgraben  wollen.  Eine  von  wenigen  Männern  in 
ein  paar  Monaten  zusammengebrachte  Ausstellung 
kann  nicht  einer  von  langer  Hand  mit  aller  erdenk¬ 
licher  Sorgfalt  unter  Hinzuziehung  eines  gewaltigen 
Kreises  von  Sachverständigen  vorbereiteten,  eine  nur 
ein  umschränktes  Gebiet  berücksichtigende  nicht  einer 
alle  Gebiete  der  deutschen  Kunst  gleichmäßig  um¬ 
fassenden  Abbruch  tun.  Es  ist  sogar  anzunehmen 
und  zu  hoffen,  daß  die  jetzt  im  Rahmen  der  so  zahl¬ 
reich  besuchten  Großen  Berliner  Ausstellung  statt¬ 
findende  Rückschau  für  die  größere  Schwester  einen 
günstigen  Boden  schaffen  wird. 

Unsere  Kenntnis  der  Kunstgeschichte  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  setzte  sich  in  erster  Linie  aus  den  Werken 
zusammen,  die  die  Schlager  auf  den  Ausstellungen 
gebildet  und  deshalb  den  Weg  in  die  öffentlichen 
Sammlungen  gefunden  hatten.  Wie  wenig  aber  die 
Ausstellungen  und  das  Urteil  der  Zeitgenossen  ma߬ 
gebend  sind,  wird  schon  dadurch  bewiesen,  daß,  von 
den  hier  vertretenen,  Preller  freiwillig  überhaupt 
kein  Werk  auf  die  Kunstjahrmärkte  geschickt  hat. 
Schleich  wegen  Talentlosigkeit  von  der  Akademie 
zurückgewiesen  wurde,  Blechen  gleich  nach  seinem 
Tode  in  eine  Vergessenheit  geriet,  die  fast  fünfzig 
Jahre  anhalten  sollte,  und  der  Weimaraner  Buchholz, 
der  fleißig  ausstellte,  zum  Selbstmord  getrieben  wurde, 
weil  er  kein  Bild  verkaufen  konnte.  Galerien  wie 
die  Berliner  und  die  Hamburger  sind  deshalb  seit 
Jahren  bemüht,  die  Lücken  auszufüllen,  um,  statt  einen 
Überblick  über  die  jeweiligen  Kunstmoden  zu  geben, 
die  Männer  zu  Worte  kommen  zu  lassen,  die  wahrhaft 
Neues  und  Bedeutendes  geschaffen  haben.  Sollten 
also  durch  die  jetzige  Ausstellung  unsere  Kenntnisse 
wirklich  bereichert  werden,  so  mußte  es  sich  darum 
handeln,  statt  der  allgemein  bekannten,  verstecktere 
Bilder  zu  gewinnen.  Die  von  der  Münchener  Neuen 
Pinakothek  hergeliehenen  Werke  von  Rottmann,  Lier 
und  anderen  sind  natürlich  mit  dem  allergrößten  Danke 
aufgenommen  worden,  der  Schwerpunkt  der  Aus¬ 
stellung  aber  liegt  in  ihnen  ebensowenig  wie  in 
den  aus  den  Sammlungen  von  Köln,  Düsseldorf, 
Hannover,  Karlsruhe  und  anderen  Städten  stammenden 
Bildern.  An  allererster  Stelle  ist  Seine  Königl.  Hoheit 
der  Großherzog  von  Oldenburg  zu  nennen,  der  in 
der  huldreichsten  Weise  die  herrlichen  Schätze  seines 


Schlosses  und  selbst  seiner  Privatgemächer  hergegeben 
hat.  Aus  dem  Weimarer  Schlosse  stammen  einige 
prächtige  Bilder  von  Preller,  vor  allem  die  schönste 
Fassung  seines  Lieblingsmotivs,  der  Eichen  auf  Rügen. 
Von  den  Privatsammlern  sei  an  dieser  Stelle  wenig¬ 
stens  einer  genannt,  der  jüngst  verstorbene  Ehrenbürger 
der  Stadt  Eisenach,  Julius  von  Eichel -Streiber,  der 
die  seit  Prellers  Tode  wohl  zum  erstenmal  öffentlich 
sichtbar  gemachten  Farbenskizzen  zur  Odyssee  ge¬ 
liehen  hat.  Sehr  bedeutend  ist  natürlich  die  Zahl  der 
Berliner  Sammler.  Endlich  haben  sich  viele  Hinter¬ 
bliebene  oder  Nachkommen  von  Künstlern  an  dem 
Werke  beteiligt. 

Die  Zahl  der  ausgestellten  Gemälde  beträgt  etwa 
zweihundertundvierzig.  Dazu  kommen  eine  Anzahl 
Aquarelle,  Zeichnungen  und  Radierungen,  die  zum 
größten  Teil  von  dem  Direktor  des  Weimarer  Museums, 
Hofrat  Ruland,  zusammengestellt  worden  sind.  Nicht 
jede  Nummer  ist  ein  Meisterwerk.  Manches  Bild 
hätte  man  wohl  lieber  zurückgesandt,  wenn  dies 
möglich  gewesen  wäre,  ohne  den  Besitzer  zu  kränken. 
Anderseits  war  von  einigen  Meistern,  die  man  gerne 
vertreten  gesehen  hätte,  in  der  Kürze  der  Zeit  kein 
genügendes  Werk  aufzutreiben.  Und  endlich  hätte 
man  von  vielen  Künstlern  gern  noch  charakteristischere 
Bilder  gehabt.  So  sähe  man  vom  alten  Reinhart,  der 
schon  vor  Carstens  nach  Rom  gekommen  war,  lieber  ein 
Bild  aus  dem  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  als  eins  aus 
dem  Jahre  1846,  von  Christian  Morgenstern  lieber 
einen  seiner  naiven  Erstlinge  als  sein  letztes  Werk, 
das  obendrein  noch  von  Schleich  vollendet  worden 
ist,  von  dem  jüngst  verstorbenen  Valentin  Ruths  lieber 
einige  Bilder  aus  der  Lüneburger  Heide  als  aus  der 
Campagna,  von  Eugen  Bracht  lieber  ein  frühes  und 
ein  spätes  als  zwei  frühe  Werke.  Aber  solche  nach¬ 
trägliche  Einwendungen  sind  ebenso  billig  wie  unnütz. 
Freuen  wir  uns,  daß  trotz  aller  Schwierigkeiten  eine 
Ausstellung  zustande  gekommen  ist,  die  geeignet  er¬ 
scheint,  das  Verständnis  für  viele  unserer  älteren 
Meister  und  die  Liebe  zu  ihnen  ganz  neu  zu  wecken. 

Um  Schlüsse  zu  ziehen,  dazu  ist  das  gebotene 
Material  allerdings  nicht  reichhaltig  genug  und  ver¬ 
dankt  zu  sehr  dem  Zufall  seine  Vereinigung.  Es  ist 
mehr  dazu  angetan,  Anregungen  zu  weiterem  Studium 
zu  geben.  Deshalb  seien  an  dieser  Stelle,  statt  einer 
zusammenfassenden  Würdigung,  an  der  Hand  des  von 
dem  Verfasser  geschriebenen,  chronologisch  geordneten 
Kataloges  zu  den  als  besonders  wichtig  erscheinenden 
Bildern  einige  ausblickende  und  rückblickende  Be¬ 
merkungen  gegeben. 

Nr.  1.  »/.  C.  Reinhart  Curia  Regnitianus  f.  Romae 
1846  annum  agens  85um.«  So  also  sehen  die 
späten  Bilder  dieses  Mannes  aus,  der  gegen  die  »in 
Deutschland  herrschende  Kunstschreiberei«  seine  ge¬ 
harnischten  Philippiken  losließ.  In  unseren  Tagen 
hätte  er  mit  solchen  Bildern,  die  um  mindestens  ein 
Menschenalter  hinter  seiner  Zeit  zurückgeblieben  sind, 
ganz  andere  Dinge  erleben  können  als  die  ruhigen 
und  maßvollen  Einwendungen  des  Dr.  Schorn.  Die 
Landschaft  ist  viel  flauer  als  bei  Koch,  die  Figuren 
erinnern  an  schwächliche  Werke  aus  dem  Ende 


/ 


J.  J.  BIDERMANN.  PARTENKIRCHEN 


FRIEDR.  EDUARD  MEYERHEIM.  MOTIV  BEI  DANZIG 


C.  D.  FRIEDRICH.  KLOSTERRUINE  ELDENA 


C.  D.  FRIEDRICH.  DER  REGENBOGEN.  MUSEUM  WEIMAR 


CONSTANTIN  SCHMIDT.  LANDSCHAFT  BEI  WEINHEIM 


FRIEDRICH  PRELLER  D.  Ä.  EICHENGRUPPE 
GROSSHERZOGL.  SCHLOSS  WEIMAR 


41 


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DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


des  i8.  Jahrhunderts,  nur  der  Hund  ist  wirklich  be¬ 
obachtet. 

Nr.  2.  Johann  Jakob  Bidermann,  Partenkirchen 
(1794).  Ein  sehr  merkwürdiges  kleines  Bild,  das  man 
ohne  die  Signatur  um  ein  Menschenalter  später  an¬ 
setzen  würde.  Das  bräunliche  Felsengebirge  links 
von  dem  breiten  Talgrunde  spielt  leicht  ins  Violette, 
während  über  den  Bergen  und  Schneegipfeln  des 
Hintergrundes  ein  feiner  blauer  Duft  liegt.  Die  Häuser, 
Bäume  und  Büsche  und  die  anmutige  Staffage  vorn 
sind  aufs  zierlichste  ausgeführt,  ordnen  sich  aber  dem 
Oesamteindruck  unter,  der  einer  gewissen  Stimmung 
nicht  entbehrt.  Man  wird  diesen  liebenswürdigen 
Schweizer  Künstler,  der  1804  von  Bern  nach  Konstanz 
übersiedelte  und  hier  1828  starb,  gern  im  Auge  be¬ 
halten. 

Nr.  3 — 5.  Joseph  Anton  Koch.  Zwei  Bilder  aus  der 
Münchener  Pinakothek  und  ein  unbekanntes  »  Dank¬ 
opfer  Noahs<  aus  Frankfurter  Privatbesitz  mit  sehr 
kindlichen  Tierfiguren.  Es  würde  interessant  sein 
festzustellen,  wie  sich  aus  dem  freskoartigen,  asketischen 
Kolorit  dieses  Bildes  die  saftigen,  fast  bunten  Farben 
des  »Winzerfestes«  und  anderer  Bilder  des  Meisters 
entwickelten,  die  dann  für  Ludwig  Richter,  Ernst 
Fries  und  andere  Maler  vorbildlich  wurden. 

Nr.  6 — 10.  Caspar  David  Friedrich.  Dieser 
prächtige,  erst  in  unserer  Zeit  wieder  voll  gewürdigte 
Meister  ist  mit  fünf  Bildern  vorzüglich  vertreten.  Das 
eine,  der  Künstler  in  seinem  Atelier«,  ist  zwar  keine 
Landschaft,  aber  ungemein  charakteristisch  für  diesen 
Sonderling.  Ein  ganz  schmuckloser,  graugetünchter 
Raum,  in  dem  der  Meister,  eine  höchst  originelle 
Erscheinung  mit  krausem  Vollbart,  an  seiner  Staffelei 
arbeitet.  Friedrich  hatte  es  allerdings  nicht  nötig, 
sich  durch  prächtige  Stoffe  und  andere  Requisiten 
anregen  zu  lassen.  Das  bekannteste  der  fünf  Werke 
ist  der  »Regenbogen  aus  dem  Weimarer  Museum, 
dieser  köstliche  Blick  über  den  Strand  und  die  Wellen 
der  Ostsee  mit  dem  ganz  in  das  Naturschauspiel  ver¬ 
lorenen  Wanderer  rechts  auf  der  Düne.  Ein  gutes 
Stück  Thoma’scher  Poesie  ist  in  diesem  sorgsam  aus- 
geführten  Bilde  vorweggenomtnen.  Ganz  merkwürdig 
sind  zwei  Bilder  aus  Greifswalder  Privatbesitz,  in 
denen  es  Friedrich  unternommen  hat,  die  Nebeldünste 
des  Gebirges  zu  schildern.  Skizzen  ähnlicher  Art 
finden  wir  z.  B.  auch  bei  dem  gleichzeitigen  Nor¬ 
weger  Dahl,  aber  eine  rein  atmosphärische  Erscheinung 
zum  Vorwurf  eines  größeren  Gemäldes  zu  machen, 
dafür  dürfte  es  wenige  andere  Beispiele  aus  der  Zeit 
geben.  Auf  dem  einen  Werke  ist  in  der  Tat  weiter 
nichts  dargestellt  als  eine  Reihe  von  im  Dunste  ver¬ 
schwimmenden,  zart  abgestuften  Höhenzügen  mit  dem 
goldenen  Himmel  darüber.  Ob  die  Farben  ganz 
wahr  sind,  sei  dahingestellt;  jedenfalls  ist  die  Vor¬ 
stellung  der  wogenden,  durchleuchteten  Dunstmassen 
vollkommen  erreicht.  Um  die  »wahre  Wirklichkeit« 
kümmerte  sich  der  Meister  überhaupt  herzlich  wenig; 
hat  er  doch  auf  dem  anderen  Bilde  die  ganz  in  der 
Ebene  liegende  Klosterruine  Eldena  bei  Greifswald 
vor  den  Höhenzug  des  Riesengebirges  gestellt!  Ihm 
kam  es  lediglich  darauf  an,  Stimmungen  auszudrücken 


und  Stimmungen  in  der  Seele  des  Beschauers  zu  er¬ 
wecken.  Manchmal  wurde  er  ein  wenig  handgreiflich 
damit.  Bei  dem  fünften  Bilde  hat  es  ihm  nicht  ge¬ 
nügt,  ein  paar  einfache  Staffagefiguren  vor  dem  von 
Segelschiffen  belebten  Meere  anzubringen,  sondern 
seine  Figuren  müssen  ausdrücklich  die  »Lebensstufen« 
darstellen,  so  daß  sich  allerlei  Gedanken  über  die 
Fahrt  des  Lebens  usw.  anspinnen.  Die  Ausstellung 
enthält  auch  eine  Landschaft  mit  gut  gemalten  weiden¬ 
den  Kühen  von  seinem  Sohne  Gustav  Adolph  Fried¬ 
rich  (1824 — 1889). 

Nr.  11.  Johann  Heinrich  Ferdinand  von  Olivier. 
Eine  Hochgebirgslandschaft  in  Hochformat,  die  leider 
nicht  bezeichnet  und  datiert  ist.  Die  Staffage  im 
Vordergründe  ist  ganz  nazarenisch  und  besteht  eigent¬ 
lich  für  sich,  aber  die  zarten  grünen  Töne  des  Mittel¬ 
grundes  sind  mit  der  grauen  Gebirgsmasse  und  dem 
bewölkten  Himmel  darüber  sehr  fein  zusammen¬ 
gestimmt. 

Nr.  14-  15.  Ferdinand  Georg  Waldmiiller.  Zwei 
hübsche  kleine  Bilder,  die  eine  wertvolle  Ergänzung 
zu  den  prächtigen  Werken  in  der  Nationalgalerie 
bilden,  für  sich  allein  aber  keine  Vorstellung  von  dem 
trefflichen  Meister  zu  geben  vermögen.  Auch  die 
»Winterlandschaft  von  Dahl  (Nr.  13)  bietet  nichts 
Neues. 

Nr.  21 — 28.  Karl  Blechen.  Es  scheint  fast,  als 
ob  man  das  an  diesem  Künstler  begangene  Unrecht 
ein  wenig  gar  zu  reichlich  gut  zu  machen  versucht 
hat.  Er  war  doch  mehr  ein  Sucher  neuer  Pfade  und 
ein  Vorläufer  als  ein  wirklich  ausgereifter  Künstler. 
Schwache  Stellen  sind  sehr  häufig  bei  ihm,  und  zu 
bezwingender  Stimmung  ist  er  eigentlich  nur  auf 
einigen  ganz  kleinen  Bildern  und  Studien  gekommen. 
Die  Art,  wie  er  den  Sonnenbrand  Italiens  in  einer 
leuchtenden  Skala  gelber  und  graugelber  Töne  mit 
ganz  durchsichtigen  Schatten  wiedergibt,  war  damals 
für  Deutschland  allerdings  etwas  ganz  Neues.  Ich 
wurde  vor  solchen  Werken  schon  vor  Jahren  an 
William  Turner  erinnert,  ehe  ich  wußte,  daß  andere 
deutsche  Künstler,  wie  der  Berliner  Schirmer,  gerade 
zu  der  Zeit,  wo  auch  Blechen  in  Rom  weilte,  dort 
mit  dem  großen  Engländer  verkehrt  haben.  So  ge¬ 
winnt  diese  Vermutung  an  Wahrscheinlichkeit.  Übrigens 
wirkt  auch  hier  die  kleine  Landschaft  aus  dem  Besitze 
des  Herrn  G.  Brose  wesentlich  feiner  und  über¬ 
zeugender  als  das  große  »Assisi«.  Von  dem  »intimen« 
Blechen,  der  von  seinem  Fenster  aus  die  gegenüber¬ 
liegenden  Dächer  malte  und  auch  eine  Fabrik  mit 
rauchendem  Schornstein  nicht  zu  gemein  fand,  um  sie 
auf  einer  Landschaft  anzubringen,  erfahren  wir  hier 
nichts  Neues. 

Nr.  29.  Heinrich  Gaetke.  Ältere  Leute,  die  in 
den  fünfziger  und  sechziger  Jahren  auf  Helgoland 
waren,  können  sich  noch  gut  des  originellen  Mannes 
entsinnen,  der  ein  ebenso  leidenschaftlicher  Natur¬ 
forscher  wie  Maler  war  und  dessen  prächtige  Vogel¬ 
sammlung  vom  preußischen  Staate  erworben  worden 
ist.  In  den  Katalogen  der  Berliner  Kunstausstellungen 
erscheint  er  von  1832  bis  1840,  mit  dem  Vermerk 
»aus  Pritzwalk«,  erst  mit  einer  Berliner  Adresse,  dann 


H.  FERDINAND  VON  OLIVIER 


GEBIRGSLANDSCHAFT 


JOH.  W.  SCHIRMER.  CAMPAGNASTURM.  KUNSTHALLE  KARLSRUHE 


HEINRICH  EUNCK.  EIFELLANDSCHAFT.  MUSEUM,  KÖLN 


C.  FRIEDRICH  LESSINQ.  GROSSE  LANDSCHAFT  IM  EIFEL¬ 
CHARAKTER.  GEMÄLDEGALERIE  DÜSSELDORF 


HEINR.  OAETKE.  HELGOLAND 


314 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


»auf  Helgoland«.  Weiterhin  finden  wir  ihn  nur  noch 
einmal  und  zwar  erst  im  Jahre  1860.  Ob  er  in  der 
Zwischenzeit  das  Malen  aufgegeben  oder  nur  nichts 
nach  Berlin  geschickt  hat,  habe  ich  noch  nicht  er¬ 
mittelt.  In  den  ersten  Jahren  wechseln  märkische 
Motive  mit  solchen  vom  Ostseestrande,  später  scheint 
Helgoland  ihm  ausschließlich  die  Vorwürfe  geliefert 
zu  haben.  Auf  dem  jetzt  ausgestellten  sehr  großen 
Werke  ist  der  leuchtend  helle  Strand  in  einen  wirk¬ 
samen  Gegensatz  zu  den  dunkelgraublauen  Wolken 
gestellt.  In  der  Mitte  werden  gestrandete  Schiffe  aus¬ 
geladen.  Jedenfalls  ist  das  Bild  für  die  Zeit  (1836) 
sehr  bemerkenswert. 

Nr.  37 — 40.  Heinrich  Biirkel.  Von  Bürkel  war 
uns  immer  erzählt  worden,  daß  die  in  Privatbesitz 
befindlichen  Bilder  viel  besser  seien  als  die  den 
Museen  gehörenden.  Die  aus  dem  Kunsthandel 
stammende  Einsiedelei  im  Gebirge  ist  in  der  Tat 
wohl  das  hübscheste  der  vier  ausgestellten  Werke, 
sagt  uns  im  Grunde  genommen  jedoch  nicht  mehr 
als  die  anderen.  Sie  ist  sehr  sauber  und  niedlich,  auch 
im  Tone  recht  hübsch  zusammengehalten,  aber  nichts 
weiter.  Bürkel  scheint  denn  doch  mehr  ein  Nachfolger 
der  Johann  Adam  Klein  und  Albrecht  Adam  als  ein 
Vorläufer  der  Stimnumgslandschaft  zu  sein. 

Nr.  41-43.  Ludwig  Richter.  Von  den  drei  hier 
gezeigten  Bildern  befand  sich  nur  eins,  die  italienische 
Landschaft  aus  dem  Besitze  des  Generaldirektors  der 
königl.  Museen  Dr.  Schöne,  1903  auf  der  Dresdener 
Gedächtnisausstellung.  Auf  dem  größeren  der  beiden 
anderen,  »Abend  in  den  Apenninen  ,  liegt  der  Vorder¬ 
grund,  eine  Alm  mit  Hirtinnen,  im  tiefen  Abend¬ 
schatten;  darüber  erblickt  man  das  Hochgebirge  im 
leuchtenden  Glanze  der  Abendsonne.  Das  kleinere, 
sehr  helle  und  freundliche  Bildchen  ist  eine  Sommer¬ 
landschalt  mit  einem  Flüßchen,  über  das  eine  leichte 
Holzbrücke  führt,  und  mit  Staffage. 

Nr.  44  69.  Friedrich  Preller  d.  ä.  Die  sechs¬ 

undzwanzig  Bilder,  unter  denen  sich  allerdings  ein 
paar  kleine  Studien  befinden,  gewähren  einen  vor¬ 
züglichen  Überblick  über  das  Schaffen  des  Meisters. 
Das  älteste  stammt  aus  dem  Jahre  1833,  also  aus  der 
Zeit  der  ersten  Odysseebilder  im  Römischen  Hause, 
das  letzte,  Rebekka  am  Brunnen,  aus  dem  Jahre  1875. 
Bei  den  Rehen  im  Walde  ist  der  Baumschlag  noch 
ganz  wie  bei  Koch  und  Richter;  jedes  einzelne  Blatt 
ist  reliefartig  aufgesetzt,  in  der  Auffassung  des  Wald¬ 
grundes  aber  und  in  der  Art  der  Komposition  ist 
schon  der  ganze  künftige  Meister  enthalten.  Auch 
das  große  Wartburgbild,  bei  dem  die  Staffagefiguren 
(Landgraf  Friedrich  mit  der  gebissenen  Wange)  nicht 
recht  glaubhaft  wirken,  hat  noch  viel  Ähnlichkeit 
damit,  während  bei  der  Tannenfällung  im  Winter 
(Herzog  Wilhelm  fällt  im  Tambachsgrund  die  erste 
Tanne  zum  Schloßbau)  von  1850  die  Behandlung  viel 
freier  geworden  ist.  Von  Preller  als  Maler  des 
Meeres  gibt  das  große  »Skudesnäs«  von  1846  eine 
vortreffliche  Vorstellung,  von  seinen  Eichengruppen 
im  Sturm  oder  nach  dem  Sturme,  in  denen  er  wohl 
das  Höchste  seines  landschaftlichen  Könnens  gegeben 
hat,  sind  nicht  weniger  als  drei  vertreten,  darunter 


die  schönste  von  allen  aus  dem  Großherzoglichen 
Schloß  in  Weimar.  Aber  obwohl  es  sich  um  eine 
Landschafter- Ausstellung  handelte,  durfte  auch  des 
Meisters  Odyssee,  sein  eigentliches  Lebenswerk,  nicht 
fehlen.  Die  sechzehn  Farbenskizzen,  die  sein  ganzes 
Können  und  Wollen  auf  dem  Gebiete  der  heroischen 
Monumentalmalerei  zusammenfassen,  verdienen  das 
eingehendste  Studium. 

Nr.  72  a.  Friedrich  Eduard  Meyerheim.  Sein 
»Motiv  bei  Danzig«  ist  ein  niedliches,  mit  sehr 
spitzem  Pinsel  hingesetztes  Bildchen  mit  ganz  zier¬ 
licher  Staffage.  Vorn  ist  alles  in  grünen  Tönen  ge¬ 
halten  -  also  ganz  ohne  das  beliebte  Braun 
hinten  verschwimmen  das  Wasser  und  die  Dünen 
beinahe  in  demselben  Blau.  Meyerheim  hat  vielleicht 
auch  die  Figuren  auf  dem  Bildchen  seines  wohl  früh 
verstorbenen  Freundes  Otto  Reinhold  Jacobi  gemalt, 
von  dessen  Leben  wir  so  gut  wie  gar  nichts  wissen 
(Nr.  89).  Auf  einem  Baumstamm  am  Wege  ruhen 
sich  die  Reisigsammler  aus  und  betrachten  die  lieb¬ 
liche  Landschaft  mit  dem  See  und  den  bläulichen 
Bergen,  ein  echt  Richtersches  Motiv.  Im  Mittelgründe 
kommt  hinter  einem  Hügel  eine  von  einer  Kuppel¬ 
kirche  überragte  Ortschaft  zum  Vorschein. 

Nr.  73 — 76.  K.arl  Spitzweg.  Vier  ganz  kleine 
Bildchen,  die  aber  einen  trefflichen  Begriff  von  der 
Landschaftsauffassung  des  Meisters  geben.  Er  ist  der 
deutsche  Maler  des  Waldgrundes,  der  »Dessous  du 
bois< .  Besonders  reizend  ist  der  Eremit  bei  seiner 
Waldkapelle,  der  die  Flinte  auf  irgend  ein  jagdbares 
Tierlein  angelegt  hat,  eine  echt  Spitzwegsche  Gestalt, 
und  die  beiden  Mägdlein,  die  auf  einem  Gebirgspfad 
lustwandeln,  ganz  winzige  Figürchen,  die  aber  in 
ihrer  Haltung  und  den  fröhlichen  Farben  ihrer  Kleider 
die  Stimmung  der  Landschaft  noch  einmal  zusammen¬ 
fassen  und  so  erhöhen. 

Nr.  77  -  83.  Carl  Friedrich  Lessing.  Der  Haupt- 
meister  der  romantischen  Landschaft  ist  mit  mehreren 
Werken  ersten  Ranges  vertreten,  die  ihn  zu  ganz 
neuem  Leben  erwecken.  Er  ist  der  deutscheste  und 
zugleich  der  romantischste  unter  unseren  Meistern, 
er  besitzt  die  Innigkeit  und  auch  den  Schwung,  der 
die  besten  unter  den  romantischen  Dichtern  und 
Musikern  auszeichnet.  Freilich  müssen  wir  uns  in 
seine  Bilder  erst  wieder  etwas  hineinsehen  lernen. 
Gewiß,  so  sieht  die  Natur  für  unsere  Augen  nicht 
aus,  so  goldige,  braune,  altmeisterliche  Töne  besitzt 
sie  nicht;  naturwahr  in  diesem  Sinne  sind  indes  auch 
Claude  Lorrain,  Turner,  selbst  Ruisdael  nicht.  Aber 
wie  prachtvoll  sind  diese  großen  Bilder  in  der  einmal 
gewählten  Farbenskala  zusammengehalten,  ist  selbst 
ihre  oft  etwas  bunte  Staffage  diesem  goldbraunen 
Gesamtton  untergeordnet!  Wie  lebt  es  und  leuchtet 
es  in  ihnen,  und  wie  meisterlich  ist  das  Materielle 
wiedergegeben!  Diese  Felsen  sind  keine  Theater¬ 
kulissen,  sondern  wirkliches  sprödes  Gestein,  diese 
Bäume  wachsen  und  recken  sich  nach  allen  Seiten, 
aus  diesen  Wolken  bricht  wirklicher  Regen  hervor. 
Romantisch,  das  heißt  bei  Lessing  in  den  meisten 
Fällen  soviel  wie  tragisch.  Sehr  oft  ist  die  Natur  im 
oder  dicht  vorm  Aufruhr.  Schwarzgraue  Wolken 


KARL  BLECHEN.  LANDSCHAFT 


O.R.  JAKOBI.  LANDSCHAFT 


G.  F.  WALDMÜLLER.  VETERANEN  IM  PRATER 


HEINR.  BÜRKEL.  EINSIEDELEI  IM  GEBIRGE 


HEINR.  FRANZ-DREBER.  ITALIENISCHE  LANDSCHAFT 


C.  FRIEDRICH  LESSING.  EIFELLANDSCHAFT 


3i6 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


haben  sich  zusammengeballt,  um  sich  im  nächsten 
Augenblick  zu  entladen.  Dazu  passen  die  trotzigen 
Felsen,  die  knorrigen  Föhren,  die  verfallenen  Ruinen 
und  auch  die  Landsknechte,  die  von  ihm  so  gern 
als  Staffage  verwendet  worden  sind  und  durchaus 
keinen  fremden,  anekdotischen  Zug  hineinbringen. 
Zuweilen,  wie  auf  dem  herrlichen  Bilde  aus  der 
Sammlung  des  Konsuls  Weber,  kreist  auch  nur  ein 
Geier  über  der  verödeten  Stätte.  Daneben  gibt  es 
auch  Bilder  voll  lieblicher  Ruhe.  Wundervoll  weiß 
er  den  Glanz  der  Abendsonne  zu  schildern,  der  die 
Bergkuppen  vergoldet,  wundervoll  den  traulichen 
Schatten  des  Talgrundes.  Auf  dem  Karlsruher  Bilde 
Bodetal  im  Harz<  befindet  sich  ein  Stück  im  Mittel¬ 
gründe,  das  herausgescimitten  fast  wie  ein  köstlicher 
Spitzweg  anmuten  würde.  Vielleicht  würde  Lessing 
das  Entzücken  der  Modernen  bilden,  wenn  er  nur 
solche  intime  Ausschnitte  gemalt  hätte.  Aber  das 

Kleine  war  bei  ihm  nur  ein  Teil  des  Großen.  Und 
daß  er  das  Große  nicht  immer  erreichte,  das  nahmen 
ihm  die  übel,  die  es  gar  nicht  versuchten  oder  ihre 
quadratmetergroßen  Studien  für  Bilder  ausgaben. 
Lessing  gehört  zu  den  Meistern,  denen  wir  vieles 
abzubitten  haben.  Obwohl  er  altmeisterlich  malte, 
war  er  einer  der  selbständigsten  von  allen.  Die 

Stimmungslandschafter  ahmten  die  Franzosen  nach 
und  blieben  meist  weit  hinter  ihnen  zurück,  bei 
Lessing  denkt  man  überhaupt  an  keinen  Ausländer. 

Nr.  72.  Heinrich  Funck.  Seine  Eifellandschaft 
ist  entschieden  unter  Lessingschem  Einfluß  entstanden, 
erinnert  in  vielem  aber  auch  an  Rottmann,  der  übrigens 
ebenfalls  mit  vier  Bildern  und  einer  Zeichnung 

(Nr.  16  —  20),  meist  bekannten  Werken  vertreten 
ist.  Die  riesigen  flackernden  Wolken,  die  blitzartig 
beleuchteten  Partien  im  Mittelgründe  sind  ganz  roman¬ 
tisch.  Prächtig  ist  die  Ferne  mit  den  nur  angedeu¬ 
teten  und  doch  deutlich  erkennbaren  Hügeln,  Burgen 
und  Ortschaften. 

Nr.  71.  Johann  Wilhelm  Schirmer,  Campagna- 
sturm.  Das  Bild  ist  ein  interessanter  Kompromiß 
zwischen  Klassizismus  und  Romantik.  Aber  Sturm¬ 
wind  und  klassisch  abgewogene  Komposition  ver¬ 

tragen  sich  schlecht;  so  wackelt  das  Bild  etwas,  wie 
man  zu  sagen  pflegt. 

Nr.  g6 — 111.  Andreas  Achenbach.  Nach  den 
hier  ausgestellten  Proben  scheint  es,  daß  die  Eigen¬ 
art  der  frühesten  Achenbachschen  Bilder  doch  etwas 
überschätzt  worden  ist.  Die  beiden  Marinen  von 
1836  gehen  jedenfalls  nicht  wesentlich  über  das  hin¬ 
aus,  was  gleichzeitig  oder  schon  vorher  in  Berlin 
von  Wilhelm  Krause  geschaffen  worden  war.  Über¬ 
haupt  wäre  es  sehr  lehrreich  gewesen,  ein  paar 
Bilder  dieses  fast  vergessenen  Marinemalers,  der  schon 
1830  und  i83i  Rügen  und  Norwegen  bereist  und 
mit  seinen  schlicht  realistischen  Bildern  Aufsehen  er¬ 
regt  hatte,  zum  Vergleich  neben  die  Achenbachschen 
zu  hängen.  Nicht  also  wegen  der  Neuheit  seiner 
Bilder  erregte  Achenbach  in  Düsseldorf  Anstoß, 
sondern  wegen  der  anspruchslosen  Schlichtheit,  der 
Poesielosigkeit  seiner  Motive.  Ebenso  falsch  ist  es, 
ihn  gegen  Lessing  auszuspielen.  Sein  norwegisches 


Motiv  von  1838  mit  den  drohenden  Gewitter¬ 
wolken,  der  fahl  beleuchteten  Sumpflandschaft  mit 
den  abgestorbenen  Bäumen  und  Baumwurzeln  und 
dem  Runenstein  im  Mittelpunkte  könnte  beinahe  von 
diesem  gemalt  sein.  Der  echte  Achenbach  kommt 
dagegen  in  dem  Untergang  des  Präsidenten«  (1843) 
mit  den  bläulichen  Eisbergen  zwischen  den  hoch¬ 
schäumenden  Wellen  zum  Vorschein.  Der  Strand 
von  Scheveningen  (1855)  zeigt,  daß  auch  er  sich  der 
koloristischen  Richtung  nicht  entzogen  hat.  Die 
Farbenstimnumg  dieses  übrigens  vortrefflichen  Bildes 
entspricht  ganz  der  von  Isabey  und  Hoguet.  Die 
gleichzeitigen  Faraglioni  (Capri)  sind  mehr  dekorativ 
gehalten,  es  ist  eins  von  den  Bildern,  in  denen  er 
seinem  Bruder  Oswald  am  ähnlichsten  ist.  Hervor¬ 
heben  möchte  ich  außerdem  die  Waldlandschaft  bei 
aufziehendem  Gewitter,  eine  so  durchaus  intime 
Landschaft,  wie  man  sie  bei  Achenbach  nicht  sehr 
häufig  findet.  Auch  aus  seiner  späteren  Zeit  finden 
wir  einige  sehr  charakteristische  Bilder. 

Das  Urteil  über  den  jüngeren,  kürzlich  verstorbenen 
Bruder  Oswald  Achenbach,  der  mit  acht,  zum  Teil 
sehr  großen  Bildern  vertreten  ist  (Nr.  161 — 167  a), 
wird  durch  die  Ausstellung  nicht  wesentlich  geändert. 
Willig  gestehen  wir  alles  zu,  was  zu  seinen  Gunsten 
angeführt  wird  —  und  das  ist  nicht  wenig  — ,  der 
opernhafte  Zug  seiner  Kompositionen  und  Beleuch¬ 
tungen  aber  ist  und  bleibt  uns  heute  fremd. 

Nr.  112.  Johann  Gottfried  Steffan.  Herren¬ 
chiemsee.  Das  reizende  Werk  bildete  nicht  nur  für 
die  Besucher,  sondern  auch  für  die  Veranstalter  der 
Ausstellung  eine  Überraschung;  war  doch  selbst  der 
Name  des  Künstlers  den  meisten  unbekannt.  Im 
Singerschen  Künstler  -  Lexikon  steht,  daß  er  am 
13.  Dezember  1815,  also  fünf  Tage  nach  Menzel 
und  im  selben  Jahre  wie  Andreas  Achenbach  ge¬ 
boren  war,  Italien  und  Paris  besucht  und  besonders 
Hochgebirgsbilder  gemalt  hat;  weitere  Erkundigungen 
lehrten,  daß  er  noch  am  Leben  war.  Wenige 
Tage  darauf  aber  kam  die  Nachricht  von  seinem 
Tode.  Wenn  die  anderen  Bilder  von  seiner  Hand, 
die  nun  gewiß  überall  auftauchen  werden,  den  jetzt 
ausgestellten  ebenbürtig  sind,  dann  wird  die  deutsche, 
speziell  die  deutsch  -  schweizerische  Kunstgeschichte 
wieder  um  einen  guten  Namen  bereichert  sein.  Der 
Blick  über  den  spiegelglatten  See  nach  der  Insel  und 
dem  fernen,  ganz  im  Dufte  verschwimmenden  Gestade 
ist  von  zauberhafter  Zartheit. 

Nr.  116.  Constantin  Schmidt.  Ebenfalls  ein  fast 
ganz  in  Vergessenheit  geratener  Maler,  der  aber  wohl 
schon  vor  einem  halben  Jahrhundert  gestorben  ist. 
Man  möchte  gern  erfahren,  ob  er  das  in  unserer 
kleinen  Tallandschaft  bei  Weinheim  gegebene  Ver¬ 
sprechen  in  größeren  Bildern  eingelöst  hat.  Die 
warmen  Töne  des  Sommers  mit  den  bläulichen 
Schatten  sind  vorzüglich  getroffen  und  sehr  harmonisch 
verschmolzen. 

Nr.  120  — 124.  Eduard  Hildebrandt.  Die  unter 
der  jüngeren  Generation  ziemlich  allgemeine  Ab¬ 
neigung  gegen  den  ausgesprochensten  Koloristen 
unter  den  Berliner  Landschaftern  wird  durch  die  jetzt 


KARL  BLECHEN.  PARK  VON  TERNI 


KARL  SPITZWEG.  MÄDCHEN  AUF  EINEM  GEBIRGSWEG 


I.  O.  STEFFAN.  HERRENCHIEMSEE 


ANDREAS  ACHENBACH.  NORWEGISCHE  LANDSCHAFT 
KUNSTHALLE  KARLSRUHE 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  12 


42 


3i8 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


ausgestellten  Bilder  nicht  vermindert  werden.  Trotz 
der  warmen  Töne  seiner  Palette  wirken  sie  kalt;  denn 
sie  sind  nur  mit  der  Hand,  einer  ungemein  geschick¬ 
ten  Hand,  ohne  rechten  Anteil  des  Herzens,  ohne 
liebevolle  Versenkung  in  die  Natur,  gemalt.  Das 
feinste  ist  das  kleine  Nachtbild  aus  Shanghai.  Hilde¬ 
brandt  hatte  mit  seinem  Freunde  Charles  Hoguet 
(Nr.  126  — 130)  zusammen  bei  Isabey  in  Paris  studiert, 
dem  beide  das  beste  ihres  Könnens  verdanken.  Wie 
stark  Hoguet  auch  noch  lange  nach  seiner  Rückkehr 
unter  dem  Einfluß  seines  französischen  Lehrers  stand, 
beweisen  die  große  und  die  kleine  Strandlandschaft 
von  1854,  die  beide  fast  dasselbe  Motiv  behandeln. 

Nr.  132  137.  Heinrich  Dreher  genannt  Franz- 

Dreher.  Keiner  von  denen,  die  in  dem  an  Kunst¬ 
schätzen  reichen  Hause  des  Generaldirektors  der 
Berliner  Museen  verweilen  durften,  hat  sich  dem 
machtvollen  Eindruck  der  großen  italienischen  Land¬ 
schaft  Drehers  entziehen  können.  Trotzdem  wirkt 
das  Bild  in  der  vorzüglichen  Aufstellung  und  Be¬ 
leuchtung  der  Ausstellung  mit  ganz  neuer  Kraft.  Es 
verdient  durchaus  den  Ehrenplatz,  der  ihm  eingeräumt 
worden  ist.  Ganz  wenige  Meister  nur  haben  es  seit 
Poussin  verstanden,  eine  große  landschaftliche  Kom¬ 
position  so  wundervoll  abzuwägen.  Jeder  Teil  ist 
für  sich  genommen  ein  vollkommenes  Bild  —  man 
betrachte  daraufhin  besonders  die  Hauptgruppe  der 
Bäume,  den  Rasenhang  mit  dem  Ausblick  in  die 
Ferne,  die  Felsgruppe  mit  den  Büschen  rechts  im 
Vordergründe  — ,  und  doch  ordnet  sich  jeder  dem 
Ganzen  unter.  Auch  die  Figuren  sind  in  Linie  wie 
Farbe  völlig  harmonisch  mit  der  Landschaft  ver¬ 
schmolzen.  Alles  atmet  klassische  Erhabenheit  ohne 
Steifheit.  Ich  wüßte  keinen  lebenden  Meister,  der 
sich  an  eine  ähnliche  Aufgabe  auch  nur  wagen  dürfte. 

Nr.  13g.  Wilhelm  Gentz.  Mit  der  Ausgrabung 
dieses  Abends  am  Nil  hätten  wir  lieber  verschont 
bleiben  sollen.  Niemand  geschieht  ein  Gefallen 
damit,  am  wenigsten  dem  Künstler  selbst,  der  so 
empfindungslos  und  unleidlich  in  der  Farbe  hoffent¬ 
lich  nur  selten  gewesen  ist.  Dagegen  war  es  sehr 
verdienstvoll,  uns  einige  Werke  von  anderen  älteren 
Berlinern  vorzuführen,  die  dem  heutigen  Geschlechte 
gar  nicht  oder  nur  aus  schwächeren  Alterswerken 
bekannt  sind,  ihre  einstige  Beliebtheit  aber  vollauf 
verdienen.  An  erster  Stelle  ist  hier  Bennewitz  von 
Loefen  d.  A.  zu  nennen,  der  sich  in  den  sechs  aus¬ 
gestellten  kleinen  Bildern  als  ein  ganz  prächtiger 
Meister  erweist  (Nr.  153  — 158).  Während  andere  in 
der  Zartheit  der  Töne  mit  den  Franzosen  wetteifern 
wollten  und  zumeist  weit  hinter  ihnen  zurückblieben, 
hat  er  seine  echt  preußische  Natur  nie  verleugnet. 
Zuweilen  ein  wenig  nüchtern,  immer  aber  ehrlich, 
gerade,  solid,  gut  beobachtet  und  sicher  hingesetzt 
sind  seine  Bilder.  Fontanescher  Geist  spricht  aus 
diesen  märkischen  und  pommerschen  Landschaften, 
die  seinerzeit  wegen  ihrer  Schlichtheit  dem  Vor¬ 
wurf  des  » krassen  Realismus  nicht  entgingen. 
Hermann  Eschke,  der  Berliner  Marinemaler,  ist 
nur  mit  einem,  aber  mit  einem  sehr  guten  Bilde  von 
der  englischen  Küste  vertreten  (Elisabeth  Castle, 


Nr.  140),  bei  dem  die  Behandlung  des  mit  den 
Nebelmassen  kämpfenden  Sonnenlichtes,  das  glitzernde 
Wasser  und  die  feine  graubraune  Tönung  des  Ganzen 
gleiche  Bewunderung  verdienen.  Ähnliche  atmo¬ 
sphärische  Stimmungen  über  weiten  Wasserflächen 
liebte  auch  der  jetzt  oft  unterschätzte  Norweger  Hans 
Gilde,  der  ja  zuletzt  auch  zum  Berliner  geworden 
war  (Nr.  146  — 148).  Ganz  entzückend  ist  ein  See¬ 
stück  von  1876.  Diese  zarten  Abstufungen  von 
silbrigem  Grau  bei  den  halbverhüllten  Bergen  und 
den  Wolken,  diesen  Glanz  auf  dem  leicht  gekräusel¬ 
ten  Wasser  hat  damals  sicher  niemand  besser  gemalt. 
Eine  Überraschung  bereitet  das  Bild  eines  etwas 
jüngeren  Berliners,  des  jetzigen  Vorstehers  des  Meister¬ 
ateliers  für  Landschaftsmalerei  an  der  Akademie,  Alhert 
Hertel  (Nr.  203).  Die  großen  Gruppen  buntgekleide¬ 
ter  Italienerinnen  sind  im  kühlen  Schatten  des  Morgens 
mit  erstaunlicher  Kraft  zusammengehalten  und  zu  den 
strahlenden  Bergen  hinten  in  einen  sehr  wirksamen 
Kontrast  gestellt. 

Nr.  149  152.  Adolf  Lier.  Wie  die  Werke 

Eduard  Schleichs  (Nr.  90 — 95),  so  bereiten  auch  die 
seines  jüngeren  Nebenbuhlers  auf  dem  Gebiete  der 
Münchener  Stimmungslandschaft  eine  leise  Ent¬ 
täuschung.  Sie  haben  beinahe  etwas  Flaues.  An  die 
präzise  Zeichnung,  die  Leuchtkraft  und  das  reiche 
Leben  der  Bilder  von  Roussau  und  Dupre  darf  man 
jedenfalls  vor  ihnen  nicht  denken.  Am  meisten  Kraft 
besitzt  noch  Liers  »Abend«.  Ähnliche  Betrachtungen 
kann  man  bei  dem  Tiermaler  Richard  Biirnier 
(Nr.  159  — 160)  anstellen,  der  bei  Troyon  in  die 
Schule  gegangen  war  und  auch  viel  von  ihm  gelernt 
hat.  Der  goldige  Abendhimmel  auf  seinem  großen 
»Mondaufgang<  macht  zunächst  einen  bezaubernden 
Eindruck,  von  den  Tieren  aber  hält  bei  näherer  Prü¬ 
fung  kaum  eins  stand.  Im  allgemeinen  scheint  es, 
daß  die  ältere  Cronberger  Schule  der  älteren  Münchener 
überlegen  ist;  sie  ist  schlichter,  feiner  und  wahrer. 
Peter  Barnitz  (Nr.  142 — 143)  hat  die  zarten  grünen 
und  grauen  Töne  der  Wiesen  und  Bäume  jedenfalls 
viel  überzeugender  gemalt  als  Lier.  Auch  die  Cron¬ 
berger  haben  von  den  Franzosen  gelernt,  sind  aber 
nicht  von  ihnen  abhängig.  Bei  der  jüngeren  Genera¬ 
tion,  das  heißt  der  um  1840  geborenen,  entwickelten 
sich  übrigens  gerade  zwischen  Frankfurt  und  München 
zahlreiche  Beziehungen.  Immer  deutlicher  tritt  es 
hervor,  wieviel  die  deutsche  Kunst  dem  um  1870  in 
München  arbeitenden  Kreise  unabhängiger  junger 
Maler  verdankt,  den  man  als  den  Leibl-Thoma-Kreis 
bezeichnen  kann,  in  dem  Sinne,  daß  diese  beiden 
Künstler  zwei  entgegengesetzte  Punkte  in  ihm  be¬ 
deuten.  Leibi  ist  der  größte  Maler  in  ihm,  Thoma 
der  innigste  Poet.  Aber  nicht  nur  Thoma  ging  später 
nach  Frankfurt,  sondern  auch  Trübner,  der  Leibi  am 
nächsten  steht.  Von  Leibi,  der  größere  selbständige 
Landschaften  überhaupt  nicht  gemalt  hat,  ist  kein  Bild 
ausgestellt,  dagegen  drei  hübsche  kleine  Bilder  von 
seinem  Genossen  Johann  Sperl  (Nr.  187  -189),  dem 
er  ja  zuweilen  Figuren  in  seine  oberbayerischen  Land¬ 
schaften  hineingemalt  hat,  und  ferner  ein  Bauernhaus 
und  eine  sehr  feine  Waldlandschaft  mit  Teich  von 


W.  B.  H.  ESCHKE.  ELISABETH  CASTLE 


BENNEWITZ  VON  LOEFEN  D.  Ä.  AM  VIETZIGER  SEE 


CHARLES  SCHUCH. 


BAUERNHAUS  IN  FERSCH 


BENNEWITZ  VON  LOEFEN  D.  Ä.  WALDBLÖSSE  L.  H.  BECKER.  KORNFELD 


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320 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


seinem  Freunde  Charles  Schuch  (Nr.  216 — 217),  der 
seine  höchste  Kraft  allerdings  in  den  in  Paris  ge¬ 
malten  Stilleben  entfaltet  hat.  Von  Leibi  und  Trübner 
wurde  auch  der  in  Manchester  geborene  Louis  Eysen 
(Nr.  204  —  205)  angeregt,  vom  Holzschneiden  und 
Lithographieren  zur  Ölmalerei  überzugehen;  auch  bei 
ihm  kreuzen  sich  Cronberger,  Münchener  und  Pariser 
Einflüsse.  Die  beiden  von  ihm  ausgestellten  Bilder 
reichen  zwar  nicht  an  das  igoi  von  der  National¬ 
galerie  erworbene  heran,  zeigen  aber  dasselbe  Streben 
nach  Wahrheit  der  Lufttöne.  Seinen  Bildern  wiederum 
steht  eine  schöne  Abendlandschaft  von  Wilhelm  Stein- 
hausen  nahe  (Nr.  210 — 211),  ein  Talgrund,  über  den 
die  Nacht  ihre  Fittiche  zu  breiten  beginnt.  Auch 
hier  besteht  das  ganze  Bild  eigentlich  nur  aus  ver¬ 
schiedenen  grünen  Tönen,  die  zu  einer  Harmonie  von 
schwermütiger  Weichheit  zusammengestimmt  sind. 
Thoma  selbst  ist  leider  recht  ungenügend  vertreten, 
insbesondere  erscheint  sein  Rheintal  von  iSgg  als 
eine  schlimme  Verwässerung  des  kürzlich  von  der 
Nationalgalerie  erworbenen  Bildes.  Wie  sehnlich 
wünschte  man  hier  einige  von  seinen  frühen  Land¬ 
schaften  herbei,  die  igo2  in  Karlsruhe  das  allge¬ 
meinste  Entzücken  hervorriefen!  Endlich  ist  noch 
der  eigentümliche  Emil  Lugo  zu  nennen  (Nr.  186), 
dessen  herbe  und  kräftige  Bilder  mit  den  starken 
Konturen  etwas  merkwürdig  Archaistisches  und  doch 
zugleich  wieder  ganz  Modernes  haben. 

Von  den  Düsseldorfern  sind  Eugen  Diicker 
(Nr.  igo  ig2)  und  Ludwig  Munthe  (Nr.  ig3  — ig?) 
reich  vertreten.  Gröberes  Interesse  als  ihre  Bilder 
erwecken  aber  die  des  jung  verstorbenen  Ludwig 
Hugo  Becker  (1833 — 1868;  Nr.  172  174).  Das 
größte  stellt  einen  verschneiten  Dorfweg  mit  ein  paar 
Leuten  dar,  die  beim  ersten  Morgengrauen  zur  Christ¬ 
messe  in  die  rechts  hinter  hohen  Bäumen  ein  wenig 
höher  liegende,  hell  erleuchtete  Kirche  gehen;  das 
von  uns  abgebildete  »Kornfeld«  ist  in  kräftigen  Tönen 
ziemlich  breit  gemalt.  Zu  dem  leuchtenden  Getreide 
und  den  roten  Ziegeldächern,  die  besonders  heraus¬ 
treten,  gesellen  sich  die  violetten  Töne  der  Kohlköpfe 
als  eine  aparte  Note.  Von  den  Karlsruhern  ist  Her¬ 
mann  Baisch  (Nr.  212—215)  an  erster  Stelle  zu 
nennen,  der  1868  in  Paris  vor  den  Bildern  Dupres 
und  Rousseaus  bestimmende  Eindrücke  empfangen, 
aber  doch  erst  in  Holland,  vielleicht  unter  dem  Ein¬ 
fluß  von  Mauve  und  den  Maris,  seine  reizende  silber¬ 
graue  Weise  gefunden  hat.  Von  Schönleber  (Nr. 
237  240)  ziehe  ich  die  beiden  schlichten  Bilder  aus 

Holland  dem  großen  Venedig  und  dem  besonders  im 
Verhältnis  zum  Vorwurf  zu  großen  Enzwehr  vor. 
Von  dem  größten  Wiener  Stimmungslandschafter, 
Emil  Jakob  Schindler,  den  man  hier  gern  einmal 
gründlich  kennen  gelernt  hätte,  ist  leider  nur  ein  Bild 
ausgestellt  (Nr.  201).  Eugen  Jettei  war  so  ganz  zum 
Pariser  geworden,  daß  seine  Werke  in  dieser  deut¬ 
schen  Ausstellung  beinahe  fremdartig  wirken. 

Nr.  220 — 235.  Karl  Buchholz.  Die  fünfzehn 
Bilder  dieses  in  Berlin  von  nur  ganz  wenigen  gekannten 
Weimaraners  bilden  die  größte  Überraschung  und 
einen  der  dauerndsten  Anziehungspunkte  der  Aus¬ 


stellung,  nicht  nur  um  ihrer  selbst  willen,  sondern 
auch,  weil  sie  uns  ahnen  lassen,  welch  köstliche 
Schätze  bei  tieferem  Nachgraben  im  Boden  der  deut¬ 
schen  Kunst  noch  zu  heben  sein  werden.  Da  es 
über  den  Meister  keine  »Literatur«  gibt,  seien  hier 
außer  einer  kurzen  Würdigung  der  ausgestellten  Werke 
auch  die  wichtigsten  Daten  aus  seinem  Leben  ge¬ 
geben,  die  wir  der  Mitteilung  eines  seiner  besten 
Freunde,  des  Landschaftsmalers  Hoffmann-Fallersleben, 
verdanken.  Wie  Millet  ist  auch  Buchholz  vom  Pfluge 
weg  zur  Malerei  gekommen,  wie  der  große  Franzose 
hat  auch  er  zeitlebens  mit  schweren  Sorgen  zu  kämpfen 
gehabt.  Unglücklicher  aber  als  jener,  der  wenigstens 
an  seinem  Lebensabend  einen  wenn  auch  sehr  be¬ 
scheidenen  Wohlstand  und  die  Anerkennung  der 
besten  seines  Volkes  fand,  erfuhr  er  immer  schwerere 
Enttäuschungen,  die  ihn  schließlich  in  den  Tod 
trieben.  Der  Rittergutsbesitzer  Collenbusch  in  Schloß 
Vippach  bei  Weimar,  wo  er  am  23.  Februar  184g 
geboren  war,  hatte  zuerst  sein  Talent  entdeckt  und 
ihn  die  Weimarer  Kunstschule  besuchen  lassen.  Hier 
genoß  er  hauptsächlich  den  Unterricht  von  Max 
Schmidt,  begann  aber  sehr  bald  selbständig  zu  malen. 
Auch  als  1871  Theodor  Hagen  nach  Weimar  berufen 
worden  war  und  bald  einen  großen  Kreis  begeisterter 
Schüler  um  sich  sammelte,  hielt  er  sich  abseits  in 
der  Überzeugung,  daß  ihm  kein  Lehrer  mehr  zu 
sagen  vermöge  als  die  Natur  und  die  alten  Meister. 
Das  erste  der  ausgestellten  Bilder,  eine  kleine  Früh¬ 
lingslandschaft,  zeugt  von  köstlicher  Naivität  in  der 
Naturbeobachtung.  Der  Himmel,  die  blühenden  Obst¬ 
bäume,  die  Vögel,  die  sich  auf  den  zarten  Zweigen 
wiegen,  alles  atmet  heiterste  Frühlingsstimmung,  und 
das  Ganze  ist  in  jenen  lichten  grauen  Tönen  ge¬ 
halten,  wie  wir  sie  mehr  als  ein  Jahrzehnt  später  in 
den  frühen  Bildern  eines  Uhde  finden.  Ein  unbe¬ 
fangenes  Naturkind  hat  hier  ohne  alle  Reflexion  einen 
Ausschnitt  aus  dem  gegeben,  was  ihm  das  vertrauteste 
war,  und  so  ohne  es  zu  wissen  ein  kleines  Meisterwerk 
geschaffen.  Ist  hier  die  eine  Quelle,  aus  der  der 
Meister  schöpfte,  am  ungetrübtesten,  so  zeigt  der 
daneben  hängende  »Hörselberg«  von  1876  die  zweite, 
die  alten  Meister,  am  deutlichsten.  Streben  nach  Ton¬ 
schönheit  und  nach  großartiger  Einfachheit  der  Kom¬ 
position  beherrschen  es  vollkommen.  In  flüssigem 
Golde  glänzt  der  Abendhimmel  über  der  dunklen 
weiten  Ebene,  und  dieses  Gold  flutet  auch  um  die 
großen,  an  Claude  Lorrain  erinnernden  Bäume,  die 
den  Blick  in  die  Ferne  führen.  Buchholz  konnte  sich 
in  Lasuren  nicht  genug  tun,  um  diesen  satten  Glanz 
herauszubekommen.  Zwischen  den  beiden  Werken 
liegt  die  Sonnenregenstimmung  »aus  der  goldenen 
Au«  (1874),  ^ine  ganz  merkwürdige,  höchst  stim¬ 
mungsvolle  Übersetzung  des  Natureindrucks.  Der 
hügelige  Vordergrund  ist  in  einem  eigentümlichen 
Graubraun  gehalten,  die  Bäume  sind  fast  schwarz, 
während  die  Ferne  in  lichten  goldigen  Tönen  ge¬ 
badet  ist.  Denkt  man  hier  unwillkürlich  an  gewisse 
Bilder  aus  der  graubraunen  Periode  von  Daubigny, 
so  möchte  man  bei  dem  »Herbstlichen  Wald«  von 
1882  auf  einen  Einfluß  von  Diaz  schwören.  Dieser 


HANS  GUDE,  SEESTÜCK 


KARL  BUCHHOLZ.  AUS  DER  GOLDENEN  AU 


KARL  BUCHHOLZ.  HERBSTLICHER  WALD.  MUSEUM  WEIMAR 


KARL  BUCHHOLZ.  WINTERABEND 


322 


DIE  AUSSTELLUNG  VON  WERKEN  DEUTSCHER  LANDSCHAFTER  IN  BERLIN 


ausgeholzte  Wald  mit  den  einzeln  nebeneinander 
stehenden  Bäumen  und  dem  bewölkten  Himmel  dar¬ 
über,  der  dazwischen  in  die  Tiefe  führende  Weg  mit 
der  Bäuerin,  ja  noch  mehr  die  Art  des  Bildaus¬ 
schnittes  und  selbst  die  Farben,  alles  erinnert  an  die 
Landschaften  von  Diaz,  die  Chauchard  in  Paris  be¬ 
sitzt.  Hat  Buchholz  Bilder  von  den  Meistern  von 
Barbizon  gesehen?  Seine  Freunde  verneinen  es  so 
bestimmt,  daß  wir  ihnen  glauben  müssen.  Dann 
haben  also  ähnliche  Vorbilder  unter  den  alten  Meistern 
und  ähnliche  Vorwürfe  in  der  Natur  zu  so  ähnlichen 
Kunstwerken  geführt.  Übrigens  ist  es  sehr  töricht 
zu  glauben,  daß  solche  gelegentlichen  Beeinflussungen 
den  Ruhm  eines  Meisters  beeinträchtigen.  Es  kommt 
nur  darauf  an,  ob  er  stark  genug  ist,  sie  dem  eigenen 
Wesen  zu  assimilieren  oder  ob  er  zum  bloßen  Nach¬ 
treter  herabsinkt.  Und  Buchholz  ist  sich  selbst  treu 
geblieben  sein  Leben  lang.  Man  betrachte  nur  seinen 
»Winterabend«  mit  dem  eben  aufgegangenen  Voll¬ 
mond.  Da  ist  nicht  die  Spur  von  Fremdem  darin, 
das  hat  nur  einer  malen  können,  der  vor  der  Natur 
sich  selbst  und  alles  andere  vergaß  und  nur  von  dem 
einen  Wunsche  beseelt  war,  das  zauberhafte  Schau¬ 
spiel,  das  er  gesehen,  so  redlich  und  treu,  so  innig 
und  keusch  wie  nur  möglich  wiederzugeben.  Buch¬ 
holz  wurzelte  so  tief  im  heimischen  Boden  wie  nur 
je  ein  Künstler.  Er  hat  nur  eine  einzige  größere 
Reise  in  seinem  Leben  unternommen,  nach  München 
und  dem  bayrischen  Hochgebirge,  und  diese  verlief 
völlig  ergebnislos  für  sein  Schaffen.  Und  als  ihn 
später  seine  Freunde  aus  dem  Weimar,  das  ihn  ver¬ 
kannte,  nach  Berlin  und  Düsseldorf  zu  ziehen  suchten, 
da  schlug  er  es  ihnen  rund  ab,  wohl  wissend,  daß 
er  in  fremden  Boden  verpflanzt  nicht  gedeihen  konnte. 


Selbst  solche  Ausflüge  wie  in  die  goldene  Au  waren 
bei  ihm  eine  Seltenheit;  fand  er  doch  in  der  nächsten 
Umgebung  Weimars  vollauf  das,  was  er  suchte.  Vor 
allem  zog  ihn  der  Webichtwald,  in  den  ihm  dann 
so  viele  gefolgt  sind,  immer  von  neuem  an.  Dann 
hat  er  weite  Blicke  über  die  Ebene  gemalt,  gern  in 
der  Stimmung  des  Vorfrühlings  oder  in  der  Abend¬ 
dämmerung  bei  aufgehendem  Vollmond,  und  ent¬ 
zückende  Dorfansichten.  Aber  ihm,  der  sie  so  innig 
liebte,  war  die  Heimat  nicht  treu.  Abseits  von  allem 
Cliquenwesen  stehend,  zu  aufrichtig,  um  eine  Schmei¬ 
chelei  über  die  Lippen  zu  bringen,  wohl  auch  kein  guter 
Geschäftsmann,  verlor  er  nach  und  nach  völlig  den 
Boden.  Einzelne  Weimaraner  Bürger  und  befreundete 
Künstler  hielten  ihn  lange,  und  insbesondere  haben 
auch  der  damalige  Großherzog  und  die  Großherzogin 
Sophie  ihm  mehrfach  Bilder  abgekauft,  aber_  schlie߬ 
lich  flössen  die  Quellen  immer  spärlicher.  Seine 
bewundernswerte  Leichtigkeit  im  Schaffen  blieb  ihm, 
doch  was  half  sie,  da  er  seine  Bilder  auch  zu  den 
allergeringsten  Preisen  (man  spricht  von  fünfzig  Mark) 
nicht  mehr  los  werden  konnte?  Dazu  kamen  allerlei 
beabsichtigte  und  unbeabsichtigte  Kränkungen.  So 
hat  er  am  ag.  Mai  i88g,  im  Alter  von  kaum  vierzig 
Jahren,  durch  Aufschneiden  der  Pulsadern  seinem 
Leben  freiwillig  ein  Ende  gemacht.  Ein  völlig  ab¬ 
schließendes  Urteil  über  sein  Schaffen  erlaubt  die 
Ausstellung  nicht.  Aber  sie  wird  dazu  beitragen, 
weitere  Werke  von  ihm  ans  Tageslicht  zu  ziehen. 
Dann  wird  man  ihm,  der  zweifellos  einer  der  feinsten 
deutschen  Stinmmngslandschafter  seiner  Zeit  war,  wie 
auch  den  anderen  Weimaranern,  Weichberger,  Freies¬ 
ieben  usw.,  seinen  Platz  in  der  Geschichte  der 
deutschen  Kunst  endgültig  anweisen  können. 


KARL  BUCHHOLZ.  FRÜHLING  IN  EHRINOSDORF 


DIE  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG 

IN  MÜNCHEN 

Von  Dr.  Ludwig  von  Buerkel 


Die  Kunstausstellungen  großen  Stiles  sind  die 
Märkte  der  lebenden  Künstler.  In  alten  Zeiten 
war  der  Verkehr  zwischen  Maler  und  Käufer 
bedeutend  einfacher  und  für  beide  Teile  vorteilhafter. 
Wer  es  verstanden  hatte,  durch  Fleiß  und  Können 
zum  Meister  aufzusteigen,  der  war  mit  seiner  Schule 
genügender  Beschäftigung  sicher.  Der  Käufer  kam 
in  die  Malerwerkstatt,  äußerte  seine  Wünsche,  darunter 
ganz  persönliche  —  auf  die,  als  selbstverständliches 
Recht  des  Bestellers,  jeder,  auch  der  größte  Künstler 
einging  —  und  machte  den  Künstler  mit  dem  Auf¬ 
stellungsort  des  bestellten  Werkes  bekannt.  Die  An¬ 
nehmlichkeiten  solchen  direkten  Verkehres  waren  für 
den  Maler  wie  für  den  Besteller  die  größten.  Der 
Meister  war  durch  die  Wünsche  des  Käufers  an¬ 
genehm  beschränkt  und  konnte  sein  Bild  mit  aller 
Sorgfalt  der  künftigen  Umgebung  anpassen,  der  Be¬ 
steller  bekam  just  das,  was  er  wollte,  und  hatte  die 
Gewißheit,  wirklich  befriedigt  zu  werden. 

Der  zunehmende  Absatz  in  Zimmerbildern  und 
der  Beginn  des  Sammelns  machten  dieser  ersten  Ver¬ 
kehrsart  ein  Ende.  Die  Käufer  wollten  Auswahl  und 
die  Malergilden  entschlossen  sich,  die  Stücke  ihrer 
Mitglieder  in  Verkauf  zu  stellen.  Auswüchse  ließen 
nicht  lange  auf  sich  warten,  ln  den  Niederlanden 
spekulierte  der  Bauer  mit  Bildern,  in  Italien  wurden 
in  der  einen  Stadt  Bilder  von  beliebten  Malern  ge¬ 
kauft  und  in  der  anderen  Stadt  wissentlich  als  Werke 
anderer  Meister,  die  höher  im  Preis  standen,  weiter¬ 
gegeben.  Der  Händler  trat  auf  den  Markt,  weniger 
bedacht  den  Künstler  in  seiner  Existenz  zu  schützen, 
als  für  sich  so  viel  als  möglich  zu  gewinnen. 
Akademien  und  Kunstvereine  versuchten,  als  die 
Gilden  längst  aufgelöst  waren,  den  Marktverkehr  zu 
regulieren;  trotzdem  dehnte  sich  das  Händlertum  aus. 
Der  Händler  trat  in  direkten  Verkehr  mit  dem  Künst¬ 
ler,  kaufte  weniger  fest,  als  er  in  Kommission  nahm. 
Übervorteilungen  waren  an  der  Tagesordnung  und 
nur  die  Vereinigung  in  einem  Verband  —  leider  auf 
Grund  der  geänderten  Verhältnisse  nicht  mehr  der 
Gilde  entsprechend  —  konnte  die  Maler  schützen. 
So  entstanden  die  Künstlergenossenschaften,  die  nun 
in  ihren  Vorständen  den  Handel  mit  dem  Publikum 
selbst  besorgten  und  auf  eine  reelle  Geschäftsbasis 
bedacht  waren. 


Im  Anfänge  hatten  verständlicherweise  die  großen 
Kunstausstellungen  bedeutende  Markterfolge,  weil  sie 
den  Handel  der  Professionskäufer  lahm  legten.  Heute 
aber  sind  die  Verhältnisse  völlig  geändert.  Man  wird 
wahrnehmen,  daß  gerade  die  Namen  der  anerkannten, 
gesuchten  Münchener  Künstler  in  den  Ausstellungen 
fehlen.  Nur  Chancen  auf  goldene  Medaillen  oder 
Staatsverkäufe  oder  saure  Komiteepflichten  erweichen 
sie,  von  Fall  zu  Fall  doch  etwas  zu  schicken.  Gerade 
diese  besseren  Maler  haben  sich  längst  mit  den  bösen 
Händlern  versöhnt  und  sie  benutzen  günstigere  Ver¬ 
kaufsgelegenheiten,  als  sie  eine  große  Ausstellung 
bietet.  Das  eine  haben  alle  besseren  Maler  längst 
empfunden,  daß  die  Folie  der  minderen  Malereien, 
welche  zu  50  Prozent  solche  Ausstellungen  füllen, 
für  ihre  Bilder  nicht  günstig  sei.  Sie  trennten  sich 
von  den  konventionellen  »Kunstmalern  ,  aber  auch 
die  Trennungen  führten  nicht  zu  den  gewünschten 
Resultaten,  die  Wiedervereinigung  hat  dieses  Jahr 
wieder  —  zunächst  aus  äußerem  Anlaß  —  statt¬ 
gefunden.  Was  nun?  Wird  jetzt  der  jahresmarkt  die 
Früchte  tragen,  die  er  bisher  schuldig  blieb?  Zieht 
heute  der  Staat  die  Hand  aus  besserer  Einsicht  vom 
Unternehmen,  entbindet  er  sich  von  der  im  Staats¬ 
interesse  unverständlichen  Verpflichtung,  für  100000 
Mark  jährlich  da  zu  kaufen,  wo  meist  nichts  Be¬ 
gehrenswertes  zu  kaufen  ist  —  wird  dann  die  große 
Ausstellung  weiter  bestehen?  Ich  glaube  nicht  und 
hoffe,  daß  sie  aufhöre  zu  sein.  Wir  Nichtkünstler 
wollen  heute  nicht  Ausstellungen  von  Verbänden,  die 
sich  wahllos  zusammensetzen.  Wir  wollen  eine  feine 
Auswahl  des  Besten,  die  nicht  ein  Bild  für  gut  aus¬ 
gibt,  weil  es  vom  Mitglied  N.  N.  ist,  der  einer  be¬ 
stimmten  Gruppe  angehört.  Wir  wollen  wirklich 
sehen,  was  von  Gutem  in  jeder  Richtung  geleistet 
worden  ist  und  wollen  uns  nicht  in  zwanzig  Sälen 
ermüden,  bis  wir  zum  ersten  Bild  uns  durchgerungen 
haben,  das  beschauenswert  ist.  Eine  Künstlergruppe 
kann  zwar  das  Schlechte  beschränken,  aber  nicht  aus¬ 
schließen.  Eine  Auswahl  des  besten  jährlich  pro¬ 
duzierten  Kunstgutes  könnte  nur  der  Kunstfreund 
bringen,  nicht  der  Künstler.  Wir  haben  in  Deutsch¬ 
land  Männer,  denen  Vertrauen  in  ihre  Kenntnis,  in 
ihren  Geschmack  entgegengebracht  wird.  Einer  von 
ihnen  möge  den  Anfang  machen,  das  Hervorragendste 


324 


DIE  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG  IN  MÜNCHEN 


sammeln  und  die  Auswahl  ausstellen  und  zum  Ver¬ 
kauf  bieten  lassen.  Es  wäre  gewiß  verlockend,  ein 
Unternehmen  anzubahrien,  durch  das  dem  Künstler 
Gelegenheit  würde,  mit  den  geistig  feinsten  Schichten 
zu  verkehren,  welche  nur  sein  Publikum  bilden  können; 
und  der  Künstler  würde  sich  vielleicht  wieder  dessen 
bewußt,  daß  seine  Werke  seine  Kinder  sind,  bestimmt, 
seinen  Ruhm  in  die  Welt  zu  tragen  —  Kinder,  die 
er  nicht  schlechter  Umgebung  preisgeben  darf,  sondern 
so  unterbringen  muß,  daß  sie  ihm  Ehre  machen. 

Recht  klein  würde  die  Kollektion  von  Bildern 
der  Ausstellung  sein,  welche  einer  strengen  Sichtung 
standhalten.  Den  Gästen  den  Vortritt.  Die  Schweizer 
sind  ein  wahrhaft  freies  Volk.  Von  einer  Gebunden¬ 
heit  nicht  die  Spur.  Wer  über  Individualitäten  sprechen 
will,  hat  hier  reiche  Ausbeute.  Meinen  Standpunkt 
will  ich  gleich  hier  präzisieren:  Solange  die  künst¬ 
lerische  Form  eines  Werkes  nicht  entspricht,  lebt  auch 
sein  Gedankeninhalt  nicht  auf.  Der  Genfer  Hodler 
wird  als  neue  Größe  verkündet.  Der  Rückzug  von 
Marignan,  der  hier  zu  sehen  ist,  kann  nicht  über¬ 
zeugen.  Er  scheint  in  seinen  harten  Konturen  für 
ein  buntes  Fenster  gedacht;  dann  fehlt  es  an  den 
Farben,  die  keine  Leuchtkraft  haben.  Ist  das  Bild  als 
Wandfülhmg  gedacht,  so  wäre  ein  neues  Beispiel  des 
Fresko  auf  Leinwand  gegeben;  das  Beginnen  wäre 
unsinnig  und  formfremd  im  Prinzip.  Pflichtschuldigst 
verschweigt  der  Katalog  alle  wissenswerte  Erläute¬ 
rung.  Einige  hübsche  Kleinigkeiten  findet  man  von 
E.  Kceidolf. 

Signorina  Emma  Ciardi  von  Venezia  läßt  auf  an¬ 
mutige  Art  die  Zeit  des  Rokoko  wieder  auferstehen. 
Sie  hat  Phantasie  und  Farbensinn,  in  ihrer  Vereinigung 
heute  selten  gewordene  Eigenschaften.  Segantini 
scheint  in  seiner  Art  das  letzte  gesagt  zu  haben. 
Im  italienischen  Hauptsaal  wimmelt  es  von  schwachen 
Reminiszenzen. 

Im  französischen  Saal  sind  viele  geschickte  Arbeiten. 
Gehaltvoll,  kräftig  und  anmutig  zugleich  ist  das 
Damenbildnis  Blanches.  Der  Maßstab,  den  dieses 
farbschöne,  bedeutende  Stück  gibt,  an  die  Bilder  der 
Ausstellung  angelegt,  würde  zu  beschämenden  Resul¬ 
taten  führen.  Das  Bild  ist  fertig,  hat  Raum  und 
köstliches  Licht,  das  die  schwarze  Bluse  des  Mäd¬ 
chens  belebt  und  auf  dem  Silberflitter  ihres  Rockes 
spielt,  hat  Geschmack  und  Anmut.  Es  ist  das  Werk 
eines  feinen,  bewußten  Künstlers,  in  dem  die  Grazie 
der  Pariser  Welt  lebt,  ohne  daß  er  sie  äußerlich 
faßte,  denn  er  ist  kernig  zugleich.  Sehr  hübsch  ist 
ein  Porträtstück  des  delikaten  Aman  Jean  im  selben 
Saal.  Das  Gros  der  französischen  Arbeiten  verleugnet 
die  großen  Maler  der  Wiedergeburt  völlig  und  kann 
ebensogut  in  Berlin  oder  Wien  oder  München  gemalt 
sein.  Auch  Frankreichs  Kunst  hat  heute  ihre  nationale 
Eigenart  verloren. 

Die  Engländer  sind  die  einzigen,  die  geschlossen, 
national  eigentümlich  erscheinen.  Das  Abgeklärte, 
vornehm  Ruhige  der  englischen  Stadt,  der  Landschaft, 
der  Gesellschaft  auch  hier.  Nichts  Brutales,  nichts 
Aufdringliches,  Grelles.  Dabei  nichts  besonders 
Gutes.  Im  Figürlichen  Reminiszenzen  an  die  Prä- 


raffaeliten  und  die  gewohnten  Landschaften  mit  dem 
Stich  ins  Langweilige.  Mit  gutem  Verständnis  für 
Whistlers  Werte  ist  ein  Damenbildnis  in  Rosa  mit 
silbergrauen  Tönen  von  George  Sanier. 

Der  ungarische  Staat  hat  einige  vortreffliche  Kopf¬ 
studien  Ähinkacsys  geliehen. 

Es  folgt  das  Kabinett  der  Polen,  in  der  Dekoration 
einer  Weinstube  untersten  Stiles  gleichend.  Dem 
Geschmack  entsprechend  das  Ausgestellte. 

Das  beste  Kunstwerk  im  folgenden  Saal  der  Böhmen 
ist  ein  alter  Silberbrokat,  der  als  Rahmen  um  ein 
Bild  gespannt  ist. 

Unbarmherzig  mit  den  Sehnerven  normaler  Men¬ 
schen  verfahren  die  Gruppen  der  deutschen  Aus¬ 
steller  Österreichs.  Ein  Licht,  das  man  nur  mit 
blauer  Brille  vertragen  kann,  schafft  die  Sezession. 
Soll  schon  ein  Wohnraum,  für  den  doch  die  aus¬ 
gestellten  Zimmerbilder  bestimmt  sind,  geschaffen 
werden,  so  mag  mau  ihn  auch  mit  dem  für  ständigen 
Aufenthalt  passenden  Licht  ausstatten.  Das  feinste 
Stück  im  Saal  ist  Hohenbergers  Chinesin.  Es  ist 
Ausdruck  einer  farbigen  Kultur. 

Die  Wiener  Künstlergenossenschaft  und  der  Hagen- 
bund  muten  dem  Beschauer  aufdringliche  gedanken¬ 
lose  Teppiche  zu.  In  der  erstgenannten  Gruppe  ver¬ 
derben  sie  nichts,  während  sie  in  den  Hagenbund- 
zimmern  Walter  Hampels  delikate  Stücke  schädigen. 
Seine  Temperabilder  sind  voll  Geschmack  und  treff¬ 
licher  Beobachtung.  Die  Themen  sind  völlig  ver¬ 
schieden.  Das  Hauptstück  stellt  eine  Dame  Mlle. 
Tanguay  beim  Vortrag  dar.  Der  Ausdruck  ist  lebendig, 
die  Bewegung  vorzüglich  gesehen,  im  Stofflichen  eine 
Delikatesse,  ein  Farbgeschmack,  eine  Zartheit,  die 
entzückt.  Ausgezeichnet  beobachtet  ist  auch  die 
Cake- Walk- Bewegung  der  creolischen  Chansonette, 
witzig  ist  ihr  Gesichtsausdruck,  vollendet  geschmack¬ 
voll  die  Farbenstimmung.  Dabei  alle  Bilder  Hampels 
anspruchslos,  aus  dem  Vollen  geschaffen. 

Der  schlechte  Geschmack  in  allen  Nuancen  wird 
in  den  norwegischen,  schwedischen,  belgischen  und 
holländischen  Sälen  auf  seine  Rechnung  kommen; 
der  gute,  trotz  drückender  Überfüllung,  nur  schwer. 
Auch  wer  in  Spanien  etwas  leistet,  ist  der  Ausstellung 
ferne  geblieben. 

Teilnahmslos  wandelt  man  durch  die  ersten  Säle 
der  Deutschen.  Ein  gutes  Bildnis  der  Freifrau 
Celestine  von  der  tleydte  ist  mir  aufgefallen. 

Den  Ehrenplatz  im  Flauptsaal  nimmt  Franz  Stuck 
mit  wertlosen  Stücken  ein.  Rechts  davon  ist  ein 
malerisch  anregendes  großes  Frauenporträt  von  K'drr, 
daneben  eines  von  den  bekannten  stimmungsvollen 
Landschaftsbildern  Toni  Stadlers.  Schade,  daß  dieser 
liebenswürdige  Künstler  auf  das  Komponieren  seiner 
Bilder  verzichtet.  Die  Himmel  sind  zu  hoch,  die 
Abschnitte  nach  den  Seiten  willkürlich. 

Als  Lichtstudie  sehr  vorzüglich  sind  Landenbergers 
Badende  Jungen  in  der  Mittagssonne,  aber  doch  nur 
als  Studie,  denn  als  Bild  kann  man  die  Arbeit  nicht 
gelten  lassen,  die  auf  sehr  entfernte  Position  erst 
verständlich  wird  und  dann  wieder  schlechten  oberen 
Abschluß  hat.  Freiherr  von  Habermann  weiß  mit 


DIE  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG  IN  MÜNCHEN 


325 


seinem  wohl  überall  gekannten,  stets  selben  Modell 
immer  wieder  zu  interessieren.  Diesmal  ist  die  Dame 
scheinbar  durch  eine  Gesichtsoperation  entstellt.  Wie 
Befreiung  wirkt  es,  daß  der  geschmackvolle  Farben¬ 
künstler  in  einer  kleinen  Gartenstudie  den  Beweis 
eines  bisher  unausgenützten  Könnens  gibt.  Angenehme 
Malereien  von  Zumbusch  und  Hengeler,  welch  letzterer 
in  seiner  Art  recht  hübsch  zu  erzählen  weiß,  sind 
noch  im  Saal. 

Ein  Reitersmann  von  Christian  Speyer  hat  male¬ 
rische  Qualität.  Doch  kann  ich  mir  ein  längeres 
Zusammensein  mit  so  großen  Figuren  in  engem 
Rahmen  eingezwängt,  die  auf  den  Beschauer  losmar¬ 
schieren,  nicht  vorstellen. 

Angela  Jank  ist  in  seinem  beschränkten  Gebiet 
sehr  geschickt.  Leider  sagt  er  Dinge,  die  sich  auf 
kleinem  Raum  recht  gut  ausdrücken  ließen,  auf  vielen 
Quadratmeter  großen  Flächen.  Zwei  beachtenswerte 
Porträtstücke  von  Weisgerber  sind  das  Beste  im 
nächsten  Saal. 

Eine  beneidenswerte  Stellung  im  Münchener  Kunst¬ 
leben  haben  sich  die  Mitglieder  der  Scholle  mit 
ihren  Skizzen  errungen.  Zur  größten  Überraschung 
hält  es  der  Staat  für  nötig,  seine  überfüllte  neue 
Pinakothek  mit  riesengroßen  Skizzen  von  Münzer 
und  Leo  Putz  zu  versehen.  Ich  bin  der  letzte,  der 
solchen  Stücken  künstlerischen  Gehalt  abspricht,  aber 
es  ist  Illustrationskunst,  die  nun  zu  Bildern  vergrößert 
wird.  Dabei  in  einem  Zustand  der  Unfertigkeit,  der 
sie  von  einer  großen  Ausstellung  ausschließen  müßte. 
Auch  ist  diese  Art  von  Malerei  nur  im  künstlich 
hellem  Licht  des  Ausstellungssales  möglich.  Man 
wird  das  Fiasko  bei  der  Aufstellung  in  der  Pinakothek 
erleben.  Unverständlich  auch  ist,  warum  der  Staat 
sich  eines  von  Sambergers  unfertigen,  aufgeregten 
Porträtstücken  erwarb.  Ist  die  Reue  über  den  An¬ 
kauf  der  Kohlezeichnungen  —  Porträts  der  Münche¬ 
ner  Künstler,  —  die  heute  im  Kupferstichkabinett 
verstimmen,  noch  nicht  aufgegangen? 

An  Walter  Geffkens  Gruppenbild  der  Kunstkenner 
hängt  gute,  ehrliche  Arbeit.  Schade,  daß  man  sie 


noch  sieht.  Vom  selben  Maler  findet  man  in  einem 
anderen  Saal  eine  seiner  geschmackvollen  Bieder¬ 
meierszenen  »Die  Visite«.  Nicht  weit  davon  entfernt 
ein  reizendes  kleines  Mädchenköpfchen  von  Karl  Marr. 
A.  Heller  schafft  angenehme  Frauenbilder  mit  Sinn 
für  Eleganz  und  Stofflichkeit.  Besonders  hübsch  liegt 
der  rosa  Schal  auf  der  steifen,  grünen  Seide  in  einem 
Bild.  Bemerkenswerte  vornehme  Anlagen  hat  das 
Porträtstück  A.  Sterners.  Die  Bildnisgruppe,  der 
Knabe  mit  dem  Windhund,  ist  wohl  geglückt,  aber 
in  der  Landschaft  ist  zu  viel  verschwiegen. 

Freier  und  eindringlich  ist  das  Porträt  eines  jungen 
Menschen  von  Carl  Bios. 

Alles  in  allem  gibt  es  einige  geschickte  Porträtisten, 
Leute,  die  beachtenswerte  Skizzen  arbeiten,  aber  niemand, 
der  große  Gedanken  künstlerisch  umsetzen  kann. 
Unsere  Zeit  der  Hochkultur  ist  so  unverständlich  be¬ 
scheiden  in  künstlerischen  Dingen.  Die  wenigen,  die 
etwas  können,  sind  in  ihrem  Stoff  aufs  engste  be¬ 
schränkt.  Der  eine  malt  immer  dieselbe  Frau  seit 
Jahrzehnten,  der  andere  nur  badende  Buben  in  der 
Sonne,  der  dritte  nur  Jagdszenen,  ein  vierter  nur 
Schafe  und  so  fort.  Drum  wirken  Hengelers  Kleinig¬ 
keiten  erfreulich,  weil  Gedanken  so  selten  geworden 
sind.  Man  rüstet  sich  in  Berlin,  das  Beste  aus  der 
Kunst  des  verflossenen  Jahrhunderts  in  einer  Aus¬ 
stellung  zu  vereinigen.  Unsere  zeitgenössischen  Maler 
werden  große  Augen  machen,  wenn  sie  sehen,  daß 
ihr  Können  verschwindend  ist  gegen  das  der  Meister 
der  Altmünchener  Schule.  Sie  werden  erstaunt  sein, 
wie  vielseitig  diese  Maler  waren,  wie  sie  nimmermüde 
immer  wieder  neues  lernten.  Nur  die  Beschränkung 
ist  fortgeschritten  und  der  Maßstab  des  Publikums 
ist  bescheidener  geworden.  Möge  die  Jahrhundert- 
aussteliung  Begriffe  davon  wiedergeben,  was  von  einem 
Bilde  zu  verlangen  ist.  Möge  sie  wieder  lehren, 
was  Komposition  ist,  die  natürlich  bleibt.  Möge  sie 
scheiden  lernen  zwischen  Dekoration,  Illustration  und 
Bildkunst.  Und  dann  sollten  Künstler  kommen,  die 
wieder  Bilder  malen. 


ALBERT  STERNER,  MÜNCHEN. 
KNABENBILDNIS 


INTERNATIONALE 

KUNSTAUSSTELLUNG 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  E.  XVI.  H.  12 


43 


MAX  KLINGER.  BRANDES.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO 


VILLA  ROMANA 


DIE  KÜNSTLERKOLONIE  VILLA  ROMANA  IN  FLORENZ 


Als  bei  der  Eröffnung  der  Ausstellung  des  Deut¬ 
schen  Künstlerbundes  in  Berlin  am  19.  Mai  be¬ 
kannt  gegeben  wurde,  daß  am  4.  April  die 
Villa  Romana  in  Florenz  erworben  worden  sei,  um 
Künstlern  deutscher  Zunge  eine  sorgenfreie  Arbeits¬ 
stätte  zu  bieten,  fand  diese  Verwirklichung  eines  schon 
lange  angeregten  Planes  unter  vielen  Künstlern  und 
Kunstfreunden  begeisterte  Zustimmung.  Man  em¬ 
pfand,  daß  der  in  hartem  Kampf  geborene  Künstler¬ 
bund  damit  einen  Schritt  weit  hinaus  über  den 
Parteistreit  getan  habe  und  hörte,  daß  es  sich  um 
eine  Einrichtung  handelt,  die  dem  Talente  nutzen 
will,  gleichviel  welcher  Richtung  der  Kunst  es  ange¬ 
hören  mag.  Den  tüchtigen  Künstlern,  den  strebenden 
jungen,  die  sich  ausgezeichnet  haben,  und  den  be¬ 
währten  älteren  soll  diese  erste  deutsche  Kunstheimstätte 
auf  italienischem  Boden  in  gleichem  Maße  dienen,  — 
dienen  zu  ihren  Studien  und  zu  innerlicher  Kräftigung, 
in  einer  Umgebung  von  Natur  und  Kunst,  wie  sie 
reicher  nirgends  wieder  anzutreffen  ist,  als  eben  in 
Florenz.  Kein  akademischer  Zwang  soll  den  Sti¬ 
pendiaten  des  Deutschen  Künstlerbundes  Ziel  und 
Richtung  ihrer  Arbeit  vorschreiben:  aus  eigenem  sollen 
sie  frei  schaffen  und  treiben,  wozu  Neigung  und  Be¬ 
gabung  sie  drängen.  Denn  aus  denen,  die  über  die 
Alpen  pilgern  werden,  sollen  keine  Romanisten  wer¬ 
den,  die  ihre  deutsche  Art  im  Studium  italienischer 
Kunst  aufgeben,  sondern  wir  wünschen,  daß  ihr  Selbst¬ 
gefühl  gesteigert,  ihre  Natur  gestählt  werde  in  der 
freieren  Entfaltung  ihrer  Kräfte  und  im  Zusammen¬ 
leben  mit  anderen  Künstlern. 


In  dem  Schreiben,  mit  dem  sich  der  Gesamt¬ 
vorstand  des  deutschen  Künstlerbundes  an  die  För¬ 
derer  des  Unternehmens  wendet,  heißt  es:  »Weder 
Alter,  Richtung  noch  Lebenslage,  sondern  Talent 
und  Arbeitskraft  sollen  für  die  Stipendiaten  des 
Deutschen  Künstlerbundes  maßgebend  sein.  Weder 
eine  Schule  für  Unreife,  noch  eine  Versorgungs¬ 
anstalt  für  Unbemittelte  wollen  wir  schaffen.  Wir 
wollen  vielmehr  jüngeren,  noch  mit  sich  und  dem 
Leben  ringenden  Künstlern  eine  Zeit  ruhiger,  sor¬ 
genfreier  Arbeit  ermöglichen  .  .  .  Wir  wollen  aber 
auch  den  fertigen  älteren  Künstlern  eine  Zeit  der 
Arbeit  und  Kräftigung  an  der  Kunst  und  Landschaft 
Italiens  bieten:  als  Auszeichnung  für  hervorragende 
Leistungen  auf  den  Ausstellungen  des  Deutschen 
Künstlerbundes  soll  ihnen  die  Benutzung  der  Villa 
Romana  ermöglicht  werden.« 

Die  jeweilige  Jury  des  Künstlerbundes  verteilt  als 
Ehrung  an  Stelle  der  bei  offiziellen  Kunstausstellungen 
üblichen  Medaillen  einige  Ateliers  mit  Wohnung  in 
der  Villa  Romana.  In  diesem  Jahre  hat  sie  Th.  Th. 
Heine,  Gustav  Klhnt  und  Ulrich  Hübner  auf  diese 
Weise  ausgezeichnet,  während  der  engere  Vorstand 
des  deutschen  Künstlerbundes  noch  an  Henry  van  de 
Velde,  Georg  Kolbe,  Fritz  Erter  und  Richard  Tuch 
Plätze  in  der  Villa  Romana  vergeben  hat. 

Allein  aus  diesen  Wahlen  sehr  verschiedenartiger 
Künstler  geht  zur  Genüge  hervor,  daß  nur  künst¬ 
lerische  Rücksichten  bestimmend  waren,  und  wer  nur 
etwas  von  den  Arbeiten  und  dem  Charakter  der  ge¬ 
nannten  Künstler  weiß,  wird  nicht  die  Befürchtung 


43 


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DIE  KÜNSTLERKOLONIE  VILLA  ROMANA  IN  FLORENZ 


hegen,  daß  sie  uns  italienisch  oder  klassiziert  aus 
Italien  wiederkommen  werden.  Gewiß  wird  es  immer 
Leute  geben,  die  nicht  begreifen  werden,  warum  das 
Institut  gerade  in  Florenz  seinen  Platz  haben  soll. 
Sie  fürchten,  es  könnte  die  zarte  Blüte  moderner  Kunst 
im  Kontakt  mit  den  »Alten«  Schaden  nehmen  und  es 
möchte  die  Würze  heimisch  deutscher  Art  verloren 
gehen  unter  der  Sonne  Italiens.  Viel  lieber  wäre 
diesen  patriotischen  Greinern  irgend  ein  Idyll  im 
deutschen  Süden  oder  Norden  oder  wenn  sie  inter¬ 
national  denken,  ein  Haus  in  Paris  oder  London  in¬ 
mitten  weltstädtischer  Unrast. 

Aber  wir  wüßten  nicht,  welche  bessere  Wahl  der 
Künstlerbund  fürs  erste  hätte  treffen  können.  Florenz 
bietet,  ganz  abgesehen  von  seiner  Kunst  und  der  herr¬ 
lichen  Lage,  so  viel  günstige  Bedingungen  zur  Er¬ 
richtung  eines  solchen  Instituts,  daß  kaum  —  selbst  in 
Italien  —  eine  andere  Stadt  in  Betracht  kommen  könnte. 

Es  gibt  Leute,  die  die  ganze  Unternehmung  für 
überflüssig  halten  und  sich  wohl  auch  zu  der  Be¬ 
hauptung  versteigen,  daß  es  eine  Versündigung  an 
der  -Eigenart«  eines  Künstlers  wäre,  wenn  man  ihn 
verführe  oder  zwänge,  nacli  Italien  zu  gehen,  während 
ihm  vielleicht  ein  Aufenthaft  in  Kanada  oder  in  den 
nordischen  Fjorden  viel  sympathischer  wäre.  Wer 
aber  das  Stipendiat,  das  als  Ehrung  verteilt  wird, 
nicht  ausüben  will,  soll  nach  dem  Statut  berechtigt 
sein,  nach  seiner  Wahl  einen  anderen  Künstler  dafür 
vorzuschlagen.  Es  wird  also  niemand  gezwungen, 
wenn  es  ihm  gegen  die  Natur  ist,  nach  Italien  zu 
gehen.  Solche  Käuze,  denen  vor  einem  Besuch  Italiens 
graut,  mag  es  ja  geben;  aber  für  jeden  Geschmack 
kann  und  will  der  Künstlerbund  auch  nicht  sorgen. 

Es  ist  wohl  noch  von  vorwiegend  praktisch  denken¬ 
den  Künstlern  angeregt  worden,  lieber  den  von  der 
Jury  prämiierten  Künstlern  Arbeiten  abzukaufen,  als 
Gelder  für  eine  Gründung  aufzubringen,  die  doch 


nur  wenigen  nutzen  kann.  Aber  mit  diesen  und  ähn¬ 
lichen  »praktischen«  Erwägungen  fallen  wir  auf  den 
platten  Boden  mehr  geschäftlicher  als  idealer  Inter¬ 
essen.  Wir  wissen,  daß  es  unter  den  besten  unserer 
Künstlerschaft  viele  gibt,  die  beglückt  sein  würden, 
wenn  auf  sie  die  Künstlerehrung  eines  Stipendiums  in 
der  Villa  Romana  fiele.  Welche  Lust,  einmal  hinaus 
zu  können  aus  dem  Zwang  aller  Tage,  um  an  einer 
Stätte,  die  noch  jedes  Auge,  das  darauf  fiel,  entzückte, 
nach  freier  Wahl  Lieblingsgedanken  verfolgen  und 
gestalten  zu  können!  Und  wer  da  weiß,  welcher  Un¬ 
fug  mit  falsch  verteilten  Stipendien  nach  Italien  aus 
privaten  und  öffentlichen  Mitteln  getrieben  worden 
ist  und  noch  immer  getrieben  wird,  der  wird  es 
dankbar  begrüßen,  wenn  die  Jury  und  der  Vorstand 
des  Deutschen  Künstlerbundes  sich  bemühen,  daß 
eingedenk  des  idealen  Zweckes  die  Stipendien  in  die 
Hände  solcher  gelangen,  die  es  kraft  ihres  Talentes 
und  ihrer  Arbeitslust  auch  verdienen. 

Die  Villa  Romana  ist  ein  in  den  sechziger  Jahren 
gebautes  Haus,  das  vierzig  Räume  faßt.  Sie  liegt 
wenige  Minuten  vor  der  Porta  Romana  an  der  Via 
Senese  so  hoch,  daß  sie  über  weiten  Gärten  das 
ganze  alte  Florenz  mit  Fiesoie  und  den  Apenninen 
dahinter  überschauen  läßt.  Von  dem  zur  Villa  ge¬ 
hörenden  Gelände  sind  zunächst  13000  Quadratmeter 
mit  angekauft  worden,  aber  da  Erweiterungen  der 
Baulichkeiten  geplant  sind,  wird  es  sich  empfehlen, 
auf  eine  Vergrößerung  des  Areals  Bedacht  zu  nehmen. 
Ausfindig  gemacht  hat  diesen  entzückenden  Fleck 
Erde  Dr.  Hartwig,  und  die  Ankaufsbedingungen  lagen 
so  günstig,  daß  sich  die  ersten  Förderer  der  Idee, 
Max  Klinger  und  Georg  Hirzel,  schnell  zum  Ankauf 
der  Villa  für  den  Künstlerbund  entschlossen  hatten. 

Hoffentlich  gelingt  es  bald,  das  schöne  Unter¬ 
nehmen  so  finanziell  zu  stützen,  daß  seine  Entwicke¬ 
lung  für  alle  Zukunft  gesichert  erscheint! 


VILLA  ROMANA 


MAX  LIEBERMANN.  BIERQARTEN.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO 


OTTO  HETTNER,  BERLIN  IDYLL.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG 


WALTER  CONZ,  KARLSRUHE.  DER  HOFOARTEN.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG 


CARL  STRATHMANN,  MÜNCHEN.  VOLKSAUFLAUF.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO 


THEODOR  HAGEN,  WEIMAR.  LANDSCHAFT.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO 


HEINRICH  HÜBNER,  BERLIN.  INTERIEUR.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG 


THEO  VON  BROKHUSEN,  BERLIN.  LANDSCHAFT.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO 


ULRICH  HÜBNER,  BERLIN.  DIE  HEILIGE  OEISTKIRCHE  IN  POTSDAM.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNO 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI.  H.  12 


44 


HERMANN  HAHN, 
MÜNCHEN. 
BILDNISHERME. 


KÜNSTLERBLIND- 

AUSSTELLUNO 


THEODOR  HUMMEL,  BERLIN.  AM  HAFENPLATZ.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNG 


44 


REINHOLD  LEPSIUS,  BERLIN.  BILDNIS  DES  PROE.  DILTHEY.  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUNQ 


■ 


ANDREAS  DIRKS,  DÜSSELDORF.  MARINE,  KÜNSTLERBUNDAUSSTELLUN  O 


HEINE  RATH,  BERLIN.  SCHWEDISCHES  INTERIEUR.  KÜNSTLERRUNDAUSSTELI  UNO 


CHRISTIAN  SPEYER,  STUTTGART.  REITER  MIT  HUND.  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG  MÜNCHEN 


LEO  PUTZ,  MÜNCHEN.  HINTER  DEN  KULISSEN.  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG  MÜNCHEN 


WALTER  GEFFCKEN,  MÜNCHEN.  GRUPPENBILDNIS.  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG,  MÜNCHEN 


EMMA  CIARDI,  VENEDIG.  DIE  SÄNFTE.  INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG  MÜNCHEN 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  g.  m.  b.  h.,  Leipzig 


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WALTER  HAMPEL-WIEN.  PORTRAT  DER  M'-i-k-  TANOAY 
(INTERNATIONALE  KUNSTAUSSTELLUNG  MÜNCHEN) 


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